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Title: Der Todesgruß der Legionen, 2. Band
Author: Meding, Johann Ferdinand Martin Oskar, 1829-1903
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Der Todesgruß der Legionen, 2. Band" ***


Der Todesgruß der Legionen



Zeit-Roman

von

Gregor Samarow.



Zweiter Band.



Berlin, 1874.

Druck und Verlag von Otto Janke.



Erstes Capitel.


An demselben Abend befanden sich in dem Gartensalon des Hotels in der
Rue Mansart, welches der Regierungsrath Meding, der Vertreter des Königs
von Hannover bewohnte, zwei Personen im ernsten Gespräch.

Herr Meding saß in einem Lehnstuhl zur Seite des runden Tisches, über
dessen Mitte vom Plafond eine große Lampe mit breitem, flachem
Glasschirm herabhing, — ihm gegenüber lehnte in einer Chaiselongue,
welche neben dem hellen Feuer eines jener altfranzösischen großen Kamine
stand, der Graf von Chaudordy, der frühere Cabinetsrath unter Drouyn de
L'huys, welcher jetzt als Minister plenipotentiaire zur Disposition
gestellt war, sich aber stets im regen Verkehr mit der politischen Welt
befand und eine neue Verwendung in der Diplomatie erwartete.

„Ich bedauere,“ sagte der Graf, „daß aus dem Project, Ihren emigrirten
Landsleuten eine Colonie in Algier zu gründen, Nichts werden soll. Man
hat sich hier allgemein so lebhaft dafür interessirt, und den armen
Leuten, welche nun doch einmal ihr Vaterland verloren haben, würde dort
Gelegenheit geboten worden sein, sich eine neue Existenz und vielleicht
einen werthvollen Besitz zu schaffen; wir aber hätten durch so fleißige
und tüchtige Colonisten für die öconomische Verwaltung Algiers viel
gewonnen.“

„Ich habe noch vor Kurzem,“ erwiderte Herr Meding, „mit dem Herrn Faré,
dem Director im Ministerium der Finanzen, unter dem die algerische
Verwaltung steht, und welcher lange Zeit die Civiladministration bei dem
Marschall Mac Mahon geführt, ausführlich gesprochen — auch der Marschall
selbst, mit dem ich darüber conferirte, war, obwohl er eigentlich der
civilen Colonisation Algeriens nicht besonders günstig ist, doch bereit,
Alles für meine Landsleute zu thun, wozu er auch vom Kaiser noch ganz
besonders aufgefordert ist, — die Leute selbst wollen sehr gern nach
Algerien, allein Seine Majestät hat dennoch das Project definitiv wieder
aufgegeben.“

„Ich begreife nicht warum,“ erwiderte der Graf von Chaudordy, „wenn der
König daran denkt, jemals wieder für sein Recht unter irgend welchen
Constellationen zu kämpfen, so muß er sich doch vor Allem diejenigen
Leute erhalten, welche im Stande sind, ihm den Kern einer Armee zu
bilden, die er dann durch weitere Emigranten oder durch Werbungen
ergänzen könnte.“

„Es scheint,“ erwiderte Herr Meding, „daß im Lande Hannover selbst sehr
falsche Ideen über das Colonisationsproject verbreitet worden sind und
daß der König in Rücksicht auf die allgemeine Abneigung, welche sich
dort gegen dasselbe kund giebt, davon wieder Abstand genommen hat. Ich
bedauere sehr,“ fuhr er fort, „daß man unter diesen Verhältnissen die
Sache überhaupt angeregt hat. Ich komme hier dem Kaiser und der
Regierung gegenüber in eine eigenthümliche Lage. Ich habe die
Verhandlungen in Folge der vielfachen dringenden Depeschen des Grafen
Platen so energisch als möglich betrieben und nun, nachdem alle
Verhältnisse schon fast geordnet waren, wird die Sache wieder aufgegeben
und zwar — wie Graf Platen angiebt — weil die Aufstellung einer
hannöverschen Armee auf dem algerischen Territorium nicht thunlich sei.
Ich verstehe eigentlich nicht, was man damit meint — doch gleichviel, die
Sache ist aufgegeben, die Emigration wird aufgelöst werden und damit
ist, wie ich glaube, die Sache des Königs und der Kampf für dieselbe
auch zu Ende. Denn wenn einmal Diejenigen, welche in jahrelangem Exil
dem König treu geblieben sind, in alle Welt zerstreut werden, so wird
das Volk in Hannover den Eindruck gewinnen, daß nunmehr der König die
neue Ordnung der Dinge anerkannt habe.“

„Es wäre vielleicht das Beste,“ erwiderte der Graf von Chaudordy, „wenn
der König dies einfach thäte, sich in den Besitz seines großen Vermögens
brächte und sich nach England zurückzöge, wo er ja immer eine große und
ehrenvolle Stellung behält. Ich habe Ihnen schon früher gesagt,“ fuhr er
fort, „daß ich wenig Chancen für den König zu sehen vermöchte, wenn es
ihm nicht gelingen könnte, in Deutschland selbst sich eine große und
mächtige Partei zu schaffen, welche in einem gegebenen Augenblick im
Stande wäre, eine ernste und nachdrückliche Bewegung für ihn zu
organisiren. Von Seiten der Cabinette wird Nichts für ihn geschehen; er
hätte sich müssen eine Stellung schaffen, daß im Fall einer großen
Katastrophe die Regierungen gezwungen gewesen wären, mit ihm zu
rechnen.“

„Das ist aber Alles leider nicht geschehen,“ sagte Herr Meding, „alle
Anläufe, die dazu genommen wurden, sind eben Anläufe geblieben und wie
das leider so oft an depossedirten Höfen der Fall ist, die ganze
Thätigkeit hat sich in kleine und kleinliche Intriguen ausgelöst. Ich
bin hier schon lange in einer mehr als peinlichen Situation, um so mehr
als Graf Platen — wie Sie ja wissen, den Grafen Breda hierher geschickt
hat, welcher als geheimer Agent des Königs figurirt, obwohl Seine
Majestät mir persönlich versichert hat, ihn gar nicht zu kennen, und
dessen eigenthümliche Thätigkeit die Sache des Königs mehr und mehr
discreditirt. Ich würde für meine Person nicht unzufrieden sein, wenn
diese ganze Unruhe ein Ende nehme und wenn nur für das ganze Welfenhaus
eine sichere und würdige Zukunft geschaffen werden könnte. Doch müßte
man sich in Hietzing klar werden, was man will — Eins oder das Andere,
entweder den Frieden oder einen so festen und energischen Krieg, daß man
gefürchtet bleibt und im gegebenen Augenblick die Macht des Handelns
behält. Es scheint aber, daß überall in der Welt heute der Entschluß und
die Thatkraft verschwindet. Denn ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, daß
ich auch hier bei Ihnen nicht mehr verstehen kann, wo man denn
eigentlich hinaus will und was man beabsichtigt.“

Der Graf Chaudordy seufzte.

„In der That,“ sagte er, „häuft man hier Fehler auf Fehler. Ich
fürchte, daß sich das eines Tages bitter rächen wird; ich bin mit Herz
und Seele Franzose und bin dem Kaiser und dem Kaiserreich aufrichtig
ergeben, aber für die Dynastie sehe ich in der Art und Weise, wie man
hier die Geschäfte behandelt, wenig erfreuliche Aussichten für die
Zukunft. Unsere Fehler beginnen von 1866; nachdem sich der Kaiser damals
zu keinem Entschluß aufraffen konnte, mußte er dahin gedrängt werden,
größere Freiheiten zu geben. Er hat sich auch dazu nur langsam und fast
zu spät entschließen können, und da er diesen Entschluß so lange
hinausgeschoben hat, so wird er nun gezwungen werden endlich den Krieg
zu machen, welcher der größte Fehler sein wird.“

„Sie hätten also gewollt,“ fragte Herr Meding, „daß der Kaiser im Jahre
1866 entschieden für Oesterreich hätte Partei nehmen sollen?“

Der Graf Chaudordy blickte ihn groß an.

„Nein,“ sagte er, „nicht für Oesterreich; ich habe Herrn von Bismarck
immer für sehr stark gehalten, ich habe Preußens Ueberlegenheit über
Oesterreich nie bezweifelt und Oesterreichs Niederlage vorher gesehen.
Nach meiner Ueberlegung hätte der Kaiser damals — und zwar vor dem
Kriege — eine feste und entschiedene Alliance mit Preußen machen müssen,
um aus derselben alle die Vortheile für Frankreich zu ziehen, welche das
siegreiche Preußen ihm nach dem Kriege nicht mehr gewährte. Auch heute
noch wäre es das einzig Richtige, um jeden Preis eine aufrichtige
Verständigung mit Preußen zu suchen — das ist die einzige Macht, mit
welcher wir eine nützliche und starke Alliance schließen können, und
wenn wir diese Alliance nicht schließen, so werden wir ihr und zwar in
kurzer Zeit in einem furchtbaren und gewaltigen Krieg isolirt
entgegentreten müssen.“

„Man rechnet aber doch,“ warf Herr Meding ein, „sehr erheblich auf
Oesterreich und Italien — Sie kennen gewiß die Negotiationen, welche in
diesem Augenblick im Gange sind, um einen Coalitionsvertrag mit den
beiden Mächten zu schließen. Wie man mir erzählt, soll die Sache sehr
weit gediehen sein und man verspricht sich hier sehr viel davon.“

„Das wird Alles zu Nichts führen,“ sagte der Graf von Chaudordy. „Auch
in dieser Richtung hin hat man einen Fehler gemacht. Man hat geglaubt,
in Herrn von Beust, an dessen Erhebung zum Minister in Oesterreich der
Kaiser großen Antheil hat, einen entschiedenen Alliirten zu finden, — man
hat sich getäuscht und hätte dies sogleich erkennen sollen, als die
neue österreichische Regierung statt ihre ganze Kraft militairischen
Rüstungen zu widmen, sich mit Verfassungsfragen zu beschäftigen begann.
Wie ist es denn möglich, sich jetzt auf dieses Oesterreich zu stützen,
welches keine Armee und kein Geld hat und uns im entscheidenden
Augenblick um so mehr im Stich lassen wird, als die entscheidende
Leitung der dortigen Politik täglich mehr in die Hände Ungarns übergeht.

„Der Kaiser erkennt das Alles sehr gut,“ fuhr er fort, „aber er ist
nicht mehr der er war und zwischen den verschiedensten, heterogensten
Entschlüssen hin- und herschwankend wird er endlich dahin gedrängt
werden, gänzlich isolirt und ohne alle Alliancen den Krieg zu machen,
der kaum mit einem entscheidenden Siege für Frankreich enden wird, und
der uns leicht in eine unendliche innere Verwirrung stürzen kann, auch
giebt man alle Gründe, um vernünftiger Weise dort den Krieg
vorzubereiten, aus der Hand. Man hat den Prager Frieden so lange
verletzen lassen, daß es fast lächerlich sein würde, heute noch
kategorisch dessen Erfüllung zu fordern. Jetzt läßt man die Bewegungen
in Baden und Süddeutschland wieder ohne Beachtung und Unterstützung, — es
wäre so leicht — und man hat uns darüber Mittheilungen gemacht, eine
Volksbewegung in Baden gegen den von der dortigen Regierung
projectirten Anschluß an Preußen zu erregen und dadurch die deutsche
Frage von Neuem zum Gegenstand der Aufmerksamkeit Europas zu machen.
Dann hätte Frankreich einen Interventionsgrund und eine ganz
vortreffliche Stellung der deutschen Nation gegenüber — läßt man die
Ereignisse weiter gehen, läßt man den Widerstand der süddeutschen
Volkspartei brechen oder ermatten, dann wird man sich demnächst nicht
mehr Preußen, sondern dem ganzen Deutschland gegenüber befinden, und das
wird für uns die schlimmste und gefährlichste Position sein, in der wir
uns befinden können. Es ist in der That ein Glück,“ sagte er lächelnd,
„in diesem Augenblick von der Politik fern zu sein.“

„Aber glauben Sie nicht,“ sagte Herr Meding, „daß Drouyn de L'huys, dem
ja der Kaiser schon mehrfach das Portefeuille angeboten hat, doch
endlich die Leitung der Angelegenheiten wieder übernehmen und größere
Festigkeit und Klarheit in die französische Politik bringen werde?“

Der Graf von Chaudordy schüttelte den Kopf.

„Ich glaube nicht,“ sagte er, „daß Drouyn de L'huys sich jemals mit dem
Kaiser definitiv verständigen wird. Drouyn de L'huys will den Frieden
und der Kaiser kann sich nicht entschließen, weder ernsthaft den
Frieden zu begründen, noch ernsthaft den Krieg zu machen — er läßt sich
treiben und wird in den Krieg hineingedrängt werden, ohne es selbst zu
wollen. Für Ihren König und dessen Sache wird es jedenfalls das Beste
sein, wenn er einer solchen unklaren, verworrenen Katastrophe fern
bleibt, um so mehr, wenn er selbst sich nicht zu klaren Entschlüssen
erheben kann.“

Der Kammerdiener öffnete die Thür.

Herr von Düring, Herr von Tschirschnitz und die übrigen hannöverschen
Officiere traten ein. Nach und nach kamen noch andere Herren, auch Herr
Hansen erschien.

Das Gespräch wurde allgemein; man unterhielt sich über die
Tagesereignisse.

„Wissen Sie, meine Herren,“ sagte Herr Hansen, „daß der Proceß des
Prinzen Pierre Bonaparte beginnen wird? Wie ich höre, sind alle Juristen
der Ansicht, daß der Prinz freigesprochen werden muß.“

„Ich wüßte kaum,“ sagte der Graf von Chaudordy, „wie man ihn
verurtheilen wollte. Wenn Jemand in seinem eigenen Zimmer insultirt und
angegriffen wird — und Herr Fonvielle hat ja einen geladenen Revolver bei
sich gehabt — so steht ihm doch unzweifelhaft das Recht zu, sich zu
vertheidigen. Ich liebe den Prinzen Peter nicht, er ist eine unruhige,
unberechenbare Natur und sein ganzes Leben, wie seine Person erregt
wenig Sympathie, aber in dieser Sache kann man ihm keinen Vorwurf
machen — doch ist das Alles sehr unangenehm für die Regierung — es ist,
als ob Alles zusammenkäme, um die Stellung des Kaisers zu erschweren.
Solche Processe mit oder ohne Schuld der Regierenden finden sich in der
Geschichte immer vor großen Katastrophen.“

„Der arme Victor Noir thut mir leid,“ sagte Herr Meding, „ich habe ihn
gekannt, er war Redacteur an der ‚Situation‘ und Herr Grenier hat ihn
mir zuweilen geschickt, um mir Mittheilungen zu machen. Ich habe immer
eine Sympathie für ihn gehabt, er war eine gute kindliche Natur von
harmloser Naivetät, man hat ihn zu dieser Demonstration gemißbraucht,
und er ist das Opfer derselben geworden. Wie sieht es bei Ihnen aus,“
fragte er, sich an einen jungen eleganten Herrn mit blassem Gesicht,
schwarzem Haar und zierlichem kleinem Schnurrbart wendend, welcher so
eben eingetreten war, „haben Sie bald einen König gefunden, oder glauben
Sie es auf die Dauer mit der Republik versuchen zu können?“

„Spanien erträgt dauernd kaum eine Republik,“ erwiderte Herr Angel de
Miranda, der frühere Kammerherr der Königin Isabella, welcher
gegenwärtig in Paris lebte und dort eine, zwar private, aber eifrige
Thätigkeit für die provisorische Regierung Spaniens entwickelte. „Es hat
viel dazu gehört, um die alte Monarchie zu zerstören, wir werden aber,“
fuhr er mit geheimnißvoller Miene fort, „wie ich glaube, in nicht langer
Zeit einen König finden und damit wird diese Revolution endlich zum
Abschluß gelangen.“

„Ich wünsche Ihnen das von Herzen,“ sagte Graf Chaudordy. „Für das ganze
westliche Europa sind diese unsichern Zustände in Spanien vom
schädlichsten Einfluß. Sie müssen übrigens,“ sagte er lächelnd, „eine
kleine Neugier verzeihen, es interessirt mich in hohem Grade, wohin Sie
die Blicke wohl gewendet haben könnten, um einen Herrscher für Ihr Land
zu finden, — Sie haben da den Herzog von Montpensier, Sie haben den
Prinzen von Asturien, Sie haben den Grafen von Montemolin, und wer weiß,
ob nicht vielleicht der Marschall Prim, der schon einmal von einem
kaiserlichen Diadem von Mexiko träumte, auch jetzt wieder daran denkt,
die Gewalt fest zu halten, welche er ja durch die Armee bereits
vorzugsweise sich zu eigen gemacht hat.“

Angel de Miranda zuckte die Achseln.

„Ich glaube kaum, daß Prim ähnliche Gedanken hegen könnte, er ist klug
und weiß sehr gut, daß, wenn er vielleicht eine Zeit lang Dictator sein
könnte, er doch niemals und zwar weder von der spanischen Grandezza,
noch vom Volk als König acceptirt werden könnte. Ich glaube viel eher,
daß er eine Zeit daran gedacht hat und vielleicht auch noch ein wenig
daran denkt, den Prinzen von Asturien möglich zu machen, um dann an der
Spitze einer Regentschaft als Majordomus die Macht in Händen zu
behalten. Doch das Alles ist unpractisch, wir können in Spanien keinen
König von den verschiedenen Bourbonenlinien gebrauchen, die Anhänger des
Einen würden sich niemals den Anhängern des Andern unterwerfen wollen,
das würde zu ewigen Bewegungen und Unruhen führen. Die einzige
Möglichkeit dauernden innern Friedens liegt darin, einen fremden Fürsten
zu finden, der dem Volk sympathisch ist —“

„Und der vielleicht,“ fiel Herr Meding lächelnd ein, „irgend wie mit dem
iberischen Einheitsgedanken in Verbindung stünde.“

Betroffen blickte Angel de Miranda auf.

„Dieser Gedanke,“ erwiderte er nach einem kurzen Stillschweigen, „ist
heute wohl noch nicht reif. Doch liegt allerdings in ihm nach meiner
Ueberzeugung die Zukunft der pyrenäischen Halbinsel.“

Er trat zu einer andern Gruppe — nach einiger Zeit zog sich der Graf
Chaudordy zurück, und nach einer Stunde leerte sich der Salon von den
Besuchenden — nur die hannöverschen Officiere blieben zurück.

„Nun, meine Herren,“ fragte der Regierungsrath Meding, „haben Sie
Nachrichten, wie Ihre Vorstellungen in Hietzing aufgenommen worden sind,
und haben Sie irgend welche Beschlüsse gefaßt über die Schritte, welche
Sie demnächst thun wollen?“

„Wir haben noch Nichts von Hietzing gehört,“ erwiderte Herr von
Tschirschnitz. „Ich kann nicht zweifeln,“ fuhr er fort, „daß der König
unsere Vorstellung ernstlich erwägen und berücksichtigen werde. Ich
wenigstens bin fest entschlossen, bis auf den letzten Augenblick Alles
aufzubieten, um das Schicksal der armen Emigrirten zu erleichtern und
sie von völliger Isolirung im fremden Lande zu retten. Ich verstehe auch
durchaus nicht, wie es möglich sein sollte, uns das zu verbieten. Die
Mißverständnisse, welche da vorliegen, müssen sich ja aufklären.“

„Man muß es hoffen,“ erwiderte der Regierungsrath Meding, „doch bin ich
dessen nicht ganz gewiß, denn seit einiger Zeit scheinen sich um den
König her lauter Mißverständnisse zu lagern. Sie erinnern sich, daß
Herr von Münchhausen bei der Conferenz über das algerische
Colonisationsproject, zu welcher er hierher gesendet wurde,
Instructionen bei sich führte, welche, wie er sich selbst überzeugte,
denjenigen, die mir ertheilt waren, vollständig widersprachen.“

Rasch wurde die Thür geöffnet, der Lieutenant von Mengersen, ein großer,
schlanker, junger Mann und der Lieutenant Heyse, eine ernste ruhige
Erscheinung, traten ein.

„Nun,“ rief Herr von Düring lebhaft, „Ihr seid wieder zurück? Was bringt
Ihr? Hat sich Alles aufgeklärt?“

„Nichts hat sich aufgeklärt,“ erwiderte Herr von Mengersen mit zornig
bewegter Stimme, „der König hat uns gar nicht angenommen und uns den
Befehl geschickt, auf der Stelle wieder zurückzureisen.“

„Unglaublich,“ rief Herr von Düring.

„Aber wahr,“ rief der Lieutenant Heyse im traurigen Ton, „es scheint,
daß man eine vollständige chinesische Mauer um den König gezogen hat und
daß Nichts, was von uns kommt, zu ihm dringen kann. Dagegen hat er den
Feldwebel Stürmann gehört.“

„Den Feldwebel Stürmann,“ rief Herr von Tschirschnitz, „und uns, seinen
Officieren, verweigert er das Gehör! Das ist doch ein Affront für uns
Alle, wie er stärker und kränkender nicht gedacht werden kann.“

„Graf Platen ist am Tage vorher,“ sagte Herr von Mengersen, „bei
Stürmann in seinem Gasthause in der Stadt gewesen und hat sehr lange mit
ihm gesprochen, am andern Tage ist er dann nach Hietzing zum König
gebracht worden.“

„Und habt Ihr nicht gehört, was nun weiter geschehen soll,“ sagte Herr
von Düring.

„Mit uns zu gleicher Zeit,“ sagte der Lieutenant Heyse, „ist der Major
von Adelebsen hierher abgereist, um das Commando zu übernehmen und die
Legion aufzulösen. Es kommt nun darauf an, daß wir uns entschließen, was
wir thun wollen für uns und für die Leute, denn auf Gehör beim König
haben wir nicht mehr zu rechnen.“

„Wir müssen uns fest verbinden,“ rief Herr von Tschirschnitz, „um Alles
aufzubieten, damit die armen Emigranten noch einen Anhaltspunkt erhalten
und nicht vereinsamt ihrem Schicksal überlassen bleiben. Ich hoffe, Sie
werden uns darin unterstützen,“ sprach er zu dem Regierungsrath Meding
gewendet.

„Ich bedauere auf das Tiefste die Wendung, welche diese Sache genommen,“
erwiderte dieser, „und die Unmöglichkeit mit irgend welchen
Vorstellungen bis an Seine Majestät zu dringen, — ich bin aber hier als
Vertreter des Königs und muß, so lange ich auf meinem Posten bin, jeden
Befehl, den Seine Majestät mir ertheilen wird, ausführen; und ich rathe
auch Ihnen, meine Herren, dringend, keinen Widerstand gegen die
Ausführung der Befehle Seiner Majestät zu leisten, doch können Sie auf
das Festeste auf meine Unterstützung dafür rechnen, daß den Emigranten
nach Auflösung des Verbandes die Möglichkeit geboten werde, sich zu
gegenseitiger Unterstützung zu vereinen und Unterkommen und Arbeit zu
finden. Ich habe bereits in dieser Beziehung mit verschiedenen
einflußreichen Personen Rücksprache genommen und mich ihrer Geneigtheit
versichert, zu einem Comité de Patronage für die Emigrirten zusammen zu
treten. Der Baron Thénard, welcher großen Einfluß in den Kreisen der
Grundbesitzer hat und selbst ausgedehnte Güter besitzt, hat mir bereits
zugesagt, mit in dieses Comité einzutreten, ebenso Herr Bocher, welcher
in industriellen Kreisen viel Gelegenheit hat, den Emigrirten Arbeit zu
schaffen. Ich habe bei der Wahl der Personen wesentlich darauf Rücksicht
genommen, daß die ganze Sache gar keinen politischen Charakter habe, daß
sie eine reine Wohlthätigkeitsangelenheit sei und denke nun noch einige
Damen als Patronesses hinzuzuziehen. Ich zweifle nicht, daß wir dann
binnen Kurzem für alle unsere Landsleute vollkommen ausreichende
Beschäftigung haben werden. Auch für Diejenigen, welche etwa krank und
arbeitsunfähig werden, wird sich dann eine reichliche Unterstützung
ermöglichen lassen, wenn man einen Verband herstellt, in welchem Jeder
seine Beiträge in eine Krankenkasse zahlt, für welche außerdem von allen
Seiten reichliche Hülfsquellen sich öffnen werden. Lassen Sie also den
Muth nicht sinken, wir werden ganz gewiß gut für die Leute zu sorgen im
Stande sein. Sie, mein lieber Düring, und Sie, Herr von Tschirschnitz
müssen dann mit mir in das Comité de Patronage eintreten und die innere
Organisation des Hülfsverbandes der Emigranten übernehmen.“

„Das ist eine vortreffliche Idee,“ rief Herr von Düring, „ich habe
früher schon etwas Aehnliches überdacht und dazu einen Organisationsplan
ausgearbeitet, den ich seiner Zeit auch dem König eingeschickt habe, den
er aber wohl nicht beachtet zu haben scheint —“

„Ich habe bereits dem Könige,“ sagte der Regierungsrath Meding, „von
diesem Plan und den für die Bildung des Comité de Patronage gethanen
Schritten Mittheilung gemacht. Durch dies Comité könnte dann auch für
Diejenigen, welche so gern nach Algier gehen wollen, ohne daß der König
irgendwie dabei betheiligt ist, dort eine vortheilhafte Niederlassung
vermittelt werden; damit würde der Wunsch der Leute erfüllt und zugleich
jede Betheiligung des Königs dabei ausgeschlossen, welche Seiner
Majestät wegen der Stimmung in Hannover unerwünscht ist. Ich bitte Sie
also nochmals, meine Herren, legen Sie den Schritten des Herrn von
Adelebsen zur Auflösung der Legion keine Schwierigkeiten in den Weg.
Lassen Sie diesen Herrn ruhig ausführen, was ihm vom Könige oder von wem
es sonst sei, aufgetragen ist, und helfen Sie mir dafür sorgen, daß
unsere Landsleute, nachdem sie aus dem Verbande geschieden sind, einen
Mittelpunkt finden, der ihnen Schutz und Beistand gewährt.“

„Aber wie der König mit uns umgeht,“ rief Herr von Tschirschnitz, „so
hätte er ja zur Zeit des Bestandes des Königreichs Hannover mit keinem
Officier umzugehen das Recht gehabt. Mindestens hätten wir doch Gehör
erlangen müssen, — dies ist ja geradezu asiatischer Despotismus.“

„Meine Herren,“ sagte der Regierungsrath Meding, „einem unglücklichen
Fürsten gegenüber ist die Pflicht des Gehorsams doppelt stark, und
vergessen Sie vor Allem nicht, daß wir Alle Vertreter einer Sache sind,
welche den Blicken der ganzen Welt ausgesetzt ist. Wir haben für diese
Sache gefochten nach allen Kräften, — man kann uns vorwerfen, daß es
thöricht und unvernünftig gewesen sei, aber wenigstens haben wir für die
Sache gethan, was überhaupt zu thun war. Wenn diese Sache zu Ende sein
soll,“ fügte er noch ernster hinzu, „und ich glaube, daß sie zu Ende
ist, so lassen Sie uns ihr den letzten Dienst erweisen, lassen wir sie
mit Ehren untergehen, ohne daß wir der Welt das Schauspiel der inneren
Zerrüttung und der Fäulniß, welche sie angefressen hat, und an welcher
wir wenigstens keinen Theil haben, geben. Wir werden vielleicht in der
Lage sein, unsere und der Emigranten Rechte scharf und nachdrücklich zu
vertheidigen, aber so lange es möglich ist, darf auch in dieser
Vertheidigung Nichts gegen den König unternommen werden, auf dem die
Hand des Schicksals schwer genug ruht, und der stets auf unsere
Ehrfurcht Anspruch haben wird. Und sollten wir je zu den äußersten
Grenzen der Vertheidigung gedrängt werden, so müssen wir wenigstens vor
der ganzen Welt beweisen können, daß wir dazu unwiderstehlich gezwungen
worden sind.“

„Aber man greift unsere Ehre an,“ rief Herr von Mengersen, „unserer
Aller Ehre, denn was in Hietzing über uns gesprochen wird, davon hat man
gar keinen Begriff, und auch nach Hannover hin schreiben sie die
unglaublichsten Dinge. Es wird gar nicht lange dauern, so wird man wo
möglich in den welfischen Zeitungen Artikel über uns lesen.“

„Seien Sie ganz ruhig, meine Herren,“ sagte der Regierungsrath Meding,
„wenn das geschehen sollte, wenn man es wagen würde, unsere Ehre
anzugreifen, dann werde ich der Erste sein, der alle Rücksichten bei
Seite setzt, und dann wehe Denen, die den Kampf mit uns aufnehmen. Jene
werden dem König gegenüber zu verantworten haben, was dann geschehen
wird. Bis dahin bitte ich Sie nochmals dringend, jeden Schritt zurück zu
halten, der den König verletzen könnte.“

„Jedenfalls,“ rief Herr von Düring, „werde ich meine Magazinbestände dem
Herrn von Adelebsen nicht überliefern, ohne eine vollgültige Decharge
vom Könige zu bekommen, die ich bereits mehrfach verlangt und die man
mir noch immer nicht gegeben hat.“

Der Kammerdiener meldete den Legationskanzlisten Hattensauer, und eilig,
mit etwas aufgeregter Miene trat ein Mann von etwa fünfzig Jahren von
auffallender Häßlichkeit mit kleinen stechenden Augen, einer
vorspringenden Stirn, einem glatten, fast kahlen Schädel in das Zimmer.
Er neigte sich mit einer gewissen linkischen Höflichkeit nach allen
Seiten, näherte sich dann in beinahe demüthiger, unterwürfiger Haltung
dem Regierungsrath Meding und überreichte ihm ein großes, versiegeltes
Schreiben.

„Eine Depesche ans Hietzing, welche so eben eingegangen ist,“ sagte er.

Gespannt blickten die Officiere auf den Regierungsrath Meding, welcher
langsam das Schreiben öffnete und den Inhalt durchlas.

„Der Major von Adelebsen ist angekommen,“ sagte der Legationskanzlist
Hattensauer, während Herr Meding las, „er hat diese Depesche mitgebracht
und wird Ihnen morgen seinen Besuch machen.“

Der Regierungsrath Meding faltete langsam das Papier, das er bis zu Ende
gelesen, zusammen; ein trauriges Lächeln spielte um seinen Mund.

„Nun,“ rief Herr von Düring, „haben Sie irgend welches Licht in der
Sache erhalten?“

„Der König,“ erwiderte der Regierungsrath Meding, „findet meine
Bemühungen für die Herstellung eines Comité de Patronage, da dasselbe
auch für eine Colonie in Algerien wirken könne, nicht vereinbar mit
seinen Beschlüssen, nach welchen er aus militairischen Gründen die
Gründung einer solchen Colonie abgelehnt hat. Er befiehlt mir deshalb,
aus dem Comité auszuscheiden und mich sogleich nach Thun in der Schweiz
zu begeben, um dort seine weiteren Befehle abzuwarten. Das Schreiben ist
übrigens,“ fuhr er fort, „abermals eine Antwort auf etwas durchaus
Anderes, als ich geschrieben und außerdem von einer beinah unglaublichen
Stylisirung und Logik.“

„Unerhört!“ riefen die Officiere.

„Und Sie werden diesem Befehl Folge leisten?“ fragte Herr von Düring.

„Ganz gewiß,“ erwiderte der Regierungsrath Meding, „ich stehe noch im
Dienste des Königs und muß seinen Befehlen folgen. Ich bedaure, daß sie
mich zwingen, die armen Emigranten zu verlassen, aber ich kann darin
Nichts ändern, die Verantwortung für ihr Schicksal trifft mich nicht.“

„Ich habe auch noch Briefe für Herrn von Düring und für Herrn von
Tschirschnitz,“ sagte Hattensauer, indem er sich demüthig gebeugt den
beiden Herren näherte und jedem ein Schreiben übergab, welches dieselben
schnell öffneten und durchflogen.

„Ich bin nach Bern verbannt,“ sagte Herr von Düring.

„Und ich nach Basel!“ rief Herr von Tschirschnitz laut lachend. „Die
Sache wird nun geradezu komisch, man scheint sich in Hietzing für die
Gebieter der Welt zu halten.“

„Haben Sie Nichts für mich?“ rief Herr von Mengersen, zu Herrn
Hattensauer sich wendend, „vielleicht hat man mich nach Sibirien
verbannt.“

„Nun, meine Herren,“ sagte der Regierungsrath Meding, „so müssen wir
denn die Hannoveraner ihrem Schicksal überlassen, ich werde noch das
Möglichste thun, um sie allen meinen Freunden hier zu empfehlen.
Jedenfalls haben wir für sie gethan, was in unsern Kräften stand. Und
nun lassen Sie uns schlafen und ausruhen, denn ich glaube, wir können
sagen: ‚Finita la commedia‘. Morgen wollen wir überlegen, was weiter zu
thun ist, und,“ sagte er lächelnd zu Herrn von Düring und Herrn von
Tschirschnitz, „unsere Reisevorbereitungen treffen.“



Zweites Capitel


Der Legationsrath Bucher hatte seinen Vortrag bei dem Kanzler des
Norddeutschen Bundes, Grafen von Bismarck, beendet.

Der Graf saß in dem Lehnstuhl vor dem Schreibtisch bequem zurückgelehnt,
die kraftvolle markige Gestalt erschien noch breiter und voller im
Militairüberrock, — die Züge seines Gesichts waren stärker geworden und
drückten noch mehr als früher feste, entschlossene Willenskraft aus. Das
Haar an seinen Schläfen und der volle Schnurrbart hatten sich mehr und
mehr weiß gefärbt, ohne daß dadurch sein Gesicht älter erschien, — der
frische Ausdruck seiner klaren, grauen Augen, welche bald streng und
drohend, bald tief und gemüthvoll blickten, gab seiner ganzen
Erscheinung einen gewissen Schimmer jugendlicher Lebendigkeit.

Vor dem Grafen stand, ein Packet zusammengelegter Papiere in der Hand,
der Legationsrath Bucher.

Sein kränkliches feines Gesicht mit den kalt und ernst blickenden
kleinen Augen, dem fest geschlossenen Mund und der etwas scharf
vorspringenden Nase, seine magere Gestalt, welche dem Grafen Bismarck
gegenüber fast winzig erschien, — seine etwas gebückte Haltung, — das
Alles gab der Erscheinung dieses merkwürdigen Mannes, der früher seiner
politischen Ueberzeugung Heimath und Existenz geopfert und nunmehr das
Vertrauen des großen deutschen Staatsmannes zu erwerben und zu erhalten
gewußt hatte, einen Ausdruck, der die Mitte hielt zwischen dem Typus
eines Bureaukraten und eines Professors.

„Haben Sie die Schrift von Vilbort gelesen,“ fragte der Graf — ‚l'oeuvre
de Monsieur de Bismarck‘ — es wird in Paris viel besprochen —“

„Und ist auch bereits in deutscher Uebersetzung erschienen,“ bemerkte
der Legationsrath, „es enthält viel Interessantes und manche sehr
bemerkenswerthe Zeugnisse über das, was Herr Vilbort während des Krieges
von 1866 selbst gesehen und erlebt hat. — Ob freilich Alles das wahr ist,
was Vilbort über die Aeußerungen mittheilt, die Eure Excellenz ihm
selbst gegenüber gemacht haben, das müssen Sie selbst besser beurteilen
können, als ich —“

„Im Allgemeinen,“ sagte Graf Bismarck, „so weit ich das Buch zu
durchblättern Zeit gefunden habe, — giebt er meine Aeußerungen richtig
wieder, — und das ist schon sehr viel. — So oft man mit einem Journalisten
spricht, muß man sich gefallen lassen, daß er Alles, was man gesagt oder
nicht gesagt hat, wiedererzählt, wie er es aufgefaßt hat, — oder wie er
es aufgefaßt zu sehen wünscht, — das hindert mich übrigens nicht,“ fuhr
er fort, „mich ganz freimüthig und offen gegen diese Herren
auszusprechen, wenn ich Gelegenheit habe, einen von ihnen zu sehen; — ich
halte mit dem, was ich denke und was ich will, nicht hinter dem
Berge, — die ängstliche Geheimnißkrämerei der alten Diplomatie hat keinen
Sinn mehr in unserer Zeit, — freilich muß ich dann auch die öffentliche
Beurtheilung dessen, was ich gesagt habe, nicht scheuen, und, — Gott sei
Dank, — dafür habe ich ganz gesunde Nerven.“

„Herr Vilbort,“ sagte der Legationsrath Bucher, „scheint mir durch die
Offenheit, mit welcher Eure Excellenz sich ihm gegenüber ausgesprochen
haben, etwas eitel geworden zu sein; — er hält sich für einen
Geschichtschreiber, — und das ist er in der That nicht, — auch geht durch
sein ganzes Werk ein gewisses sentimentales Jammern über den Krieg, der
doch, da die Conflicte einmal unlösbar geworden, eine Nothwendigkeit
war.“

„Diese Richtung des Buches,“ fiel Graf Bismarck ein, „das jedenfalls in
Frankreich viel gelesen werden wird, ist mir am wenigsten
unangenehm, — die Franzosen können in der That eine Warnung vor den
traurigen Folgen eines großen Krieges brauchen, — es scheint, daß dort
wieder der Chauvinismus erhitzt wird, und daß man die Geister für einen
Krieg vorbereitet, für den Fall, daß man der inneren Schwierigkeiten
nicht Herr werden sollte.“

„Glauben Eure Excellenz wirklich,“ fragte der Legationsrath, „daß man in
Paris ernstlich an einen Krieg denken könnte, — gerade jetzt in dem
Augenblicke, in welchem die Zügel des persönlichen Regiments gelockert
sind, in dem Augenblick, in welchem Ollivier, der Mann des Friedens,
Minister geworden ist?“

„Die Berichte aus Paris,“ sagte Graf Bismarck mit leichtem Achselzucken,
„sprechen von den friedlichen Dispositionen der Regierung, — ich glaube
auch, daß der Kaiser, der arme kranke Mann, sich nach dem Frieden
sehnt, — schon um persönlich Ruhe zu haben, — aber Alles,“ fuhr er fort,
„was dort geschieht, kann zu irgend einem plötzlichen Ausbruch führen,
auf den wir heute mehr als je gefaßt sein müssen.

„Sehen Sie,“ sprach er nach kurzem Nachdenken, während er die Augen
sinnend emporschlug, „dieser unglückliche Pistolenschuß, der Victor Noir
tödtete, diese lauten Anklagen von Flourens, die ungeschickte Verhaftung
Rocheforts, ein Bonaparte vor Gericht, des Mordes angeklagt, das Alles
bricht über das Kaiserreich herein, — das ist ein furchtbares
Verhängniß, — und das constitutionelle Regiment kann die immer höher
aufwallenden Wogen nicht beschwören. Die Coterie des Krieges, welche
durch einen ruhmvollen Feldzug den Glanz des Kaiserreichs wieder
herstellen will, gewinnt an Boden, — der Kaiser ist schwach, — wird man
ihn nicht eines Tages dahin bringen, das Aeußerste zu wagen, um den
festen Boden wieder zu gewinnen, der ihm täglich mehr unter den Füßen
verschwindet. Er wird vielleicht den Krieg machen aus Schwäche, denn die
Schwäche ist tollkühner als die Kraft.

„Für uns,“ fuhr der Graf fort, „ist der Krieg um so weniger zu fürchten,
je mehr die innere Kraft Frankreichs täglich zersetzt wird, — aber der
arme Kaiser thut mir leid, — es ist doch eine groß angelegte und im
Grunde gute Natur, — und für Europa ist das Kaiserreich eine
Wohlthat, — denken Sie, wenn alle diese in den Tiefen gährenden Elemente
in Frankreich wieder entfesselt würden!

„Man hat mir da,“ fuhr er fort, indem er ein Blatt Papier von seinem
Schreibtisch nahm, „einen Brief Eugen Duponts mitgetheilt, in welchem
dieser thätige Agent der Internationale und Secretair von Carl Marx
in London dem Comité in Genf auseinandersetzt, daß die Zeit
gekommen sei, in welcher der action sécrète et souterraine die
allgemeine revolutionaire Schilderhebung in Europa folgen müsse.
Merkwürdigerweise,“ sagte er, einen Blick in das Schriftstück werfend,
„will Dupont den Ausgangspunkt dieser großen Revolution nach England
verlegen, weil in Frankreich die Regierung noch zu stark sei.“

„England sei das einzige Land,“ fuhr er fort, „in welchem eine wirkliche
socialistische Revolution gemacht werden könnte, das englische Volk aber
könne diese Revolution nicht machen, Fremde müßten sie ihm machen und
der Punkt, wo man zuerst losbrechen solle, sei Irland.“

Der Legationsrath Bucher lächelte. „Das sind Träumereien,“ sagte er,
„wie sie von Zeit zu Zeit sich immer wiederholen, ohne zu praktischen
Resultaten zu führen.“

„Die Ideen dieses Dupont sind Träumereien, — das ist ganz richtig,“ fiel
Graf Bismarck ein, — „aber in Frankreich ist die Sache ernster, — dort
haben die gemäßigten Mitglieder der Internationale vollständig die
Führung verloren und die extremsten Doctrinen dringen immer mehr in die
Arbeiterbevölkerung, — bei jeder unruhigen Bewegung kann die Commune
proclamirt werden. — Das Alles gährt um den Kaiser herauf und kann ihn
eines Tages dazu drängen, einen Verzweiflungscoup zu machen; — wir müssen
von dort her immer auf etwas Unerwartetes gefaßt sein.“

„Die Elemente der Gährung,“ sagte der Legationsrath, „von denen Eure
Excellenz sprechen, sind aber nicht nur in Frankreich vorhanden, sondern
erfüllen die ganze Welt, — auch unter den deutschen Arbeitern macht die
Internationale Fortschritte, — ich glaube, daß die Regierungen zu dieser
Frage Stellung nehmen müssen.“

„Das sagt mir auch Wagner,“ rief Graf Bismarck, — „aber welche Stellung
soll man dazu nehmen? — Die alten Parteibildungen beginnen sich zu
zersetzen, keine der vorhandenen Parteien kann sich dazu erheben, den
neuen Zeitfragen mit freiem und klarem Blick entgegen zu treten, — und
gerade dieser socialen Frage gegenüber müßte doch die Regierung sich auf
eine im Volke selbst wurzelnde Partei stützen. — Das wäre eine Aufgabe
für die Conservativen,“ sagte er sinnend, — „aber leider verlieren gerade
diese sich immer mehr in unmögliche und unpraktische Theorien.“

„Nun,“ fuhr er fort, — „wir müssen darüber nachdenken, — jetzt will ich
ein wenig hören, was die auswärtige Politik macht.“

Er reichte mit freundlichem Kopfnicken dem Legationsrath die Hand und
dieser zog sich mit einer kurzen stummen Verbeugung zurück.

„Ist Jemand im Vorzimmer?“ fragte Graf Bismarck den Kammerdiener,
welcher auf seinen starken Glockenzug erschien.

„Der englische Botschafter, Excellenz.“

„Ich lasse bitten.“

Der Minister-Präsident erhob sich und machte einige Schritte nach der
Thür, durch welche Lord Augustus Loftus, der Botschafter Ihrer Majestät
der Königin Victoria am preußischen Hofe und beim Norddeutschen Bunde,
in das Cabinet trat.

Lord Loftus, eine durchaus englische Erscheinung, hatte in seinen
Gesichtszügen und in seiner ganzen Haltung eine gewisse feierliche Würde
und Zurückhaltung, welche ein wenig gegen das offene, freie Wesen des
Grafen Bismarck abstach. Der Lord setzte sich dem preußischen
Minister-Präsidenten gegenüber vor den großen Schreibtisch in der Mitte
des geräumigen Cabinets, und begann, da der Graf nach einigen
gleichgültigen Begrüßungsworten schweigend seine Anrede erwartete, nach
einem kurzen Räuspern:

„Sie wissen, lieber Graf, wie sehr die Regierung Ihrer Majestät darauf
bedacht ist, in den Beziehungen der Cabinette unter einander alle
Ursachen des Mißtrauens und der Besorgnisse zu beseitigen, welche dem
Frieden Europas gefährlich werden könnten.“

Graf Bismarck neigte zustimmend den Kopf und, indem er eine große
Papierscheere ergriff und dieselbe spielend in der Hand bewegte, sagte
er im höflichsten Ton einer gleichgültigen Conversation:

„Die Regierung Ihrer Majestät ist in diesem Bestreben vollkommen von
denselben Wünschen geleitet, welche auch uns beseelen und welche wohl,
wie ich glaube, von allen Cabinetten Europas getheilt werden. Ich freue
mich, von Neuem zu constatiren, daß gerade durch diese allseitigen
Wünsche die beste Garantie für die Erhaltung des europäischen Friedens
gewährt wird.“

Lord Loftus schien ein wenig decontenancirt.

„Die guten Wünsche aller europäischen Regierungen,“ sagte er, „sind
gewiß eine ganz vortreffliche Garantie des Friedens. Indessen,“ fuhr er
ein wenig zögernd fort, „um eine wirklich praktische und vor allen
Dingen dauernde Basis für die internationale Ruhe und Stabilität zu
schaffen, wird es vor Allem noch nöthig sein, concrete Gründe
gegenseitigen Mißtrauens und gegenseitiger Besorgnisse zu beseitigen.“

„Ich wüßte in der That nicht,“ sagte Graf Bismarck, den Botschafter wie
erstaunt anblickend, „daß in diesem Augenblick irgend welche Fragen
beständen, welche dem Frieden auch nur die entfernteste Gefahr zu
bringen vermöchten. Ueberall ist die tiefste Ruhe, ich kann Sie
versichern, daß wir wenigstens mit keinem europäischen Cabinet in
Erörterungen stehen, welche bedenkliche und kritische Punkte berühren.“

„Ich hatte bei meiner Bemerkung von vorhin,“ erwiderte Lord Loftus,
„auch weniger diplomatische Fragen im Sinne, welche gegenwärtig zur
Erörterung ständen und zu Differenzen führen könnten, ich dachte
vielmehr an thatsächliche Verhältnisse, welche vielleicht weniger ein
Grund, als ein Ausdruck gegenseitigen Mißtrauens sind und deren
Beseitigung im Interesse der ruhigen Entwickelung der Zukunft Europas
liegen möchte.“

„Und welche thatsächliche Verhältnisse meinen Sie?“ fragte Graf Bismarck
mit vollkommener Ruhe und einem leichten Anflug von Erstaunen in seinem
scharfen, fest auf den Botschafter gerichteten Blick.

„Es ist eine Thatsache,“ sprach Lord Loftus weiter, „welche offen vor
Europa da liegt, daß die französische Regierung in den letzten Jahren
ganz besondere Anstrengungen gemacht hat, um ihre Militairmacht auf eine
außergewöhnliche Höhe zu erheben. Das Gleiche findet bei Ihnen statt,
und Sie werden mir zugeben, daß es eine gewisse Besorgniß und
Beunruhigung erregen kann, wenn man zwei der bedeutendsten europäischen
Mächte bis an die Zähne bewaffnet einander gegenüber stehen sieht.“

„Es liegt ja aber,“ fiel Graf Bismarck in demselben ruhigen, fast
gleichgültigen Ton ein, „zwischen Frankreich und uns durchaus keine
Veranlassung zu irgend welchen Mißverständnissen vor; im Gegentheil kann
ich Sie versichern, daß unsere Beziehungen zu Paris die besten und
freundlichsten sind.“

„Und doch stehen Sie sich,“ bemerkte Lord Loftus, „mit so übermäßig
angespannten Militairkräften gegenüber, als ob Sie gegenseitig jeden Tag
den Ausbruch irgend eines Conflictes zu besorgen hätten. Dieser
Zustand,“ fuhr er etwas lebhafter fort, „wenn er auch den Frieden nicht
unmittelbar gefährdet, läßt doch Europa nicht zu sicherem Bewußtsein der
Ruhe kommen, und ich glaube, daß besser als alle diplomatischen
Versicherungen eine ernste und nachdrückliche Reducirung der unter den
Waffen stehenden militairischen Streitkräfte alle die unruhigen
Besorgnisse zerstreuen würde, welche angesichts des gegenwärtigen
Zustandes sowohl die Cabinette, als die Geschäftswelt erfüllen, — wenn
die Armeen Frankreichs und Preußens sich nicht mehr in voller
Kriegsrüstung gegenüber stehen, dann wird Europa endlich aufathmen
können, befreit von dem Druck, welcher in den letzten Jahren auf ihm
lastet.“

Graf Bismarck schwieg einen Augenblick, seine Züge nahmen einen ernsten
Ausdruck an, er richtete den Blick seiner klaren grauen Augen scharf und
durchdringend auf den Botschafter und sagte dann:

„Haben Sie, mein theurer Lord, den Auftrag, die Frage, welche Sie soeben
berührten, zwischen Frankreich und uns Namens Ihrer Regierung zur
Sprache zu bringen?“

„Ich habe nicht den Auftrag,“ erwiderte der Lord, „bestimmte Anträge zu
stellen, bestimmt formulirte Wünsche auszusprechen, — doch bin ich
allerdings veranlaßt, die allgemeine Besorgniß, welche die
militairischen Rüstungen in Frankreich und Deutschland der Regierung
Ihrer Majestät einflößen, Ihnen nicht zu verhehlen und zugleich auch dem
Gedanken Ausdruck zu geben, daß Sie sowohl als die französische
Regierung dem ganzen civilisirten Europa einen großen Dienst leisten
würden, wenn Sie sich geneigt finden ließen, im gleichen Verhältniß die
unter den Waffen stehenden Streitkräfte zu reduciren und dadurch
thatsächlich das Vertrauen auf dauernde Erhaltung des Friedens zu
erkennen zu geben. Würde ich bei Ihnen die Geneigtheit finden, auf
diesen Ideengang einzugehen, so würde die Regierung Ihrer Majestät gern
bereit sein, ihre Vermittelung in einer ebenso wichtigen, als delicaten
Sache zwischen zwei ihr gleich befreundeten Mächten eintreten zu
lassen.“

„Und wissen Sie,“ fragte Graf Bismarck, ohne daß ein Zug seines
Gesichtes sich veränderte, „ob derselbe Gedanke, den Sie mir hier so
eben auszusprechen die Güte haben, auch dem Kaiser Napoleon gegenüber
von Ihrer Regierung geltend gemacht worden ist?“

„Ich glaube, Ihnen mittheilen zu können,“ erwiderte Lord Loftus, „daß
dies geschehen ist, und daß der Kaiser sich vollkommen bereit erklärt
hat, seine kriegsbereiten Streitkräfte nach derselben Verhältnißzahl zu
reduciren, welche von Ihnen angenommen werden möchte.“

Ein feines, fast unmerkliches Lächeln flog über das Gesicht des Grafen
Bismarck.

