Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII | HTML | PDF ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Hamburgische Dramaturgie
Author: Lessing, Gotthold Ephraim, 1729-1781
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Hamburgische Dramaturgie" ***


This Etext is in German.

We are releasing two versions of this Etext, one in 7-bit format,
known as Plain Vanilla ASCII, which can be sent via plain email--
and one in 8-bit format, which includes higher order characters--
which requires a binary transfer, or sent as email attachment and
may require more specialized programs to display the accents.
This is the 8-bit version.

Projekt-DE. That project is reachable at the web site

zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse


HAMBURGISCHE DRAMATURGIE

von GOTTHOLD EPHRAIM LESSING



Inhalt:

Ankündigung
Erster Band
Zweiter Band
Verzeichnis der Theaterstücke, nach Autorennamen geordnet
Verzeichnis der Theaterstücke, nach Titeln geordnet



Ankündigung

Es wird sich leicht erraten lassen, daß die neue Verwaltung des hiesigen
Theaters die Veranlassung des gegenwärtigen Blattes ist.

Der Endzweck desselben soll den guten Absichten entsprechen, welche man
den Männern, die sich dieser Verwaltung unterziehen wollen, nicht anders
als beimessen kann. Sie haben sich selbst hinlänglich darüber erklärt,
und ihre Äußerungen sind, sowohl hier, als auswärts, von dem feinern
Teile des Publikums mit dem Beifalle aufgenommen worden, den jede
freiwillige Beförderung des allgemeinen Besten verdienet und zu unsern
Zeiten sich versprechen darf.

Freilich gibt es immer und überall Leute, die, weil sie sich selbst am
besten kennen, bei jedem guten Unternehmen nichts als Nebenabsichten
erblicken. Man könnte ihnen diese Beruhigung ihrer selbst gern gönnen;
aber, wenn die vermeinten Nebenabsichten sie wider die Sache selbst
aufbringen; wenn ihr hämischer Neid, um jene zu vereiteln, auch diese
scheitern zu lassen bemüht ist: so müssen sie wissen, daß sie die
verachtungswürdigsten Glieder der menschlichen Gesellschaft sind.

Glücklich der Ort, wo diese Elenden den Ton nicht angeben; wo die größere
Anzahl wohlgesinnter Bürger sie in den Schranken der Ehrerbietung hält
und nicht verstattet, daß das Bessere des Ganzen ein Raub ihrer Kabalen,
und patriotische Absichten ein Vorwurf ihres spöttischen
Aberwitzes werden!

So glücklich sei Hamburg in allem, woran seinem Woh1stande und seiner
Freiheit gelegen: denn es verdienet, so glücklich zu sein!

Als Schlegel, zur Aufnahme des dänischen Theaters,--(ein deutscher
Dichter des dänischen Theaters!)--Vorschläge tat, von welchen es
Deutschland noch lange zum Vorwurfe gereichen wird, daß ihm keine
Gelegenheit gemacht worden, sie zur Aufnahme des unsrigen zu tun: war
dieses der erste und vornehmste, "daß man den Schauspielern selbst die
Sorge nicht überlassen müsse, für ihren Verlust und Gewinst zu
arbeiten".[1] Die Prinzipalschaft unter ihnen hat eine freie Kunst zu
einem Handwerke herabgesetzt, welches der Meister mehrenteils desto
nachlässiger und eigennütziger treiben läßt, je gewissere Kunden, je
mehrere Abnehmer ihm Notdurft oder Luxus versprechen.

Wenn hier also bis itzt auch weiter noch nichts geschehen wäre, als daß
eine Gesellschaft von Freunden der Bühne Hand an das Werk gelegt und,
nach einem gemeinnützigen Plane arbeiten zu lassen, sich verbunden hätte:
so wäre dennoch, bloß dadurch, schon viel gewonnen. Denn aus dieser
ersten Veränderung können, auch bei einer nur mäßigen Begünstigung des
Publikums, leicht und geschwind alle andere Verbesserungen erwachsen,
deren unser Theater bedarf.

An Fleiß und Kosten wird sicherlich nichts gesparet werden: ob es an
Geschmack und Einsicht fehlen dürfte, muß die Zeit lehren. Und hat es
nicht das Publikum in seiner Gewalt, was es hierin mangelhaft finden
sollte, abstellen und verbessern zu lassen? Es komme nur, und sehe und
höre, und prüfe und richte. Seine Stimme soll nie geringschätzig
verhöret, sein Urteil soll nie ohne Unterwerfung vernommen werden!

Nur daß sich nicht jeder kleine Kritikaster für das Publikum halte, und
derjenige, dessen Erwartungen getäuscht werden, auch ein wenig mit sich
selbst zu Rate gehe, von welcher Art seine Erwartungen gewesen. Nicht
jeder Liebhaber ist Kenner; nicht jeder, der die Schönheiten eines
Stücks, das richtige Spiel eines Akteurs empfindet, kann darum auch den
Wert aller andern schätzen. Man hat keinen Geschmack, wenn man nur einen
einseitigen Geschmack hat; aber oft ist man desto parteiischer. Der wahre
Geschmack ist der allgemeine, der sich über Schönheiten von jeder Art
verbreitet, aber von keiner mehr Vergnügen und Entzücken erwartet, als
sie nach ihrer Art gewähren kann.

Der Stufen sind viel, die eine werdende Bühne bis zum Gipfel der
Vollkommenheit zu durchsteigen hat; aber eine verderbte Bühne ist von
dieser Höhe, natürlicherweise, noch weiter entfernt: und ich fürchte
sehr, daß die deutsche mehr dieses als jenes ist.

Alles kann folglich nicht auf einmal geschehen. Doch was man nicht
wachsen sieht, findet man nach einiger Zeit gewachsen. Der Langsamste,
der sein Ziel nur nicht aus den Augen verlieret, geht noch immer
geschwinder, als der ohne Ziel herumirret.

Diese Dramaturgie soll ein kritisches Register von allen aufzuführenden
Stücken halten und jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des
Dichters, als des Schauspielers, hier tun wird. Die Wahl der Stücke ist
keine Kleinigkeit: aber Wahl setzt Menge voraus; und wenn nicht immer
Meisterstücke aufgeführet werden sollten, so sieht man wohl, woran die
Schuld liegt. Indes ist es gut, wenn das Mittelmäßige für nichts mehr
ausgegeben wird, als es ist; und der unbefriedigte Zuschauer wenigstens
daran urteilen lernt. Einem Menschen von gesundem Verstande, wenn man ihm
Geschmack beibringen will, braucht man es nur auseinanderzusetzen, warum
ihm etwas nicht gefallen hat. Gewisse mittelmäßige Stücke müssen auch
schon darum beibehalten werden, weil sie gewisse vorzügliche Rollen
haben, in welchen der oder jener Akteur seine ganze Stärke zeigen kann.
So verwirft man nicht gleich eine musikalische Komposition, weil der Text
dazu elend ist.

Die größte Feinheit eines dramatischen Richters zeiget sich darin, wenn
er in jedem Falle des Vergnügens und Mißvergnügens unfehlbar zu
unterscheiden weiß, was und wieviel davon auf die Rechnung des Dichters,
oder des Schauspielers, zu setzen sei. Den einen um etwas tadeln, was der
andere versehen hat, heißt beide verderben. Jenem wird der Mut benommen,
und dieser wird sicher gemacht.

Besonders darf es der Schauspieler verlangen, daß man hierin die größte
Strenge und Unparteilichkeit beobachte. Die Rechtfertigung des Dichters
kann jederzeit angetreten werden; sein Werk bleibt da und kann uns immer
wieder vor die Augen gelegt werden. Aber die Kunst des Schauspielers ist
in ihren Werken transitorisch. Sein Gutes und Schlimmes rauschet gleich
schnell vorbei; und nicht selten ist die heutige Laune des Zuschauers
mehr Ursache, als er selbst, warum das eine oder das andere einen
lebhafteren Eindruck auf jenen gemacht hat.

Eine schöne Figur, eine bezaubernde Miene, ein sprechendes Auge, ein
reizender Tritt, ein lieblicher Ton, eine melodische Stimme: sind Dinge,
die sich nicht wohl mit Worten ausdrücken lassen. Doch sind es auch weder
die einzigen noch größten Vollkommenheiten des Schauspielers. Schätzbare
Gaben der Natur, zu seinem Berufe sehr nötig, aber noch lange nicht
seinen Beruf erfüllend! Er muß überall mit dem Dichter denken; er muß da,
wo dem Dichter etwas Menschliches widerfahren ist, für ihn denken.

Man hat allen Grund, häufige Beispiele hiervon sich von unsern
Schauspielern zu versprechen.--Doch ich will die Erwartung des Publikums
nicht höher stimmen. Beide schaden sich selbst: der zu viel verspricht,
und der zu viel erwartet.

Heute geschieht die Eröffnung der Bühne. Sie wird viel entscheiden; sie
muß aber nicht alles entscheiden sollen. In den ersten Tagen werden sich
die Urteile ziemlich durchkreuzen. Es würde Mühe kosten, ein ruhiges
Gehör zu erlangen.--Das erste Blatt dieser Schrift soll daher nicht eher
als mit dem Anfange des künftigen Monats erscheinen.

Hamburg, den 22. April 1767.


----Fußnote

[1] "Werke", dritter Teil, S. 252."

----Fußnote



Erster Band


Erstes Stück
Den 1. Mai 1767

Das Theater ist den 22. vorigen Monats mit dem Trauerspiele: "Olint und
Sophronia" glücklich eröffnet worden. Ohne Zweifel wollte man gern mit
einem deutschen Originale anfangen, welches hier noch den Reiz der
Neuheit habe. Der innere Wert dieses Stückes konnte auf eine solche Ehre
keinen Anspruch machen. Die Wahl wäre zu tadeln, wenn sich zeigen ließe,
daß man eine viel bessere hätte treffen können.

"Olint und Sophronia" ist das Werk eines jungen Dichters, und sein
unvollendet hinterlassenes Werk. Cronegk starb allerdings für unsere
Bühne zu früh; aber eigentlich gründet sich sein Ruhm mehr auf das was
er, nach dem Urteile seiner Freunde, für dieselbe noch hätte leisten
können, als was er wirklich geleistet hat. Und welcher dramatische
Dichter, aus allen Zeiten und Nationen, hätte in seinem
sechsundzwanzigsten Jahre sterben können, ohne die Kritik über seine
wahren Talente nicht ebenso zweifelhaft zu lassen?

Der Stoff ist die bekannte Episode beim Tasso. Eine kleine rührende
Erzählung in ein rührendes Drama umzuschaffen, ist so leicht nicht. Zwar
kostet es wenig Mühe, neue Verwickelungen zu erdenken und einzelne
Empfindungen in Szenen auszudehnen. Aber zu verhüten wissen, daß diese
neue Verwickelungen weder das Interesse schwächen, noch der
Wahrscheinlichkeit Eintrag tun; sich aus dem Gesichtspunkte des Erzählers
in den wahren Standort einer jeden Person versetzen können; die
Leidenschaften nicht beschreiben, sondern vor den Augen des Zuschauers
entstehen und ohne Sprung in einer so illusorischen Stetigkeit wachsen zu
lassen, daß dieser sympathisieren muß, er mag wollen oder nicht: das ist
es, was dazu nötig ist; was das Genie, ohne es zu wissen, ohne es sich
langweilig zu erklären, tut, und was der bloß witzige Kopf nachzumachen,
vergebens sich martert.

Tasso scheinet in seinem Olint und Sophronia den Virgil in seinem Nisus
und Euryalus vor Augen gehabt zu haben. So wie Virgil in diesen die
Stärke der Freundschaft geschildert hatte, wollte Tasso in jenen die
Stärke der Liebe schildern. Dort war es heldenmütiger Diensteifer, der
die Probe der Freundschaft veranlaßte: hier ist es die Religion, welche
der Liebe Gelegenheit gibt, sich in aller ihrer Kraft zu zeigen. Aber die
Religion, welche bei dem Tasso nur das Mittel ist, wodurch er die Liebe
so wirksam zeiget, ist in Cronegks Bearbeitung das Hauptwerk geworden.
Er wollte den Triumph dieser in den Triumph jener veredeln. Gewiß, eine
fromme Verbesserung--weiter aber auch nichts, als fromm! Denn sie hat ihn
verleitet, was bei dem Tasso so simpel und natürlich, so wahr und
menschlich ist, so verwickelt und romanenhaft, so wunderbar und himmlisch
zu machen, daß nichts darüber!

Beim Tasso ist es ein Zauberer, ein Kerl, der weder Christ noch
Mahomedaner ist, sondern sich aus beiden Religionen einen eigenen
Aberglauben zusammengesponnen hat, welcher dem Aladin den Rat gibt, das
wundertätige Marienbild aus dem Tempel in die Moschee zu bringen. Warum
machte Cronegk aus diesem Zauberer einen mahomedanischen Priester? Wenn
dieser Priester in seiner Religion nicht ebenso unwissend war, als es der
Dichter zu sein scheinet, so konnte er einen solchen Rat unmöglich geben.
Sie duldet durchaus keine Bilder in ihren Moscheen. Cronegk verrät sich
in mehrern Stücken, daß ihm eine sehr unrichtige Vorstellung von dem
mahomedanischen Glauben beigewohnet. Der gröbste Fehler aber ist, daß er
eine Religion überall des Polytheismus schuldig macht, die fast mehr als
jede andere auf die Einheit Gottes dringet. Die Moschee heißt ihm "ein
Sitz der falschen Götter", und den Priester selbst läßt er ausrufen:

"So wollt ihr euch noch nicht mit Rach' und Strafe rüsten, Ihr Götter?
Blitzt, vertilgt das freche Volk der Christen!"

Der sorgsame Schauspieler hat in seiner Tracht das Kostüm, vom Scheitel
bis zur Zehe, genau zu beobachten gesucht; und er muß solche
Ungereimtheiten sagen!

Beim Tasso kömmt das Marienbild aus der Moschee weg, ohne daß man
eigentlich weiß, ob es von Menschenhänden entwendet worden, oder ob eine
höhere Macht dabei im Spiele gewesen. Cronegk macht den Olint zum Täter.
Zwar verwandelt er das Marienbild in "ein Bild des Herrn am Kreuz"; aber
Bild ist Bild, und dieser armselige Aberglaube gibt dem Olint eine sehr
verächtliche Seite. Man kann ihm unmöglich wieder gut werden, daß er es
wagen können, durch eine so kleine Tat sein Volk an den Rand des
Verderbens zu stellen. Wenn er sich hernach freiwillig dazu bekennet: so
ist es nichts mehr als Schuldigkeit, und keine Großmut. Beim Tasso läßt
ihn bloß die Liebe diesen Schritt tun; er will Sophronien retten, oder
mit ihr sterben; mit ihr sterben, bloß um mit ihr zu sterben; kann er mit
ihr nicht ein Bette besteigen, so sei es ein Scheiterhaufen; an ihrer
Seite, an den nämlichen Pfahl gebunden, bestimmt, von dem nämlichen Feuer
verzehret zu werden, empfindet er bloß das Glück einer so süßen
Nachbarschaft, denket an nichts, was er jenseit dem Grabe zu hoffen habe,
und wünschet nichts, als daß diese Nachbarschaft noch enger und
vertrauter sein möge, daß er Brust gegen Brust drücken und auf ihren
Lippen seinen Geist verhauchen dürfe.

Dieser vortreffliche Kontrast zwischen einer lieben, ruhigen, ganz
geistigen Schwärmerin und einem hitzigen, begierigen Jünglinge ist beim
Cronegk völlig verloren. Sie sind beide von der kältesten Einförmigkeit;
beide haben nichts als das Märtertum im Kopfe; und nicht genug, daß er,
daß sie für die Religion sterben wollen; auch Evander wollte, auch Serena
hätte nicht übel Lust dazu.

Ich will hier eine doppelte Anmerkung machen, welche, wohl behalten,
einen angehenden tragischen Dichter vor großen Fehltritten bewahren kann.
Die eine betrifft das Trauerspiel überhaupt. Wenn heldenmütige
Gesinnungen Bewunderung erregen sollen: so muß der Dichter nicht zu
verschwenderisch damit umgehen; denn was man öfters, was man an mehrern
sieht, höret man auf zu bewundern. Hierwider hatte sich Cronegk schon in
seinem "Kodrus" sehr versündiget. Die Liebe des Vaterlandes, bis zum
freiwilligen Tode für dasselbe, hätte den Kodrus allein auszeichnen
sollen: er hätte als ein einzelnes Wesen einer ganz besondern Art
dastehen müssen, um den Eindruck zu machen, welchen der Dichter mit ihm
im Sinne hatte. Aber Elesinde und Philaide, und Medon, und wer nicht?
sind alle gleich bereit, ihr Leben dem Vaterlande aufzuopfern; unsere
Bewunderung wird geteilt, und Kodrus verlieret sich unter der Menge. So
auch hier. Was in "Olint und Sophronia" Christ ist, das alles hält
gemartert werden und sterben für ein Glas Wasser trinken. Wir hören diese
frommen Bravaden so oft, aus so verschiedenem Munde, daß sie alle Wirkung
verlieren.

Die zweite Anmerkung betrifft das christliche Trauerspiel insbesondere.
Die Helden desselben sind mehrenteils Märtyrer. Nun leben wir zu einer
Zeit, in welcher die Stimme der gesunden Vernunft zu laut erschallet, als
daß jeder Rasender, der sich mutwillig, ohne alle Not, mit Verachtung
aller seiner bürgerlichen Obliegenheiten in den Tod stürzet, den Titel
eines Märtyrers sich anmaßen dürfte. Wir wissen itzt zu wohl die falschen
Märtyrer von den wahren zu unterscheiden; wir verachten jene ebensosehr,
als wir diese verehren, und höchstens können sie uns eine melancholische
Träne über die Blindheit und den Unsinn auspressen, deren wir die
Menschheit überhaupt in ihnen fähig erblicken. Doch diese Träne ist keine
von den angenehmen, die das Trauerspiel erregen will. Wenn daher der
Dichter einen Märtyrer zu seinem Helden wählet: daß er ihm ja die
lautersten und triftigsten Bewegungsgründe gebe! daß er ihn ja in die
unumgängliche Notwendigkeit setze, den Schritt zu tun, durch den er sich
der Gefahr bloßstellet! daß er ihn ja den Tod nicht freventlich suchen,
nicht höhnisch ertrotzen lasse! Sonst wird uns sein frommer Held zum
Abscheu, und die Religion selbst, die er ehren wollte, kann darunter
leiden. Ich habe schon berühret, daß es nur ein ebenso nichtswürdiger
Aberglaube sein konnte, als wir in dem Zauberer Ismen verachten, welcher
den Olint antrieb, das Bild aus der Moschee wieder zu entwenden. Es
entschuldiget den Dichter nicht, daß es Zeiten gegeben, wo ein solcher
Aberglaube allgemein war und bei vielen guten Eigenschaften bestehen
konnte; daß es noch Länder gibt, wo er der frommen Einfalt nichts
Befremdendes haben würde. Denn er schrieb sein Trauerspiel ebensowenig
für jene Zeiten, als er es bestimmte, in Böhmen oder Spanien gespielt zu
werden. Der gute Schriftsteller, er sei von welcher Gattung er wolle,
wenn er nicht bloß schreibet, seinen Witz, seine Gelehrsamkeit zu zeigen,
hat immer die Erleuchtesten und Besten seiner Zeit und seines Landes in
Augen, und nur was diesen gefallen, was diese rühren kann, würdiget er zu
schreiben. Selbst der dramatische, wenn er sich zu dem Pöbel herabläßt,
läßt sich nur darum zu ihm herab, um ihn zu erleuchten und zu bessern;
nicht aber ihn in seinen Vorurteilen, ihn in seiner unedeln Denkungsart
zu bestärken.



Zweites Stück
Den 5. Mai 1767

Noch eine Anmerkung, gleichfalls das christliche Trauerspiel betreffend,
würde über die Bekehrung der Clorinde zu machen sein. So überzeugt wir
auch immer von den unmittelbaren Wirkungen der Gnade sein mögen, so wenig
können sie uns doch auf dem Theater gefallen, wo alles, was zu dem
Charakter der Personen gehöret, aus den natürlichsten Ursachen
entspringen muß. Wunder dulden wir da nur in der physikalischen Welt; in
der moralischen muß alles seinen ordentlichen Lauf behalten, weil das
Theater die Schule der moralischen Welt sein soll. Die Bewegungsgründe zu
jedem Entschlusse, zu jeder Änderung der geringsten Gedanken und
Meinungen, müssen, nach Maßgebung des einmal angenommenen Charakters,
genau gegeneinander abgewogen sein, und jene müssen nie mehr
hervorbringen, als sie nach der strengsten Wahrheit hervorbringen können.
Der Dichter kann die Kunst besitzen, uns, durch Schönheiten des Detail,
über Mißverhältnisse dieser Art zu täuschen; aber er täuscht uns nur
einmal, und sobald wir wieder kalt werden, nehmen wir den Beifall, den er
uns abgetäuschet hat, zurück. Dieses auf die vierte Szene des dritten
Akts angewendet, wird man finden, daß die Reden und das Betragen der
Sophronia die Clorinde zwar zum Mitleiden hätten bewegen können, aber
viel zu unvermögend sind, Bekehrung an einer Person zu wirken, die gar
keine Anlage zum Enthusiasmus hat. Beim Tasso nimmt Clorinde auch das
Christentum an; aber in ihrer letzten Stunde; aber erst, nachdem sie kurz
zuvor erfahren, daß ihre Eltern diesem Glauben zugetan gewesen: feine,
erhebliche Umstände, durch welche die Wirkung einer höhern Macht in die
Reihe natürlicher Begebenheiten gleichsam mit eingeflochten wird. Niemand
hat es besser verstanden, wie weit man in diesem Stücke auf dem Theater
gehen dürfe, als Voltaire. Nachdem die empfindliche, edle Seele des
Zamor, durch Beispiel und Bitten, durch Großmut und Ermahnungen bestürmet
und bis in das Innerste erschüttert worden, läßt er ihn doch die Wahrheit
der Religion, an deren Bekennern er so viel Großes sieht, mehr vermuten,
als glauben. Und vielleicht würde Voltaire auch diese Vermutung
unterdrückt haben, wenn nicht zur Beruhigung des Zuschauers etwas hätte
geschehen müssen.

Selbst der "Polyeukt" des Corneille ist, in Absicht auf beide
Anmerkungen, tadelhaft; und wenn es seine Nachahmungen immer mehr
geworden sind, so dürfte die erste Tragödie, die den Namen einer
christlichen verdienet, ohne Zweifel noch zu erwarten sein. Ich meine ein
Stück, in welchem einzig der Christ als Christ uns interessierst.--Ist
ein solches Stück aber auch wohl möglich? Ist der Charakter des wahren
Christen nicht etwa ganz untheatralisch? Streiten nicht etwa die stille
Gelassenheit, die unveränderliche Sanftmut, die seine wesentlichsten Züge
sind, mit dem ganzen Geschäfte der Tragödie, welches Leidenschaften durch
Leidenschaften zu reinigen sucht? Widerspricht nicht etwa seine Erwartung
einer belohnenden Glückseligkeit nach diesem Leben der Uneigennützigkeit,
mit welcher wir alle große und gute Handlungen auf der Bühne unternommen
und vollzogen zu sehen wünschen?

Bis ein Werk des Genies, von dem man nur aus der Erfahrung lernen kann,
wieviel Schwierigkeiten es zu übersteigen vermag, diese Bedenklichkeiten
unwidersprechlich widerlegt, wäre also mein Rat:--man ließe alle
bisherige christliche Trauerspiele unaufgeführet. Dieser Rat, welcher aus
den Bedürfnissen der Kunst hergenommen ist, welcher uns um weiter nichts
als sehr mittelmäßige Stücke bringen kann, ist darum nichts schlechter,
weil er den schwächern Gemütern zustatten kömmt, die, ich weiß nicht
welchen Schauder empfinden, wenn sie Gesinnungen, auf die sie sich nur an
einer heiligern Stätte gefaßt machen, im Theater zu hören bekommen. Das
Theater soll niemanden, wer es auch sei, Anstoß geben; und ich wünschte,
daß es auch allem genommenen Anstoße vorbeugen könnte und wollte.

Cronegk hatte sein Stück nur bis gegen das Ende des vierten Aufzuges
gebracht. Das übrige hat eine Feder in Wien dazugefüget; eine Feder
--denn die Arbeit eines Kopfes ist dabei nicht sehr sichtbar. Der
Ergänzer hat, allem Ansehen nach, die Geschichte ganz anders geendet, als
sie Cronegk zu enden willens gewesen. Der Tod löset alle Verwirrungen am
besten; darum läßt er beide sterben, den Olint und die Sophronia. Beim
Tasso kommen sie beide davon; denn Clorinde nimmt sich mit der
uneigennützigsten Großmut ihrer an. Cronegk aber hatte Clorinden verliebt
gemacht, und da war es freilich schwer zu erraten, wie er zwei
Nebenbuhlerinnen auseinander setzen wollen, ohne den Tod zu Hilfe zu
rufen. In einem andern noch schlechtern Trauerspiele, wo eine von den
Hauptpersonen ganz aus heiler Haut starb, fragte ein Zuschauer seinen
Nachbar: "Aber woran stirbt sie denn?"--"Woran? am fünften Akte!"
antwortete dieser. In Wahrheit; der fünfte Akt ist eine garstige böse
Staupe, die manchen hinreißt, dem die ersten vier Akte ein weit längeres
Leben versprachen.--

Doch ich will mich in die Kritik des Stückes nicht tiefer einlassen. So
mittelmäßig es ist, so ausnehmend ist es vorgestellet worden. Ich
schweige von der äußeren Pracht; denn diese Verbesserung unsers Theaters
erfordert nichts als Geld. Die Künste, deren Hilfe dazu nötig ist, sind
bei uns in eben der Vollkommenheit als in jedem andern Lande; nur die
Künstler wollen ebenso bezahlt sein, wie in jedem andern Lande.

Man muß mit der Vorstellung eines Stückes zufrieden sein, wenn unter
vier, fünf Personen einige vortrefflich und die andern gut gespielet
haben. Wen, in den Nebenrollen, ein Anfänger oder sonst ein Notnagel so
sehr beleidiget, daß er über das Ganze die Nase rümpft, der reise nach
Utopien und besuche da die vollkommenen Theater, wo auch der Lichtputzer
ein Garrick ist.

Herr Ekhof war Evander; Evander ist zwar der Vater des Olints, aber im
Grunde doch nicht viel mehr als ein Vertrauter. Indes mag dieser Mann
eine Rolle machen, welche er will; man erkennet ihn in der kleinsten noch
immer für den ersten Akteur und bedauert, auch nicht zugleich alle übrige
Rollen von ihm sehen zu können. Ein ihm ganz eigenes Talent ist dieses,
daß er Sittensprüche und allgemeine Betrachtungen, diese langweiligen
Ausbeugungen eines verlegenen Dichters, mit einem Anstande, mit einer
Innigkeit zu sagen weiß, daß das Trivia1ste von dieser Art in seinem
Munde Neuheit und Würde, das Frostigste Feuer und Leben erhält.

Die eingestreuten Moralen sind Cronegks beste Seite. Er hat, in seinem
"Kodrus" und hier, so manche in einer so schönen nachdrücklichen Kürze
ausgedrückt, daß viele von seinen Versen als Sentenzen behalten und von
dem Volke unter die im gemeinen Leben gangbare Weisheit aufgenommen zu
werden verdienen. Leider sucht er uns nur auch öfters gefärbtes Glas für
Ede1steine, und witzige Antithesen für gesunden Verstand einzuschwatzen.
Zwei dergleichen Zeilen, in dem ersten Akte, hatten eine besondere
Wirkung auf mich. Die eine,

"Der Himmel kann verzeihn, allein ein Priester nicht."

Die andere,

"Wer schlimm von andern denkt, ist selbst ein Bösewicht."

Ich ward betroffen, in dem Parterre eine allgemeine Bewegung, und
dasjenige Gemurmel zu bemerken, durch welches sich der Beifall ausdrückt,
wenn ihn die Aufmerksamkeit nicht gänzlich ausbrechen läßt. Teils dachte
ich: Vortrefflich! man liebt hier die Moral; dieses Parterre findet
Geschmack an Maximen; auf dieser Bühne könnte sich ein Euripides Ruhm
erwerben, und ein Sokrates würde sie gern besuchen. Teils fiel es mir
zugleich mit auf, wie schielend, wie falsch, wie anstößig diese
vermeinten Maximen wären, und ich wünschte sehr, daß die Mißbilligung an
jenem Gemurmle den meisten Anteil möge gehabt haben. Es ist nur ein Athen
gewesen, es wird nur ein Athen bleiben, wo auch bei dem Pöbel das
sittliche Gefühl so fein, so zärtlich war, daß einer unlautern Moral
wegen Schauspieler und Dichter Gefahr liefen, von dem Theater
herabgestürmet zu werden! Ich weiß wohl, die Gesinnungen müssen in dem
Drama dem angenommenen Charakter der Person, welche sie äußert,
entsprechen; sie können also das Siegel der absoluten Wahrheit nicht
haben; genug, wenn sie poetisch wahr sind, wenn wir gestehen müssen, daß
dieser Charakter, in dieser Situation, bei dieser Leidenschaft, nicht
anders als so habe urteilen können. Aber auch diese poetische Wahrheit
muß sich, auf einer andern Seite, der absoluten wiederum nähern, und der
Dichter muß nie so unphilosophisch denken, daß er annimmt, ein Mensch
könne das Böse, um des Bösen wegen, wollen, er könne nach lasterhaften
Grundsätzen handeln, das Lasterhafte derselben erkennen und doch gegen
sich und andere damit prahlen. Ein solcher Mensch ist ein Unding, so
gräßlich als ununterrichtend, und nichts als die armselige Zuflucht eines
schalen Kopfes, der schimmernde Tiraden für die höchste Schönheit des
Trauerspieles hält. Wenn Ismenor ein grausamer Priester ist, sind darum
alle Priester Ismenors? Man wende nicht ein, daß von Priestern einer
falschen Religion die Rede sei. So falsch war noch keine in der Welt, daß
ihre Lehrer notwendig Unmenschen sein müssen. Priester haben in den
falschen Religionen, so wie in der wahren, Unheil gestiftet, aber nicht
weil sie Priester, sondern weil sie Bösewichter waren, die, zum Behuf
ihrer schlimmen Neigungen, die Vorrechte auch eines jeden andern Standes
gemißbraucht hätten.

Wenn die Bühne so unbesonnene Urteile über die Priester überhaupt ertönen
läßt, was Wunder, wenn sich auch unter diesen Unbesonnene finden, die sie
als die grade Heerstraße zur Hölle ausschreien?

Aber ich verfalle wiederum in die Kritik des Stückes, und ich wollte von
dem Schauspieler sprechen.



Drittes Stück
Den 8. Mai 1767

Und wodurch bewirkt dieser Schauspieler (Hr. Ekhof), daß wir auch die
gemeinste Moral so gern von ihm hören? Was ist es eigentlich, was ein
anderer von ihm zu lernen hat, wenn wir ihn in solchem Falle ebenso
unterhaltend finden sollen?

Alle Moral muß aus der Fülle des Herzens kommen, von der der Mund
übergehet; man muß ebensowenig lange darauf zu denken, als damit zu
prahlen scheinen.

Es verstehst sich also von selbst, daß die moralischen Stellen vorzüglich
wohl gelernet sein wollen. Sie müssen ohne Stocken, ohne den geringsten
Anstoß, in einem ununterbrochenen Flusse der Worte, mit einer
Leichtigkeit gesprochen werden, daß sie keine mühsame Auskramungen des
Gedächtnisses, sondern unmittelbare Eingebungen der gegenwärtigen Lage
der Sachen scheinen.

Ebenso ausgemacht ist es, daß kein falscher Akzent uns muß argwöhnen
lassen, der Akteur plaudere, was er nicht verstehe. Er muß uns durch den
richtigsten, sichersten Ton überzeugen, daß er den ganzen Sinn seiner
Worte durchdrungen habe.

Aber die richtige Akzentuation ist zur Not auch einem Papagei
beizubringen. Wie weit ist der Akteur, der eine Stelle nur versteht, noch
von dem entfernt, der sie auch zugleich empfindet! Worte, deren Sinn man
einmal gefaßt, die man sich einmal ins Gedächtnis gepräget hat, lassen
sich sehr richtig hersagen, auch indem sich die Seele mit ganz andern
Dingen beschäftiget; aber alsdann ist keine Empfindung möglich. Die Seele
muß ganz gegenwärtig sein; sie muß ihre Aufmerksamkeit einzig und allein
auf ihre Reden richten, und nur alsdann--

Aber auch alsdann kann der Akteur wirklich viel Empfindung haben und doch
keine zu haben scheinen. Die Empfindung ist überhaupt immer das
streitigste unter den Talenten eines Schauspielers. Sie kann sein, wo man
sie nicht erkennet; und man kann sie zu erkennen glauben, wo sie nicht
ist. Denn die Empfindung ist etwas Inneres, von dem wir nur nach seinen
äußern Merkmalen urteilen können. Nun ist es möglich, daß gewisse Dinge
in dem Baue des Körpers diese Merkmale entweder gar nicht verstatten,
oder doch schwächen und zweideutig machen. Der Akteur kann eine gewisse
Bildung des Gesichts, gewisse Mienen, einen gewissen Ton haben, mit denen
wir ganz andere Fähigkeiten, ganz andere Leidenschaften, ganz andere
Gesinnungen zu verbinden gewohnt sind, als er gegenwärtig äußern und
ausdrücken soll. Ist dieses, so mag er noch so viel empfinden, wir
glauben ihm nicht: denn er ist mit sich selbst im Widerspruche.
Gegenteils kann ein anderer so glücklich gebauet sein; er kann so
entscheidende Züge besitzen; alle seine Muskeln können ihm so leicht, so
geschwind zu Gebote stehen; er kann so feine, so vielfältige Abänderungen
der Stimme in seiner Gewalt haben; kurz, er kann mit allen zur Pantomime
erforderlichen Gaben in einem so hohen Grade beglückt sein, daß er uns in
denjenigen Rollen, die er nicht ursprünglich, sondern nach irgendeinem
guten Vorbilde spielet, von der innigsten Empfindung beseelet scheinen
wird, da doch alles, was er sagt und tut, nichts als mechanische
Nachäffung ist.

Ohne Zweifel ist dieser, ungeachtet seiner Gleichgültigkeit und Kälte,
dennoch auf dem Theater weit brauchbarer, als jener. Wenn er lange genug
nichts als nachgeäffet hat, haben sich endlich eine Menge kleiner Regeln
bei ihm gesammelt, nach denen er selbst zu handeln anfängt, und durch
deren Beobachtung (zufolge dem Gesetze, daß eben die Modifikationen der
Seele, welche gewisse Veränderungen des Körpers hervorbringen,
hinwiederum durch diese körperliche Veränderungen bewirket werden) er zu
einer Art von Empfindung gelangt, die zwar die Dauer, das Feuer
derjenigen, die in der Seele ihren Anfang nimmt, nicht haben kann, aber
doch in dem Augenblicke der Vorstellung kräftig genug ist, etwas von den
nicht freiwilligen Veränderungen des Körpers hervorzubringen, aus deren
Dasein wir fast allein auf das innere Gefühl zuverlässig schließen zu
können glauben. Ein solcher Akteur soll z.E. die äußerste Wut des Zornes
ausdrücken; ich nehme an, daß er seine Rolle nicht einmal recht
verstehet, daß er die Gründe dieses Zornes weder hinlänglich zu fassen,
noch lebhaft genug sich vorzustellen vermag, um seine Seele selbst in
Zorn zu setzen. Und ich sage; wenn er nur die allergröbsten Äußerungen
des Zornes einem Akteur von ursprünglicher Empfindung abgelernet hat und
getreu nachzumachen weiß--den hastigen Gang, den stampfenden Fuß, den
rauhen, bald kreischenden bald verbissenen Ton, das Spiel der
Augenbraunen, die zitternde Lippe, das Knirschen der Zähne usw.--wenn er,
sage ich, nur diese Dinge, die sich nachmachen lassen, sobald man will,
gut nachmacht: so wird dadurch unfehlbar seine Seele ein dunkles Gefühl
von Zorn befallen, welches wiederum in den Körper zurückwirkt, und da
auch diejenigen Veränderungen hervorbringt, die nicht bloß von unserm
Willen abhangen; sein Gesicht wird glühen, seine Augen werden blitzen,
seine Muskeln werden schwellen; kurz, er wird ein wahrer Zorniger zu sein
scheinen, ohne es zu sein, ohne im geringsten zu begreifen, warum er es
sein sollte.

Nach diesen Grundsätzen von der Empfindung überhaupt habe ich mir zu
bestimmen gesucht, welche äußerliche Merkmale diejenige Empfindung
begleiten, mit der moralische Betrachtungen wollen gesprochen sein, und
welche von diesen Merkmalen in unserer Gewalt sind, so daß sie jeder
Akteur, er mag die Empfindung selbst haben, oder nicht, darstellen kann.
Mich dünkt folgendes.

Jede Moral ist ein allgemeiner Satz, der als solcher einen Grad von
Sammlung der Seele und ruhiger Überlegung verlangt. Er will also mit
Gelassenheit und einer gewissen Kälte gesagt sein.

Allein dieser allgemeine Satz ist zugleich das Resultat von Eindrücken,
welche individuelle Umstände auf die handelnden Personen machen; er ist
kein bloßer symbolischer Schluß; er ist eine generalisierte Empfindung,
und als diese will er mit Feuer und einer gewissen Begeisterung
gesprochen sein.

Folglich mit Begeisterung und Gelassenheit, mit Feuer und Kälte?--

Nicht anders; mit einer Mischung von beiden, in der aber, nach
Beschaffenheit der Situation, bald dieses, bald jenes hervorsticht.

Ist die Situation ruhig, so muß sich die Seele durch die Moral gleichsam
einen neuen Schwung geben wollen; sie muß über ihr Glück oder ihre
Pflichten bloß darum allgemeine Betrachtungen zu machen scheinen, um
durch diese Allgemeinheit selbst, jenes desto lebhafter zu genießen,
diese desto williger und mutiger zu beobachten.

Ist die Situation hingegen heftig, so muß sich die Seele durch die Moral
(unter welchem Worte ich jede allgemeine Betrachtung verstehe) gleichsam
von ihrem Fluge zurückholen; sie muß ihren Leidenschaften das Ansehen der
Vernunft, stürmischen Ausbrüchen den Schein vorbedächtlicher
Entschließungen geben zu wollen scheinen.

Jenes erfodert einen erhabnen und begeisterten Ton; dieses einen
gemäßigten und feierlichen. Denn dort muß das Raisonnement in Affekt
entbrennen, und hier der Affekt in Raisonnement sich auskühlen.

Die meisten Schauspieler kehren es gerade um. Sie poltern in heftigen
Situationen die allgemeinen Betrachtungen ebenso stürmisch heraus, als
das übrige; und in ruhigen beten sie dieselben ebenso gelassen her, als
das übrige. Daher geschieht es denn aber auch, daß sich die Moral weder
in den einen, noch in den andern bei ihnen ausnimmt; und daß wir sie in
jenen ebenso unnatürlich, als in diesen langweilig und kalt finden. Sie
überlegten nie, daß die Stickerei von dem Grunde abstechen muß, und Gold
auf Gold brodieren ein elender Geschmack ist.

Durch ihre Gestus verderben sie vollends alles. Sie wissen weder, wenn
sie deren dabei machen sollen, noch was für welche. Sie machen
gemeiniglich zu viele und zu unbedeutende.

Wenn in einer heftigen Situation die Seele sich auf einmal zu sammeln
scheinet, um einen überlegenden Blick auf sich oder auf das, was sie
umgibt, zu werfen; so ist es natürlich, daß sie allen Bewegungen des
Körpers, die von ihrem bloßen Willen abhangen, gebieten wird. Nicht die
Stimme allein wird gelassener; die Glieder alle geraten in einen Stand
der Ruhe, um die innere Ruhe auszudrücken, ohne die das Auge der Vernunft
nicht wohl um sich schauen kann. Mit eins tritt der fortschreitende Fuß
fest auf, die Arme sinken, der ganze Körper zieht sich in den wagrechten
Stand; eine Pause--und dann die Reflexion. Der Mann steht da, in einer
feierlichen Stille, als ob er sich nicht stören wollte, sich selbst zu
hören. Die Reflexion ist aus,--wieder eine Pause--und so wie die
Reflexion abgezielet, seine Leidenschaft entweder zu mäßigen, oder zu
befeuern, bricht er entweder auf einmal wieder los oder setzet allmählich
das Spiel seiner Glieder wieder in Gang. Nur auf dem Gesichte bleiben,
während der Reflexion, die Spuren des Affekts; Miene und Auge sind noch
in Bewegung und Feuer; denn wir haben Miene und Auge nicht so urplötzlich
in unserer Gewalt, als Fuß und Hand. Und hierin dann, in diesen
ausdrückenden Mienen, in diesem entbrannten Auge und in dem Ruhestande
des ganzen übrigen Körpers, bestehet die Mischung von Feuer und Kälte,
mit welcher ich glaube, daß die Moral in heftigen Situationen gesprochen
sein will.

Mit ebendieser Mischung will sie auch in ruhigen Situationen gesagt sein;
nur mit dem Unterschiede, daß der Teil der Aktion, welcher dort der
feurige war, hier der kältere, und welcher dort der kältere war, hier der
feurige sein muß. Nämlich: da die Seele, wenn sie nichts als sanfte
Empfindungen hat, durch allgemeine Betrachtungen diesen sanften
Empfindungen einen höhern Grad von Lebhaftigkeit zu geben sucht, so wird
sie auch die Glieder des Körpers, die ihr unmittelbar zu Gebote stehen,
dazu beitragen lassen; die Hände werden in voller Bewegung sein; nur der
Ausdruck des Gesichts kann so geschwind nicht nach, und in Miene und Auge
wird noch die Ruhe herrschen, aus der sie der übrige Körper gern
herausarbeiten möchte.



Viertes Stück
Den 12. Mai 1767

Aber von was für Art sind die Bewegungen der Hände, mit welchen, in
ruhigen Situationen, die Moral gesprochen zu sein liebet?

Von der Chironomie der Alten, das ist, von dem Inbegriffe der Regeln,
welche die Alten den Bewegungen der Hände vorgeschrieben hatten, wissen
wir nur sehr wenig; aber dieses wissen wir, daß sie die Händesprache zu
einer Vollkommenheit gebracht, von der sich aus dem, was unsere Redner
darin zu leisten imstande sind, kaum die Möglichkeit sollte begreifen
lassen. Wir scheinen von dieser ganzen Sprache nichts als ein
unartikuliertes Geschrei behalten zu haben; nichts als das Vermögen,
Bewegungen zu machen, ohne zu wissen, wie diesen Bewegungen eine fixierte
Bedeutung zu geben, und wie sie untereinander zu verbinden, daß sie nicht
bloß eines einzeln Sinnes, sondern eines zusammenhangenden Verstandes
fähig werden.

Ich bescheide mich gern, daß man, bei den Alten, den Pantomimen nicht mit
dem Schauspieler vermengen muß. Die Hände des Schauspielers waren bei
weitem so geschwätzig nicht, als die Hände des Pantomimens. Bei diesem
vertraten sie die Stelle der Sprache; bei jenem sollten sie nur den
Nachdruck derselben vermehren und durch ihre Bewegungen, als natürliche
Zeichen der Dinge, den verabredeten Zeichen der Stimme Wahrheit und Leben
verschaffen helfen. Bei dem Pantomimen waren die Bewegungen der Hände
nicht bloß natürliche Zeichen; viele derselben hatten eine konventionelle
Bedeutung, und dieser mußte sich der Schauspieler gänzlich enthalten.

Er gebrauchte sich also seiner Hände sparsamer, als der Pantomime, aber
ebensowenig vergebens, als dieser. Er rührte keine Hand, wenn er nichts
damit bedeuten oder verstärken konnte. Er wußte nichts von den
gleichgültigen Bewegungen, durch deren beständigen einförmigen Gebrauch
ein so großer Teil von Schauspielern, besonders das Frauenzimmer, sich
das vollkommene Ansehen von Drahtpuppen gibt. Bald mit der rechten, bald
mit der linken Hand die Hälfte einer krieplichten Achte, abwärts vom
Körper, beschreiben, oder mit beiden Händen zugleich die Luft von sich
wegrudern, heißt ihnen, Aktion haben; und wer es mit einer gewissen
Tanzmeistergrazie zu tun geübt ist, oh! der glaubt, uns bezaubern
zu können.

Ich weiß wohl, daß selbst Hogarth den Schauspielern befiehlt, ihre Hand
in schönen Schlangenlinien bewegen zu lernen; aber nach allen Seiten, mit
allen möglichen Abänderungen, deren diese Linien, in Ansehung ihres
Schwunges, ihrer Größe und Dauer, fähig sind. Und endlich befiehlt er es
ihnen nur zur Übung, um sich zum Agieren dadurch geschickt zu machen, um
den Armen die Biegungen des Reizes geläufig zu machen; nicht aber in der
Meinung, daß das Agieren selbst in weiter nichts, als in der Beschreibung
solcher schönen Linien, immer nach der nämlichen Direktion, bestehe.

Weg also mit diesem unbedeutenden Portebras, vornehmlich bei moralischen
Stellen weg mit ihm! Reiz am unrechten Orte ist Affektation und Grimasse;
und ebenderselbe Reiz, zu oft hintereinander wiederholt, wird kalt und
endlich ekel. Ich sehe einen Schulknaben sein Sprüchelchen aufsagen, wenn
der Schauspieler allgemeine Betrachtungen mit der Bewegung, mit welcher
man in der Menuet die Hand gibt, mir zureicht, oder seine Moral gleichsam
vom Rocken spinnet.

Jede Bewegung, welche die Hand bei moralischen Stellen macht, muß
bedeutend sein. Oft kann man bis in das Malerische damit gehen; wenn man
nur das Pantomimische vermeidet. Es wird sich vielleicht ein andermal
Gelegenheit finden, diese Gradation von bedeutenden zu malerischen, von
malerischen zu pantomimischen Gesten, ihren Unterschied und ihren
Gebrauch, in Beispielen zu erläutern. Itzt würde mich dieses zu weit
führen, und ich merke nur an, daß es unter den bedeutenden Gesten eine
Art gibt, die der Schauspieler vor allen Dingen wohl zu beobachten hat,
und mit denen er allein der Moral Licht und Leben erteilen kann. Es sind
dieses, mit einem Worte, die individualisierenden Gestus. Die Moral ist
ein allgemeiner Satz, aus den besondern Umständen der handelnden Personen
gezogen; durch seine Allgemeinheit wird er gewissermaßen der Sache fremd,
er wird eine Ausschweifung, deren Beziehung auf das Gegenwärtige von dem
weniger aufmerksamen oder weniger scharfsinnigen Zuhörer nicht bemerkt
oder nicht begriffen wird. Wann es daher ein Mittel gibt, diese Beziehung
sinnlich zu machen, das Symbolische der Moral wiederum auf das
Anschauende zurückzubringen, und wann dieses Mittel gewisse Gestus sein
können, so muß sie der Schauspieler ja nicht zu machen versäumen.

Man wird mich aus einem Exempel am besten verstehen. Ich nehme es, wie
mir es itzt beifällt; der Schauspieler wird sich ohne Mühe auf noch weit
einleuchtendere besinnen.--Wenn Olint sich mit der Hoffnung schmeichelt,
Gott werde das Herz des Aladin bewegen, daß er so grausam mit den
Christen nicht verfahre, als er ihnen gedrohet: so kann Evander, als ein
alter Mann, nicht wohl anders, als ihm die Betrüglichkeit unsrer
Hoffnungen zu Gemüte führen.

"Vertraue nicht, mein Sohn, Hoffnungen, die betriegen!"

Sein Sohn ist ein feuriger Jüngling, und in der Jugend ist man vorzüglich
geneigt, sich von der Zukunft nur das Beste zu versprechen.

"Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend oft."

Doch indem besinnt er sich, daß das Alter zu dem entgegengesetzten Fehler
nicht weniger geneigt ist; er will den unverzagten Jüngling nicht ganz
niederschlagen und fähret fort:

"Das Alter quält sich selbst, weil es zu wenig hofft."

Diese Sentenzen mit einer gleichgültigen Aktion, mit einer nichts als
schönen Bewegung des Armes begleiten, würde weit schlimmer sein, als sie
ganz ohne Aktion hersagen. Die einzige ihnen angemessene Aktion ist die,
welche ihre Allgemeinheit wieder auf das Besondere einschränkt.
Die Zeile,

"Da sie zu leichtlich glaubt, irrt muntre Jugend oft"

muß in dem Tone, mit dem Gestu der väterlichen Warnung, an und gegen den
Olint gesprochen werden, weil Olint es ist, dessen unerfahrne
leichtgläubige Jugend bei dem sorgsamen Alten diese Betrachtung
veranlaßt. Die Zeile hingegen,

"Das Alter quält sich selbst, weil es zu wenig hofft"

erfordert den Ton, das Achselzucken, mit dem wir unsere eigene
Schwachheiten zu gestehen pflegen, und die Hände müssen sich notwendig
gegen die Brust ziehen, um zu bemerken, daß Evander diesen Satz aus
eigener Erfahrung habe, daß er selbst der Alte sei, von dem er gelte.

Es ist Zeit, daß ich von dieser Ausschweifung über den Vortrag der
moralischen Stellen wieder zurückkomme. Was man Lehrreiches darin findet,
hat man lediglich den Beispielen des Herrn Ekhof zu danken; ich habe
nichts als von ihnen richtig zu abstrahieren gesucht. Wie leicht, wie
angenehm ist es, einem Künstler nachzuforschen, dem das Gute nicht bloß
gelingt, sondern der es macht!

Die Rolle der Clorinde ward von Madame Henseln gespielt, die ohnstreitig
eine von den besten Aktricen ist, welche das deutsche Theater jemals
gehabt hat. Ihr besonderer Vorzug ist eine sehr richtige Deklamation; ein
falscher Akzent wird ihr schwerlich entwischen; sie weiß den
verworrensten, holprigsten, dunke1sten Vers mit einer Leichtigkeit, mit
einer Präzision zu sagen, daß er durch ihre Stimme die deutlichste
Erklärung, den vol1ständigsten Kommentar erhält. Sie verbindet damit
nicht selten ein Raffinement, welches entweder von einer sehr glücklichen
Empfindung, oder von einer sehr richtigen Beurteilung zeuget. Ich glaube
die Liebeserklärung, welche sie dem Olint tut, noch zu hören:

    "--Erkenne mich! Ich kann nicht länger schweigen;
    Verstellung oder Stolz sei niedern Seelen eigen.
    Olint ist in Gefahr, und ich bin außer mir--
    Bewundernd sah ich oft im Krieg und Schlacht nach dir;
    Mein Herz, das vor sich selbst sich zu entdecken scheute,
    War wider meinen Ruhm und meinen Stolz im Streite.
    Dein Unglück aber reißt die ganze Seele hin,
    Und itzt erkenn' ich erst, wie klein, wie schwach ich bin.
    Itzt, da dich alle die, die dich verehrten, hassen,
    Da du zur Pein bestimmt, von jedermann verlassen,
    Verbrechern gleichgestellt, unglücklich und ein Christ,
    Dem furchtbarn Tode nah, im Tod noch elend bist:
    Itzt wag' ich's zu gestehn: itzt kenne meine Triebe!"

Wie frei, wie edel war dieser Ausbruch! Welches Feuer, welche Inbrunst
beseelten jeden Ton! Mit welcher Zudringlichkeit, mit welcher
Überströmung des Herzens sprach ihr Mitleid! Mit welcher Entschlossenheit
ging sie auf das Bekenntnis ihrer Liebe los! Aber wie unerwartet, wie
überraschend brach sie auf einmal ab und veränderte auf einmal Stimme und
Blick und die ganze Haltung des Körpers, da es nun darauf ankam, die
dürren Worte ihres Bekenntnisses zu sprechen. Die Augen zur Erde
geschlagen, nach einem langsamen Seufzer, in dem furchtsamen gezogenen
Tone der Verwirrung, kam endlich

    "Ich liebe dich, Olint,--"

heraus, und mit einer Wahrheit! Auch der, der nicht weiß, ob die Liebe
sich so erklärt, empfand, daß sie sich so erklären sollte. Sie entschloß
sich als Heldin, ihre Liebe zu gestehen, und gestand sie als ein
zärtliches, schamhaftes Weib. So Kriegerin als sie war, so gewöhnt sonst
in allem zu männlichen Sitten: behielt das Weibliche doch hier die
Oberhand. Kaum aber waren sie hervor, diese der Sittsamkeit so schwere
Worte, und mit eins war auch jener Ton der Freimütigkeit wieder da. Sie
fuhr mit der sorglosesten Lebhaftigkeit, in aller der unbekümmerten Hitze
des Affekts fort:

    "--Und stolz auf meine Liebe,
    Stolz, daß dir meine Macht dein Leben retten kann,
    Biet' ich dir Hand und Herz, und Kron' und Purpur an."

Denn die Liebe äußert sich nun als großmütige Freundschaft: und die
Freundschaft spricht ebenso dreist, als schüchtern die Liebe.



Fünftes Stück
Den 15. Mai 1767

Es ist unstreitig, daß die Schauspielerin durch diese meisterhafte
Absetzung der Worte

    "Ich liebe dich, Olint,--"

der Stelle eine Schönheit gab, von der sich der Dichter, bei dem alles in
dem nämlichen Flusse von Worten daherrauscht, nicht das geringste
Verdienst beimessen kann. Aber wenn es ihr doch gefallen hätte, in diesen
Verfeinerungen ihrer Rolle fortzufahren! Vielleicht besorgte sie, den
Geist des Dichters ganz zu verfehlen; oder vielleicht scheute sie den
Vorwurf, nicht das, was der Dichter sagt, sondern was er hätte sagen
sollen, gespielt zu haben. Aber welches Lob könnte größer sein, als so
ein Vorwurf? Freilich muß sich nicht jeder Schauspieler einbilden, dieses
Lob verdienen zu können. Denn sonst möchte es mit den armen Dichtern
übel aussehen.

Cronegk hat wahrlich aus seiner Clorinde ein sehr abgeschmacktes,
widerwärtiges, häßliches Ding gemacht. Und demohngeachtet ist sie noch
der einzige Charakter, der uns bei ihm interessierst. So sehr er die
schöne Natur in ihr verfehlt, so tut doch noch die plumpe, ungeschlachte
Natur einige Wirkung. Das macht, weil die übrigen Charaktere ganz außer
aller Natur sind, und wir doch noch leichter mit einem Dragoner von
Weibe, als mit himmelbrütenden Schwärmern sympathisieren. Nur gegen das
Ende, wo sie mit in den begeisterten Ton fällt, wird sie uns ebenso
gleichgültig und ekel. Alles ist Widerspruch in ihr, und immer springt
sie von einem Äußersten auf das andere. Kaum hat sie ihre Liebe erklärt,
so fügt sie hinzu:

"Wirst du mein Herz verschmähn? Du schweigst?--Entschließe dich; Und wenn
du zweifeln kannst--so zittre!--

So zittre? Olint soll zittern? er, den sie oft in dem Tumulte der
Schlacht unerschrocken unter den Streichen des Todes gesehen? Und soll
vor ihr zittern? Was will sie denn? Will sie ihm die Augen auskratzen?
--O wenn es der Schauspielerin eingefallen wäre, für diese ungezogene
weibliche Gasconade "so zittre!" zu sagen: "ich zittre!" Sie konnte
zittern, soviel sie wollte, ihre Liebe verschmäht, ihren Stolz beleidiget
zu finden. Das wäre sehr natürlich gewesen. Aber es von dem Olint
verlangen, Gegenliebe von ihm, mit dem Messer an der Gurgel, fordern, das
ist so unartig als lächerlich.

Doch was hätte es geholfen, den Dichter einen Augenblick länger in den
Schranken des Woh1standes und der Mäßigung zu erhalten? Er fährt fort,
Clorinden in dem wahren Tone einer besoffenen Marketenderin rasen zu
lassen; und da findet keine Linderung, keine Bemäntelung mehr statt.

Das einzige, was die Schauspielerin zu seinem Besten noch tun könnte,
wäre vielleicht dieses, wenn sie sich von seinem wilden Feuer nicht so
ganz hinreißen ließe, wenn sie ein wenig an sich hielte, wenn sie die
äußerste Wut nicht mit der äußersten Anstrengung der Stimme, nicht mit
den gewaltsamsten Gebärden ausdrückte.

Wenn Shakespeare nicht ein ebenso großer Schauspieler in der Ausübung
gewesen ist, als er ein dramatischer Dichter war, so hat er doch
wenigstens ebenso gut gewußt, was zu der Kunst des einen, als was zu der
Kunst des andern gehöret. Ja vielleicht hatte er über die Kunst des
erstern um so viel tiefer nachgedacht, weil er so viel weniger Genie dazu
hatte. Wenigstens ist jedes Wort, das er dem Hamlet, wenn er die
Komödianten abrichtet, in den Mund legt, eine goldene Regel für alle
Schauspieler, denen an einem vernünftigen Beifalle gelegen ist. "Ich
bitte euch", läßt er ihn unter andern zu den Komödianten sagen, "sprecht
die Rede so, wie ich sie euch vorsagte; die Zunge muß nur eben darüber
hinlaufen. Aber wenn ihr mir sie so heraushalset, wie es manche von
unsern Schauspielern tun: seht, so wäre mir es ebenso lieb gewesen, wenn
der Stadtschreier meine Verse gesagt hätte. Auch durchsägt mir mit eurer
Hand nicht so sehr die Luft, sondern macht alles hübsch artig; denn
mitten in dem Strome, mitten in dem Sturme, mitten, so zu reden, in dem
Wirbelwinde der Leidenschaften, müßt ihr noch einen Grad von Mäßigung
beobachten, der ihnen das Glatte und Geschmeidige gibt."

Man spricht so viel von dem Feuer des Schauspielers; man zerstreitet sich
so sehr, ob ein Schauspieler zu viel Feuer haben könne. Wenn die, welche
es behaupten, zum Beweise anführen, daß ein Schauspieler ja wohl am
unrechten Orte heftig, oder wenigstens heftiger sein könne, als es die
Umstände erfodern: so haben die, welche es leugnen, recht zu sagen, daß
in solchem Falle der Schauspieler nicht zu viel Feuer, sondern zu wenig
Verstand zeige. Überhaupt kömmt es aber wohl darauf an, was wir unter dem
Worte Feuer verstehen. Wenn Geschrei und Kontorsionen Feuer sind, so ist
es wohl unstreitig, daß der Akteur darin zu weit gehen kann. Besteht aber
das Feuer in der Geschwindigkeit und Lebhaftigkeit, mit welcher alle
Stücke, die den Akteur ausmachen, das ihrige dazu beitragen, um seinem
Spiele den Schein der Wahrheit zu geben: so müßten wir diesen Schein der
Wahrheit nicht bis zur äußersten Illusion getrieben zu sehen wünschen,
wenn es möglich wäre, daß der Schauspieler allzuviel Feuer in diesem
Verstande anwenden könnte. Es kann also auch nicht dieses Feuer sein,
dessen Mäßigung Shakespeare selbst in dem Strome, in dem Sturme, in dem
Wirbelwinde der Leidenschaft verlangt: er muß bloß jene Heftigkeit der
Stimme und der Bewegungen meinen; und der Grund ist leicht zu finden,
warum auch da, wo der Dichter nicht die geringste Mäßigung beobachtet
hat, dennoch der Schauspieler sich in beiden Stücken mäßigen müsse. Es
gibt wenig Stimmen, die in ihrer äußersten Anstrengung nicht widerwärtig
würden; und allzu schnelle, allzu stürmische Bewegungen werden selten
edel sein. Gleichwohl sollen weder unsere Augen noch unsere Ohren
beleidiget werden; und nur alsdenn, wenn man bei Äußerung der heftigen
Leidenschaften alles vermeidet, was diesen oder jenen unangenehm sein
könnte, haben sie das Glatte und Geschmeidige, welches ein Hamlet auch
noch da von ihnen verlangt, wenn sie den höchsten Eindruck machen und ihm
das Gewissen verstockter Frevler aus dem Schlafe schrecken sollen.

Die Kunst des Schauspielers stehet hier zwischen den bildenden Künsten
und der Poesie mitten inne. Als sichtbare Malerei muß zwar die Schönheit
ihr höchstes Gesetz sein; doch als transitorische Malerei braucht sie
ihren Stellungen jene Ruhe nicht immer zu geben, welche die alten
Kunstwerke so imponierend macht. Sie darf sich, sie muß sich das Wilde
eines Tempesta, das Freche eines Bernini öfters erlauben; es hat bei ihr
alle das Ausdrückende, welches ihm eigentümlich ist, ohne das
Beleidigende zu haben, das es in den bildenden Künsten durch den
permanenten Stand erhält. Nur muß sie nicht allzu lang darin verweilen;
nur muß sie es durch die vorhergehenden Bewegungen allmählich vorbereiten
und durch die darauf folgenden wiederum in den allgemeinen Ton des
Wohlanständigen auflösen; nur muß sie ihm nie alle die Stärke geben, zu
der sie der Dichter in seiner Bearbeitung treiben kann. Denn sie ist zwar
eine stumme Poesie, aber die sich unmittelbar unsern Augen verständlich
machen will; und jeder Sinn will geschmeichelt sein, wenn er die
Begriffe, die man ihm in die Seele zu bringen gibet, unverfälscht
überliefern soll.

Es könnte leicht sein, daß sich unsere Schauspieler bei der Mäßigung, zu
der sie die Kunst auch in den heftigsten Leidenschaften verbindet, in
Ansehung des Beifalles nicht allzuwohl befinden dürften.--Aber welches
Beifalles?--Die Galerie ist freilich ein großer Liebhaber des Lärmenden
und Tobenden, und selten wird sie ermangeln, eine gute Lunge mit lauten
Händen zu erwidern. Auch das deutsche Parterre ist noch ziemlich von
diesem Geschmacke, und es gibt Akteurs, die schlau genug von diesem
Geschmacke Vorteil zu ziehen wissen. Der Schläfrigste rafft sich, gegen
das Ende der Szene, wenn er abgehen soll, zusammen, erhebet auf einmal
die Stimme und überladet die Aktion, ohne zu überlegen, ob der Sinn
seiner Rede diese höhere Anstrengung auch erfodere. Nicht selten
widerspricht sie sogar der Verfassung, mit der er abgehen soll; aber was
tut das ihm? Genug, daß er das Parterre dadurch erinnert hat, aufmerksam
auf ihn zu sein, und wenn es die Güte haben will, ihm nachzuklatschen.
Nachzischen sollte es ihm! Doch leider ist es teils nicht Kenner genug,
teils zu gutherzig, und nimmt die Begierde, ihm gefallen zu wollen,
für die Tat.

Ich getraue mich nicht, von der Aktion der übrigen Schauspieler in diesem
Stücke etwas zu sagen. Wenn sie nur immer bemüht sein müssen, Fehler zu
bemänteln, und das Mittelmäßige geltend zu machen: so kann auch der Beste
nicht anders, als in einem sehr zweideutigen Lichte erscheinen. Wenn wir
ihn auch den Verdruß, den uns der Dichter verursacht, nicht mit entgelten
lassen, so sind wir doch nicht aufgeräumt genug, ihm alle die
Gerechtigkeit zu erweisen, die er verdienet.

Den Beschluß des ersten Abends machte "Der Triumph der vergangenen Zeit",
ein Lustspiel in einem Aufzuge, nach dem Französischen des Le Grand.
Es ist eines von den drei kleinen Stücken, welche Le Grand unter
dem allgemeinen Titel "Der Triumph der Zeit" im Jahr 1724 auf die
französische Bühne brachte, nachdem er den Stoff desselben, bereits
einige Jahre vorher, unter der Aufschrift "Die lächerlichen Verliebten",
behandelt, aber wenig Beifall damit erhalten hatte. Der Einfall, der
dabei zum Grunde liegt, ist drollig genug, und einige Situationen sind
sehr lächerlich. Nur ist das Lächerliche von der Art, wie es sich mehr
für eine satirische Erzählung, als auf die Bühne schickt. Der Sieg der
Zeit über Schönheit und Jugend macht eine traurige Idee; die Einbildung
eines sechzigjährigen Gecks und einer ebenso alten Närrin, daß die
Zeit nur über ihre Reize keine Gewalt sollte gehabt haben, ist zwar
lächerlich; aber diesen Geck und diese Närrin selbst zu sehen, ist
ekelhafter, als lächerlich.



Sechstes Stück
Den 19. Mai 1767

Noch habe ich der Anreden an die Zuschauer, vor und nach dem großen
Stücke des ersten Abends, nicht gedacht. Sie schreiben sich von einem
Dichter her, der es mehr als irgendein anderer versteht, tiefsinnigen
Verstand mit Witz aufzuheitern, und nachdenklichem Ernste die gefällige
Miene des Scherzes zu geben. Womit könnte ich diese Blätter besser
auszieren, als wenn ich sie meinen Lesern ganz mitteile? Hier sind sie.
Sie bedürfen keines Kommentars. Ich wünsche nur, daß manches darin nicht
in den Wind gesagt sei!

Sie wurden beide ungemein wohl, die erstere mit alle dem Anstande und der
Würde, und die andere mit alle der Wärme und Feinheit und einschmeichelnden
Verbindlichkeit gesprochen, die der besondere Inhalt einer jeden erfoderte.

Prolog
(Gesprochen von Madame Löwen)

    Ihr Freunde, denen hier das mannigfache Spiel
    Des Menschen in der Kunst der Nachahmung gefiel:
    Ihr, die ihr gerne weint, ihr weichen, bessern Seelen,
    Wie schön, wie edel ist die Lust, sich so zu quälen;
    Wenn bald die süße Trän', indem das Herz erweicht,
    In Zärtlichkeit zerschmilzt, still von den Wangen schleicht,
    Bald die bestürmte Seel', in jeder Nerv' erschüttert,
    Im Leiden Wollust fühlt und mit Vergnügen zittert!
    O sagt, ist diese Kunst, die so eur Herz zerschmelzt,
    Der Leidenschaften Strom so durch eur Inners wälzt,
    Vergnügend, wenn sie rührt, entzückend, wenn sie schrecket,
    Zu Mitleid, Menschenlieb' und Edelmut erwecket,
    Die Sittenbilderin, die jede Tugend lehrt,
    Ist die nicht eurer Gunst und eurer Pflege wert?
    Die Fürsicht sendet sie mitleidig auf die Erde,
    Zum Besten des Barbars, damit er menschlich werde;
    Weiht sie, die Lehrerin der Könige zu sein,
    Mit Würde, mit Genie, mit Feur vom Himmel ein;
    Heißt sie, mit ihrer Macht, durch Tränen zu ergötzen,
    Das stumpfeste Gefühl der Menschenliebe wetzen;
    Durch süße Herzensangst, und angenehmes Graun
    Die Bosheit bändigen und an den Seelen baun;
    Wohltätig für den Staat, den Wütenden, den Wilden
    Zum Menschen, Bürger, Freund und Patrioten bilden.
    Gesetze stärken zwar der Staaten Sicherheit
    Als Ketten an der Hand der Ungerechtigkeit;
    Doch deckt noch immer List den Bösen vor dem Richter,
    Und Macht wird oft der Schutz erhabner Bösewichter.
    Wer rächt die Unschuld dann? Weh dem gedrückten Staat,
    Der, statt der Tugend, nichts als ein Gesetzbuch hat!
    Gesetze, nur ein Zaum der offenen Verbrechen,
    Gesetze, die man lehrt des Hasses Urteil sprechen,
    Wenn ihnen Eigennutz, Stolz und Parteilichkeit
    Für eines Solons Geist den Geist der Drückung leiht!
    Da lernt Bestechung bald, um Strafen zu entgehen,
    Das Schwert der Majestät aus ihren Händen drehen:
    Da pflanzet Herrschbegier, sich freuend des Verfalls
    Der Redlichkeit, den Fuß der Freiheit auf den Hals.
    Läßt den, der sie vertritt, in Schimpf und Banden schmachten,
    Und das blutschuld'ge Beil der Themis Unschuld schlachten!
    Wenn der, den kein Gesetz straft oder strafen kann,
    Der schlaue Bösewicht, der blutige Tyrann,
    Wenn der die Unschuld drückt, wer wagt es, sie zu decken?
    Den sichert tiefe List, und diesen waffnet Schrecken.
    Wer ist ihr Genius, der sich entgegenlegt?--
    Wer? Sie, die itzt den Dolch, und itzt die Geißel trägt,
    Die unerschrockne Kunst, die allen Mißgestalten
    Strafloser Torheit wagt den Spiegel vorzuhalten;
    Die das Geweb' enthüllt, worin sich List verspinnt,
    Und den Tyrannen sagt, daß sie Tyrannen sind;
    Die, ohne Menschenfurcht, vor Thronen nicht erblödet,
    Und mit des Donners Stimm' ans Herz der Fürsten redet;
    Gekrönte Mörder schreckt, den Ehrgeiz nüchtern macht,
    Den Heuchler züchtiget und Toren klüger lacht;
    Sie, die zum Unterricht die Toten läßt erscheinen,
    Die große Kunst, mit der wir lachen, oder weinen.
    Sie fand in Griechenland Schutz, Lieb' und Lehrbegier;
    In Rom, in Gallien, in Albion, und--hier.
    Ihr, Freunde, habt hier oft, wenn ihre Tränen flossen,
    Mit edler Weichlichkeit die euren mit vergossen;
    Habt redlich euren Schmerz mit ihrem Schmerz vereint
    Und ihr aus voller Brust den Beifall zugeweint:
    Wie sie gehaßt, geliebt, gehoffet und gescheuet
    Und eurer Menschlichkeit im Leiden euch erfreuet.
    Lang hat sie sich umsonst nach Bühnen umgesehn:
    In Hamburg fand sie Schutz: hier sei denn ihr Athen!
    Hier, in dem Schoß der Ruh', im Schutze weiser Gönner,
    Gemutiget durch Lob, vollendet durch den Kenner;
    Hier reifet--ja ich wünsch', ich hoff', ich weissag' es!--
    Ein zweiter Roscius, ein zweiter Sophokles,
    Der Gräciens Kothurn Germanien erneute:
    Und ein Teil dieses Ruhms, ihr Gönner, wird der eure.
    O seid desselben wert! Bleibt eurer Güte gleich,
    Und denkt, o denkt daran, ganz Deutschland sieht auf euch!



Epilog
(Gesprochen von Madame Hensel)

    Seht hier! so standhaft stirbt der überzeugte Christ!
    So lieblos hasset der, dem Irrtum nützlich ist,
    Der Barbarei bedarf, damit er seine Sache,
    Sein Ansehn, seinen Traum zu Lehren Gottes mache.
    Der Geist des Irrtums war Verfolgung und Gewalt,
    Wo Blindheit für Verdienst, und Furcht für Andacht galt.
    So konnt' er sein Gespinst von Lügen mit den Blitzen
    Der Majestät, mit Gift, mit Meuchelmord beschützen.
    Wo Überzeugung fehlt, macht Furcht den Mangel gut:
    Die Wahrheit überführt, der Irrtum fodert Blut.
    Verfolgen muß man die und mit dem Schwert bekehren,
    Die anders Glaubens sind, als die Ismenors lehren.
    Und mancher Aladin sieht staatsklug oder schwach
    Dem schwarzen Blutgericht der heil'gen Mörder nach
    Und muß mit seinem Schwert den, welchen Träumer hassen,
    Den Freund, den Märtyrer der Wahrheit würgen lassen.
    Abscheulichs Meisterstück der Herrschsucht und der List,
    Wofür kein Name hart, kein Schimpfwort lieblos ist!
    O Lehre, die erlaubt, die Gottheit selbst mißbrauchen,
    In ein unschuldig Herz des Hasses Dolch zu tauchen,
    Dich, die ihr Blutpanier oft über Leichen trug,
    Dich, Greuel, zu verschmähn, wer leiht mir einen Fluch!
    Ihr Freund', in deren Brust der Menschheit edle Stimme
    Laut für die Heldin sprach, als sie dem Priestergrimme
    Ein schuldlos Opfer ward und für die Wahrheit sank:
    Habt Dank für dies Gefühl, für jede Träne Dank!
    Wer irrt, verdient nicht Zucht des Hasses oder Spottes:
    Was Menschen hassen lehrt, ist keine Lehre Gottes!
    Ach! liebt die Irrenden, die ohne Bosheit blind,
    Zwar schwächere vielleicht, doch immer Menschen sind.
    Belehret, duldet sie; und zwingt nicht die zu Tränen,
    Die sonst kein Vorwurf trifft, als daß sie anders wähnen!
    Rechtschaffen ist der Mann, den, seinem Glauben treu,
    Nichts zur Verstellung zwingt, zu böser Heuchelei;
    Der für die Wahrheit glüht und, nie durch Furcht gezügelt,
    Sie freudig, wie Olint, mit seinem Blut versiegelt.
    Solch Beispiel, edle Freund', ist eures Beifalls wert:
    O wohl uns! hätten wir, was Cronegk schön gelehrt,
    Gedanken, die ihn selbst so sehr veredelt haben,
    Durch unsre Vorstellung tief in eur Herz gegraben!
    Des Dichters Leben war schön, wie sein Nachruhm ist;
    Er war, und--o verzeiht die Trän'!--und starb, ein Christ.
    Ließ sein vortrefflich Herz der Nachwelt in Gedichten,
    Um sie--was kann man mehr?--noch tot zu unterrichten.
    Versaget, hat euch itzt Sophronia gerührt,
    Denn seiner Asche nicht, was ihr mit Recht gebührt,
    Den Seufzer, daß er starb, den Dank für seine Lehre,
    Und--ach! den traurigen Tribut von einer Zähre.
    Uns aber, edle Freund', ermuntre Gütigkeit;
    Und hätten wir gefehlt, so tadelt; doch verzeiht.
    Verzeihung mutiget zu edelerm Erkühnen,
    Und feiner Tadel lehrt das höchste Lob verdienen.
    Bedenkt, daß unter uns die Kunst nur kaum beginnt,
    In welcher tausend Quins für einen Garrick sind;
    Erwartet nicht zu viel, damit wir immer steigen,
    Und--doch nur euch gebührt zu richten, uns zu schweigen.



Siebentes Stück
Den 22. Mai 1767

Der Prolog zeiget das Schauspiel in seiner höchsten Würde, indem er es
als das Supplement der Gesetze betrachten läßt. Es gibt Dinge in dem
sittlichen Betragen des Menschen, welche, in Ansehung ihres unmittelbaren
Einflusses auf das Wohl der Gesellschaft, zu unbeträchtlich und in sich
selbst zu veränderlich sind, als daß sie wert oder fähig wären, unter der
eigentlichen Aufsicht des Gesetzes zu stehen. Es gibt wiederum andere,
gegen die alle Kraft der Legislation zu kurz fällt; die in ihren
Triebfedern so unbegreiflich, in sich selbst so ungeheuer, in ihren
Folgen so unermeßlich sind, daß sie entweder der Ahndung der Gesetze ganz
entgehen oder doch unmöglich nach Verdienst geahndet werden können. Ich
will es nicht unternehmen, auf die erstern, als auf Gattungen des
Lächerlichen, die Komödie; und auf die andern, als auf außerordentliche
Erscheinungen in dem Reiche der Sitten, welche die Vernunft in Erstaunen
und das Herz in Tumult setzen, die Tragödie einzuschränken. Das Genie
lacht über alle die Grenzscheidungen der Kritik. Aber so viel ist doch
unstreitig, daß das Schauspiel überhaupt seinen Vorwurf entweder
diesseits oder jenseits der Grenzen des Gesetzes wählet und die
eigentlichen Gegenstände desselben nur insofern behandelt, als sie sich
entweder in das Lächerliche verlieren, oder bis in das Abscheuliche
verbreiten.

Der Epilog verweilet bei einer von den Hauptlehren, auf welche ein Teil
der Fabel und Charaktere des Trauerspiels mit abzwecken. Es war zwar von
dem Hrn. von Cronegk ein wenig unüberlegt, in einem Stücke, dessen Stoff
aus den unglücklichen Zeiten der Kreuzzüge genommen ist, die Toleranz
predigen und die Abscheulichkeiten des Geistes der Verfolgung an den
Bekennern der mahomedanischen Religion zeigen zu wollen. Denn diese
Kreuzzüge selbst, die in ihrer Anlage ein politischer Kunstgriff der
Päpste waren, wurden in ihrer Ausführung die unmenschlichsten
Verfolgungen, deren sich der christliche Aberglaube jemals schuldig
gemacht hat; die meisten und blutgierigsten Ismenors hatte damals die
wahre Religion; und einzelne Personen, die eine Moschee beraubet haben,
zur Strafe ziehen, kömmt das wohl gegen die unselige Raserei, welche das
rechtgläubige Europa entvölkerte, um das ungläubige Asien zu verwüsten?
Doch was der Tragikus in seinem Werke sehr unschicklich angebracht hat,
das konnte der Dichter des Epilogs gar wohl auffassen. Menschlichkeit und
Sanftmut verdienen bei jeder Gelegenheit empfohlen zu werden, und kein
Anlaß dazu kann so entfernt sein, den wenigstens unser Herz nicht sehr
natürlich und dringend finden sollte.

Übrigens stimme ich mit Vergnügen dem rührenden Lobe bei, welches der
Dichter dem seligen Cronegk erteilet. Aber ich werde mich schwerlich
bereden lassen, daß er mit mir über den poetischen Wert des kritisierten
Stückes nicht ebenfalls einig sein sollte. Ich bin sehr betroffen
gewesen, als man mich versichert, daß ich verschiedene von meinen Lesern
durch mein unverhohlnes Urteil unwillig gemacht hätte. Wenn ihnen
bescheidene Freiheit, bei der sich durchaus keine Nebenabsichten denken
lassen, mißfällt, so laufe ich Gefahr, sie noch oft unwillig zu machen.
Ich habe gar nicht die Absicht gehabt, ihnen die Lesung eines Dichters zu
verleiden, den ungekünstelter Witz, viel feine Empfindung und die
lauterste Moral empfehlen. Diese Eigenschaften werden ihn jederzeit
schätzbar machen, ob man ihm schon andere absprechen muß, zu denen er
entweder gar keine Anlage hatte, oder die zu ihrer Reife gewisse Jahre
erfordern, weit unter welchen er starb. Sein "Kodrus" ward von den
Verfassern der "Bibliothek der schönen Wissenschaften" gekrönet, aber
wahrlich nicht als ein gutes Stück, sondern als das beste von denen, die
damals um den Preis stritten. Mein Urteil nimmt ihm also keine Ehre, die
ihm die Kritik damals erteilet. Wenn Hinkende um die Wette laufen, so
bleibt der, welcher von ihnen zuerst an das Ziel kömmt, doch noch ein
Hinkender.

Eine Stelle in dem Epilog ist einer Mißdeutung ausgesetzt gewesen, von
der sie gerettet zu werden verdienet. Der Dichter sagt:

    "Bedenkt, daß unter uns die Kunst nur kaum beginnt,
    In welcher tausend Quins für einen Garrick sind."

Quin, habe ich darwider erinnern hören, ist kein schlechter Schauspieler
gewesen.--Nein, gewiß nicht; er war Thomsons besonderer Freund, und die
Freundschaft, in der ein Schauspieler mit einem Dichter, wie Thomson,
gestanden, wird bei der Nachwelt immer ein gutes Vorurteil für seine
Kunst erwecken. Auch hat Quin noch mehr als dieses Vorurteil für sich:
man weiß, daß er in der Tragödie mit vieler Würde gespielet; daß er
besonders der erhabenen Sprache des Milton Genüge zu leisten gewußt; daß
er, im Komischen, die Rolle des Fa1staff zu ihrer größten Vollkommenheit
gebracht. Doch alles dieses macht ihn zu keinem Garrick; und das
Mißverständnis liegt bloß darin, daß man annimmt, der Dichter habe diesem
allgemeinen und außerordentlichen Schauspieler einen schlechten, und für
schlecht durchgängig erkannten, entgegensetzen wollen. Quin soll hier
einen von der gewöhnlichen Sorte bedeuten, wie man sie alle Tage sieht;
einen Mann, der überhaupt seine Sache so gut wegmacht, daß man mit ihm
zufrieden ist; der auch diesen und jenen Charakter ganz vortrefflich
spielet, so wie ihm seine Figur, seine Stimme, sein Temperament dabei zu
Hilfe kommen. So ein Mann ist sehr brauchbar und kann mit allem Rechte
ein guter Schauspieler heißen; aber wieviel fehlt ihm noch, um der
Proteus in seiner Kunst zu sein, für den das einstimmige Gerücht schon
längst den Garrick erkläret hat. Ein solcher Quin machte, ohne Zweifel,
den König im "Hamlet", als Thomas Jones und Rebhuhn in der Komödie
waren[1]; und der Rebhuhne gibt es mehrere, die nicht einen Augenblick
anstehen, ihn einem Garrick weit vorzuziehen. "Was?" sagen sie, "Garrick
der größte Akteur? Er schien ja nicht über das Gespenst erschrocken,
sondern er war es. Was ist das für eine Kunst, über ein Gespenst zu
erschrecken? Gewiß und wahrhaftig, wenn wir den Geist gesehen hätten, so
würden wir ebenso ausgesehen und eben das getan haben, was er tat. Der
andere hingegen, der König, schien wohl auch etwas gerührt zu sein, aber
als ein guter Akteur gab er sich doch alle mögliche Mühe, es zu
verbergen. Zudem sprach er alle Worte so deutlich aus und redete noch
einmal so laut, als jener kleine unansehnliche Mann, aus dem ihr so ein
Aufhebens macht!"

Bei den Engländern hat jedes neue Stück seinen Prolog und Epilog, den
entweder der Verfasser selbst oder ein Freund desselben abfasset. Wozu
die Alten den Prolog brauchten, den Zuhörer von verschiedenen Dingen zu
unterrichten, die zu einem geschwindem Verständnisse der zum Grunde
liegenden Geschichte des Stückes dienen, dazu brauchen sie ihn zwar
nicht. Aber er ist darum doch nicht ohne Nutzen. Sie wissen hunderterlei
darin zu sagen, was das Auditorium für den Dichter, oder für den von ihm
bearbeiteten Stoff einnehmen, und unbilligen Kritiken sowohl über ihn als
über die Schauspieler vorbauen kann. Noch weniger bedienen sie sich des
Epilogs, so wie sich wohl Plautus dessen manchmal bedienet; um die
völlige Auflösung des Stücks, die in dem fünften Akte nicht Raum hatte,
darin erzählen zu lassen. Sondern sie machen ihn zu einer Art von
Nutzanwendung, voll guter Lehren, voll feiner Bemerkungen über die
geschilderten Sitten und über die Kunst, mit der sie geschildert worden;
und das alles in dem schnurrigsten, launigsten Tone. Diesen Ton ändern
sie auch nicht einmal gern bei dem Trauerspiele; und es ist gar nichts
Ungewöhnliches, daß nach dem Blutigsten und Rührendsten die Satire ein so
lautes Gelächter aufschlägt und der Witz so mutwillig wird, daß es
scheinet, es sei die ausdrückliche Absicht, mit allen Eindrücken des
Guten ein Gespötte zu treiben. Es ist bekannt, wie sehr Thomson wider
diese Narrenschellen, mit der man der Melpomene nachklingelt, geeifert
hat. Wenn ich daher wünschte, daß auch bei uns neue Origina1stücke nicht
ganz ohne Einführung und Empfehlung vor das Publikum gebracht würden, so
versteht es sich von selbst, daß bei dem Trauerspiele der Ton des Epilogs
unserm deutschen Ernste angemessener sein müßte. Nach dem Lustspiele
könnte er immer so burlesk sein, als er wollte. Dryden ist es, der bei
den Engländern Meisterstücke von dieser Art gemacht hat, die noch itzt
mit dem größten Vergnügen gelesen werden, nachdem die Spiele selbst, zu
welchen er sie verfertiget, zum Teil längst vergessen sind. Hamburg hätte
einen deutschen Dryden in der Nähe; und ich brauche ihn nicht noch einmal
zu bezeichnen, wer von unsern Dichtern Moral und Kritik mit attischem
Salze zu würzen, so gut als der Engländer verstehen würde.


----Fußnote

[1] Teil VI, S. 15.

----Fußnote



Achtes Stück
Den 26. Mai 1767

Die Vorstellungen des ersten Abends wurden den zweiten wiederholt.

Den dritten Abend (freitags, den 24. v. M.) ward "Melanide" aufgeführet.
Dieses Stück des Nivelle de la Chaussée ist bekannt. Es ist von der
rührenden Gattung, der man den spöttischen Beinamen der Weinerlichen
gegeben. Wenn weinerlich heißt, was uns die Tränen nahe bringt, wobei wir
nicht übel Lust hätten zu weinen, so sind verschiedene Stücke von dieser
Gattung etwas mehr, als weinerlich; sie kosten einer empfindlichen Seele
Ströme von Tränen; und der gemeine Praß französischer Trauerspiele
verdienet, in Vergleichung ihrer, allein weinerlich genannt zu werden.
Denn eben bringen sie es ungefähr so weit, daß uns wird, als ob wir
hätten weinen können, wenn der Dichter seine Kunst besser
verstanden hätte.

"Melanide" ist kein Meisterstück von dieser Gattung; aber man sieht es
doch immer mit Vergnügen. Es hat sich selbst auf dem französischen
Theater erhalten, auf welchem es im Jahre 1741 zuerst gespielt ward. Der
Stoff, sagt man, sei aus einem Roman, "Mademoiselle de Bontems" betitelt,
entlehnet. Ich kenne diesen Roman nicht; aber wenn auch die Situation der
zweiten Szene des dritten Akts aus ihm genommen ist, so muß ich einen
Unbekannten, anstatt des de la Chaussée, um das beneiden, weswegen ich
wohl eine "Melanide" gemacht zu haben wünschte.

Die Übersetzung war nicht schlecht; sie ist unendlich besser, als eine
italienische, die in dem zweiten Bande der theatralischen Bibliothek des
Diodati stehet. Ich muß es zum Troste des größten Haufens unserer
Übersetzer anführen, daß ihre italienischen Mitbrüder meistenteils noch
weit elender sind, als sie. Gute Verse indes in gute Prosa übersetzen,
erfodert etwas mehr als Genauigkeit; oder ich möchte wohl sagen, etwas
anders. Allzu pünktliche Treue macht jede Übersetzung steif, weil
unmöglich alles, was in der einen Sprache natürlich ist, es auch in der
andern sein kann. Aber eine Übersetzung aus Versen macht sie zugleich
wäßrig und schielend. Denn wo ist der glückliche Versifikateur, den nie
das Silbenmaß, nie der Reim, hier etwas mehr oder weniger, dort etwas
stärker oder schwächer, früher oder später, sagen ließe, als er es, frei
von diesem Zwange, würde gesagt haben? Wenn nun der Übersetzer dieses
nicht zu unterscheiden weiß; wenn er nicht Geschmack, nicht Mut genug
hat, hier einen Nebenbegriff wegzulassen, da statt der Metapher den
eigentlichen Ausdruck zu setzen, dort eine Ellipsis zu ergänzen oder
anzubringen: so wird er uns alle Nachlässigkeiten seines Originals
überliefert und ihnen nichts als die Entschuldigung benommen haben,
welche die Schwierigkeiten der Symmetrie und des Wohlklanges in der
Grundsprache für sie machen.

Die Rolle der Melanide ward von einer Aktrice gespielet, die nach einer
neunjährigen Entfernung vom Theater aufs neue in allen den
Vollkommenheiten wieder erschien, die Kenner und Nichtkenner, mit und
ohne Einsicht, ehedem an ihr empfunden und bewundert hatten. Madame Löwen
verbindet mit dem silbernen Tone der sonoresten, lieblichsten Stimme, mit
dem offensten, ruhigsten und gleichwohl ausdruckfähigsten Gesichte von
der Welt das feinste, schnel1ste Gefühl, die sicherste, wärmste
Empfindung, die sich, zwar nicht immer so lebhaft, als es viele wünschen,
doch allezeit mit Anstand und Würde äußert. In ihrer Deklamation
akzentuiert sie richtig, aber nicht merklich. Der gänzliche Mangel
intensiver Akzente verursacht Monotonie; aber ohne ihr diese vorwerfen zu
können, weiß sie dem sparsamern Gebrauche derselben durch eine andere
Feinheit zu Hilfe zu kommen, von der, leider! sehr viele Akteurs ganz und
gar nichts wissen. Ich will mich erklären. Man weiß, was in der Musik das
Mouvement heißt; nicht der Takt, sondern der Grad der Langsamkeit oder
Schnelligkeit, mit welchen der Takt gespielt wird. Dieses Mouvement ist
durch das ganze Stück einförmig; in dem nämlichen Maße der Geschwindigkeit,
in welchem die ersten Takte gespielet worden, müssen sie alle, bis zu den
letzten, gespielet werden. Diese Einförmigkeit ist in der Musik notwendig,
weil ein Stück nur einerlei ausdrücken kann, und ohne dieselbe gar keine
Verbindung verschiedener Instrumente und Stimmen möglich sein würde. Mit
der Deklamation hingegen ist es ganz anders. Wenn wir einen Perioden von
mehrern Gliedern als ein besonderes musikalisches Stück annehmen und die
Glieder als die Takte desselben betrachten, so müssen die Glieder, auch
alsdenn, wenn sie vollkommen gleicher Länge wären und aus der nämlichen
Anzahl von Silben des nämlichen Zeitmaßes bestünden, dennoch nie mit
einerlei Geschwindigkeit gesprochen werden. Denn da sie, weder in Absicht
auf die Deutlichkeit und den Nachdruck, noch in Rücksicht auf den in dem
ganzen Perioden herrschenden Affekt, von einerlei Wert und Belang sein
können: so ist es der Natur gemäß, daß die Stimme die geringfügigern
schnell herausstößt, flüchtig und nachlässig darüber hinschlupft; auf den
beträchtlichern aber verweilet, sie dehnet und schleift, und jedes Wort,
und in jedem Worte jeden Buchstaben, uns zuzählet. Die Grade dieser
Verschiedenheit sind unendlich; und ob sie sich schon durch keine
künstliche Zeitteilchen bestimmen und gegeneinander abmessen lassen,
so werden sie doch auch von dem ungelehrtesten Ohre unterschieden,
sowie von der ungelehrtesten Zunge beobachtet, wenn die Rede aus einem
durchdrungenen Herzen und nicht bloß aus einem fertigen Gedächtnisse
fließet. Die Wirkung ist unglaublich, die dieses beständig abwechselnde
Mouvement der Stimme hat; und werden vollends alle Abänderungen des
Tones, nicht bloß in Ansehung der Höhe und Tiefe, der Stärke und
Schwäche, sondern auch des Rauhen und Sanften, des Schneidenden und
Runden, sogar des Holprichten und Geschmeidigen an den rechten Stellen
damit verbunden: so entstehet jene natürliche Musik, gegen die sich
unfehlbar unser Herz eröffnet, weil es empfindet, daß sie aus dem Herzen
entspringt, und die Kunst nur insofern daran Anteil hat, als auch die
Kunst zur Natur werden kann. Und in dieser Musik, sage ich, ist die
Aktrice, von welcher ich spreche, ganz vortrefflich, und ihr niemand zu
vergleichen, als Herr Ekhof, der aber, indem er die intensiven Akzente
auf einzelne Worte, worauf sie sich weniger befleißiget, noch hinzufüget,
bloß dadurch seiner Deklamation eine höhere Vollkommenheit zu geben
imstande ist. Doch vielleicht hat sie auch diese in ihrer Gewalt; und ich
urteile bloß so von ihr, weil ich sie noch in keinen Rollen gesehen, in
welchen sich das Rührende zum Pathetischen erhebet. Ich erwarte sie in
dem Trauerspiele und fahre indes in der Geschichte unsers Theaters fort.

Den vierten Abend (montags, den 27. v. M.) ward ein neues deutsches
Original, betitelt "Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe",
aufgeführet. Es hat den Hrn. Heufeld in Wien zum Verfasser, der uns sagt,
daß bereits zwei andere Stücke von ihm den Beifall des dortigen Publikums
erhalten hätten. Ich kenne sie nicht; aber nach dem gegenwärtigen zu
urteilen, müssen sie nicht ganz schlecht sein.

Die Hauptzüge der Fabel und der größte Teil der Situationen sind aus der
"Neuen Heloise" des Rousseau entlehnet. Ich wünschte, daß Herr Heufeld,
ehe er zu Werke geschritten, die Beurteilung dieses Romans in den
"Briefen, die neueste Literatur betreffend"[1] gelesen und studiert
hätte. Er würde mit einer sicherern Einsicht in die Schönheiten seines
Originals gearbeitet haben und vielleicht in vielen Stücken glücklicher
gewesen sein.

Der Wert der "Neuen Heloise" ist, von der Seite der Erfindung, sehr
gering, und das Beste darin ganz und gar keiner dramatischen Bearbeitung
fähig. Die Situationen sind alltäglich oder unnatürlich, und die wenig
guten so weit voneinander entfernt, daß sie sich, ohne Gewaltsamkeit, in
den engen Raum eines Schauspiels von drei Aufzügen nicht zwingen lassen.
Die Geschichte konnte sich auf der Bühne unmöglich so schließen, wie sie
sich in dem Romane nicht sowohl schließt, als verlieret. Der Liebhaber
der Julie mußte hier glücklich werden, und Herr Heufeld läßt ihn
glücklich werden. Er bekömmt seine Schülerin. Aber hat Herr Heufeld auch
überlegt, daß seine Julie nun gar nicht mehr die Julie des Rousseau ist?
Doch Julie des Rousseau oder nicht: wem liegt daran? Wenn sie nur sonst
eine Person ist, die interessierst. Aber eben das ist sie nicht; sie ist
nichts als eine kleine verliebte Närrin, die manchmal artig genug
schwatzet, wenn sich Herr Heufeld auf eine schöne Stelle im Rousseau
besinnet. "Julie", sagt der Kunstrichter, dessen Urteils ich erwähnet
habe, "spielt in der Geschichte eine zweifache Rolle. Sie ist anfangs ein
schwaches und sogar etwas verführerisches Mädchen und wird zuletzt ein
Frauenzimmer, das, als ein Muster der Tugend, alle, die man jemals
erdichtet hat, weit übertrifft." Dieses letztere wird sie durch ihren
Gehorsam, durch die Aufopferung ihrer Liebe, durch die Gewalt, die sie
über ihr Herz gewinnet. Wenn nun aber von allen diesen in dem Stücke
nichts zu hören und zu sehen ist: was bleibt von ihr übrig, als, wie
gesagt, das schwache verführerische Mädchen, das Tugend und Weisheit auf
der Zunge, und Torheit im Herzen hat?

Den St. Preux des Rousseau hat Herr Heufeld in einen Siegmund umgetauft.
Der Name Siegmund schmecket bei uns ziemlich nach dem Domestiken. Ich
wünschte, daß unsere dramatischen Dichter auch in solchen Kleinigkeiten
ein wenig gesuchterer, und auf den Ton der großen Welt aufmerksamer sein
wollten.--St. Preux spielt schon bei dem Rousseau eine sehr abgeschmackte
Figur. "Sie nennen ihn alle", sagt der angeführte Kunstrichter, "den
Philosophen. Den Philosophen! Ich möchte wissen, was der junge Mensch in
der ganzen Geschichte spricht oder tut, dadurch er diesen Namen verdienst?
In meinen Augen ist er der albernste Mensch von der Welt, der in all-
gemeinen Ausrufungen Vernunft und Weisheit bis in den Himmel erhebt
und nicht den geringsten Funken davon besitzet. In seiner Liebe ist er
abenteuerlich, schwülstig, ausgelassen, und in seinem übrigen Tun und
Lassen findet sich nicht die geringste Spur von Überlegung. Er setzet das
stolzeste Zutrauen in seine Vernunft und ist dennoch nicht entschlossen
genug, den kleinsten Schritt zu tun, ohne von seiner Schülerin oder von
seinem Freunde an der Hand geführet zu werden."--Aber wie tief ist der
deutsche Siegmund noch unter diesem St. Preux!


----Fußnote

[1] Teil X, S. 255 u. f.

----Fußnote



Neuntes Stück
Den 29. Mai 1767

In dem Romane hat St. Preux doch noch dann und wann Gelegenheit, seinen
aufgeklärten Verstand zu zeigen und die tätige Rolle des rechtschaffenen
Mannes zu spielen. Aber Siegmund in der Komödie ist weiter nichts, als
ein kleiner eingebildeter Pedant, der aus seiner Schwachheit eine Tugend
macht und sich sehr beleidiget findet, daß man seinem zärtlichen Herzchen
nicht durchgängig will Gerechtigkeit widerfahren lassen. Seine ganze
Wirksamkeit läuft auf ein paar mächtige Torheiten heraus. Das Bürschchen
will sich schlagen und erstechen.

Der Verfasser hat es selbst empfunden, daß sein Siegmund nicht in
genugsamer Handlung erscheinet; aber er glaubt, diesem Einwurfe dadurch
vorzubeugen, wenn er zu erwägen gibt: "daß ein Mensch seinesgleichen, in
einer Zeit von vierundzwanzig Stunden, nicht wie ein König, dem alle
Augenblicke Gelegenheiten dazu darbieten, große Handlungen verrichten
könne. Man müsse zum voraus annehmen, daß er ein rechtschaffener Mann
sei, wie er beschrieben werde; und genug, daß Julie, ihre Mutter,
Clarisse, Eduard, lauter rechtschaffene Leute, ihn dafür erkannt hätten."

Es ist recht wohl gehandelt, wenn man, im gemeinen Leben, in den
Charakter anderer kein beleidigendes Mißtrauen setzt; wenn man dem
Zeugnisse, das sich ehrliche Leute untereinander erteilen, allen Glauben
beimißt. Aber darf uns der dramatische Dichter mit dieser Regel der
Billigkeit abspeisen? Gewiß nicht; ob er sich schon sein Geschäft dadurch
sehr leicht machen könnte. Wir wollen es auf der Bühne sehen, wer die
Menschen sind, und können es nur aus ihren Taten sehen. Das Gute, das wir
ihnen, bloß auf anderer Wort, zutrauen sollen, kann uns unmöglich für sie
interessieren; es läßt uns völlig gleichgültig, und wenn wir nie die
geringste eigene Erfahrung davon erhalten, so hat es sogar eine üble
Rückwirkung auf diejenigen, auf deren Treu und Glauben wir es einzig und
allein annehmen sollen. Weit gefehlt also, daß wir deswegen, weil Julie,
ihre Mutter, Clarisse, Eduard, den Siegmund für den vortrefflichsten,
vollkommensten jungen Menschen erklären, ihn auch dafür zu erkennen
bereit sein sollten: so fangen wir vielmehr an, in die Einsicht aller
dieser Personen ein Mißtrauen zu setzen, wenn wir nie mit unsern eigenen
Augen etwas sehen, was ihre günstige Meinung rechtfertiget. Es ist wahr,
in vierundzwanzig Stunden kann eine Privatperson nicht viel große
Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn große? Auch in den
kleinsten kann sich der Charakter schildern; und nur die, welche das
meiste Licht auf ihn werfen, sind, nach der poetischen Schätzung, die
größten. Wie traf es sich denn indes, daß vierundzwanzig Stunden Zeit
genug waren, dem Siegmund zu den zwei äußersten Narrheiten Gelegenheit zu
schaffen, die einem Menschen in seinen Umständen nur immer einfallen
können? Die Gelegenheiten sind auch darnach; könnte der Verfasser
antworten: doch das wird er wohl nicht. Sie möchten aber noch so
natürlich herbeigeführet, noch so fein behandelt sein: so würden darum
die Narrheiten selbst, die wir ihn zu begehen im Begriffe sehen, ihre
üble Wirkung auf unsere Idee von dem jungen stürmischen Scheinweisen
nicht verlieren. Daß er schlecht handele, sehen wir: daß er gut handeln
könne, hören wir nur, und nicht einmal in Beispielen, sondern in den
allgemeinsten schwankendsten Ausdrücken.

Die Härte, mit der Julien von ihrem Vater begegnet wird, da sie einen
andern von ihm zum Gemahle nehmen soll, als den ihr Herz gewählet hatte,
wird beim Rousseau nur kaum berührt. Herr Heufeld hatte den Mut, uns eine
ganze Szene davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas
wagt. Er läßt den Vater die Tochter zu Boden stoßen. Ich war um die
Ausführung dieser Aktion besorgt. Aber vergebens; unsere Schauspieler
hatten sie so wohl konzertieret; es ward, von seiten des Vaters und der
Tochter, so viel Anstand dabei beobachtet, und dieser Anstand tat der
Wahrheit so wenig Abbruch, daß ich mir gestehen mußte, diesen Akteurs
könne man so etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld verlangt, daß,
wenn Julie von ihrer Mutter aufgehoben wird, sich in ihrem Gesichte Blut
zeigen soll. Es kann ihm lieb sein, daß dieses unterlassen worden. Die
Pantomime muß nie bis zu dem Ekelhaften getrieben werden. Gut, wenn in
solchen Fällen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu sehen glaubt; aber
das Auge muß es nicht wirklich sehen.

Die darauf folgende Szene ist die hervorragendste des ganzen Stückes. Sie
gehört dem Rousseau. Ich weiß selbst nicht, welcher Unwille sich in die
Empfindung des Pathetischen mischet, wenn wir einen Vater seine Tochter
fußfällig um etwas bitten sehen. Es beleidiget, es kränket uns,
denjenigen so erniedriget zu erblicken, dem die Natur so heilige Rechte
übertragen hat. Dem Rousseau muß man diesen außerordentlichen Hebel
verzeihen; die Masse ist zu groß, die er in Bewegung setzen soll. Da
keine Gründe bei Julien anschlagen wollen; da ihr Herz in der Verfassung
ist, daß es sich durch die äußerste Strenge in seinem Entschlusse nur
noch mehr befestigen würde: so konnte sie nur durch die plötzliche
Überraschung der unerwartetsten Begegnung erschüttert, und in einer Art
von Betäubung umgelenket werden. Die Geliebte sollte sich in die Tochter,
verführerische Zärtlichkeit in blinden Gehorsam verwandeln; da Rousseau
kein Mittel sahe, der Natur diese Veränderung abzugewinnen, so mußte er
sich entschließen, ihr sie abzunötigen, oder, wenn man will, abzustehlen.
Auf keine andere Weise konnten wir es Julien in der Folge vergeben, daß
sie den inbrünstigsten Liebhaber dem kältesten Ehemanne aufgeopfert habe.
Aber da diese Aufopferung in der Komödie nicht erfolget; da es nicht die
Tochter, sondern der Vater ist, der endlich nachgibt: hätte Herr Heufeld
die Wendung nicht ein wenig lindern sollen, durch die Rousseau bloß das
Befremdliche jener Aufopferung rechtfertigen und das Ungewöhnliche
derselben vor dem Vorwurfe des Unnatürlichen in Sicherheit setzen
wollte?--Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das getan hätte,
so würden wir um eine Szene gekommen sein, die, wenn sie schon nicht so
recht in das Ganze passen will, doch sehr kräftig ist; er würde uns ein
hohes Licht in seiner Kopie vermalt haben, von dem man zwar nicht
eigentlich weiß, wo es herkömmt, das aber eine treffliche Wirkung tut.
Die Art, mit der Herr Ekhof diese Szene ausführte, die Aktion, mit der er
einen Teil der grauen Haare vors Auge brachte, bei welchen er die Tochter
beschwor, wären es allein wert gewesen, eine kleine Unschicklichkeit zu
begehen, die vielleicht niemanden, als dem kalten Kunstrichter, bei
Zergliederung des Planes, merklich wird.

Das Nachspiel dieses Abends war "Der Schatz", die Nachahmung des
Plautinschen "Trinummus", in welcher der Verfasser alle die komischen
Szenen seines Originals in einen Aufzug zu konzentrieren gesucht hat. Er
ward sehr wohl gespielt. Die Akteurs alle wußten ihre Rollen mit der
Fertigkeit, die zu dem Niedrigkomischen so notwendig erfodert wird. Wenn
ein halbschieriger Einfall, eine Unbesonnenheit, ein Wortspiel langsam
und stotternd vorgebracht wird; wenn sich die Personen auf Armseligkeiten,
die weiter nichts als den Mund in Falten setzen sollen, noch erst viel
besinnen: so ist die Langeweile unvermeidlich. Possen müssen Schlag auf
Schlag gesagt werden, und der Zuhörer muß keinen Augenblick Zeit haben,
zu untersuchen, wie witzig oder unwitzig sie sind. Es sind keine
Frauenzimmer in diesem Stücke; das einzige, welches noch anzubringen
gewesen wäre, würde eine frostige Liebhaberin sein; und freilich lieber
keines, als so eines. Sonst möchte ich es niemanden raten, sich dieser
Besondernheit zu befleißigen. Wir sind zu sehr an die Untermengung beider
Geschlechter gewöhnet, als daß wir bei gänzlicher Vermissung des reizendern
nicht etwas Leeres empfinden sollten.

Unter den Italienern hat ehedem Cecchi, und neuerlich unter den Franzosen
Destouches, das nämliche Lustspiel des Plautus wieder auf die Bühne
gebracht. Sie haben beide große Stücke von fünf Aufzügen daraus gemacht
und sind daher genötiget gewesen, den Plan des Römers mit eignen
Erfindungen zu erweitern. Das vom Cecchi heißt "Die Mitgift" und wird vom
Riccoboni, in seiner Geschichte des italienischen Theaters, als eines von
den besten alten Lustspielen desselben empfohlen. Das vom Destouches
führt den Titel "Der verborgne Schatz", und ward ein einziges Mal, im
Jahre 1745, auf der italienischen Bühne zu Paris, und auch dieses einzige
Mal nicht ganz bis zu Ende, aufgeführet. Es fand keinen Beifall, und ist
erst nach dem Tode des Verfassers, und also verschiedene Jahre später,
als der deutsche Schatz, im Drucke erschienen. Plautus selbst ist nicht
der erste Erfinder dieses so glücklichen, und von mehrern mit so vieler
Nacheifrung bearbeiteten Stoffes gewesen; sondern Philemon, bei dem es
eben die simple Aufschrift hatte, zu der es im Deutschen wieder
zurückgeführet worden. Plautus hatte seine ganz eigne Manier, in
Benennung seiner Stücke; und meistenteils nahm er sie von dem aller-
unerheblichsten Umstande her. Dieses z.E. nennte er "Trinummus", den
Dreiling; weil der Sykophant einen Dreiling für seine Mühe bekam.



Zehntes Stück
Den 2. Juni 1767

Das Stück des fünften Abends (dienstags, den 28. April) war "Das
unvermutete Hindernis oder das Hindernis ohne Hindernis" vom Destouches.

Wenn wir die Annales des französischen Theaters nachschlagen, so finden
wir, daß die lustigsten Stücke dieses Verfassers gerade den
allerwenigsten Beifall gehabt haben. Weder das gegenwärtige, noch "Der
verborgne Schatz", noch "Das Gespenst mit der Trommel", noch "Der
poetische Dorfjunker" haben sich darauf erhalten; und sind, selbst in
ihrer Neuheit, nur wenigemal aufgeführet worden. Es beruhet sehr viel auf
dem Tone, in welchem sich ein Dichter ankündiget, oder in welchem er
seine besten Werke verfertiget. Man nimmt stillschweigend an, als ob er
eine Verbindung dadurch eingehe, sich von diesem Tone niemals zu
entfernen; und wenn er es tut, dünket man sich berechtiget, darüber zu
stutzen. Man sucht den Verfasser in dem Verfasser und glaubt, etwas
Schlechters zu finden, sobald man nicht das nämliche findet. Destouches
hatte in seinem "Verheirateten Philosophen", in seinem "Ruhmredigen", in
seinem "Verschwender" Muster eines feinern, höhern Komischen gegeben, als
man vom Molière, selbst in seinen ernsthaftesten Stücken, gewohnt war.
Sogleich machten die Kunstrichter, die so gern klassifizieren, dieses zu
seiner eigentümlichen Sphäre; was bei dem Poeten vielleicht nichts als
zufällige Wahl war, erklärten sie für vorzüglichen Hang und herrschende
Fähigkeit; was er einmal, zweimal nicht gewollt hatte, schien er ihnen
nicht zu können: und als er nunmehr wollte, was sieht Kunstrichtern
ähnlicher, als daß sie ihm lieber nicht Gerechtigkeit widerfahren ließen,
ehe sie ihr voreiliges Urteil änderten? Ich will damit nicht sagen, daß
das Niedrigkomische des Destouches mit dem Molièrischen von einerlei Güte
sei. Es ist wirklich um vieles steifer; der witzige Kopf ist mehr darin
zu spüren, als der getreue Maler; seine Narren sind selten von den
behaglichen Narren, wie sie aus den Händen der Natur kommen, sondern
mehrenteils von der hölzernen Gattung, wie sie die Kunst schnitzelt und
mit Affektation, mit verfehlter Lebensart, mit Pedanterie überladet; sein
Schulwitz, sein Masuren sind daher frostiger als lächerlich. Aber
demohngeachtet,--und nur dieses wollte ich sagen,--sind seine lustigen
Stücke am wahren Komischen so geringhaltig noch nicht, als sie ein
verzärtelter Geschmack findet; sie haben Szenen mitunter, die uns aus
Herzensgrunde zu lachen machen, und die ihm allein einen ansehnlichen
Rang unter den komischen Dichtern versichern könnten.

Hierauf folgte ein neues Lustspiel in einem Aufzuge, betitelt "Die neue
Agnese".

Madame Gertrude spielte vor den Augen der Welt die fromme Spröde; aber
insgeheim war sie die gefällige, feurige Freundin eines gewissen Bernard.
"Wie glücklich, o wie glücklich machst du mich, Bernard!" rief sie einst
in der Entzückung, und ward von ihrer Tochter behorcht. Morgens darauf
fragte das liebe einfältige Mädchen: "Aber Mama, wer ist denn der
Bernard, der die Leute glücklich macht?" Die Mutter merkte sich verraten,
faßte sich aber geschwind. "Er ist der Heilige, meine Tochter, den ich
mir kürzlich gewählt habe; einer von den größten im Paradiese." Nicht
lange, so ward die Tochter mit einem gewissen Hilar bekannt. Das gute
Kind fand in seinem Umgange recht viel Vergnügen; Mama bekömmt Verdacht;
Mama beschleicht das glückliche Paar; und da bekömmt Mama von dem
Töchterchen ebenso schöne Seufzer zu hören, als das Töchterchen jüngst
von Mama gehört hatte. Die Mutter ergrimmt, überfällt sie, tobt. "Nun,
was denn, liebe Mama?" sagt endlich das ruhige Mädchen. "Sie haben sich
den h. Bernard gewählt; und ich, ich mir den h. Hilar. Warum
nicht?"--Dieses ist eines von den lehrreichen Märchen, mit welchen das
weise Alter des göttlichen Voltaire die junge Welt beschenkte. Favart
fand es gerade so erbaulich, als die Fabel zu einer komischen Oper sein
muß. Er sahe nichts Anstößiges darin, als die Namen der Heiligen, und
diesem Anstoße wußte er auszuweichen. Er machte aus Madame Gertrude eine
platonische Weise, eine Anhängerin der Lehre des Gabalis; und der h.
Bernard ward zu einem Sylphen, der unter dem Namen und in der Gestalt
eines guten Bekannten die tugendhafte Frau besucht. Zum Sylphen ward dann
auch Hilar, und so weiter. Kurz, es entstand die Operette "Isabelle und
Getrude, oder die vermeinten Sylphen", welche die Grundlage zur "Neuen
Agnese" ist. Man hat die Sitten darin den unsrigen näherzubringen
gesucht; man hat sich aller Anständigkeit beflissen; das liebe Mädchen
ist von der reizendsten, verehrungswürdigsten Unschuld; und durch das
Ganze sind eine Menge gute komische Einfälle verstreuet, die zum Teil dem
deutschen Verfasser eigen sind. Ich kann mich in die Veränderungen
selbst, die er mit seiner Urschrift gemacht, nicht näher einlassen; aber
Personen von Geschmack, welchen diese nicht unbekannt war, wünschten, daß
er die Nachbarin, anstatt des Vaters, beibehalten hätte.--Die Rolle der
Agnese spielte Mademoiselle Felbrich, ein junges Frauenzimmer, das eine
vortreffliche Aktrice verspricht und daher die beste Aufmunterung
verdienet. Alter, Figur, Miene, Stimme, alles kömmt ihr hier zustatten;
und ob sich, bei diesen Naturgaben, in einer solchen Rolle schon vieles
von selbst spielet: so muß man ihr doch auch eine Menge Feinheiten
zugestehen, die Vorbedacht und Kunst, aber gerade nicht mehr und nicht
weniger verrieten, als sich an einer Agnese verraten darf.

Den sechsten Abend (mittwochs, den 29. April) ward die "Semiramis" des
Hrn. von Voltaire aufgeführet.

Dieses Trauerspiel ward im Jahre 1748 auf die französische Bühne
gebracht, erhielt großen Beifall und macht in der Geschichte dieser Bühne
gewissermaßen Epoche.--Nachdem der Hr. von Voltaire seine "Zaire" und
"Alzire", seinen "Brutus" und "Cäsar" geliefert hatte, ward er in der
Meinung bestärkt, daß die tragischen Dichter seiner Nation die alten
Griechen in vielen Stücken weit überträfen. "Von uns Franzosen", sagt er,
"hätten die Griechen eine geschicktere Exposition und die große Kunst,
die Auftritte untereinander so zu verbinden, daß die Szene niemals leer
bleibt und keine Person weder ohne Ursache kömmt noch abgehet, lernen
können. Von uns", sagt er, "hätten sie lernen können, wie Nebenbuhler und
Nebenbuhlerinnen in witzigen Antithesen miteinander sprechen; wie der
Dichter mit einer Menge erhabner, glänzender Gedanken blenden und in
Erstaunen setzen müsse. Von uns hätten sie lernen können"--O freilich;
was ist von den Franzosen nicht alles zu lernen! Hier und da möchte zwar
ein Ausländer, der die Alten auch ein wenig gelesen hat, demütig um
Erlaubnis bitten, anderer Meinung sein zu dürfen. Er möchte vielleicht
einwenden, daß alle diese Vorzüge der Franzosen auf das Wesentliche des
Trauerspiels eben keinen großen Einfluß hätten; daß es Schönheiten wären,
welche die einfältige Größe der Alten verachtet habe. Doch was hilft es,
dem Herrn von Voltaire etwas einzuwenden? Er spricht, und man glaubt. Ein
einziges vermißte er bei seiner Bühne; daß die großen Meisterstücke
derselben nicht mit der Pracht aufgeführet würden, deren doch die
Griechen die kleinen Versuche einer erst sich bildenden Kunst gewürdiget
hätten. Das Theater in Paris, ein altes Ballhaus, mit Verzierungen von
dem schlechtesten Geschmacke, wo sich in einem schmutzigen Parterre das
stehende Volk drängt und stößt, beleidigte ihn mit Recht; und besonders
beleidigte ihn die barbarische Gewohnheit, die Zuschauer auf der Bühne zu
dulden, wo sie den Akteurs kaum so viel Platz lassen, als zu ihren
notwendigsten Bewegungen erforderlich ist. Er war überzeugt, daß bloß
dieser Übe1stand Frankreich um vieles gebracht habe, was man, bei einem
freiern, zu Handlungen bequemern und prächtigern Theater, ohne Zweifel
gewagt hätte. Und eine Probe hiervon zu geben, verfertigte er seine
"Semiramis". Eine Königin, welche die Stände ihres Reichs versammelt, um
ihnen ihre Vermählung zu eröffnen; ein Gespenst, das aus seiner Gruft
steigt, um Blutschande zu verhindern und sich an seinem Mörder zu rächen;
diese Gruft, in die ein Narr hereingeht, um als ein Verbrecher wieder
herauszukommen: das alles war in der Tat für die Franzosen etwas ganz
Neues. Es macht so viel Lärmen auf der Bühne, es erfordert so viel Pomp
und Verwandlung, als man nur immer in einer Oper gewohnt ist. Der Dichter
glaubte das Muster zu einer ganz besondern Gattung gegeben zu haben; und
ob er es schon nicht für die französische Bühne, so wie sie war, sondern
so wie er sie wünschte, gemacht hatte: so ward es dennoch auf derselben,
vorderhand, so gut gespielet, als es sich ohngefähr spielen ließ. Bei der
ersten Vorstellung saßen die Zuschauer noch mit auf dem Theater; und ich
hätte wohl ein altvätrisches Gespenst in einem so galanten Zirkel mögen
erscheinen sehen. Erst bei den folgenden Vorstellungen ward dieser
Unschicklichkeit abgeholfen; die Akteurs machten sich ihre Bühne frei;
und was damals nur eine Ausnahme, zum Besten eines so außerordentlichen
Stückes, war, ist nach der Zeit die beständige Einrichtung geworden. Aber
vornehmlich nur für die Bühne in Paris; für die, wie gesagt, "Semiramis"
in diesem Stücke Epoche macht. In den Provinzen bleibet man noch häufig
bei der alten Mode, und will lieber aller Illusion, als dem Vorrechte
entsagen, den Zairen und Meropen auf die Schleppe treten zu können.



Eilftes Stück
Den 5. Junius 1767

Die Erscheinung eines Geistes war in einem französischen Trauerspiele
eine so kühne Neuheit, und der Dichter, der sie wagte, rechtfertiget sie
mit so eignen Gründen, daß es sich der Mühe lohnet, einen Augenblick
dabei zu verweilen.

"Man schrie und schrieb von allen Seiten", sagt der Herr von Voltaire,
"daß man an Gespenster nicht mehr glaube und daß die Erscheinung der
Toten, in den Augen einer erleuchteten Nation, nicht anders als kindisch
sein könne." "Wie?" versetzt er dagegen; "das ganze Altertum hätte diese
Wunder geglaubt, und es sollte nicht vergönnt sein, sich nach dem
Altertume zu richten? Wie? unsere Religion hätte dergleichen
außerordentliche Fügungen der Vorsicht geheiliget, und es sollte
lächerlich sein, sie zu erneuern?"

Diese Ausrufungen, dünkt mich, sind rhetorischer, als gründlich. Vor
allen Dingen wünschte ich, die Religion hier aus dem Spiele zu lassen. In
Dingen des Geschmacks und der Kritik sind Gründe, aus ihr genommen, recht
gut, seinen Gegner zum Stillschweigen zu bringen, aber nicht so recht
tauglich, ihn zu überzeugen. Die Religion, als Religion, muß hier nichts
entscheiden sollen; nur als eine Art von Überlieferung des Altertums,
gilt ihr Zeugnis nicht mehr und nicht weniger, als andere Zeugnisse des
Altertums gelten. Und sonach hätten wir es auch hier nur mit dem
Altertume zu tun.

Sehr wohl; das ganze Altertum hat Gespenster geglaubt. Die dramatischen
Dichter des Altertums hatten also recht, diesen Glauben zu nutzen; wenn
wir bei einem von ihnen wiederkommende Tote aufgeführet finden, so wäre
es unbillig, ihm nach unsern bessern Einsichten den Prozeß zu machen.
Aber hat darum der neue, diese unsere bessere Einsichten teilende
dramatische Dichter die nämliche Befugnis? Gewiß nicht.--Aber wenn er
seine Geschichte in jene leichtgläubigere Zeiten zurücklegt? Auch alsdenn
nicht. Denn der dramatische Dichter ist kein Geschichtschreiber; er
erzählt nicht, was man ehedem geglaubt, daß es geschehen, sondern er läßt
es vor unsern Augen nochmals geschehen; und läßt es nochmals geschehen,
nicht der bloßen historischen Wahrheit wegen, sondern in einer ganz
andern und höhern Absicht; die historische Wahrheit ist nicht sein Zweck,
sondern nur das Mittel zu seinem Zwecke; er will uns täuschen, und durch
die Täuschung rühren. Wenn es also wahr ist, daß wir itzt keine
Gespenster mehr glauben; wenn dieses Nichtglauben die Täuschung notwendig
verhindern müßte; wenn ohne Täuschung wir unmöglich sympathisieren
können: so handelt itzt der dramatische Dichter wider sich selbst, wenn
er uns demohngeachtet solche unglaubliche Märchen ausstaffieret; alle
Kunst, die er dabei anwendet, ist verloren.

Folglich? Folglich ist es durchaus nicht erlaubt, Gespenster und
Erscheinungen auf die Bühne zu bringen? Folglich ist diese Quelle des
Schrecklichen und Pathetischen für uns vertrocknet? Nein; dieser Verlust
wäre für die Poesie zu groß; und hat sie nicht Beispiele für sich, wo das
Genie aller unserer Philosophie trotzet und Dinge, die der kalten
Vernunft sehr spöttisch vorkommen, unserer Einbildung sehr fürchterlich
zu machen weiß? Die Folge muß daher anders fallen; und die Voraussetzung
wird nur falsch sein. Wir glauben keine Gespenster mehr? Wer sagt das?
Oder vielmehr, was heißt das? Heißt es so viel: wir sind endlich in
unsern Einsichten so weit gekommen, daß wir die Unmöglichkeit davon
erweisen können; gewisse unumstößliche Wahrheiten, die mit dem Glauben an
Gespenster im Widerspruche stehen, sind so allgemein bekannt worden, sind
auch dem gemeinsten Manne immer und beständig so gegenwärtig, daß ihm
alles, was damit streitet, notwendig lächerlich und abgeschmackt
vorkommen muß? Das kann es nicht heißen. Wir glauben itzt keine
Gespenster, kann also nur so viel heißen: in dieser Sache, über die sich
fast ebensoviel dafür als darwider sagen läßt, die nicht entschieden ist
und nicht entschieden werden kann, hat die gegenwärtig herrschende Art zu
denken den Gründen darwider das Übergewicht gegeben; einige wenige haben
diese Art zu denken, und viele wollen sie zu haben scheinen; diese machen
das Geschrei und geben den Ton; der größte Haufe schweigt und verhält
sich gleichgültig und denkt bald so, bald anders, hört beim hellen Tage
mit Vergnügen über die Gespenster spotten und bei dunkler Nacht mit
Grausen davon erzählen.

Aber in diesem Verstande keine Gespenster glauben, kann und darf den
dramatischen Dichter im geringsten nicht abhalten, Gebrauch davon zu
machen. Der Same, sie zu glauben, liegt in uns allen, und in denen am
häufigsten, für die er vornehmlich dichtet. Es kömmt nur auf seine Kunst
an, diesen Samen zum Keimen zu bringen; nur auf gewisse Handgriffe, den
Gründen für ihre Wirklichkeit in der Geschwindigkeit den Schwung zu
geben. Hat er diese in seiner Gewalt, so mögen wir in gemeinem Leben
glauben, was wir wollen; im Theater müssen wir glauben, was Er will.

So ein Dichter ist Shakespeare, und Shakespeare fast einzig und allein.
Vor seinem Gespenste im "Hamlet" richten sich die Haare zu Berge, sie
mögen ein gläubiges oder ungläubiges Gehirn bedecken. Der Herr von
Voltaire tat gar nicht wohl, sich auf dieses Gespenst zu berufen; es
macht ihn und seinen Geist des Ninus--lächerlich.

Shakespeares Gespenst kömmt wirklich aus jener Welt; so dünkt uns. Denn
es kömmt zu der feierlichen Stunde, in der schaudernden Stille der Nacht,
in der vollen Begleitung aller der düstern, geheimnisvollen Nebenbegriffe,
wenn und mit welchen wir, von der Amme an, Gespenster zu erwarten und zu
denken gewohnt sind. Aber Voltairens Geist ist auch nicht einmal zum
Popanze gut, Kinder damit zu erschrecken; es ist der bloße verkleidete
Komödiant, der nichts hat, nichts sagt, nichts tut, was es wahrscheinlich
machen könnte, er wäre das, wofür er sich ausgibt; alle Umstände
vielmehr, unter welchen er erscheinet, stören den Betrug und verraten
das Geschöpf eines kalten Dichters, der uns gern täuschen und schrecken
möchte, ohne daß er weiß, wie er es anfangen soll. Man überlege auch nur
dieses einzige: am hellen Tage, mitten in der Versammlung der Stände des
Reichs, von einem Donnerschlage angekündiget, tritt das Voltairische
Gespenst aus seiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehört, daß
Gespenster so dreist sind? Welche alte Frau hätte ihm nicht sagen können,
daß die Gespenster das Sonnenlicht scheuen und große Gesellschaften gar
nicht gern besuchten? Doch Voltaire wußte zuverlässig das auch; aber er
war zu furchtsam, zu ekel, diese gemeinen Umstände zu nutzen; er wollte
uns einen Geist zeigen, aber es sollte ein Geist von einer edlern Art
sein; und durch diese edlere Art verdarb er alles. Das Gespenst, das sich
Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten
unter den Gespenstern sind, dünket mich kein rechtes Gespenst zu sein;
und alles, was die Illusion hier nicht befördert, störet die Illusion.

Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die Pantomime genommen hätte, so
würde er auch von einer andern Seite die Unschicklichkeit empfunden
haben, ein Gespenst vor den Augen einer großen Menge erscheinen zu
lassen. Alle müssen auf einmal, bei Erblickung desselben, Furcht und
Entsetzen äußern; alle müssen es auf verschiedene Art äußern, wenn der
Anblick nicht die frostige Symmetrie eines Balletts haben soll. Nun
richte man einmal eine Herde dumme Statisten dazu ab; und wenn man sie
auf das glücklichste abgerichtet hat, so bedenke man, wie sehr dieser
vielfache Ausdruck des nämlichen Affekts die Aufmerksamkeit teilen, und
von den Hauptpersonen abziehen muß. Wenn diese den rechten Eindruck auf
uns machen sollen, so müssen wir sie nicht allein sehen können, sondern
es ist auch gut, wenn wir sonst nichts sehen, als sie. Beim Shakespeare
ist es der einzige Hamlet, mit dem sich das Gespenst einläßt; in der
Szene, wo die Mutter dabei ist, wird es von der Mutter weder gesehen noch
gehört. Alle unsere Beobachtung geht also auf ihn, und je mehr Merkmale
eines von Schauder und Schrecken zerrütteten Gemüts wir an ihm entdecken,
desto bereitwilliger sind wir, die Erscheinung, welche diese Zerrüttung
in ihm verursacht, für eben das zu halten, wofür er sie hält. Das
Gespenst wirket auf uns, mehr durch ihn, als durch sich selbst. Der
Eindruck, den es auf ihn macht, gehet in uns über, und die Wirkung ist
zu augenscheinlich und zu stark, als daß wir an der außerordentlichen
Ursache zweifeln sollten. Wie wenig hat Voltaire auch diesen Kunstgriff
verstanden! Es erschrecken über seinen Geist viele; aber nicht viel.
Semiramis ruft einmal: "Himmel! ich sterbe!" und die andern machen nicht
mehr Umstände mit ihm, als man ohngefähr mit einem weit entfernt
geglaubten Freunde machen würde, der auf einmal ins Zimmer tritt.



Zwölftes Stück
Den 9. Junius 1767

Ich bemerke noch einen Unterschied, der sich zwischen den Gespenstern des
englischen und französischen Dichters findet. Voltaires Gespenst ist
nichts als eine poetische Maschine, die nur des Knotens wegen da ist; es
interessiert uns für sich selbst nicht im geringsten. Shakespeares
Gespenst hingegen ist eine wirklich handelnde Person, an dessen
Schicksale wir Anteil nehmen; es erweckt Schauder, aber auch Mitleid.

Dieser Unterschied entsprang, ohne Zweifel, aus der verschiedenen
Denkungsart beider Dichter von den Gespenstern überhaupt. Voltaire
betrachtet die Erscheinung eines Verstorbenen als ein Wunder; Shakespeare
als eine ganz natürliche Begebenheit. Wer von beiden philosophischer
denkt, dürfte keine Frage sein; aber Shakespeare dachte poetischer. Der
Geist des Ninus kam bei Voltairen als ein Wesen, das noch jenseit dem
Grabe angenehmer und unangenehmer Empfindungen fähig ist, mit welchem wir
also Mitleiden haben können, in keine Betrachtung. Er wollte bloß damit
lehren, daß die höchste Macht, um verborgene Verbrechen ans Licht zu
bringen und zu bestrafen, auch wohl eine Ausnahme von ihren ewigen
Gesetzen mache.

Ich will nicht sagen, daß es ein Fehler ist, wenn der dramatische Dichter
seine Fabel so einrichtet, daß sie zur Erläuterung oder Bestätigung
irgendeiner großen moralischen Wahrheit dienen kann. Aber ich darf sagen,
daß diese Einrichtung der Fabel nichts weniger als notwendig ist; daß
sehr lehrreiche vollkommene Stücke geben kann, die auf keine solche
einzelne Maxime abzwecken; daß man unrecht tut, den letzten Sittenspruch,
den man zum Schlusse verschiedener Trauerspiele der Alten findet, so
anzusehen, als ob das Ganze bloß um seinetwillen da wäre.

Wenn daher die "Semiramis" des Herrn von Voltaire weiter kein Verdienst
hätte, als dieses, worauf er sich so viel zugute tut, daß man nämlich
daraus die höchste Gerechtigkeit verehren lerne, die, außerordentliche
Lastertaten zu strafen, außerordentliche Wege wähle: so würde "Semiramis"
in meinen Augen nur ein sehr mittelmäßiges Stück sein. Besonders da diese
Moral selbst nicht eben die erbaulichste ist. Denn es ist ohnstreitig dem
weisesten Wesen weit anständiger, wenn es dieser außerordentlichen Wege
nicht bedarf und wir uns die Bestrafung des Guten und Bösen in die
ordentliche Kette der Dinge von ihr mit eingeflochten denken.

Doch ich will mich bei dem Stücke nicht länger verweilen, um noch ein
Wort von der Art zu sagen, wie es hier aufgeführet worden. Man hat alle
Ursache, damit zufrieden zu sein. Die Bühne ist geräumlich genug, die
Menge von Personen ohne Verwirrung zu fassen, die der Dichter in
verschiedenen Szenen auftreten läßt. Die Verzierungen sind neu, von dem
besten Geschmacke, und sammeln den so oft abwechselnden Ort so gut als
möglich in einen.

Den siebenten Abend (donnerstags, den 30. April) ward "Der verheiratete
Philosoph", vom Destouches, gespielet.

Dieses Lustspiel kam im Jahr 1727 zuerst auf die französische Bühne und
fand so allgemeinen Beifall, daß es in Jahr und Tag sechsunddreißigmal
aufgeführet ward. Die deutsche Übersetzung ist nicht die prosaische aus
den zu Berlin übersetzten sämtlichen Werken des Destouches; sondern eine
in Versen, an der mehrere Hände geflickt und gebessert haben. Sie hat
wirklich viel glückliche Verse, aber auch viel harte und unnatürliche
Stellen. Es ist unbeschreiblich, wie schwer dergleichen Stellen dem
Schauspieler das Agieren machen; und doch werden wenig französische
Stücke sein, die auf irgendeinem deutschen Theater jemals besser
ausgefallen wären, als dieses auf unserm. Die Rollen sind alle auf das
schicklichste besetzt, und besonders spielet Madame Löwen die launigte
Celiante als eine Meisterin, und Herr Ackermann den Geront
unverbesserlich. Ich kann es überhoben sein, von dem Stücke selbst zu
reden. Es ist zu bekannt und gehört unstreitig unter die Meisterstücke
der französischen Bühne, die man auch unter uns immer mit Vergnügen
sehen wird.

Das Stück des achten Abends (freitags, den 1. Mai) war "Das Kaffeehaus,
oder Die Schottländerin" des Hrn. von Voltaire.

Es ließe sich eine lange Geschichte von diesem Lustspiele machen. Sein
Verfasser schickte es als eine Übersetzung aus dem Englischen des Hume,
nicht des Geschichtschreibers und Philosophen, sondern eines andern
dieses Namens, der sich durch das Trauerspiel "Douglas" bekannt gemacht
hat, in die Welt. Es hat in einigen Charakteren mit der "Kaffeeschenke"
des Goldoni etwas Ähnliches; besonders scheint der Don Marzio des Goldoni
das Urbild des Frélon gewesen zu sein. Was aber dort bloß ein bösartiger
Kerl ist, ist hier zugleich ein elender Skribent, den er Frélon nannte,
damit die Ausleger desto geschwinder auf seinen geschwornen Feind, den
Journalisten Fréron, fallen möchten. Diesen wollte er damit zu Boden
schlagen, und ohne Zweifel hat er ihm einen empfindlichen Streich
versetzt. Wir Ausländer, die wir an den hämischen Neckereien der
französischen Gelehrten unter sich keinen Anteil nehmen, sehen über die
Persönlichkeiten dieses Stücks weg und finden in dem Frélon nichts als
die getreue Schilderung einer Art von Leuten, die auch bei uns nicht
fremd ist. Wir haben unsere Frélons so gut, wie die Franzosen und
Engländer, nur daß sie bei uns weniger Aufsehen machen, weil uns unsere
Literatur überhaupt gleichgültiger ist. Fiele das Treffende dieses
Charakters aber auch gänzlich in Deutschland weg, so hat das Stück doch,
noch außer ihm, Interesse genug, und der ehrliche Freeport allein könnte
es in unserer Gunst erhalten. Wir lieben seine plumpe Edelmütigkeit, und
die Engländer selbst haben sich dadurch geschmeichelt gefunden.

Denn nur seinetwegen haben sie erst kürzlich den ganzen Stamm auf den
Grund wirklich verpflanzt, auf welchem er sich gewachsen zu sein rühmte.
Colman, unstreitig itzt ihr bester komischer Dichter, hat die
"Schottländerin", unter dem Titel des "Englischen Kaufmanns", übersetzt
und ihr vollends alle das nationale Kolorit gegeben, das ihr in dem
Originale noch mangelte. So sehr der Herr von Voltaire die englischen
Sitten auch kennen will, so hatte er doch häufig dagegen verstoßen; z.E.
darin, daß er seine Lindane auf einem Kaffeehause wohnen läßt. Colman
mietet sie dafür bei einer ehrlichen Frau ein, die möblierte Zimmer hält,
und diese Frau ist weit anständiger die Freundin und Wohltäterin der
jungen verlassenen Schöne, als Fabriz. Auch die Charaktere hat Colman
für den englischen Geschmack kräftiger zu machen gesucht. Lady Alton ist
nicht bloß eine eifersüchtige Furie; sie will ein Frauenzimmer von Genie,
von Geschmack und Gelehrsamkeit sein und gibt sich das Ansehen einer
Schutzgöttin der Literatur. Hierdurch glaubte er die Verbindung
wahrscheinlicher zu machen, in der sie mit dem elenden Frélon stehet,
den er Spatter nennet. Freeport vornehmlich hat eine weitere Sphäre von
Tätigkeit bekommen, und er nimmt sich des Vaters der Lindane ebenso
eifrig an, als der Lindane selbst. Was im Französischen der Lord
Falbridge zu dessen Begnadigung tut, tut im Englischen Freeport, und
er ist es allein, der alles zu einem glücklichen Ende bringet.

Die englischen Kunstrichter haben in Colmans Umarbeitung die Gesinnungen
durchaus vortrefflich, den Dialog fein und lebhaft und die Charaktere
sehr wohl ausgeführt gefunden. Aber doch ziehen sie ihr Colmans übrige
Stücke weit vor, von welchen man "Die eifersüchtige Ehefrau" auf dem
Ackermannischen Theater ehedem hier gesehen, und nach der diejenigen, die
sich ihrer erinnern, ungefähr urteilen können. "Der englische Kaufmann"
hat ihnen nicht Handlung genug; die Neugierde wird ihnen nicht genug
darin genähret; die ganze Verwickelung ist in dem ersten Akte sichtbar.
Hiernächst hat er ihnen zuviel Ähnlichkeit mit andern Stücken, und den
besten Situationen fehlt die Neuheit. Freeport, meinen sie, hätte nicht
den geringsten Funken von Liebe gegen die Lindane empfinden müssen; seine
gute Tat verliere dadurch alles Verdienst usw.

Es ist an dieser Kritik manches nicht ganz ungegründet; indes sind wir
Deutschen es sehr wohl zufrieden, daß die Handlung nicht reicher und
verwickelter ist. Die englische Manier in diesem Punkte zerstreuet und
ermüdet uns; wir lieben einen einfältigen Plan, der sich auf einmal
übersehen läßt. So wie die Engländer die französischen Stücke mit
Episoden erst vollpfropfen müssen, wenn sie auf ihrer Bühne gefallen
sollen; so müßten wir die englischen Stücke von ihren Episoden erst
entladen, wenn wir unsere Bühne glücklich damit bereichern wollten. Ihre
besten Lustspiele eines Congreve und Wycherley würden uns, ohne diesen
Ausbau des allzu wollüstigen Wuchses, unausstehlich sein. Mit ihren
Tragödien werden wir noch eher fertig; diese sind zum Teil bei weitem
so verworren nicht, als ihre Komödien, und verschiedene haben, ohne die
geringste Veränderung, bei uns Glück gemacht, welches ich von keiner
einzigen ihrer Komödien zu sagen wüßte.

Auch die Italiener haben eine Übersetzung von der "Schottländerin", die
in dem ersten Teile der theatralischen Bibliothek des Diodati stehet. Sie
folgt dem Originale Schritt vor Schritt, so wie die deutsche; nur eine
Szene zum Schlusse hat ihr der Italiener mehr gegeben. Voltaire sagte,
Frélon werde in der englischen Urschrift am Ende bestraft; aber so
verdient diese Bestrafung sei, so habe sie ihm doch dem Hauptinteresse zu
schaden geschienen; er habe sie also weggelassen. Dem Italiener dünkte
diese Entschuldigung nicht hinlänglich, und er ergänzte die Bestrafung
des Frélons aus seinem Kopfe; denn die Italiener sind große Liebhaber der
poetischen Gerechtigkeit.



Dreizehntes Stück
Den 12. Junius 1767

Den neunten Abend (montags, den 4. Mai) sollte "Cenie" gespielet werden.
Es wurden aber auf einmal mehr als die Hälfte der Schauspieler durch
einen epidemischen Zufall außerstand gesetzet, zu agieren; und man mußte
sich so gut zu helfen suchen, als möglich. Man wiederholte "Die neue
Agnese" und gab das Singspiel "Die Gouvernante".

Den zehnten Abend (dienstags, den 5. Mai) ward "Der poetische
Dorfjunker", vom Destouches, aufgeführt.

Dieses Stück hat im Französischen drei Aufzüge, und in der Übersetzung
fünfe. Ohne diese Verbesserung war es nicht wert, in die "Deutsche
Schaubühne" des weiland berühmten Herrn Professor Gottscheds aufgenommen
zu werden, und seine gelehrte Freundin, die Übersetzerin, war eine viel
zu brave Ehefrau, als daß sie sich nicht den kritischen Aussprüchen ihres
Gemahls blindlings hätte unterwerfen sollen. Was kostet es denn nun auch
für große Mühe, aus drei Aufzügen fünfe zu machen? Man läßt in einem
andern Zimmer einmal Kaffee trinken; man schlägt einen Spaziergang im
Garten vor; und wenn Not an den Mann gehet, so kann ja auch der
Lichtputzer herauskommen und sagen: "Meine Damen und Herren, treten Sie
ein wenig ab; die Zwischenakte sind des Putzens wegen erfunden, und was
hilft Ihr Spielen, wenn das Parterre nicht sehen kann?"--Die Übersetzung
selbst ist sonst nicht schlecht, und besonders sind der Fr. Professorin
die Knittelverse des Masuren, wie billig, sehr wohl gelungen. Ob sie
überall ebenso glücklich gewesen, wo sie den Einfällen ihres Originals
eine andere Wendung geben zu müssen geglaubt, würde sich aus der
Vergleichung zeigen. Eine Verbesserung dieser Art, mit der es die liebe
Frau recht herzlich gut gemeinet hatte, habe ich demohngeachtet aufmutzen
hören. In der Szene, wo Henriette die alberne Dirne spielt, läßt
Destouches den Masuren zu ihr sagen: "Sie setzen mich in Erstaunen,
Mademoiselle; ich habe Sie für eine Virtuosin gehalten." "O pfui!"
erwidert Henriette; "wofür haben Sie mich gehalten? Ich bin ein ehrliches
Mädchen; daß Sie es nur wissen." "Aber man kann ja", fällt ihr Masuren
ein, "beides wohl zugleich, ein ehrliches Mädchen und eine Virtuosin,
sein." "Nein", sagt Henriette; "ich behaupte, daß man das nicht zugleich
sein kann. Ich eine Virtuosin!" Man erinnere sich, was Madame Gottsched
anstatt des Worts "Virtuosin" gesetzt hat: ein Wunder. Kein Wunder! sagte
man, daß sie das tat. Sie fühlte sich auch so etwas von einer Virtuosin
zu sein, und ward über den vermeinten Stich böse. Aber sie hätte nicht
böse werden sollen, und was die witzige und gelehrte Henriette, in der
Person einer dummen Agnese, sagt, hätte die Frau Professorin immer, ohne
Maulspitzen, nachsagen können. Doch vielleicht war ihr nur das fremde
Wort Virtuosin anstößig; Wunder ist deutscher; zudem gibt es unter unsern
Schönen fünfzig Wunder gegen eine Virtuosin; die Frau wollte rein und
verständlich übersetzen; sie hatte sehr recht.

