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Title: Stufen - Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen
Author: Morgenstern, Christian, 1871-1914
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Stufen - Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen" ***


CHRISTIAN MORGENSTERN



STUFEN
EINE ENTWICKELUNG IN APHORISMEN UND TAGEBUCH-NOTIZEN



[Illustration]

R PIPER & CO VERLAG MÜNCHEN

1922


Zeichnung von Hans Wildermann frei nach einem Entwurf Christian
   Morgensterns zu Seite 42: Bild meines Lebens.

Stil: Weltliche Periode (Nietzsche) beendet durch innere Krankheit.

Schale: Öffnung durch Johanneisches.

Blut: Erfüllung.



     _'Nur wer sich wandelt,
     bleibt mit mir verwandt.'_



AUTOBIOGRAPHISCHE NOTIZ

1913


Ich wurde am 6. Mai 1871 als einziges Kind des Landschaftsmalers Carl
Ernst Morgenstern (Sohnes des Landschaftsmalers Christian Morgenstern) und
seiner Ehefrau Charlotte Schertel (Tochter des Landschaftsmalers Josef
Schertel) in München geboren und erlebte in unserm gegen Nymphenburg zu
gelegenen -- aller Kunst und heiteren Geselligkeit geöffneten -- Hause mit
parkartigem Garten glückliche, eindrucksreiche Kindheitsjahre. Meine
Eltern reisten viel, zuerst aus Lebenslust, dann aus Rücksicht auf ein
beginnendes Lungenleiden meiner Mutter, und nahmen mich schon von meinem
dritten oder vierten Jahre an überallhin mit. Besonders ist mir eine lange
Reise durch Tirol, die Schweiz und das Elsaß in Erinnerung, die im
wesentlichen in einer von zwei unermüdlichen Juckern gezogenen Kutsche
zurückgelegt wurde. Dazwischen und später waren es dann die (damals noch
ländlichen) bayerischen Seedörfer Kochel, Murnau, Seefeld, Herrsching,
Weßling und noch später schlesische Dörfer am Zobten und im Vorland des
Riesengebirges, die dem sehr viel einsamen und stillfrohen Knaben
unvergeltbar Liebes erwiesen. Solch freundliches Los ward ihm zumal durch
die Lebensführung des Vaters, der als freier Landschafter sowohl, wie
dann, als er an die Breslauer Kunstschule berufen worden war, Sommer um
Sommer ins Land hinauszog; wozu noch kam, daß er ihn, als eifriger Jäger,
bisweilen in seinen Jagdgebieten und Jagdquartieren mit sich hatte.

Diese Jahre waren grundlegend für ein Verhältnis zur Natur, das ihm später
die Möglichkeit gab, zeitweise völlig in ihr aufzugehen.

Sie waren aber auch nötig, denn bald nach seinem zehnten Jahre, in dem er
die Mutter verlor, begann der Ansturm feindlicher Gewalten von außen wie
von innen. Was sich bisher, gehegt und verwöhnt, daheim und im Freien so
durchgespielt hatte -- mein Spielen bildet für mich ein eigenes sonniges
Kapitel -- zeigte sich dem äußeren Leben, wie es vor allem in der Schule
herantrat, weniger gewachsen. Es war, als wäre das Leidenserbe der Mutter,
das doch erst zwölf Jahre darauf zu wirklichem Kranksein führte, schon
damals übernommen worden; denn wenn auch mancher frische Aufschwung immer
wieder weiter trieb, so setzten doch mehr und mehr jene dumpfen Hemmungen
ein, die ihn wohl nicht hätten so zu Jahren kommen lassen, wenn nicht
irgend etwas in ihm ebenso zähe für ihn gestritten und ihn über das
Schlimmste immer wieder von neuem hinweggebracht hätte. Vielleicht war es
dieselbe Kraft, die, nachdem sie ihn auf dem physischen Plan verlassen
hatte, geistig fortan sein Leben begleitete und, was sie ihm leiblich
gleichsam nicht hatte geben können, ihm nun aus geistigen Welten heraus
mit einer Treue schenkte, die nicht ruhte, bis sie ihn nicht nur hoch ins
Leben hinein, sondern zugleich auf Höhen des Lebens hinauf den Weg hatte
finden sehen, auf denen der Tod seinen Stachel verloren und die Welt ihren
göttlichen Sinn wiedergewonnen hat.

Sie mag ihm auch den Jugend- und Lebensfreund zugeführt haben, _Friedrich
Kayßler_, dem die Sammlung 'Auf vielen Wegen' (und wieviel anderes!) mit
dem Danke gehört: 'Wär der Begriff des Echten verloren / In Dir wär er
wiedergeboren'.

In meinem 16. Jahre etwa wurde mir das erste Glück philosophischer
Gespräche. Schopenhauer, vor allem, auch schon die Lehre von der
Wiederverkörperung traten in mein Leben ein. Es folgte, Anfang der
Zwanziger, Nietzsche, dessen suchende Seele mein eigentlicher Bildner und
die leidenschaftliche Liebe langer Jahre wurde. Die Aufgabe, Ibsens
Verswerke zu übertragen, führte mich 1898 nach Norwegen. Ich lernte Henrik
Ibsens teure Person kennen und durfte in den Übersetzungen von 'Brand' und
'Peer Gynt' mich innerlichst mit ihm verbinden.

Das Jahr 1901 sah mich über den 'Deutschen Schriften' Paul de Lagardes. Er
erschien mir -- Wagner war mir damals durch Nietzsche entfremdet -- als
der zweite maßgebende Deutsche der letzten Jahrzehnte, wozu denn auch
stimmen mochte, daß sein gesamtes Volk seinen Weg ohne ihn gegangen war.

Noch sechs Jahre darauf schrieb ich in mein Taschenbuch:

    Zu Niblum will ich begraben sein,
    am Saum zwischen Marsch und Geest ...

    Zu Niblum will ich mich rasten aus
    von aller Gegenwart.
    Und schreibt mir dort auf mein steinern Haus
    nur den Namen und: 'Lest Lagarde!'
    Ja, nur die zwei Dinge klein und groß:
    Diese Bitte und dann meinen Namen bloß.
    Nur den Namen und: 'Lest Lagarde!'

    Das Inselchen Mutterland dorten, nein,
    das will ich nicht verschmähn.
    Holt mich doch dort bald die Nordsee heim
    mit steilen, stürzenden Seen --
    das Muttermeer, die Mutterflut ...
    o wie sich gut dann da drunten ruht,
    tief fern von deutschem Geschehn!

Inzwischen war dem Fünfunddreißigjährigen Entscheidendes geworden. Natur
und Mensch hatten sich ihm endgültig vergeistigt. Und als er eines Abends
wieder einmal das _Evangelium nach Johannes_ aufschlug, glaubte er es zum
ersten Male wirklich zu verstehen.

Die nächsten Jahre -- des Austragens, Ausreifens, zu Ende Denkens --
überstand er so, wie er sie überstand, eigentlich nur, weil ihm Gesundheit
und Mittel fehlten, sich irgendwohin zurückzuziehen, wo er in völliger
Unbekanntheit seine Tage hätte vollenden dürfen. Er war doppelt geworden
und in der wunderlichen Verfassung, sich, sozusagen, groß oder klein
schreiben zu können. (In 'Einkehr', 'Ich und Du' und einer Sammlung
Aufzeichnungen findet sich Einiges aus diesem Abschnitt.)

Er konnte in einem Kaffeehause sitzen und fühlen: 'So von seinem
Marmortischchen aus, seine Tasse vor sich, zu betrachten, die da kommen
und gehen, sich setzen und sich unterhalten, und durch das mächtige
Fenster die draußen hin und her treiben zu sehen, wie Fischgewimmel hinter
der Glaswand eines großen Behälters, -- und dann und wann der Vorstellung
sich hinzugeben: Das bist Du! -- Und sie alle zu sehen, wie sie nicht
wissen, wer sie sind, wer da, als sie, mit SICH selber redet und wer sie
aus meinen Augen als SICH erkennt und aus ihren nur als sie!' ...

Und doch war solches Erkennen nur erst ein Oberflächen-Erkennen und darum
letzten Endes noch zur Unfruchtbarkeit verurteilt.

So kam das Jahr 1908 --

    'Da traf ich Dich, in ärgster Not: den Andern!
    Mit Dir vereint, gewann ich frischen Mut.
    Von neuem hob ich an, mit Dir, zu wandern,
    und siehe da: Das Schicksal war uns gut.
    Wir fanden einen Pfad, der klar und einsam
    empor sich zog, bis, wo ein Tempel stand.
    Der Steig war steil, doch wagten wir's gemeinsam.
    Und heut noch helfen wir uns, Hand in Hand.'

Der Andre war _Sie_, die mein Leben fortan teilte; der Pfad war der Weg
theosophisch-anthroposophischer Erkenntnisse, wie sie uns heute, in
einziger Weise, durch _Rudolf Steiner_ vermittelt werden.

In dieser Persönlichkeit lebt ein großer spiritueller Forscher 'ein ganz
dem Dienste der Wahrheit gewidmetes Leben' vor uns und für uns dar.

Vor ihm darf auch der Unabhängigste sich von neuem besinnen und
revidieren, vor ihm hat dies jedenfalls der getan, der immer am liebsten
dem Worte nachleben wollte: -- Vitam impendere vero.



IN ME IPSUM


     _Was ist denn von außen her über ein Leben zu sagen!
     Gar nichts._



1891


Nicht im lärmenden Kampf der Tage, auch nicht im Sturm einer großen Zeit,
aber nach Jahrtausenden stiller Arbeit, nach Äonen ewig fortwirkenden
Webens -- dann werden die Menschen gut werden.

O, wer diesen Glauben, der mir Gewißheit ist, in allen Augenblicken seines
Strebens im Herzen lebendig fühlte, er würde glücklich sein.

       *       *       *       *       *

Mein einziges Gebet ist das um Vertiefung. Durch sie allein kann ich
wieder zu Gott gelangen. Vertiefung! Vertiefung!



1892


Ich bin ein Studienkopf, den der Schöpfer einst flüchtig skizzierte, als
ihm ein Künstlerporträt im Sinne lag.



1894


Ich möchte nicht leben, wenn Ich nicht lebte.

       *       *       *       *       *

Vor einer Menschenmenge: Ich sehe plötzlich die Gedanken dieses Volks wie
eine dicke schwarze Wolke über ihm. Eine Wolke voll Tränen und Blitzen.

       *       *       *       *       *

Über all meinen Werken soll es wie ein großes Verstehen liegen -- und
davon werden viele glücklich werden.



1895


Mir ist mein ganzes Leben zu Mut, als ginge mein Weg oft an der Hecke des
Paradieses vorbei. Dann streift mich warmer Hauch, dann mein' ich, Rosen
zu sehn und zu atmen, ein süßer Ton rührt mich zu Tränen, auf der Stirn
liegt es mir wie eine liebe, friedegebende Hand -- sekundenlang. So
streife ich oft vorbei an der Hecke des Paradieses ...

       *       *       *       *       *

O tiefe Liebe, die mich zu allem beseelt.

       *       *       *       *       *

Möchte gern noch oft erwachen, stets als großer Künstler.



1896


In Arco:

Ich dünkte mich einer jener alten blonden Germanen, die hier einst mit
Herrscherschritt durch die Straßen wanderten.

       *       *       *       *       *

Ich sehe auf mich selbst zurück. Unzählige Gestalten huschen schemenhaft
an mir vorüber.

       *       *       *       *       *

Ausgraben will ich meiner Seele Schacht.

       *       *       *       *       *

Daß ich nie in meinem Leben eine Schwester gehabt habe! Kein fremdes Weib
kann dem Bruder ein solches Verhältnis ersetzen.

       *       *       *       *       *

Man lasse sich durch meine Ironie nicht irreführen. Meine Ironie ist naiv
wie mein Pathos. Ich vermag Unglaubliches ironisch zu sagen, ohne eine
Spur von frivoler Empfindung ..., ja vielleicht schrieb ich es mit
ernsthaftester Miene, ohne ein andres Lachen als das eines in sich
heiteren unbewegten Geistes.

       *       *       *       *       *

Traum

Ich fange das Raubvogelgesindel meiner häßlichen Gedanken und brate sie am
Spieß, der über einem Feuer sich dreht. Ach, vergebens.

       *       *       *       *       *

Nach einer Zoten-Posse

Je älter ich werde, einen desto tieferen, bittreren, inbrünstigeren
Widerwillen empfinde ich gegen die Zote. Weniger gegen die, welche etwa
von Mann zu Mann kursiert, obschon ich auch sie vollständig entbehren
könnte, als gegen die öffentliche Zote von der Bühne herab. Wenn plötzlich
Hunderte versammelter Menschen jede Scham voreinander verlieren und in
wiehernder Freude über eine nicht mißzuverstehende Andeutung
übereinstimmen, dann sinkt mir der Mensch unter das Tier und ein
schmerzlicher Unwille zieht mir das Herz zusammen.

Ich habe doch für vieles Leichtsinn und nicht zum mindesten für die Liebe
jeglicher Art, aber vor der berechneten Zote vergeht mir aller Übermut. Da
schaue ich nur in einen Abgrund von Gemeinheit und Häßlichkeit. Wir jungen
Männer, die wir etwas auf uns halten, sollten jenen Aufführungen
beizuwohnen nicht als uns angemessen erachten und am wenigsten Weiber, die
wir ehren, mit uns in jene niedrige und widerwärtige Sphäre hinabziehen.

       *       *       *       *       *

Mein Skeptizismus ist vielleicht gerade das Charakteristische des
philosophischen Dilettanten. Der philosophische Dilettant ist immer
schnell am Ende aller Dinge, weil er nur die Ergebnisse der bereits
gewonnenen Erkenntnis im Auge hat, ohne die Wege zu gehen, ja oft auch nur
zu kennen, auf denen jene erreicht worden sind.

       *       *       *       *       *

Jedes Jahr habe ich mindestens Eine Periode fürchterlichsten Zweifels an
mir selbst. Dann lebe ich mit beständigen Todesgedanken.



1897


Die Sehnsucht meines Lebens ist eine oft übermächtige Sehnsucht nach
praktischem Schaffen im Großen. Plastik wäre (und Architektur) mein
höchster Fall. Meine höchste Liebe galt immer dem Gegenständlichen, der
Linie, der Farbe, dem Ton an sich. Schon er allein vermochte mich zu
entzücken, wievielmehr erst seine organischen Verbindungen.

       *       *       *       *       *

Mein Hang zu philosophischem Nachdenken beruht auf der einfachen
Grundlage, daß ich in jedem Augenblick über das kleinste Stück Natur
irgendwelcher Art in höchste Verwunderung geraten kann.

       *       *       *       *       *

Dieser Norden! Da wacht man in der verheißendsten Stimmung auf.
Griesgrämig, grau, teilnahmslos ruhen die großen Augen der Fenster auf
dir, als wollten sie sagen: wozu regst du dich so auf? was willst du mit
deinen törichten Idealen? Alles ist eitel.

       *       *       *       *       *

Ich verbrenne an meinem eigenen Maßstab.

       *       *       *       *       *

Träume

Die wilde Jagd.

Der Schächer am Kreuz.

       *       *       *       *       *

Mein Herz kommt mir heut vor wie ein Pfefferkuchenherz, das lange im
Nassen gelegen hat.



1904


Es ist etwas in mir, das jagt und jagt einem Ziele zu. Das läßt mich in
keiner Trägheit ganz ruhn, in keinem Glück ganz vergessen.



1905


Ich möchte am liebsten auf einem Turm wohnen. Täglich im Leben drunten ein
Bad nehmen, untertauchen, und dann wieder hinaufsteigen in sein
Luginsland, sein au dessus de la vie.

       *       *       *       *       *

So oft ich unter neue Menschen gehe, so oft komme ich mit Wunden bedeckt
von ihnen zurück. Es sind freilich nur leichte oberflächliche Schrammen,
die bald wieder verheilen, aber sie haben, da sie entstanden, wie
zehrendes Feuer gebrannt und besser vielleicht als eine tiefe Verwundung
ihr Werk an meiner Seele getan.

       *       *       *       *       *

Ich kann ungeklärte Verhältnisse einfach nicht ertragen. Warum können die
Menschen nicht _offen_ gegeneinander sein? Reine Luft zwischen uns!

       *       *       *       *       *

Ich mag die Verärgerten nicht leiden.

       *       *       *       *       *

Meine Natur hat sich von früh auf mit Apathie beholfen. Diese Langsamkeit
zu reagieren, hat alles, was auf mich einbrach, auf eine breitere Fläche
verteilt, und was mir in einer Stunde unzweifelhaft den Atem abgeschnürt
hätte, wurde mir so in Tagen und Wochen zu einem dumpfen Druck, der mein
Leben nicht eben zerstörte, aber langsam und sicher ermattete.

       *       *       *       *       *

Und das Verhaßteste von allem wird einst geschehen: Man wird mir
'Milderungsgründe zubilligen'. ('Er war ein guter Mensch, er wollte das
Beste usw.')

       *       *       *       *       *

Was muß ich auf die Menschen für einen Eindruck machen, daß sie mich so
oft wie ein unmündiges Kind behandeln wollen.

       *       *       *       *       *

Ich trage keine Schätze in mir, ich habe nur die Kraft, vieles, was ich
berühre, in etwas von Wert zu verwandeln. Ich habe keine Tiefe, als meinen
unaufhörlichen Trieb zur Tiefe.

       *       *       *       *       *

Mein nächstes Buch soll 'Auferstehung' heißen, wenn mir noch eine
Auferstehung beschieden sein sollte, im größten Sinne.

       *       *       *       *       *

Ich will gern alles gutzumachen suchen, was ich und andere mit mir
schlecht gemacht haben, aber nur noch _in mir_, in mir selbst. Alles
andere ist Sentimentalität und Pfuscherei.

       *       *       *       *       *

Ich hatte heute Nacht (24./25. II. 05) ca. 3/4 2 Uhr nach dem ersten
Einschlafen wieder einen jener schon beschriebenen Gehirnzustände (etwa
der achte in der Reihe), dessen Hauptmerkmal mir zu sein scheint, daß ich
-- innerhalb des Traumzustandes -- aus einem unangenehmen Traum mit aller
Willenskraft ins wache Bewußtsein hinausstrebe. Es ist der Grenzzustand
des Erwachens aus einem peinigenden oder doch beunruhigenden Traum das
eigentliche Thema eines solchen Traumzustandes. So erinnere ich mich
augenblicklich nicht mehr des Traumes im Traume selbst, sondern nur noch
des Erwachenwollens, ja scheinbar wirklich Erwachtseins im Traume. Ich
schien mich endlich mit aller Kraft aus dem Krampf des Traumes losgerissen
zu haben, aber ich glaubte nicht an mein wirkliches Erwachtsein. Da fühlte
ich ein Fünfpfennigstück zwischen den Zähnen. Ich biß darauf: jetzt war
kein Zweifel mehr: es widerstand, es schmeckte metallig; ich schien
wirklich wach. Währenddem wachte ich mehr und mehr auf. Im letzten Stadium
vor dem wirklichen Erwachen verwandelte mein offenbar klarer werdender
Intellekt das Geldstück in eine Emser Pastille, die sich zu lösen begann
und den salzig-säuerlichen Geschmack auf meiner Zunge verstärkte. Hierauf
wachte ich wirklich auf und war verwundert, nichts in meinem Munde zu
finden. (Ich hatte nebenbei bemerkt den Tag -- aber nicht den Abend zuvor
-- einige Emser Pastillen gegessen.)

       *       *       *       *       *

Einem wirklichen Traume (28./29. Juli 05) folgend, möchte ich ein
dramatisches Märchen orientalischen Charakters schreiben. Der Traum war
etwa so: Eine Anzahl von uns, worunter mir noch M. Heimann, später auch
Frisch (und seine Frau) erinnerlich, waren von andern eingeladen worden,
Schriften (Dramen, Lyrisches, Lehrhaftes) eines fremden, höchst
merkwürdigen Kulturvolkes (Chinesen, Inder?) kennenzulernen, um sie zu
übersetzen. Es hieß, 12 Personen hätten genug auf Jahre zu tun, wenn sie
einen Vorstoß in diese fremde wunderliche Literatur machen wollten. Zu dem
Zweck wurden uns große Bücher vorgelegt, die mit schönen mönchischen
Handschriften gefüllt waren, und uns Stellen vorgelesen, die uns
außerordentlich bedeutsam erschienen. Zu gleicher Zeit glitten wir im
Traum unmerklich mehr und mehr in dieses Land selbst, es wurde uns
geraten, seine Tempel, Gärten, Theater, Schlösser kennen zu lernen. Ein
Trupp von uns wurde herumgeführt. Ich erinnere mich eines ungeheuren
Lesesaales, in den man uns blicken ließ und dessen uns entgegengesetzte
Seite eine einzige gewaltige Glasscheibe abschloß, durch die man eine
Schweizer Landschaft mit einer Stadt erblickte, -- wie wir erfuhren: Bern
und seine Alpen; augenscheinlich von jenen Leuten der Wirklichkeit
nachgebildet und hinter jener Scheibe als Aussicht angebracht.

Nach einer Weile verlor ich meine Gefährten. Ich nahm einen eigenen Führer
und ließ mich von ihm, ich glaube nach einem Tempel, tragen. Der Träger
trug zwei Stangen, die oben Fußtritte wie die Stelzen hatten. Auf diese
trat man, während man sich an ihrem obersten Teile mit den Händen und
Armen festhielt. Der Träger trug dann das Ganze wie eine doppelte
Fahnenstange.

Der Mann, den ich genommen, lachte auf meine Befürchtung, ich könne ihm zu
schwer werden und versicherte, ich würde viel eher loslassen als er. Er
trug mich durch reißende Kanäle und zuletzt begann ich sowohl müde zu
werden, wie ihn zu fürchten. Hier schiebt sich irgendwo eine Vorstellung
ein, die ich in einem der Theater gesehen haben muß und in der ein junges,
süßes, zartes Geschöpf die Hauptrolle gespielt haben muß. Worte und
Erscheinung überwältigten mich mit solcher Macht, daß ich in Tränen
ausbrach. Und ich weinte so mit meinem ganzen Wesen, aber ohne jede
Bitterkeit, nur aus tiefster Erregung der Seele, daß ich meine, dies
Gefühl nie vergessen zu können. Was das Stück enthielt, weiß ich nicht
mehr. Das Wort Samaria blieb haften und als hinterher wieder davon als von
einem Übersetzungsangebot gesprochen wurde, hörte ich, daß die Sonne darin
einmal mit Amanda angeredet wurde, was ich durch Alliebende (!) zu
übertragen vorschlug.

Chor (zu vorigem)

    Gebrochen von des Lebens vielen Strafen,
    hinwandl' ich meinen Pfad gebeugten Hauptes,
    schon nicht mehr hoffend auf des Himmels Gnade,
    die süßen Boten lächelnden Erbarmens.

       *       *       *       *       *

Wenn ich ein Musiker wäre, so würde ich eine Symphonie 'Vineta' schreiben.

       *       *       *       *       *

Ich wäre als Maler gewiß in Menzels Spuren gegangen, so sehr interessiert
mich jeder Gegenstand als rein malerisches Objekt.

       *       *       *       *       *

Wenn man durch Zusammenstellung der beiden Hände geheimnisvolle Figuren
bildet, so habe ich ein besonderes Verständnis dafür und möchte sie alle
kennen lernen. Für mich ist die Mystik der Hände unaussprechlich. (Dabei
sind meine eigenen zwar klein, aber nicht schön. Nur der Handrücken --
überhaupt die geballte Faust -- ist gut und vielleicht die Daumen. Die
andern Finger sind Herdentiere. Der Handteller ist sehr bemerkenswert: Ein
Chaos von Linien um ein riesiges M.)

       *       *       *       *       *

Der ganze Wahnwitz unseres modernen Wohnens (ja Lebens) steigt mir aus dem
Bild meines eigenen Umzugs auf: Wäre es nicht würdiger, sein bißchen Hab
und Gut in einer Erdhöhle, die einem aber für immer gehört, wenn sie nicht
ein Naturereignis vernichtet, zu bergen, als mit seinen Bündeln und Kisten
durch prahlende Burgen zu irren, alle zwei, drei Jahre durchschnittlich
den in festgemauerten Gelassen Seßhaften zu spielen, allen Ernst und alle
Liebe zu einem eigenen Heim an teuer gemietete Wände zu verschwenden, die
einem nie gehören können, die uns ewigen Nomaden Verhältnisse vortäuschen,
die für uns eben nur erlogen, nur uneingestandene Kulisse sind. Mein
Wohnungsideal ist das Zelt. Nur so weit möchte ich es noch bringen.

       *       *       *       *       *

Ich leide oft sehr an der Art meines Humors. Meine ewige Fragestellung, ob
nicht jeder Humor ein Quantum Philistrosität einschließt.



1906


Wenn ich heute stürbe, glaube ich, alt genug geworden zu sein. Ich bin
dann wenigstens alt genug geworden, um sterben zu können.

       *       *       *       *       *

Warum muß ich so unaufhörlich unter mir und anderen leiden! Meine Seele
ist fortwährend das Spiel über sie hinziehender Schatten.

       *       *       *       *       *

Für mich gibt es nur ein Mittel, um die Achtung vor mir selbst nicht
einzubüßen: Fortwährende Kritik.

       *       *       *       *       *

Der alte oft erprobte Fluch: Mein Typus Weib bleibt mir ewig verborgen.

Was will ich denn! Einen Kameraden, eine freie Seele, einen anmutigen
Körper.

In Rußland fände ich diese Gefährtin, in Italien -- nein. In Deutschland,
dem für mich doch allein zulässigen Lande -- wo, wo, wo?

Ihr wollt alle nur die Liebe zur Möglichkeit haben. Ich habe nur die Liebe
zur Unmöglichkeit.

       *       *       *       *       *

Kritik, Kritik, nimmer genug Kritik,
ein Spiegel sei mir noch das letzte Tor.

       *       *       *       *       *

Wie die Nacht über einen Tod zieht, so zieht Vergessenheitsnacht
allnächtlich über mein Gehirn. Ja, oft hat ein Tag so viele Tage und
Nächte, wie bei andern wohl oft Wochen und Monate. Wenn mich jemand
hypnotisierte, ich sei eine Mücke und hätte nur einen Tag zu leben, so
glaube ich wohl, daß dieser Tag für mich ein ganzes Leben werden könnte.

       *       *       *       *       *

Ich habe soeben eine lange leidenschaftliche Epistel an meinen Ofen
verfaßt und sie ihm dann gegeben. Er verschlang sie gierig und wärmte mir
mit seinem Feuer zwei Minuten lang Gesicht und Hände. Gewiß, das war
alles; aber es gibt Menschen, die nicht einmal wie ein Ofen zu antworten
vermögen.

       *       *       *       *       *

Ich ermangele ganz des Vermögens, mir nach einer Beschreibung -- und wenn
sie noch so genau ist -- ein Zimmer oder eine Landschaft vorzustellen.
Bühnenanweisungen gehen an mir meistens spurlos vorüber und Schilderungen
etwa wie des Hauses der Buddenbrooks gehen nur mit einigen groben Zügen in
mein Gehirn ein.

       *       *       *       *       *

Ich habe sehr sichere Instinkte, aber nicht die Gabe, eingehend zu
begründen, zu erklären. Die Mehrzahl der Heutigen hat umgekehrt die Gabe
des Begründens und Erklärens in hohem Maße, aber dafür keine innere
Direktion. Es ist unendlich quälend, die Berechtigung seines Urteils immer
wieder aufs neue beweisen zu sollen.

       *       *       *       *       *

Ich bin wie eine Brieftaube, die man vom Urquell der Dinge in ein fernes,
fremdes Land getragen und dort freigelassen hat. Sie trachtet ihr ganzes
Leben nach der einstigen Heimat, ruhlos durchmißt sie das Land nach allen
Seiten. Und oft fällt sie zu Boden in ihrer großen Müdigkeit, und man
kommt, hebt sie auf, pflegt sie und will sie ans Haus gewöhnen. Aber so
bald sie die Flügel nur wieder fühlt, fliegt sie von neuem fort, auf die
einzige Fahrt, die ihrer Sehnsucht genügt, die unvermeidliche Suche nach
dem Ort ihres Ursprungs.

       *       *       *       *       *

Wenn ich etwas an Christus verstehe, so ist es das: 'Und er entwich vor
ihnen in die Wüste.'

       *       *       *       *       *

Wie wenig meiner sicher bin ich doch noch. Mit welcher Leichtfertigkeit
habe ich heute Abend über Menschen geredet: so daß ich nun nachts über
mich erschrecke. (Ich werde mir doch das Armband 'Denke daran' anlegen
müssen.)

       *       *       *       *       *

Eines kann ich wohl als Merkwort über all mein Leben und seine Erfahrungen
schreiben: Fast alles, was ich geworden bin, verdanke ich mir selber,
einigen Privatpersonen und dem Zufall. Von irgendeiner bewußten
organischen Kultur um mich herum, die das Einzelindividuum zu benutzen und
systematisch auszubilden vermocht hätte, spürte ich nie etwas. Weder
Eltern noch Lehrer noch irgendwer hat mich je kraftvoll in die Hand
genommen und in großem Sinne erzogen. Und wenn ich, ein Mensch von
ursprünglich glänzender Begabung, alles in allem ein Dilettant geblieben
bin, so hat die Hälfte der Schuld daran gewiß die Unsumme von
Dilettantismus, von Halbheit und Kulturlosigkeit, die ich überall gefunden
habe, wohin mich meine bewegte Jugend geführt hat. (Gelegentlich der
herrlichen Schilderung der Krapotkinschen Jugend.)

       *       *       *       *       *

Es ist bitter, sich sagen zu müssen, daß man zwischen 35 und 45 zu
erledigen hat, was man zwischen 45 und 60 hätte sollen erledigen können.

       *       *       *       *       *

Ihr macht mir aus meiner gleichmäßigen Höflichkeit gegen alle einen
Vorwurf. Aber, was wollt ihr! Es gibt gewiß nicht gar so viele, denen es
_leicht_ fällt, die Menschen zu lieben. Nun, mir fällt es zuweilen leicht:
warum sollte ich da gewaltsam unfreundlich zu ihnen sein? Ich finde an
jedem etwas, was mir Sympathie oder doch Interesse abnötigt; und würde
nicht mein Gefühl vom Einssein mit allem eine Lüge sein, wenn ich
irgendeinem Mitmenschen gegenüber völlig kalt bleiben könnte?

       *       *       *       *       *

Ich bin der leichterregbarste und unbeeinflußbarste Mensch, den ich kenne.

       *       *       *       *       *

Ist es ein Wunder, wenn dann und wann eine Nuance von Hochmut in einem
auftaucht. Wenn man der offenbaren Niedertracht gegenüber zuweilen eisig
wird -- das Einzige, das ihr nicht zu Gebote steht. Die Menge weiß nichts
von der Tiefe der Demut, die ein einzelner empfindet, der sich ganz zu
erkennen strebt.

       *       *       *       *       *

Luther spricht einmal von 'bösen Gedanken', deren Kommen man nicht hindern
könne, aber die es gelte, vor der Schwelle bleiben zu lassen. Der Satz
(dessen schöner kräftiger Wortlaut mir im Augenblick leider nicht
gegenwärtig) ist mir oft im Leben ein Trost gewesen; denn ich habe von
früh auf, d.h. wohl etwa von meinem 14. Jahr an, daran gelitten, daß in
der Reihe meiner Assoziationen plötzlich zuweilen ein 'häßlicher Gedanke',
eine häßliche Vorstellung auftauchte, die ich sofort als solche erkannte,
ohne indes die Macht zu besitzen, ihr auszuweichen, ja ihr
Wiedererscheinen zu hindern.

       *       *       *       *       *

Es wäre vielleicht der richtige Augenblick, ein Tagebuch zu beginnen.
Draußen regnet es ununterbrochen seit neun Stunden und bringt mir meine
Einsamkeit erdrückend zum Bewußtsein. Heute Nachmittag durchfuhr es mich:
wenn ich meine Gedanken und mein Schaffen nicht hätte, wie würde ich dann
wohl solch ein Krankenleben ertragen können. Und ich bin krank, wenn ich
es auch fortwährend wieder vergesse und mitten in meiner Krankheit
Stunden, Tage, Wochen vollkommener Gesundheit durchlebe, Zeiten voll
herrlichsten Blühens, in denen der Zerfall in mir gleichsam überblüht,
hinweggesiegt wird von einem Frühling, der Herbst und Winter des Leibes
nicht anerkennt, der die Ordnung der Natur vergewaltigt und, als
unüberwindliche immer wieder auferstehende Lebenskraft mich über mich
selbst hinwegretten zu wollen scheint. Aber dann kommt ein Spätnachmittag
mit seiner gefährlichen Muße, dann kommt ein nasser, trübseliger Tag wie
dieser, und mit dem Vergessen dessen, 'was ist', ist es vorbei. Ich sehe
ihn vor mir, meinen treusten Begleiter und Verfolger, den seltsamsten Kauz
der Welt. Seine Beschäftigung besteht seit zehn, seit vierzehn Jahren
darin, mich mit einer feinen Federpose in der Luftröhre zu reizen, gleich
als wünschte er auf Erden nichts, als immer von neuem, Stunde um Stunde,
Tag um Tag, Jahr um Jahr meine Stimme zu hören, lediglich die Stimme,
unartikuliert, tierisch, ohne Form, ohne Inhalt, wie er denn wohl auch
selbst nur ein tierischer Geist sein mag, ein Gespenst ohne Hirn, nichts
als fixe Idee von oben bis unten und ich sein einziges Ziel, sein einziger
Lebenszweck.

Es berührt mich eigentümlich, wenn meine Freunde künftige Pläne vor mir
ausbreiten. Die einen denken sich ein kleines Haus für mich aus in ihrer
Nachbarschaft, die andern wollen mich weiß Gott wohin haben. Vielleicht,
vielleicht. Aber ich gebe mir höchstens noch zehn Jahre. Und diese zehn
Jahre haben ihre Bestimmung, und die ist kaum: Nachbar zu werden und
Besuchsreisen zu machen. Am meisten schmerzt mich, was ich von
dichterischen Möglichkeiten alles fallen lassen muß. Zum Drama werde ich
nie gelangen, ich habe von Natur nicht das Zeug dazu und mich auf Drama
hinzudisziplinieren, dazu fehlt, wie gesagt, Zeit und dann auch Energie.
Mein Widerwille nämlich gegen richtiges, zusammenhängendes 'Schreiben' ist
allzu groß. Daran wird auch mein Roman scheitern. Ich bin
Gelegenheitsdichter und nichts weiter.

       *       *       *       *       *

Ihr wollt meinen Platz wissen? Überall, wo gekämpft wird.

       *       *       *       *       *

Meine Methode, ein Wort durch den Gestus zu finden.

       *       *       *       *       *

Niemand war und ist mir eine empfindlichere Geißel als der richterlich
geartete Mitmensch. Er ist für mich der personifizierte böse Blick. Vor
ihm erschrickt alles Lebendige in mir so tief, als hätte der Tod selbst es
gestreift. So mag eine Pflanze aufhören zu wachsen, wenn sie ein schlimmer
Zauberer anhaucht. Sie will gern von Wind, Regen und Kälte vernichtet
werden, und wenn sie jemand zertritt, so wird sie es als etwas Natürliches
hinnehmen, aber sich bei lebendigem Leibe von einem andern lebenden Wesen
schlechtweg in Frage stellen, verneinen, für unfähig, für einen Irrtum
erklären lassen zu müssen und das nicht etwa unter einem Feuer von
Leidenschaft, sondern kalt, vorbedacht -- das ist unerträglich.

       *       *       *       *       *

Dieser Ofen könnte mich veranlassen, zu bleiben. Er ist aus länglichen
Kacheln gebaut, die ein von allerzartestem Lila umrahmtes milchweißes
Ornament zeigen, und von schönen Verhältnissen. Wenn die Menschen mehr
bedächten, wie viel Glück von einem einfachen Gegenstand ausgehen kann,
wenn sich nur ein reiner Geschmack in ihm ausdrückt, würden sie unter den
einfachsten Bedingungen viel dankbarer gegen ihr Leben sein dürfen. Ich
kann nicht sagen, wie mich die ersten Architekturen des Südens (in Bozen)
wieder bewegten. Ich glaube, ich werde von hier unaufhaltsam nach Italien
hinabsinken -- und vielleicht bloß um seiner Bauwerke willen, die mir den
Menschen erhöhen, wie der Mensch sich in ihnen erhöht hat.



1907


Als Primaner versuchte ich zum ersten Mal zu einer lebendigen Vorstellung
dessen zu gelangen, was wir des Alls Unendlichkeit nennen. Ich legte mich
nachts auf einen fast horizontal gestellten Klappsessel in den Garten, und
bemühte mich, über das rein Bildmäßige des Sternenhimmels hinaus in seine
Wirklichkeit einzudringen. Es gelang mir so wohl, daß ich empfand: Jetzt
noch eine Sekunde solcher Erdabwesenheit, ein einziger kleiner Schritt
weiter und mein Gehirn ist auf immer verloren. Und ich brach das
schauerliche Experiment ab. Jetzt, etwa fünfzehn Jahre später, droht mir
die gleiche Gefahr am lichten Tage. Es begann an einem stählern blauen
Frühlingsabende in einer Gartenanlage in Obermais, mit dem Blick auf die
dem Vinschgau vorgelagerten Ketten. Die Berge formten sich ungefähr wie zu
einem Maulwurfshügel zusammen, die Ortschaft, die Gegend um mich verloren
ihre Wichtigkeit. Meine Mulde erschien mir nicht bedeutender als der
Abdruck eines Daumenballens in einer Wachskugel, und mich trug der riesige
doch kleine Planet wie ein Infusor auf seinem Rücken rund durch den Raum.
Ein leichtes geistiges Schwindelgefühl, ein Vorgefühl von Seekrankheit des
Geistes erfaßte mich. Die Begriffe oben und unten gingen in einem dritten
unter. Ich saß da nur einfach von Luftdrucksgnaden.

       *       *       *       *       *

Wenn ich das Gegenwärtige nicht so liebte, wenn ich diese Liebe nicht
hätte wie einen großen und sicheren Fallschirm, ich wäre längst ins
Bodenlose gefallen.

       *       *       *       *       *

Da stamme ich nun von Malern -- und muß den Zusammenbruch der Natur als
eines _Bildes_ in mir erleben!

       *       *       *       *       *

Ich bin wie einer, der ohne Führer, nur so nach Karten und gelegentlicher
Auskunft von Hirten und Wanderern ins Hochgebirge hineinsteigt. Niemand
ahnt, mit was für Martern ich das oft zahlen muß und wie mir ein schneller
Tod oft göttliche Wohltat wäre. Nein, mein 'Dilettantismus' ist kein Spaß,
keine Koketterie; er ist ein Schicksal, aber ich kann ihm nicht entrinnen;
denn war mein Geist auch allezeit willig, meiner Physis fehlte es allezeit
an jener letzten besten Energie, die sekundieren muß, wo irgend etwas
Großes auf Erden werden soll.

       *       *       *       *       *

Es ist viel Glück in mir, Glück, das mir meine Grenzen verschleiert und
Glück, das sie mir ins Unbestimmte hinausrücken zu dürfen scheint. Ich
habe viel Talent zum Leben, -- wenn das Leben nur mehr Talent zu mir
hätte. Aber manchmal weht doch ein Windstoß alle die warme schützende
Illusion fort und dann sehe ich flüchtig meinen Umriß und -- schaudere.

       *       *       *       *       *

Ich habe nur Einen wahren und wirklichen Feind auf Erden und das bin ich
selbst.

       *       *       *       *       *

Wenn ich unter Menschen bin, bin ich wie auf Ferien. -- Und deshalb sollte
ich eigentlich nicht mehr unter Menschen und am wenigsten unter Freunde
gehen: denn sie wissen alle nicht, daß ich nur gastweise bei ihnen bin und
ihnen zuhöre, daß mir für vieles von ihrem Leben und Treiben die letzte
leidenschaftliche Aufmerksamkeit verloren gegangen ist, als wäre ich ein
Mann, der etwa in einem Saal einer feinen und großen Musik zuhört -- aber
draußen vor der Türe steht heimlich sein Weib und wartet auf ihn und vor
lauter innerer Unruhe hört er nur mit halbem Ohre zu und verbirgt kaum
seine Zerstreutheit und mag manchem schärferen Beobachter mit Recht als
kein sehr fachmännisch engagierter Zuhörer gelten.

       *       *       *       *       *

Ich irre in diesen europäischen Ländern umher wie ein Vogel in einem
Treibhaus. Die Menschen glauben, weil ich von einem Ort zum anderen reise,
lebte ich ein beneidenswertes Leben. Sie wissen nicht, daß mich letzten
Endes jeder dieser Orte enttäuscht -- denn über jeden ist der Fluch
europäischer Zivilisation ausgegossen, vor dem er vor hundert, ja vor
fünfzig Jahren noch verschont war. Die entsetzliche Nüchternheit der
letzten 30, 40 Jahre kriecht einem überall nach, ja sie färbt auf einen
selber ab: Man verhotellt zuletzt rettungslos. Denn wo kein Hotel ist, da
ist kein Platz für dich mit deinem Rohrplattenkoffer und deiner
schriftdeutschen Sprache. Ich habe wohl auch meine Zeit an die
Großartigkeit unserer Epoche der Technik geglaubt, aber jetzt fühle ich
nur noch das Eine: daß sie die Erde entzaubert, indem sie alles allen
gemein macht.

       *       *       *       *       *

Das abwechselnde Summen zweier oder dreier Wespen erinnert mich an die
Responsorien der katholischen Kirche. Ich sehe die wohlgenährten
Schwarzröcke vor mir, ich sehe den zelebrierenden Priester auf den Stufen
des Altars und den Altar selbst mit seinen schlanken Kerzen und alten
Gemälden.

       *       *       *       *       *

Ich habe diesen Herbst mit Übeltaten angefangen. Ich habe an zwei heißen
Septembertagen fünf oder sechs Wespen getötet, die in mein Zimmer gekommen
waren und mich beunruhigten. Das war ganz und gar gegen meine Gewohnheit
und nur durch eine Unruhe und Unbeherrschtheit zu erklären, die unter dem
Einfluß des Südwindes mich vielleicht ebenso wie die Wespen überkommen
hatte.

Spätere Bemerkung:

Ich weiß noch, wie mich damals besonders die 'Dummheit' der Tiere erregt
hatte, die oft eine Stunde lang an der Zimmerdecke hin und her und auf und
ab irrten, ohne den scheinbar so einfachen Weg durch die offene Balkontür
wiederzufinden oder wiederfinden zu wollen. Übertragen wir diese meine
Ungeduld und Unduldsamkeit auf Götter und Menschen, so hätten diese Götter
wohl den ganzen Tag nichts weiter zu tun, als Menschen totzuschlagen.

       *       *       *       *       *

Mein ganzes Leben lang suche ich den Stachel, den ich hier ins träge
Fleisch drücken könnte -- und finde ihn nicht.

       *       *       *       *       *

Ich könnte heute noch im Walde wie ein Knabe spielen: Aus Steinen und
Holzstücken Häuser bauen, mit dürren Zweiglein Straßen abstecken und Haine
bilden, einen Felsblock zum Range eines Alpengipfels erheben und einem
Hirschkäfer und seiner Frau die Herrschaft über das alles verleihen. Und
dieses kleine Reich würde mich glücklicher machen und meine Phantasie
umständlicher erregen und beschäftigen -- als ein noch so großes der
Wirklichkeit. So habe ich einmal, mit 35 Jahren, acht Tage am Strande von
Sylt mit Bauen und Zimmern einer Strandhütte verbracht und war wohl selten
so von Herzen froh, wie bei diesem harmlosen Spiel.

       *       *       *       *       *

Je älter ich werde, desto mehr wird ein Wort mein Wort vor allen: Grotesk.

       *       *       *       *       *

Wenn ich ein Musiker wäre, so würde ich einen gemischten Chor mit
Orchester komponieren: den 'Chor der Genesenden', -- und im Himmel selber
sollte nicht tiefer, inbrünstiger und süßer gesungen werden.



1908


Wenn ich aber tot sein werde, so tut mir die Liebe und kratzt nicht alles
hervor, was ich je gesagt, geschrieben oder getan. Glaubet nicht, daß in
der Breite meines Lebens das liegt, was euch wahrhaft dienlich sein kann.

Ißt man denn an einem Apfel auch alles mit: die Kerne, das Kerngehäuse,
die Schale, den Stengel? Also lernt auch mich essen und schlingt mich
nicht hinunter mit alledem, was nun zwar zu mir gehört und gehörte, aber
von dem ich selbst so wenig wissen will, wie ihr davon sollt wissen
wollen. Laßt mein allzuvergänglich Teil ruhen und zerfallen: Dann erst
liebt ihr mich wirklich, habt ihr mich wirklich verstanden.

       *       *       *       *       *

Ihr seid von hier, ich bin von dort.

       *       *       *       *       *

Ihr meßt jedem sein Maß Liebe zu: dem dreiviertel, dem zwei Viertel, dem
ein Viertel, dem nichts. Davon verstehe ich nichts. Ich kann nicht messen
und meine Seele ist immer da am eifrigsten, wo ich sehe, daß Eure sich
spart und sperrt.

       *       *       *       *       *

Ich kann mit fertigen Menschen nichts anfangen. Es gibt fertigere Menschen
denn mich, sicherlich ungezählte. Aber keiner ist fertig, soll je fertig
sein.

       *       *       *       *       *

Ihr selig Blinden rings um meinen Schritt!

       *       *       *       *       *

Manchmal meine ich, mich definieren zu sollen als einen wehr- und hilflos
dem Großen preisgegebenen Menschen. Auf mich kann eine Seite Lagarde z.B.
wie eine Säure wirken, die mich für den Augenblick völlig zersetzt. Oder
ein Wort Nietzsches oder Goethes.

       *       *       *       *       *

An dieser meiner Lieblingsbank führt kein Spazierweg vorüber, geschweige
denn eine Straße, -- nur ein schmaler Wiesenpfad von zwei Spannen Breite.
Da kommt denn auch begreiflicherweise wenig Volks vorbei, -- --
Einsiedler, Sonderlinge!

       *       *       *       *       *

_Ich sehe_ mich selbst, schreibend zur Nachtzeit -- im Bett bei der Lampe,
dies Büchelchen schreibend ...

Und all das bin Ich.

_Ich sehe._ --

       *       *       *       *       *

Ich bin wie eine Uhr, die sich jeden Tag von neuem richten muß, weil sie
jeden Tag immer wieder von neuem nachgeht.

       *       *       *       *       *

Mein Traum 26./27. Nov. 08: Ich sehe etwas in der Luft wie etwa drei
glänzende glasklare Äpfel an einem (unsichtbaren?) Zweige, sie bewegen
sich leicht im Wind -- und daran geht mir das Wesen alles Lebens auf. Ich
denke an Böhme und seine Lampe. Nach jenem Vorgang -- bewegtes All --
erkläre ich mir, im Traum, das ganze Leben. Das Ende ist mir leider
entschwunden, ich weiß nur, daß ich großer Klarheit genoß.

       *       *       *       *       *

Ich möchte sagen, daß ich immer noch im und vom Sonnenschein meiner
Kindheit lebe.

       *       *       *       *       *

Wenn ich mir je ein Haus baue, so muß es einen Hof umschließen, in dessen
Mitte ein riesiger Baum steht. Nichts ist für mich mehr Abbild der Welt
und des Lebens als der Baum. Vor ihm würde ich täglich nachdenken, vor ihm
und über ihn ...

       *       *       *       *       *

Über die äußere Technik zur Hervorbringung kontemplativer Zustände mich
unterrichten!

       *       *       *       *       *

Mir den Sonntag Morgen als Posttag einrichten. Nur dann
Privatkorrespondenz empfangen und beantworten. (Private Ordensregeln.)

       *       *       *       *       *

Wie wenig reeller Wert ist oft an einer ausgedehnten 'guten Handlung'. Da
bin ich eben bei einem Begräbnis gewesen. Aber nichts von meiner ganzen
Beteiligung an diesem actus war anders als so gut wie nur äußerlich, außer
der ursprünglichen spontanen Regung beim Empfang der Todesnachricht: Du
willst diesem Entschlafenen die letzte Ehre erweisen.

       *       *       *       *       *

Schließlich und endlich: was vermisse ich unter meinen Mitmenschen am
meisten: Wirkliche, _wirkliche_ Phantasie.

       *       *       *       *       *

Heut habe ich mich zum zweiten Mal an die Erweckung des Lazarus gemacht ..
Was ich hier will, ist viel tiefer als 'Kunst'.

       *       *       *       *       *

Das ist es: Alle die andern beschäftigen sich mit 'Gott'. Ich wage zu
sagen: Ich -- bin -- das, was wir Gott nennen -- selbst. Wer das versteht,
aber auch nur der, weiß, was ich meine, wenn ich von 'meinem Ernste'
spreche.

       *       *       *       *       *

Meine Wendung zum Dualismus (wenn ich es so brottrocken ausdrücken will)
datiert nicht etwa vom August 1908, sie hatte sich mir schon lange vorher
verraten. Ein äußeres Merkwort bedeutete für mich auf diesem Felde eine
gelegentliche Auslassung Heinrich Frickes, etwa im Vorfrühling 1907, über
sich, Goethes Farbenlehre und den Dualismus. Daß ein so tiefer Mensch
überall Zweiheit sah, mit derselben Kraft, mit der ich überall Einheit
fühlte, konnte ich nicht mehr vergessen. Aber ich kam doch auch noch auf
ganz andern Wegen zu der Formulierung der Welt als Gottes 'Du'.

       *       *       *       *       *

Ich habe einmal in meinem Leben auf einen Stein gebissen. Seitdem bitte
ich jedes Brot vorher: enthalte keinen Stein!

       *       *       *       *       *

An M. a Jetzt fangen wieder diese großen herrlichen Vormittage an, an
deren spätem Ende ich, an allen Fibern zitternd, den Mittagstisch
aufsuche, um unwillig und abwesend mein Essen beizunehmen, das mich
langsam wieder dem Gesetz der Schwere unterwirft. Du kannst Dir keinen
Begriff von diesem inneren Brennen und Verzehrtwerden machen, dessen ich
oft kaum gewahr bin, so daß ich jeden Augenblick und bei jeder Berührung
durch irgend etwas, einen Anblick, eine Zeitungsnachricht, eine Melodie,
in Tränen ausbrechen möchte.

       *       *       *       *       *

Man wird mich einst in manchem meiner Sätze zu einem Eklektiker
degradieren wollen, aber wenn ich auch in nichts Bisheriges überschritten
haben sollte: Eklektiker war ich nie. Nie zeichnete ich etwas auf, wozu
ich nicht durch meine ganze Natur und Entwickelung gekommen wäre und
vieles fand ich und finde ich zu meinem Erstaunen wieder, was ich für mich
allein zuvor besaß.

Da lese ich soeben am 7. August 1908 von Schleiermacher: 'Darum lebt das
ganze Universum, das Göttliche, in jeder Individualität, als jede
Individualität'. Ist dies nicht mein Gedanke? und habe ich Schleiermacher
je zuvor näher kennen gelernt?



1909


Der Mensch ist mein Fach und hier will ich bis zum Äußersten gehen. Wenn
Ihr aber sagt: Dagegen wendet der Politiker dies ein und dagegen der
Historiker dies und dagegen der Nationalökonom dies, so erwidere ich: Laßt
auch sie ihr Fach bis zum Äußersten treiben. Ihr Fach ist der Mensch in
irgend einer sozialen Form, das meine der Mensch an sich, der Mensch als
inkommensurables Wesen.

       *       *       *       *       *

Bei hunderten mag es fesselnder und lohnender sein, den Bedürfnissen
nachzuspüren, woraus ihre Werke entsprungen sind, als diesen Werken
selber. Bei mir mag man sich mehr an das halten, was ich schreibe.

       *       *       *       *       *

Mein Hauptorgan ist das Auge. Alles geht bei mir durch das Auge ein.

       *       *       *       *       *

Ich weiß mich merkwürdig frei von jeder 'romantischen Sehnsucht', ich
fühle im Durchschnitt meines Wesens brüderlich zum Leben als etwas, dem
ich nichts hinzuzufügen brauche und das mir nichts hinzuzufügen braucht.
Darum vermag ich mich auch rein an ihm zu freuen, wo es Freude erweckt,
darum wendet sich mein Schmerz über das Leid der Welt gleich bis in seinen
Grund zurück.

Kein _Anders_-Sein wollend, sondern das Sein in seinem Kern und Wesen
anklagend und in Frage stellend.

       *       *       *       *       *

An Steiner

Glück in medias res.

Ich war sozusagen bis 4 Uhr morgens gegangen und glaubte kaum noch, daß es
nun noch wesentlich heller für mich werden könnte. Ich sah überall das
Licht Gottes hervordringen, aber ..

Da zeigen Sie mir mit einem Male und gerade im rechten letzten Augenblick
ein 5 Uhr, 6 Uhr, 7 Uhr -- einen neuen Tag.

       *       *       *       *       *

Ich werde noch manches veröffentlichen müssen, was einer früheren
Entwickelungsstufe als meiner jetzigen angehört, denn ich darf niemanden
über den Weg betrügen, den ich gegangen bin.

       *       *       *       *       *

Niemanden loslassen. Keine Beziehung fallen lassen!

       *       *       *       *       *

Immer bewußter sich konzentrieren lernen. Alles Flatternde und Flackernde
in mir überwinden. An jeden guten Gedanken, jede gute Empfindung einen
Stein hängen, sie verankern. Damit zusammenhängend: Seßhaft werden,
Tempobändigung, Tempobeherrschung.

       *       *       *       *       *

Meine Zahlen: 13/14/15/16/17/18/19. Mein Alter -- 42?

       *       *       *       *       *

Ich widerrufe alles Harte und Böse, was ich je in meinen Worten oder
Briefen gesagt habe.

       *       *       *       *       *

O nur nicht immer wieder erlahmen, nur nicht immer wieder absinken. Züchte
doch den _Willen_ in dir, du ewiger Wanderer _ohne Stab_.

Man soll mich als einen malen, der _ohne Stab_ einen Berg erklimmt. Der
Dämon seiner eigenen Schwäche hindert ihn, sich einen Stab zu bilden, --
aber am Steigen selbst kann er ihn nicht hindern, wie oft er auch wie tot
daliegen mag.

       *       *       *       *       *

Was ich heute tue, tue ich nicht um meinetwillen, sondern um meiner Liebe
zum Menschen willen.

       *       *       *       *       *

Einem Menschen wie mir genügt es nicht, Ein Mal das Richtige zu erkennen.

       *       *       *       *       *

Ich möchte gern auch noch zu äußerem Wirken gelangen. Ich möchte mein
Berlin als geistiges Staatskunstwerk zum Ziel machen.

       *       *       *       *       *

In alles und jedes einfließen lassen einen höheren Geist!



1910


Ich träumte mir die Kraft eines Zukünftigen, -- _meine_ Zukunft und ließ,
als ich vom Haus der lieben Freunde dankbar Abschied nahm, in jedem Zimmer
eine Rose zurück, geschaffen durch den Willen meiner Liebe.

       *       *       *       *       *

O meine Hand, du seltsames Geschöpf, du warst mir immerdar ein Angelhaken
der Meditation. Wenn ich in deine Schale blicke, meine ich ein
Geistgebilde zu schauen.

       *       *       *       *       *

Bild meines Lebens.

_Stiel_: Weltliche Periode (Nietzsche) beendet durch innere Krankheit.

_Schale_: Öffnung durch Johanneisches.

_Blut_: Erfüllung.



1911


Ich darf wohl sagen: Die Entdeckung meines Mannesalters ist die _Frau_.