„Es würde dann immer die Frage sein,“ sagte er in leichtem Ton, „wer
denn mit der Abrüstung anzufangen hätte — und wer dieselbe controliren
könnte, Fragen, an denen oft schon ähnliche Verhandlungen gescheitert
sind, — doch,“ fuhr er dann mit ernstem und nachdrucksvollem Ton fort,
„ich will diese Frage nicht aufwerfen, denn sie würde keine practische
Bedeutung haben, da ich Ihnen von vorn herein auf das Bestimmteste
erklären muß, daß ich garnicht in der Lage bin, auf eine Negociation in
der von Ihnen angedeuteten Weise eingehen zu können, und ich würde es
bedauern, wenn ich in die Lage käme, der Regierung Ihrer Majestät auf
eine directe Aeußerung in jenem Sinne eine bestimmt ablehnende Antwort
geben zu müssen.“

„So halten Sie es dennoch für möglich,“ fragte Lord Loftus, ein wenig
erstaunt über diese so klare und bestimmte Erklärung, „daß aus den
Fragen, welche gegenwärtig in Europa vorhanden sind, nach irgend welcher
Richtung hin ein ernster Conflict entstehen könnte, der die Erhaltung
einer solchen Waffenrüstung für Frankreich und für Preußen nöthig
macht?“

„Was Frankreich betrifft,“ erwiderte Graf Bismarck, „so habe ich darüber
kein Urtheil. Glaubt der Kaiser Napoleon, den innern Verhältnissen
gegenüber und mit Rücksicht auf seine sonstigen europäischen
Beziehungen seine militairischen Streitkräfte vermindern zu können, so
mag er es thun, von unserer Seite hat er am allerwenigsten irgend eine
Schwierigkeit oder gar eine Feindseligkeit zu besorgen. Ich würde ihm
indessen auf einem solchen Wege nicht folgen können, denn die größere
oder geringere Stärke der preußischen Militairmacht beruht nicht in
dieser oder jener augenblicklichen diplomatischen Constellation, sie ist
eine Grundlage des preußischen Staatslebens und kann ohne einen tiefen
Eingriff in dessen wesentlichsten Existenzbedingungen nicht modificirt
werden. Ich bin aber von vorn herein überzeugt,“ fuhr er fort, „daß der
König, mein allergnädigster Herr, jedes Eingehen auf diese Frage, ja
jede Erörterung derselben auf das Bestimmteste ablehnen würde und
ablehnen müßte. Um eine Verminderung und zwar eine wesentliche
Verminderung der disponiblen Streitkräfte zu erreichen, müßte man die
ganze Militairorganisation Preußens und des Norddeutschen Bundes ändern.
Das ist schon verfassungsmäßig schwierig, ja beinahe unausführbar.
Außerdem kommt aber dabei noch ein wesentlicher Gesichtspunkt in Frage,
den ich Sie wohl in Betracht zu ziehen bitten muß, die preußische
Militairorganisation ist nicht nur eine militairische, sondern zu
gleicher Zeit auch eine politische und sociale Organisation. Sie ist
eine Art von hoher Schule für alle Klassen der Bevölkerung, eine Schule,
in welcher die Jugend des Landes die selbstverleugnende Pflichterfüllung
lernt, in welcher sie durchdrungen wird von der Hingebung für den König
und für das Land, in welcher der Patriotismus gekräftigt und zu vollem
klarem Bewußtsein gebracht wird. Man könnte also die Wehrverfassung
nicht modificiren, ohne zu gleicher Zeit der militairischen Kraft und
der nationalen Einigkeit großen Schaden zu thun, ohne die Ueberzeugung
des Volkes zu verletzen, welche in der allgemeinen Dienstpflicht und der
damit zusammenhängenden Stärke der Armee die beste Bürgschaft für die
Sicherheit und Größe Preußens erblickt. Sie müssen begreifen, mein
theurer Lord,“ fuhr er fort, „daß alle diese Gesichtspunkte es mir
unmöglich machen, die Idee der gegenseitigen Entwaffnung weiter zu
discutiren; — so lange ich Minister bin, würde ich eine solche Idee dem
Könige nicht vorschlagen können, und jede weitere Erörterung des
Gegenstandes würde zu gar keinem Resultat führen. Ich glaube, es ist der
beste Dienst, den ich Ihnen leisten kann, und der größte Beweis
aufrichtigsten Entgegenkommens gegen die Regierung Ihrer Majestät, wenn
ich sogleich und ohne Umschweife meine Stellung zu der von Ihnen
angeregten Frage offen ausspreche. Ich bitte Sie, das, was ich Ihnen
gesagt, als meine unbedingt feststehende Ansicht zu betrachten und auch
Ihrer Regierung keinen Zweifel über dieselbe zu lassen.“

Lord Loftus verneigte sich und sprach:

„Ich erkenne vollkommen das Gewicht der Gründe an, welche Sie mir
angeben und werde dieselben dem auswärtigen Amt zur Kenntniß bringen.
Ich bedaure,“ fuhr er fort, „daß Ihre Mittheilungen mich von der
Unmöglichkeit überzeugt haben, den auf Europa lastenden Zustand
ängstlicher Besorgniß durch ein einfaches Mittel zu beseitigen.“

„Ich begreife nicht, mein lieber Lord,“ sagte Graf Bismarck, „warum Sie
von Kriegsbesorgnissen sprechen? Ich kann Ihnen nur wiederholen, daß ich
keine Frage sehe, welche dazu Veranlassung bieten könnte; — wenn einige
chauvinistische Blätter in Frankreich nicht aufhören, die Welt von Zeit
zu Zeit zu beunruhigen, so kann das doch keinen Einfluß auf die
Cabinette der Großmächte haben. Mag sich die Börse hin und wieder
darüber erschrecken, wir sollten uns dadurch doch in der That keinen
Augenblick aus der Ruhe bringen lassen. Vor Allem,“ fuhr er mit
volltönender Stimme fort, „können derartige auf keinen concreten
Gründen beruhende Besorgnisse niemals der Grund sein, daß eine mit dem
Ausbau ihrer innern Angelegenheiten beschäftigte, alle Verträge
respectirende und mit aller Welt im Frieden lebende Macht ihre
langjährige und bewährte Militairverfassung ändern sollte, eine
Militairverfassung, auf welcher die Sicherheit beruht, die friedliche
und selbstständige innere Entwickelung nöthigenfalls gegen jede Störung
schützen zu können.“

„Apropos, haben Sie Nachricht vom König Georg?“ fragte Graf Bismarck,
als Lord Loftus sich erhob, um sich zu verschieden. „Man theilt mir mit,
daß er diese unglückliche Legion in Frankreich, welche ihm so viel Geld
kostet, und welche doch in der That sehr wenig geeignet ist, um Hannover
wieder von uns zu erobern, jetzt auseinander schickt. Mir thun die armen
Leute leid, welche durch dies ganze abenteuerliche Unternehmen ihrem
Vaterlande und ihren Familien entzogen sind.“

„Wenn der König seinen Widerstand aufgiebt,“ sagte Lord Loftus, „sollte
es dann nicht möglich sein, ihm den Genuß seines Vermögens wieder zu
geben, welches ihm entzogen ist? Ich weiß, daß der Herzog von Cambridge
als nächster Agnat sehr viel Antheil an dieser Angelegenheit nimmt, und
es wäre in der That erwünscht, wenn sie in befriedigender Weise geordnet
werden könnte.“

„Niemand wünscht das lebhafter als ich,“ rief Graf Bismarck, „wir haben
im Interesse der Sicherheit Preußens dem Könige sein Land nehmen müssen,
aber sowohl mein allergnädigster Herr wie ich selbst wünschen gewiß auf
das Dringendste, daß dem alten, hochberühmten und edlen Welfenhause auch
in seiner hannöverschen Linie für die Zukunft eine große und würdige
Existenz gesichert bleibe. Aber,“ fuhr er fort, „wenn der König einfach
seine Legion entläßt, weil er sie nicht bezahlen kann, ohne mit seinen
übrigen Agitationen aufzuhören, ohne den Frieden mit uns zu machen, so
können wir ihm doch wahrlich nicht die Mittel dazu in die Hände geben.
Ich muß bekennen, daß mir diese Legion weniger beachtungswerth
erschienen ist, als andere Agitationen des Königs, welche sich der
Oeffentlichkeit mehr entziehen und für welche ich,“ sagte er mit
entschiedener Betonung, „niemals die Mittel zur Verfügung stellen kann.
Will sich der König in die Notwendigkeit der Verhältnisse fügen, will er
mit uns Frieden schließen, so wird er dafür gewiß das bereitere
Entgegenkommen finden, und wenn der Herzog von Cambridge sich dafür
interessirt, so wird er dem König Georg und dessen ganzem Hause gewiß
den besten Dienst leisten, wenn er seinen Einfluß anwendet, um ihn zu
einem definitiven und aufrichtigen Frieden zu veranlassen.“

„Ich werde,“ sagte Lord Loftus, „wenn sich mir die Gelegenheit bietet,
versuchen, in diesem Sinne zu wirken, — ich glaube, daß der Herzog von
Cambridge gern die Hand dazu bieten wird, doch ob mit Erfolg, das
scheint mir bei dem Charakter des Königs zweifelhaft. Jedenfalls ist
meine ganze Thätigkeit in dieser Angelegenheit eine ausschließlich
private, hervorgehend aus dem natürlichen Interesse, welches ich für den
erlauchten Vetter meiner Königin hege; als Vertreter der englischen
Regierung habe ich mit der ganzen Angelegenheit nicht das Geringste zu
thun.“

Er erwiderte mit einer etwas steifen Verbeugung den Händedruck des
Grafen Bismarck, welcher ihn nach der Thür hin begleitete, und verließ
das Cabinet.

In dem großen Vorsaal saß in einem Lehnstuhl die schmächtige, magere
Gestalt des Grafen Benedetti mit dem bleichen, fein geschnittenen
Gesicht, dessen Züge trotz der listigen Intelligenz, welche in ihnen
lag, dennoch niemals einen bestimmten Ausdruck erkennen ließen.

Der Graf erhob sich und begrüßte den englischen Collegen.

„Nun,“ sagte er, „haben Sie Ihre Entwaffnungstheorie discutirt, über
welche wir gestern sprachen, und von welcher ich überzeugt bin, daß sie
in Paris das bereitwilligste Entgegenkommen finden wird?“

„Ich habe darüber gesprochen,“ erwiderte Lord Loftus.

„Und?“ fragte Benedetti.

„Jede Discussion darüber ist auf das Bestimmteste abgelehnt, man wird
das in London sehr bedauern, obgleich die Gründe dafür nicht ohne
Berechtigung sind.“

In den kalten klaren Augen Benedetti's erschien ein leichter Schimmer
von Befriedigung, er schlug jedoch sogleich den Blick zu Boden und sagte
mit ruhigem, fast ausdruckslosem Ton:

„Wenn die Welt sich wegen der militairischen Rüstungen in Frankreich und
Deutschland beunruhigt, so wird man nun wenigstens wissen, daß wir es
nicht sind, die es verweigern zur Beseitigung dieser Unruhe beizutragen,
welche übrigens,“ fügte er hinzu, „nach meiner Auffassung ohne
Begründung ist.“

Der Kammerdiener des Grafen Bismarck näherte sich dem französischen
Botschafter mit der Meldung, daß der Minister-Präsident bereit sei, ihn
zu empfangen.

Graf Benedetti verabschiedete sich von Lord Loftus und trat in das
Cabinet.

„Nun,“ sagte Graf Bismarck, nachdem er ihn mit offener Herzlichkeit
begrüßt hatte, „es scheint, daß man in Europa an den Frieden nicht recht
glauben will. Man möchte aller Welt die Waffen aus den Händen nehmen und
sie in irgend einem großen Arsenal aufbewahren, damit nur ja kein
Mißbrauch damit geschieht. Soeben hat mir Lord Loftus wieder von
Entwaffnungsideen gesprochen, welche sich ganz wesentlich auf uns
beziehen, — ich begreife das in der That nicht,“ fuhr er ernster fort,
„glaubt man denn, daß zwei große Mächte nur dann im Frieden neben
einander leben können, wenn sie Beide nicht die Macht haben, Krieg zu
führen? Ich habe nach meiner Ansicht mehr Vertrauen zur Erhaltung des
allgemeinen Friedens, wenn alle Mächte stark und kräftig sind, sobald
sie nur den aufrichtigen Willen haben, in guten Beziehungen mit einander
zu leben. Ich weiß nicht, wie man bei Ihnen über die Möglichkeit einer
Reduction der Armee denkt, bei uns ist dies unmöglich, und ich glaube
auch, man wird an unsere friedlichen Absichten ohne Einschränkung
unserer Armee glauben.“

„Ich theile gewiß vollkommen Ihre Ansicht,“ sagte Graf Benedetti, indem
er dem Minister-Präsidenten gegenüber vor dem Schreibtisch Platz nahm,
„und bin weit entfernt, in einer starken Militairmacht zweier verständig
regierten Staaten eine Gefahr für den Frieden zu erblicken. Indeß,“ fuhr
er fort, „könnte die Idee einer theilweisen Entwaffnung dennoch
vielleicht der Beachtung nicht ganz unwürdig sein, wenn man durch eine
solche Maßregel der öffentlichen Meinung und den übrigen Mächten neues
Vertrauen in die Stabilität der europäischen Ruhe und Ordnung einflößen
kann. Von diesem Gesichtspunkt aus ist, wie ich voraussetzen darf, der
Kaiser nicht abgeneigt, eine Reduction der militairischen Kräfte in
Erwägung zu ziehen, wobei außerdem noch eine wesentliche Erleichterung
des Volkes in Betracht kommt, die für die innere Stellung der
Regierungen nicht unwesentlich ist.“

„Diese Rücksicht würde bei uns von keiner Bedeutung sein,“ sagte Graf
Bismarck, „unsere Militair-Verfassung ist mit dem Volke verwachsen, und
Niemand im Volk verlangt eine Erleichterung der auf allen Schultern
gleich vertheilten militairischen Pflichten.“

Graf Benedetti sah einen Augenblick zu Boden, dann schlug er den Blick
mit einer fast naiven Offenheit zu dem preußischen Minister-Präsidenten
auf und sprach:

„Ich bin natürlich nicht in der Lage, die inneren Verhältnisse bei
Ihnen so eingehend zu beurtheilen, wie Sie dazu im Stande sind, da ich
nur als Fremder in dieselben hineinblicke, — aber doch verfolge ich Ihr
öffentliches Leben mit vielem Interesse und glaube bemerkt zu haben, daß
in den Parteien Ihrer Parlamente die Frage der militairischen Lasten
nicht ganz gleichgültig behandelt zu werden scheint. Nach der Zahl der
Mannschaften und nach den finanziellen Mitteln ist der Verfassung gemäß
der Militairetat auf eine Periode von fünf Jahren festgesetzt, welche im
nächsten Jahr zu Ende geht; nach den Stimmen der Presse,“ fuhr er fort,
„und nach dem, was ich hier und da über die Stimmung der Abgeordneten
gehört habe, scheint das Parlament, wenn ihm im nächsten Jahre das
Kriegsbudget vorgelegt wird, sehr geneigt zu sein, wesentliche
Reductionen zu beschließen, welche gewissermaßen einer theilweisen
Entwaffnung gleich kommen würden. Wenn ich mich in der Beurtheilung der
hiesigen Verhältnisse nicht täusche,“ sprach er weiter, während Graf
Bismarck zuhörte und von Zeit zu Zeit die Fingerspitzen an einander
schlug, — „so bedürfen Sie, um das richtige Gleichgewicht zwischen der
Regierung und dem Parlament zu erhalten, der Uebereinstimmung mit allen
gemäßigten Nuancen der conservativen und liberalen Parteien. Würde es
da nicht vielleicht ein gutes und willkommenes Auskunftsmittel sein, die
Rücksichten auf die inneren Verhältnisse und diejenigen auf die
auswärtigen Beziehungen zu vereinen durch eine auf diplomatischer
Uebereinkunft beruhende Armeereduction? Sie würden die europäischen
Mächte, England an der Spitze, verpflichten, die öffentliche Meinung
beruhigen und vielleicht einer Verlegenheit entgehen, welche immerhin
erwachsen könnte, wenn im nächsten Jahr Ihr Parlament erhebliche
Reductionen des Militairbudgets beschließen sollte.“

„Diese Verlegenheit,“ sagte Graf Bismarck, „kann nicht eintreten, und
die Rücksicht, sie zu vermeiden, kann auf meine Beschlüsse keinen
Einfluß üben.“

„So glauben Sie,“ sagte der Graf Benedetti, „der Zustimmung der
Parlamentsmajorität für das Militairbudget auch im nächsten Jahr
vollkommen sicher zu sein? Sie verzeihen,“ fügte er hinzu, „daß ich über
Ihre inneren Angelegenheiten mit Ihnen spreche; aber Sie wissen, wie
sehr ich mich für dieselben interessire, und Sie haben mir früher schon
öfter erlaubt, mich durch die Unterhaltung mit Ihnen über diese
Verhältnisse zu belehren.“

„Unsere inneren Angelegenheiten,“ erwiderte Graf Bismarck, artig den
Kopf neigend, „liegen ja offen da, und es ist mir immer erfreulich und
kann nur zu immer größerer Klärung meiner eigenen Anschauung dienen,
mich mit Ihnen über dieselben zu unterhalten. Sie fragten also,“ fuhr er
fort, „ob ich der Zustimmung des Parlaments zum bisherigen
Militairbudget im nächsten Jahre sicher sei? Darauf kann ich Ihnen nur
antworten: das weiß ich nicht, denn parlamentarische Majoritäten sind
Dinge, die sich nicht vorher berechnen lassen; doch mag dem sein, wie
ihm wolle, eine Verlegenheit, wie Sie dieselbe vorher andeuteten, kann
für mich nach dieser Richtung hin niemals entstehen. Wenn Sie unsere
Verfassung genau studirt haben,“ sagte er mit einer kaum vernehmbaren
Nuance von Ironie in seiner Stimme, „wie ich nach Ihren Bemerkungen
voraussetze, so werden Sie gesehen haben, daß der Artikel 60 — nach der
Festsetzung der Friedensstärke in der Armee bis zum 31. Dezember
1871 — weiter bestimmt, daß für die Zukunft die Effectivstärke durch die
Bundesgesetzgebung bestimmt werden soll. Wenn also, was ich nicht
voraussetzen will, aber auch ebenso wenig für unmöglich erklären kann,
der Norddeutsche Reichstag im nächsten Jahre das von den verbündeten
Regierungen vorgelegte Militairbudget nicht annimmt, so ist eben ein
neues Gesetz nicht zu Stande gekommen, und selbstverständlich gilt dann
das bisher bestandene Gesetz so lange, bis früher oder später über das
an seine Stelle zu setzende zwischen den Volksvertretern und den
Regierungen eine Verständigung erzielt ist. Sie sehen also, daß ich um
mein Militairbudget nicht in Verlegenheit kommen kann, und daß, wenn
Diejenigen,“ fügte er mit scharfer Betonung hinzu, indem seine
Gesichtszüge plötzlich einen sehr ernsten, fast strengen Ausdruck
annahmen, „welche sich außerhalb Deutschlands vielleicht veranlaßt
finden möchten, eine Verminderung der Waffenmacht zu wünschen, die zur
Vertheidigung Preußens und des Norddeutschen Bundes nöthig ist, sich auf
gewisse parlamentarische Abneigungen gegen die Bewilligung des
Militairetats glauben stützen zu können, — daß sie in solchen
Voraussetzungen ihre Rechnung — ohne die Bundesverfassung und ohne mich
gemacht haben.“

Graf Benedetti verneigte sich.

„Es ist mir erfreulich,“ sprach er, „Ihre Ansichten so bestimmt und klar
ausgesprochen zu hören. Der ganze Gegenstand,“ fuhr er mit leichtem Ton
fort, „ist ja eigentlich keine Frage zwischen uns, Frankreich und
Preußen können ihre gegenseitige Stärke ohne jedes Mißtrauen ansehen, es
wäre nur ein Entgegenkommen gewesen, welches wir gemeinsam den übrigen
Mächten hätten zeigen können —“

„Welche aber ihrerseits,“ fiel Graf Bismarck ein, „ebenfalls
fortfahren, unausgesetzt zu rüsten und zwar in weit größerem Maßstabe,
als wir, wie ein Blick auf Oesterreich und auf Italien zeigt. Ich
glaube, es ist besser, ein für alle Mal diese ganze Frage der Rüstungen
unerörtert zu lassen und den Frieden wesentlich auf den guten Glauben
und das Vertrauen zu stützen, welches die Regierungen einander
entgegentragen. Sie können mir,“ fuhr er fort, „wahrlich den Vorwurf
nicht machen, daß ich es an solchem Vertrauen fehlen lasse, und daß ich,
wenn irgend Etwas vorkommt, was die guten Beziehungen nach irgend einer
oder der anderen Richtung zu verwirren im Stande wäre, nicht sogleich
durch offenes Aussprechen die Gelegenheit zur Aufklärung und zur
Beseitigung der Mißverständnisse gebe.“

Ein leichter Ausdruck verschärfter Aufmerksamkeit wurde in dem Blick des
Botschafters bemerkbar.

„Ich freue mich,“ sagte er, „daß diese Beziehungen gegenseitiger
Offenheit und Aufrichtigkeit zwischen uns bestehen. Gerade dadurch ist
es ja so oft schon möglich gewesen, manche Wolke zu zerstreuen, welche
die so guten und befriedigenden Verhältnisse zwischen beiden Regierungen
hätte trüben können. Gegenwärtig,“ sagte er mit leichtem Lächeln, „sind
ja solche Wolken nach keiner Richtung hin vorhanden und —“

„Ganz verschwinden sie niemals,“ fiel Graf Bismarck ein, „denn immer und
immer wieder kommen von der einen oder der andern Seite her
Mittheilungen, welche bei ängstlichen und mißtrauischen Naturen, zu
denen ich nicht gehöre,“ sagte er sich verneigend, „Bedenken und Sorgen
hervorrufen könnten.“

Benedetti blickte ihn erstaunt und fragend an.

„Schon vor längerer Zeit,“ sagte Graf Bismarck in ruhigem und fast
gleichgültigem Ton, „habe ich Ihnen mitgetheilt, Herr von Usedom hätte
uns verschiedene Umstände mitgetheilt, welche fast glauben lassen
mußten, daß geheime Unterhandlungen zwischen Frankreich und Italien, bei
welchen auch Oesterreich betheiligt sei, stattfänden.“

„Ich habe damals Gelegenheit genommen,“ sagte Graf Benedetti schnell,
„in Paris Erkundigungen einzuziehen und Ihnen die Versicherung gegeben,
daß die Quelle, aus welcher Herr von Usedom jene Mittheilungen geschöpft
hat, eine nicht zuverlässige gewesen sein müsse —“

„Herr von Usedom hat seine Quelle nicht angegeben,“ fiel Graf Bismarck
ein.

„Jedenfalls,“ sagte Graf Benedetti, „war er unrichtig berichtet oder
durch den Schein getäuscht und zu falschen Schlüssen veranlaßt worden.“

„Es sind nun,“ sprach Graf Bismarck weiter, „in neuester Zeit wiederholt
Winke an mich gekommen, daß abermals eine sehr lebhafte Negociation
zwischen den Höfen von Paris, Wien und Florenz stattfindet, welche eine
Coalition herzustellen bezweckt, die doch offenbar gegen uns keine allzu
freundlichen Absichten haben könnte. Ich meinerseits,“ fuhr er fort,
indem er Benedetti starr ansah und seine große Papierscheere mit der
Hand rasch hin und her bewegte, „lege keinen besonderen Werth auf
derartige Winke, wenn sie nicht den Nachweis bestimmter und unleugbarer
Thatsachen enthalten, vielleicht auch deshalb,“ sagte er mit Betonung,
„weil ich eine Coalition niemals fürchten würde, welche sich der
nationalen Entwicklung Deutschlands entgegenzustellen die Absicht
hätte.“

„Ich werde sogleich,“ sagte Benedetti eifrig, „nach Paris schreiben und
mir bestimmte Aufklärung über diese Frage erbitten. Ich bin aber im
Voraus fest überzeugt, daß die Gerüchte, welche zu Ihnen gedrungen sind,
jetzt ebenso wenig wie damals Begründung haben, denn ich kenne zu genau
den dringenden Wunsch des Kaisers, den europäischen Frieden zu erhalten
und ganz besonders die so freundlichen Beziehungen mit dem Könige
Wilhelm und seiner Regierung zu pflegen.“

„Ich habe Sie nicht darüber interpelliren wollen, mein lieber
Botschafter,“ sagte Graf Bismarck, „ich kam auf die Sache nur durch
unser Gespräch und durch die Aeußerungen, welche Lord Loftus mir vorher
gemacht hat. Denn wenn,“ fuhr er fort, „ähnliche Winke, wie sie an mich
gekommen sind, auch nach London gelangt sein sollten, und wenn man mit
solchen Winken die ganz besondere Thätigkeit in Verbindung bringt,
welche in Ihrem Militair-Departement herrscht, so würde in dieser
Ideenassociation vielleicht ein Grund zu finden sein, warum man von
England aus so dringend wünscht, neue und concrete Garantieen für die
Erhaltung des europäischen Friedens zu gewinnen. Nur sucht man diese
Garantieen an falscher Stelle; doch,“ fuhr er abbrechend fort, „ich
glaube, wir haben unsere Ideen über den Gegenstand ausgetauscht und
stimmen nunmehr im Wesentlichen über denselben überein. Besser als durch
die Entwaffnung wird der Friede jedenfalls gesichert sein, wenn alle
Veranlassungen vermieden werden, welche zur Entstehung solcher Gerüchte
beitragen können, wie ich sie mir so eben zu erwähnen erlaubte.“

„Ganz gewiß,“ sagte Benedetti. „Es ist merkwürdig,“ fuhr er dann fort,
„wie von Zeit zu Zeit immer wieder Fragen auftauchen, welche die glatte
und ruhige Oberfläche der europäischen Politik kräuseln. Sie erwähnten
so eben der Gerüchte über geheime Verhandlungen zwischen Wien, Florenz
und Paris; da wir einmal damit das Gebiet der Hypothesen berührt haben,
so darf ich vielleicht meinerseits bemerken, daß, wie man mir aus Paris
ganz vertraulich schreibt, dort wieder einzelne Andeutungen vernommen
worden sind über einen Plan, den Prinzen von Hohenzollern auf den
spanischen Thron zu bringen, einen Plan, über welchen wir ebenfalls
früher bereits gesprochen haben und welcher, wenn er wirklich bestehen
sollte, ebenfalls geeignet wäre, eine gewisse Beunruhigung
hervorzurufen.“

Graf Bismarck sah den Botschafter groß und erstaunt an.

„Ich habe neuerdings,“ sagte er, „Nichts wieder von dieser Idee gehört,
welche mir, wie ich Ihnen bereits früher bemerkt habe, im Ganzen ein
wenig abenteuerlich zu sein schien. Ich habe heute noch wie damals die
Ansicht, daß die Regierung des Prinzen Leopold in Spanien nur von sehr
kurzer Dauer sein würde und daß sie ihn großen Gefahren und Täuschungen
aussetzen müßte. Ich bin fest überzeugt, daß der König, wenn die Sache
jemals an ihn herantreten sollte, dem Prinzen gewiß nicht den Rath geben
würde, den spanischen Thron anzunehmen, auch wenn die Cortes dort ihm
denselben antragen sollten. Ich weiß auch, daß der Vater des Prinzen,
der Fürst Anton vollkommen diese Ansicht theilt. Er weiß,“ fügte er
lächelnd hinzu, „durch die Erfahrung, die er mit dem Fürsten Karl von
Rumänien gemacht hat, daß die Souverainetät zuweilen theuer werden
kann.“

„Der Prinz Leopold,“ sagte Benedetti in gleichgültig hingeworfenem Ton,
indem ein schneller forschender Blick den Grafen Bismarck traf, „würde
ja auch übrigens, selbst wenn ein Beschluß der Cortes ihm die spanische
Krone anbieten sollte, dieselbe niemals ohne Zustimmung und Erlaubniß
des Königs annehmen können, da der König als Chef des Hauses bei den
Entschlüssen des Prinzen die letzte Entscheidung hat.“

„Das ist nicht der Fall,“ sagte Graf Bismarck, „der Prinz würde in
letzter Linie in seinen Entschlüssen doch nur von seinem Vater abhängen,
und der König würde sich gewiß enthalten, einen bestimmenden Einfluß
ausüben zu wollen, — ganz gewiß aber wird er, wie ich wiederholen muß,
nach meiner Ueberzeugung dem Prinzen nicht den Rath geben, ein so
gefährliches und unsicheres Abenteuer zu wagen. Ich glaube übrigens
kaum,“ fuhr er fort, „daß man so bald zur Wahl eines Königs in Spanien
gelangen wird; die Personen, welche dort gegenwärtig die Macht in Händen
halten, — vielleicht Prim noch mehr als Serrano — werden kaum wünschen,
durch die definitive Wahl eines Königs dem gegenwärtigen Zustand, bei
welchem sie die Herren des Landes sind, ein Ende zu machen. Die ganze
Sache hat nach meiner Ueberzeugung gar keine practische Bedeutung. Man
hat ja früher schon,“ fuhr er im leichten, gleichgültigen Ton fort, „den
Namen des Prinzen Friedrich Karl mit der spanischen Krone in Verbindung
gebracht, vielleicht wäre dieser Prinz, der ein so tapferer Officier und
ein so energischer Charakter ist, noch eher im Stande dieses Abenteuer
zu bestehen, als es vielleicht der Prinz Leopold sein möchte. Aber alle
diese Dinge sind ja Conjecturen und scheinen mir so recht keinen
eigentlichen Bestand zu haben.“

„Ich habe den ganzen Gegenstand auch nur erwähnt,“ sagte Benedetti,
„weil wir einmal auf das Gebiet politischer Conjecturen gekommen waren,
zu denen auch die vorhin von Ihnen erwähnte österreichisch-italienische
Negociation gehört.“

Graf Bismarck sah den Botschafter scharf und durchdringend an, dann
neigte er mit höflicher Zustimmung den Kopf.

„Ich freue mich also von Neuem constatiren zu können,“ sagte Benedetti,
indem er aufstand, „daß in unsern internationalen Beziehungen kein Punkt
existirt, welcher zu Unruhe oder Besorgniß Veranlassung geben könnte,
und man wird sich,“ fügte er lächelnd hinzu, „in London wohl überzeugen,
daß auch ohne Entwaffnung zwei große Mächte in Frieden und Freundschaft
neben einander leben können.“

„Das bewaffnete Deutschland,“ sagte Graf Bismarck, indem er Benedetti
einige Schritte zur Thür geleitete, „ist wenigstens für Niemand eine
Drohung — als für Diejenigen, welche sich seiner naturgemäßen freien und
nationalen Kraftentwickelung etwa entgegenstellen möchten.“

Benedetti verneigte sich, drückte die dargebotene Hand des
Minister-Präsidenten und ging hinaus.

Graf Bismarck schritt einige Male langsam im Zimmer auf und nieder.

„Es ist etwas im Werk,“ sagte er, — „dieser englische
Entwaffnungsvorschlag beweist, daß man in London der Ruhe nicht traut,
man muß dort irgend welche Winke haben, welche Besorgnisse einflößen,
und diese erneuete Erwähnung der Candidatur des Prinzen Leopold, einer
Sache, die ich längst vergessen habe und deren flüchtigem und
vorübergehendem Auftauchen im vorigen Jahre ich niemals eine ernste
Bedeutung beilegen mochte — diese Mittheilungen über die geheime
Negociation mit Italien und Oesterreich, welche nicht ganz aus der Luft
gegriffen sein können, — es scheint, daß da wieder irgend einer jener
verborgenen Schachzüge im Werke ist, denen ich mich seit 1866
unausgesetzt gegenüber befinde. Nun,“ sagte er, die Brust weit
ausdehnend, „mögen sie ihre geheimen Combinationen machen, sie werden
diesmal ebenso wenig zu einer ernsten Gefahr führen, als bisher. In
Italien wird man sich wohl nicht so leicht entschließen, die einzige
Stütze aufzugeben, welche man in Europa findet. Auch der gute Kaiser
Napoleon, der immer älter wird, möchte mit jedem Jahre immer weniger
geneigt sein, sich den gefährlichen Chancen eines Krieges auszusetzen,
den wir, wenn er einmal entbrannt ist,“ fügte er mit dem Ausdruck
eiserner Entschlossenheit hinzu, „bis auf's Messer würden führen müssen.
Freilich,“ sagte er dann nachsinnend, „je schwächer und willenloser er
wird, um so leichter möchte es vielleicht der kriegerischen Coterie
werden, ihn in eine unüberlegte Unternehmung hineinzuziehen. Die
Schwäche des Alters könnte bei ihm zu demselben Resultat führen, das bei
Andern durch die Verwegenheit der Jugend hervorgebracht wird. Nun,“
sagte er mit ruhigem Ton, „ich arbeite mit aller Macht daran, den
Frieden zu erhalten — wenn es aber nicht möglich sein sollte — wir sind
gerüstet und können jeder Eventualität mit dem ruhigen Bewußtsein
entgegensehen, daß wir gethan haben, was an uns ist, um allen Gefahren
zu begegnen. Leider, leider,“ sagte er nach einer Pause, „kann ich noch
immer nicht dahin kommen, klar und genau zu übersehen, was unter dieser
glatten Oberfläche der französischen Politik in den Tiefen gebraut und
vorbereitet wird, — wie traurig, daß man nicht überall selbst sein kann
und daß man gezwungen ist, durch fremde Augen zu sehen und mit fremden
Ohren zu hören.“

Der Kammerdiener trat ein und überreichte dem Grafen ein Billet.

„Ein Herr wünscht Eurer Excellenz dringend angemeldet zu werden, er
behauptet, daß Eure Excellenz ihn anhören würden, wenn Sie seinen Brief
gelesen, und hat darauf bestanden, denselben sofort zu überreichen.“

Graf Bismarck öffnete schnell das Billet. Voller Erstaunen las er die
wenigen Zeilen, welche es enthielt. Dann spielte ein eigentümliches
Lächeln um seine Lippen und er sagte:

„Führen Sie den Herrn herein.“

„Herr Salazar-y-Mazarredo, Deputierter in den Cortes,“ sprach er
halblaut zu sich selbst, nachdem der Kammerdiener wieder hinausgegangen
war, „hat mir einen Brief des Marschall Prim zu übergeben? Der Name ist
mir vollkommen unbekannt, — es muß eine ganz besondere Angelegenheit
sein, daß der Marschall sich direct an mich ohne Vermittlung der
spanischen Gesandtschaft wendet.“ —

Die Thür öffnete sich Graf Bismarck trat mit artiger Höflichkeit, aber
in gemessener, kalter Haltung einem noch jungen, eleganten Mann
entgegen, dessen regelmäßiges Gesicht mit dunklem, schwarzem Haar und
schwarzen lebhaften Augen den Typus der Südländer trug.

Der Eintretende verneigte sich tief vor dem Minister und zog einen
versiegelten Brief aus der Tasche seines Fracks.

„Der Marschall Prim,“ sagte er in französischer Sprache, „hat mir den
ehrenvollen Auftrag ertheilt, Eurer Excellenz dies Schreiben zu
überreichen.“

Graf Bismarck nahm den Brief, welchen der junge Mann ihm darbot, ließ
einen flüchtigen Blick über das Siegel und die Aufschrift gleiten und
deutete dann mit der Hand auf den Sessel vor seinem Schreibtisch.

„Sie erlauben,“ sagte er, indem er sich niederließ, — er öffnete das
Siegel und las langsam das Schreiben, doch ohne daß in seinem Gesicht
eine Spur des Eindrucks bemerkbar wurde, den der Inhalt auf ihn machte.
Als er zu Ende gelesen, faltete er den Brief wieder zusammen und sah
einen Augenblick den ihm gegenüber sitzenden jungen Mann scharf an.

„Ist Ihnen der Inhalt des Schreibens des Marschalls bekannt, mein Herr?“
fragte er.

„Der Marschall hat die Güte gehabt, mir denselben mitzutheilen,“
erwiderte Herr Salazar-y-Mazarredo. „Er hat geglaubt, in dieser
delicaten Angelegenheit sich zunächst ganz persönlich an Eure Excellenz
wenden zu müssen, um Ihre ebenfalls persönliche Ansicht zu hören, bevor
in der Sache officielle Schritte geschehen. Der Marschall ist
überzeugt,“ fuhr er fort, während Graf Bismarck ruhig und unbeweglich
zuhörte, „daß der Abschluß der Revolution, in welcher sich Spanien
gegenwärtig befindet, nur durch die Wiederherstellung der Monarchie
möglich ist und zwar unter einem Könige, welcher durch jugendliche
Kraft und Intelligenz die Schwierigkeiten der Lage zu überwinden im
Stande ist und welcher zugleich durch seine persönliche Stellung die
Achtung und Sympathie des spanischen Volkes gewinnen kann, ohne mit
irgend einer der im Lande bestehenden und mit den verschiedenen
Prätendenten zusammenhängenden Partheien in irgend welcher Verbindung zu
stehen. Der Marschall hat geglaubt, einen solchen Fürsten, der alle
diese Eigenschaften in sich vereinigt, in der Person des Erbprinzen von
Hohenzollern zu finden und würde diese Combination um so lieber zur
Ausführung gebracht sehen, als dadurch die hohe Achtung, welche er für
Deutschland, für den König Wilhelm und Eure Excellenz hegt, ebenso wie
der Wunsch mit Preußen und Deutschland in freundschaftlichen Beziehungen
zu stehen, thatsächlichen Ausdruck fände. Der Marschall glaubt, daß es
leicht sein würde, die Cortes zur Wahl des Prinzen Leopold zu bestimmen.
Doch wünscht er nicht eher einen Schritt dazu zu thun, bevor er nicht
die Ueberzeugung gewonnen hat, daß Eure Excellenz diesen Plan billigen
und daß der König demselben seine Zustimmung geben würde.“

Graf Bismarck blickte einen Augenblick schweigend vor sich hin.

„Es ist eine eigenthümliche Frage, welche Sie da an mich richten, mein
Herr,“ sagte er dann. „Ich erkenne dankbar die Gesinnungen des
Marschalls gegen Deutschland und gegen mich an, welche ihn zu dieser
Frage veranlassen, jedoch muß ich aufrichtig gestehen, daß ich um die
Antwort etwas verlegen bin. Es kann ja nur ehrenvoll für meine Nation
sein, wenn das spanische Volk einem deutschen Fürsten vertrauungsvoll
die Leitung seiner Geschicke in die Hand legen wollte, indeß wird es mir
sehr schwer, darüber namentlich in dem gegenwärtigen Stadium der Sache
irgend eine bestimmte Meinung auszusprechen. Zunächst würde doch der
Entschluß und die Neigung des Prinzen Leopold in erster Linie maßgebend
sein. So schmeichelhaft nun auch für diesen Prinzen ein solcher Auftrag
sein muß, so werden Sie mir doch auch zugeben, daß er durch ein Eingehen
auf denselben, falls er wirklich gestellt werden sollte, eine ungeheuere
Verantwortlichkeit auf sich ladet und sich möglicher Weise großen
Gefahren und Schwierigkeiten aussetzt. Ob er das wagen will, ist seine
Sache, und es würde unter Umständen darüber von Ihnen mit dem Prinzen
direct verhandelt werden müssen.“

„Der Marschall wünscht aber auch zu gleicher Zeit Eurer Excellenz und
des Königs Ansicht darüber zu wissen.“

„Was zunächst die meinige betrifft, so muß ich Ihnen aufrichtig sagen,
daß ich der in Rede stehenden Combination eine politische Bedeutung kaum
beizulegen vermag. Der Prinz Leopold ist ein ritterlicher, ehrenhafter
Charakter — würde er je in die Lage kommen, die ihm angebotene Krone
Spaniens anzunehmen. So bin ich fest überzeugt, daß er von dem
Augenblick an sich mit allen Interessen der spanischen Nation
identificiren und daß es sein aufrichtiges Bestreben sein würde, ganz
und gar Spanier zu werden. Die Wahl des Prinzen würde kaum auf die
Beziehungen zwischen Spanien und Deutschland, — von denen ich ebenso wie
der Marschall wünsche, daß sie stets die freundschaftlichsten und besten
bleiben mögen — irgend welchen Einfluß üben können. Ich würde also auch
kaum in der Lage mich befinden, als preußischer Minister dem Prinzen
irgend einen Rath nach der einen oder der andern Seite zu geben —

Wenn ich nun schon,“ fuhr er fort, „mir eine absolute Zurückhaltung
auflegen zu müssen glaube, so scheint es mir, daß Seine Majestät der
König, mein allergnädigster Herr, noch mehr einer jeden Einwirkung auf
die Entschlüsse des Prinzen sich zu enthalten Veranlassung hat. Seine
Majestät ist allerdings der oberste Chef des Gesammthauses
Hohenzollern, indeß ist Prinz Leopold nicht preußischer Prinz und mit
der königlichen Familie nicht verwandt, in rein persönlichen
Angelegenheiten würde also der König zunächst dem Prinzen und dessen
Vater die völlig freie Entscheidung überlassen müssen. Wenn Seine
Majestät daher eintretenden Falles keine Veranlassung haben würde,
etwaigen Neigungen des Prinzen zur Annahme der ihm anzubietenden
spanischen Krone entgegen zu treten, so kann Seine Majestät doch noch
viel weniger ihm irgendwie den Rath ertheilen, ein so verantwortungs-
und gefahrvolles Unternehmen zu versuchen. Ich finde mich daher nicht im
Stande, im gegenwärtigen Augenblicke meinerseits die Sache dem Könige
vorzulegen, — würde dieselbe eine festere Gestalt annehmen und an den
Prinzen durch eine spanische Autorität herantreten, so würde es immer
die Sache des Prinzen selbst und seines Vaters sein, ihre Entschlüsse
Seiner Majestät zu unterbreiten und des Königs Meinung darüber
einzuholen.“

„Eure Excellenz,“ sagte Herr Salazar-y-Mazarredo, der durch die ruhige
und bestimmte Erklärung des Grafen Bismarck ein wenig niedergedrückt zu
sein schien, „würden also der Idee des Marschalls persönlich Nichts
entgegen zu setzen haben?“

„Wie könnte ich das!“ erwiderte Graf Bismarck, — „es kann ja nur, wie
ich wiederhole, ehrenvoll für Deutschland und für das Haus Hohenzollern
sein, wenn die spanische Nation einen Prinzen dieses Hauses zu ihrem
König erwählt. Politische Gründe _dagegen_,“ fuhr er fort, „kann ich als
preußischer Minister ebenso wenig haben, als ich, wie ich ebenfalls
bestimmt wiederholen muß, mich irgend wie _dafür_ auszusprechen im
Stande bin. Doch bin ich,“ fuhr er fort, „dem Marschall sehr dankbar für
das persönliche Vertrauen, welches er mir durch die Mittheilung seiner
Idee zu beweisen die Güte gehabt hat.“

Er schwieg. Der spanische Deputirte schien das Gespräch nicht für
beendet ansehen zu wollen.

„Würden Eure Excellenz die Güte haben,“ sprach er, „Ihre Ansicht über
die Sache — Ihre persönliche Ansicht dem Marschall in Beantwortung seines
Schreibens mitzutheilen?“

Graf Bismarck spielte einige Augenblicke nachdenklich mit dem Brief, der
vor ihm auf dem Tische lag.

„Ich glaube,“ sagte er, „daß ich mich deutlich und klar ausgesprochen
habe, und Sie werden gewiß die Güte haben, dem Marschall meine Worte zu
wiederholen.“

„Ich glaube, Eurer Excellenz Erklärung genau und richtig aufgefaßt zu
haben,“ erwiderte Herr Salazar-y-Mazarredo, „doch bin ich überzeugt, daß
der Marschall besonderen Werth darauf legen würde, meine Mittheilungen
durch ein Antwortschreiben von Eurer Excellenz selbst bestätigt zu
sehen.“

Abermals dachte Graf Bismarck einige Augenblicke nach.

„Sie werden begreifen,“ sagte er, „daß eine gewisse Schwierigkeit für
mich darin liegt, mich über eine Angelegenheit, welche, wie ich zu
bemerken mir erlaubte, nach meiner Auffassung mit der Politik Preußens
und Deutschlands Nichts zu thun hat, in einer Weise auszusprechen,
welcher bei meiner Stellung doch immerhin eine Art von offizieller
Bedeutung beigelegt werden könnte. Jedenfalls müßte ich die Sache nach
allen Richtungen hin noch sehr reiflich überlegen, bevor ich den Brief
des Marschalls beantworten könnte, und ich muß gestehen, daß ich
dringend wünsche, der ganzen Sache so lange vollkommen fern zu bleiben,
bis dieselbe etwa eine klar faßbare Gestalt annimmt und auf direct
officiellem Wege an mich gelangt. Ich möchte unter diesen Umständen,“
fügte er artig hinzu, „Sie nicht zu einem längeren Aufenthalt in Berlin
veranlassen und den Marschall bitten, mir zu einer eingehenden
Ueberlegung Zeit zu lassen. Ich bin überzeugt, daß der Marschall die
Gründe vollkommen verstehen und billigen wird, welche mich bestimmen
müssen, meine Antwort noch zurückzuhalten, um so mehr, da bei den
Beziehungen persönlichen Vertrauens, in denen Sie, mein Herr, jedenfalls
zu ihm stehen, Ihre Mittheilungen ja vollständig die Stelle einer
direkten Antwort ersetzen werden.“

Er verneigte sich mit einer Miene, welche bestimmt andeutete, daß die
Unterredung zu Ende sei.

Herr Salazar-y-Mazarredo erhob sich, indem auf seinen Zügen eine
sichtbare Enttäuschung bemerkbar wurde.

„Ich bitte Sie nochmals,“ sagte Graf Bismarck, „dem Marschall den
Ausdruck meiner Dankbarkeit für sein Vertrauen und die Versicherungen
meiner aufrichtigen Hochachtung und Ergebenheit zu überbringen. Ich habe
mich herzlich gefreut,“ fügte er mit verbindlicher Artigkeit hinzu, „bei
dieser Gelegenheit Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben.“

„Eure Excellenz werden Nichts dagegen haben,“ sagte Herr
Salazar-y-Mazarredo, „daß ich Schritte thue, um mich über die
persönlichen Ansichten des Prinzen Leopold zu unterrichten.“

„Da der persönliche Entschluß des Prinzen, wie ich schon bemerkt habe,
in erster Linie in Betracht kommt,“ sagte Graf Bismarck kalt und ruhig,
„so scheint es mir in der Natur der Sache zu liegen, daß Sie nach dieser
Richtung hin sich informiren. Uebrigens,“ fügte er hinzu, „wird es ganz
und gar, wie mir scheint, Ihre Aufgabe sein, die Aufträge auszuführen,
welche der Marschall Ihnen gewiß auch in dieser Beziehung ertheilt hat.“

Herr Salazar-y-Mazarredo verließ mit tiefer Verbeugung das Cabinet.

„Es ist also doch Etwas im Gange,“ sagte Graf Bismarck, indem er sich
wieder vor seinen Schreibtisch setzte, — „aber was kann dieser Sache zu
Grunde liegen — warum diese einseitige und vertrauliche Anfrage des
Marschall Prim? Fast scheint es, als sollte da Etwas hinter dem Rücken
von Serrano und der übrigen Regierung gemacht werden, Prim würde bei
seinen besonderen Beziehungen zum Kaiser Napoleon kaum eine solche Sache
einfädeln, wenn er nicht glaubte, demselben dadurch angenehm zu
werden, — der Prinz von Hohenzollern ist mit dem Kaiser verwandt,“ sagte
er nachsinnend mit leiser Stimme — „die Candidatur des Herzogs von
Montpensier muß dem Kaiser tief verhaßt sein, — sie könnte ihm unter
Umständen gefährlich werden; — sollte die erneuete Anregung dieser
Combination damit zusammenhängen?

„Nun,“ — rief er nach längerem, schweigendem Nachdenken, — „einmal muß die
große Krisis dieser langsam schleichenden Krankheitszustände doch
ausbrechen, — und wenn ich sie mit noch so großer Mühe und Vorsicht
fortwährend wieder zu beschwören versuche! — Vielleicht wäre es ein
Glück, wenn die Entscheidung bald käme,“ — sagte er ernst, — „wenn sie
käme, so lange ich noch in voller Kraft an der Spitze der Geschäfte
stehe, — denn wenn in dieser Krisis mit halben Entschlüssen und mit
halben Mitteln operirt wird, — dann muß die Zukunft Deutschlands auf
lange hinaus, vielleicht auf immer verloren sein. — Ich,“ rief er
flammenden Blickes, indem eine eiserne Energie aus seinen Zügen
leuchtete — „ich würde nicht zurückweichen, ich würde die Aufgabe
erfassen mit der vollen Kraft, deren sie bedarf, — und — ich fühle
es, — ich würde siegen!

„O,“ sagte er dann schmerzlich, „warum ist die Zukunft unserem Blick
verborgen, — warum können wir nicht eine Ecke jenes undurchdringlichen
Schleiers lüften, der das Morgen vor unsern Blicken verbirgt?

„Wie viele ringende und kämpfende Geister,“ sagte er leise, die
gefalteten Hände leise vor sich auf den Tisch stützend, „haben vor mir
diese brennende Frage an die Vorsehung gerichtet, — wie viele werden sie
nach mir aussprechen, um dieselbe Antwort zu erhalten — das ewige
Schweigen!

„Und doch,“ sprach er, den ruhigen klaren Blick aufschlagend, mit einem
weichen Lächeln, das seinen festen strengen Zügen einen eigenthümlichen
Ausdruck gab, dessen man dieses eherne Gesicht kaum für fähig gehalten
hätte, „doch giebt es eine Antwort, die durch lange Jahrhunderte so
vielen zweifelnden und bangenden Herzen Frieden, Muth und Zuversicht
gebracht hat — einfach, groß und erhaben wie Der, dessen Lippen sie
zuerst sich entrang — Herr, nicht mein sondern Dein Wille geschehe!“

Er neigte einen Augenblick das mächtige Haupt auf die Brust, dann erhob
er sich, immer mit dem Ausdruck lächelnder Ruhe und Klarheit auf seinen
Zügen, nahm seinen Hut, stieg in den großen Garten des auswärtigen Amtes
hinab und ging mit großen Schritten unter den hohen noch winterlich
kahlen Bäumen in tiefen Gedanken und oft leise Worte vor sich
hinsprechend auf und nieder.



Drittes Capitel.


In einem großen Zimmer des Hotels zur Sonne in St. Dizier waren
dreißig bis vierzig von den hannöverschen Emigranten versammelt, theils
ganz junge Männer, theils ältere Leute, deren Mienen und Haltung man die
gedienten Militairs ansah. Sie Alle standen in Reihen an der einen Seite
des Zimmers und blickten ernst und finster nach dem Tisch hin, an
welchem der Major von Adelebsen, der Ordonnanzofficier des Königs Georg,
saß und auf welchem Actenpackete und eine Anzahl von Bankbillets und
Goldrollen lagen.

Neben dem Major von Adelebsen saß der frühere Lieutenant de Pottere, ein
junger Mann mit dichtem, sorgfältig frisirtem Haar, welches tief in die
auffallend niedrige Stirn herabreichte, mit großen, etwas starr
blickenden Augen und einem starken blonden Schnurrbart auf der
Oberlippe des Mundes, um welchen ein gleichgültig stereotypes Lächeln
spielte.

Der Lieutenant de Pottere hatte eine Namensliste der Emigranten vor sich
und hielt eine Feder in der Hand bereit, die Proceduren des Majors von
Adelebsen zu protocolliren.

„Unterofficier Rühlberg!“ rief Herr von Adelebsen, indem er den etwas
unsicheren Blick seines Auges über die Emigranten hingleiten ließ.

In militairischer Haltung trat der Unterofficier an den Tisch heran.

„Ich habe Sie nunmehr aufzufordern,“ sagte Herr von Adelebsen, „zur
Erklärung darüber, was Sie über Ihre Zukunft beschlossen haben. Ich
mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie die Ihnen zustehende Pension von
Seiner Majestät erhalten können oder aber eine einmalige
Abfindungssumme, wenn Sie das vorziehen. Geben Sie mir Ihre Erklärung,
wohin Sie nachher zu gehen beabsichtigen.“

„Ich bitte, mich ein für allemal abzufinden, Herr Major,“ erwiderte der
Unterofficier, „ich will mit einer Anzahl meiner Kameraden nach Algier
gehen, um dort unser Glück in einer Colonie zu versuchen.“

„Sie wollen nach Algier gehen?“ fragte Herr von Adelebsen ein
wenig befremdet, „Sie wissen doch, daß Seine Majestät eine
Niederlassung in Algier nicht für zweckmäßig erachten können, und
daß Allerhöchstdieselben befohlen haben, den Legionairen von einer
Auswanderung nach Algier abzurathen.“

„Zu Befehl, Herr Major,“ erwiderte der Unterofficier, „Herr Minister von
Münchhausen hat uns das auseinandergesetzt und uns dabei zugleich
gerathen, nach Hannover zurückzukehren, und,“ fügte er mit einer
gewissen Bitterkeit hinzu, „die Strafe, die man uns vielleicht dictiren
würde, ruhig abzusitzen. Ich bin ganz überzeugt,“ fuhr er fort, „daß
Seine Majestät die besten Absichten mit uns hat, und daß Er nach den
Berichten, die man ihm erstattet hat, überzeugt ist, daß eine Colonie in
Algier uns keinen Vortheil bringen könne. Aber ich muß Ihnen sagen, Herr
Major, daß ich durchaus keine Lust habe, nach der Heimath
zurückzukehren, um mich dort einsperren zu lassen. Wenn Seine Majestät
uns eine Amnestie würde verschaffen können, so wäre es etwas Anderes.
Unter diesen Umständen muß ich aber dabei bleiben zu versuchen, meine
Zukunft auf meine eigene Kraft zu gründen; und ich bleibe daher bei
meiner Erklärung, daß ich nach Algier gehen will und bei meiner Bitte,
mir die Abfindungssumme auszuzahlen.“

„Wenn aber doch Seine Majestät,“ sagte der Lieutenant de Pottere mit
einer etwas näselnden Stimme, „eine solche Colonie nicht für zweckmäßig
hält —“

„Der Herr Major,“ fiel der Unteroffizier ein, „haben uns gesagt, daß wir
die völlig freie Entschließung hätten, unsere Zukunft einzurichten, wie
wir wollten. Ich habe mir die Sache reiflich überlegt und bleibe dabei,
daß ich nach Algier gehen will. Vorzüglich,“ fuhr er fort, „möchte ich
ein für allemal abgefunden sein, wohin ich mich dann wende, kann und
wird ja übrigens Seiner Majestät ganz gleichgültig sein.“

„Es ist Seiner Majestät gewiß nicht gleichgültig,“ sagte Herr von
Adelebsen mit sanfter Stimme, „wie sich die Zukunft seiner früheren
Soldaten gestaltet, und deshalb —“

„Darf ich bitten, Herr Major,“ fiel der Unterofficier, sich in strammer
Haltung aufrichtend, ein, „meine Erklärung zu Protocoll nehmen zu
lassen? Mein Entschluß steht unwiderruflich fest.“

Herr von Adelebsen gab dem Lieutenant de Pottere einen Wink. Dieser
schrieb die Erklärung des Unterofficiers nieder und der Major zählte die
Abfindungssumme in Banknoten und Zwanzigfrankstücken ab und händigte sie
dem Unterofficier ein, der mit vorsichtiger Sorgfalt seinen Namen unter
die ihm vorgelegte Quittung setzte und dann zu den Uebrigen zurücktrat.

„Dragoner Cappei!“ rief Herr von Adelebsen.

Der junge Mann trat heran.

„Ihre Erklärung?“ fragte Herr von Adelebsen.

„Ich wünsche, nach Hannover zurück zu gehen,“ sagte Cappei.

„Sie sind militairpflichtig gewesen,“ sagte Herr von Adelebsen. „Haben
Sie es sich überlegt, daß man Sie vielleicht bestrafen und in die
preußische Armee einstellen wird? Es läge vielleicht, wenn Sie sich
dieser Gefahr nicht aussetzen wollen, in Ihrem Interesse, wie sich viele
andere Ihrer Kameraden bereits entschlossen haben, nach Amerika zu
gehen —“

„Ich danke, Herr Major,“ erwiderte Cappei ruhig, „ich bin entschlossen,
zu tragen, was mir in Hannover widerfahren wird, und will in die Heimath
und zu meiner Familie zurückkehren.“

Er empfing die ihm zukommende Summe Geldes, der Lieutenant de Pottere
protocollirte seine Erklärung und Cappei trat zurück.

Einer nach dem Andern aus der Reihe der Emigranten wurde aufgerufen,
Zwei oder Drei erklärten, daß sie nach Amerika gehen wollten, alle
Uebrigen sprachen den Entschluß aus, mit dem Unterofficier Rühlberg
nach Algier auszuwandern.