Den Beschluß dieses Abends machte "Die stumme Schönheit", von Schlegeln.

Schlegel hatte dieses kleine Stück für das neuerrichtete Kopenhagensche
Theater geschrieben, um auf demselben in einer dänischen Übersetzung
aufgeführet zu werden. Die Sitten darin sind daher auch wirklich
dänischer, als deutsch. Demohngeachtet ist es unstreitig unser bestes
komisches Original, das in Versen geschrieben ist. Schlegel hatte überall
eine ebenso fließende als zierliche Versifikation, und es war ein Glück
für seine Nachfolger, daß er seine größern Komödien nicht auch in Versen
schrieb. Er hätte ihnen leicht das Publikum verwöhnen können, und so
würden sie nicht allein seine Lehre, sondern auch sein Beispiel wider
sich gehabt haben. Er hatte sich ehedem der gereimten Komödie sehr
lebhaft angenommen; und je glücklicher er die Schwierigkeiten derselben
überstiegen hätte, desto unwiderleglicher würden seine Gründe geschienen
haben. Doch, als er selbst Hand an das Werk legte, fand er ohne Zweifel,
wie unsägliche Mühe es koste, nur einen Teil derselben zu übersteigen,
und wie wenig das Vergnügen, welches aus diesen überstiegenen
Schwierigkeiten entstehet, für die Menge kleiner Schönheiten, die man
ihnen aufopfern müsse, schadlos halte. Die Franzosen waren ehedem so
ekel, daß man ihnen die prosaischen Stücke des Molière, nach seinem Tode,
in Verse bringen mußte; und noch itzt hören sie ein prosaisches Lustspiel
als ein Ding an, das ein jeder von ihnen machen könne. Den Engländer
hingegen würde eine gereimte Komödie aus dem Theater jagen. Nur die
Deutschen sind auch hierin, soll ich sagen billiger, oder gleichgültiger?
Sie nehmen an, was ihnen der Dichter vorsetzt. Was wäre es auch, wenn sie
itzt schon wählen und ausmustern wollten?

Die Rolle der stummen Schöne hat ihre Bedenklichkeiten. Eine stumme
Schöne, sagt man, ist nicht notwendig eine dumme, und die Schauspielerin
hat unrecht, die eine alberne plumpe Dirne daraus macht. Aber Schlegels
stumme Schönheit ist allerdings dumm zugleich; denn daß sie nichts
spricht, kömmt daher, weil sie nichts denkt. Das Feine dabei würde also
dieses sein, daß man sie überall, wo sie, um artig zu scheinen, denken
müßte, unartig machte, dabei aber ihr alle die Artigkeiten ließe, die
bloß mechanisch sind, und die sie, ohne viel zu denken, haben könnte. Ihr
Gang z.E., ihre Verbeugungen, brauchen gar nicht bäurisch zu sein; sie
können so gut und zierlich sein, als sie nur immer ein Tanzmeister kehren
kann; denn warum sollte sie von ihrem Tanzmeister nichts gelernt haben,
da sie sogar Quadrille gelernt hat? Und sie muß Quadrille nicht schlecht
spielen; denn sie rechnet fest darauf, dem Papa das Geld abzugewinnen.
Auch ihre Kleidung muß weder altvätrisch, noch schlumpicht sein; denn
Frau Praatgern sagt ausdrücklich:

    "Bist du vielleicht nicht wohl gekleidet?--Laß doch sehn!
    Nun!--dreh dich um!--das ist ja gut, und sitzt galant.
    Was sagt denn der Phantast, dir fehlte der Verstand?"

In dieser Musterung der Fr. Praatgern überhaupt hat der Dichter deutlich
genug bemerkt, wie er das Äußerliche seiner stummen Schöne zu sein wünsche.
Gleichfalls schön, nur nicht reizend.

    "Laß sehn, wie trägst du dich?--Den Kopf nicht so zurücke!"

Dummheit ohne Erziehung hält den Kopf mehr vorwärts, als zurück; ihn
zurückhalten, lehrt der Tanzmeister; man muß also Charlotten den
Tanzmeister ansehen, und je mehr, je besser; denn das schadet ihrer
Stummheit nichts, vielmehr sind die zierlich steifen Tanzmeistermanieren
gerade die, welche der stummen Schönheit am meisten entsprechen; sie
zeigen die Schönheit in ihrem besten Vorteile, nur daß sie ihr das
Leben nehmen.

    "Wer fragt: hat sie Verstand? der seh' nur ihre Blicke."

Recht wohl, wenn man eine Schauspielerin mit großen schönen Augen zu
dieser Rolle hat. Nur müssen sich diese schöne Augen wenig oder gar nicht
regen; ihre Blicke müssen langsam und stier sein; sie müssen uns mit
ihrem unbeweglichen Brennpunkte in Flammen setzen wollen, aber
nichts sagen.

    "Geh doch einmal herum!--Gut! hieher!--Neige dich!
    Da haben wir's, das fehlt. Nein, sieh! So neigt man sich."

Diese Zeilen versteht man ganz falsch, wenn man Charlotten eine bäurische
Neige, einen dummen Knicks machen läßt. Ihre Verbeugung muß wohl gelernt
sein, und wie gesagt, ihrem Tanzmeister keine Schande machen. Frau
Praatgern muß sie nur noch nicht affektiert genug finden. Charlotte
verbeugt sich, und Frau Praatgern will, sie soll sich dabei zieren. Das
ist der ganze Unterschied, und Madame Löwen bemerkte ihn sehr wohl, ob
ich gleich nicht glaube, daß die Praatgern sonst eine Rolle für sie ist.
Sie kann die feine Frau zu wenig verbergen, und gewissen Gesichtern
wollen nichtswürdige Handlungen, dergleichen die Vertauschung einer
Tochter ist, durchaus nicht lassen.

Den eilften Abend (mittewochs, den 6. Mai) ward "Miß Sara Sampson"
aufgeführet.

Man kann von der Kunst nichts mehr verlangen, als was Madame Henseln in
der Rolle der Sara leistet, und das Stück ward überhaupt sehr gut
gespielet. Es ist ein wenig zu lang, und man verkürzt es daher auf den
meisten Theatern. Ob der Verfasser mit allen diesen Verkürzungen so recht
zufrieden ist, daran zweifle ich fast. Man weiß ja, wie die Autores sind;
wenn man ihnen auch nur einen Nietnagel nehmen will, so schreien sie
gleich: Ihr kommt mir ans Leben! Freilich ist der übermäßigen Länge eines
Stücks durch das bloße Weglassen nur übel abgeholfen, und ich begreife
nicht, wie man eine Szene verkürzen kann, ohne die ganze Folge des
Dialogs zu ändern. Aber wenn dem Verfasser die fremden Verkürzungen nicht
anstehen; so mache er selbst welche, falls es ihm der Mühe wert dünket
und er nicht von denjenigen ist, die Kinder in die Welt setzen, und auf
ewig die Hand von ihnen abziehen.

Madame Henseln starb ungemein anständig; in der malerischsten Stellung;
und besonders hat mich ein Zug außerordentlich überrascht. Es ist eine
Bemerkung an Sterbenden, daß sie mit den Fingern an ihren Kleidern oder
Betten zu rupfen anfangen. Diese Bemerkung machte sie sich auf die
glücklichste Art zu nutze; in dem Augenblicke, da die Seele von ihr wich,
äußerte sich auf einmal, aber nur in den Fingern des erstarrten Armes,
ein gelinder Spasmus; sie kniff den Rock, der um ein weniges erhoben ward
und gleich wieder sank: das letzte Aufflattern eines verlöschenden
Lichts; der jüngste Strahl einer untergehenden Sonne.--Wer diese Feinheit
in meiner Beschreibung nicht schön findet, der schiebe die Schuld auf
meine Beschreibung; aber er sehe sie einmal!



Vierzehntes Stück
Den 16. Junius 1767

Das bürgerliche Trauerspiel hat an dem französischen Kunstrichter,
welcher die "Sara" seiner Nation bekannt gemacht,[1] einen sehr
gründlichen Verteidiger gefunden. Die Franzosen billigen sonst selten
etwas, wovon sie kein Muster unter sich selbst haben.

Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät
geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen,
deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicherweise am
tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden
haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit
Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er
sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein
verwickelt werden; unsere Sympathie erfodert einen einzeln Gegenstand,
und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.

"Man tut dem menschlichen Herze unrecht", sagt auch Marmontel, "man
verkennst die Natur, wenn man glaubt, daß sie Titel bedürfe, uns zu
bewegen und zu rühren. Die geheiligten Namen des Freundes, des Vaters,
des Geliebten, des Gatten, des Sohnes, der Mutter, des Menschen
überhaupt: diese sind pathetischer als alles; diese behaupten ihre Rechte
immer und ewig. Was liegt daran, welches der Rang, der Geschlechtsname,
die Geburt des Unglücklichen ist, den seine Gefälligkeit gegen unwürdige
Freunde und das verführerische Beispiel ins Spiel verstricket, der seinen
Wohlstand und seine Ehre darüber zugrunde gerichtet, und nun im
Gefängnisse seufzet, von Scham und Reue zerrissen? Wenn man fragt, wer er
ist; so antworte ich: er war ein ehrlicher Mann, und zu seiner Marter ist
er Gemahl und Vater; seine Gattin, die er liebt und von der er geliebt
wird, schmachtet in der äußersten Bedürfnis und kann ihren Kindern,
welche Brot verlangen, nichts als Tränen geben. Man zeige mir in der
Geschichte der Helden eine rührendere, moralischere, mit einem Worte,
tragischere Situation! Und wenn sich endlich dieser Unglückliche
vergiftet; wenn er, nachdem er sich vergiftet, erfährt, daß der Himmel
ihn noch retten wollen: was fehlet diesem schmerzlichen und
fürchterlichen Augenblicke, wo sich zu den Schrecknissen des Todes
marternde Vorstellungen, wie glücklich er habe leben können, gesellen;
was fehlt ihm, frage ich, um der Tragödie würdig zu sein? Das Wunderbare,
wird man antworten. Wie? Findet sich denn nicht dieses Wunderbare
genugsam in dem plötzlichen Übergange von der Ehre zur Schande, von der
Unschuld zum Verbrechen, von der süßesten Ruhe zur Verzweiflung; kurz, in
dem äußersten Unglücke, in das eine bloße Schwachheit gestürzet?"

Man lasse aber diese Betrachtungen den Franzosen, von ihren Diderots und
Marmontels, noch so eingeschärft werden: es scheint doch nicht, daß das
bürgerliche Trauerspiel darum bei ihnen besonders in Schwang kommen
werde. Die Nation ist zu eitel, ist in Titel und andere äußerliche
Vorzüge zu verliebt; bis auf den gemeinsten Mann will alles mit
Vornehmern umgehen; und Gesellschaft mit seinesgleichen ist so viel als
schlechte Gesellschaft. Zwar ein glückliches Genie vermag viel über sein
Volk; die Natur hat nirgends ihre Rechte aufgegeben, und sie erwartet
vielleicht auch dort nur den Dichter, der sie in aller ihrer Wahrheit und
Stärke zu zeigen verstehet. Der Versuch, den ein Ungenannter in einem
Stücke gemacht hat, welches er "Das Gemälde der Dürftigkeit" nennet, hat
schon große Schönheiten; und bis die Franzosen daran Geschmack gewinnen,
hätten wir es für unser Theater adoptieren sollen.

Was der erstgedachte Kunstrichter an der deutschen "Sara" aussetzet, ist
zum Teil nicht ohne Grund. Ich glaube aber doch, der Verfasser wird
lieber seine Fehler behalten, als sich der vielleicht unglücklichen Mühe
einer gänzlichen Umarbeitung unterziehen wollen. Er erinnert sich, was
Voltaire bei einer ähnlichen Gelegenheit sagte: "Man kann nicht immer
alles ausführen, was uns unsere Freunde raten. Es gibt auch notwendige
Fehler. Einem Bucklichten, den man von seinem Buckel heilen wollte, müßte
man das Leben nehmen. Mein Kind ist bucklicht; aber es befindet sich
sonst ganz gut."

Den zwölften Abend (donnerstags, den 7. Mai) ward "Der Spieler", vom
Regnard, aufgeführet.

Dieses Stück ist ohne Zweifel das beste, was Regnard gemacht hat; aber
Rivière du Frény, der bald darauf gleichfalls einen Spieler auf die Bühne
brachte, nahm ihn wegen der Erfindung in Anspruch. Er beklagte sich, daß
ihm Regnard die Anlage und verschiedene Szenen gestohlen habe; Regnard
schob die Beschuldigung zurück, und itzt wissen wir von diesem Streite
nur so viel mit Zuverlässigkeit, daß einer von beiden der Plagiarius
gewesen. Wenn es Regnard war, so müssen wir es ihm wohl noch dazu danken,
daß er sich überwinden konnte, die Vertraulichkeit seines Freundes zu
mißbrauchen; er bemächtigte sich, bloß zu unserm Besten, der Materialien,
von denen er voraussahe, daß sie verhunzt werden würden. Wir hätten nur
einen sehr elenden Spieler, wenn er gewissenhafter gewesen wäre. Doch
hätte er die Tat eingestehen und dem armen Du Frény einen Teil der damit
erworbnen Ehre lassen müssen.

Den dreizehnten Abend (freitags, den 8. Mai) ward "Der verheiratete
Philosoph" wiederholst; und den Beschluß machte "Der Liebhaber als
Schriftsteller und Bedienter".

Der Verfasser dieses kleinen artigen Stückes heißt Cerou; er studierte
die Rechte, als er es im Jahre 1740 den Italienern in Paris zu spielen
gab. Es fällt ungemein wohl aus.

Den vierzehnten Abend (montags, den 11. Mai) wurden "Die kokette Mutter",
vom Quinault, und "Der Advokat Patelin" aufgeführt.

Jene wird von den Kennern unter die besten Stücke gerechnet, die sich auf
dem französischen Theater aus dem vorigen Jahrhunderte erhalten haben. Es
ist wirklich viel gutes Komisches darin, dessen sich Molière nicht hätte
schämen dürfen. Aber der fünfte Akt und die ganze Auflösung hätte weit
besser sein können; der alte Sklave, dessen in den vorhergehenden Akten
gedacht wird, kömmt nicht zum Vorscheine; das Stück schließt mit einer
kalten Erzählung, nachdem wir auf eine theatralische Handlung vorbereitet
worden. Sonst ist es in der Geschichte des französischen Theaters
deswegen mit merkwürdig, weil der lächerliche Marquis darin der erste von
seiner Art ist. "Die kokette Mutter" ist auch sein eigentlichster Titel
nicht, und Quinault hätte es immer bei dem zweiten "Die veruneinigten
Verliebten" können bewenden lassen.

"Der Advokat Patelin" ist eigentlich ein altes Possenspiel aus dem
funfzehnten Jahrhunderte, das zu seiner Zeit außerordentlichen Beifall
fand. Es verdiente ihn auch, wegen der ungemeinen Lustigkeit und des
guten Komischen, das aus der Handlung selbst und aus der Situation der
Personen entspringet und nicht auf bloßen Einfällen beruhet. Brueys gab
ihm eine neue Sprache und brachte es in die Form, in welcher es
gegenwärtig aufgeführet wird. Hr. Ekhof spielt den Patelin ganz
vortrefflich.

Den funfzehnten Abend (dienstags, den 12. Mai) ward Lessings "Freigeist"
vorgestellt.

Man kennt ihn hier unter dem Titel des "Beschämten Freigeistes", weil man
ihn von dem Trauerspiele des Hrn. von Brawe, das eben diese Aufschrift
führet, unterscheiden wollen. Eigentlich kann man wohl nicht sagen, daß
derjenige beschämt wird, welcher sich bessert. Adrast ist auch nicht
einzig und allein der Freigeist; sondern es nehmen mehrere Personen an
diesem Charakter teil. Die eitle unbesonnene Henriette, der für Wahrheit
und Irrtum gleichgültige Lisidor, der spitzbübische Johann sind alles
Arten von Freigeistern, die zusammen den Titel des Stücks erfüllen
müssen. Doch was liegt an dem Titel? Genug, daß die Vorstellung alles
Beifalls würdig war. Die Rollen sind ohne Ausnahme wohl besetzt; und
besonders spielt Herr Boek den Theophan mit alle dem freundlichen
Anstande, den dieser Charakter erfordert, um dem endlichen Unwillen über
die Hartnäckigkeit, mit der ihn Adrast verkennet, und auf dem die ganze
Katastrophe beruhet, dagegen abstechen zu lassen.

Den Beschluß dieses Abends machte das Schäferspiel des Hrn. Pfeffels:
"Der Schatz".

Dieser Dichter hat sich, außer diesem kleinen Stücke, noch durch ein
anders, "Der Eremit", nicht unrühmlich bekannt gemacht. In den "Schatz"
hat er mehr Interesse zu legen gesucht, als gemeiniglich unsere
Schäferspiele zu haben pflegen, deren ganzer Inhalt tändelnde Liebe ist.
Sein Ausdruck ist nur öfters ein wenig zu gesucht und kostbar, wodurch
die ohnedem schon allzu verfeinerten Empfindungen ein höchst studiertes
Ansehen bekommen, und zu nichts als frostigen Spielwerken des Witzes
werden. Dieses gilt besonders von seinem "Eremiten", welches ein kleines
Trauerspiel sein soll, das man, anstatt der allzu lustigen Nachspiele,
auf rührende Stücke könnte folgen lassen. Die Absicht ist recht gut; aber
wir wollen vom Weinen doch noch lieber zum Lachen, als zum Gähnen
übergehen.


----Fußnote

[1] "Journal Étranger", Décembre 1761.

----Fußnote



Funfzehntes Stück
Den 19. Junius 1767

Den sechzehnten Abend (mittewochs, den 13. Mai) ward die "Zaïre" des
Herrn von Voltaire aufgeführt.

"Den Liebhabern der gelehrten Geschichte", sagt der Hr. von Voltaire,
"wird es nicht unangenehm sein, zu wissen, wie dieses Stück entstanden.
Verschiedene Damen hatten dem Verfasser vorgeworfen, daß in seinen
Tragödien nicht genug Liebe wäre. Er antwortete ihnen, daß seiner Meinung
nach die Tragödie auch eben nicht der schicklichste Ort für die Liebe
sei; wenn sie aber doch mit aller Gewalt verliebte Helden haben müßten,
so wolle er ihnen welche machen, so gut als ein anderer. Das Stück ward
in achtzehn Tagen vollendet und fand großen Beifall. Man nennt es zu
Paris ein christliches Trauerspiel, und es ist oft, anstatt des
Polyeukts, vorgestellet worden."

Den Damen haben wir also dieses Stück zu verdanken, und es wird noch
lange das Lieblingsstück der Damen bleiben. Ein junger feuriger Monarch,
nur der Liebe unterwürfig; ein stolzer Sieger, nur von der Schönheit
besiegt; ein Sultan ohne Polygamie; ein Seraglio, in den freien
zugänglichen Sitz einer unumschränkten Gebieterin verwandelt; ein
verlassenes Mädchen, zur höchsten Staffel des Glücks, durch nichts als
ihre schönen Augen, erhöhet; ein Herz, um das Zärtlichkeit und Religion
streiten, das sich zwischen seinen Gott und seinen Abgott teilet, das
gern fromm sein möchte, wenn es nur nicht aufhören sollte zu lieben; ein
Eifersüchtiger, der sein Unrecht erkennet und es an sich selbst rächet;
wenn diese schmeichelnde Ideen das schöne Geschlecht nicht bestechen,
durch was ließe es sich denn bestechen?

Die Liebe selbst hat Voltairen die Zaïre diktiert: sagt ein Kunstrichter
artig genug. Richtiger hätte er gesagt: die Galanterie. Ich kenne nur
eine Tragödie, an der die Liebe selbst arbeiten helfen; und das ist
"Romeo und Juliet", vom Shakespeare. Es ist wahr, Voltaire läßt seine
verliebte Zaïre ihre Empfindungen sehr fein, sehr anständig ausdrücken;
aber was ist dieser Ausdruck gegen jenes lebendige Gemälde aller der
kleinsten geheimsten Ränke, durch die sich die Liebe in unsere Seele
einschleicht, aller der unmerklichen Vorteile, die sie darin gewinnet,
aller der Kunstgriffe, mit denen sie jede andere Leidenschaft unter sich
bringt, bis sie der einzige Tyrann aller unserer Begierden und
Verabscheuungen wird? Voltaire verstehet, wenn ich so sagen darf, den
Kanzeleistil der Liebe vortrefflich; das ist, diejenige Sprache,
denjenigen Ton der Sprache, den die Liebe braucht, wenn sie sich auf das
behutsamste und gemessenste ausdrücken will, wenn sie nichts sagen will,
als was sie bei der spröden Sophistin und bei dem kalten Kunstrichter
verantworten kann. Aber der beste Kanzeliste weiß von den Geheimnissen
der Regierung nicht immer das meiste; oder hat gleichwohl Voltaire in das
Wesen der Liebe eben die tiefe Einsicht, die Shakespeare gehabt, so hat
er sie wenigstens hier nicht zeigen wollen, und das Gedicht ist weit
unter dem Dichter geblieben.

Von der Eifersucht läßt sich ohngefähr eben das sagen. Der eifersüchtige
Orosman spielt gegen den eifersüchtigen Othello des Shakespeare eine sehr
kahle Figur. Und doch ist Othello offenbar das Vorbild des Orosman
gewesen. Cibber sagt,[1] Voltaire habe sich des Brandes bemächtiget, der
den tragischen Scheiterhaufen des Shakespeare in Glut gesetzt. Ich hätte
gesagt: eines Brandes aus diesem flammenden Scheiterhaufen; und noch dazu
eines, der mehr dampft, als leuchtet und wärmet. Wir hören in dem Orosman
einen Eifersüchtigen reden, wir sehen ihn die rasche Tat eines
Eifersüchtigen begehen; aber von der Eifersucht selbst lernen wir nicht
mehr und nicht weniger, als wir vorher wußten. Othello hingegen ist das
vollständigste Lehrbuch über diese traurige Raserei; da können wir alles
lernen, was sie angeht, sie erwecken und sie vermeiden.

Aber ist es denn immer Shakespeare, werden einige meiner Leser fragen,
immer Shakespeare, der alles besser verstanden hat als die Franzosen? Das
ärgert uns; wir können ihn ja nicht lesen.--Ich ergreife diese
Gelegenheit, das Publikum an etwas zu erinnern, das es vorsätzlich
vergessen zu wollen scheinet. Wir haben eine Übersetzung von Shakespeare.
Sie ist noch kaum fertig geworden, und niemand bekümmert sich schon mehr
darum. Die Kunstrichter haben viel Böses davon gesagt. Ich hätte große
Lust, sehr viel Gutes davon zu sagen. Nicht, um diesen gelehrten Männern
zu widersprechen; nicht, um die Fehler zu verteidigen, die sie darin
bemerkt haben: sondern weil ich glaube, daß man von diesen Fehlern kein
solches Aufheben hätte machen sollen. Das Unternehmen war schwer; ein
jeder anderer, als Herr Wieland, würde in der Eil' noch öftrer verstoßen
und aus Unwissenheit oder Bequemlichkeit noch mehr überhüpft haben; aber
was er gut gemacht hat, wird schwerlich jemand besser machen. So wie er
uns den Shakespeare geliefert hat, ist es noch immer ein Buch, das man
unter uns nicht genug empfehlen kann. Wir haben an den Schönheiten, die
es uns liefert, noch lange zu lernen, ehe uns die Flecken, mit welchen es
sie liefert, so beleidigen, daß wir notwendig eine bessere Übersetzung
haben müßten.

Doch wieder zur "Zaïre". Der Verfasser brachte sie im Jahre 1733 auf die
Pariser Bühne; und drei Jahr darauf ward sie ins Englische übersetzt, und
auch in London auf dem Theater in Drury-Lane gespielt. Der Übersetzer war
Aaron Hill, selbst ein dramatischer Dichter, nicht von der schlechtesten
Gattung. Voltaire fand sich sehr dadurch geschmeichelt, und was er, in
dem ihm eigenen Tone der stolzen Bescheidenheit, in der Zuschrift seines
Stücks an den Engländer Falkener, davon sagt, verdient gelesen zu werden.
Nur muß man nicht alles für vollkommen so wahr annehmen, als er es
ausgibt. Wehe dem, der Voltairens Schriften überhaupt nicht mit dem
skeptischen Geiste lieset, in welchem er einen Teil derselben
geschrieben hat!

Er sagt z.E. zu seinem englischen Freunde: "Eure Dichter hatten eine
Gewohnheit, der sich selbst Addison[2] unterworfen; denn Gewohnheit ist
so mächtig als Vernunft und Gesetz. Diese gar nicht vernünftige
Gewohnheit bestand darin, daß jeder Akt mit Versen beschlossen werden
mußte, die in einem ganz andern Geschmacke waren, als das Übrige des
Stücks; und notwendig mußten diese Verse eine Vergleichung enthalten.
Phädra, indem sie abgeht, vergleicht sich sehr poetisch mit einem Rehe,
Cato mit einem Felsen, und Kleopatra mit Kindern, die so lange weinen,
bis sie einschlafen. Der Übersetzer der "Zaïre" ist der erste, der es
gewagt hat, die Rechte der Natur gegen einen von ihr so entfernten
Geschmack zu behaupten. Er hat diesen Gebrauch abgeschafft; er hat es
empfunden, daß die Leidenschaft ihre wahre Sprache führen und der Poet
sich überall verbergen müsse, um uns nur den Helden erkennen zu lassen."

Es sind nicht mehr als nur drei Unwahrheiten in dieser Stelle; und das
ist für den Hrn. von Voltaire eben nicht viel. Wahr ist es, daß die
Engländer, vom Shakespeare an, und vielleicht auch von noch länger her,
die Gewohnheit gehabt, ihre Aufzüge in ungereimten Versen mit ein paar
gereimten Zeilen zu enden. Aber daß diese gereimten Zeilen nichts als
Vergleichungen enthielten, daß sie notwendig Vergleichungen enthalten
müssen, das ist grundfalsch; und ich begreife gar nicht, wie der Herr von
Voltaire einem Engländer, von dem er doch glauben konnte, daß er die
tragischen Dichter seines Volkes auch gelesen habe, so etwas unter die
Nase sagen können. Zweitens ist es nicht an dem, daß Hill in seiner
Übersetzung der "Zaïre" von dieser Gewohnheit abgegangen. Es ist zwar
beinahe nicht glaublich, daß der Hr. von Voltaire die Übersetzung seines
Stücks nicht genauer sollte angesehen haben, als ich oder ein anderer.
Gleichwohl muß es so sein. Denn so gewiß sie in reimfreien Versen ist, so
gewiß schließt sich auch jeder Akt mit zwei oder vier gereimten Zellen.
Vergleichungen enthalten sie freilich nicht; aber, wie gesagt, unter
allen dergleichen gereimten Zeilen, mit welchen Shakespeare und Jonson
und Dryden und Lee und Otway und Rowe, und wie sie alle heißen, ihre
Aufzüge schließen, sind sicherlich hundert gegen fünfe, die gleichfalls
keine enthalten. Was hatte denn Hill also Besonders? Hätte er aber auch
wirklich das Besondere gehabt, das ihm Voltaire leihet: so wäre doch
drittens das nicht wahr, daß sein Beispiel von dem Einflusse gewesen, von
dem es Voltaire sein läßt. Noch bis diese Stunde erscheinen in England
ebensoviel, wo nicht noch mehr Trauerspiele, deren Akte sich mit
gereimten Zellen enden, als die es nicht tun. Hill selbst hat in keinem
einzigen Stücke, deren er doch verschiedene, noch nach der Übersetzung
der "Zaïre", gemacht, sich der alten Mode gänzlich entäußert. Und was ist
es denn nun, ob wir zuletzt Reime hören oder keine? Wenn sie da sind,
können sie vielleicht dem Orchester noch nutzen; als Zeichen nämlich,
nach den Instrumenten zu greifen, welches Zeichen auf diese Art weit
schicklicher aus dem Stücke selbst abgenommen würde, als daß es die
Pfeife oder der Schlüssel gibt.


----Fußnote

[1] From English Plays, Zara's French author fir'd,
    Confess'd his Muse, beyond herself, inspir'd,
    From rack'd Othello's rage, he rais'd his style
    And snatch'd the brand, that lights this tragic pile.

[2] Le plus sage de vos écrivains, setzt Voltaire hinzu. Wie wäre das
wohl recht zu übersetzen? Sage heißt: weise; aber der weiseste unter den
englischen Schriftstellern, wer würde den Addison dafür erkennen? Ich
besinne mich, daß die Franzosen auch ein Mädchen sage nennen, dem man
keinen Fehltritt, so keinen von den groben Fehltritten, vorzuwerfen hat.
Dieser Sinn dürfte vielleicht hier passen. Und nach diesem könnte man ja
wohl geradezu übersetzen: "Addison, derjenige von euern Schriftstellern,
der uns harmlosen, nüchternen Franzosen am nächsten kömmt."

----Fußnote



Sechzehntes Stück
Den 23. Junius 1767

Die englischen Schauspieler waren zu Hills Zeiten ein wenig sehr
unnatürlich; besonders war ihr tragisches Spiel äußerst wild und
übertrieben; wo sie heftige Leidenschaften auszudrücken hatten, schrien
und gebärdeten sie sich als Besessene; und das übrige tönten sie in einer
steifen, strotzenden Feierlichkeit daher, die in jeder Silbe den
Komödianten verriet. Als er daher seine Übersetzung der "Zaïre" aufführen
zu lassen bedacht war, vertraute er die Rolle der Zaïre einem jungen
Frauenzimmer, das noch nie in der Tragödie gespielt hatte. Er urteilte
so: dieses junge Frauenzimmer hat Gefühl und Stimme und Figur und
Anstand; sie hat den falschen Ton des Theaters noch nicht angenommen; sie
braucht keine Fehler erst zu verlernen; wenn sie sich nur ein paar
Stunden überreden kann, das wirklich zu sein, was sie vorstellet, so darf
sie nur reden, wie ihr der Mund gewachsen, und alles wird gut gehen. Es
ging auch; und die Theaterpedanten, welche gegen Hillen behaupteten, daß
nur eine sehr geübte, sehr erfahrene Person einer solchen Rolle Genüge
leisten könne, wurden beschämt. Diese junge Aktrice war die Frau des
Komödianten Theophilus Cibber, und der erste Versuch in ihrem achtzehnten
Jahre ward ein Meisterstück. Es ist merkwürdig, daß auch die französische
Schauspielerin, welche die Zaïre zuerst spielte, eine Anfängerin war. Die
junge reizende Mademoiselle Gaussin ward auf einmal dadurch berühmt, und
selbst Voltaire ward so entzückt über sie, daß er sein Alter recht
kläglich bedauerte.

Die Rolle des Orosman hatte ein Anverwandter des Hill übernommen, der
kein Komödiant von Profession, sondern ein Mann von Stande war. Er
spielte aus Liebhaberei und machte sich nicht das geringste Bedenken,
öffentlich aufzutreten, um ein Talent zu zeigen, das so schätzbar als
irgendein anders ist. In England sind dergleichen Exempel von angesehenen
Leuten, die zu ihrem bloßen Vergnügen einmal mitspielen, nicht selten.
"Alles was uns dabei befremden sollte", sagt der Hr. von Voltaire "ist
dieses, daß es uns befremdet. Wir sollten überlegen, daß alle Dinge in
der Welt von der Gewohnheit und Meinung abhangen. Der französische Hof
hat ehedem auf dem Theater mit den Opernspielern getanzt; und man hat
weiter nichts Besonders dabei gefunden, als daß diese Art von Lustbarkeit
aus der Mode gekommen. Was ist zwischen den beiden Künsten für ein
Unterschied, als daß die eine über die andere ebensoweit erhaben ist, als
es Talente, welche vorzügliche Seelenkräfte erfodern, über bloß
körperliche Fertigkeiten sind?"

Ins Italienische hat der Graf Gozzi die "Zaïre" übersetzt; sehr genau und
sehr zierlich; sie stehet in dem dritten Teile seiner Werke. In welcher
Sprache können zärtliche Klagen rührender klingen, als in dieser? Mit der
einzigen Freiheit, die sich Gozzi gegen das Ende des Stücks genommen,
wird man schwerlich zufrieden sein. Nachdem sich Orosman erstochen, läßt
ihn Voltaire nur noch ein paar Worte sagen, uns über das Schicksal des
Nerestan zu beruhigen. Aber was tut Gozzi? Der Italiener fand es ohne
Zweifel zu kalt, einen Türken so gelassen wegsterben zu lassen. Er legt
also dem Orosman noch eine Tirade in den Mund, voller Ausrufungen, voller
Winseln und Verzweiflung. Ich will sie der Seltenheit halber unter den
Text setzen.[1]

Es ist doch sonderbar, wie weit sich hier der deutsche Geschmack von dem
welschen entfernet! Dem Welschen ist Voltaire zu kurz; uns Deutschen ist
er zu lang. Kaum hat Orosman gesagt "verehret und gerochen"; kaum hat er
sich den tödlichen Stoß beigebracht, so lassen wir den Vorhang
niederfallen. Ist es denn aber auch wahr, daß der deutsche Geschmack
dieses so haben will? Wir machen dergleichen Verkürzung mit mehrern
Stücken: aber warum machen wir sie? Wollen wir denn im Ernst, daß sich
ein Trauerspiel wie ein Epigramm schließen soll? Immer mit der Spitze des
Dolchs, oder mit dem letzten Seufzer des Helden? Woher kömmt uns
gelassenen, ernsten Deutschen die flatternde Ungeduld, sobald die
Exekution vorbei, durchaus nun weiter nichts hören zu wollen, wenn es
auch noch so wenige, zur völligen Rundung des Stücks noch so
unentbehrliche Worte wären? Doch ich forsche vergebens nach der Ursache
einer Sache, die nicht ist. Wir hätten kalt Blut genug, den Dichter bis
ans Ende zu hören, wenn es uns der Schauspieler nur zutrauen wollte. Wir
würden recht gern die letzten Befehle des großmütigen Sultans vernehmen;
recht gern die Bewunderung und das Mitleid des Nerestan noch teilen: aber
wir sollen nicht. Und warum sollen wir nicht? Auf dieses warum weiß ich
kein darum. Sollten wohl die Orosmansspieler daran schuld sein? Es wäre
begreiflich genug, warum sie gern das letzte Wort haben wollten.
Erstochen und geklatscht! Man muß Künstlern kleine Eitelkeiten verzeihen.

Bei keiner Nation hat die "Zaïre" einen schärfern Kunstrichter gefunden,
als unter den Holländern. Friedrich Duim, vielleicht ein Anverwandter des
berühmten Akteurs dieses Namens auf dem Amsterdamer Theater, fand so viel
daran auszusetzen, daß er es für etwas Kleines hielt, eine bessere zu
machen. Er machte auch wirklich eine--andere[2], in der die Bekehrung
der Zaïre das Hauptwerk ist, und die sich damit endet, daß der Sultan
über seine Liebe sieget und die christliche Zaïre mit aller der Pracht in
ihr Vaterland schicket, die ihrer vorgehabten Erhöhung gemäß ist; der
alte Lusignan stirbt vor Freuden. Wer ist begierig, mehr davon zu wissen?
Der einzige unverzeihliche Fehler eines tragischen Dichters ist dieser,
daß er uns kalt läßt; er interessiere uns und mache mit den kleinen
mechanischen Regeln, was er will. Die Duime können wohl tadeln, aber den
Bogen des Ulysses müssen sie nicht selber spannen wollen. Dieses sage ich
darum, weil ich nicht gern zurück, von der mißlungenen Verbesserung auf
den Ungrund der Kritik geschlossen wissen möchte. Duims Tadel ist in
vielen Stücken ganz gegründet; besonders hat er die Unschicklichkeiten,
deren sich Voltaire in Ansehung des Orts schuldig macht, und das
Fehlerhafte in dem nicht genugsam motivierten Auftreten und Abgehen der
Personen, sehr wohl angemerkt. Auch ist ihm die Ungereimtheit der
sechsten Szene im dritten Akte nicht entgangen. "Orosman", sagt er,
"kömmt, Zaïren in die Moschee abzuholen; Zaïre weigert sich, ohne die
geringste Ursache von ihrer Weigerung anzuführen; sie geht ab, und
Orosman bleibt als ein Laffe (als eenen lafhartigen) stehen. Ist das wohl
seiner Würde gemäß? Reimet sich das wohl mit seinem Charakter? Warum
dringt er nicht in Zaïren, sich deutlicher zu erklären? Warum folgt er
ihr nicht in das Seraglio? Durfte er ihr nicht dahin folgen?"--Guter
Duim! wenn sich Zaïre deutlicher erkläret hätte: wo hätten denn die
andern Akte sollen herkommen? Wäre nicht die ganze Tragödie darüber in
die Pilze gegangen?--Ganz recht! auch die zweite Szene des dritten Akts
ist ebenso abgeschmackt: Orosman kömmt wieder zu Zaïren; Zaïre geht
abermals, ohne die geringste nähere Erklärung, ab, und Orosman, der gute
Schlucker (dien goeden hals), tröstet sich desfalls in einer Monologe.
Aber, wie gesagt, die Verwickelung oder Ungewißheit mußte doch bis zum
fünften Aufzuge hinhalten; und wenn die ganze Katastrophe an einem Haare
hängt, so hängen mehr wichtige Dinge in der Welt an keinem stärkern.

Die letzterwähnte Szene ist sonst diejenige, in welcher der Schauspieler,
der die Rolle des Orosman hat, seine feinste Kunst in alle dem
bescheidenen Glanze zeigen kann, in dem sie nur ein ebenso feiner Kenner
zu empfinden fähig ist. Er muß aus einer Gemütsbewegung in die andere
übergehen, und diesen Übergang durch das stumme Spiel so natürlich zu
machen wissen, daß der Zuschauer durchaus durch keinen Sprung, sondern
durch eine zwar schnelle, aber doch dabei merkliche Gradation mit
fortgerissen wird. Erst zeiget sich Orosman in aller seiner Großmut,
willig und geneigt, Zaïren zu vergeben, wann ihr Herz bereits eingenommen
sein sollte, falls sie nur aufrichtig genug ist, ihm länger kein
Geheimnis davon zu machen. Indem erwacht seine Leidenschaft aufs neue,
und er fodert die Aufopferung seines Nebenbuhlers. Er wird zärtlich
genug, sie unter dieser Bedingung aller seiner Huld zu versichern. Doch
da Zaïre auf ihrer Unschuld bestehet, wider die er so offenbar Beweise zu
haben glaubet, bemeistert sich seiner nach und nach der äußerste Unwille.
Und so geht er von dem Stolze zur Zärtlichkeit, und von der Zärtlichkeit
zur Erbitterung über. Alles was Rémond de Sainte-Albine in seinem
"Schauspieler"[3] hierbei beobachtet wissen will, leistet Herr Ekhof auf
eine so vollkommene Art, daß man glauben sollte, er allein könne das
Vorbild des Kunstrichters gewesen sein.


----Fußnote

[1]
    Questo mortale orror che per le vene
    Tutte mi scorre, omai non è dolore,
    Che basti ad appagarti, anima bella.
    Feroce cor, cor dispietato, e misero,
    Paga la pena del delitto orrendo.
    Mani crudeli--oh Dio--Mani, che siete
    Tinte del sangue di si cara donna.
    Voi--voi--dov'è quel ferro? Un' altra volta
    In mezzo al petto--Oimè, dov'è quel ferro?
    L'acuta punta--
    Tenebre, e notte
    Si fanno intorno--
    Perchè non posso--
    Non posso spargere
    Il sangue tutto?
    Sì, sì, lo spargo tutto, anima mia,
    Dove sei?--più non posso--oh Dio! non posso--
    Vorrei--vederti--io manco, io manco, oh Dio!

[2] "Zaire, bekeerde Turkinne". Treurspel. Amsterdam 1745.

[3] "Le Comédien", Partie II, chap. X. p. 209.

----Fußnote



Siebzehntes Stück
Den 26. Junius 1767

Den siebzehnten Abend (donnerstags, den 14. Mai) ward der "Sidney", vom
Gresset, aufgeführet.

Dieses Stück kam im Jahre 1745 zuerst aufs Theater. Ein Lustspiel wider
den Selbstmord konnte in Paris kein großes Glück machen. Die Franzosen
sagten: es wäre ein Stück für London. Ich weiß auch nicht; denn die
Engländer dürften vielleicht den Sidney ein wenig unenglisch finden; er
geht nicht rasch genug zu Werke; er philosophiert, ehe er die Tat begeht,
zu viel, und nachdem er sie begangen zu haben glaubt, zu wenig; seine
Reue könnte schimpflicher Kleinmut scheinen; ja, sich von einem
französischen Bedienten so angeführt zu sehen, möchte von manchen für
eine Beschämung gehalten werden, die des Hängens allein würdig wäre.

Doch so wie das Stück ist, scheinet es für uns Deutsche recht gut zu
sein. Wir mögen eine Raserei gern mit ein wenig Philosophie bemänteln und
finden es unserer Ehre eben nicht nachteilig, wenn man uns von einem
dummen Streiche zurückhält und das Geständnis, falsch philosophiert zu
haben, uns abgewinnet. Wir werden daher dem Dumont, ob er gleich ein
französischer Prahler ist, so herzlich gut, daß uns die Etikette, welche
der Dichter mit ihm beobachtet, beleidiget. Denn indem es Sidney nun
erfährt, daß er durch die Vorsicht desselben dem Tode nicht näher ist,
als der gesundesten einer, so läßt ihn Gresset ausrufen: "Kaum kann ich
es glauben--Rosalla!--Hamilton!--und du, dessen glücklicher Eifer usw."
Warum diese Rangordnung? Ist es erlaubt, die Dankbarkeit der Politesse
aufzuopfern? Der Bediente hat ihn gerettet; dem Bedienten gehört das
erste Wort, der erste Ausdruck der Freude, so Bedienter, so weit unter
seinem Herrn und seines Herrn Freunden er auch immer ist. Wenn ich
Schauspieler wäre, hier würde ich es kühnlich wagen, zu tun, was der
Dichter hätte tun sollen. Wenn ich schon, wider seine Vorschrift, nicht
das erste Wort an meinen Erretter richten dürfte, so würde ich ihm
wenigstens den ersten gerührten Blick zuschicken, mit der ersten
dankbaren Umarmung auf ihn zueilen; und dann würde ich mich gegen
Rosalien und gegen Hamilton wenden, und wieder auf ihn zurückkommen.
Es sei uns immer angelegener, Menschlichkeit zu zeigen, als Lebensart!

Herr Ekhof spielt den Sidney so vortrefflich--Es ist ohnstreitig eine von
seinen stärksten Rollen. Man kann die enthusiastische Melancholie, das
Gefühl der Fühllosigkeit, wenn ich so sagen darf, worin die ganze
Gemütsverfassung des Sidney bestehet, schwerlich mit mehr Kunst, mit
größerer Wahrheit ausdrücken. Welcher Reichtum von malenden Gesten, durch
die er allgemeinen Betrachtungen gleichsam Figur und Körper gibt, und
seine innersten Empfindungen in sichtbare Gegenstände verwandelt. Welcher
fortreißende Ton der Überzeugung!--

Den Beschluß machte diesen Abend ein Stück in einem Aufzuge, nach dem
Französischen des l'Affichard, unter dem Titel: "Ist er von Familie?" Man
errät gleich, daß ein Narr oder eine Närrin darin vorkommen muß, der es
hauptsächlich um den alten Adel zu tun ist. Ein junger wohlerzogener
Mensch, aber von zweifelhaftem Herkommen, bewirbt sich um die
Stieftochter eines Marquis. Die Einwilligung der Mutter hängt von der
Aufklärung dieses Punkts ab. Der junge Mensch hielt sich nur für den
Pflegesohn eines gewissen bürgerlichen Lisanders, aber es findet sich,
daß Lisander sein wahrer Vater ist. Nun wäre weiter an die Heirat nicht
zu denken, wenn nicht Lisander selbst sich nur durch Unfälle zu dem
bürgerlichen Stande herablassen müssen. In der Tat ist er von ebenso
guter Geburt, als der Marquis; er ist des Marquis Sohn, den jugendliche
Ausschweifungen aus dem väterlichen Hause vertrieben. Nun will er seinen
Sohn brauchen, um sich mit seinem Vater auszusöhnen. Die Aussöhnung
gelingt und macht das Stück gegen das Ende sehr rührend. Da also der
Hauptton desselben rührender, als komisch ist: sollte uns nicht auch der
Titel mehr jenes als dieses erwarten lassen? Der Titel ist eine wahre
Kleinigkeit; aber dasmal hätte ich ihn von dem einzigen lächerlichen
Charakter nicht hergenommen; er braucht den Inhalt weder anzuzeigen, noch
zu erschöpfen; aber er sollte doch auch nicht irreführen. Und dieser tut
es ein wenig. Was ist leichter zu ändern, als ein Titel? Die übrigen
Abweichungen des deutschen Verfassers von dem Originale gereichen mehr
zum Vorteile des Stücks und geben ihm das einheimische Ansehen, das fast
allen von dem französischen Theater entlehnten Stücken mangelt.

Den achtzehnten Abend (freitags, den 15. Mai) ward "Das Gespenst mit der
Trommel" gespielt.

Dieses Stück schreibt sich eigentlich aus dem Englischen des Addison her.
Addison hat nur eine Tragödie und nur eine Komödie gemacht. Die
dramatische Poesie überhaupt war sein Fach nicht. Aber ein guter Kopf
weiß sich überall aus dem Handel zu ziehen; und so haben seine beiden
Stücke, wenn schon nicht die höchsten Schönheiten ihrer Gattung,
wenigstens andere, die sie noch immer zu sehr schätzbaren Werken machen.
Er suchte sich mit dem einen sowohl als mit dem andern der französischen
Regelmäßigkeit mehr zu nähern; aber noch zwanzig Addisons, und diese
Regelmäßigkeit wird doch nie nach dem Geschmacke der Engländer werden.
Begnüge sich damit, wer keine höhere Schönheiten kennet!

Destouches, der in England persönlichen Umgang mit Addison gehabt hatte,
zog das Lustspiel desselben über einen noch französischern Leisten. Wir
spielen es nach seiner Umarbeitung; in der wirklich vieles feiner und
natürlicher, aber auch manches kalter und kraftloser geworden. Wenn ich
mich indes nicht irre, so hat Madame Gottsched, von der sich die deutsche
Übersetzung herschreibt, das englische Original mit zur Hand genommen und
manchen guten Einfall wieder daraus hergestellet.

Den neunzehnten Abend (montags, den 18. Mai) ward "Der verheiratete
Philosoph", vom Destouches, wiederholt.

Des Regnard "Demokrit" war dasjenige Stück, welches den zwanzigsten Abend
(dienstags, den 19. Mai) gespielet wurde.

Dieses Lustspiel wimmelt von Fehlern und Ungereimtheiten, und doch
gefällt es. Der Kenner lacht dabei so herzlich, als der Unwissendste aus
dem Pöbel. Was folgt hieraus? Daß die Schönheiten, die es hat, wahre
allgemeine Schönheiten sein müssen, und die Fehler vielleicht nur
willkürliche Regeln betreffen, über die man sich leichter hinaussetzen
kann, als es die Kunstrichter Wort haben wollen. Er hat keine Einheit des
Orts beobachtet: mag er doch. Er hat alles Übliche aus den Augen gesetzt:
immerhin. Sein Demokrit sieht dem wahren Demokrit in keinem Stücke
ähnlich; sein Athen ist ein ganz anders Athen, als wir kennen: nun wohl,
so streiche man Demokrit und Athen aus und setze bloß erdichtete Namen
dafür. Regnard hat es gewiß so gut als ein anderer gewußt, daß um Athen
keine Wüste und keine Tiger und Bäre waren; daß es, zu der Zeit des
Demokrits, keinen König hatte usw. Aber er hat das alles itzt nicht
wissen wollen; seine Absicht war, die Sitten seines Landes unter fremden
Namen zu schildern. Diese Schilderung ist das Hauptwerk des komischen
Dichters, und nicht die historische Wahrheit.

Andere Fehler möchten schwerer zu entschuldigen sein; der Mangel des
Interesse, die kahle Verwickelung, die Menge müßiger Personen, das
abgeschmackte Geschwätz des Demokrits, nicht deswegen nur abgeschmackt,
weil es der Idee widerspricht, die wir von dem Demokrit haben, sondern
weil es Unsinn in jedes andern Munde sein würde, der Dichter möchte ihn
genannt haben, wie er wolle. Aber was übersieht man nicht bei der guten
Laune, in die uns Strabo und Thaler setzen? Der Charakter des Strabo ist
gleichwohl schwer zu bestimmen; man weiß nicht, was man aus ihm machen
soll; er ändert seinen Ton gegen jeden, mit dem er spricht; bald ist er
ein feiner witziger Spötter, bald ein plumper Spaßmacher, bald ein
zärtlicher Schulfuchs, bald ein unverschämter Stutzer. Seine Erkennung
mit der Kleanthis ist ungemein komisch, aber unnatürlich. Die Art, mit
der Mademoiselle Beauval und La Thorillière diese Szenen zuerst spielten,
hat sich von einem Akteur zum andern, von einer Aktrice zur andern
fortgepflanzt. Es sind die unanständigsten Grimassen, aber da sie durch
die Überlieferung bei Franzosen und Deutschen geheiliget sind, so kömmt
es niemanden ein, etwas daran zu ändern, und ich will mich wohl hüten, zu
sagen, daß man sie eigentlich kaum in dem niedrigsten Possenspiele dulden
sollte. Der beste, drolligste und ausgeführteste Charakter ist der
Charakter des Thalers; ein wahrer Bauer, schalkisch und geradezu; voller
boshafter Schnurren; und der, von der poetischen Seite betrachtet, nichts
weniger als episodisch, sondern zur Auflösung des Knoten ebenso
schicklich als unentbehrlich ist.[1]


----Fußnote

[1] "Histoire du Théâtre Français", T. XIV. p. 164.

----Fußnote



Achtzehntes Stück
Den 30. Junius 1767

Den einundzwanzigsten Abend (mittewochs, den 20. Mai) wurde das Lustspiel
des Marivaux "Die falschen Vertraulichkeiten" aufgeführt.

Marivaux hat fast ein ganzes halbes Jahrhundert für die Theater in Paris
gearbeitet; sein erstes Stück ist vom Jahre 1712, und sein Tod erfolgte
1763, in einem Alter von zweiundsiebzig. Die Zahl seiner Lustspiele
beläuft sich auf einige dreißig, wovon mehr als zwei Dritteile den
Harlekin haben, weil er sie für die italienische Bühne verfertigte. Unter
diese gehören auch "Die falschen Vertraulichkeiten", die 1736 zuerst,
ohne besonderen Beifall, gespielet, zwei Jahre darauf aber wieder
hervorgesucht wurden, und desto größern erhielten.

Seine Stücke, so reich sie auch an mannigfaltigen Charakteren und
Verwicklungen sind, sehen sich einander dennoch sehr ähnlich. In allen
der nämliche schimmernde und öfters allzu gesuchte Witz; in allen die
nämliche metaphysische Zergliederung der Leidenschaften; in allen die
nämliche blumenreiche, neologische Sprache. Seine Plane sind nur von
einem sehr geringen Umfange; aber, als ein wahrer Kallipides seiner
Kunst, weiß er den engen Bezirk derselben mit einer Menge so kleiner und
doch so merklich abgesetzter Schritte zu durchlaufen, daß wir am Ende
einen noch so weiten Weg mit ihm zurückgelegt zu haben glauben.

Seitdem die Neuberin, sub auspiciis Sr. Magnifizenz des Herrn Prof.
Gottscheds, den Harlekin öffentlich von ihrem Theater verbannte, haben
alle deutsche Bühnen, denen daran gelegen war, regelmäßig zu heißen,
dieser Verbannung beizutreten geschienen. Ich sage, geschienen; denn im
Grunde hatten sie nur das bunte Jäckchen und den Namen abgeschafft, aber
den Narren behalten. Die Neuberin selbst spielte eine Menge Stücke,
in welchen Harlekin die Hauptperson war. Aber Harlekin hieß bei ihr
Hänschen, und war ganz weiß, anstatt scheckicht gekleidet. Wahrlich,
ein großer Triumph für den guten Geschmack!

Auch "Die falschen Vertraulichkeiten" haben einen Harlekin, der in der
deutschen Übersetzung zu einem Peter geworden. Die Neuberin ist tot,
Gottsched ist auch tot: ich dächte, wir zögen ihm das Jäckchen wieder
an.--Im Ernste; wenn er unter fremdem Namen zu dulden ist, warum nicht
auch unter seinem? "Er ist ein ausländisches Geschöpf", sagt man. Was tut
das? Ich wollte, daß alle Narren unter uns Ausländer wären! "Er trägt
sich, wie sich kein Mensch unter uns trägt":--so braucht er nicht erst
lange zu sagen, wer er ist. "Es ist widersinnig, das nämliche Individuum
alle Tage in einem andern Stücke erscheinen zu sehen." Man muß ihn als
kein Individuum, sondern als eine ganze Gattung betrachten; es ist nicht
Harlekin, der heute im "Timon", morgen im "Falken", übermorgen in den
"Falschen Vertraulichkeiten", wie ein wahrer Hans in allen Gassen,
vorkömmt; sondern es sind Harlekine; die Gattung leidet tausend
Varietäten; der im "Timon" ist nicht der im "Falken"; jener lebte in
Griechenland, dieser in Frankreich; nur weil ihr Charakter einerlei
Hauptzüge hat, hat man ihnen einerlei Namen gelassen. Warum wollen wir
ekler, in unsere Vergnügungen wähliger und gegen kahle Vernünfteleien
nachgebender sein, als--ich will nicht sagen, die Franzosen und Italiener
sind--sondern, als selbst die Römer und Griechen waren? War ihr Parasit
etwas anders, als der Harlekin? Hatte er nicht auch seine eigene,
besondere Tracht, in der er in einem Stücke über dem andern vorkam?
Hatten die Griechen nicht ein eigenes Drama, in das jederzeit Satyri
eingeflochten werden mußten, sie mochten sich nun in die Geschichte des
Stücks schicken oder nicht?

Harlekin hat, vor einigen Jahren, seine Sache vor dem Richterstuhle der
wahren Kritik, mit ebenso vieler Laune als Gründlichkeit, verteidiget.
Ich empfehle die Abhandlung des Herrn Möser über das Groteske-Komische
allen meinen Lesern, die sie noch nicht kennen; die sie kennen, deren
Stimme habe ich schon. Es wird darin beiläufig von einem gewissen
Schriftsteller gesagt, daß er Einsicht genug besitze, dermaleins der
Lobredner des Harlekins zu werden. Itzt ist er es geworden! wird man
denken. Aber nein; er ist es immer gewesen. Den Einwurf, den ihm Herr
Möser wider den Harlekin in den Mund legt, kann er sich nie gemacht, ja
nicht einmal gedacht zu haben erinnern.

Außer dem Harlekin kömmt in den "Falschen Vertraulichkeiten" noch ein
anderer Bedienter vor, der die ganze Intrige führet. Beide wurden sehr
wohl gespielt; und unser Theater hat überhaupt an den Herren Hensel und
Merschy ein paar Akteurs, die man zu den Bedientenrollen kaum besser
verlangen kann.

Den zweiundzwanzigsten Abend (donnerstags, den 21. Mai) ward die
"Zelmire" des Herrn Du Belloy aufgeführet.

Der Name Du Belloy kann niemanden unbekannt sein, der in der neuern
französischen Literatur nicht ganz ein Fremdling ist. Des Verfassers der
"Belagerung von Calais"! Wenn es dieses Stück nicht verdiente, daß die
Franzosen ein solches Lärmen damit machten, so gereicht doch dieses
Lärmen selbst den Franzosen zur Ehre. Es zeigt sie als ein Volk, das auf
seinen Ruhm eifersüchtig ist; auf das die großen Taten seiner Vorfahren
den Eindruck nicht verloren haben; das, von dem Werte eines Dichters und
von dem Einflusse des Theaters auf Tugend und Sitten überzeugt, jenen
nicht zu seinen unnützen Gliedern rechnet, dieses nicht zu den
Gegenständen zählet, um die sich nur geschäftige Müßiggänger bekümmern.
Wie weit sind wir Deutsche in diesem Stücke noch hinter den Franzosen! Es
gerade herauszusagen: wir sind gegen sie noch die wahren Barbaren!
Barbarischer, als unsere barbarischsten Voreltern, denen ein Liedersänger
ein sehr schätzbarer Mann war, und die, bei aller ihrer Gleichgültigkeit
gegen Künste und Wissenschaften, die Frage, ob ein Barde, oder einer, der
mit Bärfellen und Bernstein handelt, der nützlichere Bürger wäre?
sicherlich für die Frage eines Narren gehalten hätten!--Ich mag mich in
Deutschland umsehen, wo ich will, die Stadt soll noch gebauet werden, von
der sich erwarten ließe, daß sie nur den tausendsten Teil der Achtung und
Erkenntlichkeit gegen einen deutschen Dichter haben würde, die Calais
gegen den Du Belloy gehabt hat. Man erkenne es immer für französische
Eitelkeit: wie weit haben wir noch hin, ehe wir zu so einer Eitelkeit
fähig sein werden! Was Wunder auch? Unsere Gelehrte selbst sind klein
genug, die Nation in der Geringschätzung alles dessen zu bestärken, was
nicht geradezu den Beutel füllet. Man spreche von einem Werke des Genies,
von welchem man will; man rede von der Aufmunterung der Künstler; man
äußere den Wunsch, daß eine reiche blühende Stadt der anständigsten
Erholung für Männer, die in ihren Geschäften des Tages Last und Hitze
getragen, und der nützlichsten Zeitverkürzung für andere, die gar keine
Geschäfte haben wollen, (das wird doch wenigstens das Theater sein?)
durch ihre bloße Teilnehmung aufhelfen möge:--und sehe und höre um sich.
"Dem Himmel sei Dank", ruft nicht bloß der Wucherer Albinus, "daß unsere
Bürger wichtigere Dinge zu tun haben!"

------Eu!
Rem poteris servare tuam!--

Wichtigere? Einträglichere; das gebe ich zu! Einträglich ist freilich
unter uns nichts, was im geringsten mit den freien Künsten in Verbindung
stehet. Aber,

--haec animos aerugo er cura peculî
Cum semel imbuerit--

Doch ist vergesse mich. Wie gehört das alles zur "Zelmire"?

Du Belloy war ein junger Mensch, der sich auf die Rechte legen wollte
oder sollte. Sollte, wird es wohl mehr gewesen sein. Denn die Liebe zum
Theater behielt die Oberhand; er legte den Bartolus beiseite und ward
Komödiant. Er spielte einige Zeit unter der französischen Truppe zu
Braunschweig, machte verschiedene Stücke, kam wieder in sein Vaterland
und ward geschwind durch ein paar Trauerspiele so glücklich und berühmt,
als ihn nur immer die Rechtsgelehrsamkeit hätte machen können, wenn er
auch ein Beaumont geworden wäre. Wehe dem jungen deutschen Genie, das
diesen Weg einschlagen wollte! Verachtung und Bettelei würden sein
gewissestes Los sein!

Das erste Trauerspiel des Du Belloy heißt "Titus"; und "Zelmire" war sein
zweites. "Titus" fand keinen Beifall, und ward nur ein einziges Mal
gespielt. Aber "Zelmire" fand desto größern; es ward vierzehnmal
hintereinander aufgeführt, und die Pariser hatten sich noch nicht daran
satt gesehen. Der Inhalt ist von des Dichters eigener Erfindung.

Ein französischer Kunstrichter[1] nahm hiervon Gelegenheit, sich gegen
die Trauerspiele von dieser Gattung überhaupt zu erklären: "Uns wäre",
sagt er, "ein Stoff aus der Geschichte weit lieber gewesen. Die
Jahrbücher der Welt sind an berüchtigten Verbrechen ja so reich; und die
Tragödie ist ja ausdrücklich dazu, daß sie uns die großen Handlungen
wirklicher Helden zur Bewunderung und Nachahmung vorstellen soll. Indem
sie so den Tribut bezahlt, den die Nachwelt ihrer Asche schuldig ist,
befeuert sie zugleich die Herzen der Itztlebenden mit der edlen Begierde,
ihnen gleich zu werden. Man wende nicht ein, daß 'Zaïre', 'Alzire',
'Mahomet' doch auch nur Geburten der Erdichtung wären. Die Namen der
beiden ersten sind erdichtet, aber der Grund der Begebenheiten ist
historisch. Es hat wirklich Kreuzzüge gegeben, in welchen sich Christen
und Türken zur Ehre Gottes, ihres gemeinschaftlichen Vaters, haßten und
würgten. Bei der Eroberung von Mexiko haben sich notwendig die
glücklichen und erhabenen Kontraste zwischen den europäischen und
amerikanischen Sitten, zwischen der Schwärmerei und der wahren Religion
äußern müssen. Und was den 'Mahomet' anbelangt, so ist er der Auszug, die
Quintessenz, so zu reden, aus dem ganzen Leben dieses Betrügers; der
Fanatismus, in Handlung gezeigt; das schönste philosophische Gemälde, das
jemals von diesem gefährlichen Ungeheuer gemacht worden."


----Fußnote

[1] "Journal Encyclopédique", Juillet 1762.

----Fußnote



Neunzehntes Stück
Den 3. Julius 1767

Es ist einem jeden vergönnt, seinen eigenen Geschmack zu haben; und es
ist rühmlich, sich von seinem eigenen Geschmacke Rechenschaft zu geben
suchen. Aber den Gründen, durch die man ihn rechtfertigen will, eine
Allgemeinheit erteilen, die, wenn es seine Richtigkeit damit hätte, ihn
zu dem einzigen wahren Geschmacke machen müßte, heißt aus den Grenzen des
forschenden Liebhabers herausgehen und sich zu einem eigensinnigen
Gesetzgeber aufwerfen. Der angeführte französische Schriftsteller fängt
mit einem bescheidenen "Uns wäre lieber gewesen" an und geht zu so
allgemein verbindenden Aussprüchen fort, daß man glauben sollte, dieses
Uns sei aus dem Munde der Kritik selbst gekommen. Der wahre Kunstrichter
folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack
nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfodert.

Nun hat es Aristoteles längst entschieden, wie weit sich der tragische
Dichter um die historische Wahrheit zu bekümmern habe; nicht weiter, als
sie einer wohleingerichteten Fabel ähnlich ist, mit der er seine
Absichten verbinden kann. Er braucht eine Geschichte nicht darum, weil
sie geschehen ist, sondern darum, weil sie so geschehen ist, daß er sie
schwerlich zu seinem gegenwärtigen Zwecke besser erdichten könnte. Findet
er diese Schicklichkeit von ohngefähr an einem wahren Falle, so ist ihm
der wahre Fall willkommen; aber die Geschichtbücher erst lange darum
nachzuschlagen, lohnt der Mühe nicht. Und wie viele wissen denn, was
geschehen ist? Wenn wir die Möglichkeit, daß etwas geschehen kann, nur
daher abnehmen wollen, weil es geschehen ist: was hindert uns, eine
gänzlich erdichtete Fabel für eine wirklich geschehene Historie zu
halten, von der wir nie etwas gehört haben? Was ist das erste, was
uns eine Historie glaubwürdig macht? Ist es nicht ihre innere
Wahrscheinlichkeit? Und ist es nicht einerlei, ob diese Wahrscheinlichkeit
von gar keinen Zeugnissen und Überlieferungen bestätiget wird, oder von
solchen, die zu unserer Wissenschaft noch nie gelangt sind? Es wird ohne
Grund angenommen, daß es eine Bestimmung des Theaters mit sei, das
Andenken großer Männer zu erhalten; dafür ist die Geschichte, aber nicht
das Theater. Auf dem Theater sollen wir nicht lernen, was dieser oder
jener einzelne Mensch getan hat, sondern was ein jeder Mensch von einem
gewissen Charakter unter gewissen gegebenen Umständen tun werde. Die
Absicht der Tragödie ist weit philosophischer, als die Absicht der
Geschichte; und es heißt sie von ihrer wahren Würde herabsetzen, wenn man
sie zu einem bloßen Panegyrikus berühmter Männer macht, oder sie gar den
Nationa1stolz zu nähren mißbraucht.

Die zweite Erinnerung des nämlichen französischen Kunstrichters gegen die
"Zelmire" des Du Belloy ist wichtiger. Er tadelt, daß sie fast nichts als
ein Gewebe mannigfaltiger wunderbarer Zufälle sei, die in den engen Raum
von vierundzwanzig Stunden zusammengepreßt, aller Illusion unfähig
würden. Eine seltsam ausgesparte Situation über die andere! ein
Theaterstreich über den andern! Was geschieht nicht alles! was hat man
nicht alles zu behalten! Wo sich die Begebenheiten so drängen, können
schwerlich alle vorbereitet genug sein. Wo uns so vieles überrascht, wird
uns leicht manches mehr befremden, als überraschen. "Warum muß sich z.E.
der Tyrann dem Rhamnes entdecken? Was zwingt den Antenor, ihm seine
Verbrechen zu offenbaren? Fällt Ilus nicht gleichsam vom Himmel? Ist die
Gemütsänderung des Rhamnes nicht viel zu schleunig? Bis auf den
Augenblick, da er den Antenor ersticht, nimmt er an den Verbrechen seines
Herrn auf die entschlossenste Weise teil; und wenn er einmal Reue zu
empfinden geschienen, so hatte er sie doch sogleich wieder unterdrückt.
Welch geringfügige Ursachen gibt hiernächst der Dichter nicht manchmal
den wichtigsten Dingen! So muß Polydor, wenn er aus der Schlacht kömmt
und sich wiederum in dem Grabmale verbergen will, der Zelmire den Rücken
zukehren, und der Dichter muß uns sorgfältig diesen kleinen Umstand
einschärfen. Denn wenn Polydor anders ginge, wenn er der Prinzessin das
Gesicht, anstatt den Rücken zuwendete: so würde sie ihn erkennen, und die
folgende Szene, wo diese zärtliche Tochter unwissend ihren Vater seinen
Henkern überliefert, diese so vorstechende, auf alle Zuschauer so großen
Eindruck machende Szene fiele weg. Wäre es gleichwohl nicht weit
natürlicher gewesen, wenn Polydor, indem er wieder in das Grabmal
flüchtet, die Zelmire bemerkt, ihr ein Wort zugerufen oder auch nur einen
Wink gegeben hätte? Freilich wäre es so natürlicher gewesen, als daß die
ganzen letzten Akte sich nunmehr auf die Art, wie Polydor geht, ob er
seinen Rücken dahin oder dorthin kehret, gründen müssen. Mit dem Billett
des Azor hat es die nämliche Bewandtnis: brachte es der Soldat im zweiten
Akte gleich mit, so wie er es hätte mitbringen sollen, so war der Tyrann
entlarvet, und das Stück hatte ein Ende."

Die Übersetzung der "Zelmire" ist nur in Prosa. Aber wer wird nicht
lieber eine körnichte, wohlklingende Prosa hören wollen, als matte,
geradebrechte Verse? Unter allen unsern gereimten Übersetzungen werden
kaum ein halbes Dutzend sein, die erträglich sind. Und daß man mich ja
nicht bei dem Worte nehme, sie zu nennen! Ich würde eher wissen, wo ich
aufhören, als wo ich anfangen sollte. Die beste ist an vielen Stellen
dunkel und zweideutig; der Franzose war schon nicht der größte
Versifikateur, sondern stümperte und flickte; der Deutsche war es noch
weniger, und indem er sich bemühte, die glücklichen und unglücklichen
Zeilen seines Originals gleich treu zu übersetzen, so ist es natürlich,
daß öfters, was dort nur Lückenbüßerei oder Tautologie war, hier zu
förmlichem Unsinne werden mußte. Der Ausdruck ist dabei meistens so
niedrig und die Konstruktion so verworfen, daß der Schauspieler allen
seinen Adel nötig hat, jenem aufzuhelfen, und allen seinen Verstand
brauchet, diese nur nicht verfehlen zu lassen. Ihm die Deklamation zu
erleichtern, daran ist vollends gar nicht gedacht worden!

Aber verlohnt es denn auch der Mühe, auf französische Verse so viel Fleiß
zu wenden, bis in unserer Sprache ebenso wäßrig korrekte, ebenso
grammatikalisch kalte Verse daraus werden? Wenn wir hingegen den ganzen
poetischen Schmuck der Franzosen in unsere Prosa übertragen, so wird
unsere Prosa dadurch eben noch nicht sehr poetisch werden. Es wird der
Zwitterton noch lange nicht daraus entstehen, der aus den prosaischen
Übersetzungen englischer Dichter entstanden ist, in welchen der Gebrauch
der kühnsten Tropen und Figuren, außer einer gebundenen kadensierten
Wortfügung, uns an Besoffene denken läßt, die ohne Musik tanzen. Der
Ausdruck wird sich höchstens über die alltägliche Sprache nicht weiter
erheben, als sich die theatralische Deklamation über den gewöhnlichen Ton
der gesellschaftlichen Unterhaltungen erheben soll. Und sonach wünschte
ich unserm prosaischen Übersetzer recht viele Nachfolger; ob ich gleich
der Meinung des Houdar de la Motte gar nicht bin, daß das Silbenmaß
überhaupt ein kindischer Zwang sei, dem sich der dramatische Dichter am
wenigsten Ursache habe zu unterwerfen. Denn hier kömmt es bloß darauf an,
unter zwei Übeln das kleinste zu wählen; entweder Verstand und Nachdruck
der Versifikation, oder diese jenen aufzuopfern. Dem Houdar de la Motte
war seine Meinung zu vergeben; er hatte eine Sprache in Gedanken, in der
das Metrische der Poesie nur Kitzelung der Ohren ist und zur Verstärkung
des Ausdrucks nichts beitragen kann; in der unsrigen hingegen ist es
etwas mehr, und wir können der griechischen ungleich näher kommen, die
durch den bloßen Rhythmus ihrer Versarten die Leidenschaften, die darin
ausgedrückt werden, anzudeuten vermag. Die französischen Verse haben
nichts als den Wert der überstandenen Schwierigkeit für sich; und
freilich ist dieses nur ein sehr elender Wert.

Die Rolle des Antenors hat Herr Borchers ungemein wohl gespielt; mit
aller der Besonnenheit und Heiterkeit, die einem Bösewichte von großem
Verstande so natürlich zu sein scheinen. Kein mißlungener Anschlag wird
ihn in Verlegenheit setzen; er ist an immer neuen Ränken unerschöpflich;
er besinnt sich kaum, und der unerwartetste Streich, der ihn in seiner
Blöße darzustellen drohte, empfängt eine Wendung, die ihm die Larve nur
noch fester aufdrückt. Diesen Charakter nicht zu verderben, ist von
seiten des Schauspielers das getreueste Gedächtnis, die fertigste Stimme,
die freieste, nachlässigste Aktion unumgänglich nötig. Hr. Borchers hat
überhaupt sehr viele Talente, und schon das muß ein günstiges Vorurteil
für ihn erwecken, daß er sich in alten Rollen ebenso gern übet, als in
jungen. Dieses zeuget von seiner Liebe zur Kunst; und der Kenner
unterscheidet ihn sogleich von so vielen andern jungen Schauspielern, die
nur immer auf der Bühne glänzen wollen, und deren kleine Eitelkeit, sich
in lauter galanten liebenswürdigen Rollen begaffen und bewundern zu
lassen, ihr vornehmster, auch wohl öfters ihr einziger Beruf zum
Theater ist.



Zwanzigstes Stück
Den 7. Julius 1767

Den dreiundzwanzigsten Abend (freitags, den 22. Mai) ward "Cenie"
aufgeführet.

Dieses vortreffliche Stück der Graffigny mußte der Gottschedin zum
Übersetzen in die Hände fallen. Nach dem Bekenntnisse, welches sie von
sich selbst ablegt, "daß sie die Ehre, welche man durch Übersetzung oder
auch Verfertigung theatralischer Stücke erwerben könne, allezeit nur für
sehr mittelmäßig gehalten habe", läßt sich leicht vermuten, daß sie,
diese mittelmäßige Ehre zu erlangen, auch nur sehr mittelmäßige Mühe
werde angewendet haben. Ich habe ihr die Gerechtigkeit widerfahren
lassen, daß sie einige lustige Stücke des Destouches eben nicht verdorben
hat. Aber wieviel leichter ist es, eine Schnurre zu übersetzen, als eine
Empfindung! Das Lächerliche kann der Witzige und Unwitzige nachsagen;
aber die Sprache des Herzens kann nur das Herz treffen. Sie hat ihre
eigene Regeln; und es ist ganz um sie geschehen, sobald man diese
verkennt und sie dafür den Regeln der Grammatik unterwerfen und ihr alle
die kalte Vollständigkeit, alle die langweilige Deutlichkeit geben will,
die wir an einem logischen Satze verlangen. z.E. Dorimond hat dem
Méricourt eine ansehnliche Verbindung, nebst dem vierten Teile seines
Vermögens, zugedacht. Aber das ist das wenigste, worauf Méricourt geht;
er verweigert sich dem großmütigen Anerbieten und will sich ihm aus
Uneigennützigkeit verweigert zu haben scheinen. "Wozu das?" sagt er.
"Warum wollen Sie sich Ihres Vermögens berauben? Genießen Sie Ihrer Güter
selbst; sie haben Ihnen Gefahr und Arbeit genug gekostet." J'en jouirai,
je vous rendrai tous heureux: läßt die Graffigny den lieben gutherzigen
Alten antworten. "Ich will ihrer genießen, ich will euch alle glücklich
machen." Vortrefflich! Hier ist kein Wort zu viel! Die wahre nachlässige
Kürze, mit der ein Mann, dem Güte zur Natur geworden ist, von seiner Güte
spricht, wenn er davon sprechen muß! Seines Glückes genießen, andere
glücklich machen: beides ist ihm nur eines; das eine ist ihm nicht bloß
eine Folge des andern, ein Teil des andern; das eine ist ihm ganz das
andere: und so wie sein Herz keinen Unterschied darunter kennet, so weiß
auch sein Mund keinen darunter zu machen; er spricht, als ob er das
nämliche zweimal spräche, als ob beide Sätze wahre tautologische Sätze,
vollkommen identische Sätze wären; ohne das geringste Verbindungswort. O
des Elenden, der die Verbindung nicht fühlt, dem sie eine Partikel erst
fühlbar machen soll! Und dennoch, wie glaubt man wohl, daß die
Gottschedin jene acht Worte übersetzt hat? "Alsdenn werde ich meiner
Güter erst recht genießen, wenn ich euch beide dadurch werde glücklich
gemacht haben." Unerträglich! Der Sinn ist vollkommen übergetragen, aber
der Geist ist verflogen; ein Schwall von Worten hat ihn erstickt. Dieses
Alsdenn, mit seinem Schwanze von Wenn; dieses Erst; dieses Recht; dieses
Dadurch: lauter Bestimmungen, die dem Ausbruche des Herzens alle
Bedenklichkeiten der Überlegung geben und eine warme Empfindung in eine
frostige Schlußrede verwandeln.

Denen, die mich verstehen, darf ich nur sagen, daß ungefähr auf diesen
Schlag das ganze Stück übersetzt ist. Jede feinere Gesinnung ist in ihren
gesunden Menschenverstand paraphrasiert, jeder affektvolle Ausdruck in
die toten Bestandteile seiner Bedeutung aufgelöset worden. Hierzu kömmt
in vielen Stellen der häßliche Ton des Zeremoniells; verabredete
Ehrenbenennungen kontrastieren mit den Ausrufungen der gerührten Natur
auf die abscheulichste Weise. Indem Cenie ihre Mutter erkennet, ruft sie:
"Frau Mutter! o welch ein süßer Name!" Der Name Mutter ist süß; aber Frau
Mutter ist wahrer Honig mit Zitronensaft! Der herbe Titel zieht das
ganze, der Empfindung sich öffnende Herz wieder zusammen. Und in dem
Augenblicke, da sie ihren Vater findet, wirft sie sich gar mit einem
"Gnädiger Herr Vater! ich bin Ihrer Gnade wert!" ihm in die Arme. Mon
père! auf deutsch: Gnädiger Herr Vater. Was für ein respektuöses Kind!
Wenn ich Dorsainville wäre, ich hätte es ebenso gern gar nicht wieder
gefunden, als mit dieser Anrede.

Madame Löwen spielt die Orphise; man kann sie nicht mit mehrerer Würde
und Empfindung spielen. Jede Miene spricht das ruhige Bewußtsein ihres
verkannten Wertes; und sanfte Melancholie auszudrücken, kann nur ihrem
Blicke, kann nur ihrem Tone gelingen.

Cenie ist Madame Hensel. Kein Wort fällt aus ihrem Munde auf die Erde.
Was sie sagt, hat sie nicht gelernt; es kömmt aus ihrem eignen Kopfe, aus
ihrem eignen Herzen. Sie mag sprechen, oder sie mag nicht sprechen, ihr
Spiel geht ununterbrochen fort. Ich wüßte nur einen einzigen Fehler; aber
es ist ein sehr seltner Fehler; ein sehr beneidenswürdiger Fehler. Die
Aktrice ist für die Rolle zu groß. Mich dünkt einen Riesen zu sehen, der
mit dem Gewehre eines Kadetts exerzieret. Ich möchte nicht alles machen,
was ich vortrefflich machen könnte.

Herr Ekhof in der Rolle des Dorimond ist ganz Dorimond. Diese Mischung
von Sanftmut und Ernst, von Weichherzigkeit und Strenge, wird gerade in
so einem Manne wirklich sein, oder sie ist es in keinem. Wann er zum
Schlusse des Stücks vom Méricourt sagt: "Ich will ihm so viel geben, daß
er in der großen Welt leben kann, die sein Vaterland ist; aber sehen mag
ich ihn nicht mehr!" wer hat den Mann gelehrt, mit ein paar erhobenen
Fingern, hierhin und dahin bewegt, mit einem einzigen Kopfdrehen, uns auf
einmal zu zeigen, was das für ein Land ist, dieses Vaterland des
Méricourt? Ein gefährliches, ein böses Land!

    Tot linguae, quot membra viro!

Den vierundzwanzigsten Abend (montags, den 25. Mai) ward die "Amalia" des
Herrn Weiße aufgeführet.

"Amalia" wird von Kennern für das beste Lustspiel dieses Dichters
gehalten. Es hat auch wirklich mehr Interesse, ausgeführtere Charaktere
und einen lebhaftern gedankenreichern Dialog, als seine übrige komische
Stücke. Die Rollen sind hier sehr wohl besetzt; besonders macht Madame
Boek den Manley, oder die verkleidete Amalia, mit vieler Anmut und mit
aller der ungezwungenen Leichtigkeit, ohne die wir es ein wenig sehr
unwahrscheinlich finden würden, ein junges Frauenzimmer so lange verkannt
zu sehen. Dergleichen Verkleidungen überhaupt geben einem dramatischen
Stücke zwar ein romanenhaftes Ansehen, dafür kann es aber auch nicht
fehlen, daß sie nicht sehr komische, auch wohl sehr interessante Szenen
veranlassen sollten. Von dieser Art ist die fünfte des letzten Akts, in
welcher ich meinem Freunde einige allzu kühn kroquierte Pinselstriche zu
lindern und mit dem übrigen in eine sanftere Haltung zu vertreiben wohl
raten möchte. Ich weiß nicht, was in der Welt geschieht; ob man wirklich
mit dem Frauenzimmer manchmal in diesem zudringlichen Tone spricht. Ich
will nicht untersuchen, wie weit es mit der weiblichen Bescheidenheit
bestehen könne, gewisse Dinge, obschon unter der Verkleidung, so zu
brüskieren. Ich will die Vermutung ungeäußert lassen, daß es vielleicht
gar nicht einmal die rechte Art sei, eine Madame Freemann ins Enge zu
treiben; daß ein wahrer Manley die Sache wohl hätte feiner anfangen
können; daß man über einen schnellen Strom nicht in gerader Linie
schwimmen zu wollen verlangen müsse; daß--Wie gesagt, ich will diese
Vermutungen ungeäußert lassen; denn es könnte leicht bei einem solchen
Handel mehr als eine rechte Art geben. Nachdem nämlich die Gegenstände
sind; obschon alsdenn noch gar nicht ausgemacht ist, daß diejenige Frau,
bei der die eine Art fehlgeschlagen, auch allen übrigen Arten Obstand
halten werde. Ich will bloß bekennen, daß ich für mein Teil nicht Herz
genug gehabt hätte, eine dergleichen Szene zu bearbeiten. Ich würde mich,
vor der einen Klippe zu wenig Erfahrung zu zeigen, ebenso sehr gefürchtet
haben, als vor der andern, allzu viele zu verraten. Ja wenn ich mir auch
einer mehr als Crébillonschen Fähigkeit bewußt gewesen wäre, mich
zwischen beide Klippen durchzustehlen: so weiß ich doch nicht, ob ich
nicht viel lieber einen ganz andern Weg eingeschlagen wäre. Besonders da
sich dieser andere Weg hier von selbst öffnet. Manley, oder Amalia, wußte
ja, daß Freemann mit seiner vorgeblichen Frau nicht gesetzmäßig verbunden
sei. Warum konnte er also nicht dieses zum Grunde nehmen, sie ihm
gänzlich abspenstig zu machen, und sich ihr nicht als einen Galan, dem es
nur um flüchtige Gunstbezeigungen zu tun, sondern als einen ernsthaften
Liebhaber anzutragen, der sein ganzes Schicksal mit ihr zu teilen bereit
sei? Seine Bewerbungen würden dadurch, ich will nicht sagen unsträflich,
aber doch unsträflicher geworden sein; er würde, ohne sie in ihren
eigenen Augen zu beschimpfen, darauf haben bestehen können; die Probe
wäre ungleich verführerischer und das Bestehen in derselben ungleich
entscheidender für ihre Liebe gegen Freemann gewesen. Man würde zugleich
einen ordentlichen Plan von seiten der Amalia dabei abgesehen haben;
anstatt daß man itzt nicht wohl erraten kann, was sie nun weiter tun
können, wenn sie unglücklicherweise in ihrer Verführung glücklich
gewesen wäre.

Nach der "Amalia" folgte das kleine Lustspiel des Saintfoix, "Der
Finanzpachter". Es besteht ungefähr aus ein Dutzend Szenen von der
äußersten Lebhaftigkeit. Es dürfte schwer sein, in einen so engen Bezirk
mehr gesunde Moral, mehr Charaktere, mehr Interesse zu bringen. Die
Manier dieses liebenswürdigen Schriftstellers ist bekannt. Nie hat ein
Dichter ein kleineres niedlicheres Ganze zu machen gewußt, als er.

Den fünfundzwanzigsten Abend (dienstags, den 26. Mai) ward die "Zelmire"
des Du Belloy wiederholt.



Einundzwanzigstes Stück
Den 10. Julius 1767

Den sechsundzwanzigsten Abend (freitags, den 29. Mal) ward "Die
Mütterschule" des Nivelle de la Chaussée aufgeführet.

Es ist die Geschichte einer Mutter, die für ihre parteiische Zärtlichkeit
gegen einen nichtswürdigen schmeichlerischen Sohn die verdiente Kränkung
erhält. Marivaux hat auch ein Stück unter diesem Titel. Aber bei ihm ist
es die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter, um ein recht gutes,
gehorsames Kind an ihr zu haben, in aller Einfalt erziehet, ohne alle
Welt und Erfahrung läßt: und wie geht es damit? Wie man leicht erraten
kann. Das liebe Mädchen hat ein empfindliches Herz; sie weiß keiner
Gefahr auszuweichen, weil sie keine Gefahr kennet; sie verliebt sich in
den ersten in den besten, ohne Mama darum zu fragen, und Mama mag dem
Himmel danken, daß es noch so gut abläuft. In jener Schule gibt es eine
Menge ernsthafte Betrachtungen anzustellen; in dieser setzt es mehr zu
lachen. Die eine ist der Pendant der andern; und ich glaube, es müßte für
Kenner ein Vergnügen mehr sein, beide an einem Abende hintereinander
besuchen zu können. Sie haben hierzu auch alle äußerliche Schicklichkeit;
das erste Stück ist von fünf Akten, das andere von einem.

Den siebenundzwanzigsten Abend (montags, den 1. Junius) ward die "Nanine"
des Herrn von Voltaire gespielt.

Nanine? fragten sogenannte Kunstrichter, als dieses Lustspiel im Jahre
1749 zuerst erschien. Was ist das für ein Titel? Was denkt man
dabei?--Nicht mehr und nicht weniger, als man bei einem Titel denken
soll. Ein Titel muß kein Küchenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalte
verrät, desto besser ist er. Dichter und Zuschauer finden ihre Rechnung
dabei, und die Alten haben ihren Komödien selten andere, als
nichtsbedeutende Titel gegeben. Ich kenne kaum drei oder viere, die den
Hauptcharakter anzeigten oder etwas von der Intrige verrieten. Hierunter
gehöret des Plautus "Miles gloriosus". Wie kömmt es, daß man noch nicht
angemerket, daß dieser Titel dem Plautus nur zur Hälfte gehören kann.
Plautus nannte sein Stück bloß Gloriosus; so wie er ein anderes
"Truculentus" überschrieb. Miles muß der Zusatz eines Grammatikers sein.
Es ist wahr, der Prahler, den Plautus schildert, ist ein Soldat; aber
seine Prahlereien beziehen sich nicht bloß auf seinen Stand und seine
kriegerische Taten. Er ist in dem Punkte der Liebe ebenso großsprecherisch;
er rühmt sich nicht allein der tapferste, sondern auch der schönste und
liebenswürdigste Mann zu sein. Beides kann in dem Worte Gloriosus liegen;
aber sobald man Miles hinzufügt, wird das gloriosus nur auf das erstere
eingeschränkt. Vielleicht hat den Grammatiker, der diesen Zusatz machte,
eine Stelle des Cicero[1] verführt; aber hier hätte ihm Plautus selbst
mehr als Cicero gelten sollen. Plautus selbst sagt:

    ALAZON Graece huic nomen est Comoediae
    Id nos latine GLORIOSUM dicimus--

und in der Stelle des Cicero ist es noch gar nicht ausgemacht, daß eben
das Stück des Plautus gemeinet sei. Der Charakter eines großsprecherischen
Soldaten kam in mehrern Stücken vor. Cicero kann ebensowohl auf den
Thraso des Terenz gezielet haben.--Doch dieses beiläufig. Ich erinnere
mich, meine Meinung von den Titeln der Komödien überhaupt schon einmal
geäußert zu haben. Es könnte sein, daß die Sache so unbedeutend nicht
wäre. Mancher Stümper hat zu einem schönen Titel eine schlechte Komödie
gemacht; und bloß des schönen Titels wegen. Ich möchte doch lieber eine
gute Komödie mit einem schlechten Titel. Wenn man nachfragt, was für
Charaktere bereits bearbeitet worden, so wird kaum einer zu erdenken
sein, nach welchem, besonders die Franzosen, nicht schon ein Stück
genannt hätten. Der ist längst dagewesen! ruft man. Der auch schon!
Dieser würde vom Molière, jener vom Destouches entlehnet sein! Entlehnet?
Das kömmt aus den schönen Titeln. Was für ein Eigentumsrecht erhält ein
Dichter auf einen gewissen Charakter dadurch, daß er seinen Titel davon
hergenommen? Wenn er ihn stillschweigend gebraucht hätte, so würde ich
ihn wiederum stillschweigend brauchen dürfen, und niemand würde mich
darüber zum Nachahmer machen. Aber so wage es einer einmal, und mache
z.E. einen neuen Misanthropen. Wenn er auch keinen Zug von dem
Molièreschen nimmt, so wird sein Misanthrop doch immer nur eine Kopie
heißen. Genug, daß Molière den Namen zuerst gebraucht hat. Jener hat
unrecht, daß er funfzig Jahr später lebet; und daß die Sprache für die
unendlichen Varietäten des menschlichen Gemüts nicht auch unendliche
Benennungen hat.

Wenn der Titel "Nanine" nichts sagt, so sagt der andere Titel desto mehr:
"Nanine, oder das besiegte Vorurteil". Und warum soll ein Stück nicht
zwei Titel haben? Haben wir Menschen doch auch zwei, drei Namen. Die
Namen sind der Unterscheidung wegen; und mit zwei Namen ist die
Verwechselung schwerer, als mit einem. Wegen des zweiten Titels scheinet
der Herr von Voltaire noch nicht recht einig mit sich gewesen zu sein. In
der nämlichen Ausgabe seiner Werke heißt er auf einem Blatte "Das
besiegte Vorurteil"; und auf dem andern "Der Mann ohne Vorurteil". Doch
beides ist nicht weit auseinander. Es ist von dem Vorurteile, daß zu
einer vernünftigen Ehe die Gleichheit der Geburt und des Standes
erforderlich sei, die Rede. Kurz, die Geschichte der Nanine ist die
Geschichte der Pamela. Ohne Zweifel wollte der Herr von Voltaire den
Namen Pamela nicht brauchen, weil schon einige Jahre vorher ein paar
Stücke unter diesem Namen erschienen waren, und eben kein großes Glück
gemacht hatten. Die "Pamela" des Boissy und des de la Chaussée sind auch
ziemlich kahle Stücke; und Voltaire brauchte eben nicht Voltaire zu sein,
etwas weit Besseres zu machen.

"Nanine" gehört unter die rührenden Lustspiele. Es hat aber auch sehr
viel lächerliche Szenen, und nur insofern, als die lächerlichen Szenen
mit den rührenden abwechseln, will Voltaire diese in der Komödie geduldet
wissen. Eine ganz ernsthafte Komödie, wo man niemals lacht, auch nicht
einmal lächelt, wo man nur immer weinen möchte, ist ihm ein Ungeheuer.
Hingegen findet er den Übergang von dem Rührenden zum Lächerlichen und
von dem Lächerlichen zum Rührenden sehr natürlich. Das menschliche Leben
ist nichts als eine beständige Kette solcher Übergänge, und die Komödie
soll ein Spiegel des menschlichen Lebens sein. "Was ist gewöhnlicher",
sagt er, "als daß in dem nämlichen Hause der zornige Vater poltert, die
verliebte Tochter seufzet, der Sohn sich über beide aufhält und jeder
Anverwandte bei der nämlichen Szene etwas anders empfindet? Man
verspottet in einer Stube sehr oft, was in der Stube nebenan äußerst
bewegt; und nicht selten hat ebendieselbe Person in ebenderselben
Viertelstunde über ebendieselbe Sache gelacht und geweinet. Eine sehr
ehrwürdige Matrone saß bei einer von ihren Töchtern, die gefährlich krank
lag, am Bette, und die ganze Familie stand um ihr herum. Sie wollte in
Tränen zerfließen, sie rang die Hände und rief: 'O Gott, laß mir, laß mir
dieses Kind, nur dieses; magst du mir doch alle die andern dafür nehmen!'
Hier trat ein Mann, der eine von ihren übrigen Töchtern geheiratet hatte,
näher zu ihr hinzu, zupfte sie bei dem Ärmel und fragte: 'Madame, auch
die Schwiegersöhne?' Das kalte Blut, der komische Ton, mit denen er diese
Worte aussprach, machten einen solchen Eindruck auf die betrübte Dame,
daß sie in vollem Gelächter herauslaufen mußte; alles folgte ihr und
lachte; die Kranke selbst, als sie es hörte, wäre vor Lachen fast
erstickt."

"Homer", sagt er an einem andern Orte, "läßt sogar die Götter, indem sie
das Schicksal der Welt entscheiden, über den possierlichen Anstand des
Vulkans lachen. Hektor lacht über die Furcht seines kleinen Sohnes, indem
Andromacha die heißesten Tränen vergießt. Es trifft sich wohl, daß mitten
unter den Greueln einer Schlacht, mitten in den Schrecken einer
Feuersbrunst oder sonst eines traurigen Verhängnisses, ein Einfall, eine
ungefähre Posse, trotz aller Beängstigung, trotz alles Mitleids das
unbändigste Lachen erregt. Man befahl in der Schlacht bei Speyern einem
Regimente, daß es keinen Pardon geben sollte. Ein deutscher Offizier bat
darum, und der Franzose, den er darum bat, antwortete: 'Bitten Sie, mein
Herr, was Sie wollen, nur das Leben nicht; damit kann ich unmöglich
dienen!' Diese Naivetät ging sogleich von Mund zu Munde; man lachte und
metzelte. Wie viel eher wird nicht in der Komödie das Lachen auf rührende
Empfindungen folgen können? Bewegt uns nicht Alkmene? Macht uns nicht
Sosias zu lachen? Welche elende und eitle Arbeit, wider die Erfahrung
streiten zu wollen."

Sehr wohl! Aber streitet nicht auch der Herr von Voltaire wider die
Erfahrung, wenn er die ganz ernsthafte Komödie für eine ebenso
fehlerhafte als langweilige Gattung erkläret? Vielleicht damals, als
er es schrieb, noch nicht. Damals war noch keine "Cenie", noch kein
"Hausvater" vorhanden; und vieles muß das Genie erst wirklich machen,
wenn wir es für möglich erkennen sollen.


----Fußnote

[1] "De Officiis", Lib. I. Cap. 33.

----Fußnote



Zweiundzwanzigstes Stück
Den 14. Julius 1767

Den achtundzwanzigsten Abend (dienstags, den 2. Junius) ward der "Advokat
Patelin" wiederholt, und mit der "Kranken Frau" des Herrn Gellert
beschlossen.

Ohnstreitig ist unter allen unsern komischen Schriftstellern Herr Gellert
derjenige, dessen Stücke das meiste ursprünglich Deutsche haben. Es sind
wahre Familiengemälde, in denen man sogleich zu Hause ist; jeder
Zuschauer glaubt, einen Vetter, einen Schwager, ein Mühmchen aus seiner
eigenen Verwandtschaft darin zu erkennen. Sie beweisen zugleich, daß es
an Originalnarren bei uns gar nicht mangelt, und daß nur die Augen ein
wenig selten sind, denen sie sich in ihrem wahren Lichte zeigen. Unsere
Torheiten sind bemerkbarer, als bemerkt; im gemeinen Leben sehen wir über
viele aus Gutherzigkeit hinweg; und in der Nachahmung haben sich unsere
Virtuosen an eine allzu flache Manier gewöhnet. Sie machen sie ähnlich,
aber nicht hervorspringend. Sie treffen; aber da sie ihren Gegenstand
nicht vorteilhaft genug zu beleuchten gewußt, so mangelt dem Bilde die
Rundung, das Körperliche; wir sehen nur immer eine Seite, an der wir uns
bald satt gesehen, und deren allzu schneidende Außenlinien uns gleich
an die Täuschung erinnern, wenn wir in Gedanken um die übrigen Seiten
herumgehen wollen. Die Narren sind in der ganzen Welt platt und frostig
und ekel; wann sie belustigen sollen, muß ihnen der Dichter etwas von
dem Seinigen geben. Er muß sie nicht in ihrer Alltagskleidung, in der
schmutzigen Nachlässigkeit auf das Theater bringen, in der sie innerhalb
ihren vier Pfählen herumträumen. Sie müssen nichts von der engen Sphäre
kümmerlicher Umstände verraten, aus der sich ein jeder gern herausarbeiten
will. Er muß sie aufputzen; er muß ihnen Witz und Verstand leihen, das
Armselige ihrer Torheiten bemänteln zu können; er muß ihnen den Ehrgeiz
geben, damit glänzen zu wollen.

"Ich weiß gar nicht", sagte eine von meinen Bekanntinnen, "was das für
ein Paar zusammen ist, dieser Herr Stephan und diese Frau Stephan! Herr
Stephan ist ein reicher Mann und ein guter Mann. Gleichwohl muß seine
geliebte Frau Stephan um eine lumpige Andrienne so viel Umstände machen!
Wir sind freilich sehr oft um ein Nichts krank; aber doch um ein so gar
großes Nichts nicht. Eine neue Andrienne! Kann sie nicht hinschicken, und
ausnehmen lassen, und machen lassen? Der Mann wird ja wohl bezahlen; und
er muß ja wohl."

"Ganz gewiß!" sagte eine andere. "Aber ich habe noch etwas zu erinnern.
Der Dichter schrieb zu den Zeiten unserer Mütter. Eine Andrienne! Welche
Schneidersfrau trägt denn noch eine Andrienne? Es ist nicht erlaubt, daß
die Aktrice hier dem guten Manne nicht ein wenig nachgeholfen! Konnte sie
nicht Roberonde, Benedictine, Respectueuse"--(ich habe die andern Namen
vergessen, ich würde sie auch nicht zu schreiben wissen)--"dafür sagen!
Mich in einer Andrienne zu denken; das allein könnte mich krank machen.
Wenn es der neueste Stoff ist, wornach Madame Stephan lechzet, so muß es
auch die neueste Tracht sein. Wie können wir es sonst wahrscheinlich
finden, daß sie darüber krank geworden?"

"Und ich", sagte eine dritte (es war die gelehrteste), "finde es sehr
unanständig, daß die Stephan ein Kleid anzieht, das nicht auf ihren Leib
gemacht worden. Aber man sieht wohl, was den Verfasser zu dieser--wie
soll ich es nennen?--Verkennung unserer Delikatesse gezwungen hat. Die
Einheit der Zeit! Das Kleid mußte fertig sein; die Stephan sollte es noch
anziehen; und in vierundzwanzig Stunden wird nicht immer ein Kleid
fertig. Ja, er durfte sich nicht einmal zu einem kleinen Nachspiele
vierundzwanzig Stunden gar wohl erlauben. Denn Aristoteles sagt"--Hier
ward meine Kunstrichterin unterbrochen.

Den neunundzwanzigsten Abend (mittewochs, den 3. Junius) ward nach der
"Melanide" des de la Chaussée "Der Mann nach der Uhr, oder der
ordentliche Mann" gespielet.

Der Verfasser dieses Stücks ist Herr Hippel, in Danzig. Es ist reich an
drolligen Einfällen; nur schade, daß ein jeder, sobald er den Titel hört,
alle diese Einfälle voraussieht. National ist es auch genug; oder
vielmehr provinzial. Und dieses könnte leicht das andere Extremum werden,
in das unsere komischen Dichter verfielen, wenn sie wahre deutsche Sitten
schildern wollten. Ich fürchte, daß jeder die armseligen Gewohnheiten des
Winkels, in dem er geboren worden, für die eigentlichen Sitten des
gemeinschaftlichen Vaterlandes halten dürfte. Wem aber liegt daran, zu
erfahren, wievielmal im Jahre man da oder dort grünen Kohl ißt?

Ein Lustspiel kann einen doppelten Titel haben; doch versteht sich, daß
jeder etwas anders sagen muß. Hier ist das nicht; "Der Mann nach der
Uhr", oder "Der ordentliche Mann" sagen ziemlich das nämliche; außer daß
das erste ohngefähr die Karikatur von dem andern ist.

Den dreißigsten Abend (donnerstags, den 4. Junius) ward der "Graf von
Essex", vom Thomas Corneille, auf geführt. Dieses Trauerspiel ist fast
das einzige, welches sich aus der beträchtlichen Anzahl der Stücke des
jüngern Corneille auf dem Theater erhalten hat. Und ich glaube, es wird
auf den deutschen Bühnen noch öfterer wiederholt, als auf den
französischen. Es ist vom Jahre 1678, nachdem vierzig Jahre vorher
bereits Calprenède die nämliche Geschichte bearbeitet hatte.

"Es ist gewiß", schreibt Corneille, "daß der Graf von Essex bei der
Königin Elisabeth in besondern Gnaden gestanden. Er war von Natur sehr
stolz. Die Dienste, die er England geleistet hatte, bliesen ihn noch mehr
auf. Seine Feinde beschuldigten ihn eines Verständnisses mit dem Grafen
von Tyrone, den die Rebellen in Irland zu ihrem Haupte erwählet hatten.
Der Verdacht, der dieserwegen auf ihm blieb, brachte ihn um das Kommando
der Armee. Er ward erbittert, kam nach London, wiegelte das Volk auf,
ward in Verhaft gezogen, verurteilt, und nachdem er durchaus nicht um
Gnade bitten wollen, den 25. Februar 1601 enthauptet. So viel hat mir die
Historie an die Hand gegeben. Wenn man mir aber zur Last legt, daß ich
sie in einem wichtigen Stücke verfälscht hätte, weil ich mich des
Vorfalles mit dem Ringe nicht bedienet, den die Königin dem Grafen zum
Unterpfande ihrer unfehlbaren Begnadigung, falls er sich jemals eines
Staatsverbrechens schuldig machen sollte, gegeben habe: so muß mich
dieses sehr befremden. Ich bin versichert, daß dieser Ring eine Erfindung
des Calprenède ist, wenigstens habe ich in keinem Geschichtschreiber das
geringste davon gelesen."

Allerdings stand es Corneillen frei, diesen Umstand mit dem Ringe zu
nutzen oder nicht zu nutzen; aber darin ging er zu weit, daß er ihn für
eine poetische Erfindung erklärte. Seine historische Richtigkeit ist
neuerlich fast außer Zweifel gesetzt worden; und die bedächtlichsten,
skeptischsten Geschichtschreiber, Hume und Robertson, haben ihn in ihre
Werke aufgenommen.

Wenn Robertson in seiner Geschichte von Schottland von der Schwermut
redet, in welche Elisabeth vor ihrem Tode verfiel, so sagt er: "Die
gemeinste Meinung damaliger Zeit, und vielleicht die wahrscheinlichste
war diese, daß dieses Übel aus einer betrübten Reue wegen des Grafen von
Essex entstanden sei. Sie hatte eine ganz außerordentliche Achtung für
das Andenken dieses unglücklichen Herrn; und wiewohl sie oft über seine
Hartnäckigkeit klagte, so nannte sie doch seinen Namen selten ohne
Tränen. Kurz vorher hatte sich ein Vorfall zugetragen, der ihre Neigung
mit neuer Zärtlichkeit belebte und ihre Betrübnis noch mehr vergällte.
Die Gräfin von Nottingham, die auf ihrem Todbette lag, wünschte die
Königin zu sehen und ihr ein Geheimnis zu offenbaren, dessen Verhehlung
sie nicht ruhig würde sterben lassen. Wie die Königin in ihr Zimmer kam,
sagte ihr die Gräfin, Essex habe, nachdem ihm das Todesurteil gesprochen
worden, gewünscht, die Königin um Vergebung zu bitten, und zwar auf die
Art, die Ihro Majestät ihm ehemals selbst vorgeschrieben. Er habe ihr
nämlich den Ring zuschicken wollen, den sie ihm, zur Zeit der Huld, mit
der Versicherung geschenkt, daß, wenn er ihr denselben, bei einem
etwanigen Unglücke, als ein Zeichen senden würde, er sich ihrer völligen
Gnaden wiederum versichert halten sollte. Lady Scroop sei die Person,
durch welche er ihn habe übersenden wollen; durch ein Versehen aber sei
er nicht in der Lady Scroop, sondern in ihre Hände geraten. Sie habe
ihrem Gemahl die Sache erzählt (er war einer von den unversöhnlichsten
Feinden des Essex), und der habe ihr verboten, den Ring weder der Königin
zu geben noch dem Grafen zurückzusenden. Wie die Gräfin der Königin ihr
Geheimnis entdeckt hatte, bat sie dieselbe um Vergebung; allein Elisabeth,
die nunmehr sowohl die Bosheit der Feinde des Grafen, als ihre eigene
Ungerechtigkeit einsahe, daß sie ihn im Verdacht eines unbändigen
Eigensinnes gehabt, antwortete: 'Gott mag Euch vergeben; ich kann es
nimmermehr!' Sie verließ das Zimmer in großer Entsetzung, und von dem
Augenblicke an sanken ihre Lebensgeister gänzlich. Sie nahm weder Speise
noch Trank zu sich; sie verweigerte sich allen Arzeneien; sie kam in kein
Bette; sie blieb zehn Tage und zehn Nächte auf einem Polster, ohne ein
Wort zu sprechen, in Gedanken sitzen; einen Finger im Munde, mit offenen,
auf die Erde geschlagenen Augen; bis sie endlich, von innerlicher Angst
der Seelen und von so langem Fasten ganz entkräftet, den Geist aufgab."



Dreiundzwanzigstes Stück
Den 17. Julius 1767

Der Herr von Voltaire hat den "Essex" auf eine sonderbare Weise
kritisiert. Ich möchte nicht gegen ihn behaupten, daß "Essex" ein
vorzüglich gutes Stück sei; aber das ist leicht zu erweisen, daß viele
von den Fehlern, die er daran tadelt, teils sich nicht darin finden,
teils unerhebliche Kleinigkeiten sind, die seinerseits eben nicht den
richtigsten und würdigsten Begriff von der Tragödie voraussetzen.

Es gehört mit unter die Schwachheiten des Herrn von Voltaire, daß er ein
sehr profunder Historikus sein will. Er schwang sich also auch bei dem
"Essex" auf dieses sein Streitroß und tummelte es gewaltig herum. Schade
nur, daß alle die Taten, die er darauf verrichtet, des Staubes nicht wert
sind, den er erregt.

Thomas Corneille hat ihm von der englischen Geschichte nur wenig gewußt;
und zum Glücke für den Dichter war das damalige Publikum noch unwissender.
"Itzt", sagt er, "kennen wir die Königin Elisabeth und den Grafen Essex
besser; itzt würden einem Dichter dergleichen grobe Verstoßungen wider
die historische Wahrheit schärfer aufgemutzet werden".

Und welches sind denn diese Verstoßungen? Voltaire hat ausgerechnet, daß
die Königin damals, als sie dem Grafen den Prozeß machen ließ,
achtundsechzig Jahr alt war. "Es wäre also lächerlich", sagt er, "wenn
man sich einbilden wollte, daß die Liebe den geringsten Anteil an dieser
Begebenheit könne gehabt haben." Warum das? Geschieht nichts Lächerliches
in der Welt? Sich etwas Lächerliches als geschehen denken, ist das so
lächerlich? "Nachdem das Urteil über den Essex abgegeben war", sagt Hume,
"fand sich die Königin in der äußersten Unruhe und in der grausamsten
Ungewißheit. Rache und Zuneigung, Stolz und Mitleiden, Sorge für ihre
eigene Sicherheit und Bekümmernis um das Leben ihres Lieblings stritten
unaufhörlich in ihr: und vielleicht, daß sie in diesem quälenden Zustande
mehr zu beklagen war, als Essex selbst. Sie unterzeichnete und widerrufte
den Befehl zu seiner Hinrichtung einmal über das andere; itzt war sie
fast entschlossen, ihn dem Tode zu überliefern; den Augenblick darauf
erwachte ihre Zärtlichkeit aufs neue, und er sollte leben. Die Feinde des
Grafen ließen sie nicht aus den Augen; sie stellten ihr vor, daß er
selbst den Tod wünsche, daß er selbst erkläret habe, wie sie doch anders
keine Ruhe vor ihm haben würde. Wahrscheinlicherweise tat diese Äußerung
von Reue und Achtung für die Sicherheit der Königin, die der Graf sonach
lieber durch seinen Tod befestigen wollte, eine ganz andere Wirkung, als
sich seine Feinde davon versprochen hatten. Sie fachte das Feuer einer
alten Leidenschaft, die sie so lange für den unglücklichen Gefangnen
genähret hatte, wieder an. Was aber dennoch ihr Herz gegen ihn verhärtete,
war die vermeintliche Halsstarrigkeit, durchaus nicht um Gnade zu bitten.
Sie versahe sich dieses Schrittes von ihm alle Stunden, und nur aus
Verdruß, daß er nicht erfolgen wollte, ließ sie dem Rechte endlich seinen
Lauf."

Warum sollte Elisabeth nicht noch in ihrem achtundsechzigsten Jahre
geliebt haben, sie, die sich so gern lieben ließ? Sie, der es so sehr
schmeichelte, wenn man ihre Schönheit rühmte? Sie, die es so wohl
aufnahm, wenn man ihre Kette zu tragen schien? Die Welt muß in diesem
Stücke keine eitlere Frau jemals gesehen haben. Ihre Höflinge stellten
sich daher alle in sie verliebt und bedienten sich gegen Ihro Majestät,
mit allem Anscheine des Ernstes, des Stils der lächerlichsten Galanterie.
Als Raleigh in Ungnade fiel, schrieb er an seinen Freund Cecil einen
Brief, ohne Zweifel damit er ihn weisen sollte, in welchem ihm die
Königin eine Venus, eine Diane, und ich weiß nicht was, war. Gleichwohl
war diese Göttin damals schon sechzig Jahr alt. Fünf Jahr darauf führte
Heinrich Union, ihr Abgesandter in Frankreich, die nämliche Sprache mit
ihr. Kurz, Corneille ist hinlänglich berechtiget gewesen, ihr alle die
verliebte Schwachheit beizulegen, durch die er das zärtliche Weib mit der
stolzen Königin in einen so interessanten Streit bringet.

Ebensowenig hat er den Charakter des Essex verstellet oder verfälschet.
"Essex", sagt Voltaire, "war der Held gar nicht, zu dem ihn Corneille
macht: er hat nie etwas Merkwürdiges getan." Aber wenn er es nicht war,
so glaubte er es doch zu sein. Die Vernichtung der spanischen Flotte, die
Eroberung von Cadix, an der ihm Voltaire wenig oder gar kein Teil läßt,
hielt er so sehr für sein Werk, daß er es durchaus nicht leiden wollte,
wenn sich jemand die geringste Ehre davon anmaßte. Er erbot sich, es mit
dem Degen in der Hand gegen den Grafen von Nottingham, unter dem er
kommandiert hatte, gegen seinen Sohn, gegen jeden von seinen Anverwandten
zu beweisen, daß sie ihm allein zugehöre.

Corneille läßt den Grafen von seinen Feinden, namentlich vom Raleigh, vom
Cecil, vom Cobhan, sehr verächtlich sprechen. Auch das will Voltaire nicht
gutheißen. "Es ist nicht erlaubt", sagt er, "eine so neue Geschichte so
gröblich zu verfälschen, und Männer von so vornehmer Geburt, von so
großen Verdiensten, so unwürdig zu mißhandeln. "Aber hier kömmt es ja gar
nicht darauf an, was diese Männer waren, sondern wofür sie Essex hielt;
und Essex war auf seine eigene Verdienste stolz genug, um ihnen ganz und
gar keine einzuräumen.

Wenn Corneille den Essex sagen läßt, daß es nur an seinem Willen
gemangelt, den Thron selbst zu besteigen, so läßt er ihn freilich etwas
sagen, was noch weit von der Wahrheit entfernt war. Aber Voltaire hätte
darum doch nicht ausrufen müssen. "Wie? Essex auf dem Throne? mit was für
Recht? unter was für Vorwande? wie wäre das möglich gewesen?" Denn
Voltaire hätte sich erinnern sollen, daß Essex von mütterlicher Seite aus
dem königlichen Hause abstammte, und daß es wirklich Anhänger von ihm
gegeben, die unbesonnen genug waren, ihn mit unter diejenigen zu zählen,
die Ansprüche auf die Krone machen könnten. Als er daher mit dem Könige
Jakob von Schottland in geheime Unterhandlung trat, ließ er es das erste
sein, ihn zu versichern, daß er selbst dergleichen ehrgeizige Gedanken
nie gehabt habe. Was er hier von sich ablehnte, ist nicht viel weniger,
als was ihn Corneille voraussetzen läßt.

Indem also Voltaire durch das ganze Stück nichts als historische
Unrichtigkeiten findet, begeht er selbst nicht geringe. Über eine hat
sich Walpole[1] schon lustig gemacht. Wenn nämlich Voltaire die erstern
Lieblinge der Königin Elisabeth nennen will, so nennt er den Robert
Dudley und den Grafen von Leicester. Er wußte nicht, daß beide nur eine
Person waren, und daß man mit eben dem Rechte den Poeten Arouet und den
Kammerherrn von Voltaire zu zwei verschiedenen Personen machen könnte.
Ebenso unverzeihlich ist das Hysteronproteron, in welches er mit der
Ohrfeige verfällt, die die Königin dem Essex gab. Es ist falsch, daß er
sie nach seiner unglücklichen Expedition in Irland bekam; er hatte sie
lange vorher bekommen; und es ist so wenig wahr, daß er damals den Zorn
der Königin durch die geringste Erniedrigung zu besänftigen gesucht, daß
er vielmehr auf die lebhafteste und edelste Art mündlich und schriftlich
seine Empfindlichkeit darüber ausließ. Er tat zu seiner Begnadigung auch
nicht wieder den ersten Schritt; die Königin mußte ihn tun.

Aber was geht mich hier die historische Unwissenheit des Herrn von
Voltaire an? Ebensowenig als ihn die historische Unwissenheit des
Corneille hätte angehen sollen. Und eigentlich will ich mich auch nur
dieser gegen ihn annehmen.

Die ganze Tragödie des Corneille sei ein Roman: wenn er rührend ist, wird
er dadurch weniger rührend, weil der Dichter sich wahrer Namen bedienet hat?

Weswegen wählt der tragische Dichter wahre Namen? Nimmt er seine Charaktere
aus diesen Namen; oder nimmt er diese Namen, weil die Charaktere, welche
ihnen die Geschichte beilegt, mit den Charakteren, die er in Handlung zu
zeigen sich vorgenommen, mehr oder weniger Gleichheit haben? Ich rede
nicht von der Art, wie die meisten Trauerspiele vielleicht entstanden
sind, sondern wie sie eigentlich entstehen sollten. Oder, mich mit der
gewöhnlichen Praxi der Dichter übereinstimmender auszudrücken: sind es
die bloßen Fakta, die Umstände der Zeit und des Ortes, oder sind es die
Charaktere der Personen, durch welche die Fakta wirklich geworden, warum
der Dichter lieber diese als eine andere Begebenheit wählet? Wenn es die
Charaktere sind, so ist die Frage gleich entschieden, wie weit der
Dichter von der historischen Wahrheit abgehen könne? In allem, was die
Charaktere nicht betrifft, soweit er will. Nur die Charaktere sind ihm
heilig; diese zu verstärken, diese in ihrem besten Lichte zu zeigen, ist
alles, was er von dem Seinigen dabei hinzutun darf; die geringste
wesentliche Veränderung würde die Ursache aufheben, warum sie diese und
nicht andere Namen führen; und nichts ist anstößiger, als wovon wir uns
keine Ursache geben können.


----Fußnote

[1] "Le Château d'Otrante", Préf. p. XIV.

----Fußnote



Vierundzwanzigstes Stück
Den 21. Julius 1767

Wenn der Charakter der Elisabeth des Corneille das poetische Ideal von
dem wahren Charakter ist, den die Geschichte der Königin dieses Namens
beilegt; wenn wir in ihr die Unentschlüssigkeit, die Widersprüche, die
Beängstigung, die Reue, die Verzweiflung, in die ein stolzes und
zärtliches Herz, wie das Herz der Elisabeth, ich will nicht sagen, bei
diesen und jenen Umständen wirklich verfallen ist, sondern auch nur
verfallen zu können vermuten lassen, mit wahren Farben geschildert
finden: so hat der Dichter alles getan, was ihm als Dichter zu tun
obliegt. Sein Werk, mit der Chronologie in der Hand, untersuchen; ihn
vor den Richterstuhl der Geschichte führen, um ihn da jedes Datum, jede
beiläufige Erwähnung, auch wohl solcher Personen, über welche die
Geschichte selbst in Zweifel ist, mit Zeugnissen belegen zu lassen: heißt
ihn und seinen Beruf verkennen, heißt von dem, dem man diese Verkennung
nicht zutrauen kann, mit einem Worte, schikanieren.

Zwar bei dem Herrn von Voltaire könnte es leicht weder Verkennung noch
Schikane sein. Denn Voltaire ist selbst ein tragischer Dichter, und
ohnstreitig ein weit größerer, als der jüngere Corneille. Es wäre denn,
daß man ein Meister in einer Kunst sein und doch falsche Begriffe von der
Kunst haben könnte. Und was die Schikane anbelangt, die ist, wie die
ganze Welt weiß, sein Werk nun gar nicht. Was ihr in seinen Schriften
hier und da ähnlich sieht, ist nichts als Laune; aus bloßer Laune spielt
er dann und wann in der Poetik den Historikus, in der Historie den
Philosophen und in der Philosophie den witzigen Kopf.

Sollte er umsonst wissen, daß Elisabeth achtundsechzig Jahr alt war, als
sie den Grafen köpfen ließ? Im achtundsechzigsten Jahre noch verliebt,
noch eifersüchtig! Die große Nase der Elisabeth dazu genommen, was für
lustige Einfälle muß das geben! Freilich stehen diese lustigen Einfälle
in dem Kommentare über eine Tragödie; also da, wo sie nicht hingehören.
Der Dichter hätte recht zu seinem Kommentator zu sagen: "Mein Herr
Notenmacher, diese Schwänke gehören in Eure allgemeine Geschichte, nicht
unter meinen Text. Denn es ist falsch, daß meine Elisabeth achtundsechzig
Jahr alt ist. Weiset mir doch, wo ich das sage. Was ist in meinem Stücke,
das Euch hinderte, sie nicht ungefähr mit dem Essex von gleichem Alter
anzunehmen? Ihr sagt: Sie war aber nicht von gleichem Alter: Welche Sie?
Eure Elisabeth im Rapin de Thoyras; das kann sein. Aber warum habt Ihr
den Rapin de Thoyras gelesen? Warum seid Ihr so gelehrt? Warum vermengt
Ihr diese Elisabeth mit meiner? Glaubt Ihr im Ernst, daß die Erinnerung
bei dem und jenem Zuschauer, der den Rapin de Thoyras auch einmal gelesen
hat, lebhafter sein werde, als der sinnliche Eindruck, den eine
wohlgebildete Aktrice in ihren besten Jahren auf ihn macht? Er sieht ja
meine Elisabeth; und seine eigene Augen überzeugen ihn, daß es nicht Eure
achtundsechzigjährige Elisabeth ist. Oder wird er dem Rapin de Thoyras
mehr glauben, als seinen eignen Augen?"--

So ungefähr könnte sich auch der Dichter über die Rolle des Essex erklären.
"Euer Essex im Rapin de Thoyras", könnte er sagen, "ist nur der Embryo
von dem meinigen. Was sich jener zu sein dünkte, ist meiner wirklich. Was
jener, unter glücklichem Umständen, für die Königin vielleicht getan
hätte, hat meiner getan. Ihr hört ja, daß es ihm die Königin selbst
zugesteht; wollt Ihr meiner Königin nicht ebensoviel glauben, als dem
Rapin de Thoyras? Mein Essex ist ein verdienter und großer, aber stolzer
und unbiegsamer Mann. Eurer war in der Tat weder so groß, noch so
unbiegsam: desto schlimmer für ihn. Genug für mich, daß er doch immer
noch groß und unbiegsam genug war, um meinem von ihm abgezogenen Begriffe
seinen Namen zu lassen."

Kurz: die Tragödie ist keine dialogierte Geschichte; die Geschichte ist
für die Tragödie nichts, als ein Repertorium von Namen, mit denen wir
gewisse Charaktere zu verbinden gewohnt sind. Findet der Dichter in der
Geschichte mehrere Umstände zur Ausschmückung und Individualisierung
seines Stoffes bequem: wohl, so brauche er sie. Nur daß man ihm hieraus
ebensowenig ein Verdienst, als aus dem Gegenteile ein Verbrechen mache!

Diesen Punkt von der historischen Wahrheit abgerechnet, bin ich sehr
bereit, das übrige Urteil des Herrn von Voltaire zu unterschreiben.
"Essex" ist ein mittelmäßiges Stück, sowohl in Ansehung der Intrige als
des Stils. Den Grafen zu einem seufzenden Liebhaber einer Irton zu
machen; ihn mehr aus Verzweiflung, daß er der ihrige nicht sein kann, als
aus edelmütigem Stolze, sich nicht zu Entschuldigungen und Bitten
herabzulassen, auf das Schafott zu führen: das war der unglücklichste
Einfall, den Thomas nur haben konnte, den er aber als ein Franzose wohl
haben mußte. Der Stil ist in der Grundsprache schwach; in der Übersetzung
ist er oft kriechend geworden. Aber überhaupt ist das Stück nicht ohne
Interesse und hat hier und da glückliche Verse, die aber im Französischen
glücklicher sind als im Deutschen. "Die Schauspieler", setzt der Herr von
Voltaire hinzu, "besonders die in der Provinz, spielen die Rolle des
Essex gar zu gern, weil sie in einem gestickten Bande unter dem Knie und
mit einem großen blauen Bande über die Schulter darin erscheinen können.
Der Graf ist ein Held von der ersten Klasse, den der Neid verfolgt: das
macht Eindruck. Übrigens ist die Zahl der guten Tragödien bei allen
Nationen in der Welt so klein, daß die, welche nicht ganz schlecht sind,
noch immer Zuschauer an sich ziehen, wenn sie von guten Akteurs nur
aufgestutzet werden."

Er bestätiget dieses allgemeine Urteil durch verschiedene einzelne
Anmerkungen, die ebenso richtig als scharfsinnig sind und deren man sich
vielleicht, bei einer wiederholten Vorstellung, mit Vergnügen erinnern
dürfte. Ich teile die vorzüglichsten also hier mit; in der festen
Überzeugung, daß die Kritik dem Genusse nicht schadet und daß diejenigen,
welche ein Stück am schärfesten zu beurteilen gelernt haben, immer
diejenigen sind, welche das Theater am fleißigsten besuchen.

"Die Rolle des Cecils ist eine Nebenrolle, und eine sehr frostige
Nebenrolle. Solche kriechende Schmeichler zu malen, muß man die Farben
in seiner Gewalt haben, mit welchen Racine den Narcissus geschildert hat.

Die vorgebliche Herzogin von Irton ist eine vernünftige, tugendhafte
Frau, die sich durch ihre Liebe zu dem Grafen weder die Ungnade der
Elisabeth zuziehen, noch ihren Liebhaber heiraten wollen. Dieser
Charakter würde sehr schön sein, wenn er mehr Leben hätte, und wenn er
zur Verwickelung etwas beitrüge; aber hier vertritt sie bloß die Stelle
eines Freundes. Das ist für das Theater nicht hinlänglich.

Mich dünket, daß alles, was die Personen in dieser Tragödie sagen und
tun, immer noch sehr schielend, verwirret und unbestimmt ist. Die
Handlung muß deutlich, der Knoten verständlich und jede Gesinnung plan
und natürlich sein: das sind die ersten, wesentlichsten Regeln. Aber was
will Essex? Was will Elisabeth? Worin besteht das Verbrechen des Grafen?
Ist er schuldig, oder ist er fälschlich angeklagt? Wenn ihn die Königin
für unschuldig hält, so muß sie sich seiner annehmen. Ist er aber
schuldig: so ist es sehr unvernünftig, die Vertraute sagen zu lassen,
daß er nimmermehr um Gnade bitten werde, daß er viel zu stolz dazu sei.
Dieser Stolz schickt sich sehr wohl für einen tugendhaften unschuldigen
Helden, aber für keinen Mann, der des Hochverrats überwiesen ist. Er
soll sich unterwerfen: sagt die Königin. Ist das wohl die eigentliche
Gesinnung, die sie haben muß, wenn sie ihn liebt? Wenn er sich nun
unterworfen, wenn er nun ihre Verzeihung angenommen hat, wird Elisabeth
darum von ihm mehr geliebt als zuvor? Ich liebe ihn hundertmal mehr, als
mich selbst: sagt die Königin. Ah, Madame; wenn es so weit mit Ihnen
gekommen ist, wenn Ihre Leidenschaft so heftig geworden: so untersuchen
Sie doch die Beschuldigungen Ihres Gebliebten selbst und verstatten
nicht, daß ihn seine Feinde unter Ihrem Namen so verfolgen und
unterdrücken, wie es durch das ganze Stück, obwohl ganz ohne
Grund, heißt.

Auch aus dem Freunde des Grafen, dem Salisbury, kann man nicht klug
werden, ob er ihn für schuldig oder für unschuldig hält. Er stellt der
Königin vor, daß der Anschein öfters betriege, daß man alles von der
Parteilichkeit und Ungerechtigkeit seiner Richter zu besorgen habe.
Gleichwohl nimmt er seine Zuflucht zur Gnade der Königin. Was hatte er
dieses nötig, wenn er seinen Freund nicht strafbar glaubte? Aber was
soll der Zuschauer glauben? Der weiß ebensowenig, woran er mit der
Verschwörung des Grafen, als woran er mit der Zärtlichkeit der Königin
gegen ihn ist.

Salisbury sagt der Königin, daß man die Unterschrift des Grafen
nachgemacht habe. Aber die Königin läßt sich im geringsten nicht
einfallen, einen so wichtigen Umstand näher zu untersuchen. Gleichwohl
war sie als Königin und als Geliebte dazu verbunden. Sie antwortet nicht
einmal auf diese Eröffnung, die sie doch begierig hätte ergreifen müssen.
Sie erwidert bloß mit andern Worten, daß der Graf allzu stolz sei, und
daß sie durchaus wolle, er solle um Gnade bitten."

Aber warum sollte er um Gnade bitten, wenn seine Unterschrift nachgemacht
war?"



Fünfundzwanzigstes Stück
Den 24. Julius 1767

"Essex selbst beteuert seine Unschuld; aber warum will er lieber sterben,
als die Königin davon überzeugen? Seine Feinde haben ihn verleumdet; er
kann sie mit einem einzigen Worte zu Boden schlagen; und er tut es nicht.
Ist das dem Charakter eines so stolzen Mannes gemäß? Soll er aus Liebe
zur Irton so widersinnig handeln: so hätte ihn der Dichter durch das
ganze Stück von seiner Leidenschaft mehr bemeistert zeigen müssen. Die
Heftigkeit des Affekts kann alles entschuldigen; aber in dieser
Heftigkeit sehen wir ihn nicht.

Der Stolz der Königin streitet unaufhörlich mit dem Stolze des Essex; ein
solcher Streit kann leicht gefallen. Aber wenn allein dieser Stolz sie
handeln läßt, so ist er bei der Elisabeth sowohl als bei dem Grafen,
bloßer Eigensinn. Er soll mich um Gnade bitten; ich will sie nicht um
Gnade bitten; das ist die ewige Leier. Der Zuschauer muß vergessen, daß
Elisabeth entweder sehr abgeschmackt oder sehr ungerecht ist, wenn sie
verlangt, daß der Graf sich ein Verbrechen soll vergeben lassen, welches
er nicht begangen, oder sie nicht untersucht hat. Er muß es vergessen,
und er vergißt es wirklich, um sich bloß mit den Gesinnungen des Stolzes
zu beschäftigen, der dem menschlichen Herze so schmeichelhaft ist.

Mit einem Worte: keine einzige Rolle dieses Trauerspiels ist, was sie
sein sollte; alle sind verfehlt; und gleichwohl hat es gefallen. Woher
dieses Gefallen? Offenbar aus der Situation der Personen, die für sich
selbst rührend ist.--Ein großer Mann, den man auf das Schafott führet,
wird immer interessieren; die Vorstellung seines Schicksals macht, auch
ohne alle Hilfe der Poesie, Eindruck; ungefähr eben den Eindruck, den die
Wirklichkeit selbst machen würde."

So viel liegt für den tragischen Dichter an der Wahl des Stoffes. Durch
diese allein können die schwächsten, verwirrtesten Stücke eine Art von
Glück machen; und ich weiß nicht, wie es kömmt, daß es immer solche
Stücke sind, in welchen sich gute Akteurs am vorteilhaftesten zeigen.
Selten wird ein Meisterstück so meisterhaft vorgestellt, als es
geschrieben ist; das Mittelmäßige fährt mit ihnen immer besser.
Vielleicht, weil sie in dem Mittelmäßigen mehr von dem ihrigen hinzutun
können; vielleicht, weil uns das Mittelmäßige mehr Zeit und Ruhe läßt,
auf ihr Spiel aufmerksam zu sein; vielleicht, weil in dem Mittelmäßigen
alles nur auf einer oder zwei hervorstechenden Personen beruhet, anstatt
daß in einem vollkommenem Stücke öfters eine jede Person ein Hauptakteur
sein müßte, und wenn sie es nicht ist, indem sie ihre Rolle verhunzt,
zugleich auch die übrigen verderben hilft.

Beim "Essex" können alle diese und mehrere Ursachen zusammenkommen. Weder
der Graf noch die Königin sind von dem Dichter mit der Stärke geschildert,
daß sie durch die Aktion nicht noch weit stärker werden könnten. Essex
spricht so stolz nicht, daß ihn der Schauspieler nicht in jeder Stellung,
in jeder Gebärde, in jeder Miene noch stolzer zeigen könnte. Es ist sogar
dem Stolze wesentlich, daß er sich weniger durch Worte, als durch das
übrige Betragen äußert. Seine Worte sind öfters bescheiden, und es läßt
sich nur sehen, nicht hören, daß es eine stolze Bescheidenheit ist. Diese
Rolle muß also notwendig in der Vorstellung gewinnen. Auch die Nebenrollen
Mit der Rolle der Elisabeth ist es nicht völlig so; aber doch kann sie
auch schwerlich ganz verunglücken. Elisabeth ist so zärtlich als stolz;
ich glaube ganz gern, daß ein weibliches Herz beides zugleich sein kann;
aber wie eine Aktrice beides gleich gut vorstellen könne, das begreife
ich nicht recht. In der Natur selbst trauen wir einer stolzen Frau nicht
viel Zärtlichkeit, und einer zärtlichen nicht viel Stolz zu. Wir trauen
es ihr nicht zu, sage ich: denn die Kennzeichen des einen widersprechen
den Kennzeichen des andern. Es ist ein Wunder, wenn ihr beide gleich
geläufig sind; hat sie aber nur die einen vorzüglich in ihrer Gewalt,
so kann sie die Leidenschaft, die sich durch die andern ausdrückt, zwar
empfinden, aber schwerlich werden wir ihr glauben, daß sie dieselbe so
lebhaft empfindet, als sie sagt. Wie kann eine Aktrice nun weiter gehen
als die Natur? Ist sie von einem majestätischen Wuchse, tönt ihre Stimme
voller und männlicher, ist ihr Blick dreist, ist ihre Bewegung schnell
und herzhaft: so werden ihr die stolzen Stellen vortrefflich gelingen;
aber wie steht es mit den zärtlichen? Ist ihre Figur hingegen weniger
imponierend; herrscht in ihren Mienen Sanftmut, in ihren Augen ein
bescheidnes Feuer, in ihrer Stimme mehr Wohlklang als Nachdruck; ist in
ihrer Bewegung mehr Anstand und Würde, als Kraft und Geist: so wird sie
den zärtlichen Stellen die völligste Genüge leisten; aber auch den
stolzen? Sie wird sie nicht verderben, ganz gewiß nicht; sie wird sie
noch genug absetzen; wir werden eine beleidigte zürnende Liebhaberin in
ihr erblicken; nur keine Elisabeth nicht, die Manns genug war, ihren
General und Geliebten mit einer Ohrfeige nach Hause zu schicken. Ich
meine also, die Aktricen, welche die ganze doppelte Elisabeth uns gleich
täuschend zu zeigen vermögend wären, dürften noch seltner sein, als die
Elisabeths selber; und wir können und müssen uns begnügen, wenn eine
Hälfte nur recht gut gespielt und die andere nicht ganz verwahrloset wird.

Madame Löwen hat in der Rolle der Elisabeth sehr gefallen; aber, jene
allgemeine Anmerkung nunmehr auf sie anzuwenden, uns mehr die zärtliche
Frau, als die stolze Monarchin sehen und hören lassen. Ihre Bildung, ihre
Stimme, ihre bescheidene Aktion ließen es nicht anders erwarten; und mich
dünkt, unser Vergnügen hat dabei nichts verloren. Denn wenn notwendig
eine die andere verfinstert, wenn es kaum anders sein kann, als daß nicht
die Königin unter der Liebhaberin, oder diese unter jener leiden sollte:
so, glaube ich, ist es zuträglicher, wenn eher etwas von dem Stolze und
der Königin, als von der Liebhaberin und der Zärtlichkeit verloren geht.

Es ist nicht bloß eigensinniger Geschmack, wenn ich so urteile; noch
weniger ist es meine Absicht, einem Frauenzimmer ein Kompliment damit zu
machen, die noch immer eine Meisterin in ihrer Kunst sein würde, wenn ihr
diese Rolle auch gar nicht gelungen wäre. Ich weiß einem Künstler, er sei
von meinem oder dem andern Geschlechte, nur eine einzige Schmeichelei zu
machen; und diese besteht darin, daß ich annehme, er sei von aller eiteln
Empfindlichkeit entfernt, die Kunst gehe bei ihm über alles, er höre gern
frei und laut über sich urteilen, und wolle sich lieber auch dann und
wann falsch, als seltner beurteilet wissen. Wer diese Schmeichelei nicht
versteht, bei dem erkenne ich mich gar bald irre, und er ist es nicht
wert, daß wir ihn studieren. Der wahre Virtuose glaubt es nicht einmal,
daß wir seine Vollkommenheit einsehen und empfinden, wenn wir auch noch
so viel Geschrei davon machen, ehe er nicht merkt, daß wir auch Augen und
Gefühl für seine Schwäche haben. Er spottet bei sich über jede
uneingeschränkte Bewunderung, und nur das Lob desjenigen kitzelt ihn, von
dem er weiß, daß er auch das Herz hat, ihn zu tadeln.

Ich wollte sagen, daß sich Gründe anführen lassen, warum es besser ist,
wenn die Aktrice mehr die zärtliche als die stolze Elisabeth ausdrückt.
Stolz muß sie sein, das ist ausgemacht: und daß sie es ist, das hören
wir. Die Frage ist nur, ob sie zärtlicher als stolz, oder stolzer als
zärtlich scheinen soll; ob man, wenn man unter zwei Aktricen zu wählen
hätte, lieber die zur Elisabeth nehmen sollte, welche die beleidigte
Königin, mit allem drohenden Ernste, mit allen Schrecken der rächerischen
Majestät, auszudrücken vermöchte, oder die, welche die eifersüchtige
Liebhaberin, mit allen kränkenden Empfindungen der verschmähten Liebe,
mit aller Bereitwilligkeit, dem teuern Frevler zu vergeben, mit aller
Beängstigung über seine Hartnäckigkeit, mit allem Jammer über seinen
Verlust, angemessener wäre? Und ich sage: diese.

Denn erstlich wird dadurch die Verdopplung des nämlichen Charakters
vermieden. Essex ist stolz; und wenn Elisabeth auch stolz sein soll, so
muß sie es wenigstens auf eine andere Art sein. Wenn bei dem Grafen die
Zärtlichkeit nicht anders, als dem Stolze untergeordnet sein kann, so muß
bei der Königin die Zärtlichkeit den Stolz überwiegen. Wenn der Graf sich
eine höhere Miene gibt, als ihm zukommt, so muß die Königin etwas weniger
zu sein scheinen, als sie ist. Beide auf Stelzen, mit der Nase nur immer
in der Luft einhertreten, beide mit Verachtung auf alles, was um sie ist,
herabblicken lassen, würde die ekelste Einförmigkeit sein. Man muß nicht
glauben können, daß Elisabeth, wenn sie an des Essex Stelle wäre, ebenso
wie Essex handeln würde. Der Ausgang weiset es, daß sie nachgebender ist
als er; sie muß also auch gleich von Anfange nicht so hoch daherfahren
als er. Wer sich durch äußere Macht emporzuhalten vermag, braucht weniger
Anstrengung, als der es durch eigene innere Kraft tun muß. Wir wissen
darum doch, daß Elisabeth die Königin ist, wenn sie gleich Essex das
königlichere Ansehen gibt.

Zweitens ist es in dem Trauerspiele schicklicher, daß die Personen in
ihren Gesinnungen steigen, als daß sie fallen. Es ist schicklicher, daß
ein zärtlicher Charakter Augenblicke des Stolzes hat, als daß ein stolzer
von der Zärtlichkeit sich fortreißen läßt. Jener scheint sich zu erheben;
dieser zu sinken. Eine ernsthafte Königin, mit gerunzelter Stirne, mit
einem Blicke, der alles scheu und zitternd macht, mit einem Tone der
Stimme, der allein ihr Gehorsam verschaffen könnte, wenn die zu
verliebten Klagen gebracht wird und nach den kleinen Bedürfnissen ihrer
Leidenschaft seufzet, ist fast, fast lächerlich. Eine Geliebte hingegen,
die ihre Eifersucht erinnert, daß sie Königin ist, erhebt sich über sich
selbst, und ihre Schwachheit wird fürchterlich.



Sechsundzwanzigstes Stück
Den 28. Julius 1767

Den einunddreißigsten Abend (mittewochs, den 10. Juni) ward das Lustspiel
der Madame Gottsched, "Die Hausfranzösin, oder die Mamsell" aufgeführet.

Dieses Stück ist eines von den sechs Originalen, mit welchen 1744, unter
Gottschedischer Geburtshilfe, Deutschland im fünften Bande der "Schaubühne"
beschenkt ward. Man sagt, es sei, zur Zeit seiner Neuheit, hier und da
mit Beifall gespielt worden. Man wollte versuchen, welchen Beifall es
noch erhalten würde, und es erhielt den, den es verdienet: gar keinen.
"Das Testament", von ebenderselben Verfasserin, ist noch so etwas; aber
"Die Hausfranzösin" ist ganz und gar nichts. Noch weniger als nichts:
denn sie ist nicht allein niedrig und platt und kalt, sondern noch
obendarein schmutzig, ekel, und im höchsten Grade beleidigend. Es ist mir
unbegreiflich, wie eine Dame solches Zeug schreiben können. Ich will
hoffen, daß man mir den Beweis von diesem allen schenken wird.--

Den zweiunddreißigsten Abend (donnerstags, den 11. Junius) ward die
"Semiramis" des Herrn von Voltaire wiederholt.

Da das Orchester bei unsern Schauspielen gewissermaßen die Stelle der
alten Chöre vertritt, so haben Kenner schon längst gewünscht, daß die
Musik, welche vor und zwischen und nach dem Stücke gespielt wird, mit dem
Inhalte desselben mehr übereinstimmen möchte. Herr Scheibe ist unter den
Musicis derjenige, welcher zuerst hier ein ganz neues Feld für die Kunst
bemerkte. Da er einsahe, daß, wenn die Rührung des Zuschauers nicht auf
eine unangenehme Art geschwächt und unterbrochen werden sollte, ein jedes
Schauspiel seine eigene musikalische Begleitung erfordere: so machte er
nicht allein bereits 1738 mit dem "Polyeukt" und "Mithridat" den Versuch,
besondere diesen Stücken entsprechende Symphonien zu verfertigen, welche
bei der Gesellschaft der Neuberin, hier in Hamburg, in Leipzig, und
anderwärts aufgeführet wurden; sondern ließ sich auch in einem besondern
Blatte seines "Kritischen Musikus"[1] umständlich darüber aus, was
überhaupt der Komponist zu beobachten habe, der in dieser neuen Gattung
mit Ruhm arbeiten wolle.

"Alle Symphonien," sagt er, "die zu einem Schauspiele verfertiget werden,
sollen sich auf den Inhalt und die Beschaffenheit desselben beziehen. Es
gehören also zu den Trauerspielen eine andere Art von Symphonien als zu
den Lustspielen. So verschieden die Tragödien und Komödien unter sich
selbst sind, so verschieden muß auch die dazugehörige Musik sein.
Insbesondere aber hat man auch wegen der verschiedenen Abteilungen der
Musik in den Schauspielen auf die Beschaffenheit der Stellen, zu welchen
eine jede Abteilung gehört, zu sehen. Daher muß die Anfangssymphonie sich
auf den ersten Aufzug des Stückes beziehen; die Symphonien aber, die
zwischen den Aufzügen vorkommen, müssen teils mit dem Schlusse des
vorhergehenden Aufzuges, teils aber mit dem Anfange des folgenden
Aufzuges übereinkommen; so wie die letzte Symphonie dem Schlusse des
letzten Aufzuges gemäß sein muß."