1912


Mit meinen Erkenntnissen ist es so, wie wenn endlich ein Stück Berglehne
abbricht und zerbröckelnd in die Tiefe rutscht. Wie einen Bergrutsch fühlt
man's in sich und frohlockt, daß das Massiv der Blindheit, die wir sind,
wieder um etwas kleiner geworden ist.

       *       *       *       *       *

Ich kann ebensowenig Briefe schreiben, wie Gespräche führen. Beides
verflacht mich und läßt mich in einem Zustand zurück, dessen
Unerquicklichkeit ich niemandem wünsche.



1913


Sprich du zu mir, mein höher Du!
Ich will mich ganz in dich verhören.

       *       *       *       *       *

Großer philosophischer Moment während des Vortrags vom 27. August 1913:
ich sah einen Augenblick lang den Menschen (Steiner) als reinen, bewußten
_Willen_, sich allein durch ein ungeheures göttliches Vorwärts-_Wollen_ im
Leben und als solches Leben behauptend.



NATUR

1892


Wir leben doch alle auf dem Meeresgrund (dem Grund des Luftmeeres) --
Vineta.



1895


Die Sterne lauter ganze Noten.

       *       *       *       *       *

Der Quellnixe wehendes Fontänenhaar.



1896


Der Zypressen grüne Obelisken.

       *       *       *       *       *

Der Duft der Dinge ist die Sehnsucht, die sie uns nach sich erwecken.

       *       *       *       *       *

Wer weiß, ob die Gedanken nicht auch einen ganz winzigen Lärm machen, der
durch feinste Instrumente aufzufangen und empirisch (durch Vergleich und
Experiment) zu enträtseln wäre.



1897


Rhythmisch bewegte Luft ist gewissermaßen farbige Luft. Wirkung der
Glocken.



1904


Warum sind Hügel schöner als Berge? Weil sie den Begriff des Gebirges
gegenüber der Ebene, diese beglückende Naturbrechung und Erhöhung des
Niveaus mit lebendigerem Ausdruck offenbaren als die starren Felsberge,
die mehr bloß Begriffliches sozusagen, weniger Gefühlswarmes an sich
haben.



1905


Die Natur kennt nur Farbenübergänge, keine Farben.

       *       *       *       *       *

Da erwiderte mir gestern ein Herr aus Bremen: 'Wie? Sie bedauern den Tod
eines Seehunds? Ausrotten müßte man diese Tiere. Glauben Sie etwa, sie
seien nützlich? Sie sind die ärgsten Fischräuber, die es gibt, ganz
schädliche, unnütze Geschöpfe!' Ich dachte an die feuchten dunklen Augen
der gutmütigen Tiere und sie erschienen mir weit liebenswerter als diese
Anschauungen eines Pedanten, dem sich sein eigenes grenzenloses Räubertum
als Mensch so ganz und gar von selbst verstand.

       *       *       *       *       *

Mir genügt zur Zeit das Schwatzen der Seevögel, das leise Sich-Wiegen des
stachlichen Strandhafers, ein wenig durch die Finger rinnender Sand und
die graublaugrüne Fläche vor mir mit ihrer seltsamen Unbedingtheit.

       *       *       *       *       *

Die Verschwendung der Natur ist zu groß. Und das ist das Bitterste: Unsere
anklagenden Gedanken, und seien sie noch so erhaben, sind nur wie
namenlose gleichgültige Vögel, die gegen ein kristallumpanzertes Feuer
prallen, um ohnmächtig und ruhmlos in die Nacht hinabzufallen, vertan,
verschwendet wie das Wesen das sie gebar.

       *       *       *       *       *

Wie ich das Bröckeln und Rinnen einer in den Sand gewühlten Mulde
beobachte, kommen mir einige der tragischsten Eindrücke meines Lebens ins
Gedächtnis. Den einen empfing ich in den Thermen des Caracalla, und was
hier nur Bild und Gleichnis, war dort melancholische Wirklichkeit. Von den
mächtigen Gewölberesten rieselte fast unaufhörlich Mörtel und verwittertes
Mauerwerk, und ab und zu, wenn der leichte Wind sich stärker erhob, flog
wohl auch ein größerer Stein polternd in die Tiefe. Es war ein
unheimliches und erschütterndes Gespräch der Vergänglichkeit, dem der
gefährdete Wanderer dort beiwohnte und zugleich das Totenraunen einer
Kultur, das vielleicht noch währen wird, wenn der Petersdom das seinige
anheben sollte. Den andern gaben mir die norwegischen Berge mit ihren
ewigen Steinschlägen, in denen ihre Gipfel nach und nach herabzukommen
scheinen.

       *       *       *       *       *

Die große Ruhe und der tiefe Friede sind nur bei euch, ihr lieben fernen
Berge.

       *       *       *       *       *

Noch viel wunderbarer als der einfache Spiegel ist der durchsichtige
Spiegel, z.B. ein Fenster, das auf eine Landschaft hinausgeht und in dem
sich zugleich Gegenstände unseres Zimmers spiegeln.



1906


Wie können Baumwipfel wie ein Mädchen aussehen, ja mehr noch: seinen
ganzen Charakter zu enthalten scheinen? Und doch ist es manchmal so.

       *       *       *       *       *

Ich habe heute ein paar Blumen für dich _nicht_ gepflückt, um dir ihr --
Leben mitzubringen.

       *       *       *       *       *

Ich höre einen Vogel fortwährend 'Chi--rur--gie' flöten.

       *       *       *       *       *

Diese zwei jungen Teckel da vor mir, wie sie schön sind in ihrer jungen
Natürlichkeit und Zärtlichkeit zueinander! Wahrlich, bei keinem Menschen
kann reizender aussehen, als wenn das Männchen dem Kameraden mit seinem
Auge folgt oder wenn das Weibchen ihm im sonnigen Moos den Kopf auf den
Rücken legt voll Anmut und Anschmiegungsbedürfnis. Und welches Wohlgefühl
des Lebens, wenn sie so, die Nase dicht am warmen Moos, die
sonnendurchwärmte Waldluft einsaugen mit ihren vielfältigen Reizen, von
denen wir nur einen groben Begriff haben. Und welches stets rege Interesse
für alle die kleinen und großen Töne, die eine Landschaft fortwährend
erfüllen und beleben.

       *       *       *       *       *

Gebell eines 'Achtung'-Hundes:
Nervosität durch Geschrei von Kindern
Argwohn, es könnte auf ihn gemünzt sein (monoman)
Gefahr! (Furcht, Wut, Anspannung)
Beschimpfung (da nichts erfolgt)
Selbstgerechter Ärger (mehr monologisch)
Mitteilungsgefühl (Klatschbedürfnis)
     (er teilt die Sache der Außenwelt mit)
Quittungen über vieles
Rivalität   \
             |- mit andern Hunden
Solidarität /
Grundloser Unwille
Katzenjammer, der sich zu betäuben sucht.

       *       *       *       *       *

Es ist mit Landschaften wie mit Menschen, man lernt sie nie aus. Jeder und
jede vermögen unter Umständen alle Phasen von der ärmlichsten Häßlichkeit
bis zur lebensvollsten Schönheit zu durchlaufen.

       *       *       *       *       *

So schimmert ein Birkenwäldchen durch Kiefern, wie deine ferne Jugend in
und durch meine Gedanken.

       *       *       *       *       *

Die Natur ist die große Ruhe gegenüber unserer Beweglichkeit. Darum wird
sie der Mensch immer mehr lieben, je feiner und beweglicher er werden
wird. Sie gibt ihm die großen Züge, die weiten Perspektiven und zugleich
das Bild einer bei aller unermüdlichen Entwickelung erhabenen
Gelassenheit.

       *       *       *       *       *

Es ist ein seltsames Gefühl, senkrecht in die Erde zu unseren Füßen
hineinzudenken. Man kommt nicht weit, die Phantasie erstickt buchstäblich.

       *       *       *       *       *

Keine Gegend setzt sich aus andern Elementen zusammen, als den uns
bekannten. Das wissen wir und doch spielen wir damit, in einer Landschaft
Geheimnisse zu vermuten, so lange wir sie noch nicht genau kennen.



1907


Zeile aus einem Traum: Sanft und silbergestickt fand ich die süßen Berge.

       *       *       *       *       *

Der Frühling ist etwas Herrliches. Der Frühlung aber, der nicht mehr
kommen _mußte_, der nur so aus überirdischer Gnade noch einmal gekommen
ist, der ist nicht mit Namen zu nennen.

       *       *       *       *       *

Worauf beruht z.B. der Zauber des Waldes, die tiefe Beruhigung, die er dem
Menschen gibt? Darauf wohl zumeist, daß uns in ihm eine unübersehbare
Anzahl pflanzlicher Individuen einer bestimmten Art entgegentritt, die
Lebensfrieden und Lebensmacht zugleich mit äußerster Zweckmäßigkeit
vereinen. Der Stamm einer Bergfichte ist das Urbild ruhiger, in sich
gefestigter Kraft; ein gewaltiger Lebenswille, den sobald nichts zu stören
oder gar zu brechen vermag, offenbart sich in ihm. Ihre Äste, Zweige und
Nadeln aber strahlen mit solch äußerster Zweckmäßigkeit rings von ihm aus,
stellen im Verein mit dem Stamm und den Wurzeln einen so weise der
Außen- und Umwelt eingepaßten Körper dar, daß man begreift: hier liegt
die _Lösung eines Problems_ vor, an der vielleicht unermeßliche Zeiten
gearbeitet haben.

       *       *       *       *       *

Die Fliegen, diese Spatzen unter den Insekten.

       *       *       *       *       *

In der Katze hast du Mißtrauen, Wollust und Egoismus, die drei Tugenden
des Renaissance-Menschen nach Stendhal und anderen. Damit ist sie, ich
möchte sagen, das konzentrierteste Tier. Der Hund ist dagegen gläubig,
selbstlos und erotisch kulturlos. Unsere heutige Zivilisation nähert sich
mehr der Stufe des Hundes. Das Christentum ist vornehmlich gegen die Katze
gerichtet. Man darf nach dem allen in einigen Jahrhunderten den Menschen
erwarten.

       *       *       *       *       *

Die Selbstachtung einer Katze ist außerordentlich.

       *       *       *       *       *

Die Reinlichkeit der Katze ist eine ganz andre, als die des Menschen. Der
Mensch wäscht sich, kämmt sich, bürstet und klopft seine Kleider, er
entledigt sich, mit einem Wort, seines Staubes, indem er ihn dem Wasser,
der Luft, der Erde zurückgibt. Die Katze hingegen schleckt ihn mit
unermüdlicher Zunge in sich auf, verleibt ihn sich ein, vertilgt ihn --
aber im fruchtbarsten Sinne, indem sie ihn schlankweg in ihr organisches
Leben mit hineinnimmt.

       *       *       *       *       *

Du hast einen Großstadtwinter umsonst den Anblick einfacher, natürlicher
Anmut ersehnt. Drehe dich um. Vielleicht sitzt hinter dir auf dem leeren
Divan eine etwa einjährige Katze, die dich dann und wann besucht, um sich
dort eine halbe Stunde umständlich zu putzen und dann eine zweite halbe
Stunde voll tiefen Behagens zu schlummern, -- und du siehst was du
suchtest, die eingeborene Lieblichkeit unbewußter Natur.

       *       *       *       *       *

Eine der größten Unverfrorenheiten des Menschen ist, dies oder jenes Tier
mit Emphase falsch zu nennen, als ob es ein annoch falscheres Wesen gäbe,
in seinem Verhältnis zu den andern Wesen, als der Mensch!

       *       *       *       *       *

Warum erfüllen uns Gräser, eine Wiese, eine Tanne, mit so reiner Lust?
Weil wir da Lebendiges vor uns sehen, das nur von außen her zerstört
werden kann, nicht durch sich selbst. Der Baum wird nie an gebrochenem
Herzen sterben und das Gras nie seinen Verstand verlieren. Von außen droht
ihnen jede mögliche Gefahr, von innen her aber sind sie gefeit. Sie fallen
sich nicht selbst in den Rücken, wie der Mensch mit seinem Geist und
ersparen uns damit das wiederholte Schauspiel unseres eigenen zweideutigen
Lebens.

       *       *       *       *       *

Weshalb sollte man sich nicht damit abfinden, in einer gemäßigten, sehr
gemäßigten Landschaft zu leben, da man doch nur den Blick zu erheben
braucht, um ins völlig Ungemäßigte zu stürzen, und nur die Gedanken, um zu
fühlen wie wenig es verschlägt, im wilden Ozean des ewig Ungewissen auf
einem gehobelten Brett oder einem entwurzelten Baumstamm zu treiben.

       *       *       *       *       *

Den Wolken wird vielleicht einstmals eine besondere Verehrung gezollt
werden; als der einzigen sichtbaren Schranke, die den Menschen vom
unendlichen Raum trennt, als der gnädige Vorhang vor der offenen vierten
Wand unserer Erdenbühne.

       *       *       *       *       *

Merkwürdig, zu fühlen, wie man auf diesem seinem Erdboden nicht viel
anders festgehalten wird, als jene kleinen Saugnäpfchen aus Gummi, die man
an die Wand preßt, um Uhren und Schlüssel dran aufzuhängen.

       *       *       *       *       *

Ein dunkelblauer Lampion, innen von einer Kerze erleuchtet, gegen den
Nachthimmel. Vision eines geisterhaften Planeten in nächtlicher Dämmerung.

       *       *       *       *       *

Wie ein verzweifelndes Haupt Schutz, Ruhe und Wärme in seinen Händen, auf
seinen Armen sucht, so sucht Gott, der Mensch, Schutz, Ruhe und Wärme in
jenem andern dumpferen Teile seines Wesens, den wir Natur nennen.

       *       *       *       *       *

Durch die Natur beruhigt sich Gott selbst immer wieder. Wehe, wenn er als
Mensch in dem unseligen Fieber der Zivilisaton sich selbst als Natur
zerstört haben wird.



1908


Wer die Welt nicht von Kind auf gewohnt wäre, müßte über ihr den Verstand
verlieren. Das Wunder eines einzigen Baumes würde genügen, ihn zu
vernichten.

       *       *       *       *       *

Ich glaube, wer blind wäre, müßte die Pflanzen viel besser verstehen.

       *       *       *       *       *

Was tut die Blume wohl mit Gott? Sie läßt sich Gott gefallen. In der
Blume, als Blume träumt er seinen schönsten Traum, da widerstrebt ihm
nichts.

       *       *       *       *       *

Ich kenne keine 'getrennten Gebiete'. --

       *       *       *       *       *

Wie schön wird eine Henne als Mutter. Vorher wirkt sie immer ein wenig
komisch. Mit den Küchlein an sich aber rückt sie für mich unter --
Sternbilder.

       *       *       *       *       *

Eine schöne stattliche weiße Kuh mit geschwungenen Hörnern und einer
großen sonoren Glocke -- das ist schon ein Symbol, für den Gottesdienst
eines Volkes.

Oder ein Stier ..

       *       *       *       *       *

Wer mag wissen, was Glockengeläut z.B. in den Vögeln für eigentümliche,
dunkle Gefühle auslöst. Ob sie sich da nicht momentweise auch 'über sich
selbst erheben', nur so in einem dumpfen Drang ...



1909


Ein verbummelter Hund, der auf eigene Faust jagt -- und ein gehorchender
treuer, bei allem Feuer durch innere Gesetze gezügelter Hund -- zwei
Stufen Gottes auch sie.

       *       *       *       *       *

Es ist ergötzlich zu beobachten, wie Wespen und Ameisen von der
Zudringlichkeit und Dickfelligkeit der Fliegen genau so wie wir Menschen
gestört und irritiert werden.

       *       *       *       *       *

Wie mag in einem rechten Sturm ein Baum zum Gefühl seiner selbst kommen!
Wie wunderbar ist eine Birke im Sturm! Wie göttlich graziös! Wie unsagbar
malerisch!

       *       *       *       *       *

Lärchen, Birken, Erlen, ein fraulicher Wald!

       *       *       *       *       *

Die hohen Tannen sprechen: Wir sind nicht traurig und nicht fröhlich, wir
sind fest.

       *       *       *       *       *

So ein Spinnentüchlein voll Regentropfen -- wer macht das nach?

       *       *       *       *       *

Wenn man berechnet hat, daß die Erde unter dem Einfluß des Mondes ihre
Ebbe und Flut hat wie das Meer, so frage ich, warum nicht auch das
menschliche Blut und Gehirn seine Gezeiten haben sollte.

       *       *       *       *       *

Die Luftschiffahrt wird dem religiösen Genie der Menschheit neue Nahrung
geben. Zu den großen Beförderern kosmischer Stimmungen: Wald, Meer und
Wüste wird nun noch der Luftraum kommen.

       *       *       *       *       *

Wir versuchen uns an dem äußeren Bilde andrer bewohnter Gestirne wohl
selten über ein gewisses Maß von Kraft und Erfolg hinaus. Und doch --
Landschaft, ins Unendliche variiert! Welch eine Vorstellung!

       *       *       *       *       *

Jede Landschaft hat ihre eigene besondere Seele, wie ein Mensch, dem du
gegenüberlebst. Dies wirst du am deutlichsten empfinden, wenn du den
Eindruck einer gegenwärtigen mit dem wiederbeschworenen vergleichst, den
eine andere, frühere, deiner Seele eingeprägt hat. Etwa wenn du einen
Ausschnitt der gegenwärtigen betrachtest, der recht gut auch jener
vergangenen angehören könnte, -- so daß dir eine Weile so unheimlich
zumute wird, als glaubtest du die Hand eines Abwesenden oder gar
Verstorbenen zu halten, während es doch, wie du weißt, die des dir
Gegenüberstehenden ist.

       *       *       *       *       *

Ich sehe eine Zeit herankommen, wo man die Luft und das Meer so gründlich
durchforscht haben wird, daß man dazu übergeht, in irgend einer Ebene oder
Wüste einen Schacht anzulegen, durch den Generation um Generation mit
allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln tiefer unter die Erdoberfläche
eindringt.



1910


Darum ist die Natur so tieftröstlich, weil sie schlafende Welt, traumlos
schlafende Welt ist. Sie fühlt nicht Freude, nicht Schmerz, und doch lebt
sie vor uns und für uns ein Leben voll Weisheit, Schönheit und Güte. So
schliefen auch wir einst und solchem Zustand kehren auch wir einst wieder
zurück, nur mit dem Unterschiede, daß dann dies ganze Über-Glück,
Über-Leid uns bewußt sein wird und daß wir dann auch keine Träume mehr
brauchen, weil wir die Himmel selbst offen sehen.



1911


Das Kleine in der Natur ist gewöhnlich größer als 'das Große'. Denn das
Kleine ist nur zu oft Gottesarbeit, wo das Große nur Götterwerk.

       *       *       *       *       *

Überall, überall liegen Keime des Lebens -- darum -- und nun kann man auf
zweierlei Weise fortfahren: -- tue ja nirgends Lebendigem Abbruch! oder:
sorge nicht allzusehr des Einzelnen in einem Haushalt, der so auf Schritt
und Tritt Verschwendung predigt und herausfordert.

       *       *       *       *       *

Der Pilz ist der Parvenu der Pflanzen.



1912


Dir sind die Alpen nicht hoch, nicht geheimnisvoll genug, du träumst von
den Anden, vom Kaukasus, vom Himalaya. Und doch gilt es eben hier die
Seele ganz zu weiten und schon hier letzte Erhabenheit zu empfinden. Sind
nicht alle diese Berge gleiche Klippen der großen blauen, strahlenden
Geister- und Gottes-See, auf die immer wieder hinzublicken, ja, die früher
oder später mannhaft zu befahren unsere edelste Bestimmung und Freiheit
ist?



1913


Der Mensch hat noch immer sehr wenig Sinn für Wirklichkeit. Man erwäge nur
etwa den gewöhnlichen Standpunkt der Sonne gegenüber. Heißt das
Wirklichkeitsempfinden, von einem solchen Phänomen ein Leben lang nicht
anders berührt zu werden, wie es gemeinhin zu geschehen pflegt? Oder
schauen nicht vielmehr die Menschen die Sonne noch gar nicht?

       *       *       *       *       *

Auch der Baum, auch die Blume warten nicht bloß auf unsere Erkenntnis. Sie
werben mit ihrer Schönheit und Weisheit aller Enden um unser Verständnis.

       *       *       *       *       *

Hast du noch nie empfunden: es muß anders werden! Wenn du z.B. im Walde
saßest und die lieben Bäume und Gräser um dich herum sahest, von denen
dich doch so ein Weltabgrund der Nichterkenntnis schied! Was waren sie
eigentlich, wo war ihre Seele, wo war der Punkt, in dem ihr euch
brüderlich treffen konntet, nicht nur in dumpfer Liebe von deiner Seite,
sondern euch gleichsam ins gottgeschwisterliche Auge schauend? Wäre es
nicht unsinnig, wenn es in einer Welt, so weit und verschwenderisch
angelegt, immer so bliebe, nie anders würde? Muß es nicht anders werden?
Und löst diese Not und Notwendigkeit nicht etwas in dir, das sagt: Ja, es
muß besser werden, und ich will Tag um Tag dem Geist und den Geistern der
Dinge entgegengehen, sind sie doch gewiß auch schon längst auf dem Wege zu
mir.



KUNST

1891


Zugleich aus dem Leben gegriffen und zugleich typisch -- das ist höchste
Kunst.



1892


Es ist etwas Jämmerliches um einen Lyriker ohne Liebe. Was helfen da Mai
und Nachtigallen und Mondscheinnächte. Trauriger Zustand.

       *       *       *       *       *

Ihr fürchtet, daß die Umsturzepoche, vor der wir zu stehen glauben, alle
Kunst und Poesie, alles Schöne und Wertvolle im Leben vernichte?

Ich fürchte das nicht. Denn mag jeder Tempel zertrümmert, jedes Kunstwerk
verbrannt, jedes Saitenspiel zerschmettert werden, das unantastbare
Saitenspiel, das Menschenherz, wird nie aufhören, von den ewigen Melodien
zu tönen, die der Geist der Welten ihm zuhaucht.



1894


Alle wahrhaft großen Dichtungen sind Variationen zum Schicksalsliede,
seien es Maestosi, Allegri oder Scherzi.



1895


Ich betrachte als eine Aufgabe kommender Dichtergeschlechter, neue Mythen
zu schaffen, und wir wollen ihnen schon vorarbeiten.

       *       *       *       *       *

Dichten ist immer die Wiedergabe von Erinnerung. Die Erinnerung aber ist
selbst etwas Dichtendes, künstlerisch Zusammenfassendes und Auswählendes.

       *       *       *       *       *

Ein Dichter muß 77mal als Mensch gestorben sein, ehe er als Dichter etwas
wert ist.

       *       *       *       *       *

Der reimlose Jambus hat ein so formelles Pathos, ein so großrednerisches
Moment in sich, daß er uns Modernen meistens geradezu unmöglich wird, da
wir in tiefster Seele von dem Willen durchdrungen sind, wahr zu sein,
redlich vor allem in der Wiedergabe unserer Stimmungen und inneren
Erlebnisse.

       *       *       *       *       *

Höchste Empfindungen, Phantasie im Gewande intimster Natur -- -- -- --
eine Durchgeistigung der Realität auf allen Punkten, künstlerischer
Polytheismus (im Sinne der Kunst), das meine ich, muß das Programm der
Zukunft, unserer Zukunft sein. Der Sieg des menschlichen Geistes über die
Außenwelt muß vollkommen werden.

       *       *       *       *       *

Je einheitlicher ein Volk einen Stil aus sich herausentwickelt, um so mehr
ist es bei sich selbst _daheim_. Daher der Zauber des _mittelalterlichen_
Stils, daher heute unsere Heimatlosigkeit.

       *       *       *       *       *

Wenn wir einen nationalen Baustil haben wollten, müßten wir eine
einheitliche Weltanschauung haben.

       *       *       *       *       *

Wenn ich so die kleinen Dampfer die riesigen Kähne vorüberschleppen sehe,
muß ich immer an den Dichter und das Publikum denken.

       *       *       *       *       *

Schönheit ist empfundener Rhythmus. Rhythmus der Wellen, durch die uns
alles Außen vermittelt wird.

Oder auch: _Schön_ ist eigentlich alles, was man mit Liebe betrachtet. Je
mehr jemand die Welt liebt, desto schöner wird er sie finden.

Gesetzt also, es gäbe einen Gott, so wäre sein Glaube, die beste aller
Welten vor sich zu haben, verzeihlich.



1896


Das naturalistische Drama hat nur dann Wert, wenn es den Menschen, so wie
er heute ist, sich selbst unerträglich macht. Ibsen. Hauptmann.

Kritik oder Beispiel -- naturalistische oder idealistische Kunst.

Der Naturalismus eine rein historische Kunstanschauung. Der Naturalismus
nur ein Stadium, kein Ziel.

       *       *       *       *       *

Wenn heute wieder ein Schubert geboren würde, würde er eine Mission mehr
haben, nämlich, nur _Texte_ zu komponieren, die Kulturwert haben.

       *       *       *       *       *

Die Orgel, das Instrument der Zukunft.

       *       *       *       *       *

In einem Philharmonischen Konzert:

Der Tempel der Germanen: Musik als Architektur empfunden. --

All-Genuß.

Mir ist, ich wäre ein Adler und trüge mich selbst und meine Last dünkte
mir köstlich und ein tiefes Wohlgefühl durchströmte mich.

       *       *       *       *       *

Dilettantismus des Geschmacks: Bei Betrachtung von Landschaften
fortwährender Vergleichs-Standpunkt. Wie es in der Musik heißt, daß der
ein Dilettant sei, der beim Anhören eines Musikwerks in lauter
Reminiszenzen aufgeht.

       *       *       *       *       *

Ihr wißt ja alle nicht, was Schaffen heißt. Ein Bild malen, ein Gedicht
machen? Nein! Seine ganze Zeit umgestalten, ihr das Gepräge seines Willens
aufdrücken, sie mit seiner Schönheit erfüllen, sie überwältigen und
unterwerfen mit seinem Geiste.

       *       *       *       *       *

Der Krug des Nichts, aus dem alle Künstler schöpfen.

       *       *       *       *       *

Schopenhauer nennt das bloße intellektuelle Anschauen die höchste
Seligkeit, weil hier der schaffende Wille ganz schwiege. Als ob Schauen
nicht schon Schaffen wäre!

       *       *       *       *       *

Den Ästhetikern:

Zeigt Wege der Zukunft, aber beschwört nicht ewig die Toten gegen uns.

       *       *       *       *       *

Vor einer roh gefügten Gebirgsbach-Brücke:

So müßte sich jeder Architekt vor die roheste natürlichste Form der
Menschenarbeit hinstellen und an diesen Balken und Brettern seine ersten
Kunstgedanken auslassen. Er sollte so von Anfang an die Kunst als
Bedürfnis empfinden müssen und würde so gewiß zu originellen Gedanken
gelangen, deren Regulativ dann das Studium der Vergangenheit sein könnte.

       *       *       *       *       *

Der erste Schnee! Mein erster Gedanke war die ehrsame Zunft der Lyriker,
die in deine Flocken starrt, dich grüßend zu besingen. Welche Dekadenz,
diese unpoetische Reflexion über deine himmlischen Dekadenzen, lieber
trauter Schnee.

       *       *       *       *       *

Es ist eigentlich eine Ungerechtigkeit, daß der Dichter nicht -- gleich
dem Musiker -- den Teilen seiner Werke hinzufügen darf, in welchem Tempo
er sie genommen wissen will.

       *       *       *       *       *

Das losgerissene Segeltuch des kleinen Dampfers (vor meinem Fenster), das
mit seinem freien Ende im Wasser liegt, so daß es für den stärksten
Windstoß zu schwer wird, es als Fahne auszurollen: Bild für ein
Künstlerschicksal.



1897


Als ob Kunst nicht auch Natur wäre und Natur Kunst!



1901


Wer wird dieses Drama der Freude dichten: mit stillen großen Menschen, die
das Ja- und Amen-Lied im Herzen tragen, das Drama des Mittags, der
Sonnenhöhe, 'da alle Dinge rund und vollkommen' geworden sind.

       *       *       *       *       *

Was soll uns Tragödie heißen und als tiefste Erregung von der Bühne herab
gelten? Die Darstellung des wahrhaft bedeutenden Menschen, der immer eine
tragische Erscheinung ist, weil in allem menschlich Großen neben der
großen Freude auch der große Schmerz wohnt, weil in jedem ungemeinen
Schicksal das Ja und das Nein allen Lebens wie aus zwei Posaunen erklingt,
weil der große Mensch eine Abbreviatur des ganzen Weltgeheimnisses ist.
Die Tragödie ist der tiefe Gesang vom Wesen der Welt, und ihm von Zeit zu
Zeit erschüttert zu lauschen unser Ewigkeitsdienst in all dem uns
überbrausenden Alltag.



1905


Wohl alle Kunst ist bis zu einem gewissen Grade unmännlich, besonders aber
Dichten und Musizieren. Daher Nietzsches Vorliebe für Horaz als einen sehr
männlichen Dichter, daher Lionardos Wunsch: vor allem als Mathematiker,
Goethes: recht sehr als Staatsminister zu gelten.

       *       *       *       *       *

Ich liebe die italienischen Kirchen und das Leben in ihnen. Ihr Geheimnis
ist, daß sie nicht nur selber Kunstwerke sind, sondern auch alles Leben,
das sich mit ihnen vermählt, zum Kunstwerk machen, indem sie es zu einem
Bilde abtönen und feierlich umrahmen. Betritt die schlimme römische
Sinnenfängerin Gesù, wann immer du willst, oder die ehrwürdige Ara Coeli
oder die stattliche Maria Maggiore; welche Gruppen, Gesten, Mienen, welche
gehaltenen und tiefen Ausdrücke des Individuums, welche stets bedeutenden
_Bilder_! Gewiß, alles, was die Menschen zu einem bestimmten Zwecke
sammelt, vereinigt sie so mit sich zu einem Kunstwerk: die Markthalle, der
Bahnhof, die Kaserne, das Schiff, eine Straße, ein Kornfeld im Herbst --
aber wohl nichts bietet so die Gewähr eines künstlerisch abgeschlossenen
und abgerundeten natürlichen Lebensgemäldes, wie die Kirche, nichts
distanziert sich und seine Gemeinde mit soviel Glück vom kunstarmen Alltag
wie sie.

       *       *       *       *       *

Es gibt vielleicht keine glücklichere Manier, als alle Dinge vom
Standpunkt des Malers aus zu betrachten.

       *       *       *       *       *

Für Porträtmaler.

Wer einen Menschen recht erfassen will, muß ihn sehen, wenn er vom Schlaf
aufwacht, mit wirrem Haar, die Züge und Glieder noch halb gelöst, noch
halb unbewacht. Da ist er noch der Mensch ohne Namen, ohne Beruf -- wenn
auch mit all dem Bedeutenden, wodurch ihn das Leben bereichert hat. Zudem
gibt es nichts, das malerischer wäre, als ein Mensch in Trikot oder
langem, fließendem Hemd, ein Mensch bei den Bewegungen des Waschens, beim
Abtrocknen nach dem Bade, beim Kämmen und Bürsten der Haare. Auch gebe ich
allen Bildhauern und Aktmalern den Rat, ihre Modelle einmal einen
geräumigen Krug mit beiden Armen unter die geöffnete Brause emporhalten zu
lassen. Es ergeben sich da durch die zunehmende Schwere des Krugs eine
Reihe interessanter und charakteristischer Phasen, von der ungezwungensten
Pose bis zur angespanntesten.

       *       *       *       *       *

Zu Fürsten:

Zeige mir, wie Du baust, und ich sage Dir, wer Du bist.



1906


An unsere jungen Dichter: Geht ins Volk, mischt euch unter die
gewöhnlichen Leute, sucht ihre Freundschaft zu gewinnen, sucht so reden zu
lernen, daß sie euch verstehen wie ihresgleichen. Geht zu den
verschiedensten Handwerkern, auf die Werften, in die Fabriken, in die
Bergwerke; lernt vom Volk und für das Volk, seht zu, daß was und wie ihr
dann schreibt, jedem verständlich sein könne, der den guten Willen für
euer Verständnis mitbringt. Laßt euch Jahre eures Lebens in einsamen
Dörfern nieder, im deutschen Gebirge, an den Küsten, auf Inseln. Laßt euch
vom glatten charakterlosen Großstädter nicht das Bild des Menschen
fälschen, obwohl man auch bei ihm leicht unter die Schale dringen kann.
Denkt an Luther, wie er herumging in allen Werkstätten, um sich die
Sprache für seine Bibelübersetzung zu bilden, wandert, soviel ihr könnt,
werdet lieber Handwerksburschen als hoffnungsvolle Literaten, die von
Gesellschaft zu Gesellschaft eilen, die sich ihre Ziele aus Theatern und
Zeitschriften holen, die sich ästhetisch anregen lassen, statt immer
wieder auf den Grund des Lebens zu gehen.

       *       *       *       *       *

Neue Dichter seh ich kommen, nach innen den Blick gerichtet -- -- --

       *       *       *       *       *

Eine Karikatur ist bloß immer einen Augenblick wahr.

       *       *       *       *       *

Es ist ein erheiternder Gedanke, daß es Schönes und Häßliches nur im
Gehirn des Ästhetikers gibt. Von 'der Darstellung des Schönen' zu reden --
welch eine Einfalt! Es gibt nichts 'Schönes' darzustellen, weil es nicht
hier und dort etwa herumliegt, sondern in jedem Augenblick erst
_erschaffen_ werden muß. Und wenn Herr N. behauptet: aber diese Rose ist
doch schön! so antworte ich ihm: Vielmehr Sie erschaffen die Schönheit der
Rose im Moment Ihres Schauens und das fällt Ihnen leicht, denn Milliarden
haben sie vor Ihnen ebenfalls erschaffen. Gleichwohl wird die Schönheit,
welche Sie der Rose erschaffen, sich nicht mit der messen können, die ein
wahrhaft schöpferisches Auge, das von ihrem Bild getroffen wie trunken
wird, weil es sich ewige Jugend bewahrt hat, ihr erschafft.

Wenn Sie daher von der von Ihnen erschaffenen -- nachgeschaffenen --
Schönheit als von Schönheit überhaupt reden, so drängen Sie damit Ihren
sehr mittelmäßigen schöpferischen Geist der Welt und vor allem den
Künstlern wie ein Joch auf, unter das man sich beugen müsse: als dürfe nur
ebensoviel Schönheit erschaffen werden, als Ihnen zu schaffen möglich ist.
(Ihr Wille zur Macht.) Aber, mein Werter, Sie wissen von der Schönheit
nichts, so wenig wie irgendein andrer. Sie wissen nur von der von _Ihnen_
geschaffenen (meist nachgeschaffenen) Schönheit. Auch wir Künstler wissen
nicht, was 'die Schönheit' ist, aber wir vermehren sie als von Natur aus
stärker empfindende, zeugende, als die am weitesten vorgestreckten Fühler
des Menschen.

       *       *       *       *       *

Es gibt zwei große Gruppen produktiver Naturen: die mehr lehrhaften und
die mehr unmittelbaren. Man soll sie, man muß sie beide gelten lassen und
ihnen das 'und' nicht rauben. Erst aus Goethe und Schiller, Shakespeare
und Ibsen, Monet und Böcklin, Rodin und Klinger ergibt sich das ganze Bild
unserer Kunst.



1907


Es ist so plump von Künstlern und Dichtern, sich geradezu ans Geschlecht
zu wenden. Als ob man sich ans Geschlecht erst wenden müßte.

       *       *       *       *       *

Wenn das Individuum -- wie Hebbel sagt -- letzten Endes komisch ist -- und
es ist komisch --, so ist die Tragödie die höchste Form der Komödie.

       *       *       *       *       *

Alle Kunstform borniert.

       *       *       *       *       *

Programmusik mutet mich an wie Buchstaben aus lebendigen Blumen.

       *       *       *       *       *

Ein Künstler muß seine Weisen eigentlich immer einer Geliebten ins Ohr
spielen.

       *       *       *       *       *

Chopin ist immer Mann oder doch Jüngling, Beethoven hat noch das Kind vor
ihm voraus -- und seiner ist darum nicht nur das Erden- sondern auch noch
das Himmelreich.

       *       *       *       *       *

Kunst ist nicht ein Stück Welt im Spiegel eines Temperaments, sondern --
ein (Stück) Temperament im Spiegel des Bewußtseins.

       *       *       *       *       *

Das Leben zeugt Blumen und Bienen. Blumen, das sind die schöpferischen
Geister und Bienen, die andern, die daraus Honig sammeln.



1908


In jedem Kunstwerk ist der Künstler selbst gegenwärtig. Wir spielen und
hören in _Wahrheit_ Beethoven, sehen Lionardo, lesen Goethe.

       *       *       *       *       *

Liszt wirft mich oft aus der Musik heraus.

       *       *       *       *       *

Musik -- gesanggewordener Mensch und somit seine für uns vielleicht
höchste Erscheinungsform. -- Ein altes Bild: Der Gesang der Engel vor
Gott: umgedeutet: Menschen vor Gott (der überall) zu Lied, zu Gesang
geworden. Beethoven, ein Engel Gottes (der in unser aller) und zu Gottes
(der in unser aller) Preis unaufhörlich tönend -- Beethoven, ein Gesang
Gottes vor sich selbst.

       *       *       *       *       *

Das willkürliche Abbrechen von bedeutenden Musikstücken ist deshalb oft so
schmerzlich, weil da nicht nur Musikstücke, sondern -- Menschen
abgebrochen werden.

       *       *       *       *       *

Nirgends kann das Leben so roh wirken, wie konfrontiert mit edler Musik.

       *       *       *       *       *

Die moderne Landschaftsmalerei (und Liebe zur Landschaft, Natur) -- ein
weiterer Schritt der Erde zur Erkenntnis und Liebe ihrer selbst.

       *       *       *       *       *

Ein rechter Künstler schildert nie, um zu gefallen, sondern um zu --
_zeigen_.

       *       *       *       *       *

Jeder Künstler tötet zehn folgende (Dilettanten).

       *       *       *       *       *

Ich kann mir in etwa 200 Jahren ein Drama denken, dessen Vorwurf der Kampf
zwischen der Newtonschen und der Goetheschen Farbenlehre bildet. Die
Farben treten auf und suchen umsonst das weiße Tageslicht in gemeinsamer
Aktion zusammen hervorzubringen. Schließlich erscheint das eine weiße
ungeteilte und unteilbare Sonnenlicht in Gestalt eines weißgekleideten
Weibes und entlarvt dieses ganz anmaßende Unterfangen als Betrug und
Selbstbetrug.



1909


Wenn mich nicht alles trügt, so stehen wir dicht vor Künstlergenerationen,
die sich des ganzen irdischen Lebensstoffes noch ganz anders bemächtigten
werden als die bisherigen.

       *       *       *       *       *

Habt das Leben bis in seine unscheinbarsten Äußerungen hinab lieb und ihr
werdet bis in eure unscheinbarsten Bewegungen hinab unbewußt von ihm
zeugen.

       *       *       *       *       *

Allzuviel Lyrik frißt die gesunde Natur des Dramas an und nimmt ihm, in
einem ganz hohen Sinne, seine natürliche Sittlichkeit.



1910


Schönheit 'an sich'? Nein, Schönheit, die über sich hinausweist.

       *       *       *       *       *

Die neue -- die christliche -- Tragödie wird überall erst möglich sein,
wenn der Mensch mehr und mehr aus der Materie erwacht. Ihr Stoff wird die
Tragik seiner dann endlich überschauten und klar gewordenen Entwickelung
sein und ihre Größe das dann noch ganz anders, weil aus einem ungleich
höheren Bewußtseins- und Verantwortungsgrund gesagte, gesungene: Trotzdem!
und Ja! und O Ewigkeit! O, unsere Gottesewigkeit! ...

Ihr Geist wird aus der endlichen Erkenntnis dessen geboren werden,
was der Mensch verbrochen und was er gutzumachen hat, sie wird den
schauerlichen Fall des Menschen ins Ungeistige spiegeln und seine
übermenschlichen Anstrengungen, Unsühnbar-Scheinendes zu sühnen,
Unbezähmbar-Widerstrebendes zu überwinden, Unwiederbringlich-Verlorenes
wiederzugewinnen. Erheben wird sich nach langen Geburtswehen endlich der
Heerbann des Verständnisses und der Liebe, und seine Siege und Niederlagen
werden fortan wie ein Ringen erwachter Götter erschüttern, wo heute der
Tiefschlaf des Sondermenschlichen erst vereinzelte Ahnungen zuläßt.

Laßt uns darauf demütig warten und dazu das Unsere tun, Körnlein um
Körnlein. Laßt uns uns dessen vertrösten in vielem Kleinkram und Wirrwarr
noch unserer Tage.



1911


Wir beweisen durch unsere kritische Stellung zu dem vielleicht oft
anfechtbaren Menschlichen großer Künstler nichts, als daß uns durchaus nie
zu lebendigem Bewußtsein gekommen ist, was ein solcher Künstler für den
Menschen, für uns wirklich bedeutet. Wir können kalten Herzens den
'Menschen' Wagner ablehnen, ja schmähen und damit es ganz für nichts
erachten, daß täglich Ströme des Segens von ihm ausgehen, Ströme der
Kultur, der Erhebung aus dem profanen Alltag, der Reinigung durch geistige
Mächte.



1913


In ein Zimmer, dessen rosa getünchte Wände in einer breiten bunten
Zierleiste auch ein kleines kaum bemerkbares blaues Muster aufweisen, wird
eines Tages ein großer blauer Teppich gehängt. Und nun sollte man die
kleinen blauen Muster sehen, wie sie mit einem Male leben und leuchten!



LITERATUR

1895


Alle Buchstaben, die je von Menschen geschrieben, zählen.



1897


Nach der 'Wildente': Ibsen wäre 'ungriechisch'? Aber was taten die alten
Griechengötter andres, als (scheinbar) kalt und spöttisch das Treiben der
Sterblichen betrachten, im Bewußtsein der Notwendigkeit aller Dinge.

So steht Ibsen vor seinen Mitmenschen. Der herbe Duft einer gewissen
Lächerlichkeit, welche das Kennzeichen jeder Tragik ist, schwebt um seine
Werke.



1901


Es gibt ein höchst bedeutendes Bruchstück in unserer Literatur: Der
'Empedokles' von Hölderlin. Hier habe ich einmal den abgebrochenen Weg des
deutschen Dramas zu sehen vermeint.

       *       *       *       *       *

Die Griechen gestalteten ihre Sagen; die Renaissance lebte in diesen Sagen
und in den Erzählungen der Bibel; die neue Zeit, in der Breite ihrer
Völker jenen Sagen wie diesen Berichten ferner und ferner rückend, muß die
ganze bisherige Geschichte zum Stoff ihrer Kunstwerke nehmen. Unsere Sage
sind die großen Epochen der Geschichte geworden, unser Göttermythos der
Mythos vom großen Menschen in allen Zeiten. Dies ist recht eigentlich die
uns zugeborene Sage: die Menschheits-Sage. In ihr liegen jene heidnischen
und christlichen Stoffe mit inbegriffen, aber sie selbst ist noch
unausmeßlich weiter und tiefer, ihr Reich geht noch hinter alle
Sagenkreise zurück und unter sie hinab, bis auf die Menschen, ja bis auf
die Völker, die diese Kreise ersannen. Ein erster ungeheuerer Überblick
über dreitausend Jahre geistige Erde ward möglich. Menschen dieses
Überblicks werden die neue Tragödie schreiben, die einzige, welche der
griechischen ebenbürtig sein wird, ja, welche sie überfliegen wird wie der
Adler den Falken.



1904


(Zum Thema Strindberg.)

Es entsteht jedesmal ein bedeutendes Schütteln des Kopfes, wenn ein
absonderlicher Mensch durch das Mittel einer großen künstlerischen
Begabung in die Welt hinausgreift. Begabung sollte eigentlich immer mit
Bravheit gepaart sein, meint man, da man gern in aller Ruhe lernen und
bewundern will; so kommt man weiter in der Bravheit, und damit, meint man,
in der Kultur. Ein Mensch, der einen nötigt, mit ihm zu laufen, dann jäh
wieder umzukehren, dann plötzlich ins Wasser zu springen, darauf
vielleicht donquichotisch auf ein eingebildetes Amazonenheer loszurücken,
schließlich mit einem Male in einem Kloster zu verschwinden, um mit einer
Maske in der Linken und einer Geißel in der Rechten wieder hervor zu
kommen, ein solcher Irrstern und Wirbelsturm wird nicht gern
einregistriert und als voll genommen. Ein genialer Verrücktling, sagt man
und geht wieder zur Ordnung über. Daß aber hier ein Mensch wie ein
gehetztes Wild durch die Felder und Wälder, Schluchten und Flüsse des
Lebens stürzt, gehetzt -- ja wovon? -- von irgend einem Verfolgungswahn:
als flöge die Finsternis hinter ihm her, aus der er entsprungen, und er
müßte das ewige Licht finden, bevor sie ihn wieder packte, -- oder von
irgend einem Sehnsuchtswahn -- wonach? --: nach dem grünen Wiesental eines
unbewölkten Friedens oder nach dem Gipfelfelsen über den Nebeln, von dem
aus er hinüberfliegen könnte ans Ufer eines anderen Sterns, einer höheren
Welt, -- daß aber hier ein Mensch durch die Welt geht, allen Jammer des
Menschlichen vor sich her tragend, in Jubel und Hohn und Haß und jedem
Gefühl vom niedrigsten bis zum höchsten, das wird als nichts empfunden,
das bleibt tot und unfruchtbar für den ganzen Bann der Geordneten.

So ein Toter aber, solch ein den meisten nur selten und unvollkommen
lebendig Werdender ist August Strindberg, ein gehetztes Wild, eine
laufende Flammensäule, ein Mensch, alles in allem, vor dem die Sehnsucht
nach jenem 'Blitz aus der Wolke, der da heißt Über-Mensch' aufschreit,
wenn irgendwo: denn dieser Untergehende ist ein Hinübergehender.

Was liegt an 'Werken' (im letzten Grunde), was an Korrektheit, Bravheit,
Nützlichkeit, Tradition, Gemüt, Liebe -- kurz was an all dem
Vordergrundswesen, außer daß da ein Mensch seinen Sinn sucht -- ein
_Mensch_. 'Respektiert den Menschen --'; er kommt so selten zum Vorschein.
Die Menschen -- was sind sie wert. Der Mensch ist immer ein Phänomen. Er
sieht nicht schön aus: Irgendwie heißt sein Name und Ruhlos sein Schuh,
sein Rock heißt Elend, seine Zunge Eitelkeit, sein Eingeweide Wollust,
sein Herz Flamme, sein Auge Sonnenheimweh, sein Wanderstab Nirgendsheim
und seine bittere Nahrung Er selbst.

In den Höfen und Gärten des Menschlichen gibt es viel Nützliches und
Tüchtiges zu tun. Da gebe es nur den Schurz und die Schaufel. Da wird das
Handwerk getan. Aber in der Gespensterstunde von zwölf bis eins, da horcht
hinaus auf die wilde Jagd der vom Genius Gezeichneten, da laßt den
Menschen zu euch hinein und legt die Finger in seine Wunden und fühlt --:
es gibt noch etwas, wovor Kunst und Wissen und all das versinkt wie ein
Rauch.

Und da wird euch Strindberg nicht mehr nur ein genialer Sonderling dünken.



1905


Was wir in unsern neueren Büchern von der bisherigen Entwickelung der
menschlichen Gesellschaft vor uns haben, ist vor allem eins: _gewaschene_
Geschichte. Der natürliche Duft und Brodem der Dinge dürfte uns
schlechtweg ersticken.

       *       *       *       *       *

Jedem, der seine Gedanken niederlegt, blickt schon im Augenblick des
Schreibens ein Größerer über die Schulter, sei es ein Vergangener,
Lebendiger, oder noch Ungeborener. Wohl dem, der diesen Blick fühlt: Er
wird sich nie wichtiger nehmen, als ein geistiger Mensch sich nehmen darf.

       *       *       *       *       *

Der eine lebt, der andere schreibt sich aus. Das erste Dokument der Kultur
war -- ein Tagebuch.

       *       *       *       *       *

Warum ist Balzac größer als Flaubert? Weil er eine unendliche Fülle ist,
aus der Großes und Geringes, aber immer Lebendiges hervorsprudelt. Balzac
ist eine blühende Wiese, wo Flaubert vielleicht ein kunstvoller Garten.
Keine Bewunderung hilft ihm gegenüber, man muß ihn lieben. Er hat dieses
tief alles durchblutende Mitgefühl, jene wahre Liebe: die Sympathie, die
ihn das Leben nicht vergolden, aber mit jenen zarten Händen anfassen läßt,
womit dieses feine und des schärfsten Beurteilers immer noch spottende
Gewebe allein angefaßt werden darf.

       *       *       *       *       *

Der Sonderling:

Seit Friedrich Schillers hundertstem Todestag habe ich diesen Dichter für
mich Max Zottuk getauft; so sehr haben mir Presse und Publikum jeden
Buchstaben des einst teuren Namens verleidet.



1906


Die Romanschriftsteller irren sich, wenn sie glauben, daß ihre Leser sich
immer wieder die Mühe nähmen, die von ihnen sorgfältig beschriebenen
Gesichter im Geiste nachzuzeichnen. Wenn ich lese, sein Kopf glich einer
umgekehrten Zwiebel, so habe ich sofort ein Bild; wenn es aber heißt, sein
Haar war braun, seine Stirn niedrig, seine Nase schön geschwungen, sein
Mund grob aufgeworfen, so geht das -- an mir wenigstens -- ziemlich
spurlos vorüber.

       *       *       *       *       *

Es wird eine Zeit kommen, da wird man Geschichten 'von außen her'
schreiben, ich meine Geschichten, in denen wohl Ähnliches erzählt wird wie
heute, aber deren eigentlicher Reiz darin besteht, daß die geschilderten
Menschen durchsichtig gemacht sind -- gegen das Mysterium hin. Sie werden
charakterisiert werden mit allem Glauben an ihre Wirklichkeit und doch
zugleich wie Halluzinationen wirken, sie werden uns fesseln wie
irgendwelche Gegenstände der bisherigen Poesie, aber der Schauder dessen,
für den die alte Welt zusammengebrochen ist, wird auch ihrem Bilde
mitgeteilt sein, so daß sie im selben ergötzen und ein tiefes unheimliches
Wundern erregen.

       *       *       *       *       *

Etwas vom Übersetzen.

Nehmen wir Ibsen. Ibsen arbeitete an jedem seiner Stücke durchschnittlich
zwei Jahre. Wenn nun ein Ausländer hergeht und eines jener Dramen in vier
Wochen in seine Sprache übersetzt, so wird er schwerlich jede der redenden
Personen so in sich lebendig fühlen können, wie der Dichter, der sie
zuletzt gleichsam als seine beständige Gesellschaft empfand.

Es gibt eine Art, ich möchte sie die rationalistische Methode zu
übersetzen nennen. Der Übersetzer möchte das Original womöglich noch
verdeutlichen. Ohne auch nur einen Schatten jener wirklichen Ehrfurcht,
wie sie nur die Dichter selbst dem Dichter entgegenbringen.

       *       *       *       *       *

Es ist das Unglück der Franzosen, zu gut schreiben zu können.

       *       *       *       *       *

Ich kann mir viele denken, die Stendhal kurzerhand als langweilig oder gar
abstoßend ablehnen. Der nächste Förster, der ihnen begegnet, zieht sie
unendlich mehr an. Die Leidenschaft des Psychologen, der um Einen Stendhal
sämtliche Förster der Welt hingibt, ist ihnen fremd, die Wißbegier dessen,
dem der Mensch A und O aller Studien, ist bei ihnen durch das Behagen
ersetzt, stark, warm und einfach zu fühlen.

       *       *       *       *       *

Nach den Erinnerungen eines Egotisten.

Überall, wo Stendhal über fremde Dinge schreibt (Italien, Napoleon ...)
fesselt er, wo er aber über sich selbst und seine Gesellschaft und
Liebschaften schreibt, wird er sehr bald langweilig.

       *       *       *       *       *

Zu Dostojewski.

Aus seinen Büchern findet man schwer wieder nach Westeuropa zurück.

       *       *       *       *       *

Wenn ich Dostojewski lese, so ist es mir, als sähe ich einem Feuer zu --
einem Steppenbrand --, das über die Ebene wandert. Und jetzt frißt und
wühlt es sich schleichend durchs knisternde Gras -- und jetzt fährt ein
Sturmwind daher und erhebt es bis zu den Wolken, und jetzt kriecht und
glimmt es wieder dahin und nur dicke Rauchmassen bezeichnen seinen Weg --
und jetzt steigt es bei einem neuen plötzlichen Stoß gleich einer Säule
zum Himmel und übergießt Himmel und Erde mit übergewaltigem,
erschütterndem Glanz.

       *       *       *       *       *

Mauthner tut Nietzsche Unrecht, auch da, wo er gegen ihn Recht hat. Ein
Menschenleben gräbt sich sein Strombett und damit muß man zufrieden sein.
Nietzsche ist gewiß nicht aus Eitelkeit den Weg zur Sprachkritik nicht
weiter gegangen. Mauthner unterschätzt das Dynamische im Genie.

       *       *       *       *       *

Es ist das Interessante an Büchern, über denen man eigentlich den Verstand
verlieren müßte, daß man durch sie vielmehr an Verstand gewinnt. Freilich
ist das nur ein neues Kompromiß -- denn anständigerweise müßte man
allerdings nach ihrer Lektüre abdanken. Aber das Leben ist nicht das, was
wir anständig zu nennen lieben. Allein schon der Umstand, daß der Autor
seinen Verstand behalten hat, wird genügen, den Leser zum gleichen zu
veranlassen; es sei denn -- daß er nur so beweisen zu können meinte, daß
er noch tiefer als jene sei, daß er sozusagen aus Ehrgeiz, aus 'Willen zur
Macht' wahnsinnig zu werden geradezu -- wünschte.

       *       *       *       *       *

Ich habe nie einsehen mögen, warum mittelmäßige Menschen deshalb aufhören
sollten, mittelmäßig zu sein, weil sie schreiben können.



1907


Über etwas schreiben heißt, sich mit etwas überschreiben.

       *       *       *       *       *

Denke dir immer jemanden, auf den deine Sätze durchaus nicht so Eindruck
machen, wie sie's dir selber bisweilen tun, der sie vielmehr trocken und
gleichgültig prüft, ja beinahe feindselig, wie ein Mensch, den jede neue
Behauptung zunächst -- ärgert.

       *       *       *       *       *

Ich denke nach, welchen Dichter man einem Adler vergleichen könnte. Ibsen
war die Eule in Person. Goethe war vielleicht ein Adler. War Shakespeare
einer? Ich glaube, die Adler unter den Dichtern werden erst kommen:
Geister, die alles Dasein zugleich mit Falkenblick erkennen und über ihm
in schier unerreichbarer Höhe kreisen. Geister mit einer 'Freiheit' auch
von sich selbst -- ...

(Der Evangelist und Apokalyptiker Johannes war ein Adler.)

       *       *       *       *       *

Lagarde ist das stolzeste aber auch schroffste Gebirge, das ich kenne. So
oft man auf ihm wandert, stürzt man in den Abgrund.

       *       *       *       *       *

Alles Große macht sterben und auferstehn. Wer an Nietzsche und Lagarde
nicht immer wieder stirbt, um an ihnen auch immer wieder aufzuerstehen,
dem sind sie nie geboren worden.

       *       *       *       *       *

Was wäre Lagarde mit all seinen Forderungen, seiner Strenge und Höhe, wenn
nicht eine so große Natur und eine so tiefe, fast unvergleichliche Bildung
in jedem Verstande sein Besitz, sein Erwerb gewesen wäre. Er gleicht einem
Marmorbild, auf dessen Sockel ewige Gebote eingegraben sind, aber dessen
Erscheinung für sich allein noch gebietender wirkt als sie.

