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Title: Mein Weg als Deutscher und Jude
Author: Wassermann, Jakob, 1873-1934
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Mein Weg als Deutscher und Jude" ***


                              Mein Weg
                       als Deutscher und Jude

                                von

                          Jakob Wassermann



                          #..... vis animae conturbatur et divisa
                          seorsum disiectatur, eodem illo distracta
                          veneno.
                                                 Lucrez, III. 498.#



                                1921

                      S. Fischer Verlag Berlin



                    Erste bis fünfzehnte Auflage
                      Alle Rechte vorbehalten

            Copyright 1921 by S. Fischer, Verlag, Berlin



                         =Ferruccio Busoni=

                                 dem Freund dem Künstler
                                         gewidmet



Ohne Rücksicht auf die Gewöhnung meines Geistes, sich in Bildern und
Figuren zu bewegen, will ich mir – gedrängt von innerer Not und Not der
Zeit – Rechenschaft ablegen über den problematischesten Teil meines
Lebens, den, der mein Judentum und meine Existenz als Jude betrifft,
nicht als Jude schlechthin, sondern als deutscher Jude, zwei Begriffe,
die auch dem Unbefangenen Ausblick auf Fülle von Mißverständnissen,
Tragik, Widersprüchen, Hader und Leiden eröffnen.

Heikel war das Thema stets, ob es nun mit Scham, mit Freiheit oder
Herausforderung behandelt wurde, schönfärbend von der einen, gehässig
von der anderen Seite. Heute ist es ein Brandherd.

Es verlangt mich, Anschauung zu geben. Da darf denn nichts mehr gelten,
was mir schon einmal als bewiesen gegolten hat. Auf Beweis und
Verteidigung verzichte ich somit überhaupt, auf Anklage und jede Art
konstruktiver Beredsamkeit. Ich stütze mich auf das Erlebnis.

Unabweisbar trieb es mich, Klarheit zu gewinnen über das Wesen jener
Disharmonie, die durch mein ganzes Tun und Sein zieht und mir mit den
Jahren immer schmerzlicher fühlbar und bewußt worden ist. Der unreife
Mensch ist gewissen Verwirrungen viel weniger ausgesetzt als der reife.
Dieser, sofern er an eine Sache hingegeben ist oder an eine Idee, was im
Grunde dasselbe besagt, entringt sich nach und nach der Besessenheit, in
der das Ich den Zauber des Unbedingten hat, und Welt und Menschheit
kraft einer angenehmen und halbfreiwilligen Täuschung dem gebundenen
Willen in den Transformationen der Leidenschaften zu dienen scheinen. In
dem Maße, in dem die eigene Person aufhört, Wunder und Zweck zu sein,
bis sie zuletzt ein kaum gespürtes Zwischenelement wird, gleichsam
Schatten eines Körpers, den man nicht kennt, noch erkennen kann, in dem
Maße wächst die Schwierigkeit und Gefährlichkeit des Lebens mit und
unter den Menschen, sowie der geheimnisvolle Charakter alles dessen, was
man Realität und Erfahrung nennt.

Weg- und Merkzeichen bleiben letzten Endes wenige, auch bei der
genialsten Rezeption. Es hängt von der Breite des Schicksals ab, wieviel
unvergeß- und unverwischbare Spuren es in der Seele hinterläßt.



1


Ich bin in Fürth geboren und aufgewachsen, einer vorwiegend
protestantischen Fabrikstadt des mittleren Franken, in der es eine
zahlreiche Gemeinde gewerbs- und handelstreibender Juden gab. Das
Verhältnis der Zahl der Juden zur übrigen Bevölkerung war etwa 1:12.

Der Überlieferung nach ist es eine der ältesten Judengemeinden
Deutschlands. Schon im neunten Jahrhundert sollen dort jüdische
Siedlungen bestanden haben. Vermehrung und Blüte trat wahrscheinlich
erst zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ein, als die Juden aus dem
benachbarten Nürnberg vertrieben wurden. Später wendete sich auch vom
Rhein her ein Flüchtlingsstrom der aus Spanien verjagten Juden nach
Franken, und unter ihnen vermute ich meine Vorfahren mütterlicherseits,
die im Maintal in der Nähe von Würzburg seit Jahrhunderten dorfansässig
waren, so wie die von väterlicher Seite in Fürth, Roth am Sand,
Schwabach, Bamberg und Zirndorf.

Beziehung zu Boden, Klima und Volk muß also den Generationen, die durch
dreißig oder vierzig Jahrzehnte hier hausten, in Fleisch und Bein
übergegangen sein, obgleich sie diesen Einflüssen entgegenstrebten und
als Fremdkörper vom Volksorganismus ausgeschieden waren. Drückende
Beschränkungen, wie das Matrikelgesetz, das Verbot der Freizügigkeit und
der freien Berufswahl waren noch bis in die Mitte des neunzehnten
Jahrhunderts in Kraft. Der Vater meiner Mutter, ein Mann von Bildung und
edler Anlage, verblutete an ihnen. Daß finsterer Sektengeist,
Ghettotrotz und Ghettoangst dadurch immer frische Nahrung erhielten,
versteht sich am Rande.

Als ich geboren wurde, zwei Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg,
war für die deutschen Juden der bürgerliche Tag längst angebrochen. Im
Parlament kämpfte die liberale Partei bereits für die Zulassung der
Juden zu den Staatsämtern, eine Anmaßung, die auch bei den
aufgeklärtesten Deutschen Entrüstung hervorrief. »Ich liebe die Juden,
aber regieren will ich mich von ihnen nicht lassen«, schrieb zum
Beispiel ein Mann wie Theodor Fontane damals an einen Freund.

Von Pferch und Helotentum spürte ich also in meiner Jugend nichts mehr.
Auf der einen Seite hatte man sich eingelebt, auf der andern sich
gewöhnt. Wirtschaftlicher Aufschwung begünstigte die Duldsamkeit. Ich
erinnere mich, daß mein Vater bei irgendeiner Gelegenheit mit freudiger
Genugtuung sagte: »Wir leben im Zeitalter der Toleranz!« Das Wort
Toleranz machte mir in Gedanken viel zu schaffen; es flößte mir Respekt
ein, und ich beargwöhnte es, ohne daß ich seine Bedeutung begriff.

In Kleidung, Sprache und Lebensform war die Anpassung durchaus
vollzogen. Die Schule, die ich besuchte, war staatlich und öffentlich.
Man wohnte unter Christen, verkehrte mit Christen, und für die
fortgeschrittenen Juden, zu denen mein Vater sich zählte, gab es eine
jüdische Gemeinde nur im Sinn des Kultus und der Tradition; jener wich
vor dem verführerischen und mächtigen modernen Wesen mehr und mehr ins
Konventikelhafte zurück, in heimliche, abgekehrte, frenetische Gruppen;
diese wurde Sage, schließlich nur Wort und leere Hülse.

Mein Vater war kleiner Kaufmann, dem es auf keine Weise wie den meisten
seiner Glaubens- und Altersgenossen gelingen wollte, Reichtümer zu
erwerben. Er hatte in Geschäften eine unglückliche Hand. Er war ein
wenig Phantast und hatte immer seine fixe Idee, die ihn der Biegsamkeit
der Geldmacher beraubte. Er träumte von großen Spekulationen und großen
Unternehmungen, aber was er angriff, schlug fehl. Seine Geistesrichtung
war die sentimental-freiheitliche, laues Nachzüglertum der
Märzrevolution, das seine verwässerten Tendenzen ins neue Reich getragen
hatte. Ich entsinne mich aus meiner Kindheit eines leidenschaftlichen
Disputs zwischen ihm und einem seiner Vettern über Ferdinand Lassalle,
von dem er wie vom Gottseibeiuns sprach; aber ich entsinne mich auch,
daß er manchmal am Abend rührende Lieder zur Gitarre sang. Das war noch
in der guten Zeit, als ihn die Sorgen noch nicht gebrochen hatten. Er
liebte Schiller und sprach mit Hochachtung von Gutzkow. Auf einer seiner
Reisen hatte er in einem thüringischen Badeort zusammen mit Gutzkow an
der Gästetafel gespeist; er erzählte oft mit Stolz davon, und in
späteren Jahren, als meine Kämpfe um den Schriftstellerberuf ihn
erbitterten, sagte er mir einmal, um vermessene Ambitionen
zurückzuweisen, als deren Beute er mich sah: »Was bildest du dir ein?
Einen Gutzkow kannst du doch nie erreichen!«

Mitte der achtziger Jahre gründete er eine Fabrik in kleinem Stil, mit
geringem Kapital, das er mühselig zusammengeborgt hatte, aber mit großen
Hoffnungen. Nach wenigen Jahren machte er Bankrott und wurde dann
Versicherungsagent, eine Tätigkeit, die trotz unermüdlicher Anstrengung
ihn mit den Seinen kaum über Wasser hielt und ihn außerdem mit dem
Gefühl einer gescheiterten Existenz belud. Er hat sein ganzes Leben lang
schwer gearbeitet; als ich, dreißigjährig, den Sechsundfünfzigjährigen
für einige Wochen zu Gast bitten konnte, zeigte er eine beständige
stumme Verwunderung, und beim Abschied sagte er zu mir: »Es waren die
ersten Ferien meines Lebens!« Nach Hause zurückgekehrt, starb er, acht
Tage nachher.

Meine Mutter starb, als ich neun Jahre alt war. Sie war eine Schönheit,
von blondem Typus, sehr sanft, sehr schweigsam. Es wurde mir oft
erzählt, daß Fremde, die sich in der Stadt aufhielten, durch den Ruf
ihrer Schönheit neugierig gemacht, sie zu sehen begehrten. Es wurde mir
auch erzählt, daß ihre Jugendliebe ein Christ gewesen sei, ein
Maschinenmeister aus Ulm. Es sind noch Briefe von ihr vorhanden, in
denen eine kindlich-volkshafte Schwermut atmet, Poesie der Traurigkeit.
Ich entsinne mich noch gut, welche Bestürzung ihr unerwarteter Tod
hervorrief, und wie die halbe Stadt ihrem Sarg zum Friedhof folgte.

Beide Menschen, mein Vater und meine Mutter, obwohl gegeneinander sehr
verschieden geartet, hatten ein Gemeinsames darin, daß sie ihrer Zeit
nicht gemäß waren. Sie kamen von der Romantik her, der Vater als
geistiger Spätling, die Mutter im Gemüt davon verdunkelt und beschwert.
Bei der Mutter äußerte es sich naturhaft und führte eine tragische
Lebensstimmung herbei, beim Vater drang es in das Motorische und war von
einem grundlosen, alle Sachverhalte verhängnisvoll verschleiernden
Optimismus begleitet, der ihm Enttäuschung über Enttäuschung brachte und
seinen Mut und seine Kraft zerstörte.



2


Die meinem Judentum geltenden Anfeindungen, die ich in der Kindheit und
ersten Jugend erfuhr, gingen mir, wie mich dünkt, nicht besonders nahe,
da ich herausfühlte, daß sie weniger die Person als die Gemeinschaft
trafen. Ein höhnischer Zuruf von Gassenjungen, ein giftiger Blick,
abschätzige Miene, gewisse wiederkehrende Verächtlichkeit, das war
alltäglich. Aber ich merkte, daß meine Person, sobald sie außerhalb der
Gemeinschaft auftrat, das heißt sobald die Beziehung nicht mehr gewußt
wurde, von Sticheleien und Feindseligkeit fast völlig verschont blieb.
Mit den Jahren immer mehr. Mein Gesichtstypus bezichtigte mich nicht als
Jude, mein Gehaben nicht, mein Idiom nicht. Ich hatte eine gerade Nase
und war still und bescheiden. Das klingt als Argument primitiv, aber
der diesen Erfahrungen Fernstehende kann schwerlich ermessen, wie
primitiv Nichtjuden in der Beurteilung dessen sind, was jüdisch ist, und
was sie für jüdisch halten. Wo ihnen nicht das Zerrbild entgegentritt,
schweigt ihr Instinkt, und ich habe immer gefunden, daß der Rassenhaß,
den sie sich einreden oder einreden lassen, von den gröbsten
Äußerlichkeiten genährt wird, und daß sie infolgedessen über die
wirkliche Gefahr in einer ganz falschen Richtung orientiert sind. Die
Gehässigsten waren darin die Stumpfesten.

Das zunächst nur als Andeutung. Was die Gemeinschaft anlangt, so fühlte
ich mit ihr keinerlei tieferen Zusammenhang. Religion war eine Disziplin
und keine erfreuliche. Sie wurde von einem seelenlosen Manne seelenlos
gelehrt. Sein böses, eitles, altes Gesicht erscheint mir noch jetzt
bisweilen im Traum. Sonderbarerweise habe ich selten von einem humanen
oder liebenswürdigen jüdischen Religionslehrer gehört, die meisten sind
kalte Eiferer und halb lächerliche Figuren. Dieser, wie alle, bläute
Formeln ein, antiquierte hebräische Gebete, die ohne eigentliche
Kenntnis der Sprache mechanisch übersetzt wurden, Abseitiges,
Unlebendiges, Mumien von Begriffen. Positiven Ertrag gab nur die Lektüre
des Alten Testaments, aber auch da fehlte die Erleuchtung, vom
Gegenstand wie vom Interpreten her. Vorgang und Gestalt wirkten im
Einzelnen, Episodischen, das Ganze zeigte sich starr, oft absurd, ja
unmenschlich und war durch keine höhere Anschauung geläutert. Vom Neuen
Testament brach bisweilen ein Strahl herüber wie Lichtschein durch eine
verschlossene Tür, und Neugier mischte sich mit unbestimmtem Grauen.
Jene ewigen Bilder und Mythen befruchteten meine Phantasie erst, als ich
in ein privates, sozusagen psychologisches Verhältnis zu ihnen treten
konnte, ein Prozeß, der sie individualisierte, im Sinne der Aufklärung
geistig machte, oder im Sinne der Romantik stofflich, je nachdem, in
jedem Falle von der Religion ablöste.

Um den Gottesdienst war es noch übler bestellt. Er war lediglich
Betrieb, Versammlung ohne Weihe, geräuschvolle Übung eingefleischter
Gebräuche ohne Symbolik, Drill. Der fortgeschrittene Teil der Gemeinde
hatte eine moderne Synagoge gebaut, eines jener Häuser im
quasi-byzantinischen Stil, wie man in den meisten deutschen Städten
eines findet, und deren parvenühafte Prächtigkeit über die fehlende
Gemütsmacht des religiösen Kultus nicht hinwegtäuschen kann. Mir war da
alles hohler Lärm, Ertötung der Andacht, Mißbrauch großer Worte,
unbegründete Lamentation, unbegründet, weil im Widerspruch mit
sichtbarem Wohlleben und herzhafter Weltlichkeit stehend; Überhebung,
Pfafferei und Zelotismus. Die einzige Erquickung waren die deutschen
Predigten eines sehr stattlichen blonden Rabbiners, den ich verehrte.

Die Konservativen und Altgläubigen hielten ihren Dienst in den
sogenannten Schulen ab, kleinen Gotteshäusern, oft nur Stuben in einer
entlegenen Winkelgasse. Da sah man noch Köpfe und Gestalten, wie sie
Rembrandt gezeichnet hat, fanatische Gesichter, Augen voll Askese und
glühend im Gedächtnis unvergessener Verfolgungen. Auf ihren Lippen
wurden die strengen Gebete, Anruf und Verfluchung, wirklich, die
lastbeladenen Schultern sprachen von generationenalter Demut und
Entbehrung, die ehrwürdigen Gebräuche wurden in entschlossener Hingabe
buchstabentreu erfüllt, die Erwartung des Messias war ungebrochener,
wenn auch dumpfer Glaube. Aufschwung war auch unter ihnen nicht, Trost
oder Innigkeit, oder Glanz oder Menschlichkeit, oder Freude, aber
Überzeugung und Leidenschaft war unerbittliche Regel und Gemeinschaft.

In eine solche Schule mußte ich nach dem Tode meiner Mutter, als
neunjähriger Knabe, jeden Morgen mit Sonnenaufgang, jeden Abend mit
Sonnenuntergang, am Sabbat und an Feiertagen auch nachmittags ein Jahr
hindurch gehen, um als Erstgeborener vor der Gebetsgemeinde das Kaddisch
zu sagen. Zehn männliche Personen über dreizehn Jahren mußten zu dem
Zweck versammelt sein, doch waren es meist alte, uralte Leute, die
Übriggebliebenen einer früheren Welt. Es war hart, an Wintermorgen bei
Schnee und Kälte, im Sommer um fünf Uhr und früher noch, eine Pflicht zu
üben, die aufgenötigt und befohlen war, deren Bedeutung ich nicht
begriff oder begreifen mochte. Es gab sich niemand die Mühe, sie dem
Geist zu verklären und so die Gefahr zu bannen, daß durch die Befolgung
eines als grausam empfundenen Brauches das Bild der Mutter, obschon nur
vorübergehend, getrübt wurde. Dazu kam, daß im väterlichen Hause,
besonders nach der zweiten Verheiratung des Vaters, von einer religiösen
Bindung und Erziehung nicht die Rede war. Gewisse äußerliche
Vorschriften wurden eingehalten, mehr aus Rücksicht auf Ruf und
Verwandte, aus Furcht und Gewöhnung, als aus Trieb und Zugehörigkeit.
Fest- und Fasttage galten als heilig. Der Sabbat hatte noch einen Rest
seines urtümlichen Gehalts, die Gesetze für die Küche wurden noch
geachtet. Aber mit der wachsenden Schwere des Brotkampfes und dem
Eindringen der neuen Zeit verloren sich auch diese Gebote einer von der
Andersgläubigen unterschiedenen Führung. Man wagte die Fessel nicht ganz
abzustreifen; man bekannte sich zu den Religionsgenossen, obwohl von
Genossenschaft wie von Religion kaum noch Spuren geblieben waren. Genau
betrachtet war man Jude nur dem Namen nach und durch die Feindseligkeit,
Fremdheit oder Ablehnung der christlichen Umwelt, die sich ihrerseits
hierzu auch nur auf ein Wort, auf Phrase, auf falschen Tatbestand
stützte. Wozu war man also noch Jude, und was war der Sinn davon? Diese
Frage wurde immer unabweisbarer für mich, und niemand konnte sie
beantworten.

Es war ein trübes Medium zwischen mir und allen geistigen und
bürgerlichen Dingen. Bei jedem Schritt nach vorwärts stieß ich auf
Hemmnisse und Verschleierungen, nach keiner Richtung hin war offener
Weg. Wenn ich sagte, daß ich von Pferch und Helotentum nichts spürte,
so bezieht sich das natürlich nur auf die rechtliche Konstruktion des
Lebens, auf das individuelle Sicherheitsgefühl, innerhalb dessen sich
das Tun und Lassen des einzelnen Menschen reguliert. Sind diese beiden
Faktoren einmal gegeben und zugestanden, so wird von ungleich höherer
Wichtigkeit für ihn die Frage, wie er sich zur Allgemeinheit verhält und
wie die Allgemeinheit zu ihm. Daraus erwächst ihm die Erkenntnis seiner
Lebensaufgabe und, je nach der Entscheidung, die Kraft zu ihrer
Erfüllung. An diesem Punkt begann denn auch mein Leiden.



3


Der jüdische Gott war Schemen für mich, sowohl in seiner
alttestamentarischen Gestalt, unversöhnlicher Zürner und Züchtiger, als
auch in der opportunistisch abgeklärten der modernen Synagoge.
Erschreckend sein Bild in den Köpfen der Strenggläubigen, nichtssagend
in den Andeutungen der Halbrenegaten und Verlegenheitsbekenner.

Wenn meine kindlich-philosophischen Spekulationen den Gottesbegriff zu
fassen versuchten, einsames Denken und später Gespräche mit einem
Freund, entstand ein pantheistisches Wesen ohne Gesicht, ohne Charakter,
ohne Tiefe, Resultat von Zeitphrasen, beschworen allein durch das
Verlangen nach einer tragenden Idee. In dem Maß, wie diese Idee sich als
unbefriedigend erwies, sei es durch ihre Mittelmäßigkeit, sei es durch
ihre geahnte Verbrauchtheit, geriet ich in einen nicht minder billigen
und flüssigen Atheismus, der der Epoche noch gemäßer war, dieser Zeit
heilloser Verflachung und Verdünnung, die mit verstandener wie mit
mißverstandener Wissenschaft Idolatrie trieb und ihre ganze
Gedankensphäre durch Bildung verfälschte.

Es war keine leitende Hand für mich da, kein Führer, kein Lehrer. Ich
verlor mich in mannigfacher Hinsicht, auch indem ich nach Halt und
Gewicht dort suchte, wo der wahrhafte Mensch ihrer entraten kann. Ich
hatte mich in einer sowohl entseelten wie auch entsinnlichten Ordnung
zurechtzufinden. Ein derartiger Zustand der Welt bedingt entweder die
Zweckhaftigkeit bis in den kalten Rausch der Hirne hinein, oder die
Phantasie gerät in überschwellende Bewegung, und das Gemüt verliert den
Mittelpunkt. Wäre ich nicht als fragender Mensch in sehr frühen Jahren
nachhaltig eingeschüchtert worden, so hätte ich Brücken und Übergänge
finden können. Konventionen wären wichtig gewesen, leichte und
respektierte Formen. Die Mutter war zu bald aus dem Kreis geschwunden,
den Vater beraubten Tagesplage und Existenzangst immer mehr des
Aufblicks. Er ertrug kaum die auf ihn gerichteten Augen seiner Kinder,
denn der Umstand, daß die unablässige Plage ihm, ihm allein, wie er
wähnte, keinen Erfolg brachte, erfüllte ihn mit Scham, und er sah immer
aus wie vom bösen Gewissen gequält. Es war uns geradezu verboten zu
fragen, und Übertretung wurde zuweilen streng geahndet. Daher auch wuchs
inneres Unkraut ohne Schranke bei mir. Ich erinnere mich, daß ich in
krankhafter Weise an Gespensterfurcht litt, an Menschenfurcht, an
Dingfurcht, an Traumfurcht, daß in allem, was mich umgab, eine dunkle
Bezauberungsmacht wirkte, stets unheilvoll, stets dem Verhängnis
zugekehrt, stets darin bestärkt. Ich war oft in einem alten Hause Gast
bei einem alten Ehepaare; der Mann war ein Gelehrter; im Zimmer stand
ein Bücherschrank, hinter dessen Glastüre die Werke Spinozas in
zahlreichen Ausgaben eigentümliche Verlockung auf mich ausübten. Als ich
eines Tages die Frau bat, mir einen Band zu geben, sagte sie mit
sibyllenhafter Düsterkeit, wer diese Bücher lese, werde wahnsinnig.
Lange noch behielt der Name Spinoza in meinem Gedächtnis den Klang und
Sinn dieser Worte. So ähnlich war es auch mit allem Frohen,
Spielmäßigen, Festlichen, das zu mir wollte, zu dem ich wollte. Es
wurde abgedrängt, verdächtigt, verfinstert. Lust durfte nicht sein.

Wir hatten in der Zeit nach dem Tode der Mutter eine treue Magd, die
mich gern hatte. Des Abends kauerte sie gewöhnlich vor der Herdstelle
und erzählte uns Geschichten. Ich entsinne mich, daß sie einmal, als ich
ihr besonders ergriffen gelauscht hatte, mich in den Arm nahm und sagte:
»Aus dir könnt’ ein guter Christ werden, du hast ein christliches Herz!«
Ich entsinne mich auch, daß mir dieses Wort Schrecken erregte. Erstens,
weil es eine stumme Verurteilung des Judeseins enthielt und damit
Nahrung für bereits vorhandene Grübeleien wurde, zweitens, weil der
Begriff Christ damals noch ein unheimlicher für mich war, halb
atavistisch, halb lebensbang Brennpunkt feindlicher Elemente.

In demselben Gefühl befangen ging ich an Kirchen vorbei, an Bildern des
Gekreuzigten, an Kirchhöfen und christlichen Priestern. Uneingestandenen
Anziehungen strebten ungewußte Bluterfahrungen entgegen. Dazu kam das
erhorchte Wort eines Erwachsenen, Wort der Klage, der Kritik, der
Verfemung, Ausdruck wiederkehrender typischer Erlebnisse, warnend und
signalgebend in Redensarten wie im täglichen Geschehen. Von der andern
Seite wieder genügte ein prüfender Blick, ein Achselzucken, ein
geringschätziges Lächeln, abwartende Geste und Haltung sogar, um
Vorsicht zu gebieten und an Unüberbrückbares zu mahnen.

Worin aber das Unüberbrückbare bestand, konnte ich nicht ergründen. Auch
als ich später das Wesentliche daran erfaßte, wies ich es für meine
Person fürs erste zurück. In der Kindheit waren ich und meine
Geschwister so verwirkt in das Alltagsleben der christlichen Handwerker-
und Kleinbürgerwelt, daß wir dort unsere Gespielen hatten, unsere
Gönner, Zuflucht in Stunden der Verlassenheit; in Wohnungen der
Goldschläger, der Schreiner, der Schuster, der Bäcker gingen wir aus und
ein, am Christfestabend durften wir zur Bescherung kommen und wurden
mitbeschenkt. Aber Wachsamkeit und Fremdheit blieben. Ich war Gast, und
sie feierten Feste, an denen ich keinen Teil hatte.

Nun war aber das Bestreben meiner Natur gerade darauf gerichtet, nicht
Gast zu sein, nicht als Gast betrachtet zu werden. Als gerufener nicht,
als aus Mitleid und Gutmütigkeit geduldeter noch weniger, als einer, der
aufgenommen wird, weil man seine Art und Herkunft zu ignorieren sich
entschließt, erst recht nicht. Angeboren war mir das Verlangen, in einer
gewissen Fülle des mich umgebenden Menschlichen aufzugehen.

Da aber dies Verlangen nicht nur nicht gestillt, sondern mit zunehmenden
Jahren der Riß immer klaffender wurde zwischen meiner ungestümen
Forderung und ihrer Gewährung, so hätte ich mich verlieren, schließlich
mich selbst aufgeben müssen, wenn nicht zwei Phänomene rettend in mein
Leben getreten wären: die Landschaft und das Wort.



4


Erstickend in ihrer Engigkeit und Öde die gartenlose Stadt, Stadt des
Rußes, der tausend Schlöte, des Maschinen- und Hämmergestampfes, der
Bierwirtschaften, der verbissenen Betriebs- und Erwerbsgier, des
Dichtbeieinander kleiner und kleinlicher Leute, der Luft der Armut und
Lieblosigkeit im väterlichen Haus.

Im Umkreis dürre Sandebene, schmutzige Fabrikwässer, der trübe, träge
Fluß, der geradlinige Kanal, schüttere Wälder, triste Dörfer, häßliche
Steinbrüche, Staub, Lehm, Ginster.

Eine Wegstunde nach Osten: Nürnberg, Denkmal großer Geschichte. Mit
uralten Häusern, Höfen, Gassen, Domen, Brücken, Brunnen und Mauern, für
mich dennoch nie Kulisse oder Gepränge, oder leerer, romantischer
Schauplatz, sondern durch vielfache Beziehung in das persönliche
Schicksal verflochten, in der Kindheit schon und später gewichtiger
noch.

Wenige Bahnfahrtstunden nach Süden: das hügelige Franken, Tal der
Altmühl, wo ich in Gunzenhausen bei Ansbach alle Ferien bei der
Schwester meiner Mutter verbringen durfte, alle Sommerwochen des Jahres,
oft auch herbst- und winterliche. Die Landschaft von zarter
Linienführung, mit Wäldern, die gehegtes inneres Bild nicht so
beschämten wie jene anderen; Blumengärten, Obstgärten, Weiher,
verlassene Schlösser, umsponnene Ruinen, dörfliche Kirmessen, einfache
Menschen. Es ergab sich freie Wechselbeziehung zu Tier und Pflanze;
Wasser, Gras und Baum wurden mir wesenhaft vertraut; und so der Bauer,
der Händler, der Wirt, der Landstreicher, der Jäger, der Förster, der
Amtmann, der Türmer, der Soldat. Hier sah ich sie in reinen
Verhältnissen zu ihrer Welt, die auch die meine war, wenigstens nie mich
ausstieß. Ich konnte ein Entgegenkommen wagen, weil das organisch
Gestimmte und Gestufte arglos macht. Ich lebte gewissermaßen in zwei
abgetrennten Kontinenten, mit der Gabe, im lichteren zu vergessen, was
mich der finstere hatte erfahren lassen. Dort sozial angeschmiedet,
sozial erinnert, an die Kaste gepreßt, Parteiung erkennend, Unbill
wissend, im Häßlichen verwoben oder in Altes, Uraltes, Ahnenhaftes,
krampfig, scheu, isoliert, meidend und oft gemieden; hier der Natur
gegeben, in freundlicher Nähe zu ihr, durch ihren Einfluß, wenn auch
immer nur vorübergehend, losgesprochen von nicht abzuwälzender Schuld
und Anklagebürde, die sonst lähmend, ja zermalmend hätte wirken müssen.

Über diese beiden Erlebnisgebiete hinaus, als Drittes dann die innere
Landschaft, die die Seele aus ihrem Zustand vor der Geburt mit in die
Welt bringt, die das Wesen und die Farbe des Traumes bestimmt, des
Traumes in der weitesten Bedeutung, wie überhaupt die heimlichen und
unbewußten Richtwege des Geistes, die sein Klima sind, seine eigentliche
Heimat. Nicht etwa nur Phantasiegestaltung von Meer und Gebirge, Höhle,
Park, Urwald, das paradiesisch Ideale der unreifen Sehnsucht, der Aus-
und Zuflucht alles Ungenügens an der Gegenwart ist unter der inneren
Landschaft zu verstehen, vielmehr ist sie der Kristall des wahren Lebens
selbst, der Ort, wo seine Gesetze diktiert werden, und wo sein
wirkliches Schicksal erzeugt wird, von dem das in der sogenannten
Wirklichkeit sich abspielende vielleicht bloß Spiegelung ist.

In diesem Punkt sich auf Erfahrungen zu berufen, ohne zu flunkern oder
zu dichten, ist fast unmöglich. Es handelt sich um Gefühlsintensitäten
und um Bilder von unfaßbarer Flüchtigkeit. Beinahe alles zu Äußernde muß
sich auf ein »ich glaube« beschränken. Man tastet hin, man ahnt zurück;
jede Erinnerung ist ja ein Stück Konstruktion. Es scheint mir
zweifellos, daß alle innere Landschaft atavistische Bestandteile
enthält, und ebenso zweifellos dünkt mich, daß sie bei den meisten
Menschen zu einem gewissen Zeitpunkt zwischen der Pubertät und dem
Eintritt in das sogenannte praktische Leben verwelkt, verdorrt,
schließlich abstirbt und untergeht.

Ich war sehr naiv in meiner Abhängigkeit von Traum und Vision. Vision
darf ich es wohl nennen, da sich mir unerlebte Zustände, unwahrnehmbare
Dinge und Figuren in Greifbarkeit zeigten. Im Alter zwischen zehn und
zwanzig Jahren lebte ich in beständigem Rausch, in einer Fernheit oft,
die den Mitmirgehenden und -seienden bisweilen nur eine empfindungslose
Hülle ließ. Es ist mir später berichtet worden, daß man mich anschreien
mußte, um mich als Wachenden zu wecken. Ich hatte Anfälle von
Verzückung, von wilder, stiller Verlorenheit, und in der Regel war die
Abtrennung so gewaltsam und jäh, daß die Verbindungen rissen, und daß
ich wie gespalten blieb, auch ohne Wissen, was dort mit mir geschehen
war. In beiden Sphären lebte ich mit geschärfter Aufmerksamkeit, wie
überhaupt Aufmerksamkeit ein Grundzug meines Wesens ist, aber es waren
keine Brücken da; ich konnte hier völlig nüchtern, dort völlig außer
mir sein, auch umgekehrt, und es fehlte dabei alle Mitteilung, alle
Botschaft. Das erhielt mich in einer außerordentlichen, mich quälenden
und erregenden, für die Menschen um mich meist unverständlichen
Spannung. Staunen und Verzweiflung waren die Gemütsbewegungen, die mich
vornehmlich beherrschten; Staunen über Gesehenes, Geschautes,
Empfundenes; Verzweiflung darüber, daß es nicht mitteilbar war.
Vermutlich war meine Verfassung die: ich wußte, daß Unerhörtes oder
Merkwürdiges mit mir, an mir, in mir geschah, war aber durchaus nicht
imstande, mir oder anderen davon Rechenschaft zu geben. Ich war
gewissermaßen ein Moses, der vom Berge Sinai kommt, aber vergessen hat,
was er dort erblickt, und was Gott mit ihm geredet hat. Noch heute wüßte
ich nicht im geringsten zu sagen, worin eigentlich dies Verborgene,
verborgen Flammende, geheimnisvoll Jenseitige bestanden hat; ich muß es
für ewig unerforschbar halten, trotzdem es mir lockend erscheint,
einiges davon zu ergründen; es müßte dann auch zu ergründen sein, was zu
den Ahnen gehört und was zur Erde, was vom Blute kam und was vom Auge,
und aus welcher Tiefe das Individuum in den ihm gewiesenen Kreis
emporwächst.

