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Title: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde - Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart
Author: Henschke, Alfred, 1890-1928
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde - Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart" ***


[Anmerkungen zur Transkription:

Mit _Unterstrichen_ gekennzeichneter Text ist im Original gesperrt
gedruckt.

Mit =Gleichheitszeichen= markierte Phrasen sind im Original nicht in
Fraktur gedruckte Textstellen französischer oder lateinischer Sprache.

Das Kreuz zur Angabe von Todesjahren ist im Text durch ein '+' ersetzt.

Offensichtliche Druckfehler im Text wurden korrigiert, die Schreibweise
ansonsten aber wie im Original belassen. Eine Auflistung aller
vorgenommenen Korrekturen findet sich am Ende des Textes.]



                       _Nummer 12 der_
                      _Zellenbücherei_

                     _Copyright 1922 by_
                   _Dürr & Weber m. b. H._
                          _Leipzig_

                              *

Dritte, vom Autor neu durchgesehene und überarbeitete Auflage
                      20.-30. _Tausend_



                          _Klabund_

                Deutsche Literaturgeschichte
                       in einer Stunde

              *       *       *       *       *

          Von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart

                       [Illustration]

                            1922
             _Dürr & Weber m. b. H._ * _Leipzig_



Diese kleine Literaturgeschichte verfolgt weder philosophische noch
philologische Absichten. Sie ist nichts als der Versuch einer kurzen,
volkstümlichen, lebendigen Darstellung der deutschen Dichtung. Die
Dichtung eines Volkes beruht auf dem Eigentümlichsten, was ein Volk
haben kann: seiner Sprache. In diesem Sinne wird und soll sie immer
»völkisch« sein. Die deutsche Dichtung ist vergleichbar einem Baum, der
tief in der deutschen Erde wurzelt, dessen Stamm und Krone aber den
allgemeinen Himmel tragen hilft. Es gibt eine deutsche Erde. Der Himmel
aber ist allen Völkern gemeinsam.

Blüten vom Baum der deutschen Dichtung mögen vom Winde da- und dorthin
getragen werden. Zu Früchten reifen werden nur die, die am Baum bleiben.
Sie werden im Herbst geerntet werden, und im Schatten des Baumes wird
ein ganzes Volk sich an ihnen erquicken.

       *       *       *       *       *

Jener germanische Jüngling, der einsam im Eichenwald am Altare Wodans
niedersinkend, von ihm, der jeglichen Wunsch zu erfüllen vermag, in
halbartikuliertem Gebetruf, singend, schreiend, die Geliebte sich
erflehte, dessen Worte, ihm selbst erstaunlich, zu sonderbaren Rhythmen
sich banden, die seiner Seele ein Echo riefen, war der erste deutsche
Dichter.

Wie eine Blüte brach ihm das Herz in einer Nacht auf, daß es der Sonne
entgegenglühte, eine Schwestersonne. Daß er dem Sonnengott sich als
geringerer Brudergott verwandt fühlte, daß er Worte fand in seinem
Munde wie nie zuvor. Unbewußtes ward bewußt. Liebe machte den Stummen
beredt. Er sang einen heiligen Gesang. Er neigte sich dem Gott, er
neigte sich der Geliebten, er versank vor sich selbst. Himmel, Erde,
Mensch verschmolz in seinem Gedicht. Die Sehnsucht wurde Wort, das Wort
wurde Erfüllung. Aller Dichtung Urbeginn ist die Liebe. Der Weg zur
Liebe führt durch Haß und Kampf und Schmerz. Der Urmensch sang den Haß
gegen den Feind, den Feind seines Gottes und Räuber seines Weibes. Er
singt den Schmerz seiner im Weltall verlorenen einsamen Seele, die
dahinfliegt wie ein Meervogel über den Ozean, und nur die Sonne ist ihre
Hoffnung. In ihr verehrt er Gottes Auge, das ihn beglänzt, jeden Tag
neu, nach fürchterlicher Nacht. Und er sieht auch in sich die ewige
Nacht, aus der er nur immer kurz zu Dämmerung und Helle erwacht, und
seine Sehnsucht sucht die Nacht immer mehr mit Licht zu erfüllen. Und
das Licht zeigt ihm den langen mühseligen Weg des Menschen, welcher aus
Finsternis und Sumpf emporführt zu Licht und Gebirg, bis über die
Wolken, bis an Gottes Thron selbst.

       *       *       *       *       *

Eines der ältesten deutschen Sprachdenkmäler ist das _Wessobrunner
Gebet_, um 800 entstanden, voll großer Anschauung und starker
dichterischer Kraft. Karls des Großen Biograph _Einhart_ (+ 840)
erzählt, daß Karl der Große alle alten Sagen habe aufschreiben lassen.
Leider haben seine frömmelnden Nachfolger, von unverständigen Pfaffen
aufgereizt, dafür gesorgt, daß derlei »heidnisches« Zeug ausgerottet
wurde, wo es sich zeigte. Unersetzbares ist verloren gegangen. Als
Ersatz werden uns blasse, versifizierte Heiligenlegenden und
Christusgeschichten aufgetischt. Unter den Nachfolgern Karls des Großen
blüht, begünstigt von den Priestern, die lateinische Poesie. Da wir nur
von der deutschen Dichtung, dem deutschen Wort sprechen wollen, gehört
sie nicht in unsere Betrachtung. Die deutsche Sprache wurde höchstens
dazu verwandt, um dem Laien heilige Texte zu übersetzen.

Das stolzeste Epos der Deutschen ist das _Nibelungenlied_ (um 1210). Die
sagenhafte deutsche Urzeit ersteht in den Rittern der Völkerwanderung
noch einmal. Jeder der Helden: Siegfried, Hagen, Gunther ist ein Held
seiner Zeit, aber mit den strahlenden Attributen der Vorzeit umgeben.
»Welch ein Gemälde der menschlichen Schicksale stellt uns das Lied der
Nibelungen auf«, schreibt A. W. von Schlegel. »Mit einer jugendlichen
Liebeswerbung hebt es an, dann verwegene Abenteuer, Zauberkünste, ein
leichtsinniger, aber gelungener Betrug. Bald verfinstert sich der
Schauplatz; gehässige Leidenschaften mischen sich ein, eine ungeheure
Freveltat wird verübt. Lange bleibt sie ungestraft; die Vergeltung droht
von ferne und rückt in mahnenden Weissagungen näher; endlich wird sie
vollbracht. Ein unentfliehbares Verhängnis verwickelt Schuldige und
Unschuldige in den allgemeinen Fall, eine Heldenwelt bricht in Trümmer.«
Haben wir nicht alle das Nibelungenlied am eigenen Leib und an eigener
Seele verspürt? Ein unentfliehbares Schicksal hat uns, Schuldige und
Unschuldige, in den allgemeinen Fall verwickelt, und eine Welt ist in
Trümmer gebrochen.

Das _Gudrunlied_ (um 1230) klingt sanfter, bürgerlicher, versöhnender
aus. Zwar stehen auch hier Gewalttat und Schande am Anfang. Aber das
Lied endet heiter mit einer vierfachen Hochzeit und hellen Blicken in
eine rosenrote Zukunft, da kein Haß und kein Kampf mehr sein wird.

       *       *       *       *       *

Der Minnesang war von Vaganten und fahrenden Sängern gepflegt und in
Volksliedern von Mund zu Mund gegangen, ehe sich, unter dem romanischen
Einfluß der Troubadoure, die deutschen Dichter seiner annahmen und die
Frau als Geliebte und Gattin auf einen goldenen Thron setzten, wie man
ihn auf mittelalterlichen Miniaturen der Madonna mit dem Jesuskinde
weihte. Von Österreich nahm der Minnesang seinen Anfang. Der von
Kürenberg sang um 1150 das Lied vom Falken, den er sich mehr denn ein
Jahr gezähmt und der ihm dann »in anderiu lant« entflog. Ein Spielmann,
genannt der _Spervogel_ (+ 1180), dichtete die ersten lehrhaften Sprüche
und Fabeln, z. B. vom Wolf, der in ein Kloster ging und ein geistlich
Leben führen wollte. Im Kloster vertraute man ihm das Hüten der Schafe
an. Die Nutzanwendung braucht man einem Menschen heutiger Zeit nicht
besonders nahe zu legen. Derartige Wölfe -- und derartige Schafe sind
leider heute verbreiteter denn je.

Von 1160-1230 ritt Herr _Walter von der Vogelweide_ durch die Welt. Er
kam von Tirol, dort, wo die Berge das Eisacktal vom Himmel abschließen,
wo man den Himmel in der eigenen Brust suchen muß. Er trieb seinen
mageren, schlecht genährten Klepper durchs Burgtor von Wien, und die
Ritter neigten sich vor ihm. Im Bischofssitz von Passau erklang sein
Gelächter, das er dem Bischof wie eine Handvoll Haselnüsse an den
tonsurierten Kopf warf. Dem heiligen Vater in Rom war er aus deutschem
Herzen feindlich gesinnt: er sah, politischer Denker der er war, daß die
Päpste sehr diesseitige römische Politik und Diplomatie trieben, der die
deutschen Kaiser sich selten genug gewachsen zeigten. Er stand auf der
Wartburg und sah hinab auf das thüringische und deutsche Land. Wie
blühte der Frühling, wie sangen die Amseln! Unter einem Wacholderstrauch
lagen zwei Liebende. Unter der Linde stand ein fahrender Geiger und
geigte zum Tanz. Ein schönes Fräulein lächelte seitwärts,
selbstvergessen. Da lächelte Walter von der Vogelweide. Er bückte sich
und wand in Eile mit geschickten Fingern einen Kranz aus Butterblumen,
die zwischen den Steinritzen auf dem Burghofe blühten, nahm den Kranz,
sprang zu dem errötenden Mädchen, verneigte sich und sprach:

    Nehmt, Fraue, diesen Kranz,
    So zieret ihr den Tanz
    Mit schönen Blumen, die am Haupt ihr tragt.

Und der alte Geiger, mit dem Totenkopf zum Tanz taktierend, strich den
Bogen. Tod spielte zum Leben auf. Der Ritter tanzte mit dem Fräulein.
Sie hieß Maria wie die Mutter Gottes selber und war ihm Gottesmutter,
Gottesschwester, Gottestochter all in eins.

Mit Friedrich dem Zweiten ritt Walter von der Vogelweide 1227 auf den
Kreuzzug. Er haßte die Pfaffen und den falschen Gott in
Rom. Er wollte den wahren Gott von Angesicht zu Angesicht sehen. Er sang
den Kreuzfahrern das Kreuzlied. Und am heiligen Grab sank er ins Knie:
Jetzt erst bin ich beseligt, da mein sündig Auge die heilige Erde
betrachten darf.

    Dahin kam ich, wo den Pfad
    Gott als Mensch betreten hat.

Ernst und wie von einer Wolke beschattet, kehrte er aus dem heiligen
Lande heim. Es war Frühling in ihm gewesen, als er auszog. Palästina war
sein Sommer geworden. Nun sah er Herbst und Verwesung, Elend und
Bitternis überall. Die Nebelkrähen hingen in Schwärmen über dem
deutschen Land. Und in Würzburg war es, wo er, den Blick auf den
fließenden Main gerichtet, sein letztes Gebet dichtete: jene schönste
Elegie deutscher Sprache: Owê war sint verswunden alliu miniu jâr! Im
Lorenzgarten, vor der Pforte des neuen Münsters, wurde das Sterbliche
von Walter von der Vogelweide 1230 bestattet. Die letzte Zeit vor seinem
Tode hielt er sich von den Menschen fern: er stand stundenlang am Main
und fütterte die Vögel und die Fische mit Brotkrumen. Und in seinem
Testament bestimmte er, daß aus seiner Hinterlassenschaft mehrere Säcke
Körner zu kaufen seien und daß auf seinem Grabe die Vögel stets Körner
und Wasser vorfinden sollten.

Noch im Tode wollte er seinem Namen Ehre machen: sein Grab noch sollte
den Vögeln eine Weide sein. Lest seine Liebeslieder, ihr Liebenden!
Klausner Schwermut, weise uns die Kapelle seiner Melancholie! Wo im
kahlen Winter ein frierender Vogel hungrig an eure Fensterscheiben
pickt: gebt ihm zu fressen, gedenkt des Herren von der Vogelweide!
Solange die deutsche Dichtung besteht, wird sein Name unvergessen sein.
Her Walther von der Vogelweide, swer des vergaez', der taet mir leide,
rief 1300 Hugo von Trimberg über sein Grab.

       *       *       *       *       *

Die Blume der deutschen Mystik keimte zuerst in den Klöstern. Schwester
_Mechthild v. Magdeburg_ (1212 bis 1294) schrieb ihr Buch vom fließenden
Licht der Gottheit: voll seliger Versunkenheit in Christo. In ihren
Ekstasen sah sie Jesus als schönen Jüngling (Schöner Jüngling, mich
lüstet dein) ihre Zelle betreten, er war ihr wie ein Bräutigam zur
Braut, und ihre himmlischen Sprüche sind wie irdische Liebeslieder. Ihre
Gottesminne (Eia, liebe Gottesminne, umhalse stets die Seele mein!) war
der Gottesminne des Wolfram tief verwandt. Die reine Minne (nicht jene
höfische oder ritterliche oder bäurische Minne) galt ihr als oberstes
Prinzip. »Dies Buch ist begonnen in der Minne, es soll auch enden in der
Minne; denn es ist nichts so weise, so heilig, noch so schön, noch so
stark, noch also vollkommen als die Minne.« Mechthild von Magdeburg ist
trunken vor Askese. Ihr Geist kennt die Wollust des Fleisches. Jesus ist
ihr zärtliches Gespiel und sie seine Tänzerin. _Meister Eckhard_
(1260-1327, gestorben in Köln), ihr mystischer Bruder, verhält sich zu
ihr wie ein Kauz oder Uhu zu einer Libelle. Ihr Leben und Dichten war
ein Schweben und Ja-sagen, das seine ein tief in sich Beruhen und ein
Ent-sagen. Er liebte das Leid um des Leides willen: jeder Schmerz war
ihm eine Station zum Paradies. Er riß die Wunden, die in ihm verheilen
oder verharschen wollten, künstlich wieder auf: daß nur sein Blut
fließe. Seine Gedanken scheinen verschleiert, ja manche haben dunkle
Kapuzen übers Haupt gezogen und sind unerkennbar. Sein Buch der
göttlichen Tröstung ist ein Trostbuch für die, die am Tode und am Leben
leiden. Ein Trostbuch rechter Art will auch der »Ackermann aus Böhmen«
sein, den _Johannes von Saaz_ 1400 in die Welt schickte. Der Dichter
kleidet seine Trostschrift in die Form eines Zwiegesprächs zwischen
einem Witwer und dem Tod. Der Witwer fordert vor Gericht (dem
Gottesgericht) sein Weib von dem Räuber und Mörder Tod zurück.
»Schrecklicher Mörder aller Menschen, Ihr Tod, Euch sei geflucht! Gott,
der Euch schuf, hasse Euch; Unheils Häufung treffe Euch; Unglück hause
bei Euch mit Macht; ganz entehret bleibt für immer!« so beginnt der
Kläger seine Klage. Und der Tod antwortet: »Du fragst, wer wir sind: wir
sind Gottes Hand, der Herr Tod, ein gerecht schaffender Mäher. Braune,
rote, grüne, blaue, graue, gelbe und jeder Art glänzende Blumen und Gras
hauen wir nacheinander nieder, ihres Glanzes, ihrer Kraft und Vorzüge
ungeachtet. Sieh, das heißt Gerechtigkeit.« In immer verzweifelteren
Ausbrüchen pocht der Mensch, aller Menschheit Abgesandter, an das Rätsel
des Todes, der ihm sinnlos wie ein Mäher im Herbst unter den Menschen zu
hausen scheint, das Glück des Liebenden und die Tat des Künstlers, die
Stellung des Königs nicht achtet, bis Gott selbst das Urteil spricht:
»Kläger, habe die Ehre, du Tod aber, habe den Sieg! Jeder Mensch ist dem
Tode sein Leben, den Leib der Erde, die Seele uns zu geben
verpflichtet.«

       *       *       *       *       *

Mit den Minnesängern wurde die deutsche Literatur sich ihrer bewußt.
Zwar gab es noch nicht das Wort, aber der Begriff war vorhanden. Die
öffentliche Kritik trat auf: es waren die Fürsten, die als Mäzene das
erste Recht der Beurteilung für sich in Anspruch nahmen. Die Themen, die
_Hartmann von Aue_ (+ 1215) in seinen kleinen Epen anschlägt, sind von
schönster Intensität: in »Gregorius« überträgt er den Ödipusstoff auf
ein mittelalterliches Milieu. Gregorius liebt und heiratet unwissentlich
seine eigene Mutter. Als er die Schande erfährt, sucht er die Sünde zu
sühnen, indem er sich prometheisch an einen Felsen schmieden läßt. Nach
siebzehn Jahren unerhörter Qual erlösen ihn die Römer; er wird von ihnen
im Triumph ob seiner Heiligkeit auf den verwaisten Papstthron erhoben
und spricht, unfehlbar geworden durch sein titanisches Leid, die eigene
Mutter ihrer Schuld ledig.

Im »Armen Heinrich« bemächtigt sich Hartmann eines deutschen Stoffes.
Ein Ritter wird vom Aussatz befallen. Ein Mittel nur gibt es, ihn zu
retten: das Blut einer unberührten Jungfrau. Aus Liebe zu ihm erbietet
sich ein Mädchen, für ihn zu sterben. Aber der arme Heinrich nimmt das
Opfer nicht an: trotz teuflischer Versuchung. Da erbarmt sich auf Flehen
des Mädchens Gott der Liebenden: er macht den armen Heinrich gesund und
zum reichen Heinrich durch den Besitz der Geliebten.

Ein jüngerer Zeitgenosse von Hartmann ist _Wolfram von Eschenbach_ (etwa
1170-1250), ein Bayer aus Eschenbach bei Ansbach. Er war ein armer
Teufel wie Walter von der Vogelweide, mit dem er am Hofe des Landgrafen
von Thüringen öfter zusammentraf. Als er 1217 dem Hofleben für immer den
Rücken wandte, und auf sein kleines Gut heim zu Weib und Kind ritt,
vollzog er eine symbolische Handlung. Er kehrte wirklich heim: zu sich,
in sich. Er hatte die höfische Minne, die schon einen eigenen Komment
entwickelte, dessen Verstöße unnachsichtlich geahndet wurden, von
Herzen satt und sehnte sich nach einem einfachen, ungezierten Wort aus
unverzerrtem Frauenmund. Nach Lippen, die ohne Anfragung einer Etikette
auf den seinen lagen, nach einem Herzen, das ihm herzlich zugetan war.
Nach einem Kinde, das nicht »Fräulein« oder »junger Herr« tituliert
wurde, sondern mit dem er reiten und jagen und spielen durfte wie mit
sich selbst. Er hatte 1200-1210 in 24810 Versen im »Parzival« den
Ritterroman der Deutschen geschaffen, er hatte ihnen den Spiegel
vorgehalten. Aber es war schon eine vergangene edlere Zeit, die sich in
ihm spiegelte. Der Dichter ist oft nur der Vollstrecker des letzten
Willens einer Epoche, der er schon längst nicht mehr angehört. Der Stoff
ist französischen und provenzalischen Vorbildern entnommen. Die Idee der
Erlösung: christlich. Aber der Leidens- und Freudensweg, den Parzival
gehen muß, seine Entwicklung vom ahnungsvollen, aber ahnungslosen Kind
zum seiner Seele bewußten Mann ist ganz Wolframsche Prägung. Er ist den
Weg des Knaben Parzival selbst gegangen.

_Gottfried von Straßburg_ (um 1210), Wolframs größter Zeitgenosse, war
auch sein größter Gegner. Er fand den Parzival dunkel und verworren,
ohne einheitliche Handlung und stellenweise schwer verständlich. Im
Tristan stellte er dem Parzival sein Ritterepos gegenüber: von einer
leidenschaftlichen Klarheit des Themas und der Formulierung und trotz
der Leidenschaft nicht ohne Zierlichkeit und Zartheit. Er hatte von
seinem Standpunkt mit der Beurteilung des Parzival recht. In Wolfram und
Gottfried spitzten sich, wie später bei Goethe und Schiller, zwei
dichterische Typen bis ins Polare zu: der Pathetiker und der Erotiker.
Wolfram-Schiller, das besagt: Kampf, Forderung, Dornenweg, Verblendung
und Erlösung, Gottesminne, Jenseits. Goethe-Gottfried, das heißt: Sein,
Genuß, selbst des Schmerzes, Blumenpfad, Sonnenblendung, Glanz und
Erfüllung: Menschenminne, Diesseits.

       *       *       *       *       *

Während die von Walter, Gottfried usw. geschaffene Kunstdichtung
entartete, erlebte die deutsche Volksdichtung, das Volkslied und das
Märchen, im 15. und 16. Jahrhundert ihre üppigste Blüte. Die schönsten
der von Herder, Arnim und Brentano, Erk und Böhme später aufgezeichneten
Volkslieder sind damals entstanden. Die Dichter der von den Gebrüder
Grimm gesammelten Kinder- und Hausmärchen wandelten als Gumpelmänner,
Vagabunden und Gott weiß was durch die deutschen Lande. Ihnen waren Tier
und Blume, Berg und Teich wie Bruder und Schwester vertraut. Sie hatten
kein ander Bett als die Erde, keine andere Decke als die Sternendecke
des Himmels. Ein verlassener Ameisenhaufen war ihr Kopfkissen.
Eichhörnchen hüteten ihren Schlaf, und der war voll von Träumen wie ein
Kirschbaum im Juni voll von Kirschen. Da gaben sich der Froschkönig, die
Bremer Stadtmusikanten, der Teufel mit den drei goldenen Haaren, der
Räuberhauptmann, Frau Holle, Daumerling, Doktor Allwissend, das kluge
Schneiderlein, der Vogel Greif und viele andere wunderliche und seltsame
Wesen ihr heimliches Stelldichein. Und der Vogel Greif schnaufte: »Ich
rieche, rieche Menschenfleisch ...«, aber dann ließ er sich doch von
seiner Frau übertölpeln (wie listig sind die Frauen, wenn sie lügen!).
Die neidische und eitle Königin befragte den Spiegel an der Wand:

    Spieglein, Spieglein an der Wand,
    Wer ist die schönste im ganzen Land?

Und der Spiegel antwortete:

    Frau Königin, Ihr seid die schönste hier.
    Aber Sneewittchen über den Bergen
    Bei den sieben Zwergen
    Ist noch tausendmal schöner als Ihr.

Auf einem Lindenbaum saß ein Vogel, der sang in einem fort:

    Kywitt, kywitt,
    wat vörn schöön Vagel bün ick ...

Aber dieser Vogel war kein richtiger Vogel. Es war ein Mensch, der sich
nach seinem Tod in einen Vogel verwandelt hatte. Denn wir Menschen
sterben nicht. Das Volkslied und das Volksmärchen läßt unsere Seele
wandern. Vogel und Blume können wir werden: ja Blume auf unserem eigenen
Grabe, dann kommt wohl die Geliebte, begießt uns mit Tränen, oder sie
pflückt und drückt uns, Veilchen oder Lilie, an den Busen. Sind wir aber
böse, so werden wir verflucht und verzaubert in Werwölfe. Die Wurzeln
von Märchen und Volkslied gehen bis tief in die heidnische Vorzeit
zurück, da des Menschen Frömmigkeit vom Diesseits, seine Augen von
Sonne, Himmel und der weiten, weiten Welt ganz erfüllt waren. Ihm war
der Tod nur eine andere Art des Lebens. Verwandlung. Eine Tür fällt ins
Schloß, und eine andere geht auf. Auf Tag folgt Nacht, aber wieder Tag.
Er war nicht zerrissen in Leib und Seele. Die waren eins. Die Märchen
und Lieder sind so bunt wie die Natur selbst. Wie die Sonne über
Gerechte und Ungerechte scheint, so fühlt der Dichter mit allen seinen
Kreaturen, auch den erbärmlichsten. Irgendein armseliger Straßenräuber
(der arme Schwartenhals) steht ihm so nahe wie die zwei Königskinder,
die zueinander nicht kommen konnten, »das Wasser war viel zu tief«.
Goethe ist ohne das deutsche Volkslied, Volksmärchen, Volksepos nicht zu
denken. Er steht auf den Schultern von tausend anonymen Autoren, die
kommen mußten, damit er kommen konnte. Im 15. und 16. Jahrhundert wurde
der Grundstock gelegt zu jenem Gebäude des 18. Jahrhunderts voll
vollendeter Klassizität, das den Namen Goethe tragen sollte. Aber auch
Matthias Claudius, Clemens Brentano, Eichendorff, Heine haben mit den
Bausteinen gearbeitet, die jene bescheidenen Männer schichteten.
Vielleicht sind ihre Werke der lauterste Ausdruck des deutschen
Kunstwillens und des deutschen Geistes, der dann am tiefsten ist, wenn
er aus dem Unbewußten steigt, dann am reinsten, wenn er aus den
dunkelsten Quellen schöpft. Diese Dichter ohne Namen tragen den Himmel
in ihren Händen, aber sie stehen mit beiden Beinen fest auf der Erde.