„Ich muß Sie Alle nochmals darauf aufmerksam machen,“ sagte Herr von
Adelebsen, „daß, wie ich bereits dem Unterofficier bemerkt habe, Seine
Majestät nicht glauben könne, daß Sie in Algier Ihre künftige Wohlfahrt
finden. Sie werden dort in einem fremden Lande ohne Hülfsmittel und ohne
Unterstützung sein und es vielleicht bereuen, daß Sie sich zu einem
solchen Entschluß haben beeinflussen lassen.“

„Niemand hat uns beeinflußt!“ riefen Mehrere der Emigranten. „Wir haben
selbst schon lange ehe unsere Officiere mit uns über die Colonie
gesprochen haben, den Gedanken gefaßt, wenn der König uns nicht mehr
erhalten könnte, uns in Algier eine Zukunft zu gründen.“

„Ich muß aber ausdrücklich bemerken,“ sagte Herr von Adelebsen, „daß
Seine Majestät mir befohlen haben, ganz bestimmt zu erklären, daß
Diejenigen, welche nach Algier gehen, niemals auf irgend eine
Unterstützung von seiner Seite zu rechnen haben. Bedenken Sie, was es
heißt, in einem ganz fremden Lande unter unbekannten Verhältnissen sich
eine Existenz zu gründen.“

„Wir werden im fremden Lande,“ rief der Unterofficier Rühlberg, einen
Schritt vortretend, „immer noch Menschen finden, die uns mit Rath und
That beistehen und Gefühl für Leute haben, welche ihrem König im Unglück
treu geblieben sind, — wir haben freilich nicht geglaubt, daß es so
kommen würde, denn dann würden wir wohl kaum die Heimath verlassen
haben, und was die Bemerkung betrifft, die der Herr Major so eben
gemacht haben, so können Sie ganz ruhig sein, Niemand von uns wird
künftig die Unterstützung der Kasse Seiner Majestät in Anspruch nehmen.
Jedenfalls werden wir immer noch besser in Algier daran sein, wo uns
wenigstens die französische Regierung freundlich entgegenkommt, als wenn
wir über das weite Meer nach Amerika hinzögen, wo wir ohne alle Hülfe
sterben und verderben können.“

„In Amerika wären wir freilich weiter fort,“ rief eine Stimme aus den
Reihen, „und wenn wir Alle dort wären, so wäre man doch sicher, daß
Niemand von uns der königlichen Kasse zur Last fällt.“

Der Major warf einen schnellen Blick von unten herauf nach der Gegend,
woher diese Stimme erschallt war. Der Lieutenant de Pottere drehte
seinen Schnurrbart und sagte:

„Sie müssen ruhig sein und nicht durcheinander sprechen.“

„Ich glaube, wir sind abgefunden,“ rief es aus den Reihen, „und haben
hier nichts mehr zu thun, gehen wir.“

Und sich kurz umwendend, verließen sie Alle das Zimmer, indem sie den
Refrain des alten hannöverschen Soldatenliedes anstimmten:

  „Lustige Hannoveraner seien wir.“

Herr von Adelebsen und der Lieutenant de Pottere packten die Papiere und
das übrig gebliebene Geld zusammen und zogen sich stillschweigend in
ihre Zimmer zurück.

„Nun Cappei,“ sagte der Unterofficier Rühlberg zu dem jungen Dragoner,
welcher schweigend und gedankenvoll mit den Uebrigen die Treppe
hinabstieg, „wollt Ihr Euch nicht noch eines Bessern besinnen und mit
uns nach Algier gehen. Denkt doch, wie schön es ist, wenn wir Alle
zusammen bleiben und unser Dorf nach althannöverscher Manier einrichten,
da können wir es doch noch zu Etwas bringen, ein freies und
selbstständiges Leben führen und an die alte Heimath zurückdenken, wie
sie früher war.“

„Es thut mir leid, Euch zu verlassen,“ sagte Cappei, — „aber unsere Sache
ist zu Ende, das alte Hannover ist für immer versunken. Was hilft es
dem Einzelnen, gegen den Weltlauf anzukämpfen — ich liebe meine Heimath,
und die Heimath bleibt ja doch dieselbe, mag nun dieser oder jener
König, dieses oder jenes Gesetz herrschen.“

„Nun, geht hin,“ sagte der Unterofficier, „Ihr werdet es noch bereuen,
aber Verliebten ist keine Vernunft zu predigen. Ihr kommt doch heute
Abend noch zu uns, wir wollen noch einmal lustig zusammen sein; in
dieser Nacht noch wollen wir nach Marseilles reisen, um uns nach Algier
einzuschiffen. Wir haben unsere Empfehlung an den Präfecten dort, und
das Comité, welches unsere Officiere in Paris bilden, wird dafür sorgen,
daß wir von dort aus gut empfohlen werden. Tüchtige und rechtliche
Leute, die arbeiten können, kann man überall brauchen, und wir werden
unsern Weg schon machen.“

Die Emigranten zogen über den Marktplatz von St. Dizier, von den ihnen
begegnenden Bürgern freundlich begrüßt, nach dem Restaurant hin, in
welchem sie sich gewöhnlich zu versammeln pflegten.

Der junge Cappei trennte sich an der Ecke des Marktplatzes von ihnen und
schritt langsam dem Hause des Holzhändlers Challier zu. Er ging über den
großen Hof und trat durch den Flur in das Wohnzimmer des Hauses, in
welchem er so lange als ein freundlich empfangener Gast aus- und
eingegangen war, und von welchem er sich nun trennen sollte, um den
Kampf mit einer ungewissen Zukunft aufzunehmen.

Der alte Herr Challier saß allein in seinem Lehnstuhl, die so eben
ausgegebene Zeitung des kleinen Orts lesend. Er legte bei dem Eintritt
des jungen Mannes das Blatt aus der Hand, erhob sich und trat ihm mit
herzlichem Gruß entgegen.

„Alles ist abgemacht, Herr Challier,“ sagte Cappei in ziemlich reinem,
aber im deutschen Accent anklingenden Französisch, „die Legion ist
aufgelöst, wir sind Alle frei und können hingehen, wohin wir wollen. Und
alle diese Kameraden, die nun drei Jahre lang Freud und Leid mit
einander getheilt haben, werden sich wohl schwerlich jemals wieder
zusammenfinden.“

„Das ist recht traurig,“ sagte der alte Herr Challier, langsam den Kopf
schüttelnd. „So ist also die Sache Ihres Königs aufgegeben, — das thut
mir aufrichtig leid, denn ich habe immer so viel Sympathie für sein
Schicksal und für Sie Alle gehabt; und wir Bürger von St. Dizier nehmen
gewiß ganz besondern Antheil an Allem, was den König betrifft, seit er
unserer Stadt die Ehre erzeigt hat, der Pathe des Kindes eines unserer
Mitbürger zu sein. Ich bin ein alter Bragars,“ sagte er, indem seine
dunklen Augen in lebhaftem Feuer aufleuchteten, „und ich hätte mich von
Herzen gefreut, wenn ich Sie hätte ausziehen sehen können, um für Ihren
König und sein Recht zu fechten, — das Schicksal geht seinen eigenen
Weg, — es hat nicht sein sollen. Wir verlieren alle liebe Freunde mit
ihnen,“ fuhr er fort, „und mir wird es in meinem Hause recht leer
vorkommen, wenn ich Sie nicht mehr sehe. Haben Sie Ihren Entschluß fest
gehalten,“ fragte er, „nach Ihrem Vaterlande zurückzukehren? — Ich würde
mich kaum dazu entschließen können,“ sagte er, „wenn ich mich in Ihre
Lage denke, in einem Lande zu leben, in welchem eine fremde Herrschaft
alle Erinnerungen an eine ruhmvolle Vergangenheit begraben hat.“

Ernst erwiderte der junge Mann:

„Es liegt fast ein Vorwurf in Ihren Worten für mich, Herr Challier, und
doch kann ich nicht anders handeln. — Sie sind Franzose und wenn es
möglich wäre, daß Ihr Vaterland ein Schicksal träfe wie das meinige, so
würde Ihr Gefühl natürlich sein. Bei mir, da ist es etwas Anderes,
Hannover ist ein kleines Land, ein kleiner Theil jenes großen
Deutschlands, das ja doch das gemeinsame Vaterland für uns Alle ist. Wir
Hannoveraner lieben unsere Eigenart und Selbständigkeit, wir haben mit
fester Treue an den Fürsten gehangen, die so lange über uns geherrscht
haben. Wir beklagen und empfinden tief den Verlust unserer
Selbstständigkeit, aber wir sind doch immer nur ein Glied des
Ganzen, — die neue Regierung, welche über uns herrscht, ist ja auch eine
deutsche, und Deutsche bleiben wir auch unter den neuen Verhältnissen.
Sollen wir uns darum von dem großen ganzen Vaterlande ausschließen, weil
wir nicht weiter leben können, wie wir es bisher gewohnt waren? Für das
Recht unseres Königs konnten wir kämpfen, wenn der König aber dies Recht
aufgiebt, wie könnten wir in ungewöhnlichem Haß den andern Deutschen
gegenüber stehen! Uebrigens,“ fuhr er fort, „werde ich vielleicht nicht
immer in meiner Heimath bleiben, nachdem ich meine Verhältnisse dort
geordnet und meine Stellung klar gemacht habe, — und darüber,“ fügte er
etwas zögernd hinzu, „möchte ich mit Ihnen, Herr Challier, bevor ich
scheide, noch ein ernstes Wort sprechen. Sie haben mich mit väterlicher
Güte aufgenommen, ich will Ihnen klar und ohne Rückhalt meine Gedanken
über die Zukunft mittheilen. Billigen Sie dieselben nicht,“ sagte er
seufzend, „so werde ich meine Pläne ändern und Hoffnungen aufgeben,
welche mir die liebsten und schönsten sind.“

Herr Challier blickte ihn ein wenig erstaunt an und sagte im herzlichen
Ton:

„Sie wissen, mein junger Freund, daß mein Rath und meine Erfahrung, wenn
ich Ihnen mit denselben nützen kann, Ihnen stets zu Gebote stehen.“

Er setzte sich in seinen Lehnstuhl und lud den jungen Mann ein, in einem
Sessel neben ihm Platz zu nehmen. Dieser jedoch blieb vor dem alten
Herrn stehen, senkte einen Augenblick nachdenkend den Kopf, wie um seine
Gedanken zu ordnen, und sprach dann mit bewegter Stimme:

„Sie haben mich kennen gelernt, Herr Challier, als heimathlosen
Flüchtling, und dennoch haben Sie mir freundlich Ihr Haus geöffnet. Sie
haben mich in den Kreis Ihrer Familie aufgenommen und ich darf annehmen,
daß Sie Vertrauen zu mir haben, obgleich Sie nie vorher Etwas von mir
gehört, obgleich Sie nicht wissen, woher ich stamme und welches meine
Vergangenheit war.“

„Ich habe Ihnen vertraut,“ erwiderte Herr Challier, „weil Sie
hergekommen sind als der Diener eines edlen und unglücklichen Fürsten.
Man dient dem Unglück nicht, wenn man nicht ein edles und treues Herz
hat, darum habe ich Sie aufgenommen, wie man einen braven und
rechtschaffenen Mann aufnimmt, und,“ fügte er mit der den Franzosen so
eigentümlichen Höflichkeit des Herzens hinzu, „ich habe mich in meinem
Urtheil und meinem Vertrauen nicht getäuscht, denn nun Sie uns
verlassen, fühle ich, daß ein Freund von uns scheidet.“

„Ich gehe in mein Vaterland zurück,“ erwiderte Cappei, „um so bald es
mir möglich ist, wieder vor Sie hintreten zu können, nicht mehr als der
heimathlose Unbekannte, sondern als ein Mann, der Ihnen nachweisen kann,
woher er stammt, was er war und was er ist, als ein Mann, der einen,
wenn auch kleinen, aber sichern Besitz hat, und der es darum wagen kann,
Ihnen eine Bitte auszusprechen, von der sein ganzes Lebensglück
abhängt, — die Bitte,“ fügte er mit zitternder Stimme hinzu, „mir das
Schicksal Ihrer Tochter Luise anzuvertrauen, welche ich liebe mit aller
Wärme und Treue, die das Erbtheil unseres Stammes sind — deren Glück ich
alle Kraft meines Lebens widmen werde und ohne welche meine Zukunft öde
und freudlos sein würde.“

Der alte Herr Challier hatte ruhig und ernst zugehört. Sein Auge ruhte
einen Augenblick mit liebevoller Theilnahme auf dem jungen Mann; dann
sprach er mit milder freundlicher Stimme:

„Ich habe Ihnen gesagt, Herr Cappei, daß ich volles Vertrauen zu Ihnen
habe, daß ich Sie für einen Ehrenmann halte, — daraus folgt, daß ich, was
Ihre Person betrifft, keine Bedenken trage, Ihnen das Glück meiner
Tochter anzuvertrauen, — ich bin nicht reich,“ fuhr er fort, „aber ich
habe nur die einzige Tochter und besitze genug, um ihr, auch wenn die
Wahl ihres Herzens auf einen armen Mann fällt, eine sichere Existenz
begründen zu können. Ob Sie Vermögen besitzen oder nicht, ist deshalb
nicht entscheidend für die Beantwortung Ihrer Frage, aber,“ fuhr er
fort, „die Grundlage einer sorgenfreien Existenz für die Zukunft meiner
Tochter liegt in dem Geschäft, das ich hier betreibe. Würde ich es
verkaufen, so würde der Kaufpreis in Geld nicht den Werth repräsentiren,
den es in der Hand eines geschickten und fleißigen Mannes hat. Deshalb
habe ich stets den Wunsch gehegt, daß der Mann, den meine Tochter einst
sich zum Gefährten ihres Lebens erwählt, mein Geschäft fortsetzt. Ich
fühle es vollkommen,“ fuhr er fort, „was es heißt, sein Vaterland zu
verlassen, — aber in Ihrer Heimath sind die Verhältnisse so verändert,
und die jetzigen Zustände können Ihnen so wenig erfreulich sein, daß es
vielleicht Ihren eigenen Wünschen entsprechen könnte, hierher zurück zu
kommen. Haben doch auch viele meiner Landsleute Frankreich verlassen
und in Deutschland eine neue Heimath gefunden, warum sollten Sie nicht
in unserer Mitte auch Ihre künftige Heimath begründen können? Könnten
Sie diesen meinen sehnlichsten Herzenswunsch erfüllen, so würde ich kein
Bedenken hegen, die Zukunft meines Kindes Ihnen anzuvertrauen,
vorausgesetzt, daß meine Tochter die Gefühle theilt, welche Sie für sie
hegen, — worüber Sie,“ fügte er lächelnd hinzu, „vielleicht ein wenig
unterrichtet sind.“

„Ich glaube,“ sagte Cappei mit leiser Stimme, „daß Fräulein Luise mir
nicht abgeneigt ist —“

Die Thür öffnete sich, die Tochter des Herrn Challier trat ein. Sie
hatte eine Freundin besucht und trug einen einfachen kleinen Hut, mit
Rosenknospen garnirt, und ein leichtes Tuch um die Schultern. Ihr
frisches Gesicht war vom Gang leicht geröthet, ihre glänzenden Augen
richteten sich einen Augenblick wie fragend auf ihren Vater und auf den
jungen Hannoveraner. Sie eilte auf den alten Herrn zu, bot ihm mit
anmuthiger Bewegung ihre Wange zum Kuß dar und reichte dann Cappei mit
freundlichem Gruß die Hand.

„Du kommst eben recht,“ sagte Herr Challier, „um eine Frage zu
beantworten, welche ich soeben an unsern jungen Freund hier richtete,
und über welche er sich ganz klar auszusprechen zu scheuen schien.“

Luise blickte zuerst verwundert auf, ihr Auge suchte das ihres
Geliebten, — sie schien zu verstehen, um was es sich handelte, und senkte
tief erröthend den Kopf auf die Brust nieder.

„Herr Cappei,“ sagte der alte Herr, „hat mir soeben mitgetheilt, daß er,
wenn seine Angelegenheiten in seiner Heimath geordnet sein werden, zu
uns zurückkommen will, um Dir seine Hand anzutragen, nachdem Du, wie es
scheint, bereits in dem Besitz seines Herzens bist. Ich habe die
Entscheidung darüber von Deiner Entschließung abhängig gemacht, — was
würdest Du sagen, wenn unser junger Freund hier seinen Antrag nunmehr
auch an Dich richtetet?“

Einen Augenblick blieb das junge Mädchen mit gesenktem Kopf stehen, ein
flüchtiger, halb scheuer, halb vertrauensvoller Blick traf den jungen
Mann, dann richtete sie sich empor, trat mit festem Schritt an die Seite
des jungen Mannes und sprach:

„Ich bin eine Tochter der Bragars von St. Dizier, mein Vater, ich
verstehe nicht, meine Gefühle zu verbergen, — mögen Andere es für
schicklich halten, zu verhüllen, was ihr Herz bewegt, — ich sage offen,
was ich empfinde, — ich liebe ihn,“ fuhr sie mit strahlenden Blicken
fort, „mein Herz gehört ihm und wird ihm ewig gehören. Und Du, mein
Vater, weißt, daß ich meine Liebe keinem Unwürdigen schenke.“

Der Alte blickte mit stolzer Freude auf seine Tochter.

„Brav, mein Kind,“ sagte er, „das ist recht und tapfer gesprochen, und
ebenso offen will ich Dir ohne Umschweife antworten. Ich gebe dem Bunde
Eurer Herzen mit Freuden meinen Segen.“

Cappei breitete die Arme aus, das junge Mädchen sank an seine Brust und
er drückte seine Lippen auf ihr glänzendes Haar.

„Gehen Sie nach Ihrer Heimath zurück, ordnen Sie Ihre Angelegenheiten
und,“ fügte er hinzu, „kommen Sie bald zurück, — ich verlange nicht als
unerläßliche Bedingung, daß Sie Ihre künftige Heimath hier in unserm
Frankreich wählen; ein Mann muß am besten wissen, was er zu thun hat,
und ein Weib muß dem Manne ihres Herzens folgen. Ich muß es mir ja
gefallen lassen, mein Kind von mir gehen zu sehen, — das ist der Lauf der
Natur, aber,“ fuhr er fort, indem seine Lippen bebten und seine Stimme
leicht zitterte, „Sie kennen den Wunsch meines Herzens, Sie wissen, wie
glücklich es mich machen würde, zu denken, daß mein Kind einst an meinem
Sterbebette stehen wird, und daß ich ihr und meinen Enkeln das alte Haus
überlassen kann, in welchem so viele meiner Vorfahren seit einer Reihe
von Generationen gelebt haben.“

Luise sagte Nichts, langsam hob sie den Kopf von der Brust ihres
Geliebten empor und sah den jungen Mann mit ihren großen glänzenden
Augen fragend und bittend an.

„Ich kehre zurück,“ sagte dieser rasch mit entschlossenem Ton, „um meine
Heimath da zu begründen, wo ich das Glück meines Herzens gefunden habe.
Ich würde wahrlich lieber garnicht fortgehen, aber ich muß in die
Heimath, um meine Angelegenheiten zu ordnen, und mein kleines Vermögen
zu sichern. Denn,“ fügte er mit fester Stimme hinzu, „nicht dem
heimathlosen Bettler soll Ihre Tochter ihre Hand reichen.“

Ein glückliches Lächeln erhellte das Gesicht des alten Herrn, er
streckte seine beiden Hände aus, — die jungen Leute ergriffen sie und
beugten sich zärtlich zu ihm herab.

Einen Augenblick blieben alle Drei in inniger Umarmung, sie hörten
nicht, daß die Thüre sich öffnete, und erst der Ton rascher Schritte
ließ sie aufblicken.

Herr Vergier war eingetreten, — starr und bleich stand er in der Mitte
des Zimmers, seine Lippen bebten, seine scharfen, stechenden Augen
blickten mit unheimlich spähendem Feuer auf die Gruppe vor ihm.

Die beiden jungen Leute waren zur Seite getreten, der alte Herr erhob
sich, ging Herrn Vergier entgegen und sprach, indem er ihn mit kräftigem
Händedruck begrüßte:

„Sie sind ein alter Freund meines Hauses, und als solchen will ich Ihnen
vor allen Andern zuerst sagen, welches für meine Familie so wichtige
Ereigniß hier so eben sich vollzogen hat.“

Er theilte mit kurzen Worten Herrn Vergier, dessen blitzende Augen mit
höhnischen, feindlichen Blicken auf den beiden jungen Leuten ruhten,
welche Hand in Hand hinter ihrem Vater standen, die Verlobung seiner
Tochter mit.

„Sie wissen,“ sagte Herr Vergier, als der Alte geendet, mit zitternder,
rauh klingender Stimme, indem seine Gesichtszüge vor heftiger Aufregung
zuckten, „wie tiefen Antheil ich an Allem nehme, was Ihr Haus
betrifft, — aber die Gefühle, welche mich bei der Mittheilung erfüllen,
die Sie mir so eben gemacht, können nicht erfreulich sein,“ fügte er mit
bitterm Ton hinzu. „Ich hatte Hoffnungen gehegt, welche durch das, was
Sie mir sagen, auf immer zerstört worden sind. Fräulein Luise,“ fuhr er
mit brennendem Blick fort, „kannte diese Hoffnungen, sie hat mir
dieselben bisher nicht genommen. Sie hatte ein Jahr verlangt, um mir
eine bestimmte Antwort zu geben, und nun sehe ich, daß sie nur eine so
kurze Frist gebraucht hat, um sich über die Wahl ihres Herzens zu
entscheiden.“

Mühsam nach Fassung ringend, stützte er sich auf die Lehne eines Stuhls.

Luise sah ihn mit einem weichen Blick aus ihren offenen klaren Augen an.
Rasch trat sie zu ihm und reichte ihm die Hand.

„Niemand ist Herr der Gefühle seines Herzens,“ sagte sie — „Sie waren der
Freund meiner Kindheit, bleiben Sie mein Freund für mein künftiges Leben
und verzeihen Sie mir, wenn ich die Gefühle nicht erwidern konnte, die
Sie mir entgegen trugen, — Sie werden das vergessen,“ fügte sie
freundlich hinzu, — „Sie werden gewiß, wie ich es Ihnen von ganzem Herzen
wünsche, bei einer andern Wahl mehr Glück finden, als ich Ihnen hätte
bieten können.“

Herr Vergier hatte nur zögernd die Hand des jungen Mädchens einen
Augenblick ergriffen.

„Es ist nicht nur der Schmerz um den Verlust meiner Liebe,“ sagte er
mit einer noch immer vor Aufregung halb erstickten und unsichern Stimme,
„welche mich bewegt, aber ich bin Franzose, und es schneidet mir in's
Herz, daß ich die Tochter meines Freundes, deren Glück mir theuer ist,
wie mein eigenes, sich ihrem Vaterlande entfremden sehe. Der Krieg mit
diesem Preußen, das drohend an unsern Grenzen steht, ist nur eine Frage
der Zeit. Er wird vorbereitet von beiden Seiten, er muß kommen,
Jedermann in Frankreich fühlt das, man hat schon mehrfach deutsche
Spione bei uns entdeckt. Und schon sind Stimmen laut geworden,“ fuhr er
immer eifriger fort, indem sein Gesicht vor Aufregung zuckte, und seine
Blicke sich wie Dolchspitzen auf den jungen Emigranten richteten — „schon
sind Stimmen laut geworden, welche behaupten wollen, daß diese
hannöversche Legion, welche so plötzlich auseinandergeht, nur der
Deckmantel gewesen sei, um genaue Kundschaft über die inneren
Verhältnisse unseres Landes zu erhalten. — Und wenn ich denken sollte,“
rief er, seiner nicht mehr mächtig, indem ein leichter Schaum auf seine
Lippen trat, — „daß meine Geliebte ein Werkzeug werden sollte in der Hand
eines Feindes Frankreichs — —“

Eine helle Zornröthe flammte aus dem Gesicht des jungen Hannoveraners
auf, mit einem raschen Schritt trat er zu Herrn Vergier hin, mit einer
drohenden Bewegung erhob er die Hand —

Luise warf sich ihm entgegen; bittend faltete sie die Hände, ihre Augen
richteten sich mit magnetischer Gewalt auf ihren Geliebten.

Dieser ließ langsam den Arm sinken, der Ausdruck seines Gesichts wurde
ruhig, beinahe sanft und milde.

„Ich habe Ihnen, ohne es zu wollen, wehe gethan, mein Herr,“ sagte er,
„ich bin störend eingetreten in die Hoffnungen Ihres Herzens, ich
verstehe Ihren Schmerz und Ihre Aufregung, — ich muß Ihnen viel
vergeben, — aber Worte, wie Sie so eben ausgesprochen, sollte niemals ein
Mann von Ehre einem Andern sagen. Ich bin nach Frankreich gekommen,“
fuhr er fort, „im Dienst meines Königs und als ein Feind jener Macht,
welche wie Sie glauben, mit Ihrem Vaterland in Kampf treten soll. Dies
allein sollte mich vor einem so elenden und niedrigen Verdacht schützen,
wie Sie ihn gegen mich ausgesprochen, aber ich glaube, Herr Challier und
Fräulein Luise kennen mich genug, und auch Sie sollten mich genug
kennen, um zu glauben, daß auch wenn ich nicht als Hannoveraner und als
Legionair des Königs Georg hergekommen wäre, ich doch unfähig sein
würde, in solcher Weise Vertrauen und Gastfreundschaft zu täuschen.
Wenn Sie ruhig darüber nachdenken, werden Sie mir Gerechtigkeit
widerfahren lassen und,“ fügte er mit offener Herzlichkeit hinzu, „ich
hoffe, Sie werden vergessen, was ich Ihnen, ohne es zu wollen, Böses
gethan und dahin kommen, die Freundschaft, welche Sie für Herrn Challier
und seine Tochter gehegt, auch mir zu schenken; seien Sie überzeugt, daß
ich Alles thun werde, um mich derselben würdig zu machen.“

Luise dankte mit einem innigen Blick ihrem Geliebten für seine Worte.

Herr Vergier hatte mit gewaltiger Anstrengung seine tiefe Aufregung
bemeistert. Er zwang seine zuckenden Lippen zu einem freundlichen
Lächeln, er schlug seine Augen nieder und reichte Cappei die Hand.

„Verzeihen Sie mir,“ sagte er mit tonloser Stimme, indem seine Worte nur
einzeln und abgebrochen hervordrangen, „verzeihen Sie mir meine
kränkende Aeußerung. Mein augenblickliches Gefühl riß mich hin, — ich bin
Franzose und mißtrauisch gegen alle Fremden. Ich will die Vergangenheit
und die Täuschung meiner Hoffnungen zu vergessen suchen; vielleicht wird
die Zeit uns in Freundschaft zusammenführen.“

Cappei ergriff Herrn Vergiers dargebotene Hand.

Diese Hand war feucht und kalt wie Eis, sie erwiderte den Druck des
Hannoveraners nicht und erschrocken ließ dieser sie wieder los.

„Erlauben Sie, daß ich mich zurückziehe,“ sagte Herr Vergier, „ich passe
in diesem Augenblick nicht in Ihre Gesellschaft.“

Und mit einer flüchtigen Verbeugung sich empfehlend, eilte er hinaus.

„Der Arme thut mir leid,“ sagte der alte Herr Challier, ihm
nachblickend, „er ist eine so heftige, leicht erregbare Natur, er wird
sehr leiden —“

„Ich hätte ihn doch nicht lieben können,“ sagte Luise, indem sie mit
leichtem Kopfschütteln vor sich niederblickte. „Wenn mein Herz nicht
gesprochen hätte,“ fügte sie, ihrem Geliebten die Hand reichend, hinzu,
„wenn ich ihm vielleicht ohne Liebe meine Hand gegeben hätte, so wären
wir Beide unglücklich geworden.“ —

Lange noch saßen die beiden jungen Leute beisammen. Freundlich hörte der
alte Herr ihr Geplauder und ihre Pläne für die Zukunft an. Es wurde
beschlossen, daß der junge Cappei schon am nächsten Morgen abreisen
sollte. —

Luise erhob keine Einwendungen gegen diesen Beschluß.

„Je schneller er fortgeht,“ sagte sie lächelnd, „um so schneller wird
er wiederkehren, und um so schneller werden wir zu einem ruhigen und
dauernden Glück kommen, das dann Nichts mehr stören wird.“ — —

Am späten Abend brach der junge Mann auf, um noch einmal seine
Landsleute, welche um Mitternacht abreisen wollten, zu sehen und mit
ihnen die letzten Augenblicke zu verleben.

Sinnend und gedankenvoll schritt er durch die lange Hauptstraße der
Stadt nach dem Marktplatz hin. An der Ecke desselben befand sich der
Restaurant, in dessen Saal die Legionaire versammelt waren. Die
Hannoveraner saßen hier um einen großen Tisch — zahlreiche Freunde aus
der Stadt waren bei ihnen, um die letzten Augenblicke mit den ihnen lieb
gewordenen Gästen zu verbringen, die so lange unter ihnen geweilt
hatten.

Auf dem Tische stand eine große Punschbowle, welcher jedoch heute nur
sehr mäßig zugesprochen wurde, — alle Gesichter waren ernst und oft
stockte die Unterhaltung. Alle diese einfachen Leute, welche die großen
Erschütterungen der Zeit hier im fremden Lande zusammengeführt hatten,
fühlten, daß heute die Vergangenheit, welche sie in liebevoller
Erinnerung im Herzen trugen, für immer abgeschlossen werde, daß das
letzte Band, welches sie hier in der gemeinsamen Verbannung mit der
alten Heimath und Allem, was sie Liebes in sich schloß, noch verband,
nun für immer zerriß und daß sie nun als Fremde allein und vereinsamt
hinaustreten müßten in ein schweres feindliches Leben, um auf ihre
eigene Kraft die Zukunft zu erbauen in mühevoller Arbeit.

Der junge Cappei trat ein. — Traurig überblickte er diese Versammlung
seiner Kameraden, welche so oft hier heiter und fröhlich beisammen
gewesen waren und welche nun auseinander gehen sollten, um sich
schwerlich jemals in dieser Welt vereinigt wieder zu begegnen.

Er setzte sich schweigend neben den Unterofficier Rühlberg.

„Was könntet Ihr Euch für eine schöne Zukunft machen,“ sagte dieser,
indem er dem jungen Manne ein Glas Punsch reichte, — „wenn Ihr mit uns
gingt, — Ihr seid noch jung und kräftig, — geschickt zu aller Arbeit und
habt mehr gelernt, als wir Alle, — Ihr würdet ein schönes Vermögen in
Algier erwerben, — das Euch hundertmal den kleinen Hof daheim ersetzen
würde, — von dem Ihr noch gar nicht einmal wißt, ob Ihr ihn
erhaltet, — ich sage Euch noch einmal, — geht mit uns, — laßt die Phantasie
im Stich, die Ihr Euch in den Kopf gesetzt habt, — es hat noch nie zu
etwas Gutem geführt, wenn junge Leute von der Liebe sich den Kopf
verdrehen lassen.“

„Ich bitte Euch, Rühlberg,“ sagte Cappei sanft aber bestimmt — „laßt
mich, — mein Entschluß ist gefaßt, — versprecht mir,“ fuhr er abbrechend
fort, „Nachricht zu geben, wie es Euch und den Andern geht — ich muß Euch
sagen, daß ich nicht viel Vertrauen zu Eurem Unternehmen habe, — hätte
der _König_ die Sache gemacht durch einen Vertrag mit der französischen
Regierung, so wäre es etwas Anderes gewesen, — aber so, — Ihr werdet
vielleicht später einsehen, daß es besser gewesen wäre, gleich nach der
Heimath zurückzukehren. — Doch Jeder hat seinen Entschluß gefaßt und muß
ihm folgen.“

Er wendete sich zu seinem Nachbar auf der anderen Seite.

Es verging noch eine halbe Stunde, — dann zog der Unterofficier die Uhr
und sagte tief aufathmend:

„Es ist Zeit, Leute, — wir müssen aufbrechen!“

Alle erhoben sich.

Rühlberg ergriff sein Glas.

„Wir sind heute zum letzten Male beisammen,“ sprach er mit etwas
unsicher klingender Stimme, — „und wir wollen auch dies letzte Mal von
der alten Sitte hannöverscher Soldaten nicht abweichen, — ein Glas auf
das Wohl unseres Königs zu leeren. Sonst haben wir das mit lautem Hurrah
gethan, — das wird uns heute nicht mehr frei aus der Brust herauskommen,
heute ist unsere Vergangenheit, unsere alte Heimath, unser König für uns
gestorben — leeren wir ein stilles Glas zum Andenken an unsern
Kriegsherrn, an unsre Armee, an unsere Heimath.“

Alle tranken schweigend und so manches ehrliche treu blickende blaue
Auge verschleierte sich mit feuchtem Schimmer, — mancher blinkende
Thränentropfen fiel in die Gläser, welche die treuen Söhne
Niedersachsens in dieser Stunde des letzten Abschieds von der
Vergangenheit dem Andenken ihres Königs weihten.

Dann brach man auf.

Jeder nahm sein kleines Gepäck, — viel hatten sie nicht, diese armen
Soldaten des Exils — und in schweigendem Zug ging man durch die dunkeln,
leeren Straßen der Stadt nach dem kleinen Bahnhofe. Die letzten
Augenblicke vergingen unter Abschiednehmen der Soldaten unter einander
und von ihren französischen Freunden, deren sich noch mehrere am Bahnhof
eingefunden hatten, — auch Herr Vergier war gekommen und stand bleich und
finster unter den Uebrigen auf dem Perron, schweigend die Händedrücke
der Scheidenden erwidernd.

Da begann in der kleinen Kirche von der baumbekränzten Anhöhe über der
Stadt her eine Glocke zu läuten.

Es war die Sterbeglocke, welche die Gebete begleitete, die die Priester
für einen aus dem Leben geschiedenen Bürger der Stadt zum Himmel
sendeten.

Die einfachen durch die Nacht her klingenden Töne ergriffen mächtig alle
diese ernst und traurig gestimmten Menschen. Die Franzosen nahmen die
Hüte ab und sprachen ein stilles Gebet für die Seele des
Gestorbenen, — auch die Hannoveraner falteten die Hände — Niemand wußte,
welchem Todten dies Geläut galt, — aber auch ihnen starb ja heute für
immer, was sie so lange im Herzen getragen und so sehr geliebt
hatten, — ihre Heimath und ihr König.

Der Zug brauste heran, — noch ein Händedruck, — ein letztes
Abschiedswort — und die Hannoveraner stiegen ein in die Waggons, welche
sie ihrer neuen unbekannten Zukunft entgegenführen sollten.

 — „Adieu — adieu — bonne chance!“ tönte es aus den Gruppen der Bürger von
St. Dizier — Cappei mit den wenigen Emigranten, welche sich zur
Ueberfahrt nach Amerika entschlossen hatten, standen schweigend, mit
feuchten Blicken schauten sie auf die Scheidenden hin, — fast zog es den
jungen Mann einen Augenblick denen nach, deren Schicksal so lange mit
dem seinigen verbunden gewesen war, und die nun ohne ihn hinauszogen zu
einem Leben voll Abenteuer und Gefahren — da trat das Bild Luisens mit
ihren sanften und liebevollen Augen vor seine Seele — rasch näherte er
sich noch einmal dem Waggon und streckte dem Unterofficier Rühlberg, der
am Schlage saß, die Hand hin.

„Gott befohlen!“ sagte er mit erstickter Stimme, — „und — auf fröhliches
Wiedersehn!“

„Das wird schon kommen,“ erwiderte der Unterofficier mit einem etwas
gezwungenen Lachen, hinter dem er seine innere Bewegung zu verbergen
trachtete, „Ihr werdet zur Einsicht kommen — wir werden Euch einen Platz
offen halten.“

Die Schaffner eilten an den Zug, — die Locomotive pfiff und langsam
begannen die Räder zu rollen.

Noch einmal winkten die Zurückblickenden mit den Händen, mit leisem aber
klar durch die nächtliche Stille dringenden Ton schallte das
Sterbeglöcklein von der alten Kirche herüber, — die Legionaire auf dem
abfahrenden Zug begannen ihr traditionelles Soldatenlied:

  „Wir lustigen Hannoveraner sind alle beisammen —“

aber die Töne erklangen in langsamerem Rhythmus als sonst und wie der
Zug so immer mehr sich entfernend in die Nacht hinausfuhr, vom klagenden
Glockenton begleitet, — da klang das Lied, das sonst so fröhlich in Lager
und Feld erschallt war, wie ein Grabgesang an der Bahre eines Todten,
den man zur letzten Ruhe hinausführt.

Noch einige Augenblicke und Alles war in der dunkeln Ferne
verschwunden, — weithin verklang das Schnauben der Maschine und das
Rollen der Räder.

Cappei trennte sich von den Uebrigen und ging langsam zur Stadt zurück.

In einer ziemlichen Entfernung folgte ihm Herr Vergier, der sich
ebenfalls sogleich nach der Abfahrt des Zuges isolirt hatte. Seine
Blicke hefteten sich unbeweglich auf den jungen Mann vor ihm und seine
Augen schienen in grünlichem Feuer durch die Nacht zu leuchten, während
seine Züge von Grimm und Haß entstellt waren.

Cappei machte einen Umweg und ging an Herrn Challiers Haus vorbei, das
in tiefer Ruhe und Dunkelheit da lag.

Einen Augenblick blieb er dort vor dem großen geschlossenen Thor
stehen, — er drückte beide Hände an die Lippen und warf einen Kuß nach
dem Hause hin.

„Gute Nacht, meine süße Geliebte,“ flüsterte er, — und schritt dann rasch
weiter nach seiner in der Nähe des Marktplatzes belegenen Wohnung.

Herr Vergier war ihm langsam folgend ebenfalls bis in die Nähe des
Challier'schen Hauses gekommen.

Hier blieb er stehen und blickte dem jungen Hannoveraner, der bereits in
der Dunkelheit verschwand, nach.

„Hätte ich eine Waffe bei mir,“ flüsterte er mit zischender Stimme, „so
könnte ein Druck meines Fingers diesen Feind meines Landes, — diesen
Räuber meiner Liebe vernichten!“

 — „Aber geh' nur hin,“ sagte er, die geballte Faust zum nächtlichen
Himmel erhebend, — „es giebt noch andere Waffen als die Kugel und den
Stahl, — ich werde Dich vielleicht besser und sicherer treffen, geh' nur
hin, — Du sollst nicht hierher zurückkehren auf den heiligen Boden
Frankreichs, — den Du als Verräther betreten, — Du sollst nicht
zurückkehren, um eine holde Blume meines Vaterlandes zu pflücken und
mir das Glück meines Lebens zu stehlen.“

Noch einmal sah er mit flammendem Blick dem gehaßten Fremden nach, — dann
wendete er sich um und schritt durch die stille Nacht seinem Hause zu.



Viertes Capitel


Die schöne Tochter des Commerzienraths Cohnheim hatte seit dem Ball
bei ihren Eltern still und traurig ihre Tage verbracht. Sie saß in
tiefen Gedanken versunken an ihrem Fenster, oft sank die Stickerei, mit
welcher sie sich beschäftigte, auf ihren Schooß, während sie auf die
noch winterlichen Bäume des Thiergartens hinausblickte.

Doch war sie nicht traurig, oft umspielte ein stilles, glückliches
Lächeln ihren Mund, und hoher Muth und freudige Hoffnungen leuchteten
aus ihren Augen.

Ihre Mutter ließ keine Gelegenheit vorübergehen, um sie in trockner und
wenig liebevoller Weise darauf aufmerksam zu machen, wie unpassend es
sei, wenn sie, die Tochter des reichen Commerzienraths, der zu den
ersten Finanzgrößen der Residenz gehöre, mit Nichts bedeutenden
untergeordneten Officieren von der Linie den Cotillon tanze und Herren
von Stellung und Distinction zurückweise. Ihre Mutter betrachtete das
Alles nur als eine Frage der äußeren Rücksichten auf die Stellung des
Commerzienraths. Aus ihren Reden ging hervor, daß sie sich nicht die
entfernteste Möglichkeit träumen ließe, ihre Tochter könne wirklich in
einem armen und unbedeutenden Offizier etwas Anderes finden, als einen
guten angenehmen Tänzer.

Und Fräulein Anna, hörte alle mütterlichen Ermahnungen ruhig mit
gleichgültigem Lächeln an — sie wartete ihre Zeit ab und wußte, daß, wenn
dieselbe gekommen, sie die Kraft und Willen genug haben würde, dem Zorn
ihrer Mutter zu trotzen.

Der Commerzienrath hatte viel mit dem Baron Rantow verkehrt und oft
hatte er bei Tische erzählt, wie vortrefflich das Geschäft sei, welches
er in Gemeinschaft mit dem Baron zu machen im Begriff stehe. Er hatte
seiner Frau, welche aufmerksam, mit großem Interesse seinen
Mittheilungen folgte, auseinandergesetzt wie hoch der Gewinn sein würde,
welchen die Gesellschaft, welche er gegründet, aus der auf den Gütern
des Barons eingeführten Industrie ziehen müsse und um wieviel sich
zugleich durch diese Combination das Vermögens des Barons und das
dereinstige Erbtheil seines einzigen Sohnes vergrößern werde. Er hatte
dabei die persönliche Liebenswürdigkeit des jungen Herrn von Rantow und
seine Aussichten auf eine brillante Carriere ganz besonders
hervorgehoben, indem er mit listigem Schmunzeln einen forschenden Blick
auf seine Tochter warf. Aber jedesmal, wenn es geschehen war, hatte
Fräulein Anna ihn so kalt und streng zurückweisend angesehen, hatte
seine Bemerkungen mit einem so unverbrüchlichen eisigen Schweigen
aufgenommen, daß der alte Herr, welcher seine Tochter abgöttisch liebte
und ihr gegenüber stets nur schwache Versuche machte, seinen Willen
durchzusetzen, schnell auf ein anderes Gesprächsthema übergegangen war.

Dann war die ganze Familie einmal bei dem Baron von Rantow zum Thee
eingeladen worden. Man hatte dort einige ältere Herren, Freunde des
Barons, gefunden, welche sehr vornehme Namen trugen und sehr vornehme
Manieren hatten, und die Commerzienräthin hatte in diesen Kreisen noch
steifer, noch würdevoller als je dagesessen und mit einem unzerstörbaren
Lächeln auf den Lippen an der Unterhaltung nur durch kurze
sentenzenhafte Bemerkungen Theil genommen, welche die strengsten
aristokratischen Grundsätze aussprachen.

Der Commerzienrath war lebendiger, beweglicher und gesprächiger als je
gewesen, er hatte den Baron mehrere Male „mein verehrter Freund“, einmal
sogar „mein lieber Freund“ genannt. Er hatte seine finanziellen Ideen
unter großer Aufmerksamkeit der Zuhörer entwickelt, er hatte von den
Hunderttausenden erzählt, die er in diesem und in jenem Geschäft
engagirt habe; er hatte die Bezugsquellen seiner vortrefflichen Weine
mitgetheilt, und ein alter Graf hatte ihn sogar freundlich auf die
Schulter geklopft und ihm versprochen, ihn einmal zu besuchen, um seinen
Château Lafitte zu probiren.

Kurz Herr und Frau Cohnheim waren glücklich und befriedigt über diese
intime Soirée bei dem Baron.

Der Referendarius von Rantow hatte seine ganze Aufmerksamkeit Fräulein
Anna gewidmet, ohne indeß etwas Anderes erreichen zu können als einige
hingeworfene, gleichgültige, oft sogar etwas sarkastische Bemerkungen.

Als man wieder nach Hause gekommen, hatte die Frau Commerzienräthin
ihrer Tochter abermals eine Vorlesung über ihr abstoßendes Benehmen
gegen den jungen Rantow gehalten, ohne etwas Anderes zu erzielen, als
ein tiefes Schweigen ihrer Tochter.

Der Commerzienrath hatte einen schwachen Versuch gemacht, seine Frau zu
unterstützen, er hatte einige Andeutungen fallen lassen, was der junge
Herr von Rantow für eine gute Partie sei, und wie die Damen der höchsten
Aristokratie glücklich sein würden, wenn seine Wahl auf sie fallen
sollte, aber schnell hatte er sich vor dem ernsten abweisenden Blick
seines Lieblings zurückgezogen und seiner Frau allein die Sorge
überlassen, eine Idee, welche er mit besonderer Liebe in sich trug, dem
jungen Mädchen annehmbar zu machen.

Fräulein Anna hatte nach dieser Soirée eine schlaflose Nacht zugebracht,
sie hatte seit jenem Ball von dem Lieutenant von Büchenfeld Nichts
wieder gehört. Er hatte in dem Hause des Commerzienraths einen Besuch
gemacht zu einer Zeit, wo er gewiß war, Niemand zu Hause zu treffen;
obgleich Anna fast den ganzen Tag an ihrem Fenster saß und auf die
lebhafte Thiergartenpromenade herabsah, hatte sie doch niemals den
erblickt, den ihre Augen suchten, nach dem ihr Herz sich sehnte.

Sie saß nachdenkend auf dem Divan in ihrem eleganten Schlafzimmer, das
durch eine Hängelampe mit dunkelblauem Schirm erleuchtet war. Ihr
schöner Kopf war auf ihre zarte, schlanke Hand gestützt und ihre
aufgelösten Haare fielen über den weißen Arm nieder, von welchem der
weite Ärmel ihres faltigen Schlafrockes von grauer Seide herabgesunken
war.

„Er liebt mich,“ flüsterte sie leise vor sich hin, — „das hat mein Herz
lange empfunden, er hat es mir gesagt, und wenn er das sagt, so ist es
wahr, denn für ihn ist die Liebe kein Spiel, und seine Worte sind ein
Felsen, dem ich unbedingt vertraue. Aber warum ist er verschwunden,“
fuhr sie fort, „warum hat er seit jenem Tage, der alle fremden Schranken
zwischen uns hätte hinwegräumen sollen, der uns gegenseitig unsere
Herzen geöffnet hat, Nichts mehr von sich hören lassen? Warum hat er
einen ceremoniellen Besuch gemacht, als er wußte, daß er uns nicht
finden konnte? Ich kann das nicht ertragen,“ rief sie, leicht mit dem
zierlichen Fuß auf den Boden tretend, „diese unklare, peinliche Lage muß
ein Ende nehmen. Meine Mutter verfolgt mich mit diesem Herrn von
Rantow, — es ist ein Plan vorhanden, in den ich nicht einwilligen werde!
Auch mein Vater scheint ähnliche Gedanken zu haben. Nun,“ sagte sie
trotzig die Lippen aufwerfend — „das beunruhigt mich nicht, mein Vater
wird mir gegenüber nicht den Tyrannen spielen, — aber ein Ende muß das
nehmen, klar muß Alles werden! Doch wie,“ sprach sie sinnend, „was soll
ich meinen Eltern sagen, wenn sie mit directen Vorschlägen an mich
herantreten? Soll ich ihnen sagen, ich liebe einen Mann, der es nicht
der Mühe werth hält, sich mir zu nähern?“

Sie sann lange nach.

„Sollte ich ihn gekränkt haben,“ flüsterte sie leise — „er ist
empfindlich und leicht verletzt. Doch nein, nein,“ rief sie dann, „ich
erinnere mich jedes Wortes das ich ihm gesagt habe, und alle meine Worte
sprachen deutlicher vielleicht, als ich es hätte thun sollen, meine
Liebe zu ihm aus. Nein,“ rief sie, „er kann nicht zweifeln, daß mein
Herz ihm gehört. Es ist nur sein Stolz, sein harter unbeugsamer Sinn,
der ihn von mir zurückhält. Und hat er,“ fuhr sie fort, indem ihre Augen
sanft und weich vor sich hinblickten, „hat er nicht Recht, so stolz zu
sein, er ist arm und die Macht des Geldes beherrscht die Welt, und doch
fühlt er seinen eigenen Werth. Und darum gerade,“ rief sie
leidenschaftlich, „darum liebe ich ihn — aber soll ich ihn verlieren,
weil mein Vater reich und er arm ist, darf ich ihn so vielleicht für
immer von mir gehen lassen — es klang wie ein Abschied in seinen letzten
Worten. Fürchtet er, mich wieder zu sehen, um sich selbst nicht untreu
zu werden? Ich muß ihn sehen,“ sagte sie aufspringend, „ich muß ihn
sprechen, ich muß mit ihm Hand in Hand vor meinen Vater hintreten und
laut das Gefühl meines Herzens bekennen. Oh,“ sagte sie, sich hoch
aufrichtend, „diesem Baron von Rantow gegenüber und all den Herren
gegenüber, die mich umschwärmen, die da glauben, daß sie gestützt auf
ihre großen Namen und ihre Stellung nur die Hand ausstrecken dürfen, um
mit der Tochter des reichen Commerzienraths ein großes Vermögen zu
erwerben, — ihnen gegenüber fühle ich den Stolz einer Königin in mir, es
reizt mich, ihnen zu zeigen, daß ich mich höher achte, als sie Alle.
Aber ihm gegenüber, ihm, den ich liebe, diesem edlen, reichen und treuen
Herzen gegenüber will ich demüthig sein. Er soll sehen, wie ich Alles,
was ich ihm bieten kann, für Nichts achte und wie ich glücklich bin, daß
er mich seiner Liebe werth gefunden, ihn will ich bitten, mich nicht zu
verlassen, ihm gegenüber will ich keinen Stolz haben, und so will ich
ihn zwingen, auch seinen Stolz aufzugeben.“

Sie öffnete ein zierliches Etui von rothem Leder, nahm einen kleinen
Bogen goldgerändertes Briefpapier aus demselben und schrieb hastig,
während ihre Wangen sich mit dunklem Purpur färbten, einige Zeilen.

Dann las sie dieselben durch.

„Es ist etwas Ungewöhnliches, was ich da thue,“ sagte sie, „jedem
andern Manne gegenüber würde es eine Selbsterniedrigung sein — aber er
wird mich verstehen, er wird fühlen, daß er kein Recht mehr hat, seinem
stolzen Eigenwillen zu folgen, wenn ich mich so vor ihm beuge, wenn ich
mich so in seine Hände gebe.“

Rasch faltete sie den geschriebenen Brief zusammen verschloß ihn in eine
Enveloppe und setzte die Adresse auf dieselbe.

„Es wird Licht werden,“ sagte sie dann, „ich werde den Brief zur Post
tragen, Niemand wird etwas davon erfahren und er wird sicher meiner
Bitte folgen.“

Die bange Unruhe verschwand aus ihrem Gesicht, langsam entkleidete sie
sich, die Gedanken an den Geliebten begleiteten sie in ihren Schlummer
und gestalteten sich zu schönen und lieblichen Träumen künftigen
Glückes.

       *       *       *       *       *

Der Lieutenant von Büchenfeld hatte seit seiner Erklärung mit Fräulein
Cohnheim viel mit sich selbst gekämpft. Er war nach einer ziemlich
einsamen Jugend im stillen Hause seines Vaters bei seiner Anwesenheit in
Berlin zum ersten Mal in die größern Kreise der Welt eingetreten, und
die Liebe zu dem jungen Mädchen hatte mit übermächtiger Kraft sein tief
empfindendes, in sich selbst zurückgezogenes Herz erfüllt, ein ganz
neues Leben war ihm aufgegangen, und sein ganzes Wesen war durchdrungen
von dem tiefen Gefühl, das ihn erfüllte. Die starren Begriffe von Ehre
und männlicher Würde, welche die Erziehung seines Vaters in ihn gelegt,
kämpften gegen diese Liebe an, und sein Blut empörte sich bei dem
Gedanken, daß man seiner Bewerbung um die Tochter des reichen
Commerzienraths materielle Motive unterlegen könnte, sein Stolz bäumte
sich auf, wenn er sich die Möglichkeit dachte, daß er kalt und
hochmüthig zurückgewiesen werden könnte, und selbst wenn es ihm gelingen
würde, seine Geliebte zu erringen, so schauderte er vor dem Gedanken
zurück, seine Lebensstellung auf das Vermögen seiner Frau zu begründen.

Er hatte sich eine Zeit lang von seinen Gefühlen hinreißen lassen, er
war dem jungen Mädchen näher und näher getreten, endlich aber hatte er
mit dem festen Entschluß sich von allen Illusionen zu trennen sich gegen
sie aussprechen wollen, um zugleich für immer von ihr Abschied zu
nehmen.

Da hatte sie in wunderbarer Offenheit ihm ihr Herz geöffnet, er hatte
mit Entzücken, aber fast auch mit Schrecken gesehen, daß seine Gefühle
so stark und so warm erwiedert würden.

Im ersten Augenblick hatte der Glanz dieses Glückes ihn geblendet, aber
am anderen Tage war der Stolz wieder in ihm mächtig geworden, er hatte
den festen Entschluß gefaßt, einsam durch das Leben zu gehen und nur auf
seine eigene Kraft seine Zukunft zu begründen, und er wollte, um den
Kampf siegreich zu bestehen, Fräulein Cohnheim nicht wiedersehen, so
lange sein Commando in Berlin noch dauerte.

Oft zog es ihn nach dem Thiergarten hin, um wenigstens von ferne die
geliebten Züge zu erblicken, die so tief in sein Herz gegraben waren,
aber mit eiserner Willenskraft hielt er sich zurück und vermied
sorgfältig alle Kreise, in denen er Fräulein Cohnheim hätte begegnen
können. Nur am späten Abend ging er hinaus und blickte aus der tiefen
Dunkelheit zu dem erleuchteten Fenster, durch welches er zuweilen die
Umrisse der schlanken Gestalt seiner Geliebten entdecken konnte. Lange
stand er dort an einen Baum gelehnt, in schmerzliche Träumerei
versunken, aber sein Entschluß blieb fest, am Tage betrat er niemals die
Gegend, in welcher er so oft seine schmerzlichen Seufzer zum nächtlichen
Himmel sandte.

Er wurde in seiner stolzen Zurückhaltung noch bestärkt durch die
Bemerkungen, welche sein Vater ihm über sein Gespräch mit dem Baron von
Rantow gemacht hatte. Der alte Herr hatte sich sehr zornig gegen seinen
Sohn darüber geäußert, daß sein Jugendfreund, ein alter Edelmann aus
bester Familie sich zu industriellen Geschäften mit dem Commerzienrath
associirt habe, und daß er, wie es schien, sogar die Idee nicht als
unmöglich verwerfe, die beiden durch das gemeinsame Unternehmen noch
immer weiter zu vermehrenden Vermögen durch eine Heirath seines Sohnes
mit dem Fräulein Cohnheim mit einander zu verbinden.