"Alle Symphonien zu Trauerspielen müssen prächtig, feurig und geistreich
gesetzt sein. Insonderheit aber hat man den Charakter der Hauptpersonen
und den Hauptinhalt zu bemerken und darnach seine Erfindung einzurichten.
Dieses ist von keiner gemeinen Folge. Wir finden Tragödien, da bald
diese, bald jene Tugend eines Helden oder einer Heldin der Stoff gewesen
ist. Man halte einmal den 'Polyeukt' gegen den 'Brutus', oder auch die
'Alzire' gegen den 'Mithridat': so wird man gleich sehen, daß sich
keinesweges einerlei Musik dazu schicket. Ein Trauerspiel, in welchem die
Religion und Gottesfurcht den Helden oder die Heldin in allen Zufällen
begleiten, erfordert auch solche Symphonien, die gewissermaßen das
Prächtige und Ernsthafte der Kirchenmusik beweisen. Wenn aber die Großmut,
die Tapferkeit oder die Standhaftigkeit in allerlei Unglücksfällen im
Trauerspiele herrschen: so muß auch die Musik weit feuriger und lebhafter
sein. Von dieser letztern Art sind die Trauerspiele 'Cato', 'Brutus',
'Mithridat'. 'Alzire' aber und 'Zaïre' erfordern hingegen schon eine etwas
veränderte Musik, weil die Begebenheiten und die Charaktere in diesen
Stücken von einer andern Beschaffenheit sind und mehr Veränderung der
Affekten zeigen."

"Ebenso müssen die Komödiensymphonien überhaupt frei, fließend und
zuweilen auch scherzhaft sein; insbesondere aber sich nach dem
eigentümlichen Inhalte einer jeden Komödie richten. So wie die Komödie
bald ernsthafter, bald verliebter, bald scherzhafter ist, so muß auch die
Symphonie beschaffen sein. Zum Exempel die Komödien 'Der Falke' und 'Die
beiderseitige Unbeständigkeit' würden ganz andere Symphonien erfordern
als 'Der verlorne Sohn'. So würden sich auch nicht die Symphonien, die
sich zum 'Geizigen' oder zum 'Kranken in der Einbildung' sehr wohl
schicken möchten, zum 'Unentschlüssigen' oder zum 'Zerstreuten' schicken.
Jene müssen schon lustiger und scherzhafter sein, diese aber
verdrießlicher und ernsthafter."

"Die Anfangssymphonie muß sich auf das ganze Stück beziehen; zugleich
aber muß sie auch den Anfang desselben vorbereiten und folglich mit dem
ersten Auftritte übereinkommen. Sie kann aus zwei oder drei Sätzen
bestehen, so wie es der Komponist für gut findet.--Die Symphonien
zwischen den Aufzügen aber, weil sie sich nach dem Schlusse des
vorhergehenden Aufzuges und nach dem Anfange des folgenden richten
sollen, werden am natürlichsten zwei Sätze haben können. Im ersten kann
man mehr auf das Vorhergegangene, im zweiten aber mehr auf das Folgende
sehen. Doch ist solches nur allein nötig, wenn die Affekten einander
allzusehr entgegen sind; sonst kann man auch wohl nur einen Satz machen,
wenn er nur die gehörige Länge erhält, damit die Bedürfnisse der
Vorstellung, als Lichtputzen, Umkleiden usw., indes besorget werden
können.--Die Schlußsymphonie endlich muß mit dem Schlusse des Schauspiels
auf das genaueste übereinstimmen, um die Begebenheit den Zuschauern desto
nachdrücklicher zu machen. Was ist lächerlicher, als wenn der Held auf
eine unglückliche Weise sein Leben verloren hat, und es folgt eine
lustige und lebhafte Symphonie darauf? Und was ist abgeschmackter, als
wenn sich die Komödie auf eine fröhliche Art endiget, und es folgt eine
traurige und bewegliche Symphonie darauf?"--

"Da übrigens die Musik zu den Schauspielen bloß allein aus Instrumenten
bestehet, so ist eine Veränderung derselben sehr nötig, damit die Zuhörer
desto gewisser in der Aufmerksamkeit erhalten werden, die sie vielleicht
verlieren möchten, wenn sie immer einerlei Instrumente hören sollten. Es
ist aber beinahe eine Notwendigkeit, daß die Anfangssymphonie sehr stark
und vollständig ist, und also desto nachdrücklicher ins Gehör falle. Die
Veränderung der Instrumenten muß also vornehmlich in den Zwischensymphonien
erscheinen. Man muß aber wohl urteilen, welche Instrumente sich am besten
zur Sache schicken, und womit man dasjenige am gewissesten ausdrücken
kann, was man ausdrücken soll. Es muß also auch hier eine vernünftige
Wahl getroffen werden, wenn man seine Absicht geschickt und sicher
erreichen will. Sonderlich aber ist es nicht allzugut, wenn man in zwei
aufeinanderfolgenden Zwischensymphonien einerlei Veränderung der
Instrumente anwendet. Es ist allemal besser und angenehmer, wenn man
diesen Übelstand vermeidet."

Dieses sind die wichtigsten Regeln, um auch hier die Tonkunst und Poesie
in eine genauere Verbindung zu bringen. Ich habe sie lieber mit den
Worten eines Tonkünstlers, und zwar desjenigen vortragen wollen, der sich
die Ehre der Erfindung anmaßen kann, als mit meinen. Denn die Dichter und
Kunstrichter bekommen nicht selten von den Musicis den Vorwurf, daß sie
weit mehr von ihnen erwarten und verlangen, als die Kunst zu leisten
imstande sei. Die mehresten müssen es von ihren Kunstverwandten erst
hören, daß die Sache zu bewerkstelligen ist, ehe sie die geringste
Aufmerksamkeit darauf wenden.

Zwar die Regeln selbst waren leicht zu machen; sie lehren nur, was
geschehen soll, ohne zu sagen, wie es geschehen kann. Der Ausdruck der
Leidenschaften, auf welchen alles dabei ankömmt, ist noch einzig das Werk
des Genies. Denn ob es schon Tonkünstler gibt und gegeben, die bis zur
Bewunderung darin glücklich sind, so mangelt es doch unstreitig noch an
einem Philosophen, der ihnen die Wege abgelernt und allgemeine Grundsätze
aus ihren Beispielen hergeleitet hätte. Aber je häufiger diese Beispiele
werden, je mehr sich die Materialien zu dieser Herleitung sammeln, desto
eher können wir sie uns versprechen; und ich müßte mich sehr irren, wenn
nicht ein großer Schritt dazu durch die Beeiferung der Tonkünstler in
dergleichen dramatischen Symphonien geschehen könnte. In der Vokalmusik
hilft der Text dem Ausdrucke allzusehr nach; der schwächste und
schwankendste wird durch die Worte bestimmt und verstärkt: in der
Instrumentalmusik hingegen fällt diese Hilfe weg, und sie sagt gar
nichts, wenn sie das, was sie sagen will, nicht rechtschaffen sagt. Der
Künstler wird also hier seine äußerste Stärke anwenden müssen; er wird
unter den verschiedenen Folgen von Tönen, die eine Empfindung ausdrücken
können, nur immer diejenigen wählen, die sie am deutlichsten ausdrücken;
wir werden diese öfterer hören, wir werden sie miteinander öfterer
vergleichen und durch die Bemerkung dessen, was sie beständig gemein
haben, hinter das Geheimnis des Ausdrucks kommen.

Welchen Zuwachs unser Vergnügen im Theater dadurch erhalten würde,
begreift jeder von selbst. Gleich vom Anfange der neuen Verwaltung unsers
Theaters hat man sich daher nicht nur überhaupt bemüht, das Orchester in
einen bessern Stand zu setzen, sondern es haben sich auch würdige Männer
bereit finden lassen, die Hand an das Werk zu legen, und Muster in dieser
Art von Komposition zu machen, die über alle Erwartung ausgefallen sind.
Schon zu Cronegks "Olint und Sophronia" hatte Herr Hertel eigne
Symphonien verfertiget; und bei der zweiten Aufführung der "Semiramis"
wurden dergleichen von dem Herrn Agricola in Berlin aufgeführt.


----Fußnote

[1] Stück 67.

----Fußnote



Siebenundzwanzigstes Stück
Den 31. Julius 1767

Ich will es versuchen, einen Begriff von der Musik des Herrn Agricola zu
machen. Nicht zwar nach ihren Wirkungen;--denn je lebhafter und feiner
ein sinnliches Vergnügen ist, desto weniger läßt es sich mit Worten
beschreiben; man kann nicht wohl anders, als in allgemeine Lobsprüche, in
unbestimmte Ausrufungen, in kreischende Bewunderung damit verfallen, und
diese sind ebenso ununterrichtend für den Liebhaber, als ekelhaft für den
Virtuosen, den man zu ehren vermeinet;--sondern bloß nach den Absichten,
die ihr Meister damit gehabt, und nach den Mitteln überhaupt, deren er
sich, zur Erreichung derselben, bedienen wollen.

Die Anfangssymphonie bestehet aus drei Sätzen. Der erste Satz ist ein
Largo, nebst den Violinen, mit Hoboen und Flöten; der Grundbaß ist durch
Fagotte verstärkt. Sein Ausdruck ist ernsthaft; manchmal gar wild und
stürmisch; der Zuhörer soll vermuten, daß er ein Schauspiel ungefähr
dieses Inhalts zu erwarten habe. Doch nicht dieses Inhalts allein;
Zärtlichkeit, Reue, Gewissensangst, Unterwerfung nehmen ihr Teil daran;
und der zweite Satz, ein Andante mit gedämpften Violinen und
konzertierenden Fagotten, beschäftigst sich also mit dunkeln und
mitleidigen Klagen. In dem dritten Satze vermischen sich die beweglichen
Tonwendungen mit stolzen; denn die Bühne eröffnet sich mit mehr als
gewöhnlicher Pracht; Semiramis nahet sich dem Ende ihrer Herrlichkeit;
wie diese Herrlichkeit das Auge spüren muß, soll sie auch das Ohr
vernehmen. Der Charakter ist Allegretto, und die Instrumente sind wie in
dem ersten, außer daß die Hoboen, Flöten und Fagotte miteinander einige
besondere kleinere Sätze haben.

Die Musik zwischen den Akten hat durchgängig nur einen einzigen Satz;
dessen Ausdruck sich auf das Vorhergehende beziehet. Einen zweiten, der
sich auf das Folgende bezöge, scheinet Herr Agricola also nicht zu
billigen. Ich würde hierin sehr seines Geschmacks sein. Denn die Musik
soll dem Dichter nichts verderben; der tragische Dichter liebt das
Unerwartete, das Überraschende mehr als ein anderer; er läßt seinen Gang
nicht gern voraus verraten; und die Musik würde ihn verraten, wenn sie
die folgende Leidenschaft angeben wollte. Mit der Anfangssymphonie ist es
ein anders; sie kann auf nichts Vorhergehendes gehen; und doch muß auch
sie nur den allgemeinen Ton des Stücks angeben, und nicht stärker, nicht
bestimmter, als ihn ungefähr der Titel angibt. Man darf dem Zuhörer wohl
das Ziel zeigen, wohin man ihn führen will, aber die verschiedenen Wege,
auf welchen er dahin gelangen soll, müssen ihm gänzlich verborgen
bleiben. Dieser Grund wider einen zweiten Satz zwischen den Akten ist aus
dem Vorteile des Dichters hergenommen; und er wird durch einen andern,
der sich aus den Schranken der Musik ergibt, bestärkt. Denn gesetzt, daß
die Leidenschaften, welche in zwei aufeinanderfolgenden Akten herrschen,
einander ganz entgegen wären, so würden notwendig auch die beiden Sätze
von ebenso widriger Beschaffenheit sein müssen. Nun begreife ich sehr
wohl, wie uns der Dichter aus einer jeden Leidenschaft zu der ihr
entgegenstehenden, zu ihrem völligen Widerspiele, ohne unangenehme
Gewaltsamkeit bringen kann; er tut das nach und nach, gemach und gemach;
er steiget die ganze Leiter von Sprosse zu Sprosse, entweder hinauf oder
hinab, ohne irgendwo den geringsten Sprung zu tun. Aber kann dieses auch
der Musikus? Es sei, daß er es in einem Stücke, von der erforderlichen
Länge, ebensowohl tun könne; aber in zwei besondern, voneinander gänzlich
abgesetzten Stücken muß der Sprung, z.E. aus dem Ruhigen in das
Stürmische, aus dem Zärtlichen in das Grausame, notwendig sehr merklich
sein, und alle das Beleidigende haben, was in der Natur jeder plötzliche
Übergang aus einem Äußersten in das andere, aus der Finsternis in das
Licht, aus der Kälte in die Hitze zu haben pflegt. Itzt zerschmelzen wir
in Wehmut, und auf einmal sollen wir rasen. Wie? warum? wider wen? wider
eben den, für den unsere Seele ganz mitleidiges Gefühl war? oder wider
einen andern? Alles das kann die Musik nicht bestimmen; sie läßt uns in
Ungewißheit und Verwirrung; wir empfinden, ohne eine richtige Folge
unserer Empfindungen wahrzunehmen; wir empfinden wie im Traume; und alle
diese unordentliche Empfindungen sind mehr abmattend als ergötzend. Die
Poesie hingegen läßt uns den Faden unserer Empfindungen nie verlieren;
hier wissen wir nicht allein, was wir empfinden sollen, sondern auch,
warum wir es empfinden sollen; und nur dieses Warum macht die
plötzlichsten Übergänge nicht allein erträglich, sondern auch angenehm.
In der Tat ist diese Motivierung der plötzlichen Übergänge einer der
größten Vorteile, den die Musik aus der Vereinigung mit der Poesie
ziehet; ja vielleicht der allergrößte. Denn es ist bei weitem nicht so
notwendig, die allgemeinen unbestimmten Empfindungen der Musik, z.E. der
Freude, durch Worte auf einen gewissen einzeln Gegenstand der Freude
einzuschränken, weil auch jene dunkeln schwanken Empfindungen noch immer
sehr angenehm sind; als notwendig es ist, abstechende, widersprechende
Empfindungen durch deutliche Begriffe, die nur Worte gewähren können, zu
verbinden, um sie durch diese Verbindung in ein Ganzes zu verweben,
welchem man nicht allein Mannigfaltiges, sondern auch Übereinstimmung des
Mannigfaltigen bemerke. Nun aber würde, bei dem doppelten Satze zwischen
den Akten eines Schauspiels, diese Verbindung erst hintennach kommen; wir
würden es erst hintennach erfahren, warum wir aus einer Leidenschaft in
eine ganz entgegengesetzte überspringen müssen: und das ist für die Musik
so gut, als erführen wir es gar nicht. Der Sprung hat einmal seine üble
Wirkung getan, und er hat uns darum nicht weniger beleidiget, weil wir
nun einsehen, daß er uns nicht hätte beleidigen sollen. Man glaube aber
nicht, daß sonach alle Symphonien verwerflich sein müßten, weil alle aus
mehrern Sätzen bestehen, die voneinander unterschieden sind, und deren
jeder etwas anders ausdrückt als der andere. Sie drücken etwas anders
aus, aber nicht etwas Verschiednes; oder vielmehr, sie drücken das
nämliche, und nur auf eine andere Art aus. Eine Symphonie, die in ihren
verschiednen Sätzen verschiedne, sich widersprechende Leidenschaften
ausdrückt, ist ein musikalisches Ungeheuer; in einer Symphonie muß nur
eine Leidenschaft herrschen, und jeder besondere Satz muß ebendieselbe
Leidenschaft, bloß mit verschiednen Abänderungen, es sei nun nach den
Graden ihrer Stärke und Lebhaftigkeit oder nach den mancherlei
Vermischungen mit andern verwandten Leidenschaften, ertönen lassen und in
uns zu erwecken suchen. Die Anfangssymphonie war vollkommen von dieser
Beschaffenheit; das Ungestüme des ersten Satzes zerfließt in das Klagende
des zweiten, welches sich in dem dritten zu einer Art von feierlichen
Würde erhebet. Ein Tonkünstler, der sich in seinen Symphonien mehr
erlaubt, der mit jedem Satze den Affekt abbricht, um mit dem folgenden
einen neuen ganz verschiednen Affekt anzuheben, und auch diesen fahren
läßt, um sich in einen dritten ebenso verschiednen zu werfen; kann viel
Kunst, ohne Nutzen, verschwendet haben, kann überraschen, kann betäuben,
kann kitzeln, nur rühren kann er nicht. Wer mit unserm Herzen sprechen
und sympathetische Regungen in ihm erwecken will, muß ebensowohl
Zusammenhang beobachten, als wer unsern Verstand zu unterhalten und zu
belehren denkt. Ohne Zusammenhang, ohne die innigste Verbindung aller und
jeder Teile ist die beste Musik ein eitler Sandhaufen, der keines
dauerhaften Eindruckes fähig ist; nur der Zusammenhang macht sie zu einem
festen Marmor, an dem sich die Hand des Künstlers verewigen kann.

Der Satz nach dem ersten Akte sucht also lediglich die Besorgnisse der
"Semiramis" zu unterhalten, denen der Dichter diesen Akt gewidmet hat;
Besorgnisse, die noch mit einiger Hoffnung vermischt sind; ein Andante
mesto, bloß mit gedämpften Violinen und Bratsche.

In dem zweiten Akt spielt Assur eine zu wichtige Rolle, als daß er nicht
den Ausdruck der darauffolgenden Musik bestimmen sollte. Ein Allegro
assai aus dem G-dur mit Waldhörnern, durch Flöten und Hoboen, auch den
Grundbaß mitspielende Fagotte verstärkt, drückt den durch Zweifel und
Furcht unterbrochenen, aber immer noch sich wieder erholenden Stolz
dieses treulosen und herrschsüchtigen Ministers aus.

In dem dritten Akte erscheint das Gespenst. Ich habe, bei Gelegenheit der
ersten Vorstellung, bereits angemerkt, wie wenig Eindruck Voltaire diese
Erscheinung auf die Anwesenden machen läßt. Aber der Tonkünstler hat
sich, wie billig, daran nicht gekehrt; er holt es nach, was der Dichter
unterlassen hat, und ein Allegro aus dem E-moll, mit der nämlichen
Instrumentenbesetzung des Vorhergehenden, nur daß E-Hörner mit G-Hörnern
verschiedentlich abwechseln, schildert kein stummes und träges Erstaunen,
sondern die wahre wilde Bestürzung, welche eine dergleichen Erscheinung
unter dem Volke verursachen muß.

Die Beängstigung der Semiramis im vierten Aufzuge erweckt unser Mitleid;
wir bedauern die Reuende, so schuldig wir auch die Verbrecherin wissen.
Bedauern und Mitleid läßt also auch die Musik ertönen; in einem Larghetto
aus dem A-moll, mit gedämpften Violinen und Bratsche und einer
konzertierenden Hoboe.

Endlich folget auch auf den fünften Akt nur ein einziger Satz, ein
Adagio, aus dem E-dur, nächst den Violinen und der Bratsche, mit Hörnern,
mit verstärkenden Hoboen und Flöten und mit Fagotten, die mit dem
Grundbasse gehen. Der Ausdruck ist den Personen des Trauerspiels
angemessene und ins Erhabene gezogene Betrübnis, mit einiger Rücksicht,
wie mich deucht, auf die vier letzten Zeilen, in welchen die Wahrheit
ihre warnende Stimme gegen die Großen der Erde ebenso würdig als
mächtig erhebt.

Die Absichten eines Tonkünstlers merken, heißt ihm zugestehen, daß er sie
erreicht hat. Sein Werk soll kein Rätsel sein, dessen Deutung ebenso
mühsam als schwankend ist. Was ein gesundes Ohr am geschwindesten in ihm
vernimmt, das und nichts anders hat er sagen wollen; sein Lob wächst mit
seiner Verständlichkeit; je leichter, je allgemeiner diese, desto
verdienter jenes.--Es ist kein Ruhm für mich, daß ich recht gehört habe;
aber für den Hrn. Agricola ist es ein so viel größerer, daß in dieser
seiner Komposition niemand etwas anders gehört hat als ich.



Achtundzwanzigstes Stück
Den 4. August 1767

Den dreiunddreißigsten Abend (freitags, den 12. Junius) ward die "Nanine"
wiederholt, und den Beschluß machte "Der Bauer mit der Erbschaft", aus
dem Französischen des Marivaux.

Dieses kleine Stück ist hier Ware für den Platz und macht daher allezeit
viel Vergnügen. Jürge kömmt aus der Stadt zurück, wo er einen reichen
Bruder begraben lassen, von dem er hunderttausend Mark geerbt. Glück
ändert Stand und Sitten; nun will er leben, wie vornehme Leute leben,
erhebt seine Liese zur Madame, findet geschwind für seinen Hans und für
seine Grete eine ansehnliche Partie, alles ist richtig, aber der hinkende
Bote kömmt nach. Der Makler, bei dem die hunderttausend Mark gestanden,
hat Bankerott gemacht, Jürge ist wieder nichts wie Jürge, Hans bekommt
den Korb, Grete bleibt sitzen, und der Schluß würde traurig genug sein,
wenn das Glück mehr nehmen könnte, als es gegeben hat; gesund und
vergnügt waren sie, gesund und vergnügt bleiben sie.

Diese Fabel hätte jeder erfinden können; aber wenige würden sie so
unterhaltend zu machen gewußt haben, als Marivaux. Die drolligste Laune,
der schnurrigste Witz, die schalkischste Satire lassen uns vor Lachen
kaum zu uns selbst kommen; und die naive Bauernsprache gibt allem eine
ganz eigene Würze. Die Übersetzung ist von Krügern, der das französische
Patois in den hiesigen platten Dialekt meisterhaft zu übertragen gewußt
hat. Es ist nur schade, daß verschiedene Stellen höchst fehlerhaft und
verstümmelt abgedruckt werden. Einige müßten notwendig in der Vorstellung
berichtiget und ergänzt werden. Z. E. folgende, gleich in der ersten Szene.

"Jürge. He, he, he! Giv mie doch fief Schillink kleen Geld, ik hev
niks, as Gullen un Dahlers.

Lise. He, he, he! Segge doch, hest du Schrullen med dienen fief
Schillink kleen Geld? wat wist du damed maaken?

Jürge. He, he, he, he! Giv mie fief Schillink kleen Geld, seg ik die.

Lise. Woto denn, Hans Narr?

Jürge. För düssen Jungen, de mie mienen Bündel op dee Reise bed in
unse Dörp dragen hed, un ik bün ganß licht und sacht hergahn.

Lise. Büst du to Foote hergahn?

Jürge. Ja. Wielt't veel kummoder is.

Lise. Da hest du een Maark.

Jürge. Dat is doch noch resnabel. Wo veel maakt't? So veel is dat.
Een Maark hed se mie dahn: da, da is't. Nehmt't hen; so is't richdig.

Lise. Un du verdeihst fief Schillink an een Jungen, de die dat Pak
dragen hed?

Jürge. Ja! ik met ehm doch een Drankgeld geven.

Valentin. Sollen die fünf Schilling für mich, Herr Jürge?

Jürge. Ja, mien Fründ!

Valentin. Fünf Schilling? ein reicher Erbe! fünf Schillinge? ein
Mann von Ihrem Stande! Und wo bleibt die Hoheit der Seele?

Jürge. O! et kumt mie even darop nich an, jy dörft't man seggen.
Maake Fro, smiet ehm noch een Schillink hen; by uns regnet man so."

Wie ist das? Jürge ist zu Fuße gegangen, weil es kommoder ist? Er fodert
fünf Schillinge, und seine Frau gibt ihm ein Mark, die ihm fünf
Schillinge nicht geben wollte? Die Frau soll dem Jungen noch einen
Schilling hinschmeißen? warum tut er es nicht selbst? Von dem Marke blieb
ihm ja noch übrig. Ohne das Französische wird man sich schwerlich aus dem
Hanfe finden. Jürge war nicht zu Fuße gekommen, sondern mit der Kutsche:
und darauf geht sein "Wielt't veel kummoder is". Aber die Kutsche ging
vielleicht bei seinem Dorfe nur vorbei, und von da, wo er abstieg, ließ
er sich bis zu seinem Hause das Bündel nachtragen. Dafür gibt er dem
Jungen die fünf Schillinge; das Mark gibt ihm nicht die Frau, sondern das
hat er für die Kutsche bezahlen müssen, und er erzählt ihr nur, wie
geschwind er mit dem Kutscher darüber fertig geworden.[1]

Den vierunddreißigsten Abend (montags, den 29. Junius) ward "Der
Zerstreute" des Regnard aufgeführt.

Ich glaube schwerlich, daß unsere Großväter den deutschen Titel dieses
Stücks verstanden hätten. Noch Schlegel übersetzte Distrait durch
"Träumer". Zerstreut sein, ein Zerstreuter, ist lediglich nach der
Analogie des Französischen gemacht. Wir wollen nicht untersuchen, wer das
Recht hatte, diese Worte zu machen; sondern wir wollen sie brauchen,
nachdem sie einmal gemacht sind. Man versteht sie nunmehr, und das
ist genug.

Regnard brachte seinen "Zerstreuten" im Jahre 1679 aufs Theater; und er
fand nicht den geringsten Beifall. Aber vierunddreißig Jahr darauf, als
ihn die Komödianten wieder versuchten, fand er einen so viel größern.
Welches Publikum hatte nun recht? Vielleicht hatten sie beide nicht
unrecht. Jenes strenge Publikum verwarf das Stück als eine gute förmliche
Komödie, wofür es der Dichter ohne Zweifel ausgab. Dieses geneigtere nahm
es für nichts mehr auf, als es ist; für eine Farce, für ein Possenspiel,
das zu lachen machen soll; man lachte und war dankbar. Jenes
Publikum dachte:

    --non satis est risu diducere rictum
    Auditoris--

und dieses:

    --et est quaedam tamen hic quoque virtus.

Außer der Versifikation, die noch dazu sehr fehlerhaft und nachlässig
ist, kann dem Regnard dieses Lustspiel nicht viel Mühe gemacht haben. Den
Charakter seiner Hauptperson fand er bei dem La Bruyère völlig entworfen.
Er hatte nichts zu tun, als die vornehmsten Züge teils in Handlung zu
bringen, teils erzählen zu lassen. Was er von dem Seinigen hinzufügte,
will nicht viel sagen.

Wider dieses Urteil ist nichts einzuwenden; aber wider eine andere
Kritik, die den Dichter auf der Seite der Moralität fassen will, desto
mehr. Ein Zerstreuter soll kein Vorwurf für die Komödie sein. Warum
nicht? Zerstreut sein, sagt man, sei eine Krankheit, ein Unglück; und
kein Laster. Ein Zerstreuter verdiene ebensowenig ausgelacht zu werden,
als einer, der Kopfschmerzen hat. Die Komödie müsse sich nur mit Fehlern
abgeben, die sich verbessern lassen. Wer aber von Natur zerstreut sei,
der lasse sich durch Spöttereien ebensowenig bessern als ein Hinkender.

Aber ist es denn wahr, daß die Zerstreuung ein Gebrechen der Seele ist,
dem unsere besten Bemühungen nicht abhelfen können? Sollte sie wirklich
mehr natürliche Verwahrlosung als üble Angewohnheit sein? Ich kann es
nicht glauben. Sind wir nicht Meister unserer Aufmerksamkeit? Haben wir
es nicht in unserer Gewalt, sie anzustrengen, sie abzuziehen, wie wir
wollen? Und was ist die Zerstreuung anders, als ein unrechter Gebrauch
unserer Aufmerksamkeit? Der Zerstreute denkt, und denkt nur das nicht,
was er, seinen itzigen sinnlichen Eindrücken zufolge, denken sollte.
Seine Seele ist nicht entschlummert, nicht betäubt, nicht außer Tätigkeit
gesetzt; sie ist nur abwesend, sie ist nur anderwärts tätig. Aber so gut
sie dort sein kann, so gut kann sie auch hier sein; es ist ihr natürlicher
Beruf, bei den sinnlichen Veränderungen ihres Körpers gegenwärtig zu sein;
es kostet Mühe, sie dieses Berufs zu entwöhnen, und es sollte unmöglich
sein, ihr ihn wieder geläufig zu machen?

Doch es sei; die Zerstreuung sei unheilbar: wo steht es denn geschrieben,
daß wir in der Komödie nur über moralische Fehler, nur über verbesserliche
Untugenden lachen sollen? Jede Ungereimtheit, jeder Kontrast von Mangel
und Realität ist lächerlich. Aber lachen und verlachen ist sehr weit
auseinander. Wir können über einen Menschen lachen, bei Gelegenheit
seiner lachen, ohne ihn im geringsten zu verlachen. So unstreitig, so
bekannt dieser Unterschied ist, so sind doch alle Schikanen, welche noch
neuerlich Rousseau gegen den Nutzen der Komödie gemacht hat, nur daher
entstanden, weil er ihn nicht gehörig in Erwägung gezogen. "Molière",
sagt er z.E., "macht uns über den Misanthropen zu lachen, und doch ist
der Misanthrop der ehrliche Mann des Stücks; Molière beweiset sich also
als einen Feind der Tugend, indem er den Tugendhaften verächtlich macht."

Nicht doch; der Misanthrop wird nicht verächtlich, er bleibt, wer er ist,
und das Lachen, welches aus den Situationen entspringt, in die ihn der
Dichter setzt, benimmt ihm von unserer Hochachtung nicht das geringste.
Der Zerstreute gleichfalls; wir lachen über ihn, aber verachten wir ihn
darum? Wir schätzen seine übrige guten Eigenschaften, wie wir sie
schätzen sollen; ja ohne sie würden wir nicht einmal über seine
Zerstreuung lachen können. Man gebe diese Zerstreuung einem boshaften,
nichtswürdigen Manne, und sehe, ob sie noch lächerlich sein wird? Widrig,
ekel, häßlich wird sie sein; nicht lächerlich.


----Fußnote

[1]
Blaise. Eh! eh! eh! baille-moi cinq sols de monnoye, je n'ons
que de grosses pièces.

Claudine (le contrefaisant). Eh! eh! eh! di donc, Nicaise, avec
tes cinq sols de monnoye, qu'est-ce que t'en veux faire?

Blaise. Eh! eh! eh! baille-moi cinq sols de monnoye, te dis-je.

Claudine. Pourquoi donc, Nicodème?

Blaise. Pour ce garçon qui apporte mon paquet depis la voiture
jusqu'à cheux nous, pendant que je marchois tout bellement et à mon
aise.

Claudine. T'es venu dans la voiture?

Blaise. Oui, parce que cela est plus commode.

Claudine. T'a baillé un écu?

Blaise. Oh bian noblement. Combien faut-il? ai-je fait. Un écu, ce
m'a-t-on fait. Tenez, le vela, prennez. Tout comme ça.

Claudine. Et tu dépenses cinq sols en porteurs de paquets?

Blaise. Oui, par manière de recréation.

Arlequin. Est-ce pour moi les cinq sols, Monsieur Blaise?

Blaise. Oui, mon ami. etc.

----Fußnote



Neunundzwanzigstes Stück
Den 7. August 1767

Die Komödie will durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen;
nicht gerade diejenigen Unarten, über die sie zu lachen macht, noch
weniger bloß und allein die, an welchen sich diese lächerlichen Unarten
finden. Ihr wahrer allgemeiner Nutzen liegt in dem Lachen selbst; in der
Übung unserer Fähigkeit, das Lächerliche zu bemerken; es unter allen
Bemäntelungen der Leidenschaft und der Mode, es in allen Vermischungen
mit noch schlimmern oder mit guten Eigenschaften, sogar in den Runzeln
des feierlichen Ernstes, leicht und geschwind zu bemerken. Zugegeben, daß
der "Geizige" des Molière nie einen Geizigen, der "Spieler" des Regnard
nie einen Spieler gebessert habe; eingeräumt, daß das Lachen diese Toren
gar nicht bessern könne: desto schlimmer für sie, aber nicht für die
Komödie. Ihr ist genug, wenn sie keine verzweifelte Krankheiten heilen
kann, die Gesunden in ihrer Gesundheit zu befestigen. Auch dem
Freigebigen ist der Geizige lehrreich; auch dem, der gar nicht spielt,
ist der Spieler unterrichtend; die Torheiten, die sie nicht haben, haben
andere, mit welchen sie leben müssen; es ist ersprießlich, diejenigen zu
kennen, mit welchen man in Kollision kommen kann; ersprießlich, sich
wider alle Eindrücke des Beispiels zu verwahren. Ein Präservativ ist auch
eine schätzbare Arzenei; und die ganze Moral hat kein kräftigers,
wirksamers, als das Lächerliche.--

"Das Rätsel oder Was den Damen am meisten gefällt", ein Lustspiel in
einem Aufzuge von Herr Löwen, machte diesen Abend den Beschluß.

Wenn Marmontel und Voltaire nicht Erzählungen und Märchen geschrieben
hätten, so würde das französische Theater eine Menge Neuigkeiten haben
entbehren müssen. Am meisten hat sich die komische Oper aus diesen
Quellen bereichert. Des letztern "Ce qui plaît aux dames" gab den Stoff
zu einem mit Arien untermengten Lustspiele von vier Aufzügen, welches
unter dem Titel "La fée Urgèle", von den italienischen Komödianten zu
Paris, im Dezember 1765 aufgeführet ward. Herr Löwen scheinet nicht
sowohl dieses Stück, als die Erzählung des Voltaire selbst vor Augen
gehabt zu haben. Wenn man bei Beurteilung einer Bildsäule mit auf den
Marmorblock zu sehen hat, aus welchem sie gemacht worden; wenn die
primitive Form dieses Blockes es zu entschuldigen vermag, daß dieses oder
jenes Glied zu kurz, diese oder jene Stellung zu gezwungen geraten: so
ist die Kritik auf einmal abgewiesen, die den Herrn Löwen wegen der
Einrichtung seines Stücks in Anspruch nehmen wollte. Mache aus einem
Hexenmärchen etwas Wahrscheinlichers, wer da kann! Herr Löwen selbst gibt
sein Rätsel für nichts anders, als für eine kleine Plaisanterie, die auf
dem Theater gefallen kann, wenn sie gut gespielt wird. Verwandlung und
Tanz und Gesang konkurrieren zu dieser Absicht; und es wäre bloßer
Eigensinn, an keinem Belieben zu finden. Die Laune des Pedrillo ist zwar
nicht original, aber doch gut getroffen. Nur dünkt mich, daß ein
Waffenträger oder Stallmeister, der das Abgeschmackte und Wahnsinnige der
irrenden Ritterschaft einsieht, sich nicht so recht in eine Fabel passen
will, die sich auf die Wirklichkeit der Zauberei gründet und ritterliche
Abenteuer als rühmliche Handlungen eines vernünftigen und tapfern Mannes
annimmt. Doch, wie gesagt, es ist eine Plaisanterie; und Plaisanterien
muß man nicht zergliedern wollen.

Den fünfunddreißigsten Abend (mittewochs, den 1. Julius) ward, in
Gegenwart Sr. Königl. Majestät von Dänemark, die "Rodogune" des Peter
Corneille aufgeführt.

Corneille bekannte, daß er sich auf dieses Trauerspiel das meiste
einbilde, daß er es weit über seinen "Cinna" und "Cid" setze, daß seine
übrige Stücke wenig Vorzüge hätten, die in diesem nicht vereint
anzutreffen wären; ein glücklicher Stoff, ganz neue Erdichtungen, starke
Verse, ein gründliches Raisonnement, heftige Leidenschaften, ein von Akt
zu Akt immer wachsendes Interesse.--

Es ist billig, daß wir uns bei dem Meisterstücke dieses großen Mannes
verweilen.

Die Geschichte, auf die es gebauet ist, erzählt Appianus Alexandrinus
gegen das Ende seines Buchs von den syrischen Kriegen. "Demetrius, mit
dem Zunamen Nikanor, unternahm einen Feldzug gegen die Parther und lebte
als Kriegsgefangner einige Zeit an dem Hofe ihres Königes Phraates, mit
dessen Schwester Rodogune er sich vermählte. Inzwischen bemächtigte sich
Diodotus, der den vorigen Königen gedienet hatte, des syrischen Thrones
und erhob ein Kind, den Sohn des Alexander Nothus, darauf, unter dessen
Namen er als Vormund anfangs die Regierung führte. Bald aber schaffte er
den jungen König aus dem Wege, setzte sich selbst die Krone auf und gab
sich den Namen Tryphon. Als Antiochus, der Bruder des gefangenen Königs,
das Schicksal desselben und die darauf erfolgten Unruhen des Reichs zu
Rhodus, wo er sich aufhielt, hörte, kam er nach Syrien zurück, überwand
mit vieler Mühe den Tryphon und ließ ihn hinrichten. Hierauf wandte er
seine Waffen gegen den Phraates und foderte die Befreiung seines Bruders.
Phraates, der sich des Schlimmsten besorgte, gab den Demetrius auch
wirklich los; aber nichtsdestoweniger kam es zwischen ihm und Antiochus
zum Treffen, in welchem dieser den kürzern zog und sich aus Verzweiflung
selbst entleibte. Demetrius, nachdem er wieder in sein Reich gekehret
war, ward von seiner Gemahlin Kleopatra aus Haß gegen die Rodogune
umgebracht; obschon Kleopatra selbst, aus Verdruß über diese Heirat, sich
mit dem nämlichen Antiochus, seinem Bruder, vermählet hatte. Sie hatte
von dem Demetrius zwei Söhne, wovon sie den ältesten, mit Namen Seleukus,
der nach dem Tode seines Vaters den Thron bestieg, eigenhändig mit einem
Pfeile erschoß; es sei nun, weil sie besorgte, er möchte den Tod seines
Vaters an ihr rächen, oder weil sie sonst ihre grausame Gemütsart dazu
veranlaßte. Der jüngste Sohn hieß Antiochus; er folgte seinem Bruder in
der Regierung und zwang seine abscheuliche Mutter, daß sie den
Giftbecher, den sie ihm zugedacht hatte, selbst trinken mußte."

In dieser Erzählung lag Stoff zu mehr als einem Trauerspiele. Es würde
Corneillen eben nicht viel mehr Erfindung gekostet haben, einen
"Tryphon", einen "Antiochus", einen "Demetrius", einen "Seleukus" daraus
zu machen, als es ihm, eine "Rodogune" daraus zu erschaffen, kostete. Was
ihn aber vorzüglich darin reizte, war die beleidigte Ehefrau, welche die
usurpierten Rechte ihres Ranges und Bettes nicht grausam genug rächen zu
können glaubet. Diese also nahm er heraus; und es ist unstreitig, daß
sonach sein Stück nicht "Rodogune", sondern "Kleopatra" heißen sollte.
Er gestand es selbst, und nur weil er besorgte, daß die Zuhörer diese
Königin von Syrien mit jener berühmten letzten Königin von Ägypten
gleichen Namens verwechseln dürften, wollte er lieber von der zweiten,
als von der ersten Person den Titel hernehmen. "Ich glaubte mich", sagt
er, "dieser Freiheit um so eher bedienen zu können, da ich angemerkt
hatte, daß die Alten selbst es nicht für notwendig gehalten, ein Stück
eben nach seinem Helden zu benennen, sondern es ohne Bedenken auch wohl
nach dem Chore benannt haben, der an der Handlung doch weit weniger teil
hat, und weit episodischer ist, als Rodogune; so hat z.E. Sophokles
eines seiner Trauerspiele 'Die Trachinerinnen' genannt, welches man
itziger Zeit schwerlich anders, als den 'sterbenden Herkules' nennen
würde." Diese Bemerkung ist an und für sich sehr richtig; die Alten
hielten den Titel für ganz unerheblich; sie glaubten im geringsten nicht,
daß er den Inhalt angeben müsse; genug, wenn dadurch ein Stück von dem
andern unterschieden ward, und hiezu ist der kleinste Umstand
hinlänglich. Allein, gleichwohl glaube ich schwerlich, daß Sophokles das
Stück, welches er "Die Trachinerinnen" überschrieb, würde haben
"Dejanira" nennen wollen. Er stand nicht an, ihm einen nichtsbedeutenden
Titel zu geben, aber ihm einen verführerischen Titel zu geben, einen
Titel, der unsere Aufmerksamkeit auf einen falschen Punkt richtet, dessen
möchte er sich ohne Zweifel mehr bedacht haben. Die Besorgnis des
Corneille ging hiernächst zu weit; wer die ägyptische Kleopatra kennet,
weiß auch, daß Syrien nicht Ägypten ist, weiß, daß mehr Könige und
Königinnen einerlei Namen geführt haben: wer aber jene nicht kennt, kann
sie auch mit dieser nicht verwechseln. Wenigstens hätte Corneille in dem
Stück selbst den Namen Kleopatra nicht so sorgfältig vermeiden sollen;
die Deutlichkeit hat in dem ersten Akte darunter gelitten; und der
deutsche Übersetzer tat daher sehr wohl, daß er sich über diese kleine
Bedenklichkeit wegsetzte. Kein Skribent, am wenigsten ein Dichter, muß
seine Leser oder Zuhörer so gar unwissend annehmen; er darf auch gar wohl
manchmal denken: was sie nicht wissen, das mögen sie fragen!



Dreißigstes Stück
Den 11. August 1767

Kleopatra, in der Geschichte, ermordet ihren Gemahl, erschießt den einen
von ihren Söhnen und will den andern mit Gift vergeben. Ohne Zweifel
folgte ein Verbrechen aus dem andern, und sie hatten alle im Grunde
nur eine und ebendieselbe Quelle. Wenigstens läßt es sich mit
Wahrscheinlichkeit  annehmen, daß die einzige Eifersucht ein wütendes
Eheweib zu einer ebenso wütenden Mutter machte. Sich eine zweite Gemahlin
an die Seite gestellet zu sehen, mit dieser die Liebe ihres Gatten und
die Hoheit ihres Ranges zu teilen, brachte ein empfindliches und stolzes
Herz leicht zu dem Entschlusse, das gar nicht zu besitzen, was es nicht
allein besitzen konnte. Demetrius muß nicht leben, weil er für Kleopatra
nicht allein leben will. Der schuldige Gemahl fällt; aber in ihm fällt
auch ein Vater, der rächende Söhne hinterläßt. An diese hatte die Mutter
in der Hitze ihrer Leidenschaft nicht gedacht, oder nur als an ihre Söhne
gedacht, von deren Ergebenheit sie versichert sei, oder deren kindlicher
Eifer doch, wenn er unter Eltern wählen müßte, ohnfehlbar sich für den
zuerst beleidigten Teil erklären würde. Sie fand es aber so nicht; der
Sohn ward König, und der König sahe in der Kleopatra nicht die Mutter,
sondern die Königsmörderin. Sie hatte alles von ihm zu fürchten; und von
dem Augenblicke an, er alles von ihr. Noch kochte die Eifersucht in ihrem
Herzen; noch war der treulose Gemahl in seinen Söhnen übrig; sie fing an,
alles zu hassen, was sie erinnern mußte, ihn einmal geliebt zu haben; die
Selbsterhaltung stärkte diesen Haß; die Mutter war fertiger als der Sohn,
die Beleidigerin fertiger, als der Beleidigte; sie beging den zweiten
Mord, um den ersten ungestraft begangen zu haben; sie beging ihn an ihrem
Sohne und beruhigte sich mit der Vorstellung, daß sie ihn nur an dem
begehe, der ihr eignes Verderben beschlossen habe, daß sie eigentlich
nicht morde, daß sie ihrer Ermordung nur zuvorkomme. Das Schicksal des
ältere Sohnes wäre auch das Schicksal des jüngern geworden; aber dieser
war rascher, oder war glücklicher. Er zwingt die Mutter, das Gift zu
trinken, das sie ihm bereitet hat; ein unmenschliches Verbrechen rächet
das andere; und es kömmt bloß auf die Umstände an, auf welcher Seite wir
mehr Verabscheuung, oder mehr Mitleid empfinden sollen.

Dieser dreifache Mord würde nur eine Handlung ausmachen, die ihren Anfang,
ihr Mittel und ihr Ende in der nämlichen Leidenschaft der nämlichen
Person hätte. Was fehlt ihr also noch zum Stoffe einer Tragödie? Für das
Genie fehlt ihr nichts: für den Stümper alles. Da ist keine Liebe, da
ist keine Verwicklung, keine Erkennung, kein unerwarteter wunderbarer
Zwischenfall; alles geht seinen natürlichen Gang. Dieser natürliche Gang
reizet das Genie; und den Stümper schrecket er ab. Das Genie können nur
Begebenheiten beschäftigen, die ineinander gegründet sind, nur Ketten von
Ursachen und Wirkungen. Diese auf jene zurückzuführen, jene gegen diese
abzuwägen, überall das Ungefähr auszuschließen, alles, was geschieht, so
geschehen zu lassen, daß es nicht anders geschehen können: das, das ist
seine Sache, wenn es in dem Felde der Geschichte arbeitet, um die unnützen
Schätze des Gedächtnisses in Nahrungen des Geistes zu verwandeln. Der
Witz hingegen, als der nicht auf das ineinander Gegründete, sondern nur
auf das Ähnliche oder Unähnliche gehet, wenn er sich an Werke waget, die
dem Genie allein vorgesparet bleiben sollten, hält sich bei Begebenheiten
auf, die weiter nichts miteinander gemein haben, als daß sie zugleich
geschehen. Diese miteinander zu verbinden, ihre Faden so durcheinander zu
flechten und zu verwirren, daß wir jeden Augenblick den einen unter dem
andern verlieren, aus einer Befremdung in die andere gestürzt werden; das
kann er, der Witz; und nur das. Aus der beständigen Durchkreuzung solcher
Fäden von ganz verschiednen Farben entstehet denn eine Kontextur, die in
der Kunst eben das ist, was die Weberei Changeant nennet: ein Stoff, von
dem man nicht sagen kann, ob er blau oder rot, grün oder gelb ist; der
beides ist, der von dieser Seite so, von der andern anders erscheinet;
ein Spielwerk der Mode, ein Gaukelputz für Kinder.

Nun urteile man, ob der große Corneille seinen Stoff mehr als ein Genie
oder als ein witziger Kopf bearbeitet habe. Es bedarf zu dieser
Beurteilung weiter nichts, als die Anwendung eines Satzes, den niemand
in Zweifel zieht: das Genie liebt Einfalt; der Witz Verwicklung.

Kleopatra bringt, in der Geschichte, ihren Gemahl aus Eifersucht um. Aus
Eifersucht? dachte Corneille: das wäre ja eine ganz gemeine Frau; nein,
meine Kleopatra muß eine Heldin sein, die noch wohl ihren Mann gern
verloren hätte, aber durchaus nicht den Thron; daß ihr Mann Rodogunen
liebt, muß sie nicht so sehr schmerzen, als daß Rodogune Königin sein
soll, wie sie; das ist weit erhabner.--

Ganz recht; weit erhabner und--weit unnatürlicher. Denn einmal ist der
Stolz überhaupt ein unnatürlicheres, ein gekünstelteres Laster, als die
Eifersucht. Zweitens ist der Stolz eines Weibes noch unnatürlicher, als
der Stolz eines Mannes. Die Natur rüstete das weibliche Geschlecht zur
Liebe, nicht zu Gewaltseligkeiten aus; es soll Zärtlichkeit, nicht Furcht
erwecken; nur seine Reize sollen es mächtig machen; nur durch Liebkosungen
soll es herrschen und soll nicht mehr beherrschen wollen, als es genießen
kann. Eine Frau, der das Herrschen, bloß des Herrschens wegen, gefällt,
bei der alle Neigungen dem Ehrgeize untergeordnet sind, die keine andere
Glückseligkeit kennet, als zu gebieten, zu tyrannisieren und ihren Fuß
ganzen Völkern auf den Nacken zu setzen; so eine Frau kann wohl einmal,
auch mehr als einmal, wirklich gewesen sein, aber sie ist demohngeachtet
eine Ausnahme, und wer eine Ausnahme schildert, schildert ohnstreitig das
minder Natürliche. Die Kleopatra des Corneille, die so eine Frau ist,
die, ihren Ehrgeiz, ihren beleidigten Stolz zu befriedigen, sich alle
Verbrechen erlaubet, die mit nichts als mit macchiavellischen Maximen um
sich wirft, ist ein Ungeheuer ihres Geschlechts, und Medea ist gegen ihr
tugendhaft und liebenswürdig. Denn alle die Grausamkeiten, welche Medea
begeht, begeht sie aus Eifersucht. Einer zärtlichen, eifersüchtigen Frau
will ich noch alles vergeben; sie ist das, was sie sein soll, nur zu
heftig. Aber gegen eine Frau, die aus kaltem Stolze, aus überlegtem
Ehrgeize Freveltaten verübet, empört sich das ganze Herz; und alle Kunst
des Dichters kann sie uns nicht interessant machen. Wir staunen sie an,
wie wir ein Monstrum anstaunen; und wenn wir unsere Neugierde gesättiget
haben, so danken wir dem Himmel, daß sich die Natur nur alle tausend
Jahre einmal so verirret, und ärgern uns über den Dichter, der uns
dergleichen Mißgeschöpfe für Menschen verkaufen will, deren Kenntnis uns
ersprießlich sein könnte. Man gehe die ganze Geschichte durch; unter
funfzig Frauen, die ihre Männer vom Throne gestürzet und ermordet haben,
ist kaum eine, von der man nicht beweisen könnte, daß nur beleidigte
Liebe sie zu diesem Schritte bewogen. Aus bloßem Regierungsneide, aus
bloßem Stolze das Zepter selbst zu führen, welches ein liebreicher
Ehemann führte, hat sich schwerlich eine so weit vergangen. Viele,
nachdem sie als beleidigte Gattinnen die Regierung an sich gerissen,
haben diese Regierung hernach mit allem männlichen Stolze verwaltet: das
ist wahr. Sie hatten bei ihren kalten, mürrischen, treulosen Gatten
alles, was die Unterwürfigkeit Kränkendes hat, zu sehr erfahren, als daß
ihnen nachher ihre mit der äußersten Gefahr erlangte Unabhängigkeit nicht
um so viel schätzbarer hätte sein sollen. Aber sicherlich hat keine das
bei sich gedacht und empfunden, was Corneille seine Kleopatra selbst von
sich sagen läßt; die unsinnigsten Bravaden des Lasters. Der größte
Bösewicht weiß sich vor sich selbst zu entschuldigen, sucht sich selbst
zu überreden, daß das Laster, welches er begeht, kein so großes Laster
sei, oder daß ihn die unvermeidliche Notwendigkeit es zu begehen zwinge.
Es ist wider alle Natur, daß er sich des Lasters, als Lasters, rühmet;
und der Dichter ist äußerst zu tadeln, der aus Begierde, etwas Glänzendes
und Starkes zu sagen, uns das menschliche Herz so verkennen läßt, als ob
seine Grundneigungen auf das Böse, als auf das Böse, gehen könnten.

Dergleichen mißgeschilderte Charaktere, dergleichen schaudernde Tiraden,
sind indes bei keinem Dichter häufiger, als bei Corneillen, und es könnte
leicht sein, daß sich zum Teil sein Beiname des Großen mit darauf gründe.
Es ist wahr, alles atmet bei ihm Heroismus; aber auch das, was keines
fähig sein sollte, und wirklich auch keines fähig ist: das Laster. Den
Ungeheuern, den Gigantischen hätte man ihn nennen sollen; aber nicht den
Großen. Denn nichts ist groß, was nicht wahr ist.



Einunddreißigstes Stück
Den 14. August 1767

In der Geschichte rächet sich Kleopatra bloß an ihrem Gemahle; an
Rodogunen konnte, oder wollte sie sich nicht rächen. Bei dem Dichter ist
jene Rache längst vorbei; die Ermordung des Demetrius wird bloß erzählt,
und alle Handlung des Stücks geht auf Rodogunen. Corneille will seine
Kleopatra nicht auf halbem Wege stehen lassen; sie muß sich noch gar
nicht gerächet zu haben glauben, wenn sie sich nicht auch an Rodogunen
rächet. Einer Eifersüchtigen ist es allerdings natürlich, daß sie gegen
ihre Nebenbuhlerin noch unversöhnlicher ist, als gegen ihren treulosen
Gemahl. Aber die Kleopatra des Corneille, wie gesagt, ist wenig oder
gar nicht eifersüchtig; sie ist bloß ehrgeizig; und die Rache einer
Ehrgeizigen sollte nie der Rache einer Eifersüchtigen ähnlich sein. Beide
Leidenschaften sind zu sehr unterschieden, als daß ihre Wirkungen die
nämlichen sein könnten. Der Ehrgeiz ist nie ohne eine Art von Edelmut,
und die Rache streitet mit dem Edelmute zu sehr, als daß die Rache des
Ehrgeizigen ohne Maß und Ziel sein sollte. Solange er seinen Zweck
verfolgt, kennet sie keine Grenzen; aber kaum hat er diesen erreicht,
kaum ist seine Leidenschaft befriediget, als auch seine Rache kälter und
überlegender zu werden anfängt. Er proportioniert sie nicht sowohl nach
dem erlittenen Nachteile, als vielmehr nach dem noch zu besorgenden. Wer
ihm nicht weiter schaden kann, von dem vergißt er es auch wohl, daß er
ihm geschadet hat. Wen er nicht zu fürchten hat, den verachtet er; und
wen er verachtet, der ist weit unter seiner Rache. Die Eifersucht
hingegen ist eine Art von Neid; und Neid ist ein kleines, kriechendes
Laster, das keine andere Befriedigung kennet, als das gänzliche Verderben
seines Gegenstandes. Sie tobet in einem Feuer fort; nichts kann sie
versöhnen; da die Beleidigung, die sie erwecket hat, nie aufhöret, die
nämliche Beleidigung zu sein, und immer wächset, je länger sie dauert:
so kann auch ihr Durst nach Rache nie erlöschen, die sie spat oder früh,
immer mit gleichem Grimme, vollziehen wird. Gerade so ist die Rache der
Kleopatra beim Corneille; und die Mißhelligkeit, in der diese Rache also
mit ihrem Charakter stehet, kann nicht anders als äußerst beleidigend
sein. Ihre stolzen Gesinnungen, ihr unbändiger Trieb nach Ehre und
Unabhängigkeit, lassen sie uns als eine große, erhabne Seele betrachten,
die alle unsere Bewunderung verdienet. Aber ihr tückischer Groll; ihre
hämische Rachsucht gegen eine Person, von der ihr weiter nichts zu
befürchten stehet, die sie in ihrer Gewalt hat, der sie, bei dem
geringsten Funken von Edelmute, vergeben müßte; ihr Leichtsinn, mit dem
sie nicht allein selbst Verbrechen begeht, mit dem sie auch andern die
unsinnigsten so plump und geradehin zumutet: machen sie uns wiederum so
klein, daß wir sie nicht genug verachten zu können glauben. Endlich muß
diese Verachtung notwendig jene Bewunderung aufzehren, und es bleibt in
der ganzen Kleopatra nichts übrig, als ein häßliches, abscheuliches Weib,
das immer sprudelt und raset, und die erste Stelle im Tollhause verdienet.

Aber nicht genug, daß Kleopatra sich an Rodogunen rächet: der Dichter
will, daß sie es auf eine ganz ausnehmende Weise tun soll. Wie fängt er
dieses an? Wenn Kleopatra selbst Rodogunen aus dem Wege schafft, so ist
das Ding viel zu natürlich: denn was ist natürlicher, als seine Feindin
hinzurichten? Ginge es nicht an, daß zugleich eine Liebhaberin in ihr
hingerichtet würde? Und daß sie von ihrem Liebhaber hingerichtet würde?
Warum nicht? Laßt uns erdichten, daß Rodogune mit dem Demetrius noch
nicht völlig vermählet gewesen; laßt uns erdichten, daß nach seinem Tode
sich die beiden Söhne in die Braut des Vaters verliebt haben; laßt uns
erdichten, daß die beiden Söhne Zwillinge sind, daß dem ältesten der
Thron gehöret, daß die Mutter es aber beständig verborgen gehalten,
welcher von ihnen der älteste sei; laßt uns erdichten, daß sich endlich
die Mutter entschlossen, dieses Geheimnis zu entdecken, oder vielmehr
nicht zu entdecken, sondern an dessen Statt denjenigen für den ältesten
zu erklären und ihn dadurch auf den Thron zu setzen, welcher eine gewisse
Bedingung eingehen wolle; laßt uns erdichten, daß diese Bedingung der Tod
der Rodogune sei. Nun hätten wir ja, was wir haben wollten: beide Prinzen
sind in Rodogunen sterblich verliebt; wer von beiden seine Geliebte
umbringen will, der soll regieren.

Schön; aber könnten wir den Handel nicht noch mehr verwickeln? Könnten
wir die guten Prinzen nicht noch in größere Verlegenheit setzen? Wir
wollen versuchen. Laßt uns also weiter erdichten, daß Rodogune den
Anschlag der Kleopatra erfährt; laßt uns weiter erdichten, daß sie zwar
einen von den Prinzen vorzüglich liebt, aber es ihm nicht bekannt hat,
auch sonst keinem Menschen es bekannt hat, noch bekennen will, daß sie
fest entschlossen ist, unter den Prinzen weder diesen geliebtern, noch
den, welchem der Thron heimfallen dürfte, zu ihrem Gemahle zu wählen, daß
sie allein den wählen wolle, welcher sich ihr am würdigsten erzeigen
werde; Rodogune muß gerächet sein wollen; muß an der Mutter der Prinzen
gerächet sein wollen; Rodogune muß ihnen erklären: wer mich von euch
haben will, der ermorde seine Mutter!

Bravo! Das nenne ich doch noch eine Intrige! Diese Prinzen sind gut
angekommen! Die sollen zu tun haben, wenn sie sich herauswickeln wollen!
Die Mutter sagt zu ihnen: wer von euch regieren will, der ermorde seine
Geliebte! Und die Geliebte sagt: wer mich haben will, ermorde seine
Mutter! Es versteht sich, daß es sehr tugendhafte Prinzen sein müssen,
die einander von Grund der Seele lieben, die viel Respekt für den Teufel
von Mama, und ebensoviel Zärtlichkeit für eine liebäugelnde Furie von
Gebieterin haben. Denn wenn sie nicht beide sehr tugendhaft sind, so ist
die Verwicklung so arg nicht, als es scheinet; oder sie ist zu arg, daß
es gar nicht möglich ist, sie wieder aufzuwickeln. Der eine geht hin und
schlägt die Prinzessin tot, um den Thron zu haben: damit ist es aus. Oder
der andere geht hin und schlägt die Mutter tot, um die Prinzessin zu
haben: damit ist es wieder aus. Oder sie gehen beide hin und schlagen die
Geliebte tot, und wollen beide den Thron haben: so kann es gar nicht aus
werden. Oder sie schlagen beide die Mutter tot, und wollen beide das
Mädchen haben: und so kann es wiederum nicht aus werden. Aber wenn sie
beide fein tugendhaft sind, so will keiner weder die eine noch die andere
totschlagen; so stehen sie beide hübsch und sperren das Maul auf, und
wissen nicht, was sie tun sollen: und das ist eben die Schönheit davon.
Freilich wird das Stück dadurch ein sehr sonderbares Ansehen bekommen,
daß die Weiber darin ärger als rasende Männer, und die Männer weibischer
als die armseligsten Weiber handeln: aber was schadet das? Vielmehr ist
dieses ein Vorzug des Stückes mehr; denn das Gegenteil ist so gewöhnlich,
so abgedroschen!--

Doch im Ernste: ich weiß nicht, ob es viel Mühe kostet, dergleichen
Erdichtungen zu machen; ich habe es nie versucht, ich möchte es auch
schwerlich jemals versuchen. Aber das weiß ich, daß es einem sehr sauer
wird, dergleichen Erdichtungen zu verdauen.

Nicht zwar, weil es bloße Erdichtungen sind; weil nicht die mindeste Spur
in der Geschichte davon zu finden. Diese Bedenklichkeit hätte sich
Corneille immer ersparen können. "Vielleicht", sagt er, "dürfte man
zweifeln, ob sich die Freiheit der Poesie so weit erstrecket, daß sie
unter bekannten Namen eine ganze Geschichte erdenken darf; so wie ich es
hier gemacht habe, wo nach der Erzählung im ersten Akte, welche die
Grundlage des Folgenden ist, bis zu den Wirkungen im fünften, nicht das
geringste vorkömmt, welches einigen historischen Grund hätte. Doch",
fährt er fort, "Mich dünkt, wenn wir nur das Resultat einer Geschichte
beibehalten, so sind alle vorläufige Umstände, alle Einleitungen zu
diesem Resultate in unserer Gewalt. Wenigstens wüßte ich mich keiner
Regel dawider zu erinnern, und die Ausübung der Alten ist völlig auf
meiner Seite. Denn man vergleiche nur einmal die 'Elektra' des Sophokles
mit der 'Elektra' des Euripides, und sehe, ob sie mehr miteinander gemein
haben, als das bloße Resultat, die letzten Wirkungen in den Begegnissen
ihrer Heldin, zu welchen jeder auf einem besondern Wege, durch ihm
eigentümliche Mittel gelanget, so daß wenigstens eine davon notwendig
ganz und gar die Erfindung ihres Verfassers sein muß. Oder man werfe nur
die Augen auf die 'Iphigenia in Taurika', die uns Aristoteles zum Muster
einer vollkommenen Tragödie gibt, und die doch sehr darnach aussieht, daß
sie weiter nichts als eine Erdichtung ist, indem sie sich bloß auf das
Vorgeben gründet, daß Diana die Iphigenia in einer Wolke von dem Altare,
auf welchem sie geopfert werden sollte, entrückt und ein Reh an ihrer
Stelle untergeschoben habe. Vornehmlich aber verdient die 'Helena' des
Euripides bemerkt zu werden, wo sowohl die Haupthandlung, als die
Episoden, sowohl der Knoten als die Auflösung, gänzlich erdichtet sind,
und aus der Historie nichts als die Namen haben."

Allerdings durfte Corneille mit den historischen Umständen nach Gutdünken
verfahren. Er durfte z.E. Rodogunen so jung annehmen, als er wollte; und
Voltaire hat sehr unrecht, wenn er auch hier wiederum aus der Geschichte
nachrechnet, daß Rodogune so jung nicht könne gewesen sein; sie habe den
Demetrius geheiratet, als die beiden Prinzen, die itzt doch wenigstens
zwanzig Jahre haben müßten, noch in ihrer Kindheit gewesen wären. Was
geht das dem Dichter an? Seine Rodogune hat den Demetrius gar nicht
geheiratet; sie war sehr jung, als sie der Vater heiraten wollte, und
nicht viel älter, als sich die Söhne in sie verliebten. Voltaire ist mit
seiner historischen Kontrolle ganz unleidlich. Wenn er doch lieber die
Data in seiner allgemeinen Weltgeschichte dafür verifizieren wollte!



Zweiunddreißigstes Stück
Den 18. August 1767

Mit den Beispielen der Alten hätte Corneille noch weiter zurückgehen
können. Viele stellen sich vor, daß die Tragödie in Griechenland wirklich
zur Erneuerung des Andenkens großer und sonderbarer Begebenheiten
erfunden worden; daß ihre erste Bestimmung also gewesen, genau in die
Fußtapfen der Geschichte zu treten und weder zur Rechten noch zur Linken
auszuweichen. Aber sie irren sich. Denn schon Thespis ließ sich um die
historische Richtigkeit ganz unbekümmert.[1] Es ist wahr, er zog sich
darüber einen harten Verweis von dem Solon zu. Doch ohne zu sagen, daß
Solon sich besser auf die Gesetze des Staats, als der Dichtkunst
verstanden: so läßt sich den Folgerungen, die man aus seiner Mißbilligung
ziehen könnte, auf eine andere Art ausweichen. Die Kunst bediente sich
unter dem Thespis schon aller Vorrechte, als sie sich, von seiten des
Nutzens, ihrer noch nicht würdig erzeigen konnte. Thespis ersann,
erdichtete, ließ die bekanntesten Personen sagen und tun, was er wollte:
aber er wußte seine Erdichtungen vielleicht weder wahrscheinlich noch
lehrreich zu machen. Solon bemerkte in ihnen also nur das Unwahre, ohne
die geringste Vermutung von dem Nützlichen zu haben. Er eiferte wider ein
Gift, welches, ohne sein Gegengift mit sich zu führen, leicht von übeln
Folgen sein könnte.

Ich fürchte sehr, Solon dürfte auch die Erdichtungen des großen Corneille
nichts als leidige Lügen genannt haben. Denn wozu alle diese Erdichtungen?
Machen sie in der Geschichte, die er damit überladet, das Geringste
wahrscheinlicher. Sie sind nicht einmal für sich selbst wahrscheinlich.
Corneille prahlte damit, als mit sehr wunderbaren Anstrengungen der
Erdichtungskraft; und er hätte doch wohl wissen sollen, daß nicht das bloße
Erdichten, sondern das zweckmäßige Erdichten, einen schöpfrischen Geist
beweise.

Der Poet findet in der Geschichte eine Frau, die Mann und Söhne mordet;
eine solche Tat kann Schrecken und Mitleid erwecken, und er nimmt sich
vor, sie in einer Tragödie zu behandeln. Aber die Geschichte sagt ihm
weiter nichts, als das bloße Faktum, und dieses ist ebenso gräßlich als
außerordentlich. Es gibt höchstens drei Szenen, und da es von allen
nähern Umständen entblößt ist, drei unwahrscheinliche Szenen.--Was tut
also der Poet?

So wie er diesen Namen mehr oder weniger verdient, wird ihm entweder die
Unwahrscheinlichkeit oder die magere Kürze der größere Mangel seines
Stückes scheinen.

Ist er in dem ersten Falle, so wird er vor allen Dingen bedacht sein,
eine Reihe von Ursachen und Wirkungen zu erfinden, nach welcher jene
unwahrscheinliche Verbrechen nicht wohl anders, als geschehen müssen.
Unzufrieden, ihre Möglichkeit bloß auf die historische Glaubwürdigkeit zu
gründen, wird er suchen, die Charaktere seiner Personen so anzulegen;
wird er suchen, die Vorfälle, welche diese Charaktere in Handlung setzen,
so notwendig einen aus dem andern entspringen zu lassen; wird er suchen,
die Leidenschaften nach eines jeden Charakter so genau abzumessen; wird
er suchen, diese Leidenschaften durch so allmähliche Stufen durchzuführen:
daß wir überall nichts als den natürlichsten, ordentlichsten Verlauf
wahrnehmen; daß wir bei jedem Schritte, den er seine Personen tun läßt,
bekennen müssen, wir würden ihn, in dem nämlichen Grade der Leidenschaft,
bei der nämlichen Lage der Sachen, selbst getan haben; daß uns nichts
dabei befremdet, als die unmerkliche Annäherung eines Zieles, von dem
unsere Vorstellungen zurückbeben, und an dem wir uns endlich, voll des
innigsten Mitleids gegen die, welche ein so fataler Strom dahinreißt, und
voll Schrecken über das Bewußtsein befinden, auch uns könne ein ähnlicher
Strom dahinreißen, Dinge zu begehen, die wir bei kaltem Geblüte noch so
weit von uns entfernt zu sein glauben.--Und schlägt der Dichter diesen
Weg ein, sagt ihm sein Genie, daß er darauf nicht schimpflich ermatten
werde: so ist mit eins auch jene magere Kürze seiner Fabel verschwunden;
es bekümmert ihn nun nicht mehr, wie er mit so wenigen Vorfällen fünf
Akte füllen wolle; ihm ist nur bange, daß fünf Akte alle den Stoff nicht
fassen werden, der sich unter seiner Bearbeitung aus sich selbst immer
mehr und mehr vergrößert, wenn er einmal der verborgnen Organisation
desselben auf die Spur gekommen und sie zu entwickeln verstehet.

Hingegen dem Dichter, der diesen Namen weniger verdienet, der weiter
nichts als ein witziger Kopf, als ein guter Versifikateur ist, dem, sage
ich, wird die Unwahrscheinlichkeit seines Vorwurfs so wenig anstößig
sein, daß er vielmehr eben hierin das Wunderbare desselben zu finden
vermeinet, welches er auf keine Weise vermindern dürfe, wenn er sich
nicht selbst des sichersten Mittels berauben wolle, Schrecken und Mitleid
zu erregen. Denn er weiß so wenig, worin eigentlich dieses Schrecken und
dieses Mitleid bestehet, daß er, um jenes hervorzubringen, nicht
sonderbare, unerwartete, unglaubliche, ungeheure Dinge genug häufen zu
können glaubt, und um dieses zu erwecken, nur immer seine Zuflucht zu den
außerordentlichsten, gräßlichsten Unglücksfällen und Freveltaten nehmen
zu müssen vermeinet. Kaum hat er also in der Geschichte eine Kleopatra,
eine Mörderin ihres Gemahls und ihrer Söhne, aufgesagt, so sieht er, um
eine Tragödie daraus zu machen, weiter nichts dabei zu tun, als die
Lücken zwischen beiden Verbrechen auszufüllen, und sie mit Dingen
auszufüllen, die wenigstens ebenso befremdend sind, als diese Verbrechen
selbst. Alles dieses, seine Erfindungen und die historischen Materialien,
knetet er denn in einen fein langen, fein schwer zu fassenden Roman
zusammen; und wenn er es so gut zusammengeknetet hat, als sich nur immer
Häcksel und Mehl zusammenkneten lassen: so bringt er seinen Teig auf das
Drahtgerippe von Akten und Szenen, läßt erzählen und erzählen, läßt rasen
und reimen,--und in vier, sechs Wochen, nachdem ihm das Reimen leichter
oder saurer ankömmt, ist das Wunder fertig; es heißt ein Trauerspiel,
--wird gedruckt und aufgeführt,--gelesen und angesehen,--bewundert oder
ausgepfiffen,--beibehalten oder vergessen,--so wie es das liebe Glück will.
Denn et habent sua fata libelli.

Darf ich es wagen, die Anwendung hiervon auf den großen Corneille zu machen?
Oder brauche ich sie noch lange zu machen?--Nach dem geheimnisvollen
Schicksale, welches die Schriften so gut als die Menschen haben, ist
seine "Rodogune", nun länger als hundert Jahr, als das größte Meisterstück
des größten tragischen Dichters, von ganz Frankreich und gelegentlich mit
von ganz Europa bewundert worden. Kann eine hundertjährige Bewunderung
wohl ohne Grund sein? Wo haben die Menschen so lange ihre Augen, ihre
Empfindung gehabt? War es von 1646 bis 1767 allein dem hamburgischen
Dramaturgisten aufbehalten, Flecken in der Sonne zu sehen und ein Gestirn
auf ein Meteor herabzusetzen?

O nein! Schon im vorigen Jahrhunderte saß einmal ein ehrlicher Hurone in
der Bastille zu Paris; dem ward die Zeit lang, ob er schon in Paris war;
und vor langer Weile studierte er die französischen Poeten; diesem
Huronen wollte die "Rodogune" gar nicht gefallen. Hernach lebte, zu
Anfange des itzigen Jahrhunderts, irgendwo in Italien, ein Pedant, der
hatte den Kopf von den Trauerspielen der Griechen und seiner Landesleute
des sechzehnten Säculi voll, und der fand an der "Rodogune" gleichfalls
vieles auszusetzen. Endlich kam vor einigen Jahren sogar auch ein
Franzose, sonst ein gewaltiger Verehrer des Corneilleschen Namens, (denn,
weil er reich war und ein sehr gutes Herz hatte, so nahm er sich einer
armen verlaßnen Enkelin dieses großen Dichters an, ließ sie unter seinen
Augen erziehen, lehrte sie hübsche Verse machen, sammelte Almosen für
sie, schrieb zu ihrer Aussteuer einen großen einträglichen Kommentar über
die Werke ihres Großvaters usw.) aber gleichwohl erklärte er die "Rodogune"
für ein sehr ungereimtes Gedicht und wollte sich des Todes verwundern,
wie ein so großer Mann, als der große Corneille, solch widersinniges
Zeug habe schreiben können.--Bei einem von diesen ist der Dramaturgist
ohnstreitig in die Schule gegangen; und aller Wahrscheinlichkeit nach
bei dem letztern; denn es ist doch gemeiniglich ein Franzose, der den
Ausländern über die Fehler eines Franzosen die Augen eröffnet. Diesem
ganz gewiß betet er nach;--oder ist es nicht diesem, wenigstens dem
Welschen,--wo nicht gar dem Huronen. Von einem muß er es doch haben. Denn
daß ein Deutscher selbst dächte, von selbst die Kühnheit hätte, an der
Vortrefflichkeit eines Franzosen zu zweifeln, wer kann sich das
einbilden?

Ich rede von diesen meinen Vorgängern mehr bei der nächsten Wiederholung
der "Rodogune". Meine Leser wünschen aus der Stelle zu kommen; und ich
mit ihnen. Itzt nur noch ein Wort von der Übersetzung, nach welcher
dieses Stück aufgeführet worden. Es war nicht die alte Wolfenbüttelsche
vom Bressand, sondern eine ganz neue, hier verfertigte, die noch
ungedruckt lieget; in gereimten Alexandrinern. Sie darf sich gegen die
beste von dieser Art nicht schämen, und ist voller starken, glücklichen
Stellen. Der Verfasser aber, weiß ich, hat zu viel Einsicht und Geschmack,
als daß er sich einer so undankbaren Arbeit noch einmal unterziehen wollte.
Corneillen gut zu übersetzen, muß man bessere Verse machen können, als er
selbst.


----Fußnote

[1] Diogenes Laërtius, Lib. I. § 59.

----Fußnote



Dreiunddreißigstes Stück
Den 21. August 1767

Den sechsunddreißigsten Abend (freitags, den 3. Julius) ward das Lustspiel
des Herrn Favart, "Soliman der Zweite", ebenfalls in Gegenwart Sr. Königl.
Majestät von Dänemark, aufgeführet.

Ich mag nicht untersuchen, wieweit es die Geschichte bestätiget, daß
Soliman II. sich in eine europäische Sklavin verliebt habe, die ihn so
zu fesseln, so nach ihrem Willen zu lenken gewußt, daß er, wider alle
Gewohnheit seines Reichs, sich förmlich mit ihr verbinden und sie zur
Kaiserin erklären müssen. Genug, daß Marmontel hierauf eine von seinen
moralischen Erzählungen gegründet, in der er aber jene Sklavin, die eine
Italienerin soll gewesen sein, zu einer Französin macht; ohne Zweifel,
weil er es ganz unwahrscheinlich gefunden, daß irgendeine andere Schöne,
als eine französische, einen so seltnen Sieg über einen Großtürken
erhalten können.

Ich weiß nicht, was ich eigentlich zu der Erzählung des Marmontel sagen
soll; nicht, daß sie nicht mit vielem Witze angelegt, mit allen den feinen
Kenntnissen der großen Welt, ihrer Eitelkeit und ihres Lächerlichen,
ausgeführet und mit der Eleganz und Anmut geschrieben wäre, welche diesem
Verfasser so eigen sind; von dieser Seite ist sie vortrefflich, allerliebst.
Aber es soll eine moralische Erzählung sein, und ich kann nur nicht finden,
wo ihr das Moralische sitzt. Allerdings ist sie nicht so schlüpfrig, so
anstößig, als eine Erzählung des La Fontaine oder Grécourt: aber ist sie
darum moralisch, weil sie nicht ganz unmoralisch ist?

Ein Sultan, der in dem Schoße der Wollüste gähnet, dem sie der alltägliche
und durch nichts erschwerte Genuß unschmackhaft und ekel gemacht hat, der
seine schlaffen Nerven durch etwas ganz Neues, ganz Besonderes, wieder
gespannet und gereizet wissen will, um den sich die feinste Sinnlichkeit,
die raffinierteste Zärtlichkeit umsonst bewirbt, vergebens erschöpft:
dieser kranke Wollüstling ist der leidende Held in der Erzählung. Ich
sage der leidende: der Lecker hat sich mit zu viel Süßigkeiten den Magen
verdorben; nichts will ihm mehr schmecken; bis er endlich auf etwas
verfällt, was jedem gesunden Magen Abscheu erwecken würde, auf faule
Eier, auf Rattenschwänze und Raupenpasteten; die schmecken ihm. Die
edelste, bescheidenste Schönheit, mit dem schmachtendsten Auge, groß und
blau, mit der unschuldigsten empfindlichsten Seele, beherrscht den
Sultan,--bis sie gewonnen ist. Eine andere, majestätischer in ihrer Form,
blendender von Kolorit, blühende Suada auf ihren Lippen, und in ihrer
Stimme das ganze liebliche Spiel bezaubernder Töne, eine wahre Muse, nur
verführerischer, wird--genossen und vergessen. Endlich erscheinet ein
weibliches Ding, flüchtig, unbedachtsam, wild, witzig bis zur
Unverschämtheit, lustig bis zum Tollen, viel Physiognomie, wenig
Schönheit, niedlicher als wohlgestaltet, Taille aber keine Figur; dieses
Ding, als es den Sultan erblickt, fällt mit der plumpesten Schmeichelei,
wie mit der Türe ins Haus: Grâces au ciel, voici une figure humaine!
--(Eine Schmeichelei, die nicht bloß dieser Sultan, auch mancher deutscher
Fürst, dann und wann etwas feiner, dann und wann aber auch wohl noch
plumper, zu hören bekommen, und mit der unter zehnen neune, so gut
wie der Sultan, vorlieb genommen, ohne die Beschimpfung, die sie wirklich
enthält, zu fühlen.) Und so wie dieses Eingangskompliment, so das übrige
--Vous êtes beaucoup mieux, qu'il n'appartient à un Turc: vous avez
même quelque chose d'un Français--En vérité ces Turcs sont plaisants--Je
me charge d'apprendre à vivre à ce Turc--Je ne désespère pas d'en faire
quelque jour un Français.--Dennoch gelingt es dem Dinge! Es lacht und
schilt, es droht und spottet, es liebäugelt und mault, bis der Sultan,
nicht genug, ihm zu gefallen, dem Seraglio eine neue Gestalt gegeben zu
haben, auch Reichsgesetze abändern und Geistlichkeit und Pöbel wider sich
aufzubringen Gefahr laufen muß, wenn er anders mit ihr ebenso glücklich
sein will, als schon der und jener, wie sie ihm selbst bekennet, in ihrem
Vaterlande mit ihr gewesen. Das verlohnte sich wohl der Mühe!

Marmontel fängt seine Erzählung mit der Betrachtung an, daß große
Staatsveränderungen oft durch sehr geringfügige Kleinigkeiten veranlaßt
worden, und läßt den Sultan mit der heimlichen Frage an sich selbst
schließen: Wie ist es möglich, daß eine kleine aufgestülpte Nase die
Gesetze eines Reiches umstoßen können? Man sollte also fast glauben, daß
er bloß diese Bemerkung, dieses anscheinende Mißverhältnis zwischen
Ursache und Wirkung, durch ein Exempel erläutern wollen. Doch diese Lehre
wäre unstreitig zu allgemein, und er entdeckt uns in der Vorrede selbst,
daß er eine ganz andere und weit speziellere dabei zur Absicht gehabt.
"Ich nahm mir vor", sagt er, "die Torheit derjenigen zu zeigen, welche
ein Frauenzimmer durch Ansehen und Gewalt zur Gefälligkeit bringen
wollen; ich wählte also zum Beispiele einen Sultan und eine Sklavin, als
die zwei Extrema der Herrschaft und Abhängigkeit." Allein Marmontel muß
sicherlich auch diesen seinen Vorsatz während der Ausarbeitung vergessen
haben; fast nichts zielet dahin ab; man sieht nicht den geringsten
Versuch einiger Gewaltsamkeit von seiten des Sultans; er ist gleich
bei den ersten Insolenzen, die ihm die galante Französin sagt, der
zurückhaltendste, nachgebendste, gefälligste, folgsamste, untertänigste
Mann, la meilleure pâte de mari, als kaum in Frankreich zu finden sein
würde. Also nur gerade heraus; entweder es liegt gar keine Moral in
dieser Erzählung des Marmontel, oder es ist die, auf welche ich, oben
bei dem Charakter des Sultans, gewiesen: der Käfer, wenn er alle Blumen
durchschwärmt hat, bleibt endlich auf dem Miste liegen.

Doch Moral oder keine Moral; dem dramatischen Dichter ist es gleich viel,
ob sich aus seiner Fabel eine allgemeine Wahrheit folgern läßt oder
nicht; und also war die Erzählung des Marmontel darum nichts mehr und
nichts weniger geschickt, auf das Theater gebracht zu werden. Das tat
Favart, und sehr glücklich. Ich rate allen, die unter uns das Theater aus
ähnlichen Erzählungen bereichern wollen, die Favartsche Ausführung mit
dem Marmontelschen Urstoffe zusammenzuhalten. Wenn sie die Gabe zu
abstrahieren haben, so werden ihnen die geringsten Veränderungen, die
dieser gelitten und zum Teil leiden müssen, lehrreich sein, und ihre
Empfindung wird sie auf manchen Handgriff leiten, der ihrer bloßen
Spekulation wohl unentdeckt geblieben wäre, den noch kein Kritikus zur
Regel generalisieret hat, ob er es schon verdiente, und der öfters mehr
Wahrheit, mehr Leben in ihr Stück bringen wird, als alle die mechanischen
Gesetze, mit denen sich kahle Kunstrichter herumschlagen, und deren
Beobachtung sie lieber, dem Genie zum Trotze, zur einzigen Quelle der
Vollkommenheit eines Dramas machen möchten.

Ich will nur bei einer von diesen Veränderungen stehenbleiben. Aber ich
muß vorher das Urteil anführen, welches Franzosen selbst über das Stück
gefällt haben.[1] Anfangs äußern sie ihre Zweifel gegen die Grundlage des
Marmontels. "Soliman der Zweite", sagen sie, "war einer von den größten
Fürsten seines Jahrhunderts; die Türken haben keinen Kaiser, dessen
Andenken ihnen teurer wäre als dieses Solimans; seine Siege, seine
Talente und Tugenden machten ihn selbst bei den Feinden verehrungswürdig,
über die er siegte: aber welche kleine, jämmerliche Rolle läßt ihn
Marmontel spielen? Roxelane war, nach der Geschichte, eine verschlagener
ehrgeizige Frau, die, ihren Stolz zu befriedigen, der kühnsten,
schwärzesten Streiche fähig war, die den Sultan durch ihre Ränke und
falsche Zärtlichkeit so weit zu bringen wußte, daß er wider sein eigenes
Blut wütete, daß er seinen Ruhm durch die Hinrichtung eines unschuldigen
Sohnes befleckte: und diese Roxelane ist bei dem Marmontel eine kleine
närrische Kokette, wie nur immer eine in Paris herumflattert, den Kopf
voller Wind, doch das Herz mehr gut als böse. Sind dergleichen
Verkleidungen", fragen sie, "wohl erlaubt? Darf ein Poet oder ein
Erzähler, wenn man ihm auch noch so viel Freiheit verstattet, diese
Freiheit wohl bis auf die allerbekanntesten Charaktere erstrecken? Wenn
er Fakta nach seinem Gutdünken verändern darf, darf er auch eine Lucretia
verbuhlt und einen Sokrates galant schildern?"

Das heißt einem mit aller Bescheidenheit zu Leibe gehen. Ich möchte die
Rechtfertigung des Hrn. Marmontel nicht übernehmen; ich habe mich
vielmehr schon dahin geäußert,[2] daß die Charaktere dem Dichter weit
heiliger sein müssen, als die Fakta. Einmal, weil, wenn jene genau
beobachtet werden, diese, insofern sie eine Folge von jenen sind, von
selbst nicht viel anders ausfallen können; da hingegen allerlei Faktum
sich aus ganz verschiednen Charakteren herleiten läßt. Zweitens, weil
das Lehrreiche nicht in den bloßen Faktis, sondern in der Erkenntnis
bestehet, daß diese Charaktere unter diesen Umständen solche Fakta
hervorzubringen pflegen und hervorbringen müssen. Gleichwohl hat es
Marmontel gerade umgekehrt. Daß es einmal in dem Seraglio eine europäische
Sklavin gegeben, die sich zur gesetzmäßigen Gemahlin des Kaisers zu
machen gewußt: das ist das Faktum. Die Charaktere dieser Sklavin und
dieses Kaisers bestimmen die Art und Weise, wie dieses Faktum wirklich
geworden; und da es durch mehr als eine Art von Charakteren wirklich
werden können, so steht es freilich bei dem Dichter, als Dichter, welche
von diesen Arten er wählen will; ob die, welche die Historie bestätiget,
oder eine andere, sowie der moralischen Absicht, die er mit seiner
Erzählung verbindet, das eine oder das andere gemäßer ist. Nur sollte er
sich, im Fall daß er andere Charaktere als die historischen, oder wohl
gar diesen völlig entgegengesetzte wählet, auch der historischen Namen
enthalten und lieber ganz unbekannten Personen das bekannte Faktum
beilegen, als bekannten Personen nicht zukommende Charaktere andichten.
Jenes vermehret unsere Kenntnis, oder scheinet sie wenigstens zu vermehren
und ist dadurch angenehm. Dieses widerspricht der Kenntnis, die wir
bereits haben, und ist dadurch unangenehm. Die Fakta betrachten wir als
etwas Zufälliges, als etwas, das mehrern Personen gemein sein kann; die
Charaktere hingegen als etwas Wesentliches und Eigentümliches. Mit jenen
lassen wir den Dichter umspringen, wie er will, solange er sie nur nicht
mit den Charakteren in Widerspruch setzet; diese hingegen darf er wohl
ins Licht stellen, aber nicht verändern; die geringste Veränderung
scheinet uns die Individualität aufzuheben und andere Personen
unterzuschieben, betrügerische Personen, die fremde Namen usurpieren
und sich für etwas ausgeben, was sie nicht sind.


----Fußnote

[1] "Journal Encyclop.", Janvier 1762.

[2] Oben im 23. Stück.

----Fußnote



Vierunddreißigstes Stück
Den 25. August 1767

Aber dennoch dünkt es mich immer ein weit verzeihlicherer Fehler, seinen
Personen nicht die Charaktere zu geben, die ihnen die Geschichte gibt,
als in diesen freiwillig gewählten Charakteren selbst, es sei von seiten
der innern Wahrscheinlichkeit, oder von seiten des Unterrichtenden, zu
verstoßen. Denn jener Fehler kann vollkommen mit dem Genie bestehen;
nicht aber dieser. Dem Genie ist es vergönnt, tausend Dinge nicht zu
wissen, die jeder Schulknabe weiß; nicht der erworbene Vorrat seines
Gedächtnisses, sondern das, was es aus sich selbst, aus seinem eigenen
Gefühl, hervorzubringen vermag, macht seinen Reichtum aus;[1] was es
gehört oder gelesen, hat es entweder wieder vergessen oder mag es weiter
nicht wissen, als insofern es in seinen Kram taugt; es verstößt also,
bald aus Sicherheit bald aus Stolz, bald mit bald ohne Vorsatz, so oft,
so gröblich, daß wir andern guten Leute uns nicht genug darüber verwundern
können; wir stehen und staunen und schlagen die Hände zusammen und rufen:
"Aber, wie hat ein so großer Mann nicht wissen können!--Wie ist es
möglich, daß ihm nicht beifiel!--Überlegte er denn nicht?" Oh, laßt uns
ja schweigen; wir glauben ihn zu demütigen, und wir machen uns in seinen
Augen lächerlich; alles, was wir besser wissen, als er, beweiset bloß,
daß wir fleißiger zur Schule gegangen, als er; und das hatten wir leider
nötig, wenn wir nicht vollkommne Dummköpfe bleiben wollten.

Marmontels Soliman hätte daher meinetwegen immer ein ganz anderer
Soliman, und seine Roxelane eine ganz andere Roxelane sein mögen, als
mich die Geschichte kennen lehret: wenn ich nur gefunden hätte, daß, ob
sie schon nicht aus dieser wirklichen Welt sind, sie dennoch zu einer
andern Welt gehören könnten; zu einer Welt, deren Zufälligkeiten in einer
andern Ordnung verbunden, aber doch ebenso genau verbunden sind, als in
dieser; zu einer Welt, in welcher Ursachen und Wirkungen zwar in einer
andern Reihe folgen, aber doch zu eben der allgemeinen Wirkung des Guten
abzwacken; kurz, zu der Welt eines Genies, das (es sei mir erlaubt, den
Schöpfer ohne Namen durch sein edelstes Geschöpf zu bezeichnen!) das,
sage ich, um das höchste Genie im Kleinen nachzuahmen, die Teile der
gegenwärtigen Welt versetzet, vertauscht, verringert, vermehret, um sich
ein eigenes Ganze daraus zu machen, mit dem es seine eigene Absichten
verbindet. Doch da ich dieses in dem Werke des Marmontels nicht finde,
so kann ich es zufrieden sein, daß man ihm auch jenes nicht für genossen
ausgehen läßt. Wer uns nicht schadlos halten kann oder will, muß uns
nicht vorsätzlich beleidigen. Und hier hat es wirklich Marmontel, es sei
nun nicht gekonnt, oder nicht gewollt.

Denn nach dem angedeuteten Begriffe, den wir uns von dem Genie zu machen
haben, sind wir berechtiget, in allen Charakteren, die der Dichter
ausbildet oder sich schaffet, Übereinstimmung und Absicht zu verlangen,
wenn er von uns verlangt, in dem Lichte eines Genies betrachtet
zu werden.

Übereinstimmung:--Nichts muß sich in den Charakteren widersprechen; sie
müssen immer einförmig, immer sich selbst ähnlich bleiben; sie dürfen
sich itzt stärker, itzt schwächer äußern, nachdem die Umstände auf sie
wirken; aber keine von diesen Umständen müssen mächtig genug sein können,
sie von Schwarz auf Weiß zu ändern. Ein Türk und Despot muß, auch wenn er
verliebt ist, noch Türk und Despot sein. Dem Türken, der nur die sinnliche
Liebe kennt, müssen keine von den Raffinements beifallen, die eine
verwöhnte europäische Einbildungskraft damit verbindet. "Ich bin dieser
liebkosenden Maschinen satt; ihre weiche Gelehrigkeit hat nichts
Anzügliches, nichts Schmeichelhaftes; ich will Schwierigkeiten zu
überwinden haben und, wenn ich sie überwunden habe, durch neue
Schwierigkeiten in Atem erhalten sein": so kann ein König von Frankreich
denken, aber kein Sultan. Es ist wahr, wenn man einem Sultan diese
Denkungsart einmal gibt, so kömmt der Despot nicht mehr in Betrachtung;
er entäußert sich seines Despotismus selbst, um einer freiern Liebe zu
genießen; aber wird er deswegen auf einmal der zahme Affe sein, den eine
dreiste Gauklerin kann tanzen lassen, wie sie will? Marmontel sagt:
"Soliman war ein zu großer Mann, als daß er die kleinen Angelegenheiten
seines Seraglio auf den Fuß wichtiger Staatsgeschäfte hätte treiben
sollen." Sehr wohl; aber so hätte er auch am Ende wichtige Staatsgeschäfte
nicht auf den Fuß der kleinen Angelegenheiten seines Seraglio treiben
müssen. Denn zu einem großen Manne gehört beides: Kleinigkeiten als
Kleinigkeiten, und wichtige Dinge als wichtige Dinge zu behandeln. Er
suchte, wie ihn Marmontel selbst sagen läßt, freie Herzen, die sich aus
bloßer Liebe zu seiner Person die Sklaverei gefallen ließen; er hätte
ein solches Herz an der Elmire gefunden; aber weiß er, was er will? Die
zärtliche Elmire wird von einer wollüstigen Delia verdrängt, bis ihm eine
Unbesonnene den Strick über die Hörner wirft, der er sich selbst zum
Sklaven machen muß, ehe er die zweideutige Gunst genießet, die bisher
immer der Tod seiner Begierden gewesen. Wird sie es nicht auch hier sein?
Ich muß lachen über den guten Sultan, und er verdiente doch mein
herzliches Mitleid. Wenn Elmire und Delia nach dem Genusse auf einmal
alles verlieren, was ihn vorher entzückte: was wird denn Roxelane, nach
diesem kritischen Augenblicke, für ihn noch behalten? Wird er es, acht
Tage nach ihrer Krönung, noch der Mühe wert halten, ihr dieses Opfer
gebracht zu haben? Ich fürchte sehr, daß er schon den ersten Morgen,
sobald er sich den Schlaf aus den Augen gewischt, in seiner verehelichten
Sultane weiter nichts sieht, als ihre zuversichtliche Frechheit und ihre
aufgestülpte Nase. Mich dünkt, ich höre ihn ausrufen: "Beim Mahomet, wo
habe ich meine Augen gehabt!"

Ich leugne nicht, daß bei alle den Widersprüchen, die uns diesen Soliman
so armselig und verächtlich machen, er nicht wirklich sein könnte. Es
gibt Menschen genug, die noch kläglichere Widersprüche in sich vereinigen.
Aber diese können auch, eben darum, keine Gegenstände der poetischen
Nachahmung sein. Sie sind unter ihr; denn ihnen fehlet das Unterrichtende;
es wäre denn, daß man ihre Widersprüche selbst, das Lächerliche oder die
unglücklichen Folgen derselben, zum Unterrichtenden machte, welches jedoch
Marmontel bei seinem Soliman zu tun offenbar weit entfernt gewesen. Einem
Charakter aber, dem das Unterrichtende fehlet, dem fehlet die Absicht.
--Mit Absicht handeln ist das, was den Menschen über geringere Geschöpfe
erhebt; mit Absicht dichten, mit Absicht nachahmen, ist das, was das Genie
von den kleinen Künstlern unterscheidet, die nur dichten, um zu dichten,
die nur nachahmen, um nachzuahmen, die sich mit dem geringen Vergnügen
befriedigen, das mit dem Gebrauche ihrer Mittel verbunden ist, die diese
Mittel zu ihrer ganzen Absicht machen und verlangen, daß auch wir uns mit
dem ebenso geringen Vergnügen befriedigen sollen, welches aus dem Anschauen
ihres kunstreichen, aber absichtlosen Gebrauches ihrer Mittel entspringet.
Es ist wahr, mit dergleichen leidigen Nachahmungen fängt das Genie an, zu
lernen; es sind seine Vorübungen; auch braucht es sie in größern Werken zu
Füllungen, zu Ruhepunkten unserer wärmern Teilnehmung: allein mit der
Anlage und Ausbildung seiner Hauptcharaktere verbindet es weitere und
größere Absichten; die Absicht, uns zu unterrichten, was wir zu tun oder
zu lassen haben; die Absicht, uns mit den eigentlichen Merkmalen des Guten
und Bösen, des Anständigen und Lächerlichen bekannt zu machen; die Absicht,
uns jenes in allen seinen Verbindungen und Folgen als schön und als
glücklich selbst im Unglücke, dieses hingegen als häßlich und unglücklich
selbst im Glücke zu zeigen; die Absicht, bei Vorwürfen, wo keine
unmittelbare Nacheiferung, keine unmittelbare Abschreckung für uns statthat,
wenigstens unsere Begehrungs-und Verabscheuungskräfte mit solchen
Gegenständen zu beschäftigen, die es zu sein verdienen, und diese
Gegenstände jederzeit in ihr wahres Licht zu stellen, damit uns kein
falscher Tag verführt, was wir begehren sollten zu verabscheuen, und was
wir verabscheuen sollten zu begehren.

Was ist nun von diesem allen in dem Charakter des Solimans, in dem
Charakter der Roxelane? Wie ich schon gesagt habe: Nichts. Aber von
manchen ist gerade das Gegenteil darin; ein paar Leute, die wir verachten
sollten, wovon uns das eine Ekel und das andere Unwille eigentlich
erregen müßte, ein stumpfer Wollüstling, eine abgefeimte Buhlerin werden
uns mit so verführerischen Zügen, mit so lachenden Farben geschildert,
daß es mich nicht wundern sollte, wenn mancher Ehemann sich daraus
berechtiget zu sein glaubte, seiner rechtschaffnen und so schönen als
gefälligen Gattin überdrüssig zu sein, weil sie eine Elmire und keine
Roxelane ist.

Wenn Fehler, die wir adoptieren, unsere eigene Fehler sind, so haben die
angeführten französischen Kunstrichter recht, daß sie alle das Tadelhafte
des Marmontelschen Stoffes dem Favart mit zur Last legen. Dieser scheinet
ihnen sogar dabei noch mehr gesündiget zu haben, als jener. "Die
Wahrscheinlichkeit", sagen sie, "auf die es vielleicht in einer Erzählung
so sehr nicht ankömmt, ist in einem dramatischen Stücke unumgänglich
nötig; und diese ist in dem gegenwärtigen auf das äußerste verletzet. Der
große Soliman spielet eine sehr kleine Rolle, und es ist unangenehm, so
einen Helden nur immer aus so einem Gesichtspunkte zu betrachten. Der
Charakter eines Sultans ist noch mehr verunstaltet; da ist auch nicht ein
Schatten von der unumschränkten Gewalt, vor der alles sich schmiegen muß.
Man hätte diese Gewalt wohl lindern können; nur ganz vertilgen hätte man
sie nicht müssen. Der Charakter der Roxelane hat wegen seines Spiels
gefallen; aber wenn die Überlegung darüber kömmt, wie sieht es dann mit
ihm aus? Ist ihre Rolle im geringsten wahrscheinlich? Sie spricht mit dem
Sultan, wie mit einem Pariser Bürger; sie tadelt alle seine Gebräuche;
sie widerspricht in allem seinem Geschmacke und sagt ihm sehr harte,
nicht selten sehr beleidigende Dinge. Vielleicht zwar hätte sie das alles
sagen können; wenn sie es nur mit gemessenem Ausdrücken gesagt hätte.
Aber wer kann es aushalten, den großen Soliman von einer jungen
Landstreicherin so hofmeistern zu hören? Er soll sogar die Kunst zu
regieren von ihr lernen. Der Zug mit dem verschmähten Schnupftuche ist
hart, und der mit der weggeworfenen Tabakspfeife ganz unerträglich."


----Fußnote

[1] Pindarus, "Olymp." II. str. 5. v. 10.

----Fußnote



Fünfunddreißigstes Stück
Den 28. August 1767

Der letztere Zug, muß man wissen, gehört dem Favart ganz allein;
Marmontel hat sich ihn nicht erlaubt. Auch ist der erstere bei diesem
feiner, als bei jenem. Denn beim Favart gibt Roxelane das Tuch, welches
der Sultan ihr gegeben, weg; sie scheinet es der Delia lieber zu gönnen,
als sich selbst; sie scheinet es zu verschmähen: das ist Beleidigung.
Beim Marmontel hingegen läßt sich Roxelane das Tuch von dem Sultan geben
und gibt es der Delia in seinem Namen; sie beuget damit einer
Gunstbezeigung nur vor, die sie selbst noch nicht anzunehmen willens ist,
und das mit der uneigennützigsten, gutherzigsten Miene: der Sultan kann
sich über nichts beschweren, als daß sie seine Gesinnungen so schlecht
errät oder nicht besser erraten will.

Ohne Zweifel glaubte Favart durch dergleichen Überladungen das Spiel der
Roxelane noch lebhafter zu machen; die Anlage zu Impertinenzen sahe er
einmal gemacht, und eine mehr oder weniger konnte ihm nichts verschlagen,
besonders wenn er die Wendung in Gedanken hatte, die er am Ende mit
dieser Person nehmen wollte. Denn ohngeachtet, daß seine Roxelane noch
unbedachtsamere Streiche macht, noch plumpern Mutwillen treibet, so hat
er sie dennoch zu einem bessern und edlern Charakter zu machen gewußt,
als wir in Marmontels Roxelane erkennen. Und wie das? warum das?

Eben auf diese Veränderung wollte ich oben kommen; und mich dünkt, sie
ist so glücklich und vorteilhaft, daß sie von den Franzosen bemerkt und
ihrem Urheber angerechnet zu werden verdient hätte.

Marmontels Roxelane ist wirklich, was sie scheinet, ein kleines
närrisches, vermessenes Ding, dessen Glück es ist, daß der Sultan
Geschmack an ihm gefunden, und das die Kunst versteht, diesen Geschmack
durch Hunger immer gieriger zu machen, und ihn nicht eher zu befriedigen,
als bis sie ihren Zweck erreicht hat. Hinter Favarts Roxelane hingegen
steckt mehr, sie scheinet die kecke Buhlerin mehr gespielt zu haben, als
zu sein, durch ihre Dreistigkeiten den Sultan mehr auf die Probe
gestellt, als seine Schwäche gemißbraucht zu haben. Denn kaum hat sie den
Sultan dahingebracht, wo sie ihn haben will, kaum erkennt sie, daß seine
Liebe ohne Grenzen ist, als sie gleichsam die Larve abnimmt und ihm eine
Erklärung tut, die zwar ein wenig unvorbereitet kommt, aber ein Licht auf
ihre vorige Aufführung wirft, durch welches wir ganz mit ihr ausgesöhnet
werden. "Nun kenn' ich dich, Sultan; ich habe deine Seele, bis in ihre
geheimste Triebfedern, erforscht; es ist eine edle, große Seele, ganz den
Empfindungen der Ehre offen. So viel Tugend entzückt mich! Aber lerne nun
auch mich kennen. Ich liebe dich, Soliman; ich muß dich wohl lieben! Nimm
all deine Rechte, nimm meine Freiheit zurück; sei mein Sultan, mein Held,
mein Gebieter! Ich würde dir sonst sehr eitel, sehr ungerecht scheinen
müssen. Nein, tue nichts, als was dich dein Gesetz zu tun berechtiget.
Es gibt Vorurteile, denen man Achtung schuldig ist. Ich verlange einen
Liebhaber, der meinetwegen nicht erröten darf; sieh hier in Roxelanen
--nichts, als deine untertänige Sklavin."[1] So sagt sie, und uns wird auf
einmal ganz anders; die Kokette verschwindet, und ein liebes, ebenso
vernünftiges als drollichtes Mädchen steht vor uns; Soliman höret auf,
uns verächtlich zu scheinen, denn diese bessere Roxelane ist seiner Liebe
würdig; wir fangen sogar in dem Augenblicke an zu fürchten, er möchte die
nicht genug lieben, die er uns zuvor viel zu sehr zu lieben schien, er
möchte sie bei ihrem Worte fassen, der Liebhaber möchte den Despoten
wieder annehmen, sobald sich die Liebhaberin in die Sklavin schickt,
eine kalte Danksagung, daß sie ihn noch zu rechter Zeit von einem so
bedenklichen Schritte zurückhalten wollen, möchte anstatt einer feurigen
Bestätigung seines Entschlusses erfolgen, das gute Kind möchte durch
ihre Großmut wieder auf einmal verlieren, was sie durch mutwillige
Vermessenheiten so mühsam gewonnen: doch diese Furcht ist vergebens,
und das Stück schließt sich zu unserer völligen Zufriedenheit.

Und nun, was bewog den Favart zu dieser Veränderung? Ist sie bloß
willkürlich, oder fand er sich durch die besondern Regeln der Gattung,
in welcher er arbeitete, dazu verbunden? Warum gab nicht auch Marmontel
seiner Erzählung diesen vergnügendern Ausgang? Ist das Gegenteil von dem,
was dort eine Schönheit ist, hier ein Fehler?

Ich erinnere mich, bereits an einem andern Orte angemerkt zu haben,
welcher Unterschied sich zwischen der Handlung der Aesopischen Fabel und
des Drama findet. Was von jener gilt, gilt von jeder moralischen
Erzählung, welche die Absicht hat, einen allgemeinen moralischen Satz zur
Intuition zu bringen. Wir sind zufrieden, wenn diese Absicht erreicht
wird, und es ist uns gleichviel, ob es durch eine vollständige Handlung,
die für sich ein wohlgeründetes Ganze ausmacht, geschiehet oder nicht;
der Dichter kann sie abbrechen, wo er will, sobald er sich an seinem
Ziele sieht; wegen des Anteils, den wir an dem Schicksale der Personen
nehmen, durch welche er sie ausführen läßt, ist er unbekümmert, er hat
uns nicht interessieren, er hat uns unterrichten wollen; er hat es
lediglich mit unserm Verstande, nicht mit unserm Herzen zu tun, dieses
mag befriediget werden oder nicht, wenn jener nur erleuchtet wird. Das
Drama hingegen macht auf eine einzige, bestimmte, aus seiner Fabel
fließende Lehre keinen Anspruch; es gehet entweder auf die
Leidenschaften, welche der Verlauf und die Glücksveränderungen seiner
Fabel anzufachen und zu unterhalten vermögend sind, oder auf das
Vergnügen, welches eine wahre und lebhafte Schilderung der Sitten und
Charaktere gewähret; und beides erfordert eine gewisse Vollständigkeit
der Handlung, ein gewisses befriedigendes Ende, welches wir bei der
moralischen Erzählung nicht vermissen, weil alle unsere Aufmerksamkeit
auf den allgemeinen Satz gelenkt wird, von welchem der einzelne Fall
derselben ein so einleuchtendes Beispiel gibt.

Wenn es also wahr ist, daß Marmontel durch seine Erzählung lehren wollte,
die Liebe lasse sich nicht erzwingen, sie müsse durch Nachsicht und
Gefälligkeit, nicht durch Ansehen und Gewalt erhalten werden: so hatte er
recht, so aufzuhören, wie er aufhört. Die unbändige Roxelane wird durch
nichts als Nachgeben gewonnen; was wir dabei von ihrem und des Sultans
Charakter denken, ist ihm ganz gleichgültig, mögen wir sie doch immer für
eine Närrin und ihn für nichts Bessers halten. Auch hat er gar nicht
Ursache, uns wegen der Folge zu beruhigen; es mag uns immer noch so
wahrscheinlich sein, daß den Sultan seine blinde Gefälligkeit bald
gereuen werde: was geht das ihn an? Er wollte uns zeigen, was die
Gefälligkeit über das Frauenzimmer überhaupt vermag; er nahm also eines
der wildesten; unbekümmert, ob es eine solche Gefälligkeit wert sei
oder nicht.

Allein, als Favart diese Erzählung auf das Theater bringen wollte, so
empfand er bald, daß durch die dramatische Form die Intuition des
moralischen Satzes größtenteils verloren gehe und daß, wenn sie auch
vollkommen erhalten werden könne, das daraus erwachsende Vergnügen doch
nicht so groß und lebhaft sei, daß man dabei ein anderes, welches dem
Drama wesentlicher ist, entbehren könne. Ich meine das Vergnügen, welches
uns ebenso rein gedachte als richtig gezeichnete Charaktere gewähren.
Nichts beleidiget uns aber, von seiten dieser, mehr als der Widerspruch,
in welchem wir ihren moralischen Wert oder Unwert mit der Behandlung des
Dichters finden; wenn wir finden, daß sich dieser entweder selbst damit
betrogen hat oder uns wenigstens damit betriegen will, indem er das
Kleine auf Stelzen hebet, mutwilligen Torheiten den Anstrich heiterer
Weisheit gibt und Laster und Ungereimtheiten mit allen betriegerischen
Reizen der Mode, des guten Tons, der feinen Lebensart, der großen Welt
ausstaffieret. Je mehr unsere ersten Blicke dadurch geblendet werden,
desto strenger verfährt unsere Überlegung; das häßliche Gesicht, das wir
so schön geschminkt sehen, wird für noch einmal so häßlich erklärt, als
es wirklich ist; und der Dichter hat nur zu wählen, ob er von uns lieber
für einen Giftmischer oder für einen Blödsinnigen will gehalten sein. So
wäre es dem Favart, so wäre es seinen Charakteren des Solimans und der
Roxelane ergangen; und das empfand Favart. Aber da er diese Charaktere
nicht von Anfang ändern konnte, ohne sich eine Menge Theaterspiele zu
verderben, die er so vollkommen nach dem Geschmacke seines Parterres zu
sein urteilte, so blieb ihm nichts zu tun übrig, als was er tat. Nun
freuen wir uns, uns an nichts vergnügt zu haben, was wir nicht auch
hochachten könnten; und zugleich befriediget diese Hochachtung unsere
Neugierde und Besorgnis wegen der Zukunft. Denn da die Illusion des Drama
weit stärker ist, als einer bloßen Erzählung, so interessieren uns auch
die Personen in jenem weit mehr, als in dieser, und wir begnügen uns
nicht, ihr Schicksal bloß für den gegenwärtigen Augenblick entschieden zu
sehen, sondern wir wollen uns auf immer desfalls
zufriedengestellet wissen.


----Fußnote

[1]
   Sultan, j'ai pénétré ton âme;
   J'en ai démêlé les ressorts.
   Elle est grande, elle est fière, et la gloire l'enflamme,
     Tant de vertus excitent mes transports.
     A ton tour, tu vas me connaître:
   Je t'aime, Soliman; mais tu l'as mérité.
     Reprends tes droits, reprends ma liberté;
   Sois mon Sultan, mon Héros et mon Maître.
   Tu me soupçonnerais d'injuste vanité.
     Va, ne fais rien que ta loi n'autorise;
   Il est des préjugés qu'on ne doit point trahir,
   Et je veux un Amant, qui n'ait point à rougir:
   Tu vois dans Roxelane une Esclave soumise.

----Fußnote



Sechsunddreißigstes Stück
Den 1. September 1767

So unstreitig wir aber, ohne die glückliche Wendung, welche Favart am
Ende dem Charakter der Roxelane gibt, ihre darauf folgende Krönung nicht
anders als mit Spott und Verachtung, nicht anders als den lächerlichen
Triumph einer "Serva Padrona" würden betrachtet haben; so gewiß, ohne
sie, der Kaiser in unsern Augen nichts als ein kläglicher Pimpinello,
und die neue Kaiserin nichts als eine häßliche, verschmitzte Serbinette
gewesen wäre, von der wir vorausgesehen hätten, daß sie nun bald dem
armen Sultan Pimpinello dem Zweiten noch ganz anders mitspielen werde:
so leicht und natürlich dünkt uns doch auch diese Wendung selbst; und wir
müssen uns wundern, daß sie, demohngeachtet, so manchem Dichter nicht
beigefallen und so manche drollige und dem Ansehen nach wirklich komische
Erzählung in der dramatischen Form darüber verunglücken müssen.

Zum Exempel, "Die Matrone von Ephesus". Man kennt dieses beißende Märchen,
und es ist unstreitig die bitterste Satire, die jemals gegen den weiblichen
Leichtsinn gemacht worden. Man hat es dem Petron tausendmal nacherzählt;
und da es selbst in der schlechtesten Kopie noch immer gefiel, so glaubte
man, daß es ein ebenso glücklicher Stoff auch für das Theater sein müsse.
Houdar de la Motte und andere machten den Versuch; aber ich berufe mich
auf jedes feinere Gefühl, wie dieser Versuch ausgefallen. Der Charakter
der Matrone, der in der Erzählung ein nicht unangenehmes höhnisches
Lächeln über die Vermessenheit der ehelichen Liebe erweckt, wird in dem
Drama ekel und häßlich. Wir finden hier die Überredungen, deren sich der
Soldat gegen sie bedienet, bei weitem nicht so fein und dringend und
siegend, als wir sie uns dort vorstellen. Dort bilden wir uns ein
empfindliches Weibchen ein, dem es mit seinem Schmerze wirklich ernst
ist, das aber den Versuchungen und ihrem Temperamente unterliegt; ihre
Schwäche dünkt uns die Schwäche des ganzen Geschlechts zu sein; wir
fassen also keinen besondern Haß gegen sie; was sie tut, glauben wir,
würde ungefähr jede Frau getan haben; selbst ihren Einfall, den
lebendigen Liebhaber vermittelst des toten Mannes zu retten, glauben wir
ihr, des Sinnreichen und der Besonnenheit wegen, verzeihen zu müssen;
oder vielmehr eben das Sinnreiche dieses Einfalls bringt uns auf die
Vermutung, daß er wohl auch nur ein bloßer Zusatz des hämischen Erzählers
sei, der sein Märchen gern mit einer recht giftigen Spitze schließen
wollte. Aber in dem Drama findet diese Vermutung nicht statt; was wir
dort nur hören, daß es geschehen sei, sehen wir hier wirklich geschehen;
woran wir dort noch zweifeln können, davon überzeugt uns unser eigener
Sinn hier zu unwidersprechlich; bei der bloßen Möglichkeit ergötzte uns
das Sinnreiche der Tat, bei ihrer Wirklichkeit sehen wir bloß ihre
Schwärze; der Einfall vergnügte unsern Witz, aber die Ausführung des
Einfalls empört unsere ganze Empfindlichkeit; wir wenden der Bühne den
Rücken und sagen mit dem Lykas beim Petron, auch ohne uns in dem
besondern Falle des Lykas zu befinden: Si justus imperator fuisset,
debuit patrisfamiliae corpus in monimentum referre, mulierem adfigere
cruci. Und diese Strafe scheinet sie uns um so viel mehr zu verdienen,
je weniger Kunst der Dichter bei ihrer Verführung angewendet; denn wir
verdammen sodann in ihr nicht das schwache Weib überhaupt, sondern ein
vorzüglich leichtsinniges, lüderliches Weibsstück insbesondere.--Kurz,
die Petronische Fabel glücklich auf das Theater zu bringen, müßte sie
den nämlichen Ausgang behalten, und auch nicht behalten; müßte die
Matrone so weit gehen, und auch nicht so weit gehen.--Die Erklärung
hierüber anderwärts!

Den siebenunddreißigsten Abend (sonnabends, den 4. Julius) wurden
"Nanine" und der "Advokat Patelin" wiederholt.

Den achtunddreißigsten Abend (dienstags, den 7. Julius) ward die "Merope"
des Herrn von Voltaire aufgeführt.

Voltaire verfertigte dieses Trauerspiel auf Veranlassung der "Merope" des
Maffei; vermutlich im Jahr 1737 und vermutlich zu Cirey, bei seiner Urania,
der Marquise du Châtelet. Denn schon im Jenner 1738 lag die Handschrift
davon zu Paris bei dem Pater Brumoy, der als Jesuit und als Verfasser des
Théâtre des Grecs am geschicktesten war, die besten Vorurteile dafür
einzuflößen und die Erwartung der Hauptstadt diesen Vorurteilen gemäß zu
stimmen. Brumoy zeigte sie den Freunden des Verfassers, und unter andern
mußte er sie auch dem alten Vater Tournemine schicken, der, sehr
geschmeichelt, von seinem lieben Sohn Voltaire über ein Trauerspiel, über
eine Sache, wovon er eben nicht viel verstand, um Rat gefragt zu werden,
ein Briefchen voller Lobeserhebungen an jenen darüber zurückschrieb,
welches nachher, allen unberufenen Kunstrichtern zur Lehre und zur
Warnung, jederzeit dem Stücke selbst vorgedruckt worden. Es wird darin
für eines von den vollkommensten Trauerspielen, für ein wahres Muster
erklärt, und wir können uns nunmehr ganz zufrieden geben, daß das Stück
des Euripides gleichen Inhalts verloren gegangen; oder vielmehr, dieses
ist nun nicht länger verloren, Voltaire hat es uns wiederhergestellt.

So sehr hierdurch nun auch Voltaire beruhiget sein mußte, so schien er
sich doch mit der Vorstellung nicht übereilen zu wollen, welche erst im
Jahre 1743 erfolgte. Er genoß von seiner staatsklugen Verzögerung auch
alle die Früchte, die er sich nur immer davon versprechen konnte.
"Merope" fand den außerordentlichsten Beifall, und das Parterre erzeigte
dem Dichter eine Ehre, von der man noch zurzeit kein Exempel gehabt
hatte. Zwar begegnete ehedem das Publikum auch dem großen Corneille sehr
vorzüglich; sein Stuhl auf dem Theater ward beständig freigelassen, wenn
der Zulauf auch noch so groß war, und wenn er kam, so stand jedermann
auf; eine Distinktion, deren in Frankreich nur die Prinzen vom Geblüte
gewürdiget werden. Corneille ward im Theater wie in seinem Hause
angesehen; und wenn der Hausherr erscheinet, was ist billiger, als daß
ihm die Gäste ihre Höflichkeit bezeigen? Aber Voltairen widerfuhr noch
ganz etwas anders; das Parterre ward begierig, den Mann von Angesicht zu
kennen, den es so sehr bewundert hatte; wie die Vorstellung also zu Ende
war, verlangte es ihn zu sehen und rufte und schrie und lärmte, bis der
Herr von Voltaire heraustreten und sich begaffen und beklatschen lassen
mußte. Ich weiß nicht, welches von beiden mich hier mehr befremdet hätte,
ob die kindische Neugierde des Publikums oder die eitele Gefälligkeit des
Dichters. Wie denkt man denn, daß ein Dichter aussieht? Nicht wie andere
Menschen? Und wie schwach muß der Eindruck sein, den das Werk gemacht
hat, wenn man in eben dem Augenblicke auf nichts begieriger ist, als die
Figur des Meisters dagegen zu halten? Das wahre Meisterstück, dünkt mich,
erfüllet uns so ganz mit sich selbst, daß wir des Urhebers darüber
vergessen; daß wir es nicht als das Produkt eines einzeln Wesens, sondern
der allgemeinen Natur betrachten. Young sagt von der Sonne, es wäre Sünde
in den Heiden gewesen, sie nicht anzubeten. Wenn Sinn in dieser Hyperbel
liegt, so ist es dieser: der Glanz, die Herrlichkeit der Sonne ist so
groß, so überschwenglich, daß es dem rohern Menschen zu verzeihen, daß es
sehr natürlich war, wenn er sich keine größere Herrlichkeit, keinen Glanz
denken konnte, von dem jener nur ein Abglanz sei, wenn er sich also in
der Bewunderung der Sonne so sehr verlor, daß er an den Schöpfer der
Sonne nicht dachte. Ich vermute, die wahre Ursache, warum wir so wenig
Zuverlässiges von der Person und den Lebensumständen des Homers wissen,
ist die Vortrefflichkeit seiner Gedichte selbst. Wir stehen voller
Erstaunen an dem breiten rauschenden Flusse, ohne an seine Quelle im
Gebirge zu denken. Wir wollen es nicht wissen, wir finden unsere Rechnung
dabei, es zu vergessen, daß Homer, der Schulmeister in Smyrna, Homer, der
blinde Bettler, eben der Homer ist, welcher uns in seinen Werken so
entzücket. Er bringt uns unter Götter und Helden; wir müßten in dieser
Gesellschaft viel Langeweile haben, um uns nach dem Türsteher so genau zu
erkundigen, der uns hereingelassen. Die Täuschung muß sehr schwach sein,
man muß wenig Natur, aber desto mehr Künstelei empfinden, wenn man so
neugierig nach dem Künstler ist. So wenig schmeichelhaft also im Grunde
für einen Mann von Genie das Verlangen des Publikums, ihn von Person zu
kennen, sein müßte (und was hat er dabei auch wirklich vor dem ersten,
dem besten Murmeltiere voraus, welches der Pöbel gesehen zu haben ebenso
begierig ist?), so wohl scheinet sich doch die Eitelkeit der
französischen Dichter dabei befunden zu haben. Denn da das Pariser
Parterre sah, wie leicht ein Voltaire in diese Falle zu locken sei, wie
zahm und geschmeidig so ein Mann durch zweideutige Karessen werden könne,
so machte es sich dieses Vergnügen öftrer, und selten ward nachher ein
neues Stück aufgeführt, dessen Verfasser nicht gleichfalls hervormußte,
und auch ganz gern hervorkam. Von Voltairen bis zu Marmontel und von
Marmontel bis tief herab zu Cordier haben fast alle an diesem Pranger
gestanden. Wie manches Armesündergesichte muß daruntergewesen sein! Der
Posse ging endlich so weit, daß sich die Ernsthaftern von der Nation
selbst darüber ärgerten. Der sinnreiche Einfall des weisen Polichinell
ist bekannt. Und nur erst ganz neulich war ein junger Dichter kühn genug,
das Parterre vergebens nach sich rufen zu lassen. Er erschien durchaus
nicht; sein Stück war mittelmäßig, aber dieses sein Betragen desto braver
und rühmlicher. Ich wollte durch mein Beispiel einen solchen Übe1stand
lieber abgeschafft, als durch zehn "Meropen" ihn veranlaßt haben.



Siebenunddreißigstes Stück
Den 4. September 1767

Ich habe gesagt, daß Voltairens "Merope" durch die "Merope" des Maffei
veranlasset worden ist. Aber veranlasset sagt wohl zu wenig: denn jene
ist ganz aus dieser entstanden; Fabel, Plan und Sitten gehören dem
Maffei; Voltaire würde ohne ihn gar keine oder doch sicherlich eine ganz
andere "Merope" geschrieben haben.

Also, um die Kopie des Franzosen richtig zu beurteilen, müssen wir
zuvörderst das Original des Italieners kennenlernen; und um das poetische
Verdienst des letztern gehörig zu schätzen, müssen wir vor allen Dingen
einen Blick auf die historischen Fakta werfen, auf die er seine Fabel
gegründet hat.

Maffei selbst fasset diese Fakta in der Zueignungsschrift seines Stückes
folgendergestalt zusammen. "Daß, einige Zeit nach der Eroberung von
Troja, als die Herakliden, d.I. die Nachkommen des Herkules, sich in
Peloponnesus wieder festgesetzet, dem Kresphont das messenische Gebiete
durch das Los zugefallen; daß die Gemahlin dieses Kresphonts Merope
geheißen; daß Kresphont, weil er dem Volke sich allzugünstig erwiesen,
von den Mächtigern des Staats, mitsamt seinen Söhnen, umgebracht worden,
den jüngsten ausgenommen, welcher auswärts bei einem Anverwandten seiner
Mutter erzogen ward; daß dieser jüngste Sohn, Namens Aepytus, als er
erwachsen, durch Hilfe der Arkader und Dorier, sich des väterlichen
Reiches wieder bemächtiget, und den Tod seines Vaters an dessen Mördern
gerächet habe: dieses erzählet Pausanias. Daß, nachdem Kresphont mit
seinen zwei Söhnen umgebracht worden, Polyphont, welcher gleichfalls aus
dem Geschlechte der Herakliden war, die Regierung an sich gerissen; daß
dieser die Merope gezwungen, seine Gemahlin zu werden; daß der dritte
Sohn, den die Mutter in Sicherheit bringen lassen, den Tyrannen nachher
umgebracht und das Reich wieder erobert habe: dieses berichtet
Apollodorus. Daß Merope selbst den geflüchteten Sohn unbekannterweise
töten wollen; daß sie aber noch in dem Augenblicke von einem alten Diener
daran verhindert worden, welcher ihr entdeckt, daß der, den sie für den
Mörder ihres Sohnes halte, ihr Sohn selbst sei; daß der nun erkannte Sohn
bei einem Opfer Gelegenheit gefunden, den Polyphont hinzurichten: dieses
meldete Hyginus, bei dem Aepytus aber den Namen Telephontes führet."

Es wäre zu verwundern, wenn eine solche Geschichte, die so besondere
Glückswechsel und Erkennungen hat, nicht schon von den alten Tragicis
wäre genutzt worden. Und was sollte sie nicht? Aristoteles, in seiner
Dichtkunst, gedenkt eines Kresphontes, in welchem Merope ihren Sohn
erkenne, eben da sie im Begriffe sei, ihn als den vermeinten Mörder ihres
Sohnes umzubringen; und Plutarch, in seiner zweiten Abhandlung vom
Fleischessen, zielet ohne Zweifel auf ebendieses Stück,[1] wenn er sich
auf die Bewegung beruft, in welche das ganze Theater gerate, indem Merope
die Axt gegen ihren Sohn erhebet, und auf die Furcht, die jeden Zuschauer
befalle, daß der Streich geschehen werde, ehe der alte Diener dazu kommen
könne. Aristoteles erwähnet dieses Kresphonts zwar ohne Namen des
Verfassers; da wir aber bei dem Cicero und mehrern Alten einen
"Kresphont" des Euripides angezogen finden, so wird er wohl kein anderes
als das Werk dieses Dichters gemeiner haben.

Der Pater Tournemine sagt in dem obgedachten Briefe: "Aristoteles, dieser
weise Gesetzgeber des Theaters, hat die Fabel der Merope in die erste
Klasse der tragischen Fabeln gesetzt (a mis ce sujet au premier rang des
sujets tragiques). Euripides hatte sie behandelt, und Aristoteles meldet,
daß, so oft der 'Kresphont' des Euripides auf dem Theater des witzigen
Athens vorgestellet worden, dieses an tragische Meisterstücke so gewöhnte
Volk ganz außerordentlich sei betroffen, gerührt und entzückt worden."
--Hübsche Phrases, aber nicht viel Wahrheit! Der Pater irret sich in beiden
Punkten. Bei dem letztern hat er den Aristoteles mit dem Plutarch vermengt
und bei dem erstern den Aristoteles nicht recht verstanden. Jenes ist eine
Kleinigkeit, aber über dieses verlohnet es der Mühe, ein paar Worte zu
sagen, weil mehrere den Aristoteles ebenso unrecht verstanden haben.

Die Sache verhält sich wie folget. Aristoteles untersucht in dem
vierzehnten Kapitel seiner "Dichtkunst", durch was eigentlich für
Begebenheiten Schrecken und Mitleid erreget werde. Alle Begebenheiten,
sagt er, müssen entweder unter Freunden oder unter Feinden oder unter
gleichgültigen Personen vorgehen. Wenn ein Feind seinen Feind tötet,
so erweckt weder der Anschlag noch die Ausführung der Tat sonst weiter
einiges Mitleid als das allgemeine, welches mit dem Anblicke des
Schmerzlichen und Verderblichen überhaupt verbunden ist. Und so ist
es auch bei gleichgültigen Personen. Folglich müssen die tragischen
Begebenheiten sich unter Freunden ereignen; ein Bruder muß den Bruder,
ein Sohn den Vater, eine Mutter den Sohn, ein Sohn die Mutter töten oder
töten wollen oder sonst auf eine empfindliche Weise mißhandeln oder
mißhandeln wollen. Dieses aber kann entweder mit oder ohne Wissen und
Vorbedacht geschehen; und da die Tat entweder vollführt oder nicht
vollführt werden muß, so entstehen daraus vier Klassen von Begebenheiten,
welche den Absichten des Trauerspiels mehr oder weniger entsprechen. Die
erste: wenn die Tat wissentlich, mit völliger Kenntnis der Person, gegen
welche sie vollzogen werden soll, unternommen, aber nicht vollzogen wird.
Die zweite: wenn sie wissentlich unternommen und wirklich vollzogen wird.
Die dritte: wenn die Tat unwissend, ohne Kenntnis des Gegenstandes,
unternommen und vollzogen wird und der Täter die Person, an der er
sie vollzogen, zu spät kennenlernet. Die vierte: wenn die unwissend
unternommene Tat nicht zur Vollziehung gelangt, indem die darein
verwickelten Personen einander noch zur rechten Zeit erkennen. Von diesen
vier Klassen gibt Aristoteles der letztern den Vorzug, und da er die
Handlung der "Merope" in dem "Kresphont" davon zum Beispiele anführet: so
haben Tournemine und andere dieses so angenommen, als ob er dadurch die
Fabel dieses Trauerspiels überhaupt von der vollkommensten Gattung
tragischer Fabeln zu sein erkläre.

Indes sagt doch Aristoteles kurz zuvor, daß eine gute tragische Fabel
sich nicht glücklich, sondern unglücklich enden müsse. Wie kann dieses
beides beieinander bestehen? Sie soll sich unglücklich enden, und
gleichwohl läuft die Begebenheit, welche er nach jener Klassifikation
allen andern tragischen Begebenheiten vorziehet, glücklich ab.
Widerspricht sich nicht also der große Kunstrichter offenbar?

Victorius, sagt Dacier, sei der einzige, welcher diese Schwierigkeit
gesehen; aber da er nicht verstanden, was Aristoteles eigentlich in dem
ganzen vierzehnten Kapitel gewollt: so habe er auch nicht einmal den
geringsten Versuch gewagt, sie zu heben. Aristoteles, meinet Dacier, rede
dort gar nicht von der Fabel überhaupt, sondern wolle nur lehren, auf wie
mancherlei Art der Dichter tragische Begebenheiten behandeln könne, ohne
das Wesentliche, was die Geschichte davon meldet, zu verändern, und
welche von diesen Arten die beste sei. Wenn z.E. die Ermordung der
Klytämnestra durch den Orest der Inhalt des Stückes sein sollte, so zeige
sich, nach dem Aristoteles, ein vierfacher Plan, diesen Stoff zu
bearbeiten, nämlich entweder als eine Begebenheit der erstern, oder der
zweiten, oder der dritten, oder der vierten Klasse; der Dichter müsse nun
überlegen, welcher hier der schicklichste und beste sei. Diese Ermordung
als eine Begebenheit der erstern Klasse zu behandeln, finde darum nicht
statt: weil sie nach der Historie wirklich geschehen müsse, und durch den
Orest geschehen müsse. Nach der zweiten darum nicht: weil sie zu gräßlich
sei. Nach der vierten darum nicht: weil Klytämnestra dadurch abermals
gerettet würde, die doch durchaus nicht gerettet werden solle. Folglich
bleibe ihm nichts als die dritte Klasse übrig.

Die dritte! Aber Aristoteles gibt ja der vierten den Vorzug; und nicht
bloß in einzeln Fällen, nach Maßgebung der Umstände, sondern überhaupt.
Der ehrliche Dacier macht es öftrer so: Aristoteles behält bei ihm recht,
nicht weil er recht hat, sondern weil er Aristoteles ist. Indem er auf
der einen Seite eine Blöße von ihm zu decken glaubt, macht er ihm auf
einer andern eine ebenso schlimme. Wenn nun der Gegner die Besonnenheit
hat, anstatt nach jener in diese zu stoßen: so ist es ja doch um die
Untrüglichkeit seines Alten geschehen, an der ihm im Grunde noch mehr
als an der Wahrheit selbst zu liegen scheinet. Wenn so viel auf die
Übereinstimmung der Geschichte ankömmt, wenn der Dichter allgemein
bekannte Dinge aus ihr zwar lindern, aber nie gänzlich verändern darf:
wird es unter diesen nicht auch solche geben, die durchaus nach dem
ersten oder zweiten Plane behandelt werden müssen? Die Ermordung der
Klytämnestra müßte eigentlich nach dem zweiten vorgestellet werden; denn
Orestes hat sie wissentlich und vorsätzlich vollzogen: der Dichter aber
kann den dritten wählen, weil dieser tragischer ist und der Geschichte
doch nicht geradezu widerspricht. Gut, es sei so: aber z.E. Medea, die
ihre Kinder ermordet? Welchen Plan kann hier der Dichter anders
einschlagen, als den zweiten? Denn sie muß sie umbringen, und sie muß
sie wissentlich umbringen; beides ist aus der Geschichte gleich allgemein
bekannt. Was für eine Rangordnung kann also unter diesen Planen
stattfinden? Der in einem Falle der vorzüglichste ist, kömmt in einem
andern gar nicht in Betracht. Oder um den Dacier noch mehr einzutreiben:
so mache man die Anwendung nicht auf historische, sondern auf bloß
erdichtete Begebenheiten. Gesetzt, die Ermordung der Klytämnestra wäre
von dieser letztern Art, und es hätte dem Dichter freigestanden, sie
vollziehen oder nicht vollziehen zu lassen, sie mit oder ohne völlige
Kenntnis vollziehen zu lassen. Welchen Plan hätte er dann wählen müssen,
um eine so viel als möglich vollkommene Tragödie daraus zu machen? Dacier
sagt selbst: den vierten, denn wenn er ihm den dritten vorziehe, so
geschähe es bloß aus Achtung gegen die Geschichte. Den vierten also? Den
also, welcher sich glücklich schließt? Aber die besten Tragödien, sagt
eben der Aristoteles, der diesem vierten Plane den Vorzug vor allen
erteilet, sind ja die, welche sich unglücklich schließen? Und das ist ja
eben der Widerspruch, den Dacier heben wollte. Hat er ihn denn also
gehoben? Bestätiget hat er ihn vielmehr.


----Fußnote

[1] Dieses vorausgesetzt (wie man es denn wohl sicher voraussetzen kann,
weil es bei den alten Dichtern nicht gebräuchlich und auch nicht erlaubt
war, einander solche eigene Situationen abzustehlen), würde sich an der
angezogenen Stelle des Plutarchs ein Fragment des Euripides finden,
welches Josua Barnes nicht mitgenommen hätte und ein neuer Herausgeber
des Dichters nutzen könnte.

----Fußnote



Achtunddreißigstes Stück
Den 8. September 1767

Ich bin es auch nicht allein, dem die Auslegung des Dacier keine Genüge
leistet. Unsern deutschen Übersetzer der Aristotelischen Dichtkunst[1]
hat sie ebensowenig befriediget. Er trägt seine Gründe dagegen vor, die
zwar nicht eigentlich die Ausflucht des Dacier bestreiten, aber ihn doch
sonst erheblich genug dünken, um seinen Autor lieber gänzlich im Stiche
zu lassen, als einen neuen Versuch zu wagen, etwas zu retten, was nicht
zu retten sei. "Ich überlasse", schließt er, "einer tiefern Einsicht,
diese Schwierigkeiten zu heben; ich kann kein Licht zu ihrer Erklärung
finden, und scheinet mir wahrscheinlich, daß unser Philosoph dieses
Kapitel nicht mit seiner gewöhnlichen Vorsicht durchgedacht habe."

Ich bekenne, daß mir dieses nicht sehr wahrscheinlich scheinet. Eines
offenbaren Widerspruchs macht sich ein Aristoteles nicht leicht schuldig.
Wo ich dergleichen bei so einem Manne zu finden glaube, setze ich das
größere Mißtrauen lieber in meinen, als in seinen Verstand. Ich
verdoppele meine Aufmerksamkeit, ich überlese die Stelle zehnmal und
glaube nicht eher, daß er sich widersprochen, als bis ich aus dem ganzen
Zusammenhange seines Systems ersehe, wie und wodurch er zu diesem
Widerspruche verleitet worden. Finde ich nichts, was ihn dazu verleiten
können, was ihm diesen Widerspruch gewissermaßen unvermeidlich machen
müssen, so bin ich überzeugt, daß er nur anscheinend ist. Denn sonst
würde er dem Verfasser, der seine Materie so oft überdenken müssen, gewiß
am ersten aufgefallen sein, und nicht mir ungeübterm Leser, der ich ihn
zu meinem Unterrichte in die Hand nehme. Ich bleibe also stehen, verfolge
den Faden seiner Gedanken zurück, ponderiere ein jedes Wort und sage mir
immer: Aristoteles kann irren, und hat oft geirret; aber daß er hier
etwas behaupten sollte, wovon er auf der nächsten Seite gerade das
Gegenteil behauptet, das kann Aristoteles nicht. Endlich findet sich's
auch.

Doch ohne weitere Umstände; hier ist die Erklärung, an welcher Herr
Curtius verzweifelt.--Auf die Ehre einer tiefern Einsicht mache ich
desfalls keinen Anspruch. Ich will mich mit der Ehre einer größern
Bescheidenheit gegen einen Philosophen, wie Aristoteles, begnügen.

Nichts empfiehlt Aristoteles dem tragischen Dichter mehr, als die gute
Abfassung der Fabel; und nichts hat er ihm durch mehrere und feinere
Bemerkungen zu erleichtern gesucht, als eben diese. Denn die Fabel ist
es, die den Dichter vornehmlich zum Dichter macht: Sitten, Gesinnungen
und Ausdruck werden zehnen geraten, gegen einen, der in jener untadelhaft
und vortrefflich ist. Er erklärt aber die Fabel durch die Nachahmung
einer Handlung, [Greek: praxeos]; und eine Handlung ist ihm eine
Verknüpfung von Begebenheiten, [Greek: synthesin pragmaton]. Die Handlung
ist das Ganze, die Begebenheiten sind die Teile dieses Ganzen: und so wie
die Güte eines jeden Ganzen auf der Güte seiner einzeln Teile und deren
Verbindung beruhet, so ist auch die tragische Handlung mehr oder weniger
vollkommen, nachdem die Begebenheiten, aus welchen sie bestehet, jede für
sich und alle zusammen, den Absichten der Tragödie mehr oder weniger
entsprechen. Nun bringt Aristoteles alle Begebenheiten, welche in der
tragischen Handlung statthaben können, unter drei Hauptstücke: des
Glückswechsels, [Greek: peripeteias]; der Erkennung, [Greek: anagnorismou];
und des Leidens, [Greek: pathous]. Was er unter den beiden erstern
versteht, zeigen die Worte genugsam; unter dem dritten aber faßt er alles
zusammen, was den handelnden Personen Verderbliches und Schmerzliches
widerfahren kann; Tod, Wunden, Martern und dergleichen. Jene, der
Glückswechsel und die Erkennung, sind das, wodurch sich die verwickelte
Fabel, [Greek: mythos peplegmenos], von der einfachen, [Greek: aplo],
unterscheidet; sie sind also keine wesentliche Stücke der Fabel; sie
machen die Handlung nur mannigfaltiger, und dadurch schöner und
interessanter; aber eine Handlung kann auch ohne sie ihre völlige Einheit
und Rundung und Größe haben. Ohne das dritte hingegen läßt sich gar keine
tragische Handlung denken; Arten des Leidens, [Greek: pathos], muß jedes
Trauerspiel haben, die Fabel desselben mag einfach oder verwickelt sein;
denn sie gehen geradezu auf die Absicht des Trauerspiels, auf die Erregung
des Schreckens und Mitleids; dahingegen nicht jeder Glückswechsel, nicht
jede Erkennung, sondern nur gewisse Arten derselben diese Absicht
erreichen, sie in einem höhern Grade erreichen helfen, andere aber ihr
mehr nachteilig als vorteilhaft sind. Indem nun Aristoteles, aus diesem
Gesichtspunkte, die verschiednen unter drei Hauptstücke gebrachten Teile
der tragischen Handlung, jeden insbesondere betrachtet, und untersuchet,
welches der beste Glückswechsel, welches die beste Erkennung, welches die
beste Behandlung des Leidens sei: so findet sich in Ansehung des erstern,
daß derjenige Glückswechsel der beste, das ist der fähigste, Schrecken
und Mitleid zu erwecken und zu befördern, sei, welcher aus dem Bessern in
das Schlimmere geschieht; und in Ansehung der letztern, daß diejenige
Behandlung des Leidens die beste in dem nämlichen Verstande sei, wenn die
Personen, unter welchen das Leiden bevorstehet, einander nicht kennen,
aber in eben dem Augenblicke, da dieses Leiden zur Wirklichkeit gelangen
soll, einander kennen lernen, so daß es dadurch unterbleibt.

Und dieses soll sich widersprechen? Ich verstehe nicht, wo man die
Gedanken haben muß, wenn man hier den geringsten Widerspruch findet. Der
Philosoph redet von verschiedenen Teilen: warum soll denn das, was er von
diesem Teile behauptet, auch von jenem gelten müssen? Ist denn die
möglichste Vollkommenheit des einen notwendig auch die Vollkommenheit des
andern? Oder ist die Vollkommenheit eines Teils auch die Vollkommenheit
des Ganzen? Wenn der Glückswechsel und das, was Aristoteles unter dem
Worte Leiden begreift, zwei verschiedene Dinge sind, wie sie es sind,
warum soll sich nicht ganz etwas Verschiedenes von ihnen sagen lassen?
Oder ist es unmöglich, daß ein Ganzes Teile von entgegengesetzten
Eigenschaften haben kann? Wo sagt Aristoteles, daß die beste Tragödie
nichts als die Vorstellung einer Veränderung des Glückes in Unglück sei?
Oder, wo sagt er, daß die beste Tragödie auf nichts, als auf die
Erkennung dessen hinauslaufen müsse, an dem eine grausam widernatürliche
Tat verübet werden sollen? Er sagt weder das eine noch das andere von der
Tragödie überhaupt, sondern jedes von einem besondern Teile derselben,
welcher dem Ende mehr oder weniger nahe liegen, welcher auf den andern
mehr oder weniger Einfluß, und auch wohl gar keinen, haben kann. Der
Glückswechsel kann sich mitten in dem Stücke ereignen, und wenn er schon
bis an das Ende fortdauert, so macht er doch nicht selbst das Ende: so
ist z.E. der Glückswechsel im "Oedip", der sich bereits zum Schlusse des
vierten Akts äußert, zu dem aber noch mancherlei Leiden ([Greek: pathos])
hinzukommen, mit welchen sich eigentlich das Stück schließet. Gleichfalls
kann das Leiden mitten in dem Stücke zur Vollziehung gelangen sollen, und
in dem nämlichen Augenblicke durch die Erkennung hintertrieben werden, so
daß durch diese Erkennung das Stück nichts weniger als geendet ist; wie
in der zweiten "Iphigenia" des Euripides, wo Orestes, auch schon in dem
vierten Akte, von seiner Schwester, die ihn aufzuopfern im Begriffe ist,
erkannt wird. Und wie vollkommen wohl jener tragischste Glückswechsel mit
der tragischsten Behandlung des Leidens sich in einer und eben derselben
Fabel verbinden lasse, kann man an der "Merope" selbst zeigen. Sie hat
die letztere; aber was hindert es, daß sie nicht auch den ersteren haben
könnte, wenn nämlich Merope, nachdem sie ihren Sohn unter dem Dolche
erkannt, durch ihre Beeiferung, ihn nunmehr auch wider den Polyphont zu
schützen, entweder ihr eigenes oder dieses geliebten Sohnes Verderben
beförderte? Warum könnte sich dieses Stück nicht ebensowohl mit dem
Untergange der Mutter, als des Tyrannen schließen? Warum sollte es einem
Dichter nicht freistellen können, um unser Mitleiden gegen eine so
zärtliche Mutter auf das höchste zu treiben, sie durch ihre Zärtlichkeit
selbst unglücklich werden zu lassen? Oder warum sollte es ihm nicht
erlaubt sein, den Sohn, den er der frommen Rache seiner Mutter entrissen,
gleichwohl den Nachstellungen des Tyrannen unterliegen zu lassen? Würde
eine solche Merope, in beiden Fällen, nicht wirklich die beiden
Eigenschaften des besten Trauerspiels verbinden, die man bei dem
Kunstrichter so widersprechend findet?