Mit der Darstellung dieser Kämpfe und Exaltationen ist ein Verhältnis
zum Wort bereits angedeutet und seine Entstehung aus der Not und
Notwendigkeit heraus zu erklären. Und wie sehr das Wort Surrogat und
Behelf ist, erweist sich in meinem Fall nicht minder offensichtlich, da
doch das Ding und Sein, worauf es sich bezog, unbekannt geworden und
hinter nicht zu entriegelnder Pforte lag. Ich glaube, daß alle Schöpfung
von Bild und Form auf einen solchen Prozeß zurückzuführen ist. Ich
glaube, daß alle Produktion im Grunde der Versuch einer Reproduktion
ist, Annäherung an Geschautes, Gehörtes, Gefühltes, das durch einen
jenseitigen Trakt des Bewußtseins gegangen ist und in Stücken, Trümmern
und Fragmenten ausgegraben werden muß. Ich wenigstens habe mein
Geschaffenes zeitlebens nie als etwas anderes betrachtet, das
sogenannte Schaffen selbst nie anders als das ununterbrochene
schmerzliche Bemühen eines manischen Schatzgräbers.

Doch: Kunde zu geben, davon hing für mich alles ab, schon im frühesten
Alter. Obgleich die entschwundenen Gesichte mich stumm, geblendet und
mit Vergessen geschlagen in die niedrige Wirklichkeit verstießen, wollte
ich doch Kunde geben, denn trotz ihrer Ungreifbarkeit war ich bis zum
Rande von ihnen gefüllt. Bereits als Knabe von sieben oder acht Jahren
geriet ich zuzeiten, meine gewohnte Scheu und Schweigsamkeit
überwindend, in zusammenhangloses Erzählen, das von Angehörigen, von
Hausgenossen und Mitschülern als halb gefährliches, halb lächerliches
Lügenwesen aufgenommen und dem mit Zurechtweisung, Spott und Züchtigung
begegnet wurde. An Winterabenden halfen wir Kinder oft der Mutter beim
Linsenlesen, und es kam vor, daß ich dabei plötzlich zu phantasieren
anfing, in den Linsenhaufen hinein Schrecken, Unbill und Abenteuer
dichtete, Gespenstergraus und Wunder, harmlose Nachbarn als Zeugen
sonderbarer Begegnungen anführte, mir selbst die höchsten Ehren,
höchsten Ruhm prophezeite. Die Mutter, ihre Arbeit ruhen lassend,
schaute mich ängstlich verwundert an, ein Blick, der mich noch trotziger
in das unsinnig Verworrene trieb. Nicht selten nahm sie mich beiseite
und beschwor mich mit Tränen, daß ich nicht der Schlechtigkeit verfallen
möge.

Wie ich aber aus eigenem Antrieb und wiederum durch eine Not zum
Erzähler von Geschichten mit handelnden Figuren und geschlossener Fabel
wurde, muß ich festhalten, weil es weit über den kindlichen Bezirk
hinaus auf meinen Weg, auf meine Wurzeln wies.

Die zweite Frau meines Vaters war uns Kindern aus erster Ehe nicht
wohlgesinnt und ließ uns ihre Abneigung auf jede Weise spüren. Abgesehen
von ungerechten und überharten Züchtigungen, steten Klagen, die sie vor
dem Vater führte, schränkte sie die Nahrung aufs äußerste ein, versah
die Brotlaibe mit Zeichen, so daß sie erkennen konnte, wenn einer von
uns sich zu Unrecht ein Stück abgeschnitten hatte, und trug Sorge, daß
das Vergehen schwer bestraft wurde. Freilich hatte sie Mühe, mit dem ihr
zugeteilten Gelde zu wirtschaften, so wie mein Vater Mühe hatte, es
aufzubringen; desungeachtet glaube ich, daß die Kinder von Bettlern es
in dieser Hinsicht besser hatten. Als nun mein Onkel, der Bruder meiner
Mutter, ein wohlhabender Mann, der in Wien als Fabrikant lebte, erfuhr,
wie übel es uns erging, deponierte er bei einem Bekannten in der Stadt
eine gewisse Summe für die Bestreitung dringender Auslagen, und ich als
Ältester erhielt wöchentlich eine Mark mit der Erlaubnis, dafür Eßwaren
für mich und meine Geschwister zu kaufen. Es war eine bedeutende Summe
in meinen Augen, und da es zu gefährlich war, das Geld bei mir zu
tragen, war ich bemüht, ein Versteck ausfindig zu machen. Mein Bruder
nun, der um fünf Jahre jünger war als ich, also ungefähr sechs, hatte
keinen andern Gedanken, als dieses Versteck zu erspähen, denn er war
unzufrieden mit der Verteilung, mißtraute mir, verlangte bei jedem Anlaß
mehr, als ich ihm bewilligte, und bestand darauf, daß ich ihm zeige,
wieviel ich besaß. War der Zank einmal im Gang, so artete er gewöhnlich
bis zu Drohungen aus, und ich mußte täglich gewärtig sein, daß der
gierige Rebell mich bei der Stiefmutter denunzierte, eine Verräterei,
deren Folgen ich mehr als alles fürchtete. Insofern war mein Bruder im
Recht, als ich nicht den ganzen, mir zugewiesenen Betrag für Brot, Obst,
Wurst und Käse ausgab, sondern mir außerdem noch billige Bücher
anschaffte, die ich heimlich und hastig verschlang. Mein Bruder und ich
schliefen in einer Art Verschlag in demselben Bett, und in meiner
Bedrängnis verfiel ich nun auf den Ausweg, ihm vor dem Einschlafen
Geschichten zu erzählen. Wider Erwarten fand ich an ihm den
aufmerksamsten Zuhörer, und ich nützte den Vorteil aus, indem ich jeden
Abend meine Geschichte an der spannendsten Stelle abbrach. Zeigte er
sich dann während des folgenden Tages ungebärdig, so hatte ich
meinerseits eine wirksame Waffe und Drohung: ich erklärte einfach, daß
ich die Geschichte nicht weitererzählen würde. Je verwickelter,
spannender, aufregender die von mir ersonnene Begebenheit war, je
erpichter war er natürlich, die jedesmalige Fortsetzung zu hören, und
ebenso natürlich mußte ich, um ihn im Zaum zu halten und nach meinem
Willen lenken zu können, alle Geistes- und Kombinationskraft zu Hilfe
rufen. Es war keineswegs leicht; ich hatte einen unerbittlichen
Forderer, und ich durfte nicht langweilig und nicht flüchtig werden. So
erzählte ich wochen- ja monatelang an einer einzigen Geschichte, im
Finstern, mit leiser Stimme, bis wir beide müde waren, und bis ich im
Durcheinanderwirbeln der Figuren zu der Situation gelangt war, von der
ich selbst noch nicht wußte, wie sie zu lösen sei, die aber den
atemlosen Lauscher wieder für vierundzwanzig Stunden in meine Gewalt
gab.

Ich sagte, daß mich dies auf den Weg und auf die Wurzeln wies. Auf den
Weg, weil ich die wichtige Erfahrung machte, daß ein Mensch zu binden
ist, zu »fesseln«, wie der verbrauchte Tropus lautet, indem man sich
seiner Einbildungskraft bemächtigt, daß man ihn sogar vom Schlechten
abbringen kann, wenn man seine Sinne auf unwirkliche, aber eine
Wirklichkeit vortäuschende Begebenheiten und Schicksalsverkettungen
richtet; daß man Freude, Furcht, Überraschung, Rührung, Lächeln und
Lachen in ihm zu erregen vermag, und zwar um so stärker, je freier das
Spiel, je absichtsloser und je mehr vom Zweck befreit die Täuschung ist.
Der beständige Augenschein aller Wirkung hielt mich selbst in Atem,
weckte meinen Ehrgeiz, zwang mich zu immer neuen Erfindungen und zur
Vervollkommnung meiner Mittel.

Auf die Wurzeln: es lag mir sicherlich als ein orientalischer Trieb im
Blute. Es war das Verfahren der Schehrasade ins Kleinbürgerliche
übertragen; schlummernder Keim, befruchtet durch Zufall und Gefahr.
Schehrasade erzählt, um ihr Leben zu retten, und während sie erzählt,
wird sie zum Genius der Erzählung schlechthin; ich – nun, um mein Leben
ging es nicht, aber das Fieber des Fabulierens ergriff auch mich ganz
und gar und bestimmte Denken und Sein.

Es dauerte nicht lange, bis es mir Bedürfnis wurde, die eine oder andere
der nächtlich erzählten Geschichten aufzuschreiben. Dies mußte in
größter Heimlichkeit geschehen, und es begann damit schon der Kampf. Daß
mein Treiben allmählich ruchbar wurde, war nicht zu verhindern; die
Stiefmutter sah die pure Tagedieberei darin und warf alle beschriebenen
Blätter, deren sie habhaft werden konnte, ins Feuer; Verwandte, Lehrer,
Kameraden stellten sich feindselig dagegen, beinahe derart, als ob ich
sie durch mein Unterfangen geradezu beleidigt hätte, und der zum
erstenmal bekundete Vorsatz, mich dem Schriftstellerberuf zu widmen,
rief bei den Bekannten Gelächter, beim Vater den heftigsten Unwillen
hervor.

Die Sache war die, daß ich dem Onkel, jenem Bruder meiner Mutter, der in
kinderloser Ehe lebte, gleichsam versprochen war. Darauf hatte mein
Vater seine ganze Hoffnung gesetzt; was ihm fehlgeschlagen war, sollte
mir gelingen: reich zu werden; mich in einer großen Laufbahn als
Nachfolger des bewunderten Schwagers zu sehen, war seine
Lieblingsvorstellung. Meine abgeirrte Neigung zu unterdrücken, ließ er
deshalb nichts unversucht.

Damals war literarische Bildung und literarischer Zuschnitt in der
bürgerlichen Gesellschaft weder so häufig noch so erstrebt wie heute,
und das hatte sein Gutes. Seit die Kunst aufgehört hat, das seltene und
kostbare Vergnügen weniger Erlesener zu sein, ist sie für die Vielen
Luxus, Ausrede und Gemeinplatz geworden, schließlich Betrieb, wie jeder
andere. Keiner will mehr hören und empfangen, alle wollen selber reden
und selber den Geber spielen.

In meinem fünfzehnten Jahr hatte ich einen Roman geschrieben, ein
unsäglich dürftiges und abgeschmacktes Ding, und das Manuskript trug ich
eines Tages in die Redaktion des Tageblattes. Ein dicker Redakteur saß
verschlafen am Schreibtisch und musterte mich erstaunt, als ich mein
Anliegen vorbrachte. Kurz darauf erschien der Anfang des Elaborats unter
meinem Namen, gespickt mit Druckfehlern, in der Unterhaltungsbeilage der
Zeitung. Ich weiß es noch, es war ein Winterabend, wie mein Vater nach
dem Essen das Blatt zur Hand nahm, das ich so aufgefaltet neben seinen
Teller gelegt hatte, daß sein Blick auf mein Produkt fallen mußte, wie
ich klopfenden Herzens wartete. Ich sehe noch, wie der versorgte, müde
Ausdruck seines Gesichtes sich jäh veränderte, wie in seinen Augen
zuerst ein Aufblitzen von Stolz war, das aber bald dem Zorn, der Angst,
der Ratlosigkeit wich.

Es gab schlimme Szenen, Vorwürfe, Drohungen, Beschimpfungen, Hohn. Auch
in der Schule wurde ich zur Rechenschaft verhalten, vor den Rektor
zitiert und wegen verbotener Publikation zu zwölfstündigem Karzer
verurteilt. Der Vater aber wurde mein unerbittlicher Verfolger, und die
Frau war seine getreue Spionin, so daß ich keine ruhige Arbeitsstunde
mehr fand und des Nachts bisweilen bei Mondschein das Bett verließ und
am Fenster, in einem leidenschaftlichen inneren Zustand, Blatt um Blatt
vollschrieb. In einer solchen Nacht brach in der hofseitig gelegenen
Fabrik meines Vaters Feuer aus. Ich bemerkte die Flamme zuerst, schlug
Lärm, und als ich den Vater mit entsetzten Mienen, halb angekleidet, die
Stiegen hinuntereilen sah, bildete ich mir ein, er werde durch dieses
Unglück für seine Härte gegen mich bestraft.



5


Schwer und dunkel waren die Jahre des Werdens. Um von der Unbill und dem
Gefühl erlittenen Unrechts nicht erdrückt zu werden, flüchtete ich mich
gern in die Vorstellung, daß der Weltgeist für mich im stillen wirkte.
Es war ziemlich wunderbar, daß ich an der kerkerhaften Wirklichkeit
nicht zerschellte.

Ich hatte den Forderungen, mit denen man meine Natur vergewaltigen
wollte, nur Trotz entgegenzusetzen, schweigenden Trotz, schweigendes
Anderssein. Zwei Freunde halfen mir, jeder in seiner Weise. Beide waren
Juden, beide spielten eine typische Rolle in meiner Entwicklung.

Der eine war ein schlanker, großer, blondlockiger Mensch, mit einem
Antinouskopf. Es war der Sohn einer reichen Witwe und besaß eine
ansehnliche Bibliothek. Die Stunden unseres Beisammenseins und die
Beschäftigung mit den Werken der Dichter waren erstohlen, ihr Gepräge
war Schwärmerei. Mit unersättlichem Hunger nahm ich Vers und Prosa in
mich auf, Gestalt und Szene. Alles war mir schaurig heilig, was in
diesem Bereich webte; zwischen dem Alltäglichen und der Region der
Hingabe und Ergriffenheit war nur eine schmale Brücke, die heimlich
passiert werden mußte; hier war Kälte, Angst, Beengung, Kahlheit,
Dumpfheit; dort Glut, Innigkeit, Passion; und Wort, Bild, Traum waren
die Altäre eines verschwiegenen Dienstes. Möglich, daß der Freund mit
mir von mir hingerissen wurde; er war weich, sentimental, eitel auf
seine Schönheit; mir war er eine Zeitlang Idol. Wie ich zum Kaufmann
bestimmt, wollte er Schauspieler werden, und da ich den künftigen
Garrick der deutschen Bühne in ihm erblickte, war die Tragödie unser
eigentliches Feld. Der Ehrgeiz erwachte in mir, meinem bewunderten
Garrick ein Shakespeare zu werden, und ich ging selbst an die
Verfertigung von Trauerspielen. Ich kannte keine Richtung oder Schule;
es war Sturm und Drang in mir, aus mir, Pathos und Überschwang aus
eigenen Quellen, erfundene Welt voll Mord, Blutdurst, Raserei; und der
Freund glaubte. In seinen Augen hatte ich schon die Unsterblichkeit
erlangt. Als uns das Geschick voneinander getrennt hatte und ich in die
Fabrik des Onkels nach Wien gekommen war, hielt ein enthusiastischer
Briefwechsel das Feuer lebendig, und in zahlreichen, umfangreichen
Episteln gab ich ihm Rechenschaft von allem, was ich schrieb und dachte.
Er aber verlosch bald. Ich merkte, daß ihm meine intransigente Haltung
unbequem wurde, denn er hatte paktiert. Statt meinen geistigen Qualen
wenigstens Echo zu sein, erschöpfte er sich in rührseligen und
verlogenen Schilderungen seiner Liebesabenteuer, und eines Tages, als er
wieder lang und breit von der Leidenschaft zu einer Artistin geschrieben
hatte, beschloß ich, nicht mehr zu antworten und habe dann auch nie
wieder von ihm gehört.

Der andere Freund war der Sohn eines Handelsmannes in Gunzenhausen, der
in München die Rechte studierte, drei Jahre älter als ich war, und den
ich stets in den Ferien zum Genossen hatte, schroffer Gegensatz zu jenem
ersten. Im Wachstum zurückgeblieben, zwerghaft klein, war ihm der
durchdringendste jüdische Verstand gegeben, eine Fähigkeit, die
Schwächen und Blößen der Menschen wahrzunehmen und zu geißeln, die mich
ihn fürchten ließ. Meine dichterische Neigung verfolgte er mit beißendem
Spott, namentlich, wenn junge Mädchen dabei waren, vor denen er zu
glänzen liebte, und denen seine Witzworte in Heinescher Manier, seine
Belesenheit und Schlagfertigkeit imponierten.

In dieser kleinen Welt war er das große Licht, die letzte Instanz der
Kritik, während ich als Poetaster und haltloser Schwärmer, der nicht
einmal den Weg humanistischer Bildung einschlug, eine mitleidswürdige
Figur machte. Durch nichts konnte ich mich vor ihm behaupten, durch
keine Anstrengung, keine Verheißung, keinen Hinweis; er zerpflückte mir
Wort und Leistung, verdächtigte das Bestreben sogar, und doch war ihm zu
gefallen, von ihm gebilligt zu werden mein schmerzliches Bemühen. Nicht
bloß, daß er Mißtrauen in meiner Umgebung säte, rief er auch Schwanken
in mir selbst hervor, und eingeschüchtert von seiner Beredsamkeit und
Argumentierungskunst, der scheinbar unbeugsamen Strenge seines Urteils,
der Überlegenheit seines Wissens und der Bosheit seiner Zunge,
betrachtete ich ihn als Richter und Führer. Als er sich endlich zur
Anerkennung meines Werbens und Kämpfens herbeiließ, legte ich in einer
wichtigen Stunde die Entscheidung über mein Schicksal in seine Hand. Das
kam so:

Meine Situation im Hause meines Onkels war unhaltbar geworden. Ich
entsprach den Erwartungen nicht. Ich zeigte mich bei der mir
zugewiesenen Arbeit lustlos und unverläßlich, entschlüpfte bei jeder
Gelegenheit dem starren Kreis, um im Verborgenen einer Neigung zu
frönen, die für befremdlich, schädlich, ja verbrecherisch geachtet
wurde; die Tage verbrachte ich in einer verworrenen, ja somnambulen
Gemütsverfassung, die Nächte, oft bis zum Morgengrauen, fiebernd,
berauscht, entselbstet vor meinen Manuskripten. Daß ich da lauter leeres
Stroh drosch, ist nicht zu bezweifeln, aber es handelt sich in solchen
Epochen der Entwicklung weniger um Qualität als um Intensität. Die
Folgen waren häusliche Auseinandersetzungen, Vorwürfe der Undankbarkeit,
Besserungsversuche, Strafmandate, Predigten, Hohn. Daß in meinem
abirrenden Treiben irgend Vernunft und Zukunft liegen könne, von der
Möglichkeit des Broterwerbs zu schweigen, wurde gar nicht erwogen; mein
Onkel, ein gütiger, einfacher, obwohl schwacher Mensch, Einflüssen
ausgesetzt, die ihm mein Bild verzerrten, Arbeits- und Erwerbssklave,
drohte, mich mit Schimpf davonzujagen, und allerdings mußte es mir als
das Schlimmste erscheinen, meinem Vater wieder zur Last zu fallen, oder,
wie es später auch kam, in einer Provinzabgeschiedenheit als
Bureauschreiber meinen Unterhalt zu verdienen.

Es war da ein langjähriger Hausarzt, zugleich Hausfreund, der eine
eigentümliche geistige Ähnlichkeit mit meinem Freund hatte. Scharfer
Kopf, scharfes Auge, skeptischer Verstand, literarisch unterrichtet,
gleichfalls Jude, war er wie das Ebenbild von jenem aus älterer
Generation, nur daß er mehr Welt und mehr Bonhomie besaß. Derselbe Typus
heute hat überhaupt nichts mehr von der Welt und Bonhomie. Es kann bei
oberflächlichem Urteil bedünken, als hätte der Typus an Positivität des
Geistes gewonnen, was er an Gutmütigkeit und Schliff verloren hat. Aber
das ist nur Schein. Zieht man die Hülle weg, so steht ein Leugner da,
jetzt wie vordem, ein Entgötterter, ein Opportunist aus still nagender
Verzweiflung, deren Wesen ihm freilich selber unbekannt ist. Seltsam,
mit der nämlichen Rückhaltlosigkeit wie an den jungen Mann schloß ich
mich an den älteren an, um in genau der nämlichen Art enttäuscht zu
werden. Die spezifisch jüdische Form von Weltklugheit ist mir im Laufe
meines Lebens vielfach verhängnisvoll geworden, weil ich mit völlig
anders eingestellten Sinnen unvermögend war, die praktischen Nutz- und
Nahzwecke auch nur wahrzunehmen, dabei aber mit der äußeren
Verantwortung häufig, mit der inneren immer beladen wurde.

Die Beweise meines Talents, die ich dem Arzt lieferte, wurden von ihm
verworfen und verlacht, waren dann auch in Gesellschaft das Ziel seiner
geistreichen Sticheleien. Doch ließ er sich zu Besprechungen mit mir
herbei und gab mir den Rat, zu studieren. Die Frage war nur, ob der
Onkel die Mittel dazu bewilligen würde, und er versprach, ihn dazu zu
überreden. Indessen wandte ich mich, bezaubert von der neuen Aussicht,
an meinen Freund in München, schilderte ihm, wie die Dinge lagen,
schrieb vorgreifend, daß ich möglicherweise auf die Unterstützung meines
Verwandten zählen könne und fragte, ob er mich aufnehmen, ob er mir
beistehen, mich zum Examen vorbereiten würde. Die Antwort war über
Erwarten herzlich und ermunternd; das Bild eines gemeinsamen Wirkens und
Strebens, das er, der sonst so kühl abwägende, mir machte, war so
verführerisch, daß ich plötzlich die Geduld verlor, mit dem Onkel und
seinen Beratern weiter zu verhandeln und eines Nachmittags im Mai 1890
heimlich meinen Koffer packte, auf den Bahnhof ging und mit fünfzig oder
sechzig ersparten Gulden nach München flüchtete.

Ich entsinne mich noch sehr gut der nächtlichen Fahrt im Personenzug,
weil ich mich während ihrer ganzen Dauer in einer Stimmung befand und
ihr gemäß handelte, die nicht oft wiedergekehrt ist in meinem Leben. Ich
saß in einem trüb erleuchteten Wagen dritter Klasse, zusammen mit etwa
dreißig Menschen, Bauern, Kleinbürgern, Arbeitern, auch Frauen und
Mädchen, und vom Beginn der Fahrt an, die ganze Nacht hindurch, hielt
ich die Leute mit ausgelassenen Späßen, lustigen Geschichten und
unbedenklichen Hanswurstiaden in fortwährendem schallenden Gelächter, in
das auch die Schaffner einfielen. Alle die lachenden, feuchten Augen
waren gespannt, dankbar-entzückt auf mich gerichtet, und ich erinnere
mich noch eines mageren alten Bauern, der vor Lachen förmlich weinte,
und einer Frau mit einem Korb, die mir von Zeit zu Zeit Äpfel zusteckte
und meine Hand tätschelte. Ich hatte Vergnügen daran, zu beobachten, wie
die Traurigkeit, Bitterkeit, Wundheit in mir im selben Maße wuchsen, in
dem ich mein harmloses Publikum zu vermehrtem Beifall hinriß. So frech
in die lebendige Antithese stellt man sich nur unter dem Antrieb
jugendlich-selbstgefälliger, selbstbetrunkener Menschensucht und
Menschenflucht, aber es ist wohl auch eine Empfindung außerordentlicher
Einsamkeit dabei im Spiel gewesen.

Mein Freund, der Student, hatte gehofft, daß der reiche Onkel, den er
respektierte, mich mit Geldmitteln ausgerüstet und mit seinem Segen
hatte ziehen lassen und war natürlich nicht erbaut, als es sich
herausstellte, daß ich von der Krippe weggelaufen sei und um Gnade erst
betteln müsse. Halbgezwungen machte er noch einmal den Fürsprecher
meines unbesonnenen Unternehmens, und es wurde mir ein sehr geringes
Monatsgeld bewilligt, so gering, daß es mich kaum vor dem Hunger
bewahrte und von geregelter Arbeit und sorglosem Studium nicht die Rede
sein konnte. Die Laune meines Mentors wurde daher immer finsterer; ich
wurde ihm zur Last, er wußte nicht, was er mit mir beginnen sollte und
suchte sich der Verantwortung zu entledigen; er hielt mir meine
Vermessenheit vor, meine Dumpfheit, den Mangel an Willenskraft und
prophezeite mir Untergang. Im Kreis seiner Kommilitonen, in den er mich
bisweilen brachte, galt ich als traurig-komische Person, Wildling, armer
Teufel, nach studentischen Begriffen unebenbürtig, Gegenstand der
Geringschätzung auch insofern, als ich nicht zu trinken imstande war,
und binnen kurzem sah ich mich in einer viel übleren Lage als vor der
Flucht aus dem Hause des Onkels. Unter dem Schein der Obsorge und
Voraussicht beging mein Freund die Verräterei, vor seiner Reise in die
Ferien an meinen Onkel zu schreiben, daß ich es mit den neuen Aufgaben
nicht ernst nehme, und daß er infolgedessen meinem Tun und Treiben nicht
länger Vorschub leisten wollte; die akademische Laufbahn sei mir nach
seiner Überzeugung verschlossen. Darauf wurde die Geldunterstützung, die
ich bis dahin bezogen, eingestellt, und ich befand mich im Zustand der
Hilflosigkeit und Verlassenheit, die noch um das Gefühl des Zweifels an
der Zukunft vermehrt wurden, als ich an einem der Tage steigender
Bedrängnis, beladen mit einem voluminösen Epos in Blankversen zu einem
der berühmtesten Dichter Münchens wallfahrtete, um ein Urteil, einen
Fingerzeig, ein tröstliches Wort von ihm zu empfangen. Das Gegenteil
trat ein. Der große Mann, der sich mir kühl und majestätisch gab, riet
mir ernst, mich wieder dem Kaufmannsberuf zuzuwenden, wozu ihm
wahrscheinlich die Beschaffenheit meines Opus guten Grund bot. Ich
zürnte ihm nicht, denn ich war schon damals instinkthaft davon
durchdrungen, daß in den Jahren der Entwicklung Werk und Gewirktes viel
weniger zu zeugen vermögen als der Mensch, das Schicksal, das er auf
sich nimmt und der Weg, den er geht. Hierzu bedarf es aber eines anderen
Blickes als den in ein dickleibiges Manuskript und eines anderen
Verhältnisses, als dem zwischen gefeierter Autorität und schüchternem
Scholaren.



6


Es war mir auch damals gar nicht so sehr um Werk und Wirken zu tun, als
ich mir in ephemerer Ungeduld vielleicht selber einbildete. Wonach ich
begehrte, war die Menschenwelt, eine Lebensmitte, ein Fundament, um Werk
und Gewirktes darauf zu bauen. Fundament hatte ich nicht. Von Anbeginn
an nicht, und unheimlicherweise war es nicht ein Wissen von Entbehrung,
von dem ich mir bestimmte Rechenschaft hätte ablegen können, nicht die
Erkenntnis umschriebener und begrenzter Widerstände, sondern nur ein
ahnendes, blindes Ertasten davon, das sich im Bewußtsein und in der
Seele kaum formulieren ließ, zur Greifbarkeit sich erst viel später
verdichtete. Denk ich zurück, so war es wie ein Herumtappen im leeren
finstern Raum, aus dem man erst einen Ausgang finden muß, bevor eine
sinnvolle Tätigkeit überhaupt in Frage kommt, ein System der Dinge
entstehen kann.

Ich wurde als Mensch nicht als zugehörig gefordert, weder von einem
einzelnen, noch von einer Gemeinschaft, weder von den Menschen meines
Ursprungs, noch von denen meiner Sehnsucht, weder von denen meiner Art,
noch von denen meiner Wahl. Denn zu wählen hatte ich mich ja nachgerade
entschlossen, und die Wahl hatte stattgehabt. Von jenen habe ich mich
mehr durch inneres Geschick, als durch freien Entschluß geschieden,
diese aber nahmen mich nicht auf und an, und mich selber darzubieten,
ging gegen Stolz und Ehre. Das Problem entfaltete sich also in seiner
ganzen beunruhigenden Wucht.

Das Wort von der Sehnsucht und Wahl darf nicht mißverstanden werden.
Keine Regentenregung war in mir. Auch Vergeßlichkeit nicht und noch
weniger Nützlichkeitserwägung. Ich lebte in schmeichelnden, die mir so
nahe, so augenscheinliche Wahrheit eigenwillig verschleiernden Ideen von
allgemeinem Menschentum; in voller Unbefangenheit, durch Erfahrungen
nicht belehrt, noch nicht gedemütigt, Erfahrungen auch sonst schwer
zugänglich, schuf ich mir von aller Umwelt idealisch verklärte Bilder,
und ein naives Selbstzutrauen, Selbstbetrug hielt mich ab, statuierte
Unterschiede der Klasse, Kaste und Rasse, der Herkunft und des
bürgerlichen Charakters auch auf mich anzuwenden.

Ich war der Bedingtheit entledigt und nahm es in unheilvoller Täuschung
für ein typisches Los, so daß mir die Menschenwelt in lauter einzelne
ebenso unbedingte Wesen zerfiel. Hiervon wurde meine Phantasie ins
Uferlose, Bodenlose, Firmamentlose gerissen, und ich stand schwach und
armselig vor diesem Unbedingten, das mir einerseits Verführung wurde,
anderseits Fatum und Gewissensbürde.



7


Um nicht zu verhungern, mußte ich Zuflucht bei meinem Vater suchen, der
zu dieser Zeit in Würzburg lebte, selbst in kümmerlichsten Umständen.
Als wahrer verlorener Sohn kehrte ich zurück; wenn es auch ohne Dramatik
abging, ohne Schmerz und Demütigung ging es nicht ab. Er ließ mich
fühlen, daß ich seine wesentlichste Hoffnung zunichte gemacht hatte und
zeigte sich mir noch finsterer und kälter als vordem. Am erbittertsten
war die Stiefmutter über den unwillkommenen Kostgänger, an den sie
Wohlwollen ohnehin nie verschwendet hatte. Es war schlimm, gleichsam
betteln zu sollen um die Mahlzeit und das Bett zum Schlafen, aber so war
alles von da ab.

Ich trieb mich planlos herum, viele Wochen lang in den alten Gassen und
Weinbergwegen am Ufer des Stroms, auf dem Hofgartenwall, im
Veitshöchheimer Schloßpark und verschanzte mich, da ich keinen Gefährten
hatte, kein Paar Augen, die mich freundlich grüßten, in
Einsamkeitswollust und Einsamkeitshochmut. Draußen waren Geister in
Bewegung, ich spürte es wohl, Ruf und Anruf der Jugend jener Jahre drang
auch zu mir, die Parole von neuer Zeit, neuer Wahrheit und neuen
Menschen, aber ich wagte es nicht, mich inbegriffen zu denken und sah
keinen Weg zu ihnen hin. Ich wagte es nicht, aber es war auch ein
sonderbarer Stolz im Spiel, der Traum vom heimlichen Kaiser, den gerade
die Verstoßenen manchmal selbstverliebt in sich nähren.

Indes wuchs die Sorge meines Vaters über das arbeitsscheue Treiben, und
er forderte, daß ich dem Onkel einen Abbittebrief schreiben und ihn
durch das Gelöbnis der Besserung bestimmen solle, mich wieder
aufzunehmen. Mich zu sträuben war umsonst, die Quälereien wurden zu arg.
So fügte ich mich ins Unvermeidliche und verfaßte mit schriftstellerischer
Gewandtheit einen jener Briefe, von denen mein Onkel verächtlich sagte,
die seien schöne Wortfeuerwerke. Doch willigte er in eine Probezeit.
Sein Haus und seine Fabrik sollten mir verschlossen bleiben, bis meine
Führung bewiesen, daß ich von den »Wahnideen« geheilt sei. In der
Familie eines seiner Beamten verschaffte er mir Kost und Wohnung. Es
waren einfache, aber lärmende und triviale Menschen, denen ich als Neffe
ihres Brotgebers Respektsperson, als angehender und zugleich mißglückter
Literat lächerliches Geschöpf war. Ich trat als Lehrling in ein
Exportgeschäft, was von Beginn an eine kaum erträgliche Fron war. Der
Chef war ein cholerischer Halbnarr, Spekulant, Leuteschinder,
stadtbekannter Wüstling. Im ganzen Betrieb herrschte eigentümliche Tücke
und Aufsässigkeit. Man verlangte die niedrigsten Dienstleistungen von
mir, und ohne zu wissen wie, war ich alsbald das Ziel eines niedrigen
Intrigenwesens, der Verleumdung und der Bosheit. Zehn Monate nahm ich
mich zusammen, um meinem Versprechen treu zu bleiben. Ein frecher
Bubenstreich machte der Sache ein Ende. Der Prokurist fand eines Tages
während meiner Abwesenheit in meinem Pult einige pornographische
Photographien, ich wurde vor ein Tribunal zitiert, ich wußte von
nichts, ich hatte dergleichen Bilder nie gesehen, ich verschmähte es,
mich zu verteidigen, verließ den Posten und erklärte meinem Onkel
rundweg, daß ich mit solchen Menschen nichts mehr zu schaffen haben
wolle. Eine junge Praktikantin, die mir ihre Zuneigung geschenkt hatte,
ruhte nicht, bis sie die Verschwörung aufgedeckt und den Schuldigen zum
Geständnis gezwungen hatte, aber das war nunmehr zu spät. Der
Familienrat war in Verlegenheit: ich war zur Kalamität geworden, und man
wollte mich los sein, wenn nicht auf gute Manier, so auf schlechte. Es
wurde beschlossen, daß ich mein Militärjahr absolvieren und, falls ich
nach Verlauf dieses Jahres nicht zur Vernunft gekommen sei, meinem
Schicksal überlassen werden sollte. Ich wurde also wieder nach Würzburg
geschickt, stellte mich dort in der Kaserne und wurde aufgenommen. Zur
Bestreitung der Kosten wurde die Hälfte eines kleinen mütterlichen
Erbteils flüssig gemacht, etwa tausend Mark; und davon sollte ich nicht
nur ein ganzes Jahr leben, sondern auch die unerläßlichen Ausgaben für
den Dienst, die Uniformierung, die Repräsentation aufbringen. Ich trat
sonach in die Armee als mittelloser Privilegierter ein, unglückselige
Mischung, wie ich bald spüren sollte. Jude und arm, das erregte doppelte
Geringschätzung, bei der Mannschaft wie bei den Offizieren. Im übrigen
beging ich gleich zu Beginn eine Torheit und Einfältigkeit, von der das
Odium während des ganzen Jahres an mir haften blieb. Lächerlicherweise
nämlich schloß ich das schriftliche #Curriculum vitae,# dessen
Anfertigung in den ersten Tagen verlangt wurde, mit einem schwermütigen
Gedicht, das, soweit ich mich erinnere, die Vergeblichkeit irdischen
Strebens und des meinen insbesonders zum Motiv hatte. Der Feldwebel las
die gereimten Verse beim Rapport unter allgemeinem Hallo vor und hielt
mir eine niederschmetternde Standrede, als hätte ich das gesamte
deutsche Heer verhöhnt.