       *       *       *       *       *

Wer Lagarde erträgt, ist entweder ein Hundsfott, ein Kind oder ein Riese.

       *       *       *       *       *

Wenn du Schriftsteller bist, so schreibe jeden Tag etwas nieder, und wenn
du auch nur den zehnten Teil davon aufbewahrst. Kommt dann deine
produktive Periode, so wirst du, was du zu sagen hast, mit doppelter
Leichtigkeit und Anmut sagen, du wirst dann wie der Klavierspieler sein,
der eines Tages zu phantasieren beginnt und merkt, daß es auf den Tasten
fortan kein Hindernis mehr für ihn gibt.

       *       *       *       *       *

Mit Zeitungen und Zeitschriften kommt man nur wie im Sande vorwärts. Das
macht, sie reden ohn' Unterbruch.

       *       *       *       *       *

Drucke jede Woche nur Ein Wort, Einen Satz auf ein quadratmetergroßes
Stück Papier und du wirst mehr ausrichten, wofern du Der bist, als mit
einer Million Buchstaben in der gleichen Zeit.

       *       *       *       *       *

In Fritz Mauthner tut der Immoralismus Nietzsches (dieser im Grunde
raffinierteste Moralismus) einen weiteren entscheidenden Schritt. Der
Wille zur Sauberkeit, zur Redlichkeit feiert in ihm einen -- und wie alles
Große grausam ist -- grausamen -- Triumph.

Im Übrigen: wer hier den ungeheuren sittlichen Entwickelungsprozeß, der
unser ganzes geistiges Leben ist, nicht ahnungsvoll erkennen zu dürfen
meint, wird sich auch nicht sagen können: Hier vollzieht sich ja im Großen
nichts andres wie im Einzelnen: Persönlichkeitsentwickelung. Hier will ja
irgend ein dumpf Wollender ganz ersichtlich zu immer höherer
Selbstschönheit ...

       *       *       *       *       *

Vor seinem Kammerdiener, heißt es, ist kein Held ein Held mehr. Das
gefällt manchen modernen Kritikern und Dichtern ganz ungemein. Begeistert
predigen sie die Kammerdieneroptik, die Kammerdienerweisheit, und
überschütten die Welt mit dem überlegenen Lachen des -- Kammerdieners.

       *       *       *       *       *

Wenn man weiß, was zwei- oder dreitägiger Kefir ist, so hat man ein Bild
für den Stil des Essayisten N. Könnte man sein Buch wie eine Flasche
schütteln, so würde man verhältnismäßig leichtflüssige Milch bekommen. Da
man es aber nicht schütteln kann, hat man ein dickes und schwerfälliges
Getränk vor sich mit Brocken, die mehr kollern als rinnen, ein Getränk,
nicht minder wertvoll als der ungeschüttelte Kefir, aber weniger angenehm
genießbar als der geschüttelte.

       *       *       *       *       *

Gespräch ist gegenseitige distanzierte Berührung. Ein Buch ist
chiffriertes Tasten. Lies es, taste daran, und du wirst wiederbetastet
werden, es wird sich die Erscheinung seines Verfassers auf und in die
deine dechiffrieren, als telegraphierte er dir mit unsichtbaren Fingern
durch die Stirn.

       *       *       *       *       *

Je besser ein Stil wird, desto mehr nimmt er alles in sich hinein: die
überflüssigen Interpunktionen, die allzuhäufigen Absätze, den Sperrdruck.



1908


Ein Buch ist nicht etwas, was ein Mensch geschrieben hat, sondern dieses
Menschenmysterium selbst, ebenso wie das Musikstück, das ich heut abend
von dem Nachbarhause herüberklingen hörte, kein Musikstück von Beethoven
war, sondern das Mysterium Beethoven selbst.

       *       *       *       *       *

Jedes Buch hat zwei Wirkungen, die mittelbare und die unmittelbare. Die
meisten Leser spüren nur die mittelbare. Darum bleiben auch so viele
Bücher Druckerschwärze auf Papier. Und doch offenbart auch noch das
schlechteste Buch seinen Vater nicht bloß mittelbar, sondern auch
unmittelbar: ihn selbst, die Persönlichkeit, in der Chiffre dieser Sätze
unverlierbar aufbewahrt und jeden Augenblick bereit, in ihrer ganzen
ursprünglichen Kraft auf uns zu wirken.



1909


In der übertriebenen Abneigung gegen schlechte Übersetzungen, gegen
Übersetzungen überhaupt, liegt eine gewisse Verzärteltheit. Große
Originale leuchten auch aus unbeholfenen Reproduktionen unzerstörbar
hervor.

       *       *       *       *       *

Tolstoi war ein Protest des höheren Menschen wider den Menschen, wie er
gemeinhin heute noch ist. Tolstoi wollte nur ganz einfache, simple Dinge.
Dinge, die sich eigentlich von selbst verstehen, -- für jeden anständigen
Menschen.

       *       *       *       *       *

Man fordert von Tolstoi Märtyrertum. Man sagt: Lebe wie Franziskus, stirb
wie Christus. Nun, er hat sich im Jahre 1907 den Henkern seines Staates
dargeboten: -- 'nehmt mich und führt mich hin wie jene armen Opfer, legt
den eingeseiften Strick um meinen alten Hals ...'

       *       *       *       *       *

Der große Schriftsteller hat Stil, der kleine Manier, was nicht
ausschließt, daß der große auch einmal klein und der kleine groß, d.h. ein
Stilist sein kann. Maeterlinck -- oder ein versetzter Konditor.

       *       *       *       *       *

In diesen Erzählungen von Liebe sehe ich immer nur eines: die Liebe als
Selbstpreis. Selten oder nie, daß diese Menschen durch ihre Liebe zu
einander _wachsen_ wollen, daß sie sich über sich hinaus lieben. Daher
denn auch die Übersättigung, ja der Ekel, der einen nach und vor derlei
erfaßt, ein Verlangen, es möchte doch auch hier endlich eine neue Optik
Platz greifen, eine tiefere, religiösere Betrachtung des Liebeslebens.

       *       *       *       *       *

Nichts kann mich mehr aufbringen, als wie allezeit hier und dort über den
Eckermann geredet wird. Immer ist ein halb mitleidiges Lächeln dabei,
gleich als handle es sich um eine durchaus subalterne Natur, der es jeder
seiner gönnerhaften Bespotter unvergleichlich zuvorgetan haben würde. Man
hängt sich an die Einfalt mancher seiner Fragen und bedenkt nicht, daß er
oft nur frug, um Goethen zu locken und anzureizen, man wirft ihm eigene
Unbedeutendheit vor und übersieht die Fülle feiner Beobachtungen und
Bemerkungen, die anmutigen Berichte über seine Liebhabereien, den langen
Brief aus Genf und überall den Sinn und Takt fürs Wesentliche, der uns
niemals mit Tagesgeschwätz langweilt, sondern ihn fortwährend bei der
Würde seiner einzigartigen Aufgabe festhält.

Laß sie sich immer überheben, würde Goethe selbst sagen, soviel ist gewiß,
daß ihrer keiner mich vermocht hätte, mein inneres Leben so munter und
lebendig vor ihm zu entwickeln, wie dieser liebe Junge, der wohl nicht
groß war im Sinne schöpferischer Kraft, aber in seinen Maßen ein ganzer
Kerl, ein Vorbild, allen denen zu empfehlen, denen es um ihre Bildung
wahrhaft ernst ist, und die, da ihnen Gott die zeugende Kraft nur
unvollkommen gewährt hat, im produktiven Empfangen seiner Höhe zustreben
müssen und ihm damit wohl ebenso nahe kommen mögen, wie unsereins mit
seinen stärkeren Mitteln und glücklicheren Voraussetzungen.



1910


In aller Literatur von heute muß man dem Seelischen nachspüren. Was der
Geist heute hinzutut, hat nicht allzu viel Wert; denn der Geist stand wohl
selten auf einer bescheideneren Stufe.

       *       *       *       *       *

Manchen Menschen würden Weihnachtskataloge, Zeitungsannoncen, und zu
Mundwassern, Seife, Thermosflaschen, Petroleumöfen usw. beigepackte
Erklärungen und Referate für lebenslängliche Lektüre völlig genügen.



1911


Man werfe aus der philosophischen Literatur der neueren Zeit den
literarischen Jargon hinaus und man wird viel gewonnen haben.

Unter Jargon oder Fachfuchserei verstehe ich beispielsweise die
humanistische Ablehnung der Bibel, als einer Gefahr für den klassischen
Stil.

       *       *       *       *       *

An 'Geist' fehlt es heute so wenig, daß man ihm aus dem Wege gehen muß, um
nicht vom Überdruß erfaßt zu werden. Jede Zeitung, jede Zeitschrift hat
etwas von einem Variété, darin Athleten, Jongleure, Akrobaten auftreten.
Eine Zeit, die den intellektuellen Biceps so eifrig und coram publico übt
und spielen läßt, erfüllt damit gewiß eine bestimmte bedeutende Aufgabe,
aber auf die Dauer wirkt solch im Grunde von niemandem gewünschtes
Massenangebot bloßer Kunstfertigkeit destruktiv.



1912


Wenn ein Schriftsteller sich jederzeit der Macht bewußt wäre, die in seine
Hand gegeben ist, würde ein ungeheures Verantwortlichkeitsgefühl ihn eher
lähmen als beflügeln. Auch das Bescheidenste, was er veröffentlicht, ist
Same, den er streut und der in andern Seelen aufgeht, je nach seiner Art.

       *       *       *       *       *

Entwurf für ein Vorwort zu: 'Wir fanden einen Pfad'. Man glaubt, es komme
in neuen Dichtungen vor allem darauf an, daß sie gewissen vertrauten
Empfindungen und Vorstellungen genügen, ja schmeicheln. Nun ist ja z.B.
das, was wir Deutsche unter einem Liede verstehen, etwas ungemein
Liebliches und Erfreuliches, und dieselben Menschen, die der reinen Musik,
sagen wir, Mozarts zuliebe, den Fortschritt, den Wagner bedeutet,
Rückschritt nennen, werden für ein wirklich gelungenes Lied ...

Aber diese so sehr verständlichen und sympathischen Menschen sind in
diesem Punkte Träumer und Liebhaber, an denen die Entwickelung sacht aber
entschieden vorbeigehen muß. Es geht nicht an, bei einmal gewonnenen
schönen Dingen versunken stehen zu bleiben und, weil sie dem viel
angefochtenen Herzen so gar wohl tun, nur immer mehr ihrer Art zu fordern;
als wollte einer bloß von Blüten wissen und das weitere Werden der Frucht
nur so mit in den Kauf nehmen. Gewiß, ein ewiger Frühling wäre ein holder
Traum, aber zugleich das Ende unserer Welt, als welche ganz anderen Zielen
denn unschuldigem Lebensgenusse zustrebt. Wir brauchen keine Kunst, deren
Wesen Wiederholung ist, sondern eine, die sich weiter tastet, die dem
wahrhaft Neuen, das in unsere Zeit hereinfließt (nicht _dem_ Neuen
freilich, das in Flugfahrzeugen oder wissenschaftlichem Aberglauben
besteht) sich zu öffnen ringt, eine Kunst, die weder von den 'Neutönern'
akklamiert, noch auch zu guter alter Kunst gerechnet werden will, ja auch
nicht zu 'guter Kunst', -- denn in diesem 'gut' verbirgt sich hier nichts
weiter als 'das, was wir lieben', und eben das liebt diese Kunst nicht
mehr.

       *       *       *       *       *

Der Bekämpfung der Schundliteratur sollte die von fratzenhaften
Reklamebildern zur Seite treten. Nur die große Trägheit in solchen Dingen
nimmt hin, was hier täglich auf Plakaten und in der Presse vor Augen zu
rücken gewagt wird, und achtet nicht der unausbleiblichen, schädlichen
Wirkung solcher Zerrbilder auf jede, besonders aber auf jede jugendliche
Seele.

       *       *       *       *       *

Man weiß, wie wichtig es ist, Schwangeren harmonische Verhältnisse zu
schaffen. Sollte es anders sein mit der Menschheit, die sich fortwährend
im Zustande der Mutterschaft befindet?

       *       *       *       *       *

Wir sollten gewisse Bücher mehrmals lesen, ehe wir darüber sprechen. Etwa
einmal im Winter, einmal im Sommer -- und manche in noch ganz anderen
Intervallen. Was wir dann über sie zu sagen hätten, würde vermutlich
ebensovielmal besser sein ... Und uns selbst würde solche Selbstzucht
nicht nur zu besseren Lesern, sondern zugleich zu besseren Menschen
machen.

       *       *       *       *       *

Über jedem guten Buche muß das Gesicht des Lesers von Zeit zu Zeit hell
werden. Die Sonne innerer Heiterkeit muß sich zuweilen von Seele zu Seele
grüßen, dann ist auch im schwierigsten Falle vieles in Ordnung.



1913


Alle Liebe zu Tolstoi wird doch nur eine andere Liebe noch steigern: die
zu -- Dostojewski.

       *       *       *       *       *

Schriftstellerei ist heute vielfach nicht wichtiger zu nehmen, als daß,
sagen wir, heute jedermann Kakao trinken kann, während es früher nur die
Reichen konnten.



NIETZSCHE

1896


Es gibt kaum eine größere Gefahr für einen Menschen wie mich, als
Nietzsche zu lesen. Es ist wie ein Wühlen im Schmerz meines eigenen
Unwerts.

       *       *       *       *       *

Nietzsche's herrliche Natur, die in einer wahrhaft ehrwürdigen
_Bescheidenheit_ und einer Frömmigkeit zur Kultur anfänglich immer sagt:
Möchten andere es besser machen als ich.

       *       *       *       *       *

Ein ganzes Leben in Denken aufgelöst, im Wort sichtbar geworden, strömt
vor unsern Augen, aus geheimnisvollen Gründen hervorbrechend, in
undurchdringliches Dunkel sich verlierend.

       *       *       *       *       *

'Also sprach Zarathustra!' -- wie? wenn dieser Kehrreim mit einem gewissen
Auguren-Lächeln gelesen und geschmeckt werden müßte. Wenn er eine feine
Parodie auf jene Schlußphrasen wäre, womit noch jeder ethische Neuerer
bisher seine Sätze gesiegelt, ein anderes 'Amen! Amen!', eine Schluß- und
Banngeberde, feierlicher Schauer voll für den Gläubigen, für den Auguren
aber nur ein Lächeln mehr ... Wie beginnt doch die fröhliche
Wissenschaft? ...



1897


Man sieht Nietzsche ins Auge und weiß, wo das Ziel der Menschheit liegt.



1905


Wer mit Nietzsche denkt, 'widerspricht' sich auch mit Nietzsche. Wer sich
an seinen 'Widersprüchen' stößt, hat nie mit ihm _gedacht_ (noch mehr:
_gefühlt_) -- ist nie mit ihm geflogen.

       *       *       *       *       *

Ein philosophisches System zu verstehen, erfordert schließlich ein Maß von
Intellekt, nichts weiter. Einen leidenschaftlichen Wegsucher aber wie
Nietzsche begreift man nicht bloß als kluger Kopf; man muß ihm noch
obendrein ein bißchen -- verwandt sein.

       *       *       *       *       *

Gewiß, es gibt Züge, die ich Nietzsche, dem Menschen, verarge -- aus
Liebe. Nur kleine Züge, aber ich verstehe sie nicht an ihm -- oder
vielmehr: ich würdige nicht genug die Tiefe des Leids, in welche dieser
Geist getaucht wurde, als er unter der Last seiner Gedanken, seiner
Einsamkeit und seiner Krankheit zugleich, ein ebenso furchtbares wie
großes Menschenopfer, zusammenbrach.

       *       *       *       *       *

'Also sprach Zarathustra' -- Nietzsche selbst hätte diesen Titel und
diesen Refrain in früheren Jahren streng abgelehnt. Es ist die Tragik
dieses Buches, manchmal nicht mehr gefaßt und katonisch genug zu sein.

       *       *       *       *       *

Ad Zarathustra -- Vorrede.

1. Wo gäbe es einen größeren tieferen Prolog eines Schicksals! Wo ist das
Gleichnis und die Anrufung, diesem Bilde und diesem Gebet an Würde,
Heiterkeit und Tiefe gleich?

2. Ein Waldidyll voll milder Abendsonne, als Weg zur Wendepunkt-Wahrheit
aller irdischen Kultur. Man kann hundertmal über diese Schlußworte
hinweggesprungen zu sein meinen, bis man eines Tages erkennt, daß sie ein
Berg sind, den man vielleicht nie ganz erklettern wird und von dem aus
Zarathustra die Wasser gen Osten und gen Westen hat fließen sehn.



1906


Es wird mir immer gewisser, daß Nietzsche überall da versagt, wo er sich
bewußt oder unbewußt der Eitelkeit seines Geistes hingegeben hat. Hätte er
diesen polnisch-romanischen Zug nicht gehabt, er stände oft noch viel
größer da. Es gibt keinen schlimmeren Fluch für einen Denker, als sich
seinem Volk gegenüber als Schriftsteller verpflichtet zu fühlen. Wenn
einer Denker geworden ist, das heißt ein Mensch, dem das Nachdenken über
menschliche Probleme zur inneren Leidenschaft und Lebensaufgabe geworden
ist, so ist er auch ganz von selbst genug Schriftsteller, seine Gedanken
mitzuteilen.

Aber freilich, Nietzsche war vor allem ein _Kämpfer_. Er war ein Weiser
aus der Kriegerkaste, nicht aus der der Priester.

Vielleicht hätte er im zweiten Teile seines Lebens auch noch die Milde der
Weisheit ausgeströmt, nach ihren Blitzen auch ihre Wärme.

       *       *       *       *       *

Der Zarathustra ist bei allen Einzelheiten unbestreitbarer Größe eines der
schlechtesten Bücher, die es gibt. Er ist weder ein Volksbuch noch ein
Buch für Verwöhnte und Einsame, es ist ein Mischmasch von Grandiosem und
Banalem, inhaltlich wie im Vortrag. Ein Vordrängen, ein Aufdrängen
persönlicher Stimmungen, ein kategorisches Erledigen von Dingen, deren
'kategorische Erledigung' immer nur eine 'niaiserie' bleibt, ein Spiel mit
dichterischen Bildern und Gleichnissen, das oft groß und tragisch, öfter
noch fast unbeherrscht und geschwätzig wirkt. Ein Buch, das nur durch
Reduktion seiner Reden auf etwa 12-20 zu dem klassischen zu machen wäre,
was es zu sein wünscht.

Unglückselige kleine Zeit, du hast auch auf ihm, deinem Größten, gelastet.



1907


Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft: Man halte ihren
biologisch-ethischen Grundgedanken sowie die Lehre vom Übermenschen gegen
Kants kategorischen Imperativ, und sie werden ihm an ideeller
Großartigkeit nichts nachgeben und als leidenschaftlicher Appell an die
menschliche Armee in demselben Verhältnis zu ihm stehen, wie zum einfachen
'ich erwarte, daß heute jeder seine Pflicht tut' das grandiose 'Soldaten,
vierzig Jahrhunderte blicken auf Euch herab!'

       *       *       *       *       *

Nietzsche war nur ganz, wenn er ganz er selbst war (soweit man sich so
ausdrücken darf). Sobald er sich ins Schlepptau nehmen ließ, wurde er ein
Schriftsteller unter Schriftstellern und nicht einmal immer ihr erster.
Und er wurde manchmal nicht nur an- sondern noch mehr mitgeregt.

       *       *       *       *       *

Ich kann damit nichts anfangen, -- Nietzsche sei vor allem ein großer
Künstler, ein großer Stilist, Artist gewesen. Was heißt das, vor allem.
Was macht denn den großen Stil, wenn nicht der Mensch von überragendem
Rang, der geborene Führer und Schöpfer? Und wo Nietzsche das nicht war --
und er vergaß manchmal seinen Rang und führte weder noch schuf -- da
taugte auch sein Stil nichts, da war er auch nur ein Manierist seiner
selbst.

       *       *       *       *       *

Nietzsche, die große Antithese seiner Zeit.

       *       *       *       *       *

Beim Vorlesen einiger Nietzschescher Aphorismen: -- Geistige Austern. Man
kann Nietzsche aus zehn Zeilen erkennen lernen und aus zehn Büchern --
verkennen.

       *       *       *       *       *

Welch ein unnützes Geschwätz, Nietzsche habe die napoleonische Natur
deshalb vor allem geliebt, weil er selbst keine gewesen sei. Herr Müller
also ist ein Napoleon, weil er die Napoleons -- nicht liebt.



1910


Nietzsche, der Pole, der als Deutscher tief ward.

       *       *       *       *       *

Nietzsche konnte mit den bisherigen fünfsinnlichen Erkenntnismitteln den
Menschen nicht verstehen. Drum erfand er sich seinen Über-Menschen. Er
ward damit der letzte große deutsche Philosoph -- ante Christum natum. Er
war, um in seiner Manier zu reden, der letzte -- Ante-Christ.



1911


Nietzsches Schicksal war, über den Trümmern des komischen
Bildungsphilisters als tragischer zu sterben. Nietzsche starb an der
'Bildung'. Und mit ihm werden alle sterben, die mit seiner Seele nicht zu
zittern wissen, die nur an seinen Geist glauben.



1912


Daß Künstlerschaft und Könnerschaft untrennbar sind, das versteht sich von
selbst. Aber das, worauf es heute, wie immer, ankommt, ist, wer da spricht
und was -- nicht nur wie -- gesprochen wird. Ist Nietzsche nicht einer
unserer ersten Stilisten? Und dennoch blieb er in höherem Sinne
unfruchtbar. Ich wäge meine Worte, denn wenn je einer, habe ich Nietzsche
_erlebt_. Und nicht in mir war er unfruchtbar. Aber ich weiß auch, worin
er lange Zeit mein Höchstes war: in seiner Größe als Mensch; nicht in der,
ach nur allzu zeitgemäßen, Art seiner Philosophie. Die war Abendröte,
nicht Morgenröte und wer von ihr aus weiter schreitet, der wandelt in die
-- Nacht.



THEATER

1905


Wer sich mit der Materie einläßt, wird von ihr erschlagen. (Zu R.'s
Dekorationskampf.)

       *       *       *       *       *

Es fehlen im Bilde unserer heutigen Kritik nicht die kunstrichtenden,
sondern schlechtweg die richtenden Geister.



1906


Kein Dramatiker kann wissen, was ein Schauspieler aus seinen Worten machen
wird. Er mag sie so einfach setzen, wie er will -- dieser wird sie
vielleicht ganz in Leidenschaft tauchen und so gerade ihren feinsten
Gehalt verändern; er mag sie so leidenschaftlich gemeint haben, wie er
mag, dieser wird vielleicht nie im Leben bis zur Schwelle wahrer
innerlicher Hingerissenheit gelangt sein. Der Schauspieler ist der
Räuberkünstler par excellence. Aber oft auch ist der Räuber größer als der
Beraubte und der Schatz des Wanderers erst wundervoll, wenn, der ihn
erschlug, damit zu abenteuern beginnt.

       *       *       *       *       *

Wenn ich Schauspieler wäre, würde ich mir für mein Studierzimmer zunächst
einen riesigen Spiegel anschaffen. Vor ihm würde ich täglich mindestens
zwei Stunden verbringen und meinem Körper eine Geschmeidigkeit anzüchten,
die mir später gestattete, auch die leiseste Gemütsbewegung in
unwillkürliche Sichtbarkeit umzusetzen. Ich würde mich dabei nicht in
malerische oder zeichnerische Ideen verlieren, o nein, ich würde die Seele
ganz allein Herr sein lassen und ihr, ihr allein, meine Glieder dienstbar
machen. Unmittelbare Übertragung dessen, was mich bewegte, wäre mein Ziel,
so daß man nicht einen Körper und einen Geist zu sehen vermeinen sollte,
sondern nur eins. Ich würde keinen andern Stil als den wahren Ausdruck
meines Innenlebens haben wollen, aber freilich die Art meines Innenlebens
wäre bereits der Stil, den ich will. Er wäre, meiner Natur entsprechend,
zugleich lebhaft und maßvoll. Er wäre, wie ich hoffen dürfte eindringlich,
nicht aufdringlich. (Ich rede hier fast lediglich von der Darstellung
moderner Menschen.) Des weiteren würde ich folgendes tun: Ich würde mich
nach Empfang meiner Rolle in die darzustellende Person zu verwandeln
suchen. Ich würde wochenlang in allen Situationen als sie herumgehen, das
heißt in ihrer Kleidung, mit ihrem vermutlichen Gehaben, mit ihrem
Charakter, ihren Gewohnheiten. Dazu gehört allerdings eine eiserne Natur,
aber des Schauspielers Kunst wird nicht genug bezahlt, daß er sich wie ein
Krieger mit allem nur möglichen Raffinement wider das Zerstörende seines
Berufes wappnen kann, gesetzt er braucht seine Mittel zum Kampf ums Ziel
und nicht zum Behagen. Hätte ich pathologische oder Verbrechernaturen
darzustellen, so würde ich, wie Hermann Müller es gelegentlich tut,
Irrenhäuser, und wie's Richard Vallentin vor dem Nachtasyl machte,
Kaschemmen aufsuchen. Die Moskauer sollen sich wochenlang in Dörfern
aufgehalten haben, bevor sie ein Stück mit Bauern spielten. Das nenne ich,
auf die Eroberung des Andern, das wir nicht sind, aber der Kunst halber
einmal sein wollen, losgehen; das möchte ich vielleicht mit dem Namen
praktischer Dualismus bezeichnen.

Mag sein, daß ich nichts von alledem täte, wenn ich Schauspieler wäre, das
heißt natürlich auch meiner ganzen Veranlagung nach, nicht nur nominatim,
Schauspieler; aber nun, da ich bin, was ich bin, glaube ich, ich würde das
tun, wenn ich das wäre.



1907


Man mag das Wort 'Schmiere' zu seiner Bildung zum Theaterkritiker
brauchen, aber es wird von wahrer Urbanität zeugen, wenn man es später
jemals wieder zu brauchen -- ablehnt.

       *       *       *       *       *

Wenn es einem Kritiker Freude macht, sich einen Schaffenden im Sinne eines
Schöpfers zu nennen, so soll man ihm die Freude lassen. Der liebe Gott
wird dann schon einmal zu ihm sagen: 'Schaffe eine Maus,' -- 'O nein,'
wird der Kritiker antworten, 'so ist nicht die Gabe meines Schaffens. Gib
mir ein Nashorn oder ein Känguruh, so will ich dir sagen, was ich daran
falsch und was ich daran richtig finde, und auch sonst werde ich noch
manches zum Thema sagen, was vielleicht interessanter ist als das ganze
Känguruh oder das ganze Nashorn,' -- 'Ja, ja,' wird der liebe Gott sagen,
'das mag wohl sein, aber wenn ich nun so klug gewesen wäre wie du -- was
hätte ich dann wohl anfangen sollen? Wie hätte ich die Welt wohl aus mir
heraussetzen sollen, wenn ich erst etwas bereits Herausgesetztes hätte
vorfinden müssen, um mich an ihm herauszusetzen, oder anders ausgedrückt,
um daran in deiner Weise schöpferisch zu werden?'

       *       *       *       *       *

Wenn einer vorliest! was denkst, was fühlst du da alles! ... aber weil du
(auch) zuhörst, so wirst du ein Zuhörer geheißen. Als ob dich das
erschöpfen könnte: "der 'Zuhörer' war ganz ergriffen" -- O gewiß, aber
vielleicht nicht bloß als Zuhörer.

Der Klang der Stimme (z.B.) hatte dich vielmehr an einen Winterabend
erinnert, an dem einmal jemand zu dir gesagt hat: 'Das also hast du vor,
diesen Weg willst du gehen!' .. Aber das kümmert den wenig, der vorliest.
Er 'liest vor' und du 'hörst' zu. Ich möchte, daß du daraus ersiehst, wie
armselig es ist, wenn man dich beispielsweise im Theater einfach als
'Zuschauer' bezeichnet und behandelt. Jawohl, du schaust freilich (auch)
zu, aber daneben -- was ist alles daneben noch möglich -- was begibt sich
alles in dir noch daneben. Wir sollten uns alle wider den Bann solcher
Wörter sträuben. Es ist, als bände uns einer eine starre Maske mit nur
einem Gesichtsausdruck vor, aber die Maske ist nur suggeriert -- erwachen
wir doch und erkennen, daß wir auch im Theater nicht Zuschauer allein
sondern unendlich viel mehr, nämlich durch keine Bezeichnung zu
erschöpfende Wesen sind, und daß wir daher auch im Theater alles erleben
dürfen, was ein Mensch nur immer geistig erleben kann, und nicht nur, was
ein 'Zuschauer' erleben darf. Aber wir sind so über und über im Bann von
Bezeichnungen, daß wir aus lauter Pflichtgefühl ihnen zu entsprechen,
keinen freien Gedanken mehr zu denken wagen, und nach einem innerlich
noch so reichen Theaterabend dennoch von einem verlorenen Abend reden
zu müssen glauben, weil wir als 'Zuschauer' nicht ganz auf die Kosten
gekommen sind. --



1908


Zum Gastspiel des Moskauer Künstlertheaters.

Nicht nur das Volk, auch die Kritiker haben dem Zauber der Russen -- und
nicht nur Stanislawskis -- nicht widerstehen können, warum wohl? Weil von
den Russen das ausging, was in den Deutschen heute höchstens als
Privatsache, aber nicht als Unterton ihres ganzen nationalen Lebens lebt:
Liebe, Liebe zu einander, zu uns, zu ihren Dichtern, wortlose,
unausgesprochene, uneingestandene aber selbstverständliche Liebe. Es gibt
kein anderes Wort, höchstens daß man noch sagte: innere Religiosität.
Hieraus quoll die letzte Schönheit dieser Künstler. Und zu ihr könnten
auch wir uns hinankämpfen und hinanleiden, wenn wir nicht mit kaltem
Kritizismus, mit Theorien, Wunsch-Luftspiegeleien aufeinander loshackten,
sondern verstehend und liebend einander zu fördern, einander zu steigern,
einander zu vervollkommnen suchten.

       *       *       *       *       *

Es ist nur sehr viel leichter zu wünschen und von Großem, wie es sein
müßte, zu reden, als im Gegebenen sich zu bescheiden und die großen
Faktoren sich nutzbar zu machen, die das lebendige Leben um einen herum
enthält. Da muß man freilich etwas mehr guten Willen haben und nicht
gleich ungeduldig in Bausch und Bogen verwerfen, wenn man nicht just in
den Punkten, in denen man gern befriedigt sein möchte, auf seine Rechnung
zu kommen scheint. Eines Schauspielers Wert erschöpft sich noch lange
nicht im rein Darstellerischen. Ich habe hier in Tirol Gelegenheit, viel
in kleine Theater zu kommen: nun, ich ziehe meinen Hut noch tief ab vor
allen möglichen Leuten, die der kaltherzige, hochfahrende, einseitige und
verbildete Großstadt-Kritiker, dem die Augen fürs innere Leben und
Sichfortentwickeln unseres Volkes oft nur zu sehr verschlossen sein mögen,
zumeist, weil die persönliche innere Beziehung einfach nicht da ist, nicht
da sein kann, vermutlich mit irgend einem Clichéausdruck wie
Schmierenkomödianten abtun würde; und ich bin weit entfernt davon, diesen
braven, willigen und fröhlich-unermüdlichen Soldaten der Kultur, mögen sie
im Leibregiment oder in der verrufensten Garnison dienen, anders als mit
einer Hochachtung zu begegnen, die mir fast immer noch irgendwo
Dankbarkeit und Freude verstattet. Aber ich vergesse wohl, daß ich ein
Gottseidank unverpflichteter Außenseiter bin und daß der Berufsmensch wohl
unwillkürlich dem Schicksal des Spezialisten, das ist des Einäugigen, des
Monophthalmoden, verfällt. Das Eine Auge starr auf die Bühne gerichtet,
sieht er alles nur in der Kunstfläche, während es in Wahrheit bis in den
Urgrund der Welt hineinreichende Plastik ist, auch dies, auch diese
Bühnenmenschheit da droben.



1909


Wie kann man einem Schauspieler 'die Wahrheit sagen' und zugleich den
Menschen in ihm respektieren? Einfach, indem man ihn liebt. Man liebt ja
Blumen, Steine, Tiere -- ist der Mensch der Liebe weniger würdig? Schließt
denn Erkenntnis die Liebe aus? Oder ist es nicht vielmehr so: Je mehr
Erkennen, desto mehr Liebe? So daß, je mehr einer einen Schauspieler durch
und durch sieht, er auch weniger und weniger imstande sein wird,
richterlich von ihm zu reden. Man braucht dabei nichts zu opfern, nichts,
als seine eigene Unschönheit. Man kann von derselben Leistung fast wie ein
Weiser reden und fast wie ein Wilder.



1911


Man kann das Theater (beispielsweise) nicht reformieren, wenn man nicht
zugleich den ganzen Geist der Zeit reformiert. Es ist der Irrtum unserer
Zeit, daß sie meint, man könne wesentliche Probleme aus dem Zusammenhange
herauspflücken und für sich allein lösen.



SPRACHE

1895


Ein 'Wort' ist etwas unendlich Rohes: es faßt millionen Beziehungen mit
einem Griff zusammen und ballt sie wie einen Klumpen Erde. Bald wird die
Erde trocken und hart -- die Kugel bleibt als rotes drastisches Ganzes,
aber die millionen Teilchen, daraus sie besteht, sind als solche so gut
wie vergessen.



1896


Oft überfällt dich plötzlich eine heftige Verwunderung über ein Wort:
Blitzartig erhellt sich dir die völlige Willkür der Sprache, in welcher
unsere Welt begriffen liegt, und somit die Willkür dieses unseres
Weltbegriffes überhaupt.

       *       *       *       *       *

Ich habe oft bemerkt, daß wir uns durch allzuvieles Symbolisieren die
Sprache für die Wirklichkeit untüchtig machen.

       *       *       *       *       *

Du bist ein Gymnaseweis, mein Lieber!

       *       *       *       *       *

Charleytantismus der Bühne.



1905


Ein Diletalent.



1906


Man müßte neue Interpunktionen erfinden, die gewissen Willensrichtungen
entsprächen: z.B. Die Fortsetzung davon <: (in dem Sinne von: Die
Fortsetzung davon _müßte sein_), als Optativzeichen = (man) müßte, sollte
haben, sein usw. Die Umkehrung :> = dürfte _nicht_ sein, sollte _nicht_
sein.

       *       *       *       *       *

Erst das Wort reißt Klüfte auf, die es in Wirklichkeit nicht gibt. Sprache
ist in unsere termini zerklüftete Wirklichkeit.

       *       *       *       *       *

Der Ausdruck 'Lieber Gott', über den schon Nietzsche spottet, mußte in der
Tat dem Deutschen zu erfinden aufgespart bleiben. Es sollte ihm nur einmal
aufgehen, wie er sich selbst damit den Blick für die unaussprechliche
Gewaltigkeit und Fürchterlichkeit des Weltganzen verdirbt, wenn er dessen
höchster Personifikation das vertrauliche Wörtchen 'lieb' voransetzt.

       *       *       *       *       *

Unter bürgerlich verstehe ich das, worin sich der Mensch bisher geborgen
gefühlt hat. Bürgerlich ist vor allem unsere Sprache: Sie zu
entbürgerlichen die vornehmste Aufgabe der Zukunft.

       *       *       *       *       *

Es gibt gewisse Ausdrucksweisen von seltener distanzierter Schönheit und
Vornehmheit, die nur zwischen dem fremden Sie und dem vertrauten Du
möglich sind: in jenen köstlichsten Zwischenstadien der aufblühenden
Liebe, wo das Herz schon Du sagt und der Mund noch Sie.



1907


'Ewiger' Schnee, welch ein gütiges, liebenswertes Wort! Lassen wir es ja
stehen, der Wissenschaft zum Trotz, der guten alten Zeit zur Ehre.
Gestorbenes Wort: Zufall.

       *       *       *       *       *

Prüfe gelegentlich deine Adjektiva nach.

       *       *       *       *       *

Statt sehr geehrter Herr! könnte man doch viel einfacher schreiben: 5 e!
Und statt hochachtungsvoll 2 o.

       *       *       *       *       *

Das tränensäcksische A.

       *       *       *       *       *

Gewöhnen wir uns den Superlativismus ab. Schreiben wir nicht mehr
geehrtest, ergebenst, achtungsvollst, herzlichst und schönst. Schließen
wir nicht mit tausend Grüßen, sondern mit gar keinem; denn ein Brief, der
den Namen verdient, ist doch an sich schon der Gruß. Umarmen wir uns auch
nicht mehr brieflich -- ich rede natürlich hier stets nur vom Briefwechsel
unter Männern --; wenn ich schreibe: ich umarme Dich, so male ich damit
ein Bild, so wird durch die Niederschrift aus einer im Leben spontanen
Handlung eine starre Pose. Seien wir nicht so gedankenlos gerade in
Herzenssachen.

       *       *       *       *       *

Beim Dialekt fängt die gesprochene Sprache erst an.

       *       *       *       *       *

Der österreichische Dialekt ist darum so hübsch, weil die Rede beständig
zwischen Sichgehenlassen und Sichzusammennehmen hin und her spielt. Er
gestattet damit einen durch nichts andres ersetzbaren Reichtum der
Stimmungswiedergabe.

       *       *       *       *       *

Die meisten Menschen sprechen nicht, zitieren nur. Man könnte ruhig fast
alles, was sie sagen, in Anführungsstriche setzen; denn es ist überkommen,
nicht im Augenblick des Entstehens geboren.

       *       *       *       *       *

Man mag sagen, was man will, die Menschen tun so und so oft auch nichts
andres als -- bellen, gackern, krähen, meckern usw. Verfolge nur einmal
die Tischgespräche einer Kneipe, die Ausrufe des Wirts, der Kellner, der
Kartenspieler, kurz, all das Geschwätz, was nichts weiter ist noch sein
will als Essen, Trinken, Schlafen oder irgend eine sonstige einfache
Lebensäußerung.

       *       *       *       *       *

Ich mag Worte wie gleichwohl oder immerhin gern leiden; denn sie erlauben,
nach etwas Abfälligem noch eine Menge Anerkennendes zu sagen.

       *       *       *       *       *

Welche und derselbe sind durch unsere besten Prosaiker hundertmal
geheiligte Wörter, welche die modische Abneigung der 'Jetztzeit' ertragen
können. _Derselbe_, dagegen sich heute der überlegene Spott noch des
armseligsten Skribenten richtet, ist nicht schlechter und nicht besser als
eine Unmenge anderer deutscher Wörter. Dem Stilisten bedeutet jedes Wort
solcher Art eine Möglichkeit mehr, und dem papierdeutschfeindlichen
Sprachreiniger kann nicht entgehen, daß just dieses derselbe in Mundarten
-- man denke an z.B. selch, sell, dersöll -- ein höchst lebendiges Dasein
führt.

       *       *       *       *       *

Gott ist nur ein Wort für 'sich'. Das Tier hat keines dieser beiden Worte.
Es ist wortlos sowohl Ich wie Gott, das Wort erst spaltet das Leben in Ich
und Gott. Kritik der Sprache ist zuletzt auch nur ein Gesellschaftsspiel.
Es gibt kein Wort, das außerhalb der Sprache noch irgendwelchen Sinn
ergäbe. Wer sich außerhalb der Sprache setzen möchte, findet keinen Stuhl
mehr. Er kann nicht einmal mehr sagen: nun weiß ich wenigstens, daß Wissen
Unmöglichkeit ist. 'Wissen' ist so gut eine Spielmünze, wie 'sein', wie
'Unmöglichkeit' wie 'Sprache', wie 'außerhalb'. Es ist dafür gesorgt, daß
wir die 'Welt' nicht in die Luft sprengen. Ich nenne diese
widerspruchslose Ohnmacht in Dingen wirklicher, nicht nur scheinbarer
Erkenntnis manchmal bei mir: die Selbstversicherung Gottes. Sie ist eines
Gottes würdig.

       *       *       *       *       *

'Er gibt Frieden' (schreibt Amiel) 'und das Gefühl des Unendlichen,'
Welche Zusammenstellung, nur daraus erklärlich, daß der Begriff des
Unendlichen noch nie erlebt wurde. So können Menschen Jahrhunderte lang
ein Wort voller Pathos brauchen, ohne je von seiner ganzen Bedeutung
ergriffen worden zu sein, ja, ich behaupte, manche Worte können nur
solange gebraucht werden, als ihr möglicher Sinn nicht völlig zu Ende
gedacht wird. Wer 'Gott' siehet, stirbt.

       *       *       *       *       *

Philosophien sind Schwimmgürtel, gefügt aus dem Kork der Sprache.

       *       *       *       *       *

Große geschriebene Worte sind vergeistigter Zeugungsakt in perpetuum.

       *       *       *       *       *

Die schlimmste Folge demokratischer Anschauungsweise ist, daß nun auch die
Worte alle 'gleich' gewertet werden.

Und doch ist jedes Wort in dem Augenblick, wo es gedacht, gesprochen,
geschrieben wird, ein Individuum für sich und nicht einmal demselben --
vor oder nachher geborenen -- Wort desselben Mundes, desselben Gehirns je
irgendwie gleich. Wenn einer sagt: ich glaube dies und das, und sein
Nachbar hört das, so kann das sein, als ob der eine sagte: Himalaya, und
der andre hörte: Schneehaufen.



1908


Die gleichen Worte sind einander _nicht_ gleich. Es gibt keine Tautologie.
Sondern alles ist pro -- cessus.

       *       *       *       *       *

Nicht nur jedes Gleichnis hinkt, sondern auch jede Gleichung.

       *       *       *       *       *

Es gibt gar keine Worte, die bloß Worte wären. Sondern jedes Wort ist von
vornherein ein -- höchst individuelles -- _Urteil_. Man glaubt, a sei
gleich a. Eine vollkommene Ungeheuerlichkeit.

       *       *       *       *       *

Freuen wir Deutschen uns, daß unsere Sprache die Sonne uns als ein Weib
schenkt und lehrt. Daß sie der schlichteste Sinn bei uns als -- Mutter
empfinden darf. Und daß wir so um sie im Reigen der Fixsterne all unsere
ewigen -- Mütter schauen und verehren dürfen.

       *       *       *       *       *

In dem lateinischen Wörtchen 'duo' ist nur das deutsche Du sichtbar
enthalten; das 'Ich' ruht unsichtbar und doch ewig lebendig darin, wie
unter Menschen das geliebte Ich im Herzen des liebenden Du. Wer
konversiert, der _spricht_ nicht.

       *       *       *       *       *

Zitate sind Eis für jede Stimmung.

       *       *       *       *       *

Impressionismus -- Eindrucktum.

       *       *       *       *       *

Groß betrachtet ist alles Gespräch nur -- Selbstgespräch.

       *       *       *       *       *

Welch ein Unterfangen, sich hinter Worten verstecken zu wollen! Man ist ja
-- diese Worte selbst.

       *       *       *       *       *

Wenn ich bei einem Schriftsteller auf jeder Seite 'die die' lese, so kann
mir schon übel werden. Wozu hat der liebe Gott das schöne Wort 'welche'
geschaffen? Aber rede einmal einer dieser time und money-Zeit von welcher
und derselbe!

       *       *       *       *       *

Gingganz ist einfach ein deutsches Wort für Ideologe.



1909


Wie eigentümlich ähneln sich Schwyzerdütsch und Norwegisch!

       *       *       *       *       *

Wie ist jede -- aber auch jede -- Sprache schön, wenn in ihr nicht nur
geschwätzt, sondern gesagt wird.

       *       *       *       *       *

Es gibt nichts Hemmenderes als Gemeinplätze und Redensarten. Jede
Redensart ist die Fratze eigener Gedanken, ein 'Mitesser' im Zellengewebe
des Denkers.

Was du denkst und sagst, ist vor allem Ausdruck. Der sogenannte
eigentliche Sinn des Gesagten ist nicht sein einziger Sinn.

       *       *       *       *       *

Die Sprache ist eine ungeheure fortwährende Aufforderung zur
Höherentwickelung. Die Sprache ist unser Geisterantlitz, das wir wie ein
Wanderer in die unabsehbare und unausdenkbare Landschaft Gott unablässig
weiter hineintragen.

       *       *       *       *       *

Mit jedem Worte wachsen wir.

       *       *       *       *       *

Jedes einmal ins Licht getretene Wort ist ein Vorspann (der Menschheit)
für immer.

Denn jedes fordert, sobald es nur sichtbar wird, zur Produktion heraus.
Man kann kein Wort lesen oder hörend aufnehmen, ohne es zugleich aus
seinen Schrift- oder Tonelementen wieder zu _schaffen_. Beseelen heißt
schaffen; ein nicht wieder beseeltes Wort bliebe ein nicht wieder
geschaffenes, das heißt für den Nichtbeseeler tot.

Man nehme ein paar beliebige Wörter: Fest. Ebene. Landschaft. Musik. Ganze
Welten von Schöpfungen erheben sich, indem wir sie lesen.



1910


A.

Ich halte es für unrichtig, ja schädigend, die Orthographie in Hinblick
auf die Bequemlichkeit der Vielen zu modernisieren. Die Bedeutung der in
den Sprachen aufgespeicherten Erinnerungen ist nicht zu unterschätzen.
Wenn ich Tier schreibe und mir das griechische [Griechisch: thêr] dabei
als reiner Unterton mitklingt, wenn ein ganzes Volk, eine ganze Kultur bei
diesem Worte mich an sich mahnen darf (nicht muß), so ist das etwas
Seltenes und wunderlich Fruchtbares, dessen wir uns nicht mutwillig
berauben sollten. Daß denen, die von der Antike nie berührt wurden, damit
unnötiger Buchstabenballast aufgeladen wird, kann meiner Ansicht nach
solange kein Gegengrund sein, als in geistigen Dingen den geistigen
Menschen einer Nation und nicht den andern zunächst ihr Recht zu wahren
ist.

B.

Vielleicht doch nicht. Der Klügere gibt nach. Dem Geistigeren ist es eine
Ehre und Freude, zu verzichten, wenn dadurch Unzähligen wohlgetan und
genützt wird. Du läufst Gefahr, in einer Welt, die viel zu groß und tief
dazu ist, den Liebhaber zu spielen, als Liebhaber zu erstarren. Du
verstehst, wie das Wort Liebhaber hier gemeint ist. Möchten wir doch alle
mehr dienen, mehr helfen, statt immer so sehr auf unsere eigene
Geschmacksbefriedigung auszugehn, möchten wir doch endlich diese
pseudoaristokratischen Allüren überwinden und durch reifere, reichere
Gesichtspunkte ersetzen.

       *       *       *       *       *

Der Rückschritt im Alphabet der Buchstaben von R zu K kann einen
Fortschritt im Alphabet der Moral bedeuten: Starr -- stark.



1911


Kongs-Enne, eines der tiefsten Wortbilder aller Sprachen.

       *       *       *       *       *

Wie sich in der Wortzusammensetzung 'Heilsarmee' für den Deutschen eines
seiner tiefsten Eigenworte mit einem seiner weltlichsten Fremdwörter
verbindet, erscheint in der Heilsarmee selbst etwas Göttliches mit etwas
sehr Irdischem gepaart, das vor dem Ur-Wort ebenso als Fremd-Wort
empfunden werden kann (obzwar nicht muß), wie das Wort Armee vor dem Geist
unserer Sprache.



1912


Es gibt Menschen, welche Schlagworte wie Münzen schlagen, und Menschen,
welche mit Schlagworten wie mit Schlagringen zuschlagen.

Nichts ist so verbreitet wie das Schlagwort. Es wird bis in die höchsten
Geisteskreise hinauf gebraucht und hängt oft noch dem Scharfsinnigsten als
Zöpfchen hinten.

       *       *       *       *       *

Mit keinem Köder fischt Mephisto so glücklich, als mit allem, was im
Engeren und Weiteren unter den Begriff des Schlagworts fällt.

       *       *       *       *       *

Man findet bei manchem Ernsthaften unserer Tage gegen gewisse Worte wie
sittlich, vollkommen, edel, die Animosität dessen, dem sie irgend einmal
gründlich verleidet worden sind. Das sollte nicht sein. Königliche
Begriffe können nie von ihrem Glanze verlieren. Wenn es aber doch zuweilen
so scheint, wen trifft die Schuld? Die Masse, die sich ihrer bemächtigt
hat, oder die Paladine, welche ihnen nicht genug treue Diener, Berater und
Leiter gewesen sind?

       *       *       *       *       *

In einer nicht ganz natürlichen Redeweise liegt eine Gefahr für den
Sprecher wie für den Hörer. Das gilt vom persönlichsten Verkehr wie von
dem mit der Öffentlichkeit. So gibt es z.B. Menschen, welche immer ein
wenig ironisieren. Sie nennen alles nicht so sehr beim Namen, als vielmehr
bei irgend einem Spitz- oder Übernamen. Damit wirken sie kurzweilig, öfter
aber demoralisieren sie, und ob auch nur um einen Schatten, sich wie den
andern.



1913


Alles Schwätzen hat zur Grundlage die Unwissenheit um Sinn und Wert des
einzelnen Wortes. Für den Schwätzer ist die Sprache etwas Verschwommenes.
Aber sie gibt's ihm genugsam zurück: dem 'Verschwommenen', dem
'Schwimmer'.



POLITISCHES SOZIALES

1895


Man will die deutsche Volksseele erstarken sehen, indem sie sich mehr
abschließen und begrenzen soll, und vergißt, daß gerade das
Unbegrenztseinwollen, das über engen Nationalitätsschranken stehen wollen
ihre Haupteigentümlichkeit ist.

       *       *       *       *       *

Man muß eine Operette wie den 'Rastelbinder' von Lehar hören, und zwar in
einem jubelnden Theater, -- um alle 'modernen Ideen' als Sentimentalität
zu verwerfen. Nach einem solchen Abend könnte man sogar zu einer neuen
Inquisition ja sagen.

Konfrontation ist das Einzige. Den Freiheitsschwätzer in solch ein Theater
führen und nachdem die Zwerchfelle und Tränensäcke nach Schluß des ersten
Aktes zu Ende gewirtschaftet haben, ihn fragen: Und das soll -- regieren?



1896


In Arco:

Jeden Freitag gibt man hier den Drehorgelmännern die Luft in Pacht.



1904


Es ist etwas ganz Eigentümliches, wie verschieden die Menschen
verschiedener Erdstriche ihre Zäune bauen. Ich erinnere mich z.B. bei
Berlin keines einzigen mir zusagenden Zaunes; es gibt andere, die mich zu
Tränen rühren können, wie die Steinzäune des Tessin ...



1905


Der Taler ist das einzige originelle und der lateinischen Münze
ebenbürtige Geldstück, das wir haben. Weshalb wir ihn auch als
'unpraktisch' abschaffen.

       *       *       *       *       *

Das Talent zur Disziplin ist die Wurzel von Preußens Größe. Möge es dies
Talent feiner und feiner ausbilden und dafür lieber auf Gebieten
nachstehen, wo es auf Improvisation, Ingenium, Genialität schlechtweg
ankommt. Menzel ist der preußische Künstler an sich. Menzel sollte eine
religiöse Formel für die Preußen werden. Denn was leistet damit der
Preuße: Die ganze _Vorarbeit_ des schrankenlosen und höchsten Genies und
damit dies Genie beinahe selbst. Alles, was am Genie Fleiß ist, also vier
Bestandteile von fünf mögen 'preußisch' genannt werden. Preußen, wenn
irgend ein Land, hat noch den Gedanken der _Zucht_. Hier ist sein Weg zu
seiner Höhe, wie er es immer gewesen.

Darum soll Berlin das preußische Element in sich nicht abtöten, sondern
steigern. Es hat es bereits zu sehr gemißachtet. Schinkel baute preußisch;
es gibt nichts Herzerfrischenderes als diese so edlen, strengen, fast
nüchternen Gebäude jener Zeit, an deren Stelle eine zügellose Horde von
neuen Baumeistern und Aktiengesellschaften ihre wüsten Massenproduktionen
gesetzt hat. Der Preuße hat keinen andern Weg zur Kunst als den der
Einfachheit. Pracht wird bei ihm zu Schwulst, Luxus zu Unsittlichkeit. Er
bleibe Brandenburger und sei stolz auf sein Land und seinen Breitegrad und
äffe nicht in kompilatorischem Wahnsinn ihm ganz fremde Kulturen nach oder
nehme sie wenigstens so weit in sich auf, daß er sie ganz aus seinem
schlichten, nüchternen Geiste wiedergebäre, wie es Schinkel tat, dieser
Mann, den ich mit jedem neu niedergehackten Villino seiner Zeit mehr
liebe.

Und dann endlich: los von diesem Prinzip, ein Haus nur aus Vorder- und
Hinterwand bestehend zu bauen. Man gebe jedem Haus seine vier
selbständigen Seiten wieder und erlöse es damit aus dem Zustand einer
Mißgeburt -- oder man komponiere ganze Stadtteile einheitlich und dann
diese wieder unter einander. Man erhebe den Kasernenstil zur Höhe der
Kunst. Man kann es. Man rede nicht ewig von Langweiligkeit. Wenn der
Rechte es anfaßt, gibt es keine Langeweile. Was bei dem Mittelmäßigen
langweilig wird, wird in der Hand des Genies zur Großartigkeit. Man räume
nur mit diesem sogenannten herrschaftlichen Haus als Individuum auf.

       *       *       *       *       *

(Staat, Stil, Sittlichkeit)

Vom höchsten Ordnungssinn ist nur ein Schritt zur Pedanterie.

       *       *       *       *       *

Disziplin ist Abkürzung. Deshalb kommt der Norddeutsche schneller mit
seiner Arbeit vorwärts als der Süddeutsche, wobei er durchaus nicht der
Produktivere zu sein braucht.

       *       *       *       *       *

Der Mensch en masse wird erst dann wieder achtbar werden, wenn er sich
entschließt, neuen Adel aus sich zu züchten. Die schönsten Dinge auf Erden
sind nur durch Adel möglich. Noch mehr: Der wahre Adel ist selbst das
schönste Ding der Erde.

       *       *       *       *       *

Unsere Art zu richten und zu strafen erscheint mir immer kindlicher. Ein
einziger wirklicher Mensch würde das alles über den Haufen werfen. Wieviel
ließe sich da _individualisieren_!

       *       *       *       *       *

Es müßte Anekdotenerzähler geben, die durch die Krankenhäuser gingen. Eine
gute Anekdote ist ein wahres Lebenselixier. Ich glaube, ein Sterbender
müßte noch lächeln, wenn er von dem französischen Landedelmann hörte, der
sich nicht genug wundern konnte, als er erfuhr, daß er sein Leben lang
Prosa gesprochen hätte.

       *       *       *       *       *

Augenblicklich gibt es nur einen Feind des europäischen Friedens: England.
Mit ihm ist nicht zu paktieren; darum muß es isoliert werden.

       *       *       *       *       *

Eine der schönsten und symptomatischesten russischen Sitten ist die Anrede
beim Vornamen. Eine ganze Welt von Zopfigkeit liegt in unserem Herr,
Fräulein, gnädige Frau.

       *       *       *       *       *

Der Russe hat mehr die Liebe zum Leben, wie es ist, der Deutsche (auch
Ibsen, der ja aber deutsch) mehr die zum Leben, wie es sein sollte,
könnte, müßte. Der ganze russische Idealismus liegt in dieser ergreifenden
Versenkung ins Nächste, der ganze deutsche in diesem unausrottbaren
Trachten über den 'Tag' und sein Leben hinaus. Ich möchte sagen, der Drang
ist hier wie dort derselbe, nur die Richtung ist verschieden.

       *       *       *       *       *

Das macht den Deutschen von heute so unbeliebt: Er beruft sich bei jeder
Gelegenheit auf seine 'Geistesheroen', die doch fast immer nur im
Gegensatz zu ihm gelebt haben, und ist dabei genau so auf seinen Vorteil
bedacht wie der Nachbar.