       *       *       *       *       *

Die Entwicklung des Menschengeschlechtes geht in Wellenbewegungen vor
sich, wobei Wellenberg und Wellental einander folgen und der
Scheitelpunkt des Wellenberges sich nur langsam erhöht. Mit Walter von
der Vogelweide, Gottfried von Straßburg, Wolfram von Eschenbach und dem
Nibelungenliede hatte die junge deutsche Dichtung eine Höhe erreicht,
von der sie bald kläglich wieder abstürzen sollte. Das Rittertum zerfiel
und mit dem Rittertum die Ritterpoesie. Teils artete sie in allegorische
Spielerei, teils in aufgeblasene Geckigkeit aus. Die Dichtung floh
barfüßig und barhäuptig auf die Landstraße und fristete im Munde der
Fahrenden von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus ihr Leben. Ins 15. und 16.
Jahrhundert fällt die Blütezeit des deutschen Volksliedes. Zuweilen nahm
sie ein Kloster auf, Dann sangen die Nonnen ein Lied, wie das geistliche
Trinklied der Nonnen am Niederrhein. Zuweilen fand sie Unterschlupf bei
braven Bürgersleuten. Das Bürgertum war im Aufstieg begriffen. Es gab
wohlhabende Bürger, deren Söhne sich das Dichten leisten konnten. Sie
meinten, die Dichtung würde sich hinter dem Ofen, in der Wärme, in dem
Dunst satter Behäbigkeit recht wohl fühlen. Sie stopften ihr den Magen
mit allerlei guten Dingen, aber sie taten des Guten zuviel, daß sie
erbrach. Von der graziösen Handhabung der Sprache durch Meister wie
Gottfried oder Walter blieb nicht viel übrig. Der Rhythmus fiel
auseinander -- was Hebung, was Senkung --, man zählte einfach die Silben
zusammen. Aus dem Minnesang erwuchs der Meistergesang. Der Tiroler
_Oswald v. Wolkenstein_ (+ 1445) versuchte noch einmal den ritterlichen
Pegasus aufzuzäumen. Er brach unter ihm zusammen; seine Zeitgenossen
nahmen das Zaumzeug und schnitten die Flügel von dem verendenden Tier.
Sie klebten sie ihren plumpen Dorf- und Stadtgäulen an und bildeten sich
nun ein, sie würden fliegen. Die ritterliche Rüstung schepperte als viel
zu groß um ihre dürren Glieder. Auch wagten sie, ihrer Unzulänglichkeit
irgendwie bewußt, schon nicht mehr einzeln als Individualisten
aufzutreten. Sie dichteten kollektiv gleich in ganzen Gruppen, Gilden
und Vereinen. Sie imitierten die Form ohne den Geist. Diese Form ist
lehr- und lernbar. Man wird, wie beim Handwerk, erst Dichterlehrling,
dann Dichtergeselle, dann Dichtermeister. Wobei Dichter- und
Bäckermeister oft dasselbe sind. Aber die Brote geraten ihnen besser als
die Gedichte. In den Meistersingerschulen wurde nach der Tabulatur das
Dichter-Abc gelehrt. Um 1450 wurde die erste Meistersingerschule in
Augsburg gegründet. Wenige Jahre später finden sie sich in fast allen
größeren Städten. Sie fechten Wettkämpfe miteinander aus. Sie überbieten
sich in der Erfindung verschrobener und gekünstelter Versmaße. Der
Vollender und Überwinder des Meistersanges ist _Hans Sachs_, geboren
1494 in Nürnberg, das eine der berühmtesten Meistersingerschulen sein
eigen nannte. Hans Sachs war Schuhmacherlehrling, als ihm der Weber
Nunnenbeck die Anfangsgründe der Meistersingerkunst beibrachte. Er ging
wie ein rechter Schuster auf die Wanderschaft, kehrte, nachdem er so
viele Erfahrungen gesammelt als er Schuhe besohlt hatte, 1519 in seine
Heimat zurück, die durch Peter Vischer und Albrecht Dürer zu einem
Haupt- und Vorort deutscher Kultur geworden war. Seine eigentlichen
Meistergesänge (über 4000) sind unbedeutend, da und dort überraschen sie
durch ein originelles Bild oder eine witzige Wendung. Freier entfaltet
sich sein Talent schon in seinen Sprüchen (etwa 1800), die in ihren
kurzen Reimpaaren klingen, als wären sie mit dem Schusterhammer
zusammengeklopft. Hans Sachs war einer der ersten, die sich in Nürnberg
zu Luther bekannten. Einzigartig zeigt er sich in seinen (über 1000)
Schwänken und Fastnachtsspielen. Sein Humor ist der Humor der deutschen
Seele. Seinen Witz hat er aus seiner Handwerksburschenzeit bis in sein
82. Jahr hinübergerettet. Er hat es in seinen Schwänken auf moralische
Wirkung abgesehen, aber diese moralische Wirkung erstickt in einem
Gelächter oder tritt zurück hinter dem Wie der Darstellung. Wir nehmen
die Menschen aus seiner Hand entgegen wie aus Gottes Hand: so wie sie
sind: gut und böse. Wie langweilig wäre die Welt, wenn alle Menschen
brav wären und alle eine moralische, einheitliche graue Tugenduniform
trügen. (Gott selber würde sich zu Tode langweilen und kurz vor seinem
Tode noch den Teufel neu erschaffen.) Wenn es nur noch Hasen auf der
Welt gäbe und keinen Fuchs mehr, der den Hasen frißt, und keinen Jäger,
der sie beide schießt und sich den Hasen braten läßt! Dies nur nebenbei
zu Hans Sachs.

       *       *       *       *       *

Die Welt krachte damals in allen Fugen. Die ersten Wehen der Reformation
kündeten eine neue Ära an. _Sebastian Brant_ aus Straßburg (1458-1521)
hatte als Sohn eines Gastwirtes früh offene Augen für die
Lächerlichkeiten und Laster seiner Mitmenschen bekommen. In
Übergangszeiten, wo die Begriffe schwanken und wie Karten eines
Kartenspieles durcheinandergemischt werden, pflegen sich alle närrischen
Eitelkeiten der Menschheit wie in einem konkaven Spiegel noch ins Breite
zu verzerren und zu vergröbern. Sebastian Brant studierte Recht -- ohne
es irgendwo zu finden. Er promovierte an der Universität Basel. 1494
erschien sein »Narrenschiff«. Auf dieses hatte er alle Narren zu Gast
gebeten, die er nur auftreiben konnte. Aber das Schiff erwies sich als
zu klein. Die Säufer, die Gecken, die Spieler, die Kirchenschänder, die
Geizhälse, Wucherer, Studenten, Ehebrecher, Huren füllten es bis an den
Rand. Auch du, lieber Leser, und ich, wenn wir nur ein wenig in uns
gehen und nachdenken: wir befinden uns unter jenen Narren. Sebastian
Brant hat uns, fünfhundert Jahre, bevor wir geboren wurden, trefflich
abkonterfeit. Aber es ist ein Bild, das wir uns nicht hinter den Spiegel
stecken oder unserer Base zum Geburtstag schenken werden. -- Zwanzig
Jahre nach dem Narrenschiff legte Knecht Rupprecht 1519 den Deutschen
die erste Ausgabe des Volksbuches von Tyll Eulenspiegel auf den
Weihnachtstisch. Die hatten eine Freude wie wohl seit hundert Jahren
nicht über ein Buch. Noch im 16. Jahrhundert erschienen achtzehn
deutsche Ausgaben; es wurde sofort ins Vlämische, Niederländische,
Englische und Französische übersetzt. Woher dieser spontane Erfolg?
Brants Narrenschiff war eine mehr oder weniger literarische
Angelegenheit gewesen, im Eulenspiegel sah und lachte das Volk sich
wieder einmal selber ins Gesicht. In allen Fastnachtskomödien war er ja
schon als Kasperle oder Hanswurst figürlich aufgetreten, hier hatte man
seine in wohlgesetzte Worte gebrachte Biographie des komischen
Heldenlebens. Eulenspiegel, der ernsthafte Schalk, ist die Typisierung
der einen Seite des deutschen Ideals, dessen andere Seite (ob Rück- oder
Vorderseite der Medaille bleibe dahingestellt) den Doktor Faust,
titanischen Ringer um die letzten Probleme, zeigt. Eulenspiegel tritt
auf als Richter der Menschheit: er richtet sie mit einem schiefen Zucken
seines Mundes, mit der sofortigen Realisierung ihrer Ideen, deren Wert
und Möglichkeit dadurch =ad absurdum= geführt werden. Er ist zugleich
leicht- und tiefsinnig. Seine Späße exemplifizieren das Chaos. Sie
dozieren bis zur Brutalität das Bibelwort: Der Mensch ist aus Dreck
gemacht. Das Urbild des Tyll Eulenspiegel hat wirklich gelebt. Chroniken
berichten von seinem 1350 zu Mölln erfolgten Tode, wo noch heute sein
Grabstein gezeigt wird. Vorher waren schon Schwankbücher wie _Jörg
Wickrams_ »Rollwagenbüchlein« oder des Bruders _Johannes Pauli_
»Schimpf und Ernst« (1522) Mode geworden: Bücher, die heitere oder
moralische Anekdoten erzählten, die sich nicht um einen einzelnen Narren
gruppierten: die damalige Reiselektüre, auf den Rollwagen mitzunehmen.
Wobei zu bemerken ist, daß diese Reiselektüre unendlich gehaltvoller war
als die heute verbreitete. Bruder Johannes Pauli ist ein belesener und
witziger Mann, der ausgezeichnet zu erzählen vermag und unsere Stratz
und Höcker überragt wie ein Kirchturm eine verkrüppelte Kiefer. Da liest
man folgendes: »Man zog einmal aus in einen Krieg mit großen Büchsen und
mit viel Gewehren, wie es denn Sitte ist; da stund ein Narr da und
fragte, was Lebens das wäre? Man sprach: Die ziehen in den Krieg! Der
Narr sprach: Was tut man im Krieg? Man sprach: Man verbrennt Dörfer und
gewinnt Städte und verdirbt Wein und Korn und schlägt einander tot. Der
Narr sprach: Warum geschieht das? Sie sprachen: Damit man Frieden mache!
Da sprach der Narr: Es wäre besser, man machte vorher Frieden, damit
solcher Schaden vermieden bliebe. Wenn es mir nachginge, so würde ich
vor dem Schaden Frieden machen und nicht danach; darum so bin ich
witziger als Eure Herren.« Hätten wir Deutschen vor dem Kriege Johannes
Pauli als Reiselektüre gelesen an Stelle von Walter Bloems »Eisernem
Jahr«: vielleicht wäre es nicht zum Kriege gekommen, und wir hätten uns
dieses Narren Meinung zu Herzen genommen.

       *       *       *       *       *

_Luther_ wurde 1483 in Eisleben als Sohn eines herrischen Vaters
geboren. Er verbrachte seine Jugend mißmutig, störrisch, verprügelt, und
richtete schon früh sein Auge von der Misere außen nach innen. Sein
Vater hat ihn hart geschlagen: daß er wie ein Stein oder ein Stück Holz
schien. Aber hinter der harten Schale verbarg sich ein weicher und süßer
Kern. Sein »Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir,
Amen!« wird immer ein Fanfarenruf aller aufrechten Männer sein. Sein
Reformationswerk war eine historische Notwendigkeit. Aber die Historie
wandelt sich von Jahrhundert zu Jahrhundert, von Jahrzehnt zu Jahrzehnt.
Bismarcks Werk schien auf Felsen gegründet: wenige Jahrzehnte genügten,
es zu unterhöhlen, bis es 1918 mit einem gewaltigen Krach
zusammenstürzte. Auch über Luthers Reformation ist das letzte Urteil von
der Geschichte noch nicht gefällt. Unsere heutige evangelische Kirche
spricht in ihrer aufklärerischen, kahlen, gottlosen Nüchternheit nicht
für eine lange Dauer. Die Zeit will wieder fromm werden. Luther war ein
religiöser Mensch, die Lutheraner sind theologische Dogmatiker oder
rationalistische Moralisten. Sie bezweifeln das Wunder, wollen Natur-
und Kirchengeschichte unter denselben Pfaffenhut bringen: aber wer das
Wunder bezweifelt, bezweifelt Gott selbst. Luther hat die damalige
Christenheit, unterstützt von der humanistischen Vorrevolution des
Geistes, von der römischen Knechtschaft befreit, aber er hat den
Deutschen den schlechtesten Dienst erwiesen, als er in den Bauernkriegen
Partei für die Fürsten ergriff und durch seine sophistische Auslegung
der Bibel im monarchistischen Sinne (»Gebt dem Kaiser, was des Kaisers
ist ... es ist euch eine Obrigkeit gesetzt von Gott, der sollt ihr
untertan sein ...«) die Deutschen unter die absolute Tyrannei der Fürsten
brachte und Tyrannei und Sklaverei nun gar noch ethisch zu fundieren
trachtete. Hier trieb der einst in seiner Jugend vom Vater in ihm
gezüchtete und herangeprügelte Autoritätswahn häßliche Blüten. Daß der
»Untertan« den Deutschen noch heute so tief im Blute steckt, daß selbst
die Revolution 1918 ihn nicht auszuroden vermochte, das ist nicht zum
wenigsten auf die Philosophen des Staatsrechts und des Machtwahns:
Bismarck, Hegel, Luther zurückzuführen. Luther aber war ihr
bedeutendster und also verderblichster Vertreter. Erscheint seine
historische Stellung in mindestens zweifelhaftem Lichte, so ist seine
Stellung in der deutschen Literatur eindeutig fest und steil gefügt.
Die Bedeutung der Lutherschen, 1534 vollendeten Bibelübersetzung kann
nicht überschätzt werden. Es ist, als hätte Luther die neue deutsche
Sprache überhaupt erst geschaffen. Aus so mangelhaften Vorlagen wie der
sächsischen Kanzleisprache und der obersächsischen Mundart zimmerte er
wie ein Geigenbauer jenes klingende Instrument, auf dem entzückt und
berauscht wir heute noch spielen dürfen. Er aber war der Töne Meister
wie Arion: und wenn er sprach, dann schwieg die Nachtigall, dann hob der
Esel lauschend den behaarten Kopf -- dann verstummten selbst die
Humanisten mit ihrem lateinischen Geplauder, und Ulrich von Hutten
konnte auf einmal deutsch statt lateinisch denken und dichten. »Ich
hab's gewagt.« Die deutsche Sprache war den gelehrten Herren bisher zu
grobschlächtig gewesen für ihre Spitzfindigkeiten. Sie wollten nichts
mit dem Pöbel gemein haben, und es war ihnen gerade recht, daß man sie
in der Menge nicht verstand. Nun aber hörten sie erstaunt, gleichsam zum
erstenmal, den Klang der deutschen Sprache. Das war wie Möwenschrei über
der Elbe, wie Amselsang im Frühling, wie Herbstwind in den
Sandsteinfelsen, wie Quellengeriesel im Eichenwald. Und einer nach dem
andern tat sein in Schweinsleder gebundenes lateinisches und
griechisches Lexikon in den Bücherschrank zurück und legte die
Luthersche Bibel auf den Schreibtisch und fand darin sein Morgen- und
sein Abendgebet. Auch Luthers Flugschriften, wie »Von der Freiheit eines
Christenmenschen«, flogen durch das Land, und in Kirchen und auf Straßen
sang es: »Komm, heiliger Geist, kehr bei uns ein«. Und sie, die tumben
Bauern, die im Vertrauen auf seine Lehre und ihren Lehrer sie in die Tat
umzusetzen versuchten (denn was ist die Idee ohne die Tat? Das ist wie
Seele ohne Leib, wie Duft ohne Blume): sie starben, als sie von ihm
verlassen wurden, hingeschlachtet von den Schwerthieben der Söldner, mit
dem Ruf: »Ein feste Burg ist unser Gott ...« Luthers kernige und
fröhliche Tischreden, die von seinen Freunden aufgezeichnet wurden,
beweisen, was für ein großer Redner er war. Er steckte damit wohl alle
heutigen Volkstribunen in die Tasche: nur schade, daß er selber kein
Volks-, sondern ein Fürstentribun war.

       *       *       *       *       *

Luther starb 1546 in Eisleben. Von seiner geistlichen Lyrik nahm das
evangelische Kirchenlied seinen Anfang. Ihre schönsten geistlichen
Lieder verdankt die evangelische Kirche _Paul Gerhard_ (1607-1676, starb
in Lübben als Prediger). Ein einfaches Gemüt paart sich mit einem
streitbaren Gotteseifer und einem unbeirrbaren poetischen Formgefühl.
Wir alle, die wir Evangelische (ach! keine Evangelisten mehr ...) sind,
haben als Kinder diese Gedichte in der Konfirmationsstunde auswendig
gelernt und in der kahlen Dorfkirche gesungen. In ihnen durfte sich das
kindliche Gemüt Gott wahrhaft nah fühlen. Die Musik dieser Verse strich
uns, wenn der lahme Küster die Orgel spielte, wie mit Vaterhänden über
die Stirn, und unsere kindlichen Sorgen beschwichtigte das singende
Geständnis, das unsere Lippen hauchten: Ich weiß, daß ein Erlöser
lebt ... Abends aber, wenn nach des Tages Arbeit wir mit Vater und Mutter
und mit den Knechten und Mägden vor der Tür in der lauen Sommerluft
saßen, eine Kuh verschlafen im Stalle muhte, die Hühner auf der Stange
hockten, den Kopf im Gefieder, dann stimmte mein Großvater an, und wir
fielen alle leise ein:

    Nun ruhen alle Wälder,
    Vieh, Menschen, Städt' und Felder ...

Von der lutherischen zur katholischen Kirche trat _Angelus Silesius_
(aus Breslau, 1624-1677), der cherubinische Wandersmann, über. Er
schrieb nach seiner Bekehrung jene mystischen Zweizeiler, in denen die
»ägyptische Plage« des Dreißigjährigen Krieges einen so prägnanten,
überaktuellen Ausdruck fand.

Um diese Zeit begann Magister Opitz (aus Bunzlau, 1597 bis 1639) seine
lehrhafte Tätigkeit. Es ist heute leicht, sich über eine Menge seiner
Unarten und Albernheiten lustig zu machen: sein Verdienst um die Hebung
des allgemeinen Niveaus kann nicht bestritten werden. Ohne Opitz kein
Gottsched, ohne Gottsched kein Herder, ohne Herder kein Goethe.

_Paul Fleming_ (aus dem sächsischen Erzgebirge, 1609 bis 1640) wandelte
als Planet im Gefolge der Opitzschen Sonne. Aber es sollte ihm gelingen,
eigene Bahnen zu finden und sie zu überstrahlen. Seine zärtliche Liebe
zu Elsabe schenkte der deutschen Dichtung einige ihrer schönsten
Liebesgedichte. Fabrikanten von protestantischen Gesangbüchern haben es
sich nicht nehmen lassen, ihre dogmatische Giftmischerkunst daran zu
versuchen und umgekehrt, wie einst Christus, Wein in Wasser zu
verwandeln. Sie setzten nämlich für Elsabe Jesus, und wenn im Liede
Elsabe ihr Jawort gibt, so modeln sie das in: »Jesus gibt sein Ja auch
drein«. Zu dieser Verballhornung hat Jesus sicher sein Ja nicht drein
gegeben. Er wird im Himmel sanft gelächelt haben, denn er kennt seine
Pfaffenheimer.

       *       *       *       *       *

In der Lyrik der Schlesier _Hofmann von Hofmannswaldau_ (1617-1679) und
_Daniel Caspar von Lohenstein_ (1635-1683) spielt Venus, prunkvoll
aufgeputzt, eine triumphierende Rolle. Wenn sie, wie zuweilen bei
Hofmannswaldau, vom Venuswagen steigt, ihr überladenes Geschmeide abtut
und ein hübsches Breslauer Bürgermädchen wird, braunhaarig, braunäugig,
rotwangig: da wird sie uns lieb und vertraut, wir setzen uns gern zu ihr
ins Gras und lassen uns ein ihr zu Ehr und Preis verfertigtes
Lied des Herrn von Hofmannswaldau mit leiser Stimme ins Ohr singen.
Caspar von Lohenstein huldigte seinerseits neben der Venus den Göttern
Mars und Mors. Er schrieb schwulstige Tragödien von schauerlicher
Blutrünstigkeit. Der Entfaltung der Sitten und der Entwicklung der
Tugend war die Zeit des Dreißigjährigen Krieges nicht gerade günstig. Im
großen und im kleinen wurde geplündert, gemordet und vergewaltigt. Der
Fürst vergewaltigte das Land, der Landsknecht die Bauernmagd. Zum Besten
des Vaterlandes und zu höherer Ehre Gottes wurden die abscheulichsten
Taten getan. Der Wiener Hofkapuziner _Abraham a Santa Clara_ (1644-1709)
wetterte in seinen Reden und Predigten mit Stentorstimme
und einem gewaltigen Aufwand an schnurrigem Pathos gegen die
Sittenlosigkeit, wobei er wenig genug ausrichtete. Der Elsässer
_Moscherosch_ (1601 bis 1669) malte in seinen »Gesichten Philanders von
Sittewald« die Verrottung der Zeit, die ihre höchste dichterische
Formung in _Christoph von Grimmelshausens_ (aus Hessen, 1625-1676)
»Abenteuerlichem Simplizissimus« fand. Neben dem Grübler Faust, dem
weisen Narren Eulenspiegel kann man den reinen Toren Parsival als die
dritte Verkörperung der deutschen Seele ansprechen. Parsival heißt bei
Grimmelshausen Simplizissimus. Alle die vielfältigen Anfechtungen
besiegt und überwindet die einfältige Seele, die groß und einfach in
sich selber ruht, wie eine Perle in der Muschel. Der Hintergrund des
Romans ist das zerrissene und zertretene Deutschland des Dreißigjährigen
Krieges. _Andreas Gryphius_ (aus Großglogau, 1616-1664) erlebte das
allgemeine Elend seiner Zeit am eigenen Leibe und an eigener Seele nicht
typisch wie Grimmelshausen, sondern individuell: und es gelang ihm, es
bis zur reinsten lyrischen Gestaltung zu verklären. Das Leitmotiv seiner
Gedichte ist das christliche Symbol von der Vergänglichkeit des Menschen
und der Eitelkeit alles Irdischen. Dieses ursprünglich religiöse und
fast kirchlich-dogmatische Gefühl vertieft sich in seinen Sonetten
grandios künstlerisch zur Weltanschauung einer erschütternden
Resignation und eines erhaben schmerzlichen Pessimismus. Die
grauenvolle Zeit, die in dem Krieg und in dem Frieden, in dem wir heute
gezwungen sind zu leben und zu sterben, eine Parallele findet, duldete
keines fröhlichen Weltfreundes rosenroten Optimismus. =Vanitas!
Vanitatum vanitas!= Es ist alles eitel. Daß auch der Seelen Schatz so
vielen abgezwungen -- dies ist die bitterste Erfahrung, die uns auch der
große Krieg von 1914 bis 1918 gelehrt hat. Lüge, Heuchelei, Mammonismus
und Materialismus haben die Seelen regiert, und wo ist jemand, der da
sprechen kann, daß die seine im Schwertertanz ums goldene Kalb ganz frei
davon geblieben? Stoßt das goldene Kalb vom Sockel und setzt eine weiße
Marmorstatue der Göttin der Liebe, der Welt- und Gott- und Menschenliebe
an seiner statt und nehmt euch bei den Händen und schlingt um das
Denkmal wie mit Rosenketten den Frühlingsreigen einer besseren Zeit. --
Elegie und Ironie wohnen nahe beieinander. In Gryphius' Lustspiel
=»Horribilicribrifax«= schwingt er spöttischen Mundes die Geißel über
Halbbildung und Phrasentum, die sich als Folge der Überschätzung alles
Militärischen besonders beim Offiziersstand bemerkbar machten. Der
aufschneiderische Maulheld =Horribilicribrifax= ist eine köstliche
Figur, die man heute noch leibhaftig herumlaufen sehen kann. -- Einen
bürgerlichen Maulhelden nahm sich _Christian Reuter_, ein Leipziger
Student (geboren 1665), eine unstete Vagantennatur, die irgendwo im
Elend verdarb und starb, zum Vorbild; es ist der Signor Eustachius
Schelmuffski, dessen wahrhaftige, kuriose und sehr gefährliche
Reisebeschreibung zu Wasser und zu Lande auf das vollkommenste und
akkurateste er an den Tag gab. Diese lügenhafte Reisegeschichte, die
Schelmuffski über Schweden, die Bretagne, Rom bis nach Indien führt (sie
ist dem hochgeborenen großen Mogul dem Älteren, weltberühmten Könige
oder vielmehr Kaiser in Indien gewidmet ...), ist einer der besten
komischen Romane der Deutschen und nebenbei ein ergötzlicher
Zeitspiegel. Auch Gryphius und Grimmelshausen spiegelten die Zeit.
Sehen wir in ihren Zeitspiegel, steigt die Träne ins Lid.

       *       *       *       *       *

Wie ein Sturmwind braust _Johann Christian Günther_ (aus Striegau,
1695-1723), der Götterbote einer neuen Zeit, in die deutsche Dichtung.
Er schmiedete ihr die Waffen, mit denen sie später unter Goethe den
himmlischen Sieg erfechten sollte. Was wäre der Sturm und Drang ohne
Günther? Was Goethe ohne Günther geworden? Er war sein Vorläufer, sein
Johannes, der ihm die Wege bereitete. Wie in Frankreich der Vagant
François Villon, so steht in Deutschland der ahasverische Wanderer
Johann Christian Günther, Student und Vagabund, der Unstete, der
Schweifende, am Anfang der neuen Dichtung. Nur wer den Mut zu Ab- und
Seitenwegen hat, der wird auch neue Wege finden. Darum sind alle diese
Pfadfinder von schwankender Menschlichkeit und durchweg, wenn auch nicht
immoralisch, so doch amoralisch gerichtet. Sie sind verdammt, Lasten und
Laster einer Generation vorweg zu nehmen und zu schleppen, die nach
ihnen kommt. Diese hat ihre Freiheit der Unfreiheit, ihre schwebende
Leichtigkeit der stampfenden Schwere jener zu danken. Jene sind wie
Stiere, diese wie Sonnenadler. Der junge Goethe als Student in Leipzig:
das ist eine wörtliche Neuauflage des jungen Günther. Der nie ein alter
Günther werden sollte, denn er starb im 28. Jahre an einem Blutsturz.
Diesen Blutsturz erlebte auch Goethe in Leipzig: aber er überstand ihn
und ging gekräftigt aus der Krise hervor. Günther hatte sein Blut
verströmt. Sein junges Leben und Dichten ist ein Verbrennen und
Verbluten. Er ist der erste Dichter, der sich bewußt außerhalb der
bürgerlichen Gesellschaft stellt, und der dadurch jenen latenten
Konflikt mit seinem starrköpfigen Vater heraufbeschwor, der nicht wenig
zu seiner Erbitterung und Verbitterung und zu seinem vorzeitigen
Zusammenbruch beigetragen hat. Gar so leicht wurde es dem Kinde nicht,
von selbst gehen zu lernen in einer Welt, die sich ihm feindlich
gegenüberstellte, und die Ablösung von der Nabelschnur, die ihn in den
Eltern mit dem Bürgertum verband, geschah nicht ohne Krämpfe und
Schmerzen. Er hatte Feinde »ringsum«. Seine wilde Leier wünschten
Tausende ins Feuer, »denn sie rasselt allzuscharf«. Wie ein von allen
gemiedener räudiger Hund lief er durch Deutschlands Straßen. Da
übermannte ihn die Verzweiflung, daß er zu sterben wünschte, weil
Leonore selbst ihn verlassen. Aber er reißt sich wieder empor, die
Tränen versiegen, die Faust ballt sich:

    Ich will hoffen, Hoffnung siegt.