Ich merke wohl, was das Mißverständnis veranlasset haben kann. Man hat
sich einen Glückswechsel aus dem Bessern in das Schlimmere nicht ohne
Leiden, und das durch die Erkennung verhinderte Leiden nicht ohne
Glückswechsel denken können. Gleichwohl kann beides gar wohl ohne das
andere sein; nicht zu erwähnen, daß auch nicht beides eben die nämliche
Person treffen muß, und wenn es die nämliche Person trifft, daß eben
nicht beides sich zu der nämlichen Zeit ereignen darf, sondern eines auf
das andere folgen, eines durch das andere verursachet werden kann. Ohne
dieses zu überlegen, hat man nur an solche Fälle und Fabeln gedacht, in
welchen beide Teile entweder zusammenfließen, oder der eine den andern
notwendig ausschließt. Daß es dergleichen gibt, ist unstreitig. Aber ist
der Kunstrichter deswegen zu tadeln, der seine Regeln in der möglichsten
Allgemeinheit abfaßt, ohne sich um die Fälle zu bekümmern, in welchen
seine allgemeinen Regeln in Kollision kommen und eine Vollkommenheit der
andern aufgeopfert werden muß? Setzet ihn eine solche Kollision mit sich
selbst in Widerspruch? Er sagt: dieser Teil der Fabel, wenn er seine
Vollkommenheit haben soll, muß von dieser Beschaffenheit sein; jener von
einer andern, und ein dritter wiederum von einer andern. Aber wo hat er
gesagt, daß jede Fabel diese Teile alle notwendig haben müsse? Genug für
ihn, daß es Fabeln gibt, die sie alle haben können. Wenn eure Fabel aus
der Zahl dieser glücklichen nicht ist; wenn sie euch nur den besten
Glückswechsel, oder nur die beste Behandlung des Leidens erlaubt: so
untersuchet, bei welchem von beiden ihr am besten überhaupt fahren
würdet, und wählet. Das ist es alles!


----Fußnote

[1] Herrn Curtius, S. 214.

----Fußnote



Neununddreißigstes Stück
Den 11. September 1767

Am Ende zwar mag sich Aristoteles widersprochen oder nicht widersprochen
haben; Tournemine mag ihn recht verstanden oder nicht recht verstanden
haben: die Fabel der "Merope" ist weder in dem einen, noch in dem andern
Falle so schlechterdings für eine vollkommene tragische Fabel zu
erkennen. Denn hat sich Aristoteles widersprochen, so behauptet er
ebensowohl gerade das Gegenteil von ihr, und es muß erst untersucht
werden, wo er das größere Recht hat, ob dort oder hier. Hat er sich aber,
nach meiner Erklärung, nicht widersprochen, so gilt das Gute, was er
davon sagt, nicht von der ganzen Fabel, sondern nur von einem einzeln
Teile derselben. Vielleicht war der Mißbrauch seines Ansehens bei dem
Pater Tournemine auch nur ein bloßer Jesuiterkniff, um uns mit guter Art
zu verstehen zu geben, daß eine so vollkommene Fabel, von einem so großen
Dichter, als Voltaire, bearbeitet, notwendig ein Meisterstück werden müssen.

Doch Tournemine und Tournemine--Ich fürchte, meine Leser werden fragen:
"Wer ist denn dieser Tournemine? Wir kennen keinen Tournemine." Denn
viele dürften ihn wirklich nicht kennen; und manche dürften so fragen,
weil sie ihn gar zu gut kennen; wie Montesquieu[1].

Sie belieben also, anstatt des Pater Tournemine, den Herrn von Voltaire
selbst zu substituieren. Denn auch er sucht uns von dem verlornen Stücke
des Euripides die nämlichen irrigen Begriffe zu machen. Auch er sagt, daß
Aristoteles in seiner unsterblichen Dichtkunst nicht anstehe, zu behaupten,
daß die Erkennung der Merope und ihres Sohnes der interessanteste
Augenblick der ganzen griechischen Bühne sei. Auch er sagt, daß Aristoteles
diesem coup de théâtre den Vorzug vor allen andern erteile. Und vom Plutarch
versichert er uns gar, daß er dieses Stück des Euripides für das rührendste
von allen Stücken desselben gehalten habe.[2] Dieses letztere ist nun
gänzlich aus der Luft gegriffen. Denn Plutarch macht von dem Stücke, aus
welchem er die Situation der Merope anführt, nicht einmal den Titel namhaft;
er sagt weder, wie es heißt, noch wer der Verfasser desselben sei;
geschweige, daß er es für das rührendste von allen Stücken des Euripides
erkläre.

Aristoteles soll nicht anstehen, zu behaupten, daß die Erkennung der
Merope und ihres Sohnes der interessanteste Augenblick der ganzen
griechischen Bühne sei! Welche Ausdrücke: nicht anstehen, zu behaupten!
Welche Hyperbel: der interessanteste Augenblick der ganzen griechischen
Bühne! Sollte man hieraus nicht schließen: Aristoteles gehe mit Fleiß
alle interessante Augenblicke, welche ein Trauerspiel haben könne, durch,
vergleiche einen mit dem andern, wiege die verschiedenen Beispiele, die
er von jedem insbesondere bei allen, oder wenigstens den vornehmsten
Dichtern gefunden, untereinander ab und tue endlich so dreist als sicher
den Ausspruch für diesen Augenblick bei dem Euripides. Gleichwohl ist es
nur eine einzelne Art von interessanten Augenblicken, wovon er ihn zum
Beispiele anführet; gleichwohl ist er nicht einmal das einzige Beispiel
von dieser Art. Denn Aristoteles fand ähnliche Beispiele in der "Iphigenia",
wo die Schwester den Bruder, und in der "Helle", wo der Sohn die Mutter
erkennet, eben da die erstern im Begriffe sind, sich gegen die andern zu
vergehen.

Das zweite Beispiel von der Iphigenia ist wirklich aus dem Euripides; und
wenn, wie Dacier vermutet, auch die "Helle" ein Werk dieses Dichters
gewesen: so wäre es doch sonderbar, daß Aristoteles alle drei Beispiele
von einer solchen glücklichen Erkennung gerade bei demjenigen Dichter
gefunden hätte, der sich der unglücklichen Peripetie am meisten bediente.
Warum zwar sonderbar? Wir haben ja gesehen, daß die eine die andere nicht
ausschließt; und obschon in der "Iphigenia" die glückliche Erkennung auf
die unglückliche Peripetie folgt, und das Stück überhaupt also glücklich
sich endet: wer weiß, ob nicht in den beiden andern eine unglückliche
Peripetie auf die glückliche Erkennung folgte, und sie also völlig in der
Manier schlossen, durch die sich Euripides den Charakter des tragischsten
von allen tragischen Dichtern verdiente?

Mit der Merope, wie ich gezeigt, war es auf eine doppelte Art möglich;
ob es aber wirklich geschehen, oder nicht geschehen, läßt sich aus den
wenigen Fragmenten, die uns von dem "Kresphontes" übrig sind, nicht
schließen. Sie enthalten nichts als Sittensprüche und moralische
Gesinnungen, von spätern Schriftstellern gelegentlich angezogen, und
werfen nicht das geringste Licht auf die Ökonomie des Stückes.[3] Aus
dem einzigen, bei dem Polybius, welches eine Anrufung an die Göttin des
Friedens ist, scheinet zu erhellen, daß zu der Zeit, in welche die
Handlung gefallen, die Ruhe in dem messenischen Staate noch nicht wieder
hergestellet gewesen; und aus ein paar andern sollte man fast schließen,
daß die Ermordung des Kresphontes und seiner zwei ältern Söhne entweder
einen Teil der Handlung selbst ausgemacht habe oder doch nur kurz
vorhergegangen sei; welches beides sich mit der Erkennung des jüngern
Sohnes, der erst verschiedene Jahre nachher seinen Vater und seine Brüder
zu rächen kam, nicht wohl zusammenreimet. Die größte Schwierigkeit aber
macht mir der Titel selbst. Wenn diese Erkennung, wenn diese Rache des
jüngern Sohnes der vornehmste Inhalt gewesen. Wie konnte das Stück
"Kresphontes" heißen? Kresphontes war der Name des Vaters; der Sohn aber
hieß nach einigen Aepytus und nach andern Telephontes; vielleicht, daß
jenes der rechte und dieses der angenommene Name war, den er in der
Fremde führte, um unerkannt und vor den Nachstellungen des Polyphonts
sicher zu bleiben. Der Vater muß längst tot sein, wenn sich der Sohn des
väterlichen Reiches wieder bemächtiget. Hat man jemals gehört, daß ein
Trauerspiel nach einer Person benennet worden, die gar nicht darin
vorkommt? Corneille und Dacier haben sich geschwind über diese
Schwierigkeit hinwegzusetzen gewußt, indem sie angenommen, daß der Sohn
gleichfalls Kresphont geheißen;[4] aber mit welcher Wahrscheinlichkeit?
aus welchem Grunde?

Wenn es indes mit einer Entdeckung seine Richtigkeit hat, mit der sich
Maffei schmeichelte: so können wir den Plan des Kresphontes ziemlich
genau wissen. Er glaubte ihn nämlich bei dem Hyginus, in der
hundertundvierundachtzigsten Fabel, gefunden zu haben.[5] Denn er hält
die Fabeln des Hyginus überhaupt größtenteils für nichts, als für die
Argumente alter Tragödien, welcher Meinung auch schon vor ihm Reinesius
gewesen war, und empfiehlt daher den neuern Dichtern, lieber in diesem
verfallenen Schachte nach alten tragischen Fabeln zu suchen, als sich
neue zu erdichten. Der Rat ist nicht übel und zu befolgen. Auch hat ihn
mancher befolgt, ehe ihn Maffei noch gegeben, oder ohne zu wissen, daß er
ihn gegeben. Herr Weiße hat den Stoff zu seinem "Thyest" aus dieser Grube
geholt; und es wartet da noch mancher auf ein verständiges Auge. Nur
möchte es nicht der größte, sondern vielleicht gerade der allerkleinste
Teil sein, der in dieser Absicht von dem Werke des Hyginus zu nutzen.
Es braucht auch darum gar nicht aus den Argumenten der alten Tragödien
zusammengesetzt zu sein; es kann aus eben den Quellen, mittelbar oder
unmittelbar, geflossen sein, zu welchen die Tragödienschreiber selbst
ihre Zuflucht nahmen. Ja, Hyginus, oder wer sonst die Kompilation
gemacht, scheinet selbst die Tragödien als abgeleitete verdorbene Bäche
betrachtet zu haben; indem er an verschiedenen Stellen das, was weiter
nichts als die Glaubwürdigkeit eines tragischen Dichters vor sich hatte,
ausdrücklich von der alten echtern Tradition absondert. So erzählt er
z.E. die Fabel von der Ino und die Fabel von der Antiopa, zuerst nach
dieser und darauf in einem besondern Abschnitte nach der Behandlung des
Euripides.


----Fußnote

[1] "Lettres familières".

[2] Aristote, dans sa Poétique immortelle, ne balance pas à dire que la
reconnaissance de Mérope et de son fils était le moment le plus
intéressant de toute la scène Grecque. Il donnait à ce coup de Théâtre la
préférence sur tous les autres. Plutarque dit que les Grecs, ce peuple si
sensible, frémissaient de crainte que le vieillard, qui devait arrêter le
bras de Mérope, n'arrivât pas asseztôt. Cette pièce, qu'on jouait de son
temps, et dont il nous reste très peu de fragments, lui paraissait la
plus touchante de toutes les tragédies d'Euripide etc. Lettre à
Mr. Maffei.

[3] Dasjenige, welches Dacier anführet ("Poétique d'Aristote", Chap. XV.
Rem. 23.), ohne sich zu erinnern, wo er es gelesen, stehet bei dem
Plutarch in der Abhandlung: "Wie man seine Feinde nützen solle".

[4] Remarque 22. sur le Chapitre XV. de la Poét. d'Arist. Une Mère, qui
va tuer son fils, comme Mérope va tuer Cresphonte etc.

[5] Questa scoperta penso io d'aver fatta, nel leggere la Favola 184
d'Igino, la quale a mio credere altro non è, che l'Argomento di quella
Tragedia, in cui si rappresenta interamente la condotta di essa.
Sovvienmi, che al primo gettar gli occhi, ch'io feci già in quell'
Autore, mi apparve subito nella mente, altro non essere le più di quelle
Favole, che gli Argomenti delle Tragedie antiche: mi accertai di ciò col
confrontarne alcune poche con le Tragedie, che ancora abbiamo; e appunto
in questi giorni, venuta a mano l'ultima edizione d'Igino, mi è stato
caro di vedere in un passo addotto, come fu anche il Reinesio di tal
sentimento. Una miniera è pero questa di Tragici Argomenti, che se fosse
stata nota a' Poeti, non avrebbero penato tanto in rinvenir soggetti a
lor fantasia: io la scoprirò loro di buona voglia, perchè rendano col
loro ingegno alla nostra età ciò, che dal tempo invidioso le fu rapito.
Merita dunque, almeno per questo capo, alquanto più di considerazione
quell' Operetta, anche tal qual l'abbiamo, che da gli Eruditi non è stato
creduto: e quanto al discordar tal volta dagli altri Scrittori delle
favolose Storie, questa avertenza ce ne addita la ragione, non avendole
costui narrate, secondo la tradizione, ma conforme i Poeti in proprio uso
convertendole, le avean ridotte.

----Fußnote



Vierzigstes Stück
Den 15. September 1767

Damit will ich jedoch nicht sagen, daß, weil über derhundertundvierund-
Achtzigsten Fabel Der Name Des Euripides Nicht Stehe, Sie Auch Nicht Aus
Dem "Kresphont" Desselben Könne Gezogen Sein. Vielmehr Bekenne Ich, Daß
Sie Wirklich Den Gang Und Die Verwickelung Eines Trauerspieles Hat; So
Daß, Wenn Sie Keines Gewesen Ist, Sie Doch Leicht Eines Werden Könnte,
Und Zwar Eines, Dessen Plan Der Alten Simplizität Weit Näher Käme, Als
Alle Neuere Meropen. Man Urteile Selbst: Die Erzählung Des Hyginus, Die
Ich Oben Nur Verkürzt Angeführt, Ist Nach Allen Ihren Umständen Folgende.

Kresphontes war König von Messenien und hatte mit seiner Gemahlin Merope
drei Söhne, als Polyphontes einen Aufstand gegen ihn erregte, in welchem
er, nebst seinen beiden ältesten Söhnen, das Leben verlor. Polyphontes
bemächtigte sich hierauf des Reichs und der Hand der Merope, welche
während dem Aufruhre Gelegenheit gefunden hatte, ihren dritten Sohn,
namens Telephontes, zu einem Gastfreunde in Aetolien in Sicherheit
bringen zu lassen. Je mehr Telephontes heranwuchs, desto unruhiger ward
Polyphontes. Er konnte sich nichts Gutes von ihm gewärtigen und versprach
also demjenigen eine große Belohnung, der ihn aus dem Wege räumen würde.
Dieses erfuhr Telephontes; und da er sich nunmehr fähig fühlte, seine
Rache zu unternehmen, so machte er sich heimlich aus Aetolien weg, ging
nach Messenien, kam zu dem Tyrannen, sagte, daß er den Telephontes
umgebracht habe, und verlangte die von ihm dafür ausgesetzte Belohnung.
Polyphontes nahm ihn auf und befahl, ihn so lange in seinem Palaste zu
bewirten, bis er ihn weiter ausfragen könne. Telephontes ward also in das
Gastzimmer gebracht, wo er vor Müdigkeit einschlief. Indes kam der alte
Diener, welchen bisher Mutter und Sohn zu ihren wechselseitigen
Botschaften gebraucht, weinend zu Meropen und meldete ihr, daß
Telephontes aus Aetolien weg sei, ohne daß man wisse, wo er hingekommen.
Sogleich eilet Merope, der es nicht unbekannt geblieben, wessen sich der
angekommene Fremde rühme, mit einer Axt nach dem Gastzimmer und hätte ihn
im Schlafe unfehlbar umgebracht, wenn nicht der Alte, der ihr dahin
nachgefolgt, den Sohn noch zur rechten Zeit erkannt und die Mutter an der
Freveltat verhindert hätte. Nunmehr machten beide gemeinschaftliche
Sache, und Merope stellte sich gegen ihren Gemahl ruhig und versöhnt.
Polyphontes dünkte sich aller seiner Wünsche gewähret und wollte den
Göttern durch ein feierliches Opfer seinen Dank bezeigen. Als sie aber
alle um den Altar versammelt waren, führte Telephontes den Streich, mit
dem er das Opfertier fällen zu wollen sich stellte, auf den König; der
Tyrann fiel, und Telephontes gelangte zu dem Besitze seines väterlichen
Reiches.[1]

Auch hatten, schon in dem sechzehnten Jahrhunderte, zwei italienische
Dichter, Joh. Bapt. Liviera und Pomponio Torelli, den Stoff zu ihren
Trauerspielen, "Kresphont" und "Merope", aus dieser Fabel des Hyginus
genommen und waren sonach, wie Maffei meinet, in die Fußtapfen des
Euripides getreten, ohne es zu wissen. Doch dieser Überzeugung
ohngeachtet wollte Maffei selbst sein Werk so wenig zu einer bloßen

Divination über den Euripides machen und den verlornen "Kresphont" in
seiner "Merope" wieder aufleben lassen, daß er vielmehr mit Fleiß von
verschiednen Hauptzügen dieses vermeintlichen Euripidischen Planes abging
und nur die einzige Situation, die ihn vornehmlich darin gerührt hatte,
in aller ihrer Ausdehnung zu nutzen suchte.

Die Mutter nämlich, die ihren Sohn so feurig liebte, daß sie sich an dem
Mörder desselben mit eigner Hand rächen wollte, brachte ihn auf den
Gedanken, die mütterliche Zärtlichkeit überhaupt zu schildern und mit
Ausschließung aller andern Liebe, durch diese einzige reine und
tugendhafte Leidenschaft sein ganzes Stück zu beleben. Was dieser Absicht
also nicht vollkommen zusprach, ward verändert; welches besonders die
Umstände von Meropens zweiter Verheiratung und von des Sohnes auswärtiger
Erziehung treffen mußte. Merope mußte nicht die Gemahlin des Polyphonts
sein; denn es schien dem Dichter mit der Gewissenhaftigkeit einer so
frommen Mutter zu streiten, sich den Umarmungen eines zweiten Mannes
überlassen zu haben, in dem sie den Mörder ihres ersten kannte, und
dessen eigene Erhaltung es erforderte, sich durchaus von allen, welche
nähere Ansprüche auf den Thron haben könnten, zu befreien. Der Sohn mußte
nicht bei einem vornehmen Gastfreunde seines väterlichen Hauses, in aller
Sicherheit und Gemächlichkeit, in der völligen Kenntnis seines Standes
und seiner Bestimmung, erzogen sein: denn die mütterliche Liebe erkaltet
natürlicherweise, wenn sie nicht durch die beständigen Vorstellungen des
Ungemachs, der immer neuen Gefahren, in welche ihr abwesender Gegenstand
geraten kann, gereizet und angestrenget wird. Er mußte nicht in der
ausdrücklichen Absicht kommen, sich an dem Tyrannen zu rächen; er muß
nicht von Meropen für den Mörder ihres Sohnes gehalten werden, weil er
sich selbst dafür ausgibt, sondern weil eine gewisse Verbindung von
Zufällen diesen Verdacht auf ihn ziehet: denn kennt er seine Mutter, so
ist ihre Verlegenheit bei der ersten mündlichen Erklärung aus, und ihr
rührender Kummer, ihre zärtliche Verzweiflung hat nicht freies Spiel
genug.

Und diesen Veränderungen zufolge kann man sich den Maffeischen Plan
ungefähr vorstellen. Polyphontes regieret bereits fünfzehn Jahre, und
doch fühlet er sich auf dem Throne noch nicht befestiget genug. Denn das
Volk ist noch immer dem Hause seines vorigen Königes zugetan und rechnet
auf den letzten geretteten Zweig desselben. Die Mißvergnügten zu
beruhigen, fällt ihm ein, sich mit Meropen zu verbinden. Er trägt ihr
seine Hand an, unter dem Vorwande einer wirklichen Liebe. Doch Merope
weiset ihn mit diesem Vorwande zu empfindlich ab; und nun sucht er durch
Drohungen und Gewalt zu erlangen, wozu ihn seine Verstellung nicht
verhelfen können. Eben dringt er am schärfsten in sie, als ein Jüngling
vor ihn gebracht wird, den man auf der Landstraße über einem Morde
ergriffen hat. Aegisth, so nannte sich der Jüngling, hatte nichts getan,
als sein eignes Leben gegen einen Räuber verteidiget; sein Ansehen verrät
so viel Adel und Unschuld, seine Rede so viel Wahrheit, daß Merope, die
noch außerdem eine gewisse Falte seines Mundes bemerkt, die ihr Gemahl
mit ihm gemein hatte, bewogen wird, den König für ihn zu bitten; und der
König begnadiget ihn. Doch gleich darauf vermißt Merope ihren jüngsten
Sohn, den sie einem alten Diener, namens Polydor, gleich nach dem Tode
ihres Gemahls anvertrauet hatte, mit dem Befehle, ihn als sein eigenes
Kind zu erziehen. Er hat den Alten, den er für seinen Vater hält,
heimlich verlassen, um die Welt zu sehen; aber er ist nirgends wieder
aufzufinden. Dem Herze einer Mutter ahnet immer das Schlimmste; auf der
Landstraße ist jemand ermordet worden; wie, wenn es ihr Sohn gewesen
wäre? So denkt sie und wird in ihrer bangen Vermutung durch verschiedene
Umstände, durch die Bereitwilligkeit des Königs, den Mörder zu
begnadigen, vornehmlich aber durch einen Ring bestärket, den man bei dem
Aegisth gefunden, und von dem ihr gesagt wird, daß ihn Aegisth dem
Erschlagenen abgenommen habe. Es ist dieses der Siegelring ihres Gemahls,
den sie dem Polydor mitgegeben hatte, um ihn ihrem Sohne einzuhändigen,
wenn er erwachsen, und es Zeit sein würde, ihm seinen Stand zu entdecken.
Sogleich läßt sie den Jüngling, für den sie vorher selbst gebeten, an
eine Säule binden und will ihm das Herz mit eigner Hand durchstoßen. Der
Jüngling erinnert sich in diesem Augenblicke seiner Eltern; ihm entfährt
der Name Messene; er gedenkt des Verbots seines Vaters, diesen Ort
sorgfältig zu vermeiden; Merope verlangt hierüber Erklärung: indem kömmt
der König dazu, und der Jüngling wird befreiet. So nahe Merope der
Erkennung ihres Irrtums war, so tief verfällt sie wiederum darein zurück,
als sie siehet, wie höhnisch der König über ihre Verzweiflung triumphiert.
Nun ist Aegisth unfehlbar der Mörder ihres Sohnes, und nichts soll ihn
vor ihrer Rache schützen. Sie erfährt mit einbrechender Nacht, daß er in
dem Vorsaale sei, wo er eingeschlafen, und kömmt mit einer Axt, ihm den
Kopf zu spalten; und schon hat sie die Axt zu dem Streiche erhoben, als
ihr Polydor, der sich kurz zuvor in eben den Vorsaal eingeschlichen und
den schlafenden Aegisth erkannt hatte, in die Arme fällt. Aegisth erwacht
und fliehet, und Polydor entdeckt Meropen ihren eigenen Sohn in dem
vermeinten Mörder ihres Sohnes. Sie will ihm nach und würde ihn leicht
durch ihre stürmische Zärtlichkeit dem Tyrannen entdeckt haben, wenn sie
der Alte nicht auch hiervon zurückgehalten hätte. Mit frühem Morgen soll
ihre Vermählung mit dem Könige vollzogen werden; sie muß zu dem Altare,
aber sie will eher sterben, als ihre Einwilligung erteilen. Indes hat
Polydor auch den Aegisth sich kennen gelehrt; Aegisth eilet in den
Tempel, dränget sich durch das Volk, und--das übrige wie bei dem Hyginus.


----Fußnote

[1] In der 184. Fabel des Hyginus, aus welcher obige Erzählung genommen,
sind offenbar Begebenheiten ineinander geflossen, die nicht die geringste
Verbindung unter sich haben. Sie fängt an mit dem Schicksale des Pentheus
und der Agave und endet sich mit der Geschichte der Merope. Ich kann gar
nicht begreifen, wie die Herausgeber diese Verwirrung unangemerkt lassen
können; es wäre denn, daß sie sich bloß in derjenigen Ausgabe, welche ich
vor mir habe (Johannis Schefferi, Hamburgi 1674), befände. Diese
Untersuchung überlasse ich dem, der die Mittel dazu bei der Hand hat.
Genug, daß hier, bei mir, die 184. Fabel mit den Worten: quam Licoterses
excepit, aus sein muß. Das übrige macht entweder eine besondere Fabel,
von der die Anfangsworte verloren gegangen, oder gehöret, welches mir das
Wahrscheinlichste ist, zu der 137., so daß, beides miteinander verbunden,
ich die ganze Fabel von der Merope, man mag sie nun zu der 137. oder zu
der 184. machen wollen, folgendermaßen zusammenlegen wurde. Es versteht
sich, daß in der letztern die Worte: cum qua Polyphontes, occiso
Cresphonte, regnum occupavit, als eine unnötige Wiederholung, mitsamt dem
darauffolgenden ejus, welches auch so schon überflüssig ist, wegfallen
müßte. Merope.

[2] Polyphontes, Messeniae rex, Cresphontem Aristomachi filium cum
interfecisset, ejus imperium et Meropem uxorem possedit. Filium autem
infantem Merope mater, quem ex Cresphonte habebat, absconse ad hospitem
in Aetoliam mandavit. Hunc Polyphontes maxima cum industria quaerebat,
aurumque pollicebatur, si quis eum necasset. Qui postquam ad puberem
aetatem venit, capit consilium, ut exequatur patris et fratrum mortem.
Itaque venit ad regem Polyphontem, aurum petitum, dicens se Cresphontis
interfecisse filium et Meropis, Telephontem. Interim rex eum jussit in
hospitio manere, ut amplius de eo perquireret. Qui cum per lassitudinem
obdormisset, senex qui inter matrem et filium internuncius erat, flens ad
Meropem venit, negans eum apud hospitem esse, nec comparere. Merope
credens eum esse filii sui interfectorem, qui dormiebat, in Chalcidicum
cum securi venit, inscia ut filium suum interficeret, quem senex
cognovit, et matrem a scelere retraxit. Merope postquam invenit,
occasionem sibi datam esse, ab inimico se ulciscendi, redit cum
Polyphonte in gratiam. Rex laetus cum rem divinam faceret, hospes falso
simulavit se hostiam percussisse, eumque interfecit, patriumque regnum
adeptus est.

----Fußnote



Einundvierzigstes Stück
Den 18. September 1767

Je schlechter es zu Anfange dieses Jahrhunderts mit dem italienischen
Theater überhaupt aussahe, desto größer war der Beifall und das
Zujauchzen, womit die "Merope" des Maffei aufgenommen wurde.

    Cedite Romani scriptores, cedite Graii,
    Nescio quid majus nascitur Oedipode:

schrie Leonardo Adami, der nur noch die ersten zwei Akte in Rom davon
gesehen hatte. In Venedig ward 1714, das ganze Karneval hindurch, fast
kein anderes Stück gespielt als "Merope"; die ganze Welt wollte die neue
Tragödie sehen und wieder sehen; und selbst die Opernbühnen fanden sich
darüber verlassen. Sie ward in einem Jahre viermal gedruckt; und in
sechzehn Jahren (von 1714-1730) sind mehr als dreißig Ausgaben, in und
außer Italien, zu Wien, zu Paris, zu London davon gemacht worden. Sie
ward ins Französische, ins Englische, ins Deutsche übersetzt; und man
hatte vor, sie mit allen diesen Übersetzungen zugleich drucken zu lassen.
Ins Französische war sie bereits zweimal übersetzt, als der Herr von
Voltaire sich nochmals darübermachen wollte, um sie auch wirklich auf die
französische Bühne zu bringen. Doch er fand bald, daß dieses durch eine
eigentliche Übersetzung nicht geschehen könnte, wovon er die Ursachen in
dem Schreiben an den Marquis, welches er nachher seiner eignen "Merope"
vorsetzte, umständlich angibt.

Der Ton, sagt er, sei in der italienischen "Merope" viel zu naiv und
bürgerlich, und der Geschmack des französischen Parterrs viel zu fein,
viel zu verzärtelt, als daß ihm die bloße simple Natur gefallen könne. Es
wolle die Natur nicht anders als unter gewissen Zügen der Kunst sehen;
und diese Züge müßten zu Paris weit anders als zu Verona sein. Das ganze
Schreiben ist mit der äußersten Politesse abgefaßt; Maffei hat nirgends
gefehlt; alle seine Nachlässigkeiten und Mängel werden auf die Rechnung
seines Nationalgeschmacks geschrieben; es sind wohl noch gar Schönheiten,
aber leider nur Schönheiten für Italien. Gewiß, man kann nicht höflicher
kritisieren! Aber die verzweifelte Höflichkeit! Auch einem Franzosen wird
sie gar bald zu Last, wenn seine Eitelkeit im geringsten dabei leidet.
Die Höflichkeit macht, daß wir liebenswürdig scheinen, aber nicht groß;
und der Franzose will ebenso groß, als liebenswürdig scheinen.

Was folgt also auf die galante Zueignungsschrift des Hrn. von Voltaire?
Ein Schreiben eines gewissen de la Lindelle, welcher dem guten Maffei
ebensoviel Grobheiten sagt, als ihm Voltaire Verbindliches gesagt hatte.
Der Stil dieses de la Lindelle ist ziemlich der Voltairische Stil; es ist
schade, daß eine so gute Feder nicht mehr geschrieben hat und übrigens so
unbekannt geblieben ist. Doch Lindelle sei Voltaire, oder sei wirklich
Lindelle: wer einen französischen Januskopf sehen will, der vorne auf die
einschmeichelndste Weise lächelt und hinten die hämischsten Grimassen
schneidet, der lese beide Briefe in einem Zuge. Ich möchte keinen
geschrieben haben; am wenigsten aber beide. Aus Höflichkeit bleibet
Voltaire diesseits der Wahrheit stehen, und aus Verkleinerungssucht
schweifet Lindelle bis jenseit derselben. Jener hätte freimütiger, und
dieser gerechter sein müssen, wenn man nicht auf den Verdacht geraten
sollte, daß der nämliche Schriftsteller sich hier unter einem fremden
Namen wieder einbringen wollen, was er sich dort unter seinem eigenen
vergeben habe.

Voltaire rechne es dem Marquis immer so hoch an, als er will, daß er
einer der erstern unter den Italienern sei, welcher Mut und Kraft genug
gehabt, eine Tragödie ohne Galanterie zu schreiben, in welcher die ganze
Intrige auf der Liebe einer Mutter beruhe und das zärtlichste Interesse
aus der reinsten Tugend entspringe. Er beklage es, so sehr als ihm
beliebt, daß die falsche Delikatesse seiner Nation ihm nicht erlauben
wollen, von den leichtesten natürlichsten Mitteln, welche die Umstände
zur Verwicklung darbieten, von den unstudierten wahren Reden, welche die
Sache selbst in den Mund legt, Gebrauch zu machen. Das Pariser Parterr
hat unstreitig sehr unrecht, wenn es seit dem königlichen Ringe, über den
Boileau in seinen Satiren spottet, durchaus von keinem Ringe auf dem
Theater mehr hören will;[1] wenn es seine Dichter daher zwingt, lieber zu
jedem andern, auch dem allerunschicklichsten Mittel der Erkennung seine
Zuflucht zu nehmen, als zu einem Ringe, mit welchem doch die ganze Welt,
zu allen Zeiten, eine Art von Erkennung, eine Art von Versicherung der
Person, verbunden hat. Es hat sehr unrecht, wenn es nicht will, daß ein
junger Mensch, der sich für den Sohn gemeiner Eltern hält und in dem
Lande auf Abenteuer ganz allein herumschweift, nachdem er einen Mord
verübt, demohngeachtet nicht soll für einen Räuber gehalten werden
dürfen, weil es voraussieht, daß er der Held des Stückes werden müsse,
[2] wenn es beleidiget wird, daß man einem solchen Menschen keinen
kostbaren Ring zutrauen will, da doch kein Fähndrich in des Königs Armee
sei, der nicht de belles nippes besitze. Das Pariser Parterr, sage ich,
hat in diesen und ähnlichen Fällen unrecht; aber warum muß Voltaire auch
in andern Fällen, wo es gewiß nicht unrecht hat, dennoch lieber ihm als
dem Maffei unrecht zu geben scheinen wollen? Wenn die französische
Höflichkeit gegen Ausländer darin besteht, daß man ihnen auch in solchen
Stücken recht gibt, wo sie sich schämen müßten, recht zu haben, so weiß
ich nicht, was beleidigender und einem freien Menschen unanständiger sein
kann, als diese französische Höflichkeit. Das Geschwätz, welches Maffei
seinem alten Polydor von lustigen Hochzeiten, von prächtigen Krönungen,
denen er vor diesen beigewohnt, in den Mund legt, und zu einer Zeit in
den Mund legt, wenn das Interesse aufs höchste gestiegen und die
Einbildungskraft der Zuschauer mit ganz andern Dingen beschäftiget ist:
dieses nestorische, aber am unrechten Orte nestorische Geschwätz kann
durch keine Verschiedenheit des Geschmacks unter verschiedenen
kultivierten Völkern entschuldiget werden; hier muß der Geschmack überall
der nämliche sein, und der Italiener hat nicht seinen eigenen, sondern
hat gar keinen Geschmack, wenn er nicht ebensowohl dabei gähnet und
darüber unwillig wird, als der Franzose. "Sie haben", sagt Voltaire zu
dem Marquis, "in Ihrer Tragödie jene schöne und rührende Vergleichung
des Virgils:

    Qualis populea moerens Philomela sub umbra
    Amissos queritur foetus--

übersetzen und anbringen dürfen. Wenn ich mir so eine Freiheit nehmen
wollte, so würde man mich damit in die Epopee verweisen. Denn Sie glauben
nicht, wie streng der Herr ist, dem wir zu gefallen suchen müssen; ich
meine unser Publikum. Dieses verlangt, daß in der Tragödie überall der
Held und nirgends der Dichter sprechen soll, und meinet, daß bei
kritischen Vorfällen, in Ratsversammlungen, bei einer heftigen
Leidenschaft, bei einer dringenden Gefahr kein König, kein Minister
poetische Vergleichungen zu machen pflege." Aber verlangt denn dieses
Publikum etwas Unrechtes, meinet es nicht, was die Wahrheit ist? Sollte
nicht jedes Publikum ebendieses verlangen? ebendieses meinen? Ein
Publikum, das anders richtet, verdient diesen Namen nicht: und muß
Voltaire das ganze italienische Publikum zu so einem Publico machen
wollen, weil er nicht Freimütigkeit genug hat, dem Dichter geradeheraus
zu sagen, daß er hier und an mehrern Stellen luxuriere und seinen eignen
Kopf durch die Tapete stecke? Auch unerwogen, daß ausführliche
Gleichnisse überhaupt schwerlich eine schickliche Stelle in dem
Trauerspiele finden können, hätte er anmerken sollen, daß jenes
Virgilische von dem Maffei äußerst gemißbrauchet worden. Bei dem Virgil
vermehret es das Mitleiden, und dazu ist es eigentlich geschickt; bei dem
Maffei aber ist es in dem Munde desjenigen, der über das Unglück, wovon
es das Bild sein soll, triumphieret, und müßte nach der Gesinnung des
Polyphonts mehr Hohn als Mitleid erwecken. Auch noch wichtigere und auf
das Ganze noch größern Einfluß habende Fehler scheuet sich Voltaire
nicht, lieber dem Geschmacke der Italiener überhaupt, als einem einzeln
Dichter aus ihnen zur Last zu legen, und dünkt sich von der allerfeinsten
Lebensart, wenn er den Maffei damit tröstet, daß es seine ganze Nation
nicht besser verstehe, als er; daß seine Fehler die Fehler seiner Nation
wären; daß aber Fehler einer ganzen Nation eigentlich keine Fehler wären,
weil es ja eben nicht darauf ankomme, was an und für sich gut oder
schlecht sei, sondern was die Nation dafür wolle gelten lassen. "Wie
hätte ich es wagen dürfen", fährt er mit einem tiefen Bücklinge, aber
auch zugleich mit einem Schnippchen in der Tasche, gegen den Marquis
fort, "bloße Nebenpersonen so oft miteinander sprechen zu lassen, als Sie
getan haben? Sie dienen bei Ihnen, die interessanten Szenen zwischen den
Hauptpersonen vorzubereiten; es sind die Zugänge zu einem schönen
Palaste; aber unser ungeduldiges Publikum will sich auf einmal in diesem
Palaste befinden. Wir müssen uns also schon nach dem Geschmacke eines
Volks richten, welches sich an Meisterstücken sattgesehen hat und also
äußerst verwöhnt ist." Was heißt dieses anders, als: "Mein Herr Marquis,
Ihr Stück hat sehr, sehr viel kalte, langweilige, unnütze Szenen. Aber
es sei fern von mir, daß ich Ihnen einen Vorwurf daraus machen sollte!
Behüte der Himmel! ich bin ein Franzose; ich weiß zu leben; ich werde
niemanden etwas Unangenehmes unter die Nase reiben. Ohne Zweifel haben
Sie diese kalten, langweiligen, unnützen Szenen mit Vorbedacht, mit allem
Fleiße gemacht; weil sie gerade so sind, wie sie Ihre Nation braucht. Ich
wünschte, daß ich auch so wohlfeil davonkommen könnte; aber leider ist
meine Nation so weit, so weit, daß ich noch viel weiter sein muß, um
meine Nation zu befriedigen. Ich will mir darum eben nicht viel mehr
einbilden, als Sie; aber da jedoch meine Nation, die Ihre Nation so sehr
übersieht"--Weiter darf ich meine Paraphrasis wohl nicht fortsetzen;
denn sonst,

Desinit in piscem mulier formosa superne:

aus der Höflichkeit wird Persiflage (ich brauche dieses französische
Wort, weil wir Deutschen von der Sache nichts wissen), und aus der
Persiflage dummer Stolz.


----Fußnote

[1] Je n'ai pu me servir, comme Mr. Maffei, d'un anneau, parce que
depuis l'anneau royal dont Boileau se moque dans ses satyres, cela
semblerait trop petit sur notre théâtre.

[2] Je n'oserais hazarder de faire prendre un héros pour un voleur,
quoique la circonstance où il se trouve autorise cette méprise.

----Fußnote



Zweiundvierzigstes Stück
Den 22. September 1767

Es ist nicht zu leugnen, daß ein guter Teil der Fehler, welche Voltaire
als Eigentümlichkeiten des italienischen Geschmacks nur deswegen an
seinem Vorgänger zu entschuldigen scheinet, um sie der italienischen
Nation überhaupt zur Last zu legen, daß, sage ich, diese, und noch
mehrere, und noch größere, sich in der "Merope" des Maffei befinden.
Maffei hatte in seiner Jugend viel Neigung zur Poesie; er machte mit
vieler Leichtigkeit Verse, in allen verschiednen Stilen der berühmtesten
Dichter seines Landes: doch diese Neigung und diese Leichtigkeit beweisen
für das eigentliche Genie, welches zur Tragödie erfodert wird, wenig oder
nichts. Hernach legte er sich auf die Geschichte, auf Kritik und
Altertümer; und ich zweifle, ob diese Studien die rechte Nahrung für das
tragische Genie sind. Er war unter Kirchenväter und Diplomen vergraben
und schrieb wider die Pfaffe und Basnagen, als er, auf gesellschaftliche
Veranlassung, seine "Merope" vor die Hand nahm, und sie in weniger als
zwei Monaten zustande brachte. Wenn dieser Mann unter solchen
Beschäftigungen, in so kurzer Zeit, ein Meisterstück gemacht hätte, so
müßte er der außerordentlichste Kopf gewesen sein; oder eine Tragödie
überhaupt ist ein sehr geringfügiges Ding. Was indes ein Gelehrter von
gutem klassischen Geschmacke, der so etwas mehr für eine Erholung als für
eine Arbeit ansieht, die seiner würdig wäre, leisten kann, das leistete
auch er. Seine Anlage ist gesuchter und ausgedrechselter, als glücklich;
seine Charaktere sind mehr nach den Zergliederungen des Moralisten, oder
nach bekannten Vorbildern in Büchern, als nach dem Leben geschildert;
sein Ausdruck zeugt von mehr Phantasie, als Gefühl; der Literator und der
Versifikateur läßt sich überall spüren, aber nur selten das Genie und
der Dichter.

Als Versifikateur läuft er den Beschreibungen und Gleichnissen zu sehr
nach. Er hat verschiedene ganz vortreffliche, wahre Gemälde, die in
seinem Munde nicht genug bewundert werden könnten, aber in dem Munde
seiner Personen unerträglich sind und in die lächerlichsten
Ungereimtheiten ausarten. So ist es z.E. zwar sehr schicklich, daß
Aegisth seinen Kampf mit dem Räuber, den er umgebracht, umständlich
beschreibet, denn auf diesen Umständen beruhet seine Verteidigung; daß er
aber auch, wenn er den Leichnam in den Fluß geworfen zu haben bekennet,
alle, selbst die allerkleinsten Phänomena malet, die den Fall eines
schweren Körpers ins Wasser begleiten, wie er hineinschießt, mit welchem
Geräusche er das Wasser zerteilet, das hoch in die Luft spritzet, und wie
sich die Flut wieder über ihn zuschließt:[1] das würde man auch nicht
einmal einem kalten geschwätzigen Advokaten, der für ihn spräche,
verzeihen, geschweige ihm selbst. Wer vor seinem Richter stehet und sein
Leben zu verteidigen hat, dem liegen andere Dinge am Herzen, als daß er
in seiner Erzählung so kindisch genau sein könnte.

Als Literator hat er zu viel Achtung für die Simplizität der alten
griechischen Sitten und für das Kostüm bezeugt, mit welchem wir sie bei
dem Homer und Euripides geschildert finden, das aber allerdings um etwas,
ich will nicht sagen veredelt, sondern unserm Kostüme näher gebracht
werden muß, wenn es der Rührung im Trauerspiele nicht mehr schädlich als
zuträglich sein soll. Auch hat er zu geflissentlich schöne Stellen aus
den Alten nachzuahmen gesucht, ohne zu unterscheiden, aus was für einer
Art von Werken er sie entlehnt und in was für eine Art von Werken er sie
überträgt. Nestor ist in der Epopee ein gesprächiger freundlicher Alte;
aber der nach ihm gebildete Polydor wird in der Tragödie ein alter ekler
Salbader. Wenn Maffei dem vermeintlichen Plane des Euripides hätte folgen
wollen: so würde uns der Literator vollends etwas zu lachen gemacht
haben. Er hätte es sodann für seine Schuldigkeit geachtet, alle die
kleinen Fragmente, die uns von dem Kresphontes übrig sind, zu nutzen und
seinem Werke getreulich einzuflechten.[2] Wo er also geglaubt hätte, daß
sie sich hinpaßten, hätte er sie als Pfähle aufgerichtet, nach welchen
sich der Weg seines Dialogs richten und schlingen müssen. Welcher
pedantische Zwang! Und wozu? Sind es nicht diese Sittensprüche, womit man
seine Lücken füllet, so sind es andere.

Demohngeachtet möchten sich wiederum Stellen finden, wo man wünschen
dürfte, daß sich der Literator weniger vergessen hätte. Z.E. Nachdem die
Erkennung vorgegangen und Merope einsieht, in welcher Gefahr sie zweimal
gewesen sei, ihren eignen Sohn umzubringen, so läßt er die Ismene voller
Erstaunen ausrufen: "Welche wunderbare Begebenheit, wunderbarer, als sie
jemals auf einer Bühne erdichtet worden!"

    Con così strani avvenimenti uom' forse
    Non vide mai favoleggiar le scene.

Maffei hat sich nicht erinnert, daß die Geschichte seines Stücks in eine
Zeit fällt, da noch an kein Theater gedacht war; in die Zeit vor dem
Homer, dessen Gedichte den ersten Samen des Drama ausstreuten. Ich würde
diese Unachtsamkeit niemanden als ihm aufmutzen, der sich in der Vorrede
entschuldigen zu müssen glaubte, daß er den Namen Messene zu einer Zeit
brauche, da ohne Zweifel noch keine Stadt dieses Namens gewesen, weil
Homer keiner erwähne. Ein Dichter kann es mit solchen Kleinigkeiten
halten, wie er will; nur verlangt man, daß er sich immer gleichbleibet
und daß er sich nicht einmal über etwas Bedenken macht, worüber er ein
andermal kühnlich weggeht; wenn man nicht glauben soll, daß er den Anstoß
vielmehr aus Unwissenheit nicht gesehen, als nicht sehen wollen.
Überhaupt würden mir die angeführten Zeilen nicht gefallen, wenn sie auch
keinen Anachronismus enthielten. Der tragische Dichter sollte alles
vermeiden, was die Zuschauer an ihre Illusion erinnern kann; denn sobald
sie daran erinnert sind, so ist sie weg. Hier scheinet es zwar, als ob
Maffei die Illusion eher noch bestärken wollen, indem er das Theater
ausdrücklich außer dem Theater annehmen läßt; doch die bloßen Worte
"Bühne" und "erdichten" sind der Sache schon nachteilig und bringen uns
geraden Weges dahin, wovon sie uns abbringen sollen. Dem komischen
Dichter ist es eher erlaubt, auf diese Weise seiner Vorstellung
Vorstellungen entgegenzusetzen; denn unser Lachen zu erregen, braucht
es des Grades der Täuschung nicht, den unser Mitleiden erfordert.

Ich habe schon gesagt, wie hart de la Lindelle dem Maffei mitspielt. Nach
seinem Urteile hat Maffei sich mit dem begnügt, was ihm sein Stoff von
selbst anbot, ohne die geringste Kunst dabei anzuwenden; sein Dialog ist
ohne alle Wahrscheinlichkeit, ohne allen Anstand und Würde; da ist so
viel Kleines und Kriechendes, das kaum in einem Possenspiele, in der Bude
des Harlekins, zu dulden wäre; alles wimmelt von Ungereimtheiten und
Schulschnitzern. "Mit einem Worte", schließt er, "das Werk des Maffei
enthält einen schönen Stoff, ist aber ein sehr elendes Stück. Alle Welt
kömmt in Paris darin überein, daß man die Vorstellung desselben nicht
würde haben aushalten können; und in Italien selbst wird von verständigen
Leuten sehr wenig daraus gemacht. Vergebens hat der Verfasser auf seinen
Reisen die elendesten Schriftsteller in Sold genommen, seine Tragödie zu
übersetzen; er konnte leichter einen Übersetzer bezahlen, als sein Stück
verbessern."

So wie es selten Komplimente gibt ohne alle Lügen, so finden sich auch
selten Grobheiten ohne alle Wahrheit. Lindelle hat in vielen Stücken
wider den Maffei recht, und möchte er doch höflich oder grob sein, wenn
er sich begnügte, ihn bloß zu tadeln. Aber er will ihn unter die Füße
treten, vernichten, und gehet mit ihm so blind als treulos zu Werke.
Er schämt sich nicht, offenbare Lügen zu sagen, augenscheinliche
Verfälschungen zu begehen, um nur ein recht hämisches Gelächter
aufschlagen zu können. Unter drei Streichen, die er tut, geht immer einer
in die Luft, und von den andern zweien, die seinen Gegner streifen oder
treffen, trifft einer unfehlbar den zugleich mit, dem seine Klopffechterei
Platz machen soll, Voltairen selbst. Voltaire scheinet dieses auch zum
Teil gefühlt zu haben und ist daher nicht saumselig, in der Antwort an
Lindellen den Maffei in allen Stücken zu verteidigen, in welchen er sich
zugleich mitverteidigen zu müssen glaubt. Dieser ganzen Korrespondenz mit
sich selbst, dünkt mich, fehlt das interessanteste Stück; die Antwort des
Maffei. Wenn uns doch auch diese der Hr. von Voltaire hätte mitteilen
wollen. Oder war sie etwa so nicht, wie er sie durch seine Schmeichelei
zu erschleichen hoffte? Nahm sich Maffei etwa die Freiheit, ihm hinwiederum
die Eigentümlichkeiten des französischen Geschmacks ins Licht zu stellen,
ihm zu zeigen, warum die französische "Merope" ebensowenig in Italien, als
die italienische in Frankreich gefallen könne?--


----Fußnote

[1]
    ------In core
    Pero mi venne di lanciar nel fiume
    Il morto, o semivivio; e con fatica
    (Ch' inutil' era per riuscire, e vana)
    L' alzai da terra, e in terra rimaneva
    Una pozza di sangue: a mezzo il ponte
    Portailo in fretta, di vermiglia striscia
    Sempre rigando il suol; quinci cadere
    Col capo in giù il lasciai; piombò, e gran tonfo
    S' udi nel profondarsi: in alto salse
    Lo spruzzo, e l'onda sopra lui si chiuse.

[2] Non essende dunque stato mio pensiero di seguir la Tragedia
d'Euripide, non ho cercato per consequenza di porre nella mia que'
sentimenti di essa, che son rimasti quà e là; avendone tradotti cinque
versi Cicerone, e recati tre passi Plutarco, e due versi Gellio, e
alcuni trovandosene ancora, se la memoria non m'inganna, presso
Stobeo.

----Fußnote



Dreiundvierzigstes Stück
Den 25. September 1767

So etwas läßt sich vermuten. Doch ich will lieber beweisen, was ich
selbst gesagt habe, als vermuten, was andere gesagt haben könnten.

Lindern, vors erste, ließe sich der Tadel des Lindelle fast in allen
Punkten. Wenn Maffei gefehlt hat, so hat er doch nicht immer so plump
gefehlt, als uns Lindelle will glauben machen. Er sagt z.E., Aegisth,
wenn ihn Merope nunmehr erstechen wolle, rufe aus: "O mein alter Vater!"
und die Königin werde durch dieses Wort "alter Vater" so gerühret, daß
sie von ihrem Vorsatze ablasse und auf die Vermutung komme, Aegisth könne
wohl ihr Sohn sein. "Ist das nicht", setzt er höhnisch hinzu, "eine sehr
gegründete Vermutung! Denn freilich ist es ganz etwas Sonderbares, daß
ein junger Mensch einen alten Vater hat. Maffei", fährt er fort, "hat mit
diesem Fehler, diesem Mangel von Kunst und Genie, einen andern Fehler
verbessern wollen, den er in der ersten Ausgabe seines Stückes begangen
hatte. Aegisth rief da: 'Ach, Polydor, mein Vater!' Und dieser Polydor
war eben der Mann, dem Merope ihren Sohn anvertrauet hatte. Bei dem Namen
Polydor hätte die Königin gar nicht mehr zweifeln müssen, daß Aegisth ihr
Sohn sei; und das Stück wäre ausgewesen. Nun ist dieser Fehler zwar
weggeschafft, aber seine Stelle hat ein noch weit gröberer eingenommen."
Es ist wahr, in der ersten Ausgabe nennt Aegisth den Polydor seinen
Vater; aber in den nachherigen Ausgaben ist von gar keinem Vater mehr die
Rede. Die Königin stutzt bloß bei dem Namen Polydor, der den Aegisth
gewarnet habe, ja keinen Fuß in das messenische Gebiete zu setzen. Sie
gibt auch ihr Vorhaben darum nicht auf; sie fodert bloß nähere Erklärung,
und ehe sie diese erhalten kann, kömmt der König dazu. Der König läßt den
Aegisth wieder losbinden, und da er die Tat, weswegen Aegisth eingebracht
worden, billiget und rühmet und sie als eine wahre Heldentat zu belohnen
verspricht, so muß wohl Merope in ihren ersten Verdacht wieder zurückfallen.
Kann der ihr Sohn sein, den Polyphontes eben darum belohnen will, weil er
ihren Sohn umgebracht habe? Dieser Schluß muß notwendig bei ihr mehr gelten,
als ein bloßer Name. Sie bereuet es nunmehr auch, daß sie eines bloßen
Namens wegen, den ja wohl mehrere führen können, mit der Vollziehung ihrer
Rache gezaudert habe:

    Che dubitar? misera, ed io da un nome
    Trattener mi lasciai, quasi un tal nome
    Altri aver non potesse--

und die folgenden Äußerungen des Tyrannen können sie nicht anders als in
der Meinung vollends bestärken, daß er von dem Tode ihres Sohnes die
allerzuverlässigste, gewisseste Nachricht haben müsse. Ist denn das also
nun so gar abgeschmackt? Ich finde es nicht. Vielmehr muß ich gestehen,
daß ich die Verbesserung des Maffei nicht einmal für sehr nötig halte.
Laßt es den Aegisth immerhin sagen, daß sein Vater Polydor heiße! Ob es
sein Vater oder sein Freund war, der so hieße und ihn vor Messene warnte,
das nimmt einander nicht viel. Genug, daß Merope, ohne alle Widerrede,
das für wahrscheinlicher halten muß, was der Tyrann von ihm glaubet, da
sie weiß, daß er ihrem Sohne so lange, so eifrig nachgestellt, als das,
was sie aus der bloßen Übereinstimmung eines Namens schließen könnte.
Freilich, wenn sie wüßte, daß sich die Meinung des Tyrannen, Aegisth sei
der Mörder ihres Sohnes, auf weiter nichts als ihre eigene Vermutung
gründe, so wäre es etwas anders. Aber dieses weiß sie nicht; vielmehr hat
sie allen Grund, zu glauben, daß er seiner Sache werde gewiß sein.--Es
versteht sich, daß ich das, was man zur Not entschuldigen kann, darum
nicht für schön ausgebe; der Poet hätte unstreitig seine Anlage viel
feiner machen können. Sondern ich will nur sagen, daß auch so, wie er sie
gemacht hat, Merope noch immer nicht ohne zureichenden Grund handelt; und
daß es gar wohl möglich und wahrscheinlich ist, daß Merope in ihrem
Vorsatze der Rache verharren und bei der ersten Gelegenheit einen neuen
Versuch, sie zu vollziehen, wagen können. Worüber ich mich also
beleidiget finden möchte, wäre nicht dieses, daß sie zum zweitenmale
ihren Sohn als den Mörder ihres Sohnes zu ermorden kömmt, sondern dieses,
daß sie zum zweitenmale durch einen glücklichen ungefähren Zufall daran
verhindert wird. Ich würde es dem Dichter verzeihen, wenn er Meropen auch
nicht eigentlich nach den Gründen der größern Wahrscheinlichkeit sich
bestimmen ließe; denn die Leidenschaft, in der sie ist, könnte auch den
Gründen der schwächern das Übergewicht erteilen. Aber das kann ich ihm
nicht verzeihen, daß er sich so viel Freiheit mit dem Zufalle nimmt und
mit dem Wunderbaren desselben so verschwenderisch ist, als mit den
gemeinsten ordentlichsten Begebenheiten. Daß der Zufall einmal der Mutter
einen so frommen Dienst erweiset, das kann sein; wir wollen es umso viel
lieber glauben, je mehr uns die Überraschung gefällt. Aber daß er zum
zweiten Male die nämliche Übereilung auf die nämliche Weise verhindern
werde, das sieht dem Zufalle nicht ähnlich; ebendieselbe Überraschung
wiederholt, hört auf, Überraschung zu sein; ihre Einförmigkeit
beleidiget, und wir ärgern uns über den Dichter, der zwar ebenso
abenteuerlich, aber nicht ebenso mannigfaltig zu sein weiß, als
der Zufall.

Von den augenscheinlichen und vorsätzlichen Verfälschungen des Lindelle
will ich nur zwei anführen.--"Der vierte Akt", sagt er, "fängt mit einer
kalten und unnötigen Szene zwischen dem Tyrannen und der Vertrauten der
Merope an; hierauf begegnet diese Vertraute, ich weiß selbst nicht wie,
dem jungen Aegisth und beredet ihn, sich in dem Vorhause zur Ruhe zu
begeben, damit, wenn er eingeschlafen wäre, ihn die Königin mit aller
Gemächlichkeit umbringen könne. Er schläft auch wirklich ein, so wie er
es versprochen hat. O schön! und die Königin kömmt zum zweiten Male,
mit einer Axt in der Hand, um den jungen Menschen umzubringen, der
ausdrücklich deswegen schläft. Diese nämliche Situation, zweimal
wiederholt verrät die äußerste Unfruchtbarkeit; und dieser Schlaf des
jungen Menschen ist so lächerlich, daß in der Welt nichts lächerlicher
sein kann." Aber ist es denn auch wahr, daß ihn die Vertraute zu diesem
Schlafe beredet? Das lügt Lindelle.[1] Aegisth trifft die Vertraute an
und bittet sie, ihm doch die Ursache zu entdecken, warum die Königin so
ergrimmt auf ihn sei. Die Vertraute antwortet, sie wolle ihm gern alles
sagen; aber ein wichtiges Geschäfte rufe sie itzt woanders hin; er solle
einen Augenblick hier verziehen; sie wolle gleich wieder bei ihm sein.
Allerdings hat die Vertraute die Absicht, ihn der Königin in die Hände
zu liefern; sie beredet ihn, zu bleiben, aber nicht zu schlafen; und
Aegisth, welcher seinem Versprechen nach bleibet, schläft, nicht seinem
Versprechen nach, sondern schläft, weil er müde ist, weil es Nacht ist,
weil er nicht siehet, wo er die Nacht sonst werde zubringen können als
hier.[2]--Die zweite Lüge des Lindelle ist von eben dem Schlage.
"Merope", sagt er, "nachdem sie der alte Polydor an der Ermordung ihres
Sohnes verhindert, fragt ihn, was für eine Belohnung er dafür verlange;
und der alte Narr bittet sie, ihn zu verjüngen." Bittet sie, ihn zu
verjüngen? "Die Belohnung meines Dienstes", antwortet der Alte, "ist
dieser Dienst selbst; ist dieses, daß ich dich vergnügt sehe. Was
könntest du mir auch geben? Ich brauche nichts, ich verlange nichts.
Eines möchte ich mir wünschen, aber das stehet weder in deiner; noch in
irgendeines Sterblichen Gewalt, mir zu gewähren; daß mir die Last meiner
Jahre, unter welcher ich erliege, erleichtert würde usw."[3] Heißt das:
Erleichtere du mir diese Last? Gib du mir Stärke und Jugend wieder? Ich
will gar nicht sagen, daß eine solche Klage über die Ungemächlichkeiten
des Alters hier an dem schicklichsten Orte stehe, ob sie schon vollkommen
in dem Charakter des Polydors ist. Aber ist denn jede Unschicklichkeit
Wahnwitz? Und mußten nicht Polydor und sein Dichter im eigentlichsten
Verstande wahnwitzig sein, wenn dieser jenem die Bitte wirklich in den
Mund legte, die Lindelle ihnen anlügt?--Anlügt! Lügen! Verdienen solche
Kleinigkeiten wohl so harte Worte?--Kleinigkeiten? Was dem Lindelle
wichtig genug war, darum zu lügen, soll das einem dritten nicht wichtig
genug sein, ihm zu sagen, daß er gelogen hat?--


----Fußnote

[1] Und der Herr von Voltaire gleichfalls. Denn nicht allein Lindelle
sagt: Ensuite cette suivante rencontre le jeune Egiste, je ne sais
comment, et lui persuade de se reposer dans le vestibule, afin que, quand
il sera endormi, la reine puisse le tuer tout à son aise, sondern auch
der Hr. von Voltaire selbst: La confidente de Mérope engage le jeune
Egiste à dormir sur la scène, afin de donner le temps à la reine de venir
l'y assassiner. Was aus dieser Übereinstimmung zu schließen ist, brauche
ich nicht erst zu sagen. Selten stimmt ein Lügner mit sich selbst
überein; und wenn zwei Lügner miteinander übereinstimmen, so ist es gewiß
abgeredete Karte.

[2]
    Egi. Mà di tanto furor, di tanto affanno
      Qual' ebbe mai cagion?--
    Ism. Il tutto
      Scoprirti io non ricuso; mà egli è d'uopo
      Che qui t'arresti per brev' ora: urgente
      Cura or mi chiama altrove.
    Egi. Io volontieri
      T'attendo quanto vuoi. Ism. Mà non partire
      E non far sì, ch' io quà ritorni indarno.
    Egi. Mia fè dò in pegno; e dove gir dovrei?--


    [3]
    Mer. Ma quale, ô mio fedel, qual potrò io
      Darti già mai mercè, che i merti agguagli?
    Pol. Il mio stesso servir fu premio; ed ora
      M'è, il vederti contenta, ampia mercede.
      Che vuoi tu darmi? io nulla bramo: caro
      Sol mi saria ciò, ch' altri dar non puote;
      Che scemato mi fosse il grave incarco
      De gli anni, che mi stà su'l capo, e à terra
      Il curva, e prime sì, che parmi un monte.--

----Fußnote



Vierundvierzigstes Stück
Den 29. September 1767

Ich komme auf den Tadel des Lindelle, welcher den Voltaire so gut als den
Maffei trifft, dem er doch nur allein zugedacht war.

Ich übergehe die beiden Punkte, bei welchen es Voltaire selbst fühlte,
daß der Wurf auf ihn zurückpralle.--Lindelle hatte gesagt, daß es sehr
schwache und unedle Merkmale wären, aus welchen Merope bei Maffei
schließe, daß Aegisth der Mörder ihres Sohnes sei. Voltaire antwortet:
"Ich kann es Ihnen nicht bergen; ich finde, das Maffei es viel
künstlicher angelegt hat, als ich, Meropen glauben zu machen, daß ihr
Sohn der Mörder ihres Sohnes sei. Er konnte sich eines Ringes dazu
bedienen, und das durfte ich nicht; denn seit dem königlichen Ringe, über
den Boileau in seinen Satiren spottet, würde das auf unserm Theater sehr
klein scheinen." Aber mußte denn Voltaire eben eine alte Rüstung anstatt
des Ringes wählen? Als Narbas das Kind mit sich nahm, was bewog ihn denn,
auch die Rüstung des ermordeten Vaters mitzunehmen? Damit Aegisth, wenn
er erwachsen wäre, sich keine neue Rüstung kaufen dürfe und sich mit der
alten seines Vaters behelfen könne? Der vorsichtige Alte! Ließ er sich
nicht auch ein paar alte Kleider von der Mutter mitgeben? Oder geschah
es, damit Aegisth einmal an dieser Rüstung erkannt werden könne? So eine
Rüstung gab es wohl nicht mehr? Es war wohl eine Familienrüstung, die
Vulkan selbst dem Großgroßvater gemacht hatte? Eine undurchdringliche
Rüstung? Oder wenigstens mit schönen Figuren und Sinnbildern versehen,
an welchen sie Eurikles und Merope nach funfzehn Jahren sogleich wieder
erkannten? Wenn das ist: so mußte sie der Alte freilich mitnehmen; und
der Hr. von Voltaire hat Ursache, ihm verbunden zu sein, daß er unter den
blutigen Verwirrungen, bei welchen ein anderer nur an das Kind gedacht
hätte, auch zugleich an eine so nützliche Möbel dachte. Wenn Aegisth
schon das Reich seines Vaters verlor, so mußte er doch nicht auch die
Rüstung seines Vaters verlieren, in der er jenes wiedererobern konnte.
--Zweitens hatte sich Lindelle über den Polyphont des Maffei aufgehalten,
der die Merope mit aller Gewalt heiraten will. Als ob der Voltairische
das nicht auch wollte! Voltaire antwortet ihm daher: "Weder Maffei noch
ich haben die Ursachen dringend genug gemacht, warum Polyphont durchaus
Meropen zu seiner Gemahlin verlangt. Das ist vielleicht ein Fehler des
Stoffes; aber ich bekenne Ihnen, daß ich einen solchen Fehler für sehr
gering halte, wenn das Interesse, welches er hervorbringt, beträchtlich
ist." Nein, der Fehler liegt nicht in dem Stoffe. Denn in diesem Umstande
eben hat Maffei den Stoff verändert. Was brauchte Voltaire diese
Veränderung anzunehmen, wenn er seinen Vorteil nicht dabei sahe?--

Der Punkte sind mehrere, bei welchen Voltaire eine ähnliche Rücksicht auf
sich selbst hätte nehmen können: aber welcher Vater sieht alle Fehler
seines Kindes? Der Fremde, dem sie in die Augen fallen, braucht darum gar
nicht scharfsichtiger zu sein, als der Vater; genug, daß er nicht der
Vater ist. Gesetzt also, ich wäre dieser Fremde!

Lindelle wirft dem Maffei vor, daß er seine Szenen oft nicht verbinde,
daß er das Theater oft leer lasse, daß seine Personen oft ohne Ursache
auftreten und abgingen; alles wesentliche Fehler, die man heutzutage auch
dem armseligsten Poeten nicht mehr verzeihe.--Wesentliche Fehler dieses?
Doch das ist die Sprache der französischen Kunstrichter überhaupt; die
muß ich ihm schon lassen, wenn ich nicht ganz von vorne mit ihm anfangen
will. So wesentlich oder unwesentlich sie aber auch sein mögen; wollen
wir es Lindellen auf sein Wort glauben, daß sie bei den Dichtern seines
Volks so selten sind? Es ist wahr, sie sind es, die sich der größten
Regelmäßigkeit rühmen; aber sie sind es auch, die entweder diesen Regeln
eine solche Ausdehnung geben, daß es sich kaum mehr der Mühe verlohnet,
sie als Regeln vorzutragen oder sie auf eine solche linke und gezwungene
Art beobachten, daß es weit mehr beleidiget, sie so beobachtet zu sehen,
als gar nicht.[1] Besonders ist Voltaire ein Meister, sich die Fesseln
der Kunst so leicht, so weit zu machen, daß er alle Freiheit behält, sich
zu bewegen, wie er will; und doch bewegt er sich oft so plump und schwer
und macht so ängstliche Verdrehungen, daß man meinen sollte, jedes Glied
von ihm sei an ein besonderes Klotz geschmiedet. Es kostet mir Überwindung,
ein Werk des Genies aus diesem Gesichtspunkte zu betrachten; doch da es
bei der gemeinen Klasse von Kunstrichtern noch so sehr Mode ist, es fast
aus keinem andern als aus diesem zu betrachten; da es der ist, aus welchem
die Bewunderer des französischen Theaters das lauteste Geschrei erheben:
so will ich doch erst genauer hinsehen, ehe ich in ihr Geschrei mit
einstimme.

1. Die Szene ist zu Messene, in dem Palaste der Merope. Das ist, gleich
anfangs, die strenge Einheit des Ortes nicht, welche, nach den
Grundsätzen und Beispielen der Alten, ein Hédelin verlangen zu können
glaubte. Die Szene muß kein ganzer Palast, sondern nur ein Teil des
Palastes sein, wie ihn das Auge aus einem und ebendemselben Standorte zu
übersehen fähig ist. Ob sie ein ganzer Palast oder eine ganze Stadt oder
eine ganze Provinz ist, das macht im Grunde einerlei Ungereimtheit. Doch
schon Corneille gab diesem Gesetze, von dem sich ohnedem kein
ausdrückliches Gebot bei den Alten findet, die weitere Ausdehnung und
wollte, daß eine einzige Stadt zur Einheit des Ortes hinreichend sei.
Wenn er seine besten Stücke von dieser Seite rechtfertigen wollte, so
mußte er wohl so nachgebend sein. Was Corneillen aber erlaubt war, das
muß Voltairen recht sein. Ich sage also nichts dagegen, daß eigentlich
die Szene bald in dem Zimmer der Königin, bald in dem oder jenem Saale,
bald in dem Vorhofe, bald nach dieser, bald nach einer andern Aussicht
muß gedacht werden. Nur hätte er bei diesen Abwechselungen auch die
Vorsicht brauchen sollen, die Corneille dabei empfahl: sie müssen nicht
in dem nämlichen Akte, am wenigsten in der nämlichen Szene angebracht
werden. Der Ort, welcher zu Anfange des Akts ist, muß durch diesen ganzen
Akt dauern; und ihn vollends in ebenderselben Szene abändern oder auch
nur erweitern oder verengern, ist die äußerste Ungereimtheit von der
Welt.--Der dritte Akt der "Merope" mag auf einem freien Platze, unter
einem Säulengange oder in einem Saale spielen, in dessen Vertiefung das
Grabmal des Kresphontes zu sehen, an welchem die Königin den Aegisth mit
eigener Hand hinrichten will: Was kann man sich armseliger vorstellen,
als daß, mitten in der vierten Szene, Eurikles, der den Aegisth
wegführet, diese Vertiefung hinter sich zuschließen muß? Wie schließt er
sie zu? Fällt ein Vorhang hinter ihm nieder? Wenn jemals auf einen
Vorhang das, was Hédelin von dergleichen Vorhängen überhaupt sagt, gepaßt
hat, so ist es auf diesen;[2] besonders wenn man zugleich die Ursache
erwägt, warum Aegisth so plötzlich abgeführt, durch diese Maschinerie so
augenblicklich aus dem Gesichte gebracht werden muß, von der ich hernach
reden will.--Ebenso ein Vorhang wird in dem fünften Akte aufgezogen. Die
ersten sechs Szenen spielen in einem Saale des Palastes: und mit der
siebenten erhalten wir auf einmal die offene Aussicht in den Tempel, um
einen toten Körper in einem blutigen Rocke sehen zu können. Durch welches
Wunder? Und war dieser Anblick dieses Wunders wohl wert? Man wird sagen,
die Türen dieses Tempels öffnen sich auf einmal, Merope bricht auf einmal
mit dem ganzen Volke heraus, und dadurch erlangen wir die Einsicht in
denselben. Ich verstehe; dieser Tempel war Ihro verwitweten Königlichen
Majestät Schloßkapelle, die gerade an den Saal stieß und mit ihm
Kommunikation hatte, damit Allerhöchstdieselben jederzeit trocknes Fußes
zu dem Orte ihrer Andacht gelangen konnten. Nur sollten wir sie dieses
Weges nicht allein herauskommen, sondern auch hereingehen sehen;
wenigstens den Aegisth, der am Ende der vierten Szene zu laufen hat und
ja den kürzesten Weg nehmen muß, wenn er, acht Zeilen darauf, seine Tat
schon vollbracht haben soll.


----Fußnote

[1] Dieses war zum Teil schon das Urteil unsers Schlegels. "Die Wahrheit
zu gestehen", sagt er in seinen Gedanken zur Aufnahme des dänischen
Theaters, "beobachten die Engländer, die sich keiner Einheit des Ortes
rühmen, dieselbe großenteils viel besser als die Franzosen, die sich
damit viel wissen, daß sie die Regeln des Aristoteles so genau
beobachten. Darauf kömmt gerade am allerwenigsten an, daß das Gemälde der
Szenen nicht verändert wird. Aber wenn keine Ursache vorhanden ist, warum
die auftretenden Personen sich an dem angezeigten Orte befinden und nicht
vielmehr an demjenigen geblieben sind, wo sie vorhin waren; wenn eine
Person sich als Herr und Bewohner eben des Zimmers aufführt, wo kurz
vorher eine andere, als ob sie ebenfalls Herr vom Hause wäre, in aller
Gelassenheit mit sich selbst oder mit einem Vertrauten gesprochen, ohne
daß dieser Umstand auf eine wahrscheinliche Weise entschuldiget wird;
kurz, wenn die Personen nur deswegen in den angezeigten Saal oder Garten
kommen, um auf die Schaubühne zu treten: so würde der Verfasser des
Schauspiels am besten getan haben, anstatt der Worte 'der Schauplatz ist
ein Saal in Climenens Hause' unter das Verzeichnis seiner Personen zu
setzen: 'der Schauplatz ist auf dem Theater'. Oder, im Ernste zu reden,
es würde weit besser gewesen sein, wenn der Verfasser nach dem Gebrauche
der Engländer die Szene aus dem Hause des einen in das Haus eines andern
verlegt und also den Zuschauer seinem Helden nachgeführet hätte, als daß
er seinem Helden die Mühe macht, den Zuschauern zu Gefallen an einen
Platz zu kommen, wo er nichts zu tun hat."

[2] On met des rideaux qui se tirent et retirent, pour faire que les
Acteurs paraissent ei disparaissent selon la nécessité du Sujet--ces
rideaux ne sont bons qu'à faire des couvertures pour berner ceux qui les
ont inventés, et ceux qui les approuvent. Pratique du Théâtre. Liv.
II. chap. 6.

----Fußnote



Fünfundvierzigstes Stück
Den 2. Oktober 1767

2. Nicht weniger bequem hat es sich der Herr von Voltaire mit der Einheit
der Zeit gemacht. Man denke sich einmal alles das, was er in seiner
"Merope" vorgehen läßt, an einem Tage geschehen, und sage, wieviel
Ungereimtheiten man sich dabei denken muß. Man nehme immer einen
völligen, natürlichen Tag; man gebe ihm immer die dreißig Stunden, auf
die Corneille ihn auszudehnen erlauben will. Es ist wahr, ich sehe zwar
keine physikalische Hindernisse, warum alle die Begebenheiten in diesem
Zeitraume nicht hätten geschehen können; aber desto mehr moralische. Es
ist freilich nicht unmöglich, daß man innerhalb zwölf Stunden um ein
Frauenzimmer anhalten und mit ihr getrauet sein kann; besonders wenn man
es mit Gewalt vor den Priester schleppen darf. Aber wenn es geschieht,
verlangt man nicht eine so gewaltsame Beschleunigung durch die
allertriftigsten und dringendsten Ursachen gerechtfertiget zu wissen?
Findet sich hingegen auch kein Schatten von solchen Ursachen, wodurch
soll uns, was bloß physikalischer Weise möglich ist, denn wahrscheinlich
werden? Der Staat will sich einen König wählen; Polyphont und der
abwesende Aegisth können allein dabei in Betrachtung kommen; um die
Ansprüche des Aegisth zu vereiteln, will Polyphont die Mutter desselben
heiraten; an ebendemselben Tage, da die Wahl geschehen soll, macht er ihr
den Antrag; sie weiset ihn ab; die Wahl geht vor sich und fällt für ihn
aus; Polyphont ist also König, und man sollte glauben, Aegisth möge
nunmehr erscheinen, wenn er wolle, der neuerwählte König könne es vors
erste mit ihm ansehen. Nichts weniger; er bestehet auf der Heirat, und
bestehet darauf, daß sie noch desselben Tages vollzogen werden soll; eben
des Tages, an dem er Meropen zum ersten Male seine Hand angetragen; eben
des Tages, da ihn das Volk zum Könige ausgerufen. Ein so alter Soldat,
und ein so hitziger Freier! Aber seine Freierei ist nichts als Politik.
Desto schlimmer; diejenige, die er in sein Interesse verwickeln will, so
zu mißhandeln! Merope hatte ihm ihre Hand verweigert, als er noch nicht
König war, als sie glauben mußte, daß ihn ihre Hand vornehmlich auf den
Thron verhelfen sollte; aber nun ist er König und ist es geworden, ohne
sich auf den Titel ihres Gemahls zu gründen; er wiederhole seinen Antrag,
und vielleicht gibt sie es näher; er lasse ihr Zeit, den Abstand zu
vergessen, der sich ehedem zwischen ihnen befand, sich zu gewöhnen, ihn
als ihresgleichen zu betrachten, und vielleicht ist nur kurze Zeit dazu
nötig. Wenn er sie nicht gewinnen kann, was hilft es ihn, sie zu zwingen?
Wird es ihren Anhängern unbekannt bleiben, daß sie gezwungen worden?
Werden sie ihn nicht auch darum hassen zu müssen glauben? Werden sie
nicht auch darum dem Aegisth, sobald er sich zeigt, beizutreten und in
seiner Sache zugleich die Sache seiner Mutter zu betreiben sich für
verbunden achten? Vergebens, daß das Schicksal dem Tyrannen, der ganzer
funfzehn Jahr sonst so bedächtig zu Werke gegangen, diesen Aegisth nun
selbst in die Hände liefert und ihm dadurch ein Mittel, den Thron ohne
alle Ansprüche zu besitzen, anbietet, das weit kürzer, weit unfehlbarer
ist, als die Verbindung mit seiner Mutter: es soll und muß geheiratet
sein, und noch heute, und noch diesen Abend; der neue König will bei der
alten Königin noch diese Nacht schlafen, oder es geht nicht gut. Kann man
sich etwas Komischeres denken? In der Vorstellung, meine ich; denn daß es
einem Menschen, der nur einen Funken von Verstande hat, einkommen könne,
wirklich so zu handeln, widerlegt sich von selbst. Was hilft es nun also
dem Dichter, daß die besondern Handlungen eines jeden Akts zu ihrer
wirklichen Eräugung ungefähr nicht viel mehr Zeit brauchen würden, als
auf die Vorstellung dieses Aktes geht; und daß diese Zeit mit der, welche
auf die Zwischenakte gerechnet werden muß, noch lange keinen völligen
Umlauf der Sonne erfodert: hat er darum die Einheit der Zeit beobachtet?
Die Worte dieser Regel hat er erfüllt, aber nicht ihren Geist. Denn was
er an einem Tage tun läßt, kann zwar an einem Tage getan werden, aber
kein vernünftiger Mensch wird es an einem Tage tun. Es ist an der
physischen Einheit der Zeit nicht genug; es muß auch die moralische dazu
kommen, deren Verletzung allen und jeden empfindlich ist, anstatt daß die
Verletzung der erstern, ob sie gleich meistens eine Unmöglichkeit
involvieret, dennoch nicht immer so allgemein anstößig ist, weil diese
Unmöglichkeit vielen unbekannt bleiben kann. Wenn z.E. in einem Stücke
von einem Orte zum andern gereiset wird, und diese Reise allein mehr als
einen ganzen Tag erfodert, so ist der Fehler nur denen merklich, welche
den Abstand des einen Ortes von dem andern wissen. Nun aber wissen nicht
alle Menschen die geographischen Distanzen; aber alle Menschen können es
an sich selbst merken, zu welchen Handlungen man sich einen Tag, und zu
welchen man sich mehrere nehmen sollte. Welcher Dichter also die
physische Einheit der Zeit nicht anders als durch Verletzung der
moralischen zu beobachten verstehet und sich kein Bedenken macht, diese
jener aufzuopfern, der verstehet sich sehr schlecht auf seinen Vorteil
und opfert das Wesentlichere dem Zufälligen auf.--Maffei nimmt doch
wenigstens noch eine Nacht zu Hilfe; und die Vermählung, die Polyphont
der Merope heute andeutet, wird erst den Morgen darauf vollzogen. Auch
ist es bei ihm nicht der Tag, an welchem Polyphont den Thron besteiget;
die Begebenheiten pressen sich folglich weniger; sie eilen, aber sie
übereilen sich nicht. Voltairens Polyphont ist ein Ephemeron von einem
Könige, der schon darum den zweiten Tag nicht zu regieren verdienet, weil
er den ersten seine Sache so gar albern und dumm anfängt.

3. Maffei, sagt Lindelle, verbinde öfters die Szenen nicht, und das
Theater bleibe leer; ein Fehler, den man heutzutage auch den geringsten
Poeten nicht verzeihe. "Die Verbindung der Szenen", sagt Corneille, "ist
eine große Zierde eines Gedichts, und nichts kann uns von der Stetigkeit
der Handlung besser versichern, als die Stetigkeit der Vorstellung. Sie
ist aber doch nur eine Zierde und keine Regel; denn die Alten haben sich
ihr nicht immer unterworfen usw." Wie? ist die Tragödie bei den Franzosen
seit ihrem großen Corneille so viel vollkommener geworden, daß das, was
dieser bloß für eine mangelnde Zierde hielt, nunmehr ein unverzeihlicher
Fehler ist? Oder haben die Franzosen seit ihm das Wesentliche der
Tragödie noch mehr verkennen gelernt, daß sie auf Dinge einen so großen
Wert legen, die im Grunde keinen haben? Bis uns diese Frage entschieden
ist, mag Corneille immer wenigstens ebenso glaubwürdig sein, als
Lindelle; und was, nach jenem, also eben noch kein ausgemachter Fehler
bei dem Maffei ist, mag gegen den minder streitigen des Voltaire
aufgehen, nach welchem er das Theater öfters länger voll läßt, als es
bleiben sollte. Wenn z.E., in dem ersten Akte, Polyphont zu der Königin
kömmt, und die Königin mit der dritten Szene abgeht, mit was für Recht
kann Polyphont in dem Zimmer der Königin verweilen? Ist dieses Zimmer der
Ort, wo er sich gegen seinen Vertrauten so frei herauslassen sollte? Das
Bedürfnis des Dichters verrät sich in der vierten Szene gar zu deutlich,
in der wir zwar Dinge erfahren, die wir notwendig wissen müssen, nur daß
wir sie an einem Orte erfahren, wo wir es nimmermehr erwartet hätten.

4. Maffei motiviert das Auftreten und Abgehen seiner Personen oft gar
nicht:--und Voltaire motiviert es ebensooft falsch; welches wohl noch
schlimmer ist. Es ist nicht genug, daß eine Person sagt, warum sie kömmt,
man muß auch aus der Verbindung einsehen, daß sie darum kommen müssen.
Es ist nicht genug, daß sie sagt, warum sie abgeht, man muß auch in dem
Folgenden sehen, daß sie wirklich darum abgegangen ist. Denn sonst ist
das, was ihr der Dichter desfalls in den Mund legt, ein bloßer Vorwand
und keine Ursache. Wenn z.E. Eurikles in der dritten Szene des zweiten
Akts abgeht, um, wie er sagt, die Freunde der Königin zu versammeln, so
müßte man von diesen Freunden und von dieser ihrer Versammlung auch
hernach etwas hören. Da wir aber nichts davon zu hören bekommen, so ist
sein Vorgeben ein schülerhaftes Peto veniam exeundi, mit der ersten
besten Lügen, die dem Knaben einfällt. Er geht nicht ab, um das zu tun,
was er sagt, sondern um, ein paar Zeilen darauf, mit einer Nachricht
wiederkommen zu können, die der Poet durch keinen andern erteilen zu
lassen wußte. Noch ungeschickter geht Voltaire mit dem Schlusse ganzer
Akte zu Werke. Am Ende des dritten sagt Polyphont zu Meropen, daß der
Altar ihrer erwarte, daß zu ihrer feierlichen Verbindung schon alles
bereit sei; und so geht er mit einem Venez, Madame ab. Madame aber folgt
ihm nicht, sondern geht mit einer Exklamation zu einer andern Kulisse
hinein, worauf Polyphont den vierten Akt wieder anfängt, und nicht etwa
seinen Unwillen äußert, daß ihm die Königin nicht in den Tempel gefolgt
ist (denn er irrte sich, es hat mit der Trauung noch Zeit), sondern
wiederum mit seinem Erox Dinge plaudert, über die er nicht hier, über
die er zu Hause in seinem Gemache mit ihm hätte schwatzen sollen. Nun
schließt auch der vierte Akt, und schließt vollkommen wie der dritte.
Polyphont zitiert die Königin nochmals nach dem Tempel, Merope
selbst schreiet,

    Courons tous vers le temple où m'attend mon outrage;

und zu den Opferpriestern, die sie dahin abholen sollen, sagt sie,

    Vous venez à l'autel entraîner la victime.

Folglich werden sie doch gewiß zu Anfange des fünften Akts in dem Tempel
sein, wo sie nicht schon gar wieder zurück sind? Keines von beiden; gut
Ding will Weile haben; Polyphont hat noch etwas vergessen, und kömmt noch
einmal wieder, und schickt auch die Königin noch einmal wieder.
Vortrefflich! Zwischen dem dritten und vierten, und zwischen dem vierten
und fünften Akte geschieht demnach nicht allein das nicht, was geschehen
sollte, sondern es geschieht auch, platterdings, gar nichts, und der
dritte und vierte Akt schließen bloß, damit der vierte und fünfte wieder
anfangen können.



Sechsundvierzigstes Stück
Den 6. Oktober 1767

Ein anderes ist, sich mit den Regeln abfinden; ein anderes, sie wirklich
beobachten. Jenes tun die Franzosen; dieses scheinen nur die Alten
verstanden zu haben.

Die Einheit der Handlung war das erste dramatische Gesetz der Alten; die
Einheit der Zeit und die Einheit des Ortes waren gleichsam nur Folgen aus
jener, die sie schwerlich strenger beobachtet haben würden, als es jene
notwendig erfordert hätte, wenn nicht die Verbindung des Chors dazu
gekommen wäre. Da nämlich ihre Handlungen eine Menge Volks zum Zeugen
haben mußten und diese Menge immer die nämliche blieb, welche sich weder
weiter von ihren Wohnungen entfernen, noch länger aus denselben
wegbleiben konnte, als man gewöhnlichermaßen der bloßen Neugierde wegen
zu tun pflegt: so konnten sie fast nicht anders, als den Ort auf einen
und ebendenselben individuellen Platz, und die Zeit auf einen und
ebendenselben Tag einschränken. Dieser Einschränkung unterwarfen sie sich
denn auch bona fide; aber mit einer Biegsamkeit, mit einem Verstande, daß
sie, unter neun Malen, siebenmal weit mehr dabei gewannen, als verloren.
Denn sie ließen sich diesen Zwang einen Anlaß sein, die Handlung selbst
so zu simplifizieren, alles Überflüssige so sorgfältig von ihr abzusondern,
daß sie, auf ihre wesentlichsten Bestandteile gebracht, nichts als ein
Ideal von dieser Handlung ward, welches sich gerade in derjenigen Form am
glücklichsten ausbildete, die den wenigsten Zusatz von Umständen der Zeit
und des Ortes verlangte.

Die Franzosen hingegen, die an der wahren Einheit der Handlung keinen
Geschmack fanden, die durch die wilden Intrigen der spanischen Stücke
schon verwöhnt waren, ehe sie die griechische Simplizität kennenlernten,
betrachteten die Einheiten der Zeit und des Orts nicht als Folgen jener
Einheit, sondern als für sich zur Vorstellung einer Handlung
unumgängliche Erfordernisse, welche sie auch ihren reichern und
verwickeltern Handlungen in eben der Strenge anpassen müßten, als es nur
immer der Gebrauch des Chors erfordern könnte, dem sie doch gänzlich
entsagt hatten. Da sie aber fanden, wie schwer, ja wie unmöglich öfters
dieses sei: so trafen sie mit den tyrannischen Regeln, welchen sie ihren
völligen Gehorsam aufzukündigen nicht Mut genug hatten, ein Abkommen.
Anstatt eines einzigen Ortes führten sie einen unbestimmten Ort ein,
unter dem man sich bald den, bald jenen einbilden könne; genug, wenn
diese Orte zusammen nur nicht gar zu weit auseinanderlägen und keiner
eine besondere Verzierung bedürfe, sondern die nämliche Verzierung
ungefähr dem einen so gut als dem andern zukommen könne. Anstatt der
Einheit des Tages schoben sie die Einheit der Dauer unter; und eine
gewisse Zeit, in der man von keinem Aufgehen und Untergehen der Sonne
hörte, in der niemand zu Bette ging, wenigstens nicht öfterer als einmal
zu Bette ging, mochte sich doch sonst noch so viel und mancherlei darin
ereignen, ließen sie für einen Tag gelten.

Niemand würde ihnen dieses verdacht haben; denn unstreitig lassen sich
auch so noch vortreffliche Stücke machen; und das Sprichwort sagt, bohre
das Brett, wo es am dünnsten ist.--Aber ich muß meinen Nachbar nur auch
da bohren lassen. Ich muß ihm nicht immer nur die dickeste Kante, den
astigsten Teil des Brettes zeigen und schreien. da bohre mir durch! da
pflege ich durchzubohren!--Gleichwohl schreien die französischen
Kunstrichter alle so; besonders wenn sie auf die dramatischen Stücke der
Engländer kommen. Was für ein Aufhebens machen sie von der Regelmäßigkeit,
die sie sich so unendlich erleichtert haben!--Doch mir ekelt, mich bei
diesen Elementen länger aufzuhalten.

Möchten meinetwegen Voltairens und Maffeis "Merope" acht Tage dauern und
an sieben Orten in Griechenland spielen! Möchten sie aber auch nur die
Schönheiten haben, die mich diese Pedanterien vergessen machen!

Die strengste Regelmäßigkeit kann den kleinsten Fehler in den Charakteren
nicht aufwiegen. Wie abgeschmackt Polyphont bei dem Maffei öfters spricht
und handelt, ist Lindellen nicht entgangen. Er hat recht, über die
heillosen Maximen zu spotten, die Maffei seinem Tyrannen in den Mund
legt. Die Edelsten und Besten des Staats aus dem Wege zu räumen; das Volk
in alle die Wollüste zu versenken, die es entkräften und weibisch machen
können; die größten Verbrechen, unter dem Scheine des Mitleids und der
Gnade, ungestraft zu lassen usw., wenn es einen Tyrannen gibt, der diesen
unsinnigen Weg zu regieren einschlägt, wird er sich dessen auch rühmen?
So schildert man die Tyrannen in einer Schulübung; aber so hat noch
keiner von sich selbst gesprochen.[1]--Es ist wahr, so gar frostig und
wahnwitzig läßt Voltaire seinen Polyphont nicht deklamieren; aber
mitunter läßt er ihn doch auch Dinge sagen, die gewiß kein Mann von
dieser Art über die Zunge bringt. Z.E.

    --Des Dieux quelquefois la longue patience
    Fait sur nous à pas lents descendre la vengeance--

Ein Polyphont sollte diese Betrachtung wohl machen; aber er macht sie
nie. Noch weniger wird er sie in dem Augenblicke machen, da er sich zu
neuen Verbrechen aufmuntert:

    Eh bien, encor ce crime!--

Wie unbesonnen und in den Tag hinein er gegen Meropen handelt, habe ich
schon berührt. Sein Betragen gegen den Aegisth sieht einem ebenso
verschlagenen als entschlossenen Manne, wie ihn uns der Dichter von
Anfange schildert, noch weniger ähnlich. Aegisth hätte bei dem Opfer
gerade nicht erscheinen müssen. Was soll er da? Ihm Gehorsam schwören? In
den Augen des Volks? Unter dem Geschrei seiner verzweifelnden Mutter?
Wird da nicht unfehlbar geschehen, was er zuvor selbst besorgte?[2] Er
hat sich für seine Person alles von dem Aegisth zu versehen; Aegisth
verlangt nur sein Schwert wieder, um den ganzen Streit zwischen ihnen mit
eins zu entscheiden; und diesen tollkühnen Aegisth läßt er sich an dem
Altare, wo das erste das beste, was ihm in die Hand fällt, ein Schwert
werden kann, so nahe kommen? Der Polyphont des Maffei ist von diesen
Ungereimtheiten frei; denn dieser kennt den Aegisth nicht und hält ihn
für seinen Freund. Warum hätte Aegisth sich ihm also bei dem Altare nicht
nähern dürfen? Niemand gab auf seine Bewegungen acht; der Streich war
geschehen und er zu dem zweiten schon bereit, ehe es noch einem Menschen
einkommen konnte, den ersten zu rächen.

"Merope", sagt Lindelle, "wenn sie bei dem Maffei erfährt, daß ihr Sohn
ermordet sei, will dem Mörder das Herz aus dem Leibe reißen und es mit
ihren Zähnen zerfleischen.[3] Das heißt, sich wie eine Kannibalin und
nicht wie eine betrübte Mutter ausdrücken; das Anständige muß überall
beobachtet werden." Ganz recht; aber obgleich die französische Merope
delikater ist, als daß sie so in ein rohes Herz, ohne Salz und Schmalz,
beißen sollte: so dünkt mich doch, ist sie im Grunde ebensogut
Kannibalin, als die italienische.--


----Fußnote

[1] Atto III. Sc. I.

    ----Quando
    Saran da poi sopiti alquanto, e queti
    Gli animi, l'arte del regnar mi giovi.
    Per mute oblique vie n'andranno a Stige
    L'alme più audaci, e generose. A i vizi
    I'er cui vigor si abbatte, ardir si toglie
    Il freno allargherò. Lunga clemenza
    Con pompa di pietà farò, che splenda
    Su i delinquenti; a i gran delitti invito,
    Onde restino i buoni esposti, e paghi
    Renda gl' iniqui la licenza; ed onde
    Poi fra se distruggendosi, in crudeli
    Gare private il lor furor si stempri.
    Udrai sovente risonar gli editti.
    E raddopiar le leggi, che al sovrano
    Giovan servate, e transgredite. Udrai
    Correr minaccia ognor di guerra esterna;
    Ond' io n'andrò su l'atterrita plebe
    Sempre crescendo i pesi, e peregrine
    Milizie introdurrò.--

[2]
    Si ce fils, tant pleuré, dans Messène est produit,
    De quinze ans de travaux j'ai perdu tout le fruit.
    Crois-moi, ces préjugés de sang et de naissance
    Revivront dans les coeurs, y prendront sa défense.
    Le souvenir du père, et cent rois pour aïeux,
    Cet honneur prétendu d'être issu de nos Dieux;
    Les cris, le désespoir d'une mère éplorée.
    Détruiront ma puissance encor mal assurée.

[3]
    Quel scelerato in mio poter vorrei
    Per trarne prima, s'ebbe parte in questo
    Assassinio il tiranno; io voglio poi
    Con una scure spalancargli il petto,
    Voglio strappargli il cor, vogho co' denti
    Lacerarlo, e sbranarlo--

----Fußnote



Siebenundvierzigstes Stück
Den 9. Oktober 1767

Und wie das?--Wenn es unstreitig ist, daß man den Menschen mehr nach
seinen Taten, als nach seinen Reden richten muß; daß ein rasches Wort, in
der Hitze der Leidenschaft ausgestoßen, für seinen moralischen Charakter
wenig, eine überlegte kalte Handlung aber alles beweiset: so werde ich
wohl recht haben. Merope, die sich in der Ungewißheit, in welcher sie von
dem Schicksale ihres Sohnes ist, dem bangsten Kummer überläßt, die immer
das Schrecklichste besorgt, und in der Vorstellung, wie unglücklich ihr
abwesender Sohn vielleicht sei, ihr Mitleid über alle Unglückliche
erstrecket: ist das schöne Ideal einer Mutter. Merope, die in dem
Augenblicke, da sie den Verlust des Gegenstandes ihrer Zärtlichkeit
erfährt, von ihrem Schmerze betäubt dahinsinkt, und plötzlich, sobald sie
den Mörder in ihrer Gewalt höret, wieder aufspringt und tobet und wütet
und die blutigste schrecklichste Rache an ihm zu vollziehen drohet und
wirklich vollziehen würde, wenn er sich eben unter ihren Händen befände:
ist eben dieses Ideal, nur in dem Stande einer gewaltsamen Handlung, in
welchem es an Ausdruck und Kraft gewinnet, was es an Schönheit und
Rührung verloren hat. Aber Merope, die sich zu dieser Rache Zeit nimmt,
Anstalten dazu vorkehret, Feierlichkeiten dazu anordnet und selbst die
Henkerin sein, nicht töten, sondern martern, nicht strafen, sondern ihre
Augen an der Strafe weiden will: ist das auch noch eine Mutter? Freilich
wohl; aber eine Mutter, wie wir sie uns unter den Kannibalinnen denken;
eine Mutter, wie es jede Bärin ist.--Diese Handlung der Merope gefalle
wem da will; mir sage er es nur nicht, daß sie ihm gefällt, wenn ich ihn
nicht ebensosehr verachten, als verabscheuen soll.

Vielleicht dürfte der Herr von Voltaire auch dieses zu einem Fehler des
Stoffes machen; vielleicht dürfte er sagen, Merope müsse ja wohl den
Aegisth mit eigner Hand umbringen wollen, oder der ganze coup de théâtre,
den Aristoteles so sehr anpreise, der die empfindlichen Athenienser
ehedem so sehr entzückt habe, falle weg. Aber der Herr von Voltaire würde
sich wiederum irren und die willkürlichen Abweichungen des Maffei
abermals für den Stoff selbst nehmen. Der Stoff erfordert zwar, daß
Merope den Aegisth mit eigner Hand ermorden will, allein er erfordert
nicht, daß sie es mit aller Überlegung tun muß. Und so scheinet sie es
auch bei dem Euripides nicht getan zu haben, wenn wir anders die Fabel
des Hyginus für den Auszug seines Stücks annehmen dürfen. Der Alte kömmt
und sagt der Königin weinend, daß ihm ihr Sohn weggekommen; eben hatte
sie gehört, daß ein Fremder angelangt sei, der sich rühme, ihn umgebracht
zu haben, und daß dieser Fremde ruhig unter ihrem Dache schlafe; sie
ergreift das erste das beste, was ihr in die Hände fällt, eilet voller
Wut nach dem Zimmer des Schlafenden, der Alte ihr nach, und die Erkennung
geschieht in dem Augenblicke, da das Verbrechen geschehen sollte. Das war
sehr simpel und natürlich, sehr rührend und menschlich! Die Athenienser
zitterten für den Aegisth, ohne Meropen verabscheuen zu dürfen. Sie
zitterten für Meropen selbst, die durch die gutartigste Übereilung Gefahr
lief, die Mörderin ihres Sohnes zu werden. Maffei und Voltaire aber
machen mich bloß für den Aegisth zittern; denn auf ihre Merope bin ich so
ungehalten, daß ich es ihr fast gönnen möchte, sie vollführte den
Streich. Möchte sie es doch haben! Kann sie sich Zeit zur Rache nehmen,
so hätte sie sich auch Zeit zur Untersuchung nehmen sollen. Warum ist sie
so eine blutdürstige Bestie? Er hat ihren Sohn umgebracht: gut; sie mache
in der ersten Hitze mit dem Mörder, was sie will, ich verzeihe ihr, sie
ist Mensch und Mutter; auch will ich gern mit ihr jammern und
verzweifeln, wenn sie finden sollte, wie sehr sie ihre erste rasche Hitze
zu verwünschen habe. Aber, Madame, einen jungen Menschen, der Sie kurz
zuvor so sehr interessierte, an dem Sie so viele Merkmale der
Aufrichtigkeit und Unschuld erkannten, weil man eine alte Rüstung bei ihm
findet, die nur Ihr Sohn tragen sollte, als den Mörder Ihres Sohnes, an
dem Grabmale seines Vaters, mit eigner Hand abschlachten zu wollen,
Leibwache und Priester dazu zu Hilfe zu nehmen--O pfui, Madame! Ich müßte
mich sehr irren, oder Sie wären in Athen ausgepfiffen worden.

Daß die Unschicklichkeit, mit welcher Polyphont nach funfzehn Jahren die
veraltete Merope zur Gemahlin verlangt, ebensowenig ein Fehler des
Stoffes ist, habe ich schon berührt. Denn nach der Fabel des Hyginus
hatte Polyphont Meropen gleich nach der Ermordung des Kresphonts
geheiratet; und es ist sehr glaublich, daß selbst Euripides diesen
Umstand so angenommen hatte. Warum sollte er auch nicht? Eben die Gründe,
mit welchen Eurikles, beim Voltaire, Meropen itzt nach funfzehn Jahren
bereden will, dem Tyrannen ihre Hand zu geben,[1] hätten sie auch vor
funfzehn Jahren dazu vermögen können. Es war sehr in der Denkungsart der
alten griechischen Frauen, daß sie ihren Abscheu gegen die Mörder ihrer
Männer überwanden und sie zu ihren zweiten Männern annahmen, wenn sie
sahen, daß den Kindern ihrer ersten Ehe Vorteil daraus erwachsen könne.
Ich erinnere mich etwas Ähnliches in dem griechischen Roman des
Charitons, den d'Orville herausgegeben, ehedem gelesen zu haben, wo eine
Mutter das Kind selbst, welches sie noch unter ihrem Herzen trägt, auf
eine sehr rührende Art darüber zum Richter nimmt. Ich glaube, die Stelle
verdiente angeführt zu werden; aber ich habe das Buch nicht bei der Hand.
Genug, daß das, was dem Eurikles Voltaire selbst in den Mund legt,
hinreichend gewesen wäre, die Aufführung seiner "Merope" zu rechtfertigen,
wenn er sie als die Gemahlin des Polyphonts eingeführet hätte. Die kalten
Szenen einer politischen Liebe wären dadurch weggefallen; und ich sehe
mehr als einen Weg, wie das Interesse durch diesen Umstand selbst noch
weit lebhafter und die Situationen noch weit intriganter hätten werden
können.

Doch Voltaire wollte durchaus auf dem Wege bleiben, den ihm Maffei
gebahnet hatte, und weil es ihm gar nicht einmal einfiel, daß es einen
bessern geben könne, daß dieser bessere eben der sei, der schon vor
Alters befahren worden, so begnügte er sich, auf jenem ein paar
Sandsteine aus dem Gleise zu räumen, über die er meinet, daß sein
Vorgänger fast umgeschmissen hätte. Würde er wohl sonst auch dieses von
ihm beibehalten haben, daß Aegisth, unbekannt mit sich selbst, von
ungefähr nach Messene geraten, und daselbst durch kleine zweideutige
Merkmale in den Verdacht kommen muß, daß er der Mörder seiner selbst sei?
Bei dem Euripides kannte sich Aegisth vollkommen, kam in dem ausdrücklichen
Vorsatze, sich zu rächen, nach Messene und gab sich selbst für den Mörder
des Aegisth aus: nur daß er sich seiner Mutter nicht entdeckte, es sei
aus Vorsicht, oder aus Mißtrauen, oder aus was sonst für Ursache, an der
es ihm der Dichter gewiß nicht wird haben mangeln lassen. Ich habe zwar
oben dem Maffei einige Gründe zu allen den Veränderungen, die er mit dem
Plane des Euripides gemacht hat, von meinem Eigenen geliehen. Aber ich
bin weit entfernt, die Gründe für wichtig und die Veränderungen für
glücklich genug auszugeben. Vielmehr behaupte ich, daß jeder Tritt, den
er aus den Fußtapfen des Griechen zu tun gewagt, ein Fehltritt geworden.
Daß sich Aegisth nicht kennet, daß er von ungefähr nach Messene kommt und
per combinazione d'accidenti (wie Maffei es ausdrückt) für den Mörder des
Aegisth gehalten wird, gibt nicht allein der ganzen Geschichte ein sehr
verwirrtes, zweideutiges und romanenhaftes Ansehen, sondern schwächt auch
das Interesse ungemein. Bei dem Euripides wußte es der Zuschauer von dem
Aegisth selbst, daß er Aegisth sei, und je gewisser er es wußte, daß
Merope ihren eignen Sohn umzubringen kommt, desto größer mußte notwendig
das Schrecken sein, das ihn darüber befiel, desto quälender das Mitleid,
welches er voraus sahe, falls Merope an der Vollziehung nicht zu rechter
Zeit verhindert würde. Bei dem Maffei und Voltaire hingegen vermuten wir
es nur, daß der vermeinte Mörder des Sohnes der Sohn wohl selbst sein
könne, und unser größtes Schrecken ist auf den einzigen Augenblick
versparet, in welchem es Schrecken zu sein aufhöret. Das Schlimmste dabei
ist noch dieses, daß die Gründe, die uns in dem jungen Fremdlinge den
Sohn der Merope vermuten lassen, eben die Gründe sind, aus welchen es
Merope selbst vermuten sollte, und daß wir ihn, besonders bei Voltairen,
nicht in dem allergeringsten Stücke näher und zuverlässiger kennen, als
sie ihn selbst kennen kann. Wir trauen also diesen Gründen entweder
ebensoviel, als ihnen Merope trauet, oder wir trauen ihnen mehr. Trauen
wir ihnen ebensoviel, so halten wir den Jüngling mit ihr für einen
Betrieger, und das Schicksal, das sie ihm zugedacht, kann uns nicht sehr
rühren. Trauen wir ihnen mehr, so tadeln wir Meropen, daß sie nicht
besser darauf merket und sich von weit seichtern Gründen hinreißen läßt.
Beides aber taugt nicht.


----Fußnote

[1] Acte II. Sc. 1.

    --Mer. Non, mon fils ne le souffrirait pas.
      L'exil où son enfance a langui condamnée
      Lui serait moins affreux que ce lâche hyménée.
    Eur. Il le condamnerait, si, paisible en son rang,
      Il n'en croyait ici que les droits de son sang;
      Mais si par les malheurs son âme était instruite,
      Sur ses vrais intérêts s'il réglait sa conduite,
      De ses tristes amis s'il consultait la voix,
      Et la nécessité souveraine des loix,
      Il verrait que jamais sa malheureuse mère
      Ne lui donna d'amour une marque plus chère.
    Mer. Ah que me dites-vous? Eur. De dures vérités
      Que m'arrachent mon zèle et vos calamités.
    Mer. Quoi! Vous me demandez que l'intérêt surmonte
      Cette invincible horreur que j'ai pour Polifonte!
      Vous qui me l'avez peint de si noires couleurs!
    Eur. Je l'ai peint dangereux, je connais ses fureurs;
      Mais il est tout-puissant; mais rien ne lui résiste;
      Il est sans héritier, et vous aimez Egiste.--.

----Fußnote



Achtundvierzigstes Stück
Den 13. Oktober 1767

Es ist wahr, unsere Überraschung ist größer, wenn wir es nicht eher mit
völliger Gewißheit erfahren, daß Aegisth Aegisth ist, als bis es Merope
selbst erfährt. Aber das armselige Vergnügen einer Überraschung! Und was
braucht der Dichter uns zu überraschen? Er überrasche seine Personen,
soviel er will; wir werden unser Teil schon davon zu nehmen wissen, wenn
wir, was sie ganz unvermutet treffen muß, auch noch so lange
vorausgesehen haben. Ja, unser Anteil wird um so lebhafter und stärker
sein, je länger und zuverlässiger wir es vorausgesehen haben.

Ich will, über diesen Punkt, den besten französischen Kunstrichter für
mich sprechen lassen. "In den verwickelten Stücken", sagt Diderot,[1]
"ist das Interesse mehr die Wirkung des Plans, als der Reden; in den
einfachen Stücken hingegen ist es mehr die Wirkung der Reden, als des
Plans. Allein worauf muß sich das Interesse beziehen? Auf die Personen?
Oder auf die Zuschauer? Die Zuschauer sind nichts als Zeugen, von welchen
man nichts weiß. Folglich sind es die Personen, die man vor Augen haben
muß. Ohnstreitig! Diese lasse man den Knoten schürzen, ohne daß sie es
wissen; für diese sei alles undurchdringlich; diese bringe man, ohne daß
sie es merken, der Auflösung immer näher und näher. Sind diese nur in
Bewegung, so werden wir Zuschauer den nämlichen Bewegungen schon auch
nachgeben, sie schon auch empfinden müssen.--Weit gefehlt, daß ich mit
den meisten, die von der dramatischen Dichtkunst geschrieben haben,
glauben sollte, man müsse die Entwicklung vor dem Zuschauer verbergen.
Ich dächte vielmehr, es sollte meine Kräfte nicht übersteigen, wenn ich
mir ein Werk zu machen versetzte, wo die Entwicklung gleich in der ersten
Szene verraten würde und aus diesem Umstande selbst das allerstärkeste
Interesse entspränge.--Für den Zuschauer muß alles klar sein. Er ist der
Vertraute einer jeden Person; er weiß alles, was vorgeht, alles was
vorgegangen ist; und es gibt hundert Augenblicke, wo man nichts Bessers
tun kann, als daß man ihm gerade voraussagt, was noch vorgehen soll.
--O ihr Verfertiger allgemeiner Regeln, wie wenig versteht ihr die Kunst,
und wie wenig besitzt ihr von dem Genie, das die Muster hervorgebracht
hat, auf welche ihr sie bauet, und das sie übertreten kann, sooft es ihm
beliebt!--Meine Gedanken mögen so paradox scheinen, als sie wollen:
soviel weiß ich gewiß, daß für eine Gelegenheit, wo es nützlich ist, dem
Zuschauer einen wichtigen Vorfall so lange zu verhehlen, bis er sich
ereignet, es immer zehn und mehrere gibt, wo das Interesse gerade das
Gegenteil erfodert.--Der Dichter bewerkstelliget durch sein Geheimnis
eine kurze Überraschung; und in welche anhaltende Unruhe hätte er uns
stürzen können, wenn er uns kein Geheimnis daraus gemacht hätte!--Wer in
einem Augenblicke getroffen und niedergeschlagen wird, den kann ich auch
nur einen Augenblick bedauern. Aber, wie steht es alsdenn mit mir, wenn
ich den Schlag erwarte, wenn ich sehe, daß sich das Ungewitter über
meinem oder eines andern Haupte zusammenziehet und lange Zeit darüber
verweilet?--Meinetwegen mögen die Personen alle einander nicht kennen;
wenn sie nur der Zuschauer alle kennet.--Ja, ich wollte fast behaupten,
daß der Stoff, bei welchem die Verschweigungen notwendig sind, ein
undankbarer Stoff ist; daß der Plan, in welchem man seine Zuflucht zu
ihnen nimmt, nicht so gut ist, als der, in welchem man sie hätte
entübrigen können. Sie werden nie zu etwas Starkem Anlaß geben. Immer
werden wir uns mit Vorbereitungen beschäftigen müssen, die entweder allzu
dunkel oder allzu deutlich sind. Das ganze Gedicht wird ein Zusammenhang
von kleinen Kunstgriffen werden, durch die man weiter nichts als eine
kurze Überraschung hervorzubringen vermag. Ist hingegen alles, was die
Personen angeht, bekannt: so sehe ich in dieser Voraussetzung die Quelle
der allerheftigsten Bewegungen.--Warum haben gewisse Monologen eine so
große Wirkung? Darum, weil sie mir die geheimen Anschläge einer Person
vertrauen, und diese Vertraulichkeit mich den Augenblick mit Furcht oder
Hoffnung erfüllet.--Wenn der Zustand der Personen unbekannt ist, so kann
sich der Zuschauer für die Handlung nicht stärker interessieren, als die
Personen. Das Interesse aber wird sich für den Zuschauer verdoppeln, wenn
er Licht genug hat und es fühlet, daß Handlung und Reden ganz anders sein
würden, wenn sich die Personen kennten. Alsdenn nur werde ich es kaum
erwarten können, was aus ihnen werden wird, wenn ich das, was sie
wirklich sind, mit dem, was sie tun oder tun wollen, vergleichen kann."

Dieses auf den Aegisth angewendet, ist es klar, für welchen von beiden
Planen sich Diderot erklären würde: ob für den alten des Euripides, wo
die Zuschauer gleich vom Anfange den Aegisth ebensogut kennen, als er
sich selbst; oder für den neuern des Maffei, den Voltaire so blindlings
angenommen, wo Aegisth sich und den Zuschauern ein Rätsel ist und dadurch
das ganze Stück "zu einem Zusammenhange von kleinen Kunstgriffen" macht,
die weiter nichts als eine kurze Überraschung hervorbringen.

Diderot hat auch nicht ganz unrecht, seine Gedanken über die
Entbehrlichkeit und Geringfügigkeit aller ungewissen Erwartungen und
plötzlichen Überraschungen, die sich auf den Zuschauer beziehen, für
ebenso neu als gegründet auszugeben. Sie sind neu, in Ansehung ihrer
Abstraktion, aber sehr alt, in Ansehung der Muster, aus welchen sie
abstrahieret worden. Sie sind neu, in Betrachtung, daß seine Vorgänger
nur immer auf das Gegenteil gedrungen; aber unter diese Vorgänger gehört
weder Aristoteles noch Horaz, welchen durchaus nichts entfahren ist, was
ihre Ausleger und Nachfolger in ihrer Prädilektion für dieses Gegenteil
hätte bestärken können, dessen gute Wirkung sie weder den meisten noch
den besten Stücken der Alten abgesehen hatten.

Unter diesen war besonders Euripides seiner Sache so gewiß, daß er fast
immer den Zuschauern das Ziel voraus zeigte, zu welchem er sie führen
wollte. Ja, ich wäre sehr geneigt, aus diesem Gesichtspunkte die
Verteidigung seiner Prologen zu übernehmen, die den neuern Kriticis so
sehr mißfallen. "Nicht genug", sagt Hédelin, "daß er meistenteils alles,
was vor der Handlung des Stücks vorhergegangen, durch eine von seinen
Hauptpersonen den Zuhörern geradezu erzählen läßt, um ihnen auf diese
Weise das Folgende verständlich zu machen: er nimmt auch wohl öfters
einen Gott dazu, von dem wir annehmen müssen, daß er alles weiß, und
durch den er nicht allein was geschehen ist, sondern auch alles, was noch
geschehen soll, uns kundmacht. Wir erfahren sonach gleich anfangs die
Entwicklung und die ganze Katastrophe und sehen jeden Zufall schon von
weiten kommen. Dieses aber ist ein sehr merklicher Fehler, welcher der
Ungewißheit und Erwartung, die auf dem Theater beständig herrschen
sollen, gänzlich zuwider ist und alle Annehmlichkeiten des Stückes
vernichtet, die fast einzig und allein auf der Neuheit und Überraschung
beruhen."[2] Nein. der tragischste von allen tragischen Dichtern dachte
so geringschätzig von seiner Kunst nicht; er wußte, daß sie einer weit
höhern Vollkommenheit fähig wäre, und daß die Ergötzung einer kindischen
Neugierde das Geringste sei, worauf sie Anspruch mache. Er ließ seine
Zuhörer also, ohne Bedenken, von der bevorstehenden Handlung ebensoviel
wissen, als nur immer ein Gott davon wissen konnte; und versprach sich
die Rührung, die er hervorbringen wollte, nicht sowohl von dem, was
geschehen sollte, als von der Art, wie es geschehen sollte. Folglich
müßte den Kunstrichtern hier eigentlich weiter nichts anstößig sein, als
nur dieses, daß er uns die nötige Kenntnis des Vergangnen und des
Zukünftigen nicht durch einen feinern Kunstgriff beizubringen gesucht;
daß er ein höheres Wesen, welches wohl noch dazu an der Handlung keinen
Anteil nimmt, dazu gebrauchet und daß er dieses höhere Wesen sich
geradezu an die Zuschauer wenden lassen, wodurch die dramatische Gattung
mit der erzählenden vermischt werde. Wenn sie aber ihren Tadel sodann
bloß hierauf einschränkten, was wäre denn ihr Tadel? Ist uns das
Nützliche und Notwendige niemals willkommen, als wenn es uns
verstohlnerweise zugeschanzt wird? Gibt es nicht Dinge, besonders in der
Zukunft, die durchaus niemand anders als ein Gott wissen kann? Und wenn
das Interesse auf solchen Dingen beruht, ist es nicht besser, daß wir sie
durch die Darzwischenkunft eines Gottes vorher erfahren, als gar nicht?
Was will man endlich mit der Vermischung der Gattungen überhaupt? In den
Lehrbüchern sondre man sie so genau voneinander ab, als möglich: aber
wenn ein Genie, höherer Absichten wegen, mehrere derselben in einem und
ebendemselben Werke zusammenfließen läßt, so vergesse man das Lehrbuch
und untersuche bloß, ob es diese höhere Absichten erreicht hat. Was geht
mich es an, ob so ein Stück des Euripides weder ganz Erzählung, noch ganz
Drama ist? Nennt es immerhin einen Zwitter; genug, daß mich dieser
Zwitter mehr vergnügt, mehr erbauet, als die gesetzmäßigsten Geburten
eurer korrekten Racinen, oder wie sie sonst heißen. Weil der Maulesel
weder Pferd noch Esel ist, ist er darum weniger eines von den nutzbarsten
lasttragenden Tieren?--


----Fußnote

[1] In seiner dramatischen Dichtkunst, hinter dem Hausvater, S. 327 die
Übers.

[2] "Prâtique du Théâtre", Liv. III. chap. 1.

----Fußnote



Neunundvierzigstes Stück
Den 16. Oktober 1767

Mit einem Worte; wo die Tadler des Euripides nichts als den Dichter zu
sehen glauben, der sich aus Unvermögen, oder aus Gemächlichkeit, oder aus
beiden Ursachen, seine Arbeit so leicht machte, als möglich; wo sie die
dramatische Kunst in ihrer Wiege zu finden vermeinen: da glaube ich diese
in ihrer Vollkommenheit zu sehen, und bewundere in jenem den Meister, der
im Grunde ebenso regelmäßig ist, als sie ihn zu sein verlangen, und es
nur dadurch weniger zu sein scheinet, weil er seinen Stücken eine
Schönheit mehr erteilen wollen, von der sie keinen Begriff haben.

Denn es ist klar, daß alle die Stücke, deren Prologe ihnen so viel
Ärgernis machen, auch ohne diese Prologe vollkommen ganz, und vollkommen
verständlich sind. Streichet z.E. vor dem "Ion" den Prolog des Merkurs,
vor der "Hekuba" den Prolog des Polydors weg; laßt jenen sogleich mit der
Morgenandacht des Ion und diese mit den Klagen der Hekuba anfangen: sind
beide darum im geringsten verstümmelt? Woher würdet ihr, was ihr
weggestrichen habt, vermissen, wenn es gar nicht da wäre? Behält nicht
alles den nämlichen Gang, den nämlichen Zusammenhang? Bekennet sogar, daß
die Stücke, nach eurer Art zu denken, desto schöner sein würden, wenn wir
aus den Prologen nicht wüßten, daß der Ion, welchen Kreusa will vergiften
lassen, der Sohn dieser Kreusa ist; daß die Kreusa, welche Ion von dem
Altar zu einem schmählichen Tode reißen will, die Mutter dieses Ion ist;
wenn wir nicht wüßten, daß an eben dem Tage, da Hekuba ihre Tochter zum
Opfer hingeben muß, die alte unglückliche Frau auch den Tod ihres letzten
einzigen Sohnes erfahren solle. Denn alles dieses würde die trefflichsten
Überraschungen geben, und diese Überraschungen würden noch dazu
vorbereitet genug sein: ohne daß ihr sagen könntet, sie brächen auf
einmal gleich einem Blitze aus der hellesten Wolke hervor; sie erfolgten
nicht, sondern sie entständen; man wolle euch nicht auf einmal etwas
entdecken, sondern etwas aufheften. Und gleichwohl zankt ihr noch mit dem
Dichter? Gleichwohl werft ihr ihm noch Mangel der Kunst vor? Vergebt ihm
doch immer einen Fehler, der mit einem einzigen Striche der Feder gut zu
machen ist. Einen wollüstigen Schößling schneidet der Gärtner in der
Stille ab, ohne auf den gesunden Baum zu schelten, der ihn getrieben hat.
Wollt ihr aber einen Augenblick annehmen,--es ist wahr, es heißt sehr
viel annehmen--daß Euripides vielleicht ebensoviel Einsicht, ebensoviel
Geschmack könne gehabt haben, als ihr; und es wundert euch um soviel
mehr, wie er bei dieser großen Einsicht, bei diesem feinen Geschmacke,
dennoch einen so groben Fehler begehen können: so tretet zu mir her und
betrachtet, was ihr Fehler nennt, aus meinem Standorte. Euripides sahe es
so gut, als wir, daß z.E. sein "Ion" ohne den Prolog bestehen könne; daß
er, ohne denselben, ein Stück sei, welches die Ungewißheit und Erwartung
des Zuschauers bis an das Ende unterhalte: aber eben an dieser Ungewißheit
und Erwartung war ihm nichts gelegen. Denn erfuhr es der Zuschauer erst
in dem fünften Akte, daß Ion der Sohn der Kreusa sei: so ist es für ihn
nicht ihr Sohn, sondern ein Fremder, ein Feind, den sie in dem dritten
Akte aus dem Wege räumen will; so ist es für ihn nicht die Mutter des
Ion, an welcher sich Ion in dem vierten Akte rächen will, sondern bloß
die Meuchelmörderin. Wo sollten aber alsdenn Schrecken und Mitleid
herkommen? Die bloße Vermutung, die sich etwa aus übereintreffenden
Umständen hätte ziehen lassen, daß Ion und Kreusa einander wohl näher
angehen könnten, als sie meinen, würde dazu nicht hinreichend gewesen
sein. Diese Vermutung mußte zur Gewißheit werden; und wenn der Zuhörer
diese Gewißheit nur von außen erhalten konnte, wenn es nicht möglich war,
daß er sie einer von den handelnden Personen selbst zu danken haben
konnte: war es nicht immer besser, daß der Dichter sie ihm auf die
einzige mögliche Weise erteilte, als gar nicht? Sagt von dieser Weise,
was ihr wollt: genug, sie hat ihn sein Ziel erreichen helfen; seine
Tragödie ist dadurch, was eine Tragödie sein soll; und wenn ihr noch
unwillig seid, daß er die Form dem Wesen nachgesetzet hat, so versorge
euch eure gelehrte Kritik mit nichts als Stücken, wo das Wesen der Form
aufgeopfert ist, und ihr seid belohnt! Immerhin gefalle euch Whiteheads
"Kreusa", wo euch kein Gott etwas voraussagt, wo ihr alles von einem
alten plauderhaften Vertrauten erfahrt, den eine verschlagne Zigeunerin
ausfragt, immerhin gefalle sie euch besser, als des Euripides "Ion": und
ich werde euch nie beneiden!

Wenn Aristoteles den Euripides den tragischsten von allen tragischen
Dichtern nennet, so sahe er nicht bloß darauf, daß die meisten seiner
Stücke eine unglückliche Katastrophe haben; ob ich schon weiß, daß viele
den Stagiriten so verstehen. Denn das Kunststück wäre ihm ja wohl bald
abgelernt; und der Stümper, der brav würgen und morden und keine von
seinen Personen gesund oder lebendig von der Bühne kommen ließe, würde
sich ebenso tragisch dünken dürfen, als Euripides. Aristoteles hatte
unstreitig mehrere Eigenschaften im Sinne, welchen zufolge er ihm diesen
Charakter erteilte; und ohne Zweifel, daß die eben berührte mit dazu
gehörte, vermöge der er nämlich den Zuschauern alle das Unglück, welches
seine Personen überraschen sollte, lange vorher zeigte, um die Zuschauer
auch dann schon mit Mitleiden für die Personen einzunehmen, wenn diese
Personen selbst sich noch weit entfernt glaubten, Mitleid zu verdienen.
--Sokrates war der Lehrer und Freund des Euripides; und wie mancher
dürfte der Meinung sein, daß der Dichter dieser Freundschaft des
Philosophen weiter nichts zu danken habe, als den Reichtum von schönen
Sittensprüchen, den er so verschwendrisch in seinen Stücken ausstreuet.
Ich denke, daß er ihr weit mehr schuldig war; er hätte, ohne sie, ebenso
spruchreich sein können; aber vielleicht würde er, ohne sie, nicht so
tragisch geworden sein. Schöne Sentenzen und Moralen sind überhaupt
gerade das, was wir von einem Philosophen, wie Sokrates, am seltensten
hören; sein Lebenswandel ist die einzige Moral, die er prediget. Aber den
Menschen und uns selbst kennen; auf unsere Empfindungen aufmerksam sein;
in allen die ebensten und kürzesten Wege der Natur ausforschen und lieben;
jedes Ding nach seiner Absicht beurteilen: das ist es, was wir in seinem
Umgange lernen; das ist es, was Euripides von dem Sokrates lernte, und was
ihn zu dem Ersten in seiner Kunst machte. Glücklich der Dichter, der so
einen Freund hat--und ihn alle Tage, alle Stunden zu Rate ziehen kann!--

Auch Voltaire scheinet es empfunden zu haben, daß es gut sein würde, wenn
er uns mit dem Sohn der Merope gleich anfangs bekannt machte; wenn er uns
mit der Überzeugung, daß der liebenswürdige unglückliche Jüngling, den
Merope erst in Schutz nimmt, und den sie bald darauf als den Mörder ihres
Aegisth hinrichten will, der nämliche Aegisth sei, sofort könne aussetzen
lassen. Aber der Jüngling kennt sich selbst nicht; auch ist sonst niemand
da, der ihn besser kennte, und durch den wir ihn könnten kennen lernen.
Was tut also der Dichter? Wie fängt er es an, daß wir es gewiß wissen,
Merope erhebe den Dolch gegen ihren eignen Sohn, noch ehe es ihr der alte
Narbas zuruft?--Oh, das fängt er sehr sinnreich an! Auf so einen
Kunstgriff konnte sich nur ein Voltaire besinnen!--Er läßt, sobald der
unbekannte Jüngling auftritt, über das erste, was er sagt, mit großen,
schönen, leserlichen Buchstaben den ganzen, vollen Namen "Aegisth"
setzen; und so weiter über jede seiner folgenden Reden. Nun wissen wir
es; Merope hat in dem Vorhergehenden ihren Sohn schon mehr wie einmal bei
diesem Namen genannt; und wenn sie das auch nicht getan hätte, so dürften
wir ja nur das vorgedruckte Verzeichnis der Personen nachsehen; da steht
es lang und breit! Freilich ist es ein wenig lächerlich, wenn die Person,
über deren Reden wir nun schon zehnmal den Namen "Aegisth" gelesen haben,
auf die Frage:

    --Narbas vous est connu?
    Le nom d'Egiste au moins jusqu'à vous est venu?
    Quel était votre état, votre rang, votre père?

antwortet:

    Mon père est un vieillard accablé de misère;
    Policlète est son nom; mais Egiste, Narbas,
    Ceux dont vous me parlez, je ne les connais pas.

Freilich ist es sehr sonderbar, daß wir von diesem Aegisth, der nicht
Aegisth heißt, auch keinen andern Namen hören; daß, da er der Königin
antwortet, sein Vater heiße Polyklet, er nicht auch hinzusetzt, er heiße
so und so. Denn einen Namen muß er doch haben; und den hätte der Herr von
Voltaire ja wohl schon mit erfinden können, da er so viel erfunden hat!
Leser, die den Rummel einer Tragödie nicht recht gut verstehen, können
leicht darüber irre werden. Sie lesen, daß hier ein Bursche gebracht
wird, der auf der Landstraße einen Mord begangen hat; dieser Bursche,
sehen sie, heißt Aegisth, aber er sagt, er heiße nicht so, und sagt doch
auch nicht, wie er heiße: oh, mit dem Burschen, schließen sie, ist es
nicht richtig; das ist ein abgefeimter Straßenräuber, so jung er ist, so
unschuldig er sich stellt. So, sage ich, sind unerfahrne Leser zu denken
in Gefahr; und doch glaube ich in allem Ernste, daß es für die erfahrnen
Leser besser ist, auch so, gleich anfangs, zu erfahren, wie der unbekannte
Jüngling ist, als gar nicht. Nur daß man mir nicht sage, daß diese Art sie
davon zu unterrichten, im geringsten künstlicher und feiner sei, als ein
Prolog im Geschmacke des Euripides!--



Funfzigstes Stück
Den 20. Oktober 1767

Bei dem Maffei hat der Jüngling seine zwei Namen, wie es sich gehört;
Aegisth heißt er, als der Sohn des Polydor, und Kresphont, als der Sohn
der Merope. In dem Verzeichnisse der handelnden Personen wird er auch nur
unter jenem eingeführt; und Becelli rechnet es seiner Ausgabe des Stücks
als kein geringes Verdienst an, daß dieses Verzeichnis den wahren Stand
des Aegisth nicht voraus verrate.[1] Das ist, die Italiener sind von den
Überraschungen noch größere Liebhaber, als die Franzosen.--

Aber noch immer "Merope"!--Wahrlich, ich bedaure meine Leser, die sich an
diesem Blatte eine theatralische Zeitung versprochen haben, so mancherlei
und bunt, so unterhaltend und schnurrig, als eine theatralische Zeitung
nur sein kann. Anstatt des Inhalts der hier gangbaren Stücke, in kleine
lustige oder rührende Romane gebracht; anstatt beiläufiger
Lebensbeschreibungen drolliger, sonderbarer, närrischer Geschöpfe, wie
die doch wohl sein müssen, die sich mit Komödienschreiben abgeben;
anstatt kurzweiliger, auch wohl ein wenig skandalöser Anekdoten von
Schauspielern und besonders Schauspielerinnen: anstatt aller dieser
artigen Sächelchen, die sie erwarteten, bekommen sie lange, ernsthafte,
trockne Kritiken über alte bekannte Stücke; schwerfällige Untersuchungen
über das, was in einer Tragödie sein sollte und nicht sein sollte;
mitunter wohl gar Erklärungen des Aristoteles. Und das sollen sie lesen?
Wie gesagt, ich bedauere sie; sie sind gewaltig angeführt!--Doch im
Vertrauen: besser, daß sie es sind, als ich. Und ich würde es sehr sein,
wenn ich mir ihre Erwartungen zum Gesetze machen müßte. Nicht daß ihre
Erwartungen sehr schwer zu erfüllen wären; wirklich nicht; ich würde sie
vielmehr sehr bequem finden, wenn sie sich mit meinen Absichten nur
besser vertragen wollten.

Über die "Merope" indes muß ich freilich einmal wegzukommen suchen.--Ich
wollte eigentlich nur erweisen, daß die "Merope" des Voltaire im Grunde
nichts als die "Merope" des Maffei sei; und ich meine, dieses habe ich
erwiesen. Nicht ebenderselbe Stoff, sagt Aristoteles, sondern
ebendieselbe Verwicklung und Auflösung machen, daß zwei oder mehrere
Stücke für ebendieselben Stücke zu halten sind. Also, nicht weil Voltaire
mit dem Maffei einerlei Geschichte behandelt hat, sondern weil er sie mit
ihm auf ebendieselbe Art behandelt hat, ist er hier für weiter nichts,
als für den Übersetzer und Nachahmer desselben zu erklären. Maffei hat
die "Merope" des Euripides nicht bloß wieder hergestellet; er hat eine
eigene "Merope" gemacht: denn er ging völlig von dem Plane des Euripides
ab; und in dem Vorsatze, ein Stück ohne Galanterie zu machen, in welchem
das ganze Interesse bloß aus der mütterlichen Zärtlichkeit entspringe,
schuf er die ganze Fabel um; gut oder übel, das ist hier die Frage nicht;
genug, er schuf sie doch um. Voltaire aber entlehnte von Maffei die ganze
so umgeschaffene Fabel; er entlehnte von ihm, daß Merope mit dem Polyphont
nicht vermählt ist; er entlehnte von ihm die politischen Ursachen, aus
welchen der Tyrann nun erst, nach funfzehn Jahren, auf diese Vermählung
dringen zu müssen glaubet; er entlehnte von ihm, daß der Sohn der Merope
sich selbst nicht kennet; er entlehnte von ihm, wie und warum dieser von
seinem vermeintlichen Vater entkömmt; er entlehnte von ihm den Vorfall,
der den Aegisth als einen Mörder nach Messene bringt; er entlehnte von
ihm die Mißdeutung, durch die er für den Mörder seiner selbst gehalten
wird; er entlehnte von ihm die dunkeln Regungen der mütterlichen Liebe,
wenn Merope den Aegisth zum erstenmale erblickt; er entlehnte von ihm den
Vorwand, warum Aegisth vor Meropens Augen, von ihren eignen Händen
sterben soll, die Entdeckung seiner Mitschuldigen: mit einem Worte,
Voltaire entlehnte vom Maffei die ganze Verwicklung. Und hat er nicht
auch die ganze Auflösung von ihm entlehnt, indem er das Opfer, bei
welchem Polyphont umgebracht werden sollte, von ihm mit der Handlung
verbinden lernte? Maffei machte es zu einer hochzeitlichen Feier, und
vielleicht, daß er, bloß darum, seinen Tyrannen itzt erst auf die
Verbindung mit Meropen fallen ließ, um dieses Opfer desto natürlicher
anzubringen. Was Maffei erfand, tat Voltaire nach.

Es ist wahr, Voltaire gab verschiedenen von den Umständen, die er vom
Maffei entlehnte, eine andere Wendung. z.E. Anstatt daß, beim Maffei,
Polyphont bereits funfzehn Jahre regieret hat, läßt er die Unruhen in
Messene ganzer funfzehn Jahre dauern, und den Staat so lange in der
unwahrscheinlichsten Anarchie verharren. Anstatt daß, beim Maffei,
Aegisth von einem Räuber auf der Straße angefallen wird, läßt er ihn in
einem Tempel des Herkules von zwei Unbekannten überfallen werden, die es
ihm übel nehmen, daß er den Herkules für die Herakliden, den Gott des
Tempels für die Nachkommen desselben anfleht. Anstatt daß beim Maffei
Aegisth durch einen Ring in Verdacht gerät, läßt Voltaire diesen Verdacht
durch eine Rüstung entstehen usw. Aber alle diese Veränderungen betreffen
die unerheblichsten Kleinigkeiten, die fast alle außer dem Stücke sind
und auf die Ökonomie des Stückes selbst keinen Einfluß haben. Und doch
wollte ich sie Voltairen noch gern als Äußerungen seines schöpferischen
Genies anrechnen, wenn ich nur fände, daß er das, was er ändern zu müssen
vermeinte, in allen seinen Folgen zu ändern verstanden hätte. Ich will
mich an dem mitte1sten von den angeführten Beispielen erklären. Maffei
läßt seinen Aegisth von einem Räuber angefallen werden, der den
Augenblick abpaßt, da er sich mit ihm auf dem Wege allein sieht, ohnfern
einer Brücke über die Pamise; Aegisth erlegt den Räuber und wirft den
Körper in den Fluß, aus Furcht, wenn der Körper auf der Straße gefunden
würde, daß man den Mörder verfolgen und ihn dafür erkennen dürfte. Ein
Räuber, dachte Voltaire, der einem Prinzen den Rock ausziehen und den
Beutel nehmen will, ist für mein feines, edles Parterr ein viel zu
niedriges Bild; besser, aus diesem Räuber einen Mißvergnügten gemacht,
der dem Aegisth als einem Anhänger der Herakliden zu Leibe will. Und
warum nur einen? Lieber zwei; so ist die Heldentat des Aegisths desto
größer, und der, welcher von diesen zweien entrinnt, wenn er zu dem
ältrern gemacht wird, kann hernach für den Narbas genommen werden. Recht
gut, mein lieber Johann Ballhorn; aber nun weiter. Wenn Aegisth den einen
von diesen Mißvergnügten erlegt hat, was tut er alsdenn? Er trägt den
toten Körper auch ins Wasser. Auch? Aber wie denn? warum denn? Von der
leeren Landstraße in den nahen Fluß; das ist ganz begreiflich: aber aus
dem Tempel in den Fluß, dieses auch? War denn außer ihnen niemand in
diesem Tempel? Es sei so; auch ist das die größte Ungereimtheit noch
nicht. Das Wie ließe sich noch denken: aber das Warum gar nicht. Maffeis
Aegisth trägt den Körper in den Fluß, weil er sonst verfolgt und erkannt
zu werden fürchtet; weil er glaubt, wenn der Körper beiseite geschafft
sei, daß sodann nichts seine Tat verraten könne; daß diese sodann,
mitsamt dem Körper, in der Flut begraben sei. Aber kann das Voltairens
Aegisth auch glauben? Nimmermehr; oder der zweite hätte nicht entkommen
müssen. Wird sich dieser begnügen, sein Leben davongetragen zu haben?
Wird er ihn nicht, wenn er auch noch so furchtsam ist, von weiten
beobachten? Wird er ihn nicht mit seinem Geschrei verfolgen, bis ihn
andere festhalten? Wird er ihn nicht anklagen und wider ihn zeugen? Was
hilft es dem Mörder also, das corpus delicti weggebracht zu haben? Hier
ist ein Zeuge, welcher es nachweisen kann. Diese vergebene Mühe hätte er
sparen und dafür eilen sollen, je eher je lieber über die Grenze zu
kommen. Freilich mußte der Körper, des Folgenden wegen, ins Wasser
geworfen werden; es war Voltairen ebenso nötig als dem Maffei, daß Merope
nicht durch die Besichtigung desselben aus ihrem Irrtume gerissen werden
konnte; nur daß, was bei diesem Aegisth sich selber zum Besten tut, er
bei jenem bloß dem Dichter zu Gefallen tun muß. Denn Voltaire korrigierte
die Ursache weg, ohne zu überlegen, daß er die Wirkung dieser Ursache
brauche, die nunmehr von nichts als von seiner Bedürfnis abhängt.

Eine einzige Veränderung, die Voltaire in dem Plane des Maffei gemacht
hat, verdient den Namen einer Verbesserung. Die nämlich, durch welche er
den wiederholten Versuch der Merope, sich an dem vermeinten Mörder ihres
Sohnes zu rächen, unterdrückt und dafür die Erkennung von seiten des
Aegisth, in Gegenwart des Polyphonts, geschehen läßt. Hier erkenne ich
den Dichter, und besonders ist die zweite Szene des vierten Akts ganz
vortrefflich. Ich wünschte nur, daß die Erkennung überhaupt, die in der
vierten Szene des dritten Akts von beiden Seiten erfolgen zu müssen das
Ansehen hat, mit mehrerer Kunst hätte geteilet werden können. Denn daß
Aegisth mit einmal von dem Eurikles weggeführet wird und die Vertiefung
sich hinter ihm schließt, ist ein sehr gewaltsames Mittel. Es ist nicht
ein Haar besser, als die übereilte Flucht, mit der sich Aegisth bei dem
Maffei rettet, und über die Voltaire seinen Lindelle so spotten läßt.
Oder vielmehr, diese Flucht ist um vieles natürlicher; wenn der Dichter
nur hernach Sohn und Mutter einmal zusammen gebracht und uns nicht
gänzlich die ersten rührenden Ausbrüche ihrer beiderseitigen Empfindungen
gegeneinander vorenthalten hätte. Vielleicht würde Voltaire die Erkennung
überhaupt nicht geteilet haben, wenn er seine Materie nicht hätte dehnen
müssen, um fünf Akte damit voll zu machen. Er jammert mehr als einmal
über cette longue carrière de cinq actes qui est prodigieusement
difficile à remplir sans épisodes--Und nun für diesesmal genug von
der "Merope"!


----Fußnote

[1] Fin ne i nomi de' Personaggi si è levato quell' errore, comunissimo
alle stampe d'ogni drama, di scoprire il secreto nel premettergli, e per
conseguenza di levare il piacere a chi legge, overo ascolta, essendosi
messo Egisto, dove era, Cresfonte sotto nome d'Egisto.

----Fußnote



Einundfunfzigstes Stück
Den 23. Oktober 1767

Den neununddreißigsten Abend (mittewochs, den 8. Julius) wurden "Der
verheiratete Philosoph" und "Die neue Agnese" wiederholt.[1]

Chevrier sagt,[2] daß Destouches sein Stück aus einem Lustspiele des
Campistron geschöpft habe, und daß, wenn dieser nicht seinen "Jaloux
désabusé" geschrieben hätte, wir wohl schwerlich einen "Verheirateten
Philosophen" haben würden. Die Komödie des Campistron ist unter uns wenig
bekannt; ich wüßte nicht, daß sie auf irgendeinem deutschen Theater wäre
gespielt worden; auch ist keine Übersetzung davon vorhanden. Man dürfte
also vielleicht um so viel lieber wissen wollen, was eigentlich an dem
Vorgeben des Chevrier sei.

Die Fabel des Campistronschen Stücks ist kurz diese: Ein Bruder hat das
ansehnliche Vermögen seiner Schwester in Händen, und um dieses nicht
herausgeben zu dürfen, möchte er sie lieber gar nicht verheiraten. Aber
die Frau dieses Bruders denkt besser, oder wenigstens anders, und um
ihren Mann zu vermögen, seine Schwester zu versorgen, sucht sie ihn auf
alle Weise eifersüchtig zu machen, indem sie verschiedne junge
Mannspersonen sehr gütig aufnimmt, die alle Tage unter dem Vorwande, sich
um ihre Schwägerin zu bewerben, zu ihr ins Haus kommen. Die List gelingt;
der Mann wird eifersüchtig; und williget endlich, um seiner Frau den
vermeinten Vorwand, ihre Anbeter um sich zu haben, zu benehmen, in die
Verbindung seiner Schwester mit Clitandern, einem Anverwandten seiner
Frau, dem zu Gefallen sie die Rolle der Kokette gespielt hatte. Der Mann
sieht sich berückt, ist aber sehr zufrieden, weil er zugleich von dem
Ungrunde seiner Eifersucht überzeugt wird.