Mit traurig bitterm Lächeln hatte der junge Mann den unwilligen Worten
seines Vaters zugehört.

Der alte Herr hatte in diesem Lächeln eine Zustimmung zu seinem so
mißfälligen Urtheil über die moderne Handlungsweise seines Freundes zu
finden geglaubt und, indem er seinen Sohn auf die Schulter klopfte, laut
ausgerufen:

„Wir würden so Etwas nicht thun, die Büchenfelds mögen kein so vornehmes
und kein so begütertes Geschlecht sein, wie die Freiherren von Rantow,
aber mit den Börsenspeculanten würden wir weder unsere Geschäfte, noch
unser Blut vermischen.“

Unbeschreibliche Gefühle hatten das Herz des jungen Mannes bei diesen
Worten seines Vaters zusammengeschnürt, ohne zu antworten, war er
aufgestanden und hatte das Zimmer verlassen.

Einige Tage später hatte ihm der alte Herr nach einem Besuch bei dem
Herrn von Rantow in höchster Entrüstung mitgetheilt, daß nicht nur das
Geschäft zwischen dem Baron und dem Commerzienrath zur industriellen
Ausbeutung der Rantow'schen Erbgüter beschlossen sei, sondern daß er nun
auch schon die Verbindung des jungen Rantow mit dem Fräulein Cohnheim zu
seinem tiefen Schmerz als gewiß ansähe.

Immer fester war nach solchen Mittheilungen der Entschluß des jungen
Mannes geworden, das junge Mädchen nicht wieder zu sehen, der alle
Regungen seines Herzens gehörten und welche doch von ihm durch alle
Hemmnisse und Schranken getrennt war, welche die Verhältnisse der Welt
zwischen zwei Menschenherzen aufzurichten im Stande sind.

Immer eifriger hatte er sich in seine Studien vertieft, — er suchte durch
die Arbeit den Schmerz zu besiegen, der so verzehrend sein ganzes Wesen
durchdrang, er suchte mit aller Kraft seines Geistes, mit aller
Anstrengung seines Willens sich durch eine unausgesetzte Thätigkeit für
eine große und wirkungsvolle Carrière vorzubereiten. Er wollte durch den
Ehrgeiz die Liebe tödten, denn einer großen und mächtigen, Alles
beherrschenden Regung bedurfte er für sein inneres Leben, dem das
gleichgültige Einerlei eines zwecklosen Vegetirens nicht genügte.

An dem Tage, an dessen Vorabend Fräulein Anna in nächtlicher Stille den
Entschluß gefaßt hatte, alle Zweifel ihres Herzens einer entscheidenden
Lösung zuzuführen, war der junge Officier um die Mittagsstunde von der
Kriegsschule zurückgekehrt und trat in das Zimmer seines Vaters, in
welchem der alte Diener des Oberstlieutenants, der lange Jahre sein
Bursche gewesen und nach dem Abschied seines Herrn in dessen
Privatdienst geblieben war, so eben das bescheidene Diner servirte,
welches der alte Herr für sich und seinen Sohn aus einem nahe gelegenen
kleinen Hotel holen ließ.

„Du siehst bleich aus,“ sagte der alte Herr, indem er seinen Sohn mit
sorgenvoller Theilnahme ansah, „ich fürchte, Du arbeitest zu viel. Es
ist zwar sehr gut, wenn man etwas recht Tüchtiges lernt, aber man darf
darum kein Kopfhänger werden. Du gehst nicht mehr aus, Du bist fast
jeden Abend zu Hause, Du besuchst keine Gesellschaften mehr — Du darfst
Dich nicht zu sehr anstrengen. Zu meiner Zeit,“ sagte er, sich den
Schnurrbart streichend, „waren wir jungen Officiere anders, wenn es
keine Gesellschaften gab, so gingen wir wenigstens in die Natur hinaus
und machten fröhliche Streifzüge durch Wald und Feld. Damals hätten wir
es nicht für die Aufgabe des Soldaten gehalten, hinter den Büchern zu
sitzen und zu lesen und zu arbeiten wie ein Student.“

„Sei ruhig, lieber Vater,“ sagte der Lieutenant mit einem etwas
gezwungenen Lächeln, „ich werde gewiß nicht über meine Kräfte arbeiten;
wenn ich viel zu Hause geblieben bin, so liegt es nur daran, daß ich
keine Freude in dem hiesigen weitläufigen Gesellschaftsleben finde. Wenn
ich erst wieder in meiner Garnison sein werde unter meinen Kameraden,
unter den alt gewohnten Verhältnissen, so wird es anders werden.“

„Nun,“ sagte der alte Oberstlieutenant, seinem früheren Gedankengang
folgend, „es treten ja jetzt auch ganz andere Aufgaben an einen Officier
heran. Die heutige Tactik ist eine viel complicirtere, und man muß heute
die Kriege ebenso sehr mit dem Kopfe als mit dem Arm führen. Das ist
Alles ganz gut, aber zum Kopfhänger darf darum der Soldat doch nicht
werden. — Daß Dir übrigens das Gesellschaftsleben hier in Berlin nicht
gefällt,“ fuhr er fort, „verstehe ich, und daß Du glücklicher in den
einfachen Verhältnissen Deiner kleinen Garnison bist — freilich,“ sagte
er dann wehmüthig seufzend, „wird dann Dein alter Vater hier wieder ganz
allein sein, doch das ist ja das Loos des Alters — Ihr marschirt in die
Welt hinein, wir gehen aus derselben hinaus. Da können ja unsere Wege
nicht zusammenlaufen.“

Er setzte sich zu Tisch, sein Sohn nahm ihm gegenüber Platz, und der
alte Diener servirte in militairischer Haltung die etwas blasse und
dünne Bouillon.

Der Oberstlieutenant füllte die Weingläser für sich und seinen Sohn aus
einer bereits angebrochenen Flasche St. Julien und stieß mit dem
Lieutenant, wie er das stets zu thun pflegte, auf den künftigen
Feldmarschallstab an. Während der junge Mann schweigend seinem Vater
zuhörte, welcher von alten Zeiten erzählte und manche schon oft
wiederholte Geschichte noch einmal ausführlich vortrug, hörte man ein
starkes Klingeln an der äußern Eingangsthür der kleinen einfachen
Wohnung.

Der alte Diener ging hinaus und kehrte nach einigen Augenblicken mit
einem kleinen zierlichen Brief in der Hand zurück.

„Ein Brief für den Herrn Lieutenant,“ sagte er, indem er in
dienstlicher Haltung das Billet dem jungen Mann überreichte.

Dieser nahm es mit gleichgültiger Miene, öffnete es, und ließ die Augen
über den Inhalt gleiten. Eine dunkle Röthe flog über sein Gesicht, mit
starrem Erstaunen, fast mit dem Ausdruck eines jähen Schreckens las er
die wenigen Zeilen, langsam sank seine Hand mit dem Papier auf seinen
Schooß herab, indem seine Augen fortwährend unbeweglich auf den Worten
ruhten, die er so eben gelesen.

„Mein Gott,“ rief der alte Oberstlieutenant unruhig, „was ist das? Du
hast doch keine böse Nachricht bekommen — doch nicht etwa eine
Ehrensache?“

Mit gewaltiger Anstrengung suchte der junge Mann seine Fassung wieder zu
gewinnen.

„Es ist Nichts,“ sagte er, das Papier zusammenfaltend und es in seine
Uniform steckend, indem er mit einer gewissen Mühe die Worte
hervorbrachte, „ein Bekannter ladet mich ein, mit ihm den Abend zu
verbringen.“

„Aber Du bist doch so erschrocken,“ sagte der alte Herr forschend, „Du
bist ja ganz roth geworden, Du zitterst.“

„Ich habe den ganzen Vormittag über Nichts gegessen,“ sagte der
Lieutenant, „die warme Suppe und das Glas Rothwein haben mich ein wenig
echauffirt, — es ist wirklich nichts, gar Nichts Unangenehmes. Es war ein
leichter Schwindel, der bereits vorüber ist.“ —

Der alte Herr sah ihn ein wenig enttäuscht an.

Der Lieutenant, welcher bisher schweigend dagesessen hatte, begann mit
einer etwas gewaltsamen Heiterkeit auf seine Erzählungen einzugehen,
Erinnerungen anzuregen, von denen er wußte, daß sie seinem Vater lieb
wären, so daß dieser bald den kleinen Vorfall vergaß und in äußerst
zufriedener Stimmung noch eine zweite Flasche St. Julien bringen ließ,
sehr vergnügt darüber, daß sein Sohn so lebendig wie lange nicht an
seinen Gesprächen Theil nahm.

Als das Diner beendet, und das einfache Gedeck von dem Diener abgeräumt
war, setzte sich der Oberstlieutenant in einen großen altmodischen
Lehnstuhl, plauderte noch ein wenig, immer langsamer und langsamer
sprechend mit seinem Sohn, deckte ein großes seidenes Tuch über seinen
Kopf und versank in seinen gewohnten Nachmittagsschlaf, welcher heute
tiefer war als sonst und ihm in freundlichen aber verworrenen Bildern
die Zukunft seines Sohnes zeigte, wie dieser mit militairischen Würden
und Auszeichnungen geschmückt den Namen derer von Büchenfeld zu immer
höhern Ehren brachte.

Als der alte Herr eingeschlafen war, zog sich der Lieutenant in sein
kleines Zimmer zurück, setzte sich vor seinen großen Tisch von weißem
Holz, der mit Büchern, Plänen und Karten bedeckt war, zog das kleine
Billet aus seiner Uniform hervor und versenkte sich abermals in die
Lectüre desselben.

„Mein Gott,“ sagte er endlich mit tief bewegtem, fast schmerzlichem Ton,
„mein Entschluß stand so fest, ich glaubte Alles überwunden, ich glaubte
mit der Vergangenheit und all ihren süßen Lockungen abgeschlossen zu
haben, — da dringt diese Botschaft zu mir, welche alle meine Entschlüsse
wieder umwirft, welche mich von Neuem in Kampf, in Unruhe und Zweifel
versenkt —

„Mein lieber Freund.“

Las er, die Augen starr auf das Papier gerichtet.

„Nach unserm letzten Gespräch glaube ich es mir und Ihnen schuldig zu
sein, volle Klarheit zwischen uns zu schaffen. Die Verhältnisse machen
eine Erklärung zwischen uns nothwendig. Ich muß Sie sehen und
sprechen, — gehen Sie heute Nachmittag fünf Uhr in der Nähe unseres
Hauses auf der Thiergartenpromenade auf und nieder. Ich werde Ihnen
dort begegnen und Nichts wird uns verhindern, uns in hellem Tageslicht
und vor den Augen aller Welt gegen einander auszusprechen.“

„Ein angefangenes Wort ist ausgestrichen,“ sagte er, immerfort sinnend
das Papier betrachtend, — „ein einfaches A. ist die Unterschrift. — Ich
habe niemals Anna's Handschrift gesehen,“ fuhr er fort, „aber es ist
kein Zweifel, dieser Brief muß von ihr kommen. Was kann sie mir sagen
wollen? Nach den Mittheilungen meines Vaters soll ihre Verbindung mit
dem jungen Rantow so gut wie abgemacht sein — nach ihren letzten Worten
freilich,“ sagte er, den Kopf in die Hand stützend, „mußte ich glauben,
daß ihr Herz sich mir zuneigte. Sie wollte das Opfer meiner Liebe nicht
annehmen, sie gab mir Hoffnung, — oh, eine so süße Hoffnung, welche ich
mit so schwerer Ueberwindung aus meinem Herzen gerissen habe.

Wäre es möglich“ — ein Schimmer von Glück und Freude erleuchtete sein
Gesicht, in einer unwillkürlichen Bewegung hob er das Papier empor,
drückte seine Lippen auf die Schriftzüge, dann sprang er auf und ging in
heftiger Erregung in seinem Zimmer auf und nieder. —

„Sei es, was es will,“ rief er, „es wäre unritterlich und feige, der
Aufforderung einer Dame nicht zu folgen, einer Dame, der ich gesagt
habe, daß ich sie liebe — und welche dieses Geständniß so gütig und
freundlich aufgenommen, wie sie es gethan. —

Aber,“ fuhr er dann mit finsterm Ausdruck und dumpfer Stimme fort, „wenn
sie mir sagen will, daß Alles zu Ende sei, wenn sie den Traum beenden
will, von dem ich ihr voreilig und unvorsichtig vielleicht gesprochen?

Nun,“ fuhr er mit entschlossenem Ton nach einem langen Schweigen fort,
„auch das wäre ein Zeichen, daß ich mich nicht in ihr getäuscht habe,
ein Zeichen, daß sie meiner Liebe werth war, und daß sie es auch
verdient, daß ich diese Liebe ihrer Ruhe und ihrem Glück opfere.
Jedenfalls muß ich hingehen, soll es ein letzter Abschied sein, so wird
ja nur das geschehen, wozu ich selbst fest entschlossen war, und dieser
schöne Traum wird einen um so schönern Abschluß finden, und,“ sagte er
leise mit weichem Blick, dessen Ausdruck zwischen Schmerz und Glück die
Mitte hielt, „sollte der Kampf meiner Pflicht und meines Stolzes gegen
meine Liebe sich erneuern — ich will und darf keinen Kampf scheuen! Das
wäre ein Mißtrauen auf die eigene Kraft, — ich muß hingehen und werde
stark genug sein, um Alles zu ertragen, was dieser verhängnißvolle
Augenblick mir bringen kann.“

Er blickte auf seine Uhr.

„Noch über eine Stunde,“ sagte er, — „daß doch die Zeit oft so langsam
vergeht, wenn man ihr Flügel wünscht und so rasch dahin schwindet, wenn
man sie fesseln möchte.“

Er ergriff ein Buch und begann zu lesen, aber seine Gedanken waren nicht
bei seiner Lectüre, in kurzen Zwischenräumen sah er nach der Uhr, deren
Zeiger kaum vorzurücken schien; in zitternder Unruhe bewegte er sich hin
und her; in schnellem Wechsel wurde sein Gesicht bald tief blaß, bald
glühend roth; ein leichter Schweiß perlte an der Wurzel seiner Haare;
und trotz aller Willenskraft, die er aufwendete, um ruhig zu bleiben,
fand er sich nach Ablauf einer Stunde in jenem Zustand fieberhafter
Aufregung, welchen der innere Kampf der Gefühle und Gedanken bei äußerer
Unthätigkeit stets hervorruft und welcher bei kräftigen und nervösen
Naturen immer eine Folge des Wartens ist, dieses unerträglichsten
Zustandes unter allen Leiden, an denen das arme gequälte Menschenleben
so reich ist.

Endlich war der Augenblick gekommen, er steckte den Degen ein, setzte
die Mütze auf und verließ, ohne das Zimmer seines Vaters noch einmal zu
betreten, das Haus.

       *       *       *       *       *

Fräulein Anna hatte in nicht geringerer Unruhe und Aufregung den Tag
verbracht. Es war ihr nicht schwer geworden, einen Vorwand zu finden um
zu der Stunde, welche sie ihrem Geliebten angegeben, allein auszugehen.
Sie war überhaupt gewohnt, stets ganz nach den Eingebungen ihres eigenen
Willens zu handeln, welchen ihre Mutter aus überlegener
Gleichgültigkeit, ihr Vater aus Zärtlichkeit selten ein Hinderniß in den
Weg gelegt hatten.

Noch einmal hatte sie sich Alles überdacht, was sie dem jungen Manne
sagen wollte. Ihr Herz schlug in ungeduldiger Sehnsucht dem Augenblick
entgegen, in welchem sie ihn wiedersehen würden. Es war ja unmöglich,
daß sein harter Sinn ihrer Liebe widerstehen könnte, da sie doch wußte,
daß sein Herz ihr gehörte.

Mit bangem Zittern, aber mit einem glücklichen, hoffnungsvollen Lächeln
auf den Lippen verließ sie kurze Zeit vor der festgesetzten Stunde ihre
Wohnung und begann auf der Thiergartenpromenade vor dem Hause ihrer
Eltern auf- und abzugehen, wie sie es öfter um diese Zeit zu thun
pflegte um frische Luft zu schöpfen.

Unruhig forschend tauchte sich ihr Blick in die Ferne, aber unter all
den alten Damen mit kleinen Hündchen in zierlichen blauen oder rothen
Mänteln, unter all den Herren, welche in dem regelmäßig abgemessenen
Spaziergang Erholung für die im Staub der Bureaus aller Arten
verbrachten Morgenstunden suchten, entdeckte sie Denjenigen nicht, dem
ihr Herz entgegenflog.

Langsam, in tiefe Gedanken versunken, schritt sie weiter.

„Guten Tag, Fräulein Anna,“ ertönte plötzlich eine Stimme unmittelbar
neben ihr, und rasch aufblickend sah sie den Referendarius von Rantow,
welcher sein Lorgnon vor den Augen, den Hut abnahm und sie zwar mit
einer tiefen und artigen Verbeugung, aber doch mit der Vertraulichkeit
eines alten Bekannten begrüßte, welche sie um so unangenehmer berührte,
als ihr diese Begegnung gerade im gegenwärtigen Augenblick ungemein
unerwünscht war.

Mit einer kalten und abweisenden Miene erwiderte sie den Gruß des jungen
Mannes, und wollte ihren Weg fortsetzen.

Herr von Rantow blieb an ihrer Seite.

„Ich habe Sie in den letzten Tagen in mehreren Gesellschaften vergeblich
gesucht, mein gnädiges Fräulein,“ sagte er, „in denen ich Ihnen sonst zu
begegnen gewohnt war. Ich hoffe, Sie sind nicht leidend gewesen, Ihre
blühende Farbe sollte mich beruhigen. Wo solche Rosen auf den Wangen
blühen und solches Feuer aus den Augen leuchtet, kann Krankheit und
Leiden keinen Platz finden,“ fügte er mit höflich gleichgültigem Ton
hinzu, indem sein Blick oberflächlich über das Gesicht und die Gestalt
des jungen Mädchen hinglitt.

„Ich danke, Herr von Rantow,“ sagte Anna mit dem Ton einer gewissen
Verlegenheit, „ich befinde mich ganz wohl und war nur etwas nervös
verstimmt, — deshalb bin ich nicht in Gesellschaft gegangen und möchte
jetzt einen kleinen Gang in der freien Natur machen, um _einsam_ meinen
Gedanken nachzuhängen.“

„Das sollten Sie nicht thun,“ erwiderte Herr von Rantow, ohne den
ziemlich deutlichen Wink der Entlassung zu bemerken, welcher ebenso sehr
in ihren Mienen, als in ihren Worten lag. „Die Einsamkeit ist kein
Heilmittel für angegriffene Nerven, eine heitere gemüthliche Plauderei
leistet viel bessere Dienste, ich will ein wenig versuchen, Ihr Arzt zu
sein.“

„Sie sind zu gütig,“ erwiderte sie in leicht gereiztem Ton, „Jeder muß
am besten wissen, was seiner Natur bei nervösen Verstimmungen gut thut,
und für mich ist ein _einsamer_ Spaziergang in der freien Luft,“ fügte
sie mit noch schärferer Betonung hinzu, „das beste Heilmittel.“

„Fast darf ich Ihnen nach diesen Worten,“ erwiderte Herr von Rantow mit
einem leichten Lächeln, während er durch sein Glas in eine Seitenallee
hinabsah, „meine Begleitung nicht weiter aufdrängen, und doch wird es
mir schwer Sie zu verlassen. Wenn es aber Ihr Ernst ist, durchaus allein
sein zu wollen —“

„Mein voller Ernst,“ rief Anna schnell, indem eine dunkle Röthe ihr
Gesicht überflog, — sie hatte wenige Schritte vor sich den Lieutenant von
Büchenfeld bemerkt und machte eine unwillkürliche Bewegung, als wolle
sie ihm entgegen eilen.

Herr von Rantow sah sie etwas befremdet an und folgte dann der Richtung
ihres Blickes.

„Ah, da ist Herr von Büchenfeld, ich habe ihn lange nicht gesehen! Auch
ein Einsamer,“ fügte er mit einem schnellen Seitenblick auf das junge
Mädchen hinzu. „Wäre die Einsamkeit ein Ding, das man theilen könnte, so
würde ich vorschlagen, daß wir uns zu Dreien ihrem Genuß hingeben.“

Anna hörte nicht, was er sprach, ihre Blicke waren unverwandt auf den
jungen Officier gerichtet. Peinliche Verlegenheit malte sich in ihren
Zügen, unschlüssig hielt sie ihre Schritte an, so daß sie fast neben
Herrn von Rantow stehen blieb.

Der Lieutenant von Büchenfeld hatte bei ihrem Anblick zunächst in
freudiger Bewegung einen Schritt vorwärts gemacht, dann bemerkte er den
jungen Herrn von Rantow, welcher in anscheinend vertraulichem Gespräch
neben Fräulein Anna herging.

Eine tiefe Blässe bedeckte plötzlich seine Züge, seine Augen öffneten
sich weit und blickten starr auf das Paar hin, welches vor ihm stehen
blieb, — ein bitteres höhnisches Lächeln verzog seine fest verschlossenen
Lippen zu fast krampfhafter Entstellung, ein tiefer Athemzug hob seine
Brust, schnell wandte er sich seitwärts, und mit raschen Schritten ging
er an den beiden jungen Leuten vorbei, mit kalter Höflichkeit Fräulein
Cohnheim militairisch grüßend.

Das junge Mädchen zitterte in heftiger Bewegung, ihre Augen richteten
sich mit magnetischem Glanz auf den schnell vorüberschreitenden jungen
Officier; ein tiefer Seufzer, fast wie ein leiser angstvoller Schrei,
rang sich aus ihrem Munde hervor, sie machte eine Bewegung, als wolle
sie die Hände ausstrecken.

„Um Gottes Willen Herr von Büchenfeld!“ rief sie.

Aber ihre Stimme war von tiefer, innerer Erregung so zusammengepreßt,
daß ihre Worte kaum vernehmbar nur zu dem Ohr des unmittelbar neben ihr
stehenden Herrn von Rantow drangen. Im höflichen Diensteifer wandte sich
dieser um.

„Büchenfeld!“ rief er, „so höre doch, — wie unhöflich, so vorbei zu
laufen, — Fräulein Cohnheim ruft Dich.“

Er hatte den jungen Officier eingeholt, legte die Hand auf seinen Arm
und zwang ihn, still zu stehen. Mit starrem Blick, immer jenes
höhnische, bittere Lächeln auf den Lippen, kehrte er, von Herrn von
Rantow geführt, zu dem jungen Mädchen zurück, das ihn zitternd
erwartete.

„Ich habe Sie so lange nicht gesehen, Herr von Büchenfeld,“ stammelte
sie mit unsicherm Ton, „ich wollte Ihnen sagen, — daß —“ sie blickte auf
Herrn von Rantow, der mit einem artigen Lächeln auf den Lippen neben ihr
stand, und dann schlug sie die Augen nieder, — sie schien nach Worten zu
suchen, zornig biß sie ihre glänzenden Zähne auf die Lippen und trat
heftig mit dem Fuß auf den Boden.

„Es ist sehr freundlich, daß Sie sich meiner erinnern,“ sagte der
Lieutenant von Büchenfeld mit kalter, schneidender Höflichkeit. „Ich
bin unendlich erfreut, Ihnen hier begegnet zu sein, zu meinem tiefen
Bedauern muß ich aber um Verzeihung bitten, daß ich mich keinen
Augenblick aufhalten kann, — der unerbittliche Dienst ruft mich.“

Er grüßte militairisch, neigte leicht den Kopf gegen Herrn von Rantow,
und eilte dann mit schnellen Schritten davon.

Anna athmete tief auf, sie machte eine Bewegung, als wolle sie ihm
nacheilen, doch das wäre vergeblich gewesen, er entfernte sich in immer
schnellerem Gang, sie — sah ihm mit brennendem Blick nach.

Ein Zug tiefer schmerzlicher Trauer erschien auf ihrem Gesicht.

„Ich begreife nicht,“ sagte Herr von Rantow, „was er haben kann, er sah
ja ganz verstört aus. Sollte er dienstliche Unannehmlichkeiten gehabt
haben?“

Fräulein Anna sah ihn mit zornfunkelnden Augen an, in ihren Wimpern
zeigte sich ein feuchter Thränenschimmer.

„Ich bedaure sehr, Herr von Rantow,“ sagte sie mit kaltem Ton, „daß ich
nicht länger das Vergnügen Ihrer Gesellschaft haben kann, die Luft
greift mich an, ich will nach Hause zurückkehren.“

Bevor der junge Mann antworten konnte, hatte sie sich mit einem
leichten Gruß abgewendet und schritt schnell dem Hause ihrer Eltern zu.

„Wir gehen denselben Weg,“ sagte er ganz erstaunt, „ich will so eben zu
meinen Eltern.“

Aber bereits war sie weit entfernt, ohne seine Worte zu hören. Erstaunt
blickte er ihr nach.

„Was geht denn da vor!“ sprach er kopfschüttelnd vor sich hin. „Sollte
da eine ernste Herzensangelegenheit spielen, — das würde mir nicht zu
meinen Absichten passen, ich kann kaum eine bessere Partie finden, das
Alles fügt sich so vortrefflich, — nun, ich glaube kaum, daß es ein
ernstes Hinderniß sein wird,“ sagte er dann, sich leicht den Schnurrbart
streichend, „dieser Büchenfeld mit seinen altfränkischen Anschauungen
wird kaum an eine ernste Bewerbung denken, und der alte Cohnheim wird
auch wenig Lust haben, sein einziges Kind einem Officier zu geben, der
Nichts weiter besitzt als seinen Degen.“

Langsam schritt er dem weit vorausgeeilten jungen Mädchen nach und trat
einige Zeit später als sie in das Haus des Commerzienraths, dessen
Parterre seine Eltern bewohnten.

Der Lieutenant von Büchenfeld war in schmerzlicher Erregung dem
Brandenburger Thor zugeschritten. Er blickte starr vor sich hin, kaum
die Vorübergehenden beachtend und nur mit seinen finstern Gedanken
beschäftigt.

„Das also ist es gewesen,“ flüsterte er, „sie hat mir zeigen wollen, daß
Alles zwischen uns aus sein soll, daß Alles für sie nur das flüchtige
Spiel einer augenblicklichen Laune war. Ein Abschied hat es sein sollen,
aber nicht ein freundlicher Abschied, welcher mit seinem sanften Strahl
das künftige Leben erleuchtet und den Schmerz der Trennung verklärt.
Nein, dieser Abschied war fast ein Hohn auf die Vergangenheit, sie
wollte sich mir auf meinem einsamen Wege an der Seite Desjenigen zeigen,
der das Glück besitzen soll, das ich vergeblich ersehnte. —

„Das Glück?“ sagte er, indem er die Augen fragend emporschlug, — „kann es
ein Glück geben an der Seite eines Wesens, das so herzlos mit den
edelsten Gefühlen spielt, das auf solche Weise eine Liebe von sich
weisen kann, deren Tiefen sie kaum zu ermessen verstehen mag, — und sie
hätte es ja nicht nöthig gehabt,“ sprach er, grimmig die Lippen auf
einander pressend, „sie hätte es nicht nöthig gehabt, mir so meinen
Abschied zu geben. Ich habe sie doch wahrlich mit meiner Liebe nicht
verfolgt, ich habe mich still und schweigend zurückgezogen. Warum hat
sie mich nicht ruhig meiner Wege gehen lassen? Ach, wie tief habe ich
mich in ihr getäuscht! Wie Recht hatte mein Vater, daß in diesen Kreisen
der reich gewordenen Parvenus es kein Herz und kein Gefühl giebt.“

Er sah sich plötzlich von mehreren Kameraden umringt, deren Annäherung
er nicht bemerkt hatte, und welche ihm lachend den Weg vertraten.

„Endlich trifft man ihn einmal, diesen verkörperten Fleiß,“ rief ein
junger Dragonerofficier.

„Er bereitet sich zum Chef des großen Generalstabs vor und macht Tag und
Nacht die Pläne zu den Schlachten, die er künftig gewinnen will. Aber
jetzt haben wir ihn, jetzt soll er mit uns kommen. Es ist heute
Hohensteins Geburtstag,“ sagte er, auf einen Husarenofficier deutend,
„wir sind es ihm aus Freundschaft schuldig, diesen wichtigen Tag zu
feiern. Büchenfeld darf sich nicht zurückziehen, wenn er nicht ein
schlechter Kamerad ist. Wir wollen zu Borchard gehen, dort ist ein
vortrefflicher Romanée mousseux, dessen Bekanntschaft er machen soll.
Ein ganz ausgezeichneter Stoff, etwas schwer, — aber wo man den
Geburtstag eines guten Freundes feiert, darf man ja nicht ganz kalt und
nüchtern bleiben.“

Er ergriff den Arm des Lieutenants von Büchenfeld und zog ihn fort. Die
Andern folgten.

„Es ist wahr,“ rief Büchenfeld flammenden Blickes, „ich habe zu viel
gearbeitet, zu viel nachgedacht und gegrübelt, ich will mir einmal den
Kopf frei machen von allen Gedanken. Könnte ich Vergessenheit trinken,“
sagte er leise vor sich hin, — „wie die Alten mit dem Wasser des Flusses
der Unterwelt alle Erinnerungen an die Leiden des Lebens aus ihrer Seele
fortspülten!“

Unter heitern und fröhlichen Gesprächen schritten die Officiere die
Linden entlang und begaben sich in das elegante, altbewährte Local von
Borchard in der Französischen Straße.

Der alte Kellner mit dem kränklichen, klug blickenden Gesicht, welcher
so genau seine Gäste zu classificiren verstand und den Geschmack und die
Gewohnheiten eines Jeden stets scharf im Gedächtniß behielt, brachte die
dickbäuchigen Flaschen in den eisgefüllten Kühlern. Die Pfropfen wurden
entfernt, und das edle, dunkelrothe Getränk mit dem weißen Schaum ergoß
sich in die zierlichen Krystallkelche.

Der Lieutenant von Büchenfeld, welcher ernst und mit finsterm Schweigen
sich der Gesellschaft der Uebrigen angeschlossen hatte, stürzte ein Glas
des purpurnen Getränkes nach dem andern hinunter, — eine wilde Heiterkeit
schien sich seiner zu bemächtigen, seine Augen flammten, seine Wangen
glühten, ganz seiner sonstigen Gewohnheit entgegen begann er mit
sprühendem Witz an der Unterhaltung Theil zu nehmen.

Aber dieser Witz war nicht wohlthuend, belebend und erheiternd, — er war
scharf, schneidend, Alles in den Staub herabziehend, was dem ernsten
Sinn des jungen Mannes sonst unantastbar gewesen war.

Seine Freunde sahen sich ganz erstaunt an.

„Büchenfeld muß etwas sehr Glückliches passirt sein,“ sagte der
Dragonerofficier, „so habe ich ihn noch nie gesehen.“

„Oder,“ sagte der Husar lachend, „er steht im Begriff, sich
todtzuschießen. Das ist ja der reine Galgenhumor, der aus ihm spricht.“

„Weder das Eine noch das Andere,“ meinte ein Dritter, „es ist einfach
dieser ausgezeichnete Rebensaft von Burgund, der unsern stillen Freund
so gesprächig macht.“

„Oder sollte er etwa verliebt sein,“ sagte der Dragoner, „das wäre ja
das Allermerkwürdigste, das man erleben könnte, — er, der bis jetzt gar
keine Augen für ein weibliches Wesen zu haben schien und nur seinen
Studien gelebt hat.“

„Ja, ja,“ rief der Lieutenant von Büchenfeld laut lachend, „Du hast es
getroffen, ich bin verliebt. Das ist doch wahrlich werth,“ sagte er,
ein neues Glas herunterstürzend, „aus seiner gewohnten Ruhe
herauszutreten. Nein, nein,“ fuhr er dann mit schneidendem Hohn fort,
„wenn ich verliebt wäre, dann wäre mir doch wirklich besser, daß ich
mich auf ein Pulverfaß setzte und in die Luft sprengte. Denn was ist die
Liebe?“ sagte er plötzlich düster; — „die unwürdige Fessel, welche den
Willen, den Muth und die Kraft eines Mannes an die flüchtige Laune einer
Frau kettet und den hohen Flug edler Seelen herabzieht in den Staub und
sie zum Spott Derer werden läßt, die sie nicht begreifen können!“

Immer lauter, immer lustiger wurde die Unterhaltung; immer höher glühten
die Wangen des Herrn von Büchenfeld, und bereits begannen seine Freunde
mit einiger Besorgniß zuzusehen, wie er fortwährend sein Glas füllte, um
es augenblicklich wieder zu leeren.

Es war dunkel geworden, die Gasflammen waren angezündet. Einige einzelne
Herren hatten an kleinen Tischen in dem vordern Theil des Zimmers Platz
genommen, in dessen Hintergrunde die jungen Officiere sich befanden.

Der Referendar von Rantow trat herein, ließ durch sein Lorgnon den Blick
durch das große Zimmer gleiten und näherte sich dann der Gruppe der
Officiere, die ihm sämmtlich bekannt waren. Er wurde von Allen
freundlich begrüßt, rasch reichte man ihm einen gefüllten Kelch und
stellte einen Sessel für ihn in den Kreis der Uebrigen.

Der Lieutenant von Büchenfeld war in die Ecke eines Divans
zurückgesunken, sein etwas starrer Blick ruhte mit unbeschreiblichem
Ausdruck auf dem Baron von Rantow, ein verächtliches Lächeln zuckte um
seine Lippen.

„Sieh da, Büchenfeld,“ sagte der Referendarius, ihm freundlich
zunickend, „ist Deine Dienstzeit zu Ende? Du warst vorhin ja so wild und
unzugänglich nicht nur gegen mich, sondern auch gegen eine Dame, die
Dich rief und gern mit Dir sprechen wollte, — das war nicht höflich.“

„Ihm muß überhaupt etwas ganz Außerordentliches passirt sein,“ sagte der
Husarenofficier, — „er ist heute in einer Laune, wie ich ihn noch nie
gesehen habe. Sehr amüsant freilich, aber ich möchte ihn so nicht in
fremde Gesellschaft gehen lassen, sonst könnte wohl morgen Einer von uns
das Vergnügen haben, ihm zu secundiren.“

Herr von Büchenfeld warf dem Sprechenden einen flüchtigen Blick zu,
stürzte abermals ein Glas hinunter und sagte mit etwas unsicherer
Stimme:

„Das würde nicht zu besorgen sein, — ich bin im Gegentheil in sehr
friedlicher Stimmung, — sehr friedlich — und sehr vergnügt. — Du hast
Recht, mir ist etwas sehr Gutes, ein großes Glück widerfahren, ich bin
einer großen Gefahr entronnen, — ich stand im Begriff einen tiefen Fall
zu thun, — einen tiefen, tiefen Fall,“ sagte er mit dumpfem, allmälig
immer leiser und leiser verklingendem Ton; — dann sank sein Haupt auf die
Brust nieder, er schwieg und schien nun in Gedanken seinen Satz zu
beenden.

Die Officiere wechselten bedeutungsvolle Blicke unter einander.

„Ich fürchtete schon,“ sagte Herr von Rantow lächelnd, „daß Du mir böse
sein würdest, und daß ich die Ursache Deines schnellen Fortlaufens
gewesen sei. Ich habe neulich schon so Etwas bemerkt, — sollten wir
Nebenbuhler sein? Das wäre nicht hübsch,“ fügte er hinzu, „gute Freunde
müssen sich über so Etwas verständigen.“

„Nebenbuhler?“ riefen die Officiere neugierig, — „so haben wir doch
Recht, so ist er doch verliebt. Es mußte ja auch etwas ganz
Außerordentliches sein, was ihn so verändern konnte.“

Herr von Büchenfeld richtete langsam den Kopf empor, seine müden
geschlossenen Augen öffneten sich weit und blickten mit sonderbarem
Ausdruck im Kreise umher.

„Nebenbuhler,“ rief er dann mit lautem Lachen, sich zu Herrn von Rantow
wendend, „wären wir jemals Nebenbuhler gewesen, jetzt kannst Du ganz
ruhig sein, ich trete Dir wahrhaftig nicht in den Weg. Ich schätze
dieses kindische Gefühl, das man die Liebe nennt, nach ihrem wahren
Werth; und ihr Werth ist sehr gering,“ fügte er achselzuckend
hinzu, — „über Dergleichen dürfen sich Männer nicht entzweien. Wahrlich,“
fuhr er mit einer Stimme fort, die bald hoch anschwoll, die bald wieder
zu leisem Ton herabsank, „stände hier eine Roulette zwischen uns, ich
würde kaum einen Louisd'or gegen alle Liebeshoffnungen und
Liebesansprüche der Welt setzen.“

„Das ist ein guter Gedanke,“ rief der Dragonerofficier, der ebenso wie
die ganze Gesellschaft sich bereits unter dem Einfluß der Wirkung des
feurigen Weines befand, „ein guter Gedanke, wenn Ihr Nebenbuhler seid,
setzt Eure Chancen gegen einander. Das ist ein viel besserer Weg, zur
Klarheit zu kommen, als sich die Hälse zu brechen. Eine Roulette ist
nicht hier, spielt eine Partie Ecarté um Eure Schöne —“

„Vortrefflich, vortrefflich!“ riefen die Andern jubelnd, — „ein
ausgezeichneter Gedanke!“

„Unglück im Spiel, Glück in der Liebe!“ rief der Husarenofficier.

„Wer das Spiel gewinnt, muß seine Liebesansprüche aufgeben —“

„Warum nicht,“ rief Herr von Büchenfeld, dessen Blicke sich immer
verschleierten, „gebt die Karten her!“

Herr von Rantow schien ein wenig verlegen zu sein, er wollte einige
Bemerkungen machen, die Uebrigen ließen ihn nicht zu Worte kommen.

Bereits hatte Einer von ihnen zwei Spiele Ecartékarten gebracht, man
räumte eine Ecke des Tisches vor Herrn von Büchenfeld leer und zog Herrn
von Rantow zu dem jungen Officier hin.

„Ich setze hundert Louisd'or,“ sagte dieser, indem er den Blick
forschend auf Herrn von Büchenfeld richtete, wie es schien in der
Hoffnung, durch diesen hohen Einsatz den jungen Mann zum Nachdenken zu
bringen.

„Ich nehme an,“ sagte dieser, starr vor sich hinblickend, und schnell
leerte er noch ein Glas.

„Wer gewinnt,“ rief der Dragonerofficier, „zahlt also hundert Louisd'or
und hat das alleinige Recht der Dame, um die es sich handelt, die Cour
zu machen. Der Andere darf auf sein Ehrenwort nie wieder mit ihr
sprechen.“

Fragend blickte Herr von Rantow, welcher die Karten noch immer nicht
ergriffen hatte, auf Herrn von Büchenfeld.

„Angenommen,“ sagte Dieser, griff mit einer etwas unsicheren Bewegung
nach dem Spiel und hob ab.

„Drei,“ sagte Herr von Rantow, — dann coupirte und zeigte ein Aß.

„Du giebst,“ sagte der Lieutenant immer in demselben dumpfen Ton.

Das Spiel begann. In rascher Folge legte Herr von Rantow mehrere Male
den König auf, und nach wenigen Abzügen hatte er die Partie gewonnen.

Höhnisch lachte Herr von Büchenfeld laut auf.

„Du hast das schöne Fräulein Cohnheim gewonnen!“ rief er, die Karten
durcheinander werfend, — „ich gratulire Dir!“ — er sank auf seinen Stuhl
zurück, sein Haupt fiel müde auf die Brust nieder.

Herr von Rantow zuckte zusammen.

Trotz der mehr als heiteren Stimmung, die in dem ganzen Kreise
herrschte, trat ein tiefes Schweigen ein. Die Officiere sahen sich mit
verlegenen Blicken an.

„Ich habe gewonnen, nach der Verabredung muß ich den Einsatz bezahlen,“
sagte Herr von Rantow mit einer Miene, welche ausdrückte, daß er dieser
peinlichen Scene so schnell als möglich ein Ende machen wollte.

Er zog einige Goldstücke aus seinem Portemonnaie, fügte aus seinem
Portefeuille einige Bankbillets dazu, legte das Geld vor Herrn von
Büchenfeld auf den Tisch und erhob sich.

Der Lieutenant von Büchenfeld richtete den Kopf auf, streckte die Hand
aus und streute das Geld auf dem Tisch umher.

„Der Einsatz ist zu hoch,“ sagte er mit rauher Stimme in abgebrochenen
Worten, „Du bist betrogen, der Gegenstand ist so hohen Spiels nicht
werth, ich kann das nicht annehmen.“

Und abermals sank er in seinen Stuhl zurück, seine Augen schlossen sich,
sein Haupt fiel matt gegen die Lehne.

Rasch wurde an einem der Seitentische ein Stuhl zurückgeschoben. Einer
der dort sitzenden Herren erhob sich, ergriff seinen Hut und rief den
Kellner. Herr von Rantow blickte hin und erkannte den Commerzienrath,
der Alles mit angehört hatte.

„Wie peinlich, wie unangenehm,“ sagte er, während die ernst gewordenen
Officiere schweigend um ihn her standen.

„Meine Herren,“ fuhr er fort, „ich glaube nicht, daß es möglich ist, mit
Herrn von Büchenfeld heute noch ein Wort zu sprechen. Sie werden ihm
einen großen Dienst leisten, wenn Sie dafür sorgen, daß er so bald wie
möglich nach Hause zurückkehrt. Leben Sie wohl, morgen wollen wir weiter
darüber reden.“

Und schnell ging er dem Commerzienrath nach, welcher bereits seine
Rechnung bezahlt und das Zimmer verlassen hatte.

Die heitere und übermüthige Weinlaune der Officiere war verschwunden,
sie Alle fühlten, daß hier etwas Ernstes sich vollzogen habe, das
schwere Folgen nach sich ziehen müsse.

Sie brachen auf, der Lieutenant von Büchenfeld ließ sich ruhig und ohne
weiter ein Wort zu sprechen nach einer herbeigeholten Droschke führen.
Zwei seiner Kameraden begleiteten ihn nach Hause und erzählten dem alten
Oberstlieutenant, daß sein Sohn in einer kleinen Gesellschaft ein wenig
von der allgemeinen Heiterkeit mit fortgerissen sei.

Der alte Herr lächelte ganz vergnügt darüber und freute sich im Stillen,
daß die jugendliche Lebenslust bei seinem Sohne einmal den Sieg über
seine Neigung zu einsamem Grübeln davon getragen habe.



Fünftes Capitel.


Fräulein Anna war in einem Sturm widersprechender Gefühle nach Hause
zurückgekehrt, sie hatte in das Verhältniß zu ihrem Geliebten Licht und
Klarheit bringen wollen, statt dessen war durch ein unglückseliges und
verhängnißvolles Zusammentreffen der Umstände eine neue und noch größere
Verwirrung entstanden.

Unmuthig warf sie ihren Hut von sich und riß hastig die Handschuhe von
den zitternden Händen.

„Welch ein unglückseliges Zusammentreffen,“ rief sie heftig, „ich hätte
daran denken sollen. Aber wie ist es möglich, daß er mich nicht einmal
anhören wollte. Einige Worte hätten Alles aufgeklärt. Es ist ja schon
ganz widersinnig, daß er von einer so eifersüchtigen Leidenschaft erfaßt
werden kann, nachdem ich ihm gestern geschrieben.“

Sie warf sich auf ihren Divan und blickte in rathloser Unschlüssigkeit
zu der Decke des Zimmers empor. Sie zürnte sich selbst, sie zürnte ihrem
Geliebten, der so hart und rücksichtslos ihr jede Erklärung
abgeschnitten hatte, vor Allem aber zürnte sie dem Herrn von Rantow,
welcher so unberufen und störend in ihre Combinationen eingegriffen
hatte.

„Es ist unerhört,“ rief sie, „wenn er mir zutrauen kann, daß ich mit dem
jungen Baron in irgend welchen Beziehungen stände — aber,“ fuhr sie fort,
„sein Charakter ist so mißtrauisch, er ist so geneigt, Alles schwarz zu
sehen. Es ist unmöglich, eine andere Erklärung für sein Benehmen zu
finden. Was soll ich thun? — Ihm noch einmal schreiben? — Er würde mir
nicht glauben! Er würde nicht noch einmal zu mir kommen, nachdem er im
Stande gewesen, trotz meiner Bitte, trotz der Bekümmerniß und der
Unruhe, die er in meinen Blicken hat lesen müssen, mir das Gehör zu
versagen!

Er ist hart wie Stein,“ rief sie, in heftiger Erregung die Bandschleifen
ihres Kleides zerknitternd, „aber gerade darum liebe ich ihn! Er ist
nicht wie all' die andern jungen Herren, die weich und elastisch wie
Gummi sich hin und her ziehen lassen; hinter dieser harten Schale liegt
ein edler und weicher Kern. Aber wie zu ihm gelangen? Wie den Weg
finden zu diesem mit siebenfachem Erz umgürteten Herzen?“

Sie dachte lange nach. In fieberhafter Unruhe bildete sie Pläne auf
Pläne, um sie alle wieder zu verwerfen.

„Es giebt nur einen Weg,“ rief sie endlich mit festem entschlossenen
Ton, „Licht in all dieses Dunkel zu bringen. Ich will mit meinem Vater
sprechen. Er kann,“ fügte sie unwillkürlich lächelnd hinzu, „meinen
ernsten Bitten auf die Dauer nicht widerstehen. Er muß es übernehmen,
diesem unerbittlichen Stolz Genugthuung zu geben. Er wird mir das Glück
meines Lebens nicht versagen, wenn er sich auch mit anderen Plänen
tragen sollte.“

Dieser Entschluß schien sie zu beruhigen; nachdem sie noch längere Zeit
über die Ausführung desselben nachgedacht hatte, ging sie in den Salon
ihrer Eltern, wo ihre Mutter sie bereits am Theetisch erwartete.

Die Frau Commerzienräthin ergriff abermals die Gelegenheit, ihrer
Tochter eine kleine Vorlesung darüber zu halten, was sie der Stellung
ihres Vaters schuldig sei, und wie sie ihrerseits stets daran denke, für
sie eine passende Verbindung zu finden, so müsse auch Anna darauf
bedacht sein, in ihrem Verkehr mit der jungen Herrenwelt nur solchen
Personen eine Annäherung zu erlauben, welche durch ihr Vermögen und
ihre gesellschaftliche Stellung im Stande wären, sich in die Reihe der
Bewerber um die Tochter des großen Finanzmannes zu stellen, welcher
bestimmt sei, noch weit höhere Stufen auf der Leiter der Gesellschaft zu
ersteigen.

Fräulein Anna hörte schweigend die Auseinandersetzungen ihrer Mutter an,
an welche sie sich seit einiger Zeit als etwas Unabänderliches gewöhnt
hatte, und welche ihr, da sie darauf zu erwidern nicht für nöthig hielt,
die erwünschte Gelegenheit gaben, ihren Gedanken nachzuhängen.

Dies tête-à-tête zwischen Tochter und Mutter hatte bereits längere Zeit
gedauert, als der Commerzienrath in großer Aufregung in das Zimmer trat.
Er vergaß, was er sonst stets mit einer etwas forcirten Galanterie zu
thun pflegte, seiner Frau die Hand zu küssen, und beachtete auch den
freundlichen Gruß seiner Tochter kaum, welche ihm entgegen gegangen war
und ihm Hut und Stock abgenommen hatte. Er ging mit kurzen unruhigen
Schritten auf und ab, bewegte die Hände in lebhaften Gesticulationen und
flüsterte abgebrochene Worte vor sich hin.

Erstaunt sah ihm die Commerzienräthin eine Zeit lang zu, dann sagte sie
in etwas vorwurfsvollem Ton, in dem sich jedoch ein Anklang unruhiger
Besorgniß beimischte:

„Du scheinst unsere Gesellschaft nicht zu beachten und vollständig in
Deinen geschäftlichen Combinationen vertieft zu sein. Vielleicht wäre es
besser, die Berechnungen über Deine Geschäfte in Deinem Zimmer
vorzunehmen und hier Dich ein wenig der Unterhaltung mit Deiner Familie
zu widmen — oder,“ fuhr sie fort, „hast Du so peinliche und unangenehme
Nachrichten erhalten, daß Dich ernste Sorgen selbst hierher verfolgen?“

„Es ist unerhört,“ sprach der Commerzienrath halb zu sich selber, „es
ist eine sehr unangenehme Geschichte, — es waren noch verschiedene
Personen dabei; morgen wird vielleicht ganz Berlin davon sprechen! Was
kann man thun? Wie kann man dem Scandal vorbeugen?“

„Aber ich bitte Dich,“ sagte die Commerzienräthin, welche jetzt
ernstlich beunruhigt zu sein schien, „so sage uns doch endlich, was Dich
so aufregt — wovon kann morgen ganz Berlin sprechen? Deine Unternehmungen
und Deine financielle Stellung sind doch nicht auf den Zufall begründet?
Es kann doch keine Katastrophe Dein Haus und Dein Geschäft vernichtend
treffen?“

„Haus und Geschäft,“ rief der Commerzienrath achselzuckend, indem er
noch immer unruhig und hastig auf- und niederschritt, „das kommt nicht
in Betracht — aber meine gesellschaftliche Stellung, der Name meiner
Tochter — was wird man dazu sagen? Wie werden alle meine Feinde mich
verhöhnen!“

Jetzt wurde auch Fräulein Anna aufmerksam.

„Du hast von mir gesprochen, lieber Papa,“ sagte sie. „Ich bitte Dich,
was giebt es — so erzähle uns doch.“

„Ich muß Dich jetzt sehr ernstlich bitten,“ sagte die Commerzienräthin
im strengen Ton, „uns mitzutheilen, was Dich so sehr in Unruhe versetzt,
denn nach Deinen letzten Worten geht es mich doch ebenso sehr an als
Dich, ja vielleicht mehr, denn unsere gesellschaftliche Stellung
aufrecht zu erhalten,“ sagte sie, den Kopf erhebend, „und über den Ruf
meiner Tochter zu wachen, das ist doch vorzugsweise meine Aufgabe.“

„Was es giebt,“ rief der Commerzienrath, indem er an den Theetisch
herantrat, — „etwas sehr Unangenehmes, etwas sehr Böses, meine Tochter
ist beleidigt, — öffentlich beleidigt, verhöhnt im Restaurationszimmer
bei Borchard vor einer Menge von Officieren, vor verschiedenen
unbekannten Herren, welche die Geschichte natürlich so schnell als
möglich weiter tragen werden. Wie werden alle meine Feinde triumphiren,
welche mich schon so lange beneidet haben und gewiß so sehnlich
wünschen, endlich einmal Gelegenheit zu finden, um sich an mir rächen zu
können.“

„Was ist geschehen,“ fragte jetzt auch Fräulein Anna ernst und dringend,
„wer hat mich beleidigt und wie? Ich muß es wissen.“

„Wer?“ sagte der Commerzienrath, „Du wirst ihn kaum kennen, ein ganz
unbedeutender, junger Officier von irgend einem Linienregiment, dem ich
die Ehre erwiesen habe, ihn in mein Haus einzuladen, eigentlich nur,
weil ich ihn bei meinem Freunde, dem Baron von Rantow, einmal begegnete,
ein kleiner Lieutenant von Büchenfeld.“

Anna wurde bleich wie der Tod, ihre großen Augen starrten mit entsetztem
Ausdruck auf ihren Vater. Sie stützte die Hand auf den Tisch, ihre ganze
Gestalt schwankte unsicher hin und her.

„Lieutenant von Büchenfeld,“ sprach sie leise mit fast tonloser Stimme,
während ihre Mutter einen schnellen forschenden Blick auf sie warf,
indem ein leichtes höhnisches Lächeln um ihren hochmüthig aufgeworfenen
Mund zuckte.

„Er war,“ sprach der Commerzienrath eifrig, — „Du mußt es ja doch
wissen, damit Du danach Dein Benehmen einrichten kannst, — er war in
Gesellschaft mehrerer Officiere und schien mir schon, als ich in das
Zimmer trat und von Jenen unbemerkt in der Nähe an einem Tische Platz
nahm, um eine kleine Erfrischung zu mir zu nehmen, sehr aufgeregt, — die
Herren mochten wohl schon lange bei einander gesessen und viel getrunken
haben. Der junge Herr von Rantow kam ebenfalls zu ihnen, und es fielen
zwischen ihm und Herrn von Büchenfeld einige anzügliche Redensarten von
Nebenbuhlerschaft, von einer Dame und so weiter, auf die ich nicht
besonders Acht gab. Der Lieutenant von Büchenfeld machte einige sehr
wegwerfende Bemerkungen über die fragliche Dame und sagte, er würde ihre
Liebe im Ecarté gegen einen Louisd'or versetzen. Die heitere
Gesellschaft griff diesen Gedanken auf, man brachte Karten, Herr von
Rantow, der ein vortrefflicher Cavalier ist, gab sich die größte Mühe,
das Spiel zu verhindern und schien nur darauf einzugehen, um in der sehr
erregten Gesellschaft nicht noch größeren Eclat herbeizuführen. Herr von
Büchenfeld, welcher kaum noch seiner Sinne mächtig schien, verspielte
das Recht seiner Bewerbung um die fragliche Dame gegen hundert
Louisd'or, — ich ahnte noch immer nichts Böses, — dann warf er die Karten
mit den lauten Worten hin: — Du hast das schöne Fräulein Cohnheim
gewonnen, ich wünsche Dir Glück dazu, aber der Einsatz ist zu hoch, ich
kann ihn nicht annehmen. — Ich war wie vom Schlage getroffen, ich wußte
kaum, was ich sagen und was ich thun sollte, nur mit Mühe behielt ich
die Fassung, um mit einigem Anstand das Zimmer zu verlassen.“

Anna schwankte wie gebrochen zu einem Sessel und sank auf denselben
nieder, das Gesicht mit den Händen bedeckend und krampfhaft schluchzend.
Der Commerzienrath eilte zu ihr hin und streichelte mit besorgter Miene
ihr schönes glänzendes Haar.