Und abends, auf der Dorfstraße, wenn er ein schönes Mädchen am Zaun
stehen sah, konnte er wieder lächeln. Er lächelte und lachte ihr und
sang ihr zu:

    Schönen Kindern Liebe singen
    Ist das Amt der Poesie,

und reichte ihr galant den Arm und spazierte mit ihr in den Wald oder
auf den Kirchhof, und auf den Gräbern der Toten blühten die Küsse der
Lebenden und Liebenden wie Jasmin und Tulipan.

Gelangt er bei seiner Wanderung in eine Universitätsstadt, versammelt er
eine Genossenschaft junger trunkener Menschen um sich und singt ihnen
das schönste deutsche Studentenlied:

    Bruder, laßt uns lustig sein,
    Weil der Frühling währet ...

Sein Lorbeer grünt, wie er selber sang, auf die Nachwelt hin. Sein Name
dringt durch Sturm und Wetter der Ewigkeit ins Heiligtum.

       *       *       *       *       *

Mit Günther gleichaltrig ist der Ostpreuße _Johann Christoph Gottsched_
(1700-1766), der der deutschen Literatur mit professoraler Weisheit und
deutend erhobenem Zeigefinger: dies darfst du! und: dies darfst du
nicht! auf die Beine helfen wollte. Ich weiß nicht, ob er Günther
gekannt hat. Jedenfalls hätten ihn seine Wildheit und sein Feuer
bestürzt und erschreckt. Er war für das Manierliche und Moralische.
Bürgerlich-wohlanständig, klar, deutlich und nüchtern hatte die Poesie
zu sein. In seinem »Versuch einer kritischen Dichtkunst für die
Deutschen« stellte er eine enge und beschränkte Theorie auf und
verlangte mit der Geste eines Diktators, daß sich jeder Dichter -- immer
mal wieder -- strikt danach zu richten habe, ansonst der Herr Lehrer ihm
eine Fünf ins Büchel schreibe. Das Wichtige an Gottscheds
dramaturgischen Leistungen ist das Wagnis, das Experiment. Andere erst
sollten aus seinen Erfahrungen lernen. Der Liebling des Lesepublikums
wurde _Christian Fürchtegott Gellert_ (aus Sachsen, 1715-1769). Denn er
vereinigte die damaligen Richtungen harmonisch in sich: Gottscheds
Steifheit, Bodmers »moralische« Phantasie, Hallers gebirgiges Barock und
eine milde pietistische Frömmigkeit, die seit Gerhard und Gryphius aus
der deutschen Dichtung nicht verschwunden war. Zu seiner
Volkstümlichkeit trug nicht wenig ein ehrenfester, lauterer Charakter
bei. In ihm durfte das Bürgertum sein Ideal sehen: selbst Friedrich der
Große, der in seiner Schrift »Von der deutschen Literatur« vor der
deutschen Dichtung absolut keinen Respekt zeigte, verneigte sich
huldigend vor dem kleinen Leipziger Professor der Beredsamkeit und
Moral. Seine Fabeln, Erzählungen und geistlichen Lieder plätschern sacht
und sanft daher, hie und da mit einem Schuß gutmütiger Bosheit versehen,
gerade so boshaft, daß es nicht weh tut. Weh tun wollte diese
personifizierte Güte niemandem. Er war nicht nur ein Fürchtegott,
sondern auch ein Fürchtemensch und Fürchtetier. Daß das Tier in ihm wie
in jedem Menschen lebendig war, beweist eine in mancher Fabel
durchbrechende Lüsternheit, die zu unterdrücken seine ganze moralische
Kraft notwendig war. Denn er war zu krank, um einer animalischen Lust
recht und wahrhaft leben zu können wie _Friedrich von Hagedorn_ (aus
Hamburg, 1708-1754), der Anführer einer ganzen Schar galanter Herren,
die in erster Linie Kavaliere, in zweiter erst Dichter sein wollten und
die Anbetung der Muse und der geliebten Frau höchst zweckmäßig
vereinten.

       *       *       *       *       *

Auf dem Wege über die Romanen waren Horaz und Anakreon zu den Deutschen
gekommen. Bei dieser Wanderung hatten sie manches von ihren
ursprünglichen Reizen verloren und manches an neuen Reizen
hinzubekommen. Anakreon war in Frankreich ein leichtfertiger, eleganter
Schürzenjäger, Horaz im Gefolge der päpstlichen Höfe ein überaus
witziger, wohlbeleibter, immer leicht angetrunkener Domherr geworden,
dem ein Kranz voll Weinlaub die Tonsur verdeckte, und bei dem die
schönen Damen von Rom und Ravenna gern und willig beichteten, denn er
sprach sie lächelnd von vornherein aller Sünden ledig. Anakreon und
Horaz sind die Väter des französischen und des deutschen Rokoko: die
griechischen Götter, nach französischer Mode aufgeputzt, Eros und Silen
führten den trunkenen Reihen der Poeten, die sich griechische Namen
gaben, wie Damon oder Bathyll, und ihrer liebreizenden Schäferinnen:
Phyllis oder Chloe gerufen. Das ländliche Leben wurde Mode. Aber es war
nur ein Aufputz. Die Damen frisierten sich als Bäuerinnen, ihr Herz war
von der Natur recht weit entfernt, jede Berührung mit der wahren Natur
und ihrer Derbheit erschreckte sie. Sie kleideten sich in Hirtenkleider,
die ein Pariser Modekünstler entworfen hatte, und hüteten auf
wohlgepflegten Wiesen kurz geschorene, weiß gewaschene, saubere
Lämmchen, mit rosa Bändern am Hals und einer kleinen Glocke daran. Und
die Hirtenstäbe der Herren waren mit Silber und Gold besetzt. Die
anakreontische Lyrik beginnt, ungeschickt angeschlagen, schon bei den
Pegnitzschäfern in Nürnberg um 1644 zu erklingen, einer der sogenannten
Sprachgesellschaften, die im Anschluß an die Meistersingerschulen
entstanden. Die Dichter dieser Gesellschaft, zu denen auch der gute
_Philipp Harsdörffer_ gehört, der Erfinder des »Nürnberger Trichters«
(mit dem er den bedauernswerten Zeitgenossen die Poesie künstlich
eintrichtern wollte), führten je einen Hirtennamen und als Symbol je
eine Blume im Dichterwappen. Hagedorn und seine Kameraden sind begabter
als ihre Vorläufer im 17. Jahrhundert. Die Hainbündler, die Stürmer und
Dränger, der junge Goethe: sie konnten lange nicht von den hier
angeschlagenen Tönen loskommen. Aber außer Goethe gelang es noch einem
Lyriker, seiner im Walde der Anakreontik geschnitzten Flöte eigene Töne
zu entlocken: _Johann Georg Jacobi_ (aus Düsseldorf, 1740-1814). »Ihm
war die Grazie (-- übrigens das Lieblingswort der Epoche! --), die so
mancher Anakreontiker sich mühsam anlernen mußte, angeboren« heißt es im
Vorwort zu seinen »Sämtlichen Werken«. Verse wie die »An ein sterbendes
Kind« gerichteten, sind rhythmisch so kühn und neu, daß sie von Goethe
sein könnten.

Gottfried Keller hat in seiner Novelle »Der Landvogt von Greifensee« ein
reizendes Bild von einem ländlichen Fest gemalt, das der Zürcherische
Dichter _Salomon Geßner_ (1730-1788) auf seinem Landhaus im Sihlwald
seinen Freunden gibt. Dieser Salomon Geßner ist der Schöpfer der
deutschen Idylle. Sein Talent ist begrenzt, aber innerhalb der Grenzen
seines Talents bewegt er sich mit vollendeter Sicherheit und Anmut. Er
gehört zu den allerliebenswürdigsten Erscheinungen der deutschen
Dichtung. Geßner war einmal eine europäische Berühmtheit. Es wird nicht
besser werden in der Welt, ehe es Geßner nicht wieder ist. Wir werden
erst dann den ewigen Frieden haben, wenn arkadische Dichter wie er
wahrhaft populär geworden sind.

       *       *       *       *       *

Ist Opitz als Privatdozent, Gottsched als außerordentlicher Professor
der deutschen Literatur anzusprechen, so darf man _Gotthold Ephraim
Lessing_ (geboren zu Kamenz, 1729) den Titel eines ordentlichen
Professors und vortragenden Rates mit dem Prädikat Exzellenz nicht
vorenthalten. Er ist nicht so langweilig wie die, die sich bei ihm
langweilen. Aber er ist auch nicht der beschwingte Genius und
Fackelträger, zu dem man ihn hat empordichten wollen. Ernst, behutsam
und bedächtig suchte er mit seiner Laterne das Dunkel der deutschen
Dichtung zu erhellen, und es gelang ihm, über viele dämmerige und
nachtschwarze Stellen Licht und Erkenntnis zu verbreiten. Das besorgte
er besonders mit seinen »Briefen, die neueste Literatur betreffend«. Da
rief er Shakespeare, den Zauberer aus dem Wunderland der Wirklichkeit,
zum Zeugen auf gegen Gottscheds Schablonenidealität. Da hob er den
Mythos von Faust ans Licht, entdeckte entzückt das deutsche Volkslied
und einen verschollenen Poeten wie Friedrich von Logau. Die Schrift
Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie hat zu seiner Zeit
alarmierender gewirkt als heute in den Primen der Gymnasien. Die klare
Unterscheidung von den Möglichkeiten, von Harmonie und Differenz
zwischen Malerei und Poesie tat dazumal bitter not. Denn die sogenannte
beschreibende und malende Poesie, von Opitz eingeführt, von Haller,
Matthisson und vielen minderen fortgeführt, drohte in ihren Auswüchsen
die gerade nur erst hügeligen Ansätze einer neuen Dichtung völlig zu
verflachen. Indem er die Plastik als räumlich, die Dichtung als zeitlich
(nicht im historischen Sinne) bedingt definierte, eröffnete er auch
Perspektiven auf Raum und Zeit, auf Traum und Ewigkeit schlechthin. Er
rief den Dichtern zu: Nicht rasten! Nicht ruhen! Ruhe, Beharrung ist das
Zeichen der bildenden Kunst. Ihr müßt, berlinisch gesprochen, Leben in
die Bude bringen. =En avant!= Vorwärts! Attacke! Professor Lessing gerät
hier in Feuer. Auch in der »Hamburgischen Dramaturgie« (1767 bis 1769)
zeigt er sich reichlich temperamentvoll, wie er mit den französischen
Klassikern herumfährt, daß ihnen nur so der Puder aus den Perücken
fährt. Er restituiert Aristoteles und versetzt die wahre tragische
Handlung in die Seele des Menschen. Den Regeln, die er in der
Hamburgischen Dramaturgie aufgestellt, versucht er in einigen Dramen
nachzuleben. In »Miß Sarah Sampson« wagt er schon 1755 das Drama von
jeder Staatsaktion zu entkleiden und steigt ins gut, ins schlecht
bürgerliche Milieu hinab. Er wollte beweisen, daß nicht bloß eine
Prinzessin, sondern auch ein einfaches Bürgermädchen seine Tragödie
erleben kann. Die französischen Klassiker reservierten prinzipiell das
Tragische den Herren und Damen vom Hofe und den Göttern. In »Minna von
Barnhelm« haben wir, trotz mancher Schwächen im einzelnen, eine
wirkliche Dichtung. Professor Lessing lege seinen ersten Titel ab und
sei Dichter Lessing genannt. Mit dem Prinzen von Homburg ist der Major
von Tellheim einer der wenigen sympathischen preußischen Charaktere in
der deutschen Literatur. In »Emilia Galotti« tritt Lessing unter der
Maske des Odoardo als Richter den Fürsten seiner Zeit entgegen. Und sei
hier nicht mehr Dichter, sondern Richter Lessing genannt. In »Nathan dem
Weisen« faßt Lessing seine drei bisherigen Berufe noch einmal zusammen:
hier ist er der Philosoph, der Dichter, der Richter. Hier predigt er die
allgemeine Toleranz, die große Liebe. Der christliche Tempelherr, der
Mohammedaner Saladin und der Jude Nathan feiern den Bruderbund der
Menschheit. Die gute Idee ist nichts ohne die gute Tat. Gut denken
heiße: gut sein. Zwei Jahre nach der Vollendung des Nathan vollendete
sich Lessing selbst.

       *       *       *       *       *

Das Größte an _Klopstock_ (aus Quedlinburg, 1724 bis 1803) ist sein
patriarchalisches Pathos. Es scheint, als hätte er schon Schulpforta mit
neunzehn Jahren als Patriarch und Weltmeister verlassen. In seiner
Abschiedsrede klingt das hohe Bewußtsein einer erlauchten Berufung. Ich
will, so rief er, der Milton der Deutschen werden! -- Und er ist es
geworden. Alles, was er gewollt hat, hat er gekonnt. Wie ein Priester
hat er seines Amtes gewaltet. Und wenn er, seine Bardengesänge, die
=Bardiete=, singend, den deutschen Göttern opferte, war das Gotteshaus
gefüllt mit andächtigen Jünglingen und Jungfrauen, die in ihm den
Stellvertreter des deutschen Gottes auf Erden, den deutschen Papst,
sahen. Er goß den deutschen Wein in griechische Pokale: in seinen
»Oden«, die die fremde Form vergessen lassen, so deutsch sind sie. Er
ist spröder als Hölderlin und unserem Empfinden schwerer zugänglich
-- aber die Bekanntschaft mit ihm wiegt Dutzende heutiger Lyriker auf.
Seine zuchtvolle Strenge könnte der heutigen Auflösung gut tun. Die
jungen Dichter könnten von ihm lernen, vorausgesetzt, daß sie überhaupt
etwas lernen wollen. Der Meister Klopstock fühlte sich zeitlebens als
»der Lehrling der Griechen«. Sein episches Hauptwerk ist der »Messias«,
ein Gedicht von Sünde und Erlösung in zwanzig hexametrischen Gesängen.
Es schildert den Weg des Gottessohnes vom Himmel durch die Hölle zur
Erde und wieder zum Himmel: am schönsten in seinen hymnischen und
lyrischen Stellen. Hin und wieder verleitet ihn das priesterliche Ornat
zu zeremoniellen Gesten und oratorischen Phrasen.

       *       *       *       *       *

Zwei seelische Richtungen suchten um die Mitte des 18. Jahrhunderts
einander den Rang streitig zu machen: eine schwärmerische und eine
rebellische. Die schwärmerische ging von Klopstock und seinem Gefolge:
dem Hainbund (Hölty, Voß, Matthisson, dem Schweizer Salis-Seewis,
Claudius) aus; die zweite blühte aus wilden Studentenkameradschaften
empor, und ihr Meister hieß Johann Christian Günther. Sie selber aber
nannten sich nach einem »Sturm und Drang« (1776) betitelten Drama eines
der ihren, des Maximilian Klinger: Stürmer und Dränger. Klinger war ein
Freund Goethes, und aus ihrem Kreise ist, betreut von Herders wachsamem
Auge, der Stürmer und Dränger hervorgegangen, der sie alle überstürmen
und zurückdrängen sollte: Goethe. Wie die Bruderbünde der heutigen
jungen Dichter hatten sowohl die Hainbündler wie die Stürmer und Dränger
die Brüderlichkeit, die Weltumarmung, die Menschlichkeit auf ihre Fahnen
geschrieben, und Freundschaft galt ihnen als ein heiliges Wort. Die
bedeutendsten Mitglieder des Hainbundes waren _Johann Heinrich Voß_ aus
Mecklenburg (1751 bis 1826) und _Ludwig Hölty_, der 1776 im jugendlichen
Alter von achtundzwanzig Jahren starb, der Apollo und Adonis des Bundes:
gepriesen als der Liebling der Götter. Voß, der später die Redaktion des
Bundesorganes, des Göttinger Musenalmanachs, übernahm, darf eigenen
dichterischen Wert höchstens als Idylliker (Luise, Der siebzigste
Geburtstag) beanspruchen. Zu den harmlosen, aber hübschen Hexametern war
er angeregt worden durch Übersetzungen der Homerschen Odyssee (1781) und
Ilias, die an Wert und Wirkung den Herderschen Stimmen der Völker in
Liedern nicht nachstehen und den Blick der Deutschen auf das griechische
Heldenepos lenkten. Wenn Achilles und Hektor in Deutschland so
volkstümliche Figuren geworden sind wie Siegfried und Hagen, wenn Zeus
und Hera in der Götterwelt Wodan und Freya den Rang streitig machen, so
ist's das Verdienst von Voß, dem Ganymed, der lockige Schenke, im
olympischen Saale dafür einen besonderen Humpen Nektar kredenzen möge!

       *       *       *       *       *

Im Pantheon des Hainbundes standen die Hermen von Ossian, Klopstock und
Herder, dagegen erscholl an die Adresse _Wielands_ (1733-1813, aus
Oberholzheim) in jeder Bundessitzung ein dreifach kräftiges Pereat.
Dieser war in ihren Augen ein allzu ungezogener Liebling der Grazien.
Seine charmanten Frivolitäten, sein graziöser, klingender Stil, spielend
wie eine Wasserkunst im Schlosse irgendeines Rokokofürsten, fanden nicht
Gnade vor ihren Augen. Sie ziehen ihn der Sittenlosigkeit, der
Undeutschheit und traten seine Dichtungen mit Füßen oder verfertigten
sich aus seinen reizenden Perioden Fidibusse, mit denen sie ihre
Knasterpfeifen entzündeten, und Don Sylvio von Rosalva, der Jüngling
Agathon und die zärtliche Musarion gingen wehklagend und seufzend in
Flammen auf. Hatten die Hainbündler recht, dem armen Wieland so übel
mitzuspielen? Doch wohl nicht. Im Grunde war er ihnen verwandter als sie
ahnen oder fühlen konnten. Auch er war ein Schwärmer wie sie -- aber er
ging nicht wie sie durch eine, er ging durch tausend Schwärmereien
hindurch und war vom Pietisten bis zum Wollüstling, vom Hetärenpriester
bis zum Anbeter der mütterlichen Frau so ziemlich alles, was man sein
kann. Was seine vielen Wandlungen verklärt: er war alles mit der
gleichen Leidenschaft und Wahrhaftigkeit. Als Lyriker hatten die
Hainbündler für Wielands Kunst der Erzählung kein Verständnis. Sein
großer Roman »Agathon« (1766), die Entwicklung eines Menschen zu sich
selbst, in einem stark stilisierten Altgriechenland sich begebend, wird
immer ein Markstein in der Entwicklung der deutschen Prosadichtung sein,
die auch durch den komischen Roman »Die Abderiten« (1780), eine
Verspottung des Spießertums, Bereicherung empfing. Goethe weihte von
allen Schriften Wielands dem Heldenepos »Oberon« (1780) den Lorbeer, und
zwar im wörtlichsten Sinne: nach seinem Erscheinen sandte er ihm einen
Lorbeerkranz. Der »Oberon« ist das erste Werk, das man neben Mahler
Müllers »Genoveva« den Auftakt der Romantik noch mitten in der Klassik
nennen könnte. Abendland und Morgenland gehe so phantastisch ineinander
über wie die wirkliche und die Geisterwelt.

       *       *       *       *       *

Unter den Hainbündlern waren einige, die zwar nominell ihm nahestanden,
innerlich aber dem Sturm und Drang zugerechnet werden müssen. Unter
ihnen ist vor allem _Gottfried August Bürger_ (1747-1794, aus
Ballenstedt) zu nennen, dessen titanischem Wollen (wie den meisten
Stürmern und Drängern) nur ein sehr menschliches Gelingen beschieden
war. Hin und her gerissen zwischen zwei Frauen schwebte er zwischen
Himmel und Erde, bis ihn die Erde gnädig in ihren Schoß zurücknahm. Er
war ihr einer ihrer liebsten, aber auch unglücklichsten Söhne. Seine
Lieder an Molly sind von einer rasenden Leidenschaftlichkeit, der die
Zügel durchgehen wie einem wildgewordenen Hengste. Vollkommen bewährte
er sich in seinen Balladen. Auch die Legende von »Münchhausens
wunderbaren Reisen« (1786) muß ihm herzlich gedankt werden, so wie wir
dankbar bei dieser Gelegenheit des alten _Musäus_ (1735-1787) gedenken
müssen, der die Volksmärchen der Deutschen, darunter die Schnurren vom
grobschlächtigen, schlesischen Waldgott Rübezahl damals grade sammelte
und nacherzählte.

       *       *       *       *       *

Waren die Hainbündler mehr besinnlich und lyrisch, so waren die Stürmer
und Dränger mehr sinnlich und dramatisch, heute würde man sagen: mehr
politisch, mehr aktivistisch gerichtet. Sie litten unter der sozialen
und politischen Ungerechtigkeit des Zeitalters. Das Motto Schillers, das
er über »Die Räuber« setzte: =In tyrannos!= kann man über die ganze
Richtung setzen. Die Stürmer und Dränger waren die deutschen Vorläufer
und Brüder der französischen Revolutionäre von 1789. Wie Wilhelm II. dem
Erwachen der deutschen Dichtung aus dem patriotischen Winterschlaf nach
dem siegreichen Krieg von 1870/71 zur Selbstbesinnung, zur Erhebung, zur
Vergeistigung von seinem Standpunkt mit dem größten Recht mißtrauisch
gegenüberstand -- denn einer Revolution des Geistes pflegt eine solche
der Tat auf dem Fuß zu folgen: so standen die damaligen Souveräne dem
Ansturm der Stürmer ablehnend und erbittert gegenüber, denn es ging ums
Gottesgnadentum, es ging um Autokratie oder Demokratie schon damals. Es
handelte sich darum, ob die deutschen Fürsten ihre Untertanen als
Schlachtenfutter nach Amerika verkaufen könnten wie ein Stück Vieh, um
aus dem Erlös ihre fetten Huren und lasterhaften Gelage zu bestreiten,
oder ob der Mensch ein Mensch wie sie, ob es nicht unvergängliche
»Menschenrechte« gäbe, die niemand wagen dürfe anzutasten, der nicht ein
Hundsfott oder Lump sein wolle. In den »Räubern« und in »Kabale und
Liebe« zog Schiller gegen die Tyrannen vom Leder. Und es ist nicht zu
verwundern, wenn Karl Eugen von Württemberg sich dieser Richtung
gegenüber ähnlich äußerte wie später Wilhelm II.: »Die ganze Richtung
paßt mir nicht!« Schiller wurde 1782 vierzehn Tage in »Schutzhaft«
genommen; als der Fürst ihm wenig später überhaupt untersagte, weiterhin
»Komödie« zu schreiben, machte Schiller dieser Komödie ein Ende und floh
aus Württemberg ins Ausland. Sein Gesinnungsgenosse, der Schwabe
_Christian Schubart_ (1739 bis 1791), mußte die Auflehnung gegen die
Tyrannei mit einer zehnjährigen Gefangenschaft auf dem Hohenasperg
büßen. Er schleuderte den Fürsten die Verse der »Fürstengruft« wie
Pfeile entgegen.

_Jakob Reinhold Lenz_ (aus Seßwegen, 1751-1792) schrieb sein Drama »Die
Soldaten«, in dem er die Immoralität des Soldatenlebens attackierte.
Sein Leben wie sein Dichten zerrann ihm wie Wasser zwischen den Händen.
Die Erscheinung Goethes blendete ihn, so daß er die Welt der
Erscheinungen nicht mehr zu sehen vermochte und einer utopischen Welt
verfiel, die halbe Wahrheit und ganze Dichtung nicht mehr
auseinanderzuhalten verstand. Wäre er nur der Lenz geblieben, der er
war! Vielleicht, daß er zu einem fruchtbaren Sommer gereift wäre! Aber
er wollte ein Goethe werden.

_Maximilian Klinger_ (aus Frankfurt, 1752-1831), dessen eines Drama der
Bewegung den Namen gab, war eine bedächtigere Natur, obgleich seine
Dramen selbst aus allen Fugen zu gehen scheinen. Im reiferen Alter
resigniert er. In seinen »Betrachtungen« sind aus den Ungetümen und
Unholden, die die Fürsten im Sturm und Drang waren, schwache Menschen
geworden wie wir alle. In der Tendenz steht der Satiriker _Georg
Christoph Lichtenberg_ (aus Darmstadt, 1742-1799) den Stürmern nahe,
besonders in seinen geistvollen politischen Bemerkungen.

Als der eigentliche Prosaiker der Richtung muß _Wilhelm Heinse_
(1749-1803) betrachtet werden. Sein Renaissanceroman »Ardinghello und
die glückseligen Inseln« predigt die Idee der Kraft, der Schönheit, der
leiblichen und seelischen Nacktheit, der Scham- und Hüllenlosigkeit.
Geschrieben in einem bezaubernden Stil, dessen Wohlklang nur noch von
Geßner in seinen Idyllen und später von Jean Paul erreicht wird,
bezaubert er auch durch die amoralische Anmut seiner Gestalten und durch
die tropisch bunte Ausmalung des Schauplatzes. Der Starke hat Recht.
Aber er siegt nicht durch seine Stärke, durch rohe Gewalt allein: sie
muß sich mit Natürlichkeit, mit Geist, der Mut muß sich mit Anmut
paaren. Heinses Genie war eine brünstige Flamme. Aber wer feuersicher
ist (und nur der sollte sich ins Feuer wagen), der wird gestählt und
gefestigt durch sie hindurchgehen.