Was hat diese Fabel mit der Fabel des "Verheirateten Philosophen"
Ähnliches? Die Fabel nicht das geringste. Aber hier ist eine Stelle aus
dem zweiten Akte des Campistronschen Stücks, zwischen Dorante, so heißt
der Eifersüchtige, und Dubois, seinem Sekretär. Diese wird gleich zeigen,
was Chevrier gemeiner hat.

"Dubois. Und was fehlt Ihnen denn?

Dorante. Ich bin verdrüßlich, ärgerlich; alle meine ehemalige
Heiterkeit ist weg; alle meine Freude hat ein Ende. Der Himmel hat
mir einen Tyrannen, einen Henker gegeben, der nicht aufhören wird,
mich zu martern, zu peinigen--

Dubois. Und wer ist denn dieser Tyrann, dieser Henker?

Dorante. Meine Frau.

Dubois. Ihre Frau, mein Herr?

Dorante. Ja, meine Frau, meine Frau.--Sie bringt mich zur
Verzweiflung.

Dubois. Hassen Sie sie denn?

Dorante. Wollte Gott! So wäre ich ruhig.--Aber ich liebe sie, und
liebe sie so sehr--Verwünschte Qual!

Dubois. Sie sind doch wohl nicht eifersüchtig?

Dorante. Bis zur Raserei.

Dubois. Wie? Sie, mein Herr? Sie eifersüchtig? Sie, der Sie von
jeher über alles, was Eifersucht heißt,--

Dorante. Gelacht und gespottet. Desto schlimmer bin ich nun daran!
Ich Geck, mich von den elenden Sitten der großen Welt so hinreißen zu
lassen! In das Geschrei der Narren einzustimmen, die sich über die
Ordnung und Zucht unserer ehrlichen Vorfahren so lustig machen! Und
ich stimmte nicht bloß ein; es währte nicht lange, so gab ich den Ton.
Um Witz, um Lebensart zu zeigen, was für albernes Zeug habe ich nicht
gesprochen! Eheliche Treue, beständige Liebe, pfui, wie schmeckt das
nach dem kleinstädtischen Bürger! Der Mann, der seiner Frau nicht
allen Willen läßt, ist ein Bär! Der es ihr übel nimmt, wenn sie auch
andern gefällt und zu gefallen sucht, gehört ins Tollhaus. So sprach
ich, und mich hätte man da sollen ins Tollhaus schicken.--

Dubois. Aber warum sprachen Sie so?

Dorante. Hörst du nicht? Weil ich ein Geck war und glaubte, es ließe
noch so galant und weise.--Inzwischen wollte mich meine Familie
verheiratet wissen. Sie schlugen mir ein junges, unschuldiges Mädchen
vor; und ich nahm es. Mit der, dachte ich, soll es gute Wege haben;
die soll in meiner Denkungsart nicht viel ändern; ich liebe sie itzt
nicht besonders, und der Besitz wird mich noch gleichgültiger gegen
sie machen. Aber wie sehr habe ich mich betrogen! Sie ward täglich
schöner, täglich reizender. Ich sah es und entbrannte, und entbrannte
je mehr und mehr; und itzt bin ich so verliebt, so verliebt in sie--

Dubois. Nun, das nenne ich gefangen werden!

Dorante. Denn ich bin so eifersüchtig!--Daß ich mich schäme, es auch
nur dir zu bekennen.--Alle meine Freunde sind mir zuwider--und
verdächtig; die ich sonst nicht ofte genug um mich haben konnte, sehe
ich itzt lieber gehen als kommen. Was haben sie auch in meinem Hause
zu suchen? Was wollen die Müßiggänger? Wozu alle die Schmeicheleien,
die sie meiner Frau machen? Der eine lobt ihren Verstand; der andere
erhebt ihr gefälliges Wesen bis in den Himmel. Den entzücken ihre
himmlischen Augen, und den ihre schönen Zähne. Alle finden sie höchst
reizend, höchst anbetungswürdig; und immer schließt sich ihr
verdammtes Geschwätze mit der verwünschten Betrachtung, was für ein
glücklicher, was für ein beneidenswürdiger Mann ich bin.

Dubois. Ja, ja, es ist wahr, so geht es zu.

Dorante. Oh, sie treiben ihre unverschämte Kühnheit wohl noch weiter!
Kaum ist sie aus dem Bette, so sind sie um ihre Toilette. Da solltest
du erst sehen und hören! Jeder will da seine Aufmerksamkeit und seinen
Witz mit dem andern um die Wette zeigen. Ein abgeschmackter Einfall
jagt den andern, eine boshafte Spötterei die andere, ein kitzelndes
Histörchen das andere. Und das alles mit Zeichen, mit Mienen, mit
Liebäugeleien, die meine Frau so leutselig annimmt, so verbindlich
erwidert, daß--daß mich der Schlag oft rühren möchte! Kannst du
glauben, Dubois? ich muß es wohl mit ansehen, daß sie ihr die Hand
küssen.

Dubois. Das ist arg!

Dorante. Gleichwohl darf ich nicht mucksen. Denn was würde die Welt
dazu sagen? Wie lächerlich würde ich mich machen, wenn ich meinen
Verdruß auslassen wollte? Die Kinder auf der Straße würden mit
Fingern auf mich weisen. Alle Tage würde ein Epigramm, ein
Gassenhauer auf mich zum Vorscheine kommen usw."


Diese Situation muß es sein, in welcher Chevrier das Ähnliche mit dem
"Verheirateten Philosophen" gefunden hat. So wie der Eifersüchtige des
Campistron sich schämet, seine Eifersucht auszulassen, weil er sich
ehedem über diese Schwachheit allzu lustig gemacht hat: so schämt sich
auch der Philosoph des Destouches, seine Heirat bekannt zu machen, weil
er ehedem über alle ernsthafte Liebe gespottet und den ehelosen Stand für
den einzigen erklärt hatte, der einem freien und weisen Manne anständig
sei. Es kann auch nicht fehlen, daß diese ähnliche Scham sie nicht beide
in mancherlei ähnliche Verlegenheiten bringen sollte. So ist, z.E., die,
in welcher sich Dorante beim Campistron siehet, wenn er von seiner Frau
verlangt, ihm die überlästigen Besucher vom Halse zu schaffen, diese aber
ihn bedeutet, daß das eine Sache sei, die er selbst bewerkstelligen
müsse, fast die nämliche mit der bei dem Destouches, in welcher sich
Arist befindet, wenn er es selbst dem Marquis sagen soll, daß er sich auf
Meliten keine Rechnung machen könne. Auch leidet dort der Eifersüchtige,
wenn seine Freunde in seiner Gegenwart über die Eifersüchtigen spotten
und er selbst sein Wort dazu geben muß, ungefähr auf gleiche Weise, als
hier der Philosoph, wenn er sich muß sagen lassen, daß er ohne Zweifel
viel zu klug und vorsichtig sei, als daß er sich zu so einer Torheit, wie
das Heiraten, sollte haben verleiten lassen.

Demohngeachtet aber sehe ich nicht, warum Destouches bei seinem Stücke
notwendig das Stück des Campistron vor Augen gehabt haben müßte; und mir
ist es ganz begreiflich, daß wir jenes haben könnten, wenn dieses auch
nicht vorhanden wäre. Die verschiedensten Charaktere können in ähnliche
Situationen geraten; und da in der Komödie die Charaktere das Hauptwerk,
die Situationen aber nur die Mittel sind, jene sich äußern zu lassen und
ins Spiel zu setzen: so muß man nicht die Situationen, sondern die
Charaktere in Betrachtung ziehen, wenn man bestimmen will, ob ein Stück
Original oder Kopie genannt zu werden verdiene. Umgekehrt ist es in der
Tragödie, wo die Charaktere weniger wesentlich sind und Schrecken und
Mitleid vornehmlich aus den Situationen entspringt. Ähnliche Situationen
geben also ähnliche Tragödien, aber nicht ähnliche Komödien. Hingegen
geben ähnliche Charaktere ähnliche Komödien, anstatt daß sie in den
Tragödien fast gar nicht in Erwägung kommen.

Der Sohn unsers Dichters, welcher die prächtige Ausgabe der Werke seines
Vaters besorgt hat, die vor einigen Jahren in vier Quartbänden aus der
Königlichen Druckerei zu Paris erschien, meldet uns, in der Vorrede zu
dieser Ausgabe, eine besondere, dieses Stück betreffende Anekdote. Der
Dichter nämlich habe sich in England verheiratet und aus gewissen
Ursachen seine Verbindung geheim halten müssen. Eine Person aus der
Familie seiner Frau aber habe das Geheimnis früher ausgeplaudert, als
ihm lieb gewesen; und dieses habe Gelegenheit zu dem "Verheirateten
Philosophen" gegeben. Wenn dieses wahr ist,--und warum sollten wir es
seinem Sohne nicht glauben?--so dürfte die vermeinte Nachahmung des
Campistron um so eher wegfallen.


----Fußnote

[1] S. den 5. und 7. Abend

[2] "L'Observateur des Spectacles.", T. II. p. 135.

----Fußnote



Zweiundfunfzigstes Stück Den 27. Oktober 1767

Den vierzigsten Abend (donnerstags, den 9. Julius) ward Schlegels
"Triumph der guten Frauen" aufgeführet.

Dieses Lustspiel ist unstreitig eines der besten deutschen Originale. Es
war, soviel ich weiß, das letzte komische Werk des Dichters, das seine
frühern Geschwister unendlich übertrifft und von der Reife seines Urhebers
zeuget. "Der geschäftige Müßiggänger" war der erste jugendliche Versuch
und fiel aus, wie alle solche jugendliche Versuche ausfallen. Der Witz
verzeihe es denen und räche sich nie an ihnen, die allzuviel Witz darin
gefunden haben! Er enthält das kalteste, langweiligste Alltagsgewäsche,
das nur immer in dem Hause eines meißnischen Pelzhändlers vorfallen kann.
Ich wüßte nicht, daß er jemals wäre aufgeführt worden, und ich zweifle,
daß seine Vorstellung dürfte auszuhalten sein. "Der Geheimnisvolle" ist
um vieles besser; ob es gleich der Geheimnisvolle gar nicht geworden ist,
den Molière in der Stelle geschildert hat, aus welcher Schlegel den Anlaß
zu diesem Stücke wollte genommen haben.[1] Molières Geheimnisvoller ist
ein Geck, der sich ein wichtiges Ansehen geben will; Schlegels
Geheimnisvoller aber ein gutes ehrliches Schaf, das den Fuchs spielen
will, um von den Wölfen nicht gefressen zu werden. Daher kömmt es auch,
daß er so viel Ähnliches mit dem Charakter des Mißtrauischen hat, den
Cronegk hernach auf die Bühne brachte. Beide Charaktere aber, oder
vielmehr beide Nuancen des nämlichen Charakters, können nichts anders
als in einer so kleinen und armseligen, oder so menschenfeindlichen und
häßlichen Seele sich finden, daß ihre Vorstellungen notwendig mehr
Mitleiden oder Abscheu erwecken müssen, als Lachen. "Der Geheimnisvolle"
ist wohl sonst hier aufgeführet worden; man versichert mich aber auch
durchgängig, und aus der eben gemachten Betrachtung ist mir es sehr
begreiflich, daß man ihn läppischer gefunden habe, als lustig.

"Der Triumph der guten Frauen" hingegen hat, wo er noch aufgeführet
worden, und sooft er noch aufgeführet worden, überall und jederzeit einen
sehr vorzüglichen Beifall erhalten; und daß sich dieser Beifall auf wahre
Schönheiten gründen müsse, daß er nicht das Werk einer überraschenden
blendenden Vorstellung sei, ist daher klar, weil ihn noch niemand, nach
Lesung des Stücks, zurückgenommen. Wer es zuerst gelesen, dem gefällt es
um so viel mehr, wenn er es spielen sieht: und wer es zuerst spielen
gesehen, dem gefällt es um so viel mehr, wenn er es lieset. Auch haben es
die strengesten Kunstrichter ebensosehr seinen übrigen Lustspielen, als
diese überhaupt dem gewöhnlichen Prasse deutscher Komödien vorgezogen.

"Ich las", sagt einer von ihnen,[2] "den 'Geschäftigen Müßiggänger': die
Charaktere schienen mir vollkommen nach dem Leben; solche Müßiggänger,
solche in ihre Kinder vernarrte Mütter, solche schalwitzige Besuche und
solche dumme Pelzhändler sehen wir alle Tage. So denkt, so lebt, so
handelt der Mittelstand unter den Deutschen. Der Dichter hat seine
Pflicht getan, er hat uns geschildert, wie wir sind. Allein ich gähnte
vor Langeweile.--Ich las darauf den 'Triumph der guten Frauen'. Welcher
Unterschied! Hier finde ich Leben in den Charakteren, Feuer in ihren
Handlungen, echten Witz in ihren Gesprächen und den Ton einer feinen
Lebensart in ihrem ganzen Umgange."

Der vornehmste Fehler, den ebenderselbe Kunstrichter daran bemerkt hat,
ist der, daß die Charaktere an sich selbst nicht deutsch sind. Und leider
muß man diesen zugestehen. Wir sind aber in unsern Lustspielen schon zu
sehr an fremde, und besonders an französische Sitten gewöhnt, als daß er
eine besonders üble Wirkung auf uns haben könnte.

"Nikander", heißt es, "ist ein französischer Abenteurer, der auf
Eroberungen ausgeht, allem Frauenzimmer nachstellt, keinem im Ernste
gewogen ist, alle ruhige Ehen in Uneinigkeit zu stürzen, aller Frauen
Verführer und aller Männer Schrecken zu werden sucht, und der bei allem
diesen kein schlechtes Herz hat. Die herrschende Verderbnis der Sitten
und Grundsätze scheinet ihn mit fortgerissen zu haben. Gottlob! daß ein
Deutscher, der so leben will, das verderbteste Herz von der Welt haben
muß.--Hilaria, des Nikanders Frau, die er vier Wochen nach der Hochzeit
verlassen und nunmehr in zehn Jahren nicht gesehen hat, kömmt auf den
Einfall, ihn aufzusuchen. Sie kleidet sich als eine Mannsperson und folgt
ihm, unter dem Namen Philint, in alle Häuser nach, wo er Avanturen sucht.
Philint ist witziger, flatterhafter und unverschämter als Nikander. Das
Frauenzimmer ist dem Philint mehr gewogen, und sobald er mit seinem
frechen, aber doch artigen Wesen sich sehen läßt, stehet Nikander da wie
verstummt. Dieses gibt Gelegenheit zu sehr lebhaften Situationen. Die
Erfindung ist artig, der zweifache Charakter wohl gezeichnet und
glücklich in Bewegung gesetzt; aber das Original zu diesem nachgeahmten
Petitmaitre ist gewiß kein Deutscher."

"Was mir", fährt er fort, "sonst an diesem Lustspiele mißfällt, ist der
Charakter des Agenors. Den Triumph der guten Frauen vollkommen zu machen,
zeigt dieser Agenor den Ehemann von einer gar zu häßlichen Seite. Er
tyrannisierst seine unschuldige Christiane auf das unwürdigste und hat
recht seine Lust, sie zu quälen. Grämlich, sooft er sich sehen läßt,
spöttisch bei den Tränen seiner gekränkten Frau, argwöhnisch bei ihren
Liebkosungen, boshaft genug, ihre unschuldigsten Reden und Handlungen
durch eine falsche Wendung zu ihrem Nachteile auszulegen, eifersüchtig,
hart, unempfindlich, und, wie Sie sich leicht einbilden können, in seiner
Frauen Kammermädchen verliebt.--Ein solcher Mann ist gar zu verderbt, als
daß wir ihm eine schleunige Besserung zutrauen könnten. Der Dichter gibt
ihm eine Nebenrolle, in welcher sich die Falten seines nichtswürdigen
Herzens nicht genug entwickeln können. Er tobt, und weder Juliane noch
die Leser wissen recht, was er will. Ebensowenig hat der Dichter Raum
gehabt, seine Besserung gehörig vorzubereiten und zu veranstalten. Er
mußte sich begnügen, dieses gleichsam im Vorbeigehen zu tun, weil die
Haupthandlung mit Nikander und Philinten zu schaffen hatte. Kathrine,
dieses edelmütige Kammermädchen der Juliane, das Agenor verfolgt hatte,
sagt gar recht am Ende des Lustspiels: 'Die geschwindesten Bekehrungen
sind nicht allemal die aufrichtigsten!' Wenigstens solange dieses Mädchen
im Hause ist, möchte ich nicht für die Aufrichtigkeit stehen."

Ich freue mich, daß die beste deutsche Komödie dem richtigsten deutschen
Beurteiler in die Hände gefallen ist. Und doch war es vielleicht die
erste Komödie, die dieser Mann beurteilte.


----Fußnote

[1] "Misanthrope", Acte II, Sc. 4.

    C'est de la tête aux pieds un homme tout mystère,
    Qui vous jette, en passant, un coup d'oeil égaré,
    Et sans aucune affaire est toujours affairé.
    Tous ce qu'il vous débite en grimaces abonde.
    A force de façons il assomme le monde.
    Sans cesse il a tout bas, pour rompre l'entretien,
    Un secret à vous dire, et ce secret n'est rien.
    De la moindre vétille il fait une merveille,
    Et, jusqu' au bon jour, il dit tout à l'oreille.

[2] "Briefe, die neueste Literatur betreffend", T. XXI. S. 133.

----Fußnote


Ende des ersten Bandes



Zweyter Band



Dreiundfunfzigstes Stück
Den 3. November 1767

Den einundvierzigsten Abend (freitags, den 10. Julius) wurden "Cenie" und
"Der Mann nach der Uhr" wiederholt.[1] "Cenie", sagt Chevrier gerade
heraus,[2] "führet den Namen der Frau von Graffigny, ist aber ein Werk
des Abts von Voisenon. Es war anfangs in Versen; weil aber die Frau von
Graffigny, der es erst in ihrem vierundfunfzigsten Jahre einfiel, die
Schriftstellerin zu spielen, in ihrem Leben keinen Vers gemacht hatte, so
ward 'Cenie' in Prosa gebracht. Mais l'auteur, fügt er hinzu, y a laissé
81 vers qui y existent dans leur entier." Das ist, ohne Zweifel, von
einzeln hin und wieder zerstreuten Zeilen zu verstehen, die den Reim
verloren, aber die Silbenzahl beibehalten haben. Doch wenn Chevrier
keinen andern Beweis hatte, daß das Stück in Versen gewesen: so ist es
sehr erlaubt, daran zu zweifeln. Die französischen Verse kommen überhaupt
der Prosa so nahe, daß es Mühe kosten soll, nur in einem etwas
gesuchteren Stile zu schreiben, ohne daß sich nicht von selbst ganze
Verse zusammenfinden, denen nichts wie der Reim mangelt. Und gerade
denjenigen, die gar keine Verse machen, können dergleichen Verse am
ersten entwischen; eben weil sie gar kein Ohr für das Metrum haben und
es also ebensowenig zu vermeiden, als zu beobachten verstehen.

Was hat "Cenie" sonst für Merkmale, daß sie nicht aus der Feder eines
Frauenzimmers könne geflossen sein? "Das Frauenzimmer überhaupt", sagt
Rousseau,[3] "liebt keine einzige Kunst, versteht sich auf keine einzige,
und an Genie fehlt es ihm ganz und gar. Es kann in kleinen Werken
glücklich sein, die nichts als leichten Witz, nichts als Geschmack,
nichts als Anmut, höchstens Gründlichkeit und Philosophie verlangen. Es
kann sich Wissenschaft, Gelehrsamkeit und alle Talente erwerben, die sich
durch Mühe und Arbeit erwerben lassen. Aber jenes himmlische Feuer,
welches die Seele erhitzet und entflammt, jenes um sich greifende
verzehrende Genie, jene brennende Beredsamkeit, jene erhabene Schwünge,
die ihr Entzückendes dem Innersten unseres Herzens mitteilen, werden den
Schriften des Frauenzimmers allezeit fehlen."

Also fehlen sie wohl auch der "Cenie"? Oder, wenn sie ihr nicht fehlen,
so muß "Cenie" notwendig das Werk eines Mannes sein? Rousseau selbst
würde so nicht schließen. Er sagt vielmehr, was er dem Frauenzimmer
überhaupt absprechen zu müssen glaube, wolle er darum keiner Frau
insbesondere streitig machen. (Ce n'est pas à une femme, mais aux femmes
que je refuse les talents des hommes.[4]) Und dieses sagt er eben auf
Veranlassung der "Cenie"; ebenda, wo er die Graffigny als die Verfasserin
derselben anführt. Dabei merke man wohl, daß Graffigny seine Freundin
nicht war, daß sie Übels von ihm gesprochen hatte, daß er sich an eben
der Stelle über sie beklagt. Demohngeachtet erklärt er sie lieber für
eine Ausnahme seines Satzes, als daß er im geringsten auf das Vorgeben
des Chevrier anspielen sollte, welches er zu tun, ohne Zweifel,
Freimütigkeit genug gehabt hätte, wenn er nicht von dem Gegenteile
überzeugt gewesen wäre.

Chevrier hat mehr solche verkleinerliche geheime Nachrichten. Eben dieser
Abt, wie Chevrier wissen will, hat für die Favart gearbeitet. Er hat die
komische Oper "Annette und Lubin" gemacht; und nicht sie, die Aktrice,
von der er sagt, daß sie kaum lesen könne. Sein Beweis ist ein Gassenhauer,
der in Paris darüber herumgegangen; und es ist allerdings wahr, daß die
Gassenhauer in der französischen Geschichte überhaupt unter die glaub-
würdigsten Dokumente gehören.

Warum ein Geistlicher ein sehr verliebtes Singspiel unter fremdem Namen
in die Welt schicke, ließe sich endlich noch begreifen. Aber warum er
sich zu einer "Cenie" nicht bekennen wolle, der ich nicht viele Predigten
vorziehen möchte, ist schwerlich abzusehen. Dieser Abt hat ja sonst mehr
als ein Stück aufführen und drucken lassen, von welchen ihn jedermann als
den Verfasser kennet und die der "Cenie" bei weitem nicht gleichkommen.
Wenn er einer Frau von vierundfunfzig Jahren eine Galanterie machen
wollte, ist es wahrscheinlich, daß er es gerade mit seinem besten Werke
würde getan haben?--

Den zweiundvierzigsten Abend (montags, den 13. Julius) ward "Die
Frauenschule" von Molière aufgeführt.

Molière hatte bereits seine "Männerschule" gemacht, als er im Jahre 1662
diese "Frauenschule" darauf folgen ließ. Wer beide Stücke nicht kennet,
würde sich sehr irren, wenn er glaubte, daß hier den Frauen, wie dort den
Männern, ihre Schuldigkeit geprediget würde. Es sind beides witzige
Possenspiele, in welchen ein Paar junge Mädchen, wovon das eine in aller
Strenge erzogen und das andere in aller Einfalt aufgewachsen, ein Paar
alte Laffen hintergehen; und die beide "Die Männerschule" heißen müßten,
wenn Molière weiter nichts darin hätte lehren wollen, als daß das dümmste
Mädchen noch immer Verstand genug habe, zu betrügen, und daß Zwang und
Aufsicht weit weniger fruchte und nutze, als Nachsicht und Freiheit.
Wirklich ist für das weibliche Geschlecht in der "Frauenschule" nicht
viel zu lernen; es wäre denn, daß Molière mit diesem Titel auf die
Ehestandsregeln, in der zweiten Szene des dritten Akts, gesehen hätte,
mit welchen aber die Pflichten der Weiber eher lächerlich gemacht werden.

"Die zwei glücklichsten Stoffe zur Tragödie und Komödie", sagt Trublet,
[5] "sind der 'Cid' und die 'Frauenschule'. Aber beide sind vom Corneille
und Molière bearbeitet worden, als diese Dichter ihre völlige Stärke noch
nicht hatten. Diese Anmerkung", fügt er hinzu, "habe ich von dem Hrn. von
Fontenelle."

Wenn doch Trublet den Hrn. von Fontenelle gefragt hätte, wie er dieses
meine. Oder falls es ihm so schon verständlich genug war, wenn er es doch
auch seinen Lesern mit ein paar Worten hätte verständlich machen wollen.
Ich wenigstens bekenne, daß ich gar nicht absehe, wo Fontenelle mit
diesem Rätsel hingewollt. Ich glaube, er hat sich versprochen; oder
Trublet hat sich verhört.

Wenn indes, nach der Meinung dieser Männer, der Stoff der "Frauenschule"
so besonders glücklich ist und Molière in der Ausführung desselben nur zu
kurz gefallen: so hätte sich dieser auf das ganze Stück eben nicht viel
einzubilden gehabt. Denn der Stoff ist nicht von ihm; sondern teils aus
einer spanischen Erzählung, die man bei dem Scarron unter dem Titel "Die
vergebliche Vorsicht" findet, teils aus den "Spaßhaften Nächten" des
Straparolle genommen, wo ein Liebhaber einem seiner Freunde alle Tage
vertrauet, wie weit er mit seiner Geliebten gekommen, ohne zu wissen, daß
dieser Freund sein Nebenbuhler ist.

"Die Frauenschule", sagt der Herr von Voltaire, "war ein Stück von einer
ganz neuen Gattung, worin zwar alles nur Erzählung, aber doch so
künstliche Erzählung ist, daß alles Handlung zu sein scheinet."

Wenn das Neue hierin bestand, so ist es sehr gut, daß man die neue
Gattung eingehen lassen. Mehr oder weniger künstlich, Erzählung bleibt
immer Erzählung, und wir wollen auf dem Theater wirkliche Handlungen
sehen.--Aber ist es denn auch wahr, daß alles darin erzählt wird? daß
alles nur Handlung zu sein scheint? Voltaire hätte diesen alten Einwurf
nicht wieder aufwärmen sollen; oder, anstatt ihn in ein anscheinendes Lob
zu verkehren, hätte er wenigstens die Antwort beifügen sollen, die
Molière selbst darauf erteilte, und die sehr passend ist. Die Erzählungen
nämlich sind in diesem Stücke, vermöge der innern Verfassung desselben,
wirkliche Handlung; sie haben alles, was zu einer komischen Handlung
erforderlich ist; und es ist bloße Wortklauberei, ihnen diesen Namen hier
streitig zu machen.[6] Denn es kömmt ja weit weniger auf die Vorfälle an,
welche erzählt werden, als auf den Eindruck, welchen diese Vorfälle auf
den betrognen Alten machen, wenn er sie erfährt. Das Lächerliche dieses
Alten wollte Molière vornehmlich schildern; ihn müssen wir also
vornehmlich sehen, wie er sich bei dem Unfalle, der ihm drohet, gebärdet;
und dieses hätten wir so gut nicht gesehen, wenn der Dichter das, was er
erzählen läßt, vor unsern Augen hätte vorgehen lassen, und das, was er
vorgehen läßt, dafür hätte erzählen lassen. Der Verdruß, den Arnolph
empfindet; der Zwang, den er sich antut, diesen Verdruß zu verbergen; der
höhnische Ton, den er annimmt, wenn er dem weitern Progresse des Horaz
nun vorgebauet zu haben glaubet; das Erstaunen, die stille Wut, in der
wir ihn sehen, wenn er vernimmt, daß Horaz demohngeachtet sein Ziel
glücklich verfolgt: das sind Handlungen, und weit komischere Handlungen,
als alles, was außer der Szene vorgeht. Selbst in der Erzählung der
Agnese, von ihrer mit dem Horaz gemachten Bekanntschaft, ist mehr
Handlung, als wir finden würden, wenn wir diese Bekanntschaft auf der
Bühne wirklich machen sähen.

Also, anstatt von der "Frauenschule" zu sagen, daß alles darin Handlung
scheine, obgleich alles nur Erzählung sei, glaubte ich mit mehrerm Rechte
sagen zu können, daß alles Handlung darin sei, obgleich alles nur Erzählung
zu sein scheine.


----Fußnote

[1] S. den 23. und 29. Abend

[2] "Observateur des Spectacles", Tome I. p. 211.

[3] à d'Alembert, p. 133.

[4] à d'Alembert, p. 78.

[5] "Essais de Litt. et de Morale", T. IV. p. 295.

[6] In der "Kritik der Frauenschule", in der Person des Dorante: Les
récits eux-mêmes y sont des actions suivant la constitution du sujet.

----Fußnote



Vierundfunfzigstes Stück
Den 6. November 1767

Den dreiundvierzigsten Abend (dienstags, den 14. Julius) ward "Die
Mütterschule" des La Chaussée, und den vierundvierzigsten Abend (als den
15.) "Der Graf von Essex" wiederholt.[1]

Da die Engländer von jeher so gern domestica facta auf ihre Bühne
gebracht haben, so kann man leicht vermuten, daß es ihnen auch an
Trauerspielen über diesen Gegenstand nicht fehlen wird. Das älteste ist
das von Joh. Banks, unter dem Titel "Der unglückliche Liebling, oder Graf
von Essex". Es kam 1682 aufs Theater und erhielt allgemeinen Beifall.
Damals aber hatten die Franzosen schon drei Essexe: des Calprenède von
1638; des Boyer von 1678, und des jüngern Corneille von ebendiesem Jahre.
Wollten indes die Engländer, daß ihnen die Franzosen auch hierin nicht
möchten zuvorgekommen sein, so würden sie sich vielleicht auf Daniels
"Philotas" beziehen können; ein Trauerspiel von 1611, in welchem man die
Geschichte und den Charakter des Grafen, unter fremden Namen, zu finden
glaubte.[2]

Banks scheinet keinen von seinen französischen Vorgängern gekannt zu
haben. Er ist aber einer Novelle gefolgt, die den Titel "Geheime
Geschichte der Königin Elisabeth und des Grafen von Essex" führet,[3] wo
er den ganzen Stoff sich so in die Hände gearbeitet fand, daß er ihn bloß
zu dialogieren, ihm bloß die äußere dramatische Form zu erteilen brauchte.
Hier ist der ganze Plan, wie er von dem Verfasser der unten angeführten
Schrift, zum Teil, ausgezogen worden. Vielleicht, daß es meinen Lesern
nicht unangenehm ist, ihn gegen das Stück des Corneille halten zu können.

"Um unser Mitleid gegen den unglücklichen Grafen desto lebhafter zu
machen und die heftige Zuneigung zu entschuldigen, welche die Königin für
ihn äußert, werden ihm alle die erhabensten Eigenschaften eines Helden
beigelegt; und es fehlt ihm zu einem vollkommenen Charakter weiter
nichts, als daß er seine Leidenschaften nicht besser in seiner Gewalt
hat. Burleigh, der erste Minister der Königin, der auf ihre Ehre sehr
eifersüchtig ist und den Grafen wegen der Gunstbezeigungen beneidet, mit
welchen sie ihn überhäuft, bemüht sich unablässig, ihn verdächtig zu
machen. Hierin steht ihm Sir Walter Raleigh, welcher nicht minder des
Grafen Feind ist, treulich bei; und beide werden von der boshaften Gräfin
von Nottingham noch mehr verhetzt, die den Grafen sonst geliebt hatte,
nun aber, weil sie keine Gegenliebe von ihm erhalten können, was sie
nicht besitzen kann, zu verderben sucht. Die ungestüme Gemütsart des
Grafen macht ihnen allzu gutes Spiel, und sie erreichen ihre Absicht auf
folgende Weise.

Die Königin hatte den Grafen, als ihren Generalissimus, mit einer sehr
ansehnlichen Armee gegen den Tyrone geschickt, welcher in Irland einen
gefährlichen Aufstand erregt hatte. Nach einigen nicht viel bedeutenden
Scharmützeln sahe sich der Graf genötiget, mit dem Feinde in Unterhandlung
zu treten, weil seine Truppen durch Strapazen und Krankheiten sehr
abgemattet waren, Tyrone aber mit seinen Leuten sehr vorteilhaft postieret
stand. Da diese Unterhandlung zwischen den Anführern mündlich betrieben
ward und kein Mensch dabei zugegen sein durfte: so wurde sie der Königin
als ihrer Ehre höchst nachteilig und als ein gar nicht zweideutiger
Beweis vorgestellet, daß Essex mit den Rebellen in einem heimlichen
Verständnisse stehen müsse. Burleigh und Raleigh, mit einigen andern
Parlamentsgliedern, treten sie daher um Erlaubnis an, ihn des Hochverrats
anklagen zu dürfen, welches sie aber so wenig zu verstatten geneigt ist,
daß sie sich vielmehr über ein dergleichen Unternehmen sehr aufgebracht
bezeiget. Sie wiederholt die vorigen Dienste, welche der Graf der Nation
erwiesen, und erklärt, daß sie die Undankbarkeit und den boshaften Neid
seiner Ankläger verabscheue. Der Graf von Southampton, ein aufrichtiger
Freund des Essex, nimmt sich zugleich seiner auf das lebhafteste an; er
erhebt die Gerechtigkeit der Königin, einen solchen Mann nicht
unterdrücken zu lassen; und seine Feinde müssen vor diesesmal schweigen.
(Erster Akt.)

Indes ist die Königin mit der Aufführung des Grafen nichts weniger als
zufrieden, sondern läßt ihm befehlen, seine Fehler wieder gutzumachen,
und Irland nicht eher zu verlassen, als bis er die Rebellen völlig zu
Paaren getrieben und alles wieder beruhiget habe. Doch Essex, dem die
Beschuldigungen nicht unbekannt geblieben, mit welchen ihn seine Feinde
bei ihr anzuschwärzen suchen, ist viel zu ungeduldig, sich zu
rechtfertigen, und kömmt, nachdem er den Tyrone zu Niederlegung der
Waffen vermocht, des ausdrücklichen Verbots der Königin ungeachtet,
nach England über. Dieser unbedachtsame Schritt macht seinen Feinden
ebensoviel Vergnügen, als seinen Freunden Unruhe; besonders zittert die
Gräfin von Rutland, mit welcher er insgeheim verheiratet ist, vor den
Folgen. Am meisten aber betrübt sich die Königin, da sie sieht, daß ihr
durch dieses rasche Betragen aller Vorwand benommen ist, ihn zu vertreten,
wenn sie nicht eine Zärtlichkeit verraten will, die sie gern vor der
ganzen Welt verbergen möchte. Die Erwägung ihrer Würde, zu welcher ihr
natürlicher Stolz kömmt, und die heimliche Liebe, die sie zu ihm trägt,
erregen in ihrer Brust den grausamsten Kampf. Sie streitet lange mit sich
selbst, ob sie den verwegnen Mann nach dem Tower schicken oder den
geliebten Verbrecher vor sich lassen und ihm erlauben soll, sich gegen
sie selbst zu rechtfertigen. Endlich entschließt sie sich zu dem letztern,
doch nicht ohne alle Einschränkung; sie will ihn sehen, aber sie will ihn
auf eine Art empfangen, daß er die Hoffnung wohl verlieren soll, für seine
Vergehungen so bald Vergebung zu erhalten. Burleigh, Raleigh und Nottingham
sind bei dieser Zusammenkunft gegenwärtig. Die Königin ist auf die letztere
gelehnet und scheinet tief im Gespräche zu sein, ohne den Grafen nur ein
einziges Mal anzusehen. Nachdem sie ihn eine Weile vor sich knien lassen,
verläßt sie auf einmal das Zimmer und gebietet allen, die es redlich mit
ihr meinen, ihr zu folgen und den Verräter allein zu lassen. Niemand darf
es wagen, ihr ungehorsam zu sein; selbst Southampton gehet mit ihr ab,
kömmt aber bald, mit der trostlosen Rutland, wieder, ihren Freund bei
seinem Unfalle zu beklagen. Gleich darauf schicket die Königin den Burleigh
und Raleigh zu dem Grafen, ihm den Kommandostab abzunehmen; er weigert sich
aber, ihn in andere, als in der Königin eigene Hände, zurückzuliefern, und
beiden Ministern wird, sowohl von ihm, als von dem Southampton, sehr
verächtlich begegnet. (Zweiter Akt.)

Die Königin, der dieses sein Betragen sogleich hinterbracht wird, ist
äußerst gereizt, aber doch in ihren Gedanken noch immer uneinig. Sie kann
weder die Verunglimpfungen, deren sich die Nottingham gegen ihn erkühnt,
noch die Lobsprüche vertragen, die ihm die unbedachtsame Rutland aus der
Fülle ihres Herzens erteilet; ja, diese sind ihr noch mehr zuwider als
jene, weil sie daraus entdeckt, daß die Rutland ihn liebet. Zuletzt
befiehlt sie, demohngeachtet, daß er vor sie gebracht werden soll. Er
kömmt, und versucht es, seine Aufführung zu verteidigen. Doch die Gründe,
die er desfalls beibringt, scheinen ihr viel zu schwach, als daß sie
ihren Verstand von seiner Unschuld überzeugen sollten. Sie verzeihet ihm,
um der geheimen Neigung, die sie für ihn hegt, ein Genüge zu tun; aber
zugleich entsetzt sie ihn aller seiner Ehrenstellen, in Betrachtung
dessen, was sie sich selbst, als Königin, schuldig zu sein glaubt. Und
nun ist der Graf nicht länger vermögend, sich zu mäßigen; seine
Ungestümheit bricht los; er wirft den Stab zu ihren Füßen und bedient
sich verschiedner Ausdrücke, die zu sehr wie Vorwürfe klingen, als daß
sie den Zorn der Königin nicht aufs höchste treiben sollten. Auch
antwortet sie ihm darauf, wie es Zornigen sehr natürlich ist; ohne sich
um Anstand und Würde, ohne sich um die Folgen zu bekümmern: nämlich,
anstatt der Antwort, gibt sie ihm eine Ohrfeige. Der Graf greift nach dem
Degen; und nur der einzige Gedanke, daß es seine Königin, daß es nicht
sein König ist, der ihn geschlagen, mit einem Worte, daß es eine Frau
ist, von der er die Ohrfeige hat, hält ihn zurück, sich tätlich an ihr zu
vergehen. Southampton beschwört ihn, sich zu fassen; aber er wiederholt
seine ihr und dem Staate geleisteten Dienste nochmals und wirft dem
Burleigh und Raleigh ihren niederträchtigen Neid, sowie der Königin ihre
Ungerechtigkeit vor. Sie verläßt ihn in der äußersten Wut; und niemand
als Southampton bleibt bei ihm, der Freundschaft genug hat, sich itzt
eben am wenigsten von ihm trennen zu lassen. (Dritter Akt.)

Der Graf gerät über sein Unglück in Verzweiflung; er läuft wie unsinnig
in der Stadt herum, schreiet über das ihm angetane Unrecht und schmähet
auf die Regierung. Alles das wird der Königin, mit vielen Übertreibungen,
wiedergesagt, und sie gibt Befehl, sich der beiden Grafen zu versichern.
Es wird Mannschaft gegen sie ausgeschickt, sie werden gefangengenommen
und in den Tower in Verhaft gesetzt, bis daß ihnen der Prozeß gemacht
werden kann. Doch indes hat sich der Zorn der Königin gelegt und
günstigern Gedanken für den Essex wiederum Raum gemacht. Sie will ihn
also, ehe er zum Verhöre geht, allem, was man ihr dawider sagt, ungeachtet,
nochmals sehen; und da sie besorgt, seine Verbrechen möchten zu strafbar
befunden werden, so gibt sie ihm, um sein Leben wenigstens in Sicherheit
zu setzen, einen Ring, mit dem Versprechen, ihm gegen diesen Ring, sobald
er ihn ihr zuschicke, alles, was er verlangen würde, zu gewähren. Fast
aber bereuet sie es wieder, daß sie so gütig gegen ihn gewesen, als sie
gleich darauf erfährt, daß er mit der Rutland vermählt ist; und es von der
Rutland selbst erfährt, die für ihn um Gnade zu bitten kömmt. (Vierter Akt.)


----Fußnote

[1] S. den 26. und 30. Abend.

[2] "Cibber's Lives of the Engl. Poets", Vol. I. p. 147.

[3] "The Companion to the Theatre", Vol. II. p. 99.

----Fußnote



Fünfundfunfzigstes Stück
Den 10. November 1767

Was die Königin gefürchtet hatte, geschieht; Essex wird nach den Gesetzen
schuldig befunden und verurteilet, den Kopf zu verlieren; sein Freund
Southampton desgleichen. Nun weiß zwar Elisabeth, daß sie, als Königin,
den Verbrecher begnadigen kann; aber sie glaubt auch, daß eine solche
freiwillige Begnadigung auf ihrer Seite eine Schwäche verraten würde, die
keiner Königin gezieme; und also will sie so lange warten, bis er ihr den
Ring senden und selbst um sein Leben bitten wird. Voller Ungeduld indes,
daß es je eher je lieber geschehen möge, schickt sie die Nottingham zu
ihm und läßt ihn erinnern, an seine Rettung zu denken. Nottingham stellt
sich, das zärtlichste Mitleid für ihn zu fühlen; und er vertrauet ihr das
kostbare Unterpfand seines Lebens, mit der demütigsten Bitte an die
Königin, es ihm zu schenken. Nun hat Nottingham alles, was sie wünschet;
nun steht es bei ihr, sich wegen ihrer verachteten Liebe an dem Grafen zu
rächen. Anstatt also das auszurichten, was er ihr aufgetragen, verleumdet
sie ihn auf das boshafteste und malt ihn so stolz, so trotzig, so fest
entschlossen ab, nicht um Gnade zu bitten, sondern es auf das Äußerste
ankommen zu lassen, daß die Königin dem Berichte kaum glauben kann, nach
wiederholter Versicherung aber, voller Wut und Verzweiflung den Befehl
erteilet, das Urteil ohne Anstand an ihm zu vollziehen. Dabei gibt ihr
die boshafte Nottingham ein, den Grafen von Southampton zu begnadigen,
nicht weil ihr das Unglück desselben wirklich nahe geht, sondern weil sie
sich einbildet, daß Essex die Bitterkeit seiner Strafe um so viel mehr
empfinden werde, wenn er sieht, daß die Gnade, die man ihm verweigert,
seinem mitschuldigen Freunde nicht entstehe. In eben dieser Absicht rät
sie der Königin auch, seiner Gemahlin, der Gräfin von Rutland, zu
erlauben, ihn noch vor seiner Hinrichtung zu sehen. Die Königin williget
in beides, aber zum Unglücke für die grausame Ratgeberin; denn der Graf
gibt seiner Gemahlin einen Brief an die Königin, die sich eben in dem
Tower befindet und ihn kurz darauf, als man den Grafen abgeführet,
erhält. Aus diesem Briefe ersieht sie, daß der Graf der Nottingham den
Ring gegeben und sie durch diese Verräterin um sein Leben bitten lassen.
Sogleich schickt sie und läßt die Vollstreckung des Urteils untersagen;
doch Burleigh und Raleigh, denen sie aufgetragen war, hatten so sehr
damit geeilet, daß die Botschaft zu spät kömmt. Der Graf ist bereits tot.
Die Königin gerät vor Schmerz außer sich, verbannt die abscheuliche
Nottingham auf ewig aus ihren Augen und gibt allen, die sich als Feinde
des Grafen erwiesen hatten, ihren bittersten Unwillen zu erkennen."

Aus diesem Plane ist genugsam abzunehmen, daß der "Essex" des Banks ein
Stück von weit mehr Natur, Wahrheit und Übereinstimmung ist, als sich in
dem "Essex" des Corneille findet. Banks hat sich ziemlich genau an die
Geschichte gehalten, nur daß er verschiedne Begebenheiten näher zusammen
gerückt, und ihnen einen unmittelbarem Einfluß auf das endliche Schicksal
seines Helden gegeben hat. Der Vorfall mit der Ohrfeige ist ebensowenig
erdichtet, als der mit dem Ringe; beide finden sich, wie ich schon
angemerkt, in der Historie, nur jener weit früher und bei einer ganz
andern Gelegenheit; so wie es auch von diesem zu vermuten. Denn es ist
begreiflicher, daß die Königin dem Grafen den Ring zu einer Zeit gegeben,
da sie mit ihm vollkommen zufrieden war, als daß sie ihm dieses
Unterpfand ihrer Gnade itzt erst sollte geschenkt haben, da er sich ihrer
eben am meisten verlustig gemacht hatte und der Fall, sich dessen zu
gebrauchen, schon wirklich da war. Dieser Ring sollte sie erinnern, wie
teuer ihr der Graf damals gewesen, als er ihn von ihr erhalten; und diese
Erinnerung sollte ihm alsdann alle das Verdienst wiedergeben, welches er
unglücklicherweise in ihren Augen etwa könnte verloren haben. Aber was
braucht es dieses Zeichens, dieser Erinnerung von heute bis auf morgen?
Glaubt sie ihrer günstigen Gesinnungen auch auf so wenige Stunden nicht
mächtig zu sein, daß sie sich mit Fleiß auf eine solche Art fesseln will?
Wenn sie ihm im Ernste vergeben hat, wenn ihr wirklich an seinem Leben
gelegen ist: wozu das ganze Spiegelgefechte? Warum konnte sie es bei den
mündlichen Versicherungen nicht bewenden lassen? Gab sie den Ring, bloß
um den Grafen zu beruhigen; so verbindet er sie, ihm ihr Wort zu halten,
er mag wieder in ihre Hände kommen oder nicht. Gab sie ihn aber, um durch
die Wiedererhaltung desselben von der fortdauernden Reue und Unterwerfung
des Grafen versichert zu sein: wie kann sie in einer so wichtigen Sache
seiner tödlichsten Feindin glauben? Und hatte sich die Nottingham nicht
kurz zuvor gegen sie selbst als eine solche bewiesen?

So wie Banks also den Ring gebraucht hat, tut er nicht die beste Wirkung.
Mich dünkt, er würde eine weit bessere tun, wenn ihn die Königin ganz
vergessen hätte und er ihr plötzlich, aber auch zu spät, eingehändiget
würde, indem sie eben von der Unschuld oder wenigstens geringern Schuld
des Grafen noch aus andern Gründen überzeugt würde. Die Schenkung des
Ringes hätte vor der Handlung des Stücks lange müssen vorhergegangen
sein, und bloß der Graf hätte darauf rechnen müssen, aber aus Edelmut
nicht eher Gebrauch davon machen wollen, als bis er gesehen, daß man auf
seine Rechtfertigung nicht achte, daß die Königin zu sehr wider ihn
eingenommen sei, als daß er sie zu überzeugen hoffen könne, daß er sie
also zu bewegen suchen müsse. Und indem sie so bewegt würde, müßte die
Überzeugung dazu kommen; die Erkennung seiner Unschuld und die Erinnerung
ihres Versprechens, ihn auch dann, wenn er schuldig sein sollte, für
unschuldig gelten zu lassen, müßten sie auf einmal überraschen, aber
nicht eher überraschen, als bis es nicht mehr in ihrem Vermögen stehet,
gerecht und erkenntlich zu sein.

Viel glücklicher hat Banks die Ohrfeige in sein Stück eingeflochten.--
Aber eine Ohrfeige in einem Trauerspiele! Wie englisch, wie unanständig!
Ehe meine feinern Leser zu sehr darüber spotten, bitte ich sie, sich der
Ohrfeige im "Cid" zu erinnere. Die Anmerkung, die der Hr. von Voltaire
darüber gemacht hat, ist in vielerlei Betrachtung merkwürdig.
"Heutzutage", sagt er, "dürfte man es nicht wagen, einem Helden eine
Ohrfeige geben zu lassen. Die Schauspieler selbst wissen nicht, wie sie
sich dabei anstellen sollen; sie tun nur, als ob sie eine gäben. Nicht
einmal in der Komödie ist so etwas mehr erlaubt; und dieses ist das
einzige Exempel, welches man auf der tragischen Bühne davon hat. Es ist
glaublich, daß man unter andern mit deswegen den 'Cid' eine Tragikomödie
betitelte; und damals waren fast alle Stücke des Scudéry und des
Boisrobert Tragikomödien. Man war in Frankreich lange der Meinung
gewesen, daß sich das ununterbrochne Tragische, ohne alle Vermischung mit
gemeinen Zügen, gar nicht aushalten lasse. Das Wort Tragikomödie selbst
ist sehr alt; Plautus braucht es, seinen 'Amphitruo' damit zu bezeichnen,
weil das Abenteuer des Sosias zwar komisch, Amphitruo selbst aber in
allem Ernste betrübt ist."--Was der Herr von Voltaire nicht alles
schreibt! Wie gern er immer ein wenig Gelehrsamkeit zeigen will, und wie
sehr er meistenteils damit verunglückt!

Es ist nicht wahr, daß die Ohrfeige im "Cid" die einzige auf der
tragischen Bühne ist. Voltaire hat den "Essex" des Banks entweder nicht
gekannt, oder vorausgesetzt, daß die tragische Bühne seiner Nation allein
diesen Namen verdiene. Unwissenheit verrät beides; und nur das letztere
noch mehr Eitelkeit, als Unwissenheit. Was er von dem Namen der
Tragikomödie hinzufügt, ist ebenso unrichtig. Tragikomödie hieß die
Vorstellung einer wichtigen Handlung unter vornehmen Personen, die einen
vergnügten Ausgang hat; das ist der "Cid", und die Ohrfeige kam dabei gar
nicht in Betrachtung; denn dieser Ohrfeige ungeachtet, nannte Corneille
hernach sein Stück eine Tragödie, sobald er das Vorurteil abgelegt hatte,
daß eine Tragödie notwendig eine unglückliche Katastrophe haben müsse.
Plautus braucht zwar das Wort Tragicocomoedia: aber er braucht es bloß im
Scherze; und gar nicht, um eine besondere Gattung damit zu bezeichnen.
Auch hat es ihm in diesem Verstande kein Mensch abgeborgt, bis es in dem
sechzehnten Jahrhunderte den spanischen und italienischen Dichtem
einfiel, gewisse von ihren dramatischen Mißgeburten so zu nennen.[1] Wenn
aber auch Plautus seinen "Amphitruo" im Ernste so genannt hätte, so wäre
es doch nicht aus der Ursache geschehen, die ihm Voltaire andichtet.
Nicht weil der Anteil, den Sosias an der Handlung nimmt, komisch, und
der, den Amphitruo daran nimmt, tragisch ist: nicht darum hätte Plautus
sein Stück lieber eine Tragikomödie nennen wollen. Denn sein Stück ist
ganz komisch, und wir belustigen uns an der Verlegenheit des Amphitruo
ebensosehr, als an des Sosias seiner. Sondern darum, weil diese komische
Handlung größtenteils unter höhern Personen vorgehet, als man in der
Komödie zu sehen gewohnt ist. Plautus selbst erklärt sich darüber
deutlich genug:

    Faciam ut commixta sit Tragico-comoedia:
    Nam me perpetuo facere ut sit Comoedia
    Reges quo veniant et di, non par arbitror.
    Quid igitur? quoniam hic servus quoque partes habet,
    Faciam hanc, proinde ut dixi, Tragico-comoediam.


----Fußnote

[1] Ich weiß zwar nicht, wer diesen Namen eigentlich zuerst gebraucht
hat; aber das weiß ich gewiß, daß es Garnier nicht ist. Hédelin sagte: Je
ne sais, si Garnier fut le premier qui s'en servit, mais il a fait porter
ce titre à sa "Bradamante", ce que depuis plusieurs ont imité. (Prât. du
Th. Liv. II. ch. 10.) Und dabei hätten es die Geschichtschreiber des
französischen Theaters auch nur sollen bewenden lassen. Aber sie machen
die leichte Vermutung des Hédelins zur Gewißheit und gratulieren ihrem
Landsmanne zu einer so schönen Erfindung. Voici la première
Tragi-Comedie, ou, pour mieux dire, le premier poème du Théâtre qui a
porté ce titre--Garnier ne connaissait pas assez les finesses de l'art
qu'il professait; tenons-lui cependant compte d'avoir le premier, et sans
les secours des Anciens, ni de ses contemporains, fait entrevoir une
idée, qui n'a pas été inutile à beaucoup d'Auteurs du dernier siècle.
Garniers "Bradamante" ist von 1582, und ich kenne eine Menge weit frühere
spanische und italienische Stücke, die diesen Titel führen.

----Fußnote



Sechsundfunfzigstes Stück
Den 13. November 1767

Aber wiederum auf die Ohrfeige zu kommen.--Einmal ist es doch nun so, daß
eine Ohrfeige, die ein Mann von Ehre von seinesgleichen oder von einem
Höhern bekömmt, für eine so schimpfliche Beleidigung gehalten wird, daß
alle Genugtuung, die ihm die Gesetze dafür verschaffen können, vergebens
ist. Sie will nicht von einem dritten bestraft, sie will von dem
Beleidigten selbst gerächet, und auf eine ebenso eigenmächtige Art
gerächet sein, als sie erwiesen worden. Ob es die wahre oder die falsche
Ehre ist, die dieses gebietet, davon ist hier die Rede nicht. Wie gesagt,
es ist nun einmal so. Und wenn es nun einmal in der Welt so ist: warum
soll es nicht auch auf dem Theater so sein? Wenn die Ohrfeigen dort im
Gange sind: warum nicht auch hier?

"Die Schauspieler", sagt der Herr von Voltaire, "wissen nicht, wie sie
sich dabei anstellen sollen." Sie wüßten es wohl; aber man will eine
Ohrfeige auch nicht einmal gern im fremden Namen haben. Der Schlag setzt
sie in Feuer; die Person erhält ihn, aber sie fühlen ihn; das Gefühl hebt
die Verstellung auf; sie geraten aus ihrer Fassung; Scham und Verwirrung
äußert sich wider Willen auf ihrem Gesichte; sie sollten zornig aussehen,
und sie sehen albern aus; und jeder Schauspieler, dessen eigene
Empfindungen mit seiner Rolle in Kollision kommen, macht uns zu lachen.

Es ist dieses nicht der einzige Fall, in welchem man die Abschaffung der
Masken bedauern möchte. Der Schauspieler kann ohnstreitig unter der Maske
mehr Kontenance halten; seine Person findet weniger Gelegenheit
auszubrechen; und wenn sie ja ausbricht, so werden wir diesen Ausbruch
weniger gewahr.

Doch der Schauspieler verhalte sich bei der Ohrfeige, wie er will: Der
dramatische Dichter arbeitet zwar für den Schauspieler, aber er muß sich
darum nicht alles versagen, was diesem weniger tulich und bequem ist.
Kein Schauspieler kann rot werden, wenn er will: aber gleichwohl darf es
ihm der Dichter vorschreiben; gleichwohl darf er den einen sagen lassen,
daß er es den andern werden sieht. Der Schauspieler will sich nicht ins
Gesichte schlagen lassen; er glaubt, es mache ihn verächtlich; es
verwirrt ihn; es schmerzt ihn: recht gut! Wenn er es in seiner Kunst so
weit noch nicht gebracht hat, daß ihn so etwas nicht verwirret; wenn er
seine Kunst so sehr nicht liebet, daß er sich, ihr zum Besten, eine
kleine Kränkung will gefallen lassen: so suche er über die Stelle so gut
wegzukommen, als er kann; er weiche dem Schlage aus; er halte die Hand
vor; nur verlange er nicht, daß sich der Dichter seinetwegen mehr
Bedenklichkeiten machen soll, als er sich der Person wegen macht, die
er ihn vorstellen läßt. Wenn der wahre Diego, wenn der wahre Essex eine
Ohrfeige hinnehmen muß: was wollen ihre Repräsentanten dawider
einzuwenden haben?

Aber der Zuschauer will vielleicht keine Ohrfeige geben sehen? Oder
höchstens nur einem Bedienten, den sie nicht besonders schimpft, für den
sie eine seinem Stande angemessene Züchtigung ist? Einem Helden hingegen,
einem Helden eine Ohrfeige! wie klein, wie unanständig!--Und wenn sie
das nun eben sein soll? Wenn eben diese Unanständigkeit die Quelle der
gewaltsamsten Entschließungen, der blutigsten Rache werden soll, und
wird? Wenn jede geringere Beleidigung diese schreckliche Wirkungen nicht
hätte haben können? Was in seinen Folgen so tragisch werden kann, was
unter gewissen Personen notwendig so tragisch werden muß, soll dennoch
aus der Tragödie ausgeschlossen sein, weil es auch in der Komödie, weil
es auch in dem Possenspiele Platz findet? Worüber wir einmal lachen,
sollen wir ein andermal nicht erschrecken können?

Wenn ich die Ohrfeige aus einer Gattung des Drama verbannt wissen möchte,
so wäre es aus der Komödie. Denn was für Folgen kann sie da haben?
Traurige? die sind über ihrer Sphäre. Lächerliche? die sind unter ihr und
gehören dem Possenspiele. Gar keine? so verlohnte es nicht der Mühe, sie
geben zu lassen. Wer sie gibt, wird nichts als pöbelhafte Hitze, und wer
sie bekömmt, nichts als knechtische Kleinmut verraten. Sie verbleibt also
den beiden Extremis, der Tragödie und dem Possenspiele; die mehrere
dergleichen Dinge gemein haben, über die wir entweder spotten oder
zittern wollen.

Und ich frage jeden, der den "Cid" vorstellen sehen oder ihn mit einiger
Aufmerksamkeit auch nur gelesen, ob ihn nicht ein Schauder überlaufen,
wenn der großsprecherische Gormas den alten würdigen Diego zu schlagen
sich erdreistet? Ob er nicht das empfindlichste Mitleid für diesen, und
den bittersten Unwillen gegen jenen empfunden? Ob ihm nicht auf einmal
alle die blutigen und traurigen Folgen, die diese schimpfliche Begegnung
nach sich ziehen müsse, in die Gedanken geschossen und ihn mit Erwartung
und Furcht erfüllet? Gleichwohl soll ein Vorfall, der alle diese Wirkung
auf ihn hat, nicht tragisch sein?

Wenn jemals bei dieser Ohrfeige gelacht worden, so war es sicherlich von
einem auf der Galerie, der mit den Ohrfeigen zu bekannt war und eben itzt
eine von seinem Nachbar verdient hätte. Wen aber die ungeschickte Art,
mit der sich der Schauspieler etwa dabei betrug, wider Willen zu lächeln
machte, der biß sich geschwind in die Lippe und eilte, sich wieder in die
Täuschung zu versetzen, aus der fast jede gewaltsamere Handlung den
Zuschauer mehr oder weniger zu bringen pflegt.

Auch frage ich, welche andere Beleidigung wohl die Stelle der Ohrfeige
vertreten könnte? Für jede andere würde es in der Macht des Königs
stehen, dem Beleidigten Genugtunung zu schaffen; für jede andere würde
sich der Sohn weigern dürfen, seinem Vater den Vater seiner Geliebten
aufzuopfern. Für diese einzige läßt das Pundonor weder Entschuldigung
noch Abbitte gelten; und alle gütliche Wege, die selbst der Monarch dabei
einleiten will, sind fruchtlos. Corneille ließ nach dieser Denkungsart
den Gormas, wenn ihm der König andeuten läßt, den Diego
zufriedenzustellen, sehr wohl antworten:

    Ces satisfactions n'apaisent point une âme:
    Qui les reçoit n'a rien, qui les fait se diffame.
    Et de tous ces accords l'effet le plus commun,
    C'est de déshonorer deux hommes au lieu d'un.

Damals war in Frankreich das Edikt wider die Duelle nicht lange ergangen,
dem dergleichen Maximen schnurstracks zuwiderliefen. Corneille erhielt
also zwar Befehl, die ganzen Zeilen wegzulassen; und sie wurden aus dem
Munde der Schauspieler verbannt. Aber jeder Zuschauer ergänzte sie aus
dem Gedächtnisse und aus seiner Empfindung.

In dem "Essex" wird die Ohrfeige dadurch noch kritischer, daß sie eine
Person gibt, welche die Gesetze der Ehre nicht verbinden. Sie ist Frau
und Königin; was kann der Beleidigte mit ihr anfangen? Über die
handfertige wehrhafte Frau würde er spotten; denn eine Frau kann weder
schimpfen noch schlagen. Aber diese Frau ist zugleich der Souverän,
dessen Beschimpfungen unauslöschlich sind, da sie von seiner Würde eine
Art von Gesetzmäßigkeit erhalten. Was kann also natürlicher scheinen,
als daß Essex sich wider diese Würde selbst auflehnet und gegen die Höhe
tobet, die den Beleidiger seiner Rache entzieht? Ich wüßte wenigstens
nicht, was seine letzten Vergehungen sonst wahrscheinlich hätte machen
können. Die bloße Ungnade, die bloße Entsetzung seiner Ehrenstellen
konnte und durfte ihn so weit nicht treiben. Aber durch eine so
knechtische Behandlung außer sich gebracht, sehen wir ihn alles, was
ihm die Verzweiflung eingibt, zwar nicht mit Billigung, doch mit
Entschuldigung unternehmen. Die Königin selbst muß ihn aus diesem
Gesichtspunkte ihrer Verzeihung würdig erkennen; und wir haben so
ungleich mehr Mitleid mit ihm, als er uns in der Geschichte zu verdienen
scheinet, wo das, was er hier in der ersten Hitze der gekränkten Ehre
tut, aus Eigennutz und andern niedrigen Absichten geschieht.

Der Streit, sagt die Geschichte, bei welchem Essex die Ohrfeige erhielt,
war über die Wahl eines Königs von Irland. Als er sahe, daß die Königin
auf ihrer Meinung beharrte, wandte er ihr mit einer sehr verächtlichen
Gebärde den Rücken. In dem Augenblicke fühlte er ihre Hand, und seine
fuhr nach dem Degen. Er schwur, daß er diesen Schimpf weder leiden könne
noch wolle; daß er ihn selbst von ihrem Vater Heinrich nicht würde
erduldet haben: und so begab er sich vom Hofe. Den Brief, den er an den
Kanzler Egerton über diesen Vorfall schrieb, ist mit dem würdigsten
Stolze abgefaßt, und er schien fest entschlossen, sich der Königin nie
wieder zu nähern. Gleichwohl finden wir ihn bald darauf wieder in ihrer
völligen Gnade und in der völligen Wirksamkeit eines ehrgeizigen Lieblings.
Diese Versöhnlichkeit, wenn sie ernstlich war, macht uns eine sehr
schlechte Idee von ihm; und keine viel bessere, wenn sie Verstellung war.
In diesem Falle war er wirklich ein Verräter, der sich alles gefallen ließ,
bis er den rechten Zeitpunkt gekommen zu sein glaubte. Ein elender Weinpacht,
den ihm die Königin nahm, brachte ihn am Ende weit mehr auf, als die
Ohrfeige; und der Zorn über diese Verschmälerung seiner Einkünfte verblendete
ihn so, daß er ohne alle Überlegung losbrach. So finden wir ihn in der
Geschichte, und verachten ihn. Aber nicht so bei dem Banks, der seinen
Aufstand zu der unmittelbaren Folge der Ohrfeige macht und ihm weiter keine
treulosen Absichten gegen seine Königin beilegt. Sein Fehler ist der Fehler
einer edeln Hitze, den er bereuet, der ihm vergeben wird, und der bloß durch
die Bosheit seiner Feinde der Strafe nicht entgeht, die ihm geschenkt war.



Siebenundfunfzigstes Stück
Den 17. November 1767

Banks hat die nämlichen Worte beibehalten, die Essex über die Ohrfeige
ausstieß. Nur daß er ihn dem einen Heinriche noch alle Heinriche in der
Welt, mitsamt Alexandern, beifügen läßt.[1] Sein Essex ist überhaupt
zuviel Prahler; und es fehlet wenig, daß er nicht ein ebenso großer
Gasconier ist als der Essex des Gasconiers Calprenède. Dabei erträgt er
sein Unglück viel zu kleinmütig und ist bald gegen die Königin ebenso
kriechend, als er vorher vermessen gegen sie war. Banks hat ihn zu sehr
nach dem Leben geschildert. Ein Charakter, der sich so leicht vergißt,
ist kein Charakter, und eben daher der dramatischen Nachahmung unwürdig.
In der Geschichte kann man dergleichen Widersprüche mit sich selbst für
Verstellung halten, weil wir in der Geschichte doch selten das Innerste
des Herzens kennenlernen: aber in dem Drama werden wir mit dem Helden
allzu vertraut, als daß wir nicht gleich wissen sollten, ob seine
Gesinnungen wirklich mit den Handlungen, die wir ihm nicht zugetrauet
hätten, übereinstimmen oder nicht. Ja, sie mögen es, oder sie mögen es
nicht: der tragische Dichter kann ihn in beiden Fällen nicht recht
nutzen. Ohne Verstellung fällt der Charakter weg; bei der Verstellung die
Würde desselben.

Mit der Elisabeth hat er in diesen Fehler nicht fallen können. Diese Frau
bleibt sich in der Geschichte immer so vollkommen gleich, als es wenige
Männer bleiben. Ihre Zärtlichkeit selbst, ihre heimliche Liebe zu dem
Essex hat er mit vieler Anständigkeit behandelt; sie ist auch bei ihm
gewissermaßen noch ein Geheimnis. Seine Elisabeth klagt nicht, wie die
Elisabeth des Corneille, über Kälte und Verachtung, über Glut und
Schicksal; sie spricht von keinem Gifte, das sie verzehre; sie jammert
nicht, daß ihr der Undankbare eine Suffolk vorziehe, nachdem sie ihm doch
deutlich genug zu verstehen gegeben, daß er um sie allein seufzen solle,
usw. Keine von diesen Armseligkeiten kömmt über ihre Lippen. Sie spricht
nie als eine Verliebte; aber sie handelt so. Man hört es nie, aber man
sieht es, wie teuer ihr Essex ehedem gewesen, und noch ist. Einige Funken
Eifersucht verraten sie; sonst würde man sie schlechterdings für nichts,
als für seine Freundin halten können.

Mit welcher Kunst aber Banks ihre Gesinnungen gegen den Grafen in Aktion
zu setzen gewußt, das können folgende Szenen des dritten Aufzuges zeigen.
--Die Königin glaubt sich allein und überlegt den unglücklichen Zwang
ihres Standes, der ihr nicht erlaube, nach der wahren Neigung ihres
Herzens zu handeln. Indem wird sie die Nottingham gewahr, die ihr
nachgekommen.--

"Die Königin. Du hier, Nottingham? Ich glaubte, ich sei allein.

Nottingham. Verzeihe, Königin, daß ich so kühn bin. Und doch
befiehlt mir meine Pflicht, noch kühner zu sein.--Dich bekümmert
etwas. Ich muß fragen,--aber erst auf meinen Knien Dich um Verzeihung
bitten, daß ich es frage--Was ist's, das Dich bekümmert? Was ist es,
das diese erhabene Seele so tief herabbeuget?--Oder ist Dir nicht
wohl?

Die Königin. Steh auf, ich bitte dich.--Mir ist ganz wohl.--Ich danke
dir für deine Liebe.--Nur unruhig, ein wenig unruhig bin ich,--meines
Volkes wegen. Ich habe lange regiert, und ich fürchte, ihm nur zu
lange. Es fängt an, meiner überdrüssig zu werden.--Neue Kronen sind
wie neue Kränze; die frischesten sind die lieblichsten. Meine Sonne
neiget sich; sie hat in ihrem Mittage zu sehr gewärmet; man fühlet
sich zu heiß; man wünscht, sie wäre schon untergegangen.--Erzähle mir
doch, was sagt man von der Überkunft des Essex?

Nottingham.--Von seiner Überkunft--sagt man--nicht das Beste. Aber
von ihm--er ist für einen so tapfern Mann bekannt--

Die Königin. Wie? tapfer? da er mir so dienet?--Der Verräter!

Nottingham. Gewiß, es war nicht gut--

Die Königin. Nicht gut! nicht gut?--Weiter nichts?

Nottingham. Es war eine verwegene, frevelhafte Tat.

Die Königin. Nicht wahr, Nottingham?--Meinen Befehl so gering zu
schätzen! Er hätte den Tod dafür verdient.--Weit geringere Verbrechen
haben hundert weit geliebtern Lieblingen den Kopf gekostet.--

Nottingham. Jawohl.--Und doch sollte Essex, bei soviel größerer
Schuld, mit geringerer Strafe davonkommen? Er sollte nicht sterben?

Die Königin. Er soll!--Er soll sterben, und in den empfindlichsten
Martern soll er sterben!--Seine Pein sei, wie seine Verräterei, die
größte von allen!--Und dann will ich seinen Kopf und seine Glieder,
nicht unter den finstern Toren, nicht auf den niedrigen Brücken, auf
den höchsten Zinnen will ich sie aufgesteckt wissen, damit jeder, der
vorübergeht, sie erblicke und ausrufe: Siehe da, den stolzen,
undankbaren Essex! Diesen Essex, welcher der Gerechtigkeit seiner
Königin trotzte!--Wohl getan! Nicht mehr, als er verdiente!--Was
sagst du, Nottingham? Meinest du nicht auch?--du schweigst?--Warum
schweigst du? Willst du ihn noch vertreten?

Nottingham. Weil Du es denn befiehlst, Königin, so will ich Dir alles
sagen, was die Welt von diesem stolzen, undankbaren Manne spricht.--

Die Königin. Tu das!--Laß hören: was sagt die Welt von ihm und mir?

Nottingham. Von Dir, Königin?--Wer ist es, der von Dir nicht mit
Entzücken und Bewunderung spräche? Der Nachruhm eines verstorbenen
Heiligen ist nicht lauterer, als Dein Lob, von dem aller Zungen
ertönen. Nur dieses einzige wünschet man, und wünschet es mit den
heißesten Tränen, die aus der reinsten Liebe gegen Dich entspringen,
--dieses einzige, daß Du geruhen möchtest, ihren Beschwerden gegen
diesen Essex abzuhelfen, einen solchen Verräter nicht länger zu
schützen, ihn nicht länger der Gerechtigkeit und der Schande
vorzuenthalten, ihn endlich der Rache zu überliefern--

Die Königin. Wer hat mir vorzuschreiben?

Nottingham. Dir vorzuschreiben!--Schreibet man dem Himmel vor, wenn
man ihn in tiefester Unterwerfung anflehet?--Und so flehet Dich alles
wider den Mann an, dessen Gemütsart so schlecht, so boshaft ist, daß
er es auch nicht der Mühe wert achtet, den Heuchler zu spielen.--Wie
stolz! wie aufgeblasen! Und wie unartig, pöbelhaft stolz; nicht
anders als ein elender Lakai auf seinen bunten verbrämten Rock!--Daß
er tapfer ist, räumt man ihm ein; aber so, wie es der Wolf oder der
Bär ist, blind zu, ohne Plan und Vorsicht. Die wahre Tapferkeit,
welche eine edle Seele über Glück und Unglück erhebt, ist fern von
ihm. Die geringste Beleidigung bringt ihn auf; er tobt und raset über
ein Nichts; alles soll sich vor ihm schmiegen; überall will er allein
glänzen, allein hervorragen. Luzifer selbst, der den ersten Samen des
Lasters in dem Himmel ausstreuete, war nicht ehrgeiziger und
herrschsüchtiger, als er. Aber, so wie dieser aus dem Himmel stürzte--

Die Königin. Gemach, Nottingham, gemach!--Du eiferst dich ja ganz aus
dem Atem.--Ich will nichts mehr hören--(beiseite) Gift und Blattern
auf ihre Zunge!--Gewiß, Nottingham, du solltest dich schämen, so etwas
auch nur nachzusagen; dergleichen Niederträchtigkeiten des boshaften
Pöbels zu wiederholen. Und es ist nicht einmal wahr, daß der Pöbel
das sagt. Er denkt es auch nicht. Aber ihr, ihr wünscht, daß er es
sagen möchte.

Nottingham. Ich erstaune, Königin--

Die Königin. Worüber?

Nottingham. Du gebotest mir selbst, zu reden--

Die Königin. Ja, wenn ich es nicht bemerkt hätte, wie gewünscht dir
dieses Gebot kam! wie vorbereitet du darauf warest! Auf einmal
glühte dein Gesicht, flammte dein Auge; das volle Herz freute sich,
überzufließen, und jedes Wort, jede Gebärde hatte seinen längst
abgezielten Pfeil, deren jeder mich mit trifft.

Nottingham. Verzeihe, Königin, wenn ich in dem Ausdrucke meine
Schuldigkeit gefehlet habe. Ich maß ihn nach Deinem ab.

Die Königin. Nach meinem?--Ich bin seine Königin. Mir steht es frei,
dem Dinge, das ich geschaffen habe, mitzuspielen, wie ich will.--Auch
hat er sich der gräßlichsten Verbrechen gegen meine Person schuldig
gemacht. Mich hat er beleidiget; aber nicht dich.--Womit könnte dich
der arme Mann beleidiget haben? Du hast keine Gesetze, die er
übertreten, keine Untertanen, die er bedrücken, keine Krone, nach der
er streben könnte. Was findest du denn also für ein grausames
Vergnügen, einen Elenden, der ertrinken will, lieber noch auf den Kopf
zu schlagen, als ihm die Hand zu reichen?

Nottingham. Ich bin zu tadeln--

Die Königin. Genug davon!--Seine Königin, die Welt, das Schicksal
selbst erklärt sich wider diesen Mann, und doch scheinet er dir kein
Mitleid, keine Entschuldigung zu verdienen?--

Nottingham. Ich bekenne es, Königin,

Die Königin. Geh, es sei dir vergeben!--Rufe mir gleich die Rutland
her.--"


----Fußnote

[1] Act. III.

    --By all
    The Subtilty, and Woman in your Sex,
    I swear, that had you been a Man, you durst not,
    Nay, your bold Father Harry durst not this
    Have done--Why say I him? Not all the Harrys,
    Not Alexander self, were he alive,
    Should boast of such a deed on Essex done
    Without revenge.--

----Fußnote



Achtundfunfzigstes Stück
Den 20. November 1767

Nottingham geht, und bald darauf erscheinet Rutland. Man erinnere sich,
daß Rutland, ohne Wissen der Königin, mit dem Essex vermählt ist.

"Die Königin. Kömmst du, liebe Rutland? Ich habe nach dir geschickt.
--Wie ist's? Ich finde dich seit einiger Zeit so traurig. Woher diese
trübe Wolke, die dein holdes Auge umziehet? Sei munter, liebe Rutland;
ich will dir einen wackern Mann suchen.

Rutland. Großmütige Frau!--Ich verdiene es nicht, daß meine Königin
so gnädig auf mich herabsiehet.

Die Königin. Wie kannst du so reden?--Ich liebe dich; jawohl liebe
ich dich.--Du sol1st es daraus schon sehen!--Eben habe ich mit der
Nottingham, der widerwärtigen!--einen Streit gehabt; und zwar--über
Mylord Essex.

Rutland. Ha!

Die Königin. Sie hat mich recht sehr geärgert. Ich konnte sie nicht
länger vor Augen sehen.

Rutland (beiseite). Wie fahre ich bei diesem teuern Namen zusammen!
Mein Gesicht wird mich verraten. Ich fühl' es; ich werde blaß--und
wieder rot.--

Die Königin. Was ich dir sage, macht dich erröten?--

Rutland. Dein so überraschendes, gütiges Vertrauen, Königin,--

Die Königin. Ich weiß, daß du mein Vertrauen verdienest.--Komm,
Rutland, ich will dir alles sagen. Du sol1st mir raten.--Ohne Zweifel,
liebe Rutland, wirst du es auch gehört haben, wie sehr das Volk wider
den armen, unglücklichen Mann schreiet; was für Verbrechen es ihm zur
Last leget. Aber das Schlimmste weißt du vielleicht noch nicht? Er
ist heute aus Irland angekommen; wider meinen ausdrücklichen Befehl;
und hat die dortigen Angelegenheiten in der größten Verwirrung
gelassen.

Rutland. Darf ich Dir, Königin, wohl sagen, was ich denke?--Das
Geschrei des Volkes ist nicht immer die Stimme der Wahrheit. Sein Haß
ist öfters so ungegründet--

Die Königin. Du sprichst die wahren Gedanken meiner Seele.--Aber,
liebe Rutland, er ist demohngeachtet zu tadeln.--Komm her, meine
Liebe; laß mich an deinen Busen mich lehnen.--O gewiß, man legt mir
es zu nahe! Nein, so will ich mich nicht unter ihr Joch bringen lassen.
Sie vergessen, daß ich ihre Königin bin.--Ah, Liebe; so ein Freund hat
mir längst gefehlt, gegen den ich so meinen Kummer ausschütten kann!--

Rutland. Siehe meine Tränen, Königin--Dich so leiden zu sehen, die
ich so bewundere!--Oh, daß mein guter Engel Gedanken in meine Seele,
und Worte auf meine Zunge legen wollte, den Sturm in Deiner Brust zu
beschwören, und Balsam in Deine Wunden zu gießen!

Die Königin. Oh, so wärest du mein guter Engel! mitleidige, beste
Rutland!--Sage, ist es nicht schade, daß so ein braver Mann ein
Verräter sein soll? daß so ein Held, der wie ein Gott verehret ward,
sich so erniedrigen kann, mich um einen kleinen Thron bringen zu
wollen?

Rutland. Das hätte er gewollt? das könnte er wollen? Nein, Königin,
gewiß nicht, gewiß nicht! Wie oft habe ich ihn von Dir sprechen hören!
mit welcher Ergebenheit, mit welcher Bewunderung, mit welchem
Entzücken habe ich ihn von Dir sprechen hören!

Die Königin. Hast du ihn wirklich von mir sprechen hören?

Rutland. Und immer als einen Begeisterten, aus dem nicht kalte
Überlegung, aus dem ein inneres Gefühl spricht, dessen er nicht
mächtig ist. Sie ist, sagte er, die Göttin ihres Geschlechts, so weit
über alle andere Frauen erhaben, daß das, was wir in diesen am meisten
bewundern, Schönheit und Reiz, in ihr nur die Schatten sind, ein
größeres Licht dagegen abzusetzen. Jede weibliche Vollkommenheit
verliert sich in ihr, wie der schwache Schimmer eines Sternes in dem
alles überströmenden Glanze des Sonnenlichts. Nichts übersteigt ihre
Güte; die Huld selbst beherrschet, in ihrer Person, diese glückliche
Insel; ihre Gesetze sind aus dem ewigen Gesetzbuche des Himmels
gezogen und werden dort von Engeln wieder aufgezeichnet.--Oh,
unterbrach er sich dann mit einem Seufzer, der sein ganzes getreues
Herz ausdrückte, oh, daß sie nicht unsterblich sein kann! Ich wünsche
ihn nicht zu erleben, den schrecklichen Augenblick, wenn die Gottheit
diesen Abglanz von sich zurückruft und mit eins sich Nacht und
Verwirrung über Britannien verbreiten.

Die Königin. Sagte er das, Rutland?

Rutland. Das, und weit mehr. Immer so neu, als wahr in Deinem Lobe,
dessen unversiegene Quelle von den lautersten Gesinnungen gegen Dich
überströmte--

Die Königin. Oh, Rutland, wie gern glaube ich dem Zeugnisse, das du
ihm gibst!

Rutland. Und kannst ihn noch für einen Verräter halten?

Die Königin. Nein;--aber doch hat er die Gesetze übertreten.--Ich muß
mich schämen, ihn länger zu schützen.--Ich darf es nicht einmal wagen,
ihn zu sehen.

Rutland. Ihn nicht zu sehen, Königin? nicht zu sehen?--Bei dem
Mitleid, das seinen Thron in Deiner Seele aufgeschlagen, beschwöre
ich Dich,--Du mußt ihn sehen! Schämen? wessen? daß Du mit einem
Unglücklichen Erbarmen hast?--Gott hat Erbarmen: und Erbarmen sollte
Könige schimpfen?--Nein, Königin; sei auch hier Dir selbst gleich.
Ja, Du wirst es; Du wirst ihn sehen, wenigstens einmal sehen--

Die Königin. Ihn, der meinen ausdrücklichen Befehl so geringschätzen
können? Ihn, der sich so eigenmächtig vor meine Augen drängen darf?
Warum blieb er nicht, wo ich ihm zu bleiben befahl?

Rutland. Rechne ihm dieses zu keinem Verbrechen! Gib die Schuld der
Gefahr, in der er sich sahe. Er hörte, was hier vorging; wie sehr man
ihn zu verkleinern, ihn Dir verdächtig zu machen suche. Er kam also,
zwar ohne Erlaubnis, aber in der besten Absicht; in der Absicht, sich
zu rechtfertigen und Dich nicht hintergehen zu lassen.

Die Königin. Gut; so will ich ihn denn sehen, und will ihn gleich
sehen.--Oh, meine Rutland, wie sehr wünsche ich es, ihn noch immer
ebenso rechtschaffen zu finden, als tapfer ich ihn kenne!

Rutland. Oh, nähre diese günstige Gedanke! Deine königliche Seele
kann keine gerechtere hegen.--Rechtschaffen! So wirst Du ihn gewiß
finden. Ich wollte für ihn schwören; bei aller Deiner Herrlichkeit
für ihn schwören, daß er es nie aufgehöret zu sein. Seine Seele ist
reiner als die Sonne, die Flecken hat und irdische Dünste an sich
ziehet und Geschmeiß ausbrütet.--Du sagst, er ist tapfer; und wer sagt
es nicht? Aber ein tapferer Mann ist keiner Niederträchtigkeit fähig.
Bedenke, wie er die Rebellen gezüchtiget; wie furchtbar er Dich dem
Spanier gemacht, der vergebens die Schätze seiner Indien wider Dich
verschwendete. Sein Name floh vor Deinen Flotten und Völkern vorher,
und ehe diese noch eintrafen, hatte öfters schon sein Name gesiegt.

Die Königin (beiseite). Wie beredt sie ist!--Ha! dieses Feuer, diese
Innigkeit,--das bloße Mitleid gehet so weit nicht.--Ich will es gleich
hören!--(Zu ihr.) Und dann, Rutland, seine Gestalt--

Rutland. Recht, Königin; seine Gestalt.--Nie hat eine Gestalt den
innern Vollkommenheiten mehr entsprochen!--Bekenn' es, Du, die Du
selbst so schön bist, daß man nie einen schönern Mann gesehen! So
würdig, so edel, so kühn und gebieterisch die Bildung! Jedes Glied,
in welcher Harmonie mit dem andern! Und doch das ganze von einem so
sanften lieblichen Umrisse! Das wahre Modell der Natur, einen
vollkommenen Mann zu bilden! Das seltene Muster der Kunst, die aus
hundert Gegenständen zusammensuchen muß, was sie hier beieinander
findet!

Die Königin (beiseite). Ich dacht' es!--Das ist nicht länger
auszuhalten.--(Zu ihr.) Wie ist dir, Rutland? Du gerätst außer dir.
Ein Wort, ein Bild überjagt das andere. Was spielt so den Meister
über dich? Ist es bloß deine Königin, ist es Essex selbst, was diese
wahre, oder diese erzwungene Leidenschaft wirket?--(Beiseite.) Sie
schweigt; ganz gewiß, sie liebt ihn.--Was habe ich getan? Welchen
neuen Sturm habe ich in meinem Busen erregt?" usw.

Hier erscheinen Burleigh und die Nottingham wieder, der Königin zu
sagen, daß Essex ihren Befehl erwarte. Er soll vor sie kommen.
"Rutland", sagt die Königin, "wir sprechen einander schon weiter; geh
nur.--Nottingham, tritt du näher." Dieser Zug der Eifersucht ist
vortrefflich. Essex kömmt; und nun erfolgt die Szene mit der Ohrfeige.
Ich wüßte nicht, wie sie verständiger und glücklicher vorbereitet
sein könnte. Essex anfangs, scheinet sich völlig unterwerfen zu
wollen; aber, da sie ihm befiehlt, sich zu rechtfertigen, wird er nach
und nach hitzig; er prahlt, er pocht, er trotzt. Gleichwohl hätte
alles das die Königin so weit nicht aufbringen können, wenn ihr Herz
nicht schon durch Eifersucht erbittert gewesen wäre. Es ist
eigentlich die eifersüchtige Liebhaberin, welche schlägt, und die
sich nur der Hand der Königin bedienet. Eifersucht überhaupt schlägt
gern.--

Ich, meinesteils, möchte diese Szenen lieber auch nur gedacht, als den
ganzen "Essex" des Corneille gemacht haben. Sie sind so charakteristisch,
so voller Leben und Wahrheit, daß das Beste des Franzosen eine sehr
armselige Figur dagegen macht.



Neunundfunfzigstes Stück
Den 24. November 1767

Nur den Stil des Banks muß man aus meiner Übersetzung nicht beurteilen.
Von seinem Ausdrucke habe ich gänzlich abgehen müssen. Er ist zugleich so
gemein und so kostbar, so kriechend und so hochtrabend, und das nicht von
Person zu Person, sondern ganz durchaus, daß er zum Muster dieser Art von
Mißhelligkeit dienen kann. Ich habe mich zwischen beide Klippen, so gut
als möglich, durchzuschleichen gesucht; dabei aber doch an der einen
lieber, als an der andern, scheitern wollen.

Ich habe mich mehr vor dem Schwülstigen gehütet, als vor dem Platten. Die
mehresten hätten vielleicht gerade das Gegenteil getan; denn schwülstig
und tragisch halten viele so ziemlich für einerlei. Nicht nur viele der
Leser: auch viele der Dichter selbst. Ihre Helden sollten wie andere
Menschen sprechen? Was wären das für Helden? Ampullae et sesquipedalia
verba, Sentenzen und Blasen und ellenlange Worte: das macht ihnen den
wahren Ton der Tragödie.

"Wir haben es an nichts fehlen lassen", sagt Diderot,[1] (man merke, daß
er vornehmlich von seinen Landsleuten spricht), "das Drama aus dem Grunde
zu verderben. Wir haben von den Alten die volle prächtige Versifikation
beibehalten, die sich doch nur für Sprachen von sehr abgemessenen
Quantitäten und sehr merklichen Akzenten, nur für weitläufige Bühnen, nur
für eine in Noten gesetzte und mit Instrumenten begleitete Deklamation so
wohl schickt: ihre Einfalt aber in der Verwickelung und dem Gespräche,
und die Wahrheit ihrer Gemälde haben wir fahren lassen."

Diderot hätte noch einen Grund hinzufügen können, warum wir uns den
Ausdruck der alten Tragödien nicht durchgängig zum Muster nehmen dürfen.
Alle Personen sprechen und unterhalten sich da auf einem freien,
öffentlichen Platze, in Gegenwart einer neugierigen Menge Volks. Sie
müssen also fast immer mit Zurückhaltung und Rücksicht auf ihre Würde
sprechen; sie können sich ihrer Gedanken und Empfindungen nicht in den
ersten den besten Worten entladen; sie müssen sie abmessen und wählen.
Aber wir Neuern, die wir den Chor abgeschafft, die wir unsere Personen
größtenteils zwischen ihren vier Wänden lassen: was können wir für
Ursache haben, sie demohngeachtet immer eine so geziemende, so
ausgesuchte, so rhetorische Sprache führen zu lassen? Sie hört niemand,
als dem sie es erlauben wollen, sie zu hören; mit ihnen spricht niemand
als Leute, welche in die Handlung wirklich mit verwickelt, die also
selbst im Affekte sind und weder Lust noch Muße haben, Ausdrücke zu
kontrollieren. Das war nur von dem Chore zu besorgen, der, so genau er
auch in das Stück eingeflochten war, dennoch niemals mißhandelte und
stets die handelnden Personen mehr richtete, als an ihrem Schicksale
wirklichen Anteil nahm. Umsonst beruft man sich desfalls auf den höhern
Rang der Personen. Vornehme Leute haben sich besser ausdrücken gelernt
als der gemeine Mann: aber sie affektieren nicht unaufhörlich, sich
besser auszudrücken als er. Am wenigsten in Leidenschaften; deren jede
ihre eigene Beredsamkeit hat, mit der allein die Natur begeistert, die
in keiner Schule gelernt wird, und auf die sich der Unerzogenste so gut
verstehet, als der Polierteste.

Bei einer gesuchten, kostbaren, schwülstigen Sprache kann niemals
Empfindung sein. Sie zeugt von keiner Empfindung, und kann keine
hervorbringen. Aber wohl verträgt sie sich mit den simpelsten,
gemeinsten, plattesten Worten und Redensarten.

Wie ich Banks' Elisabeth sprechen lasse, weiß ich wohl, hat noch keine
Königin auf dem französischen Theater gesprochen. Den niedrigen
vertraulichen Ton, in dem sie sich mit ihren Frauen unterhält, würde man
in Paris kaum einer guten adligen Landfrau angemessen finden. "Ist dir
nicht wohl?--Mir ist ganz wohl. Steh auf, ich bitte dich.--Nur unruhig;
ein wenig unruhig bin ich.--Erzähle mir doch.--Nicht wahr, Nottingham? Tu
das! Laß hören!--Gemach, gemach!--Du eiferst dich aus dem Atem.--Gift und
Blattern auf ihre Zunge!--Mir steht es frei, dem Dinge, das ich geschaffen
habe, mitzuspielen, wie ich will.--Auf den Kopf schlagen.--Wie ist's? Sei
munter, liebe Rutland; ich will dir einen wackern Mann suchen.--Wie kannst
du so reden?--Du sollst es schon sehen.--Sie hat mich recht sehr geärgert.
Ich konnte sie nicht länger vor Augen sehen.--Komm her, meine Liebe; laß
mich an deinen Busen mich lehnen.--Ich dacht' es!--Das ist nicht länger
auszuhalten."--Jawohl ist es nicht auszuhalten! würden die feinen
Kunstrichter sagen--

Werden vielleicht auch manche von meinen Lesern sagen.--Denn leider gibt
es Deutsche, die noch weit französischer sind, als die Franzosen. Ihnen
zu gefallen, habe ich diese Brocken auf einen Haufen getragen. Ich kenne
ihre Art zu kritisieren. Alle die kleinen Nachlässigkeiten, die ihr
zärtliches Ohr so unendlich beleidigen, die dem Dichter so schwer zu
finden waren, die er mit so vieler Überlegung dahin und dorthin streuete,
um den Dialog geschmeidig zu machen und den Reden einen wahrern Anschein
der augenblicklichen Eingebung zu erteilen, reihen sie sehr witzig
zusammen auf einen Faden und wollen sich krank darüber lachen. Endlich
folgt ein mitleidiges Achselzucken: "Man hört wohl, daß der gute Mann die
große Welt nicht kennet; daß er nicht viele Königinnen reden gehört;
Racine verstand das besser; aber Racine lebte auch bei Hofe."

Demohngeachtet würde mich das nicht irre machen. Desto schlimmer für die
Königinnen, wenn sie wirklich nicht so sprechen, nicht so sprechen
dürfen. Ich habe es lange schon geglaubt, daß der Hof der Ort eben nicht
ist, wo ein Dichter die Natur studieren kann. Aber wenn Pomp und Etikette
aus Menschen Maschinen macht, so ist es das Werk des Dichters, aus diesen
Maschinen wieder Menschen zu machen. Die wahren Königinnen mögen so
gesucht und affektiert sprechen, als sie wollen: seine Königinnen müssen
natürlich sprechen. Er höre der Hekuba des Euripides nur fleißig zu; und
tröste sich immer, wenn er schon sonst keine Königinnen gesprochen hat.

Nichts ist züchtiger und anständiger als die simple Natur. Grobheit und
Wust ist ebenso weit von ihr entfernt, als Schwulst und Bombast von dem
Erhabnen. Das nämliche Gefühl, welches die Grenzscheidung dort wahrnimmt,
wird sie auch hier bemerken. Der schwülstige Dichter ist daher unfehlbar
auch der pöbelhafteste. Beide Fehler sind unzertrennlich; und keine
Gattung gibt mehrere Gelegenheit, in beide zu verfallen, als
die Tragödie.

Gleichwohl scheinet die Engländer vornehmlich nur der eine in ihrem Banks
beleidiget zu haben. Sie tadelten weniger seinen Schwulst, als die
pöbelhafte Sprache, die er so edle und in der Geschichte ihres Landes so
glänzende Personen führen lasse; und wünschten lange, daß sein Stück von
einem Manne, der den tragischen Ausdruck mehr in seiner Gewalt habe,
möchte umgearbeitet werden.[2] Dieses geschah endlich auch. Fast zu
gleicher Zeit machten sich Jones und Brook darüber. Heinrich Jones, von
Geburt ein Irländer, war seiner Profession nach ein Maurer und vertauschte,
wie der alte Ben Jonson, seine Kelle mit der Feder. Nachdem er schon
einen Band Gedichte auf Subskription drucken lassen, die ihn als einen
Mann von großem Genie bekannt machten, brachte er seinen "Essex" 1753
aufs Theater. Als dieser zu London gespielt ward, hatte man bereits den
von Heinrich Brook in Dublin gespielt. Aber Brook ließ seinen erst einige
Jahre hernach drucken; und so kann es wohl sein, daß er, wie man ihm
Schuld gibt, ebensowohl den "Essex" des Jones als den vom Banks, genutzt
hat. Auch muß noch ein "Essex" von einem James Ralph vorhanden sein. Ich
gestehe, daß ich keinen gelesen habe, und alle drei nur aus den gelehrten
Tagebüchern kenne. Von dem "Essex" des Brook sagt ein französischer
Kunstrichter, daß er das Feuer und das Pathetische des Banks mit der
schönen Poesie des Jones zu verbinden gewußt habe. Was er über die Rolle
der Rutland und über derselben Verzweiflung bei der Hinrichtung ihres
Gemahls hinzufügt,[3] ist merkwürdig; man lernt auch daraus das Pariser
Parterr auf einer Seite kennen, die ihm wenig Ehre macht.

Aber einen spanischen "Essex" habe ich gelesen, der viel zu sonderbar
ist, als daß ich nicht im Vorbeigehen etwas davon sagen sollte.--


----Fußnote

[1] Zweite Unterredung hinter dem "Natürlichen Sohne". S.d. Übers. 247.

[2] ("Companion to the Theatre", Vol. II. p. 105.)--The Diction is every
where very bad, and in some Places so low, that it even becomes
unnatural.--And I think, there cannot be a greater Proof of the little
Encouragement this Age affords to Merit, than that no Gentleman possest
of a true Genius and Spirit of Poetry, thinks it worth his Attention to
adorn so celebrated a Part of History with that Dignity of Expression
befitting Tragedy in general, but more particularly, where the Characters
are perhaps the greatest the World ever produced.

[3] ("Journal Encycl.", Mars 1761.) Il a aussi fait tomber en démence la
Comtesse de Rutland au moment que cet illustre époux est conduit à
l'échafaud; ce moment où cette Comtesse est un objet bien digne de pitié,
a produit une très grande sensation, et a été trouvé admirable à Londres:
en France il eût paru ridicule, il aurait été sifflé et l'on aurait
envoyé la Comtesse avec l'Auteur aux Petites-Maisons.

----Fußnote



Sechzigstes Stück
Den 27. November 1767

Er ist von einem Ungenannten und führet den Titel: "Für seine Gebieterin
sterben"[1]. Ich finde ihn in einer Sammlung von Komödien, die Joseph
Padrino zu Sevilien gedruckt hat, und in der er das vierundsiebzigste
Stück ist. Wenn er verfertiget worden, weiß ich nicht; ich sehe auch
nichts, woraus es sich ungefähr abnehmen ließe. Das ist klar, daß sein
Verfasser weder die französischen und englischen Dichter, welche die
nämliche Geschichte bearbeitet haben, gebraucht hat, noch von ihnen
gebraucht worden. Er ist ganz original. Doch ich will dem Urteile meiner
Leser nicht vorgreifen.

Essex kommt von seiner Expedition wider die Spanier zurück und will der
Königin in London Bericht davon abstatten. Wie er anlangt, hört er, daß
sie sich zwei Meilen von der Stadt auf dem Landgute einer ihrer Hofdamen,
namens Blanca, befinde. Diese Blanca ist die Geliebte des Grafen, und auf
diesem Landgute hat er, noch bei Lebszeiten ihres Vaters, viele heimliche
Zusammenkünfte mit ihr gehabt. Sogleich begibt er sich dahin und bedient
sich des Schlüssels, den er noch von der Gartentüre bewahret, durch die
er ehedem zu ihr gekommen. Es ist natürlich, daß er sich seiner Geliebten
eher zeigen will, als der Königin. Als er durch den Garten nach ihren
Zimmern schleichet, wird er an dem schattichten Ufer eines durch
denselben geleiteten Armes der Themse ein Frauenzimmer gewahr, (es ist
ein schwüler Sommerabend), das mit den bloßen Füßen in dem Wasser sitzt
und sich abkühlet. Er bleibt voller Verwunderung über ihre Schönheit
stehen, ob sie schon das Gesicht mit einer halben Maske bedeckt hat, um
nicht erkannt zu werden. (Diese Schönheit, wie billig, wird weitläuftig
beschrieben, und besonders werden über die allerliebsten weißen Füße in
dem klaren Wasser sehr spitzfindige Dinge gesagt. Nicht genug, daß der
entzückte Graf zwei kristallene Säulen in einem fließenden Kristalle
stehen sieht; er weiß vor Erstaunen nicht, ob das Wasser der Kristall
ihrer Füße ist, welcher in Fluß geraten, oder ob ihre Füße der Kristall
des Wassers sind, der sich in diese Form kondensiert hat.[2]) Noch
verwirrter macht ihn die halbe schwarze Maske auf dem weißen Gesichte:
er kann nicht begreifen, in welcher Absicht die Natur ein so göttliches
Monstrum gebildet und auf seinem Gesichte so schwarzen Basalt mit so
glänzendem Helfenbeine gepaaret habe; ob mehr zur Bewunderung, oder mehr
zur Verspottung?[3] Kaum hat sich das Frauenzimmer wieder angekleidet,
als, unter der Ausrufung: Stirb, Tyrannin! ein Schuß auf sie geschieht,
und gleich darauf zwei maskierte Männer mit bloßem Degen auf sie
losgehen, weil der Schuß sie nicht getroffen zu haben scheinet. Essex
besinnt sich nicht lange, ihr zu Hilfe zu eilen. Er greift die Mörder an,
und sie entfliehen. Er will ihnen nach; aber die Dame ruft ihn zurück und
bittet ihn, sein Leben nicht in Gefahr zu setzen. Sie sieht, daß er
verwundet ist, knüpft ihre Schärpe los und gibt sie ihm, sich die Wunde
damit zu verbinden. Zugleich, sagt sie, soll diese Schärpe dienen, mich
Euch zu seiner Zeit zu erkennen zu geben; itzt muß ich mich entfernen,
ehe über den Schuß mehr Lärmen entsteht; ich möchte nicht gern, daß die
Königin den Zufall erführe, und ich beschwöre Euch daher um Eure
Verschwiegenheit. Sie geht, und Essex bleibt voller Erstaunen über diese
sonderbare Begebenheit, über die er mit seinem Bedienten, namens Cosme,
allerlei Betrachtungen anstellt. Dieser Cosme ist die lustige Person des
Stücks; er war vor dem Garten geblieben, als sein Herr hereingegangen,
und hatte den Schuß zwar gehört, aber ihm doch nicht zu Hilfe kommen
dürfen. Die Furcht hielt an der Türe Schildwache und versperrte ihm den
Eingang. Furchtsam ist Cosme für viere;[4] und das sind die spanischen
Narren gemeiniglich alle. Essex bekennt, daß er sich unfehlbar in die
schöne Unbekannte verliebt haben würde, wenn Blanca nicht schon so völlig
Besitz von seinem Herzen genommen hätte, daß sie durchaus keiner andern
Leidenschaft darin Raum lasse. "Aber", sagt er, "wer mag sie wohl gewesen
sein? Was dünkt dich, Cosme?"--"Wer wird's gewesen sein", antwortet
Cosme, "als des Gärtners Frau, die sich die Beine gewaschen?"[5] Aus
diesem Zuge kann man leicht auf das übrige schließen. Sie gehen endlich
beide wieder fort; es ist zu spät geworden; das Haus könnte über den
Schuß in Bewegung geraten sein; Essex getraut sich daher nicht, unbemerkt
zur Blanca zu kommen, und verschiebt seinen Besuch auf ein andermal.

Nun tritt der Herzog von Alanzon auf, mit Flora, der Blanca Kammermädchen.
(Die Szene ist noch auf dem Landgute, in einem Zimmer der Blanca; die
vorigen Auftritte waren in dem Garten. Es ist des folgenden Tages.) Der
König von Frankreich hatte der Elisabeth eine Verbindung mit seinem
jüngsten Bruder vorgeschlagen. Dieses ist der Herzog von Alanzon. Er ist,
unter dem Vorwande einer Gesandtschaft, nach England gekommen, um diese
Verbindung zustande zu bringen. Es läßt sich alles, sowohl von seiten des
Parlaments als der Königin, sehr wohl dazu an: aber indes erblickt er die
Blanca und verliebt sich in sie. Itzt kömmt er und bittet Floren, ihm in
seiner Liebe behilflich zu sein. Flora verbirgt ihm nicht, wie wenig er
zu erwarten habe; doch ohne ihm das geringste von der Vertraulichkeit,
in welcher der Graf mit ihr stehet, zu entdecken. Sie sagt bloß, Blanca
suche sich zu verheiraten, und da sie hierauf sich mit einem Manne,
dessen Stand so weit über den ihrigen erhaben sei, doch keine Rechnung
machen könne, so dürfte sie schwerlich seiner Liebe Gehör geben.--(Man
erwartet, daß der Herzog auf diesen Einwurf die Lauterkeit seiner
Absichten beteuern werde: aber davon kein Wort! Die Spanier sind in
diesem Punkte lange so strenge und delikat nicht, als die Franzosen.) Er
hat einen Brief an die Blanca geschrieben, den Flora übergeben soll. Er
wünscht, es selbst mit anzusehen, was dieser Brief für Eindruck auf sie
machen werde. Er schenkt Floren eine güldne Kette, und Flora versteckt
ihn in eine anstoßende Galerie, indem Blanca mit Cosme hereintritt,
welcher ihr die Ankunft seines Herrn meldet.

Essex kömmt. Nach den zärtlichsten Bewillkommungen der Blanca, nach den
teuersten Versicherungen des Grafen, wie sehr er ihrer Liebe sich würdig
zu zeigen wünsche, müssen sich Flora und Cosme entfernen, und Blanca
bleibt mit dem Grafen allein. Sie erinnert ihn, mit welchem Eifer und mit
welcher Standhaftigkeit er sich um ihre Liebe beworben habe. Nachdem sie
ihm drei Jahre widerstanden, habe sie endlich sich ihm ergeben und ihn,
unter Versicherung sie zu heiraten, zum Eigentümer ihrer Ehre gemacht.
(Te hice dueño de mi honor: der Ausdruck sagt im Spanischen ein wenig
viel.) Nur die Feindschaft, welche unter ihren beiderseitigen Familien
obgewaltet, habe nicht erlaubt, ihre Verbindung zu vollziehen. Essex ist
nichts in Abrede und fügt hinzu, daß, nach dem Tode ihres Vaters und
Bruders, nur die ihm aufgetragene Expedition wider die Spanier dazwischen
gekommen sei. Nun aber habe er diese glücklich vollendet; nun wolle er
unverzüglich die Königin um Erlaubnis zu ihrer Vermählung antreten.--"Und
so kann ich dir denn", sagt Blanca, "als meinem Geliebten, als meinem
Bräutigam, als meinem Freunde, alle meine Geheimnisse sicher
anvertrauen."[6]--


----Fußnote

[1] "Dar la vida por su Dama o el Conde de Sex"; de un Ingenio de esta
Corte.

[2]
    Las dos columnas bellas
    Metió dentro del río, y como al verlas
    Vi un cristal en el rio desatado,
    Y ví cristal en ellas condensado,
    No supe si las aguas que se vían
    Eran sus piés, que líquidos corrían,
    O si sus dos columnas se formaban
    De las aguas, que allí se conjelaban.

Diese Ähnlichkeit treibt der Dichter noch weiter, wenn er beschreiben
will, wie die Dame, das Wasser zu kosten, es mit ihrer hohlen Hand
geschöpft und nach dem Munde geführt habe. Diese Hand, sagt er, war dem
klaren Wasser so ähnlich, daß der Fluß selbst für Schrecken zusammenfuhr,
weil er befürchtete, sie möchte einen Teil ihrer eignen Hand mittrinken.

    Quiso probar a caso
    El agua, y fueron cristalino vaso
    Sus manos, acercólas a los labios,
    Y entonces el arroyo lloró agravios,
    Y como tanto, en fin, se parecía
    A sus manos aquello que bebía,
    Temí con sobresalto (y no fué en vano)
    Que se bebiera parte de la mano.

[3]
    Yo, que al principio ví, ciego, y turbado,
    A una parte nevado
    Y en otra negro el rostro,
    Juzgué, mirando tan divino monstruo,
    Que la naturaleza cuidadosa
    Desigualdad uniendo tau hermosa,
    Quiso hacer por asombro, o por ultraje,
    De azabache y marfil un maridaie.

[4]
    Ruido de armas en la Quinta,
    Y dentro el Conde? Qué aguardo,
    Que no voy a socorrerle?
    Qué aguardo? Lindo recado:
    Aguardo a que quiera el miedo
    Dejarme entrar:--
    ------
    Cosme, que ha temido un miedo
    Que puede valer por cuatro.

[5]
    La mujer del hortelano,
    Que se lavaba las piernas.

[6]
    Bien podré seguramente
    Revelarte intentos míos,
    Como a galán, como a dueño,
    Como a esposo, y como a amigo.

----Fußnote



Einundsechzigstes Stück
Den 1. Dezember 1767

Hierauf beginnt sie eine lange Erzählung von dem Schicksale der Maria von
Schottland. Wir erfahren (denn Essex selbst muß alles das, ohne Zweifel,
längst wissen), daß ihr Vater und Bruder dieser unglücklichen Königin
sehr zugetan gewesen; daß sie sich geweigert, an der Unterdrückung der
Unschuld teilzunehmen; daß Elisabeth sie daher gefangensetzen und in dem
Gefängnisse heimlich hinrichten lassen. Kein Wunder, daß Blanca die
Elisabeth haßt; daß sie fest entschlossen ist, sich an ihr zu rächen.
Zwar hat Elisabeth nachher sie unter ihre Hofdamen aufgenommen und sie
ihres ganzen Vertrauens gewürdiget. Aber Blanca ist unversöhnlich.
Umsonst wählte die Königin, nur kürzlich, vor allen andern das Landgut
der Blanca, um die Jahreszeit einige Tage daselbst ruhig zu genießen.
--Diesen Vorzug selbst wollte Blanca ihr zum Verderben gereichen
lassen. Sie hatte an ihren Oheim geschrieben, welcher, aus Furcht, es
möchte ihm wie seinem Bruder, ihrem Vater, ergehen, nach Schottland
geflohen war, wo er sich im Verborgnen aufhielt. Der Oheim war gekommen;
und kurz, dieser Oheim war es gewesen, welcher die Königin in dem Garten
ermorden wollen. Nun weiß Essex, und wir mit ihm, wer die Person ist, der
er das Leben gerettet hat. Aber Blanca weiß nicht, daß es Essex ist,
welcher ihren Anschlag vereiteln müssen. Sie rechnet vielmehr auf die
unbegrenzte Liebe, deren sie Essex versichert, und wagt es, ihn nicht
bloß zum Mitschuldigen machen zu wollen, sondern ihm völlig die
glücklichere Vollziehung ihrer Rache zu übertragen. Er soll sogleich an
ihren Oheim, der wieder nach Schottland geflohen ist, schreiben und
gemeinschaftliche Sache mit ihm machen. Die Tyrannin müsse sterben; ihr
Name sei allgemein verhaßt; ihr Tod sei eine Wohltat für das Vaterland,
und niemand verdiene es mehr als Essex, dem Vaterlande diese Wohltat zu
verschaffen.

Essex ist über diesen Antrag äußerst betroffen. Blanca, seine teure
Blanca, kann ihm eine solche Verräterei zumuten? Wie sehr schämt er sich
in diesem Augenblicke seiner Liebe! Aber was soll er tun? Soll er ihr,
wie es billig wäre, seinen Unwillen zu erkennen geben? Wird sie darum
weniger bei ihren schändlichen Gesinnungen bleiben? Soll er der Königin
die Sache hinterbringen? Das ist unmöglich: Blanca, seine ihm noch immer
teure Blanca, läuft Gefahr. Soll er sie, durch Bitten und Vorstellungen,
von ihrem Entschlusse abzubringen suchen? Er müßte nicht wissen, was für
ein rachsüchtiges Geschöpf eine beleidigte Frau ist; wie wenig es sich
durch Flehen erweichen und durch Gefahr abschrecken läßt. Wie leicht
könnte sie seine Abratung, sein Zorn zur Verzweiflung bringen, daß sie
sich einem andern entdeckte, der so gewissenhaft nicht wäre und ihr
zuliebe alles unternähme?[1]--Dieses in der Geschwindigkeit überlegt,
faßt er den Vorsatz, sich zu verstellen, um den Roberto, so heißt der
Oheim der Blanca, mit allen seinen Anhängern in die Falle zu locken.

Blanca wird ungeduldig, daß ihr Essex nicht sogleich antwortet. "Graf",
sagt sie, "wenn du erst lange mit dir zu Rate gehst, so liebst du mich
nicht. Auch nur zweifeln ist Verbrechen. Undankbarer!"[2]--"Sei ruhig,
Blanca!" erwidert Essex: "ich bin entschlossen."--"Und wozu?"--"Gleich
will ich dir es schriftlich geben."

Essex setzt sich nieder, an ihren Oheim zu schreiben, und indem tritt der
Herzog aus der Galerie näher. Er ist neugierig, zu sehen, wer sich mit
der Blanca so lange unterhält; und erstaunt, den Grafen von Essex zu
erblicken. Aber noch mehr erstaunt er über das, was er gleich darauf zu
hören bekömmt. Essex hat an den Roberto geschrieben und sagt der Blanca
den Inhalt seines Schreibens, das er sofort durch den Cosme abschicken
will. Roberto soll mit allen seinen Freunden einzeln nach London kommen;
Essex will ihn mit seinen Leuten unterstützen; Essex hat die Gunst des
Volks; nichts wird leichter sein, als sich der Königin zu bemächtigen;
sie ist schon so gut als tot.--"Erst müßt' ich sterben!" ruft auf einmal
der Herzog und kömmt auf sie los. Blanca und der Graf erstaunen über
diese plötzliche Erscheinung; und das Erstaunen des letztern ist nicht
ohne Eifersucht. Er glaubt, daß Blanca den Herzog bei sich verborgen
gehalten. Der Herzog rechtfertiget die Blanca und versichert, daß sie von
seiner Anwesenheit nichts gewußt; er habe die Galerie offen gefunden und
sei von selbst hereingegangen, die Gemälde darin zu betrachten.[3]

"Der Herzog. Bei dem Leben meines Bruders, bei dem mir noch kostbarern
Leben der Königin, bei--Aber genug, daß ich es sage: Blanca ist
unschuldig. Und nur ihr, Mylord, haben Sie diese Erklärung zu danken.
Auf Sie ist im geringsten nicht dabei gesehen. Denn mit Leuten, wie
Sie, machen Leute, wie ich--

Der Graf. Prinz, Sie kennen mich ohne Zweifel nicht recht?--

Der Herzog. Freilich habe ich Sie nicht recht gekannt. Aber ich
kenne Sie nun. Ich hielt Sie für einen ganz andern Mann: und ich
finde, Sie sind ein Verräter.

Der Graf. Wer darf das sagen?

Der Herzog. Ich!--Nicht ein Wort mehr! Ich will kein Wort mehr hören,
Graf!

Der Graf. Meine Absicht mag auch gewesen sein--

Der Herzog. Denn kurz: ich bin überzeugt, daß ein Verräter kein Herz
hat. Ich treffe Sie als einen Verräter: ich muß Sie für einen Mann
ohne Herz halten. Aber um so weniger darf ich mich dieses Vorteils
über Sie bedienen. Meine Ehre verzeiht Ihnen, weil Sie der Ihrigen
verlustig sind. Wären Sie so unbescholten, als ich Sie sonst geglaubt,
so würde ich Sie zu züchtigen wissen.

Der Graf. Ich bin der Graf von Essex. So hat mir noch niemand
begegnen dürfen, als der Bruder des Königs von Frankreich.

Der Herzog. Wenn ich auch der nicht wäre, der ich bin; wenn nur Sie
der wären, der Sie nicht sind, ein Mann von Ehre: so sollten Sie wohl
empfinden, mit wem Sie zu tun hätten.--Sie, der Graf von Essex? Wenn
Sie dieser berufene Krieger sind: wie können Sie so viele große Taten
durch eine so unwürdige Tat vernichten wollen?--"


----Fußnote

[1]
    Ay tal traición! vive el Cielo,
    Que de amarla estoy corrido.
    Blanca, que es mi dulce dueño,
    Blanca, a quien quiero, y estimo,
    Me propone tal traición!
    Que haré, porque si ofendido,
    Respondiendo, como es justo,
    Contra su traición me irrito,
    No por eso ha de evitar
    So resuelto desatino.
    Pues darle cuenta a la Reina
    Es imposible, pues quiso
    Mi suerte, que tenga parte
    Blanca en aqueste delito.
    Pues si procuro con ruegos
    Disuadirla, es desvarío,
    Que es una mujer resuelta
    Animal tan vengativo,
    Que no se dobla a los riesgos:
    Antes con afecto impío,
    En el mismo rendimiento
    Suelen aguzar los filos;
    Y quizá desesperada
    De mi enojo, o mi desvío,
    Se declarará con otro
    Menos leal, menos fino,
    Que quizá por ella intente
    Lo que yo hacer no he querido.

[2]
    Si estás consultando, Conde,
    Allá dentro de tí mismo
    Lo que has de hacer, no me quieres,
    Ya el dudarlo fué delito.
    Vive Dios, que eres ingrato!

[3]
      Por vida del Rey mi hermano,
      Y por la que más estimo,
      De la Reina mi señora,
      Y por--pero yo lo digo,
      Que en mí es el mayor empeño
      De la verdad del decirlo,
      Que no tiene Blanca parte
      De estar yo aquí--
    ------
      Y estad muy agradecido
      A Blanca, de que yo os dé,
      No satisfacción, aviso
      De esta verdad, porque a vos,
      Hombres como yo--Cond. Imagino
      Que no me conoceis bien.
    Duq. No os había conocido
      Hasta aquí; mas ya os conozco,
      Pues ya tan otro os he visto
      Que os reconozco traidor.
    Cond. Quien dijere--Duq. Yo lo digo
      No pronuncieis algo, Conde,
      Que ya no puedo sufriros.
    Cond. Cualquier cosa que yo intente--
    Duq. Mirad que estoy persuadido
      Que hace la traición cobardes;
      Y así cuando os he cogido
      En un lance que me da
      De que sois cobarde indicios,
      No he de aprovecharme de esto,
      Y así os perdona mi brío
      Ese rato que teneis
      El valor desminuído;
      Que a estar todo vos entero,
      Supiera daros castigo.
    Cond. Yo soy el Conde de Sex
      Y nadie se me ha atrevido
      Sino el hermano del Rey
      De Francia. Duq. Yo tengo brío
      Para que sin ser quien soy,
      Pueda mi valor invicto
      Castigar, no digo yo
      Sólo a vos, mas a vos mismo,
      Siendo leal, que es lo más
      Con que queda encarecido.
      Y pues sois tan gran Soldado,
      No echeis a perder, os pido
      Tantas heroicas hazañas
      Con un hecho tan indigno--

----Fußnote



Zweiundsechzigstes Stück
Den 4. Dezember 1767

Der Herzog fährt hierauf fort, ihm sein Unrecht in einem etwas gelindern
Tone vorzuhalten. Er ermahnt ihn, sich eines Bessern zu besinnen; er will
es vergessen, was er gehört habe; er ist versichert, daß Blanca mit dem
Grafen nicht einstimmen und daß sie selbst ihm eben das würde gesagt
haben, wenn er, der Herzog, ihr nicht zuvorgekommen wäre. Er schließt
endlich: "Noch einmal, Graf; gehen Sie in sich! Stehen Sie von einem so
schändlichen Vorhaben ab! Werden Sie wieder Sie selbst! Wollen Sie aber
meinem Rate nicht folgen: so erinnern Sie sich, daß Sie einen Kopf haben,
und London einen Henker!"[1]--Hiermit entfernt sich der Herzog. Essex ist
in der äußersten Verwirrung; es schmerzt ihn, sich für einen Verräter
gehalten zu wissen; gleichwohl darf er es itzt nicht wagen, sich gegen
den Herzog zu rechtfertigen; er muß sich gedulden, bis es der Ausgang
lehre, daß er da seiner Königin am getreuesten gewesen sei, als er es am
wenigsten zu sein geschienen.[2] So spricht er mit sich selbst: zur
Blanca aber sagt er, daß er den Brief sogleich an ihren Oheim senden
wolle, und geht ab. Blanca desgleichen; nachdem sie ihren Unstern
verwünscht, sich aber noch damit getröstet, daß es kein Schlimmerer als
der Herzog sei, welcher von dem Anschlage des Grafen wisse.

Die Königin erscheinet mit ihrem Kanzler, dem sie es vertrauet hat, was
ihr in dem Garten begegnet. Sie befiehlt, daß ihre Leibwache alle Zugänge
wohl besetzt; und morgen will sie nach London zurückkehren. Der Kanzler
ist der Meinung, die Meuchelmörder aufsuchen zu lassen und durch ein
öffentliches Edikt demjenigen, der sie anzeigen werde, eine ansehnliche
Belohnung zu verheißen, sollte er auch selbst ein Mitschuldiger sein.
"Denn da es ihrer zwei waren", sagt er, "die den Anfall taten, so kann
leicht einer davon ein ebenso treuloser Freund sein, als er ein treuloser
Untertan ist."[3] Aber die Königin mißbilliget diesen Rat; sie hält es
für besser, den ganzen Vorfall zu unterdrücken und es gar nicht bekannt
werden zu lassen, daß es Menschen gegeben, die sich einer solchen Tat
erkühnen dürfen. "Man muß", sagt sie, "die Welt glauben machen, daß die
Könige so wohl bewacht werden, daß es der Verräterei unmöglich ist, an
sie zu kommen. Außerordentliche Verbrechen werden besser verschwiegen,
als bestraft. Denn das Beispiel der Strafe ist von dem Beispiele der
Sünde unzertrennlich; und dieses kann oft ebensosehr anreizen, als jenes
abschrecken."[4]

Indem wird Essex gemeldet und vorgelassen. Der Bericht, den er von dem
glücklichen Erfolge seiner Expedition abstattet, ist kurz. Die Königin
sagt ihm auf eine sehr verbindliche Weise: "Da ich Euch wieder erblicke,
weiß ich von dem Ausgange des Krieges schon genug."[5] Sie will von
keinen nähern Umständen hören, bevor sie seine Dienste nicht belohnt, und
befiehlt dem Kanzler, dem Grafen sogleich das Patent als Admiral von
England auszufertigen. Der Kanzler geht; die Königin und Essex sind
allein; das Gespräch wird vertraulicher; Essex hat die Schärpe um; die
Königin bemerkt sie, und Essex würde es aus dieser bloßen Bemerkung
schließen, daß er sie von ihr habe, wenn er es aus den Reden der Blanca
nicht schon geschlossen hätte. Die Königin hat den Grafen schon längst
heimlich geliebt; und nun ist sie ihm sogar das Leben schuldig.[6] Es
kostet ihr alle Mühe, ihre Neigung zu verbergen. Sie tut verschiedne
Fragen, ihn auszulocken und zu hören, ob sein Herz schon eingenommen, und
ob er es vermute, wem er das Leben in dem Garten gerettet. Das letzte
gibt er ihr durch seine Antworten gewissermaßen zu verstehen, und zugleich,
daß er für ebendiese Person mehr empfinde, als er derselben zu entdecken
sich erkühnen dürfe. Die Königin ist auf dem Punkte, sich ihm zu erkennen
zu geben: doch siegt noch ihr Stolz über ihre Liebe. Ebensosehr hat der
Graf mit seinem Stolze zu kämpfen: er kann sich des Gedankens nicht
entwehren, daß ihn die Königin liebe, ob er schon die Vermessenheit
dieses Gedankens erkennet. (Daß diese Szene größtenteils aus Reden
bestehen müsse, die jedes seitab führet, ist leicht zu erachten.) Sie
heißt ihn gehen und heißt ihn wieder so lange warten, bis der Kanzler ihm
das Patent bringe. Er bringt es; sie überreicht es ihm; er bedankt sich,
und das Seitab fängt mit neuem Feuer an.

"Die Königin. Törichte Liebe!--

Essex. Eitler Wahnsinn!--

Die Königin. Wie blind!--

Essex. Wie verwegen!--

Die Königin. So tief willst du, daß ich mich herabsetze?--

Essex. So hoch willst Du, daß ich mich versteige?--

Die Königin. Bedenke, daß ich Königin bin!

Essex. Bedenke, daß ich Untertan bin!

Die Königin. Du stürzest mich bis in den Abgrund,--

Essex. Du erhebest mich bis zur Sonne,--

Die Königin. Ohne auf meine Hoheit zu achten.

Essex. Ohne meine Niedrigkeit zu erwägen.

Die Königin. Aber, weil du meines Herzens dich bemeistert:--

Essex. Aber, weil Du meiner Seele Dich bemächtiget:--

Die Königin. So stirb da, und komm' nie auf die Zunge!

Essex. So stirb da, und komm' nie über die Lippen!"[7]

(Ist das nicht eine sonderbare Art von Unterhaltung? Sie reden
miteinander und reden auch nicht miteinander. Der eine hört, was der
andere nicht sagt, und antwortet auf das, was er nicht gehört hat. Sie
nehmen einander die Worte nicht aus dem Munde, sondern aus der Seele.
Man sage jedoch nicht, daß man ein Spanier sein muß, um an solchen
unnatürlichen Künsteleien Geschmack zu finden. Noch vor einige dreißig
Jahre fanden wir Deutsche ebensoviel Geschmack daran; denn unsere
Staats-und Heldenaktionen wimmelten davon, die in allem nach den
spanischen Mustern zugeschnitten waren.)

Nachdem die Königin den Essex beurlaubet und ihm befohlen, ihr bald
wieder aufzuwarten, gehen beide auf verschiedene Seiten ab und machen dem
ersten Aufzuge ein Ende.--Die Stücke der Spanier, wie bekannt, haben
deren nur drei, welche sie Jornadas, Tagewerke, nennen. Ihre
allerältesten Stücke hatten viere: sie krochen, sagt Lope de Vega, auf
allen vieren, wie Kinder; denn es waren auch wirklich noch Kinder von
Komödien. Virves war der erste, welcher die vier Aufzüge auf drei
brachte; und Lope folgte ihm darin, ob er schon die ersten Stücke seiner
Jugend, oder vielmehr seiner Kindheit, ebenfalls in vieren gemacht hatte.
Wir lernen dieses aus einer Stelle in des letztern "Neuen Kunst, Komödien
zu machen"[8]; mit der ich aber eine Stelle des Cervantes in Widerspruch
finde[9], wo sich dieser den Ruhm anmaßt, die spanische Komödie von fünf
Akten, aus welchen sie sonst bestanden, auf drei gebracht zu haben. Der
spanische Literator mag diesen Widerspruch entscheiden; ich will mich
dabei nicht aufhalten.


----Fußnote

[1]
    Miradlo mejor, dejad
    Un intento tan indigno,
    Corresponded a quien sois,
    Y sino bastan avisos,
    Mirad que hay Verdugo en Londres,
    Y en vos cabeza, harto os digo.

[2]
    No he de responder al Duque
    Hasta que el suceso mismo
    Muestre como fueron falsos
    De mi traición los indicios,
    Y que soy más leal, cuando
    Más traidor he parecido.

[3]
    Y pues son dos los culpados
    Podrá ser, que alguno de ellos
    Entregue al otro; que es llano,
    Que será traidor amigo
    Quien fué desleal vasallo.

[4]
    Y es gran materia de estado
    Dar a entender, que los Reyes
    Están en sí tan guardados
    Que aunque la traición los busque,
    Nunca ha de poder hallarlos;
    Y así el secreto averigüe
    Enormes delitos, cuando
    Más que el castigo, escarmientos
    Dé ejemplares el pecado.

[5]
    Que ya sólo con miraros
    Sé el suceso de la guerra.

[6]
    No bastaba, amor tírano,
    Una inclinación tan fuerte,
    Sin que te hayas ayudado
    Del deberle yo la vida?

[7]
    Rein. Loco Amor--Cond. Necio imposible--
    Rein. Qué ciego--Cond. Qué temerario--
    Rein. Me abates a tal bajeza--
    Cond. Me quieres subir tan alto--
    Rein. Advierte, que soy la Reina--
    Cond. Advierte, que soy vasallo--
    Rein. Pues me humillas al abismo--
    Cond. Pues me acercas a los rayos--
    Rein. Sin reparar mi grandeza--
    Cond. Sin mirar mi humilde estado--
    Rein. Ya que te miro acá dentro--
    Cond. Ya que en mí te vas entrando--
    Rein. Muere entre el pecho, y la voz.
    Cond. Muere entre el alma, y los labios.

[8]
"Arte nuevo de hazer Comedias", die sich hinter des Lope "Rimas"
befindet.
    El Capitán Virués; insigne ingenio,
    Puso en tres actos la Comedia, que antes
    Andaba en cuatro, como pies de niño,
    Que eran entonces niñas las Comedias,
    Y yo las escribí de once, y doce años,
    De a cuatro actos, y de a cuatro pliegos,
    Porque cada acto un pliego contenia.

[9] In der Vorrede zu seinen Komödien: Donde me atreví a reducir las
Comedias a tres Jornadas, de cinco que tenían.

----Fußnote



Dreiundsechzigstes Stück
Den 8. Dezember 1767

Die Königin ist von dem Landgute zurückgekommen; und Essex gleichfalls.
Sobald er in London angelangt, eilte er nach Hofe, um sich keinen
Augenblick vermissen zu lassen. Er eröffnet mit seinem Cosme den zweiten
Akt, der in dem königlichen Schlosse spielt. Cosme hat, auf Befehl des
Grafen, sich mit Pistolen versehen müssen; der Graf hat heimliche Feinde;
er besorgt, wenn er des Nachts spät vom Schlosse gehe, überfallen zu
werden. Er heißt den Cosme, die Pistolen nur indes in das Zimmer der
Blanca zu tragen und sie von Floren aufheben zu lassen. Zugleich bindet
er die Schärpe los, weil er zur Blanca gehen will. Blanca ist
eifersüchtig; die Schärpe könnte ihr Gedanken machen; sie könnte sie
haben wollen; und er würde sie ihr abschlagen müssen. Indem er sie dem
Cosme zur Verwahrung übergibt, kömmt Blanca dazu. Cosme will sie
geschwind verstecken: aber es kann so geschwind nicht geschehen, daß es
Blanca nicht merken sollte. Blanca nimmt den Grafen mit sich zur Königin;
und Essex ermahnt im Abgehen den Cosme, wegen der Schärpe reinen Mund zu
halten und sie niemanden zu zeigen.

Cosme hat, unter seinen andern guten Eigenschaften, auch diese, daß er
ein Erzplauderer ist. Er kann kein Geheimnis eine Stunde bewahren; er
fürchtet ein Geschwär im Leibe davon zu bekommen; und das Verbot des
Grafen hat ihn zu rechter Zeit erinnert, daß er sich dieser Gefahr
bereits sechsunddreißig Stunden ausgesetzt habe.[1] Er gibt Floren die
Pistolen und hat den Mund schon auf, ihr auch die ganze Geschichte von
der maskierten Dame und der Schärpe zu erzählen. Doch eben besinnt er
sich, daß es wohl eine würdigere Person sein müsse, der er sein Geheimnis
zuerst mitteile. Es würde nicht lassen, wenn sich Flora rühmen könnte,
ihn dessen defloriert zu haben.[2] (Ich muß von allerlei Art des
spanischen Witzes eine kleine Probe einzuflechten suchen.)

Cosme darf auf diese würdigere Person nicht lange warten. Blanca wird von
ihrer Neugierde viel zu sehr gequält, daß sie sich nicht, sobald als
möglich, von dem Grafen losmachen sollen, um zu erfahren, was Cosme
vorhin so hastig vor ihr zu verbergen gesucht. Sie kömmt also sogleich
zurück, und nachdem sie ihn zuerst gefragt, warum er nicht schon nach
Schottland abgegangen, wohin ihn der Graf schicken wollen, und er ihr
geantwortet, daß er mit anbrechendem Tage abreisen werde: verlangt sie zu
wissen, was er da versteckt halte? Sie dringt in ihn; doch Cosme läßt
nicht lange in sich dringen. Er sagt ihr alles, was er von der Schärpe
weiß; und Blanca nimmt sie ihm ab. Die Art, mit der er sich seines
Geheimnisses entlediget, ist äußerst ekel. Sein Magen will es nicht
länger bei sich behalten; es stößt ihm auf; es kneipt ihn; er steckt den
Finger in den Hals; er gibt es von sich, und um einen bessern Geschmack
wieder in den Mund zu bekommen, läuft er geschwind ab, eine Quitte oder
Olive darauf zu kauen.[3] Blanca kann aus seinem verwirrten Geschwätze
zwar nicht recht klug werden: sie versteht aber doch so viel daraus, daß
die Schärpe das Geschenk einer Dame ist, in die Essex verliebt werden
könnte, wenn er es nicht schon sei. "Denn er ist doch nur ein Mann", sagt
sie. "Und wehe der, die ihre Ehre einem Manne anvertrauet hat! Der beste
ist noch so schlimm! "[4]--Um seiner Untreue also zuvorzukommen, will sie
ihn je eher je lieber heiraten.

Die Königin tritt herein und ist äußerst niedergeschlagen. Blanca fragt,
ob sie die übrigen Hofdamen rufen soll: aber die Königin will lieber
allein sein; nur Irene soll kommen und vor dem Zimmer singen. Blanca geht
auf der einen Seite nach Irenen ab, und von der andern kömmt der Graf.

Essex liebt die Blanca: aber er ist ehrgeizig genug, auch der Liebhaber
der Königin sein zu wollen. Er wirft sich diesen Ehrgeiz selbst vor; er
bestraft sich deswegen; sein Herz gehört der Blanca; eigennützige
Absichten müssen es ihr nicht entziehen wollen; unechte Konvenienz muß
keinen echten Affekt besiegen.[5] Er will sich also lieber wieder
entfernen, als er die Königin gewahr wird: und die Königin, als sie ihn
erblickt, will ihm gleichfalls ausweichen. Aber sie bleiben beide. Indem
fängt Irene vor dem Zimmer an zu singen. Sie singt eine Redondilla, ein
kleines Lied von vier Zeilen, dessen Sinn dieser ist: "Sollten meine
verliebten Klagen zu deiner Kenntnis gelangen: oh, so laß das Mitleid,
welches sie verdienen, den Unwillen überwältigen, den du darüber
empfindest, daß ich es bin, der sie führet." Der Königin gefällt das
Lied; und Essex findet es bequem, ihr durch dasselbe, auf eine versteckte
Weise, seine Liebe zu erklären. Er sagt, er habe es glossieret[6] und
bittet um Erlaubnis, ihr seine Glosse vorsagen zu dürfen. In dieser
Glosse beschreibt er sich als den zärtlichsten Liebhaber, dem es aber die
Ehrfurcht verbiete, sich dem geliebten Gegenstande zu entdecken. Die
Königin lobt seine Poesie: aber sie mißbilliget seine Art zu lieben.
"Eine Liebe", sagt sie unter andern, "die man verschweigt, kann nicht
groß sein; denn Liebe wächst nur durch Gegenliebe, und der Gegenliebe
macht man sich durch das Schweigen mutwillig verlustig."


----Fußnote

[1]
    --Yo no me acordaba
    De decirlo, y lo callaba.
    Y como me lo entregó,
    Ya por decirlo reviento,
    Que tengo tal propiedad,
    Que en un hora, o la mitad,
    Se me hace postema un cuento.

[2]
    Allá va Flora; mas no,
    Será persona más grave--
    No es bien que Flora se alabe
    Que el cuento me desfloró.

[3]
    Ya se me viene a la boca
    La purga.--
    O que regüeldos tan secos
    Me vienen! terrible aprieto.--
    Mi estómago no lo lleva;
    Protesto que es gran trabajo,
    Meto los dedos.--
    Y pues la purga he trocado,
    Y el secreto he vomitado
    Desde el principio hasta el fin,
    Y sin dejar cosa alguna,
    Tal asco me dió al decillo,
    Voy a probar de en membrillo,
    O a morder de una accituna.--

[4]
    Es hombre al fin, y ay! de aquella
    Que a un hombre fiò su honor,
    Siendo tan malo, el mejor.

[5]
    Abate, abate las alas
    No subas tanto, busquemos
    Más proporcionada esfera
    A tan limitado vuelo.
    Blanca me quiere, y a Blanca
    Adoro yo ya en mi dueño;
    Pues cómo de amor tan noble
    Por una ambición me alejo?
    No conveniencia bastarda
    Venza un legítimo afecto.

[6] Die Spanier haben eine Art von Gedichten, welche sie Glosas nennen.
Sie nehmen eine oder mehrere Zeilen gleichsam zum Texte und erklären oder
umschreiben diesen Text so, daß sie die Zeilen selbst in diese Erklärung
oder Umschreibung wiederum einflechten. Den Text heißen sie Mote oder
Letra, und die Auslegung insbesondere Glosa, welches denn aber auch der
Name des Gedichts überhaupt ist. Hier läßt der Dichter den Essex das Lied
der Irene zum Mote machen, das aus vier Zeilen besteht, deren jede er in
einer besondern Stanze umschreibt, die sich mit der umschriebenen Zeile
schließt. Das Ganze sieht so aus:

      Mote.

      Si acaso mis desvaríos
      Llegaren a tus umbrales,
      La lástima de ser males
      Quite el horror de ser míos.

      Glosa.

      Aunque el dolor me provoca
      Decir mis quejas no puedo,
      Que es mi osadía tan poca,
      Que entre el respeto, y el miedo
      Se me mueren en la boca;
      Y así no llegan tan míos
      Mis males a tus orejas,
      Porque no han de ser oídos
      Si acaso digo mis quejas,
    Si acaso mis desvaríos.
      El ser tan mal explicados
      Sea su mayor indicio,
      Que trocando en mis cuidados
      El silencio, y vos su oficio,
      Quedarán más ponderados:
      Desde hoy por estas señales
      Sean de tí conocidos,
      Que sin duda son mis males
      Si algunos mal repetidos
    Llegaren a tus umbrales.
      Mas ay Dies! que mis cuidados
      De tu crueldad conocidos,
      Aunque más acreditados,
      Serán menos adquiridos.
      Que con los otros mezclados:
      Porque no sabiendo a cuales
      Más tu ingratitud se deba
      Viéndolos todos iguales
      Fuerza es que en común te mueva
    La lástima de ser males.
      En mi este afecto violento
      Tu hermoso desdén le causa;
      Tuyo, y mío es mi tormento;
      Tuyo, porque eres la causa;
      Y mío, porque yo le siento:
      Sepan, Laura, tus desvíos
      Que mis males son tan suyos,
      Y en mis cuerdos desvaríos
      Esto que tienen de tuyos
    Quite el horror de ser míos.

Es müssen aber eben nicht alle Glossen so symmetrisch sein als diese.
Man hat alle Freiheit, die Stanzen, die man mit den Zeilen des Mote
schließt, so ungleich zu machen, als man will. Man braucht auch nicht
alle Zeilen einzuflechten; man kann sich auf eine einzige einschränken
und diese mehr als einmal wiederholen. übrigens gehören diese Glossen
unter die älteren Gattungen der spanischen Poesie, die nach dem Boscan
und Garcilasso ziemlich aus der Mode gekommen.


----Fußnote



Vierundsechzigstes Stück
Den 11. Dezember 1767

Der Graf versetzt, daß die vollkommenste Liebe die sei, welche keine
Belohnung erwarte; und Gegenliebe sei Belohnung. Sein Stillschweigen
selbst mache sein Glück: denn solange er seine Liebe verschweige, sei sie
noch unverworfen, könne er sich noch von der süßen Vorstellung täuschen
lassen, daß sie vielleicht dürfe genehmiget werden. Der Unglückliche sei
glücklich, solange er noch nicht wisse, wie unglücklich er sei.[1] Die
Königin widerlegt diese Sophistereien als eine Person, der selbst daran
gelegen ist, daß Essex nicht länger darnach handle: und Essex, durch
diese Widerlegung erdreistet, ist im Begriff, das Bekenntnis zu wagen,
von welchem die Königin behauptet, daß es ein Liebhaber auf alle Weise
wagen müsse; als Blanca hereintritt, den Herzog anzumelden. Diese
Erscheinung der Blanca bewirkt einen von den sonderbarsten
Theaterstreichen. Denn Blanca hat die Schärpe um, die sie dem Cosme
abgenommen, welches zwar die Königin, aber nicht Essex gewahr wird.[2]

"Essex. So sei es gewagt!--Frisch! Sie ermuntert mich selbst. Warum
will ich an der Krankheit sterben, wenn ich an dem Hilfsmittel sterben
kann? Was fürchte ich noch?--Königin, wann denn also,--

Blanca. Der Herzog, Ihre Majestät,--

Essex. Blanca könnte nicht ungelegener kommen.

Blanca. Wartet in dem Vorzimmer,--

Die Königin. Ah! Himmel!

Blanca. Auf Erlaubnis,--

Die Königin. Was erblicke ich?

Blanca. Hereintreten zu dürfen.

Die Königin. Sag ihm--Was seh' ich!--Sag ihm, er soll warten.--Ich
komme von Sinnen!--Geh, sag ihm das.

Blanca. Ich gehorche.

Die Königin. Bleib! Komm her! näher!

Blanca. Was befehlen Ihro Majestät?--

Die Königin. Oh, ganz gewiß!--Sage ihm--Es ist kein Zweifel mehr!--
Geh, unterhalte ihn einen Augenblick,--Weh, mir!--Bis ich selbst zu
ihm herauskomme. Geh, laß mich!

Blanca. Was ist das?--Ich gehe.

Essex. Blanca ist weg. Ich kann nun wieder fortfahren,--

Die Königin. Ha, Eifersucht!

Essex. Mich zu erklären.--Was ich wage, wage ich auf ihre eigene
Überredung.

Die Königin. Mein Geschenk in fremden Händen! Bei Gott!--Aber ich
muß mich schämen, daß eine Leidenschaft so viel über mich vermag!

Essex. Wenn denn also,--wie Ihre Majestät gesagt, und wie ich
einräumen muß,--das Glück, welches man durch Furcht erkauft,--sehr
teuer zu stehen kömmt; wenn man viel edler stirbt:--so will auch
ich,--

Die Königin. Warum sagen Sie das, Graf?

Essex. Weil ich hoffe, daß, wann ich--Warum fürchte ich mich noch?--
wann ich Ihre Majestät meine Leidenschaft bekannte,--daß einige
Liebe--

Die Königin. Was sagen Sie da, Graf? An mich richtet sich das? Wie?
Tor! Unsinniger! Kennen Sie mich auch? Wissen Sie, wer ich bin?
Und wer Sie sind? Ich muß glauben, daß Sie den Verstand verloren.--"

Und so fahren Ihre Majestät fort, den armen Grafen auszufenstern, daß es
eine Art hat! Sie fragt ihn, ob er nicht wisse, wie weit der Himmel über
alle menschliche Erfrechungen erhaben sei? Ob er nicht wisse, daß der
Sturmwind, der in den Olymp dringen wolle, auf halbem Wege zurückbrausen
müsse? Ob er nicht wisse, daß die Dünste, welche sich zur Sonne erhüben,
von ihren Strahlen zerstreuet würden?--Wer vom Himmel gefallen zu sein
glaubt, ist Essex. Er zieht sich beschämt zurück und bittet um Verzeihung.
Die Königin befiehlt ihm, ihr Angesicht zu meiden, nie ihren Palast wieder
zu betreten und sich glücklich zu schätzen, daß sie ihm den Kopf lasse,
in welchem sich so eitle Gedanken erzeugen können.[3] Er entfernt sich;
und die Königin geht gleichfalls ab, nicht ohne uns merken zu lassen, wie
wenig ihr Herz mit ihren Reden übereinstimme.

Blanca und der Herzog kommen an ihrer Statt, die Bühne zu füllen. Blanca
hat dem Herzog es frei gestanden, auf welchem Fuße sie mit dem Grafen
stehe; daß er notwendig ihr Gemahl werden müsse, oder ihre Ehre sei
verloren. Der Herzog faßt den Entschluß, den er wohl fassen muß; er will
sich seiner Liebe entschlagen: und ihr Vertrauen zu vergelten, verspricht
er sogar, sich bei der Königin ihrer anzunehmen, wenn sie ihr die
Verbindlichkeit, die der Graf gegen sie habe, entdecken wolle.

Die Königin kommt bald, in tiefen Gedanken, wieder zurück. Sie ist mit
sich selbst im Streit, ob der Graf auch wohl so schuldig sei, als er
scheine. Vielleicht, daß es eine andere Schärpe war, die der ihrigen nur
so ähnlich ist.--Der Herzog tritt sie an. Er sagt, er komme, sie um eine
Gnade zu bitten, um welche sie auch zugleich Blanca bitte. Blanca werde
sich näher darüber erklären; er wolle sie zusammen allein lassen: und so
läßt er sie.