8


Erlebnis will mit Freiheit behandelt sein, sonst bleibt es dem
Zufälligen verhaftet oder ans Eitle verdingt. Da eine eigentliche
Lebensbeschreibung hier nicht beabsichtigt ist, sondern nur Darstellung
eines schicksalhaften Konflikts, genüge als Zusammenhängendes der
bisherige Bericht, der lediglich aufzeigen soll, wie ich geworden, und
auf welchem Boden ich gewachsen bin. Der Weg wird nun schmaler und
bestimmter, die Richtung energischer sein müssen, Gebot der Verknüpfung
hat zurückzutreten gegen die Folge und Stufung des Entscheidenden.

Obwohl ich meine Ehre und ganze Kraft darein setzte, als Soldat meine
Pflicht zu tun und das geforderte Maß der Leistung zu erfüllen, wozu
bisweilen keine geringe Selbstüberwindung nötig war, gelang es mir
nicht, die Anerkennung meiner Vorgesetzten zu erringen, und ich merkte
bald, daß es mir auch bei exemplarischer Führung nicht gelungen wäre,
daß es nicht gelingen konnte, weil Absicht dawider war. Ich merkte es an
der verächtlichen Haltung der Offiziere, an der unverhehlten Tendenz,
die befriedigende Leistung selbstverständlich zu finden, die
unbefriedigende an den Pranger zu stellen. Von gesellschaftlicher
Annäherung konnte nicht die Rede sein, menschliche Qualität wurde nicht
einmal erwogen, Geist oder auch nur jede originelle Form der Äußerung
erweckte sofort Argwohn, Beförderung über eine zugestandene Grenze
hinaus kam nicht in Frage, alles, weil die bürgerliche Legitimation
unter der Rubrik Glaubensbekenntnis die Bezeichnung Jude trug. Aber dies
ist ja hinlänglich bekannt, niemand hat sich schließlich mehr darüber
gewundert, auch ich war von vornherein mit der Situation vertraut, was
ja an sich schlimm genug ist und eine beständige Trübung der allgemeinen
Lebensstimmung herbeiführen muß.

Auffallender, weitaus quälender war mir in dieser Beziehung das
Verhalten der Mannschaften. Zum erstenmal begegnete ich jenem in den
Volkskörper gedrungenen dumpfen, starren, fast sprachlosen Haß, von dem
der Name Antisemitismus fast nichts aussagt, weil er weder die Art, noch
die Quelle, noch die Tiefe, noch das Ziel zu erkennen gibt. Dieser Haß
hat Züge des Aberglaubens ebenso wie der freiwilligen Verblendung, der
Dämonenfurcht wie der pfäffischen Verstocktheit, der Ranküne des
Benachteiligten, Betrogenen ebenso wie der Unwissenheit, der Lüge und
Gewissenlosigkeit wie der berechtigten Abwehr, affenhafter Bosheit wie
des religiösen Fanatismus. Gier und Neugier sind in ihm, Blutdurst,
Angst verführt, verlockt zu werden, Lust am Geheimnis und Niedrigkeit
der Selbsteinschätzung. Er ist in solcher Verquickung und
Hintergründigkeit ein besonderes deutsches Phänomen. Es ist ein
deutscher Haß.

Jeder redliche und sich achtende Jude muß, wenn ihn zuerst dieser
Gifthauch anweht und er sich über dessen Beschaffenheit klar zu werden
versucht, in nachhaltige Bestürzung geraten. Und so erging es auch mir.
Kam hinzu, daß die katholische Bevölkerung Unterfrankens, reichlich
durchsetzt mit einem unerfreulichen Schlag noch halb ghettohafter,
handelsbeflissener, wuchernder Juden, Krämer, Trödler, Viehhändler,
Hausierer, einer dauernden Verhetzung preisgegeben war, an Urbanität und
natürlicher Gutherzigkeit weit unter benachbarten Stämmen stand und das
Andenken an Brunnenvergiftungs- und Passahschlachtungsmärchen,
bischöfliche Bluterlässe, mörderische und gewinnbringende
Judenverfolgungen noch lebendig im Sinne trug.

Es geschah, daß ich zu einem jungen Menschen in förderliche Beziehungen
trat; wenn dann die gewisse Enthüllung unvermeidlich war, zog er sich
entweder vorsichtig zurück, oder er gab sich eine Weile unbefangen, um
schließlich doch ein schwer bekämpfbares Mißtrauen durchblicken zu
lassen, oder er ließ mich verstehen, daß er in meiner Person eine
Ausnahme statuiere und sich seines begründeten Vorurteils zu meinen
Gunsten entäußere. Das war dann das Beleidigendste von allem. Eher noch
können wir es ertragen, daß das Individuum in uns für minderwertig
proklamiert wird, als die Gattung; eher noch darf der Charakter
verdächtigt werden, als die Geburt; gegen jenes kann man sich retten,
man kann den Irrtum beweisen, oder wenigstens sich einbilden, ihn
widerlegen zu können; gegen dieses sind alle Argumente und Beispiele
machtlos, und der gehütetste innerste Spiegel des Bewußtseins trübt und
befleckt sich.

Als ich nach der Entlassung vom Militärdienst nach Nürnberg kam, wo man
mir eine schlechtbezahlte und untergeordnete Stellung in einer Kanzlei
angeboten hatte, war ich in einem wesentlichen Teil des Verhältnisses
zur Welt schon gelähmt. Die Verbindung, die der Stolz in einem mit der
Furcht vor Erniedrigung eingeht, ist für die Sittlichkeit und Freiheit
des Handelns die schädigendste. Ist das errungene Gefühl des eigenen
Wertes unverlierbar geworden, so rettet vor der Verbitterung nur die
Isolierung, der Entschluß, sich suchen und finden zu lassen, die
Sehnsucht nach dem, der suchen und finden wird. Es ist das Wunderbare
der Jugend, daß sie am Menschen nie ganz zu verzweifeln vermag, eher
wirft sie sich selbst weg, als daß sie aufhört, an den Menschen, dies
geträumte Bild vom Menschen zu glauben. Und so warf auch ich mich weg
damals. Ich geriet in schlechte Gesellschaft; ich hatte unhemmbares
Verlangen nach geistigem Umgang und stürzte in die Kloake des Geistes,
mich dürstete nach Bestätigung, und ich wurde aus mühselig eroberten
Festen geschleudert, ich wünschte mir das Wort, das nicht seinen ganzen
Gehalt aus Geld, Schweiß und Plage bezieht und wurde von dem besudelnden
getroffen, dem, das Geistesart und Geisteshaltung äfft. Mehr ist
schlechterdings nicht zu sagen nötig, um die Existenz zu kennzeichnen,
die ich durch Jahr und Tag führte; was sollte es frommen, das häßliche
Einzelne wieder hervorzuziehen aus dem Grab der Zeit, die in schmutzigen
Kneipen verbrachten Nächte, Ekstasen eines ziemlich ideenlosen
Rebellentums, jämmerlichen Selbstverlust, Prahlerei mit Armut, versäumte
Pflicht, würgende Not, billige Herausforderung des Bürgers. Es ist heute
nicht neu und war zu seiner Stunde nicht neu. Auch von dem Ring der
traurigen Figuren zu sprechen, lohnt nicht. So trüb oder auch merkwürdig
die Schicksale, so mittelmäßig der Zuschnitt im ganzen. In allen
Winkelkaffeehäusern der Erde wird von allen malkontenten und impotenten
Künstlern, Literaten und verkrachten Studenten, von allen Falstaffs und
Pistols, Collines und Hjalmar Ekdals dieselbe Phrase in derselben Manier
vom Rausch bis in den Katzenjammer totgeschleift.

Was als Ingredienz zu tieferer Lebensbestimmung vom Treiben jener Jahre
für mich blieb, war einerseits die Stadt, Monument des Mittelalters, wie
durch Zauberfluch ruhend inmitten tobender Betriebsamkeit, fieberhafter,
von Tag zu Tag anschwellender Industrie, Ausgangspunkt fast und
werdendes Zentrum des Kampfes zwischen Bürgertum und Proletariat; es ist
mir immer symbolisch bedeutend für diese Konstellation erschienen, daß
die erste Eisenbahn Europas zwischen Nürnberg und Fürth lief.
Andrerseits, im natürlichen Zusammenhang damit, war Anblick und
Erfahrung einer schroff geteilten Menschenwelt, Welt von Beschauenden,
Stillen, Vergehenden und Welt von Wollenden, Überlauten, Kommenden.

Alles das in begrenztem Kreis, hingestellt wie zum Exempel und
Experiment, im Herzen Deutschlands. Die Schalen schwankten vor mir auf
und ab. Ich war nicht gesonnen, mein Schicksal an eine von ihnen zu
hängen. Von dort wurde mir Zärtlichkeit alter Formen geschenkt,
Ehrfurcht vor Überlieferung, Hauch der Geschichte, Innensein, Gabe, das
Umfriedete, Geschlossene, Gesicherte zu spüren und zu denken; von hier
kam die Vision der neuen Dinge, Begriff und Gesicht verwandelter Zeit,
im übrigen freilich Kälte, Kälte der Seelen, Trägheit der Seelen,
Verkrustung der Seelen.

Wenn ich mit jenen nun Versunkenen nicht versunken bin, so habe ich es
vielleicht einem Menschen zu danken, der im bedenklichsten Augenblick
wie ein Retter in mein Leben getreten ist. Ich hatte seine Sympathie
erweckt, er beobachtete mich, näherte sich mir, zeigte mir die Gefahr,
und seine sanfte, geduldige, liebevolle Überredung bewirkte, daß ich das
verrottet-unfruchtbare Treiben verabscheuen und meiden lernte. Was
ernsthafter Zuspruch nicht fertig brachte, erreichte er durch
kaustischen Humor, durch die beispielhafte Anekdote, denn er war ein
unermüdlicher Erzähler und barst von Geschichten. Obwohl selbst in
vielfaches Ungemach verstrickt, hamletisch vergrübelt und, da seine
zugleich kantig-schroffe und weiblich-sensible Natur ihm jeden
vertrauten Umgang erschwerte, auch vereinsamt, schloß er sich werbend,
führend, eifersüchtig wachsam an mich an. Er war einer der
problematischesten Menschen, denen ich je begegnet bin, und sein Einfluß
erstreckte sich über meine wichtigsten Jahre.

Er war sechs oder sieben Jahre älter als ich. Er entstammte einem alten
Nürnberger Patriziergeschlecht, das aber völlig verarmt war. Sein Vater
war tot, er lebte mit seiner Mutter, einer welthassenden, weltfremden,
eigentümlich strengen Frau in einem Verhältnis zwischen
Unverträglichkeit und Liebe. Seines Zeichens war er Lithograph, doch mit
seiner Art, die sich wie ein Fisch verbiß, hatte er sich literarischen
Interessen zugewandt, nicht als Produzierender, sondern als ein mit
seiner Gegenwart und den Zeitgenossen leidenschaftlich Hadernder. Er war
schlank, hager, sehnig, flink, nervös wie ein Rennpferd, launenhaft,
verstand zu imponieren und zu gewinnen, war voller Impuls und
Heftigkeit, auch voll List und Witz, und hatte Neigungen zum Aszeten,
zum Bücherwurm, zum Homöopathen, zum Sonderling.

Als er, der seine Kräfte in der Heimat verdorren fühlte, nach Zürich
gegangen war, wo ihm ein größerer Wirkungskreis in Aussicht stand, war
mir zumute, wie einem, den der gute Geist verlassen hat, und mein
Trachten war darauf gerichtet, wieder in seine Nähe zu gelangen. Ein
Briefwechsel von seltener Intensität, seiner- wie meinerseits, gab nur
ungenügenden Ersatz für die lebendigen Stunden, aber es war vorläufig
keine Hoffnung auf Wiedervereinigung. Ich hatte indessen das
Mündigkeitsalter erreicht, bekam das kleine Restkapital des mütterlichen
Vermögens ausgehändigt, fünf- bis sechshundert Mark, in deren Besitz ich
mir reich erschien. Ich kündigte meine Stellung, zahlte meine Schulden,
fuhr nach München und lebte ein paar Wochen in Sorglosigkeit, was ein
vollkommen neuer Zustand für mich war, der sich auch bald rächte, denn
eines Tages war der vermeintliche Schatz erschöpft. Ich sah mich nach
einer neuen Stellung um, ließ ein Inserat drucken, und es meldete sich
ein Generalagent im badischen Freiburg, der mich um Bild und Personalien
ersuchte und mich nach geschehener Sendung engagierte. Ich war der
einzige Beamte in seinem Bureau und hatte täglich zehnstündige
Schreibarbeit zu leisten. Der Mann, in dessen Dienst ich getreten, war
hart, karg, hinterhältig, schwer zu befriedigen, im Benehmen von
betonter Korrektheit, Allüre des Reserveleutnants. An einem
Sonntagmorgen, als ich in die Kanzlei gegangen war, um eine dringliche
Arbeit zu erledigen, erschien er gleichfalls, lobte meinen Eifer, sagte
aber dann, ich möge die Arbeit lassen und lieber in die Kirche gehen.
Etwas erstaunt, ihn über diesen Punkt nicht unterrichtet zu sehen,
antwortete ich, was zu antworten war. Sein Gesicht veränderte sich
erschreckend. Nach einem bösen Schweigen warf er mir vor, ich hätte ihn
absichtlich in Unwissenheit gehalten, es wäre meine Pflicht gewesen, ihm
von meiner Konfession im Offertbrief präzise Mitteilung zu machen, er
habe an dergleichen nicht gedacht, da ihn meine Photographie und dann
auch mein Auftreten getäuscht habe, und als getäuscht müsse er sich auch
betrachten. Weiter äußerte er sich nicht, aber er bereitete mir nun, da
er nicht wagte, mich kurzerhand auf die Straße zu werfen, die
gehässigsten Schwierigkeiten, nörgelte an jedem Federstrich, an jedem
Gruß und legte mir aus niedriger Erwartung heraus eine Falle, indem er
mir nämlich das gesamte Bargeld der Agentur übergab und darauf rechnete,
daß ich, dem er den vereinbarten Ersatz der Reisekosten bisher
vorenthalten hatte, in meiner von ihm gewußten Notlage mich an dem Geld
vergreifen würde. Es geschah auch wirklich, daß ich, während er einige
Tage verreist war, zwei Taler aus der Kasse nahm; ich konnte mir nicht
anders helfen in der Bedrängnis. Ich gestand es ihm sogleich und bat,
die zwei Taler als Vorschuß zu berechnen. Jedoch er lächelte höhnisch.
Er hatte nun den Anklagevorwand, der ihn von mir befreite und entließ
mich auf der Stelle.

Es waren schlimme Wochen, die darauf folgten. Unterstandslos irrte ich
im breisgauischen Schwarzwald herum, verbrachte Regennächte in den
Hütten der Holzfäller und wäre verhungert, wenn ich nicht von einigen
Bauern Milch und Brot bekommen hätte, und zwar durch Vermittlung ihrer
Kinder. Es waren Kinder aus einem Dorf am Titisee, die in Freiburg die
Schule besuchten. Ich begleitete sie häufig am Abend durch den Wald und
erzählte ihnen dabei allerlei Geschichten. Dies gewann mir ihre
Zuneigung. Aber dann ertrug ich dieses Leben nicht mehr, verkaufte, was
ich von meinen Habseligkeiten noch entbehren konnte, einen Rock, ein
paar Bücher, meine Uhr und machte mich auf die Wanderschaft nach Zürich,
wo ich nach vielen Mühseligkeiten auch glücklich anlangte und vom Freund
mit einer Freude empfangen wurde, die mich erschütterte und für alle
Leiden entschädigte.



9


Es erwies sich, daß der Freund ebenfalls in bedrängter Lage war; mit
seinem Stellungsgeber in Streit geraten, hatte er seinen Posten
verlassen müssen und einen andern noch nicht gefunden. Wir lebten nun in
folgender Art: Tagsüber schliefen wir in seinem Zimmer in Oberstraß, des
Abends suchten wir ein Kaffee auf der Bahnhofstraße auf, wo der Freund
einen Oberkellner kannte, der ihm Kredit gewährte. Dort tranken wir
Milchkaffee und aßen eine Unmenge von Weißbroten, unsere ganze Mahlzeit
für die Dauer von vierundzwanzig Stunden. Wir blieben bis spät in die
Nacht sitzen, vertieft in Gespräche, dann gingen wir nach Haus, er legte
sich in sein Bett, ich auf eine entliehene Matratze, und so sprachen wir
weiter, bis der Morgen graute. Das Erlebnis in Freiburg hatte nicht
aufgehört, mich innerlich zu quälen. Der Freund merkte, daß ich ihm
etwas verbarg, denn bisher hatte ich es noch nicht über mich gewinnen
können, ihm davon zu berichten, sondern als Ursache meiner Flucht einen
gleichgültigen Zank angegeben. Mit Feinheit und Geschicklichkeit wußte
er mir endlich das Verschwiegene zu entlocken, und nun drehten sich
viele unserer nächtlichen Unterhaltungen um dieses eine Thema.

Der an sich unbedeutende Vorfall führte uns ins Allgemeine und
Schicksalhafte und wieder zurück ins begrenzt Persönliche meiner
Existenz; nachdem wir solcher Art viele Wege miteinander gegangen waren,
öffnete sich plötzlich ein Abgrund zwischen uns.

Ich gestand ihm, was ich nicht verwinden konnte, was zu erkennen und zu
benennen ich bisher auch von mir abgewendet hatte: ich fühlte mich als
Mitglied einer Nation, gleichgeordnet als Mensch, gleichberechtigt als
Bürger; da mich aber ein Beliebiger ohne zureichenden Grund, und ohne
daß es möglich war, ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen, als
untergeordnetes Wesen behandeln dürfte, so beruhe entweder mein Gefühl
auf einem Irrtum, oder die Übereinkunft, von der es gestützt gewesen,
sei Lüge und Betrug.

Er erwiderte, die Feindseligkeit habe nicht mir gegolten, sondern meiner
Abstammung, der Zugehörigkeit zu einem Fremdkörper innerhalb der Nation;
ein Argument, auf das ich gefaßt war, und auf das ich nur mit Scham und
Empörung antworten konnte.

Angenommen, diese Fremdlinge sind eure Gäste, sagte ich, warum tretet
ihr dann die Gebote der Gastfreundschaft, die zugleich Gebote der
Menschlichkeit sind, mit Füßen? Angenommen aber, sie sind euch lästige
Eindringlinge, warum duldet ihr sie und macht euch der Heuchelei humaner
Verträge schuldig? Besser offener Kampf als das Wohnen unter einem Dach
in scheinheiligem Frieden und heimlichem Haß.

Die Juden gehören nun einmal dazu, sagte er rätselhaft; wie es ist,
gehören sie dazu.

Wie, sie gehören dazu? wende ich ein, und ihr traktiert sie dennoch als
Ratten und Parasiten?

Wer läßt sich so etwas beifallen? entgegnete er; das tun die politischen
und sozialen Unheilstifter. Die aufgeklärten Deutschen wissen, was sie
den Juden zu verdanken haben und ihnen in Zukunft auch noch werden
danken müssen.

Die Juden, die Deutschen, diese Trennung der Begriffe wollte mir nicht
in den Sinn, nicht aus dem Sinn, es war die peinvollste Überlegung,
darüber mit mir selbst ins klare zu kommen. Worin besteht das Trennende?
fragte ich. Im Glauben? Ich habe nicht den jüdischen Glauben, du hast
nicht den christlichen. Im Blut? Wer will sich anmaßen, Blutart von
Blutart zu scheiden? Gibt es blutreine Deutsche? Haben sich Deutsche
nicht mit französischen Emigranten vermischt? Mit Slawen, Nordländern,
Spaniern, Italienern, wahrscheinlich auch mit Hunnen und Mongolen, als
ihre Horden deutsches Gebiet überfluteten? Kann man nicht vorzügliche,
ja vorbildliche Deutsche von nachweisbar undeutscher Abkunft nennen,
Künstler und Feldherrn, Dichter und Gelehrte, Fürsten, Könige sogar? Und
die zwei Jahrtausend alte Existenz der Juden im Abendlande sollte nicht
ihr Blut berührt haben, wenn es nun schon fremdes Blut sein soll, Luft,
Erde, Wasser, Geschichte, Schicksal, Tat und Anteil nicht, wenn man
selbst physische Vermischung ausschließt? War auch ihr eigenes Gesetz
dagegen und der Widerstand der Völker, konnten sie sich dem natürlichen
Gesetz entziehen? Sind sie von anderer moralischer Beschaffenheit? Von
anderer menschlicher Prägung?

Er antwortete, es sei vielleicht so. Es scheine ihm, als seien sie von
anderer moralischer Beschaffenheit, von anderer menschlicher Prägung.
Das gerade sei vielleicht der kritische Punkt.

Ich darauf: Er werde doch nicht behaupten wollen, daß der Freiburger
Versicherungsmann nicht unter der Gewalt eines kleinlichen, boshaften,
gedankenlosen Vorurteils gehandelt habe?

Das räume er ein, aber was auf einem niedrigen Niveau geschehe, sei
nicht maßgebend für die Anschauung auf dem höheren. Übergriffe der
Exekutive bewiesen auch nie etwas gegen die Legislatur.

So hege er also die Meinung, ich sei von anderer moralischer
Beschaffenheit und anderer menschlicher Prägung als er?

Statt der Antwort fragte er mich sehr ernst, sehr feierlich, ob ich
mich, Hand aufs Herz, wirklich als Jude fühle. Ich zögerte. Ich wollte
wissen, worauf die Frage abzielte.

Er lachte und sagte, da sehe er schon, wie schwer es mir werde, mich zu
bekennen. Der Begriff Jude sei gar nicht leicht zu umgrenzen.

Sicherlich, entgegnete ich, so wenig wie der Begriff Deutscher.

Er fragte, ob meine Mutter zweifellos Jüdin gewesen sei? Ob in der
Vergangenheit der Familie kein Fall von Kreuzung bekannt oder nur der
Verdacht davon vorhanden sei? Als ich jenes unbedingt bejahte, dieses
lächelnd verneinte, schüttelte er den Kopf und sagte, mein Fall sei
außerordentlich interessant; es sei ein ganz besonderer Fall.

Ich ließ ihn nicht entschlüpfen. Ich wollte Aufschluß haben über das,
was er »meinen Fall« nannte. Ich bot ihm Behelfe. Ich sagte: Es ist
nicht entscheidend, daß ich mich unter Deutschen als Deutscher fühle.
Dem Deutschen steht es frei, dies als eine Prätension zu betrachten,
eine begründete oder unbegründete, je nachdem. Er kann sie erfüllen oder
nicht erfüllen, je nachdem. Erfüllen: gnadenhalber, ausnahmsweise,
befristet oder unbefristet, weil ich ihm durch eine Leistung Respekt
oder Sympathie abringe, aus Lässigkeit, Vergeßlichkeit, aus Zwecksucht.
In einen Gesellschaftsverband aufgenommen werden, nur weil die sonstige
Abwehr eingestellt ist, ist verletzend und entwürdigend, letzten Endes
für beide Teile.

Er gab es zu. Ich fuhr fort: In aller Unschuld war ich bisher überzeugt
gewesen, ich sei deutschem Leben, deutscher Menschheit nicht bloß
zugehörig, sondern zugeboren. Ich atme in der Sprache. Sie ist mir weit
mehr als das Mittel, mich zu verständigen, und mehr als das Nutzprinzip
des äußeren Lebens, mehr als zufällig Gelerntes, zufällig Angewandtes.
Ihr Wort und Rhythmus machen mein innerstes Dasein aus. Sie ist das
Material, woraus eine geistige Welt aufzubauen ich, wenn schon nicht die
Kraft, so doch den unmittelbaren Trieb in mir spüre. Sie ist mir
vertraut, als sei ich von Ewigkeit her mit diesem Element verschwistert
gewesen. Sie hat meine Züge geformt, mein Auge erleuchtet, meine Hand
geführt, meinen Fuß gelenkt, meine Nerven in Schwingung versetzt, mein
Herz fühlen, mein Hirn denken gelehrt; sie hat mir das Gesehene, in
Phantasie und Urteil Gesammelte durch Geschichte, Fluß des täglichen
Seins, Spiel der Lebensläufe, Erlebnis der großen Werke zur Anschauung
Gewordene in einmalige, unwiderrufliche Gestalt verdichtet: Ist das
nicht gültiger als die Matrikel, als schematisiertes Bekenntnis, als
eingefleischtes Vorurteil, als eine Fremdlingsrolle, die durch Furcht
und Stolz auf der einen Seite, auf der anderen durch Aberglauben,
Bosheit und Trägheit besteht?

Ja und nein, entgegnete der Freund. Diese Argumente erhellten meine
besondere Situation; im allgemeinen lägen die Dinge ganz und gar nicht
so.

Ich will mich aber nicht auf meine besondere Situation berufen, warf ich
ein, und ich will mich nicht in ihr begnügen.

Prüfen wir jenes Allgemeine zuerst, sagte er. Die Juden als Gesamtheit
haben sich niemals mit den Interessen der Wirtsvölker selbstlos zu
identifizieren vermocht. Innerhalb des Staates haben sie sich in eine
soziale und religiöse Isolierung zurückgezogen, ein starrer, erstarrter
Block in der strömenden Bewegung. Solange die erzwungene Isolierung
dauerte, hatten sie den Schein des Martyriums für sich; seit sie
aufgehoben ist, liegt der Mangel an Willen und Fähigkeit zutage. Es
steckt in ihnen ein ungesunder Hochmut der Tradition noch heute. Noch
heute pochen sie auf die ihnen und nur ihnen allein offenbarte Lehre,
bewußt oder unbewußt, und halten alle andere Lehre für Irrtum und Lüge.
Namentlich gegen das Christentum mußte sich ihr unauslöschlicher Haß
richten, denn ihm gegenüber empfanden sie wie eine Mutter, die aus ihrem
Schoß den Verräter geboren hat, Verräter des Volkes, Verräter der
Menschheit, Verräter Gottes. Was kann solchem Haß gleichen? Wodurch
könnte er gemildert werden? Nur er vielleicht erklärt die
Widerstandskraft, die Geduld, die Leidensüberwindung, die beispiellose
Vitalität des Stammes. Rache für das Erlittene zu üben, keimt
wahrscheinlich als Beschluß seit Geschlechtergedenken in ihrer Seele,
wuchert in ihrem Zellgewebe sozusagen; was vermag dagegen der
andersgeartete Einzelne? Was beweist er dagegen? Dergleichen Instinkte
wirken unterirdisch fort und sind durch keine Übereinkunft gutmeinender
Aufklärer, nicht durch den Schmerz der Abgelösten, nicht durch das
Vorbild der Verwandelten aus der Welt zu schaffen.

Dies zu hören war mir bitter. Ich hielt ihm vor, das sei ja der ganze
Jammer des versteinerten Mißverständnisses und der böswilligen Hetze,
doch er nahm es nicht an. Er erwiderte, ich sei wie so viele das Opfer
eines Kulturblendwerkes. Wie lange ist’s denn her, sagte er, daß die
Juden aus der Barbarei niedriger Lebensformen getreten sind? Das
achtzehnte Jahrhundert sah sie noch in verstockter Abkehr und düsterer
Verkrochenheit. Für den greisen Goethe noch war der Jude ungefähr
dasselbe, was dem Amerikaner heute der Nigger ist, trotz Nathan dem
Weisen, trotz Spinoza und Moses Mendelssohn, trotzdem die junge
Romantik, die sich um ihn erhob, von jüdischen Einflüssen durchsetzt
war, trotzdem er gegen die historische und institutive Ehrwürdigkeit der
Religions- und Volksgemeinschaft sicher nicht unempfindlich war. Die
Kindheitseindrücke des Frankfurter Judenghettos zeigten sich stärker.
Die Juden weisen immer auf die Bedrückungen und Verfolgungen hin, wenn
verwerfliche Züge aus ihrem Gesamtverhalten gebrandmarkt werden. Kein
Jude erträgt ein objektives Urteil über Juden, geschweige denn ein
abfälliges, auch über einzelne, auch über Entartete nicht, sobald das
Judentum als solches im geringsten mitbelastet wird. Dieser Fehler rächt
sich insofern schwer, als sich zwischen schönfärbender Apologie und
häßlicher Verleumdungstaktik kaum ein Kompromiß finden läßt. Alle
Lobredner weisen mit Emphase auf die unbedingte Sittenreinheit und
Gesetzestreue der Juden hin, als ob kein Jude zu irgendwelcher Zeit ein
Wässerchen getrübt habe. Dabei waren zum Exempel unter den Räuberbanden,
die zwischen 1750 und 1820 die Gegenden Mitteldeutschlands und des
Niederrheins unsicher machten, Juden in erklecklicher Menge, Diebe,
Hehler und Späher. Die Shylocks aller Grade will ich nicht erwähnen, die
mitleidlosen Wucherer und Aussauger, die Spekulanten ohne Gewissen.
Absurd wäre ja die Meinung, als ob Millionen Menschen, die sich in
heikler sozialer Lage durch die Jahrhunderte winden, fast schutzlos, an
Leben und Eigentum stets gefährdet, als ob die mehr und tiefer denn ihre
Wächter und Quäler zu makelloser Führung verpflichtet, als ob die
Verbrecher unter ihnen verabscheuenswertere Verbrecher wären als die
anderen. Gerechterweise muß man ja das Gegenteil behaupten. Dies ist
auch nicht der Vorwurf, der zu erheben ist. Die Anklage geht von höherer
Warte aus. Sie betrifft das Unvermögen zu seelischer Wandelbarkeit.
Geistige Wandelbarkeit ist ihnen ja in außerordentlichem Maße eigen, in
gerade verhängnisvollem Maße. Seelisch sind sie in ihrer Gesamtheit, als
volkhafte Figur, bis an diesen Tag geblieben, was sie in grauer
biblischer Vorzeit waren.

Der Freund verfocht seine Ansichten mit einer beinahe imperativen
Autorität. Ich entsinne mich, daß ich mich der Logik und Kraft seiner
Argumente nicht entziehen konnte. Niemand wird erwarten, das Gespräch
sei hier im Wortlaut angeführt. In Wirklichkeit war es eine lange Folge
von Gesprächen, und ich gebe davon den Extrakt, die Legende. Er war
unerbittlich; ich, der auf den Grund der Dinge kommen wollte, liebte ihn
um dieser Unerbittlichkeit willen, obwohl ich dunkel empfand, daß er
sich in unserem gemeinsamen Ringen um die Wahrheit über mich stellte,
daß er die Herrschaft an sich riß, und daß die wesentliche Erkenntnis,
zu der wir endlich gelangten, ihn nicht befreite und erlöste wie mich,
dem sie ein Tor öffnete und ein Ziel zeigte, sondern, daß er in
heimlichem Hader und dunkler Gespanntheit mehr und mehr mein Widersacher
wurde.

