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Title: Die Stufe - Fragment einer Liebe
Author: Mann, Franziska
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die Stufe - Fragment einer Liebe" ***


  Franziska Mann

  Die Stufe
  Fragment einer Liebe


    [Abbildung: Mosaik Verlag]


  Im Mosaik Verlag zu Berlin
  1922



_Mosaik-Bücher * Band 3_

  Dieses Buch wurde für die _Mosaik Verlag_ G.m.b.H. bei Gebrüder
  Rennert in Berlin gedruckt. Einband und Druckanordnung von Erich
  Büttner. Die Verse im Text sind von L. Avellis. Alle Rechte,
  insbesondere das der Uebersetzung und Verfilmung vorbehalten.
  Copyright by Mosaik Verlag G.m.b.H., Berlin W. 50. 1922.



_Maria an Roland._


Roland, sind Sie leichtsinnig! Laufen Sie lieber vor mir davon. Oder
ist Leichtsinn immer eine Krankheit -- chronisch bei den einen, akuter
Natur bei den anderen? Nicht nur einfach abzuschütteln --, Heilbarkeit
unsicher? Noch ist es Zeit! Ich warne Sie! Verpassen Sie nicht den
rechten Augenblick zur Flucht. Sie sind fünfundzwanzig Mal im Laufe der
Jahre am zehnten Mai vorübergeschritten, ich an diesem Frühlingstage,
der auch mich die Reise ins Leben beginnen ließ, zweiundvierzig Mal.
Es bleibt eine gewagte Angelegenheit, schön und gefährlich, dieses „die
Seelen sind von keinem Alter.“ Sehen Sie sich lieber die blonden und die
braunen Mädel an, deren gibt es so viele.

Und doch möchte ich Ihnen helfen. Sie brauchen einen _Menschen_. Ich
könnte der rechte Mensch für Sie sein. Nur dürfen Sie nicht an Liebe
denken; sie verwirrt immer, sie würde alles verderben. --

Nach allgemeinen Begriffen weiß ich wenig von Ihnen. Aber nie war ich
begierig, Menschen, an die mich ein seelisches Fluidum zu binden begann,
in hergebrachter Form _kennen_ zu lernen. Genießen wollte ich einen
Blick, eine Stimme, den leisen Druck einer Hand. Ganz nur Gegenwart
sollte mich umfangen, beleben, vielleicht auch berauschen, aber kennen?
Nein, kennen ist drohender Alltag. Ich will meine Viertelstunde,
unbekümmert um alles Gewesene. (Solch eine Viertelstunde kann lange
währen, sie wird nach besonderem Maß gemessen.) Die nach mir kommen,
mögen die ihre haben. Verstehen Sie das? Treu bin ich nicht, habe
nie treu in hergebrachter Vorstellung sein wollen. Freunde, welche
unbewegliches Festhalten brauchen, sind neben mir zu beklagen. Für
mein Empfinden gibt es Wertvolleres als starres Beharren. Glauben Sie,
Roland: Alles hat seine Zeit. --

Allmählich bin ich so etwas wie eine Seelensucherin geworden. Weiß
selbst nicht, wie es gekommen ist. Nie habe ich diese Eigenart -- oder
darf ich sagen dieses Talent? -- absichtlich in mir gesteigert, habe
nie aufgehört, sie als Begnadung zu empfinden. Manchem wurde ich zur
Lebenswende, zur Stufe in freiere, befreite Welten. Für das Glück der
Vielen war ich nie geschaffen. Vielleicht vermochte ich Einigen die
Kraft zur Einsamkeit zu stärken; vielleicht lehrte ich Einige sich
selbst kennen zu lernen, half ihnen, eine andere Lebensresonanz zu
erlauschen. Ich vergaß nie, daß ich nicht mehr werden konnte als ein
Mörtelträger: sein Schloß kann sich jeder nur allein errichten, seinen
Tempel oder sein Alltagshaus. --

Immer bin ich mir klar gewesen, nicht auf das Beieinander_bleiben_ kommt
es an, sondern auf die Spuren, die wir in fremder Seele zurückzulassen
vermögen. Das nenne ich Treue, ist _mir_ Treue. Und doch habe ich
manchem etwas fürs Leben zu geben gehabt. Ich weiß, daß das einzig
Sichere der Wandel ist; nie habe ich jemanden halten wollen; meist war
ich es wohl, die fort war, innerlich schon ein wenig entfernt, bevor der
andere es entdeckte. Doch nicht stets schritt ich nur aus Menschenliebe
weiter, so selbstlos war ich nicht; oft lockte mich schon leise, ganz
leise, eine fremde Seele. Mit ihr mich zu vereinen, trieb es mein Herz;
denn immer hat auch mein Herz seinen Anteil haben wollen. Durch
wunderbare Gefilde bin ich geschritten, -- frei und doch gefesselt.
Nein, ich hätte nicht immer nur denselben Garten durchwandeln können.
Ich liebte es, Neuland zu entdecken. Dort, wo viele nur kahles Feld
sahen, ahnte ich bereits wogendes Blühen. Ohne Mühe neigten sich mir
tausend -- den Vielen nicht sichtbare -- Herrlichkeiten entgegen. --

So einfach, Roland, dürfen Sie sich nun aber nicht das Wiederlösen
vorstellen. Man muß Schmerzen lautlos zu tragen vermögen, muß sinnend
nachschauen können, muß die zuckenden Lippen fest aufeinander zu
pressen lernen; man muß zuletzt _ertragen_ können, wozu anfangs durchaus
keine Tragfähigkeit notwendig dünkte. Gerade Ihnen möchte ich meine
Vereinigung mit den Vielen -- jenen seltsamen Zwang, der mir Fremde
leicht in die Nächsten wandelt -- ohne Gefallsucht deuten, jene
Augenblicke, in denen ich glaube, nicht mehr zurückweichen zu können,
obgleich nichts Sichtbares, nicht das geringste äußerlich Bindende mich
hält. Und doch habe ich mich oft, (oder soll ich sagen _zu_ oft?) gerade
in dieser Form fesseln lassen; denn ein Gefesseltsein gehört zu jener
Hingabe, die auch von Glut durchpulst sein muß, wenn sie vollkommen
schön sein soll. Aber ich zergliedere nicht, sobald meine Seele sich
an eine fremde Seele schmiegt -- das schlösse von Beginn an jede
Unbefangenheit aus. Ich möchte von einem unstillbaren Hang zur
Verschwendung sprechen, unheilbar und unhemmbar. Mir geht es wie
dem Künstler, der sich in immer neue Gebilde verliert, die seine
schaffenstrunkene Phantasie formt. Kommt doch auch für ihn so
überraschend schnell eine Zeit, in der er ohne Extase vor einer
Schöpfung steht, die einmal Inhalt all seines Denkens und Fühlens
gewesen ist. Ihm selbst unergründliche Gewalten reißen ihn zu neuen
Schöpfungen, in deren Bann er sich wehrlos verlieren muß. --

Dies alles aber berührt nicht das Bestehen von Vereinigungen festen
und dauernden Gepräges. In diesen Freundschaften nimmt man sich hin,
wie man ist, geheimnist nichts ineinander hinein, vergleicht nicht mit
erträumter Vollkommenheit, ruht aus in mitfühlender Innigkeit, erwartet
nicht letztes Verstehen und genießt doch ein schönes Beglücktsein in
dieser Freunde Nähe. Im geheimen aber schämen wir uns vor ihnen der
Hoffnungen, die nie sterben wollen, des Durstes nach dem Unbekannten,
des immer Bereitbleibens, weiter in nebelverhangene Lande zu wandern.
Erst der Tod kann uns von diesen Freunden trennen, nie das Leben. Nur
den Wunsch nach Hingerissenheit können sie uns in dem gleichförmigen,
wenn auch gesünderem Tale, in dem sie leben, nicht erfüllen. _Sie_
belächeln unsere Himmelsträume, soweit sie sie zu ahnen vermögen.
Stürme, die kräftiges, neues Werden künden, kennen _sie_ nicht.

Gelänge es mir doch, Ihnen diese scheinbare Erkaltung, von der ich
vorher schrieb, diese Zwiespältigkeit meines Fühlens, dieses gefaßt
dem Wandel Entgegengehen verständlich zu machen. Mich dünkt, als wollte
selbst die weite Natur nicht unveränderliches Beharren. Sie bereichert,
auch wenn sie scheinbar verarmt; ihre Gesetzmäßigkeit ist’s ja auch, die
uns zuweilen wie Grausamkeit erscheinen kann; denn Wachstum wehrt sich
gegen kraftlos Gewordenes; es stößt Welkendes ab, mögen wir es auch in
leiser Wehmut fallen sehen. Nur die Gewißheit ersiegen wir uns
schließlich doch: nichts von allem früheren, das uns einst kostbar
dünkte, kann jemals wieder ganz verloren gehen. Ein Schimmer bleibt und
beglückt und kann aufleuchten wie in den Augenblicken, da wir die lange
schon Entfernten, die Weitergewanderten, die von uns Zurückgelassenen
oder die über uns Hinfortgestiegenen am stärksten zu lieben glaubten. --

Roland, haben Sie immer noch Mut zu mir? Wären Sie doch ein weibliches
Wesen, dann beunruhigte mich nicht der Gedanke, Sie könnten sich tief in
mich versenken. Gestern irrte sekundenlang ein Fremdes durch Ihren
Blick; dieses Fremden halber erhalten Sie heute statt der gewohnten
Zettel einen so langen Brief, lieber großer Junge, von

      Ihrer Mutter.



_Roland an Maria._


Liebe Frau Maria, doch, ich habe Mut. Wie immer es auch kommen mag! Sie
lächeln: „Kommen mag?“ Was sollte zwischen Ihnen und mir, der immer nur
Einer zwischen Vielen war, kommen? Nichts an mir berechtigte je zu
besonderen Hoffnungen, eher wohl zu besonderen Sorgen. Da waren meine
fünf Brüder ganz andere Kerle, begabt und draufgängerisch. Die erste Tat
in meinem ganzen Leben ist der Besuch bei Ihnen gewesen; ja, _Tat_ muß
ich es nennen. Unbeirrbar, ohne Zögern nahm ich den Weg, der an Ihre
Schwelle führte. Jeden Tag bin ich wiedergekommen, bewußt
wiedergekommen, weil ich entschlossen bin, meine Seligkeit festzuhalten;
Seligkeit, auch wenn sie mich vernichtet.

Immer kann ich noch bis drei Uhr der schweigsame Bankbuchhalter sein,
genau bis drei Uhr. Aber dann? Sagen Sie, was bin ich dann?

Oberflächlich, nur ganz oberflächlich, möchte ich Ihnen doch endlich
schnell etwas von meinem Werdegang, der nie ein richtiger Werdegang
wurde, sagen. Die Stunde neben Ihnen ist zu schade, Sie von der einzigen
Kunst zu unterrichten, die ich bisher verstand, von der: klein zu
bleiben. --

Meine Eltern sind froh gewesen, als ich mit dem Reifezeugnis nach Hause
kam. Ohne dieses Zeugnis hätte mein Vater mir unter keiner Bedingung
irgend welche Lebenstüchtigkeit zugetraut. Alles, was nicht zu _der_
Reife gehörte, machte einen Jungen in unserer kleinen Stadt lächerlich
und mußte im Geheimen betrieben werden. So wurde jeder Gedanke in glatte
Alltagsbahnen gepreßt. Niemand um mich sprach Silben, die nicht
deutlich, fest und bestimmt ausdrückten, was sie ausdrücken sollten.
Kein Wort hörte ich, das zu den Sternen wollte. Ich wurde nicht bleich,
nicht schwermütig, -- nur alltäglich.

Das Gefürchtetste bei uns bestand darin, sich irgendwie hervorzutun.
Dazu genügte schon ein Hut, welcher anders war, als die Hüte der
Mehrzahl; überhaupt hatten wir immer nur wie die Mehrzahl zu sein.
Ausnahmegesetze erkannte mein Vater nicht an. Nie hat, so sehe ich es
jetzt, ein frischer Wind durch unsere kleine Stadt geweht, der ihre
heilige Ordnung hätte bedrohen können. Unantastbar blieb der Glaube an
die Autorität, besonders an die Autorität der Gesellschaft. Mir fehlte,
-- Bismarck rügte es treffend an fast all seinen Zeitgenossen:
Zivilcourage. In den wenigen Monaten hier habe ich endlich erkannt, daß
in der Wissenschaft, in der Kunst _der_ sehr viel weniger gilt, der
Besonderes zuerst sagte, als _der_, welcher sich als Erster mutig Gehör
zu schaffen verstand, und so weiß ich nicht mehr mit Bestimmtheit, ob
sich unter meiner Gebundenheit nicht doch etwas regen könnte, das mich
wenigstens, -- verstehen Sie dieses „wenigstens“ nicht falsch -- Ihnen
näher bringen könnte. --

„Zivilcourage“ rufe ich mir also zu und berichte weiter: Verse, die ich
heimlich, als ich noch zur Schule ging, mit Leidenschaft niederschrieb,
hatten meinen Ruf nicht einwandfrei gemacht. Ich sollte ein Schwärmer
sein, ein Träumer, war vielleicht schon auf denselben Abwegen wie mein
Großvater, der -- Mutter vertraute es mir feierlich und warnend und
weinend an -- hinterm Zaum auf der Landstraße zugrunde gegangen ist.
Immer wurde mir der Großvater als warnendes Beispiel vorgeführt, nie
aber erfuhr ich deutlich, worin seine Laster eigentlich bestanden haben.
-- Zwei Tage hindurch wagte ich einmal einen geschlungenen
Künstlerschlips zu tragen. Das Halloh, mit dem mich Groß und Klein
anbrüllte, ließ mehr als nur den Schlips verschwinden; es duckte mich
klaftertief. -- Bis zum Tode meines Vaters blieb ich in unserer
Kleinstadt, in der Mühle, die langsam das zerrieb, aus dem ich, wäre man
barmherziger damit verfahren, vielleicht ein wirkliches Leben hätte
formen können. -- Hier die wenigen Monate duldeten bisher kein
Umschauen. Ich habe mich zu ernähren, habe mich Aufgaben zu widmen, die,
weiß der Himmel, nicht großartige sind. --

Vielleicht sahen Sie, als Sie mich vor zwei Wochen Ihrer Beachtung
würdigten, den Früheren in mir, den Anderen, nicht _nur_ den simplen
Bankbuchhalter. --

Ich soll jung sein, meinen die Leute; auch Sie sagten es, Frau Maria;
also müßte es wahr sein. Aber sind _Sie_ nicht viel jünger? Sie haben
sich Ihren Glauben an alles Hohe, Ihre Begeisterung für alles Schöne
durch ein gewiß nicht leichtes Leben bewahrt. Wie konnten Sie das? Ich
dagegen? Vielleicht bin ich nie jung gewesen, nie so jung, wie Sie
heute, wenngleich es mir jetzt so leicht erscheint, mit Ihnen die Fahrt
ins Jugendland zu beginnen. Nein, ich _begann_ diese Fahrt nie; gleich
die erste Stunde allein neben Ihnen, Frau Maria, in Ihrem Heim, erweckte
in mir den Wahn, Kühnheit habe von jeher auch mich ausgezeichnet. So
selbstverständlich wird durch Ihre Nähe alles gesteigert.

Sie werden zu verstehen versuchen, wie es gekommen ist, daß ich mich so
früh mit einem ungelebten Leben abfand. Vererbung, Erziehung,
Lebensumstände mögen die Sklavenhalter gewesen sein, die gelassen zu
Tode peitschen wollten, was nicht stark genug in mir war, sich jubelnd
aus der kläglichen Gebundenheit zu befreien. Noch kann ich nicht
erkennen, wohin mich die Befreiung führen soll, ob sie erheben oder
vernichten will; jetzt aber, in diesen leuchtenden Tagen, erfüllt sie
mich mit nie gekannter Freude.

Sie wünschen keine Liebe, Frau Maria; die meine ist bereits zu groß,
um sie Ihnen verheimlichen zu können. _Sie_ sind so oft in Ihrem Leben
geliebt worden, Sie haben so oft selbst geliebt, daß Sie ein Gefühl
nicht erschrecken wird, von dessen Sterblichkeit Sie, wie Sie mir
versicherten, überzeugt sind. Ich muß Ihnen glauben; denn ich kannte
Liebe nicht. Mir aber bleibt dieses Gefühl für Sie das Wunder, von dem
ich weiß, daß es mich zu großen Taten befähigen _muß_. Welcher Art diese
Taten sein können, -- in wie hohem Grade überflüssig für die Welt, und
wie zwingend ihre Ausübung für mich, -- wir wollen es nicht zu ergrübeln
versuchen. Lassen Sie dieses „wir“ gelten; denn, Frau Maria, mögen Sie
auch getreu Ihrer Auffassung von Liebe und Freundschaft und Neubelebung
nicht gerade neben mir zu ungewohnt langem Harren gezwungen werden: zu
früh dürfen Sie Ihren Jünger nicht zum Alleinweiterwandern verurteilen.
Nein, das können Sie nicht, auch wenn Sie es wollten.