       *       *       *       *       *

Wir Deutsche haben nicht nur römisches Recht, noch viel mehr römischen
Geist im Leibe. Das Haupthindernis für uns, unsere 'Seele' zu entdecken,
ist, daß wir immer noch zu sehr darauf achten, daß alles, was wir von uns
aussagen, auch ins Lateinische übersetzbar sei. Die nachwirkende Macht des
römischen Imperiums bricht sich an den Grenzen Rußlands, der ersten
rücksichtslos modernen Rasse.

       *       *       *       *       *

Die sozialistische Lehre -- das Brot der Armen.

       *       *       *       *       *

Im Staat der Sozialisten wird einer auf den andern aufpassen. Und
Faulenzer werden nicht geduldet, dulden sich selber nicht. Wer aber will
vorher wissen, wer ein Faulenzer und wer ein -- Schwangerer ist? Man würde
den Schwangeren samt dem Faulenzer verurteilen und damit das Beste der
Erde: das stille, langsame Reifen neuer Gedanken.



1906


Ich habe eine furchtbare Vision: Wenn die Sozialisten zur Herrschaft
gekommen sein werden, dann fängt das Blut überhaupt erst _an_, zu fließen.

       *       *       *       *       *

Eure Todesstrafe, noch mehr Euer Kriegführen, Ihr Menschen, ist nicht mehr
und nicht weniger als -- Selbstmord. Ein Volk würde ein anderes Bild
bieten, wenn es wirklich ein Volk, eine einzige große Familie wäre. In
einer Familie fühlt sich jedes Mitglied für das andere verantwortlich.

Alle für jeden, jeder für alle. Statt dessen lebt man in unsern großen
Völkerfamilien nach dem geheimen Grundsatz: Jeder für sich: Alle für mich.
Was kümmert den Bürger auf seinem Wege zum Reichtum der Mitbürger auf
seinem Wege der Armut? Nichts. Aber sofort erinnert er sich dieses
Mitbürgers, wenn seine Ruhe und sein Besitz bedroht werden. Dann ruft er
ihn auf 'zum gemeinsamen Vorgehen gegen den gemeinsamen Feind'. Dann zieht
er plötzlich den Bruder, den Blutsverwandten, den armen Verwandten aus
seinem Dunkel hervor. Und seine plötzliche Begeisterung wirkt ansteckend,
-- mein Gott, gewiß, zwar, freilich, allerdings, indessen, gleichwohl, --
kurz, man ist kein Unmensch. Vergessen wir das Vergangene! Auf in den
fröhlichen Krieg! Schulter an Schulter! Ein Volk, Ein Herz, Ein
Schwert ...

       *       *       *       *       *

Im Himmel, könnte man sagen, wird es wenigstens keine Briefe mehr geben.
Man wird zwar seine sämtlichen Briefträger dort wiederfinden -- denn der
Briefträger kommt eo ipso in den Himmel -- aber sie werden alle selige
Engel und außer Dienst sein und nicht mehr das unberechenbare Schicksal
deiner Tage und Nächte.



1907


Alles Jüdische ist vorwiegend destruktiv. Jesus, der größte Jude, ist auch
der größte Destruktor der 'Welt'. Spinoza ist nichts andres und wird darum
auch von dem jüngsten jüdischen Destruktor Mauthner in seiner Eigenschaft
als Antiteleologe über alle andern Denker erhoben. Mit Mauthner selbst
kommt vielleicht die tollste Zerstörung in Gang, die die Geschichte des
Geistes bisher erlebt hat. Man halte wider diese dämonischen Revolutionäre
den Moralkritiker Nietzsche und man hat den ganzen Gegensatz zweier wie
Feuer und Wasser verschiedener Welten. In Nietzsche ist alles ein
Schaffen, Bauen, Konstruieren, Befehlen, Bestimmen; der Zweck heiligt ihm
alle Mittel, er lebt und stirbt für selbstgeschaffene, irdische, hiesige
Ideale. Er will das Furchtbare der menschlichen Existenz durch den Willen
adeln, formen, überwinden. Alles in ihm ist Zuchtgedanke. Die Juden sind
die Opponenten der Schaffenden, ihre Korrektoren, ihre bösen Gewissen.

Es ist wundervoll, in dieses wahrhaft weltgeschichtliche Dissonieren
hineinzuhorchen.

Eine interessante Mischung von beiden ist der Mystiker, ist für mich vor
allem Meister Ekkehart. Spinoza war so nahe an der Mystik, wie nur ein
jüdischer Denker sein kann, aber er betrat ihr Reich nicht. Er war zu klug
dazu, oder, anders ausgedrückt: die Leidenschaft des Schaffenden war nicht
so sehr in ihm, wie die Leidenschaft des Erkennenwollenden. Daher auch
seine Heiterkeit. Willenspassion und Heiterkeit vertragen sich nur sehr
zeitweilig, das wußte auch Schopenhauer. Spinoza sah wie Christus über die
'Welt' hinweg. Den Germanen aber ist diese 'Welt' doch zu sehr selbst
Gegenstand, Kunstmaterial, Entwickelungsstoff, sie wollen nicht so sehr
über die Welt hinaus, als in sie hinein. Goethe nahm sich von Spinoza die
Freiheit, das gute Gewissen. Spinoza mußte ihm eine Bürgschaft mehr sein,
daß dieser verhaßte Wahn von einem außerweltlichen Gott eben nur ein Wahn
sei. Und nun mit dieser bestärkten Souveränität in sich ging er hin und
wirkte sein Leben mit jedem Atemzuge in das Leben hinein, das er um sich
vorfand, befruchtete sich aus ihm und es mit sich und wurde so 'in der
Beschränkung' der 'Meister', als den wir ihn immer wieder erleben.

       *       *       *       *       *

Alles öffentliche Leben ist wenig mehr als ein Schauspiel, das der Geist
von vorgestern gibt, mit dem Anspruch, der Geist von heute zu sein.

       *       *       *       *       *

For the happy fews -- sollte das doch aller Weisheit Schlußwort zur
Öffentlichkeit sein?

       *       *       *       *       *

Für mich begehre ich nicht viel, wenn ich aber Talente sehe, die ein
großes Volk in seiner Unwissenheit, Gleichgültigkeit und Kleinlichkeit
verkümmern läßt, dann steigt mir der Zorn auf.

       *       *       *       *       *

Ich kann an Polen nicht ohne ein tiefes Unbehagen, ja nicht ohne Grauen
denken. Ich möchte lieber selbst ein Pole sein, um glühend an der inneren
Wiedergeburt dieses Volkes mitzuarbeiten, als so von außen dem Schauspiel
seiner Schmach und Schwäche beiwohnen zu müssen.

       *       *       *       *       *

Am Vollblut spürst du sofort, was Adel ist, beim Menschen wirst du's nicht
gelten lassen. Wohin käme ein stiller Beobachter, wenn er die
gegenwärtigen deutschen Zustände an einigen großen Gedanken Paul de
Lagardes messen, nein, nicht nur sie messen: wenn er sich unwillig von
allem gegenwärtigen Leben zurückziehen wollte, weil es ihrem erhabenen
Ernste so gar nicht entspricht? Dahin, wo er am wenigsten verharren
möchte: ins Land der Verbitterung, der Lebensfeindlichkeit, der
Verneinung. -- Aber eine beständige Trauer, wenn er bedenkt, welche Wege
die Entwickelung hätte einschlagen können und welche sie eingeschlagen
hat, wird ihn nicht verlassen, und sie und ihre geheime Wirkung wird der
Tribut sein, mit dem sich der Geist eines Gesetzgebers wird bescheiden
müssen, den die Deutschen nicht verdient haben.

       *       *       *       *       *

Organisation ist das große Wort, dem die Zukunft gehört.

       *       *       *       *       *

Darf einem die Organisation der römischen Kirche keine Bewunderung
einflößen -- als eine der wenigen großen Machtgebilde auf Erden, die
dauern?

       *       *       *       *       *

In der Gesellschaft läuft alles darauf hinaus, daß einer vor dem andern
den Hut abnimmt. 'Ich nehme den Hut vor dir ab, damit du den Hut vor mir
abnimmst.' Ein stillschweigendes Übereinkommen, das den, der klug und
'liebenswürdig' in seinem Sinne handelt, in der 'allgemeinen Achtung'
außerordentliche Grade erreichen läßt.

       *       *       *       *       *

Du erklärst, du fühlst nicht sozial, du verachtest deine Mitmenschen fast
mehr als daß du sie liebst. Gut. Ich verlange weder soziales Gefühl von
dir, noch Verehrung des 'Nächsten'. Aber wenn du neben dir einen Hund
verhungern siehst, so wirst du ihm von deinem Essen mitteilen, das
versteht sich von selbst. Nun, ich verlange nur, daß du mit einem
Mitmenschen fühlst wie mit einem Hunde, nämlich: Im Fall der äußersten
Not: solidarisch.

       *       *       *       *       *

In New York haben sich die Kellner ein Klubhaus gebaut. Man sollte sie
auch bei uns dazu ermuntern und ihnen von jetzt ab kein Trinkgeld mehr
(welch überlebte Bezeichnung), sondern nur noch Klubgeld geben.

       *       *       *       *       *

Ein durch und durch kultivierter Kellner ist ein Kunstwerk, das nicht nur
in Wien seine Lobredner haben sollte. Er hat etwas von einem Philosophen,
von einem Arzt, einem Soldaten. Ganz anders, wie der Friseur etwa, der den
Komödianten nie ganz los wird, oder die Kellnerin, die doch eben immer ein
Weib bleibt, das heißt ein Geschöpf, von dem vollkommene Sachlichkeit
weder verlangt werden darf noch will. In der großen Universität der
täglichen Angelegenheiten, an der ich mir, als an einem Parallelinstitut
der ehrwürdigen Alma Mater, das halbe moderne Leben neu erzogen denke,
sollte der Lehrstuhl für die Wissenschaft von den Pflichten und Rechten
des Kellners besonders sorgfältig besetzt werden. Wann übrigens wird diese
Universität, nach der unser ganzes Leben von heute ruft, und zu der
bereits unzählige Ansätze vorhanden sind, ins Leben treten?

       *       *       *       *       *

Es ist ganz gewiß, daß die Menschen erst _anfangen_ werden, im Geist zu
leben. Hat erst die demokratische Bewegung das Ihre getan und neue
Intelligenzen und Energien heraufgebracht, so wird es nicht bei der
Langweiligkeit und Mittelmäßigkeit der heutigen Geschäfte bleiben. Die
Phantasie wird ihr großes Zeitalter antreten, Organisationen werden
entstehen, an die heut nur die Reichsten auch nur zu denken wagen, und
werden sich halten: weil die Lust des Gehorchens um wichtiger Ziele willen
dann stärker geworden sein wird, als die Lust, die heute regiert, die Lust
zur größtmöglichen Behaglichkeit, im sozialistischen, wie im bourgeoisen
Sinne. Weil man dann wieder jene höhere Art des Genießens, des
Lebensgenusses verstehen wird, die unter Napoleon zuletzt halb Europa
erfüllte, und in deren Bann unzähliges Volk allen Schlages und Ranges
wieder einmal bewies, daß es noch ein ganz anderes Glück bedeuten kann,
mit einem 'vive l'empereur' auf den Lippen zu sterben, als mit einem 'ni
Dieu ni Maitre' zu leben.

       *       *       *       *       *

Manche Leute müssen über ihre Dummheit durchaus öffentlich quittieren.

       *       *       *       *       *

Einen Krieg beginnen, heißt nichts weiter, als einen Knoten zerhauen,
statt ihn auflösen.

       *       *       *       *       *

Man kann ein halbes Leben lang den Krieg verwerfen -- bis man eines Tages
erkennt: nein, der Krieg gehört vielleicht noch immer unter die tragischen
Selbstzuchtmittel der Menschheit. Und furchtbarer als der Krieg bleibt,
daß selbst dieses schreckliche Mittel dem Menschen nicht mehr nützt, als
es geschieht; daß es ihn wohl tüchtig erhalten mag, im gegebenen
Augenblick in den Tod zu gehen, aber daß es ihn nicht tüchtiger dazu
macht, in sich zu gehen und damit in den Tod seines bisherigen Lebens.

       *       *       *       *       *

Lehrer-Komödie: Die Armut der Lehrer, während die Staaten Unsummen für die
Wehrmacht hinauswerfen. Da sie nur Lehrer für 600 Mark sich leisten
können, bleiben die Völker so dumm, daß sie sich Kriege für 60 Milliarden
leisten müssen.



1908


Alles Entscheidende kommt heute von Europa. Sogar die Entscheidung,
inwieweit Asien entscheidend war.

       *       *       *       *       *

Deutschland, der große Lyriker unter den Völkern.

       *       *       *       *       *

Jede ernsthafte 'Bewegung' ist tüchtig, aber Tüchtigkeit ist vielleicht
das drittletzte, nicht das letzte Wort der Welt.

       *       *       *       *       *

Ein gewandter Dieb ist ein -- teures Kunstwerk.

       *       *       *       *       *

Wer den Menschen mehr denn billig als Einzelperson nimmt, wird nur
zu oft an ihm und mit ihm scheitern. Der Mensch ist nicht nur
Einzelpersönlichkeit, sondern zugleich Volkszelle, wie die
Volkspersönlichkeit zugleich wohl wieder in einer höheren Einheit aufgeht,
usf.

       *       *       *       *       *

Der moderne Jude -- als Denker -- wird selten glauben, das heißt ahnend
ergreifen können. Aller Gottesgedanke könnte nämlich, so fürchtet er, doch
am Ende nur die feinste Blüte einer großen -- Dummheit sein. Sich dem
Hineinfall auf eine Dummheit aber auch nur auszusetzen, dünkt seiner
mißtrauisch gewordenen Seele unerträglich. Er hat, wie Peer Gynt, nicht
den Mut durch das Anonyme _hindurch_ zu stürmen, er ist eben überall kein
Krieger, er möchte gern um es herum. Aber man muß mitten in den Nebel
hinein, das ist es. Und: Gott läßt sich (so wenig wie Goethe) -- Brillen
gefallen. Und: ohne ein gewisses Maß von Blindheit ward noch nie ein
Seher.



1909


Damit, daß der Jude sich immer geistig überlegen dünkt, kommt er nie zu
überlegener Geistigkeit.

       *       *       *       *       *

Ich glaube nicht, daß ein andrer Mensch meiner Zeit so am Juden gelitten
hat wie ich, und zugleich so viel von ihm hält. Dies mag mir ein Recht
geben, an sein Problem zu rühren.

       *       *       *       *       *

Oh, wenn erst die Leidenschaft für den Planeten als solche uns ergriffen
haben wird, der große amor nostro, dann wird es auch keine Kriege mehr
geben, dann werden ungleich gewaltigere Unternehmungen diese armseligen
Kraftproben einer noch dunklen Periode überflüssig machen! Denn freilich:
das bittere Zuchtmittel des Krieges durch philanthropische Mahnungen nur
einfach abschaffen zu wollen, geht nicht an. Zuerst muß der Geist der
Völker den neuen Aufgaben, den neuen, höheren Ambitionen gewachsen sein,
zuerst muß ihn der Furor jener neuen Anstrengungen, Wagnisse und Opfer
anfallen, ehe er den alten furor bellicus entlassen darf, ehe er von sich
sagen darf: ich habe den Krieg wahrhaft -- überwunden.

       *       *       *       *       *

Napoleon war ein Naturereignis. Ihn einen großen Schlächter schmähen heißt
nichts anderes, als ein Erdbeben groben Unfug schelten oder ein Gewitter
öffentliche Ruhestörung.

       *       *       *       *       *

An Napoleon muß man im Gebirge denken, den Blick auf einen Teil der
Erdkarte gerichtet, ein Panorama vor sich mit Bergen, Tälern, Dörfern und
Städten. Und dann sich vorstellen, wie dieser eine kleine Korporal in die
Breite solchen Lebens mit seiner einen kleinen Faust gegriffen, wie er,
gleich dem Monde das Meer, all dies schwerfällige, schwerflüssige Leben
übermächtig zu sich emporzwang, so daß es auf eine Weile in ihm seinen
natürlichen Mittel- und übernatürlichen Höhepunkt fand.

       *       *       *       *       *

Ich sehe auf Reisen fast alle meine Bekannten wieder. Denn es gibt nur
etwa 100 Typen in dem Milieu, in dem ich aufgewachsen, und sie sind immer
und überall. Und oftmals rede ich einen Menschen an, aber es ist nur der
mir vertraute Typus, nicht das bekannte Individuum selber.

       *       *       *       *       *

So eine Wirtin hat immer die ganze Menschenkarte vor sich, vom jüngsten
Backhuhn beiderlei Geschlechts bis zum ernsthaftesten Filet-Beefsteak.

       *       *       *       *       *

Die 'bessere' Gesellschaft ist die eigentlich und im tiefsten Sinne
unwissende und ungebildete.

       *       *       *       *       *

Nicht daß ein Fürst in allen Stücken der Seinen Herzog sein möchte, ist
der Schade, sondern wenn er es seinem ganzen Vermögen nach nicht sein
kann, nicht _ist_. Nicht nur einmal -- zehnmal Absolutismus -- und _nicht_
Parlamentarismus, wenn ein wirklicher Herr und Herrscher in Frage kommt.

       *       *       *       *       *

Eine Zeit des Geistes wird von selbst zur Monarchie zurückkehren. Laßt
erst einmal Einen Geist über die Völker kommen, und sie werden nicht
_mehr_ begehren, als sich in ihren geborenen _Führern_ auch sichtbarlich
zu gipfeln.



1910


Der Deutsche ist imstande, um eines Hiatus willen eine Wahrheit nicht zu
sagen oder sie minder schlagend zu sagen.

       *       *       *       *       *

Wir Deutsche leiden alle an der Hypochondrie der 'Verpflichtungen'. Sie
macht unsere Stärke und unsere Schwäche.

       *       *       *       *       *

Die Zeitung ist das Hauptspielzeug des europäischen Negers. Um die Zeitung
verkauft er dem schlauen Händler Ahriman mindestens das eine Horn seiner
Weisheit.

       *       *       *       *       *

Jede Zeit schweigt zunächst das Größte tot, das in ihrem Schoße ruht; geht
dies nicht länger an, so verleumdet sie es, verzerrt es und sucht es auf
alle Weise zu vernichten.

       *       *       *       *       *

Was das Fazit der europäischen Rüstungen sein wird? Der möglichst
vollkommene déluge après nous.



1911


Man mag in den Rüstungen eins nicht übersehen: Das Züchtungsmoment. Ist
der Mensch zur Kultur noch nicht reif, so wird er hier wenigstens noch auf
eine Spanne durchs Feuer der Disziplin geschickt. Preußens Mission z.B.
ist gewißlich nicht nur die der Geschichtsbücher. Wer einmal ein echter
Preuße gewesen, der -- könnte jemand zu sagen versucht sein -- wird so
leicht nicht wieder verlottern, post mortem prussianam suam (in seinem
späteren Erdenleben).

       *       *       *       *       *

Wenn jemand gegen etwas vorgeht, so geht er nicht gegen das ganze Etwas
vor: denn das sieht er dann gar nicht mehr. Sondern er sieht dann nur noch
das 'rote Tuch' in dem Etwas. Nie wird gegen 'etwas' vorgegangen, immer
nur gegen rotes Tuch. Und wenn zwei Völker gegen einander ziehen, so
stürzt ein jedes bloß gegen rotes Tuch: denn wie könnte ein Volk wider ein
andres Volk sein, wenn nicht die Helden vom roten Tuch wären, wenn nicht
unaufhörlich von hüben und drüben auf rotes Tuch aufmerksam gemacht würde,
so daß die Völker, die armen Stiere, zuletzt wild werden und einander
anrennen.



1912


Man wirft dem Schriftsteller wieder einmal vor, daß er sich zu wenig mit
Politik beschäftige. Er soll Partei nehmen; und wer da nicht 'wählt', wird
leicht Verräter gescholten. Aber wie? Wählt er wirklich nicht, ergreift er
wirklich keine Partei? Bilden die Stillen im Lande keine Partei, und ist
es ihre Schuld, daß die höchsten Geister, die sie als Führer verehren und
wählen, im Land- und Reichstage sich nicht einordnen lassen, weil sie im
Parlament der Menschheit sitzen?

       *       *       *       *       *

Man kann an Völkern und Vaterländern auf mancherlei Weise bauen, es gibt
nicht bloß die Schöpf- und Schöpferkelle der Wahlurne.

       *       *       *       *       *

An der Vergeistigung, an der Verchristlichung seines Vaterlandes arbeiten,
das heißt es lieben, das allein heißt mehr und anderes, als seinen
unaufhaltsamen -- Verfall wollen und mitbewirken.

       *       *       *       *       *

Man dient seinem Volke auf mancherlei Weise und nicht am schlechtesten,
indem man seinem politischen Leben in toto widerspricht. Das will nicht
sagen, man glaubt, es könne anders sein, ja nicht einmal immer: es soll
anders sein, als es ist. Geschichtliche Entwickelungen müssen ihren Gang
gehen und ihre Zeit haben, und wer es da z.B. für sonderlich
wahrscheinlich hält, soviel Kriegsmaterial zu Land, Luft und Wasser, wie
gegenwärtig des Losbruches harrt, könne dem Versucher eines Tages in den
Hals zurückgeworfen werden, der ahnt weder, wie die Linke noch wie die
Rechte Gottes arbeitet. Er wird mit seinem frommen Wunsch ebenso eine
Ohnmacht sein, wie der wandellose Wunsch und Glaube des Frommen, daß die
Menschheit eine Gemeinde des Christus werde, eine Macht ist, die zwar
bekämpft, aber nie gebrochen werden kann und die im himmlischen Jerusalem,
wie es der Apokalyptiker nennt, das Endziel ihrer Polis weiß. Nicht also
um fromme Wünsche handelt es sich, wenn einer auf seinen Wahlzettel des
großen Meisters Namen schreibt. Sondern um Zeugnisablegung inmitten einer
Welt in gewissem Sinne der Welt sich Entfremdenden, Welt-Fremder.

       *       *       *       *       *

Eine Artisten-Elegantine und ein aristokratischer Spätling ereiferten sich
unter anderem über die 'Extravaganzen' der Heilsarmee. Sie hatten noch
immer nicht begriffen, daß mit Fug nur verurteilen darf, wer selbst etwas
zu schaffen vermag und gewillt ist, und daß es unter Umständen mehr
bedeuten kann, der 'dumme August' in der Manege als der Baron in der Loge
zu sein.

       *       *       *       *       *

Unsere Dienstboten sind nicht Seelen, mit denen wir uns vorübergehend
vereinigen, um es bequemer zu haben, sondern solche, denen wir, wenn
irgend möglich, noch mehr und besser dienen sollen, als sie uns. Nicht
umsonst und ohne Sinn muß die eine Seele noch äußerlich dienen, während
die andere schon mehr innerlich dienen kann und darf. Sie muß noch grobe
Arbeit verrichten und hat noch wenig Einsicht in den Sinn der
Verschiedenheit aller Lebensverhältnisse; wir aber sind zu Feinarbeit --
auch an ihnen -- verpflichtet, wir wissen schon mehr vom Sinn des Lebens
und müssen sie darum mit soviel Weisheit und Liebe behandeln, wie uns nur
immer möglich ist. Auf sichtbare Erfolge müssen wir dabei ebenso
verzichten lernen, wie wir uns davor zu hüten haben, sie unseren
Erziehungswillen allzusehr merken oder gar spüren zu lassen. Wenn wir nur
nie die Achtung vor der unsterblichen Individualität, die in ihnen
verborgen, verlieren und nie die Liebe zu ihnen als ewigen
Geschwisterwesen, wird vieles Mögliche an ihnen vermieden und getan sein.



KRITIK DER ZEIT

1896


Das einzige, was uns in die Zukunft hineinhelfen mag, sind einzelne
glückliche Geburten; ein tragischer Trost für einen allgemeinen Mißwachs.



1904


Lustspielfigur. Letzte Menschen (Erfüllung des historischen Zeitalters).
Professor, der eine Geschichte des Wörtchens 'und' schreibt. Der
Historiker des Wörtchens 'und'.



1905


Muß nicht der Tod etwas sein, ohne das der Mensch nicht leben möchte? Ohne
das er es nicht aushielte zu leben? Nein, ich will nicht unwillig sterben,
ich will freudig und dankbar sterben, dankbar für die Möglichkeit, mich
denen anreihen zu dürfen, welche als Opfer gefallen sind, um mit ihnen und
für sie gegen die Lebendigen zu protestieren, welche die Erde zu einem
schlechteren und unanständigeren Aufenthalt machen als das Grab.



1906


Der Tag ist abgegriffen, laßt uns in den Morgen zurücksteigen.

       *       *       *       *       *

Welcher Mensch kann das Große und Echte lieben, ohne das Kleine und
Unechte zu hassen? Antwort: Der 'moderne' Mensch.

       *       *       *       *       *

Das Resignieren der heutigen Menschen ist bereits eine Gewohnheit geworden
wie Essen, Trinken und Schlafen; und deshalb ist es so gemein. Was für ein
träges, ungeistiges Tier ist doch noch der Mensch und wie sehr bedarf es
großer und größter Schrecken und Trübsale, damit er nicht immer wieder in
Schlaf versinke!

       *       *       *       *       *

Man könnte Kulturperioden von ungeheurer Größe träumen: Aber, so wie die
Masse der Menschen bewillt und begabt ist, wird sie zur Weisheit wohl erst
durch Müdigkeit kommen, erst dann, wenn es sich der Weisheit nicht mehr
verlohnt.

Oder sollte sie jemals (wieder) einsehen, daß Größe nicht so nebenbei im
Weiterabwickeln täglicher Geschäfte und Notdürfte erreicht werden kann?
Frage doch herum, wer sich heut noch für solche Riesenorganisationen, bei
deren Heraufführung ganze Generationen keine Rolle spielen dürften,
erwärmen möchte? Der eine wird dich verständnislos anblicken, der andere
seine Geschäfte, den täglichen Zwang seines Lebens vorschützen, der dritte
wird gerade verliebt sein, der vierte ist Künstler und hat keine Zeit, der
sechste glaubt nicht an deinen Traum, der siebente sagt: er interessiere
sich lediglich für sich selbst und seine eigene Vervollkommenung, in ihm
könne Gott allein verwirklicht werden, es gäbe kein Ziel für 'die
Menschheit', nur _sein_ Ziel und darum sei er für keine Utopie, als welche
den Menschen nur von sich und seiner innersten eigentlichsten Aufgabe,
sich in sich selbst zu vollenden, weglocken könne. Und dieser siebente hat
vielleicht Recht. Jedenfalls solange Recht, bis ihm ein höheres Recht, das
heißt eine höhere Macht das Heft aus der Hand nimmt. Nämlich der Despot,
der zugleich Genie, das Genie, das zugleich Despot ist. Der König Platons.

Der einzige Baumeister, den es noch geben kann. Wo ist er? Wo kann er
kommen? Der letzte Ort, wo er noch möglich gewesen wäre, war Rußland. Aber
mit der Unfähigkeit der dort Regierenden hat der Mensch eine seiner
außerordentlichsten Möglichkeiten verloren. Denn _freiwillig_ wird kein
Volk mehr zur Kastenbildung zurückkehren; dafür ist es das Ungetüm mit
Millionen Köpfen, das nur Sinn für sich und seine nahen Interessen, das
keinen Ehrgeiz und keine Schöpfersehnsucht hat. Das Wirtschaftliche tritt
mit ihm in sein Recht. Das Ideal eines bequemen Erdenlebens anstelle jeder
Ambition, etwas Höheres aus ihm zu machen, aus ihm, das als solches doch
nur Stoff ist, Material, aber kein Ziel. Der Mensch sinkt damit auf die
Stufe der Tierheit _zurück_, während er sich zum Bürger eines irdischen
Himmelreichs zu _erheben_ glaubt. Das Volk will endlich nur noch sich
selbst allein. Eine Herde, kein Hirt. Damit dankt der Mensch als Schöpfer
ab. Der Geist wird über diese endlose Horde noch ein letztes Abendrot
ergießen, dann wird auch er dumpf und verstört die Höhlen der Einzelseele
aufsuchen und eine Gemeinde von Mystikern und Sektierern erwecken. Eine
Anzahl wunderbarer Individuen werden dann vielleicht noch über die Erde
wandeln: Die großen Verzichter und Durchschauer des Traumes Mensch,
einsame Halbgötter, inmitten des Fiaskos des Versuchs der Erde, im
Menschen zum Kunstwerk zu werden. Ja, vielleicht werden diese Menschen,
die wie riesenhafte Heilige dann das Fazit aller irdischen Historie in
sich tragen, die größten und erschütterndsten Menschen sein, die je gelebt
haben. Aber kein Tempel ist um sie -- auf unendlichen Trümmern schlagen
sie ihre Harfen der auch sie einst verschlingenden Nacht entgegen.



1907


Ich glaube, wir haben alle als Erbe unserer Zeit eine schlimme Laxheit
mitbekommen. Das Verständnis für unerbittliche Forderungen ist mehr und
minder gesunken. Beweist das nicht, daß der Mensch die Vorstellung eines
gerechten Gerichts nach dem Tode (vollstrecke sich das nun selbst mit
Naturnotwendigkeit oder werde es vollstreckt) -- braucht? Braucht -- und
sei es nur: um nicht unter seiner eigenen Möglichkeit zu bleiben? Wird man
wirklich seine Persönlichkeit mit solcher Inbrunst ausbilden, wenn man sie
nicht -- für eine unbekannte Zukunft ausbilden zu müssen meint? Was sind
alle Appelle der Erde gegen jenen einen schauerlichen Appell der Ewigkeit?

Also Furcht, wird mancher sagen. Nun ja, _auch_ das. Wie wäre Großes
entstanden, ohne dies Ingrediens? Und wäre es etwas Schimpfliches, sich
vor dem Fürchterlichen -- und ist das Geheimnis der Welt, des Lebens nicht
fürchterlich? -- zu fürchten? Man führt heute die 'Entstehung der
Religion' (welch ein Ausdruck!) vielfach auf Furcht zurück. Nun, ihr
armseligen Psychologen: nicht diese Furcht war das Trübselige, sondern
euer Mangel an Furcht ist es, euer Mangel an Gefühl, Phantasie,
Überlegenheit. Jawohl, Überlegenheit. Ich kenne nichts Untergeordneteres
als den Menschen, dem Wissenschaft irgend etwas _erklärt_. Der
Wissenschaft nicht bloß als eine gewaltige und fruchtbare Übung des
Menschengeistes betrachtet, nein: als etwas, das ihm wirkliche
Wesensaufschlüsse über Welt und Leben gibt. Denn dies etwa, daß alles nach
denselben gleichen Gesetzen vor sich gehe, ist doch kein Wesensaufschluß!
Oder den Bau des Menschen etwa bis auf seinen letzten Zellenbaustein
beschrieben haben, ist doch noch kein Wesensaufschluß! Das ist
Handwerkerei, eine Sache mit goldenem Boden, ganz gewiß; aber _Joseph_ war
Tischler, nicht Jesus. Was weiß Joseph, der Handwerker, vom Geist und
Wesen der Dinge?

       *       *       *       *       *

'Geist' ist heute Marktware, wer redet noch davon? Ein wirklich eigener
Gedanke aber ist immer noch so selten wie ein Goldstück im Rinnstein.



1908


Wir müssen aus der wissenschaftlichen Idylle endlich wieder ins Große
kommen. Wieder Atem holen lernen, das ist es. Das Netz, das die
'Geschichte', die 'Weltgeschichte' über uns geworfen, als Netz erkennen
und seine Maschen so weit machen, daß wir jeden Augenblick frei sein
können, den wir frei sein wollen.

       *       *       *       *       *

Machen wir uns doch von der Tyrannei der Geschichte frei. Ich sage nicht:
von der Geschichte, ich sage: von der Tyrannei der Geschichte.

       *       *       *       *       *

Die Zärtlichkeit, womit sich der moderne Mensch behandelt, ist
erstaunlich. Was alles ist nicht 'für sein Innenleben wichtig'! Man liegt
heute auf den Knien vor diesem seinem 'Innenleben'. Aber es ist nur eine
andre Art Mops oder Affenpintscher, wofür nun die ganze Welt als Kißchen
und Zuckerchen gerade gut genug ist.

       *       *       *       *       *

Unsere Zeit, welche die interessanten 'Aberglauben' früherer Zeitalter
selbstbewußt entwertet, ist selbst nur weniger interessant, keineswegs
weniger abergläubisch, und wird einst ungleich anderer Nachsicht der
Betrachtung bedürfen, wenn spätere Geschlechter eingesehen haben werden,
daß dem Menschen, unbeschadet aller begreiflichen und jeweils sogar
notwendigen Vordergrundsoptiken, als letzte Hintergrundstimmung doch nur
Eines ziemt: Bei Gott kein Ding für unmöglich zu halten.



1909


Optik! Optik! Wenn ihr euren ganzen 'heutigen' Geist nur einmal von oben
sehn könntet. Eure Wissenschaft, eure Kunst, euer tägliches Leben! Nicht
um dies alles gering schätzen, o nein, nichts weniger als gering, sondern
um es _richtig_ schätzen zu lernen. Eine Menschheit, die zu sich selbst
und ihrem Treiben noch keine wirkliche Distanz gewonnen hat, ist unreif,
so erwachsen sie sich auch sonst gebärden mag.

       *       *       *       *       *

In und trotz aller Geschäftigkeit -- wieviel Verschlafenheit, wieviel
Verträumtheit! Das wacht oft ein ganzes Leben lang nicht auf. Rüttelst du
aber zu unsanft, so magst du leicht einen Stoß vor die Brust bekommen, wie
von einem Schlaftrunkenen, den man vorzeitig stört. Tröste dich mit diesem
'vorzeitig'. Und wer nicht aufstehen will, kann es wohl auch noch nicht,
_muß_ wohl noch -- schlafen.

       *       *       *       *       *

Hüte dich, heute zu sterben! Sonst wirst du unvermeidlich Gegenstand einer
-- Trauerfeier. Du bist vielleicht dein ganzes Leben dem feiernden Volke
aus dem Wege gegangen; stirbst du zur Unzeit, das heißt heute, so hilft
dir kein Todesgott vor dem endlichen 'Theater über Dir', an dem der
Philister sich sättigen muß, soll er von dir überhaupt etwas haben.



1910


Man kann nicht bescheidener sein als der 'gute Europäer', der vor einem
Universum voll Sternen, den tadellosen Zylinderhut seiner Wissenschaft in
der Hand, ein Bild weltmännischer Reserve hochachtungsvoll und ergebenst
verbleibt.

       *       *       *       *       *

Der moderne Mensch 'läuft' zu leicht 'heiß'. Ihm fehlt zu sehr das Öl der
Liebe.



1911


Man muß die Gegenwart von ihrer Wissenschaft reden hören, um zu wissen,
was ein Parvenü ist.

       *       *       *       *       *

Es gibt wenig Groteskeres als diese Ehe von: Ich weiß, daß ich nichts bin
und Ich befinde über alles -- in der Riesen-Zwerg-Brust des aufgeklärten,
des 'guten' Europäers. 'Ein Irrtum' wird erwidert. 'Wir befinden über
keine letzten Dinge, wir lassen sie einfach auf sich beruhen, als etwas
menschlicher Erkenntnis nicht Zugängliches. Was ich nicht weiß, macht mich
nicht heiß! -- sollte das nicht ein männlicher, ja ein heldischer
Wahlspruch sein? Genug, er ist unser Wahlspruch, und er deckt sich mit dem
des Peer Gynt: Jeg er mig selv nok'. (Ich bin mir selbst genug.)

       *       *       *       *       *

Es wäre außerordentlich merkwürdig, daß so viele selbst der Geistigsten
weit unter dem Niveau leben, das der Geist auf Erden schon einmal erreicht
und aufgestellt hat, -- wenn nicht jede Zeit ihre eigene Aufgabe hätte und
die heute verkörperten Seelen eben durch die Entwickelung dazu bestimmt
wären, sich gewissen Erkenntnissen ebenso entschieden zu verschließen wie
andern vorbehaltlos Tür und Tor offen zu halten.

       *       *       *       *       *

Es gibt ein Wort aus der Stimmung des Jahrhundertanfangs: 'Man darf jetzt
schon wieder -- nun z.B. von -- Gott sprechen.'

'Man darf jetzt schon wieder' -- das Siegel einer 'großen', 'freien' Zeit.

       *       *       *       *       *

Für jeden Menschen, sagt Goethe, kommt der Zeitpunkt, von dem an er wieder
'ruiniert' werden muß. So auch: für jede Kulturperiode. Die unsrige hat
diesen Zeitpunkt bereits überschritten. Sie kann trotz allem, was dagegen
einzuwenden ist, in einem gewissen sehr hohen Sinne nicht mehr ein
ausschließliches Interesse beanspruchen. Das Hauptaugenmerk richtet sich
über ihren mehr oder minder glänzenden Abklang hinweg auf den folgenden
Abschnitt, dessen Aufbau, dessen Aufgaben. Ihr bleibt noch vieles zu tun;
freilich aber auch dies: sich möglichst unmißverständlich und allseitig ad
absurdum zu führen.



ETHISCHES

1891


Die Menschenverachtung ist für den nachdenkenden Geist nur die erste Stufe
zur Menschenliebe.



1892


Was uns allen zumeist fehlt, ist das tiefe, dauernde Bewußtsein des
wirklichen Elends auf Erden, sonst würden wir über den Gefühlen einerseits
des Mitleids, andrerseits des Dankes ganz der kleinlichen Misere des
eigenen Lebens vergessen.



1896


Es ist etwas Fürchterliches um einen Menschen, der leidet, ohne Tragik
empfinden zu lassen.

       *       *       *       *       *

Es gibt stillschweigende Voraussetzungen unter Menschen von Geist: die
soll man nicht aussprechen. 'Oberflächlich sein' (oder scheinen wollen)
'aus Tiefe', das gehört hierher. Eine schwere Forderung an den
Radikalismus der Jugend.

       *       *       *       *       *

Und immer wieder komme ich darauf zurück, daß die Bewertung der
geschlechtlichen Liebe unter uns Heutigen eine krankhafte Höhe erreicht
hat, von der wir durchaus wieder heruntersteigen müssen.

       *       *       *       *       *

Es gibt noch eine größere Liebe als die nach dem Besitz des geliebten
Gegenstandes sich sehnende: Die die geliebte Seele erlösen wollende. Und
diese Liebe ist so göttlich schön, daß es nichts Schöneres auf Erden gibt.



1904


Hinter die Oberfläche der Menschen sehen, hinter das 'Persönliche', das
Leben selbst in ihnen lieben.

       *       *       *       *       *

Nein, unser Bestes sind nicht unsere Werke. Das liegt oft in einem Blick
von uns, in einem Gedanken, um dessentwillen wir uns selber lieben möchten
und um den doch niemand je weiß und erfährt, als wir selbst.

       *       *       *       *       *

Glück? Sollst du Glück haben? Wünsche ich dir auch nur eine Spur von Glück
-- wenn sie nicht deinen Wert erhöhte? Wert wünsche ich dir.

       *       *       *       *       *

Zum Thema Egoismus:

Wir lieben nur die Bilder von allem, als etwas in uns selbst, nie das
andere selbst.

       *       *       *       *       *

Kein Mensch kann etwas anderes bieten als sein eigenes Programm, aber er
soll es wenigstens so taktvoll wie möglich vorbringen, nicht wie ein
Plebejer, der sich erst zufrieden gibt, wenn er ein paar andre
niedergebrüllt hat.



1905


So spricht die edle Rasse: Ich tue dies und das, weil ich es mir schuldig
bin.

       *       *       *       *       *

Das Bild vom Sündenfall bedeutet eigentlich nichts anderes als die --
moralisch gesehene -- Sichselbstbewußtwerdung des Tieres. Den Eintritt des
'Geistes' in die Naturgeschichte.

Was wir aus der Geschichte des Geistes lernen können, das ist, meine ich,
vor allem eine immer tiefere Bescheidenheit, uns zu äußern.

       *       *       *       *       *

Es gibt keine Einzelschuld, es gibt nur Gesamtschuld. Wir müssen uns
durchaus gegenwärtig halten, daß die Bestrafung eines Verbrechers durch
unsere Behörden nur den Schein der Gerechtigkeit für sich hat, nicht die
Gerechtigkeit selbst; denn wie könnte die wahre Gerechtigkeit sich gegen
einen einzelnen wenden, sie, die das ganze Gewebe des Lebens vor sich
ausgebreitet sähe.

       *       *       *       *       *

Alles muß allem dienen. Es gibt im letzten Sinne keine Ungerechtigkeit.

       *       *       *       *       *

Wer tief ist, muß sich schämen, sich so zu zeigen.

       *       *       *       *       *

Es gibt kein widerwärtigeres Schauspiel, als wenn aus einem Menschen ein
Berufspfaffe wird.

       *       *       *       *       *

Wer die Grausamkeit der Natur und der Menschen einmal erkannt hat, der
bemüht sich selbst in kleinen Dingen, wie dem Niedertreten des Grases,
schonungsvoll zu sein.

       *       *       *       *       *

Es ist leicht möglich, daß die moralischen Vorstellungen allmählich eine
nicht nur moralische, sondern direkt dynamische (magnetische) Atmosphäre
über der Erdoberfläche geworden sind, eine Welt, die sich in gewissem
Sinne selbst regelt, selbst ihre Ausgleiche schafft, ihre eigene
Gerechtigkeit hat und übt. Daher dann jene oft beobachtete Justiz der
Geschichte, jene vielen 'gerechten Vergeltungen', jene moralischen
Ausbrüche und Gegenströme.

       *       *       *       *       *

Es gibt keine unleidlichere Gewohnheit, als das sogenannte Nötigen bei
Tische. Dieses ewige Zureden in einer höchst untergeordneten Sache, die
jeder mit sich selbst abzumachen hat, sollte unter Menschen, die auf sich
halten, verpönt sein.

       *       *       *       *       *

Auf Föhr:

Ich höre Anreden von Fremden an Eingeborene wie die folgenden: 'Sie tragen
noch die alte Tracht; bleiben Sie ja dabei; ich sehe das zu gern; lassen
Sie auch Ihre Kinder in dieser Tracht gehn!' Oder: 'Nein, was ist Ihre
Tochter für ein schöngewachsenes Mädchen! Sehn Sie nur, meine Herren,
dieses schmale Gesicht und dabei dieses kleidsame Mieder ...' Als ob diese
Halligbewohner, diese Nachkömmlinge der alten Friesen, Schaustücke eines
Panoptikums wären; als ob sie nicht mit Fug herabsehen könnten auf diese
zusammengewürfelte Gesellschaft halbkranker Groß- und Kleinstädter, die
mit all ihrer 'Bildung' nicht einmal wissen, wie ein Mensch einem Menschen
gegenüberzutreten hat.

       *       *       *       *       *

Meine Liebe sind allein die großen Unbedingten, die Glück oder Tod
bringen, die _sich_ vor allem bringen mit ihrem Geschmack, ihrer
Wertsetzung und ihrem ethischen Pathos, die den unbeirrbaren Sinn für
Größe besitzen, eine tiefe unauslöschliche Liebe zu dem, für welches sie
geboren sind.

Und mein Haß: Die Geschmackler, die Renaissanceier, die 'Töpfegucker jeder
Stimmung' -- die qualligen Ästheten, die stupenden Magister .. all dieses
unproduktive und anmaßende Volk, das die _Mode_ von heute ist, wo unser
innerstes Leben nach _Stil_ dürstet, nach Kultur, nach Ernst, nach Kraft,
nach Männern, nach Willen und noch einmal nach dem ethischen Pathos eines
Nietzsche, eines Dostojewski, eines Lagarde, eines Tolstoi.

       *       *       *       *       *

Niemand ist zu gut für diese Welt. Menschen, von denen dies gesagt wird,
sind vielmehr in irgend einem Betrachte _nicht gut genug_.

       *       *       *       *       *

Wehe und wohl dem Menschen, der an keine Ungerechtigkeit mehr glaubt.

       *       *       *       *       *

Die Mutter der Tiefe heißt: Schuld.



1906


Tugend -- im gemeinen Sinne, nicht als virtù -- ist sehr oft nur ein
Hindernis, tief zu werden, indem sie vor allzu gewaltsamen Leiden bewahrt,
weshalb sie für Menschen, für die kein Grund vorliegt ein
außergewöhnliches Los auf sich zu nehmen, die edelste Art bildet, mit
einiger Schönheit durchs Leben zu kommen.

       *       *       *       *       *

Ich meine, es müßte einmal ein sehr großer Schmerz über die Menschen
kommen, wenn sie erkennen, daß sie sich nicht geliebt haben, wie sie sich
hätten lieben können.

       *       *       *       *       *

Als Dank -- pour un sourire de printemps.

Als Dank -- pour un sourire de vie.

       *       *       *       *       *

Wer sich die Unsumme von Geduld vergegenwärtigt, mit der die Masse der
Menschen ihr tägliches Arbeitslos trägt, der wird sie namenlos achten
müssen, diese 'Menge', trotz alledem und alledem. Und wenn wir Geistigen
uns nur zu oft über sie erheben: sie kann doch nie brüderlich genug
geliebt werden. Und jedenfalls soll sie beständig in unseren Gedanken
wohnen, auch in denen, die ihr etwa zürnen.

       *       *       *       *       *

Der Mensch mag tun und leiden, was es auch sei, er besitzt immer und
unveräußerlich die göttliche Würde.

       *       *       *       *       *

Man muß Erdbeben sein und die festen Städte der Menschen immer wieder zu
Falle bringen. Man muß ihre Mauern wandeln machen, sonst stockt das Leben
in ihnen. Aber es kann auch Zeiten geben, da man Urgestein sein muß,
dahinauf sich ein namenlos geängstigtes Geschlecht retten kann. Wo man um
der Liebe willen, um des nackten Lebens willen die verwerfen und
verleumden muß, die den Erdboden zur schwankenden Welle machten, die den
Abgrund predigten und die Schauder der Ewigkeit. Man wird aus Himmel und
Sternen wieder ein Bild machen, man wird die Spinnweben alter Märchen auf
offene Wunden legen müssen und all das bunte Spielzeug wieder hervorholen,
das die Kulturen bisher hervorbrachten.

Der Bürger und nichts als Bürger ist ein trister Anblick, aber der aus
jeder und gar jeder Bürgerlichkeit hinausgeschreckte Mensch, der
verfluchte Bürger, der irre, friedlose, von jeder Gewißheit enterbte, das
personifizierte Grauen vor dem Unfaßbaren, der aus Tiefe wahnsinnig
werdende Mensch -- das wäre der Untergang selbst. 'Oberflächlich aus
Tiefe' -- Lebenswort! Auf die Stirne von Tempeln!

       *       *       *       *       *

Der Mensch hat die Liebe als Lösung der Menschheitsfrage einstweilen
zurückgestellt und versucht es augenblicklich zunächst mit der
Sachlichkeit.

(Vergleiche z.B. die großen Ärzte unserer Zeit.)



1907


Enthusiasmus ist das schönste Wort der Erde.

       *       *       *       *       *

Je freier ein Geist wird, desto gebundener wird er sich fühlen und nennen.
Und am Ende wird er sagen: Wer weiß sich mit hunderttausend Stricken
gefesselter als ich?

       *       *       *       *       *

Dieses Verwerfen in Bausch und Bogen, dessen wir uns so oft schuldig
machen, ist schrecklich. So wenn einer von Rousseaus Bekenntnissen sagt:
das verlogene Zeug. Ja ja, verlogen vielleicht hier und dort und am
dritten Ort -- aber auch am vierten und fünften? -- Und wir selbst, die
wir so sprechen, sind es also an keinem? Nirgends verlogen, nirgends
angreifbar, nirgends verwerflich?

       *       *       *       *       *

Es können nur einigermaßen gleiche Naturen in ihrem ganzen Umfang einander
erklären und abschätzen. Heut aber will jedermann interpretieren, wenn er
nur schreiben gelernt hat.

       *       *       *       *       *

Man soll über einen wahrhaft großen Menschen nicht reden. Denn worüber man
bei ihm reden kann, darauf kommt es nicht an. Es kommt allein darauf an,
wie er dir innerhalb und in deinen tiefsten Stunden erscheint. Von diesen
unionibus mysticis aber kann man nur -- schweigen oder doch nur in
Momenten großer innerer Kraft zeugen.

       *       *       *       *       *

Glaube mir, es gibt nichts Großes ohne Einfalt. Der Mensch, das Individuum
ist Gottes Einfalt, ist einfältig gewordene Gottheit. In der Beschränkung
zeigt sich erst der Meister.

       *       *       *       *       *

Lieber einem zu viel als zu wenig Ehre geben. Ehre sage ich, nicht 'Lob'.
Tadeln, ja ganz ablehnen können und doch immer noch ehren, das heißt
fühlen lassen: Mein Bruder, was ich auch sagen muß, so wenig ich eine
Blume in ihren inneren Organen verletzen möchte, so wenig möchte ich Dich
-- verletzen! das ist es.

       *       *       *       *       *

Man soll nie auf irgendwen hinabsehen, der auf irgendeinem Wege -- und sei
es zehnmal ein wider Sitte und Gesetz verstoßender -- zur Freiheit strebt.

       *       *       *       *       *

Wenn ich dies und das nicht tue, so tut es ein anderer -- welch grober
Gedankengang! Als ob --

       *       *       *       *       *

O, wie erniedrigt doch die 'Konversation', wie verführt sie uns
fortwährend zu Urteilen, die wir gar nicht haben, deren wir uns gleich
darauf schämen, die nichts als höheres Geschwätz sind, das mit unserm
wahren Wesen nur eben soviel zu tun hat, als es dessen Teil an Torheit und
Schwäche aufdeckt.

       *       *       *       *       *

Mancher sucht sein Leben lang Kameradschaft, -- aber man muß mit diesem
Bedürfnis im Herzen nicht zu Frauen gehen. Sie wollen, eine jede,
ausschließlich _geliebt_ sein, sie wollen aus aller Kraft die Episode der
Liebe, aber ohne sie dabei als Episode aufzufassen. Sie wollen ein ganzes
Leben in Beschlag nehmen, aber dafür kein Leben der Kameradschaft, sondern
ein Leben der Liebe geben. Ein Leben der Liebe aber ist ein Unding, wie
ewige Musik oder ewiger Frühling. Die Liebe verdirbt die Seele zur
Kameradschaft, sie ist kalt und heiß, eifersüchtig und unberechenbar, die
Kameradschaft, die Freundschaft ist allein wahre Seelenliebe, sie ist bis
zu jedem möglichen Grade unegoistisch, sie ist der höchste Zustand
zwischen Mensch und Mensch. Die Liebe ist das Mittel zum Werden des
Kindes, aber die Freundschaft ist das Mittel zum reif und süß Werden
deiner selbst.

       *       *       *       *       *

Wann wird dies sein? Wann wird das sein? -- Wann wir es uns verdient haben
werden.

       *       *       *       *       *

Beim Menschen ist kein Ding unmöglich im Schlimmen wie im Guten.

       *       *       *       *       *

Wer nicht auch böse sein kann -- kann der wirklich tief sein?

       *       *       *       *       *

Bedenke, daß der sogenannte gemeingefährliche Mensch nur um deines
Behagens willen im Gefängnis sitzt, und daß auf deiner Seite viel dazu
gehört, das Freiheitsopfer so vieler Mitmenschen sittlich aufzuwiegen.

       *       *       *       *       *

Das ist es, was ich immer wieder gelehrt finde: die Zaghaftigkeit -- wo
Gutes gewollt wird -- ist zu nichts nütze. Umgekehrt, sie ist nur eine
Quelle immer weiterer Schwäche und damit immer weiterer Mißerfolge.

       *       *       *       *       *

Wir haben heute Ehrfurcht vor den Bewohnern eines Wassertropfens, aber vor
dem Menschen haben wir immer noch keine Ehrfurcht.

       *       *       *       *       *

Finsternis würde mich in kürzester Frist um alles Glück und um allen
Verstand bringen. Gebt allen Menschen vor allem Licht und vorzüglich den
Unglücklichsten unter uns, unsern Gefangenen.



1908


Wer sich groß verfehlt, der hat auch große Quellen der Reinigung in sich.

       *       *       *       *       *

Mut, Mut, das fehlt dem sogenannten denkenden Wesen, dem Menschen -- als
denkendem Wesen -- am meisten. Und dann Phantasie. (Aber was wäre
Phantasie ohne Mut?) Vielleicht ist Mangel an beiden eine der
grundlegenden Lebensbedingungen, vielleicht kann der Mensch nur mit einem
gewissen Quantum von Feigheit und Trägheit -- existieren.

       *       *       *       *       *

Tugend -- Mangel an Gelegenheit, ein Gemeinplatz, der nur die Unseligkeit
des üblichen Tugendbegriffs verrät, als etwas durchaus Negatives.

       *       *       *       *       *

Wem das allgemeine Wohl das höchste Ziel auf Erden dünkt, der tut den
Menschen gar nichts so Gutes, wie er meint. Man soll nie das Wohl, man
soll nur das Heil jedes Menschen im Auge haben, -- zwei Dinge, die sich
oft wie Wasser und Feuer unterscheiden.

       *       *       *       *       *

Die Geschichte ist eine Schlummerrolle, auf welcher gestickt steht: Ein
Viertelstündchen. Aber ganze Generationen schlafen ihr ganzes Leben auf
ihr. -- Was ist dem Erwachten -- Geschichte? Das, was -- andre getan
haben. Worauf er denn gar nicht genug an sein eigenes Tun denken kann.



1909


Nur wer sich selbst verbrennt, wird den Menschen ewig wandernde Flamme.

       *       *       *       *       *

O helfen, helfen können -- es gibt nichts Größeres für menschliche Art!

Und nicht helfen können, nicht helfen dürfen, es hat gewiß nicht minder
bittere Tränen erpreßt als: wo man's vermocht und sollte, nicht geholfen
haben.

       *       *       *       *       *

Man findet deshalb so wenig Menschenliebe, weil dem Äußeren meist zu viel
Wichtigkeit beigelegt wird. Aber es ist damit wie mit der Kleidung. So
mannigfaltig sich der Mensch auch tragen mag, in der Hülle steckt allemal
Adam und Eva, der homo sapiens-insipiens, dasselbe allerletzten Endes
unablehnbare Geschwister.

       *       *       *       *       *

Was ist der Mensch, daß er nicht alles hingeben sollte -- um des Menschen
willen! In dem Maße, wie der Wille und die Fähigkeit zur Selbstkritik
steigen, hebt sich auch das Niveau der Kritik am andern.

       *       *       *       *       *

Wer den Einzelnen als einen Wanderer betrachtet, der immer wiederkehrt,
wird aufhören, ihm entgegenzuarbeiten. Er sieht sich Schulter an Schulter
mit ihm gehn und erkennt die Sinnlosigkeit jeglicher Feindschaft zwischen
ihm und sich. Mag der Andre noch sein Feind sein wollen, er selber
empfindet ihn nicht mehr als Feind; für ihn fällt er, wenn er sich und ihn
sub specie aeterni anschaut, mit ihm selber beinahe zusammen. Mag der
Andre ihn noch hassen, ja verachten, er selber wird nichts begehren, als
ihm zu helfen, zu nützen, zu dienen. Er weiß, wie alles zusammenhängt.
Nicht fabelt er unbestimmt von Zusammenhang, sondern der Zusammenhang
liegt klar vor ihm.

       *       *       *       *       *

Frage und Prüfung:

Was kannst du?

Kannst du dich verkennen, beschimpfen, beschuldigen lassen, ohne auch nur
einen Schatten von Zorn wider den Bruder zu fühlen?

