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Title: Sturmzeichen Author: Skowronnek, Richard, 1862-1932 Language: German As this book started as an ASCII text book there are no pictures available. *** Start of this LibraryBlog Digital Book "Sturmzeichen" *** Sturmzeichen Ullstein-Bücher Eine Sammlung zeitgenössischer Romane [Illustration] Ullstein & Co / Berlin und Wien Sturmzeichen Roman von Richard Skowronnek [Illustration] Ullstein & Co / Berlin und Wien Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung vorbehalten. -- Copyright 1914 by Ullstein & Co. In den ersten Maitagen hat die »Berliner Illustrirte Zeitung« den Abdruck meines, im vorigen Jahre geschriebenen Romans begonnen. Als es Hochsommer war, kam die österreichische Note an Serbien, die Mobilmachung Rußlands und an dem denkwürdigen vorletzten Julitag die Erklärung des Kriegszustandes für das deutsche Reichsgebiet. Seitdem hat sich in all seiner großartigen Wucht das gewaltige Drama verwirklicht, der europäische Krieg, dessen Nahen die »Sturmzeichen« ankündigten. Aus der deutsch-russischen Spannung, die die Volkskämpfe am Balkan hervorriefen, ist die Idee meines Romans geboren. Ich wußte, wie es jenseits der russischen Grenzpfähle, in den Kosakenquartieren aussah, ich wollte warnen und zugleich meine ostpreußischen Landsleute schildern in ihrer gelassenen Ruhe und ihrer unbeugsamen Kraft. So ist das Grundgefühl, das meinen Roman durchzieht, die Liebe zur Heimat. Viel Leid hat sie in den letzten Wochen erfahren, aber nur um so herrlicher wird sie aus Verwüstung und Not wiedererstehen. _Richard Skowronnek_ _Berlin_, im September 1914 1. »Neuer Sieg der Bulgaren ... die Türken in vollem Rückzuge ... zweitausend Tote, fünftausend Verwundete ... Das neueste, das neueste, das allerneueste Extrablatt ...« Gellend schrillte die laute Knabenstimme über den in vornehmer Ruhe liegenden Königsplatz, der Portier des Großen Generalstabes verließ seine Loge und trat durch die schwere Flügeltür auf die schon in abendlichen Dämmer getauchte Straße hinaus. »Kostenpunkt, Kleener?« und er griff in die Tasche. »For Sie, Herr Jeneral, jratis! Kinder unter zehn Jahren und Militär von' Feldwebel abwärts man bloß de Hälfte ...« Der kecke Junge in der Uniform einer großen Berliner Zeitung zog das oberste Blatt von dem hohen Stapel, den er im linken Arme trug, und rannte weiter: »Neuer Sieg der Bulgaren ... die Türken in vollem Rückzuge ... zweitausend Tote ... fünftausend Verwundete ...« Der Alte in dem würdigen dunkelblauen Uniformrocke befestigte umständlich einen schwarzen Hornkneifer vor den weitsichtigen Augen und entfaltete das noch feuchte Zeitungsblatt. »_Sofia_, 19. Juni. (_Telegramm unseres nach dem Kriegsschauplatze entsandten Spezialkorrespondenten_.) Sicheren Berichten zufolge, die aus dem Hauptquartier hierher gelangt sind, ist gestern den siegreichen bulgarischen Waffen ein neuer Erfolg beschieden gewesen. Der Division Radulowitsch ist es gelungen, den Feind aus seiner stark befestigten Stellung auf den Höhen von Koprülü-Burgas zu vertreiben. Die Türken verloren zweitausend Tote und fünftausend Verwundete, die Verluste auf bulgarischer Seite werden als gering bezeichnet. Die geschlagene türkische Armee befindet sich in vollem Rückzuge auf ...« Der alte Herr unterbrach sich, rückte das Blatt ein wenig näher an die Augen ... »Wie heißt das? I der Deuwel soll diese pollakschen Namen aussprechen!« Eine Sprengmaschine kam die Straße entlang, drei Jungen hinterher in hohen Stiefeln und grauen Leinenröcken führten mit eingestemmten Schiebern das rieselnde Wasser über den feuchtglänzenden Asphalt, bis es leise gurgelnd in den neben dem Trottoir liegenden Eisengittern verschwand. Der Führer der Kolonne, der mit einem langgestielten Besen der ausgiebigen Reinigung den letzten Schliff verlieh, faßte militärisch salutierend an die Schirmmütze und trat näher. »Jehorsamst juten Abend, Herr Feldwebel! Wat Neues?« »I wo doch! Ejalwech dieselbe Jeschichte. Heut' haben zur Abwechslung mal wieder de Bulgaren jesiegt. Morjen kommen de Türken und demangtieren die Meldung. Die Blase da unten lügt doller wie die Franzosen Anno 70!« »Sie meinen also, det alles, was in die Zeitungen geschrieben wird, is nich wahr?« »Na det jerade nich, 'n bißken wat wird schon dran sind. Nur sie iebertreiben ... mächtig! Aus jeder kleenen Priegelei machen se gleich 'ne Schlacht. Jeradeso wie mein Kollege Fielitz aus 'n Kriegsministerium. Der is Angler. Und jeder fingerlange Plötz, den er in' Liepnitzsee fängt an' Sonntag, is hinterher 'n Hecht. Auf 'n linken Oberarm hat er schon 'ne dicke Hornhaut, weil er jedesmal mit de rechte Hand hinschlägt, wie lang det der Hecht gewesen is.« »Und meinen Se nu, Herr Feldwebel, det wir in diese balkanischen Wirren ooch reinverwickelt werden könnten?« Der alte Herr strich den schneeweißen Kaiser-Wilhelm-Bart auseinander und versetzte streng: »Det is Amtsgeheimnis, mein Lieber! Darieber muß man den Mund halten können, vastehn Se?« Der Beamte der Straßenreinigung nahm unwillkürlich die Hacken zusammen. »Entschuld'gen Se jietigst, Herr Feldwebel! Nur jedetmal, wenn ick hier an't Jeneralstabsjebäude vorbeikomm' -- ick hab' nämlich hier den Rejong um 'n Königsplatz -- ja also, da muß ick immer denken, die da drin, die wissen't. Und wenn man vier kleene Jören zu Haus hat und 'ne kranke Frau, da macht man sich doch Jedanken. Wer ernährt denn nu det kleene Jewürm, wenn ick einrücken muß?« »Na, da wird doch for jesorgt werden!« »Kann sein, kann aber ooch nich sein! Und diese Unjewißheit is beinah' so schlimm, wie wenn's schon wirklich Krieg wär. Sie, Herr Feldwebel, merken das nich so, weil Se immer pünktlich Ihr Jehalt kriegen, aber ich! Ich bin nämlich abends Logenschließer ins Joethetheater. In zweiten Rang. Hundeleer, sag ick Ihnen! Keen Mensch hat Jeld! Wenn se sich amüsieren wollen -- for zehn Fennje in Kientopp. Vor zwee Jahren ha'ck noch mindestens 'n Taler einjenommen an Trinkjeld. Heute nich fufzig Fennje! ... Und det stand neulich sehr richtig in de Zeitung: Wenn de drückende Furcht vor'n Krieje nich von den Schultern des Volkes jenommen wird, steuern wir rettungslos den wirtschaftlichen Unterjang entjejen!« Der alte Herr schob zwei Finger der Rechten zwischen die Knöpfe seiner Uniform und reckte sich. »Janz schön, aber wie denken sich das nu die Herrschaften in der Zeitung? Soll vielleicht Seine Majestät an de Litfaßsäulen kleben lassen: 'Völker Europas, beruhigt Euch! Unsere heilijsten Jüter sind nich in Jefahr, wenn diese Mauseratzenfaller da unten sich mit de Türken 'rumprügeln!'?« Der städtische Reinigungsbeamte schüttelte den Kopf. »Nee, Litfaßsäule wär' ja nich jerade nötig. Nur, wenn er mal wieder 'ne Ansprache hält, bei 'n Dineh oder so ... Und wenn er bloß 'ne Ahnung hätt, _wie_ groß de Uffrejung in' janzen Volke is! ... Man kommt aus 'n Theater nach Hause um halb zwölf ... Um fünf in der Früh muß man schon wieder dastehen bei Kolonne, ja ... man zieht sich auf de Treppe de Stiebeln aus, um de Olle nich uffzuwecken, aber se liejt da mit jlockenklare Oogen! Und se schnüffelt mit de Neese, um de Tränen runterzuschlucken: 'Jott sei Dank, det Du man wieder da bist, Heinrich!' 'Na, wieso denn? Meenste, ick wär' unter'n Rollwagen jeraten?' 'Nee, det nich, aber wejen Mobilmachung! De Schultzen drieben in Jrienkramkeller hat aus 'n Abendblatt vorjelesen, wir müßten jetzt ooch das Schwert ziehen, wenn de Russen jejen unsere Bundesbrieder, de Oesterreicher, losjehn würden.' 'Quatsch,' sag' ick natierlich, aber innerlich is mir jarnich so. 'Unser Friedenskaiser wird doch nich uff eenmal Krieg anfangen?' 'Nee,' sagt sie, 'er nich, aber die andern! Und wat mach' ick krankes Wurm denn nachher mit die vier Jören, wenn se Dir dotschießen? Ick steck' zehn Jroschen in' Jasautomaten, laß de Kleenen Schnaps trinken, und denn den Hahn uff.'« Der alte Feldwebel legte ihm die Hand auf die Schulter. »Na, na, na, beruhijen Se man det Frauchen! Und mit det Dotschießen is es nicht so ängstlich! Sehen Se mich an! Vierundsechzig, Sechsundsechzig und Siebzig hab' ich mitjemacht, zweiunddreißig Jefechte und Schlachten. Darunter Düppeler Schanzen und St. Privat! Wat is mir passiert? De Dejenscheide haben se mir abgeschossen, so daß ick meinen Paddenspicker barfuß tragen mußt'! Wat aber ihre sonstigen Beklemmungen sind, da sagen Se ihr, Se hätten mit _mir_ jesprochen! Nach meinen Informationen -- wenn nich janz wat Dolles passiert -- is an Krieg nich zu denken! Wir halten das scharfgeschliffene Schwert in der Scheide und unser Pulver trocken!« »Na denn, Jott jebe, det es nich losjeht ...« Durch die halbgeöffnete Flügeltür kam raschen Schrittes ein junger Offizier in Generalstabsuniform. Sein offenes, frisches Gesicht, in dem ein paar kluge blaue Augen standen, hatte etwas ungemein Liebenswürdiges und Sympathisches. Er hob höflich die Hand an den Mützenschirm. »Pardon, meine Herren, wenn ich störe ... Sagen Sie mal, lieber Schmidt, ist Herr Hauptmann von Sternheimb schon gegangen?« Der Alte nahm die Hacken zusammen. »Nein, Herr Hauptmann, ich hätte es sonst sehen müssen.« »Also ich gehe langsam voran, da drüben an der Litfaßäule werde ich warten. Guten Abend.« »Jehorsamst guten Abend, Herr Hauptmann! Werd's ausrichten ...« Der Beamte der Straßenreinigung sah dem davonschreitenden Offizier wohlgefällig nach. »'n nobler Herr! Haben Se jehört, Herr Feldwebel? 'Pardong, meine Herren,' hat er jesagt! Aber det so wat schon Hauptmann is ... ick hatt' jedacht, da kommt 'n janz junger Leutnant!« »Ja,« sagte der alte Herr, und in seinem Ton klang liebevolle Bewunderung mit, »so wat von Karriere war ooch noch nich da! Een Köppken -- det wird mal so sicher Kommandierender General, wie zwei mal zwei vier is! Zum Herbst is er hier fertig, dann kriegt er in der Front 'ne Schwadron, weil er doch früher Kavallerist war, und dann kommt er nach zwei Jahren zurück in' Jeneralstab!« »I der Tausend! Wie heeßt er denn?« »Jaston Baron Foucar von Kerdesac!« »Det klingt ja so französ'sch!« »Is et ooch! Aus 'ne alte französische Refugiehfamilje!« Der Beamte der Straßenreinigung schüttelte bedenklich den Kopf. »Und denn in preuß'schen Jeneralstab? Wo er an alle Jeheimnisse 'ran kann und so?« Der alte Herr brauste zornig auf. »Se werden sich Unannehmlichkeiten zuziehn, vastehn Se? Und haben Sie 'ne Ahnung! Mein Hauptmann Anno Siebzig hieß Baron de Saint-Villiers! Ooch 'n französischer Name, aber er jing druff wie Blücher!« * * * * * Hauptmann von Foucar stand wartend an der Litfaßsäule, las mechanisch die bunten Zettel, die das Vergnügungsprogramm der Reichshauptstadt enthielten, für Leute, die Zeit hatten. Und unwillkürlich mußte er denken, fast fünf Jahre lebte er nun schon in Berlin, mit einer einzigen kurzen Unterbrechung, und von alledem, was sich da anpries, kannte er herzlich wenig. Früher, auf der Akademie, war er doch noch ab und zu einmal ins Theater gekommen, jetzt aber, seit er zum Großen Generalstabe kommandiert war, schluckte einen der Dienst mit Haut und Haaren auf. Ein bißchen einseitig wurde man dabei und vielleicht auch reichlich weltfremd, aber das war nicht zu ändern. Hinter ihm erklang das Rasseln eines Säbels, ein sporenklirrender Tritt. Er wandte sich um, statt des erwarteten Kameraden kam sein Abteilungschef gegangen. Ein hochgewachsener, hagerer Herr mit einem bartlosen Gelehrtengesicht, dem ein paar scharfblickende Augen unter buschigen Brauen einen Zug stählerner Energie verliehen. Oberst Wegener hob zwei Finger der Rechten in die Höhe des Mützenschirmes. »Na, lieber Hauptmann, studieren Sie, in welches Theater Sie gehen wollen?« Die breite Aussprache einzelner Vokale verriet den geborenen Ostpreußen. Gaston von Foucar erwiderte respektvoll den Gruß seines Vorgesetzten. »Dazu dürfte es schon zu spät sein, Herr Oberst!« »Ja, nächstens wird man sich in der alten Bude sein Bett aufschlagen müssen. Und, passen Sie auf, es kommt noch doller. Von Montag an werden wir -- wie nennt man es doch in den Fabriken -- ja richtig, Nachtschichten einlegen müssen! Na, wie ist's nun? Kommen Sie mit? Wenn ich nicht irre, haben wir denselben Weg nach dem Westen.« »Sehr wohl, Herr Oberst.« Er nahm die Respektseite seines Chefs: »Und es ist natürlich keine Neugierde -- meinen Herr Oberst, daß dieses erhöhte Arbeitspensum unserer Abteilung nicht bloß eine Art von notwendiger Vorsichtsmaßregel ist? Daß diesmal ein bestimmter Entschluß dahinter steht?« Oberst Wegener hob die hageren Schultern. »Ich habe den Befehl, für drei Armeekorps, die -- entgegen dem bisherigen Mobilmachungsplan -- nach Osten geschmissen werden sollen, die nötigen Beförderungsmittel und Fahrpläne auszurechnen. Mehr weiß ich auch nicht, aber aus allerhand Anzeichen schließe ich, daß es diesmal endlich Ernst werden könnte. Es riecht _sehr_ sengerig.« »Na, Gott sei Dank!« »Nicht wahr? Es wäre Zeit, daß die Herrschaften da draußen einmal sehen würden, daß unsere Armee nicht bloß 'ne Vogelscheuche ist, der die Spatzen auf der Nase 'rumhopsen dürfen!« Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her, der Oberst musterte den neben ihm schreitenden Untergebenen mit einem gewissen Wohlgefallen. »Sagen Sie mal, lieber Foucar, Sie waren wohl nicht sehr begeistert, als man Sie für das letzte halbe Jahr in meine Abteilung verschmetterte?« »Wenn ich ganz ehrlich sein soll, Herr Oberst, ich war in der Tat ein bißchen beteppert.« »Kann ich verstehen. Den ganzen Tag Fahrpläne schmieden, Waggons 'ranschaffen und Anschlußzeiten ausrechnen ...« »Sehr wohl, Herr Oberst! Die erste Woche war ich auch ganz trostlos. Wenn ich abends 'rauskam, war mein Gehirn wie Brei von dem unablässigen Rechnen, und ich schimpfte mächtig. Dann aber ging mir der Seifensieder auf. Ich sah mit einem Male die großzügigen Linien in unserer Arbeit, ich empfand -- möchte ich sagen -- mit einer gewissen Ehrfurcht ihre Wichtigkeit für den Erfolg des Schlages, zu dem der Feldherr ausholt. Ich will mal aufs Geratewohl sagen, in Modrilewo in Ostpreußen sollen genau zwei Tage nach der Mobilmachung drei Regimenter Infanterie, ein Regiment Artillerie und -- meinetwegen -- die Gumbinner Ulanen stehen. Aber sie sind nicht da. Der Offizier in der Eisenbahnabteilung des Generalstabes hat ein paar Augenblicke lang gedöst ... in der Berechnung der Fahrplanzeiten hat sich ihm ein Fehler eingeschlichen, der auch bei der Revision nicht entdeckt wird. Das Verhängnis ist da! Also da, meine ich, muß man mit Respekt auch an diese Arbeit herangehen, in jedem Augenblick an die große Verantwortlichkeit denken, und dann fängt sie -- merkwürdigerweise -- auf einmal an zu schmecken!« Um die bartlosen Lippen des Chefs flog ein Lächeln, er deutete auf die schmale Ledermappe, die sein Begleiter unter dem linken Arm trug. »Na, und da haben Sie, genußsüchtiger Mensch, eine Portion davon über Sonntag nach Hause genommen?« »Nicht für mich, Herr Oberst. Ich habe zufälligerweise heute abend Schluß machen können. Aber mein Nachbar, Oberleutnant Wentorp, mußte morgen zu dem Begräbnis einer alten Tante nach Frankfurt an der Oder.« Der Oberst brummte etwas vor sich hin, was wie »vielleicht auch Verlobung mit 'ner jungen Cousine« klang, und laut fügte er hinzu: »Da haben Sie sich die Arbeit also gutmütigerweise aufhängen lassen!« »Was sollte ich machen, Herr Oberst? Sie muß doch nun einmal bis Montag früh fertig sein!« »Wenn der Herr Wentorp in der Woche sich mehr 'rangehalten hätte ... na schön!« Und wieder nach einer kurzen Pause fragte er weiter: »Nach dem Manöver -- wenn mit Gottes Hilfe nichts dazwischen kommt -- werden Sie nun wieder in die Front kommandiert. Sie möchten natürlich zu ihrem alten Regiment zurück, zu den Karlsburger Ulanen?« »Nein, Herr Oberst, ich möchte gerne an die Grenze nach Osten. Speziell nach Ostpreußen. Ich habe mal in der Eisenbahn einen Roman gelesen, der dort spielte. Vielleicht mußte man von den begeisterten Schilderungen ein wenig auf das Konto der Heimatsliebe setzen, die den Verfasser beseelte ... aber seit der Zeit habe ich eine gewisse Sehnsucht nach diesem Land der dunklen Wälder und blauen Seen. Nur, wo ich nicht die geringste Protektion habe, keine Stelle weiß, an der ich eine bescheidene Bitte vortragen könnte ...« Der Oberst hob, ein wenig argwöhnisch, den Kopf. Wenn das ein »Schuster« war, war es jedenfalls ein sehr geschickter ... aber nein, aus jahrelanger Praxis besaß er ein Ohr, das für diese Sorte von streberischen Schmeichlern besonders geschärft war. »So, so, nach Ostpreußen! Ich kann Ihnen sagen, auch die Menschen dort sind kein übler Schlag. Es lohnt sich, sie näher kennen zu lernen. Und wenn Sie sich an einen gewissen Oberst Wegener wenden wollten ...« »Ach Gott, Herr Oberst ...« Der Chef lachte kurz auf. »Ne, ne, man nicht so voreilig. Der Oberst Wegener ist bloß ein kleines Kirchenlicht, aber wenn's nötig ist, kennt er gewisse Schleichwege von hinten 'rum. Und der Kommandeur von den Ordensburger Dragonern ist ein guter Freund von ihm, in zirka fünf Wochen will der einen seiner Schwadronchefs absägen, _spätestens_, hat er mir geschrieben, in fünf Wochen. Also würden Sie sehr beleidigt sein, wenn Sie ausnahmsweise schon vor dem Manöver hier aus der Rechnerei 'rauskommen würden?« »Ach Gott, Herr Oberst ..., und ich weiß wirklich nicht ...« »Ne, ne, _ich_ weiß ja noch gar nicht, ob's auch einschnappen wird! Und, was ich fragen wollte, hat der Dichter da, von dem Sie vorhin sprachen, auch was über die ostpreußischen Mädels geschrieben?« »Einen Hymnus, Herr Oberst!« »Da hat er recht! Und Sie sind doch hoffentlich noch frei?« Der Hauptmann von Foucar lachte. »Ganz und gar! Der königliche Dienst läßt einem ja keine Zeit ...« »Na, denn verplempern Sie sich auch nicht etwa noch in den letzten Wochen! Und lassen Sie sich nicht beirren, wenn nachher in Ordensburg die kleinen Margellchen 'Kartoffelkeeilchen' sagen und 'Aerbsen mit Späck' ... Das ist nur ein kleines Sommersproßchen, tut der übrigen Schönheit keinen Eintrag. Aber jetzt adieu ... ich sehe da ein leeres Auto kommen, und eben fällt mir ein, meine Frau hat für heute abend ein paar Gäste geladen.« Er grüßte rasch und ging mit langen Schritten über den Straßendamm. »He, Chauffeur, Uhlandstraße 51!« Und im Einsteigen rief er zurück: »Sehen Sie, lieber Foucar, manchmal geht's auch ohne Protektion! Man muß nur vor die rechte Schmiede kommen ...« Gaston von Foucar winkte mit der Hand einen respektvollen Gruß, und es stieg ihm heiß in den Augenwinkeln empor. Welch ein prächtiger Mensch, sein sonst so verschlossener und wortkarger Chef! Die angebliche Gesellschaft zu Hause war doch nichts weiter als ein Vorwand, sich den Dankesbezeigungen seines Untergebenen zu entziehen! Na, das ließ sich ja am Montag im Bureau nachholen, oder besser noch, man bewies seinen Dank mit der Tat. Arbeitete diese letzten Wochen noch schärfer als bisher, damit der Oberst auch sah, daß er seine Gunst keinem Unwürdigen zugewandt hatte. Ein unbändiges Glücksgefühl schwellte seine Brust. In fünf Wochen war er draußen, wieder in der Front! Sauste an der Spitze einer Schwadron -- _seiner_ Schwadron -- über das Blachfeld, den blanken Säbel in der Faust ... Wenn das Glück gut war, gleich über die Grenze, in Feindesland ... Wahrhaftig, Zeit war es, daß das deutsche Vaterland sich einmal darauf besann, das Schwert aus der Scheide fliegen zu lassen und mit mächtigen Schlägen um sich zu hauen. Die Herrschaften rechts und links bildeten sich sonst womöglich ein, es wäre eine eingerostete alte Plempe, auch kein Stahl mehr, sondern ein mit Stanniol beklebter Waschlappen ... eia, das sollte eine Enttäuschung geben! ... Und mitten in aller Freude flog es ihm durch den Sinn, von welchen Zufälligkeiten doch Menschenschicksale gelenkt wurden. Wenn er sich aus irgendeinem Grunde ein paar Minuten länger bei der Arbeit aufgehalten hätte, wäre die so folgenreiche Begegnung mit dem Chef doch niemals zustande gekommen. Also hatte er mal wieder Glück gehabt, richtiges Soldatenglück, und eigentlich hätte es sich gehört, auf dieses fröhliche Ereignis eine gute Flasche zu setzen. Aber schließlich, wenn er auch in das Restaurant fuhr, in dem er sich ab und zu mit einigen Herren seiner Abteilung traf, so nahe stand ihm keiner von ihnen, daß er hätte sagen können: »Kommen Sie, ich muß Ihnen bei 'nem Glas Sekt erzählen, was ich eben für einen Riesendusel entwickelt habe ...« So etwas verwahrte man am besten still im eigenen Busen, wenn es bei dem anderen nicht sehr gut aufgehoben war ... Und dann war da auch die nun mal übernommene Arbeit, und schließlich konnte man die gute Flasche auch für sich allein zu Hause trinken, der kleinen alten Dame im Schwabeländle einen Gruß schicken ... Sie war doch die einzige, die sich ehrlich freute, wenn ihr Junge wieder 'mal Glück gehabt hatte. Die =S=-Bahn kam gefahren, bremste an der Haltestelle, er stieg auf ... es ging über den Großen Stern nach Hause. Auf dem Hinterperron des Anhängewagens stand ein kleiner junger Herr in modisch geschnittenem Sommerpaletot. Er lüftete grüßend den Hut, an seinem rechten Handgelenk blitzte ein goldenes Kettenarmband. Hauptmann von Foucar erwiderte den Gruß, aber konnte sich nicht entsinnen, wo er den Herrn kennen gelernt haben mochte. Der stellte sich ihm gegenüber: »Herr Hauptmann besinnen sich wohl nicht mehr auf mich?« »Ich muß in der Tat sagen, so im Augenblick ...« Der kleine Herr lüftete wieder seinen Hut. »Ich hatte vor einiger Zeit einmal im Pschorr die Ehre ... Segebrecht von den Malchower Dragonern.« »Ach so, jetzt natürlich ... Sie sind wohl wieder mal zum Rennen hier?« »Ja, ich reite morgen im Grunewald den Marghilan meines Regimentskameraden Hollenbeck. Wenn ich Herrn Hauptmann einen Tip geben darf: da ist auf Sieg und Platz eine ganz anständige Quote zu landen.« »Danke verbindlichst, aber ich glaube kaum, daß ich morgen Zeit finden werde ...« Der Kleine griff eifrig in die Tasche. »Nun, für alle Fälle -- wenn ich mir gestatten darf -- ein Tribünenbillett ...« »Aber, ich bitte sehr, dafür werden Sie doch sicher eine bessere Verwendung haben.« »Nein, wahrhaftig nicht ... ich habe es zudem selbst geschenkt gekriegt.« »Nun denn, schönsten Dank« -- Gaston von Foucar schob das Billett unter den Aermelaufschlag seines Ueberrockes -- »und Weidmannsheil für morgen!« Der Malchower Dragoner klappte die Hacken zusammen. »Weidmannsdank, Herr Hauptmann! Und merken Sie sich den Namen Marghilan im Fortuna-Jagdrennen. Es ist das vorletzte. Herr Hauptmann können getrost ein Pfund auf meine Chance riskieren. Es gibt todsicher zwanzigfaches Geld, denn außer mir hat niemand eine Ahnung, daß der Gaul so grobe Klasse ist! Na und schließlich, der Steuermann, der draufsitzt, ist doch auch kein Neuling zwischen den bunten Flaggen.« Gaston mußte unwillkürlich lächeln. Wie siegesgewiß der kleine Dragoner dastand ... »Na, wenn die Sache so absolut sicher ist ... Aber wie soll ich mich nun für den zu erwartenden Riesengewinn revanchieren?« »Indem Herr Hauptmann mir ebenfalls einen kleinen Tip geben.« Der junge Offizier trat ein wenig näher und sprach halblaut: »Unsereins da in der Provinz hat doch keinen Schimmer, was wirklich passiert ... also glauben Herr Hauptmann, daß es Krieg geben wird?« Es war dieselbe Frage, die in diesen aufgeregten und schweren Zeiten auf aller Lippen stand. Gaston zuckte mit den Achseln. »Da fragen Sie mich zuviel, Herr Segebrecht. Das kann kein Mensch in diesem Augenblick wissen.« »Nun, ich meine, die Herren im Generalstabe können doch aus den ihnen zugewiesenen Arbeiten immerhin einige Schlußfolgerungen ziehen.« »Ganz recht, aber Sie überschätzen mich. Ich bin in dem Riesenbetrieb nur ein ganz kleines Rädchen, das an dem ihm zugewiesenen Platze mechanisch sein Pensum herunterschnurrt.« Der kleine Dragoner machte ein etwas niedergeschlagenes Gesicht. »Herr Hauptmann wollen bloß nicht! Und da kommt man nun übermorgen zurück in das kleine Nest, alles bestürmt einen mit Fragen, der Kommandeur an der Spitze: 'Na, Segebrecht, haben Sie in Berlin was Neues gehört? Wann reiten wir nun?' Da steht man denn ganz blöd da ... Und zum Schwindeln ist die Sache selbst doch viel zu ernst.« »Ganz gewiß! Vor allem viel zu ernst, um mit einigen leichtfertig hingesprochenen Redensarten allerhand Befürchtungen oder Hoffnungen zu wecken. Empfehlen Sie mich Ihrem Herrn Kommandeur, unbekannterweise, und es lägen durchaus keine Anzeichen vor, aus denen man schließen könnte, der Krieg wäre näher als sonst in all den letzten Jahren. Es wird scharf gearbeitet natürlich.« Der Wagen hielt auf der Corneliusbrücke, der Malchower Dragoner streckte seinem Gegenüber respektvoll die Hand entgegen. »Heißen Dank, Herr Hauptmann! Man weiß doch jetzt Bescheid, und es wird meinem Kommandeur riesig imponieren, wenn ich ihm auf Grund so autoritativer Auskunft ein Exposé über unsere auswärtige Lage hinschmettern kann -- aus dem Handgelenk! ... Aber jetzt müssen Herr Hauptmann mich entschuldigen, ich habe in der Nähe noch einen Besuch in Familie zu erledigen.« Er stieg eilig aus, und Gaston sah ihm lächelnd nach. Die »Familie« schien in einer schlanken jungen Dame zu bestehen, die vom Brückengeländer her mit ausgestreckter Hand auf ihn zutrat. Ein netter kleiner Käfer war's, und er hatte recht, der Malchower Dragoner! Ein paar weiche Mädchenlippen waren kurzweiliger als ein muffig riechendes Aktenstück, in dem endlose Zahlenreihen umzurechnen waren. Und wer mochte wissen, wer auf dem besseren Wege war, der ehrgeizige Arbeiter, der sich kaum eine Pause des Verschnaufens gönnte auf dem steilen Wege zum Ziel, oder der sorglos dahinlebende Leutnant? Kein Mädel am Wege, dem er nicht keck den Hof machte, kein Trunk im Glase, den er verschmähte. Wenn die Stunde schlug, hatte er wenigstens etwas genossen vom Leben! Und die Kugel, die geflogen kam, machte keinen Unterschied. Ob der Schädel da sich mit hochfliegenden Plänen trug, oder ob hinter ihm leichtfertige Gedanken wohnten, Spiel, Weiber, Rennen und Jagen. Das Blut ging ihm unruhiger als sonst durch die Adern. Als er jedoch zu Hause war, setzte sich der Hauptmann von Foucar hinter das Aktenstück. In ein paar Stunden glaubte er fertig zu sein, aber der Oberleutnant Wentorp, der angeblich in Frankfurt an der Oder eine alte Tante begrub, hatte von seiner kameradschaftlichen Gefälligkeit einen etwas ausgiebigen Gebrauch gemacht. Das war die Arbeit von zwei Tagen, die er ihm da aufgehalst hatte. Sein Bursche, ein biederer Schwab von den Karlsburger Ulanen, erschien in der Stubentür. »Habe der Herr Hauptmann sonscht noch Befehle?« »Ja, Häberle. Brühen Sie mir einen kräftigen Tee auf, es wird heut wohl wieder mal eine lange Nacht geben.« »Befehl, Herr Hauptmann.« 2. Ueber der weiten Bahn im Grunewald schien die helle Sommersonne, zauberte schimmernde Reflexe auf den grünen Rasen und die bunten Toiletten, die den weiten Platz vor den Tribünen füllten. Ab und zu brachte ein leichter Wind den würzigen Duft der hohen Kiefern herüber, die die riesige Bahn umsäumten, überall in der Runde mit ihren dunklen, gezackten Kronen den Ausblick schlossen. Als Gaston von Foucar sein Billett am Eingange vorzeigte, kam von den Tribünen her ein wirres Durcheinander von Schreien und lauten Zurufen: »Mohnblüte macht's ... Mohnblüte ... feste, Bullock ... feste ...,« und schließlich ein einziges, wüstes Geräusch, in dem nichts mehr zu unterscheiden war. Jäh danach eine kurze Pause, dann wieder wie ein übers Feld rollender Donner: »Mohnblüte ... Bullock ... Mohnblüte ...« Er schlenderte langsam der Tribüne zu. Anscheinend hatte er den Anfang versäumt, die ersten Rennen waren schon geritten. Im Grunde interessierte ihn nur das vorletzte. So stumpf wurde man im täglichen Dienst, daß man kaum noch teilnahm an den Kämpfen auf dem grünen Rasen, die jedes Reiterherz doch höher schlagen lassen mußten. Aus der aufgezogenen Nummer an dem hohen, weißen Gestell und aus dem Programm ersah er, daß die Graditzerin »Mohnblüte« ein Lot von vierzehn, zum Teil in England gezogenen Pferden geschlagen hatte. Das war ja ganz erfreulich, gewiß, aber er sah doch mit einem leisen Kopfschütteln zu, wie das elegante Tribünenpublikum dem in schwarz-weißem Dreß zur Wage zurückreitenden Jockei eine Huldigung bereitete wie einem aus siegreicher Schlacht heimkehrenden Feldherrn. Wenn die Damen aus so unbeträchtlichem Anlaß schon mit begeisterten Schreien Blumen warfen, Schirme schwenkten und dem blasiert lächelnden Jockei im Sattel die Hand schüttelten, welche Steigerung gab es da noch, wenn irgend eine große Tat zu krönen war im Dienste des Vaterlandes? Rissen sie sich da die Kleider herunter und warfen sie die nackten Leiber vor die Rossehufe? Ungesund war das alles, hysterische Uebertriebenheit, die sich kein Maß zu finden wußte. Er ging durch die Gruppen, die sich um die Erfrischungsstellen drängten, die Kassen des Totalisators stürmten. Ueberall fieberte es von Erregung. Die Kapelle der Gardedragoner im Musikpavillon intonierte ein militärisches Potpourri, das mit dem alten Schlachtgesang anfing: »Ich bin ein Preuße, kennt ihr meine Farben ... die Fahne schwebt mir schwarz und weiß voran.« Ein Teil des Publikums sang mit ... wie eine Entweihung kam es ihm vor. Die Hauptrennen waren gelaufen, der Himmel verfinsterte sich plötzlich, ein leichter Sommerregen strich über die Flur. Da nahm die geputzte Menge Reißaus. Nur die Wenigen blieben zurück, die an dem Ausgange der letzten Ereignisse interessiert waren. Er mitten darunter -- er hatte dem Malchower Dragoner ja versprochen, ein Goldstück auf -- wie hieß der Gaul doch gleich? -- ja, richtig, auf Marghilan zu setzen. Das Pfund ging verloren, der hochbeinige Schinder zeigte schon am Start das Gelüst, seitwärts auszubrechen. Vor dem Wassergraben streikte er, war weder mit Peitsche noch Sporn hinüberzubringen. Da machte sich der Hauptmann von Foucar auf den Weg. Und er lächelte. Das Selbstvertrauen des kleinen Dragoners war ein wenig größer als sein reiterisches Können gewesen. Auf solch einen Riesengaul gehörte einer, der stärker war, der diesem Verbrecher den Herrn und Meister zeigte, mit Faust und Schenkeln. An den Tribünen ging er vorbei, über den zweiten und dritten Platz, wo Gentlemen ohne Hemdkragen, laut streitend, den Gewinn der Wettgenossenschaft verrechneten. Die Treppe hinauf zu dem Restaurant. Laute Musik -- in dem weiten, von einen Glasdache überdeckten Raume kein Platz mehr frei. An einem langen, dichtbesetzten Tische in der Nähe des Einganges reckte sich ein blauer Aermel in die Höhe, besetzt von Silberlitzen. Ein Landsberger Husar, der mit ihm zusammen die Akademie besucht hatte. Leider mit mangelhaftem Erfolge, nicht mal zur höheren Adjutantur hatte es gereicht. Er diente in der Front weiter als ein mißvergnügter alter Oberleutnant. »Holla, Foucar, suchen Sie jemanden?« »Nur einen Platz, um ein Kotelett zu essen! Ich komme fast um vor Hunger.« »Na, denn hierher, ran! Wenn wir ein bißchen zusammenrücken, geht's schon!« Er zwängte sich durch die engen Stuhlreihen. Der Landsberger Husar sagte laut mit einer vorstellenden Handbewegung: »Herr Hauptmann Baron von Foucar vom Großen Generalstab ... Frau Rheinthaler -- noch vor kurzem eine unserer gefeiertsten Bühnenkünstlerinnen -- Herr Rheinthaler. Die anderen Herrschaften mögen sich gefälligst selbst ...« Die in der Nähe sitzenden Herren murmelten mit leichter Verneigung einen Namen, die übrige Gesellschaft nahm kaum Notiz von dem neuen Tischgenossen. Ein Kellner brachte einen Stuhl herbei, Hauptmann von Foucar schob sich neben den Landsberger Husar. Ihm gegenüber saß Frau Rheinthaler, eine junge Dame von etwa sechs- oder siebenundzwanzig Jahren in einem raffiniert einfachen hellen Kleide, das alle Vorzüge ihrer ein wenig üppigen Figur zur Geltung brachte. Aus einem schmalen, mit Venetianerspitzen besetzten Ausschnitte hob sich ein prachtvoller Hals, darüber ein klassisch schönes Gesicht ... große, dunkle Augen, deren Iris leicht bläulich schimmerte, eine gerade, feine Nase mit beweglichen Flügeln und unter einer wahren Flut dunkelblonden Haares ein paar rosige kleine Ohren. Alles ein wenig zurechtgemacht. Unter den großen Augen ein leichter Strich, die Lippen und Ohrläppchen ein bißchen zu rot, aber das Ganze von frappierender Wirkung. Eins jener Gesichter, nach denen man sich unwillkürlich umsah, wenn man ihnen in der Menge der gleichgültigen begegnete. Frau Rheinthaler hob in komischem Zorn die Hummergabel gegen den Landsberger Husar: »Sie Bösewicht! Müssen Sie denn immer gleich verraten, daß ich früher einmal beim Theater war?« Der neben ihr sitzende Gatte, ein hagerer Herr mit starker Hakennase und eingefallener Brust, führte hüstelnd die knochige Hand zum Munde: »Sei friedlich, liebe Josepha, in fünf Minuten hättest Du es dem Herrn Hauptmann da drüben ganz von selbst erzählt.« Und zu Herrn von Foucar gewendet, fragte er: »Sind Sie Theaterhabitué? Nicht ... na, dann muß ich noch einmal vorstellen ...« Er wies leicht auf die Gattin: »Pepi Hohenthal, vor einigen Jahren die entzückendste Dame =de chez Maxim=, die es je gegeben hat. Als ich ihr mit Selbstmord drohte, wenn sie ihre himmlischen Fußgelenke noch fernerhin jedem Laffen zur Bewunderung preisgäbe, der vier Mark fünfzig Entree bezahlte, hatte sie Mitleid und heiratete mich. Ihr Interesse am Theater beschränkt sich jetzt nur noch auf einige Gastspiele in der Proszeniumsloge bei den Premieren. Da wartet sie, bis die frühere Kollegin auftritt, sich nach dem Herzen greift und vor Aerger gelb und grün wird.« Er hob sein Glas mit eisgekühlter Erdbeerbowle und trank der Gattin lächelnd zu. Die Umsitzenden brachen in Lachen aus, Herrn von Foucar wurde es ein wenig unbehaglich zumute, an eine solche Unterhaltung war er nicht gewöhnt. Sein Nachbar aber stieß ihn unter dem Tisch mit dem Fuß an und raunte ihm zu: »Bloß keine verwunderten Augen machen, sind in ihrer Art ganz famose Leutchen und führen das gastfreieste Haus im ganzen Westen ...« Er nickte dazu. Was ging es ihn an? Heute hatte er diese Menschen kennen gelernt, morgen sah er sie nicht mehr. Die Unterhaltung am Tische wurde allgemein, man erörterte die Ereignisse des Renntages, und Gaston von Foucar erfuhr, daß Herr Rheinthaler dem Sport nicht nur als Zuschauer huldigte, sondern Besitzer eines namhaften Stalles war. Zwei seiner Pferde hatten an der Hauptkonkurrenz des Tages teilgenommen, das eine als Schrittmacher, das andere als erklärter Sieger, beide aber hätten durch die Schuld der Jockeis unter den Unplacierten geendet. Der Landsberger Husar erklärte seinem Gegenüber eifrig, welche Fehler zu dem Verluste des Rennens geführt hätten, Frau Rheinthaler schob ihren Teller zur Seite und legte die schönen Arme auf den Tisch. »Sie sind wohl fremd in Berlin, Herr Hauptmann?« Gaston verneigte sich leicht. »Wie man's nehmen will, gnädige Frau. Ich bin schon einige Jahre hier. Zuerst auf Akademie, jetzt im Generalstab. Aber ich habe mich nicht viel um Anschluß bemüht. Ich hatte nämlich immer reichlich zu arbeiten.« »Interessieren Sie sich für den Sport?« »Natürlich! Jeder Kavallerist muß sich dafür interessieren. Die Hindernisrennen sind gewissermaßen die letzte hohe Schule für unsere Reiteroffiziere. Aus den auf dem grünen Rasen gewonnenen Erfahrungen ...« Frau Rheinthaler schnitt ihm mit einer geringschätzigen Handbewegung die Rede ab. »Ah was! Wegen der Wetten reiten doch bloß die meisten von Ihnen, und nachher wird gespielt. Manchmal, wenn ich schon wieder aufsteh', sitzen sie noch mit meinem Mann zusammen im Herrenzimmer. Schrecklich -- er ruiniert sich dabei. Nicht mit dem Geld. Da kann er verspielen, so viel er will, aber mit der Gesundheit hält er's nicht aus. Er hat einen schlimmen Herzfehler, und seine Lungen sind angegriffen. Der Doktor meint, jeden Tag könnt's eine Katastrophe geben, wenn er's so weiter treibt, er aber lacht bloß dazu. Er allein müßt doch am besten wissen, was ihm gut wär ... Und wenn er mal zusammengeklappt ist, eine halbe Wochen zu Bett liegen muß, geht's hinterher um so ärger los. Auf alle Rennplätze schleppt er mich, nicht nur in Deutschland, und die Nächte sitzt er mit den Karten in der Hand. Ich aber ... für mich ist das alles entsetzlich. Bei den Rennen langweil ich mich zum Sterben, versteh partout nicht, wie man sich drum aufregen kann, ob eins von die Rösser schneller lauft als das andere.« Frau Josepha machte eine kleine Pause, tippte ihren Gatten auf den Arm: »Du Fritzerl, bitt schön, a Zigaretten.« Herr Rheinthaler hielt ihr die Dose hin, ohne sich umzusehen oder sein Gespräch mit dem Landsberger Husaren zu unterbrechen. Gaston von Foucar aber fragte sich verwundert: Weshalb erzählt mir die Frau bloß das alles? Vor kaum einer Viertelstunde hab ich sie kennen gelernt, und sie breitet vor mir Intimitäten aus, die man sonst doch für sich behält. Frau Josepha hatte sich die Zigarette angesteckt und sprach weiter. Mit einer leicht verschleierten, aber angenehm klingenden Stimme, der die leise wienerische Färbung einen eigentümlichen Reiz verlieh. Und sie nahm das Gespräch genau an dem Punkte wieder auf, an dem sie es abgebrochen hatte. »Ja, also ... stumpfsinnig kann man bei diesem Leben werden. Und man sehnt sich nach den Zeiten zurück, wo man noch Interessen hatte. Nicht eine blöde Rolle zweihundertmal nacheinander zu spielen, Abend für Abend, sondern neue Aufgaben zu gestalten. Ich war nämlich nicht nur in Berlin am Theater, sondern früher in Wien, und da spielten wir mit wechselndem Repertoire, Ibsen, Strindberg, Shaw, und man fand doch einen Widerhall, wenn man was geleistet hatte. Die ganze Stadt sprach von so einer neuen Rolle. Wie ich z. B. die Hedda Gabler kreiert hatte ...« Herr Rheinthaler wandte sich halb um, das letzte schien er gehört zu haben. »Entschuldige, liebe Josepha, ich möchte nur meine Zigaretten wieder haben.« Und mit einem leicht spöttischen Lächeln fügte er hinzu: »Sie können nachher zu Hause die Kritiken lesen, Herr Hauptmann. Es war phänomenal, ganz Wien war begeistert, hingerissen, verrückt. Ein Jüngling erschoß sich an der Theaterkasse, weil er zu der zweiten Vorstellung keinen Platz mehr kriegen konnte, und im Gemeinderat stellte ein Abgeordneter den Antrag, der göttlichen Darstellerin der Hedda Gabler schon jetzt ein Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof in sichere Aussicht zu stellen, natürlich gratis und franko.« Frau Josepha blies gleichmütig einen kunstvollen Ring aus ihrer Zigarette, hob ein wenig die vollen Schultern und machte zu ihrem Gegenüber eine bezeichnende Geste: »Da, sehen Sie? Wenn wir uns nur gegenseitig frozzeln können! Aber im Ernst: Ich möcht nicht, daß Sie glauben, ich schwatz Ihnen da was vor! Wollen Sie heute abend unser Gast sein? Es sind nur ein paar Leute da. Es gibt auch bloß eine Tasse Kaffee, eine Zigarette und vielleicht, wenn die Stimmung danach ist, ein bisserl Musik.« Gaston verneigte sich leicht: »Sehr liebenswürdig, gnädige Frau, aber ich habe zu Hause eine Arbeit liegen, die ich unbedingt bis morgen früh ...« Herr Rheinthaler fiel ihm ins Wort: »Keine Ausflüchte, Herr Baron! Das Vaterland wird nicht in Gefahr geraten, wenn Sie sich zur Abwechslung mal keine Schlachtpläne ausdenken! Und jetzt auch nicht mehr lang gefackelt! Die Autos stehen unten. Kellner, zahlen!« Es folgte ein allgemeiner Aufbruch. Herr von Foucar gedachte, sich auf dem Wege zum Ausgange unauffällig zu entfernen. Da traf ihn ein bittender Blick aus Frau Josephas Augen, und er ging mit. An der Garderobe fand er Gelegenheit, den Landsberger Husar für ein paar kurze Minuten beiseite zu nehmen. »Sie, Wodersen, sagen Sie mal ...« Der Kleine hob die Hand: »Weiß schon! Sie wollen mich anpöbeln, daß ich Sie in diese Gesellschaft da verschleppt habe! Glauben Sie mir, es ist nicht die schlechteste. Der Mann fällt einem mit seinen ein bißchen saloppen Manieren ja auf die Nerven. Aber er macht von seinem immensen Reichtum den denkbar vernünftigsten Gebrauch. Zwei Jahre hat er höchstens noch zu leben -- da lebt er eben, wie's ihm Vergnügen macht. Rennen, Jagd, Kartenspielen. Namentlich das letzte. Wenn er zehn Stunden beim Poker gesessen hat, und sein Arzt macht ihm Vorwürfe, zuckt er mit den Achseln. Er sollte lieber seinen Scharfsinn anstrengen, einen neuen Spieltisch zu erfinden, für Leute, die nicht mehr viel Zeit haben. Mit dem Mischen und Kartengeben gingen jedesmal drei kostbare Minuten verloren.« »Nun, und die Frau?« »Ach, weil sie Ihnen gleich in der ersten Viertelstunde anvertraut hat, was man sich manchmal erst nach längerer Bekanntschaft erzählt? Ich hab mit halbem Ohr hingehört -- da brauchen Sie sich nichts drauf einzubilden! Das ist ihr gerade so durch den Kopf geschossen, und da mußte sie es aussprechen. Wenn sie zum Beispiel gefunden hätte, daß Ihre Frisur Sie nicht kleidet, hätte sie's vielleicht ebenso gesagt.« »Aber das ist doch ...« »Ein bißchen unerzogen, wollen Sie sagen? Ich weiß nicht! Ich werd' aus der Frau nicht klug. Manchmal glaube ich, es ist bei ihr eine Art von Koketterie, manchmal, sie ist so unbedingt wahrheitsliebend, daß sie es verschmäht, anders zu sprechen, als sie im Augenblick gerade denkt. In einer Art von souveräner Unbekümmertheit wie eine Naturkraft, möchte ich sagen, die nur ihren eigenen Gesetzen gehorcht. Na, Sie werden sich ja selbst ein Urteil bilden können, wenn Sie von jetzt an öfter in dem Rheinthalerschen Hause verkehren.« »Ich denke nicht daran,« sagte er lachend. Der kleine Husar aber zuckte mit einem leichten Seufzer die Achseln. »Ich kenne manche, die so ähnlich gesprochen haben wie Sie ... aber so ziemlich alle bisher sind wiedergekommen.« Ein Diener in dunkler Livree hatte Frau Josephas Hütchen in einer Lederschachtel verwahrt, sie trat in Automantel und Kapuze auf Gaston zu. »Sie fahren neben mir, Herr Hauptmann! Ich steuere meinen Wagen selbst, aber Sie brauchen keine Angst zu haben. Ich hab' mich selbst viel zu lieb, als daß ich eine Unvorsichtigkeit begehen könnte.« Und, als sie nebeneinander die Treppe hinuntergingen, sah sie ihn lächelnd an. »Na, wie war nun der Steckbrief, den Herr von Wodersen Ihnen über mich gegeben hat?« »=Fishing?=« fragte er zurück. In ihrer weißen Stirn erschienen ein paar senkrechte Fältchen. »Ich wünsche nie, Komplimente zu hören. Merken Sie sich das, bitte, wenn wir gute Freunde werden wollen!« Und da trieb ihn eine seltsame Lust, genau so aufrichtig zu sprechen, wie sie. »Gnädige Frau, ich bitte gehorsamst um die Erlaubnis, sagen zu dürfen, daß ich dazu keine Zeit haben werde. Ich habe viel zu viel zu arbeiten, um daneben irgend welche Freundschaften pflegen zu können. Wenn ich jetzt mit Ihnen fahre, weil ich zu höflich war, die Einladung Ihres Herrn Gemahls abzulehnen, so kostet das mich meinen wohlverdienten Schlaf. Die Arbeit, von der ich vorhin sprach, muß morgen früh fertig sein.« Frau Josepha blickte, ein wenig verwundert, auf. »Und deswegen entschuldigen Sie sich? Herr von Wodersen hat mir schon erzählt, wie viel Sie zu arbeiten haben, vorhin, wie Sie mir auf dem Rennplatz auffielen ...« »Ich? Und wodurch, wenn ich fragen darf?« Sie errötete ein wenig. »Das sag' ich Ihnen ein andermal! Na, und nun der Steckbrief.« »Ja, gnädige Frau, ich weiß nicht ... also gut, ich hatte mich gewundert, daß Sie so rückhaltlos zu mir sprachen. Ueber Dinge, die man sonst ... na, und da versuchte Herr von Wodersen, mir das zu erklären. Ich hätte mir darauf nichts einzubilden, weil Sie immer aussprechen würden, was Sie gerade denken. Aus unbedingter Wahrheitsliebe oder -- ich weiß nicht recht mehr -- aus Bequemlichkeit ...« Frau Josepha sah sinnend geradeaus. »Ich weiß es selbst nicht. Als Kind hab' ich vielleicht zu wenig Schläg' gekriegt. Ich war ein arg verzogener Fratz ... Aber in einem hat er unrecht, der Herr von Wodersen nämlich: Sie dürfen sich doch was drauf einbilden! Ich war furchtbar ärgerlich und verstimmt. Jeder andere hätte Grobheiten zu hören gekriegt, aber bei Ihnen war mir's halt so, als müßt' ich Ihnen erklären, weshalb ich so verstimmt war ...« »Komisch,« mußte er unwillkürlich denken, »das eitle kleine Frauenzimmer da bildet sich wahrhaftig ein, es wäre so etwas wie der Mittelpunkt der Welt.« Frau Josepha setzte sich hinter das Steuer, er nahm zu ihrer Linken Platz, der Chauffeur drehte die Kurbel an und sprang auf den langen Seitentritt. »Wir haben nur ein paar Minuten zu fahren,« sagte sie, lenkte den schweren Wagen durch eine Lücke der die breite Heerstraße entlangziehenden Fuhrwerke in freie Bahn. »Und auf das, was Sie eben gedacht haben, antwort' ich Ihnen zu Hause. Jetzt muß ich aufpassen ...« Sie brach ab. Eine Droschke kam angejagt, deren Lenker anscheinend die Gewalt über sein Rößlein verloren hatte. Haarscharf bog das Auto an den schleudernden Rädern vorbei. Da verfiel sie zornig in ihren heimatlichen Dialekt: »Kruzitürk'n, hätt grad no g'fehlt! A Schlamperei is das, und, Karl,« rief sie dem Chauffeur zu, »merken S' sich die Nummer von der Droschken! So a Kerl, dem a lahme Zieg'n durchgehn tut, muß den Fahrschein verlieren.« Die Villa Rheinthaler lag in einer Seitenstraße der Königsallee, inmitten eines großen Parkes, den dichtes Buschwerk und ein hohes Eisengitter gegen zudringlichen Einblick der Vorübergehenden verschlossen. Schlanke Kiefern hoben sich aus weiten Rasenplätzen, seltene Zierbäume vereinigten sich zu Gruppen, aus einem Teppich bunter Blumenbeete sprang der mächtige Strahl einer Fontäne. Als die Autos in die Auffahrtsrampe lenkten, eilte ein halb Dutzend Diener herbei, die Ankommenden in Empfang zu nehmen. »So,« sagte Frau Josepha, »jetzt entschuldigen Sie mich ein paar Minuten. Ich bin gleich wieder da, will mich nur ein bißchen hübsch machen. Für Sie!« »Noch hübscher?« fragte er kecker, als es sonst in seiner ein wenig schwerfälligen Art lag. »Möglichst hübsch,« erwiderte sie lächelnd, »um einen Spartaner seinen strengen Grundsätzen abwendig zu machen.« Da folgte er ihr in das Haus, ganz unsicher, was er von alledem halten sollte. Glaubte diese, anscheinend über die Maßen verwöhnte junge Frau vielleicht, er wäre mit ein paar liebenswürdigen Redensarten einzufangen? Um nachher in ihrem Hofstaat einherzutraben, wie etwa der kleine Landsberger Husar ... Die weite Halle füllte sich mit Gästen. In den beiden Automobilen von dem Grunewaldrestaurant mochte etwa ein Dutzend mitgekommen sein, die übrigen, mehr als zwanzig, hatten anscheinend schon auf die Heimkehr der Wirte gewartet. Auf dem in der Mitte stehenden Billard war eine Boulepartie im Gange. Die vier Spieler protestierten, teils scherzhaft, teils im Ernst gegen die Störung. In einer Ecke bearbeitete ein Jüngling in weißem Tennisdreß das Klavier, zwei, drei Paare tanzten Tango. Alles schwatzte durcheinander, ein dicker Herr fuchtelte mit dem Arm in der Luft und rief laut: »Heda, Wirtschaft! Whisky und Soda! Ich komm' fast um vor Durst ...« »Doller Betrieb, was?« Gaston blickte auf, der Hausherr stand neben ihm. Er verneigte sich höflich. »Wohl dem, der ein so gastfreies Haus zu führen vermag.« »Haus? Schon mehr ein Restaurant! Sehen Sie den Dicken da, der so nach Whisky brüllt? Das ist der gewerbsmäßige Spieler Leopold David! Wenn ich ihn ansehe, fehlen mir ungefähr dreimalhunderttausend Mark. Ich bin seiner eisernen Ruhe nicht gewachsen, aber gerade das reizt mich ... und, was wollte ich doch sagen? Ja richtig -- so geht das hier jeden Sonntag zu. In der Woche weniger. Da ladet meine Frau mir nur meine ständige Pokerpartie ein, weil ich keinen Klub besuchen kann. Hier drin nämlich ist alles kaput« -- er schlug sich mit der Faust gegen die Brust, ein kurzer, trockener Husten folgte danach, er sprach nur mit Mühe weiter: »Ja, also, was spielen Sie? Gar nichts? Das ist sehr bedauerlich! Was wollen Sie da mal als pensionierte Exzellenz machen? Ich lebe nur, wenn ich Karten in der Hand habe. Im Sarge gedenk' ich die 'Teufelspatience' zu legen, die geht erst am Jüngsten Tag auf. Na denn, auf Wiedersehen. Herr David winkt mir, die Partie kommt in Gang. Sie entschuldigen mich wohl ... jeder amüsiert sich hier auf seine eigene Fasson. Wenn Sie flirten wollen, es ist alles da! Nicht wie bei armen Leuten ... Wenden Sie sich nur an meine Frau, die wird's Ihnen aussuchen. Erst vorige Woche hat sie eine Verlobung gestiftet, und der Bräutigam konnte lachen. Die einzige Tochter von Martin Neudecker ... zwei Millionen bar auf den Tisch des Hauses, nach dem Ableben des hochverehrten Papas und Erblassers das Vierfache. Und so was Aehnliches läuft hier noch in mehreren Exemplaren herum, zum Beispiel die reichere, dafür jedoch häßlichere Cousine der eben genannten, christlichen Jungfrau und Braut -- aber jetzt entschuldigen Sie mich wohl wirklich. Wenn Sie Durst oder Hunger haben, brauchen Sie nur zu klingeln.« Gaston fühlte einen feuchtkalten Händedruck und stand allein. Allein in einem Haufen von Menschen, die ihn nichts angingen, und deren Gebaren ihm fremdartig vorkam, wie aus einer anderen Welt. Es war ja ganz interessant, da mal hineinzublicken, aber damit auch holla ... Und jetzt hätte er sich still entfernen können, niemand achtete auf ihn. Nur es reizte ihn, zu erfahren, ob Frau Josepha wirklich erraten haben mochte, was er vor dem Besteigen des Autos gedacht hatte. Der Jüngling am Klavier intonierte plötzlich den Einzugsmarsch aus dem »Tannhäuser«, oben auf der Treppe, die von der Halle zu einer Galerie führte, erschien Frau Josepha. In einem Kleid aus duftigem, weißem Stoff, das Hals und Schultern frei ließ, eine große, purpurdunkle Rose vor der Brust. In dem hoch aufgesteckten Haar blitzte ein Diadem aus Brillanten und Rubinen ... wie eine Königin stand sie da, ließ ihre Blicke gleichgültig über die Menge da unten schweifen. Er sah hinauf, da winkte sie mit dem Fächer, lachte und rief etwas hinab, was er bei der dröhnenden Musik nicht verstand. Nur ein gewisser Stolz erfüllte ihn, als die in der Nähe Stehenden ihn verwundert anblickten. Irgendwoher aus der Menge kam eine fettige Stimme in unverfälschtem Dialekt: »Da schau her, a neuches Schweinderl in Frau Circes Hofstaat! Noch schaut's aus wie a Mensch, aber gib Obacht -- in a paar Täg wird's zu grunzen anfangen ...« Brüllendes Gelächter ringsum, die Zornröte stieg ihm ins Gesicht. Aber töricht wäre es gewesen, zu zeigen, daß er sich getroffen fühlte, oder gar den Rückzug anzutreten. Nur eins war natürlich klar: heute war er zum ersten- und letztenmal in der Villa Rheinthaler gewesen ... Frau Josepha kam langsam die Treppe hinab und ging durch die Menge wie eine Fürstin, die Cercle hielt. Hie und da sprach sie eine Dame oder einen Herrn an, endlich stand sie vor Gaston. »Das ist nett von Ihnen, daß Sie geblieben sind. Und bin ich jetzt schön genug, daß Sie ab und zu mal wiederkommen werden? Wenn Ihr strenger Dienst es erlaubt?« Er biß sich auf die Lippen und verneigte sich stumm. Wollte sie ihn lächerlich machen vor den anderen, oder warf sie sich ihm an den Hals? Frau Josepha wartete einen Augenblick auf die Antwort, dann sprach sie lächelnd weiter. »In einer Stunde wird das Auto vor der Tür stehen -- es ist nicht viel anders, als hätten Sie ein wenig länger beim Nachtmahl gesessen. Inzwischen gestatten Sie, daß ich Sie ein bisserl bekannt mache.« Sie sah sich um, winkte einer jungen Dame, die von einem Kreise von Courmachern umringt war: »Ach, liebe Magda ...« Die junge Dame, eine Rotblondine mit mageren Schultern, blickte auf. »Was denn, liebe Josepha?« »Gestatte, daß ich Dir Herrn Hauptmann von ... pardon, wie war doch gleich der Name?« »Von Foucar ...« »Herr Hauptmann von Foucar -- Fräulein Magda Neudecker! Sie werden viele Berührungspunkte haben, meine Herrschaften, in der beiderseitigen ernsten Lebensauffassung ...« Frau Josepha neigte lächelnd den Kopf mit den schweren Flechten und dem funkelnden Diadem und schritt zu der nächsten Gruppe. Die junge Dame trat einen Schritt näher und kniff die kurzsichtigen Augen zusammen. »Wie ich sehe, Herr Hauptmann, gehören Sie zum Generalstab, nach Ihrer Uniform zu schließen. Ja, da wird gearbeitet, das weiß ich von einem Vetter, einem Grafen Krottenburg -- er hat eine Cousine von mir geheiratet. Wissen Sie, von der 'anderen' Linie der Neudecker ... wenn Sie in der Berliner Gesellschaft ein bißchen Bescheid wissen, werden Sie sich auskennen.« »Keine Ahnung, mein gnädiges Fräulein ...« »So, nicht? Na, mir widerstrebt es ... lassen Sie sich das von unserer Wirtin erklären, gelegentlich ... nur so viel, mein Vetter Krottenburg hatte eine kleine Enttäuschung zu verzeichnen infolge einer falschen Auskunft -- es war wieder einmal eine Verwechslung passiert mit der anderen Neudeckerschen Linie ... aber ja, was die ernsthafte Lebensauffassung anbetrifft, da finden Sie in mir eine kongeniale Seele.« So sprach sie noch eine Weile lang selbstgefällig fort, ihre Zunge lief wie das Rad eines Scherenschleifers, und Gaston fühlte ordentlich, wie sie ihn dabei mit prüfenden Blicken betrachtete. Ob es sich wohl lohnte, vom Standpunkt einer Millionenerbin aus, diesen neuen Bewerber, den man ihr vorgeführt hatte, ein wenig näher kennen zu lernen. Als er sich nach schroffer Verneigung umwandte und zum Ausgang schritt, begegnete ihm Frau Josepha mit einem, wie ihm scheinen wollte, spitzbübischen Lächeln in den Augenwinkeln. »Was denn? Doch nicht etwa schon fort? Das Auto, das Sie heimbringen soll, ist noch nicht vorgefahren. Es fehlt noch eine halbe Stunde -- genau auf neun hab' ich's befohlen. Und ich hab' Sie noch was zu fragen.« Sie deutete auf eine offenstehende Tür, die zu einem hell erleuchteten, saalartigen Zimmer führte. Er neigte den Kopf und folgte. Was lag schließlich an der halben Stunde? In einer Ecke stand ein runder Pokertisch, von einer großen Hängelampe bestrahlt. Die sieben Plätze waren besetzt, hinter den Stühlen standen ein paar schweigsame Zuschauer. Ein klapperndes Geräusch von Zeit zu Zeit, wenn die beinernen Chips in die Mittelschale flogen, die notwendigen Erklärungen im Spiel wurden nur halblaut gegeben. Einer der Herren wandte den Kopf, eine Hakennase stand über einem Paar flackernder Augen. »Na, Baronchen, amüsieren Sie sich?« »Danke, ausgezeichnet!« »Um so besser!« ... Ein heiseres Lachen folgte: »=Et quant à moi, ma chérie= ... unberufen -- ein Festschießen! =Aujourd'hui j'ai une veine comme un= ...« Ein einziger an dem runden Tische belachte die zynische Bemerkung: der dicke Herr David, den der Hausherr vorhin als gewerbsmäßigen Spieler bezeichnet hatte. Die anderen blickten nicht einmal auf, griffen mit gespannten Gesichtern nach ihren Karten. Frau Josepha aber zog die Augenbrauen zusammen. Sie seufzte leicht auf und wies auf einen breiten Klubsessel. »Da bitt schön! Und wollen's was zum Trinken haben? Nicht ... na denn ...« Sie setzte sich ebenfalls, kreuzte die kleinen Füße in den Atlasschuhen und legte die weißschimmernden Arme auf das dunkelrote Leder der Seitenlehnen. Kein Schmuck störte die prachtvoll verlaufende Linie bis zu dem feinen Handgelenk, nur an den schlanken Fingern funkelten ein paar Ringe. »Alsdann ... ich hatte versprochen, ich würd' Ihnen sagen, was Sie gedacht haben, eh' daß wir eingestiegen sind. Sie haben gedacht: 'Hat die Frau einen Größenwahn! Bildet sich ein, alles auf dieser Welt dreht sich um sie.' Stimmt das?« »So ähnlich!« »Na, sehen Sie! Und jetzt will ich Ihnen erklären, wieso ich mir das einbild'. Nämlich erstens denkt jede Frau so, die ein bisserl hübsch ist, und zweitens, bei mir ist das immer so gewesen, in der Welt, die um mich 'rum war. Schon als Kind ... Mein Vater betete mich an, jede Ungezogenheit von mir war ein geistvolles Aperçu, und ich ... als siebenjähriges Mädel hab ich schon drauf gespitzt, ob die Leute auf der Gassen sich nach mir umschauten! Und später beim Theater -- wie ich dahin gekommen bin, ist eine Geschichte für sich -- ja, Sie dürfen's wirklich glauben, ganz Wien war in mich närrisch! Jeden Tag Blumen und Geschenke von ganz unbekannten Menschen, und alle Wochen fast ein Heiratsantrag. Wissen's, die Leuteln da unten sind leichter beweglich als hier oben ... also schließlich auch ein -- na, sagen wir mal, ein sehr ein hochstehender junger Herr. Ein Bürscherl noch, aber ein sehr hochgeborenes. Ich lacht' ihn aus, aber er kam wieder, wollt' auf all' seine Titel verzichten, wenn ich nur Ja sagen würd' ... Ein paar Tage drauf teilt mir mein Direktor mit, er könnt' meinen Kontrakt nicht verlängern. Aha, sagt' ich, und ich weiß schon, weshalb. Z'wegen höhere Rücksichten! ... Und da wär' ich beinahe tück'sch geworden, hätt' den Herrn Verwandten von dem hochgeborenen Bürscherl doch noch den Streich gespielt! Aber ich besann mich, ich hatt' ein Beispiel vor Augen, auch von so einer morganatischen Ehe ... also nach Berlin. Geheult hab' ich ... in Wien taten die Herren Rezensenten Feuilletons über mich schreiben, hier erwischt' ich bei der fünfzigsten Aufführung ein Notizerl von zwei Zeilen. Da kam mein Mann. Das heißt, er wurd's erst später ... Herr Fritz Rheinthaler. Zuerst lud er mich mit einem prachtvollen Ring aus Brillanten und Smaragden ein, ich möchte bei dem nächsten seiner 'berühmten Herrenabende' mitwirken. Als ich ihm den Ring zurückschickte, kam er persönlich. Ich ließ ihn nicht vor ... er kam aber jeden Tag wieder ... drei Wochen danach hatte ich eingewilligt, seine Frau zu werden. Eigentlich wegen einem guten Witz. Er hatte mir nämlich geschrieben, er selbst wär' häßlich. Aber er hätte das schönste Haus in Berlin, die schönsten Autos und Pferde, nur die schönste Frau tät' ihm noch fehlen ... Da mußt' ich lachen ...