Viele Briefe werde ich Ihnen noch schreiben dürfen, viele noch von Ihnen
empfangen, und die Tür zu Ihrem Zimmer wird sich mir lange noch täglich
für eine Abendstunde öffnen. --

Entdeckte ich doch eine schönere Ausdrucksform für das zitternde
Empfinden, das mich, seitdem ich nur an Sie zu denken vermag,
durchströmt! Diese eckigen, armseligen Worte mißfallen mir gründlich.

Viel tausend Grüße sendet Ihnen

    Ihr törichter Junge

      Roland.



_Maria an Roland._


Roland, langsam, wie werdender Frühling, vollzieht sich oft die
Vereinigung von Seelen, aber das Schicksal jagt auch Menschen so rasch
zueinander, wie zwei Blätter, die der Sturm von entfernten Bäumen riß,
um sie dann in dieselbe winzige Erdfurche zu wehen, auf ein so kleines
Fleckchen Erde, als sei nirgends sonst Raum gerade für diese beiden.
_Wir_ sind wohl dem letzten Tempo untertan. Wir! Verstehen Sie nur
dieses „wir“ nicht falsch. Sehen Sie es nicht als ewig Bindendes an;
immer wieder möchte ich es Ihnen wiederholen. Zwar sagten Sie mir: „Auch
die Schmerzen, die mir durch Sie kommen, will ich segnen.“ Aber, großes
Kind, Schmerzen sind schwer, ach, sehr schwer zu segnen. Deshalb
erinnere ich wieder und wieder an mein erstes Warnen und an -- meine
Jahre. Trotzdem kann ich nicht das „wir“ streichen, gehören ja auch Sie
zu jener kleinen Schar, für die das Dasein anders gefärbt ist, wie für
jene, die in die Welt passen, wie für die Urgesunden, die unserem
feinsten Fühlen fremd und überlegen lächelnd gegenüberstehen. Aus der
Vereinzelung will ich Sie erlösen, die Einsamkeit für Sie fruchtbar
machen. _Mehr_ will ich nicht. Glauben Sie mir, immer wird es Menschen
geben, die sich wie durch graue Fluten bewegen. Musik erfüllt sie, doch
sie empfinden sie wie Dissonanzen. Harmonien erklingen ihnen kaum, weil
sie tastend vor allem zurückweichen, was so anders, so ganz anders in
ihnen schluchzt und klagt und frohlockt, als das Glück der Vielen. Und
aus der Entsagung, die sich langsam in sie schleicht, wird Erstarrung
oder Verbitterung. Sie wissen nichts von Leidensgenossen; sie kennen
_nicht_ sich selbst oder _nur_ sich selbst. All ihr schmerzliches Fragen
verhallt ins Leere, bis ein Wunder geschieht: Eine Seele erschließt sich
der ihren. Dann aber werden aus allen verirrten Klängen köstliche
Melodien. Die grauen Flächen um sie verwandeln sich in schimmernde
Fluten. Brennende Blutwellen steigen in ihnen empor, röten ihre Wangen,
stiller Jubel umfängt sie, ein Fremdes durchdringt sie, von dem sie
nicht wissen, ist es Schmerz oder Wonne. In Dämmerferne tauchen für sie
lichte Türme empor. --

Lieber Junge, ähnlich einem Windhauch, der über stilles Wasser streicht,
so möchte ich zu Ihnen gekommen sein, oder wie ein Silberschein, der
über dunklem Gebirge schimmert. Schließen Sie die Augen, und erkennen
Sie, _wovon_ wir leben in all dem Geräusch von Komödien jeglicher Art.

      Maria.



_Roland an Maria._


Teure Frau Maria, ich kann es nicht mehr ändern, daß mein ganzes Sein
Ihnen gehört, in jeder Minute, in jeder Regung, in jedem Empfinden. Nur
das schwingt in mir weiter, was mit Ihnen im Zusammenhang steht; _Sie_
nur kann ich fühlen, nur die Wärme, die Ihre Seele ausströmt und
entfacht.

Sie sind, während ich fern von Ihnen bin, mit so vielen Menschen
zusammen, und mit allen sind Sie gütig, und Ihre Stimme klingt mit jenen
kaum anders als mit mir. Ich aber habe nur Sie, Maria. Sie wissen ja
nicht, was es in sich schließt, dieses: „nur Sie“, was es bedeutet, nur
einen einzigen Menschen zu haben. Ihre Stimme ist die erste
_menschliche_ Stimme gewesen, die ich in meinem Alleinsein je vernommen
habe: Verschollene Möglichkeiten aus den Tagen meiner Kindheit richten
sich auf, Möglichkeiten, die meinem Gedächtnis vollständig entschwunden
waren. Wollte auch ich einst großen Zielen zuwandern, und konnte doch so
rasch am Wege zusammenbrechen? Heute ist mir jeder Nerv kraftgestählt.
_Sie_ haben diese Kraft geweckt, also sind _Sie_ es, die mich geschaffen
hat. Ist es nicht natürlich, daß am Anfang das Geschöpf nur von seinem
Schöpfer weiß?

Frau Maria, erkennen Sie in mir Ihren Schüler; denn wie käme _mir_ sonst
dieses „am Anfang“ in den Sinn, mir, dem allein die Vorstellung an einen
Wandel Lästerung dünken müßte? Der erste Beweis meines Werdens kann
nichts als -- Auflehnung sein. Genügt Ihnen die Probe? Mögen Sie es
hundertmal verneinen: es _muß_ eine Liebe geben, für die es kein „am
Anfang“ gibt und kein „am Ende.“ Auf _den_ Jugendglauben mache ich
Anspruch. Ja, ich behaupte: All Ihr Liebesfühlen entbehrte unantastbarer
Echtheit; denn nur, wenn Menschen alles vergessen müssen, was die
Ewigkeit ihrer Liebe bedroht, ist ihre Liebe echt, ich meine,
unveränderlich wie ein echter Edelstein. _Sie_ haben nie alles vergessen
wollen oder vergessen können, das hat Ihr Lieben beraubt. Sind Sie denn
nie von der Leidenschaft zu einem Menschen besessen worden wie der
Märtyrer von seiner Idee, auch wenn deren Verwirklichung ihn mit
Sicherheit aufs Schaffot führen mußte, sicher und gewiß auf den
Scheiterhaufen?

Ich bettle nicht. Meine Seele ist still, weil es keine Grenzen für die
Stärke ihrer Liebe gibt. Ich werde Sie gewinnen, ganz mir gewinnen,
Maria, liebste aller Frauen.


      Ihr, Ihr Roland.



_Maria an Roland._


Unverbesserlicher, was wollen Sie mit mir „für Zeit und Ewigkeit“
anfangen? Erinnern Sie sich an das Entsetzen Ihrer früheren Mitbürger
über Ihre „Abwege“. Und auch andere werden Sie nicht verstehen.
Vielleicht werden Sie selbst sich in zehn Jahren unbegreiflich geworden
sein. Nein! Sie und ich! Die Natur kann Ihr Herz für mich nicht
gebieterisch dauernd entflammen. Aber -- hören Sie mein Bekenntnis: Ich
muß auf der Hut sein, mich von _Ihren_ Irrungen nicht locken zu lassen,
obwohl ich zu ahnen beginne, daß die herrschende Sitte verantwortlicher
für unsere Unvereinbarkeit zu machen sein könnte als die Natur, deren
Walten wohl auch zwischen uns „von Gottes Gnaden“ ist.

Wenn Liebe die größte Steigerung der in uns ruhenden Kräfte und
Möglichkeiten schafft, dann -- erwidere ich Ihre Liebe. Ich sage Ihnen
dies ganz ruhig, nur wie die Feststellung einer Tatsache. Hoffen Sie
nicht, daß ich mich Ihnen wie eine Lebensanfängerin in die Arme stürzen
werde. Nein, an Ihnen vorbei will ich mich _noch_ tiefer, _noch_
restloser meiner Kunst hingeben. --

Aber sprechen wir von etwas anderem, sprechen wir von Ihrer „Rüge“. Ja,
im Fache: „briefliche Fragen beantworten“ hat meine Zensur immer
„mangelhaft“ lauten müssen. Ich weiß es. Zwischen uns dürfte wohl das
tägliche Sehen als Milderungsgrund mit in Betracht zu ziehen sein. Eine
Stunde täglich! Ist das nicht unerlaubter Reichtum? In mir wird die
Neigung, mich in Briefen zu erschließen, besonders durch den noch nicht
verflogenen Hauch der persönlichen Nähe des mir teuren Menschen
gesteigert. Nun sind Sie also dieser „Teure“ für unbestimmte Zeit.
Genügt Ihnen das? Sie Unerfahrener wissen eben nicht, wie rasch ein
neues Erlebnis Sie von mir wegtreiben könnte. Ihrer ungelebten
Vergangenheit traue ich nicht. Sie müssen nun doch erkannt haben: das
Leben ist voller Verborgenheiten. _Ich_ wäre ohne diese Verborgenheiten
verschmachtet. Auch Sie werden zu lauschen beginnen, ohne zu wissen,
worauf Sie lauschen. Der Strom, in den unser Fühlen und Denken gleiten
kann, liegt vor uns selbst in Dunkelheit. Mit dieser schönen
Unsicherheit -- oder ist sie doch vielleicht nicht schön? -- sollte
jeder Mensch rechnen, der das beseelte Leben liebt, nicht nur der
Künstler, dem jede Stunde neue Empfängnis aus unerforschten Gründen
zufluten lassen kann.

Schon oft habe ich Sie bedauert, daß Ihre erste Liebe gerade mir gilt;
denn unerbittlich muß ich zu Zeiten meiner künstlerischen Bestimmung
gehorchen. (Sie ist nur _einer_ der vielen Gründe, die Ihre Liebe zu
einer unglücklichen machen muß.) Ich _kann_ dann nicht fragen, tue ich
Ihnen oder anderen Menschen, die zu mir gehören, wehe. Alles sonst
Wesentliche scheint ausgelöscht, wenn auch ein helles Erinnern unbewußt
durch mein Werk fließen kann. Kann! -- hören Sie? -- kann, nicht muß.
Des Künstlers Reich ist wahrlich nicht von dieser Welt. Einer
unnennbaren Gewalt hat er sich zu beugen, den Ueberraschungen einer
elementaren Kraft sich hinzugeben, von der er nicht weiß, wohin sie ihn
zwingen kann. Im Schaffensdrang betrügt er seine Nächsten. Nein, er
betrügt sie nicht; denn er weiß nichts mehr von ihnen, sobald er sich
ganz in seine Kunst verliert, sobald er sich von ihr willig und freudig
umschlingen läßt. Nur während der Pausen, in denen er diesen
Schaffensrausch für erstorben und erstickt hält, vermag er mit den
anderen Schritt zu halten, die besser, viel besser sein können als er,
die er lieben und bewundern mag, und von denen ihn doch sein Anderssein
trennt, vor denen er oft geradezu auf der Flucht sein muß, wenn er
_sich_ bewahren will. Was bedeutet dagegen körperliche Hingabe? Sie kann
die Verirrung einer Stunde sein. Wir Künstler, wir, die wir eigentlich
nur leben, solange wir maßlos in unserem Empfinden schwelgen, sind die
gefährlichsten Täuscher. In jedem Dunkel können für _uns_ Funken
flammen, die uns zu Lichtstegen gen Himmel werden. Daß diese Lichtbahnen
immer wieder zu Boden sinken müssen, verringert ihre Schönheit nicht. --
Könnten doch auch Sie, Roland, diese Lichtstege gewahren!

Seit gestern nenne ich Sie im stillen nur noch: Meine Ueberraschung!
Leicht zu deuten, nicht wahr? In jedem Ihrer letzten Briefe, in jeder
unserer Stunden lösen Sie mit überraschender Natürlichkeit, mit
sprunghafter Schnelle das, was Sie neulich Ihre „Gebundenheit“ nannten.
Frei von gewollter Anempfindung wird Ihre Ausdrucksform der meinen
seltsam ähnlich, und doch gleiten Sie überraschend leicht und mühelos in
geistige Selbständigkeit hinein. Ohne heroisches Kämpfen stehen Sie
plötzlich am anderen Ufer. Ich muß also anfangen, bei Ihnen schon jetzt
mit unvorherzusehender Unerschrockenheit zu rechnen. „Meine
Ueberraschung“ nenne ich Sie aber auch deshalb, vielleicht mit noch viel
größerer Berechtigung, seitdem ich fühle, daß eine höchst
unwahrscheinliche Veränderung in raschestem Tempo auch -- mich bedroht.

      Maria.



_Roland an Maria._


Maria, aller Frauen liebste, ich verstehe, was Sie mir zu erklären
versuchten, verstehe es, wie wenn ich zu denen gehörte, die den Menschen
etwas zu geben haben. Hat die Schwungkraft, mit der Sie mich behexten,
vielleicht meinen Kopf verwirrt? Ich begriffe es, wenn diese
unerwarteten Merkwürdigkeiten dem Bankbuchhalter Roland total die
Besinnung raubten. Nie wieder wird er so ruhige Tage durchdämmern wie
einst.

Maria, welch ein Glück ist meine -- Verirrung.

Rasch muß ich Ihnen aber von einem unerklärlichen Traumspiel -- oder
Trancezustand? -- berichten, den ich erlebte, nicht etwa erfand: In
dieser letzten meiner jetzt fast stets schlaflosen Nächte vernahm ich
plötzlich deutlich eine Stimme, die mir Worte, viele Worte zuraunte. Nur
wie ein Raunen wars, vielleicht kam es garnicht aus fremder Seele --
vielleicht aus der meinen. Ich schrieb unter einem seltsam
unerklärlichen Zwange Worte nieder, in denen sich heute in hellem
Tageslicht der Widerhall meines eigenen Gefühls offenbart.

Erinnern Sie sich, daß ich jüngst von den eckigen Worten sprach, von der
unvollkommenen Form für ein so gewaltiges Empfinden, wie das meinige für
Sie? Wäre es möglich, daß ich, ohne es zu wissen, im Besitz jener Form
gewesen bin? Ich vermag dieses Glück nicht durchzudenken; ich darf diese
Vorstellung nicht nähren, sie wäre Wahnsinn -- --

In Ihrem Zimmer, neben Ihnen, möchte ich Ihnen das kleine Lied vorlesen,
von dem ich nicht weiß, ob es „etwas“ sein könnte, von dem nur eines
gewiß ist: es entströmte der Wonne meines überseligen Herzens.

      Ihr Roland.



_Maria an Roland._


Mein Junge, während mein Blick wieder und wieder auf das Blatt mit
Deinen großen, steilen Buchstaben fällt, vernehme ich den Ton Deiner
Stimme, die bebend und doch schicksalsergeben hier in meinem Zimmer noch
jetzt zu verkünden scheint:

  „Wie heißer Kuß ist oft das erste Du --
  Zwei glühende, von Sehnsucht schwere Herzen,
  Die zitternd brennen wie geweihte Kerzen,
  Sie sinken taumelnd sich einander zu.

  Und war doch nur ein altgewohntes Wort,
  Das oftmals achtlos floß von ihren Lippen,
  Und reißt sie nun -- hin über Fels und Klippen --
  Ins unermessne Meer der Liebe fort -- --“

Mit einem so gewaltigen Uebermaß von Glück überströmten mich Deine
Verse, daß ich garnicht zu mir selbst zurückfinden möchte -- nicht so
rasch zurückfinden; denn, zurück muß ich ja doch, zurück.

Dein Lied, das mich erschreckt und erschüttert hat und aufgewühlt bis
ins tiefste Innere, täuscht noch immer den Atem Deiner Nähe vor --
obwohl Du mich vor einer Stunde verlassen hast. -- Aber sagen? Was
könnte ich Dir über die Wirkung (welch eine lächerliche Bezeichnung)
dieser zwei heißen Verse _sagen_?

Roland, ich, die ich bisher stets im Fluge mein Wollen und Wünschen,
mein Empfinden auszudrücken vermochte, habe eine Weile auf das leere
Blatt gestarrt und nicht gewußt, was ich Dir schreiben könnte. Auch mich
bedrückt die Armseligkeit meiner Worte, genau wie Dich die Deine. --

Nicht nur Deine Verse erweckten in mir den Wahn, ich hätte noch nie
einen Frühling erlebt wie diesen. Dein Glaube an mich stimmt mich jetzt
immer feiertäglich. Du hast -- verzeihe den etwas pathetischen Ausdruck
-- mein Weltbild ganz verändert.