„Ja, es ist schrecklich, mein armes Kind, so ganz unschuldig beleidigt
und gekränkt zu werden. Aber tröste Dich, rege Dich nicht zu sehr auf.
Verschweigen konnte ich es ihr ja doch nicht,“ sagte er, zu seiner Frau
gewendet, „sie mußte es ja doch erfahren.“

„Das kommt davon,“ sagte die Commerzienräthin, indem sie mit kaltem
strengem Blick zu ihrer Tochter hinübersah, „wenn man nicht vorsichtig
in der Auswahl der Personen ist, die man in seiner Gesellschaft
zuläßt, — der Lieutenant von Büchenfeld, glaube ich, war der junge, mir
unbekannte Officier, mit welchem Du neulich den Cotillon tanztest, den
Du Herrn von Rantow abgeschlagen hattest, das kommt davon; solche Leute
setzen sich dann Dinge in den Kopf, fassen Hoffnungen, und da ihnen der
Takt der vornehmen Gesellschaft mangelt, so begehen sie schließlich
irgend eine Niedrigkeit zum Dank für Wohlwollen und Freundlichkeit.“

„O, wie wäre es möglich gewesen,“ rief Fräulein Anna, ohne die Worte
ihrer Mutter zu beachten und nur mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt,
„wie wäre es möglich gewesen, so Etwas zu denken, an eine solche
Schlechtigkeit und Erbärmlichkeit zu glauben, — und das, nachdem —“ sie
bedeckte abermals das Gesicht mit den Händen und sank still weinend in
sich zusammen.

„Nun, mein Kind,“ sagte der alte Commerzienrath, den die heftige
Erregung seiner Tochter tief zu beunruhigen begann, „so übermäßig
ernsthaft muß man die Sache auch nicht nehmen. Es läßt sich immer noch
ein Weg finden, das Alles auszugleichen, und vielleicht ein sehr guter,
ein sehr ehrenvoller Weg. Ich bin,“ fuhr er fort, „mit dem Herrn von
Rantow nach Hause gegangen, welcher mir gleich nachfolgte, als ich das
Lokal verlassen hatte. Wir haben ein sehr ernstes Gespräch mit einander
geführt, das sich auf den Fall bezog, und das ich Dir eigentlich erst
morgen mittheilen wollte,“ sprach er weiter, — „indeß, da ich mich nun
einmal habe hinreißen lassen, die ganze Sache zu erzählen, so ist es
besser, wenn wir darüber auch heute gleich sprechen.“

Fräulein Anna blickte erwartungsvoll ihren Vater an, der einige Male
rasch im Zimmer auf- und niederging; dann vor einem Tische stehen
bleibend und mit einem schnellen Seitenblicke auf seine Frau, welche
sich in einen Lehnstuhl gesetzt hatte und grade aufgerichtet, mit
strenger Miene die weitere Entwickelung dieser Scene erwartete, begann
er, eine gewisse würdevolle Wichtigkeit in seinen Ton legend:

„Der junge Herr von Rantow, der ein ganz vortrefflicher Cavalier ist,
und der ganz genau weiß, was in der großen Welt und in der feinsten
Gesellschaft sich schickt und paßt —“

„Besser als andere Leute,“ fiel die Commerzienräthin ein, „welche sich
in die Gesellschaft eindrängen, und welche man nie hätte aufnehmen
sollen —“

„Der Herr von Rantow,“ fuhr der Commerzienrath fort, indem er die Brust
hervorstreckte und versuchte, durch einen imponirenden Blick die
Zwischenreden seiner Frau abzuschneiden, „hat mir gesagt, wie leid es
ihm thäte, daß diese Scene stattgefunden habe, — er habe alles Mögliche
gethan, um sie zu vermeiden, und habe es schließlich für das Beste
gehalten, auf den Scherz der aufgeregten Gesellschaft einzugehen, um so
schnell als möglich von der ganzen Sache abzukommen. Er habe natürlich
nicht im Entferntesten ahnen können, daß der Herr von Büchenfeld in so
unglaublicher Weise den Namen einer Dame unter solchen Umgebungen und
solchen Verhältnissen nennen würde. Nachdem das vorgefallen, hat er mir
gesagt,“ fuhr der Commerzienrath mit etwas gedämpfter Stimme fort,
„werde ihm Nichts übrig bleiben können, als für die Ehre der Dame, die
in seiner Gegenwart und in Beziehungen auf ihn so unerhört beleidigt
sei, persönlich einzutreten.“

Die Commerzienräthin lehnte sich steif zurück, indem ein befriedigtes
Lächeln auf ihrem Gesicht erschien.

Anna richtete flammenden Blickes den Kopf empor.

„Warum bedarf es eines fremden Armes, um uns zu vertheidigen, — oh,“ fuhr
sie fort, indem ihre Lippen bebten und ihre Hände sich krampfhaft
verschlangen, „warum ist man wehrlos gegen solche Niedrigkeit und
Erbärmlichkeit?“

„Du bist nicht wehrlos, mein Kind,“ sagte der Commerzienrath, indem er
zu ihr herantrat und ihr leicht mit der Hand über den Kopf strich, „der
junge Herr von Rantow wird morgen schon, wenn dieser Lieutenant von
Büchenfeld wieder für vernünftige Worte zugänglich ist, ihn zu einer
öffentlichen und bestimmten Ehrenerklärung auffordern, und, wenn er sich
weigert, so wird er ihn zwingen,“ sagte er mit stolzem und wichtigem
Ausdruck, „ihm mit den Waffen in der Hand Rechenschaft zu geben.“

„Damit er womöglich noch verwundet oder erschossen wird,“ rief Fräulein
Anna, verächtlich die Achseln zuckend, „und ich noch mehr der Gegenstand
des öffentlichen Gespräches und des öffentlichen Spottes werde.“

„Des Spottes niemals, mein Kind,“ sagte die Commerzienräthin mit einem
ruhigen kalten Ton, „wenn ein Cavalier wie Herr von Rantow zu Deiner
Vertheidigung auftritt, so wird es Niemand wagen, Dich zu verspotten.“

„Nun,“ rief Anna, „mag es sein, wie es will, ich bin Herrn von Rantow
dankbar, daß er mich in Schutz nimmt gegen diese elende, niedrige
Beleidigung, ich bin, weiß Gott, unschuldig an dem, was daraus entstehen
kann.“

„Herr von Rantow hat sich benommen als ein ganz vortrefflicher junger
Mann von der besten Erziehung und dem feinsten Gefühl. Er hat mir weiter
gesagt, daß es für eine junge Dame immer peinlich sei und unangenehm,
wenn zwei Herren ihretwegen eine Ehrensache miteinander hätten, und wenn
sie namentlich von Jemand vertheidigt werden müßte, der in keinen
weiteren Beziehungen zu ihr stände — das brächte sie immer in eine
schiefe Stellung dem Publikum gegenüber und gebe Anlaß zu allen
möglichen Voraussetzungen und Gesprächen. Er habe nun, — hat er mir
weiter gesagt, — schon seit längerer Zeit den Wunsch in sich getragen, in
nähere Beziehung mit meiner Familie zu treten, nachdem sein Vater mit
mir so nahe geschäftliche Verbindungen eingegangen sei und unsere
Interessen auf Jahre hinaus sich verbunden hätten. Er habe Dir, mein
Kind, aber erst Gelegenheit geben wollen, ihn genauer kennen zu lernen,
bevor er es habe wagen wollen, bei mir um Deine Hand anzuhalten. Dieses
zufällige und plötzliche, so unangenehme Ereigniß aber mache ihm den
Muth und lege ihm fast die Pflicht auf, jetzt mit seinen Wünschen
hervorzutreten. Man werde über die Sache viel sprechen und wenn er zu
einem Rencontre mit Herrn von Büchenfeld gezwungen werden sollte, so
werde die Welt seinen Namen ohnehin mit dem Deinigen in Verbindung
bringen. Wenn Du deshalb nach Deiner kurzen Bekanntschaft mit ihm Dich
entschließen könntest, ihm Dein Leben und Deine Zukunft anzuvertrauen,
so glaubt er, daß Alles sich besser gestalten und allen peinlichen
Erörterungen die Spitze abgebrochen werden könne, da er dann auch
vollkommen berufen und berechtigt sei, für Dich gegen Deinen Beleidiger
aufzutreten.“

„Der junge Mann,“ sagte die Commerzienräthin, „hat wirklich ein feines
und richtiges Gefühl, und ich theile ganz seine Ansicht, daß unter
diesen Verhältnissen eine schnelle Erledigung einer Sache, die uns ja
nicht ganz unerwartet kommt, am besten sei.“

„Das ist ja ganz wie in alten Ritterromanen,“ sagte Anna mit
schneidendem Hohn, „der Baron von Rantow will sich seine Dame mit dem
Degen in der Hand erobern — aber“ fuhr sie fort „das ist doch wenigstens
ritterlicher Sinn, wenigstens ist es wahrlich besser, als auf so plumpe
Weise ein wehrloses Mädchen zu beleidigen. Wenn Herr von Rantow diesen
Preis für seine Vertheidigung verlangt, — so soll er ihn haben — er ist ja
eine vortreffliche Partie“ fuhr sie bitter fort, „und ich muß ja
glücklich sein, daß ich aus dieser ganzen traurigen Geschichte noch mit
einem so guten Abschluß davon komme. Sage dem Baron,“ sprach sie in
kaltem Ton zu ihrem Vater gewendet, „daß ich seine Bewerbung annehme,
da er so muthig und selbstverleugnend meine Vertheidigung übernommen
hat.“

Mit befriedigtem Ausdruck neigte die Commerzienräthin den Kopf.

Herr Cohnheim eilte auf seine Tochter zu und küßte sie zärtlich auf die
Stirn. Anna stand auf.

„Doch muß ich,“ sprach sie, „bitten, daß er mich einige Tage von seinen
Besuchen dispensirt. Diese ganze Sache hat mich natürlich angegriffen
und aufgeregt, und ich wünsche, mich zu sammeln. Auch bin ich nicht im
Stande ihn zu sehen, bevor diese Angelegenheit mit Herrn von
Büchenfeld“ — sie sprach diesen Namen mit unendlicher Verachtung
aus — „geordnet ist, ich kann doch unmöglich meinen künftigen Gemahl
selbst in den Kampf mit seinem Gegner schicken.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ sie schnell das Zimmer.

„Ich bin sehr erfreut,“ sagte die Commerzienräthin, „daß diese so
äußerst unangenehme Sache doch einen so befriedigenden Ausgang nimmt.
Ich fürchtete schon, daß die romantischen Grillen, zu welchen Anna so
viel Neigung zeigt, unsern Plänen Schwierigkeiten entgegenstellen
würden. So wird sich ja aber Alles ganz vortrefflich ordnen, und wenn
sie, wie ich einen Augenblick besorgte, eine thörichte Neigung für
diesen jungen unbedeutenden Officier gehabt haben sollte, so ist ja
jetzt Alles auf's Beste geordnet. Hoffentlich wird auch die Affaire
keine ernsten Folgen haben,“ fügte sie nachlässig hinzu.

„So etwas kommt ja so oft zwischen diesen jungen Herren vor,“ sagte der
Commerzienrath, „und wie selten hört man, daß es wirklich
lebensgefährlich wird. Es läßt sich ja auch jetzt gar nicht ändern, und
wir müssen das Beste hoffen. Ich glaube übrigens nicht,“ fügte er hinzu,
„daß dieser junge Büchenfeld es wirklich zum Äußersten kommen lassen
wird. Die anderen Officiere schienen mir ebenfalls durch sein Betragen
sehr unangenehm berührt, ich glaube, daß die Sache mit einer
Ehrenerklärung erledigt werden wird — der alte Herr von Rantow ist, so
viel ich weiß, ein Freund von dem Vater des Lieutenants und wird
ebenfalls darauf hinwirken können. Damit ist ja denn Alles gut, und alle
boshaften Gespräche über uns und unsere Tochter, welche dieser Vorfall
hervorrufen wird, werden auf der Stelle niederschlagen, wenn wir ihre
Verlobung mit Herrn von Rantow sogleich proclamiren.“

Er setzte sich behaglich in seinen Lehnstuhl und nahm eine Tasse Thee.

Noch lange saß das Ehepaar beisammen, Pläne für die Zukunft
besprechend, welche sich durch die Verbindung mit dem vornehmen Hause so
glänzend gestalten würden.

Fräulein Anna war ruhig und gefaßt in ihr Zimmer gegangen, als sie die
Thür hinter sich geschlossen, sank sie wie gebrochen in sich
zusammen, — lange stand sie schweigend, die Hände in einander gefaltet,
die Blicke starr auf den Boden geheftet.

„Wie schnell,“ sprach sie mit dumpfer Stimme, „sind die Träume
verflogen, die mich hier gestern noch so süß umgaukelten, wie schnell
sind all die Liebesblüthen meines Herzens geknickt, aus denen ich einen
reichen Kranz für mein Leben zu winden hoffte.“

Sie blickte um sich her, als ob ihr der gewohnte Raum, in dem sie sich
befand, fremd sei, als ob sie ihre Gedanken sammeln müsse, um sich klar
zu werden, wo sie sich befände, und was mit ihr vorgegangen sei. Dann
zuckte wieder glühender Zorn über ihr Gesicht.

„Oh, daß es so enden muß! Hätte ich ihn verloren, hätte sich selbst
seine Liebe von mir abgewendet, es wäre ein edler Schmerz gewesen, ein
Schmerz, der die Seele hätte beugen, aber nicht erniedrigen können. Aber
das Bewußtsein, daß ich das edelste und reinste Gefühl meines Herzens
unwürdig weggeworfen habe, daß ich der Gegenstand des Spottes, des
Hohnes, der Verachtung habe sein können, — und warum?“ — rief sie, die
Hände ringend, — „weil ich einen Schritt gethan habe, der nicht
gewöhnlich ist, weil ich mich vor seinem Stolz habe demüthigen wollen,
weil ich geglaubt habe, daß er einen solchen Schritt verstehen und
würdigen könne. Oh, das ist hart, sehr hart! Ich kann alle meine
Hoffnungen auf Lebensglück vergessen, ich werde es zu tragen wissen, wie
so viele Frauen eine glänzende Existenz führen, beneidet von der Menge,
aber kalt und öde in ihrem Innern. Aber das werde ich nie überwinden,
daß meine Liebe verachtet, verhöhnt und mit Füßen getreten ist, daß Der,
dem ich den letzten Tropfen meines Blutes hätte opfern mögen, mich
öffentlich hat beleidigen können zum Ergötzen seiner Kameraden in ihrer
Weinlaune.“

Mit einer raschen Bewegung trat sie an einen kleinen Tisch von antik
geschnitztem Eichenholz und öffnete mit einem zierlichen goldenen
Schlüssel, den sie an ihrer venetianischen Uhrkette trug, eine mit
Elfenbein und Gold incrustrirte Cassette.

„Da liegen die Reliquien meiner Träume,“ sprach sie mit dumpfem
traurigem Ton, aus ihren großem brennenden Augen fiel eine Thräne auf
den Inhalt des kleinen Kästchens.

„Hier ist das erste Bouquet, das er mir gegeben,“ sagte sie leise, indem
sie einen kleinen vertrockneten Blumenstrauß emporhob, „vertrocknet wie
diese Blumen sind meine Gefühle, welche gestern noch so schön und
hoffnungsreich erblühten, — wie oft haben meine Lippen auf diesen Blumen
geruht! Vorbei! Vorbei!“

Und wie vor der Berührung des kleinen Bouquets zurückschaudernd, warf
sie dasselbe mit einer raschen Wendung in den Kamin, dessen Feuer
langsam in Kohlengluth zusammenzusinken begann. Die trockenen Blumen
flammten hoch auf und blieben dann als ein Häuflein dunkler Asche auf
den glühenden Kohlen liegen.

Sie preßte die Hände auf ihr Herz und sah starr diesem Zerstörungswerk
zu. Dann nahm sie den ganzen übrigen Inhalt der Cassette, ebenfalls
kleine Bouquets, mehr oder weniger verwelkt, verschiedene andere
Cotillongeschenke und warf Alles in die Gluth, welche einen Augenblick
aufflackernd, mit hellem Schein das Zimmer erhellte.

„Die Vergangenheit ist vorbei,“ sagte sie schmerzlich, „meine Zukunft
wird wie diese Kohlen mehr und mehr Licht und Wärme verlieren, bis
endlich Alles in todte Asche zusammensinkt. Oh, könnte ich mein Herz
ebenfalls zu Asche werden lassen! Aber wenn auch seine Liebe gestorben
ist, für das Leiden wird es immer noch Gefühle der Empfindung behalten.“

Sie sank auf ihren Divan nieder, drückte den Kopf in die Hände, und ihr
starrer Jammer löste sich in einem Strom wohltätiger Thränen. —

 — Auch der Lieutenant von Büchenfeld hatte fast in starrer
Bewußtlosigkeit die Nacht zugebracht. Seine heftige, innere Erregung,
die unnatürliche Spannung aller seiner Gefühle, und die Wirkung des
schweren Weines hatten ihn bis zum Morgen in einem Zustand gehalten,
welcher weder Schlaf noch Wachen war, und in welchem die Bilder der
Erinnerungen wild durch einander wogten, ohne sich selbst auch nur in
den unklaren Gestalten des Traumes festhalten zu lassen.

Langsam erwachte er aus diesem lethargischen Zustande am andern Morgen,
und allmälig begann es ihm mehr und mehr klar zu werden, was am Tage
vorher mit ihm vorgegangen. Das erste Gefühl, dessen er sich vollkommen
bewußt wurde, war ein tiefer, bitterer Schmerz über die Täuschung seiner
Liebe, welche trotz seines lange gefaßten Entschlusses gestern bei der
Botschaft seiner Geliebten wieder einen Augenblick mit frischen
Hoffnungen sich bekränzt hatte.

„Warum hat sie mir nicht gleich Alles geschrieben,“ flüsterte er, ohne
von seinem Lager sich zu erheben — „oder warum ist sie nicht allein
gekommen, warum hat sie mir in Gegenwart des Mannes, dem sie das
Andenken an mich geopfert, den Abschied geben wollen? Sollte das eine
absichtliche Kränkung, ein absichtlicher Hohn sein, oder bin ich ihr so
gleichgültig gewesen, daß sie nach der Kälte ihrer Gefühle die meinigen
bemessen hat?“

Lange lag er schweigend da unter dem Eindruck dieses schmerzlichen
Gedankens, dann tauchte die Erinnerung der weiteren Ereignisse des Tages
deutlicher in ihm auf. Er entsann sich des Spiels, das er gemacht, er
entsann sich, daß er den Namen des Fräulein Cohnheim laut und mit
bitteren Bemerkungen genannt habe. Ein Gefühl der Scham und Reue überkam
ihn.

„Das war nicht würdig, nicht männlich, nicht edel!“ rief er, indem er
sich auf sein Lager aufsetzte und mit beiden Händen seinen schmerzenden
Kopf hielt. „Das hätte ich nicht thun müssen, ich hätte in meiner
heftigen Erregung die Gesellschaft fliehen und Nichts trinken
dürfen. — Oh,“ rief er nach einer Pause, „welch' ein elendes,
jämmerliches Ding ist diese so viel gepriesene Liebe! Erst läßt sie so
schwer und so bitter leiden, und dann treibt sie zu unwürdigen, zu
niedrigen Handlungen. Oh, ich schwöre es,“ rief er die Hand erhebend,
„ich schwöre, daß ich dieses Gefühl fliehen will wie die Sünde, und daß
nie wieder das Bild eines Weibes mein Herz erfüllen soll! Ich will frei
sein, stark und ruhig und meiner würdig bleiben!“

Der alte Diener trat ein und meldete, daß das Frühstück im Zimmer des
Oberstlieutenants bereit sei, zugleich zeigte er dem Lieutenant an, daß
zwei Officiere ihn zu sprechen wünschten und ihn bei seinem Vater
erwarteten.

Der Lieutenant sprang empor, kühlte seinen brennenden Kopf mit frischem
Wasser und machte in hastiger Eile seine Toilette.

Als er in das Zimmer seines Vaters trat, welcher ihn bereits völlig
angekleidet, frisch und munter erwartete, fand er dort die beiden
Officiere von den Dragonern und den Husaren, welche Zeugen des gestrigen
Abends gewesen waren, in ruhiger Unterhaltung mit dem alten Herrn
begriffen.

Beide Officiere traten dem Lieutenant nicht mit der sonst gewohnten
herzlichen Unbefangenheit und Vertraulichkeit entgegen, sondern
begrüßten ihn mit einer gewissen kalten und gezwungenen Höflichkeit.

„Du hast lange geschlafen,“ sagte der Oberstlieutenant heiter, „es war
wohl eine scharfe Sitzung gestern Abend, — die Herren hier sind ja auch
dabei gewesen, aber das hat sie nicht verhindert, schon frühe auf zu
sein. Das ist Recht, man muß sich niemals aus der Ordnung bringen
lassen, und fast muß ich mich meines Sohnes schämen, daß er ein solcher
Weichling ist, der am andern Morgen noch spürt, wenn er am Abend vorher
ein paar Flaschen den Hals gebrochen. Habt Ihr etwa heute Morgen schon
wieder eine Partie vor?“ fragte er, den Schnurrbart drehend, „damit
würde ich nicht einverstanden sein, — erst der Dienst und dann das
Vergnügen.“

Die beiden Officiere standen in einiger Verlegenheit schweigend da.

„Wir haben mit Dir zu sprechen,“ sagte der Dragoner mit einem
Seitenblick auf den alten Herrn, „und möchten es sogleich.“

„Geniren Sie sich nicht vor mir,“ sagte der Oberstlieutenant mit heiterm
Lächeln, „ich bin nicht mehr im Dienst, ich bin ja nur ein alter
gutmüthiger Herr,“ fügte er mit einem leichten Anflug von Wehmuth hinzu,
„der auch jung war und weiß, was man in der Jugend treibt.“

„Wir möchten aber,“ sagte der Husarenofficier — „Dich einen Augenblick
allein sprechen. Es handelt sich um eine Ehrensache,“ fügte er mit
gedämpftem Ton hinzu, doch nicht so leise, daß es der Oberstlieutenant
nicht verstanden.

Der alte Herr wurde ernst, warf einen forschenden Blick auf seinen Sohn
und die beiden Officiere und sagte dann:

„Ich lasse Dich mit den Herren einen Augenblick allein.“

„Halt, lieber Vater,“ rief der Lieutenant von Büchenfeld, „ich bitte
Dich, zu bleiben. Ihr erlaubt,“ sagte er, „daß ich Euch bitte, vor
meinem Vater zu sprechen. Er ist Officier wie wir, und ich weiß kein
kompetenteres Urtheil in allen Ehrensachen, als das seinige. Er wird es
mir nicht abschlagen, vorläufig mein Zeuge zu sein und sein Urtheil
darüber abzugeben, was ich zu thun habe.“

Die beiden Officiere grüßten den Oberstlieutenant militairisch.

„Es wird uns eine große Ehre sein,“ sagte der Husar, „wenn der Herr
Oberstlieutenant als Dein Zeuge unsere Erklärung mit anhören will.“

Der alte Herr bat die Officiere mit einer stummen Handbewegung Platz zu
nehmen und setzte sich dann grade und aufrecht neben seinen Sohn.

„Ich bitte Sie also, meine Herren,“ sagte er mit ernster, fast
feierlicher Stimme, „zu sagen, um was es sich handelt.“

Der Dragonerofficier erzählte mit kurzen Worten den Vorgang, welcher am
Abend vorher in dem Restaurationslokal von Borchard stattgefunden hatte.

Schweigend hörte der Oberstlieutenant zu, finstere Falten legten sich
auf seine Stirn.

„Hat sich der Fall so zugetragen, wie die Herren erzählen? Erinnerst Du
Dich, gethan und gesprochen zu haben, was sie so eben mittheilen?“

„Ja,“ sagte der Lieutenant.

Sein Vater schüttelte langsam den Kopf.

„Der Referendarius von Rantow“, fuhr der Dragonerofficier zu dem
Lieutenant von Büchenfeld gewendet fort, „hat uns als Augenzeugen des
Vorfalls aufgetragen, von Dir eine bündige Ehrenerklärung zu
verlangen.“ —

Eine dunkle Röthe flammte auf dem Gesicht des Lieutenants auf, sein Auge
blickte stolz zu seinen Kameraden hinüber, seine Lippen zuckten
höhnisch. — „Oder wenn Du dieselbe verweigerst,“ — sprach der
Dragoneroffizier weiter, — „Dir seine Forderung auf fünf Schritt Barriere
mit gezogenen Pistolen zu überbringen.“

„Angenommen,“ sagte der Lieutenant, „ich werde in einer Stunde meine
Secundanten zu Euch senden.“

Die Officiere erhoben sich und wollten grüßend das Zimmer verlassen. Der
Oberstlieutenant trat ihnen in den Weg.

„Ich bitte Sie, einen Augenblick zu bleiben, meine Herren,“ sagte er.
„Mein Sohn hat gewünscht, daß ich sein vorläufiger Zeuge in dieser Sache
sei, und Sie haben mich als solchen angenommen. Nicht nur in dieser
Eigenschaft, sondern auch als sein Vater muß ich darauf sehen, daß Alles
genau so zugehe, wie es seine Ehre als Officier und als Träger meines
Namens erfordert. Sie erlauben daher, daß ich meine Meinung ausspreche.“

Die beiden Herren verneigten sich schweigend.

Der Lieutenant sah seinen Vater etwas erstaunt und erwartungsvoll an.
Dieser richtete ernst und streng seinen Blick auf ihn und sprach: „Hat
die junge Dame, um welche es sich handelt, Dir jemals durch ihr Benehmen
gegen Dich irgend welche Veranlassung gegeben, in solchem Ton, wie Du es
gethan, von ihr zu sprechen? Bist Du berechtigt, ihr irgend einen
Vorwurf zu machen?“

Der Lieutenant wurde bleich, im heftigen inneren Kampf preßte er die
Lippen aufeinander, sein Auge senkte sich zu Boden, einige Augenblicke
stand er schweigend, ein leises Beben erschütterte seine Gestalt, dann
schlug er den Blick zu seinem Vater wieder auf, er schien seiner
kämpfenden Gefühle Herr geworden zu sein und mit fester entschlossener
Stimme sagte er: „Nein, niemals!“

„Dann,“ sagte sein Vater, „ist es Deine Pflicht als Ehrenmann, die
Erklärung zu geben, welche man von Dir verlangt, insofern die Ausdrücke
derselben Nichts gegen Deine eigene Ehre enthalten. Wenn Du,“ fuhr er
fort, „was ich tief beklage, Dich hast hinreißen lassen, eine Dame, der
Du keinen Vorwurf zu machen hast, öffentlich zu beleidigen, so hast Du
nicht das Recht, ihrem Ruf durch den Eclat eines Duells noch mehr zu
nahe zu treten, Du hast nicht das Recht, Demjenigen das Leben zu nehmen,
der berechtigt ist oder sich verpflichtet fühlt, als der Vertheidiger
jener Dame aufzutreten.“

„Herr von Rantow ist der Verlobte des Fräulein Cohnheim,“ sagte der
Dragonerofficier, „also ihr natürlicher und berufener Vertheidiger.“

„Um so weniger,“ sagte der alte Herr, während der Lieutenant abermals
tief erbleichend die Hand einen Augenblick auf sein Herz drückte, „darf
diese Sache ernste und gefährliche Folgen haben. Hätte die Dame Dir
jemals einen Grund zu Deinen Äußerungen gegeben, so wärst Du berechtigt,
die Waffen zu ergreifen gegen Denjenigen, der von Dir Rechenschaft
darüber fordert — so aber darfst Du es nicht, Du bist verpflichtet, durch
Deine eigene Erklärung die Beleidigung zurückzunehmen — um so mehr,“
sagte er mit ernstem Blick auf seinen Sohn, „da man eigentlich niemals
das Recht hat, eine Dame zu beleidigen. Du bist frei,“ fuhr er fort, „Du
bist erwachsen, Du bist Officier, Du wirst thun, was Du verantworten
kannst. Ich aber sage Dir als Dein Vater, als Edelmann und Officier, der
stets auf das schärfste die feinsten Grenzen der Ehre beobachtet hat,
daß Du nach meiner innigsten Überzeugung verpflichtet bist, die
verlangte Ehrenerklärung zu geben.“

„Wir haben dieselbe aufgeschrieben,“ sagte der Dragoner, indem er ein
Blatt Papier aus der Uniform hervorzog und es dem Lieutenant übergab.

Dieser reichte es schweigend, ohne einen Blick darauf zu werfen, seinem
Vater.

Der Oberstlieutenant überlas das Blatt langsam und sorgfältig mehrere
Male; dann reichte er es seinem Sohn zurück.

„Diese Erklärung ist in würdiger Form abgefaßt,“ sagte er, „sie enthält
nur dasselbe Anerkenntniß, das Du so eben vor mir und vor diesen Herren
ausgesprochen hast und spricht das Bedauern aus, daß Du in der Erregung
in einer bewegten Gesellschaft Dich zu Deinen Äußerungen hast hinreißen
lassen. Du kannst dieselbe unterzeichnen, — nach meiner Überzeugung mußt
Du sie unterzeichnen. Ich hoffe, daß die beiden Herren meiner Meinung
sein werden.“

„Es ist eigentlich nicht unsere Sache,“ erwiderte der Dragonerofficier,
„hier eine solche Meinung auszusprechen oder zu discutiren, indessen
nehme ich in diesem besonderen Fall keinen Anstand, es auszusprechen,
daß nach meiner Überzeugung durch die Unterzeichnung dieser Erklärung
die Sache auf eine für alle Theile befriedigende und ehrenvolle Weise
beigelegt sein wird.“

Der Husarenofficier stimmte der Ansicht seines Kameraden bei.

„Ich werde unterzeichnen,“ sagte der Lieutenant von Büchenfeld, nahm das
Papier und begab sich in sein Zimmer.

„Ob ich ihr einen Vorwurf zu machen habe,“ flüsterte er vor sich hin,
während er sich an seinen Schreibtisch setzte und die Feder
eintauchte, — „oh, wenn er wüßte,“ — ein schneller zorniger Blick
leuchtete in seinem Auge auf, rasch öffnete er das Schubfach des Tisches
und zog aus demselben das kleine Blatt hervor, welches er am Tage vorher
von Fräulein Anna erhalten hatte.

Mit einem raschen Zuge setzte er seinen Namen unter die Ehrenerklärung,
faltete dieselbe zusammen, legte das Billet dazu und erhob sich, in das
Zimmer seines Vaters zurückkehrend.

„Nein,“ sagte er dann, indem er plötzlich sinnend stehen blieb — „das
wäre unedel, — mag sie ruhig ihrer Wege gehen, sie ist todt für mich,
meine Augen werden sie nie wieder sehen, und mein Herz wird das Leid
vergessen, das sie mir angethan.“

Er nahm das kleine Billet, riß es in tausend kleine Stücke und streute
dieselben in die Luft, dann kehrte er ruhigen festen Schrittes in das
Zimmer seines Vaters zurück und übergab das Papier den beiden
Officieren.

„Gott sei Dank,“ sagte der Dragoner, indem er dem Lieutenant von
Büchenfeld herzlich die Hand schüttelte, „daß die Sache so gut zu Ende
geführt ist. Ich habe sonst Nichts gegen einen kleinen Kugelwechsel,
wenn ein vernünftiger Grund dazu vorhanden ist, aber in diesem Falle
hätte es mir doch wahrhaftig wehe gethan, wenn wegen dieser Geschichte,
zu der wir halb und halb Veranlassung gegeben haben, Blut hätte fließen
sollen.“

Die beiden Officiere grüßten ehrerbietig den Oberstlieutenant und
entfernten sich augenscheinlich leichtern und fröhlichern Herzens, als
sie gekommen waren.

„Ich bin nicht mit Dir zufrieden mein Sohn,“ sagte der Oberstlieutenant
in ernstem, aber mehr traurigem, als strengem Ton, „Du hast Dich
hinreißen lassen, Etwas zu thun, was ein wahrer Edelmann niemals thun
soll.“

Der Lieutenant warf sich im Ausdruck eines lang unterdrückten Gefühls in
die Arme seines Vaters.

„Verzeihe mir, mein Vater,“ sagte er mit erstickter Stimme, „verzeihe
mir, ich habe Unrecht gehabt, aber ich habe es auch hart gebüßt.“

Der alte Herr schüttelte verwundert den Kopf.

„Nun, nun,“ sagte er, „Jeder macht einmal einen dummen Streich, nimm
Dich künftig mehr in Acht und thu so Etwas nicht wieder.“

„Da ist Etwas nicht klar, die Sache ist nicht in Ordnung,“ sprach er
dann leise vor sich hin, indem er von einem Seitentisch eine frisch
gestopfte Pfeife nahm und dieselbe anzündete. „Ich fürchte, ich bin in
Gefahr gewesen, Etwas zu erleben, was ich neulich bei meinem Freunde
Rantow so scharf getadelt habe. Vielleicht muß ich Gott danken, daß die
Sache so gekommen ist.“

Er setzte sich an den Frühstückstisch und schenkte den duftenden Kaffee
aus der spiegelblank geputzten messingenen Sturzmaschine in seine große
Mundtasse.



Sechstes Capitel.


In der Zwischenzeit, während der Berathungen über zwei verschiedene
Gegenstände in dem französischen Gesetzgebenden Körper, war die Salle
des Pas perdus in dem Gebäude des Corps legislativ, woselbst sich die
Deputirten zu begegnen und in Privatgesprächen miteinander zu
verständigen pflegten, mit zahlreichen lebhaft sich unterhaltenden
Gruppen angefüllt.

So eben war die Nachricht verbreitet worden, daß das Plebiscit eine
beschlossene Sache sei, und daß die liberalen Minister Chevandier de
Valdrome, der Graf Daru, der Finanzminister Buffet und der Marquis von
Talhouet ihre Entlassung gegeben hätten.

Allgemein war die Bewegung und mit der lauten Lebhaftigkeit, welche dem
französischen Charakter eigenthümlich ist, äußerten die Deputirten ihre
Meinungen über dieses Ereigniß, welches die seit einiger Zeit von dem
Kaiser eingeschlagene Richtung des öffentlichen Lebens wieder
vollständig veränderte.

In der Mitte einer Gruppe stand der Graf von Keratry, eine schlanke
Gestalt mit einem charakteristischen Kopf, dessen unruhig umher
blickende Augen einen beweglichen feurigen, aber nicht sehr geordneten
Geist verriethen.

„Es ist Alles bereits vorbereitet,“ sagte er, „so eben habe ich
erfahren, daß den Präfecten befohlen worden ist, ihre ganze Thätigkeit
auf die Vorbereitungen für das Plebiscit zu richten, und daß sie
zugleich ermächtigt sind, den Gemeinden zu erklären, daß die
Executivgewalt die Maires künftig stets den Vorschlägen der
Gemeinderäthe entsprechend auswählen werde.“

„Das ist unerhört,“ rief der Deputirte Picard, ein Mann mit einem
blassen, scharfen und ein wenig verbissenem Gesicht, „das ist eine
vollständige Corruption des öffentlichen Votums. Will man eine
Volksabstimmung, so soll man wenigstens sie frei sich vollziehen lassen.
Auf diese Weise aber wird die Sache eine reine Comödie. Wenn die
Präfecten mit der ganzen Autorität ihrer Stellung in die Sache
eingreifen, wenn man den Gemeinden zugleich Versprechungen macht, von
denen man,“ fügte er höhnisch hinzu, „gewiß nicht die Absicht hat, sie
je zu erfüllen, so macht man sich einer moralischen Bestechung schuldig.
Man wird die öffentliche Meinung Frankreichs vor den Augen von ganz
Europa fälschen, um sich dann auf diese öffentliche Meinung stützen zu
können, wenn man beginnen wird, die abenteuerlichsten Maßregeln des
Absolutismus durchzuführen.“

Jules Favre trat hinzu, seine große volle Gestalt hatte eine etwas
schwerfällige Haltung, und seine Bewegungen zeigten ein wenig jene
stereotype theatralische Würde, welche die Advokaten vor den
Gerichtshöfen anzunehmen pflegen, wenn sie mit dem Aplomb tiefer
Überzeugung durch den persönlichen Eindruck das Gewicht ihrer Gründe zu
verstärken trachten. Sein starkes Gesicht mit den regelmäßigen,
angenehmen Zügen, den großen, geistvollen und klar blickenden Augen, dem
langen, überhängenden zurückgestrichenen Haar und vollen Bart, der sich
an einzelnen Stellen fast weiß färbte, zeigte ein gewisses
selbstzufriedenes überlegenes Lächeln, und mit seiner vollen und tiefen
Stimme sprach er:

„Wir müssen uns organisiren, meine Herren, wir müssen unsererseits
Comités bilden, welche dafür wirken, daß dem ganzen Volk klar gemacht
werde, wie die freiheitliche Entwickelung nur gesichert werden könne,
wenn man sich massenhaft von der Theilnahme am Plebiscit enthält — , wenn
wir es erreichen können, die abgegebenen Stimmen auf ein Minimum zu
reduciren, so wird der moralische Eindruck der Volksabstimmung
vollständig verschwinden, der sonst nicht nur im Auslande, sondern auch
in Frankreich selbst zu einer bedeutenden Verstärkung der moralischen
Macht des Kaiserreiches beitragen muß. Lassen Sie uns heute
zusammentreten und an die Bildung dieses Comités denken.“

„Das ist sehr gut,“ rief Herr Picard, „allein wie sollen wir, die wir
doch erst einen Organismus schaffen müssen und nur langsam vorgehen
können, die wir allen Hemmungen und Hindernissen ausgesetzt sind, welche
die Macht uns bereiten wird, wie sollen wir dem concentrirten und wohl
geleiteten Einfluß der Präfecten gegenüber etwas ausrichten?“

„Nein,“ rief der Graf von Keratry, „wir müssen laut unsere Stimmen
erheben, um gegen diese ungesetzliche Einwirkung der Regierungsautorität
auf die freie Abstimmung des Volkes zu protestiren. Das scheint mir
sicherer, als in die Wahlagitation einzutreten, bei welcher wir zu spät
kommen müßten. Können wir nachweisen, daß die Abstimmungen durch die
Präfecten gemacht sind, so wird das Plebiscit ebenfalls seine Bedeutung
vor der liberalen öffentlichen Meinung Europas vollständig verlieren.“

„Es giebt noch ein Mittel,“ sagte Herr Barthélémy St. Hilaire, ein
schlanker Mann von elegantem Äußern, dessen Mienen und Haltung ein wenig
an den gelehrten Professor erinnerten, „wir müssen darauf dringen, daß
das Plebiscit nur einen Tag dauert, das wird eine große
Massenbetheiligung unmöglich machen. Ich werde einen solchen Antrag
stellen, und bitte Sie, meine Herren, ihn zu unterstützen.“

Der Advokat Gambetta, eine kleine schmächtige Gestalt, mit leicht
gekrümmten Schultern, wenig elegant, fast ein wenig unsauber in seiner
Erscheinung, hatte schweigend die verschiedenen Äußerungen mit angehört.

Er stand da, das ausdrucksvolle, häßliche Gesicht mit dem schlecht
gepflegten Haar und Bart, mit dem kalt und höhnisch lächelnden Munde,
leicht auf die Seite geneigt, sein sehendes Auge richtete sich mit einem
düstern, fast unheimlich drohenden Ausdruck auf eine Gruppe von Herren,
welche in der Nähe standen, während das andere des Lichts beraubte Auge
unter dem herabhängenden Lide verborgen war.

„Dort steht ja,“ sagte er mit einer rauhen, etwas schwerfällig
klingenden Stimme, „der große Regenerator des Kaiserreichs, unser alter
Freund Ollivier, dem es so leicht wird, täglich eine andere Gestalt
anzunehmen, und neben ihm Herr Chevandier de Valdrome. Fragen wir ein
wenig diese Herren, es wird immerhin gut sein, wenn wir uns vorher etwas
orientiren, um genau zu wissen, was wir bei den öffentlichen Debatten zu
thun haben.“

Er näherte sich den Ministern und begrüßte sie mit einer artigen, aber
ein wenig linkischen Verbeugung, die übrigen folgten ihm und umgaben die
beiden Minister, um welche sich sehr bald noch mehrere der im Saale
anwesenden Deputirten gruppirten.

„Es scheint, daß das Plebiscit beschlossen ist,“ sagte Herr Gambetta zu
Ollivier gewendet, der in etwas gezierter, an die gesuchte saubere
Einfachheit Robespierres erinnernder Haltung da stand, und dessen
eigenthümlich geformtes Gesicht, mit der schmalen Stirn, den stark
schielenden von einer feinen Brille beschatteten Augen und dem großen,
über dem zurückstehenden Kinn stark hervortretenden Munde, in lebhafter
Bewegung zitterte.

„Ich habe keinen Grund,“ erwiderte der Großsiegelbewahrer des
Kaiserreiches, indem er die Begrüßung des Herrn Gambetta mit kalter,
abwehrender Höflichkeit erwiderte, „mich nicht über die Situation
auszusprechen. Ja, meine Herren,“ fuhr er fort, „das Plebiscit ist
beschlossen, und ich begreife nicht, wie Sie und Ihre Freunde,“ fügte er
hinzu, indem sein unsicherer Blick leicht über die Gruppe hinglitt,
welche ihn umgab, „ich begreife nicht, wie Sie Alle gegen diesen
Gedanken sein können. Die unmittelbare Berufung des Volkes in wichtigen
Verfassungsangelegenheiten des Landes entspricht ja so vollkommen den
Grundsätzen einer wahren und vernünftigen Demokratie, zu welcher Sie
sich bekennen, welchen ich meinerseits stets treu geblieben bin, und
welchen auch diese neue Maßregel einen verstärkten Ausdruck geben wird.“

Ein höhnisches Lächeln umzuckte die Lippen Gambetta's.

„Darf ich Sie vielleicht fragen,“ fuhr er fort, „wie lange die
Volksabstimmung dauern soll und ob bei derselben das Vereinsrecht zur
Ausübung kommen werde, welches der Bevölkerung gestattet, sich vorher
über die der Frage gegenüber einzunehmende Haltung zu verständigen.“

„Zweifellos,“ erwiderte Herr Ollivier, „werden öffentliche
Versammlungen Statt finden dürfen, und das Volk wird von allen seinen
verfassungsmäßigen Rechten Gebrauch machen können — doch,“ fuhr er fort,
„liegt es in der Natur der Sache, daß solche Versammlungen, da es sich
ja hier nur um die ganz einfache Beantwortung einer einfachen Frage
handeln wird, nicht so lange werden dauern können, als dies zum Beispiel
bei den Wahlen zum Gesetzgebenden Körper erlaubt ist. Jeder soll nach
seiner freien Ueberzeugung eine sehr klar gestellte Frage beantworten,
und dazu sind in der That keine langen Debatten und keine langen
Vorbereitungen erforderlich.“

„Aber die Regierung, meine Herren,“ rief der Graf Keratry in heftigem
und gereiztem Ton, „hält es nicht für unnütz, solche Vorbereitungen in
dem ausgedehntesten Maße zu treffen. So eben habe ich den Herren hier
mitgetheilt, daß ich erfahren, die Präfecten seien angewiesen, mit
äußerster Energie das Plebiscit vorzubereiten und sogar den Gemeinden
Versprechungen in Betreff der Maires zu machen — es scheint also doch,
daß man es für wichtig hält, die Autorität der Macht in die Wagschale zu
werfen, wenn die Mittheilungen,“ fügte er hinzu, den scharfen
stechenden Blick auf Herrn Chevandier de Valdrome richtend, „die mir
gemacht, richtig sind.“

Der Minister des Innern, ein vornehm aussehender, etwas gleichgültig
blickender Mann von matten, nervösen Gesichtszügen, ließ seinen Blick
von oben herab über den Grafen Keratry hingleiten, ein kaltes,
feindliches Lächeln spielte um seine Lippen und in kurzem, wenig
verbindlichem Ton erwiderte er:

„Ja, ich habe die Präfecten instruirt, wie ich das für mein Recht und
meine Pflicht halte, ich habe ihnen befohlen, die äußerste Thätigkeit zu
entwickeln, um die Enthaltung von der Abstimmung zu verhindern. Ich
trage die persönliche Verantwortlichkeit für meine Anweisungen, — welche
übrigens ganz und gar Verwaltungsmaßregeln sind.“

„Ich begreife nicht,“ rief Picard, „wie der Herr Minister des Innern das
Plebiscit als die freie Abstimmung des Volkes über die wichtigsten
Fragen, die sein öffentliches Leben betreffen, eine Verwaltungsmaßregel
nennen kann. Wenn es jedoch nun,“ fügte er mit ironischem Lächeln hinzu,
„eine Verwaltungsmaßregel sein soll, so würde es für uns gewiß von
großem Interesse sein, den Inhalt der Schreiben kennen zu lernen, welche
in dieser Beziehung an die Präfecten erlassen worden sind.“

„Die innern Maßregeln der Verwaltung,“ erwiderte Herr Chevandier de
Valdrome in kurzem Ton, „sind kein Gegenstand von Diskussionen mit der
Vertretung des Landes, sie sind ein ausschließliches und unbestreitbares
Recht der Regierung.“

Rasch fiel Herr Ollivier ein, indem er ein wenig die Hand erhob und
jenen etwas salbungsvollen Ton annahm, der seiner Rede auf der Tribüne
so oft die unmittelbare Wirksamkeit nahm:

„Und wenn Sie auch nicht das formelle Recht dazu haben, so will ich
Ihnen doch am wenigsten die moralische Berechtigung bestreiten, unsere
Anweisungen kennen zu lernen. Interpelliren Sie mich in der Sitzung, und
ich werde von der Tribune Ihnen unsere Instructionen mittheilen.“

„Wenn der Herr Minister der Justiz statt meiner spricht,“ sagte Herr
Chevandier de Valdrome in trockenem Ton, indem er sich gegen seinen
Collegen verbeugte, „so habe ich ja nicht nöthig, mich länger an dieser
Unterhaltung zu betheiligen,“ und rasch sich abwendend, entfernte er
sich von der Gruppe.

„Ich habe keinen Grund,“ fuhr Herr Ollivier fort, „unsern Standpunkt und
unsere Maßregeln zu verhüllen, wir haben den Präfecten einfach
geschrieben: „Sichern Sie die Freiheit der Abstimmungen, wenden Sie
weder Drohungen, noch Druck, noch Versprechungen an, vergessen Sie aber
nicht, daß Sie den Umtrieben der Wahlenthaltung gegenüber stehen und
wenden Sie die verzehrendste Thätigkeit an, nur jeden Bürger zur
Abstimmung zu drängen.“

„Nun wohl,“ rief Herr Picard lachend, „diese aufreibende Thätigkeit und
dieses Drängen der Bürger zur Abstimmung sind die deutlichen Zeichen,
daß die so traurige Praxis der amtlichen Candidaturen auch in dieser
Frage eben so rücksichtslos wie früher geübt werden soll. Die Enthaltung
von der Abstimmung ist ein unzweifelhaftes Recht eines jeden Bürgers vor
allen Dingen dann, wenn doch Niemand im Stande ist, ohne Gefahr frei
seine Meinung zu äußern; wenn Jedermann sich scheuen muß nein zu sagen,
so muß ihm wenigstens die Freiheit bleiben, nicht ja sagen zu dürfen.
Das Alles ist nichts als Possenspiel“ fügte er achselzuckend hinzu.

„Hier ist von keinem Possenspiel die Rede,“ rief Herr Ollivier in
lebhafter Erregung, „deutlich und unverhüllt wird die Frage an das Volk
gestellt werden. Die einzige Thätigkeit der Regierung wird sich nur
darauf richten, Jeden dahin zu führen, daß er die deutlich gestellte
Frage eben so deutlich beantworte.“

„Durch die Anweisung, deren Inhalt uns so eben im Allgemeinen
mitgetheilt ist,“ sagte Herr Jules Favres ruhig und langsam, „ist das
Cabinet seinem liberalen Programm untreu geworden — das Mißtrauen ist
also wohl berechtigt. Mögen die Herrn Minister,“ sagte er mit einer
leichten Verbeugung gegen Ollivier, „es auch ehrlich meinen, die andern
Beamten werden dennoch die Abstimmungen fälschen.“

„Das wird Niemand wagen,“ rief Herr Ollivier heftig erregt, „die
Minister können wohl das Vertrauen verlangen, daß sie den Maßregeln, zu
denen sie sich ehrlich bekennen, auch von Seiten ihrer Untergebenen eine
ebenso ehrliche und rückhaltslose Durchführung zu sichern im Stande sein
werden. Uebrigens,“ fuhr er fort, „kommt das Cabinet und seine Existenz
bei der ganzen Sache garnicht in Frage. Es handelt sich einfach um eine
Sanctionirung der Verfassungsbestimmungen, welche die Minister mit den
Vertretern des Landes bereits gutgeheißen haben. Die Kammern selbst sind
also ebenso betheiligt, als das Ministerium.“

„Das sind Wortklaubereien,“ rief Picard entrüstet, „Regierung ist
Regierung, es ist traurig genug, daß man nicht im Stande ist, dem
Ministerium, das sich mit liberalen Reformen einführte, dauerndes
Vertrauen zu schenken.“

„Das thut mir sehr leid,“ rief Herr Ollivier zitternd vor zornigem
Eifer, „schenken Sie uns Ihr Vertrauen, schenken Sie es uns nicht, das
ist Ihre Sache — das kann uns nicht abhalten, unsre Pflicht zu thun,
seien Sie überzeugt, daß uns Ihre Meinung ganz gleichgültig ist.“

Ein dumpfes Murren ließ sich unter der Gruppe vernehmen.

„Welch ein Ton der Conversation,“ rief Jules Favres, „man sollte doch
meinen, sich hier in der Gesellschaft von gebildeten Leuten zu
befinden.“

„Der Herr Minister ist sich gewiß über die Bedeutung seiner Worte nicht
klar geworden,“ sagte Herr Picard kalt und höhnisch, „die Sorgen für die
Verbreitung des Plebiscit haben, wie es scheint, seine sonst so eminente
Fähigkeit, die Redewendungen richtig abzuwägen, gelähmt.“

Herr Ollivier schien selbst ein wenig bestürzt über seinen heftigen
Ausbruch zu sein.

„Ich bin mir über meine Worte vollkommen klar,“ sagte er, „und habe mit
denselben,“ fügte er sich leicht verneigend hinzu, „durchaus keine
persönliche Verletzung beabsichtigt. Ich habe nur sagen wollen, daß
eine Regierung, welche sich vollkommen klar ist über das, was sie nach
reiflicher Ueberlegung für ihre Pflicht erkannt hat, sich nicht dadurch
irre machen lassen darf, ob ihre Beschlüsse und Maßnahmen bei der einen
oder bei der andern Partei beifällige oder tadelnde Beurteilung finde;
und ich kann nur wiederholen, daß die Regierung es für ihre Pflicht
hält, mit aller Energie gegen das System der Stimmenenthaltung
aufzutreten. Das Kaiserthum und der Kaiser stehen nicht in Frage,“ fuhr
er mit fester Stimme fort, „wie hier so eben bemerkt wurde, die Frage
ist nur die, ob es gut sei, das Kaiserthum der Autorität und des
persönlichen Regiments in ein liberales Kaiserthum umzuwandeln; daß die
Feinde des Kaiserthums überhaupt das Letztere nicht wollen, begreife
ich,“ fügte er mit scharfer Betonung hinzu, „ob sie aber damit dem
Vaterlande einen Dienst leisten, ob sie nicht ihre Parteirücksichten
höher stellen, als das Wohl der Nation, das will ich, meine Herren,
ihrem eigenen Gewissen überlassen.“ Und mit einer kurzen Verneigung
wandte er sich ab und verließ das Zimmer.

Ein Theil der Abgeordneten kehrte in den Saal zurück, wo man über
einzelne Paragraphen des neuen Preßgesetzes debattirte. Die Meisten
aber entzogen sich dieser Debatte, präoccupirt wie sie durch die ganze
politische Situation waren, verließen sie das Palais des Gesetzgebenden
Körpers, um in Privatzusammenkünften bei den Parteiführern sich über die
zu fassenden Entschließungen zu berathen.

Herr Ollivier durchschritt langsam die Corridore und stieg vor dem
Palais in sein sehr einfaches und unscheinbares Coupé, indem er dem in
dunkle Livree gekleideten Kutscher zurief:

„Nach den Tuilerien.“

Kurze Zeit darauf fuhr er in den innern Hof des alten Königspalastes
ein, er hielt vor dem großen Eingang, über welchem das von Lanzen
getragene Zeltdach sich ausdehnte.

Er fand den Dienst thuenden Ordonnanzofficier im Vorzimmer; dieser
führte ihn sogleich in das Cabinet des Kaisers ein.

Napoleon III war frischer als sonst, zwar hingen seine Züge mit dem
Ausdruck des Leidens und körperlicher Schmerzen schlaff herab, aber in
seinem Blick machte sich eine gewisse an die vergangenen Tage seiner
Jugend erinnernde Energie bemerkbar, als er mit seinem langsamen, etwas
unsicheren Gang dem Minister entgegentrat, welcher es übernommen, das
Steuer des Staatsschiffes, welches so lange die feste Hand des Herrn
Rouher geführt hatte, durch die bedenklichen Klippen verschiedener
Neuerungen zu führen.