« Frau Josepha machte eine kleine Pause, strich sich über die Stirn und sah nachdenklich auf ihre Fußspitzen. »Ja, so hab' ich ihn halt genommen. Auch weil er mir ein bisserl leid tat ... Na, und jetzt --« Sie blickte wieder auf -- »jetzt ist die Reih' an Ihnen. Aber hübsch ausführlich, bitt' ich mir aus!« Er schrak unwillkürlich zusammen. Zuerst hatte er aufmerksam zugehört, dann war es wie ein sachtes Dämmern gekommen. In einem großen Garten blühten tausend Rosen, und die allerschönste, eine tief purpurfarbene, neigte sich ihm zu. »Ich, gnädige Frau? Von mir ist wenig zu erzählen. Zum mindesten nichts, was Sie interessieren könnte.« Sie machte eine kurze Handbewegung. »Ah ... gehn's! Wenn man so ausschaut wie Sie ... Aber Sie haben ganz recht! Sie brauchen nicht mit Erlebnissen zu renommieren, das spürt man als Frau. Aber nur eins möcht' ich gern wissen: wer ist denn augenblicklich die Glückliche?« Er errötete bis unter die Haarwurzeln, und es klang unwilliger, als er beabsichtigt hatte: »Gnädigste Frau, ich muß gestehen, über solche Dinge habe ich noch nie zu einer Dame ...« »Ah was, zu mir können's sprechen wie zu einem Bub'n ...« »Nun denn, in meiner allerersten Leutnantszeit hatte ich ein paar kurze wilde Wochen. Die liegen hinter mir. Und ich glaube, ich hatte heute schon einmal Gelegenheit, auszusprechen, ich hätte nicht einmal für die Freundschaft Zeit. Geschweige denn für irgend welche leichtfertigen Abenteuer!« Frau Josepha lachte leise auf. »Alsdann, wenn ich noch ein junges Mädel wär', in Sie tät ich mich unrettbar verlieben! Aber jetzt will ich mal wieder ganz gesetzt sein: so schrecklich viel müssen Sie arbeiten?« »Ich muß nicht, es ist mein freier Wille. Tausende machen sich ihre Karriere leichter.« An dem Spieltisch wurde es ein wenig lauter, man sprach lebhaft durcheinander. Herr Rheinthaler wandte sich auf seinem Stuhle um: »Du, Josepha, das hättest Du eben sehen sollen! So 'was war überhaupt noch nicht da ... drei Vierer gegeneinander, und ich kaufe zu Coeur Aß, König, Dame, Bube die Zehn -- =royal flush=! Also, Sie dürfen mir heute überhaupt nicht fort, Herr Hauptmann, Sie sind meine Maskotte.« Gaston erhob sich, ein plötzlicher Widerwille war in ihm aufgestiegen. Gegen die frivole Gesellschaft hier und die Frau, deren ganzes Gehabe doch darauf ausging, ihn listig zu umgarnen, zu einem Spielzeug zu machen für ihre Launen einer gewesenen Theaterprinzessin. »Ich bedaure sehr, Herr Rheinthaler, ich habe zu Hause noch eine dringliche Arbeit zu erledigen. Gnädige Frau, ich bitte gehorsamst um die Erlaubnis, mich zurückziehen zu dürfen.« Er klappte die sporenbewehrten Hacken zusammen, Herr Rheinthaler winkte mit der Hand: »Auf Wiedersehen denn.« Frau Josepha sah ihn ordentlich erschreckt an. »Ja, aber wieso denn? Es ist doch noch nicht neun Uhr, und ich wollt' Sie noch so vieles fragen.« »Ich möchte gern ein paar Schritte laufen. Die ganze Woche habe ich kaum Zeit, am frühen Morgen meine beiden Gäule zu bewegen.« Sie biß sich auf die Unterlippe. »Dann will ich Sie nicht länger zurückhalten.« Auf dem Vorflur gesellte sich der Landsberger Husar zu ihm, schnallte ebenfalls um und setzte die Mütze auf. »Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir ein Stück zusammen. Ich habe in einem spontan entrierten Bac zwei Mille verloren. Das ist für den einzigen Sohn eines kümmerlich lebenden Agrariers reichlich genug.« »Sagen Sie mal,« -- Gaston deutete zurück -- »das Haus da ist wohl so eine Art von Mausefalle? Wie man's in den Romanen liest: die schöne Frau als Lockmittel, und den Gästen werden die Unkosten abgeknöpft?« Der Kleine blieb entrüstet stehen. »Foucar, ich glaube -- entschuldigen Sie den harten Ausdruck -- Sie sind nicht recht bei Trost! Wissen Sie, was eine Kohlengrube ist?« »Ich denke ...« »Na, davon besitzt Herr Rheinthaler ungefähr ein Dutzend. Die nötigen Hüttenwerke dazu -- sein Großvater schon war einer der reichsten Männer von ganz Schlesien, sein Vater hat das Vermögen verdreifacht, und nun kann _er_ sich noch so viel Mühe geben, er kriegt's nicht einmal fertig, die Hälfte seiner Zinsen auszugeben! Und die Frau? Wissen Sie, was die für eine Geborene ist? Eine richtige Baronin Nadanyi! Aus der morganatischen Ehe eines Prinzen von Leuchtenfels, der in österreichischen Diensten stand, mit einer Dame aus böhmischem Adel. Und das sind keine Theatermärchen, ich selbst habe die Dokumente gesehen! Wie so etwas zur Bühne kommen konnte, wollen Sie fragen? Die Mutter war früh gestorben, sie kam mit sechzehn Jahren ins Kloster. Da brannte sie durch. Ein schöngeistiger Pater hatte sie verrückt gemacht, weil sie Corneillesche Verse deklamierte, daß sich's anhörte wie Musik. Ihr Herr Papa hatte keine Autorität, war auch wohl in den Händen irgend einer Dame, die ihn ebenfalls morganatisch zu heiraten gedachte ... kurz, sie setzte es durch. Ein paar Jahre war sie an österreichischen Provinzbühnen, dann kam sie nach Wien. Feierte beispiellose Triumphe ...« »Ich weiß,« sagte er lächelnd. »Sie hat es mir vorhin erzählt.« »Ah nein, lieber Foucar, nicht so ironisch! Ich habe die Kritiken gelesen. Es war fabelhaft! Hier in Berlin erlebte sie ja nachher eine Enttäuschung.« »Aber sie hat sich mit Herrn Rheinthaler getröstet! Erzählte sie mir auch vorhin. Na und nun wollen wir von etwas anderem reden. Müssen Sie noch heute nach Landsberg zurück?« »Nein, ich hab', Gott sei Dank, drei Tage Urlaub erwischt. Aber jetzt erlauben Sie mir eine Frage: Sind Sie wirklich so eine kaltschnäuzige Natur, oder verstellen Sie sich bloß?« »Wie meinen Sie das?« »Nun, Sie haben heute eine der schönsten lebenden Frauen kennen gelernt ... Unsinn, _die_ schönste Frau überhaupt! Sie hatten den Dusel, von ihr ausgezeichnet zu werden, und jetzt sagen Sie gewissermaßen, na wenn schon?« »Ah nein, das nicht! Es hat mich sehr lebhaft interessiert, eine Sorte von Menschen kennen zu lernen, die mir bisher fremd war. Menschen, die den einzigen Trieb in sich haben, schrankenlos ihren Gelüsten zu folgen, für die der Begriff Arbeit nicht zu existieren scheint, und die sich infolgedessen viel zu viel mit dem eigenen Ich beschäftigen. Dafür hab' ich mal in einer Zeitung ein recht nettes Wort gelesen, das darauf anzuwenden wäre: 'Die janze Richtung paßt mir nicht!' Es ist etwas in diesem Betrieb, da sträubt sich mein Empfinden als Offizier und Edelmann dagegen. Es ist muffig! Treibhausatmosphäre, in die unsereins nicht hineingehört.« Der Kleine neben ihm stöhnte auf. »Herrgott, was sind Sie zu beneiden! Haben Sie vielleicht eine kleine Eismaschine in der Brust? Ich bin seit einem halben Jahr ein bißchen verrückt. Ich muß das mal aussprechen, Sie werden es auch natürlich für sich behalten ...« »Aber selbstverständlich ...« »Also die Frau ... ich glaube, ich schieß mich ihretwegen noch einmal tot. Sie hat etwas, was mich toll macht und meine Sinne reizt, irgend ein Fluidum, das auch ihre unerhörten Erfolge beim Theater erklärt ... jeden Abend ausverkauft, aber nur wenige Damen im Publikum, lauter Herren.« »Vielleicht müßten Sie bloß ein bißchen forscher 'rangehen, lieber Wodersen. Nur dem Kühnen blüht das Glück.« Der Landsberger Husar stieß unwillig mit der Säbelscheide auf die Steinfliesen des Trottoirs. »Sprechen Sie nicht so leichtfertig, Herr von Foucar! Das heißt, pardon ... Sie kennen die Dame ja erst seit ein paar Stunden. Ich schwöre Ihnen, sie ist ihrem Manne unverbrüchlich treu. Das weiß ich genau, denn ich lasse sie beobachten. Lachen Sie nicht ... ich lasse sie täglich beobachten und bekomme täglich meinen Bericht. Es würde mich wahnsinnig machen, wenn ich verdursten sollte, während ein anderer ... na, ist gut! Und immer laufe ich um ein Rätsel herum, wie um ein Haus, zu dem kein Eingang zu finden ist ... weshalb hat sie nur diesen Menschen genommen?« »Um sich glänzend zu versorgen, vielleicht?« »Unsinn. Sie verfügt nach dem Tode ihres Vaters selbst über ein recht beträchtliches Vermögen.« »Nun, vielleicht aus Mitleid?« »Auch das stimmt nicht. Wenn er seine Anfälle hat, betritt sie nicht mit einem Fuß das Krankenzimmer.« »Na, dann weiß ich wahrhaftig nicht. Möchte mir auch nicht den Kopf darüber zerbrechen.« Ein paar hundert Schritte gingen sie schweigend nebeneinander her. Dann fing der Kleine wieder an: »Bei ihm kann ich's verstehen. Er möchte in seinen paar letzten Jahren noch alles an Genuß an sich reißen, was auf dieser Welt zu haben ist. Wenn damals der Riesendiamant in Südafrika verkäuflich gewesen wäre -- er hätte ihn gekauft. So macht er's mit allem, was seiner Gier erreichbar ist.« »Kann ich bis zu einem gewissen Grade begreifen. Aber unverständlich ist es mir, daß er dieses mühsam errungene Juwel so schlecht behandelt. Pfui Deuwel noch einmal! Zum Ohrfeigen! ...« Herr von Wodersen ballte die Faust. »Ich war schon öfter drauf und dran. Aber man darf sich doch an so einem kläglichen Jammergestell nicht vergreifen. Und wer will sich in die Empfindungen eines so degenerierten Menschen hineinversetzen? Eines Menschen, der genau weiß, daß er in kurzer Frist ins Gras beißen muß? Vielleicht ist das noch der letzte Reiz für ihn, zu besudeln, was andere auf den Knien anbeten würden ... Na, gute Nacht! Ich sehe dort an der Ecke ein Auto stehen. Ich fahr' nach meinem Hotel, zieh' mich um und geh' noch irgend wohin, mich betäuben. Haben Sie Lust, mitzukommen?« »Danke! Ich, im Gegenteil, brauche heute noch mein bißchen Grips. Aber eins noch: Weshalb gaben Sie mir heute abend in dem Grunewaldrestaurant eine so wesentlich andere Auskunft über diese schätzenswerte Familie Rheinthaler?« »Weil ... na also schön, auf die Gefahr hin, daß Sie ein bißchen größenwahnsinnig werden -- Frau Josepha hatte mir schon auf der Rennbahn befohlen, Sie heranzuschleifen. Sie waren ihr aufgefallen, und zwar gleich so, daß ich es mit der Eifersucht kriegte. Da hatte ich mich zuerst natürlich geweigert. Dann aber, als Sie in das Restaurant kamen, hatte sie mit ihren scharfen Augen Sie sofort entdeckt, ich mußte gehorchen. Und nachher, als Sie mich beiseite nahmen, konnte ich Ihnen doch nicht gut raten: 'Drücken Sie sich wieder, so rasch als möglich! Wenn Sie in kurzen vierzehn Tagen nicht ebenso ein trauriger Bonze werden wollen wie ich --' Da hätten Sie mich doch für leicht verrückt halten müssen! Ekelhaft ist das alles, nicht wahr? Na, gute Nacht, Foucar, und auf Wiedersehen morgen abend oder spätestens nächsten Sonntag.« »Gute Nacht, Wodersen! Wenn Sie aber meinen sollten, in der Villa Rheinthaler, fürchte ich, wird aus dem Wiedersehen nichts werden!« »Ich lege Ihnen hundert zu eins, bis nächsten Sonntag sind Sie dagewesen!« »Und ich bin nicht habsüchtig genug, Sie beim Wort zu nehmen: der Ausgang der Wette würde nur in meinem Belieben stehen. Aber da wir schon dabei sind, ein paar von den Klappen hochzuziehen da innen, die man sonst vor anderen geschlossen hält, ja, da möchte ich bemerken, daß ich einige altmodische Grundsätze habe. Einer davon lautet, man soll nicht in eine Ehe einbrechen, auch wenn sie noch so schlecht verwahrt ist! Oder die Tür sperrangelweit offen steht.« Der Kleine sah ihn fast feindselig an. »Sie tun ja ganz so, als brauchten Sie nur den Finger auszustrecken, und ...« Er fiel ihm ins Wort: »Das ist ein Mißverständnis. Ich sprach im Augenblick ganz allgemein ... nichts lag mir ferner, als der von Ihnen verehrten Dame irgendwie zu nahe zu treten.« »Dann ist's gut -- danke. Was aber unsere Wette angeht ...« »Also, wenn Sie Ihr Geld durchaus los werden wollen: ein gutes Sektfrühstück! Jeder von uns darf ein paar Gäste mitbringen.« »Abgemacht! Und wir werden ja sehen, wer das Frühstück bezahlt.« Herr von Wodersen stieg in das Auto, er rief ihm lachend nach: »Immer derjenichte, welcher verloren hat ...« und ging langsam seiner Wohnung zu. Sie lag in der Rankestraße, wegen der bequemen Verbindung zu seiner täglichen Dienststelle. Er hatte reichlich Zeit, die Ereignisse des Nachmittags noch einmal zu überdenken. Und da überkam ihn fast ein Gefühl der Mißachtung gegen den kleinen Husaren ... Schlapp war es, sich so widerstandslos einer -- im letzten Grunde doch verbrecherischen -- Leidenschaft hinzugeben! Da mußte man sich einfach bei den Ohren nehmen, holla, bis hierher und nicht weiter! Und die Zeiten der Troubadoure waren doch vorüber ... ein Ziel mußte man sich ausrichten, nach dem man strebte, da war Minnedienst vom Uebel! Er stieg die drei Treppen zu seiner Wohnung empor, im Vorzimmer machte er Licht und trat vor den Spiegel. Kopfschüttelnd betrachtete er sein Bild. Unsinn, es sah noch genau so aus wie sonst. Keine Spur eines interessanten »Helden«, ein nüchterner preußischer Offizier, der keinen anderen Ehrgeiz kannte, als an dem Platze, auf den man ihn gestellt hatte, vollauf seine Pflicht zu tun ... Er entsann sich, daß er nicht immer so gefestigt gewesen war wie heute, ein paar Wochen in seiner frühesten Leutnantszeit gehabt hatte, wo er beinahe unter die Räder gekommen wäre ... Wegen eines raffinierten kleinen Frauenzimmers, das er -- im Notfall unter Einsetzung der eigenen Existenz -- aus dem »Sumpfe« zu erretten gedachte, in den es schuldlos geraten war. Auf der Bühne eines vorstädtischen Gartenlokals sang sie in langem Schleppkleide sentimentale Lieder, von der letzten Rose und dem Vergißmeinnicht am Bachesrand. Heute mußte er darüber lächeln, aber damals war er so unsinnig verliebt gewesen, daß ihn das Herz an allen Ecken und Enden drückte. Und als die sentimentale Sängerin, die bei dem vorstädtischen Publikum vielen Beifall fand, ihm bei einer Flasche sauren Mosels ihr Vertrauen schenkte, da war sein Entschluß gefaßt. Heilige Ehrenpflicht war es, die wegen eines einzigen Fehltritts von den grausamen Eltern Verstoßene vor dem Untergange zu bewahren, und kurz entschlossen bot er ihr Herz und Hand. Sie begnügte sich vorläufig mit dem größten Teile seines monatlichen Wechsels, aber Gott allein mochte wissen, zu welchen törichten Streichen ihn seine Verliebtheit getrieben hätte, wenn ihn nicht einer der älteren Regimentskameraden in eine Art von Gewaltkur genommen hätte. Er lud ihn zu einem größeren »Budenfest mit Damen«, ersuchte ihn aber, erst ein paar Stunden nach dem offiziellen Anfange zu erscheinen. Unter den »Damen« befand sich auch seine sentimentale Sängerin, aber sie schien sehr lustig, drehte sich auf dem Tisch in einem unsäglich frechen Tanz, und als er sie entsetzt anstarrte, schlug sie ihm mit der Fußspitze die Mütze vom Kopf. Da schossen ihm die hellen Tränen in die Augen vor grimmem Weh, dann aber stieg ihm der Ekel empor in den Hals ... Also diese Art temporären Wahnsinns um ein Weib hatte er auch durchgemacht am eigenen Leibe. Da war es wohl ein wenig ungerecht, sich über den Landsberger Husaren wie ein Pharisäer zu erheben. Bei dem einen entwickelten sich die Hemmungsgefühle, die den Menschen vor Torheiten bewahren, früher, bei dem andern später. Und schließlich, wer wollte sagen, was er tun oder lassen würde, wenn ihm eines Tages die Leidenschaft wie ein Feuerbrand in die Seele schlug? ... Er holte die Arbeit aus dem sicheren Verschlusse des Schreibtisches, aber in den ersten Stunden wollte sie nicht recht schmecken. Ein paar weiße Arme störten ihn ab und zu zwischen den Zahlenreihen und eine tiefpurpurne Rose. Und manchmal beschäftigte ihn der Gedanke, was er wohl beginnen würde, wenn das Schicksal ihm so unermeßliche Reichtümer in den Schoß geworfen hätte wie diesem Manne, der als ein Gezeichneter des Todes sich von Genuß zu Genuß schleppte. Da mußte er lächeln. Beim besten Willen gelang es ihm nicht, viel mehr zu verbrauchen, als ihm jetzt schon im Jahre zur Verfügung stand. Höchstens ein schnittiges Juckergespann hätte er sich noch angeschafft und einen aus allerbestem Blute stammenden englischen Hunter, der eine mannshohe Mauer wie ein leichtes Hindernis sprang. Weiter reichten seine Wünsche nicht, und die konnte er bei einiger Einschränkung in der kleinen Garnison da fern im Osten auch aus eigenen Mitteln bestreiten. Vierhundert Mark im Monat neben seinem Gehalt als Rittmeister. Damit heirateten andere und unterhielten eine Familie. Seine Gedanken flogen der nahen Zukunft voraus. Wie hatte der Oberst Wegener gestern gesagt? »Verplempern Sie sich nicht, ehe Sie die kleinen ostpreußischen Mädels kennen gelernt haben!« Na, da war nicht viel Gefahr. Das kleine Abenteuer heute war gewissermaßen eine Probe aufs Exempel gewesen. Ein anderer hätte vielleicht schon lichterloh gebrannt unter den Augen der schönen Frau Rheinthaler -- er hatte sich als der standhafte Zinnsoldat erwiesen. Nur die für den Oberleutnant Wentorp übernommene Arbeit machte bei diesen irrlichterierenden Gedanken keine sonderlichen Fortschritte. Der Sommermorgen blaute schon zum Fenster hinein, als er mit einem Ausatmen die Feder aus der Hand legen durfte. Er öffnete die Flügel und lehnte sich hinaus. Auf dem obersten Knaufe des turmartigen Aufbaues an dem Eckhause drüben saß eine Amsel und sang in die heilige Morgenstille ein sehnsüchtiges Liebeslied. Nur ganz von ferne kam ein leises, rhythmisch auf- und abschwellendes Geräusch. Der Atem der noch schlafenden Riesenstadt. Und da überfiel ihn eine seltsam schwermütige Stimmung. Ganz einsam stand er in der weiten Welt, außer der gebrechlichen alten Dame daheim kein Mensch, der sich um ihn sorgte. Keinen wirklichen Freund unter den vielen Kameraden, dem man sich in vertraulicher Stunde ganz aufschloß, der in der Not für einen eintrat, wie für sich selbst. Vielleicht lag es daran, daß ihm die Fähigkeit abging, eine sich entspinnende Bekanntschaft bis zur Freundschaft zu pflegen. Immer hatte sich ihm im letzten Augenblick da innen eine Wand emporgeschoben, über die er nicht hinauskonnte. Und wenn er jetzt in nicht allzu langer Zeit nach dem Osten ging, riß sein Scheiden in den Kreis, der sich ein paarmal in der Woche zu versammeln pflegte, keine Lücke. Höchstens, daß der eine oder andere mit einer gewissen Bitterkeit bemerkte: »Na ja, er hat's wieder einmal geschafft, der kaltnasige Streber! Kriegt seine Schwadron außer der Tour, überspringt ein Dutzend Vordermänner, der Schuster!« Ein Vers flog ihm durch den Sinn, den er mal vor Jahren in einem Gedichtbuche gelesen hatte: Auch keinem hat's den Schlaf vertrieben, Daß ich am Morgen weitergeh -- Sie konnten's halten nach Belieben, Von einer aber tut's mir weh -- -- -- Das letzte stimmte nicht recht, nicht ein einziges kleines Mädel in dem ganzen großen Berlin dachte an ihn, wenn er sich anschickte, Abschied zu nehmen. Von gar manchen seiner unverheirateten Kameraden wußte er, daß sie in den Vierteln im Norden eine süße kleine Verschwiegenheit hatten, mit der sie im Räuberzivil am Sonntag irgendwohin über Land fuhren. Er war immer nur als ein Packesel dahingetrabt, dem die anderen Arbeit aufhalsten. Wie dieser freche Schlot von Wentorp, dem er in ein paar Stunden wegen der angeblich verstorbenen Tante einen Sack voll Grobheiten zu sagen gedachte. Er selbst hatte keine Zeit für törichte Tändeleien, ging auf dem Heimweg gleichgültig gradeaus den Kurfürstendamm hinunter, wenn er es auch zuweilen fühlte, daß ihm ein paar blaue oder braune Mädchenaugen wohlgefällig folgten. Und noch etwas anderes hielt ihn zurück ... ein gewisses, hochgesinntes Spartanertum. Schlechtbehütete junge Mädchen aus gutem Hause schienen ihm die meisten, die da mit blänkernden Augen um sich sahen. Den Frevel mochten andere begehen ... wenn ihn das Blut trieb, folgte er einigen lustigen Kameraden. Irgendwohin, wo nichts mehr zu verderben war ... Da war es ganz natürlich, daß man einsam verblieb, trotzdem die schöne Frau Rheinthaler noch vor wenigen Stunden gesagt hatte, man sähe wie einer aus, der seine tausend Abenteuer mit diskretem Lächeln verschwiege. Wahrscheinlich achtete sie ihn jetzt gering, weil er so ehrlich widersprochen hatte, und wieder war eine Chance verscherzt, die andere vielleicht skrupellos wahrgenommen hätten. Es wurde ihm heiß bei dem Gedanken. Als ihn endlich die Müdigkeit übermannte, lag er noch eine ganze Weile mit offenen Augen. Die aller Hemmungen bare Phantasie in dem Dämmerzustand zwischen Wachen und Träumen zauberte ihm allerhand lockende Bilder vor ... 3. Es kamen die Wochen, die der Chef vorausgesagt hatte. Wochen, die an die Arbeitskraft der Herren in seiner Abteilung Anforderungen stellten, denen man nur mit erhöhter Anspannung des Pflichtbewußtseins gewachsen war. Zu einer Maschine wurde man, die ihr Letztes herzugeben hatte. Nach Mitternacht vom Bureau ins Bett, ein paar Stunden Schlaf und wieder ins Bureau. Minuten für das Frühstück, eine Viertelstunde fürs Mittagessen ... ein rasendes Eilzugstempo in der Arbeit, die trotz aller Hetze bis aufs letzte Tüpfelchen stimmen mußte, und immer dabei das niederdrückende Gefühl, das Ganze wäre nicht viel anders als eine spielerische Schachpartie. Die Diplomaten schoben gut und schlecht Wetter wie ein Regisseur im Theater die hellen und dunklen Wolken auf der Leinwand. In der letzten Woche endlich sah es wieder so aus, als hätte die ganze Arbeit einen wirklichen Zweck gehabt. Der »politische Horizont« verfinsterte sich, »Krieg, es gibt Krieg,« lief es durch alle Gassen. Das große Haus am Königsplatze glich jedem Wissenden als eine rastlos im stillen arbeitende Maschine, deren aufgespeicherte Leistung sich in einem langhinzündenden Schlage entlud ... Da endlich ein Aufatmen, die Arbeit war fertig, es konnte losgehen. Wie bei einer schweren Mensur: »Herr Unparteiischer, wir von unserer Seite sind bereit ...« Der oberste Kriegsherr hatte nur das Wort zu sprechen, das ein ganzes Volk zu den Waffen rief, und der sorgsam vorbereitete Apparat funktionierte wie eine seit Jahren eingespielte Maschine ... Nirgends eine Stockung ... Die Hunderte sammelten sich in den kleinen Städten und Dörfern. Die Tausende flossen zusammen in größere Rinnsale, und schließlich schieden sie sich in zwei gewaltige Ströme nach Westen und Osten ... Der Abteilungschef rief seine Untergebenen zusammen. Die Augen standen ihm hohl unter der Stirn, denn er hatte sich mehr zugemutet als all die übrigen. »Ich danke Ihnen, meine Herren, ich glaube sagen zu dürfen, wir haben unsere Schuldigkeit getan. Wir sind fertig. Seine Majestät brauchen nur auf den Knopf zu drücken, um sich davon zu überzeugen. Na denn: Guten Abend allerseits ...« Kein Hurra danach, keine chauvinistische Phrase, nur man trennte sich mit leuchtenden Augen. Es war mehr wert als ein Orden, daß der im Dienste sonst so wortkarge Chef sich zu dieser unerhört langen Rede aufgeschwungen hatte. Gaston von Foucar hatte sich mit mehreren, gleich ihm unverheirateten Kameraden zu einem kleinen Zivilbummel verabredet. Erst in ein Weinrestaurant in der Französischen Straße, um dort einer guten Flasche den Hals zu brechen, endlich einmal etwas Ordentliches zu essen nach all den entbehrungsreichen Wochen, und dann wollte man weiter sehen ... Je nach der Stimmung. Ein bescheidenes Glas Bier oder schäumenden Sekt irgendwo, wo es Musik gab und fesche Mädel. Aus der einen Flasche wurden mehrere, man entschied sich für den »unsoliden Lebenswandel«. Wer mochte wissen, ob er in wenigen Wochen nicht schon ein toter Mann war! Da schlugen auch ernsthafte Leute mal über die Stränge ... In dem eleganten Ballokal in der Jägerstraße war »großer Betrieb«. Alle verfügbaren Plätze besetzt, in dem Mittelraum ein Gewoge tanzender Paare, helle Toiletten und schwarze Fracks ... über den weißen Hemdbrüsten gebräunte Gesichter mit deutlich abgesetzter, heller Stirn ... ein reichliches Schock von Provinzleutnants, die das Boxer-, Schmirgel- oder sonstige Kommando für ein paar kurze Wochen nach Berlin geführt hatte. Die Musik spielte den neuesten Schlager aus einer Posse, ein Walzerlied, dessen Refrain unwillkürlich zum Mitsingen herausforderte. Sektpfropfen knallten dazwischen, sinnlose Schreie, Schwatzen und Lachen ... eine Welle von Licht, Lärm und überschäumender Tollheit schlug den Eintretenden entgegen. Einer der Kameraden verhandelte mit dem »Herrn Direktor« über die Frage, für fünf Personen Platz zu schaffen. Gaston stand an dem Eingange zum Tanzsaal, ein schlankes blondes Mädel stieß ihn an. »Du, dös' nich so! Da oben winkt Dir Eene egalwech zu, schon fast 'ne halbe Stunde.« Er hob den Kopf, sein Blick folgte dem ausgestreckten Arm ... wahrhaftig, da oben aus einer Loge winkte ein Fächer, und ein paar Augen lachten ihm zu, an die er in diesen Zeiten kaum einmal ganz flüchtig zurückgedacht hatte ... Und jetzt hatte ihn auch der Gatte der schönen Frau Rheinthaler erspäht. Er legte die Hände an den Mund und rief etwas herunter, in dem Lärm jedoch war kein Wort zu verstehen. Da gab es kein Ausweichen mehr. Gaston entschuldigte sich für ein paar Minuten bei seinen Kameraden und stieg die breite Treppe empor, die zu den Logen führte. Mit Verwunderung und einigen Gewissensbissen. Wie, zum Teufel, kamen diese Leute hierher, wo doch nur die ganz unzweideutige Gesellschaft verkehrte? Und er entsann sich, eigentlich wäre es doch seine Pflicht gewesen, nach der ersten Einladung damals seine Karte abzugeben. Auch sonst hatte er sich an jenem Abend ein wenig rauh benommen. Aber Frau Josepha ließ es ihn nicht entgelten, streckte ihm mit aufrichtiger Freude die Hand entgegen. »Grüß Gott, Herr von Foucar! Und ich glaubt' meinen Augen nicht trauen zu dürfen ... wie kommen Sie denn hierher? Der Gerechte unter die Gottlosen?« Er beugte sich über die schmale Hand mit den funkelnden Ringen: »Ein Junggeselle hat ab und zu mal das Recht, sich eine Nacht um die Ohren zu schlagen, aber Sie, gnädige Frau?« Frau Josepha zuckte mit den Achseln. »Meinen's, ich tu's zu meinem Vergnügen? Die neueste Marotte meines Mannes. Aber, Fritz, möchtest Du nicht ...« Herr Rheinthaler nannte ein paar Namen der Herren und Damen, die in der Loge saßen, es folgten einige Verbeugungen, dann fragte er laut: »Nicht wahr, Herr Hauptmann, wenn ich mich recht entsinne, Sie sind doch im Generalstab?« »Zu dienen ...« »Also, gibt's nu endlich Krieg oder Frieden? Man kommt aus den ewigen Beunruhigungen ja gar nicht mehr raus: soll man fixen oder kaufen?« »Pardon, diese Ausdrücke sind mir unverständlich.« Die herumsitzenden Herren lachten kurz auf, Herr Rheinthaler schnitt eine Grimasse. »Beneidenswerter Mensch! Ich wollte, mir wären sie auch unverständlich geblieben, diese Ausdrücke -- da hätte ich viel Geld erspart! Also ich wollte fragen, ob man jetzt an der Börse auf Hausse oder Baisse spekulieren soll. Wenn man einen sicheren Tip besitzen würde, könnte man einen hübschen Posten auf Gewinnkonto verbuchen.« Gaston parierte die taktlose Anzapfung mit einem Scherz, der die Lacher auf seine Seite brachte. »Ich glaube, Sie verwechseln mich mit Sr. Exzellenz dem Herrn Kriegsminister. Aber ich fürchte, auch der könnte Ihnen keine ganz sichere Auskunft geben.« Ein Herr mit glattrasiertem Gesicht, der neben Frau Josepha gesessen hatte, stand auf. »I muß eh' schon z' Haus, die verwaisten Kinder schreien nach ihren Vatter! Also, wenn's meinen Platz hab'n wolln, Herr Hauptmann ...« Er fühlte einen Widerwillen, klappte die Hacken zusammen. »Bitte sehr, sich durch mich nicht stören zu lassen! Meine Kameraden, mit denen ich hierher gekommen bin, erwarten mich.« Frau Josepha stand auf, drückte den glattrasierten Herrn auf seinen Platz zurück. »Sie kommen noch früh genug in den Klub, Ihre paar Kreuzerln los zu werden ... und erlauben's mal ...« Sie trat aus der Loge, raffte ihr Kleid mit beiden Händen und machte vor Gaston einen leichten Knix. »Für mich haben's vielleicht noch ein paar Minuten übrig. 'Damenwahl' hat der Maître unten ausgerufen ... darf ich bitten, Herr Hauptmann?« Er trat unwillkürlich einen halben Schritt zurück. »Um Gottes willen, gnädige Frau, das geht doch nicht ...« »Ah was ...« Sie warf den Kopf in den Nacken. »Es geht schon in einem hin, und mir ist halt gerad' so zumut.« Da verneigte er sich schweigend, bot ihr den Arm und führte sie die Treppe hinab. Die Musik spielte einen Wiener Walzer mit seltsam aufreizendem Rhythmus. Er mußte aus einer bekannten Operette stammen, die meisten der Tänzerinnen in phantastischen Hüten und fliegenden Seidenfähnchen sangen zu der Melodie den Text: »Wo steht denn das geschrieben, daß man soll einen lieben? Man liebt oft mehrere, bald Leichtere, bald Schwerere ...« Einen hellen Juchzer gab es jedesmal, die Herren schwenkten ihre Damen hoch in die Luft. Frau Josepha legte sich in seinen Arm, er führte sie die erste Runde, als wenn er auf dem Hofballe im Weißen Saal von einer Prinzessin befohlen gewesen wäre. Da spürte er einen leichten Druck, seine Tänzerin schmiegte sich näher an ihn, und er griff zu. Schließlich war er doch kein Säulenheiliger, und er hatte zwei Flaschen alten Rauenthaler im Leibe, das Blut ging ihm rascher als sonst durch die Adern. Da tanzte er wie all die anderen Paare ringsum ... wenn es ihr recht war, weshalb sollte er nicht? Und zum ersten Male sah er, wie schön die Frau eigentlich war, die, anscheinend dem Tanze ganz hingegeben, in seinem Arme dahinflog ... wie eine Feder so leicht. Den Kopf hatte sie ein wenig zurückgelegt, die Augen hielt sie halb geschlossen, unter den leicht geöffneten Lippen blitzten die weißen Zähne, und die feinen Nasenflügel zitterten. Da ging ihm das erhitzte Blut mit der kühlen Ueberlegung durch, mitten im dichtesten Gewühl beugte er sich nach vorn, preßte eine Sekunde lang seine Lippen auf den schneeweißen Hals, da wo er sich aus dem spitzenbesetzten Kleidersaum hob. Sie schauerte leicht zusammen, ließ die Arme sinken: »Bitte, führen Sie mich wieder nach oben!« Auf der Treppe blieb er einen Augenblick lang stehen. »Sind Sie mir böse, gnädige Frau?« Sie strich sich mit einer müden Bewegung eine kleine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Wieso denn? In unseren Kreisen nimmt man das nicht so genau ... Nur ...« Sie brach ab und zog mit einer kurzen Bewegung das feine Batisttuch durch die geschlossene Hand. »Na, was denn, wenn ich fragen darf?« Sie schüttelte den Kopf mit den schweren Zöpfen, auf denen ein merkwürdiges Geflecht thronte aus gelbem Stroh und schwarzen Spitzen, mit einem kostbaren Marabou an der Rückseite, der wie ein Helmbusch in die Höhe ragte. »Ah na! Nur so viel: das, jetzt eben, stimmt nicht zu dem Bild, das ich mir von Ihnen in all den Wochen zurechtgemacht hab'.« Da fühlte er den Drang, sich zu rechtfertigen. »Gnädige Frau, ich bin wie ein ausgehungerter Wolf. Vier Wochen lag ich an der Kette ... wie ein Kuli im Dienst. Heute hat man mich zum ersten Male ein bißchen wieder losgelassen, da heißt es, die Stunde genießen. Wer weiß, morgen ändern sich vielleicht die Dispositionen, und die Rechnerei fängt von neuem an. Oder es geht endlich los, die bösen Bleikugeln pfeifen, und man küßt keinen weißen Frauenhals mehr, sondern die kalte, schwarze Erde.« Sie sah ihn aus erschreckten Augen an. »Um Gottes willen, hören's auf! Aber haben Sie in dieser Zeit wenigstens ab und zu einmal an mich gedacht?« Da antwortete er ehrlich: »Wie sollte ich wohl, gnädige Frau? An dem ersten Abend freilich nach dem Rennen im Grunewald, da habe ich mich viel mit Ihnen beschäftigt. Nachher hatte ich keine Zeit. Zu viel Dienst. Mein Abteilungschef hatte den sechzehnstündigen Normalarbeitstag eingeführt, und -- Sie wissen vielleicht -- bei den Militärsoldaten ist's noch nicht üblich, in solchen Fällen durch Streiken eine höhere Gewinnbeteiligung zu erzwingen.« Sie nickte zufrieden. »Jetzt sind Sie wieder wie damals ...« Und plötzlich lachte sie auf: »Gott, war das komisch an dem Abend! Wie schlecht Sie die verwöhnte Magda Neudecker behandelt haben!« »Gnädige Frau, ich war an dem Abend in einer seltsamen Mißstimmung. Das Ungehörige meiner Antwort wurde mir erst später klar ...« »Ungehörig? ...« Frau Josepha schüttelte den Kopf. »Entweder sind Sie wirklich was Besonderes, oder ein ganz ein Raffinierter: Fräulein Neudecker brennt lichterloh. Endlich mal hat sie einen Mann entdeckt! Einen Mann, der nicht mit verdrehten Augen und Liebesgegirr an die Millionenerbin herantritt! Wenn Sie morgen in der Tiergartenstraße Besuch machen, können Sie in acht Tagen die hold errötende Magda um das Jawort befragen ... Und nehmen's das nicht auf die leichte Achsel! Vier Millionen sofort! Haben Sie eine Ahnung, was schon eine Million bedeutet?« Er verneigte sich lächelnd. »Vielleicht, gnädige Frau! Ich habe vierhundert Mark monatlichen Zuschuß! Den brauche ich bloß mit zehn zu multiplizieren -- Sie werden mir zugeben, ein lächerlich kleiner Koeffizient -- ja, und ich kriege einen Begriff von den mir winkenden Freuden. Auch ohne die reizvolle Zugabe von Fräulein Magda. Aber ich hege nicht die geringste Absicht, mein Leben als so eine Art von Prinzgemahl zu beschließen.« Da lachte sie ihm zu, sie schüttelten sich die Hände wie ein paar gute Kameraden. Der Platz von Frau Josepha in der Loge war besetzt. Neben dem Herrn mit dem glattrasierten Gesicht saß ein junges Mädchen in einer Balltoilette aus grellfarbener Seide. Brust und Nacken tief entblößt, auf dem gefärbten Haar ein großer Hut mit wallenden Federn. Sie wußte, daß man sie in eine sogenannte anständige Gesellschaft geladen hatte ... Das war neuerdings ja Mode geworden, daß die Damen aus dem Westen in Begleitung ihrer Herren die öffentlichen Ballsäle besuchten. Und damit nicht genug, bis in die schmutzigsten Nachtlokale kletterten sie hinab. Da brauchte man also kein Blatt vor den Mund zu nehmen; wer sich unter die Treber mengte, den fraßen die Schweine. Und sie sprach unflätige Gemeinheiten, Gemeinheiten, die man in ihrem gewohnten Kreise nicht geduldet hätte, weil man dort einen gewissen äußeren Anstand bewahrte ... hier aber die Damen wollten sich ausschütten vor Lachen! Nur die Herren sahen ein wenig verlegen drein bei den ungenierten Kraftausdrücken, die sie gebrauchte. Frau Josepha hatte ein paar Augenblicke mit gerunzelter Stirn zugehört, jetzt zog sie ihren Begleiter in die hinter der Loge liegende Fensternische. Ein Kellner in weißer Jacke kaum herzugelaufen, säuberte eifrig mit der Serviette das Tuch auf dem kleinen Tisch. »Bitt' schön, hier die Weinkarte.« »Sekt,« entschied Frau Josepha, und, als der Kellner eingeschenkt hatte, hob sie ihr Glas. Sah ihr Gegenüber aus glitzernden Augen an. »Prost, Herr Hauptmann, und machen's nicht so ein verteufelt ernstes Gesicht! Nehmen Sie sich ein Beispiel an meinem Herrn Ehegemahl, der legt sich nicht den geringsten Zwang auf.« Sie deutete auf den in der Loge sitzenden Gatten, und der Zufall fügte es, daß er sich gerade über den Nacken seiner Nachbarin beugte, sie mit einem himmelnden Ausdruck in den Augen zwischen die gebrannten Halslöckchen küßte. Ein paar feine Puderstäubchen waren ihm in den Hals gefahren, er bekam einen Hustenanfall, an dem er fast erstickte. Einer der Herren in der Loge sprang auf, flößte ihm ein paar Tropfen ein, Frau Josepha rührte sich nicht. Und feindselig sagte sie: »Recht geschieht ihm! Wenn er nur endlich a mal dabei bleiben tät ...« Gaston sah sie erschreckt an, sie zuckte mit den Achseln. »Was wollen Sie, vielleicht Mitleid mit ihm haben? Seit wir uns nicht mehr gesehen haben, hat sich vieles hier geändert. Das traurige Gestell da neben ihm soll meine Nachfolgerin werden. Ich bin ja nichts mehr, eine Größe von vorgestern, um mich wird er nicht mehr beneidet. Aber die da, die Lisa Sandori, ist die neueste Sensation. Wann sie abends im Theater die Röckeln hebt über die klapperdürren Knie und zu tanzen anfangt vor dem Einbrecher, der zum Fenster eingestiegen ist, lauft all die Trotteln im Parkett das Wasser im Mund zusammen. Jeden Abend seit zwei Wochen sitzt er mitten drunter, seine Pokerpartie ist deswegen auseinandergegangen. Und hinterher ladet er die Person zum Nachtmahl. Ich immer dabei, denn das wär ja kein Vergnügen für ihn, wann ich nicht dabei wär', die Demütigung nicht schlucken tät ...« »Ah pfui Teufel!« Er stürzte ein Glas Sekt hinab und setzte es so heftig auf den Tisch, daß ihm der Stiel in der Hand zerbrach. »Und das lassen Sie sich gefallen?« Sie nickte, ihre Augen wurden plötzlich ganz dunkel. »Ich werd's ihm schon heimzahlen. Ich hab' mir was ausgedacht, und das wird für ihn schlimmer sein, als tät' ihn einer mit glühenden Zangen kneifen. Nur noch zwei kurze Wochen Geduld, dann geht's an. Lustig wird's werden ...« Sie leerte durstig ihr Glas. »So, und jetzt wollen wir von was anderem reden. Machen's mir ein bisserl den Hof, wenn Sie's auch eine Ueberwindung kostet. Bloß daß ich vor der Person da nicht so steh, als wär' ich auf einmal eine Bettlerin ... Kein Mensch tät mehr den Kopf nach mir wenden.« Er zog die schmale Hand, die sie ihm über den Tisch entgegenstreckte, an die Lippen. »Ueberwindung, gnädige Frau? Vielleicht wäre Furcht das Richtigere ... Furcht, daß aus dem Spiel Ernst werden könnte! Ich bin schließlich nicht bloß ein auf zwei Füßen gehendes Bündel von Grundsätzen, sondern daneben auch ein ganzes Ende lang ein junger Kerl mit Blut in den Adern. Damals, nach dem Rennen, gelang es mir, mich noch leidlich heil in Sicherheit zu bringen, ich möchte die Gefahr nicht zum zweiten Male herausfordern ...« Halb aus Mitleid sprach er so, halb unter dem Einflusse der Weingeisterchen, die ihm im Blute spukten. Und Frau Josepha beugte sich zu ihm über den schmalen Tisch, so daß er ihren Atem spürte. »Ist ja alles nicht wahr, aber schön Dank! Wenn man die Gulden nicht kriegen kann, muß man mit die Kreuzeln vorlieb nehmen ... Und jetzt will _ich_ Ihnen ein Geständnis machen, aber das dürfen Sie Wort für Wort glauben. Wie ich Sie damals auf der Rennbahn sah, spürte ich ein ganz seltsames Gefühl ... wie eine plötzliche Erkenntnis: den da hätt'st ein paar Jahre früher kennen lernen müssen, dann hätt' vielleicht aus dir was werden können! So aber, das Leben, das ich jetzt führ' ...« Sie brach ab und sah starr geradeaus, in ihren Augenwinkeln schimmerte es feucht. Da stieg es ihm heiß im Herzen empor, und nicht nur seine Sinne entzündeten sich. »Wenn ich mich nun wirklich in Sie verlieben würde, Frau Josepha?« Sie schüttelte den Kopf. »Es wär' nicht gut! Nicht gut für uns beide.« »Und wenn ich's nun schon wäre?« »Dann ...« Sie atmete tief aus ... »Dann wär's halt unser Schicksal! Und vielleicht wär's auch noch Zeit, sich zu dem zurückzufinden, was man früher war.« Sie legte ihm die Hand über den Arm, er erschauerte leicht unter der Berührung, sie blickten sich in die Augen. »Frau Josepha, ich bin ein schwerfälliger Gesell. Ich kann keine schönen Worte machen ... ich gehör' Ihnen von dieser Stunde an.« »Du lieber Bub' ...« Er fuhr zusammen, einer jener klappernden bunten Bälle, mit denen man sich von Tisch zu Tisch bewarf, hatte seinen Kopf getroffen. Eine Frauenstimme, die seltsam blechern klang, wie eine geborstene Glocke, rief aus der Loge herüber: »Da sehen Sie nur, Rheinthalerchen! Und so was lassen Sie sich gefallen?« Herr Rheinthaler wandte sich lässig um, seine Augen blickten schon ein wenig verglast vom reichlichen Trunk. »Ist ja so egal! ... Die Hauptsache, hier ist's gleich Schluß -- also gehen wir weiter!« Frau Josepha erhob sich. »Wenn's Dir recht ist, werden wir jetzt nach Hause fahren. Ich bin nicht in der Stimmung.« »Das kommt schon noch! Kellner, zahlen! ... Nämlich, paß auf, die junge Dame, die da vorhin auf Deinem Platz saß, erzählte von einem Café in der Ackerstraße. Das soll zum Kugeln sein. Die Herren ohne Kragen und in gestickten Morgenschuhen, die Damen im Umschlagtuch. Für einen Taler tanzen sie 'ne neue Art von Apachentanz mit allen Schikanen -- Fräulein Sandori will für ihren nächsten Sketch Studien machen. Sie kommen doch selbstverständlich mit, Herr Hauptmann?« »Ich bedauere lebhaft!« »Sind Sie vielleicht auch nicht in der Stimmung? Oder müssen Sie sich heute wieder Schlachtpläne ausdenken?« »Keins von beiden. Mir ist es nur, selbst in Zivil, nicht möglich, ein derartiges Lokal zu besuchen.« »Na, dann können wir ja auch wo anders hingehen?« Frau Josepha schüttelte den Kopf. »Ich fahre nach Hause!« Herr Rheinthaler verbarg mühsam den aufsteigenden Aerger. »Das ist doch nur 'ne Laune, liebes Kind! Und wir können unsere Gäste doch nicht einfach so stehen lassen.« Fräulein Sandori zeigte hinter den tiefrot geschminkten Lippen zwei Reihen blendend weißer Perlenzähne, zu klein und zu regelmäßig, um echt zu sein. »Aber, bitte, das macht doch nichts! Fahren Sie mit Ihrer Frau Gemahlin nur ruhig nach Hause, Rheinthaler. Ich bummel' inzwischen mit dem Herrn Rechtsanwalt weiter! Und wir beide werden schließlich auch nach der Ackerstraße hinfinden, nicht wahr, Doktorchen?« Sie hakte sich in den Arm eines schwarzbärtigen Herrn, der ebenfalls in der Loge gesessen hatte, und sah ihn mit kokettem Augenaufschlag an. Herrn Rheinthaler stieg das Blut zu Kopfe. »Also, Josepha, jetzt sei vernünftig! Ich kann Dich doch nicht allein fahren lassen, und was liegt schon an der einen Stunde?« »Gar nichts liegt daran, da hast Du recht. Aber laß Dich durch mich nicht stören! Mein Auto steht unten, ich fahre nach Hause!« Fräulein Sandori lachte kurz auf mit ihrer blechernen Stimme. »Stellen Sie Ihre Frau Gemahlin doch unter den Schutz der bewaffneten Macht, Herr Rheinthaler! Und haben Sie 'ne lange Leitung! Darauf geht doch die ganze Reise, daß die beiden da uns versetzen wollen!« Frau Josepha hob den Saum ihres Kleides und trat mit zornsprühenden Augen einen Schritt auf die andere zu. »Sie! Daß i mi net vergeß'! Aber die Ehr' tu ich Ihnen nicht an, daß ich Ihnen darauf was antwort'. Ich tät' mich ja erniedrigen, wenn ich mich mit Ihnen auf eine Stuf' stellen wollt'!« In den Nachbarlogen war man aufmerksam geworden, reckte die Köpfe. Das Mädel, das vorhin in der Loge auf Josephas Stuhl gesessen hatte, kam vorbei und blieb lachend stehen. »Immer feste, meine Damen! Nur nich lang gefackelt -- mit 'ne Sektpulle über'n Kopp, det schafft am besten.« Gaston von Foucar biß die Zähne aufeinander. Ekelhaft war das ... Er bot Josepha den Arm. »Darf ich Sie zu Ihrem Wagen führen, gnädige Frau?« Sie gingen an den Logen vorüber, die breite Treppe hinunter, an der Garderobe holte sie Herr Rheinthaler, ein wenig außer Atem, ein. »Also, Josepha, wie Du Dich wieder einmal benommen hast ... Fräulein Sandori ist außer sich! Und wenn Du sie nicht sofort um Entschuldigung bittest ...« Gaston fühlte ein seltsames Zucken im Arm, aber die lange geübte Selbsterziehung erstickte die zornige Aufwallung im Keime. »Verzeihen Sie, Herr Rheinthaler, wenn ich mich einmische, aber bis zu einem gewissen Grade bin ich an dem ärgerlichen Auftritt beteiligt. Ich habe keine Ahnung von dem sonstigen Umgangston bei diesen abendlichen Vergnügungen, aber die Bemerkung dieses Fräuleins Sandori war eine freche Verdächtigung. Die Dame müßte also wohl zuerst um Entschuldigung bitten, wenn Sie überhaupt eine solche Staatsaktion für notwendig halten sollten.« In dem hageren Gesicht leuchtete es auf. Herr Rheinthaler sah eine Möglichkeit, mit leidlichem Anstande zu Fräulein Sandori zurückkehren zu können. »Da haben Sie recht! So etwas muß man am besten mit Stillschweigen übergehen. Morgen sind die beiden Damen wieder die besten Freundinnen -- verlassen Sie sich d'rauf! Ich werde jetzt der Gegenpartei gut zureden! Wenn Sie die Liebenswürdigkeit haben wollten, bei meiner Frau das gleiche zu versuchen, wenn Sie sie jetzt nach Hause bringen ...« Mitten in aller Erregung mußte Gaston auflachen. »Ich soll Ihre Frau Gemahlin nach Hause bringen?« Herr Rheinthaler schien den geheimen Unterton der Frage nicht verstanden zu haben. »Selbstverständlich, sie kann doch nicht allein fahren. Und ich muß die Sache mit der Sandori noch heute aus der Welt schaffen, sonst schwatzt morgen ganz Berlin davon. Sie versäumen nicht viel ... das Auto fährt rasch, in dreiviertel Stunden können Sie wieder zurück in der Stadt sein.« Frau Josepha hatte sich von der Garderobenfrau in den Mantel helfen lassen. »Kommen Sie, Herr Hauptmann!« Ihren Gatten sah sie mit einem merkwürdigen Blick an: »Na, alsdann adieu, Fritz.« »Du bist mir doch nicht bös, Peperl?« »I bewahre, komm nur nicht zu spät nach Haus.« Herr Rheinthaler wandte sich, sichtlich erleichtert, der anderen Gruppe zu, die in erregter Unterhaltung von der Treppe her in den Garderobenraum trat: »Es ist alles in schönster Ordnung, meine Herrschaften! Wir fahren in die Ackerstraße, teuerste Freundin ...« Das Auto bog durch das Brandenburger Tor in den Tiergarten, Frau Josepha saß mit zusammengezogenen Augenbrauen, plötzlich schluchzte sie auf, preßte das feine Batisttuch, das sie in der Hand knüllte, gegen den Mund. »O, wie schimpflich ist das alles! Und wie müssen Sie mich verachten, daß ich mir das alles hab' gefallen lassen die ganze Zeit über ...« Er ergriff ihre Linke, nahm sie in beide Hände. »Das ist ein bißchen töricht, was Sie da sagen, Frau Josepha. Woher sollten Sie den Mut zum Widerstand nehmen? Aber jetzt ist das ja etwas anderes ... Ich stehe neben Ihnen.« Sie rückte näher an ihn, sah ihm in die Augen. »Das ist nicht bloß so im Augenblick und morgen ist alles wieder verflogen?« »Im allgemeinen pflege ich zu halten, was ich verspreche.« Sie brachte ihr Gesicht ganz nahe an das seinige. »Du, überleg's Dir wohl! Noch kannst Du zurück. Auf der Antwort jetzt baut sich meine ganze Zukunft auf!« Ein feiner Duft drang aus ihren Haaren, aufreizend leuchteten ihre Augen. Er schlang den Arm um ihren leicht erschauernden Rücken. »_Unsere_ Zukunft, wolltest Du wohl sagen, Liebstes! Ich bin doch kein Knabe, der morgen vergißt, was er heute geschworen hat?« Da bot sie ihm durstig die Lippen ... Das Auto passierte eine hell erleuchtete Straßenkreuzung, sie löste sich hastig aus der Umarmung. »Sei nicht bös, aber ich muß vorsichtig sein. Er läßt mich beobachten, an jeder Ecke können seine Spione stehen. Die beiden Lackeln da vorn, der Chauffeur und der Diener, sind auch in seinem Sold.« Ein häßlicher Gedanke sprang ihn unversehens an ... Daher also vielleicht die »unverbrüchliche Treue«, von der damals der Herr von Wodersen gesprochen hatte, als sie von der Grunewaldvilla heimgingen? Frau Josepha hatte sich rückwärts gegen die Polster gelehnt, schlang ihren weichen Arm in den seinigen. »Da komm her, Bubi, bring Dein liebes kleines Ohrwaschel näher 'ran, daß ich nicht so laut zu sprechen brauch' ... so ... und jetzt hör' fein zu ... Ich schwör' Dir bei der heiligen Mutter Gottes, ich hab' außer Dir noch nie einen lieb gehabt, Du bist der erste. Und ich kann ja nichts dafür, daß ich Dich so spät kennen gelernt hab' ... Als Du damals im Unwillen fortgingst, hab' ich hinterher geweint die ganze Nacht, aber meine alte Kinderfrau hat mich getröstet. In den Karten hat gestanden, ich würd' Dich wiederfinden ... Und jetzt, b'hüt Di Gott ... träum' von mir und schlaf' gut heute nacht, ich hab' noch viel zu tun ...« So sprach sie halblaut, von Zeit zu Zeit berührten ihre weichen Lippen sein Ohr. Das Auto hielt, der Diener öffnete den Schlag. Sie stieg aus. »Schön Dank, Herr Hauptmann, für die liebenswürdige Begleitung. Karl, Sie fahren den Herrn Hauptmann jetzt nach seiner Wohnung und kommen zurück. Ich brauche Sie noch heute.« »Zu Befehl, gnädige Frau.« Gaston von Foucar wollte noch etwas sagen, aber Frau Josepha trat unter dem Geleit eines Dieners in die geöffnete Haustür, der Wagenschlag flog zu, und das Auto fuhr von der breiten Rampe wieder auf die Straße hinaus. »Rankestraße hundertsechzehn!« rief er zum offenen Fenster hinaus und lehnte sich in die Polster zurück. Der Kopf war ihm benommen, er konnte keinen klaren Gedanken fassen, nur ein sehnsüchtiges Gefühl war in seiner Brust. Noch hundert Meilen hätte er so dahinfahren mögen wie vorhin, und durstig sog er den zarten Duft ein, der noch das Innere des Wagens füllte. Erst ganz allmählich wurde er nüchterner ... Das also eben war die Entscheidung über sein Schicksal gewesen. Unauslöslich war er jetzt an die Frau gebunden, die er zweimal bisher gesehen hatte ... von der er nichts weiter wußte als das wenige, was sie selbst und der Landsberger Husar damals erzählt hatten. Wie ein Sturmwind war das gekommen, keinen Augenblick zu ruhiger Ueberlegung. Es reute ihn nicht, wahrhaftig nicht, aber schier unbegreiflich erschien es ihm jetzt, wie er bei seiner sonst so kühl abwägenden Art so rasche Entschlüsse hatte fassen können. Wenn er einmal in müßiger Stunde davon geträumt hatte, wie es sich wohl abspielen würde, wenn er sich den guten Kameraden fürs ganze Leben gewann, hatte ihm immer etwas Zartes, Feines vorgeschwebt, ein langsames scheues Annähern ... Irgendwo auf einem Fest im Grünen sollte es anfangen, und monatelang stimmte man sich hinterher aneinander ab, ehe man das entscheidende Wort sprach. Das war nun alles anders gekommen. Im heißen Atem einer jäh emporlodernden Leidenschaft ... Und recht so! Ein Narr nur schneiderte sich sein Leben nach Prinzipien zurecht, man mußte das Glück nehmen, wie man es fand. Und nun galt es, einige klare Entschlüsse zu fassen. Morgen vormittag depeschierte man an die kleine, alte Dame im Schwabenland: »Liebes Mutterle, in ein paar Tagen bring' ich Dir Deine zukünftige Tochter. Ich weiß, Du wirst ihr gut sein und sie freundlich bei Dir aufnehmen, bis ...« Ja, wie zum Teufel, wie faßte man das am besten in Worte? ... »Bis die unwürdige Fessel, die sie noch an einen anderen bindet, gelöst ist!« Und er stand in Gedanken dabei, wie das liebe Mütterchen die Depesche las. »So, so, mei Büble! Wo hast Du sie denn kennen gelernt?« »Ganz zufällig in dem Restaurant einer Rennbahn.« »Und wo habt Ihr Euch verlobt?« Da stockte ihm zunächst die Zunge: »In einem öffentlichen Ballokal. Auch ganz zufällig ... noch eine Viertelstunde vorher hatte ich im Traum nicht daran gedacht. Das kam wie ein Gewittersturz.« Das alte Frauchen nahm die Brille ab. »So, so, mei Büble! Und darauf willst Du Dein Lebensglück aufbaue? Das ischt ungesund, aber i will Dir da nit dreinrede ... Du bischt ein ausgewachsener Mann, mußt selbscht am beschte wisse, was Dir frommt ... Und wenn Du ihr Dein Wort gegeben hast ...« »Muß ich es selbstverständlich halten, da hast Du recht, Mutterle. Und, sieh mal, man muß an Außergewöhnliches nicht den Alltagsmaßstab legen. Es gibt Situationen, wo langes Ueberlegen vom Uebel ist. Mit beiden Füßen zugleich muß man hineinspringen wie in ein Abenteuer, nur daß hier eben alle Garantien vorhanden sind, daß es gut ausgeht. Sie ist von ganz besonderem Schlag, ich kann Dir das nicht so mit Worten ausschildern -- Du mußt sie eben selbst kennen lernen! Und wenn wir erst die paar unumgänglichen Widerwärtigkeiten der Scheidung überwunden haben ...« Das Auto hielt, er gab dem Diener, der ihm den Schlag öffnete, ein reichliches Trinkgeld und stieg langsam die drei Treppen zu seiner Wohnung empor. Er machte Licht, vor dem Lampenfuß lag eine Depesche. Er riß sie mit ungeduldiger Hand auf und las bei dem Scheine des verglimmenden Zündhölzchens: »Gratuliere zur fünften Schwadron Ordensburger Dragoner! Wegener.« Eine ganze Weile saß er mit dem Blatte im Dunkeln. Mit einer gewissen, stumpfen Verwunderung, daß der Chef sein vor Wochen gegebenes Versprechen gehalten hatte. In der ganzen letzten Zeit war nicht mit einem Worte mehr davon die Rede gewesen. Und morgen mußte er sich dafür bedanken. Wie sehr er gejubelt hätte, daß sich ihm sein sehnlichster Wunsch so rasch erfüllte, und daß er bei dieser außerordentlichen Auszeichnung sich eines Gefühls der Beschämung nicht erwehren könnte, weil er nämlich einen Teil der Voraussetzungen, die damals vielleicht mit bestimmend gewesen, nicht mehr erfüllte. Er wäre heute nicht mehr frei, hätte sein Schicksal an das einer anderen gebunden, der er von jetzt an zur Seite stehen müßte. Da erwiderte der gütige Chef wohl mit einem Lachen: »Na, lieber Foucar, deswegen brauchen Sie sich keine grauen Haare wachsen zu lassen! Das war damals nur ein kleines Scherzchen von mir. Und ich schätze, Sie haben in Ihrer klugen Art mit Liebe, aber auch mit Vorsicht gewählt. Eine junge Dame, die Sie im Kreise des vornehmen alten Regiments mit Stolz präsentieren können ...« Und er mußte darauf sagen: »Verzeihung, Herr Oberst, das weiß ich noch nicht! Ich kenne von der Herkunft und Vergangenheit meiner Verlobten blutwenig, eigentlich so gut wie gar nichts. Ich weiß heute noch nicht einmal, ob ich nicht genötigt sein werde, meinen Abschied zu nehmen, wenn ich das ihr gegebene Versprechen einlösen soll.« Da schrie es plötzlich in ihm auf, verrückt war das, was er in dieser letzten Stunde getan hatte! Ein sinnloser Karnevalsstreich war das gewesen, den ihm ein anderer gespielt hatte, der für eine kurze Weile in seine Haut geschlüpft war. Ein leichtfertiger Bursch, der halb im Trunke, halb unter dem Einflusse seiner aufgepeitschten Sinne mit Menschenschicksalen spielte ... dem ein bißchen Mitleid, ein plötzliches Begehren genug waren, die Worte zu sprechen, mit denen er sich für das ganze Leben verpflichtete. So sinnlos war das alles, daß er keinen Augenblick zögern durfte, sich aus dieser Verstrickung wieder zu lösen. Er steckte die Lampe an und setzte sich, wie er ging und stand, in Hut und Ueberzieher, an den Schreibtisch. Aber schon nach den ersten Zeilen zerriß er den Bogen in tausend kleine Fetzen, warf sie in den Papierkorb. Wie und womit sollte er seine plötzliche Sinnesänderung erklären? Noch vor kaum einer Stunde hatte er gesagt: »Ich bin doch kein Knabe mehr, der morgen vergißt, was er heute geschworen hat.« Sollte er schreiben: »Gnädige Frau, als ich das sprach, war ich verrückt oder betrunken, und jetzt, nachdem ich wieder zur Besinnung gekommen bin, muß ich Sie bitten, mir mein Wort zurückzugeben?« Zorn und Scham trieben ihm das Blut ins Gesicht, allerhand wirre Gedanken und Bilder schossen ihm durchs Hirn. Wort war Wort, und wenn man es nicht einlösen konnte, hatte man es eben auf andere Weise zu zahlen. Solch ein haltloser Tropf, der für die Folgen seiner Handlungen nicht eintrat, hatte auf der Welt nichts mehr zu suchen! Und ein längst vergessenes Bild trat plötzlich vor seine Augen. Ein armes junges Kerlchen aus seinem alten Regiment lag da mit durchschossener Schläfe, weil es sein verpfändetes Wort nicht hatte halten können. Eine in der Trunkenheit eingegangene Spielschuld war es gewesen, und er selbst hatte damals unter den strengen Richtern gesessen. Da stöhnte er auf wie ein weidwundes Tier und barg sein Gesicht in den Händen. Heute hätte er wohl nicht so unbarmherzig geurteilt wie damals vor acht oder neun Jahren. Und nur eine letzte leise Hoffnung hielt ihn vor dem jähen Schritte ins Dunkle zurück, daß die Frau, der er sein Wort gegeben, morgen vielleicht auch schon anders dachte ... Vielleicht als ein tändelndes Spiel ansah, was ihm in dem einen Augenblicke, da er die Zucht über sich verloren hatte, heiliger Ernst gewesen war. Als er sie während den Tanzes aus den Hals küßte, hatte sie ja selbst gesagt, in ihren Kreisen nähme man es nicht so genau, wenn ein Herr einer verheirateten Dame mit einer Huldigung nahte, die, bei Licht besehen, eine bodenlose Unverschämtheit war ... * * * * * Gegen Morgen mußte ihn wohl die Müdigkeit übermannt haben. Als Gaston von Foucar aus einem von wirren Träumen erfüllten Schlafe erwachte, schien die helle Sonne zum Fenster herein. Sein Bursche stand vor dem Bett, mit einem Briefe in der Hand. »Herr Hauptmann werde gütigscht verzeihe, aber es ischt Zeit zum Dienscht, und zudem, das alt Weible, was den Brief da bracht hat, will sofort Antwort habe.