       *       *       *       *       *

_Johann Gottfried Herder_ (1744-1803, ein geborener Ostpreuße) ist einer
der Lehrmeister der Deutschen. Wären die Lehr- und Schulmeister der
Deutschen alle geartet wie er: was ließe sich aus ihnen machen! Aber der
Teufel stopft ihnen Wachs in die Ohren und verklebt ihre Augen mit Pech;
also daß sie taub und blind dem ersten besten Eselstreiber folgen, der
sie in den Abgrund führt. Über der festen Grundlage einer allgemeinen,
philosophischen und philologischen Bildung wölbte sich bei Herder in den
Gewittern seiner Zeit der Regenbogen eines großen Geistes und eines
hellen Herzens. Auf einer Reise nach Paris lernte er Diderot, einen der
geistigen Urheber der Französischen Revolution, kennen. In Straßburg
geschah jene denkwürdige Begegnung mit Goethe: der schwärmerische
Jüngling empfing aus dem Munde des gereiften und gelehrten Mannes den
mächtigsten Ansporn, die liebevollste Leitung. Herder war ein Denker des
Gefühls. Manchmal schlägt der Blitz der apriorischen Logik in seinen
Gedankenwald, ihn und uns belehrend, daß die Bäume nicht in den Himmel
wachsen. Aber um den verkohlten Stamm schlingen sich liebend und
lieblich die reinsten Gefühle, die weißesten Winden. Sein »Briefwechsel
über Ossian und die Lieder alter Völker« (1773) bedeutet weniger durch
die aufgestellten Thesen (Unterschied zwischen Kunst- und
Volksdichtung), als durch die flammende Liebe, die hier und anderswo in
seinen Schriften die Wissenschaft durchlodert. Sein Aufruf, die alten
Volkslieder zu sammeln, war eines der wichtigsten Manifeste des
deutschen achtzehnten Jahrhunderts. Er ist der Schöpfer dieses Wortes:
Volkslied. 1778-79 durfte er in seinen Volksliedern (»Stimmen der Völker
in Liedern«) dem deutschen Volk ein prachtvolles Dokument der
Volkslieder aller Zeiten und Zonen vorlegen: die fremdländischen Lieder
in Übertragungen von ihm selbst. Schon vorher war er in den Fragmenten
über die neuere deutsche Literatur gegen Affekt- und Effekthascherei
gegen die französische und griechische Mode aufgetreten und hatte das
Rousseausche »Zurück zur Natur!« für die deutsche Dichtung formuliert:
»Zurück zur Natürlichkeit! Zu den Quellen deutscher Sprache und
deutschen Volkstums! Die Kunstdichtung kann nur auf dem Acker der
Volksdichtung gedeihen. Zerstört die gläsernen Treibhäuser, und laßt das
freie Wetter über die Blüten eures Geistes brausen! Welche Blüte darin
umkommt, die ist nicht wert, daß sie geblüht hat.« -- 1777 kam Herder
auf Goethes Veranlassung als Generalsuperintendent nach Weimar. Hier
schrieb er, von Goethes Gedankenarbeit kameradschaftlich unterstützt,
die »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, den ersten
groß angelegten Versuch, die Geschichtswissenschaft aus einer Statistik
von blutrünstigen Raub- und Eroberungskriegen und den Daten der
erlauchten Herrscher zu einer Geisteswissenschaft, zu einer Wissenschaft
vom Werden und Wesen der Menschheit zu erweitern. Eine Kapitelüberschrift
wie diese: Die Erde als Stern -- wieviel besagt und beleuchtet sie schon
im Gegensatz etwa zu: König Otto der Faule (1430-1450), der üblichen
Überschrift der in Deutschland so beliebten monarchistischen
Geschichtsschreibung. -- Die letzten Lebensjahre Herders verbitterte
seine Entfremdung von Goethe und Schiller: in Schiller befehdete er den
Schüler Kants, in Goethe sah er sich selber strahlend überwunden. Als er
die Augen schloß, setzten sie ihm auf seinen Grabstein seinen
Wahlspruch, den ewigen Wahlspruch aller Jünglinge (Herder war auch als
Greis ein Jüngling geblieben): Licht! Liebe! Leben!

       *       *       *       *       *

_Friedrich Schiller_ (1759-1805) ist der Dichter der Jugend. Denn er ist
ein revolutionärer Dichter. Und die Jugend wird gegenüber einem
konservativen oder stagnierenden Alter immer revolutionär gesinnt sein.
In den »Räubern« wird jemand aus Verzweiflung über die Schlechtigkeit
der Welt zum schlechten Kerl: um den Teufel mit Beelzebub auszutreiben.
Wäre dieses Drama heute geschrieben, man würde es ein bolschewistisches
Drama nennen. (Schiller war Ehrenbürger der Französischen Revolution,
der er als Idee begeistert huldigte, und von der er sich später, als die
Realität weit hinter der Idee zurückblieb, -- wie es in Revolutionen
immer zu sein pflegt -- angewidert wegwandte.) Diese Räuber wollen die
ganze Welt zugrunde richten, um auf den Trümmern eine neue, bessere
Welt zu erbauen. Karl Moor schreitet in mancherlei Verwandlungen durch
Schillers Werke. Er ist Fiesco, der Verschwörer, der sich den Mantel des
Monarchen um die Schulter schlägt. Er ist Ferdinand, der gegen die
konventionelle Despotie und die Despotie der Konvention rebelliert. In
Carlos und Marquis Posa hat sich der geistige Revolutionär dupliziert.
Verteidigen die »Räuber« noch die Eventualität eines gewalttätigen
Umsturzes, so erscheint »Don Carlos« dagegen auch in der Sprache durch
seine Jamben gemildert, als Drama einer geistigen Revolution. Von innen
heraus sollen Staat und Menschheit, Staatsbürger und Menschen erneuert
werden. »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit« -- aus dem freien Gedanken
wird die freie Tat sprießen. Wie Spinoza auf Goethe, so hat das Studium
der Kantschen Philosophie auf Schiller den nachhaltigsten Eindruck
gemacht. Kants ethische Maximen, besonders der kategorische Imperativ,
werden in seinen späteren Gedichten und Dramen immer wieder illustriert
und paraphrasiert, die oft nur um der ethischen Forderung willen
geschrieben scheinen. Zwölf Jahre nach dem Don Carlos, im Jahre 1799,
vollendete Schiller den Wallenstein: die Schicksalstragödie des
Herrscherwillens. Der Schatten des aufsteigenden Bonaparte fiel über das
Werk. Auch Wallenstein ist ein Rebell, aber =faute de mieux=. Er kann
einen Größeren, einen Mächtigeren nicht vertragen: denn er fühlt in sich
das Prinzip der Macht rechtmäßig verkörpert. Er fällt durch den Verrat
seines Freundes Piccolomini. In den drei Teilen vom »Wallenstein« ist
Schillers Werk gegipfelt. Den vielen männlichen Rebellen in Schillers
Dramen tritt eine Revolutionärin zur Seite: Maria Stuart, der weibliche
Typ des Revolutionärs, deren Aktion sich zur Passion wandelt, die die
revolutionäre Tat durch ein revolutionäres Herz ersetzt. Nach Maria
Stuart (1800) wendet sich Schiller noch einem weiblichen Helden zu: der
Jungfrau von Orleans, der Verkörperung religiöser Vaterlandsliebe. Im
»Tell«, seinem letzten Drama, gestaltet Schiller die Idee der
»Freiheit« und nimmt noch einmal die Partei der »Unterdrückten aller
Länder«. Es berührt sich in mehr als einem Punkt mit seinem
Erstlingsdrama, den »Räubern«. Keine philologische oder moralische
Spitzfindigkeit wird übrigens darüber wegtäuschen können, daß dieses
Drama in der Tat des Tell den politischen Meuchelmord verteidigt, ja
verherrlicht, und keines dürfte sich besser für eine Festvorstellung,
vor Terroristen gegeben, eignen. Der individuelle Terror findet hier
seine glänzendste Gloriole. -- Tell scheint mir eine aus der Tiefe von
Schillers Unterbewußtsein getretene Figur seiner Jugendzeit, die gegen
Geßler (Herzog Karl Eugen), dem symbolhaft verdichteten Bild des
deutschen Duodeztyrannen, den tödlichen Pfeil richtet, um sich endgültig
von ihm zu befreien ... Als Lyriker steht Schiller hinter dem von ihm
verkannten Hölderlin, hinter Goethe, Günther, Eichendorff zurück. Seine
Gedankenlyrik gibt mehr Gedanken als Lyrik. Als Balladendichter darf er
hohen Rang beanspruchen. Seine Größe liegt in seinen Dramen. Man hüte
sich, ihn weder zu über- noch zu unterschätzen. Unschuldig schuldig ist
er an jener Kriegervereinspathetik, die sich, besonders seit 1870, in
die geschwellte Brust warf und Schillersche Formen und Schillersches
Pathos mit leeren chauvinistischen Rodomontaden füllte. Gegenüber
solcher »Idee«lichkeit kann die Goethesche »Sach«lichkeit nur heilsam
wirken, wie sie auf Schiller selbst heilsam gewirkt hat.

       *       *       *       *       *

Um diese Zeit lebten fern allen literarischen Bestrebungen, aber mit der
Tradition der deutschen Dichtung aufs tiefste verwachsen, zwei der
liebenswürdigsten deutschen Dichter, die man, wie die siamesischen
Zwillinge, immer nur zusammen nennen kann: _Matthias Claudius_
(1740-1815), der »Wandsbecker Bote«, und _Johann Peter Hebel_ (1760 bis
1826), der »Rheinische Hausfreund«. In der Gesamtausgabe der Schriften
des »Wandsbecker Boten« befindet sich am Eingang eine Zeichnung von
Freund Hein, dem Tod. Obgleich die Zeichnung ein Skelett darstellt, ist
der Tod gar nicht schrecklich anzusehen, streng, aber freundlich steht
er da. Mit Freund Hein verkehrte Claudius auf vertrautem Fuße. Er war
ihm der Freund Hein trotz aller Schmerzen, aller Dunkelheiten, die er
bringt. Sein »Abendlied« gehört zu den deutschesten deutschen Gedichten.
Sein »Rheinweinlied«: das trunkenste Trinklied. Schon in der Schule
haben wir uns mit Claudius befreundet wie mit einem guten alten Onkel,
als er uns die lustige Geschichte erzählte vom Riesen Goliath und dem
Zwerg David und von Urian, welcher die weite Reise machte. _Johann Peter
Hebel_, Volksfreund und Volksdichter wie er, ist sein jüngerer Bruder.
Ich kenne keinen Schriftsteller in Deutschland, der zu erzählen weiß wie
der ehemalige Theologieprofessor Johann Peter Hebel. Gewiß er predigt
Moral. Aber in welcher Sprache! Das ist ein Deutsch, wie es einfacher
und tiefer, zweckloser und klangvoller nicht erdacht und geschrieben
werden kann. Und die Moral, die er einer schönen Geschichte anhängt, wie
nebensächlich ist sie und nur als Schlußpunkt von Bedeutung! Die
Hauptsache ist ihm der Mensch oder das Ding »an sich«, das er
betrachtet, formt und schmerzlich sinnend oder lächelnd in seinen
Vortrag stellt. Wir sind alle wie Kinder vor ihm, und wenn wir in der
Dämmerung in den Himmel sehen und die Sterne hervorkommen: die Venus
oder die Juno, die funkelnden Himmelsfrauen, und wir ihn fragen: »Vater,
was ist mit den Sternen und mit dem Himmel?« -- dann wird er uns über
die Haare streicheln und leise sprechen: »Der Himmel ist ein großes Buch
über die göttliche Allmacht und Güte, und stehen viel bewährte Mittel
darin gegen den Aberglauben und gegen die Sünde, und die Sterne sind die
goldenen Buchstaben in dem Buch. Aber es ist arabisch, man kann es nicht
verstehen, wenn man keinen Dolmetscher hat ...« Ein solcher Dolmetscher
ist uns der rheinische Hausfreund, der alte Johann Peter Hebel.

       *       *       *       *       *

Wenn _Goethe_ (geboren 1749 in Frankfurt) heute lebte, würden ihn die
kritischen Anwälte der jüngsten deutschen Dichtung wegen seiner
Vielseitigkeit der »Gesinnungslosigkeit« zeihen. Er schrieb
nebeneinander am Werther, am Faust, an einem groben Fastnachtsspiel. Er
trug die größten Gegensätze in sich, aber es war ihm gegeben, sie alle
bis zur Reife auszutragen. Er erkannte die Notwendigkeit und Größe des
deutschen Volksliedes so gut wie die erlauchte Erhabenheit einer
pindarischen Ode oder die nüchterne Trunkenheit eines Horaz. Er bewegte
sich in der Gedankenwelt eines Plato, die alle Dinge auf eine Uridee
zurückführt, so sicher wie in den Wäldern Spinozas, welcher lehrte, vor
jedem Baum, vor jeder Blume, vor jedem Käfer anbetend ins Knie zu
sinken, denn »Gott ist in ihnen und über ihnen und durch sie wie in mir
und über mir und durch mich«. Zucht und Gebundenheit der Antike, das
über-alle-Grenzen-Schweifen der deutschen Volksseele, Dionysos und
Faust, Eros und Eulenspiegel durchdrangen sich in ihm zu höherer
Einheit. An seiner Wiege haben die neun Musen wie die sieben Schwaben
Pate gestanden. Er brauchte nur »Tischlein, deck dich!« rufen wie in dem
deutschen Märchen, so war der Tisch des Lebens für ihn gedeckt. Er war
der glücklichste Mensch, der je gelebt hat: er war an jedem Tage, in
jeder Minute und Sekunde seines Lebens mit sich selbst und seinem Ziele
einig. Es gab kein Schwanken in ihm. Immer schritt er festen und
schlanken Schrittes, Ephebe und Mann, geradeaus, den Blick auf das Herz
der Welt gerichtet. Seine Fähigkeit, Leid und Schmerz von sich
abzustoßen, da sie seine klaren Teiche nur trüben konnten, in denen so
rein sich Mond und Sonne spiegelten, ging bis zur Brutalität gegen sich
und seine Mitmenschen. Er mußte sich ganz behaupten. Er handelte in
Notwehr. Im Alter nahm er eine künstlich konzipierte Steifheit zu Hilfe,
um jene Menschen von sich fernzuhalten, die ihn seiner selbst beraubten.
Es war jene hochmütige Geheimratsgeste, von der so manche Besucher
seines Hauses in ihren Briefen und Tagebüchern entsetzt und enttäuscht
erzählen. Er saß wie Archimedes im Garten auf einer Bank und zeichnete
mit einem Stock im Sande seine Kreise, die niemand stören durfte als der
Wind oder der Regen. Denn diese waren Naturkräfte wie er.

In seinem Leben spielen die Frauen die entscheidende Rolle. Seine
Männerfreundschaften: mit Herder, mit Merck, mit Knebel, Tischbein usw.
waren trotz betonter Herzlichkeit oder Interessiertheit doch nur
Episoden. Von allen Männern, die seinen Weg kreuzten, ist für uns
Nachlebende der getreue Eckermann der gewichtigste, der, jahrelang sein
Sekretär und Famulus, in seinen »Gesprächen mit Goethe« uns die
lebendigste und persönlichste Darstellung seines Wesens und Wirkens
hinterlassen hat. Goethes Genie fand seine Befruchtung und Erlösung aber
immer erst durch die Genien der Frauen, die er liebte. Sie sind die
unbewußten Mithelferinnen an seinem Werk, das deutsche Volk hat alle
Ursache, sich vor ihnen in Dankbarkeit und Ehrfurcht zu verneigen und
sogenannten Literarhistorikern, die sich nicht schämen, Schmutz auf sie
zu werfen, gebieterisch die Tür zu weisen. Kätchen Schönkopf, seine
Leipziger Studentenliebe, zwitschernd wie ein Kanarienvogel, aber
launisch wie ein Papagei, Friederike Brion, die elegische Sesenheimer
Pfarrerstochter; die blonde Charlotte Buff, Braut seines Freundes
Kestner, der wir den zärtlichen Briefroman »Werther« verdanken; die wie
aus einer griechischen Gemme geschnittene Frau von Stein, die
glücklichste und unglücklichste Liebe seines Lebens, die treue und gute
Christiane Vulpius, der er so wacker seinerseits die Treue hielt, allen
Intrigen des Weimarer Hoflebens zum Trotz, die er, der Minister, als
Geliebte in sein Haus zu nehmen wagte, die er endlich, längst nachdem
sie ihm einen Sohn geboren, dankbar zu seiner rechtmäßigen Gattin machte
und die ihm unendlich mehr bedeutet hat als eine oberflächliche
Literarhistorik wahr haben will. Sein einsames Herz bedurfte ihrer
Herzlichkeit. Sein Sinn ihrer Sinnlichkeit. Und dann die vielen
Namenlosen, die er liebte, die Frauen in Thüringen, in der Schweiz, in
Italien. Und endlich die Suleika des »Westöstlichen Diwans«, die den
alternden Dichter zur letzten wilden Trilogie der Leidenschaft
entflammte. Welch ein Reigen von Frauen! Wir wollen keine geringer
achten, auch jene namenlosen nicht, ihnen allen sei der Kranz des
Lorbeers auf die schönen Stirnen gedrückt.

Im deutschen Sängerkrieg auf der Wartburg hat Goethe sich den ersten
Preis ersungen: im Drama durch »Faust« und »Iphigenie«, in der Prosa
durch »Wilhelm Meister« und die »Wahlverwandtschaften«, in der Lyrik
durch »Ganymed«, »Wanderers Nachtlied«, »An den Mond«, die »Trilogie der
Leidenschaft« und vieles andere. Er beherrschte die konträrsten Stile.
Sang wie ein Kind zu Kindern:

    Ich komme bald, ihr goldnen Kinder!

Und, aus dämonischer Tiefe, die Worte steigen wie Nickelmänner und Elfen
aus einem tieftiefen Brunnen, so tief wie der Brunnen auf der Burg von
Nürnberg, dessen Ende wir nicht sehen:

    Sieh, die Sonne sinkt!
    Eh sie sinkt, eh mich Greisen
    ergreift im Moore Nebelduft;
    entzahnte Kiefer schnattern
    und das schlotternde Gebein --
    Trunkener vom letzten Strahl,
    reiß mich, ein Feuermeer
    mir im schäumenden Aug',
    mich Geblendeten, Taumelnden,
    in der Hölle nächtliches Tor.

Das ist in der Postchaise am 10. Oktober 1774 von ihm gedichtet, und ich
wette, wenn ich es einem Dichter der jüngsten Generation vorlese, einem
meiner nächsten Brüder, und er kennt das Gedicht nicht zufällig (er
wird es nicht kennen: denn sie kennen weder Goethe, noch Geßner, noch
Matthias Claudius, noch Gryphius, noch Günther, noch Walter von der
Vogelweide mehr), kurz, ich meine: er wird erschüttert das Gedicht für
einen Gipfel der expressionistischen Lyrik erklären (während ihm die
Verse: »Ich komme bald, ihr goldnen Kinder« nur ein mitleidiges Lächeln
entlocken), und er wird auf Werfel als Verfasser raten. Der
Expressionismus, das heißt: die Ekstase als These, der Schrei des
Herzens als oberstes Prinzip, und in der Form: das Schleudern
erratischer Blöcke, das ist nicht erst von heute. Das haben Goethe,
Hölderlin, Klopstock schon gekonnt. (Und gar die Griechen und Chinesen:
Pindar, Li-taipe --!) Auch eine beliebte Spielart des heutigen Dichters,
der politische Dichter, findet sich schon vorgebildet 1770 in einem
Gedicht des Schweizer Lyrikers Salis-Seewis »An die Unterdrückten aller
Länder«, das Hasenclever geschrieben haben könnte (ganz zu schweigen von
der politischen Dichtung der 48er Jahre, von der noch die Rede sein
wird):

    Ihr Märtyrer für Menschenwürde,
    Vertraut der Wahrheit und der Zeit.
    Vergänglich ist des Druckes Bürde,
    Doch ewig die Gerechtigkeit!

Diese kleine Abschweifung schien mir notwendig. Vor allem auch für den
Teil des heutigen Lesepublikums, der der jüngsten Dichtung mit
Achselzucken, Lächeln und Überhebung gegenübersteht, unter Berufung auf
den klassischen Maßstab. Dieser Maßstab ist falsch. Die heutige Dichtung
der Expressionisten ist nicht unverständlicher oder absonderlicher als
irgendein hymnisches oder ekstatisches Gedicht von Goethe, mit dessen
Grundformen sie sich berührt. Dutzend ihrer Einzelerscheinungen sind
läppisch oder unerfreulich. Dies darf nicht hindern anzuerkennen, daß
ihr Kern so echt ist wie der jeder echten Dichtung. Daß sie als Reaktion
auf den Mechanismus und Rationalismus der Zeit vor dem Kriege historisch
notwendig war und ist. Und daß sie die Unterstützung durch das Volk
braucht und verdient. Wir stehen heute kulturell in einem Wellental. Nur
dann wird auch die deutsche Dichtung, die zweifellos seit der tristen
Zeit von 70 wieder im Aufschreiten ist, zu einem neuen Gipfel kommen,
der jenseits von Im- und Expressionismus, jenseits aller Ismen liegen
wird, wenn sie getragen wird von Förderung und Zuruf der Mitlebenden,
vom Vertrauen und Verständnis des Volkes. Denn wo eins das andere
nicht mehr begreift, da geraten sie beide auf Irrwege. Lest Bücher,
Deutsche, lest die Bücher eurer Dichter, und ihr werdet glücklicher und
manchmal glücklich werden. Und vergeßt nicht die Bücher jener Dichter zu
lesen, die in eurer Zeit, die eure Zeit leben: der Jungen, die sich nach
eurer Gemeinsamkeit sehnen, der Alten, denen euer herzliches Mitgefühl
die alternde Brust wärmt.

Wir kommen von Goethes Lyrik; wir wollen wieder zu ihr zurück. Immer
wieder wollen wir zu ihr. Denn jeder Gang zu ihr ist wie ein Heimweg ins
Vaterhaus. Mit dem vielleicht herrlichsten Goetheschen Gedicht, dem Lied
des Türmers, sind wir mitten im »Faust«, der rundesten Ballung, der
beseeltesten Verdichtung des deutschen Wesens. Durch dieses Drama
schreitet der Dichter selbst in tausend Gestalten: er ist der junge
Doktor Faust, der im sinnierenden Gespräch Sonntags vor dem Straßburger
Tor spaziert, und doch die Augen so weit offen hat, die hübschen
Sonntagsmädchen zu betrachten. Es ist Goethe, der mit seinen
Kommilitonen Frosch und Brander im Leipziger Ratskeller soff, bis er
unter den Tisch fiel. Es ist Goethe, der Friederike-Gretchen verführt,
der der Walpurgisnächte viele in Thüringen und im Harz erlebte, der als
Minister am Hof des Kaiser-Herzogs wirkte, und der endlich als Philemon
einen Greisenabend beschließen darf in der seligen Gewißheit, daß er die
Ernte bis zum letzten Halm in die Scheuer gebracht. Die Idee des Faust
ist die Idee des Menschen schlechthin. Aus dumpfem Dunkel steigt er
empor ins Licht. Mögen Wolken es oft verschatten, mag der Wanderer auf
dem steilen Wege straucheln: nur nicht müde werden, nicht nachlassen,
aufwärts, vorwärts, aufwärts. Der Weg -- das ist das Ziel. Der Wille --
das ist der Zweck.

    Wer immer strebend sich bemüht,
    den können wir erlösen,

singen die Engel in der höheren Sphäre, Fausts Unsterbliches tragend.
Wer je auf einer Puppenbühne, wie sie in den bayrischen Messen noch
umherziehen, das alte Puppenspiel vom Doktor Faust in fast
ursprünglicher Form gesehen hat, wird wissen, wieviel Goethe ihm
stofflich und kompositorisch verdankte. Er hat den Kasperl, im
Puppenspiel Diener des Faust, aus seinem Spiel eliminiert und seine
Rolle Mephistopheles übertragen. Trotz Goethe besteht dieses Puppenspiel
künstlerisch noch heute jede Kritik. Eulenspiegel (Kasperl) und Faust:
den komischen und tragischen Charakter des deutschen Wesens
nebeneinander zu stellen: ist ein Beweis für die naive Genialität des
Puppenspieldichters, der seinerseits auf dem 1587 erschienenen Volksbuch
von Doktor Faust und den Fastnachtsspielen des Mittelalters fußt. -- In
»Götz von Berlichingen« (1773 erschienen) schrieb Goethe nach
shakespeareschem Muster das erste Szenendrama und löste den strengen
Aktbau eines Lessing in viele lebendige Einzelszenen, deren Lichter in
der Schlußszene zu einer großen Flamme zusammenlohen. Der »Egmont« (1788
erschienen) zeigt Verwandtschaft mit dem Götz in Szenenführung und
Charakterisierung. Durch seine sittliche Kraft erhebt sich der
Unterlegene (Egmont) über den tyrannischen Sieger (Alba). Die Liebe
Egmonts zu einem kleinen Bürgermädchen anticipiert die Liebe Goethes zu
Christiane. In dem opernhaften letzten Bilde erscheint ihm auf dem Wege
zum Schaffot die Geliebte, die Insignien der beiden hehrsten Ideale:
Liebe und Freiheit, in ihren Händen haltend. -- Neben dem Faust gebührt
der »Iphigenie« unter den Goetheschen Dramen der Kranz. Das Gretchen im
Faust ist ein einfaches Kind voll unbewußter Reinheit und
Jungfräulichkeit, in Iphigenie wird die Reinheit sich bewußt
und lauterster Wille und durchdachteste und durchfühlteste Wahrheit.
Lieber Arges leiden als Böses auch nur denken, auch das Beste nicht
durch Lüge erreichen wollen: ist das thematische Motiv. Sprachlich ist
das Werk von der ersten bis zur letzten Zeile vollkommen. Die schönsten
Jamben der deutschen Sprache erklingen, und sollten deutsche Dichter je
einmal wieder Jamben schreiben wollen: sie mögen zuerst die Iphigenie
lesen, und sie werden es schamvoll bleiben lassen. Das Drama »Tasso« ist
der »Iphigenie« benachbart: stilistisch und geistig. Die Handlung soll
an einem mittelalterlichen Hof vor sich gehen: aber sie geschieht recht
eigentlich im Herzen des Dichters. Die Prinzessinnen sind nur Figuren
seiner eigenen Phantasie, und auch sein Feind Antonio kriecht aus einer
dunklen Ecke seines Gefühlslebens. »Iphigenie« und »Tasso« wurden von
der Nation ziemlich kühl aufgenommen: die Revolution in Frankreich hielt
die Welt in fieberhafter Spannung. Wir haben schon längst wieder eine
neue Revolution, die jener an Gewalt nicht nachsteht: der Befreiung des
Bürgers, die 1789 erfolgte, soll die Befreiung des Arbeiters folgen.
Aber alle Revolutionen überdauern wird das heilige Lächeln der Iphigenie
und der Schrei des Dichters im Tasso:

    Denn wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
    Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.

Denn hier geht es nicht um die Befreiung einer Klasse oder Rasse,
sondern um die Befreiung des Menschen. Goethe selber war kein
politischer Mensch in des Wortes strengster Bedeutung. In »Wilhelm
Meisters Lehr- und Wanderjahren«, dem groß angelegten Sittengemälde
seiner Zeit, wird das Verhältnis des Menschen zum Staat oder
Staatsbegriff nicht einmal gestreift. Das Theater steht im Mittelpunkt
des Interesses. Der Held entwickelt sich vom Theater zum Leben hin, vom
Schein zum Sein. Zarte und zärtliche Frauen, wie Philine und Mignon,
begleiten und befördern seinen Weg. Wie die Lehrjahre in ihrer
berstenden Fülle das prosaische Seitenstück zum Faust bilden, so die
»Wahlverwandtschaften« in ihrer Gedrungenheit und klaren Kürze das
Seitenstück zur Iphigenie.

Goethe starb nach der Vollendung seines Faust im 83. Jahre am 22. März
1832.