Offenheit ist mir zwischen Menschen, die ich _mein_ nenne, stets so
natürlich, so naturgewollt erschienen wie das Erblühen einer Knospe. Ich
denke aber nicht an das vergröbernde „sich alles sagen“; nein, der
Wesenszug, den ich meine, ist zarteren Ursprungs. Das von dem
veränderten Weltbilde mußte ich Dir also berichten. Dagegen halte ich es
für gefährlich (ich meine niederziehend) über jeden alltäglichen
Kleinkram und Kleinkrieg miteinander zu sprechen. Dergleichen schweigt
man tot, redet es nicht „lebendig.“

Oft ist unser Gespräch tief in die Tage Deiner frühen Jugend geglitten.
Deine Kindheit, die von Verkennung und seelischer Erniedrigung ganz
erfüllt war, mußte in Deine Brust Aengste und Entsetzen schleudern,
deren Spuren unverlöschbar sind. Meine Kindheit glich einer langsam
aufsteigenden Morgenröte. Wieviel ich dieser Sonne schulde, weiß ich
erst, seitdem mir so viele, ganz verschieden geartete Menschen von
Fangarmen sprachen, die sich ihr ganzes Leben hindurch nach ihnen
ausstreckten, oder die sich an sie krallten, und die doch nichts anderes
waren als Hemmungen und Verängstigungen aus den Tagen ihrer frühen
Jugend. Die schlimmsten Morde sind unsichtbar und bleiben
straffrei. -- --

Mein lieber Junge, schon oft erfuhr ich es an mir: jedes tiefe Lieben
verstärkt unsere Eigenliebe. Oder weißt Du einen besseren Ausdruck für
diese Ichsucht? Vertausendfacht ist die Bedeutung der eigenen
Persönlichkeit vor uns selber. Was sind wir? Sind wir liebenswert?
Anscheinend längst verlassene Kalvarienwege liegen plötzlich wieder
grell beleuchtet neben uns, Stationen, die wir für alle Zeit verlassen
zu haben wähnten, tauchen auf und fordern gebieterisch erneutes
Erinnern.

Nie bin ich mir so fremd gewesen wie in den letzten Tagen. Wohin
entschwand das Erschrecken über ein Gefühl, das so vieles fortschwemmen
konnte von dem, was ich bisher kühn „meine Ueberzeugung“ nannte?

Bist Du je auf taufrischem Waldpfad dahingewandert, ganz hingenommen von
morgendlicher Stille -- und dann plötzlich kam eine schroffe Wegbiegung,
tosender Sturm brach an und schleuderte Dir Hagelschlossen in die Augen?
Wir wissen oft nicht, welches Schauspiel plötzlich eine unbekannte
Gegend vor uns aufrollen könnte. Wie sollten wir auch auf der weiten
Erde so genau Bescheid wissen? Und dennoch mögen wir in ihr besser auf
Naturerscheinungen vorbereitet sein, als in der engbegrenzten Welt
unseres eigenen Herzens. Wir wissen nicht, welche Summe an vorher
ungeahntem Empfinden noch in uns schlummert, welcher Steigerung unsere
Seele fähig ist, welchem Brausen unser Blut unterworfen sein könnte,
wieviel unerlöste Seligkeiten unsere Brust birgt. Roland, wie
selbstherrlich bin ich doch gewesen! Ich lächle über mich -- --

So oft ich Deinen täglichen Brief nun in Händen halte, verflüchtigt sich
alles irdisch Lastende. Für Augenblicke ist mein Zimmer in rosiges Licht
getaucht, oft nur sekundenlang. Und doch verdanke ich diesen paar
rascheren Herzensstößen eine nicht zu erschütternde Siegesstimmung für
beschattete spätere Tagesstunden. Konnte ich Dir trotzdem gestern
erklären, daß dieses _häufige_ Schreiben „nicht nötig“ sei? Ich
widerrufe, -- ach, wie viel von meiner trügerischen „Abgeklärtheit“ habe
ich zu widerrufen! Hoffentlich überzeugte ich Dich nicht gestern. Das
wäre traurig. -- In der singenden Stunde dieses Abends, im Lindenduft,
der durch die weitgeöffneten Fenster flutet, im Weiterbeben Deines
Liedes in mir, empfinde ich die Möglichkeit Deines Schweigens wie ein
Unglück. Drei Tage keinen Brief von Dir zu wollen, hieße dreimal ein
beseligendes Heute selbst ermorden. Wie konnte ich glauben, ich bedürfe
nicht täglich von neuem der Versicherung, daß ich Dir herrliche Welten
geschaffen habe, daß es nicht mehr derselbe Himmelsraum ist, der über
Dir glänzt, nicht mehr dieselbe Nacht, die Dich in ihre Finsternis
hüllt? Als ob man Liebe überhaupt begriffe! Schreiben wir uns denn, weil
wir uns schreiben _wollen_? Schrieben wir uns denn bisher nicht, weil
wir einander schreiben _mußten_? Sind diese Bangnisse und Erhebungen --
Briefe? Glauben wir doch uns dieses Ueberflüssige gerade dann offenbaren
zu müssen, nachdem wir eben einander ins Auge geschaut; und dünkte uns
dieser Nachhall nicht gerade dann notwendig? _Der_ Tag, an dem ich
aufgehört haben werde, auf Deinen Brief zu _warten_, erscheint mir heute
tödlich. Wäre ich in Deinem Alter, so glaubte ich, daß dieser Tag _nie_
kommen kann. Aber, Roland, lieber Junge, ich bin _so_ weit entfernt von
Deinem Alter. _Ich_ weiß um die raschen Todesfahrten der Liebe, weiß,
daß sie königlich aufbaut und kalt niederzureißen vermag, daß sie Helden
und Märtyrer schafft, daß sie durch Palmenhaine geleitet und in
Eisesgrüfte stößt, weiß, daß Liebe eigentlich stets in Lebensgefahr ist.
Ja, all dieses weiß ich und kann doch der Versuchung nicht widerstehen,
die kaum vernehmbar mir unermüdlich in den letzten Tagen zuhaucht, daß
sie wieder ein Recht habe, sich geltend zu machen, dasselbe Recht mich
zu überglühen wie die Sonne. Oder sollten konventionelle Bedenken die
Sonne verdunkeln können? Ich habe kein Talent zur Zaghaftigkeit, gar
kein Talent zum Verarmen. Vielleicht stellte mich eine weise Fügung
wieder einmal in einen Lebens-Brennpunkt. Man muß sich ja nicht über
jede kurze Wonne „im klaren“ sein. Ich bange nicht mehr! Mir ist dieses
ahnungsschwere Zittern Wirklichkeit genug; nach keiner anderen
Wirklichkeit wird meine Liebe zu Dir je verlangen.

      Maria, vielleicht doch _Deine_ Maria?



_Roland an Maria._


Maria, wie hat Dein Brief mich beseelt. Ich lebe nur ganz in der
Gegenwart; in dieser Fähigkeit entdeckte ich das Geheimnis der
Lebenskunst. Ich glaube, Cromwell war’s, welcher ausrief: „Der kommt am
weitesten, der nicht weiß, wohin er geht.“ Die Vergangenheit ist in mir
untergegangen, mein einstiges einförmiges Leben scheine ich nie gelebt
zu haben. Was kümmert es mich, wohin eine Welle mich schleudern will?
Ich weiß nur von dem einen, Dich täglich sehen, Deine Stimme täglich
vernehmen zu müssen, ein wenig Deine Hand täglich streicheln zu dürfen.
Frei und sicher bewege ich mich, wie nie vordem. Tiefe Hingabe an ein
neues Lebensgefühl wandelt mir alles zu Ueberraschungen, deren
wundersamste die ist, selbstschöpferisch die Welt zu empfinden. Auch
dieses: „selbstschöpferisch“ ist eine Huldigung für Dich, Maria;
vielleicht, Deiner Auffassung entsprechend, die wertvollste. _Deine_
Lebenskraft konnte übertragbar sein wie Fieber, das Funken und Flammen
sehen läßt, auch dort, wo nüchternere Menschen nur graue Asche gewahren.
Solltest Du dennoch Recht haben, daß dieses Fieber vergehen könnte, ohne
daß der Wille Gewalt darüber hat? Glaube, mein Wille hätte über eines
mit Gewißheit Gewalt: Ueber den Tod. Ich ließe mir nicht die Welt
entheiligen. --

Willst Du anderes hören, denn nur von meinem Empfinden für Dich?
Könntest Du dieses Gesprächs je müde werden? Maria, laß _das_ Meer
brausen, aufschäumen, toben, von dem _Du_ erfahren zu haben glaubst,
auch seine höchsten Wellen konnten verebben. Wie vertrugst Du in
ständiger Wiederkehr solch Verarmen? _Muß_ man denn nicht daran zu
Grunde gehen?

Du bemühtest Dich gestern, mir wieder klar zu machen, daß Du mich trotz
allem nicht an Dich zu fesseln wünschst. Dieses Gefesseltsein ist nicht
mehr in Deine Macht gegeben. Ob Du es willst oder nicht: ich bin bei
Dir. --

Zum Lied wird der Strom, der von Dir zu mir dringt. Verse tönten auch
heute Nacht in mir, aber ich weiß nicht, ob es der Mühe lohnt, sie Dir
zu senden.

      Roland -- nur noch _Dein_ Roland.



_Maria an Roland._


Mein Junge, hatte ich nicht doch einen vorahnenden Geist, der mich
fühlen ließ, Du würdest -- allmählich, plötzlich, gleichgiltig wann und
wodurch -- die Welt mit den Augen des Schaffenden betrachten? Ich dachte
damals nur an die Kraft _des_ Dichtens, die sich darin äußert, sich die
Welt nicht verstümmeln, vergällen, verbittern zu lassen. Ich dachte an
innere Unverletzbarkeit, an Sonnenblicke, die nie erlöschen können.
Du schliefst, bist erwacht, bist entfesselt; Dein Leben beginnt. Was
konntest _Du_ von der _Welt_ verlangen, solange Du selbst nicht bereit
warst, _Dich_ ihr zu geben? Nun bist Du bereit, das verändert alles.
Aber, daß Deine dichtende Seele sich immer wieder nur mir zuwendet,
ist eine Gefahr für uns beide, und doch ist meine Kraft nicht mehr so
stark, wie am Beginn, um Dich dieser Gefahr entreißen zu können. An
Unwandelbares dachte ich ja niemals, Du weißt es; vielleicht aber begeht
Kälte größere Sünden als Leidenschaft. Ich fange an, die Hoffnung
aufzugeben, wir Menschen könnten dieses unübersehbar tiefe Gefühlsfeld
je auch nur annähernd richtig ergründen. --

Gestern sollte ich Dir erklären, wie es möglich gewesen, daß keine
Lebensverwundung mir mein Lächeln nehmen konnte. Natur -- die eigene --
und Geschick waren meine Helfer. Mir ging es genau wie jener Greisin,
von der ich Dir jetzt erzählen will. Sie saß träumend auf einem Stein an
blühendem Feldwege, als ein Sonnenstrahl sie fragte:

„Wann habe ich Dich doch zum ersten Male beobachtet? Ja, ja, ich
erinnere mich, damals, als Dir kein Baum zu hoch war, hinaufzuklettern;
Du warst eben in die Schule geschickt und konntest das Stillsitzen nicht
leicht lernen.“ --

„Ja, damals,“ lächelte die Alte --

„Und weißt Du, wann ich Dich wiedergesehen habe? Dir flogen lange Locken
um den Nacken und Arm in Arm wandeltest Du mit „ihm“ durch blumige
Wiesen“ --

„Ja, damals,“ wiederholte die Alte --

„Und später sah ich Dich, als Du beseligt ein Kindchen durch Deinen
Garten trugst -- als Du wähntest, Mutterglück mache unverwundbar“ --

„Ja, damals.“

„Und wieder strahlte ich Dich an, als Du Dich um eine Schar armer,
verwahrloster Menschen bemühtest“ --

„Ja, damals,“ lächelte gütig die Greisin --

„Und einige Jahre später sah ich Dich, da gingst Du schon nicht mehr
ganz so aufrecht, und deutlich zeigten sich graue Haare“ --

„Ja, damals,“ lächelte die Alte --

„Und dann begegnete ich Dir mehrmals auf Friedhöfen“ --

„Ja, damals,“ wiederholte versonnen die Alte --

„Und nun scheine ich schon lange über Deinen schneeigen Scheitel, und
längst hast Du das Tanzen verlernt, und viel hast Du zurückgeben müssen
von dem, was Dein war an Glauben und Glück, und fast immer finde ich
Dich allein, aber noch hast Du Licht in den Augen. Sage mir, Alte,
worüber kannst _Du_ noch lächeln? Andere, wenn sie in Deine Jahre
gekommen sind, klagen und seufzen. Du jedoch, deren Antwort immer nur
ein „damals, ja damals“ war, Du _lächelst_ --?“

„Das wundert Dich, Strahl, der Du das Licht zu sein glaubst? Fühlst Du
denn nicht, daß jedes „damals“ von einem Besitz -- einer Wonne -- einer
Seligkeit -- einem Vertrauen -- einem Glauben -- einer Stärke zeugt? Und
ich sollte nicht lächeln, so oft ich mich sinnend wieder in all diesen
Reichtum verliere? Aber nicht nur Erinnerung ist’s, aus der mein Lächeln
geboren wird: Solange auch nur _ein_ Wesen zu mir gehört, um das ich
mich sorgen _darf_, solange ich zu erkennen vermag, daß Kämpfer leben,
die sich bemühen, die Welt gesünder und die Menschen größer zu machen,
solange kann _mein_ Lächeln nicht sterben -- -- --“

Roland, lieber Junge, ist diese Alte nicht meine Blutsverwandte? Kämpfe
auch Du mit all Deines Herzens Glut und Kraft immer von neuem für die
Menschheit, ganz besonders dann, wenn Du Dich von eigener Mühseligkeit
und Belastung befreien willst. Die Verteilung der Güter ist gar nicht so
ungerecht, als sie vielen bei nur oberflächlicher Betrachtung erscheint;
denn -- nur ein Beispiel: Wessen wäre die Schuld gewesen, -- oder wie
immer ich die Unterlassung nennen sollte -- wenn Du Dich weiter mit
schwacher, wesenloser Sehnsucht beschieden hättest? --

Komm so früh Du kannst; ich warte.

      Maria.



_Roland an Maria._


Einzige, ich weiß nicht, ob Du auch das verstehen wirst: Mit der
Leidenschaft für Dich ist der Glaube zusammengeschmiedet, irgend etwas
vollbringen zu müssen. Stelle ich mir vor, wieviel Jahre ich ohne Dich
sein konnte -- ich sage nicht _leben_ konnte -- so fasse ich es
allenfalls. Man kann ja auch in der Dürre ein Dasein fristen; toben aber
möchte ich darüber, daß es mir an Denkmut gebrach, mir ein einziges Tor
aufzustoßen. Für _jeden_ ist doch _sein_ Tor da, _nur_ aufzureißen muß
er es verstehen. Dieser Lahmheit schäme ich mich vor mir selbst am
meisten. Welch ein Schwächling war ich! Kaum etwas wie Träume hatte ich
noch zu begraben! Hin und wieder, ganz selten, während ich mechanisch
einige Augenblicke auf die vielen Zahlenreihen vor mir starrte, streifte
mich flüchtig die Vorstellung: gleichgiltig -- gleichgiltig -- einmal
wird es kommen. Aber nichts tat ich, dieses „einmal“ in meinem
Bewußtsein wenigstens zu klären. --

Vergiß nicht, Maria, auch wenn ich von mir spreche, spreche ich
eigentlich von Dir. In meiner Brust muß „es“ doch gewesen sein, weshalb
konnte ich es nicht allein aus den Schalen schlagen, in die es sich
verkapselt hatte? Wie konnte ich mich so gelassen in die trostlosen
Willkürlichkeiten des Alltags finden?

Kunst! Kunst! Mit welchem Recht weise ich die Vorstellung nicht mehr wie
Einfältigkeit oder Wahnsinn von mir, daß sie mich an sich bannen will,
daß ich auf meine Weise eine Sekunde lang _in die Zeit_ einzugreifen
habe? Fragen, nichts als Fragen, als überflüssige Fragen, deren Qualen
von Seligkeiten doch nicht zu unterscheiden sind. --

Dies alles schreibe ich Dir in seelischer Scham. Mit dem gleichen, nein,
hundertfach verstärkten Empfinden bitte ich Dich, beigefügtes Gedicht
als Dein Eigentum zu betrachten. Es ist wieder ganz im Gefühl des
Triebhaften entstanden; ich selbst kann nicht beurteilen, ob es mir
gelang, die Macht und die Echtheit der Empfindungen, aus denen es
geboren, so zum Ausdruck zu bringen, daß es zitternd in Dir nachklingt.
_Keinen anderen Ruhm könnte ich je erstreben als den, einen Widerschein
in Deinen Blicken aufleuchten zu sehen -- keinen sonst_ -- --

Gestern, nachdem ich Dich verlassen, las ich wieder einmal Deine Briefe,
um den Strom von Güte, menschlichem Verstehen, Reinheit und -- tiefster
Zärtlichkeit zu fühlen, der von Dir ausgeht. Von der Macht dieser
Zärtlichkeit scheinst Du selbst nichts zu wissen, von dieser stillen
Innigkeit, die soviel bindender ist als Du es weißt und -- als es Dir
erwünscht ist.