« Gaston richtete sich im Bett auf. »Was für ein altes Weib?« »Die wo ebe gekomme ischt, Herr Hauptmann. Sie hockt im Vorzimmer, schaut aus wie eine von dene Schpreewäldlerinne, und der Herr Hauptmann tät scho wisse, von wem daß das Briefle wär'.« »Sagen Sie ihr, sie soll noch ein paar Minuten warten! Und legen Sie mir die erste Garnitur Ueberrock zurecht!« »B'fehl, Herr Hauptmann!« Als der Bursche das Schlafzimmer verlassen hatte, hielt Gaston eine ganze Weile lang den Brief unschlüssig in der Hand. Mit einem Schlage war ihm die Erinnerung zurückgekehrt, und ein Gefühl des Ekels vor sich selbst schnürte ihm die Kehle zusammen. Körperliches Unbehagen nach dem ungewohnten schweren Trunke und dazu ein ganzes Heer bohrender und nagender Vorwürfe. Wie ein Verbrecher erschien er sich, der nach einer im Rausche begangenen Freveltat erwachte. Der bleierne Schlaf hinterher hatte sie nicht ungeschehen gemacht, nur um so schreckhafter stand sie im klaren Tageslichte da! Und der Brief hier brachte ihm sein Urteil. Mit zitternder Hand riß er ihn auf, das Herz schlug ihm bis in den Hals hinauf. »Mein Liebstes! In aller Eile ein paar Zeilen, weil ich Dich beim Erwachen nicht ohne Gruß lassen wollte. Ich habe die Nacht nicht geschlafen. Ich lag mit offenen Augen und konnte nicht fassen, was geschehen war. Immer hatte ich Angst, wenn es wieder Morgen würde, wäre es nicht wahr. Dann aber wiederholte ich mir alles, was Du gesprochen hattest, und die selige Gewißheit zog in mein Herz, daß Du mir gehörst und ich Dir, für immer! An Deiner Hand, Du Lieber, in ein neues Leben gehen zu dürfen, die Seligkeit ist so groß, daß ich sie kaum ertragen kann. In einem einzigen Lachen und Weinen gehe ich umher! Mit dem Widerwärtigen, was heute nacht noch geschah, will ich Dich verschonen, auch all das Ueble und Häßliche soll Dir fernbleiben, was in dem Kampf um meine Freiheit nun mal nicht zu vermeiden ist. Er wird kurz sein, denn ich habe gute Waffen in der Hand. Heute nachmittag um fünf erwarte ich Dich. Da will ich noch einmal von Dir hören, daß Du mich lieb hast. Dann aber müssen wir für eine ganze Zeit Abschied voneinander nehmen. Sieh, mein liebster Bub, die Tränen fallen mir aus den Augen auf dieses Blatt, weil ich daran denke, daß wir uns vielleicht auf Monate nicht wiedersehen sollen, aber auf unseren zukünftigen Bund soll kein häßlicher Schatten fallen. Kein Gezischel und kein hämisches Gerede soll sich erheben dürfen. Daß wir uns heimlich versprochen haben, geht keinen Menschen was an! Meine alte Ursel, die um mich ist, seit ich auf der Welt bin, überbringt Dir diesen Brief. Gib ihr mündlich Bescheid, ob ich Dich um fünf erwarten darf. Den Brief aber verbrenne, denn die Leute, mit denen ich's jetzt zu tun bekomme, schrecken auch vor einem verschlossenen Schreibtisch nicht zurück. Ich umarme Dich und küsse Deine lieben, blauen Augen, die es mir zuerst angetan hatten bei Dir. Ich zähle die Minuten, bis Du bei mir bist. Josepha.« Unwillkürlich regte sich in Gastons Brust etwas von dem Gefühl, das er in der vergangenen Nacht empfunden hatte, als er die schöne Frau im Wagen heimgeleitete. In dem Briefe da war etwas, das ihn seltsam ans Herz rührte ... Und daß er sich mit Skrupeln plagte, wo andere, die das Leben leichter nahmen, mit beiden Händen zugegriffen hätten, lag vielleicht nur an seiner übergroßen Gewissenhaftigkeit. An einer schier schulmeisterlichen Strenge, mit der er noch immer sich selbst erzog. Der Landsberger Husar, Herr von Wodersen, war gewiß ein Offizier und Edelmann von untadeliger Gesinnung. Der aber würde ohne ein Wimperzucken sein Seelenheil verpfänden, wenn er in diesem Augenblick an seiner Stelle stehen dürfte! Und die Befürchtung, er müßte seine Karriere aufgeben, wenn er eine gewesene Schauspielerin heiratete, hielt bei näherem Ueberlegen nicht stand. Da ließ sich mit einigem guten Willen zu einer kleinen Vertuschung ein Ausweg finden. In dem kleinen ostpreußischen Städtchen da oben an der Grenze gab es wohl keinen Menschen, der Josepha auf der Bühne gesehen hatte. Da war sie nichts anderes als die geborene Baronesse Nadanyi, die nach schuldlos geschiedener Ehe den Rittmeister von Foucar heiratete. Wenn er sich aber in dem Regiment erst die gesellschaftliche und dienstliche Stellung geschaffen hatte, die ihm bei seinen Fähigkeiten sicher war, sollte wohl niemand auf den Gedanken kommen, daß bei seiner Verheiratung irgend etwas zu bemäkeln wäre. Na, und nachher richtete man sich miteinander ein, so gut es eben ging. Und was heute wie eine Art von Zwang aussah nach dem gegebenen Wort, wurde vielleicht eine ehrliche Zuneigung, auf der man sein Leben aufbauen konnte. Ein fester Entschluß aber mußte endlich gefaßt werden. Er griff nach der Klingel, sein Bursche betrat das Zimmer. »Herr Hauptmann befehle?« »Sagen Sie der Alten draußen, ich laß mich ihrer gnädigen Frau bestens empfehlen. Ich werde heute nachmittag um fünf meine Aufwartung machen.« Der Bursche schüttelte den Kopf. »Sell geht nit, Herr Hauptmann! Das alt Weible will partout den Herrn Hauptmann persönlich schpreche.« »Na, dann soll sie gefälligst warten, bis ich mich angezogen habe!« »Befehl, Herr Hauptmann!« Gaston sprang mit beiden Füßen aus dem Bett, wusch und kleidete sich rascher an als sonst. Als er aber den Rock zuknöpfte, überfiel ihn eine eigentümliche Beklommenheit. Als ginge er einem hochnotpeinlichen Examen entgegen, so war ihm plötzlich zumut. Er öffnete die Tür zum Vorzimmer: »Darf ich bitten?« Eine seltsam gekleidete alte Frau erhob sich, trat einen Schritt näher. Unter einem bunten Kopftuch stand ein schneeweißer Scheitel. Die Füße steckten in schwarzen Schnürschuhen, in der Rechten trug sie einen derben Schirm, auf den sie sich stützte, als wenn ihr das Stehen schwer fiele. Aus dunklen Augen sah sie Gaston prüfend an. Schließlich seufzte sie leicht auf und kam langsam ins Zimmer. Gaston schloß hinter ihr die Tür. »Sie wollten mich persönlich sprechen?« »Ja, Herr Hauptmann,« sagte sie, »und sehen! Damals als Sie zum ersten Male bei uns waren, hatte ich keine Gelegenheit.« Sie sprach ein ganz korrektes Deutsch, nur in der harten Betonung gewisser Vokale verriet sich ein slawischer Anklang. Gaston wurde es unter den musternden Blicken unbehaglich zumute. »Sie stehen zu Frau Rheinthaler wohl in einem besonders vertrauten Verhältnis?« »Ihre Mutter war zu eitel, da hab' ich sie genährt. Seit sie zum ersten Male in meinen Arm gelegt wurde, habe ich sie nicht mehr verlassen.« »Na, das ist sehr nett von Ihnen!« Ihm fiel im Augenblick nichts anderes ein als diese banale Wendung. Und, mit einem Versuche zu scherzen, fügte er hinzu: »Sie sehen mich so prüfend an. Gefalle ich Ihnen nicht?« Sie zuckte mit den Achseln. »Darauf kommt es nicht an. Nur eins: Sie haben ihren Brief gelesen. Danach mußte ich fast eine halbe Stunde warten! Haben Sie so lange Zeit gebraucht, sich Ihre Antwort zu überlegen?« Gaston fuhr mit gemachtem Unwillen auf. »Hätte ich Sie vielleicht im Schlafzimmer empfangen sollen? Ich mußte mich doch erst anziehen!« Sie schüttelte den Kopf, ohne die forschenden Augen von seinem Gesicht zu wenden. »Ich bin ein altes Weib, vor mir brauchten Sie sich nicht zu genieren. Und es ist schon richtig. Sie sehen nicht aus wie einer, der sich vor Freude nicht zu lassen weiß! Aber ich werde ihr was vorlügen. Sie würde sterben, wenn ich ihr die Wahrheit sagen wollte! Seit dem ersten Tag, wo sie mir von Ihnen erzählte, ist sie krank. Erst als ich ausgekundschaftet hatte, daß Sie es mit keiner anderen hielten, daß Sie frühmorgens in das große rote Haus am Königsplatz fuhren und erst spät in der Nacht wieder heimkehrten, beruhigte sie sich.« Gaston richtete sich auf. Es widerstrebte ihm, eine Unterhaltung weiterzuführen, bei der er wie auf einem Armesünderbänklein saß. »Es ist genug. Empfehlen Sie mich Ihrer Herrin, ich werde mir erlauben, um fünf Uhr bei ihr zu sein!« »Weiter soll ich ihr nichts ausrichten?« »Nein!« Die Alte trat näher, umklammerte seinen Arm. »Lieber, guter Herr, seien Sie nicht böse. Ich müßte mich ja selbst verfluchen, wenn ich mir sagen müßte, ich hätte etwas bei Ihnen verfehlt. Nur, weil ich sie so sehr liebe, daß ich mein Herzblut verspritzen könnte für sie, meine ich immer, allen anderen müßte es ebenso gehen. Also, Herr, sagen Sie mir nur ein einziges Wort, damit ich mich vor meinem Kind nicht so zu verstellen brauch' ...« Gaston machte sich unwillig los. »Aber, meine Verehrteste, wer mutet Ihnen denn zu, daß Sie sich verstellen sollen! Richten Sie der gnädigen Frau einen schönen Gruß von mir aus! Alles, was unsere Zukunft angeht, werde ich heute nachmittag persönlich mit ihr besprechen.« »Dazu wird vielleicht keine Gelegenheit sein. Heute nacht hatten wir alles gepackt, um fortzugehen. Da kam der Herr nach Hause, von der anderen. Wie er unsere Vorbereitungen sah, gab es einen schrecklichen Anfall. Ich glaubte, es ging schon zu Ende, aber er erholte sich wieder. Dann hat er geweint und gebettelt, sich die Haare gerissen und geschworen, er würde der anderen den Laufpaß geben. Die Josepha hat ihm nicht geantwortet, und jetzt läßt er sie nicht aus den Augen. Sitzt in seinem Stuhl und spricht kein Wort, bettelt nur immer mit den Augen.« Gaston wandte sich ab, unsäglich widerwärtig war das alles. »Na, dann sagen Sie Ihrer Herrin, es tut mir leid, aber unter diesen Umständen kann ich keinen Fuß in das Haus ihres Mannes setzen! Sie wird mir das nachfühlen.« Die Alte hob die dürre Hand. »Um Gottes willen, Herr, das geht nicht! Sie wartet auf Sie wie auf den Heiland. Um Sie noch einmal zu sehen und daraus Mut zu schöpfen für alles, was ihr noch bevorsteht. Wollen Sie ihr da dies kleine Opfer nicht bringen?« »Es ist gut,« sagte er mit einem Aufatmen, »ich komme! Und da es unter all den Umständen wohl keinen anderen Weg gibt -- richten Sie ihr etwas aus, was ich ihr sonst persönlich gesagt hätte. Ich setze allerdings dabei voraus, daß ich Ihnen vollkommen vertrauen darf.« Die Alte reckte ihre hagere Gestalt, über ihr vertrocknetes Gesicht flog ein heller Schein. »Sie vertraut mir, das muß Ihnen genug sein. Wie an einer Mutter hängt sie an mir.« »Nun denn ... Also sagen Sie der gnädigen Frau, ich hätte heute meine Versetzung in die Front bekommen. In ein kleines Nest an der russischen Grenze. Ob ich nach Berlin zurückkehre, hängt nicht von mir allein ab. Ich hoffe es, aber ich weiß es nicht bestimmt. Es kann ebenso gut sein, daß ich dort unten für immer bleiben muß. Ich bitte die gnädige Frau daher, sie möchte es sich noch einmal reiflich überlegen. Ob sie mir dorthin folgen will, in die engen und beschränkten Verhältnisse ...« Um die welken Lippen der Alten flog ein bitteres Lächeln. »Ich verstehe! _Sie_ möchten sich's noch einmal überlegen. Aber das geht nicht an, sie würde es nicht verwinden. Und nun hören Sie mir gut zu! Ich leide es nicht, daß Sie ihr wehe tun. Strafen wird die heilige Mutter Gottes Sie, wenn Sie Ihr Wort brechen, und ich werde ihr Werkzeug sein. Ich schwöre Ihnen, Sie können an das Ende der Welt fliehen, ich werde Sie erreichen!« Hochaufgerichtet stand sie da, die dunklen Augen in dem gelben Gesicht blitzten in fanatischem Glanz. Gaston hatte ihr ärgerlich ins Wort fallen wollen, aber die Alte war nicht zu beirren. Da ließ er sie aussprechen. Ueber die Drohung zum Schluß mußte er lachen. Sie war auch überflüssig, er hatte sich ja längst schon entschieden. Nur es war etwas in ihm, was ihn trieb, genau so ehrlich zu sprechen wie die andere da, die ihrer Herrin in blinder Treue ergeben war. »Sie haben richtig geraten, Frau ... Frau ...« »Ursula heiß' ich,« fiel die Alte ein, »Ursula Blazitschek aus Deutsch-Brod in Böhmen.« »Also, Frau Ursula, sagen Sie Ihrer Herrin, daß ich heute nacht noch gewissenhaft mit mir zu Rate gegangen bin. Daß ich auch heute noch überlegte, ob ich sie nicht bitten sollte, mir mein Wort wieder zurückzugeben. Das ist jetzt anders geworden. Nach dem Brief da ... nicht nach Ihren Drohungen. Die würden mich nicht einen Schritt weiter treiben, als ich zu gehen entschlossen wäre. Ich habe vieles zu überwinden, aber ich hoffe, es wird mir gelingen. Ich will ihr die Treue halten, mehr kann ich heute nicht versprechen. Wenn sie damit zufrieden ist, soll sie mir folgen. Gott gebe, daß es ihr und mir zum Guten ausschlägt.« Die Alte beugte sich hinab. Ehe er es verhindern konnte, hatte sie den Schoß seines Ueberrockes an die Lippen gezogen. »Dank, Herr! Jetzt wird sich alles zum besten wenden. Nur ihr werde ich nicht alles wiedersagen, was wir gesprochen haben. Wozu soll sie sich mit Zweifeln betrüben? Sie hat genug gelitten in dieser Zeit! Um Euer Glück aber ist mir nicht bange ... Und jetzt, Gott befohlen, Herr! Ich werde zusehen, ob es nicht möglich sein wird, daß Ihr Euch heute nachmittag für ein paar Minuten allein sehen könnt.« Sie knixte und ging eilig hinaus, ohne sich umzublicken. Ein paar Augenblicke war ihm zumute, als ginge das alles nicht ihn an, sondern einen Fremden. Wie in einem Theater kam er sich vor, in dem sich allerhand seltsame Geschehnisse abspielten. Wenn der Vorhang fiel, war die Täuschung vorüber. Man zog sich den Paletot an und trat wieder in die Wirklichkeit hinaus. Er schüttelte den Kopf und begann nachzudenken. Ein Mann, der sich fest in der Hand zu halten glaubte, trieb willenlos in dem Strom des Schicksals, Zufälle bestimmten ihm den Weg, blinde und alberne Zufälle, die jählings einfielen, wie eine aus verkehrter Richtung in die Segel schießende Böe. Einen Tag später war die Arbeit fertig, und er hätte die Frau, die jetzt sein Schicksal wurde, vielleicht nie wiedergesehen. Oder der Hauptmann Sternheimb, der gestern die Arrangements des lustigen Abends besorgte, wäre auf die Idee gekommen, ein anderes Ballokal für den Nachtbummel vorzuschlagen. Verrückt konnte man werden, wenn man darüber nachdachte. Der Bursche brachte das Frühstück herein, Gaston stürzte hastig eine Tasse Tee hinunter. Es war höchste Zeit, sich in den Dienst zu begeben. Und allmählich mußte er sich auch in eine Art von Freudengefühl hineinsteigern, damit seine Danksagung bei dem Oberst Wegener nicht der nötigen Wärme entbehrte. Aber es gelang nicht. Immer mußte er denken, daß er in den so heiß ersehnten neuen Wirkungskreis nicht eine lockende Hoffnung mitnahm, sondern eine drückende Last -- -- -- * * * * * Der Oberst war sehr guter Laune, als er seinen Schützling empfing. Nur hatte er wenig Zeit, denn er war zum Vortrage befohlen worden, konnte jeden Augenblick abgerufen werden. Er ordnete Papiere und Akten, als Gaston in sein Zimmer trat. »Na, lieber Foucar, wie ist Ihnen jetzt zumute?« rief er ihm entgegen. »Freuen Sie sich?« »Außerordentlich! Und ich weiß gar nicht, wie ich Herrn Oberst für all die Güte und Fürsorge ...« »Ist schon gut, ich freue mich mit, daß ich's hab' zurechtschieben können. Hauptsächlich für den Ordensburger Kommandeur. Der kann Leute wie Sie gebrauchen. Ich hab's Ihnen wohl schon neulich gesagt, er ist ein guter Freund von mir, der Oberstleutnant Harbrecht -- noch von der Kriegsschule her. Ich hab' ihn um ein paar Nasenlängen überholt ... na schön. Grüßen Sie ihn von mir! Und sagen Sie ihm im Vertrauen, er soll den alten Säbel schleifen. Es liegt eine verdammt schwüle Spannung in der Atmosphäre.« Gaston atmete tief auf. Und jetzt kam endlich die Freude über ihn. Das war vielleicht die Lösung aus all der Wirrsal, in die ihn diese vergangene Nacht gestürzt hatte. »Glauben Herr Oberst wirklich?« Der Chef zuckte mit den Achseln. »Ich vermute nur! Ich habe mich in dieser Zeit schon so oft mit meinen Prophezeiungen blamiert. Vielleicht heißt's morgen, wieder 'rin in die Kartoffeln! Aber wo der Oberstleutnant Harbrecht mit seinen Dragonern an _der_ Seite sozusagen am dransten ist, kann's nicht schaden, wenn er noch schärfer aufpaßt als sonst. Ich glaube, unsere Herren Nachbarn im Osten werden sich im Ernstfalle nicht lange mit der Vorrede aufhalten. Sie haben um Szuczin, Grajewo, und wie die Nester alle sonst heißen mögen, einen ganz anständigen Pulk Kosaken versammelt, und unsere Grenze bis zu dem masurischen Seendefilee ist offen. In einer Nacht können sie bis Lötzen reiten.« »Ich danke Herrn Oberst für die Mitteilung. Ich werde es Herrn Oberstleutnant Harbrecht ausrichten.« »Na, dem erzählen Sie mit dem letzten keine Neuigkeiten, der weiß in seinem Kram Bescheid. Das war mehr für Sie, damit Sie sich gleich zu Anfang bei ihm ein bißchen nett einführen können!« »Herzlichen Dank, Herr Oberst. Ich hatte inzwischen auch schon Gelegenheit genommen, mich wenigstens oberflächlich über die dortigen Verhältnisse zu unterrichten. Herr Major Nahmacher hatte die Güte, mir auf meine Bitte das einschlägige Material in seinem Bureau für eine Stunde zur Einsicht zu überlassen.« Der Chef nickte wohlgefällig. »Um so besser! Aber jetzt einen kleinen Tropfen Wermut in den Becher der Freude: Urlaub is nich! Wenn die Zeiten wider Erwarten ruhig bleiben sollten, nach dem Manöver.« »Sehr wohl, Herr Oberst. Ich hatte sowieso nicht darauf gerechnet. Jetzt natürlich erst recht nicht, ich müßte mich ja schämen. Und ich habe hier nicht viel zu besorgen. Ein paar Abschiedsbesuche. Die ärgste Zeitversäumnis wäre die neue Uniform. Sonst könnte ich schon heute abend reisen.« Der Oberst Wegener lachte laut auf. »So doll ist das Vaterland nun nicht in Gefahr! Die Russen werden ja nicht gleich morgen anfangen.« Eine Ordonnanz betrat das Zimmer, stand an der Tür stramm. »Was' los?« »Exzellenz erwarten den Herrn Oberst.« »Es ist gut, ich komme sofort!« Der Chef griff nach seiner Mappe. »Tut mir leid, lieber Foucar, ich hätte gerne noch ein Weilchen mit Ihnen geplaudert. Von meinem lieben Ostpreußen. Ich hab' da 'ne Masse Verwandte, denen können Sie Grüße bestellen! Die Leitners in Prawdowen, die Ahrens in Sarken, den Reichs- und Landtagsabgeordneten Gorski auf Kalinzinnen ... mit einem himmlischen Kerl von Tochter. Ich alter Esel, als ich das letzte Mal auf Urlaub war, verschoß mich in das Mädel, daß meine gute Alte beinahe eifersüchtig wurde ... Na, das soll natürlich kein Wink mit dem Zaunpfahl sein. Von diesen herrlichen Edelfohlen läuft da auf dem Lande noch eine ganze Masse herum. Also, jetzt Schluß, lieber Foucar, und adieu!« Er schüttelte seinem gewesenen Untergebenen kräftig die Hand: »Alles Gute auf den Weg, und schreiben Sie mir mal!« Gaston fühlte es heiß im Herzen aufsteigen. Ganz unwillkürlich beugte er sich über die Hand, die seine Rechte hielt. Wie die Hand eines Vaters kam sie ihm vor. Der Oberst machte eine rasche Bewegung. »Unsinn,« sagte er, aber seine Stimme klang ein wenig rauh. »Ich hatte vom ersten Tage an ein Auge auf Sie geworfen, um Sie für mein geliebtes altes Regiment und die Heimat einzuheimsen. Und jetzt Schluß ... Gott befohlen!« Er wandte sich ab, ging eilig zur Tür hinaus. Gaston aber stand noch eine Weile allein, ehe er sich in sein Zimmer zurückbegab. Er fühlte sich bedrückt von diesem Vertrauen und kam sich nicht mehr so sauber vor wie früher. Sein alter Stubenkamerad, Hauptmann von Sternheimb, hob bei seinem Eintritt den Kopf. »Sie, Foucar, hier in der Abteilung hat sich eine seltsame Mär verbreitet. Die Herren im Nachbarzimmer haben es deutlich gehört: der Alte soll ein paarmal gelacht haben, während Sie Audienz bei ihm hatten. Richtig gelacht. Also das ist ein so merkwürdiges Vorkommnis ... Morgen haben wir entweder Erdbeben oder Krieg nach drei Fronten.« »Vielleicht habe ich ihm einen guten Witz erzählt.« Herr von Sternheimb lachte. »So sehen Sie aus! Aber, wenn es nicht indiskret ist: Was wollten Sie eigentlich bei ihm? So feierlich im besten Ueberrock, mit Zylinderhut und Säbel?« »Mich abmelden! Ich bin als Rittmeister zu den Ordensburger Dragonern versetzt worden.« Hauptmann von Sternheimb sprang auf. »Mann Gottes, und das sagen Sie mit so einer Leichenbittermiene? Sausen wieder mal über ein paar Dutzend Vordermänner weg -- unter anderen auch über mich -- kommen in die Front, während wir hier wie die Kulis im Schwitzkasten sitzen müssen. Die hohe Dame, die da unten in der kleinen süddeutschen Residenz Ihre Schicksale lenkt, scheint wieder einmal recht tätig gewesen zu sein.« Gaston verfärbte sich. »Wie meinen Sie das, Herr von Sternheimb?« Der andere wurde ein wenig verlegen. »Entschuldigen Sie, das ist mir so herausgefahren. Aber es geht hier unter uns eine Legende, Sie erfreuten sich da unten in Süddeutschland, noch von Ihrem seligen Herrn Vater her, ganz besonders guter Beziehungen.« »Das ist ein Irrtum. Mein Papa ist gestorben, als ich kaum ein Jahr alt war. Ich habe mir mein bißchen Weg allein gemacht, ohne jede Protektion! Die Versetzung jetzt zu so ungewöhnlicher Zeit verdanke ich unserem Abteilungschef. Er hat sie mir selbst angetragen!« Herr von Sternheimb lächelte vielsagend. »Er schien Ihnen schon immer wohlgewogen zu sein. Na dann: gratuliere herzlichst!« Gaston runzelte die Stirn. So wie der hier, dachten alle übrigen. Kameradschaft existierte doch nur dort, wo einer den anderen nicht zu beneiden hatte. »Ich hatte die Absicht, die Herren in unserer Abteilung heute abend zu einem Abschiedstrunk zu laden. Bitte, empfehlen Sie mich ihnen! Ich muß früher in Ordensburg antreten, als ich gedacht hatte. Nach der Stichprobe hier eben zu schließen, wird man mir ja auch nicht allzu viel Tränen nachweinen.« Herr von Sternheimb machte eine lässige Handbewegung. »Ihre eigene Schuld, Herr von Foucar! Sie haben sich ja immer von uns zurückgezogen. Gestern kriegten wir eine Art von Erklärung und verziehen Ihnen mit schnödem Neid im Herzen. Minnedienst geht vor Kameradschaft.« »Wie meinen Sie das?« fragte er, ein wenig unsicher. »Na, das feuchte Weib, mit dem Sie allein im Auto nach Hause gondelten. Donnerwetter noch mal, war das 'ne pompöse Erscheinung! Und anscheinend eine Klasse für sich. Eigenes Auto mit Chauffeur und Diener.« »Herr von Sternheimb, ich mache Sie darauf aufmerksam. Sie sprechen von einer Dame der Gesellschaft!« »Ah, pardon! Der Ansicht war ich nämlich auch, als wir nachher noch bei einem Gläschen Pilsner beisammensaßen, aber der lange Bledow hatte zufällig neben Ihnen getanzt und ganz deutlich gesehen, wie Sie Ihrer Partnerin einen zärtlichen Kuß auf den schneeweißen Schwanenhals applizierten! Das gab er natürlich unter allgemeiner Heiterkeit zum besten.« Gaston wandte sich ab und biß sich auf die Lippen. Herr von Sternheimb trat näher und legte ihm die Hand auf den Arm. »Na, Foucar, nichts für ungut! Wollen nicht im Aerger auseinandergehen. Wir haben in der Zeit hier doch immer sehr brav zusammengehalten! Und soll ich vielleicht noch feierlich erklären, daß ich nicht die geringste Absicht hatte, der Dame zu nahe zu treten?« »Ist nicht nötig,« erwiderte er mühsam. »Nach den Beobachtungen, die Herr von Bledow gemacht hatte, konnte es sehr wohl den Anschein haben ... also erledigt!« Herr von Sternheimb sah ihn nicht ohne Teilnahme an. »Es tut mir furchtbar leid, lieber Foucar, falls ich da an etwas gerührt haben sollte ... Ich habe mir nichts dabei gedacht! Aber Sie werden mir zugeben, es ist doch, gelinde gesagt, ein bißchen ungewöhnlich, daß eine Dame der Gesellschaft sich mitten unter diese kleinen Mädchen mischt.« »Ist ja schon gut,« sagte Gaston gequält, »wollen die Sache nicht unnütz breittreten! Nur so viel noch: wenn sich jemand Vorwürfe zu machen hat, bin ich es, ganz allein. Ich habe die junge Frau, die sich in Begleitung ihres Mannes und noch einiger Herrschaften den Balltrubel aus Neugierde 'mal ansehen wollte ... dabei ist doch nichts, nicht wahr? ... Ja also, ich habe die Dame dazu verleitet, mit mir einmal herumzutanzen. Daß ich mir nachher diese unbegreifliche Unverschämtheit erlaubte, dafür kann sie nichts. Ich muß gestern nicht recht bei Sinnen gewesen sein. Sie würden mich zu Dank verpflichten, lieber Sternheimb, wenn Sie den Herren, die gestern mit von der Partie waren, in dieser Richtung -- gelegentlich einmal -- eine Aufklärung geben würden.« »Aber natürlich! Herzlich gerne,« beeilte sich der andere zu versichern. »Wir hatten ja alle gestern ein bißchen scharf getrunken. Wenn man da einer schönen Frau ein wenig allzu keck huldigt, noch dazu in einer solchen Umgebung ... na, das läßt sich begreifen. Sie scheint es Ihnen ja auch nicht übelgenommen zu haben, stieg mit Ihnen ganz vergnügt in das Auto ... Der lange Below rief Ihnen noch zu: Viel Vergnügen! aber Sie hörten nicht mehr.« »Nein, allerdings nicht ... ist mir ganz entgangen, sonst hätte ich dem Herrn wohl eine recht deutliche Zurechtweisung ... Na ist gut! ... Also dann adieu, Sternheimb.« »Adieu, lieber Foucar, grüßen Sie mir das liebe alte Nest da an der Grenze. Wenn nichts dazwischen kommt, sehen wir uns zum Herbst vielleicht wieder. Ich habe da einen weitläufigen Vetter, der hebt mir immer ein paar gute Rehböcke auf. Sie kennen ihn übrigens auch. Vor 'nem Jahr ungefähr hat er mich hier besucht, und Sie waren so liebenswürdig, den endlosen Nachtbummel mitzumachen. Der junge Kersten war noch dabei, von den Königsberger Kürassieren.« »Ganz recht, jetzt entsinne ich mich. Na dann nochmals adieu und hoffentlich auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen, lieber Foucar, und alles Gute.« Als Gaston nach der Erledigung der üblichen Formalitäten und den notwendigen Abmeldungen das große Gebäude am Königsplatz verließ, würgte ihn etwas am Halse. Ganz erbärmlich kam er sich vor, aber es ging nicht anders, er mußte die Fessel wieder abstreifen, in die er sich bei nicht ganz klaren Sinnen verstrickt hatte. Was er sich unter dem Eindruck des Briefes am frühen Morgen zurechtgelegt hatte, als könnte er mit Frau Josepha in dem kleinen Städtchen wie auf einer Insel leben, war frommer Selbstbetrug gewesen. Torheit war es doch, zu glauben, daß dort niemand hinkommen könnte, der Josephas Vergangenheit kannte. Das Gespräch eben mit dem Hauptmann von Sternheimb war lehrreich genug gewesen. Zwei Dinge gab es nur, zwischen denen er zu wählen hatte: seine Karriere als Soldat oder die Frau. Da mußte man hart sein, alle sentimentalen Regungen über die linke Schulter werfen und sich frei machen! Und schließlich, wenn man sich die ganze Angelegenheit jetzt einmal im klaren Tageslichte besah, was war denn Großes geschehen? Eines jener hysterischen Weibchen, die in Berlin zu Tausenden herumliefen, hatte sich in ihn verliebt. Sah in ihm den Retter aus aller Not und -- mal das Ding beim richtigen Namen genannt -- warf sich ihm an den Hals. Er hatte sich einfangen lassen in der seltsam gesteigerten Stimmung der Nacht. Jetzt war es wieder heller Tag, und da kam man zur Besinnung. Richtete seinen Weg nach vernünftigen Ueberlegungen, statt nach unklaren und halb trunkenen Empfindungen. Wenn es dabei auch nicht ohne eine gewisse Brutalität abging. Das war gesunder Selbsterhaltungstrieb! Und unwillkürlich mußte er denken, ein anderer an seiner Stelle hätte vielleicht skrupellos die Gelegenheit benutzt, die schöne Frau zu seiner Mätresse zu machen. Er aber, in dem Respekt, den nur von einer Mutter erzogene Männer vor allem hegten, was Weib hieß, er hatte gleich sich selbst eingesetzt und seinen Namen. Da stand denn doch Gewinn zu Verlust in einem zu argen Mißverhältnis. Und wenn er wenigstens noch eine Spur von Liebe empfunden hätte! Aber nichts, rein gar nichts als ein bißchen Mitleid. Er stöhnte auf und ballte im hastigen Dahinschreiten die Faust: Schwerenot noch einmal, das war nicht genug, um darauf ein Mannesschicksal aufzubauen! Er konnte sich an diesem Mitleid doch nicht einfangen lassen wie an einem Strick. Da mußte man sich losreißen mit ein paar kurzen Worten heute nachmittag und nach dem Abschied nicht rückwärts schauen. Auch nicht grübeln und sich selber Moralpauken halten. Eine dunkle Stunde, an die er nicht ohne eine gewisse Scham zurückdachte, hatte schließlich jeder in seinem Leben. Das mußte man nicht tragisch nehmen. Namentlich, wenn es um eine Frauenzimmerangelegenheit ging. Da gab es ein bißchen Geflenn und Geplärre, man plagte sich selbst eine Weile lang mit Gewissensbissen, schimpfte sich mal Schweinehund -- wenn's gar zu arg wurde, betäubte man sich mit einer guten Flasche. Und dann kam die liebe Zeit, brachte allmählich Vergessenheit. Man mußte sich nur von gewissen altfränkischen Vorstellungen losmachen. Daß Wort Wort war! Ob man es nun einem Manne abgegeben hatte oder einem Weibe, in der Trunkenheit oder bei vollkommen klaren Sinnen. 4. Als Gaston nach Hause kam, lag auf dem Tische die offizielle Bestätigung der privaten Nachricht, die er in der gestrigen Nacht erhalten hatte. Er überlegte. Wenn er eine Depesche an seinen neuen Kommandeur schickte, hätte der ihm die paar Tage Urlaub wohl nicht abgeschlagen. Eigentlich brauchte er nicht viel mehr als sechsunddreißig Stunden, um zu seinem alten Mütterchen hin und zurück zu fahren. Und da hätte er sich in einer Aussprache wohl Klarheit und Trost holen können. Aber wie sollte er es anfangen, der schlichten alten Frau all das zu schildern, was in seinem besonderen Falle mitspielte? Sie hätte ihn vielleicht gar nicht verstanden, nach dem altüberkommenen Schema Schwarz oder Weiß geurteilt. Daß modern empfindende Menschen da allerhand Schattierungen und Zwischenstufen einschoben und danach ihr verständnisvolles Urteil einrichteten, hätte sie wohl nicht begriffen. Und danach wäre sie, wie immer, auf den eigenen Kummer gekommen, der ihr ganzes Leben zerstört hatte. Auf den allzufrühen Verlust des Gatten, der nach kaum zweijähriger Ehe in den sicheren Tod gegangen war. Als Kammerherr und Hofmarschall der Großfürstin Anna Feodorowna, die sich als Witwe an den heimatlichen kleinen Hof zurückgezogen hatte. Für den Ruf seiner Herrin hatte er sich geschlagen, den ein frecher Höfling in den Staub gezerrt. Aus glatter, blanker Vasallentreue hatte er sich geschlagen, wie ein Kavalier des =Ancien régime=, aber seine Frau witterte etwas anderes dahinter, ein Verhältnis mit der leichtlebigen Großfürstin. Und davon war sie nicht abzubringen, auch nicht, nachdem sie den Brief gelesen hatte, der ihrem Sohne von dem Vormunde eingehändigt wurde an dem Tage, als er Offizier wurde. »Mein Junge, es wird etwas lange dauern, bis Du nach meiner Bestimmung diesen Brief zu lesen bekommst. Du sollst erst reif genug sein, Dir selbst ein Urteil über Deinen Vater zu bilden. Ich werde morgen früh im Zweikampfe erschossen werden, denn mein Gegner hat in der Handhabung der Pistole eine größere Fertigkeit. Ich weine bei dem Gedanken, Dich und Deine Mutter allein zurückzulassen, aber ich sterbe im Dienst. Im Dienst der Herrin, der ich mich gelobt habe. Sie ist ein Racker, ich weiß es, aber ihr Ruf wurde öffentlich beschimpft, und ich muß als der =Cavaliere servente= dafür eintreten. Getreu dem Wahlspruch unseres alten Geschlechts: =mon âme à Dieu, mon épée au roi, mon coeur aux dames!= Deine Mutter als reine Deutsche versteht das nicht. Sie glaubt, ich hätte ein sträfliches Verhältnis mit meiner Herrin. Dir gebe ich mein Wort, es war nicht der Fall, trotz öfterer Gelegenheit. Dazu hatte ich Deine Mutter viel zu lieb. In den hundert Jahren, die unser Geschlecht jetzt in dem schwerfälligen Deutschland lebt, ist uns jene frohe und leichtblütige Galanterie abhanden gekommen, die an unverbindliche Zärtlichkeiten in schwüler Stunde nicht den Maßstab eines Wüstenpredigers legt. Da langweilte sich meine hohe Herrin mit mir, wählte für ihr =loisir= einen Burschen, der nicht luftdicht war, der im Trunk mit der genossenen Gnade großsprecherisch prahlte. Es tut mir leid, daß ich wegen mangelnder Fertigkeit diesen Lumpen nicht gebührend züchtigen kann. Der Schlag ins Gesicht war nicht genug. Und nun leb' wohl, mein Junge. Es tut mir leid, daß ich Dich der Erziehung Deiner Mutter überlassen muß. Sie wird einen deutschen Pedanten aus Dir machen, der mal eine wohlerzogene Geheimratstochter heiratet. Das letzte Tröpfchen gallischen Abenteurersinnes wird verloren sein. Aber vielleicht ist es gut so -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- Ich habe in dem Brief eine Pause gemacht, eine ganze Weile saß ich an Deinem Bettchen. Du schliefst ruhig, die kleinen, runden Fäuste gegen das Näschen gestemmt. Deutlich erkannte ich das Zeichen der Foucar, den leichtsinnigen kleinen Knick nach links, aber man wird ihn Dir schon austreiben. Danach bettelte ich noch einmal an einer verschlossenen Tür -- sie tat sich mir nicht auf. Vielleicht wäre dann noch alles anders gekommen. Also adieu, mein Junge! Einen Rat gebe ich Dir auf den Weg: bleibe ledig! Dann bleibst Du auch frei. Die Nation mit den langen Haaren ist von kurzem Sinn. Eine Beleidigung, die Du ihrer Eitelkeit angetan hast, verzeihen sie selbst auf dem Totenbette nicht. Du kannst sie schlagen, sie werden Dir verzeihen. Aber haben sie Dich im Verdacht, eine andere hätte mal Deine Sinne gereizt, bist Du ein Verbrecher, der am Allerheiligsten gefrevelt hat! Unten fährt der Wagen vor, man holt mich zu meinem letzten Gange. Grüß Deine Mutter, denk von dieser Stunde über Deinen Vater anders, als man Dich bisher gelehrt hat! Gaston Baron Foucar de Kerdesac.« Den Brief hatte er damals so oft gelesen, daß er ihn auswendig konnte. Aber die Mutter war selbst durch dieses im Angesicht des Todes geschriebene Bekenntnis nicht umzustimmen gewesen, hatte daraus nur eine neue Kränkung gelesen. Und er konnte es begreifen, denn als ein verwöhntes reiches Mädchen hatte sie unter zahlreichen Bewerbern dem Einen den Vorzug gegeben, der sich -- ihrer Meinung nach -- nachher als ein Wortbrüchiger und Treuloser erwies. Und im Laufe der Jahre hatte sie sich immer mehr in ihrem Urteil verstockt, suchte bei allen ähnlichen Konflikten, von denen sie vernahm, die Schuld nur auf seiten des Mannes. Da hätte sie vielleicht auch in seinem Fall ohne Ansehung der besonderen Umstände entschieden, und damit war ihm nicht gedient. Er brauchte einen glatten Freispruch, sonst hätte sich die weite Reise nicht gelohnt. Der Tag ging herum unter vielfältigen Besorgungen wie eine kurze Stunde. Die Uhr zeigte auf fünf, und da konnte er sich immer noch entschließen, ob er den kurzen Abschied mündlich besorgte oder durch ein paar Zeilen, die sein getreuer Bursche Häberle überbrachte. Aber das hätte vielleicht wie eine Art von Feigheit ausgesehen, als schämte er sich seines Rückzuges. Das Auto hielt vor dem hohen schmiedeeisernen Gitter, das die prunkvolle Rheinthalersche Villa von der Straße schied. Der Diener, den er mit seiner Karte hineingeschickt hatte, kam zurück: »Herr und Frau Rheinthaler lassen bitten.« Gaston folgte ihm durch die weite Halle in ein halbdunkles Zimmer, in dem sich das ans helle Tageslicht gewöhnte Auge erst allmählich zurechtfand. Eine Art von Boudoir schien es zu sein mit einem Stutzflügel in der Mitte ... Bilder in Goldrahmen an den Wänden. Hinter einem mit Patiencekarten bedeckten Tische erhob sich mühsam eine hagere Gestalt, ein paar unruhige Augen flackerten in einem verfallenen Gesicht. »Ei sieh da, Herr Baron, das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, daß Sie sich nach uns umsehen!« Herr Rheinthaler streckte dem Eintretenden die Hand entgegen: »Sie bleiben selbstverständlich zum Abend da. Wir telephonieren rasch ein paar nette Leutchen zusammen.« Gaston tat, als hätte er die Bewegung nicht gesehen. Erbärmlich wäre er sich vorgekommen, wenn er dem Manne da die Hand gereicht hätte. Er verneigte sich, den Helm in der Rechten. »Ich bedauere lebhaft, Herr Rheinthaler, meine Zeit ist leider sehr knapp. Ich komme nur, um mich zu verabschieden. Gestern nacht, als ich nach Hause kam fand ich ein Telegramm vor, das mir meine Versetzung ankündigte. Nach Ordensburg in Ostpreußen, zu dem Dragonerregiment Graf von Schmettau.« Frau Josepha, die mit einem Buche am Fenster gesessen hatte, kam näher. Sie sah blaß und übernächtig aus, um ihre Augen lagen tiefe Schatten. Als Gaston ihre von blitzenden Ringen bedeckte Hand an die Lippen zog, spürte er einen leisen, zärtlichen Druck, der ihm das Blut in die Wangen trieb. Sie machte eine zum Platznehmen einladende Bewegung, setzte sich selbst auf einen niedrigen Hocker ganz in seiner Nähe. »Die Versetzung ist Ihnen wohl sehr überraschend gekommen?« Er sah sie ein wenig unsicher an. In der anscheinend so harmlosen Frage hatte ein geheimer Unterton angeklungen, fast wie ein Vorwurf: »Weshalb hast Du mir das gestern verschwiegen?« »Ueberraschend? Doch nicht so ganz, gnädige Frau! Mein Abteilungschef, der mir sehr gewogen ist, hatte sie mir schon vor Wochen angekündigt. Es ist eine große Auszeichnung, und ich freue mich sehr darüber.« Herr Rheinthaler, der seine Patience wieder aufgenommen hatte, warf ein: »Daß Sie nach Ordensburg kommen? Ich kenne das Nest! Vor ein paar Jahren war mir da in der Nähe ein Jagdgut angeboten. Wenn ich im Hotel nicht einen Weinreisenden getroffen hätte, der mit mir um die halben Pfennige Piquet spielte -- ich wäre umgekommen vor Langerweile. In zwei Tagen! Wie vernünftige Menschen es dort ein Leben lang aushalten, ist mir ein Rätsel!« »Nun,« sagte Frau Josepha mit einer gewissen Schärfe, »dafür gibt es eine sehr einfache Lösung: sie arbeiten! Haben irgend eine Tätigkeit, die sie ganz ausfüllt. Nur die Leute, die dem lieben Gott den Tag abstehlen, langweilen sich.« Und zu Gaston gewandt, fuhr sie fort: »Ich kann es mir sehr gut vorstellen, das Leben in so einer kleinen Stadt. Auch für eine Frau ... Kein Theater, keine Bälle, keine rauschenden Vergnügungen, nur Ruhe und Stille. Einen Mann, den man von ganzem Herzen liebt, dem man genug ist. Man richtet ihm das Haus so behaglich, als es nur möglich ist, streicht ihm die Falten aus der Stirn, wenn er müde und verärgert vom ... von der Arbeit kommt ... und abends plauscht man, macht ein bisserl Musik oder liest ein gutes Buch. Wundervoll denk' ich mir das! Keine lästigen Menschen ringsum, nur zwei für sich ganz allein.« Sie brach ab und sah mit sehnsüchtigen Augen durch das von dichtem Grün umrankte Fenster ins Weite, als erblickte sie dort ein fernes Glück. Gaston spürte deutlich, all das war für ihn gesagt. Die Antwort war es auf die Frage, die er ihr durch die Alte am Vormittag gestellt hatte. Da dauerte es ihn fast, daß er diesen Glückstraum mit rauher Hand zerstören mußte. Herr Rheinthaler lachte kurz auf und zwinkerte ihm vertraulich zu. »Das sind so Stimmungen, mein verehrter Herr Hauptmann! Oder muß man schon Rittmeister sagen, weil Sie jetzt doch bei der Kavallerie sind? Ich kenne mich als gänzlicher Nichtsoldat da nicht aus.« »Es ist ziemlich egal, Herr Rheinthaler.« »Na dann, von dieser Schwärmerei eben für die kleine Stadt müssen Sie ein bißchen Jammer in Abrechnung bringen! Ehe wir in dem Ballokal landeten, hatten wir schon eine recht ausgiebige Sitzung hinter uns. Und meine teure Gattin hatte sich geärgert. Da trinkt sie noch mehr Sekt als gewöhnlich.« »Ist nicht wahr,« fuhr Frau Josepha auf. Die Zornröte färbte ihr die Wangen. »Aber Peperl, ich hab' Dir doch zugesehen! Du kannst ja einen ganz gehörigen Posten vertragen, aus langjähriger Uebung, aber gestern ... Und wie Du gegen das arme Wurm, die Sandori, losgingst, wußte ich Bescheid.« Gaston fühlte einen Knäuel im Halse aufsteigen. Zwei Trunkene hatten gestern leichtfertige Liebesschwüre ausgetauscht. Und da hatte der Narr sich darum eine schlaflose Nacht gemacht, eine Nacht voll peinigender Selbstvorwürfe ... Er griff nach seinem Helm und erhob sich. »Verzeihen Sie gütigst, gnädige Frau, ich möchte um die Erlaubnis bitten ...« Frau Josepha sah ihn erschreckt an. »Um Gottes willen,« sagte sie unwillkürlich. Und Herr Rheinthaler legte seine Patiencekarten hin und trat auf ihn zu. »Aber, mein bester Herr Baron, weshalb denn? Weil meine Frau sich mit mir ein bißchen gekabbelt hat? Das kommt in den besten Ehen vor! Und wir sind schon auf dem Wege, uns wieder zu vertragen -- sie schmollt nur noch ein wenig!« »Herr Rheinthaler, ich möchte wirklich nicht länger ...« »Ne, ne,« sagte der Hausherr und drückte ihn auf den Stuhl zurück. »Es wäre mir sehr unangenehm, wenn Sie in Ihr kleines Nest da oben eine schlechte Erinnerung an uns mitnehmen würden. Außerordentlich peinlich wäre mir das! Und wo der Zufall Sie dazugeführt hat, wie wir uns gestern verzankten, müssen Sie jetzt auch hören ... Also, das sah alles schlimmer aus, als es in Wirklichkeit war! Ich hatte auch ein bißchen mehr Sekt im Leibe, als mir der Doktor erlaubt hat, und dann -- sehen Sie -- das kommt ja vor, daß man sich mal in eine andere vergafft. Nur äußerlich! Das sind so temporäre Verrücktheiten ... man besinnt sich wieder. Kehrt zu dem allein seligmachenden Hausaltar zurück, vor dem man in überirdischem Glück geopfert hat. Das Bild, das darauf thront, wird ja nicht immer unerbittlich bleiben, sich dem reumütigen Sünder wieder in Gnade neigen.« Er sprach an seinem Gaste vorbei, seine Augen hingen bettelnd an der Frau, die sich zum Fenster gewandt hatte. Ein glattrasierter Kammerdiener mit der Vornehmheit eines englischen Lords kam aus der zum Nebenzimmer führenden Tür, räusperte sich leicht und blieb schweigend stehen. Herr Rheinthaler wandte ärgerlich den Kopf. »=What is the matter?=« »=Excuse Sir, the Professor Abner is waiting for you!=« Herr Rheinthaler sah seine Gattin mit einem gewissen Mißtrauen an: »Wer hat denn den um diese Zeit bestellt? Mitten aus seiner Sprechstunde?« Frau Josepha zuckte die Achseln: »Vielleicht Du selbst? Ich kümmere mich doch nicht um Deine Kuren.« Gaston blickte zu Boden. Das Herz schlug ihm bis in den Hals. In wenigen Augenblicken war er allein mit der Frau da drüben, und dann mußte er allerhand unbarmherzige Worte sprechen. Herr Rheinthaler hatte dem Diener Bescheid gesagt, jetzt wandte er sich zu seinem Besucher. »Entschuldigen Sie mich, lieber Herr Baron, aber ich kann den Professor nicht warten lassen. Jede Minute bei so einer Kapazität kostet ein kleines Vermögen, und ich möchte meiner Frau doch nach meinem Tode noch einiges hinterlassen. Der Abner wird mich ein bißchen trösten, ein bißchen massieren und wieder trösten. Was wirklich mit mir los ist, weiß ich doch bloß allein. In spätestens vier Wochen schwimm' ich ab.« Wieder richteten seine Augen sich bettelnd zum Fenster, ein leichter Hustenanfall erschütterte seine Brust. Er unterdrückte ihn mühsam, um seine schmalen Lippen flog ein verzerrtes Lächeln. »Eins ist jedenfalls vorläufig noch sicher: in einer Viertelstunde bin ich wieder hier! Ich hoffe Sie dann zu sehen.« »Ich muß lebhaft bedauern, Herr Rheinthaler ...« »Sie sind ein komischer Mensch. Immer, wenn man Sie einladet, bedauern Sie! Na schön, dann glückliche Reise und -- auf Wiedersehen kann ich armer Hund leider nicht mehr sagen! Aber wenn Sie mal auf Urlaub nach Berlin kommen, besuchen Sie meine 'lustige Witwe'. Sehen mal nach, mit wem sie sich getröstet hat.« Er streckte seine Hand aus, und diesmal konnte Gaston nicht ausweichen. Die Hand war kalt und feucht, umspannte seine Rechte mit kraftlosem Druck. Ein fröstelndes Gefühl flog ihm über den Rücken. Der Mann konnte nichts dafür. Das lag wohl an seiner Krankheit, aber er konnte sich nicht überwinden, den Händedruck zu erwidern. In der Tür wandte sich Herr Rheinthaler noch einmal um. »Du, Peperl, wirf mir um Himmels willen die Karten nicht durcheinander! Die Patience da habe ich auf einen ganz besonderen Herzenswunsch gelegt, und es scheint fast, als sollte sie diesmal aufgehen.« Die Portiere schloß sich hinter ihm, die beiden waren allein. So still wurde es in dem halbdunklen Zimmer, daß man das leise Ticken der kleinen Uhr hörte, die in der Ecke auf einem zierlichen Schreibtische stand. Frau Josepha blieb am Fenster und sah in die grünen Ranken hinaus, die es von außen fast ganz überspannten. Sie neigte den Kopf mit den schweren Flechten nach vorn, ein lautloses Schluchzen erschütterte ihren Körper. Nur an dem Zucken der Schultern war es zu merken. Gaston stand regungslos. Das Mitleid riß ihn am Herzen, aber er konnte sich nicht überwinden, näher zu treten. Nichts anderes konnte er denken, als daß die Frau da, deren schlanke und doch üppige Gestalt in dem lang herabfließenden Kleid sich prachtvoll von dem hellen Hintergrunde hob, in diesen ekeln Händen gewesen war, deren feuchten Druck er noch zu spüren glaubte. Er richtete sich auf, es mußte ein Ende gemacht werden! Seine Stimme klang heiser vor Erregung. »Gnädige Frau, es ist wohl am besten, wenn ich mich jetzt entferne?« Sie flog herum und auf ihn zu, warf ihm die Arme um den Hals. Ganz nahe hob sie ihr tränenüberströmtes Gesicht zu dem seinigen. »Was denn? Jetzt willst fort, wo wir endlich ein paar kostbare Minuten für uns allein haben?« Er stöhnte auf, versuchte, sich sanft loszumachen. »Also das hier ... das alles ist so fürchterlich.« Sie umklammerte ihn fester, schmiegte sich ganz an ihn, so daß er ihren bebenden Körper spürte. »Um Jesu Barmherzigkeit willen, laß mich jetzt nicht allein. Geh nicht so von mir! Ich kann das begreifen, aber Du mußt darüber hinwegsehen. Ich konnte es ja unmöglich wissen, daß Du ihm noch einmal begegnen würdest! Wie eine Klette hängt er sich an mich, bettelt und bettelt. Weil er sah, daß ich Ernst gemacht hatte mit dem Davongehen, hat er plötzlich seinen Sinn gewandelt. Vielleicht erschien ich ihm dadurch wieder begehrenswert, aber ich schwöre Dir, er wird mich nicht mit einer Fingerspitze berühren. Und übermorgen lauft er doch wieder der anderen nach, ich kenn' ihn ja. Also da darfst kein Mitleid mit ihm haben! Und, geh', sag', daß Du so kalt dastehst, das ist doch nur, weil wir hier in seinem Haus sind, gelt? Mußt nicht so arg verfroren sein, lieber Bub' ... ich hätt' halt dran denken sollen, wie Du bist, Dich gar nicht erst herkommen lassen! Aber, schau, seit sechs Uhr in der Früh, wie er heimgekommen ist, geht das schon so. Da war ich halt ein bisserl verwirrt! Und der Doktor sagte mir: 'Wenn Sie jetzt von ihm gehen, ist es sein Tod! Sein Zustand ist schlimmer, als er ahnt. Das viele Morphium hält ihn nur noch aufrecht. Jede Minute kann es den Zusammenbruch geben, wieso wollen Sie sich da erst scheiden lassen?' Da bin ich geblieben. Und jetzt sag mir ein liebes Wort! Nur ein einziges kleines Wort, aus dem ich wieder Hoffnung schöpfen kann. Die Zweifel zerreißen mir das Herz. Die Ursel hat mir zwar erzählt, wie glücklich Du gewesen wärst über meinen Brief, aber jetzt sprich das einzige kleine Wörtel: Willst mein sein und mir treu bleiben?« Sie umklammerte ihn fester, starrte ihm angstvoll in die Augen. Da atmete er auf. Das ging über Menschenkraft, jetzt auszusprechen, was er sich vorgenommen hatte. Er beugte sich hinab, küßte ihre Stirn, und dann fanden sich ihre Lippen. »Du bleibst mir treu?« stammelte sie zwischen zwei Küssen. »Ich werde mein Wort halten!« »Ah na, ob mich lieb hast, will ich wissen?« Von ihrem warmen Körper, der eng an den seinen geschmiegt war, zog ein heißer Strom durch seine Adern. »Ja, ich habe Dich lieb!« »So arg, daß Du nie an eine andere denken wirst? Und wär' sie noch tausendmal schöner als ich?« Da flüsterte er trunken: »Schöner als Du? Du bist für mich die Schönste, Herrlichste und Reinste auf der Welt.« Sie hob sich auf den Zehenspitzen, biß ihn in die Wange, daß er einen jähen Schmerz verspürte: »Da, daß Du dieses letzte Wort nimmer vergißt! Und jetzt geh', daß ich mich ein wenig beruhigen kann, bis er wiederkommt.« -- -- -- Er stand draußen im grellen Sonnenlicht des heißen Sommernachmittags und ging langsam die Straße zurück, die zur Stadt führte. Ein großes Gefühl weitete ihm die Brust, wie ein Sieger kam er sich vor, wie ein Sieger über kleinliche Fürchte und Bedenken. Mochte sie nun aus den entzündeten Sinnen stammen oder aus dem übergewaltigen Mitleid -- die Liebe war gekommen, erfüllte ihn ganz und gar! Und war er nicht etwa Manns genug, sich über alles hämische Gezischel und Geraune hinwegzusetzen, das sich vielleicht erheben konnte? Er brauchte sich nur herauszurecken mit allem, was er war, und die bösen Zungen verstummten! ... Vor ihm auf der Straße ging einer dahin, der es ebensowenig eilig zu haben schien, nach der Stadt zurückzukommen, wie er. Ein untersetzter kleiner Herr in modischem Jackett und Strohhütchen, der ihm bekannt vorkam. Gaston verlangsamte unwillkürlich seinen Schritt und gedachte, die andere Seite zu gewinnen. Es wäre ihm unangenehm gewesen, jetzt, in dieser Stimmung irgend einem Schwätzer Rede und Antwort stehen zu müssen. Da blieb der Voranschreitende plötzlich stehen, wandte sich um: »Guten Tag, Herr von Foucar!« In einem aschfahlen Gesicht flackerten ein paar Augen in irrem Glanz. »Wodersen!« sagte er überrascht. »Wie kommen Sie hierher?« »Ich hatte vor Ihnen in der Villa Rheinthaler einen Besuch machen wollen, wurde aber nicht angenommen. Da sah ich Sie stolz im Auto anfahren und, weil ich mir dachte, Sie werden doch nicht ewig drinbleiben, hab' ich auf Sie gewartet.« »Na, das ist nett von Ihnen. Da kann ich Ihnen gleich Adieu sagen.« »Sie verreisen?« »Nee, ich bin versetzt worden. Zu den Ordensburger Dragonern.« »Donnerwetter, so mitten aus der Tour? Wem haben Sie denn das zu verdanken?« Gaston lachte bitter auf. So dachten sie alle, die mal mit ihm Schulter an Schulter ihren Dienst getan hatten. Und seine Antwort klang schärfer, als es der im Grunde unbeträchtliche Anlaß erfordert hätte. »Natürlich allem anderen, nur nicht mir selbst. Der unbekannten hohen Dame, die angeblich meine Schicksale überwacht, oder meiner Fähigkeit, mich bei meinen Vorgesetzten zu schustern und in den Vordergrund zu drängen ... na dann Adieu, Herr von Wodersen! Ich habe es ein bißchen eilig.« Der andere achtete gar nicht darauf und ging rasch neben ihm her in gleichem Schritt. »Meinen Sie vielleicht, ich hätte deshalb hier drei Stunden auf Sie im Sonnenbrand gelauert, um mich so abspeisen zu lassen?« »Wie? Sie haben ...« »Auf Sie gewartet! Schon heute vormittag hatte ich natürlich telephonisch ausführlichen Bericht, was gestern passiert war. In dem Ballokal, und daß Sie nachher Frau Josepha im Auto allein nach Hause gebracht haben. Nachmittags war ich dienstfrei, da bin ich ohne Urlaub fortgefahren. Das übrige konnte ich mir ungefähr denken. Sie hatte mich in diesen Wochen ja fast ein dutzendmal gequält, ich sollte Sie endlich heranschleifen. Daß ich es nicht tat, werden Sie nach dem, was wir neulich mal gesprochen hatten, begreiflich finden.« »Allerdings! Und was steht jetzt zu Diensten?« Der kleine Husar blickte zornig zu ihm auf. »Erst klopfen Sie sich mal den Puder von Brust und Kragen! Sonst sieht es womöglich noch einer von den bezahlten Aufpassern, daß Sie eben Abschied genommen haben. Von einer schönen Frau, die die Gepflogenheit hat, sich Gesicht und Arme zu pudern.« Gaston schielte auf seinen Ueberrock hinab und wurde unwillkürlich rot. Wahrhaftig, man sah es ganz deutlich! Und jetzt wußte er plötzlich, weshalb der glattrasierte Kerl, der ihm in der Rheinthalerschen Villa beim Hinausgehen die Tür öffnete, so süffisant gelächelt hatte. Er zog das Taschentuch und wischte heftig über das dunkle Tuch, aber der feine weiße Staub drang nur um so tiefer ein, war nicht fortzubringen. Da gab er's ärgerlich auf. »Nun also, was wünschen Sie von mir, Herr von Wodersen?« »Nur eine kurze Auskunft. Wie Sie sich von jetzt an zu Frau Josepha verhalten werden.« »Und wenn ich das zurückweisen müßte? Als einen unangemessenen Eingriff in meine ganz persönlichen Angelegenheiten?« Der Landsberger Husar schüttelte den Kopf. »Das werden Sie nicht tun! Wenn einer den Anspruch hat, es zu erfahren, bin ich es. Das wissen Sie!« »Also, wo wir mal schon so weit sind, meinetwegen! Es wird auch dazu beitragen, diese Unterredung, die uns beiden ja nur peinlich sein kann, abzukürzen. Ich habe -- also ich bin mit Frau Josepha übereingekommen ... wenn sie die Trennung von ihrem Manne vollzogen hat, werde ich sie heiraten.« »Dann ist's gut ... und danken Sie Gott!« »Herr von Wodersen, ich muß doch sehr bitten ...« »Danken Sie Gott,« wiederholte der andere hartnäckig. »Im anderen Falle, wenn's Ihnen nur ein Spiel gewesen wäre, hätte ich Sie provoziert und abgeschossen. Es geht nicht an, daß einer umkommt vor Durst und Hunger, während der andere in frivolem Spiel ... also es ist gut! Adieu, Herr von Foucar.« Er sah starr geradeaus mit schwimmenden Augen, und plötzlich kam ein lautes Aufschluchzen aus seiner Brust, er wandte sich ab. Gaston aber stand ratlos dabei und wußte nicht, wie er sich in dieser seltsamen Situation zu benehmen hatte. Trösten ging nicht an, das beste war, sich still zu entfernen. »Adieu, Wodersen,« sagte er leise und schritt langsam weiter. Der arme Kerl tat ihm leid, schrecklich war es, wie es den zusammengerissen hatte, daß er von jetzt an nichts mehr zu hoffen hatte. Zugleich aber schwellte ihm selbst ein gewisses Stolzgefühl die Brust. Daß er die Liebe dieser herrlichen Frau errungen hatte, für die ein anderer ohne Zaudern sein Leben eingesetzt hätte. Fast eine Steigerung des eigenen Glückes war es ihm. Eine heisere Stimme erklang neben ihm. »Entschuldigen Sie, Foucar, wenn Sie mich eben als altes Weib gesehen haben ...« »Ach Sie noch mal, Wodersen? Wäre es nicht besser, wir hätten eben Schluß gemacht?« »Vielleicht! Nur, Sie werden begreifen, man steht da neben einem frisch zugeschütteten Grab, kann nicht sogleich weggehen. Eigentlich aber hätte ich's voraussehen müssen, die Frau war ja krank nach Ihnen! Gab mir hundert Aufträge für Sie. Immer sollte ich Ihnen bestellen, wo Sie sie abends treffen würden. Ich hab's natürlich nie ausgerichtet. Sie werden das begreifen.« »Selbstverständlich! Und nun wollen wir wirklich Schluß machen! ... Sie werden einsehen, daß es mir einigermaßen peinlich ist.« Herr von Wodersen lachte plötzlich schrill auf. »Ihnen? Wo Sie im Glück sitzen!« »Na ja, aber peinlich natürlich auch für Sie.« »Das braucht Sie nicht zu bekümmern! Und ich müßte ersticken oder verrückt werden, wenn ich jetzt nicht -- ich weiß überhaupt noch nicht, ob ich drüber wegkomme. Also, Foucar, Sie schwören mir, Sie werden sie gut behandeln!« »Aber das ist doch selbstverständlich!« »Na ja! Und ich werde natürlich weiter aufpassen.« Gaston blieb stehen. »Herr von Wodersen, alles hat seine Grenzen.« »Ach Gott, wollen doch jetzt nicht zimperlich sein wie kleine Pensionsmädchen! Ich bin ja halb verrückt, ich hatte doch immer noch gehofft, sie würde mich kleinen unansehnlichen Kerl ...« Er brach ab und sah in angestrengtem Nachdenken vor sich hin. »Also, was wollte ich doch gleich ... ja richtig! Noch vor etwas anderem müssen Sie sich in acht nehmen, vor Josepha selbst! Wissen Sie, was sie ihrem Mann antun wollte, jetzt wegen dieser Geschichte mit der Sandori? Kein Teufel kann sich Aergeres ausdenken, denn das ist so auf die ganze Art dieses Menschen zugeschnitten, mußte ihn gerade aufs tödlichste verwunden. Sie hat sich eine Szene schreiben lassen, einen Sketch, wie man das im Theaterjargon nennt. Mit einem Dutzend raffinierter Tricks ... ich war bei einer Probe dabei im Apollotheater -- es war doll! Hinreißend ... zum Wahnsinnigwerden. Eine große Menschendarstellerin, die ihre ganze Kunst in eine einzige Szene preßt ... Alles, was sie kann, zeigt sie da ... und dann war da ein Tanz, wo sie sich aus einem Schleier nach dem andern löst, bis sie mit ihrem herrlichen Körper dasteht in einem ganz leichten Gewand ... also ich sage Ihnen, ganz Berlin wäre verrückt geworden bei dieser Darstellung. Ich ging wie ein Betrunkener aus der Probe.« Der Kleine schwieg und sah mit verzückten Augen geradeaus. Gaston spürte ein widerwärtiges Gefühl, zugleich aber stachelte ihn die Neugierde. »Weiter,« sagte er heiser. Herr von Wodersen blickte verwirrt auf, als müßte er sich erst besinnen, wovon er eben gesprochen hatte. »Ach so ... ja! Wer das nicht gesehen hat, kann nicht begreifen, daß ich von der Stunde an noch verrückter war als vorher ... total verrückt! Ich schlafe seit dem Tag nicht mehr ... und ja, verstehen Sie denn nicht, was das alles bedeutete? Josepha hätte an dem Abend doch nur für einen gespielt und getanzt, für ihren Mann! Dann aber, wenn seine aufgestachelte Begierde wieder lichterloh brannte, hätt' sie ihn verdursten lassen. Hätte ihn vor aller Welt lächerlich gemacht mit irgend einem häßlichen, hirnlosen Halbaffen -- so einem vielleicht wie ich ...« »Wodersen, hören Sie auf!« Der andere lachte höhnisch. »Das ist Ihnen peinlich, was? Ja, meinen Sie vielleicht, ich habe vor Freude getanzt, als ich heute früh die Nachricht bekam, für mich ist es aus? Nichts mehr zu hoffen, rein gar nichts ...