Die Königin wird neugierig, und Blanca verwirrt. Endlich entschließt sich
Blanca, zu reden. Sie will nicht länger von dem veränderlichen Willen
eines Mannes abhangen; sie will es seiner Rechtschaffenheit nicht länger
anheimstellen, was sie durch Gewalt erhalten kann. Sie flehet die
Elisabeth um Mitleid an: die Elisabeth, die Frau, nicht die Königin. Denn
da sie eine Schwachheit ihres Geschlechts bekennen müsse: so suche sie in
ihr nicht die Königin, sondern nur die Frau.[4]


----Fußnote

[1]
    --El más verdadero amor
    Es el que en sí mismo quieto
    Descansa, sin atender
    A más paga, o más intento:
    La correspondencia es paga,
    Y tener por blanco el precio
    Es querer per granjeria.--
    ------
    Dentro está del silencio, y del respeto
    Mi amor, y así mi dicha está segura,
    Presumiendo tal vez (dulce locura!)
    Que es admitido del mayor suieto.
    Dejándome engañar de este concepto,
    Dura mi bien, porque mi engaño dura;
    Necia será la lengua, si aventura
    Un bien que está seguro en el secreto.--
    Que es feliz quien no siendo venturoso
    Nunca llega á saber, que es desdichado.

    [2]
    Por no morir de mal, cuando
    Puedo morir de remedio,
    Digo pues, ea, osadía,
    Ella me alentó, qué temo?--
    Que será bien que a tu Alteza--
    (Sale Blanca con la banda puesta.)
    Bl. Señora, el duque--Cond. A mal tiempo
      Viene Blanca. Bl. Está aguardando
      En la antecámara--Rein. Ay, cielo!
    Bl. Para entrar--Rein. Qué es lo que miro!
    Bl. Licencia. Rein. Decid;--qué veo!--
      Decid que espere;--estoy loca!
      Decid, andad. Bl. Ya obedezco.
    Rein. Venid acá, volved. Bl. Qué manda
      Vuestra Alteza? Rein. Ei daño es cierto.
      Decidle--no hay que dudar--
      Entretenedle un momento--
      Ay de mí!--miéntras yo salgo--
      Y dejadme. Bl. Qué es aquesto?
      Y voy. Cond. Ya Blanca se fué,
      Quiero pues volver--Rein. Ha celos!
    Cond. A declararme atrevido,
      Pues si me atrevo, me atrevo
      En fé de sus pretensiones.
    Rein. Mi prenda en poder ajeno?
      Vive Dios, pero es vergüenza
      Que pueda tanto un afecto
      En mí. Cond. Según lo que dijo
      Vuestra Alteza aquí, y supuesto,
      Que cuesta cara la dicha,
      Que se compra con el miedo,
      Quiero morir noblemente.
    Rein. Porqué lo decís? Cond. Qué espero
      Si á vuestra Alteza (que dudo!)
      Le declarase mi afecto,
      Algun amor--Rein. Que decís?
      A mí? cómo, loco, necio,
      Conoceisme? Quien soy yo?
      Decid, quién soy? que sospecho,
      Que se os huyó la memoria.--

    [3]
    --No me veais,
    Y agradeced el que os dejo
    Cabeza, en que se engendraron
    Tan livianos pensamientos.

    [4]
    --Ya estoy resuelta;
    No a la voluntad mudable
    De un hombre esté yo sujeta,
    Que aunque no sé que me olvide,
    Es necedad, que yo quiera
    Dejar á su cortesía
    Lo que puede hacer la fuerza.
    Gran Isabela, escuchadme,
    Y al escucharme tu Alteza,
    Ponga aun más que la atención,
    La piedad con las orejas.
    Isabela os he llamado
    En esta ocasión, no Reina,
    Que cuando vengo a deciros
    Del honor una flaqueza
    Que he hecho como mujer,
    Porque mejor os parezca,
    No Reina, mujer os busco.
    Sólo mujer os quisiera.--

----Fußnote



Fünfundsechzigstes Stück
Den 15. Dezember 1767

Du? mir eine Schwachheit? fragt die Königin.

"Blanca. Schmeicheleien, Seufzer, Liebkosungen, und besonders Tränen,
sind vermögend, auch die reinste Tugend zu untergraben. Wie teuer
kömmt mir diese Erfahrung zu stehen! Der Graf--

Die Königin. Der Graf? Was für ein Graf?--

Blanca. Von Essex.

Die Königin. Was höre ich?

Blanca. Seine verführerische Zärtlichkeit--

Die Königin. Der Graf von Essex?

Blanca. Er selbst, Königin.--

Die Königin (beiseite). Ich bin des Todes!--Nun? weiter!

Blanca. Ich zittere.--Nein, ich darf es nicht wagen--"

Die Königin macht ihr Mut und lockt ihr nach und nach mehr ab, als
Blanca zu sagen brauchte; weit mehr, als sie selbst zu hören wünscht.
Sie höret, wo und wie der Graf glücklich gewesen;[1] und als sie
endlich auch höret, daß er ihr die Ehe versprochen, und daß Blanca auf
die Erfüllung dieses Versprechens dringe: so bricht der so lange
zurückgehaltene Sturm auf einmal aus. Sie verhöhnet das leichtgläubige
Mädchen auf das empfindlichste und verbietet ihr schlechterdings, an
den Grafen weiter zu denken. Blanca errät ohne Mühe, daß dieser Eifer
der Königin Eifersucht sein müsse: und gibt es ihr zu verstehen.

"Die Königin. Eifersucht?--Nein; bloß deine Aufführung entrüstet mich.
--Und gesetzt,--ja gesetzt, ich liebte den Grafen. Wenn ich,--ich ihn
liebte, und eine andere wäre so vermessen, so töricht, ihn neben mir
zu lieben,--was sage ich, zu lieben?--ihn nur anzusehen,--was sage
ich, anzusehen?--sich nur eine Gedanke von ihm in den Sinn kommen zu
lassen: das sollte dieser andern nicht das Leben kosten?--Du siehest,
wie sehr mich eine bloß vorausgesetzte, erdichtete Eifersucht
aufbringt: urteile daraus, was ich bei einer wahren tun würde. Itzt
stelle ich mich nur eifersüchtig. Hüte dich, mich es wirklich zu
machen!"[2]

Mit dieser Drohung geht die Königin ab und läßt die Blanca in der
äußersten Verzweiflung. Dieses fehlte noch zu den Beleidigungen, über
die sich Blanca bereits zu beklagen hatte. Die Königin hat ihr Vater
und Bruder und Vermögen genommen: und nun will sie ihr auch den Grafen
nehmen. Die Rache war schon beschlossen: aber warum soll Blanca noch
erst warten, bis sie ein anderer für sie vollzieht? Sie will sie selbst
bewerkstelligen, und noch diesen Abend. Als Kammerfrau der Königin muß
sie sie auskleiden helfen; da ist sie mit ihr allein; und es kann ihr
an Gelegenheit nicht fehlen.--Sie sieht die Königin mit dem Kanzler
wiederkommen und geht, sich zu ihrem Vorhaben gefaßt zu machen.

Der Kanzler hält verschiedne Briefschaften, die ihm die Königin nur auf
einen Tisch zu legen befiehlt; sie will sie vor Schlafengehen noch
durchsehen. Der Kanzler erhebt die außerordentliche Wachsamkeit, mit der
sie ihren Reichsgeschäften obliege; die Königin erkennt es für ihre
Pflicht und beurlaubet den Kanzler. Nun ist sie allein und setzt sich zu
den Papieren. Sie will sich ihres verliebten Kummers entschlagen und
anständigern Sorgen überlassen. Aber das erste Papier, was sie in die
Hände nimmt, ist die Bittschrift eines Grafen Felix. Eines Grafen! "Muß
es denn eben", sagt sie, "von einem Grafen sein, was mir zuerst vorkömmt!"
Dieser Zug ist vortrefflich. Auf einmal ist sie wieder mit ihrer ganzen
Seele bei demjenigen Grafen, an den sie itzt nicht denken wollte. Seine
Liebe zu Blanca ist ein Stachel in ihrem Herzen, der ihr das Leben zur
Last macht. Bis sie der Tod von dieser Marter befreie, will sie bei dem
Bruder des Todes Linderung suchen: und so fällt sie in Schlaf.

Indem tritt Blanca herein und hat eine von den Pistolen des Grafen, die
sie in ihrem Zimmer gefunden. (Der Dichter hatte sie, zu Anfange dieses
Akts, nicht vergebens dahin tragen lassen.) Sie findet die Königin allein
und entschlafen: was für einen bequemem Augenblick könnte sie sich
wünschen? Aber eben hat der Graf die Blanca gesucht und sie in ihrem
Zimmer nicht getroffen. Ohne Zweifel errät man, was nun geschieht. Er
kömmt also, sie hier zu suchen; und kömmt eben noch zurecht, der Blanca
in den mörderischen Arm zu fallen und ihr die Pistole, die sie auf die
Königin schon gespannt hat, zu entreißen. Indem er aber mit ihr ringt,
geht der Schuß los: die Königin erwacht, und alles kömmt aus dem Schlosse
herzugelaufen.

"Die Königin (im Erwachen). Ha! Was ist das?

Der Kanzler. Herbei, herbei! Was war das für ein Knall in dem Zimmer
der Königin? Was geschieht hier?

Essex (mit der Pistole in der Hand). Grausamer Zufall!

Die Königin. Was ist das, Graf?

Essex. Was soll ich tun?

Die Königin. Blanca, was ist das?

Blanca. Mein Tod ist gewiß!

Essex. In welcher Verwirrung befinde ich mich!

Der Kanzler. Wie? der Graf ein Verräter?

Essex (beiseite). Wozu soll ich mich entschließen? Schweige ich: so
fällt das Verbrechen auf mich. Sage ich die Wahrheit: so werde ich
der nichtswürdige Verkläger meiner Geliebten, meiner Blanca, meiner
teuersten Blanca.

Die Königin. Sind Sie der Verräter, Graf? Bist du es, Blanca? Wer
von euch war mein Retter? wer mein Mörder? Mich dünkt, ich hörte im
Schlafe euch beide rufen: Verräterin! Verräter! Und doch kann nur
eines von euch diesen Namen verdienen. Wenn eines von euch mein Leben
suchte, so bin ich es dem andern schuldig. Wem bin ich es schuldig,
Graf? Wer suchte es, Blanca? Ihr schweigt?--Wohl, schweigt nur! Ich
will in dieser Ungewißheit bleiben; ich will den Unschuldigen nicht
wissen, um den Schuldigen nicht zu kennen. Vielleicht dürfte es mich
ebensosehr schmerzen, meinen Beschützer zu erfahren, als meinen Feind.
Ich will der Blanca gern ihre Verräterei vergeben, ich will sie ihr
verdanken: wenn dafür der Graf nur unschuldig war."[3]

Aber der Kanzler sagt: wenn es die Königin schon hierbei wolle bewenden
lassen, so dürfe er es doch nicht; das Verbrechen sei zu groß; sein Amt
erfodere, es zu ergründen; besonders da aller Anschein sich wider den
Grafen erkläre.

"Die Königin. Der Kanzler hat recht; man muß es untersuchen.--Graf,--

Essex. Königin!--

Die Königin. Bekennen Sie die Wahrheit.--(Beiseite.) Aber wie sehr
fürchtet meine Liebe, sie zu hören! War es Blanca?

Essex. Ich Unglücklicher!

Die Königin. War es Blanca, die meinen Tod wollte?

Essex. Nein, Königin; Blanca war es nicht.

Die Königin. Sie waren es also?

Essex. Schreckliches Schicksal!--Ich weiß nicht.

Die Königin. Sie wissen es nicht?--Und wie kömmt dieses mörderische
Werkzeug in Ihre Hand?--"

Der Graf schweigt, und die Königin befiehlt, ihn nach dem Tower zu
bringen. Blanca, bis sich die Sache mehr aufhellet, soll in ihrem Zimmer
bewacht werden. Sie werden abgeführt, und der zweite Aufzug schließt.


----Fußnote

[1]
    bl. le llamé una noche obscura--
    rein. y vino a verte? bl. pluguiera
      a dios, que no fuera tanta
      mi desdicha, y su fineza.
      vino más galán que nunca,
      y yo que dos veces ciega,
      por mi mal, estaba entónces
      del amor, y las tinieblas--

[2]
    rein. este es celo, blanca. bl. celos,
      añadiéndole una letra.
    rein. qué decis? bl. señora, que
      si acaso posible fuera,
      a no ser vos la que dice
      esas palabras, dijera,
      que eran celos. rein. qué son celos?
      no son celos, es ofensa
      que me estais haciendo vos.
      supongamos, que quisiera
      al conde en esta ocasión;
      pues si yo al conde quisiera
      y alguna atrevida, loca
      presumida, descompuesta
      le quisiera, qué es querer?
      que le mirara, o le viera;
      qué es verle? no sé que diga.
      no hay cosa que ménos sea--
      no la quitara la vida?
      la sangre no le bebiera?--
      los celos, aunque fingidos,
      me arrebataron la lengua,
      y dispararon mi enojo--
      mirad que no me deis celos,
      que si fingidos se altera
      tanto mi enojo, ved vos,
      si fuera verdad, qué hiciera--
      escarmentad en las burlas,
      no me deis celos de veras.

    conde, vos traidor? vos, blanca?
    el juicio está indiferente,
    cual me libra, cual me mata.
    conde, bianca, respondedme!
    tu á la reina? tu á la reina?
    oid, aunque confusamente:
    ha, traidora, dijo el conde.
    blanca, dijo: traidor eres.
    estas razones de entrambos
    a entrambas cosas convienen:
    uno de los dos me libra,
    otro de los me ofende.
    conde, cuál me daba vida?
    blanca, cuál me daba muerte?
    decidme!--no lo digais,
    que neutral mi valor quiere,
    per no saber el traidor,
    no saber el inocente.
    mejor es quedar confusa,
    en duda mi juicio quede,
    porque cuando mire a alguno,
    y de la traición me acuerde,
    a pensar, que es el traidor,
    que es el leal también piense.
    yo le agradeciera á blanca,
    que ella la traidora fuese,
    solo á trueque de que el conde
    fuera él, que estaba inocente.--

----Fußnote



Sechsundsechzigstes Stück
Den 18. Dezember 1767

Der dritte Aufzug fängt sich mit einer langen Monologe der Königin an,
die allen Scharfsinn der Liebe aufbietet, den Grafen unschuldig zu
finden. Die Vielleicht werden nicht gesparet, um ihn weder als ihren
Mörder, noch als den Liebhaber der Blanca denken zu dürfen. Besonders
geht sie mit den Voraussetzungen wider die Blanca ein wenig sehr weit;
sie denkt über diesen Punkt überhaupt lange so zärtlich und sittsam
nicht, als wir es wohl wünschen möchten, und als sie auf unsern Theatern
denken müßte.[1]

Es kommen der Herzog und der Kanzler: jener, ihr seine Freude über die
glückliche Erhaltung ihres Lebens zu bezeigen; dieser, ihr einen neuen
Beweis, der sich wider den Essex äußert, vorzulegen. Auf der Pistole, die
man ihm aus der Hand genommen, steht sein Name; sie gehört ihm; und wem
sie gehört, der hat sie unstreitig auch brauchen wollen.

Doch nichts scheinet den Essex unwidersprechlicher zu verdammen, als was
nun erfolgt. Cosme hat, bei anbrechendem Tage, mit dem bewußten Briefe
nach Schottland abgehen wollen und ist angehalten worden. Seine Reise
sieht einer Flucht sehr ähnlich, und solche Flucht läßt vermuten, daß er
an dem Verbrechen seines Herrn Anteil könne gehabt haben. Er wird also
vor den Kanzler gebracht, und die Königin befiehlt, ihn in ihrer
Gegenwart zu verhören. Den Ton, in welchem sich Cosme rechtfertiget, kann
man leicht erraten. Er weiß von nichts; und als er sagen soll, wo er
hingewollt, läßt er sich um die Wahrheit nicht lange nötigen. Er zeigt
den Brief, den ihm sein Graf an einen andern Grafen nach Schottland zu
überbringen befohlen: und man weiß, was dieser Brief enthält. Er wird
gelesen, und Cosme erstaunt nicht wenig, als er hört, wohin es damit
abgesehen gewesen. Aber noch mehr erstaunt er über den Schluß desselben,
worin der Überbringer ein Vertrauter heißt, durch den Roberto seine
Antwort sicher bestellen könne. "Was höre ich?" ruft Cosme. "Ich ein
Vertrauter? Bei diesem und jenem! ich bin kein Vertrauter; ich bin
niemals einer gewesen, und will auch in meinem Leben keiner sein.--Habe
ich wohl das Ansehen zu einem Vertrauten? Ich möchte doch wissen, was
mein Herr an mir gefunden hätte, um mich dafür zu nehmen. Ich, ein
Vertrauter, ich, dem das geringste Geheimnis zur Last wird? Ich weiß zum
Exempel, daß Blanca und mein Herr einander lieben, und daß sie heimlich
miteinander verheiratet sind: es hat mir schon lange das Herz abdrücken
wollen; und nun will ich es nur sagen, damit Sie hübsch sehen, meine
Herren, was für ein Vertrauter ich bin. Schade, daß es nicht etwas viel
Wichtigeres ist: ich würde es ebensowohl sagen."[2] Diese Nachricht
schmerzt die Königin nicht weniger, als die Überzeugung, zu der sie durch
den unglücklichen Brief von der Verräterei des Grafen gelangt. Der Herzog
glaubt, nun auch sein Stillschweigen brechen zu müssen und der Königin
nicht länger zu verbergen, was er in dem Zimmer der Blanca zufälligerweise
angehört habe. Der Kanzler dringt auf die Bestrafung des Verräters, und
sobald die Königin wieder allein ist, reizen sie sowohl beleidigte Majestät,
als gekränkte Liebe, des Grafen Tod zu beschließen.

Nunmehr bringt uns der Dichter zu ihm in das Gefängnis. Der Kanzler kömmt
und eröffnet dem Grafen, daß ihn das Parlament für schuldig erkannt und
zum Tode verurteilet habe, welches Urteil morgen des Tages vollzogen
werden solle. Der Graf beteuert seine Unschuld.

"Der Kanzler. Ihre Unschuld, Mylord, wollte ich gern glauben: aber so
viele Beweise wider Sie!--Haben Sie den Brief an den Roberto nicht
geschrieben? Ist es nicht Ihr eigenhändiger Name?

Essex. Allerdings ist er es.

Der Kanzler. Hat der Herzog von Alanzon Sie, in dem Zimmer der Blanca,
nicht ausdrücklich den Tod der Königin beschließen hören?

Essex. Was er gehört hat, hat er freilich gehört.

Der Kanzler. Sahe die Königin, als sie erwachte, nicht die Pistole in
Ihrer Hand? Gehört die Pistole, auf der Ihr Name gestochen, nicht
Ihnen?

Essex. Ich kann es nicht leugnen.

Der Kanzler. So sind Sie ja schuldig.

Essex. Das leugne ich.

Der Kanzler. Nun, wie kamen Sie denn dazu, daß Sie den Brief an den
Roberto schrieben?

Essex. Ich weiß nicht.

Der Kanzler. Wie kam es denn, daß der Herzog den verräterischen
Vorsatz aus Ihrem eignen Munde vernehmen mußte?

Essex. Weil es der Himmel so wollte.

Der Kanzler. Wie kam es denn, daß sich das mörderische Werkzeug in
Ihren Händen fand?

Essex. Weil ich viel Unglück habe.

Der Kanzler. Wenn alles das Unglück, und nicht Schuld ist: wahrlich,
Freund, so spielst Ihnen Ihr Schicksal einen harten Streich. Sie
werden ihn mit Ihrem Kopfe bezahlen müssen.

Essex. Schlimm genug."[3]

"Wissen Ihre Gnaden nicht", fragt Cosme, der dabei ist, "ob sie mich etwa
mit hängen werden?" Der Kanzler antwortet Nein, weil ihn sein Herr
hinlänglich gerechtfertiget habe; und der Graf ersucht den Kanzler, zu
verstatten, daß er die Blanca noch vor seinem Tode sprechen dürfe. Der
Kanzler bedauert, daß er, als Richter, ihm diese Bitte versagen müsse;
weil beschlossen worden, seine Hinrichtung so heimlich, als möglich,
geschehen zu lassen, aus Furcht vor den Mitverschwornen, die er
vielleicht sowohl unter den Großen, als unter dem Pöbel in Menge haben
möchte. Er ermahnt ihn, sich zum Tode zu bereiten, und geht ab. Der Graf
wünschte bloß deswegen die Blanca noch einmal zu sprechen, um sie zu
ermahnen, von ihrem Vorhaben abzustehen. Da er es nicht mündlich tun
dürfen, so will er es schriftlich tun. Ehre und Liebe verbinden ihn, sein
Leben für sie hinzugeben; bei diesem Opfer, das die Verliebten alle auf
der Zunge führen, das aber nur bei ihm zur Wirklichkeit gelangt, will er
sie beschwören, es nicht fruchtlos bleiben zu lassen. Es ist Nacht; er
setzt sich nieder zu schreiben, und befiehlt Cosmen, den Brief, den er
ihm hernach geben werde, sogleich nach seinem Tode der Blanca
einzuhändigen. Cosme geht ab, um indes erst auszuschlafen.


----Fußnote

[1]
    No pudo ser que mintiera
    Blanca en lo que me contó
    De gozarla el Conde? No,
    Que Blanca no lo fingiera:
    No pudo haberla gozado,
    Sin estar enamorado,
    Y cuando tierno y rendido,
    Entónces la haya querido,
    No puede haberla olvidado?
    No le vieron mis antoios
    Entre acogimientos sabios,
    Muy callando con los labios,
    Muy bachiller con los ojos,
    Cuando al decir sus enojos
    Yo su despecho reñí?

    [2]
    Qué escucho? Señores míos,
    Dos mil demonios me lleven,
    Si yo confidente soy,
    Si lo he sido, o si lo fuere,
    Ni tengo intención de serlo.
    --Tengo yo
    Cara de ser confidente?
    Yo no sé que ha visto en mi
    Mi amo para tenerme
    En esta opinion; y á fe,
    Que me holgara de que fuese
    Cosa de más importancia
    Un secretillo muy leve,
    Que rabio ya per decirlo,
    Que es que el Conde a Blanca quiere,
    Que están casados los dos
    En secreto--

    [3]
    Con. Sólo el descargo que tengo
      Es el estar inocente.
    Senescal. Aunque yo quiera creerlo
      No me dejan los indicios,
      Y advertid, que ya no es tiempo
      De dilación, que mañana
      Habeis de morir. Con. Yo muero
      Inocente. Sen. Pues decid:
      No escribísteis a Roberto
      Esta carta? Aquesta firma
      No es la vuestra? Con. No lo niego.
    Sen. El gran duque de Alanzón
      No os oyó en el aposento
      De Blanca trazar la muerte
      De la Reina? Con. Aqueso es cierto.
    Sen. Cuando despertó la Reina
      No os halló, Conde, a vos mesmo
      Con la pistola en la mano?
      Y la pistola que vemos
      Vuestro nombre allí gravado
      No es vuestro? Con. Os lo concedo.
    Sen. Luego vos estais culpado.
    Con. Eso solamente niego.
    Sen. Pues como escribísteis, Conde,
      La carta al traidor Roberto?
    Con. No lo sè. Sen. Pues cómo el Duque,
      Que escuchó vuestros intentos,
      Os convence en la traición?
    Con. Porque así lo quiso el cielo.
    Sen. Cómo hallado en vuestra mano
      Os culpa el vil instrumento?
    Con. Porque tengo poca dicha.--
    Sen. Pues sabed, que si es desdicha
      Y no culpa, en tanto aprieto
      Os pone vuestra fortuna,
      Conde amigo, que supuesto
      Que no dais otro descargo,
      En fe de indicios tan ciertos,
      Mañana vuestra cabeza
      Ha de pagar--

----Fußnote



Siebenundsechzigstes Stück
Den 22. Dezember 1767

Nun folgt eine Szene, die man wohl schwerlich erwartet hätte. Alles ist
ruhig und stille, als auf einmal eben die Dame, welcher Essex in dem
ersten Akte das Leben rettete, in eben dem Anzuge, die halbe Maske auf
dem Gesichte, mit einem Lichte in der Hand, zu dem Grafen in das
Gefängnis hereintritt. Es ist die Königin. "Der Graf", sagt sie vor sich
im Hereintreten, "hat mir das Leben erhalten: ich bin ihm dafür
verpflichtet. Der Graf hat mir das Leben nehmen wollen: das schreiet um
Rache. Durch seine Verurteilung ist der Gerechtigkeit ein Genüge
geschehen: nun geschehe es auch der Dankbarkeit und Liebe!"[1] Indem sie
näher kommt, wird sie gewahr, daß der Graf schreibt. "Ohne Zweifel", sagt
sie, "an seine Blanca! Was schadet das? Ich komme aus Liebe, aus der
feurigsten, uneigennützigsten Liebe: itzt schweige die Eifersucht!--Graf!"
--Der Graf hört sich rufen, sieht hinter sich und springt voller Erstaunen
auf. "Was seh' ich!"--"Keinen Traum", fährt die Königin fort, "sondern die
Wahrheit. Eilen Sie, sich davon zu überzeugen, und lassen Sie uns kostbare
Augenblicke nicht mit Zweifeln verlieren.--Sie erinnern sich doch meiner?
Ich bin die, der Sie das Leben gerettet. Ich höre, daß Sie morgen sterben
sollen; und ich komme, Ihnen meine Schuld abzutragen, Ihnen Leben für Leben
zu geben. Ich habe den Schlüssel des Gefängnisses zu bekommen gewußt.
Fragen Sie mich nicht, wie? Hier ist er; nehmen Sie; er wird Ihnen die
Pforte in den Park öffnen; fliehen Sie, Graf, und erhalten Sie ein Leben,
das mir so teuer ist."--

"Essex. Teuer? Ihnen, Madame?

Die Königin. Würde ich sonst soviel gewagt haben, als ich wage?

Essex. Wie sinnreich ist das Schicksal, das mich verfolgt! Es findet
einen Weg, mich durch mein Glück selbst unglücklich zu machen. Ich
scheine glücklich, weil die mich zu befreien kömmt, die meinen Tod
will: aber ich bin um so viel unglücklicher, weil die meinen Tod will,
die meine Freiheit mir anbietet."[2]--

Die Königin verstehet hieraus genugsam, daß sie Essex kennet. Er
verweigert sich der Gnade, die sie ihm angetragen, gänzlich; aber er
bittet, sie mit einer andern zu vertauschen.

"Die Königin. Und mit welcher?

Essex. Mit der, Madame, von der ich weiß, daß sie in Ihrem Vermögen
steht,--mit der Gnade, mir das Angesicht meiner Königin sehen zu
lassen. Es ist die einzige, um die ich es nicht zu klein halte, Sie
an das zu erinnern, was ich für Sie getan habe. Bei dem Leben, das
ich Ihnen gerettet, beschwöre ich Sie, Madame, mir diese Gnade zu
erzeigen.

Die Königin (vor sich). Was soll ich tun? Vielleicht, wenn er mich
sieht, daß er sich rechtfertiget! Das wünsche ich ja nur.

Essex. Verzögern Sie mein Glück nicht, Madame.

Die Königin. Wenn Sie es denn durchaus wollen, Graf; wohl: aber
nehmen Sie erst diesen Schlüssel; von ihm hängt Ihr Leben ab. Was ich
itzt für Sie tun darf, könnte ich hernach vielleicht nicht dürfen.
Nehmen Sie; ich will Sie gesichert wissen.[3]

Essex (indem er den Schlüssel nimmt). Ich erkenne diese Vorsicht mit
Dank.--Und nun, Madame,--ich brenne, mein Schicksal auf dem Angesichte
der Königin, oder dem Ihrigen zu lesen.

Die Königin. Graf, ob beide gleich eines sind, so gehört doch nur das,
welches Sie noch sehen, mir ganz allein; denn das, welches Sie nun
erblicken, (indem sie die Maske abnimmt) ist der Königin. Jenes, mit
welchem ich Sie erst sprach, ist nicht mehr.

Essex. Nun sterbe ich zufrieden! Zwar ist es das Vorrecht des
königlichen Antlitzes, daß es jeden Schuldigen begnadigen muß, der
es erblickt; und auch mir müßte diese Wohltat des Gesetzes zustatten
kommen. Doch ich will weniger hierzu, als zu mir selbst, meine Zuflucht
nehmen. Ich will es wagen, meine Königin an die Dienste zu erinnern,
die ich ihr und dem Staate geleistet--.[4]

Die Königin. An diese habe ich mich schon selbst erinnert. Aber Ihr
Verbrechen, Graf, ist größer als Ihre Dienste.

Essex. Und ich habe mir nichts von der Huld meiner Königin zu
versprechen?

Die Königin. Nichts.

Essex. Wenn die Königin so streng ist, so rufe ich die Dame an, der
ich das Leben gerettet. Diese wird doch wohl gütiger mit mir
verfahren?

Die Königin. Diese hat schon mehr getan, als sie sollte: sie hat
Ihnen den Weg geöffnet, der Gerechtigkeit zu entfliehen.

Essex. Und mehr habe ich um Sie nicht verdient, um Sie, die mir ihr
Leben schuldig ist?

Die Königin. Sie haben schon gehört, daß ich diese Dame nicht bin.
Aber gesetzt, ich wäre es: gebe ich Ihnen nicht ebensoviel wieder, als
ich von Ihnen empfangen habe?

Essex. Wo das? Dadurch doch wohl nicht, daß Sie mir den Schlüssel
gegeben?

Die Königin. Dadurch allerdings.

Essex. Der Weg, den mir dieser Schlüssel eröffnen kann, ist weniger
der Weg zum Leben, als zur Schande. Was meine Freiheit bewirken soll,
muß nicht meiner Furchtsamkeit zu dienen scheinen. Und doch glaubt
die Königin, mich mit diesem Schlüssel für die Reiche, die ich ihr
erfochten, für das Blut, das ich um sie vergossen, für das Leben, das
ich ihr erhalten, mich mit diesem elenden Schlüssel für alles das
abzulohnen?[5] Ich will mein Leben einem anständigem Mittel zu danken
haben, oder sterben (indem er nach dem Fenster geht).

Die Königin. Wo gehen Sie hin?

Essex. Nichtwürdiges Werkzeug meines Lebens und meiner Entehrung!
Wenn bei dir alle meine Hoffnung beruhet, so empfange die Flut, in
ihrem tiefsten Abgrunde, alle meine Hoffnung! (Er eröffnet das
Fenster und wirft den Schlüssel durch das Gitter in den Kanal.) Durch
die Flucht wäre mein Leben viel zu teuer erkauft.[6]

Die Königin. Was haben Sie getan, Graf?--Sie haben sehr übel getan.

Essex. Wenn ich sterbe: so darf ich wenigstens laut sagen, daß ich
eine undankbare Königin hinterlasse.--Will sie aber diesen Vorwurf
nicht: so denke sie auf ein anderes Mittel, mich zu retten. Dieses
unanständigere habe ich ihr genommen. Ich berufe mich nochmals auf
meine Dienste: es steht bei ihr, sie zu belohnen oder mit dem Andenken
derselben ihren Undank zu verewigen.

Die Königin. Ich muß das letztere Gefahr laufen.--Denn wahrlich, mehr
konnte ich, ohne Nachteil meiner Würde, für Sie nicht tun.

Essex. So muß ich denn sterben?

Die Königin. Ohnfehlbar. Die Frau wollte Sie retten; die Königin muß
dem Rechte seinen Lauf lassen. Morgen müssen Sie sterben; und es ist
schon morgen. Sie haben mein ganzes Mitleid; die Wehmut bricht mir
das Herz; aber es ist nun einmal das Schicksal der Könige, daß sie
viel weniger nach ihren Empfindungen handeln können, als andere.
--Graf, ich empfehle Sie der Vorsicht!--"


----Fußnote

[1]
    el conde me dió la vida
    y así obligada me veo;
    el conde me daba muerte,
    y así ofendida me quejo.
    pues ya que con la sentencia
    esta parte he satisfecho,
    pues complí con la justicia,
    con el amor cumplir quiero.--

[2]
    ingeniosa mi fortuna
    halló en la dicha más nuevo
    modo de hacerme infeliz,
    pues cuando dichoso veo,
    que me libra quien me mata,
    tambien desdichado advierto,
    que me mata quien me libra.

[3]
    pues si esto ha de ser, primero
    tomad, conde, aquesta llave,
    que si ha de ser instrumento
    de vuestra vida, quizá
    tan otra, quitando el velo,
    seré, que no pueda entónces
    hacer lo que ahora puedo,
    y como á daros la vida
    me empeñé por lo que os debo,
    por si no puedo después,
    de esta suerte me prevengo.

[4]
    moriré yo consolado.
    aunque si por privilegio
    en viendo la cara al rey
    queda perdonado el reo;
    yo de este indulto, señora
    vida por ley me prometo:
    esto es en común, que es
    lo que a todos da el derecho;
    pero si en particular
    merecer el perdón quiero,
    oíd, vereis que me ayuda
    mayor indulto en mis hechos.
    mis hazañas--

[5]
    luego esta, que así camino
    abrirá a mi vida, abriendo,
    también lo abrirá a mi infamia;
    luego esta, que instrumento
    de mi libertad, también
    lo habrá de ser de mi miedo.
    esta, que sólo me sirve
    de huir, es el desempeño
    de reinos, que os he ganado,
    de servicios, que os he hecho.
    y en fin, de esa vida, de esa,
    que teneis hoy por mi esfuerzo?
    en esta se cifra tanto?--

[6]
    vil instrumento
    de mi vida, y de mi infamia,
    por esta reja cayendo
    del parque, que bate el río,
    entre sus crístales quiero,
    si sois mi esperanza, hundiros;
    caed al húmido centro,
    donde el tamásis sepulte
    mi esperanza, y mi remedio.

----Fußnote



Achtundsechzigstes Stück
Den 25. Dezember 1767

Noch einiger Wortwechsel zum Abschiede, noch einige Ausrufungen in der
Stille: und beide, der Graf und die Königin, gehen ab; jedes von einer
besondern Seite. Im Herausgehen, muß man sich einbilden, hat Essex Cosmen
den Brief gegeben, den er an die Blanca geschrieben. Denn den Augenblick
darauf kömmt dieser damit herein und sagt, daß man seinen Herrn zum Tode
führe; sobald es damit vorbei sei, wolle er den Brief, so wie er es
versprochen, übergeben. Indem er ihn aber ansieht, erwacht seine
Neugierde. "Was mag dieser Brief wohl enthalten? Eine Eheverschreibung?
die käme ein wenig zu spät. Die Abschrift von seinem Urteile? die wird er
doch nicht der schicken, die es zur Witwe macht. Sein Testament? auch
wohl nicht. Nun was denn?" Er wird immer begieriger; zugleich fällt ihm
ein, wie es ihm schon einmal fast das Leben gekostet hätte, daß er nicht
gewußt, was in dem Briefe seines Herrn stünde. "Wäre ich nicht", sagt er,
"bei einem Haare zum Vertrauten darüber geworden? Hol' der Geier die
Vertrautschaft! Nein, das muß mir nicht wieder begegnen!" Kurz, Cosme
beschließt den Brief zu erbrechen; und erbricht ihn. Natürlich, daß ihn
der Inhalt äußerst betroffen macht; er glaubt, ein Papier, das so wichtige
und gefährliche Dinge enthalte, nicht geschwind genug los werden zu können;
er zittert über den bloßen Gedanken, daß man es in seinen Händen finden
könne, ehe er es freiwillig abgeliefert; und eilet, es geraden Weges der
Königin zu bringen.

Eben kömmt die Königin mit dem Kanzler heraus. Cosme will sie den Kanzler
nur erst abfertigen lassen; und tritt beiseite. Die Königin erteilt dem
Kanzler den letzten Befehl zur Hinrichtung des Grafen; sie soll sogleich
und ganz in der Stille vollzogen werden; das Volk soll nichts davon
erfahren, bis der geköpfte Leichnam ihm mit stummer Zunge Treue und
Gehorsam zurufe.[1] Den Kopf soll der Kanzler in den Saal bringen und,
nebst dem blutigen Beile, unter einen Teppich legen lassen; hierauf die
Großen des Reichs versammeln, um ihnen mit eins Verbrechen und Strafe zu
zeigen, zugleich sie an diesem Beispiele ihrer Pflicht zu erinnern und
ihnen einzuschärfen, daß ihre Königin ebenso strenge zu sein wisse, als
sie gnädig sein zu können wünsche: und das alles, wie sie der Dichter
sagen läßt, nach Gebrauch und Sitte des Landes.[2]

Der Kanzler geht mit diesen Befehlen ab, und Cosme tritt die Königin an.
"Diesen Brief", sagt er, "hat mir mein Herr gegeben, ihn nach seinem Tode
der Blanca einzuhändigen. Ich habe ihn aufgemacht, ich weiß selbst nicht
warum; und da ich Dinge darin finde, die Ihro Majestät wissen müssen, und
die dem Grafen vielleicht noch zustatten kommen können: so bringe ich ihn
Ihro Majestät, und nicht der Blanca." Die Königin nimmt den Brief und
lieset: "Blanca, ich nahe mich meinem letzten Augenblicke; man will mir
nicht vergönnen, mit dir zu sprechen: empfange also meine Ermahnung
schriftlich. Aber vors erste lerne mich kennen; ich bin nie der Verräter
gewesen, der ich dir vielleicht geschienen; ich versprach, dir in der
bewußten Sache behilflich zu sein, bloß um der Königin desto nachdrück-
licher zu dienen und den Roberto, nebst seinen Anhängern, nach London zu
locken. Urteile, wie groß meine Liebe ist, da ich demohngeachtet eher
selbst sterben, als dein Leben in Gefahr setzen will. Und nun die Ermahnung:
stehe von dem Vorhaben ab, zu welchem dich Roberto anreizet; du hast mich
nun nicht mehr; und es möchte sich nicht alle Tage einer finden, der dich
so sehr liebte, daß er den Tod des Verräters für dich sterben wollte. "[3]--

"Mensch!" ruft die bestürzte Königin, "was hast du mir da gebracht?"
"Nun?" sagt Cosme, "bin ich noch ein Vertrauter?"--"Eile, fliehe, deinen
Herrn zu retten! Sage dem Kanzler, einzuhalten!--Holla, Wache! bringt ihn
augenblicklich vor mich,--den Grafen,--geschwind!"--Und eben wird er
gebracht: sein Leichnam nämlich. So groß die Freude war, welche die
Königin auf einmal überströmte, ihren Grafen unschuldig zu wissen: so
groß sind nunmehr Schmerz und Wut, ihn hingerichtet zu sehen. Sie
verflucht die Eilfertigkeit, mit der man ihren Befehl vollzogen: und
Blanca mag zittern!--

So schließt sich dieses Stück, bei welchem ich meine Leser vielleicht zu
lange aufgehalten habe. Vielleicht auch nicht. Wir sind mit den
dramatischen Werken der Spanier so wenig bekannt; ich wüßte kein einziges,
welches man uns übersetzt oder auch nur auszugsweise mitgeteilet hätte.
Denn die "Virginia" des Augustino de Montiano y Luyando ist zwar spanisch
geschrieben; aber kein spanisches Stück. ein bloßer Versuch in der
korrekten Manier der Franzosen, regelmäßig, aber frostig. Ich bekenne sehr
gern, daß ich bei weiten so vorteilhaft nicht mehr davon denke, als ich
wohl ehedem muß gedacht haben.[4] Wenn das zweite Stück des nämlichen
Verfassers nicht besser geraten ist; wenn die neueren Dichter der Nation,
welche ebendiesen Weg betreten wollen, ihn nicht glücklicher betreten haben:
so mögen sie mir es nicht übelnehmen, wenn ich noch immer lieber nach ihrem
alten Lope und Calderon greife, als nach ihnen.

Die echten spanischen Stücke sind vollkommen nach der Art dieses "Essex".
In allen einerlei Fehler, und einerlei Schönheiten: mehr oder weniger;
das versteht sich. Die Fehler springen in die Augen: aber nach den
Schönheiten dürfte man mich fragen.--Eine ganze eigne Fabel; eine sehr
sinnreiche Verwicklung; sehr viele, und sonderbare, und immer neue
Theaterstreiche; die ausgespartesten Situationen; meistens sehr wohl
angelegte und bis ans Ende erhaltene Charaktere; nicht selten viel Würde
und Stärke im Ausdrucke.--

Das sind allerdings Schönheiten: ich sage nicht, daß es die höchsten
sind; ich leugne nicht, daß sie zum Teil sehr leicht bis in das
Romanenhafte, Abenteuerliche, Unnatürliche können getrieben werden, daß
sie bei den Spaniern von dieser Übertreibung selten frei sind. Aber man
nehme den meisten französischen Stücken ihre mechanische Regelmäßigkeit:
und sage mir, ob ihnen andere, als Schönheiten solcher Art, übrig
bleiben? Was haben sie sonst noch viel Gutes, als Verwicklung und
Theaterstreiche und Situationen?

Anständigkeit: wird man sagen.--Nun ja; Anständigkeit. Alle ihre
Verwicklungen sind anständiger, und einförmiger; alle ihre
Theaterstreiche anständiger, und abgedroschner; alle ihre Situationen
anständiger, und gezwungner. Das kömmt von der Anständigkeit!

Aber Cosme, dieser spanische Hanswurst; diese ungeheure Verbindung der
pöbelhaftesten Possen mit dem feierlichsten Ernste; diese Vermischung des
Komischen und Tragischen, durch die das spanische Theater so berüchtiget
ist? Ich bin weit entfernt, diese zu verteidigen. Wenn sie zwar bloß mit
der Anständigkeit stritte,--man versteht schon, welche Anständigkeit ich
meine;--wenn sie weiter keinen Fehler hätte, als daß sie die Ehrfurcht
beleidigte, welche die Großen verlangen, daß sie der Lebensart, der
Etikette, dem Zeremoniell und allen den Gaukeleien zuwiderlief, durch die
man den größern Teil der Menschen bereden will, daß es einen kleinern
gäbe, der von weit besserm Stoffe sei, als er: so würde mir die unsinnigste
Abwechslung von Niedrig auf Groß, von Aberwitz auf Ernst, von Schwarz auf
Weiß, willkommner sein, als die kalte Einförmigkeit, durch die mich der
gute Ton, die feine Welt, die Hofmanier, und wie dergleichen Armseligkeiten
mehr heißen, unfehlbar einschläfert. Doch es kommen ganz andere Dinge hier
in Betrachtung.


----Fußnote

[1]
    Hasta que el tronco cadáver
    Le sirva de muda lengua.

[2]
    Y así al salón de palacio
    Hareis que llamados vengan
    Los Grandes y los Milordes,
    Y para que allí le vean,
    Debajo de una cortina
    Hareis poner la cabeza
    Con el sangriento cuchillo,
    Que amenaza junto a ella,
    Por símbolo de justicia,
    Costumbre de Inglaterra:
    Y en estando todos juntos,
    Monstrándome justiciera,
    Exhortándolos primero
    Con amor a la obediencia,
    Les mostraré luego al Conde,
    Para que todos atiendan,
    Que en mi hay rigor que los rinda,
    Si hay piedad que los atreva.

[3]
    Blanca, en el último trance,
    Porque hablarte no me dejan,
    He de escribirte un consejo,
    Y también una advertencia;
    La advertencia es, que yo nunca
    Fuí traidor, que la promesa
    De ayudar en lo que sabes,
    Fué por servir a la Reina,
    Cogiendo a Roberto en Londres,
    Y a los que seguirle intentan;
    Para aquesto fué la carta:
    Esto he querido que sepas,
    Porque adviertas el prodigio
    De mi amor, que así se deja
    Morir, por guardar tu vida.
    Esta ha sido la advertencia:
    (Valgame dios!) el consejo
    Es, que desistas la empresa
    A que Roberto te incita.
    Mira que sin mí te quedas
    Y no ha de haber cada día
    Quien, por mucho que te quiera,
    Por conservarte la vida
    Por traidor la suya pierda.--

[4] "Theatralische Bibliothek", erstes Stück, S. 117.

----Fußnote



Neunundsechzigstes Stück
Den 29. Dezember 1767

Lope de Vega, ob er schon als der Schöpfer des spanischen Theaters
betrachtet wird, war es indes nicht, der jenen Zwitterton einführte. Das
Volk war bereits so daran gewöhnt, daß er ihn wider Willen mit anstimmen
mußte. In seinem Lehrgedichte über "die Kunst, neue Komödien zu machen",
dessen ich oben schon gedacht, jammert er genug darüber. Da er sahe, daß
es nicht möglich sei, nach den Regeln und Mustern der Alten für seine
Zeitgenossen mit Beifall zu arbeiten: so suchte er der Regellosigkeit
wenigstens Grenzen zu setzen; das war die Absicht dieses Gedichts. Er
dachte, so wild und barbarisch auch der Geschmack der Nation sei, so
müsse er doch seine Grundsätze haben; und es sei besser, auch nur nach
diesen mit einer beständigen Gleichförmigkeit zu handeln, als nach gar
keinen. Stücke, welche die klassischen Regeln nicht beobachten, können
doch noch immer Regeln beobachten und müssen dergleichen beobachten,
wenn sie gefallen wollen. Diese also, aus dem bloßen Nationalgeschmacke
hergenommen, wollte er festsetzen; und so ward die Verbindung des
Ernsthaften und Lächerlichen die erste.

"Auch Könige", sagt er, "könnet ihr in euern Komödien auftreten lassen.
Ich höre zwar, daß unser weiser Monarch (Philipp der Zweite) dieses nicht
gebilliget; es sei nun, weil er einsahe, daß es wider die Regeln laufe,
oder weil er es der Würde eines Königes zuwider glaubte, so mit unter den
Pöbel gemengt zu werden. Ich gebe auch gern zu, daß dieses wieder zur
ältesten Komödie zurückkehren heißt, die selbst Götter einführte; wie
unter andern in dem "Amphitruo" des Plautus zu sehen: und ich weiß gar
wohl, daß Plutarch, wenn er von Menandern redet, die älteste Komödie
nicht sehr lobt. Es fällt mir also freilich schwer, unsere Mode zu
billigen. Aber da wir uns nun einmal in Spanien so weit von der Kunst
entfernen: so müssen die Gelehrten schon auch hierüber schweigen. Es ist
wahr, das Komische mit dem Tragischen vermischet, Seneca mit dem Terenz
zusammengeschmolzen, gibt kein geringeres Ungeheuer, als der Minotaurus
der Pasiphae war. Doch diese Abwechselung gefällt nun einmal; man will
nun einmal keine andere Stücke sehen, als die halb ernsthaft und halb
lustig sind; die Natur selbst lehrt uns diese Mannigfaltigkeit, von der
sie einen Teil ihrer Schönheit entlehnet."[1]

Die letzten Worte sind es, weswegen ich diese Stelle anführe. Ist es
wahr, daß uns die Natur selbst, in dieser Vermengung des Gemeinen und
Erhabnen, des Possierlichen und Ernsthaften, des Lustigen und Traurigen,
zum Muster dienet? Es scheinet so. Aber wenn es wahr ist, so hat Lope
mehr getan, als er sich vornahm; er hat nicht bloß die Fehler seiner
Bühne beschöniget; er hat eigentlich erwiesen, daß wenigstens dieser
Fehler keiner ist; denn nichts kann ein Fehler sein, was eine Nachahmung
der Natur ist.

"Man tadelt", sagt einer von unsern neuesten Skribenten, "an Shakespeare
--demjenigen unter allen Dichtern seit Homer, der die Menschen, vom Könige
bis zum Bettler, und von Julius Cäsar bis zu Jack Fa1staff am besten
gekannt und mit einer Art von unbegreiflicher Intuition durch und durch
gesehen hat--daß seine Stücke keinen, oder doch nur einen sehr fehlerhaften
unregelmäßigen und schlecht ausgesonnenen Plan haben; daß Komisches und
Tragisches darin auf die seltsamste Art durcheinander geworfen ist und oft
ebendieselbe Person, die uns durch die rührende Sprache der Natur Tränen in
die Augen gelockt hat, in wenigen Augenblicken darauf uns durch irgendeinen
seltsamen Einfall oder barockischen Ausdruck ihrer Empfindungen, wo nicht
zu lachen macht, doch dergestalt abkühlt, daß es ihm hernach sehr schwer
wird, uns wieder in die Fassung zu setzen, worin er uns haben möchte.--Man
tadelt das und denkt nicht daran, daß seine Stücke eben darin natürliche
Abbildungen des menschlichen Lebens sind."

"Das Leben der meisten Menschen, und (wenn wir es sagen dürfen) der
Lebenslauf der großen Staatskörper selbst, insofern wir sie als
ebensoviel moralische Wesen betrachten, gleicht den Haupt- und
Staatsaktionen im alten gotischen Geschmacke in so vielen Punkten, daß
man beinahe auf die Gedanken kommen möchte, die Erfinder dieser Letztern
wären klüger gewesen, als man gemeiniglich denkt, und hätten, wofern sie
nicht gar die heimliche Absicht gehabt, das menschliche Leben lächerlich
zu machen, wenigstens die Natur ebenso getreu nachahmen wollen, als die
Griechen sich angelegen sein ließen, sie zu verschönern. Um itzt nichts
von der zufälligen Ähnlichkeit zu sagen, daß in diesen Stücken, sowie im
Leben, die wichtigsten Rollen sehr oft gerade durch die schlechtesten
Akteurs gespielt werden,--was kann ähnlicher sein, als es beide Arten der
Haupt-und Staatsaktionen einander in der Anlage, in der Abteilung und
Disposition der Szenen, im Knoten und in der Entwicklung zu sein pflegen?
Wie selten fragen die Urheber der einen und der andern sich selbst, warum
sie dieses oder jenes gerade so und nicht anders gemacht haben? Wie oft
überraschen sie uns durch Begebenheiten, zu denen wir nicht im mindesten
vorbereitet waren? Wie oft sehen wir Personen kommen und wieder abtreten,
ohne daß sich begreifen läßt, warum sie kamen, oder warum sie wieder
verschwinden? Wie viel wird in beiden dem Zufall überlassen? Wie oft
sehen wir die größesten Wirkungen durch die armseligsten Ursachen
hervorgebracht? Wie oft das Ernsthafte und Wichtige mit einer
leichtsinnigen Art, und das Nichtsbedeutende mit lächerlicher Gravität
behandelt? Und wenn in beiden endlich alles so kläglich verworren und
durcheinander geschlungen ist, daß man an der Möglichkeit der Entwicklung
zu verzweifeln anfängt: wie glücklich sehen wir durch irgendeinen unter
Blitz und Donner aus papiernen Wolken herabspringenden Gott oder durch
einen frischen Degenhieb den Knoten auf einmal zwar nicht aufgelöset,
aber doch aufgeschnitten, welches insofern auf eines hinauslauft, daß auf
die eine oder die andere Art das Stück ein Ende hat und die Zuschauer
klatschen oder zischen können, wie sie wollen oder--dürfen. Übrigens weiß
man, was für eine wichtige Person in den komischen Tragödien, wovon wir
reden, der edle Hanswurst vorstellt, der sich, vermutlich zum ewigen
Denkmal des Geschmacks unserer Voreltern, auf dem Theater der Hauptstadt
des deutschen Reiches, erhalten zu wollen scheinet. Wollte Gott, daß er
seine Person allein auf dem Theater vorstellte! Aber wieviel große
Aufzüge auf dem Schauplatze der Welt hat man nicht in allen Zeiten
mit Hanswurst--oder, welches noch ein wenig ärger ist, durch Hanswurst
--aufführen gesehen? Wie oft haben die größesten Männer, dazu geboren, die
schützenden Genii eines Throns, die Wohltäter ganzer Völker und Zeitalter
zu sein, alle ihre Weisheit und Tapferkeit durch einen kleinen
schnakischen Streich von Hanswurst oder solchen Leuten vereitelt sehen
müssen, welche, ohne eben sein Wams und seine gelben Hosen zu tragen,
doch gewiß seinen ganzen Charakter an sich trugen? Wie oft entsteht in
beiden Arten der Tragikomödien die Verwicklung selbst lediglich daher,
daß Hanswurst durch irgendein dummes und schelmisches Stückchen von
seiner Arbeit den gescheiten Leuten, eh' sie sich's versehen können, ihr
Spiel verderbt?"--

Wenn in dieser Vergleichung des großen und kleinen, des ursprünglichen
und nachgebildeten heroischen Possenspiels--(die ich mit Vergnügen aus
einem Werke abgeschrieben, welches unstreitig unter die vortrefflichsten
unsers Jahrhunderts gehört, aber für das deutsche Publikum noch viel zu
früh geschrieben zu sein scheinet. In Frankreich und England würde es das
äußerste Aufsehen gemacht haben; der Name seines Verfassers würde auf
aller Zungen sein. Aber bei uns? Wir haben es, und damit gut. Unsere
Großen lernen vors erste an den kauen; und freilich ist der Saft aus
einem französischen Roman lieblicher und verdaulicher. Wenn ihr Gebiß
schärfer und ihr Magen stärker geworden, wenn sie indes Deutsch gelernt
haben, so kommen sie auch wohl einmal über den "Agathon"[2]. Dieses ist
das Werk, von welchem ich rede, von welchem ich es lieber nicht an dem
schicklichsten Orte, lieber hier als gar nicht, sagen will, wie sehr ich
es bewundere: da ich mit der äußersten Befremdung wahrnehme, welches
tiefe Stillschweigen unsere Kunstrichter darüber beobachten, oder in
welchem kalten und gleichgültigen Tone sie davon sprechen. Es ist der
erste und einzige Roman für den denkenden Kopf, von klassischem
Geschmacke. Roman? Wir wollen ihm diesen Titel nur geben, vielleicht,
daß es einige Leser mehr dadurch bekömmt. Die wenigen, die es darüber
verlieren möchte, an denen ist ohnedem nichts gelegen.)


----Fußnote

[1]
    Eligese el sujeto, y no se mire,
    (Perdonen los preceptos) si es de Reyes,
    Aunque por esto entiendo, que el prudente,
    Filipo Rey de España, y Señor nuestro,
    En viendo un Rey en ellos se enfadaba,
    O fuese el ver, que al arte contradice,
    O que la autoridad real no debe
    Andar fingida entre la humilde plebe,
    Esto es volver a la Comedia antigua,
    Donde vemos que Plauto puso Dioses,
    Como en su Anfitrión lo muestra Júpiter.
    Sabe Dios, que me pesa de aprobarlo,
    Porque Plutarco hablando de Menandro,
    No siente bien de la Comedia antigua,
    Mas pues del arte vamos tan remotos,
    Y en España le hacemos mil agravios,
    Cierren los Doctos esta vez los labios.
    Lo Trágico, y lo Cómico mezclado,
    Y Terencio con Séneca, aunque sea,
    Como otro Minotauro de Pasife,
    Harán grave una parte, otra ridícula,
    Que aquesta variedad deleita mucho,
    Buen ejemplo nos da naturaleza,
    Que por tal variedad tiene belleza.

[2] Zweiter Teil (S. 192).

----Fußnote



Siebzigstes Stück
Den 1. Januar 1768

Wenn in dieser Vergleichung, sage ich, die satirische Laune nicht zu sehr
vorstäche: so würde man sie für die beste Schutzschrift des komisch-
tragischen, oder tragisch-komischen Drama (Mischspiel habe ich es einmal
auf irgendeinem Titel genannt gefunden), für die geflissentlichste
Ausführung des Gedankens beim Lope halten dürfen. Aber zugleich würde sie
auch die Widerlegung desselben sein. Denn sie würde zeigen, daß eben das
Beispiel der Natur, welches die Verbindung des feierlichen Ernstes mit
der possenhaften Lustigkeit rechtfertigen soll, ebensogut jedes
dramatische Ungeheuer, das weder Plan, noch Verbindung, noch Menschen-
verstand hat, rechtfertigen könne. Die Nachahmung der Natur müßte
folglich entweder gar kein Grundsatz der Kunst sein; oder, wenn sie es
doch bliebe, würde durch ihn selbst die Kunst, Kunst zu sein aufhören;
wenigstens keine höhere Kunst sein, als etwa die Kunst, die bunten Adern
des Marmors in Gips nachzuahmen; ihr Zug und Lauf mag geraten, wie er
will, der seltsamste kann so seltsam nicht sein, daß er nicht natürlich
scheinen könnte; bloß und allein der scheinet es nicht, bei welchem sich
zu viel Symmetrie, zu viel Ebenmaß und Verhältnis, zu viel von dem zeiget,
was in jeder andern Kunst die Kunst ausmacht; der künstlichste in diesem
Verstande ist hier der schlechteste, und der wildeste der beste.

Als Kritikus dürfte unser Verfasser ganz anders sprechen. Was er hier so
sinnreich aufstützen zu wollen scheinet, würde er ohne Zweifel als eine
Mißgeburt des barbarischen Geschmacks verdammen, wenigstens als die
ersten Versuche der unter ungeschlachteten Völkern wieder auflebenden
Kunst vorstellen, an deren Form irgendein Zusammenfluß gewisser
äußerlichen Ursachen oder das Ohngefähr den meisten, Vernunft und
Überlegung aber den wenigsten, auch wohl ganz und gar keinen Anteil hatte.
Er würde schwerlich sagen, daß die ersten Erfinder des Mischspiels (da das
Wort einmal da ist, warum soll ich es nicht brauchen?) "die Natur ebenso
getreu nachahmen wollen, als die Griechen sich angelegen sein lassen, sie
zu verschönern".

Die Worte getreu und verschönert, von der Nachahmung und der Natur, als
dem Gegenstande der Nachahmung, gebraucht, sind vielen Mißdeutungen
unterworfen. Es gibt Leute, die von keiner Natur wissen wollen, welche
man zu getreu nachahmen könne; selbst was uns in der Natur mißfalle,
gefalle in der getreuen Nachahmung, vermöge der Nachahmung. Es gibt
andere, welche die Verschönerung der Natur für eine Grille halten; eine
Natur, die schöner sein wolle, als die Natur, sei eben darum nicht Natur.
Beide erklären sich für Verehrer der einzigen Natur, so wie sie ist: jene
finden in ihr nichts zu vermeiden; diese nichts hinzuzusetzen. Jenen also
müßte notwendig das gotische Mischspiel gefallen; so wie diese Mühe haben
würden, an den Meisterstücken der Alten Geschmack zu finden.

Wann dieses nun aber nicht erfolgte? Wann jene, so große Bewunderer sie
auch von der gemeinsten und alltäglichsten Natur sind, sich dennoch wider
die Vermischung des Possenhaften und Interessanten erklärten? Wann diese,
so ungeheuer sie auch alles finden, was besser und schöner sein will als
die Natur, dennoch das ganze griechische Theater, ohne den geringsten
Anstoß von dieser Seite, durchwandelten? Wie wollten wir diesen
Widerspruch erklären?

Wir würden notwendig zurückkommen und das, was wir von beiden Gattungen
erst behauptet, widerrufen müssen. Aber wie müßten wir widerrufen, ohne
uns in neue Schwierigkeiten zu verwickeln? Die Vergleichung einer solchen
Haupt-und Staatsaktion, über deren Güte wir streiten, mit dem menschlichen
Leben, mit dem gemeinen Laufe der Welt, ist doch so richtig!

Ich will einige Gedanken herwerfen, die, wenn sie nicht gründlich genug
sind, doch gründlichere veranlassen können.--Der Hauptgedanke ist dieser:
Es ist wahr, und auch nicht wahr, daß die komische Tragödie, gotischer
Erfindung, die Natur getreu nachahmet; sie ahmet sie nur in einer Hälfte
getreu nach und vernachlässiget die andere Hälfte gänzlich; sie ahmet die
Natur der Erscheinungen nach, ohne im geringsten auf die Natur unserer
Empfindungen und Seelenkräfte dabei zu achten.

In der Natur ist alles mit allem verbunden; alles durchkreuzt sich, alles
wechselt mit allem, alles verändert sich eines in das andere. Aber nach
dieser unendlichen Mannigfaltigkeit ist sie nur ein Schauspiel für einen
unendlichen Geist. Um endliche Geister an dem Genusse desselben Anteil
nehmen zu lassen, mußten diese das Vermögen erhalten, ihr Schranken zu
geben, die sie nicht hat; das Vermögen abzusondern und ihre Aufmerksamkeit
nach Gutdünken lenken zu können.

Dieses Vermögen üben wir in allen Augenblicken des Lebens; ohne dasselbe
würde es für uns gar kein Leben geben; wir würden vor allzu verschiedenen
Empfindungen nichts empfinden; wir würden ein beständiger Raub des
gegenwärtigen Eindruckes sein; wir würden träumen, ohne zu wissen, was
wir träumten.

Die Bestimmung der Kunst ist, uns in dem Reiche des Schönen dieser
Absonderung zu überheben, uns die Fixierung unserer Aufmerksamkeit zu
erleichtern. Alles, was wir in der Natur von einem Gegenstande oder einer
Verbindung verschiedener Gegenstände, es sei der Zeit oder dem Raume
nach, in unsern Gedanken absondern, oder absondern zu können wünschen,
sondert sie wirklich ab und gewährt uns diesen Gegenstand, oder diese
Verbindung verschiedener Gegenstände, so lauter und bündig, als es nur
immer die Empfindung, die sie erregen sollen, verstattet.

Wenn wir Zeugen von einer wichtigen und rührenden Begebenheit sind, und
eine andere von nichtigem Belange läuft quer ein: so suchen wir der
Zerstreuung, die diese uns drohet, möglichst auszuweichen. Wir
abstrahieren von ihr; und es muß uns notwendig ekeln, in der Kunst das
wieder zu finden, was wir aus der Natur wegwünschten.

Nur wenn ebendieselbe Begebenheit in ihrem Fortgange alle Schattierungen
des Interesse annimmt, und eine nicht bloß auf die andere folgt, sondern
so notwendig aus der andern entspringt; wenn der Ernst das Lachen, die
Traurigkeit die Freude, oder umgekehrt, so unmittelbar erzeugt, daß uns
die Abstraktion des einen oder des andern unmöglich fällt: nur alsdenn
verlangen wir sie auch in der Kunst nicht, und die Kunst weiß aus dieser
Unmöglichkeit selbst Vorteil zu ziehen.--

Aber genug hiervon: man sieht schon, wo ich hinaus will.--

Den fünfundvierzigsten Abend (freitags, den 17. Julius) wurden "Die
Brüder" des Herrn Romanus, und "Das Orakel" vom Saint-Foix gespielt.

Das erstere Stück kann für ein deutsches Original gelten, ob es schon
größtenteils aus den "Brüdern" des Terenz genommen ist. Man hat gesagt,
daß auch Molière aus dieser Quelle geschöpft habe; und zwar seine
"Männerschule". Der Herr von Voltaire macht seine Anmerkungen über dieses
Vorgeben: und ich führe Anmerkungen von dem Herrn von Voltaire so gern
an! Aus seinen geringsten ist noch immer etwas zu lernen: wenn schon
nicht allezeit das, was er darin sagt: wenigstens das, was er hätte sagen
sollen. Primus sapientiae gradus est, falsa intelligere (wo dieses
Sprüchelchen steht, will mir nicht gleich beifallen); und ich wüßte
keinen Schriftsteller in der Welt, an dem man es so gut versuchen könnte,
ob man auf dieser ersten Stufe der Weisheit stehe, als an dem Herrn von
Voltaire: aber daher auch keinen, der uns, die zweite zu ersteigen,
weniger behilflich sein könnte; secundus, vera cognoscere. Ein kritischer
Schriftsteller, dünkt mich, richtet seine Methode auch am besten nach
diesem Sprüchelchen ein. Er suche sich nur erst jemanden, mit dem er
streiten kann: so kömmt er nach und nach in die Materie, und das übrige
findet sich. Hierzu habe ich mir in diesem Werke, ich bekenne es
aufrichtig, nun einmal die französischen Skribenten vornehmlich erwählet,
und unter diesen besonders den Hrn. von Voltaire. Also auch itzt, nach
einer kleinen Verbeugung, nur darauf zu! Wem diese Methode aber etwan
mehr mutwillig, als gründlich scheinen wollte: der soll wissen, daß
selbst der gründliche Aristoteles sich ihrer fast immer bedient hat.
Solet Aristoteles, sagt einer von seinen Auslegern, der mir eben zur Hand
liegt, quaerere pugnam in suis libris. Atque hoc facit non temere et
casu, sed certa ratione atque consilio: nam labefactatis aliorum
opinionibus, usw. O des Pedanten! würde der Herr von Voltaire rufen.
--Ich bin es bloß aus Mißtrauen in mich selbst.

"'Die Brüder' des Terenz", sagt der Herr von Voltaire, "können höchstens
die Idee zu der Männerschule, gegeben haben. In den 'Brüdern' sind zwei
Alte von verschiedner Gemütsart, die ihre Söhne ganz verschieden
erziehen; ebenso sind in der 'Männerschule' zwei Vormünder, ein sehr
strenger und ein sehr nachsehender: das ist die ganze Ähnlichkeit. In den
'Brüdern' ist fast ganz und gar keine Intrige: die Intrige in der
'Männerschule' hingegen ist fein und unterhaltend und komisch. Eine von
den Frauenzimmern des Terenz, welche eigentlich die interessanteste Rolle
spielen müßte, erscheinet bloß auf dem Theater, um niederzukommen. Die
Isabelle des Molière ist fast immer auf der Szene und zeigt sich immer
witzig und reizend und verbindet sogar die Streiche, die sie ihrem
Vormunde spielt, noch mit Anstand. Die Entwicklung In den 'Brüdern' ist
ganz unwahrscheinlich; es ist wider die Natur, daß ein Alter, der sechzig
Jahre ärgerlich und streng und geizig gewesen, auf einmal lustig und
höflich und freigebig werden sollte. Die Entwicklung in der 'Männerschule'
aber ist die beste von allen Entwicklungen des Molière; wahrscheinlich,
natürlich, aus der Intrige selbst hergenommen, und was ohnstreitig nicht
das Schlechteste daran ist, äußerst komisch."



Einundsiebzigstes Stück
Den 5. Januar 1768

Es scheinet nicht, daß der Herr von Voltaire, seitdem er aus der Klasse
bei den Jesuiten gekommen, den Terenz viel wieder gelesen habe. Er
spricht ganz so davon, als von einem alten Traume; es schwebt ihm nur
noch sowas davon im Gedächtnisse; und das schreibt er auf gut Glück so
hin, unbekümmert, ob es gehauen oder gestochen ist. Ich will ihm nicht
aufmutzen, was er von der Pamphila des Stücks sagt, "daß sie bloß auf dem
Theater erscheine, um niederzukommen". Sie erscheinet gar nicht auf dem
Theater; sie kommt nicht auf dem Theater nieder; man vernimmt bloß ihre
Stimme aus dem Hause; und warum sie eigentlich die interessanteste Rolle
spielen müßte, das läßt sich auch gar nicht absehen. Den Griechen und
Römern war nicht alles interessant, was es den Franzosen ist. Ein gutes
Mädchen, das mit ihrem Liebhaber zu tief in das Wasser gegangen und
Gefahr läuft, von ihm verlassen zu werden, war zu einer Hauptrolle ehedem
sehr ungeschickt.--

Der eigentliche und grobe Fehler, den der Herr von Voltaire macht, betrifft
die Entwicklung und den Charakter des Demea. Demea ist der mürrische strenge
Vater, und dieser soll seinen Charakter auf einmal völlig verändern. Das
ist, mit Erlaubnis des Herrn von Voltaire, nicht wahr. Demea behauptet
seinen Charakter bis ans Ende. Donatus sagt: Servatur autem per totam
fabulam mitis Micio, saevus Demea, Leno avarus usw. Was geht mich Donatus
an? dürfte der Herr von Voltaire sagen. Nach Belieben; wenn wir Deutsche
nur glauben dürfen, daß Donatus den Terenz fleißiger gelesen und besser
verstanden, als Voltaire. Doch es ist ja von keinem verlornen Stücke die
Rede; es ist noch da; man lese selbst.

Nachdem Micio den Demea durch die triftigsten Vorstellungen zu
besänftigen gesucht, bittet er ihn, wenigstens auf heute sich seines
Ärgernisses zu entschlagen, wenigstens heute lustig zu sein. Endlich
bringt er ihn auch so weit; heute will Demea alles gut sein lassen; aber
morgen, bei früher Tageszeit, muß der Sohn wieder mit ihm aufs Land; da
will er ihn nicht gelinder halten, da will er es wieder mit ihm anfangen,
wo er es heute gelassen hat; die Sängerin, die diesem der Vetter gekauft,
will er zwar mitnehmen, denn es ist doch immer eine Sklavin mehr, und
eine, die ihm nichts kostet; aber zu singen wird sie nicht viel bekommen,
sie soll kochen und backen. In der darauffolgenden vierten Szene des
fünften Akts, wo Demea allein ist, scheint es zwar, wenn man seine Worte
nur so obenhin nimmt, als ob er völlig von seiner alten Denkungsart
abgehen und nach den Grundsätzen des Micio zu handeln anfangen wolle.[1]
Doch die Folge zeigt es, daß man alles das nur von dem heutigen Zwange,
den er sich antun soll, verstehen muß. Denn auch diesen Zwang weiß er
hernach so zu nutzen, daß er zu der förmlichsten hämischsten Verspottung
seines gefälligen Bruders ausschlägt. Er stellt sich lustig, um die
andern wahre Ausschweifungen und Tollheiten begehen zu lassen; er macht
in dem verbindlichsten Tone die bittersten Vorwürfe; er wird nicht
freigebig, sondern er spielt den Verschwender; und wohl zu merken, weder
von dem Seinigen, noch in einer andern Absicht, als um alles, was er
Verschwenden nennt, lächerlich zu machen. Dieses erhellet unwider-
sprechlich aus dem, was er dem Micio antwortet, der sich durch den
Anschein betriegen läßt, und ihn wirklich verändert glaubt.[2] Hic
ostendit Terentius, sagt Donatus, magis Demeam simulasse mutatos mores,
quam mutavisse.

Ich will aber nicht hoffen, daß der Herr von Voltaire meinet, selbst
diese Verstellung laufe wider den Charakter des Demea, der vorher nichts
als geschmält und gepoltert habe: denn eine solche Verstellung erfodere
mehr Gelassenheit und Kälte, als man dem Demea zutrauen dürfe. Auch
hierin ist Terenz ohne Tadel, und er hat alles so vortrefflich
motivieret, bei jedem Schritte Natur und Wahrheit so genau beobachtet,
bei dem geringsten Übergange so feine Schattierungen in acht genommen,
daß man nicht aufhören kann, ihn zu bewundern.

Nur ist öfters, um hinter alle Feinheiten des Terenz zu kommen, die Gabe
sehr nötig, sich das Spiel des Akteurs dabei zu denken; denn dieses
schrieben die alten Dichter nicht bei. Die Deklamation hatte ihren eignen
Künstler, und in dem übrigen konnten sie sich ohne Zweifel auf die
Einsicht der Spieler verlassen, die aus ihrem Geschäfte ein sehr
ernstliches Studium machten. Nicht selten befanden sich unter diesen die
Dichter selbst; sie sagten, wie sie es haben wollten; und da sie ihre
Stücke überhaupt nicht eher bekannt werden ließen, als bis sie gespielt
waren, als bis man sie gesehen und gehört hatte: so konnten sie es um so
mehr überhoben sein, den geschriebenen Dialog durch Einschiebsel zu
unterbrechen, in welchen sich der beschreibende Dichter gewissermaßen mit
unter die handelnden Personen zu mischen scheinet. Wenn man sich aber
einbildet, daß die alten Dichter, um sich diese Einschiebsel zu ersparen,
in den Reden selbst, jede Bewegung, jede Gebärde, jede Miene, jede
besondere Abänderung der Stimme, die dabei zu beobachten, mit anzudeuten
gesucht: so irret man sich. In dem Terenz allein kommen unzählige Stellen
vor, in welchen von einer solchen Andeutung sich nicht die geringste Spur
zeiget, und wo gleichwohl der wahre Verstand nur durch die Erratung der
wahren Aktion kann getroffen werden; ja in vielen scheinen die Worte
gerade das Gegenteil von dem zu sagen, was der Schauspieler durch jene
ausdrücken muß.

Selbst in der Szene, in welcher die vermeinte Sinnesänderung des Demea
vorgeht, finden sich dergleichen Stellen, die ich anführen will, weil auf
ihnen gewissermaßen die Mißdeutung beruhet, die ich bestreite. Demea weiß
nunmehr alles, er hat es mit seinen eignen Augen gesehen, daß es sein
ehrbarer frommer Sohn ist, für den die Sängerin entführet worden, und
stürzt mit dem unbändigsten Geschrei heraus. Er klagt es dem Himmel und
der Erde und dem Meere; und eben bekommt er den Micio zu Gesicht.

"Demea. Ha! da ist er, der mir sie beide verdirbt meine Söhne, mir sie
beide zugrunde richtet! Micio. Oh, so mäßige dich, und komm wieder
zu dir!

Demea. Gut, ich mäßige mich, ich bin bei mir, es soll mir kein hartes
Wort entfahren. Laß uns bloß bei der Sache bleiben. Sind wir nicht eins
geworden, warest du es nicht selbst, der es zuerst auf die Bahn brachte,
daß sich ein jeder nur um den seinen bekümmern sollte? Antworte."[3] usw.

Wer sich hier nur an die Worte hält und kein so richtiger Beobachter ist,
als es der Dichter war, kann leicht glauben, daß Demea viel zu geschwind
austobe, viel zu geschwind diesen gelassenem Ton anstimme. Nach einiger
Überlegung wird ihm zwar vielleicht beifallen, daß jeder Affekt, wenn er
aufs äußerste gekommen, notwendig wieder sinken müsse; daß Demea, auf den
Verweis seines Bruders, sich des ungestümen Jachzorns nicht anders als
schämen könne: das alles ist auch ganz gut, aber es ist doch noch nicht
das rechte. Dieses lasse er sich also vom Donatus lehren, der hier zwei
vortreffliche Anmerkungen hat. Videtur, sagt er, paulo citius
destomachatus, quam res etiam incertae poscebant. Sed et hoc morale: nam
juste irati, omissa saevitia ad ratiocinationes saepe festinant. Wenn der
Zornige ganz offenbar recht zu haben glaubt, wenn er sich einbildet, daß
sich gegen seine Beschwerden durchaus nichts einwenden lasse: so wird er
sich bei dem Schelten gerade am wenigsten aufhalten, sondern zu den
Beweisen eilen, um seinen Gegner durch eine so sonnenklare Überzeugung zu
demütigen. Doch da er über die Wallungen seines kochenden Geblüts nicht
so unmittelbar gebieten kann, da der Zorn, der überführen will, doch noch
immer Zorn bleibt, so macht Donatus die zweite Anmerkung: Non quid
dicatur, sed quo gestu dicatur, specta: et videbis neque adhuc repressisse
iracundiam, neque ad se rediisse Demeam. Demea sagte zwar: "Ich mäßige
mich, ich bin wieder bei mir": aber Gesicht und Gebärde und Stimme
verraten genugsam, daß er sich noch nicht gemäßiget hat, daß er noch
nicht wieder bei sich ist. Er bestürmt den Micio mit einer Frage über die
andere, und Micio hat alle seine Kälte und gute Laune nötig, um nur zum
Worte zu kommen.


----Fußnote

[1]
    --Nam ego vitam duram, quam vixi usque adhuc,
    Prope jam excurso spatio mitto--

[2]
    Mi. Quid istuc? quae res tam repente mores mutavit tuos?
    Quod prolubium, quae istaec subita est largitas? De. Dicam tibi:
    Ut id ostenderem, quod te isti facilem et festivum putant,
    Id non fieri ex vera vita, neque adeo ex aequo et bono,
    Sed ex assentando, indulgendo et largiendo, Micio.
    Nunc adeo, si ob eam rem vobis mea vita invisa est, Aeschine,
    Quia non justa injusta prorsus omnia, omnino obsequor;
    Missa facio; effundite, emite, facite quod vobis lubet!


[3]
    --De. Eccum adest
      Communis corruptela nostrum liberum.
    Mi. Tandem reprime iracundiam, atque ad te redi.
    De. Repressi, redii, mitto maledicta omnia:
      Rem ipsam putemus. Dictum hoc inter nos fuit,
      Et ex te adeo est ortum, ne te curares meum,
      Neve ego tuum? responde!--

----Fußnote



Zweiundsiebzigstes Stück
Den 8. Januar 1768

Als er endlich dazukommt, wird Demea zwar eingetrieben, aber im
geringsten nicht überzeugt. Aller Vorwand, über die Lebensart seiner
Kinder unwillig zu sein, ist ihm benommen: und doch fängt er wieder von
vorne an, zu nergeln. Micio muß auch nur abbrechen und sich begnügen, daß
ihm die mürrische Laune, die er nicht ändern kann, wenigstens auf heute
Frieden lassen will. Die Wendungen, die ihn Terenz dabei nehmen läßt,
sind meisterhaft.[1]

"Demea. Nun gib nur acht, Micio, wie wir mit diesen schönen
Grundsätzen, mit dieser deiner lieben Nachsicht am Ende fahren werden.

Micio. Schweig doch! Besser, als du glaubest.--Und nun genug davon!
Heute schenke dich mir. Komm, kläre dich auf.

Demea. Mag's doch nur heute sein! Was ich muß, das muß ich.--Aber
morgen, sobald es Tag wird, geh' ich wieder aufs Dorf, und der Bursche
geht mit.

Micio. Lieber, noch ehe es Tag wird; dächte ich. Sei nur heute
lustig!

Demea. Auch das Mensch von einer Sängerin muß mit heraus.

Micio. Vortrefflich! So wird sich der Sohn gewiß nicht weg wünschen.
Nur halte sie auch gut.

Demea. Da laß mich vor sorgen! Sie soll in der Mühle und vor dem
Ofenloche Mehlstaubs und Kohlstaubs und Rauchs genug kriegen. Dazu
soll sie mir am heißen Mittage stoppeln gehn, bis sie so trocken, so
schwarz geworden, als ein Löschbrand.

Micio. Das gefällt mir! Nun bist du auf dem rechten Wege!--Und
alsdenn, wenn ich wie du wäre, müßte mir der Sohn bei ihr schlafen, er
möchte wollen oder nicht.

Demea. Lachst du mich aus?--Bei so einer Gemütsart freilich kannst du
wohl glücklich sein. Ich fühl' es, leider--

Micio. Du fängst doch wieder an?

Demea. Nu, nu; ich höre ja auch schon wieder auf."

Bei dem "Lachst du mich aus?" des Demea, merkt Donatus an: Hoc verbum
vultu Demeae sic profertur, ut subrisisse videatur invitus. Sed rursus
EGO SENTIO, amare severeque dicit. Unvergleichlich! Demea, dessen voller
Ernst es war, daß er die Sängerin nicht als Sängerin, sondern als eine
gemeine Sklavin halten und nutzen wollte, muß über den Einfall des Micio
lachen. Micio selbst braucht nicht zu lachen: je ernsthafter er sich
stellt, desto besser. Demea kann darum doch sagen: "Lachst du mich aus?"
und muß sich zwingen wollen, sein eignes Lachen zu verbeißen. Er verbeißt
es auch bald, denn das "Ich fühl' es leider" sagt er wieder in einem
ärgerlichen und bittern Tone. Aber so ungern, so kurz das Lachen auch
ist: so große Wirkung hat es gleichwohl. Denn einen Mann, wie Demea, hat
man wirklich vors erste gewonnen, wenn man ihn nur zu lachen machen kann.
Je seltner ihm diese wohltätige Erschütterung ist, desto länger hält sie
innerlich an; nachdem er längst alle Spur derselben auf seinem Gesichte
vertilgt, dauert sie noch fort, ohne daß er es selbst weiß, und hat auf
sein nächstfolgendes Betragen einen gewissen Einfluß.--

Aber wer hätte wohl bei einem Grammatiker so feine Kenntnisse gesucht?
Die alten Grammatiker waren nicht das, was wir itzt bei dem Namen denken.
Es waren Leute von vieler Einsicht; das ganze weite Feld der Kritik war
ihr Gebiete. Was von ihren Auslegungen klassischer Schriften auf uns
gekommen, verdient daher nicht bloß wegen der Sprache studiert zu werden.
Nur muß man die neuern Interpolationen zu unterscheiden wissen. Daß aber
dieser Donatus (Aelius) so vorzüglich reich an Bemerkungen ist, die
unsern Geschmack bilden können, daß er die verstecktesten Schönheiten
seines Autors mehr als irgendein anderer zu enthüllen weiß: das kömmt
vielleicht weniger von seinen größern Gaben, als von der Beschaffenheit
seines Autors selbst. Das römische Theater war, zur Zeit des Donatus,
noch nicht gänzlich verfallen; die Stücke des Terenz wurden noch
gespielt, und ohne Zweifel noch mit vielen von den Überlieferungen
gespielt, die sich aus den bessern Zeiten des römischen Geschmacks
herschrieben: er durfte also nur anmerken, was er sahe und hörte; er
brauchte also nur Aufmerksamkeit und Treue, um sich das Verdienst zu
machen, daß ihm die Nachwelt Feinheiten zu verdanken hat, die er selbst
schwerlich dürfte ausgegrübelt haben. Ich wüßte daher auch kein Werk, aus
welchem ein angehender Schauspieler mehr lernen könnte, als diesen
Kommentar des Donatus über den Terenz: und bis das Latein unter unsern
Schauspielern üblicher wird, wünschte ich sehr, daß man ihnen eine gute
Übersetzung davon in die Hände geben wollte. Es versteht sich, daß der
Dichter dabei sein und aus dem Kommentar alles wegbleiben müßte, was die
bloße Worterklärung betrifft. Die Dacier hat in dieser Absicht den
Donatus nur schlecht genutzt, und ihre Übersetzung des Textes ist wäßrig
und steif. Eine neuere deutsche, die wir haben, hat das Verdienst der
Richtigkeit so so, aber das Verdienst der komischen Sprache fehlt ihr
gänzlich;[2] und Donatus ist auch nicht weiter gebraucht, als ihn die
Dacier zu brauchen für gut befunden. Es wäre also keine getane Arbeit,
was ich vorschlage: aber wer soll sie tun? Die nichts Bessers tun
könnten, können auch dieses nicht: und die etwas Bessers tun könnten,
werden sich bedanken.

Doch endlich vom Terenz auf unsern Nachahmer zu kommen--es ist doch
sonderbar, daß auch Herr Romanus den falschen Gedanken des Voltaire
gehabt zu haben scheinet. Auch er hat geglaubt, daß am Ende mit dem
Charakter des Demea eine gänzliche Veränderung vorgehe; wenigstens läßt
er sie mit dem Charakter seines Lysimons vorgehen. "Je, Kinder", läßt er
ihn rufen, "schweigt doch! Ihr überhäuft mich ja mit Liebkosungen. Sohn,
Bruder, Vetter, Diener, alles schmeichelt mir, bloß weil ich einmal ein
bißchen freundlich aussehe. Bin ich's denn, oder bin ich's nicht? Ich
werde wieder recht jung, Bruder! Es ist doch hübsch, wenn man geliebt
wird. Ich will auch gewiß so bleiben. Ich wüßte nicht, wenn ich so eine
vergnügte Stunde gehabt hätte." Und Frontin sagt: "Nun, unser Alter
stirbt gewiß bald.[3] Die Veränderung ist gar zu plötzlich." Jawohl; aber
das Sprichwort und der gemeine Glaube von den unvermuteten Veränderungen,
die einen nahen Tod vorbedeuten, soll doch wohl nicht im Ernste hier
etwas rechtfertigen?


----Fußnote

[1]
    --De. Ne nimium modo
      Bonae tuae istae nos rationes, Micio,
      Et tuus iste animus aequus subvertat. Mi. Tace;
      Non fiet. Mitte jam istaec; da te hodie mihi:
      Exporge frontem. De. Scilicet ita tempus fert,
      Faciendum est: ceterum rus cras cum filio
      Cum primo lucu ibo hinc. Mi. De nocte censeo:
      Hodie modo hilarum fac te. De. Et istam psaltriam
      Una illuc mecum hinc abstraham. Mi. Pugnaveris.
      Eo pacto prorsum illic alligaris filium.
      Modo facito, ut illam serves. De. Ego istuc videro,
      Atque ibi favillae plena, fumi, ac pollinis,
      Coquendo sit faxo et molendo; praeter haec
      Meridie ipso faciam ut stipulam colligat:
      Tam excoctam reddam atque atram, quam carbo est. Mi. Placet,
      Nunc mihi videre sapere. Atque equidem filium,
      Tum etiam si nolit, cogam, ut cum illa una cubet.
    De. Derides? fortunatus, qui istoc animo sies:
      Ego sentio. Mi. Ah pergisne? De. Jam jam desino.

[2]
Halle 1753. Wunders halben erlaube man mir, die Stelle daraus anzuführen,
die ich eben itzt übersetzt habe. Was mir hier aus der Feder geflossen,
ist weit entfernt, so zu sein, wie es sein sollte; aber man wird doch
ungefähr daraus sehen können, worin das Verdienst besteht, das ich dieser
Übersetzung absprechen muß.

"Demea. Aber mein lieber Bruder, daß uns nur nicht deine schönen
Gründe, und dein gleichgültiges Gemüte sie ganz und gar ins Verderben
stürzen.

Micio. Ach, schweig doch nur, das wird nicht geschehen. Laß das
immer sein. Überlaß dich heute einmal mir. Weg mit den Runzeln von
der Stirne.

Demea. Ja, ja, die Zeit bringt es so mit sich, ich muß es wohl tun.
Aber mit anbrechendem Tage gehe ich wieder mit meinem Sohne aufs Land.

Micio. Ich werde dich nicht aufhalten, und wenn du die Nacht wieder
gehn wil1st; sei doch heute nur einmal fröhlich!

Demea. Die Sängerin will ich zugleich mit herausschleppen.

Micio. Da tust du wohl; dadurch wirst du machen, daß dein Sohn ohne
sie nicht wird leben können. Aber sorge auch, daß du sie gut
verhältst!

Demea. Dafür werde ich schon sorgen. Sie soll mir kochen, und Rauch,
Asche und Mehl sollen sie schon kenntlich machen. Außerdem soll sie
mir in der größten Mittagshitze gehen und Ähren lesen, und dann will
ich sie ihm so verbrannt und so schwarz, wie eine Kohle, überliefern.

Micio. Das gefällt mir; nun seh' ich recht ein, daß du weislich
hande1st; aber dann kannst du auch deinen Sohn mit Gewalt zwingen, daß
er sie mit zu Bette nimmt.

Demea. Lachst du mich etwa aus? Du bist glücklich, daß du ein
solches Gemüt hast; aber ich fühle.

Micio. Ach! hältst du noch nicht inne?

Demea. Ich schweige schon."

So soll es ohne Zweifel heißen, und nicht: stirbt ohnmöglich bald.
Für viele von unsern Schauspielern ist es nötig, auch solche
Druckfehler anzumerken.

----Fußnote



Dreiundsiebzigstes Stück
Den 12. Januar 1768

Die Schlußrede des Demea bei dem Terenz geht aus einem ganz andern Tone.
"Wenn euch nur das gefällt: nun so macht, was ihr wollt, ich will mich um
nichts mehr bekümmern!" Er ist es ganz und gar nicht, der sich nach der
Weise der andern, sondern die andern sind es, die sich nach seiner Weise
künftig zu bequemen versprechen.--Aber wie kömmt es, dürfte man fragen,
daß die letzten Szenen mit dem Lysimon in unsern deutschen "Brüdern" bei
der Vorstellung gleichwohl immer so wohl aufgenommen werden? Der
beständige Rückfall des Lysimon in seinen alten Charakter macht sie
komisch: aber bei diesem hätte es auch bleiben müssen.--Ich verspare das
Weitere, bis zu einer zweiten Vorstellung des Stücks.

"Das Orakel" vom Saint-Foix, welches diesen Abend den Beschluß machte,
ist allgemein bekannt, und allgemein beliebt.

Den sechsundvierzigsten Abend (montags, den 20. Julius) ward "Miß
Sara"[1], und den siebenundvierzigsten, Tages darauf, "Nanine"[2]
wiederholt. Auf die "Nanine" folgte "Der unvermutete Ausgang" vom
Marivaux, in einem Akte.

Oder, wie es wörtlicher und besser heißen würde: "Die unvermutete
Entwicklung". Denn es ist einer von denen Titeln, die nicht sowohl den
Inhalt anzeigen, als vielmehr gleich anfangs gewissen Einwendungen
vorbauen sollen, die der Dichter gegen seinen Stoff, oder dessen
Behandlung, vorhersieht. Ein Vater will seine Tochter an einen jungen
Menschen verheiraten, den sie nie gesehen hat. Sie ist mit einem andern
schon halb richtig, aber dieses auch schon seit so langer Zeit, daß es
fast gar nicht mehr richtig ist. Unterdessen möchte sie ihn doch noch
lieber, als einen ganz Unbekannten, und spielt sogar, auf sein Angeben,
die Rolle einer Wahnwitzigen, um den neuen Freier abzuschrecken. Dieser
kömmt; aber zum Glücke ist es ein so schöner liebenswürdiger Mann, daß
sie gar bald ihre Verstellung vergißt und in aller Geschwindigkeit mit
ihm einig wird. Man gebe dem Stücke einen andern Titel, und alle Leser
und Zuschauer werden ausrufen: das ist auch sehr unerwartet! Einen
Knoten, den man in zehn Szenen so mühsam geschürzt hat, in einer einzigen
nicht zu lösen, sondern mit eins zu zerhauen! Nun aber ist dieser Fehler
in dem Titel selbst angekündiget, und durch diese Ankündigung
gewissermaßen gerechtfertiget. Denn, wenn es nun wirklich einmal so einen
Fall gegeben hat: warum soll er nicht auch vorgestellt werden können? Er
sahe ja in der Wirklichkeit einer Komödie so ähnlich: und sollte er denn
eben deswegen um so unschicklicher zur Komödie sein?--Nach der Strenge,
allerdings: denn alle Begebenheiten, die man im gemeinen Leben wahre
Komödien nennet, findet man in der Komödie wahren Begebenheiten nicht
sehr gleich; und darauf käme es doch eigentlich an.

Aber Ausgang und Entwicklung, laufen beide Worte nicht auf eins hinaus?
Nicht völlig. Der Ausgang ist, daß Jungfer Argante den Erast und nicht
den Dorante heiratet, und dieser ist hinlänglich vorbereitet. Denn ihre
Liebe gegen Doranten ist so lau, so wetterläunisch; sie liebt ihn, weil
sie seit vier Jahren niemanden gesehen hat als ihn; manchmal liebt sie
ihn mehr, manchmal weniger, manchmal gar nicht, so wie es kömmt; hat sie
ihn lange nicht gesehen, so kömmt er ihr liebenswürdig genug vor; sieht
sie ihn alle Tage, so macht er ihr Langeweile; besonders stoßen ihr dann
und wann Gesichter auf, gegen welche sie Dorantens Gesicht so kahl, so
unschmackhaft, so ekel findet! Was brauchte es also weiter, um sie ganz
von ihm abzubringen, als daß Erast, den ihr ihr Vater bestimmte, ein
solches Gesicht ist? Daß sie diesen also nimmt, ist so wenig unerwartet,
daß es vielmehr sehr unerwartet sein würde, wenn sie bei jenem bliebe.
Entwicklung hingegen ist ein mehr relatives Wort; und eine unerwartete
Entwicklung involvieret eine Verwicklung, die ohne Folgen bleibt, von
der der Dichter auf einmal abspringt, ohne sich um die Verlegenheit zu
bekümmern, in der er einen Teil seiner Personen läßt. Und so ist es hier:
Peter wird es mit Doranten schon ausmachen; der Dichter empfiehlt
sich ihm.

Den achtundvierzigsten Abend (mittewochs, den 22. Julius) ward das
Trauerspiel des Herrn Weiße "Richard der Dritte" aufgeführt: zum
Beschlusse "Herzog Michel".

Dieses Stück ist ohnstreitig eines von unsern beträchtlichsten
Originalen; reich an großen Schönheiten, die genugsam zeigen, daß, die
Fehler, mit welchen sie verwebt sind, zu vermeiden, im geringsten nicht
über die Kräfte des Dichters gewesen wäre, wenn er sich diese Kräfte nur
selbst hätte zutrauen wollen.

Schon Shakespeare hatte das Leben und den Tod des dritten Richards auf
die Bühne gebracht: aber Herr Weiße erinnerte sich dessen nicht eher, als
bis sein Werk bereits fertig war. "Sollte ich also", sagt er, "bei der
Vergleichung schon viel verlieren: so wird man doch wenigstens finden,
daß ich kein Plagium begangen habe;--aber vielleicht wäre es ein
Verdienst gewesen, an dem Shakespeare ein Plagium zu begehen."

Vorausgesetzt, daß man eines an ihm begehen kann. Aber was man von dem
Homer gesagt hat, es lasse sich dem Herkules eher seine Keule, als ihm
ein Vers abringen, das läßt sich vollkommen auch vom Shakespeare sagen.
Auf die geringste von seinen Schönheiten ist ein Stempel gedruckt,
welcher gleich der ganzen Welt zuruft: ich bin Shakespeares! Und wehe der
fremden Schönheit, die das Herz hat, sich neben ihr zu stellen!

Shakespeare will studiert, nicht geplündert sein. Haben wir Genie, so muß
uns Shakespeare das sein, was dem Landschaftsmaler die Camera obscura
ist: er sehe fleißig hinein, um zu lernen, wie sich die Natur in allen
Fällen auf eine Fläche projektieret; aber er borge nichts daraus.

Ich wüßte auch wirklich in dem ganzen Stücke des Shakespeares keine
einzige Szene, sogar keine einzige Tirade, die Herr Weiße so hätte
brauchen können, wie sie dort ist. Alle, auch die kleinsten Teile beim
Shakespeare, sind nach den großen Maßen des historischen Schauspiels
zugeschnitten, und dieses verhält sich zu der Tragödie französischen
Geschmacks ungefähr wie ein weitläuftiges Freskogemälde gegen ein
Miniaturbildchen für einen Ring. Was kann man zu diesem aus jenem nehmen,
als etwa ein Gesicht, eine einzelne Figur, höchstens eine kleine Gruppe,
die man sodann als ein eigenes Ganze ausführen muß? Ebenso würden aus
einzeln Gedanken beim Shakespeare ganze Szenen, und aus einzeln Szenen
ganze Aufzüge werden müssen. Denn wenn man den Ärmel aus dem Kleide eines
Riesen für einen Zwerg recht nutzen will, so muß man ihm nicht wieder
einen Ärmel, sondern einen ganzen Rock daraus machen.

Tut man aber auch dieses, so kann man wegen der Beschuldigung des
Plagiums ganz ruhig sein. Die meisten werden in dem Faden die Flocke
nicht erkennen, woraus er gesponnen ist. Die wenigen, welche die Kunst
verstehen, verraten den Meister nicht und wissen, daß ein Goldkorn so
künstlich kann getrieben sein, daß der Wert der Form den Wert der Materie
bei weitem übersteiget.

Ich für mein Teil bedauere es also wirklich, daß unserm Dichter
Shakespeares Richard so spät beigefallen. Er hätte ihn können gekannt
haben und doch eben so original geblieben sein, als er itzt ist: er hätte
ihn können genutzt haben, ohne daß eine einzige übergetragene Gedanke
davon gezeugt hätte.

Wäre mir indes eben das begegnet, so würde ich Shakespeares Werk
wenigstens nachher als einen Spiegel genutzt haben, um meinem Werke alle
die Flecken abzuwischen, die mein Auge unmittelbar darin zu erkennen
nicht vermögend gewesen wäre.--Aber woher weiß ich, daß Herr Weiße dieses
nicht getan? Und warum sollte er es nicht getan haben?

Kann es nicht ebenso wohl sein, daß er das, was ich für dergleichen
Flecken halte, für keine hält? Und ist es nicht sehr wahrscheinlich, daß
er mehr recht hat, als ich? Ich bin überzeugt, daß das Auge des Künstlers
größtenteils viel scharfsichtiger ist, als das scharfsichtigste seiner
Betrachter. Unter zwanzig Einwürfen, die ihm diese machen, wird er sich
von neunzehn erinnern, sie während der Arbeit sich selbst gemacht und sie
auch schon sich selbst beantwortet zu haben.

Gleichwohl wird er nicht ungehalten sein, sie auch von andern machen zu
hören: denn er hat es gern, daß man über sein Werk urteilet; schal oder
gründlich, links oder rechts, gutartig oder hämisch, alles gilt ihm
gleich; und auch das schalste, linkste, hämischste Urteil ist ihm lieber,
als kalte Bewunderung. Jenes wird er auf die eine oder die andre Art in
seinen Nutzen zu verwenden wissen: aber was fängt er mit dieser an?
Verachten möchte er die guten ehrlichen Leute nicht gern, die ihn für so
etwas Außerordentliches halten: und doch muß er die Achseln über sie
zucken. Er ist nicht eitel, aber er ist gemeiniglich stolz; und aus Stolz
möchte er zehnmal lieber einen unverdienten Tadel als ein unverdientes
Lob auf sich sitzen lassen.--

Man wird glauben, welche Kritik ich hiermit vorbereiten will.--
Wenigstens nicht bei dem Verfasser,--höchstens nur bei einem oder dem
andern Mitsprecher. Ich weiß nicht, wo ich es jüngst gedruckt lesen
mußte, daß ich die "Amalia" meines Freundes auf Unkosten seiner übrigen
Lustspiele gelobt hätte.[3]--Auf Unkosten? aber doch wenigstens der
frühern? Ich gönne es Ihnen, mein Herr, daß man niemals Ihre ältern Werke
so möge tadeln können. Der Himmel bewahre Sie vor dem tückischen Lobe:
daß Ihr letztes immer Ihr bestes ist!--


----Fußnote

[1] S. den 11. Abend.

[2] S. den 27. und 33. und 37. Abend.

[3] Eben erinnere ich mich noch: in des Herrn Schmids "Zusätzen zu
seiner Theorie der Poesie", S. 45.

----Fußnote



Vierundsiebzigstes Stück
Den 15. Januar 1768

Zur Sache.--Es ist vornehmlich der Charakter des Richards, worüber ich
mir die Erklärung des Dichters wünschte.

Aristoteles würde ihn schlechterdings verworfen haben; zwar mit dem
Ansehen des Aristoteles wollte ich bald fertig werden, wenn ich es nur
auch mit seinen Gründen zu werden wüßte.

Die Tragödie, nimmt er an, soll Mitleid und Schrecken erregen: und daraus
folgert er, daß der Held derselben weder ein ganz tugendhafter Mann noch
ein völliger Bösewicht sein müsse. Denn weder mit des einen noch mit des
andern Unglücke lasse sich jener Zweck erreichen.

Räume ich dieses ein: so ist "Richard der Dritte" eine Tragödie, die
ihres Zweckes verfehlt. Räume ich es nicht ein: so weiß ich gar nicht
mehr, was eine Tragödie ist.

Denn Richard der Dritte, so wie ihn Herr Weiße geschildert hat, ist
unstreitig das größte, abscheulichste Ungeheuer, das jemals die Bühne
getragen. Ich sage, die Bühne: daß es die Erde wirklich getragen habe,
daran zweifle ich.

Was für Mitleid kann der Untergang dieses Ungeheuers erwecken? Doch, das
soll er auch nicht; der Dichter hat es darauf nicht angelegt; und es sind
ganz andere Personen in seinem Werke, die er zu Gegenständen unsers
Mitleids gemacht hat.

Aber Schrecken?--Sollte dieser Bösewicht, der die Kluft, die sich
zwischen ihm und dem Throne befunden, mit lauter Leichen gefüllet, mit
Leichen derer, die ihm das Liebste in der Welt hätten sein müssen; sollte
dieser blutdürstige, seines Blutdurstes sich rühmende, über seine
Verbrechen sich kitzelnde Teufel nicht Schrecken in vollem Maße erwecken?

Wohl erweckt er Schrecken: wenn unter Schrecken das Erstaunen über
unbegreifliche Missetaten, das Entsetzen über Bosheiten, die unsern
Begriff übersteigen, wenn darunter der Schauder zu verstehen ist, der uns
bei Erblickung vorsätzlicher Greuel, die mit Lust begangen werden,
überfällt. Von diesem Schrecken hat mich Richard der Dritte mein gutes
Teil empfinden lassen.

Aber dieses Schrecken ist so wenig eine von den Absichten des Trauerspiels,
daß es vielmehr die alten Dichter auf alle Weise zu mindern suchten, wenn
ihre Personen irgendein großes Verbrechen begehen mußten. Sie schoben
öfters lieber die Schuld auf das Schicksal, machten das Verbrechen lieber
zu einem Verhängnisse einer rächenden Gottheit, verwandelten lieber den
freien Menschen in eine Maschine: ehe sie uns bei der gräßlichen Idee
wollten verweilen lassen, daß der Mensch von Natur einer solchen Verderbnis
fähig sei.

Bei den Franzosen führt Crébillon den Beinamen des Schrecklichen. Ich
fürchte sehr, mehr von diesem Schrecken, welches in der Tragödie nicht
sein sollte, als von dem echten, das der Philosoph zu dem Wesen der
Tragödie rechnet.

Und dieses--hätte man gar nicht Schrecken nennen sollen. Das Wort,
welches Aristoteles braucht, heißt Furcht: Mitleid und Furcht, sagt er,
soll die Tragödie erregen; nicht Mitleid und Schrecken. Es ist wahr,
das Schrecken ist eine Gattung der Furcht; es ist eine plötzliche,
überraschende Furcht. Aber eben dieses Plötzliche, dieses Überraschende,
welches die Idee desselben einschließt, zeiget deutlich, daß die, von
welchen sich hier die Einführung des Wortes "Schrecken", anstatt des
Wortes "Furcht" herschreibet, nicht eingesehen haben, was für eine Furcht
Aristoteles meine.--Ich möchte dieses Weges sobald nicht wieder kommen:
man erlaube mir also einen kleinen Ausschweif.

"Das Mitleid", sagt Aristoteles, "verlangt einen, der unverdient leidet:
und die Furcht einen unsersgleichen. Der Bösewicht ist weder dieses noch
jenes: folglich kann auch sein Unglück weder das erste noch das andere
erregen."[1]

Diese Furcht, sage ich, nennen die neuern Ausleger und Übersetzer
Schrecken, und es gelingt ihnen, mit Hilfe dieses Worttausches, dem
Philosophen die seltsamsten Händel von der Welt zu machen.

"Man hat sich", sagt einer aus der Menge,[2] "über die Erklärung des
Schreckens nicht vereinigen können; und in der Tat enthält sie in jeder
Betrachtung ein Glied zuviel, welches sie an ihrer Allgemeinheit hindert
und sie allzusehr einschränkt. Wenn Aristoteles durch den Zusatz
'unsersgleichen' nur bloß die Ähnlichkeit der Menschheit verstanden hat,
weil nämlich der Zuschauer und die handelnde Person beide Menschen sind,
gesetzt auch, daß sich unter ihrem Charakter, ihrer Würde und ihrem Range
ein unendlicher Abstand befände: so war dieser Zusatz überflüssig; denn
er verstand sich von selbst. Wenn er aber die Meinung hatte, daß nur
tugendhafte Personen, oder solche, die einen vergeblichen Fehler an sich
hätten, Schrecken erregen könnten: so hatte er unrecht; denn die Vernunft
und die Erfahrung ist ihm sodann entgegen. Das Schrecken entspringt
ohnstreitig aus einem Gefühl der Menschlichkeit: denn jeder Mensch ist
ihm unterworfen, und jeder Mensch erschüttert sich, vermöge dieses
Gefühls, bei dem widrigen Zufalle eines andern Menschen. Es ist wohl
möglich, daß irgend jemand einfallen könnte, dieses von sich zu leugnen:
allein dieses würde allemal eine Verleugnung seiner natürlichen
Empfindungen, und also eine bloße Prahlerei aus verderbten Grundsätzen,
und kein Einwurf sein.--Wenn nun auch einer lasterhaften Person, auf die
wir eben unsere Aufmerksamkeit wenden, unvermutet ein widriger Zufall
zustößt, so verlieren wir den Lasterhaften aus dem Gesichte und sehen
bloß den Menschen. Der Anblick des menschlichen Elendes überhaupt macht
uns traurig, und die plötzliche traurige Empfindung, die wir sodann
haben, ist das Schrecken."

Ganz recht: aber nur nicht an der rechten Stelle! Denn was sagt das wider
den Aristoteles? Nichts. Aristoteles denkt an dieses Schrecken nicht,
wenn er von der Furcht redet, in die uns nur das Unglück unsersgleichen
setzen könne. Dieses Schrecken, welches uns bei der plötzlichen
Erblickung eines Leidens befällt, das einem andern bevorstehet, ist ein
mitleidiges Schrecken und also schon unter dem Mitleide begriffen.
Aristoteles würde nicht sagen, Mitleiden und Furcht; wenn er unter der
Furcht weiter nichts als eine bloße Modifikation des Mitleids verstünde.

"Das Mitleid", sagt der Verfasser der Briefe über die Empfindungen,[3]
"ist eine vermischte Empfindung, die aus der Liebe zu einem Gegenstande,
und aus der Unlust über dessen Unglück zusammengesetzt ist. Die
Bewegungen, durch welche sich das Mitleid zu erkennen gibt, sind von den
einfachen Symptomen der Liebe, sowohl als der Unlust, unterschieden,
denn das Mitleid ist eine Erscheinung. Aber wie vielerlei kann diese
Erscheinung werden! Man ändre nur in dem bedauerten Unglück die einzige
Bestimmung der Zeit: so wird sich das Mitleiden durch ganz andere
Kennzeichen zu erkennen geben. Mit der Elektra, die über die Urne ihres
Bruders weinet, empfinden wir ein mitleidiges Trauern, denn sie hält das
Unglück für geschehen und bejammert ihren gehabten Verlust. Was wir bei
den Schmerzen des Philoktets fühlen, ist gleichfalls Mitleiden, aber
von einer etwas andern Natur; denn die Qual, die dieser Tugendhafte
auszustehen hat, ist gegenwärtig und überfällt ihn vor unsern Augen.
Wenn aber Oedip sich entsetzt, indem das große Geheimnis sich plötzlich
entwickelt; wenn Monime erschrickt, als sie den eifersüchtigen Mithridates
sich entfärben sieht; wenn die tugendhafte Desdemona sich fürchtet, da
sie ihren sonst zärtlichen Othello so drohend mit ihr reden höret: was
empfinden wir da? Immer noch Mitleiden! Aber mitleidiges Entsetzen,
mitleidige Furcht, mitleidiges Schrecken. Die Bewegungen sind verschieden,
allein das Wesen der Empfindungen ist in allen diesen Fällen einerlei.
Denn, da jede Liebe mit der Bereitwilligkeit verbunden ist, uns an die
Stelle des Geliebten zu setzen: so müssen wir alle Arten von Leiden mit
der geliebten Person teilen, welches man sehr nachdrücklich Mitleiden
nennet. Warum sollten also nicht auch Furcht, Schrecken, Zorn, Eifersucht,
Rachbegier, und überhaupt alle Arten von unangenehmen Empfindungen, sogar
den Neid nicht ausgenommen, aus Mitleiden entstehen können?--Man sieht
hieraus, wie gar ungeschickt der größte Teil der Kunstrichter die
tragischen Leidenschaften in Schrecken und Mitleiden einteilet. Schrecken
und Mitleiden! Ist denn das theatralische Schrecken kein Mitleiden? Für
wen erschrickt der Zuschauer, wenn Merope auf ihren eignen Sohn den Dolch
ziehet? Gewiß nicht für sich, sondern für den Aegisth, dessen Erhaltung
man so sehr wünschet, und für die betrogne Königin, die ihn für den
Mörder ihres Sohnes ansiehet. Wollen wir aber nur die Unlust über das
gegenwärtige Übel eines andern Mitleiden nennen: so müssen wir nicht nur
das Schrecken, sondern alle übrige Leidenschaften, die uns von einem
andern mitgeteilet werden, von dem eigentlichen Mitleiden unterscheiden."--


----Fußnote

[1] Im 13. Kapitel der "Dichtkunst".

[2] Hr. S. in der Vorrede zu S. "Komischen Theater", S. 35.

[3] "Philosophische Schriften" des Herrn Moses Mendelssohn, zweiter
Teil, S. 4.

----Fußnote



Fünfundsiebzigstes Stück
Den 19. Januar 1768

Diese Gedanken sind so richtig, so klar, so einleuchtend, daß uns dünkt,
ein jeder hätte sie haben können und haben müssen. Gleichwohl will ich
die scharfsinnigen Bemerkungen des neuen Philosophen dem alten nicht
unterschieben; ich kenne jenes Verdienste um die Lehre von den vermischten
Empfindungen zu wohl; die wahre Theorie derselben haben wir nur ihm zu
danken. Aber was er so vortrefflich auseinandergesetzt hat, das kann doch
Aristoteles im ganzen ungefähr empfunden haben: wenigstens ist es
unleugbar, daß Aristoteles entweder muß geglaubt haben, die Tragödie
könne und solle nichts als das eigentliche Mitleid, nichts als die Unlust
über das gegenwärtige Übel eines andern erwecken, welches ihm schwerlich
zuzutrauen; oder er hat alle Leidenschaften überhaupt, die uns von einem
andern mitgeteilet werden, unter dem Worte Mitleid begriffen.

Denn er, Aristoteles, ist es gewiß nicht, der die mit Recht getadelte
Einteilung der tragischen Leidenschaften in Mitleid und Schrecken gemacht
hat. Man hat ihn falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von
Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht
ist durchaus nicht die Furcht, welche uns das bevorstehende Übel eines
andern, für diesen andern, erweckt, sondern es ist die Furcht, welche aus
unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt;
es ist die Furcht, daß die Unglücksfälle, die wir über diese verhängst
sehen, uns selbst treffen können; es ist die Furcht, daß wir der
bemitleidete Gegenstand selbst werden können. Mit einem Worte: diese
Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.

Aristoteles will überall aus sich selbst erklärt werden. Wer uns einen
neuen Kommentar über seine "Dichtkunst" liefern will, welcher den
Dacierschen weit hinter sich läßt, dem rate ich, vor allen Dingen die
Werke des Philosophen vom Anfange bis zum Ende zu lesen. Er wird
Aufschlüsse für die Dichtkunst finden, wo er sich deren am wenigsten
vermutet; besonders muß er die Bücher der "Rhetorik" und "Moral"
studieren. Man sollte zwar denken, diese Aufschlüsse müßten die
Scholastiker, welche die Schriften des Aristoteles an den Fingern wußten,
längst gefunden haben. Doch die "Dichtkunst" war gerade diejenige von
seinen Schriften, um die sie sich am wenigsten bekümmerten. Dabei fehlten
ihnen andere Kenntnisse, ohne welche jene Aufschlüsse wenigstens nicht
fruchtbar werden konnten: sie kannten das Theater und die Meisterstücke
desselben nicht.

Die authentische Erklärung dieser Furcht, welche Aristoteles dem
tragischen Mitleid beifüget, findet sich in dem fünften und achten
Kapitel des zweiten Buchs seiner "Rhetorik". Es war gar nicht schwer,
sich dieser Kapitel zu erinnern; gleichwohl hat sich vielleicht keiner
seiner Ausleger ihrer erinnert, wenigstens hat keiner den Gebrauch davon
gemacht, der sich davon machen läßt. Denn auch die, welche ohne sie
einsahen, daß diese Furcht nicht das mitleidige Schrecken sei, hätten
noch ein wichtiges Stück aus ihnen zu lernen gehabt: die Ursache nämlich,
warum der Stagirit dem Mitleid hier die Furcht, und warum nur die Furcht,
warum keine andere Leidenschaft, und warum nicht mehrere Leidenschaften
beigesellet habe. Von dieser Ursache wissen sie nichts, und ich möchte
wohl hören, was sie aus ihrem Kopfe antworten würden, wenn man sie fragte:
warum z.E. die Tragödie nicht ebensowohl Mitleid und Bewunderung, als
Mitleid und Furcht, erregen könne und dürfe?

Es beruhet aber alles auf dem Begriffe, den sich Aristoteles von dem
Mitleiden gemacht hat. Er glaubte nämlich, daß das Übel, welches der
Gegenstand unsers Mitleidens werden solle, notwendig von der
Beschaffenheit sein müsse, daß wir es auch für uns selbst, oder für eines
von den Unsrigen, zu befürchten hätten. Wo diese Furcht nicht sei, könne
auch kein Mitleiden stattfinden. Denn weder der, den das Unglück so tief
herabgedrückt habe, daß er weiter nichts für sich zu fürchten sähe, noch
der, welcher sich so vollkommen glücklich glaube, daß er gar nicht
begreife, woher ihm ein Unglück zustoßen könne, weder der Verzweifelnde
noch der Übermütige, pflege mit andern Mitleid zu haben. Er erkläret
daher auch das Fürchterliche und das Mitleidswürdige, eines durch das
andere. Alles das, sagt er, ist uns fürchterlich, was, wenn es einem
andern begegnet wäre, oder begegnen sollte, unser Mitleid erwecken
würde:[1] und alles das finden wir mitleidswürdig, was wir fürchten
würden, wenn es uns selbst bevorstünde. Nicht genug also, daß der
Unglückliche, mit dem wir Mitleiden haben sollen, sein Unglück nicht
verdiene, ob er es sich schon durch irgendeine Schwachheit zugezogen:
seine gequälte Unschuld, oder vielmehr seine zu hart heimgesuchte Schuld,
sei für uns verloren, sei nicht vermögend, unser Mitleid zu erregen, wenn
wir keine Möglichkeit sähen, daß uns sein Leiden auch treffen könne.
Diese Möglichkeit aber finde sich alsdenn und könne zu einer großen
Wahrscheinlichkeit erwachsen, wenn ihn der Dichter nicht schlimmer mache,
als wir gemeiniglich zu sein pflegen, wenn er ihn vollkommen so denken
und handeln lasse, als wir in seinen Umständen würden gedacht und
gehandelt haben, oder wenigstens glauben, daß wir hätten denken und
handeln müssen: kurz, wenn er ihn mit uns von gleichem Schrot und Korne
schildere. Aus dieser Gleichheit entstehe die Furcht, daß unser Schicksal
gar leicht dem seinigen ebenso ähnlich werden könne, als wir ihm zu sein
uns selbst fühlen: und diese Furcht sei es, welche das Mitleid gleichsam
zur Reife bringe.

So dachte Aristoteles von dem Mitleiden, und nur hieraus wird die wahre
Ursache begreiflich, warum er in der Erklärung der Tragödie, nächst dem
Mitleiden, nur die einzige Furcht nannte. Nicht als ob diese Furcht hier
eine besondere, von dem Mitleiden unabhängige Leidenschaft sei, welche
bald mit bald ohne dem Mitleid, sowie das Mitleid bald mit bald ohne ihr,
erreget werden könne; welches die Mißdeutung des Corneille war: sondern
weil, nach seiner Erklärung des Mitleids, dieses die Furcht notwendig
einschließt; weil nichts unser Mitleid erregt, als was zugleich unsere
Furcht erwecken kann.

Corneille hatte seine Stücke schon alle geschrieben, als er sich
hinsetzte, über die Dichtkunst des Aristoteles zu kommentieren[2]. Er
hatte funfzig Jahre für das Theater gearbeitet: und nach dieser Erfahrung
würde er uns unstreitig vortreffliche Dinge über den alten dramatischen
Kodex haben sagen können, wenn er ihn nur auch während der Zeit seiner
Arbeit fleißiger zu Rate gezogen hätte. Allein dieses scheinet er
höchstens nur in Absicht auf die mechanischen Regeln der Kunst getan zu
haben. In den wesentlichem ließ er sich um ihn unbekümmert, und als er am
Ende fand, daß er wider ihn verstoßen, gleichwohl nicht wider ihn
verstoßen haben wollte: so suchte er sich durch Auslegungen zu helfen und
ließ seinen vorgeblichen Lehrmeister Dinge sagen, an die er offenbar nie
gedacht hatte.

Corneille hatte Märtyrer auf die Bühne gebracht und sie als die
vollkommensten und untadelhaftesten Personen geschildert; er hatte die
abscheulichsten Ungeheuer in dem Prusias, in dem Phokas, in der Kleopatra
aufgeführt: und von beiden Gattungen behauptet Aristoteles, daß sie zur
Tragödie unschicklich wären, weil beide weder Mitleid noch Furcht
erwecken könnten. Was antwortet Corneille hierauf? Wie fängt er es an,
damit bei diesem Widerspruche weder sein Ansehen, noch das Ansehen des
Aristoteles leiden möge? "Oh", sagte er, "mit dem Aristoteles können wir
uns hier leicht vergleichen.[3] Wir dürfen nur annehmen, er habe eben
nicht behaupten wollen, daß beide Mittel zugleich, sowohl Furcht als
Mitleid, nötig wären, um die Reinigung der Leidenschaften zu bewirken,
die er zu dem letzten Endzwecke der Tragödie macht: sondern nach seiner
Meinung sei auch eines zureichend.--Wir können diese Erklärung", fährt
er fort, "aus ihm selbst bekräftigen, wenn wir die Gründe recht erwägen,
welche er von der Ausschließung derjenigen Begebenheiten, die er in den
Trauerspielen mißbilliget, gibt. Er sagt niemals: dieses oder jenes
schickt sich in die Tragödie nicht, weil es bloß Mitleiden und keine
Furcht erweckt; oder dieses ist daselbst unerträglich, weil es bloß die
Furcht erweckt, ohne das Mitleid zu erregen. Nein; sondern er verwirft
sie deswegen, weil sie, wie er sagt, weder Mitleid noch Furcht zuwege
bringen, und gibt uns dadurch zu erkennen, daß sie ihm deswegen nicht
gefallen, weil ihnen sowohl das eine als das andere fehlet, und daß er
ihnen seinen Beifall nicht versagen würde, wenn sie nur eines von
beiden wirkten."


----Fußnote

[1] [Greek: Os d' aplos eipein, phobera estin, osa eph' eteron
gignomena, ae mellonta, eleeina estin.] Ich weiß nicht, was dem
Aemilius Portus (in seiner Ausgabe der Rhetorik, Spirae 1598)
eingekommen ist, dieses zu übersetzen: Denique ut simpliciter loquar,
formidabilia sunt, quaecunque simulac in aliorum potestatem venerunt,
vel ventura sunt, miseranda sunt. Es muß schlechtweg heißen:
quaecunque simulac aliis evenerunt, vel eventura sunt.

[2] Je hazarderai quelque chose sur cinquante ans de travail pour la
scène, sagt er in seiner Abhandlung über das Drama. Sein erstes Stück
"Melite" war von 1625, und sein letztes "Surena" von 1675; welches
gerade die funfzig Jahr ausmacht, so daß es gewiß ist, daß er bei den
Auslegungen des Aristoteles auf alle seine Stücke ein Auge haben
konnte und hatte.

[3] Il est aisé de nous accommoder avec Aristote etc.

----Fußnote



Sechsundsiebzigstes Stück
Den 22. Januar 1768

Aber das ist grundfalsch!--Ich kann mich nicht genug wundern, wie Dacier,
der doch sonst auf die Verdrehungen ziemlich aufmerksam war, welche
Corneille von dem Texte des Aristoteles zu seinem Besten zu machen
suchte, diese größte von allen übersehen können. Zwar, wie konnte er sie
nicht übersehen, da es ihm nie einkam, des Philosophen Erklärung vom
Mitleid zu Rate zu ziehen?--Wie gesagt, es ist grundfalsch, was sich
Corneille einbildet. Aristoteles kann das nicht gemeint haben, oder man
müßte glauben, daß er seine eigene Erklärungen vergessen können, man
müßte glauben, daß er sich auf die handgreiflichste Weise widersprechen
können. Wenn, nach seiner Lehre, kein Übel eines andern unser Mitleid
erreget, was wir nicht für uns selbst fürchten: so konnte er mit keiner
Handlung in der Tragödie zufrieden sein, welche nur Mitleid und keine
Furcht erreget; denn er hielt die Sache selbst für unmöglich; dergleichen
Handlungen existierten ihm nicht; sondern sobald sie unser Mitleid zu
erwecken fähig wären, glaubte er, müßten sie auch Furcht für uns
erwecken; oder vielmehr, nur durch diese Furcht erweckten sie Mitleid.
Noch weniger konnte er sich die Handlung einer Tragödie vorstellen,
welche Furcht für uns erregen könne, ohne zugleich unser Mitleid zu
erwecken: denn er war überzeugt, daß alles, was uns Furcht für uns selbst
errege, auch unser Mitleid erwecken müsse, sobald wir andere damit
bedrohet oder betroffen erblickten; und das ist eben der Fall der
Tragödie, wo wir alle das Übel, welches wir fürchten, nicht uns, sondern
anderen begegnen sehen.

Es ist wahr, wenn Aristoteles von den Handlungen spricht, die sich in die
Tragödie nicht schicken, so bedient er sich mehrmalen des Ausdrucks von
ihnen, daß sie weder Mitleid noch Furcht erwecken. Aber desto schlimmer,
wenn sich Corneille durch dieses weder noch verführen lassen. Diese
disjunktive Partikeln involvieren nicht immer, was er sie involvieren
läßt. Denn wenn wir zwei oder mehrere Dinge von einer Sache durch sie
verneinen, so kömmt es darauf an, ob sich diese Dinge ebensowohl in der
Natur voneinander trennen lassen, als wir sie in der Abstraktion und
durch den symbolischen Ausdruck trennen können, wenn die Sache
demohngeachtet noch bestehen soll, ob ihr schon das eine oder das andere
von diesen Dingen fehlt. Wenn wir z.E. von einem Frauenzimmer sagen, sie
sei weder schön noch witzig: so wollen wir allerdings sagen, wir würden
zufrieden sein, wenn sie auch nur eines von beiden wäre; denn Witz und
Schönheit lassen sich nicht bloß in Gedanken trennen, sondern sie sind
wirklich getrennet. Aber wenn wir sagen: "dieser Mensch glaubt weder
Himmel noch Hölle", wollen wir damit auch sagen: daß wir zufrieden sein
würden, wenn er nur eines von beiden glaubte, wenn er nur den Himmel und
keine Hölle, oder nur die Hölle und keinen Himmel glaubte? Gewiß nicht:
denn wer das eine glaubt, muß notwendig auch das andere glauben; Himmel
und Hölle, Strafe und Belohnung sind relativ; wenn das eine ist, ist auch
das andere. Oder, um mein Exempel aus einer verwandten Kunst zu nehmen;
wenn wir sagen, dieses Gemälde taugt nichts, denn es hat weder Zeichnung
noch Kolorit: wollen wir damit sagen, daß ein gutes Gemälde sich mit
einem von beiden begnügen könne?--Das ist so klar!

Allein, wie, wenn die Erklärung, welche Aristoteles von dem Mitleiden
gibt, falsch wäre? Wie, wenn wir auch mit Übeln und Unglücksfällen
Mitleid fühlen könnten, die wir für uns selbst auf keine Weise zu
besorgen haben?

Es ist wahr: es braucht unserer Furcht nicht, um Unlust über das
physikalische Übel eines Gegenstandes zu empfinden, den wir lieben. Diese
Unlust entstehet bloß aus der Vorstellung der Unvollkommenheit, so wie
unsere Liebe aus der Vorstellung der Vollkommenheiten desselben; und aus
dem Zusammenflusse dieser Lust und Unlust entspringet die vermischte
Empfindung, welche wir Mitleid nennen.

Jedoch auch sonach glaube ich nicht, die Sache des Aristoteles notwendig
aufgeben zu müssen.

Denn wenn wir auch schon, ohne Furcht für uns selbst, Mitleid für andere
empfinden können: so ist es doch unstreitig, daß unser Mitleid, wenn jene
Furcht dazukommt, weit lebhafter und stärker und anzüglicher wird, als es
ohne sie sein kann. Und was hindert uns, anzunehmen, daß die vermischte
Empfindung über das physikalische Übel eines geliebten Gegenstandes nur
allein durch die dazukommende Furcht für uns zu dem Grade erwächst, in
welchem sie Affekt genannt zu werden verdienet?

Aristoteles hat es wirklich angenommen. Er betrachtet das Mitleid nicht
nach seinen primitiven Regungen, er betrachtet es bloß als Affekt. Ohne
jene zu verkennen, verweigert er nur dem Funke den Namen der Flamme.
Mitleidige Regungen, ohne Furcht für uns selbst, nennt er Philanthropie:
und nur den stärkere Regungen dieser Art, welche mit Furcht für uns
selbst verknüpft sind, gibt er den Namen des Mitleids. Also behauptet er
zwar, daß das Unglück eines Bösewichts weder unser Mitleid noch unsere
Furcht errege: aber er spricht ihm darum nicht alle Rührung ab. Auch der
Bösewicht ist noch Mensch, ist noch ein Wesen, das bei allen seinen
moralischen Unvollkommenheiten Vollkommenheiten genug behält, um sein
Verderben, seine Zernichtung lieber nicht zu wollen, um bei dieser etwas
Mitleidähnliches, die Elemente des Mitleids gleichsam, zu empfinden.
Aber, wie schon gesagt, diese mitleidähnliche Empfindung nennt er nicht
Mitleid, sondern Philanthropie. "Man muß", sagt er, "keinen Bösewicht aus
unglücklichen in glückliche Umstände gelangen lassen; denn das ist das
untragischste, was nur sein kann; es hat nichts von allem, was es haben
sollte; es erweckt weder Philanthropie, noch Mitleid, noch Furcht. Auch
muß es kein völliger Bösewicht sein, der aus glücklichen Umständen in
unglückliche verfällt; denn eine dergleichen Begebenheit kann zwar
Philanthropie, aber weder Mitleid noch Furcht erwecken." Ich kenne nichts
Kahleres und Abgeschmackteres, als die gewöhnlichen Übersetzungen dieses
Wortes Philanthropie. Sie geben nämlich das Adjektivum davon im
Lateinischen durch hominibus gratum; im Französischen durch ce que peut
faire quelque plaisir; und im Deutschen durch "was Vergnügen machen
kann". Der einzige Goulston, soviel ich finde, scheinet den Sinn des
Philosophen nicht verfehlt zu haben, indem er das [Greek: philanthropon]
durch quod humanitatis sensu tangat übersetzt. Denn allerdings ist unter
dieser Philanthropie, auf welche das Unglück auch eines Bösewichts
Anspruch macht, nicht die Freude über seine verdiente Bestrafung, sondern
das sympathetische Gefühl der Menschlichkeit zu verstehen, welches, trotz
der Vorstellung, daß sein Leiden nichts als Verdienst sei, dennoch in dem
Augenblicke des Leidens in uns sich für ihn reget. Herr Curtius will zwar
diese mitleidige Regungen für einen unglücklichen Bösewicht nur auf eine
gewisse Gattung der ihn treffenden Übel einschränken. "Solche Zufälle des
Lasterhaften", sagt er, "die weder Schrecken noch Mitleiden in uns
wirken, müssen Folgen seines Lasters sein: denn treffen sie ihn zufällig,
oder wohl gar unschuldig, so behält er in dem Herzen der Zuschauer die
Vorrechte der Menschlichkeit, als welche auch einem unschuldig leidenden
Gottlosen ihr Mitleid nicht versaget." Aber er scheinet dieses nicht
genug überlegt zu haben. Denn auch dann noch, wenn das Unglück, welches
den Bösewicht befällt, eine unmittelbare Folge seines Verbrechens ist,
können wir uns nicht entwehren, bei dem Anblicke dieses Unglücks mit ihm
zu leiden.

"Seht jene Menge", sagt der Verfasser der "Briefe über die Empfindungen",
"die sich um einen Verurteilten in dichten Haufen dränget. Sie haben alle
Greuel vernommen, die der Lasterhafte begangen; sie haben seinen Wandel
und vielleicht ihn selbst verabscheuet. Itzt schleppt man ihn entstellt
und ohnmächtig auf das entsetzliche Schaugerüste. Man arbeitet sich durch
das Gewühl, man stellt sich auf die Zehen, man klettert die Dächer hinan,
um die Züge des Todes sein Gesicht entstellen zu sehen. Sein Urteil ist
gesprochen; sein Henker naht sich ihm; ein Augenblick wird sein Schicksal
entscheiden. Wie sehnlich wünschen itzt aller Herzen, daß ihm verziehen
würde! Ihm? dem Gegenstande ihres Abscheues, den sie einen Augenblick
vorher selbst zum Tode verurteilet haben würden? Wodurch wird itzt ein
Strahl der Menschenliebe wiederum bei ihnen rege? Ist es nicht die
Annäherung der Strafe, der Anblick der entsetzlichsten physikalischen
Übel, die uns sogar mit einem Ruchlosen gleichsam aussöhnen und ihm
unsere Liebe erwerben? Ohne Liebe könnten wir unmöglich mitleidig mit
seinem Schicksale sein."

Und ebendiese Liebe, sage ich, die wir gegen unsern Nebenmenschen unter
keinerlei Umständen ganz verlieren können, die unter der Asche, mit
welcher sie andere stärkere Empfindungen überdecken, unverlöschlich
fortglimmet und gleichsam nur einen günstigen Windstoß von Unglück und
Schmerz und Verderben erwartet, um in die Flamme des Mitleids auszubrechen;
ebendiese Liebe ist es, welche Aristoteles unter dem Namen der Philanthropie
verstehet. Wir haben recht, wenn wir sie mit unter dem Namen des Mitleids
begreifen. Aber Aristoteles hatte auch nicht unrecht, wenn er ihr einen
eigenen Namen gab, um sie, wie gesagt, von dem höchsten Grade der
mitleidigen Empfindungen, in welchem sie, durch die Dazukunft einer
wahrscheinlichen Furcht für uns selbst, Affekt werden, zu
unterscheiden.



Siebenundsiebzigstes Stück
Den 26. Januar 1768

Einem Einwurfe ist hier noch vorzukommen. Wenn Aristoteles diesen Begriff
von dem Affekte des Mitleids hatte, daß er notwendig mit der Furcht für
uns selbst verknüpft sein müsse: was war es nötig, der Furcht noch
insbesondere zu erwähnen? Das Wort Mitleid schloß sie schon in sich, und
es wäre genug gewesen, wenn er bloß gesagt hätte: die Tragödie soll durch
Erregung des Mitleids die Reinigung unserer Leidenschaft bewirken. Denn
der Zusatz der Furcht sagt nichts mehr, und macht das, was er sagen soll,
noch dazu schwankend und ungewiß.

Ich antworte: wenn Aristoteles uns bloß hätte lehren wollen, welche
Leidenschaften die Tragödie erregen könne und solle, so würde er sich den
Zusatz der Furcht allerdings haben ersparen können, und ohne Zweifel sich
wirklich ersparet haben; denn nie war ein Philosoph ein größerer
Wortsparer als er. Aber er wollte uns zugleich lehren, welche
Leidenschaften, durch die in der Tragödie erregten, in uns gereiniget
werden sollten; und in dieser Absicht mußte er der Furcht insbesondere
gedenken. Denn obschon, nach ihm, der Affekt des Mitleids weder in noch
außer dem Theater ohne Furcht für uns selbst sein kann; ob sie schon ein
notwendiges Ingrediens des Mitleids ist: so gilt dieses doch nicht auch
umgekehrt, und das Mitleid für andere ist kein Ingrediens der Furcht für
uns selbst. Sobald die Tragödie aus ist, höret unser Mitleid auf, und
nichts bleibt von allen den empfundenen Regungen in uns zurück als die
wahrscheinliche Furcht, die uns das bemitleidete Übel für uns selbst
schöpfen lassen. Diese nehmen wir mit; und so wie sie, als Ingrediens des
Mitleids, das Mitleid reinigen helfen, so hilft sie nun auch, als eine
vor sich fortdauernde Leidenschaft, sich selbst reinigen. Folglich, um
anzuzeigen, daß sie dieses tun könne und wirklich tue, fand es
Aristoteles für nötig, ihrer insbesondere zu gedenken.

Es ist unstreitig, daß Aristoteles überhaupt keine strenge logische
Definition von der Tragödie geben wollen. Denn ohne sich auf die bloß
wesentlichen Eigenschaften derselben einzuschränken, hat er verschiedene
zufällige hineingezogen, weil sie der damalige Gebrauch notwendig gemacht
hatte. Diese indes abgerechnet, und die übrigen Merkmale ineinander
reduzieret, bleibt eine vollkommen genaue Erklärung übrig: die nämlich,
daß die Tragödie, mit einem Worte, ein Gedicht ist, welches Mitleid
erreget. Ihrem Geschlechte nach ist sie die Nachahmung einer Handlung; so
wie die Epopee und die Komödie: ihrer Gattung aber nach, die Nachahmung
einer mitleidswürdigen Handlung. Aus diesen beiden Begriffen lassen sich
vollkommen alle ihre Regeln herleiten: und sogar ihre dramatische Form
ist daraus zu bestimmen.

An dem letztern dürfte man vielleicht zweifeln. Wenigstens wüßte ich
keinen Kunstrichter zu nennen, dem es nur eingekommen wäre, es zu
versuchen. Sie nehmen alle die dramatische Form der Tragödie als etwas
Hergebrachtes an, das nun so ist, weil es einmal so ist, und das man so
läßt, weil man es gut findet. Der einzige Aristoteles hat die Ursache
ergründet, aber sie bei seiner Erklärung mehr vorausgesetzt, als deutlich
angegeben. "Die Tragödie", sagt er, "ist die Nachahmung einer
Handlung,--die nicht vermittelst der Erzählung, sondern vermittelst des
Mitleids und der Furcht die Reinigung dieser und dergleichen
Leidenschaften bewirket." So drückt er sich von Wort zu Wort aus. Wem
sollte hier nicht der sonderbare Gegensatz, "nicht vermittelst der
Erzählung, sondern vermittelst des Mitleids und der Furcht", befremden?
Mitleid und Furcht sind die Mittel, welche die Tragödie braucht, um ihre
Absicht zu erreichen: und die Erzählung kann sich nur auf die Art und
Weise beziehen, sich dieser Mittel zu bedienen oder nicht zu bedienen.
Scheinet hier also Aristoteles nicht einen Sprung zu machen? Scheinet
hier nicht offenbar der eigentliche Gegensatz der Erzählung, welches die
dramatische Form ist, zu fehlen? Was tun aber die Übersetzer bei dieser
Lücke? Der eine umgeht sie ganz behutsam: und der andere füllt sie, aber
nur mit Worten. Alle finden weiter nichts darin, als eine vernachlässigte
Wortfügung, an die sie sich nicht halten zu dürfen glauben, wenn sie nur
den Sinn des Philosophen liefern. Dacier übersetzt: d'une action--qui,
sans le secours de la narration, par le moyen de la compassion et de la
terreur usw.; und Curtius: "einer Handlung, welche nicht durch die
Erzählung des Dichters, sondern (durch Vorstellung der Handlung selbst)
uns, vermittelst des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der
vorgestellten Leidenschaften reiniget". Oh, sehr recht! Beide sagen, was
Aristoteles sagen will, nur daß sie es nicht so sagen, wie er es sagt.
Gleichwohl ist auch an diesem Wie gelegen; denn es ist wirklich keine
bloß vernachlässigte Wortfügung. Kurz, die Sache ist diese: Aristoteles
bemerkte, daß das Mitleid notwendig ein vorhandenes Übel erfodere; daß
wir längst vergangene oder fern in der Zukunft bevorstehende Übel
entweder gar nicht oder doch bei weitem nicht so stark bemitleiden
können, als ein anwesendes; daß es folglich notwendig sei, die Handlung,
durch welche wir Mitleid erregen wollen, nicht als vergangen, das ist,
nicht in der erzählenden Form, sondern als gegenwärtig, das ist, in der
dramatischen Form, nachzuahmen. Und nur dieses, daß unser Mitleid durch
die Erzählung wenig oder gar nicht, sondern fast einzig und allein durch
die gegenwärtige Anschauung erreget wird, nur dieses berechtigte ihn, in
der Erklärung anstatt der Form der Sache die Sache gleich selbst zu
setzen, weil diese Sache nur dieser einzigen Form fähig ist. Hätte er es
für möglich gehalten, daß unser Mitleid auch durch die Erzählung erreget
werden könne: so würde es allerdings ein sehr fehlerhafter Sprung gewesen
sein, wenn er gesagt hätte, "nicht durch die Erzählung, sondern durch
Mitleid und Furcht". Da er aber überzeugt war, daß Mitleid und Furcht in
der Nachahmung nur durch die einzige dramatische Form zu erregen sei: so
konnte er sich diesen Sprung, der Kürze wegen, erlauben.--Ich verweise
desfalls auf das nämliche achte Kapitel des zweiten Buchs seiner
Rhetorik.[1]

Was endlich den moralischen Endzweck anbelangt, welchen Aristoteles der
Tragödie gibt, und den er mit in die Erklärung derselben bringen zu
müssen glaubte: so ist bekannt, wie sehr, besonders in den neuern Zeiten,
darüber gestritten worden. Ich getraue mich aber zu erweisen, daß alle,
die sich dawider erklärt, den Aristoteles nicht verstanden haben. Sie
haben ihm alle ihre eigene Gedanken untergeschoben, ehe sie gewiß wußten,
welches seine wären. Sie bestreiten Grillen, die sie selbst gefangen, und
bilden sich ein, wie unwidersprechlich sie den Philosophen widerlegen,
indem sie ihr eigenes Hirngespinste zuschanden machen. Ich kann mich in
die nähere Erörterung dieser Sache hier nicht einlassen. Damit ich jedoch
nicht ganz ohne Beweis zu sprechen scheine, will ich zwei
Anmerkungen machen.

1. Sie lassen den Aristoteles sagen, "die Tragödie solle uns, vermittelst
des Schreckens und Mitleids, von den Fehlern der vorgestellten
Leidenschaften reinigen". Der vorgestellten? Also, wenn der Held durch
Neugierde, oder Ehrgeiz, oder Liebe, oder Zorn unglücklich wird: so ist
es unsere Neugierde, unser Ehrgeiz, unsere Liebe, unser Zorn, welchen die
Tragödie reinigen soll? Das ist dem Aristoteles nie in den Sinn gekommen.
Und so haben die Herren gut streiten; ihre Einbildung verwandelt
Windmühlen in Riesen; sie jagen, in der gewissen Hoffnung des Sieges,
darauf los, und kehren sich an keinen Sancho, der weiter nichts als
gesunden Menschenverstand hat und ihnen auf seinem bedächtlichern Pferde
hinten nachruft, sich nicht zu übereilen, und doch nur erst die Augen
recht aufzusperren: [Greek: Ton toiouton pathaematon], sagt Aristoteles:
und das heißt nicht "der vorgestellten Leidenschaften"; das hätten sie
übersetzen müssen durch "dieser und dergleichen" oder "der erweckten
Leidenschaften". Das [Greek: toiouton] bezieht sich lediglich auf das
vorhergehende Mitleid und Furcht; die Tragödie soll unser Mitleid und
unsere Furcht erregen, bloß um diese und dergleichen Leidenschaften,
nicht aber alle Leidenschaften ohne Unterschied zu reinigen. Er sagt
aber [Greek: toiouton] und nicht [Greek: touton], er sagt "dieser und
dergleichen" und nicht bloß "dieser": um anzuzeigen, daß er unter dem
Mitleid nicht bloß das eigentlich sogenannte Mitleid, sondern überhaupt
alle philanthropische Empfindungen, sowie unter der Furcht nicht bloß die
Unlust über ein uns bevorstehendes Übel, sondern auch jede damit verwandte
Unlust, auch die Unlust über ein gegenwärtiges, auch die Unlust über ein
vergangenes Übel, Betrübnis und Gram, verstehe. In diesem ganzen Umfange
soll das Mitleid und die Furcht, welche die Tragödie erweckt, unser
Mitleid und unsere Furcht reinigen; aber auch nur diese reinigen, und
keine andere Leidenschaften. Zwar können sich in der Tragödie auch zur
Reinigung der andern Leidenschaften nützliche Lehren und Beispiele finden;
doch sind diese nicht ihre Absicht; diese hat sie mit der Epopee und
Komödie gemein, insofern sie ein Gedicht, die Nachahmung einer Handlung
überhaupt ist, nicht aber insofern sie Tragödie, die Nachahmung einer
mitleidswürdigen Handlung insbesondere ist. Bessern sollen uns alle
Gattungen der Poesie; es ist kläglich, wenn man dieses erst beweisen muß;
noch kläglicher ist es, wenn es Dichter gibt, die selbst daran zweifeln.
Aber alle Gattungen können nicht alles bessern; wenigstens nicht jedes so
vollkommen, wie das andere; was aber jede am vollkommensten bessern kann,
worin es ihr keine andere Gattung gleich zu tun vermag, das allein ist
ihre eigentliche Bestimmung.