Geliebteste, Du bist krank, nur wenig krank, aber ich darf Dich nicht
sehen. Schreiben konntest Du heute auch nicht. Meines täglichen Brotes
bin ich beraubt. Nur solange meine bisher ungesungenen Lieder sich wie
frohe Sieger ins Leben drängen, ertrage ich die Oede der Tage. Mit dem,
was in meinen besten Augenblicken sich in mir erhebt, kann ich nicht zu
Dir stürmen. Aber immer sehe ich Dich dennoch, ich suche Deine Hand,
meine Lippen neigen sich auf Deine schlanken Finger. Glaube mir, Maria,
nie ist eine Frau schwärmerischer und doch auch mit tieferer Ehrfurcht
geliebt worden als Du. Vergiß nun endlich, daß wir mit der herrschenden
Gesellschaftsordnung in Konflikt geraten sind. Was liegt daran?
Fürchtest Du plötzlich Dein Sondergepräge? Unmöglich: eine Natur wie Du,
muß, solange sie lebt, in gewissem Grade unabgeschlossen bleiben. Dein
Erschrecken paßt nicht zu Dir. Lasse Dich überzeugen. Noch in zehn
Jahren, nein, in zwanzig Jahren wirst Du nicht vor Umwälzungen in Deinem
Innern sicher sein. Was wußtest Du denn mit Bestimmtheit? Etwa, daß
_ich_ Dir eine neue Brücke für die Zukunft werden könnte, ich, der
Unbelebtesten einer? Du süße Warnerin wußtest ja auch nicht aus eigener
Erfahrung, daß Liebe das Rätselvollste ist und mit der Bedeutung oder
dem Wert dessen, was der andere ist, nicht im Zusammenhange stehen
muß. --

Die beiden Tage ohne Dich haben mich zum Grübler gemacht. Solange ich
denken kann, hat niemand dem, was ich fühlte, edle Teilnahme zugewandt;
-- vielleicht Alltags-Teilnahme, aber was bedeutet sie? Oft mehr Hemmung
als Befruchtung. Tausendmal werde ich es Dir wiederholen müssen: „Da
fing mein Leben an, als ich Dich liebte.“ Du allein, nur Du, Maria,
konntest mich aus der Zufallsgemeinschaft mit den Vielen erlösen.
Anfangs war es nur Deine mütterliche Heiligkeit, die mich zu Dir trieb.
Noch kann ich Dir die Sekunde genau bestimmen, welche die erste leise
Verschiebung hervorgerufen hat. Ich stand vor Dir, wie so oft bereits;
Du sprachst anspornend, anfeuernd mit mir. Nichts hatte sich verändert.
Da -- plötzlich war’s, als sähe ich überall, wohin ich blickte,
blühende, glühende Rosen. Eine seltsam verwirrende Beklemmung zitterte
minutenlang in meiner Seele. An diesem Tage kam ich zum ersten Male
nicht mehr von meiner Mutter -- nicht mehr _nur_ von meiner Mutter.
Stundenlang wanderte ich nachher am Kanal entlang. So schön, nein, so
schön war die Erde nie: alle Leute schienen Menschen geworden, die ihre
störenden Eigenschaften abgelegt hatten. Für immer glaubte ich von allem
Gewohnten und Gewöhnlichen befreit zu sein. -- Ich konnte mich nicht
entschließen, das hohe Mietshaus zu betreten, in dem ich wohne; zu weit
bin ich allem entrückt gewesen, was zwischen Mauern sein Dasein fristen
kann; ringsumher in der Luft schimmerte ein Schein, der den Tag kündete,
obwohl ich wußte, daß noch viele Stunden bis zum Sonnenaufgang verrinnen
mußten. --

Werde ich morgen, endlich, endlich wieder das Rauschen Deines Gewandes
vernehmen? Werde ich Deinen Blick fühlen, der tief und zärtlich in den
meinen sinkt? Werde ich, ehe ich noch bei Dir sein darf, meine Lippen
auf die Blätter eines Briefes pressen können?

Maria, Sancta Maria, ich liebe Dich grenzenlos.

    Dein, immer, immer

      Dein Roland.


_Nachschrift:_

Das Gedicht, welches ich mit ins Kuvert lege, bewerte nicht kritisch,
nur Dein Herz soll von seiner Echtheit ergriffen werden.

  Mein Weg zu Dir -- wie den ich deuten soll?
  Von bunten Blüten ist er übervoll,
  Die leuchten, wo mein Fuß auch immer schreitet,
  Und goldner Glanz ist über sie gebreitet.
  Kein nüchternes und graues Häusermeer
  Seh ich auf meinem Wege um mich her:
  Umspielt ist alles rings von lichtem Schimmer --
  Die Menschen, die ich treffe, lächeln immer --
  Und lächelnd schau ich ihnen ins Gesicht:
  So scheinen sie verklärt vom gleichen Licht,
  Das wohl aus meiner trunknen Seele strahlt
  Und alles, alles glühend übermalt.
  Die letzte Straße ist von Deinem Bild
  So ganz durchleuchtet und so ganz erfüllt,
  Daß Traum und Wirklichkeit sich in mir eint:
  Ist es denn Wahrheit, was wie Traum mir scheint?
  Daß Deine Sehnsucht mir entgegenbebt,
  Daß Deine Seele für die meine lebt,
  Verschwenderisch von ihrem Reichtum schenkt,
  Und -- ganz von Zärtlichkeit für mich durchtränkt --
  Mit ihrer sanften Güte mich umhaucht?
  Mein Weg zu Dir ist ganz in Licht getaucht.



_Maria an Roland._


Geliebter, ich liebe Deine Verse, liebe Deine zarte Zärtlichkeit, liebe
Dich, Dich, heute _nur_ Dich.

_Ich_ kann Dir die Stunde nicht nennen, in der ich aufhörte, Dir nichts
sein zu wollen als eine mütterliche Freundin. War es vielleicht in jener
Dämmerstunde, in der wir durch die blühende Einsamkeit meiner Wiesen
gingen -- die Sonne wollte gerade untergehen -- wir hatten zu sprechen
aufgehört -- mein Herz fühlte sich unruhig -- bewegt -- hungrig? Oder
waren es Deine Gedichte, bei deren Anhören es mir schien, als wehten
blühende Bäume mir zu Häupten, deren stillgewordene Kronen sich leise im
Winde von neuem zu regen begannen?

Doch von Deinen Versen will ich Dir schreiben. Schon jetzt beginnen sie,
Dir alles zu verwandeln; Hingerissenheit konnte Dich überfluten, der Du
nicht zu wehren vermochtest. Aber das sollst Du ja auch garnicht. Indem
Du den Gott in Dich einströmen läßt, bist Du ein Künstler; ein
schlechter vielleicht für die Welt, für Dich selbst ein begnadeter.
_Ich_ kann nicht wissen, ob ein herrisch forderndes Talent sich
plötzlich in Dir erhob, kann nicht wissen, wie hoch und wie weit es Dich
tragen wird, nur _das_ weiß ich: Der Kampf beginnt, dieser Kampf, den
ich selbst in so vielen Phasen kenne: Aus glühendem Schaffensrausch, aus
Siegesfreude wirst Du in marternde Bangnis sinken. Entsetzen vor eigener
künstlerischer Unfähigkeit wird Dich foltern. Neues Hoffen wird Dich
emporreißen. Traue der Helle in Dir mehr als allen inneren
Umdüsterungen. Und wolle, wenn es Dein Los sein soll, unterzugehen,
-- tausendmal lieber im Kampfe um die Kunst fallen, denn im Kampfe mit
dem dürren Leben.

Den immer Korrekten, immer Nüchternen sind _wir_ nur seltsam -- uns
erscheinen _sie_ armselig; _wir_ schauen Verborgenes, von dem _sie_
nichts sehen oder nichts sehen wollen. _Wir_ stürzen uns freiwillig in
Gefahren -- _sie_ sind bedacht, sich allem ihre Ruhe Gefährdendem fern
zu halten. -- --

Eine seltsame Beklemmung will mich in dieser Stunde nicht verlassen.
Eisern muß der eigene Glaube an das Können sein, damit wir nicht vor der
Zeit stürzen. Und Du sollst nicht stürzen, hoch hinauf sollst Du
steigen. Bald -- wir können die Spanne Zeit nicht abschätzen -- werde
_ich_ Dir nur ein lichter Schattenriß sein, der sich vom anders getönten
Firmament abhebt. Heute noch glaubst Du, ein Aufleuchten in meinen
Augen, ein bebendes Mitdichten allein nur _meines_ Herzens genüge Dir.
Wohl könnte das einer Liebe höchste Staffel sein, -- doch wiege Dich
nicht in diesen Wahn ein. Nur zu bald wirst Du den grausamen Mut haben,
mir zu erklären, daß Du weiter müssest, -- -- bevor Du es ahnst, werde
ich Dich verloren haben.

Verloren? Verzeihe das Wort. Dachte ich nicht noch vor kurzem anders
über ein solches Weiterklimmen? War es nicht immer die stille
Voraussetzung, mit der ich Menschen an mich zog? War das: „Weiter“ --
war der Wandel nicht der Reiz für mich in jeder Vereinigung, war er
nicht ihr Ziel? Oder könnte es doch wahr gewesen sein, daß ich selbst
manch eine Blüte zerriß, die ich liebevoll ins Leben gepflegt hatte?
Bleiben oder Gehen? Welches mag über das verhältnismäßig glücklichere
Los entscheiden? Wie immer, all meine „geistigen Errungenschaften“
entgleiten mir einem Gewande ähnlich, das nur leicht auf meinen
Schultern ruhte.

„Momentane Wahrheiten!“ Welch eine richtige, aber -- gefährliche
Auffassung.

Es ist wohl auch körperliche Schwäche heute, die mich Trauer
vorausfühlen läßt, feige Trauer; denn nie war ich von dem Naturgesetz
überzeugter als jetzt, das den Künstler der Oeffentlichkeit zutreibt wie
die Welle dem Strande.

Noch aber bist Du mein. _Mein_ allein! Wie konnte ich das Wort unzählige
Male aussprechen, unzählige Male schreiben, ohne seine Fülle, seine
Gewalt, seine Schönheit tief in mich eingesogen zu haben! Mein, mein,
heute mein, trotz alles Vergänglichen in uns und um uns. --

In den Tagen, die mich Dir fernhielten, waren meine Gedanken fessellos
wie schwebende Adler, meine Empfindungen berauscht, als schritte ich auf
blühenden Hyazinthenfeldern dahin. „Dank Dir, mein Gott, der Du Wunder
tust,“ tönte es in mir. „Wochen, Monde, Jahre war ich unjung in meiner
vermeintlichen Gefestigtheit. Kommt: Poesie, Natur, Jugend, Liebe, macht
mein Leben wieder heil mit euren Zauberhänden, tanzt euren unsterblichen
Reigen in mir, führt mich wieder ein in den Olymp. Du Gott der Freude
und der Schmerzen, mache mit mir, was Du willst. Die Trauer ist gut, und
der Jubel ist auch gut! Du läßt mich durch den Jubel gehen. Ich empfange
ihn von Dir mit dankbar demütigem Herzen.“ --

Einmal, irgendwo las ich diesen Hymnus, jetzt entsteigt er neu, wie aus
mir geboren, in jeder Minute meinem Herzen.

Ich erwarte Dich! Maria.



_Roland an Maria._


Maria, Maria, endlich kam unsere Stunde, endlich konnte ich zu Dir
eilen, durfte Dich umfangen, durfte Deinen zitternden Kuß fühlen.

Immer wieder zweifle ich an der Wahrheit aller Seligkeit, die ich
erlebe. Und immer wieder verwandeln sich Glühen und Sehnen zu neuen
Gebilden, die, herausgerissen aus meiner Brust, oder aus meinem Gehirn
sich formen. Und immer wieder bist Du es, die mich entflammt, Du, nur
Du.

Allmählich erkenne ich die Weisheit des Schicksals, das mir lange vieles
von dem versagte, dessen ich bedurfte. Meine geschonte, seit Jahren kaum
angetastete Empfindungsfähigkeit schreit nun jubelnd nach ihrem Recht.
Du hast mich in den Festsaal des Lebens geleitet. Mit lachenden Augen
will ich Dir Liebeslieder zujauchzen; jedes Lied scheint mir das erste
Liebeslied, das je erklang, und ist doch alt wie die Menschheit.

Sollte ich mich meiner einstigen Fügsamkeit halber jetzt verachten, mich
bemitleiden? Für beide Gefühle mangelt es mir an Zeit, denn ich _muß_
weiter. Muß, muß, weil ich ohne die Glut meines heißen Herzens
verstummen könnte. Sie allein läßt mich keinen Schlaf in all den langen
Nächten finden, die mich von Dir trennen. In der heutigen blieb ich auf;
ich schrieb Stunde für Stunde an -- einem Stück. Lache nicht, Du, die Du
mich auf einen anderen Planeten verschlagen; geliebte Heilige, lache
nicht. Stille umfing mich, indes ein Plan sich in mir entfaltete. An
technische Schwierigkeit dachte ich so wenig wie ein Nichtschwimmer,
der dennoch ruhig ins Meer hineinschreitet. Wirst Du, aller Frauen
geliebteste, einen verhöhnten Freund nicht verlassen?

Hättest Du vorher gewußt, welche Geister Du in dem schweigsamen Menschen
wachzurufen vermochtest, der fremd und hilflos wie ein Kind auf jenem
Feste einige Minuten zufällig an Deine Seite geschoben wurde, hättest Du
auch dann, weil Du ihn _fördern_ zu müssen glaubtest, vor ihm Halt
gemacht? Schweige, Geliebte, schweige; die vibrierende Glückseligkeit
Deines Herzens ist Antwort genug. Gib alle _Rechtfertigung_ auf. Komm.
Steige hinan bis auf _die_ Stufe, auf der es weder Schmerz noch Sünde
gibt. Nur die Stufe hat für uns noch Bedeutung. Alt, zu alt, _Du_ zu
alt? Denkst Du dabei an die Vorstellungen der _Masse_, an ihre hohle
Wesenheit, die sich aus Gedankenarmut und versteiften Vorurteilen
zusammensetzt? Alle Wunder der Welt haben sich uns erschlossen, Maria,
Du selbst der Wunder schönstes.

      Dein Roland.



_Maria an Roland._


Roland, Du -- Du (ich glaube, es gibt keinen innigeren Ruf für uns) --
„und war doch nur ein altgewohntes Wort, das oftmals achtlos floß von
ihren Lippen“ --

Lange habe ich nicht mehr geträumt, heute aber sah mein Auge nach den
Wolken; ich sah, wie die hellen Schichten ineinanderflossen, sich
verschoben, wie sie sich in die dunklen verloren, wie sie sich wieder
von ihnen lösten. Aber nichts mehr von „lösen“ heute, wir haben unsere
Stunde heute schon zu viel beschattet. Nur dieses noch: Du denkst doch
nicht etwa, ich trüge die Vorstellung von Entsagung in mir? Das wäre ein
völliges Verkennen. Meine Handlungen werden letzten Endes von den
Forderungen bestimmt, die in meiner _Natur_ liegen. Also, sie sind eher
das Gegenteil von Entsagung. Im Augenblick sind diese Forderungen
vielleicht so verborgen, wie die Wurzeln eines Rosenbusches.

Ich mute Dir, geliebter Junge, wohl oft schwierige Gedankensprünge zu?
Es ist aber so herrlich, zu wissen: da lebt ein Mensch, der kann niemals
denken: „komisch -- seltsam -- närrisch“ -- ein Mensch, der Andacht auch
vor deinen Unbegreiflichkeiten hat. Wir armen Künstler sind ja
eigentlich stets gezwungen, unsere teuersten Besitztümer zu verleugnen.
Wir sollen bequem im Umgange sein, wie andere „vernünftige“ Leute. Kunst
aber quillt aus Unvernunft, nicht aus Vernunft. Ein bedeutender Künstler
darf aus Rücksicht für seine Kunst -- ich denke an ihre Vervollkommung,
an ihre größtmögliche Steigerung -- Gesetze nicht nur übertreten,
er kann sogar dazu verpflichtet sein. Ueber die Berechtigung seines
Handelns entscheiden dann viel später seine der Welt geoffenbarten
Schöpfungen. Ich erwähne dies nicht etwa als eine mir von _eigenen_
Gnaden zugebilligte höhere Moral. --

Gestern starb in meinem Hause ein alter Mann nach langem, viel, viel zu
langem Siechtum. „Der Tod hat mich vergessen“, seufzte er, als ich ihn
zum letzten Male besuchte. Ich lege Dir einige Blätter ein; lies, welche
Gedanken sein Sterben in mir erweckte.


_Vom verkannten Tode._

Der Tod beschloß, sich von der Welt zu entfernen. Wenn er zurückschaute,
so entsetzte er sich vor der Gedankenlosigkeit der Menschen. Ihr ewiges
Schluchzen ertrug er nicht mehr, besonders seitdem er wußte, wie rasch
das Leben Tränen trocknete. Ihre oft sinnlosen Wehrufe mußten seine
Liebe ersticken. Nur Ungerechtigkeit hatten sie ihm gezeigt. Unfaßlich
war ihr Undank. _Sie verdienten gar nicht, sterben zu dürfen._

Schrie hin und wieder einer nach dem Tode, und er kam dann wirklich,
änderte der Tod eines Flehenden halber seinen Weg, was geschah?
Zähneklappernd versuchte der scheinbar Lebensmüde sich vor ihm zu
retten. Er hatte plötzlich für die Mißhandlungen des Lebens gar kein
Gedächtnis mehr. Gleich wieder war’s, als sei nur der _Tod_ der Böse,
der Unbarmherzige, der Lieblose, der feindlich Gesinnte.