„Ich habe gewünscht, Sie noch vorher zu sprechen, mein lieber Herr
Ollivier,“ sagte der Kaiser, indem er mit verbindlichem Gruß dem
Großsiegelbewahrer die Hand reichte, „bevor ich den gesammten
Ministerrath höre, in welcher Weise die Ereignisse geleitet werden
müssen, damit wir das große Ziel erreichen, das öffentliche Vertrauen in
die Regierung vollständig wieder herzustellen, — welches bereits so sehr
wieder gewachsen ist,“ fügte er mit einer leichten Neigung des Kopfes
hinzu, „seitdem Sie mir mit Ihrem Rath zur Seite stehen.“

„Das Vertrauen Eurer Majestät macht mich sehr glücklich,“ erwiderte
Herr Ollivier, indem er auf den vom Kaiser ihm bezeichneten Sessel
sich niederließ. „Wenn die öffentliche Meinung mir mit einem
gewissen sympathischen Gefühl entgegenkommt,“ fuhr er mit einem
selbstbefriedigten Lächeln fort, „so wird mir meine Aufgabe sehr
wesentlich durch die hochherzige Offenheit erleichtert, mit welcher Eure
Majestät mich unterstützen.“

Der Kaiser richtete einen eigentümlichen Blick aus seinen schnell sich
entschleiernden und dann wieder in ausdruckslose Gleichgültigkeit
zurücksinkenden Augen, während er mit der Hand über den Schnurrbart
streichend ein unwillkürlich seine Lippen bewegendes Lächeln verbarg.

„Sie glauben also,“ sagte er dann, „daß das Plebiscit der Regierung
günstig ausfallen werde?“

„Jedenfalls,“ erwiderte Herr Ollivier, „die Stimmung ist allgemein sehr
wenig befriedigt über das Verhalten der unversöhnlichen Opposition. Man
will Ruhe für die Geschäfte, man will Schutz gegen die herandrängende
sociale Bewegung, und man wird dem liberalen Kaiserreich um so mehr mit
begeisterter Wärme seine Stimme geben, als es die Freiheit mit der Kraft
und der Ordnung vereinigt. Die Opposition fühlt dies, und ihr Bestreben
geht nicht mehr danach, ein negatives Votum der Volkscomitien zu
erreichen, sondern vielmehr eine massenhafte Stimmenenthaltung
durchzusetzen, ein Bestreben, in welchem sie durch die Indolenz der
Massen wesentlich unterstützt werden möchte.

„Eure Majestät werden es gewiß billigen, daß wir auf die energischste
Weise den Präfecten aufgetragen haben, vor allen Dingen besonders in den
ländlichen Kreisen gegen die Enthaltung von der Abstimmung zu wirken.“

„Gewiß, gewiß,“ sagte der Kaiser wie zerstreut, „man muß alle Mittel
anwenden, um diesen Herren von der Opposition zu zeigen, daß das Volk
von Frankreich sie verwirft und fest hinter mir steht, — doch,“ fuhr er
fort, „wie ist es mit Daru und Buffet? Bestehen sie darauf, daß die
Kammern zunächst über das Plebiscit befragt werden und werden sie daraus
eine Cabinetsfrage machen?“

„Ich glaube, Sire,“ sagte Herr Ollivier, „daß meine beiden Kollegen sehr
geneigt sind, sich darüber zu verständigen; sie wollen gern ihre Kräfte
unter dem liberalen Kaiserreich und unter Eurer Majestät erleuchteter
und ruhmvoller Führung dem Wohle Frankreichs widmen. Indeß halten sie es
für unmöglich, so ganz und gar von dem Prinzip abzuweichen, das sie mit
voller Ueberzeugung vertreten. Es läßt sich vielleicht,“ fuhr er fort,
„ein Weg finden, um im Wesentlichen die Meinungen Eurer Majestät
aufrecht zu erhalten, und dennoch die Minister, welche bei den
verschiedenen Parteien Vertrauen haben zu conserviren. Man könnte die
Absicht, ein Plebiscit vorzunehmen, ohne sich einem constitutionellen
Beschluß der Vertretung des Landes zu unterwerfen, dem Corps legislativ
einfach durch eine Botschaft mittheilen, worauf denn eine
Antwortsadresse erfolgen würde. Auf diese Weise ließen sich die
verschiedenen Standpunkte vielleicht vereinigen, und es ist allerdings
richtig, daß bei dem Plebiscit es von Wichtigkeit sein könnte, dem Volk
zu zeigen, daß die Regierung und die regelmäßige constitutionelle
Vertretung über den wichtigen Act in voller Uebereinstimmung sich
befinden.“

Der Kaiser senkte den Kopf und strich mehrere Male nachdenklich über
seine Stirn.

„Damit würde eigentlich,“ sagte er, „dem Plebiscit die wahre Spitze
abgebrochen, und ich bin, wie ich Ihnen aufrichtig sagen muß, nicht sehr
geneigt, einen solchen Weg zu gehen. Halten Sie,“ fragte er, Herrn
Ollivier plötzlich voll und scharf anschauend, „diesen Weg prinzipmäßig
für richtig, oder würden Sie ihn nur vorschlagen, um die Personen der
Minister zu conserviren?“

„Die Minister haben, wie ich Eurer Majestät zu bemerken die Ehre hatte,“
fuhr der Großsiegelbewahrer fort, „ein gewisses Vertrauen, ihr Rücktritt
könnte einen ungünstigen Eindruck machen. Dies ist wesentlich der Grund,
weßhalb ich einen Kompromiß suchen möchte.“

„Mein lieber Herr Ollivier,“ sagte der Kaiser, indem er sich ein wenig
herüberneigte, „nach meiner Ueberzeugung beruht das Vertrauen, welches
das Ministerium bei der Bevölkerung genießt, weder auf Herrn Buffet,
noch auf dem Grafen Daru, noch auf irgend einem der andern Personen,
welche gegenwärtig das Cabinet bilden, sondern vielmehr lediglich auf
der Achtung und Sympathie, welche man Ihnen entgegenträgt, Sie sind der
Pfeiler, auf welchem gegenwärtig meine Regierung ruht. Der Respect vor
Ihrem Charakter, die Bewunderung für Ihre großen Talente bilden einen
Nimbus um Sie, dessen Strahlen auch auf die übrigen Minister fallen, sie
werden aber ebenso gut auch auf jeden Andern fallen, der das Glück haben
wird, mit Ihnen zusammen ein Cabinet zu bilden. Die Rücksicht also,“
fuhr er fort, „auf das Vertrauen, welches jene Herren im Lande genießen,
und den persönlichen Einfluß, welchen sie üben können, würde mich
niemals bestimmen können, von einem als richtig anerkannten Prinzip
abzugehen, lediglich um ihre Personen zu conserviren. Etwas Anderes,“
fuhr er nachdenklich fort, indem aus dem Winkel seines fast
geschlossenen Auges ein schneller, scharf beobachtender Blick auf Herrn
Ollivier hinüberflog, „etwas Anderes ist es freilich mit ihrer Ersetzung
in den Geschäften. Buffet ist ein vortrefflicher Finanzminister, es
wird nicht leicht sein, Jemanden an seine Stelle zu setzen — Ségris
vielleicht — man müßte sich mit ihm darüber verständigen — noch
schwieriger aber ist die Sache bei Daru. Woher kann man so schnell einen
auswärtigen Minister finden? Namentlich, da es sich darum handeln würde,
die Stellung ein wenig zu modificiren, welche wir dem Concil und Rom
gegenüber eingenommen haben. Die Minister der auswärtigen
Angelegenheiten,“ fuhr er fort, anscheinend immer tiefer im Nachsinnen
versinkend, „wachsen nicht aus der Erde hervor. Ja, wenn,“ sagte er, den
Blick wie fragend auf Herrn Ollivier richtend — „wenn es möglich wäre,
daß eines Menschen Kraft die Last allein trüge, welche schon auf drei
Schultern vertheilt nicht leicht ist, so wäre schnell eine Abhülfe zu
finden.“

Er lehnte den Kopf wie tief nachdenkend auf den auf sein Knie gestützten
Arm.

Das Gesicht Olliviers zuckte in lebhafter Bewegung, seine Augen schienen
einem plötzlich vor ihm auftauchenden Bilde zu folgen, ein Schimmer
hoher Befriedigung erleuchtete seine Züge und rasch mit athemloser
Stimme sprach er:

„Eure Majestät meinen — Eure Majestät haben irgend eine Idee über das
Ressort des auswärtigen Amtes?“

„Ich fürchte,“ sagte Napoleon, indem er wie in schmerzlicher
Resignation die Achseln zuckte, „daß die Idee, welche mir einen
Augenblick als möglich vorschwebte, der Wunsch, den ich einen Augenblick
hegte, Unmöglichkeiten sind. Ich hatte mir gedacht, wie rasch sich das
Alles arrangiren ließe, wenn Sie, mein lieber Herr Ollivier, mir das
Opfer bringen könnten, für einige Zeit das Ministerium der auswärtigen
Angelegenheiten zu führen. Ich weiß,“ fuhr er fort, „die Repräsentation,
welche gerade mit diesem Ministerium mehr als mit andern verbunden ist,
würde Ihnen lästig sein. Die Last der Arbeiten würde selbst Ihrem der
Thätigkeit so gewöhnten Geist zu viel werden. Lassen wir also die Sache,
es ist doch vielleicht besser, einen Kompromiß zu suchen, welcher uns
den Grafen Daru und Herrn Buffet erhält.“

Herr Ollivier hatte in einer gewissen Unruhe, die Hände in leichtem
Zittern bewegend, das Ende der Bemerkungen des Kaisers erwartet. Als
Napoleon schwieg, sagte er rasch, indem er seine Brille zurecht schob:

„Ew. Majestät dürfen überzeugt sein, daß mir für Ihren Dienst und für
das Wohl Frankreichs kein Opfer zu groß ist. Wohl widerstrebt meinem
einfachen bürgerlichen Sinne,“ sagte er, „die große und vielseitige
Repräsentation, wohl möchte ich auch für meine Familie leben und für
meine Gesundheit ein wenig Muße gewinnen, dennoch aber kann ich keinen
Augenblick anstehen, wenn es der Dienst Eurer Majestät, wenn es das Wohl
Frankreichs erfordert, auch diese neue Last auf mich zu nehmen, und ich
traue mir ohne Ueberschätzung dennoch die Kraft zu, sie tragen zu
können. Ich bin an die Thätigkeit gewöhnt, Sire, und will wenigstens
versuchen, Eurer Majestät auch diesen Beweis meiner Ergebenheit zu
geben.“

Napoleon schlug wie durch eine unerwartet günstige Wendung der Dinge
freudig überrascht die Hände zusammen.

„Aber, mein lieber Herr Ollivier,“ sagte er, „dann ist uns ja geholfen,
dann haben wir ja garnicht nöthig, noch einen Kompromiß zu suchen, wenn
Graf Daru wirklich heute abgeht und Sie bereit sind, an seine Stelle zu
treten. So befinde ich mich ja nicht nur in keiner Verlegenheit, sondern
ich werde sogar meine Lage wesentlich verbessern, denn Sie werden mir
die Bemerkung erlauben, daß ein jedes Portefeuille bei Niemanden, und
wäre er der Geschickteste und Bewährteste, so gut aufgehoben sein kann,
als in Ihren Händen. Wenn Sie also wirklich bereit wären, an die Stelle
des Grafen Daru zu treten, und wenn Ihre Kraft eine so übermäßige Last
zu ertragen im Stande ist, dann wären wir ja, wie ich glaube,
vollständig einig über den Gang, den wir den Ereignissen zu geben
haben.“

„Wenn Eure Majestät,“ sagte Herr Ollivier, „die Gnade haben würden, mir
das Portefeuille des Auswärtigen zu übertragen, so sehe ich allerdings
nicht ein, warum in der Frage des Plebiscits ein keinem Prinzip
vollkommen entsprechender Ausweg gesucht werden sollte.“

„Nun,“ sagte der Kaiser, indem er sich erhob, „ich sehe, wir verstehen
uns vollkommen, — welche Freude wird es mir machen, mit Ihnen die Fragen
der auswärtigen Politik zu besprechen und aus Ihrem so erleuchteten
Geiste immer neue Gedanken zu der Beurtheilung derselben zu ziehen.“

Herr Ollivier verneigte sich mit glücklichem zufriedenem Lächeln.

„Ich glaube, wir werden vollständig darin übereinstimmen,“ sagte der
Kaiser leichthin mit gleichgültigem Ton, „daß der römischen Frage auf
dem Concil gegenüber die Haltung, welche der Graf Daru in der letzten
Zeit eingenommen hat, modificirt werden muß. Die katholische Kirche und
der Klerus ist ein sehr mächtiger Factor in Frankreich, dessen freien
und rückhaltslosen Beistand wir uns sichern müssen. Und außerdem,“ fuhr
er fort, „widerstrebt auch meinem religiösen Gefühl eine Erkaltung der
Beziehungen zwischen meiner Regierung und dem heiligen Stuhl.“

„Eure Majestät haben vollkommen Recht,“ sagte Herr Ollivier schnell,
„Frankreich ist gut katholisch. Ich bin es auch,“ fügte er hinzu, „und
die Rücksicht auf die Gefühle des Volkes ebenso wie auf den Einfluß des
Klerus gebieten uns eine äußerst vorsichtige Stellung Rom gegenüber
einzunehmen, und nichts zu thun, was die Beziehungen zur Kurie irgend
wie trüben könnte. Ich fürchte,“ fuhr er fort, „der Graf Daru hat sich
in dieser Sache ein wenig zu sehr von Doctrinen leiten lassen und hat zu
wenig die concreten Verhältnisse in Betracht gezogen; auch möchten
vielleicht seine Beziehungen zu Guizot, der entschieden Protestant ist,
nicht ohne Einfluß auf seine Anschauungen geblieben sein.“

Der Kaiser, welcher sehr aufmerksam den Worten seines Ministers zugehört
hatte, schlug sich leicht mit der Hand vor die Stirn, als ob er durch
die Aeußerungen des Herrn Ollivier besonders frappirt sei.

„In der That, mein lieber Minister,“ sagte er, „Sie bringen mich da auf
einen Gedanken, der mir Manches aufklärt, — sollten Sie, wie ich glaube,
Recht haben, so ist es um so nöthiger, unsere Stellung Rom gegenüber zu
modificiren, denn protestantische Anschauungen können doch gewiß niemals
die Politik Frankreichs, dieses so tief katholischen Landes leiten.
Welch eine Freude ist es doch,“ sagte er tief aufathmend, „so
vollständiges Verständniß zu finden und mit einem Mann zu arbeiten, der
uns stets neue Gesichtspunkte öffnet.“

Er bewegte die Glocke.

„Sind die Herren Minister versammelt,“ fragte er den eintretenden
Kammerdiener.

„Zu Befehl, Majestät.“

„Wollen Sie mich in einen Augenblick im Conferenzzimmer mit den andern
Herren erwarten,“ sagte der Kaiser zu Herrn Ollivier, „ich werde Ihnen
sogleich folgen — wir wissen ja, was wir zu thun haben.“

Der Großsiegelbewahrer verneigte sich mit zustimmender Miene und verließ
das Kabinet des Kaisers.

„Er wird thun, was ich will,“ sagte Napoleon ihm lächelnd nachblickend,
„und ich werde die vortreffliche Stellung haben, keinerlei Initiative zu
ergreifen; nicht meine Meinung, — sondern diejenige des Herrn Ollivier
wird durchdringen, und man wird nicht wieder vom persönlichen Regiment
und vom autocratischen Einfluß sprechen können.“

Er trat zu einem kleinen Schrank, nahm daraus ein Fläschchen mit einer
röthlichen Flüssigkeit, zählte in ein Glas Wasser, das der Kammerdiener
ihm reichte, eine Anzahl von Tropfen und trank dann schnell den Inhalt,
der ihn fast augenblicklich wohlthätig zu beleben schien.

„So,“ sagte er mit einem tiefen Athemzug, „das wird mir für eine Stunde
wieder Kraft und Elasticität geben. Jetzt will ich meine Herren Minister
anhören.“

Und mit etwas lebhafterem festerem Gang als vorhin begab er sich durch
die schnell geöffnete Flügelthür nach dem Conferenzzimmer, einem großen
hellen Gemach, in dessen Mitte ein runder grüner Tisch, von ebenfalls
dunkelgrünen Fauteuils umgeben, stand.

In diesem Zimmer waren die Minister bereits versammelt, sie trugen
sämmtlich, wie der Kaiser, schwarze Morgenanzüge und verneigten sich
tief beim Eintritt des Souverains.

Da war neben Ollivier, der, aufgeregt, aber von innerer Befriedigung
strahlend, hinter seinem Stuhl stand, Herr Chevandier de Valdrome mit
seinem etwas cavalieren Ausdruck; der Graf Daru mit seinem kalten,
etwas mißtrauischen Blick; Herr Buffet, der Finanzminister, eine
bureaucratische Erscheinung mit eigensinnig doctrinairem Ausdruck; Herr
Ségris, der Minister des Unterrichts, ein wenig an das Aeußere eines
Professors erinnernd; dann der Marquis von Talhouet, der Minister der
öffentlichen Arbeiten, eine schöne, elegante Erscheinung, trotz seines
Alters von beinahe fünfzig Jahren, noch jugendlich und frisch, der wahre
altfranzösische grand Seigneur; — Herr Maurice Richart, für welchen sein
Freund Ollivier das Ministerium der schönen Künste geschaffen hatte, ein
gutmüthiger, sorgloser Lebemann; dann der Kriegsminister, Marschall
Leboeuf, eine militairisch kräftige Erscheinung, das volle, ein wenig
aufgeschwemmte und regelmäßige Gesicht hatte durch den großen Bart auf
der Oberlippe und dem Kinn einen etwas martialischen Ausdruck, der
jedoch durch den gleichgültigen und oberflächlichen Blick der etwas
vorstehenden Augen wieder abgeschwächt wurde; endlich der Admiral
Rigault de Genouilly, dessen feines und intelligentes Gesicht mit dem
Ausdruck verschlossenen Nachdenkens stets einen nicht ausgesprochenen
Hintergedanken zu verstecken schien.

Der Kaiser setzte sich auf seinen Lehnstuhl in der Mitte des Tisches,
und die Minister nahmen um ihn her Platz, Herr Ollivier zu seiner
Rechten, Graf Daru zu seiner Linken; die Uebrigen nach der Reihenfolge
ihres Ranges; die Minister des Krieges und der Marine dem Kaiser
gegenüber.

„Ich habe Sie berufen, meine Herren Minister,“ sprach der Kaiser mit
ruhiger, fast ausdrucksloser Stimme, indem er einen der auf dem Tische
liegenden Bleistifte ergriff und einige unbestimmte Linien auf dem vor
ihm bereit liegenden Papierbogen zeichnete, „ich habe Sie berufen, um
Sie zu ersuchen, die Frage des Plebiscits, über welche ich bereits mit
Jedem von Ihnen einzeln conferirt habe, nunmehr noch einmal
gemeinschaftlich zu discutiren und dann darüber einen definitiven
Beschluß zu fassen. Es handelt sich darum, die neue Institution, welche
ich dem Kaiserreich geben zu sollen geglaubt habe und zu deren
Befestigung Sie Alle so bereitwillig mir die Hand geboten haben, nochmal
durch ein Votum der ganzen Nation, auf welchem ja das Kaiserreich selbst
und seine frühere Verfassung beruhen, sanctioniren zu lassen. Und ich
bitte Sie mit Ihrer gewohnten und von mir stets so hoch gewürdigten
Freimüthigkeit mir Ihre Meinung darüber zu sagen.“

Er wandte sich mit einer leichten Neigung des Kopfes zu Herrn Ollivier.

„Sire,“ erwiderte dieser in einem Ton, welcher an den gleichförmigen
Pathos erinnerte, der eine Eigenthümlichkeit seiner Reden auf der
Tribüne war — „Eure Majestät wissen, daß ich aus voller Ueberzeugung dem
großen Gedanken zugestimmt habe, welchen Sie so eben aussprachen. Eine
Regierung, welche so offen und rückhaltslos wie wir die Verfassung im
Sinne der Freiheit ausbaut, darf sich nicht scheuen ihr Werk der Prüfung
und Genehmigung des ganzen Volkes vorzulegen. Wir treten vor die Nation,
nicht um zu fordern, sondern nur zu geben, und sind der dankbaren
Zustimmung der großen Mehrheit der Bürger Frankreichs sicher; das
Gewicht ihres Votums wird die Autorität und Macht des Kaiserreichs den
innern und äußern Feinden gegenüber von Neuem kräftigen, und alle die
Elemente, welche in der letzten Zeit so vermessen an der Entwickelung
des gesellschaftlichen Lebens gearbeitet haben, werden vor dem fest und
klar ausgesprochenen Willen der ganzen Nation schwinden. Ich habe die
Form des Plebiscits ausgearbeitet. Der Herr Minister des Innern hat die
Präfecten mit ausführlichen Instruktionen versehen, um die von der
unversöhnlichen Opposition beabsichtigte massenhafte Enthaltung von der
Abstimmung zu verhindern, und ich erlaube mir, Eurer Majestät
vorzuschlagen, daß so wie das Senatuskonsult festgestellt ist, das
Plebiscit ohne weitere Verzögerung vorgenommen werde, denn jeder Tag, um
den dasselbe noch hinausgeschoben wird, giebt den Gegnern Gelegenheit,
sich zu organisiren und ihre Agitationen immer mehr über das Land zu
verbreiten. Die Form des Plebiscits würde nach meiner Ueberzeugung sehr
einfach sein, sie würde sich auf wenige Zeilen reduciren, und ich werde
meinen Entwurf bei meinen Herren Collegen circuliren lassen, um ihn dann
mit ihren Zustimmungen oder etwa mit ihren Gegenvorschlägen Eurer
Majestät zu unterbreiten.“

Der Kaiser wandte sich mit einem verbindlichen Wink seiner Hand zu dem
Grafen Daru.

Der Minister der auswärtigen Angelegenheiten hatte ruhig und unbeweglich
den Worten Olliviers zugehört; ebenso ruhig sprach er jetzt mit seiner
etwas leisen, aber durch die scharfe Accentuirung der Worte deutlichen
Stimme:

„Ueber die Form des Plebiscits, Sire, wird, wie ich glaube, unter uns
kaum eine Meinungsverschiedenheit bestehen können. Es kann ja eben nur
eine ganz einfache mit ja oder nein zu beantwortende Frage sein. Dagegen
aber kann ich nicht unterlassen, Eurer Majestät noch einige sehr ernste
und gewichtige Bedenken gegen die Sache selbst auszusprechen.“

Der Kaiser blickte nicht auf, mit völlig ausdrucksloser Miene sah er auf
das Papier nieder und zeichnete große krumme Linien, welche in einander
greifend sich zu dem Bilde eines Adlerflügels vereinigten.

„Eure Majestät,“ fuhr Graf Daru fort, „haben vorhin bemerkt, daß das
Kaiserreich auf dem freien Votum der ganzen Nation beruhe, wie das ja
auch mit der Herrschaft des ersten Kaisers der Fall war. Das Volk hat
seinen Willen ausgesprochen und sich nach einer Zeit innerer Unruhen und
Kämpfe eine feste Staatsform und eine consolidirte Regierung gegeben,
welche wir nunmehr dem Willen Eurer Majestät gemäß zu freierer, innerer
Entwicklung zu führen haben. Da die Existenz des Kaiserreichs, der Grund
seines Bestehens auf dem Plebiscit beruht, so halte ich es für
bedenklich, der Sicherheit des Staatsgebäudes und vor allen Dingen auch
der Dynastie Gefahr bringend, wenn man ohne eine absolute Nothwendigkeit
auf die Grundfundamente der Monarchie wieder zurückgreift. Ich glaube
nicht, — verzeihen mir Eure Majestät, daß eine Dynastie wirklich auf die
Dauer feste und unzerstörbare Wurzeln schlagen kann, wenn bei jeder
Gelegenheit derjenige Faktor, der ihr das Leben gegeben, wieder in die
öffentliche Bewegung hineingezogen wird; das Volk durch unmittelbares
Plebiscit hat einmal gesprochen und das Kaiserreich begründet — die
weitere Entwicklung desselben muß nun seinen verfassungsmäßigen
Vertretern überlassen werden. Das Kaiserreich selbst darf nicht wieder
in Frage gestellt werden. Denken Eure Majestät, in welche gefährliche
Lage, in welche falsche Position ein Souverain kommen müßte, der wie
Eure Majestät es stets mit gerechtem Stolz gethan und wie Ihre
Nachfolger es ohne Zweifel ebenfalls thun werden, sich den Erwählten der
Nation nennt, wenn das Votum dieser Nation in einem spätern Plebiscit
ihm ungünstig wäre? Ein abfälliges Votum des Corps legislativ greift nur
das Ministerium an, ein abfälliges Plebiscit aber würde das Kaiserthum
und die Dynastie selbst in Frage stellen.“ —

„So weit wir aber die Stimmung im Lande kennen,“ fiel Herr Ollivier ein,
während der Kaiser fortwährend ganz theilnahmlos weiter zeichnete — „ist
garnicht an die Möglichkeit zu denken, daß die allgemeine Abstimmung
ungünstig ausfalle, vielmehr wird sie auf's Neue die Wurzeln des
Kaiserreichs und der Dynastie kräftigen und immer tiefer in das
nationale Bewußtsein dringen lassen.“

„Ich zweifle nicht an dem Ausfall der Abstimmungen,“ erwiderte Graf
Daru, indem flüchtig und fast unbemerkbar ein Zug feiner Ironie auf
seinem kalten bleichen Gesicht erschien, „auch spreche ich nicht von der
Thatsache, sondern von dem Prinzip, und im Prinzip muß ich dabei
bleiben, daß ein wiederholtes Plebiscit gefährlich für die Dynastie ist,
um so gefährlicher, wenn man jetzt etwa auf einen günstigen Ausfall
desselben einen besonderen Werth zu legen beabsichtigt. Je mehr
Bedeutung man dem zustimmenden Votum giebt, um so mehr gefährlicher
würde eines Tages eine feindliche Abstimmung werden können. Außerdem bin
ich des Erfolges noch nicht so vollkommen sicher. Die Majorität
Derjenigen, welche stimmen, wird mit ja stimmen, daran zweifle ich
nicht, ob es aber der Opposition nicht gelingen werde, eine sehr große
Majorität für die Stimmenenthaltung zu gewinnen, darüber bin ich noch
nicht vollkommen beruhigt; und der Eindruck einer solchen Enthaltung
würde nicht nur in Frankreich, sondern auch im Auslande ein sehr
bedenklicher sein müssen.“

Herr Ollivier, welcher sich unruhig hin und her bewegt hatte, wollte mit
einer Bemerkung einfallen.

Der Graf Daru erhob leicht mit einer artigen, aber bestimmten Wendung
die Hand gegen ihn und fuhr fort.

„Wenn ich schon aus Rücksicht auf das Kaiserthum selbst und auf die
Dynastie der Meinung bin, daß ein erneutes Plebiscit nur im Augenblick
einer öffentlichen Gefahr oder gewaltiger nationaler Anstrengungen
vorgenommen werden darf, so bestärkt mich in dieser Ansicht noch mehr
die Rücksicht auf die freie und verfassungsmäßige Entwicklung des
öffentlichen Lebens, deren Sicherung unsere Aufgabe ist. Wenn es als ein
Grundsatz des öffentlichen Rechts anerkannt wird, daß die Regierung in
jedem Augenblick und ohne bestimmte zwingende und in der Verfassung
vorgesehene Gründe sich an das Volk wenden kann, so wird jedes
constitutionelle Leben überhaupt eine Unmöglichkeit, denn die Regierung
hat es in der Hand, bei jedem Conflict mit den Gesetzgebenden
Körperschaften durch ein Plebiscit das ganze verfassungsmäßige Leben in
Frage zu stellen. Daß Eure Majestät niemals einen solchen Gedanken haben
werden,“ sagte er, sich gegen den Kaiser verneigend, — „davon bin ich
überzeugt, indessen bei der Beurtheilung öffentlicher Rechtsprinzipien
darf man nicht an die Person, sondern an die Sache und an die völlig
objectiv gestellte Frage denken. Für mich spricht also sowohl die
Rücksicht auf die Stabilität und die Unantastbarkeit der monarchischen
Staatsform und der Dynastie als diejenige auf die wahre Freiheit des
öffentlichen Lebens gegen eine Wiederholung des Plebiscits.“

„Sie würden also, mein lieber Graf,“ sagte der Kaiser, indem er einen
Augenblick flüchtig aufblickte und dann wieder in die Betrachtung des
auf dem Papier vor ihm nunmehr deutlich erkennbaren Adlerflügels
versank, „Sie würden also einer Berufung an das Volk Ihre Stimme nicht
geben und wollen?“

„Ich habe meine prinzipmäßigen Gründe gegen das Plebiscit
ausgesprochen,“ erwiderte der Graf. „Ich bin indessen ebenfalls
überzeugt, daß beim absolut starren Festhalten an den Prinzipien
practisch nicht regiert werden kann. Und da Eure Majestät und die
meisten meiner Kollegen die Volksabstimmung für zweckmäßig halten, so
würde ich mich derselben nicht unbedingt entgegenstellen.“

Der Kaiser zog seine Linien weiter und weiter. Ein zweiter Adlerflügel
begann sich an der Seite des ersten zu zeigen.

Auf Herrn Olliviers Gesicht erschien bei den letzten Worten des Grafen
Daru eine ziemlich erkennbare Verstimmung.

Der Minister der auswärtigen Angelegenheiten sprach weiter:

„Die Bedenken, welche ich gegen eine Wiederholung des Plebiscits so eben
ausgesprochen und motivirt habe, können nach meiner Überzeugung auf eine
sehr einfache Weise zum großen Theil beseitigt werden: Wenn nämlich der
Grundsatz festgehalten wird, daß die Berufung an die unmittelbare
Volksabstimmung nur Statt finden dürfe, wenn sich die Regierung und die
Gesetzgebenden Körperschaften darüber verständigt haben. Dadurch würde
nach beiden Richtungen die Garantie gegen den Eintritt derjenigen
Gefahren gegeben, welche ich vorhin bezeichnete, und so würde die
Absicht Eurer Majestät erreicht. Ich glaube, daß der Herr
Großsiegelbewahrer,“ sagte er, sich an Ollivier wendend, „einer
Verständigung in der von mir angedeuteten Richtung nicht abgeneigt ist,
wenigstens habe ich bei meiner früheren Unterredung über diesen
Gegenstand bei ihm die Geneigtheit bemerkt, auf meine Prinzipien
einzugehen, und auf Grund derselben den Bestand des Cabinets zu
sichern,“ sagte er mit fester Stimme, sich gegen den Kaiser verneigend.

Dieser hob ein wenig den Kopf empor und richtete den Blick seines
vollständig verschleierten Auges auf Herrn Ollivier.

„Der Gedanke des Grafen Daru,“ sagte er ruhig, „scheint mir eine sehr
gute Grundlage für die Ausgleichung der entgegenstehenden Ansichten zu
bieten. Es wäre gewiß sehr wünschenswerth, eine solche Verständigung zu
erreichen, wenn dies nach Ihrer Überzeugung möglich ist.“

Herr Ollivier richtete sich grade empor, ließ den unsichern Blick über
seine in schweigender Zurückhaltung da sitzenden Kollegen gleiten und
begann dann mit nachdrücklicher Betonung:

„Ich glaube nicht, daß der Gedanke des Herrn Ministers der auswärtigen
Angelegenheiten ausführbar sei, wenn man sich die wahre staatsrechtliche
Natur der Frage klar macht. Das Volk,“ fuhr er fort, „die französische
Nation ist, Eure Majestät werden mir darin beistimmen,“ sagte er, sich
gegen den Kaiser verneigend — „der eigentliche, in letzter Instanz
definitiv über die Geschicke Frankreichs entscheidende Souverain. Die
Vertreter im Corps legislativ sind nur Delegirte. Es entspräche nicht
der Würde der Nation selbst, wenn Derjenige, an welchen sie ihre
Souverainetät deligirt hätte, erst die Genehmigung der lediglich für die
gesetzgeberische Arbeit abgeordneten Vertreter einholen müßte, um sich
in großen Nationallebensfragen an das Volk selbst wenden zu dürfen.
Zwischen dem Kaiser, das heißt dem General-Mandatar der souverainen
Nation und dem Volk selbst darf kein untergeordneter Faktor stehen. Sie
müssen frei, wenn es nothwendig ist, miteinander verkehren können, und
der Kaiser muß das Recht haben, auch ohne die Zustimmung der
parlamentarischen Körperschaften an das Volk selbst sich wenden zu
können. Jede zufällige Majorität der Kammer würde ja sonst die Macht
haben, die Berufung an das Volk zu verhindern. Ich für meine Person,“
schloß er mit bestimmtem Ton, „würde lieber dafür stimmen, das Plebiscit
überhaupt aufzugeben, als es auf diese Weise von der Zustimmung einer
Kammer abhängig zu machen, die vielleicht garnicht den Willen des ganzen
Volkes und sein wahres Interesse vertritt.“

Graf Daru hatte Herrn Ollivier ein wenig erstaunt angesehen, dann flog
abermals jener Zug feiner Ironie über sein Gesicht, und als der
Großsiegelbewahrer geendet, sprach er, während auf dem Papier des tief
gebückt dasitzenden Kaisers sich nunmehr zwischen den beiden Flügeln
auch der Kopf eines Adlers zu entwickeln begann:

„Ich bedaure, daß ich die Absicht des Herrn Großsiegelbewahrers bei
unserer letzten Unterredung so falsch oder unklar aufgefaßt habe. Wäre
mir damals seine Meinung so bestimmt erschienen, wie ich sie jetzt
verstehe, so hätte ich schon früher alle Hoffnungen und alle Versuche zu
einer Verständigung zu gelangen, aufgegeben. Ich muß Eurer Majestät
aufrichtig erklären, daß wenn das Plebiscit ohne vorherige Verständigung
mit der Kammer beschlossen werden sollte, ich nicht im Stande sein
würde, länger ein Mitglied des Kabinets zu bleiben.“

„Ich schließe mich der Erklärung des Herrn Grafen Daru vollständig an,“
sagte der Finanzminister Buffet mit rauhem und kurzem Ton. „Ich glaube,
daß die Wiederholung der Plebiscite die freie Bewegung des
konstitutionellen Lebens unmöglich macht und den Staat fortwährend mit
der Wiederkehr absoluter Autocratie bedroht. Ich bitte Eure Majestät,
wenn das Plebiscit nach der Anschauung des Herrn Großsiegelbewahrers
beschlossen werden sollte, meine Entlassung zu genehmigen.“

„Und was meinen die übrigen Herren Minister,“ fragte der Kaiser, unter
dessen Bleistift sich nunmehr auch ein großer Adlerkopf bildete.

„Ich stimme Herrn Ollivier bei,“ sagte Ségris.

„Ich würde um der Einheit des Bestandes des Cabinets willen,“ sagte der
Marquis von Talhouet, „wünschen, daß auf dem Boden des vom Grafen Daru
ausgesprochenen Gedankens eine Verständigung erzielt werde. Indessen
kann ich nicht mein Verbleiben im Cabinet von dieser Frage abhängig
machen, und ich hoffe,“ fügte er verbindlich sich gegen den Grafen von
Daru verneigend, hinzu, „daß auch unser verehrter Kollege von diesem
äußersten Entschluß zurückstehen werde.“

Graf Daru schüttelte schweigend den Kopf.

„Ich habe,“ rief Herr Ollivier rasch, „wahrlich für die Freiheit und die
Rechte des Volkes gesprochen und gekämpft. Niemand wird mir dies Zeugniß
versagen können. Jetzt aber ist es auch meine Pflicht, die Rechte der
Krone zu vertreten und zu vertheidigen, und ich würde in einer solchen
Anschauung der kaiserlichen Initiative, wie sie der Graf Daru
vorschlägt, eine sehr gefährliche und bedenkliche Schmälerung der
kaiserlichen Rechte erblicken.“

Der Marschall Leboeuf und der Admiral Rigault de Genouilly stimmten in
kurzen Worten dem Herrn Ollivier bei; ebenso Herr Maurice Richart und
Herr Chevandier de Valdrome.

Zu den Flügeln und dem gekrönten Kopf des Adlers war auf dem Papier des
Kaisers bereits noch eine Kralle hinzugetreten, auf welcher ein kleiner
Reichsapfel ruhte.

Der Kaiser richtete ein wenig den Kopf auf, ohne daß sein Bleistift
aufhörte in langsamer, anscheinend fast unwillkürlicher Bewegung Linie
an Linie zu reihen.

„Ich höre also,“ sagte der Kaiser, „daß die Mehrzahl meiner Herren
Minister dem Herrn Großsiegelbewahrer vollständig beipflichten, welcher
sich für die schleunige Ausführung des Plebiscits und zwar ohne
vorherige Verständigung mit den Kammern ausgesprochen hat. Hätten die
Herren Minister gegen das Plebiscit überhaupt Bedenken gehabt, so hätte
ich meinerseits kaum einen Grund gehabt, dasselbe durchaus zu wünschen,
so sehr ich auch überzeugt bin, daß es den Institutionen des
Kaiserreichs neue Kräfte geben werde. Da aber die große Majorität meiner
Minister das Plebiscit für zweckmäßig und nothwendig hält, da sie zu
gleicher Zeit die Modalität, welche der Graf Daru vorgeschlagen, nicht
zu acceptiren geneigt sind, so bleibt mir nichts anderes übrig, als
nochmals Sie, Herr Graf, zu bitten, aus der Sache keine Cabinetsfrage zu
machen und Sie, Herr Minister,“ sagte er, sich an Herrn Ollivier
wendend, „reiflich zu überlegen, ob Sie nicht im Stande wären, eine
Kombination zu finden, welche sich dem Grafen Daru nähert, und es ihm
möglich macht, Mitglied des Cabinets zu bleiben, in welches ich ihn mit
so vielem Vertrauen berufen habe, und aus welchem ich ihn nur mit
aufrichtigem Schmerz würde scheiden sehen.“

Es war fast ein ängstlicher Ausdruck, mit welchem Herr Ollivier den
Kaiser bei den letzten Worten ansah.

„Eure Majestät wissen,“ sagte er schnell, „wie hohen Werth ich auf die
Freundschaft und Mitwirkung des Grafen Daru und auf sein Verbleiben in
dem Ministerium lege; indessen meine Anschauung und Überzeugung steht
fest, und wie ich niemals im politischen Leben von derselben abgewichen
bin, so kann ich es auch jetzt nicht, selbst auf die Gefahr hin, die
bisher so fruchtbare und hoch erfreuliche gemeinschaftliche Arbeit mit
dem Herrn Grafen zu unterbrechen. Meine Überzeugung steht fest,“ sagte
er, die Hand auf die Brust legend, „und da auch die meisten meiner
Kollegen dieselbe theilen, so kann ich um so weniger in einer so hoch
wichtigen Frage auf irgend einen Kompromiß eingehen.“

„Ich habe also,“ sagte der Graf Daru, ohne daß irgend eine Bewegung auf
seinem Gesicht bemerkbar wurde, „Eure Majestät nochmals bestimmt um
meine Entlassung zu bitten, da ich nicht im Stande bin, der von der
Mehrzahl meiner Kollegen beschlossenen Maßregel meine Zustimmung zu
geben.“

„Ich muß die gleiche Bitte an Eure Majestät richten aus dem gleichen
Grunde,“ sagte Herr Buffet.

Der Adler auf dem Papier des Kaisers hatte eine zweite Kralle erhalten.

„Ich kann,“ sagte Napoleon, „da ich ja nicht mehr der persönliche
Autokrat bin,“ fügte er lächelnd hinzu, „gegen den Beschluß meiner
Minister nichts thun. Ich bitte Sie indeß, meine Herren,“ fuhr er fort,
sich an die übrigen Minister wendend, „daß Sie sich der Aufgabe
unterziehen mögen, in privater Besprechung und durch persönliche
Einwirkung ein Einverständniß zwischen dem Grafen Daru und Herrn
Ollivier zu ermöglichen. Ich bin überzeugt,“ fuhr er fort, indem er mit
der linken Hand über seinen Bart fahrend den Mund verdeckte, während
seine Rechte in der Kralle des Adlers vor ihm ein großes, hoch
aufragendes Schwert erscheinen ließ, „daß Herr Ollivier ebenso wie ich
das Ausscheiden des Grafen aus dem Cabinet beklagen würde, daß er Alles
aufbieten wird, um eine Verständigung herbeizuführen. In einem Punkt bin
ich jedoch vollkommen der Meinung, welche sich die meisten Herren hier
angeeinigt haben, daß nämlich schnell gehandelt werden müsse, um der
Opposition nicht die Zeit zu lassen, die Stimmenenthaltung zu
organisiren. Ich hoffe also,“ sagte er aufstehend, indem er den
Bleistift neben dem nunmehr vollendeten und mächtig bewehrten Adler
niederlegte, „daß Sie mir morgen die Mittheilung von Ihrer allseitigen
Verständigung machen werden, daß wir Alle miteinander gemeinschaftlich
bei der Durchführung des begonnenen Werkes weiter arbeiten werden.“

Er verneigte sich mit verbindlicher Höflichkeit nach allen Seiten und
verließ das Konferenzzimmer, in welchem die Minister noch fast eine
Stunde zurückblieben, auf alle mögliche Weise versuchend, das
Einverständniß zwischen Herrn Ollivier und dem Grafen Daru herzustellen.

Alle Versuche scheiterten jedoch an der kalten Ruhe, mit welcher der
Graf Daru an seiner Ansicht festhielt und an der pathetischen
würdevollen Unbeugsamkeit, mit welcher Herr Ollivier erklärte, auch
nicht in einem Punkt von seiner Überzeugung abgehen zu können.



Siebentes Capitel.


Napoleon war in sein Cabinet zurückgekehrt, heiter und zufrieden
lächelnd rieb er sich leicht die Hand, während er einige Male langsam
auf- und niederging.

„Alles geht vortrefflich, Drouin de L'huys hat vollkommen Recht, diesen
Ollivier kann man Alles thun lassen, was man will, ein wenig Balsam für
seine Eitelkeit, ein wenig Köder für seinen Ehrgeiz, und er lancirt sich
gesenkten Hauptes in jede Bahn, auf welcher man seiner bedarf. Die Dinge
fügen sich so gut, wie ich es nur irgend wünschen kann, das Plebiscit
wird gemacht, — und ich bedarf des Plebiscits,“ sagte er sinnend vor sich
hinblickend, „um diesen unversöhnlichen Rednern der Kammer zu zeigen,
daß sie nicht mich angreifen, sondern den Willen der Gesammtnation, und
daß nicht sie die Vertreter der Anschauungen Frankreichs sind, sondern
ich selbst, — ich bedarf es dem Auslande gegenüber, um den europäischen
Cabinetten zu zeigen, daß ich noch heute so unumschränkt wie früher über
die Macht Frankreichs gebiete, — das Plebiscit wird gemacht werden, und
zwar bin nicht ich es, der es macht, sondern meine Minister unter der
Führung dieses höchst liberalen und konstitutionellen Herrn Ollivier.
Und wenn dieser zweifelhafte Graf Daru und dieser schwer zu behandelnde
Buffet aus dem Cabinet ausscheiden, so werde nicht ich sie entlassen
haben, sondern sie werden es sein, die sich von der Majorität der
Minister trennen. Alles ist ja konstitutionell und verfassungsmäßig,“
sagte er lächelnd, „und doch geschieht es wie ich will. Vielleicht,“
sprach er nachdenklich, „läßt sich mit dieser konstitutionellen Maschine
noch besser regieren, als wenn man allein steht und ganz allein auch
alle Verantwortlichkeit tragen muß.“

Er ließ sich langsam in seinen Lehnstuhl nieder, bereitete sich
sorgfältig aus dem auf einem kleinen Tisch daneben stehenden türkischen
Taback eine Cigarrette, entzündete dieselbe an der brennenden Kerze und
bewegte eine kleine Handglocke.

„Bereiten Sie Alles vor,“ sagte er dem eintretenden Kammerdiener, „ich
will meine militairische Promenade machen, in einer Stunde habe ich
eine Revue abzuhalten.“

Der Kammerdiener entfernte sich durch die Thür, welche in das
Toilettenzimmer des Kaisers führte.

„Der Graf Bismarck,“ sagte der Kaiser, indem er mit vergnügtem Gesicht
die blauen Wolken des aromatischen Tabacksrauchs in die Luft blies, „hat
Recht mit dem Rath, den er mir einst gab, je mehr ich die
konstitutionelle Doctrin in die Regierung einführe, um so mehr muß ich
meine militairische Macht stärken und das persönliche Band zwischen mir
und der Armee fester ziehen, damit habe ich das Correctiv in der Hand,
und wenn die Wellen jemals zu hoch gehen sollten, so wird es leicht
sein, sie wieder auf das richtige Niveau zurückzuführen. Bis jetzt sind
sie noch leicht zu leiten und trägt das Schiff das Kaiserreich ruhig in
der Richtung fort, welche ich vorgezeichnet habe,“ — und sich bequem auf
den Stuhl zurücklehnend schloß er halb träumend die Augen, indem er in
großen Zügen den duftigen Rauch seiner Cigarrette einsog.

Nach einiger Zeit öffneten sich die Flügel der Thüre, und die Kaiserin
schritt schnell, noch bevor der Huissier sie anmelden konnte, an
demselben vorüber in das Zimmer.

Ihre Mienen zeigten Unruhe und lebhafte Bewegung, sie eilte auf den
Kaiser zu, welcher sich langsam erhob, drückte ihn sanft wieder in
seinen Lehnstuhl zurück und sagte, indem sie sich ihm gegenüber setzte:

„Ich höre, daß die Ministerconferenz zu Ende ist und bin
unendlich gespannt, was das Resultat derselben sei, — sobald die
Meinungsdifferenzen ausgeglichen, wird das Plebiscit ohne Schwierigkeit
durchgeführt werden?“

„Das Plebiscit ist beschlossen,“ sagte der Kaiser, indem er den Rest
seiner Cigarrette fortwarf, „die große Majorität meiner Minister waren
darüber einig, nur,“ fügte er mit einem schnellen Blick auf seine
Gemahlin und einem fast unwillkürlichen Lächeln hinzu, „Graf Daru und
Herr Buffet können sich der Ansicht der Uebrigen nicht anschließen. Ich
werde sie verlieren,“ fügte er wie bedauernd den Kopf schüttelnd hinzu,
„ich habe ihnen die Entlassung, um die sie gebeten, nicht verweigern
können, da sie sich nicht im Einklang mit den Uebrigen befinden.“

Die Kaiserin schlug ihre schlanken weißen Hände gegen einander, ein
Blitz triumphirender Freude sprühte in ihren Augen auf.

„Wir sind Daru los,“ rief sie aus, „diesen verkappten Orleanisten,
diesen Freund des Protestanten Guizot, der uns mit dem heiligen Stuhl
hätte brouilliren mögen. Welch ein Glück,“ — fuhr sie nach einer kleinen
Pause fort, — „haben Sie schon darüber nachgedacht, wer sein Nachfolger
in den auswärtigen Angelegenheiten sein soll?“

„Das ist eine sehr schwierige Frage,“ sagte Napoleon langsam, — „eine
sehr schwierige Frage, welche ein tiefes und eingehendes Nachdenken
erfordert. Ich glaube, da das ganze Interesse sich in diesem Augenblick
auf die inneren Fragen concentrirt und wir eigentlich gar keine
auswärtige Politik machen, so wird es am besten sein, das Provisorium
einige Zeit lang bestehen zu lassen — Ollivier ist bereit, dasselbe zu
führen.“

Immer strahlender und heiterer wurde das Gesicht der Kaiserin.

„Ollivier,“ rief sie, „das Provisorium des auswärtigen Ministeriums!
Louis,“ rief sie, ihm die Hand reichend, welche er galant an die Lippen
führte, „ich bewundere Sie, das ist ein Meisterstreich! Dieser Ollivier
ist ein Schleier, den man ganz Europa gegenüber über unsere Politik
wirft, und hinter diesem Schleier wird man thun und vorbereiten können,
was man will, ohne daß irgend Jemand, er selbst am wenigsten,“ sagte
sie lachend, „eine Idee davon hat. Aber später,“ sagte sie dann — „nach
Ollivier, denn Ollivier kann doch nur so lange Minister sein, bis —“ sie
unterbrach sich —

„bis wir es für zweckmäßig finden werden,“ ergänzte der Kaiser ihren
Satz, „unserer auswärtigen Politik einen bestimmten Stempel
aufzudrücken, und dann wird die Wahl der Person doch immer von dem
System abhängig sein müssen, welches dann zu befolgen für nothwendig
erscheinen sollte.“

„Ich habe Ihnen neulich von Grammont gesprochen,“ sagte Eugenie mit
einem forschenden Blick auf den Kaiser, „der mir alle Eigenschaften in
sich zu vereinigen scheint, welche Ihr auswärtiger Minister in einem
entscheidenden Augenblick haben müßte, und der Ihnen persönlich und
unserer Dynastie tief ergeben ist, indem er die monarchischen
Traditionen seiner legitimistischen Familie nunmehr auf das Kaiserreich
überträgt, nachdem er sich dem Dienst desselben gewidmet hat. Grammont
kennt besonders genau die Verhältnisse Österreichs, das doch für unsere
auswärtige Politik und für unsere auswärtige Action,“ fügte sie mit
besonderer Betonung hinzu, „einer der wichtigsten Factoren ist.“

„Es würde nur darauf ankommen,“ sagte der Kaiser, ohne den Blick seiner
Gemahlin zu erwidern, „welche Politik man nach Außen inauguriren wird,
nachdem diese inneren Angelegenheiten zum Abschluß gebracht sind. Unter
gewissen Verhältnissen würde allerdings Grammont eine sehr geeignete
Persönlichkeit sein.“

„Unter allen,“ sagte die Kaiserin, „Grammont ist ebenso geschickt und
geschmeidig, als ergeben.“

„Nun,“ sagte der Kaiser, „man könnte ihn ja dann wieder hierher kommen
lassen. Ich habe früher ausführlich mit ihm über die Lage der
Verhältnisse gesprochen und würde persönlich sehr gern mit ihm
verkehren. Es käme aber darauf an, ob er sich mit den übrigen Führern
des Cabinets verständigen könnte, denn wir haben ja jetzt ein
constitutionelles Regiment —“

Die Kaiserin zuckte die Achseln.

„Namentlich,“ fuhr Napoleon fort, „ob er mit Ollivier zu harmoniren im
Stande wäre!“

„Ollivier,“ rief die Kaiserin, „dieser spartanische Bürger wird
überglücklich sein, in einem Cabinet mit einem Herzoge aus dem alten
Hause der Guiche und der Grammont sich zu befinden.“ —

„Wir wollen weiter darüber sprechen, wenn das Plebiscit vollendet sein
wird,“ sagte der Kaiser.

Die Kaiserin ließ einen Augenblick mit einer anmuthigen Beugung ihres
schlanken Halses den Kopf auf die Brust sinken.

„Er hat einen Hintergedanken,“ flüsterte sie unhörbar.

Dann blickte sie den Kaiser mit ihren großen, klaren Augen ruhig und
gleichgültig an.

„Man hat in diesen Tagen,“ sagte sie, „wieder von einer Combination
gesprochen, welche, wie ich glaube, schon im vorigen Jahre einmal
flüchtig erörtert wurde, von einer Candidatur des Prinzen von
Hohenzollern für den spanischen Thron“ —

Der Kaiser warf schnell einen flüchtigen Blick auf seine Gemahlin hin —

 — „vielleicht wäre es gut, wenn sich das machen ließ,“ fuhr Eugenie
fort, „ich bedaure die unglückselige Königin Isabella auf's tiefste und
würde vor allen Dingen wünschen, daß ihr oder ihrem Sohn der spanische
Thron gerettet werden könnte, allein, wie die Verhältnisse stehen und
bei den so unschlüssigen und politisch unklaren Rathgebern, mit denen
sie umgeben ist, scheint mir leider zu meinem tiefen Bedauern dazu wenig
Aussicht zu sein. Wenn es nun möglich wäre, die für Frankreich und für
uns ungünstigste Chance auszuschließen, — die Candidatur des Herzogs von
Montpensier, welcher der Orleanistischen Agitation in Spanien einen
festen Halt geben würde, so wäre es vielleicht nicht unerwünscht, einen
jungen, uns befreundeten und verwandten Prinzen, der außerdem gut
katholisch ist, auf diesem spanischen Thron zu wissen.“

„Der Prinz von Hohenzollern,“ sagte der Kaiser in demselben
gleichgültigen Ton, in welchem seine Gemahlin gesprochen hatte, „steht
dem preußischen Hause sehr nahe, und seine Thronbesteigung in Spanien
würde einen Einfluß des Berliner Cabinets im Süden der Pyrenäen
begründen, der den Interessen Frankreichs nicht zu entsprechen scheint.
Ich habe deshalb, als im vorigen Jahre die Sache angeregt wurde,
erklären lassen, daß die Candidatur des Prinzen von Hohenzollern eine
antinationale sei, während diejenige des Herzogs von Montpensier nur
meiner Dynastie feindlich ist. So sehr ich daher,“ fuhr er fort, „an dem
einmal ausgesprochenen Prinzip festhalte, der spanischen Nation
gegenüber, was ihre Entschließungen für die Zukunft betrifft, die
strengste Zurückhaltung zu beobachten, so habe ich doch auch nicht
verhehlt, daß eine Candidatur des Prinzen von Hohenzollern auf eine
Zustimmung von Frankreich nicht zu rechnen habe. Seit jener Zeit,“ sagte
er, die Achseln zuckend, „habe ich nichts wieder davon gehört, möglich,
daß die Sache noch einmal wieder aufgenommen wird. Ich stehe noch auf
demselben Standpunkt wie damals und ich glaube nicht, daß Frankreich
einen preußischen Prinzen auf dem spanischen Thron sich ruhig gefallen
lassen könnte.“

„Sie würden also,“ sagte die Kaiserin, „noch lieber Montpensier als den
Erbprinzen von Hohenzollern in Madrid regieren sehen?“

„Unbedingt,“ erwiderte der Kaiser mit festem Ton, „denn ich werde stets
die Interessen meiner Person und meines Hauses denjenigen Frankreichs
nachstellen.“

„Nun,“ sagte die Kaiserin, „dann wird aus der Sache nichts werden, denn
ich glaube nicht, daß Prim etwas thun wird, wovon er weiß, daß Sie es
nicht billigen.“

„Ich habe keine Veranlassung gehabt,“ sagte der Kaiser, „über diese
Frage mit Prim meine Gedanken auszutauschen, und es ist in der That
nicht nur eine Phrase, wenn ich versichere, dieser ganzen spanischen
Angelegenheit völlig fern bleiben zu wollen. — Sie wollen mich nicht zu
der Revue begleiten, die ich auf dem Carousselplatz abhalten will,“
sagte er abbrechend, „ich habe die Garde de Paris und die Pompiers,
auch eine Schwadron Seine-Gendarmerie zu der Truppenaufstellung
hinzugezogen. Es ist in dieser Zeit immer gut, wenn man auch diesen
Corps möglichst viel militairisches Gefühl einflößt.“

„Ich danke,“ erwiderte die Kaiserin, „ich habe verschiedene Audienzen zu
geben.