Die sogenannte Emanzipation bildet zweifellos Epoche im Dasein der
Juden, führte er aus, der Humanisierungswille des neunzehnten
Jahrhunderts beendete ihr Pariatum. Jedes neue Jahrzehnt knüpfte festere
Bande zwischen ihnen und uns. Äußerlich nur, zugegeben; solche des
bürgerlichen Zusammenschlusses, wirtschaftliche, vaterländische sogar,
in jedem Fall gesetzlich sanktionierte, vielfach auch in freiem
Ermessen, schönem Vergessen, sittlicher Einsicht entstandene.
Bedingungslos wurde die Beziehung, bedingungslos menschlich, nur gegen
Ausnahmsindividuen. Woran liegt die Schuld? Ist es deshalb, weil sie
sich trotz alledem als Juden zu bewahren suchten? Warum aber? Solange
sie Geächtete waren, war es ihr Recht, ihre Pflicht, ihr Schutz, ihre
Waffe, das Mittel zur Selbstachtung und Selbstaufrichtung, sich zu
verschließen, an der engen Gemeinschaft zu bauen, eine halb imaginäre,
halb schwärmerische und um desto süßere, verführerische,
tragisch-erhöhende Volkheit zu pflegen. Doch nachdem ihnen die Wege zur
Gemeinschaft mit uns geebnet waren, veränderte sich wohl ihr geistiges
Antlitz, ihre Spiritualität mit erstaunlicher Schnelligkeit; mit
erstaunlicher Schwung- und Spannkraft machten sie unsere Notwendigkeiten
zu den ihren, ihre zu den unseren, schmiegten sich den Forderungen des
Staatswohls an, der öffentlichen Meinung, der Mode, widmeten ihre
wunderbaren Talente der Kunst, der Wissenschaft, der sozialen
Entwicklung, aber in ihrem Grund blieben sie Juden. Ich sage nicht, daß
sie hätten Christen werden sollen. Das haben viele getan, aus
Utilitätsgründen, oder weil sie sich nicht mehr verkettet fühlten, oder
auch aus Überzeugung. Die Frage ist nur, ob sie Christen werden können,
anders als im oberflächlichen Sinn, wie es ja die Mehrzahl der Christen
selbst ist. Die Frage ist, ob sie deshalb aufgehört haben, Juden zu sein
und dies in einem tieferen Sinn; man weiß es nicht, man kann es nicht
kontrollieren. Ich glaube an ein Weiterwirken der Einflüsse. Judentum
ist wie ein intensives Färbemittel; die geringste Quantität reicht hin,
um einer unvergleichlich größeren Masse seinen Charakter zu geben oder
wenigstens Spuren davon. Nicht zu leugnen, daß sie, wieder in einem
gewissen Sinn, Deutsche geworden sind. Aber es steht dem etwas entgegen.
Was mag es sein? Ist es das eigentümliche Beharren der Seele oder der
Sinne im Kontrast zur Flüssigkeit, Mobilität, Vielgesichtigkeit des
Geistes? Es beweist und erklärt zu wenig. Macht der Tradition ist es
nicht, oder nicht ausschließlich, oder nicht mehr. Tradition wird
überwunden und jeweilig gemildert durch das Diktat des Lebens; bildet
als Disziplin einen wohltätigen Damm gegen Maßlosigkeit und
Individualisierungsgier, hütet als politische Maxime Scheunengut und
bewahrt die Nation vor überstürzten Neuordnungen. Aber gerade die
Maßlosigkeit, gerade die Individualisierungsgier, gerade die Sucht nach
Neuordnungen muß man den Juden zum Vorwurf machen. Was ist es also?

Ich antwortete ihm, seine Gefahr und sein Unrecht läge in der
Verallgemeinerung. Es gäbe solche und solche Juden. Alle Gesamturteile
seien schief und führten zur Vergewaltigung, zur Verzerrung, zur
Ausnützung im Dienste von Parteiinteressen. Warum nicht menschlich den
Menschen sehen, nur den Menschen? Oft rufe man durch Mäkeln erst die
Fehler hervor, und in der Wiederholung entstehe die Übertreibung. Man
möge den Juden Zeit lassen, viele unter ihnen seien ihres Rechts zu
atmen kaum bewußt, Verscheuchte, Verschüchterte, Umklammerte; immer
neuer Zustrom aus trüben Behältern trübe die gereinigten wieder, viele
seien gequält durch den latenten Haß, und ihre Entschlossenheit, sich zu
opfern, treibe sie bis zur Selbstaufgabe; viele seien berauscht durch
die ungewohnte Fülle von Raum und Entfaltungsmöglichkeit: und wenn man
ein jüdisches Tribunal imaginiere, so würde dort keiner freigesprochen,
den ein christliches oder deutsches für schuldig erklärt. Aber ich
spürte bei alledem, daß meine Parade den Hieb nicht fing, weil mein
Standpunkt gegen den des Freundes ein zu niedriger war. Erst weit
später, im Verfluß jahrzehntelanger Kämpfe, konnte ich mir seine Frage
beantworten, dieses »Was ist es also?«, von dem ich sogar die
Berechtigung geleugnet hatte, und das mich doch zur Aufrichtigkeit und
Selbstdurchforschung gebieterisch trieb.

Seit man ihre Geschichte kennt, haben sich die Juden als das
auserwählte Volk bezeichnet. Auch in allen ihren Mythen findet sich der
Glaube an ihre Auserwähltheit und die Verkündigung davon. Ohne daß man
die Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit der Gründe untersucht, auf
welche sich dieser Glaube, diese Verkündigung stützt, ob auf die
offenbarte Lehre, ob auf das Verhältnis zu den geliebten Dingen, ob auf
das historische und mythische Schicksal, ist doch klar einzusehen, daß
eine mit solcher Hartnäckigkeit durch die Jahrtausende festgehaltene
Überzeugung einerseits ganz außerordentliche Pflichten nach sich zieht,
die von der Gesamtheit niemals restlos erfüllt werden können, ferner
ganz außerordentliche sittliche und moralische Spannung erzeugt, die
wieder durch ihre notwendigen Entladungen eine Existenz voller
Katastrophen schafft; und daß andererseits ein solches Axiom, wenn es
als selbstverständliche Voraussetzung vor eine Existenz und an ihren
Anfang gestellt ist, die sittliche Entwicklung lähmt, und an ihre Stelle
den sittlichen Quietismus setzt, der zu Überheblichkeit und zum
Pharisäertum führt.

Es ist die Tragik im Dasein des Juden, daß er zwei Gefühle in seiner
Seele einigt: das Gefühl des Vorrangs und das Gefühl der Brandmarkung.
In dem beständigen Anprall, in der Reibung dieser beiden
Empfindungsströme muß er leben und sich zurecht finden. Es hat sich mir
bei fast allen Juden, denen ich begegnet bin, bestätigt, und es ist der
tiefste, schwierigste und wichtigste Teil des jüdischen Problems.

Man besitzt aber, einfach und menschlich betrachtet, ebensowenig einen
Vorrang dadurch, daß man Jude ist, wie man gebrandmarkt ist dadurch, daß
man Jude ist.

Mir wurde klar, daß ein Volk nicht dauernd auserwählt sein kann und sich
nicht dauernd als auserwählt bezeichnen darf, ohne die gerechte Ordnung
in den Augen der übrigen Völker zu stürzen. Der auserwählte Einzelne ist
stets in der Lage, die Verantwortung für sein Tun und Lassen zu
übernehmen; im auserwählten Volk aber maßt sich der Einzelne nach und
nach eine Rolle an, die ihm nicht zukommt, der er nicht gewachsen ist,
und bei der er überredet wird, die Vorteile der Gesamtposition für sich
geltend zu machen, die Verantwortungen hingegen auf die Gesamtheit
abzuwälzen. Selbst den Fall gesetzt, ein Volk sei auf Grund einer
einmaligen grandiosen Leistung berechtigt, sich dauernd als auserwähltes
Volk zu bezeichnen, wie wäre ein solcher Anspruch gegen die Kritik,
gegen die veränderten Forderungen neuer Menschheit zu verteidigen und zu
sichern? Wie wäre es möglich, den Komplex »Volk« abzugrenzen? Genügte
das bloße Bekenntnis zu einem Glauben, um auserwählt zu sein? Das wäre
schlechthin unsinnig und unsittlich.

Die Idee der Auserwähltheit hat, für ein Volk, Berechtigung nur
innerhalb einer zeitlichen Begrenzung. Sowie sie aber aus der
historischen Bedingtheit gerissen und gewissermaßen ins Unendliche
gerückt wird, entsteht die Versündigung, während die persönliche
Auserwähltheit im Unendlichen steht, im Unendlichen besteht.



10


Die Gespräche mit dem Freund, ein unaufhörliches Duell der Meinungen in
den Formen des gegenseitigen liebevollen Interesses, hatten
weitreichende Bedeutung für mich und stellten meine Gedanken- und
Empfindungswelt auf eine viel breitere Basis. Es kam mir bisweilen vor,
als ob ich mit der ganzen Menschheit Frieden schlösse, wenn ich mit ihm
Frieden schloß, doch es war schwer, die Bedingungen eines derartigen
Friedens festzusetzen, ja sie nur unmißverständlich zu umschreiben.

Die Entscheidung, vor die mich der Freund, weniger in Worten als durch
seine Haltung stellte, war: bist du Jude oder bist du Deutscher? Willst
du Jude oder willst du Deutscher sein? Und mir war es damals gerade um
diese Entscheidung zu tun; ich fand es zwingend, mich nach der einen
oder andern Richtung zu entscheiden, obwohl ich den Weg nicht sah, den
ich dann nach der einen oder der andern Richtung gehen sollte. Was wurde
für mich besser oder schlechter nach der Entscheidung? Und war das Wort
allein, der Beschluß allein, die Richtungsänderung allein maßgebend? Ich
suchte nach Vorbild und Beispiel, nach Ermunterung und Bestätigung bei
denen, die mir vorangegangen waren, nach der einen oder andern Richtung,
aber das Suchen war ergebnislos.

In meiner Jugend war Heinrich Heine in den geistig interessierten
Kreisen Deutschlands noch ein mächtiger Name. War von jüdischer
Leistung, jüdischem Vollbringen, jüdischem Ruhm die Rede, so wurde auf
Heine hingewiesen. Durchaus nicht bloß Juden waren für Heine Feuer und
Flamme; die Wirkungen und der Einfluß dieses Poeten gingen in die
breitesten Schichten, über das Künstlerische und Poetische hinaus ins
Politische und Soziale. Und wie man weiß, gehört er zu den wenigen
Deutschen, die in Frankreich Ansehen und Bewunderung genossen haben.
Aufgeklärte und gebildete Menschen lasen Heine, zitierten ihn, beriefen
sich auf ihn, und der Bogen der Verehrung spannte sich etwa von meinem
kleinen studentischen Freund in München, der Dutzende von Heineschen
Gedichten auswendig kannte und in witzigen Heineschen Wendungen
schwelgte, bis zur Kaiserin von Österreich, die diesem ihren Abgott einen
Tempel bauen ließ. Es war mir unbegreiflich. Heute sehe ich darin den
charakteristischen Ausdruck einer ganz bestimmten Zivilisationsverfassung,
einer solchen nämlich, in der das Talent über das Menschentum
prävaliert. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde
sozusagen der Altar des Talents errichtet, so wie in der zweiten Hälfte
des achtzehnten der des Genies; der Begriff des Genies umfaßte aber
damals auch die Menschlichkeit, in allen ihren Äußerungen, selbst den
unerfreulichen, während der Talentkultus, unter dessen merkwürdigen und
nicht leicht zu analysierenden Wirkungen unsere Welt noch heute steht,
der isolierten geistigen Leistung gilt. Heinrich Heine ist geradezu das
Schulbeispiel dafür.

Ich befand mich von Anfang an im Verhältnis des Widerstrebens, ja der
heftigen Abneigung gegen Heine. Seine Lyrik erschien mir, gemessen an
der von Goethe, Hölderlin oder Mörike, süßlich, spielerisch und roh
sentimental; seine Prosa erregte meinen Haß durch ihr Bestreben nach
geistreicher Pointe, durch ihre Mischung von Frivolität und rohester
Melancholie; seine kritischen, polemischen, politischen Schriften fand
ich zum Teil seicht und von oberflächlicher Brillanz, zum Teil
unwahrhaftig und eitel. Für das Satirische, das ihre stärkste Qualität
ausmacht, hatte ich wenig Verständnis, und die sogenannten letzten
Gedichte, in denen aufrichtige und ergreifende Töne sind, waren mir
verdächtig durch ein gewisses Sichgefallen im Schmerz.

Zweifellos waren sowohl mein Urteil als auch mein Gefühl ungerecht. Die
Ungerechtigkeit, der ich in mir freien Lauf ließ, hatte wohl ihren Grund
darin, daß etwas unantastbar, nachahmungswürdig und mustergültig sein
sollte, was ich für schädlich und zerstörend hielt. Es sind in neuerer
Zeit so viele Ankläger und Verächter Heines aufgetreten, mit guten und
schlechten Argumenten, meist aber mit schlechten, mit reinen und
unreinen Waffen, meist aber mit unreinen, daß ich nur mit Überwindung
und weil dieses Stück Wahrheit eben zur ganzen Wahrheit gehört, mich
entschlossen habe, das Thema zu behandeln. Daß die blinden Hasser und
die böswilligen Agitatoren unrecht haben, beweist nicht, daß Unrecht
überhaupt geschieht. Verschweigen und Schönfärben macht eine schwache
Sache nicht stark. Was mir an Heine wider das Blut ging, war vielleicht
das Blut. Seine zeitbedingte Erscheinung war im zeitbedingten Sinn
jüdisch, und das Auffallendste an ihr ist das schroffe Nebeneinander von
Ghettogeist und Weltgeist, von jüdischem Kleinbürgertum und Europäismus,
von dichterischer Imagination und jüdisch-talmudischer Vorliebe für das
Wortspiel, das Wortkleid, das Wortphantom, welch letztere Mischung man
fälschlich als romantische Ironie bezeichnet hat, während sie ein
Ergebnis fabelhafter jüdischer Anpassung und dabei tiefer innerer
Lebens- und Weltunsicherheit ist. Aus dieser Quelle fließt dann auch die
journalistische Befähigung, wie denn Heine der eigentliche Schöpfer,
wenn auch nicht des Journalismus, so doch seiner Abart, des
Feuilletonismus, genannt werden kann, dieses unglücklichen Surrogats von
Kritik, Betrachtung, Urteil und stilistischer Form, Narkotikum für eine
niedergehende Gesellschaft und Mittel, Verantwortungen zu verschleiern.

Heine war sicher in voller Naivität Jude; er war auch in voller Naivität
Deutscher. Er beklagte sein jüdisches Schicksal und sein jüdisches Leid
und verriet den Juden in sich. Er gab sich als deutscher Patriot,
deutscher Emigrant, als Deutscher von Geblüt und Wahl und verriet den
Deutschen in sich. Auch dies, wie ich überzeugt bin, in voller Naivität.
Er war der Talentmensch, katexochen, ohne göttliche Bindung, ohne wahre
Zusammenhänge, unheilvoll isoliert, durchaus auf sich selbst gestellt,
auf sein einsames Ich, ohne Mythos, ohne Mütter, ohne Himmel und deshalb
auch ohne Erde. Wenn man mir ihn pries, fühlte ich mich stets verraten;
wodurch, kann ich kaum erklären, aber mir schien, daß ich am andern Pol
stand und daß ich ihn, sein Tun, sein Bild, seinen Einfluß erst besiegen
mußte, ehe mein Tun, mein Bild, mein Einfluß beginnen konnte. Allen
Juden schmeichelte der Name Heinrich Heine; mir schien es hingegen, daß
sie ihn hätten fürchten sollen, da er sie vom geraden und fruchtbaren
Weg verführerisch ablenkte und auf Jahrzehnte eine entstellte Figur des
jüdischen Menschen und des jüdischen Deutschen gab. Es wurde mir
gesagt: Warum hältst du dich an Heine, warum blickst du nicht auf die,
die deinen Widerstand weniger oder gar nicht herausfordern? Da ist Felix
Mendelssohn, da ist Börne, da ist die wunderbare Rahel, da ist Disraeli,
da ist Lassalle und Marx, da ist schließlich Spinoza, Menschen von
großem Zuschnitt, der letzte vom allergrößten, nicht Jude mehr,
herausgetreten aus dem engen Rahmen der Konfession und Sekte, Mensch an
sich, Leuchte der Zeiten! Ich lernte auch auf sie hinblicken. Lockung
und Gefahr war auch in ihnen, aber sie ordneten sich williger in die
Folge der Gesichte und Erlebnisse. Heine schloß zunächst zuviel des
Gegenwärtigen ein und aus; er war die Wunde, die ich vor kurzem erlitten
hatte.

Ich heilte sie durch Geister von entgegengesetzter Prägung. Es würde zu
sehr ins Breite führen, wenn ich sie hier aufzählte und von Cervantes
bis Turgeniew und Dostojewski, von Dickens, Thackeray, Richardson und
Balzac bis Keller, Gotthelf, Arnim und Kleist ihre Wirkungen schildern
wollte; den leidenschaftlichen Anteil, die Begierde nach Leben und
Lebendigkeit, Kunst und ihrer Form, das Anklammern an die gewaltigen
Herzen, die Anbetung und glühende Hingabe. Ich suchte in ihnen und bei
ihnen die Welt, die Zeit, die Menschheit, die Gestalt, das feurige,
flüssige Unaussprechliche, das wie ein geistiger Golfstrom die Gestade
der Seele umschlingt. Nebenbei beschäftigte ich mich viel mit
geschichtlichen Studien, indem ich vom Allgemeinen immer mehr ins
Einzelne ging, teils aus Neigung für das persönlich Schicksalhafte,
teils aus Hunger nach Stoff und Lebensmaterial, und außerdem mit
Astronomie, ganz dilettantisch, ja phantastisch, aus Sucht nach hohen
Erschütterungen sowohl wie aus Überdruß an der verzweifelten Enge und
Ausblicklosigkeit meiner Umstände.



11


Allmählich wurde ich dem Freund lästig. Ich wußte nichts mit mir
anzufangen, Aussicht auf Broterwerb hatte ich nicht, denn ich hatte
nichts Rechtes gelernt und eignete mich zu keiner praktischen Tätigkeit.
Die dürftigen Hilfsmittel des Freundes waren völlig versiegt, in der Not
knüpfte er frühere Bekanntschaften wieder an, und eine Zeitlang hielten
wir uns mit deren Bestand noch über Wasser, was das Schlimme mit sich
brachte, daß wir die Freiheit verloren und wieder in ein fades und
vergiftendes Gelag- und Kneipenwesen gerissen wurden. Ich war den Leuten
aus irgendwelchen Gründen unsympathisch, und als ich gelegentlich einer
Fahrt auf dem Züricher See durch einen Windstoß meinen alten Strohhut
einbüßte, wurde ich außerdem noch lächerlich. Der Freund, verängstigt
und feig geworden, gab mich preis, und mir war im Ring der Feinde übel
zumute. Es wurde beschlossen, daß ich bei einer Zeitungsredaktion
Anstellung zu suchen hätte. Man schrieb mir Adressen auf und schickte
mich mit einem geliehenen Filzhut tagelang herum. Die Unlust war auf
meine Stirn geschrieben, um keinen Preis wollte ich Journalist werden,
mein Aussehen mag ebenfalls keine Empfehlung gewesen sein, und so kehrte
ich von jedem Gang unverrichteter Dinge zurück. Da hielten sie Kriegsrat
und gelangten zu dem Ergebnis, erstens, daß mir ein neuer Hut gekauft
werden sollte, zweitens, daß durch eine Sammlung das Fahrgeld
aufzubringen sei, dessen ich zur Reise nach München bedurfte. In München
lebte damals mein Vater. Es geschah so; ich glaube, es waren etwa
zwanzig Franken, die außer dem Hut zusammenkamen; davon lösten sie am
Bahnhof das Billett bis Lindau, der Restbetrag wurde mir eingehändigt.
Der Abschied vom Freund war lau und bitter, soweit ich mich entsinne.
Ich entsinne mich auch, daß ich auf der Fahrt zwischen Zürich und dem
Bodensee von Hunger ergriffen wurde; ich konnte der Verlockung, mich
nach langer Zeit wieder einmal satt zu essen, nicht widerstehen und nahm
von dem zur Weiterreise bestimmten Geld. Als ich auf dem Lindauer
Bahnhof stand, einige Minuten vor Abgang des Münchener Zuges, muß ich
als mitleidswürdige Figur aufgefallen sein, denn ein alter Schaffner
trat zu mir, ließ sich in ein Gespräch mit mir ein, und nachdem ich ihm
gestanden hatte, daß ich das Geld zur Reise nicht hatte, ließ er mich
einsteigen und drückte mir während der Fahrt das Billett in die Hand mit
den Worten, er vertraue meinem ehrlichen Gesicht, daß ich ihm die
Auslage wiedererstatten werde. Auf das Billett hatte er seine Münchener
Wohnung geschrieben, die merkte ich mir, und die Menschenfreundlichkeit
des Schaffners hatte eine schreckliche Szene zwischen mir und meiner
Stiefmutter zur Folge. Ich ging sogleich in die Wohnung des Vaters; der
Vater war verreist; ich sah an allem, daß er sich in der ärmlichsten
Lage befand, trotzdem bat ich die Frau, sie möge mir das Geld für den
Schaffner geben, es waren vielleicht zehn oder zwölf Mark. Sie weigerte
sich mit Heftigkeit; ich beharrte und wurde dringlicher; sie geriet
außer sich, überschüttete mich mit Vorwürfen und Beschimpfungen und
verwies mir das Haus. Da schwand mir die Besinnung, ich langte nach
einem Küchenmesser und schritt drohend auf sie zu; nun wurde sie auf
einmal nachgiebig, sei es, daß mein Anblick sie in Furcht versetzte, sei
es, daß sie meine Verzweiflung instinktiv erfaßte; nach einer Weile
brachte sie mir ein silbernes Armband, das meiner Mutter gehört hatte
und sagte, ich möge es versetzen.

Danach war natürlich jede Verbindung mit meinem Vater zerbrochen, und er
schrieb mir nach seiner Rückkehr nur ein paar Zeilen, die mich durch
einen ihm sonst nicht eigenen kargen Ausdruck des Kummers bewegten. Ihm
war ich nun ein gänzlich mißratener Auswürfling. Dies alles sei
berichtet, weil ich sonst die Periode meines Lebens, die sich
unmittelbar an dies Zerwürfnis schloß, nicht gut erklären könnte; denn
es waren Monate so vollkommener Einsamkeit und Verlassenheit und so
erdrosselnder Not, wie sie selbst in einer modernen Großstadt selten
sind, und die zu ertragen eine nicht gewöhnliche Widerstandskraft
notwendig war. Ich lebte von Äpfeln, von Käse und von Salat. Den Salat
fand ich morgens in einer Schüssel vor der Tür meines Mansardenlochs;
eine Frau, die mir gegenüber wohnte und von meiner hilflosen Lage
Kenntnis erlangt hatte, übte auf diese zarte Manier Mildtätigkeit. Als
ich ihr eines Tages dankte, schüttelte sie stumm den Kopf. Ich hätte
aber selbst so nicht weiterleben können, wenn mir nicht mein Vater hier
und da einen Brief geschickt hätte, in den er ein paar Marken gelegt
hatte, die ich veräußerte; er mußte es heimlich und ohne Wissen seiner
Frau tun. Ferner machte ich die Bekanntschaft eines Archivars, Streber,
Ordensjäger und Geschichtsforscher #ad usum delphini,# der mich eine
Zeitlang als Abschreiber verwendete. Es war dies ein gewissenloser
Menschenschinder, wie man sie nicht selten unter subalternen Beamten
trifft; es machte ihm zynisches Vergnügen, aus meiner Bedrängnis Nutzen
zu ziehen und seine Macht zu mißbrauchen; selbst in gedrückter Stellung,
war es Lust für ihn, über einen noch Gedrückteren unumschränkter Herr zu
sein. Wenn ich eine Woche lang seine Exzerpte kopiert und ihm zehn bis
fünfzehn Bogen abgeliefert hatte, zahlte er mir nach Willkür und Laune
einen bis anderthalb Taler. An manchen Tagen verdiente ich mir zwanzig
oder dreißig Pfennig mit Schachspielen in einem Winkelkaffee, wobei ich
darauf bedacht sein mußte, daß ich mich nicht in einen Kampf mit
stärkeren Spielern einließ. Daß ich körperlich immer mehr herunterkam,
bedarf keiner Erwähnung; es stellten sich Magenblutungen ein, und ich
verordnete mir eine strenge Reiskur, die mich auch wirklich heilte. Im
Äußeren war ich völlig vernachlässigt, obwohl ich alle Sorge darauf
richtete, ohne Löcher, Flecken oder Flicken herumzugehen. Innerlich
begab sich etwas Sonderbares mit mir: Ich geriet in einen Zustand halb
quälender, halb beglückter Spannung, aus der sich langsam Gestalten,
Bilder und Vorgänge lösten. Mein tägliches Dasein war ein erregter
Traum; die Nächte über saß ich bei der Arbeit und schlief nur wenige
Stunden. Die Einsamkeit, der gänzliche Mangel an Umgang und Aussprache
bewirkten eine wiederkehrende und schließlich latente, rauschhafte
Verzückung, die bisweilen mit einer ebenso rauschhaften, langdauernden
Angst abwechselte. Ich hatte Halluzinationen, redete laut vor mich hin
und erinnere mich, daß ich einmal von zwölf bis drei Uhr nachts im
Herbstregen durch die Straßen rannte, von Grauen erfüllt, weil ich einen
Verfolger hinter mir glaubte, einen unversöhnlichen Feind, dessen
Gesicht und Gestalt mir irgendwie genau bekannt waren.

Dergleichen geschah öfter. Dennoch war ich keineswegs verzweifelt, im
eigentlichen Wesen jedenfalls nicht, auch nicht verbittert oder
anklägerisch oder menschenhassend. Ich denke nicht, daß ich mich einer
nachträglichen Verklärung schuldig mache, wenn ich sage, daß die äußeren
Leiden an mir niederrannen wie Wasser an einer geölten Wand. Ich fühlte
einen unerschöpflichen Vorrat an Kräften in mir. Was ich äußerlich zu
erdulden hatte, schien mir in keiner Beziehung zu dem zu stehen, was ich
innerlich war. Ich setzte dem zu Erduldenden Geduld entgegen, sonst
nichts. Es war nicht eben Zuversicht, die mich stark machte; zur
Zuversicht gehört bewußtes Selbstvertrauen; das hatte ich nicht, auch
der Arbeit gegenüber nicht, die mich zwar in Flammen sah, an der ich
aber die Unreife und Unzulänglichkeit spürte, kaum daß die Flamme
ausgebrannt war, so daß ich mit einer fast nüchternen Beharrlichkeit
immer wieder zum Anfang schritt. Es ist natürlich schwer, nach
Jahrzehnten rückschauend alle Stationen einer Entwicklung wahrheitsgemäß
zu untersuchen, ohne einem gewünschten Bild zu schmeicheln, doch wie ich
auch mich und jene Zeit in mir prüfe, zwei Tatsachen bleiben mir
unverrückbar: erstens, daß ich mitten in einer deutschen Stadt in einem
Verhältnis zur Welt stand wie Robinson auf seiner Insel; zweitens, daß
ich diese dauernde und düstere Isolierung nur ertrug, weil ich wie die
Seidenraupe in einer Schutzkapsel lebte, in einem animalischen
Hindämmern, Hinwarten, aufs heftigste empfindlich wohl für alles, was
mit mir sich begab, für Menschen, Dinge, Stimmen, Farbe, Ton, Wort und
Hauch, aber doch nur traumempfindlich, gleich einem, in dem sich etwas
erschafft, woran er bloß den Anteil hat, der durch seine Existenz
gegeben ist, während er sonst Werkzeug bleibt.



12


In sozialer Hinsicht mußte ich mich als Geächteter fühlen; ich war es
auch, denn ich lebte so. Wer aus der Tiefe emporkommt, neigt, wenn er
eine gewisse Höhe erlangt hat, gern dazu, seine finsteren Erfahrungen
mit einem Goldsaum zu umbrämen. Er vergißt die Niedrigkeit um so
bereitwilliger, als sie ihn gezwungen hat, niedrig zu sein, niedrig zu
denken, niedrig zu handeln. Das ist unvermeidlich, und der es leugnet,
lügt. Es erfordert im günstigsten Fall eine lange Zeit und lange
sittliche Arbeit, damit die Seele von dem Schmutz und Unrat gereinigt
wird, mit dem sie beworfen worden ist, mit dem sie sich bedeckt hat. Es
ist geradezu eine Erneuerung nötig, und erst, wenn Erneuerung
stattgefunden hat, wird Sinn und Frucht des Leidens offenbar. Der Mensch
in der Qual ist gar nicht fähig, Erfahrungen zu machen und Resultate zu
ziehen; ein angstvoller Geist kann weder lehren noch formen. Der
Zuschauerirrtum, der dem Elend zeugende Macht zuschreibt, entsteht
daher, weil die zahllosen im Elend Versunkenen keinen Einwand gegen
dieses freche Luxusdiktat erheben können. Entkommt einer der Gefahr, so
darf er die Gefahr preisen; der Gesicherte bescheide sich, selbst wenn
er die rühmt, die für ihn ihre Haut zu Markte tragen.

Am Rand der Gesellschaft stehend, haarbreit neben dem Abgrund, galt ihr
meine Sehnsucht. Das Verlangen, von ihr aufgenommen und anerkannt zu
werden, als Gleicher unter Gleichen, überwog jedes andere. Die Frage, ob
Jude oder Deutscher, war zunächst unwichtig geworden gegen die, wie ich
zu den Menschen kommen konnte. Mir ahnte manchmal, als sei ich im
Begriff, das abzuzahlen, was am Judentum als Schuld und Odium hing, ich
für meinen Teil, und als werde das irgendwie augenscheinlich und
beweisbar werden. Es trat eine Reihe von Zufällen ein, von Frist zu
Frist, die meiner materiellen Engnis kein Ende bereiteten, wohl aber der
nachtschwarzen Hoffnungslosigkeit, vor allem das verschlossene Tor
sprengten, vor dem ich geharrt und gewacht hatte und Wege des Geistes
freigaben.

Ich wurde Sekretär bei einem sehr geschätzten Schriftsteller, der,
obwohl nicht mehr jung, die Sache der Jungen zu seiner Sache gemacht
hatte und dadurch allerdings mit der angeborenen Begabung in Zwiespalt
geriet, die ihn mehr in bürgerlich-behagliche Bahnen wies. Er diktierte
mir seine Romane und Erzählungen, und als ich es nach einiger Zeit
wagte, ihm eigene Arbeiten zur Prüfung vorzulegen, zeigte er eine
Überraschung, an der ich merkte, daß ich nicht taube Nüsse klopfte. Es
war der erste Mensch, der mich ermunterte, der erste überhaupt, der mich
als Dichter uneingeschränkt ernst nahm, und das bedeutete für mich
soviel wie Rettung und Erlösung. Aber er tat mehr. Er warb und wirkte
für mich und jene sehr unfertigen, sehr fragwürdigen Gebilde; er scheute
nicht Spott und Abwehr, ja Spott und Abwehr reizten ihn zu
bedingungslosem Enthusiasmus, und als Heißsporn, der er war, begab er
sich in Fehden; ich wurde unversehens ein Objekt von Für- und
Widermeinung, was mich eher verzagt als stolz machte.

Aber die Brücken betrat ich, die mir geschlagen waren, und schnell sah
ich mich in die Verwirrungen der Welt gerissen. Das heißt ich nahm für
Welt, was nur ein Zerr- und Scheinbild der Welt war; sie täuschte
Freiheit, Weite und Würde vor, und sie war gebunden, eng und platt. Als
ich längst keine Illusionen mehr über sie hatte, war doch das, was ich
hier unter Welt verstehe, nicht auffindbar, und je größer mein Bemühen
um sie, mein Verlangen nach ihr wurde, je schattenhafter erschien mir
ihre Existenz. Und gleichwohl war sie mir notwendig, wenn nicht meine
eigene Existenz eine schattenhafte sein sollte.

Der Kreis des literarischen Lebens umfing, damals wie heute, bei uns wie
bei jeder Nation, Repräsentanten aller Stände und Schichten. Es liegt
nahe, an eine Auslese der Besten und Fähigsten zu glauben; dem ist nicht
so. Es liegt nahe, an eine Gemeinschaft zu glauben, die sich auf höherer
Ebene zusammengefunden hat als der breiten Alltagsfläche und die, eben
durch die vollzogene Auslese, durch Tun wie durch Sein vorbildlich ist.
Dem ist nicht so. Es hat sich keine Auslese vollzogen, es ist keine
Gemeinschaft entstanden, es ist ein zufälliges In-, Mit- und
Gegeneinander mehr oder weniger begabter, mehr oder weniger guter, mehr
oder weniger zielbewußter, ehrgeiziger oder verbitterter oder
entzündlicher Einzelner. Es sind in der Mehrzahl Entlaufene, Entgleiste,
sozial Verwundete und Kranke; Exponierte alle. Ihrem Zirkel, ihrer Erde
sind sie alle entflohen, nicht um frei zu sein, sondern freischweifend,
ob es nun Proletarier, Bürger oder Aristokraten sind. Sie bauen daher
nicht auf einem gegebenen Fundament; sie müssen sich das Fundament erst
errichten, und zwar jeder für sich und auf seine Weise. So vergeuden sie
von vornherein Blut, Kraft und Geist für etwas, das Voraussetzung und
Mitgift sein sollte. Sie zersplittern sich, ummauern sich, keiner hat
die Bindung mit dem Volk, den Rückhalt an ihm, ja, das Volk beargwöhnt
und verleugnet sie, es ist keine Mitte da, keine Übereinkunft, kein
Vertrauen vom einen zum andern, nicht einmal Respekt vor der Arbeit oft,
und auch wo wahrhaft Berufene sich vereinen, bilden sie Partei und
hochmütige Sippe.

Genossen hat man bald, solche, die dasselbe meinen wie du, sogar
dasselbe sagen. Aber sich im Redeaustausch vertragen und die geistige
Kontinuität bewahren, ist zweierlei. Eifersucht lauert stets unter der
Schwelle, Kleinlichkeit, Neid und Spott. Die Erfolglosen und die
Erfolganwärter machen geschlossene Phalanx gegen die, die den mindesten
Vorsprung haben, und es bedarf schon einer überwältigenden
Persönlichkeit, um den Zweifel der Unsachlichen, die sich sachlich
gebärden, niederzuschlagen. Dieser Zweifel kommt aus Verzweiflung oder
führt zu ihr, und die Verzweiflung wieder weist auf mangelnde Zucht und
Mangel der Idee, Mangel der Übereinkunft und Mangel der Verantwortung.
Ich erlebte es, daß frenetische Begeisterung um einen Namen lärmte, der
sich dann nur in einen lebendigen Menschen zu verwandeln brauchte, um
Abkühlung und Einschränkung hervorzurufen. Fremdheit hielt stand;
Distanz allein gab Glorie und bewahrte sie, sonst wurde alles zur
Politik des Augenblicks mißbraucht.