« Er dämpfte plötzlich seine Stimme zu einem geheimnisvollen Flüstern: »Das dürfen Sie aber niemandem weiter sagen, ich kam mit einer ganz andern Absicht hierher ... Daß Sie noch leben, verdanken Sie ihr! Der Josepha! Sie hätte sich ja die schönen Augen blind geweint um Sie ...« »Herr von Wodersen, ich nehme Rücksicht, daß Sie sich offenbar in einer Gemütsverfassung befinden ...« Der Kleine nickte. »Ja, nehmen Sie nur ... ist auch ganz recht! Heute früh hat sich mir da oben im Kopf was 'rumgedreht, ich hab's ganz deutlich gespürt. Von dem Augenblick an habe ich Mühe, meine Gedanken zu sammeln. Und das weiß kein Mensch, was das heißt, sich vor Qualen winden und schreien, während andere mit sattem Bauch ruhig schlafen. Aber ich hab' etwas für Sie, da werden Sie auch nicht schlafen. _Ich_ hätte mich darüber hinweggesetzt, denn ich bin ja längst schon ein kleiner Lump geworden, innerlich. Von außen, wenn ich meine Uniform anhabe, merkt man es nicht so. Ja, also, Ihre zukünftige Frau Gemahlin, wie sie noch in Brünn am Stadttheater war, zusammen mit so einem nichtswürdigen Kerl von Schauspieler, da hat sie einen Selbstmordversuch gemacht.« Gaston schritt schneller aus, um sich von der Gesellschaft des offenbar plötzlich Irrgewordenen zu befreien. Aber weit und breit war keine Fahrgelegenheit zu erblicken auf der sonnenbeschienenen Straße, und der andere neben ihm hielt gleichen Schritt. »Rennen Sie doch nicht so, Foucar! Das muß Sie doch auch interessieren, daß Josepha damals sich umzubringen versuchte, weil der Kerl sie nicht wieder ehrlich machen wollte ... so ein gemeiner Hund! Sie kennen ihn auch ... er war gestern auch in der Loge, der glattrasierte Schuft ... er hat mir auch die Zeitungen gegeben, wo alles drinstand ... Sie müssen natürlich jetzt Ihren Abschied nehmen ... ich hätte ihn ja auch genommen.« Gaston fühlte, wie es ihm rot vor den Augen wurde. Ob der da neben ihm nun klar im Kopfe war oder nicht -- dafür gab es nur eins: niederschlagen! Er hob den Arm, aber der Kleine sprang wie eine Katze zur Seite, rannte ein paar Dutzend Schritte zurück und lachte gellend auf. »Ach, Sie haben sich wohl eingebildet, ich wär' so leicht zu kriegen? Und die Zeitungen schick ich Ihnen zu -- nach Ordensburg.« Gaston wandte sich ab. Grauenhaft war das. Wie in einer Betäubung ging er weiter, zur Stadt zurück. Was sollte er jetzt tun? Einen Irrsinnigen zur Rechenschaft ziehen? Das erledigte sich von selbst, da war kein Wort darüber zu verlieren. Aber das, was dieser Irre zuletzt gesprochen hatte, das blieb hängen, wie ein Pfeil, der mit dem Widerhaken in die Weichen gedrungen war. Das alles war Lüge, eine Ausgeburt krankhafter Phantasie, sicherlich, aber woher sollte er sich Gewißheit holen? Noch einmal in die Rheinthalersche Villa zurückkehren, den Mann beiseite schieben: »Erlauben Sie mal, ich habe mit Ihrer Frau Gemahlin ein paar Worte unter vier Augen zu sprechen?« Oder einen Brief schreiben, den man zu Händen der alten Hexe sicher an die eigentliche Adresse beförderte? Vielleicht hätte Josepha in ihrem stolzen, jede Lüge verabscheuenden Sinn die Wahrheit geantwortet! Aber darauf kam es ja nicht an. Es war schon genug, daß gegen die Frau, die er heimzuführen gedachte, sich überhaupt ein so schmählicher Verdacht erheben konnte. Daß es einen Menschen geben konnte auf der Welt, der sich brüsten durfte, mit Recht oder Unrecht, sie wäre sein gewesen. Da konnte er nicht drüber hinweg, dafür konnte er seinen Namen nicht einsetzen, das ging nicht an! Es war schon genug, daß er sich damit abgefunden hatte, daß er sie aus den eklen Händen ihres Gatten nehmen mußte ... Nur, wenn man weiter dachte, wo war da ein Unterschied? Weshalb sollte er ihr gerade den ersten verübeln? Dem hatte sie sich vielleicht in heißer Leidenschaft geschenkt, oder sie war in törichter Unerfahrenheit seinen ruchlosen Künsten erlegen, den zweiten aber ... er konnte nicht weiter. Da verwirrten sich auch ihm die Gedanken. Schluß mußte es sein, oder er verlor sich selbst! Und keine Auseinandersetzung mehr. Wie die enden würde, wußte er. Vor ein paar Wochen hatte er über den angeblichen Zauber gelacht. Heute hatten ein paar Augenblicke, in denen diese Frau an seinem Halse hing, hingereicht, damit er sich selbst und sein Schicksal verschwor. Er hatte vormittags im Fahrplan nachgesehen, gegen neun Uhr ging ein Zug nach dem Osten. Den konnte er noch erreichen, einen Tag in Königsberg verbringen, ehe er weiter nach Ordensburg fuhr. Nur fort und hinaus ... Nur das Notwendigste wurde eingepackt, alles übrige besorgte der Spediteur. Jedesmal, wenn die Klingel ging, fuhr Gaston zusammen. Als könnte sich noch irgend ein Zwischenfall ereignen, der ihn an der Abreise hinderte. Oder es könnte noch eine Auseinandersetzung geben. Davon hatte er genug. Nur fort und hinaus ... Erst als der Zug sich in Bewegung setzte, atmete er auf. Ein blödes Wort, das er einmal an der Biertafel gehört hatte, ging ihm nicht aus dem Sinn. »Ein Kavalier reißt nicht aus. Nur, wenn er in Gefahr befindlich ist. Dann aber schnell.« Das paßte auf ihn. Auch er riß aus. Vor einer, der seine Sinne erlagen, wenn sie in seiner Nähe war. Je weiter er eilte, desto weniger konnte sie ihn erreichen. Nur eins beunruhigte ihn ... dort, weit hinten, von wo er kam, blieb sein Wort. Immer länger und dünner wurde der Faden, an dem es hing, aber er riß nicht ab. Noch tausend Meilen konnte er fahren, er riß nicht ab. Freiheit konnte es nur geben, wenn die, die den Faden am anderen Ende hielt, in gutem Willen ihre Hand öffnete. Wort war Wort. 5. Der nachmittags von Königsberg abgegangene Personenzug bummelte gemächlich nach Südosten, der russischen Grenze zu. Eintönig klang das Läutewerk der Lokomotive, die mit Aechzen und Stöhnen etwa vier Meilen in der Stunde zurücklegen mochte. Ein schnelleres Tempo hätte zu viel Kohlen gekostet bei dem wenig lohnenden Betrieb. Die brütende Julihitze ließ den sechs oder sieben Reisenden, die am Südbahnhofe eingestiegen waren, die Fahrt noch langsamer erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Der leichte Sommerwind, der ein wenig Kühlung gebracht hatte, war drückender Gewitterschwüle gewichen. Die Schwalben flogen dicht über dem Boden beim Nahrungsfang für die ewig hungrige Brut, und flimmernd, gleich durcheinanderschwingenden Silberfäden, zitterte die sonnendurchglühte Luft über der erntebereiten Erde. Gaston von Foucar hatte die am Bahnhofe gekauften Berliner Zeitungen gelesen, es stand nichts Neues darin. Eine Erörterung darüber, ob auch Deutschland fechten müßte, wenn sein österreichischer Bundesgenosse von Rußland angegriffen würde. Das war doch selbstverständlich. Alles übrige, wie weit in diesem Falle die Bündnisklausel zuträfe, leeres Geschwätz. Es ging dabei ums eigene Leben. Und töricht wäre es doch gewesen, die äußersten Bastionen aufzugeben, wenn sie mit verhältnismäßig geringen Opfern zu halten waren. Viel wichtiger erschien ihm, daß man auch hier, im Osten des Vaterlandes, auf Posten war. An jeder kleinen Brücke standen Wachen. Das war sehr verständig. Bei dem mangelhaften, noch aus der Zeit der »ewigen russischen Freundschaft« stammenden Ausbau der zur Grenze führenden Bahnen hätten ein paar Sprengpatronen genügt, um den strategischen Aufmarsch um Tage zu verzögern ... Der Vormittag in der alten Handelsstadt hatte Gaston wohlgetan. Es gab vieles zu sehen, was ihm neu war. Das Leben am Hafen, in dem neben leichten Segelschiffen auch stattliche Dampfer lagen. Krane schwenkten sich mit schwerer Last vom steinernen Kai zu den Schiffen, Ketten rasselten, und Maschinen stöhnten. Dazwischen ein emsiges Getriebe von Menschen, die in allerhand Sprachen durcheinanderschrien, Deutsch, Russisch, Englisch. Ueber dem allen ein undefinierbarer Duft von Wasser und Teer, der unwillkürlich in die Ferne lockte. Lange hatte er gestanden und dem Treiben zugesehen. Die Menschen hasteten an ihm vorüber, keiner kannte ihn, keiner gab auf ihn acht, alle rannten sie emsig hinter ihrer Arbeit her, die einem einzigen Ganzen diente. Einen Unfall sah er mit an. Ein Arbeiter mit dem schweren Getreidesack auf der Schulter glitt auf schmaler Planke aus, stürzte rücklings ins Wasser. Es gab eine kurze Stockung, bis der Mann, der mit einem Notizbuch in der Hand die Zahl der in den Schiffsbauch wandernden Säcke zählte, sich durch einen flüchtigen Blick überzeugt hatte, daß man dem ins Wasser Gestürzten von Bord aus ein Tau zuwarf. Danach schloß sich wieder die Kette der lasttragenden Arbeiter, zog in ständiger Reihe von dem hohen Speicher ins Schiff, von dem Schiff auf schmaler Planke zurück in den Speicher. Etwas von der Unbeträchtlichkeit eines Einzelschicksals verspürte er. So wäre es auch ihm gegangen, wenn er in diesen letzten Tagen gestrauchelt wäre. Das Leben ringsum ging seinen Gang, nur wenige hätten den Kopf nach ihm gewandt, wenn er in Gewissensbedrängnis den kurzen Schritt ins Dunkle getan hätte. Ein Mann über Bord ... Geschah ihm recht, das Schiff ging weiter. Und merkwürdig, wie anders die Dinge aussahen, wenn man sie aus einiger Entfernung betrachtete. Wie geringfügig da die ungeheuren Wichtigkeiten erschienen, mit denen man sich geplagt hatte. Eine kurze Episode war das, die hinter ihm lag. Er hatte jetzt an anderes zu denken, an Pflichten, die einen ganzen Mann erforderten. Eine Melodie summte ihm im Kopfe, die er am frühen Morgen gehört hatte, als er zum Hotelfenster hinausblickte. Die Königsberger Kürassiere kamen in langer Schlangenlinie zu vieren nebeneinander die krumme Straße entlanggeritten. Grell schien die Sonne auf die schwarz-weißen Fähnlein und die blanken Helme. Die Trompeten bliesen die Melodie, und ein paar halbwüchsige Jungen, die mitmarschierten, sangen mit heller Stimme den Text: »An der Grenze fern im Osten Hält ein Reiter still auf Posten, Späht hinaus ins weite Feld. Drüben fahren auf Kanonen, Sammeln sich Schwadronen, In dem weiten, weiten Feld.« Ein Zwischenspiel kam danach, Musik und Gesang zogen weiter, aber die Worte waren ihm haften geblieben: »An der Grenze fern im Osten hält ein Reiter still auf Posten.« Zu dem Dienst war er berufen neben vielen anderen, und hoffentlich blieb es nicht nur bei dem Postenstehen. Hier, näher an der Grenze, war auch die Erregung größer als in dem gleichgültigen Berlin. Ueberall auf der Straße, wenn er still hinhörte, klangen zwei Worte an sein Ohr: Rußland und Krieg. Aber eine gewisse Entschlossenheit lag in diesen Menschen, die einen seltsam breiten Dialekt sprachen. Es sollte endlich einmal losgehen! Das ewige »Hin- und Hergezodder« hatte man satt. Gaston blickte zum Fenster hinaus. Zwischen goldgelb leuchtenden Roggen- und Weizenfeldern führte der Zug dahin, an schier endlosen Kartoffelschlägen vorüber, auf denen das Kraut noch üppig im Safte stand, und nur in weiten Zwischenräumen lugten die roten Ziegeldächer der Gutshöfe hinter grünen Baumgruppen hervor. Das typische Landschaftsbild des Großgrundbesitzes. Wenig Menschen auf den Feldern, dafür um so mehr Vieh aller Art. Wimmelnde Schafherden auf vorjährigem Brachland, weidende Edelfohlen in eingezäunten Koppeln und gewaltige Scharen weißbunter Kühe, die auf grünen Triften in träger Verdauungsruhe lagerten. Und dann wieder, so weit das Auge reichte, ein in starrer Ruhe stehendes Heer von gelben Halmen, die auf die Sense des Schnitters warteten. In ein paar Wochen vielleicht schon schwang hier ein anderer die Sense, aber nicht Halme lagen auf seinem Schwad ... Der alte Herr in grauem Spitzbart, der Gaston am Fenster gegenüber saß, schien die Gegend sehr genau zu kennen. Aufmerksamen Auges musterte er Felder und Herden und äußerte von Zeit zu Zeit eine wohlgefällige oder kritische Bemerkung, aus der hervorging, daß er sogar mit den Namen der an der Bahnstrecke liegenden Güter und ihrer Besitzer vertraut war. Die neben ihm sitzende Tochter, ein schlankes junges Mädchen in geschmackvollem Reisekleid aus hellblauem Leinen, gab nur einsilbige Antworten. Sie las in einem durch sein großes Format recht unhandlichen Buche und schien so vereifert, daß sich ihre Stirn über dem geraden Näschen in krause Falten legte. Da flog um die bärtigen Lippen des alten Herrn ein schalkhaftes Lächeln. »Annemarie,« rief er plötzlich, »da in der Wiesenschlenke am Haferschlag steht ein kapitaler Rehbock!« Das Buch fiel zu Boden, das junge Mädchen sprang auf und beugte sich hastig zum offenen Fenster hinaus. »Wo, wo?« »Ja, jetzt ist er wieder weg. Bist eben zu spät gekommen!« »Ach, Unsinn! Hast mich bloß angeführt, Papa!« Sie setzte sich mit enttäuschtem Gesicht auf ihren Platz zurück. Der alte Herr aber lachte herzlich auf. Ein seltsam innerliches Lachen war es, das seinen ganzen gewaltigen Körper und mit ihm die Polster des Wagens erschütterte. »Na ja, mein Kind! Wenn Dein Vater Worte der Weisheit spricht und Du ihm nur mit halbem Ohr zuhörst!« Gaston hatte das zu Boden geglittene Buch aufgehoben und überreichte es Annemarie mit leichter Verneigung. Während des Niederbeugens hatte er unwillkürlich den Titel gelesen. Ueber sein Gesicht huschte ein verwundertes Lächeln. »Bismarcks 'Gedanken und Erinnerungen'? Für eine junge Dame eine etwas ungewöhnliche Lektüre.« Annemarie nahm mit leichtem Erröten das Buch, sperrte es in die neben ihr auf dem Sitze stehende Handtasche und dankte mit kurzem Kopfnicken. Ihre Antwort klang feindseliger, als sie beabsichtigt hatte. »Jeder liest, was ihn am meisten interessiert.« Ihr Vater hob begütigend die Hand. »Na, na, Annemiechen, der Herr hat's doch nicht böse gemeint! Und gewiß ist es für ein junges Mädchen heutzutage ungewöhnlich, wenn es so ernste Bücher liest!« Zur Erklärung aber für den Mitreisenden fügte er hinzu: »Nämlich sie schwärmt für unseren Bismarck wie für einen Heiligen. Ihr ganzes Zimmer hat sie mit Bildern von ihm austapeziert, und das Buch da nebst seinen Briefen an Johanna führt sie auf allen Reisen bei sich. Wie fromme Leute das Gesangbuch oder die Bibel.« Gaston verneigte sich höflich. »Es ist wohl überflüssig zu versichern, daß mir eine Respektlosigkeit vollkommen ferngelegen hat. Im übrigen stimme ich Ihnen aufrichtig bei. Das sind für jeden guten Deutschen ein paar wahre Erbauungsbücher. Sie müßten nur noch mehr gelesen werden.« Das kaum begonnene Gespräch geriet wieder ins Stocken, Annemarie hatte dabei aber Gelegenheit gefunden, den dem Vater gegenübersitzenden Herrn unauffällig ein wenig genauer anzusehen. Daß er über ihre beiden Lieblingsbücher so vernünftig urteilte, war ihr sympathisch. Und auch sonst gefiel er ihr wohl. Ueber breiten Schultern saß ein kluger Kopf, unter scharf gezeichneten Brauen sprang eine kräftige Nase hervor, die in ihrer Mitte einen ganz kleinen lustigen Knick nach links hatte. Darüber ein paar kluge blaue Augen ... Augen, die klar und lauter schienen und Vertrauen einflößten auf den ersten Blick. Nach der blassen Gesichtsfarbe zu schließen, war er vielleicht ein Gelehrter, aber dazu stimmte nicht sein sonstiges Auftreten. Kurze, fast militärische Bewegungen, und seinen eleganten Reiseanzug hatte sicherlich auch kein Zivilschneider gefertigt. Dafür hatte sie ein untrügliches Auge. Die Hitze in dem sonnenbestrahlten Wagen fing an, unerträglich zu werden. Der alte Herr fuhr sich mit dem Finger zwischen Hals und Hemdkragen und stöhnte auf. »Herrgott, himmlischer Vater, dieses Blindschleichentempo ist ja kaum noch auszuhalten! Wenn ich ein paar Ackergäule vorspanne und hau' sie ordentlich über den Zagel, geht's rascher vorwärts. Und dieses ewige Angehalte an den kleinen Nestern -- steigt ja doch kein Mensch ein oder aus!« Annemarie öffnete eilig ihre Reisetasche, netzte ein frisches Tuch mit Kölnischem Wasser und kühlte ihrem Vater die Stirn. Und, während er ihr mit zärtlichem Händedruck dankte, flog ein schelmisches Lächeln um ihren hübsch geschnittenen Mund. »Wie würdest Du aber erst schimpfen, Papa, wenn er an _unserer_ Station vorüberfahren wollte?« Gaston nahm die Gelegenheit wahr, sich die junge Reisegefährtin unauffällig ein wenig genauer anzusehen. Herrgott, war das Mädel schön gewachsen! Eine gertenschlanke Figur voll unbewußter Anmut in jeder Bewegung, ein zierliches Köpfchen auf biegsamem Halse. Fast zu wuchtig erschien dazu der dicke, in einem straffen Neste zusammengesteckte blonde Zopf. Zwei Reihen gesunder weißer Zähne zeigte sie beim Lachen und in der linken Wange ein Grübchen, das dem vorhin so abweisend strengen Gesicht einen Zug hinreißender Liebenswürdigkeit verlieh. Ueber allem aber ein Hauch unberührter Reinheit wie der leichte Schimmer auf der Haut einer reifenden Frucht, die noch niemand in begehrlicher Hand gehalten hatte. Wer das liebe Mädel mal heimführte, trug etwas Sauberes in sein Haus ... Ein schmerzhafter Stich flog ihm durchs Herz. Auf sonnenbeschienener Straße gingen zwei dahin, und der eine sprach in plötzlich ausbrechendem Irrsinn häßliche Worte, und diese Worte krochen wie ekelhafte Kröten über das Bild einer bemitleidenswerten Frau. Die Wagenbremsen zogen kreischend an, es gab einen Ruck, und der Zug hielt wieder einmal an einer der zahlreichen kleinen Stationen. Neben dem rotbemützten Stationsvorsteher stand ein dicker kleiner Herr in weißem Staubmantel, das volle Gesicht schier rostrot verbrannt, und mit bläulich schimmernder Nase unter weinfrohen Aeugelein. Der alte Herr öffnete die Coupétür und winkte lebhaft mit der Hand. »Tag, Lindemann! Erwarten Sie wen?« Der Dicke blickte überrascht auf und setzte sich in der Richtung des Wagens erster Klasse in Bewegung. »Tag, Herr von Gorski! Das ist ja 'ne Riesenfreude, daß Sie wieder zuwege sind! Und ob ich wen erwarte? Dieses nu weniger, ich wollt' bloß mal ein bißchen Großstadtluft schnappen. Da bin ich nach der Station gefahren, in dem Aberglauben, der Zug bringt 'was davon aus Königsberg mit. In meinem Dachsbau ist's jetzt, kurz vor der Ernte, zum Auswachsen langweilig!« »Sie sollten heiraten,« sagte Annemarie und zeigte lachend die weißen Zähne. »Ich wüßte Ihnen eine, da würden Sie sich in Ihrem Ritterschloß keine Minute mehr langweilen!« Der Dicke kniff listig das linke Aeuglein ein. »Nachtigall, ich hör' Dir trapsen! Na dann grüßen Sie man das gnädige Fräulein in Marczinowen recht schön, und ich hätt' noch nich genug gesündigt, um so hart gestraft zu werden!« Er schüttelte sich in komischem Entsetzen und wandte sich zu Annemaries Vater. »Aber es ist mir lieb, daß ich Sie treffe, mein verehrter Herr von Gorski. Ich wollte als Ihr Stellvertreter schon eine Sitzung des Parteivorstandes einberufen. Dazu müssen wir unbedingt Stellung nehmen.« »Was' denn passiert?« »Der Heidereuter in Sucholasken will verkaufen. An einen Polen.« Dem alten Herrn stieg die Zornröte ins Gesicht. »Schwerenot noch mal! Schämt der Mensch sich nicht in den Grund seiner Seele hinein?« Herr von Lindemann zuckte mit den Achseln. »Ich habe ihm zugeredet wie 'nem kranken Schimmel -- alles umsonst! Er sitzt in Schulden bis an den Hals. Der Besitzer der letzten Hypothek schnürt ihm die Gurgel zu -- auch natürlich auf Betreiben der Polen! Das Hemd ist ihm näher als der Rock, sagt er, und das polnische Angebot gibt ihm wenigstens die Möglichkeit, irgendwo mit einer kleinen Pachtung wieder von vorn anzufangen. Bei 'ner Subhastation müßte er mit 'nem Prachersack 'rausgehen und einem weißen Stock in der Hand. Ich wollte ihm zum Abschied 'ne rechte Niederträchtigkeit sagen, aber ich kriegte sie nicht über die Lippen. Der Mann hat 'ne kranke Frau und sechs Kinder.« Herr von Gorski zog die buschigen Augenbrauen zusammen. »Das ist in zwei Jahren hier in unserem engeren Kreise schon das zehnte Gut, das aus deutschen Händen in polnische übergeht. Soviel Geld haben wir nicht, um dieser andringenden Flut standzuhalten!« Der Stationsvorsteher hob die Hand, das Zeichen zur Abfahrt zu geben, aber Herr von Lindemann winkte ihm energisch ab. Er hatte den dritten Mitreisenden im Wagen erspäht, der zu Beginn der Unterhaltung diskret auf die andere Seite getreten war. Dem Stationsvorsteher rief er zu: »Lassen Sie die alte Lokomotive man ruhig sich noch ein Weilchen verpusten! Wird ihr nichts schaden bei der Hitze, und ich bin hier noch nicht fertig!« Und, wieder zu dem Wagen gewandt, fuhr er lebhaft fort: »Herr von Foucar! Wie in drei Deuwels Namen kommen _Sie_ hierher? Nach unserem geliebten Ostpreußen, wo es am tiefsten ist?« Der Angeredete machte ein befremdetes Gesicht. »Verzeihung, ich erinnere mich im Augenblick wirklich nicht ...« »Aber, Mannchen! Blättern Sie mal ein bißchen in dem Buch Ihrer Erinnerungen an den Stellen, die junge Mädchen aus guter Familie nicht lesen dürfen -- entschuldigen Sie gütigst, Fräulein Annemarie --, ja, besinnen Sie sich da nicht auf einen gewissen dicken Lindemann? Freiherr von Lindemann auf Borzymmen? Mein Vetter Sternheimb hat uns bekannt gemacht, der lange Kersien von den Königsberger Kürassieren war der dritte im Bunde. Und wissen Sie nicht, wie ich damals in der Jägerstraße den ganzen Bums unter Sekt gesetzt habe? Drei Morgen Weizen hat der Spaß gekostet, aber war doch fidel, was?« Gaston lachte auf. Jetzt entsann er sich wirklich der lustigen Nacht, und wie sehr er sich damals über den dicken Agrarier amüsiert hatte, der in absichtlich vergröbertem ostpreußischen Dialekt allerhand komische Schnurren erzählt hatte. »Wahrhaftig, Herr von Lindemann, jetzt fällt's mir wieder ein! Und ich bitte recht sehr um Entschuldigung ...« »Nitschewo -- ich bin nicht so übelnehmerisch! Aber der lange Kersien prophezeite Ihnen damals eine Springerkarriere, wie sie seit Erschaffung der Welt noch nicht dagewesen. Also was sind Sie inzwischen geworden? Generalfeldmarschall?« »Vorläufig mal erst Rittmeister bei den Ordensburger Dragonern!« »Na, für den Anfang auch ganz schön! Jedenfalls begrüße ich Sie als schätzenswerte Akquisition unseres Kreises, und man wird sich doch jetzt öfter sehen.« Der Stationsvorsteher hatte zu seinem lebhaften Bedauern auf den Wunsch seines prominentesten Nachbarn nicht länger Rücksicht nehmen können. Der Aufenthalt auf der kleinen Station hatte schon fünf Minuten über die vorgeschriebene Zeit gedauert. Er gab hinter dem Rücken des Herrn von Lindemann heimlich das Abfahrtszeichen. Der Zug setzte sich ächzend und stöhnend in Bewegung, die Lokomotive stieß pfauchend ein paar weiße Dampfwolken aus. Der Dicke aber war noch nicht fertig. Erst warf er dem Beamten in der roten Mütze einen zornigen Blick zu, dann setzte er sich mit den kurzen Beinen ebenfalls in Bewegung und lief neben dem Wagen her. »Entschuldigen Sie nur, daß ich vergessen habe, die Herrschaften miteinander bekannt zu machen! Herr Landschaftsdirektor und Reichstagsabgeordneter von Gorski auf Kalinzinnen nebst Fräulein Tochter -- Herr Rittmeister Baron Foucar von Kerdesac! Und noch eins, mein verehrter Herr von Gorski« -- er erhob seine Stimme -- »in der Klinik alles gut abgelaufen? Keine Beschwerden mehr in dem kaputten Fuß?« Herr von Gorski winkte mit der Hand. »Danke, lieber Lindemann, alles im Lot! Ich laufe, Gott sei Dank, wieder wie 'n alter Fasanenhahn!« Der Zug fuhr rascher, der Dicke im weißen Staubmantel mußte zurückbleiben. Dem Stationsvorsteher aber hielt er eine ärgerliche Standpauke. Was es wohl groß geschadet hätte, wenn der Zug sich noch ein paar Minuten länger verschnauft hätte? Und wieso er ihn nicht auf die gute Idee gebracht hätte, ein Billett zu lösen und in angenehmer Gesellschaft nach Ordensburg mitzufahren? Jetzt könnte er den ganzen langen Abend allein sitzen mit seinen spärlichen Gedanken und sich zum Sterben langweilen. Der Stationsvorsteher legte die Hand an den Mützenschirm. »Nich immer gleich schimpfen, trautester Herr Baron! Ich hab' nämlich 'ne Idee. Wenn Sie Ihren hochbeinigen Trakehner Kraggen man ein bißchen den Kopp freigeben, holen Sie den Zug zehnmal ein, sind noch vor ihm in Ordensburg! Und da is heute mächtig 'was los ... eine Damenkapelle fiddelt im Hotel zum Kronprinzen! Wenn ich nich Dienst hätt', wär' ich, warraftigen Gott, heute abend auch 'rübergefahren. Man versauert ja sonst ganz hier in der Einsamkeit, und e bißche 'was Höheres muß der Mensch doch von Zeit zu Zeit haben, so was Ideales von Kunst und so! Nich wahr, Herr Baron?« Der dicke Herr von Lindemann klopfte ihm die Schulter. »Kunst ist gut, Vorsteherchen, namentlich wenn sie wie in diesem Falle von holder Weiblichkeit ausgeübt wird. Na, die Idee ist wirklich glänzend -- lassen Sie sich dafür morgen bei meinem Oberinspektor einen Sack Kartoffeln abholen als Erfinderprämie! Guten Abend, Herr Stationsvorsteher.« Er hob grüßend die Hand und ging nach der Rückseite des Stationsgebäudes, wo sein Jagdwagen im Schatten von ein paar breitästigen Linden hielt. »Ludwig, wir fahren zur Abwechslung mal nach Ordensburg. Aber sanftes Reisetempo bitt' ich mir aus, damit die Gäule nicht zu warm werden!« »Befehl, Herr Baron!« Ein leises Zungenschnalzen, und die beiden hochgezogenen Trakehner Halbblüter trabten an, daß hinter dem davonrollenden leichten Gefährt der Straßenkies spritzte ... Herr von Lindemann wandte sich um, rief dem dienernden Stationsvorsteher zu: »Telephonieren Sie, bitte, nach dem Schloß hinüber, die Mamsell möcht' nicht mit dem Abendbrot auf mich warten ... verstanden?« Und während er sich zu der raschen Fahrt die Mütze fester ins Gesicht zog, zankte er schon mit sich selber: eigentlich war diese plötzliche Eskapade für einen ausgewachsenen Menschen reichlich töricht! Die Nachbarn mokierten sich auch über den lästerlichen Lebenswandel ... Aber die hatten gut reden! Waren alle verheiratet und wußten nichts von der Einsamkeit, die einen in dem großen Haus an den langen Abenden wie ein Alp überfiel. Mit seiner Nachbarin wollte sie ihn verheiraten, die blonde Annemarie von Gorski! Mit dem abstinenzlerischen Fräulein von Streit auf Marczinowen ... Hopfenstange war noch ein Euphemismus für ihre mangelnden Reize! Sie selbst aber? Was sie wohl für ein Gesicht machen würde, wenn er mit einem Male in Frack und Claque in Kalinzinnen antreten wollte: »Also, wie wär's nu mit _uns_ beiden, Fräulein Annemarie? Könnten Sie sich entschließen, mit Ihren weichen Patschhändchen über einen blanken Kahlkopp zu streicheln und 'lieber Gottfried' zu mir zu sagen? Sie können's nicht? Na schön, dann brauchen Sie sich auch nicht zu wundern, wenn der Freiherr von Lindemann lustige Gesellschaft sucht und sich einen Ordentlichen einschwenkt. Und na, überhaupt ...« Er richtete sich auf seinem Sitze auf: »Kerl, zieh den beiden faulen Kraggen eins ordentlich über den Puckel! Bei dem Tempo kommen wir nach Ordensburg, wenn der Kunstgenuß im Hotel Kronprinz längst schon zu Ende ist.« * * * * * Das kurze Intermezzo auf der Station Borzymmen hatte den drei Reisenden die Müdigkeit verscheucht. Etwas von der lustigen Laune des dicken Herrn von Lindemann war hängen geblieben, die Hitze erschien nicht mehr so drückend wie noch kurz zuvor. Sogar Herr von Gorski schien für den Augenblick seine politischen Sorgen vergessen zu haben. Er sah sein Gegenüber mit lebhaftem Interesse an: »Sie kommen in unser Regiment, Herr Rittmeister?« »Zu dienen! Und wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, habe ich Ihnen Grüße zu bestellen. Ich hatte doch vorhin recht verstanden: Herr Reichstagsabgeordneter von Gorski auf Kalinzinnen?« »Allerdings.« »Dann stimmt es! Ich soll Sie von meinem verehrten Abteilungschef grüßen. Von Herrn Oberst Wegener im Großen Generalstab.« Annemarie schlug vor Ueberraschung die Hände zusammen. »Von Onkel Franz? Ist das eine Freude! Und wie geht's ihm denn?« »Soweit ich's beurteilen kann, sehr gut. Ein bißchen abgearbeitet natürlich, denn wir haben saure Wochen hinter uns, kamen aus unseren Schreibstuben kaum noch heraus.« Annemarie lachte herzlich auf und rückte vertraulich ein wenig näher. »Daher Ihre blasse Gesichtsfarbe! Wissen Sie, wofür ich Sie zuerst gehalten habe?« »Na?« »Für einen Professor oder Oberlehrer. Unsere Offiziere in Ordensburg sehen jetzt, Ende Juli, wie die Neger aus! Na, und hat Onkel Franz nicht auch von mir gesprochen? Ihnen für mich keine Grüße aufgetragen?« »Dazu war wohl die Zeit zu knapp, als ich mich vorgestern von ihm verabschiedete. Er mußte zum Vortrag. Aber gesprochen hat er von Ihnen, mein gnädiges Fräulein.« »Was denn?« »Dazu müßte ich wohl erst seine Erlaubnis einholen, um Ihnen das wiederzusagen.« Und kecker, als es Damen gegenüber sonst seine Art war, fügte er hinzu: »Aber er hatte recht! Jetzt, nachdem ich Sie persönlich kennen gelernt habe, unterschreibe ich's Wort für Wort!« Annemarie errötete ein wenig und verzog schmollend den Mund. »Das ist nun eklig von Ihnen! Erst einen neugierig machen und dann nichts sagen!« Herr von Gorski hatte schmunzelnd zugehört. »Ich kann's mir denken! Haben Sie auch seine Frau kennen gelernt?« »Nur flüchtig bei einem Essen, das der Herr Oberst den Herren seiner Abteilung gab. Auch mit ihm bin ich sonst bloß dienstlich zusammengekommen. Da hat's mich eigentlich gewundert, daß er sich für mich so ins Zeug gelegt hat. Die Auszeichnung, daß ich vor dem Manöver schon in die Front hinauskam, verdanke ich nur ihm.« Der alte Herr sah sein Gegenüber prüfend an. War das nun falsche oder echte Bescheidenheit? Aber die Musterung schien zu seiner Zufriedenheit ausgefallen zu sein, er nickte. »Mein Vetter Wegener weiß, was er tut! Und Sie kommen gern zu uns nach Ostpreußen?« »Jetzt noch lieber als früher.« »Na, das ist recht! Welche Schwadron kriegen Sie denn?« »Herr Oberst Wegener sprach von der fünften ...« »So, so ... ich bin durch die sechs Wochen Stilliegen ein bißchen 'raus ... Na, und hat mein Vetter Wegener mir nicht noch irgend etwas Besonderes sagen lassen? Wie's so im allgemeinen aussieht?« »Nein, Herr von Gorski. Unsere Unterredung dauerte ja auch bloß ein paar Minuten.« »Na, mir gegenüber können Sie ruhig und ganz offen sprechen. Ich bin alter Herr des Regiments, das Offizierkorps geht in meinem Hause aus und ein, namentlich das unverheiratete,« -- ein lächelnder Seitenblick streifte die neben ihm sitzende Tochter -- »ja, also da brauchen Sie sich nicht zu genieren. Auch nicht vor Annemarie. Sie ist der heimliche Beichtvater und Vertrauensmann von allen jungen Dächsen im Regiment. Etliche hab' ich sogar im Verdacht, daß sie bei ihr ein bißchen in der Kreide sitzen!« Annemarie wurde rot bis unter die blonden Stirnhaare und protestierte entrüstet. Gaston aber spürte eine seltsame Regung, als müßte er ihr über das blonde Köpfchen streicheln und irgend etwas Liebes sagen. So stark war diese vermessene Regung, daß er sich ordentlich zusammennehmen mußte. »Himmlischer Kerl von Mädel«, hatte sie der Oberst von Wegener genannt. Das stimmte, und zu beneiden war der Mann, der sich das mal zum guten Kameraden gewann. Unwillkürlich flogen seine Gedanken weit fort zu einer anderen, stellten allerhand Vergleiche an ... Gaston schreckte zusammen. Der alte Herr da drüben hatte eine Frage an ihn gerichtet. »Wie befehlen? Ach so, ja, ganz recht. Es sieht wieder einmal bedrohlicher aus als sonst. Ich persönlich habe natürlich kein Urteil, aber mein verehrter Chef gab mir ein privates Avis an meinen neuen Kommandeur mit. Daraus schließe ich, daß jeder Tag vielleicht die Katastrophe bringen kann. Oder -- wie man's nehmen will -- die Erlösung aus einer immer unerträglicher werdenden Spannung.« Herr von Gorski schüttelte den grauen Kopf. »Ich glaube nicht daran. Die Verantwortung ist zu ungeheuerlich! Da überlegen sich's die, in deren Hand die Entscheidung liegt, eher zehnmal als einmal. Namentlich bei unseren Nachbarn im Osten. Da spielen für die Dynastie im Falle eines unglücklichen Krieges noch ganz besondere Interessen mit. Ich habe livländische Verwandte in hohen Hofchargen. Einer von ihnen schrieb mir erst unlängst, die Truppenansammlungen an unserer Grenze sind nur befohlen worden, =pour montrer la bonne volonté=. Um den Bundesgenossen mit dem großen Sparstrumpf bei guter Laune zu halten.« »Mag sein, Herr von Gorski. Dafür sieht's an unserer Westgrenze um so bedrohlicher aus. Dort geht's leider nach Stimmungen, nicht nach Erwägungen. Das ganze Volk schreit nach dem Revanchekrieg. Wie ein langsam angestautes Wasser ist es, das jeden Augenblick den Damm zerreißen kann. Mir persönlich wäre es recht. Nichts sehnlicher wünsche ich mir, als meine Schwadron gleich an den Feind zu führen!« »Bravo!« sagte Annemarie, und Herr von Gorski lächelte. »Sie ist nämlich mit ihren jungen Freunden vom Regiment unbedingt fürs Einhauen. Sie geht dann als Rote-Kreuz-Schwester mit! Aber was ich schon vorhin fragen wollte, lieber Rittmeister, wo standen Sie eigentlich früher?« »Bei den Karlsburger Ulanen. Von dort kam ich auf Akademie und nachher in den Generalstab.« »Ein glänzendes Regiment und eine angenehme Garnison,« sagte der alte Herr. »Und da sind Sie nicht wieder hingegangen?« Die Frage klang ein wenig argwöhnisch. »Ich hatte meine besonderen Gründe!« sagte Gaston. Damit sollte es genug sein, aber er fühlte, daß Annemaries Augen an ihm hingen. Wie ihm scheinen wollte, mit ganz besonders gespanntem Interesse, und da sprach er offen und ohne Rückhalt. Als wenn das liebe Mädel ein Anrecht hätte, genau zu erfahren, was er fühlte und dachte. »Also einmal, weil ich gerade Ostpreußen kennen lernen wollte, und dann ... in meiner Heimat nicht nur geht eine Legende, die mir jedesmal, wenn ich auf sie stoße, die Zornröte ins Gesicht treibt. Eine sehr hohe Dame soll angeblich mit besonderer Fürsorge über meine Karriere wachen. Ich habe auch sonst genug gelitten unter diesem törichten Gerede. Mein Vater war Kammerherr dieser hohen Dame an einem der süddeutschen Duodezhöfe. Er starb, als ich ein Jahr alt war, ich habe ihn nicht gekannt. Als ich Offizier wurde, gab mir mein Vormund einen Brief von ihm und klärte mich auf. Mein Vater war im Duell gefallen für die von einem Unwürdigen angegriffene Ehre dieser hohen Dame, war gestorben wie ein Kavalier und Held. Aber meine liebe Mutter faßte das anders auf. Glaubte an eine Schuld, wo nichts weiter gewesen war als die Pflicht eines seiner Herrin dienenden Kavaliers. Sie ging nach ihrer schwäbischen Heimat zurück und erzog mich dort auf ihre Art. Es steht einem Sohne nicht zu, mit der geliebten Mutter zu rechten, aber es wäre vielleicht manches in meinem Leben anders gekommen, wenn ich eine Jugend hätte haben dürfen wie andere. Wie ein junges Mädchen verpimpelte sie mich. Aber da gab es einen Umschwung. Eines Tages hatte ich mal wieder was ausgefressen, aber kam gerade noch mit blauem Auge davon. Wie und wieso weiß ich nicht mehr, aber einer meiner Coëtanen meinte: 'Na ja, wenn man eine Schutzheilige hat -- eine richtige, lebendige Großfürstinwitwe, die ihre Gefühle vom Vater auf den Sohn überträgt.' Ich fuhr ihm an den Hals, wir schlugen uns auf schwere Säbel, und in der Festungshaft danach wurde ich ein ernsthafter Mensch. Ein Streber schlimmster Sorte ... Kommandierender General zum mindesten wollte ich werden! Aber ohne weibliche Protektion!« Annemarie hatte mit aufgeregten Augen zugehört. Ehe ihr Vater etwas sagen konnte, streckte sie impulsiv dem Rittmeister von Foucar die Hand entgegen. »Furchtbar interessant ist das! Und überhaupt, wo Onkel Franz so große Stücke auf Sie hält. Sind Sie Jäger?« Gaston blickte ein wenig verwundert auf. »Sogar mit Passion. Aber bisher hatte ich, zu meinem Bedauern, nur wenige Male Gelegenheit.« »Na ja, in Berlin!« sagte sie geringschätzig. »Aber das wird hier anders werden. Sie sollen bei mir in Kalinzinnen den besten Bock schießen, den es im Kreise je gegeben hat. Mindestens dreißig Zentimeter Stangenhöhe und geperlt bis in die Enden hinein ... ein ganz alter Bursche, schlau wie ein Fuchs, aber in der Brunst werden wir ihn schon kriegen!« Der alte Herr hatte zum Fenster hinausgesehen. Hallo, was war das? Hatte sein sonst so zurückhaltender Blondkopf an diesem Rittmeister Feuer gefangen? Und daß das Mädel mit den Kalinzinner Rehböcken so freigebig umging, war allein schon ein bedenkliches Zeichen. Sonst war sie damit sehr knauserig. »Annemarie,« sagte er, »freust Du Dich, daß wir endlich wieder nach Hause kommen?« »Aber natürlich, Papa, riesig!« »Und was Hermann wohl sagen wird, wenn wir endlich wieder da sind? Wahrscheinlich wird er an der Bahn sein.« Annemarie runzelte die Stirn. »Natürlich wird er da sein. Du hast ihm doch sicherlich geschrieben, wann wir ankommen. Er ist überhaupt immer da.« »Bitte sehr, diesmal habe ihm nicht geschrieben!« »Er wird doch da sein!« sagte sie hartnäckig und legte sich abweisend in die Wagenpolster zurück. Gaston aber merkte die Absicht des alten Herrn und griff nach einer der schon längst gelesenen Zeitungen. Eigentlich war es ja schon deutlich genug gewesen, daß Herr von Gorski die Jagdeinladung der Tochter nicht bestätigt hatte. Und dieser Hermann, der auf der Station warten würde, war ein Wink für ihn: »Gib Dich nicht unnützen Hoffnungen hin.« Der Wink war überflüssig. Wer sich selbst eine Kette um den Fuß gelegt hatte, durfte seine Augen nicht aufheben zu einem stolzen und freien Herrenkind. Annemarie hatte ein paar Minuten schweigend gesessen, jetzt schob sie in leichtem Trotz die Unterlippe vor. »Ach, entschuldigen Sie, Herr Rittmeister ...« »Bitte sehr, mein gnädiges Fräulein.« »Sie müssen so freundlich sein, mir noch einmal recht deutlich Ihren Namen zu sagen. Vorhin, als Herr von Lindemann vorstellte ...« »Aber mit Vergnügen! Gaston Baron Foucar von Kerdesac!« Annemarie blickte überrascht auf: »Aber das ist ja ein rein französischer Name!« »Zu dienen! Mein -- einen Augenblick, ich muß nur nachrechnen -- ja, also, mein Ururgroßvater kam als achtjähriger Knabe nach Deutschland. Seine Eltern waren auf die Guillotine geschleppt worden, ihm gelang es, als die Schergen des Konvents das Schloß durchsuchten, sich zu verstecken. In einer Regentonne. Dann wanderte er nach Osten, bis er an andere Flüchtlinge Anschluß fand. Mit zweiundzwanzig Jahren focht er unter Blücher gegen Napoleon.« »Merkwürdig,« sagte Herr von Gorski, und aus dem Tone seiner Bemerkung war starke Mißbilligung herauszuhören, »ja, also merkwürdig, wie eine Familie mit Traditionen in so kurzer Zeit ihren vaterländischen Standpunkt verändern kann! Das Vaterland ist doch immer das Primäre! Und ich frage mich manchmal ... Die Abkömmlinge der französischen Refugiéfamilien ... ja, mit welchen Gefühlen werden die wohl einmal satteln, wenn es gegen ihr altes Vaterland Frankreich geht?« Gaston verneigte sich leicht, Kampflust in den blauen Augen. »Das haben sie schon einmal bewiesen, jetzt vor mehr als vierzig Jahren! Und ich darf wohl dagegen fragen, mit welchen Empfindungen werden Sie sich tragen, Herr von Gorski, wenn es morgen nach der anderen Seite losgehen sollte? Gegen Rußland?« Der alte Herr steckte sich in einer gewissen Erregung eine Zigarette an. »Sie verstehen zu fechten, Herr von Foucar! Aber es ist ein Irrtum dabei. Mein Geschlecht ist von Anbeginn an rein deutsch gewesen -- trotz seines polnischen Namens. Darüber existieren unanfechtbare Urkunden. Mein erster nachweislicher Vorfahr ist als Gefolgsmann des Großmeisters Heinrich von Plauen urkundlich aufgeführt, Berger hieß er. Als nach dem Niedergange des Ordens die slawische Welle wiederkam, wurde sein guter deutscher Name ins Polnische übersetzt. Gorski heißt nämlich auf deutsch Berger, und das Schicksal, das ihn ereilte, traf auch all die anderen, ursprünglich deutschen Familien. Nicht nur aus dem Stande der Ritterbürtigen. Auch unter der bäuerlichen Bevölkerung können Sie noch heute herauskennen mit einiger Sicherheit, was ursprünglich mal deutsch war. Schon an der Körperlänge. Der slawische Masur ist klein, kaum daß mal einer über Mittelgröße hinauswächst.« »Aehnlich wie in meiner Heimat,« versetzte Gaston. »Nur daß man da zwischen Normannen mit Wikingerblut unterscheidet und den kleineren Abkömmlingen der Römer. Aber ich meine, der ganze Streit ist unfruchtbar. Jeder hält zu dem Lande, dem er sich verbunden fühlt. Der alte Name ist nur eine Erinnerung. Das Nationalgefühl entscheiden die Mütter.« »Haben Sie Ihre alte Heimat einmal besucht?« warf Annemarie ein. Gaston wiederholte die Frage. »Meine alte Heimat? Nein, aber im vorigen Jahre machte ich eine Reise durch Nordfrankreich. Ich sage das absichtlich, um von vornherein meine Empfindungen bei dieser Reise zu kennzeichnen. Nichts sprach zu mir, was irgendeinen sentimentalen Widerhall in mir geweckt hätte ... oder vielmehr einmal mußte ich an mich halten, um als preußischer Offizier nicht eine Unbesonnenheit zu begehen. Am zweiten September war es, in Havre. Zu Hause bei uns feierte man den Gedenktag von Sedan, hier schleifte ein Haufe halbtrunkener Gassenjungen eine Strohpuppe im Straßenkot, die wie ein deutscher Soldat ausstaffiert war mit ein paar bunten Fetzen. An der Spitze schritt ein Bengel, der ein freches Spottlied auf die '=sales Prussiens=' sang. Die andern grölten den Refrain. Da mußte ich mich mit Gewalt zusammenreißen, um dem Lümmel an der Spitze das Maul nicht mit einer Ohrfeige zu stopfen ... Und ein paar Tage später war ich in dem Städtchen Kerdesac. Auf einem Hügel in der Nähe lag eine verfallene Ruine ... ein Rest des alten Gemäuers war wohnlich eingerichtet, ein weißbärtiges Männchen hauste darin ... Der Letzte der Foucar der französischen Linie. Ich machte ihm meine Aufwartung, ohne meinen Namen zu nennen, und fragte so nebenher, ob nicht ein Zweig des Geschlechts in Deutschland lebte. Da richtete der alte Herr sich auf und spie aus. 'Verflucht sei er und verdorren möge er! Meine Arme sind vertrocknet, aber wenn wir morgen marschieren sollten, marschiere ich mit. Und Gott wird mir helfen, die zu züchtigen, die ihr Vaterland vergessen konnten ...' Ich empfahl mich und ging. War nicht im geringsten betroffen, hatte nur das Gefühl einer Seltsamkeit ... einen fast schnurrigen Gedanken: daß nämlich anscheinend in jedem Lande der liebe Gott eine andere Nationalität hat. Und daß er jedesmal helfen soll, die Leute jenseits der Grenze totzuschlagen ...« Das Gespräch verstummte. Annemarie holte mit einem leichten Seufzer die »Gedanken und Erinnerungen« hervor, die sie vorhin beiseite gelegt hatte, Herr von Foucar griff nach einer Zeitung, und nach einer Weile schien es so, als wären die drei, die der Zufall für eine kurze Reise zusammengeführt hatte, einander so fremd wie zu der Zeit, als der lustige Herr von Lindemann sie noch nicht vorgestellt hatte. Nur ein kleiner Unterschied war dabei. Nach kurzer Pause hob Annemarie den Kopf von der Lektüre, Herr von Foucar tat desgleichen, ihre Blicke begegneten sich und hielten stumme Zwiesprache miteinander. Der eine sagte: »Ist das nicht ärgerlich, daß unser erstes Beisammensein mit solch einem Mißklang enden soll?« Und der andere meinte: »Es wäre doch jammerschade, wenn nun aus der so freundlich gebotenen Jagdeinladung nichts werden sollte!« Da huschte über das feingeschnittene Gesichtchen ein schalkhaftes Lächeln. Sie legte das dicke Buch wieder beiseite und wandte sich besorgt zu dem neben ihr sitzenden Vater. »Willst Du es Dir nicht lieber ein bißchen bequemer machen, Papa? Ich kann mich ja ganz in die andere Ecke setzen, Du aber streckst das Bein auf das Polster.« Und wie zur Erklärung für Herrn von Foucar fügte sie hinzu: »Nämlich mein Papa hat vor sechs Wochen einen schweren Sturz mit dem Pferde getan, weil er noch immer so verwegen drauflos reitet, als sprengte er an der Spitze seiner alten Schwadron. Das ganze Schienbein war gesplittert, und ich fürchte beinahe, bei aller Kunst des Königsberger Professors, ganz so wie früher wird es wohl nicht mehr werden.« »Unsinn,« brummte Herr von Gorski in seinen kurzgeschnittenen grauen Spitzbart, »der Mann hat sein Handwerk verstanden! Ist alles wieder in Ordnung, und, wenn ich ehrlich sein soll, ich muß mich immer erst besinnen, welcher Fuß eigentlich kaput war, der rechte oder linke!« Sein Gegenüber pflichtete ihm bei, um ihn bei guter Laune zu erhalten. »Ja, es ist erstaunlich, was heutzutage die Herren Chirurgen alles leisten! Einer meiner Kameraden beim alten Regiment hatte von einem schweren Sturze eine Gehirnerschütterung gekriegt, Schlüsselbein kaput und das ganze rechte Bein ein einziger schlotternder Lappen ... vier Wochen Klinik in Tübingen, und er konnte wieder in den Sattel steigen! Zwei Monate danach aber gewann er sein erstes Rennen.« Die Geschichte war frei erfunden, aber was tat man nicht einem Paar blauer Mädchenaugen zuliebe, die einen lustig anlachten? Der alte Herr sprang prompt auf die kleine Kriegslist ein und nahm die abgebrochene Unterhaltung wieder auf. »Siehst Du, da hast Du's! Morgen laß ich mir meinen alten 'Perkuhn' an die Rampe führen, probier' mal, ob's nicht schon wieder geht!« Und nach einer kleinen Pause fuhr er fort: »Was aber unseren vorhin angeschnittenen Hammel anlangt, Herr von Foucar -- also ich möchte da kein Mißverständnis aufkommen lassen. Ich habe inzwischen nachgedacht. Ich verstehe zwar immer noch nicht, wie geborene Franzosen in ein paar Menschenaltern reine Deutsche werden können, aber da ich ein überzeugendes Beispiel vor mir sehe, muß ich die Tatsache anerkennen. Und sie interessiert mich sehr, denn vielleicht liegt in ihr irgendein Fingerzeig verborgen für unsere Arbeit in den Grenzprovinzen, den Kampf gegen das Polentum. Wenn Sie unsere Parlamentsverhandlungen der letzten Jahre ein wenig verfolgt haben, werden Sie wissen, daß ich bisher immer einer der Hauptvertreter der gemäßigten Richtung gewesen bin in der Behandlung unserer polnischen Mitbürger. Während meiner unfreiwilligen Muße aber, jetzt in der Klinik, habe ich eine Art von Inventur gemacht über die Ergebnisse meiner Tätigkeit. Und, wenn man so losgelöst daliegt von allen verwirrenden Eindrücken der kleinen Tageskämpfe, sieht man wohl schärfer als sonst. Ja also, da hat sich mir die niederschmetternde Erkenntnis aufgedrängt, daß all unsere Arbeit bis zur Stunde vergeblich war. Statt vorwärts zu kommen, haben wir Boden verloren, und da fragt man sich unwillkürlich, ob die bisherige Methode die richtige war.« »Verzeihen Sie, Herr von Gorski,« sagte der Rittmeister, »ich habe mich bisher mit diesen Dingen zu wenig beschäftigt, um ein eigenes Urteil zu haben. Aber was ich von Ihnen, einem berufenen Sachverständigen, höre, macht mich stutzig.« Der alte Herr lächelte trübe. »In unseren Industriegebieten finden Sie ganze Stadtteile und Niederlassungen, in denen kaum noch ein Wort Deutsch gesprochen wird. Und gehen Sie in die Mark, nach Sachsen, Pommern oder Mecklenburg -- die Leute, die dort auf den Feldern arbeiten, sprechen Polnisch! Das hängt ja nun mit der wirtschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte zusammen, aber muß doch mit in Rechnung gebracht werden, wenn man sich das Gesamtbild vergegenwärtigen will. Und das übrige ... das Ende ...« Er brach ab und sah sinnend vor sich hin. Herr von Foucar hatte gespannt und achtungsvoll zugehört. Als der alte Herr plötzlich schwieg, erlaubte er sich in bescheidenem Tone die Frage: »Nun und? Wenn all diese Polen den deutschen Gesetzen gehorchen, ihre Steuern bezahlen und als Soldaten ihre Pflicht und Schuldigkeit tun? Unsere Armee ist doch noch intakt. Und gerade unsere polnischen Regimenter haben sich im letzten Feldzuge doch mit Auszeichnung geschlagen. Geben wir den Polen vollkommene politische Freiheit und wirtschaftliche Vorteile, die ihnen die Ueberzeugung wachrufen müssen, unter keiner Herrschaft der Welt könnte es ihnen besser gehen als unter der preußischen oder deutschen, und sie werden -- unter dem Zwange dieser Einsicht -- treue und gute Staatsbürger werden.« Um den bärtigen Mund des alten Herrn flog ein nachsichtiges Lächeln. »Sehr schön und sehr nobel gedacht, aber das Mittel ist schon längst versucht worden -- bisher ohne Erfolg! Zu keiner Zeit wurde wohl in polnischen Kreisen mehr komplottiert, das alte Königreich wieder auszurichten, als in jenen Jahren, in denen die Polen verhätschelt und mit Zuckerbrot gefüttert wurden. Das ermutigte die Herrschaften nur, die bisher im stillen betriebene großpolnische Agitation auf die Gasse zu tragen! Wie Pilze schossen allenthalben die nationalen Hetzblätter empor, und ganz unversehens war ein neues Moment in die Bewegung gekommen: Der bisher indifferente kleine Mann in den Städten und auf dem Lande war zum Bewußtsein seiner polnischen -- wie heißt doch das neugeprägte Wort? -- ja richtig, zum Bewußtsein seiner polnischen 'Volkheit' gelangt! ... Aus solchen geschichtlichen Prozessen muß man lernen, solange es noch Zeit ist. Alles auf dieser Welt verläuft in Wellenlinien, nicht einmal der Strahl des Lichts fährt in schnurstracks gerader Bahn dahin, also muß es auch wohl in der politischen Bewegung der Völker ein Auf und Nieder geben. Es muß nur die gewaltige Persönlichkeit kommen, die stark genug ist, die Hand zu heben: Halt!« Der alte Herr schwieg erschöpft, wischte sich den Schweiß von der Stirn. Herr von Foucar wollte etwas erwidern, aber Annemarie gab ihm ein heimliches Zeichen, das Gespräch abzubrechen. In dem Coupé war es plötzlich so finster geworden, daß man Mühe hatte, das Gesicht des Gegenübersitzenden zu erkennen, eine jäh aufgestiegene dunkle Wolkenwand hatte sich vor die Sonne geschoben. Die drückende Schwüle wurde schier unerträglich, da, mit einem Male gleißende Helle, vor der sich unwillkürlich die Augen schlossen ... in derselben Sekunde ein schmetternder, kurzer Schlag, ein Reißen und Krachen, daß die Wagenfenster klirrten. Einen zuckenden leichten Schmerz gab es in den Gelenken, ein schwefliger Geruch drang zu den Fenstern herein, Annemarie hob die Hand und deutete nach außen: »Da ... sieh nur, Papa, sieh.« Eine rank aufgeschossene Kiefer, die mitten in einer abgeholzten Lichtung etwa hundert Schritt vom Bahndamme stand, leuchtete rot auf, züngelnde Flammen leckten an dem Stamme in die Höhe, und um die grüne Krone breitete sich eine weißliche Wolke. Ueber das Gesicht des alten Herrn aber flog ein heller Schein, seine Augen blitzten auf. »Das sei ein Zeichen,« sagte er laut, »und so möge sich erfüllen, was ich eben vorausgesagt habe.« Die Bremsen an den Rädern zogen kreischend an, der Zug hielt vor einer Art von ziegelgedecktem Schuppen, neben dem ein Wärterhäuschen aus Wellblech stand. Und plötzlich kam mit Rauschen und Brausen der Regen gezogen wie eine graue Wand. Hagelschlossen prasselten dazwischen, der gelbe Sand des Bahnsteiges spritzte auf, und unablässig schmetterte und krachte der Donner. Ein triefend nasser Schaffner kam gelaufen, riß die Tür auf: »Kalinzinnen, eine Minute!« »Um Gottes willen, schon?« Annemarie sprang auf, stopfte Buch und Zeitungen eilig in die krokodillederne Handtasche, der Rittmeister half dem alten Herrn in einen Gummimantel, ohne für seinen Dienst mehr als ein kurzes »Danke!« zu ernten. Aus der grauen Regenwand trat ein Diener, einen großen, aufgespannten Leinenschirm in der Hand: »Willkomm zu Hause, gnäd'ger Herr,« sagte er respektvoll. »Und der gnä'ge Herr müssen schon so gut sein, ein paar Minutchen unter die Wartehalle zu treten. Die beiden alten Kobbeln vor dem Kutschwagen sind von dem großen Blitz rein wie verrückt geworden. Der Gottlieb mußt sie laufen lassen, aber er is wohl gleich wieder 'ran.« Der alte Herr verabschiedete sich von dem Reisegefährten mit kurzem Gruße, kletterte ein wenig schwerfällig den Wagentritt hinab. Annemarie rief ihm nach: »Papa, Du hast wohl nur vergessen ...?« Er hörte nicht, oder vielleicht tat er auch nur so, denn der Zuruf war laut genug gewesen, und in dem Rollen des Donners hatte es gerade eine kurze Pause gegeben. Da flog über ihr Gesicht ein trotziger Zug, sie streckte dem Rittmeister die Hand entgegen: »Entschuldigen Sie, mein Papa ist nur durch die plötzliche Ankunft ein bißchen durcheinander, sonst hätte er sicherlich ... jedenfalls sind Sie uns in Kalinzinnen herzlich willkommen!« Und mit einem Lächeln fügte sie hinzu: »Seien Sie ein bißchen nett mit meinen beiden Vettern, sie stehen bei Ihrer Schwadron!« Der Schaffner an der offenen Tür, dem das Wasser vom Mützenschirm über die Nase rann, hob mahnend die Hand. »Trautstes Freileinchen, beeilen Sie sich, der Zug hat sowieso all Verspätung.« Da gab es noch einen kurzen Händedruck. »Also gut, und auf bald.« Hastig sprang sie von dem Tritte, der Diener, der den alten Herrn schon nach der Wartehalle geleitet hatte, eilte mit dem großen Regendache herbei. Eine Pfeife schrillte, der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Gaston trat ans Fenster, um vielleicht noch einen Blick oder Gruß zu erhaschen, aber Annemarie stapfte eilig dahin, zwischen den vom Boden schnellenden Spritzern. Der über die Knöchel gehobene Rock zeigte ein paar schlanke Fesseln über schmalen Füßen. Der alte Herr unter der Wartehalle schien ungeduldig geworden zu sein, sprach lebhaft auf die Tochter ein, nach dem abfahrenden Zuge sah er nicht mehr hinüber. Die graue Wand schob sich dazwischen, der ziegelgedeckte, offene Schuppen und ein heranfahrender Wagen waren noch wie durch einen Schleier zu erkennen. Dann nichts als unablässig strömender Regen, nach jedem der rollenden Donnerschläge schien er nur noch stärker zu fallen, als wenn da oben an irgendeiner himmlischen Talsperre ein Staudamm gebrochen wäre, so schüttete es hinab. Gaston hatte das Fenster hochgezogen und setzte sich auf seinen Platz zurück. Trocknete sich Gesicht und Hände von den durch die offene Tür gespritzten Regentropfen, und ihm war seltsam lustig und aufgeräumt zumute. Mit dem alten Herrn schien er's ja gründlich verdorben zu haben, nach anfänglichem Wohlgefallen hatte es ein ziemlich unverhohlenes Mißvergnügen gegeben. Aber was lag daran -- dafür hatte die Tochter einen um so freundlicheren Abschied genommen. Wie hatte sie gesagt? »Auf Wiedersehen, recht bald.« Na, das konnte ja besorgt werden! Und ein Vorwand war gar leicht gefunden. Da drüben, zwischen Rückwand und Wagenpolster blitzte etwas auf, als hätte es spitzbübisch bloß auf den rechten Augenblick gewartet, sich bemerkbar zu machen. Eine kleine goldene Zigarettendose, mit einem Saphir als Druckknopf und einem, aus funkelnden Brillanten gefügten »=A=« auf dem Deckel. Eine siebenzinkige Krone darüber, deren Zacken in hellem Rubinrot leuchteten. Und allerhand Widmungen daneben, in Schrift oder figürlicher Darstellung. Ein blau-weiß-roter Emailschild mit der Umschrift: »Masovia sei's Panier! Der holden Korpsschwester die Füchse des Sommersemesters 1911.« Viele, sauber ausgeführte Wappen mit Jahreszahl und Datum, und endlich auf der Rückseite ein Emailbild der beiden »bösen Buben«, Max und Moritz. Eine Inschrift besagte, daß unter dieser allegorischen Darstellung die beiden Vettern Hans und Karl von Gorski zu verstehen wären. Nur eine Ecke auf dem goldenen Untergrunde war noch frei. Gaston schob mit einem Lächeln die Dose in die Brusttasche: da war er ja, der gute Vorwand! In ein paar Tagen überbrachte man das kostbare Fundstück persönlich, und inzwischen war auf der letzten freien Ecke von einem geschickten Goldschmied ein Kleinod ganz besonderer Art eingefügt worden zur Erinnerung an die Stunde der ersten Begegnung. Ein tiefblauer kleiner Saphir von altertümlich flachem Schliff, der ein winziges Zeichen trug. Man mußte eine Lupe zu Hilfe nehmen, um es zu erkennen: der gefiederte Sarazenenpfeil war es aus dem Wappenbilde der Foucar, mit dem sie zeichneten, was ihnen gehörte. Nach einer alten Familiensage stammte der Stein von einem Ringe, den ein Ahnherr am heiligen Grabe geweiht hätte, und sollte seinem Besitzer Glück bringen, ihn vor jeder Art von Gefahr bewahren. Wem aber wünschte er wohl von Herzen mehr Glück als dem blonden Mädel, das ihm ein gütiges Geschick hier in den Weg geführt hatte. Er brauchte nur die Augen zu schließen, und er sah es wieder vor sich auf dem Platze da drüben ... die biegsame, schlanke Gestalt, das feine Gesichtchen mit dem lustigen Grübchen in der Wange und den klaren, blauen Augen. Ganz dunkel schienen sie in der Abwehr und leuchteten hell auf, wenn sie lachte. Allmählich aber verwischte sich das Bild. Es hing eine an seinem Halse, drängte sich ganz nahe an ihn und biß ihn in bitterem Trennungsweh, daß er sie nie mehr vergessen sollte und immer an ein Wort denken, das er selbst gesprochen hatte. Sie wäre für ihn die Herrlichste und Reinste auf der ganzen Welt. In einer Art von Trunkenheit hatte er es gesprochen, aber es stand da. Wahnsinn war es doch, zu denken, mit seiner raschen Flucht wäre alles zu Ende. Die Wirrsal fing jetzt erst an ... die Wirrsal für einen, den die Natur mit mancherlei Gaben ausgestattet hatte, nur nicht mit einem robusten Gewissen ... Das Gewitter war vorübergezogen, kaum eine Viertelstunde hatte es gedauert. Nur im Westen stand noch eine dunkle Wolkenwand, von der untergehenden Sonne wie mit Blut und Feuer übergossen. Der Zug hielt im freien Felde. In der Ferne blaute ein See mit spärlich bewaldeten Ufern, ein schlanker Kirchturm, dessen Kreuz im Sonnenlicht blitzte, ragte zwischen roten Ziegeldächern in die Höhe. Auf dem anderen Gleise rollte ein langer Zug vorüber. Mehr als fünfzig Wagen zählte Gaston, alle mit Menschen dicht besetzt. An den Oeffnungen der Türen und Fenster drängten sie sich Kopf an Kopf, schauten mit einer Art stumpfer Neugierde heraus. Gesichter von fremdartigem Schnitt ... kleine blaue Augen über breiten Backenknochen, stumpfe Nasen und blondes Haar. Die Frauen in bunten Tüchern, die Männer in grauen Röcken, breitschirmige Mützen tief in die Stirn gezogen. Der aus seinem Bremserhäuschen gestiegene Schaffner gab unaufgefordert die Erklärung: »Polnische Auswanderer. Jeden Tag kommen vier solcher Züge von der Grenz'. Alles wegen dem Krieg. Da drüben haben se, scheint's, noch mehr Angst wie bei uns. Möcht's man endlich losgehen, sonst reißen se uns noch alle aus.