Nein, lange genug hatte der Tod das Verkanntsein ertragen. Niemand
konnte _so_ mißverstanden werden wie er. Wohlan! Mochten sie versuchen,
ohne ihn fertig zu werden, mochten sie sich endlos am Leben quälen,
diese alle, denen seine schwarzen Schleier immer nur Entsetzen bargen.

„Ich wandere aus,“ entschied der Mißhandelte, hüllte sich fest in dunkle
Nebel und -- entschwand.

Anfangs merkten die Menschen gar nicht, wie arm sie geworden waren. Die
Alten, die geduldig -- weil sie sich dem Sterben nahe wähnten --
Krankheit und Ueberflüssigkeit ertrugen, sahen noch jedem Morgen
erwartungsvoll entgegen. Ihre Hoffnung werde sich ja erfüllen -- noch
hatten sie Zeit. Sie wußten: Der Tod würde sie zur rechten Stunde holen.
Aber sie erfüllte sich nicht; sie wurden achtzig, sie wurden neunzig,
sie wurden hundert Jahre. Sie wurden ganz taub, ganz blind, ganz stumpf,
ganz mürbe, sie wurden ganz überflüssig, sie nahmen nur noch Platz fort.
Mit den Neuen verstanden sie sich nicht. _Man ertrug sie nur noch._ Man
sah nach ihnen, weil sie eben doch _da_ waren. Niemand brauchte sie. Die
Zeit war lange schon über sie fortgerauscht. Sie hatten sich selbst
überlebt. Fröstelnd rangen sie ihre dünnen, knochigen Finger. Tag und
Nacht murmelten ihre schmalen Lippen: „Vergessen vom Tode -- vergessen
vom Tode!“

Gleichgültig kamen die Jahre; gleichgültig gingen die Winter an den
Alten vorüber. Kein Lenz ließ ihnen etwas erblühen; kein Sommer lachte
ihnen. Herbst kam und Herbst ging; die Greise blieben.

Einstmals konnten Menschen, deren Liebe zueinander gewaltig war, vereint
auf dem Gipfel der Glückseligkeit sterben; damals, als der Tod noch im
Lande war. Sie wurden nicht gezwungen, sich vom Leben plündern zu
lassen. Lächelnd konnten sie sich, Brust an Brust geschmiegt, vor dem
Weniger retten. Auch das hörte auf. Keiner mehr hatte Leben oder Sterben
in seiner Hand. Das aber ist das Grauenvollste: Leben zu _müssen_.

Menschen, die schlecht geworden, Bettler, die an ihrer Gesunkenheit
litten, Unglückliche, die zu Verbrechern geworden, konnten sich nicht
mehr freiwillig vom Leben lösen. Flucht aus Schande, Flucht aus
unheilbaren Leiden, Flucht aus den Schmerzen unglücklicher Liebe, Flucht
aus Entsetzen an mißratenen Kindern, Flucht vor Umnachtung der Gedanken
gab es nicht mehr. Die Scharfrichter wurden ihres Amtes entsetzt; neue
Strafen mußte der Gerichtshof ergrübeln.

Allmählich war das Wort von der _Hartherzigkeit_ des Todes erloschen;
aber plötzlich entstand für ihn die Bezeichnung: Todesengel -- Engel des
Todes. --

Ein anderes Schluchzen drang in die Welt und ein anderes Sehnen. Nicht
der Sonne streckten sich Arme inbrünstig entgegen, sondern suchend dem
entschwundenen Tode. Wehklagend irrten Menschen von Scholle zu Scholle.
Inbrünstig betete man, daß er wiederkehre, der qualvoll Entbehrte. Allen
Menschen schien es, sie hätten ihren Erlöser verloren, seitdem der Tod
ihnen unerreichbar blieb. Sie schämten sich jener Geschlechter, von
denen die Sage berichtete, daß sie dem Tode händeringend
entgegengestarrt haben sollten, daß sie ihm geflucht hatten.

Haß und Bitterkeit, Ueberdruß und Kälte trieben die Menschen
auseinander.

Eltern beklagten ihre lächelnden Kinder, denen später auch die Bürde
eines endlosen Lebens zu tragen bestimmt war. Denn nicht in Jugendkraft
und Fülle wurde ja den Erdbewohnern zu bleiben gewährt; nein, genau wie
ehedem, mußten sie alles zurückgeben: Gesundheit, Hoffnung, Glauben, um
zuletzt -- körperlich und geistig vernichtet -- sonnenlos in Nacht und
Finsternis dahinzuvegetieren.

Es konnte nur eine Fabel sein, daß einst vom _hartherzigen_ Tode
gesprochen wurde. Längst wußte man, _wer_ der Gütigste, der Erbarmer
gewesen. Hatte man früher gefordert, daß er aus Mitleid entweiche, jetzt
forderte man, daß er aus Mitleid zurückkehre. Doch nein, man forderte
nicht, man flehte, man bat, man opferte.

Grauen vor dem Frühling erfüllte die Menschen, dessen Süße Leben
spendet, dessen Atem befruchtet.

Immer freudearmer wurde die Erde; nur Kinder lächelten. Die Gedanken
aller Erfahrenen schienen einem einzigen Ziele zugewandt: Dem
Wiedererscheinen, der Rückkehr des Todes. Was bedeuteten die Tränen
jener Zeiten, da man ihn besaß, gegen die Trauer, nun man ihn verloren
hatte? Man begriff erst, was _Vernichtung_ sei, nachdem das Sterben
aufgehört hatte. --

Unauffindbar, unerreichbar blieb der Tod. Vögel flogen hin und her,
flogen in die Weite, weil sie hofften, ihn mit ihren wundersamsten
Weisen zu rühren.

Dann aber vollbrachte ein Kind das Wunder.

Obwohl die Menschen den Tod nicht sehen konnten, so hatte _er_ sie doch
keine Minute aus den Augen verloren; sie blieben seine schmerzliche
Liebe. Und ist es nicht von jeher das Schicksal der Liebe gewesen,
verkannt zu werden? Darf Liebe danach fragen? Ach, auch der Tod sehnte
sich zurück nach den Menschen. Er konnte die Süße der Küsse, die ihn mit
den vom Leben Befreiten vereinte, nicht vergessen, jene Küsse, von denen
ja kein Lebender singen und sagen kann.

Nicht den Greisen zuliebe kehrte der Tod zurück, nicht der Kranken
halber, -- der Unschuldigen wegen. Ihnen vermochte er nicht zu
widerstehen.

Ein armes Mädchen hatte in Schande und Verlassenheit ein Kind geboren.
Große strahlende Augen richtete das Neugeborene erwartungsvoll in die
Welt. Diese leuchtenden Sterne verdunkelte der Tod. Schmerzlos glitt das
schuldlos Verurteilte in des Todes Arme. In dem Augenblick erhob sich
ein Hymnus ohne gleichen auf der Erde: einmal noch atmeten Müde tief und
befreit auf, dann endlich schlossen sie die glanzlosen Augen für immer.
Liebende umschlangen sich in heißer Seligkeit. Kämpfende, Irrende,
Kranke knieten von dem Bewußtsein überwältigt nieder, nicht unrettbar an
das Leben geknebelt zu sein. Licht überleuchtete an diesem Tage die
ganze Welt. Auf dem Sonnenball stand hochaufgerichtet eine feingliedrige
Gestalt. Nicht mehr wie einst umhüllten schwarze Schleier ihre Glieder.
Umstrahlt von weißem Schimmer sank der Tod mitleidig wieder hernieder
auf die Menschheit ...

      Marie, _Deine_ Maria.



_Roland an Maria._


Geliebte Frau, zügele Deinen Heißsporn. (Mit wieviel Namen wirst Du ihn
noch nennen können, wenn er sich so „weiter entwickelt?!“) Zügele ihn,
weil er sich plötzlich für einen Beherrscher des Lebens hält, der gar
nichts mehr von seiner einstigen Sklaverei weiß. Nein, zügele mich
nicht. Nur, wer sich für einen Eroberer hält, kann einer werden, und ich
habe ja noch so viel zu erobern: Dich, hundertmal zuerst Dich, meine
Gefährtin, Du meiner Seele Köstlichstes und -- auch mich; denn das Land
meiner vielleicht unsterblichen Freuden in der Kunst (für mich allein
unsterblichen) werde ich mir ja in unermüdlichem Werben bis zum letzten
Atemzuge neu erobern müssen. Die Gewißheit, daß sie mir „anderswoher“
zuströmen könnten, suchst Du mir beharrlich zu erschüttern! Ja, ja, ich
weiß, viele Stunden Deines Lebens waren reich, waren lebendig ohne mich.
Aber hat Dich je so flehend, so über Worte hinaus der Hauch erschüttert,
der über dem Begriff ruht: „_unendliche_“ Liebe -- hörst Du,
_unendliche_? Ist das nicht der Liebe beseligendstes Beiwort? _Ich_
würde mich freiwillig aus der Reihe der Lebenden lösen, sobald auch ich
zu einer „vorübergehenden Erscheinung“ in Deinem Leben geworden wäre. --

Während ich eben wieder einmal Deinen ersten „warnenden!“ Brief las,
schien die Vorstellung einer Trennung mich eine Sekunde hindurch
zerreißen zu wollen, dann, (verzeih’) ja, dann habe ich gelächelt.
Sollte Größenwahn mir drohen, seitdem ich glaube: Liebe muß immer
Erlösung für _beide_ der Liebenden sein, -- Erlösung vom Tode irgend
einer Art? Es gibt ja so viele Tode, an denen Menschen sterben
können. --

Lächelnd nennst Du mich Deine „letzte Versuchung“! Maria, Maria! Wiese
ich Dir doch auch den Weg zu Deiner letzten Erfüllung. Hättest Du sie
bereits erreicht, so konnte bei unserer ersten Begegnung Dein Blick mich
nicht halten. Vielleicht lauschtest Du völlig unbewußt in die Ferne auf
ein Lied, das auch Du vorher nie vernommen. Laß einmal das Schicksal
gewähren, wolle es nicht immer meistern. Mache Deinen dummen Streich,
vielleicht ist er ein glückbringender, _dann_ erst kannst Du erfahren,
was in dem Menschen Maria steckt.

_Unsere_ Stunde gestern war beendet, grad’ als sie zu beginnen schien.
Wann wirst Du mir einen Tag bescheren, einen vollen, ganzen Tag? Ich mag
nicht immer „vornehm geartet“ sein.

      Roland, nur Dein Roland.



_Maria an Roland._


Liebster, tagelang vergaß ich, mich zu fragen, ob die unsichtbare
Verkettung, die uns bindet, berechtigt oder unberechtigt sei. Liegt aber
nicht schon in dem Ausdruck „Verkettung“ ein Etwas, das über alles
Abwägen hinausführt? Nein, ich _kann_ nicht mehr an das Verrinnen,
Verflattern von Gefühlen denken, deren Sterblichkeit grauenvoll wäre,
auch wenn sie dem lichtesten Tode verfielen.

Oft möchte auch ich mit Dir, Roland, in einer Sprache sprechen, wie sie
noch nie gesprochen wurde. Dann verzweifle ich förmlich an meinem
eigenen Unvermögen.

Wir hätten uns gestern viel intensiver mit Deinem Stück beschäftigen
sollen. Welch ein Glück, Dich bisher nicht von der Vorstellung gehemmt
zu wissen, daß es schwerlich dem Schicksal der meisten Bühnenwerke
entgehen wird, unaufgeführt zu bleiben. Ganz gewiß existiert auf Erden
viel Schönheit, -- ich denke natürlich nicht nur an Kunst -- die nie aus
ihrer Verborgenheit hinausgehoben wird, die nie ihre Bestimmung erfüllt,
zu bereichern und zu erhöhen. Ueber wie viele wundersame Landschaften
mag nie eines Menschen Auge gleiten! In diesem Augenblicke brauche ich
mir nur Spitzbergen vorzustellen, wie es unbewohnt und also auch
unbeschritten in glitzerndem Eisesfunkeln mit seinen unabsehbaren
Flächen und Bergen in fast märchenhafter Schönheit vor mir lag. Uns
kleine Menschen lähmt aber die Möglichkeit, unsere winzigen Gebilde
könnten nur dazu bestimmt sein, uns selbst die Wonnen eines
Schöpferrausches zu gewähren. Wird ein Baum im Urwalde nicht grünen und
blühen _müssen_, schreitet auch nie ein Mensch an ihm vorüber? Wir
Künstler dagegen sind enge, eitle Geschöpfe, die immer gleich an Ruhm
denken -- an Dich, Ruhm, Du aller Eitelkeiten eitelste,
gefährlichste. --

Also Dein Stück! Ja, haben wir die Rollen getauscht, die Auffassungen?
Ist’s nicht, als hätte _ich_ den Konflikt ersonnen, der eine Frau,
anscheinend in ruhiger Besonnenheit, auf der Höhe aller Seligkeit in den
Tod treibt, lediglich aus Angst vor der Gewißheit eines allmählichen
Schwindens der großen Leidenschaft zwischen sich und ihrem Geliebten?

Ein Anderer bist Du geworden -- ja, ein Anderer. Wie tief ein Anderer,
wer von uns wollte es entscheiden? Du hast mein Leben in Verwirrung
gebracht und ich das Deine. Was wird übrig bleiben oder entstanden sein,
was geboren oder getötet, was wird sich aus dieser beglückenden
Verwirrtheit herauskristallisieren? Nie mehr kann ich in die Welt
zurückfinden, die ich verließ, oder aus der mich eine fremde Macht
stieß. Ja, Du ein Anderer -- ich eine Andere, die vollgesogen ist von
vielleicht kindertörichten Vorstellungen. Ach, Du, immer leben wir in
Vorstellungen und Vorurteilen und nennen sie unsere Ueberzeugungen. Die
Entdeckerfreude an Menschen war sicher auch ein Beglückendes, aber ich
hatte zu wenig von jenem Göttlichen in mir, das ganz im Geheimen erst
die Heiligkeit der irdischen Weihen verleiht. Ich meine jene Weihen,
ohne die man wohl auch gut und glücklich leben und anderer Leben
steigern helfen kann, ohne die man aber nie ein Genie in der
Lebens-Dichtkunst wird. Nur die mit der unzerstörbaren Kraft des Ideals
„Behafteten“ haben kein Absterben vor dem Tode zu fürchten. Und nicht
nur in der Elendswelt von Gorkis „Nachtasyl“ und nicht nur in Bezug auf
den Glauben gilt des Wanderers Luka Antwort auf die Frage: „Gibt’s einen
Gott?“ „Wenn Du an ihn glaubst, gibt’s einen, -- glaubst Du nicht, dann
gibt’s keinen. _Woran Du glaubst, das gibt’s eben._“

Mir scheint, ich bin ein Genie im Glauben an das Schöne in der Welt. Aus
längst vergangenen Jahren fällt mir zufällig ein Erlebnis ein, an das
mich der Duft Deiner beiden roten Rosen, die vor mir auf dem
Schreibtisch stehen, erinnert. Ich lebte damals bereits in der
Großstadt. Im Hochsommer hätte ich mein ganzes Vermögen am liebsten den
wenig verführerischen Gestalten gegeben, deren Rufe: „Rosen! Rosen,
sechs für zehn Pfennige!“ durch die Straßen schrillten, während sie
neben kleinen, mit wundervollen Blüten hochbeladenen Wagen dahingingen.
Noch in diesem Augenblick bilde ich mir ein, die einförmigen,
gleichgiltigen Anpreisungen zu vernehmen. Immer empfand ich leises Weh,
wenn ich sah, wie die herrlichen Blumen so empfindungslos
zusammengerafft wurden. Leicht erfuhr ich, wo diese Rosenmassen wuchsen.
Ich freute mich schon den ganzen Winter hindurch auf einen Ausflug in
die nahen Rosenfelder. In allen Farben sah ich sie im Geiste wogen und
blühen. Erwartungsvoll bin ich hinausgefahren. Schmutzige, kleine
Banditen wiesen mir das letzte Stück des Weges. Nicht eilig genug liefen
sie mir voraus. Bald las ich auf plump gepinselten Schildern: „Zu den
Rosenfeldern“. Ja, Roland, da stand ich denn erschreckt vor dem
Stückchen Erde, nach dem ich mich so lange gesehnt hatte. Mochte ich
auch suchend Umschau halten, daran war nichts zu ändern, daß diese
flachen, noch in ziemlicher Nähe einem Kartoffelfeld gleichenden Felder
meiner Rosen Heimatboden waren. Gewiß, ich hatte einen besonders
ungeeigneten Tag getroffen; der zu heftige Regen der vorherigen Tage
mochte wohl der Felder Aussehen geschädigt haben. Nichts wallte und
wogte. Alles war ganz niedrig gewachsen, so ganz anders, als ich es
erwartete. Vielleicht wurde zu rasch und zu erbarmungslos geschnitten;
sogar aller Duft war in den Augenblicken, welche ich inmitten der Felder
verbrachte, wie fortgetrieben.