       *       *       *       *       *

Mit Heinse und Geßner bildet _Jean Paul_ (aus Wunsiedel, 1763-1825) das
Triumvirat der romantischen Prosadichter, von dem die heute lebenden
Deutschen so gut wie keine Ahnung mehr haben: sonst wären sie
bescheidener in ihrer Selbstkritik und im Glauben, wie herrlich weit
sie's gebracht. Jean Paul ist der größte unter den dreien, und einer der
größten deutschen Dichter überhaupt. Freilich, es ist nicht leicht, zu
ihm zu gelangen. Er hat sein Schloß mit Dornenhecken, Fallgruben und
Selbstschüssen umgeben. Sein Park ist von üppiger Wildnis. Gepflegte,
glatte Wege gibt es da nicht. Rehe grasen vor seinen Fenstern. Und die
Schwalben fliegen ihm ins Arbeitszimmer, und auf seiner Schulter sitzt,
wenn er schreibt, eine Dohle. An den Wänden hängen Spinnweben. Nachts,
wenn er im Garten wandelt, ist der Mond sein Gefährte. Seine
Gefährtinnen sind Elfen, die ihn umspielen und deren schönste ihn
menschlich liebt wie ein Mensch einen Menschen. Sie heißt Liane. Und da
der Mond nun zum Zenith steigt und die Bäume von seinem Glanze tropfen,
winkt sie leise den Genossinnen, und sie entschwinden, vergehen
strahlend im Mondstrahl. Sie zieht den Dichter ins Moos hinab, wo die
Leuchtkäfer zwischen ihren Küssen brennen. Und der Mond sinkt herab, und
die Sonne steigt herauf. Wie eine rote Rose erblüht sie zwischen den
Narzissen der Morgendämmerung.

Jean Paul war im Anfang des neunzehnten Jahrhunderts der berühmteste,
geliebteste und beliebteste deutsche Dichter. Zu seinen Füßen saßen die
schönsten Frauen, und sie seufzten und zerdrückten heimliche Tränen in
den Wimpern, wenn er ihnen aus seinem »Titan« und aus dem »Siebenkäs«
vorlas mit tönender Stimme oder zu ihnen über das Immergrün unserer
Gefühle sprach. Aber nicht nur die Damen lauschten ihm. Er hatte bei
aller Empfindlichkeit das sichere Bewußtsein der Grenzen unserer
Empfindungen, und der ewige Zwiespalt zwischen Wahrheit und
Wirklichkeit, er war auch ihm offenbar. Er überbrückte ihn mit seinem
Lächeln und seinem Gelächter. Seine komischen Erzählungen geben Kunde
davon. Jean Paul war ein glücklicher Mensch. Das Leben und die Liebe und
der Ruhm, er genoß sie in vollen Zügen. Seinem lyrischen Bruder im
Geiste: _Friedrich Hölderlin_ (aus Lauffen am Neckar 1770-1843), genannt
der Unglückliche, blieb alles dies versagt. Mit vollen Segeln wollte er
über die Wogen der Welt segeln.

    Wünscht ich der Helden einer zu sein,
    Und dürfte es frei bekennen,
    So wär ich ein Seeheld.

Aber zerfetzt trieb sein Segel zurück. Er war zu schwach gewesen. Und
höhnisch sauste um seine Stirne der Sturm. Wer kannte ihn? Wer wußte,
wer er war? Schiller protegierte ihn so lange, als er schillerisch
dichtete. Als er begann, seinen eigenen Gesang zu singen, wandte er sich
von ihm. Im »Hyperion« blättert Hölderlin sein inneres Leben vor uns
auf. Er litt unendlich: unter seiner Liebe zu Diotima, unter seinem Haß
gegen die Gegenwart. Ganz schwang er sich aus ihr und lebte nur als
Vergangener oder Zukünftiger. Sein Volk begriff ihn nicht. Bittere Worte
fand er für die Deutschen, die bittersten, die ihnen wohl je von einem
Deutschen aus liebender Seele gesagt worden sind (im vorletzten Briefe
des Hyperion an Bellarmin). Als Hölderlin 1803 aus Bordeaux
zurückkehrte, wo er eine Hauslehrerstelle verwaltet hatte, erschien er
den Freunden verwirrt und auseinandergefallen. Er gab über das
Erlebnis, das ihn wie mit einem Eisenhammer auf die Stirn geschlagen
hatte, keine Auskunft. Diotima starb zehn Tage nach seiner Rückkehr. Er
mag im medizinischen Sinne wahnsinnig geworden sein. Er hat aber immer
eine tiefe Klarheit des Gefühls bewahrt und behalten. Es war ihm einfach
der Nabelstrang zerrissen, der ihn mit der Realität verband. Er schwebte
in den Wolken und wußte von dieser Erde nur noch gerade soviel, wie ein
verklärter Geist, der von ihr erlöst und nun auf eigenem Gestirn
wandelt. Die Gedichte aus seiner sogenannten Wahnsinnszeit gehören zum
Dunkelsten, aber zum Tiefsten, was aus der deutschen Lyrik entsprossen
ist: schwarze Rosen, Blumen der Passion.

       *       *       *       *       *

Als die Klassiker ihre Tempelbauten errichteten, da kroch nach und nach
viel Winde und Efeu die dorischen Säulen empor: viel Epigonentum, das
den steilen Weg zum Himmel, den sie gestemmt, benutzen wollte. Es gab
aber auch Zimmerer und Maurer, die bauten trotzig ihre profanen Häuser
neben die Hallen der Hehren; können wir's nicht im großen, so wollen
wir's ihnen im kleinen gleich tun und wenigstens im kleinen eigen sein.
Oder sie bauten, wie die Klassiker nach oben in den Himmel, nach unten
in die Erde hinein: sie rissen die Erde auf und legten Stollen und Gänge
an: das Geheimnis des Dunkels und des Halbdunkels wurde entdeckt. Jene
waren Sonnen-, diese Goldsucher. Bei diesen Bergwerksarbeiten gelangten
sie dann nebenher zu allen möglichen Erkenntnissen, die sie nicht
gesucht hatten, die ihnen in den Schoß fielen. Sie lernten das Leben der
unterirdischen Tiere, der Engerlinge und Maulwürfe, beobachten und kamen
an den Ursprung mancher Wurzel. Dann und wann trafen sie mit ihrem
Spaten auf ein historisches oder prähistorisches Skelett. Sie brachten
es ans Licht und suchten es zu bestimmen. Und wenn sie auch keine
Entdeckung machten wie Goethe mit seinem Kieferknochen: sie entdeckten
die Lebendigkeit des Todes. Der Tod war ihnen, Novalis lernte es beim
Tod seiner Braut, der mädchenhaften Sophie von Kühn, begreifen, kein
rein tragisches Problem mehr: schicksalhaft verhängt, konnte er selbst
den Überlebenden beseligen; wie er den Toten vollendete, dem
Überlebenden auch zur Vollendung dienen. Die Menschen, die dem Leben von
der anderen Seite beizukommen suchten, das waren Romantiker. Es ist
klar, daß diese Umkehrung der Erdkugel, dies Auf-den-Kopf-Stellen der
Dinge und Begriffe, dies die Sterne auf die Erde Herunterholen in der
extremsten Fassung zum Paradoxon einerseits, zur Anbetung des Fragmentes
anderseits führen mußte. Weder Tieck noch Brentano sind der Versuchung
überspitzter Experimente entgangen. Einzig Novalis und Eichendorff,
jener der edelste und zarteste, dieser der kräftigste Schoß am Strauch
der Romantik, haben sich zur Vollendung entwickelt. Der Hang, mit sich
selber und den anderen Zwiesprache zu halten, mußte zur ernsten und
heiteren Geselligkeit führen, bei der die Frauen -- wie sollte es anders
sein? -- das große und das kleine Wort führten. Ohne _Bettina von Arnim_
und _Rahel Varnhagen von Ense_ ist die Romantik nicht zu Ende zu denken.
Aus den Tiefen der deutschen Volkspoesie hoben _Arnim_ (aus Berlin,
1781-1831) und _Brentano_ (aus Ehrenbreitstein, 1778-1842) jene
wundervollen Volkslieder, die sie in des »Knaben Wunderhorn« sammelten.
Sie selber freuten sich wie Kinder daran -- und Kinder waren alle
Romantiker irgendwie und irgendwo, abgesehen von den würdigen Brüdern
Schlegel, den wissenschaftlichen Verfechtern der Theorie und (manchmal)
Spiegelfechterei. Bettina-Goethes »Briefwechsel mit einem Kinde« ist ein
typisches Produkt des romantischen Geistes: halb wahr, halb erfunden,
Dichtung und Wahrheit, tief echt -- und dennoch da und dort, der
Wahrheit zuliebe -- verlogen. Arnim und Brentano machte es einen
Heidenspaß, in des »Knaben Wunderhorn« eigene Gedichte einzuschmuggeln.
Wie Kinder erzählten sie sich auch mit Vorliebe Märchen oder ließen sie
sich von den Gebrüdern _Grimm_ (»Deutsche Kinder- und Hausmärchen«)
erzählen und schrieben Märchendramen. Im Märchen und im kleinen Liede
gelang ihnen ihr Schönstes, wenngleich sie auch im Romane rühmliche
Leistungen aufzuweisen haben. Sie träumten so gern und sangen sich
gegenseitig mit ihren Wiegenliedern in Schlaf. Und in ihren
Schlaf tutete der Nachtwächter Bonaventura: schön und schauerlich. Aber
sie hörten ihn längst nicht mehr. In ihren Träumen klagte die Flöte. Die
kühlen Brunnen rauschten. Golden wehten die Töne nieder. -- Hatte man
ausgeschlafen und ausgeträumt, ritt man am Morgen in die Landschaft,
speiste draußen in einem Dorf zu Mittag, tanzte mit den Dorfschönen und
traf sich abends zu gelehrtem Gespräch mit den Schlegels. Man
disputierte über die Shakespeareübersetzung _August Wilhelm von
Schlegels_ (aus Hannover, 1767-1845) oder über _Friedrich von Schlegels_
(1772-1829) »Sprache und Weisheit der Inder«. Friedrich Schlegel sprach
mit Feuereifer über die östlichen Kulturprobleme, aber er hörte es nicht
gern, wenn man ihn an seinen erotischen Roman »Lucinde« erinnerte. Ganz
in der katholischen Welt ging _Novalis_ (Friedrich v. Hardenberg aus
Wiederstedt, 1772-1801) auf. Ihm war die Geliebte gleichbedeutend mit
der Madonna.

    Ich sehe dich in tausend Bildern,
    Maria, lieblich ausgedrückt.

In den »Hymnen an die Nacht«, der wahren Göttin der Romantik -- die
Klassiker hatten den Tag geliebt und gepriesen, die Sonne war ihr
Symbol, das Symbol der Romantiker: der Mond -- gab Novalis sein
Tiefstes.

       *       *       *       *       *

Eichendorff und Hölderlin sind Nord- und Südpol der deutschen Lyrik.
Goethe ihre Erdmitte. Hölderlin: ein Einziger unter den Deutschen, der
hieratische Priester der heiligsten Empfängnis, der strengsten
Verkündigung: Kind und Greis. Anfang und Ende. Goethe: der Mann,
gewaltig schreitend, Flamme und Tuba. Eichendorff: das deutsche All im
Regenbogen. Herz des Jünglings im Sommerabend wie eine erste und letzte
Rose ausbrechend: durchblühend die Nacht bis zum Morgenrot. Eichendorff:
das Volkslied. Goethe: die Trilogie der Leidenschaft des geistigen
Menschen. Hölderlin: der Gottgesang. Wohl über ein halbes Hundert der
schönsten deutschen Gedichte ist der schwärmenden, unbeirrbaren Einfalt
des ewigen Jünglings _Eichendorff_ (1788 geboren auf Schloß Rubowitz in
Schlesien, gestorben 1857) gelungen. Darunter ein Dutzend der
allervollkommensten: »Zwielicht«, »Abend«, »Nachtgruß« -- so sind sie
überschrieben. Es ist die deutsche Sommernacht, welche zu tönen beginnt:

    Nacht ist wie ein stilles Meer,
    Lust und Leid und Liebesklagen
    Kommen so verworren her
    In dem linden Wellenschlagen.

Am Fenster lehnt ein junger Mensch und sieht hinaus in den milden Mond:
der schwebt wie eine goldene Träne an seinen Wimpern. Da klingt aus
weiter Ferne der Ton eines Posthornes -- zwei junge Gesellen wandeln
schattenhaft vorbei. --

Neben dem schlesischen Junker wurde auch ein preußischer Junker:
_Heinrich v. Kleist_ (aus Frankfurt a. O., 1777 bis 1811), vom
romantischen Geist ergriffen. Eine Beziehung zwischen der märkischen
Sandheide und dem romantischen Märchenland scheint sich kaum zu finden.
Kleist fand sie, indem er das Märchen realisierte. Den Traum
verwirklichte. Nüchtern raste. Einen Rausch der Sachlichkeit empfand.
Die Phantasie entzauberte. Bei ihm rauscht kein Brunnen in der
verschlafenen Sommernacht: sondern ein Krug geht zum Wasser -- bis er
bricht. (»Der zerbrochene Krug.«) Den intellektuellen Frauen der
Romantiker stellt er jene süße, kindliche, unwissende, reine Gestalt des
Käthchens von Heilbronn gegenüber: die liebt, weil sie lieben muß. Die
unerschütterlich an ihr Herz glaubt, das Gott ihr verliehen, und die
gekrönt war, längst ehe sie gekrönt ward. Welch ein Gegensatz zwischen
ihr und der rasenden Amazone Penthesilea, die den Pelion auf den Offa
türmen will, um den Himmel zu erreichen. Aber ihre Kraft erweist sich
als zu schwach. Die Berge bröckeln aus ihrer Hand, und schließlich
stürzen sie donnernd über ihr zusammen. Es ist die Tragödie der
grenzenlosen Forderung: alles oder nichts. Es ist die Tragödie des
Menschen, der über sich hinaus will, aber niemals über sich hinaus kann.
Penthesilea ringt mit den Göttern Griechenlands. Der »Prinz von Homburg«
mit dem preußischen Gotte der Disziplin. Pflichterfüllung bis zum
äußersten war dem Homburgischen Prinzen gesetzt. Er hat sie verletzt und
soll den Tod erleiden. Zuerst erscheint ihm der Tod als etwas
Unfaßbares, er bricht unter der Last der Furcht zusammen: aber es
gelingt ihm, sich emporzureißen, und das Gesetz der inneren Pflicht
erkennend, sich ihm freiwillig zu beugen. Er wird aus einem unfreien zu
einem freien Menschen. Die Todesnähe bringt ihm das wahre Leben der
sittlichen Notwendigkeit nahe. Er hat den Tod in sich überwunden, so
braucht er nicht mehr zu sterben.

    Von der Gewalt, die alle Wesen bindet,
    Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.

In die Hermannschlacht hat Kleist seinen Napoleonshaß gegossen. Wie
flüssiges Feuer durchbraust er das Drama. Er schäumt wie ein Wolf von
den Lefzen auf der Jagd nach dem napoleonischen Fuchs. Napoleon ist ihm
der Inbegriff der Tyrannei, der Ungerechtigkeit -- und nichts ertrug
Kleist weniger. In seinen lyrischen Haßgesängen (Germania und ihre
Kinder usw.) hat er alle Lissauers des Weltkrieges an Blutdurst,
Rachsucht und inbrünstigem Haß gigantisch übertroffen. Dieser
pathologische Haßausbruch ist nur aus Kleist's empörten und verwundetem
Gerechtigkeitsgefühl zu verstehen. Auch sein Michael Kohlhaas, der Held
der gewaltigsten deutschen Novelle, wird aus verletztem Rechtsgefühl zum
Mörder.

Vom Märchen zum Traum, vom Traum zu den Geistererscheinungen ist nur ein
Schritt. Bei Geistern und Gespenstern kannte sich vortrefflich der
genialistische _E. Th. A. Hoffmann_ (aus Königsberg, 1776-1822) aus. In
der Komposition von Erzählungen hat er in Deutschland so leicht nicht
seinesgleichen. Vor dem Schlafengehen soll man sie nicht lesen. Man hat
leicht eine schlaflose Nacht und kommt am Ende dazu, sich vor sich
selbst zu fürchten. Solche Dämonen beschwört der unheimliche Zauberer
aus unserer eigenen Brust heraus.

       *       *       *       *       *

Von Österreich, dem deutschen Sprachgebiet an der Donau, haben wir seit
der Zeit der Minnesänger wenig mehr gehört. Jetzt beginnt's auch in und
um Wien wieder lebendig zu werden. Sie präferieren die bunte Gaudi der
Romantik. Geister und Zwerge mitten zwischen den Menschen, das ist noch
was, das laß ich mir gefallen. Gehen Sie mir mit dem Wallenstein! Mit
solchen Leuten haben wir immer Pech. (Vide: Conrad Hötzendorff.) Ein
Geistertheater auf dem Prater, das ist billiger, kostet kein Blut und
unterhält und belehrt gleichzeitig. _Ferdinand Raimund_ (1790 bis 1865)
schrieb den Wienern solch scharmantes Geistertheater: »Der Alpenkönig
und der Menschenfeind.« Und des biederen und klugen _Nestroy_
(1802-1862) Volksstücke! Das ist Österreichertum, herzlich und ironisch,
von der besten Seite. _Franz Grillparzer_ (1791-1872) nahm das
österreichische Problem (in »König Ottokars Glück und Ende«, »Ein treuer
Diener seines Herrn«, »Ein Bruderzwist in Habsburg«) tragischer.
Stofflich ein Romantiker, stilistisch eher ein Klassiker zu nennen,
teilte er seine Stoffe zwischen Österreich und Hellas (Sappho, eine
Dichtertragödie, dem Tasso nicht unebenbürtig -- Das goldene Vließ --
Des Meeres und der Liebe Wellen, die holdeste deutsche Liebestragödie).
Der tschechischen Mythologie entnahm er sein tiefstes Werk: Libussa, den
alten Gegensatz zwischen Natur und Kultur behandelnd. Sein unerfülltes
Liebesleben mit der ewigen Braut, mit der er rang wie mit der Muse
selbst, hat viele Quellen in ihm verschüttet, die vielleicht
aufgesprudelt wären, wenn er am eigenen Leibe und eigener Seele Eros zu
tiefst verspürt hätte.

Elegisch beschließt die österreichische Romantik _Nikolaus Lenau_
(1802-1850), ein Deutschungar. Er starb wie Hölderlin im Wahnsinn,
nachdem er, mit dem Herzen eines Zigeuners und dem Munde eines
Deutschen, die melancholischen Lieder der Steppe und der Schilfteiche
gesungen.

       *       *       *       *       *

Die Dichter der Befreiungskriege _Theodor Körner_ aus Dresden,
(1791-1813, »Leier und Schwert«), _Max v. Schenkendorf_ (aus Tilsit, von
1783-1817), _Ernst Moritz Arndt_ (von Rügen, 1769-1860) und viele andere
standen bei den Monarchen und ihren Lakaien, den Lesebuchfabrikanten,
lange in großem Ansehen. Ihre soldatische Lyrik diente nämlich dazu, die
wahren Motive und vor allem den Schlußeffekt der »Befreiungskriege« zu
verschleiern. In den Gedichten kämpfte der Soldat für Weib und Kind, für
Heimat und Herd, für die heiligsten Güter der Nation, in Wahrheit jedoch
für die Restitution der schwärzesten Reaktion, der Napoleon, Erbe der
Französischen Revolution und ein liberaler Geist gegen die
mittelalterlich verträumten oder verbohrten deutschen Fürsten, beinahe
ein Ende bereitet hatte. Dem Ende mit Schrecken (1806) folgte seit 1813
der Schrecken ohne Ende. Das Versprechen der Verfassung wurde nicht
gehalten. Selbst die erprobtesten Patrioten, wie Turnvater Jahn und
E. M. Arndt gerieten in Auflehnung und Empörung. Sie forderten das
unverjährte Recht der Pressefreiheit und Verfassung und hielten der
aufsteigenden Jugend, die sich besonders betrogen glaubte, denn um sie,
um ihre Zukunft ging es, tapfer die Stange. Die freiheitliche Bewegung
der Jugend sammelte sich in der Burschenschaft und fand ihren imposanten
Ausdruck im Wartburgfest (1817). Sie wurde bald verboten und Männer wie
Arndt und Jahn verhaftet. Arndt wurde seiner Professur entsetzt. Was ist
aus der deutschen Studentenschaft, der Burschenschaft, einst Träger des
revolutionären deutschen Gedankens, geworden! Und was hat Deutschland zu
gewärtigen, wenn seine Jugend nicht erwacht?

       *       *       *       *       *

Das Umsichgreifen der europäischen und insbesondere der deutschen
Reaktion seit dem Ende der »Freiheits«kriege rief die deutsche Jugend
auf den Plan zum Kampf um die persönliche und allgemeine Freiheit. Das
»junge Deutschland« stand auf und schleuderte von seiner Schleuder wie
weiland David Kiesel und Steine gegen den Goliath der Reaktion. Der aber
stand fest und lachte dröhnend, und der Kieselregen war ihm wie
Mückenschwärmen. Hin und wieder packte er sich einen kleinen David und
setzte ihn hinter Festungsmauern. Das »junge Deutschland« ist viel
angegriffen worden: mit Recht und Unrecht. Dichterisch sind die
Leistungen der politischen Lyriker um 48 meist recht armselig, _Herwegh_
(aus Stuttgart, 1817-1875) einzig schwingt sich über die andern empor
»wie eine eiserne Lerche« (Heine). Aber man packte sie nicht bei der
Achillesferse ihrer dichterischen Leistung, man griff sie dort an, wo
sie unangreifbar waren: in der Gesinnung. Die politische Lyrik der
heutigen Zeit: des heutigen »jungen Deutschland«: Ehrenstein, Becher,
Hasenclever, hat viele Ähnlichkeit in den Tendenzen mit der damaligen,
wenngleich sie im Formalen gewichtiger geworden ist. Auch sie bieten im
Künstlerischen viele Angriffspunkte. Aber man hüte sich, wie eine
gewisse Kritik auch heute es übt, sie ihrer Gesinnung wegen im
Dichterischen zu beanstanden. Da sind sie wie jene unantastbar. Die
besten politischen Gedichte haben die gedichtet, die, wie Platen und
Heine, auch »nebenbei«, nämlich in der Hauptsache, reine Lyriker waren.
Sie opferten weder das Herz noch die gestaltende Kraft der politischen
These und Phrase. Die Dichtung untersteht der reinen Vernunft, jener
Göttin, die im absoluten Bezirke unbezwinglich thront. Politik und Kunst
können sich mischen, gewiß. Ihre Vereinigung zum Gesetz erhoben, heißt
Un-ding und Un-sinn zur Un-tat zwingen. Der Dichter hat die Pflicht,
Politiker zu werden: vermöge seiner geistigen und moralischen Kräfte,
angesichts seiner Stellung im Horizont der Menschheit. Er hat aber auch
die Pflicht, Dichter zu bleiben, d. h. mythischer Diener der
Wörtlichkeit und Künder des reinen Klanges. Herwegh ist gewiß eine
respektable Erscheinung, aber nur von 48er Ideologien, von dem Symbol
des politischen Dichters als des Dichters schlechthin gefangene
Schwarmgeister werden in ihm einen großen Dichter sehen. Er war ein
kleiner Dichter, aber immerhin ein Dichter. In seinen Versen rauscht die
schwarzrotgoldene Fahne und klirren die Sensen aufrührerischer Bauern.
Historisch sind die 48er Lyriker als die Träger des Revolutionsgedankens
von größter Bedeutung. Alle Revolutionen sind mehr oder weniger von
Literaten gemacht worden. Jahre und oft Jahrzehnte schon vor der
Explosion begannen sie, Bomben zu legen und zu minieren. Das menschlich
wie dichterisch fortreißendste Revolutionslied stammt von _Heinrich
Heine_ (aus Düsseldorf, 1797-1856): »Die schlesischen Weber«:

      Im düstern Auge keine Träne,
    Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
    Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
    Wir weben hinein den dreifachen Fluch:
      Wir weben, wir weben!

Um keinen deutschen Dichter ist so heftig der Kampf der Meinungen
entbrannt wie um Heine. Man hob ihn in den höchsten Himmel. Stieß ihn in
die tiefste Hölle. Man bleibe in der Mitte: lasse ihn auf Erden: hier
war sein Platz und wird es immer sein als der eines tapferen Soldaten
des Geistes und eines eigen- und einzigartigen Liedersängers. Er gehört
mit Goethe, Eichendorff, Mörike zu den Meistern des deutschen Liedes:
jener besonderen, dem Volksmunde entnommenen deutschen Dichtform, einer
Form, wie sie die Romanen nicht kennen. Schmerz und Lust, Tod und Liebe
sind die einfachsten Themen seiner einfachen Lieder. Laßt nur auf
Schmerz sich Herz, auf Tod sich Morgenrot reimen: es sind die schönsten
Reime, die man dazu finden kann. Man braucht sie gar nicht erst zu
suchen, sie sind schon da: sie sind als Reimpaare in der deutschen
Sprache und im deutschen Herzen zur Welt gekommen. Aber Heine singt
nicht immer so einfache Lieder. Zuweilen wird es ihm unerträglich, daß
jemand Fremdes aus seiner Seele lauscht. Er zerreißt die Saiten und die
Töne plötzlich. Dissonanzen schrillen. Oder er nimmt gar die Laute und
schlägt sie dem philisterhaften Greise, der ihn wie Susanne im Bade in
seiner Nacktheit belauscht, auf den hohlen Schädel und um die Ohren.
Diese ironischen Gedichte, gegen den Philister überhaupt und den
Philister in der eigenen Brust gerichtet, gehören zu den merkwürdigsten
Expressionen des menschlichen Pessimismus. Mit _Ludwig Börne_ (aus
Frankfurt, 1786-1837) und _Karl Gutzkow_ (aus Berlin, 1811-1878)
bekämpfte Heinrich Heine von Paris aus, wohin er aus dem gastlichen
Deutschland geflüchtet war, »die Tyrannen und Philister«. Diesen Kampf
vom Ausland her (man warf ihm, genau wie während des Weltkrieges den
deutschen Emigranten in der Schweiz, vor, daß er mit vergifteten Pfeilen
Deutschland in den Rücken schieße) hat man ihm besonders übel genommen,
und ganz besonders übel seine Stellung zu den Hohenzollern. Er erwies
sich aber in seinen politischen Bemerkungen und Schriften (»Französische
Zustände« usw.) als Politiker von untrüglichem Instinkt und
adlersicherem Blick. Man höre, wie er in der »Lutezia« die europäische
Zukunft beurteilt. Er prophezeit ein großes »Spektakelstück«, den
»gräßlichsten Zerstörungskrieg« zwischen Deutschland und
England--Frankreich--Rußland. »Doch das wäre nur der erste Akt des
großen Spektakelstückes, gleichsam das Vorspiel. Der zweite Akt ist die
europäische, die Weltrevolution, der große Zweikampf der Besitzlosen mit
der Aristokratie des Besitzes, und da wird weder von Nationalität, noch
von Religion die Rede sein: nur ein Vaterland wird es geben, nämlich die
Erde, und nur einen Glauben, nämlich das Glück auf Erden ...«

Heine war nicht nur Dichter, er war vor allem Schriftsteller. Als
solcher hat er unter- und überirdisch eine Wirkung ausgeübt, die nicht
leicht überschätzt werden kann. Er ist der Prototyp des
Zeitungskorrespondenten: der erste europäische Journalist und
Feuilletonist. Daß seine Wirkung nicht nur heilsam war: wollen wir's ihm
ankreiden oder nicht vielmehr seinen törichten und anmaßenden Epigonen?
Freilich, auch er ist gestrauchelt: in so mancher seiner privaten
Polemiken (gegen Platen z. B.). Er hat dies und vieles mehr gebüßt in
seiner »Matratzengruft« in jahrelangen Leiden, die ihn ans Bett
fesselten und zum langsamen Tode verurteilten. Er nannte sich selber der
»Arme Lazarus«. Und unter den Lazarusgedichten finden sich seine
echtesten und ergreifendsten Gedichte. Alle seine Schmerzen legte er in
ihnen bloß. Er war schon lange des Lebens müde geworden. Die vielen
Frauen, die ihn geliebt hatten, waren von ihm gegangen. Geblieben war
bei ihm sein »dickes Weib Mathilde« und eine kleine letzte Freundin: die
Mouche, wie er sie nannte, die Fliege. Aber sie vermochte nur selbst zu
fliegen, ihm selber konnte sie das Fliegen nicht mehr beibringen. Er war
so sterbensmüde geworden:

    Gut ist der Schlaf, der Tod ist besser -- freilich
    Das Beste wäre nie geboren sein.