« Gaston nickte. Ja, wenn's nur endlich losgehen wollte! Dann wäre er mit einem Schlage aus aller Wirrsal heraus gewesen -- -- -- 6. Im Lesezimmer des Kasinos der Ordensburger Dragoner saßen nur drei Herren. Zwei in Uniform, der dritte in Zivil. Ein junger Mann mit langen Gliedern und breiten Schultern, ein paar tiefe Schmisse auf der linken Wange. Das schlichte blonde Haar trug er in der Mitte gescheitelt, unter einer narbenbedeckten hohen Stirn standen ein paar fast immer schläfrig blickende, blaue Augen. Die beiden Herren in Uniform sahen einander zum Verwechseln ähnlich. Zwei Köpfe von gleicher, kugelrunder Form, die weißblonden Haare bis auf die Haut kurz geschnitten. Hellgraue Augen unter farblosen Brauen, jeder einen breiten Streif Sommersprossen über der scharf vorspringenden, gebogenen Nase, und lächerlich wirkende große Ohren. Kaum zu unterscheiden waren sie, wie Zwillinge sahen sie einander ähnlich, trotzdem sie im Alter zwei Jahre auseinander waren. Nur einen Unterschied gab es. Der Aeltere war reich, der Jüngere arm. Der Aeltere erbte einmal das große Majorat im Johannisburger Kreise, der Jüngere mußte mit knappem Zuschuß bei der Truppe weiterdienen. Noch ein halbes Dutzend Schwestern wuchs zu Hause heran. Die mußten von dem Oberhaupt der Familie standesgemäß ernährt werden, denn auf Versorgung durch Heirat war wegen Häßlichkeit leider nicht zu rechnen. Auch ihnen standen die Ohren vom Kopfe ab, sprang unter reichlichen Sommersprossen eine gebogene starke Nase aus dem Gesicht. »Zeichen eines reingezogenen adeligen Geschlechts« nannte das der jüngere, zur Spottlust neigende der beiden Gebrüder Gorski, »aber leider legten die heiratslustigen Jünglinge im Kreise mehr auf Schönheit Wert als auf die Merkmale echter Gorskischer Rasse.« Das Gespräch zwischen den dreien floß zu Anfang nur spärlich dahin. »Herrschaft,« sagte der Lange, »wenn ich 'ne Ahnung gehabt hätte, daß bei Euch heute abend so wenig los ist, wäre ich lieber nach Hause gefahren.« »Wieso?« versetzte der jüngere Gorski, der den linken Arm in einer schwarzen Binde trug, »ist da mehr los? Können Deine Mastochsen vielleicht Skat spielen?« »Das gerade nicht! Aber wenn man sich auf die Reise macht und findet das ganze Offizierkorps ausgeflogen?« »Nächstens werde ich einen Regimentsbefehl veranlassen, daß den Herren der Reserve vom Bureau aus das Stattfinden einer Nachtfelddienstübung telephonisch mitgeteilt wird. Aber kannst Dich darauf verlassen, drei Tage in der Woche wird überhaupt immer Nachtfelddienst geübt! 'n schönes Wort, was? _Meine_ Erfindung! Unser Alter dressiert uns überhaupt nur japanisch, seit er damals als Attaché da drüben gewesen ist. Also, wenn ich hier als Leutnant ausgelernt hab', trete ich als Akrobat im Wintergarten auf. Klettere über die verschmitztesten Drahthindernisse, verhaspel mich mit den Sporen und kämpfe mit dem in der Dunkelheit egalweg vorbeischießenden Gegner Jiujitsu. Falls er mir nicht vorher, zur Vereinfachung der Angelegenheit, mit dem Kolben über den Kopp haut!« Der Lange mußte unwillkürlich auflachen. »Wie Du das darstellst!« »Von dem einzig richtigen Standpunkt aus! Wer ist wohl mehr zu sachlicher Kritik berufen als der mißvergnügte Leutnant? Wenn die hohen Vorgesetzten einen Dienstbetrieb einführen, der den Offizier nötigt, eine Drahtschere zu tragen statt des Säbels? Das ist was für die Fußlatscher! Dem Kavalleristen gehört der Tag und das freie Blachfeld. Abends aber soll er in Ruhe seinen Schoppen trinken dürfen, auf den Dienst schimpfen und alles besser können. Na prost, Hermann!« Und der jüngere Gorski griff nach seinem Bierglase. »Prost, Karlchen.« Der ältere der beiden Brüder ließ die Zeitung sinken, in der er eifrig gelesen hatte, und nahm ebenfalls einen tiefen Schluck. »Prost, Kinder! Da ist doch in Berlin wieder mal was Dolles passiert, was für den ganzen Stand nicht gerade dekorativ wirkt ... ein Leutnant hat sich dotgeschossen!« »Ach ne! Wieso denn?« »Das steht nich drin. Nur eine ganz kurze Notiz.« Er zeigte sie den anderen: »In unserer Nachbarkolonie Grunewald erregte gestern abend ein Selbstmord beträchtliches Aufsehen. Vor dem Tor der Villa des bekannten Sportmannes R. erschoß sich ein elegant gekleideter junger Mann. Augenzeugen hatten beobachtet, wie er in gebrochener Haltung von einem Diener über den Vorplatz zum Ausgange geführt wurde. Gleich danach erhob er die todbringende Waffe. Aus Papieren, die man bei ihm fand, wurde seine Identität mit dem Oberleutnant v. W. von den Landsberger Husaren festgestellt. Seine Leiche wurde nach dem Schauhause gebracht.« »Scheußlich,« sagte der Lange in Zivil und griff sich in den Halskragen. »Nicht wahr?« versetzte der ältere Gorski. »Ach, Karl, sieh doch mal in der Rangliste nach bei den Landsberger Husaren.« Der Jüngere holte das Buch aus dem Schrank und blätterte nach. »Da stehen drei Oberleutnants mit »W« drin: von Witten, von Wilding, von Wodersen.« »Der letzte ist der berühmte Rennreiter. Und wenn man dazu hält: 'Villa des bekannten Sportmanns R ...'« »Wird's schon stimmen. Die Leutchen engagieren sich leider zu oft über ihre Verhältnisse. Und dann die verfluchten Karten! Na, wie ist es, wollen wir uns nicht auch gegenseitig das Geld abnehmen? In einem soliden Halbenpfennigskat? So solid, daß jeder der Teilnehmenden zum Schluß eine Kleinigkeit gewinnt?« Der ältere Gorski legte unwillig die in einen Rahmen gespannte Zeitung auf den Tisch. »Mensch, gewöhn' es Dir bloß ab, an alles einen Witz 'ranzuhängen! Das da hier geht einem doch nah! Da werden die Zeitungen einer gewissen Sorte wieder drauf rumtrampeln und kränkende Schlußfolgerungen für den ganzen Stand ziehen! Scheußlich ist das ...« »Sehr richtig, Herr Majoratserbe,« sagte der Jüngere mit ernsthaftem Gesicht, während er zugleich dabei in komischer Weise die großen Ohren bewegte. »Sie werden trampeln! Aber bin ich daran schuld? Soll ich meines Bruders Hüter sein?« Und zu dem Langen gewandt, fuhr er fort: »Uebrigens was ist das mit Dir, Herr von und zu Brinckenwurff? Heute ist doch das Jöhr fällig, die Annemarie mit ihrem Vater? Da bist Du nicht zum Empfang an die Eisenbahn gefahren?« Der Lange errötete heftig. »Erstens wußte ich's nicht genau, und zweitens, ich mußte in die Stadt. Den Ingenieur sprechen, der meine Torflager verwerten will.« »Mensch, sei ehrlich, wenn es Dir auch schwer fällt! Ihr habt Euch brieflich verknaxt! Oder hat sie vielleicht das Geheimnis der jungen Mamsell spitz gekriegt? Die auf Befehl Deiner Frau Mama plötzlich ihr Köfferchen packen mußte? Angeblich wegen eines ungehörigen Techtelmechtels mit Eurem zweiten Inspektor?« »Das ist ein törichtes Gerede ... absolut nichts dran! Der Inspektor übernimmt zum Herbst da irgendwo weit hinten im Litauischen eine kleine Pachtung. Dann heiratet er die Mamsell.« Karl von Gorski steckte sich lächelnd eine Zigarette an. »Weit hinten im Litauischen? Mein Kompliment an Deine verehrte Frau Mama -- sie ist eine sehr kluge Dame! Und wenn Du mir nun noch erklären wolltest, weshalb Du bei meiner harmlosen Frage vorhin rot geworden bist wie ein beim Mogeln erwischter Sextaner?« »Das hat bloß so ausgesehen! Aber ich möchte bemerken: Was geht's Dich an, wie ich mit Annemarie stehe? Bist Du vielleicht ihr Vormund?« »Nee, aber ihr heißgeliebter Cousin -- wenn wir uns auch manchmal kabbeln. Und da sage ich Dir, mein Jungchen, wer so ein sauberes Mädel kriegen will, hat gewisse Verpflichtungen! In bezug auf seinen Lebenswandel. Wenn er schon nicht die gleiche Sauberkeit prästieren kann, soll er wenigstens vorsichtiger sein. Sonst fängt die kleine Annemieze an, über Dich auch im allgemeinen nachzudenken, und eines schönen Tags geht die ganze Sache aus dem Leim!« Der lange Herr von Brinckenwurff fuhr auf: »Also, Karlchen, ich muß doch sehr bitten!« »Na, was denn? Was ich Dir sagen wollte, hast Du weg -- damit ist der Fall für mich erledigt! Im übrigen aber könnten wir schon längst Skat spielen. Ausgang hat mir der Stabsarzt mit meiner verknaxten Hand gestattet, aber um zehn Uhr muß ich in der Klappe liegen. Und die Zeit geht hin wie Geld und Wind, mein schönes Kind.« Hans von Gorski, der Aeltere, reckte die Arme. »Und ich muß meinen Gefechtsesel besteigen, um elf Uhr zum erstenmal die Brückenposten am Bahndamm revidieren. Es ist kein Vergnügen. Neulich hätt' einer von den Kerls beinahe auf mich geschossen. Ein Masurenjüngling von der Infanterie, der die deutsche Parole natürlich vergessen und in der Dunkelheit meine Uniform nicht erkannt hatte. Er hatte den Sicherungsflügel umgedreht und die Knarre schon an der Backe. Erst als ich ihn gröblich auf polnisch anschrie, beruhigte er sich. Die Kerls fangen auch schon an nervös zu werden.« »Kein Wunder! Wir schlafen doch wenigstens ab und zu in der Nacht, aber diese armen Fußfantristen müssen von dem ewigen Nachtpostenstehen allmählich blödsinnig werden. Und eine Wut sammelt sich in ihnen an. Da erzählte doch neulich der Kollege Reuter von der Infanterie beim Frühschoppen, er hätte zugehört, wie sich ein paar seiner Kerls auf dem Schießstand unterhielten. Der eine sagte: 'Der erste Ruß', wo ich gefangen nehm', dem stäch ich das Seitengewehr in die Kaldaunen!' Und der andere meinte: 'Mänsch, das is nich genuch! Erst würd' ich das Beest eine ganze Weile lang piesacken und verdreschen, eh' ich ihm im Jenseits beförder': Da, das is fier die sächs Wochen, wo ich wegen Dir jede zweite Nacht hab' auf Posten stehen müssen!' Also der Leutnant Reuter sagte, er wäre jedesmal froh, wenn eine Felddienstübung an der Grenze ohne Zwischenfall vorüber wäre. Wenn drüben die Russen reiten, kriegen unsere Kerls immer dunkle Augen vor Zorn. Es braucht bloß eine Flinte loszugehen, und der Salat ist fertig!« Hans von Gorski atmete tief aus. »Gott gäb' es! Die Schamröte steigt einem ja ins Gesicht, wie provokant sich die Burschen da drüben benehmen. Probemobilmachung nennen sie's, wenn sie sich fertig machen, um jeden Augenblick losbrechen zu können. Wir aber getrauen uns nicht mal, ein paar Regimenter mehr unter irgend einem Vorwand an die Grenze zu legen. Damit könnten wir ja irgendwo anstoßen! Pfui Deuwel noch mal!« »Ja,« sagte Herr von Brinckenwurff. »Die Herren in Berlin haben gut reden! _Ihre_ Saaten werden nicht zerstampft, und _ihre_ Scheunen brennen nicht, wenn unsere Handvoll Soldaten hier an der Grenze im ersten Ansturm über den Haufen gerannt wird. Und den Kerl im Generalstab, der das erfunden hat, daß Ostpreußen im Kriegsfall bis zum Seendefilee preisgegeben werden soll, den möcht' ich mal unter vier Augen sprechen!« Hans von Gorski protestierte entrüstet. »Bet'st Du auch das törichte Gerede nach? Kein Mensch hat die Absicht, auch nur einen Zollbreit aufzugeben, und am zweiten Mobilmachungstag haben wir hier so viel Flinten an der Grenze, daß an ein Ueberschwemmen mit Reitergeschwadern nicht mehr zu denken ist!« Der jüngere Bruder stieß einen komischen Seufzer aus. »Na, Kinder, dann wären wir ja wieder mal bei dem alleinseligmachenden Gesprächsstoff! Ich bin auch sehr für den Krieg. Ihr beide bleibt auf dem Felde der Ehre, ich kehre als lorbeergeschmückter Sieger nach Hause zurück. Erb' das Majorat und heirate die Annemarie.« »Fatzke,« sagte der Aeltere lachend. »Aber wollen wirklich noch 'ne Weile Skat spielen, was wir hier reden, ist für die Katz. Wir ändern doch nichts an der Sache!« Karl von Gorski griff nach der von der Lampe herabhängenden Klingelschnur, die Ordonnanz erschien in der Tür. »Ein noch leidlich erhaltenes Spiel Karten, einen Skatblock und einen frisch gespitzten Bleistift!« »Sehr wohl, Herr Leutnant. Aber es ist ein fremder Herr in Zivil draußen, der eben ablegt. Den Namen hab' ich nich verstanden ... er klang so französ'sch.« »Etwa Baron Foucar von Kerdesac?« »So ähnlich, Herr Leutnant!« »Ei weh,« sagte Hans, »unser neuer Schwadronschef. Ich lasse natürlich bitten.« »Einen Augenblick noch,« rief Karl von Gorski, »beeilen Sie sich nicht so sehr mit dem Reinführen!« Er sprang an den Bücherschrank, kehrte mit einer Generalstabskarte zurück und breitete sie auf dem Tische aus. »Du willst mal Feldherr werden, Hans, und ermangelst der bei Ueberraschungen so notwendigen Geistesgegenwart? Welcher Moment wäre wohl geeigneter als der erste, um sich bei einem neuen Vorgesetzten ins rechte Licht zu setzen?« So sprach er mit übertriebenem Pathos, wartete ab, bis der Rittmeister von Foucar in der offenen Tür erschien und deutete dann mit dem Zeigefinger auf irgend eine Stelle der Karte: »Also das, mein lieber Brinckenwurff, sind die Mondezer Berge! Ein Infanterieregiment, das sich auf ihnen einbuddelt, ist einfach unangreifbar. Und wenn wir dann, mit zwei Schwadronen bloß, den bösen Feind in der Flanke fassen -- -- --« Hans von Gorski empfing den Eintretenden und besorgte die Vorstellung. Herr von Foucar schüttelte den dreien die Hand und deutete lächelnd auf die ausgebreitete Karte. »So fleißig, meine Herren?« Karl von Gorski machte ein möglichst treuherziges Gesicht. »Gott, Herr Rittmeister, was soll man anfangen, wenn man notgedrungen dem Dienst fernbleiben muß? Man strebt und bildet sich.« »Sie haben eine Verletzung am Arm? Doch hoffentlich nichts Ernstliches?« »Nur eine leichte Verstauchung des Handgelenks. Als ich vor einigen Nächten ein Drahthindernis überklettern mußte, sauste ich kopfüber in einen Graben. Spätestens übermorgen hoffe ich schon wieder Dienst tun zu können.« »Charmant! Im Hotel schon hatte ich gehört, daß ich nur wenige Herren im Kasino treffen würde, weil das Regiment auf Nachtfelddienstübung wäre. Ich freue mich, daß es gerade zwei Herren von meiner zukünftigen Schwadron sind.« »Ganz auf unserer Seite natürlich, Herr Rittmeister.« Gaston fuhr lächelnd fort: »Und daß Sie so strebsam sind! Ich entsinne mich aus meiner jüngsten Leutnantszeit: Wenn wir in Karlsburg auf der Hauptwache den Würfelbecher schwangen, hatten wir auch stets eine Generalstabskarte unter dem Tableau der lustigen Sieben. Wenn der hohe Vorgesetzte kam, verschwand das Tableau, und wir übten mit Eifer Kriegsspiel.« Der jüngere Gorski blinzelte seinen neuen Schwadronschef dreist und gottesfürchtig an. »Merkwürdig, Herr Rittmeister, wie gewisse Unsitten im Leutnantsstande durch das ganze Vaterland verbreitet sind. Ich fürchte aber, sie werden sich nicht ausrotten lassen. Solange es nämlich Vorgesetzte gibt, die den Schwindel noch nicht kennen.« Gaston mußte unwillkürlich auflachen. Der kleine Frechdachs da mit den großen Ohren gefiel ihm. Das war einer von den preußischen Leutnants, die sich eine Zigarette ansteckten und ihre Kerls mit einem Witz anfeuerten, wenn es galt, gegen eine feindliche Batterie anzureiten. »Na dann«, sagte er, »wollen wir diesen kleinen Reinfall mit einer Flasche Sekt begrüßen! Darf ich mir gestatten, meine Herren?« »Gehorsamst abgelehnt, Herr Rittmeister! Heute sind Sie _unser_ Gast. Morgen aber, nach offizieller Uebernahme des Kommandos, haben wir nichts dagegen, wenn Herr Rittmeister sich öfter mal in dem eben erwähnten Sinne äußern wollten.« »Na, meinetwegen.« Die Ordonnanz schenkte ein, Gaston hob sein Glas. »Also prosit, meine Herren! Auf gute Kameradschaft!« Er war von seltsam guter Laune. In der neuen Umgebung hatte er seine Sorgen und Kümmernisse vergessen. Eine nervöse Spannung lebte in ihm, als könnte jeder Augenblick den heißersehnten Umschwung bringen. Hier an der Grenze roch es förmlich nach Krieg. Hinter dem Hotel, in dem er abgestiegen war, dehnte sich freies Feld. Da kampierte in schmalen, mit Leinenplanen überspannten Korbwagen eine seltsame Gesellschaft, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte. Die Männer in langen, bis auf die Schaftstiefel reichenden Kaftanen, Ringellöckchen zu beiden Seiten der scharfgeschnittenen Gesichter. Die Frauen in grellfarbigen Gewändern, falsche Scheitel auf dem Kopf. Auf seine Frage hatte ihm der gesprächige Oberkellner die Auskunft gegeben: »Russische Juden, Herr Rittmeister. Und wie die in Scharen gekommen sind, hab' ich auch angefangen, an den Krieg zu glauben. Die Ratzen verlassen das Schiff. Sie haben nämlich eine scharfe Witterung, irgendwas is da drüben los. Da reißen sie aus, stehlen sich heimlich über die Grenz' und versammeln sich hier zum Auswandern nach Amerika. Nämlich, wenn in Rußland was passiert, werden hinterher immer ein paar tausend arme Juden totgeschlagen. Attentat auf einen Minister: Pogrom! Mobilmachung: Pogrom! Sie können nichts dafür, aber es wird Pogrom gemacht!« »Was ist das, 'Pogrom'?« hatte er gefragt. »Na, so 'ne Art von russischem Volksfest. Seit einigen Jahren haben sie's schon eingeführt. Man plündert die Läden, schändet die Mädchen und schießt die männlichen Juden tot. Hinterher kommt eine lahme Untersuchung. Keiner von den Zeugen hat 'was gesehen, und die paar Juden, die noch am Leben geblieben sind, denen wird nicht geglaubt. Schreckliche Sachen erzählen diese armen Menschen! Und jetzt wissen sie ganz genau, was los ist, denn sie haben ihre Verbindungen. Da hab' ich meine paar Kröten auch locker gemacht auf der Sparkass'. Wenn die Russen uns hier überfluten, wie es neulich in der Zeitung gestanden hat, rutsch ich ab -- dritter Klass' nach Königsberg!« Da hatte Gaston unwillkürlich auflachen müssen: »Sehr richtig, Herr Oberkellner, das bessere Teil der Tapferkeit ist Vorsicht!« Zugleich aber war ihm selbst leichter ums Herz geworden, in kurzer Frist hatte wohl alle Not ein Ende. Er sprengte mit seiner Schwadron vorwärts an den Feind, die Kugeln schwirrten und pfiffen. Eine davon traf, man schoß kopfüber aus dem Sattel. Vorbei war alles. Die Reue um das verpfuschte Leben und das neue Gefühl, das heute in ihm aufgestiegen war. Ein schmerzlich-süßes Gefühl. Wie herrlich vielleicht alles hätte werden können, wenn ... ja, wenn diese letzten Tage nicht gewesen wären! Die drei Herren im Kasino hatten ihm Bescheid getan, nach der ersten lustigen Begrüßung rann das Gespräch nur spärlich dahin. Gaston beantwortete die üblichen Fragen, wie ihm das Städtchen gefallen hätte, und ob er sich hier nicht wie in der Verbannung vorkommen würde. Wobei der jüngere Gorski die verblüffende Behauptung aufstellte, es wäre gar nicht so schlimm. Das kleine Nest Ordensburg besäße nämlich eine große Aehnlichkeit mit Nizza. Und als die anderen verwundert aufblickten, gab er lächelnd die Erklärung: »Na ja, sehr einfach. Wenn man sich in der Stadt langweilt, fährt man in die schöne Umgebung. Dort nach Monte Carlo, hier bei uns auf eins der Güter in der Nachbarschaft. Da ist es dann amüsanter.« Die Herren lachten, Gaston entsann sich infolge einer naheliegenden Ideenverbindung, daß er ein Fundstück bei sich trug, das er nicht persönlich abzugeben gedachte. Für ihn und die Verliererin war es besser, wenn sie sich nach der ersten Begegnung nicht wiedersahen. Er griff in die Tasche. »Kommt einer von Ihnen, meine Herren, vielleicht in den nächsten Tagen nach dem Gute Kalinzinnen?« »Ich,« sagte der lange Herr von Brinckenwurff. »Ich reite schon morgen früh hinüber. Heute abend konnte ich zu meinem Bedauern nicht an der Bahn sein.« Gaston blickte auf. Das also war der »Hermann«, von dem am Nachmittag zwischen Vater und Tochter die Rede gewesen war. Wie eine Warnung hatte der alte Herr den Namen ausgesprochen. Eine Warnung für sie beide, die gleich in der ersten Stunde vertraut geworden waren ... Der alte Herr hatte ganz recht, das mußte ein Ende haben, noch ehe es eigentlich einen Anfang genommen hatte. Er atmete auf und legte die goldene Zigarettendose auf den Tisch. »Das da hat Fräulein von Gorski im Coupé liegen lassen. Wenn Sie also die Liebenswürdigkeit haben wollten, es ihr morgen wieder zuzustellen, Herr ... pardon, aber vorhin bei der Vorstellung habe ich Ihren Namen ...« »Brinckenwurff,« fiel der Lange ein, klappte die Hacken zusammen, »Leutnant der Reserve im Regiment.« Und Hans von Gorski fügte erklärend hinzu: »_Hermann_ von Brinckenwurff! Zum Unterschied von seinem jüngeren, aber noch längeren Bruder Adolf. Der ist bei uns im Regiment aktiv, bei der zweiten Schwadron.« Karl von Gorski aber machte große Augen und sah seinen neuen Vorgesetzten mißtrauisch an. Wie ein Füchslein, das eine Fährte witterte, über deren Bedeutung es sich nicht recht klar war. »Herr Rittmeister sind mit meinem Kalinzinner Onkel und seiner Tochter zusammen von Königsberg gekommen?« »Ja! Wir haben uns unterwegs recht nett unterhalten.« »Und meine Cousine Annemarie hat die Tasche da, die sie sonst wie ein Kleinod hütet, aus Versehen liegen lassen?« »Es scheint wohl so. Nach ihrem Aussteigen hab' ich sie gefunden. Und da ich annehme, der Verlust wird ihr recht unangenehm sein, möchte ich nicht, daß sie sich länger als nötig ...« Er brach ab, er hatte den geheimen Sinn der Frage verstanden. Vom Herzen stieg es ihm heiß in die Wangen empor. Absichtlich hatte das liebe Mädel die kostbare Tasche liegen lassen, um ihm den triftigen Vorwand zu baldigem Besuche zu geben. Er schlug die Gelegenheit aus, und sie mußte sich natürlich gekränkt fühlen. Aber es war recht so ... Ein Pflänzlein, das eben erst im Aufkeimen war, riß man leichter aus, als wenn es schon seine Wurzeln tief ins Erdreich gesenkt hatte. Karl von Gorski sah den Langen mit einem ironischen Lächeln an: »Mensch, Hermann, hast Du einen Dusel! Was wird die Annemieze sich freuen, daß Du gerade ihr das kostbare Doschen zurückbringst! Wo sie wahrscheinlich schon gemeint hat, es wär' für immer perdüh gewesen.« Die Flasche war getrunken, die Herren rüsteten sich zum Aufbruch. Hermann von Brinckenwurff bestieg sein Fuhrwerk, der ältere Gorski ließ den Gaul vorführen zum Inspizierungsritt den Bahndamm entlang, wo an jeder kleinen Brücke die wachsamen Posten standen. Der jüngere geleitete den neuen Rittmeister nach seinem Hotel. Er hatte zu seiner Wohnung in der Nähe des Bahnhofs den gleichen Weg. Und während sie im Halbdunkel dahingingen unter den dichtbelaubten Linden der sogenannten Bahnhofspromenade, die nur in Abständen von hundert Schritten von einer kümmerlichen Gaslaterne erhellt wurde, fühlte er das Bedürfnis, seinen neuen Vorgesetzten angenehm zu unterhalten. Des guten Eindrucks halber. »Haben Herr Rittmeister die Berliner Morgenblätter gelesen?« »Gewiß doch. Schon heute mittag in Königsberg.« »Da faßt man sich doch an den Kopf: hätte der Mensch nicht so viel Contenance haben müssen, sich anders aus der Welt zu schaffen, als mit so einem Klimbim und Trara?« »Entschuldigen Sie, ich weiß nicht, wovon Sie sprechen!« »Na, von dem Landsberger Husaren, der sich da vor einer Villa im Grunewald erschossen hat. In der Zeitung standen nur die Anfangsbuchstaben der Namen.« Gaston blieb stehen. Eine eiskalte Hand griff ihm ums Herz. »von Wodersen?« sagte er heiser. Karl von Gorski blickte auf. »Herr Rittmeister kennen den armen Kerl?« »Er war mit mir noch vorgestern ...« und er verbesserte sich schnell: »Das heißt, daß es gerade Herr von Wodersen sein soll, ist nur eine Vermutung natürlich. Weil es der einzige Landsberger Husar ist, den ich kenne. Damit ist durchaus nicht gesagt ...« »Aber es wird schon stimmen. In der Zeitung stand, er wäre in total gebrochenem Zustande von einem Diener aus der Villa des bekannten Sportmanns R. geführt worden. Das sieht doch aus, als hätte sich da vorher irgend eine Tragödie abgespielt.« Gaston hatte seine Haltung wiedergewonnen. Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht! Vielleicht war es aber auch eine ganz prosaische Veranlassung. Die Herren, die alle Woche ein paarmal in den Sattel steigen, lassen sich zuweilen auf Geschäfte ein, die ihnen über den Kopf wachsen. Wenn es keine Lösung im guten gibt, greifen sie zu dem letzten, verzweifelten Mittel.« »Hab' ich vorhin im Kasino auch gesagt. Na, gute Nacht, Herr Rittmeister, ich muß um die Erlaubnis bitten, mich jetzt empfehlen zu dürfen. Hier, rechts ab geht's in mein kümmerliches Junggesellenheim.« »Gute Nacht, Herr von Gorski, und auf Wiedersehen morgen.« Gaston ging allein weiter. Nur ein paar hundert Schritte trennten ihn von seinem Hotel, aber die Füße versagten ihm den Dienst, er mußte stehen bleiben und sich auf das Geländer eines Vorgartens stützen. Die Fenster im untersten Stockwerk des Hotels waren hell erleuchtet, Musik klang herüber. Richtig, er hatte ja vorhin die grellen Plakate gelesen. Eine Damenkapelle konzertierte im großen Saal auf der Durchreise nach Rußland ... Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, nur ein dumpfes Gefühl war in seiner Brust, sein Schicksal ging weiter. Auch ohne daß er selbst dabei war ... seine Schuld nur war dort zurückgeblieben, trieb einen Unglückseligen in den Tod. Wie er's auch drehen und wenden mochte, er war daran schuld. Weil er im entscheidenden Augenblicke nicht den Mut zur Wahrheit gefunden hatte, als er mit der Frau allein gewesen war. Und aus der ersten Lüge sprang die zweite. Der arme Teufel da mit dem Loch in der Schläfe konnte jetzt noch leben, wenn er ihm einen anderen Bescheid hätte geben können. »Lieber Wodersen, ich denke ja nicht daran! Heute reise ich noch ab, die Frau, die sich in einem gewissen Ueberschwang an mich geklammert hat, wird sich zu trösten wissen. Sie haben sowieso ja nicht die Bedenken, mit denen ich mich trage, also bitte, der Weg ist frei. Vielleicht zieht es sich zwischen Euch beiden zurecht.« Statt dessen hatte er dem Aermsten die letzte Hoffnung genommen, und als sich dem das bißchen Rest von Vernunft verwirrte, die Hand gegen ihn gehoben. Und warum nur in aller Welt, warum? Um ein Nichts, um die Laune eines überspannten Frauenzimmers, das sich just an ihn gehängt hatte. Grauenhaft war das. Und ein Gefühl des Abscheus ballte sich in ihm, erfüllte ihn ganz und gar. In dem Vestibül des Hotels stieß er auf den dicken Herrn von Lindemann, der sich gerade seinen weißen Staubmantel anzog. »Eben wollte ich Sie im Kasino aufsuchen,« sagte der, »weil ich von dem Oberkellner gehört hatte, Sie wären dorthin gegangen. Hier nämlich der Kunstgenuß ist nur mäßig. Vom musikalischen Standpunkt aus und vom patriotischen. Sie spielen wie Dorfmusikanten, die kleinen Frauenzimmer, und morgen fahren sie über die Grenze. Zu den Russen nach Grajewo, den Herren Offizieren das Lagerleben zu versüßen. Da muß man es doch mit dem Zorn kriegen, daß deutsche Mädels sich so weit erniedrigen.« Er unterbrach sich und sah den andern besorgt an: »Aber was ist das mit Ihnen, Herr von Foucar? Ist Ihnen nicht gut? Sie sehen ja aus im Gesicht wie eine wandelnde Leiche.« Gaston nahm sich mühsam zusammen. »Mir ist in der Tat nicht ganz extra, und ich möchte am liebsten zu Bett gehen.« Herr von Lindemann faßte ihn unter den Arm. »Unsinn, Sie haben sich auf der Reise eine kleine Erkältung geholt -- das muß man 'runterspülen! Mit einem alten guten Burgunder. Und den gibt's hier in der Nähe, also los!« Da ging er mit, war eigentlich froh, daß er für ein paar Stunden Anschluß fand. Und eine Ablenkung von seinen zehrenden Gedanken. Sie gingen die dunkle Bahnhofspromenade entlang, dem Marktplatze zu. Der dicke Herr von Lindemann erzählte, er hätte das Konzertlokal noch aus einem anderen Grunde verlassen. Weil dort der Gutsbesitzer Heidereuter gesessen hätte mit dem polnischen Käufer von Sucholasken. Um den Verrat an der vaterländischen Sache mit einer Flasche Sekt zu begießen. Ganz schamlos in aller Oeffentlichkeit. Da wäre ihm die Galle übergelaufen. Gaston hörte zerstreut zu, seine Gedanken waren ganz wo anders ... bei einem, der mit durchschossener Schläfe irgendwo auf einem Schragen lag, in einem Schauhause. Sie standen vor einem niedrigen Hause am Marktplatze. Die Fensterläden waren geschlossen. Herr von Lindemann hieb kräftig mit der Krücke seines derben Eichenstockes dagegen: »Holla, Zapietznick, aufgemacht.« Schlürfende Schritte näherten sich der Tür, ein Schlüssel kreischte in eingerostetem Schlosse. Ein Kerl mit lang herabhängendem Schnurrbart streckte das breitknochige Gesicht durch den Spalt: »Ach Sie sind es, Cherr Baron? Dann, biete einzutretten!« Herr von Lindemann ging voran, führte seinen Begleiter in ein verräuchertes Kneipzimmer, das mit einem gewissen ordinären Luxus ausgestattet war. Imitierte Holztäfelung an den Wänden, »Makartbuketts« in den Ecken und Krüge aller Art und Größe auf dem langen Paneel. Darüber Lithographien von Kosziusko und dem Krakauer Hügel, eine allegorische Darstellung der Warschauer Legion, die einstmals geschworen hatte, nur mit Bajonetten anzugreifen. Darüber der weiße Adler Polens. Sie nahmen in einer Ecke Platz, am entgegengesetzten Ende des Lokals saßen mehrere Polnisch sprechende junge Leute und tranken Sekt mit den beiden Kellnerinnen. Eine von ihnen stand auf, kam lässig näher. »=Co pan sobie zyczy?=« Herr von Lindemann lachte. »Sprich Deutsch, mein geliebter Goldfasan, Du kannst es ebenso gut wie ich. Eine Flasche Fünfundneunziger Chambertin möchte ich, von der Sorte, die ich immer trinke.« »=Tak, tak=«, sagte das junge Mädchen und gab die Bestellung dem Wirte weiter. Gaston von Foucar sah sich befremdet um, der Dicke aber schmunzelte. »Da kriegen Sie einen Begriff, mein Verehrtester, was wir uns in unserer unsäglichen Gutmütigkeit gefallen lassen. Das hier ist nämlich das Hauptquartier der Polen diesseits und jenseits der Grenze. Wie oft, glauben Sie, ist hier wohl das Deutsche Reich zertrümmert und das großpolnische Vaterland errichtet worden? Für jedes Mal einen Taler, und ich wäre ein reicher Mann! Aber ich gehe sehr gerne hierher, denn es hat den Anschein, als wenn das Geschäft des Verschwörens nur bei besonders guten Weinen gedeiht. Blaubeersaft und saurer Mosel töten die Begeisterung. Ein feuriger Burgunder aber ... ah, Bruderherz! ...« Herr von Lindemann hob das blinkende Glas gegen das Licht: »Na prost, Rittmeister, und jetzt reden Sie endlich auch einen Ton! Wie hat Ihnen das reizende Fräulein von Gorski gefallen? Ist das nicht ein ganz herrlicher Mensch?« Gaston fühlte einen schmerzhaften Stich im Herzen. Die Lobpreisung hier erinnerte ihn an einen Tag, da ein anderer ähnlich geschwärmt hatte. Einer, der jetzt mit durchschossener Schläfe irgendwo hinter einer Glasscheibe liegen mochte, bis seine Angehörigen ihn abholten. »Fräulein von Gorski?« wiederholte er. »Sehr nett hat sie mir gefallen! Soweit ich mir aus den paar Worten, die wir miteinander gesprochen haben, ein Urteil erlauben darf. Ein bißchen zu einfach vielleicht für verwöhnte Ansprüche, aber sie macht, was man so einen sympathischen Eindruck nennt.« So sprach er mit wohlerwogener Zurückhaltung, der Dicke aber sah ihn ganz erstaunt an. »Mehr nich? Mannchen, dann haben Sie sich das Mädel nicht richtig angesehen! Also ich sage Ihnen, das ist ... also kein Wort ist gut genug, um auszudrücken, was für ein herrliches Mädel das ist! Innerlich und äußerlich! Ich kann das beurteilen, denn sie ist unter meinen Augen aufgewachsen, ich bin so eine Art von Onkel in Kalinzinnen. Also ich sage Ihnen, Herr, der Mann ist selig zu preisen, in dessen Arm sie einmal, gewährend, das liebe Gesichtchen nach hinten neigt.« Gaston lachte heiser auf. »Sie sprechen ja wie ein Verliebter, Herr von Lindemann!« »Bin ich auch! Rettungslos und hoffnungslos. Das letztere wegen übergroßer Dicke und mangelnder Körperlänge. Sonst nämlich -- ah, Bruderchen -- ja sonst würde ich doch nicht ruhig zusehen, wie dieses herrliche Geschöpfe an einen fällt, der die Himmelsgabe anscheinend nicht nach ihrem vollen Werte einschätzt.« »Fräulein von Gorski scheint demnach verlobt zu sein?« warf Gaston ein. Er mußte sich zusammennehmen, um seiner Stimme einen möglichst harmlosen Klang zu verleihen. »Verlobt? Na, noch nicht ganz, aber immerhin so gut wie! An Kalinzinnen grenzt Orlowen, im Besitz der Familie von Brinckenwurff ... schon seit ein paar hundert Jahren. Mit das Aelteste, was wir hier haben, rein gezüchteter ostpreußischer Schlag. Aber mehr nach der Körperlänge hin, oben weniger. Dem alten Herrn von Gorski war ein männlicher Erbe versagt, also was lag näher, als die beiden Kinder diesseits und jenseits der Gutsgrenze zu einer Vereinigung zu erziehen? Kalinzinnen und Orlowen zusammen, das war ein Wort, das landwirtschaftlich empfindende Herzen in heller Begeisterung aufflammen lassen mußte. Zwölftausend Morgen, zum Teil prima Weizenboden. Ich gönn' sie dem Hermann Brinckenwurff. Er ist in seiner Art ja auch ein ganz braver Kerl, nur ein bißchen zu pomadig. Und er soll sich beeilen, die kleine Annemarie Gorski endgültig festzulegen. Ehe sie klare Augen kriegt und sieht, daß ihr Zukünftiger nur so eine Durchschnittsangelegenheit ist. Oder ehe ihr ein anderer besser gefällt. In dem Mädel steckt nämlich ein kleiner romantischer Zug, von ihrer Mutter her ... Na prost, Herr von Foucar! Der Burgunder scheint Ihnen gut zu tun. Sie haben ordentlich wieder Farbe gekriegt.« Gaston leerte das Glas, aber es war nicht so sehr das feurige Getränk, das sein Blut rascher durch die Adern trieb. Er bestellte eine neue Flasche, denn ihm bangte davor, der Dicke da drüben könnte vorzeitig aufbrechen, oder mit seinen Mitteilungen aufhören. Aber die Befürchtung war grundlos. Herr von Lindemann beugte sich vertraulich über den Tisch und dämpfte seine laute Stimme. »Nämlich, da möchte ich Ihnen einen Tip geben, wenn Sie nächstens in Kalinzinnen Besuch machen.« »Ich weiß heute noch nicht, ob ich überhaupt dazu kommen werde, Verkehr in der Nachbarschaft zu suchen.« »Aber, Mannchen, Sie _müssen_ einfach! Sie können sich doch nicht allein im ganzen Regiment ausschließen. Und passen Sie mal auf, wie gemütlich wir's hier im Herbst haben, wenn die Jagden anfangen. Und nachher im Winter -- da müssen Sie die Tanzstiebel jede Woche dreimal anziehen! Ja also, wenn Sie nach Kalinzinnen kommen, erkundigen Sie sich nicht nach Fräulein von Gorskis Mutter!« »Wieso nicht? Ist sie gestorben?« »Nee, aber geschieden. Die Sache ist schon fast zwanzig Jahre her, im Gedächtnis der Zeitgenossen halb vergessen. Nur einer denkt noch daran, der arme Kerl von Gorski. Daher stammt sein weißer Kopf. Sonst ... er ist nicht viel älter als ich, so um die Mitte der Fünfzig. Er hat die Frau wahnsinnig geliebt. Sie aber ... Da verkehrte in der hiesigen Gesellschaft ein russischer Dragoneroffizier. Ein Baron Totberg. Wegen übler Streiche von der Petersburger Garde an die Grenze versetzt. Im übrigen aber einer jener Kerle, auf die die Frauenzimmer fliegen. Ein Blender. Aber danach geht's ja nicht in solchen Fällen. Elegant, hübsch, ein glänzender Erzähler, dazu von einem gewissen romantischen Nimbus umwittert. Man munkelte von einer sehr hochstehenden jungen Dame in Petersburg, sie hätte seinetwegen den Schleier genommen. In dem kleinen Drecknest Grajewo drüben langweilte er sich natürlich zum Sterben, da suchte er hier Anschluß. Das war damals nichts Ungewöhnliches, da bildete die Grenze kein Hindernis für den gesellschaftlichen Verkehr. Na also, um die Sache kurz zu machen, eines Tages hatte der damalige Premierlieutenant von Gorski den unumstößlichen Beweis, daß der Baron Totberg -- na sagen wir mal -- nicht bloß wegen der guten Weine in seinem Hause verkehrte. Am nächsten Morgen schossen sie sich. Mein Nachbar Uhlenburg, der als Unparteiischer fungierte, erzählte nachher, es wäre die tollste Sache gewesen, die er je mitgemacht hätte. Dreimal baute sich der Baron seinem Gegner als Scheibe auf, ließ ihm den ersten Schuß. Und dann schickte er ihm jedesmal die Kugel haarscharf am Kopf vorbei. Herr von Gorski aber stand mit seiner massiven Gestalt da wie ein wütender Stier, vor Zorn flatterte ihm die sonst sichere Hand. Beim vierten Mal traf er. Blattschuß ... Der Baron Totberg ging koppheister, Herr von Gorski aber schmiß die abgeschossene Pistole ins Gras und sich selbst dazu. Schlug die Hände vors Gesicht und weinte wie ein kleines Kind. Die dabei herumstanden, sagten nachher, es wäre schrecklich gewesen. Aber sie fühlten mit dem am Leben Gebliebenen mehr Mitleid als mit dem Toten. Der hatte alles aus dem Kopf, aber der andere hatte einen Geier, der ihm täglich an der Leber fraß. Er hatte seine Frau übermenschlich geliebt. Man konnte es begreifen, denn sie war über die Maßen schön. So eine schwüle Schönheit, wissen Sie. Man spürte in ihrer Gegenwart unwillkürlich ein verrücktes Verlangen ... ich war auch verliebt wie ein Stint, als der Herr von Gorski sie hier anbrachte. Er hatte sie in Berlin kennen gelernt, wie er als junger Offizier dorthin ein Kommando hatte. Ich glaube, auf einem Ball in der österreichischen Botschaft hat er sie kennen gelernt. Sie stammte nämlich da irgendwoher aus einem der österreichischen Kronländer, aus Ungarn oder Böhmen. Wie ein ausländischer bunter Vogel wirkte sie hier auf unsere, ein bißchen spießige Gesellschaft. Na, sie ist ja auch rasch genug wieder fortgeflogen, und der liebe kleine Kerl, die Annemarie, hat anscheinend nicht allzu viel von ihr übergeerbt.« Gaston hatte in atemloser Spannung zugehört. Ein verrückter Gedanke bohrte sich ihm ins Gehirn. »Wo ist nachher die geschiedene Frau von Gorski geblieben?« Herr von Lindemann nahm einen bedächtigen Schluck. »In ihre Heimat zurückgegangen. Mit reichlicher Unterstützung ihres gewesenen Mannes -- er soll mehr als anständig für sie gesorgt haben. Ob sie aber gestorben ist oder noch lebt, weiß er bloß allein. Ich kann's mir wenigstens vorstellen, daß er ihr Schicksal verfolgt hat. Er kann's ja noch heute nicht verwinden, überladet sich mit Arbeit. Wissen Sie, andere in so einem Falle kriegen es mit dem Besaufen. Er 'bearbeitet' sich ... vielleicht wirkt das auch wie ein Narkotikum. Jedenfalls -- und damit kehre ich zu dem Ausgangspunkt meiner länglichen Erzählung zurück -- Annemarie weiß es nicht anders, als daß ihre Mutter gestorben ist. Deshalb erlaubte ich mir vorhin den kleinen Ratschlag. Um Ihnen und dem alten Herrn eine peinliche Minute zu ersparen.« »Verbindlichsten Dank, Herr von Lindemann, und wenn ich fragen darf, wie alt ist Fräulein von Gorski?« Der Dicke lachte behaglich auf. »Na, das ist eigentlich eine recht ungalante Frage. Aber, da Sie ja nicht beabsichtigen, dem guten Hermann Brinckenwurff Konkurrenz zu machen ... also, sie sieht jünger aus, als sie ist. Im August wird sie einundzwanzig. Die Hellblonden, wenn sie gesund sind, sehen in dem Alter immer noch aus wie achtzehn. Jedenfalls hat sie sich vorbehalten, die Entscheidung über die Vereinigung von Kalinzinnen und Orlowen erst an dem Tage ihrer Mündigkeit zu treffen, und der präsumtive Bräutigam mußte sich fügen. Ich an seiner Stelle hätte es nicht getan, aber ihm scheint es nicht allzu schwer gefallen zu sein. Das heißt, auf seine Art liebt er das Fräulein von Gorski recht herzlich. Aber er sieht keine besondere Gnade darin, daß sie sich zu ihm neigt. Inzwischen aber lebt er ein bißchen unvorsichtig, stiebelt der jeweiligen Gutsmamsell nach. Sobald seine kluge alte Dame es merkt, schafft sie die Person fort mit angemessener Versorgung -- Geld spielt ja keine Rolle. Aber er soll sich in acht nehmen, daß Annemarie nicht dahinterkommt. Wie ich sie kenne, versteht sie in diesen Dingen keinen Spaß ... na prost, lieber Rittmeister!« »Prost, Herr von Lindemann.« Gaston tat reichlich Bescheid. Vorhin, als der Dicke da drüben Annemaries Alter nannte, hatte er sich mit einem Erleichterungsseufzer den Schweiß von der Stirn gewischt, den ein jäh aufgesprungener Gedanke ihm aus allen Poren getrieben hatte. Gott sei Dank, es stimmte nicht. Die andere in Berlin war um sechs, sieben Jahre älter. Sonst, wahrhaftig, es wäre zum Verrücktwerden gewesen. Und in dem Gefühl der Erleichterung lachte er auf. »Wenn Herrn von Brinckenwurffs Mutter so gescheit ist, weshalb engagiert sie da für ihr Gut nicht zur Abwechslung mal eine alte Mamsell?« Herr von Lindemann steckte sich eine neue Zigarre an. »Das können Sie als Nichteingeborner nicht beurteilen, Herr von Foucar. Das Institut unserer Mamsells ist von besonderer Art. Alte gibt's keine, sie heiraten meistenteils recht früh. Nach einem romantischen Liebesfrühling mit dem jungen Herrn von Stande steuern sie in einen bürgerlichen Sommer mit reichlicher Versorgung. Aber, um von diesen Frauenzimmergeschichten endlich auf Wichtigeres zu kommen: Was bringen Sie, mein lieber Rittmeister, aus Berlin nun mit in den Falten Ihrer Toga? Krieg oder Frieden?« Gaston hob sein Glas. »Wenn es nach mir ginge, Krieg. Ich begehe keinen Vertrauensbruch, wenn ich im vertrauten Kreise wiedererzähle, was mir mein Abteilungschef zum Abschied gesagt hat, wir sollten hier an der Grenze noch schärfer aufpassen als bisher. Aber das kann sich in kurzer Zeit wieder ändern. Heute sieht der politische Horizont schwarz aus vor drohenden Wolken, morgen lacht wieder die liebe Sonne.« Der dicke Herr von Lindemann nahm einen bedächtigen Schluck, in sein rundes Gesicht trat ein fast feierlicher Ernst. »Mein lieber Herr von Foucar -- soweit ich mir auf Grund persönlicher Beobachtungen und nach einigem Denken mit leidlich gesundem Menschenverstand einen Vers mache, liegt die Sache so: die diesjährige Ernte werden wir noch in Frieden hereinbringen. Die Wintersaat fürs nächste Jahr lohnt sich nicht mehr, da brennen hier die Häuser, und auf den Feldern reiten die Kosakenhorden. Dann sind sie fertig rechts und links. Im nächsten Frühjahr, hoffen sie, sind sie stärker als wir. Dann geht's los ohne Erbarmen. Die letzte große Abrechnung vielleicht, die auf europäischem Boden stattfindet. Für zwei von den Komparenten geht's dabei um die Wurst. Der dritte im Osten bleibt unberührt, wie es auch ausgeht. Nachlaufen in seine Steppen können wir ihm nicht ... er ist wie ein Tier niederer Ordnung, das vergnügt weiterlebt, wenn höher organisierte unter gleichen Bedingungen längst schon verendet wären. Und wir täuschen uns, wenn wir glauben, daß der Koloß mit den sogenannten tönernen Füßen sich nur langsam in Bewegung setzt. Ich habe ziemlich genaue Nachrichten, dicht hinter unserer Ostgrenze steht eine schlagfertige Armee. Der Wirt der sogenannten Waldschenke an den Schießständen im Beldahner Walde -- Sie werden ihn ja auch kennen lernen -- ist meine Quelle. Er sieht aus, als könnte er nicht bis drei zählen, aber das ist 'Falle', wie die Berliner sagen. In Wirklichkeit ist er einer unserer intelligentesten Spione und, weil er mit mir mal hier in Ordensburg auf der Quinta die gleiche Schulbank gedrückt hat, hält er mit seinen Wissenschaften vor mir nicht hinterm Berge, wenn ich manchmal bei ihm ein Glas Bier trinke. Vielleicht auch, weil er weiß, daß ich luftdicht bin natürlich ... Also er ist ein Sprachengenie, spricht sämtliche polnischen und russischen Dialekte mit allen Nuancen. Da reist er denn als Hausierer, Viehhändler oder Weinverkäufer, je nachdem wie es ihm paßt. Ich wollte ihm einmal nicht glauben, daß er sich da drüben frei bewegen könnte nach Belieben, ohne erkannt zu werden. Da entschuldigte er sich mit einer häuslichen Besorgung. Nach einer halben Stunde belästigte mich ein alter jüdischer Hausierer. Wollte mir durchaus eine Taschenbürste anhängen und Kragenknöpfe, bei denen der Schlips nicht in die Höhe rutscht. Ich wurde grob, und da lachte der Hausierer auf, es war mein alter Schulkamerad Burdeyko. Da glaubte ich ihm auch, was er von drüben erzählte ... Daß die Russen nicht erst mobil zu machen brauchen, wenn die Franzosen Fanfare blasen. Sie sind es schon, soweit es nötig ist, um einen großen Teil unserer Stoßkraft festzulegen.« Der dicke Herr von Lindemann legte die grobe Faust auf den Tisch, daß die Gläser klirrten. »Die letzten paar Haare könnte man sich ausreißen, daß wir die Gesellschaft im Westen nicht überrannten vor jenen vier oder fünf Jahren, wie sie noch nicht fertig war. Oder noch früher, als ihre vielgeliebten Bundesgenossen im Osten festlagen mit den kleinen gelben Halbaffen, die uns die Menschheit ablernen in unseren Hochschulen und Fabriken. Damals hätten wir zuschlagen sollen, ohne die verdammte zimperliche Humanität. Das haben wir versäumt, und jetzt zieht sich unaufhaltsam das von langer Hand her gesponnene Netz um unsere Glieder. So gehen wir in den unausbleiblichen Entscheidungskampf, ob die Schicksale der Welt im nächsten Jahrhundert deutsch gerichtet werden sollen oder französisch. Der Welt, soweit sie noch zu haben ist! Ueber dem Rest liegt der Dritte aus gemischtem Blut, lacht sich eins in die Zähne. Er kann nur dabei gewinnen, wenn die Konkurrenz auf dem Festlande sich gegenseitig zerfleischt. Aber vielleicht, wenn die Gelegenheit ihm günstig erscheint, fällt er uns auch in den Rücken. Trotz aller Freundschaftsversicherungen ...« Der Dicke stürzte sein halbvolles Glas hinunter: »Na, kommen Sie, Herr von Foucar! Die Jünglinge da in der anderen Ecke sehen schon frech herüber, und ich möchte in Ihrer Gegenwart keinen Krach anfangen. Mir persönlich wäre es egal, ich bin nicht Reserveoffizier. Ich habe schon einmal hier der deutschen Sache zum Siege verholfen in männermordendem Kampfe gegen fremdländische Ueberzahl. Es gab einige blutende Nasen, wohingegen es mir gelang, mein edles Haupt durch eine geschickte Wendung vor einer geschleuderten Sektflasche in Sicherheit zu bringen. Seither genieße ich in diesem Lokal mehr Furcht als Liebe ... Fräulein, zahlen!« Die Kellnerin, ein hübsches schlankes Mädel mit dunklen Augen, kam an den Tisch, klimperte in der an der Seite hängenden Geldtasche. »=Tak rano do domu, Panie?=« Herr von Lindemann bekam einen roten Kopf. Zu Gaston bemerkte er: »Das heißt nämlich, sie wundert sich, daß ich schon so früh aufbreche!« Und zu dem jungen Mädchen fuhr er fort: »Mein Töchterchen, es ist ja eine unbeträchtliche Kleinigkeit, aber heute bin ich nicht in der Stimmung, mich mit Dir in Deinem schlechten Polnisch zu unterhalten! Also sprich Deutsch, mein Kind, sonst erzähl' ich, daß Du keine Polenmaid bist, sondern die Tochter des deutschen Tischlermeisters Matinat hier aus der Seestraße.« Das junge Mädchen wurde rot, warf einen scheuen Blick hinter sich und sprach halblaut: »Also zwei Flaschen Burgunder macht sechzehn Mark.« Herr von Lindemann warf ein Goldstück auf den Tisch. »Da, mein schönes Kind ... Kommen Sie, Herr von Foucar, wir können nachher abrechnen.« Sie gingen in der lauen Sommernacht dahin. Die Luft war weich, nur das blanke Sternengefunkel an dem tiefdunklen Himmel kündete den nicht mehr weiten Herbst. Herr von Lindemann schwieg eine ganze Weile lang, dann fing er wieder an zu sprechen. »Also zum Frühjahr geht es los, daran gibt es kaum wohl einen Zweifel. Die Sturmzeichen mehren sich, man muß sie nur zu deuten wissen. Und es ist gut so, daß das Wetter endlich einmal losbricht, die schwüle Spannung vorher ist auf die Dauer unerträglich. Wir gehen hier sonst zugrunde. Unsere Sparkassen sind blank, jedes Geschäft stockt. Wer jetzt Geld braucht, muß umschmeißen, Bankerott ansagen. Da ballt sich jede Männerfaust in kaltem Zorn: wenn es nur endlich losgehen wollte! Damit ein- für allemal reiner Tisch gemacht wird zwischen uns und unsern Nachbarn. Und ich glaube, die täuschen sich, wenn sie auf ihre Ueberzahl vertrauen. Wir wissen, um was wir fechten. Na, und nun Schluß! Es hat wohlgetan, sich mal alles gründlich von der Seele zu sprechen, allen Aerger und Ingrimm. Und besuchen Sie mich recht bald in Borzymmen. Wenn es Ihnen Spaß macht, können Sie bei mir einen guten Rehbock schießen. Für meinen Vetter Sternheimb bleiben immer noch genug übrig.« »Verbindlichsten Dank, Herr von Lindemann. Nur ich weiß nicht, ob mich der Dienst in der nächsten Zeit loslassen wird.« »Mein lieber Herr von Foucar, reißen Sie sich kein Bein aus! Ihre Schwadron werden Sie erst in die Höhe kriegen, wenn Sie zum Herbst den neuen Rekrutenersatz haben. Aber telephonieren Sie mir tags vorher, wenn Sie kommen, damit ich Ihnen Fuhrwerk herschicke und mich selbst zu Hause halte. Manchmal nämlich überfällt mich die Einsamkeit, und dann rücke ich aus. Irgendwohin unter Menschen.« »Also gut, ich werde versuchen, mich recht bald einmal für einen Nachmittag frei zu machen.« Sie standen schon eine Weile vor dem Hoteleingange. Drinnen in dem großen Saale fiedelte noch immer die Damenkapelle. Der Borzymmer Wagen fuhr vor, Herr von Lindemann stieg ein. »Also, Ludwig, nach Hause, sanftes Reisetempo!« Und als die Gäule anzogen, rief er zurück: »Sehen Sie, Herr von Foucar, so wird man durch die Politik auf den Pfad der Tugend geführt. Ich war eigentlich mit der Absicht hergekommen, hier eine wilde Nacht zu machen. Na, so ist's vielleicht besser.« Gaston ging langsam die Treppe zu seinem Zimmer empor. Er war abgespannt und müde. Für den Brief, den er zu schreiben gedachte, war es auch noch morgen Zeit. Heute hatte er an Wichtigeres zu denken. Morgen übernahm er seine Schwadron, stand seit langen Jahren zum ersten Male wieder vor der Front, unter hundert kritischen Augen. Das war nicht viel anders als bei einem Schauspieler, der nach langer Pause wieder in einer alten Rolle aufzutreten hatte. Ehe er vor das Publikum ging, mußte er die Rolle noch einmal durchsehen. Er war ein ausnehmend tüchtiger Frontoffizier gewesen, das Zeugnis hatten ihm alle seine Vorgesetzten ausgestellt. Und die Führung einer Schwadron war ihm nichts Neues, in Karlsburg hatte er in Vertretung seines erkrankten Rittmeisters die erste Ulanenschwadron fast ein halbes Jahr kommandiert. Aber es gab dabei mancherlei Handwerksmäßiges, bei dem man in der Routine bleiben mußte. Wenn man aus der Uebung kam, verlor man die Sicherheit. Da war es also notwendig, die Nase eine halbe Stunde lang in das Exerzierreglement zu stecken, ehe man wieder vor die Front ritt. Und nach langer Pause zum ersten Mal wieder ruft: »Stillgesessen! Trompeter, Signal Trab ...« Als er das Licht ansteckte, lag vor dem Leuchterfuße ein dicker Brief, dessen Handschrift er nicht kannte. Eine seltsam unbeholfene Handschrift war es. »Herrn Rittmeister Baron von Foucar im Ordensburger Dragonerregiment, Ordensburg, Offizierskasino. Durch Eilboten zu bestellen.« Unwillkürlich sprang ihn ein beklommenes Gefühl an, er klingelte nach dem Kellner. »Wann ist der Brief da gekommen?« »Wahrscheinlich mit dem Nachtzug, Herr Rittmeister. Der Postbote hat ihn vor einer Viertelstunde gebracht. Er war erst gar nicht im Kasino, wo nämlich die Herrschaften, die ein bißchen was sind, doch immer bei uns absteigen.« »Es ist gut, ich danke.« Gaston hielt den von einem Wappensiegel verschlossenen Brief erst eine Weile in der Hand, ehe er ihn öffnete. Und zuerst sah er nach der Unterschrift, dann begann er zu lesen. Das Herz schlug ihm bis in den Hals. »Gnädiger Herr Baron! Im Auftrage meiner Herrin, die krank zu Bett liegt, teile ich Ihnen die Bitte mit, Sie müssen sofort Urlaub nehmen und herkommen. Sie ist vor Aufregung krank und ganz hilflos, weint immerfort, läßt sich nicht beruhigen. Da können nur Sie allein helfen. Hier ist Schreckliches passiert. Der gnädige Herr ist heute früh gestorben, jetzt vor einer Stunde. Weil er gestern einen Blutsturz bekommen hat nach all der Aufregung. Dieser entsetzliche Mensch, der Herr von Wodersen, war gestern hier eingedrungen, nicht lange nachdem Sie fortgegangen sind. Und da hat er dem gnädigen Herrn ins Gesicht geschrien, er würde betrogen von Ihnen und Josepha. Heiraten würden Sie, wenn er tot wär', und Sie selbst hätten es ihm gesagt. Der Herr ist aufgesprungen, auf Josepha zu, aber sie ist aus dem Zimmer geflohen, in den Park hinaus. Der Herr ihr nach, er hatte sich aus dem Gewehrschrank eine Flinte geholt, schrie immerfort: 'Du mußt mit, Du mußt mit!' Ich hinter ihm her, in Todesangst um meine geliebte Josepha, es war eine fürchterliche Aufregung. Da fiel draußen auf der Straße der Schuß, weil sich der Herr von Wodersen totgeschossen hatte. Der englische Kammerdiener hatte ihn 'rausgebracht. Das war unsere Rettung. Der gnädige Herr blieb einen Augenblick stehen, sah sich um, da holte ich ihn ein. Und ich fing an mit ihm zu ringen um das Gewehr. Da stürzte ihm das Blut aus dem Munde, über mich hin. Noch in meiner letzten Stunde werde ich daran denken. Die ganze Nacht hat er sich gequält, aber ohne Bewußtsein. Die Herren Doktoren haben ihm Morphium gegeben, weil doch nichts mehr zu retten war. So ist es rascher mit ihm zu Ende gegangen, als wir gedacht hatten. Meine liebe Josepha hat zwei Stunden in Ohnmacht gelegen, ich hatte schon Angst, sie kommt nicht wieder zu sich. Aber Gott hat geholfen und die heilige Mutter Maria. Jetzt jammert sie immer nach Ihnen, Sie sollen kommen. Ich bitte Sie auch darum. Und denken Sie an das, was wir beide in Ihrer Wohnung gesprochen haben! Von mir aus allein sage ich Ihnen noch, der gnädige Herr ist gestorben, ohne daß er sein Testament hat ändern können. Josepha erbt sein ganzes Vermögen, nur ein Viertel geht ab an die Verwandten von dem gnädigen Herrn selig. Telegraphieren Sie, wenn Sie kommen. An mich, damit ich vorsorgen kann, wo Sie sich treffen sollen mit Ihrer lieben zukünftigen Frau, ohne daß es auffällt. Es grüßt hochachtungsvoll Ursula.« Gaston ließ die Hand sinken und starrte in das flackernde und zuckende Licht, bis ihn die Augen schmerzten. Fürchterlich war das alles. Aber er mußte zu einem Entschlusse kommen. Das hier war jetzt die Stelle, wo der Weg sich gabelte. Er erhob sich von dem Bettrande, auf dem er sich zum Lesen niedergelassen hatte, nahm das Licht und ging zu dem Tische hinüber. Einen Augenblick der Schwäche hatte er noch, dann biß er die Zähne zusammen und schrieb ohne Besinnen: »Liebe gnädige Frau! Es ist ganz ausgeschlossen, daß ich jetzt Urlaub nehmen kann, um zu Ihnen zu kommen. Ich könnte es auch nicht, selbst wenn ich ganz frei wäre. Ich muß Ihnen ein Geständnis machen, das Sie betrüben wird und mir die Schamröte ins Gesicht treibt. Ich habe Sie zweimal belogen, und zum Teil mich dazu. Jetzt, wo ich nicht mehr in Ihrer Nähe bin, erscheint mir mein Gefühl nicht stark genug, um darauf unsere Zukunft zu gründen. Ich müßte um Sie meine militärische Karriere aufgeben, und das kann ich nicht. Es tut mir in der Seele weh, daß ich eine liebenswerte Frau so kränken muß, aber es geht nicht anders, wenn ich wahrhaftig bleiben will. Gegen Sie und mich. Also bitte ich Sie, mir mein Wort zurückzugeben und mich zu vergessen. Gaston Baron Foucar von Kerdesac.« Die Hand bebte ihm, er schrieb seinen Namen nicht so sicher wie sonst. Und als er den fertigen Brief durchlas, hätte er ihn am liebsten wieder zerrissen. Erschrecklich banal war das alles, aber was sollte er viel anders schreiben? Etwa, daß er schon nach der Nacht in dem Ballokal zur Besinnung gekommen wäre? Oder daß er am Tage darauf aus Mitleid und mit erregten Sinnen einen Meineid geschworen hätte? Oder gar schließlich, daß in ihrer Vergangenheit etwas wäre, über das kein Mann hinweg könnte? Das ging nicht an. Das einzige wäre gewesen, mit der Absendung dieses brutalen Briefes noch ein paar Tage zu warten, bis sie sich nach den entsetzlichen Geschehnissen ein wenig beruhigt hätte. Dann aber schickte er den Brief da vielleicht überhaupt nicht mehr fort, ergab sich mit einer Art von Fatalismus in sein selbstverschuldetes Schicksal. Sein Blick fiel auf eine Stelle in dem anderen Schreiben, das vor ihm lag. »Der gnädige Herr ist gestorben, ohne daß er sein Testament hat ändern können. Josepha erbt sein ganzes Vermögen.