Ich selbst werde wohl nicht besser gewesen sein. Die Luft, die man
atmet, färbt die Haut. Aber es wurmte mich die verlorene Illusion. Es
wurmte mich das kleine Maß, das die Wirklichkeit mich anzulegen zwang.
Es wurmte mich das Nichtbesserseinkönnen und Nichtbesserwerdenkönnen,
und es wurmte mich schließlich die Maske, die ich tragen mußte, wenn
höherer Wille und höhere Rücksicht Dissimulation forderten. Die lernt
sich schwer, und in ihrer feinsten Form ist sie dann doch wieder ein
Gebot der Menschlichkeit; nichts ist roher und zweckloser, als mit dem
Wahrheitsanspruch und der Wahrheitsfackel Gemüter zu beunruhigen und zu
verwirren, die nur in Dämmerung und Täuschung noch ein unsicheres Glück
genießen. Das zu vermeiden und doch, in einem andern Sinn, wahr zu sein,
ist eine Aufgabe für sich, die allerdings aus dem Bezirk des
Literarischen heraus in den der Selbsterziehung und der Liebe tritt.
Auch Liebe ist nicht angeboren, auch Liebe muß man lernen.

Die Entmutigung, die mich oft inmitten des Höllenkessels von Geistigkeit
und Herzenstaubheit, Anmaßung und wesenloser Opposition überfiel, die
Scham über alle die polternden, stolpernden Selbste, zu denen nun auch
ich mich jetzt zählte, in denen ich aber von fern die entrückten
Bewohner eines magischen Gartens gesehen hatte, veranlaßten mich
bisweilen zu der Frage, ob die enge Aufsässigkeit, der Brothader im
Ringen um allgemeine Ziele, die provinzielle Dumpfheit und das brutale
Strebertum, das Mißtrauen und vorgesetzte Mißverstehen, wo es um Werk,
um Vollkommenheit, um Ineinanderwirken, um Ideenhaftes ging, um Gedanken
und Gestalt, ob das eine deutsche Eigentümlichkeit, deutsche Krankheit
sei, oder ob es ein Ergebnis des Metiers als solchem war, die dunkle
Kehrseite, und in anderen Ländern nicht anders als hier. Ich machte die
Bekanntschaft eines jungen französischen Schriftstellers, und mit ihm
erlebte ich folgendes: Ich hatte mich ihm genähert, wir hatten
fruchtbare Gespräche miteinander geführt, und bei einer schicklichen
Gelegenheit gab er mir ein von ihm verfaßtes Buch mit einer
freundschaftlichen Widmung. Kurze Zeit darauf geriet ich in eine
drückende Notlage, in der mein letztes Hilfsmittel dieses Buch war, das
ich beim Antiquar für ein paar Groschen veräußerte. Mit ein paar
Groschen konnte ich zwei bis drei Tage leben. Da wir in demselben Hause
wohnten, war ein Zusammentreffen mit dem Franzosen trotz meines
schlechten Gewissens nicht zu vermeiden, und von einem bestimmten Tag an
bemerkte ich, daß sich sein Benehmen gegen mich verändert hatte; er
hatte etwas Traurig-Scheues und Stumm-Vorwurfsvolles, wenn er mir
begegnete; ich wußte seine Miene und Haltung nicht zu deuten, zog mich
selber zurück, bedauerte die Entfremdung, und erst, als er abgereist
war, löste sich mir das Rätsel auf ebenso peinliche wie überraschende
Weise. Er hatte nämlich zufällig bei dem Antiquar, bei dem ich es
verkauft hatte, sein Buch gefunden, noch mit der Widmung, denn nicht
einmal soviel Klugheit und Takt hatte ich in meiner verhärtenden,
verrohenden Bedrängnis aufgebracht, dies Zeichen einer persönlichen
Beziehung vorher zu verlöschen. Er hatte gewartet bis zu seiner
Entfernung aus der Stadt; nun schickte er mir das Buch wieder und mit
ihm einen Brief. Dieser Brief war ein Dokument zartester Delikatesse und
zugleich vornehmster Gesinnung; es ist mir kaum je ein ähnliches unter
die Hände gekommen; es hat mich auch kaum je ein Mensch auf so profunde
Manier belehrt und auf so feine beschämt. Was mich zu dem häßlichen
Schritt getrieben, hatte er erraten; daß er sich verletzt gefühlt,
verschwieg er; zum Vorwurf machte er mir den Mangel an Vertrauen. Er
schrieb ungefähr: »Kommen Sie nach Paris. Es gibt dort vielleicht
manches, worüber Sie sich zu beklagen haben werden, manches, was in
Ihrem Vaterland anziehender, solider, gesünder ist, aber eines werden
Sie dort unter den Leuten von Geist und Menschen unseres Berufs finden,
was ich in Deutschland in einem schmerzlichen Grad vermißt habe: wahre
Kameradschaft, Courtoisie, unbedingte gegenseitige Achtung!«

Es ist mir dies später bestätigt worden. Die Kenntnis romanischen
Geistes- und sozialen Lebens läßt es von innen her verstehen. Das
deutsche Wesen ist Zerstückung; Zerstückung bis ins Mark; deutsche
Entwicklung geht von Ruck zu Ruck; Epochen des Reichtums und der Blüte
münden jäh in eine Ödnis; große Erscheinungen sind unbegreiflich
abseitig; zwischen bewegten Teilen fehlen Vermittlungen und Übergänge,
so daß an ein lebendiges Glied ein totes angenietet und Kaste von Kaste
durch unübersteigliche Mauern geschieden ist. Ein Zentrum gibt es nicht
und hat es nie gegeben, die vier Jahrzehnte des geeinten Reiches haben
nicht einmal eines der Verwaltung geschaffen; der Künstler, der Dichter,
konnte er nicht als Beamter subordiniert werden, so war er ein
verlorenes Individuum, und seine Position hing vom Ungefähr des
ökonomischen Gelingens ab. Die eine Schicht der Gesellschaft verdammt,
was die andere preist; Traditionen brechen über Nacht, Bildung
vernichtet das Bild, Gelehrsamkeit die Lehre, Gesinnung den Sinn, Erfolg
die Folge, Liebhaberei die Liebe, Betriebsamkeit den Trieb.

Alles dies erfuhr ich und mußte es erfahren, da es ja meiner Natur
auferlegt war, daß sie sich sozusagen des ganzen Körpers bemächtige. Ich
war nun dem umrißlosen Dämmern entwachsen; ich hatte mir meine Formen,
meine Inhalte zu suchen; was von ihnen mitgeboren war, bedurfte der
Relation zum Realen und der Ergänzung in ihm. Es zeigten sich Aufgaben;
ich fühlte mich zum Epiker berufen; als solcher bestand ich mit meiner
Zeit und durch meine Zeit. Symbol und Idee wurden von der Inspiration,
der Phantasie gegeben; Farbe, Schwung und Leidenschaft kamen vom Blut
her, von der Anschauung, der inneren Temperatur; wie aber war es um das
Außen bestellt, um alles das, was mir Nahrung, Anlaß, Gerüst, Baugrund,
»Stoff« sein sollte? Da gab es weder eine Einheit noch eine Form, weder
ein Übereinkommen noch ein organisch Entstehendes. Stück um Stück,
Person um Person, Stadt um Stadt, Staat um Staat setzte sich deutsches
Leben mittelpunktlos zusammen. Der Franzose braucht nur hinzuschreiben:
Paris, und er hat, eingeschlossen in eine Wortnuß, ein Ungeheures von
Begebenheit und Entfaltung, das Siegel gleichsam für die Tatsache
Gesellschaft, für die Tatsache Nation, für die Tatsache Frankreich. Er
besitzt damit eine ganz bestimmte Menge von Voraussetzungen, und zwar
erlesenen Voraussetzungen, die schon in den Händen und Geistern der vor
ihm Gewesenen ihre Distinktion, Gestalt, Glaubwürdigkeit und gültige
Prägung erhalten haben. Dem Engländer liegt eine seit Jahrhunderten
gebahnte Straße öffentlichen und privaten Lebens vor, unumstößliche
Konventionen; der Italiener ist gedeckt durch Beziehungen zu großer
Vergangenheit, die ihn immer noch trägt, durch mitwirkende Landschaft,
mitwirkende Sprache und als Schaffender der Ehrfurcht auch des
Geringsten im Volke fast stets gewiß; in Rußland wird Überlieferung und
fertige Lebensgestalt ersetzt durch eine eigentümliche Freiheit und
Urbanität der Führung: Mensch steht unmittelbar gegen Mensch, bizarr
selbstverständlich und verwirrend oft, da ein kastenmäßiges
Sichabschließen und Standesunterschiede in unserem Sinne nicht
existieren und nie existiert haben.

Der Deutsche allein muß »dichten«, wenn er gesellschaftliche
Gebundenheit und Gliederung, wenn er Gesellschaft überhaupt, wenn er
Schicksale in bezug auf Gesellschaft darstellen will. Weicht er dem aus,
so zerfließt ihm alles im Unbestimmten, Zufälligen, Phantastischen.
Entweder seine Wirklichkeit wird unglaubwürdig, weil übersteigert,
krampfhaft vereinfacht, willkürlich umgebogen, oder sie bleibt klein,
unmaßgeblich und ohne typische Prägung. So ist auch, was sich im
»Wilhelm Meister« als Gesellschaft zeigt, durchaus »gedichtet«,
Synthese, Übertragung, Schema. Keine Literatur schleppt solchen Ballast
von Entwicklungsgeschichten, Sonderlingsgeschichten, Zuständlichkeiten,
poetischen Kuriositäten mit sich wie die deutsche. Größe, Charakter,
Bedeutung können dem deutschen Roman in seiner höchsten Stufung immer
erst durch den Schöpfer verliehen werden, der in viel weiterem Ausmaß,
als man ahnt, Erfinder, Verdichter, Dichter sein muß. Der deutsche Roman
ist in erster Linie individuell (meist auch provinziell), während der
englische oder russische in erster Linie national ist und daher auch für
die Nation repräsentativ.

Niemals kann auch ein deutscher Dichter, und nun gar ein Romandichter
(den Begriff gibt es erst seit zwanzig Jahren, vordem haben die
Professoren nicht gestattet, daß man einen Romanschreiber Dichter
nenne), im selben Sinn die Nation repräsentieren wie etwa Balzac
Frankreich, Dickens England, Tolstoi Rußland repräsentiert hat. Der
deutsche Epiker hängt in der Luft, er spielt im Dasein des Volkes keine
Rolle, und zwingt er das Augenmerk und die Herzen dennoch zu sich, so
spürt er zugleich einen sonderbaren öffentlichen Widerstand, eine ebenso
sonderbare heimliche Abwehr, als ginge dies gegen den Ernst und die
Würde.

Die Schwierigkeit, vor der ich mich sah, war gewaltig. Wie sollte ich
eindringen in die vielfach abgegrenzten Zirkel? Wie über die flache
Wahrheit des bloßen Sehens hinaus zur tieferen der Anschauung gelangen?
Ich stand an der Peripherie; Hunderte wie ich dorthin verwiesen, setzten
darein gerade ihre Ehre, ich aber hatte da nichts zu suchen, ich
brauchte die Mitte oder wenigstens das Segment, ein Mittleres, einen
Durchschnitt, den einfach seienden Menschen und seine noch nicht in
Spiegeln aufgefangene Bewegung; ich brauchte Anschluß, menschliche
Wirkung, soziale Erfahrung, eine Tragfläche, ein umschlingendes Band.
Statt dessen fand ich mich zurückgeworfen und isoliert unter dreifach
erschwerenden Umständen: als Literat; als Deutscher ohne
gesellschaftliche Legitimation; als Jude ohne Zugehörigkeit.



13


Als ich im Alter von dreiundzwanzig Jahren die »Juden von Zirndorf«
schrieb, griff ich einerseits zurück in Urbestände, Ahnenbestände, in
Mythos und Legende eines Volkes, als dessen Sprößling ich mich zu
betrachten hatte, und wollte andrerseits auch das gegenwärtige, das
werdende Leben dieses Volkes in einem mythischen, sehr vereinfachten,
sehr zusammenfassenden Sinn gestalten. Realen Boden für beides gab mir
die Landschaft, die mich hervorgebracht, die fränkische Heimat.

Ich schrieb das Buch ohne wissentliche Überlegung, wie man einen Traum
erzählt oder wie unter einem befehlenden Diktat. Wenn mir einer gesagt
hätte: das ist der bare Unsinn, was du da machst, wäre ich vielleicht
erschrocken, aber eigentlich überrascht hätte es mich nicht. Es
entstand auf Wegen der Flucht, in Tirol, am Bodensee, in Eichstätt, dann
wieder in einem tristen, entlegenen Münchener Atelier mit einer Katze
als einziger Genossin; das Manuskript trug ich in kleinen Zetteln voll
winziger Zeilen beständig in der Brusttasche. Die äußere Lage war die
mißlichste; zur gewohnten materiellen Not kam noch eine des Herzens; ich
war abenteuerlich verstrickt und Verfolgungen ausgesetzt, wie sie sonst
nur in Zehnpfennigromanen geschildert werden. Dicht vor den Schluß
gediehen, blieb das Buch monatelang liegen; erst in einer
Fieberkrankheit, in verzweifeltem Wunsch nach einem Ende in jeder
Beziehung warf ich die letzten Kapitel hin.

Es war Aussprache, Bekenntnis, Befreiung von einem Alp, der meine Jugend
zermalmt hatte. Für viele in Verwandlung Begriffene war es Mitbefreiung,
und sie fühlten sich bestätigt. Ich trat von Anfang an mit offenem
Visier auf, das gewann mir Unentschiedene und Mutlose; manche wandten
sich mir begehrlich fordernd zu, umsturzlüstern und gaben sich als
Jünger, doch konnte ich ihre Erwartungen nicht erfüllen, da ich nicht im
Geleise blieb, das sie mir vorgezeichnet hatten. Andere lästerten; ich
galt ihnen als Abtrünniger, sie liebten in diesem Bezug keinerlei
Öffentlichkeit des Verfahrens und fanden jede Politik außer der des
Schweigens töricht und schädlich. Die deutsche Welt verhielt sich
gleichgültig oder ablehnend bis auf einige unbürgerliche Gruppen, die
für die Dichtung als solche und ihre Gestalten empfänglich waren; im
allgemeinen begnügte man sich damit, das Buch einzuordnen und es im
Museum der Literatur einstweilen bestehen zu lassen. Den
Aufsichtsbeamten der Kunst und des Geschmacks war ich ein Greuel.

Daß der eingeschlagene Weg in Wildnis führte, erkannte ich selbst. Die
Frage: wie willst du zu den Unempfindlichen dringen, die Widerstrebenden
erobern, wie willst du ihre Welt zu deiner machen und deine zu ihrer?
wurde zunächst eine Frage der Zucht und eine Frage der Form. Ein
Künstler ist nichts, wenn sein Werk nicht in den Seelen der Menschen
lebendig aufersteht; damit dies geschehe, muß es eine Seele haben, aber
auch einen Körper. Gefühl und Wort, Leidenschaft und Gedanke allein
erzeugen keinen Körper. Es schien mir von alles überragender
Wichtigkeit, Hingabe mit Bemeisterung zu verschmelzen, und es begann ein
jahrelanges schweres Ringen, Versuch um Versuch, Entwurf um Entwurf,
Studie um Studie. Vom aufgelockert Traumhaften geriet ich ins Starre;
vom Gesetzlosen in vorgesetzte Konstruktion, vom Schwärmerischen in
Trockenheit, vom Bodenlosen ins Flache. Die nächsten Freunde
mißverstanden mich; ich konnte mich ihnen auch nicht erklären, denn über
dem eigentlichen Ziel war Dunkelheit; ich sah nur immer, daß das
Einzelne, Fertige falsch war. Ich glaubte keinem Beifall, hielt mich an
keine Wegweisung, keine Schule, ließ mich an kein Geleistetes binden und
verzweifelte zwischen den Stationen am Gelingen. Es ist außerordentlich
schwer, von der Natur dieses Kampfes einen klaren Begriff zu geben.
Einerseits handelte es sich um Selbstbefreiung, Selbstgewinnung, um
Läuterung und Erhöhung, also um sittliche Ziele, andrerseits um Maß,
Gestalt, Distanz, also um Ziele des Geistes und der Kunst. Ich rang um
meine eigene Seele und um die Seele der deutschen Welt. In mir selbst
konnte ich immer wieder Quellen und Reserven finden; die deutsche Welt
aber gab sich nicht; ich konnte sie nur umlauern, umwachen, beschwören;
ich mußte darauf dringen, daß sie sich mir stelle, ich mußte sie von
Leistung zu Leistung von mir und meiner Sache überzeugen, ich mußte die
glühendste Überredung, die äußerste Anstrengung aufwenden, wo andere
sich mit einem »seht her« begnügen durften. Sie glaubte mir nicht; ich
hatte mich ihr zu früh dekuvriert; vom einzelnen ließ sie sich,
gleichsam aus Gnade, aus Nachsicht, oder weil sie sich nicht mehr zu
wehren vermochte, günstig stimmen; doch verlor sie alsbald den
Folgegang, und mit jedem neuen einzelnen sah ich mich von derselben
Notwendigkeit wie mit dem vorherigen, ein Sisyphusbeginnen, das jedesmal
meine Kraft bis zur Neige erschöpfte. Andere hatten laufenden Kredit.
Sie konnten gelegentlich auf den Kredit hin lässig werden; ich mußte
mich stets wieder legitimieren, stets mit meinem ganzen Vermögen
einstehen wie einer, dem es nicht erlaubt ist, sässig zu sein und auf
erworbenem Grund zu ackern und zu ernten.

Außenstehende wußten davon nichts; Nahestehende wunderten sich und
begriffen nicht die Qual; ich schien ihnen bisweilen ein von
unbefriedigtem Ehrgeiz Verzehrter, einer, der sich über seine
Fähigkeiten spannt; sie meinten, ich dürfte mit dem Erreichten zufrieden
sein, wiesen auf Untergeordnetes hin, Markterfolg, literarische Geltung;
daß man genannt, gelesen, umstritten wurde, war ihnen etwas; sie sahen,
hörten, fühlten nicht; ich konnte ihnen nicht begreiflich machen, woran
ich litt; es war alles so fein, so zart, so schwebend, so fieberhaft
labil und doch von so unermeßlicher Tragweite; ich handelte und schuf
wohl als Individuum, aber in der Tiefe des Bewußtseins und Gefühls eng
verkettet mit einer Gemeinschaft, die sich abgelöst hatte und mit einer
andern, die ich erobern wollte, erwerben sollte. Ich stand auf der
Scheide; bisweilen erschien ich mir wie ein Prätendent ohne Anhänger,
ohne Beglaubigung; ein Johann ohne Land; mir war, wie wenn der Boden
unter jedem Schritt wiche, der Lunge die Luft entsaugt würde; dazu das
brodelnde Gewühl einer noch unerlösten Gestalten- und Bilderwelt in mir
und nie weichende Sorge um die Existenz.



14


Elf Jahre nach den »Juden von Zirndorf« schrieb ich den »Caspar Hauser«.
Ich halte mich zunächst an diese beiden Beispiele meiner Produktion,
weil sie, ohne daß ich damit ein Werturteil geben oder herausfordern
will, die polaren Punkte bezeichnen, zwischen denen ich mich suchend
und grenzenziehend bewegte, das eine nach der Seite des jüdischen, das
andere nach der des deutschen Problems.

Die Figur des Caspar Hauser begleitete mich seit Kindheitstagen. Mein
Großvater väterlicherseits, der als Seiler und später als Handelsmann in
Zirndorf lebte, hatte ihn in Nürnberg auf dem Vestnerturm noch gesehen
und erzählte von ihm wie von einem sehr geheimnisvollen Menschen. So
berichteten auch andere von ihm, die einfachsten, nüchternsten Leute,
stets wie von etwas sehr Geheimnisvollen, wovon laut zu reden eigentlich
von Übel war. Ich kannte die Stätten, wo Hauser sein seltsames
Leidensdasein verbracht und geendet, in Nürnberg die Burg, das
Tucherhaus, in Ansbach das Gäßchen, wo der Lehrer Mayer gewohnt und den
Hofgarten mit dem Oktogon, der die schöne Inschrift trägt; alles war
diesem Schicksal so zauberisch angepaßt, das Gebliebene an Dingen, das
noch Währende der Landschaft.

Immer wieder trat der Stoff an mich heran, zufrühest, als ich lernte,
Menschen zu formen und sie in mitgeborenen Geschicken kreatürlich
wachsen zu lassen und dann an allen Stationen, wo ich glaubte,
Fertigkeit und Sicherheit genug errungen zu haben. Doch immer wieder
entzog ich mich der Versuchung, als wäre was Heiliges an der Gestalt,
was Verletzliches, und ich dürfe mich nicht unbedacht an ihr vergreifen.
Gewisse Bücher, die damals selbständig auftraten, schrieb ich nur wie
zur Übung und Vorbereitung, und dem ersten ernsthafteren Versuch ging
jahrelanges Studium voraus, bis in alle Ecken und Winkel der
einschlägigen Akten und Literaturen. Abermals und abermals wagte ich den
Anfang, zog weiten Kreis, zog engen Kreis um das Thema, fand nicht das
Fundament, fand nicht die Ruhe, nicht die Kraft, nicht die Erleuchtung,
wurde mutlos und ließ wieder ab. Doch bei all dem Probieren und
Verzagen, Graben und Verzweifeln wuchs mir die Figur des Nürnberger
Findlings unerwartet hoch empor, und sein Schicksal ward mir zum
Schicksal des menschlichen Herzens überhaupt. Das Menschenherz gegen die
Welt; als ich diese Formel gefunden hatte, hoben sich die Schleier, und
wenngleich noch viele Mühsal zu bezwingen war, so blieb doch der Weg im
Licht.

Wunderliches begegnete mir während der Arbeit. Als ich bis dorthin
gelangt war, wo Clara von Kannawurf in Caspars Leben tritt, die ihm die
erste Dämmerahnung der Geschlechtsliebe gibt, verlor ich die Realität
unter mir; keine Plage, kein Denken und Erdichten, kein hundertfaches
Neu- und Neubeginnen verhalf mir dazu, daß mir die Figur Vision wurde,
daß sie Wahrheit und Glaubwürdigkeit erhielt, und ich sah mich zu
langer, wartender Untätigkeit verurteilt. Da bekam ich eines Tages den
Brief einer unbekannten Frau; sie wandte sich in einer seelischen Not an
mich; es war etwas Unüberhörbares im Ton des Schreibens, das
Zurückhaltung zur Grausamkeit gemacht hätte; im Begriff, eine Reise zu
unternehmen, und da sie mich zu treffen wünschte, verabredete ich mit
ihr eine Begegnung auf halbem Wege. Vom ersten Augenblick an waren wir
Freunde; sie stand in tragischem Geschick als Frau, als Mutter; in ihrer
Erzählung kam zutage, daß sie die Enkelin eines Mannes war, der, in
hoher Stellung am badischen Hof, in die Caspar Hauser-Wirren und
-Intrigen verwickelt gewesen war, die ja bis zu Volkserhebungen geführt
hatten, und daß er, verleumdet und kompromittiert, sich erschossen
hatte. Ich war überrascht und eigen berührt, am sonderbarsten durch den
tiefen und schmerzlichen Anteil, den die junge Frau noch jetzt an dem
Lose des Findlings nahm, Anteil solcher Art, als sei er ein verlorener
Bruder von ihr, dessen geschändeten Namen und befleckte Ehre zu
reinigen, zu retten ihre vornehmste Aufgabe sei. Sie wußte nichts von
meinem Werk; ich gab ihr die Handschrift, soweit sie fertig dalag, ihre
Ergriffenheit, als sie sie gelesen, ergriff mich selbst; das
leidenschaftliche Interesse in ihr war wie Krankheit und Fieber, Fieber
der beleidigten Gerechtigkeit, des Mitleids, der Liebe. Und da hatte ich
nun plötzlich Clara von Kannawurf (das allerseltsamste war, daß sie auch
mit Vornamen Clara hieß), da stand sie leibhaftig vor mir in der
frauenhaften Jungfräulichkeit, wie ich sie geschaut hatte, der
kindlichen Reife, der erfahrenen Schwermut, Widerpart einer trägen Welt.

Ich kann nicht leugnen, daß ich an die Veröffentlichung des Buches
ungewöhnliche Erwartungen knüpfte, Erwartungen, die einer hegt, dem es
endlich gelungen scheint, sich zu beglaubigen. Ich bildete mir ein, den
Deutschen ein wesentlich deutsches Buch gegeben zu haben, wie aus der
Seele des Volkes heraus; ich bildete mir ein, da ein Jude es geschaffen,
den Beweis geliefert zu haben, daß ein Jude nicht durch Beschluß und
Gelegenheit, sondern auch durch inneres Sein die Zugehörigkeit erhärten,
das Vorurteil der Fremdheit besiegen könne. Aber in dieser Erwartung
wurde ich getäuscht. Zunächst erhob sich ein übler Zeitungsstreit um die
historische Person Caspar Hausers, und ein Platzregen von hämischen
Beschimpfungen und dünkelhaften Zurechtweisungen ging über mich nieder,
den man des Verbrechens bezichtigte, die alte Lügenfabel von fürstlicher
Abkunft des Findlings wieder aufgewärmt und zum Vergnügen eines
sensationshungrigen Publikums serviert zu haben. Ich wurde belehrt, daß
Professor Mittelstädt in seiner berühmten Schrift und Lehrer Mayer in
seiner aktenmäßigen Darstellung, und wer weiß wer noch und wo, längst
die Welt davon überzeugt habe, daß Caspar Hauser ein schwachsinniger
Betrüger gewesen sei, der die öffentliche Meinung Deutschlands und
Europas zum Narren gehabt; daß es eine naive Anmaßung und Unwissenheit
sei, das seit einem halben Jahrhundert glücklich begrabene Märchen
neuerdings zum Gegenstand der Diskussion und Fehde zu machen, und daß
ich mir für meine literarische Stoffgier ein harmloseres Gebiet wählen
möge, das weniger geeignet sei, Beunruhigung und Ärgernis zu erregen.

Nun bin ich ja heute wie vordem durchdrungen von der Meinung, daß
Caspar Hauser wirklich der prinzliche Knabe gewesen, für den ihn Daumer
und Feuerbach und nachher viele andere, die totgeschwiegen oder
totverleumdet wurden, gehalten; es sind mir dokumentarische Belege,
glaubwürdige Zeugnisse genug zu Aug und Ohr gekommen, andere werden
einst aus tückisch verschlossenen Archiven ans Licht treten; die
Intrigen reden eine deutliche Sprache; es gibt noch hochgestellte
Wissende; manche haben mir ihr Vertrauen geschenkt; ein Zweifel darüber,
was die Schreibtischpsychologen so leichtfertig ableugneten, war bei
ihnen gar nicht zu finden. Heute wie vordem bin ich davon durchdrungen,
daß der Name, das Leben und der Tod Caspar Hausers eine nicht gesühnte
Schuld ausmachen, die fort und fort wuchert wie alle nicht gesühnte
Schuld.

Alles dies hat mit der Dichtung nur mittelbar zu schaffen. Insofern
verfehlten auch die Angriffe ihr Ziel. Ich kannte die Motive, kannte die
Werkstätten, wo sie ersonnen und gelenkt wurden. Aber von dem
Kleinlichen abgesehen, war mir doch, als ersticke Hall und Widerhall in
einer Luft, die nicht trug. Es war mir ja nicht um Geringes zu tun, und
ich dachte deshalb, das Geringe müsse zerschellen. Es war mir nicht um
Persönliches zu tun, und ich dachte, die Person stehe außer Frage. Es
war mir auch nicht darum zu tun, daß der oder jener Beifall zollte, die
Leistung anerkannte, das Streben billigte oder pries, ja nicht einmal
darum war mir letzten Endes zu tun, daß ich einzelne zu gewinnen, zu
erschüttern, Seltene sogar zu erhöhen, zu wandeln vermochte. Man sagt
immer, halb zum Trost, halb in der Erkenntnis der menschlichen
Durchschnittsnatur, es sei des Erreichten genug, wenn eben einzelne zur
Besinnung kämen, wenn ein Werk dazu verhilft, daß unter tausend zehn zum
Gefühl des Besseren erwachen, und daß der in eine einzige empfängliche
Brust gesenkte Keim tausendfältige Frucht tragen müsse. Das ist wohl
wahr, doch inzwischen vergeht viel Zeit, und das Mißverständnis tötet
den Schwung. Wer zu einer Sache mit Leib und Leben steht, dem kann und
mag es nicht genügen, wenn willige Gruppen mehr oder weniger lau sich
für ihn erklären; wenn literarisch Mitinteressierte für ihn ins Horn
stoßen; auch nicht, wenn vorbereitete aufnahmsfrohe Freunde neue Freunde
werben; auch nicht, wenn die sehnsüchtigen Wesen, da und dort unter
aller Menschheit zerstreut, ihren Blick auf ihn richten, sei es als
zufällig Getroffene, sei es als wählend und sichtend Berührte. Ihm geht
es um ein Ganzes, um das volle, breite, tiefe Erklingen einer Welt. Es
liegt ja auch in der Art der epischen Kunst. Ihre Fülle zählt auf Fülle
der Hörenden; ein Orchester kann nicht in einer Stube spielen. Ihre
Wirkung ist eine Mosaik von Teilwirkungen, oft der heterogensten
Beschaffenheit, vom Melodischen bis zum grob Handlungsmäßigen, vom
Zarten bis zum Brutalen. In Deutschland ist solche Wirkung großen Stils
unmöglich, weil zwischen den empfangenden Schichten die geistige
Übereinkunft fehlt und über ihnen ein Forum des Geschmacks; die sich zu
Richtern aufwerfen, schmeicheln der Halbbildung oder der Mode des Tages,
überheben sich in ihrer Befugnis, treiben Parteipolitik; der Berufenen
wird wenig geachtet, und sie müssen sich in esoterischer Tätigkeit
bescheiden. Je schwächer aber der Anteil eines Volkes an den
Hervorbringungen seiner Schöpfer ist, je herzensmatter und
unentschiedener, je mehr Schlacke haftet auch den Werken selbst an, je
unsicherer wird ihre Haltung, je ungesicherter ihr Sein, je sporadischer
ihre Entstehung. Das sind organische Wechselbeziehungen von eherner
Gesetzmäßigkeit. Für den Mangel von Einheit und Folge, von Liebe zum
Ding und zur Figur, von seelischer Bindung und geistiger
Vorurteilslosigkeit bietet keine Sensation Ersatz, kein aufflammender
Taumel und gelegentliche Erhitzung; wer sich ohne zureichenden Grund
enthusiasmiert, wird notwendigerweise zur Reue und zum Katzenjammer
getrieben; er muß morgen schmähen, was er gestern bejubelt, das
erscheint ihm als die einzige Hilfe in der Verwirrung, nichts bringt ihn
aus dem falschen Geleise, auch seine Götterbilder bedecken sich mit
Staub.

Ich erfuhr also, daß ich keinen Fußbreit Boden erobert hatte und erobern
konnte, nicht in dem Bezirk nämlich, um den sich’s mir heilig und
schmerzlich handelte. Immer wieder mußte ich lesen oder spürte, daß es
im Sinnen und Meinen lag: der Jude.



15


Ich rekapituliere, denn es ist nun einmal wichtig, durch die klare
Beweisführung zur klaren Schlußfolgerung zu gelangen. Das Beispiel tritt
nicht als ein Beispiel zur Person, sondern zur Sache auf.

Die Idee des »Caspar Hauser« war, zu zeigen, wie Menschen aller Grade
der Entwicklung des Gemüts und des Geistes, vom rohesten bis zum
verfeinertsten Typus, der zwecksüchtige Streber wie der philosophische
Kopf, der servile Augendiener wie der Apostel der Humanität, der
bezahlte Scherge wie der besserungssüchtige Pädagoge, das sinnlich
erglühte Weib wie der edle Repräsentant der irdischen Gerechtigkeit, wie
sie alle vollkommen stumpf und vollkommen hilflos dem Phänomen der
Unschuld gegenüberstehen, wie sie nicht zu fassen vermögen, daß etwas
dergleichen überhaupt auf Erden wandelt, wie sie ihm ihre unreinen oder
durch den Willen getrübten Absichten unterschieben, es zum Werkzeug
ihrer Ränke und Prinzipien machen, dieses oder jenes Gesetz mit ihm
erhärten, dies oder jenes Geschehnis an ihm darlegen wollen, aber nie es
selbst gewahren, das einzige, einmalige, herrliche Bild der Gottheit,
sondern das Holde, Zarte, Traumhafte seines Wesens besudeln, sich
vordringlich und schänderisch an ihm vergreifen und schließlich morden.
Der zuletzt den Stahl führt, ist nur ausübendes Organ; gemordet hat ihn
jeder in seiner Weise: die Liebenden so gut wie die Hassenden, die
Lehrenden wie die Verklärenden; die ganze Welt ist an ihm zum Mörder
geworden; so schreit es ja auch schließlich aus der gequälten Brust der
Clara von Kannawurf.