Au revoir,“ fügte sie hinzu, indem sie aufstand und ihrem Gemahl die
Wange reichte. „Ich wünsche Ihnen nochmals Glück, diesen heimlichen
Orleanisten aus Ihrem Rath entfernt zu haben.“

Der Kaiser geleitete seine Gemahlin zur Thür und kehrte dann
nachdenklich und ernst in sein Zimmer zurück.

„Es geht etwas mit dieser spanischen Candidatur Hohenzollerns vor,“
flüsterte er vor sich hin, „man möchte diesen Fall zu einer Kriegsfrage
zurecht machen — ich durchschaue das Alles sehr gut, man will sich
versichern, daß ich mich wirklich einer solchen Candidatur ernstlich und
energisch widersetzen würde, um in diesem Falle die Ereignisse danach
gestalten zu können. Ich lasse das Alles gehen,“ sagte er lächelnd,
„diese Candidatur des Prinzen Leopold, die man da so unvermuthet als
einen plötzlichen und unabwendbaren Kriegsfall vor mich hinstellen
möchte, kann mir vielleicht sehr gute Dienste leisten und mir die
Handhabe bieten, die ganze Lage der Dinge, ohne diese lärmende und
unsichere Entscheidung der Waffen zu meinen Gunsten zu gestalten. Ich
glaube nicht,“ sagte er nachdenklich, „daß das Cabinet von Berlin oder
der König von Preußen auf diese Hohenzollernsche Candidatur einen
besondern Werth legen wird, — Benedetti glaubt, daß der Graf Bismarck ihm
nicht seinen letzten und innersten Gedanken ausgesprochen habe, — mir
scheint, Benedetti täuscht sich, vielleicht möchte es eher dem
preußischen Stolz widerstreben, einen Prinzen, der in vielen Beziehungen
mit dem dortigen königlichen Hause zusammenhängt, sich auf einen Weg
begeben zu sehen, der zu einem ähnlichen Schicksal führen kann, als es
den Herzog Maximilian in Mexico erreichte. Wenn diese Candidatur
wirklich eine ernste Form gewinnt, so wird die Gelegenheit da sein, ein
kräftiges und volltönendes Wort zu sprechen und die Zurückziehung
derselben vor dem übrigen Europa als einen moralischen Sieg über
Deutschland und Preußen erscheinen zu lassen. Damit wird eine große
Sache gewonnen sein — die Wiederherstellung des französischen
erschütterten Selbstgefühls und des Vertrauens in die Überlegenheit der
kaiserlichen Regierung. Lassen wir also die Dinge immerhin gehen, — ich
glaube, sie gehen einen guten Weg, und ich werde dahin kommen, mich aus
allen Verlegenheiten, die mich umringen, ohne eine kriegerische
Entscheidung, welche ich in den Leiden meiner Krankheit mehr als je
vorher scheue — zu entziehen.“

Der Huissier öffnete die Thür und meldete:

„Seine kaiserliche Hoheit der Prinz Napoleon.“

Der Kaiser seufzte und zuckte unwillkürlich die Achseln mit einer Miene,
welche anzudeuten schien, daß ihm dieser Besuch nicht allzu erfreulich
sei, indessen neigte er zustimmend den Kopf und ging mit freundlichem
Gruß dem Prinzen die Hand reichend, seinem Vetter entgegen, welcher
raschen und unruhigen Schritts in das Cabinet trat.

„Ich bin erfreut, Dich zu sehen, mein lieber Vetter,“ sagte der Kaiser,
„indessen habe ich nur wenige Augenblicke, da die Truppen bereits auf
dem Carousselplatz aufgestellt sind und die Stunde der Revue geschlagen
hat.“

Der Prinz Napoleon war eine eigenthümliche Erscheinung, welche man kaum
hätte vergessen können, wenn man ihm einmal begegnet war. Sowohl in
seiner Figur, als in seinem olivenfarbenen scharf geschnittenen
bartlosen Gesicht mit dem kurzen schwarzen Haar zeigte er eine sehr
charakteristische Ähnlichkeit mit seinem großen kaiserlichen
Oheim; — während indeß auf den Zügen des Letzteren jene edle, antik
klassische Ruhe lag, welche die Köpfe aus der großen Kaiserzeit des
alten Roms charakterisirt, während die Augen des weltbeherrschenden
Imperators tief sinnend vor sich hinblickten oder weltentzündende
zorngewaltige Blitze schleuderten, — lag in dem ganzen Wesen des Prinzen
eine zerfahrene Unruhe und fieberhafte Hast, welche mit dem antiken
Schnitt seines Gesichts durchaus nicht vereinbar schienen und seiner
ganzen Erscheinung den Ausdruck wohlthätiger Ruhe und Harmonie raubten;
seine Augen blickten unstät hin und her, seine Lippen zuckten in
fortwährend bewegtem Mienenspiel, und in kurzen Zwischenräumen öffnete
sich sein Mund zu einem unwillkürlichen, krampfhaft nervösen Gähnen.
Auch seine Gestalt war stärker und gedrungener als die des großen
Kaisers, und wenn er mit heftigen Gesticulationen seine Worte
begleitete, so brachten seine Bewegungen fast einen komischen Ausdruck
hervor.

Der Prinz trug einen schwarzen Civilmorgenanzug, einen hohen Cylinderhut
in der Hand, die große Rosette der Ehrenlegion im Knopfloch.

„Ich will Eure Majestät nur einen Augenblick aufhalten,“ sagte er, mit
einer gewissen rauhen Betonung die Worte hervorstoßend, „es drängt mich,
von Eurer Majestät selbst zu hören, ob die Gerüchte, welche die Stadt
zu durchlaufen beginnen, wahr sind. Eure Majestät,“ fuhr er fort,
„kennen die tiefe Ergebenheit, welche ich für Sie hege als für den Chef
meiner Familie und für den liebevollen Freund meiner Jugend, — bei dieser
tiefen Ergebenheit müssen die Gerüchte, welche so eben bis zu mir
gedrungen sind, mich mit tiefer Unruhe erfüllen.“

„Und welche Gerüchte meinst Du,“ fragte der Kaiser ruhig und kalt, indem
er sich in seinen Lehnstuhl niederließ und den vollen Blick seines groß
geöffneten Auges auf den Prinzen richtete, welcher vor ihm stehen blieb
und vor diesem scharfen forschenden Blick mit leichter Verlegenheit die
Augen zu Boden schlug.

„Ich meine das Gerücht von dem Grafen Daru,“ sagte der Prinz rasch und
heftig, „ganz Paris spricht bereits davon. Man erzählt, daß Du,“ fuhr er
immer lebhafter fort, indem er die ceremonielle Haltung, welche er bei
seinem Eintritte angenommen hatte, vergaß, — „das Plebiscit unter allen
Umständen durchführen willst, und daß deswegen Graf Daru, der in der
That nicht zu meinen Freunden gehört, aber der dadurch in diesem
Augenblick populär werden wird, sich von den Geschäften zurückziehen
will.“

„Es handelt sich um keine Differenz zwischen dem Grafen Daru und mir,“
erwiderte der Kaiser. „Der Graf befindet sich in Meinungsverschiedenheit
mit Ollivier und den übrigen Ministern, es ist eine vollständig
constitutionelle Krisis,“ fügte er mit leichtem Lächeln hinzu, „in
welche ich einzugreifen außer Stande bin.“

„Eine constitutionelle Krisis,“ rief der Prinz lebhaft, indem er laut
auflachte und dann die Hand einen Augenblick vor den Mund hielt, um
einen Gähnkrampf zu verbergen, der ihn erfaßte, — „eine Meinungsdifferenz
mit Ollivier? Hat denn dieser Ollivier,“ fuhr er fort, „eine Meinung,
die nicht die Deinige ist? — Doch darum handelt es sich nicht, es handelt
sich nicht um die augenblickliche Situation,“ sprach er rasch
weiter, — „ob Daru bleibt oder geht, ist mir in der That sehr
gleichgültig, — aber der Grund dieser Krisis — der Grund dieses
Plebiscits — was willst Du mit dem Plebiscit machen — wozu diese
fortwährenden Revuen in einer Zeit, in welcher alle militairischen
Fragen so vollständig in den Hintergrund treten, — Du hast einen Plan, Du
willst den Krieg, Du willst unter der Maske dieses Ollivier, unter dem
Schein des Constitutionalismus die Dictatur wieder herstellen, um
plötzlich hervorbrechen zu können und den europäischen Staatsstreich,
wie man es nennt, auszuführen, oder vielleicht,“ fuhr er fort, indem
sein stechender Blick sich mit dem Ausdruck des Hasses und des Zorns
erfüllte, „oder vielmehr Andere wollen dies. Man will Dich dahin
bringen, es auszuführen.“

Der Kaiser hatte völlig unbeweglich ohne jeglichen Ausdruck auf seinem
Gesicht den heftigen Worten des Prinzen zugehört, ein wenig auf die
Seite geneigt, ließ er langsam die Spitzen seines Schnurrbarts durch die
Finger gleiten und sagte mit einem unendlich naiven Ton:

„Du glaubst?“

„Ja,“ rief der Prinz zornig, mit dem Fuße stampfend, „ich glaube es und
ich glaube auch, daß Du auf einen Weg gehst, der Frankreich, Dich und
uns Alle in's Verderben stürzen wird, — wir können nicht schlagen, — ich
weiß es, — man täuscht Dich, — Deine großsprechenden Generale, dieser
Leboeuf an der Spitze, glauben, daß man mit Phrasen den Kampf gegen eine
so furchtbare Macht wie Preußen aufnehmen kann. Sie Alle haben gar keine
Idee von dem, was man zum Kriege nöthig hat — selbst Niel wäre nach
meiner Überzeugung noch nicht fertig für einen so gewaltigen Kampf, aber
diese — die Dich jetzt umgeben, haben das Werk Niels nicht nur nicht
fortgesetzt, sie haben es wieder zu Grunde gerichtet. Deine Armee ist in
Unordnung, die Festungen sind nicht im gehörigen Stand, die Magazine
sind nicht gefüllt, die Organisation der Militairverwaltung ist mehr als
mangelhaft, und wenn Du Dich zu diesem Kriege hinreißen läßt, so wirst
Du, — ich wiederhole es — uns Alle zu Grunde richten.“

Der Kaiser blieb fortwährend unbeweglich.

„Ich begreife nicht, mein lieber Vetter, wie Du auf diese Idee
kommst, — es ist ja nicht die kleinste Wolke am politischen Himmel, und
es handelt sich ja in diesem Augenblick ganz ausschließlich nur um
innere Fragen. Was übrigens unsere Armee und die Militairverwaltung
betrifft, so ist die Ansicht sehr bewährter Generale eine andere als die
Deinige und,“ fügte er mit einem mehr gutmüthigen als ironischen Lächeln
hinzu, „jenen steht vielleicht eine größere praktische Erfahrung als Dir
zur Seite.“

„Es gehört nicht eine allzu große praktische Erfahrung dazu,“ erwiderte
der Prinz in entrüstetem Ton, „um das zu sehen, was Jedermann sehen kann
und was man Dir allein mit Erfolg zu verbergen sucht, da Dein zu großes
Vertrauen Dich verhindert, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich bitte
Dich, untersuche wenigstens, bevor Du Dich zu gefährlichen
Unternehmungen hinreißen läßt, genau den Zustand der Armee, — untersuche
ganz besonders den Zustand der Flotte, dieser ist noch bedenklicher als
der der Landtruppen.“

„Mein liebes Kind,“ sagte der Kaiser in einem väterlichen freundlichen
Ton, „Du agitirst Dich ohne Grund, glaube mir, die Absichten, die Du
voraussetzest, bestehen nicht.“

„Sie bestehen nicht?“ rief der Prinz. „Sie bestehen vielleicht bei Dir
nicht, aber sie bestehen rings um Dich her, und man wird Dich so
umgarnen, man wird alle Verhältnisse so drehen und wenden, daß Du
schließlich nicht anders können wirst, als die Pläne derer auszuführen,
welche in ihrer Verblendung dazu bestimmt scheinen, Dich und uns Alle
in's Unglück zu stürzen. Die Kaiserin —“

Der Kaiser stand auf; für einen Augenblick schien er vollkommen Herr
über die Schwäche zu sein, welche seine Haltung gewöhnlich unsicher und
schwankend erscheinen ließ. Er richtete den Kopf hoch empor, seine Augen
öffneten sich weit und leuchteten im tiefen Glanz auf, aus seinen Zügen
strahlte eine wunderbare Hoheit und Ueberlegenheit, und mit einer
vollen, metallisch klingenden Stimme sprach er:

„Mein lieber Vetter, ich bin das Haupt unserer Familie und das erwählte
Oberhaupt der französischen Nation, ich trage die Verantwortlichkeit für
meine Entschließungen und bin mir dieser Verantwortlichkeit vollkommen
bewußt, — auf meine Entschließungen aber hat Niemand Einfluß, als die
ruhige Erwägung und die richtige Beurtheilung der Verhältnisse,
Niemand,“ wiederholte er mit strenger Betonung, „und auch kein Glied
meiner Familie — kein Glied derselben ohne Ausnahme.“

Er schwieg einen Augenblick, dann fügte er mit milderem Ton hinzu, indem
er dem Prinzen die Hand reichte:

„Ich danke Dir für Deine Theilnahme an dem Geschick Frankreichs und an
dem Meinigen und bin überzeugt, daß, wenn ernstere Ereignisse eintreten
sollten, wozu in diesem Augenblick nicht die geringste Veranlassung
vorliegt, Du an dem Platz, an welchem ich Dich dann zu stellen
beschließen werde, mit voller Hingebung und Selbstverleugnung Deine
Schuldigkeit thun wirst.

„Ich bin,“ sagte er mit höflichem, aber bestimmtem Ton, „bereit, mit Dir
in ruhigen Augenblicken diese Unterhaltung fortzusetzen; für jetzt muß
ich Dich bitten, mich zu entschuldigen, denn die Stunde der angesagten
Revue ist bereits vorüber, und Du weißt, daß selbst unser großer Oheim
den unumstößlichen Grundsatz hatte, die Truppen niemals warten zu
lassen, sondern ihnen stets das Beispiel genauester Pünktlichkeit zu
geben.“

„Du willst mich nicht hören,“ rief der Prinz heftig, — „Du kannst Dich
noch immer nicht gewöhnen, in mir den reifen Mann zu sehen, Du glaubst
also den Fremden mehr — als mir, der ich Dir doch wahrlich am nächsten
stehe. Nun, ich werde nicht müde werden, auch auf die Gefahr hin, Dir zu
mißfallen, bis zum letzten Augenblick Dir meine Meinung zu sagen.“

„Und ich werde Dich immer mit Aufmerksamkeit und mit der alten Liebe
anhören, die ich Dir stets bewiesen habe,“ sagte der Kaiser, indem er
seinem Vetter die Hand reichte, „auf Wiedersehen!“

Der Prinz drückte die Hand des Kaisers so heftig, daß dieser sie schnell
zurückzog. Seine Lippen öffneten sich, es schien, als wolle er noch
Etwas sagen, doch er verneigte sich nur schweigend und sich schnell
umwendend, stürmte er aus dem Cabinet hinaus.

„Welch' ein unregelmäßiger Geist,“ sagte der Kaiser, ihm nachblickend,
„wie schade ist es um all' die vortrefflichen Eigenschaften, welche er
besitzt, um all' die großen Keime, welche unerschlossen in ihm ruhen
oder welche nach falscher Richtung hin sich entwickelt haben. — Was meine
Verwandten betrifft,“ sagte er dann mit einem halb ironischen, halb
wehmüthigen Lächeln, „so könnten die Prinzen der ältesten und
legitimsten Dynastie ihrem Souverain kaum mehr Verlegenheit bereiten,
als meine Herren Vettern es mir thun, — dieser unglückliche Pierre, der
Victor Noir erschossen, — Murat, der diesen kleinen Lecomte
geprügelt — und dieser Napoleon, der seinen reichen Geist und seine
wirklich tiefen Kenntnisse nur dazu benutzt, um überall Verwirrungen zu
stiften, — vielleicht sollte ich strenge gegen ihn sein, ich sollte ihn
mehr fühlen lassen, daß ich der Chef des Hauses und der Souverain
Frankreichs bin, denn zuweilen überschreitet er wirklich die Grenzen des
Erlaubten. Aber,“ sagte er, den Kopf sinnend auf die Brust senkend, „ich
habe eine Schwäche für ihn, — ich habe ihn ein wenig mit erzogen, — in
seinen Adern rollt das Blut des großen Kaisers, und dann — er ist der
Bruder dieser so edlen und so großherzigen Mathilde, — die unter Allen
meine treueste Freundin ist.“

Er faltete die Hände und blieb längere Zeit in tiefem Sinnen stehen,
dann fuhr er auf, strich mit der Hand über die Stirn, als wolle er
Bilder und Erinnerungen verscheuchen, die vor ihm aufgestiegen waren,
warf einen raschen Blick auf seine Uhr und begab sich schleunigst in
sein Toilettenzimmer.

Auf dem Carousselplatz innerhalb des großen Vierecks, welches die durch
den Kaiser vereinigten Paläste der Tuilerien und des Louvre bildeten,
war eine Division Infanterie aufgestellt, darunter das zweite Regiment
der Grenadiere der Garde mit den gewaltigen Bärenmützen, welche man auf
den Schlachtenbildern des ersten Kaiserreichs erblickt und welche noch
bis zu jener Stunde den Stolz der alten Garde bildeten; die langbärtigen
Sappeurs mit ihren weißen Schurzfellen, ihren hohen Stulphandschuhen und
ihren blitzenden Beilen an der Spitze der Bataillone — daneben acht
Batterien der Artillerie mit der an die deutschen Husaren erinnernden
Uniform, den Dolmans und Colpacks, — die Garde de Paris und die
Seine-Gendarmerie zu Pferde, welche fast unverändert die Uniform der
Grenadiere à Cheval des ersten Kaiserreichs trugen; neben diesen standen
die Pompiers, diese militairische Feuerwehr mit ihren blitzenden Helmen.

Eine große Menschenmenge umringte, von den Sergeants de Ville
zurückgehalten, die Aufstellung der Truppen, deren Waffen im hellen
Sonnenschein blitzten.

Das alte Schloß der Tuilerien und alle diese Uniformen nach den Mustern
des ersten Kaiserreichs riefen lebhaft die Bilder der Vergangenheit in's
Gedächtniß. Und als nun das Gitterthor an dem innern Hof der Tuilerien
sich öffnete, die zwei davor haltenden Kürassierposten sich militairisch
empor richteten, — als die Suite der Adjutanten und Ordonnanzofficiere
vor dem Haupteingang des Palastes sich rangirten, die Reitknechte die
Pferde heranführten und der Marschall Canrobert, der in der
goldglänzenden Uniform mit den weißen wallenden Federn auf dem
goldbordirten Hut, den Marschallstab in der Hand, von seiner Suite
umgeben, in der Mitte der Truppnenaufstellung hielt, sich in dem Sattel
aufrichtete und noch einen letzten Blick über die in musterhafter
Haltung dastehenden Truppen warf, da hätte man fast erwarten können, aus
dem großen Portal der Tuilerien heraus die kleine Gestalt des
welterobernden Cäsars mit dem ehernen Gesicht und dem leuchtenden
Feldherrnblick hervortreten zu sehen, um wie an dem Tage der großen
Vergangenheit seine Soldaten zu mustern, welche die Adler Frankreichs
siegreich nach allen Hauptstädten Europa's getragen hatten. —

Die Stallknechte führten das schöne weiße Leibpferd des Kaisers vor das
Portal.

Etwas unsichern Ganges erschien Napoleon III. in der
Generallieutenants-Uniform, das große rothe Band der Ehrenlegion über
der Brust. Die Hinfälligkeit seiner Gestalt, die krankhafte Schlaffheit
seiner Gesichtszüge waren in der militairischen Kleidung noch sichtbarer
und auffälliger, als im Civilanzug. Er setzte den Fuß in den Bügel und
langsam, mit einer gewissen Anstrengung hob er sich in den Sattel
hinauf. Ein Augenblick zuckte es wie stechender Schmerz durch sein
Gesicht, dann nahm er wie mit lebhafter Willensanstrengung eine feste
Haltung an; und selbst jetzt, trotz seiner von Alter und Krankheit
gebrochenen Kraft konnte man doch noch eine Spur jener Leichtigkeit und
Sicherheit erkennen, welche ihn einst zu einem der besten Reiter
Europa's gemacht hatten.

Die ganze glänzende militairische Suite des Kaisers, welche ihn
zu Fuß erwartet hatte, saß in demselben Augenblick, in welchem der
Kaiser in den Sattel gestiegen war, zu Pferde. Hundert Garden
mit den goldglänzenden antiken Helmen und den blauen gold- und
scharlachschimmernden Uniformen sprengten vor; und langsam ritt der
Kaiser durch das Gitterthor der Truppenaufstellung entgegen.

Marschall Canrobert und sein Stab sprengten heran, der Marschall grüßte
mit dem Stabe und erhob denselben dann, indem er sich nach den Truppen
hinwandte; in demselben Augenblick begannen die sämmtlichen Musikkorps
jene einfache Melodie zu spielen, welche die schöne Hortense Beauharnais
einst für die alte Romanze „partant pour la Syrie“ componirt hatte, die
man zu jener Zeit nicht auf den jeune et beau Dunois, sondern auf den
vom ersten glänzenden Strahl seines Ruhmes beleuchteten Feldherrn bezog,
der später die Krone Karl des Großen auf sein Haupt zu setzen bestimmt
war. Zu gleicher Zeit brauste in donnerndem Ruf das „Vive l'empereur“
von allen Truppenabtheilungen herüber.

Der Kaiser nahm den Hut ab, und sein Blick flog über diese blitzenden
Geschütze, über diese kühn blickenden Männer, über diese schnaubenden
Pferde hin — ein Augenblick färbte ein leichtes Roth seine Züge, seine
Augen leuchteten auf, fester richtete er sich im Sattel empor; da fiel
sein Blick auf die Menge, welche sich bis dicht an die Truppen
herangedrängt hatte und am Eingang des Gitterthors höchstens zehn
Schritt von ihm entfernt war.

In der ersten Reihe der Zuschauer sah er eine lange, hagere Gestalt
stehen, in zerrissene Lumpen gehüllt, das Haupt, welches aus diesen
Lumpen hervorragte, war unbedeckt, sein dunkles Haar hing ungeordnet um
die Schläfen herab; unter der vorspringenden niedrigen Stirn blickten
dunkle tief liegende Augen hervor, eine lange, weit vorspringende Nase,
tief eingesunkene Wangen und ein struppiger Bart gaben diesem Gesicht
etwas Fanatisches und Krankhaftes.

Der Blick des Kaisers wurde unwillkürlich durch diese Erscheinung
gefesselt, denn der Mann, der da unbeweglich stand, sah ihn mit einer
Gluth so wilden und unversöhnlichen Hasses an, daß der Kaiser
zusammenschauerte. Er wandte sich einen Augenblick um, als wolle er
einen Befehl geben, dann blickte er wieder auf jenen Mann hin, dessen
beide Hände frei waren und der ohne jede Bewegung starr wie eine
Bildsäule da stand, — noch einmal erhob sich gewaltig und weithin über
den Platz schallend das „Vive l'empereur“ der Truppen.

Dann trat eine augenblickliche tiefe Stille ein, der Marschall Canrobert
sprengte an die Seite des Kaisers, um ihn beim Heranreiten der Fronte zu
begleiten.

Napoleon gab seinem Pferde einen leichten Schenkeldruck, indem er noch
einmal wie fascinirt nach jenem in Lumpen gehüllten Mann hinsah.

Da trat dieser Mann plötzlich einige Schritte vor, immer die Augen voll
grimmigen fanatischen Hasses auf den Kaiser gerichtet. Er erhob die Arme
nicht, er machte keine Bewegung, aber mit einer lauten, gellenden
Stimme, welche schaurig durch die augenblickliche Stille, die dem lauten
Rufen der Truppen gefolgt war, über den Hof hinschallte, rief er mehrere
Male hinter einander:

„Nach Cayenne! Nach Cayenne!“

Napoleon parirte sein Pferd, die ganze Suite hielt an, ein Ruf des
Entsetzens ertönte aus der nächsten Umgebung des Kaisers. Verschiedene
Officiere waren im Augenblick vom Pferde gesprungen und hatten im Verein
mit einer großen Anzahl von Sergeants de Ville und Polizeibeamten in
Civil, welche im Nu aus der Menge der Zuschauer hervorbrachen, den
Unbekannten umringt und festgenommen.

Er machte keine Miene des Widerstands und ließ sich, nachdem er noch
einmal einen Blick tiefen und unversöhnlichen Hasses auf den Kaiser
geworfen, nach dem Erdgeschoß der Tuilerien hinführen.

Napoleon hatte schnell mit der ihm stets eigenen Selbstbeherrschung
seine Ruhe wiedergefunden.

„Ein armer Wahnsinniger,“ sagte er lächelnd zu dem Marschall Canrobert
gewendet, und in kurzem Galopp sprengte er, von seiner glänzenden Suite
gefolgt nach dem Flügel der Truppenaufstellung; langsam ritt er dann
die Reihen hinunter, und noch enthusiastischer als vorher wurde er
überall mit jubelnden Zurufen begrüßt.

Er schien aus seiner früheren gleichgültigen Lethargie erwacht zu sein,
und mit stolzem festem Blick sah er diese herrlichen Truppen an, die ihm
so laut und freudig ihre Ergebenheit beweisen wollten. Lächelnd machte
er dem Marschall seine Complimente über die Haltung der Truppen, dann
sprengte er zurück, nahm eine Aufstellung vor dem Gitterthor — seiner
Suite weit voran, und indem er einen scharfen, festen, herausfordernden
Blick auf die herandrängende Menge warf, gab er das Zeichen zum Beginn
des Vorbeimarsches. Während die einzelnen Regimenter vor ihm
vorbeidefilirten, nach französischer Sitte als Zeichen ihrer
begeisterten Huldigung die Kopfbedeckungen an der Spitze ihrer Waffen
schwingend, ertönte von Neuem immer und immer wieder der alte Ruf „Vive
l'empereur“, welcher schon so oft und in großen Augenblicken von diesen
altersgrauen Mauern wiederhallt war an derselben Stelle, wo die
sterbenden Diener des versinkenden Königthums zum letzten Male „Vive le
roi“ gerufen hatten, und wo bereits zwei Mal eine wilde blutige Masse
ihr „Vive la Republique“ geheult hatte.

Die Revue war beendet, der Kaiser dankte dem Marschall und den
Officieren, ritt langsam zum Portal zurück, stieg ab und begab sich,
sein Gefolge freundlich mit der Hand grüßend, nach seinem Cabinet
zurück.

Hier angekommen warf er sich erschöpft in seinen Lehnstuhl, die stolze
und feste Haltung, welche er den Truppen gegenüber beobachtet hatte,
verschwand, körperlicher Schmerz und tiefe Niedergeschlagenheit zeigte
sich in seinen schlaffen, zusammensinkenden Gesichtszügen.

„Ist der Polizeipräfect hier?“ fragte er den Kammerdiener, welcher ihm
Hut und Handschuhe abnahm.

„Er befindet sich in einem Zimmer des Erdgeschosses und verhört den
Elenden, welcher es gewagt, Eure Majestät zu insultiren.“

„Ich lasse ihn bitten, sogleich zu mir zu kommen.“

Er sank in sich zusammen und erwartete schweigend die Ankunft des Chefs
der Polizei.

Nach kurzer Zeit trat Herr Pietri in das Zimmer. Dieser Leiter der weit
ausgedehnten Polizei von Paris war eine schmächtige schlanke Gestalt,
geschmeidig und biegsam, — sein Kopf mit der weit vorspringenden, stark
gewölbten Stirn war oberhalb spitz emporspringend, das dünne dunkle Haar
lag auf den Schädel glatt an und bildete zur Seite der tief
eingefallenen Schläfen zwei kleine, etwas abstehende Locken. Die
Backenknochen standen stark hervor, die Augen lagen so tief zurück, daß
der scharfe stechende Blick wie aus dunklen Schatten hervorblitzte; die
stark gebogene Nase hing weit raubvogelartig gekrümmt über den von einem
langen schwarzen Schnurrbart verdeckten Mund herab. Der ganze Eindruck
dieses eigenthümlichen, gelb gefärbten Gesichts war ernst, kalt und
finster.

„Was für ein Mensch ist das?“ fragte Napoleon mit leichtem Kopfnicken
den Gruß des Polizeichefs erwidernd.

„Er heißt Lezurier,“ erwiderte Pietri. „Trotz der Lumpen, in welche er
gehüllt war,“ fuhr er fort, „fand man bei ihm eine Börse mit elftausend
Francs in Gold, drei Staatsrentenbriefe über dreißigtausend Francs
jährlicher Rente und ein Dolchmesser. Man hat sofort seine Wohnung
ermittelt, und soeben berichtet man mir, daß bei der ersten Nachsuchung
eine Menge von Waffen dort entdeckt worden ist, Keulen, Säbel, Lanzen,
Revolver, Todtschläger, Dolche, Bayonette und Stockdegen, außerdem fand
man in einem alten Pult noch sechzigtausend Francs in Gold. Seine ganze
Behausung ist höchst ärmlich, er aß bei einem Lumpensammler in der
unmittelbaren Nachbarschaft, bezahlte demselben monatlich dreißig
Francs.“

„Räthselhaft,“ sagte der Kaiser tief nachdenkend. „Und was hat er
bezweckt? Was war der Grund seiner Handlung?“

„Er setzt allen Fragen ein hartnäckiges Schweigen entgegen,“ erwiderte
Pietri.

Ein rascher Entschluß blitzte im Auge des Kaisers auf.

„Führen Sie ihn her, ich will ihn sehen,“ sprach er, — „ich will ihn
selber fragen.“

„Sire,“ sagte Pietri fast erschrocken, „Eure Majestät wollen —“

„Er konnte mir doch in der That,“ sagte der Kaiser, „draußen auf dem
Tuilerienhof gefährlicher werden, als hier in meinem Zimmer, nachdem man
ihm alle Mittel zu schaden abgenommen hat. Führen Sie ihn mir hierher,
aber kommen Sie allein mit ihm, lassen Sie keinen untergeordneten
Beamten mit eintreten. Wir werden uns ja wohl gegen ihn verteidigen
können,“ fügte er lächelnd hinzu.

Pietri verneigte sich und ging hinaus. Nach einigen Augenblicken kehrte
er zurück — ihm folgte, von zwei Polizeibeamten bis zur Thür geführt,
der räthselhafte Unbekannte.

Derselbe trat ruhigen und festen Schrittes ein und blieb in einiger
Entfernung von der Thür stehen. Sein Anblick war erschreckend, die
ohnehin schon zerfetzten Lumpen, die ihn einhüllten, waren bei seiner
Arretirung noch mehr zerrissen und hingen in fast formlosen Stücken um
seinen Körper her, von einem Schlage, den er erhalten, hatte seine Nase
geblutet, auch hatte er eine nicht unbedeutende Wunde an der Stirn
erhalten, sein Gesicht war mit Blut befleckt und seine Haare klebten an
den Schläfen mit Blut und Staub fest, er war noch bleicher als vorher
und seine unheimlich glühenden Augen blickten mit demselben tiefen und
unversöhnlichen Haß zu dem Kaiser hinüber.

Napoleon sah diesen Mann lange schweigend an, die Schleier, welche fast
immer seine Augen verhüllten, waren verschwunden, voll und frei ruhte
sein forschender Blick auf der Gestalt des Gefangenen, doch fand der
grimmige Ausdruck des Hasses, welcher dessen Züge erfüllte, in den Augen
des Kaisers keine Erwiderung. Er sah diesen Mann mit einer Mischung von
Verwunderung und wehmüthiger Trauer an.

„Sie haben,“ fragte Napoleon endlich mit sanfter Stimme, „so eben in
dem Hof der Tuilerien einen Ruf ausgestoßen, den man als eine feindliche
Demonstration gegen mich deutet. Ich wünsche von Ihnen selbst zu
erfahren, was Sie dabei bezweckt haben, ob es wirklich Ihre Absicht war,
den Souverain Ihres Landes, welchen die große Majorität der Bürger
Frankreichs auf den Thron berufen, zu beleidigen? Warum haben Sie den
Ruf ausgestoßen „nach Cayenne?“

Lezurier machte keine Bewegung, nur wurde die zornige Gluth seines auf
den Kaiser gerichteten Blickes noch wilder und intensiver, und mit einer
heisern, aber scharf und deutlich die Worte betonenden Stimme sprach er:

„Ich habe das Geschrei der Soldaten gehört, welche vive l'empereur
riefen, da erfaßte mich ein unbezähmbarer Zorn, und mein ganzes Wesen
loderte auf in wilder Wuth, als ich Denjenigen jubelnd begrüßen hörte,
dessen Verbrechen gegen Frankreich und seine Freiheit ihn zu jenem
todtbringenden Exil hätten verurtheilen müssen, in welches er so viele
Märtyrer der heiligen Sache des Volkes geschickt hat — nach Cayenne!“

Der Kaiser sah den Mann groß an und schüttelte langsam mit einem fast
mitleidigen Lächeln den Kopf.

„Man hat ein Messer bei Ihnen gefunden,“ sagte er, „und ein kleines
Waffenarsenal in Ihrer Wohnung. Hatten Sie die Absicht, mich zu tödten?“

„Nein,“ erwiderte Lezurier, „diese Absicht hatte ich nicht. Ich war nur
auf den Tuilerienhof gekommen, um meinen heiligen Haß durch den Anblick
des Tyrannen zu kräftigen. Die Sache des Volkes bedarf des Meuchelmordes
nicht, welcher wohl den Tyrannen tödten, aber nicht die Tyrannei
vernichten würde.“

„Wozu also diese Waffen?“ fragte der Kaiser — „außerdem,“ fügte er hinzu,
„hat man viel Geld bei Ihnen gefunden, und doch sind Sie in Lumpen
gekleidet.“

„Ich habe mein Vermögen und mich,“ erwiderte Lezurier immer in demselben
Ton, „der Sache des Volkes gewidmet, für mich will ich nur übrig
behalten, was zur nothdürftigsten Ernährung und Bekleidung meines
Körpers unerläßlich ist. Alles Uebrige war bestimmt, bei der großen
Erhebung des Volkes verwendet zu werden, welche sich vorbereitet, welche
kommen wird und welche Sie herabschleudern wird in den Abgrund, aus
welchem Sie heraufgestiegen.“

„Warum haben Sie denn,“ fragte der Kaiser weiter, „den Ruf ausgestoßen,
der Sie den Gesetzen überliefert und alle Ihre Vorbereitungen erfolglos
macht?“

„Ich habe es gethan,“ erwiderte Lezurier, „weil die augenblickliche
Entrüstung mich übermannte, weil eine blutige Wolke meinen Blick
verdunkelte, weil ich nicht mehr Herr meiner selbst war. Ich bereue es,
daß ich es gethan, weil ich meine Kraft und meine Mittel dadurch für den
großen heiligen Kampf gehemmt habe, der aber,“ fuhr er fort, „dessen
ungeachtet begonnen und siegreich durchgeführt werden wird. Ein
Einzelner mehr oder weniger in der Phalanx des Volkes kann auf den
Erfolg keinen Einfluß haben.“

„Sie sind nicht, was Sie scheinen,“ erwiderte der Kaiser, „Ihre Worte
sprechen von höherer Bildung, als Ihre Kleidung vermuthen läßt.“

„Je höher mein Geist gebildet ist,“ erwiderte Lezurier, „um so mehr muß
ich das Elend Frankreichs erkennen und die Mittel zu seiner Beseitigung
suchen. Je reiner meine Gesinnungen sind und je fester mein Charakter
sich entwickelt hat, mit um so höherer Begeisterung muß ich meine ganze
Existenz für die Freiheit Frankreichs einsetzen, — um so glühender muß
ich Denjenigen hassen, welcher diese Freiheit verrätherisch geknechtet
hat.“

„Wenn Sie mich hassen,“ sagte der Kaiser mit einer sanften, fast
weichen Stimme, „so können Sie mich doch nicht für klein halten, Sie
würden mir sonst nicht sagen, was Sie so eben ausgesprochen.“

„Mein unbesonnener Ruf,“ erwiderte Lezurier, „hat mich ohnehin in Ihre
Hände geliefert und meine Theilnahme am Kampf der Zukunft beinahe
unmöglich gemacht, ich kann mir also die Genugthuung gewähren, dem
Tyrannen in's Gesicht zu sagen, was ich von ihm denke. Er hat ja doch
nur die Macht,“ fügte er mit verächtlichem Achselzucken hinzu, „diesen
Körper zu vernichten, diese Form zu zerbrechen, in welcher ein kleiner
Theil jenes Geistes eingeschlossen ist, der im gewaltigen
unwiderstehlichen Flug die Trümmer seines Thrones fortreißen wird in die
Abgründe der ewigen Vernichtung!“

„Und was wollten Sie mit jenen Waffen machen,“ fragte der Kaiser,
„welche Sie in Ihrer Wohnung aufgesammelt haben, mit jenem Gelde,
welches Sie dort aufbewahrten?“

„Die Waffen wollte ich am Tage der großen Erhebung allen Denen in die
Hand drücken,“ erwiderte Lezurier, „welchen ich begegnen würde, deren
Arm noch nicht bewehrt wäre, um dem Zorn und dem Haß ihres Herzens
Nachdruck zu geben. Mit dem Gelde wollte ich die Kämpfer ernähren und
die Verwundeten pflegen.“

„Stehen Sie mit Andern in Verbindung?“ fragte der Kaiser weiter.

Ein finsterer Hohn zuckte um die Lippen Lezurier's.

„Sie sind gewöhnt,“ erwiderte er, „den Verrath zu erkaufen. Aber,“ fuhr
er fort, „ich habe Nichts zu verrathen, und was ich weiß, kann ich laut
aussprechen, ohne irgend Jemanden in die Hände Ihrer Häscher zu liefern.
Mein Verbündeter ist das Volk von Frankreich in seiner großen Mehrheit,
das denkt und fühlt wie ich, das aber vielleicht nicht immer und nicht
überall dieselbe Energie und Thatkraft hat, welche ich angewandt haben
würde zur Erreichung des großen Ziels — zur Befreiung des Vaterlandes!“

„Sie haben mich beleidigt,“ sagte der Kaiser, „dafür sind Sie dem Gesetz
verfallen, doch liegt in meinen Händen das schöne Recht der Gnade, und
ich mache Gebrauch davon, indem ich Ihnen die Beleidigung verzeihe,
welche Sie gegen mich ausgestoßen. Derjenige,“ sprach er stolz den Kopf
erhebend, „den die große Mehrzahl seiner Nation vertrauensvoll auf den
Thron berufen, kann die Beleidigung eines Einzelnen leicht vergeben.
Aber Sie haben Vorbereitungen getroffen,“ fuhr er fort, „um nicht mir
allein zu schaden, sondern um die Staatsordnung, welche die französische
Nation sich in freier Entschließung gegeben, zu zerstören. Wollen Sie
sich verpflichten, in Paris unter den Augen der Sicherheitsbehörde ruhig
zu leben, so will ich Ihnen Ihre Freiheit schenken und Ihnen auch das
verzeihen, was Sie gegen den Staat und gegen die öffentliche Ordnung
gethan und beabsichtigt haben. Wollen Sie mir das versprechen?“ fügte er
fast in bittendem Ton hinzu.

„Nein,“ erwiderte Lezurier kalt und starr, „ich will Sie nicht
betrügen, — ich will nicht,“ fügte er mit bitterem Hohn hinzu, „in Ihre
kaiserliche Prärogative der Lüge eingreifen, ich würde vom ersten
Augenblick an meine ganze Kraft, mein ganzes Denken wiederum darauf
richten, die große Revolution zu fördern und herbei zu führen, welche
bestimmt ist, Ihre Herrschaft zu zertrümmern.“

„Dann,“ erwiderte der Kaiser, „kann ich Nichts für Sie thun, und der
Ruf, den Sie ausgestoßen, wird Ihr Urtheil sein.“

Lezurier schwieg, ohne eine Bewegung zu machen, ohne eine Miene seines
Gesichts zu verändern.

„Ich wünsche nicht,“ sagte der Kaiser nach einigen Augenblicken, „daß
irgend Jemand anders durch Sie leidet. Das Vermögen, welches Sie in
wahnsinniger Verblendung zum Kampf gegen den Staat und die Gesellschaft
bestimmten, soll Ihrer Familie zurückgegeben werden. Haben Sie
Angehörige?“

Die Züge des Gefangenen verzerrten sich im dämonischen Haß.

„Ich hatte ein Weib,“ sagte er, „sie ist lange todt und hinterließ mir
einen Sohn. Dieser Sohn und ein Bruder, jünger als ich, bildeten meine
ganze Familie. Beide sind gefallen auf den Barrikaden unter den
Kartätschenkugeln, welche die Bahn öffneten für den blutigen Triumphzug
Ihrer kaiserlichen Herrlichkeit.“

Die Züge des Kaisers nahmen einen Ausdruck unendlicher Weichheit und
Milde an, seine groß geöffneten Augen schimmerten im feuchten Glanz, er
stützte einen Augenblick den Kopf in die Hand und seufzte tief auf, dann
blickte er noch einmal voll mitleidiger Theilnahme auf diese in Lumpen
gehüllte Gestalt, auf dieses blutbefleckte bleiche Gesicht und sagte.

„Ich habe versucht, was ich versuchen konnte, um Böses mit Gutem zu
vergelten, Sie haben Alles zurückgewiesen und für das Schicksal, das
Ihnen bevorsteht, werden Sie mir keinen Vorwurf zu machen haben.“

Er winkte mit der Hand. Pietri öffnete die Thür und übergab den
Gefangenen den beiden Polizeibeamten, zwischen denen derselbe hoch
aufgerichtet mit festem Schritt das Cabinet verließ.

„Welches Urtheil erwartet ihn?“ fragte der Kaiser.

„Die Deportation,“ erwiderte Pietri.

„Man soll ihn mit Milde behandeln,“ sagte Napoleon, „und auch sein Exil,
wenn er zu demselben verurtheilt wird, so schonend als möglich
einrichten, — er ist krank, — er _muß_ krank sein, — ein gesunder Geist
kann einen solchen Haß nicht entwickeln. Besorgen Sie, daß er ärztlich
untersucht wird.“

Er winkte entlassend mit der Hand, mit tiefer Verbeugung zog sich der
Polizeipräfect zurück.

Der Kaiser saß lange in tiefem, finsterm Schweigen versunken.

„Ist es wahr,“ sagte er endlich mit dumpfem Ton, „ist wirklich die Masse
des Volks von Frankreich der Verbündete dieses Rasenden, — müßte ich
wirklich um dieses aus der Tiefe herauf gährenden Hasses Herr zu werden,
von Neuem meinen kaiserlichen Purpur in Blut tauchen? Wäre es da nicht
besser, wie jener alte Römer sich selbst in den Abgrund zu stürzen zur
Versöhnung des Schicksals, als diesen Abgrund mit Hekatomben von
Menschenopfern zu füllen, — ist die Gestalt dieses Mannes der mahnende
Geist, den das Verhängniß vor mir ansteigen ließ, wie es einst bei
Philippi dem träumenden Brutus jene drohende Erscheinung sandte? Oh,“
rief er, die Hände faltend und den Blick nach oben richtend, „gieb mir
Licht in diesem Dunkel, Du große Vorsehung, welche mich auf so
wunderbaren Wegen bis hierher geführt hat, — gieb mir Kraft,“ fügte er
mit tief schmerzlichem Ausdruck hinzu, — „denn wo die Kraft ist, da ist
das Licht, — meine Kraft aber versiegt und zerbricht, — und höher und
höher steigt die Dunkelheit herauf, welche meinem Geist das klare
Erkennen raubt.“

Er sank in sich zusammen und blieb wie gebrochen in seinem Lehnstuhl
sitzen.



Achtes Capitel.


Einige Meilen unterhalb Hannovers fast hart an dem Ufer der Leine
liegt das Dorf Bodenfeld.

Der Ort im flachen Lande inmitten reicher Wiesen und üppigen
Fruchtfeldern gelegen, bietet nur wenig Naturschönheiten und besteht aus
geschlossenen Gehöften, welche, in einiger Entfernung von einander
bestehend, unregelmäßige, aber gut und sauber gehaltene Straßen bilden,
die von der Wohlhabenheit und dem Ordnungssinn der Bevölkerung zeugen.

Trotz der verhältnißmäßig geringen Einwohnerzahl bietet Bodenfeld sowohl
wegen seiner Lage, als wegen des Reichthums und des ausgedehnten
Grundbesitzes seiner Bewohner den Mittelpunkt der Gegend.

Es hatte eine große und schöne Kirche mit einem stattlichen, von einem
freundlichen Garten umgebenen Pfarrhause; daneben in einiger Entfernung
von der Kirche lag das weite und geräumige Amthaus; denn man hatte auch
den Amtssitz bei der neuen Verwaltungsorganisation hierher gelegt, um
den Eingesessenen bequemere Gelegenheit zu geben, den Mittelpunkt der
Localverwaltung zu erreichen.

Die Häuser der Bauerngehöfte zeugten alle von Wohlhabenheit, große
Viehställe umgaben sie, und ihre Eigenthümer, obwohl in die
eigenthümliche Tracht des Landes gekleidet und nach alter einfacher
Sitte lebend, würden doch nach der Ausdehnung ihrer Ländereien, nach der
Zahl ihrer Gespanne und ihres Viehstandes, nach der Menge der von ihnen
beschäftigten Knechte und Arbeiter in andern Gegenden kaum noch für
Bauern gegolten haben.

Ein kleiner Hof am Ende des Dorfes stach ein wenig gegen die übrigen
reichen Besitzungen ab.

In der Mitte einer fast im regelmäßigen Viereck sich ausdehnenden
Feldmark lag ein kleines, einfaches Haus, daneben ein sauber gehaltener
Obstgarten, eine Allee von Obstbäumen führte von dem Hause durch das
Feld hin zu der in einiger Entfernung vorüberziehenden Landstraße.

Auf der andern Seite des Wohngebäudes lag ein kleiner Hof, von Ställen
umgeben, ein Taubenschlag in der Mitte; in den Ställen standen drei
sauber gepflegte Kühe, zwei Zug Ochsen und zwei jener starken kräftigen
Pferde, an welchen das hannöversche Land so reich ist; den reinlichen,
mit gelbem Sand bestreuten Hof belebte zahlreiches und vortrefflich
gehaltenes Federvieh; hinter den glänzenden, blank geputzten Scheiben
der kleinen Fenster sah man einfache, aber blendend weiße Gardinen,
blühender Geranium leuchtete im dunklen Roth durch die Scheiben; kurz
Alles trug den Stempel von Wohlhabenheit, Ordnung und Behaglichkeit; und
wenn auch dieser kleine Hof an Ausdehnung hinter den übrigen Besitzungen
des Dorfes erheblich zurückstand, so zeichnete er sich doch vor allen
Uebrigen durch eine beinahe bis zur Eleganz gehende Zierlichkeit und
Sauberkeit aus.

An einem schönen Aprilabend saßen in den Wohnzimmern des kleinen Hauses,
dessen einfache Einrichtung aus einem großen eichenen Tisch, einigen
Stühlen mit starkem Rohrgeflecht und zwei jener alten mächtigen, mit
braunem Leder überzogenen Lehnstühlen bestand und dessen Wände ebenfalls
mit schwarz gewordenem Eichenholz bekleidet waren, ein alter Mann und
eine alte Frau neben einander. Jede von Ihnen hatte einen der großen
Lehnstühle eingenommen, und sie schienen sich nach der Arbeit des Tages
jener tiefen, anmuthenden Ruhe zu erfreuen, welche auf dem Lande mit der
Feierabendstunde das häusliche Leben mit einem fast sonntäglichen
Frieden umgiebt.

Der Mann war ein hoher Sechziger, kräftig und markig gebaut, das weiße
dichte Haar hing lang an den Schläfen herunter, sein scharf markirtes,
von fester Willenskraft zeugendes Gesicht war glatt rasirt, und aus
seinen großen klaren Augen blickte neben dem klugen, beinahe listigen
Verstand, der den Bauern jener Gegenden eigenthümlich ist, auch eine
tiefe Weiche und Milde heraus.

Er trug einen Faltenrock von dunkler Farbe, den Hemdkragen über dem
Halstuch von schwerer schwarzer Seide hervorgezogen und hohe Stiefel bis
zu den Knieen und war beschäftigt, durch eine silberne Brille mit
großen, runden Gläsern die Zeitung zu lesen, welche der Landpostbote vor
Kurzem gebracht hatte.

Die alte Frau, welche in dem andern Lehnstuhl neben ihm saß, schien
älter zu sein, als er. Ihre Haltung war etwas zusammengesunken und
gebrechlich, ihr blasses Gesicht mit den sanft und weich, beinahe
traurig blickenden Augen war mager und kränklich, ihr fast weißes, glatt
gescheiteltes Haar war unter einer großen weißen Haube mit breitem
Strich und unter dem Kinn zusammengebundenen Bändern fast ganz
verborgen.

Sie trug einen glatt anliegenden, schwarzen Rock und ein großes,
schwarzes Seidentuch um Brust und Schultern und war beschäftigt, nachdem
sie das Federvieh, dem sie ihre besondere Sorgfalt widmete, besorgt
hatte, mit langen starken Nadeln einen großen Strumpf zu stricken, wobei
sie leise zählend die Lippen bewegte.

Der Mann war der Eigenthümer des Hofes, der alte Bauer Niemeyer, welcher
ohne Kinder in seiner schönen, kleinen Besitzung lebte; die Frau neben
ihm war seine Schwester, die Wittwe des lang verstorbenen Unterofficiers
Cappei, welche nach dem Tode ihres Mannes mit einer kleinen
Wittwenpension aus der englischen Legionskasse und mit ihrem einzigen
Sohn ein Asyl bei ihrem Bruder gefunden hatte und bei demselben die
Stelle der Hausfrau vertrat.

Das Jahr 1866 hatte in den kleinen Familienkreis tief und schneidend
eingegriffen. Der junge Cappei, welcher den Feldzug jenes Jahres in der
hannöverschen Armee mitgemacht hatte und dann zu seinem Oheim und zu
seiner Mutter zurückgekehrt war, um seinem Oheim in der Bewirtschaftung
des Hofes, der zu seinem einstigen Erbtheil bestimmt war, Beistand zu
leisten, hatte sich voll Begeisterung für die Sache des Königs Georg
und fortgerissen von der Bewegung, welche beim Beginn des Jahres 1867
unter den jungen Leuten jener Gegend herrschte, der Emigration
angeschlossen, und seit jener Zeit lebten die beiden Alten wieder einsam
in dem kleinen Hause, eifrig und sorgfältig die Wirthschaftsgeschäfte
besorgend, aber traurig, des fernen Sohnes und Neffen gedenkend, dessen
Abwesenheit alle ihre Hoffnungen für die Zukunft in Frage stellte.

Sie hatten nur seltene und wenig ausführliche Nachrichten von ihm
erhalten, denn die Emigranten scheuten sich eingehend nach ihrer Heimath
zu schreiben aus Furcht, ihre Angehörigen in Verwickelung mit den
Behörden zu bringen, und so waren die beiden alten Leute darauf
angewiesen, die Zeitung, welche sie seit jener Zeit hielten, zu
durchforschen, um irgend etwas über die Legion zu erfahren.

Aber auch diese Nachrichten waren nur sehr spärlich und unklar gewesen
und hatten sie oft recht traurig gestimmt, wenn sie von den
unglücklichen Verhältnissen lasen, in welchen nach einzelnen
Mittheilungen aus Frankreich die Emigranten dort leben sollten.

Die alte Mutter Cappei glaubte fest an die Versicherung, welche ihr Sohn
ihr beim Abschied gegeben, daß er siegreich mit allen seinen Kameraden
den König in der Mitte wieder in die Heimath zurückkehren werde.

Ihr Bruder hatte tiefes Mißtrauen in diese Hoffnungen, er hing zwar mit
zäher und liebevoller Anhänglichkeit an den alten Verhältnissen, aber
sein scharfer und practischer Verstand ließ ihn wenig an eine
Möglichkeit der Wiederkehr derselben glauben.

Es war dies ein Punkt, über welchen die beiden alten Leute, welche sonst
in so inniger und liebevoller Einigkeit miteinander lebten, häufig in
lebhaften Wortwechsel geriethen.

Der alte Niemeyer war sehr unzufrieden mit der Emigration seines Neffen
und wurde nicht müde, in seine Schwester zu dringen, daß sie mit ihm
gemeinsam dem jungen Menschen den kategorischen Befehl schicken möge,
wieder in die Heimath zurückzukehren.