« Der Ekel würgte ihn am Halse. Er schloß seinen Brief in ein Kuvert, schrieb die Adresse und trug ihn selbst nach dem nahen Bahnhof hinüber, steckte ihn in den blauen Postkasten. Als er wieder oben in seinem Zimmer saß, war ihm ein wenig leichter zumut. Nur hätte er viel darum gegeben, wenn er den Brief da eben hätte schreiben können, ohne an eine andere zu denken, die er seit ein paar Stunden erst kannte. Immerfort mußte er an sie denken mit zehrender Sehnsucht im Herzen ... Unten die Musik spielte einen Walzer, den er vor einigen Nächten getanzt hatte. Mit einer verführerisch schönen Frau, der er in plötzlicher Laune den weißen Hals küßte. Er verstopfte sich mit den Fingern die Ohren und stierte in das aufgeschlagene Buch. Seite 24 stand da: »Unter allen Umständen und in jedem Gelände muß die Eskadron, auch unrangiert, alle reglementarischen Bewegungen sicher und schnell ausführen können und stets -- auch in aufgelöster Ordnung -- fest in der Hand des Führers sein.« Nur seine Augen lasen den Satz, den er ja längst schon auswendig kannte, seine Gedanken waren ganz wo anders -- -- -- 7. Die fünfte Eskadron des Dragonerregiments Graf Schmettau stand in Linie zu vier Zügen auf dem großen Ordensburger Exerzierplatze, der sich zwischen der Eisenbahn und dem Walde der Domäne Mrosen dehnte. Die Gäule schlugen mit den Schwänzen und schlackerten die Köpfe der vielen Fliegen wegen, die Mannschaft saß stumpfsinnig dösend da in den Sätteln. Es gab einen neuen Schwadronschef, von dem ein unbestimmtes Gerücht ging in den Mannschaftsstuben, er wäre ein besonders scharfer. Aber nur die im ersten und zweiten Jahrgang verspürten ein leichtes Bangen in der Brust, die »alten Leute« blickten ziemlich gleichgültig drein. Ihnen konnte nicht mehr viel passieren in den paar Wochen, bis Reserve Ruhe hatte. Wenn's aber Krieg gab, pumpte man ganz von selbst das letzte aus den Knochen. Dazu brauchte man nicht erst »getrietzt« zu werden, um der Gesellschaft da drüben zu zeigen, was 'ne ostpreußische Dragonerfaust war. Die Offiziere hielten in einem Pulk vor der Front und tauschten halblaut ihre Meinungen. Sie erörterten die auffällige Tatsache, daß ein Generalstäbler sechs Wochen ungefähr vor der reglementsmäßigen Zeit seine Schwadron gekriegt hatte. Daraus konnte man zweierlei Schlüsse ziehen. Entweder hatte man ihn in Berlin vorzeitig »als unbrauchbar abgegeben«, oder er war eines von den ganz großen Kirchenlichtern, die eine außergewöhnliche Karriere machten. »Das letzte, meine Herren, das letzte,« sagte Karl von Gorski, der jüngere der beiden Brüder. Er hatte sich am frühen Morgen zu dem feierlichen Anlaß des Kommandowechsels wieder gesund gemeldet, trotzdem das verstauchte Handgelenk ihm bei der Zügelführung noch arge Schmerzen verursachte. Und mit pfiffigem Lächeln fügte er hinzu: »Derweil die Herren noch schliefen, habe ich schon ein informatorisches Telephongespräch mit jemand gehabt, der sehr gut unterrichtet ist über unseren neuen Chef. Wir verdanken ihn der väterlichen Fürsorge meines angeheirateten Onkels Wegener für sein altes Regiment. Er soll uns hier die Schlachtpläne ausarbeiten, wie wir es fertig kriegen, mit fünfhundert Mann eine Division Russen aufzuhalten. Und um auch gleich Ihre Neugierde nach seiner Familie zu befriedigen: sie war vor genau hundertzwanzig Jahren noch stockfranzösisch. Als man damals in Paris die unangenehme Gepflogenheit einführte, sämtliche Aristokraten um ein Stückchen kürzer zu schneiden -- am oberen Ende natürlich --, wanderte sie nach Deutschland aus, weil das dort noch nicht Sitte war. Wissen Sie jetzt Bescheid, meine Herren?« »Vollkommen,« sagte der Leutnant Uhlenburg, wegen seiner Neigung zur Korpulenz das »Tonnchen« genannt. »Aber von wem haben Sie denn diese Kenntnisse bezogen?« »Von wem denn sonst als von meinem alten Gönner Exzellenz von Moltke, höchstpersönlich? Zuerst war er ein bißchen knurrig, weil ich ihn durch dringliches Gespräch aus dem Schlaf geweckt hatte und er mit bloßen Beinen am Telephon stand. Im Generalstab zieht es nämlich. Als er aber hörte: 'Hier Karl von Gorski, der prominenteste Leutnant der Ordensburger Dragoner', wurde er wie Zucker! Sie hat er auch grüßen lassen, Tonnchen. Sie sollten nicht so viel dickes Bier trinken, sonst würden Sie nie General werden!« Die anderen Herren lachten, nur der ernsthafte Oberleutnant Gusovius, der ein paar Schritte abseits hielt, verzog keine Miene. Er hatte die Schwadron von dem Tage an geführt, an dem der Rittmeister Kaminski sich krank meldete. Und daß da plötzlich vom Generalstabe einer ins Regiment schneite, hatte ihm stille Hoffnungen zerstört. Wenn's Glück gut war, wäre er zum Herbst auch an der Reihe gewesen, eine Schwadron zu kriegen. Im günstigsten Falle kam er jetzt in ein fremdes Regiment, wer weiß wohin, und an seiner Seele fraß gekränkter Ehrgeiz. Auf dem Kamm der leichten Hügelwelle, die den Exerzierplatz von dem Gartenlande des Städtchens schied, erschien ein einzelner Reiter. Der Oberleutnant Gusovius wandte sich im Sattel: »Die Herren, bitte, auf ihre Posten! Stillgesessen!« Er spornte seinen Gaul und kanterte dem Kommenden entgegen. Auf drei Schritt Entfernung parierte er und meldete: »Die Eskadron ist rangiert in vier Zügen zu dreizehn Rotten mit zwei blinden!« Rittmeister von Foucar streckte ihm die Hand entgegen. »Danke, mein lieber Herr Gusovius! Und würden Sie es mir übelnehmen, wenn ich gleich zu Anfang und ohne alle Umschweife ein offenes Wort mit Ihnen spreche?« Der Oberleutnant lenkte seinen Gaul an die Respektseite seines neuen Vorgesetzten. »Wie sollte ich wohl, Herr Rittmeister?« »Na also, im königlichen Dienst darf es ja wohl keine Empfindlichkeit geben, aber wir alle sind doch nur Menschen. Vorhin, als ich mich bei unserem Kommandeur meldete, glaubte ich aus einer beiläufigen Bemerkung entnehmen zu dürfen, daß meine Versetzung ins hiesige Regiment gerade Ihnen nicht besonders willkommen gewesen wäre. Das tut mir leid, aber die Versetzung ist nur zum geringen Teil durch mein Zutun erfolgt. Es ist sehr ungewöhnlich, daß ich mich mit Ihnen darüber ausspreche -- ich weiß es -- aber ich möchte nicht, daß unsere Beziehungen durch eine leicht begreifliche Verstimmung getrübt werden. Und zwar nicht bloß die dienstlichen. Also, wollen wir gute Kameradschaft halten?« Das finstere Gesicht des Oberleutnants Gusovius erhellte sich, jetzt streckte _er_ dem Vorgesetzten die Hand hin. »Sehr wohl, Herr Rittmeister, von Herzen gern!« Gaston von Foucar aber fühlte, daß er in diesem Augenblicke einen Freund gewonnen hatte, und das gab ihm in seiner Lampenfieberstimmung die Sicherheit wieder. Er ritt vor die Front, rief laut und fest: »Die Schwadron hört von jetzt an auf mein Kommando! Guten Morgen, Dragoner!« »Guten Morgen, Herr Rittmeister,« schrie es wie aus einer einzigen Kehle zurück. Danach kam das Kommando »Absitzen«, Gaston begrüßte die Offiziere und ließ sich die Unteroffiziere vorstellen. An jeden richtete er eine kurze Frage, und jeder von ihnen hatte das Gefühl, der Mann da mit dem gewinnenden Gesicht und den klaren Augen meinte es gut mit ihm, würde seinen Namen nicht vergessen. Hans von Gorski stand neben seinem jüngeren Bruder. Die Offiziere hatten ebenso absitzen müssen wie die Mannschaft. »Du, Karl,« sagte er leise. »Na was denn?« »Ich kann mir nicht helfen, er gefällt mir!« »Mir schon gestern, wie er mich mit der Landkarte belapste. Und jetzt, daß er keine Rede gehalten hat. Besinnst Dich noch auf seinen Vorgänger Kaminski? 'ne halbe Stunde lang hat er gepredigt von Pflicht und Ehre und nochmal Pflicht, zum Schluß: 'Seine Majestät der oberste Kriegsherr, hurra, hurra, hurra!' Nachher war er der erste, der schlapp machte. Aber erinner' mich nachher, ich hab' Dir was von unserem Cousinchen zu erzählen! Augen wie Wagenräder wirst Du machen.« »Warum nicht gleich?« »Weil die Geschichte zu lang ist. Aber paß auf den Dienst, mein Sohn! 'Er' dreht sich schon nach uns um.« Gaston ging langsam die Front entlang und musterte eingehend Mannschaft und Pferde. Jeden einzelnen der Dragoner fragte er nach Namen und Zivilverhältnis. Wenn ihm etwas Tadelnswertes auffiel an der Sattelung oder am Anzuge, sagte er nichts, sondern sah nur den neben ihm schreitenden Wachtmeister mit kurzem Blicke an. Der aber gab den Blick an die einzelnen Gruppenführer weiter, nur in erheblich verstärktem Maße. Ein Donnerwetter zog sich über schuldigen Häuptern zusammen, die da geglaubt hatten, der alte Schlendrian könnte so weiter gehen. Oberleutnant Gusovius räusperte sich leicht: »Herr Rittmeister!« Gaston blickte auf, der Regimentskommandeur kam über die Hügelwelle geritten. Anscheinend ohne jede Inspizierungsabsicht. Seine beiden Foxterriers jagten kläffend über das schon gelblich gefärbte kurze Gras, und neben ihm ritt seine jüngste Tochter. Ein blondlockiges Mädel von sechzehn oder siebzehn Jahren, das im Herrensitze seinen Pony lenkte. Gaston bestieg seinen irischen Fuchswallach, riß den Säbel aus der Scheide. Wie eine Fanfare erklang das Kommando: »An die Pferde! -- Fertig zum Aufsitzen! -- Aufgesessen!« Und nach gemessener Pause: »Richt -- Euch!« Er ritt an den Flügel, die Richtung stimmte ausgezeichnet, die Bewegungen hatten geklappt. »Augen -- links!« kommandierte er und sprengte dem Kommandeur entgegen, die Schwadron zu melden. Oberstleutnant Harbrecht winkte ab. »Lassen Sie sich nicht stören, Herr Rittmeister, ich bin nur ganz zufällig herausgebummelt.« Er stellte sein Töchterchen vor und sagte: »Lassen Sie, bitte, rühren.« »Rührt Euch!« schrie Gaston über die Schulter zurück, und der Kommandeur fragte: »Na, zufrieden?« »Danke, Herr Oberstleutnant, bis auf ganz geringfügige Kleinigkeiten.« »Sehr nett von Ihnen -- gegen Ihren Herrn Vorgänger! Na, und was haben Sie weiter vor, Herr Rittmeister?« »Ich beabsichtige, die Schwadron eine halbe Stunde lang zu exerzieren. Hauptsächlich, um selbst nach langer Entwöhnung wieder in Uebung zu kommen.« Der Oberstleutnant lächelte. »Bescheidenheit ziert den Ritter. Na, viel Vergnügen.« Er hob grüßend die Rechte an den Mützenschirm, das Töchterchen verabschiedete sich mit einem Kopfnicken. Gaston ritt zu seiner Schwadron zurück. »Stillgesessen -- Eskadron Terab!« Die Schwadron ritt an, jeder einzelne Mann nahm sich zusammen, in der hellen Kommandostimme des neuen Führers lag etwas Anfeuerndes. »Trompeter: Galopp!« Gaston gab seinem irischen Fuchswallach die Sporen, daß er wie ein abgeschossener Pfeil über das Blachfeld flog. Hinter ihm kam die Schwadron wie ein Ungewitter. Nach fünfhundert Schritt ungefähr sprengte er nach links, schwenkte um und parierte auf der Stelle, blickte prüfend auf die in einer Linie dahinfegende Schlachtreihe. Die Kerls gaben sich offensichtlich Mühe, Fühlung und Richtung waren gut. »Eskadron mit Zügen brecht ab,« rief er, scharf kamen die Kommandos der Zugführer danach, das Manöver verlief exakt. Bei keinem Garderegiment konnte es besser gehen. »Famos,« rief das Kommandeurstöchterchen begeistert. »Papa, ich glaube, mit diesem Herrn von Foucar haben wir eine glänzende Akquisition gemacht!« Der Oberstleutnant lachte. »Meinst Du?« »Aber positiv! Der Unterschied gegen früher ... Also den muß doch ein Blinder mit dem Krückstock fühlen!« »Na dann komm, Kind, wollen wieder nach Hause reiten. Auch ich hab' genug gesehen, die Schwadron ist in guten Händen. Und merk' Dir eins: eine Truppe ist wie ein edles Pferd mit allen Vorzügen und Untugenden. Unter einem miserablen Reiter im Sattel bockt es, unter einem tüchtigen gibt es sein letztes her.« Die Julisonne brannte sengend vom wolkenlosen Himmel herab, die Gäule warfen Schaum von den Gebißstangen und bekamen nasse Flanken. Die Reiter hatten schwarze Gesichter von Staub und Schweiß, seltsam blänkerten die glänzenden Augen daraus hervor. Gaston brach das Exerzieren ab, er fühlte, er hatte die Schwadron in die Hand bekommen. Mit einem gewissen Stolz führte er sie in die Stadt zurück, ins Quartier. Als die Spitze vom großen Platze unter die schattigen alten Bäume lenkte, die den Weg zum Städtchen umsäumten, drehte er sich im Sattel: »Wachtmeister, jeder Dragoner kriegt heute abend zwei Glas Bier in der Kantine auf meine Rechnung. Ich bin mit der Schwadron zufrieden! Und jetzt bitte ich mir ein Lied aus.« Durch die in Marschkolonne reitende Truppe ging es wie ein Rauschen, der neue Rittmeister hatte sie auf Anhieb erobert. Schneid hatte er, verstand seinen Kram und besaß ein Herz für seine Kerls. Einer der Unteroffiziere erhob seinen wohlklingenden Tenor, die Mannschaft fiel mit rauher Kehle ein »An der Grenze fern im Osten Hält ein Reiter still auf Posten, Sieht hinaus ins weite Feld. Drüben fahren auf Kanonen, Sammeln sich Schwadronen, In dem weiten, weiten Feld.« Gaston von Foucar ritt an der Spitze seiner Truppe. Das Lied schien ihm wie eine gute Vorbedeutung. Vor Tagen schon hatte er's gehört, als sein Herz sich aus Skrupeln und Nöten zu lösen begann ... Karl von Gorski ritt neben seinem älteren Bruder an der Queue der Schwadron. Er kratzte sich mit der gesunden Rechten hinter dem Ohr. »Du, Hans, ich glaube, die schönen Tage von Aranjuez sind vorüber.« »Na Gott sei Dank, das vorher war ja auch zum Speien. Man fängt wieder an, Spaß am Dienst zu kriegen! Aber Du wolltest mir doch vorhin was von Annemarie ...?« »Ach so, ja ... also ich sehe sehr schwarz auf unseren guten Brinckenwurff. Das dürfte im August an Annemiezens Geburtstag eine böse Ueberraschung geben. Möglicherweise auch schon vorher. Mit der Vereinigung von Kalinzinnen und Orlowen sieht es sehr nach Essig aus.« Hans von Gorski tippte sich respektlos gegen die Stirn. »Kleiner, ich glaube, Du träumst mit offenen Augen!« »Ah nein, mein Jungchen, sondern meine bekanntlich in hohem Grade entwickelte Geistesschärfe gestattet mir einen Blick in die Zukunft, die gewöhnlichen Sterblichen verschleiert ist. Morgen kaufe ich mir einen Dreifuß mit einem Pfund Weihrauch und frisier' mich als Pythia.« »Mensch, red' endlich vernünftig! Was ist passiert?« »Na dann hör' zu!« Karl von Gorski dämpfte unwillkürlich seine Stimme: »Also der 'Moltke', mit dem ich heute früh telephonierte, war selbstverständlich Annemarie. Schon gestern erschien mir die Geschichte mit der Zigarettendose nicht geheuer. Es war für mich natürlich eine Kleinigkeit, dem harmlosen Tierchen alles abzufragen, was ich wissen wollte. Sie ist mit unserem neuen Rittmeister von Königsberg an zusammen gefahren, ihr gefiel er sehr, dem Alten weniger. Der machte sogar etwas Krach, bis sie ihn auf seinen geliebten Polenschimmel brachte, da hielt er Vorträge. Und als Annemarie den Herrn von Foucar nach Kalinzinnen einlud, bestätigte er die Einladung nicht. Da ließ sie absichtlich ihre goldene Zigarettendose im Coupé liegen, um ihm einen triftigen Vorwand zu baldigem Besuche zu geben.« »Und das hat sie Dir so ganz offen gesagt?« »Ne, mein Jungchen, aber verschwiegen! Und -- bewundere meinen Scharfsinn -- das ist das Schlimme bei der Geschichte! Hätte sie mir nach all dem übrigen ganz harmlos gesagt: 'Du, Karl, denk' Dir bloß, ich habe dabei meine kostbare Zigarettendose im Coupé verloren, mit all den himmlischen Widmungen, und ich gräme mich ganz fürchterlich, ob ich sie wohl wiederkriegen werde', wäre ich ja gar nicht auf den Spurius gekommen. Aber so liegt es doch klar auf der Hand, daß sie sich in unseren neuen Rittmeister arg verschossen hat. Und das ist kein Wunder. Er hat etwas an sich -- also ich kann's verstehen, daß sich die Mädels in ihn verlieben.« »Unsinn,« sagte Hans von Gorski, aber es klang nicht ganz überzeugt. »Und dagegen spricht doch, daß Herr von Foucar anscheinend nicht den geringsten Wert darauf gelegt hat, das Fundstück persönlich zurückzubringen!« Der jüngere der beiden Brüder zuckte mit den Achseln. »Dafür gibt's 'ne Masse Erklärungen. Vielleicht hat er die liebenswürdige Absicht gar nicht bemerkt. Das glaube ich nämlich aus einem ganz bestimmten Grunde, und ebenso bin ich überzeugt, es tut ihm heute schon leid. Andererseits aber ist es auch möglich, er ist so maßlos verwöhnt, daß er auf diese neue Eroberung keinen sonderlichen Wert legt. Aber vielleicht kommt das noch ... Wenn er unser 'trautstes Cousinchen' erst näher kennen lernt.« »Hm,« sagte der Aeltere, »Du red'st wie ein Buch! Jedenfalls müßte man dem Hermann Brinckenwurff einen kleinen Wink geben, damit er die Augen offen hält.« »Um Himmels willen! Hast Du Lust, Deinen Daumen in eine Türangel zu klemmen? Damit knackt man Haselnüsse! Und uns beiden muß doch die Annemieze näher stehen! Ich bin kein Tugendbold, aber sag' mal selbst: Wenn Du die Aussicht hättest, eine Annemarie von Gorski zu heiraten, würdest Du es da fertig kriegen, eine nach übler Pomade duftende Mamsell auf den Mund zu küssen, mit dem sie kurz vorher -- na sagen wir mal -- Gänseleber mit Zwiebeln abgeschmeckt hat?« Hans von Gorski schüttelte sich lachend. »Nicht um tausend Taler!« »Na also!« Eine Weile ritten sie schweigend nebeneinander her, dann fragte der Jüngere unvermittelt: »Du, Hans?« »Was denn?« »Kannst Du Dir vorstellen, daß uns beiden so ein Mädel wie Annemarie blanke Augen machen würde oder zur Ermunterung eine goldne Zigarettendose im Coupé liegen lassen?« »Schwerlich!« »Na siehst Du,« versetzte der Jüngere tiefsinnig, »ich habe es schon immer gesagt, und die Geschichte eben bestärkt mich von neuem in der Meinung: wir hätten uns rechtzeitig zusammentun müssen, unseren Urgroßvater zu erschlagen. Von ihm stammt nämlich, nach dem Bild im großen Saal zu schließen, in einem grotesken Sprung über Generationen, das ganze Malheur. Die krummen Beine, die großen Ohren, die Sommersprossen und der weit vorspringende Nasengiebel. Wobei ich annehme, der damalige Maler hat in Ansehung des Honorars noch beträchtlich geschmeichelt.« 8. Die Wochen vergingen in scharfem Dienstbetriebe, der Oberstleutnant Harbrecht hielt sein Regiment in Atem. Ob die politische Spannung schärfer wurde oder schwächer, kümmerte ihn blutwenig. Er tat seinen Dienst an der Grenze, wie ein Soldat, der mit offenen Augen auf verantwortungsvollem Posten stand. Die Aufgabe, die er mit dem Kommandeur des in Ordensburg liegenden Infanterieregiments zu erfüllen hatte, war einfach, aber anstrengend. Nachts paßten die Grenadiere an den von Osten kommenden Einfallstraßen, am Tage die Dragoner. Und dahinter hielten die beiden Regimenter in einer Art von Bereitschaftsstellung. Felddienst und Exerzieren gingen ihren Gang wie sonst, nur man war dabei fortwährend auf der Lauer. Um sich dem Stoß, wenn er endlich von drüben kam, rechtzeitig entgegenzuwerfen, ihn mit Einsetzen des letzten Mannes so lange aufzuhalten, bis weiter rückwärts der Aufmarsch vollzogen war. Dieses dauernde Warten aber auf ein Ereignis, das jede Stunde kommen konnte oder vielleicht auch ganz ausbleiben, machte mürbe, kostete Nerven. Und noch etwas anderes kam hinzu, was dem Oberstleutnant Harbrecht Sorgen, Aerger und schlaflose Nächte bereitete, eine ekle Spionengeschichte. Von der Division war ihm mitgeteilt worden, die große Berliner Zentrale für diesen wohl notwendigen, aber wenig dekorativen Dienst hätte bestimmte Gründe für die Annahme, daß im Ordensburger Kreise eine Persönlichkeit dem feindlichen Informationsbureau Nachrichten lieferte, die im Ernstfalle für die deutsche Armee geradezu verhängnisvolle Folgen haben müßten. Der schimpfliche Verräter verfügte über Kenntnisse, die auf eine genaue Vertrautheit mit den diesseitigen Mobilmachungsplänen und der Lage der Sperrforts schließen ließen, und er, der Oberstleutnant Harbrecht, wurde aufgefordert, sich dazu zu äußern. Ob ihm dienstlich oder außerdienstlich etwas aufgefallen wäre, was den Verdacht auf eine bestimmte Persönlichkeit lenken könnte. Da ging er in Sorge und Aufregung umher, bis ihm eine Art von Erleuchtung kam. In der Waldschenke, in der Nähe der Schießstände in der großen Beldahner Forst, hauste der Wirt Burdeyko, von dem er wußte, daß er alle paar Monate einmal eine geheimnisvolle Fahrt über die Grenze unternahm. Es wäre ja nicht das erste Mal gewesen, daß solche Kerle zweispännig fuhren, heute für diese Seite ihr dunkles Handwerk trieben, morgen für die andere ... Und es gab einen im Regiment, der diesen Burdeyko ein wenig genauer kannte, weil er schon seit Wochen bei ihm russischen Sprachunterricht nahm, den Rittmeister von Foucar! Er schickte eine Ordonnanz ins Revier der fünften Schwadron und ließ ihn bitten, für ein paar Minuten ins Regimentsbureau zu kommen. Aber auch diese Unterredung brachte nicht die erwünschte Klarheit. Herr von Foucar konnte nichts anführen, was den Verdacht des Kommandeurs bestätigt hätte. Im Gegenteil, er hielt den Wirt Burdeyko für einen durch und durch patriotisch gesinnten Mann, der seinen gefährlichen Beruf gegen verhältnismäßig geringe Entlohnung ausübte. Aus einer Art von Passion, aber er hätte erst unlängst einmal geäußert, er gedächte demnächst Schluß zu machen. Einmal erwischte man ihn doch da drüben, und er hätte keine Lust, sein Leben in den Bleibergwerken Sibiriens zu beschließen. Da sagte der Oberstleutnant ärgerlich: »Na schön, dann sollen die Herrschaften aus Berlin so einen Sherlock Holmes herschicken, vielleicht kriegt der es 'raus! Mir sind solche Geschäfte ekelhaft. Aber Sie, lieber Rittmeister, -- gut, daß ich Sie einmal unter vier Augen habe! Sie gefallen mir ganz und gar nicht. Sie muten sich zu viel zu.« »Verbindlichsten Dank, Herr Oberstleutnant, aber ich befinde mich ausgezeichnet.« »Nee, mein Lieber, so kommen Sie mir nicht weg! Ihr Diensteifer in Ehren! Sie haben das Kunststück fertig gebracht, aus einer Schwadron, die -- na sagen wir mal -- zu wünschen übrig ließ, in kurzen Wochen eine Truppe zu machen, die sich sehen lassen kann. Das soll Ihnen nicht vergessen und dick angekreidet werden. Aber nun können Sie sich auf diesen Lorbeeren auch ein bißchen verpusten. Wir haben ja so schon Dienst zum Ueberlaufen, da ist es -- weiß Gott -- nicht nötig, daß Sie sich noch 'ne Extraportion einschwenken. Russische und polnische Sprachstudien, ausgedehnte Ritte ins Gelände -- es ist ja manchmal verblüffend, wie gut Sie Bescheid wissen in unserem verzwickten Terrain mit den vielen Einschnitten und Gewässern -- und neulich wurde mir erzählt, wenn man spätnachts an Ihrem Häuschen vorbeikäme, da draußen vor dem Tore, könnte man Sie egalweg am Schreibtisch sitzen sehen vor Ihrer Studierlampe.« »Nochmals heißen Dank, Herr Oberstleutnant, aber ich fühle mich bei dieser angestrengten Tätigkeit sehr wohl! Nur von jetzt an werde ich abends meine Fensterläden schließen.« »Na, wie Sie wollen! Aber einen Rat möchte ich Ihnen noch geben, ganz freundschaftlich. Aller Welt fällt es auf, wie Sie sich in diesen Wochen verändert haben. Sogar meiner Frau fällt es auf, wie spitz Sie im Gesicht geworden sind. Gestern erst stellte sie mich darauf. Und gab mir zugleich als sorgsame Regimentsmutter ein kleines Avis: Sie halten sich zu sehr von dem gesellschaftlichen Verkehr fern in unseren Familien. Vorige Woche gab unser Etatsmäßiger ein Gartenfestchen -- Sie glänzten durch Abwesenheit! Herr und Frau von Lüttritz feierten ihren zehnjährigen Ehekontrakt, die ganze Gentry aus Stadt und Umgegend war da, bloß Sie nicht! Und ähnliche Klagen sind mir von unseren Herren zu Ohren gekommen. Mittags essen Sie schweigsam im Kasino Ihr kärgliches Menü und fertig, Mahlzeit! Abends sind Sie nie zu sehen. Auch nicht in den bürgerlichen Exkneipen, wo unsere Herren sich mit denen von der Infanterie treffen und etlichen aus dem Zivil. Das wird Ihnen verdacht, als Hochmut ausgelegt. Und gerade auf Sie hatte man nach Ihrem Aussehen und ersten Auftreten hier besondere Hoffnungen gesetzt in gesellschaftlicher Beziehung! Also -- wenn sich's machen läßt -- nehmen Sie sich die freundschaftliche Aussprache eben zu Herzen! Guten Morgen, lieber Herr von Foucar.« »Empfehle mich gehorsamst, Herr Oberstleutnant.« Einen Augenblick hatte Gaston gezögert, ehe er mit einer Verneigung das Regimentsbureau verließ, um in sein Schwadronsrevier zu der unterbrochenen Besichtigung der Pferde zurückzukehren. Das Wort, das dem so wohlwollenden Vorgesetzten für sein Verhalten die Erklärung gegeben hätte, hatte ihm schon auf den Lippen gelegen: »Herr Oberstleutnant, ich habe innerlich mit etwas fertig zu werden, was mich arg bedrückt. Eine Angelegenheit, über die ich aus naheliegenden Gründen nicht sprechen kann. Hoffentlich kriege ich sie unter, und dann will ich den mir so gütig gegebenen Ratschlag gerne befolgen.« Die Scheu, sein Allerinnerstes selbst vor noch so teilnehmendem Auge zu entblößen, band ihm die Zunge. Als er nach dem Mittagessen in das kleine Häuschen vor dem Tore kam, das er sich so recht behaglich eingerichtet hatte, ging er geradenwegs in das Schlafzimmer und musterte sein Gesicht aufmerksam in dem großen Spiegel. Aehnlich wie vor jenen langen Wochen in Berlin. Nur diesmal blickte ihm ein anderer entgegen. Ein hohläugiger Kerl mit hagerem Gesicht, aus dem eine spitze Nase sprang, zwei tiefe Falten rechts und links. Kein Wunder, denn der Kerl war krank. Zwei Geier fraßen zugleich an seiner Leber, die Reue und die Sehnsucht. Da »bearbeitete« er sich nach dem Wort, das er von dem dicken Freiherrn von Lindemann gehört hatte. Aber das Mittel half nicht immer. Zuweilen fiel ihn die Sehnsucht nach dem lieben blonden Mädel an wie ein körperlicher Schmerz ... Dann sah er sie vor sich, die Annemarie von Gorski, wie sie ihm im Coupé gegenübersaß auf der viel zu kurzen Fahrt damals, oder wie sie mit den schmalen Füßen durch die spritzenden Regentropfen schritt, ohne sich umzublicken. Kaum eine Stunde brauchte er zu reiten, und er konnte sie wiedersehen, aber vor diesem Wege türmte sich ein grobes Hindernis. Das Wort, das er einer anderen verpfändet, und von dem diese ihn noch immer nicht gelöst hatte. Jedesmal, wenn er nach Hause kam, schlug ihm das Herz, heute endlich mußte doch die Antwort da sein! Aber der Platz auf dem Schreibtische war leer. Nur zuweilen, alle Woche einmal, lag ein Brief da mit zweisprachiger Adresse, russisch und deutsch, und dem Poststempel Warschau. Wenn er ihn ausschnitt, fielen Papierschnitzel heraus, Stücke einer polnischen Zeitung. Er versuchte, sie zusammenzusetzen, aber sie ergaben keinen Sinn. Auch sein Lehrer Burdeyko vermochte sie nicht zu erklären. Da warf er die rätselhaften Briefe ungelesen in den Papierkorb. Nur ein unheimliches Gefühl beschlich ihn jedesmal dabei. Als zwei Wochen vergangen waren, ohne daß er von Josepha eine Antwort hatte, wandte er sich an ein Berliner Detektivbureau, dessen Adresse er in einer Zeitungsannonce gelesen hatte. Ersuchte mit der Bitte, die Spesen durch Nachnahme zu erheben, um Auskunft, ob Frau Rheinthaler, Kolonie Grunewald bei Berlin, Prinz-Handjery-Straße, verreist wäre. Nach drei Tagen kam die Antwort unter gleichzeitiger Nachnahme von dreißig Mark: »Angefragte lebt höchst zurückgezogen in ihrer Villa, ganz der Trauer um ihren, in der Blüte der Jahre verstorbenen Gemahl hingegeben. Verschiedene Anzeichen lassen darauf schließen, daß sie in nächster Zeit eine längere Reise anzutreten gedenkt, vermutlich ins Ausland.« Da schrieb er einen neuen Brief in zwei Ausfertigungen. Einen an Josepha, den zweiten an diese unheimliche alte Hexe, die ihm den Bericht über die Ereignisse am Tage seiner Abreise geschickt hatte. Und diesmal wurde er deutlicher in seinem gerechten Zorn, schrieb sich alles herunter, was er auf der Seele hatte. Auf dem Papier sah es schroffer aus, als er es sich zurechtgelegt hatte, aber er mochte nichts ändern. Er schloß damit, daß er sein Wort unter falscher Voraussetzung abgegeben hätte. Einer geschiedenen Frau hätte er es wohl halten können, aber niemals einer, die schon vorher nicht die Anforderungen erfüllte, die ein anständiger Mann an seine zukünftige Gattin zu stellen berechtigt wäre. Und an einer flüchtigen Sinnesregung ließ er sich nicht festhalten. Er wollte endlich wieder reinen Tisch haben in seinem Leben, innerlich und äußerlich. Die beiden Briefe trug er persönlich zur Post, ließ sie »eingeschrieben« an ihre Adressen befördern. Die Tage vergingen, es kam keine Antwort. Nur ein merkwürdiger Kerl stellte sich ein in der Nähe seiner kleinen Villa, der ihn anscheinend beobachtete. Ein Kerl mit einem konfiszierten Galgengesicht, der ihm auf die Dauer unheimlich wurde. Drüben, auf der anderen Seite der Straße, war freies Feld. Da hatte der Mann ein Stück von der Größe eines mäßigen Gartens gekauft, grub den Acker um und ließ von einigen Arbeitern ein kleines Häuschen aufführen. Jedesmal, wenn Gaston ausritt oder heimkehrte, fühlte er, daß der Mann ihm forschend nachsah. Auch mit seinem Burschen hatte er sich bekannt gemacht, stand zuweilen plaudernd am Gartenzaun. Nach näherer Erkundigung aber stellte sich heraus, der unheimliche Fremde wäre ein pensionierter Kanzleibeamter aus Königsberg, der sich hier einen Ruhesitz einrichtete, auf dem er als bescheidener Rentner zu leben gedächte. Die vermeintliche Beobachtung war nichts weiter als spießbürgerliche Neugierde. Da fing Gaston an, allmählich ruhiger zu werden, und zugleich stellte sich ihm eine Erklärung ein, daß er auf seine beiden Briefe keine Antwort erhalten hatte. Den zweiten hätte er sich eigentlich sparen können, der erste war ja schon deutlich genug gewesen. So deutlich, daß eine Frau wie Josepha darauf nichts mehr zu erwidern brauchte. Und er zerfleischte sich mit bitteren Selbstvorwürfen, er hätte die notwendige Befreiung vielleicht mit zarteren Mitteln durchsetzen können. Die Aermste konnte doch nichts dafür, daß sie aus einem Gefühl unerklärlicher Sympathie ihre Hoffnung auf einen setzte, der sie bitterlich enttäuscht und -- weshalb, war gleichgültig -- die beschworene Treue brach ... Am eigenen Leibe verspürte er's jetzt, wie es einem zumute war, der sich in hoffnungsloser Sehnsucht verzehrte. Wie eine Krankheit war das, die den Befallenen ganz schwach und elend machte. Stundenlang ging man herum wie ein Gesunder, dann kam plötzlich das bittere Weh über einen, daß man hätte aufschreien mögen vor Schmerzen und Bangen und Qual. Einmal vor ein paar Tagen hatte er das Fräulein von Gorski wiedergesehen. Sie hielt in einem Selbstfahrer mit einem schnittigen Trakehner Halbblut auf dem Marktplatz, sprach eifrig mit ihrer Freundin Lüttritz, der Gattin des Rittmeisters der zweiten Schwadron. Er grüßte respektvoll, sie dankte kurz, blickte kaum nach ihm hin. Wenn sie nicht gar so kühl zurückgegrüßt hätte, wäre er an den Wagen getreten, hätte sich entschuldigt, daß er wegen vielen Dienstes leider noch immer nicht dazu gekommen wäre, in Kalinzinnen seinen pflichtschuldigen Besuch abzustatten. So ging er weiter und schalt sich einen Narren, weil er sich im innersten Winkel seiner Seele immer noch mit törichten Hoffnungen und Wünschen getragen hatte. Die Einladung damals auf der Reise war nichts weiter als eine belanglose Liebenswürdigkeit gewesen, stammte aus irgend einer gehobenen Stimmung, die vielleicht mit der Heimkehr nach langer Abwesenheit zusammenhing oder mit der glücklichen Genesung ihres Vaters. Da hätte sie jeden anderen an seiner Stelle wohl ebenso eingeladen. Und das vermeintlich absichtliche Vergessen der kostbaren Zigarettentasche? Wenn es wirklich Absicht war, war es die Laune einer verwöhnten jungen Dame, die sich in kindischem Trotz gegen den Vater auflehnte einen Augenblick lang ... Ein paar Stunden später war die ganze Angelegenheit wieder vergessen. Und von seinem russischen Lehrer, der ihm nach beendigter Lektion bei einer Zigarette zuweilen Neuigkeiten aus dem Kreise erzählte, erfuhr er, die Verlobung im Herrenhause von Kalinzinnen stände kurz bevor. In der letzten Augustwoche würde Fräulein von Gorski einundzwanzig Jahre alt, und dann würde die Verlobung mit dem Besitzer des Nachbargutes Orlowen veröffentlicht. Schon jetzt träfe man die Vorbereitungen zu dem Fest. An dem Abend litt es ihn nicht in der Einsamkeit seines kleinen Häuschens, er mußte sich irgendwie Gewißheit schaffen. Er machte sich auf und ging ins Kasino. Es waren zehn oder zwölf Herren da im Spielzimmer, aber er stieß auf frostigen Empfang. Alle gingen sie nach kurzer Zeit fort, weil sie heim wollten nach anstrengendem Dienst oder irgendeine Verabredung hatten. Nur sein »Schwadronskücken« blieb bei ihm sitzen, der jüngere Leutnant von Gorski. Er lud ihn auf eine Flasche Mosel ein, der Kleine akzeptierte dankend, saß aber dann verfroren auf seinem Stuhl und blinzelte den Schwadronschef von Zeit zu Zeit verwundert an, als wenn er fragen wollte, weshalb er gerade zu dieser plötzlich über sein ahnungsloses Haupt sich ergießenden Ehrung käme. Zudem war der Mosel sauer wie Essig. Eine jener Sorten, denen, seiner Ansicht nach, vornehmlich die Zunahme der Temperenzlerbewegung zu verdanken war. Erst allmählich wurde der kleine Gorski wärmer, als sein Rittmeister ihm bei der zweiten Hälfte der Flasche die unerwartete Eröffnung machte, ihm wäre es leider nicht gegeben, mit leichtem Sinn Anschluß zu finden. Dazu brauchte er immer erst eine gewisse Zeit, aber von jetzt an würde er sich öfter zum abendlichen Schoppen im Kasino einfinden. Darauf erklärte Karl von Gorski, die Ausführung dieser liebenswürdigen Absicht würde im Kreise der Kameraden allseitige Freude erregen. Als jedoch danach das Gespräch wieder ins Stocken geriet, begann er, seinem Vorgesetzten die neuesten jüdischen Witze zu erzählen. Aber es war ein undankbares Beginnen. Bei Pointen, die jedem an der polnischen Grenze Aufgewachsenen das Zwerchfell erschütterten, verzog der kaum den Mund. Da beschloß er, auf einen baldigen Rückzug zu sinnen, gleich den übrigen, die sich vor dem steifleinenen Gesellen da rechtzeitig gedrückt hatten, in der gemütlichen kleinen Kneipe am Gerichtsplatze saßen und würziges Bier tranken statt sauren Mosels. Unbegreiflich erschien es jetzt auch ihm, wie er an diesem zugeknöpften und hochmütigen Generalstäbler in den ersten Tagen hatte Gefallen finden können. Die andern hatten schon recht, dem waren die paar Jahre hier nichts als eine belanglose Durchgangsstation. Sie aber waren mit dem Regiment schon seit Generationen verwachsen. Alles, was an 'Cadets' heranwuchs auf den Gütern um Ordensburg, diente bei den Dragonern. Plötzlich aber hob der Kleine den Kopf mit den lächerlich großen Ohren. Und mit einem Male fing es ihm an zu dämmern, weshalb der da drüben seine Gesellschaft gesucht hatte. »Was ich schon immer fragen wollte,« sagte der Rittmeister, »wie geht es eigentlich Ihrem Herrn Onkel in Kalinzinnen? Ich fuhr am Tage meiner Ankunft mit ihm in der Bahn zusammen, und wenn ich mich recht entsinne, war damals von einer Operation die Rede, die er glücklich überstanden hatte. Der alte Herr, glaube ich, war mit dem Pferde gestürzt?« »Ganz recht,« versetzte Karl von Gorski, »aber es geht ihm ausgezeichnet. Im Herbst hofft er schon wieder unsere Jagden mitreiten zu können.« »Freut mich sehr! Ihr spezielles Wohlsein, lieber Herr von Gorski.« »Löffle mich gehorsamst, Herr Rittmeister.« Der Kleine leerte tapfer sein Glas, hüllte sich danach aber in Schweigen. Der andere konnte ja anfangen, wenn er mehr aus Kalinzinnen zu erfahren wünschte. »Ich finde, dieser Mosel schmeckt ein wenig säuerlich,« sagte Herr von Foucar nach einer Pause. Und er erwiderte: »Mit allem schuldigen Dank für die gütige Einladung, aber ich bin der Ansicht, man müßte den Kasinovorstand wegen Vorspiegelung falscher Tatsachen belangen, weil er dieses Getränk mit 'Josephshöfer' bezeichnet. Vielleicht aber hat bloß eine Verwechslung stattgefunden. Wir haben nämlich auch ein Faß Essig im Keller liegen, da machen wir wahrscheinlich mit Mosel den Salat an, während diese Flüssigkeit hier sich sehr viel besser eignen würde zur Vermischung mit Oel und Mostrich.« Gaston lachte auf. »Weshalb haben Sie das nicht gleich gesagt? Wollen wir ein Glas Sekt trinken?« Karl von Gorski klappte die Hacken zusammen. »Mein angeborenes Disziplingefühl gestattet mir nicht, eine solche Anfrage aus dem Munde eines Vorgesetzten zu verneinen. Und da ich persönlich zudem auf dem Standpunkte stehe, der Sekt müßte das Nationalgetränk des preußischen Leutnants werden, namentlich, wenn er eingeladen wird ...« Und er beschloß in seinem milder gestimmten Herzen, sich zu revanchieren. Dem anderen da die Frage zu ersparen, zu der er sich anscheinend nur schwer entschließen konnte. Die Ordonnanz hatte den Eiskühler mit der silberbehalsten Flasche gebracht, der Kleine schenkte nach eingeholter Erlaubnis die Gläser voll. »Uebrigens meine Cousine Annemarie hat sich riesig gefreut, als sie ihre verloren geglaubte Zigarettentasche wiederbekam.« Der Rittmeister rückte näher: »Wirklich?« »Kolossal hat sie sich gefreut. Nur sie hat sich -- aber ich bitte um die Erlaubnis, ganz offen sein zu dürfen ...« »Aber selbstverständlich ...« »Also, sie hat sich erheblich gewundert, daß Herr Rittmeister das Fundstück nicht persönlich überbrachten. Namentlich, da sie sich doch das Vergnügen gemacht hatte, Herrn Rittmeister aufzufordern, in Kalinzinnen recht bald Besuch zu machen.« Gaston fühlte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. Zu dumm war das! Und er nahm sich gewaltsam zusammen. »Es tut mir selbst am meisten leid, daß ich dieser freundlichen Einladung wegen zu vielen Dienstes nicht folgen konnte. Und jetzt möchte ich meinen Besuch in Kalinzinnen verschieben, bis das Fest vorüber ist. Es wäre mir doch peinlich. Das würde aussehen, als wollte ich dazu eingeladen sein.« Karl von Gorski blickte auf. Er hatte wohl bemerkt, daß sein Vorgesetzter plötzlich Farbe in die Wangen gekriegt hatte, aber noch tappte er im dunkeln, konnte sich keinen rechten Vers auf die ganze Geschichte machen. »Welches Fest meinen Herr Rittmeister?« »Nun, die ... die Verlobung von Fräulein Annemarie. Erst heute hörte ich zufällig, sie würde sich demnächst öffentlich verloben. Mit dem Herrn von Brinckenwurff, den ich am ersten Abend hier kennen lernte, als ich ankam.« Der Kleine schwieg darauf, und Gaston mußte weitersprechen. Er fühlte deutlich, daß der Wein auf ihn zu wirken begann -- seit Wochen hatte er keinen mehr getrunken. Zu Mittag ein Glas Wasser und abends bei der Arbeit einen leichten Tee. Er hätte den Kleinen anschreien mögen: 'Gib mir Gewißheit! Du hast sie doch in diesen Tagen öfter gesehen, weißt vielleicht, was sie fühlt und denkt.' Statt dessen mußte er höflich weitersprechen: »Eine sehr passende Verbindung, soweit ich's beurteilen kann. Nachbarskinder, die Besitz zu Besitz bringen, und dann ... sie kennen sich von Jugend auf.« Karl von Gorski nickte. Er wußte Bescheid. Die Worte klangen gleichgültig, nur das Drum und Dran war verräterisch. Wäre ja auch merkwürdig gewesen, wenn der da drüben sich in das schöne Cousinchen nicht verliebt hätte. Alle verliebten sich ja in das herrliche Mädel, die es kennen lernten. Er selbst fühlte bei allem philosophischen Gleichmut einen Stachel im Herzen, wenn er daran dachte, daß sie einen anderen heiraten sollte. Aber er war -- Gott sei Dank -- immer noch in der Lage, sich mit einem guten Witz darüber hinwegzusetzen. Jetzt hatte es den da auch gefaßt, ganz wie er's vorausgesagt hatte. Nur es war zu spät, er hatte seinen günstigen Augenblick verpaßt. In vierzehn Tagen gab es in Kalinzinnen Verlobung. Und er sann darüber, wie er's ihm am schonendsten beibringen sollte, daß da nichts mehr zu hoffen war. »Ja, Herr Rittmeister,« begann er tiefsinnig, »zu dieser Verlobung wäre manches zu bemerken. Wie zum Beispiel zu der Preußischen Klassenlotterie ... Nicht immer gewinnt der Würdigste das Große Los. Manchmal fällt es an einen Kommerzienrat, der sich nicht sonderlich viel daraus macht. Und die anderen stehen 'rum, beneiden ihn -- wie der ergebenst Unterfertigte. Einer kann es ja nur gewinnen, aber weshalb muß es immer der andere sein? Das frißt einem am Herzen, namentlich wenn man sich schmeicheln darf, ein außergewöhnlich begabter junger Mann zu sein ... Sehen der Herr Rittmeister mich mal an! Haben Sie eben bemerkt, wie brillant ich mit den Ohren wackeln kann? Zwei Zentimeter Ausschlag nach oben und nach unten. Im Panoptikum könnte ich damit auftreten unter riesigem Zulauf, wäre auch in der Lage, das Publikum in den Pausen zu unterhalten! Durch Humor ... Auf diese glänzenden Eigenschaften legt mein Cousinchen keinen Wert. Als ich sie unlängst fragte: 'Annemieze, na wie wär's? Wenn Du mich nehmen wolltest, würdest Du aus dem Lachen nicht 'rauskommen,' zuckte sie mit den Achseln: 'Mein Jungchen, Du hast Deine Chance verpaßt. Mir ist nicht mehr lächerlich zumute -- in vierzehn Tagen ist Verlobung und in sechs Wochen Hochzeit. Die Kochfrau ist schon bestellt aus Königsberg, denn es soll natürlich 'was Feines zu essen geben.' Da tröstete ich mich ein bißchen, weil ich nämlich eminent feinschmeckerisch veranlagt bin ...« Er hob sein Glas: »Gestatte mir gehorsamst zum Wohle, Herr Rittmeister!« Gaston trank schweigend. Er wußte genug. Und der andere da drüben hatte anscheinend nicht das geringste gemerkt. Daß er nur deshalb mit ihm hier zusammensaß, um ihn auszuhorchen. Und jetzt hätte er mit der empfangenen Auskunft wieder heimgehen können, aber ihm graute vor dem Alleinsein mit den Gedanken, die aus allen dunklen Ecken gekrochen kamen in seinem stillen Häuschen da draußen ... Die Flasche war leer, er griff nach dem Klingelzuge, der von der Lampe herabhing: »Ordonnanz, noch so eine ... Das heißt, wenn Sie freundlichst gestatten, Herr von Gorski?« Der Kleine klappte die Hacken zusammen, verneigte sich lächelnd. Er selbst vertrug einen Stalleimer voll Sekt, brauchte am anderen Morgen den Kopf nur fünf Minuten unter die kalte Brause zu stecken, um vollkommen frisch zu sein. Sein Schwadronschef aber hatte schon die »Fahne« aufgezogen, glühte im Gesicht wie ein Fieberkranker. Da gelang es vielleicht, ihm listig noch allerhand abzufragen, was ihn selbst -- nicht bloß aus Neugierde -- interessierte. Vor jenen Wochen, gleich nach der Rückkehr aus Königsberg, war sein Cousinchen arg verstimmt gewesen. Schon damals glaubte er zu wissen, weshalb, und heute war er seiner Sache sicherer denn je. Nur ein Rätsel gab es noch zu lösen: warum hatte der dumme Kerl da sich am Tage nach der gemeinschaftlichen Reise nicht auf seinen Gaul geschwungen, war nach Kalinzinnen geritten? Da wäre manches vielleicht anders gekommen. Und -- ein gewisses Positionsgefühl sagte ihm das wie beim Schachspiel -- die Lösung war vielleicht in jener Zeitungsnachricht zu suchen, über die sie damals auf dem Heimwege vom Kasino gesprochen hatten. Die Ordonnanz hatte sich nach dem Einschenken wieder zurückgezogen, Gaston hob sein Glas: »Na prosit, Herr von Gorski! Es ist nett von Ihnen, daß Sie mir Gesellschaft leisten. Die anderen Herren werden über meine Absentierung vielleicht auch milder urteilen in einigen Tagen. Ich hatte mir selbst eine Aufgabe gestellt, die mich außerordentlich beschäftigte. Sie werden natürlich nicht darüber sprechen.« »Selbstverständlich nicht, Herr Rittmeister.« »Nun denn: es ist eine Möglichkeit vorhanden, die Herrschaften von drüben, wenn sie uns ohne Ankündigung überfallen, in eine große Mausefalle reiten zu lassen. Die Vorbereitungen dazu sind verhältnismäßig einfach und, wenn ich dem Kommandeur Vortrag gehalten habe, werden die Herren Kameraden mir hoffentlich Absolution erteilen. Die Arbeit hat mich in der letzten Zeit ganz und gar in Anspruch genommen.« »Vielleicht auch noch etwas anderes,« dachte der Kleine, laut aber sagte er: »Diese Mitteilung wird alle Mißverständnisse natürlich mit einem Schlage beseitigen! Aber da auch ich keine Gelegenheit hatte, mit Herrn Rittmeister außerdienstlich zusammenzukommen: wie hat sich eigentlich der Fall des Oberleutnants Wodersen aufgeklärt, von dem wir damals sprachen? In der Zeitung standen allerhand dunkle Andeutungen, er hätte sich infolge eines amerikanischen Duells das Leben genommen. Vor dem Hause der Dame, die gewissermaßen den Einsatz bildete. Haben Herr Rittmeister das nicht gelesen? Ich glaube, die Nummer des obskuren Wochenblättchens, die einer unserer Herren auf dem Bahnhof gekauft hat, muß noch irgendwo zu finden sein.« Gaston sah sein Gegenüber unsicher an. »Weshalb kommen Sie auf die Idee, daß ich gerade in diesem traurigen Fall Bescheid weiß?« »Weil Herr Rittmeister damals sagten, Sie wären mit Herrn von Wodersen noch kurz vor der Katastrophe zusammen gewesen.« »So ... habe ich das gesagt? Na ja, es ist ja auch die Wahrheit.« Gaston spürte, daß er sich nicht mehr so in der Hand hatte wie sonst. Nur er fühlte unklar, das war vielleicht die Gelegenheit, die junge Dame in Kalinzinnen wissen zu lassen, daß er sich nicht aus Feigheit zurückgehalten hatte. Zehn solche Kerle wie dieser Herr von Brinckenwurff hätten dastehen können, das wäre ihm herzlich gleichgültig gewesen, wenn er mit reinen Händen gegen sie hätte anreiten können. Er nahm einen hastigen Schluck. »Wovon sprachen wir doch eben?« »Davon, daß Herr Rittmeister mit diesem Herrn von Wodersen noch kurz vor der Katastrophe ...« »Ach so! Was in den Zeitungen steht, ist natürlich Unsinn. Ich habe allen Grund zu der Annahme, er hat sich infolge eines Mißverständnisses totgeschossen. Freilich nicht mit ganz klaren Sinnen. Ich habe früher immer darüber gelacht, daß ein Mann sich so 'was in dieser Weise zu Herzen nehmen könnte -- der Fall da hat mich eines Besseren belehrt. Der arme Kerl war mit Haut und Haaren in eine vielumworbene Frau verliebt. Und die machte sich nichts aus ihm. Er aber hoffte immer noch ... Als er's mir zum ersten Mal erzählte, in einer jener seltenen Stunden, wo man das Visier hochschlägt, lächelte ich darüber. Er sagte: 'Um die Frau schieß ich mich noch einmal tot.' Ich aber zuckte mit den Achseln: 'Verstiegene Redensarten!' Sonst vielleicht ... na schön, an dem verhängnisvollen Tage traf ich ihn. Er war sehr aufgeregt, erzählte mir, er hätte allen Grund zu der Annahme, daß die schöne Frau sich einem anderen hinzugeben beabsichtigte. Und da unterließ ich es leider, ihn trotz besseren Wissens aufzuklären, trotzdem ich diesen anderen und seine eigentlichen Pläne ziemlich gut kannte. Ich wußte, dieser andere war -- nicht ohne eigene Schuld natürlich -- in eine Verstrickung geraten, die ihm bei klaren Sinnen eine Fessel war, nur er besaß nicht die Rücksichtslosigkeit, sich sofort davon zu befreien. Zum allergrößten Teil war es Mitleid, denn die Frau lebte in einer unglücklichen Ehe, klammerte sich an ihn wie an den Heiland. Und jetzt ist er bei dem ganzen traurigen Handel eigentlich am meisten zu bemitleiden. Er hatte das Pech, sich hinterher in eine junge Dame zu verlieben, der er anscheinend auch recht gut gefiel. Aber die alte Schuld band ihm die Zunge ... Und jetzt --« Gaston fühlte deutlich, daß er Worte wiederholte, die vor einigen Wochen ein anderer gesprochen hatte, aber er konnte sich nicht helfen, er mußte sie aussprechen. »Jetzt kommt es ihm nicht mehr so lächerlich vor, wenn einer sagt, er will sich aus unglücklicher Liebe totschießen. Der arme Kerl, der Wodersen, hat alles aus dem Kopf. Ihm aber frißt ein Geier an der Leber, daß er manchmal ...« Er brach plötzlich ab, starrte mit weit aufgerissenen Augen in eine der dunklen Zimmerecken. Der Kleine erschrak heftig, ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Den Zustand kannte er, in dem man allerhand Spuk sah mit wachen Augen. Er hatte ihn einmal durchgemacht, als er mit Urlaub acht Tage in Königsberg verlumpt hatte, um auch so 'was unterzukriegen, was ihn schwer bedrückte. Als er sich daheim aus notwendiger Enthaltsamkeit wieder ausnüchterte, saß in den ersten Nächten immer ein kleines Männchen mit einem runden Kürbiskopfe auf dem Fußende seines Bettes. Der da drüben sah jetzt wohl etwas anderes ... ein blasses Gesicht mit durchschossener Schläfe ... Und aus anderer Ursache. Weil er sich vor Kummer die Nerven zuschanden gearbeitet hatte, die der ungewohnte Alkohol jetzt noch mehr auspeitschte. Da gab es nur ein Mittel: den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben! Den armen Kerl so vollzugießen, daß er bewußtlos wie eine Tümpelkrähe ins Bett fiel, keine Dummheiten mehr anrichten konnte. Und das war eine Aufgabe nach seinem Herzen. Er schenkte den Rest der Flasche in die Gläser. »Hoch zu verehrendes Wohlsein, Herr Rittmeister! Hat mich außerordentlich interessiert, was Sie da von dem Herrn von Wodersen erzählten -- überflüssig, zu versichern, daß ich's für mich behalte! Aber ich meine, er muß wirklich verrückt gewesen sein. Oder er hatte keine Spur von Pflichtgefühl im Leibe. Wer schießt sich denn tot, wenn er vom Vaterlande gebraucht wird? Da kann man sich doch in entscheidender Stunde vielleicht noch ein wenig nützlich machen. Indem man seinem Zuge bei 'Lanzen gefällt, Marsch, Marsch, Hurra!' mit Gebrüll voranreitet ...« »Oder seiner Schwadron,« warf Gaston mit schwerer Zunge ein. »Ganz recht,« sagte der Kleine, »je nach der Stellung, die man auf der militärischen Stufenleiter einnimmt. Das Totschießen besorgt dann nachher die mit Recht so beliebte feindliche Bleikugel. Aber da der Deutsche schon seit Tacitus' Zeiten einen Lokalwechsel braucht, um immer noch einen zu trinken, möchte ich gehorsamst vorschlagen, wir tun desgleichen. Hier in der Nähe gibt es ein vorzügliches Glas Bier. Und da sitzen noch einige Kameraden, die sich mächtig freuen werden, den Herrn Rittmeister zu begrüßen.« »Meinen Sie, lieber Gorski?« »Aber selbstverständlich! Herr Rittmeister hatten sich -- wenn mir's gestattet ist, das zu bemerken -- ganz vorzüglich bei uns eingeführt im Regiment. Bloß Sie müßten sich öfter sehen lassen.« »Na, dann vorwärts!« Im Hinausgehen flüsterte Karl von Gorski der Ordonnanz zu: »Marsch, ins Revier der fünften Schwadron! Der Kutscher vom Krümperwagen soll anspannen, an der kleinen Kneipe vorfahren, gegenüber vom Landgericht!« Die Ordonnanz nahm schweigend die Hacken zusammen. Solche Aufträge waren nichts Außergewöhnliches. Nach einem Liebesmahl fuhren die meisten der Herren mit dem Krümperwagen nach Hause, um unliebsamen Begegnungen auszuweichen. Und der Rittmeister von der Fünften wohnte ein ganzes Ende weit vor der Stadt ... Auf der Straße hielt Karl von Gorski sich dicht neben seinem Vorgesetzten, um erforderlichen Falles zur Hand zu sein, wenn dem der Fuß in unsicherem Tritte stocken sollte. Aber die Fürsorge war unnötig, der Rittmeister ging ohne Schwanken die Straße entlang. Da stieg seine Hochachtung gewaltig: der Mann mußte eine fabelhafte Energie besitzen, um sich so zusammenreißen zu können! Und nach einigen Minuten blieb Herr von Foucar plötzlich stehen, sagte mit ganz klarer Stimme: »So, das hat wohlgetan. Aber noch eins, Herr von Gorski ...« »Herr Rittmeister?« »Ich bin vorhin ein bißchen zusammengesackt. Ich lege keinen Wert darauf, daß das in weiteren Kreisen bekannt wird. Ich hatte meinen Nerven in den letzten Wochen zu viel zugemutet, und vorher die Zeit im Generalstabe -- ja, das war auch alles andere, nur keine Sommerfrische.« Der Kleine blickte auf. »Sehr wohl, Herr Rittmeister! Aber die Mahnung zur Diskretion war etwas kränkend, nachdem Sie die Güte gehabt hatten, mir ein wenig Vertrauen zu schenken. Ich mache nicht immer schlechte Witze, ich kann auch manchmal leidlich ernst sein.« Gaston legte in einer impulsiven Regung seinem Leutnant den Arm um die Schulter, zog ihn näher an sich. »Weiß ich, kleiner Gorski, weiß ich! Und zuverlässig. Sonst wäre ich wohl nicht so aus mir herausgegangen. Die, denen das sogenannte Herz immer gleich auf der Zunge liegt, haben es leichter.« Er ließ seinen Arm wieder sinken und fuhr lächelnd fort: »Aber diese neue Freundschaft wird mich natürlich nicht hindern, Sie im Bedarfsfalle unter vier Augen wieder einmal gründlich anzulappen! Falls Sie morgen nämlich, wie neulich, zehn Minuten zu spät zum Dienst kommen sollten.« »Es wird mir ein Hochgenuß sein,« sagte der Kleine. »Und noch eine Frage: die junge Dame, in die sich 'der andere' verliebt hat, von der Herr Rittmeister vorhin sprachen ...?« »Die ist mit ihm zusammen in der Eisenbahn gefahren, da lernte er sie kennen. Leider zu spät. Für ihn selbst. Ein Skrupelloser hätte sich vielleicht darüber hinweggesetzt, daß er noch an eine andere gebunden war. Ihm ist es nicht gegeben, das einer Frau verpfändete Wort wie eine Seifenblase zu behandeln. Aber das ist ja auch egal ... in vierzehn Tagen verlobt sich die mehrfach genannte junge Dame ...« Karl von Gorski blickte tiefsinnig vor sich hin. »Selten ist wohl von einem Weisen ein wahreres Wort gesprochen worden als der Satz: 'Verlobt ist nicht verheiratet.' Und von allen Sagen, die ich kenne, erschien mir immer die vom Tannhäuser am vernünftigsten: es kann alles verziehen werden. Namentlich wenn der Tannhäuser gewissermaßen nur aus Versehen in den Venusberg geraten war.« Gaston atmete tief auf, eine verrückte Hoffnung regte sich ihm im Herzen. Aber das war natürlich Unsinn. Der Kleine da neben ihm hatte eine Flasche Sekt im Leibe. Da sprach er mehr, als er verantworten konnte. Genau wie er selbst. Nur der ungewohnte Trunk hatte ihn doch verleitet, ein sorgfältig gehütetes Geheimnis zu verraten. Dem er's anvertraut hatte, war ein Edelmann, behielt es bei sich. Wenn nicht, war es auch egal. Von morgen fing ein neues Leben an, trinken war besser als arbeiten. Beim Arbeiten saß man allein, beim Trinken in lustiger Gesellschaft. Und man geriet nicht in den Verdacht, daß man sich hochmütig und streberisch von den Kameraden absonderte ... In der von Tabaksqualm erfüllten kleinen Kneipe gab es nach anfänglichem Stutzen großes Halloh. Der dicke Herr von Schnakenburg, der unverheiratete Major vom Stabe, erhob seine dröhnende Stimme: »Zeichen und Wunder! Der Gerechte verirrt sich unter die Gottlosen? Was verschafft uns denn die Ehre, Herr von Foucar?« »Die bessere Einsicht, Herr Major,« versetzte Gaston. »Die Einsicht, daß es verdienstvoller ist, zu trinken, als leeres Stroh zu dreschen. Ist es gestattet, meine Herren?« »Aber mit Vergnügen!« Major von Schnakenburg, der mit dem Rücken zur Wand saß, tippte seinem Nachbar, dem einzigen Zivilisten in der Tafelrunde, auf die Schulter: »Sie, junger Brinckenwurff, rücken Sie mal 'ne Rotte weiter nach unten. Ich möchte den unerwarteten Rittmeister gern an meiner grünen Seite haben. Vorausgesetzt, daß er noch über den Tisch klettern kann.« »Wird sofort gemacht!« Dem Kleinen stand der Atem still, das gab sicherlich ein Unglück. Er nahm eine Art von Bereitschaftsstellung ein, um bei einem Sturze zur Hand zu sein, aber die Befürchtung war grundlos. Herr von Foucar stieg sicher hinüber, nahm auf dem Stuhle Platz, den der lange Brinckenwurff soeben freigemacht hatte. Und ein paar Minuten später hatte er die Führung des Gespräches übernommen an dem runden Tische. Plauderte mit glänzender Laune über alles mögliche, erzählte kleine Anekdoten aus dem internen Betriebe des Generalstabes, bezauberte die ganze Gesellschaft. Der allgemeine Aufbruch fand später als sonst statt. Hermann von Brinckenwurff ging mit den beiden Brüdern Gorski nach dem Bahnhofe zu, im Hotel zum Kronprinzen hatte er sein Fuhrwerk eingestellt. »Ich kann mir nicht helfen,« sagte er, »der Mensch ist mir unsympathisch mit seinem sprunghaften Wesen. Schließlich ist er doch keine Primadonna im Regiment, die sich den Luxus gestatten darf, Launen zu haben! Wochenlang hat er uns geschnitten, mit einem Male taucht er auf, spielt den Liebenswürdigen und Geistreichen ...« »Entschuldige,« fragte Karl von Gorski, scheinbar harmlos, »wen meinst Du eigentlich?« »Na, Euren neuen Rittmeister, diesen Baron von Foucar!« »So, so! Dazu ließe sich bemerken, geistvolle Leute haben ein gewisses Recht, launenhaft zu sein, denn der Geist läßt sich nicht kommandieren. Etwas anderes ist es mit dem Stumpfsinn. Der ist bei seinem Besitzer immer gleichmäßig vorhanden. Man sagt nur ab und zu einmal 'Prost' -- was keine besondere Anstrengung kostet -- trinkt acht halbe Liter und fährt mit der Befriedigung, sich glänzend unterhalten zu haben, nach Hause.« Herr von Brinckenwurff begehrte auf. »Karlchen, wahr' Deine Zunge! Schon neulich hatte ich die Empfindung, Du legst es darauf an, Dich an mir zu scheuern.« Der Kleine stieß einen komischen Seufzer aus. »Da wunderst Du Dich darüber? Wo ich in Deine zukünftige Braut so unglücklich als nur irgend möglich verliebt bin? Mich tröstet nur eins: daß Du in Bälde nämlich den geliebten Topp Echtes am Abend entbehren wirst! Samt den Mikoschwitzen Deines Freundes Tonnchen, die Dir so viel Vergnügen machen. Dann mußt Du als ein gebändigter Herkules bei Deiner Omphale sitzen, die Spindel drehen und Heines Buch der Lieder deklamieren. Ich denke es mir wonnig!