Und oft sprach er vor sich hin, wenn niemand ihn hörte:

    Der Tod, das ist die kühle Nacht,
    Das Leben ist der schwüle Tag,
    Es dunkelt schon, mich schläfert ...

       *       *       *       *       *

Über den sogenannten schwäbischen Dichterkreis sind wir mit Heine einer
Meinung. Die schwäbischen Dichter, unzählbar wie der Straßenstaub in
Stuttgart, zeichnen sich durch eine betonte Philisterhaftigkeit aus.
Wenn ihrer trefflichen, wohlgerundeten Gattin sonntags die Klöße oder
die Spätzle nicht recht gerieten, dann ziehen sie die Stirne kraus, die
Adern schwellen, und auf dem Kopf die Nachtmütze zittert vor Erregung.
Sie laufen erregt durchs Zimmer und stolpern wohl über die Quasten und
Bommeln ihres Schlafrockes. Und sind erst beruhigt, wenn Mutter die
Pfeife stopft und einen extra guten Kaffee zum Nachtisch kocht. Da
schwellen die Adern ab, die Nachtmütze beruhigt sich. Die Jüngste bringt
ein blaues Schreibheft von Vaters Schreibtisch, die Älteste Tinte und
Gänsekiel. Und, bewacht und betreut von den Seinen, beginnt Vater zu
dichten. _Ludwig Uhland_ (1787-1862) ist in Tübingen geboren, und der
Geist dieser kleinen Wald- und Universitätsstadt war der seine. Ernste
Wissenschaftlichkeit in den grauen Hörsälen, das heitere Spiel der
Wolken und Winde über den bebäumten und wiesengrünen Hügeln. Und wie in
den Gasthäusern der Dörfer rings um die Studentenstadt die Rapiere der
schlagenden Verbindungen klirrten, so stand Ludwig Uhland ewig auf der
Mensur für »das gute alte Recht« des Volkes, für Deutschtum und
Demokratie gegen die kleinliche Tyrannei der kleinen Fürsten. Er wurde
1848 als Vertreter der demokratisch-großdeutschen Fraktion in das
Frankfurter Parlament gewählt, nachdem er schon 1833 seine Tübinger
Professur für deutsche Literatur wegen politischer Differenzen mit der
württembergischen Regierung niedergelegt hatte. Seine eigentliche
poetische Produktion fällt in die erste Hälfte seines Lebens. Da sang er
jene schönen Lieder, die längst in den Volksmund übergegangen sind: »Ich
hatt' einen Kameraden« und Balladen wie »Das Glück von Edenhall«. Als
Balladendichter ist neben Uhland der Schlesier _Moritz Graf Strachwitz_
(1822-1847) hervorzuheben, der mit Günther, Büchner, Hauff zu jener
edlen Reihe jung verstorbener deutscher Dichterjünglinge gehört, die der
schwärmerischen Liebe ihres Volkes immer gewiß sein werden. Die Ballade
nach der komischen Seite hin bearbeitete in lustigen gereimten Schwänken
der weinselige _August Kopisch_ (1799-1853), dessen »Heinzelmännchen«
wir als Kinder mit brennenden Augen, dessen »Historie von Noah« wir als
Studenten mit weinfeuchten Augen lasen. Der alte Kopisch saß mit seiner
roten Nase in unserer Korona auf dem Schloßberg von Heidelberg, hob mit
der einen Hand den goldgefüllten Römer, mit der anderen den Zeigefinger
und sprach warnend: »Trinkt kein Wasser, Kinder! Ihr kennt die
Geschichte von der Sintflut? Trinkt kein Wasser,

    dieweil darin ersäufet sind
    all sündhaft Vieh und Menschenkind ...«

Daß der leichtblütige und leichtsinnige Kopisch der beste Freund des
schwermütigen und schwerblütigen Grafen _Platen_ (aus Ansbach,
1796-1835) war, mag nachdenklich stimmen. Aber vielleicht hatte Platen
Kopisch nötig wie Kopisch -- den Wein. Um sich in der Misere seines
Lebens mit Heiterkeiten hin und wieder zu betrinken. Platens Schicksal
war die Männerfreundschaft und Knabenliebe. Er suchte Adonis, ohne ihn
zu finden. Seiner inbrünstigen Sehnsucht nach einem Echo seines Herzens
verdanken wir die schönsten deutschen Sonette. In Syrakus ist er
gestorben, vielleicht, wie er einst sang, im Arme des endlich gefundenen
Götterjünglings.

       *       *       *       *       *

Es gibt ein Wort: Nur wer wahrhaft schlecht gewesen ist, kann wahrhaft
gut werden. Buddha selber muß in einem früheren Leben einmal ein Mörder
gewesen sein. Niemand sehnt sich so brennend nach Erlösung wie der
Unreine, der Verfehmte, wie der Verbrecher, der seines Verbrechens sich
bewußt wird. _Friedrich Hebbel_, ein Bauernsohn aus Dithmarschen
(1813-1860), war vielleicht das, was man einen bösen Menschen nennt.
Von Dämonen gehetzt brach er, ein verhungerter Wolf, an dem man jede
Rippe einzeln zählen konnte, in die Lämmerweide der deutschen Dichtung
ein. Jedes Mittel war ihm recht, seinen geistigen Hunger zu stillen. Er
schlug Eide in den Wind und verriet Frauen, die ihn liebten, und ohne
die er krepiert wäre -- um der Idee zu dienen. Er war ein armer
Schächer, ans Kreuz dieses Lebens geschlagen. Er häufte Schuld auf
Schuld -- und wußte darum und litt darunter. Die erschütterndste
Tragödie, die er schrieb, ist sein Leben. Wir leben es erschüttert mit,
während wir die Dramen, die er schrieb, nur staunend respektieren.
Lieben können wir den Menschen Hebbel. Den Dichter wollen wir
ehrfurchtsvoll salutieren. Am liebenswürdigsten zeigt er sich noch in
seinen Gedichten. Es ist psychologisch beachtenswert, daß Hebbel selbst
seine Lyrik für seine bedeutendste dichterische Leistung hielt. Er
selbst konnte wohl gedanklich, aber gefühlsmäßig mit seiner wie ein
Eisengerüst konstruierten Dramatik nicht mit. Seine Logik überspitzte
sich (in Maria Magdalena, in Agnes Bernauer). Er verfolgte ein Problem
noch über seine Lösung hinaus und bewies dadurch, daß ihm das Problem an
sich wichtiger war als das Leben, welches die Probleme stellt. Seine
Dramen sind alle irgendwie erstaunlich, man muß, wie der Wärter im
zoologischen Garten auf sonderbare Tiere, mit dem Stock darauf zeigen.
Seine Nibelungentrilogie ist eine Monstrosität. Der Vollendung am
nächsten kommt vielleicht sein Jugendwerk »Judith«, in dem das Problem
des Zwiespalts zwischen Neigung und Pflicht, zwischen Sinnlichkeit und
Sinn, zwischen ethischer Forderung und menschlicher Schwäche klar
gestellt und klar beantwortet wird. Die Witwe von Bethulia nahm eine
Aufgabe auf sich, der sie als Mensch zwar, doch nicht als Weib gewachsen
war. Das ist ihre Tragik. Hebbel nahm eine Aufgabe auf sich, der er als
Denker zwar, doch nicht als Dichter gewachsen war. Das ist seine Tragik.
Sein Antipode, aus ähnlich niederem Milieu entwachsen, _Christian
Dietrich Grabbe_ (1801-1836), Sohn eines Zuchthausaufsehers in Detmold,
wollte weniger -- aber konnte mehr. Er empfing seine ersten Eindrücke,
wenn er im Zuchthause spielte und die Gefangenen wurden zum Spaziergang
an die frische Luft geführt. Zwei und zwei, zwischen grauen Mauern, den
grauen Himmel über sich, umschritten sie schweigend in ihren
Anstaltskleidern das vorgeschriebene Kreisrund, bis die Zeit erfüllet
ward. Seine Dramenhelden: der Herzog von Gothland, Napoleon, Hannibal,
haben alle etwas von Zuchthäuslern, die an den Stäben ihres Gefängnisses
rütteln: vergeblich. Der Zwiespalt zwischen Idee und Wirklichkeit
scheint unentrinnbar. Der hehrste und heiligste Wille wird in den Staub
gezogen: Achilleus schleift Hektors Leiche an seinem Wagen um die Mauern
von Troja ... Immer fällt Hektor, der Anwalt der reinen Idee, und immer
siegt Achilleus, grobschlächtig und protzig, weil er die Macht und die
realen Dinge hinter sich hat. Die tiefste Tragödie freilich spielt sich
im Herzen des Menschen ab. Grabbes Stauffendramen (Heinrich VI.,
Barbarossa), vor allem aber Napoleon und Hannibal nähern sich der durch
Faust und Wallenstein bezirkten großen Tragödie. Dieser Hannibal ist ein
ungeheuerlicher Bursche. Eine riesige Termite, die in der winzigen
Ameisenwelt, ein Held, der unter den Händlern zugrunde gehen muß. In
»Don Juan und Faust« machte Grabbe den kühnen Versuch, den germanischen
und den romanischen Typus nebeneinanderzustellen. Sein Lustspiel
»Scherz, Ironie, Satire und tiefere Bedeutung«, in dem der Autor voll
romantischer Ironie höchstpersönlich nicht ohne tiefere Bedeutung
auftritt, bildet in seiner bäuerlichen und teuflischen Derbheit ein
Gegenstück zu _Georg Büchners_ zartem und schwankem Schwank »Leonce und
Lena« mit seinen zerbrechlichen Figuren und Kontroversen. Georg Büchner
(aus dem Darmstädtischen, 1813-1837) konnte aber auch anders als sanft
lächeln oder vertrottelt disputieren. Wie einen erratischen Block
schleuderte er sein französisches Revolutionsdrama »Dantons Tod« von
sich. Auch in seiner von Gutzkow überlieferten Gestalt (die Urform ging
verloren) gehört es zu den mächtigsten deutschen Dramen: hier ist
erstmalig, wie später erst wieder bei Gerhart Hauptmanns »Webern«, ein
ganzes Volk der Held. St. Just, Robespierre, Danton sind seine
Exponenten. Den Streit aller Revolutionen zwischen Individualismus und
Kommunismus entscheidet der einzige Richter, der ihn zu entscheiden
vermag: der Tod. Er lenkt die Guillotine, die heute Dantons Haupt frißt,
die morgen das Haupt Robespierres fressen wird, bis übermorgen Napoleon
sie von der Bühne des Welttheaters entfernt. Für eine Weile ... Er hat
andere Requisiten und Maschinen, die nicht weniger exakt und blutig
arbeiten: Kanonen und Mitrailleusen. -- Im Wozzek, der Fragment
geblieben ist, knüpft Büchner an Lenz an (dem er eine schöne Novelle
gewidmet hat). Die bürgerliche Tragödie, die Hebbel mit der Maria
Magdalena schreiben wollte, sie gelang, selbst im Fragment, Büchner mit
seinem Wozzek. Vom Wozzek läuft die Tradition zu Wedekind, der von
niemand mehr gelernt hat als von diesem Büchnerschen Aphorismus. Auch
als politischer Revolutionär ist Büchner von eminenter Bedeutung. Seine
Botschaft »Friede den Hütten. Krieg den Palästen!« ist das flammendste
deutsche revolutionäre Manifest überhaupt. Büchner starb zehn Jahre zu
früh. Er wäre der gegebene Führer der 48er Revolution geworden. Er wurde
nur vierundzwanzig Jahre alt. Ein Jahrhundert hat der Heldentod des
Jünglings Theodor Körner, der ein guter Soldat, aber ein schlechter
Trompeter war, das Heldenleben des Jünglings Georg Büchner völlig
verdunkelt.

       *       *       *       *       *

_Heinrich Laube_ (aus Sprottau, 1806-1884) schlug die dramatische Pauke,
daß einem Hören und Sehen verging. Sein »Graf Essex« war das erste
Theaterstück, das ich als Knabe auf der Schmierenbühne einer märkischen
Kleinstadt sah. Niemals mehr hat ein Drama einen solchen Eindruck auf
mich gemacht. Ich sehe noch immer den schlotternden Essex im Kerker
sitzen und höre auf einem vom Bäcker geborgten blechernen Kuchenteller
zwölfmal die Stunde des Gerichtes schlagen. Alle Schauer jagen mir im
Gedächtnis daran über den Rücken, und ich drücke den vereinigten
Geistern von Laube und Essex pietätvoll und gerührt die Hand. Zu meinen
erfreulichsten Jugenderinnerungen aus dem Gebiete der Literatur gehören
auch _Willibald Alexis_ (aus Breslau, 1798-1871), in den
Schullesebüchern immer mit dem homerischen Beinamen »der Vortreffliche«
geehrt, welcher nicht undichterische historische Romane aus meiner
engeren Heimat schrieb: »Die Hosen des Herrn von Bredow«, »Der Roland
von Berlin«, und _Wilhelm Hauff_ (aus Stuttgart, 1802-1827), in den
Schullesebüchern ein wenig zärtlich, aber auch ein wenig von oben herab,
»der Jugendliche« genannt. Zu der Geste des Von-oben-herab ist bei ihm
nun keine Veranlassung. Er ist kein großer Dichter: zu den Klassikern
haben ihn nur die Fabrikanten von Klassikerliteratur gemacht: denen
genügen Schiller, Goethe, Kleist aus Geschäftsgründen nicht, die
Brautpaare verlangen beim Heiraten zur Komplettierung ihrer
Wohnungseinrichtung eine ganze Klassikerausstattung: dazu gehören denn
auch vor allen Dingen Theodor Körner und eine ganze Anzahl völlig
unmöglicher und verstaubter alter Herren, wie Gaudy, Gutzkow usw. Hauff
ist nun ganz und gar nicht verstaubt. Er ist kein großer Dichter, aber
ein Erzähler von prachtvoller novellistischer Begabung, wie seine
Märchen und Novellen beweisen. Ein Glanzstück unserer novellistischen
Poesie gelang einem Franzosen: _Adalbert v. Chamisso_ (aus der
Champagne, 1781-1838) mit seinem Peter Schlemihl, dem Mann, der seinen
Schatten verkauft hat. Peter Schlemihl ist eine sinnbildliche und
sprichwörtliche Figur geworden. Ich weiß allerdings nicht, ob er auf
meine Mitbürger noch viel Eindruck macht. Sie sind ja längst gewohnt,
nicht nur ihren Schatten, sondern auch den Schatten ihres Schattens, und
die Sonne, die den Schatten hervorruft, zu verkaufen. Ja, sie verkaufen
sogar Peter Schlemihls wundersame Geschichte, statt sie einem jeden
gratis ins Haus zu bringen, als Luxusdruck zu 300 Mark und mehr. Armer
Schlemihl! Hättest du zur Subskription auf dich selbst einladen können:
du hättest deinen Schatten nicht zu verkaufen brauchen! Aber du hast es
eben nicht verstanden, dein Geschäftsinteresse wahrzunehmen. Dies
verstand auch _Adalbert Stifter_ nicht (aus dem Böhmerwald, 1805-1868),
der zarte Pastelle und gestrichelte Federzeichnungen nach der Natur auf
kleine weiße Blätter malte und zeichnete. Die Blätter sammelte er und
gab ihnen dann (wie wenig geschäftstüchtig war er doch!) so unscheinbare
Namen wie: »Studien«. Wer in den Sommerferien in den bayerischen Wald
reist und läßt Stifters Erzählungen, vor allem den Hochwald, zu Hause,
der verdient es nicht, Sommerferien im bayerischen Wald zu erleben.
Reist er aber nach Westfalen, so muß er sich den »Oberhof« von _Karl
Immermann_ (aus Magdeburg, 1796-1840) in den Rucksack stecken, oder,
falls er über Zeitbedingtes hinwegzulesen versteht, den ganzen
»Münchhausen«. Auch darf er von Immermann die tiefsinnige Mythe
»Merlin«, die Tragödie des Widerspruchs, nicht vergessen. Wenn der dem
Dichter hoffentlich geneigte Leser auch den Widerspruch nicht lösen
sollte -- was tut's? Begreift er Goethes »Geheimnisse«? Oder Hölderlins
letzte Gedichte? Oder die Oden von Pindar? Muß denn alles so
verständlich sein wie ein Gespräch über die teuren Zeiten im
Kaufmannsladen? Nicht jeder ist ein Alexander, nicht jeder vermag den
Gordischen Knoten derart gewalttätig mit dem Schwert zu lösen, und
manchmal tut's nicht einmal gut, die Lösung mit dem Schwert, meine ich,
wie =exempla docent=.

       *       *       *       *       *

Abseits von allen Zeitstürmen saß in Kleversulzbach in Schwaben unter
der Pfarrhauslinde, behaglich seine lange Pfeife rauchend, im bunt
geblümten Schlafrock mit den goldenen Quasten: _Eduard Mörike_
(1804-1875). Wie Büchner von Körner, so ist sein helles Gestirn von der
Wolke eines Geibel beschattet worden, und bis ans Ende des 19.
Jahrhunderts haben wenige gewußt, was hinter dem biederen Pfarrer von
Kleversulzbach steckt. _Ferdinand Freiligrath_ (aus Detmold, 1810-1876),
und _Friedrich Rückert_ (aus Schweinfurt, 1788-1866), um noch die besten
zu nennen, blendeten die deutsche Leserwelt mit ihrer Exotik voll
ungewöhnlichen lyrischen Farbenreichtums. Der Allerweltsepigone Geibel
und die Geibelepigonen versüßlichten den Geschmack des deutschen
Publikums vollends, so daß es an einem klaren Trunk, wie ihn Mörike
kredenzte, keinen Geschmack mehr fand. Zu alledem schrien dem deutschen
Volk die politischen Dichter noch die Ohren voll, Herwegh an der Spitze,
bescheiden wie sie immer sind, traten sie trompetend vor ihre
Jahrmarktsbude und schrien: »Nur immer hereinspaziert, meine
Herrschaften! Wir haben die einzig echte, die einzig wahre, die
politische Kunst gepachtet!« Sie hatten eine Menge Zulauf. Auch
Freiligraths wohlassortierte Menagerie, in welcher der Wüstenkönig, der
Löwe, die Hauptattraktion bildete, und wo ein waschechter Mohrenkönig an
der Kasse saß, wurde überlaufen. Der Blumenstand, an dem die Muse selbst
Mörikes Feldblumen oder auch Rosen und Nelkensträuße feilhielt, wurde
nicht beachtet. Eduard Mörike hatte mit einer Paraphrase des Wilhelm
Meister: dem Roman Maler Nolten, begonnen, der nicht ohne Eindruck
blieb. Mit Gottes Wort, das Gott ihm selber in den Mund gelegt, mit
seinen Gedichten predigte der Kleversulzbacher Pfarrer lange tauben
Ohren. Seine Verse sind nicht gemeißelt wie die Hölderlinschen, nicht in
der Trunkenheit herausgebrüllt wie die Güntherschen, nicht ziseliert wie
die Heineschen, geflötet wie die Platenschen: sie fielen wie reife
Früchte vom Baum in seinen Pfarrhausgarten. Sie sind nicht erkünstelt,
nicht erzwungen: sie sind rund und vollendet und duften wie reife Äpfel.
Der Sonnenblume gleich stand sein Gemüt offen. Er brauchte in seiner
friedlichen Seele keine Schlachten zu schlagen wie Hebbel. Nur schwach
schwankte die Schale zwischen Lieben und Leiden. Seine Phantastik
schweift milde wie ein Sommervogel in seinen Erzählungen (Mozart auf der
Reise nach Prag) und Märchen. Er erschreckt nie. Seine Schauergeschichten
machen lächeln. Und wenn er dunkel ist, so ist er dunkel wie eine
Sommernacht in Kleversulzbach, warm und besternt, und wir wissen, daß
die Morgenröte nicht fern ist. Dann werden wir mit dem Kleversulzbacher
Pfarrherrn und seinem Küster auf den Kirchturm steigen.

       *       *       *       *       *

Die Schweizer hatten sich mit dem Fabeldichter Ulrich Boner, mit Bodmer,
Breitinger und vor allem mit Geßner schon vorteilhaft in die deutsche
Literatur eingeführt, als sie mit _Jeremias Gotthelf_ (aus Murten, 1797
bis 1854) einen Haupttreffer machten. Was sind das für Kerle, die
Schweizer Bauern und Bäuerinnen des Pfarrers Bitzius aus dem Emmental.
Auf angeerbter Scholle sitzen sie: derb, treuherzig, fromm. Kein Falsch
ist an ihnen und kein Flitter. Ihr Wort: eine Enzianblüte im Gebirge.
Die Schweizer können aber nicht nur bäuerisch derb, sie können auch
städtisch, =à la mode= oder historisch gekleidet daherstolziert kommen,
wie Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer beweisen.

_Gottfried Keller_ (aus Zürich, 1819-1890) läßt seinen »Grünen Heinrich«
in der Tracht aufmarschieren, die Grimmelshausen, Heinse, Goethe in die
deutsche Literatur eingeführt haben: jeder mit etwas anderem Schnitt.
Das Problem der Entwicklung beherrscht den »Grünen Heinrich« auf seinen
tausend Seiten: so gut wie Simplex, wie Ardinghello, wie Wilhelm
Meister ist er auf dem Wege zu sich selbst. Der Weg, der zu einem selbst
führt, ist nun nicht so bequem wie die Chausseen bei Kopenhagen, wo alle
fünf Minuten, an jeder Wegbiegung, eine Tafel steht: nach da und nach da
und nach da: man kann nicht fehlgehen. Wie steht es hingegen mit den
Wegen zu sich? Da gerät man auf allerlei Nebenpfade, in Gestrüpp,
Wolfsgruben, auf fremden Besitz, und man muß froh sein, wenn man
schließlich am Abend die Herberge findet und auf der harten Ofenbank
schlafen darf. Man weiß manchmal wirklich nicht, ob man das Rechte
trifft, wenn man z. B. Maler- und Anstreicherlehrling wird. Und
schließlich wendet sich doch alles zum Rechten, denn man bringt von der
Malerei ein unverlierbares Gut im Felleisen heim: die Kraft der
lebendigen Anschauung aller Dinge. Es kommt für den Dichter
nicht darauf an, die Gedanken zu Ende zu denken, sondern auch den
Erscheinungen bis ins Herz zu sehen, sie zu durchschauen. Als wäre der
Mensch ein Stück Glas. Solches konnte Gottfried Keller. Und weil er eine
so klare Anschauung von den Menschen hatte, deshalb gerieten sie in
seinen Novellen so klar und durchsichtig. Diese Novellen, gesammelt in
den Büchern »Die Leute von Seldwyla«, »Sieben Legenden«, »Züricher
Novellen«, »Das Sinngedicht« -- bedeuten einen Gipfel deutscher
Erzählerkunst. Wer als Erzähler ihn wieder erreichen will, der muß hoch
und mühsam klettern -- da wird es nicht so bequem hinaufgehen wie auf
den Rigi, das ist schon mehr eine Matterhornbesteigung. Gottfried Keller
hat ein vollkommenes Gedicht, das Gedicht vom alten Pan im Walde,
geschrieben. Sein Landsmann _Heinrich Leuthold_ deren drei oder vier,
sein anderer Landsmann _C. F. Meyer_ (aus Zürich, 1825-1898) deren
viele. Hat Gottfried Keller typisch schweizerische Züge in seinem Wesen
und Dichten, so wird man bei Meyer trotz manchen schweizerischen Stoffes
(der Roman »Jürg Jenatsch«) vergebens danach suchen. Seine
Landsmannschaft ist undeutlich und unbestimmt. Er hat sich selbst als
Statue eines Dichters nach einem Idealbild konstruiert. Er führte das
Leben einer steinernen Statuette: ganz Marmor, ganz Glanz. Vierzig Jahre
war C. F. Meyer, als er sein erstes Buch, ein kleines Buch Gedichte,
veröffentlichte. Er hat mit seinen Gedichten sein Bestes gegeben,
ungeachtet mancher schönen Novelle. Die Gedichte sind von einer
leidenschaftlichen Liebe zur Form erfüllt. Genug konnte ihm nie und
nimmermehr genügen. Ihm zitterte eine Flamme im Busen, die er mit
heiliger Scheu hütete.

    Daß sie brenne rein und ungekränkt.
    Denn ich weiß, es wird der ungetreue
    Wächter lebend in die Gruft gesenkt.

Von den Göttern, die er oft zu sich zu Gaste lud, waren ihm Bacchus und
Silen die liebsten.

    In der schattendunklen Laube gab Silen, der weise, Stunde,
    Der ihm weich ans Knie geschmiegte Bacchus hing an seinem Munde,
    Lieblich lauschend.