Noch mehr: Kannst du Unrecht leiden ohne Groll? Man kerkert dich ein, man
foltert dich, man hängt dich auf -- gesetzt, du fielest unter Wilde oder
gerietest vor ein russisches Gericht oder unter eine aufgeregte
amerikanische Volksmenge. Könntest du dann leiden und sterben -- ohne
Verwünschung?

       *       *       *       *       *

Wir sollten immer nur charakterisieren wollen, nie kritisieren.

       *       *       *       *       *

Lieblose Kritik ist ein Schwert, das scheinbar den Andern, in Wirklichkeit
aber den eigenen Herrn verstümmelt.

       *       *       *       *       *

Wer nicht zuvor sich selbst vorschreibt, wird auch den Menschen nie
vorschreiben dürfen. Man kann dem Wesen der Macht nichts abmarkten.

       *       *       *       *       *

Bemerke, wie die Tiere das Gras abrupfen. So groß ihre Mäuler auch sein
mögen, sie tun der Pflanze selbst nie etwas zuleide, entwurzeln sie
niemals. So handle auch der starke Mensch gegen alles, was Natur heißt,
sein eigenes Geschlecht voran. Er verstehe die Kunst vom Leben zu nehmen,
ohne ihm zu schaden.

       *       *       *       *       *

Wenn der moderne Gebildete die Tiere, deren er sich als Nahrung bedient,
selbst töten müßte, würde die Anzahl der Pflanzenesser ins Ungemessene
steigen.



1910


Man hüte sich vor Lieblingsvorstellungen, Lieblingsideen. Dergleichen
lenkt einen bloß von der großen Liebe ab, die sich allein auf die
Menschheit in ihrem Vorwärtskommen richten soll; dergleichen sind bloß
Fallgruben der Eigenbrödelei, Sackgassen der Egoität. Mag sich ins
Kornfeld werfen, den Himmel angucken und Träume spinnen, wer die
Wirklichkeit noch nie geschaut hat; wem die Augen offen wurden, der weiß,
daß es für ihn nur noch einen modus vivendi gibt, den des entschlossenen
Realisten der Liebe.

       *       *       *       *       *

Jede Krankheit hat ihren besonderen Sinn, denn jede Krankheit ist eine
Reinigung; man muß nur herausbekommen, wovon. -- Es gibt darüber sichere
Aufschlüsse; aber die Menschen ziehen es vor, über hunderte und tausende
fremder Angelegenheiten zu lesen und zu denken, statt über ihre eigenen.
Sie wollen die tiefen Hieroglyphen ihrer Krankheit nicht lesen lernen und
interessieren sich, gleich dem Neger, noch weit mehr für das Spielzeug des
Lebens, als für seinen Ernst, als für ihren Ernst. -- Hierin liegt die
wahre Unheilbarkeit ihrer Krankheiten, im Mangel an und im Widerwillen
gegen Erkenntnis, hierin, nicht in Bakterien.

       *       *       *       *       *

Vor einem halbbeschneiten Berge: So ist mancher von uns halb noch im
Schnee der Kühle, Kälte. Dann taut die Sonne den Schnee weg; aber in diese
und jene Grube vermag sie nicht vorzudringen; weiße, unvertilgbare Flecken
bleiben zurück: nie werden wir ganz frei von jedem Rest von Lieblosigkeit,
nie _ganz_ Liebe -- solang wir noch dieser Berg sind.

       *       *       *       *       *

Es gibt nur einen Fortschritt, nämlich den in der Liebe; aber er führt in
die Seligkeit Gottes selber hinein.

       *       *       *       *       *

Der Welt Schlüssel heißt Demut. Ohne ihn ist alles Klopfen, Horchen,
Spähen umsonst.

       *       *       *       *       *

Der Geist baut das Luftschiff, die Liebe aber macht gen Himmel fahren.

       *       *       *       *       *

Der Nenner, auf den heut fast alles gebracht wird, ist Egoismus, noch
nicht -- Liebe.

       *       *       *       *       *

So wie der Strom in das Meer muß, so muß der amor in die caritas.



1911


Ganze Weltalter voll Liebe werden notwendig sein, um den Tieren ihre
Dienste und Verdienste an uns zu vergelten.

       *       *       *       *       *

A sagte zu B, der sich mit seinem persönlichen Schicksal herumschlug und
des Jammers kein Ende fand: Wie erbarmungslos bist du!

Wie erbarmungslos? gab B befremdet zurück und fügte, da er A nicht
durchdrang, nach einer Weile hinzu: Wenn nur du nicht erbarmungslos bist!
(indem er meinte, dieser habe für sein Unglück kein Verständnis). Und
_wenn_ ich es gegen dich wäre, erwiderte A, so wäre ich es gegen einen
Einzigen. Du aber bist es gegen Millionen. Denn du siehst nur dein eignes
Leid, nicht auch das ihre. Du wärst aus ganzer Seele zufrieden, wenn nur
du allein getröstet würdest, wenn nur dir allein unter allen Millionen
geholfen würde. Prüfe dich selbst, ob ein solcher Sinn nicht noch
strengster Zucht bedarf und ob es weit gefehlt ist, ihn selbstsüchtig,
hart und erbarmungslos zu nennen.

       *       *       *       *       *

Man muß von aller Verliebtheit in Maja frei werden, dann erst kann die
große Liebe entstehen.

       *       *       *       *       *

Der Haß hat uns in eine solche Grobheit des Urteils und der Beurteilung
hineingesteigert, daß wir nichts mehr rein zu sehen vermögen. Wir
vergessen, daß es keine Ablehnung gibt, die nicht, sei es ein Korn, sei es
einen Klumpen Unrecht enthielte. Versuchen wir uns doch einmal entschieden
auf die Seite des Positiven zu stellen, in jeder Sache.

       *       *       *       *       *

Viele Menschen fühlen sich in ihrer Ruhe und Sicherheit gestört und
fordern laut nach strengen strafrechtlichen Maßnahmen gegen den
Verbrecher.

Das ist verständlich, aber es zeigt auch, woran es noch viel mehr als an
gesetzgeberischen Bestimmungen fehlt: An dem Bewußtsein, an der Ahnung
wenigstens, was man selbst und was der sogenannte Verbrecher ist. Der
Verbrecher und ich sind nichts wesentlich Getrenntes, wir stehen im
engsten menschlichen Zusammenhang; er kann uns nichts tun, was er nicht
auch sich selber täte, und wir können ihm nichts tun, was wir nicht auch
uns selber täten. Er ist nicht anders von uns verschieden, als unser Arm,
unser Bein, unser Auge. Nun heißt es zwar: So dich deine Hand ärgert, so
haue sie ab. Aber wenn ich die Hand abhaue, so füge ich mir damit einen
Schmerz zu, den ich mein Leben lang nicht vergessen werde, und sollte ich
ihn doch vergessen, so bleibt immer noch ihr Fehlen etwas, was sich nicht
vergessen läßt.

Anders, wenn sich eine Gesellschaft einen Verbrecher vom Leibe schafft.
Dann schafft sie sich ihn eben vom Leibe und damit punktum. Es fehlt der
entsprechende Schmerz auf ihrer Seite, der Stachel, den sie nicht wieder
los wird.

       *       *       *       *       *

Die Bestimmung des Menschen ist nicht nur, daß er als ruhiger Bürger
seinem Tagewerk nachgehe, sie ist noch etwas darüber: daß er sich mehr und
mehr verinnerliche, sich, und soviel an ihm liegt, seine Umwelt mehr und
mehr verchristliche.

Alle, die beispielsweise für die Todesstrafe stimmen, wollen nicht die
Gewissensnot, in die sie die Schreckenstat eines Bruders bringen und die
dann Frucht über Frucht aus ihm zeitigen müßte, sondern sie wollen ihre
Ruhe, ihre Behaglichkeit, ihr ungestörtes Weiterwirtschaftenkönnen im
einmal Überkommenen. Wie gesagt, es kann ihnen nicht verdacht werden, wenn
sie einer gewissen Sicherheit genießen wollen, aber sie müßten dafür, daß
sie mit der einen Hand nehmen, nämlich Freiheit oder gar Leben vom
Mitmenschen, mit der andern Hand geben: nämlich doppelte, dreifache Liebe.

Sie müßten nicht nur den andern sich, sondern sich zugleich dem andern
opfern, sich, das heißt ihren Eigennutz, ihren Hochmut, ihre
Gleichgültigkeit, ihre Trägheit. Aber dem wird ausgewichen und darum ist
in unseren Strafen so viel -- Rache; was man auch von Erziehungs- und
Abschreckungstheorien redet. Erziehen soll man zuerst sich selbst und dann
erst den, der mitten im Schoße von uns Tugendhaften als Lasterhafter
emporblühen konnte. Wahrlich, es kann mit der allgemeinen Tugend nicht
soweit her sein, wenn der Räuber und Mörder so üppig gedeiht, wahrlich, es
ist nicht gut, wenn solch ein Unkrautboden wie unsere Gesellschaft auch
noch nach Schutz und besonderer Fürsorge verlangt. Sie möge erst die
sieben Todsünden in sich bekämpfen und im Verbrechertum zunächst vor allem
das vergrößerte Spiegelbild ihrer selbst sehen, den immerwährenden Vorwurf
ihrer selbst. Sie möge im Verbrechertum zunächst erst einmal ihr --
_Schuld_-Konto erblicken. Wenn sie aber meint, daß, sagen wir, der Bauer
Adam in Vaduz unmöglich Schuld haben könne, wenn in den Südstaaten ein
Neger sich an einer Weißen vergreift, so ist zu erwidern, daß weder der
Bauer noch der Neger für sich nur als Bauer und Neger verbindlich sind,
daß sie vielmehr vom Anfang bis zur Vollendung unserer Welt als
schöpferische Faktoren rechnen, die nach der einen Seite unendliches
Schulden-Karma abzutragen, nach der andern Seite die Geisterreiche der
Zukunft mit aufzurichten haben, wozu sie nicht nur als Bauer und Neger,
sondern in hinreichenden menschlichen Manifestationen ab aeterno in
aeternum wiederkehren.



1912


Daß Güte (z.B.) nicht Schwäche sein _könne_, behauptet niemand, daß sie es
_sei_, nur ein Tor.

       *       *       *       *       *

Wer 'für Güte Dank' erwartet, macht sich schon allein dadurch, daß er sich
selbst als 'gütig' empfindet, der feinsten Berechtigung Dank zu ernten
verlustig, indem er sich im Gefühl und Bewußtsein seiner Güte als ein
besonderer Wohltäter andrer vorkommt, sich also über sie erhebt und
überhebt. Eine solche Erwartung, so natürlich und allgemein sie sein mag,
verdient nicht nur keinen Dank, sondern gerade das, womit ihr gewöhnlich
vergolten wird: eine gewisse Gleichgültigkeit, ja beinahe einen gewissen
(zurückschlagenden) Hochmut. Wer Gutes tun und dabei nicht in die Brüche
geraten will, muß es soweit bringen, daß er sich nie anders denn als einen
Diener des andern empfindet, dem eine glücklichere Fügung gestattet --
Schuld abzutragen. Er muß, fern davon, von dem andern Dank zu erwarten,
vielmehr das Gefühl der Dankbarkeit gegen diesen andern entwickeln, weil
er ihm Gelegenheit gibt, ihm zu helfen, gleichviel, wie solche Hilfe
nachträglich 'gelohnt' wird. Dies mag für uns freilich mehr oder minder
immer ein Ideal bleiben; die erste Stufe ist jedenfalls, dem Satze von der
Dank verdienenden Güte in uns und außer uns zu Leibe zu gehen.

       *       *       *       *       *

Wer wollte den Gutartigen, den Begabten, den Wunderlichen nicht lieben.
Aber den Böswilligen, den Ungeistigen, den Langweiligen zu lieben gilt es.
Nicht so sehr ein jovialer Wirt sein allen, die ihre Zeche mehr oder
minder bezahlen, als der barmherzige Samariter derer, die nichts haben als
ihr schmerzliches Schicksal.

       *       *       *       *       *

Kann man einen Menschen deshalb aus der Atmosphäre des tiefen, ungeheuren
Geheimnisses, das uns alle umfängt, das wir alle sind, und vor dem es
keine andere Grundstimmung als die unbegrenzter Ehrfurcht gibt,
herauslösen, herausgelöst empfinden, weil er ein 'Mörder' geworden ist?

       *       *       *       *       *

Der Selbstlose, der aus ganzer Seele den Menschen dienen will, übersieht
zu leicht, daß sein Selbst in ein niedrigeres und in ein höheres Selbst
zerfällt, und daß er daher nicht nur selbstlos im einen Sinne, sondern in
eben dem Maße selbstvoll im andern Sinne werden sollte. Sein Selbst
verlieren, heißt sich läutern, seine Seele bereiten, wie einen Acker,
welcher der Saat wartet. Sein Selbst gewinnen aber heißt, Frucht tragen
wollen, Saat herbeisehnen, aufnehmen, hegen, reifen.

       *       *       *       *       *

Geistige Leidenschaft, Leidenschaft fürs Geistige, -- prüfen wir uns
einmal, wieweit sie gemeinhin reicht. Nach allem Möglichen wird unter
Umständen mit vier Pferden gejagt, aber wenn einer Morgen um Morgen dein
Leben lang an deiner Türe vorbeigeht mit Lebensbrot, so kann er ein Leben
lang ungerufen davor vorbeigehen; denn seine Bettwärme wie sein
appetitliches Frühstück oder seine Zeitung oder gar seine 'Pflicht' läßt
keiner so leicht im Stich um Lebensbrotes willen.

       *       *       *       *       *

Wir leben heute noch recht wie Kinder, noch nicht wie erwachsene bewußte
Menschen. Wir essen und trinken ruhig, während Mitmenschen neben uns
verhungern und verdursten, wir gehen fröhlich in Freiheit herum, während
Mitmenschen neben uns in Kerkern verderben. Wir können uns in jeder Weise
freuen, während um uns in jeder Weise gelitten wird, und wenn wir selbst
leiden, so haben wir die Unbefangenheit, mit dem Schicksal darum zu
hadern. O, daß unser Herz und Geist mit den Zeiten verwandelt würde und
diese bittere Häßlichkeit von uns abfiele und wir aus Kindern Erwachsene
würden.



1913


Was ist denn alle Mutter- und Vaterschaft anders als ein -- Helfen! Als
wunderreichste, geheimnisvollste Hilfe!

       *       *       *       *       *

Alles ernsthaft Angefangene muß die Menschheit auch entschlossen weiter
treiben und weiter entwickeln. Täte sie's nicht, so wäre sie ebenso unreif
und leichtfertig wie die Individualität, die anfängt und liegen läßt,
statt, wenn auch vielleicht erst in vielen Lebensläufen, allem in sich
eine Folge und Ausbildung zu geben. Einziglich schon von diesem
Gesichtspunkt aus sollte man die Mystik z.B. nicht so verdrossen ablehnen,
als ob es ein Verdienst wäre, ein so wundertief begonnenes Geisteswerk in
die Rumpelkammer zu verweisen und nicht vielmehr sich dessen Weiterausbau
anzunehmen, zum mindesten dankbar gewärtig zu sein.



LEBENSWEISHEIT

1895


Mit allem Großen ist es wie mit dem Sturm. Der Schwache verflucht ihn mit
jedem Atemzug, der Starke stellt sich mit Lust dahin, wo's am heftigsten
weht.



1896


Es ist unbeschreiblich, auf was alles die Menschen _nicht_ kommen. In den
gewöhnlichsten Verhältnissen.



1905


Alles Festlegen verarmt.

       *       *       *       *       *

Dem Steigenden werden Gärten der Schönheit Wüsten der Unbedeutendheit.

       *       *       *       *       *

Der Schmerz über das, was wir an der Welt verfehlen und von dem sie
gemeiniglich nichts weiß, kommt ihr wieder aus der Reife unseres
Charakters.

       *       *       *       *       *

Man kann wohl sagen, daß das Geschlecht zwei Drittel aller möglichen
Geistigkeit auffrißt.

       *       *       *       *       *

Das ist meine allerschlimmste Erfahrung: Der Schmerz macht die meisten
Menschen nicht groß, sondern klein.

       *       *       *       *       *

Wer Dinge verspottet, an die ein guter Geschmack längst nicht mehr rührt,
wird selbst Gegenstand des Spottes, ja der Verachtung.

       *       *       *       *       *

Wenn dich die Menschen nicht absichtlich verwunden, so tun sie's gewiß aus
Ungeschicklichkeit.



1906


Das Letzte, was wir aneinander erleben, ist schließlich doch das
Schmerzlichste. Leide an mir, so spricht selbst noch das Liebste zu uns.

       *       *       *       *       *

Wahrheit ist eine Sache des Temperamentes, darum kann man Wahrheit nicht
lehren, nur zeugen.

       *       *       *       *       *

Alles, im Kleinen und Großen, beruht auf Weitersagen.



1907


Es ist merkwürdig, daß ein mittelmäßiger Mensch oft vollkommen recht haben
kann, -- und doch nichts damit durchsetzt.

       *       *       *       *       *

Mit Jedem wächst auch sein Herold oder sein Henker.

       *       *       *       *       *

Wenn du ein Geldstück von Wert bist, so briefwechsle dich nicht zu oft.

       *       *       *       *       *

Spannung ist alles und Entladung.

Und höchste Lebensweisheit, seine Spannung immer richtig zu entladen.



1908


Wie sollte man wohl leben, wenn man nicht fortwährend bei sich wie bei den
andern hunderterlei Krumm gerade sein ließe.

       *       *       *       *       *

Jede gründliche Erfahrung muß mit eignem Leben bezahlt werden -- und
fremdem.

       *       *       *       *       *

Was du andern zufügst, das fügst du dir zu.

       *       *       *       *       *

Es gibt in Wahrheit kein letztes Verständnis ohne Liebe.

       *       *       *       *       *

Das sind die zwei Blumen des Lebens: Das Schaffen und die Liebe. Und nie
wird wohl jemand ergründen, ob Gott sich als Welt schafft um der Liebe
willen, oder ob er liebt um des Schaffens willen.

       *       *       *       *       *

Es gibt keine 'toten' Gegenstände. Jeder Gegenstand ist eine
Lebensäußerung, die weiter wirkt und ihre Ansprüche geltend macht wie ein
gegenwärtig Lebendiges.

Und je mehr Gegenstände du daher besitzest, desto mehr Ansprüche hast du
zu befriedigen. Nicht nur sie dienen uns, sondern auch wir müssen ihnen
dienen. Und wir sind oft viel mehr ihre Diener, als sie die unsern.



1909


Geben und Nehmen, ein Gesetz aller Entwickelung.

       *       *       *       *       *

Der Weise verzichtet auf alles, worauf sich irgend verzichten läßt; denn
er weiß, daß jedes Ding eine Wolke von Unfrieden um sich hat.

       *       *       *       *       *

Die Hälfte allen Unglücks -- vom gröbsten bis zum feinsten -- geht auf
Unwissenheit oder Denkfehler zurück, gewollte und ungewollte
Ungeistigkeit.

       *       *       *       *       *

Lesen-Können, -- darauf läuft schließlich alles hinaus.

       *       *       *       *       *

Überall dem Selbstverständlichen zum Wort verhelfen -- das ist ein großes
Geheimnis.

       *       *       *       *       *

Jeder muß sich selbst austrinken wie einen Kelch.



1910


Nur durch Schaden werden wir klug -- Leitmotiv der ganzen Evolution. Erst
durch unzählige, bis ins Unendliche wiederholte leidvolle Erfahrungen
lernt sich das Individuum zum Meister über sein Leben empor. Alles ist
Schule.

       *       *       *       *       *

Eine Wahrheit kann erst wirken, wenn der Empfänger für sie reif ist. Nicht
an der Wahrheit liegt es daher, wenn die Menschen noch so voller
Unweisheit sind.

       *       *       *       *       *

Es gehört mit zum Seltsamsten, was es gibt: Das pure, lautere Gold liegt
vor uns, um uns. Aber wir leben mit Blei, Kupfer, Zinn; von Minderem zu
schweigen. Wir haben die Wahrheit wie die Sonne über uns und folgen
Schatten und Gespenstern.

       *       *       *       *       *

Es gibt für Unzählige nur Ein Heilmittel -- die Katastrophe.



1911


Von Hundert, die von 'Menge', von 'Herde' reden, gehören neunundneunzig
selbst dazu.

       *       *       *       *       *

Vorsicht und Mißtrauen sind gute Dinge, nur sind auch ihnen gegenüber
Vorsicht und Mißtrauen nötig. Der geschäftige Clown im Zirkus, der den
Teppich 'mit aufrollen hilft' -- ein Bild, das einem tausendfach aus dem
Leben wiederkommt.



1912


Das von selbst Verständliche wird gemeinhin am gründlichsten vergessen und
am seltensten getan.



1913


In vielen Fällen wäre der gerade Weg der kürzeste -- zum Verderben.

       *       *       *       *       *

Was wäre wohl aus der Welt geworden, wenn alle zum Mitschaffen
Aufgerufenen immer gleich 'schnurstracks' auf ihr Ziel losgegangen wären.
Alle Weisheit ist langsam, alles Schaffen ist umständlich.

       *       *       *       *       *

Lachen und Lächeln sind Tor und Pforte, durch die viel Gutes in den
Menschen hineinhuschen kann.



1914


Nur in Versuchungen immer wieder fallend, erheben wir uns.



ERZIEHUNG SELBSTERZIEHUNG

1895


Jeder Jüngling mag von sich denken, er sei der Messias, aber er muß nicht
Messias sagen, sondern nur Messias tun.



1896


Man müßte sein Ich nicht immer mit sich identifizieren, sondern wie eine
Mutter ihr Kind behandeln.

       *       *       *       *       *

Faß das Leben immer als Kunstwerk.

       *       *       *       *       *

Umschnalle dein Herz mit Schweigen.



1905


Wir _brauchen_ nicht so fort zu leben, wie wir gestern gelebt haben. Macht
Euch nur von dieser Anschauung los und tausend Möglichkeiten laden uns zu
neuem Leben ein.

       *       *       *       *       *

Wenn man zum Leben ja sagt und das Leben selber sagt zu einem nein, so muß
man auch zu diesem Nein ja sagen.

       *       *       *       *       *

Man kann nur als Totschläger leben.

       *       *       *       *       *

Höher als alles Vielwissen stelle ich die stete Selbstkontrolle, die
absolute Skepsis gegen sich selbst.

       *       *       *       *       *

Jeden Tag seines Lebens eine feine, kleine Bemerkung einfangen -- wäre
schon genug für ein Leben.



1906


Nur im Fluß bleiben, nur nicht zur Spinne eines Gedankens werden.

       *       *       *       *       *

Sei mit dir nie zufrieden, außer etwa episodisch, so daß deine
Zufriedenheit nur dazu dient, dich zu neuer Unzufriedenheit zu stärken.

       *       *       *       *       *

Ich schreibe der Gegenwart schön gebildeter Gegenstände einen großen
Einfluß auf den Menschen zu. So sollten wir die Möbel unserer Kinderzimmer
mit außerordentlicher Sorgfalt auswählen. Irgend ein schöner, schlichter,
ehrwürdiger Schrank, auf den der Blick unsres Kindes von seinem Lager aus
fällt, ja kunstvolle Modelle bedeutender Bauwerke, z.B. eine kleine
Nachbildung der Peterskuppel, eines griechischen Tempels, einer modernen
Eisenbrücke würden ihm zweifellos eine Ahnung von großem Stil geben, die
es sein ganzes Leben hindurch nachspüren und weiterentwickeln würde.



1907


Ich lese von einer Spielzeugausstellung in Berlin. Und zwar einer
Ausstellung von Dilettanten verfertigter Dinge, als da sind Dörfer aus
Streichholzschachteln, rollendes Material aus Garnspulen, ein Haus aus
einer Eierkiste und Zigarrenbrettchen usw. Mir lacht das Herz. Seit
manchem Jahre schmähe ich das luxuriöse moderne Spielzeug, diese echte
Aus- und Nachgeburt einer materialistischen Periode, -- und nun erhebt
endlich wieder das Spielzeug unserer Kindheit das bescheidene und
phantasievolle Köpfchen. Man sieht den Geist wieder bei der Arbeit, nach
und unter so viel ödem Bildungsphilistertum wieder den Geist und die
Liebe.

       *       *       *       *       *

Alle Erziehung, ja alle geistige Beeinflussung beruht vornehmlich auf
Bestärken und Schwächen. Man kann niemanden zu etwas bringen, der nicht
schon dunkel auf dem Wege dahin ist, und niemanden von etwas abbringen,
der nicht schon geneigt ist, sich ihm zu entfremden. Der bedeutende Mensch
ist ein Mensch, an dem viele andre sich klar werden. Er greift in ihr
Unbewußtes und Unterbewußtes und stärkt dort das ihm Verwandte. Wenn
Lichtenberg von seinem Aberglauben redet, so schwächt er damit die
Mannhaftigkeit vieler; denn ihre heimliche Neigung zum Unkontrollierbaren
fühlt sich durch einen solchen Mann ein wenig gerechtfertigt, die strenge
Zucht scheint ein wenig im Werte sinken zu dürfen. Wenn er aber von einem
geläuterten Spinozismus als der Religion der Zukunft spricht, wie fällt da
sein Wort bei manchem wie ein Frühlingsregen auf Saatfelder. Wie stärkt er
da unser Feinstes, Tiefstes, Geistigstes.

       *       *       *       *       *

Es gibt keinen strengeren Erzieher als den Ehrgeiz. Wobei freilich außer
Betracht bleibt: wozu?

       *       *       *       *       *

Wer möchte die Furcht in seiner Erziehung entbehren?

       *       *       *       *       *

Jeder muß seinen Mann haben, der ihm über die Schulter sieht, und dieser
wieder seinen und so fort. Das ist nur gut und billig; so allein kommt der
Mensch vorwärts.

       *       *       *       *       *

Wir freien Geister von heute sind nicht mehr der Gefahr ausgesetzt,
gekreuzigt oder verbrannt zu werden. Um so mehr will es der Anstand und
die Solidarität, aufs neue Gefahren zu suchen und zu schaffen, und sollten
es die der Selbstkreuzigung, der Selbstverbrennung sein.

       *       *       *       *       *

Übung ist alles, und insofern ist Genie Charakter.

       *       *       *       *       *

Sieh dir ein gut beschicktes Trabrennen an. Und du wirst merken, worauf's
ankommt, auch bei dir.

       *       *       *       *       *

Zu einem andern Ende kommen wir nicht als zu dem: im Begonnenen
unermüdlich weiter zu arbeiten, aber nicht in Verzweiflung und
Selbstbetäubung, sondern indem wir jede Sekunde dieser Arbeit immer mehr
durchseelen, immer innerlicher bejahen, immer entschiedener vergeistigen.
Was denn schließlich auch unserer Hände Werk sich wunderlich wandeln
machen wird, so daß, wenn einer etwa im Kriegshandwerk begann, er, wer
weiß, als Kolonisator endet, oder als Kriegsmann irgend einer andern
höheren Kriegsidee, als es die der bisherigen Kriege war.

       *       *       *       *       *

Wenn wir bedenken, wieviel hunderttausend Jahre wir wohl alt sein mögen,
werden wir geduldiger gegen das Tempo unserer heutigen Entwickelung
werden. Die von uns heute so ungestüm begehrte edlere Zukunft unseres
Geschlechtes wird sich vielleicht schon noch einmal verwirklichen, aber
statt in Jahrhunderten erst in Jahrtausenden. Das ist freilich kein Trost
für den Lebenden; aber der Lebende hat einen andern Trost: daß ihm für
seine Person schon heute die Möglichkeit gegeben ist, sich selbst so edel
zu verwirklichen, wie er nur kann. Die Insichvollendung des Menschen ist
jederzeit und überall möglich; zuletzt bleibt doch diese Erkenntnis und
was sie fruchtet, der einzige wahre Fortschritt.

       *       *       *       *       *

A. Zukünftige Ideale ziehen den Menschen davon ab, sich selbst als sein
einziges Ideal, im ethischen Sinne, zu setzen. In dem Moment, wo jeder bei
sich anfinge, wäre die schönste Zukunft vorweggenommen.

B. Ich will dir etwas sagen, Lieber: statt so zu theoretisieren, fange
doch gleich bei dir selbst an. Auch dein Reden ist nämlich nur ein Umgehen
deiner Pflicht. Bilde, Künstler, rede nicht.

       *       *       *       *       *

Sich immer am Leben korrigieren.

       *       *       *       *       *

Es ist hart, aber es gibt nur einen Weg, als Kämpfer für das Echte zuletzt
den Erfolg an sich zu fesseln: So lange zu schweigen, Geduld zu haben,
Menschen und Dinge gehen zu lassen, bis man durch die Treue gegen sich
selbst und die äußeren Umstände eines Tages ein Faktor geworden ist, mit
dem gerechnet werden muß. Dann endlich mag man dem Zorn und der Liebe in
sich nachgeben, wann und wo es auch sei. Dann erst hat es, sie rückhaltlos
zu äußern, Sinn und Wert: Für einen selbst, für den Getroffenen, für den
Verteidigten, für alle andern.

       *       *       *       *       *

Man soll auch seine Liebe und Leidenschaft noch mit kühlen Blicken unter
sich sehen lernen. Man sei stolz darauf, wenn man die Welt nicht mit jener
brünstigen Liebe mancher Mystiker liebt, die nichts ist als versetzte
Erotik. Man gebe dem Weibe, was des Weibes, und Gott, was Gottes ist.



1908


Von sich zurückzutreten wie ein Maler von seinem Bilde -- wer das
vermöchte!

       *       *       *       *       *

Jeder von uns hat etwas Unbehauenes, Unerlöstes in sich, daran
unaufhörlich zu arbeiten seine heimlichste Lebensaufgabe bleibt.

       *       *       *       *       *

Darin kann man Tolstoi unbedingt Recht geben: Was man Taugliches wird,
wird man in der Regel trotz der Schule, nicht durch die Schule.

       *       *       *       *       *

Gute Erziehung -- ein zweischneidig Schwert. Mancher wird nie ein
wirklicher Mensch, ein Mensch von _Umfang_, infolge seiner guten
Erziehung.

       *       *       *       *       *

Suche allem nach Möglichkeit eine Folge zu geben. Nichts macht das Leben
ärmer als vieles anfangen und nichts vollenden.

Aber ebenso gewiß ist, daß wenn auch kein Schuß ins Schwarze trifft,
unzählige es wie ein Sternenhimmel umschreiben.



1909


Es ist der Schritt, der erobert. 'En marche' -- ist eines der schönsten
Worte der Welt.

       *       *       *       *       *

Siehe eine Sanduhr: Da läßt sich nichts durch Rütteln und Schütteln
erreichen, du mußt geduldig warten, bis der Sand, Körnlein um Körnlein,
aus dem einen Trichter in den andern gelaufen ist.

       *       *       *       *       *

Was habe ich immer vor mir? Meine Hände. Darum möchte ich eine 'Erziehung
zum Nachdenken' geschrieben sehen unter Zugrundelegung der Anschauung der
Menschenhand.



1910


Die beste Erziehungsmethode für ein Kind ist, ihm eine gute Mutter zu
verschaffen.

       *       *       *       *       *

Die kleinen Schwächen legt man am schwersten ab, so wie man der Moskitos
weit schwerer Herr wird als des Skorpions oder der Schlange. Und so ist es
recht eigentlich das Kleine, was den Fortschritt der Menschheit aufhält:
Gedankenlosigkeit, Unaufmerksamkeit, Trägheit, Lauheit.



1911


Man möchte sich wie Bruder Bernardo auf irgend einem Marktplatz dem
Gespött der Welt aussetzen, um gleich ihm ein jegliches um Christi Liebe
willen geduldig und heiter zu ertragen -- und leidet vielleicht schon
darunter, wenn die Schaffnerin, die das Zimmer aufräumt, vergißt, guten
Morgen zu wünschen, oder wenn der Türhüter des Hauses schlecht geschlafen
hat.

       *       *       *       *       *

Du sollst nicht zu sein begehren, was du nicht bist, sondern nur einfach
etwas von deiner Pflicht zu tun versuchen, Tag um Tag.

Denn es ist viel schwerer, einen Tag in wahrhafter Aufmerksamkeit und
Wachsamkeit von Anfang bis Ende zu verleben, als ein Jahr in großen
Absichten und hochfliegenden Plänen.

       *       *       *       *       *

Jedem Menschen sein Recht lassen und wenn es uns noch so sehr als Unrecht
erscheint. Den Kampf gegen dies sein Unrecht deshalb nicht aufgeben, aber
ihn nicht außer sich führen, gegen jenen, sondern in sich, gegen sich,
gegen das in sich, was, wenn auch noch so verborgen, jenem Unrecht
entspricht. Oder könnten wir leugnen, daß wir innerlich an allem noch
irgendwie teilhaben, was an Bösem außer uns geschieht? Daß in uns von dem
z.B., was Millionen in Kriegsbegeisterung versetzt und zu
unverantwortlichen Handlungen verführt, noch genug lebt, um unsere ganze
Wachsamkeit und Tapferkeit gegen uns selbst aufzurufen, und sei es nur ein
gewisses Sichfreuen bei dem 'Sieg' des schwächeren Gegners oder eine
'gerechte Empörung' über dies und das, was das blutige Handwerk nach sich
zieht? Wir möchten allzugern wahrhaben, es sei menschlich schöner, mit dem
Schwächeren sich zu freuen, als die gleichmäßige Trauer über Siegende wie
Besiegte eine Quelle neuer Gelöbnisse vermehrter Anstrengung in uns selber
werden zu lassen; es sei nicht leichter, empört über Grausamkeiten zu
sein, als die Blitze der Entrüstung auf und in uns selbst abzuleiten, auf
das Triebwesen, dessen feinere Wildheiten auch in uns noch nicht völlig
gebändigt, noch nicht genug in rein dem vergeistigten Ich dienenden
Kräften leben.

       *       *       *       *       *

A. Sie sollten gerade da, wo Sie besondere Antipathie empfinden, doppelt
streng gegen sich selbst vorgehen, nicht aber Ihrer Antipathie nachlaufen,
wie der Student seiner Flamme.

B. Wie? Ich sollte mich auf meine Instinkte nicht mehr verlassen dürfen?

A. Ja und nein. Schauen Sie Ihren Instinkten zu wie Ihren Hunden, mit
denen Sie über Land gehen. Aber behalten Sie sich stets vor, sie
zurückzupfeifen, und pfeifen Sie gelegentlich auch einmal ohne Grund,
einfach weil Sie der Herr sind und die Instinkte Ihre Diener.

       *       *       *       *       *

'Daß du dann niemals mehr Wein anrührtest!' rief ein Knabe seinem Vater
zu, der mit ihm die Wendeltreppe eines Turms emporstieg. 'Welche
Selbstüberwindung! Welche -- Entsagung!'

Der Vater nickte lächelnd und wies dem Sohne die Aussicht, die das eben
erreichte Treppenfenster erlaubte. Nachdem sie diese eine Weile bewundernd
genossen, stiegen sie weiter und gelangten zum nächsten. Welche Entsagung!
rief da der Vater verstellt. Hier haben wir nicht mehr den Blick von
vorhin. Wie schön war es, auf all die nahen Dächer hinabzuschaun; da
störte noch keine Landschaft wie jetzt ...

'-- Störte?' fragte der Sohn --

... und sind wir erst droben, so werden wir auch diesem Rundbild entsagen
müssen; denn droben, du weißt ja, schaut man bei hellen Tagen das Meer ...
Des Jungen Augen leuchteten auf und dann, der Schelmerei gewahr, maßen sie
lange und nachdenklich den Sprecher ... bis -- hoch, ein Silberstreif --
das Meer am Horizont erschien und sie mit Tränen füllte. (Denn wie liebte
schon dieser Knabe das Meer!)

       *       *       *       *       *

Sich bewußt ausweiten. Von Gegensatz zu Gegensatz gehen. Vom Ersten bis
zum Letzten und umgekehrt. Keinen und nichts vergessen, übersehen, gering
achten.

       *       *       *       *       *

Wir sind allzumal träge; daraus entspringen die meisten Übel. In jedem
schlägt das Gewissen und regt sich das Wissen, wie es im Kleinen und
Großen sein müßte und wie es nicht ist. Aber die Faulheit, die
Vergeßlichkeit, die Gewohnheit lassen es nicht dazu kommen, daß wir aus
Gedanken zu Taten hervorschreiten. Wir kennen manches große innerliche
Mittel, aber man sollte auch kleinere, mehr äußerliche schaffen. Alle, die
gut sein möchten, aber es nicht so sein können, wie sie möchten, weil sie
sich zu schwach dazu fühlen, sollten sich zusammentun und eine
Hilfsbrüderschaft über sich setzen, die ihr lebendiges Gewissen darstellt.
Eine Gruppe, der sie selbst das Recht einräumten, ja die Pflicht
auferlegten, sie immer wieder wachzurütteln und mit dem problematischen
Willensmaterial, das in ihnen ist, zu arbeiten -- so wie ein treuer
Diener, der uns zum Sonnenaufgang aus dem Bett rüttelt, so wie ein Staat,
der mit unseren Steuern 'arbeitet'. Eine Brockensammlung guter
Willensregungen, sozusagen, das gälte es für diese Gruppe Tag für Tag. Des
Menschen Wesen ist Schwäche; kann er nicht allein in die Höhe wachsen, so
soll er sich an Stangen und Spaliere binden oder binden lassen. Ehre
jedem, der statt auf dem Stroh zu verkümmern, zur Krücke greift, Ehre
jedem tapferen Invaliden.

       *       *       *       *       *

Ein Hauptzug aller Pädagogik: Unbemerkt führen. Viele Menschen sind
durchaus fähig und gewillt, der Wahrheit zu folgen, aber sie darf ihnen
nicht geradezu gesagt, vor Augen gerückt werden. Sie verlieren in diesem
letzteren Falle jede Freude an der Wahrheit; denn ihre Eigenliebe ist noch
stärker als ihre Liebe zum Geiste, als ihr Geist, und so gefällt ihnen
nur, wer und was sie -- schont.

Und dann ist da noch etwas: Sie wollen mit Recht ihren Wahrheitsbesitz
erarbeiten.



1912


Übe dich an dem Worte: Mit der einen Hand wird gegeben, mit der anderen
genommen. Alle Erziehung verläuft unter diesem Pendelgesetz. Alles
Erzogensein besteht in der endlich errungenen inneren Ruhe dem einen wie
dem andern Schicksal gegenüber und einer Liebe und einem Vertrauen, die
höher sind als alle Vernunft zwischen Geburt und Tod.

       *       *       *       *       *

Wer am Menschen nicht scheitern will, trage den unerschütterlichen
Entschluß des Durch-ihn-lernen-Wollens wie einen Schild vor sich her.

       *       *       *       *       *

Wie mancher hat es schon ausgesprochen, daß Heldentum ebenso leichter sein
kann als langsame, geduldige, unauffällige Selbsterziehung, wie eine Tat
leichter sein kann als eine Handlung, ein Gefühl leichter als ein
Empfinden.

       *       *       *       *       *

Habe die Gabe der Unbestechlichkeit. So sehr auch Liebe für dich Partei
ergreifen mag: dein Sein gilt, nicht dein Schein.



1913


Sieh an, wie ein Zweirad in Bewegung und Fahrt gesetzt wird. Wenn du
deinen Willen so in Bewegung und Fahrt zu setzen vermagst, so wirst du
nach einigen Schwankungen wie ein Meister im Sattel sitzen.



PSYCHOLOGISCHES

1891


Nicht da ist man daheim, wo man seinen Wohnsitz hat, sondern wo man
verstanden wird.



1892


Ich halte es nicht für das größte Glück, einen Menschen ganz enträtselt zu
haben, ein größeres noch ist, bei dem, den wir lieben, immer neue Tiefen
zu entdecken, die uns immer mehr die Unergründlichkeit seiner Natur nach
ihrer göttlichen Seite hin offenbaren.



1895


Glocken um Neujahr: wie der gewaltige Herzschlag einer starken
unbesiegbaren Lebenshoffnung.

       *       *       *       *       *

Unten am Fenster ging Meta vorüber. Mein Herz klopfte hörbar. Es klopfte
so heftig, daß ich unwillkürlich "Herein!" sagte. Und das Tor meiner
Traumwelt tat sich ein ganz klein wenig auf und herein schlüpfte: die
Liebe.



1896


Es ist eine Kunst für sich, einen Brief zur rechten Zeit ankommen zu
lassen. Man vergißt ihrer gewöhnlich. Und doch -- wie oft ein intimes,
beschauliches Gespräch am Morgen keine Hörer an uns fände, so mutet uns
ein Brief morgens und abends anders an.

       *       *       *       *       *

Einer der seltsamsten Zustände ist das dunkle und unvollkommene
Bewußtsein, das wir von der Form und dem Ausdruck unsres eigenen Gesichtes
haben. So wird mir oft von diesem und jenem Gesichtsausdruck erzählt,
hinter dem sich jedoch durchaus nicht das verbirgt, was man aus ihm
schließen zu sollen glaubt.

       *       *       *       *       *

Es ist ein furchtbarer Gedanke: ich halte die Hand vors Auge und das ganze
Zimmer liegt im Dunkel usw.

       *       *       *       *       *

Das ist ein äußerst merkwürdiges Gefühl, wenn man sich frühmorgens Gesicht
und Kopf abreibt und sich dabei vorstellt: nun hast du deine Gedanken mit
gewaschen und abgetrocknet.

       *       *       *       *       *

An den Glockensträngen der Stimmungen.



1897


Es ist schön, zu denken, daß so viele Menschen heilig sind in den Augen
derer, die sie lieben.

       *       *       *       *       *

Es gibt kaum eine größere Enttäuschung, als wenn du mit einer recht großen
Freude im Herzen zu gleichgültigen Menschen kommst.

       *       *       *       *       *

Ein Weib ohne Bescheidenheit ist dem Manne das Greuel aller Greuel.

       *       *       *       *       *

Daß der moderne Mensch nicht schreien soll, ist eine seiner qualvollsten
und verderblichsten Forderungen an sich selbst.

       *       *       *       *       *

Der Mann mit Luftballons: Ideale! Kauft Ideale!

       *       *       *       *       *

Je mehr Bewegung man in seinem Geiste auffaßt, je glücklicher ist man.
Überall die Bewegung aufzeigen, das schafft das meiste Glück.



1904


Bild:

Erinnerungen, in den Abgrund des Vergessens fliehend (gleitend, fliegend).
Die am nächsten schwebenden Gestalten sind schon fast in Nebel zerflossen.

       *       *       *       *       *

Von der Prahlsucht der Kinder: Wille zur Macht überall versteckt.

       *       *       *       *       *

Ich definiere den Humor als die Betrachtungsweise des Endlichen vom
Standpunkte des Unendlichen aus. Oder: Humor ist das Bewußtwerden des
Gegensatzes zwischen Ding an sich und Erscheinung und die hieraus
entspringende souveräne Weltbetrachtung, welche die gesamte
Erscheinungswelt vom Größten bis zum Kleinsten mit gleichem Mitgefühl
umschließt, ohne ihr jedoch einen anderen als relativen Gehalt und Wert
zugestehen zu können.

       *       *       *       *       *

Tragikomödie:

Ein Mensch, der seine Gründe, mit denen er bejaht oder verneint, nicht
mehr ernst nimmt, sondern unter sie hinab in sein triebhaftes Wesen
taucht.



1905


Es ist das Vorrecht junger Mädchen, von Zeit zu Zeit aufzuschreien.

       *       *       *       *       *

Der Mann hat sein Ziel und das Weib hat seinen Sinn.

       *       *       *       *       *

Zur Ehe: Ein Ballon captif kann den Himmel nicht erfliegen.

       *       *       *       *       *

Es gibt Menschen, die sich immer angegriffen wähnen, wenn jemand eine
Meinung ausspricht.

       *       *       *       *       *

Über den Wassern deiner Seele schwebt unaufhörlich ein dunkler Vogel:
Unruhe.

       *       *       *       *       *

Es gibt keine Seele, die nicht ihr Wattenmeer hätte, in dem zu Zeiten der
Ebbe jedermann spazierengehen kann.

       *       *       *       *       *

Mir macht es oft Mühe, deine Gedanken zu denken, aber du wirst niemals
meine Empfindungen haben.

       *       *       *       *       *

Manchmal wird mir die ganze Psychologie verdächtig, wenn ich bemerke, daß
auf eine richtige Kombination schon bei den alltäglichsten Dingen so und
so viele falsche kommen. Ja, wenn ein Mensch im Prinzip so denken und
empfinden müßte, wie die andern!

       *       *       *       *       *

Das schwer Übersichtliche, das nicht recht Durchdringliche -- damit lockt
uns das Leben selbst immer weiter und damit lockt auch der platteste
Betrüger noch -- und gewinnt.

       *       *       *       *       *

Das Geheimnisvolle ist schlechtweg der sicherste Reiz an den Dingen. Zum
Beispiel ein altes Haus, eine Landschaft, die mehr noch verbirgt als
zeigt. Ibsen hat darum von jeher gewußt. (Vielleicht zu sehr _gewußt_.) Es
ist eine Art Dämmerluft um die Dinge. Wie mystisch wirken z.B. nachts die
Häuser einer Stadt. Solch ein Haus mag noch so häßlich sein, nachts wirkt
es mit dem ganzen Zauber eines unbegreiflichen Behältnisses
unbegreiflicher Wesen, die namenlos und unerklärlich geworden sind, wie es
selbst.

       *       *       *       *       *

Warum fühlen wir uns so zum Romanischen als dem wesentlich Formalen
hingezogen? Weil wir selbst vielleicht nur zu fähig sind zu zerfließen,
uns metaphysisch zu interpretieren, uns mystisch zu entindividualisieren
und zu 'vergöttlichen' und dafür das einzubüßen, was starke Völker und
Zeitalter unter einer großen, starken Erdenpersönlichkeit verstanden
haben.

       *       *       *       *       *

Der gesunde Mensch ist schön und sein Zustandekommen erstrebenswert. Aber
es muß ein bißchen irgendwelcher Krankheit in ihn kommen, daß er auch
geistig schön werde.

       *       *       *       *       *

Möglichst viel Glück sagt man. Aber wie, wenn die höchste Glücksempfindung
einen Menschen voraussetzte, der auch Allertiefstes _gelitten_ haben muß?
Wenn Glücksgefühl überhaupt erst möglich wäre in einem durch Lust und
Unlust gereiften Herzen? Wer möglichst viel Glücksmöglichkeiten fordert,
muß auch möglichst viel Unglück fordern oder er negiert ihre
Grundbedingungen.



1906


Blicke um dich ins Leben, zergliedere die Schicksale jedes einzelnen
derer, die du kennst und frage dich, ob es etwas andres als eine fast
unerklärliche Illusion ist, die alle diese Menschen das Leben als
lebenswert empfinden und preisen läßt. Ob das große Glück eine andere
Rolle spielt als die eines zeitweisen Wetterleuchtens, ob nicht vielmehr
die Gewohnheit und das kleine, das ganz minimal dosierte Glück es ist, was
dem Menschen das wahre Gesicht seiner Tage verschleiert.

       *       *       *       *       *

Ich frage mich oft, welches der wünschenswertere Typus von beiden ist: der
mehr geistige Mensch, für den es nichts Abstoßenderes gibt, als das
Uninteressante, oder der mehr gemütliche, für den es schlechtweg nur
Anziehendes und Abstoßendes gibt.

       *       *       *       *       *

Das ist das Ärgste, was einem Menschen geschehen kann, aus einem
Fließenden ein Starrer (ja auch nur ein Stockender) zu werden. Das erkennt
mancher und nährt Friedlosigkeit in sich oder unaufhörlichen Zweifel (so
tat ich es), oder er ergibt sich einem Streben nach fast Unmöglichem,
Ungeheurem. Manche aber überlassen sich ihrer natürlichen Liebe zu Welt
und Mensch und damit geraten sie denn bald in die Strömung unendlichen
Lebens, werden hineingerissen in den ewigen Zusammenhang aller Dinge, in
dem es keinen Stillstand gibt.

       *       *       *       *       *

Es ist das Unglück, daß Würde und Feinheit von Gedanken oft von den
Raumverhältnissen eines Zimmers, einer beglückenden Fensteraussicht, einem
gewissen Maß von Licht und Farbe abhängig sind, so daß einer, der sein
Leben lang in einer Art von länglichen Schachteln gehaust hat und eines
Tages ein edel proportioniertes Gemach betritt, sich zu glauben geneigt
findet, wieviel er vielleicht allein durch den Charakter seiner Wohnräume
geistig verloren haben könnte.

       *       *       *       *       *

Das, was allem Rauchen solchen Reiz verleiht, ist, daß sich der Raucher,
wo auch immer, mit einer vertrauten Atmosphäre umgeben kann, einer mehr
oder minder verklärten Zone, innerhalb der er ein bescheidenes Gefühl von
Heimat empfinden darf mit all dem unwägbaren sinnlichen Wohlbehagen, womit
uns das oft wiederholte Gleiche beschenkt, indem es wie unser Bett, unser
Sessel, unsere Lampe eine gewisse Kontinuität der Stimmung befördert, ja
wie in einem immer wieder gewobenen Schleier Gelebtes für uns bewahrt,
Werdendes treulich hinzunimmt.

       *       *       *       *       *

Die Wirtsstube ist die Palette, auf der sich die Farben des Individuums
mischen und vermählen. Daher ihr großer Reiz für den Teilnehmer wie für
den Betrachter.

       *       *       *       *       *

Es ist ein wahres Glück, daß der liebe Gott die Fliegen nicht so groß wie
die Elefanten gemacht hat, sonst würde uns, sie zu töten, viel mehr Mühe
machen und auch weit mehr Gewissensbisse.

       *       *       *       *       *

Ob Geister, sofern es solche gibt, auch Bücher lesen? Ich meine, ob sie,
wie sie vielleicht in unserm Zimmer mit uns wohnen, auch dann und wann, in
stillen Winternächten etwa, wenn sie es müde geworden sind, den massigen
Menschenschläfer zu betrachten und zu belauschen, sich in die Werke
vertiefen, die auf unserm Tische liegen? Vielleicht verstehen sie das
Geheimnis, sie bei geschlossenem Deckel, ohne auch nur ein einziges Blatt
umzuwenden, von Anfang bis Ende zu lesen. Wie ich darauf komme? Durch
einen kleinen Druckfehler, in einem Werke, in dem ich gerade studiere. Ich
zaudere, ihn zu verbessern, -- es ist nichts weiter, als daß in dem
Bindewort 'daß' das s nicht verdoppelt ist; aber ich tue es endlich doch:
Denn, wenn es nun doch Geister gäbe, -- müßten sie nicht unglücklich über
diesen Fehler werden, den sie selbst nicht verbessern können und aus
dessen Stehengebliebensein sie schließen müssen, daß ihr Freund ihrer
nicht gedacht hat?

       *       *       *       *       *

Es ist bekannt, wie viele verlorene Nadeln sich täglich auf Weg und Steg
finden lassen. Im äußersten Gegensatz hierzu würde, gesetzt auch geistige
Dinge könnten in solcher Weise verloren gehen, täglich wohl kaum Ein Paar
Scheuklappen gefunden werden.

       *       *       *       *       *

Tiefstes Problem des modernen -- also wesentlich häßlichen, irgendwie
verbogenen, schlecht weggekommenen -- Menschen: Wie kann Schönes aus
Unschönem kommen? Wie Vollkommenheit aus Unvollkommenem? -- Alles ist
Ausdruck. Kein Mensch kann Schöneres, Vollkommeneres geben, als er selbst
ist. Unser ganzes geistiges Leben ist kein Weg von uns anders wohin,
sondern einfach wir selbst.

       *       *       *       *       *

Es gibt nichts Degoutableres, als fortwährend von sich als Person zu reden
(außer zu bestimmten Zwecken), oder über sich reden hören zu müssen. Daher
ist es so kläglich, krank zu sein; ein Zustand, in dem dieses Reden und
Beredetwerden fast unvermeidlich ist.

       *       *       *       *       *

Wenn dich jemand 'vollkommen versteht', sei gewiß, daß dich niemand
vollkommener mißversteht.

       *       *       *       *       *

Einander kennen lernen, heißt lernen, wie fremd man einander ist.

       *       *       *       *       *

Ja -- nein: geistiges Strickziehen.

       *       *       *       *       *

Es ist gut, daß wir Spiegel haben. Daß wir für gewöhnlich unsere eigene
Miene nicht sehen, ist eines der unheimlichsten Dinge, die es gibt.

       *       *       *       *       *

Wir spielen unsere Gedanken gegeneinander aus, in Wirklichkeit unsere
Temperamente.

       *       *       *       *       *

Alles Sagen ist ein dem andern in sich Sagen, und der sagt's.

       *       *       *       *       *

Wenn wir die Macht und Unbedingtheit einer Liebesleidenschaft begreifen
wollen, so brauchen wir nur zu bedenken, daß sich in den beiden Menschen,
die sich lieben, zugleich der dionysische Rausch zweier riesenhafter
Zellenvölker manifestiert -- so, als ob Rußland aus lauter Männern und
Westeuropa aus lauter Weibern bestände und eines Tages will das zusammen
in orgiastischer Hingerissenheit.

       *       *       *       *       *

Eine wenn auch noch so leichte Sentimentalität gehört unstreitig zum
Charme jeder Frau. Sie ist die Verbürgerin jener Augenblicke, wo wir ihr
ganz Schutz, ganz Ruhe, ganz Meer sein dürfen.

       *       *       *       *       *

Man verliebt sich oft nur in einen Zustand des andern, in seine Heiterkeit
oder in seine Schwermut. Schwindet dieser Zustand dann, so ist damit auch
der feine besondere Reiz jenes Menschen geschwunden. Daher die vielen
Enttäuschungen.

       *       *       *       *       *

Die meisten Menschen verdunsten einem, wie ein Wassertropfen in der
flachen Hand.

       *       *       *       *       *

Wir sind alle hart und äußerlich zueinander, auch wenn wir noch so sehr
aufeinander einzugehen trachten; aber wenn wir getrennt in unsern Zimmern
liegen und nachts der Regen herniederfließt, dann suchen wir uns im Geiste
mit zärtlicher, bereuender Teilnahme, dann drängen wir uns aneinander wie
unwissende und zusammenschauernde Preisgegebne auf dunklem Meer, dann
liebkosen und trösten sich unsere Seelen, die der erkältende Tag wieder
verstocken und verhärten wird, dann lieben wir wirklich einander mit einer
tiefen, schwermütigen, unbezwinglichen Liebe.

       *       *       *       *       *

Es ist schauerlich an Toren zu rütteln, die verschlossen sind; noch
schauerlicher aber, wenn sie nur aus dünnem Seelenstoff, ja, wenn sie nur
aus den kühlen, harten Blicken einer Seele bestehen, die dich nicht in
sich eindringen lassen will.

       *       *       *       *       *

Wir sind alle Besessene, man muß das Wort nur wörtlich genug verstehen.
Aber zugleich können wir auch Mehrer dieses uralten Besitzstandes sein,
den wir 'unsern Geist' nennen, zugleich auch Besitzergreifende.

       *       *       *       *       *

Die Forderung möglichster Klarheit in allen Dingen, die wir andern
gegenüber so gern geltend machen, entspringt vornehmlich dem Unbehagen,
das uns alles nicht völlig Verstandene als etwas von uns nicht
völlig Beherrschtes einflößt. Es ist der ewige Kummer der
Durchschnittsintelligenz, daß es auch außerhalb ihres Begriffsvermögens
noch Geistigkeit gibt.

       *       *       *       *       *

Eine schwache Persönlichkeit wird manchmal eine stärkere Persönlichkeit
werden können als eine starke Persönlichkeit.

       *       *       *       *       *

Glaubt ihr, ein Asket wolle weniger herrschen als ein Weltmann?