Anderen Tags begannen sich dann die von mir mitgebrachten Knospen
langsam zu erschließen. Zarter Duft erfüllte mein Zimmer. Ich genoß ihn
fast wehmütig, ohne mir darüber klar zu werden, weshalb er mich so
seltsam berührte. Und ebenso weiß ich nicht, wie es geschehen konnte,
daß _die_ Rosenfelder, die ich nur im Geiste gesehen, unzerstörbar
geblieben sind. Ihr Bild und ihren Zauber konnte die wirkliche
Dürftigkeit nicht verlöschen. Wie oft wird es mir im Leben später
ähnlich ergangen sein? Allmählich habe ich wohl zu ahnen begonnen, daß
nur denen, deren Rosenfelder nie ganz vernichtet werden _können_, Rosen
blühen, und daß jede Liebe und jedes Lebens Schönheit ebenso gefährdet
ist, wie einst die meiner Rosenfelder. --

Wozu eigentlich dieser endlos lange Erguß? _Eine_ glücklich verlebte
lebendige Stunde gibt mehr als ein meisterhaft stilisierter „Kommentar“
zu _unserem_ Denken und Fühlen.

      Maria.



_Roland an Maria._


Einzige, ja, warum schreiben wir uns? Auch ich frage es mich, aber ich
antworte mir sehr einfach: ich weiß es nicht. Ja, was weiß ich denn?
Weiß ich, warum ich geboren wurde, wann ich sterben werde? Weiß ich,
warum ich -- ohne bestimmten Grund -- heute glücklich bin, morgen aber
aus unbekannter Ursache unglücklich und ganz herabgestimmt sein kann?
Weiß ich, warum ich heute strahlenden Auges einen großen Dichter zu
genießen vermag, und warum ich mich morgen im Tumult nichtssagender
Alltäglichkeiten herumschlage? Weiß ich, warum ich heute kühn bin wie
ein Held und morgen verzagt wie ein Schwächling? Weiß ich, warum ich
heute alles einzusehen scheine und morgen gar nichts? Weswegen ist es
nun für mich gerade nötig zu wissen, warum ein Gott uns zwingt, einander
zu schreiben? Vielleicht lockt nur der weiße Bogen, ihn zum Boten für
schnell schwindende Stimmungen zu nehmen, für Stimmungen, die in jeder
Färbung fruchtbarer Boden unseres Denkens und Dichtens werden können.
Nur ein Hauch dringt ja bis zum Anderen, denn -- ob mündlich oder
schriftlich -- es gelingt doch nie, sich ganz mitzuteilen. Weder in
Briefen, noch in Werken sind wir wirklich restlos die, die wir für den
anderen sein möchten.

Ich muß jetzt auf der Hut vor mir selber sein, weil ich merke, daß sich
etwas wie Hang zum Spott in mir entwickelt, der mir zwar leicht billigen
Erfolg einbringen könnte, aber nichts sonst. Nutzlos im höchsten Grade
bleibt ja alles bloße Verneinen. Spötter finden wohl eine Zeitlang ihr
Echo, da der Mensch es aus Langeweile nicht ungern hört, wie alles,
selbst das Heiligste, verspottet werden kann. Wer selbst andachtslos
ist, glaubt im Rechte zu sein und zu gewinnen, wenn er Erhabenes
herabzieht. Aber nie wird der Spötter Liebe oder Verehrung finden.
Selbst nicht bei denen, welche er unterhalten und zum Lachen gereizt
hat. Die Menschheit liebt und achtet instinktiv meist doch nur die,
welche die Menschheit geliebt und geachtet haben. Die besten Menschen
waren immer anerkennend und bereit zu verehren, wenn auch nicht im Sinne
von „jedermann“.

Auf Deinen Wunsch, Maria, habe ich gestern also wieder gebummelt. Das
Resultat: Wie trostlos langweilig wäre es, wenn man sich immer amüsieren
müßte. Glaube mir, Du und die Arbeit, Ihr seid meine Welt. Ich sehne
mich nach keiner „Schule der Erfahrung“, in die ich hier leicht ohne
Voranmeldung aufgenommen werden könnte; ich brauche sie nicht. Sie kann
mich nur stören und verwirren. Was kümmern mich andere Frauen? Du bist
mir _die_ Frau. Andere mögen jünger sein, schöner, reizvoller; meine
glückliche Selbstversunkenheit schließt anderes Begehren aus. Jede Liebe
trägt wohl ihr Tempo in sich; Du bist mir das Fortreißende. Du, die
durch soviel oder so viele Leben geschritten bist, Du ermissest
vielleicht nicht, daß gerade das Fernsein von allen brausenden und
berauschenden Vorgängen mir Segen gebracht haben könnte. --

Ich bemühe mich nun weiter, Menschen auf die Bühne zu stellen, die
leben; keine Phantasiegeschöpfe. Wird meine Kraft ausreichen, mehr als
blasse Gestalten zu schaffen? Die Forderung, echte Menschen zu formen,
will ich mir immer als erstes Gesetz ins Gedächtnis rufen. Sollte ich
jemals „Einer“ werden, so kann mein Gebiet nur das Leben der
Ueberflüssigen, der Verlassenen, der Schwachen werden. Laß Dich nicht
durch meinen Mangel an praktischer Erfahrung verwirren. Immer mehr
treibt es mich zu denen, deren Leid sich den Augen entzieht, und das
doch oft soviel nachhaltiger blutet als sichtbares Elend. Du mußt nicht
immer an die Zahl meiner Jahre denken, nicht glauben, daß tiefstes
Einfühlen in die Seelen der Enterbten, Gesunkenen nur der Frau eigen
sei. Ueberhaupt werden männliche und weibliche Eigenschaften viel zu
kraß getrennt. Eine Frau mit sogenannten nur weiblichen Tugenden, ein
Mann mit Eigenschaften, die wir lediglich als männliche zu rühmen
geneigt sind, können keinesfalls als ideale, vorbildliche Menschen
gelten. Wenn Dir, Maria, die ganze Welt oft nichts anders als ein Garten
Eden dünkt, so wirkst Du in dieser Unschuld beschämend wie ein Kind;
wenn Dir die Hartherzigkeit der Gesellschaft die Augen feuchtet und
sanfte Wehmut Dich verklärt, so bist Du ganz Frau, und doch, wieviele
Schattierungen birgt gerade Dein Empfindungsvermögen, die von Männern
mit Beschlag belegt worden sind.

Siehst Du, so wagt Dein „Anderer“ Dich zu sezieren, so rasch ließ er
seinen Charakter verderben. Du mußt ihn unbedingt Deine Ueberlegenheit
fühlen lassen, damit Fülle und Ueberfluß, wie nur Du sie über ihn
ergießest, ihn erinnern, wer _Du_ bist und -- wer er.

Oft wundere ich mich, Maria, Liebste, daß man, wenn man in einem
verzauberten Schlosse weilt, -- und Du bist doch mein verzaubertes
Schloß -- noch irgend einen Gedanken neben der Liebe haben kann.
Unzählige Male möchte ich es Dir wiederholen: Ich lebe nur in Dir, und
eben deshalb gleichst Du dem Samenkorn, das in tausendfachen Farben
Ungeahntes zu Blüte und Frucht in mir zu treiben beginnt. Ueber die
allerersten Anfänge bin ich wohl schon ein wenig hinaus. Immer mehr
packt es mich, dieses Ungeahnte, das sich beim ersten tiefen Blick von
Dir scheu zu regen begann.

Darf man sich im Rausch einer heiteren Zuversicht hingeben, und darf man
dieser heiteren Zuversicht vertrauen? Plötzlich halte ich mich für ein
Glückskind. Jedesmal, wenn ich zu Dir gehe, scheint mir die Welt ringsum
heller und meine Liebe gewachsen.

Ich _kann_ mich nicht mehr erinnern, durch wieviele düstere Straßen
jeder Erdgeborene zu schleichen hat, weiß nicht mehr, wie klein
Menschenkräfte im Grunde bleiben, weiß nur von Glanz und Lebendigsein.
Mag dies Fühlen auch nur schöne Täuschung sein, eine wachsende Seele
braucht solchen Betrug. Nur Dich liebt

      Dein Roland.



_Maria an Roland._


Geliebter, gestern schriebst Du von meiner Ueberlegenheit. Unsinn! Nenne
es ruhig: „echt weiblich,“ aber -- ich mag nicht überlegen sein.
Ueberlegenheit, wie Du sie mir andichtest, scheint Wandlung -- geistige
und seelische -- auszuschließen; Du aber mußt doch wissen, daß ich
gerade in den letzten Wochen dahin gekommen bin, mich freudig auch
Irrtümern zu unterwerfen. Daß jeder Tag bereit sein könnte, den
vorherigen zu verneinen, übersieht unsere seltsame Kurzsichtigkeit. Fest
liegen die Wurzeln, aber die Brandungen des Lebens bewegen unausgesetzt
die Kronen. Aus Widersprüchen und Spannung geht Entwicklung hervor.
Es ist schade, daß die meisten zu rasch, viel zu rasch aufhören nach
unbegrenzten, unbestimmten, nach schimmernden Horizonten auszuschauen,
gleichsam als wäre ihr Dasein verriegelt. Sie begnügen sich zu früh mit
Wiederholungen, verlangen nichts als einen sicheren, festen Umriß ihres
Lebens.

Roland, das alles hört sich schlimmer, umstürzlerischer an, als es im
Grunde ist. Allerdings, Menschen, die schon bei lebendigem Leibe
„Entseelte“ sind, mögen sich entsetzen, und vom Tempo der Masse entfernt
es. Ich halte nicht viel von allgemein gültiger Gesetzlichkeit, kaum
wenn sie Dieben und Mördern gilt. Und ich bin froh über jeden, der den
allgemeinen Gesetzen mißtraut; es gibt doch in uns ein Etwas, das wir
„Ritterlichkeit des Herzens“ nennen könnten. In diese Ritterlichkeit
sind alle ungeschriebenen Forderungen hineingeschmiedet, die ein
Untergehen im Gemeinen und Häßlichen unmöglich machen. Das Schönste
bleibt ja doch, daß ein Mensch _dem_ möglichst nahekomme, _was er werden
könnte_ im Sinne einer Höherentwickelung. Um die aber zu erreichen, darf
er Umwege, und seien sie auch Irrwege, nicht ängstlich scheuen. Ja,
er hat nicht nur das Recht, er hat sogar die Pflicht, alles zu wagen,
um zu sich selbst hinauf zu wachsen. Wohl legt solch Ringen Lebens-
und Todesangst auf; denn wie großartig sich ein Mensch auch nach außen
gebärde, seines winzigen Ichs quälende Nöte kann er vor sich selbst doch
nicht verleugnen.

Einst, es ist noch gar nicht lange her, nannte ein Freund mein Herz
„weise“. Ich glaube, damals gab es ein paar Minuten, in denen ich mich
über diesen Wahn freute. Weit, weit fort hast Du, Geliebter, diese
meines Herzens vermeintliche Weisheit getragen; federleicht muß sie
gewesen sein.

Ob wohl viele Menschen so lächelnd ihrer Welt Untergang erleben, ihn so
heiter wie ich überleben? Oder ist auch dieser Untergang nur Schein?
Könnte auch _er_ nur Station sein? Zu oft noch falle ich in den Kreis
jener Vorstellungen zurück, von denen ich mich, seitdem ich Dich liebe,
schon hundertmal für immer entfernt zu haben wähnte.

Jetzt erfüllt mich oft nichts als das Verlangen, mich wie ein Kind
schluchzend über den Schoß einer Mutter beugen zu dürfen.

Da siehst Du, Geliebter, wie es um meine Abgeklärtheit bestellt ist. Wie
wenig bin ich. Oder wuchs ich dennoch vielleicht durch das große Gefühl
für Dich?

      Deine Maria.



_Roland an Maria._


Maria, immer bin ich jetzt in einem leichten Taumel; oft, vielleicht zu
oft von diesem Feuerlicht geblendet, das zwischen Dir und meiner
Schaffenstrunkenheit hin und her zu flammen scheint. Immer ringe ich mit
„Ereignissen der Seele“, die ich niemandem schildern könnte, -- auch
nicht einer Maria. Ich komme mir wie das Werkzeug vor, das gestalten
muß, was der „unbekannte Gott“ in ihm entfachte. Und doch muß ich „mich
selber erst los werden“, muß jene Ereignisse aus mir heraus geschleudert
haben, um mich von all der seligen Unwirklichkeit lösen zu können. Aber
nein, nein, verzeihe, geliebte Frau, die einzige selige Unwirklichkeit
erlebte ich durch Dich, danke ich Dir, Du mein holdes Verhängnis.

In den letzten Tagen überfiel mich sekundenlang die Vorstellung, ein
Wirbelwind könne mich Dir, in eine andere Wirklichkeit hinein,
entreißen. Aber -- nicht wahr -- ein so elementarer Orkan wäre auf
_dieser_ Erde unmöglich? Wie kann ich Dir nur solche Torheit beichten?
Erinnere Dich, was ich war, als Du mich das erste Mal sahst! Schmerz und
Erregung und unbestimmte, glückverheißende Erwartung trieben mich Dir
zu, und jedesmal fliege ich mit den gleichen Empfindungen Dir entgegen.
Du siehst, es war nicht nur „momentane Begeisterung“, deren Du mich
anfangs beschuldigtest. Ich will Dir nie entkommen, nie. Und doch konnte
diese zweite unvermutete Wonne sich über mich ergießen, die mir _auch_
eine unermeßliche Fülle von Glück geschenkt hat. Begeisterung muß lange
schon in mir „aufgestapelt“ gewesen sein, bevor Du kamst und mit Dir das
_fröhliche_ Sehnen.

Nichts soll nun in meinem Leben dahinwelken, ohne Frucht getragen zu
haben, deß sei gewiß! Ob ich je etwas tun könnte, etwas denken, was Du
-- ganz einfach sei es gesagt -- nicht von mir geglaubt hättest?

Verjage den einsamen Hochmut, der jetzt zuweilen wie Unkraut jäh in mir
aufsprießt. Oder sollte auch er eine Bedeutung haben, die ich jetzt noch
nicht ermesse?

Meine heutige Sprunghaftigkeit bedarf der Erklärung. Ich hätte in meiner
Arbeit fortfahren sollen, weil ich ganz in sie versunken schien; und
doch fühlte ich mich nicht minder stark zu Dir gezwungen. Du siehst in
meinen Versen heute das unzulängliche Ergebnis dieses Zwiespalts.

Nie möchte ich in alltäglichem Sinne mit Dir verbunden sein; nur das
Vollkommenste meines Wesens darf Dich berühren, immer sollst Du mir
heilig bleiben.

Maria, Maria, fängt das Leben schon an, mich in ein Chaos zu stürzen, in
dem es von ewigen Widersprüchen gärt?

      Roland.



_Maria an Roland._


Roland, mein Junge, noch weiß ich nicht, wann ich die Briefe, die ich
_nun_ schreibe, an Dich abschicke, weiß nicht, ob diese Gedanken, die
immer ein sinnendes Sprechen mit Dir sind, überhaupt Briefe zu nennen
sein werden. Aber jetzt, nachdem das tägliche Schreiben an Dich aufhören
mußte, weil mein Brief nicht mehr _die_ Post für Dich sein kann, zwingt
mich dennoch ein Etwas, Dir -- fast möchte ich sagen „Rechenschaft“
abzulegen von all dem wundersamen Durcheinanderwogen der Welt in mir.

Briefe, wie wir sie einander schrieben, verlieren in _dem_ Augenblick
ihre Daseinsberechtigung, in welchem sie nicht mehr klopfenden Herzens
erwartet werden. In Dein Leben trat unerwartet rasch so viel Zeit und
Sammlung heischende Wirklichkeit, -- wir nennen das alles nun ja Dein
Glück --, daß ich kaum die Empfindung bannen kann: „Sollte es für _mich_
nicht doch schwer sein _dürfen_, für dieses Glück Opfer zu bringen?“.

Während ich jetzt schreibe, lebe ich all unsere aufregenden Augenblicke
noch einmal durch.

Also: Hundertmal hatte man es sich wiederholt: „es ist ja ganz egal,
ob es aufgeführt wird“, und dann -- freute man sich trotz dieser
Versicherung so unverhältnismäßig, dann benahm man sich wie ein ganz
gewöhnlicher Mitbürger, der in der Lotterie gewann. So toll hat kaum je
einer an meiner Klingel gerissen wie Du, so jubelnd mich nie jemand an
sich gezogen. Wort für Wort habe ich es dann vernommen: „Haben Sie
tatsächlich früher nie ein Stück geschrieben?“ „Sie müssen sich aber
verpflichten, all Ihre weiteren Werke zuerst unserer Bühne
einzureichen.“ In buntem Durcheinander hast Du berichtet und dabei meine
Hände gestreichelt.