Der Vorgang nun steht in der Landschaft, die ihm bereits von der
Geschichte gegeben war; innerste deutsche Welt und, ich glaube es wohl
sagen zu dürfen, gültige deutsche Menschen. Deutsch die Stadt, deutsch
der Weg, deutsch die Nacht, deutsch der Baum, deutsch die Luft und das
Wort. Mag sein, daß ein sehr hoch thronender Richter mit weisem Lächeln
mir zurufen könnte: was du von den Ahnen hast und durch dein Blut bist
und in deinem Werk sich mitverkündigt, das kannst du selbst nicht
beurteilen. So würde ich doch antworten, und er, der Weise, würde es
billigen: die es trotzdem spüren, sind schon vom niedern Wahn Gelöste,
und sie freuen sich dessen, der sie bestätigt und erweckt; ob er vom
Osten kommt oder vom Westen, gilt ihnen gleich, nur seine Menschenstimme
und seine Opfertat ist ihnen wichtig. So viel weiß ich von den
Erweckten.

Die andern, denen ich Jude war und blieb, wollten mir damit zu erkennen
geben, daß ich ihnen nicht genug tun konnte, als Jude nämlich; daß ich,
als Jude, nicht fähig sei, ihr geheimes, ihr höheres Leben mitzuleben,
ihre Seele aufzurühren, ihrer Art mich anzuschmiegen. Sie räumten mir
die deutsche Farbe, die deutsche Prägung nicht ein, sie ließen das
verschwisterte Element nicht zu sich her. Was unbewußt und pflanzenhaft
daran war, schien ihnen ein Produkt der Erklügelung, Ergebnis jüdischer
Geschicklichkeit, schlauer jüdischer Ein- und Umstellung, gefährlicher
jüdischer Täuschungs- und Bestrickungsmacht. Was half die stille oder
auch geäußerte Überzeugung, daß ein Buch wie dieses, aus dem Herzen des
Volkes entstanden und durch alle ihm beschiedene Zeit hindurch als
volksmäßig ansprechbar, wäre es von einem Namenlosen oder Unbekannten
ausgegangen, vielleicht sogar für Deutschtümler ein Fanal geworden
wäre, sie sich’s wenigstens als solches hätten aufreden lassen wie
manches minder bezeichnende und flachere, wie manches größere auch, das
sie gierig ins Joch ihrer Machenschaften preßten? Da waren ja
überbrachte Symbole, das verfolgte Fürstenkind, hinschmelzend in
romantischer Sehnsucht; alles von alter Weise eigentlich, nur daß am
Ende Versöhnung und Glorie fehlten und das Schicksal, folgerichtig nach
innen, vorgangstreu nach außen, seinen schauerlichen Weg vollzog. Was
die tiefen und starken Empfänger daneben noch empfangen konnten, steht
auf einem andern Blatt, steht dort, wo es steht. Gewiß ist nur das eine:
es durfte vor der deutschen Öffentlichkeit nicht wahr sein, daß ein Jude
ein so eigentümlich deutsches Buch schrieb.

Wohlwollende noch deuteten an: ja, ja, alles recht und schön, aber dies
vergrübelte Wesen ist von fremdem Ursprung; diese psychologische Bohr-
und Grubentechnik hat nichts mit unserer Stammesart gemein. Das ist noch
das Mildeste, was in den meisten der beliebten und verbreiteten
Literaturgeschichten zu lesen ist. (In Parenthese: Die Massenheerschau
und Massenabschlachtung eines Großteils dieser wissenschaftlich tuenden
Literaturgeschichten mit ihrer leichtsinnigen Schablonisierung und dem
auf Unwissende und Unmündige berechneten Oberlehrerton ist geradezu eine
deutsche Schande, in den Augen gebildeter Nationen eine Lächerlichkeit.)
Was dort also zu lesen ist, wurde zur gängigen Urteilsmünze, und welche
Anstrengungen immer ich aufwenden, welche Gestalten und Gesichte immer
ich darbieten mochte, wie hoch ich baute, wie tief ich schürfte, es
wurde stets in den nämlichen Retorten das nämliche Gift gekocht, das
bestimmt war, den freien Flug zu lähmen, die freudige Hingabe zu
brechen.

Man wird einwenden: alles Geschaffene stößt auf Widerspruch und
Widerstand; was dich auf deiner Linie hemmt, ist nur ein Umgebogenes,
Umgelogenes von dem, was andere auf ihrer behindert; verwundbar, weil
verwundet bis zurück ins zehnte Glied schon, trifft dich der Nadelstich
wie Dolchstoß, der Faustschlag wie Knüppelhieb; dein Argwohn bereits
macht Unsichere zu Feinden und Nörgler zu Meuchlern; vergiß nicht den
Dornenpfad Größerer, vergiß auch nicht, was du in deinem Kreis gewirkt
und gewonnen.

Es handelt sich darum nicht. Es handelt sich nicht darum, was ich
gewirkt und gewonnen. Es handelt sich um die Lüge, die wurmhaft vor mir
herkriecht und von Zeit zu Zeit ihr gesprenkeltes Haupt erhebt, um mich
anzuspeien. Um die unbesiegbare, grauenvolle Lüge handelt sich’s, in die
sich der Geist eines ganzen Volkes gehüllt hat, und der kein
Augenschein, kein Opfer, keine Liebe, kein Beweis etwas anzuhaben
vermag.

Man denke sich einen Arbeiter, der, wenn er seinen Lohn begehrt, niemals
voll ausgezahlt wird, obgleich seine Leistung in nichts hinter der der
übrigen Arbeiter zurücksteht, und den man auf die Frage nach dem Grund
solcher Unbill mit den Worten bescheidet: du kannst den vollen Lohn
nicht beanspruchen, weil du blatternarbig bist. Er schaut in den
Spiegel: sein Gesicht ist durchaus ohne Blatternarben; er geht hin: was
wollt ihr? Ich bin ja gar nicht blatternarbig. Man zuckt die Achseln,
man erwidert: du bist als blatternarbig gemeldet, also bist du
blatternarbig. In dem Gehirn des Menschen entsteht eine sonderbare
Verwirrung: das Recht wird ihm verkürzt unter dem Vorwand eines äußeren
Makels, und in der Beunruhigung, die es ihm erregt, daß er den Makel
nicht finden und erkennen kann, unterläßt er es, mit dem Aufgebot aller
Kraft sein Recht durchzusetzen. Eine raffiniert ausgedachte Qual.

So auch spricht der Deutsche, der Nur-Deutsche, Dolmetsch von vielen,
wenn ich in seine heimlichsten Hintergründe dringe, zu mir: für das, was
du machst und schaffst, ist jeglicher Lohn genug; du kannst überhaupt
froh sein, daß ich dir Spielraum gewähre, da es ja meine
unerschütterliche Überzeugung ist, daß alles, was du bildest und
formst, weder nützlich, noch erfreulich für mich sein kann.

Sind das Nadelstiche, so sind es doch mörderische; sind es Faustschläge,
so will ich nicht erfahren, wie Knüppelhiebe schmecken. Das Evoe und
Hosianna der Spärlichen, die um einen sind, übertäubt nicht das Pereat
von draußen. Man muß wachsam sein auf die Stimmen von draußen. Jedem
Schriftsteller gegenüber konstituiert sich ein Gesamtverhalten der
Nation; nach diesem richtet sich die Freiheit seines Gemüts, die
Sicherheit seiner Allüre und ein schwer umschreibbares Etwas von
geistigem Takt, von eingebetteter Stromkraft. Unerläßlich, daß er
voraussetzungslos genommen wird, erwachsen ihm doch aus Werk und
Handwerk so viel Hemmungen und Ängste, daß die Jahres-, die
Stundenschale randvoll davon überfließt, des häßlich beschwerten Alltags
nicht zu gedenken. Bekommt er nicht zu spüren, daß die Wärme, die er
ausgibt, wieder Wärme erzeugt, so bricht die Natur in ihm zusammen. Wie
soll er sich einer Anklage erwehren, die ihm je sinnloser erscheinen
muß, je wahrer er in seinem Kreis, in seiner Ordnung steht? Möglich, er
betrachtet als Auszeichnung, möglich, als drückendes Schicksal, möglich
sogar, als zu sühnende Schuld, was ihm durch das Judesein geschehen ist;
es gibt ja Erscheinungen der letzteren Art genug, und ich werde noch von
ihnen zu reden haben; in keinem Fall wird er begreifen, wird er es
ertragen lernen, daß im gereinigtsten, geweihtesten Bezirk mit zweierlei
Maß soll gemessen werden und keine Reinigung und Weihe zureichen soll,
keine Tat, keine Entselbstung, nicht Schweiß noch Blut, nicht Bild noch
Figur, nicht Melodie noch Vision, ihm das Vertrauen, die Würde, die
Unantastbarkeit von vornherein zuzugestehen, die im gegnerischen Lager
der Geringste ohne Abzug genießt. Ist er aber einmal zu der Erkenntnis
der Vergeblichkeit des Kampfes gelangt, woher soll er dann noch Worte
und Gründe nehmen, woher den Mut zur Erweisung und Verkündigung?

Bild und Figur führen im deutschen Leben eine Katalogexistenz. Der
Deutsche findet nicht zu ihnen, er identifiziert sich niemals mit ihnen,
höchstens, daß er von ihnen abstrahiert; sie müssen ihm aufgeredet, sie
müssen ihm plausibel gemacht werden. Trotzdem kann man ihn weder
überreden, noch eigentlich überzeugen; er glaubt nur, was zu glauben
befohlen ist oder wozu eine Majorität ihn zwingt.

Wohlverstanden: hier wird nicht um Gnade gewinselt. Hier ist nicht
einer, der sich als reuiger Sünder gebärdet oder als weißer Rabe. Auch
nicht einer, der sich brüsten will mit einer Märtyrerkrone oder mit
Erlittenem sich schmücken. Auch nicht einer, der sich losgetrennt hat,
hüben und drüben, um sich in prahlerische Einsamkeit zu retten. Auch
nicht einer, der mit dem getretenen Stolz, verbissenen Trotz des
Zurückgewiesen Komplotte schmiedet und Konventikel gründet, der
plötzlich uralt-ehrwürdige Zugehörigkeit als neu entdeckt und sich an
die klammert, weil ihm die Wahl- und Geisteszugehörigkeit bestritten
wird.

Nein. Es geht um Auseinandersetzung. Es geht um Rechenschaft, von hüben
und von drüben. Es geht um Recht und Gerechtigkeit. Es geht schließlich
um die Frage: warum schlagt ihr die Hand, die für euch zeugt?



16


Solches Zeugnis geschah sechs Jahre nach dem »Caspar Hauser« zum
zweitenmal im »Gänsemännchen«. Ich übergehe dabei wieder die mittleren,
die Versuchs- und Erprobungswerke; etwa den »Goldenen Spiegel« und den
»Mann von vierzig Jahren«. Ich dachte in jener Zeit an eine zyklische
Folge, Darstellung deutscher Welt am Anfang des Jahrhunderts. Das
»Gänsemännchen«, 1911, 1912 und 1913 entstanden, wurde erst im zweiten
Jahr des Krieges veröffentlicht, und es fügte sich, daß das Buch, wie
keines meiner Bücher zuvor, sogleich ein herzliches und weittragendes
Echo fand. Ich hatte damals oft den Eindruck, daß die Übergewalt der
Ereignisse ihm eine Art von Anonymität verlieh, durch die es reiner in
sich selbst ruhte, stärker aus sich selbst wirkte; ein neues,
wohltuendes Gefühl für mich.

Es enthält und gibt ein charakteristisches Stück bürgerlicher deutscher
Geschichte, deutscher Zustände um 1900, doch nicht in der Schilderung,
sondern in der Zusammenfassung, wobei das Entscheidende in die Gestalt
und ihre seelische Wandlung verlegt wird. Das Musikerschicksal ist nur
Behelf und Vorwand; es war nötig, für alle Klänge und Widerklänge ein
intensiv empfangendes Membran zu gewinnen, das zitterndste, zarteste,
genaueste Instrument, an dem abzulesen war, wie es um den deutschen
Alltag stand, wie die Wirklichkeit sich zur Idee, das Allgemeine zum
Besonderen verhielt. Das Buch ist in dem Sinn, wie ich es oben
entwickelt habe, provinziell. Es war vielleicht nicht so geträumt; aber
um die Mauer niederzureißen, die mich gefangen hielt, hätte ich mich
zuerst an ihr verbluten müssen, und während der Arbeit zeigte sich das
Sonderbare, daß ich eine verhältnismäßige Breite nur erringen konnte,
wenn ich nicht töricht wider die Mauer anrannte, sondern, im Gegenteil,
mich mit dem mir verstatteten Raum beschied und wie ein guter Architekt
aus der Beschränkung ein Mittel zur Entfaltung machte.

Freilich lief damit viel Schnörkelhaftes unter, viel Skurrilität, Enges,
Grelles, Kunterbuntes, aber auch dies gehörte zum Weg, und der Weg wies
mich ins Urbane, in den Bezirk, wo das Geschaffene unmittelbar zum
Menschen spricht, ihn anrührt, ihm dient, ihm befiehlt, sowohl durch
das, was an ihm offenbar wie durch das, was Geheimnis ist und Geheimnis
zu bleiben hat. Alles Gewachsene ist ja so, alles, was von der Natur
ausgeht, offenbar und geheimnisvoll zugleich. Ob Daniel Nothafft als
eine deutsche Gestalt gelten kann, ist viel erörtert worden. Die Frage
hat Interesse nur im Hinblick auf mein persönliches Problem. Manche
haben sie bejaht, manche zweifelnd erwogen, manche verneint. Ich erlebte
Kundgebungen des Erstaunens und wie Leute stutzig wurden in beharrlich
verfochtener Meinung, weil sie zwischen dem Urheber und dem Produkt
keine Verbindung mehr gewahrten. Am Gesetzhaften meiner Stellung zur
Gesellschaft und zur deutschen Öffentlichkeit änderte sich so gut wie
nichts. Für dieses Gesetzhafte gibt es ja nur ein untrügliches
Regulativ, und das ist das eigene Innere, die wiederkehrende, vom Blut
erzeugte, den Sternen gehorchende Welle des inneren Lebens.

Ich hatte inzwischen, während eines Aufenthaltes in Nürnberg, den Freund
wiedergetroffen, den ich viele Jahre vorher unter so häßlichen Umständen
in Zürich verlassen hatte. Er war nun ein Mann Mitte der Vierzig, ich
Anfang der Vierzig; die Jugendstürme lagen weit hinter uns, und der
lange Zeitverlauf machte, daß man kaum noch das Gefühl hatte, derselbe
Mensch trete einem entgegen; die Erinnerung war etwas für sich
Bestehendes, und die Gegenwart mußte mit ihr paktieren. Der Freund von
ehemals beobachtete eine Zurückhaltung, die mich bisweilen wunderte,
bisweilen still erheiterte, denn ich konnte die Ursache ungefähr ahnen.
Der Mentor und Führer aus den Jahren der Entwicklung kann sich nicht
zufrieden zeigen mit der Richtung, die man eingeschlagen, schon mit dem
Tag, wo man sich seinem Einfluß entzogen hat. Was man auch tut, wie man
sich auch hält, wohin man auch strebt und wo man anlangt, er hat es
immer anders gedacht und gewollt. Ihm scheint alles Irrtum und Verrat,
denn er war nicht dabei, er hat seinen Segen nicht dazu gegeben, und es
erbittert ihn, daß er entbehrlich gewesen ist. Daß er selbst in
entscheidender Stunde versagt hat, ist aus seinem Gedächtnis
hinweggewischt, muß auch hinweggewischt sein; wer kann sich anderthalb
Jahrzehnte lang einem andern als geistigen und seelischen Schuldner
verdingen? Das würde ihn zugrunde richten. Er beharrt also lieber dabei,
daß er einst für das Wohl und Wehe des Kameraden verantwortlich war,
und daß mit dem Tag, wo seine Macht und seine Verantwortlichkeit zu
wirken aufgehört haben, das Übel begonnen hat. Im Verborgenen bewahrt er
wohl auch eine unbeglichene Dankbarkeitsrechnung, deren er sich schämt,
die aber doch seinen Groll vermehrt. Kommt dann noch hinzu, daß sein
eigenes Geschick den gehofften Aufstieg nicht genommen hat, daß er noch
an alten Lasten schleppt, in alten Ketten seufzt, indes der
Leidensgenosse von ehedem ein Ziel erreicht hat, wenn schon nach seiner
Ansicht ein falsches und verwerfliches, so wird die Situation so
peinlich, so hintergründig, wie sie eben zwischen uns war.

Ich hatte ähnliche Begegnungen öfter. Eine vom gröbsten Zuschnitt, wo
die Dankbarkeitsrechnung brutal hingehalten wurde, will ich in
Einschaltung erzählen: Eines Tages traf ich in Fürth einen früheren
Schulkameraden, in dessen elterlichen Haus ich als Fünfzehn- und
Sechzehnjähriger verkehrt hatte. Man hatte mich freundlich aufgenommen,
obschon, da die Leute vermögend waren und ich demnach von geringerem
Stande, mit einer Herablassung, die ich damals gerechtfertigt fand. Der
junge Mensch, der über reichliches Taschengeld verfügte, hatte mir dann
in den Nürnberger Notjahren hier und da mit einem Goldstück ausgeholfen;
er wußte um meine literarischen Bemühungen, gab sich mir gegenüber als
Gönner, und um ihn bei guter Laune zu erhalten, las ich ihm bisweilen
meine Versuche vor. Er war mit meinem Garrick befreundet, und dieser
hatte ihm, als er die Stadt verließ, um nach England zu gehen, ganze
Berge von meinen Manuskripten und Briefen zur Aufbewahrung übergeben.
Als ich ihn nun, mehr denn zwanzig Jahre danach, auf der Straße sah und
wiedererkannte, hielt ich ihn an, begrüßte ihn arglos und fragte, ob er
sich der Handschriften erinnere, und ob sie noch in seinem Besitz seien,
es lockte mich, sie einmal durchzusehen. Ich habe selten einen
derartigen Ausdruck von Haß, philisterhafter Bosheit und beleidigtem
Dünkel in einem Gesicht vereinigt gesehen. Er antwortete: Wie, du wagst
es, eine Sache zurückzufordern, auf die ich nach allem, was ich für dich
getan habe, ein Eigentumsrecht geltend machen kann? Du wagst es, einen
Menschen wegen dieser Makulatur zu behelligen, der dich mit Wohltaten
überschüttet hat, und um den du dich zweiundzwanzig Jahre lang nicht
gekümmert hast? Solche Undankbarkeit schreit zum Himmel. Damit drehte er
mir den Rücken. Es ist keine Übertreibung, er gebrauchte genau diese
Worte und sprach von Wohltaten und Undankbarkeit.

Zwischen mir und dem Freund war noch etwas anderes in der Schwebe als
die erkaltete Beziehung aus vergangener Zeit, der keiner von uns mehr
Wärme und Odem einhauchen konnte, obwohl wir Mühe aufwanden, uns
einander glauben zu machen, es sei noch alles wie vordem. Ich arbeitete
damals im städtischen Archiv; an den Nachmittagen verabredeten wir uns
zu Ausflügen in die Umgegend. Das Wunderliche war, daß der Freund mit
keiner Silbe eines meiner Bücher erwähnte, als hätte er nie eins
gelesen, als hätte er nie davon gehört. Ich hätte ihn aber schlecht
gekannt, seine Wachsamkeit, sein rege spähendes, immer argwöhnisches,
immer eiferndes Interesse für alles, was in der geistigen Sphäre
vorging, wenn ich nicht gewußt, mit Sicherheit hätte annehmen dürfen,
daß er jede Zeile von mir, deren er habhaft werden konnte, mit Begier
verschlungen hatte; nicht mit Liebe, da ich ihm ja als ein aus der
Zucht, seiner Zucht Entlaufener und deshalb Mißratener erscheinen mußte,
aber doch mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit, eben um die Tiefe meines
Sturzes sich immer von neuem zu beweisen. Es stand ihm an der Stirn
geschrieben.

Trotzdem befremdete mich dieses Schweigen sehr, und in meinem
bedrückten, bedauernden Nachdenken fand ich eine Ursache, die mich
freilich in seinen Augen wesentlicher hatte schuldig machen müssen als
durch die Trennung der Wege und die Loslösung von gemeinsamen Zielen.
Es war der Umstand, daß es in zweien meiner Romane eine Figur gab, die
durch eine gewisse Konstellation von Charakterzügen und Gewohnheiten auf
ihn als Modell wies. Ich leugne nicht, daß er mir bei der Zeichnung der
betreffenden Person zum Vorbild gedient hatte, und daß die
Verähnlichung, die aber durchaus keine Vernämlichung bedeutete, nicht
gerade schmeichelhaft für den Lebendigen ausgefallen war. Ich hatte
keinerlei Vertrauensbruch begangen; weder Verrat noch Bezichtigung
konnte ich mir vorwerfen; es war nichts zu verraten, es war nichts zu
bezichtigen; um so weniger konnte von schlimmer Absicht die Rede sein,
als in die Gestalt auch viel von eigenen Leiden, Verwirrungen und
Dunkelheiten übertragen war und in jenen Jahren wirklichkeitssüchtigen,
wirklichkeitsbangen Schaffens dieser Mann, dieser Freund, dieser Feind,
wenn man will, wie ein Bruder-Ich vor mir gestanden war. Feind und
Bruder, wie nah ist das oft. Ich hatte in der Figur etwas Neuartiges
darzustellen versucht, das mich bis zur Angst beunruhigt hatte: den
Juden-Christen, den Deutschen von zweifelloser Reinheit der Abstammung,
der aber vermöge einer merkwürdigen Chemie des Schicksals oder der
Elemente unverkennbare jüdische Eigenschaften besitzt, jüdische Glut,
jüdische Verschlagenheit, jüdische Labilität, jüdische Augenblickhaftigkeit.
Da ist etwas vorausempfunden und -geformt, eine Verwandtschaft des
äußeren Loses und inneren Seins zwischen Deutschtum und Judentum, das
seitdem sogar an die Oberfläche öffentlicher Diskussion gedrungen ist,
und worauf ich auch werde zurückkommen müssen.

Es ist ein heikles Ding, wie der Schriftsteller sich verhalten soll,
wenn er vor die Notwendigkeit gestellt ist, Personen seines Umgangs, ja
solche, die nur harmlos seine Nähe gesucht haben, in seine dichterische
Welt zu transponieren. In der Jugend ist man darin ziemlich
unbedenklich; ich zum mindesten war es; man nimmt es auf sich; brechen
alte Bande, knüpfen sich neue; man ist stolz darauf, vor nichts
zurückzuschrecken, auch vor heillosen Übergriffen nicht; alles soll die
Kunst wieder gut machen, auch wo man menschlich sich vergangen hat, als
ob das möglich wäre. Ich hatte einmal, in den Zigeunerjahren, einen
Ehrenhandel mit einem Schauspieler, einem ganz famosen Mann, den ich in
einer leichtsinnig hingeschriebenen Geschichte als komischen Hahnrei
geschildert und dem Gelächter einer literarischen Kaffeehausgesellschaft
preisgegeben hatte. Es war unnützes Zeug, kaum zu entschuldigen als
Handwerksübung. Ich erinnere mich, daß ich eines Tages einen äußerst
verzweifelten Brief von Gustaf af Geijerstam aus Schweden erhielt, worin
er mir mitteilte, daß er ruiniert und verloren sei, da ihn Strindberg in
den »Schwarzen Fahnen«, für alle Leser kenntlich, als den Auswurf und
die Pest seines Landes gezeichnet habe. Er fürchtete, daß die Kenntnis
davon auch nach Deutschland gelangt sei und bat mich, für ihn
einzutreten. Das war nun aus mancherlei Gründen untunlich; wie durfte
ich mich in die schwedischen Händel mischen. Übrigens starb Geijerstam
kurze Zeit hernach; seine Freunde behaupteten, aus Scham und Kummer.

So weit geht es ja selten. Aber wo ist die Grenze? Wir wissen, auch
Kestner konnte nicht darüber hinwegkommen, daß Goethe im Werther die
befreundete Familie bloßgestellt hatte. Es wird erzählt, daß die
Moskauer und Petersburger hohen Kreise, als Anna Karenina erschienen
war, sich weniger mit den Vorzügen des Werkes als damit beschäftigten,
die Urbilder der handelnden Figuren mit neugieriger Schadenfreude
ausfindig und namhaft zu machen. Was ist erlaubt, was steht frei? Was
ist verboten, was verbietet sich von selbst? Hätte der größere Künstler
die größere Befugnis? Sonderrechte der Rücksichtslosigkeit und
Ausschlachtung? Doch wohl kaum, da es auch in dem Bezug keinen
Richtspruch von zulänglicher Kompetenz gäbe. Ich kann auf die
Wirklichkeit und ihre Nahrungszufuhr nicht verzichten, wenn ich nicht
mit meinen Geschöpfen ins Bodenlose geraten will. Die Farbe der Natur
nicht zu überschminken, ihre Wahrheit nicht willkürlich umzubiegen,
erfordert mehr Kraft und Mut als eine romantisierende, falschidealistische
Erhöhung und Verallgemeinerung. Der Mangel an realer Bindung ist Schuld
an der verwässerten Tragik, grundlosen Überhitzung und schematischen
Zuspitzung, die die mittlere deutsche Erzählung so schwer genießbar
machen. Andrerseits geht es nicht an, Schicksale und Menschen nur um des
Interessanten oder Ausnahmshaften, das ihnen eigen ist, an den Pranger
zu stellen; was unbedingt des andern Eigentum ist, und was er zu
bewahren wünscht, darf ich ihm nicht rauben und entreißen; verkleide
ichs, veredle ichs auch, für ihn verzerrt es sich, und er muß sich
verarmt dünken. Dennoch gibt es Fälle, wo die äußere Verpflichtung einer
gebieterischen inneren zu weichen hat; dann aber kann es sich nicht mehr
um das bloß Interessante und Ausnahmshafte handeln, sondern um das
Gültige und Tragende, um Vision, um Wandlung, um Erneuerung. Dann wird
auch der Vorwurf des Verrats und Raubes hinfällig; bleibt
mißverständlicherweise ein Odium davon, so verweht es die Zeit;
Menschengeschehen ist flüchtig, und Menschen sind vergänglich; sein
Gesetz erhält das Schicksal erst durch den Dichter. Aber was die
Abschreiber und Klitterer der Wirklichkeit aus ihr machen, ist noch viel
vergänglicher als Mensch und Geschehen. Diese zufällige grobe
Wirklichkeit; mit ihr ist in der Regel wenig anzufangen, wenig zu
leisten; sie ist ein ungeheurer Materialspeicher, und ist kein Auge da,
das das Verworrene entwirrt, im Vielfältigen das Einfache wahrnimmt, in
den Schlacken das Edelmetall, unter Fratzen das Gesicht, im Stückwerk
die Andeutung des Ganzen, im Abgeirrten das Gesetz, was ist sie dann
nütze? Der Augenschein gehört mir, unter allen Umständen; wer dürfte ihn
mir bestreiten? Wozu ich ihn umschaffe, ist Sache der Gnade.



17


Aber ich will von einem Gespräch zwischen mir und dem Freund berichten.
Er erkundigte sich nach meiner Familie, und ob sie sich mit mir
ausgesöhnt habe. An meinen persönlichen Verhältnissen zeigte er
lebhaften Anteil. Obwohl der Dialog durch die Ausschließlichkeit, mit
der er sich an das Thema hielt, etwas Gezwungenes bekam, stand ich ihm
ohne Rückhalt Rede. War ich auch nicht mehr der verhungerte Skribent,
der ihm ehemals Bürde gewesen, und den er von sich gestoßen, so übte er
doch noch immer Macht über mich aus. Solche Macht, die ein Erfahrener,
Überlegener über einen irrend Suchenden erlangt, geht überhaupt nie ganz
verloren, es sei denn, der eine oder der andere verlöre sich selbst.
Außerdem bewahrte ich dem merkwürdigen Mann eine Anhänglichkeit, die ihm
gewiß fühlbar wurde.

Es kam mir vor, als wollte er mich nach einer bestimmten Richtung
ausholen, und endlich fragte er mich geradezu, ob ich noch wie zu jener
Zeit überzeugter Jude sei. Ich antwortete: Überzeugter Jude? Mit dem
Beiwort wisse ich nichts Rechtes anzufangen. Ich sei Jude, damit sei
alles gesagt. Ich könne es nicht ändern; ich wolle es nicht ändern. Also
hätte ich mich nach der einen Seite entschieden? fragte er und sah mich
mit seinem scharfen Blick durch die Augengläser an. Ich versuchte, ihm
zu erklären, daß ich zu der Erkenntnis gekommen sei, diese Entscheidung
sei keine Notwendigkeit für mich. Nur für diejenigen sei sie eine
Notwendigkeit, die sich entschlossen hätten, das Feld ihrer Wirkung
freiwillig zu beschränken und sich damit zufrieden gäben, entweder aus
dem Stolz des ungerecht Verkannten heraus, oder aus Müdigkeit und
Schwäche; für diejenigen dann, nach der andern Seite, die die Schiffe
hinter sich verbrannt hätten und sich dem Prozeß der Anpassung,
Angleichung mit mehr oder minder gutem Gewissen, mehr oder minder guter
Haltung überließen. Zu beidem fehle mir die Lust, zu beidem auch der
Grund. Ich stünde in der Welt mit einer Sendung; so viel hätte ich schon
zu spüren bekommen, daß ich mich darin nicht irre, mich nicht gleichsam
als leibhaftige Lüge zu betrachten habe, was dieses Bewußtsein anging.
Und darin hatte ich mich zu erweisen, in nichts sonst, darin zu
entscheiden, und nicht etwa ein für allemal und mir’s dann bequem werden
zu lassen in meiner Haut, nein, Tag für Tag, bei jedem Schritt, mit
jedem Atemzug. Ich wußte, daß ich übers Ziel schoß mit dem
»Bequemwerdenlassen in meiner Haut«, aber es fiel mir plötzlich wie
Schuppen von den Augen, daß ich inne wurde, was mit den »Entscheidungen«
gemeint war, die nicht in der eigenen Brust gefordert werden, sondern
vom anderswollenden, herrschsüchtigen, zwiespältigen Andern. Es sind
Abdrängungen, Gebietsschmälerungen, Verzichtserklärungen, die er haben
will. Schranke will er setzen; sich will er entgegensetzen, sein Urteil,
seinen Begriff, seine Form. Der Freund war etwas erstaunt über mein
Ungestüm; er erwiderte bedächtig, da nähme ich entweder zu viel auf
mich, das Unmögliche sogar, oder er müsse glauben, ich begnüge mich
damit, ein geistiges Luxusamt zu verwalten. Das verstand ich nicht; ich
bat ihn, sich deutlicher auszudrücken. Er sagte: es ist umsonst. – Was?
Was ist umsonst? – Er schaute mich an. Der Geist in uns und der Geist in
euch mischt sich nicht, sagte er, es ist nie gewesen, es wird nie sein.
Es gibt keine Blüte, es gibt keinen Organismus, es gibt Konglomerat. Wo
die Mischung scheinbar gelungen ist wie etwa bei Felix Mendelssohn, ist
doch kein Tiefgang da, auch keine wirkliche Verschmelzung; es ist eine
geniale Zwitterbildung mit übriggebliebenen Rudimenten, begünstigt durch
eine Epoche, in der die Invasion des fremden Wesens noch unbeträchtlich
war und die Witterung für die Gefahr schwach. Damals und wohl noch ein
halbes Jahrhundert lang lag mehr an der Kunst als am Menschen, man
erklärte die Kunst für neutral; heute wird der Mensch geprüft und
gewogen, und wir wissen, daß die verführendste, vollendetste Kunst Gift-
und Krankheitskeime aussäen kann.

Mir war das alles nicht neu und doch wieder neu. In gewisser Beziehung
war es wahr, in gewisser ein Abschaum von Unvernunft und Verdrehung. Es
war sehr deutsch, wie mir vorkam, sehr borniert, sehr kategorisch,
Philosophie und Weltgericht aus eigener Machtvollkommenheit. Statt zu
widersprechen, fragte ich ihn, ob er Bücher von mir kenne, irgendeines,
ein einziges nur; er werde begreifen, daß ich mich nicht aus Eitelkeit
danach erkundige. Seine Züge wurden sonderbar starr. Ich ließ ihn nicht,
ich bedrängte ihn wie Jakob den Engel. Warum er es verhehle? Ob sie ihn
nicht wankend gemacht hätten an seinem Lehrsatz? Ob er mit der
geringsten Kenntnis davon als ehrlicher Mann, als denkender, schauender,
fühlender Mann das Wort aufrechterhalte? Er wich aus. Er schien
betreten, ja beklommen. Schließlich sagte er: Wenn ich es auch in deinem
Fall bedingungsweise zugeben könnte, was wäre damit bewiesen? Ich will
es zugeben, weshalb nicht? Ich war ja stets der Meinung, du seiest ein
Ausnahmeexemplar, ich will zugeben, daß du Ströme des Ostens zu uns
geleitet, Gesichte des Ostens uns entschleiert hast; zugeben, daß
deutsche Art in dir ist, Art von unserer Art, rätselhaft wie, aber sie
ist da; zugeben, daß da etwas wie Verschmelzung, neue Synthese vor sich
gegangen ist; aber was ist damit bewiesen? Es wäre nur die Regel
bestätigt.

Darauf antwortete ich ihm, inbrünstiger und eindringlicher, dünkt mich,
als ich je zu ihm gesprochen: Ist es vorstellbar, so ist es möglich.
Gibt es die Idee davon, so ist die Erscheinung nur die nächste Folge.
Hat es ein Einzelner erreicht, so ist es überhaupt erreichbar. Ich bin
nur scheinbar ein Einzelner, ich stehe für alle, ich bin Ausdruck eines
bestimmten Zeitwillens, Geschlechterwillens, Schicksalswillens. In mir
sind alle, auch die Widerstrebenden, ich schaffe Bahn für alle, ich
räume die Lüge weg für alle, und daß ich da bin, ist Beweis. Die
Ausnahme bestätigt nicht die Regel, sie bricht die Regel. Es ist immer
ein erster Tropfen, der den Felsen durchhöhlt.