Und sein schönstes, sein wildestes Symbol fand C. F. Meyer in der
Veltlinertraube.

Es ist dem Trifolium Spitteler, Nietzsche, George zu danken, daß die
deutsche Sprache in den achtziger Jahren nicht völlig unter die Räder
der naturalistischen Bier- und Leiterwagen kam. _Carl Spitteler_ (aus
Liestal, geboren 1845) sagte mit seinem »Prometheus und Epimetheus« der
Wirklichkeit, die sich verwirkt hatte, die Fehde an. Leider wurde er
selbst in seinen nächsten Werken aus einem Prometheus, einem
Fackelbringer, ein Epimetheus, ein Mensch der Verwirrung und des
Dunkels, denn in »Conrad, der Leutnant« und »Imago« tut er es den
schlechtesten Naturalisten und Psychologisten gleich. Daß der
bedeutendste Psychologe der Gegenwart, Professor Freud in Wien, seine
Zeitschrift nach der »Imago« nannte, ist zuviel der Ehre für dieses ganz
analytische, aber der Synthese völlig ermangelnde Buch. Jeder Dichter,
Herr Professor Freud, ist instinktiv Psychoanalytiker. Aber hier
beginnt erst der Weg und der Wille zum Psychosynthetiker. Im
»Olympischen Frühling«, dem großen griechischen Epos, hat Spitteler sein
bestes Selbst wiedergefunden. Er fand das Reich Apollos, das Reich, »das
nicht von dieser Welt ist«. -- Von jüngeren Schweizern sind zu nennen:
der früh (1919) verstorbene _Karl Stamm_, ein Lyriker von vielen Graden,
der zarte Idylliker _Robert Walser_, der religiös vergrübelte _Albert
Steffen_ (geb. 1874), Romandichter theosophischer Richtung.

       *       *       *       *       *

Eine in ihrer verbohrten Problematik Hebbel geschwisterte Natur ist
_Otto Ludwig_ (aus Eisfeld, 1813-1865). Er sah sich zeitlebens im
Schatten Shakespeares stehen und kam deshalb nur in seinem biblischen
Trauerspiel »Die Makkabäer« und in seinen Novellen über ihn hinaus, in
denen er als antizipierter Dostojewski und Zola erscheint. Es könnte
nicht schaden, wenn -- über Dostojewski -- Otto Ludwigs Prosa nicht
vergessen würde. Sie ist der feierlichen Auferstehung wert. Wird _Gustav
Freytag_ (aus Kreuzburg, 1816-1895) aus der Gruft der Vergessenheit
auferstehen? Vielleicht mit seinem bürgerlich-soliden Roman »Soll und
Haben«, worin jedem Charakter sorgsam sein Debet und Kredit zuerteilt
ist. Des Mecklenburgers _Fritz Reuters_ (1810-1874) humoriges und
herzliches Plattdeutsch ist leider nur einem engen Kreise von Deutschen
verständlich. (»Ut mine Stromtid.«) _Wilhelm Raabes_ (aus Escherhausen,
1831 bis 1910) ernster Humor, seine bedächtige Menschenfreundlichkeit,
seine bittersüße Melancholie, wird deutschen Herzen als eine deutsche
Angelegenheit immer lieb und vertraut sein. Für Wilhelm Raabe gibt es
kein besseres Epitheton als dies ohne jeden Nationalismus gesagte:
deutsch. »Der Hungerpastor«, »Der Schüdderump«, »Horracker« werden
bleiben wie des Friesen _Theodor Storm_ (1817-1888) rosenblätterige
Novellen: Immensee, Pole Popenspäler, Der Schimmelreiter und die kleine
Erzählung »Im Saal« -- eines der frühesten und schönsten Gebilde Storms,
das er im Revolutionsjahr 1848 ersann. Die Sehnsucht nach der guten
friedlichen Zeit, der wir sonst zu trauen gar nicht geneigt sind, wird,
wenn wir sie lesen, übermächtig in uns. Früher -- ja, das war freilich
eine stille, bescheidene Zeit: »Die Menschen waren damals noch höflicher
gegeneinander. Das Disputieren und Schreien galt in einer feinen
Gesellschaft für sehr unziemlich. Wer seine Nase in die Politik steckte,
den hießen wir einen Kannegießer, und war's ein Schuster, so ließ man
die Stiefel bei seinem Nachbar machen. Die Dienstmädchen hießen noch
alle Stine und Trine, und jeder trug den Rock nach seinem Stande ... Aber
was wollt ihr denn?« fuhr die alte Großmutter fort, »wollt ihr alle
mitregieren?« Ja, Großmutter, das wollen wir nun freilich, und darum
sind wir auch alle so unglücklich und ruhlos, so hin und her gerissen
zwischen Stern und Erde, so kriegerisch und friedlich zugleich.

_Paul Heyse_ ist im Strom der Zeiten schon versunken, so tief versunken
wie _Geibel_ (aus Lübeck, 1815-1884), der einst so hochgefeierte. Geibel
wollte 1871 mit seinen »Heroldsrufen« eine große Zeit einrufen. Aber
Krieg und Sieg von 1870/71 hatten für die deutsche Dichtung und Kultur
eine katastrophale Wirkung. Die Heroldsrufe riefen einem Zeitalter, das
in niedrigstem Materialismus, größtem Größenwahn, in Goldsucherei,
Aufgeblasenheit (aufgeblasen wie ein Jahrmarktsschwein) und Chauvinismus
seinesgleichen suchte. Hohenzollernsch patentierter, mehr oder weniger
gereimter Patriotismus von Geibel und seinen Nachbetern und Nachtretern
lyrisch, von _Wildenbruch_, selbst einem abseitigen Hohenzollernsproß,
dramatisch aufgeputzt, von Julius Wolff in seinen Ritterromanen in die
große Vergangenheit projiziert, aus ihr eine große Gegenwart und große
Zukunft abstrahierend (wie sprach doch Wilhelm II. einst? »Ich führe
euch herrlichen Zeiten entgegen ...«), süßlich gesabberte Lyrik der
Baumbäche und Bodenstedter, eine unechte flache Erzählerkunst -- das
waren die ersten kulturellen Früchte der Einigung des deutschen Volkes.
Fast zwei Jahrzehnte hat das deutsche Volk diese Limonadensuppen in sich
hineingesoffen, während ihm der frische Trunk der echten Dichtung, den
ihnen Mörike, Raabe, Leuthold, C. F. Meyer, Fontane spendeten, nicht
recht munden wollte. Einzig _Theodor Fontane_ (aus Neuruppin, 1819 bis
1898) brachte es zu einiger Berühmtheit, nicht aber wegen seiner großen
Kunst der Milieu- und Menschenschilderung, sondern wegen seiner
stofflichen Vorwürfe, die er meist dem Leben des märkischen Adels
entnahm. Niemand hat das Gute und Edle, was im spezifisch-junkerlichen
Typus steckt: die starre Pflichterfüllung, das karge, wie hinter
geschlossenen Türen geführte Gefühlsleben, das moralisch-märkische
Pathos reiner glorifiziert und geschildert als Fontane im »Stechlin«.
Auch das alte Berlin der siebziger und achtziger Jahre fand in ihm
seinen berufenen Schilderer. Wer sich vom heutigen Berlin entsetzt
abwendet, versäume nicht, dem Fontaneschen einen Besuch abzustatten. Er
wird entzückt aus diesem Berlin, das unwiederbringlich dahin ist,
zurückkehren. Das Gelungenste und Geformteste in Fontanes Romanen sind
die Frauengestalten: Cecile und Effi Briest wandeln in einem Reigen mit
Mignon und Philine, Liane und Toni Häusler.

       *       *       *       *       *

Otto Ludwig und Theodor Fontane im Erzählerischen, Hebbel und
Anzengruber im Dramatischen, Leuthold im Lyrischen, sind die Vorläufer
und Fanfarenbläser der Bewegung, die man als die naturalistische
bezeichnet hat. Es ist zu bemerken, daß Naturalismus, Impressionismus,
Expressionismus, Futurismus nur Hilfsworte sind, um Begriffen und
Bewegungen, Ideen und Wallungen beizukommen. Wo der Ismus aufhört, da
fängt der Dichter erst an, denn letzten Grundes macht die Einzelseele,
nicht die Massenpsyche oder -psychose erst den Dichter zum Dichter.
Jeder Mensch hat eine bestimmte seelische Richtung, in der er läuft,
und wer in derselben Richtung geht, den begrüßt er als seinen
Weggenossen mit besonderer Herzlichkeit. Nun gibt es aber viele Wege.
Viele Wege führen nach Rom: ins Heiligtum der Kunst, in den Tempel des
Gottes. Es ist Überheblichkeit, den Weg, den ein anderer geht, von
vornherein als einen falschen zu bezeichnen und Hohn und Gelächter ihm
nachzurufen. Als Maßstab der Kritik darf nur die Qualität gelten: der
Zusammenhang des relativen mit dem absoluten Prinzip. Ein guter
naturalistischer Roman ist mir lieber als ein schlechter
expressionistischer und umgekehrt. -- Was wollte der Naturalismus? Er
entstand als kraftvolle Gegenbewegung gegen die unwahre und unechte
Afterkunst, wie sie seit 1870 in Deutschland zur herrschenden geworden
war. Er lehnte allen Historismus, alle idealisierende Stilisierung ab:
wollte nur lebenswahr sein und forderte an Stelle einer Verhüllung der
Natur ihre Entschleierung bis zur letzten Nacktheit. Er wollte die Natur
abschreiben, die natürlichen Dinge natürlich darstellen. Wenn der
Naturalismus die Imitation der Natur vielfach zur These erhob, so beging
er natürlich =a priori= einen Denkfehler. Eine Nachahmung der Natur kann
es nicht geben: immer tritt ja der Gestaltende mit einem subjektiven
Willen an sie heran. Einzig der Buddha, der völlig Objektivierte, könnte
auch ein vollkommener Naturalist sein: aber er würde es wiederum nicht
sein, weil ihm der Wille zur Gestaltung von vornherein abgeht. Er will
nichts. Der naturalistische Dichter aber wollte doch etwas: nämlich die
Natur darstellen. Wo ein persönlicher Wille ist, ist schon ein
persönlicher Stil. So ist denn als ästhetisches Gesetz nur eine Spielart
des Naturalismus: der Impressionismus zu diskutieren. Der
Impressionismus will, daß die Seele wie eine Braut sich hinlagere, damit
die Natur liebend einströme mit Fluß und Wolke, Stern und Falter. Der
Expressionismus, die Gegenbewegung gegen den Impressionismus, fordert
programmatisch: schleudere deine Seele aus dir heraus in die weite
Welt, hinauf in den hohen Himmel: so erst wirst du ganz wahr sein. Der
Impressionismus predigt die Wahrheit des Seins, der Expressionismus die
Wahrheit der Seele. Es ist klar, daß auf einer höheren Ebene diese
Forderungen sich in einem Schnittpunkt berühren: da, wo Sein und Seele,
Erde und Himmel eins geworden sind. Im Formalen äußert sich der
Gegensatz der beiden Strömungen derart: beim Impressionismus: Analyse
des Geistes, Synthese der Form. Beim Expressionismus: Synthese des
Geistes, Analyse der Form. -- Die Naturalisten waren für Deutschland die
Entdecker des Proletariers als »Gegenstand« der dichterischen
Betrachtung: da ihrer Betrachtung ja auch das Niederste und Unterste
wert erschien. Aber der Proletarier, der arme Mensch, der ärmste Mensch,
blieb ihnen eben doch nur »Gegenstand«. Erst die politischen und
expressionistischen Dichter der jüngsten Generation haben den
entscheidenden Schritt vollzogen, indem sie sich mit dem Proletarier
identifizierten. Die proletarische Lyrik der _Henckell_ (geboren 1864),
_Mackay_ (geboren 1864) -- Mackays Roman »Der Schwimmer« ist eine der
besten Prosaleistungen des Naturalismus -- usw. wirkt denn auch ziemlich
zahm bürgerlich. In _Arno Holz_' (aus Rastenburg, geboren 1863) »Buch
der Zeit« klingt sie kräftiger. Dessen eigentliche Bedeutung liegt aber
nicht darin, sondern in seinem romantischen Buche »Phantasus«, mit dem
er zwar keine Revolution der Lyrik, wie er meinte, eingeleitet und
eingeläutet hat, aber die wesentliche Stimme seiner eigenen Lyrik fand.
Diejenigen, bei denen der Naturalismus ein totes Dogma wurde, sind,
manche noch lebendigen Leibes, gestorben. Des romantischen Naturalisten
_Max Halbe_ bestes Werk ist eine kleine Novelle: Frau Meseck. Am Leben
blieb der unverwüstliche, kräftige _Detlev von Liliencron_ (aus Kiel,
1844-1909), der lyrische Husar, der niederdeutsche Feuerreiter. In der
plattdeutschen Lyrik exzellierte _Klaus Groth_ (aus Dithmarschen,
1819-1899), der Dichter des »Quickborn«, in bodenständigen
österreichischen Bauerndramen _Ludwig Anzengruber_ (aus Wien, 1839 bis
1889). Vom Naturalismus kam, ihn überflügelte bald mit silbernen
Flügeln: _Gerhart Hauptmann_ (geboren 1862 in Salzbrunn). Wie ein Baum
zieht er seine Säfte aus der schlesischen Erde, aber seine Krone ragt in
den Himmel, und sein Gezweig überschattet hundert Naturalisten. Mit der
Weißglut seines Willens hat er die naturalistische Theorie
durchschmolzen. Keine konstruierten Maschinen, keine Homunkulusse
durchwandeln die Welt seines Dramas: Menschen voll Blut und Sehnsucht,
arme, elende Menschen, geprügelt wie Hunde von der Peitsche des
Schicksals, hungernd und frierend, hungernd nach Brot und Licht,
frierend an den kalten, steinernen Herzen der Mitmenschen, Menschen, die
in einer ewigen Dämmerung »vor Sonnenaufgang« leben, »einsame Menschen«,
zu denen selten genug der Ton der »versunkenen Glocke« herauftönt,
Menschen, die einzeln nicht leben dürfen wie die schlesischen Weber, die
ein Klumpen blutendes, zuckendes Stück Fleisch sind, Menschen, die
fried- und ruhelos das Labyrinth des Daseins durchirren, bis eine sanfte
Frau auch mit ihnen einmal das »Friedensfest« feiert. Wie sind die zu
beneiden, die, wie Hannele, so früh von dieser schmutzigen Erde zum
Himmel fahren dürfen! Daß sie Kinder bekommen, zeugen und gebären -- wie
furchtbar! Wer will den ersten Stein auf »Rose Bernd« werfen? Wer stürzt
nicht weinend in sich zusammen, wenn der brave, ehrliche »Fuhrmann
Henschel«, zwischen Schuld und Unschuld schwankend, sich erhängt? Alle
Gestalten Hauptmanns sind Narren in Christo, wie der religiöse Schwärmer
Emanuel Quint, der im neu erwachenden religiösen und sektiererischen
Leben der Zeit noch eine Rolle spielen wird.

       *       *       *       *       *

Wie die Geibelperiode in Empfindelei und Süßlichkeit, so artete der
Naturalismus schließlich in Krafthuberei, törichte Brutalität und
Apotheose des Misthaufens aus. Süßigkeit des Wortes, Sinnlichkeit der
Seele: die Schönheit verfiel dem Fluch der Lächerlichkeit. Es ist das
Verdienst von Friedrich Nietzsche und Stefan George, das deutsche Wort
in barbarischer Epoche bewahrt und in heiligen Hainen Anbetung und
Weihrauch der tönenden Gottheit dargebracht zu haben. _Friedrich
Nietzsche_ (1844-1900) ist mit der musikalischen und rhythmischen Prosa
seines »Zarathustra« der Lehrmeister der jungen und jüngsten Dichtung
geworden. Als Lyriker gehört er zu den edelsten deutschen Lyrikern.
»Frei« war Nietzsches Kunst geheißen, »fröhlich« seine Wissenschaft.
Alle seine Lieder sind trunkene Lieder. Ob er sie singt in Venedigs
brauner Nacht an der Rialtobrücke oder sie von San Marco gleich
Taubenschwärmen ins Blau hinaufsendet und wieder zurücklockt, ihnen noch
einen Reim ins Gefieder zu hängen. Oder ob in Sils Maria ihn, der
wartend sitzt, ganz nur Spiel, ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne
Ziel, der Schatten Zarathustras grüßt. Ob im Herbst, in der Ebene, die
ersten grauen Krähen ihn überfliegen und ihn mahnen, daß der Winter
naht.

    Aus unbekannten Mündern bläst's mich an,
    -- Die große Kühle kommt ...

Er wurde einsam. Immer einsamer. Und alle seine Lieder sang er
schließlich nur noch sich selber zu, »damit er seine letzte Einsamkeit
ertrüge«.

    Hoch wuchs ich über Mensch und Tier;
    Und sprech ich -- niemand spricht zu mir.

War die Natur Nietzsches eine Kreuzung aus Dionysos und Ahasver, die
trotz aller Schmerzen die Ewigkeit, zu der sie verdammt war, lieben
mußte, eine wilde, tobende Natur, die lieber brüllte als seufzte oder
zwitscherte, -- so ist _Stefan George_ (geboren 1868 in Büdesheim) der
strenge Priester der Gelassenheit und Gebundenheit, der Verkünder
asketischer Lüste, maß- und zuchtvoll. Auch der verkündet wie Nietzsche
eine Kunst, die jenseits von Gut und Böse wirkt, er steht den
moralischen Forderungen eines Teiles der jungen Generation ferner als
fern.

»Du sprichst mir nicht von Sünde oder Sitte.« In einem seiner ersten
Gedichte versteigt er sich bis zur Apotheose der Ausschweifung: im
Heliogabal. Aber immer reiner klärt sich seine Welt: bis das Jahr der
Seele herrlich sichtbar wird, der Teppich des Lebens sich vor ihm
breitet, der Engel ihm den Weg weist und der Stern des Bundes magisch
erblinkt. Stefan George begann als Fackelträger des reinen Wortes in
einer Zeit, die das Wort verunreinigte und beschmutzte, er schritt fort
und schreitet weiter als ein Flammenträger des reinen Sinnes in einer
Zeit, die verschwelt und rauchig loht, die zu Baal und Beelzebub betet,
die kein Sonnengold, nur ein Geldgold kennt, die alles »zweckmäßig«
einrichtet und als Ziel die Zweckmäßigkeit postuliert oder die
Ziellosigkeit an sich. Die geistige und moralische Begriffe verwechselt
und ein politisches Parteiprogramm von Spinozas Ethik nicht zu
unterscheiden vermag. Sie hat auch bei George gebändigte Leidenschaft
mit Temperamentlosigkeit, die Gebärde des echten Priesters mit den
Tingeltangelallüren ihrer geistigen Charlatane, die gekonnte Kunst mit
gemachter Mache verwechselt. Sei's. Die Weltgeschichte ist auch das
Weltgedicht: einige der schönsten Strophen dieses Gedichtes hat Stefan
George gesungen.

Aus dem Kreise Georges sind als Dichter von Rang _Hugo von Hofmannsthal_
(geb. 1874 in Wien) und _Rainer Maria Rilke_ (geb. in Prag 1875)
hervorgegangen. Hofmannsthal ist der Dichter bezaubernder kleiner
Versdramen. Er führt ein Skelett, das mit blühenden Rosen behängt ist,
im Wappen. Rilke ist ein Mönch, der statt der grauen Kutte eine
purpurrote trägt, die Seligkeit des Himmels liebt, aber die Freuden der
Welt nicht verachtet.

Die »ersten Hergereisten«, die der kommenden deutschen Dichtergeneration
die neuen Lieder lehrten, waren Nietzsche und George. _Alfred Mombert_
(geboren 1872 in Karlsruhe) und _Theodor Däubler_ (geboren 1876 in
Triest) gehören zu den ersten, die sie lernten. Mombert schrieb
metaphysische Dramen und Gedichte, Däubler das diesseitige Epos
»Nordlicht«, eine Kosmogonie voll von Schwelgerei und Orgie des Wortes
und des Reimes. _Richard Dehmel_ (aus dem Spreewald, 1863-1920) hält
sein Gesicht den romantischen Gestirnen zugewandt. Die goldene Kette der
deutschen Lyrik ist ohne ihn nicht denkbar, er ist ein kostbares Glied
in ihr, deren Anfang Walter von der Vogelweide, deren vorläufiges Ende
Franz Werfel hält. Er hat die Tradition der deutschen Lyrik über eine
Zeit der Verfahrenheit und Traditionslosigkeit hinübergerettet. Als
alles tot und trübe schien. Er hat der deutschen Lyrik das Liebeslied
neu geschenkt: Das dunkle Du, das dunkle Ich, die durch die Nacht sich
suchen -- und sich finden.

_Christian Morgenstern_ (aus München, 1871-1915) schuf in seinen
»Palmström«gedichten eine grotesk-philosophische Lyrik eigenster
Prägung, die besonders dem menschlichen und vermenschlichten Tier zu
Leib und Seele rückt. Da erscheint ein Steinochs, der sich von
menschlicher Gehirne Heu nährt. Auf schwärmt am Horizont ergrauter
Kasernenhöfe der sagenhafte E. P. V. (auch Exerzierplatzvogel genannt).
Wir sind hoch und heiter beglückt, daß es ihn und Palmströms und
v. Korfs fundamentale Melancholie -- immerhin -- noch gibt. Schade, daß
ich beim neuerlichen Quellenstudium für diese kleine Literaturgeschichte
v. Korfs glänzende Erfindung nicht benutzen konnte, welcher, weil er
schnell und viel lesen mußte, eine Brille erfand,

    deren Energien
    ihm den Text zusammenziehn.
    Beispielsweise dies Gedicht
    läse, so bebrillt, man -- nicht!
    Dreiunddreißig seinesgleichen
    gäben erst -- ein -- -- Fragezeichen!

Die Dadaisten, Apologetiker des abstrakten Humbugs, sind _Wilhelm
Buschs_, des genialen Malerdichters (1832 bis 1908) und Morgenstern's
Nachfahren.

       *       *       *       *       *

Die deutsche Frauendichtung beginnt, nachdem sie seit Mechtild
v. Magdeburg jahrhundertelang den Dornröschenschlaf geschlafen, wieder
aufzuleben mit der Westfälin _Annette v. Droste-Hülshoff_ (1797-1848),
die freilich für den ersten Blick gar nichts Frauliches an sich hat.
Ihre Formen sind streng, herb, ihr Gang ist straff, ihre Miene leicht
verdüstert: wie ein halb heller Tag auf der westfälischen Heide, wenn
Erde und Himmel die Plätze vertauscht haben, und die roten
Heidekrautblüten wie Sterne, die Wolken wie braune Ackerschollen sind.
Auf ihr müdes Haupt gaukelte selten ein süßes Lachen.

    Liebe Stimme säuselt und träuft
    Wie die Lindenblüt' auf ein Grab ...

Herb wie ihr lyrischer Stil ist ihr Prosastil in der Novelle »Die
Judenbuche«. _Marie v. Ebner-Eschenbach_ (aus Mähren, 1830-1916) besitzt
ein Talent von großer Weite der Empfindung, das formal eng begrenzt ist.
_Ricarda Huch_ (geboren 1864 in Braunschweig) suchte ihre Themen im
Risorgimento und im Dreißigjährigen Krieg. _Enrica von Handel-Mazetti_
(geboren 1871 in Wien) schrieb historische Romane mit katholisierendem
Einschlag. Die deutsche Frauenlyrik der jüngsten Zeit gipfelt in _Else
Lasker-Schüler_ (geboren 1876 in Elberfeld). Wer fühlte sich nicht als
ewiger Jude und sänke vor Jehova ins Knie, wenn sie ihre hebräischen
Lieder singt? Wenn sie ihre Verse in einen alten Tibetteppich verwebt?
_Emmy Hennings_ gab in kleinen Versen (»Die letzte Freude«) und in
kleiner Prosa (»Das Gefängnis«) eine Autobiographie des weiblichen
Vaganten. _Eleonore Kalkowska_ ließ im Krieg den Rauch des Frauenopfers
steigen. Sie schreitet vom Gedicht zum Drama.