War das unser schönster Abend, Roland? Nein, viele Stunden vor diesem
waren erfüllt von Klang und Reichtum, aber jener Abend hatte einen
besonderen Glanz. Ich dünkte mich wie eine Göttin, (gewiß ein törichter,
ein alltäglicher Vergleich), deren Seele vor Monaten leuchtende Strahlen
in Dich flutete, Strahlen, die nicht, wie es das Schicksal fast alles
Strahlenden ist, erlöschen konnten, sondern aus denen Dein Schaffen
geboren wurde.

Auch ohne Sekt wären wir berauscht gewesen, aber wir hatten beide die
kindliche Vorstellung, irgend etwas müsse äußerlich zur Feier mitdienen.
Von keinen Schwierigkeiten haben wir mehr gewußt; wir gaben uns ganz
einem Zauber hin, dem wir uns nicht zu entreißen vermochten. Auch mein
Blut begann zu singen. In Deinen Augen brannte Liebe, nur Liebe. Wir
wußten von keinem Theater mehr. Du erzähltest mir eine Geschichte, die
ich kannte, und die zu hören ich nie müde wurde: die Geschichte vom
Beginn unserer Liebe. Jeden Datums entsannst Du Dich, jedes erhöhenden
Augenblicks. Erwartungsvoll fragte ich wie ein lauschendes Kind in jeder
Pause: „Und weiter?“ -- --

Wohin war alle Erdenschwere entflohen? Bin ich je sturmdurchwühlt
gewesen, von Unruhe zerquält, von Zweifeln gemartert? „Da fing mein
Leben an, als ich Dich liebte.“

Ja, ja, so muß man das Leben behandeln: es belächeln, stolz und
königlich ihm begegnen -- sich nicht sklavisch vor ihm winden -- nicht
in törichtem Grübeln Kräfte vergeuden.

Eine stille Mondnacht floß durch die weiten Fenster zu uns herein, aber
wir brauchten mehr Luft. „Komm,“ sagtest Du, sonst nichts. Wir stiegen
die Treppen hinab und wanderten auf dem silbernen Mondstreifen dahin,
der wie ein schmaler Teppich vor unseren Füßen flimmerte.

Konnte der Traum von dem, was das Leben nie zu gewähren scheint, dennoch
Erfüllung geworden sein? Lautlos umfing uns der Wald. Wir hatten zu
sprechen aufgehört. Ich vernahm nichts als den Gesang meines Herzens.
Erst Deine Worte unterbrachen die Stille: Am folgenden Nachmittage
würden wir uns zum ersten Male nicht sehen können. Die wenigen Stunden
nach Schluß Deiner Bureauarbeit mußten für wichtige Besprechungen, für
entscheidende kleine Aenderungen an Deinem Stück genützt werden; all das
war selbstverständlich, aber etwas kann zwar selbstverständlich
erscheinen, und doch -- wehe tun. „Es ist Zeit heimzugehen,“ sagte ich.
Meine Stimme kam mir in diesem Augenblick verändert vor. Ich fröstelte.
Ein Landmann, der zur nahen Stadt mußte, trug seine Laterne in der Hand;
ihr winziges Flämmchen schwebte uns entgegen. Sicher wollte er zum
frühen Markt. Da erinnerte ich mich, daß das Leben weiterging. Wir
sprachen wieder mit Erregtheit von Deinem Stück, von all den neuen
Aussichten, die seine Annahme eröffnete.


_Später._

Roland, Roland! Am nächsten Sonnabend findet also schon die Aufführung
statt! Seit Wochen gelten all unsere Gespräche diesem Ereignis. Wir
können an nichts denken außer an Schauspieler, Proben, Kritik, Regie,
Wirkung auf ein Publikum oder an ähnliches. Du hältst Dich für alle
Fälle gewappnet. Mir scheint, für Niederlagen ist man nie genügend oder
richtig gewappnet, aber trotzdem -- so oft Du jetzt von „verblödetem
Publikum“, von „nichtssagender Presse“ sprichst, steht Dir auch das. Oft
sehe ich Dich, Du weißt es ja, nur stumm staunend an.

In den Tiefen Deiner Seele, in Deinem großen Gefühl für mich kann sich
nichts verändert haben, nur die stillen Pfade, auf denen wir dahin
wandelten, sind bevölkert.

Der Zufall oder das Glück haben Dich aber auch fast beängstigend rasch
in die Höhe geschnellt. Zwar ist noch nichts entschieden, jedoch allein
die Möglichkeit, einem Publikum Dein Können vorzuführen, bedeutet ja
schon unabwägbar viel. Ein so unwahrscheinliches Zusammentreffen, wie Du
es erlebtest, würde sicher in einem Roman belächelt werden, während doch
die Wirklichkeit oft genug die tollsten Sprünge vollführt: ein
bescheidener Bankbeamter, der nur Interesse an seinen Büchern zu haben
scheint, arbeitet neben einem jungen Menschen, dessen Onkel Dramaturg an
einem ersten Theater ist. Wie haben wir gelacht, als Du des Kollegen
„Aufschneiderei“ erwähntest. Aber man konnte ihm ja „unser“ Stück
anvertrauen. Wir sind gar nicht erwartungsvoll gewesen. Unsere
fieberhafte Unruhe entsprang anderen Gründen, ganz anderen; sie lagen
weit ab vom Theater.

Schon nach acht Tagen kam die Einladung ins Büro der Direktion.


_Später._

Freitag. Noch vierundzwanzig Stunden! Roland, ich habe richtige
Examensangst; Herzklopfen wie ein Schulmädchen. Und weshalb? Nur weil
sich morgen der Vorhang vor Deinem Stück heben wird. Dabei wiederhole
ich mir immer wieder: Was bedeutete es, wenn es durchfiele? Deshalb bist
Du doch „etwas“; deshalb berechtigt Dein Talent doch zu besonderen
Erwartungen. Du wirst nicht leicht zu entmutigen sein, auch wenn die
Presse Dich dies erste Mal ablehnt. Wie immer die Würfel fallen,
_meinen_ Glauben hast Du nötig; denn auf wechselnde Stationen mußt Du
Dich nun gefaßt machen: vor den ersten toten Zeiten in Deinem
künstlerischen Schaffen wirst Du Dich entsetzen, vor gänzlichem
Versanden zittern; Du wirst dann nicht hoffen, daß sich je wieder in Dir
etwas regen könne. Mehr als je wirst Du mich brauchen, meine Erfahrung,
meinen nie zu erschütternden Glauben. Das ist ja noch kein Glaube, der
nicht _immer_ über einem Schaffenden schimmert, wie ein ewiges Licht,
welches nie verlöschen darf. --

In diesem plötzlichen Aufstieg liegen sicher Gefahren, wenn auch ganz
andere wie in stets vergeblichen Versuchen. Nennen sie Dich nach der
ersten Aufführung „eine Hoffnung“, so wirst Du beim zweiten Stück diese
Hoffnung „nicht erfüllt“ haben. Hob Dich Dein erster Schritt in die
Oeffentlichkeit gleich auf eine ansehnliche Höhe, so verzeichnet man
beim folgenden sicher „keinen Fortschritt“. --

Auch heute können wir uns nicht sehen; morgen nur in der Unruhe vor der
Aufführung. Eigentlich bist Du, mein Junge, mir halb verloren; der,
welcher mich nun liebt, ist zwar _jener_ Roland, den ich ahnte, aber ich
bin nicht mehr _allein_ für ihn die Welt, in der er lebt.

Um die Stunden bis zum morgigen Abend schneller hinzubringen -- ich
selbst bin nicht imstande, ruhig zu arbeiten -- habe ich gestern einen
alten Freund zu mir gebeten, von dem mich die Erlebnisse der letzten
Monate entfernten, ohne uns trennen zu können. Daß ich Dich, Geliebter,
allen bisher „unterschlagen“ habe, gewährt mir nun ein besonders
fröhliches Empfinden. Ich fürchtete sicher keine Gefahr Deiner Gefühle
für mich. Nur allein die Vorstellung, jemanden, der in mein Leben
einzugreifen beginnt, von kritischen Blicken gemessen zu wissen,
erscheint mir immer -- so überspannt es auch klingen mag -- wie
Lästerung. Ich mag meine Freunde nicht „zur Diskussion gestellt“ wissen.
Immer _wundern_ sich ja doch die Anderen; für die meisten ist das
Unsichtbare, das Menschen zusammentreiben kann, nicht vorhanden; in
unwägbare Werte versenken sie sich nicht. Und nun gar in einem so
schwierigen Fall, wie dem zwischen einer älteren Frau und einem jungen,
viel zu jungen Menschen. Kopfschüttelnd würde „man“ festgestellt haben:
„Unbegreiflich! Wer hätte das erwartet? Ueberraschendes konnte man ihr
wohl zutrauen, aber daß sie so kurzsichtig sein könne, so befangen, so
blind? Was ist denn der Mensch? Was kann er? Wie alt schätzen Sie ihn?
Liebe muß da doch völlig ausgeschlossen sein.“

Ja, ausgeschlossen, Roland! Habe ich selbst das nicht gemeint; war ich
nicht auch dessen sicher?


_Am Sonnabend Nachmittag._

Wir sind zusammen auf der Generalprobe gewesen. Ein Schauspieler hielt
mich für Deine Mutter. Ich erschrak; an _die_ Möglichkeit habe ich nie
gedacht. Aber niemals werde ich eine andere Jugend festhalten wollen,
als die des Geistes -- die soll ewig währen. Mit Farbe und Schminktopf
erreicht eine Frau selten mehr als _sich selbst_ möglichst lange äußere
Jugendlichkeit vorzutäuschen, es sei denn, sie habe sich durch fast
ausschließliche Vertiefung in _dieser_ Art der Malerei Meisterschaft
erworben. Jene Anrede wirkte im Augenblick, besonders durch Deine
Gegenwart, sehr quälend. Wäre nur Eitelkeit die Ursache des Peinigenden,
so hielte ich mich für ein Gänschen in landläufigem Sinne, und ich
selbst wüßte jenes reißende Wehgefühl nicht in Einklang mit dem Grundton
meines Wesens zu bringen. Doch die Minute, in der das: „ich freue mich,
-- Ihre Frau Mutter“ -- vernehmbar war, genügte, um die Frage in mir
wieder aufzuschrecken, ob ich _mehr_ als ein kurzes, starkes Erlebnis in
Deinem Leben sein darf? Monatelang hat diese Frage fast geschlafen. Ich
wähnte uns über trennende Sitten, über Einflußmöglichkeiten, deren
Wirkungen auch die tiefste Liebe nicht aus der Welt bannt, erhaben.

Heute zeigte mir die Wirklichkeit kraß ihr Angesicht. Seltsam, daß wir
uns solange einbilden, nichts nach dem Urteil der Welt zu fragen, bis
irgend ein Ungefähr uns jäh das Gegenteil beweist. Ein Unterschied
bleibt zwar: Ich brauche Minuten, mich wieder zurecht zu finden, während
viele sich Wochen oder Monate von einem Angriff oder Ueberfall vergällen
lassen.

Wie konnte ich nur vollständig vergessen, daß die still wandelnde Zeit
sich immer -- ich denke im Augenblick nur an äußerliche Veränderungen --
gebieterisch geltend machen _muß_. An andere Gefährdungen will ich jetzt
nicht denken. Die beseligende Uebereinstimmung in uns kann nicht
erschüttert werden. Und heute dulde ich in mir am wenigsten trübe
Gedanken.

Wie lange ist es denn her, daß ich Dich fand; ich meine, daß ich Dich
zwischen den Vielen schweigend und ungelenk stehen sah? Damals bildete
ich mir ein, in Deinen Augen etwas zu entdecken, das mehr verriet, als
Deine scheue Haltung vermuten ließ. Traurigkeit beschattete Dich, die
gar nicht in Einklang mit Deiner blühenden Jugend zu bringen war. Deine
schlanke, nervige Gestalt überragte die Meisten, und doch erschienst Du
keinem beachtenswert; nur mir strömte ein schwaches Fluidum entgegen,
schwach und doch stark genug, mich zu Dir zu ziehen. Plötzlich stand ich
neben Dir, sprach einige gleichgültige Worte und freute mich, daß nichts
in Deiner Stimme war, was mich störte. Sogleich empfand ich, Du hattest
Dich nicht in meine Nähe gewagt, und es wäre mir doch viel sympathischer
gewesen, von Dir weniger „hochgestellt“ zu werden.

Noch war der Druck besonders schwerer Stunden, die ich gerade
durchkämpft hatte, nicht von mir gewichen, und doch konnte mich schon
seltsam freudig der Wunsch ergreifen, mit Dir, dem Fremden, allein unter
einer Kirchenwölbung zu stehen oder in Waldeseinsamkeit auf kühlen,
blütenreichen Wegen dahinzuschreiten. Seit Jahren kaum noch empfundene
Verlegenheit ergriff mich. Ich belächelte mich, aber -- ich ging nicht
weiter zu anderen Freunden. „Besuchen Sie mich,“ sagte ich gelassen und
sorglos.

In der Sekunde warst Du, Roland, mir ein Ziel geworden, -- wieder einmal
zwang es mich, Menschenbildner werden zu wollen. Mit welchem Ergebnis?

Nimmer konnte ich diese seelischen Wandlungen, diese Beschleunigung
unserer Pulse, all diese göttliche Schönheit voraussehen. --

-- Ich werde nun doch heute „unser“ Kleid anlegen, in dessen
schimmerndem Samt ich Dir an jenem ersten Abend begegnet bin. Deine zwei
Nelken durchhauchen mein Zimmer. Du hast wie ein erfahrener Ritter
gewählt; ihre rosig überhauchte Blässe eint sich herrlich der
Fliederfarbe meines Gewandes. Deine Verse aber, die eben mit den Blumen
abgegeben wurden, werde ich in dieser zerfahrenen Erregtheit nicht
lesen; sie sollen mich heute Nacht empfangen.


_Nachts._

Der Morgen steigt herauf, aber ich versuchte nicht mehr, mich
niederzulegen. Wieder und wieder schaue ich auf Deine Verse; wieder und
wieder beglückt -- erschüttert -- beunruhigt mich Dein Lied. Lausche in
Dich hinein, Roland. Ist es nicht vielleicht schon aus dem Glück einer
_neuen_ Erwartung geboren?

Vor einer Stunde begleitetest Du mich nach Hause; im Kreise Deiner
Mitarbeiter haben wir das Ereignis mitfeiern müssen. Wird die Presse uns
auch erst morgen sagen, worin der Autor sich vergriffen hat, was von ihm
in Zukunft zu erwarten, in welcher Rubrik er zu bringen ist, selbst die
ungünstigste Besprechung kann nicht die Tatsache einer starken Teilnahme
der Hörer aus der Welt schaffen.

Auf ein so atemloses Mitempfinden des Publikums habe ich nicht
gerechnet. Ist ja immer noch die Loslösung einer Frau von sittlich
„feststehenden“ Grundsätzen nicht gerade ein anziehendes Thema. Hätte
ich auch nichts auf Dich übertragen als den Mut, Dich von all jenem
Ballast zu befreien, der am schwersten auf werdenden Menschen lastet, so
bliebest Du _doch_ mein Erbe. Ich habe sicher nur den Zündstoff zwischen
gegebenen Zuständen und notwendigem Revoltieren gelegt. Du warst eben
viel reicher als Du ahntest. Dir, wie so vielen, drohte ein
Steckenbleiben, fern Deiner vorbestimmten Entwicklungsbahn. Menschen,
die sich der Berechtigung ihrer angeborenen Eigenart früh bewußt werden,
sind ja so selten. Nie habe _ich_ mich planvoll durch Hindernisse winden
müssen; nicht etwa, weil keine Hindernisse vor meinen Füßen lagen,
sondern nur weil mein Blick ausreichte, das Wesentliche meines Ichs zu
erkennen, und in mir Kraft genug war, dieses Wesentliche zu entwickeln,
ohne in egoistische Kälte hineinzugleiten. Der Meisten tastendes Suchen
beirrt immer wieder geheime Verzweiflung. Sie wollen vorher mit
zuverlässiger Sicherheit wissen, wann sie fehl gehen könnten, und wann
es ihr gutes Recht ist, auf eigne Art „Mensch“ zu werden. Ohne
Verletzungen möchten sie hinaus und hinauf. Krisen erschrecken sie.

Für alle Zeit trägst Du nun ein starkes Lebensempfinden in Dir, und wie
immer Deine äußere Bahn sich gestalte, nie wirst Du in Deinem Werke und
in Deinem Wesen die Schönheit des großen Fühlens verleugnen.

Ich muß mich nun doch endlich niederlegen und zu schlafen versuchen, die
Nerven könnten rebellieren.