Ich weiß nicht mehr, was er mir entgegnete. Wir trennten uns dann bald.



18


Ich war schon um die Mitte des Jahres 1898 von München weggezogen und
hatte mein Domizil in Wien aufgeschlagen. Dort konnte meines Bleibens
nicht länger sein. Wie schon angedeutet, hatte mich eine Frau an den
Rand des Verderbens gebracht, und hätte ich nicht das unheilvolle Band
mit einem leidenschaftlichen Entschluß durchschnitten, so wäre es mit
mir zu Ende gewesen. Vier Jahre hatte ich dumpf und flammend in einer
erotischen Sklaverei verbracht, namenlos erfüllt, unbedingt hingegeben,
dabei geschändet und mißbraucht im Innern; meine ganze Natur war davon
versengt und angefault, meine moralische Existenz bedroht, meine
bürgerliche schwankte schon, Freunde kehrten sich ab, Wohlwollende
verschlossen mir ihr Haus, Verleumdung und Klatsch besudelten meinen
Namen, und so gab es am Ende keine Rettung als Bruch und Flucht.

Vielleicht hätte ich mich nicht aufzuraffen und die Fesseln zu zerreißen
vermocht, wäre nicht ein junges Mädchen gewesen, eine siebzehnjährige
russische Jüdin, die wie ein liebendes Madonnchen in meinen
verwunschenen Kreis trat und, wenn ich’s recht bedenke, die erste
Glückbringerin war. Nur durch ihre Art zu sein, zu lächeln, zu
verstehen, eine stummschenkende, ergreifend wahre Art, half sie mir über
das Schwere und machte, daß ich vergaß und beharrte. Sie war
Tabakarbeiterin, in ärmlichsten Verhältnissen, doch sie hätte eine
junge Fürstin sein können; sie war so stolz wie anmutig, so großen Sinns
wie gehalten in ihrem Wesen. Rasch, wie wir uns gefunden, verloren wir
uns wieder.

Das Leben in Wien und Österreich wirkte wohltätig auf mich durch seine
leichtere Form. Da waren Widerstände aufgehoben, die ich bei uns auf
Schritt und Tritt gespürt hatte. Die Menschen kamen mir freier entgegen,
williger, offener, und wenn es sich auch meistens erwies, daß sie sich
durch ihr Entgegenkommen nicht für sonderlich verpflichtet hielten, ja,
daß sie gewissermaßen jedem ausgestellten Wechsel auf Verläßlichkeit mit
naivem Bedauern bei der Vorzeigung die Anerkennung und natürlich auch
die Zahlung verweigerten, überhaupt in listig-unschuldige Verwunderung
gerieten, wenn man sich einfallen ließ, aus ihrem Wort die Folgerung des
Vertrauens zu ziehen, so war doch der Alltag ohne die verletzende
Reibung, der Ton des Verkehrs gutmütiger und unverfänglicher. Man mußte
nur wissen; man mußte sich mit einer bestimmten Erfahrung gürten und
nicht immer mit dem schmucklosen Anspruch auf den Plan treten. Das lernt
sich. Es lernt sich auch bei einiger Schmiegsamkeit in Italien, wo
verwandte Fehler den moralischen Hochmut des Deutschen reizen.

Aber dies geht wohl tiefer, und es ist nötig, die Tiefe zu sondieren.
Ich lebte ja nicht nur dem Bild und Gedicht; ich war auch, im heimlichen
Bewußtsein, darauf angewiesen, den Boden zu erforschen, auf dem es
Wurzel schlägt und die Atmosphäre, in der es gedeiht. Ich wußte um die
Menschen, die Vorwand waren zur Gestalt, und in die Absonderung, die ich
mir hart erkämpfte, drang ihre Welt noch laut genug. Heute steht diese
österreichische Welt vor mir, wie ich sie zwei Jahrzehnte hindurch
erlebt habe, halb nehmend, halb wehrend.

Ich war als erzogener Deutscher gewöhnt, eben das Deutsche, Land und
Volk, als ein Ganzes zu empfinden, unbezweifelbar, in seiner Rundheit
und Faßlichkeit erfreulich, in keinem Bezug mißzuverstehen. Hier dagegen
war durchaus alles fragwürdig, Land, Volk, Staatsform, Lebensform,
Nationalität und Gesellschaft, Überlieferung und Abfall von ihr, Politik
und Kunst, Organisation und Individuen. Das Fragwürdige übt Lockung aus,
namentlich in seiner Oberflächenschicht, und die Genießer und
Ferienbeobachter haben ja nicht versäumt, sich in ihrer Weise daran zu
letzen. Aber das immer heftigere Gegeneinander der verschiedenen Kräfte
führte zum Verhängnis. Eine von Jahrhunderten legitimierte Bedrückung,
die unter der Flagge von Schlichtung und Ausgleich selbstsüchtige
Herren- und Hausmachtpolitik trieb, konnte nicht ohne Einfluß auf das
öffentliche und private Leben bleiben. Die mit träger Geduld
vollgesogene Masse war solange Spielball und Opfer einer herzlosen
Regierungsmaschinerie gewesen, solange betört und betrogen von einem
System, das sich aller verfügbaren Kräfte schlau zu versichern wußte, um
sich im gegebenen Zeitpunkt, der Versprechungen und Verträge nicht
achtend, mit frivolem Achselzucken ihrer zu entledigen, solange das
Mittel zum Zweck für eine Minderzahl von Mächtigen, an deren Vorrechte
es glaubte oder zu glauben gezwungen wurde, solange bevormundet in
seinen geistigen und religiösen Bedürfnissen, so sehr daran gewöhnt,
gierige Ansprüche zu erfüllen: der Kirche, des Hofes, der Aristokratie,
des Großgrundbesitzes, daß keine Menschenweisheit dies zum heilsamen
Ende lenken konnte.

Österreichische Art wurde im Reich mit einer gewissen nachsichtigen
Geringschätzung betrachtet. Wenn irgendein Berliner Bruder Liederlich
nach Wien kam, irgendein Spießbürger, der in seiner heimischen
Langeweile anspruchsvoll geworden war, und vom süßen Schaum des
südlicheren, flinkeren Lebens genippt hatte, fand er sich zum dauernden
Zensor über Land und Menschen befugt. Jedes Urteil war Vorurteil. Das
geschmackvolle und bestechende Kostüm der Metropole, angeborene
Ritterlichkeit und Gastlichkeit der Bewohner täuschte über die Wunden
und Abgründe. Man war nicht scharfsichtig, man war nicht genau, man nahm
es nicht ernst. Ob es sich um Buch oder Bild handelte, um Lehre oder
Kunst, die von dort ausging: man nahm es nicht ganz ernst. Außer bei
Musik und Schauspielerei; da lag Unwidersprechliches vor,
unwiderlegliche Meisterschaften, die waren Verdienst und ureigenste
Blüte, wenn schon nicht selten beide durch Üppigkeit und gar zu
unbeschwerte Heiterkeit dem gründlicher veranlagten Stammesgenossen sich
verdächtig machten, wo es gerade noch erlaubt war, Verdacht zu hegen.
Kurz, man hatte seine Einwände, seine Klauseln und Abstriche auf der
großen Merktafel. Ich habe selbst Erfahrung darin. Von der Zeit an, wo
ich meine Bücher in Österreich schrieb, war ich in den Augen von vielen
meiner deutschen Kritiker gesunken. Man konnte mich, logischerweise,
nicht mehr ganz ernst nehmen. Auch nahe Freunde unkten, warnten und
verübelten es mir, daß ich bei den »Phäaken« seßhaft geworden war.

Daß ich durch das allgemeine wie durch das Wesen einzelner empfindlich
zu leiden hatte, will ich nicht leugnen. Heute, wo die Zerstörung am
Tage liegt, der deutsche Teil der Nation ins Mark getroffen ist, seine
Kräfte verwirtschaftet, seine Hilfsquellen erschöpft sind, weiß jedes
Kind Bescheid. Mich bedrückte die Ahnung lange zuvor. Denn ich sah, es
war kein Mittelpunkt und keine Gemeinsamkeit; das bis zum Zynismus
offene Bekenntnis der sich selbst spürenden Unzulänglichkeit widerte
mich; es widerte mich der Taumel, die Zermürbung, der geistlose
Despotismus, die Zuchtlosigkeit. Schäden wurden nicht erkannt oder, wenn
erkannt, so verschwiegen; die Politiker waren durch Parteirücksichten
gehemmt, wobei eine perverse Jovialität selbst ihre Gehässigkeit
abstumpfte; die Schriftsteller in ihrer Mehrzahl waren nicht unabhängig
oder, wenn unabhängig, so einseitig an Sexualität, Theater und
überschminkte Gesellschaftlichkeit verdingt, was bis zu niedrigem
Klatsch und grinsender Felonie ausarten konnte. Keine menschliche
Betätigung fand einen Widerhall, kein höheres Interesse selbstlose
Zustimmung; wer Wege abseits vom Trivialen und Beliebten suchte, war
verfemt, und jede Tätigkeit, die eine innere, fernere Folge haben
sollte, wurde besudelt oder schlechthin verlacht.

Aber der Deutsche hätte sich durch das Wissen um die Schatten und
Laster, das ja oft von dorther rührendes Eingeständnis war, nicht
beirren lassen dürfen. Er hat durch seine Überheblichkeit im Entstehen
vernichtet, was sicherlich einmal bestimmt war, ihn reicher, voller,
ausgeglichener zu machen. Er hätte Erbe eines blühenden Besitzes sein
können; jetzt wächst ihm, bestenfalls, ein geplünderter zu. Liebe zu
erwecken hat er nirgends verstanden, so auch hier nicht. Er achtet die
Herzen nicht, er zertritt sie plump, indem er ihnen Vorschrift einbläut.
Dieses Österreich, ich sehe von den Menschen ab, in seiner Fülle von
beseelter Landschaft, heroischer und idyllischer, zarter und gewaltiger,
einschmeichelnder und grandioser, der Durchsichtigkeit und Weichheit
seiner Atmosphäre, seiner Helligkeit, seiner Unverbrauchtheit, könnte
wohl in manchem Betracht heilend, erneuernd und umwandelnd auf deutsches
Wesen wirken; ich möchte sagen musikalisierend, wenn das Wort gelten
darf. Mich wenigstens hat es geheilt, erneuert und umgewandelt, als ich,
ein Gebrochener, dort Aufnahme fand. Es hat mich, vielleicht durch seine
Landschaft, vielleicht durch seine Luft, vielleicht durch seltene
Menschen auch, die mir begegnet sind, gelehrt, was Form ist, Zucht der
Sinne, Rhythmus der Linie. Draußen hatte ich die Pfeiler gesetzt, hier
konnte ich die Bogen wölben.

Was nun die Menschen im allgemeinen betrifft, so ist ihnen, im guten wie
im schlimmen, etwas Naturhaftes eigen, Wechsel und Laune der Natur,
Unbedingtheit und Bildsamkeit. Ein leiser Hauch von Orient weht um sie;
von uralten germanischen, römischen, keltischen Elementen sind sie
getragen; die Nähe slawischer Welt und stellenweise Durchblutung von ihr
hat den Charakter vielfach erweitert und vertieft; Traditionen der
Vergangenheit sind noch tragfähig; das Individuelle ist noch nicht
überzüchtet, das Typische noch nicht leer; es ist noch Gebärde da,
Maske, Spiel, Dunkelheit in der Entwicklung, Geheimnis in der Beziehung.



19


Ein Umstand machte mich bereits nach kurzem Aufenthalt in Wien stutzig.
Während ich draußen mit Juden fast gar keinen Verkehr gepflogen hatte
und bloß hier und da einmal einer, von dem es weder ausdrücklich von
andern noch von ihm selbst betont wurde, daß er Jude sei, in meinem
Bezirk aufgetaucht war, zeigte es sich, daß hier fast alle Menschen, mit
denen ich in geistige oder herzliche Berührung kam, Juden waren.
Außerdem wurde es von andern stets betont, und sie betonten es selbst.
Dies zwang mich zur Abwehr, da mir eine solche Exklusivität das
Blickfeld beengte.

Ich erkannte aber bald, daß die ganze Öffentlichkeit von Juden
beherrscht wurde. Die Banken, die Presse, das Theater, die Literatur,
die gesellschaftlichen Veranstaltungen, alles war in den Händen der
Juden. Nach einer Erklärung mußte man nicht lange suchen. Der Adel war
vollkommen teilnahmlos; mit Ausnahme einiger Fehlgeratener und
Ausgestoßener, einiger Abseitiger und Erleuchteter, hielt er sich nicht
nur ängstlich fern von geistigem und künstlerischem Leben, sondern er
fürchtete und verachtete es auch. Die wenigen patrizischen
Bürgerfamilien ahmten dem Adel nach; ein autochthones Bürgertum gab es
nicht mehr, die Lücke war ausgefüllt durch die Beamten, Offiziere,
Professoren; danach kam der geschlossene Block des Kleinbürgertums. Der
Hof, die Kleinbürger und die Juden verliehen der Stadt das Gepräge. Daß
die Juden als die beweglichste Gruppe alle übrigen in unaufhörlicher
Bewegung hielten, ist nicht weiter erstaunlich. Dennoch war meine
Verwunderung groß über die Menge von jüdischen Ärzten, Advokaten,
Klubmitgliedern, Snobs, Dandys, Proletariern, Schauspielern,
Zeitungsleuten und Dichtern. Mein Verhältnis zu ihnen, innerlich wie
äußerlich, war von Anfang an ein höchst zwiespältiges. Um aufrichtig zu
sein, muß ich gestehen, daß ich mir bisweilen wie in Verbannung geraten
unter ihnen erschien. Ich war bei den deutschen Juden mehr an
bürgerliche Abgeschliffenheit und soziale Unauffälligkeit gewöhnt. Hier
wurde ich eine gewisse Scham nie ganz los. Ich schämte mich ihrer
Manieren, ich schämte mich ihrer Haltung. Die Scham für den andern ist
ein ungemein quälendes Gefühl, am quälendsten natürlich, wo Blut- und
Rasseverwandtschaft im Spiel ist, und man durch ein unabwälzbares
inneres Gebot wie infolge moralischer Selbsterziehung verpflichtet ist,
für jede Äußerung und jede Handlung von ihm in irgendwelcher Weise
einzustehen. Wahre Verantwortung ist wie ein mit Herzblut
unterschriebener Vertrag. Er bindet über alle Einwände der Vernunft
hinaus, und Freiwilligkeit und Urteil vermögen nichts gegen ihn.

Diese Scham steigerte sich manchmal bis zur Verzweiflung und bis zum
Ekel. Anlaß war das Geringe wie das Bedeutende; das Idiom; schnelle
Vertraulichkeit; Mißtrauen, das das unlängst verlassene Ghetto verriet;
apodiktische Meinung; müßige Grübelei um Einfaches; spitzfindiges
Wortefechten, wo nichts weiter nötig war als Schauen; Unterwürfigkeit,
wo Stolz am Platze war; prahlerisches Sichbehaupten, wo es galt, sich zu
bescheiden; Mangel an Würde, Mangel an Gebundenheit; Mangel an
metaphysischer Befähigung. Gerade dies letztere bestürzte mich am
meisten und am meisten bei den Gebildeten. Es ging ein Zug von
Rationalismus durch alle diese Juden, der jede innigere Beziehung
trübte. Bei den Niedrigen äußerte es sich und wirkte im Niedrigen,
Anbetung des Erfolgs und des Reichtums, Vorteils- und Gewinnsucht,
Machtgier und gesellschaftlichem Opportunismus; bei den Höheren war es
das Unvermögen zur Idee und Intuition. Die Wissenschaft war ein Götze;
der Geist war unumschränkter Herr; was sich der Errechnung versagte, war
untergeordnete Kategorie; errechnet werden konnte auch das Schicksal,
zerfasert die heimlichsten, dunkelsten Gebiete der Seele. Es war
überhaupt in ihnen ein Wille und Entschluß zur Entgeheimnissung der
Welt, und sie wagten sich darin so weit, daß in vielen Fällen, für mich
wenigstens, Schamlosigkeit von Forschertrieb nicht zu unterscheiden war.
Mich dünkt, die Menschheit gewinnt auf der einen Seite nicht so viel
durch Entschleierung an Wissen und an Kraft, als sie auf der andern
durch Entweihung an Scheu und fragender Demut verliert. Wahrheit ist
doch nur im Bilde und in der Ehrfurcht.

Ausgezeichnete Eigenschaften einzelner traten im Umgang gewinnend
hervor, Verstand und Güte, Bereitschaft zu dienen, zu fördern, Blick für
das Seltene, das Kostbare; sie hatten Wärme, Gabe der Ahnung sogar, ein
nervöses Mitschwingen war ihnen eigen, ungeduldiges Vorauseilen oft,
wobei das Tempo über die Intensität und Tiefe täuschte. Ich lernte sehr
kultivierte Juden kennen, verfeinert bis zur Gebrechlichkeit; man hätte
glauben mögen, mit ihnen als letzten müden Sprossen sei die Rasse am
Endpunkt der Bahn angelangt. Dann wieder Typen des entgegengesetzten
Gepräges: unverbrauchte Sendlinge einer breiten, der europäischen
Zivilisation noch abgekehrten, aber drohend zu ihr drängenden,
feindselig oder begehrlich von ihr faszinierten Schicht. Sie waren
erfüllt von brutaler Entschlossenheit, sich durchzusetzen; sie kamen als
Eroberer, erzwangen sich Raum, bemächtigten sich binnen kurzem und in
skrupellosem Wetteifer der Hilfsmittel, die ihnen Staat und Gesellschaft
gewährten. Zwanzig Jahre später gründeten ihre Söhne bereits
literarische Wochenschriften oder publizierten Gedichtbände
allermodernsten Stils, und ihre Töchter hatten sich dermaßen
mimikrisiert, daß sie sich in Allüre und Ausdrucksweise von den
Komtessen mit sechzehn Ahnen kaum mehr unterschieden. Daneben aber gab
es Erscheinungen von strenger Art, Einsame; Lautlose; beharrliche
Wühler; Menschen von hagerer Geistigkeit, bei welchen die harte und
finstere Religion der Väter ein hartes und finsteres Verhältnis zum
Leben selbst erzeugt hatte. Unsinnlich, negierten sie, was an der
Menschheit Blüte ist, übertragene Form und wurden, genau wie die Väter,
denen gegenüber sie doch Abtrünnige waren, Geknechtete einer Lehre und
unermüdliche Werber dafür. Auch sie waren entschlossen, sich
durchzusetzen.

Um die Zeit, als ich nach Wien kam, war gerade der Zionismus im
Entstehen. Der dauernde Zuzug aus dem Osten und Norden des Reichs schuf
eine völlig andere Stimmung unter den Juden und völlig andere
Zusammensetzungen, als sie mir bis dahin bekannt waren. Die Kunde von
den Schändlichkeiten, die die zaristische Regierung beging, die
unbezweifelbaren Zeugnisse über Bedrückungen, Mord, Folter und
Vergewaltigung, Beugung des Rechts, Verhöhnung des Gerichts, zudem die
jammervolle soziale Lage der Juden sogar in den österreichisch-slawischen
Provinzen hatten nach und nach eine außerordentliche Gärung
hervorgerufen, und einige Männer von Mut und Willen widmeten sich dem
Plan der Errichtung eines palästinischen Reiches. Die Wirkung war
gewaltig. Daß der Siedlungsgedanke nicht als solcher propagiert wurde,
daß er sich als staatliche Gründung ins Politische gesteigert und
weiterhin als religiöse Idee in messianischer Fassung darbot,
verschaffte ihm zahllose Anhänger. Ich hörte damals von Juden, die
irgendwo in Podolien oder in der Bukowina ihr geplagtes Dasein
schleppten und in Tränen ausbrachen, als die neue Heilsbotschaft zu
ihnen gelangte. Ich hörte von solchen, die sich auf die Wanderung
begaben, tage-, wochenlang, um nur den Mann mit Augen zu sehen und, wie
sie sich ausdrückten, den Saum seines Gewandes zu küssen, den Propheten,
den Ersehnten, der ihnen die Möglichkeit dieses Glücks geschenkt hatte.
Sie hatten ja unter einem gefrorenen Himmel gelebt, seit Jahrhunderten,
und ihre Welt war ein Kerker gewesen.

Mein persönliches Verhalten zu dieser Bewegung war unsicher, bisweilen
schmerzlich unsicher. Erstens mußte ich von Anfang an den Sinn ganz
anders richten, da ich mich ja in ganz andere Zusammenhänge eingelebt
hatte. Manche der Adepten sagten, ich müsse erwachen, und ich würde auch
eines Tages erwachen, zur Wahrheit und zur Tat erwachen. Sie wußten von
mir nichts. Zweitens hatte es sich gefügt, daß ich mit dem Schöpfer der
Idee gesellschaftlich in Berührung gekommen war, und daß ich weder
Zuneigung für ihn fassen konnte, für ihn als Schriftsteller nicht und
als Menschen nicht, noch an seine Ungewöhnlichkeit und Größe zu glauben
vermochte, wie er es voraussetzte und heischte. Ich kann nicht umhin,
dessen Erwähnung zu tun, weil es mich im stillen oft beschäftigt hat und
mir zum Selbstvorwurf geworden ist. Das Bedeutende eines Menschen
wesentlich und nachhaltig verkennen, wäre nicht allein Blindheit,
sondern auch Verblendung. Ich war verstockt; ohne Zweifel auch nicht
willig; der Anblick und die Nähe kleiner Schwächen und Eitelkeiten
verdroß mich, und Gefolgschaft zu leisten, war mir nicht gegeben, nicht
bestimmt. Weil ich den Menschen zu übersehen glaubte, übersah ich sein
Werk, schuldvolles Wortspiel, an das sich viel Wahn und Irrtum knüpft.

Daß ich von Juden immer wieder für diese lebenswichtige jüdische Sache
gefordert wurde, ist begreiflich. Es setzte mich stets in Verlegenheit.
Ich war bereit, die Leistung anzuerkennen, die dafür aufgewendet wurde,
Opfer und Hingabe, auch die Hoffnungen zu teilen, aber ich selbst stand
nicht da, wo sie standen. Ich fühlte nicht die Solidarität, auf die sie
mich verpflichten wollten, nur weil ich Jude war. Die religiöse Bindung
fehlte, aber auch die nationale Bindung fehlte, und so, in meinem noch
nicht zur Klarheit gediehenen Widerstreben, vermochte ich im Zionismus
vorläufig nichts anderes zu sehen als ein wirtschaftlich-philanthropisches
Unternehmen. Es widerstrebte mir das, was sie die jüdische Nation
nannten, rundweg gesagt, denn mir war, als könne eine Nation nicht von
Menschen gewollt und gemacht werden; was in der jüdischen Diaspora als
Idee davon lebte, schien mir besser, höher, fruchtbarer als jegliche
Realität; was war gewonnen, so schien es mir, wenn im Jahrhundert des
Nationalitätenwahnsinns die zwei Dutzend kleinen, in Hader verstrickten,
aufeinander eifersüchtigen, einander zerfleischenden Nationen durch die
jüdische zwei Dutzend und eine geworden wären? Historisch-psychologisch
betrachtet, war ich vielleicht im Recht; die aus der Not geborene
Erscheinung gab mir in jedem Augenblick Unrecht. Und die Not baut den
Weg.

Der Konflikt blieb bestehen. Es handelte sich um die Menschen, um ihr
Antlitz, um ihr Wesen, um ihre Gebärde, ihr Wort, ob sie in mir waren
schließlich, ob ich in ihnen war. Ich konnte den oder jenen würdigen,
schätzen, lieben, weil er so war, wie er war, eben dadurch würdigens-,
schätzens-, liebenswert. Ich konnte aber nicht eine Gruppe, eine
Gesamtheit würdigen, schätzen und lieben, nur weil man mich in den
Verband einschloß. Vielleicht können es andere; mich hatte Gott nicht so
geschaffen. Wirft man mir entgegen: um der Idee willen mußt du die
Gruppe, die Gesamtheit, das Volk lieben, so erwidere ich: zu einer Idee,
einer unbeirrbaren, mich völlig durchdringenden und all meinem Tun
gebietenden war ich bereits geboren; sie durch eine andere zu ersetzen
oder ihr eine andere koordinieren, war nicht möglich, ist menschlich,
geistig, organisch nicht möglich, oder es geht nicht mehr um Wahrheit
und Ernst, sondern um Versuch, Gelegenheit und Lückenfüllen. Was man ist
und tut, hat man ganz zu sein und zu tun; sonst könnte jeder die
Geschäfte eines jeden betreiben.

Sah ich einen polnischen oder galizischen Juden, sprach ich mit ihm,
bemühte ich mich, in sein Inneres zu dringen, seine Art zu denken und zu
leben zu ergründen, so konnte er mich wohl rühren oder verwundern oder
zum Mitleid, zur Trauer stimmen, aber eine Regung von Brüderlichkeit, ja
nur von Verwandtschaft verspürte ich durchaus nicht. Er war mir
vollkommen fremd, in den Äußerungen, in jedem Hauch fremd, und wenn sich
keine menschlich-individuelle Sympathie ergab, sogar abstoßend. Viele
Juden, die sich Juden fühlen, verhehlen sich dies; einem Pflichtbegriff
oder Parteidiktat zuliebe oder um feindlichen Angriffen keinen Zielpunkt
zu geben, üben sie Zwang auf sich aus. Das hat in meinem Fall keinen
Zweck mehr. Ich rufe auch nicht zur Nachahmung auf und sage nicht, daß
es gut war, was ich tat, und wie ich mich verhielt; ich schildere
einfach mein Erlebnis und meinen Kampf. Vor wenig Jahren sprach ich
einmal mit einem mir befreundeten Jüdisch-Nationalen, einem sehr edlen
Mann und vorbildlichen Menschen über das mich Bedrückende und die andern
Beirrende. Ich sagte: ist die Ursache des Zwiespalts nicht darin zu
suchen, daß Sie ein jüdischer Jude sind und ich ein deutscher Jude? Sind
das nicht zwei Arten, zwei Rassen fast oder wenigstens zwei
Lebensdisziplinen? Bin ich nicht dadurch ausgesetzter als die meisten,
da ich ja nach keiner Seite mich beuge, nach keiner Seite ein Kompromiß
schließe und nur, auf einem Vorposten, mich und meine Welt zum Ausdruck
bringen, zur Brücke machen will? Bin ich so nicht am Ende nützlicher als
einer, der auf eine bestimmte Marschrichtung vereidigt ist?

Er ließ sich auf Erörterung nicht ein und entgegnete lächelnd: Sie
sollen sich mit all dem gar nicht quälen; Sie sind Dichter, und als
Dichter haben Sie einen Freibrief. Ich erinnere mich, daß mich die
Antwort schmerzte und verletzte, denn trotz herzlichen Wohlmeinens lag
eine gewisse ausweichende Abschätzigkeit in ihr, als wolle er sagen: wir
sind auf dich nicht angewiesen und können auf dich verzichten.



20


Wenn mir die Frage gestellt würde: bei welchen Männern und Frauen hast
du am meisten Verständnis, Ermunterung, Echo und Anhängerschaft
gefunden, so müßte ich antworten: bei jüdischen Männern und Frauen.

Wenn man an irgendeinen Dichter oder Künstler nichtjüdischen Ursprungs
dieselbe Frage richten würde, so müßte, in der Mehrzahl der Fälle,
dieselbe Antwort erfolgen. Ich habe die Probe gemacht; ich habe mich bei
vielen Leuten von Rang erkundigt; meine Vermutung, die schon halbe
Gewißheit ohnehin war, ist jedesmal bestätigt worden. Und wer die
Lebensläufe der Neuerer und Schöpfer des neunzehnten Jahrhunderts
erforscht, sei es in Briefen, in gelegentlichen, freilich oft sehr
versteckten Äußerungen, sei es im Urteil, nämlich im erstgeborenen
Urteil der Zeitgenossen, oder in den Formern und Trägern der
öffentlichen Meinung, wird es auch dort bestätigt finden. Juden waren
Entdecker, Empfänger, Verkündiger, Biographen, waren und sind die
Karyatiden fast jeden großen Ruhms.

In meinem persönlichen Fall gibt es allerdings eine Erschwernis und eine
recht eigentümliche. Der gebildete Jude kann sich kaum entschließen, an
die schöpferische Fähigkeit eines Juden zu glauben. Mit abnehmendem Grad
der Bildung wird daraus die unverhohlene zynische Skepsis. Hier liegt
wahrscheinlich ein Atavismus zugrunde, die vom Zeitengedächtnis
aufbewahrte Gewöhnung des Dichtbeieinander von Haus und Mensch;
Verkettetsein und Zueinanderverurteiltsein; ein rohes Ichkennedich
äußert sich so, du machst mir nichts vor, ich weiß zu viel von dir, ich
verstehe mich auch auf die Handgriffe; es ist, als begegneten sich zwei
Gaukler. Doch spüre ich auch einen profunden Demokratismus darin, der
Jahrtausende zurückweist auf die natürliche Gleichheit bei
Nomadenvölkern, wo keiner sich über den andern erhebt. Die Juden tragen
gegen ihre großen Männer stets ein unausgesprochenes Gebot: du sollst
dich nicht über uns erheben, denn vor Gott sind wir alle gleich.

Nun hat sich das bildende, gestaltenbildende Element bei den Juden
niemals frei entfalten können; die wahrhaft schöpferische Gabe ist
verhältnismäßig sehr selten. Manche leugnen sie überhaupt; sie würden
kein Beispiel gelten lassen, auch wenn man sich zuvor über den Begriff
des Schöpferischen mit ihnen einigte. Die Sehnsucht nach dem
Schöpferischen steckt aber in den Juden tiefer als in jeder andern
Menschengattung; Sehnsucht nach dem Schöpfer: sie erklärt sich aus dem
jüdischen Gottesgefühl, aus der Gottesfurcht sozusagen, und es wäre zu
untersuchen, wie und inwiefern Furcht und Sehnsucht gepaart ist oder
Sehnsucht die Furcht bedingt.

In zahlreichen Ab- und Zwischenarten sah ich Sehnsucht sich verkünden,
verlarvt und verkleidet oft; lächerlich oft und bizarr; lügenhaft und
selbsterniedrigend. Ich kenne, kannte viele, die vor Sehnsucht nach dem
blonden und blauäugigen Menschen vergingen. Sie betteten sich ihm zu
Füßen, sie schwangen Räucherfässer vor ihm, sie glaubten ihm aufs Wort,
jedes Zucken seiner Lider war heroisch, und wenn er von seiner Erde
sprach, wenn er sich als Arier auf die Brust schlug, stimmten sie ein
hysterisches Triumphgeschrei an.

Sie wollen nicht sie selbst sein; sie wollen der andere sein; haben sie
ihn auserlesen, so sind sie mit ihm auserlesen, scheint es ihnen, oder
wenigstens als Bemakelte vergessen, als Minderwertige verhüllt. Bis vor
kurzem bemerkte ich sie in allen Theaterfoyers, so selten ich auch in
Theater ging, und in allen Konzertsälen. Ich weiß nicht, ob sie noch
dort sind.

Eine ergötzliche Figur war mir ein junger Wiener Jude, elegant, von
gedämpftem Ehrgeiz, ein wenig melancholisch, ein wenig Künstler, ein
wenig Schwindler; den hatte die Vorsehung selbst blond und blauäugig
geschaffen, aber siehe da, er glaubte nicht an seine Blondheit und
Blauäugigkeit; er hielt sie im Innersten für gefälscht, und da er in
beständiger Angst lebte, auch andere könnten an der Echtheit zweifeln,
ging er über das deutsche Ideal noch einen Schritt hinaus und wurde
Anglomane, und zwar von strengster Observanz.

Aber was haben die Larven mit den Wesen zu tun? Ohne die Hingabe und den
untrüglichen Enthusiasmus des modernen Juden wäre es um das
Kunstverstehen und -empfangen der letzten fünfzig Jahre kümmerlich
bestellt gewesen. Das hat schon Nietzsche immer wieder betont, dem die
Antisemiterei, wie er es nennt, Greuel und Schrecknis war, mehr noch,
Beleidigung. Juden waren bereit; Juden hatten das Ohr, das lauschte, das
Auge, das sichtete; sie waren befähigt, das Geheimnis zu entdecken, das
Wunderbare zu fassen, das Unerkannte zu erkennen. Ihr tätiger
Enthusiasmus zwang oft genug den öffentlichen Geist zum Aufmerken, und
ich kannte solche, bei denen dann alles Ergriffenheit war, als seien sie
bis zur Stunde, die sie zu der beglückenden Sendung erwählt, leeres
Gefäß gewesen und könnten nun den neuen Inhalt kaum tragen und ertragen.

Frauen insbesondere fand ich so. Jüdische Frauen und Mädchen sind der
edelste und verheißendste Teil des Judentums; in ihren reinen Bildungen
unvergleichlich. Manche sind fördernd, einige rettend in meinen Bezirk
getreten, die ersten Bestätigerinnen, die ersten, die nagenden Zweifel
stillten, dem Ruf antworteten, die Gestalt grüßten, die innere Welt
sozusagen agnoszierten.