       *       *       *       *       *

Der Geist legt den Charakter des Menschen auseinander in seine Teile, aber
diese Teile gibt es in Wirklichkeit nicht.

       *       *       *       *       *

Die Ruhe vor dem Tode, das Entsetzen vor dem Tode -- wie erklärlich von
der Seele, die ihre -- zum mindesten nächste -- Zukunft voraussieht.



1907


Wie die Gefahr des Tauchers der Tintenfisch, so des Grüblers die
Melancholie.

       *       *       *       *       *

'Totentanz' ist gar kein Thema. Man sollte zeichnen und malen, wie das
Weib den Mann in den großen Mischmasch hineinzieht. Unten sollte man die
breite Bettelsuppe des heutigen Lebens hinmalen, und in diese Suppe
hineinführend eine unabsehbare Kette von Weib und Mann, immer das Weib
voraus, mit tausend Gebärden, von der unschuldigsten bis zur
lasterhaftesten. Die Männer, auf die es ankommt, wollen schaffen, sie
wollen die Welt vorwärtsbewegen; das Weib aber will vor allem wohnen. Ihm
genügt das Gegenwärtige vollkommen, und es glaubt sich völlig
gerechtfertigt, wenn es der Zukunft in Form von Kindern dient. Es ist die,
trotz der bekannten Unbilden bequemste Art, den Fortschritt der Menschheit
zu fördern: man stellt ein Kind, das heißt man beschränkt sich darauf, die
Aufgabe weiterzugeben, einen Dritten vorzuschieben. Solange die Frauen das
nicht begriffen haben, nämlich, daß es neben ihrem üblichen häuslichen
Ideal auch noch andere größere Kulturideale geben könnte, wird die
Menschheit nicht entscheidend vorwärts rücken. Und deshalb liebe ich die
Russen und Skandinavier so sehr, denn dort findet man heute noch am ersten
Frauen, die nicht nur Sinn für sich, sondern auch Sinn für den Mann haben,
die ihn wirklich wie Kameraden unterstützen, und nicht nur als gesetzliche
Konkubinen zum obersten Haussklaven machen wollen.

       *       *       *       *       *

Den seelischen Wert einer Frau erkennst du daran, wie sie zu altern
versteht und wie sie sich im Alter darstellt.

       *       *       *       *       *

Wie macht das Gefühl bloßen Sichnaheseins Liebende schon glücklich.

       *       *       *       *       *

In der Bewunderung manch eines Menschen liegt etwas Schamloses. Sein 'Wie
schön ist das! Wie schön ist das' ist nichts andres als ein 'Wie wohl
fühle ich mich, wie wohl fühle ich mich!' Das aber brauchte er nicht
fortwährend in die Welt hinauszuempfindeln. (Im 'nil admirari' liegt doch
immerhin ein ganzes Teil Selbstzucht und Takt.)

       *       *       *       *       *

Dunkelblau gekleidete kleine Mädchen auf grünen Matten -- eine beinahe
tragische Wirkung.

       *       *       *       *       *

Es ist eines der merkwürdigsten Dinge der Welt, daß man eine Seite und
mehr lesen kann und dabei an ganz etwas anderes denken.

       *       *       *       *       *

Wäre der Mensch nicht noch fast vollkommen Tier, so würde er in einer so
über alles Maß gewaltigen und erschütternden Welt, in verhältnismäßig
unmittelbarer Nähe eines Naturphänomens wie unserer Sonne, -- um nur etwas
herauszugreifen -- nicht so sein, wie er heut noch ist: ein kleinliches,
grämliches, banales, kindisches, eitles, zanksüchtiges, gedankenloses,
planloses, kurz, durchaus noch dumpfes und niederes Wesen.

       *       *       *       *       *

Es ist schmerzlich, einem Menschen seine Grenze anzusehen.

       *       *       *       *       *

Im Grunde spricht sich wohl in allen Forderungen, die der Mensch an seine
Gattung stellt, nur der Wunsch des Menschen nach größerer und feinerer
Behaglichkeit des persönlichen wie sozialen Lebens aus: Der Mensch will
wohl endlich soweit kommen wie die Blumen und die Bäume: ruhig leben und
sterben zu dürfen. Zweifellos wünschen sich die meisten Menschen nichts
Besseres.

       *       *       *       *       *

Wir sind geborene Polizisten. Was ist Klatsch andres als Unterhaltung von
Polizisten ohne Exekutivgewalt.

       *       *       *       *       *

Eine Hauptsache bei vielem ist, daß stets der Anschein äußerster
Wichtigkeit erweckt wird. Wenn z.B. eine Katze ihrem Verehrer fortläuft,
so muß das aussehen, als ob sie auf der anderen Seite des Weges etwas
ungemein Wichtiges zu tun hätte, was jeden andern Gedanken ausschlösse.
Oder wenn ein sogenannter Zahlkellner gerufen wird, so muß er immer erst
wie der Mond aus dem Gewölk treten, das heißt erst nach längerer Zeit und
nur auf einen Moment, zu dem man sich beglückwünschen muß, da ihn neues
Gewölk schon wieder zu verschlingen droht. Auch in geistigen Dingen nützt
dergleichen viel, und wer darauf verzichtet, kann sicher sein, daß ihn
sobald keiner wichtig nimmt.

       *       *       *       *       *

Ironisches Gebot:

Wenn du gereizt bist, so wirf die Tür hinter dir zu, das erweckt allgemein
Furcht.

       *       *       *       *       *

Es gibts nichts Lohnenderes, als der Schwachheit des Menschen durch ein
schönes Wort zu Hilfe zu kommen. Verordne einem 'Patienten' dreimal
täglich Manulavanz, und er wird sich über alle erhaben fühlen, die sich
bloß die Hände waschen. Je interessanter du seine Gewohnheiten benennst,
desto geschmeichelter und dankbarer wird er sein, und das eine Wörtchen
Alkoholismus, um ein Beispiel zu nennen, hat sicherlich nicht nur Gorkis
Satin, sondern unzählige andere Unglückliche unzählige Male berauscht und
getröstet. Übersetze das Unglück maßvoll ins Arabische, Griechische,
Lateinische, und du wirst ein wahrer Wohltäter der Menschen werden. Du
gibst ihrem Geist dadurch Anregung, du verschaffst ihnen eine kleine
Distanz zu ihren Leiden oder Lastern. Wie fremdartig ist es, Angina zu
haben, wie beinahe ehrenvoll, die Krisis eintreten zu fühlen. Du knüpfst
damit das Individuum, das nichts mehr fürchtet als das Alleinsein, das
Alleingelassenwerden, an ferne fremde Zeiten und Kulturen; das alte, das
neue Europa versammelt sich um sein Lager, und selbst wenn die Pest es
befällt und fällt, kommt sie ihm doch aus Asien: die Mutter der Menschheit
selbst trifft es mit den Schatten ihrer gewaltigen Flügel.

       *       *       *       *       *

Was ist das Erste, wenn Herr und Frau Müller in den Himmel kommen? Sie
bitten um Ansichtspostkarten.

       *       *       *       *       *

Es ist etwas Herrliches, wenn in das Händeklatschen einer Menge jenes
Elementare kommt, das ich das Mark des Beifalls nennen möchte.

       *       *       *       *       *

Mir sind diese Leute, die über alles so klug zu reden wissen, verdächtig.
Des Geistes zeugende Kraft ist nicht in ihnen. Wem die Natur etwas Eigenes
zu sagen mitgab, den kümmert es wenig, in jenem Sinne klug zu reden. Ihn
erfüllt ganz der Geist seiner Aufgabe (nicht der Aufgabe anderer).

       *       *       *       *       *

Wer sich selbst auch nur Einen geistig regen Vormittag streng beobachtet,
dem muß das scheinbare Filigran der Psychologie vorkommen, wie ein
Gespinst aus Baumstämmen.

       *       *       *       *       *

Die Psychologie befaßt sich mit den einzelnen Wellen des Baches. Aber hat
ein Bach je aus -- Wellen bestanden?

       *       *       *       *       *

Die Psychologie antwortet, so wie der Lehrer dem Kinde, das ihn fragt: Was
ist das -- ein Baum? Ein Baum, sagt er, ist eine Pflanze mit Wurzeln,
einem Stamm, Ästen, Blättern usw. Und das Kind des 19. Jahrhunderts ist
ganz glücklich, daß es nun 'weiß', was ein Baum ist.

       *       *       *       *       *

Man muß scharf zwischen dem aktiven und dem kontemplativen Menschen
unterscheiden. Jedem sein Reich und seine Welt für sich. Und vor allem,
wird der Kontemplative sagen, dem Aktiven sein Reich für sich. Denn wenn
der Kontemplative der Duft der Lebensblume ist, so ist der Aktive, so ist
'die Welt' der einzige Weg zu diesem Duft.

       *       *       *       *       *

Wenn ich die Augen fünf Minuten lang geschlossen und inzwischen nicht ganz
klar und zusammenhängend gedacht habe, so könnte ich mir leicht einreden,
ein Jahr sei vergangen und noch viel mehr.

       *       *       *       *       *

Es gibt nichts Sinnverwirrenderes, als eines Tages zu entdecken, daß man
als der und der lebt.

       *       *       *       *       *

Je tiefer einer wird, desto einsamer wird er; aber nicht nur das: desto
mehr lassen ihn selbst seine treusten Freunde allein -- aus Zartgefühl,
Schamgefühl, Liebe, Ehrfurcht, Verlegenheit, Hochachtung, Scheu, kurz, aus
den allerbesten Gründen und mit dem unanfechtbarsten Takt des Herzens.

       *       *       *       *       *

Man hat nie nur einen Grund zu einer Handlung, sondern hundert und
tausend.

       *       *       *       *       *

Heftige Bewegungen machen alle Tiere scheu. So sollte sich auch der
vollkommene Weise im Geistigen jäher Bewegungen enthalten. Im Grunde ist
es das Gleiche, wie du an ein Pferd herangehst und sein Zutrauen gewinnst,
und wie du an einen Menschen dich wendest und ihn eroberst.

       *       *       *       *       *

Je ernster ein Kritiker seine Kritik nimmt, desto kritischer wird er
seinen Ernst nehmen.

       *       *       *       *       *

Der Ironiker ist meist nur ein beleidigter Pathetiker.

       *       *       *       *       *

Viele der Feinsten gehen in sich gekehrt durchs Leben, weil sie es nicht
ertrügen, von andern überlegen betrachtet zu werden. Sie fürchten die
Verwundung ihres Stolzes, den Verlust ihres Machtgefühls, sie ziehen es
vor, in ihren vier Wänden die Ersten zu sein, statt auf dem Markte die
Zweiten. Aber manch einen macht solch heimliches Schatzhütertum auch
bitter und hochfahrend. Immer lauter muß er bei sich Stolz nennen, was im
Grunde vor allem Furcht ist, um schließlich, statt der Verschwender, der
giftige Drache seines Horts zu werden, der alle Welt ob ihrer Armut
verachtet.

       *       *       *       *       *

Vorsehung --

Ich kann mir wohl denken, daß in einem genialen Menschen auch ein geniales
un- oder unterbewußtes sich Vorsehen waltet, so wie einer im Traumwandeln
dem überall drohenden Tode instinktiv ausweicht.

Napoleon im Kugelregen.

       *       *       *       *       *

Wie nahe Furcht und Mut zusammenwohnen, das weiß vielleicht am Besten, wer
sich dem Feind entgegenwirft.

       *       *       *       *       *

Phantasie ist ein Göttergeschenk, aber Mangel an Phantasie auch. Ich
behaupte, ohne diesen Mangel würde die Menschheit den Mut zum
Weiterexistieren längst verloren haben.

       *       *       *       *       *

Was wirkt am innerlich glühenden Menschen _nicht_ übertrieben? Steht er
nicht ewig wie unter lauter Großmüttern und Großvätern? Und geht und
spricht er drum nicht am liebsten zu -- Kindern?



1908


Dieser Brief wäre an _Dich_ gerichtet, von dem ich zehn Jahre nichts mehr
gehört noch gesehen habe? O nein, wie wäre das möglich. Er ist an das Bild
gerichtet, das ich von damals und früher von Dir in mir trage, das ich
zwar zu modifizieren versucht habe, aber mit nicht größerem Glück als der
Bildhauer, der Deinen Kopf vor 10 Jahren geformt hätte und nun unternähme,
die 10 Jahre Veränderung hineinzubringen, ohne das also veränderte
Original vor sich zu haben.

Und Dein Brief, meinst Du, wäre an _mich_ gerichtet?

       *       *       *       *       *

Es ist rührend, dem Erklären und Beschreiben feiner Historiker und
Psychologen zuzusehen: mit wie geschickten Fingern sie das Leben
zergliedern, zerfasern -- und wie dennoch das Geheimnis dieses Lebens
unberührt bleibt.

       *       *       *       *       *

Manche Menschen machen sich vor andern so klein wie möglich, um -- größer
als diese zu bleiben.

       *       *       *       *       *

Dem Worte Größenwahn ist noch nie das Wort Kleinheitswahn oder
Niedrigkeitswahn gegenübergeprägt worden. Und doch ist dieses Leiden so
verbreitet, daß ganze Völker noch nicht darüber hinausgekommen sind, sich
als bloße Tiere zu empfinden, zu gebärden und zu behandeln.

       *       *       *       *       *

Mein Satz: Dummheit als absolut notwendiges Retardivum.

       *       *       *       *       *

Ein berühmter Arzt ist wie eine junge Millionenerbin. Er weiß nie, wie
weit man ihn als Menschen und nicht nur als Arzt liebt.

       *       *       *       *       *

Wie wohl kann das Geräusch einer Säge oder einer arbeitenden Lokomotive
tun, ein Hämmern, ein Türenschlagen, ja selbst ein Wagenrasseln, wenn man
wund und weh daliegt und nach einfachen kräftigen Grüßen des Lebens
hungert.

       *       *       *       *       *

Jedes Wort ist notwendig Pol. Im Innern sind wir nur als Wortlose, sind
wir nur, sobald wir bloß _sind_, unser Sein bloß _fühlen_. Daher das tiefe
Friedensgefühl, das wir allem Vegetativen beilegen und beilegen dürfen.

       *       *       *       *       *

Im Schachspiel offenbart sich durchaus, ob jemand Phantasie und Initiative
hat oder nicht.

       *       *       *       *       *

Wahrlich eine verderbliche Lehre: es sei die Bestimmung des Weibes, Gattin
oder Mutter zu werden. Damit wird das Weib als Mensch, als Individuum
völlig ausgeschaltet, als hätte es an sich überhaupt keinen Wert, keinen
Sinn, keine Entwickelungsmöglichkeiten, habe überhaupt nur in Beziehung
auf Gatten und Kind Existenzberechtigung. Möchten sich doch alle darüber
klar werden, daß wir außer Männchen und Weibchen auch noch _Menschen_
sind.

       *       *       *       *       *

Im Sohn will die Mutter Mann werden.

       *       *       *       *       *

Das ist die Gefahr von uns Künstlern: Wir empfinden z.B. einen
aufgestützten, entblößten Frauenarm von so hinreißender Schönheit, daß wir
ganz vergessen, daß er einer bestimmten Frau gehöre. Und wenn wir zu
dieser Frau nun in Liebe entlodern, so ist es eigentlich die Schönheit des
Weibes, des Menschen überhaupt, die wir anbeten, weniger sie selbst. Und
da setzt leicht die Tragödie ein.

       *       *       *       *       *

Ein Mädchen gefällt uns nicht so sehr etwa um ihrer Augen willen, als ihre
Augen um seinetwillen, das heißt um seiner ganzen imponderablen
Persönlichkeit willen.



1909


Das Weib mischt uns ins Leben hinein.

       *       *       *       *       *

Leichtsinn und Geduld, zwei weibliche Haupteigenschaften.

       *       *       *       *       *

Natürlichkeit, Schwester der Freiheit (und Einfalt).

       *       *       *       *       *

Es ist schauerlich, Klavier spielen zu hören, während man über Berge und
Täler hinwegblickt und die Erde als eine ihrer unzähligen Schwestern mit
sich im unendlichen Räume schweben und kreisen fühlt.

       *       *       *       *       *

Ein gewisses Maß von Schelten gehört wohl zum Leben. Schelten in seiner
sublimiertesten Gestalt, als philosophischer, ja, als religiöser
Pessimismus, dürfte ebenso nur eine Art von Ventilierung sein, wie der
mehr oder minder gerechtfertigte Ärger des Eintags. Alles in Allem möchte
hier ein Zuchtproblem vorliegen, das nur selten gelöst werden wird; wenn
nämlich dies ganz große Zucht (also ganz großer Stil) ist: ein
leidenschaftlich empfindsamer Geist und doch zugleich ein _Weiser_ zu
sein.

       *       *       *       *       *

Die Meisten wissen garnicht, was sie für ein Tempo haben könnten, wenn sie
sich nur einmal den Schlaf aus den Augen rieben.

       *       *       *       *       *

Manche Menschen treiben leicht ab. Unversehens sind sie anderswo, als wo
man sie haben will, als wo sie sich selbst haben wollen.

       *       *       *       *       *

Darum können Zeitungen so sehr schaden, weil sie den Geist so unsäglich
dezentrieren, recht eigentlich zer--streuen.

       *       *       *       *       *

Wer sich überhebt, verrät, daß er noch nicht genug nachgedacht hat.

       *       *       *       *       *

Vielen ist Reisen ein Ersatz für Leben. Es gibt oft nichts
Schmerzlicheres, als solches zu erkennen.

       *       *       *       *       *

Wenn die Mehrzahl der Menschen das Kleine nicht so viel wichtiger nähme
als das Große, würde das Große nie auf seine Rechnung kommen. Wenn der
Mensch sich mehr um den Himmel als um die Erde kümmerte, würde nicht nur
die Erde, sondern auch der Himmel verkümmern. Der Geist ist nicht umsonst
in die Materie herabgestiegen.



1910


Wie schön ist es, das Auge von einem schönen Buch, in das man versunken
war, zu einer schönen Landschaft aufzuschlagen. Dieser kurze Übergang von
chiffrierter Geisterwelt in symbolische, dieser jungfräuliche Augenblick
unbewußten Staunens ist einzig.

       *       *       *       *       *

Alles was nicht leicht verstanden wird, reizt leicht. Die edelste Musik
kann so z.B. ebenso wie die tiefste Philosophie Gegenstand erbitterter
Gegnerschaft werden.

       *       *       *       *       *

Solange das Tier noch gegessen wird, solange wird es seinen Esser auch
besitzen. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Oder glaubt man wirklich, es sei
keine Beziehung zwischen der Dummheit des Kalbes, der Kuh, des Ochsen und
der ihrer Verzehrer, es übertrage der Hammel, das Schwein, der Fisch usw.
nicht ganz besondere psychische Hemmungen oder Reize?

       *       *       *       *       *

Es gibt nichts Schwereres, als einen Menschen, den man liebt, einen Weg
gehen lassen zu müssen, der zur nächsten Stadt führt, statt auf den
nächsten Gipfel.



1912


Für den Trägen gibt es nichts Aufreizenderes als die unaufhörlich
fortschreitende Zeit. Er fühlt, wie sie über ihn hinweggeht und stammelt
ihr in dumpfem Ingrimm seine Verwünschungen nach.

       *       *       *       *       *

Was gegen die höchsten, reinsten Empfindungen ausgespielt wird, sind
nichts als die gleichen Empfindungen, nur noch mehr oder minder vor ihrer
Katharsis. Wie kann man den Satz nachsprechen: Gott ist die Liebe, und an
anderer Stelle der Meinung sein, eine vom Tierischen ganz losgelöste
seelisch-geistige Liebe sei -- wohl vielleicht eine reinere, aber auch
eine kühlere, blassere, ohnmächtigere Liebe!

       *       *       *       *       *

Es gibt Seelen, zu schamhaft, Wege der tieferen Erkenntnis beschreiten zu
wollen. Sollten sie als 'von Gottes Stamme' nicht noch zu wenig stolz sein
und als Arbeiter an Gottes Reiche nicht noch zu wenig demütig?

       *       *       *       *       *

Welcher Erfahrene kennt nicht im Geistes- und Empfindungsleben den Zustand
des Federsträubens der Vögel.

       *       *       *       *       *

Ich machte die Beobachtung, daß Menschen, die beim Beifallklatschen die
Arme weit von sich, ja fast über Kopfeshöhe ausstrecken, in einer zugleich
wunderlichen und schmerzlichen Weise den Anblick ungeduldig Bittender,
ungeduldig -- Betender gewähren, eine Vorstellung, von der sie selbst
nicht das Geringste ahnen und die doch nichts weniger als ihre ganze
dürstende Seele -- in einem doppelgängerischen Bilde gleichsam --
enthüllt.

       *       *       *       *       *

Die Anzahl der geistigen Foltermittel, die wir heute noch unter- wie
gegeneinander bewußt oder unbewußt anwenden, ist groß. Eines davon ist das
Fragen. Es gibt Menschen, die so wenig wie möglich gefragt sein wollen;
wohlverstanden: nach Unwesentlichem. Und Gegenstücke dazu: Menschen, die
fast keine andere Interpunktion kennen, als das Fragezeichen.

       *       *       *       *       *

Wie mancher muß sich auf Kosten seiner Vergangenheit lieben lassen. Diese
Vergangenheit hat ihm vielleicht ein gutartiges Gesicht gegeben. Älter
werdend aber erkennt er mehr und mehr auch das Böse in sich. Nun aber
hängt ihm seine Miene wie ein Schild vor, das nur die eine Seite seines
Wesens anzeigt.

       *       *       *       *       *

Gewiß hat der Mann die moderne Kultur geschaffen, aber sie ist denn auch
nur für ihn ein so ungeheurer Ruhmestitel. Er selbst würde vermutlich nie
an dieser kompakten Errungenschaft vorbeikommen, wenn es nicht Frauen
gäbe, die, ohne seinen 'Geist der Schwere' himmlisch unbefangen daran
vorüber und dem entgegenschritten, was ihrer Seele -- denn für sie gibt es
in der Tat und horribile dictu noch eine Seele -- not und wohl tut.

       *       *       *       *       *

Wie ein Wind über ein Ährenfeld, so ging diese durchfahrene Viertelstunde
über seine bewegliche Seele.



1913


Takt erfordert vor allem Phantasie. Man muß viele Möglichkeiten der
fremden Seele überschauen, viele Empfangsmöglichkeiten und danach, was man
geben kann, einrichten.

       *       *       *       *       *

Es gibt Naturen, die für sich allein Stunden lang mit ihren Freunden und
Bekannten reden, während ihnen in deren Gegenwart jeder Gesprächsstoff
entfallen ist.

       *       *       *       *       *

Du wohnst in einem Hause, das viele Menschen mit dir zugleich bewohnen.
Einer dieser Hausgenossen ist ein auf den Tod Kranker, von dem du weißt,
und viele der andern wissen es mit dir, daß ihm jeder Lärm, vor allem jede
irgendwie laute und grelle Musik zur vollkommenen Folter und Marter wird.
Da erscheint ein Mann mit einer Ziehharmonika vor dem Hause und fängt an
seine Operetten zu spielen. Dein erster Gedanke ist: Dem Mann muß sofort
ein Geldstück gegeben werden, das ihn veranlaßt, sein Spiel einzustellen
und weiterzugehen. Aber du kannst es nicht, denn du liegst selbst zu Bett
und deine Bedienung ist ausgegangen. Aber das ganze übrige Haus! Einer
wird doch gleich dir auf den Gedanken kommen, wenigstens einer aus der
nächsten Umgebung des Kranken. Niemand rührt sich. Der Musikant spielt
eine Viertelstunde lang, er überbietet sich.

Wie dieses Haus, so ist das Haus der Welt. Einer darinnen vielleicht hat
jeweilig den rechten ursprünglichen Gedanken -- den Gedanken, der sich im
Grunde von selbst versteht -- aber er ist an seiner Ausführung gehindert.
Vielen andern geht auch noch so etwas Ähnliches durch den Sinn -- aber sie
lassen es beim Gedanken von vornherein bewenden. Ermiß daraus die Kraft
der _Originalität_ des Menschen, berechne daraus die Möglichkeit, die
Wahrscheinlichkeit einer wahrhaft originellen Handlung.



ERKENNEN

1896


Unser Begreifen ist Schaffen; seien wir doch selig in diesem Bewußtsein.

       *       *       *       *       *

Der Mensch ist ein in einem Spiegelkerker Gefangener.



1905


Man sieht oft etwas hundert Mal, tausend Mal, ehe man es zum allerersten
Mal wirklich sieht.

       *       *       *       *       *

Ein jeder sollte erst seine Grenzen anzugeben suchen, soweit er sie selbst
erkennen kann, um darauf umso freier und unbefangener seine Beobachtungen
und Meinungen niederzulegen.

       *       *       *       *       *

Die Menschen haben sich daran gewöhnt, von hinten nach vorn, statt von
vorn nach hinten zu denken.



1906


Bedeutet es schließlich etwas, seine Kniee und Füße anblicken zu können?
Und doch kannst du es nur solange, als du in dir lebst.

       *       *       *       *       *

Nur der Erkennende lebt.

       *       *       *       *       *

Ich darf wohl sagen: Ich liebe die Wissenschaft von Grund aus und hasse
alle Schwarmgeisterei. Eine Wissenschaft aber, die vergißt, daß sie eine
seltene, wunderbare Blume auf dem Boden des Mysteriums ist, ja, die
vergißt, daß sie selbst Mysterium ist, sie fällt mit der übelsten
Schwarmgeisterei in eins zusammen, sie ist im Tiefsten inferior, allein
schon rein intellektuell genommen.

       *       *       *       *       *

Die Wissenschaft ist nur eine Episode der Religion. Und nicht einmal eine
wesentliche.

       *       *       *       *       *

Alles erkenntnistheoretische Denken ist ein Spielen mit dem Feuer. Wenn
der Alltag nicht wäre mit seinen 24 breiten Körperstunden, wenn wir nicht
als Tiere so fest und ökonomisch gebaut wären, so würde unser armes Gehirn
zehnmal statt einmal verbrennen, so wäre philosophische Begabung und
Anwartschaft auf Verrücktwerden dasselbe. Und so wird dieses Spiel denn
auch immer gewagt werden dürfen. Zwar, der Einsatz ist dein Leben, aber
wenn du auch die Gefahr nicht bestehst, so _brauchst_ du selbst keineswegs
grundsätzlich zu verlieren.

       *       *       *       *       *

Der Denker, der dir kein Grauen erregt, ihn magst du zu Tisch einladen.

       *       *       *       *       *

Jedesmal wieder, wenn man so recht in die 'Welt' hineindenkt, kommen einem
alle menschlichen Gedanken darüber vor wie Kinderstammeln, was sage ich,
wie Bewegungen von Insekten, die von der Spitze ihres Grashalms in die
Luft hinaustasten. Und das gilt nicht nur von gewöhnlichen Gedanken, das
gilt ebenso von den tiefsten Gedanken unserer fähigsten Köpfe. Nur daß wir
durch unsere Sinne die Welt so vereinfacht -- besser vielleicht von einem
Unendlichfachen auf ein Fünffaches gebracht -- haben, ermöglicht uns, in
ihr mit so festen Schritten zu wandeln; nur daß wir meinen, 'die Welt' in
Wahrheit vor uns zu haben, wie ein gewaltiges Gemälde, das -- wenn auch
nur im Großen -- so sei, wie wir es sehen, ermöglicht den ganzen Schatz
menschlich-bürgerlichen Hochgefühls, die Freudigkeit des Tatmenschen, den
tragischen Stolz des Philosophen, die königlichen Empfindungen des
Künstlers. Unsere Armut ist es, die uns reich macht, unsere
Beschränktheit, der wir das Gefühl unbeschränkter Entwickelungsfähigkeit
verdanken. Aber umsonst. Irgend einmal und dann immer wieder wird -- wenn
auch nur blitzartig -- die Armut als Armut, die Beschränktheit als
Beschränktheit erkannt, die großartige Illusion zerreißt und die
Geschichte der Erde und seines Bewohners entpuppt sich in der Riesensaison
des 'Universums' als -- bürgerliches Schauspiel, eines unter unzähligen,
Verfasser unbekannt, Wert indifferent.

       *       *       *       *       *

Das Urbuch der Welt wird mit sympathetischer Tinte geschrieben.

       *       *       *       *       *

Nur im vorbereiteten Herzen kann ein neuer Gedanke Wurzel fassen und groß
werden. Sich vorbereiten, sich zubereiten, den Acker lockern für das beste
Korn, ist alles.

       *       *       *       *       *

Es gibt kein größeres Hindernis, zur Wahrheit zu gelangen, als --
schreiben zu können. Vergiß deinen Stil, vergiß allen Stil, überlaß dich
ganz dem Rhythmus der inneren Stimme, überlaß alle 'Kunst' denen, die mehr
Künstler sind als Wahrheitssucher.

       *       *       *       *       *

Der Materialismus hat uns in viele Jämmerlichkeiten gestürzt, aus denen
wir uns erst nach und nach wieder erheben werden.

       *       *       *       *       *

Alles Denken ist Zurechtmachen.



1907


Wunder ist ein Orientierungsbegriff wie tausend andre. Wird dieser Begriff
mehr und mehr aus der Welt geschafft, so heißt das nichts weiter als: wir
brauchen diesen Orientierungsbegriff nicht mehr, er ist für uns
aufgegangen in den Begriff Entwickelung.

Wunder nannte man einst alles Übernatürliche. Da man heute übereingekommen
ist, alles überhaupt Mögliche dem Begriffe Natur unterzuordnen, gibt es
nichts Übernatürliches, also auch kein Wunder mehr. Aber Natur ist auch
nur ein heuristischer Begriff und wer sich in der Zwangsjacke eben dieser
Begriffe nicht wohl fühlt, wird ihn abermals entthronen und das alte Wort
Wunder -- vielleicht auf lateinisch als 'Mysterium' -- in einem neuen
größeren Sinne über ihn setzen. Worte, Worte! Wird man nie begreifen, daß
Worte nur Entscheidungen sind, nicht Erkenntnisse?

       *       *       *       *       *

Es ist eine sehr geistreiche (!) Forderung, die 'Natur' auf 'natürliche'
Weise erklärt sehen zu wollen.

       *       *       *       *       *

Wie mancher Gedanke fällt um wie ein Leichnam, wenn er mit dem Leben
konfrontiert wird.

       *       *       *       *       *

Ich meine: Gehirn und Dinge sind in _Einem_ Zirkel beschlossen. Im Gehirn
kann nicht sein, was nicht im Stoff ist.

       *       *       *       *       *

Wenn die Gehirnorganisation all ihr Um-sich unter den Formen von Zeit und
Raum begreift, so ist anzunehmen, daß der unendliche Stoff hier keine ihm
nicht entsprechende Organisation wird hervorgebracht, oder: wird
zugelassen haben. Ich meine, diese Organisation, die unter Raum und Zeit
begreift, erstand doch selbst aus dem, was sie nun begreift, und kann
darum als Funktion des zu Begreifenden nicht essentiell von diesem
verschieden sein ...

       *       *       *       *       *

A. Wenn jemand von einer Philosophie der Ameisen reden würde, so möchte er
wohl fröhlichem Lachen begegnen. Aber ist die Philosophie der Menschen
wirklich etwas so sehr, sehr anderes, als eine Philosophie der Ameisen
wäre? Stelle dir nur an einem schönen Sommerabend den Erdball und das
Leben auf seiner Oberfläche vor!

B. Ja ja, mein Lieber, wenn es die Menschen nur nicht zu dem einen
Gedanken gebracht hätten: alles ist mir nur insoweit bekannt, als es meine
Vorstellung ist. Dieser Gedanke, der ihm alles zu nehmen scheint, gibt ihm
zugleich das Recht, sich selbst dem Sternenhimmel gegenüber zu behaupten,
denn das Bewußtsein, daß alles, was er da erkennt, nur ein Bild in ihm
ist, ja, noch mehr, das dies 'er selbst' nur ein Bild -- soll er sagen
sein Bild? -- ist, erlaubt ihm, deinem Ameisengleichnis den Stachel zu
nehmen, so gut, wie dem Eindruck gestirnter Ewigkeit. Die Rechnung steht
nun für ihn so: Auf der einen Seite 'alles Seiende' als Bild. Auf der
andern das, welches 'all dies Seiende zusamt sich selbst' -- als Bild
empfindet. --

Wir sind wieder da, wo jeder zuletzt hinkommt, und was ich beim Lesen
Meister Ekkeharts einmal so formulierte: Gott ist ein Subtraktionsexempel.

       *       *       *       *       *

Betrachte den Fühler dieses feingliedrigen Käfers. Was ist der Mensch
anderes als solch ein Fühler, von unbekannter Urkraft ausgestreckt,
tastend sich über die Dinge zu unterrichten suchend, zuletzt forschend
zurückgekrümmt auf sich selbst -- ? Der Mensch, ein Taster Gottes nach
Sich selbst.

       *       *       *       *       *

Alles Denken ist Übersetzen Gottes ins Rationalistische. Von Gott, dem
Original, wissen wir nur durch Gott, den Übersetzer.

       *       *       *       *       *

Man hat Hegel verspottet, weil er sagte, aus ihm rede der Weltgeist. Ach,
auch aus ihnen, den Spöttern, redet leider nichts anderes.

       *       *       *       *       *

Ich lese mit Erschütterung in Hegel, an dem ich immer vorbeigegangen war.
Zwei Dinge hielten einst schon den Studenten ab, Hegeln eine unbestimmte
geheime Neigung zu entziehen: Seine überlebensgroße Büste, die ihm am
Kastanienwäldchen hinter der Berliner Universität manchen bedeutenden
Augenblick schuf, und das über ihn umlaufende Wort: niemand habe Hegeln
zuletzt mehr verstanden, nicht einmal er selbst. Ich halte den nämlich
nicht für den Träger und Offenbarer höchster Erkenntnisse, der diese
Erkenntnisse ein für alle Mal 'versteht'. Das Höchste vermag der
menschliche Geist auch nur in höchsten Momenten zu leisten, und manchmal
ist es nur ein Blitz, der die Tiefe der Welt sekundenlang aufreißt.

       *       *       *       *       *

Entweder man ist Künstler oder Philosoph. Der Philosoph achtet die Kunst,
ja liebt sie, -- aber er komplimentiert sie hinaus, wenn er mit seinem
Ernst allein sein will.

       *       *       *       *       *

Wogegen ich mich vor allem richte, das ist die Bürgerlichkeit so vieler
bisheriger Philosophie. Es fehlt mir darin zu sehr an jener Überwältigung
des menschlichen Geistes durch das, was ihn wohl überwältigen darf: die
nicht nur rechnerisch gebrauchten, sondern innerlich erlebten
Vorstellungen von Ewigkeit und Unendlichkeit. Für mich beginnt Philosophie
hart vor dem Wahnsinn, sonst ist sie ein Handwerk wie andre auch. Und sie
muß immer wieder bis hart an den Wahnsinn führen, das ist beinahe eine
Forderung der Sittlichkeit philosophischen Denkens, da es sonst einen
Mangel an Leidenschaft zu bedenklich verrät. Ohne Leidenschaft aber ist
jede Tätigkeit großen Stiles, so erhaben sie sich auch geben mag, gemein.

       *       *       *       *       *

Wie mancher Steinregen im Hochgebirge verdankt dem Klettern einer Gemse
seinen Ursprung. Dies bedenke auch du, der du auf Gedankenbergen
herumkletterst, und -- freue dich dessen oder mache dir Vorwürfe darüber
oder beides zugleich, je nachdem du geartet bist.

Man muß Pessimismus und Optimismus als 'Stimmungen' hinter sich lassen,
wenn man, obzwar erkenntnislos, aber von allen Seiten umwittert, den Pfad
der Wirklichkeit wandelt.

       *       *       *       *       *

Sei nur Skeptiker, es gibt keinen besseren Weg als den fortwährenden
Zweifelns. Denn nur, wer die Relativität jeder Meinung eingesehen hat,
sieht zuletzt auch die Relativität dieser Einsicht ein -- und schwingt
sich endlich vom letzten Erdenwort in -- Sich selbst zurück.

       *       *       *       *       *

Wenn ich wüßte, welches Wort der Erde keine Vorstellung enthielte, so
würde ich es dazu gebrauchen, das Wort Vorstellung zu überwinden. Aber
dieses Wort Vorstellung bleibt zuletzt als einziges auf dem obersten Siebe
liegen, das alle andern passiert haben.

Nur glaube man nicht, damit etwas anfangen zu können. Denn wenn ich sage:
Die Welt ist meine Vorstellung, so sage ich damit nichts andres als: eine
Vorstellung ist meine Vorstellung. Es gibt keinen Weg hinaus, es gibt nur
einen Weg hinein.

       *       *       *       *       *

Welche Vorstellung wäre zuletzt nicht anthropomorph! Anthropomorph, sagt
man, sei die Vorstellung eines persönlichen Gottes. Aber der
Naturforscher, der sich die Welt unpersönlich, nämlich als Natur, als
Wirklichkeit, als einen unendlichen Knäuel von Wirkungen denkt -- hat ja
auch von sich selbst kein anderes Bild; er sieht sich, interpretiert sich
'naturwissenschaftlich' als 'Natur' und projiziert sich (in seiner neuen
Weltinterpretation) nur ebenso unvermeidlich ins 'Universum' hinein wie
früher. Oder vielmehr: Universum ist bereits Selbstprojektion.
Anthropomorph ist und muß 'alles' bleiben.

       *       *       *       *       *

Das menschliche Denken ist wie eine trübe Flüssigkeit, die sich im Lauf
der Jahrhunderte langsam klärt. Nach immer mehr Erklärung trachtet der
Geist, aber das Ergebnis ist nur immer mehr -- Klärung. Und zuletzt wird
das Denken schön geworden sein, wie klarer Honig, klares Wasser, klare
Luft.

       *       *       *       *       *

Mir fällt in aller bisherigen Philosophie eins auf: Sie hat nie recht
genug -- Phantasie, Sie zerbrach nie ihre Begriffe -- aus Phantasie.

       *       *       *       *       *

Lichtenberg's Bemerkung, die docta ignorantia mache weniger Schande als
die indocta, scheint mir das Erschöpfendste, was über das Problem der
Wissenschaften gesagt werden kann.

Nicht nur der Weg nach der Wahrheit scheint mehr wert als die Wahrheit
selbst, um Lessingsch zu reden; noch wertvoller als der Weg selbst scheint
der Wille zu solch einem Wege.

       *       *       *       *       *

Wer sich an Kant hält, dem muß alle Metaphysik erscheinen wie das
hartnäckige Surren einer großen Fliege an einem festgeschlossenen Fenster.
Überall wird das Tier einen Durchlaß vermuten und nirgends gewährt die
unerbittliche Scheibe etwas anderes als -- Durchsicht.

       *       *       *       *       *

Gesetzt und endlich einmal festgehalten, daß alle Wissenschaft nur
Beschreibung und nicht Erklärung sein kann, steht dem nichts im Wege, den
Menschen als das bescheidenste Tier katexochen zu beschreiben.

       *       *       *       *       *

Alles Denken ist wesentlich optimistisch. Der vollendete Pessimist würde
verstummen und -- sterben.



1908


Alle Wissenschaft hat einen doppelten Wert. Einmal ihren Wert als
Wissenschaft, den man allgemein für ihren eigentlichen, für ihren
Hauptwert hält, und der doch nur ein Hilfswert ist; und ihren Wert als
einer Art moralischer und intellektueller Gymnastik, deren Übung dem
Einzelnen die Möglichkeit gewährt, seine Persönlichkeit (ganz ebenso wie
es z.B. die Disziplin bei einem Streckenwärter tut) zu kräftigen, zu
entwickeln, zu erhöhen. Und das ist ihr Hauptwert.

Und das ist der Hauptwert aller historisch gegebenen Berufe. Sie sind vor
allem _Kunstgriffe_ -- um der Kultur der Persönlichkeit willen. Es könnten
auch andere sein, und es werden sich auch vermutlich mit zahllosen
Planeten noch zahllose andere finden. Die Gesamtheit dieser Kunstgriffe
und ihrer Benutzung nennt man dann die Geschichte des Planeten.

       *       *       *       *       *

Eines bleibt keinem Philosophen erspart: Das Offene-Türen-Einrennen.
Dreiviertel seiner Kraft geht darauf flöten.

       *       *       *       *       *

Von letzten Dingen kann man nicht immer gemein-verständlich reden. Genug,
fürs erste, daß man sich selber verstand. ('Ich und Mich, der Freund ist
immer erst der -- Dritte.')

       *       *       *       *       *

Ich möchte bisweilen eine Erkenntnis in Form einer mathematischen Figur
geben, z.B. die Anschauung Gottes in Form einer Kugel, aus einem
Mittelpunkt strahlend.



1909


Es gibt keine Wahrheit an sich. An sich ist einer der größten
Materialismen der Epoche.

       *       *       *       *       *

Man fragt sich oft: wie ist es möglich, daß dieser große Intellekt dies
und jenes nicht gesehen oder seines Blicks nicht gewürdigt haben sollte.
Aber ebenso übersehen vielleicht unsere Zeitgenossen Dinge, von denen
wieder spätere nicht begreifen werden, daß sie für uns offenbar völlig im
Schatten lagen. Man darf wohl sagen, jeder Blick vorwärts ist zugleich ein
Nichtbeachten dessen, was zur Seite liegt. Der Geist gleicht einer
Granate, deren Gebiet das vertikale Segment zwischen dem Punkt ihres
Ausflugs und dem ihres endlichen Aufschlags ist.

       *       *       *       *       *

Frage die Philosophie sich erst einmal: 'wo bin ich hergekommen?'

       *       *       *       *       *

Alle Geheimnisse liegen in vollkommener Offenheit vor uns. Nur wir stufen
uns gegen sie ab, vom Stein bis zum Seher. Es gibt kein Geheimnis an sich,
es gibt nur Uneingeweihte aller Grade.

       *       *       *       *       *

Ein vorläufiger kritischer Gedankenstrich: daß man über ein gewisses Maß
hinaus nicht wissen könne, verwandelt sich unvermerkt in das Postulat,
niemand habe außer den 'nun einmal festgestellten' Grenzen etwas zu
suchen. Man fühlt sich vor solchem Doktrinarismus an das Gebahren kleiner
Kaufleute erinnert, die von einer Ware, die sie nicht führen, erklären, es
gäbe diese Ware überhaupt nicht.



1910


Du siehst in etwa 100 Meter Entfernung einen Mann Holz spalten. Das auf
den Hackblock geschmetterte Scheit sinkt bereits nach links und nach
rechts auseinander -- da erreicht dich erst der Schall. So mögen wir die
Welt ein halbes Leben lang betrachten, bis wir das Wort vernehmen, das zu
ihr gehört, die Seele, die von ihr redet.

       *       *       *       *       *

Niemand wird die Welt verstehen, der sie von heut auf morgen verstehen zu
müssen glaubt, der sich über die augenblickliche Konfiguration der Erde
nicht so hinwegzusetzen vermag, daß ihm heut und morgen zu
Unwesentlichkeiten werden. Niemand wird die Götter und ihre Werke
verstehen, vor dem tausend Jahre nicht wie ein Tag sein können und wie
eine Nachtwache.

       *       *       *       *       *

Man muß aufhören können zu fragen, im Täglichen wie im Ewigen.

       *       *       *       *       *

Weder 'ich' bin, noch jener 'Baum' ist, sondern ein Drittes, nur _unsere
Vermählung_, ist.



1911


Über jedem Gedanken, jeder Vorstellung liegen hundert Gedanken und
Vorstellungen, die uns das jeweils Gedachte, jeweils Vorgestellte
verhüllt.

       *       *       *       *       *

Es gibt kurz- und weitsichtige Idealisten. Jene pflegen sich mit Stolz
Realisten und den anderen Teil schlechtweg Idealisten zu nennen.



1912


Die Rhetorik ist die Politik in der Philosophie. Der wirkliche Philosoph
ist nicht Politiker, sondern Künstler. Er 'redet' nicht, er bildet, baut.

       *       *       *       *       *

Der Systematiker nötigt mich, ihm seinen Weltbau nachzudenken. Er sagt:
Baue mir meine Gedankengebäude nach -- und mit ihm bauend werde ich selbst
zum Gedankenbaumeister. Er wendet sich an das reine Denken in mir, an den
Geist.

Der Nichtsystematiker wendet sich mehr an die -- Seele. Hegel. Nietzsche.

       *       *       *       *       *

Wer bei einem Denker vor allem fragt, aus welchem persönlichen Grunde hat
er das gesagt, -- fügt sich selbst den größten Schaden zu; denn er geht am
einzig Wesentlichen in dessen Sätzen vorüber, daran nämlich, ob sie wahr
in sich selbst sind oder doch sein können, oder nicht. Gewiß ist jede
Philosophie von der Persönlichkeit ihres Erzeugers gefärbt und darf
dementsprechend empfunden und gewürdigt werden; aber über alledem steht
ihr Gehalt an Wahrheit, der nachgeprüft und entschieden werden kann, _ohne
Ansehen der Person ihres Urhebers_.

       *       *       *       *       *

Was wird einem geistigen Wanderer nicht alles angesonnen, über Kopf, Hals
und Schulter gesonnen! Wieviel Mühe gibt man sich nicht, ihn und das
Seinige abzuleiten! Als ob ein geistiger Weg nicht aus sich selbst
verstanden werden könnte, müßte.

       *       *       *       *       *

In aller Wahrheit steckt heute notwendigerweise bereits ein Teil
Binsenwahrheit, aus dem einfachen Grunde, weil der Mensch schon lange
denkt, während die Menschen erst zu denken anfangen, also das ganze Pensum
des Menschen noch einmal zu rekapitulieren und, noch mehr, zu
popularisieren ist. Der Mensch ist nicht so von Gott verlassen, wie die
Menschen glauben, aber auch nicht immer in dem ausnehmenden Grade von Gott
erfüllt, wie sie annehmen, wenn einer einmal etwas Unerwartetes sagt.

       *       *       *       *       *

Die Mission der Wahrheit ist, den Menschen in Geist aufzulösen, wie,
materialistisch gesprochen, die Mission der Zeit, den Erdball in Luft.

       *       *       *       *       *

Mancher wird die ihm so bequeme Joppe des Materialismus mit nichts
vertauschen wollen; es geht ihm, wie er sagt, 'der Sinn für Feierlichkeit'
ab.

       *       *       *       *       *

Abstrakte Gedanken sind zuletzt auch nichts als -- konkrete Wesenheiten;
es ist ganz umsonst, das Leben aus dem Leben heraustreiben zu wollen.

       *       *       *       *       *

Zu Ende denken ist alles ... Da wäre das erste, diesen Satz zu Ende zu
denken. Will man ihn zu Ende denken, so darf man ihn nicht 'zu Ende'
denken wollen. Denn alles Ende endet alles, also auch das Denken. Alles,
also auch alles Denken, endet in Gott. Gott ist, wie der Anfang, so das
Ende von allem. Etwas zu Ende denken wollen heißt also, es bis zu Gott
hinaus denken wollen; Gott aber hat mit Denken nichts mehr zu schaffen.

       *       *       *       *       *

Wie dereinst die sancta simplicitas des Glaubens, so schleppt heute die
sancta simplicitas der Wissenschaft ihre Scheiter herbei, den 'Ketzer' zu
verbrennen.



1913


Die Weltanschauungen mancher Menschen gleichen lächelnden Festungen.

       *       *       *       *       *

Wenn einer heute in zehn Büchern dargetan, daß der Mensch _nichts wissen_
könne über Gott und die Welt, dann nennt er sich, dann nennt ihn seine
Mitwelt einen '_Wissenden_' und erbringt damit den Beweis, daß man zehn
Bücher schreiben und zehn Bücher lesen und doch noch nicht so weit sein
kann, sich folgerichtig auszudrücken.

       *       *       *       *       *

Wer die Welt zu sehr liebt, kommt nicht dazu, über sie nachzudenken; wer
sie zu wenig liebt, kann nicht gründlich genug über sie denken.

       *       *       *       *       *

Inmitten unzähligem Hin- und Herreden der Einzelnen wächst still und groß
das ewige Weisheitsgut der Menschen weiter.



WELTBILD: ANSTIEG


     _('Nihil contra Deum, nisi Deus ipse.')_



1891


Wer Gott aufgibt, der löscht die Sonne aus, um mit einer Laterne weiter zu
wandeln.



1893


Es ist wohl gerade in unserer aufgeregten Epoche mehr denn je nötig, den
Blick aus den Tagesaffären emporzuheben und ihn von der Tageszeitung weg
auf jene ewige Zeitung zu richten, deren Buchstaben die Sterne sind, deren
Inhalt die Liebe und deren Verfasser Gott ist.



1895


Weltuntergang.

Alles Leben kehrt sich um und kehrt wieder zurück, aufwärts, in das
Ehedem. Vergangenheit wird Zukunft. Die Knoten lösen sich wieder. Die
ganze Welt lebt sich so selbst ...

       *       *       *       *       *

Tod einer Welt: ihre Geburt.

       *       *       *       *       *

Nur die Formen wechseln. Der Toten Seele wird vielleicht schon wieder im
Keim einer neuen vollkommeneren Form schlummern.

       *       *       *       *       *

Es gibt keine Grenzen der Dinge.

       *       *       *       *       *

Sich die Menschheit als die Blätter des Erd-Baums zu denken!

       *       *       *       *       *

Hängt malus böse mit malus Apfel zusammen? Annahme eines Christen.

       *       *       *       *       *

Der beste Beweis für die Gotteskindschaft Christi ist der, daß es Zeiten
gab, wo jeder Teufel vor einem Kreuz die Flucht ergriff.

       *       *       *       *       *

Wesen der antiken Götter: Bewußtsein des Fatums.

       *       *       *       *       *

So gut Kirchen innerhalb unseres Gemeinwesens möglich waren und teilweise
noch sind, so gut dürfen wir es von den Tempeln einer neuen Kultur hoffen.
Weihe ist alles. Ist erst Wille zu solchen Heiligtümern, so werden sie
selbst in unsern nüchternen Städten emporwachsen können. Der Mittelpunkt
muß freilich ein großes Nationalheiligtum sein, etwa in Thüringen.

       *       *       *       *       *

(Undatiert.)

Was ist 'persönlicher Gott' anderes als der Riesenschatten, den wir selber
auf den Vorhang der ewigen Mysterien werfen.

       *       *       *       *       *

Sieh wie deine Studierlampe sich an die Zimmerdecke projiziert. So
projizierst du dich auf die Wand des Außer-Dir. Wie du dich dort siehst,
das nennst du 'Welt', das Bewußtsein dieses (dich) So-Sehens deine
'Weltanschauung'.

       *       *       *       *       *

Das Ich ist die Spitze eines Kegels, dessen Boden das All ist.

       *       *       *       *       *

Die Welt ist nur eine Form des Menschen.



1905


Wenn man den Sternenhimmel mit Ernst betrachtet, wird man gestehen müssen,
daß Gott, der Schöpfer, der größte Gedanke war, der je in ein
Menschengehirn kommen konnte, wie zugleich Gott, der Sittenrichter einer
der beschränktesten. Aber so gewiß der letzte unzählige Male bis zu Ende
gedacht worden ist, so ungewiß ist es, ob der erste je in seiner ganzen
unerhörten Mächtigkeit Herz und Hirn eines Sterblichen ergriffen und
zerstört hat.

       *       *       *       *       *

Ein Mensch, dessen ganzes Leben darauf gerichtet ist, das Rätsel Christi
zu lösen.

       *       *       *       *       *

Die Entwickelung der Fahrzeuge verfolgt langsam denselben Weg wie die
religiöse Entwickelung. Der Vorspann verschwindet, die bewegende Kraft
wird ins Innere selbst verlegt.

       *       *       *       *       *

Leben ist die Suche des Nichts nach dem Etwas.

       *       *       *       *       *

Der Mensch hat kein Vorrecht auf Rücksicht. Groß und unbeirrt geht die
Natur ihren Gang, und Legionen denkender Wesen fallen als Opfer, weil ihr
Denken noch nicht Macht genug über ihr Leben gewonnen hat.

       *       *       *       *       *

Wie könnten wir die große Selbstkorrektur des Lebens anders als
ahnungsvoll verfolgen?

       *       *       *       *       *

Jeder Mensch ist ein neuer Versuch der Natur, über sich ins Reine zu
kommen.



1906


Wie die Sprache für uns denkt und dichtet, so auch das Leben. Es ist
interessant, zu beobachten, wie ins Rollen gekommene Verhältnisse sich oft
genug ohne unser weiteres Zutun vollenden wollen (z.B. ein
Liebesverhältnis, für dessen Entwickelung sich das Leben gewissermaßen
viel mehr interessiert als die Beteiligten selbst). (Kette der 'Zufälle'.)

       *       *       *       *       *

Alles Lebendige ist umflossen vom Äther der Sinnlichkeit. Oder: Die Luft
der lebendigen Welt ist ein leicht entzündliches und jeden Augenblick an
hunderttausend Punkten aufflammendes Gas: Sinnlichkeit.

       *       *       *       *       *

Gibt es eine schönere Form, an einen Menschen zu denken, als ihn 'Tag um
Tag in sein Gebet mit einzuschließen'? Und doch haben wir diese Form
fallen lassen müssen ...

       *       *       *       *       *

Es gibt wenig gewaltigere Dinge, als den Schluß des Johannes-Evangeliums.
Zuerst die dreimalige Frage an Simon Johanna: 'Hast du mich lieb?' Es ist,
als ahnte und fürchtete Christus das ganze Papsttum voraus, die ganze
offizielle Kirche, die ihn unzählige Male vergessen und verraten sollte.
'Weide meine Schafe!' Eine welthistorische Szene. Und Christus verkündet
ihm seinen Tod. 'Und da er das gesagt, spricht er zu ihm: Folge mir nach!'
'Petrus aber wandte sich um und sah den Jünger folgen, welchen Jesus lieb
hatte ...' 'Da Petrus diesen sah, spricht er zu Jesu: Herr, was soll aber
dieser?' 'Jesus spricht zu ihm: So ich will, daß er bleibe, bis ich komme,
was geht es dich an? Folge du mir nach!' 'Da ging ein Reden aus unter den
Brüdern: Dieser Jünger stirbt nicht. Und Jesus sprach nicht zu ihm: Er
stirbt nicht, sondern: So ich will, daß er bleibe, bis ich komme, was geht
es dich an?' Keine Szene mehr, ein Mysterium: Dieses Vorbei Christi an dem
andern, dieses allerletzte Wort -- nach dem letzten -- an den Vertrauten
seiner Seele. -- 'Was geht es dich an?!' -- 'Bis ich komme. --'



WELTBILD: EPISODE, TAGEBUCH EINES MYSTIKERS

1906


Ich schrieb dies auf einem Punkte, wo der Mensch mit Gott zusammenfällt,
wo er aufhört, sich als Sonderwesen fühlen zu können.

       *       *       *       *       *

Religion ist Selbsterkenntnis des menschlichen, als ebendamit göttlichen
Geistes. Religion ist die Erkenntnis, daß alles Denken göttliches Denken
ist, wie alle Natur göttliche Natur, daß jede Handlung eine Handlung
Gottes, jeder Gedanke ein Gedanke Gottes ist, daß Gott nur soweit Gott
ist, als er Welt ist, daß die Welt nichts anderes ist als Gott selbst, --
daß in demselben Augenblick, da ein Mensch sich seines Gott-seins bewußt
wird, Gott in ihm sich seiner selbst als Mensch bewußt wird.

       *       *       *       *       *

Betrachte den Sternenhimmel -- alles versinkt um dich her. Wer ist er, wer
bist du. Dein Denken schweigt. Du fühlst dich wie hinweggehoben,
zerflattern ... Wer bist du, wer ist er, wenn nicht -- Es. Das unfaßbare
Selbst, Gott, das Mysterium. Und dies Mysterium fragt in sich selbst: wer
bin ich, wer bist du. Gott fragt sich selbst in sich selbst -- und weiß
keine Antwort, erstummt in sich selbst ...