« Herr von Brinckenwurff lachte. »Entschuldige, Karlchen, daß ich Dich einen Augenblick ernst genommen habe. Aber das mit dem Herkules am Spinnrocken ist Phantasie. Oder vielmehr ganz richtig für die ersten paar Wochen. Nachher zieht man langsam die Kandaren an, lebt wieder, wie es einem paßt. Im ersten Jahre mault sie. Im zweiten hat sie so einen kleinen Quarrsack in der Wiege, da begibt sie sich.« »Sehr richtig! Und -- was ich schon immer fragen wollte -- gibt's Krebse bei Eurem Verlobungsdiner?« »Selbstverständlich! Schon seit acht Tagen lasse ich in der ganzen Umgegend sammeln. Kerle wie Hummern -- pro Nase gibt es mindestens ein ausgewachsenes Dutzend.« »Dann komme ich bestimmt. Für Krebse lasse ich mein Leben. Außerdem aber« -- seine Stimme klang plötzlich scharf -- »interessiert es mich immerhin, zu sehen, wie einer geborenen Gorski die Kandaren angezogen werden. Das überlegst Du Dir vielleicht noch! Na, gute Nacht, Hermann, ich muß jetzt nach rechts ab.« Er bog in eine Seitenstraße, die zu der dunklen Bahnhofsallee im rechten Winkel stand. Der Lange rief ihm nach: »Manchmal weiß man wirklich nicht, was man von Dir halten soll!« »Beruhige Dich,« rief er zurück, »manchmal weiß ich's auch nicht.« Die beiden Brüder Gorski schritten der gemeinschaftlichen Wohnung zu, der ältere sagte mißbilligend: »Du wirst den Hermann Brinckenwurff so lange anulken, bis er Dir eines Tages an den Hals fährt. Diese Anzapfung eben war doch zum mindesten höchst überflüssig!« »Vielleicht nicht so ganz! Im Gegenteil! Wenn ich so sagen darf, für mich eine Gewissensberuhigung. Neulich sagte ich, ich würde mich als Pythia frisieren. Mit 'nem Dreifuß. Morgen kaufe ich mir eine große Schere, reite nach Kalinzinnen, um -- möglicherweise -- einen Verlobungsfaden abzuschneiden!« »Karlchen, Du bist verrückt!« »Ah nein, mein Jungchen, sondern der einzig Vernünftige in der ganzen Pastete. Zwei Leutchen sind da drin, die aneinander vorbeigehen. Aus Mißverständnis. Die sollen sich aussprechen dürfen. Was sie nachher tun, ist ihre Sache. Das bin ich beiden schuldig. Ihr, weil ich mal blöd in sie verliebt war, dem anderen, weil ich vor einer Stunde ungefähr eine gewaltige Hochachtung vor ihm gekriegt habe. Fast schon Zuneigung. Und nicht zuletzt handle ich aus Familiengefühl. Es war schon einmal so ein Skandal in der Familie Gorski, vor jenen zwanzig oder mehr Jahren. Ich kenne ihn aus mangelnder Anciennität nur vom Hörensagen, aber ich kann ihn mir nachträglich vorstellen. Hinterher wird geschossen, die Leidtragende ist das arme Wurm von Frau, das sich ein paar Jahre zu früh verheiratet hat. Ehe sie den kennen lernte, der vielleicht besser zu ihr gepaßt hätte. Der nachher Hausfreund wird, weil der Herr Gemahl seine Zerstreuung in der Kneipe sucht.« »Und Hermann von Brinckenwurff? Der uns doch als Jugendfreund nahesteht?« Der Kleine hob die Achseln. »Der andere steht mir näher, seit einer Stunde. Einer mit Irrtümern und Fehlern vielleicht, aber ein Edelmann! Ich habe beschlossen, mir höhere Stiefelabsätze zuzulegen, weil er mich seiner Freundschaft würdigte. Um schon äußerlich diese neue Würde zu dokumentieren. Ich werde auch neue Visitenkarten drucken lassen, wie jener, dadurch berühmt gewordene Herr Müller: '=Ami de Beethoven!=' Das gibt immerhin ein gewisses Relief.« »Karlchen, ich glaube, Du bist betrunken!« »Möglich, Herr Majoratserbe, möglich. Aber was beweist das? Ich bin immer der Meinung, die genialsten Einfälle sind im Rausch zustande gekommen. Im Rausch, wo man mit beschwingter Phantasie aufs Ganze geht, statt sich an allerhand Kleinkram zu stoßen. Und jetzt lese ich auf Deinen Lippen das Wort 'Philosoph'. Da irrst Du Dich. Ich bin wirklich nur betrunken. Und morgen nachmittag reite ich nach Kalinzinnen, erzähl' der Annemieze, daß sie sich fälschlicherweise geärgert hat wegen einer ausgeschlagenen Einladung. Dann kann sie hinterher immer noch tun, wozu sie Lust hat. Den einen nehmen oder den anderen.« »Karlchen, misch Dich nicht in Dinge, die Dich nichts angehen! Neulich gabst Du mir doch selbst den Rat, den Daumen nicht in eine Türangel zu stecken!« »Das war neulich! Inzwischen aber bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß es unmöglich das Ideal einer Ehe sein kann, wenn der Gatte allabendlich in die Stadt fährt, um dickes Bier zu trinken. Stumpfsinnig dasitzt, bis der Leutnant Uhlenburg einen Witz erzählt, und dann sagt: 'Na prost! Sollst leben, Tonnchen!' Dazu ist mir unser Cousinchen zu schade!« 9. Die Augustsonne brannte mit sengenden Strahlen vom Himmel herab, auf den Roggenfeldern stand der liebe Erntesegen schon in Hocken. Nur der Weizen war noch zu schneiden und der Hafer, aber Gott allein wußte, ob die reife Frucht noch im Frieden in die Scheuern kommen würde. Allerhand wilde Gerüchte schwirrten in der Luft, flogen von Mund zu Mund. Und das abergläubische Landvolk sah unheilkündende Zeichen. Die Kraniche zogen früher als in anderen Jahren nach dem Süden, in dem Sternbilde des Bären stand eine feurige Rute. Mit bloßem Auge war sie noch schwer zu erkennen, aber sie wuchs und wurde größer wie damals im Kriegsjahre siebzig. Da ließen auch die Besonnenen sich hinreißen, und ein dumpfer Zorn sammelte sich allmählich in der Bevölkerung des Grenzlandes gleich einer Gewitterwolke. Was sollten diese immer neuen Beunruhigungen von rechts und links, von denen man in der Zeitung las; konnte man nicht in Frieden nebeneinander leben? Auch dem Langmütigsten lief einmal die Galle über, und dann gab es Kleinholz ringsum. Aber wenn schon einmal abgerechnet werden mußte, dann bald! Damit es endlich Ruhe gab. Den ewigen Alarmzustand hielt niemand mehr aus. Die fünfte Schwadron der Ordensburger Dragoner war auf Felddienstübung nach der Grenze zu. Patrouillen ritten im Vorgelände, brachten Meldungen von dem weitaus stärkeren Feind, der durch einen Rekognoszierungsvorstoß zu vorzeitiger Entwicklung gebracht werden sollte. Der Befehl, den der Führer erhalten hatte, war kurz und entsprach dem Ernstfalle, wie alle Uebungen, die der Oberstleutnant Harbrecht ansetzte. Fliehende Landbewohner hatten die Meldung gebracht, daß der Feind über die Dombrowker Berge im Anmarsch wäre. Rittmeister von Foucar bekam den Auftrag, seine Stärke und Zusammensetzung zu erkunden. Da traf er nach kurzer Ueberlegung seine Maßnahmen, ließ die Schwadron antraben. Während er an der Tête ritt, fuhr es ihm durch den Sinn, daß der jüngere Leutnant Gorski ihm in der vorgestrigen Nacht eine Art von Versprechen gegeben hatte. Ein Versprechen, das er am nächsten Morgen wahrscheinlich schon wieder vergessen hatte. Nichts deutete darauf hin, daß er ihm vielleicht etwas zu sagen hatte. Gelegenheit dazu wäre reichlich genug gewesen, als die Schwadron noch auf dem Kasernenhofe hielt. Er brauchte ja nur zu sagen: »Herr Rittmeister, ich war gestern in Kalinzinnen, habe Grüße zu bestellen.« Statt dessen hatte er, wie ihm scheinen wollte, geflissentlich zur Seite gesehen, als er mit fragendem Blick sein Auge suchte. Und es war schließlich erklärlich. Der Tag hatte ein anderes Gesicht als die Nacht -- in der Nacht versprach man manches, was man im hellen Tageslichte nicht halten konnte, weil sich dann die kühlen und nüchternen Erwägungen einstellten. Das wußte er selbst am besten ... Die Schwadron hatte den Beldahner Wald hinter sich, das Gelände wurde übersichtlicher. Im Hintergrunde standen die Dombrowker Berge, eine kahle Hügelkette, über deren Kamm die Grenze führte. Davor Oedland mit Wacholderbüschen, links im weiten Bogen eine zwanzigjährige Kiefernschonung, deren Rand von Infanterie besetzt war. Als die linke Seitenpatrouille der in Zugkolonne reitenden Schwadron auf dreihundert Schritt heran war, bekam sie Feuer. Eine Reihe blauer Uniformen tauchte auf, eine helle Kommandostimme klang klar herüber: »Auf die hinter der Patrouille anreitende Kavallerie ... Visier achthundert Meter ... Schnellfeuer ...« Leichte Wölkchen hoben sich am Waldrande, ein seltsames Knattern war vernehmbar wie das Rasseln einer Maschine. Gaston hob den Säbel, ließ rechtsum Kehrt schwenken, bis die Schwadron hinter einer Bodenwelle in Deckung war. Der erste Halbzug saß ab, eröffnete unter Begleitung von drei Flaggen, die die beigegebene Infanterie markierten, ein heftiges Feuer, das den Feind zur weiteren Entwicklung nötigen sollte. Aus einer Schlucht zwischen zwei Hügeln in der Front quoll Kavallerie, formierte sich in der Vorbereitung zur Attacke in Linie, auf dem Berge halb rechts zeigten sich gelbe Flaggen. Zwei Batterien Artillerie stellten sie vor. Da lachte Gaston kurz auf, es gab Gelegenheit, ein schneidiges Reiterstücklein auszuführen, das durchaus im Sinne der Uebung lag. Nicht umsonst hatte er in den vergangenen Wochen das Gelände an der Grenze durchstreift zu Rade oder im Sattel. Rechts von der Senkung, in der er hielt, führte eine breite Schlucht, die gedecktes Anreiten gestattete, in die Flanke der feindlichen Artillerie. Nur dreihundert Schritt ungefähr waren zum Schluß mit »Marsch, Marsch, Hurra!« zu durchreiten in offenem Feld, um sie zu überrennen und zu vernichten. Und im Ernstfalle hätte wohl mehr da oben gestanden als zwei plundrige Batterien, ein Schlag hätte es werden können, der den ganzen Erfolg des ersten Vorstoßes zum Scheitern brachte. Die Meldungen über das bisher Gesehene gingen nach hinten an den dicken Major von Schnakenburg, der auf dieser Seite die Uebung »beschiedsrichterte«, wie der respektlose Leutnantsausdruck diese Tätigkeit nannte. Um die in der Front anreitende Kavallerie kümmerte sich Gaston nicht. Die machte zunächst 'mal einen »Luftstoß«, weil er mit seinen hundert Männerchen nämlich nicht mehr da war. Weiter hinten aber geriet sie in das Feuer der Infanterie, das freilich nur durch einige geschwenkte Flaggen markiert wurde. Das Kommando ging durch halblaute Zurufe weiter, die Schwadron trabte an in Zugkolonne, die Schlucht war breit genug. Sie öffnete sich zu einem Hange, der zu der Bergkuppe führte. Gaston schwenkte den Säbel, ließ die Eskadron in Linie aufmarschieren, und dann klangen die Kommandos, die Trompetensignale schmetterten. »Zur Attacke Lanzen gefällt ... Marsch, Marsch, Hurra!« ... Wie eine Windsbraut fegte die Schwadron den sanftgeneigten Hang hinan, der Artillerie in die Flanke, mächtig erklang das Hurragebrüll aus hundert rauhen Kehlen. Der Rittmeister von Foucar sprengte auf die Kuppe, winkte mit dem Säbel in einer Art von Siegerfreude nach dem Tal hinab, zum Zeichen, daß das verwegene Reiterstücklein gelungen war ... Von der russischen Seite des Hügels kam ein fremdartig klingendes Hornsignal, der Boden erdröhnte unter Rossehufen. Gaston wandte den Kopf, eine Schwadron russischer Dragoner kam in Linie den Hang hinaufgesprengt, die Lanzen gefällt. Dreißig Schritt vor der Grenze hob der Führer den Säbel: »=Stoi!=« Die Dragoner fielen in Trab, um in Linie zu halten. Der linke Flügelunteroffizier des ersten Zuges schien jedoch die Herrschaft über seinen Gaul verloren zu haben, jagte weiter, über die Grenze. Der preußische Infanterieunteroffizier, der die Flaggen kommandierte, ein Koloß von sechs Fuß Größe, warf sich dem Gaul entgegen und riß ihn am Zügel in die Knie, so daß der Reiter kopfüber aus dem Sattel flog. Es war einer jener Augenblicke, in denen den Zuschauern das Blut in den Adern stillstand. Ein kleiner Funke sprang auf in einer mit Elektrizität überladenen Atmosphäre. Wenn man ihn nicht mit besonnener Hand dämpfte, konnte es unabsehbares Unheil geben. Aber es war eine höllische Schwierigkeit dabei. Man stand in diesem Augenblicke vor dem ganzen Vaterlande, durfte gerechtem Stolze nichts vergeben. Der Führer der Grajewoer Dragoner schrie mit zornrotem Kopfe etwas auf russisch hinüber. Gaston verstand genug, um zu wissen, daß der da drüben ungestüm und mit wenig gewählten Worten die Freigabe seines auf feindliches Gebiet geratenen Mannes forderte. Er wandte sich im Sattel, seine Stimme klang ruhig: »Oberleutnant Gusovius!« »Herr Rittmeister?« »Lassen Sie scharf laden!« »Zu Befehl! ...« Das war ein Bluff, seine Kerls führten nur Platzpatronen bei sich. Aber er wirkte. Der Offizier auf der anderen Seite verstummte plötzlich, als die Karabinerschlösser rasselten. Gaston ritt hart an die Grenze, salutierte mit dem Degen. »Herr Kamerad, ich bitte um die Mitteilung Ihrer Wünsche. Nur ich muß Sie darauf aufmerksam machen, auf deutschem Boden verstehe ich nur Deutsch!« Der Russe erwiderte den Salut und sprach mit finsterem Gesicht in dem harten Dialekt, der in den Ostseeprovinzen gesprochen wurde: »Errsuche höfflichst, meinen Unteroffizier freizugebben. Sein Gaul ist ein Durchgänger, er hatte durchaus nicht die Absicht, mit Ihnen auf eigene Faust Krieg anzufangen.« Gaston verneigte sich leicht im Sattel. »Das habe ich nicht einen Augenblick lang befürchtet.« Er rief über die linke Schulter: »Unteroffizier, geben Sie den Mann wieder frei. Er ist nur aus Versehen über die Grenze geritten.« Der baumlange Unteroffizier, der den Russen im Genick hielt, nahm die Hacken zusammen. »Zu Befehl, Herr Rittmeister!« Und mit einem gutmütigen Schubs gab er dem Gefangenen den Kragen frei: »Lauf, kleiner Russ', aber komm mir nich noch 'mal in die Finger! Sonst nehm' ich Dich unterm Arm nach Hause, mach' Biefstick aus Dir.« Die Ordensburger fünfte Schwadron lachte hell auf. Der Führer der Grajewoer Dragoner bekam einen roten Kopf. »Herr Kamerad, ich bitte, Ihrem Untergebenen diese Redensarten zu untersaggen!« »Herr Kamerad, dazu habe ich nicht die geringste Veranlassung,« war die kühle Antwort. »Es ist ein Zeichen für die gegenseitige Stimmung. Und jetzt wären wir wohl fertig?« »Serr wohl! Bis auf eine Kleinigkeit. Für ein ernsteres Zusammentreffen möchte ich gerne Ihren Namen wissen. Ich selbst heiße Freiherr von Heidedorff!« Gaston mußte unwillkürlich lächeln. »Mein Name ist Gaston Baron Foucar von Kerdesac.« Der andere stutzte. »Franzose?« »Nein, Deutscher! Auf Wiedersehen, Herr Kamerad.« Er salutierte und ließ seine Schwadron kehrtmachen, in Zügen den Weg zurückreiten im Schritt, den sie gekommen war. Und er lächelte noch, als er schon wieder an der Spitze seiner Truppe ritt. Der Russe da drüben war von Herkunft ein Deutscher. Ihm selbst floß französisches Blut in den Adern, und er führte eine deutsche Schwadron. Im Ernstfalle hätte er sie auch gegen die andere Seite geführt, ohne Wimperzucken. Gegen das Land, das seine Vorfahren vor hundert Jahren noch Vaterland genannt hatten. Was war da der Name? Wie man fühlte, war alles. Und in ernsterem Erwägen sprang ihn die Frage an, weshalb wohl zwischen den Völkern der alten Welt, die doch so viel Gemeinsames hatten an Blut und Kultur, diese feindselige Spannung entstanden war. Nur, weil die Franzosen den Verlust zweier Provinzen nicht verschmerzen konnten, die sie einstmals doch selbst geraubt hatten? Oder weil das große Raufen anhub um das letzte Stück Erde, das noch zu verteilen war? Oder weil ein Wettlaufen begonnen hatte, welche Nation am meisten Baumwolle, Kanonen und Maschinen verkaufte? Oder weil in dem ewigen Kreislauf des Geschehens nach dem verschwommenen Weltbürgertum vergangener Jahrhunderte eine Periode aufkam, voll von Egoismus? Müßig war es, darüber zu grübeln. Vielleicht lag die Lösung in einer Art von Eifersucht, welche Nation in Zukunft dazu berufen wäre, der Welt den Stempel ihres Wesens aufzudrücken. Das war ein hohes Ziel. Nur man konnte sich vorstellen, daß es auch im Frieden zu erreichen war, ohne daß Hekatomben von Menschen hingeschlachtet wurden ... Die Schwadron trabte in der breiten Schlucht zurück, die ihr den gedeckten Anritt ermöglicht hatte. Karl von Gorski spornte seinen hochbeinigen Trakehner vor, lenkte ihn neben den Fuchswallach seines Schwadronschefs. Er zitterte vor Begeisterung. »Verzeihen, Herr Rittmeister -- es ist gegen alle Kleiderordnung, ich weiß es, aber ich kann mir nicht helfen, und wenn ich dafür eingesperrt werde.« Er hob den rechten Arm, rief mit heller Stimme: »Dragoner! Unser Herr Rittmeister Baron von Foucar, unser Führer für Tod und Leben ...« Gaston fuhr dazwischen: »Leutnant von Gorski, sind Sie des Teufels?« Aber der Kleine ließ sich nicht beirren, schrie weiter: »unser Herr Rittmeister hurra, hurra, hurra!« In den staub- und schweißbedeckten Gesichtern wurden die Augen blank, dreimal rollte der Ruf gleich krachenden Salven durch die Mittagsstille und brach sich im Widerhall an den Wänden der Talschlucht. Gaston wollte seinem Leutnant eine energische Strafpredigt halten, aber auch die anderen Offiziere der Schwadron kamen herzugeritten, Oberleutnant Gusovius streckte seinem Vorgesetzten in impulsiver Aufwallung die Hand entgegen. »Nichts für ungut, Herr Rittmeister, unser Kleiner hat nur das ausgelöst, was uns allen auf der Seele lag. Es war großartig! Und wir alle sind stolz darauf, daß wir dabei waren!« »Na also, dann besten Dank, meine Herren! Sie aber, Herr von Gorski, möchte ich bitten, Ihrem Temperament in Zukunft ein wenig den Zügel anzulegen, Selbstverständlichkeiten nicht immer gleich mit Hurra zu begrüßen.« Der Kleine machte ein zerknirschtes Gesicht, aber der Schalk blitzte ihm aus den Augen. »Sehr wohl, Herr Rittmeister! Sonst käme die fünfte Schwadron Dragonerregiments Graf Schmettau aus dem Hurraschreien überhaupt nicht mehr heraus.« Da mußte auch Gaston auflachen und freute sich herzlich, daß seine Leute an ihm hingen. Vom Waldrande her kam der Offiziersruf, auf einem niedrigen Hügel hielt der Regimentskommandeur zur Kritik. Die Schwadron wurde von dem Wachtmeister weitergeführt, die Herren setzten ihre Gäule in beschleunigte Gangart, Karl von Gorski ritt neben seinem Chef. »Herr Rittmeister, ich bitte um Entschuldigung, aber ich konnte vorhin wirklich nicht anders! Die Begeisterung hatte mich so gepackt.« »Ist ja schon erledigt!« »Gehorsamsten Dank! Und es scheint, ich kann heute überhaupt nicht dicht halten. Eigentlich nämlich hatte ich mir vorgenommen, auch über 'was anderes nicht eher zu sprechen, als bis ...« »Na schon raus damit! Was ist los?« »Also ich war gestern drüben in Kalinzinnen. Ich habe Grund zu der Annahme, Herr Rittmeister werden demnächst noch mal eingeladen werden.« Gaston fühlte, wie es ihm ganz licht und weit wurde in der Brust. »Wahrhaftig?« »Sehr wohl, Herr Rittmeister. Ich habe sogar triftigen Grund!« »Na, dann schön Dank, Kleiner! Heute mittag trinken wir die beste Flasche, die im Kasinokeller liegt.« »Zu Befehl, Herr Rittmeister! Schon am frühen Morgen, als ich aufstand, sagte ich zu mir selbst: Karlchen, paß auf! Heute gibt es noch einen Lichtpunkt in Deinem kümmerlichen Leutnantsleben.« Der Oberstleutnant Harbrecht hielt mit dem Major vom Stabe, seinem Adjutanten und einem Hauptmann von der Infanterie auf der Hügelkuppe, die vom Uebungsfelde heransprengenden Offiziere rangierten sich im Kreise. Gaston trieb seinen Fuchswallach drei Schritt vor, bat um die Erlaubnis, eine Meldung abstatten zu dürfen, und berichtete kurz über den Zwischenfall an der Grenze. Der auf demselben Gelände manövrierenden russischen Schwadron wäre ein Gaul mit dem Reiter durchgegangen auf preußisches Gebiet. Er habe geglaubt, aus diesem Versehen keine Staatsaktion machen zu müssen, und befohlen, den Russen wieder freizulassen, ohne erst an höherer Stelle um Genehmigung nachzusuchen. »Hat sich der Herr von drüben gebührend entschuldigt?« »Er bat höflich, seinen Mann, der ein durchgängerisches Pferd ritte, wieder freizulassen.« »Dann ist's gut, danke!« Gaston ritt wieder in den Kreis, und nun kam eine Kritik wie ein Hagelwetter. Der Oberstleutnant Harbrecht pflegte kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Zunächst bekam die Infanterie ihr Teil, weil sie sich durch eine einzige Schwadron Dragoner zu vorzeitiger Demaskierung ihrer gedeckten Stellung hätte verleiten lassen. Dann aber prasselte es auf die Führer der zweiten und dritten Schwadron hernieder, daß die beiden Rittmeister wie zwei begossene Pudel dasaßen. Was die Herren sich wohl dabei gedacht hätten, als sie aus ihrer Bereitschaftsstellung zum Angriff übergingen, ohne die Stärke des Feindes auch nur annähernd durch die in diesem Falle gebotene Nahaufklärung festzustellen? Und den Führer der zweiten, den Rittmeister von Lüttritz, fragte er noch im besonderen, weshalb er es wohl verabsäumt hätte, der Artillerie eine ausreichende Bedeckung beizugeben. Wo er sich doch durch einen einzigen Blick auf die Karte hätte überzeugen müssen, daß ein kurz entschlossener Führer auf der Gegenseite nicht lange fackeln würde, der feindlichen Verteidigungsstellung durch einen schneidigen Vorstoß die Zähne einzuschlagen. Dem Oberstleutnant Harbrecht war in gerechtem Zorn der Atem ausgegangen, er mußte eine kurze Pause machen. Karl von Gorski neigte sich nach rechts, flüsterte leise: »Du, Hans.« »Was' los?« »Ein Jammer, daß die Kommandeure nicht befugt sind, die Todesstrafe zu verhängen. Wenn die verbrecherischen Rittmeister immer gleich geköppt würden, würde das die Avancementsverhältnisse der unteren Chargen doch sehr günstig beeinflussen.« »Sehr richtig, aber halt den Schnabel, -- jetzt kommen wir an die Reihe!« »Aber mit Schlagsahne natürlich ...« Und die Prophezeiung traf ein. Der Oberstleutnant sang einen wahren Hymnus auf den Führer der fünften Schwadron. Seine Dispositionen wären klar und richtig gewesen, der plötzliche Angriff aber auf die feindliche Artillerie ein Meisterstück kavalleristischer Taktik. Den günstigen Augenblick wahrnehmen und danach kurz entschlossen handeln, das machte den echten Reiterführer aus! Und er schilderte, wie sich im Ernstfalle die Affäre weiter entwickelt hätte. Die Artillerie zum Schweigen gebracht und überritten, die feindliche Kavallerie im Rücken gefaßt, zu Krautsalat verhauen ... Nach allem Ungewitter schloß der Kommandeur mit der humoristischen Wendung, es wäre immerhin ein Trost, daß die »feindliche Armee« die Niederlage bezogen hätte, nicht aber die eigene. Der Kreis löste sich auf, die drei Schwadronen, die an der Uebung beteiligt gewesen waren, ritten ins Quartier zurück. Die Fünfte, als die Siegerin, hatte die Ehre, hinter der Regimentsmusik zu reiten, aus nächster Nähe die aufmunternden, lustigen Weisen zu hören. Und auf dem Heimwege bekam der Führer der Fünften noch eine neue Ladung von Lobsprüchen auf sein lorbeergeschmücktes Haupt. Karl von Gorski hatte dem Etatsmäßigen eine begeisterte Schilderung von dem Zusammentreffen an der Grenze gegeben, der dicke Major von Schnakenburg übermittelte sie dem Kommandeur, und dieser setzte sich in Trab, lenkte seinen Gaul neben den Fuchswallach Gastons. »Hören Sie mal, lieber Rittmeister, Sie haben mich vorhin ein bißchen beschwindelt. Der Zwischenfall mit den Russen war bedeutend sengeriger, als Sie ihn mir in Ihrer Bescheidenheit darzustellen beliebten!« Gaston lächelte. »Verzeihung, aber ich konnte doch wohl nicht gut melden: Herr Oberstleutnant, es ist mir soeben gelungen, den Ausbruch des großen europäischen Krieges zu verhindern?« »Na,« meinte der Kommandeur, »wenn auch nicht ganz so doll, aber in dem Augenblick roch es doch sehr nach Pulver! Die Stimmung ist zum Platzen gespannt, und es gehört nicht allzu viel Phantasie dazu, sich auszumalen, was alles hätte geschehen können, wenn Sie die Angelegenheit nicht in einer so -- ich möchte sagen -- überlegenen Art und Weise in Ordnung gebracht hätten!« Gaston verneigte sich leicht im Sattel, die Hand am Helmrande. »Gehorsamsten Dank! Es erfüllt mich mit Stolz, daß Herr Oberstleutnant mit mir zufrieden sind.« »Papperlapapp, 'zufrieden'! Imponiert hat's mir, wie Sie das gemacht haben! Das glänzendste war, daß Sie mit Platzpatronen scharf laden ließen. Ich habe hell aufgelacht, als Major von Schnakenburg mir es eben schilderte! Und jetzt muß ich Ihnen was erzählen. An dem Tage, als Sie Ihre Schwadron übernahmen, war ich zufällig mit meinem Töchterchen auf dem Großen Platz.« »Ich entsinne mich sehr wohl. Die junge Dame hat mich mit ihren blauen Guckäugelchen recht scharf gemustert.« »Ja! Und Sie haben ihr sehr gut gefallen. Als Sie mit Ihrer Schwadron einige wohlgelungene Bewegungen ausgeführt hatten, sagte sie: 'Papa, ich glaube, wir haben mit diesem Herrn von Foucar eine glänzende Akquisition gemacht'. Ich stimmte ihr schon damals zu, aber heute möchte ich's mit besonderem Nachdrucke wiederholen, daß ich ganz und gar der Meinung meines Töchterchens bin! Und meinem alten Freund Wegener dankbar, daß er Sie mir ins Regiment gebracht hat. Na, und inzwischen habe ich ja auch zu meiner Freude gehört, daß Sie sich aufgemacht haben, den bisher versäumten Anschluß an die Kameraden zu suchen.« »Sehr wohl, Herr Oberstleutnant! Aber ich möchte gehorsamst bemerken, dieses Uebermaß von Lob erdrückt mich. Ich bitte, mich Ihrem Fräulein Tochter angelegentlichst zu empfehlen und hinzuzufügen, daß ihre so klar prüfenden Augen mir damals ein ganz besonderer Ansporn waren.« Der Kommandeur lachte. »Ne, lieber Foucar, den zweiten Teil richt' ich nicht aus. Das Jöhr ist sowieso schon verschossen in Sie. Meine gute Alte auch. Und aus ihren Erzählungen entnehm' ich, noch nie hätte sich die gesamte Weiblichkeit im Städtchen für einen neu ins Regiment gekommenen Herrn so interessiert wie für Sie. Sie hätten 'so was an sich ...' Na, ich will Sie nicht noch eitler machen, wie Sie wahrscheinlich wohl schon sind.« Gaston erwiderte darauf nichts, er spürte einen leichten Stich im Herzen. Es hatte wohl seine Richtigkeit, daß die Frauen in ihm etwas Besonderes sahen. Sonst wäre es doch kaum erklärlich gewesen, daß die da in Berlin ihm schon nach der ersten flüchtigen Begegnung eine Zuneigung geschenkt hatte, die sonst vielleicht erst nach längerer Bekanntschaft zustande kam. Ein anderer an seiner Stelle wäre mit dieser Mitgift wahrscheinlich ein skrupelloser Don Juan geworden. Er aber war, dank der Erziehung durch Frauenhand, ein respektvoller Jüngling geblieben, der in jedem Weibe etwas Heiliges sah. Und mit einer gewissen Bitterkeit mußte er daran denken, wie anders vielleicht alles gekommen wäre, wenn er in jener Nacht in dem Ballokal gesagt hätte: »Charmant, gnädige Frau, ich wohne Rankestraße Numero so und so viel. Falls Sie mir dort gelegentlich einmal Ihr Herz ausschütten wollen, stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.« Das wäre der richtige Ton gewesen für diese frivole Gesellschaft. Statt dessen war er gleich mit dem schweren Geschütz eines veritablen Heiratsantrages herausgerückt. Lächerlich war das gewesen! Und noch lächerlicher, daß er hinterher die ganze Angelegenheit so tragisch genommen hatte, daß er darüber sein wirkliches Glück verscherzte. Aber, Gott sei Dank, noch winkte ja ein Hoffnungsstrahl nach der finsteren Nacht der Verzweiflung. Und den gedachte er am Zipfel zu fassen, sich draufzuschwingen, wie das Schneiderlein im Märchen, das auf einem feinen Lichtfaden in den Himmel kletterte. Der Regimentskommandeur an seiner Seite traktierte schon eine Weile lang ernsthafte Angelegenheiten. Daß die Augen- und Ohrenzeugen der Grenzaffäre nachher auf dem Regimentsbureau zusammenzukommen hätten, um über den Vorgang ein genaues Protokoll aufzunehmen. Für den Fall, daß die Sache auf irgend einem Wege in die Zeitungen käme. Man wüßte ja, wie es in solchen Fällen zuginge. Die Kerls erzählten den Vorfall in der Kneipe, zwei Tage später stände er, in entstellter Form und auf dem Umwege über das Ordensburger Blättchen, in den Berliner Zeitungen. Da gälte es, der Brigade rechtzeitig einen Bericht einzureichen, der ihr gestattete, erforderlichen Falles mit einem Dementi aufzuwarten. Und dann kam der Kommandeur auf sein Steckenpferd, den zukünftigen Feldzug zwischen, gleichermaßen mit allen Errungenschaften der Neuzeit ausgestatteten Nationen. Grauenhaft müßte der werden -- von der Zeit, in der er den Russisch-Japanischen Krieg als Attaché mitgemacht hätte, wüßte er ein Lied davon zu singen! Das Schlachtfeld von einer unheimlichen Leere, nur die Shrapnells schwirrten in der Luft auf ausgerechnete Ziele. Und die beiden Heere buddelten sich gleich Maulwürfen aneinander heran. Zur Nachtzeit überfiel man sich gegenseitig, wie im Dunkeln schleichende Mörder gingen die Truppen aufeinander los, statt wie ehrliche Kämpfer im Tageslicht. Drahthindernisse mußte man zerschneiden, Wolfsgruben überklettern, und dann gab's ein Ringen in stockfinstrer Nacht, Mann gegen Mann mit Bajonett und Kolben. Gott allein mochte wissen, wie die Taktik in zwanzig Jahren aussah, wenn die Vervollkommnung der Kriegswaffen, die einen Angriff auf gedeckt liegende Infanterie bei Tage schon jetzt fast unmöglich machte, so weiter ging. So sprach der Kommandeur, der neben ihm reitende Untergebene hörte respektvoll zu, aber seine Gedanken waren ganz wo anders. Bei einer, nach der er sich all diese Wochen in Sehnsucht verzehrt hatte, und die er jetzt in gemessener Frist wiedersehen sollte. Die ihm zugesagte nochmalige Einladung war eine Verheißung besonderer Art, da mußte er sich mit einigem auseinandersetzen, ehe er sie annahm. Und da quoll ein Gefühl -- wie ihm scheinen wollte -- gesunder Selbstsucht in ihm empor. Sollte er sein ganzes Leben in Sack und Asche vertrauern, weil eine unglückliche Frau sich an ihn gehängt hatte? Mit einer Leidenschaft, die er nicht erwidern konnte? Zum Teufel noch mal, er hatte sie nicht eingeladen, sich in ihn zu verlieben! Und von dem Wort, das er ihr gegeben, hatte er sich zweimal gelöst. Damit sollte sie sich abfinden, wie mit manchem anderen in ihrem bewegten Leben. Eine Art von Haß stieg in ihm auf. Ohne seine pinselige Gewissenhaftigkeit hätte er schon seit Wochen vielleicht ein anderes Leben führen können. Ein Leben, bei dem man fröhlich war mit den Fröhlichen, wie ein rechter Reitersmann, der sich um das Gestern nicht quälte und um das Morgen. Und, wenn er schon beim Anreiten gegen den Feind sein Herz beschwerte, auch wußte, weshalb. Weil daheim im Quartier eine zurückblieb, um derenwillen er gerne heil wiedergekommen wäre. Eine Reine und Feine, von der er genau wußte, daß sie in ihrer Vergangenheit nichts zu verstecken hatte. Die Schwadronen, die an der Uebung teilgenommen hatten, zogen mit klingendem Spiel zum Städtchen hinein, auf dem Kasernenhofe wurden sie vom Kommandeur entlassen. Die Offiziere der Fünften ersuchte er, in die Regimentskanzlei zu kommen, um dort, noch unter dem frischen Eindruck, alle Einzelheiten des Zusammentreffens mit den russischen Dragonern festzustellen, in einem für die Brigade bestimmten schriftlichen Berichte niederzulegen. Und da ergab es sich, daß Karl von Gorski, weil er auf dem Heimwege den Vorgang wohl ein halb Dutzend Male mit Begeisterung erzählt hatte, am besten Bescheid wußte, sich noch jedes einzelnen Wortes entsann, das von hüben und drüben gewechselt worden war. Da übertrug der Kommandeur ihm die Abfassung des Berichtes, wie er mit einem Lächeln hinzufügte, zur Belohnung für den bei der Affäre bewiesenen Eifer. Erst als die anderen Herren schon die Treppe hinabgingen mit klappernden Säbeln, dämmerte dem Kleinen eine Ahnung, daß er diesmal der Hereingefallene war. Mit einem wahren Dreimännerdurst in heißer Schreibstube an einem ellenlangen Bericht bauen mußte, während sein Bruder Hans mit dem Oberleutnant Gusovius in der schattigen Laube des Kasinogartens jetzt schon das erste Glas Bayrisch über die ausgedörrte Zunge rinnen ließ. Da verschwor er sich heftig, niemals mehr wieder vorwitzig mit Kenntnissen zu prunken, deren Anerkennung von seiten der Vorgesetzten ehrenvoll war, aber mit vermehrter Arbeit verbunden. Als Gaston durch die schattenlose Hauptstraße ritt, den Burschen hinter sich, winkte von einem mit Blumen bestandenen Balkon ein Batisttüchlein, eine helle Frauenstimme rief: »He, Herr von Foucar!« Er hob den Kopf, Frau von Lüttritz, die jugendliche Gattin des Kommandeurs der zweiten Schwadron, stand zwischen blühenden Geranien, lachte ihn fröhlich an. Da ritt er näher: »Gnädige Frau befehlen?« »Sie möchten mal zu meinem Mann 'raufkommen! Er probiert gerade ein neues Erfrischungsgetränk, das ich heute erst aus Königsberg bekommen habe. Melonenextrakt mit eisgekühltem Selter und einem leichten Schuß Kognak. Davon will er Ihnen großmütig 'was abgeben, trotzdem Sie ihn in den Dombrowker Bergen so greulich besiegt haben!« Er rief zurück: »Gnädige Frau, mir läuft das Wasser im Munde zusammen, aber ich muß leider nach Hause. Ich erwarte eine Nachricht, von der für mich allerlei abhängt. Außerdem bin ich in einem absolut nicht präsentablen Zustande ... einen halben Zentimeter Chausseestaub innerlich und äußerlich.« »Glauben Sie, mein Mann sieht anders aus? Und manchmal erfährt man schon unterwegs mündlich, was man erst zu Hause schriftlich zu finden hofft!« Da lachte er und schwang sich aus dem Sattel und stieg mit froher Erwartung im Herzen die Treppe empor. In dem behaglichen Wohnzimmer, dessen Fenster zur Abwehr der draußen herrschenden Hitze durch dicke Vorhänge verdunkelt waren, empfing ihn das Ehepaar Lüttritz. Eine junge Dame, die mit dem Rücken zum Fenster gesessen hatte, stand auf und kam näher. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, denn seine Augen waren noch vom hellen Sonnenlicht geblendet und mußten sich erst an das Halbdunkel gewöhnen. Aber er spürte im Herzen, wer da auf ihn zukam. Frau von Lüttritz sagte lächelnd: »Die Herrschaften sind sich wohl nicht mehr fremd. Fräulein von Gorski hatte im Städtchen zu tun und war so liebenswürdig, mich zu besuchen.« Gaston verneigte sich schweigend. Eine seltsame Beklommenheit hatte ihn plötzlich überfallen, wie vor einer kommenden Entscheidung. Annemarie streckte ihm die Hand entgegen. Ihre Stimme klang ein wenig unsicher. »O ja, ich entsinne mich. Ich kam damals mit Papa aus der Königsberger Klinik.« Er wollte ihre Hand an die Lippen ziehen, sie aber wehrte ab, und eine feine Röte stieg in ihren Wangen empor. Frau von Lüttritz mischte mit Eifer und Sachverständnis das kühlende Getränk, ihr Gatte, ein gutmütiger, dicker Herr mit blondem, kurzgestutztem Barte, sah ihr interessiert zu. »Nimm nicht so viel von dem teuren Kognak rein, Lottchen! Nachdem er mich schon militärisch geschädigt hat, der brave Foucar, ist es doch nicht nötig, daß er mich jetzt arm macht.« Man setzte sich lachend um den Tisch herum, das Gespräch wandte sich den Ereignissen des Vormittags zu. Und der Rittmeister von Lüttritz bekannte ehrlich, er wäre heilfroh, nicht an der Stelle seines Kameraden Foucar gewesen zu sein. Er hätte den ersten zornigen Zuruf des russischen Schwadronschefs wahrscheinlich mit einer hahnebüchenen Grobheit beantwortet, und der Ramsch wäre fertig gewesen! Und da Annemarie noch nicht wußte, um was es sich handelte, schilderte er den Zusammenstoß an der Grenze, wie er ihm von dem jüngeren Gorski auf dem Heimwege erzählt worden war. Er wurde ordentlich lebhaft dabei und schloß mit der neidlosen Anerkennung, er hätte eine so elegante Abfuhr nicht fertig gekriegt mit seinem schwerfälligen Temperament. Dazu gehörte doch wohl ein Tröpfchen von dem Blute derer, die gewöhnt wären, das leichte Florett zu führen statt des schweren Säbels. Die Damen hatten mit glänzenden Augen zugehört. Gaston verwahrte sich dagegen, daß man aus einer Unbeträchtlichkeit eine Heldentat machte, aber sein Protest klang nicht mehr so echt wie noch wenige Stunden zuvor, als er den kleinen Gorski anschrie. Nun, wer an seiner Stelle hätte wohl anders gehandelt, wenn vor der heimlich Geliebten sein Loblied gesungen wurde? Frau von Lüttritz wurde plötzlich ins Kinderzimmer abgerufen. Sie warf im Abgehen dem Gatten einen Blick zu. Da entsann sich dieser mit einem Male, er hätte der im Nebenzimmer wartenden Ordonnanz ein paar eilige Unterschriften zu geben, und entschuldigte sich mit der Versicherung, er komme sofort wieder zurück. Gaston merkte, daß freundliche Hände ihm die Gelegenheit zu einer Aussprache bereitet hatten, und da gab er sich einen Ruck. Wer mochte wissen, wie lange die Zeit des Alleinseins dauerte, und dann war der günstige Augenblick verpaßt. Nur, als er zu sprechen begann, klang seine Stimme heiser vor Erregung. »Mein gnädiges Fräulein, Sie werden sich gewundert haben, daß ich Ihrer so freundlichen Einladung bisher nicht gefolgt bin. Das hatte seine Gründe. Ich schleppte etwas mit mir herum, wovon ich mich erst später freigemacht habe. Damit wollte ich Ihnen nicht unter die Augen treten. Ich erschien mir zu unwürdig. Ehe ich aber weiter spreche, müssen Sie die Güte haben, mir eine kurze Frage zu beantworten. Mir ist erzählt worden, Sie würden sich demnächst verloben. Ist das wahr?« Annemarie saß verwirrt da, die Wangen mit Blut übergossen. Sie selbst hatte ihre Freundin Lüttritz gebeten, den Herrn von Foucar anzurufen, wenn er vorüberreiten würde, weil sie ihm etwas zu sagen hätte. Jetzt aber war sie erschreckt von dem Ungestüm, mit dem er auf sein Ziel losging. Und es dauerte ein Weilchen, bis sie die Antwort fand. »Nein,« sagte sie leise, »ich habe ihm geschrieben, er dürfte sich keine Hoffnungen mehr machen. Er würde selbst am besten wissen, weshalb nicht mehr. Also ich werde mich nicht verloben.« Da überflutete ihn das Glück, machte ihn übermütig und froh. Er lachte auf. »Das wollen wir denn doch nicht verreden! Ich rechne sogar sehr stark darauf, aber mit mir!« Und als sie ihr Gesicht noch tiefer senkte, griff er nach ihrer Hand. »Fräulein Annemarie, das ist wie heute vormittag, wenn der Augenblick da ist, muß man nicht zaudern, sondern handeln. Seit dem ersten Tage, wo ich Sie gesehen habe, bin ich krank vor Sehnsucht, und daß ich Ihnen auch nicht gleichgültig bin -- also sonst wären Sie doch nicht hier! Na und jetzt ...« Ob er sie nun an der Hand in die Höhe gezogen hatte, oder ob sie aus eigenem Antrieb aufgestanden war, wußten sie später nicht zu sagen. Das war wohl ganz von selbst gekommen, daß sie mit einem Male in seinen Armen lag. So standen sie eine ganze Weile lang, wie in eine ferne Welt entrückt, in der lauter Glück herrschte und Seligkeit. Küßten sich stumm und freuten sich, daß sie zueinander gefunden hatten, als es noch Zeit war. Und dann saßen sie wieder auf ihren Stühlen, schwatzten törichtes Zeug, wie es alle Verliebten taten seit Anbeginn der Welt. Frau von Lüttritz kam wieder ins Zimmer und schlug in komischem Erstaunen die Hände zusammen. »Um Gottes willen, Annemieze, wie siehst Du aus! Im Gesicht ganz bemalt und die Bluse voll Flecken. Ich hatte mir's gleich gedacht, Du hättest zu der Unterredung mit dem bestaubten Reitersmann 'was Helleres anziehen sollen.« Da warf Annemarie sich ihr mit Lachen und Weinen in die Arme: »O Gott, Lottchen, das ist ja ein ganz schrecklicher Mensch! Meinst Du, er hätte mich gefragt? Er nahm mich einfach in seine Arme.« Frau von Lüttritz klopfte ihr den Rücken. »Aber es war Dir nicht unangenehm! Das ist die Hauptsache. Na, ich gratuliere herzlich.« Der Hausherr kam aus dem Nebenzimmer, merkwürdigerweise mit einer eisgekühlten Flasche Sekt in der Linken, während hinter ihm der Bursche ein Tablett mit vier Gläsern trug. Es folgte eine frohe Viertelstunde, in der man an nichts anderes dachte als an das Glück des Augenblicks. Der Rittmeister von Lüttritz hob sein Glas. »Na prost, junges Brautpaar, von Herzen alles Gute! Jetzt fange ich auch an, vor Ihren strategischen Talenten Respekt zu kriegen, lieber Foucar. Das war eben noch fixer als die Eroberung der beiden Batterien. Aber jetzt würde ich an Ihrer Stelle 'was opfern, wie der hochselige König Polykrates. So viel Glück an einem Tag war ja noch nicht da.« Die Gläser klangen aneinander, draußen auf dem Vorplatze schrillte die Türglocke. Unwillkürlich horchten die Vier im Zimmer auf. Eine barsche Stimme war zu hören: »Ist Fräulein von Gorski bei Ihnen?« »Ich weiß nich, Herr Leutnant,« antwortete der Bursche, »ich muß mal erst fragen.« »Um Gottes willen,« sagte Annemarie halblaut, »sein Bruder! Er kommt, mich zur Rede zu stellen.« Herr von Lüttritz kratzte sich den Kopf. »Ich hab's vielleicht beschrien. Der Ernst des Lebens meldet sich! Und was macht man da bloß?« Gaston richtete sich auf. »Wenn Sie _mir_ gestatten würden, lieber Lüttritz, den Leutnant von Brinckenwurff in Ihrem Arbeitszimmer zu empfangen?« »Nicht um alle Länder, die das Meer umspült. Sie kennen ihn nicht so gut wie ich. Der riskiert Kopf und Kragen, wenn er sich 'was auf die Hörner genommen hat. Sie können sich nicht vorstellen, was das Festlein, das wir eben feierten -- also was für einen Affront das für die Familie Brinckenwurff bedeutet. Da muß die Angelegenheit diplomatisch behandelt werden!« Während die beiden Herren noch sprachen, war der Bursche ins Zimmer gekommen und hatte gefragt, welchen Bescheid er dem draußen wartenden Herrn von Brinckenwurff ausrichten solle. Annemarie warf den Kopf zurück, ihre feinen Nasenflügel bebten vor Erregung, aber ihre Stimme klang frei: »Erlaubst Du, liebes Lottchen? Dann sagen Sie dem Herrn Leutnant, ich bin hier!« Ein baumlanger Offizier trat auf die Schwelle, in dem bartlosen, fast noch knabenhaften Gesicht stand eiserne Entschlossenheit. Er verneigte sich in gemessener Haltung. »Gnädige Frau -- Herr Rittmeister ... ich bitte um Entschuldigung, wenn ich störe ... mein Bruder sitzt in meiner Wohnung, ganz niedergebrochen und zerschmettert ... bei dem nahen Freundschaftsverhältnis, in dem Sie zu Fräulein von Gorski stehen, werden Sie wohl schon wissen, weshalb. Und da werden Sie es mir vielleicht nachsehen, daß ich hier so formlos eingedrungen bin. Ich bitte um die Erlaubnis, Fräulein von Gorski unter vier Augen sprechen zu dürfen.« Annemarie war zu Gaston getreten. Sie hob den Kopf, aus ihren blauen Augen sprühte heller Zorn. »Hat Dein Bruder Hermann nicht meinen Brief bekommen?« »Allerdings. Aber wäre es nicht besser, wenn wir die Erörterung darüber ...« »Ich habe vor keinem Menschen 'was zu verbergen. Und meinem Brief nichts hinzuzufügen. Er war doch deutlich genug?« »Nicht ganz. Es fehlte jeder vernünftige Grund. Auf ein paar unbewiesene Klatschereien hin oder aus einer augenblicklichen Laune macht man einen anständigen Menschen doch hier nicht vor aller Welt zum Kindergespött.« Annemarie lachte bitter auf. »Ach, darum geht es Euch? Und 'Laune' nennst Du das, wenn ich mich nächtelang gewunden habe vor Qual und Scham? Als ich die Wahrheit erfahren hatte ... Und jetzt sag' Deinem Bruder, es ist vorbei. Ich habe mich eben mit Herrn von Foucar verlobt. Weil ich ihn achte und liebe. Deinen Bruder aber ...« Frau von Lüttritz schrie auf. »Um Gottes willen, Kind, bedenk', was Du sprichst!« Annemarie biß einen Augenblick lang die Zähne aufeinander, dann machte sie eine heftige Bewegung. »Er hätte mich nicht herausfordern sollen!« Und vor Erregung bebend wandte sie sich zu dem jungen Offizier. »Grüß' Deinen Bruder, die Annemarie von Gorski läßt sich keine Kandaren anlegen! Und er soll seinem Schöpfer danken, daß ich ihn nur verachte. Wenn ich ihn lieb gehabt hätte, hätte ich ihn mit der Reitpeitsche vom Hofe gejagt für den Schimpf, den er mir angetan hat. Während er bei mir um das Jawort bettelte, dachte er an eine andere. Und an was für eine! An eine, zu der man im Dunkeln schleicht, und der hat er dasselbe geschworen wie mir.« Die Stimme brach ihr, sie tastete mit der Hand rückwärts. Gaston trat hinzu und fing sie auf. Der jüngere Brinckenwurff zuckte mit den Achseln. Sein Gesicht blieb ruhig, nur die Stimme flatterte ihm ein wenig. »Das sind unbewiesene Klatschereien, ich wiederhole es nachdrücklich. Mit Dir, Annemarie, kann sich mein Bruder jetzt wohl nicht mehr auseinandersetzen. Aber es sind ja andere vorhanden, die Deine Worte vertreten werden.« Gaston hob die Hand. »Das letzte war überflüssig, Herr von Brinckenwurff. Es dürfte sich empfehlen, daß Sie meiner Braut weitere Betrachtungen über die Empfindungen Ihres Herrn Bruders ersparen. Wir beide werden uns an anderem Orte aussprechen.« Der Lange klappte die sporenbewehrten Absätze zusammen. »Sehr wohl, Herr Rittmeister! Darf ich fragen, wann Herr Rittmeister heute nachmittag für den Beauftragten meines Bruders zu sprechen sein werden?« »Zwischen fünf und sechs. Bis dahin habe ich Dienst!« »Sehr wohl, Herr Rittmeister. Gnädige Frau, ich bin todunglücklich, daß ich in Ihr friedliches Haus eine solche Aufregung gebracht habe -- es war nicht meine Schuld. Empfehle mich ganz gehorsamst.« Er schloß hinter sich die Tür, Annemarie lehnte mit geschlossenen Augen an der Brust ihres Verlobten, die beiden anderen in dem halbdunklen Zimmer standen schweigend. Wie ein aus heiterem Himmel plötzlich hereinbrechendes Gewitter war das eben gekommen ... Nach einem kleinen Weilchen kratzte Herr von Lüttritz sich den Kopf: »Verflucht, verflucht! Wenn man das hätte voraussehen können.« Seine Gattin fuhr auf. »Ah nein! Das alles ist doch Unsinn! Wohin sollen wir denn kommen, wenn ein junges Mädchen sich nicht mehr frei entschließen kann, ohne daß der abgewiesene Freier sofort mit der Pistole herumfuchtelt? Aber wir stehen und schwatzen, und das arme Mädel kommt nicht wieder zu sich.« Frau von Lüttritz eilte hinaus und kehrte nach kurzer Zeit mit einer Flasche Kölnischen Wassers zurück. Gaston hatte die immer noch Bewußtlose zum nächsten Stuhle getragen, erst unter den Bemühungen der Frau von Lüttritz kam sie wieder zu sich. Aber es dauerte eine Weile, bis sie sich entsann, was eben geschehen war. Da entschuldigte sie sich bei ihrer Freundin wegen der Ungelegenheiten, die sie ihr bereitete. Sonst wäre es nicht ihre Art, gleich einem nervösen Pensionsfräulein in Ohnmacht zu fallen. Und mit einem matten Lächeln fügte sie hinzu, das läge wohl daran, daß sie in den letzten vierundzwanzig Stunden vor Zorn, Aufregung und Bangen keinen Bissen über die Lippen gebracht hätte. Herr von Lüttritz lachte geräuschvoll auf, bedeutete dem neben ihm stehenden Rittmeister von Foucar durch einen heimlichen Rippenstoß das gleiche zu tun. »Ha ha, ja natürlich ... und dann auf den nüchternen Magen 'ne Verlobung ... zu komisch ist das! Na dann, Lottchen, sorg dafür, daß unsere kleine Freundin 'was zu essen kriegt. Wir aber, lieber Foucar, lassen die beiden Damen wohl jetzt allein. Vielleicht holen Sie Ihr Fräulein Braut in einer Stunde ab, um mit ihr nach Kalinzinnen zu fahren. Zu dem zunächst ergrimmten, dann aber in Rührung zerschmelzenden Herrn Schwiegerpapa.« Annemarie streckte ihrem Verlobten die Hand entgegen. »Es wird nicht so schlimm werden -- dazu hat er mich viel zu lieb.« Herr und Frau von Lüttritz hatten sich diskret abgewandt, da stand sie auf, bot Gaston ohne Zieren die Lippen. Dann aber raunte sie an seinem Ohr: »Verzeih', daß ich mich vorhin so fortreißen ließ! Es war viel Angst dabei, sie könnten uns wieder auseinander bringen. Und weißt Du, wann ich mich in Dich verliebt habe? Als Du mir in der Eisenbahn damals das Buch aufhobst. Deine lieben blauen Augen hatten es mir angetan.« Er nahm sich gewaltsam zusammen, obwohl es ihn wie ein körperlicher Schmerz durchzuckte. Diese selben Worte hatte vor langen Wochen eine andere gesprochen. Oder geschrieben, das wußte er nicht mehr genau. Aber mit diesen sentimentalen Erinnerungen mußte es endlich aus sein. Er war doch kein Verbrecher, dem bei jeder Gelegenheit das Gewissen schlagen mußte. Herr von Lüttritz hatte seinen Gast bis auf die Straße hinausbegleitet. »Gott sei Dank,« sagte er, »Fräulein von Gorski scheint es gar nicht gehört zu haben, daß der ältere Brinckenwurff Ihnen ans Leder will. Und es ist gut so, daß sie sich nicht unnütz beunruhigt. Mein liebes Lottchen hat mir vorhin den Denkapparat geschärft. In diesem Falle wäre es wirklich Unsinn, wenn Sie sich ihm stellen wollten. Sie können doch -- weiß Gott -- nichts dafür, daß Herr von Brinckenwurff sich bei Fräulein von Gorski einen Korb geholt hat. Also werde ich mir meinen besten Frack anziehen und zum Kommandeur steigen. Ich schätze, er wird danach Gelegenheit nehmen, den eigentlich törichten Konflikt im Keim zu ersticken.« Gaston hob den Kopf. »Heißen Dank, lieber Lüttritz, für die gute Absicht, aber ich möchte Sie bitten, diesen Besuch zu unterlassen. Die zukünftige Baronin Foucar von Kerdesac hat sich das Vergnügen gemacht, einen Lästigen temperamentvoll in seine Schranken zu weisen. Mir steht es nicht zu, daran Kritik zu üben. Es hat ihr so beliebt, und ich habe nichts weiter zu tun, als für die Folgen einzutreten!« »Donnerwetter noch mal,« sagte der dicke Rittmeister in ehrlicher Bewunderung, »ein Standpunkt! Ein bißchen =Ancien régime= ... aber ihr mit dem französischen Blut: Immer noch '=mon coeur aux dames='!« »Ja,« erwiderte Gaston, »das ist ein Teil aus dem Wappenspruch der Foucar. Jedenfalls werde ich Sie bitten, mir bei der kommenden Auseinandersetzung als Sekundant zur Seite zu stehen.« »Aber mit Vergnügen! Dem Ehrenrat werden wir dann sagen, es hätten so triftige Gründe vorgelegen, na und so weiter, =et cetera p. p.=« »Selbstverständlich!« Der Bursche, der mit den beiden Gäulen im Schatten des Torwegs auf die Wiederkehr seines Herrn gewartet hatte, kam herbei, Gaston schwang sich in den Sattel. »Na dann, heißen Dank, lieber Lüttritz, für all Ihre Liebenswürdigkeit und auf Wiedersehen.« »Auf Wiedersehen.« Gaston ritt zum Städtchen hinaus seinem kleinen Häuschen zu, das inmitten eines großen Obstgartens eine Strecke weit vor dem Tore lag. So recht heimlich und abgeschlossen. Wenn man sich darin einspann mit seinen Gedanken, war man allein wie auf einer Insel. Die Eisen seines Irländers klapperten auf dem holperigen Steinpflaster, ganz unversehens flog ihn eine Erinnerung an. An die Szene, die ihm vor Wochen die alte Hexe gemacht hatte in seiner Wohnung in der Rankestraße. Allerhand Drohungen hatte sie ausgestoßen, wenn er Josepha die Treue bräche. Darüber lachte er natürlich, heute wie damals. Was sollte sie ihm anhaben? Das Unheil kam schon ganz von selbst, aber von anderer Seite. Das liebe blonde Mädel war ein wenig zu temperamentvoll gewesen. Und er hatte für sie einzutreten, denn sie war seine Braut. Nur er hätte sich für solche Fälle eifriger im Pistolenschießen üben sollen. Darin war er kein sonderlicher Held ... genau wie sein Vater damals, als er für die hohe Dame eintrat, deren Kavalier er war ... Das Häuschen, das der pensionierte Kanzleibeamte auf der anderen Straßenseite erbaute, war schon halb fertig. Ueber den unverputzten Ziegelmauern hoben sich die Dachsparren, eine Richtkrone hing am Giebel. Der Besitzer stand am Zaun und dienerte mit abgenommener Mütze. Während Gaston die Rechte dankend an den Helmrand hob, glaubte er in einer der noch unverglasten Fensteröffnungen ein gelbes Frauenantlitz zu erblicken, mit einem bunten Kopftuch darüber. Ein eiskalter Schauder flog ihm über den Rücken in der Glut des Spätsommertages, aber das lag bloß an seinen überreizten Nerven. Bunte Kopftücher wurden von fast allen masurischen Bauernweibern getragen. Nur die Art des Bindens war eine andere, aber darin hatte er sich vielleicht getäuscht. Als er schärfer hinblickte, war das gelbe Gesicht in der Fensteröffnung da drüben verschwunden. 10. Der alte Herr von Gorski auf Kalinzinnen hielt neben einem gewaltigen Getreidestoggen auf freiem Felde, der langsam in den Rachen einer mit Dampf betriebenen Dreschmaschine wanderte. Oben fielen die körnerbeschwerten Garben hinein, die kleinen Hämmer rasselten und trommelten. In einem einzigen Strom rieselte der grauglänzende Erntesegen in die bereitstehenden Säcke, die Spreu türmte sich zu Haufen, und die leergedroschenen Bunde wanderten auf einem Riemengang zur Seite, um von zulangenden Händen zu einem neuen Stoggen getürmt zu werden. Das nach dem alten Preußengotte Perkuhn benannte Leibroß, ein Gaul von der Größe und Stärke eines Kürassierpaukenpferdes, stand ruhig unter der schweren Last seines Herrn. Nur von Zeit zu Zeit prustete es schnaubend, wenn ihm die feinen Getreidespelzen, die der Luftzug von der Maschine herüberbrachte, in die Nüstern fuhren. Herr von Gorski sah auf den rieselnden Strom der Roggenkörner, aber er hatte an dem über alles Erwarten reichlich ausfallenden Segen keine rechte Freude. Wie lange mochte es noch dauern, so erwog er in sorgenden Gedanken, daß auf diesem Boden hier in Frieden gesät und geerntet wurde? Die Sturmzeichen mehrten sich. Von dem Vorstande seiner Partei hatte er die vertrauliche Mitteilung empfangen, die Regierung bereite eine Heeresverstärkung vor, die an die Opferwilligkeit des ohnedies mit Steuern überlasteten Volkes bisher unerhörte Anforderungen stellen würde. Und es gälte, die Vertrauensmänner im Kreise zu überzeugen, daß diese Verstärkung nichts anderes wäre als die notgedrungene Antwort auf im Kommen begriffene Rüstungen der Nachbarn. Vielleicht, daß es dadurch gelänge, den Zusammenstoß noch um einige Zeit hinauszuschieben. Und das verdroß den alten Herrn, dem von den reisigen Vorfahren her streitbares Blut in den Adern floß. Viel würdiger wäre es ihm erschienen und zugleich richtiger, wenn der Michel mit der starken Faust auf den Schild gehauen hätte: »Hier heran, so Ihr was von mir wollt! ... Krieg? ... Ist mir recht! Lieber als diesen faulen Frieden, an dem wir uns langsam verbluten. Und dieses heimliche Spinnen im Dunkeln wird auf die Dauer unerträglich!« Und von den Sorgen um die leidige Politik kam der alte Herr zu denen im eigenen Hause ... In vierzehn Tagen sollte seine Tochter sich dem Manne verloben, den er ihr schon vor langer Zeit ausgesucht hatte. Weil er ihn für tüchtig hielt und an seiner Seite das geliebte Kind nicht zu entbehren brauchte. Da drüben hinter dem blauen Streif des Waldes hob sich der alte Turm des Schlosses Orlowen. Zweimal am Tage konnte er hinüberreiten, wenn ihn die Sehnsucht trieb, die Sehnsucht nach dem lieben blonden Mädel, das in seinem einsamen Herzen ein Sonnenstrahl gewesen war. Der zukünftige Bräutigam konnte den Tag kaum erwarten, an dem er endlich das Jawort erhielt. Sie aber entzog sich ihm, so oft sie nur konnte. Ging mit verschlossenem und verhärmtem Gesicht herum, als trüge sie an einem geheimen Kummer, und gab auf besorgte Fragen ausweichende Antworten. Ein paar Tage nach der Rückkehr aus der Königsberger Klinik hatte es damit angefangen. Vorher war sie ein lustiges und unbekümmertes Mädel gewesen, hatte an seinem mehr langweiligen als schmerzhaften Lager geplaudert wie ein Starmatz, vorgelesen und gesungen, um ihm die Zeit zu kürzen, alles in überquellender Laune und Lebensfreudigkeit. Ordentlich hell wurde es jedesmal in dem nüchternen Zimmer, wenn sie hereinkam, und jetzt ging sie herum wie ein Schatten von dem, was sie früher gewesen war. Da forschte er natürlich nach der Ursache dieser Veränderung, aber der Verdacht, den er zuerst gefaßt hatte, bestätigte sich, Gott sei Dank, nicht. Aus dem interessanten und so vielbesprochenen Herrn von Foucar, den sie auf der Reise damals kennen gelernt hatte, machte sie sich nichts. Im Gegenteil, sie meinte, daß ihr das Verhalten der Ordensburger Weiblichkeit recht unwürdig und unbegreiflich vorkäme. Von ihrer Freundin Lüttritz hätte sie gehört, daß verschiedene junge Damen der Gesellschaft, die Töchter des Gymnasialdirektors, des Landgerichtspräsidenten und noch etliche andere ihre Spaziergänge jetzt zum Polnischen Tor hinaus unternähmen, an dem Häuschen des Rittmeisters von Foucar vorbei, statt wie früher nach dem nahen Beldahner Walde. Geradezu verächtlich wäre das, sich so anzubieten. Das nahm er mit Befriedigung zur Kenntnis, aber es brachte ihn der Lösung, weshalb sein liebes Mädel nun eigentlich das Köpfchen hängen ließ, nicht näher ... Und seine Gedanken flogen in eine Zeit zurück, in der er an einer anderen diese augensichtliche Veränderung des Wesens wahrgenommen hatte von ausgelassener Laune zu Trübsal, bis er nach langer Unsicherheit zu der trostlosen Gewißheit gekommen war. Aus einer lächerlichen Ursache war er an jenem Morgen von der Fahrt zur Treibjagd wieder umgekehrt. Weil er in der Eile des Aufbruches vergessen hatte, sich mit Zigaretten zu versorgen. Da ließ er den Wagen am anderen Parkende halten, eilte zu Fuß ins Haus zurück. Und erst das erschreckte Gesicht seines Dieners, eines schuftigen, bestochenen Kerls, löste in ihm den entsetzlichen Verdacht aus. Da rannte er nach dem Schlafzimmer, die Tür war verschlossen. Unter einem Fußtritt brach sie in Splitter, ein Glück war es, daß er keine Waffe bei sich hatte. Die Frau schrie gellend auf in Todesangst, der Baron Totberg verneigte sich lächelnd. »Keine unnützen Emotionen, Herr von Gorski, ich stelle mich Ihnen zur Verfügung. Ich war im Begriff, Ihre Frau Gemahlin zu fragen, ob sie die Meine werden wollte. Ort und Zeit sind ein wenig ungewöhnlich, ich gebe es zu, aber es dürfte sich empfehlen, keine Katastrophe zu veranstalten, sondern mich in ordnungsmäßigem Verfahren hinzurichten. Andernfalls würde ich mich zur Wehr setzen, und der Skandal würde zum Himmel stinken.