       *       *       *       *       *

Man hat _Frank Wedekind_ (1864-1918) einen Bruder und Genossen der Lenz,
Büchner, Grabbe genannt. Er hatte nicht die selbstverständliche Grazie
dieser drei (die Grabbe auch im Grausigen bewies). Er war kein Kind der
Natur. Die Natur war ihm in jeglicher Gestalt verhaßt und widerwärtig.
Vor einer schönen Landschaft erfaßte ihn ein Brechreiz. Und er wurde
erst wieder beruhigt, wenn er die Berge, etwa als ein liebendes Paar in
Umarmung, drastisch definieren konnte. Er war ganz gewiß ein Erotomane,
dessen moralische Komplexe sich bis zum exzessiven Pathos steigern
konnten. Er war ein genialer Spießer -- mit umgekehrtem Vorzeichen. Ein
erotischer Frömmler. Ein frömmelnder Erotiker. Flagellant, Sadist,
Masochist aus religiöser Überzeugung. Ihm war das Weib die große Hure
von Babylon und als solche immer anbetungswürdig. Er führte ein Tagebuch
aller Zärtlichkeiten, der sanften und der schrecklichen. Er führte
dieses Tagebuch gewissenhaft wie ein Oberlehrer. Als Oberlehrer (mit dem
schlechten Gewissen des ehemaligen Schülers ...) fühlt er sich auch
seinen Geschöpfen gegenüber: einer Lulu, einer Franziska, die zu seiner
Liebe, zu seinem Leben emporgepeitscht wurden -- um sich dann an ihrem
Lehrmeister aufs grausigste zu rächen. In der Verbohrtheit im
Problematischen ist er Hebbel, in der Technik den Stürmern und Drängern
verwandt: diese dramatische Technik der Einzelbilder, Einzelszenen, wie
sie »Frühlingserwachen« einführt, hat im deutschen Drama neuerdings
Furore gemacht. Sein Kinderdrama »Frühlingserwachen« wird bleiben,
bleiben wird der »Marquis von Keith«, der letzte Akt von »Schloß
Wetterstein« und vor allem: »Lulu«. In ihr und in der kleinen Wendla hat
er die natürliche Dämonie des Weibes groß gestaltet. Es ist vielleicht
kein Zufall, daß in den vorzüglichsten Dramen der Epoche Frauen im
Mittelpunkt der tragischen und komischen Handlung stehen: die Lulu im
»Erdgeist«, Hannele in »Hanneles Himmelfahrt«, die Wulffen im
»Biberpelz«, Madame Legros (im gleichnamigen Drama von Heinrich Mann)
--, dies beweist, daß wir in einer romantischen Periode leben: Lulu ist
die Inkarnation der geschlechtlichen, Hannele die der kindlichen, Madame
Legros die der mütterlichen Liebe der Frau. Lulu will irdische Lust,
Hannele himmlische Liebe, Madame Legros dies- und jenseitige
Gerechtigkeit. -- _Wilhelm Schmidtbonn_ (geboren 1876) behandelte im
»Grafen von Gleichen« das Problem des Mannes zwischen zwei Frauen. Der
erste Akt gehört zu den besten ersten Akten der deutschen Literatur.
Sein »Wunderbaum«, ein Prosabuch, birgt viele Wunder. _Carl Sternheim_
zeichnet in seinen Dramen karikaturistische Bilder aus dem bürgerlichen
Heldenleben: Streber, Schieber, sentimentale Kokotten, amusische
Dichter, intellektuelle Schweinehunde, Auch- und Bauchsozialisten. In
seinen Dramen wie in seinen Novellen holt er das Letzte virtuos, aber
ohne Herz, aus der Technik des Wortes. Seine Geschichten laufen ab wie
Maschinen. Er ist ein Ingenieur der Sprache. _Herbert Eulenberg_
(geboren 1876 in Mühlheim) bemalt seine dramatischen Helden und
Heldinnen blaßrosa und blaßblau. Sie gleiten schattenhaft durch eine
romantische Kulissenwelt. _Eduard Stucken_ (geboren 1865 in Moskau)
beschwört noch einmal Montsalvatsch und die Gralsritter in klingenden,
mit Innenreimen geschmückten Versen. Seine Romantrilogie »Die weißen
Götter« erheischt Respekt. _Georg Kaiser_ (geboren 1878 in Magdeburg)
pflanzt sich ganz breitspurig und heutig vor uns hin. Teufel, ist das
ein Leben, das sich da vor uns und um uns und in uns abspielt.
Aktiengesellschaften werden gegründet aus Menschenliebe, aus Bonhomie,
mit Ewigkeitsansprüchen. Beim »Brand des Opernhauses« entzünden sich
alle Leidenschaften. »Von morgens bis mitternachts« rollt ein ganzes
Leben ab via Bankinstitut, Freudenhaus, Park, Café, Heilsarmee, um in
»Hölle, Weg, Erde« sich als leere Leere, parodierte Form,
Konjunkturkommunistik zu entschleiern. Da ist mir _R. John Gorslebens_
(aus Metz, geb. 1883) bedenken- und gewissenloser geistiger Abenteurer
»Der Rastaquär« schon lieber. Denn der ist ehrlich. _Hanns Johsts_
ekstatische Szenerien haben sich zu einem adligen Drama »Der König« und
zu einem problematischen Gegenwartsroman »Kreuzweg« edel ausgereift.
Georg Kaiser, Sternheim, Eulenberg geben in ihren Dramen allerlei
indirekte Antworten auf direkte Fragen. Das sind alles Passionen, die
sich da abspielen. _Walter Hasenclever_ (geboren 1890) im »Sohn« und
_René Schickele_ (aus dem Elsaß, geboren 1883) in »Hans im Schnakenloch«
gehen zur Aktion, zur These, zur Forderung über. Nicht: so seid ihr!
Sondern: so sollt ihr sein! So soll der Sohn gegen den Vater, der Mensch
zwischen den Rassen sich entscheiden! Hasenclevers »Antigone«, _Unruhs_
»Ein Geschlecht« sind ebenfalls programmatische Äußerungen gegen den
Krieg, während Hasenclever in seinem Drama »Menschen« zur Romantik
umkehrt -- den Weg, den noch alle Aktivisten werden schreiten müssen
(Schickele beschritt ihn im »Glockenturm«) --, sich aber nach der
anderen Seite purzelbaumartig überschlägt und beim übelsten Text zum
Filmdrama landet. Höher steht sein okkultes Spiel »Jenseits«.

_Paul Kornfelds_ »Verführung« gehört zu den typischen, monologischen
Dramen des jungen Menschen aus der expressionistischen Epoche. (Einige
andere: Hanns Johst »Der junge Mensch«, Walter Hasenclever »Der Sohn«,
Klabund »Die Nachtwandler«.) Es ist das Erfreulichste von ihnen. Das
Problem »Vater und Sohn« gestaltet eindrucksvoll in seinem gleichnamigen
Fridericus-Drama auch _Joachim v. d. Goltz_.

       *       *       *       *       *

Den schönsten deutschen Roman um 1900 schrieb _Friedrich Huch_ mit
seinem »Pitt und Fox«. Biedermeierliche Zartheit und groteske Gotik
blühen darin. Pitt ist der gute, der entmaterialisierte, Fox der
schlechte materialistische Deutsche, wie ihn Heinrich Mann später in
seinem Untertan Diederich Heßling so bitterböse abkonterfeit hat.
_Ouckama Knoop_ malte im »Sebald Soeker« die Untergangsstimmung des
Abendlandes, längst ehe sie gefällige Mode wurde. _Hermann Löns_ jagte
den wilden »Wehrwolf« über die Heide. Des Schwaben _Emil Strauß_ (geb.
1866) Kindertragödie »Freund Hein« ist mir unvergeßlich. Der Halkyonier
_O. E. Hartleben_ (1864-1905) etablierte sich mit glänzend geschriebenen
ironischen Impressionen. Eine Abart des Impressionismus ist der
Psychologismus, wie ihn _Thomas Mann_ (aus Lübeck, geb. 1875) in seinen
ausgezeichneten Romanen und Novellen »Die Buddenbrooks«, »Tod in
Venedig« übt. Er analysiert mit medizinischer Gewissenhaftigkeit die
Einzelseele. Dem Studium der Massenseele gilt neuerdings seines Bruders
_Heinrich Mann_ (aus Lübeck, geboren 1871) Bemühung. Er ist der Dichter
der Demokratie geworden in seinen Romanen: »Die kleine Stadt«, »Die
Armen«, »Der Untertan«. -- »Die kleine Stadt«, ein italienischer
Kleinstadtroman, der schildert, wie eine fahrende Theatertruppe eine
kleine Stadt revolutioniert, ist ein Markstein in der Geschichte des
deutschen Romans. Seine früheren Italienromane, besonders die
prachtvolle Trilogie »Die Göttinnen«, zeigen ihn noch ganz als
Apologetiker des Übermenschen, des Einzelmenschen, des Anarchisten, als
hymnischen Diener der Schönheit, der Kraft und der sinnlichsten Gewalt.
Wer, der je der Herzogin von Assy begegnete, könnte sie vergessen? Denn
sie war ihm Kind, Mutter und Geliebte.

_Gustav Meyrink_ (geboren 1868 in Wien) schüttet ein Wunderhorn
ergötzlicher und boshafter Trivialitäten, ältestes und neuestes
Gerümpel, über den deutschen Spießer aus, der mit einem leeren Hirn
aufdrapiert wie ein Pfingstochse in seinen Geschichten umherwandelt und
»Muh« und »Bäh« sagt. Von Meyrinks großen Romanen, die allerlei
kabbalistische und mystische Weltanschauung propagieren, ist der »Golem«
nennenswert. _Peter Altenberg_ (1859-1918, aus Wien) gewinnt seine
amüsante Weltanschauung vom Café Fensterguckerl aus. _Hermann Bahr_
(geboren 1863 in Linz) hat vom Naturalismus bis zum Expressionismus und
Katholizismus so ziemlich alle Klassen der Literaturgeschichte
absolviert und ist überall mit der Note 2-3 versetzt worden. _Artur
Schnitzler_ (geboren 1862), Dramatiker und Romanzier, schrieb zwei
vollendete Novellen »Leutnant Gustl« und »Casanovas Heimkehr«. Des
Kurländer Grafen _E. Keyserling_ (1858-1918) Erzählungen beglücken
schmerzlich wie im Frühherbst die bunten fallenden Blätter. Über
_Hermann Hesses_ (geboren 1877 in Calw) Prosadichtungen der ersten
Periode könnte als Motto der Vers eines Volksliedes stehen, mit dem er
selbst eines seiner Bücher betitelt: »Schön ist die Jugend«. Seine
rührendste Figur: der arme und doch so reiche Landstreicher Knulp. Mit
vierzig Jahren überwand und übertraf er sich selbst in den farbigen und
feurigen Zeugnissen einer zweiten Jugend: »Demian«, Weg und Wesen
deutscher Seele entschleiernd, und der herrlichen Novelle »Klein und
Wagner«. _Wilhelm Schäfer_ (geboren 1868 in Ottrau) schuf sich in seinen
»Anekdoten« eine eigene Novellenform in Anlehnung an mittelalterliche
deutsche und italienische Meister. Sie gehören zu den besten Leistungen
der deutschen Prosa der Gegenwart, die in _Jakob Wassermanns_ (geboren
1873 in Fürth) Romanen »Das Gänsemännchen« und »Kaspar Hauser« einen
ihrer Meister fand. Eine reiche Fülle lebendigster Gestalten, eine ganze
große und kleine Welt wird aus der Tiefe ans Licht gehoben. Die Prosa
der jüngsten Generation, mit _Kasimir Edschmid_ (geboren 1890) und
_Alfred Döblin_ beginnend, vermag diesen Leistungen Gleichwertiges an
die Seite zu setzen. Edschmids Novellen sind wie in einem Treibhaus
gezüchtete Blumen: bizarr, geistreich, gekünstelt, voll wilder,
aromatischer, zuweilen peinlicher Düfte. Sein Roman: ein tiefer Abstieg.
Alfred Döblin beschwört den Schatten Wallensteins und in den »Drei
Sprüngen des Wang-lun« einen edlen Rebellen der Schwäche in der
Landschaft eines erträumten China. Der schlesische Russe _Arnold Ulitz_
türmt den »Ararat«. _Klabund_ (geboren 1891 in Crossen a. O.) versuchte
im »Moreau« den Roman eines Soldaten, im »Mohammed« den Roman eines
Propheten, im »Bracke« den gotischen Roman eines Eulenspiegel zu
gestalten. Der »Dreiklang« enthält das Wesentlichste seiner Lyrik.
_Leonhard Franks_ (geboren 1882 in Würzburg) »Ursache« ist in Dichtung
umgesetzte Freudsche Psychologie. _Andreas Latzkos_ (geb. 1876 in
Budapest) Bücher (»Menschen im Krieg«) und Leonhard Franks »Der Mensch
ist gut« haben ihr Bestes geleistet in der Revolutionierung der Seelen,
an welcher aber kritische Geister wie _Karl Kraus_ (geboren 1874 in
Gitschin) und _Franz Pfemfert_ (geboren 1877 in Lötzen) seit Jahren
schon viel tieferen Anteil hatten mit »Fackel« und »Aktion«. Jene sind
zeitgeschichtlich von großer Bedeutung. Ihr dichterischer Wert ist weit
geringer. Der Mensch ist nicht gut, sondern er will gut werden. Das
Moment der Entwicklung ist das Entscheidende. Schon Herzeloide erzog
ihren Sohn Parsival in der Waldeseinsamkeit, damit er vor dem Welt- und
Kriegsgetümmel bewahrt sei. Aber alle Abgeschlossenheit half nichts. Ein
jeder trägt ja den Feind in der eigenen Brust. Gegen ihn heißt's
kämpfen. Man muß sich selbst aufs Haupt schlagen. Gott und du: das
sollen nur Synonyme sein. =Epitheta ornantia= des einen. Du mußt den
Heimweg finden: heim zu dir. Auf diesem Heimweg durch die Dunkelheit
stehen die Dichter an den Meilensteinen wie Fackelträger. Von Fackel zu
Fackel tastest du dich vorwärts: zum Morgenrot, bis Gottes Herz einst
über den Bergen aufgeht. Menschen- und Gottesauge werden ineinander
trinken und wird nur ein Licht und eine Liebe sein.

       *       *       *       *       *

Die Vorläufer des lyrischen Expressionismus sind _Otto zur Linde_ (geb.
1873 in Essen) und die Charontiker, die sich um ihn sammelten. Er schon
stellte die These von der ekstatischen Unmittelbarkeit auf, blieb aber
praktisch im Assoziativen stecken. _Walter Calé_ (aus Berlin, 1881-1904)
starb allzufrüh. _Max Dauthendey_ (aus Würzburg, 1867-1918) sang
inbrünstige Lust- und Liebeslieder. Sein heißes Blut trieb ihn in die
Tropen, aus denen er exotische Novellen heimbrachte. Des _Wilhelm von
Scholz_ (aus Berlin, geb. 1874) Verse spiegeln sich wie Nymphen gern in
dunklen Teichen, vom Walde überwuchert. _Alfred Kerr_ (geb. 1867 in
Breslau), als Kritiker ein Dichter, als Dichter ein Kritiker, hat einer
ganzen lyrischen Generation das Gehen, die ersten Schritte beigebracht.
Der dämonische Naturbursche _Georg Heym_ (aus Hirschberg, 1887-1912)
machte dann mit der neuen Dichtung ernst. Er krempelte sich dazu die
Hemdsärmel auf: wie ein Riese schritt er über die Dächer und zwischen
den Straßen Berlins, und allesdies: Mensch, Trambahn, Mond, Spelunkenspuk
war ihm wie Riesenspielzeug, die Stadt wurde ihm zur Landschaft, Berg
wurde Haus. Er ertrank beim Eislauf, vierundzwanzigjährig, im Müggelsee.
Das Grabgeleite gaben ihm Scharen »fortgeschrittener Lyriker«. Als Georg
Heym in den Fluten versunken war, stieg aus den im Frühling getauten
Wogen wie ein junger Meergott, prustend, dampfend in der Sonne,
schreiend vor Lust am Licht: _Franz Werfel_ (geboren in Prag 1890). Er
verkündigte das Evangelium des schönen strahlenden Menschen, der jedem
Wesen, auch dem ärmsten, brüderlich zugewandt. Gewaltig schwingt sein
religiöses Pathos. Er will einer der Propheten des neuen Bundes sein:
des Bundes aller wahrhaft Menschlichen. Er kniet nieder, unsagbar
demütig und bußwillig, mit Unkraut noch und Schlamm fühlt er sein Herz
erfüllt. Erst nachdem er sich selbst gerichtet, wächst er zum Richter
der Menschheit. Er sank hin, er kniete hin, er weinte. Er lauschte, er
horchte, er hörte, er diente. Nun schuf er, nun trägt er, nun hält er
wie Christophorus die Erdkugel. Erst sah er die Welt -- und siehe, sie
war schön --, da wurde er der Weltfreund. Dann sah er sich, und siehe,
er war häßlich. Aber er war. Da nahm er sein Sein und trug es zu den
anderen. Drei Reiche durchwanderte er. Er wird in das vierte gelangen,
das sie alle drei umfaßt: das Reich der glückseligen Gerechtigkeit, der
Reinheit und Einheit. Er wird über sich selbst »Gerichtstag« halten.
Dann wird sein kriegerisches Wesen sich beruhigend lösen. Er wird
zerrinnen und eine Welle sein, gekräuselt, entführt und gespült ins Meer
der Vollkommenheit und der Vollendung.

    Erst wenn ein Mensch zerging
    In jedem Tier und Ding,
    Zu lieben er anfing.

Im Gefolge Werfels, des Propheten der Bruderliebe, wandeln unzählige
junge Lyriker, weniger von der bronzenen Glocke seiner lyrischen Form
angetönt (er ist reinste Musik, Oboe, Flöte: sie sind meist nur
Schellenträger und Trommler), als von seinem Pathos bezwungen. In der
Form wenden sich viele mehr der Imitation des großen Amerikaners Walt
Whitman zu, seinen breiten rollenden Rhythmen, die brausen wie die Wogen
des Atlantischen Ozeans. Walt Whitman sang von seinem Buch: Camerado,
dies ist kein Buch -- wer dies anrührt, rührt einen Menschen an! Dieses
Motto sähen die jungen Dichter gern über alle ihre Bücher: ihre Dramen,
Verse, romantischen Romane gesetzt. Sie wollen vor allem _Menschen_
sein. Und Menschen _sein_. Wir sind! Wir sind! jubeln sie emphatisch mit
Werfel. Die Ekstase ist ein Kennzeichen ihres Wollens. Von ihr sind die
Formen so zerrissen, zerhackt, im Winde flatternd. Oft opfern sie das
Dichterische auf Kosten des Moralischen. Ihre Empfindung ist vielfach
keine individuelle mehr: ihr Erlebnis ist schon zum Kollektiverlebnis
geworden. Sie dichten nicht mehr -- sondern der Stil dichtet für sie. --
Einen elegischen Nebensproß Werfels trieb Österreich in _Georg Trakl_
aus Salzburg (1887-1914), dem Dichter der sanften Schwermut, des süßen
Verzichtes, des violetten Unterganges, dem Hölderlin unserer Zeit. Alle
Gedichte Trakls sind herbstliche Landschaften. Immer tönen leise im Rohr
die dunkeln Flöten des Herbstes. In _Gottfried Benns_ (aus Mohrin, geb.
1885) Gedichten ist dies Ereignis geworden: Hirn wurde Herz, Geist wurde
Fleisch. Benn steht für sich selbst und auf sich selbst: kein Werfel-,
kein Whitmanjünger: ein Benn. Auch in seinen Novellen. _Johannes R.
Becher_ (geb. 1890) ruft in seinen Gedichten »An Europa« zur
»Verbrüderung«. Es finden sich wundervolle einzelne Verse in seinen
Büchern, die der sozialistischen Revolution dienen wollen, aber kaum ein
vollendetes Gedicht. Der Wille zur These überschreit den Willen zur
Form. Eine krampfhaft geschaffene neue Syntax ist noch keine neue
Kunstform. _Albert Ehrenstein_ (geb. in Wien 1886) schleudert seine
Flüche gegen die »rote Zeit«. Europa wird zum Barbarossa. Ein griechisch
gerichteter Geist zersprengt sich selbst und seine Form in Haßgesängen.
Sein Reifstes bleibt die österreichische Novelle Tubutsch: voll
ironischer Melancholie. Die Arbeiterdichter _Barthel_ (geb. 1884) und
_Bröger_ machen Ansätze zu einer neuen Volkslyrik, der _Jakob Kneip_ in
seinen Legenden am nächsten kommt. Es darf nicht verkannt werden: auch
hier ist ein Weg. Das deutsche Lied, die deutsche Legende, das deutsche
Märchen werden wieder einmal auferstehen. Der Expressionismus wird
verwesen. Eine neue Romantik, eine neue Klassik dämmern empor. Ganz in
der Tradition der klassischen deutschen Lyrik wandeln der Ostpreuße
_Albrecht Schaeffer_ (geb. 1885) -- auf dessen Romanwerk Helianth auch
hingewiesen sei -- und der Schwabe _Bruno Frank_ (geb. 1887 in
Stuttgart), der das Erbe Mörikes in guter junger Hand hält. _Friedrich
Schnack_ steht mit flammendem Edelsteinsäbel als lyrischer Wächter am
Eingang zum kommenden Reich.

       *       *       *       *       *

Der junge Mensch zwischen 1911 und 1918 war Krieger und Revolutionär,
Expressionist und Bolschewist. Er ging in den Krieg als Revolutionär und
in die Revolution als Krieger. Er fiel von einem Extrem ins andere: aus
der Ekstase in die Verzweiflung, und umgekehrt. Er liebte allzu vage die
Menschheit, ohne noch recht vom Menschen zu wissen. Er ist weitsichtig:
aber in der Nähe vermag er nichts zu sehen. Er will _alles_ -- und
erreicht _nichts_. Er ist immer geneigt, zu typisieren, zu
schematisieren -- ganz wie die verachteten Wissenschaftler. Es ist eine
dunkle, heilige Ahnung des Kommenden in ihm. Aber in der Gegenwart
stolpert er unbeholfen daher. Er sagt zehnmal nein, ehe er einmal ja
sagt. Er schlägt der herrschenden Klasse, wie der Zeichner George Groß,
in die Fratze, aber wenn er zur Herrschaft gelangt, weiß er auch keine
anderen Mittel als die der anderen: Terror und Maschinengewehre, die
Diktatur. Bitterlich, der den Bräutigam von Marie ermordet und Ruths
Bruder in den Tod treibt, (in Kornfelds Verführung) ist er nicht ein
Terrorist? Versucht er nicht, mit Gewalt die Welt zu ändern? Ich glaube
nicht an die dauernde Überzeugungskraft brutaler Gewalt, von welcher
Seite immer sie sich äußern mag. Wer hat die Welt dauernd verändert? Ein
Karl der Große? Ein Napoleon? Ein Bismarck? Der chinesische Denker
Laotse sagt einmal: »Das Zarteste überwindet das Härteste.« Wir wollen,
symbolisch gesprochen, keine Boxer werden wie die Angelsachsen und jedem
gleich die Faust ins Gesicht pflanzen. Unsere Schwäche wird eines Tages
unsere Stärke sein. Wir müssen Dschiu-Dschitsu lernen: nicht den starren
Angriff, sondern die elastische Verteidigung.

Revolutionen, geistige und materielle, schießen über das Ziel hinaus --,
um nur etwas zu erreichen. Der Expressionismus wird einer neuen Romantik
und Klassik den Weg bereiten wie der Kommunismus einem neuen
Gemeinschaftsgefühl.

       *       *       *       *       *

Die Sehnsucht nach Erlösung blüht in den kommenden Generationen wild
auf. Wir wollen erlöst werden -- von der _Lüge_. Denn alle Erlösung ist
nur ein plötzliches Erblicken der Wahrheit. Die Lüge hat ihr Gorgohaupt
in den letzten Jahren vor dem Kriege und im Kriege selbst widerlich
erhoben. Aber wenige vermochten sie zu erkennen. Denn sie war geschminkt
wie eine Hure und mit schönen Kleidern angetan und mit Steinen behängt.
Das Bild der Welt war, wie es die mittelalterlichen Darstellungen
zeigen: eine Frau, von vorn reizend und wohlgestalt anzusehen -- aber
hinten im offenen Rücken voll Schlangengezücht und Dreck und Eiter.
Mammonismus, Militarismus, Materialismus: unter diesen drei
Flammenzeichen focht der deutsche Gott, der Alliierte von Roßbach -- und
unterlag.

Wir sind nicht auf der Welt, um unglücklich zu sein. Dieser gram- und
grauenvolle Krieg, in dem wir lebten und starben, könnte vorübergehend
einen Märtyrerstandpunkt schaffen: als sei es über alle Maßen edel und
tapfer und weise und natürlich und dieses Lebens letztes Ziel, zu
leiden. Gerechtigkeit! Tu von den Augen die Binde und sieh die Erde:
blühen nicht Blumen, rote und blaue und goldene, zu deinen Füßen? Glüht
nicht das ewige Licht, die Sonne, um deine Stirn wie ein Heiligenschein?
Taumeln nicht Pfauenauge und Zitronenfalter schräg durch den
schreitenden Abend? Pferde springen elegant durch die Straßen. Wilde
Katzen liegen zahm auf den bestrahlten Mauern unserer Gefängnisse. Und
an florentinischer Brücke tritt, die Augen schön gesenkt, Beatrice dem
liebenden Dichter entgegen. Sein Herzschlag stockt. Er, der erfahren
viel und viel erduldet, weiß: Glück ist das Ziel der Menschheit. Macht
die Menschen glücklich, und ihr werdet sie besser machen. Öffnet ihnen
die Augen über den Himmel, die Tiere, die Frauen. Und weist ihnen alles
dies: gestaltet und erhoben, beseligt und erlöst: in der Kunst, in der
Dichtung. Noch regiert, obschon Friede geschlossen ist, Mars die
Stunde, die Minute, die Sekunde. Noch herrscht der Krieg als Prinzip.
Besiegt ihn, ihr Dichter, kraft eures Wortes, das wirklicher ist als
manche schnell getane Tat. Besiegt ihn durch eure Waffenlosigkeit, durch
die Inbrunst eurer Herzen!

    Ihr Weiser und Verweser unseres Schönen,
    Laßt euch vom Waffenrausch nicht übertönen.
    O sorgt, daß unser Blut nicht rot erstarrt
    Und seid uns Dom und ewige Gegenwart!
    Du Günther, brauner Packan, bissig bellend,
    Du Hölderlin, die sanften Pfeile schnellend,
    Du Mörike, verträumte Pfarrhauslinde,
    Du Eichendorff, voll grüner Birkenwinde,
    Du Heine, deutscher Jude, geistig handelnd,
    Du Conrad Ferdinand, auf Rhythmen wandelnd,
    Du Platen, im unsterblichsten Sonette,
    Du Nietzsche, deutscher Pole, Glockenkette,
    Und du, o ewige Früh- und Abendröte:
    Du Turm, du Sturm, du erster Mensch, du: _Goethe_!

                                            (Klabund.)


[Im Text korrigierte Fehler:

von unverständigen Pfaffen aufgereizt
Im Original: unverständdigen

wand in Eile mit geschickten Fingern einen Kranz
Im Original: geschicken

ritt Walter von der Vogelweide 1227 auf den Kreuzzug
Im Original: Kreuzzeug

Er steckte damit wohl alle heutigen Volkstribunen in die Tasche: nur
schade, daß er selber kein Volks-, sondern ein Fürstentribun war.
Im Original: Volkstribünen

wir setzen uns gern zu ihr ins Gras
Im Original: Grab

wetterte in seinen Reden und Predigten mit Stentorstimme
Im Original: Sentorstimme

Sein Name dringt durch Sturm
Im Original: Seine

Zu den harmlosen, aber hübschen Hexametern
Im Original: Hexamenten

Denn wo eins das andere nicht mehr begreift,
Im Original: Den

in Iphigenie wird die Reinheit sich bewußt
Im Original: Iphigene (sonst immer Iphigenie)

und einer der größten deutschen Dichter überhaupt
Im Original: größtei

Das ist Österreichertum
Im Original: Oesterreichertum

Die schwäbischen Dichter, unzählbar wie der Straßenstaub in Stuttgart
Im Original: unzähbar

die Kraft der lebendigen Anschauung aller Dinge
Im Original: Anschaung

Das Disputieren und Schreien galt
Im Original: Disputierten

aus diesem Berlin, das unwiederbringlich dahin ist
Im Original: unwiderbringlich

Das Gelungenste und Geformteste in Fontanes Romanen
Im Original: geformteste

versteigt er sich bis zur Apotheose der Ausschweifung
Im Original: Apothese

eine Kosmogonie voll von Schwelgerei und Orgie des Wortes
Im Original: Kosmogenie

(aus dem Spreewald, 1863-1920)
Im Original: den

der herrschenden Klasse
Im Original: herrrschenden

sangen sich gegenseitig mit ihren Wiegenliedern in Schlaf
Im Original: ihrem]





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