       *       *       *       *       *

Wie kann es eine Sünde für mich geben, wenn ich Gott bin? Wenn ich meinen
Bruder erschlage, erschlage ich mich in ihm; es gibt nichts, was ich nicht
ein Recht hätte zu tun; denn ich tue es an mir selber. Der Täter ist
zugleich der Erleider -- vielleicht ist dies ein Fenster in mich hinein,
vielleicht erahnt sich durch dies Wort das Unvorstellbare, das wir sind
und dem gegenüber uns nur tiefstes Grauen und Wegsehen, praktisch aber nur
dies übrig bleibt: uns als die, als die wir uns nun einmal vorgefunden
haben, innerlichst zu vollenden, gleichviel, was objektiv für Uns, als
Gott, damit gewonnen oder nicht gewonnen sein mag.

       *       *       *       *       *

Das eine und einzige Gebot: Du darfst alles tun, was du willst, aber
bedenke, daß du es dir selbst tust.

Wenn du meinst, es dir selbst tun zu dürfen, so tue selbst das Äußerste.
Dies Gebot hindert kein Schaffen oder Zerstören. Mit diesem Gebot bist du
frei zu allem und doch wird es dich weise machen.

       *       *       *       *       *

Wie kann ich schwören: Ich schwöre bei dem allmächtigen Gotte, daß ich
dies nicht getan habe -- da ich doch selbst dieser allmächtige Gott bin
und -- als ein sogenannter anderer Mensch -- es sehr wohl getan habe? Aber
ich werde das dem Richter nicht auseinanderzusetzen vermögen; er wird
niemals begreifen, daß er wie auch der Verbrecher Eine Person mit mir ist:
und ich werde als Mensch wie ein Verrückter dastehen und als Gott auf mich
den Richter blicken, wie jemand auf seinen Daumennagel blickt, auf den er
ein Gesicht gemalt hat. Er spricht zu dem Daumen und sagt ihm, daß er mit
ihm eins sei, aber der Daumen versteht kein Wort von dem, was er sagt.

       *       *       *       *       *

Denke dir den einfachsten Menschen der Welt, mit einer oft lebhaften,
leicht und nachhaltig erregbaren Phantasie und einiger dichterischer
Begabung, ohne hervorragende Charaktereigenschaften, aber von dem
beständigen Wunsch erfüllt, sich zu verinnerlichen; ein Schwächling, ja
ein würdeloser Mensch mitunter, ohne ausgeprägten Sinn für Moral, von
einer Sinnlichkeit, die sich wie eine feine Wärme über sein Leben
verbreitet, deren eigentliche Ausbrüche indessen nicht so sehr von Belang
sind, sodaß man bei ihm zugleich von einer ihn häufig, wie die Flamme das
Licht, verzehrenden Leidenschaftlichkeit und zugleich von einer sehr
geringen Fähigkeit zur Leidenschaft sprechen mag; dabei von einer
angeborenen Heiterkeit des Geistes, einer gewissen Neigung zu Spott und
Gelassenheit, vielbelesen ohne irgendwie fachlich gebildet zu sein, von
schlechtem Gedächtnis, ungeübt und träge im Dialektischen, durchdringend
nur in seiner Ausdauer, immer nur ein Ziel bewußt oder unterbewußt zu
verfolgen: sich in seinem Zusammenhang mit dem Außer-Ihm zu erkennen; --
denke dir einen solchen Menschen eines Tages das Wort verstehen: Ich und
der Vater sind eins. Denke dir, wie er das Wort in sich hin und her
wendet, mehr noch, es sich hin und her wenden läßt; denn er springt auf
seine inneren Erlebnisse nicht zu, er läßt sie leben oder sterben je nach
ihrer eigenen Kraft; wie es ihn zum endlichen Bewußtsein seiner selbst zu
bringen scheint, als wäre alles andre Blindheit, vollkommene Blindheit:
sich nicht als Gott selbst -- als das Eine und Alle, als das Einzig --
Bestehende zu sehen, als wäre es geradezu eine 'Ver-rücktheit', sich
'Gott' gegenüber als irgend etwas anderes, Gegensätzliches, Seitliches,
Beigeordnetes oder gar Untergeordnetes zu fühlen, ja die Frage 'Gott'
überhaupt noch irgendwie zu diskutieren, als müsse man -- _sich sich
selbst beweisen!_ 'Ihr seid alle in mir, aber in wem bin ich? -- Wer mich
hat, der hat auch den Vater. --'

Wie mich diese steten Wiederholungen einst ärgerten, wie einfältig und
eigensinnig sie mir erschienen; als ob ein Kind immer dasselbe
wiederholte!

Bis mir eines Abends dämmerte, aus welchem Gefühl heraus dieses
unermüdliche Betonen geflossen sein muß ...

       *       *       *       *       *

Mein Tod ist meine Wahrheit, wie Dein Tod die Deinige. Wenn ich als
Individuum sterbe, bejahe ich mich als Welt. Denn mein Tod als solcher ist
dem Leben des Ganzen notwendig und da ich selbst der Teil wie das Ganze
bin, ist mein Tod mir selber notwendig. Was aber meine Notwendigkeit ist,
ist auch meine Wahrheit; denn Notwendigkeit ist höchste Bejahung und
höchste Bejahung Wahrheit.

       *       *       *       *       *

Ich werde erst sterben, wenn ich erfüllt haben werde, was ich erfüllt
haben konnte. Gott stirbt nicht vor der Zeit. Er wacht hier auf und
schläft dort ein, wie es gut ist. Was sträubst du dich gegen das, was du
dein Schicksal nennst? Siehe dir selbst ins Antlitz: Dein Schicksal ist,
daß du Gott bist. Ich sage: Gott! Aber wo uns die Wirklichkeit dieses
Wortes faßte, da wäre unser Herz und Hirn auch schon dahin, wie ein
Bologneser Glas, das, getroffen, zu Staub zerspringt. Gott schauen ist
Tod, das wußten alle Völker. Gott erraten ist Leben.

       *       *       *       *       *

Jahrhunderte stritten über das Wort Dreieinigkeit Und doch enthält es die
Welt, für ein Kind gedeutet. Der Vater, das ist das Leben, das alles ist
und das der einzelne Mensch nie aus seinem Gehirn heraus fassen oder gar
erklären kann. Der Sohn, das ist dies selbe göttliche Leben als sich
erahnendes Wesen, als Mensch, als der Mensch Christus im Besonderen. Der
heilige Geist, das ist das langsame Weitergären dieser Erkenntnis auf
Erden: daß alles 'Gott' ist. --

       *       *       *       *       *

Tief unten schlachten sich noch die Völker, es raucht das Blut und in
Selbstzerfleischung fällt noch -- Blindes sich selber an. Warum tue -- Ich
das. Ich weiß es nicht. Die Menschheit ist noch ein Kentaur, der heilige
Geist hat das Tier erst zur Hälfte verwandelt.

       *       *       *       *       *

'Gott ist nur der Lebensfunke.' Schön. Dieser Funke aber bildet Sterne und
Gehirne. Ja, er legt mir selbst das Wort Gott über sich in den Mund. Und
so brauch ich's denn.

       *       *       *       *       *

Was es gilt, ist die Austreibung Gottes aus allem Jenseits in das
Diesseits. Gott ist nicht irgendwo, er ist auch nicht hier oder dort,
sondern er ist dies und das, und drittes und legionstes.

       *       *       *       *       *

Ich habe den verwandelnden Blick.

       *       *       *       *       *

Vor einer Anzahl von Leuten der 'guten Gesellschaft'. Sind es nicht alles
Menschen, die man in irgend einem Zuge ihres Wesens lieben kann? Alle sind
so oder so ein wenig oder sehr liebenswert. Aber sie müßten auch fast alle
mit dem Gift einer schwachen doch steten Unruhe geimpft werden. Sie wollen
zu wenig über sich hinaus, sie siedeln sich zu schnell bei sich selber an,
sie haben zu wenig Wachstum und Wandertum in sich. Sie glauben, mit 30
Jahren sich gefunden zu haben -- sie nennen es: erwachsen sein -- und
setzen sich schon auf sich selbst zur Ruhe. Man wird nichts Unerwartetes
von ihnen mehr sehen oder hören; als ob man nicht von jedem Menschen in
jeder Stunde Unerwartetes erwarten müßte! Man kann sie vorausberechnen wie
irgend etwas ganz Gewöhnliches -- und dabei sind sie das Ungewöhnlichste
der Welt, nämlich Menschen und tragen das Unberechenbarste der Welt in
sich: eine zu jeder Unerhörtheit fähige Seele. Sie haben ganz vergessen
oder nie begriffen, daß sie -- Gott sind, sie begnügen sich damit, Herr X
oder Frau Y zu sein und als solche und nur als solche zu leben und zu
sterben.

       *       *       *       *       *

Dieser Grundhang, das Leben zu einer Biedermeierei zu erniedrigen, ist es,
den ich unter der Bezeichnung 'bürgerlich' überall aufspüre und verfolge.
Es ist die eigentliche Gefahr des Menschen, zu versimpeln. Man sollte
täglich zu einer festgesetzten Stunde einen Glockenton durchs ganze Land
gehen lassen, der keine andre Bedeutung hätte, als die, den Menschen in
Erinnerung zu rufen, daß sie nicht nur Bürger von diesem Namen und jenem
Stand seien, sondern unerforschliche Teile des Unerforschlichen. Man müßte
eine eigene Glocke dafür erfinden und in unzähligen großen und kleinen
Exemplaren gießen lassen: eine 'Gedächtnisglocke des Menschen'. Wo aber
ein Tempel gebaut würde, da müßte über seiner Pforte stehen: Dem
furchtbaren Gott, oder: Mir selber, dem dreimal Unbekannten.

       *       *       *       *       *

Der Mensch von 1900 scheint eine neue Tugend in sich gereift sehen zu
dürfen: die Erkenntnis des Bürgerlichen. Als das Bürgerliche bezeichne ich
das Absehenkönnen des Menschen davon, daß er das Geheimnis der Geheimnisse
ist, das Sichhinstellen- und Verharrenkönnen des Menschen als eines
Zweiten. Bürger heißt: der sich in einer Burg Bergende. Bürger heißt mir
der Mensch, insofern er sich in der Burg des Gedankens birgt, etwas andres
als Gott selbst zu sein. Kein Mensch kann sich wirklich als Gott fühlen,
der er ist. Es kann Gott sich nur bürgerlich und nicht anders ergreifen.
Das Menschliche ist schlechtweg das Bürgerliche.

       *       *       *       *       *

Im Menschen erschuf sich das Ungeborgene seine Burg. Gott ist nichts
Außerbürgerliches; wo auch nur die kleinste Zelle, da ist sie zugleich
Gottes Burg. Nun ist aber alles Zelle, das Wort wo ist überflüssig, ebenso
wie wenn man sagen wollte: wo (im Glase Wasser) auch nur ein Tropfen
Wasser, da ist Gott in ihm. Alles ist 'Burg'. Seit Welt überhaupt ist,
gibt es nur Gott, den Geborgenen, den Bürger.

       *       *       *       *       *

(In einem Kaffeehause.) So von seinem Marmortischchen aus, seine Tasse vor
sich, zu betrachten, die da kommen und gehen, sich setzen und sich
unterhalten, und durch das mächtige Fenster die draußen hin und her
treiben zu sehen, wie Fischgewimmel hinter der Glaswand eines großen
Behälters, -- und dann und wann der Vorstellung sich hinzugeben: Das bist
Du! Und sie alle zu sehen, wie sie nicht wissen, wer sie sind, wer da, als
sie, mit SICH selber redet, und wer sie aus meinen Augen als SICH erkennt
und aus ihren nur als sie!

       *       *       *       *       *

Wie tief wird doch die Kirche, wenn man die Menge betrachtet, in der sie
das eigentlich Wertvolle, das Innerliche, Namenlose wach erhält, diese
Menge, die unter den Händen der Aufklärer zu einem platten, sich selbst
und den andern uninteressanten Haufen wird! Ja, die Kirche ist sicherlich
unsere, der Erkennenwollenden, beste Freundin. Sie ist die einzige
ebenbürtige Gefährtin der Philosophie. Und was die Verirrungen beider
anbetrifft, so dürften sie hier wie dort, wenn auch gleich ehrwürdig, ganz
verschiedenen Charakters, gleich unerträglich und gleich lächerlich sein.

       *       *       *       *       *

Vielleicht bin ich nur ein Bildschnitzer und nun schnitz ich Gottes
Bildnis an allem.

       *       *       *       *       *

Eine szenische Vorstellung ist für den Kontemplativen etwas wie eine
Parade. Oder wie ein Schachspiel, gespielt mit lebendigen Puppen. Oder wie
ein Glockenspiel mit kunstvollen Figuren.

       *       *       *       *       *

Aller Blick auf menschliche Dinge muß zuletzt im Furchtbaren enden. Iwan
Karamasow lehnt diese Welt ab; und wenn er alles begriffe, die Leiden der
Kinder begreift er nicht. Wie aber -- wenn all dies Leiden zuletzt ein
Eigenleiden, ein Selbsterleiden Gottes ist! Wenn die ganze Menschheit und
jede nur irgendwie denkbare Menschheit des Alls Gott selbst ist, das ohne
Maß große schauerliche tragische Leben Gottes selbst! Nur eine Sekunde
dumpfer Ahnung Seiner, als Gott selbst, in eines Menschen Hirn .. und
scheint nicht alles aufgelöst -- nicht in eine unsagbare _Harmonie_ -- o
nein -- aber in einen nie zu erfassenden, erfühlenden Abgrund von solcher
Schauerlichkeit und Tiefe, daß jede Anklage, jede Klage, ja jedes Urteil
verstummt. Es bleibt nur der fast unsichtbare Blitz einer fernen
Erkenntnis Seiner selbst, der mich, den Menschen, zerfressen und tot
niederwerfen würde, wenn er auch nur einen Grad heller, eine Sekunde
länger leuchtete. Aber ich glaube, diese dumpfe Selbsterkenntnis Gottes im
Menschen ist zugleich Seine einzige Selbsterkenntnis. Gott ist in der
Natur gefangen, wenn man so sagen soll. Gott ringt sich aus ihr zum Sich
Selbst erschauenden Geist empor. Der Mensch ist Gottes Kopf. Aber so wenig
wie der Mensch, wird sich Gott je selbst _erkennen_ (nur erahnen); denn er
erkennt ja nur so weit, als er Mensch ist. Menschenleid ist zugleich
Gottesleid; es scheint nur ein Wechsel des Worts und es ist doch etwas
andres, ob jenes kleine Mädchen, von dem Iwan Karamasow erzählt, sich als
eben dieses Mädchen die Brust mit den Fäustchen schlägt oder ob es einen
Moment im Leben dieser selbstseienden, mit sich selbst kämpfenden, um sich
selbst kämpfenden Unsagbarkeit 'Gott' darstellt. Dieses Mädchen ist dort
noch bürgerlich gesehen, göttlich gesehen wird es zum Mysterium, zu
liebenswert für unsere Liebe, wie zu tief für unsere Klage.

       *       *       *       *       *

(Nach einem französischen Roman.)

Sieh diese Liebe zweier Menschen, denen die gemeine Sorge des Lebens fern
bleibt, diese, wenn du so willst, frevelhafte Liebe, weil sie im Geheimen
und wider das Gesetz lebt, sieh diese beiden Luxusgeschöpfe, die der
Proletarier erwürgen würde, wenn er wieder einmal in die Häuser der Bürger
bräche, -- stelle dir dicht daneben, kaum durch eine Straße getrennt, das
grinsende Elend, die verstümmelnde Krankheit, den Schmutz, die
Niedrigkeit, das Verbrechen vor -- und frage dich, was ein Gott tun müßte,
der dies nicht _alles selbst_ wäre. Nur eine Welt, die Gott selbst ist,
darf so sein, wie sie ist. Gott schenkt sich selber nichts, er ist die
Liebe jener beiden feinen verwegen gewissenlosen Kulturgeschöpfe, er ist
ihr Rausch, ein Rausch von solcher Tiefe und Schönheit, daß er selbst
dieser Rausch _sein_ muß, um seinen ganzen sublimen Wert zu empfinden, daß
er er sein muß, um ihn (möchte ich sagen) nicht erst 'empfinden' zu müssen
und so ihn durch dies Empfinden, das zugleich ein Urteilen wäre -- im
Urteilen aber schläft auch schon das Verurteilen -- herabzusetzen; ich
sage, er ist diese Liebe selbst, wie er auch daneben das Elend, die
Krankheit, der Schmutz ist, er braucht nicht vor sich zu erröten wie ein
feiler Genüßling, er ist kein Dieb an fremdem Gut, er erschleicht seine
höchsten Zustände nicht, er ist in schrecklicher Fülle und Wahrheit alles,
von oben bis unten, er ist das ganze Universum am 'eigenen Leibe', noch
einmal: Er darf alles sein, weil er alles _ist_. (Spätere Anmerkung:
Solange er nicht selbst darum 'weiß'. In diesem Moment beginnt seine --
Sittlichkeit.)

       *       *       *       *       *

Es gibt nichts, das ich Mir nicht vergeben könnte, und nichts, das ich
nicht überwinden möchte.

       *       *       *       *       *

Die Liebe zwischen Mann und Weib wird erst dadurch, daß sie Liebe Gottes
zu sich selbst ist, zu einem Problem von schauerlicher Tiefe. Was allein
kann das letzte Ziel dieser Liebe sein? Das Kind? Keineswegs. Das Kind ist
ja nur wieder Gott als Individuum. Wenn der Mann mit dem Weibe plötzlich
zusammenschmelzen könnte in einen dritten Körper, dann würde die Erde
vielleicht im selben Augenblicke vor jähem Erschrecken untergehen.

       *       *       *       *       *

Nietzsche sagt einmal, daß mit der Wissenschaft der Optimismus Herr
geworden sei. Und fürwahr, mit dieser Zählmaschine in der Hand wird der
Mensch ein beschäftigtes und beruhigtes Schulkind. Die Furchtbarkeit des
Daseins verliert ihre Gewalt für ihn, er klassifiziert, klärt auf,
korrigiert hier und dort. Eine Welt, für die es nur die Eine Bezeichnung
'furchtbar' gibt, wird ihm zuletzt ein behagliches Wohnhaus, in das bloß
der Tod seine ungemütlichen Schatten wirft. -- Sei bedankt, Tod,
millionenmal bedankt, daß du das unwegschaffbare Ingredienz unseres Lebens
bist. Ohne dich müßte das ganze Sinnen jedes Denkenden unaufhörlich darauf
gerichtet sein, dich zu erfinden. Ohne dich würde Gott am eigenen Leibe
verfaulen.

       *       *       *       *       *

Vor einem Kirchhof: Die abgelegten Kleider Gottes.

       *       *       *       *       *

Gott ist die Überwältigung unseres Innern durch die Unendlichkeit. Die
Kapitulation des menschlichen Begriffsvermögens vor der Welt.

       *       *       *       *       *

Philosophie und Religion ist für den Menschen vielleicht nur der
Gefrierpunkt gegen den Wahnsinn. Vor der Kälte des Universums zieht sich
das Wasser als Haut zusammen, so vor der Kälte des Unbegreiflichen der
Geist zur Weisheit, das Herz zum Glauben. Gott, wo er nicht im Verfall,
rettet sich vor dem Verfall, indem er _denkt_.

       *       *       *       *       *

Mein Gottesbegriff ist die Heiligung auch des Allerfurchtbarsten. Alles,
was geschieht, ist Mein bewußter oder unbewußter Wille und als solcher
unantastbar. Damit aber fällt zugleich die übertriebene Wichtigkeit alles
Geschehens dahin. Alles ist wichtig -- als göttliche Äußerung; und nichts
ist wichtig -- ebenfalls als göttliche Äußerung. Gottheit ist Fülle, und
Fülle weiß nichts von dem, was sich Kümmerlichkeit als Gewinn und Verlust
herausrechnet. Es gab zu lange nur den Gott des Bürgers, Gott sah sich
selbst als Bürger: den aber hat sein eignes Lachen töten müssen. Aus dem
Gott-Bürger wurde der Gott-Freie, aus dem komischen wieder der tragische
Gott.

       *       *       *       *       *

In einen Roman:

'Ich sitze hier vor Ihnen und habe einen Gedanken, so groß, wie er
vielleicht noch nie von einem Menschen gedacht worden ist, oder wenn, dann
nur von einigen Wenigen, halb Verborgenen, ich sitze hier vor Ihnen und
werde nicht drehend, nicht von Sinnen, nicht von Fieber geschüttelt. Ich
bringe es fertig, mit diesem Gedanken mein ganzes bisheriges Leben
fortzuleben, als sei nichts geschehen. Begreifen Sie, wie tief ich mich
verachten muß, daß selbst ein solcher Gedanke dies schöne Gleichgewicht,
um das mich so viele beneiden, nicht zerstört, und wie ich im Innersten
nur jenes Eine begehren muß: den Schmerz, den unentrinnbar tödlich
verwundenden, den --'

       *       *       *       *       *

(Zu Drews.) Alles Lebendige unmittelbar als Gott zu fühlen, kann nicht
Größenwahn sein: denn wenn ich mich als Entwickelungspunkt Gottes, als
Gott in einer bestimmten Entwickelungsphase erkennen zu dürfen glaube, so
gilt mir doch jeder Mitmensch, ja jedes lebendige Wesen überhaupt
gleichfalls als Gott: sodaß da nichts ist, was sich über andres überhöbe,
oder nur in dem Sinne, wie sich Gedanken im selben Kopfe übereinander
überheben.

       *       *       *       *       *

(Zu Drews.) Es ist sehr lehrreich, daß dieses dicke und gelehrte Buch 'Die
Religion als Selbstbewußtsein Gottes' gerade _die_ Idee, die Gott am
tiefsten faßt, als 'wahnsinnig' hinstellt. Man mache sich klar: von
unzähligen Ideen mit tödlicher Sicherheit gerade die energischste,
bedeutendste! Man möchte den Geist des Verfassers eine umgekehrte
Wünschelrute nennen.

       *       *       *       *       *

Die Welt, lieber Herr Professor (beruhigen Sie sich), ist eine --
Privatangelegenheit Gottes. Und da Sie mit zur Welt gehören, so gehören
Sie, wie jeder andere, ebenfalls ganz restlos in diese Privatangelegenheit
hinein.

       *       *       *       *       *

(Zu Dostojewski.) Es ist ein Wandel zwischen Überreiztheit, Ermattung und
Größe, einer Größe, wie sie sich nur bei den ganz tiefen, glühenden Seelen
der Menschheit findet, und wenn ich im Augenblick gefragt werden sollte,
wüßte ich auch im Augenblick nur zwei moderne Namen daneben zu nennen: den
Namen Lagarde und den Namen Nietzsche. Nur bei ihnen findet man diesen
Sturm der Seele wieder, der oft lange schläft, sich lange unter allerlei
psychologischem, politischem, was weiß ich für Kleinkram verkriecht, um
sich dann plötzlich unvermutet wie ein feuriger Wirbel zu erheben,
emporzusteigen, alles zu überschütten, zu überstrahlen, daß das Herz zu
klopfen anfängt --

       *       *       *       *       *

Dostojewski hat folgende großartige Methode: Er führt eine Anzahl Menschen
ein, die uns zunächst nur einfach fesseln, noch nicht erregen, wirft sie
durcheinander, bringt sie in die unglaublichsten Verwickelungen, bis für
jeden irgendeinmal die Stunde schlägt, wo er sein Innerstes enthüllen muß.
Und enthüllt er sich nicht aus freien Stücken -- und je bedeutender solch
ein Mensch ist, desto verschlossener, schamhafter, unwilliger, ja selbst
zynischer ist er -- so wird er, ich möchte sagen, 'gestellt'. Ein andrer
setzt ihm das Messer auf die Brust: Aljoscha und Iwan in den 'Karamasow',
Werssilow und sein Sohn im 'Werdenden', Schatoff und Stawrogin in den
'Dämonen' usw. Lassen wir das, ruft Schatoff, davon später, sprechen wir
von der Hauptsache, von der Hauptsache .. Ich habe zwei Jahre auf Sie
gewartet. -- Nicht meine Person selbst, zum Teufel mit ihr, -- aber das
andere --! Und dann sprechen sie alle von dem 'andern', von der
Hauptsache: ob es einen Gott gibt oder nicht; was der Mensch tun muß, wenn
es Gott nicht gibt; ob der Mensch überhaupt ohne Gott leben könne; wie im
Besondern das Russenvolk diese höchste und brennendste Lebensfrage
entscheide, und ob dieses Volk nicht vielleicht 'das einzige Gott tragende
Volk' heute sei, 'das einzige, dem die Schlüssel des Lebens und des neuen
Wortes gegeben sind'.

Und in diesen Gesprächen brennt die Flamme Gottes selbst, die Flamme des
um sich selbst ringenden Gottes, dessen Leib das unendliche All der
Gestirne und dessen Geist der Geist ihrer Lebendigen ist.

       *       *       *       *       *

(Zu Dostojewski.) Wenn ich ein Priester wäre, so würde ich mit meiner
Stirn erst dreimal vor ihm den Boden berühren, bevor ich mich umwendete
und zu meinen Brüdern spräche; denn in ihm ward eine jener großen Leuchten
der Erde lebendig, die noch in den finstersten Nächten leuchten, -- er war
einer der großen Rechtfertiger des Menschen, weil er sich am Menschen
nicht genug sein ließ; nur aber, wem der Mensch kein Ziel war, nur ein
Wurf nach dem Ziel, verdient Mensch gewesen zu sein.

       *       *       *       *       *

(Zu Drews.) Wenn ich sage: 'Mensch' ist nur eine sprachliche Ausdrucksform
für 'Gott' -- ist das 'Selbstvergötterung'? Gott kann sich doch nicht
selbst vergöttern! Was aber wäre Gott, der nicht die ganze Natur, der
nicht alles, alles selbst wäre, der nur das Selbst, nicht auch das Ich
zugleich, nicht zugleich die Sehnsucht nach Sich und dies Ersehnte selbst,
kurz, dessen Inhalt, sozusagen, nicht die gesamte unendliche Welt wäre?
Gott ist jeder Gedanke und jedes Gebilde; es gibt allerdings Metaphysik,
insofern die Natur nicht nur ein einfacher chemischer oder mechanistischer
Prozeß ist, als den sie der Materialismus hinstellen will, aber es gibt
keinen Metatheismus; Metatheismus aber wäre, das menschliche Subjekt noch
einmal in Mensch und Gott zu spalten: wenn diese Spaltung auch noch so
fruchtbar sein mag, ja wenn sie auch unzweifelhaft eines der instinktiven
Mittel des aus dumpfem Urtrieb zu immer reinerer Sichselbsterfassung,
Sichselbsterringung hindrängenden Gottes war und ist, seinen Weg zu sich
selbst, ja: Sich Selbst zu finden.

       *       *       *       *       *

Ihr werdet mich mit Euren blassen Gottesideen nicht überzeugen können. Der
_sichselbstschöpferische_ Gott ist ein zu gewaltiger Gedanke, und wenn
nicht die Philosophen, so werden die Künstler mich stets begreifen.

       *       *       *       *       *

Ich kann nur durch Kampf und Leiden zur Erkenntnis Meiner selbst kommen
und zu diesem Leiden gehört, daß, was da leidet, zum allergrößten Teil
nicht weiß, daß Ich leide, sondern sich als selbst-Leidendes fühlt, sodaß
ich, obwohl ich es nur selbst bin, der leidet, doch endlos zugleich leiden
_mache_. Und dies alles um Meinetwillen, um Meiner Entwickelung willen.
Was bleibt Mir da noch übrig, womit kann Ich allein diesen furchtbaren und
doch notwendigen Weg aufwiegen, wenn nicht durch -- Liebe! Liebe nicht zu
Mir, sondern zu dem, was Ich noch nicht bin, also zur ganzen werdenden
Welt, zu allem, was überhaupt noch Werden heißt. Die ganze Welt einst
wieder an Mein Herz zurückzunehmen -- könnte Ich mich ohne diesen Willen
zur -- Welt entschlossen haben?

(Schauerlich, wenn ich mit meinen ich und Ich mißverstanden würde. Wenn
man mich für einen größenwahnsinnig gewordenen Subjektivisten nähme!)

       *       *       *       *       *

Das Geschenk solcher Gotteserkenntnis, das sie uns anstelle der 'ewigen
Seligkeit' verspricht, ist folgendes:

Wir hören nie auf, als Lebendige wiedergeboren zu werden, wir sind und
bleiben Teilnehmer des göttlichen Ringens um sich selbst. Gott schenkt uns
(sich) keinen 'Frieden', als den, welchen er sich selbst erringt. Alle
höchste Stufe der Entwickelung erreicht Gott als Mensch: Der
höchstentwickelte, am vollkommensten gelungene Mensch ist zugleich ein
höchster Glücksmoment Gottes. Es gilt nicht, diese höchsten Glücksmomente
Gottes auf allen Sternen einfach auszuschalten und als irdische
Ungenügendheiten zu verdächtigen. Sie sind die _einzige_ (bewußte)
_Seligkeit_ Gottes, es gibt keine andere, hinterweltliche, außer ihr. Sie
sind selbst geistweltlich genug. Sie sind Erkämpftheiten, Ersiegtheiten,
nicht faule Geschenke, sie sind nicht jenes Ausruhen, jener Friede, den
die Geplagten und Gemarterten als Höchstes ersehnen, sondern Seligkeiten
der Kraft, des außerordentlichen Vermögens, -- alles irdische Große und
Herrliche ist zugleich Seligkeit Gottes. Es gibt nicht Elende und
Glückliche und einen Gott bewußt oder unbewußt außerhalb ihrer, sondern
Gott selbst ist elend und glücklich, Gott selbst fällt und erhebt sich,
sündigt und überwindet sich, Gott selbst ist das Herz, die Seele, der
anemos der Welt.

       *       *       *       *       *

Wer das Wunder nicht als das Primäre erkennt, leugnet damit die Welt, wie
sie ist, und supponiert ihr ein Fabrikspielzeug.

Das Wunder ist das einzig Reale, es gibt nichts außer ihm. Wenn aber alles
Wunder ist, das heißt durch und durch unbegreiflich, so weiß ich nicht,
warum man dieser großen einen Unbegreiflichkeit, die alles ist, nicht den
Namen Gott sollte geben dürfen.

       *       *       *       *       *

Wirklicher innerster, reinster Glaube _kann_ sich nur auf etwas beziehen,
wofür die Sprache kein anderes Wort hat als absurdum; das Absurde ist sein
_einziges_ Objekt. Ja, ich möchte noch weiter gehen: was geglaubt werden
kann, ist schon nicht mehr glaubwürdig. Glaube, im innersten Begriff, ist
Annahme _aller_ Möglichkeiten mit Ausnahme der einzigen, zu ihm selbst je
ein bestimmtes Geglaubtes, das heißt einen irgendwie bestimmten Inhalt, zu
finden. Glaube ist nur wahrer Glaube als von keinem Gedanken entweihtes
Gefühl Gottes. Glaube ist damit das Gefühl Gottes von Sich selbst, Glaube
_an_ Gott ist bereits kein reiner Glaube mehr: das an setzt einen
Gedanken, ein Urteil, eine Auswahl voraus. Glaube an Gott ist ebenso wenig
Glaube Gottes, wie Gefühl an Gott Gefühl Gottes. Daher auch keine Vernunft
dem wahren Glauben etwas anhaben kann.

       *       *       *       *       *

A. Wo ist Gott ...

B. Du fragst, wo Gott ist?

A. Ja.

B. (auf A. deutend) Dort.

A. Wo? (dreht sich lächelnd um).

B. Ja, du mußt dich nicht nur umwenden, du mußt dich in dich
hineinwenden --

A. Hineinwenden?

B. Ja. Siehst du diesen Handschuh?

A. Ja.

B. Das ist der Mensch. Und dies (stülpt den Handschuh um) ist Gott.

       *       *       *       *       *

Gott ist gewiß nicht Persönlichkeit. Aber er wird sie in jedem Moment.
Gott ist: Persönlichkeiten.

       *       *       *       *       *

Der Körper, der Übersetzer der Seele (Gottes) ins Sichtbare.

       *       *       *       *       *

Daß jedes Menschenleben nur die eine leibgewordene Möglichkeit unter
unzähligen Möglichkeiten bedeutet, gibt ihm erst den großen Hintergrund.
Leib und -- Seele, von hier aus neu zu begreifen. Der Leib, eine Linie der
Seele, die Eine wirklich hingezeichnete Linie von Legionen Linien, die
ebenfalls jede für sich hätte hingezeichnet werden können. (Sichtbar,
leiblich geworden sein könnten.)

       *       *       *       *       *

Die Welt ist ein einziges lebendiges Wesen, in beständigem Aufbau und
beständiger Zersetzung begriffen. Es gibt für dies Wesen keinen Tod -- um
den Preis des individuellen Todes. Das Individuum ist der Preis des
Dividuums. Das Individuum ist vergänglich, das Dividuum ohne Anfang noch
Ende. Das Dividuum teilt sich fortwährend und darum besteht es
fortwährend. Es kann nur bestehen, wenn es beständig zu Individuen wird.
Im Individuum wird es allein fest, sodaß man sagen kann: Die
Individualität ist die Persönlichkeit der Dividualität, oder menschlicher:
Der Mensch ist die Persönlichkeit Gottes.

       *       *       *       *       *

Das Leben hat keinen Sinn als den Sinn -- Gottes.

       *       *       *       *       *

Im Anfang war -- Mein Ziel.

       *       *       *       *       *

Gott heißt immer nur der jüngste _Begriff_ von Gott. Gott selbst kann es
für den Menschen niemals geben -- so wenig es für diese meine Hand diese
meine Hand geben kann.

Dasselbe kann nicht zugleich zweierlei sein. Mensch und Gott ist dasselbe,
also kann Gott nicht vom Menschen erkannt werden. Erkannt werden kann nur
eins vom andern. Der Mensch kann sich nicht nach sich selbst umdrehen und
darum wird er nie wissen, wer er eigentlich ist, woher, wohin, warum. Und
_mit ihm_ wird es Gott nie wissen. Gott ist sich selbst Mysterium. Und
wäre dies schließlich nicht das Letzte -- was wäre dann die Welt? Eine
Sphinx, die, gelöst, in den Abgrund stürzen _müßte_. Ihr tiefster Sinn
wäre damit verloren -- das Nieaussinnbare. Sie hätte jeden Grund verloren,
weiter zu _sein_; denn der Welt Grund ist allein ihr _Ziel_. Wo aber ein
Ziel erreicht ist, ist Tod und Ende. Welt, Gott, heißt stets unerreichtes
Ziel. Und so unerreichbar ist dieses Ziel, daß wir nicht einmal wissen, wo
es liegt, wie es heißt. Aber immer sucht das Universum. Gott ist der Welt
Suche nach ihm. Die Welt ist Gottes Suche nach Sich, nach Seinem Sinn,
nach Seinem Grund. Alles ist Weg, Gott ist Weg. Das Kleinste wie das
Größte, alles ist nur ein Weg. Der Weg nach dem Sinn ist der Sinn selber.
Der Weg nach dem Sinn ist der _Sinn_ des Wegs.

       *       *       *       *       *

Alles will zusammensein und darum zusammenkommen. Assoziation ist zuletzt
das eine welterklärende Wort. Das andere -- kennen wir nicht. Aber wir
würden das mit ihm bezeichnen, was dieses Zusammenkommen von Allem zu
Einem verhindert, um dafür die Welt der Individualformen aus ihnen zu
bilden. Denke dir zwei konzentrische Hohlkugeln aus Glas. Die äußere
Hohlkugel ist mit Gas gefüllt, die innere luftleer. Nun wird die innere
zertrümmert: Das Gas will blitzschnell den ganzen Raum erfüllen, als
Eines, Untrennbares, Ganzes, Molekül an Molekül, gleichartig assoziiert.
Aber umsonst: denn in der innern Kugel war etwas, das nun folgenden
Vorgang zeitigt: Das Gas kommt nicht als Eines, Ungeteiltes zusammen,
sondern erst als eine Unzahl von besonderen Zusammenheiten, etwas
verhindert es am Zusammensein schlechthin. Jenes erlaubt ihm nur ein
Zusammensein in Form von Legionen Zusammenseienden.

Oder so: Eine Masse wird durch einen Pilz in Gärung versetzt. Der Pilz
bildet die außerordentlichsten und vielfältigsten Formen. Die Masse strebt
ewig zurück zu ihrer Einheit, aber der Pilz wuchert fort. Gott sein
eigener Pilz.

       *       *       *       *       *

Es gibt nicht zweierlei Geist, sondern nur einerlei, und er ist Gottes
Geist, ebenso, wie es auch nur einerlei Leib gibt, nämlich: Gottes Leib.

       *       *       *       *       *

Man bemerkt es bei den irdischen Ereignissen dieser Tage (dem
Vesuvausbruch und dem Erdbeben in San Francisco) wieder einmal, wie gering
bei den Menschen das Gefühl ist, das das natürlichste von allen sein
sollte: Das Gefühl des Zusammenhangs mit allem, was ist. Nicht einmal bis
Neapel reicht ihr Glaube an die Einheit und Korrespondenz aller Dinge, wie
sollten sie den Gedanken fassen, daß das ganze Universum beständig in
ihnen ist, wie sie in ihm, ja, daß jener Ausbruch des Vesuv sowohl wie
irgend ein untergehender Stern hinter der Milchstraße im Grunde nichts
anderes als ihre ureigenste Angelegenheit bedeutet.

       *       *       *       *       *

Sätze wie: In der Welt überwiegt die Summe des Leidens die Summe des
Glückes -- was sind sie im letzten Grunde anderes als Wortspielereien vor
dem in Leid wie Lust furchtbaren, ganz und gar übergewaltigen Charakter
des Weltalls. Sollte in diesem ganz unfaßbaren Komplex des Lebens nicht
Leid und Lust so untrennbar, so organisch, so durch und durch ineinander
verschlungen und verwirkt sein, daß man schon ein Prachtstück an
Trockenheit und Pedanterie sein muß, um hier mit einer Wage heranzutreten
und seine innere Unsicherheit, was nun wohl richtiger sei, die Welt zu
segnen oder zu verdammen, durch ein so durchsichtiges Manöver bemänteln zu
wollen? Der starke Geist wird, nachdem er angefangen hat mit sich ins
Reine zu kommen, leidenschaftlich bejahen oder verneinen; ohne
vorzuschützen, daß er durch 'sorgfältiges Abwägen' zu solcher Erkenntnis
gelangt sei. Ein noch stärkerer aber wird es weder beim Ja noch beim Nein
aushalten: Er wird bekennen, daß ihm vor einem solchen Schauspiel, wie die
Welt, alle Erdenworte versagen und vergehen, daß wohl ein geheimes Ja in
seiner Seele lebt, daß er sich aber nicht Weltallsrichter genug erachtet,
es auszusprechen, und daß sein oft in ihm aufquellendes Nein zu der
Brotkrume Erde, die und deren Erscheinungen er allein kennt, ebensowenig
wagen darf, das unversiegbare Füllhorn seiender und noch möglicher Welten
zu verwünschen. Er wird, wie einer, der seine Worte und Werturteile
unerbittlich zu bändigen gelernt hat, zu schweigen versuchen, und wenn man
ihn nach seiner Religion fragen wird, so wird er antworten: sie ist
Verstummen aus Schrecken, aus Selbstzucht und aus Phantasie.

       *       *       *       *       *

Ich will den Menschen nicht schiffbrüchig sehen, aber er sollte dessen
bewußt sein, daß er auf einem Meere fährt.

       *       *       *       *       *

Wir müssen uns davor hüten, ausschließlich mit der Menschheit unseres
Planeten zu rechnen. Wir müssen annehmen, daß jeder mögliche Gedanke über
Gott auch wirklich (von Gott) gedacht wird, gleichviel ob in unsern oder
in Mars- oder Saturnköpfen, ja, daß es sehr wohl Planeten geben kann, auf
denen Gott sozusagen leibhaftig im vollkommenen Bewußtsein seiner selbst
lebt. Daß wir als die Phase Gottes, die wir sind, offenbar nur Gott in
irgend einer Phase darstellen, nicht zugleich in seiner höchsten; wiewohl
auch seine höchste nur eine 'endliche' sein mag, indem das unendliche
'Mysterium' nur im immerwährenden Endlichen unendlich bleiben kann. Gott
kann allein leben durch seinen immerwährenden Tod. Gott muß fortwährend
sterben, um fortwährend leben zu können. Gott stirbt nie um den Preis
fortwährenden Todes. Versuchen wir dieses Furchtbare zu fassen, und
überwinden wir es durch das Wort 'Ich bin', das Gott in uns spricht. 'Ich
sterbe als du, damit ich als ich lebe. Du aber bist ich und ich bin du,
sei also getrost. Dies ist nun unsere Notwendigkeit (wie ich sie als du
erkannt zu haben meine).'

       *       *       *       *       *

Ich glaube, unsere Erde hat ihr Ebenbild in jedem Baum, in jeder Blume.
Ein Keim fiel in einen Grund, ging auf, entwickelte sich zu Pracht und
Duft -- und wird, was man so nennt, absterben, wenn er seinen Gang
vollendet. Ist Schönheit und Duft einer Rose etwas Geringeres als
Schönheit und Duft der großen Erdenblume? Und welkt, wenn die Rose welkt,
minder Tragisches dahin, als wenn dieser Erdball einst vergehen wird? --
Wachstum ist alles, das Wort 'wächst' vielleicht das letzte mögliche Wort.
-- Und wie es unendlich viel Bäume und Blumen gibt, so unendlich viel
Welten und Gestirne, keine, keines gleicht dem andern, -- und so wäre der
Paradiesesgarten als Ewigkeitsgarten abermals stabilisiert. Eine
Phantasie, groß genug. Ein Bild für Gott, immerhin unzerreißbar von
menschlichen Kinderhänden. Eine Vorstellung, eine Erahnung, wohl nicht
stärker, nicht deutlicher als der kaum erhaschte Duft einer von einem
Berggipfel in einen Bergabgrund geworfenen Rose, deren an dir Vorüberfall
du auf einer vorspringenden Felskante wie ein blitzartiges Wunder erlebst.
Aber doch eben das, und als das, etwas. --

       *       *       *       *       *

Der Mensch, der ganz erkannt haben würde, wäre der wieder geschlossene
Ring Gottes.

       *       *       *       *       *

Der Mensch ist ein an einer Stelle geöffneter Ring. Gott ist der Ring als
Eines, Ununterbrochenes. Der Mensch stellt sich dar als dieser Ring,
unterbrochen, mit seinen zwei Enden sich wieder zu vereinigen, zu
schließen strebend. Der Mensch ist aus sich auslaufender und in sich
zurücklaufender -- aber noch nicht zurückgelaufener -- Gott. Der Mensch
ist die Offenheit des Rings, der noch nicht wieder zusammengeschmolzene
Hingott und Widergott.

       *       *       *       *       *

Gedanken vor Kierkegaard, Buch des Richters.

'So wird sie mich in der Ewigkeit verstehen.' -- Wäre es nicht furchtbar,
wenn der Mensch nur Entwurf Gottes bliebe? Wenn jeder dieser Entwürfe als
Entwurf endigen müßte, statt weiter und weiter durch alle Ewigkeit
ausgeführt, weiter gebildet zu werden? Gewiß, der gegenwärtige
Weltdurchschnitt wird immer Fragmentmosaik sein -- aber es fragt sich, ob
einmaliges Fragmentmosaik oder Fragmentmosaik als Fortsetzung und zwar
nicht bloß im Ganzen, sondern auch im Einzelnen, Einzelnsten: ob ich also
nicht nur Fragment Gottes im Ganzen, sondern auch Entwickelungsfragment
meiner Person, als einer gottwerdenden Person, als Gottes im Einzelnen,
bin. So vielleicht: Kann Gott als Menschenperson verloren gehen, ist
Person nur eine Maske Gottes (oder besser ein Leib Gottes) -- oder ist
Gott, einmal Person geworden, als solche ebenfalls unsterblich, sodaß
seine Entwickelung nicht nur eine Entwickelung zur Selbstahnung seiner
Selbst als Welt, sondern auch eine Entwickelung in jedem Einzelnen zur
immer wieder sterblichen Person auf immer wieder höherer Stufe wäre?

       *       *       *       *       *

Vor einem Sterbelager.

Vielleicht trifft man sich einmal unter freundlicheren Verhältnissen
wieder. Ja, vielleicht haben wir uns auch diesmal schon wiedergetroffen,
von früher her, nur, daß wir es nie wissen, daß wir heimliche
Zusammenwanderer sind.

       *       *       *       *       *

Der Irrtum ist das formbildende Prinzip. Wahrheit kann nur als Irrtum zur
Erscheinung kommen. Alles Daseiende selbst ist Irrtum, aber Gott
entwickelt sich, wird (ist) nur dadurch, daß er sich beständig 'verrennt',
verstrickt, verwickelt, zu Knoten schürzt, daß er sich selbst beständig
Stationen schafft. Er würde wie ein Meer ins Unendliche verfließen -- wenn
er sich nicht fortwährend selbst im Netz gleichsam der Einzelerscheinung
finge, diese Netzerscheinung wie als ein bereits Endgültiges zu höchster
relativer Vollkommenheit emportriebe: um, wenn das ursprüngliche Netz
sozusagen völlig in sie hineingenommen, nun den Persönlichkeitskern als
Eigengewinn davon zurückzubehalten, das andere wieder zerfallen zu lassen.

       *       *       *       *       *

Warum ist Mitleid nichts? Weil Mitleid dich ablenkt von dir auf den
andern. Dich aber sollst du zu vollenden trachten, nicht den andern. Wer
sich nach innen wendet in seiner Tiefe, von dem fällt Mitleid ab wie ein
Müßiggang. Er kann niemanden mehr bedauern um seines Leides willen, er
könnte ihn höchstens um dessentwillen bedauern, daß ihn sein Leid nicht in
sich hineintreibt, daß es ihn nicht vertieft. Wer sich und den Nächsten
als Gott erkannt hat, von dem fällt Mitleid ab wie ein Geschwätz. Er wird
den Nächsten zwar mehr als sich lieben und ihm sein Menschliches zum Opfer
bringen können, wenn es das gilt, aber ohne Mitleid; denn mit großem Auge
wird er durch sein Leiden hindurch ihn als Sich sehen; in dem aber, was er
da sieht, fallen, wie Ekkehart sagt, alle Worte dahin. Da hat Mit-Leiden
keinen Sinn und keinen Platz mehr.

       *       *       *       *       *

Es ist ein schauerlich tiefer Gedanke: Der grobe schwerfällige Körper, als
Geist zugleich mit dem Geist aller Epochen unablässig verkehrend.

       *       *       *       *       *

Denke dir einen Teppich aus Wasser. Und als die Stickerei dieses Teppichs
die Geschichte des Menschen.

       *       *       *       *       *

Zünde einen Magnesiumfaden an -- und du hast das Leben des Menschen im
blitzschnellen Bild. Leben und sterben sind nur zwei Ausdrücke für
dasselbe. Und unser Ichgefühl das Gefühl des hineilenden feurigen Punktes.

       *       *       *       *       *

Es gibt nur ein Neues: Die Nüance.

       *       *       *       *       *

Die Welt, eine in sich zurücklaufende Spirale.

       *       *       *       *       *

Wir müssen sehen, aus den Formen, als die wir erschienen sind, bis zu
unserm Ende zu Kugeln zu werden: die Spirale der Ewigkeit hinabzurollen,
nicht aber wie ungefügte Klötze hinabzurutschen und hinabzupoltern, muß
unser erster Wunsch und letzter Wille sein.

       *       *       *       *       *

Betrachte die Welt: Alles wesentlich, alles unwesentlich. Unwesentlich die
Mücke, wesentlich der Mensch; unwesentlich der Mensch, wesentlich die
Menschheit; unwesentlich die Menschheit, wesentlich das Universum;
unwesentlich das Universum, wesentlich --



1907


Wir müssen das Quantitative verabschieden. Gott, ich meine das
Unvorstellbare, das wir sind, ist weder groß noch klein. Alles ist in
jedem Augenblicke Gott und jeder 'Teil' in jedem Augenblicke zugleich das
Ganze. (Ist denn das Wasser für den Tropfen klein oder groß? Nein, er ist
der Tropfen und das Wasser zugleich. Wasser aber ist weder klein noch groß
und wenn der Tropfen zurückblickt auf den Wasserfall, so wird er doch
darum nicht sagen können: Wasser ist groß. Und so ist 'Gott' auch nicht
größer da, wo er die 'Milchstraße' ist, als da, wo er in einem Menschen im
Gras liegt. An sich ist diese Blume hier nichts geringeres als zehntausend
Gestirne. Und so zerbrich denn auch nicht, Herz, an diesen Worten 'groß'
und 'klein', denn 'das gibt es alles garnicht'.)

       *       *       *       *       *

Ich fürchte, -- und dieser unheimliche Gedanke kehrt mir, fast seit ich
denken gelernt, immer wieder, --: nicht, daß wir sterben werden, ist zu
fürchten, sondern daß wir nie sterben werden. Ich empfand dies immer unter
folgenden Worten: Ich werde immer da sein. Und wenn ich heute meinem Leib
nach sterbe, wer will wissen, ob ich dann nicht -- mein Freund bin? Nicht
als ob etwas, was meine Seele genannt werden könnte, gewandert wäre, nein,
sondern wie wenn ein Etwas in allem Lebendigen immer wäre und wüßte daß es
wäre ... Wer will wissen, ob er nicht aus seinem Freunde (wenn auch ganz
und gar als dieser und mit allen physischen Prämissen) in die Welt blickt,
in demselben Moment, wo er sein Bewußtsein verliert? Solange ich in meiner
Form befangen bin, kann ich nichts Zweites sein, aber wenn diese Form
zerbricht, bin ich vielleicht das Zweite, und das Zweite ist vielleicht
nichts als wieder das Eine.

       *       *       *       *       *

Die Menschheit ist nur eine Korrektur des Menschen.

       *       *       *       *       *

Dies Bewußtsein wenigstens habe ich: mein höchster Gedanke hat nichts zu
tun mit dem Äußerlichen meines Lebensganges. Ich bin nicht von denen, die
zur Wiederaufnahme der Gottesidee durch irgend etwas getrieben worden
sind, als da ist unterdrückte Sinnlichkeit, Einsamkeit der Seele,
Verzweiflung an sich und der Welt oder ähnliches. Ich kenne diese Zustände
wohl, aber ich wäre nie vor ihnen zu einem neuen Gottes-Begriff geflohen:
wie denn dieser auch weder 'heilt' noch 'erlöst'. Diese Idee ist vielmehr
aus meiner innersten Natur herausgewachsen, ich kann ihre Anfänge bis in
mein zweites Jahrzehnt zurückverfolgen, in dessen Mitte etwa ein ganz
spezifisch philosophisches Interesse in mir erwachte. Ihr endliches
Zutagetreten hängt sehr stark mit der Art meines Schauens zusammen, das
mir manchmal erlaubt, sehr in die Dinge zu versinken oder auch: die Dinge
gleichsam in mich hineinzunehmen, und mir damit das Micheinsfühlen mit
allem zu einem natürlichen Gefühl macht.

Ebenso hatte ich stets das Gefühl des Zusammenhangs in so hohem Maße, daß
ich mich von Vorstellungen solcher Art nicht losmachen konnte, wie diese
etwa, daß meine Hand, von A nach B bewegt, das ganze Weltall in
Mitleidenschaft ziehen müsse.

       *       *       *       *       *

Was sagt Meister Ekkehart anders als: zerbrich alle Sprache und damit alle
Begriffe und Dinge: der Rest ist Schweigen. Dies Schweigen aber ist --
Gott.

       *       *       *       *       *

'Gott' ist das einfache Ergebnis eines Subtraktionsexempels: ziehe alles
von dir ab, was abzuziehen ist, und der Rest ist -- Mysterium.

       *       *       *       *       *

Gott ist seine eigene Erfindung. Das sich selbst Unerklärliche sagt aus
Menschenmund Gott zu sich.

       *       *       *       *       *

In Christus ist zum ersten Mal auf der Erde Gott selbst sich zum
Bewußtsein gekommen. In Christus erkannte Gott als Mensch zum ersten Mal
sich selbst. Seitdem sind fast zweitausend Jahre vergangen. Aber freilich:
'Tausend Jahre sind vor Ihm wie ein Tag.'

       *       *       *       *       *

Man empört sich gegen die Gottheit Christi -- als liege man selbst in Hose
und Rock nicht als ein Stück -- Gottheit herum.

       *       *       *       *       *

Eines Einzelnen Leben ist vielleicht nichts Besondres. Von außen, mit
fremdem Auge betrachtet, mag es nicht viel bedeuten, von innen, mit seinen
Augen gesehen, schon mehr, sehr viel mehr. Als Leben -- Gottes aber
angeschaut, wird es sofort unaussprechlich tief und tragisch. Sieh nur
irgend einen Menschen daraufhin an, daß er nichts andres ist als Gott,
Gott selbst in ureigenster Person -- und die Welt wird sich dir mit
einemmal und auf immer verwandeln und du wirst kein Sittengesetz mehr zu
befragen brauchen; denn alles wird dir auf einen Schlag wunderlich heilig
werden.

       *       *       *       *       *

Ich sehe das Unvermeidliche herannahen: daß den Menschen eines Tages in
größerer und größerer Anzahl zum Bewußtsein kommt -- nicht nur nominell
wie bisher, sondern faktisch -- daß sie in der Unendlichkeit leben.

       *       *       *       *       *

Heute sehen die Menschen noch nicht den Raum, sie sehen den Himmel, aber
noch nicht den RAUM.

       *       *       *       *       *

Auf Erden ist nichts, sondern alles im Himmel zugleich und in der
Ewigkeit. (Geträumte Zeile.)

       *       *       *       *       *

Gott ist nicht etwas Vorgestelltes, sondern das, was wie jede andere
Vorstellung, so auch die Gottesvorstellung produziert. Bis heute glaubt
die Menschheit noch, soweit sie glaubt, an den Gott oder die Götter ihrer
Vorstellung. Und darum ist sie so leicht durch den Satz zu widerlegen:
Dein Gott ist eine bloße Vorstellung von dir. Gewiß ist er das. Erst die
Menschheit, welche bekennt: Was wir uns als Gott vorstellen, ist
irrelevant; das einzige, was wir als Gott behaupten können, ist das
Unvorstellbare, auf das unsre Vorstellungen zurückgehen, ist das, was wir
für uns als Wirklichkeit klassifiziert haben, sind wir selbst (wie wir uns
bezeichnen) und alles, was um uns ist (was wir so bezeichnen). Gott ist
alles. Wir haben kein andres Wort für Gott als das Wort 'alles'. Man kennt
und fühlt Pantheismus schon lange, aber ich weiß nicht, ob je mit diesem
'alles' schon ganz und resolut Ernst gemacht worden ist. Wer ihn macht,
für den gibt es kein Entrinnen mehr. Er muß selbst hinein in dies 'alles'
mit jeder Faser seines Leibes und jedem Schatten seiner Gedanken, er muß
selbst zusammenfallen mit Gott, er muß selbst Gott -- und nicht nur in
Gott -- sein.

       *       *       *       *       *

'Sein' (esse) ist nur eine Denkform Gottes. Wenn Gott sagt: ich bin, so
sagt er dies beides nur als Mensch. Als Gott sagt er nichts, 'ist' er
nicht einmal etwas. Gott ist nicht Gott.

Als Mensch 'ist' Gott.

       *       *       *       *       *

Auch wo Gott 'sich' fühlt, wie im Mystiker, bleibt er noch Mensch.