« Da ließ er ihn schweigend den Rückzug gewinnen durch das Balkonfenster in den Park. Die Frau warf sich ihm schreiend zu Füßen. Sie könnte nichts dafür, wie ein Blitz wäre es in ihre Seele gefahren, als sie den anderen zum ersten Male erblickte. Sie hätte mit sich gerungen in namenloser Qual, aber die Leidenschaft wäre stärker gewesen als die Pflicht gegen Mann und Kind. Und dann hatte er seine Rache genommen. Den Verführer fraßen schon lange die Würmer, die Frau aber trieb sich als eine Ausgestoßene in der Welt herum. Herzzerreißend waren ihre Briefe ... Das letzte Geld hatte er nach Rußland geschickt, wo sie bei Verwandten einen kärglichen Unterschlupf gefunden hatte, das bittere Brot der Fremde aß und sich noch immer mit Selbstvorwürfen zerfleischte, daß sie damals nicht genug Charakterfestigkeit besessen, gewissenlosen Einflüsterungen Widerstand zu leisten. Das waren nachträgliche Ausreden, gewiß. Doch ab und zu kamen ihm wohl Gedanken, die mit den altüberkommenen Selbstverständlichkeiten schwer vereinbar waren. Ob es damals nicht besser gewesen wäre, dem bunten Vogel, der sich bei ihm langweilte, die Freiheit zu geben? Statt den niederzuschießen, von dem sie sich aus ungewohntem, einförmigem Dasein eine Erlösung erhoffte. Er hatte damals vielleicht auch manches verabsäumt bei der an Zerstreuungen aller Art gewöhnten jungen Frau, die ihm aus geräuschvollem Leben in die Einsamkeit gefolgt war aus Liebe ... Darum spähte er manchmal sorgenvoll das Wesen seiner Tochter, ob sie von diesem flatterhaften und unruhigen Sinn vielleicht etwas geerbt hätte, sich gleich der Mutter einem posierenden Blender ohne Widerstand gefangen geben könnte. Und heute sprang ihn zum ersten Mal eine Wahrnehmung an, daß ihm vor Erregung die den Zügel haltende Hand zitterte: genau so war es damals gewesen! Da hatte auch eine über die Damen des Städtchens, die sich dem interessanten Fremden würdelos anboten, höhnisch und verachtungsvoll gespottet, weil sie selbst sich in Eifersucht verzehrte. Aber das war doch Unsinn, sein liebes Mädel hatte diesen Herrn von Foucar nur ein einziges Mal gesehen! Und der hatte es nicht einmal für nötig befunden, der Einladung von Annemarie zu folgen, der Einladung, mit der er damals so wenig einverstanden gewesen war, daß er es unterlassen hatte, sie zu bestätigen ... Ueber die kahlen Roggenstoppeln kam von Orlowen her ein Reiter gerast, als gälte es, in einem Jagdrennen den ersten Preis zu gewinnen. Dem Gaul flog der weiße Schaum von der Gebißstange, auf drei Schritt Entfernung riß ihn der Reiter zusammen, daß er in der Hinterhand einknickte, sich rücklings fast überschlagen hätte. Im Sattel saß Hermann von Brinckenwurff, sein Gesicht war verstört, die Augen lagen ihm tief im Kopfe. »Jetzt weiß ich Bescheid, weshalb sie immer nicht mit Ja oder Nein 'rausrücken wollte!« schrie er ohne jede Einleitung neben der geräuschvoll arbeitenden Dreschmaschine. »Annemarie hat sich eben mit dem Rittmeister von Foucar verlobt!« Dem alten Herrn griff eine kalte Hand nach dem Herzen, aber er bezwang sich mühsam. »Junge, ich glaub', Du bist nicht recht bei Trost! Sie hat ihn meines Wissens doch nur ein einziges Mal gesehen?!« »Das ist in diesen modernen Zeiten vielleicht genug! Die Frauenzimmer hier rennen ihm ja alle nach, wie verrückt benehmen sie sich. Wie die Hühner, wenn man einen fremden Hahn zwischen sie gesetzt hat. Da wackeln sie alle kokett mit dem Pürzel und ersterben in Zerflossenheit, nur weil er ein paar ausländ'sche Federn trägt!« Herr von Gorski winkte dem Erregten, ihm ins Feld hinaus zu folgen, und legte ihm begütigend die Hand auf die Schulter. »Na na na, Hermann! Ich will's Deiner Erregung zugute halten, aber so spricht man nicht von meiner Tochter! Und jetzt klar und deutlich, was ist los?« Der Lange, der neben ihm ritt, schluckte auf. »Da ist nicht viel zu erzählen. Heute früh bekam ich den Absagebrief. Ich wüßte schon weshalb -- keine Ahnung hatte ich! Ich telephonier' bei Euch an, der Diener sagt mir, das gnädige Fräulein wär' in die Stadt gefahren, wahrscheinlich zu ihrer Freundin Lüttritz. Ich lauer' meinen Bruder Adolf ab, der auf Felddienstübung war, und lass' sie stellen. Da gibt es eine dramatische Szene. Allerhand Zwischenträgereien sind am Werk gewesen. Sie sagt, sie müßte mich verachten, und wirft sich diesem Herrn von Foucar an den Hals. Als seine Braut! Mein Bruder Adolf fand darauf, Gott sei Dank, a tempo die passende Antwort. Aber ich gedenke außer diesem interessanten Herrn Rittmeister noch einem anderen an den Kragen zu fahren. Diesem frechen Lausbub, Deinem Neffen Karl, mit seiner Kodderschnauze! Der hat das ganze Unglück angerichtet -- ich kann ihn, Gott sei Dank, auf einem Wort festnageln, das er nur allein der Annemieze hinterbracht hat!« Herr von Gorski hob die Hand. »Was war das für ein Wort?« »Ach Gott, was man so in gereizter Stimmung hinspricht, wenn man dazu ein paar Schoppen im Leibe hat. Und noch außerdem gehänselt wird, von so einem kleinen Frechdachs. Da habe ich gesagt, ich würde ... ja also, ich würde die Annemarie mir schon bändigen. Das hat er ihr hinterbracht.« Der alte Herr ritt eine Weile lang schweigend, in Nachdenken versunken. Endlich -- sie bogen in die lange Allee, die vom Kätnerdorfe zum Schlosse führte -- fing er wieder an zu sprechen. »Das mit den Forderungen überlegst Du Dir wohl noch! In Anbetracht dessen, daß damit jede -- vielleicht noch mögliche -- Einigung im Guten ausgeschlossen wäre. Ich möchte meine Tochter nicht im Mittelpunkt eines Skandals sehen. Das mit diesem Herrn von Foucar hoffe ich ihr auszutreiben. Das ist vielleicht nur eine vorübergehende Laune. Und wenn Du gesonnen bist, an Deiner Werbung festzuhalten ...« »Selbstverständlich, lieber Onkel Gorski! Jetzt, wo ich sie verlieren soll, merke ich erst eigentlich, wie lieb ich sie habe. Weißt Du, vorher nahm man das als eine Art von Selbstverständlichkeit hin, aber jetzt bäumt sich mir da drinnen alles auf, wenn ich daran denke, daß vielleicht ein anderer -- na schön ... da nützt kein Beschwichtigen! Wenn die Sache nicht restlos aus der Welt geschafft wird, hat dieser interessante Herr nur noch einen Tag zu leben.« »Lieber Hermann,« sagte der alte Herr, »das sind frivole Redensarten! Mir selbst würde ein Lieblingswunsch zerstört, wenn meine Tochter Dich nicht heiraten würde. Aber sie ist ein ernsthafter Mensch. Ich kann mir kaum vorstellen, daß sie wegen eines einzigen, unbedachten Wortes ...« Hermann von Brinckenwurff machte sich etwas an dem Zaumzeug seines Gauls zu schaffen. »Gott, lieber Onkel, es wird viel geklatscht. Kleinigkeiten werden zu Riesenverbrechen aufgeblasen. Ich bin nicht anders als andere junge Leute von meinem Kaliber. Und den Rittmeister von Lüttritz lang' ich mir auch einmal bei Gelegenheit. Weil seine Frau zu dieser Kuppelei die Hand geboten hat.« Der alte Herr fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Mir ist das eben wie ein Gußregen über den Kopf gepladdert. Du wirst begreifen, daß ich im Augenblick keinen Entschluß fassen kann. Nur eins darfst Du glauben: wenn meine Tochter Dich zu Unrecht schlecht behandelt hat, aus einer unerfindlichen Laune, gibt's kein Erbarmen. Launen gibt's nicht, wenn Du Dir nichts vorzuwerfen hast ... na, ist gut!« Auf der Freitreppe, deren schlanke Säulen von hundertjährigem Efeu überwuchert waren, standen zwei Hand in Hand. Annemarie und der Rittmeister von Foucar. Herr von Gorski schwang sich aus dem Sattel, stieg mit finsterer Stirn die Stufen empor. »Herr von Foucar, ich glaube zu wissen, weshalb Sie hier sind. Ich sage Ihnen gleich, ich bin dessen nicht froh. Ehe ich Ihnen jedoch die Antwort gebe, muß ich ein paar Worte mit meiner Tochter sprechen.« Der wartende Reitknecht hatte den alten Perkuhn nach dem Stall geführt. Hermann von Brinckenwurff hielt noch im Sattel, die drei anderen standen auf der Freitreppe. Annemarie preßte einen Augenblick lang die Hand auf die Brust, dann trat sie vor. »Lieber Vater, ich glaube, es wird nicht nötig sein, daß Herr von Brinckenwurff sich hier noch länger aufhält. Ich wundere mich, daß er die Stirn hat, mir unter die Augen zu treten, nach dem, was ich seinem Bruder gesagt habe.« »Liebe Annemarie,« warf der im Sattel ein, »das sind doch törichte Klatschereien ...« »Ah nein, sondern die Wahrheit, die schimpfliche Wahrheit! Durch einen blöden Zufall habe ich sie erfahren von zwei Mägden, die im Garten Bohnen pflückten, ohne mich zu sehen. Die unterhielten sich über das Schicksal, das mir bevorstände als Gattin des Orlower jungen Herrn. Und jetzt helf' mir Gott, wenn ich zwischen Euch Männern nicht zimperlich spreche wie ein junges Mädchen, das von nichts eine Ahnung hat. Ich bin ja kein Kind mehr! Mit allem, was lange Zöpfe trüge in Orlowen, hätte ich die Gunst meines zukünftigen Herrn Gemahls zu teilen, vom Stubenmädchen bis hinauf zur Mamsell! Ich flog am ganzen Körper, aber hielt mich still, um noch mehr zu hören. Und eine Stunde später ritt ich nach Orlowen und fischte mir die Mamsell. Erst leugnete sie, dann wurde sie frech. Ich sollte mir auf meine Schönheit nur nichts einbilden. Der junge Herr fände sie viel schöner und hätte ihr versprochen, sie gleich nach der Verheiratung wieder nach dem Hof zu bringen, wenn seine unbequeme alte Dame nach der Uebergabe des Gutes nichts mehr zu sagen hätte! Da spie ich aus und schrieb Dir, Hermann, den Absagebrief. Und jetzt verantworte Dich, wenn Du kannst!« Der im Sattel lachte verlegen auf. Das Spiel war verloren, jetzt galt es nur, einen nicht unrühmlichen Rückzug zu gewinnen. »Weißt Du, Annemieze, man sollte es kaum glauben, daß Du ein Mädel vom Lande bist! Das ist doch überspannter Kram, und nenn' mir nur einen der Herren in unserem Kreise, der als Lediger ...« Gaston wollte vortreten mit einem heftigen Wort auf den Lippen. Der alte Herr aber hob die Hand. »Hermann, ich frage Dich auf Ehre und Gewissen als ein Edelmann den andern: Was meine Tochter da eben sagte, ist das wahr?« Der andere blickte trotzig in die Höhe. »Wozu soll ich's leugnen -- etwas ist schon dran! Nur die Geschichte ist maßlos übertrieben natürlich. Ich weise es ganz energisch zurück, daß ich deswegen auf ein Armesünderbänkchen soll. Ich lebe, wie es mir paßt. Und habt Euch bloß um Gottes willen nicht so! Schließlich bin ich doch ein Brinckenwurff! Wenn ich Deiner Tochter die Ehre antue, um sie zu freien, soll sie froh sein, statt hinter mir her zu spionieren!« Aus der Brust des alten Herrn kam ein Stöhnen. »O Du ... jetzt habe ich Dich auch erkannt! Aber eins sage ich Dir: Wenn Du nach denen suchst, die meine Tochter vertreten, zuerst stehe _ich_ da und lass' mir dieses Recht nicht nehmen! Hörst Du, zuerst! Halt' Dich zu Hause, damit Dich meine Zeugen treffen! Und jetzt marsch, fort von meinem Hof!« Hermann von Brinckenwurff verneigte sich im Sattel. »Das letzte hättest Du Dir sparen können! Und Gott sei davor, daß ich mich an Deinem weißen Haupt vergreife. Es sind Jüngere da, an die ich mich halten kann!« Er wandte seinen Gaul mit einem Schenkeldruck, ritt in gestrecktem Galopp die lange Allee zurück, die über das Kalinzinner Kätnerdorf nach Orlowen führte. Annemarie warf sich mit einem Aufschluchzen an die Brust ihres Vaters. »Um Gottes willen, Papa, das leide ich nicht, daß Du ... Und was heißt das, daß er sich gewissermaßen herabgelassen hätte, wenn er um mich warb?« Herr von Gorski antwortete mühsam: »Das ist eine gedankenlose Frechheit gewesen, mein Kind, nichts weiter. Weil die Brinckenwurffs sich bekanntlich einbilden, sie wären mit dem lieben Herrn Jesus Christus zugleich in dieses heidnische Land gekommen!« Und nach einer kleinen Pause der innerlichen Sammlung fuhr er fort: »Herr von Foucar, ich bitte Sie, mir es nachzusehen, wenn ich Sie jetzt nicht als Gast in mein Haus lade. Ich muß mich erst selbst zurechtfinden, ehe ich einen Entschluß fassen kann.« Gaston verneigte sich respektvoll. »Sehr wohl, Herr von Gorski. Es wird sich eine Stunde finden, in der Sie die Güte haben werden, mir zuzuhören. Ihr Fräulein Tochter hatte die Gnade, meiner Werbung Gehör zu schenken. Morgen werde ich anfragen, wann Sie für mich zu sprechen sind.« Herr von Gorski nickte schweigend, Annemarie bot ihm die Hand zum Kusse. In ihren Augen glaubte er jedoch eine leichte Enttäuschung zu lesen. Aber er konnte ihr nicht helfen. Es wäre gar leicht gewesen, sich einen effektvollen Abgang zu sichern. Sich als ein Edelmütiger aufzuspielen, der es als seine Pflicht ansähe, für den Vater des geliebten Mädchens in die Bresche zu treten. Das war eine Selbstverständlichkeit, über die sprach man nicht. Und als ihn der Kalinzinner Sandschneider, aus dem er jetzt die Zügel führte, in schneller Fahrt zum Städtchen zurücktrug, überlegte er, wie er am raschesten wohl dem Herrn von Brinckenwurff die Forderung zustellen könnte, ehe ihm der alte Herr zuvorkäme. Persönlich nach Orlowen zu fahren und mit ein paar kurzen Worten Ort und Zeit festzusetzen, ging nicht an. Nach altüberkommenem Brauche, der in manchen Fällen vielleicht lächerlich sein mochte, aber an dem man nicht zu rütteln hatte. Und da fiel ihm ein, daß er auf halbem Wege zur Stadt die Möglichkeit hatte, den Rittmeister v. Lüttritz telephonisch anzurufen, er möchte ohne jede Zeitversäumnis nach Orlowen reiten, dem Herrn von Brinckenwurff die Forderung zu überbringen. Wegen einiger unziemlicher Worte, die er sich Fräulein von Gorski gegenüber herausgenommen hätte. Dann war die Angelegenheit erledigt, und Annemarie brauchte sich nicht um ihren alten Vater zu sorgen. Unter den rostbraunen Kiefern des Beldahner Waldes, zwischen denen die sandige Straße hinführte, stand die sonnendurchglühte Luft wie in einem Backofen. Der nur unwillig trabende Gaul hatte nasse Flanken, unter dem Riemenzeug bildete sich weißlicher Schaum, und Hunderte von blutgierigen Bremsen schwirrten ihm um die Stellen, an denen er wehrlos war. Gaston versuchte, ihm mit der Peitsche zu helfen, so gut es ging, sobald er aber in Schritt fallen wollte, trieb er ihn unbarmherzig vorwärts. Er hatte keine Zeit zu verlieren, wenn er dem alten Herrn zuvorkommen wollte. Und wie den armen Gaul die Bremsen, stachen ihn die Gedanken. Daß nach allem menschlichen Ermessen sein Glück nur kurzen Bestand hatte -- morgen um diese Zeit war er schon ein toter Mann. Weil der andere aus seiner Kaste in der Handhabung der Waffe mehr Uebung besaß. Er selbst hatte vor wichtigeren Aufgaben dazu keine Zeit gehabt. Ein junger Herr, dessen reichliche Mußestunden ihm gestatteten, sich zu einem Virtuosen im Pistolenschießen herauszubilden, schoß ihn morgen über den Haufen. Einer, dessen Leben für die Allgemeinheit so unbeträchtlich war, als wenn da um den schwitzenden Gaul eine Bremse mehr flog oder weniger, streckte einen Mann in den Sand, der in schweren Zeiten dem Vaterlande vielleicht Nützliches hätte leisten können. Verrückt war das, wenn man sich die Anschauungen derer zu eigen machte, die, von keiner Tradition beschwert, an jedem durch Jahrhunderte geheiligten Brauch zersetzende Kritik übten. Entweder gehörte man zu der Kaste, die den Begriff der persönlichen Ehre mit besonderen Gesetzen umschrieben hatte, oder man stand draußen. Ein Aussuchen von Fall zu Fall gab es da nicht. Und eine unwillige Regung erhob sich in ihm gegen sich selbst, daß er auch nur einen Augenblick lang eine Anwandlung gehabt hatte, die, genau besehen, reichlich nach Feigheit schmeckte. Als wenn er nach einem Auswege gesucht hätte. Eins aber konnte ihm niemand verwehren, daß er mit Trauer daran dachte, das Leben aufs Spiel setzen zu müssen, als es eigentlich erst anfing. Das Leben voll von Glück, von dem er zuweilen in müßigen Stunden geträumt hatte ... Vor einer kurzen Weile erst hatte er einen Vorgeschmack von den Seligkeiten bekommen, die seiner vielleicht gewartet hätten. Als er auf dem Heimwege mit seiner langen und aufrichtigen Beichte fertig gewesen war. Da hatte die neben ihm sitzende Annemarie geantwortet: »Was soll ich dazu sagen? Du hast mich damals doch nicht gekannt. Wir alle gehen durch Irrtümer. Ehe ich Dich kannte, gab es Zeiten, in denen ich mit meinem Los ganz zufrieden war.« Und, weil sie mit den Zügeln in der Hand auf den Weg passen mußte, neigte sie sich nur ein wenig zur Seite und bot ihm die Wange. Ihm aber weitete sich die Brust unter einem bisher nicht gekannten Gefühl. Von aller Erdenschwere befreit flog man dahin in einer einzigen Glückseligkeit ... Zwischen grünen Tannenwipfeln leuchtete ein rotes Ziegeldach. Die Waldschenke neben den Schießständen, von denen in kurzen Zwischenräumen gellende Kugelschläge durch die Mittagsschwüle drangen. Wie scharfes Peitschenknallen. Der Wirt Burdeyko, ein hagerer kleiner Mann mit ausdrucklosem Gesicht, kam eilig durch den Garten, als das Fuhrwerk mit dem schaumbedeckten Gaul auf der Straße hielt. »Guten Tag, Herr Rittmeister. Was steht zu Diensten?« Gaston vermochte im ersten Augenblick nicht zu antworten. Aefften ihn seine erregten Nerven, oder war das Wirklichkeit, was er eine Sekunde lang hinter einem rasch wieder vorgezogenen Fenstervorhang zu sehen geglaubt hatte? Ein gelbes Gesicht mit einem bunten Kopftuch darüber, anders geknüpft, als es hier die Bauernfrauen trugen. Er deutete mit der Peitsche nach dem Hause. »Was ist das für ein altes Weib in Ihrer Wohnstube, Herr Burdeyko?« Der andere blickte erstaunt auf. »Wie meinen der Herr Rittmeister? Ein altes Weib? Da müssen Sie sich versehen haben. Nur mein Kellnerjunge ist im Hause. Sonst keine Menschenseele.« »So, nicht? Na, ist gut! Kann ich bei Ihnen ungestört telephonieren?« »Aber gewiß doch, Herr Rittmeister. In der Zelle neben meinem Kontorchen. Ich hab' ja auch manchmal nötig, was zu sprechen, wo kein andrer was davon hören darf.« Gaston gab die Zügel dem hinter ihm sitzenden Kutscher und ging über den kiesbestreuten Gartenweg mit einem Angstgefühl im Herzen, das ihm den Schweiß aus allen Poren trieb. War er denn im Begriff, verrückt zu werden, weil er am hellen Tage Spukgestalten sah? Wenn er sich vielleicht auch beim ersten Male getäuscht haben konnte, diesmal erschien es ihm fast unmöglich. Wenn er sich eben nicht in einem Zustande befand, in dem man Halluzinationen hatte? Ganz deutlich hatte er das Gesicht gesehen, das ihm damals von der Begegnung in der Rankestraße im Gedächtnis geblieben war ... Da beschloß er, sich Gewißheit zu schaffen. Ohne sich an das verwunderte Gesicht des Wirtes zu kehren, durchschritt er rasch die Räume der Schenke, stieg in den niedrigen Keller und blickte auf den Hof hinaus. Wenn außer dem Gläser spülenden Kellner jemand im Hause gewesen wäre, hätte er ihn sehen müssen ... Ein Schauder flog ihm über den Rücken wie am Vormittag, diesmal aber von anderer Art. Vor sich selbst bekam er Angst und er fing an zu zweifeln, ob er noch nach klaren Erwägungen handelte ... Das Fräulein auf dem Amte weigerte sich zunächst, die Verbindung herzustellen, wegen drohender Gewittergefahr. Es bedurfte erst einigen Zuredens und des Hinweises, daß es sich um eine wichtige militärische Meldung handle. Dann aber pochte und knatterte es in dem Apparat, er vernahm wohl, daß der Rittmeister von Lüttritz am andern Ende sprach, aber eine Verständigung war unmöglich. Da gab er es auf, die erhoffte Zeitersparnis war ärgerliche Versäumnis gewesen. Als er wieder zu seinem Fuhrwerk kam, meldete Herr Burdeyko, soeben wäre ein ganzer Wagen mit Herren vom Dragonerregiment vorübergefahren, dazwischen die beiden Herren von Gorski. »Schade,« sagte Gaston, »den jüngeren hätte ich gerne gesprochen,« und stieg in den Kutschiersitz. »Na, dann los, Braunerchen.« Herr Burdeyko lief ein paar Schritte neben dem Wagen her. »Wann soll ich zur nächsten Stunde kommen, Herr Rittmeister?« »Weiß ich nicht,« rief er zurück, »ich lasse es Ihnen noch sagen.« Als Gaston schon ein Ende weit gefahren war, fiel ihm plötzlich ein: wie kamen die Brüder Gorski eigentlich dazu, ohne Urlaub die Garnison zu verlassen? Beide hatten doch am Nachmittage Dienst? Der ältere beim Turnen, der jüngere beim Baden. Aber er vermochte nicht weiter zu denken. Eine Art von Stumpfheit war über ihn gekommen nach all den Aufregungen des Tages. Er dachte nur noch einen Gedanken, mit möglichster Beschleunigung den Rittmeister von Lüttritz aufzutreiben, damit dieser dem Herrn von Brinckenwurff in Orlowen die Forderung überbrachte und die blonde Annemarie Gorski ihn nicht für einen Feigling hielt, der gemächlich abwartete, bis andere vor ihm in die Bresche sprangen. In der Wohnung des Herrn von Lüttritz erfuhr er, der Rittmeister wäre ausgegangen, ohne zu sagen, wohin. Da hinterließ er die Weisung, er bäte ihn, sofort zu ihm herauszukommen, und fuhr nach Hause, mit ohnmächtigem Zorn im Herzen. An wen sollte er sich in der Eile wenden? Jedem anderen hätte er einen langen Sermon erzählen müssen, ohne das Kind beim rechten Namen zu nennen. Und hinterher wäre die glatte Antwort gekommen, ohne vorausgegangene Anrufung des Ehrenrates wäre der Auftrag nicht auszuführen. Da gab es also nichts als warten. Und es gereute ihn fast, daß er auf der Freitreppe des Kalinzinner Schlosses in vornehmer Gesinnung mit seinen Absichten hinter dem Berge gehalten hatte. Im Flur seines Häuschens empfing ihn der Bursche. »Herr Rittmeister, vor einer Viertelstunde ist eine Depesche gekommen. Ich hab' sie auf den Schreibtisch gelegt.« »Eine Depesche? Von wem denn?« Die Frage war töricht, das wußte er. Mit zwei langen Schritten stand er im Zimmer, riß das zusammengefaltete Papier auseinander. »Ihre Frau Mutter schwer erkrankt, ersuche dringend, sofort hierherzukommen. Ableben stündlich zu erwarten. Justizrat König.« Die Kniee zitterten ihm, er mußte sich in den vor dem Schreibtisch stehenden Lehnstuhl setzen. Stumpfsinnig starrte er auf die mit Blaustift geschriebenen Zeilen des Telegramms, bis ihn der Schmerz jählings übermannte. Sein liebes altes Mütterchen, an das er in diesen letzten langen Wochen nicht mit einem einzigen Gedanken gedacht hatte, lag im Sterben. Die Tränen schossen ihm aus den Augen, er legte die Stirn auf die harte Tischkante, und ein Aufschluchzen erschütterte seinen Körper. Erst ganz allmählich gewann er seine Fassung wieder, fing er an zu überlegen, was zu geschehen hätte. Der Justizrat König war der Vermögensverwalter und vertraute Freund seines Mütterchens schon seit langen Jahren. Allabendlich spielten sie ihre geruhsame Partie Bézigue, und es war ein rührendes Verhältnis zwischen den beiden alten Leutchen. Von seiten des Justizrates, der unverheiratet geblieben war, vielleicht ein wenig Pietät und wehmütige Erinnerung. An eine vor langen Jahren begrabene Hoffnung. Aber mit dem Alter war er ein Krakeeler geworden. Fast immer verzankte er sich mit seiner Partnerin, um am nächsten Vormittag mit einem poetischen Brieflein wieder um gut Wetter zu bitten, weil er ohne die abendliche Partie nicht leben konnte. Da war es eigentlich verwunderlich, daß er in so dürren Worten telegraphiert hatte, was ihn doch nicht minder schmerzlich treffen mußte als den Sohn der alten Freundin. Aber wer überlegte wohl in einem so trüben Augenblicke, ob er der notwendigen Nachricht noch ein Wort der Teilnahme hinzufügen sollte? Also da galt es, die Vorbereitungen zu einer schleunigen Reise zu treffen. Alles übrige, was er sich vorgenommen hatte, mußte er bis zu seiner Rückkehr aufschieben. Und wenn er Annemarie ein paar Zeilen schrieb, würde sie es wohl verstehen, daß es für ihn im Augenblick keine andere Sorge gäbe als die einzige, ob er sein Mütterchen noch am Leben fände. Schier zum Verzweifeln war es, daß er hier noch stundenlang untätig sitzen mußte, indessen das alte Frauchen da unten im fernen Schwaben sich gegen den Tod wehrte. Mit keiner anderen Waffe als der Sehnsucht, den einzigen Jungen vielleicht noch einmal im Arm zu halten, seinen Kopf an ihrer Brust zu fühlen ... Der nächste Zug, mit dem er den von Eydtkuhnen kommenden Schnellzug erreichen konnte, ging erst gegen acht Uhr abends. Bis dahin hatte er reichlich Zeit, Urlaub zu nehmen, die Schwadron dem Oberleutnant Gusovius zu übergeben und den Brief an Annemarie zu schreiben. Wenn er den durch seinen Burschen beförderte, konnte sie ihn in anderthalb Stunden haben und brauchte keine verwunderten Augen mehr zu machen ... daß er beim Abschied unterlassen hatte, das Wort zu sprechen, das sie von ihm wohl erwartet hatte. Als er die Schublade seines Schreibtisches aufzog, um einen seiner besten Briefbogen mit der farbigen Wappenprägung herauszulangen, fiel ihm auf, daß zwischen allem, was er dort aufbewahrte, nicht die gewohnte Ordnung herrschte. Die Brieftasche mit dem letzten Schreiben seines Vaters lag nicht auf ihrem richtigen Platz. Ganz ausgeschlossen war es, daß er selbst sie dorthin gelegt haben konnte, er hielt in allem, was ihn umgab, eine geradezu pedantische Ordnung. Wenn er an seinen Bibliothekschrank ging, konnte er im Dunkeln den gesuchten Band herausholen. Also es gab keinen Zweifel, hier hatte jemand in seiner Abwesenheit die Schublade durchsucht. Jemand, der zu dem kunstvoll gearbeiteten Schlosse einen Nachschlüssel besaß. Den eigentlichen Schlüssel trug er nebst einigen Anhängseln an einer silbernen Kette. Nachts lag sie auf dem Tischchen neben seinem Bett, beim Aufstehen befestigte er sie an der Uniformhose. Die Möglichkeit, daß er den Schlüssel aus Versehen einmal hätte stecken lassen, war überhaupt nicht zu erörtern. Aber wer sollte nur ein Interesse daran haben, hier seine Andenken, Briefe und Familienpapiere zu durchstöbern? Und plötzlich schlossen sich die Wahrnehmungen des Tages, die er für Ausgeburten seiner überreizten Sinne gehalten hatte, mit einigen anderen zu einem Verdacht, den er zunächst nur unklar fühlte. Er griff nach der Stelle der Schublade, an der er die letzten der seltsamen russischen Briefe aufgehoben hatte, die Stelle war leer. Da gefror ihm das Blut fast in den Adern, hier war gegen ihn etwas im Werke, wie es nur ein Teufel ersinnen konnte -- oder eine im Innersten ihres Herzens gekränkte Frau! Die Viertelstunde fiel ihm ein, in der er mit dem schon halb verwirrten Herrn von Wodersen über die sonnenbeschienene Straße im Grunewald gegangen war. Da hatte der von einer Rache gesprochen, die Josepha an ihrem Gatten zu nehmen gedachte, weil er sie mit einer Tänzerin oder Schauspielerin betrog -- dieser Person mit der seltsamen, wie eine geborstene Glocke klingenden Stimme. Nur das hier war noch teuflischer. Heute nacht, wenn er längst schon in der Eisenbahn saß, legte man hier in diese Schublade die entwendeten Briefe, nur mit einem anderen Inhalt. Einem Inhalt, der klipp und klar bewies, daß der Rittmeister Baron Foucar von Kerdesac vom Dragonerregiment Graf Schmettau mit dem russischen Geheimbureau in Warschau landesverräterischen Verkehr hatte. Morgen stand hier in diesem Zimmer ein von der Division entsandter Kriegsgerichtsrat, fand die Beweise, und auf telegraphischen Befehl wurde er an dem Sterbebette seiner Mutter unter dem Verdachte des Landesverrats verhaftet. Selbst wenn es ihm gelang, sich von diesem Verdacht zu reinigen, war er für alle Zeiten verfemt. Es blieb immer etwas hängen, selbst wenn er sich in geweihtem Wasser wusch ... ein unbestimmter Geruch, vor dem sich die innerlich und äußerlich Sauberen zurückzogen. Und blitzähnlich reihte er alles aneinander, was gegen ihn sprach, wenn er sich verteidigen wollte. Da war schon vor seiner Versetzung das merkwürdige Interesse für die Geheimpapiere im Generalstabe, die von der strategischen Bestimmung Ostpreußens handelten im Falle eines Krieges nach zwei Fronten. Dann war da sein auffälliges Absondern von den Kameraden, seine ausgedehnten Ritte und Fahrten im Aufmarschgelände, und zuletzt der Inhalt der in seinem Schreibtisch beschlagnahmten Briefe. Die waren in Warschau aufgegeben laut Poststempel, und in ihnen stand, Gott mochte wissen, was ... Die Aufforderung vielleicht, noch über diese Position im Mobilmachungsplan nähere Auskunft zu geben oder über jene ... Und noch etwas anderes kam hinzu, woran er zuallerletzt, die anderen aber vielleicht zuallererst denken mochten: sein französischer Name und das Tröpfchen französischen Blutes, das in zehnfacher Verdünnung noch in seinen Adern floß. Ganz deutlich entsann er sich der Aeußerung des alten Herrn damals auf der Fahrt von Königsberg. Den Wortlaut wußte er nicht mehr, aber es war eine Art von Zweifel gewesen, ob Abkömmlinge einer fremden Nation wohl restlos im deutschen Volkstum aufgehen könnten. Und das Netz, das sich ihm um die Glieder schnüren sollte, war schon seit langem gesponnen. Die große Nachrichtenzentrale in Berlin war ja schon vor Wochen alarmiert, daß hier an der Grenze ein Verräter saß. Heute kam die Mitteilung, die seine Persönlichkeit genau bezeichnete, und morgen, während seiner Abwesenheit, der vernichtende Schlag. Er aber hatte nichts zu seiner Verteidigung anzuführen, als daß da vielleicht ein Racheakt vorläge. Die Rache einer in leidenschaftlicher Liebe verratenen Frau. Er _sah_ ordentlich das ungläubige Lächeln seiner Richter ... Die Haare sträubten sich ihm, so grauenhaft war das. Nur ein Glied fehlte noch in der Kette der Voraussetzungen, nämlich daß da die auf dem Tische liegende Nachricht von der schweren Erkrankung seines Mütterchens gefälscht war. Dann war das alles kein leeres Hirngespinst, sondern grausige Wirklichkeit. Da erhob er sich mühsam, ging zu dem an der Wand hängenden Telephon. Gott sei Dank, der Apparat funktionierte wieder, das Amt Ordensburg meldete sich. »Liebes Fräulein,« sagte er, »wenn ich jetzt dringend nach Eßlingen telegraphieren würde, mit dringender Rückantwort bezahlt, wann könnte wohl die Antwort wieder hier sein?« »Eßlingen in Württemberg?« »Jawohl!« »Etwa eine Stunde. Wenn Sie mir nämlich die Depesche telephonisch aufgeben.« »So, kann man das?« »Aber natürlich, schon immer!« Da diktierte er: »Justizrat König, Eßlingen. Erhalte soeben von Ihnen Depesche über schwere Erkrankung meiner Mutter. Habe Gründe zur Annahme, daß diese Depesche nicht von Ihnen herrührt, sondern andere Zwecke verfolgt. Bitte dringende Antwort. Gaston.« Das Fräulein auf dem Amte wiederholte den Wortlaut, als sie den Namen »Gaston« aussprach, bekam ihre Stimme einen schmelzenden Klang. »Herr Rittmeister Baron von Foucar?« »Allerdings!« »Gott, wie interessant! Die Depesche wird noch in dieser Minute abgeschickt werden!« Da mußte er, mitten in aller Aufregung, lachen. Die kleine Telephondame schien eine jener stillen Verehrerinnen zu sein, von deren Existenz er selbst keine Ahnung hatte. »Freut mich sehr, mein gnädiges Fräulein! Wenn Sie nun noch die Güte haben wollten, mir die aus Eßlingen eintreffende Nachricht telephonisch mitzuteilen, statt durch Boten, wäre ich Ihnen sehr verbunden. Das geht doch hoffentlich auch?« »Aber selbstverständlich!« Gaston hing den Hörer an und setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. Noch eine ganze lange Stunde hatte er zu warten, bis er die entscheidende Nachricht bekam. Inzwischen aber mußte er die Vorbereitungen zur Abreise treffen, um keinen Argwohn zu erregen. Er rief seinen Burschen. »Wichotta, ich muß heute abend auf mehrere Tage verreisen. Legen Sie mir Zivil zurecht, und holen Sie den großen Lederkoffer vom Boden!« »Befehl, Herr Rittmeister!« sagte der vierschrötige Masur und machte sich daran, den Auftrag auszuführen. Gaston hatte ihn scharf angesehen, er traute keinem Menschen mehr. Er hätte darauf geschworen, der Kerl war mit im Komplott, aber in dem sonnenverbrannten, stumpfsinnigen Gesicht zuckte keine Muskel. Der Zweifel sprang ihn an, ob er sich vielleicht nicht bloß mit selbstgeschaffenen Gespenstern quälte, und er durchforschte sein Gedächtnis. Aber es gab keinen Irrtum, er wußte genau, er hatte die letzten aus Warschau gekommenen Briefe hier in der Schublade verwahrt. Aus einem instinktiven Angstgefühl, er könnte sie vielleicht irgendwie einmal als Beweismittel gebrauchen. Und diese Briefe waren fort. Von einem Unbekannten hier aus seinem Schreibtisch entwendet. Dieser Diebstahl mußte doch einen Zweck haben. Und von neuem überfiel ihn das Grausen, was geschehen wäre, wenn ein Zufall nicht seinen Verdacht geweckt hätte. Der Zeiger an der kleinen Stutzuhr auf dem Schreibtische kroch wie eine Schnecke; Gaston versuchte den Brief zu schreiben, den er sich vorgenommen hatte, aber er konnte seine Gedanken nicht sammeln, die Unruhe fraß ihn fast auf. Draußen erklang die Türglocke, er schrak unwillkürlich zusammen. Ein eisiger Schauder flog ihm über den Rücken. Wie, wenn er nun mit seiner Entdeckung zu spät gekommen wäre? Der Bursche meldete nach kurzer Pause: »Herr Leutnant von Gorski.« »Ich lasse bitten.« Der Kleine trat über die Schwelle. Sein Gesicht sah vergnügt aus wie immer mit den großen Ohren und der keck in die Luft ragenden Hakennase. Gaston atmete erleichtert auf. »Na, lieber Gorski, was bringen Sie Gutes?« Ein kaum merkliches Blinzeln mahnte zur Vorsicht. »Ich hatte nur die Absicht, dem Herrn Rittmeister im Vorbeigehen gehorsamst guten Tag zu sagen und, wenn möglich, einen Kognak zu schinden.« Gaston hatte verstanden, daß etwas Besonderes vorgefallen war. »Charmant,« sagte er, »sollen Sie gleich kriegen.« Und zu dem Burschen Wichotta, der nur zögernd zur Tür schritt, mit gespieltem Selbstvorwurf: »Herrgott, das Wichtigste hätte ich beinahe vergessen! Sie müssen ja sofort zum Herrn Oberst gehen mit meinem Urlaubsgesuch. Warten Sie einen Augenblick!« Er warf einige Zeilen auf einen Bogen in vorschriftsmäßigem Dienstformat, verschloß ihn in einen Umschlag und mahnte den Burschen zur Eile. Karl von Gorski fragte respektvoll, aber nicht ohne leichte Verwunderung: »Herr Rittmeister beabsichtigen, jetzt auf Urlaub zu gehen?« »Ja! Ich habe vor einer Stunde ungefähr eine Nachricht erhalten, die mich nötigt, noch heute für ein paar Tage zu verreisen. Aber jetzt erzählen Sie, was ist mit Ihnen los?« »Ach Gott, nichts Besonderes. Ich bin eigentlich nur gekommen, um mich vom Herrn Rittmeister zu verabschieden. Man wird mich wohl von morgen an für längere Zeit einsperren. Wegen Nichtachtung einer ganzen Reihe von Vorschriften, die der preußische Leutnant zu befolgen hat, wenn er seinen hohen Vorgesetzten ein Wohlgefallen sein will.« »Ach nee! Was haben Sie denn so Böses ausgefressen?« »Ich habe mich soeben mit Herrn Hermann von Brinckenwurff ohne vorherige Befragung des Ehrenrates im Beldahner Wald geschossen.« Gaston fuhr auf: »Was haben Sie?« »Mich mit Herrn von Brinckenwurff geschossen!« »Und was ist herausgekommen?« »Nicht allzu viel. Immerhin wird es einige Monate dauern, bis mein Komparent seinen rechten Arm wieder zum Pistolenschießen gebrauchen kann. Der Knochen ist gesplittert, und die Kugel sitzt irgendwo in der Schulter. Der Doktor buddelt noch danach. Vielleicht aber benutzt Herr von Brinckenwurff die unfreiwillige Muße zu innerer Einkehr und wird wieder friedlich.« Gaston schwoll die Ader auf der Stirn. »Hat er Sie gefordert, oder Sie ihn?« »Das letztere. Gleich nachdem Herr Rittmeister von Kalinzinnen abgefahren waren, rief mich nämlich meine Cousine Annemarie telephonisch an, Herr von Brinckenwurff hätte sich in despektierlicher Weise über die ganze Sippe derer von Gorski erhoben. Das verdroß mich natürlich als Mitglied dieser ehrenwerten Familie, und da benutzte ich die segensreiche Erfindung des Fernsprechers, um meinem ehemaligen Jugendfreunde auf diesem ungeheuer viel Zeit ersparenden Wege aufs Dach zu steigen. Er verfuhr am anderen Ende der Leitung auch nicht sänftiglich mit mir, und da einigten wir uns rasch. Eine Stunde später trafen wir uns mit dem nötigen Apparat an Sekundanten, Unparteiischem und so weiter an den idyllischen Ufern des Tatarensees -- das Ergebnis habe ich Herrn Rittmeister schon gemeldet.« Gaston hatte mit zornigen Augen zugehört. »Herr von Gorski, ich kann Ihnen nicht verhehlen, daß Sie mir da in höchst unerfreulicher Weise in die Quere gekommen sind. _Mir_ gehörte der Mann, der es sich herausgenommen hatte, gegen meine ... gegen eine junge Dame, die mir nahesteht, also der es sich erlaubt hatte, ungezogen zu werden. Wie soll ich's jetzt Fräulein Annemarie erklären, daß ich nicht sofort im Augenblick dazwischentrat? Weil es mir als billige Renommage erschienen wäre. Jetzt muß sie denken, es hätte mir vielleicht an dem erforderlichen Mute gefehlt. Und alles nur, weil es mir nicht gelungen ist, Herrn von Lüttritz zu erreichen, der die Uebermittlung meiner Forderung ohne lange Auseinandersetzungen übernommen hätte!« Der Kleine machte ein möglichst zerknirschtes Gesicht. »Ich sehe ein, Herr Rittmeister, ich bin leider Gottes noch immer ein vorlauter und unbesonnener Knabe. Aber da ich schon längst die Befürchtung hegte, diese Untugenden könnten mich vielleicht einmal in Konflikte stürzen, paukte ich mich in meinen Mußestunden auf Pistolen ein. Durch Fleiß und Eifer brachte ich's im Laufe der Jahre dahin, daß ich sogar um ein weniges besser schoß als der lange Brinckenwurff. Und der konnte es eklig, produzierte manchmal, wenn wir im Park von Orlowen übten, recht nette Kunststücke. Da sagte ich mir in diesem Falle, es ist doch nicht gerade nötig, daß er diese Fertigkeit zur Ausrottung meiner ganzen Verwandtschaft mißbraucht. Nicht nur meines verehrungswürdigen Onkels in Kalinzinnen, sondern auch eines, allerdings erst anzuheiratenden Cousins.« Gaston hatte verstanden, die Augenwinkel wurden ihm feucht. »Na ja, schön! Aber ich kann nun reden und reden ...« Karl von Gorski schluckte ein wenig, sah zum Fenster hinaus, vor dem ein plötzlich einsetzender Windstoß die fruchtbehangenen Kronen der Obstbäume bog. »Ja natürlich! Diese kleinen Frauenzimmer ... pardon, ich wollte sagen, jungen Damen ... ja also, es ist zu merkwürdig. Mit der einen Hälfte des Herzens zittern sie um den Geliebten, in der anderen Hälfte aber regt sich allerhand Unklares, Romantisches ... Ich hab' sie gründlich angebrüllt per Telephon, meine Cousine Annemarie. Und zufällig traf ich die richtigen Argumente, die ihr einleuchteten: daß Herr Rittmeister nämlich keiner von denen wären, die gleich einer eilegenden Henne kakeln und spektakeln würden, wenn sie sich etwas vorgenommen hätten.« Gaston atmete tief auf, streckte die Hand aus. »Junge, wie soll ich Dir das alles mal vergelten?« Der Kleine schnüffelte mit der Nase, aber sein Mund lachte schon wieder. »Privatdiskursch, Herr Rittmeister, wie unsere österreichischen Bundeskollegen sagen?« »Aber natürlich!« »Dann, lieber Vetter Gaston, machen Sie um Unbeträchtlichkeiten kein Brimborium! Ein Pistolenvirtuose wie ich, der auf dreißig Schritt und Kommando Eins 'nen Hosenknopp trifft, hat's verdammt billig, Mut zu zeigen. Immerhin, wenn ich in Weichselmünde sitze und Ihr auf der Hochzeitsreise seid im schönen Land Italia, bitt' ich um eine Ansichtskarte. Die kleb' ich dann mit einem leichten Seufzer an die kahle Zellenwand und beseh' sie von Zeit zu Zeit mit neiderfülltem Herzen.« Das Telephon schrillte an der Wand, Gaston hob den Hörer ab. »Ja, hier Rittmeister von Foucar.« »Die Antwort aus Eßlingen ist da,« sagte das Fräulein auf dem Amte, »darf ich vorlesen?« »Ja, bitte!« »Also: Rittmeister von Foucar, Ordensburg. Sehr erstaunt über Anfrage. Ihre Mutter vor Wochen unpäßlich gewesen, jetzt wieder ganz gesund. Spielen abends Bézigue wie immer und zanken uns, hoffen, Sie nach Manöver längere Zeit hier zu sehen. Gruß von Mutter und Justizrat König.« »Danke verbindlichst,« sagte Gaston. Seine Stimme klang heiser vor Erregung. Die Beweiskette war geschlossen. Er deckte die Hand über die Augen, lehnte sich ein Weilchen lang mit der Schulter gegen die Mauer. Die überreizten Nerven gehorchten nicht mehr, er schluchzte leicht auf. Karl von Gorski sprang hinzu. »Um Gottes willen, Herr Rittmeister, haben Sie eine traurige Nachricht gekriegt?« Da sammelte er sich langsam. »Nein, lieber Kleiner. Nur, ich mache hier eben 'was durch ... das könnte auch einen Stärkeren umwerfen. Wenn mir nicht der liebe Gott geholfen hätte, als es vielleicht noch Zeit war, war ich morgen ein verfemter Mann.« Und er fing an, zu erzählen, wie es angefangen hatte, was jetzt in einem grausigen Werk der Vernichtung endigen sollte. Als er alles herunter hatte von der Seele, kehrte auch seine Ruhe wieder. Ganz kaltblütig traf er seine Dispositionen. Am Abend reiste er natürlich ab, als wenn er nicht den geringsten Argwohn geschöpft hätte, stieg auf der ersten Station wieder aus und fuhr mit vorher bestelltem Wagen zurück. Mit Dunkelwerden rückte die fünfte Schwadron zu einer Nachtfelddienstübung aus, stellte sich am Eisenbahndamme auf, und dann gab es ein Kesseltreiben um das kleine Häuschen. Eine einzige Schwierigkeit war nur zu überwinden. Wie man nämlich einen zuverlässigen Mann im Hause unterbrachte, ohne daß der Bursche Wichotta argwöhnisch wurde. Es war vielleicht nur eine Vermutung, daß er dem geplanten Anschlag Vorschub leistete, aber sicher war sicher. Und irgend jemand mußte doch da sein, der den weit fort am Bahndamm haltenden Dragonern ein Zeichen gab, den Ring zu schließen, wenn die Verbrecher am Werke waren. Der Kleine hatte in einer Art von Erstarrung zugehört. »Grauenhaft ist das,« sagte er endlich, »und wenn die gefälschte Depesche da nicht wäre ... na schön! Den Wagen in Kalinzinnen stelle ich. Ich will es auch übernehmen, mich nach Dunkelwerden hier in den Garten zu pürschen, aber einen Rat möchte ich mir noch erlauben: es dürfte sich doch sehr empfehlen, auch den Herrn Oberstleutnant ins Vertrauen zu ziehen. Es urteilt sich bedeutend leichter, wenn man schon vor der Verhandlung Partei ergriffen hat.« Gaston konnte nicht mehr antworten, der Bursche trat ins Zimmer, brachte den Bescheid vom Regimentsbureau. Er riß das Kuvert auf und sagte mit gespieltem Erstaunen: »Denken Sie sich bloß, Herr von Gorski, der Kommandeur will mich noch sprechen, ehe ich auf Urlaub gehe!« Der Kleine heuchelte mit: »Wahrscheinlich handelt es sich um den Bericht wegen des Zwischenfalles an der Grenze. Aber da müssen Herr Rittmeister sich beeilen. Um acht Uhr geht der Zug.« »Ja natürlich. Also, Wichotta, packen Sie fertig! Den Krümperwagen bestelle ich selbst im Vorbeigehen. Und in einem zweiten Koffer Paradeanzug mit allem, was dazu gehört. Für den Fall, daß ich ihn da unten gebrauchen sollte.« Der Bursche machte ein betrübtes Gesicht. Er verriet sich in seiner Dummheit, ohne es selbst zu merken. »Ich wünsch' Herrn Rittmeister,« sagte er, »die traurigen Nachrichten sollen sich nicht bewahrheiten.« Da wechselte Gaston mit seinem Leutnant einen kurzen Blick. Es stimmte. Der Schweinehund da war mit im Komplott. Und ein paar Stunden später kannte der Rittmeister von Foucar alle Einzelheiten des gegen ihn gerichteten Anschlages. Der Zug setzte sich schon in Bewegung, da wurde im letzten Augenblick die Coupétür aufgerissen, ein Reisender stieg noch ein. Gaston blickte auf, es war der pensionierte Kanzleibeamte, der sich auf der anderen Straßenseite angesiedelt hatte! Da wußte er Bescheid. Der Kerl fuhr mit, um seine Spießgesellen zu warnen, falls irgend ein unerwarteter Zwischenfall einträte. Und in einer Viertelstunde mußte er mit ihm ins Reine kommen, denn fünfzehn Minuten fuhr der Zug nur bis zu der ersten Station. Da eröffnete er kurzerhand die Feindseligkeiten. »Sehr nett von Ihnen, Herr Nachbar, daß Sie sich persönlich davon überzeugen, ob ich auch wirklich abgefahren bin. Wie weit sollen Sie mich nun eigentlich begleiten, damit die Schweinerei in meinem Schreibtisch fertig ist?« Der andere sah ihn ganz entgeistert an. »Wie ... wie meinen Sie das, Herr Rittmeister?« Da mußte er auflachen. Der Kerl sah komisch aus mit dem vor Erstaunen geöffneten Munde. »Kommt Ihnen ein bißchen überraschend? Na, dann lassen Sie sich sagen, wir beide werden schon in Kalinzinnen aussteigen. Und sehen Sie mich nicht so ungläubig an: Sie werden _wirklich_ mit aussteigen! Nur ich werde natürlich dafür sorgen, daß Sie mit keinem Telephon in Verbindung kommen. Um -- na sagen wir mal -- nach der Waldschenke Nachricht zu geben!« Das letzte hatte er nur aufs Geratewohl gesprochen, aber die Wirkung war niederschmetternd. Der angebliche Kanzleibeamte bog sich vor. »Herr, woher wissen ... Das heißt, ja« -- er nahm sich gewaltsam zusammen -- »das ist nämlich alles Unsinn. Und ich weiß wirklich nicht, was Sie von mir wollen. Ich fahr' ganz harmlos nach Berlin, und da kommen Sie her ...« »Ganz recht,« sagte Gaston gemütlich, »und da komme ich her, ersuche Sie höflichst, mit mir schon in Kalinzinnen auszusteigen! Und nun wollen wir unser Geschäft in Ruhe erledigen. Bitte, greifen Sie nicht immer nach Ihrer rückwärtigen Hosentasche ... ich kann mir denken, daß Sie da was bei sich tragen, aber ich glaube, ich bin beträchtlich stärker als Sie. Ich verdresche Sie unbarmherzig, wenn Sie nicht sofort die Hand wieder nach vorn nehmen. So! Und nun beantworten Sie mir gefälligst die Frage: Was haben Sie eigentlich davon, daß Sie mich bis Berlin begleiten, indessen Frau Ursula Blazitschek mit Herrn Burdeyko die gefälschten russischen Briefe in meinen Schreibtisch praktiziert? Ich habe Ihnen persönlich doch nie 'was getan?« Der andere saß wie vor den Kopf geschlagen da. »Herr, das ist ... das ist ...« »Na, über die Bezeichnung des gegen mich gerichteten Anschlages wollen wir nicht streiten, nennen wir ihn niederträchtig meinetwegen. Aber ich bin gesonnen, Sie ungeschoren laufen zu lassen, wenn Sie mir wahrheitsgemäß ein paar Fragen beantworten.« »Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, Herr Rittmeister?« Gaston mußte unwillkürlich lächeln. »Damit muß man sparsam sein, Herr Nachbar! Aber so etwas Aehnliches gebe ich Ihnen. Also: Wer hat nun die Gemeinheit, die ich im letzten Augenblick noch -- Gott sei Dank -- vereiteln konnte, angezettelt?« »Das habe ich erst in diesen Tagen erfahren, Herr Rittmeister. Dieses alte Weib ... So oft sie Ihren Namen nannte, spie sie aus vor Haß. Ich selbst war vor Wochen von meinem Bureau aus Berlin hierher geschickt, um Sie zu beobachten. Nichts weiter. Ich kannte Sie nämlich schon. Von der Königsallee her, wie der Herr von Wodersen sich totschoß. Da stand ich auch auf Posten. Aber im Auftrage des verstorbenen Herrn Rheinthaler. Also jetzt gingen die Berichte an die Witwe. Wissen Sie, da stören wir uns nicht daran. Es kommt oft genug vor, daß wir zwei Parteien gleichzeitig bedienen. Den Mann beobachten im Auftrag der Frau, und die Frau im Auftrag vom Mann. Das ist eben unser Geschäft.« »Kann ich verstehen,« sagte Gaston, »aber, Herr, hat Ihnen nicht ein bißchen wenigstens das Gewissen geschlagen, als Sie erfuhren, was man gegen mich plante?« Der andere zuckte die Achseln. »Meinen Sie, Herr Rittmeister, ein Berliner Detektivbureau sucht sich seine Angestellten in den Kreisen der Herren Reserveoffiziere? Und dieses alte Frauenzimmer aus Berlin schmiß nur so mit dem Geld. Der Burdeyko kriegt hunderttausend Mark, wenn die Briefe in Ihrem Schreibtisch liegen, Ihr Bursche sechstausend. Das sind doch Vermögen für solche Leute! Und der Wirt Burdeyko hat lange mit sich gekämpft. Aber er hat Kinder, und mit dem Geld kann er sich in Südrußland ein ganzes Rittergut kaufen. Da fiel er natürlich um.« »Natürlich! Und nur eins noch: Haben Sie aus den Gesprächen mit dieser Frau Blazitschek vielleicht erfahren, wer eigentlich den Plan gegen mich geschmiedet hat? Die alte Hexe allein, oder war auch Frau Rheinthaler daran beteiligt?« »Da muß ich ehrlich gestehen, Herr Rittmeister, das weiß ich nicht. Die Alte hat nur gelegentlich mal erzählt, ihre Herrin hätte tagelang geweint, als von Ihnen plötzlich der Brief mit der Absage kam.« »Es ist gut,« sagte Gaston heiser. »Und schließlich ist es auch egal. Gewußt hat sie jedenfalls darum. Woher sollte sonst wohl das Geld stammen?« Die Wagenbremsen zogen kreischend an, der Zug hielt an der kleinen Station. Der Schaffner lief den Bahnsteig entlang: »Kalinzinnen, eine Minute.« Gaston stand auf. »Kommen Sie, Verehrtester!« »Ich denke, Herr Rittmeister wollten mich doch laufen lassen?« »Sehr richtig, hatte ich versprochen. Aber erst, wenn Sie keinen Unfug mehr anrichten können. Also vorwärts!« Sie standen auf dem Perron, Gaston rief den rotbemützten Stationsbeamten an: »Herr Vorsteher, kennen Sie mich?« »Sehr wohl, Herr Rittmeister.« »Na, dann heben Sie mir diesen Gentleman hier auf, bis Sie von mir persönlich Nachricht kriegen, ihn wieder freizulassen! Es handelt sich um eine militärische Angelegenheit von einiger Wichtigkeit, und Sie haben doch gewiß ein sicheres Gelaß, in dem Sie ihn unterbringen können?« »Sehr wohl, Herr Rittmeister. Einen Güterwagen. Wenn wir von außen die großen Riegel vorlegen!« Der »pensionierte Kanzleibeamte« begehrte auf. »Da protestiere ich! Das ist Freiheitsberaubung.« »Ganz recht, lieber Freund. Es sieht verdammt danach aus. Aber ich stelle Ihnen anheim: Wollen Sie lieber mit mir nach Ordensburg zurückfahren, zu Ihren Spießgesellen? Sie ziehen es vor, in dem Güterwagen zu übernachten? Ist mir auch recht. Viel Vergnügen.« Hinter dem ziegelgedeckten Schuppen, der die Wartehalle der Station Kalinzinnen darstellte, hielt ein geschlossener Wagen. Gaston trat heran und fragte den Kutscher: »Sind Sie von Herrn Leutnant von Gorski bestellt? Für den Rittmeister von Foucar?« Aus dem Wageninnern antwortete eine helle Stimme: »Zu Befehl! Steigen Sie nur ein, Herr Rittmeister.« Da schrie er fast auf: »Annemarie!« »Ja, ich, natürlich. Aber jetzt rasch. Ich schätze nämlich, mein lieber Papa hat mittlerweile seinen alten Perkuhn bestiegen, um mich von einem Schritt zurückzuhalten, den er für höchst unpassend ansehen würde. Ich hatte unserer alten Repräsentationsdame den Auftrag gegeben, ihn zwanzig Minuten nach meiner Abfahrt davon zu unterrichten, daß ich im Begriffe wäre, mich unrettbar mit Dir zu kompromittieren ... Wegen Beschleunigung des Jawortes.« »O, Du ... Du himmlischer Kerl von Mädel, Du!« Sie saßen eng aneinandergeschmiegt in dem dunklen Wagen, der bei der raschen Fahrt in den Gleisen des holperigen Landweges stuckerte und schleuderte. Wenn sie sich küssen wollten, stießen sie mit den Köpfen gegeneinander. Da lachten sie wie fröhliche Kinder. Und es ergab sich, daß Gaston nicht viel mehr zu erzählen hatte. Das telephonische Gespräch, das Karl von Gorski mit seiner Cousine geführt hatte, war ausführlich genug gewesen. Und plötzlich schlang Annemarie ihre Arme um den Verlobten und drängte ihr Gesicht ganz nahe an das seinige. »Du, sie tut mir leid! Ich wüßte auch nicht, was ich anfangen würde, wenn ich Dich wieder hergeben sollte. Vielleicht würde ich mich ebenfalls rächen! Aber was machen wir nur mit meinem Vetter Karl? Dem müssen wir eine ganz besonders feine Dedikation stiften, denn ohne ihn wären wir doch nie zusammengekommen?« Da zog er sie fester an sich, raunte an ihrem Ohr, halb mit Lachen: »Bei den Foucars war es Sitte, den Erstgeborenen Gaston zu taufen. Ich heiße auch noch so, aber das Geschlecht wird immer mehr verdeutscht. Da dürfte es sich vielleicht empfehlen, den nächsten Foucar Karl zu nennen.« Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust und schloß ihm mit der kleinen, festen Hand den Mund. Wohlweislich aber erst, als er ausgesprochen hatte ... * * * * * Es ging schon auf Mitternacht, als der Bursche Wichotta dem Wirt der Waldschenke die Tür öffnete, in dem kleinen Häuschen vor dem Tor. Er zitterte vor Aufregung am ganzen Körper. »Ach Gott, Herr Burdeyko, wenn's nu aber schief geht? Sie sind morgen früh schon längst über der Grenz', aber ich muß hierbleiben. Und dann fängt die Fragerei an nach allem möglichen! Da bricht nur der Angstschweiß schon jetzt aus am ganzen Leib.« Der andere zischelte leise: »Dummer Kerl, zweitausend Taler verdient man vielleicht im Schlaf? Und wer kann Dir was beweisen, wenn Du nur immer sagst, Du weißt von nichts? Du hast hinten im Pferdestall geschlafen. Wie sollst Du da hören, ob hier vorne einer die Tür aufschließt?« Die alte Frau mit dem bunten Kopftuche löste sich von dem Staketenzaun wie ein Schatten. »Vorwärts, vorwärts. Da hinten aus dem Dunkeln zieht sich 'was heran. Ich riech' es, Pferde sind unterwegs.« Herr Burdeyko horchte mit angehaltenem Atem in die Nacht hinaus. »Ach Unsinn, es ist nichts zu hören. Und der Rittmeister ist harmlos unterwegs nach Eßlingen. Sonst hätten wir doch längst schon Nachricht, wenn er Verdacht geschöpft hätte.« Der Bursche Wichotta ging vorsichtig voran, sie standen zu dritt am Schreibtisch. Eine abgeblendete Kerze verbreitete einen matten Schimmer. Herr Burdeyko holte den nach einem Wachsabdruck zurechtgefeilten Schlüssel aus der Tasche. »Na nu, verehrte Frau Blazitschek ... erst das Geld! Sonst streik' ich. Es ist eine fürchterliche Schweinerei.« Die Alte zog ein dickes Paket brauner Scheine aus dem Brusttuche. Herr Burdeyko fing an, sorgfältig zu zählen. Der Bursche stand dabei, sah mit gierigen Augen zu. »Na, das ist doch aber ... Sie sollen so viel kriegen, und ich so wenig? Wo ich meine Haut doch am meisten zu Markt trag'?« Herr Burdeyko hob den Kopf und stieß das unter dem Schreibtisch stehende Licht mit dem Fuße um. »Sei still, dummer Kerl, da draußen ist wirklich ...« Weiter kam er nicht. Zu beiden Türen drang es herein. Er griff nach dem Browning. Ein greller Lichtstrahl blendete seine Augen, eine schwere Faust flog gegen seine Schläfe. Im Zusammenbrechen hörte er nur wie von weitem, daß die Alte, die ihn durch ein ungeheuerliches Geldangebot zu dem Verrate verführt hatte, wie eine vom Teufel Besessene schrie. Die Gefangenen waren abgeführt. Gaston von Foucar stand mit den Offizieren seiner Schwadron in dem hell erleuchteten Zimmer. Die Augen lagen ihnen tief im Kopfe nach der aufregenden Jagd. Der Kommandeur saß am Schreibtische und las die Briefe, die man dem Gastwirt Burdeyko abgenommen hatte. Endlich fuhr er sich mit der Hand über die Stirn. »Herr von Foucar, wenn ich diese Briefe ohne Vorbereitung gelesen hätte und in Ihrer Abwesenheit -- ich wüßte nicht, wie ich geurteilt hätte! Aber jetzt wollen wir ins Kasino gehen, lieber Foucar, und eine vergnügte Flasche Sekt trinken. Ich spendiere sie mit dankbarem Herzen, weil meinem geliebten Regiment ein zum Himmel stinkender Skandal erspart worden ist.« »Heißen Dank, Herr Oberstleutnant, aber ich möchte im die Erlaubnis bitten, eine Viertelstunde später erscheinen zu dürfen. Bei Frau von Lüttritz erwartet mich jemand.« »Hab' schon 'was läuten hören, von dem Kleinen da, der in den nächsten Tagen uns auf längere Zeit verlassen wird. Um allerhand Schandtaten abzusitzen.« Karl von Gorski klappte die Hacken zusammen und machte sein respektvolles Gesicht. Nur die in seiner Nähe stehenden Offiziere mußten das Lachen verbeißen, weil er in seiner bekannten Manier bei der Antwort mit den Ohren wackelte. »Sehr wohl, Herr Oberstleutnant,« sagte er, »ich bin tief zerknirscht. Aber drei Monate Weichselmünde sind rasch herum. Namentlich wenn man sie in zwei Hälften absitzen kann. Ich schätze nämlich, wenn ich zur Hochzeit meines lieben Vetters Foucar ein Urlaubsgesuch einreiche, werden Herr Oberstleutnant die Gnade haben, dies Gesuch zu befürworten ...« Der Kommandeur lachte auf. »Frechdachs! Aber heute abend sollen Sie mein lieber Ehrengast sein beim Schoppen im Kasino. Und wenn wir über kurz oder lang zu ernsterem Beginnen reiten, sollen Sie mit Ihrem Zug die Spitze haben, Leutnant von Gorski! Vorwärts, meine Herren ...« * * * * * Anmerkungen zur Transkription: Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit _Unterstrichen_ und fremdsprachiger Text in Antiqua mit =Gleichheitszeichen= markiert. Folgende Druckfehler im Original wurden korrigiert: Er biß sich auf die Lippen und verneigte sich stumm. Im Original: 'Lipen' Na, gute Nacht, Foucar, Im Original: 'Fucar' Gaston hatte ihr ärgerlich ins Wort fallen wollen, Im Original: 'ägerlich' mit einem himmlischen Kerl Im Original: 'himmlichen' Adieu, Herr von Foucar. Im Original: 'vor' Herr von Gorski zog die buschigen Augenbrauen zusammen. Im Original: 'Augenbraunen' wirklich noch 'ne Weile Skat spielen, was wir hier reden, Im Original: 'Was' *** End of this LibraryBlog Digital Book "Sturmzeichen" *** Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.