_Vier Wochen später._

Meine Gedanken beginnen ins Leben zurück zu wandern -- -- --

Wohl weiß ich: Zur Erkenntnis gehört ein bestimmter Abstand. Ist man
seinen Erlebnissen noch zu nahe, so überwiegt das Einzelne so sehr, daß
das Ganze nicht zu überschauen ist. Die Tragweite und der wahre Gehalt
eigener Freude und eigener Leiden sind -- besonders in unmittelbarer
Nähe -- nicht richtig einzuschätzen. Gewiß, gewiß, nie sind wir dem
Irrtum mehr ausgesetzt, als in Augenblicken, in denen wir eine neue
Erfahrung erleben. Habe ich denn aber in den letzten Wochen eine neue
Erfahrung erlebt? Wohl kaum. Doch wie immer es sei, Roland, es gibt
Entschlüsse, die im Zustande der Exstase gefaßt werden müssen, sonst
faßt man sie nie. --

Seit acht Tagen bist Du wichtiger Besprechungen halber abwesend; ich
habe Ruhe gehabt, unbeirrt von Deinem Blick, von Deiner Nähe über die
reiche Festzeit nachzudenken, die wir miteinander Monate hindurch
erleben durften.

Jeden unserer Briefe las ich gestern nochmals durch; Dein Schreibtisch
ist ja längst für mich geöffnet. Scheu berührte ich jedes Blatt. Während
dann meine Blicke über die Seiten dahinglitten -- hier auf dem Platze,
auf dem Du so oft meine Hand streicheltest -- in diesem Zimmer, das Du
infolge der für Dich nun umgewandelten Welt seltener und oft nur
flüchtig während der letzten Zeit betratest, erstarkte in mir die
Vorstellung (könnte ich vielleicht auch sagen -- der Wahn?) uns vor der
Tragödie der Entzauberung retten zu müssen.

Ich weiß nicht, wann dieser Gedanke zuerst Besitz von mir zu ergreifen
versuchte. Vielleicht bildete ich mir nur ein, Deine große Liebe habe
all meine einstigen Theorien gänzlich umzuwerfen vermocht, vielleicht
sind sie nie aus meinem Unterbewußtsein gewichen, vielleicht überbrauste
sie nur der sich steigernde Glaube an die Möglichkeit eines Besitzes,
welcher ein Leben _ganz_ auszufüllen vermag. Ich vergaß, daß es keinen
Besitz gibt, dessen wir _mächtig_ sind. Nun ist’s mir wieder
eingefallen, ohne Bitterkeit, ohne Erschrecken, ohne die Absicht, irgend
jemanden zur Rechenschaft dafür ziehen zu wollen. Am wenigsten Dich,
geliebter Junge.

Nichts ist jetzt notwendig als ein festes Herz. Seltsam, welche Fülle
von Forderungen wir gerade an diesen kleinen Muskel stellen, den wir
unser Herz nennen. Größe soll ihm eigen sein, Treue, Weisheit, Stärke,
Heiterkeit, Güte, Sanftmut; alles -- je nach Bedarf.

An mir ist es, unser großes Gefühl vor dem Prozeß des Alterns zu retten.
Solche Rettung kann nicht teuer genug bezahlt werden.

Noch umflutet uns ein Meer von Liebe, dessen Verfließen Dir unmöglich
dünkt, aber Verhältnisse können nicht ausbleiben, die uns quälen
_müssen_. Ich will Dich nie in Konflikte treiben. Heute noch bist Du
fest davon überzeugt, daß Du nur _einmal so lieben_ kannst, wie Du mich
liebst; aber _anders wirst Du lieben können, anders_. Deine Kunst wird
dazu beitragen, daß Dich dieses „_anders_“ rascher überfällt, als Du es
für möglich hältst.

Sollte _ich_ Dich nun für ewig beanspruchen, Dir immer fest zur Seite
bleiben wollen, weil ich die erste Frau bin, die in Dein Leben eingriff,
weil Dein Talent der Liebe zu mir entstieg?

Glaube nicht, Roland, ich gehe, weil ich Dir entsagen will. Nein, ich
gehe, ehe die gesteigerte Seelenatmosphäre, die ein wundersames Gefühl
uns bescherte, und die jedes Denken an einander in jauchzendes Singen
wandelte, von Mißklängen zerrissen sein könnte. Ich gehe, weil es _der_
Aufstieg ist, der uns für immer einen kann.

Kein Schatten soll je das helle Licht zwischen uns trüben, nie soll des
Werktags Gewalt unser Gefühl für einander gefährden; nie sollen der
Gewohnheit graue Schleier zwischen uns wehen.

„Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben.“ Ist es nicht das
Gleiche, wenn Liebe nicht erst der Gewalttätigkeit und der Not des
Alterns ausgesetzt wird? Denn auch Liebe altert und ist meist derselben
Verarmung untertan, wie körperliches Verblühen; nur Auserwählten,
Seltenen mag ein anderes Schicksal bestimmt sein. Ich fürchte das
Erwachen aus dem Zustande des Verzaubertseins.


_Später._

_Heute_ sehe ich in meinem Verschwinden eine zwingende Notwendigkeit,
aber nicht immer werde ich fähig sein, mir diesen Schwerthieb zu deuten.
_Heute_ fühle ich trotz Qual und Entsetzen, daß er nur _das_
durchschneidet, was sterblich zwischen uns ist, daß er die
unzerreißbaren Zusammenhänge nicht treffen kann. _Heute_ glaube ich
hellsehend zu sein; schon in einer Woche könnte ich mich betrügen und
all dieses für einen Anfall von Schwermut halten, der _glücklich_
überwunden ist. Nein, schnell muß ich handeln, auch wenn ich inmitten
meiner raschen Reisevorbereitungen wieder und wieder plötzlich nur an
„zerstörende Sinnlosigkeit“ denke.

Roland, Geliebter, nie sollst Du genötigt werden, vor mir eine Maske
anzulegen.

Noch kannst Du nicht wissen, ob nicht auch Du zu den _ewig Wandernden_
gehörst. Die Schwelle in das Land, das besonders reich an romantischen
Täuschungen ist, überschrittest Du ja erst jetzt. Sonnigen Träumern
gewährt es am liebsten Obdach. Und freien.

Wir werden beide auf bewegten Meeren bleiben, aber wir werden erstarken,
wenn unser Fühlen, unser Geist nicht mehr wie überfeine Instrumente
durch den leisesten Seelenhauch des Geliebten in Schwingung geraten.
Suche Dir allein jetzt ein Königtum, das von ewiger Dauer ist. Kein
rasches Entblättern bedrohe die Blumen, die in ihm erblühen. Es muß
_erfüllt_ sein von einer Qual, einer Liebe, einer Sehnsucht, die _mehr_
verlangen als einen Menschen. In _diese_ Qual, _diese_ Liebe, _diese_
Sehnsucht werde _ich_ heimkehren.

Ich kann mein Ich nicht ersticken lassen, muß ursprünglich und
aufrichtig bleiben, muß auf _meine_ Weise an unserer Vollendung -- die
ja doch nur Stückwerk bleibt -- arbeiten, muß uns vor Anklagen und
Beschuldigungen bewahren.

Aber all diese flüchtig und in wirrem Durcheinander niedergeschriebenen
Worte werden Dich nicht überzeugen. Doch das gehörte ja zu dem Schönsten
zwischen uns, daß Du meine Beweggründe stets achtetest, auch wenn sie
nicht im Einklang mit Deinem Empfinden standen. Vor Dir habe ich nie
nötig, mich zu _verteidigen_; welch eine herrliche Gewißheit! Anfangs
wirst Du zu verzweifeln glauben, wirst grausam leiden, aber Du wirst
nicht zu ermitteln versuchen, ob Du mich in Christiania oder in Athen
finden könntest. Ach, daß man sich im Leben immer, wenn auch in
friedlicher Form, zu _verteidigen_ hat! Unsere Ideale -- gleichgültig,
ob wir uns öffentlich zu ihnen bekennen oder nicht -- bilden genau einen
Teil unseres Selbst, wie äußerliche Vorzüge oder Fehler. Sie ewig zu
entschuldigen, ist das Gleiche, als wolle man sich wegen der Farbe
seiner Haare, oder wegen der Kleinheit oder Länge seiner Gestalt
verteidigen.

Gebe ich Dich jetzt _freiwillig_ her, so kannst Du mir nie genommen
werden. Laß Dich nicht von täuschenden Ueberlieferungen beirren;
klammere Dich nicht an Ausnahmen, an Beziehungen, die nie verstümmelt
wurden. Wir haben unser „glückliches Jahr“ gelebt. Laß uns unsere Liebe
unverwundbar gestalten, laß uns zum _höheren_ Glück emporklimmen. Am
Firmament bleiben Dir strahlende Lichtfunken. Sehnsucht ist Glanz auch
in sternenlosen Nächten.

Oder sollte all dies dennoch Phantasterei sein? Selbstmord? Uebertreibe
ich? Irre ich in der Voraussetzung, daß durch meine Selbstbesinnung
Sterbliches in Unsterbliches gewandelt wird? Kann diese Flucht, an der
wir beide jetzt gleich schwer zu tragen haben, nicht allmählich zum
Quell werden, dem die großen Dichter entsteigen? Ich träume Dich groß;
mein _Gehen_ wird diesen Traum leichter der Wirklichkeit nahe bringen,
als mein _Bleiben_. Ich aber habe mich zu mir selbst zurückzuwenden.

Vielleicht denke ich dennoch zu wenig an Dein Entsetzen, an Dein
Erschrecken. Junge, liebster Junge, begreife doch, daß es schöner ist,
an unserem Sehnen zu leiden, als den Tag abzuwarten, an dem das Dunkel
durch enge Fenster zu uns hereinfallen will.

Heute noch flutet Licht durch weite Portale an uns heran. Ich kann, ich
kann Dich nicht durch das Verlangen beschweren, unseren leuchtenden
Stunden eine Alltagsfortsetzung geben zu sollen. Wohl kenne ich genau
die Antworten, die ich erhielte, erbäte ich jemandes Rat: Von
Ueberspanntheit wäre die Rede, -- vom einzigen Glück im festen Besitz --
vom Prüfstein eines starken Gefühls -- von nicht minder schönen, wenn
auch gewandelten Gefühlen -- von Bündnissen, die die Zeit nur noch
unlöslicher schmiedete. Aber Roland, wie alt bist Du? Wie alt ich?
Weshalb denn mehr? Mehr würde zum Weniger. Zu oft sah ich Menschen, die
sich hemmend aneinander fürs Leben gekettet hatten. Vielleicht ist
dennoch meines Handelns Ursprung tief verwurzelt mit meinem Künstlertum.
Verzweiflung und Verheißung scheinen mir zusammengeschweißt.


_Später._

Selbst in diesen Tagen gibt es Augenblicke, in denen ich gar kein Weh in
mir fühle. Und doch, während mir heute der Diener verschiedene Fahrpläne
zur Durchsicht reichte, schreckte ich zusammen, als setzte der Schlag
meines Herzens aus; mir wurde schwindlig, ich konnte nur stehen bleiben,
solange ich mich an irgend einem Gegenstande im Zimmer festhielt.

Merkwürdig, wie entgegengesetzte Vorstellungen zur selben Minute an mir
reißen, während ich mich doch am beharrlichsten des letzten
Zusammenseins mit Dir erinnere, Deiner _flüchtigen_ Innigkeit, als Du
zur Bahn stürmtest. Könnte dieses Fortstürmen nicht symbolisch für Deine
nächste Zukunft gewesen sein?

Soeben Dein Telegramm, das mir die dortigen Erlebnisse meldet und die
Verzögerung Deiner Rückkehr.


_Später._

Oft hört man, daß Menschen, die beabsichtigen, sich das Leben zu nehmen,
in unerklärlicher Ruhe und Besonnenheit alles für die Tat vorbereiten.
Jetzt begreife ich auch sie. Nachdem mein Entschluß gefaßt war, konnte
ich in seltsamer Ueberlegung ordnen, was geordnet sein mußte.

Ich handle aus Naturnotwendigkeit, aus dem, was meiner Natur notwendig
erscheint. Ob falsch, ob richtig, kann nicht mehr das Entscheidende
sein; nicht ob ich göttlichen oder menschlichen Gesetzen in mir folge.
Ich habe aufgehört, das enträtseln zu wollen.

Während ich dies Letzte schreibe, bin ich schon weit fort; ich kritzle
im Zuge, der mich eilend und rollend immer mehr von Dir entfernt.

Liebe, Begeisterung und Leidenschaft für Vieles, was der nur „gesunde
Verstand“ verspottet, werden mein Leben immer zu einem reichen machen.
Freudigkeit und Festigkeit können mich nie für immer verlassen. So nehme
ich, trotz allem, fast heiter dieses -- soll ich es Martyrium nennen? --
auf mich. Ich kann auch nicht sagen: Verzeihe. Etwas eigentümlich
Doppeltes ist in jedem Leben, in dem des Künstlers in verstärktem Grade.
Tausend melodische Ueberraschungen werden Deinem Schmerz entsteigen. Gib
Dich ganz jenen berauschenden Schöpferaugenblicken hin, deren
Seligkeiten Du ja bereits erfahren; aus diesem Eden kannst _Du_ nie
vertrieben werden.

Bedenke ich, wie das alles anfing, wie alles zusammen- und
auseinandertrieb, die Wandlungen und Handlungen, die in den wenigen
Monaten liegen, so ergreift mich etwas wie Andacht vor den im Dunkel
verborgenen Wurzeln des Lebens. Vermissen, Verlangen, welche Früchte
mögen sie Dir tragen?

Ich brachte alles über Dich in Fülle, auch jetzt das Harte, aber nun
nennt Dich die Welt -- einen Dichter.

Es schmerzt Dich vielleicht, und Du begreifst es kaum, Geliebter, daß
ich in diesen Augenblicken fähig bin, überhaupt zu schreiben. Doch sieh,
immer erscheint mir eine Eisenbahnfahrt wie ein Zwischenspiel, wie ein
Akt, der trotz seiner Tatsächlichkeit eigentlich nicht mitrechnet in der
Schale, auf die all unser Erleben niederfällt. Die Geräusche des
fordernden Tages draußen können die Ansprüche meiner Seele beirren; die
Geräusche einer Fahrt sind schwach, mir kaum vernehmbar; sie werden
übertönt von feierlich schwebenden Gedanken, die zu mir zu Gast kommen.

Erst wenn ich diesen Zug verlassen, wenn ich das Ziel meiner Fahrt
erreicht habe -- schon Tage vorher werde ich diesen langen letzten Brief
von einer Nebenstation aus an Dich schicken -- kann ich zu ermessen
beginnen, was es tatsächlich bedeutet, nie mehr in heißer Sehnsucht auf
Dich warten zu können. Und wie jetzt draußen wechselnde Bilder an mir
vorüberziehen, so werden Stunden wechselnden Fühlens mich umfangen. --
Unser Leidensweg führt durch die Seele, aber der unserer tiefsten
Erkenntnisse, die aufwärts tragen wollen, auch.

_Ich hatte Angst vor dem kleinen Glück_, aber Menschen, in denen diese
Angst nicht zu überwinden ist, müssen hart sein können -- hart gegen
sich und hart gegen die, welche sie am meisten zu lieben glauben.

Roland, Du Einziger, in dieser Stunde erlausche ich vieles, was wir
selten in uns vernehmen. „_Ich fürchte mich nur, meiner Qual nicht
würdig zu sein._“ Du erinnerst Dich dieses Dostojewski-Wortes, dessen
Inhalt zuerst befremdend erscheint, und das doch imstande ist, soviel
Adliges in uns zu wecken.

An Bäumen mit weißen Stämmen und hängenden Kronen jagt der Zug vorüber.
Zahllose Bilder wirft die Natur in die dahinfliegenden Fenster:
Gelbwogende Kornmeere, buntblühende Wiesen, rotknospende Büsche, leise
sich wiegende Gräser; sie alle beredte Verkünder des ewig
verschwendenden Nährbodens, der uns trägt. In einen seltsamen
Traumzustand gleite ich hinein -- -- --

Draußen ist Erntezeit. Und in uns? Welchen Namen werden wir einst dieser
Zeit geben?

Maria.

       *       *       *       *       *
           *       *       *       *
       *       *       *       *       *

Fehler und Unregelmaßigkeiten:

das Beieinander_bleiben_
  _ein Wort_
die einmal Inhalt all seines Denkens und Fühlens gewesen ist
  _Original hat »gewsen«_
_Roland an Maria._ [4. Brief]
Teure Frau Maria, ich kann es nicht mehr ändern
  _Original hat »Maria an Roland.«_
aus unerforschten Gründen zufluten lassen kann
  _Original hat »Gründe«_
eine feingliedrige Gestalt
  _Original hat »feingliedrge«_
Marie, Deine Maria.
  _Text ungeändert_
die immer gleich an Ruhm denken -- an Dich, Ruhm
  _Spatium nach »denken« fehlt_
ob mündlich oder schriftlich
  _Original hat »ob-/mündlich« am Linienende_
Der Morgen steigt herauf, aber ich versuchte nicht mehr
  _Text ungeändert: Fehler für »versuche«?_
nicht durch das Verlangen beschweren,
  _Original hat »Vrlangen«_





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