       *       *       *       *       *

Man soll nur in alle Ewigkeit leugnen, daß die Welt unerklärlich sei. Die
Folgen dieser bornierten Leugnung, dieser stiermäßigen Annahme des
Gottmenschenkopfes von seiner Anlage zur Selbsterkenntnis sind allzu
wertvoll, verinteressieren -- als Wissenschaft -- das Leben in allzu hohem
Grade.

       *       *       *       *       *

Unbewußte Stupidität, bewußte Verlogenheit -- als Voraussetzung aller
Wissenschaft, ja aller geistigen Kultur überhaupt: das ist eine groteske
Wahrheit Gottes, des Menschen.

       *       *       *       *       *

Auch hier meine Ausführungen, was ich auch versuche, bleiben --
Anthropomorphismus. Diese Feststellung sollte eigentlich der Tod Gottes
sein. Der Tod Gottes -- als einer auszuscheidenden Vorstellung. Aber diese
Vorstellung war meine letzte, in der ich alle andern begrub. Kein Wort der
Erde, das sich mir im Wort 'Gott' nicht löste. Andre nennen ihre
Grenzvorstellung Leben, Natur, Wirklichkeit. Aber ist das minder
anthropomorph? Nein. Jedes Wort ist Vorstellung, jedes Wort ist demnach
gleich viel wert. 'Leben' ist das Wort einer andern _Phantasie_ als
'Gott', das ist alles.

       *       *       *       *       *

Es gibt also zuletzt nur eine Grenzvorstellung, nur ein 'Ur--wort'. Dieses
Urwort muß uns gelassen bleiben, wollen wir Menschen bleiben.

       *       *       *       *       *

Gott wäre etwas gar Erbärmliches, wenn er sich in einem Menschenkopfe
begreifen könnte.

       *       *       *       *       *

Ich frage mich, welche innere Nötigung liegt meiner Handlungsweise zu
Grunde (drücken wir es so aus): das Ding an sich Gott zu nennen. Meine
aufrichtigste Antwort lautet: Das ist des Dings an sich, das ist Gottes
Sache selbst. Ich bin -- wie ich es ansehen kann -- nur eine Etappe im
ungeheuren Heer und Komplex von Assoziationen, und wenn ich mich nun
selbst psychologisch zu deduzieren suchte, so wäre damit wohl nicht viel
mehr getan, als wenn ein Strudel jenes Baches dort unten die Art seines
Gurgelns durch die Daten seines Lokals usw. erklären zu können glaubte.

Nun gut. Welche Nötigung? Die Nötigung, nicht Halt machen zu brauchen. Die
Nötigung, mich mit allem um mich durch ein _persönliches_ Band verbunden
fühlen zu dürfen. Wenn diese Tanne da vor mir ein geistreicher Mechanismus
ist wie ich, so kann sie mir in jedem Augenblick unendlich gleichgültig,
ja widerlich werden. Aber sie ist kein Mechanismus, sie teilt -- ob ich
sie nun als _Du_ oder Erscheinung bezeichne -- _Ein_ Geheimnis mit mir,
das Geheimnis des Lebens. Wir sind Brüder als Erscheinungen, und unser
Beider Vater als Dinge.

       *       *       *       *       *

Ich, als Vater, erfülle mich erst im Menschen, als mir, dem Sohne; als
Sohn erst erfahre ich mich als den Vater.

Oder: als Erscheinung erst werde ich mir selbst -- Erscheinung.

       *       *       *       *       *

Von mir: die Menschen sind ihm allein Köpfe Gottes.

       *       *       *       *       *

Ja, gewiß, es ist vieles am Menschen lächerlich und verächtlich. Aber der
Mensch ist ja auch nur ein winziger Teil Gottes. Und was wäre Gott, wenn
er nicht irgendwo auch lächerlich und verächtlich wäre. Gott schenkt sich
nichts. Das wollen nur die Kurzsichtigen, die meinen, man könne das Eine
ohne das Andere haben, ja noch mehr: man dürfe es.

       *       *       *       *       *

Die planetarischen Kulturen geistiger Wesen sind die großen Grotesken
Gottes. Gottes materielle Erscheinungsform ist notwendig grotesk.

       *       *       *       *       *

Man könnte eine Bibliothek schreiben von den Selbsttröstungen Gottes.

       *       *       *       *       *

Nicht, daß gekämpft wird, ist das Tragische der Welt. Sie selbst ist das
Tragische.

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Betrachte den gefüllten Zuschauerraum eines Theaters. Wie festlich machen
ihn die vor Erwartung und Lebenslust glänzenden Augen der Frauen, ihre
schneeweißen Nacken, ihr herrliches Haar -- wie scheinen sie alle zu rufen
voll reizender Ungeduld: den Vorhang auf! den Vorhang auf! Wie gern sie
leben und leben sehn, wie ganz unverständlich es ihnen wäre, wenn nun
plötzlich ein Mann aufstünde und spräche: Nein, nicht den Vorhang auf!
nicht auf! Sondern laßt uns endlich ein Ende machen mit diesem ewigen
Theaterspiel! Und seine Augen würden sich schließen im Übermaß des
Schmerzes. Aber nach einer kurzen Spanne der Starrheit -- was würde
geschehen? Mit ihren Fächern würden sie ihn zu erschlagen drohen und mit
hundert beredten Gebärden laut oder stumm, lächelnd oder schluchzend, die
Männer rings fragen: Wie? und wir? sind wir nichts? gelten für nichts? Ihr
wollt dies starke süße bunte Leben nicht mehr? Ihr wollt also Uns nicht
mehr? Was haben wir euch denn getan? Und was unsre Kinder, eure Kinder? O,
ihr Toren, ihr Spielverderber, ihr Pflichtvergessenen! Aber ihr sollt uns
nicht irre machen. Nicht irre an Lieben und Leben, nicht irre an Pflicht
und gesundem Menschenverstand. Nein, die Komödie sei noch nicht zu Ende!
-- Der Sprecher von vorhin aber würde bei sich denken: Umsonst. Gottes
Teufel ist seiner würdig. Er könnte nicht überzeugender noch unschuldiger
sein. Und fürwahr: Heute erkannte ich ihn zum ersten Mal -- und sein
triumphierendes Reich, soweit Welt ist.

       *       *       *       *       *

Wer sich einmal in die Idee des Teufels, an dem Gott immer wieder zu
schanden wird, von dem er immer wieder zum Leben verführt wird, vertieft,
dem wird die Größe und Schönheit des Lebens fürder nicht Einwand sein
können: Denn je unfaßlicher dieser Gott ist, desto unfaßlicher wird auch
die Kunst seines Teufels sein müssen, desto heiliger wird sie erscheinen
müssen, desto bejahungswürdiger die Welt für menschliche Urteilskraft.

       *       *       *       *       *

'Die Welt' ist Gottes Weg zu seiner Schönheit. Überall und immer duftet
diese Wunderpflanze 'Welt'. Um dieses Duftes willen ist sie da; er ist
ihre Schönheit, ihre 'Seele', 'Gottes' -- Seele.

       *       *       *       *       *

Wir sind nie wirklich aus dem Paradiese vertrieben worden. Wir leben und
weben mitten im Paradiese wie je, wir sind selbst Paradies, -- nur seiner
unbewußt, und damit mitten im -- Inferno.

       *       *       *       *       *

'Alles was ist, ist vernünftig' -- ganz gewiß. Freilich nicht vom
Standpunkt des Reichstagsabgeordneten X oder des Privatdozenten Y aus;
aber sub specie Dei.



1908


Im Geist erst wird die Natur, wird Gott tragisch. Was ist der Mensch? Die
Tragödie Gottes.

       *       *       *       *       *

Wenn einer die Welt bejaht, bejaht sie Gott, wenn sie einer verneint,
verneint sie Gott (und damit Sich). Gott sagt weder bloß ja noch bloß nein
zu sich, sondern urewig ja _und_ nein.

       *       *       *       *       *

Wo einer keine Augen für sich -- als Mysterium -- hat, da hat auch Gott
keine Augen für sich, als Mysterium. Aber als der, als der er Augen für
sich hat, leidet er unter diesem andern, als der er keine Augen für sich
hat, und zürnt sich, dem andern, aus sich, dem einen.

       *       *       *       *       *

Die Welt könnte so groß angelegt sein, daß die unaufgelöste Dissonanz
eines ganzen Planeten als solche mit hineingehörte. Ein schauerlicher,
wahnwitziger Gedanke. Denn wer will seine Dissonanz -- schon allein seine
ganz persönliche Dissonanz -- nicht aufgelöst und sei es auch erst -- nach
Äonen.

       *       *       *       *       *

Gott ist die Welt im Einzelnen wie als Gesamtheit. Als Gesamtheit aber ist
er vielleicht eine Zweiheit von Mann und Weib. Einheit als Gott, Zweiheit
als Welt. Sagst du aber: Die Welt? das wäre wohl nicht genug, wenn nur
_das_ Gott wäre! so frage ich: weißt du, wo die Welt aufhört, daß du von
genug und nicht genug redest? Wie kann etwas Un-Endliches noch-genug sein
oder 'nicht-genug'?

Das ist gewiß: was auch von Gott, von Gottheit gedacht werden mag, kann
auch noch nicht an den Saum des Mantels seines Ernstes rühren.

       *       *       *       *       *

Wenn Gott nicht die ewige Sehnsucht zweier Seelen zu einander ist -- wenn
die Welt nicht der ewige Weg dieser zwei Seelen ist -- so weiß ich nicht,
was Gott und Welt bedeuten.

       *       *       *       *       *

Der Mensch ist nur ein Moment innerhalb des MENSCHEN, und der MENSCH nur
ein Moment innerhalb Naturae sive Dei.

       *       *       *       *       *

Es versteht sich mir fast von selbst, daß das, was ich bin, sich irgend
einmal seines ganzen Lebens -- in allen seinen Erscheinungsformen --
erinnern wird.

       *       *       *       *       *

Und es wird nichts sein -- kein Richten, kein Wundern, nur ein Schauen.
Aber in diesem Schauen wird Gericht oder Freispruch beschlossen sein.

       *       *       *       *       *

Ich und du, einmal groß und einmal klein geschrieben -- das ist die
Weltformel. Ich und Du, und ich und du.

       *       *       *       *       *

Mußte der wahrhaft innerliche Mensch früher mit der Kirche ringen, so muß
er es heute mit der Wissenschaft. Der sich selbst schauende Gott ist immer
nur als -- Ketzer möglich.

       *       *       *       *       *

Vielleicht ist nichts von allem Gedachten _ganz_ unwahr. Sollte Gott über
Sich _gänzlich_ falsch denken _können_? Sollte nicht die barbarischste
religiöse Vorstellung ein Körnchen Wahrheit enthalten, enthalten _müssen_?

       *       *       *       *       *

Eines sein und haben und die Sehnsucht nach allem Andern, -- Formel
Gottes, des Individuums. (Hinzuzufügen: zusamt der stillgeglaubten
Anwartschaft auf alles Andere.)

       *       *       *       *       *

Wohin sollte die Natur in der Stufenfolge der Tiere im Menschen streben,
wenn nicht dahin, daß Gott in ihm sich selbst erkenne? Dies aber, das
Erkennen kann noch nicht sein letztes Ziel sein: er muß aus dieser
Selbsterkenntnis noch zu irgend einem Handeln hervorschreiten, muß ja
sagen und tun wie der Zarathustra Nietzsche's, oder nein wie der indische
Buddha. Er muß das Schicksal der 'Welt' an seinem Teile entscheiden; sie
soll sein oder sie soll nicht sein. Und doch --.

       *       *       *       *       *

Frage dich nur bei allem: 'Hätte Christus das getan?' Das ist genug.

       *       *       *       *       *

Das ergibt sich aus meiner Lehre, daß nicht nur der Einzelne sondern auch
Volk um Volk und endlich die ganze Menschheit -- Persönlichkeit zu werden
trachtet.

Denn wenn wir 'Gott' sind, -- was können wir Höheres aus uns machen, als
immer durchseeltere, durchbildetere, vollendetere Persönlichkeit? So wie
der einzelne durch und durch kaloskagathos werden soll, so soll auch ein
Volk, eine Menschheit durch und durch 'kalonkagathon' werden wollen.

Kunstwerk der Einzelne, Kunstwerk sein Volk, Kunstwerk die ganze Erde --
das ist das Ziel.

       *       *       *       *       *

Jeder kann von Christus etwas fortnehmen. Verstehen aber wird ihn alle
fünfzig Jahre -- vielleicht -- Einer.

       *       *       *       *       *

Wenn, was sich so Theologen nennt, wirklich wissen könnten, wer Christus
war, würden sie ihn allesamt als einen Irrsinnigen und Verbrecher
verdammen. Ja, so weit weg steht der Mensch, der gesagt hat 'Ich und der
Vater sind eins' (und nur der johanneische Christus ist für mich Christus,
so ausschließlich, daß, wenn es ihn nie gegeben haben sollte, er längst
hätte 'erfunden werden' müssen) von der übrigen 'christlichen' Menschheit
und insonderheit ihren Theologen, daß er wie der leibhaftige Teufel auf
sie wirken würde, hätten sie ja den Mut und die Kraft, ihm sein Weltgefühl
bis zum Letzten nachzufühlen.

       *       *       *       *       *

Immer wieder kommt mir die Szene auf Golgatha ins Gedächtnis, immer wieder
komme ich zu mir selber wie Christus und frage mich: Und Du schläfst! Und
ich fahre auf und Scham übergießt mich ganz und ich erwache zu mir selbst.
Aber nur ein Kleines, so bin ich wieder im Halbschlaf. Und wieder tritt
mein Selbst an mich heran, rührt mir ans Herz, daß ich wie verwundet
aufschrecke und zum wievielten Male! das traurige Wort vernehme: Du
schläfst! Wie -- wäre mein Problem dies: Eine Natur, auf der Grenze
geboren, wo das Mittelmäßige und das Außerordentliche zusammenstoßen, ein
Mensch, zu groß, zu reich, zu tief, im Gewöhnlichen zu verharren und doch
zu klein, zu arm, zu seicht, zu verharren im Ungewöhnlichen? Mir fällt ein
Vers aus meinen ersten Jünglingsjahren ein, jenen Jahren, deren damals
noch ganz anders zehrende Ohnmacht ich durch den ausdauernden Schritt nach
nur Einem Ziel in zwei Jahrzehnten wenigstens bis zu einem gewissen Grade
überwand: 'Ich möchte schwächer sein und bin es nicht, ich möchte stärker
sein und bin es nicht, und daß ich stärker nicht noch schwächer bin, als
wie ich bin, das ist's, was mich zerbricht,' Und auch das fällt mir ein:
Wie ich mich früher gehaßt habe. Gehaßt bis zu bitterster Todfeindschaft,
die mir vielleicht nur aus Zufall nicht den Garaus machte. Und all mein
Flehen um Tiefe fällt mir ein, das der alte Gott noch hören mußte und
erfüllen sollte. Ein Mensch also gemacht aus Edelmetall und taubem Erz,
zerspalten in Reichtum und Armut, Vermögen und Ohnmacht! Emporfahrend aus
seiner Niedrigkeit, den Himmel des Seherischen und Schöpferischen in seine
Arme herabzureißen, ihn erblickend in all seiner Herrlichkeit, und seiner
flüchtigen Hoheit wieder entschlummernd in den Schlaf des Alltäglichen,
von neuem erwachend nach kurzem Traum im Tal des unfruchtbaren Todes. Das
wäre ich! Das bin ich?



WELTBILD: AM TOR

1907


Sieh einmal morgens nackenden Leibes beim Waschen an dir herunter, den
Riesen-Zellenbau, das Zellenuniversum ohne Gleichen!

Welches naive Auge würde je darauf kommen, dich als eine einheitliche
Ordnung von Legionen selbständiger Wesen zu verstehen und welches Auge
würde folgen wollen, wenn der Verstand es wagte, die Wirklichkeit
überhaupt als einen einzigen Zellenleib zu beschreiben, dessen Formen wir
uns nur nicht vorstellen können?

       *       *       *       *       *

Wie kann man sagen: Dies und das kommt hierher und daher; da doch alles
überallher kommt.

       *       *       *       *       *

Das Prinzip der Nachahmung (oder, vom Objekt aus: der Ansteckung) wirkt
fortwährend in der ganzen Natur.

       *       *       *       *       *

Ich habe zuweilen einen abgründigen Haß auf die Zahl. Sie ist die
absurdeste Fälschung der 'Wirklichkeit', die dem Menschen wohl je gelungen
ist, und doch baut sich auf ihr 'unsere ganze heutige Welt' auf.

       *       *       *       *       *

Der große Irrtum ist der: man glaubt irgend einmal einen Mechanismus
schaffen zu können, der schließlich wie ein Lebewesen wird und leben soll,
und sei es auch nur ein Infusorium. Und übersieht dabei nur eins: daß es
ein einzelnes Infusor für sich allein gar nicht gibt, daß man das ganze
Weltall nachschaffen müßte, um auch nur ein kleinstes Tierchen in Wahrheit
lebendig zu machen -- denn man kann nichts von außen hineinstopfen, Ihr
Herren, man muß dann schon von der Pike auf schaffen, nicht nur so ex
tempore und ex machina.

       *       *       *       *       *

Alles ist Ausdruck eines _Wesens_.

       *       *       *       *       *

Wenn im großen Weltkonzert einmal ein Stern untergeht, so ist das auch
nichts weiter, wie wenn einem irdischen Orchestermusiker eine Saite
platzt. Sähe man den Mann nicht die Geige absetzen, so würde man
vermutlich gar nichts merken, so unbekümmert geht das vielstimmige
Zusammenspiel seinen gewaltigen Gang.

       *       *       *       *       *

Die 'Welt' gibt offenbar immer nur relative Vollendungs-Möglichkeit.
Zwischen zwei Eisperioden kann eine Menschheit sich vielleicht so
'vollenden', wie ein Einzelner zwischen Geburt und Tod.

       *       *       *       *       *

Wir glauben als Menschheit eine Art fließende Ebene zu sein und sind statt
dessen ein wandelnder Berg oder eine wandelnde Pyramide.

       *       *       *       *       *

Es ist mit der Weltenuhr wie mit der des Zimmers. Am Tage sieht man sie
wohl, aber hört sie fast gar nicht. Des Nachts aber hört man sie gehen wie
ein großes Herz.

       *       *       *       *       *

Diese Waschkanne vor mir -- nimm die Zeit von ihr: und sie stürzt zusammen
in nichts. Die Zeit macht erst den Raum.

       *       *       *       *       *

Das Amüsante ist, daß es nun, seit dem Auftreten des Menschen, auf einmal
Vergangenheit und Zukunft gibt (von vielem andern ganz zu schweigen), als
hätte die ganze Wirklichkeit nur darauf gewartet, sich von ihm in vorn und
hinten, oben und unten, früher und später usw. einteilen zu lassen. O
Mensch, du Kindskopf aller Kindsköpfe, o Wissenschaft, du grandioses
Orientierungs-System dieses Kindskopfes, nichts weiter!

       *       *       *       *       *

Gestern und morgen haben im All keinen Sinn. Das All war weder, noch wird
es sein, -- es ist. Und so _war_ nichts von dem, was wir 'vergangen'
nennen. Alles 'Vergangene' _ist_. Vergangenheit wie Zukunft sind nur
Formen der Gegenwart.

       *       *       *       *       *

Für Pflanze und Tier gibt es das Wort ewig nicht und daher auch keine --
Ewigkeit. Es sollte sie auch für uns nicht geben. Wir _sind_. Wir werden
nie sein, ebensowenig, wie wir je waren. Die Ewigkeit ist in jedem Moment
'gelebte Gegenwart' -- oder sie ist nicht.

       *       *       *       *       *

Schauerlich, zu denken, daß alles nur 'in der Flucht' ist. Es gibt nichts,
als den _Moment_, in dem fortwährend alles ist.

So wie 'ich' von Sekunde zu Sekunde lebe und mir dessen bewußt bin --
(aber das alles ist nicht ich, das ist die Unendlichkeit, die in mir
fortwährend weiter lebt) so lebt die gesamte Wirklichkeit wie ein einziger
gigantischer Körper in ihrer eigenen, von mir ihr vermittelten Vorstellung
von Sekunde zu Sekunde.

       *       *       *       *       *

Alle Vergangenheit existiert nur als lebendige Erinnerung eines
gegenwärtigen Kopfes.

Alle Vergangenheit ist eine Selbsterinnerung Gottes.

       *       *       *       *       *

Die Welt ist eine sich ewig fortentwickelnde Kugel, deren Oberfläche --
hier der dies von ihr aussagt.



1908


Ist nicht einmal dasselbe Wort in deinem Munde je dasselbe, so bist auch
wohl du selbst ein in jeder Sekunde Neuer, noch nie Dagewesener,
Niemehrsodaseinwerdender. Und nicht du allein: Alles ist fortwährend neu,
frisch, einzig, einmalig. Dies ist das Geheimnis des Lebens und damit
Gottes, als eines ewig Seienden, ohne auch nur die Möglichkeit
irgendwelcher Starrheit.

       *       *       *       *       *

Bewußtsein: Wir stehen an einem Ende, wir sind ein Anfang.

       *       *       *       *       *

Nicht nur Fortdauer, -- -- _Ziel_dauer.

       *       *       *       *       *

_Die Axt_. (Fundamentalsätze.)

1. Keine Geschichte

2. Keine toten Gegenstände

3. Sprache -- Prozeß.

       *       *       *       *       *

Alle Materie ist ja nur geistiges Arrangement.

       *       *       *       *       *

Aus einem Drama. Ein Freund zum andern (drohend): Die Welt wird doch keine
Narrheit sein, -- _Du_!?

       *       *       *       *       *

Wer das Gebet in irgend einer Form wieder in unser Leben zurückbringt --
er wird uns Ungeheures wiedergegeben haben.

       *       *       *       *       *

Was ist Religion: Sich in alle Ewigkeit weiter und höher entwickeln
wollen.

       *       *       *       *       *

Einen Tempel bauen mit der Aufschrift: Dem heroischen Leiden.

       *       *       *       *       *

Es gibt keinen größeren Stilisator in der Natur als den Tod. Gib das Leben
dem Tod in die Hand und du übergibst es -- seiner Kultur. Selbst mit dem
Menschen ist es nicht anders. Je mehr uns der Tod in Händen hat, desto
höhere Kunstwerke werden wir.

       *       *       *       *       *

Im Menschen vollendet sich und endet offenbar die Erde. Der Mensch -- ein
Exempel der beispiellosen Geduld der Natur.

       *       *       *       *       *

Wer mag denn wissen, ob unsere Erde in der Rangstufe der Planeten nicht
eine der untersten, niedersten ist? Ob sie der Mehrzahl anderer
Wandelsterne nicht etwa vorkommen möchte, wie einem Paris, einem London
der Marktflecken Schildburg, oder wie einem Lionardo sein Hund oder sein
Pferd.

       *       *       *       *       *

'Der Übermensch ist der Sinn der Erde' -- das heißt: der Erde Sinn ist ihr
Untergang in -- Höheres.

       *       *       *       *       *

Gefühl von Gnade: seliges Vorgefühl des uns zum Heil, unserer ganzen
Entwickelung nach, Erwartenden -- ohne den _vollen_ Glauben, daß es auch
wirklich kommen werde und ohne jeden Glauben daran, daß man es wirklich
verdiene. Ein Gefühl, der objektiven Wahrheit zwar vielleicht nicht
entsprechend, aber eine Schönheit des Herzens, ein Mehr -- als --
Wahrheit.

       *       *       *       *       *

Alles Vollkommene darf angebetet werden, freilich nicht, daß es uns etwas
schenke (außer sich selbst durchs Mittel seiner Schönheit), sondern
angebetet im Sinne ehrfürchtiger Liebe.

Ja, _dies_ Gebet, als kein Bitten um irgend etwas andres als um die immer
reinere Offenbarung der Schönheit des Angebeteten soll bleiben, soll als
das _neue_ Gebet _wiederkommen_, nachdem wir das alte in uns
niedergekämpft, ohne doch je vergessen zu können, daß es nicht nur eine
Form des gemeinen Bedürfnisses, nein, noch weit mehr war: eine Form des
edelsten Bedürfnisses der Seele: der Liebe. Als Liebe darf das Gebet
wieder auferstehen, frei werden.

       *       *       *       *       *

Gott ist der tiefste Gedanke, den der Mensch je gedacht hat. Gott ist der
eigentliche Gedanke der Erde, der einzige all unsrer Gedanken, der,
geschweige denn in Jahrtausenden, innerhalb ihres, der Erde, ganzen
Daseins nicht zu Ende gedacht werden kann. Gott ist die große Frage der
Erde, aller Erden: Ihr Leben ihre offenbare zugleich und geheime Antwort.

       *       *       *       *       *

Es ist eines der tiefsten Worte: Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Gott
ist die Möglichkeit aller Möglichkeiten.

       *       *       *       *       *

Göttliches (Theon) immer wieder in unzähligen Lebenslinien, Lebensläufen,
Gott werdend (Theos) ... Gott ein ewiger und unendlicher Prozeß des
Sich-Verlierens und Sich-Gewinnens ... Gott ein ewiges Ringen zahlloser
dumpfer und lichter Individuen um Sich, als Schönheit der Schönheit. --
Sich fortwährend auf irgend einer höchsten Formenstufe als diese gewinnend
und besitzend und beschließend ... und doch nie _ganz_ und überall und
gleichzeitig vollendet.

       *       *       *       *       *

Im Kugelbegriff grenzt sich Gott gegen sich selbst ab. Gott ist, worin
dieser letzte Begriff als in seiner höheren Einheit aufgeht.

       *       *       *       *       *

Vielleicht wird jeder Planet so alt, bis er sich selbst erkannt und damit
vollendet hat, oder doch so, wie Goethe sagt: der Mensch muß von einem
gewissen Zeitpunkte an wieder ruiniert werden.

       *       *       *       *       *

So wie ich -- außer etwa als mystischer Seher -- den Geistkörper des
Menschen nicht schaue, so schaue ich auch nicht den Geistkörper der Erde.
Und doch muß auch der Planet als Ganzes seinen Geistkörper haben und wer
weiß, ob er damit nicht Brust an Brust mit Geistkörpern andrer Sterne
lebt, sodaß ...

       *       *       *       *       *

Ein Kunstwerk schön finden, heißt, den Menschen lieben, der es
hervorbrachte. Denn was ist Kunst andres als Vermittlung von Seele. Eine
Landschaft schön finden, heißt, uns ihrer als eines göttlichen Geschenkes
unbekannter Mächte freuen. Dankt meine Ergriffenheit z.B. dem Meere
selbst? Nein, sie dankt den schöpferischen Geistern, der ganzen Natur
dafür, dem schöpferischen Geist -- des Lebens selber. Interesselos aber
ist mein Wohlgefallen am Schönen so wenig, daß es vielmehr alles tiefste
Schöpferische in mir aufregt und, indem es ihm Gelegenheit gibt im
ausgiebigsten Maße 'mitzutun', bis zu einem gewissen Grade zugleich
befriedigt. Nur bis zu einem gewissen Grade -- denn über dies Befriedigen
hinaus bleibt noch -- ob bewußt oder unbewußt -- etwas von jener nie ganz
gestillten Sehnsucht, die wir allem gegenüber empfinden, was uns zur Liebe
zwingt: die Sehnsucht, es noch mehr, noch besser, noch gründlicher zu
lieben, als wir es lieben _können_, des Wunsches einer noch viel
vollkommeneren, sublimeren Liebe, die den Dank wirklich zu erstatten
vermöchte, den wir fühlen.

       *       *       *       *       *

Weil wir niemals und nirgends etwas Totem gegenüberstehen, sondern
immerdar dem Ausdruck irgendeines Willens -- so ist alles Empfinden die
unmittelbare Aufnahme jenes fremden Willens in unsern, auf die jedoch
sofort auch seine Wiederausstoßung folgt, seine Distanzierung,
Zurückweisung, Objektivierung. -- Das Bild der Welt bietet so im Großen
und Fortwährenden das Bild der -- Liebe, als welche ein ewiger Wechsel zur
Einheit zusammenfließender Zweiheit und in Zweiheit sich
sichselbstgegenüberstellender Einheit ist.

       *       *       *       *       *

Jeder konsequente Monismus führt unabänderlich zum -- Dualismus. Denn eine
absolute Einheit verträgt der menschliche Geist niemals. Und wo er ihr
nicht entweichen zu können glaubt, wie in Schopenhauer, _verneint_ er.

Aus diesem Grunde könnte auch die Gottheit ihrer schauerlichen Einheit in
Legionen Vielheiten entflüchtet sein, von zwei Leiden das kleinere
wählend.

       *       *       *       *       *

Die Welt als _Trieb_ und Vorstellung -- diese Fassung hätte vielleicht
manches Mißverstehen Schopenhauers unmöglich gemacht.

       *       *       *       *       *

Die Welt ist nicht bloß Pflanze, oder Tier, sondern -- Mensch!

       *       *       *       *       *

Immer wieder Gott zu werden: Ziel aller kosmischen Entwickelungen.

       *       *       *       *       *

Beobachte doch, wie alles Menschliche sich fortwährend selbstkorrigiert.
Wie sich ein ganz bestimmter -- und nicht nur beliebiger oder
'notwendiger' -- Sinn des Lebens entwickelt, vielfach verschleiert, aber
immer wieder hervorbrechend, sich immer reiner klärend und persönlicher
enthüllend.

       *       *       *       *       *

Wenn wir tausend Jahre wie einen Tag übersehen könnten, so würden wir die
Entwickelung der Menschheit mit unheimlicher Schnelligkeit sich vollziehen
sehen. So aber 'sieht' vielleicht der Planet. Wir sehen nur die Individuen
wachsen, er -- die Typen.

       *       *       *       *       *

Sollte in immer höherer Erkenntnis und Liebe (in immer höheren Formen)
nicht die Möglichkeit immer höheren Glückes liegen? Welche Genugtuungen,
wieviel demütiger Dank, wieviel namenloser Jubel steht uns vielleicht noch
bevor! Denn immer wieder, wenn alles, was ist, sich unaufhörlich höher
ver- und emporgottet -- wo braucht es eine Grenze zu finden, wo hat Gott
-- ein Ende? Solch ein Aspekt aber ist erst einer Gottheit würdig: -- der
ins Ewige und Unendliche.

       *       *       *       *       *

Das Sein, das ist das Unvergängliche in uns, das Werden, das, als was wir
dahingehen. Wie können Sein und Werden Gegensätze sein, wenn sie doch an
uns in jeder Sekunde Eins sind, wenn das Ewig Seiende im Ewig Werdenden
unaufhörlich 'ist'!

       *       *       *       *       *

Warum sollte dies mein Leben ein Anfang oder Ende sein, da doch nichts ein
Anfang oder Ende ist. Warum nicht einfach eine Fortsetzung, der unzähliges
Wesensgleiche vorangegangen ist und unzähliges Wesensgleiche folgen wird.

       *       *       *       *       *

Die Vorstellungen von Lohn und Strafe -- müssen sie deshalb jeder tieferen
Wahrheit entbehren, weil wir sie heute schroff ablehnen? Was hat sich
eigentlich geändert? Daß wir uns heute unser Schicksal mehr oder minder
selbst zu bereiten glauben, während wir früher glaubten, daß es uns
bereitet würde. Ist nicht nur die Optik eine andere geworden, nur die
Optik?

       *       *       *       *       *

Man soll sich seiner Krankheiten schämen und freuen; denn sie sind nichts
andres als ausgetragene Verschuldung.

       *       *       *       *       *

Zukunft! -- un-er-schöpfliches Wort! O Lust zu leben! O Lust, zu -- --
sterben!

       *       *       *       *       *

Wohin können wir denn sterben, wenn nicht in immer höheres, größeres --
Leben hinein!

       *       *       *       *       *

Immer wieder: Nicht so sehr, was wir denken, ist das Höchste. Das Höchste
ist das _Denken selbst_. Es allein _verbürgt_ uns mit eherner Sicherheit
den mit uns geborenen Gott.

       *       *       *       *       *

-- -- -- An der Pforte steht das Grauen.

       *       *       *       *       *

Man versteht den Menschen erst -- sub specie reincarnationis.

       *       *       *       *       *

Die Hochzeit zu Kana. Christus verwandelt Wasser in Wein: Was bisher als
Wasser (Mensch) gegolten, wird durch sein Offenbarungswort Wein (Gott!).



1910


A. Was, was ist's, was den Menschen vom Christus trennt; sagen Sie mir
das, können Sie mir das sagen?

B. Ja, das kann ich. Der _Philister_ in ihm.

       *       *       *       *       *

Wir stehen nicht am Ende, sondern am Anfang des Christentums.

       *       *       *       *       *

Der Gedanke Gottes muß freilich der Tod des Individuums sein. Darum hält
er sich auch im Allertiefsten besser als im Vordergrund auf.

       *       *       *       *       *

Die Menschheit ist ein großes Kind, dem feindliche Mächte unaufhörlich
neues Spielzeug schaffen helfen, damit es sich nicht wesentlich
entbabysiert. Was muß sie dagegen tun? Das Spielzeug, soweit es irgend
geht, -- spiritualisieren, das heißt sich von ihm nicht materialisieren
lassen.

       *       *       *       *       *

Wenn du die Lage einer Hütte auf einem Berge betrachtest, so machst du
leicht deinen Standpunkt zu dem ihrigen, uneingedenk dessen, daß sich die
Welt von da droben ganz anders ausnimmt als von dir aus. Ja, dies verhält
sich bis zu einem gewissen Grade selbst dann noch so, wenn du dich mit
aller Einbildungskraft auf ihren Standpunkt zu versetzen bemühst. Um einen
Standpunkt _ganz_ verstehen und würdigen zu können, muß man diesen
Standpunkt selbst einnehmen oder wenigstens einmal eingenommen haben.

Aus diesem Grunde läßt sich alles Göttliche nicht eigentlich beurteilen,
es sei denn von Menschen, die in persona im Über-Menschlichen zu verkehren
vermögen.

       *       *       *       *       *

Die Menschheit schleppt am Boden. Gefesseltes aller, ach viel zu aller,
Art. Darunter ab und zu ein Adler. Auch er mit Fußring und Bleikugel. Aber
ein ander Schauspiel doch, als all das andre. Er gewöhnt das Schleppen
nicht, das alle andern mehr oder minder gewöhnen. Er empört sich sein
ganzes langes Leben lang, flüchtet empor, strebt empor, königlich und
unablässig. Auch er vermag sich nicht wirklich in die Luft zu schwingen --
und das weniger, weil er die Gewichte am Fuß nicht zu heben imstande ist,
als weil ihn das ungeheure Gewimmel um ihn nicht los, nicht hoch läßt, --
besser noch, weil er's nicht mit hochziehen _kann_, -- aber er bleibt ein
lebendig Memento Coeli, er verliert seine Göttlichkeit nicht an den
Alltag, den Staub und die Straße, nicht an den Trott der Millionen.

       *       *       *       *       *

Wer das feine zweite Ohr für den Souffleur hat, sieht die Geschichte der
Menschheit anders an.



1911


Werden wir hier auf Erden nicht schon von sichtbaren Lehrern erzogen und
immer weiter befruchtet? Ist irgend ein großer Mensch, dem wir etwas
verdanken, nicht unser Meister? Ist so das Leben nicht ein
fortschreitendes Lehren und Lernen?

Und sollte das nach dem Tode der leiblichen Persönlichkeit -- aufhören?

       *       *       *       *       *

Wenn die Menschen sich weiter entwickeln, müssen auch ihre Götter sich mit
und weiter entwickeln, all die geistigen Wesenheiten, die an ihnen
gearbeitet haben und arbeiten. Der Lehrer, der das Kind bis zu dessen
zwanzigstem Jahre geleitet hat, wird dann ebenfalls um zwanzig Jahre
gealtert, gereift, weiter entwickelt sein. Wer überhaupt göttliche
Demiurgen annimmt, der soll sie nicht als starre Götzen verehren.

       *       *       *       *       *

Wir sollten wohl so vor dem Mysterium von Golgatha empfinden: Nicht nur:
ein Gott _opfert sich_ für seine Welt. Sondern ebenso: er opfert sich für
_seine Welt_. Für seinen eigenen ungeheuren tragischen Schöpfungsprozeß,
Schöpfungskomplex. Oder, um die Majestät dieses Unausdenkbaren zu mildern:
für den Menschen, seinen Sohn, seine Tochter. Denn vielleicht ist für den
Gott, dem die Entwickelung seiner Schöpfung, seines Geschöpfes vor Augen
steht, die von ihm selbst so verhängte und heraufgeführte Art und
Notwendigkeit dieser Entwickelung ein noch ganz anderer Schmerz, als der
seines Kreuzweges und Opfertodes. Vielleicht wird Christus erst dann von
uns noch ganz anders ahnungsvoll begriffen werden, wenn wir uns in die
Tragik eines Weltenschöpfers zu versenken suchen, dessen Wesen Liebe ist
-- stark und unaufhörlich wie die Sonne --, dessen Wille es ist,
selbständige ebenbürtige Weltengötter, Weltenschöpfer, durch Äonen und
Äonen heranreifen zu lassen, und dessen abgrundtiefe Weisheit es ist, den
Schmerz in allen seinen Graden und Formen als Bildner zu wollen oder doch
wenigstens zuzulassen. Glaubst du nicht, daß Sein Leid über alle Leiden
der Welt das Leid all dieser Leiden übertrifft, -- denn noch wie anders
leidet ein Gott als ein Mensch --? Sollten wir nicht dieses Leiden des
Gottes Christus, als Gottes, zu sehr verkennen hinter dem Leid des Gottes
Christus, als Menschen, in der Maja des Jesus von Nazareth?

       *       *       *       *       *

Es ist ein ungeheures Schauspiel, mit welcher grenzenlosen Freiheit in
einem Kosmos, wie dem unsern, alles seine Wege gehen darf. Jede Meinung,
jede Handlung ist erlaubt. Jedes Wort, und sei es noch so wunderlich oder
verkehrt, kann gesagt werden, jede Urteilsnuance bis zur höchsten
Erkenntnis der Wahrheit hinauf, bis zur tiefsten Schmach der Verblendung
hinab darf da sein und ist da und unterliegt keinem andern Gesetze, als
dem der allmählichen Selbstkorrektur im Sinne einer von Liebe geläuterten
Vernunft.

       *       *       *       *       *

Das ist das Fruchtbarste an großen Menschen, daß ihr Anblick den, der sie
langsam zu erkennen beginnt, bis in den Tod hinein beschämt. -- Eine
Erfahrung, von welcher aus der Mensch ahnen kann, was ein -- Gott für ihn
sein müßte, wenn er sich wirklich in ihn versenkte.

       *       *       *       *       *

Kein größerer Irrtum als der: der Mensch sei dazu da, es jemals gut zu
haben. Nie gut _haben_ soll er es -- außer höchstens, daß ihm die Kraft zu
weiteren Kämpfen wachse --; denn sonst 'bekäme' er es nie 'gut'; dann
nämlich, wenn er, nach Äonen und unzähligen Wandelungen, seinen Kosmos
absolviert haben wird: Und eine Heerschar Gottes-Söhne mehr zu neuem
Schaffen gereift steht.

       *       *       *       *       *

Wen Gott lieb hat, den züchtigt, den -- züchtet er. Und so ward er die
Welt, Sich Selbst zur -- Zucht.

       *       *       *       *       *

Die Menschheit hat längst alles empfangen, was zu empfangen ist. Aber sie
muß es immer wieder von neuem und in immer wieder neuer Form empfangen und
verarbeiten.

       *       *       *       *       *

Die Lehre der Reincarnation z.B., sie ist längst da. Aber sie mußte eine
Weile beiseite gelassen werden -- die ganze europäische Zivilisation geht
auf dies Beiseitelassen zurück. Jetzt hat dieser Zyklus das Seine erfüllt,
jetzt darf sie, als eine unermeßliche Wohltat, in den Gang der westlichen
Entwickelung wieder eintreten. In einem Sinne, der erst jetzt möglich ist,
zweitausend Jahre nach der Erscheinung des Christus, in einem ganz andern
Sinne als je vorher, wird sie jetzt von neuem die Menschheit befruchten,
erleuchten, erlösen.

       *       *       *       *       *

Im Grunde gibt es den einzelnen Menschen garnicht. (Er bildet sich's bloß
ein.)

       *       *       *       *       *

Was reden wir von den alten Ägyptern, Persern, Indern. Reden wir doch von
_uns_ alten Ägyptern, Persern, Indern! Oder, wenn Jakob Böhme bei der
Erschaffung der Welt dabei war, war er dann bei der Entstehung der Veden
abwesend?

       *       *       *       *       *

Die Menschen sind heute so weit gesunken, daß sie sich 'genieren' vom
Wesentlichsten ihres und alles Lebens zu reden. Gott, Christus,
Unsterblichkeit sind in gewissen Kreisen so verpönt, wie in andern Hemd,
Hose, Strümpfe; es gehört nicht zum guten Ton, nicht zum savoir vivre, sie
nicht völlig zu ignorieren. Nur der 'weiß' heute zu 'leben', der in der
Tat nicht mehr weiß, was leben heißt.

       *       *       *       *       *

Ahnten die Mütter, wie ganz anders eine Mutter ihr Kind anblickt, die sich
den Lehren der Wissenden in rechter Weise erschlossen, -- nicht Eine würde
damit unbekannt bleiben wollen.

       *       *       *       *       *

Mein Gott, mein Gott, in jeder Sekunde geschieht irgend etwas andres
Unsägliches auf Erden -- und die Menschen wollen es nicht anders und die
Menschen wollen es nicht anders. Denn sonst würden sie ihr Leben anders
einrichten, sonst würden diese Schmetterlinge endlich Ernst zu machen
versuchen.

Auf welcher Stufe steht noch der Mensch! Wie noch viel furchtbarer wird er
leiden müssen, damit er nicht als Mumie im Weltall bleibt, damit Gott in
diesem gefährlichen Schöpfungsabenteuer nicht zu Schaden kommt.

Als ich noch jung war, da dachte ich, die Zeiten des Leidens lägen mehr
hinter uns als vor uns. Jetzt sehe ich fast nicht ein Ende. Zu viele
Seelen gibt es, zu viele. Der Fall in die Materie war zu tief --

       *       *       *       *       *

Man glaubt heut, der Mensch stamme vom Tiere ab. Wie aber, wenn umgekehrt
die Tiere Ableger der Menschheit wären, zurückgebliebene Menschheit,
voreilige, vorwitzige, und deshalb in einem zu frühen Zustand
festgehaltene Menschheit?

       *       *       *       *       *

Jede Schöpfung ist ein Wagnis.

       *       *       *       *       *

Ich hatte mich in 'Gott' verloren. Aber Gott will nicht, daß wir uns in
ihm verlieren, sondern daß wir uns in ihm _finden_, das aber heißt, daß
wir Christus in uns und damit in ihm finden. Daß du den Christus in ihm,
daß du dich als Christus in ihm findest.



1912.


Wer in das, was von Göttlich-Geistigem heute erfahren werden kann, nur
fühlend sich versenken, nicht erkennend eindringen will, gleicht dem
Analphabeten, der ein Leben lang mit der Fibel unterm Kopfkissen schläft.

       *       *       *       *       *

Der 'Glaube' -- und dem entsprechend der Unglaube -- an Gott gehört einer
gewissen Periode der Menschheit an: er ist -- im tiefsten Ernst gesprochen
und den Begriff Humor so geistig wie möglich gefaßt -- ein Kapitel ihres
unfreiwilligen Humors. Es handelt sich in Wirklichkeit allein um das von
Gott mögliche Maß von Wissen. Nicht um Gottesglauben, sondern
Gottesforschung, Gotteswissenschaft.

       *       *       *       *       *

Der Mensch will schon lange genug wieder frei werden von der nur
fünfsinnlichen Beschränkung, die zu seinem Wachstum allerdings notwendig
war, die er aber doch niemals ganz verlernt hat als ein Joch und eine
Schulung zu empfinden, daraus er eines Tages wieder hervorgehen werde, wie
er eines Tages hineingegangen ist: als einer, der aus Geisteswelten
hinabgestiegen ist und zu Geisteswelten wieder hinansteigt. Er _will_ es,
-- und wer einmal gefühlt hat, was der Wille des Menschen bedeutet, der
weiß auch, daß vor diesem Willen, wenn der Tag der Reife gekommen, die
Tore der alten Heimat sich auftun, wie von magischer Hand berührt. Er
weiß, daß alles im Himmel und auf Erden ihm entgegenwächst, wenn es so
weit ist; daß er nicht mehr zu darben braucht, wenn das Maß seiner
Prüfungen voll ist. Denn war auch Kant ein großer Lehrer und Erzieher, wie
viele Lehrer- und Erzieherstufen sind vom Kant-Menschen noch aufwärts, bis
dahin, wovon es heißt: La Somma Sapienza e il Primo Amore.

       *       *       *       *       *

Man denkt und empfindet heute nicht über die nächsten zehn, hundert,
bestenfalls einigen hundert Jahre hinaus. Als ob uns, Erscheinungen der
Ewigkeit, die Ewigkeit unserer Zukunft nicht gerade so anginge, wie unsere
nächsten Jahrhunderte, ja, als ob diese nicht allein aus jener richtig
bestimmt werden könnten.

       *       *       *       *       *

Werden wir krank, weil es einem plötzlichen Gewitterregen oder einem
herabrutschenden Dachziegel so gefällt? Oder weil unsere Eltern krank
waren oder weil rings um uns Krankheit herrscht? Oder weil wir uns selbst
die Krankheit irgendwie verschrieben haben, auf daß sie uns von etwas
Schlimmerem, von einer Leidenschaft, oder einem Irrtum etwa -- heile? Vor
der Geburt schon verschrieben, aus einer, obzwar nicht minder
individuellen aber zugleich viel höheren Weisheit und Erkenntnis, als
deren wir uns in unserer gegenwärtigen Wiederverkörperung bewußt sind?

       *       *       *       *       *

Man spricht gern von dem sinnlosen Tod eines Einzelnen, von den
unschuldigen Opfern einer Katastrophe. Aber besser würden nur solche
Anschauungen als sinnlos oder unschuldig empfunden. Man sollte sich des
Wortes Sinnlosigkeit vor und in einem Kunstwerk, wie es das All ist,
entschlagen und sich zwingen, das Verständnis einer jeden Erscheinung
lieber vergeblich heranzuwarten, als sie als alogisch zu verleumden,
innerlichst davon durchdrungen, daß am Ende doch mehr Weisheit im Kosmos
herrschen dürfte, als dem eigenen Kopf just offenbar, ja, daß ein Kosmos
sinnvoll nach dem Sinne solches Aburteilens und Besserwissens aufgebaut,
sicherlich schon in seinem allerersten Anfange wie ein Kartenhaus
zusammengestürzt wäre. Was, ebenso, die Unschuld der Opfer anbetrifft, so
kann ein Mensch nicht deshalb kurzerhand unschuldig genannt werden, weil
er einer Katastrophe zum Opfer fällt. Er hat freilich gemeinhin vorher
nicht gestohlen, aber selbst das Durchschnittsbewußtsein glaubt -- gesetzt
es handelt sich nicht um Kinder -- so leicht nicht an einen schlechtweg
schuldlosen Menschen. Ein höheres Bewußtsein verwirft den Begriff der
Schuldlosigkeit ganz, vorbehält jedoch noch die Unschuld des Kindes. Eine
dritte Einsicht weiß, daß auch dem Kinde nicht Unschuld, im letzten
Verstande, zugesprochen werden kann, da es als seelisch-geistiges Wesen
keine Neugeburt, sondern eine Wiederverkörperung ist, also ein volles Maß
von eigenem Menschlichen vom ersten Tag an in sich birgt und weiter
auszuwirken hat. Für dies Bewußtsein gibt es keine unschuldigen
Opfer, keinen sinnlosen Tod, ihm löst sich alles in von allertiefstem
Sinn durch- und überwaltete -- wenn auch deshalb nicht weniger
tragische -- Enwickelung auf.

       *       *       *       *       *

Die Menschen sollen einander lieben, aber damit ist nicht gesagt, daß
ihnen dies nicht so schwer wie möglich gemacht wird und fallen soll, denn
es gibt keine wohlfeile Liebe. Es gibt nirgends im Kosmos des Kreuzes
billige Errungenschaften, und wie wäre er sonst auch seines Meisters und
seiner Bestimmung würdig.

       *       *       *       *       *

Von wie vielen geistigen Überwindungen und Siegen hat mancher Mensch schon
gelesen und gehört, wie viele Dichter und Weise und Religionsstifter und
-- Götter haben für ihn gelebt und sind von ihm kennen gelernt und wohl
auch erlebt worden! Und doch fällt in der Stunde eines schweren Schicksals
alles von ihm ab und nur sein eigen Los und Leid steht vor ihm, und nichts
gilt dann mehr, nicht einmal Gott. Was half ihm nun sein ganzes geistiges
Leben während langer Jahre, ja vielleicht Jahrzehnte? Nichts: denn er hat
es nicht mit seinem Innenleben verknüpft, verbunden, vermählt, er war zu
wenig re--ligiös. Er wuchs nicht zusammen mit jenem Höheren. Und so hat er
jetzt auch keinen Halt an ihm und bekommt keine Kraft von ihm -- und steht
jetzt so arm wie am Anfang, ja ärmer als zuvor.

       *       *       *       *       *

'Hat die Religion eine Zukunft?' So gut, wie derjenige, der so fragt, eine
Zukunft hat, in der er, wie zu hoffen steht, solchen Fragestellungen
entwachsen sein wird.

       *       *       *       *       *

Die Geschichte der Menschheit ist ein Ringen der Konsequenz gegen die
Inkonsequenz (resp. Dumpfheit) und die Konsequenzlosen. Alle Konsequenz
führt zu Gott, alles, was darunter, in Maja.



1913


So wie der winzige Same in die Erde fällt, um die Urpflanze zu wiederholen
und nicht nur zu wiederholen, so ist der Mensch ein Samenkorn Gottes. Die
Sonne aber, die ihn reift, ist Christus.

       *       *       *       *       *

'Und Sie glauben wirklich, daß dort oben im blauen Himmel Geister und
Götter herumspuken?'

'Sie spuken dort nicht herum, sondern sie wirken und schaffen von dort und
überall her an uns und der Welt und sie spuken so wenig herum, wie es hier
in dieser Tanne oder dort in jenem Berge 'herumspukt'. Weder Tanne noch
Berg sind ohne geistige Erbauer, geistige Erhalter, geistige Weiterbildner
denkbar, noch mehr, sie sind integrierende Bestandteile, Glieder,
Leibesteile (wie Sie wollen) geistiger Wesenheiten.'

       *       *       *       *       *

Wenn man eine Geschichte der Weltliteratur aufschlägt, so scheint alles in
schöner Einheitlichkeit vor einem zu liegen. Die älteste wie die neuste
Dichtung sind ohne Weiteres auf die gleiche Quelle zurückbezogen, nämlich
auf den Menschen, so wie man ihn heute versteht, einen Typus, den man nach
dem Bilde der gegenwärtigen Menschheit geschaffen und als ungefähren
Normaltypus für alle Zeiten und Länder festgesetzt hat.

Die Wirklichkeit jedoch kennt keinen solchen Generalnenner. Der Mensch
verwandelt sich fortwährend und steht in den verschiedenen Zeitaltern in
verschiedenem Zusammenhang mit der geistigen Welt. Er war seiner nicht
immer so bar wie heut, aber er ist dies selbst heute nicht in dem Maße,
wie angenommen zu werden pflegt. Ja noch mehr, er ist im Begriff, ihn
langsam wieder zu gewinnen, und behält damit, da es im Licht seiner vollen
Vernunft geschieht, der Welt ein noch nie erlebtes Schauspiel vor: das
Bewußtwerden seiner, des Menschen, des menschlichen Geschlechtes, selbst,
als, um es so auszudrücken, einer für sich besonderen kosmischen
Hierarchie. Daß die Welt eine -- richtig verstanden -- Gedachtheit Gottes
ist, erscheint uns nur darum so fremd, weil _unsere_ Gedanken so blaß und
schemenhaft sind. Wenn wir denken, so denken wir Schatten. Gott denkt
Realität. In Ihm ist daher Denken und Welt eins.

       *       *       *       *       *

Man muß Gott schon in Zwei teilen, wenn seine schönste Empfindung, die
Liebe, nicht allerletzten Endes Selbst-Liebe sein soll.

       *       *       *       *       *

Ist dies nicht alles Schöpfung, merkwürdige, wunderliche Schöpfung? Dieser
Schrank, diese Bettstatt, dieses ganze Zimmer? Ist nicht dies alles aus
Einem Grundgedanken heraus entstanden, aus Einem mathematischen
Grundgedanken?

Stimmt darin nicht alles irgendwie zusammen?

Und von diesem Gedanken: daß dies alles Schöpfung aus dem Nichts ist! --
ist es da noch weit zu dem Gedanken eines Schöpfers und ganzer Reiche und
Stufenfolgen von Helfern desselben -- noch weit zu dem Gedanken, daß
hinter allem und jedem -- Geist steckt und nicht bloß alleiner,
unterschiedloser Geist, sondern differenzierter, tausendfältig gearteter,
gestufter Geist? Ist vom Staunen über Mensch, Tier, Pflanze und Mineral
mehr als ein Schritt zum Ahnen unsichtbarer Wesenheiten und davon mehr als
ein Schritt zum Glauben, daß es Lehren und Lehrer geben könne, nein, zur
Überzeugung, daß es Lehren und Lehrer geben -- müsse, in jene Geisterwelt
offenen Sinnes hineinzudringen ...



NACHWORT


Die Vorarbeiten zu diesem Buch hat Christian Morgenstern noch selbst
besorgt. Am weitesten gefördert von seiner Hand war der Abschnitt:
'Tagebuch eines Mystikers', den er ursprünglich in einen vorwiegend
autobiographisch gedachten Roman aufnehmen wollte. Mir blieb die Aufgabe,
das vorhandene, zumeist noch über viele Taschenbücher verstreute Material
nach seinem, öfter ausgesprochenen Plan zu sichten und dem bestehenden
Rahmen einzufügen. Er sagt in einem Vorwortfragment für diese Sammlung:
'Es liegt mir nicht daran, mit diesen durch Jahre gehenden Notizen ein
neues Büchlein Aphorismen zu anderen zu geben. Es liegt mir nicht daran,
mich irgendwie als Mystiker oder dergleichen herauszustellen. Zweck dieser
Blätter ist allein der, aus einem Stück Entwickelung das zu lernen zu
geben, was ein Stück Entwickelung nun eben zu lernen geben kann.'

Diese Absicht wäre zweifellos noch eindringlicher verwirklicht worden,
wenn der Verfasser selbst die Gestaltung des Buchs hätte vollenden können;
ganz abgesehen davon, daß dann auch im Einzelnen mancher der Sätze
überarbeitet worden wäre.

Für einen Zeitraum von fast sieben Jahren (1898 bis 1904) haben sich die
Aufzeichnungen bisher noch nicht auffinden lassen. Der Charakter dieser
mehr skeptischen Periode ist jedoch durch etliche Aphorismen des
vorliegenden Bandes immerhin noch angedeutet.

Den Freunden meines Mannes, Friedrich Kayßler und Michael Bauer, die mir
bei der Herausgabe behilflich waren, sei auch an dieser Stelle gedankt.

_Breitbrunn_ am Ammersee, November 1917

     _Margareta Morgenstern._



INHALT


Autobiographische Notiz
In me ipsum
Natur
Kunst
Literatur
Theater
Sprache
Politisches Soziales
Kritik der Zeit
Ethisches
Lebensweisheit
Erziehung Selbsterziehung
Psychologisches
Erkennen
Weltbild:
   Anstieg
   Episode, Tagebuch eines Mystikers
   Am Tor
Nachwort des Herausgebers





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Stufen - Eine Entwickelung in Aphorismen und Tagebuch-Notizen" ***

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