----Fußnote

[1] [Greek: Epei d' eggys phainomena ta pathae, eleeina eisi, ta de
myrioston etos genomena, ae esomena, out' elpizontes, oute memnaemenoi,
ae olos ouch eleousin, ae ouch' dmoios, anankae tous synapergazomenous
schaemasi kai onais, kai esti, kai olos tae hypochrisei,
eleeinoterous einai.]

----Fußnote



Achtundsiebzigstes Stück
Den 29. Januar 1768

2. Da die Gegner des Aristoteles nicht in acht nahmen, was für
Leidenschaften er eigentlich, durch das Mitleid und die Furcht der
Tragödie, in uns gereiniget haben wollte: so war es natürlich, daß sie
sich auch mit der Reinigung selbst irren mußten. Aristoteles verspricht
am Ende seiner "Politik", wo er von der Reinigung der Leidenschaften
durch die Musik redet, von dieser Reinigung in seiner Dichtkunst
weitläuftiger zu handeln. "Weil man aber", sagt Corneille, "ganz und gar
nichts von dieser Materie darin findet, so ist der größte Teil seiner
Ausleger auf die Gedanken geraten, daß sie nicht ganz auf uns gekommen
sei." Gar nichts? Ich meinesteils glaube, auch schon in dem, was uns von
seiner Dichtkunst noch übrig, es mag viel oder wenig sein, alles zu
finden, was er einem, der mit seiner Philosophie sonst nicht ganz
unbekannt ist, über diese Sache zu sagen für nötig halten konnte.
Corneille selbst bemerkte eine Stelle, die uns, nach seiner Meinung,
Licht genug geben könne, die Art und Weise zu entdecken, auf welche die
Reinigung der Leidenschaften in der Tragödie geschehe: nämlich die, wo
Aristoteles sagt, "das Mitleid verlange einen, der unverdient leide, und
die Furcht einen unsersgleichen". Diese Stelle ist auch wirklich sehr
wichtig, nur daß Corneille einen falschen Gebrauch davon machte, und
nicht wohl anders als machen konnte, weil er einmal die Reinigung der
Leidenschaften überhaupt im Kopfe hatte. "Das Mitleid mit dem Unglücke",
sagt er, "von welchem wir unsersgleichen befallen sehen, erweckt in uns
die Furcht, daß uns ein ähnliches Unglück treffen könne; diese Furcht
erweckt die Begierde, ihm auszuweichen; und diese Begierde ein Bestreben,
die Leidenschaft, durch welche die Person, die wir bedauern, sich ihr
Unglück vor unsern Augen zuziehet, zu reinigen, zu mäßigen, zu bessern,
ja gar auszurotten; indem einem jeden die Vernunft sagt, daß man die
Ursache abschneiden müsse, wenn man die Wirkung vermeiden wolle." Aber
dieses Raisonnement, welches die Furcht bloß zum Werkzeuge macht, durch
welches das Mitleid die Reinigung der Leidenschaften bewirkt, ist falsch
und kann unmöglich die Meinung des Aristoteles sein; weil sonach die
Tragödie gerade alle Leidenschaften reinigen könnte, nur nicht die zwei,
die Aristoteles ausdrücklich durch sie gereiniget wissen will. Sie könnte
unsern Zorn, unsere Neugierde, unsern Neid, unsern Ehrgeiz, unsern Haß
und unsere Liebe reinigen, so wie es die eine oder die andere Leidenschaft
ist, durch die sich die bemitleidete Person ihr Unglück zugezogen. Nur
unser Mitleid und unsere Furcht müßte sie ungereiniget lassen. Denn
Mitleid und Furcht sind die Leidenschaften, die in der Tragödie wir,
nicht aber die handelnden Personen empfinden; sind die Leidenschaften,
durch welche die handelnden Personen uns rühren, nicht aber die, durch
welche sie sich selbst ihre Unfälle zuziehen. Es kann ein Stück geben,
in welchem sie beides sind: das weiß ich wohl. Aber noch kenne ich kein
solches Stück: ein Stück nämlich, in welchem sich die bemitleidete Person
durch ein übelverstandenes Mitleid oder durch eine übelverstandene Furcht
ins Unglück stürze. Gleichwohl würde dieses Stück das einzige sein, in
welchem, so wie es Corneille versteht, das geschähe, was Aristoteles
will, daß es in allen Tragödien geschehen soll: und auch in diesem
einzigen würde es nicht auf die Art geschehen, auf die es dieser verlangt.
Dieses einzige Stück würde gleichsam der Punkt sein, in welchem zwei
gegeneinander sich neigende gerade Linien zusammentreffen, um sich in
alle Unendlichkeit nicht wieder zu begegnen.--So gar sehr konnte Dacier
den Sinn des Aristoteles nicht verfehlen. Er war verbunden, auf die Worte
seines Autors aufmerksamer zu sein, und diese besagen es zu positiv, daß
unser Mitleid und unsere Furcht durch das Mitleid und die Furcht der
Tragödie gereiniget werden sollen. Weil er aber ohne Zweifel glaubte, daß
der Nutzen der Tragödie sehr gering sein würde, wenn er bloß hierauf
eingeschränkt wäre: so ließ er sich verleiten, nach der Erklärung des
Corneille, ihr die ebenmäßige Reinigung auch aller übrigen Leidenschaften
beizulegen. Wie nun Corneille diese für sein Teil leugnete und in
Beispielen zeigte, daß sie mehr ein schöner Gedanke, als eine Sache sei,
die gewöhnlicherweise zur Wirklichkeit gelange: so mußte er sich mit ihm
in diese Beispiele selbst einlassen, wo er sich denn so in der Enge fand,
daß er die gewaltsamsten Drehungen und Wendungen machen mußte, um seinen
Aristoteles mit sich durchzubringen. Ich sage seinen Aristoteles: denn
der rechte ist weit entfernt, solcher Drehungen und Wendungen zu bedürfen.
Dieser, um es abermals und abermals zu sagen, hat an keine andere Leiden-
schaften gedacht, welche das Mitleid und die Furcht der Tragödie reinigen
solle, als an unser Mitleid und unsere Furcht selbst; und es ist ihm sehr
gleichgültig, ob die Tragödie zur Reinigung der übrigen Leidenschaften
viel oder wenig beiträgt. An jene Reinigung hätte sich Dacier allein
halten sollen: aber freilich hätte er sodann auch einen vollständigem
Begriff damit verbinden müssen. "Wie die Tragödie", sagt er, "Mitleid und
Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen, das ist nicht schwer zu
erklären. Sie erregt sie, indem sie uns das Unglück vor Augen stellet, in
das unsersgleichen durch nicht vorsätzliche Fehler gefallen sind; und sie
reiniget sie, indem sie uns mit diesem nämlichen Unglücke bekannt macht
und uns dadurch lehret, es weder allzusehr zu fürchten, noch allzusehr
davon gerührt zu werden, wann es uns wirklich selbst treffen sollte.--Sie
bereitet die Menschen, die allerwidrigsten Zufälle mutig zu ertragen, und
macht die Allerelendesten geneigt, sich für glücklich zu halten, indem
sie ihre Unglücksfälle mit weit größern vergleichen, die ihnen die
Tragödie vorstellet. Denn in welchen Umständen kann sich wohl ein Mensch
finden, der bei Erblickung eines Oedips, eines Philoktets, eines Orests
nicht erkennen müßte, daß alle Übel, die er zu erdulden, gegen die,
welche diese Männer erdulden müssen, gar nicht in Vergleichung gekommen?"
Nun das ist wahr; diese Erklärung kann dem Dacier nicht viel Kopfbrechens
gemacht haben. Er fand sie fast mit den nämlichen Worten bei einem
Stoiker, der immer ein Auge auf die Apathie hatte. Ohne ihm indes
einzuwenden, daß das Gefühl unsers eigenen Elendes nicht viel Mitleid
neben sich duldet; daß folglich bei dem Elenden, dessen Mitleid nicht zu
erregen ist, die Reinigung oder Linderung seiner Betrübnis durch das
Mitleid nicht erfolgen kann: will ich ihm alles, so wie er es sagt,
gelten lassen. Nur fragen muß ich: wieviel er nun damit gesagt? Ob er im
geringsten mehr damit gesagt, als, daß das Mitleid unsere Furcht reinige?
Gewiß nicht: und das wäre doch nur kaum der vierte Teil der Foderung des
Aristoteles. Denn wenn Aristoteles behauptet, daß die Tragödie Mitleid
und Furcht errege, um Mitleid und Furcht zu reinigen: wer sieht nicht,
daß dieses weit mehr sagt, als Dacier zu erklären für gut befunden? Denn,
nach den verschiedenen Kombinationen der hier vorkommenden Begriffe, muß
der, welcher den Sinn des Aristoteles ganz erschöpfen will, stückweise
zeigen, 1. wie das tragische Mitleid unser Mitleid, 2. wie die tragische
Furcht unsere Furcht, 3. wie das tragische Mitleid unsere Furcht, und
4. wie die tragische Furcht unser Mitleid reinigen könne und wirklich
reinige. Dacier aber hat sich nur an den dritten Punkt gehalten, und auch
diesen nur sehr schlecht, und auch diesen nur zur Hälfte erläutert. Denn
wer sich um einen richtigen und vollständigen Begriff von der
Aristotelischen Reinigung der Leidenschaften bemüht hat, wird finden, daß
jeder von jenen vier Punkten einen doppelten Fall in sich schließet. Da
nämlich, es kurz zu sagen, diese Reinigung in nichts anders beruhet, als
in der Verwandlung der Leidenschaften in tugendhafte Fertigkeiten, bei
jeder Tugend aber, nach unserm Philosophen, sich diesseits und jenseits
ein Extremum findet, zwischen welchem sie innestehet: so muß die Tragödie,
wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis
des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches auch von der Furcht zu
verstehen. Das tragische Mitleid muß nicht allein, in Ansehung des Mitleids,
die Seele desjenigen reinigen, welcher zu viel Mitleid fühlet, sondern auch
desjenigen, welcher zu wenig empfindet. Die tragische Furcht muß nicht
allein, in Ansehung der Furcht, die Seele desjenigen reinigen, welcher sich
ganz und gar keines Unglücks befürchtet, sondern auch desjenigen, den ein
jedes Unglück, auch das entfernteste, auch das unwahrscheinlichste, in
Angst setzet. Gleichfalls muß das tragische Mitleid, in Ansehung der Furcht,
dem was zu viel, und dem was zu wenig, steuern: so wie hinwiederum die
tragische Furcht, in Ansehung des Mitleids. Dacier aber, wie gesagt, hat
nur gezeigt, wie das tragische Mitleid unsere allzugroße Furcht mäßige: und
noch nicht einmal, wie es dem gänzlichen Mangel derselben abhelfe oder sie
in dem, welcher allzu wenig von ihm empfindet, zu einem heilsamem Grade
erhöhe; geschweige, daß er auch das übrige sollte gezeigt haben. Die nach
ihm gekommen, haben, was er unterlassen, auch im geringsten nicht ergänzet;
aber wohl sonst, um nach ihrer Meinung den Nutzen der Tragödie völlig außer
Streit zu setzen, Dinge dahin gezogen, die dem Gedichte überhaupt, aber
keinesweges der Tragödie, als Tragödie, insbesondere zukommen; z.E. daß sie
die Triebe der Menschlichkeit nähren und stärken; daß sie Liebe zur Tugend
und Haß gegen das Laster wirken solle usw.[1] Lieber! welches Gedicht sollte
das nicht? Soll es aber ein jedes: so kann es nicht das unterscheidende
Kennzeichen der Tragödie sein; so kann es nicht das sein, was wir suchten.


----Fußnote

[1] Hr. Curtius in seiner "Abhandlung von der Absicht des Trauerspiels",
hinter der Aristotelischen Dichtkunst".

----Fußnote



Neunundsiebzigstes Stück
Den 2. Februar 1768

Und nun wieder auf unsern Richard zu kommen.--Richard also erweckt
ebensowenig Schrecken, als Mitleid: weder Schrecken in dem gemißbrauchten
Verstande, für die plötzliche Überraschung des Mitleids; noch in dem
eigentlichen Verstande des Aristoteles, für heilsame Furcht, daß uns ein
ähnliches Unglück treffen könne. Denn wenn er diese erregte, würde er
auch Mitleid erregen; so gewiß er hinwiederum Furcht erregen würde, wenn
wir ihn unsers Mitleids nur im geringsten würdig fänden. Aber er ist so
ein abscheulicher Kerl, so ein eingefleischter Teufel, in dem wir so
völlig keinen einzigen ähnlichen Zug mit uns selbst finden, daß ich
glaube, wir könnten ihn vor unsern Augen den Martern der Hölle übergeben
sehen, ohne das geringste für ihn zu empfinden, ohne im geringsten zu
fürchten, daß, wenn solche Strafe nur auf solche Verbrechen folge, sie
auch unsrer erwarte. Und was ist endlich das Unglück, die Strafe, die ihn
trifft? Nach so vielen Missetaten, die wir mit ansehen müssen, hören wir,
daß er mit dem Degen in der Faust gestorben. Als der Königin dieses
erzählt wird, läßt sie der Dichter sagen:

"Dies ist etwas!"--

Ich habe mich nie enthalten können, bei mir nachzusprechen: nein, das ist
gar nichts! Wie mancher gute König ist so geblieben, indem er seine Krone
wider einen mächtigen Rebellen behaupten wollen? Richard stirbt doch, als
ein Mann, auf dem Bette der Ehre. Und so ein Tod sollte mich für den
Unwillen schadlos halten, den ich das ganze Stück durch über den Triumph
seiner Bosheiten empfunden? (Ich glaube, die griechische Sprache ist die
einzige, welche ein eigenes Wort hat, diesen Unwillen über das Glück
eines Bösewichts auszudrücken: [Greek: nemesis, nemesan.][1]) Sein Tod
selbst, welcher wenigstens meine Gerechtigkeitsliebe befriedigen sollte,
unterhält noch meine Nemesis. Du bist wohlfeil weggekommen! denke ich:
aber gut, daß es noch eine andere Gerechtigkeit gibt, als die poetische!

Man wird vielleicht sagen: nun wohl! wir wollen den Richard aufgeben; das
Stück heißt zwar nach ihm; aber er ist darum nicht der Held desselben,
nicht die Person, durch welche die Absicht der Tragödie erreicht wird; er
hat nur das Mittel sein sollen, unser Mitleid für andere zu erregen. Die
Königin, Elisabeth, die Prinzen, erregen diese nicht Mitleid?--

Um allem Wortstreite auszuweichen: ja. Aber was ist es für eine fremde,
herbe Empfindung, die sich in mein Mitleid für diese Personen mischt? die
da macht, daß ich mir dieses Mitleid ersparen zu können wünschte? Das
wünsche ich mir bei dem tragischen Mitleid doch sonst nicht; ich verweile
gern dabei; und danke dem Dichter für eine so süße Qual.

Aristoteles hat es wohl gesagt, und das wird es ganz gewiß sein! Er
spricht von einem [Greek: miaron], von einem Gräßlichen, das sich bei dem
Unglücke ganz guter, ganz unschuldiger Personen finde. Und sind nicht die
Königin, Elisabeth, die Prinzen vollkommen solche Personen? Was haben sie
getan? wodurch haben sie es sich zugezogen, daß sie in den Klauen dieser
Bestie sind? Ist es ihre Schuld, daß sie ein näheres Recht auf den Thron
haben als er? Besonders die kleinen wimmernden Schlachtopfer, die noch
kaum rechts und links unterscheiden können! Wer wird leugnen, daß sie
unsern ganzen Jammer verdienen? Aber ist dieser Jammer, der mich mit
Schaudern an die Schicksale der Menschen denken läßt, dem Murren wider
die Vorsehung sich zugesellet und Verzweiflung von weiten nachschleicht,
ist dieser Jammer--ich will nicht fragen, Mitleid?--Er heiße, wie er
wolle--Aber ist er das, was eine nachahmende Kunst erwecken sollte?

Man sage nicht: erweckt ihn doch die Geschichte; gründet er sich doch auf
etwas, das wirklich geschehen ist.--Das wirklich geschehen ist? es sei:
so wird es seinen guten Grund in dem ewigen unendlichen Zusammenhange
aller Dinge haben. In diesem ist Weisheit und Güte, was uns in den
wenigen Gliedern, die der Dichter herausnimmt, blindes Geschick und
Grausamkeit scheinet. Aus diesen wenigen Gliedern sollte er ein Ganzes
machen, das völlig sich rundet, wo eines aus dem andern sich völlig
erkläret, wo keine Schwierigkeit aufstößt, derenwegen wir die Befriedigung
nicht in seinem Plane finden, sondern sie außer ihm, in dem allgemeinen
Plane der Dinge suchen müssen; das Ganze dieses sterblichen Schöpfers
sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des ewigen Schöpfers sein; sollte
uns an den Gedanken gewöhnen, wie sich in ihm alles zum Besten auflöse,
werde es auch in jenem geschehen: und er vergißt diese seine edelste
Bestimmung so sehr, daß er die unbegreiflichen Wege der Vorsicht mit in
seinen kleinen Zirkel flicht und geflissentlich unsern Schauder darüber
erregt?--O verschonet uns damit, ihr, die ihr unser Herz in eurer Gewalt
habt! Wozu diese traurige Empfindung? Uns Unterwerfung zu lehren? Diese
kann uns nur die kalte Vernunft lehren; und wenn die Lehre der Vernunft
in uns bekleiben soll, wenn wir, bei unserer Unterwerfung, noch Vertrauen
und fröhlichen Mut behalten sollen: so ist es höchst nötig, daß wir an
die verwirrenden Beispiele solcher unverdienten schrecklichen Verhängnisse
so wenig als möglich erinnert werden. Weg mit ihnen von der Bühne! Weg,
wenn es sein könnte, aus allen Büchern mit ihnen!--

Wenn nun aber der Personen des Richards keine einzige die erforderlichen
Eigenschaften hat, die sie haben müßten, falls er wirklich das sein
sollte, was er heißt: wodurch ist er gleichwohl ein so interessantes
Stück geworden, wofür ihn unser Publikum hält? Wenn er nicht Mitleid und
Furcht erregt: was ist denn seine Wirkung? Wirkung muß er doch haben und
hat sie. Und wenn er Wirkung hat: ist es nicht gleichviel, ob er diese
oder ob er jene hat? Wenn er die Zuschauer beschäftiget, wenn er sie
vergnügt: was will man denn mehr? Müssen sie denn notwendig nur nach den
Regeln des Aristoteles beschäftiget und vergnügt werden?

Das klingt so unrecht nicht: aber es ist darauf zu antworten. Überhaupt:
wenn Richard schon keine Tragödie wäre, so bleibt er doch ein dramatisches
Gedicht; wenn ihm schon die Schönheiten der Tragödie mangelten, so könnte
er doch sonst Schönheiten haben. Poesie des Ausdrucks; Bilder; Tiraden;
kühne Gesinnungen; einen feurigen hinreißenden Dialog; glückliche
Veranlassungen für den Akteur, den ganzen Umfang seiner Stimme mit den
mannigfaltigsten Abwechselungen zu durchlaufen, seine ganze Stärke in der
Pantomime zu zeigen usw.

Von diesen Schönheiten hat Richard viele, und hat auch noch andere, die
den eigentlichen Schönheiten der Tragödie näher kommen.

Richard ist ein abscheulicher Bösewicht: aber auch die Beschäftigung
unsers Abscheues ist nicht ganz ohne Vergnügen; besonders in der
Nachahmung.

Auch das Ungeheuere in den Verbrechen partizipieret von den Empfindungen,
welche Größe und Kühnheit in uns erwecken.

Alles, was Richard tut, ist Greuel; aber alle diese Greuel geschehen in
Absicht auf etwas; Richard hat einen Plan; und überall, wo wir einen Plan
wahrnehmen, wird unsere Neugierde rege; wir warten gern mit ab, ob er
ausgeführt wird werden, und wie er es wird werden; wir lieben das
Zweckmäßige so sehr, daß es uns, auch unabhängig von der Moralität des
Zweckes, Vergnügen gewähret.

Wir wollten, daß Richard seinen Zweck erreichte: und wir wollten, daß er
ihn auch nicht erreichte. Das Erreichen erspart uns das Mißvergnügen über
ganz vergebens angewandte Mittel: wenn er ihn nicht erreicht, so ist so
viel Blut völlig umsonst vergossen worden; da es einmal vergossen ist,
möchten wir es nicht gern, auch noch bloß vor langer Weile, vergossen
finden. Hinwiederum wäre dieses Erreichen das Frohlocken der Bosheit;
nichts hören wir ungerner; die Absicht interessierte uns, als zu
erreichende Absicht; wenn sie aber nun erreicht wäre, würden wir nichts
als das Abscheuliche derselben erblicken, würden wir wünschen, daß sie
nicht erreicht wäre; diesen Wunsch sehen wir voraus, und uns schaudert
vor der Erreichung.

Die guten Personen des Stücks lieben wir; eine so zärtliche feurige
Mutter, Geschwister, die so ganz eines in dem andern leben; diese
Gegenstände gefallen immer, erregen immer die süßesten sympathetischen
Empfindungen, wir mögen sie finden, wo wir wollen. Sie ganz ohne Schuld
leiden zu sehen, ist zwar herbe, ist zwar für unsere Ruhe, zu unserer
Besserung kein sehr ersprießliches Gefühl: aber es ist doch immer Gefühl.

Und sonach beschäftiget uns das Stück durchaus, und vergnügt durch diese
Beschäftigung unserer Seelenkräfte. Das ist wahr; nur die Folge ist nicht
wahr, die man daraus zu ziehen meinet: nämlich, daß wir also damit
zufrieden sein können.

Ein Dichter kann viel getan, und doch noch nichts damit vertan haben.
Nicht genug, daß sein Werk Wirkungen auf uns hat: es muß auch die haben,
die ihm, vermöge der Gattung, zukommen; es muß diese vornehmlich haben,
und alle andere können den Mangel derselben auf keine Weise ersetzen;
besonders wenn die Gattung von der Wichtigkeit und Schwierigkeit und
Kostbarkeit ist, daß alle Mühe und aller Aufwand vergebens wäre, wenn sie
weiter nichts als solche Wirkungen hervorbringen wollte, die durch eine
leichtere und weniger Anstalten erfordernde Gattung ebensowohl zu
erhalten wären. Ein Bund Stroh aufzuheben, muß man keine Maschinen in
Bewegung setzen; was ich mit dem Fuße umstoßen kann, muß ich nicht mit
einer Mine sprengen wollen; ich muß keinen Scheiterhaufen anzünden, um
eine Mücke zu verbrennen.


----Fußnote

[1] Arist. Rhet., lib. II. cap. 9.

----Fußnote



Achtzigstes Stück
Den 5. Februar 1768

Wozu die sauere Arbeit der dramatischen Form? wozu ein Theater erbauet,
Männer und Weiber verkleidet, Gedächtnisse gemartert, die ganze Stadt auf
einen Platz geladen? wenn ich mit meinem Werke, und mit der Aufführung
desselben, weiter nichts hervorbringen will, als einige von den Regungen,
die eine gute Erzählung, von jedem zu Hause in seinem Winkel gelesen,
ungefähr auch hervorbringen würde.

Die dramatische Form ist die einzige, in welcher sich Mitleid und Furcht
erregen läßt; wenigstens können in keiner andern Form diese Leidenschaften
auf einen so hohen Grad erreget werden: und gleichwohl will man lieber alle
andere darin erregen, als diese; gleichwohl will man sie lieber zu allem
andern brauchen, als zu dem, wozu sie so vorzüglich geschickt ist.

Das Publikum nimmt vorlieb.--Das ist gut, und auch nicht gut. Denn man
sehnt sich nicht sehr nach der Tafel, an der man immer vorlieb nehmen muß.

Es ist bekannt, wie erpicht das griechische und römische Volk auf die
Schauspiele waren; besonders jenes, auf das tragische. Wie gleichgültig,
wie kalt dagegen unser Volk für das Theater! Woher diese Verschiedenheit,
wenn sie nicht daher kömmt, daß die Griechen vor ihrer Bühne sich mit so
starken, so außerordentlichen Empfindungen begeistert fühlten, daß sie
den Augenblick nicht erwarten konnten, sie abermals und abermals zu
haben: dahingegen wir uns vor unserer Bühne so schwacher Eindrücke bewußt
sind, daß wir es selten der Zeit und des Geldes wert halten, sie uns zu
verschaffen? Wir gehen, fast alle, fast immer, aus Neugierde, aus Mode,
aus Langerweile, aus Gesellschaft, aus Begierde zu begaffen und begafft
zu werden, ins Theater: und nur wenige, und diese wenige nur sparsam, aus
anderer Absicht.

Ich sage, wir, unser Volk, unsere Bühne: ich meine aber nicht bloß, uns
Deutsche. Wir Deutsche bekennen es treuherzig genug, daß wir noch kein
Theater haben. Was viele von unsern Kunstrichtern, die in dieses
Bekenntnis mit einstimmen und große Verehrer des französischen Theaters
sind, dabei denken: das kann ich so eigentlich nicht wissen. Aber ich
weiß wohl, was ich dabei denke. Ich denke nämlich dabei: daß nicht allein
wir Deutsche; sondern, daß auch die, welche sich seit hundert Jahren ein
Theater zu haben rühmen, ja das beste Theater von ganz Europa zu haben
prahlen,--daß auch die Franzosen noch kein Theater haben.

Kein tragisches gewiß nicht! Denn auch die Eindrücke, welche die
französische Tragödie macht, sind so flach, so kalt!--Man höre einen
Franzosen selbst davon sprechen.

"Bei den hervorstechenden Schönheiten unsers Theaters", sagt der Herr von
Voltaire, "fand sich ein verborgner Fehler, den man nicht bemerkt hatte,
weil das Publikum von selbst keine höhere Ideen haben konnte, als ihm die
großen Meister durch ihre Muster beibrachten. Der einzige Saint-Evremond
hat diesen Fehler aufgemutzt; er sagt nämlich, daß unsere Stücke nicht
Eindruck genug machten, daß das, was Mitleid erwecken solle, aufs höchste
Zärtlichkeit errege, daß Rührung die Stelle der Erschütterung, und
Erstaunen die Stelle des Schreckens vertrete; kurz, daß unsere Empfindungen
nicht tief genug gingen. Es ist nicht zu leugnen: Saint-Evremond hat mit
dem Finger gerade auf die heimliche Wunde des französischen Theaters
getroffen. Man sage immerhin, daß Saint-Evremond der Verfasser der elenden
Komödie 'Sir Politik Wouldbe' und noch einer andern ebenso elenden, 'Die
Opern' genannt, ist: daß seine kleinen gesellschaftlichen Gedichte das
Kahlste und Gemeinste sind, was wir in dieser Gattung haben; daß er nichts
als ein Phrasendrechsler war: man kann keinen Funken Genie haben und
gleichwohl viel Witz und Geschmack besitzen. Sein Geschmack aber war
unstreitig sehr fein, da er die Ursache, warum die meisten von unsern
Stücken so matt und kalt sind, so genau traf. Es hat uns immer an einem
Grade von Wärme gefehlt: das andere hatten wir alles."

Das ist: wir hatten alles, nur nicht das, was wir haben sollten; unsere
Tragödien waren vortrefflich, nur daß es keine Tragödien waren. Und woher
kam es, daß sie das nicht waren?

"Diese Kälte aber", fährt er fort, "diese einförmige Mattigkeit,
entsprang zum Teil von dem kleinen Geiste der Galanterie, der damals
unter unsern Hofleuten und Damen so herrschte und die Tragödie in eine
Folge von verliebten Gesprächen verwandelte, nach dem Geschmacke des
'Cyrus' und der 'Clelie'. Was für Stücke sich hiervon noch etwa
ausnahmen, die bestanden aus langen politischen Raisonnements,
dergleichen den 'Sertorius' so verdorben, den 'Otho' so kalt, und den
'Surena' und 'Attila' so elend gemacht haben. Noch fand sich aber auch
eine andere Ursache, die das hohe Pathetische von unserer Szene
zurückhielt und die Handlung wirklich tragisch zu machen verhinderte: und
diese war das enge schlechte Theater mit seinen armseligen Verzierungen.
--Was ließ sich auf einem paar Dutzend Brettern, die noch dazu mit
Zuschauern angefüllt waren, machen? Mit welchem Pomp, mit welchen
Zurüstungen konnte man da die Augen der Zuschauer bestechen, fesseln,
täuschen? Welche große tragische Aktion ließ sich da aufführen? Welche
Freiheit konnte die Einbildungskraft des Dichters da haben? Die Stücke
mußten aus langen Erzählungen bestehen, und so wurden sie mehr Gespräche
als Spiele. Jeder Akteur wollte in einer langen Monologe glänzen, und ein
Stück, das dergleichen nicht hatte, ward verworfen.--Bei dieser Form fiel
alle theatralische Handlung weg; fielen alle die großen Ausdrücke der
Leidenschaften, alle die kräftigen Gemälde der menschlichen
Unglücksfälle, alle die schrecklichen bis in das Innerste der Seele
dringende Züge weg; man rührte das Herz nur kaum, anstatt es zu
zerreißen."

Mit der ersten Ursache hat es seine gute Richtigkeit. Galanterie und
Politik läßt immer kalt; und noch ist es keinem Dichter in der Welt
gelungen, die Erregung des Mitleids und der Furcht damit zu verbinden.
Jene lassen uns nichts als den Fat, oder den Schulmeister hören: und
diese fodern, daß wir nichts als den Menschen hören sollen.

Aber die zweite Ursache?--Sollte es möglich sein, daß der Mangel eines
geräumlichen Theaters und guter Verzierungen einen solchen Einfluß auf
das Genie der Dichter gehabt hätte? Ist es wahr, daß jede tragische
Handlung Pomp und Zurüstungen erfodert? Oder sollte der Dichter nicht
vielmehr sein Stück so einrichten, daß es auch ohne diese Dinge seine
völlige Wirkung hervorbrächte.

Nach dem Aristoteles sollte er es allerdings. "Furcht und Mitleid", sagt
der Philosoph, "läßt sich zwar durchs Gesicht erregen; es kann aber auch
aus der Verknüpfung der Begebenheiten selbst entspringen, welches
letztere vorzüglicher, und die Weise des bessern Dichters ist. Denn die
Fabel muß so eingerichtet sein, daß sie, auch ungesehen, den, der den
Verlauf ihrer Begebenheiten bloß anhört, zu Mitleid und Furcht über diese
Begebenheiten bringet; so wie die Fabel des Oedips, die man nur anhören
darf, um dazu gebracht zu werden. Diese Absicht aber durch das Gesicht
erreichen wollen, erfodert weniger Kunst, und ist deren Sache, welche die
Vorstellung des Stücks übernommen."

Wie entbehrlich überhaupt die theatralischen Verzierungen sind, davon
will man mit den Stücken des Shakespeares eine sonderbare Erfahrung
gehabt haben. Welche Stücke brauchten, wegen ihrer beständigen
Unterbrechung und Veränderung des Orts, des Beistandes der Szenen und der
ganzen Kunst des Dekorateurs, wohl mehr, als eben diese? Gleichwohl war
eine Zeit, wo die Bühnen, auf welchen sie gespielt wurden, aus nichts
bestanden, als aus einem Vorhange von schlechtem groben Zeuge, der, wenn
er aufgezogen war, die bloßen blanken, höchstens mit Matten oder Tapeten
behangenen Wände zeigte; da war nichts als die Einbildung, was dem
Verständnisse des Zuschauers und der Ausführung des Spielers zu Hilfe
kommen konnte: und demohngeachtet, sagt man, waren damals die Stücke des
Shakespeares ohne alle Szenen verständlicher, als sie es hernach mit
denselben gewesen sind.[1]

Wenn sich also der Dichter um die Verzierung gar nicht zu bekümmern hat;
wenn die Verzierung, auch wo sie nötig scheinet, ohne besondere Nachteil
seines Stücks wegbleiben kann: warum sollte es an dem engen, schlechten
Theater gelegen haben, daß uns die französischen Dichter keine rührendere
Stücke geliefert? Nicht doch: es lag an ihnen selbst.

Und das beweiset die Erfahrung. Denn nun haben ja die Franzosen eine
schönere, geräumlichere Bühne; keine Zuschauer werden mehr darauf
geduldet; die Kulissen sind leer; der Dekorateur hat freies Feld; er malt
und bauet dem Poeten alles, was dieser von ihm verlangt: aber wo sind sie
denn, die wärmern Stücke, die sie seitdem erhalten haben? Schmeichelt
sich der Herr von Voltaire, daß seine "Semiramis" ein solches Stück ist?
Da ist Pomp und Verzierung genug; ein Gespenst obendarein: und doch kenne
ich nichts Kälteres, als seine "Semiramis".


----Fußnote

[1] ("Cibber's Lives of the Poets of G. B. and Ir." Vol. II. p. 78.
79.)--Some have insinuated, that fine scenes proved the ruin of acting.
--In the reign of Charles I. there was nothing more than a curtain
of very coarse stuff, upon the drawing up of which, the stage appeared
either with bare walls on the sides, coarsly matted, or covered with
tapestry; so that for the place originally represented, and all the
successive changes, in which the poets of those times freely indulged
themselves, there was nothing to help the spectator's understanding, or
to assist the actor's performance, but bare imagination.--The spirit and
judgement of the actors supplied all deficiencies, and made as some would
insinuate, plays more intelligible without scenes than they afterwards
were with them.

----Fußnote



Einundachtzigstes Stück
Den 9. Februar 1768

Will ich denn nun aber damit sagen, daß kein Franzose fähig sei, ein
wirklich rührendes tragisches Werk zu machen? daß der volatile Geist der
Nation einer solchen Arbeit nicht gewachsen sei?--Ich würde mich schämen,
wenn mir das nur eingekommen wäre. Deutschland hat sich noch durch keinen
Bouhours lächerlich gemacht. Und ich, für mein Teil, hätte nun gleich die
wenigste Anlage dazu. Denn ich bin sehr überzeugt, daß kein Volk in der
Welt irgendeine Gabe des Geistes vorzüglich vor andern Völkern erhalten
habe. Man sagt zwar: der tiefsinnige Engländer, der witzige Franzose.
Aber wer hat denn die Teilung gemacht? Die Natur gewiß nicht, die alles
unter alle gleich verteilet. Es gibt ebensoviel witzige Engländer als
witzige Franzosen, und ebensoviel tiefsinnige Franzosen, als tiefsinnige
Engländer: der Praß von dem Volke aber ist keines von beidem.--

Was will ich denn? Ich will bloß sagen, was die Franzosen gar wohl haben
könnten, daß sie das noch nicht haben: die wahre Tragödie. Und warum noch
nicht haben?--Dazu hätte sich der Herr von Voltaire selbst besser kennen
müssen, wenn er es hätte treffen wollen.

Ich meine: sie haben es noch nicht; weil sie es schon lange gehabt zu
haben glauben. Und in diesem Glauben werden sie nun freilich durch etwas
bestärkt, das sie vorzüglich vor allen Völkern haben; aber es ist keine
Gabe der Natur: durch ihre Eitelkeit.

Es geht mit den Nationen, wie mit einzelnen Menschen.--Gottsched (man
wird leicht begreifen, wie ich eben hier auf diesen falle) galt in seiner
Jugend für einen Dichter, weil man damals den Versmacher von dem Dichter
noch nicht zu unterscheiden wußte. Philosophie und Kritik setzten nach
und nach diesen Unterschied ins Helle: und wenn Gottsched mit dem
Jahrhunderte nur hätte fortgehen wollen, wenn sich seine Einsichten und
sein Geschmack nur zugleich mit den Einsichten und dem Geschmacke seines
Zeitalters hätten verbreiten und läutern wollen: so hätte er vielleicht
wirklich aus dem Versmacher ein Dichter werden können. Aber da er sich
schon so oft den größten Dichter hatte nennen hören, da ihn seine
Eitelkeit überredet hatte, daß er es sei: so unterblieb jenes. Er konnte
unmöglich erlangen, was er schon zu besitzen glaubte: und je älter er
ward, desto hartnäckiger und unverschämter ward er, sich in diesem
träumerischen Besitze zu behaupten.

Gerade so, dünkt mich, ist es den Franzosen ergangen. Kaum riß Corneille
ihr Theater ein wenig aus der Barbarei: so glaubten sie es der
Vollkommenheit schon ganz nahe. Racine schien ihnen die letzte Hand
angelegt zu haben; und hierauf war gar nicht mehr die Frage (die es zwar
auch nie gewesen), ob der tragische Dichter nicht noch pathetischer, noch
rührender sein könne, als Corneille und Racine, sondern dieses ward für
unmöglich angenommen, und alle Beeiferung der nachfolgenden Dichter mußte
sich darauf einschränken, dem einen oder dem andern so ähnlich zu werden
als möglich. Hundert Jahre haben sie sich selbst, und zum Teil ihre
Nachbarn mit, hintergangen: nun komme einer und sage ihnen das, und höre,
was sie antworten!

Von beiden aber ist es Corneille, welcher den meisten Schaden gestiftet
und auf ihre tragischen Dichter den verderblichsten Einfluß gehabt hat.
Denn Racine hat nur durch seine Muster verführt; Corneille aber durch
seine Muster und Lehren zugleich.

Diese letztern besonders, von der ganzen Nation (bis auf einen oder zwei
Pedanten, einen Hédelin, einen Dacier, die aber oft selbst nicht wußten,
was sie wollten) als Orakelsprüche angenommen, von allen nachherigen
Dichtern befolgt: haben--ich getraue mich, es Stück vor Stück zu
beweisen,--nichts anders, als das kahlste, wäßrigste, untragischste Zeug
hervorbringen können.

Die Regeln des Aristoteles sind alle auf die höchste Wirkung der Tragödie
kalkuliert. Was macht aber Corneille damit? Er trägt sie falsch und
schielend genug vor; und weil er sie doch noch viel zu strenge findet: so
sucht er, bei einer nach der andern, quelque modération, quelque favorable
interprétation; entkräftet und verstümmelt, deutelt und vereitelt eine
jede,--und warum? pour n'être pas obligés de condamner beaucoup de poèmes
que nous avons vû réussir sur nos théâtres; um nicht viele Gedichte
verwerfen zu dürfen, die auf unsern Bühnen Beifall gefunden. Eine schöne
Ursache!

Ich will die Hauptpunkte geschwind berühren. Einige davon habe ich schon
berührt; ich muß sie aber, des Zusammenhanges wegen, wiederum mitnehmen.

1. Aristoteles sagt: die Tragödie soll Mitleid und Furcht erregen.--
Corneille sagt: o ja, aber wie es kömmt; beides zugleich ist eben nicht
immer nötig; wir sind auch mit einem zufrieden; itzt einmal Mitleid, ohne
Furcht; ein andermal Furcht, ohne Mitleid. Denn wo blieb' ich, ich der
große Corneille, sonst mit meinem Rodrigue und meiner Chimene? Die guten
Kinder erwecken Mitleid; und sehr großes Mitleid: aber Furcht wohl
schwerlich. Und wiederum: wo blieb' ich sonst mit meiner Kleopatra, mit
meinem Prusias, mit meinem Phokas? Wer kann Mitleid mit diesen
Nichtswürdigen haben? Aber Furcht erregen sie doch.--So glaubte Corneille:
und die Franzosen glaubten es ihm nach.

2. Aristoteles sagt: die Tragödie soll Mitleid und Furcht erregen;
beides, versteht sich, durch eine und ebendieselbe Person.--Corneille
sagt: wenn es sich so trifft, recht gut. Aber absolut notwendig ist es
eben nicht; und man kann sich gar wohl auch verschiedener Personen
bedienen, diese zwei Empfindungen hervorzubringen; so wie ich in meiner
"Rodogune" getan habe.--Das hat Corneille getan: und die Franzosen tun
es ihm nach.

3. Aristoteles sagt: durch das Mitleid und die Furcht, welche die
Tragödie erweckt, soll unser Mitleid und unsere Furcht, und was diesen
anhängig, gereiniget werden.--Corneille weiß davon gar nichts und bildet
sich ein, Aristoteles habe sagen wollen. Die Tragödie erwecke unser
Mitleid, um unsere Furcht zu erwecken, um durch diese Furcht die
Leidenschaften in uns zu reinigen, durch die sich der bemitleidete
Gegenstand sein Unglück zugezogen. Ich will von dem Werte dieser Absicht
nicht sprechen: genug, daß es nicht die Aristotelische ist; und daß, da
Corneille seinen Tragödien eine ganz andere Absicht gab, auch notwendig
seine Tragödien selbst ganz andere Werke werden mußten, als die waren,
von welchen Aristoteles seine Absicht abstrahieret hatte; es mußten
Tragödien werden, welches keine wahre Tragödien waren. Und das sind nicht
allein seine, sondern alle französische Tragödien geworden; weil ihre
Verfasser alle nicht die Absicht des Aristoteles, sondern die Absicht des
Corneille sich vorsetzten. Ich habe schon gesagt, daß Dacier beide
Absichten wollte verbunden wissen: aber auch durch diese bloße Verbindung
wird die erstere geschwächt, und die Tragödie muß unter ihrer höchsten
Wirkung bleiben. Dazu hatte Dacier, wie ich gezeigt, von der erstern nur
einen sehr unvollständigen Begriff, und es war kein Wunder, wenn er sich
daher einbildete, daß die französischen Tragödien seiner Zeit noch eher
die erste, als die zweite Absicht erreichten. "Unsere Tragödie", sagt er,
"ist, zufolge jener, noch so ziemlich glücklich, Mitleid und Furcht zu
erwecken und zu reinigen. Aber diese gelingt ihr nur sehr selten, die
doch gleichwohl die wichtigere ist, und sie reiniget die übrigen
Leidenschaften nur sehr wenig, oder da sie gemeiniglich nichts als
Liebesintrigen enthält, wenn sie ja eine davon reinigte, so würde es
einzig und allein die Liebe sein, woraus denn klar erhellet, daß ihr
Nutzen nur sehr klein ist.[1] Gerade umgekehrt! Es gibt noch eher
französische Tragödien, welche der zweiten, als welche der ersten Absicht
ein Genüge leisten. Ich kenne verschiedene französische Stücke, welche
die unglücklichen Folgen irgendeiner Leidenschaft recht wohl ins Licht
setzen; aus denen man viele gute Lehren, diese Leidenschaft betreffend,
ziehen kann: aber ich kenne keines, welches mein Mitleid in dem Grade
erregte, in welchem die Tragödie es erregen sollte, in welchem ich, aus
verschiedenen griechischen und englischen Stücken gewiß weiß, daß sie es
erregen kann. Verschiedene französische Tragödien sind sehr feine, sehr
unterrichtende Werke, die ich alles Lobes wert halte: nur, daß es keine
Tragödien sind. Die Verfasser derselben konnten nicht anders, als sehr
gute Köpfe sein; sie verdienen, zum Teil, unter den Dichtern keinen
geringen Rang: nur daß sie keine tragische Dichter sind; nur daß ihr
Corneille und Racine, ihr Crébillon und Voltaire von dem wenig oder gar
nichts haben, was den Sophokles zum Sophokles, den Euripides zum
Euripides, den Shakespeare zum Shakespeare macht. Diese sind selten mit
den wesentlichen Foderungen des Aristoteles im Widerspruch: aber jene
desto öfterer. Denn nur weiter--


----Fußnote

[1] (Poét. d'Arist. Chap. VI. Rem. 8.) Notre Tragédie peut réussir
assez dans la première partie, c'est-à-dire, qu'elle peut exciter et
purger la terreur et la compassion. Mais elle parvient rarement à la
dernière, qui est pourtant la plus utile, elle purge peu les autres
passions, ou comme elle roule ordinairement sur des intrigues d'amour,
si elle en purgeait quelqu'une, ce serait celle-là seule, et par là il
est aisé de voir qu'elle ne fait que peu de fruit.

----Fußnote



Zweiundachtzigstes Stück
Den 12. Februar 1768

4. Aristoteles sagt: man muß keinen ganz guten Mann, ohne alle sein
Verschulden, in der Tragödie unglücklich werden lassen; denn so was sei
gräßlich.--"Ganz recht", sagt Corneille; "ein solcher Ausgang erweckt
mehr Unwillen und Haß gegen den, welcher das Leiden verursacht, als
Mitleid für den, welchen es trifft. Jene Empfindung also, welche nicht
die eigentliche Wirkung der Tragödie sein soll, würde, wenn sie nicht
sehr fein behandelt wäre, diese ersticken, die doch eigentlich
hervorgebracht werden sollte. Der Zuschauer würde mißvergnügt weggehen,
weil sich allzuviel Zorn mit dem Mitleiden vermischt, welches ihm
gefallen hätte, wenn er es allein mit wegnehmen können. Aber", kömmt
Corneille hintennach; denn mit einem Aber muß er nachkommen--"aber, wenn
diese Ursache wegfällt, wenn es der Dichter so eingerichtet, daß der
Tugendhafte, welcher leidet, mehr Mitleid für sich, als Widerwillen gegen
den erweckt, der ihn leiden läßt: alsdenn?--Oh, alsdenn", sagt Corneille,
"halte ich dafür, darf man sich gar kein Bedenken machen, auch den
tugendhaftesten Mann auf dem Theater im Unglücke zu zeigen."[1]
--Ich begreife nicht, wie man gegen einen Philosophen so in den Tag
hineinschwatzen kann; wie man sich das Ansehen geben kann, ihn zu
verstehen, indem man ihn Dinge sagen läßt, an die er nie gedacht hat.
Das gänzlich unverschuldete Unglück eines rechtschaffenen Mannes, sagt
Aristoteles, ist kein Stoff für das Trauerspiel; denn es ist gräßlich.
Aus diesem Denn, aus dieser Ursache, macht Corneille ein Insofern, eine
bloße Bedingung, unter welcher es tragisch zu sein aufhört. Aristoteles
sagt: es ist durchaus gräßlich, und eben daher untragisch. Corneille aber
sagt: es ist untragisch, insofern es gräßlich ist. Dieses Gräßliche
findet Aristoteles in dieser Art des Unglückes selbst: Corneille aber
setzt es in den Unwillen, den es gegen den Urheber desselben verursacht.
Er sieht nicht, oder will nicht sehen, daß jenes Gräßliche ganz etwas
anders ist als dieser Unwille; daß, wenn auch dieser ganz wegfällt, jenes
doch noch in seinem vollen Maße vorhanden sein kann: genug, daß vors
erste mit diesem Quid pro quo verschiedene von seinen Stücken
gerechtfertiget scheinen, die er so wenig wider die Regeln des
Aristoteles will gemacht haben, daß er vielmehr vermessen genug ist, sich
einzubilden, es habe dem Aristoteles bloß an dergleichen Stücken gefehlt,
um seine Lehre darnach näher einzuschränken und verschiedene Manieren
daraus zu abstrahieren, wie demohngeachtet das Unglück des ganz
rechtschaffenen Mannes ein tragischer Gegenstand werden könne. En voici,
sagt er, deux ou trois manières que peut-être Aristote n'a su prévoir,
parce qu'on n'en voyait pas d'exemples sur les théâtres de son temps.
Und von wem sind diese Exempel? Von wem anders, als von ihm selbst?
Und welches sind jene zwei oder drei Manieren? Wir wollen geschwind
sehen.--"Die erste", sagt er, "ist, wenn ein sehr Tugendhafter durch
einen sehr Lasterhaften verfolgt wird, der Gefahr aber entkömmt, und
so, daß der Lasterhafte sich selbst darin verstricket, wie es in der
'Rodogune' und im 'Heraklius' geschiehet, wo es ganz unerträglich würde
gewesen sein, wenn in dem ersten Stücke Antiochus und Rodogune, und in
dem andern Heraklius, Pulcheria und Martian umgekommen wären, Kleopatra
und Phokas aber triumphieret hätten. Das Unglück der erstern erweckt ein
Mitleid, welches durch den Abscheu, den wir wider ihre Verfolger haben,
nicht erstickt wird, weil man beständig hofft, daß sich irgendein
glücklicher Zufall ereignen werde, der sie nicht unterliegen lasse." Das
mag Corneille sonst jemanden weismachen, daß Aristoteles diese Manier
nicht gekannt habe! Er hat sie so wohl gekannt, daß er sie, wo nicht
gänzlich verworfen, wenigstens mit ausdrücklichen Worten für angemessener
der Komödie als Tragödie erklärt hat. Wie war es möglich, daß Corneille
dieses vergessen hatte? Aber so geht es allen, die im voraus ihre Sache
zu der Sache der Wahrheit machen. Im Grunde gehört diese Manier auch gar
nicht zu dem vorhabenden Falle. Denn nach ihr wird der Tugendhafte nicht
unglücklich, sondern befindet sich nur auf dem Wege zum Unglücke; welches
gar wohl mitleidige Besorgnisse für ihn erregen kann, ohne gräßlich zu
sein.--Nun, die zweite Manier! "Auch kann es sich zutragen", sagt
Corneille, "daß ein sehr tugendhafter Mann verfolgt wird, und auf Befehl
eines andern umkömmt, der nicht lasterhaft genug ist, unsern Unwillen
allzusehr zu verdienen, indem er in der Verfolgung, die er wider den
Tugendhaften betreibet, mehr Schwachheit als Bosheit zeiget. Wenn Felix
seinen Eidam Polyeukt umkommen läßt, so ist es nicht aus wütendem Eifer
gegen die Christen, der ihn uns verabscheuungswürdig machen würde,
sondern bloß aus kriechender Furchtsamkeit, die sich nicht getrauet, ihn
in Gegenwart des Severus zu retten, vor dessen Hasse und Rache er in
Sorgen stehet. Man fasset also wohl einigen Unwillen gegen ihn, und
mißbilliget sein Verfahren; doch überwiegt dieser Unwille nicht das
Mitleid, welches wir für den Polyeukt empfinden, und verhindert auch
nicht, daß ihn seine wunderbare Bekehrung, zum Schlusse des Stücks, nicht
völlig wieder mit den Zuhörern aussöhnen sollte." Tragische Stümper,
denke ich, hat es wohl zu allen Zeiten und selbst in Athen gegeben. Warum
sollte es also dem Aristoteles an einem Stücke von ähnlicher Einrichtung
gefehlt haben, um daraus ebenso erleuchtet zu werden, als Corneille?
Possen! Die furchtsamen, schwanken, unentschlossenen Charaktere, wie
Felix, sind in dergleichen Stücken ein Fehler mehr und machen sie noch
obendarein ihrerseits kalt und ekel, ohne sie auf der andern Seite im
geringsten weniger gräßlich zu machen. Denn, wie gesagt, das Gräßliche
liegt nicht in dem Unwillen oder Abscheu, den sie erwecken: sondern in
dem Unglücke selbst, das jene unverschuldet trifft; das sie einmal so
unverschuldet trifft als das andere, ihre Verfolger mögen böse oder
schwach sein, mögen mit oder ohne Vorsatz ihnen so hart fallen. Der
Gedanke ist an und für sich selbst gräßlich, daß es Menschen geben kann,
die ohne alle ihr Verschulden unglücklich sind. Die Helden hätten diesen
gräßlichen Gedanken so weit von sich zu entfernen gesucht, als möglich:
und wir wollten ihn nähren? wir wollten uns an Schauspielen vergnügen,
die ihn bestätigen? wir? die Religion und Vernunft überzeuget haben
sollte, daß er ebenso unrichtig als gotteslästerlich ist?--Das nämliche
würde sicherlich auch gegen die dritte Manier gelten; wenn sie Corneille
nicht selbst näher anzugeben vergessen hätte.

5. Auch gegen das, was Aristoteles von der Unschicklichkeit eines ganz
Lasterhaften zum tragischen Helden sagt, als dessen Unglück weder Mitleid
noch Furcht erregen könne, bringt Corneille seine Läuterungen bei.
Mitleid zwar, gesteht er zu, könne er nicht erregen; aber Furcht
allerdings. Denn ob sich schon keiner von den Zuschauern der Laster
desselben fähig glaube, und folglich auch desselben ganzes Unglück nicht
zu befürchten habe: so könne doch ein jeder irgendeine jenen Lastern
ähnliche Unvollkommenheit bei sich hegen und durch die Furcht vor den
zwar proportionierten, aber doch noch immer unglücklichen Folgen
derselben, gegen sie auf seiner Hut zu sein lernen. Doch dieses gründet
sich auf den falschen Begriff, welchen Corneille von der Furcht und von
der Reinigung der in der Tragödie zu erweckenden Leidenschaften hatte,
und widerspricht sich selbst. Denn ich habe schon gezeigt, daß die
Erregung des Mitleids von der Erregung der Furcht unzertrennlich ist und
daß der Bösewicht, wenn es möglich wäre, daß er unsere Furcht erregen
könne, auch notwendig unser Mitleid erregen müßte. Da er aber dieses, wie
Corneille selbst zugesteht, nicht kann, so kann er auch jenes nicht und
bleibt gänzlich ungeschickt, die Absicht der Tragödie erreichen zu
helfen. Ja, Aristoteles hält ihn hierzu noch für ungeschickter als den
ganz tugendhaften Mann; denn er will ausdrücklich, falls man den Held aus
der mittlere Gattung nicht haben könne, daß man ihn eher besser als
schlimmer wählen solle. Die Ursache ist klar: ein Mensch kann sehr gut
sein und doch noch mehr als eine Schwachheit haben, mehr als einen Fehler
begehen, wodurch er sich in unabsehliches Unglück stürzet, das uns mit
Mitleid und Wehmut erfüllet, ohne im geringsten gräßlich zu sein, weil es
die natürliche Folge seines Fehlers ist.--Was Dubos[2] von dem Gebrauche
der lasterhaften Personen in der Tragödie sagt, ist das nicht, was
Corneille will. Dubos will sie nur zu den Nebenrollen erlauben, bloß zu
Werkzeugen, die Hauptpersonen weniger schuldig zu machen; bloß zur
Abstechung. Corneille aber will das vornehmste Interesse auf sie beruhen
lassen, so wie in der "Rodogune": und das ist eigentlich, was mit der
Absicht der Tragödie streitet, und nicht jenes. Dubos merket dabei auch
sehr richtig an, daß das Unglück dieser subalternen Bösewichter keinen
Eindruck auf uns mache. "Kaum", sagt er, "daß man den Tod des Narciß im
Britannicus bemerkt." Aber also sollte sich der Dichter auch schon
deswegen ihrer so viel als möglich enthalten. Denn wenn ihr Unglück die
Absicht der Tragödie nicht unmittelbar befördert, wenn sie bloße
Hilfsmittel sind, durch die sie der Dichter desto besser mit andern
Personen zu erreichen sucht: so ist es unstreitig, daß das Stück noch
besser sein würde, wenn es die nämliche Wirkung ohne sie hätte. Je
simpler eine Maschine ist, je weniger Federn und Räder und Gewichte sie
hat, desto vollkommener ist sie.


----Fußnote

[1] J'estime qu'il ne faut point faire de difficulté d'exposer sur la
scène des hommes très vertueux.

[2] Réflexions cr. T. I. Sect. XV.

----Fußnote



Dreiundachtzigstes Stück
Den 16. Februar 1768

6. Und endlich, die Mißdeutung der ersten und wesentlichsten Eigenschaft,
welche Aristoteles für die Sitten der tragischen Personen fodert! Sie
sollen gut sein, die Sitten. "Gut?" sagt Corneille. "Wenn gut hier so
viel als tugendhaft heißen soll: so wird es mit den meisten alten und
neuen Tragödien übel aussehen, in welchen schlechte und lasterhafte,
wenigstens mit einer Schwachheit, die nächst der Tugend so recht nicht
bestehen kann, behaftete Personen genug vorkommen." Besonders ist ihm für
seine Kleopatra in der "Rodogune" bange. Die Güte, welche Aristoteles
fodert, will er also durchaus für keine moralische Güte gelten lassen;
es muß eine andere Art von Güte sein, die sich mit dem moralisch Bösen
ebensowohl verträgt, als mit dem moralisch Guten. Gleichwohl meinet
Aristoteles schlechterdings eine moralische Güte: nur daß ihm tugendhafte
Personen, und Personen, welche in gewissen Umständen tugendhafte Sitten
zeigen, nicht einerlei sind. Kurz, Corneille verbindet eine ganz falsche
Idee mit dem Worte Sitten, und was die Proäresis ist, durch welche
allein, nach unserm Weltweisen, freie Handlungen zu guten oder bösen
Sitten werden, hat er gar nicht verstanden. Ich kann mich itzt nicht in
einen weitläuftigen Beweis einlassen; er läßt sich nur durch den
Zusammenhang, durch die syllogistische Folge aller Ideen des griechischen
Kunstrichters einleuchtend genug führen. Ich verspare ihn daher auf eine
andere Gelegenheit, da es bei dieser ohnedem nur darauf ankömmt, zu
zeigen, was für einen unglücklichen Ausweg Corneille, bei Verfehlung des
richtigen Weges, ergriffen. Dieser Ausweg lief dahin: daß Aristoteles
unter der Güte der Sitten den glänzenden und erhabnen Charakter
irgendeiner tugendhaften oder strafbaren Neigung verstehe, sowie sie der
eingeführten Person entweder eigentümlich zukomme oder ihr schicklich
beigeleget werden könne: le caractère brillant et élevé d'une habitude
vertueuse ou criminelle, selon qu'elle est propre et convenable à la
personne qu'on introduit. "Kleopatra in der 'Rodogune'", sagt er, "ist
äußerst böse: da ist kein Meuchelmord, vor dem sie sich scheue, wenn er
sie nur auf dem Throne zu erhalten vermag, den sie allem in der Welt
vorzieht; so heftig ist ihre Herrschsucht. Aber alle ihre Verbrechen sind
mit einer gewissen Größe der Seele verbunden, die so etwas Erhabenes hat,
daß man, indem man ihre Handlungen verdammt, doch die Quelle, woraus sie
entspringen, bewundern muß. Ebendieses getraue ich mir von dem 'Lügner'
zu sagen. Das Lügen ist unstreitig eine lasterhafte Angewohnheit; allein
Dorant bringt seine Lügen mit einer solchen Gegenwart des Geistes, mit so
vieler Lebhaftigkeit vor, daß diese Unvollkommenheit ihm ordentlich wohl
läßt und die Zuschauer gestehen müssen, daß die Gabe, so zu lügen, ein
Laster sei, dessen kein Dummkopf fähig ist."--Wahrlich, einen
verderblichern Einfall hätte Corneille nicht haben können! Befolget ihn
in der Ausführung, und es ist um alle Wahrheit, um alle Täuschung, um
allen sittlichen Nutzen der Tragödie getan! Denn die Tugend, die immer
bescheiden und einfältig ist, wird durch jenen glänzenden Charakter eitel
und romantisch: das Laster aber mit einem Firnis überzogen, der uns
überall blendet, wir mögen es aus einem Gesichtspunkte nehmen, aus
welchem wir wollen. Torheit, bloß durch die unglücklichen Folgen von dem
Laster abschrecken wollen, indem man die innere Häßlichkeit desselben
verbirgt! Die Folgen sind zufällig; und die Erfahrung lehrt, daß sie
ebensooft glücklich als unglücklich fallen. Dieses bezieht sich auf die
Reinigung der Leidenschaften, wie sie Corneille sich dachte. Wie ich mir
sie vorstelle, wie sie Aristoteles gelehrt hat, ist sie vollends nicht
mit jenem trügerischen Glanze zu verbinden. Die falsche Folie, die so dem
Laster untergelegt wird, macht, daß ich Vollkommenheiten erkenne, wo
keine sind; macht, daß ich Mitleiden habe, wo ich keines haben sollte.
Zwar hat schon Dacier dieser Erklärung widersprochen, aber aus
untriftigern Gründen; und es fehlt nicht viel, daß die, welche er mit dem
Pater Le Bossu dafür annimmt, nicht ebenso nachteilig ist, wenigstens den
poetischen Vollkommenheiten des Stücks ebenso nachteilig werden kann. Er
meinet nämlich, "die Sitten sollen gut sein", heiße nichts mehr als, sie
sollen gut ausgedrückt sein, qu'elles soient bien marquées. Das ist
allerdings eine Regel, die, richtig verstanden, an ihrer Stelle aller
Aufmerksamkeit des dramatischen Dichters würdig ist. Aber wenn es die
französischen Muster nur nicht bewiesen, daß man "gut ausdrücken" für
stark ausdrücken genommen hätte. Man hat den Ausdruck überladen, man hat
Druck auf Druck gesetzt, bis aus charakterisierten Personen personifierte
Charaktere; aus lasterhaften oder tugendhaften Menschen hagere Gerippe
von Lastern und Tugenden geworden sind.--

Hier will ich diese Materie abbrechen. Wer ihr gewachsen ist, mag die
Anwendung auf unsern "Richard" selbst machen.

Vom "Herzog Michel", welcher auf den "Richard" folgte, brauche ich wohl
nichts zu sagen. Auf welchem Theater wird er nicht gespielt, und wer hat
ihn nicht gesehen oder gelesen? Krüger hat indes das wenigste Verdienst
darum; denn er ist ganz aus einer Erzählung in den Bremischen Beiträgen
genommen. Die vielen guten satirischen Züge, die er enthält, gehören
jenem Dichter, sowie der ganze Verfolg der Fabel. Krügern gehört nichts,
als die dramatische Form. Doch hat wirklich unsere Bühne an Krügern viel
verloren. Er hatte Talent zum Niedrig-Komischen, wie seine "Kandidaten"
beweisen. Wo er aber rührend und edel sein will, ist er frostig und
affektiert. Hr. Löwen hat seine Schriften gesammelt, unter welchen man
jedoch "Die Geistlichen auf dem Lande" vermißt. Dieses war der erste
dramatische Versuch, welchen Krüger wagte, als er noch auf dem Grauen
Kloster in Berlin studierte.

Den neunundvierzigsten Abend (donnerstags, den 23. Julius) ward das
Lustspiel des Hrn. von Voltaire "Die Frau, die recht hat" gespielt, und
zum Beschlusse des L'Affichard "Ist er von Familie?"[1] wiederholt.

"Die Frau, die recht hat" ist eines von den Stücken, welche der Hr. von
Voltaire für sein Haustheater gemacht hat. Dafür war es nun auch gut
genug. Es ist schon 1758 zu Carouge gespielt worden: aber noch nicht
zu Paris; soviel ich weiß. Nicht als ob sie da, seit der Zeit, keine
schlechtern Stücke gespielt hätten: denn dafür haben die Marins und
Le Brets wohl gesorgt. Sondern weil--ich weiß selbst nicht. Denn ich
wenigstens möchte doch noch lieber einen großen Mann in seinem Schlafrocke
und seiner Nachtmütze, als einen Stümper in seinem Feierkleide sehen.

Charaktere und Interesse hat das Stück nicht; aber verschiedne
Situationen, die komisch genug sind. Zwar ist auch das Komische aus dem
allergemeinsten Fache, da es sich auf nichts als aufs Inkognito, auf
Verkennungen und Mißverständnisse gründet. Doch die Lacher sind nicht
ekel; am wenigsten würden es unsre deutschen Lacher sein, wenn ihnen das
Fremde der Sitten und die elende Übersetzung das mot pour rire nur nicht
meistens so unverständlich machte.

Den funfzigsten Abend (freitags, den 24. Julius) ward Gressets "Sidney"
wiederholt. Den Beschluß machte "Der sehende Blinde".

Dieses kleine Stück ist vom Le Grand, und auch nicht von ihm. Denn er hat
Titel und Intrige und alles einem alten Stücke des De Brosse abgeborgt.
Ein Offizier, schon etwas bei Jahren, will eine junge Witwe heiraten, in
die er verliebt ist, als er Ordre bekömmt, sich zur Armee zu verfügen. Er
verläßt seine Versprochene mit den wechselseitigen Versicherungen der
aufrichtigsten Zärtlichkeit. Kaum aber ist er weg, so nimmt die Witwe die
Aufwartungen des Sohnes von diesem Offiziere an. Die Tochter desselben
macht sich gleichergestalt die Abwesenheit ihres Vaters zunutze und nimmt
einen jungen Menschen, den sie liebt, im Hause auf. Diese doppelte
Intrige wird dem Vater gemeldet, der, um sich selbst davon zu überzeugen,
ihnen schreiben läßt, daß er sein Gesicht verloren habe. Die List
gelingt; er kömmt wieder nach Paris, und mit Hilfe eines Bedienten, der
um den Betrug weiß, sieht er alles, was in seinem Hause vorgeht. Die
Entwicklung läßt sich erraten; da der Offizier an der Unbeständigkeit der
Witwe nicht länger zweifeln kann, so erlaubt er seinem Sohne, sie zu
heiraten, und der Tochter gibt er die nämliche Erlaubnis, sich mit ihrem
Geliebten zu verbinden. Die Szenen zwischen der Witwe und dem Sohn des
Offiziers, in Gegenwart des letzten, haben viel Komisches; die Witwe
versichert, daß ihr der Zufall des Offiziers sehr nahe gehe, daß sie ihn
aber darum nicht weniger liebe; und zugleich gibt sie seinem Sohn, ihrem
Liebhaber, einen Wink mit den Augen oder bezeugt ihm sonst ihre
Zärtlichkeit durch Gebärden. Das ist der Inhalt des alten Stückes vom De
Brosse,[2] und ist auch der Inhalt von dem neuen Stücke des Le Grand. Nur
daß in diesem die Intrige mit der Tochter weggeblieben ist, um jene fünf
Akte desto leichter in einen zu bringen. Aus dem Vater ist ein Onkel
geworden, und was sonst dergleichen kleine Veränderungen mehr sind. Es
mag endlich entstanden sein wie es will; gnug, es gefällt sehr. Die
Übersetzung ist in Versen, und vielleicht eine von den besten, die wir
haben; sie ist wenigstens sehr fließend und hat viele drollige Zeilen.


----Fußnote

[1] S. den 17. Abend.

[2] Hist. du Th. Fr., Tome VII. p. 226.

----Fußnote



Vierundachtzigstes Stück
Den 19. Februar 1768

Den einundfunfzigsten Abend (montags, den 27. Julius) ward "Der
Hausvater" des Hrn. Diderot aufgeführt.

Da dieses vortreffliche Stück, welches den Franzosen nur so so gefällt,
--wenigstens hat es mit Müh' und Not kaum ein- oder zweimal auf dem
Pariser Theater erscheinen dürfen--sich, allem Ansehen nach, lange, sehr
lange, und warum nicht immer? auf unsern Bühnen erhalten wird; da es auch
hier nicht oft genug wird können gespielt werden: so hoffe ich, Raum und
Gelegenheit genug zu haben, alles auszukramen, was ich sowohl über das
Stück selbst, als über das ganze dramatische System des Verfassers, von
Zeit zu Zeit angemerkt habe.

Ich hole recht weit aus. Nicht erst mit dem "Natürlichen Sohne", in den
beigefügten Unterredungen, welche zusammen im Jahre 1757 herauskamen, hat
Diderot sein Mißvergnügen mit dem Theater seiner Nation geäußert. Bereits
verschiedne Jahre vorher ließ er es sich merken, daß er die hohen
Begriffe gar nicht davon habe, mit welchen sich seine Landsleute täuschen
und Europa sich von ihnen täuschen lassen. Aber er tat es in einem Buche,
in welchem man freilich dergleichen Dinge nicht sucht; in einem Buche, in
welchem der persiflierende Ton so herrschet, daß den meisten Lesern auch
das, was guter gesunder Verstand darin ist, nichts als Posse und Höhnerei
zu sein scheinet. Ohne Zweifel hat Diderot seine Ursachen, warum er mit
seiner Herzensmeinung lieber erst in einem solchen Buche hervorkommen
wollte: ein kluger Mann sagt öfters erst mit Lachen, was er hernach im
Ernste wiederholen will.

Dieses Buch heißt "Les bijoux indiscrets", und Diderot will es itzt
durchaus nicht geschrieben haben. Daran tut Diderot auch sehr wohl; aber
doch hat er es geschrieben und muß es geschrieben haben, wenn er nicht
ein Plagiarius sein will. Auch ist es gewiß, daß nur ein solcher junger
Mann dieses Buch schreiben konnte, der sich einmal schämen würde, es
geschrieben zu haben.

Es ist ebenso gut, wenn die wenigsten von meinen Lesern dieses Buch
kennen. Ich will mich auch wohl hüten, es ihnen weiter bekannt zu machen,
als es hier in meinen Kram dienet.--

Ein Kaiser--was weiß ich, wo und welcher?--hatte mit einem gewissen
magischen Ringe gewisse Kleinode so viel häßliches Zeug schwatzen lassen,
daß seine Favoritin durchaus nichts mehr davon hören wollte. Sie hätte
lieber gar mit ihrem ganzen Geschlechte darüber brechen mögen; wenigstens
nahm sie sich auf die ersten vierzehn Tage vor, ihren Umgang einzig auf
des Sultans Majestät und ein paar witzige Köpfe einzuschränken. Diese
waren Selim und Riccaric: Selim, ein Hofmann; und Riccaric, ein Mitglied
der kaiserlichen Akademie, ein Mann, der das Altertum studieret hatte und
ein großer Verehrer desselben war, doch ohne Pedant zu sein. Mit diesen
unterhält sich die Favoritin einsmals, und das Gespräch fällt auf den
elenden Ton der akademischen Reden, über den sich niemand mehr ereifert
als der Sultan selbst, weil es ihn verdrießt, sich nur immer auf Unkosten
seines Vaters und seiner Vorfahren darin loben zu hören, und er wohl
voraussieht, daß die Akademie ebenso auch seinen Ruhm einmal dem Ruhme
seiner Nachfolger aufopfern werde. Selim, als Hofmann, war dem Sultan in
allem beigefallen: und so spinnt sich die Unterredung über das Theater
an, die ich meinen Lesern hier ganz mitteile.

"Ich glaube, Sie irren sich, mein Herr", antwortete Riccaric dem Selim.
"Die Akademie ist noch itzt das Heiligtum des guten Geschmacks, und ihre
schönsten Tage haben weder Weltweise noch Dichter aufzuweisen, denen wir
nicht andere aus unserer Zeit entgegensetzen könnten. Unser Theater ward
für das erste Theater in ganz Afrika gehalten, und wird noch dafür
gehalten. Welch ein Werk ist nicht der 'Tamerlan' des Tuxigraphe! Es
verbindet das Pathetische des Eurisope mit dem Erhabnen des Azophe. Es
ist das klare Altertum!"

"Ich habe", sagte die Favoritin, "die erste Vorstellung des Tamerlans
gesehen und gleichfalls den Faden des Stücks sehr richtig geführet, den
Dialog sehr zierlich und das Anständige sehr wohl beobachtet gefunden."

"Welcher Unterschied, Madame", unterbrach sie Riccaric, "zwischen einem
Verfasser wie Tuxigraphe, der sich durch Lesung der Alten genähret, und
dem größten Teile unsrer Neuern!"

"Aber diese Neuern", sagte Selim, "die Sie hier so wacker über die Klinge
springen lassen, sind doch bei weitem so verächtlich nicht, als Sie
vorgeben. Oder wie? finden Sie kein Genie, keine Erfindung, kein Feuer,
keine Charaktere, keine Schilderungen, keine Tiraden bei ihnen? Was
bekümmere ich mich um Regeln, wenn man mir nur Vergnügen macht? Es sind
wahrlich nicht die Bemerkungen des weisen Almudir und des Gelehrten
Abdaldok, noch die Dichtkunst des scharfsinnigen Facardin, die ich alle
nicht gelesen habe, welche es machen, daß ich die Stücke des Aboulcazem,
des Muhardar, des Albaboukre und so vieler andren Sarazenen bewundre!
Gibt es denn auch eine andere Regel, als die Nachahmung der Natur? Und
haben wir nicht eben die Augen, mit welchen diese sie studierten?"

"Die Natur", antwortete Riccaric, "zeiget sich uns alle Augenblicke in
verschiednen Gestalten. Alle sind wahr, aber nicht alle sind gleich
schön. Eine gute Wahl darunter zu treffen, das müssen wir aus den Werken
lernen, von welchen Sie eben nicht viel zu halten scheinen. Es sind die
gesammelten Erfahrungen, welche ihre Verfasser und deren Vorgänger
gemacht haben. Man mag ein noch so vortrefflicher Kopf sein, so erlangt
man doch nur seine Einsichten eine nach der andern; und ein einzelner
Mensch schmeichelt sich vergebens, in dem kurzen Raume seines Lebens
alles selbst zu bemerken, was in so vielen Jahrhunderten vor ihm entdeckt
worden. Sonst ließe sich behaupten, daß eine Wissenschaft ihren Ursprung,
ihren Fortgang und ihre Vollkommenheit einem einzigen Geiste zu verdanken
haben könne; welches doch wider alle Erfahrung ist."

"Hieraus, mein Herr", antwortete ihm Selim, "folget weiter nichts, als
daß die Neuern, welche sich alle die Schätze zunutze machen können, die
bis auf ihre Zeit gesammelt worden, reicher sein müssen, als die Alten:
oder, wenn Ihnen diese Vergleichung nicht gefällt, daß sie auf den
Schultern dieser Kolossen, auf die sie gestiegen, notwendig müssen weiter
sehen können, als diese selbst. Was ist auch in der Tat ihre Naturlehre,
ihre Astronomie, ihre Schiffskunst, ihre Mechanik, ihre Rechenlehre in
Vergleichung mit unsern? Warum sollten wir ihnen also in der Beredsamkeit
und Poesie nicht ebensowohl überlegen sein?"

"Selim", versetzte die Sultane, "der Unterschied ist groß, und Riccaric
kann Ihnen die Ursachen davon ein andermal erklären. Er mag Ihnen sagen,
warum unsere Tragödien schlechter sind, als der Alten ihre; aber daß sie
es sind, kann ich leicht selbst auf mich nehmen, Ihnen zu beweisen. Ich
will Ihnen nicht schuld geben", fuhr sie fort, "daß Sie die Alten nicht
gelesen haben. Sie haben sich um zu viele schöne Kenntnisse beworben, als
daß Ihnen das Theater der Alten unbekannt sein sollte. Nun setzen Sie
gewisse Ideen, die sich auf ihre Gebräuche, auf ihre Sitten, auf ihre
Religion beziehen, und die Ihnen nur deswegen anstößig sind, weil sich
die Umstände geändert haben, beiseite und sagen Sie mir, ob ihr Stoff
nicht immer edel, wohlgewählt und interessant ist? ob sich die Handlung
nicht gleichsam von selbst einleitet? ob der simple Dialog dem
Natürlichen nicht sehr nahe kömmt? ob die Entwicklungen im geringsten
gezwungen sind? ob sich das Interesse wohl teilt und die Handlung mit
Episoden überladen ist? Versetzen Sie sich in Gedanken in die Insel
Alindala; untersuchen Sie alles, was da vorging, hören Sie alles, was von
dem Augenblicke an, als der junge Ibrahim und der verschlagne Forfanti
ans Land stiegen, da gesagt ward; nähern Sie sich der Höhle des
unglücklichen Polipsile; verlieren Sie kein Wort von seinen Klagen, und
sagen Sie mir, ob das Geringste vorkömmt, was Sie in der Täuschung stören
könnte? Nennen Sie mir ein einziges neueres Stück, welches die nämliche
Prüfung aushalten, welches auf den nämlichen Grad der Vollkommenheit
Anspruch machen kann: und Sie sollen gewonnen haben."

"Beim Brahma!" rief der Sultan und gähnte; "Madame hat uns da eine
vortreffliche akademische Vorlesung gehalten!"

"Ich verstehe die Regeln nicht", fuhr die Favoritin fort, "und noch
weniger die gelehrten Worte, in welchen man sie abgefaßt hat. Aber ich
weiß, daß nur das Wahre gefällt und rühret. Ich weiß auch, daß die
Vollkommenheit eines Schauspiels in der so genauen Nachahmung einer
Handlung bestehet, daß der ohne Unterbrechung betrogne Zuschauer bei der
Handlung selbst gegenwärtig zu sein glaubt. Findet sich aber in den
Tragödien, die Sie uns so rühmen, nur das geringste, was diesem
ähnlich sähe?"



Fünfundachtzigstes Stück
Den 23. Februar 1768

"Wollen Sie den Verlauf darin loben? Er ist meistens so vielfach und
verwickelt, daß es ein Wunder sein würde, wenn wirklich so viel Dinge in
so kurzer Zeit geschehen wären. Der Untergang oder die Erhaltung eines
Reichs, die Heirat einer Prinzessin, der Fall eines Prinzen, alles das
geschieht so geschwind, wie man eine Hand umwendet. Kömmt es auf eine
Verschwörung an? Im ersten Akte wird sie entworfen; im zweiten ist sie
beisammen; im dritten werden alle Maßregeln genommen, alle Hindernisse
gehoben, und die Verschwornen halten sich fertig; mit nächstem wird es
einen Aufstand setzen, wird es zum Treffen kommen, wohl gar zu einer
förmlichen Schlacht. Und das alles nennen Sie gut geführt, interessant,
warm, wahrscheinlich? Ihnen kann ich nun so etwas am wenigsten vergeben,
der Sie wissen, wieviel es oft kostet, die allerelendeste Intrige
zustande zu bringen, und wieviel Zeit bei der kleinsten politischen
Angelegenheit auf Einleitungen, auf Besprechungen und Beratschlagungen
geht."

"Es ist wahr, Madame", antwortete Selim, "unsere Stücke sind ein wenig
überladen; aber das ist ein notwendiges Übel; ohne Hilfe der Episoden
würden wir uns vor Frost nicht zu lassen wissen."

"Das ist. Um der Nachahmung einer Handlung Feuer und Geist zu geben, muß
man die Handlung weder so vorstellen, wie sie ist, noch so, wie sie sein
sollte. Kann etwas Lächerlicheres gedacht werden? Schwerlich wohl; es
wäre denn etwa dieses, daß man die Geigen ein lebhaftes Stück, eine
muntere Sonate spielen läßt, während daß die Zuhörer um den Prinzen
bekümmert sein sollen, der auf dem Punkte ist, seine Geliebte, seinen
Thron und sein Leben zu verlieren.

"Madame", sagte Mongogul, "Sie haben vollkommen recht; traurige Arien
müßte man indes spielen, und ich will Ihnen gleich einige bestellen
gehen." Hiermit stand er auf und ging heraus, und Selim, Riccaric und die
Favoritin setzten die Unterredung unter sich fort.

"Wenigstens, Madame", erwiderte Selim, "werden Sie nicht leugnen, daß,
wenn die Episoden uns aus der Täuschung herausbringen, der Dialog uns
wieder hereinsetzt. Ich wüßte nicht, wer das besser verstünde, als unsere
tragische Dichter."

"Nun so versteht es durchaus niemand", antwortete Mirzoza. "Das Gesuchte,
das Witzige, das Spielende, das darin herrscht, ist tausend und tausend
Meilen von der Natur entfernt. Umsonst sucht sich der Verfasser zu
verstecken; er entgeht meinen Augen nicht, und ich erblicke ihn
unaufhörlich hinter seinen Personen. Cinna, Sertorius, Maximus, Aemilia
sind alle Augenblicke das Sprachrohr des Corneille. So spricht man bei
unsern alten Sarazenen nicht miteinander. Herr Riccaric kann Ihnen, wenn
Sie wollen, einige Stellen daraus übersetzen; und Sie werden die bloße
Natur hören, die sich durch den Mund derselben ausdrückt. Ich möchte gar
zu gern zu den Neuern sagen: 'Meine Herren, anstatt daß ihr euern
Personen bei aller Gelegenheit Witz gebt, so sucht sie doch lieber in
Umstände zu setzen, die ihnen welchen geben.'"

"Nach dem zu urteilen, was Madame von dem Verlaufe und dem Dialoge
unserer dramatischen Stücke gesagt hat, scheint es wohl nicht", sagte
Selim, "daß Sie den Entwicklungen wird Gnade widerfahren lassen."

"Nein, gewiß nicht", versetzte die Favoritin, "es gibt hundert schlechte
für eine gute. Die eine ist nicht vorbereitet; die andere ereignet sich
durch ein Wunder. Weiß der Verfasser nicht, was er mit einer Person, die
er von Szene zu Szene ganze fünf Akte durchgeschleppt hat, anfangen soll:
geschwind fertiget er sie mit einem guten Dolchstoße ab; die ganze Welt
fängt an zu weinen, und ich, ich lache, als ob ich toll wäre. Hernach,
hat man wohl jemals so gesprochen, wie wir deklamieren? Pflegen die
Prinzen und Könige wohl anders zu gehen, als sonst ein Mensch, der gut
geht? Gestikulieren sie wohl jemals wie Besessene und Rasende? Und wenn
Prinzessinnen sprechen, sprechen sie wohl in so einem heulenden Tone? Man
nimmt durchgängig an, daß wir die Tragödie zu einem hohen Grade der
Vollkommenheit gebracht haben; und ich, meinesteils, halte es fast für
erwiesen, daß von allen Gattungen der Literatur, auf die sich die
Afrikaner in den letzten Jahrhunderten gelegt haben, gerade diese die
unvollkommenste geblieben ist."

Eben hier war die Favoritin mit ihrem Ausfalle gegen unsere theatralische
Werke, als Mongogul wieder hereinkam. "Madame", sagte er, "Sie werden mir
einen Gefallen erweisen, wenn Sie fortfahren. Sie sehen, ich verstehe
mich darauf, eine Dichtkunst abzukürzen, wenn ich sie zu lang finde."

"Lassen Sie uns", fuhr die Favoritin fort, "einmal annehmen, es käme
einer ganz frisch aus Angote, der in seinem Leben von keinem Schauspiele
etwas gehört hätte; dem es aber weder an Verstande noch an Welt fehle;
der ungefähr wisse, was an einem Hofe vorgehe; der mit den Anschlägen der
Höflinge, mit der Eifersucht der Minister, mit den Hetzereien der Weiber
nicht ganz unbekannt wäre, und zu dem ich im Vertrauen sagte: 'Mein
Freund, es äußern sich in dem Seraglio schreckliche Bewegungen. Der
Fürst, der mit seinem Sohne mißvergnügt ist, weil er ihn im Verdacht hat,
daß er die Manimonbande liebt, ist ein Mann, den ich für fähig halte, an
beiden die grausamste Rache zu üben. Diese Sache muß, allem Ansehen nach,
sehr traurige Folgen haben. Wenn Sie wollen, so will ich machen, daß Sie
von allem, was vorgeht, Zeuge sein können.' Er nimmt mein Anerbieten an,
und ich führe ihn in eine mit Gitterwerk vermachte Loge, aus der er das
Theater sieht, welches er für den Palast des Sultans hält. Glauben Sie
wohl, daß trotz alles Ernstes, in dem ich mich zu erhalten bemühte, die
Täuschung dieses Fremden einen Augenblick dauern könnte? Müssen Sie nicht
vielmehr gestehen, daß er, bei dem steifen Gange der Akteurs, bei ihrer
wunderlichen Tracht, bei ihren ausschweifenden Gebärden, bei dem
seltsamen Nachdrucke ihrer gereimten, abgemessenen Sprache, bei tausend
andern Ungereimtheiten, die ihm auffallen würden, gleich in der ersten
Szene mir ins Gesicht lachen und gerade heraus sagen würde, daß ich ihn
entweder zum Besten haben wollte, oder daß der Fürst mitsamt seinem Hofe
nicht wohl bei Sinnen sein müßten."

"Ich bekenne", sagte Selim, "daß mich dieser angenommene Fall verlegen
macht; aber könnte man Ihnen nicht zu bedenken geben, daß wir in das
Schauspiel gehen, mit der Überzeugung, der Nachahmung einer Handlung,
nicht aber der Handlung selbst beizuwohnen."

"Und sollte denn diese Überzeugung verwehren", erwiderte Mirzoza, "die
Handlung auf die allernatürlichste Art vorzustellen?"--

Hier kömmt das Gespräch nach und nach auf andere Dinge, die uns nichts
angehen. Wir wenden uns also wieder, zu sehen, was wir gelesen haben. Den
klaren Lautern Diderot! Aber alle diese Wahrheiten waren damals in den
Wind gesagt. Sie erregten eher keine Empfindung in dem französischen
Publico, als bis sie mit allem didaktischen Ernste wiederholt und mit
Proben begleitet wurden, in welchen sich der Verfasser von einigen der
gerügten Mängel zu entfernen und den Weg der Natur und Täuschung besser
einzuschlagen bemüht hatte. Nun weckte der Neid die Kritik. Nun war es
klar, warum Diderot das Theater seiner Nation auf dem Gipfel der
Vollkommenheit nicht sahe, auf dem wir es durchaus glauben sollen; warum
er so viel Fehler in den gepriesenen Meisterstücken desselben fand: bloß
und allein, um seinen Stücken Platz zu schaffen. Er mußte die Methode
seiner Vorgänger verschrien haben, weil er empfand, daß in Befolgung der
nämlichen Methode, er unendlich unter ihnen bleiben würde. Er mußte ein
elender Charlatan sein, der allen fremden Theriak verachtet, damit kein
Mensch andern als seinen kaufe. Und so fielen die Palissots über seine
Stücke her.

Allerdings hatte er ihnen auch, in seinem "Natürlichen Sohne", manche
Blöße gegeben. Dieser erste Versuch ist bei weiten das nicht, was der
"Hausvater" ist. Zu viel Einförmigkeit in den Charakteren, das
Romantische in diesen Charakteren selbst, ein steifer kostbarer Dialog,
ein pedantisches Geklingle von neumodisch philosophischen Sentenzen:
alles das machte den Tadlern leichtes Spiel. Besonders zog die feierliche
Theresia (oder Constantia, wie sie in dem Originale heißt), die so
philosophisch selbst auf die Freierei geht, die mit einem Manne, der sie
nicht mag, so weise von tugendhaften Kindern spricht, die sie mit ihm zu
erzielen gedenkt, die Lacher auf ihre Seite. Auch kann man nicht leugnen,
daß die Einkleidung, welche Diderot den beigefügten Unterredungen gab,
daß der Ton, den er darin annahm, ein wenig eitel und pompös war; daß
verschiedene Anmerkungen als ganz neue Entdeckungen darin vorgetragen
wurden, die doch nicht neu und dem Verfasser nicht eigen waren; daß
andere Anmerkungen die Gründlichkeit nicht hatten, die sie in dem
blendenden Vortrage zu haben schienen.



Sechsundachtzigstes Stück
Den 26. Februar 1768

z.E. Diderot behauptete,[1] daß es in der menschlichen Natur aufs
höchste nur ein Dutzend wirklich komische Charaktere gäbe, die großer
Züge fähig wären; und daß die kleinen Verschiedenheiten unter den
menschlichen Charakteren nicht so glücklich bearbeitet werden könnten,
als die reinen unvermischten Charaktere. Er schlug daher vor, nicht mehr
die Charaktere, sondern die Stände auf die Bühne zu bringen; und wollte
die Bearbeitung dieser zu dem besondern Geschäfte der ernsthaften Komödie
machen. "Bisher", sagt er, "ist in der Komödie der Charakter das
Hauptwerk gewesen; und der Stand war nur etwas Zufälliges: nun aber muß
der Stand das Hauptwerk, und der Charakter das Zufällige werden. Aus dem
Charakter zog man die ganze Intrige: man suchte durchgängig die Umstände,
in welchen er sich am besten äußert, und verband diese Umstände
untereinander. Künftig muß der Stand, müssen die Pflichten, die Vorteile,
die Unbequemlichkeiten desselben zur Grundlage des Werks dienen. Diese
Quelle scheint mir weit ergiebiger, von weit größerm Umfange, von weit
größerm Nutzen, als die Quelle der Charaktere. War der Charakter nur ein
wenig übertrieben, so konnte der Zuschauer zu sich selbst sagen: das bin
ich nicht. Das aber kann er unmöglich leugnen, daß der Stand, den man
spielt, sein Stand ist; seine Pflichten kann er unmöglich verkennen. Er
muß das, was er hört, notwendig auf sich anwenden."

Was Palissot hierwider erinnert,[2] ist nicht ohne Grund. Er leugnet es,
daß die Natur so arm an ursprünglichen Charakteren sei, daß sie die
komischen Dichter bereits sollten erschöpft haben. Molière sahe noch
genug neue Charaktere vor sich und glaubte kaum den allerkleinsten Teil
von denen behandelt zu haben, die er behandeln könne. Die Stelle, in
welcher er verschiedne derselben in der Geschwindigkeit entwirft, ist so
merkwürdig als lehrreich, indem sie vermuten läßt, daß der Misanthrop
schwerlich sein Non plus ultra in dem hohen Komischen dürfte geblieben
sein, wann er länger gelebt hätte.[3] Palissot selbst ist nicht
unglücklich, einige neue Charaktere von seiner eignen Bemerkung
beizufügen: den dummen Mäzen mit seinen kriechenden Klienten; den Mann an
seiner unrechten Stelle; den Arglistigen, dessen ausgekünstelte Anschläge
immer gegen die Einfalt eines treuherzigen Biedermanns scheitern; den
Scheinphilosophen; den Sonderling, den Destouches verfehlt habe; den
Heuchler mit gesellschaftlichen Tugenden, da der Religionsheuchler
ziemlich aus der Mode sei.--Das sind wahrlich nicht gemeine Aussichten,
die sich einem Auge, das gut in die Ferne trägt, bis ins Unendliche
erweitern. Das ist noch Ernte genug für die wenigen Schnitter, die sich
daran wagen dürfen!

Und wenn auch, sagt Palissot, der komischen Charaktere wirklich so
wenige, und diese wenigen wirklich alle schon bearbeitet wären: würden
die Stände denn dieser Verlegenheit abhelfen? Man wähle einmal einen; z.
E. den Stand des Richters. Werde ich ihm denn, dem Richter, nicht einen
Charakter geben müssen? Wird er nicht traurig oder lustig, ernsthaft oder
leichtsinnig, leutselig oder stürmisch sein müssen? Wird es nicht bloß
dieser Charakter sein, der ihn aus der Klasse metaphysischer Abstrakte
heraushebt und eine wirkliche Person aus ihm macht? Wird nicht folglich
die Grundlage der Intrige und die Moral des Stücks wiederum auf dem
Charakter beruhen? Wird nicht folglich wiederum der Stand nur das
Zufällige sein?

Zwar könnte Diderot hierauf antworten: Freilich muß die Person, welche
ich mit dem Stande bekleide, auch ihren individuellen moralischen
Charakter haben; aber ich will, daß es ein solcher sein soll, der mit den
Pflichten und Verhältnissen des Standes nicht streitet, sondern aufs
beste harmonieret. Also, wenn diese Person ein Richter ist, so steht es
mir nicht frei, ob ich ihn ernsthaft oder leichtsinnig, leutselig oder
stürmisch machen will: er muß notwendig ernsthaft und leutselig sein, und
jedesmal es in dem Grade sein, den das vorhabende Geschäfte erfodert.

Dieses, sage ich, könnte Diderot antworten: aber zugleich hätte er sich
einer andern Klippe genähert; nämlich der Klippe der vollkommnen
Charaktere. Die Personen seiner Stände würden nie etwas anders tun, als
was sie nach Pflicht und Gewissen tun müßten; sie würden handeln, völlig
wie es im Buche steht. Erwarten wir das in der Komödie? Können
dergleichen Vorstellungen anziehend genug werden? Wird der Nutzen, den
wir davon hoffen dürfen, groß genug sein, daß es sich der Mühe verlohnt,
eine neue Gattung dafür festzusetzen und für diese eine eigene Dichtkunst
zu schreiben?

Die Klippe der vollkommenen Charaktere scheinet mir Diderot überhaupt
nicht genug erkundiget zu haben. In seinen Stücken steuert er ziemlich
gerade darauf los: und in seinen kritischen Seekarten findet sich
durchaus keine Warnung davor. Vielmehr finden sich Dinge darin, die den
Lauf nach ihr hin zu lenken raten. Man erinnere sich nur, was er, bei
Gelegenheit des Kontrasts unter den Charakteren, von den "Brüdern" des
Terenz sagt.[4] "Die zwei kontrastierten Väter darin sind mit so gleicher
Stärke gezeichnet, daß man dem feinsten Kunstrichter Trotz bieten kann,
die Hauptperson zu nennen; ob es Micio oder ob es Demea sein soll? Fällt
er sein Urteil vor dem letzten Auftritte, so dürfte er leicht mit
Erstaunen wahrnehmen, daß der, den er ganzer fünf Aufzüge hindurch für
einen verständigen Mann gehalten hat, nichts als ein Narr ist, und daß
der, den er für einen Narren gehalten hat, wohl gar der verständige Mann
sein könnte. Man sollte zu Anfange des fünften Aufzuges dieses Drama fast
sagen, der Verfasser sei durch den beschwerlichen Kontrast gezwungen
worden, seinen Zweck fahren zu lassen und das ganze Interesse des Stücks
umzukehren. Was ist aber daraus geworden? Dieses, daß man gar nicht mehr
weiß, für wen man sich interessieren soll. Vom Anfange her ist man für
den Micio gegen den Demea gewesen, und am Ende ist man für keinen von
beiden. Beinahe sollte man einen dritten Vater verlangen, der das Mittel
zwischen diesen zwei Personen hielte und zeigte, worin sie beide fehlten."

Nicht ich! Ich verbitte mir ihn sehr, diesen dritten Vater; es sei in dem
nämlichen Stücke, oder auch allein. Welcher Vater glaubt nicht zu wissen,
wie ein Vater sein soll? Auf dem rechten Wege dünken wir uns alle: wir
verlangen nur, dann und wann vor den Abwegen zu beiden Seiten gewarnet
zu werden.

Diderot hat recht: es ist besser, wenn die Charaktere bloß verschieden,
als wenn sie kontrastiert sind. Kontrastierte Charaktere sind minder
natürlich und vermehren den romantischen Anstrich, an dem es den
dramatischen Begebenheiten so schon selten fehlt. Für eine Gesellschaft
im gemeinen Leben, wo sich der Kontrast der Charaktere so abstechend
zeigt, als ihn der komische Dichter verlangt, werden sich immer tausend
finden, wo sie weiter nichts als verschieden sind. Sehr richtig! Aber ist
ein Charakter, der sich immer genau in dem graden Gleise hält, das ihm
Vernunft und Tugend vorschreiben, nicht eine noch seltenere Erscheinung?
Von zwanzig Gesellschaften im gemeinen Leben werden eher zehn sein, in
welchen man Väter findet, die bei Erziehung ihrer Kinder völlig
entgegengesetzte Wege einschlagen, als eine, die den wahren Vater
aufweisen könnte. Und dieser wahre Vater ist noch dazu immer der
nämliche, ist nur ein einziger, da der Abweichungen von ihm unendlich
sind. Folglich werden die Stücke, die den wahren Vater ins Spiel bringen,
nicht allein jedes vor sich unnatürlicher, sondern auch untereinander
einförmiger sein, als es die sein können, welche Väter von verschiednen
Grundsätzen einführen. Auch ist es gewiß, daß die Charaktere, welche in
ruhigen Gesellschaften bloß verschieden scheinen, sich von selbst
kontrastieren, sobald ein streitendes Interesse sie in Bewegung setzt. Ja
es ist natürlich, daß sie sich sodann beeifern, noch weiter voneinander
entfernt zu scheinen, als sie wirklich sind. Der Lebhafte wird Feuer und
Flamme gegen den, der ihm zu lau sich zu betragen scheinet: und der Laue
wird kalt wie Eis, um jenem soviel Übereilungen begehen zu lassen, als
ihm nur immer nützlich sein können.


----Fußnote

[1] S. die Unterredungen hinter dem "Natürlichen Sohne", S. 321-322 d.
Übers.

[2] "Petites Lettres sur de grands Philosophes", Lettr. II.

[3] ("Impromptu de Versailles", Sc. 3.) Eh! mon pauvre Marquis, nous lui
(à Molière) fournirons toujours assez de matière, et nous ne prenons
guère le chemin de nous rendre sages par tout ce qu'il fait et tout ce
qu'il dit. Crois-tu qu'il ait épuisé dans ses Comédies tous les ridicules
des hommes, et sans sortir de la Cour, n'a-t-il pas encore vingt
caractères de gens, où il n'a pas touché? N'a-t-il pas, par exemple, ceux
qui se font les plus grandes amitiés du monde, et qui, le dos tourné,
font galanterie de se déchirer l'un l'autre? N'a-t-il pas ces adulateurs
à outrance, ces flatteurs insipides qui n'assaisonnent d'aucun sel les
louanges qu'ils donnent, et dont toutes les flatteries ont une douceur
fade qui fait mal au coeur à ceux qui les écoutent? N'a-t-il pas ces
lâches courtisans de la faveur, ces perfides adorateurs de la fortune,
qui vous encensent dans la prospérité, et vous accablent dans la
disgrâce? N'a-t-il pas ceux qui sont toujours mécontents de la Cour, ces
suivants inutiles, ces incommodes assidus, ces gens, dis-je, qui pour
services ne peuvent compter que des importunités, et qui veulent qu'on
les récompense d'avoir obsédé le Prince dix ans durant? N'a-t-il pas ceux
qui caressent également tout le monde, qui promènent leurs civilités à
droite, à gauche, et courent à tous ceux qu'ils voyent avec les mêmes
embrassades, et les mêmes protestations d'amitié?--Va, va, Marquis,
Molière aura toujours plus de sujets qu'il n'en voudra, et tout ce qu'il
a touché n'est que bagatelle au prix de ce qui reste.

[4] In der dr. Dichtkunst hinter dem "Hausvater", S. 258 d. Übers.

----Fußnote



Siebenundachtzig-und achtundachtzigstes Stück
Den 4. März 1768

Und so sind andere Anmerkungen des Palissot mehr, wenn nicht ganz
richtig, doch auch nicht ganz falsch. Er sieht den Ring, in den er mit
seiner Lanze stoßen will, scharf genug; aber in der Hitze des Ansprengens
verrückt die Lanze, und er stößt den Ring gerade vorbei.

So sagt er über den "Natürlichen Sohn" unter andern: "Welch ein seltsamer
Titel! der natürliche Sohn! Warum heißt das Stück so? Welchen Einfluß hat
die Geburt des Dorval? Was für einen Vorfall veranlaßt sie? Zu welcher
Situation gibt sie Gelegenheit? Welche Lücke füllt sie auch nur? Was kann
also die Absicht des Verfassers dabei gewesen sein? Ein paar Betrachtungen
über das Vorurteil gegen die uneheliche Geburt aufzuwärmen? Welcher
vernünftige Mensch weiß denn nicht von selbst, wie ungerecht ein solches
Vorurteil ist?"

Wenn Diderot hierauf antwortete: Dieser Umstand war allerdings zur
Verwickelung meiner Fabel nötig; ohne ihn würde es weit unwahrscheinlicher
gewesen sein, daß Dorval seine Schwester nicht kennet und seine Schwester
von keinem Bruder weiß; es stand mir frei, den Titel davon zu entlehnen,
und ich hätte den Titel von noch einem geringern Umstande entlehnen können.
--Wenn Diderot dieses antwortete, sag' ich, wäre Palissot nicht ungefähr
widerlegt?

Gleichwohl ist der Charakter des natürlichen Sohnes einem ganz andern
Einwurfe bloßgestellet, mit welchem Palissot dem Dichter weit schärfer
hätte zusetzen können. Diesem nämlich: daß der Umstand der unehelichen
Geburt und der daraus erfolgten Verlassenheit und Absonderung, in welcher
sich Dorval von allen Menschen so viele Jahre hindurch sahe, ein viel zu
eigentümlicher und besonderer Umstand ist, gleichwohl auf die Bildung
seines Charakters viel zuviel Einfluß gehabt hat, als daß dieser
diejenige Allgemeinheit haben könne, welche nach der eignen Lehre des
Diderot ein komischer Charakter notwendig haben muß.--Die Gelegenheit
reizt mich zu einer Ausschweifung über diese Lehre: und welchem Reize von
der Art brauchte ich in einer solchen Schrift zu widerstehen?

"Die komische Gattung", sagt Diderot,[1] "hat Arten, und die tragische
hat Individua. Ich will mich erklären. Der Held einer Tragödie ist der
und der Mensch. es ist Regulus, oder Brutus, oder Cato, und sonst kein
anderer. Die vornehmste Person einer Komödie hingegen muß eine große
Anzahl von Menschen vorstellen. Gäbe man ihr von ohngefähr eine so eigene
Physiognomie, daß ihr nur ein einziges Individuum ähnlich wäre, so würde
die Komödie wieder in ihre Kindheit zurücktreten.--Terenz scheinet mir
einmal in diesen Fehler gefallen zu sein. Sein Heautontimorumenos ist ein
Vater, der sich über den gewaltsamen Entschluß grämet, zu welchem er
seinen Sohn durch übermäßige Strenge gebracht hat, und der sich deswegen
nun selbst bestraft, indem er sich in Kleidung und Speise kümmerlich
hält, allen Umgang fliehet, sein Gesinde abschafft und das Feld mit
eigenen Händen bauet. Man kann gar wohl sagen, daß es so einen Vater
nicht gibt. Die größte Stadt würde kaum in einem ganzen Jahrhunderte ein
Beispiel einer so seltsamen Betrübnis aufzuweisen haben."

Zuerst von der Instanz des "Heautontimorumenos". Wenn dieser Charakter
wirklich zu tadeln ist: so trifft der Tadel nicht sowohl den Terenz, als
den Menander. Menander war der Schöpfer desselben, der ihn, allem Ansehen
nach, in seinem Stücke noch weit ausführlichere Rolle spielen lassen, als
er in der Kopie des Terenz spielet, in der sich seine Sphäre, wegen der
verdoppelten Intrige, wohl sehr einziehen müssen.[2] Aber daß er von
Menandern herrührt, dieses allein schon hätte, mich wenigstens,
abgeschreckt, den Terenz desfalls zu verdammen. Das [Greek: o Menandre
kai bie, poteros ar' ymon poteron emimaesato]; ist zwar frostiger, als
witzig gesagt: doch würde man es wohl überhaupt von einem Dichter gesagt
haben, der Charaktere zu schildern imstande wäre, wovon sich in der
größten Stadt kaum in einem ganzen Jahrhunderte ein einziges Beispiel
zeiget? Zwar in hundert und mehr Stücken könnte ihm auch wohl ein solcher
Charakter entfallen sein. Der fruchtbarste Kopf schreibt sich leer; und
wenn die Einbildungskraft sich keiner wirklichen Gegenstände der
Nachahmung mehr erinnern kann, so komponiert sie deren selbst, welches
denn freilich meistens Karikaturen werden. Dazu will Diderot bemerkt
haben, daß schon Horaz, der einen so besonders zärtlichen Geschmack
hatte, den Fehler, wovon die Rede ist, eingesehen und im Vorbeigehen,
aber fast unmerklich, getadelt habe.

Die Stelle soll die in der zweiten Satire des ersten Buchs sein, wo Horaz
zeigen will, "daß die Narren aus einer Übertreibung in die andere
entgegengesetzte zu fallen pflegen. Fufidius", sagt er, "fürchtet für
einen Verschwender gehalten zu werden. Wißt ihr, was er tut? Er leihet
monatlich für fünf Prozent und macht sich im voraus bezahlt. Je nötiger
der andere das Geld braucht, desto mehr fodert er. Er weiß die Namen
aller jungen Leute, die von gutem Hause sind und itzt in die Welt treten,
dabei aber über harte Väter zu klagen haben. Vielleicht aber glaubt ihr,
daß dieser Mensch wieder einen Aufwand mache, der seinen Einkünften
entspricht? Weit gefehlt! Er ist sein grausamster Feind, und der Vater in
der Komödie, der sich wegen der Entweichung seines Sohnes bestraft, kann
sich nicht schlechter quälen: non se pejus cruciaverit."--Dieses schlechter,
dieses pejus, will Diderot, soll hier einen doppelten Sinn haben; einmal
soll es auf den Fufidius, und einmal auf den Terenz gehen; dergleichen
beiläufige Hiebe, meinet er, wären dem Charakter des Horaz vollkommen
gemäß.

Das letzte kann sein, ohne sich auf die vorhabende Stelle anwenden zu
lassen. Denn hier, dünkt mich, würde die beiläufige Anspielung dem
Hauptverstande nachteilig werden. Fufidius ist kein so großer Narr, wenn
es mehr solche Narren gibt. Wenn sich der Vater des Terenz ebenso
abgeschmackt peinigte, wenn er ebensowenig Ursache hätte, sich zu
peinigen, als Fufidius, so teilt er das Lächerliche mit ihm, und Fufidius
ist weniger seltsam und abgeschmackt. Nur alsdenn, wenn Fufidius, ohne
alle Ursache, ebenso hart und grausam gegen sich selbst ist, als der
Vater des Terenz mit Ursache ist, wenn jener aus schmutzigem Geize tut,
was dieser aus Reu und Betrübnis tat: nur alsdenn wird uns jener
unendlich lächerlicher und verächtlicher, als mitleidswürdig wir
diesen finden.

Und allerdings ist jede große Betrübnis von der Art, wie die Betrübnis
dieses Vaters: die sich nicht selbst vergißt, die peiniget sich selbst.
Es ist wider alle Erfahrung, daß kaum alle hundert Jahre sich ein
Beispiel einer solchen Betrübnis finde: vielmehr handelt jede ungefähr
ebenso; nur mehr oder weniger, mit dieser oder jener Veränderung. Cicero
hatte auf die Natur der Betrübnis genauer gemerkt; er sahe daher in dem
Betragen des Heautontimorumenos nichts mehr, als was alle Betrübte, nicht
bloß von dem Affekte hingerissen, tun, sondern auch bei kälterm Geblüte
fortsetzen zu müssen glauben.[3] Haec omnia recta, vera, debita putantes,
faciunt in dolore: maximeque declaratur, hoc quasi officii judicio fieri,
quod si qui forte, cum se in luctu esse vellent, aliquid fecerunt
humanius, aut si hilarius locuti essent, revocant se rursus ad
moestitiam, peccatique se insimulant, quod dolere intermiserint: pueros
vero matres et magistri castigare etiam solent, nec verbis solum, sed
etiam verberibus, si quid in domestico luctu hilarius ab iis factum est,
aut dictum: plorare cogunt.--Quid ille Terentianus ipse se puniens? usw.

Menedemus aber, so heißt der Selbstpeiniger bei dem Terenz, hält sich
nicht allein so hart aus Betrübnis; sondern, warum er sich auch jeden
geringen Aufwand verweigert, ist die Ursache und Absicht vornehmlich
dieses: um desto mehr für den abwesenden Sohn zu sparen und dem einmal
ein desto gemächlicheres Leben zu versichern, den er itzt gezwungen, ein
so ungemächliches zu ergreifen. Was ist hierin, was nicht hundert Väter
tun würden? Meint aber Diderot, daß das Eigene und Seltsame darin
bestehe, daß Menedemus selbst hackt, selbst gräbt, selbst ackert: so hat
er wohl in der Eil' mehr an unsere neuere, als an die alten Sitten
gedacht. Ein reicher Vater itziger Zeit würde das freilich nicht so
leicht tun: denn die wenigsten würden es zu tun verstehen. Aber die
wohlhabensten, vornehmsten Römer und Griechen waren mit allen ländlichen
Arbeiten bekannter und schämten sich nicht, selbst Hand anzulegen.

Doch alles sei, vollkommen wie es Diderot sagt! Der Charakter des
Selbstpeinigers sei wegen des Allzueigentümlichen, wegen dieser ihm fast
nur allein zukommenden Falte, zu einem komischen Charakter so
ungeschickt, als er nur will. Wäre Diderot nicht in eben den Fehler
gefallen? Denn was kann eigentümlicher sein, als der Charakter seines
Dorval? Welcher Charakter kann mehr eine Falte haben, die ihm nur allein
zukömmt, als der Charakter dieses natürlichen Sohnes? "Gleich nach meiner
Geburt", läßt er ihn von sich selbst sagen, "ward ich an einen Ort
verschleudert, der die Grenze zwischen Einöde und Gesellschaft heißen
kann; und als ich die Augen auftat, mich nach den Banden umzusehen, die
mich mit den Menschen verknüpften, konnte ich kaum einige Trümmern davon
erblicken. Dreißig Jahre lang irrte ich unter ihnen einsam, unbekannt und
verabsäumet umher, ohne die Zärtlichkeit irgendeines Menschen empfunden,
noch irgendeinen Menschen angetroffen zu haben, der die meinige gesucht
hätte." Daß ein natürliches Kind sich vergebens nach seinen Eltern,
vergebens nach Personen umsehen kann, mit welchen es die nähern Bande des
Bluts verknüpfen: das ist sehr begreiflich; das kann unter zehnen neunen
begegnen. Aber daß es ganze dreißig Jahre in der Welt herumirren könne,
ohne die Zärtlichkeit irgendeines Menschen empfunden zu haben, ohne
irgendeinen Menschen angetroffen zu haben, der die seinige gesucht hätte:
das, sollte ich fast sagen, ist schlechterdings unmöglich. Oder wenn es
möglich wäre, welche Menge ganz besonderer Umstände müßten von beiden
Seiten, von seiten der Welt und von seiten dieses so lange insulierten
Wesens zusammengekommen sein, diese traurige Möglichkeit wirklich zu
machen? Jahrhunderte auf Jahrhunderte werden verfließen, ehe sie wieder
einmal wirklich wird. Wolle der Himmel nicht, daß ich mir je das
menschliche Geschlecht anders vorstelle! Lieber wünschte ich sonst, ein
Bär geboren zu sein, als ein Mensch. Nein, kein Mensch kann unter
Menschen so lange verlassen sein! Man schleudere ihn hin, wohin man will:
wenn er noch unter Menschen fällt, so fällt er unter Wesen, die, ehe er
sich umgesehen, wo er ist, auf allen Seiten bereit stehen, sich an ihn
anzuketten. Sind es nicht vornehme, so sind es geringe! Sind es nicht
glückliche, so sind es unglückliche Menschen! Menschen sind es doch
immer. So wie ein Tropfen nur die Fläche des Wassers berühren darf, um
von ihm aufgenommen zu werden und ganz in ihm zu verfließen: das Wasser
heiße, wie es will, Lache oder Quelle, Strom oder See, Belt oder Ozean.

Gleichwohl soll diese dreißigjährige Einsamkeit unter den Menschen den
Charakter des Dorval gebildet haben. Welcher Charakter kann ihm nun
ähnlich sehen? Wer kann sich in ihm erkennen? nur zum kleinsten Teil in
ihm erkennen?

Eine Ausflucht, finde ich doch, hat sich Diderot auszusparen gesucht. Er
sagt in dem Verfolge der angezogenen Stelle: "In der ernsthaften Gattung
werden die Charaktere oft ebenso allgemein sein, als in der komischen
Gattung; sie werden aber allezeit weniger individuell sein, als in der
tragischen." Er würde sonach antworten: Der Charakter des Dorval ist kein
komischer Charakter; er ist ein Charakter, wie ihn das ernsthafte
Schauspiel erfodert; wie dieses den Raum zwischen Komödie und Tragödie
füllen soll, so müssen auch die Charaktere desselben das Mittel zwischen
den komischen und tragischen Charakteren halten; sie brauchen nicht so
allgemein zu sein als jene, wenn sie nur nicht so völlig individuell
sind, als diese; und solcher Art dürfte doch wohl der Charakter des
Dorval sein.

Also wären wir glücklich wieder an dem Punkte, von welchem wir ausgingen.
Wir wollten untersuchen, ob es wahr sei, daß die Tragödie Individua, die
Komödie aber Arten habe: das ist, ob es wahr sei, daß die Personen der
Komödie eine große Anzahl von Menschen fassen und zugleich vorstellen
müßten; dahingegen der Held der Tragödie nur der und der Mensch, nur
Regulus oder Brutus oder Cato sei und sein solle. Ist es wahr, so hat
auch das, was Diderot von den Personen der mittlern Gattung sagt, die er
die ernsthafte Komödie nennt, keine Schwierigkeit, und der Charakter
seines Dorval wäre so tadelhaft nicht. Ist es aber nicht wahr, so fällt
auch dieses von selbst weg, und dem Charakter des natürlichen Sohnes kann
aus einer so ungegründeten Einteilung keine Rechtfertigung zufließen.


----Fußnote

[1] Unterred., S. 292 d. Übers.

[2] Falls nämlich die 6. Zeile des Prologs

Duplex quae ex argumento facta est simplici,

von dem Dichter wirklich so geschrieben und nicht anders zu verstehen
ist, als die Dacier und nach ihr der neue englische Übersetzer des
Terenz, Colman, sie erklären. Terence only meant to say, that he had
doubled the characters; instead of one old man, one young gallant, one
mistress, as in Menander, he had two old men etc. He therefore adds very
properly: novam esse ostendi,--which certainly could not have been
implied, had the characters been the same in the Greek poet. Auch schon
Adrian Barlandus, ja selbst die alte Glossa interlinealis des Ascensius,
hatte das duplex nicht anders verstanden; propter senes et juvenes sagt
diese; und jener schreibt: nam in hac latina senes duo, adolescentes item
duo sunt. Und dennoch will mir diese Auslegung nicht in den Kopf, weil
ich gar nicht einsehe, was von dem Stücke übrigbleibt, wenn man die
Personen, durch welche Terenz den Alten, den Liebhaber und die Geliebte
verdoppelt haben soll, wieder wegnimmt. Mir ist es unbegreiflich, wie
Menander diesen Stoff ohne den Chremes und ohne den Clitipho habe
behandeln können; beide sind so genau hineingeflochten, daß ich mir weder
Verwicklung noch Auflösung ohne sie denken kann. Einer andern Erklärung,
durch welche sich Julius Scaliger lächerlich gemacht hat, will ich gar
nicht gedenken. Auch die, welche Eugraphius gegeben hat, und die vom
Faerne angenommen worden, ist ganz unschicklich. In dieser Verlegenheit
haben die Kritici bald das duplex, bald das simplici in der Zeile zu
verändern gesucht, wozu sie die Handschriften gewissermaßen berechtigten.
Einige haben gelesen:

Duplex quae ex Argumente facta est duplici.

Andere:

Simplex quae ex argumento facta est duplici.

Was bleibt noch übrig, als daß nun auch einer lieset:

Simplex quae ex argumento facta est simplici?

Und in allem Ernste: so möchte ich am liebsten lesen. Man sehe die Stelle
im Zusammenhange, und überlege meine Gründe:

    Ex integra Graeca integram comoediam
    Hodie sum acturus Heautontimorumenon:
    Simplex quae ex argumento facta est simplici.

[3] Es ist bekannt, was dem Terenz von seinen neidischen Mitarbeitern
am Theater vorgeworfen ward:

    Multas contaminasse graecas, dum facit
    Paucas latinas--

[4] Er schmelzte nämlich öfters zwei Stücke in eines und machte aus zwei
griechischen Komödien eine einzige lateinische. So setzte er seine
"Andria" aus der "Andria" und "Perinthia" des Menanders zusammen; seinen
"Eunuchus" aus dem "Eunuchus" und dem "Colax" eben dieses Dichters; seine
"Brüder" aus den "Brüdern" des nämlichen und einem Stücke des Diphilus.
Wegen dieses Vorwurfs rechtfertiget er sich nun in dem Prologe des
"Heautontimorumenos". Die Sache selbst gesteht er ein; aber er will damit
nichts anders getan haben, als was andere gute Dichter vor ihm
getan hätten.

    --Id esse factum hic non negat
    Neque se pigere, et deinde factum iri autumat.
    Habet bonorum exemplum: quo exemplo sibi
    Licere id facere, quod illi fecerunt putat.

[5] Ich habe es getan, sagt er, und ich denke, daß ich es noch öfterer
tun werde. Das bezog sich aber auf vorige Stücke, und nicht auf das
gegenwärtige, den "Heautontimorumenos". Denn dieser war nicht aus zwei
griechischen Stücken, sondern nur aus einem einzigen gleichen Namens
genommen. Und das ist es, glaube ich, was er in der streitigen Zeile
sagen will, so wie ich sie zu lesen vorschlage:

Simplex quae ex argumento facta est simplici.

So einfach, will Terenz sagen, als das Stück des Menanders ist, ebenso
einfach ist auch mein Stück; ich habe durchaus nichts aus andern Stücken
eingeschaltet; es ist, so lang es ist, aus dem griechischen Stücke
genommen, und das griechische Stück ist ganz in meinem lateinischen;
ich gebe also

Ex integra Graeca integram Comoediam.

Die Bedeutung, die Faerne dem Worte integra in einer alten Glosse gegeben
fand, daß es soviel sein sollte als a nullo tacta, ist hier offenbar
falsch, weil sie sich nur auf das erste integra, aber keinesweges auf das
zweite integram schicken würde.--Und so glaube ich, daß sich meine
Vermutung und Auslegung wohl hören läßt! Nur wird man sich an die gleich
folgende Zeile stoßen:

Novam esse ostendi, et quae esset--

Man wird sagen: wenn Terenz bekennet, daß er das ganze Stück aus einem
einzigen Stücke des Menanders genommen habe, wie kann er eben durch
dieses Bekenntnis bewiesen zu haben vorgeben, daß sein Stück neu sei,
novam esse? Doch diese Schwierigkeit kann ich sehr leicht heben, und zwar
durch eine Erklärung ebendieser Worte, von welcher ich mich zu behaupten
getraue, daß sie schlechterdings die einzige wahre ist, ob sie gleich nur
mir zugehört, und kein Ausleger, soviel ich weiß, sie nur von weitem
vermutet hat. Ich sage nämlich: die Worte,

Novam esse ostendi, et quae esset--

beziehen sich keinesweges auf das, was Terenz den Vorredner in dem
vorigen sagen lassen; sondern man muß darunter verstehen, apud Aediles;
novus aber heißt hier nicht, was aus des Terenz eigenem Kopfe geflossen,
sondern bloß, was im Lateinischen noch nicht vorhanden gewesen. Daß mein
Stück, will er sagen, ein neues Stück sei, das ist, ein solches Stück,
welches noch nie lateinisch erschienen, welches ich selbst aus dem
Griechischen übersetzt, das habe ich den Ädilen, die mir es abgekauft,
bewiesen. Um mir hierin ohne Bedenken beizufallen, darf man sich nur an
den Streit erinnern, welchen er wegen seines "Eunuchus" vor den Ädilen
hatte. Diesen hatte er ihnen als ein neues, von ihm aus dem Griechischen
übersetztes Stück verkauft; aber sein Widersacher, Lavinius, wollte den
Ädilen überreden, daß er es nicht aus dem Griechischen, sondern aus zwei
alten Stücken des Nävius und Plautus genommen habe. Freilich hatte der
"Eunuchus" mit diesen Stücken vieles gemein; aber doch war die
Beschuldigung des Lavinius falsch; denn Terenz hatte nur aus eben der
griechischen Quelle geschöpft, aus welcher, ihm unwissend, schon Nävius
und Plautus vor ihm geschöpft hatten. Also, um dergleichen Verleumdungen
bei seinem "Heautontimorumenos" vorzubauen, was war natürlicher, als daß
er den Ädilen das griechische Original vorgezeigt und sie wegen des
Inhalts unterrichtet hatte? Ja, die Ädilen konnten das leicht selbst von
ihm gefodert haben. Und darauf geht das

Novam esse ostendi, et quae esset.

[6] Tusc. Quaest., lib. III. c. 27.

----Fußnote



Neunundachtzigstes Stück
Den 8. März 1768

Zuerst muß ich anmerken, daß Diderot seine Assertion ohne allen Beweis
gelassen hat. Er muß sie für eine Wahrheit angesehen haben, die kein
Mensch in Zweifel ziehen werde, noch könne; die man nur denken dürfe, um
ihren Grund zugleich mitzudenken. Und sollte er den wohl gar in den
wahren Namen der tragischen Personen gefunden haben? Weil diese Achilles
und Alexander und Cato und Augustus heißen und Achilles, Alexander, Cato,
Augustus wirkliche einzelne Personen gewesen sind: sollte er wohl daraus
geschlossen haben, daß sonach alles, was der Dichter in der Tragödie sie
sprechen und handeln läßt, auch nur diesen einzeln so genannten Personen,
und keinem in der Welt zugleich mit, müsse zukommen können? Fast scheint
es so. Aber diesen Irrtum hatte Aristoteles schon vor zweitausend Jahren
widerlegt und auf die ihr entgegenstehende Wahrheit den wesentlichen
Unterschied zwischen der Geschichte und Poesie, sowie den größern Nutzen
der letztern vor der ersten gegründet. Auch hat er es auf eine so
einleuchtende Art getan, daß ich nur seine Worte anführen darf, um keine
geringe Verwunderung zu erwecken, wie in einer so offenbaren Sache ein
Diderot nicht gleicher Meinung mit ihm sein könne.

"Aus diesen also", sagt Aristoteles,[1] nachdem er die wesentlichen
Eigenschaften der poetischen Fabel festgesetzt, "aus diesen also erhellet
klar, daß des Dichters Werk nicht ist, zu erzählen, was geschehen,
sondern zu erzählen, von welcher Beschaffenheit das Geschehene und was
nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit dabei möglich gewesen.
Denn Geschichtschreiber und Dichter unterscheiden sich nicht durch die
gebundene oder ungebundene Rede: indem man die Bücher des Herodotus in
gebundene Rede bringen kann und sie darum doch nichts weniger in
gebundener Rede eine Geschichte sein werden, als sie es in ungebundener
waren. Sondern darin unterscheiden sie sich, daß jener erzählet, was
geschehen; dieser aber, von welcher Beschaffenheit das Geschehene
gewesen. Daher ist denn auch die Poesie philosophischer und nützlicher
als die Geschichte. Denn die Poesie geht mehr auf das Allgemeine, und die
Geschichte auf das Besondere. Das Allgemeine aber ist, wie so oder so ein
Mann nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit sprechen und handeln
würde; als worauf die Dichtkunst bei Erteilung der Namen sieht. Das
Besondere hingegen ist, was Alcibiades getan oder gelitten hat. Bei der
Komödie nun hat sich dieses schon ganz offenbar gezeigt; denn wenn die
Fabel nach der Wahrscheinlichkeit abgefaßt ist, legt man die etwanigen
Namen sonach bei und macht es nicht wie die jambischen Dichter, die bei
dem Einzeln bleiben. Bei der Tragödie aber hält man sich an die schon
vorhandenen Namen; aus Ursache, weil das Mögliche glaubwürdig ist und wir
nicht möglich glauben, was nie geschehen, dahingegen was geschehen
offenbar möglich sein muß, weil es nicht geschehen wäre, wenn es nicht
möglich wäre. Und doch sind auch in den Tragödien, in einigen nur ein
oder zwei bekannte Namen, und die übrigen sind erdichtet; in einigen auch
gar keiner, so wie in der ›Blume‹ des Agathon. Denn in diesem Stücke sind
Handlungen und Namen gleich erdichtet, und doch gefällt es darum
nichts weniger."

In dieser Stelle, die ich nach meiner eigenen Übersetzung anführe, mit
welcher ich so genau bei den Worten geblieben bin, als möglich, sind
verschiedene Dinge, welche von den Auslegern, die ich noch zu Rate ziehen
können, entweder gar nicht oder falsch verstanden worden. Was davon hier
zur Sache gehört, muß ich mitnehmen.

Das ist unwidersprechlich, daß Aristoteles schlechterdings keinen
Unterschied zwischen den Personen der Tragödie und Komödie, in Ansehung
ihrer Allgemeinheit, macht. Die einen sowohl als die andern, und selbst
die Personen der Epopee nicht ausgeschlossen, alle Personen der
poetischen Nachahmung ohne Unterschied, sollen sprechen und handeln,
nicht wie es ihnen einzig und allein zukommen könnte, sondern so wie ein
jeder von ihrer Beschaffenheit in den nämlichen Umständen sprechen oder
handeln würde und müßte. In diesem [Greek: katholou], in dieser
Allgemeinheit liegt allein der Grund, warum die Poesie philosophischer
und folglich lehrreicher ist als die Geschichte; und wenn es wahr ist,
daß derjenige komische Dichter, welcher seinen Personen so eigene
Physiognomien geben wollte, daß ihnen nur ein einziges Individuum in der
Welt ähnlich wäre, die Komödie, wie Diderot sagt, wiederum in ihre
Kindheit zurücksetzen und in Satire verkehren würde: so ist es auch
ebenso wahr, daß derjenige tragische Dichter, welcher nur den und den
Menschen, nur den Cäsar, nur den Cato, nach allen den Eigentümlichkeiten,
die wir von ihnen wissen, vorstellen wollte, ohne zugleich zu zeigen, wie
alle diese Eigentümlichkeiten mit dem Charakter des Cäsar und Cato
zusammengehangen, der ihnen mit mehrern kann gemein sein, daß, sage ich,
dieser die Tragödie entkräften und zur Geschichte erniedrigen würde.

Aber Aristoteles sagt auch, daß die Poesie auf dieses Allgemeine der
Personen mit den Namen, die sie ihnen erteile, ziele ([Greek: ou
stochazetai ae poiaesis onomata epitithemenae]); welches sich besonders
bei der Komödie deutlich gezeigt habe. Und dieses ist es, was die
Ausleger dem Aristoteles nachzusagen sich begnügt, im geringsten aber
nicht erläutert haben. Wohl aber haben verschiedene sich so darüber
ausgedrückt, daß man klar sieht, sie müssen entweder nichts, oder etwas
ganz Falsches dabei gedacht haben. Die Frage ist: wie sieht die Poesie,
wenn sie ihren Personen Namen erteilt, auf das Allgemeine dieser
Personen? und wie ist diese ihre Rücksicht auf das Allgemeine der Person,
besonders bei der Komödie, schon längst sichtbar gewesen?

Die Worte: [Greek: esti de katholou men, to poio ta poi atta symbainei
legein, ae prattein kata to eikos, ae io anankaion, ou stochazetai ae
poiaesis onomata epitithemenae], übersetzt Dacier: Une chose générale,
c'est ce que tout homme d'un tel ou d'un tel caractère a dû dire, ou
faire vraisemblablement ou nécessairement, ce qui est le but de la poésie
lors même, qu'elle impose les noms à ses personnages. Vollkommen so
übersetzt sie auch Herr Curtius: "Das Allgemeine ist, was einer, vermöge
eines gewissen Charakters, nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit
redet oder tut. Dieses Allgemeine ist der Endzweck der Dichtkunst, auch
wenn sie den Personen besondere Namen beilegt.--Auch in ihrer Anmerkung
über diese Worte stehen beide für einen Mann; der eine sagt vollkommen
eben das, was der andere sagt. Sie erklären beide, was das Allgemeine
ist; sie sagen beide, daß dieses Allgemeine die Absicht der Poesie sei:
aber wie die Poesie bei Erteilung der Namen auf dieses Allgemeine sieht,
davon sagt keiner ein Wort. Vielmehr zeigt der Franzose durch sein lors
même, sowie der Deutsche durch sein auch wenn, offenbar, daß sie nichts
davon zu sagen gewußt, ja, daß sie gar nicht einmal verstanden, was
Aristoteles sagen wollen. Denn dieses lors même, dieses auch wenn, heißt
bei ihnen nichts mehr als ob schon; und sie lassen den Aristoteles sonach
bloß sagen, daß ungeachtet die Poesie ihren Personen Namen von einzeln
Personen beilege, sie demohngeachtet nicht auf das Einzelne dieser
Personen, sondern auf das Allgemeine derselben gehe. Die Worte des
Dacier, die ich in der Note anführen will,[2] zeigen dieses deutlich. Nun
ist es wahr, daß dieses eigentlich keinen falschen Sinn macht; aber es
erschöpft doch auch den Sinn des Aristoteles hier nicht. Nicht genug, daß
die Poesie, ungeachtet der von einzeln Personen genommenen Namen, auf das
Allgemeine gehen kann: Aristoteles sagt, daß sie mit diesen Namen selbst
auf das Allgemeine ziele, [Greek: ou stochazetai]. Ich sollte doch wohl
meinen, daß beides nicht einerlei wäre. Ist es aber nicht einerlei: so
gerät man notwendig auf die Frage: wie zielt sie darauf? Und auf diese
Frage antworten die Ausleger nichts.


----Fußnote

[1] Dichtk., 9. Kapitel.

[2] Aristote prévient ici une objection, qu'on pouvait lui faire, sur la
définition qu'il vient de donner d'une chose générale: car les ignorants
n'auraient pas manqué de lui dire qu'Homère, par exemple, n'a point en
vue d'écrire une action générale et universelle, mais une action
particulière, puisqu'il raconte ce qu'ont fait de certains hommes comme
Achille, Agamemnon, Ulysse, etc. et que par conséquent, il n'y a aucune
différence entre Homère et un Historien, qui aurait écrit les actions
d'Achille. Le Philosophe va au-devant de cette objection, en faisant voir
que les Poètes, c'est-à-dire, les Auteurs d'une Tragédie ou d'un Poème
Épique lors même qu'ils imposent les noms à leurs personnages ne pensent
en aucune manière à les faire parler véritablement, ce qu'ils seraient
obligés de faire, s'ils écrivaient les actions particulières et
véritables d'un certain homme, nommé Achille ou Edipe, mais qu'ils se
proposent de les faire parler et agir nécessairement ou vraisemblablement;
c'est-à-dire, de leur faire dire et faire tout ce que des hommes de ce même
caractère doivent faire et dire en cet état, ou par nécessité, ou au moins
selon les règles de la vraisemblance; ce qui prouve incontestablement que
ce sont des actions générales et universelles. Nichts anders sagt auch Herr
Curtius in seiner Anmerkung; nur daß er das Allgemeine und Einzelne noch an
Beispielen zeigen wollen, die aber nicht so recht beweisen, daß er auf den
Grund der Sache gekommen. Denn ihnen zufolge würden es nur personifierte
Charaktere sein, welche der Dichter reden und handeln ließe, da es doch
charakterisierte Personen sein sollen.

----Fußnote



Neunzigstes Stück
Den 11. März 1768

Wie sie darauf ziele, sagt Aristoteles, dieses habe ich schon längst an
der Komödie deutlich gezeigt: [Greek: Hepi men oun taes komodias aedae
touto daelon gegonen sustaesantes gar ton mython dia ton eikoton, outo ta
tychonta onomata epititheasi, chai ouch osper oi iambopoioi peri ton
kath' ekaston poiousin]. Ich muß auch hiervon die Übersetzungen des
Dacier und Curtius anführen. Dacier sagt: C'est ce qui est déjà rendu
sensible dans la comédie, car les poètes comiques, après avoir dressé
leur sujet sur la vraisemblance, imposent après cela à leurs personnages
tels noms qu'il leur plaît, et n'imitent pas les poètes satyriques, qui
ne s'attachent qu'aux choses particulières. Und Curtius: "In dem
Lustspiele ist dieses schon lange sichtbar gewesen. Denn wenn die
Komödienschreiber den Plan der Fabel nach der Wahrscheinlichkeit
entworfen haben, legen sie den Personen willkürliche Namen bei und setzen
sich nicht, wie die jambischen Dichter, einen besondern Vorwurf zum
Ziele." Was findet man in diesen Übersetzungen von dem, was Aristoteles
hier vornehmlich sagen will? Beide lassen ihn weiter nichts sagen, als
daß die komischen Dichter es nicht machten wie die jambischen, (das ist,
satirischen Dichter) und sich an das Einzelne hielten, sondern auf das
Allgemeine mit ihren Personen gingen, denen sie willkürliche Namen, tels
noms qu'il leur plaît, beilegten. Gesetzt nun auch, daß [Greek: ta
tychonta onomata] dergleichen Namen bedeuten könnten: wo haben denn beide
Übersetzer das "[Greek: outo]" gelassen? Schien ihnen denn dieses
"[Greek: outo]" gar nichts zu sagen? Und doch sagt es hier alles: denn
diesem "[Greek: outo]" zufolge legten die komischen Dichter ihren
Personen nicht allein willkürliche Namen bei, sondern sie legten ihnen
diese willkürliche Namen "so", [Greek: outo], bei. Und wie "so"? So, daß
sie mit diesen Namen selbst auf das Allgemeine zielten: [Greek: ou
stochazetai ae poiaesis onomata epitithemenae]. Und wie geschah das?
Davon finde man mir ein Wort in den Anmerkungen des Dacier und Curtius!

Ohne weitere Umschweife: es geschah so, wie ich nun sagen will. Die
Komödie gab ihren Personen Namen, welche, vermöge ihrer grammatischen
Ableitung und Zusammensetzung oder auch sonstigen Bedeutung die
Beschaffenheit dieser Personen ausdrückten: mit einem Worte, sie gab
ihnen redende Namen; Namen, die man nur hören durfte, um sogleich zu
wissen, von welcher Art die sein würden, die sie führen. Ich will eine
Stelle des Donatus hierüber anziehen. Nomina personarum, sagt er bei
Gelegenheit der ersten Zeile in dem ersten Aufzuge der "Brüder", in
comoediis duntaxat, habere debent rationem et etymologiam. Etenim
absurdum est, comicum aperte argumentum confingere: vel nomen personae
incongruum dare vel officium quod sit a nomine diversum.[1] Hinc servus
fidelis Parmeno: infidelis vel Syrus vel Geta: miles Thraso vel Polemon:
juvenis Pamphilus: matrona Myrrhina, et puer ab odore Storax: vel a ludo
et a gesticulatione Circus: et item similia. In quibus summum poetae
vitium est, si quid e contrario repugnans contrarium diversumque
protulerit, nisi per [Greek: antiorasin] nomen imposuerit joculariter, ut
Misargyrides in Plauto dicitur trapezita. Wer sich durch noch mehr
Beispiele hiervon überzeugen will, der darf nur die Namen bei dem Plautus
und Terenz untersuchen. Da ihre Stücke alle aus dem Griechischen genommen
sind: so sind auch die Namen ihrer Personen griechischen Ursprungs und
haben, der Etymologie nach, immer eine Beziehung auf den Stand, auf die
Denkungsart oder auf sonst etwas, was diese Personen mit mehrern gemein
haben können; wenn wir schon solche Etymologie nicht immer klar und
sicher angeben können.

Ich will mich bei einer so bekannten Sache nicht verweilen: aber wundern
muß ich mich, wie die Ausleger des Aristoteles sich ihrer gleichwohl da
nicht erinnern können, wo Aristoteles so unwidersprechlich auf sie
verweiset. Denn was kann nunmehr wahrer, was kann klärer sein, als was
der Philosoph von der Rücksicht sagt, welche die Poesie bei Erteilung der
Namen auf das Allgemeine nimmt? Was kann unleugbarer sein, als daß
[Greek: epi men taes komodias aedae touto daelon gegonen], daß sich
diese Rücksicht bei der Komödie besonders längst offenbar gezeigt habe?
Von ihrem ersten Ursprunge an, das ist, sobald sie die jambischen Dichter
von dem Besondern zu dem Allgemeinen erhoben, sobald aus der
beleidigenden Satire die unterrichtende Komödie entstand: suchte man
jenes Allgemeine durch die Namen selbst anzudeuten. Der großsprecherische
feige Soldat hieß nicht wie dieser oder jener Anführer aus diesem oder
jenem Stamme: er hieß Pyrgopolinices, Hauptmann Mauerbrecher. Der elende
Schmarutzer, der diesem um das Maul ging, hieß nicht, wie ein gewisser
armer Schlucker in der Stadt: er hieß Artotrogus, Brockenschröter. Der
Jüngling, welcher durch seinen Aufwand, besonders auf Pferde, den Vater
in Schulden setzte, hieß nicht, wie der Sohn dieses oder jenes edeln
Bürgers: er hieß Phidippides, Junker Sparroß.

Man könnte einwenden, daß dergleichen bedeutende Namen wohl nur eine
Erfindung der neuern griechischen Komödie sein dürften, deren Dichtern
es ernstlich verboten war, sich wahrer Namen zu bedienen; daß aber
Aristoteles diese neuere Komödie nicht gekannt habe und folglich bei
seinen Regeln keine Rücksicht auf sie nehmen können. Das letztere
behauptet Hurd;[2] aber es ist ebenso falsch, als falsch es ist, daß die
ältere griechische Komödie sich nur wahrer Namen bedient habe. Selbst in
denjenigen Stücken, deren vornehmste, einzige Absicht es war, eine
gewisse bekannte Person lächerlich und verhaßt zu machen, waren, außer
dem wahren Namen dieser Person, die übrigen fast alle erdichtet, und mit
Beziehung auf ihren Stand und Charakter erdichtet.


----Fußnote

[1] Diese Periode könnte leicht sehr falsch verstanden werden. Nämlich
wenn man sie so verstehen wollte, als ob Donatus auch das für etwas
Ungereimtes hielte, Comicum aperte argumentum confingere. Und das ist
doch die Meinung des Donatus gar nicht. Sondern er will sagen: es würde
ungereimt sein, wenn der komische Dichter, da er seinen Stoff offenbar
erfindet, gleichwohl den Personen unschickliche Namen oder Beschäftigungen
beilegen wollte, die mit ihren Namen stritten. Denn freilich, da der Stoff
ganz von der Erfindung des Dichters ist, so stand es ja einzig und allein
bei ihm, was er seinen Personen für Namen beilegen, oder was er mit diesen
Namen für einen Stand oder für eine Verrichtung verbinden wollte. Sonach
dürfte sich vielleicht Donatus auch selbst so zweideutig nicht ausgedrückt
haben; und mit Veränderung einer einzigen Silbe ist dieser Anstoß vermieden.
Man lese nämlich entweder: Absurdum est, Comicum aperte argumentum
confingentem vel nomen personae etc. Oder auch aperte argumentum confingere
et nomen personae u.s.w.

[2] Hurd in seiner Abhandlung über die verschiedenen Gebiete des Drama:
From the account of Comedy, here given, it may appear, that the idea of
this drama is much enlarged beyond what it was in Aristotle's time; who
defines it to be, an imitation of light and trivial actions, provoking
ridicule. His notion was taken from the state and practice of the
Athenian stage; that is from the old or middle comedy, which answer to
this description. The great revolution, which the introduction of the new
comedy made in the drama, did not happen till afterwards. Aber dieses
nimmt Hurd bloß an, damit seine Erklärung der Komödie mit der
Aristotelischen nicht so geradezu zu streiten scheine. Aristoteles hat
die Neue Komödie allerdings erlebt, und er gedenkt ihrer namentlich in
der Moral an den Nikomachus, wo er von dem anständigen und unanständigen
Scherze handelt. (Lib. IV. cap. 14.) [Greek: Idoi d' an tis kai ek ton
komodion ton palaion kai ton kainon. Tois men gar aen geloion ae
aischrologia, tois de mallon ae hyponoia]. Man könnte zwar sagen, daß
unter der Neuen Komödie hier die Mittlere verstanden werde; denn als noch
keine Neue gewesen, habe notwendig die Mittlere die Neue heißen müssen.
Man könnte hinzusetzen, daß Aristoteles in eben der Olympiade gestorben,
in welcher Menander sein erstes Stück aufführen lassen, und zwar noch das
Jahr vorher. (Eusebius in Chronico ad Olymp. CXIV. 4.) Allein man hat
unrecht, wenn man den Anfang der Neuen Komödie von dem Menander rechnet;
Menander war der erste Dichter dieser Epoche, dem poetischen Werte nach,
aber nicht der Zeit nach. Philemon, der dazugehört schrieb viel früher,
und der Übergang von der Mittleren zur Neuen Komödie war so unmerklich,
daß es dem Aristoteles unmöglich an Mustern derselben kann gefehlt haben.
Aristophanes selbst hatte schon ein solches Muster gegeben; sein
"Kokalos" war so beschaffen, wie ihn Philemon sich mit wenigen
Veränderungen zueignen konnte: Kokalon heißt es in dem "Leben des
Aristophanes", [Greek: en ho eisagei phthoran kai anagnorismon, kai
talla panta a ezaelose Menandros]. Wie nun also Aristophanes Muster von
allen verschiedenen Abänderungen der Komödie gegeben, so konnte auch
Aristoteles seine Erklärung der Komödie überhaupt auf sie alle
einrichten. Das tat er denn; und die Komödie hat nachher keine
Erweiterung bekommen, für welche diese Erklärung zu enge geworden wäre.
Hurd hätte sie nur recht verstehen dürfen, und er würde gar nicht nötig
gehabt haben, um seine an und für sich richtigen Begriffe von der Komödie
außer allen Streit mit den Aristotelischen zu setzen, seine Zuflucht zu
der vermeintlichen Unerfahrenheit des Aristoteles zu nehmen.

----Fußnote



Einundneunzigstes Stück
Den 15. März 1768

Ja die wahren Namen selbst, kann man sagen, gingen nicht selten mehr auf
das Allgemeine, als auf das Einzelne. Unter dem Namen Sokrates wollte
Aristophanes nicht den einzeln Sokrates, sondern alle Sophisten, die sich
mit Erziehung junger Leute bemengten, lächerlich und verdächtig machen.
Der gefährliche Sophist überhaupt war sein Gegenstand, und er nannte
diesen nur Sokrates, weil Sokrates als ein solcher verschrien war. Daher
eine Menge Züge, die auf den Sokrates gar nicht paßten; so daß Sokrates
in dem Theater getrost aufstehen und sich der Vergleichung preisgeben
konnte! Aber wie sehr verkennt man das Wesen der Komödie, wenn man diese
nicht treffende Züge für nichts als mutwillige Verleumdungen erklärt und
sie durchaus dafür nicht erkennen will, was sie doch sind, für
Erweiterungen des einzeln Charakters, für Erhebungen des Persönlichen zum
Allgemeinen!