Doch dazu konnte sich die alte Frau, so tiefen Schmerz sie über die
Abwesenheit ihres einzigen Kindes empfand, nicht entschließen. Es
erfüllte sie mit hohem Stolz, daß ihr Sohn „in des Königs Legion
diente“, wie es ja auch ihr verstorbener Mann einst gethan zur Zeit der
Occupation Hannovers im Anfang dieses Jahrhunderts, und trotz aller
Mühe, die sich ihr Bruder gab, gelang es ihm nicht, sie zu überzeugen,
daß die damaligen Verhältnisse und die damalige Legion, welche der
mächtige König von England aus seinen hannöverschen Unterthanen
gebildet, etwas ganz anderes sei, als die Emigration, welche heute ihrem
verbannten, machtlosen König in das Exil gefolgt war; sie war überzeugt,
daß es wieder anders werden müsse, wie es damals anders geworden war,
und daß ihr Sohn einst siegreich wiederkehren werde, belohnt und
ausgezeichnet von dem König, dem er so treu geblieben — und ihn dieser
glänzenden Zukunft zu entziehen, dazu konnte sie sich nicht
entschließen.

So saßen sie denn auch heute wieder da, — sie hatten ihre Arbeit gethan,
der Alte las die Zeitung, wie es ihm nun seit längerer Zeit zur
Gewohnheit geworden war, und seine Schwester füllte die Muße ihres
Abends durch die Beschäftigung mit ihrem Strickstrumpf aus, indem sie
mit jeder Masche desselben theils eine wehmüthige Erinnerung an ihren
Sohn, theils eine freudige Hoffnung auf dessen glänzende Zukunft
verwebte.

Plötzlich warf der Alte das Blatt vor sich hin und schlug kräftig mit
der Hand auf den Tisch, indem er zugleich die ihm unbequeme Brille hoch
auf die Stirn hinausschob.

„Das ist eine gute Nachricht,“ rief er laut, „der König hat die Legion
aufgelöst, welche ihm so viel Geld kostete, und welche so viele brave
junge Leute ihrer Heimath entfremdete und den Gefahren eines unthätigen
Lebens aussetzte. Das freut mich, das ist ein guter Entschluß, der
vernünftigste, den unser Herr hat fassen können. Jetzt haben wir doch
Hoffnung, daß der Junge wieder zu uns zurückkommt, und daß unser altes,
liebes Besitzthum nicht noch in fremde Hände übergehen wird, während
sein rechter und richtiger Erbe weit in der Ferne ein unruhiges und
abenteuerliches Leben führt.“

Die alte Frau Cappei ließ den Strickstrumpf in ihren Schooß sinken, ein
freudiger Ausdruck erschien einen Augenblick auf ihrem Gesicht, dann
aber schüttelte sie trübe und traurig den Kopf.

„Das wird wieder eine von den Nachrichten sein,“ sagte sie, „welche
schon oft von Zeit zu Zeit in den Zeitungen erschienen sind und immer
nicht wahr waren. Wie oft hast Du schon an die Rückkehr meines Sohnes
geglaubt, wie oft hat man gesagt, die Legion wäre auseinandergegangen,
und immer ist es nicht wahr gewesen. Und es wird auch diesmal nicht wahr
sein,“ sagte sie mit einem gewissen Stolz, „der König kann ja seine
Soldaten nicht fortschicken. Er braucht ja seine Legion, wenn er sein
Land wieder erobern will, und so sehr ich mich sehne, den Jungen wieder
hier zu sehen, so möchte ich doch nicht wünschen, daß er als Flüchtling
hierher wieder zurückkehrt, ohne für seinen König sich geschlagen zu
haben, wie es sein Vater seiner Zeit auch gethan hat.“

„Du bist thöricht,“ sagte der Alte, „Du möchtest womöglich Deinen Jungen
noch als großen Feldherrn wiedersehen.“

„Nun das Zeug dazu hat er schon,“ fiel seine Schwester etwas gereizt
ein, „daß er Officier wird, wenn es zum Schlagen kommt, daran zweifle
ich garnicht. Was hat er nicht Alles gelernt, wie hübsch und fein sieht
er aus! Und wie viele Beispiele hat man nicht, daß große Generale sich
ganz von unten herauf gearbeitet haben! Auch in der Legion in Spanien
sind damals ganz einfache Soldaten hohe Officiere geworden, — wenn es
meinem seligen Mann nicht so gut gegangen ist, so hat es nur den Grund
gehabt, daß er keine Gelegenheit fand, sich auszuzeichnen.“

„Das sind Alles Possen,“ rief der Alte mürrisch, „und ich hoffe, daß der
Junge selbst nicht solche thörichten Gedanken in seinem Kopf haben wird.
Er sollte Gott danken, daß er hier eine feste Heimath und einen wohl
geordneten Besitz hat und sollte so schnell als möglich hierher
zurückkehren, um diesen Hof zu übernehmen, dessen Bewirthschaftung mir
täglich schwerer zu werden anfängt. Nun,“ fuhr er fort, „das wird sich
jawohl von selbst machen. Ich habe mit dem preußischen Amtmann, den sie
uns hierher geschickt haben, neulich gesprochen und er hat mir
versichert, daß er nicht glaube, daß gegen meinen Neffen irgend etwas
Unangenehmes unternommen werden möchte, wenn er zurückkäme und sich zur
Erfüllung seiner Landwehr-Militairpflicht stellte, eine eigentliche
Desertion liege ja nicht vor und“ —

Er wurde durch ein lautes Anschlagen des Hofhundes unterbrochen.

Schnelle, kräftige Schritte ließen sich vor dem Hause vernehmen, rasch
wurde die Thür geöffnet, und Derjenige, über dessen Schicksal die beiden
Alten sich soeben unterhalten hatten, trat in das Zimmer.

Der junge Cappei trug einen kleinen Ränzel auf dem Rücken, sein Gesicht
war von dem raschen Gang geröthet und erschien dadurch noch blühender,
als sonst; seine hellen offenen Augen strahlten von Glück und Freude,
als er das alte Haus, die Heimath seiner Kindheit, das alte wohlbekannte
Zimmer, in welchem kein Meubel sich verändert hatte, als er seine Mutter
und seinen Oheim, diese beiden einzigen Wesen wiedersah, welche in dem
alten Vaterlande ihm nahe standen.

Rasch eilte er auf die alte Frau zu, welche ihm zitternd ihre offenen
Arme entgegenstreckte; er drückte ihren Kopf an seine Brust und küßte
zärtlich ihre weißen Haare. Dann wandte er sich zu seinem Oheim, welcher
aufgestanden war und mit glücklichem stolzem Ausdruck auf die kräftige
Gestalt des jungen Mannes blickte, er schlug fest in dessen dargebotene
Hand ein und sagte tief aufathmend:

„Da bin ich wieder bei Euch — Gott sei Dank, daß ich Euch Beide am Leben
und wohl und munter finde. Ich habe lange keinen Brief von Euch
erhalten, und als ich von der Eisenbahnstation zu Fuß hierher ging, hat
mich eine entsetzliche Angst erfaßt, daß ich das Alles hier vielleicht
nicht so wiederfinden könnte, wie ich es verlassen habe. Nun Gott sei
Dank, es ist ja Alles gut, und meine Angst ist umsonst gewesen.“

Abermals schloß er seine Mutter in die Arme, und dann setzte er sich an
den Tisch und begann in hastigen abgebrochenen Worten zu erzählen von
seinem Leben in Frankreich, von den Kameraden, welche dort mit ihm
gewesen, von den Hoffnungen, die sie gehabt hatten, und wie das nun
Alles zu Ende sei, da der König die Legionaire entlassen habe und eine
große Anzahl von ihnen nach Amerika ausgewandert sei, während Andere in
Algier ihr Glück versuchen wollten. „Sie haben mir viel zugeredet,“
sagte er, „auch dorthin zu gehen, aber ich habe das nicht gewollt. Ich
will nicht mehr als heimathloser Flüchtling in der Welt leben, und auch
Euch wollte ich wiedersehen, mein Herz zog mich hierher, und ich muß
meine Verhältnisse hier in der alten Heimath ordnen, um wieder ein
richtiger Mensch zu werden, der seinen Platz klar und fest in der Welt
behaupten kann.“

„Das hast Du brav gemacht, mein Junge,“ sagte der Alte, indem er ihm
kräftig auf die Schulter schlug, während die Mutter zusammentrug, was im
Hause zu finden war, Brod, kaltes Fleisch und einen großen Bierkrug,
damit der lange entbehrte Sohn wieder am heimathlichen Tisch esse und
trinke, wodurch nach ihrer Auffassung eigentlich erst das Band zwischen
ihm und dem alten Hause wieder fest geknüpft wurde.

Eine Zeit lang sahen die beiden Alten schweigend zu, sich des kräftigen
Appetits freuend, den der junge Mensch zeigte.

Dann begannen sie wieder zu fragen nach allen Einzelheiten seines Lebens
in der Fremde, nach diesem und jenem Bekannten; und er erzählte ihnen
von Allem, und doch schien es, als ob immer noch etwas im Rückhalt
bliebe, denn oft brach er plötzlich ab, sah schweigend vor sich nieder,
und erst auf erneuerte Fragen nahm er seine Mittheilungen wieder auf.

Dem scharfen Blick der alten Frau entging dies nicht, — eine Mutter liest
ja so tief in dem Herzen ihres Sohnes und das wunderbare Band, welches
sie mit ihrem Kinde verknüpft, wird durch die Zeit und das Alter niemals
gelockert. Die Alte schüttelte das Haupt, sie fühlte, daß da noch Etwas
war in dem Herzen ihres Sohnes, wovon er nicht sprach — aber sie sagte
nichts darüber, sie behielt sich vor, später ihn danach zu fragen,
überzeugt, daß es ihr gelingen würde, auch die verschlossensten Tiefen
seines Innern zu öffnen.

„Jetzt aber,“ sagte der alte Niemeyer endlich, „obgleich es schon spät
ist, mußt Du dennoch gleich mit mir zum Amtmann. Du mußt Dich auf der
Stelle melden, Deine Rückkehr darf keine heimliche sein, und was die
Behörden über Dich verfügen, mußt Du ruhig über Dich ergehen lassen.
Schlimm werden sie es mit Dir nicht machen, ich habe es schon
vorbereitet, da ich immer überzeugt war, Du würdest früher oder später
hierher wieder zurückkehren.“

Sie gingen bei dem schon hereindunkelnden Abend nach dem großen Amthaus
hin, ließen sich bei dem Amtmann, einem preußischen Assessor, welcher
hierher versetzt war, melden und wurden in dessen Wohnzimmer geführt,
welches bereits von einer Lampe erleuchtet war.

Der Amtsverwalter, ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, ernst und
ruhig, aber auch zugleich freundlich und wohlwollend in seinem Wesen
erhob sich bei dem Eintritt des alten Bauern von seinem Schreibtisch, an
welchem er mit Durchsicht von Acten beschäftigt war und trat demselben
entgegen, indem er einen schnellen forschenden Blick auf den hinter
seinem Oheim hereintretenden jungen Cappei warf.

„Herr Amtmann,“ sagte der alte Niemeyer, „ich bringe Ihnen hier einen
Flüchtling, der nach der alten Heimath zurückgekehrt ist, und der nun
nichts mehr gegen die neue Ordnung der Dinge, welche die Vorsehung über
uns verhängt hat, unternehmen wird. Er hofft auf eine nachsichtige
Behandlung für das, was er etwa nach den geltenden Gesetzen Strafbares
begangen haben könnte und stellt sich zu Ihrer Verfügung.“

Der junge Cappei trat vor, blieb in militairischer Haltung vor dem
Beamten stehen und blickte ihn mit seinen offenen, klaren Augen frei und
fest an.

„Es freut mich,“ sagte der Beamte, auf welchen die Erscheinung des
jungen Mannes einen wohlthuenden Eindruck zu machen schien, „daß Sie
sich entschlossen haben, in die geordneten Verhältnisse zurückzukehren
und auf thörichte und abenteuerliche Unternehmungen zu verzichten. Ich
will nicht fragen und untersuchen, welche Pläne Sie bei Ihrer
Auswanderung gehegt haben, welchen Unternehmungen Sie sich angeschlossen
haben — allein Sie sind nach den preußischen Gesetzen noch
landwehrpflichtig gewesen und werden sich über Ihre eigenmächtige
Entfernung zu verantworten haben. Ich wäre berechtigt, Sie zu arretiren
und Sie in Untersuchungshaft zu behalten, da ich jedoch nach Ihrem
freiwilligen Wiedererscheinen keinen Verdacht hege, daß Sie sich der
Untersuchung und der eventuell zu verhängenden Strafe entziehen werden,
so will ich von einer solchen Maßregel Abstand nehmen und Ihnen Ihre
Freiheit lassen, allein um der Form zu genügen, müssen Sie eine
Bürgschaft leisten.“ —

„Die Bürgschaft übernehme ich, Herr Amtmann,“ rief der alte Niemeyer
lebhaft. „Ich stelle mein Haus und meinen Hof als Haft dafür, daß der
junge Mann sich nicht von hier entfernt und sich jeder Anforderung
stellen wird.“

„Ich will diese Garantie annehmen,“ erwiderte der Beamte — er setzte
sich an seinen Schreibtisch, nahm ein kleines Protokoll auf, das der
alte Bauer und sein Neffe unterzeichnen mußten und entließ dann die
Beiden.

Als sie hinausgegangen waren, zog er ein kleines Aktenfascikel aus einem
verschlossenen Fach seines Schreibtisches hervor und öffnete dasselbe.

„Die Erscheinung dieses jungen Mannes,“ sagte er, „ist durchaus
Vertrauen erweckend, er hat ein so freies Gesicht und einen so offenen
Blick, daß ich ihm kaum geheime und verborgene Absichten zutrauen kann.
Auch ist mir der Alte als ein Mann von ruhigem praktischen Sinn, der
sich den thatsächlichen Verhältnissen stillschweigend unterordnet und
alle Agitationen und Conspirationen mißbilligend, bekannt; und doch ist
mir hier ein sehr bestimmter Avis zugegangen, nach welchem die
Gesandtschaft in Paris gerade diesen jungen Cappei auf Grund ihr
zugegangener Mittheilungen als einen fanatischen Feind der preußischen
Herrschaft und als einen gefährlichen Verschwörer und Agitator
bezeichnet, welcher nur deshalb hierher zurückgekehrt, um nach
Frankreich hin Mittheilungen über die hiesigen Verhältnisse,
Truppendislokationen und so weiter gelangen zu lassen, — mir kommt das
ein wenig unwahrscheinlich vor,“ fuhr er fort, „allein die Mittheilung
ist bestimmt, und die Zeitverhältnisse gebieten die größte Vorsicht. Ich
werde ihn genau beobachten lassen und eine Ueberwachung seiner
Correspondenz bei der Postbehörde anordnen, — ist jene Mittheilung
richtig, so wird sich bald ein greifbares Indicium finden lassen.“

Er schrieb nach genauer Durchsicht des Aktenfascikels eine Verfügung,
ließ seinen Secretair rufen und übergab ihm dieselbe mit dem Befehl
schleuniger und discreter Expedition. Dann verschloß er das geheime
Aktenstück wieder in seinen Secretair und wandte sich seinen
regelmäßigen Arbeiten zu.

Lange noch saß der alte Bauer Niemeyer mit seiner Schwester und dem
jungen Cappei bei der großen Lampe im Wohnzimmer seines Hauses
beisammen. Immer noch forschten und fragten die beiden Alten — immer
erzählte der junge Mann, — immer deutlicher fühlte die Mutter, daß in
allen diesen Erzählungen noch Etwas fehlte und zwar Etwas, was tief und
innig mit dem Herzensleben ihres Sohnes zusammenhängen müsse.

Und als sie endlich die Ruhe aufsuchten, als sie den Sohn in seine
schnell hergerichtete Schlafkammer mit dem sauberen, hoch
aufgeschichteten Federbett geführt, und die Hände segnend auf sein
Haupt gelegt hatte, da blieb sie noch lange wach in ihrer Kammer in dem
Lehnstuhl am Fußende ihres Bettes sitzend und tief nachdenkend über die
Fügungen der Vorsehung, welche zwar die ehrgeizigen Träume zerstört
hatte, in welchen sie an den fernen Sohn gedacht, welche aber doch
diesen Sohn lebendig, frisch und blühend ihr wieder zugeführt hatte und
jetzt opferte sie jenen Traum gern der schönen und lieben Wirklichkeit.
Sie fühlte auch mit dem so feinen weiblichen Instinct, welches der
verborgene Punkt sei, der in allen Erzählungen ihres Sohnes noch dunkel
geblieben; sie fühlte, daß die Liebe zwischen ihm und dem fernen Land,
aus welchem er zurückgekehrt ein Band geknüpft habe.

Aber sie war nicht traurig darüber und wieder regten sich ehrgeizige
Hoffnungen in ihrem Herzen. Denn ein so guter, so braver und so hübscher
junger Mann wie ja ihr Sohn, konnte nur eine Wahl getroffen haben, die
ihm und seiner ganzen Familie ehrenvoll war.

Und als sie endlich ihr Lager aufsuchte, schloß sie Diejenige, welche
ihr Sohn gewählt haben möchte, und welche ihr mütterlicher Stolz in
hohen und angesehenen Kreisen suchte voll freudiger Hoffnung und
Zuversicht in ihr frommes Abendgebet mit ein.

Der junge Cappei aber war in körperlicher Ermüdung, welche die kräftige
Jugend noch stärker fühlt, als das Alter, und in jenem süßen Wohlgefühl,
welches das Bewußtsein erzeugt, nach langer Abwesenheit wieder im Schooß
des heimathlichen Hauses zu ruhen, bald in einen festen und tiefen
Schlaf versunken.

Und wunderbar verschmolzen sich in seinen Träumen die Bilder der Ferne,
zu welcher sein Herz ihn hinzog und der Heimath, in welche die Wurzeln
seines Lebens geschlagen waren, miteinander.

Bald sah er sich im Hause des alten Challier an der Seite seiner
Louise und an der Spitze des immer blühender erwachsenden
Handelsgeschäfts — bald wieder zeigte ihm der Traum das theure Bild
seiner Geliebten, wie dieselbe glücklich lächelnd in das Haus seines
Oheims eintrat, wie sie seiner Mutter zur Hand ging in häuslichen
Geschäften und neues fröhliches Leben in die alte Heimath brachte.

So schwer diese verschiedenen Bilder in der Wirklichkeit zu vereinigen
waren, so verband sie doch das wunderbare Spiel des Traumes zu
harmonischer Einigkeit, welche ihn mit einem süßen Gefühl des Glücks und
der Freude erfüllten.



Neuntes Capitel.


In einem großen saalartigen Zimmer im Hinterhofe eines düstern Hauses
des Faubourg St. Antoine war das democratische Comité versammelt,
welches sich gebildet hatte, um auf das Plebiscit einzuwirken und das
Volk in Massen dahin zu bestimmen, daß es die Abstimmung entweder ganz
verhindere oder wo die Kühnheit dazu vorhanden sein möchte mit „Nein“
stimme.

Die Versammlung fand bei bereits ziemlich vorgerückter Abendstunde
statt, der große finstere Raum mit den schmutzigen, von Rauch
geschwärzten Wänden war durch einige Petroleumlampen, die auf einem
großen Tisch in der Mitte standen, nur wenig erhellt; um diesen Tisch
saßen die Leiter des Comités in scharfer Beleuchtung, während der übrige
Theil des Saales, in welchem sich etwa vierzig bis fünfzig der
hervorragendsten Agenten des Comités befanden, in Dunkelheit gehüllt
war.

An diesem Tisch sah man in der Mitte Jules Lermina, einen der
unermüdlichen Agitatoren der republikanischen Bewegung in Frankreich,
einen Mann mit tief blassem, wie aus Erz gegossenem Gesicht, in welchem
nur die glühenden, unheimlich und finster blickenden Augen zu leben
schienen und welches, wenn er mit seiner harten jede Modulation
ausschließenden Stimme sprach, durch kein Mienenspiel bewegt wurde.

Hier sah man Ulric de Fonvielle, den Begleiter Victor Noirs bei dessen
verhängnißvollem Besuch im Hause des Prinzen Pierre Bonaparte — mit
seinem großen Bart und seinem unruhigen, aufgeregten und wichtig
thuenden Wesen.

Hier war Varlin, der Buchbinder, in seiner gebückten Haltung mit dem
kalten höhnischen Lächeln auf den Lippen, mit dem niedergeschlagenen
Blick, der nur zuweilen im schnellen Blitz von unten hinauf schoß und
dann fast immer Denjenigen, auf welchen er sich richtete, durch seinen
stechenden scharfen Ausdruck aus der Fassung brachte.

Hier sah man Raoul Rigault, den jungen einundzwanzigjährigen Verschwörer
mit seinem blassen, selbstgefällig lächelnden Gesicht, den müden, etwas
gleichgültigen Blick hinter dem Monocle verbergend, in seiner
stutzerhaften, aber etwas abgeschabten Eleganz, mit der Wäsche von
zweifelhafter Reinheit, das kleine Stöckchen mit dem unechten
Silberknopf in der Hand.

Hier sah man Ancel, Boyer, Delacour, Dembrun, Portalier, Robin,
Mangold — theils in Blousen, theils im einfachen bürgerlichen Anzug — und
auf allen diesen finstern Gesichtern ruhte der Ausdruck starrer düsterer
Entschlossenheit und grimmiger Unversöhnlichkeit. Sie waren zum großen
Theil die Führer des Pariser Zweigvereins der internationalen
Arbeiterassociation, welche aber jetzt nicht mehr wie früher sich einer
gewissen wohlwollenden Duldung der Regierung zu erfreuen hatte, nachdem
sie durch richterliches Erkenntniß aufgelöst worden war. Es war nicht
mehr jene Internationale von Tolain und Fribourg, welche durch Belehrung
und ruhige gesetzliche Agitationen die Lage des Arbeiterstandes zu
verbessern strebte, und welche von idealen Anschauungen geleitet wurde.

Jene Führer waren verschwunden, die Internationale von heute war eine
proscribirte und geächtete Gesellschaft, welche sich lange den
Nachforschungen der Polizei verbarg, und im Geheimen dafür aber um so
wirksamer ihre Lehren propagirte und ihre Pläne verfolgte. Diese Lehren
aber waren heute offen und rückhaltslos auf die Zertrümmerung der
bestehenden Staatsordnung und der bestehenden Gesellschaft gerichtet,
und die Pläne, deren eigentliches Geheimniß nur den ausgewählten
Kreisen, den Leitern, bekannt war, richtete sich auf eine möglichst
schnelle und nachdrückliche Vernichtung aller Autorität und alles
Besitzes.

Die internationale Association als solche konnte sich mit der Frage des
Plebiscits nicht beschäftigen, sie konnte sich nicht versammeln, ohne
sich sogleich polizeilicher Auflösung auszusetzen, sie hatte deshalb das
democratische Comité gebildet, an dessen Spitze wiederum ihre Leiter
standen, um in dieser Form ihren Einfluß auf das Plebiscit auszuüben und
um wo möglich diese Gelegenheit zur Herbeiführung einer Catastrophe zu
benutzen.

Auf Bänken und Stühlen ringsum den Tisch des eigentlich leitenden
Comités saßen dessen hervorragende Agenten in den verschiedenen
Stadttheilen von Paris fast Alle in der Blouse der Arbeiter, Alle
denselben Ausdruck ruhiger und kaltblütiger Unversöhnlichkeit in den
Gesichtern.

Lermina erhob sich:

„Wir haben, meine Freunde,“ sprach er, „nunmehr die Berichte aus allen
Theilen von Frankreich empfangen, welche uns mittheilen, daß überall
die Comités constituirt sind, um diesem frevelhaftem Possenspiel
entgegenzutreten, durch welches man in einem gefälschten Ausdruck des
Volkswillens für den Despotismus und die Tyrannei eine neue Stütze
suchen will. Allgemein ist die democratische Partei organisirt, um auf
die unklare und furchtsame Bevölkerung den Druck ihres Einflusses
auszuüben. Nach Allem, was man uns mittheilt, wird es schwer werden,
eine große Majorität dahin zu bringen, daß die an das Volk gestellte
Frage mit „Nein“ beantwortet wird. Die Furcht vor den Machtmitteln der
Gewalt ist zu groß — dagegen müssen wir aber mit aller Kraft dahin
streben, daß der größte Theil der Bevölkerung sich von jeder Abstimmung
zurückhält, um vor der Welt beweisen zu können, daß die Majorität,
welche die Regierung erreichen möchte, im Verhältniß zur Gesammtzahl der
Bevölkerung garnichts bedeutet. Ich habe deshalb die Instructionen,
welche Sie Alle früher bereits gebilligt haben, an eine Anzahl von
zuverlässigen Personen vertheilt, die in diesem Augenblick bereits in
die Provinzen abgegangen sind, um überall die Agitation noch fester zu
organisiren und zu beleben. Unser unermüdlicher Freund Cernuschi hat mir
von London aus abermals die Summe von hunderttausend Francs übersendet,
um die nothwendigen und unvermeidlichen Kosten unserer Thätigkeit zu
bereiten.“

Ein Ruf des Beifalls tönte durch den Saal.

„Ich habe ihm den Dank des Comités ausgesprochen,“ fuhr Lermina fort,
„und schlage nunmehr vor, daß wir hier in Paris selbst unvorzüglich eine
demonstrative Versammlung in Scene setzen, welche hier in der Hauptstadt
die Bewegung in Fluß bringt und den Provinzen ein Beispiel giebt. Ich
schlage zu diesem Zweck den Saal der Folie-Bergère vor, welcher den
nothwendigen Raum bietet und zugleich der ganzen Bevölkerung von Paris
bekannt ist. Hat Einer von Euch, meine Freunde, gegen den Vorschlag
Etwas einzuwenden?“

Die Versammlung schwieg — einzelne Rufe der Zustimmung ließen sich hören.

„So wollen wir also,“ fuhr Lermina fort, „die democratische
Volksversammlung in der Folie-Bergère auf den vierten Tag, von heute an
gerechnet, festsetzen. Und ich bitte alle unsere Freunde,“ fuhr er sich
nach den Zuhörern im Hinterraum des Saales wendend fort, „in den
verschiedenen Stadttheilen von Paris ihre ganze Thätigkeit aufzubieten,
um den Besuch der Versammlung so zahlreich als möglich zu machen.
Zugleich ersuche ich Euch alle, meine Freunde, Euch vorzubereiten und
nachzudenken über das, was Jeder von Euch der Versammlung sagen will,
damit die Worte zünden und die Massen zu energischem Widerstand
entflammen.

„Vor Allem,“ rief Ulric de Fonvielle mit lauter Stimme, „müssen wir
diesen verrätherischen Lügner und Heuchler Ollivier dem Volk in seiner
wahren Gestalt zeigen. Es giebt immer noch Leute,“ fuhr er fort, „welche
sich durch seine Vergangenheit täuschen lassen und auf welche sein Name
einen gewissen Einfluß übt, — durch ihn will die kaiserliche Tyrannei das
Volk irre führen, ihn gilt es zu vernichten und ihn des letzten Restes
seiner Popularität zu berauben. Ich werde über Ollivier sprechen,“ rief
er mit der Hand durch seinen Bart fahrend, „das Volk hat Ollivier in die
Gosse geworfen — und das Kaiserthum hat ihn daraus wieder
hervorgefischt!“ —

Lautes Gelächter, Beifallsrufen und Händeklatschen erfüllten den Saal.
Dann trat eine augenblickliche Stille ein.

Varlin erhob sich, zog ein Papier aus der Tasche und sprach:

„Ich bin in Allem mit den Maßregeln des Comités und mit seinen
Vorschlägen vollkommen einverstanden. Doch ich habe nunmehr meinerseits
einen Vorschlag zu machen, welcher in der Vorsicht begründet ist und zum
Zweck hat, unsere Agitatoren gegen einen Gewaltstreich der Regierung zu
schützen.“

Aufmerksam hörten Alle zu.

„Ihr wißt, meine Freunde,“ fuhr Varlin fort, „daß die Internationale
gesetzlich verboten ist, und daß die Polizei das Recht hat, jede
Thätigkeit dieser Association sofort zu verhindern. Nun aber ist unsere
ganze Organisation, wenn wir uns auch als democratisches Comité
constituirt haben, dennoch die der Internationalen. Wir Alle sind
Mitglieder des Bureaus derselben, und in allen Provinzen sind es wieder
die Zweigvereine der Internationalen, in deren Händen die Agitation
liegt. Das giebt der Polizei Gelegenheit, sobald sie will, unsere ganze
Agitation als eine Thätigkeit der Internationalen zu bezeichnen und zu
verbieten — es wäre unklug, ein solches Verbot zu provociren oder möglich
zu machen, und ich halte es demnach für nothwendig, daß von Seiten der
Internationalen eine öffentliche Kundgebung stattfindet, welche
vollkommen klar stellt, daß die democratische Association gegen das
Plebiscit mit der internationalen Arbeiteragitation nichts zu thun hat.
Ich halte eine solche Kundthuung practisch für nothwendig, außerdem
aber,“ fuhr er einen raschen Blick im Kreise umherwerfend fort, „deshalb
für geboten, weil allerdings die jetzt von uns ausgeübte Thätigkeit mit
den eigentlichen Zielen der Internationalen wie dieselbe in den Statuten
derselben ausgestellt sind, nicht identisch ist.“

„So soll die Internationale die Thätigkeit des democratischen Comités
desavouiren,“ fragte Lermina, den flammenden Blick auf Varlin richtend.

„Das nicht,“ erwiderte dieser, „doch soll sie erklären, daß sie mit
dieser rein politischen Sache nichts zu thun hat. Ich wiederhole,“ fuhr
er fort, „daß diese Erklärung nach meiner Ueberzeugung zunächst der
Polizei gegenüber nöthig ist, um ihr die Möglichkeit zu nehmen, gegen
das democratische Comité unter dem Vorwand einzutreten, daß es mit den
Internationalen identisch sei, so dann aber auch im Interesse der Macht
der Internationalen selbst. Wir Alle, meine Freunde,“ fuhr er fort,
„sind darüber einig, daß nur durch eine politische Revolution, durch
welche das jetzt begehende Regiment und die ganze Staatsordnung
zertrümmert, die socialen Ziele in der Internationalen erreicht werden
können, aber — ihr müßt wissen, wie ich, daß unter den Arbeitern,
namentlich in den Provinzen, noch sehr viele vorhanden sind, welche vor
einer politischen Revolution zurückschrecken, und welche noch in der
Idee befangen sind, von welcher wir in dem leitenden Mittelpunkt uns
frei gemacht haben, — von der Idee nämlich, daß auf friedlichem und
gesetzlichem Wege eine Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes
erreicht werden könne; um Aller dieser willen ist es ebenfalls nöthig,
daß wir die Internationale als solche von jeder Thätigkeit gegen das
Plebiscit fern halten.“

Lermina blickte nachdenklich vor sich hin, die Gründe Varlins schienen
ihm einzuleuchten, dennoch mochte es seiner im Grunde ehrlichen und
graden Natur widerstreben, aus Rücksichten der Klugheit solche
Doppelwege zu gehen.

Einzelne Stimmen der Mißbilligung erhoben sich aus dem Zuhörerkreise.

„Das würde nur Verwirrungen in die Begriffe bringen,“ rief man — „warum
nicht etwas sagen, wovon man überzeugt ist, — um so besser, wenn in
diesem Augenblick ein Zusammenstoß mit der Gewalt erfolgt, — einmal muß
es ja doch dazu kommen.“

„Halt, meine Freunde,“ rief Varlin mit seiner durchdringenden Stimme die
verschiedenen Rufe übertönend, „höret zunächst an, wie ich die Erklärung
der Internationalen entworfen habe, Euch wird dann Alles besser klar
werden. Sie soll wahrlich die Thätigkeit unseres democratischen Comités
nicht desavouiren, und sie soll uns nur davor schützen, daß wir durch
einen rohen Eingriff der Polizeigewalt in unserer Wirksamkeit gehemmt
und unterbrochen werden, bevor dieselbe ihre Früchte getragen hat.“

Er winkte gebieterisch mit der Hand und während der aufmerksamen Stille,
die unmittelbar eintrat, las er, den Blick auf das Papier in seiner Hand
geheftet, den von ihm vorgeschlagenen Entwurf der Erklärung der
Internationalen:

„Der Bundesrath des internationalen Arbeitervereins giebt den
Insinuationen und Anschuldigungen der offiziellen und offiziösen Blätter
über seine Theilnahme an der politischen Agitation dieser Tage hiermit
ein formelles Dementi. Die Internationale weiß nur zu gut, daß die
Leiden aller Art, welche das Proletariat zu dulden hat, bei weitem mehr
den ökonomischen Zuständen der Gegenwart, als den Zufälligkeiten des
Despotismus einiger Staatsmänner zuzuschreiben sind. Sie wird ihre Zeit
nicht mit Nachsinnen über die Befestigung des kaiserlichen Despotismus
verlieren. Der internationale Arbeiterverein, der eine permanente
Verschwörung aller Unterdrückten, aller Ausgebeuteten ist, wird den
ohnmächtigen Verfolgungen gegen seine Führer trotzend, so lange fort
bestehen, bis alle Ausbeuter der Arbeit, alle Capitalisten, alle Pfaffen
und alle politischen Abenteurer verschwunden sein werden.“

„Ich glaube,“ sprach er, indem sein Blick über die Versammlung hinglitt,
„daß nach dieser Erklärung Niemand wird sagen können, es sei die
Internationale, welche die gegenwärtige democratische Agitation
führe, — und doch wird darin gewiß kein abfälliges Urtheil über seine
Thätigkeit gesprochen.“

„Varlin hat Recht,“ rief man von allen Seiten — „er ist klug und
vorsichtig, — er denkt an Alles, die Proclamation ist gut, sie soll
erlassen werden.“

Niemand widersprach an dem Tisch des Comités, nur Raoul Rigault zuckte
leicht die Achseln und schlug mit dem Spazierstöckchen auf seine
Stiefel.

Varlin legte das Papier, dessen Inhalt er vorgelesen, Lermina vor, der
es mit einem raschen Federzug unterzeichnete. Die Uebrigen folgten Alle.

Lermina erklärte sodann die Sitzung für geschlossen, und die
Versammelten verließen in einzelnen Gruppen, um kein Aufsehen zu
erregen, langsam und schweigend das Zimmer, indem sie sich, sobald sie
aus dem äußern Theil des Hauses auf die Straße traten, nach
verschiedenen Richtungen hin zerstreuten.

Raoul Rigault näherte sich Lermina.

„Bleibt noch einen Augenblick hier,“ sprach er, „ich habe Euch eine
Mittheilung zu machen.“

„Gut,“ sagte Lermina.

Raoul Rigault trat zu Varlin und dann zu Ulric de Fonvielle, indem er
sie ebenfalls aufforderte, noch zu bleiben.

Bald war das Zimmer leer, und an dem großen Tisch befanden sich nur noch
Lermina, Varlin, Ulric de Fonvielle und Raoul Rigault.

In der Tiefe des Zimmers war ebenfalls eine Gestalt sitzen geblieben,
welche man bei der matten Beleuchtung nur in dunkeln Umrissen erkennen
konnte.

„Meine Freunde,“ sagte Raoul Rigault indem er das herabgefallene Monocle
mit einer etwas gezierten Bewegung wieder in das Auge warf, „ich habe
Euch ruhig sprechen und beschließen lassen, ohne irgend Etwas dabei zu
bemerken, weil ich Alles das für ein Geschwätz halte, durch welches
Nichts erreicht wird; — dieses Plebiscit,“ fuhr er mit selbstgefälligem
Lächeln fort, „— wird trotz unserer Agitation ganz nach dem Plan seiner
Arrangeurs ausgeführt werden, — und“ sagte er sich zu Varlin
wendend — „trotz des Protestes der Internationale wird man uns alle
verhaften, wenn man irgend dazu Lust verspürt.“

„Das ist Alles was Sie uns zu sagen haben und weshalb Sie uns gebeten
haben, hier zu bleiben?“ fragte Lermina mit seiner harten klanglosen
Stimme.

„Der Bürger Rigault ist sehr jung,“ sagte Varlin mit einem finstern
Blick auf den stutzerhaft lächelnden jungen Mann, — „es würde ihm
vielleicht besser anstehen aus den Erfahrungen ältere Personen zu
lernen, als deren Handlungen zu critisiren.“

Ulric de Fonvielle sagte Nichts, — er kannte Raoul Rigault und wußte, daß
wenn dieser junge Mensch mit dem blasirten gleichgültigen Gesicht
lächelte ein furchtbarer, blutiger Gedanke in seinem Gehirn arbeitete.
Er blickte ihn forschend an und wartete.

„Handlungen?“ fragte Raoul Rigault höhnisch die Achseln zuckend, ohne
die unmuthigen finstern Blicke Lermina's und Varlin's zu
beobachten, — „Ihr nennt das Handlungen — diese versteckten Agitationen,
diese zweideutigen Erklärungen und Proteste? Handelt“ — fuhr er fort,
„handelt, wie man in großen ernsten Angelegenheiten handeln muß, und
meine Critik wird schweigen, — ich werde wahrlich der Erste sein mit Euch
zu handeln, — aber ich sehe nicht ein wozu alle diese Geschäftigkeit
führen soll.“

„Wenn man tadeln will was Andere thun, so muß man Etwas Besseres
vorzuschlagen haben,“ sagte Lermina kurz und hart.

Varlin machte eine Bewegung, als wollte er ausstehen.

„Hört mich an,“ sagte Raoul Rigault, indem er ihn mit der Hand
zurückhielt.

Er stützte die Arme auf den Tisch und bewegte sein Stöckchen leicht in
der Luft hin und her.

„Der Augenblick ist günstig,“ sprach er weiter in einem Tone als
unterhielte er sich über irgend ein gleichgültiges Tagesereigniß, — „der
Augenblick ist günstig um einen großen Schlag auszuführen, — einen Schlag
der uns mit einem Mal an das Ziel aller unserer Bestrebungen führen
kann.“

„Und wie sollte dieser Schlag ausgeführt werden,“ fragte Varlin mit
einem fast verächtlichen Lächeln.

„Sehr einfach,“ erwiderte Raoul Rigault, immer mit seinem Stöckchen
spielend, „unsere Vereine sind in ganz Frankreich vortrefflich
organisirt, wir können sie von hier aus mit einem Wort in active
Bewegung setzen, wir können überall den Aufstand ausbrechen lassen.“

„Das können wir,“ erwiderte Lermina, „wenn wir es aber thun, so wird das
in diesem Augenblick keine weitere Folgen haben, als daß der Aufstand
überall durch die rohe Gewalt der Tyrannei niedergeschlagen und für die
Zukunft alle unsere Hoffnungen zertrümmert werden.“

„Wenn eben die Tyrannei noch besteht,“ erwiderte Raoul Rigault, „wenn
diese Maschine, welche man die kaiserliche Regierung nennt, überhaupt in
jenem Augenblick noch arbeitet.“

„Und wie wollen Sie,“ fragte Lermina, „indem Augenblick des Aufstandes
die so fest gegliederte Regierungsmaschine zerstören und unwirksam
machen?“

„Die Maschine,“ sagte Raoul Rigault, „wird von selbst unwirksam, wenn
sie keinen Mittelpunkt, eine bewegende Triebfeder mehr hat. Ich kümmere
mich nicht um die Maschine, ich zerstöre den Mittelpunkt, und die Arbeit
des Ganzen hört auf — Frankreich gehört uns.“

Lermina begann aufmerksam zu werden.

„Der Gedanke ist logisch,“ sagte er. „Wie kann er ausgeführt werden?“

„Sehr einfach,“ erwiderte Raoul Rigault, „indem man den Kaiser tödtet
und den Sitz der Regierung zerstört.“

Ganz erstaunt blickten Lermina und Varlin auf diesen jungen Menschen,
welcher im gleichgültigen und ruhigsten Ton von der Welt einen Satz
aussprach, der in seinen wenigen Worten den Umsturz der öffentlichen
Ordnung Frankreichs vielleicht Europas enthielt.

„Um den Kaiser zu tödten,“ fuhr Raoul Rigault fort, „bedarf es nur eines
entschlossenen Menschen, welcher sein Leben aufs Spiel setzt, wie dies
ja alle Soldaten oft für viel unwichtigere und gleichgültigere Dinge
thun, und in dessen Hand man ein Werkzeug legen würde, welches den
Erfolg seines Unternehmens nicht von dem Zufall abhängig macht, — zur
Zerstörung des Mittelpunkts der Regierung bedarf es nur,“ sagte er mit
selbstgefälligem Lächeln, „einiger practischen Anwendungen der
Chemie, — und was sonst die Folge der Revolution war, wird gegenwärtig
der Revolution vorangehen und ihr den Weg frei machen. Die Mittel, von
denen ich so eben gesprochen habe, sind gefunden. Um den Kaiser sicher
zu tödten, ohne die Sache von einem falschen Augenmaß oder von einem
nervösen Zittern der Hand abhängig zu machen, ist hier das Mittel.“

Er zog aus der Tasche seines Rockes einige kleine eirunde Eisenkörper
mit verlängerter Spitze hervor und legte sie auf den Tisch.

„Sie sind,“ sagte er lächelnd, „allerliebste Sprengbomben von einer
gewaltigen Explosionskraft. Man hat garnicht nöthig zu zielen. Man wirst
sie eine nach der andern in den Wagen des Kaisers, wenn er vorüber fährt
und vor die Füße seines Pferdes, wenn er reitet, und bevor die vierte
oder fünfte geworfen ist, wird von Demjenigen, der heute Frankreich zu
beherrschen glaubt, nichts mehr übrig sein, als einige kleine in der
Luft zerstreute Atome. Um diese Bomben zu werfen,“ fuhr er, die Stimme
etwas dämpfend, fort, „gehört ein Mann, welcher fanatisch oder
gleichgültig genug ist, um sein Leben an dies Wagniß zu setzen — ein
Gleichgültiger,“ fügte er hinzu, „ist mir lieber, als ein
Fanatiker, — und dieser Mann ist gefunden.“

Er erhob sich, wandte sich nach der Tiefe des Zimmers, die dunkle
Gestalt, welche von den Uebrigen unbemerkt dort bei der Entfernung der
Versammlung geblieben war, trat in den Lichtkreis, und man sah einen
jungen Mann von höchstens zwanzig bis einundzwanzig Jahren, dessen
völlig bartloses, gleichgültiges und etwas stupides Gesicht einen noch
fast knabenhaften Ausdruck hatte.

Raoul Rigault ergriff diesen jungen Mann, der einen einfachen Anzug von
sogenannter Marengofarbe und einen kleinen runden Hut trug, bei der Hand
und sagte:

„Hier ist der Bürger Beaury, welcher von London kommt und bereit ist,
den ersten und gefährlichsten Schlag in dem großem Entscheidungskampf
für die Rechte der arbeitenden Gesellschaft zu führen. Er wird diese
Bombe werfen und den fanatischen Imperator, vor welchem sich heute die
blöde Menge in den Staub beugt in die Luft sprengen.“

Tief erstaunt, beinahe bestürzt und erschrocken blickten die drei Andern
auf diesen jungen Menschen, welcher da so plötzlich wie aus der Erde
hervorgezaubert unter ihnen stand und sie mit einem ruhigen
gleichgültigen Lächeln anblickte.

„Wer sind Sie,“ fragte Lermina.

„Ich heiße Beaury,“ erwiderte der junge Mann. „Ich war früher Corporal
in der Armee des Tyrannen, seit einem Jahr bin ich Flüchtling in London,
Herr Flourens hat mich hierhergeschickt, — hier ist meine Beglaubigung.“

Er zog aus der Tasche seines Rockes ein offenes, etwas zerknittertes
Papier hervor und überreichte es Lermina.

„Ein Brief von Flourens,“ sagte dieser.

„An meine Genossen in Frankreich,“ fuhr er fort, das Papier lesend, „der
Ueberbringer dieses, der Bürger Beaury ist bereit und geschickt Alles
das auszuführen, was man ihm austragen wird, man kann sich vollkommen
auf ihn verlassen. Gustav Flourens.“

Er reichte das Papier Varlin, Fonvielle neigte sich herüber und sah über
dessen Schulter in die Schrift.

„Es ist Flourens' Handschrift,“ sagten Beide.

„Sie wissen, was Sie thun sollen,“ fragte Lermina, immer noch verwundert
den knabenhaften jungen Menschen ansehend.

„Gewiß“ erwiderte dieser, „ich soll diese Bombe da,“ er deutete auf den
Tisch, „nach dem Kaiser werfen, den ich sehr genau kenne, und den ich
nicht verfehlen werde. Ich habe auch noch dies zu übergeben,“ sagte er
dann.

Er zog ein anderes Papier aus der Tasche und gab es Lermina.

„Eine Anweisung auf vierhundert Francs,“ sagte dieser, „ebenfalls von
Flourens unterzeichnet.“

Lermina gab die Anweisung an Varlin, welcher einen Schlüssel aus der
Tasche zog, eine Schublade des Tisches öffnete und dem jungen Menschen
vier Bankbillets von hundert Francs übergab.

„Nun gehen Sie,“ sagte Raoul Rigault zu Beaury, welcher ganz vergnügt
seine Bankbillets einsteckte, „Sie werden Ihre näheren Anweisungen
erhalten. Ihre Adresse?“

„Rue St. Maur Nummer zweiunddreißig,“ sagte der junge Mensch, indem er
sich leicht gegen die Uebrigen verneigte und das Zimmer verließ.

„Ihr seht,“ sagte Raoul Rigault mit zufriedenem Lächeln, „daß ich mich
ein wenig auf das verstehe, was Handeln heißt, und daß ich vielleicht
ein wenig Recht habe, unpractische Maßregeln zu kritisiren.“

Varlin und Lermina erwiderten nichts.

„Doch weiter,“ sagte Ulric de Fonvielle, „die Ermordung des Kaisers
nützt uns wenig, wie wir ja langst überlegt haben.“

„Das ist eine Ansicht, die ich stets vertreten habe,“ sagte Raoul
Rigault, „Ihr könnt also nicht erwarten, daß ich glauben sollte, mit
diesem ersten Schlage sei Alles gethan. Auch habe ich Euch ja vorhin
gesagt, daß meine Pläne zur Handlung zwei Punkte haben. Der Erste war
die Ermordung des Kaisers; der Zweite ist die Zerstörung des
Mittelpunkts der Regierung.“

„Das wird etwas schwerer sein,“ sagte Varlin, den Kopf schüttelnd.

„Allzu umfassendere Vorbereitungen bedürfen wir nicht,“ sagte Raoul
Rigault. „Wir haben von diesen kleinen Maschinen,“ fuhr er fort auf die
auf dem Tische liegenden Bomben deutend, „einen Vorrath von tausend
Stück, welche ein Herr Lepet, ein harmloser Mann, in dem Gedanken
gegossen hat, daß es Theile eines neu erfundenen Vélocipédes wären. Sie
befinden sich an einem sichern Ort und können im Lauf weniger Stunden
gefüllt werben. Wir bedürfen dann nur noch einer gewissen Quantität
Petroleums, einer Quantität Pikrinsäure und eines Haufens alter Weiber
und kleiner Kinder, wie wir sie in beliebiger Menge in Belleville und
St. Antoine finden können.“

„Und dann,“ fragte Lermina.

„Dann,“ sagte Raoul Rigault die Achseln zuckend, „nehmen diese alten
Weiber und die Kinder die Bomben, werfen je einige hundert Stück
davon durch die Fenster der Tuilerien und der verschiedenen
Ministerialgebäude, gießen zu gleicher Zeit Jeder sein Gefäß voll
Petroleum in die Keller und Souterrains und zünden diese angenehme
Flüssigkeit mit einem kleinen Schwefelholz an. In wenigen Augenblicken
werden alle diese Centren der Regierungsgewalt in Flammen stehen, alle
diese Minister, Bureauchefs und Beamten werden fliehen. Das Ende der
Fäden, welche in die Provinzen führen und dort die Regierungskräfte in
Bewegung setzen, wird zerstört sein, und das Volk wird sich aus den
Vorstädten heranwälzen, und bevor noch irgend Jemand weiß, was
eigentlich vorgeht, wird Alles gethan sein, Paris wird uns gehören, und
diese träge, unentschlossene Masse, welche man Volk nennt, wird hier wie
im ganzen Lande unsern Befehlen folgen und durch unsere Organisation in
Bewegung gesetzt werden. Das Einzige, worauf es ankommt, ist, daß die
Sache schnell und auf allen Punkten gleichzeitig ausgeführt wird.

Das ist mein Vorschlag,“ sagte er, sich auf seinen Stuhl zurücklehnend
und mit dem Stöckchen an seine Stiefel klopfend, „er ist einfach, leicht
ausführbar und wirksam. Die Vorbereitungen sind getroffen. Wollt Ihr
handeln, so handelt, wollt Ihr es nicht, so laßt es bleiben, dann aber
werde ich mich zurückziehen, denn ich habe keine Lust mehr, meine Zeit
mit Redensarten und zwecklosen Agitationen zu verschwenden.“

„Der Plan ist großartig, vortrefflich! Dieser kleine Raoul Rigault hat
wirklich eine Armee in seinem Kopf,“ rief Ulric de Fonvielle.

„Die Sache ist allerdings gut ausgedacht,“ sagte Lermina, „und sie kann
reussiren.“

Varlin sagte nichts. Er saß tief nachdenkend da, doch zeigte der
Ausdruck seines Gesichts, daß er den Plan Raouls billige und über dessen
Ausführung nachsann.

„Natürlich kann die Sache reussiren,“ sagte Raoul Rigault, „und sie muß
reussiren, wenn sie nicht überaus dumm angegriffen wird, und daß dies
nicht geschieht, dafür müßt Ihr sorgen. Ich habe nicht Lust,“ fügte er
im affectirt hochmüthigen Ton hinzu, „mich um diese petites besognes zu
kümmern. Ich habe Euch die Instrumente geschafft, ich habe Euch einen
Menschen gestellt, welcher den ersten Schlag führen wird, an Euch ist
es, die Stunde fest zu stellen und Eure alten Weiber und Kinder an die
richtigen Orte zu führen, um aus diesen alten dumpfen Bureaus und
Aktenhaufen ein lustiges, fröhliches Feuer aussteigen zu lassen. In drei
Tagen könnt Ihr damit fertig sein. Jetzt laßt uns gehen, es könnte im
Hause Aufsehen erregen, wenn wir noch länger hier bleiben.“

Er stand auf, grüßte mit einer stutzerhaften Bewegung mit der Hand und
ging hinaus.

„Er hat uns in der That überflügelt,“ sagte Lermina, ihm finster
nachblickend, — „ich liebe ihn nicht, diese ganze geckenhafte Art
wichtige Dinge zu behandeln, mißfällt mir. Aber seine Ideen sind gut und
seine Vorbereitungen vortrefflich. Wenn Ihr einverstanden seid, soll der
Plan ausgeführt werden, er kann uns Jahre langer Agitationen überheben
und mit einem Schlage an das Ziel unserer Wünsche führen, — und selbst,
wenn der Plan mißlingen sollte, was ist dabei verloren — ein
zerschmetterter Kaiser, einige ausgebrannte Steinhaufen, — weiter
nichts,“ fügte er mit einem entsetzlichen Lächeln hinzu, welches seine
steinernen und unbeweglichen Züge in furchtbarer Weise verzerrte.

„Der Plan wird gelingen,“ rief Ulric de Fonvielle lebhaft, „die ganze
Kraft der Regierung ist zertrümmert, sobald der Mittelpunkt zerstört
ist, Frankreich und die Zukunft gehört uns.“

Varlin stand auf.

„Der Plan _kann_ gelingen,“ sagte er, „wenn Niemand außer uns etwas
davon erfährt, keines der Werkzeuge, die wir benutzen werden, darf den
ganzen Zusammenhang dessen, was geschehen soll, auch nur ahnen.“

Er streckte seine Hand aus.

„Schwören wir uns gegenseitig,“ sagte er, „bei unserm Hasse gegen die
Ausbeuter der Arbeit Verschwiegenheit und Tod dem, der den Schwur
bricht.“

Lermina und Fonvielle legten ihre Hände in diejenige Varlins.

„Wir schwören Verschwiegenheit,“ sprachen sie, „Tod dem, der diesen
Schwur bricht.“

Dann verschlossen sie sorgfältig alle Schubladen des großen Tisches, in
welche sie vorher die von Raoul Rigault mitgebrachten Proben der
Sprengbomben legten, verließen das als ein einfaches Versammlungslocal
erscheinende Zimmer, ohne dessen Thür zu verschließen und gingen vor dem
äußern Thor des Hauses nach verschiedenen Richtungen auseinander.

Einige Augenblicke blieb der große dunkle Raum im tiefen Schweigen, dann
ließ sich ein leises Geräusch vernehmen; — unter dem Tisch, an welchem
die vier Verschwörer so eben gesessen hatten, drang ein Lichtstrahl
hervor, eines der Bretter des Fußbodens erhob sich, aus der Öffnung
stieg ein Mann mit einer kleinen Blendlaterne hervor. Er leuchtete mit
dem hellen Strahl seiner Laterne nach allen Seiten in die Tiefe des
Zimmers hinein, dann drückte er das erhobene Brett sorgfältig in seine
alte Stelle zurück, scharrte etwas von dem auf dem Boden liegenden Staub
in die Spalten, zog dann mehrere sauber gearbeitete Schlüsselhaken aus
der Tasche und öffnete die Schublade des Tisches. Er nahm eine der
Bomben und steckte sie in seine Tasche, dann zog er ein kleines
Notizbuch hervor und schrieb beim Schein seiner Laterne einige Worte in
dasselbe, indem er vor sich hinflüsterte.

„Lepet, Gießer, — Beaury, Rue St. Maur Nummer zweiunddreißig.“

Dann ging er zur Thür, löschte seine Laterne aus, verließ leisen
Schrittes den Hof und das Haus und begab sich ruhig, die damals so
beliebte Melodie des Pompier de Nanterre vor sich hin pfeifend nach der
Polizeipräfectur, wo er durch den Dienst thuenden Huissier sogleich in
das Cabinet des Präfecten geführt wurde.



Ende des zweiten Bandes.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Der Todesgruß der Legionen, 2. Band" ***

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