Hier ließe sich von dem Gebrauche der wahren Namen in der griechischen
Komödie überhaupt verschiednes sagen, was von den Gelehrten so genau noch
nicht auseinandergesetzt worden, als es wohl verdiente. Es ließe sich
anmerken, daß dieser Gebrauch keinesweges in der ältern griechischen
Komödie allgemein gewesen,[1] daß sich nur der und jener Dichter
gelegentlich desselben erkühnet,[2] daß er folglich nicht als ein
unterscheidendes Merkmal dieser Epoche der Komödie zu betrachten. [3]
Es ließe sich zeigen, daß, als er endlich durch ausdrückliche Gesetze
untersagt war, doch noch immer gewisse Personen von dem Schutze dieser
Gesetze entweder namentlich ausgeschlossen waren, oder doch
stillschweigend für ausgeschlossen gehalten wurden. In den Stücken des
Menanders selbst wurden noch Leute genug bei ihren wahren Namen genannt
und lächerlich gemacht.[4] Doch ich muß mich nicht aus einer
Ausschweifung in die andere verlieren.

Ich will nur noch die Anwendung auf die wahren Namen der Tragödie machen.
So wie der Aristophanische Sokrates nicht den einzeln Mann dieses Namens
vorstellte, noch vorstellen sollte; so wie dieses personifierte Ideal
einer eiteln und gefährlichen Schulweisheit nur darum den Namen Sokrates
bekam, weil Sokrates als ein solcher Täuscher und Verführer zum Teil
bekannt war, zum Teil noch bekannter werden sollte; so wie bloß der
Begriff von Stand und Charakter, den man mit dem Namen Sokrates verband
und noch näher verbinden sollte, den Dichter in der Wahl des Namens
bestimmte: so ist auch bloß der Begriff des Charakters, den wir mit den
Namen Regulus, Cato, Brutus zu verbinden gewohnt sind, die Ursache, warum
der tragische Dichter seinen Personen diese Namen erteilet. Er führt
einen Regulus, einen Brutus auf, nicht um uns mit den wirklichen
Begegnissen dieser Männer bekanntzumachen, nicht um das Gedächtnis
derselben zu erneuern: sondern um uns mit solchen Begegnissen zu
unterhalten, die Männern von ihrem Charakter überhaupt begegnen können
und müssen. Nun ist zwar wahr, daß wir diesen ihren Charakter aus ihren
wirklichen Begegnissen abstrahieret haben: es folgt aber daraus nicht,
daß uns auch ihr Charakter wieder auf ihre Begegnisse zurückführen müsse;
er kann uns nicht selten weit kürzer, weit natürlicher auf ganz andere
bringen, mit welchen jene wirkliche weiter nichts gemein haben, als daß
sie mit ihnen aus einer Quelle, aber auf unzuverfolgenden Umwegen und
über Erdstriche hergeflossen sind, welche ihre Lauterheit verdorben
haben. In diesem Falle wird der Poet jene erfundene den wirklichen
schlechterdings vorziehen, aber den Personen noch immer die wahren Namen
lassen. Und zwar aus einer doppelten Ursache: einmal, weil wir schon
gewohnt sind, bei diesen Namen einen Charakter zu denken, wie er ihn in
seiner Allgemeinheit zeiget; zweitens, weil wirklichen Namen auch
wirkliche Begebenheiten anzuhängen scheinen und alles, was einmal
geschehen, glaubwürdiger ist, als was nicht geschehen. Die erste dieser
Ursachen fließt aus der Verbindung der Aristotelischen Begriffe
überhaupt; sie liegt zum Grunde, und Aristoteles hatte nicht nötig, sich
umständlicher bei ihr zu verweilen; wohl aber bei der zweiten, als einer
von anderwärts noch dazukommenden Ursache. Doch diese liegt itzt außer
meinem Wege, und die Ausleger insgesamt haben sie weniger
mißverstanden als jene.

Nun also auf die Behauptung des Diderot zurückzukommen. Wenn ich die
Lehre des Aristoteles richtig erklärt zu haben glauben darf: so darf ich
auch glauben, durch meine Erklärung bewiesen zu haben, daß die Sache
selbst unmöglich anders sein kann, als sie Aristoteles lehret. Die
Charaktere der Tragödie müssen ebenso allgemein sein, als die Charaktere
der Komödie. Der Unterschied, den Diderot behauptet, ist falsch: oder
Diderot muß unter der Allgemeinheit eines Charakters ganz etwas anders
verstehen, als Aristoteles darunter verstand.


----Fußnote

[1] Wenn, nach dem Aristoteles, das Schema der Komödie von dem Margites
des Homer, [Greek: ou psogon alla to geloion dramatopoiaesantos], genommen
worden, so wird man, allem Ansehen nach, auch gleich anfangs die
erdichteten Namen mit eingeführt haben. Denn Margites war wohl nicht der
wahre Name einer gewissen Person, indem [Greek: Margeitaes] wohl eher von
[Greek: margaes] gemacht worden, als daß [Greek: margaes] von [Greek:
Margeitaes] sollte entstanden sein. Von verschiednen Dichtern der alten
Komödie finden wir es auch ausdrücklich angemerkt, daß sie sich aller
Anzüglichkeiten enthalten, welches bei wahren Namen nicht möglich gewesen
wäre. z.E. von dem Pherekrates.

[2] Die persönliche und namentliche Satire war so wenig eine wesentliche
Eigenschaft der alten Komödie, daß man vielmehr denjenigen ihrer Dichter
gar wohl kennet, der sich ihrer zuerst erkühnet. Es war Cratinus, welcher
zuerst [Greek: to charienti taes komodias to ophelimon prosethaeke,
tous kakos prattontas diaballon, kai osper daemosia mastigi tae
komodia kolazon]. Und auch dieser wagte sich nur anfangs an gemeine,
verworfene Leute, von deren Ahndung er nichts zu befürchten hatte.
Aristophanes wollte sich die Ehre nicht nehmen lassen, daß er es sei,
welcher sich zuerst an die Großen des Staats gewagt habe (Ir. v. 750.):
[Greek: Ouch idiotas anthropischous komodon, oude gynaikas, All'
Haerakleous orgaen tin' echon toisi megistois epicheirei].

[3] Ja er hätte lieber gar diese Kühnheit als sein eigenes Privilegium
betrachten mögen. Er war höchst eifersüchtig, als er sahe, daß ihm so
viele andere Dichter, die er verachtete, darin nachfolgten.

[4] Welches gleichwohl fast immer geschieht. Ja man geht noch weiter und
will behaupten, daß mit den wahren Namen auch wahre Begebenheiten
verbunden gewesen, an welchen die Erfindung des Dichters keinen Teil
gehabt. Dacier selbst sagt: Aristote n'a pu vouloir dire qu'Epicharmus et
Phormis inventèrent les sujets de leurs pièces, puisque l'un et l'autre
ont été des Poètes de la vieille Comédie, où il n'y avait rien de feint,
et que ces aventures feintes ne commencèrent à être mises sur le théâtre,
que du temps d'Alexandre le Grand, c'est-à-dire dans la nouvelle Comédie.
(Remarque sur le Chap. V. de la Poét. d'Arist.) Man sollte glauben, wer
so etwas sagen könne, müßte nie auch nur einen Blick in den Aristophanes
getan haben. Das Argument, die Fabel der alten griechischen Komödie, war
ebensowohl erdichtet, als es die Argumente und Fabeln der neuen nur immer
sein konnten. Kein einziges von den übriggebliebenen Stücken des
Aristophanes stellt eine Begebenheit vor, die wirklich geschehen wäre;
und wie kann man sagen, daß sie der Dichter deswegen nicht erfunden, weil
sie zum Teil auf wirkliche Begebenheiten anspielt? Wenn Aristoteles als
ausgemacht annimmt, [Greek: oti ton poiaetaen mallon ton mython einai dei
poiaetaen ae ton metron]: würde er nicht schlechterdings die Verfasser
der alten griechischen Komödie aus der Klasse der Dichter haben
ausschließen müssen, wenn er geglaubt hätte, daß sie die Argumente ihrer
Stücke nicht erfunden? Aber so wie es, nach ihm, in der Tragödie gar wohl
mit der poetischen Erfindung bestehen kann, daß Namen und Umstände aus
der wahren Geschichte entlehnt sind: so muß es, seiner Meinung nach, auch
in der Komödie bestehen können. Es kann unmöglich seinen Begriffen gemäß
gewesen sein, daß die Komödie dadurch, daß sie wahre Namen brauche und
auf wahre Begebenheiten anspiele, wiederum in die jambische Schmähsucht
zurückfalle; vielmehr muß er geglaubt haben, daß sich das [Greek: katholou
poiein logous ae mythous] gar wohl damit vertrage. Er gesteht dieses den
ältesten komischen Dichtern, dem Epicharmus, dem Phormis und Krates zu und
wird es gewiß dem Aristophanes nicht abgesprochen haben, ob er schon wußte,
wie sehr er nicht allein den Kleon und Hyperbolus, sondern auch den Perikles
und Sokrates namentlich mitgenommen.

[5] Mit der Strenge, mit welcher Plato das Verbot, jemand in der Komödie
lächerlich zu machen, in seiner "Republik" einführen wollte ([Greek:
maete logo, maete eichoni, maete thymo, maete aneu thymou, maedamno
maedena ton politon komodein]) ist in der wirklichen Republik niemals
darüber gehalten worden. Ich will nicht anführen, daß in den Stücken des
Menander noch so mancher zynische Philosoph, noch so manche Buhlerin mit
Namen genennt ward; man könnte antworten, daß dieser Abschaum von
Menschen nicht zu den Bürgern gehört. Aber Ktesippus, der Sohn des
Chabrias, war doch gewiß atheniensischer Bürger so gut wie einer, und man
sehe, was Menander von ihm sagte. (Menandri Fr. p. 137. Edit. Cl.)

----Fußnote



Zweiundneunzigstes Stück
Den 18. März 1768

Und warum könnte das letztere nicht sein? Finde ich doch noch einen
andern, nicht minder trefflichen Kunstrichter, der sich fast ebenso
ausdrückt als Diderot, fast ebenso geradezu dem Aristoteles zu
widersprechen scheint, und gleichwohl im Grunde so wenig widerspricht,
daß ich ihn vielmehr unter allen Kunstrichtern für denjenigen erkennen
muß, der noch das meiste Licht über diese Materie verbreitet hat.

Es ist dieses der englische Kommentator der Horazischen Dichtkunst, Hurd;
ein Schriftsteller aus derjenigen Klasse, die durch Übersetzungen bei uns
immer am spätesten bekannt werden. Ich möchte ihn aber hier nicht gern
anpreisen, um diese seine Bekanntmachung zu beschleunigen. Wenn der
Deutsche, der ihr gewachsen wäre, sich noch nicht gefunden hat: so
dürften vielleicht auch der Leser unter uns noch nicht viele sein, denen
daran gelegen wäre. Der fleißige Mann, voll guten Willens, übereile sich
also lieber damit nicht und sehe, was ich von einem noch unübersetzten
guten Buche hier sage, ja für keinen Wink an, den ich seiner allezeit
fertigen Feder geben wollen.

Hurd hat seinem Kommentar eine Abhandlung "Über die verschiednen Gebiete
des Drama" beigefügt. Denn er glaubte bemerkt zu haben, daß bisher nur
die allgemeinen Gesetze dieser Dichtungsart in Erwägung gezogen worden,
ohne die Grenzen der verschiednen Gattungen derselben festzusetzen.
Gleichwohl müsse auch dieses geschehen, um von dem eigenen Verdienste
einer jeden Gattung insbesondere ein billiges Urteil zu fällen. Nachdem
er also die Absicht des Drama überhaupt, und der drei Gattungen
desselben, die er vor sich findet, der Tragödie, der Komödie und des
Possenspiels, insbesondere festgesetzt: so folgert er, aus jener
allgemeinen und aus diesen besondern Absichten, sowohl diejenigen
Eigenschaften, welche sie unter sich gemein haben, als diejenigen, in
welchen sie voneinander unterschieden sein müssen.

Unter die letztern rechnet er, in Ansehung der Komödie und Tragödie, auch
diese, daß der Tragödie eine wahre, der Komödie hingegen eine erdichtete
Begebenheit zuträglicher sei. Hierauf fährt er fort: The same genius in
the two dramas is observable, in their draught of characters. Comedy
makes all its characters general; tragedy, particular. The Avare of
Moliere is not so properly the picture of a covetous man, as of
covetousness itself. Racine's Nero on the other hand, is not a picture of
cruelty, but of a cruel man. d.I.: "In dem nämlichen Geiste schildern
die zwei Gattungen des Drama auch ihre Charaktere. Die Komödie macht alle
ihre Charaktere general; die Tragödie partikulär. Der Geizige des Molière
ist nicht so eigentlich das Gemälde eines geizigen Mannes, als des Geizes
selbst. Racines Nero hingegen ist nicht das Gemälde der Grausamkeit,
sondern nur eines grausamen Mannes."

Hurd scheinet so zu schließen: wenn die Tragödie eine wahre Begebenheit
erfodert, so müssen auch ihre Charaktere wahr, das ist, so beschaffen
sein, wie sie wirklich in den Individuis existieren; wenn hingegen die
Komödie sich mit erdichteten Begebenheiten begnügen kann, wenn ihr
wahrscheinliche Begebenheiten, in welchen sich die Charaktere nach allem
ihrem Umfange zeigen können, lieber sind, als wahre, die ihnen einen so
weiten Spielraum nicht erlauben, so dürfen und müssen auch ihre
Charaktere selbst allgemeiner sein, als sie in der Natur existieren;
angesehen dem Allgemeinen selbst in unserer Einbildungskraft eine Art von
Existenz zukömmt, die sich gegen die wirkliche Existenz des Einzeln eben
wie das Wahrscheinliche zu dem Wahren verhält.

Ich will itzt nicht untersuchen, ob diese Art zu schließen nicht ein
bloßer Zirkel ist: ich will die Schlußfolge bloß annehmen, so wie sie da
liegt und wie sie der Lehre des Aristoteles schnurstracks zu
widersprechen scheint. Doch, wie gesagt, sie scheint es bloß, welches aus
der weitern Erklärung des Hurd erhellet.

"Es wird aber", fährt er fort, "hier dienlich sein, einer doppelten
Verstoßung vorzubauen, welche der eben angeführte Grundsatz zu
begünstigen scheinen könnte.

Die erste betrifft die Tragödie, von der ich gesagt habe, daß sie
partikuläre Charaktere zeige. Ich meine, ihre Charaktere sind
partikulärer, als die Charaktere der Komödie. Das ist: die Absicht der
Tragödie verlangt es nicht und erlaubt es nicht, daß der Dichter von den
charakteristischen Umständen, durch welche sich die Sitten schildern, so
viele zusammenzieht, als die Komödie. Denn in jener wird von dem
Charakter nicht mehr gezeigt, als soviel der Verlauf der Handlung
unumgänglich erfodert. In dieser hingegen werden alle Züge, durch die er
sich zu unterscheiden pflegt, mit Fleiß aufgesucht und angebracht.

Es ist fast wie mit dem Porträtmalen. Wenn ein großer Meister ein
einzelnes Gesicht abmalen soll, so gibt er ihm alle die Lineamente, die
er in ihm findet, und macht es Gesichtern von der nämlichen Art nur so
weit ähnlich, als es ohne Verletzung des allergeringsten eigentümlichen
Zuges geschehen kann. Soll ebenderselbe Künstler hingegen einen Kopf
überhaupt malen, so wird er alle die gewöhnlichen Mienen und Züge
zusammen anzubringen suchen, von denen er in der gesamten Gattung bemerkt
hat, daß sie die Idee am kräftigsten ausdrücken, die er sich itzt in
Gedanken gemacht hat und in seinem Gemälde darstellen will.

Ebenso unterscheiden sich die Schildereien der beiden Gattungen des
Drama: woraus denn erhellet, daß, wenn ich den tragischen Charakter
partikular nenne, ich bloß sagen will, daß er die Art, zu welcher er
gehöret, weniger vorstellig macht als der komische; nicht aber, daß das,
was man von dem Charakter zu zeigen für gut befindet, es mag nun so wenig
sein, als es will, nicht nach dem Allgemeinen entworfen sein sollte, als
wovon ich das Gegenteil anderwärts behauptet und umständlich
erläutert habe.[1]

Was zweitens die Komödie anbelangt, so habe ich gesagt, daß sie generale
Charaktere geben müsse, und habe zum Beispiele den Geizigen des Molière
angeführt, der mehr der Idee des Geizes, als eines wirklichen geizigen
Mannes entspricht. Doch auch hier muß man meine Worte nicht in aller
ihrer Strenge nehmen. Molière dünkt mich in diesem Beispiele selbst
fehlerhaft; ob es schon sonst, mit der erforderlichen Erklärung, nicht
ganz unschicklich sein wird, meine Meinung begreiflich zu machen.

Da die komische Bühne die Absicht hat, Charaktere zu schildern, so meine
ich, kann diese Absicht am vollkommensten erreicht werden, wenn sie diese
Charaktere so allgemein macht, als möglich. Denn indem auf diese Weise
die in dem Stücke aufgeführte Person gleichsam der Repräsentant aller
Charaktere dieser Art wird, so kann unsere Lust an der Wahrheit der
Vorstellung so viel Nahrung darin finden, als nur möglich. Es muß aber
sodann diese Allgemeinheit sich nicht bis auf unsern Begriff von den
möglichen Wirkungen des Charakters, im Abstracto betrachtet, erstrecken,
sondern nur bis auf die wirkliche Äußerung seiner Kräfte, so wie sie von
der Erfahrung gerechtfertiget werden und im gemeinen Leben stattfinden
können. Hierin haben Molière, und vor ihm Plautus, gefehlt; statt der
Abbildung eines geizigen Mannes, haben sie uns eine grillenhafte widrige
Schilderung der Leidenschaft des Geizes gegeben. Ich nenne es eine
grillenhafte Schilderung, weil sie kein Urbild in der Natur hat. Ich
nenne es eine widrige Schilderung; denn da es die Schilderung einer
einfachen unvermischten Leidenschaft ist, so fehlen ihr alle die Lichter
und Schatten, deren richtige Verbindung allein ihr Kraft und Leben
erteilen könnte. Diese Lichter und Schatten sind die Vermischung
verschiedener Leidenschaften, welche mit der vornehmsten oder
herrschenden Leidenschaft zusammen den menschlichen Charakter ausmachen;
und diese Vermischung muß sich in jedem dramatischen Gemälde von Sitten
finden, weil es zugestanden ist, daß das Drama vornehmlich das wirkliche
Leben abbilden soll. Doch aber muß die Zeichnung der herrschenden
Leidenschaft so allgemein entworfen sein, als es ihr Streit mit den
andern in der Natur nur immer zulassen will, damit der vorzustellende
Charakter sich desto kräftiger ausdrücke."


----Fußnote

[1] Bei den Versen der Horazischen Dichtkunst: Respicere exemplar vitae
morumque jubebo Doctum imitatorum, et veras hinc ducere voces, wo Hurd
zeigt, daß die Wahrheit, welche Horaz hier verlangt, einen solchen
Ausdruck bedeute, als der allgemeinen Natur der Dinge gemäß ist;
Falschheit hingegen das heiße, was zwar dem vorhabenden besondern Falle
angemessen, aber nicht mit jener allgemeinen Natur übereinstimmend sei.

----Fußnote



Dreiundneunzigstes Stück
Den 22. März 1768

"Alles dieses läßt sich abermals aus der Malerei sehr wohl erläutern. In
charakteristischen Porträten, wie wir diejenigen nennen können, welche
eine Abbildung der Sitten geben sollen, wird der Artist, wenn er ein Mann
von wirklicher Fähigkeit ist, nicht auf die Möglichkeit einer abstrakten
Idee losarbeiten. Alles was er sich vornimmt zu zeigen, wird dieses sein,
daß irgendeine Eigenschaft die herrschende ist; diese drückt er stark,
und durch solche Zeichen aus, als sich in den Wirkungen der herrschenden
Leidenschaft am sichtbarsten äußern. Und wenn er dieses getan hat, so
dürfen wir, nach der gemeinen Art zu reden, oder, wenn man will, als ein
Kompliment gegen seine Kunst, gar wohl von einem solchen Porträte sagen,
daß es uns nicht sowohl den Menschen, als die Leidenschaft zeige; gerade
so wie die Alten von der berühmten Bildsäule des Apollodorus vom Silanion
angemerkt haben, daß sie nicht sowohl den zornigen Apollodorus, als die
Leidenschaft des Zornes vorstelle.[1] Dieses aber muß bloß so verstanden
werden, daß er die hauptsächlichen Züge der vorgebildeten Leidenschaft
gut ausgedrückt habe. Denn im übrigen behandelt er seinen Vorwurf ebenso,
wie er jeden andern behandeln würde: das ist, er vergißt die
mitverbundenen Eigenschaften nicht und nimmt das allgemeine Ebenmaß und
Verhältnis, welches man an einer menschlichen Figur erwartet, in acht.
Und das heißt denn die Natur schildern, welche uns kein Beispiel von
einem Menschen gibt, der ganz und gar in eine einzige Leidenschaft
verwandelt wäre. Keine Metamorphosis könnte seltsamer und unglaublicher
sein. Gleichwohl sind Porträte, in diesem tadelhaften Geschmacke
verfertiget, die Bewunderung gemeiner Gaffer, die, wenn sie in einer
Sammlung das Gemälde, z.E. eines Geizigen (denn ein gewöhnlicheres gibt
es wohl in dieser Gattung nicht), erblicken und nach dieser Idee jede
Muskel, jeden Zug angestrenget, verzerret und überladen finden,
sicherlich nicht ermangeln, ihre Billigung und Bewunderung darüber zu
äußern.--Nach diesem Begriffe der Vortrefflichkeit würde Le Bruns Buch
von den Leidenschaften eine Folge der besten und richtigsten moralischen
Porträte enthalten: und die Charaktere des Theophrasts müßten, in Absicht
auf das Drama, den Charakteren des Terenz weit vorzuziehen sein.

Über das erstere dieser Urteile würde jeder Virtuose in den bildenden
Künsten unstreitig lachen. Das letztere aber, fürchte ich, dürften wohl
nicht alle so seltsam finden; wenigstens nach der Praxis verschiedener
unserer besten komischen Schriftsteller und nach dem Beifalle zu
urteilen, welchen dergleichen Stücke gemeiniglich gefunden haben. Es
ließen sich leicht fast aus allen charakteristischen Komödien Beispiele
anführen. Wer aber die Ungereimtheit, dramatische Sitten nach abstrakten
Ideen auszuführen, in ihrem völligen Lichte sehen will, der darf nur Ben
Jonsons 'Jedermann aus seinem Humor'[2] vor sich nehmen; welches ein
charakteristisches Stück sein soll, in der Tat aber nichts als eine
unnatürliche und, wie es die Maler nennen würden, harte Schilderung einer
Gruppe von für sich bestehenden Leidenschaften ist, wovon man das Urbild
in dem wirklichen Leben nirgends findet. Dennoch hat diese Komödie immer
ihre Bewunderer gehabt; und besonders muß Randolph von ihrer Einrichtung
sehr bezaubert gewesen sein, weil er sie in seinem 'Spiegel der Muse'
ausdrücklich nachgeahmet zu haben scheint.

Auch hierin, müssen wir anmerken, ist Shakespeare, so wie in allen andern
noch wesentlichern Schönheiten des Drama, ein vollkommenes Muster. Wer
seine Komödien in dieser Absicht aufmerksam durchlesen will, wird finden,
daß seine auch noch so kräftig gezeichneten Charaktere, den größten Teil
ihrer Rollen durch, sich vollkommen wie alle andere ausdrücken und ihre
wesentlichen und herrschenden Eigenschaften nur gelegentlich, so wie die
Umstände eine ungezwungene Äußerung veranlassen, an den Tag legen. Diese
besondere Vortrefflichkeit seiner Komödien entstand daher, daß er die
Natur getreulich kopierte und sein reges und feuriges Genie auf alles
aufmerksam war, was ihm in dem Verlaufe der Szenen Dienliches aufstoßen
konnte: dahingegen Nachahmung und geringere Fähigkeiten kleine Skribenten
verleiten, sich um die Fertigkeit zu beeifern, diesen einen Zweck keinen
Augenblick aus dem Gesichte zu lassen und mit der ängstlichen Sorgfalt
ihre Lieblingscharaktere in beständigem Spiele und ununterbrochner
Tätigkeit zu erhalten. Man könnte über diese ungeschickte Anstrengung
ihres Witzes sagen, daß sie mit den Personen ihres Stücks nicht anders
umgehen, als gewisse spaßhafte Leute mit ihren Bekannten, denen sie mit
ihren Höflichkeiten so zusetzen, daß sie ihren Anteil an der allgemeinen
Unterhaltung gar nicht nehmen können, sondern nur immer, zum Vergnügen
der Gesellschaft, Sprünge und Männerchen machen müssen."


----Fußnote

[1] Non hominem ex aere iecit, sed iracundiam. Plinius libr. 34. 8.

[2] Beim B. Jonson sind zwei Komödien, die er vom Humor benennt hat;
die eine "Every Man in his Humour" und die andere "Every Man out of
his Humour". Das Wort Humor war zu seiner Zeit aufgekommen und wurde
auf die lächerlichste Weise gemißbraucht. Sowohl diesen Mißbrauch als
den eigentlichen Sinn desselben bemerkt er in folgender Stelle selbst:

    As when some one peculiar quality
    Doth so possess a Man, that it doth draw
    All his affects, his spirits, and his powers,
    In their constructions, all to run one way.
    This may be truly said to be a humour.
    But that a rook by wearing a py'd feather,
    The cable hatband, or the three-pil'd ruff,
    A yard of shoe-tye, or the Switzer's knot
    On bis French garters, should affect a humour!
    O, it is more than most rediculous.

[3] In der Geschichte des Humors sind beide Stücke des Jonson also sehr
wichtige Dokumente, und das letztere noch mehr als das erstere. Der
Humor, den wir den Engländern itzt so vorzüglich zuschreiben, war damals
bei ihnen großenteils Affektation; und vornehmlich diese Affektation
lächerlich zu machen, schilderte Jonson Humor. Die Sache genau zu nehmen,
müßte auch nur der affektierte, und nie der wahre Humor ein Gegenstand
der Komödie sein. Denn nur die Begierde, sich von andern auszuzeichnen,
sich durch etwas Eigentümliches merkbar zu machen, ist eine allgemeine
menschliche Schwachheit, die, nach Beschaffenheit der Mittel, welche sie
wählt, sehr lächerlich oder auch sehr strafbar werden kann. Das aber,
wodurch die Natur selbst oder eine anhaltende zur Natur gewordene
Gewohnheit einen einzeln Menschen von allen andern auszeichnet, ist viel
zu speziell, als daß es sich mit der allgemeinen philosophischen Absicht
des Drama vertragen könnte. Der überhäufte Humor in vielen englischen
Stücken dürfte sonach auch wohl das Eigene, aber nicht das Bessere
derselben sein. Gewiß ist es, daß sich in dem Drama der Alten keine Spur
von Humor findet. Die alten dramatischen Dichter wußten das Kunststück,
ihre Personen auch ohne Humor zu individualisieren, ja die alten Dichter
überhaupt. Wohl aber zeigen die alten Geschichtschreiber und Redner dann
und wann Humor: wenn nämlich die historische Wahrheit oder die Aufklärung
eines gewissen Fakti diese genaue Schilderung kaJ' ekaston erfodert. Ich
habe Exempel davon fleißig gesammelt, die ich auch bloß darum in Ordnung
bringen zu können wünschte, um gelegentlich einen Fehler
wiedergutzumachen, der ziemlich allgemein geworden ist. Wir übersetzen
nämlich itzt fast durchgängig Humor durch Laune; und ich glaube mir
bewußt zu sein, daß ich der erste bin, der es so übersetzt hat. Ich habe
sehr unrecht daran getan, und ich wünschte, daß man mir nicht gefolgt
wäre. Denn ich glaube es unwidersprechlich beweisen zu können, daß Humor
und Laune ganz verschiedene, ja in gewissem Verstande gerade
entgegengesetzte Dinge sind. Laune kann zu Humor werden; aber Humor ist,
außer diesem einzigen Falle, nie Laune. Ich hätte die Abstammung unsers
deutschen Worts und den gewöhnlichen Gebrauch desselben besser
untersuchen und genauer erwägen sollen. Ich schloß zu eilig, weil Laune
das französische Humeur ausdrücke, daß es auch das englische Humour
ausdrucken könnte; aber die Franzosen selbst können Humour nicht durch
Humeur übersetzen.--Von den genannten zwei Stücken des Jonson hat das
erste, "Jedermann in seinem Humor", den vom Hurd hier gerügten Fehler
weit weniger. Der Humor, den die Personen desselben zeigen, ist weder so
individuell, noch so überladen, daß er mit der gewöhnlichen Natur nicht
bestehen könnte; sie sind auch alle zu einer gemeinschaftlichen Handlung
so ziemlich verbunden. In dem zweiten hingegen, "Jedermann aus seinem
Humor", ist fast nicht die geringste Fabel; es treten eine Menge der
wunderlichsten Narren nacheinander auf, man weiß weder wie noch warum;
und ihr Gespräch ist überall durch ein paar Freunde des Verfassers
unterbrochen, die unter dem Namen Grex eingeführt sind und Betrachtung
über die Charaktere der Personen und über die Kunst des Dichters, sie zu
behandeln, anstellen. Das aus seinem Humor, out of his Humour, zeigt an,
daß alle die Personen in Umstände geraten, in welchen sie ihres Humors
satt und überdrüssig werden.


----Fußnote



Vierundneunzigstes Stück
Den 25. März 1768

Und so viel von der Allgemeinheit der komischen Charaktere und den
Grenzen dieser Allgemeinheit nach der Idee des Hurd!--Doch es wird nötig
sein, noch erst die zweite Stelle beizubringen, wo er erklärt zu haben
versichert, inwieweit auch den tragischen Charakteren, ob sie schon nur
partikular wären, dennoch eine Allgemeinheit zukomme: ehe wir den Schluß
überhaupt machen können, ob und wie Hurd mit Diderot, und beide mit dem
Aristoteles übereinstimmen.

"Wahrheit", sagt er, "heißt in der Poesie ein solcher Ausdruck, als der
allgemeinen Natur der Dinge gemäß ist; Falschheit hingegen ein solcher,
als sich zwar zu dem vorhabenden besondern Falle schicket, aber nicht mit
jener allgemeinen Natur übereinstimmet. Diese Wahrheit des Ausdrucks in
der dramatischen Poesie zu erreichen, empfiehlet Horaz[1] zwei Dinge:
einmal, die Sokratische Philosophie fleißig zu studieren; zweitens, sich
um eine genaue Kenntnis des menschlichen Lebens zu bewerben. Jenes, weil
es der eigentümliche Vorzug dieser Schule ist, ad veritatem vitae propius
accedere;[2] dieses, um unserer Nachahmung eine desto allgemeinere
Ähnlichkeit erteilen zu können. Sich hiervon zu überzeugen, darf man nur
erwägen, daß man sich in Werken der Nachahmung an die Wahrheit zu genau
halten kann; und dieses auf doppelte Weise. Denn entweder kann der
Künstler, wenn er die Natur nachbilden will, sich zu ängstlich
befleißigen, alle und jede Besonderheiten seines Gegenstandes anzudeuten,
und so die allgemeine Idee der Gattung auszudrücken verfehlen. Oder er
kann, wenn er sich diese allgemeine Idee zu erteilen bemüht, sie aus zu
vielen Fällen des wirklichen Lebens, nach seinem weitesten Umfange,
zusammensetzen; da er sie vielmehr von dem lautern Begriffe, der sich
bloß in der Vorstellung der Seele findet, hernehmen sollte. Dieses
letztere ist der allgemeine Tadel, womit die Schule der niederländischen
Maler zu belegen, als die ihre Vorbilder aus der wirklichen Natur, und
nicht, wie die italienische, von dem geistigen Ideale der Schönheit
entlehnet. [3] Jenes aber entspricht einem andern Fehler, den man
gleichfalls den niederländischen Meistern vorwirft und der dieser ist,
daß sie lieber die besondere, seltsame und groteske als die allgemeine
und reizende Natur sich zum Vorbilde wählen.

Wir sehen also, daß der Dichter, indem er sich von der eigenen und
besondern Wahrheit entfernet, desto getreuer die allgemeine Wahrheit
nachahmet. Und hieraus ergibt sich die Antwort auf jenen spitzfindigen
Einwurf, den Plato gegen die Poesie ausgegrübelt hatte und nicht ohne
Selbstzufriedenheit vorzutragen schien. Nämlich, daß die poetische
Nachahmung uns die Wahrheit nur sehr von weitem zeigen könne. Denn, der
poetische Ausdruck, sagt der Philosoph, ist das Abbild von des Dichters
eigenen Begriffen; die Begriffe des Dichters sind das Abbild der Dinge;
und die Dinge das Abbild des Urbildes, welches in dem göttlichen
Verstande existieret. Folglich ist der Ausdruck des Dichters nur das Bild
von dem Bilde eines Bildes und liefert uns ursprüngliche Wahrheit nur
gleichsam aus der dritten Hand. [4] Aber alle diese Vernünftelei fällt
weg, sobald man die nur gedachte Regel des Dichters gehörig fasset und
fleißig in Ausübung bringet. Denn indem der Dichter von den Wesen alles
absondert, was allein das Individuum angehet und unterscheidet,
überspringet sein Begriff gleichsam alle die zwischen inne liegenden
besondern Gegenstände und erhebt sich, soviel möglich, zu dem göttlichen
Urbilde, um so das unmittelbare Nachbild der Wahrheit zu werden. Hieraus
lernt man denn auch einsehen, was und wie viel jenes ungewöhnliche Lob,
welches der große Kunstrichter der Dichtkunst erteilet, sagen wolle; daß
sie, gegen die Geschichte genommen, das ernstere und philosophischere
Studium sei: [Greek: philosophoteron kai spoudaioteron poiaesis historias
estin]. Die Ursache, welche gleich darauf folgt, ist nun gleichfalls sehr
begreiflich: [Greek: ae men gar poiaesis mallon ta katholou, ae d'
historia ta kath' ekaston legei].[5] Ferner wird hieraus ein
wesentlicher Unterschied deutlich, der sich, wie man sagt, zwischen den
zwei großen Nebenbuhlern der griechischen Bühne soll befunden haben. Wenn
man dem Sophocles vorwarf, daß es seinen Charakteren an Wahrheit fehle,
so pflegte er sich damit zu verantworten, daß er die Menschen so
schildere, wie sie sein sollten, Euripides aber so, wie sie wären:
[Greek: Sophochlaes ephae, autos men oious dei poiein, Euripidaes de oioi
eisi].[6] Der Sinn hiervon ist dieser: Sophokles hatte, durch seinen
ausgebreiteten Umgang mit Menschen, die eingeschränkte enge Vorstellung,
welche aus der Betrachtung einzelner Charaktere entsteht, in einen
vollständigen Begriff des Geschlechts erweitert; der philosophische
Euripides hingegen, der seine meiste Zeit in der Akademie zugebracht
hatte und von da aus das Leben übersehen wollte, hielt seinen Blick zu
sehr auf das Einzelne, auf wirklich existierende Personen geheftet,
versenkte das Geschlecht in das Individuum und malte folglich, den
vorhabenden Gegenständen nach, seine Charaktere zwar natürlich und wahr,
aber auch dann und wann ohne die höhere allgemeine Ähnlichkeit, die zur
Vollendung der poetischen Wahrheit erfodert wird.[7]

Ein Einwurf stößt gleichwohl hier auf, den wir nicht unangezeigt lassen
müssen. Man könnte sagen, 'daß philosophische Spekulationen die Begriffe
eines Menschen eher abstrakt und allgemein machen, als sie auf das
Individuelle einschränken müßten. Das letztere sei ein Mangel, welcher
aus der kleinen Anzahl von Gegenständen entspringe, die den Menschen zu
betrachten vorkommen; und diesem Mangel sei nicht allein dadurch
abzuhelfen, daß man sich mit mehrern Individuis bekannt mache, als worin
die Kenntnis der Welt bestehe; sondern auch dadurch, daß man über die
allgemeine Natur der Menschen nachdenke, so wie sie in guten moralischen
Büchern gelehrt werde. Denn die Verfasser solcher Bücher hätten ihren
allgemeinen Begriff von der menschlichen Natur nicht anders als aus einer
ausgebreiteten Erfahrung (es sei nun ihrer eignen, oder fremden) haben
können, ohne welche ihre Bücher sonst von keinem Werte sein würden.' Die
Antwort hierauf, dünkt mich, ist diese. Durch Erwägung der allgemeinen
Natur des Menschen lernet der Philosoph, wie die Handlung beschaffen sein
muß, die aus dem Übergewichte gewisser Neigungen und Eigenschaften
entspringet: das ist, er lernet das Betragen überhaupt, welches der
beigelegte Charakter erfodert. Aber deutlich und zuverlässig zu wissen,
wieweit und in welchem Grade von Stärke sich dieser oder jener Charakter,
bei besondere Gelegenheiten, wahrscheinlicherweise äußern würde, das ist
einzig und allein eine Frucht von unserer Kenntnis der Welt. Daß
Beispiele von dem Mangel dieser Kenntnis bei einem Dichter, wie Euripides
war, sehr häufig sollten gewesen sein, läßt sich nicht wohl annehmen:
auch werden, wo sich dergleichen in seinen übriggebliebenen Stücken etwa
finden sollten, sie schwerlich so offenbar sein, daß sie auch einem
gemeinen Leser in die Augen fallen müßten. Es können nur Feinheiten sein,
die allein der wahre Kunstrichter zu unterscheiden vermögend ist; und
auch diesem kann, in einer solchen Entfernung von Zeit, aus Unwissenheit
der griechischen Sitten, wohl etwas als ein Fehler vorkommen, was im
Grunde eine Schönheit ist. Es würde also ein sehr gefährliches
Unternehmen sein, die Stellen im Euripides anzeigen zu wollen, welche
Aristoteles diesem Tadel unterworfen zu sein geglaubt hatte. Aber
gleichwohl will ich es wagen, eine anzuführen, die, wenn ich sie auch
schon nicht nach aller Gerechtigkeit kritisieren sollte, wenigstens meine
Meinung zu erläutern dienen kann."


----Fußnote

[1] De arte poet. v. 310. 317. 318.

[2] De Orat. I. 51.

[3] Nach Maßgebung der Antiken. Nec enim Phidias, cum faceret Jovis
formam aut Minervae, contemplabatur aliquem e quo similitudinem duceret:
sed ipsius in mente insidebat species pulchritudinis eximia quaedam, quam
intuens in eaque defixus ad illius similitudinem artem et manum
dirigebat. (Cic. Or. 2.)

[4] Plato de Repl., L. X.

[5] "Dichtkunst", Kap. 9.

[6] "Dichtkunst", Kap. 25.

[7] Diese Erklärung ist der, welche Dacier von der Stelle des Aristoteles
gibt, weit vorzuziehen. Nach den Worten der Übersetzung scheinet Dacier
zwar eben das zu sagen, was Hurd sagt: que Sophocle faisait ses Héros,
comme ils devaient être et qu'Euripide les faisait comme ils étaient.
Aber er verbindet im Grunde einen ganz andern Begriff damit. Hurd
versteht unter dem Wie sie sein sollten die allgemeine abstrakte Idee des
Geschlechts, nach welcher der Dichter seine Personen mehr als nach ihren
individuellen Verschiedenheiten schildern müsse. Dacier aber denkt sich
dabei eine höhere moralische Vollkommenheit, wie sie der Mensch zu
erreichen fähig sei, ob er sie gleich nur selten erreiche; und diese,
sagt er, habe Sophokles seinen Personen gewöhnlicherweise beigelegt:
Sophocle tâchait de rendre ses imitations parfaites, en suivant toujours
bien plus ce qu'une belle Nature était capable de faire, que ce qu'elle
faisait. Allein diese höhere moralische Vollkommenheit gehöret gerade zu
jenem allgemeinen Begriffe nicht; sie stehet dem Individuo zu, aber nicht
dem Geschlechte; und der Dichter, der sie seinen Personen beilegt,
schildert gerade umgekehrt mehr in der Manier des Euripides als des
Sophokles. Die weitere Ausführung hiervon verdienet mehr als eine Note.

----Fußnote



Fünfundneunzigstes Stück
Den 29. März 1768

"Die Geschichte seiner Elektra ist ganz bekannt. Der Dichter hatte in dem
Charakter dieser Prinzessin ein tugendhaftes, aber mit Stolz und Groll
erfülltes Frauenzimmer zu schildern, welches durch die Härte, mit der man
sich gegen sie selbst betrug, erbittert war und durch noch weit stärkere
Bewegungsgründe angetrieben ward, den Tod eines Vaters zu rächen. Eine
solche heftige Gemütsverfassung, kann der Philosoph in seinem Winkel wohl
schließen, muß immer sehr bereit sein, sich zu äußern. Elektra, kann er
wohl einsehen, muß, bei der geringsten schicklichen Gelegenheit, ihren
Groll an den Tag legen, und die Ausführung ihres Vorhabens beschleunigen
zu können wünschen. Aber zu welcher Höhe dieser Groll steigen darf? d.I.
wie stark Elektra ihre Rachsucht ausdrücken darf, ohne daß ein Mann, der
mit dem menschlichen Geschlechte und mit den Wirkungen der Leidenschaften
im ganzen bekannt ist, dabei ausrufen kann: Das ist unwahrscheinlich?
Dieses auszumachen, wird die abstrakte Theorie von wenig Nutzen sein.
Sogar eine nur mäßige Bekanntschaft mit dem wirklichen Leben ist hier
nicht hinlänglich, uns zu leiten. Man kann eine Menge Individua bemerkt
haben, welche den Poeten, der den Ausdruck eines solchen Grolles bis auf
das Äußerste getrieben hätte, zu rechtfertigen scheinen. Selbst die
Geschichte dürfte vielleicht Exempel an die Hand geben, wo eine
tugendhafte Erbitterung auch wohl noch weiter getrieben worden, als es
der Dichter hier vorgestellet. Welches sind denn nun also die
eigentlichen Grenzen derselben, und wodurch sind sie zu bestimmen? Einzig
und allein durch Bemerkung so vieler einzeln Fälle als möglich; einzig
und allein vermittelst der ausgebreitetsten Kenntnis, wieviel eine solche
Erbitterung über dergleichen Charaktere unter dergleichen Umständen im
wirklichen Leben gewöhnlicherweise vermag. So verschieden diese Kenntnis
in Ansehung ihres Umfanges ist, so verschieden wird denn auch die Art der
Vorstellung sein. Und nun wollen wir sehen, wie der vorhabende Charakter
von dem Euripides wirklich behandelt worden.

In der schönen Szene, welche zwischen der Elektra und dem Orestes
vorfällt, von dem sie aber noch nicht weiß, daß er ihr Bruder ist, kömmt
die Unterredung ganz natürlich auf die Unglücksfälle der Elektra und auf
den Urheber derselben, die Klytämnestra, sowie auch auf die Hoffnung,
welche Elektra hat, von ihren Drangsalen durch den Orestes befreiet zu
werden. Das Gespräch, wie es hierauf weitergehet, ist dieses:

Orestes. Und Orestes? Gesetzt, er käme nach Argos zurück--

Elektra. Wozu diese Frage, da er, allem Ansehen nach, niemals
zurückkommen wird?

Orestes. Aber gesetzt, er käme! Wie müßte er es anfangen, um den Tod
seines Vaters zu rächen?

Elektra. Sich eben des erkühnen, wessen die Feinde sich gegen seinen
Vater erkühnten.

Orestes. Wolltest du es wohl mit ihm wagen, deine Mutter umzubringen?

Elektra. Sie mit dem nämlichen Eisen umbringen, mit welchem sie
meinen Vater mordete!

Orestes. Und darf ich das, als deinen festen Entschluß, deinem Bruder
vermelden?

Elektra. 'Ich will meine Mutter umbringen, oder nicht leben!'

Das Griechische ist noch stärker:

[Greek: Thanoimi, maetros aim' episphaxas' emaes].

'Ich will gern des Todes sein, sobald ich meine Mutter umgebracht
habe!'

Nun kann man nicht behaupten, daß diese letzte Rede schlechterdings
unnatürlich sei. Ohne Zweifel haben sich Beispiele genug ereignet, wo
unter ähnlichen Umständen die Rache sich ebenso heftig ausgedrückt hat.
Gleichwohl, denke ich, kann uns die Härte dieses Ausdrucks nicht anders
als ein wenig beleidigen. Zum mindesten hielt Sophokles nicht für gut,
ihn so weit zu treiben. Bei ihm sagt Elektra unter gleichen Umständen nur
das: 'Jetzt sei dir die Ausführung überlassen! Wäre ich aber allein
geblieben, so glaube mir nur: beides hätte mir gewiß nicht mißlingen
sollen; entweder mit Ehren mich zu befreien, oder mit Ehren zu sterben!'

Ob nun diese Vorstellung des Sophokles der Wahrheit, insofern sie aus
einer ausgebreitetem Erfahrung, d.i. aus der Kenntnis der menschlichen
Natur überhaupt, gesammelt worden, nicht weit gemäßer ist, als die
Vorstellung des Euripides, will ich denen zu beurteilen überlassen, die
es zu beurteilen fähig sind. Ist sie es, so kann die Ursache keine andere
sein, als die ich angenommen: daß nämlich Sophokles seine Charaktere so
geschildert, als er, unzähligen von ihm beobachteten Beispielen der
nämlichen Gattung zufolge, glaubte, daß sie sein sollten; Euripides aber
so, als er in der engeren Sphäre seiner Beobachtungen erkannt hatte, daß
sie wirklich wären‹--".

Vortrefflich! Auch unangesehen der Absicht, in welcher ich diese langen
Stellen des Hurd angeführet habe, enthalten sie unstreitig so viel feine
Bemerkungen, daß es mir der Leser wohl erlassen wird, mich wegen
Einschaltung derselben zu entschuldigen. Ich besorge nur, daß er meine
Absicht selbst darüber aus den Augen verloren. Sie war aber diese: zu
zeigen, daß auch Hurd, so wie Diderot, der Tragödie besondere, und nur
der Komödie allgemeine Charaktere zuteile und demohngeachtet dem
Aristoteles nicht widersprechen wolle, welcher das Allgemeine von allen
poetischen Charakteren, und folglich auch von den tragischen, verlanget.
Hurd erklärt sich nämlich so: der tragische Charakter müsse zwar
partikulär oder weniger allgemein sein, als der komische, d.i. er müsse
die Art, zu welcher er gehöre, weniger vorstellig machen; gleichwohl aber
müsse das wenige, was man von ihm zu zeigen für gut finde, nach dem
Allgemeinen entworfen sein, welches Aristoteles fordere.[1]

Und nun wäre die Frage, ob Diderot sich auch so verstanden wissen
wolle?--Warum nicht, wenn ihm daran gelegen wäre, sich nirgends in
Widerspruch mit dem Aristoteles finden zu lassen? Mir wenigstens, dem
daran gelegen ist, daß zwei denkende Köpfe von der nämlichen Sache nicht
Ja und Nein sagen, könnte es erlaubt sein, ihm diese Auslegung
unterzuschieben, ihm diese Ausflucht zu leihen.

Aber lieber von dieser Ausflucht selbst, ein Wort!--Mich dünkt, es ist
eine Ausflucht, und ist auch keine. Denn das Wort allgemein wird offenbar
darin in einer doppelten und ganz verschiedenen Bedeutung genommen. Die
eine, in welcher es Hurd und Diderot von dem tragischen Charakter
verneinen, ist nicht die nämliche, in welcher es Hurd von ihm bejahet.
Freilich beruhet eben hierauf die Ausflucht: aber wie, wenn die eine die
andere schlechterdings ausschlösse?

In der ersten Bedeutung heißt ein allgemeiner Charakter ein solcher, in
welchen man das, was man an mehrern oder allen Individuis bemerkt hat,
zusammennimmt; es heißt mit einem Worte, ein überladener Charakter; es
ist mehr die personifierte Idee eines Charakters, als eine
charakterisierte Person. In der andern Bedeutung aber heißt ein
allgemeiner Charakter ein solcher, in welchem man von dem, was an mehrern
oder allen Individuis bemerkt worden, einen gewissen Durchschnitt, eine
mittlere Proportion angenommen; es heißt mit einem Worte, ein
gewöhnlicher Charakter, nicht zwar insofern der Charakter selbst, sondern
nur insofern der Grad, das Maß desselben gewöhnlich ist.

Hurd hat vollkommen recht, das [Greek: katholou] des Aristoteles von der
Allgemeinheit in der zweiten Bedeutung zu erklären. Aber wenn denn nun
Aristoteles diese Allgemeinheit ebensowohl von den komischen als
tragischen Charakteren erfodert: wie ist es möglich, daß der nämliche
Charakter zugleich auch jene Allgemeinheit haben kann? Wie ist es
möglich, daß er zugleich überladen und gewöhnlich sein kann? Und gesetzt
auch, er wäre so überladen noch lange nicht, als es die Charaktere in dem
getadelten Stücke des Jonson sind; gesetzt, er ließe sich noch gar wohl
in einem Individuo gedenken, und man habe Beispiele, daß er sich wirklich
in mehrern Menschen ebenso stark, ebenso ununterbrochen geäußert habe:
würde er demohngeachtet nicht auch noch viel ungewöhnlicher sein, als
jene Allgemeinheit des Aristoteles zu sein erlaubet?

Das ist die Schwierigkeit!--Ich erinnere hier meine Leser, daß diese
Blätter nichts weniger als ein dramatisches System enthalten sollen. Ich
bin also nicht verpflichtet, alle die Schwierigkeiten aufzulösen, die ich
mache. Meine Gedanken mögen immer sich weniger zu verbinden, ja wohl gar
sich zu widersprechen scheinen: wenn es denn nur Gedanken sind, bei
welchen sie Stoff finden, selbst zu denken. Hier will ich nichts als
Fermenta cognitionis ausstreuen.


----Fußnote

[1] In calling the tragic character particular, I suppose it only less
representative of the kind than the comic; not that the draught of so
much character as it is concerned to represent should not be general.

----Fußnote



Sechsundneunzigstes Stück
Den 1. April 1768

Den zweiundfunfzigsten Abend (dienstags, den 28. Julius) wurden des Herrn
Romanus "Brüder" wiederholt.

Oder sollte ich nicht vielmehr sagen: "Die Brüder" des Herrn Romanus?
Nach einer Anmerkung nämlich, welche Donatus bei Gelegenheit der "Brüder"
des Terenz macht: Hanc dicunt fabulam secundo loco actam, etiam tum rudi
nomine poetae; itaque sic pronunciatam, Adelphoi Terenti, non Terenti
Adelphoi, quod adhuc magis de fabulae nomine poeta; quam de poetae nomine
fabula commendabatur. Herr Romanus hat seine Komödien zwar ohne seinen
Namen herausgegeben: aber doch ist sein Name durch sie bekannt geworden.
Noch itzt sind diejenigen Stücke, die sich auf unserer Bühne von ihm
erhalten haben, eine Empfehlung seines Namens, der in Provinzen
Deutschlands genannt wird, wo er ohne sie wohl nie wäre gehöret worden.
Aber welches widrige Schicksal hat auch diesen Mann abgehalten, mit
seinen Arbeiten für das Theater so lange fortzufahren, bis die Stücke
aufgehört hätten, seinen Namen zu empfehlen, und sein Name dafür die
Stücke empfohlen hätte?

Das meiste, was wir Deutsche noch in der schönen Literatur haben, sind
Versuche junger Leute. Ja das Vorurteil ist bei uns fast allgemein, daß
es nur jungen Leuten zukomme, in diesem Felde zu arbeiten. Männer, sagt
man, haben ernsthaftere Studia oder wichtigere Geschäfte, zu welchen sie
die Kirche oder der Staat auffodert. Verse und Komödien heißen
Spielwerke; allenfalls nicht unnützliche Vorübungen, mit welchen man sich
höchstens bis in sein fünfundzwanzigstes Jahr beschäftigen darf. Sobald
wir uns dem männlichen Alter nähern, sollen wir fein alle unsere Kräfte
einem nützlichen Amte widmen; und läßt uns dieses Amt einige Zeit, etwas
zu schreiben, so soll man ja nichts anders schreiben, als was mit der
Gravität und dem bürgerlichen Range desselben bestehen kann; ein hübsches
Kompendium aus den höhern Fakultäten, eine gute Chronike von der lieben
Vaterstadt, eine erbauliche Predigt und dergleichen.

Daher kömmt es denn auch, daß unsere schöne Literatur, ich will nicht
bloß sagen gegen die schöne Literatur der Alten, sondern sogar fast gegen
aller neuern polierten Völker ihre, ein so jugendliches, ja kindisches
Ansehen hat, und noch lange, lange haben wird. An Blut und Leben, an
Farbe und Feuer fehlet es ihr endlich nicht: aber Kräfte und Nerven, Mark
und Knochen mangeln ihr noch sehr. Sie hat noch so wenig Werke, die ein
Mann, der im Denken geübt ist, gern zur Hand nimmt, wenn er, zu seiner
Erholung und Stärkung, einmal außer dem einförmigen ekeln Zirkel seiner
alltäglichen Beschäftigungen denken will! Welche Nahrung kann so ein Mann
wohl z.E. in unsern höchst trivialen Komödien finden? Wortspiele,
Sprichwörter, Späßchen, wie man sie alle Tage auf den Gassen hört:
solches Zeug macht zwar das Parterre zu lachen, das sich vergnügt so gut
es kann; wer aber von ihm mehr als den Bauch erschüttern will, wer
zugleich mit seinem Verstande lachen will, der ist einmal dagewesen und
kömmt nicht wieder.

Wer nichts hat, der kann nichts geben. Ein junger Mensch, der erst selbst
in die Welt tritt, kann unmöglich die Welt kennen und sie schildern. Das
größte komische Genie zeigt sich in seinen jugendlichen Werken hohl und
leer; selbst von den ersten Stücken des Menanders sagt Plutarch,[1] daß
sie mit seinen spätern und letztern Stücken gar nicht zu vergleichen
gewesen. Aus diesen aber, setzt er hinzu, könne man schließen, was er
noch würde geleistet haben, wenn er länger gelebt hätte. Und wie jung
meint man wohl, daß Menander starb? Wieviel Komödien meint man wohl, daß
er erst geschrieben hatte? Nicht weniger als hundertundfünfe; und nicht
jünger als zweiundfunfzig.

Keiner von allen unsern verstorbenen komischen Dichtern, von denen es
sich noch der Mühe verlohnte zu reden, ist so alt geworden; keiner von
den itztlebenden ist es noch zur Zeit; keiner von beiden hat das vierte
Teil so viel Stücke gemacht. Und die Kritik sollte von ihnen nicht eben
das zu sagen haben, was sie von dem Menander zu sagen fand?--Sie wage es
aber nur, und spreche!

Und nicht die Verfasser allein sind es, die sie mit Unwillen hören. Wir
haben, dem Himmel sei Dank, itzt ein Geschlecht selbst von Kritikern,
deren beste Kritik darin besteht,--alle Kritik verdächtig zu machen.
"Genie! Genie!" schreien sie. "Das Genie setzt sich über alle Regeln
hinweg! Was das Genie macht, ist Regel!" So schmeicheln sie dem Genie:
ich glaube, damit wir sie auch für Genies halten sollen. Doch sie
verraten zu sehr, daß sie nicht einen Funken davon in sich spüren, wenn
sie in einem und ebendemselben Atem hinzusetzen: "Die Regeln unterdrücken
das Genie!"--Als ob sich Genie durch etwas in der Welt unterdrücken
ließe! Und noch dazu durch etwas, das, wie sie selbst gestehen, aus ihm
hergeleitet ist. Nicht jeder Kunstrichter ist Genie: aber jedes Genie ist
ein geborner Kunstrichter. Es hat die Probe aller Regeln in sich. Es
begreift und behält und befolgt nur die, die ihm seine Empfindung in
Worten ausdrücken. Und diese seine in Worten ausgedrückte Empfindung
sollte seine Tätigkeit verringern können? Vernünftelt darüber mit ihm, so
viel ihr wollt; es versteht euch nur, insofern es eure allgemeinen Sätze
den Augenblick in einem einzeln Falle anschauend erkennet; und nur von
diesem einzeln Falle bleibt Erinnerung in ihm zurück, die während der
Arbeit auf seine Kräfte nicht mehr und nicht weniger wirken kann, als die
Erinnerung eines glücklichen Beispiels, die Erinnerung einer eignen
glücklichen Erfahrung auf sie zu wirken imstande ist. Behaupten also, daß
Regeln und Kritik das Genie unterdrücken können: heißt mit andern Worten
behaupten, daß Beispiele und Übung eben dieses vermögen; heißt, das Genie
nicht allein auf sich selbst, heißt es sogar lediglich auf seinen ersten
Versuch einschränken.

Ebensowenig wissen diese weise Herren, was sie wollen, wenn sie über die
nachteiligen Eindrücke, welche die Kritik auf das genießende Publikum
mache, so lustig wimmern! Sie möchten uns lieber bereden, daß kein Mensch
einen Schmetterling mehr bunt und schön findet, seitdem das böse
Vergrößerungsglas erkennen lassen, daß die Farben desselben nur
Staub sind.

"Unser Theater", sagen sie, "ist noch in einem viel zu zarten Alter, als
daß es den monarchischen Szepter der Kritik ertragen könne.--Es ist fast
nötiger, die Mittel zu zeigen, wie das Ideal erreicht werden kann, als
darzutun, wie weit wir noch von diesem Ideale entfernt sind.--Die Bühne
muß durch Beispiele, nicht durch Regeln reformieret werden.--Raisonnieren
ist leichter als selbst erfinden."

Heißt das, Gedanken in Worte kleiden: oder heißt es nicht vielmehr,
Gedanken zu Worten suchen, und keine erhaschen?--Und wer sind sie denn,
die so viel von Beispielen und vom Selbsterfinden reden? Was für
Beispiele haben sie denn gegeben? Was haben sie denn selbst erfunden?
--Schlaue Köpfe! Wenn ihnen Beispiele zu beurteilen vorkommen, so
wünschen sie lieber Regeln; und wenn sie Regeln beurteilen sollen, so
möchten sie lieber Beispiele haben. Anstatt von einer Kritik zu beweisen,
daß sie falsch ist, beweisen sie, daß sie zu strenge ist; und glauben
vertan zu haben! Anstatt ein Raisonnement zu widerlegen, merken sie an,
daß Erfinden schwerer ist als Raisonnieren; und glauben widerlegt
zu haben!

Wer richtig raisonniert, erfindet auch: und wer erfinden will, muß
raisonnieren können. Nur die glauben, daß sich das eine von dem andern
trennen lasse, die zu keinem von beiden aufgelegt sind.

Doch was halte ich mich mit diesen Schwätzern auf? Ich will meinen Gang
gehen und mich unbekümmert lassen, was die Grillen am Wege schwirren.
Auch ein Schritt aus dem Wege, um sie zu zertreten, ist schon zu viel.
Ihr Sommer ist so leicht abgewartet!

Also, ohne weitere Einleitung, zu den Anmerkungen, die ich bei
Gelegenheit der ersten Vorstellung der "Brüder" des Herrn Romanus[2]
annoch über dieses Stück versprach!--Die vornehmsten derselben werden die
Veränderungen betreffen, die er in der Fabel des Terenz machen zu müssen
geglaubet, um sie unsern Sitten näher zu bringen.

Was soll man überhaupt von der Notwendigkeit dieser Veränderungen sagen?
Wenn wir so wenig Anstoß finden, römische oder griechische Sitten in der
Tragödie geschildert zu sehen: warum nicht auch in der Komödie? Woher die
Regel, wenn es anders eine Regel ist, die Szene der erstern in ein
entferntes Land, unter ein fremdes Volk; die Szene der andern aber in
unsere Heimat zu legen? Woher die Verbindlichkeit, die wir dem Dichter
aufbürden, in jener die Sitten desjenigen Volkes, unter dem er seine
Handlung vorgehen läßt, so genau als möglich zu schildern; da wir in
dieser nur unsere eigene Sitten von ihm geschildert zu sehen verlangen?
"Dieses", sagt Pope an einem Orte, "scheinet dem ersten Ansehen nach
bloßer Eigensinn, bloße Grille zu sein: es hat aber doch seinen guten
Grund in der Natur. Das Hauptsächlichste, was wir in der Komödie suchen,
ist ein getreues Bild des gemeinen Lebens, von dessen Treue wir aber
nicht so leicht versichert sein können, wenn wir es in fremde Moden und
Gebräuche verkleidet finden. In der Tragödie hingegen ist es die
Handlung, was unsere Aufmerksamkeit am meisten an sich ziehet. Einen
einheimischen Vorfall aber für die Bühne bequem zu machen, dazu muß man
sich mit der Handlung größere Freiheiten nehmen, als eine zu bekannte
Geschichte verstattet."


----Fußnote

[1] "Epit, [Greek: taes synkriseos] Arist. [Greek: kai Menan]",
p. 1588. Ed. Henr. Stephani.

[2] Dreiundsiebzigstes Stück.

----Fußnote



Siebenundneunzigstes Stück
Den 5. April 1768

Diese Auflösung, genau betrachtet, dürfte wohl nicht in allen Stücken
befriedigend sein. Denn zugegeben, daß fremde Sitten der Absicht der
Komödie nicht so gut entsprechen, als einheimische: so bleibt noch immer
die Frage, ob die einheimischen Sitten nicht auch zur Absicht der
Tragödie ein besseres Verhältnis haben, als fremde? Diese Frage ist
wenigstens durch die Schwierigkeit, einen einheimischen Vorfall ohne
allzumerkliche und anstößige Veränderungen für die Bühne bequem zu
machen, nicht beantwortet. Freilich erfodern einheimische Sitten auch
einheimische Vorfälle: wenn denn aber nur mit jenen die Tragödie am
leichtesten und gewissesten ihren Zweck erreichte, so müßte es ja doch
wohl besser sein, sich über alle Schwierigkeiten, welche sich bei
Behandlung dieser finden, wegzusetzen als in Absicht des Wesentlichsten
zu kurz zu fallen, welches ohnstreitig der Zweck ist. Auch werden nicht
alle einheimische Vorfälle so merklicher und anstößiger Veränderungen
bedürfen; und die deren bedürfen, ist man ja nicht verbunden zu
bearbeiten. Aristoteles hat schon angemerkt, daß es gar wohl
Begebenheiten geben kann und gibt, die sich vollkommen so ereignet haben,
als sie der Dichter braucht. Da dergleichen aber nur selten sind, so hat
er auch schon entschieden, daß sich der Dichter um den wenigern Teil
seiner Zuschauer, der von den wahren Umständen vielleicht unterrichtet
ist, lieber nicht bekümmern, als seiner Pflicht minder Genüge
leisten müsse.

Der Vorteil, den die einheimischen Sitten in der Komödie haben, beruhet
auf der innigen Bekanntschaft, in der wir mit ihnen stehen. Der Dichter
braucht sie uns nicht erst bekannt zu machen; er ist aller hierzu nötigen
Beschreibungen und Winke überhoben; er kann seine Personen sogleich nach
ihren Sitten handeln lassen, ohne uns diese Sitten selbst erst langweilig
zu schildern. Einheimische Sitten also erleichtern ihm die Arbeit und
befördern bei dem Zuschauer die Illusion.

Warum sollte nun der tragische Dichter sich dieses wichtigen doppelten
Vorteils begeben? Auch er hat Ursache, sich die Arbeit so viel als
möglich zu erleichtern, seine Kräfte nicht an Nebenzwecke zu
verschwenden, sondern sie ganz für den Hauptzweck zu sparen. Auch ihm
kömmt auf die Illusion des Zuschauers alles an.--Man wird vielleicht
hierauf antworten, daß die Tragödie der Sitten nicht groß bedürfe; daß
sie ihrer ganz und gar entübriget sein könne. Aber sonach braucht sie
auch keine fremde Sitten; und von dem wenigen, was sie von Sitten haben
und zeigen will, wird es doch immer besser sein, wenn es von
einheimischen Sitten hergenommen ist, als von fremden.

Die Griechen wenigstens haben nie andere als ihre eigene Sitten, nicht
bloß in der Komödie, sondern auch in der Tragödie, zum Grunde gelegt. Ja
sie haben fremden Völkern, aus deren Geschichte sie den Stoff ihrer
Tragödie etwa einmal entlehnten, lieber ihre eigenen griechischen Sitten
leihen, als die Wirkungen der Bühne durch unverständliche barbarische
Sitten entkräften wollen. Auf das Kostüm, welches unsern tragischen
Dichtern so ängstlich empfohlen wird, hielten sie wenig oder nichts. Der
Beweis hiervon können vornehmlich die "Perser" des Aeschylus sein: und
die Ursache, warum sie sich so wenig an das Kostüm binden zu dürfen
glaubten, ist aus der Absicht der Tragödie leicht zu folgern.

Doch ich gerate zu weit in denjenigen Teil des Problems, der mich itzt
gerade am wenigsten angeht. Zwar indem ich behaupte, daß einheimische
Sitten auch in der Tragödie zuträglicher sein würden, als fremde: so
setze ich schon als unstreitig voraus, daß sie es wenigstens in der
Komödie sind. Und sind sie das, glaube ich wenigstens, daß sie es sind:
so kann ich auch die Veränderungen, welche Herr Romanus in Absicht
derselben mit dem Stücke des Terenz gemacht hat, überhaupt nicht anders
als billigen.

Er hatte recht, eine Fabel, in welche so besondere griechische und
römische Sitten so innig verwebet sind, umzuschaffen. Das Beispiel erhält
seine Kraft nur von seiner innern Wahrscheinlichkeit, die jeder Mensch
nach dem beurteilet, was ihm selbst am gewöhnlichsten ist. Alle Anwendung
fällt weg, wo wir uns erst mit Mühe in fremde Umstände versetzen müssen.
Aber es ist auch keine leichte Sache mit einer solchen Umschaffung. Je
vollkommener die Fabel ist, desto weniger läßt sich der geringste Teil
verändern, ohne das Ganze zu zerrütten. Und schlimm! wenn man sich sodann
nur mit Flicken begnügt, ohne im eigentlichen Verstande umzuschaffen.

Das Stück heißt "Die Brüder", und dieses bei dem Terenz aus einem
doppelten Grunde. Denn nicht allein die beiden Alten, Micio und Demea,
sondern auch die beiden jungen Leute, Aeschinus und Ktesipho, sind
Brüder. Demea ist dieser beider Vater; Micio hat den einen, den
Aeschinus, nur an Sohnes Statt angenommen. Nun begreif' ich nicht, warum
unserm Verfasser diese Adoption mißfallen. Ich weiß nicht anders, als daß
die Adoption auch unter uns, auch noch itzt gebräuchlich und vollkommen
auf dem nämlichen Fuß gebräuchlich ist, wie sie es bei den Römern war.
Demohngeachtet ist er davon abgegangen: bei ihm sind nur die zwei Alten
Brüder, und jeder hat einen leiblichen Sohn, den er nach seiner Art
erziehet. Aber desto besser! wird man vielleicht sagen. So sind denn auch
die zwei Alten wirkliche Väter; und das Stück ist wirklich eine Schule
der Väter, d.i. solcher, denen die Natur die väterliche Pflicht
aufgelegt, nicht solcher, die sie freiwillig zwar übernommen, die sich
ihrer aber schwerlich weiter unterziehen, als es mit ihrer eignen
Gemächlichkeit bestehen kann.

    Pater esse disce ab illis, qui vere sciunt!

Sehr wohl! Nur schade, daß durch Auflösung dieses einzigen Knoten,
welcher bei dem Terenz den Aeschinus und Ktesipho unter sich, und beide
mit dem Demea, ihrem Vater, verbindet, die ganze Maschine auseinander
fällt, und aus einem allgemeinen Interesse zwei ganz verschiedene
entstehen, die bloß die Konvenienz des Dichters, und keineswegs ihre
eigene Natur zusammenhält!

Denn ist Aeschinus nicht bloß der angenommene, sondern der leibliche Sohn
des Micio, was hat Demea sich viel um ihn zu bekümmern? Der Sohn eines
Bruders geht mich so nahe nicht an, als mein eigener. Wenn ich finde, daß
jemand meinen eigenen Sohn verziehet, geschähe es auch in der besten
Absicht von der Welt, so habe ich recht, diesem gutherzigen Verführer mit
aller der Heftigkeit zu begegnen, mit welcher, beim Terenz, Demea dem
Micio begegnet. Aber wenn es nicht mein Sohn ist, wenn es der eigene Sohn
des Verziehers ist, was kann ich mehr, was darf ich mehr, als daß ich
diesen Verzieher warne, und wenn er mein Bruder ist, ihn öfters und
ernstlich warne? Unser Verfasser setzt den Demea aus dem Verhältnisse, in
welchem er bei dem Terenz stehet, aber er läßt ihm die nämliche
Ungestümheit, zu welcher ihn doch nur jenes Verhältnis berechtigen
konnte. Ja bei ihm schimpfet und tobet Demea noch weit ärger, als bei dem
Terenz. Er will aus der Haut fahren, "daß er an seines Bruders Kinde
Schimpf und Schande erleben muß". Wenn ihm nun aber dieser antwortete:
"Du bist nicht klug, mein lieber Bruder, wenn du glaubest, du könntest an
meinem Kinde Schimpf und Schande erleben. Wenn mein Sohn ein Bube ist und
bleibt, so wird, wie das Unglück, also auch der Schimpf nur meine sein.
Du magst es mit deinem Eifer wohl gut meinen; aber er geht zu weit; er
beleidiget mich. Falls du mich nur immer so ärgern wil1st, so komm mir
lieber nicht über die Schwelle! usw." Wenn Micio, sage ich, dieses
antwortete: nicht wahr, so wäre die Komödie auf einmal aus? Oder könnte
Micio etwa nicht so antworten? Ja, müßte er wohl eigentlich nicht so
antworten?

Wieviel schicklicher eifert Demea beim Terenz. Dieser Aeschinus, den er
ein so liederliches Leben zu führen glaubt, ist noch immer sein Sohn, ob
ihn gleich der Bruder an Kindes Statt angenommen. Und dennoch bestehet
der römische Micio weit mehr auf seinem Rechte als der deutsche. Du hast
mir, sagt er, deinen Sohn einmal überlassen; bekümmere dich um den, der
dir noch übrig ist;

    --nam ambos curare; propemodum
    Reposcere illum est, quem dedisti--

Diese versteckte Drohung, ihm seinen Sohn zurückzugeben, ist es auch, die
ihn zum Schweigen bringt; und doch kann Micio nicht verlangen, daß sie
alle väterliche Empfindungen bei ihm unterdrücken soll. Es muß den Micio
zwar verdrießen, daß Demea auch in der Folge nicht aufhört, ihm immer die
nämlichen Vorwürfe zu machen: aber er kann es dem Vater doch auch nicht
verdenken, wenn er seinen Sohn nicht gänzlich will verderben lassen.
Kurz, der Demea des Terenz ist ein Mann, der für das Wohl dessen besorgt
ist, für den ihm die Natur zu sorgen aufgab; er tut es zwar auf die
unrechte Weise, aber die Weise macht den Grund nicht schlimmer. Der Demea
unsers Verfassers hingegen ist ein beschwerlicher Zänker, der sich aus
Verwandtschaft zu allen Grobheiten berechtiget glaubt, die Micio auf
keine Weise an dem bloßen Bruder dulden müßte.



Achtundneunzigstes Stück
Den 8. April 1768

Ebenso schielend und falsch wird, durch Aufhebung der doppelten
Brüderschaft, auch das Verhältnis der beiden jungen Leute. Ich verdenke
es dem deutschen Aeschinus, daß er[1] "vielmals an den Torheiten des
Ktesipho Anteil nehmen zu müssen geglaubt, um ihn, als seinen Vetter, der
Gefahr und öffentlichen Schande zu entreißen". Was Vetter? Und schickt es
sich wohl für den leiblichen Vater, ihm darauf zu antworten: "Ich billige
deine hierbei bezeugte Sorgfalt und Vorsicht; ich verwehre dir es auch
inskünftige nicht?" Was verwehrt der Vater dem Sohne nicht? An den
Torheiten eines ungezogenen Vetters Anteil zu nehmen? Wahrlich, das
sollte er ihm verwehren. "Suche deinen Vetter", müßte er ihm höchstens
sagen, "soviel möglich von Torheiten abzuhalten: wenn du aber findest,
daß er durchaus darauf besteht, so entziehe dich ihm; denn dein guter
Name muß dir wertet sein, als seiner."

Nur dem leiblichen Bruder verzeihen wir, hierin weiter zu gehen. Nur an
leiblichen Brüdern kann es uns freuen, wenn einer von dem andern rühmet:

    --Illius opera nunc vivo! Festivum caput,
    Qui omnia sibi post putarit esse prae meo commodo:
    Maledicta, famam, meum amorem et peccatum in se transtulit.

Denn der brüderlichen Liebe wollen wir von der Klugheit keine Grenzen
gesetzt wissen. Zwar ist es wahr, daß unser Verfasser seinem Aeschinus
die Torheit überhaupt zu ersparen gewußt hat, die der Aeschinus des
Terenz für seinen Bruder begehet. Eine gewaltsame Entführung hat er in
eine kleine Schlägerei verwandelt, an welcher sein wohlgezogner Jüngling
weiter keinen Teil hat, als daß er sie gern verhindern wollen. Aber
gleichwohl läßt er diesen wohlgezognen Jüngling für einen ungezognen
Vetter noch viel zuviel tun. Denn müßte es jener wohl auf irgendeine
Weise gestatten, daß dieser ein Kreatürchen, wie Citalise ist, zu ihm in
das Haus brächte? in das Haus seines Vaters? unter die Augen seiner
tugendhaften Geliebten? Es ist nicht der verführerische Damis, diese Pest
für junge Leute,[2] dessentwegen der deutsche Aeschinus seinem
liederlichen Vetter die Niederlage bei sich erlaubt: es ist die bloße
Konvenienz des Dichters.

Wie vortrefflich hängt alles das bei dem Terenz zusammen! Wie richtig und
notwendig ist da auch die geringste Kleinigkeit motivieret! Aeschinus
nimmt einem Sklavenhändler ein Mädchen mit Gewalt aus dem Hause, in das
sich sein Bruder verliebt hat. Aber er tut das, weniger um der Neigung
seines Bruders zu willfahren, als um einem größern Übel vorzubauen. Der
Sklavenhändler will mit diesem Mädchen unverzüglich auf einen auswärtigen
Markt: und der Bruder will dem Mädchen nach; will lieber sein Vaterland
verlassen, als den Gegenstand seiner Liebe aus den Augen verlieren.[3]
Noch erfährt Aeschinus zu rechter Zeit diesen Entschluß. Was soll er tun?
Er bemächtiget sich in der Geschwindigkeit des Mädchens und bringt sie in
das Haus seines Oheims, um diesem gütigen Manne den ganzen Handel zu
entdecken. Denn das Mädchen ist zwar entführt, aber sie muß ihrem
Eigentümer doch bezahlt werden. Micio bezahlt sie auch ohne Anstand und
freuet sich nicht sowohl über die Tat der jungen Leute, als über die
brüderliche Liebe, welche er zum Grunde siehet, und über das Vertrauen,
welches sie auf ihn dabei setzen wollen. Das Größte ist geschehen; warum
sollte er nicht noch eine Kleinigkeit hinzufügen, ihnen einen vollkommen
vergnügten Tag zu machen?

    --Argentum adnumeravit illico:
    Dedit praeterea in sumptum dimidium minae.

Hat er dem Ktesipho das Mädchen gekauft, warum soll er ihm nicht
verstatten, sich in seinem Hause mit ihr zu vergnügen? Da ist nach den
alten Sitten nichts, was im geringsten der Tugend und Ehrbarkeit
widerspräche.

Aber nicht so in unsern "Brüdern"! Das Haus des gütigen Vaters wird auf
das ungeziemendste gemißbraucht. Anfangs ohne sein Wissen, und endlich
gar mit seiner Genehmigung. Citalise ist eine weit unanständigere Person,
als selbst jene Psaltria; und unser Ktesipho will sie gar heiraten. Wenn
das der Terenzische Ktesipho mit seiner Psaltria vorgehabt hätte, so
würde sich der Terenzische Micio sicherlich ganz anders dabei genommen
haben. Er würde Citalisen die Türe gewiesen und mit dem Vater die
kräftigsten Mittel verabredet haben, einen sich so sträflich
emanzipierenden Burschen im Zaume zu halten.

Überhaupt ist der deutsche Ktesipho von Anfang viel zu verderbt
geschildert, und auch hierin ist unser Verfasser von seinem Muster
abgegangen. Die Stelle erweckt mir immer Grausen, wo er sich mit seinem
Vetter über seinen Vater unterhält.[4]

"Leander. Aber wie reimt sich das mit der Ehrfurcht, mit der Liebe,
die du deinem Vater schuldig bist?

Lykast. Ehrfurcht? Liebe? hm! die wird er wohl nicht von mir
verlangen.

Leander. Er sollte sie nicht verlangen?

Lykast. Nein, gewiß nicht. Ich habe meinen Vater gar nicht lieb.
Ich müßte es lügen, wenn ich es sagen wollte.

Leander. Unmenschlicher Sohn! Du bedenkst nicht, was du sagst.
Denjenigen nicht lieben, der dir das Leben gegeben hat! So sprichst
du itzt, da du ihn noch leben siehst. Aber verliere ihn einmal;
hernach will ich dich fragen.

Lykast. Hm! Ich weiß nun eben nicht, was da geschehen würde. Auf
allen Fall würde ich wohl auch so gar unrecht nicht tun. Denn ich
glaube, er würde es auch nicht besser machen. Er spricht ja fast
täglich zu mir: 'Wenn ich dich nur los wäre! wenn du nur weg wärest!'
Heißt das Liebe? Kannst du verlangen, daß ich ihn wieder lieben soll?"

Auch die strengste Zucht müßte ein Kind zu so unnatürlichen Gesinnungen
nicht verleiten. Das Herz, das ihrer, aus irgendeiner Ursache, fähig ist,
verdienst nicht anders als sklavisch gehalten zu werden. Wenn wir uns des
ausschweifenden Sohnes gegen den strengen Vater annehmen sollen: so
müssen jenes Ausschweifungen kein grundböses Herz verraten; es müssen
nichts als Ausschweifungen des Temperaments, jugendliche
Unbedachtsamkeiten, Torheiten des Kitzels und Mutwillens sein. Nach
diesem Grundsatze haben Menander und Terenz ihren Ktesipho geschildert.
So streng ihn sein Vater hält, so entfährt ihm doch nie das geringste
böse Wort gegen denselben. Das einzige, was man so nennen könnte, macht
er auf die vortrefflichste Weise wieder gut. Er möchte seiner Liebe gern
wenigstens ein paar Tage ruhig genießen; er freuet sich, daß der Vater
wieder hinaus auf das Land, an seine Arbeit ist; und wünscht, daß er sich
damit so abmatten,--so abmatten möge, daß er ganze drei Tage nicht aus
dem Bette könne. Ein rascher Wunsch! aber man sehe, mit welchem Zusatze:

    --utinam quidem
    Quod cum salute ejus fiat, ita se defatigarit velim,
    Ut triduo hoc perpetuo prorsum e lecto nequeat surgere.

Quod cum salute ejus fiat! Nur müßte es ihm weiter nicht schaden!--So
recht! so recht, liebenswürdiger Jüngling! Immer geh, wohin dich Freunde
und Liebe rufen! Für dich drücken wir gern ein Auge zu! Das Böse, das du
begehst, wird nicht sehr böse sein! Du hast einen strengern Aufseher in
dir, als selbst dein Vater ist!--Und so sind mehrere Züge in der Szene,
aus der diese Stelle genommen ist. Der deutsche Ktesipho ist ein
abgefeimter Bube, dem Lügen und Betrug sehr geläufig sind: der römische
hingegen ist in der äußersten Verwirrung um einen kleinen Vorwand, durch
den er seine Abwesenheit bei seinem Vater rechtfertigen könnte.

      Rogabit me: ubi fuerim? quem ego hodie toto non vidi die.
      Quid dicam? SY. Nil ne in mentem venit? CT. Nunquam quicquam.
    SY. Tanto nequior.
      Cliens, amicus, hospes, nemo est vobis? CT. Sunt, quid postea?
    SY. Hisce opera ut data sit? CT. Quae non data sit? Non potest
    fieri!

Dieses naive, aufrichtige: quae non data sit! Der gute Jüngling sucht
einen Vorwand; und der schalkische Knecht schlägt ihm eine Lüge vor. Eine
Lüge! Nein, das geht nicht: non potest fieri!


----Fußnote

[1] Aufz. I., Auftr. 3. S. 18.

[2] Seite 30.

[3] Act. II. Sc. 4.

    Ae. Hoc mihi dolet, nos paene sero scisse: et paene in eum locum
      Rediisse, ut si omnes cuperent, nihil tibi possent auxiliarier.
    Ct. Pudebat. Ae. Ah, stultitia est istaec; non pudor, tam ob
    parvulam
      Rem paene e patria: turpe dictu. Deos quaeso ut istaec prohibeant.

1. Erster Aufz., 6. Auftr.

----Fußnote



Neunundneunzigstes Stück
Den 12. April 1768

Sonach hatte Terenz auch nicht nötig, uns seinen Ktesipho am Ende des
Stücks beschämt, und durch die Beschämung auf dem Wege der Besserung, zu
zeigen. Wohl aber mußte dieses unser Verfasser tun. Nur fürchte ich, daß
der Zuschauer die kriechende Reue und die furchtsam Unterwerfung eines so
leichtsinnigen Buben nicht für sehr aufrichtig halten kann. Ebensowenig
als die Gemütsänderung seines Vaters. Beider Umkehrung ist so wenig in
ihrem Charakter gegründet, daß man das Bedürfnis des Dichters, sein Stück
schließen zu müssen, und die Verlegenheit, es auf eine bessere Art zu
schließen, ein wenig zu sehr darin empfindet.--Ich weiß überhaupt nicht,
woher so viele komische Dichter die Regel genommen haben, daß der Böse
notwendig am Ende des Stücks entweder bestraft werden oder sich bessern
müsse. In der Tragödie möchte diese Regel noch eher gelten; sie kann uns
da mit dem Schicksale versöhnen und Murren in Mitleid kehren. Aber in der
Komödie, denke ich, hilft sie nicht allein nichts, sondern sie verdirbt
vielmehr vieles. Wenigstens macht sie immer den Ausgang schielend und
kalt und einförmig. Wenn die verschiednen Charaktere, welche ich in eine
Handlung verbinde, nur diese Handlung zu Ende bringen, warum sollen sie
nicht bleiben, wie sie waren? Aber freilich muß die Handlung sodann in
etwas mehr, als in einer bloßen Kollision der Charaktere bestehen. Diese
kann allerdings nicht anders, als durch Nachgebung und Veränderung des
einen Teiles dieser Charaktere geendet werden; und ein Stück, das wenig
oder nichts mehr hat als sie, nähert sich nicht sowohl seinem Ziele,
sondern schläft vielmehr nach und nach ein. Wenn hingegen jene Kollision,
die Handlung mag sich ihrem Ende nähern soviel als sie will, dennoch
gleich stark fortdauert: so begreift man leicht, daß das Ende ebenso
lebhaft und unterhaltend sein kann, als die Mitte nur immer war. Und das
ist gerade der Unterschied, der sich zwischen dem letzten Akte des Terenz
und dem letzten unsers Verfassers befindet. Sobald wir in diesem hören,
daß der strenge Vater hinter die Wahrheit gekommen: so können wir uns das
übrige alles an den Fingern abzählen; denn es ist der fünfte Akt. Er wird
anfangs poltern und toben; bald darauf wird er sich besänftigen lassen,
wird sein Unrecht erkennen und so werden wollen, daß er nie wieder zu
einer solchen Komödie den Stoff geben kann: desgleichen wird der
ungeratene Sohn kommen, wird abbitten, wird sich zu bessern versprechen;
kurz, alles wird ein Herz und eine Seele werden. Den hingegen will ich
sehen, der in dem fünften Akte des Terenz die Wendungen des Dichters
erraten kann! Die Intrige ist längst zu Ende, aber das fortwährende Spiel
der Charaktere läßt es uns kaum bemerken, daß sie zu Ende ist. Keiner
verändert sich; sondern jeder schleift nur dem andern ebensoviel ab, als
nötig ist, ihn gegen den Nachteil des Exzesses zu verwahren. Der
freigebige Micio wird durch das Manöver des geizigen Demea dahin
gebracht, daß er selbst das Übermaß in seinem Bezeigen erkennst,
und fragt:

Quod proluvium? quae istaec subita est largitas?

So wie umgekehrt der strenge Demea durch das Manöver des nachsichtsvollen
Micio endlich erkennet, daß es nicht genug ist, nur immer zu tadeln und
zu bestrafen, sondern es auch gut sei, obsecundare in loco.--

Noch eine einzige Kleinigkeit will ich erinnern, in welcher unser
Verfasser sich, gleichfalls zu seinem eigenen Nachteile, von seinem
Muster entfernt hat.

Terenz sagt es selbst, daß er in die "Brüder" des Menanders eine Episode
aus einem Stücke des Diphilus übertragen, und so seine "Brüder"
zusammengesetzt habe. Diese Episode ist die gewaltsame Entführung der
Psaltria durch den Aeschinus: und das Stück des Diphilus hieß: "Die
miteinander Sterbenden".

    Synapothnescontes Diphili comoedia est--
    In Graeca adolescens est, qui lenoni eripit
    Meretricem in prima fabula--
    --eum hic locum sumpsit sibi
    In Adelphos--

Nach diesen beiden Umständen zu urteilen, mochte Diphilus ein Paar
Verliebte aufgeführet haben, die fest entschlossen waren, lieber
miteinander zu sterben, als sich trennen zu lassen: und wer weiß, was
geschehen wäre, wenn sich gleichfalls nicht ein Freund ins Mittel
geschlagen und das Mädchen für den Liebhaber mit Gewalt entführt hätte?
Den Entschluß, miteinander zu sterben, hat Terenz in den bloßen Entschluß
des Liebhabers, dem Mädchen nachzufliehen und Vater und Vaterland um sie
zu verlassen, gemildert. Donatus sagt dieses ausdrücklich: Menander mori
illum voluisse fingit, Terentius fugere. Aber sollte es in dieser Note
des Donatus nicht Diphilus anstatt Menander heißen? Ganz gewiß; wie Peter
Nannius dieses schon angemerkt hat.[1] Denn der Dichter, wie wir gesehen,
sagt es ja selbst, daß er diese ganze Episode von der Entführung nicht
aus dem Menander, sondern aus dem Diphilus entlehnet habe; und das Stück
des Diphilus hatte von dem Sterben sogar seinen Titel.

Indes muß freilich, anstatt dieser von dem Diphilus entlehnten
Entführung, in dem Stücke des Menanders eine andere Intrige gewesen sein,
an der Aeschinus gleicherweise für den Ktesipho Anteil nahm, und wodurch
er sich bei seiner Geliebten in eben den Verdacht brachte, der am Ende
ihre Verbindung so glücklich beschleunigte. Worin diese eigentlich
bestanden, dürfte schwer zu erraten sein. Sie mag aber bestanden haben,
worin sie will: so wird sie doch gewiß ebensowohl gleich vor dem Stücke
vorhergegangen sein, als die vom Terenz dafür gebrauchte Entführung. Denn
auch sie muß es gewesen sein, wovon man noch überall sprach, als Demea in
die Stadt kam; auch sie muß die Gelegenheit und der Stoff gewesen sein,
worüber Demea gleich anfangs mit seinem Bruder den Streit beginnet, in
welchem sich beider Gemütsarten so vortrefflich entwickeln.

    --Nam illa, quae antehac facta sunt
    Omitto: modo quid designavit?--
    Fores effregit, atque in aedes irruit
    Alienas--
    --clamant omnes, indignissime
    Factum esse. Hoc advenienti quot mihi, Micio,
    Dixere? in ore est omni populo--

Nun habe ich schon gesagt, daß unser Verfasser diese gewaltsame
Entführung in eine kleine Schlägerei verwandelt hat. Er mag auch seine
guten Ursachen dazu gehabt haben; wenn er nur diese Schlägerei selbst
nicht so spät hätte geschehen lassen. Auch sie sollte und müßte das sein,
was den strengen Vater aufbringt. So aber ist er schon aufgebracht, ehe
sie geschieht, und man weiß gar nicht worüber? Er tritt auf und zankt,
ohne den geringsten Anlaß. Er sagt zwar: "Alle Leute reden von der
schlechten Aufführung deines Sohnes; ich darf nur einmal den Fuß in die
Stadt setzen, so höre ich mein blaues Wunder." Aber was denn die Leute
eben itzt reden; worin das blaue Wunder bestanden, das er eben itzt
gehört und worüber er ausdrücklich mit seinem Bruder zu zanken kömmt, das
hören wir nicht und können es auch aus dem Stücke nicht erraten. Kurz,
unser Verfasser hätte den Umstand, der den Demea in Harnisch bringt, zwar
verändern können, aber er hätte ihn nicht versetzen müssen! Wenigstens,
wenn er ihn versetzen wollen, hätte er den Demea im ersten Akte seine
Unzufriedenheit mit der Erziehungsart seines Bruders nur nach und nach
müssen äußern, nicht aber auf einmal damit herausplatzen lassen.--

Möchten wenigstens nur diejenigen Stücke des Menanders auf uns gekommen
sein, welche Terenz genutzet hat! Ich kann mir nichts Unterrichtenderes
denken, als eine Vergleichung dieser griechischen Originale mit den
lateinischen Kopien sein würde.

Denn gewiß ist es, daß Terenz kein bloßer sklavischer Übersetzer gewesen.
Auch da, wo er den Faden des Menandrischen Stückes völlig beibehalten,
hat er sich noch manchen kleinen Zusatz, manche Verstärkung oder
Schwächung eines und des andern Zuges erlaubt; wie uns deren verschiedne
Donatus in seinen Scholien angezeigt. Nur schade, daß sich Donatus immer
so kurz und öfters so dunkel darüber ausdrückt (weil zu seiner Zeit die
Stücke des Menanders noch selbst in jedermanns Händen waren), daß es
schwer wird, über den Wert oder Unwert solcher Terenzischen Künsteleien
etwas Zuverlässiges zu sagen. In den "Brüdern" findet sich hiervon ein
sehr merkwürdiges Exempel.


----Fußnote

[1] Sylloge v. Miscell. cap. 10. Videat quaeso accuratus lector, num pro
Menandro legendum sit Diphilus. Certe vel tota Comoedia, vel pars istius
argumenti, quod hic tractatur, ad verbum e Diphilo translata est.--Ita
cum Diphili comoedia a commoriendo nomen habeat, et ibi dicatur
adolescens mori voluisse, quod Terentius in fugere mutavit: omnino
adducor, eam imitationem a Diphilo, non a Menandro mutuatam esse, et ex
eo commoriendi cum puella studio [Greek: synapothnaeskontes] nomen
fabulae inditum esse.--

----Fußnote



Hundertstes Stück
Den 15. April 1768

Demea, wie schon angemerkt, will im fünften Akte dem Micio eine Lektion
nach seiner Art geben. Er stellt sich lustig, um die andern wahre
Ausschweifungen und Tollheiten begehen zu lassen; er spielt den
Freigebigen, aber nicht aus seinem, sondern aus des Bruders Beutel; er
möchte diesen lieber auf einmal ruinieren, um nur das boshafte Vergnügen
zu haben, ihm am Ende sagen zu können: "Nun sieh, was du von deiner
Gutherzigkeit hast!" Solange der ehrliche Micio nur von seinem Vermögen
dabei zusetzt, lassen wir uns den hämischen Spaß ziemlich gefallen. Aber
nun kömmt es dem Verräter gar ein, den guten Hagestolze mit einem alten
verlebten Mütterchen zu verkoppeln. Der bloße Einfall macht uns anfangs
zu lachen; wenn wir aber endlich sehen, daß es Ernst damit wird, daß sich
Micio wirklich die Schlinge über den Kopf werfen läßt, der er mit einer
einzigen ernsthaften Wendung hätte ausweichen können: wahrlich, so wissen
wir kaum mehr, auf wen wir ungehaltner sein sollen; ob auf den Demea,
oder auf den Micio.[1]

"Demea. Jawohl ist das mein Wille! Wir müssen von nun an mit diesen
guten Leuten nur eine Familie machen; wir müssen ihnen auf alle Weise
aufhelfen, uns auf alle Art mit ihnen verbinden.--

Aeschinus. Das bitte ich, mein Vater.

Micio. Ich bin gar nicht dagegen.

Demea. Es schickt sich auch nicht anders für uns.--Denn erst ist sie
seiner Frauen Mutter--

Micio. Nun dann?

Demea. Auf die nichts zu sagen; brav, ehrbar--

Micio. So höre ich.

Demea. Bei Jahren ist sie auch.

Micio. Jawohl.

Demea. Kinder kann sie schon lange nicht mehr haben. Dazu ist
niemand, der sich um sie bekümmerte; sie ist ganz verlassen.

Micio. Was will der damit?

Demea. Die mußt du billig heiraten, Bruder. Und du (zum Aeschinus)
mußt ja machen, daß er es tut.

Micio. Ich? sie heiraten?

Demea. Du!

Micio. Ich?

Demea. Du! wie gesagt, du!

Micio. Du bist nicht klug.

Demea (zum Aeschinus). Nun zeige, was du kannst! Er muß!

Aeschinus. Mein Vater--

Micio. Wie?--Und du, Geck, kannst ihm noch folgen?

Demea. Du sträubest dich umsonst: es kann nun einmal nicht anders
sein.

Micio. Du schwärmst.

Aeschinus. Laß dich erbitten, mein Vater.

Micio. Rasest du? Geh!

Demea. Oh, so mach dem Sohne doch die Freude!

Micio. Bist du wohl bei Verstande? Ich, in meinem fünfundsechzigsten
Jahre noch heiraten? Und ein altes, verlebtes Weib heiraten? Das
könnet ihr mir zumuten?

Aeschinus. Tu es immer; ich habe es ihnen versprochen.

Micio. Versprochen gar?--Bürschchen, versprich für dich, was du
versprechen wil1st!

Demea. Frisch! Wenn es nun etwas Wichtigeres wäre, warum er dich
bäte?

Micio. Als ob etwas Wichtigeres sein könnte, wie das?

Demea. So willfahre ihm doch nur!

Aeschinus. Sei uns nicht zuwider!

Demea. Fort, versprich!

Micio. Wie lange soll das währen?

Aeschinus. Bis du dich erbitten lassen.

Micio. Aber das heißt Gewalt brauchen.

Demea. Tu ein übriges, guter Micio.

Micio. Nun dann;--ob ich es zwar sehr unrecht, sehr abgeschmackt
finde; ob es sich schon weder mit der Vernunft noch mit meiner
Lebensart reimet:--weil ihr doch so sehr darauf besteht; es sei!"


"Nein", sagt die Kritik; "das ist zu viel! Der Dichter ist hier mit Recht
zu tadeln. Das einzige, was man noch zu seiner Rechtfertigung sagen
könnte, wäre dieses, daß er die nachteiligen Folgen einer übermäßigen
Gutherzigkeit habe zeigen wollen. Doch Micio hat sich bis dahin so
liebenswürdig bewiesen, er hat so viel Verstand, so viele Kenntnis der
Welt gezeigt, daß diese seine letzte Ausschweifung wider alle
Wahrscheinlichkeit ist und den feinern Zuschauer notwendig beleidigen
muß. Wie gesagt also: der Dichter ist hier zu tadeln, auf alle Weise
zu tadeln!"

Aber welcher Dichter? Terenz? oder Menander? oder beide?--Der neue
englische Übersetzer des Terenz, Colman, will den größern Teil des Tadels
auf den Menander zurückschieben; und glaubt aus einer Anmerkung des
Donatus beweisen zu können, daß Terenz die Ungereimtheit seines Originals
in dieser Stelle wenigstens sehr gemildert habe. Donatus sagt nämlich:
Apud Menandrum senex de nuptiis non gravatur. Ergo Terentius euretikon.

"Es ist sehr sonderbar", erklärt sich Colman, "daß diese Anmerkung des
Donatus so gänzlich von allen Kunstrichtern übersehen worden, da sie, bei
unserm Verluste des Menanders, doch um so viel mehr Aufmerksamkeit
verdienet. Unstreitig ist es, daß Terenz in dem letzten Akte dem Plane
des Menanders gefolgt ist: ob er nun aber schon die Ungereimtheit, den
Micio mit der alten Mutter zu verheiraten, angenommen, so lernen wir doch
vom Donatus, daß dieser Umstand ihm selber anstößig gewesen, und er sein
Original dahin verbessert, daß er den Micio alle den Widerwillen gegen
eine solche Verbindung äußern lassen, den er in dem Stücke des Menanders,
wie es scheinet, nicht geäußert hatte."

Es ist nicht unmöglich, daß ein römischer Dichter nicht einmal etwas
besser könne gemacht haben, als ein griechischer. Aber der bloßen
Möglichkeit wegen möchte ich es gern in keinem Falle glauben.

Colman meinet also, die Worte des Donatus. Apud Menandrum senex de
nuptiis non gravatur, hießen so viel als: beim Menander sträubet sich der
Alte gegen die Heirat nicht. Aber wie, wenn sie das nicht hießen? Wenn
sie vielmehr zu übersetzen wären: beim Menander fällt man dem Alten mit
der Heirat nicht beschwerlich? Nuptias gravari würde zwar allerdings
jenes heißen: aber auch de nuptiis gravari? In jener Redensart wird
gravari gleichsam als ein Deponens gebraucht: in dieser aber ist es ja
wohl das eigentliche Passivum und kann also meine Auslegung nicht allein
leiden, sondern vielleicht wohl gar keine andere leiden, als sie.

Wäre aber dieses: wie stünde es dann um den Terenz? Er hätte sein
Original so wenig verbessert, daß er es vielmehr verschlimmert hätte; er
hätte die Ungereimtheit mit der Verheiratung des Micio, durch die
Weigerung desselben, nicht gemildert, sondern sie selber erfunden.
Terentius euretikon! Aber nur, daß es mit den Erfindungen der Nachahmer
nicht weit her ist!


----Fußnote

[1] Act. v. Sc. VIII.

    De. Ego vero jubeo, et in hac re, et in aliis omnibus,
      Quam maxime unam facere nos hanc familiam;
      Colere, adjuvare, adjungere. Aes. Ita quaeso pater.
    Mi. Haud aliter censeo. De. Imo hercle ita nobis decet.
      Primum hujus uxoris est mater. Mi. Quid postea?
    De. Proba, et modesta. Mi. Ita ajunt. De. Natu grandior.
    Mi. Scio. De. Parere jam diu haec per annos non potest:
      Nec qui eam respiciat, quisquam est; sola est. Mi. Quam hic rem
    agit?
    De. Hanc te aequum est ducere: et te operam, ut fiat, dare.
    Mi. Me ducere autem? De. Te. Mi. Me? De. Te inquam. Mi.
    Ineptis. De. Si tu sis homo,
      Hic faciat. Aes. Mi pater. Mi. Quid? Tu autem huic, asine,
    auscultas. De. Nihil agis,
      Fieri aliter non potest. Mi. Deliras. Aes. Sine te exorem, mi
    pater.
    Mi. Insanis, aufer. De. Age, da veniam filio. Mi. Satin' sanus es?
      Ego novus maritus anno demum quinto et sexagesimo
      Fiam; atque anum decrepitam ducam? Idne estis auctores mihi?
    Aes. Fac; promisi ego illis. Mi. Promisti autem? de te largitor
    puer.
    De. Age, quid, si quid te majus oret? Mi. Quasi non hoc sit maximum.
    De. Da veniam. Aes. Ne gravere. De. Fac, promitte. Mi. Non
    omittis?
    Aes. Non; nisi te exorem. Mi. Vis est haec quidem. De. Age
    prolixe Micio.
    Mi. Etsi hoc mihi pravum, ineptum, absurdum, atque alienum a vita mea
      Videtur: si vos tantopere istuc vultis. Fiat.--

----Fußnote



Hundert und erstes, zweites, drittes und viertes Stück
Den 19. April 1768

Hundert und erstes bis viertes?--Ich hatte mir vorgenommen, den Jahrgang
dieser Blätter nur aus hundert Stücken bestehen zu lassen. Zweiundfunfzig
Wochen, und die Woche zwei Stück, geben zwar allerdings hundertundviere.
Aber warum sollte, unter allen Tagewerkern, dem einzigen wöchentlichen
Schriftsteller kein Feiertag zustatten kommen? Und in dem ganzen Jahre
nur viere: ist ja so wenig!

Doch Dodsley und Compagnie haben dem Publico, in meinem Namen,
ausdrücklich hundert und vier Stück versprochen. Ich werde die guten
Leute schon nicht zu Lügnern machen müssen.

Die Frage ist nur, wie fange ich es am besten an?--Der Zeug ist schon
verschnitten: ich werde einflicken oder recken müssen.--Aber das klingt
so stümpermäßig. Mir fällt ein,--was mir gleich hätte einfallen sollen:
die Gewohnheit der Schauspieler, auf ihre Hauptvorstellung ein kleines
Nachspiel folgen zu lassen. Das Nachspiel kann handeln, wovon es will,
und braucht mit dem Vorhergehenden nicht in der geringsten Verbindung zu
stehen.--So ein Nachspiel dann mag die Blätter nun füllen, die ich mir
ganz ersparen wollte.

Erst ein Wort von mir selbst! Denn warum sollte nicht auch ein Nachspiel
einen Prolog haben dürfen, der sich mit einem Poeta, cum primum animum ad
scribendum appulit, anfinge?

Als, vor Jahr und Tag, einige gute Leute hier den Einfall bekamen, einen
Versuch zu machen, ob nicht für das deutsche Theater sich etwas mehr tun
lasse, als unter der Verwaltung eines sogenannten Prinzipals geschehen
könne: so weiß ich nicht, wie man auf mich dabei fiel und sich träumen
ließ, daß ich bei diesem Unternehmen wohl nützlich sein könnte?--Ich
stand eben am Markte und war müßig; niemand wollte mich dingen: ohne
Zweifel, weil mich niemand zu brauchen wußte; bis gerade auf diese
Freunde!--Noch sind mir in meinem Leben alle Beschäftigungen sehr
gleichgültig gewesen: ich habe mich nie zu einer gedrungen oder nur
erboten; aber auch die geringfügigste nicht von der Hand gewiesen, zu der
ich mich aus einer Art von Prädilektion erlesen zu sein glauben konnte.

Ob ich zur Aufnahme des hiesigen Theaters konkurrieren wolle? darauf war
also leicht geantwortet. Alle Bedenklichkeiten waren nur die: ob ich es
könne? und wie ich es am besten könne?

Ich bin weder Schauspieler noch Dichter.

Man erweiset mir zwar manchmal die Ehre, mich für den letztern zu
erkennen. Aber nur, weil man mich verkennt. Aus einigen dramatischen
Versuchen, die ich gewagt habe, sollte man nicht so freigebig folgern.
Nicht jeder, der den Pinsel in die Hand nimmt und Farben verquistet, ist
ein Maler. Die ältesten von jenen Versuchen sind in den Jahren
hingeschrieben, in welchen man Lust und Leichtigkeit so gern für Genie
hält. Was in den neuerern Erträgliches ist, davon bin ich mir sehr
bewußt, daß ich es einzig und allein der Kritik zu verdanken habe. Ich
fühle die lebendige Quelle nicht in mir, die durch eigene Kraft sich
emporarbeitet, durch eigene Kraft in so reichen, so frischen, so reinen
Strahlen aufschießt: ich muß alles durch Druckwerk und Röhren aus mir
heraufpressen. Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich
nicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an
fremdem Feuer mich zu wärmen und durch die Gläser der Kunst mein Auge zu
stärken. Ich bin daher immer beschämt oder verdrüßlich geworden, wenn ich
zum Nachteil der Kritik etwas las oder hörte. Sie soll das Genie
ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem
Genie sehr nahe kömmt. Ich bin ein Lahmer, den eine Schmähschrift auf die
Krücke unmöglich erbauen kann.

Doch freilich; wie die Krücke dem Lahmen wohl hilft, sich von einem Orte
zum andern zu bewegen, aber ihn nicht zum Läufer machen kann: so auch die
Kritik. Wenn ich mit ihrer Hilfe etwas zustande bringe, welches besser
ist, als es einer von meinen Talenten ohne Kritik machen würde: so kostet
es mich so viel Zeit, ich muß von andern Geschäften so frei, von
unwillkürlichen Zerstreuungen so ununterbrochen sein, ich muß meine ganze
Belesenheit so gegenwärtig haben, ich muß bei jedem Schritte alle
Bemerkungen, die ich jemals über Sitten und Leidenschaften gemacht, so
ruhig durchlaufen können; daß zu einem Arbeiter, der ein Theater mit
Neuigkeiten unterhalten soll, niemand in der Welt ungeschickter sein
kann, als ich.

Was Goldoni für das italienische Theater tat, der es in einem Jahre mit
dreizehn neuen Stücken bereicherte, das muß ich für das deutsche zu tun
folglich bleiben lassen. Ja, das würde ich bleiben lassen, wenn ich es
auch könnte. Ich bin mißtrauischer gegen alle erste Gedanken, als De la
Casa und der alte Shandy nur immer gewesen sind. Denn wenn ich sie auch
schon nicht für Eingebungen des bösen Feindes, weder des eigentlichen
noch des allegorischen, halte:[1] so denke ich doch immer, daß die ersten
Gedanken die ersten sind, und daß das Beste auch nicht einmal in allen
Suppen obenauf zu schwimmen pflegt. Meine erste Gedanken sind gewiß kein
Haar besser, als jedermanns erste Gedanken: und mit jedermanns Gedanken
bleibt man am klügsten zu Hause.

--Endlich fiel man darauf, selbst das, was mich zu einem so langsamen,
oder, wie es meinen rüstigem Freunden scheinet, so faulen Arbeiter macht,
selbst das an mir nutzen zu wollen: die Kritik. Und so entsprang die Idee
zu diesem Blatte.

Sie gefiel mir, diese Idee. Sie erinnerte mich an die Didaskalien der
Griechen, d.I. an die kurzen Nachrichten, dergleichen selbst Aristoteles
von den Stücken der griechischen Bühne zu schreiben der Mühe wert
gehalten. Sie erinnerte mich, vor langer Zeit einmal über den
grundgelehrten Casaubonus bei mir gelacht zu haben, der sich, aus wahrer
Hochachtung für das Solide in den Wissenschaften, einbildete, daß es dem
Aristoteles vornehmlich um die Berichtigung der Chronologie bei seinen
Didaskalien zu tun gewesen.[2]--Wahrhaftig, es wäre auch eine ewige
Schande für den Aristoteles, wenn er sich mehr um den poetischen Wert der
Stücke, mehr um ihren Einfluß auf die Sitten, mehr um die Bildung des
Geschmacks darin bekümmert hätte, als um die Olympiade, als um das Jahr
der Olympiade, als um die Namen der Archonten, unter welchen sie zuerst
aufgeführet worden!

Ich war schon willens, das Blatt selbst "Hamburgische Didaskalien" zu
nennen. Aber der Titel klang mir allzu fremd, und nun ist es mir sehr
lieb, daß ich ihm diesen vorgezogen habe. Was ich in eine Dramaturgie
bringen oder nicht bringen wollte, das stand bei mir: wenigstens hatte
mir Lione Allacci desfalls nichts vorzuschreiben. Aber wie eine
Didaskalie aussehen müsse, glauben die Gelehrten zu wissen, wenn es auch
nur aus den noch vorhandenen Didaskalien des Terenz wäre, die eben dieser
Casaubonus breviter et eleganter scriptas nennt. Ich hatte weder Lust,
meine Didaskalien so kurz, noch so elegant zu schreiben: und unsere
itztlebende Casauboni würden die Köpfe trefflich geschüttelt haben, wenn
sie gefunden hätten, wie selten ich irgendeines chronologischen Umstandes
gedenke, der künftig einmal, wenn Millionen anderer Bücher
verlorengegangen wären, auf irgendein historisches Faktum einiges Licht
werfen könnte. In welchem Jahre Ludewigs des Vierzehnten, oder Ludewigs
des Funfzehnten, ob zu Paris, oder zu Versailles, ob in Gegenwart der
Prinzen vom Geblüte, oder nicht der Prinzen vom Geblüte, dieses oder
jenes französische Meisterstück zuerst aufgeführet worden: das würden sie
bei mir gesucht und zu ihrem großen Erstaunen nicht gefunden haben.

Was sonst diese Blätter werden sollten, darüber habe ich mich in der
Ankündigung erkläret: was sie wirklich geworden, das werden meine Leser
wissen. Nicht völlig das, wozu ich sie zu machen versprach: etwas
anderes; aber doch, denk' ich, nichts Schlechteres.

"Sie sollten jeden Schritt begleiten, den die Kunst, sowohl des Dichters
als des Schauspielers hier tun würde."

Die letztere Hälfte bin ich sehr bald überdrüssig geworden. Wir haben
Schauspieler, aber keine Schauspielkunst. Wenn es vor Alters eine solche
Kunst gegeben hat: so haben wir sie nicht mehr; sie ist verloren; sie muß
ganz von neuem wieder erfunden werden. Allgemeines Geschwätze darüber hat
man in verschiedenen Sprachen genug: aber spezielle, von jedermann
erkannte, mit Deutlichkeit und Präzision abgefaßte Regeln, nach welchen
der Tadel oder das Lob des Akteurs in einem besondern Falle zu bestimmen
sei, deren wüßte ich kaum zwei oder drei. Daher kömmt es, daß alles
Raisonnement über diese Materie immer so schwankend und vieldeutig
scheinet, daß es eben kein Wunder ist, wenn der Schauspieler, der nichts
als eine glückliche Routine hat, sich auf alle Weise dadurch beleidiget
findet. Gelobt wird er sich nie genug, getadelt aber allezeit viel zuviel
glauben: ja öfters wird er gar nicht einmal wissen, ob man ihn tadeln
oder loben wollen. Überhaupt hat man die Anmerkung schon längst gemacht,
daß die Empfindlichkeit der Künstler, in Ansehung der Kritik, in eben dem
Verhältnisse steigt, in welchem die Gewißheit und Deutlichkeit und Menge
der Grundsätze ihrer Künste abnimmt.--So viel zu meiner, und selbst zu
deren Entschuldigung, ohne die ich mich nicht zu entschuldigen hätte.

Aber die erstere Hälfte meines Versprechens? Bei dieser ist freilich das
Hier zur Zeit noch nicht sehr in Betrachtung gekommen,--und wie hätte es
auch können? Die Schranken sind noch kaum geöffnet, und man wollte die
Wettläufer lieber schon bei dem Ziele sehen; bei einem Ziele, das ihnen
alle Augenblicke immer weiter und weiter hinausgesteckt wird? Wenn das
Publikum fragt, was ist denn nun geschehen? und mit einem höhnischen
Nichts sich selbst antwortet: so frage ich wiederum: und was hat denn das
Publikum getan, damit etwas geschehen könnte? Auch nichts; ja noch etwas
Schlimmers, als nichts. Nicht genug, daß es das Werk nicht allein nicht
befördert: es hat ihm nicht einmal seinen natürlichen Lauf gelassen.
--Über den gutherzigen Einfall, den Deutschen ein Nationaltheater zu
verschaffen, da wir Deutsche noch keine Nation sind! Ich rede nicht von
der politischen Verfassung, sondern bloß von dem sittlichen Charakter.
Fast sollte man sagen, dieser sei: keinen eigenen haben zu wollen. Wir
sind noch immer die geschwornen Nachahmer alles Ausländischen, besonders
noch immer die untertänigen Bewunderer der nie genug bewunderten
Franzosen; alles was uns von jenseit dem Rheine kömmt, ist schön,
reizend, allerliebst, göttlich; lieber verleugnen wir Gesicht und Gehör,
als daß wir es anders finden sollten; lieber wollen wir Plumpheit für
Ungezwungenheit, Frechheit für Grazie, Grimasse für Ausdruck, ein
Geklingle von Reimen für Poesie, Geheule für Musik uns einreden lassen,
als im geringsten an der Superiorität zweifeln, welche dieses
liebenswürdige Volk, dieses erste Volk in der Welt, wie es sich selbst
sehr bescheiden zu nennen pflegt, in allem, was gut und schön und erhaben
und anständig ist, von dem gerechten Schicksale zu seinem Anteile
erhalten hat.--

Doch dieser Locus communis ist so abgedroschen, und die nähere Anwendung
desselben könnte leicht so bitter werden, daß ich lieber davon abbreche.

Ich war also genötiget, anstatt der Schritte, welche die Kunst des
dramatischen Dichters hier wirklich könnte getan haben, mich bei denen zu
verweilen, die sie vorläufig tun müßte, um sodann mit eins ihre Bahn mit
desto schnellern und größern zu durchlaufen. Es waren die Schritte,
welche ein Irrender zurückgehen muß, um wieder auf den rechten Weg zu
gelangen und sein Ziel gerade in das Auge zu bekommen.

Seines Fleißes darf sich jedermann rühmen: ich glaube, die dramatische
Dichtkunst studiert zu haben; sie mehr studiert zu haben, als zwanzig,
die sie ausüben. Auch habe ich sie so weit ausgeübet, als es nötig ist,
um mitsprechen zu dürfen: denn ich weiß wohl, so wie der Maler sich von
niemanden gern tadeln läßt, der den Pinsel ganz und gar nicht zu führen
weiß, so auch der Dichter. Ich habe es wenigstens versucht, was er
bewerkstelligen muß, und kann von dem, was ich selbst nicht zu machen
vermag, doch urteilen, ob es sich machen läßt. Ich verlange auch nur eine
Stimme unter uns, wo so mancher sich eine anmaßt, der, wenn er nicht dem
oder jenem Ausländer nachplaudern gelernt hätte, stummer sein würde, als
ein Fisch.

Aber man kann studieren, und sich tief in den Irrtum hineinstudieren. Was
mich also versichert, daß mir dergleichen nicht begegnet sei, daß ich das
Wesen der dramatischen Dichtkunst nicht verkenne, ist dieses, daß ich es
vollkommen so erkenne, wie es Aristoteles aus den unzähligen
Meisterstücken der griechischen Bühne abstrahieret hat. Ich habe von dem
Entstehen, von der Grundlage der Dichtkunst dieses Philosophen meine
eigene Gedanken, die ich hier ohne Weitläufigkeit nicht äußern könnte.
Indes steh' ich nicht an, zu bekennen (und sollte ich in diesen
erleuchteten Zeiten auch darüber ausgelacht werden!), daß ich sie für ein
ebenso unfehlbares Werk halte, als die Elemente des Euklides nur immer
sind. Ihre Grundsätze sind ebenso wahr und gewiß, nur freilich nicht so
faßlich, und daher mehr der Schikane ausgesetzt, als alles, was diese
enthalten. Besonders getraue ich mir von der Tragödie, als über die uns
die Zeit so ziemlich alles daraus gönnen wollen, unwidersprechlich zu
beweisen, daß sie sich von der Richtschnur des Aristoteles keinen Schritt
entfernen kann, ohne sich ebensoweit von ihrer Vollkommenheit zu
entfernen.


----Fußnote

[1] An opinion John de la Casa, archbishop of Benevento, was afflicted
with--which opinion was,--that whenever a Christian was writing a book
(not for his private amusement, but) where his intent and purpose was
bona fide, to print and publish it to the world, his first thoughts were
always the temptations of the evil one.--My father was hugely pleased
with this theory of John de la Casa; and (had it not cramped him a little
in his creed) I believe would have given ten of the best acres in the
Shandy estate, to have been the broacher of it;--but as he could not have
the honour of it in the litteral sense of the doctrine, he took up with
the allegory of it. Prejudice of education, he would say, is the devil
etc. ("Life and Op. of Tristram Shandy", Vol. V. p. 74.)

[2] ("Animadv. in Athenaeum Libr." VI. cap. 7.) Didaskalia accipitur pro
eo scripto, quo explicatur ubi, quando, quomodo et quo eventu fabula
aliqua fuerit acta.--Quantum critici hac diligentia veteres chronologos
adjuverint, soli aestimabunt illi, qui norunt quam infirma et tenuia
praesidia habuerint, qui ad ineundam fugacis temporis rationem primi
animum appulerunt. Ego non dubito, eo potissimum spectasse Aristotelem,
cum Didaskalias suas componeret.--

----Fußnote



Nach dieser Überzeugung nahm ich mir vor, einige der berühmtesten Muster
der französischen Bühne ausführlich zu beurteilen. Denn diese Bühne soll
ganz nach den Regeln des Aristoteles gebildet sein; und besonders hat man
uns Deutsche bereden wollen, daß sie nur durch diese Regeln die Stufe der
Vollkommenheit erreicht habe, auf welcher sie die Bühnen aller neuern
Völker so weit unter sich erblicke. Wir haben das auch lange so fest
geglaubt, daß bei unsern Dichtern, den Franzosen nachahmen, ebensoviel
gewesen ist, als nach den Regeln der Alten arbeiten.

Indes konnte das Vorurteil nicht ewig gegen unser Gefühl bestehen. Dieses
ward, glücklicherweise, durch einige englische Stücke aus seinem
Schlummer erwecket, und wir machten endlich die Erfahrung, daß die
Tragödie noch einer ganz andern Wirkung fähig sei, als ihr Corneille und
Racine zu erteilen vermocht. Aber geblendet von diesem plötzlichen
Strahle der Wahrheit, prallten wir gegen den Rand eines andern Abgrundes
zurück. Den englischen Stücken fehlten zu augenscheinlich gewisse Regeln,
mit welchen uns die französischen so bekannt gemacht hatten. Was schloß
man daraus? Dieses: daß sich auch ohne diese Regeln der Zweck der
Tragödie erreichen lasse; ja, daß diese Regeln wohl gar schuld sein
könnten, wenn man ihn weniger erreiche.

Und das hätte noch hingehen mögen!--Aber mit diesen Regeln fing man an,
alle Regeln zu vermengen und es überhaupt für Pedanterei zu erklären, dem
Genie vorzuschreiben, was es tun, und was es nicht tun müsse. Kurz, wir
waren auf dem Punkte, uns alle Erfahrungen der vergangnen Zeit mutwillig
zu verscherzen; und von den Dichtern lieber zu verlangen, daß jeder die
Kunst aufs neue für sich erfinden solle.

Ich wäre eitel genug, mir einiges Verdienst um unser Theater beizumessen,
wenn ich glauben dürfte, das einzige Mittel getroffen zu haben, diese
Gärung des Geschmacks zu hemmen. Darauf losgearbeitet zu haben, darf ich
mir wenigstens schmeicheln, indem ich mir nichts angelegner sein lassen,
als den Wahn von der Regelmäßigkeit der französischen Bühne zu
bestreiten. Gerade keine Nation hat die Regeln des alten Drama mehr
verkannt, als die Franzosen. Einige beiläufige Bemerkungen, die sie über
die schicklichste äußere Einrichtung des Drama bei dem Aristoteles
fanden, haben sie für das Wesentliche angenommen und das Wesentliche
durch allerlei Einschränkungen und Deutungen dafür so entkräftet, daß
notwendig nichts anders als Werke daraus entstehen konnten, die weit
unter der höchsten Wirkung blieben, auf welche der Philosoph seine Regeln
kalkuliert hatte.

Ich wage es, hier eine Äußerung zu tun, mag man sie doch nehmen, wofür
man will!--Man nenne mir das Stück des großen Corneille, welches ich
nicht besser machen wollte. Was gilt die Wette?--

Doch nein; ich wollte nicht gern, daß man diese Äußerung für Prahlerei
nehmen könne. Man merke also wohl, was ich hinzusetze: Ich werde es
zuverlässig besser machen,--und doch lange kein Corneille sein,--und doch
lange noch kein Meisterstück gemacht haben. Ich werde es zuverlässig
besser machen;--und mir doch wenig darauf einbilden dürfen. Ich werde
nichts getan haben, als was jeder tun kann,--der so fest an den
Aristoteles glaubet, wie ich.

Eine Tonne, für unsere kritische Walfische! Ich freue mich im voraus, wie
trefflich sie damit spielen werden. Sie ist einzig und allein für sie
ausgeworfen; besonders für den kleinen Walfisch in dem Salzwasser
zu Halle!--

Und mit diesem Übergange,--sinnreicher muß er nicht sein,--mag denn der
Ton des ernsthaftem Prologs in den Ton des Nachspiels verschmelzen, wozu
ich diese letztern Blätter bestimmte. Wer hätte mich auch sonst erinnern
können, daß es Zeit sei, dieses Nachspiel anfangen zu lassen, als eben
der Hr. Stl., welcher in der deutschen Bibliothek des Hrn. Gemeimerat
Klotz den Inhalt desselben bereits angekündiget hat?[1]--

Aber was bekömmt denn der schnakische Mann in dem bunten Jäckchen, daß er
so dienstfertig mit seiner Trommel ist? Ich erinnere mich nicht, daß ich
ihm etwas dafür versprochen hätte. Er mag wohl bloß zu seinem Vergnügen
trommeln; und der Himmel weiß, wo er alles her hat, was die liebe Jugend
auf den Gassen, die ihm mit einem bewundernden Ah! nachfolgt, aus der
ersten Hand von ihm zu erfahren bekommt. Er muß einen Wahrsagergeist
haben, trotz der Magd in der Apostelgeschichte. Denn wer hätte es ihm
sonst sagen können, daß der Verfasser der Dramaturgie auch mit der
Verleger derselben ist? Wer hätte ihm sonst die geheimen Ursachen
entdecken können, warum ich der einen Schauspielerin eine sonore Stimme
beigelegt und das Probestück einer andern so erhoben habe? Ich war
freilich damals in beide verliebt: aber ich hätte doch nimmermehr
geglaubt, daß es eine lebendige Seele erraten sollte. Die Damen können es
ihm auch unmöglich selbst gesagt haben: folglich hat es mit dem
Wahrsagergeiste seine Richtigkeit. Ja, weh uns armen Schriftstellern,
wenn unsere hochgebietende Herren, die Journalisten und
Zeitungsschreiber, mit solchen Kälbern pflügen wollen! Wenn sie zu ihren
Beurteilungen, außer ihrer gewöhnlichen Gelehrsamkeit und
Scharfsinnigkeit, sich aus noch solcher Stückchen aus der geheimsten
Magie bedienen wollen: wer kann wider sie bestehen?

"Ich würde", schreibt dieser Hr. Stl. aus Eingebung seines Kobolds, "auch
den zweiten Band der Dramaturgie anzeigen können, wenn nicht die
Abhandlung wider die Buchhändler dem Verfasser zu viel Arbeit machte, als
daß er das Werk bald beschließen könnte."

Man muß auch einen Kobold nicht zum Lügner machen wollen, wenn er es
gerade einmal nicht ist. Es ist nicht ganz ohne, was das böse Ding dem
guten Stl. hier eingeblasen. Ich hatte allerdings so etwas vor. Ich
wollte meinen Lesern erzählen, warum dieses Werk so oft unterbrochen
worden; warum in zwei Jahren erst, und noch mit Mühe, so viel davon
fertig geworden, als auf ein Jahr versprochen war. Ich wollte mich über
den Nachdruck beschweren, durch den man den geradesten Weg eingeschlagen,
es in seiner Geburt zu ersticken. Ich wollte über die nachteiligen Folgen
des Nachdrucks überhaupt einige Betrachtungen anstellen. Ich wollte das
einzige Mittel vorschlagen, ihm zu steuern. Aber, das wäre ja sonach
keine Abhandlung wider die Buchhändler geworden? Sondern vielmehr, für
sie: wenigstens, der rechtschaffenen Männer unter ihnen; und es gibt
deren. Trauen Sie, mein Herr Stl., Ihrem Kobolde also nicht immer so
ganz! Sie sehen es: was solch Geschmeiß des bösen Feindes von der Zukunft
noch etwa weiß, das weiß es nur halb.--

Doch nun genug dem Narren nach seiner Narrheit geantwortet, damit er sich
nicht weise dünke. Denn eben dieser Mund sagt: Antworte dem Narren nicht
nach seiner Narrheit, damit du ihm nicht gleich werdest! Das ist:
antworte ihm nicht so nach seiner Narrheit, daß die Sache selbst darüber
vergessen wird; als wodurch du ihm gleich werden würdest. Und so wende
ich mich wieder an meinen ernsthaften Leser, den ich dieser Possen wegen
ernstlich um Vergebung bitte.

Es ist die lautere Wahrheit, daß der Nachdruck, durch den man diese
Blätter gemeinnütziger machen wollen, die einzige Ursache ist, warum sich
ihre Ausgabe bisher so verzögert hat, und warum sie nun gänzlich
liegenbleiben. Ehe ich ein Wort mehr hierüber sage, erlaube man mir, den
Verdacht des Eigennutzes von mir abzulehnen. Das Theater selbst hat die
Unkosten dazu hergegeben, in Hoffnung, aus dem Verkaufe wenigstens einen
ansehnlichen Teil derselben wieder zu erhalten. Ich verliere nichts
dabei, daß diese Hoffnung fehlschlägt. Auch bin ich gar nicht ungehalten
darüber, daß ich den zur Fortsetzung gesammelten Stoff nicht weiter an
den Mann bringen kann. Ich ziehe meine Hand von diesem Pfluge ebenso gern
wieder ab, als ich sie anlegte. Klotz und Konsorten wünschen ohnedem, daß
ich sie nie angelegt hätte; und es wird sich leicht einer unter ihnen
finden, der das Tageregister einer mißlungenen Unternehmung bis zu Ende
führet und mir zeiget, was für einen periodischen Nutzen ich einem
solchen periodischen Blatte hätte erteilen können und sollen.

Denn ich will und kann es nicht bergen, daß diese letzten Bogen fast ein
Jahr später niedergeschrieben worden, als ihr Datum besagt. Der süße
Traum, ein Nationaltheater hier in Hamburg zu gründen, ist schon wieder
verschwunden: und soviel ich diesen Ort nun habe kennen lernen, dürfte er
auch wohl gerade der sein, wo ein solcher Traum am spätesten in Erfüllung
gehen wird.

Aber auch das kann mir sehr gleichgültig sein!--Ich möchte überhaupt
nicht gern das Ansehen haben, als ob ich es für ein großes Unglück
hielte, daß Bemühungen vereitelt worden, an welchen ich Anteil genommen.
Sie können von keiner besondern Wichtigkeit sein, eben weil ich Anteil
daran genommen. Doch wie, wenn Bemühungen von weiterm Belange durch die
nämlichen Undienste scheitern könnten, durch welche meine gescheitert
sind? Die Welt verliert nichts, daß ich, anstatt fünf und sechs Bände
Dramaturgie, nur zwei an das Licht der Welt bringen kann. Aber sie könnte
verlieren, wenn einmal ein nützlicheres Werk eines bessern
Schriftstellers ebenso ins Stecken geriete; und es wohl gar Leute gäbe,
die einen ausdrücklichen Plan darnach machten, daß auch das nützlichste,
unter ähnlichen Umständen unternommene Werk verunglücken sollte
und müßte.

In diesem Betracht stehe ich nicht an und halte es für meine
Schuldigkeit, dem Publico ein sonderbares Komplott zu denunzieren. Eben
diese Dodsley und Compagnie, welche sich die Dramaturgie nachzudrucken
erlaubet, lassen seit einiger Zeit einen Aufsatz, gedruckt und
geschrieben, bei den Buchhändlern umlaufen, welcher von Wort zu Wort
so lautet:

Nachricht an die Herren Buchhändler

Wir haben uns mit Beihilfe verschiedener Herren Buchhändler entschlossen,
künftig denenjenigen, welche sich ohne die erforderlichen Eigenschaften
in die Buchhandlung mischen werden, (wie es, zum Exempel, die
neuaufgerichtete in Hamburg und anderer Orten vorgebliche Handlungen
mehrere) das Selbst-Verlegen zu verwehren, und ihnen ohne Ansehen
nachzudrucken; auch ihre gesetzten Preise allezeit um die Hälfte zu
verringern. Die diesen Vorhaben bereits beigetretene Herren Buchhändler,
welche wohl eingesehen, daß eine solche unbefugte Störung für alle
Buchhändler zum größten Nachteil gereichen müsse, haben sich
entschlossen, zu Unterstützung dieses Vorhabens eine Kasse aufzurichten,
und eine ansehnliche Summe Geld bereits eingelegt, mit Bitte, ihre Namen
vorerst noch nicht zu nennen, dabei aber versprochen, selbige ferner zu
unterstützen. Von den übrigen gutgesinnten Herren Buchhändlern erwarten
wir demnach zur Vermehrung der Kasse desgleichen und ersuchen, auch
unsern Verlag bestens zu rekommandieren. Was den Druck und die Schönheit
des Papiers betrifft, so werden wir der ersten nichts nachgeben; übrigens
aber uns bemühen, auf die unzählige Menge der Schleichhändler genau
achtzugeben, damit nicht jeder in der Buchhandlung zu höcken und zu
stören anfange. So viel versichern wir, so wohl als die noch zutretende
Herren Mitkollegen, daß wir keinem rechtmäßigen Buchhändler ein Blatt
nachdrucken werden; aber dagegen werden wir sehr aufmerksam sein, sobald
jemanden von unserer Gesellschaft ein Buch nachgedruckt wird, nicht
allein dem Nachdrucker hinwieder allen Schaden zuzufügen, sondern auch
nicht weniger denenjenigen Buchhändlern, welche ihren Nachdruck zu
verkaufen sich unterfangen. Wir ersuchen demnach alle und jede Herren
Buchhändler dienstfreundlichst, von alle Arten des Nachdrucks in einer
Zeit von einem Jahre, nachdem wir die Namen der ganzen Buchhändler-
Gesellschaft gedruckt angezeigt haben werden, sich loszumachen oder zu
erwarten, ihren besten Verlag für die Hälfte des Preises oder noch weit
geringer verkaufen zu sehen. Denenjenigen Herren Buchhändlern von unsre
Gesellschaft aber, welchen etwas nachgedruckt werden sollte, werden wir
nach Proportion und Ertrag der Kasse eine ansehnliche Vergütung
widerfahren zu lassen nicht ermangeln. Und so hoffen wir, daß sich auch
die übrigen Unordnungen bei der Buchhandlung mit Beihilfe gutgesinnter
Herren Buchhändler in kurzer Zeit legen werden.

Wenn die Umstände erlauben, so kommen wir alle Ostermessen selbst nach
Leipzig, wo nicht, so werden wir doch desfalls Kommission geben. Wir
empfehlen uns Deren guten Gesinnungen und verbleiben Deren getreuen
Mitkollegen,

J. Dodsley und Compagnie.

Wenn dieser Aufsatz nichts enthielte, als die Einladung zu einer genauern
Verbindung der Buchhändler, um dem eingerissenen Nachdrucke unter sich zu
steuern, so würde schwerlich ein Gelehrter ihm seinen Beifall versagen.
Aber wie hat es vernünftigen und rechtschaffenen Leuten einkommen können,
diesem Plane eine so strafbare Ausdehnung zu geben? Um ein paar armen
Hausdieben das Handwerk zu legen, wollen sie selbst Straßenräuber werden?
"Sie wollen dem nachdrucken, der ihnen nachdruckt." Das möchte sein; wenn
es ihnen die Obrigkeit anders erlauben will, sich auf diese Art selbst zu
rächen. Aber sie wollen zugleich das Selbst-Verlegen verwehren. Wer sind
die, die das verwehren wollen? Haben sie wohl das Herz, sich unter ihren
wahren Namen zu diesem Frevel zu bekennen? Ist irgendwo das
Selbst-Verlegen jemals verboten gewesen? Und wie kann es verboten sein?
Welch Gesetz kann dem Gelehrten das Recht schmälern, aus seinem
eigentümlichen Werke alle den Nutzen zu ziehen, den er möglicherweise
daraus ziehen kann? "Aber sie mischen sich ohne die erforderlichen
Eigenschaften in die Buchhandlung." Was sind das für erforderliche
Eigenschaften? Daß man fünf Jahre bei einem Manne Pakete zubinden
gelernt, der auch nichts weiter kann, als Pakete zubinden? Und wer darf
sich in die Buchhandlung nicht mischen? Seit wenn ist der Buchhandel eine
Innung? Welches sind seine ausschließenden Privilegien? Wer hat sie
ihm erteilt?

Wenn Dodsley und Compagnie ihren Nachdruck der Dramaturgie vollenden, so
bitte ich sie, mein Werk wenigstens nicht zu verstümmeln, sondern auch
das getreulich nachdrucken zu lassen, was sie hier gegen sich finden. Daß
sie ihre Verteidigung beifügen--wenn anders eine Verteidigung für sie
möglich ist--werde ich ihnen nicht verdenken. Sie mögen sie auch in einem
Tone abfassen oder von einem Gelehrten, der klein genug sein kann, ihnen
seine Feder dazu zu leihen, abfassen lassen, in welchem sie wollen:
selbst in dem so interessanten der Klotzischen Schule, reich an allerlei
Histörchen und Anekdötchen und Pasquillchen, ohne ein Wort von der Sache.
Nur erkläre ich im voraus die geringste Insinuation, daß es gekränkter
Eigennutz sei, der mich so warm gegen sie sprechen lassen, für eine Lüge.
Ich habe nie etwas auf meine Kosten drucken lassen und werde es
schwerlich in meinem Leben tun. Ich kenne, wie schon gesagt, mehr als
einen rechtschaffenen Mann unter den Buchhändlern, dessen Vermittelung
ich ein solches Geschäft gern überlasse. Aber keiner von ihnen muß mir es
auch verübeln, daß ich meine Verachtung und meinen Haß gegen Leute
bezeigen in deren Vergleich alle Buschklepper und Weglaurer wahrlich
nicht die schlimmern Menschen sind. Denn jeder von ihnen macht seinen
coup de main für sich: Dodsley und Compagnie aber wollen
bandenweise rauben.

Das beste ist, daß ihre Einladung wohl von den wenigsten dürfte angenommen
werden. Sonst wäre es Zeit, daß die Gelehrten mit Ernst darauf dächten,
das bekannte Leibnizische Projekt auszuführen.

Ende des zweiten Bandes


----Fußnote

[1] Neuntes Stück, S. 56.

----Fußnote



Verzeichnis der Theaterstücke

geordnet nach Autorennamen

John Banks: Der Graf von Essex
Augustin David de Brueys: Der Advokat Patelin
Giovanni Maria Cecchi: Die Mitgift
Chevalier de Cérou: Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter
Pierre Corneille: Rodogune
Thomas Corneille: Der Graf von Essex
Johann Friedrich Cronegk: Olint und Sophronia
Philippe Néricault Destouches: Das Gespenst mit der Trommel
Philippe Néricault Destouches: Das unvermutete Hindernis
Philippe Néricault Destouches: Der poetische Dorfjunker
Philippe Néricault Destouches: Der verborgene Schatz
Philippe Néricault Destouches: Der verheiratete Philosoph
Denis Diderot: Der Hausvater
Pierre Laurent Dormont du [de] Belloy: Zelmire
Frederik Duim: Zaïre
Charles Simon Favart: Soliman der Zweite
Christian Fürchtegott Gellert: Die kranke Frau
Luise Adelgunde Gottsched: Die Hausfranzösin
Françoise d'Issembourg-d'Happoncourt de Graffigny: Cenie
Jean Baptiste Louis Gresset: Sidney
Franz Heufeld: Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe
Theodor Gottlieb von Hippel: Der Mann nach der Uhr
Johann Christian Krüger: Herzog Michel
Pierre Claude Nivelle de la Chaussée: Die Mütterschule
Pierre Claude Nivelle de la Chaussée: Melanide
Thomas l'Affichard: Ist er von Familie?
Marc Antoine le Grand: Der sehende Blinde
Marc Antoine le Grand: Der Triumph der vergangenen Zeit
Gotthold Ephraim Lessing: Der Freigeist
Gotthold Ephraim Lessing: Der Schatz
Gotthold Ephraim Lessing: Miß Sara Sampson
Johann Friedrich Löwen: Die neue Agnese
Johann Friedrich Löwen: Das Rätsel
Francesco Scipione Maffei: Merope
Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Der Bauer mit der Erbschaft
Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Der unvermutete Ausgang
Pierre Carlet de Camplain de Marivaux: Die falschen Vertraulichkeiten
Molière: Die Frauenschule
Gottlieb Konrad Pfeffel: Der Schatz
Philemon von Syrakus: Der Schatz
Plautus: Trinummus
Philippe Quinault: Die kokette Mutter
Jean François Regnard: Demokrit
Jean François Regnard: Der Spieler
Jean François Regnard: Der Zerstreute
Karl Franz Romanus: Die Brüder
Germain François Poullain de Saint-Foix: Der Finanzpachter
Johann Elias Schlegel: Der Triumph der guten Frauen
Johann Elias Schlegel: Die stumme Schönheit
Voltaire: Das Kaffeehaus
Voltaire: Die Frau, die recht hat
Voltaire: Merope
Voltaire: Nanine
Voltaire: Semiramis
Voltaire: Zaïre
Christian Felix Weiße: Amalia
Christian Felix Weiße: Richard der Dritte



Verzeichnis der Theaterstücke

geordnet nach Titeln


Amalia (Christian Felix Weiße)
Cenie (Françoise d'Issembourg-d'Happoncourt de Graffigny)
Das Gespenst mit der Trommel (Philippe Néricault Destouches)
Das Kaffeehaus (Voltaire)
Das Rätsel (Johann Friedrich Löwen)
Das unvermutete Hindernis (Philippe Néricault Destouches)
Demokrit (Jean François Regnard)
Der Advokat Patelin (Augustin David de Brueys)
Der Bauer mit der Erbschaft (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux)
Der Finanzpachter (Germain François Poullain de Saint-Foix)
Der Freigeist (Gotthold Ephraim Lessing)
Der Graf von Essex (John Banks)
Der Graf von Essex (Thomas Corneille)
Der Hausvater (Denis Diderot)
Der Liebhaber als Schriftsteller und Bedienter (Chevalier de Cérou)
Der Mann nach der Uhr (Theodor Gottlieb von Hippel)
Der poetische Dorfjunker (Philippe Néricault Destouches)
Der Schatz (Gotthold Ephraim Lessing)
Der Schatz (Gottlieb Konrad Pfeffel)
Der Schatz (Philemon von Syrakus)
Der sehende Blinde (Marc Antoine le Grand)
Der Spieler (Jean François Regnard)
Der Triumph der guten Frauen (Johann Elias Schlegel)
Der Triumph der vergangenen Zeit (Marc Antoine le Grand)
Der unvermutete Ausgang (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux)
Der verborgene Schatz (Philippe Néricault Destouches)
Der verheiratete Philosoph (Philippe Néricault Destouches)
Der Zerstreute (Jean François Regnard)
Die Brüder (Karl Franz Romanus)
Die falschen Vertraulichkeiten (Pierre Carlet de Camplain de Marivaux)
Die Frau, die recht hat (Voltaire)
Die Frauenschule (Molière)
Die Hausfranzösin (Luise Adelgunde Gottsched)
Die kokette Mutter (Philippe Quinault)
Die kranke Frau (Christian Fürchtegott Gellert)
Die Mitgift (Giovanni Maria Cecchi)
Die Mütterschule (Pierre Claude Nivelle de la Chaussée)
Die neue Agnese (Johann Friedrich Löwen)
Die stumme Schönheit (Johann Elias Schlegel)
Herzog Michel (Johann Christian Krüger)
Ist er von Familie? (Thomas l'Affichard)
Julie, oder Wettstreit der Pflicht und Liebe (Franz Heufeld)
Melanide (Pierre Claude Nivelle de la Chaussée)
Merope (Francesco Scipione Maffei)
Merope (Voltaire)
Miß Sara Sampson (Gotthold Ephraim Lessing)
Nanine (Voltaire)
Olint und Sophronia (Johann Friedrich Cronegk)
Richard der Dritte (Christian Felix Weiße)
Rodogune (Pierre Corneille)
Semiramis (Voltaire)
Sidney (Jean Baptiste Louis Gresset)
Soliman der Zweite (Charles Simon Favart)
Trinummus (Plautus)
Zaïre (Frederik Duim)
Zaïre (Voltaire)
Zelmire (Pierre Laurent Dormont du [de] Belloy)


Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Hamburgische Dramaturgie, von
Gotthold Ephraim Lessing.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Hamburgische Dramaturgie" ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home