Mir ist die gegenwärtig, die nach der Veröffentlichung der »Juden von
Zirndorf« zu mir kam, als Fremde, mit beflügelter Eile, als hätte sie
dringende Botschaft auszurichten, Botschaft gleichsam von vielen
Ungenannten. Sie bewirkte, daß die Ungenannten auf einmal freudig meine
Einsamkeit bevölkerten, und daß das phantastische Unglaubwürdige, als
welches jedes Werk, dem der es macht, erscheint, Bestand und Gültigkeit
gewann. Es handelt sich dabei nicht um Zustimmung und Bejahung, gewiß
nicht um Beifall und Bewunderung, sondern schlechthin um die
Lebensprobe. Die wird entschieden durch solche Botinnen. Ich konnte ihr
später schwer genugtun; sie war eigensinnig anspruchsvoll für mich,
wollte immer das ausnahmshaft Letzte, verglich, prüfte, wog, stellte
Muster vor mich hin und sagte sich vom Mißlungenen zornig los. Überdies
muß ich lächeln, wenn ich denke, daß gerade sie erstaunlich blond und
blauäugig war.

Dann sehe ich das Bild einer andern, sehr Beschwingten; von unendlicher
geistiger Anmut, genialem Witz. Die Figur einer Dichtung war ihr so
wirklich, daß sie mit ihr hadern, an ihr kranken konnte; beängstigend
ihr forderndes, glühendes Mitsein in einer Sphäre, die den meisten nur
ein bemalter Vorhang ist. Da fühlt man sich dann wörtlich genommen;
verstanden wäre ein ausgelaugter Begriff, denn es ereignet sich eine
sichtbare Wandlung, das Seltenste.

Wieder andere konnten sich geradezu ihres Schicksals entäußern. Dabei
ist Verzicht, ja Askese; sinnliche Verkettung allein treibt so weit
nicht, das Bild allein nicht. Ohne Zweifel ist eine Seelen- und
Blutverfassung im Spiel, die den westlichen Rassen nicht eigen ist, eine
mediumistische Fähigkeit, bereichert und erhöht durch den Willen zur
Wahl und erst nach vollzogener Wahl sich hinzugeben.



21


Ich fürchte aber bisweilen, daß die Blüte dieser Entwicklung vorüber
ist. Meine Zeichen sind: ich sehe Trunkenheit und Schwelgerei, wo früher
Flamme war; Schwung und Impuls ist der modischen Übung gewichen,
Gewöhnung dem Bedürfnis. Bevor ihnen geschenkt wird, erheben sie bereits
die Prätension; sie diktieren Werturteile aus Geschmäcklerstimmung,
baden sich in einer schwülen Fülle, und das Ungewöhnlichste ist gerade
noch gut genug zu Schmuck und Kitzel.

Die Leidenschaft des Empfangens ist durch zwei oder drei Generationen
hindurch befriedigt worden, nun sind die Sinne ermüdet und gehorchen nur
dem schärfsten Reiz. Die Folge davon ist, daß allenthalben ein
mißleiteter und unkeuscher Hang zur Selbstproduktion hervortritt. Jede
arrivierte jüdische Familie stellt heute in die Reihen der Jugend einen
ihrer Angehörigen als Schriftsteller, Maler, Komponisten oder
Dirigenten, was ein wahres Ärgernis ist.

Sie wollen nicht mehr Schale sein, sie wollen Quelle sein. Bedenkt aber,
wenn die Schale Quelle sein will, werden die Lippen verschmachten, die
durstig daran hängen.

Ärgernis ist es darum, weil es Flucht vor menschlicher Verpflichtung und
Beschönigung instinktmäßig gespürter Lebensuntüchtigkeit bezeichnet.
Doch es ist Schlimmeres: Raubbau am Kräftevorrat. Die mütterlichen, das
ist nährenden Elemente weichen den infantilen, das ist zehrenden, ein
Symptom, das den Beobachter nicht bloß im Leben der Juden erschreckt,
sondern das wieder im Zusammenhang steht mit der Krankheit der Epoche
überhaupt, der Schrumpfung des Herzens und Hypertrophie des Intellekts.
In welchem Maß das Judentum daran Teil hat, in welchem Grad es daran
mitschuldig ist, bildet seit langem den Gegenstand meines peinvollsten
Nachdenkens.



22


Es gibt Begegnungen, die zunächst unscheinbar und singulär sind, die
aber in der Erinnerung wachsen, und von denen eine Magie der Deutung
ausgeht.

Ich entsinne mich einer Nacht in einem Hamburger Kaffeehaus, vor acht
oder neun Jahren. Ein junger russischer Jude nimmt an meinem Tische
Platz, und nach kurzer Weile sind wir im Gespräch. Sein Vater ist im
Gefängnis gestorben, seine Brüder sind in Sibirien, seine Schwester ist
bei einem Pogrom ermordet worden. Er selbst ist arm, heimatlos und
flüchtig. Gefällt es der Polizei, so kann er morgen verhaftet und
ausgeliefert werden. In dieser Hinsicht waren damals die deutschen
Behörden sehr dienstfertig gegen Rußland.

Er hat eine ungemein kühle Art zu berichten. Sein Gesicht ist weiß, kaum
bewegt, seine Stirn schmal und hoch, die Augen von stumpfer Schwärze mit
sorgfältig verhaltenem Feuer. Ein mönchisches Gesicht. Er beherrscht die
Rede, jeder Satz hat Schliff, er äußert auch das Beiläufige wie jemand,
der zu seiner Sache, die zu verschweigen ihm obliegt, unerschütterlich
entschlossen ist. Deshalb nimmt er auch jeden Widerspruch mit einem halb
zerstreuten, halb verwunderten Lächeln auf. Es ist ein diplomatisches
Verfahren, voller Vorsicht und voller Hintergrund, doch mit stetem,
tiefem, beharrlichem Eingedenken. Alle Leidenschaft ist erstickt; an
ihre Stelle ist ein eisiger, in seiner Eisigkeit versengender Fanatismus
getreten. Und so, als Fanatiker, mit Bewußtsein, Unerbittlichkeit, Kälte
und Glut bedient er sich der Doktrin, die ihn stützt und rechtfertigt.
Ich erstaune über dreierlei: seinen Scharfsinn, sein Wissen, seine
Heiterkeit. Obwohl er mir wurzellos erscheint, dermaßen aufgegeben, wie
nur einer, der selbst Welt und Menschheit aufgibt, fühle ich doch mit
jeder Sekunde gewisser: da ist der Explosivstoff, da ist der Mensch der
Katastrophe.

Sein Erlebnis: ungeheuer, das individuelle wie das symbolische; seine
Weise, es zu nehmen, zu sublimieren und es zum geistigen Motor zu
machen: ungeheuer. Der Zeiten Schande wird entschleiert, wie es bei
Shakespeare heißt, die Gerechtigkeit senkt ihr Haupt. Desungeachtet,
warum verwandelt sich mir das strenge Männerantlitz zur medusischen
Fratze? Ist es die furchtbare Anmaßung, daß sich der einzelne zum
Richter ernennt über die gesamte Menschheit? Sicherlich etwas von dem.
Es wäre nah gelegen, daß ich das uralte Aug um Aug, Zahn um Zahn aus
seinem Wesen gehört hätte. Ich hätte es lieber gehört; es hätte auf
Raserei schließen lassen, Stürme des Bluts. Hätte ich ihn resigniert
gewünscht, human empfindsam, philosophisch wägend? Mit nichten.

Die schneidende Logik und das wissenschaftliche Fundament des
Vernichtungswillens rissen die Kluft zwischen mir und ihm auf. Er war
nicht nur gesonnen, die Vergeltung dem Schicksal zu entwinden, sondern
er schleuderte der Gesellschaft die Absage auch im Namen derer zu, die
noch unerweckt über ihrem Leid brüteten, ja im Namen derer sogar, die
vom Leiden noch gar nicht getroffen waren. Damit warf er sich auch über
diese zum Richter auf.

Es geht gegen die göttliche Idee, wenn der einzelne Mensch in dem
Verhältnis zwischen Schuld und Sühne den Entscheidungsanspruch erhebt.
Mit diesem Glauben stehe und falle ich. Mag er toben, mag er alles um
sich her zerstören, mag er mit der Brandfackel in der Faust zum
verfluchten Dämon werden; mit seiner Leidenschaft und durch sie
unterwirft er sich doch der göttlichen Idee, so scheint es mir, denn er
bleibt im Ring der Menschheit. Wenn er aber mit dem selbstverliehenen
Rechtstitel auftritt und die mit den Gewichten von Jahrhunderten
beladenen Wagschalen in ihrem unendlichen Schwanken zwischen Himmel und
Hölle kraft seines als souverän verklärten Geistes aufhalten und
korrigieren will, so ist er nur der Feind des Menschengeschlechts und
der, den Gott verstoßen hat.

Will er das sein? Nimmt er es auf sich? Ich denke, er schreckt nicht
davor zurück. Er hat alle Konsequenzen von vornherein gezogen. Dazu hat
er ja seine Logik und sein Wissen.

Warum ist gerade aus dem altehrwürdigen, in heiligen Traditionen
ruhenden Judentum der politische Radikalismus erwachsen? War der
zermalmende Druck die Ursache? Ist die Spannung zwischen Sehnsucht und
Erfüllung unerträglich geworden, so daß die Dämme brachen? War es die
These nur, die die Antithese erzeugte? War der Kulturaufstieg gewisser
Gruppen zu jäh und hat ihnen den Boden unter den Füßen entzogen? Ist es
Herrschgier? Ist es Sklavenaufstand? Ist es Aposteltum und Märtyrertrieb
oder herostratisches Gelüst?

Fragen über Fragen, die zu beantworten ich außerstande bin.

Erscheinungen von solcher Hochzucht und dynamischen Gewalt, wie ich eine
dort in Hamburg kennenlernte, sind natürlich selten. Aber die Seltenheit
mindert nicht nur nicht die Gefahr, sie erhöht sie im Gegenteil. Es sind
späneanziehende Magneten von unwiderstehlicher Wirkung. Ihnen wohnt eine
Kraft der Übertragung inne, der Entflammung, der Zerrüttung und
Zersetzung, der Manifestierung, der Willensbrechung Schwächerer, der
Gefolgsaufbietung, daß ihnen Widerstand nur der zu leisten vermag, der
mit seinen Wurzeln fest in der Erde verklammert ist.

Es fallen ihnen mühelos zu: die Unzufriedenen; die Leugner; die
Entsäfteten und Morschen; die Übersättigten; die Enttäuschten; die
geborenen Verräter und die aus dem Verrat Nutzen ziehen; die Gottlosen
und die Gottsucher; die am Wort hängen und ans Wort glauben; die
dilettantischen Weltverbesserer; die Abenteurer; die Gelegenheitsmacher;
die Piraten des öffentlichen Lebens, der Politik und der Literatur;
alle, die ihr Leben mit wesenloser Opposition hinbringen – Legionen. Es
fallen ihnen die in der Armut Verkommenen ebenso zu wie die aus
miasmischem Luxus Flüchtenden, die Jugend, die ohne Idee ist, ohne
Stern, aber mit irren, zuckenden Herzen – Legionen. Sie alle waren
vielleicht einmal ein Ausdruck der Schöpfung; jetzt wird aus jedem eine
lebendige Phrase.

Der Prozeß ist so: um zu herrschen, braucht der Geist die Gesinnung.
Gesinnung aber tilgt den Sinn, zerschlägt das Bild, entfleischt die
Gestalt, daß sie zum Skelett wird, zum Phantom. Wer Gesinnung hat, sieht
nicht mehr die Gestalt und löst sich los von Sein und Werden.

Der Geist gebiert die Phrase. Wodurch ist die Menschheit dahin gelangt,
wo sie ist, als durch die Phrase? Die Phrase gleicht der entzündeten
Zelle, die sich weiter frißt und endlich als Krebsgeschwür den Körper
zerstört. Sie bläht sich und bläht sich und frißt und frißt und
verfinstert die Erde und den Luftraum.



23


Diese Umstände, in Verflechtung mit den früher berührten, haben die
Feuersbrunst des Hasses hervorgerufen und geschürt, deren Schauplatz zur
gegenwärtigen Stunde Deutschland ist.

Nicht überraschend für den, der auf den Kompaß zu blicken gewohnt war
und bisweilen die Leute am Steuer von Angesicht zu Angesicht sah. Nicht
überraschend für mich.

Wer eine Geschichte des Antisemitismus schriebe, würde zugleich ein
wichtiges Stück deutscher Kulturgeschichte geben.

Es wäre interessant, den lockenden Köder zu untersuchen, der hier und da
aus ministeriellen Kabinetten und junkerlichen Meinungsbrauereien auf
die Straße flog, und auf den der hungrige Michel wahllos und gierig
anbiß.

Es wäre interessant, die vielfältigen und in ihren Folgen
verhängnisvollen antisemitischen Machenschaften aufzudecken, mit denen
in den siebziger und achtziger Jahren die eingeschworenen Wagnerianer in
einem seltsamen Zustand von Bezauberung und geheimnisvoller Unruhe die
deutsche Welt über das Mißverhältnis zwischen Wagner, dem expressiven
Deutschen, und Wagner, dem Musiker, hinwegzutäuschen wußten; denn dort
war die Zentralhexenküche.

Es ist nicht meines Amtes.

Leider steht es so, daß der Jude heute vogelfrei ist. Wenn auch nicht im
juristischen Sinn, so doch im Gefühl des Volkes.

Leider steht es so, daß man den beauftragten wie den freiwilligen
Hetzern einen Grund nicht absprechen kann. Bei allem Bildersturm, allem
Paroxysmus oder sozialen Forderung waren Juden, sind Juden in der
vordersten Linie. Wo das Unbedingte verlangt, wo reiner Tisch gemacht
wurde, wo der staatliche Erneuerungsgedanke mit frenetischem Ernst in
Tat umgesetzt werden sollte, waren Juden, sind Juden die Führer.

Juden sind die Jakobiner der Epoche.

Wäre irgend Billigkeit zu erwarten, so müßte freilich zugestanden
werden, daß diese Juden fast ohne Ausnahme von ehrlicher Überzeugung
beseelt waren, Idealisten, Utopisten, Heilbringer, als welche sie sich
in der Welt empfanden; so müßte zugestanden werden, daß in ihrem Tun
eine vielleicht unsinnige und schuldvolle, vielleicht aber auch weit in
die Zukunft deutende Folgerichtigkeit liegt: die Überpflanzung der vom
Judentum empfangenen Messiasidee aus dem Religiösen ins Soziale. So
müßte ferner zugestanden werden, daß bei genauer Prüfung, wer aus der
Verwirrung Vorteil gezogen, wer sein Schäfchen dabei ins Trockne
gebracht, wer in die Flamme geblasen, solange es unbemerkt und
ungefährdet geschehen konnte und sich zu bergen wußte, als die gute alte
Polizei sich ins Mittel legte, keinesfalls sie die Belasteten wären.
Zugestanden müßte werden, daß sie die Kastanien aus dem Feuer geholt
haben, und, da die Kastanien verbrannt sind, wie es den Anschein hat,
man ihnen dafür die Hände abzuhacken beschließt.

Zugestanden müßte auch werden, daß Juden ebenso die Bewahrer und Hüter
der Tradition sind, Kundige und Diener des Gesetzes.

Aber Billigkeit ist nicht zu erwarten. Auf Billigkeit ist es auch nicht
abgesehen. Auf den Haß ist es abgesehen, und der Haß lodert weiter. Er
macht keinen Unterschied der Person und der Leistung, er fragt nicht
nach Sinn und Ziel. Er ist sich selber Sinn und Ziel.

Es ist der deutsche Haß.

Ein vornehmer Däne sagte zu mir: Was wollen eigentlich die Deutschen mit
ihrem Judenhaß? In meinem Vaterland liebt man die Juden fast allgemein.
Man weiß von ihnen, daß sie die verläßlichsten Patrioten sind; man
weiß, daß sie ein ehrenhaftes Privatleben führen; man achtet sie als
eine Art Aristokratie. Was wollen die Deutschen?

Ich hätte ihm antworten müssen: den Haß.

Ich hätte ihm antworten müssen: sie wollen einen Sündenbock. Immer, wenn
es ihnen schlecht ergangen, nach jeder Niederlage, in jeder Klemme, in
jeder heiklen Situation machen sie die Juden für ihre Verlegenheit
verantwortlich. So ist es seit Jahrhunderten. Drohende Erbitterung der
Massen wurde stets in diesen bequemen Kanal geleitet, und schon die
Kurfürsten und Erzbischöfe am Rhein hatten, wenn ihre Waffengänge
mißlungen und ihre Schatzkammern geleert waren, eine sicher
funktionierende Regie in der Veranstaltung von Judenmetzeleien.

Ich antwortete aber: Ein Nichtdeutscher kann sich unmöglich eine
Vorstellung davon machen, in welcher herzbeengenden Lage ein deutscher
Jude ist. Deutscher Jude; nehmen Sie die beiden Worte mit vollem
Nachdruck. Nehmen Sie sie als die letzte Entfaltung eines langwierigen
Entwicklungsganges. Mit seiner Doppelliebe und seinem Kampf nach zwei
Fronten ist er hart an den Schlund der Verzweiflung gedrängt. Der
Deutsche und der Jude: ich habe einmal ein Gleichnis geträumt, ich weiß
aber nicht, ob es verständlich ist. Ich legte die Tafeln zweier Spiegel
widereinander, und es war mir zumute, als müßten die in beiden Spiegeln
enthaltenen und bewahrten Menschenbilder einander zerfleischen.

Der Däne erwiderte einfach: Ich glaube, die Deutschen haben zu wenig
Liberalität, wenigstens seit der Gründung des Reiches.

Es ist wahrscheinlich so, aber es ist auch das Geringste, was man
darüber sagen kann. Es fehlt auch an Phantasie, an Freiheit und an Güte.
Ein wesentlicher Defekt muß da sein, wenn ein Volk so leichterdings, so
gewohnheitsmäßig, so skrupellos, keine Berufung hörend, keiner redlichen
Auseinandersetzung zugänglich, keiner großmütigen Regung in diesem
Punkt fähig, ein Volk, das unablässig von sich selbst verkündet, in
Bildung, Kunst, Forschung und Idealismus an der Tete der Völker zu
marschieren, dauernd solche Unbill übt, solchen Hader sät, solch
berghohen Haß häuft.

Ich versuche, mein Gleichnis von den Spiegeln zu deuten.

Daß eine Schicksals- und Charakterähnlichkeit vorhanden ist, leuchtet ein.
Hier wie dort jahrhundertelange Zerstückelung und Mittelpunktslosigkeit.
Fremdgewalt und messianische Hoffnung auf Sieg über alle Feinde und auf
Einigung. Es wurde zu dem Behuf sogar ein deutscher Spezialgott
erfunden, der, wie der jüdische Gott in den Gebeten, in allen
patriotischen Hymnen figurierte. Hier wie dort Mißkennung von außen,
Übelwollen, Eifersucht und Argwohn, heterogene Formungen innerhalb der
Nation hier wie dort, Zwietracht der Stämme. Unvereinbare Gegensätze
individueller Wesenszüge: praktische Regsamkeit und Träumerei; Gabe der
Spekulation im niedern und im hohen Sinn; Spartrieb, Sammeltrieb,
Handelstrieb, Bildungstrieb und Trieb zu erkennen und dem Gedanken zu
dienen. Überfülle der Formeln und Mangel an Form. Ein seelisches Leben
ohne Bindungen, das unversehens zur Hybris führt, zu Hoffart und
unbelehrbarem Starrsinn. Hier wie dort schließlich das Dogma der
Auserwähltheit.

Die Berührungen haben Schürfungen erzeugt, die Schürfungen blutende,
eiternde Wunden. Im schwächeren Körper unheilbare Wunden.

Was werfen die Deutschen den Juden vor? Sie sagen: ihr vergiftet unsere
reine Atmosphäre. Ihr verführt unsere unschuldige Jugend zu euern
Taktiken und Praktiken. Ihr tragt in unsere germanisch-strahlende
Weltanschauung euer trübes Grübeln, eure Verneinung, eure Zweifel, eure
asiatische Sinnlichkeit. Ihr wollt unsern Geist in Fesseln schlagen und
das arische Prinzip von der Erde vertilgen.

Darauf habe ich mit allem Vorhergehenden geantwortet, und wer dann jene
Anschuldigungen noch aufrechterhält, dem wäre auch nicht gedient, wenn
ich mit Engelszungen redete.

Andere sagen: ihr verderbt uns das Geschäft. Diese sind aufrichtig. Die
Deutschen mögen sich erinnern, wie sie beim Beginn des Krieges,
knirschend über die Heuchelei, die Ausbrüche sittlicher Entrüstung, die
die Engländer vorbrachten, über sich ergehen lassen mußten. Wenn ihnen
aber irgendein Engländer zurief: ihr verderbt uns das Geschäft, so
begriffen sie das, obgleich der Vorwurf, gegen ein ganzes Volk
gerichtet, um einen Krieg zu sanktionieren, sinnlos und unmenschlich
ist.

Ein junger Freund erzählte mir folgende Geschichte: Er war in Polen im
Haus eines armen Juden einquartiert, der drei Söhne hatte, einen elf-,
einen dreizehn-, einen fünfzehnjährigen. Einmal ließ er sich mit ihnen
in ein Gespräch ein, und er fragte einen jeden, was er werden wolle. Der
Elfjährige sagte voll Eifer: Ich will was Großes werden; ein Millionär.
Der zweite antwortete ernst: Ich will ein Jude werden. Der dritte, der
finster abseits stand und die Frage mehrmals geflissentlich überhörte,
sagte endlich zu dem Bedränger: Erde will ich werden wie du.

Hier sind drei Kategorien jüdischer Menschheit in drei Repliken
zusammengefaßt. Das Sonderbare und Schmerzliche ist, daß die Deutschen
stets und von jeher nur die eine, die erste sehen, nur von ihr reden,
nur gegen sie ihre Wut richten, was auch sonst die Vorwände und
Verschleierungen sein mögen.

Sie lieben es, auf das Christentum hinzuweisen, als ob das Christentum
wäre und mit Christentum zu entschuldigen, was sie wider alle humane
Gepflogenheit tun. Rassentheorien, philosophische Systeme sogar, den
Nachweis schließlich, den ein Ekstatiker des Hasses geführt hat, daß
Christus von nichtsemitischer Abkunft sei, das alles lasse ich mir
gefallen, damit kann man Oberflächliche blenden und den Janhagel
betören. Aber das Christentum scheint mir in keiner Weise dazu geeignet.
Sind es doch gerade die edlen Juden heute, die Allerstillsten freilich
da und dort im Lande, in denen die christliche Idee und christliche Art
in kristallener Reinheit ausgeprägt ist, ein Verwandlungsphänomen
freilich, das in die Zukunft deutet.



24


Bei der Erkenntnis der Aussichtslosigkeit der Bemühung wird die
Bitterkeit in der Brust zum tödlichen Krampf.

Es ist vergeblich, das Volk der Dichter und Denker im Namen seiner
Dichter und Denker zu beschwören. Jedes Vorurteil, das man abgetan
glaubt, bringt, wie Aas die Würmer, tausend neue zutage.

Es ist vergeblich, die rechte Wange hinzuhalten, wenn die linke
geschlagen worden ist. Es macht sie nicht im mindesten bedenklich, es
rührt sie nicht, es entwaffnet sie nicht: sie schlagen auch die rechte.

Es ist vergeblich, in das tobsüchtige Geschrei Worte der Vernunft zu
werfen. Sie sagen: was, er wagt es aufzumucken? Stopft ihm das Maul.

Es ist vergeblich, beispielschaffend zu wirken. Sie sagen: wir wissen
nichts, wir haben nichts gesehen, wir haben nichts gehört.

Es ist vergeblich, die Verborgenheit zu suchen. Sie sagen: der Feigling,
er verkriecht sich, sein schlechtes Gewissen treibt ihn dazu.

Es ist vergeblich, unter sie zu gehen und ihnen die Hand zu bieten. Sie
sagen: was nimmt er sich heraus mit seiner jüdischen Aufdringlichkeit?

Es ist vergeblich, ihnen Treue zu halten, sei es als Mitkämpfer, sei es
als Mitbürger. Sie sagen: er ist der Proteus, er kann eben alles.

Es ist vergeblich, ihnen zu helfen, Sklavenketten von den Gliedern zu
streifen. Sie sagen: er wird seinen Profit schon dabei gemacht haben.

Es ist vergeblich, das Gift zu entgiften. Sie brauen frisches.

Es ist vergeblich, für sie zu leben und für sie zu sterben. Sie sagen:
er ist ein Jude.

In den verzweifelten Tagen meiner Münchener Not hatte ich die
wunderliche Gewohnheit, jeden Morgen zum Kirchhof zu wandern und die in
der Leichenkammer zur Schau gestellten Toten zu betrachten. Ich wurde
ihres Anblicks nicht müde. Die wächsernen Stirnen, Augen und Lippen
sprachen zu mir; es kam mir vor, als seien es im Grunde lauter
Gemordete, irgendwie durch Mißverständnis und überflüssige Leiden
Gemordete. Sie erwachten mir bisweilen mysteriös und drängten sich in
meine Träume. Wenn ich nicht mehr aus noch ein wußte, trieb mich die
Sinnesverwirrung und -verfinsterung zu ihnen, und ich klagte die
Lebendigen bei ihnen an.

So ist mir auch heute oft. Es ist mir, als wäre nur bei den Toten
Gerechtigkeit zu finden gegen die Lebenden. Denn was diese tun, ist ganz
und gar unerträglich.



25


Übrigens enthält dieses »die Deutschen« in seiner Wiederholung und
Fixierung eine Absurdität. Ich kenne deutsches Leben genug, um zu
wissen, was an der Oberfläche liegt und was in der Tiefe; was auf der
Straße vorgeht und was im verschwiegenen Innern des eigentlichen Volks.
Ich kenne vor allem Deutsche genug, um nicht in Zweifel zu sein, wogegen
die Mißbilligung und der heimliche Ekel der Besten unter ihnen sich
kehrt. Freunde und Weggenossen weiß ich da und dort; stolze Einsame;
Tapfere, die gegen den Strom schwimmen; Künstler, Gelehrte,
Aristokraten, Kaufleute; solche, mit denen mich gleiches Ziel und
gleiches Wollen verbindet und solche, die mir einfach Liebe schenken;
Unbekannte dann, die mich bisweilen grüßen, und auf die ich dennoch
zählen kann; und weit, an der Peripherie des Kreises, viele, von denen
ich nur, wie durch elektrische Wellen, den Ernst ihres Blicks und
Wesens, die Beharrlichkeit in fruchtbringender Arbeit, die
unzerstörbare Wirkung weiser und großer Gedanken, leuchtender und tiefer
Werke spüre.

Diese sind mir »die Deutschen«. Es sind die Deutschen, zu denen ich mich
rechne, und zu denen ich mich stelle.

Sie wissen es ihrerseits, und sie halten es für natürlich und
selbstverständlich. Aber wenn ich mit meiner Qual, mit meiner
Bitterkeit, mit meinem unentwirrbaren Problem, mit Hinweis, Frage, Sorge
zu einem von ihnen komme, ich supponiere zum Edelsten, Bewährtesten, so
faßt er doch nicht die ganze Tragweite des Unglücks und verschlimmert
meine Ratlosigkeit nur durch Argumente, die kein Gewicht mehr für mich
haben. Er meint mich trösten zu können, wenn er von der Ebbe- und
Flutbewegung geistiger Seuchen spricht; er übersieht, daß ich mich
darin, gerade darin als Arzt betrachte und die Erfolglosigkeit meiner
Bemühung einer Unzulänglichkeit in mir zuschreiben muß. Er meint, daß
die Wut der Lärmmacher und Schaumschläger nicht beweisgültig sei für die
Gemütsverfassung und sittliche Richtung der Nation; er übersieht aber
die Zahl der Opfer; er übersieht die Beredsamkeit von furchtbaren
Tatsachen; und er übersieht, daß es müßig ist, wenn ich mich als
Gefangener in einem Raum voll Kohlenoxydgas befinde, mich damit zu
beruhigen, daß morgen die Fenster geöffnet werden. Endlich fehlt ihm,
sogar ihm, das Verständnis dafür, daß ich in allerletzter Linie mehr für
die Deutschen als für die Juden leide.

Leidet man nicht immer am meisten dort, wo man am tiefsten liebt, wenn
auch am vergeblichsten?

Und er fragt wohl, durchdrungen von der Notwendigkeit der Wandlung,
dennoch zaghaft: Was soll geschehen? Was soll Deutschland tun?

Ich vermag es nicht, ihm zu antworten, denn die Antwort liegt zu nahe,
und ich schäme mich für ihn.

Wenn ich einen Fuhrmann sehe, der sein abgetriebenes Roß mit der
Peitsche dermaßen mißhandelt, daß die Adern des Tieres springen und die
Nerven zittern, und es fragt mich einer von den untätig, obschon
mitleidig Herumstehenden: was soll geschehen? so sage ich ihm: reißt dem
Wüterich vor allem die Peitsche aus der Hand.

Erwidert mir dann einer: der Gaul ist störrisch, der Gaul ist tückisch,
der Gaul will bloß die Aufmerksamkeit auf sich lenken, es ist ein
gutgenährter Gaul, und der Wagen ist mit Stroh beladen, so sage ich ihm:
das können wir nachher untersuchen; vor allem reißt dem Wüterich die
Peitsche aus der Hand.

Mehr kann Deutschland nach meiner Ansicht gewiß nicht tun. Aber es wäre
viel. Es wäre genug.



26


Was sollen aber die Juden tun? Diese Frage ist schwieriger zu
beantworten. Das Thema in seiner Unerschöpflichkeit spottet jeder
Bemühung.

Opfer sind nicht zureichend. Werbung wird mißdeutet. Vermittlung stößt
auf Kälte, wenn nicht auf Hohn. Überläufertum verbietet sich dem, der
sich achtet, von selbst. Anpassung in Heimlichkeit führt zu einem
Ergebnis nur für die, die zur Anpassung geeignet sind, also für die
schwächsten Individuen. Beharrung in alter Form bedingt Erstarrung.

Was bleibt? Selbstvernichtung? Ein Leben in Dämmerung, Beklommenheit und
Unfreude, zu schleppen nur für jene, die es auf pure Existenz und deren
äußerliche Verbrämungen abgesehen haben, unfaßlich für die Erleuchteten
oder Seelenhaften, die nur zu wählen haben zwischen grenzenloser
Einsamkeit und aussichtslosem Kampf –?

Es ist besser, nicht daran zu denken.

Vielleicht aber gibt es doch eine Zukunft. Vielleicht gibt es eine
Möglichkeit zu hoffen. Vielleicht gibt es einen Retter, Mensch oder
Geist, hüben oder drüben, oder auf der Brücke dazwischen. Vielleicht hat
er seine Wegbereiter schon vorausgesandt. Vielleicht darf ich mich als
einen von ihnen betrachten.

Ich stehe, am Abstieg des fünften Jahrzehnts meines Lebens, in einem
Ring von Gestalten, und sie wollen mich versichern, daß das Getane nicht
umsonst getan sei. Ich bin Deutscher, und ich bin Jude, eines so sehr
und so völlig wie das andere, keines ist vom anderen zu lösen. Ich
spüre, daß dies in gewissem Sinn, wahrscheinlich durch das vollkommene
Bewußtsein davon und die vollkommene Durchdringung mit den Elementen
beider Sphären, orientalischer und abendländischer, ahnenhafter und
wahlhafter, blutmäßiger und durch die Erde bedingter, ein neuer Vorgang
ist. Dieses Neue hat mich in früherer Zeit oft beunruhigt, wohl deshalb,
weil ich es nicht zu erkennen vermochte. Es ging ja nicht vom Willen
aus; es ging vom Sein und Werden aus. Beunruhigend auch deshalb, weil
beständig hüben und drüben Arme zu halten, zu wehren, Stimmen zu rufen,
zu warnen da waren. Ich bin kein Mensch der steten Rechenschaftsablegung.
Obgleich den einzelnen Menschen um mich her zu jeder Zeit verhaftet, ja
ihnen verfallen, kann ich doch nur treiben, wozu es mich treibt. Und da
ich allmählich vertrauen gelernt habe, daß es das Rechte war, wozu es
mich trieb, ist auch einige Ruhe in mich eingekehrt.

In dem Bereich, in dem ich wirke, hängt alles davon ab, ob man die
Menschen eröffnen, ergreifen und erhöhen kann. Nicht als ob ich selbst
auf einer Höhe stünde, um nach Götterweise die Verlorenen
heraufzuziehen. So ist es nicht. Der Eröffner und Ergreifer wird
miterhöht um der Liebe willen. Daher glaube ich, daß im Abstand von den
niedrigen Dingen das Geschwätz und der Geifer des Hasses und Unrechts
ohnmächtig werden und die Missetaten sogar, die sie begehen, ihre Sühne
finden.



Werke von Jakob Wassermann


Die Juden von Zirndorf
Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Zwanzigste Auflage.

Die Geschichte der jungen Renate Fuchs
Roman. Dreiundzwanzigste Auflage.

Der Moloch
Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Zehnte Auflage.

Alexander in Babylon
Roman. Neubearbeitete Ausgabe. Achte Auflage.

Die Schwestern
Drei Novellen. Sechste Auflage.

Die Masken Erwin Reiners
Roman. Fünfzehnte Auflage.

Der goldene Spiegel
Erzählungen in einem Rahmen. Siebzehnte Auflage.

Faustina
Ein Gespräch über die Liebe. Dritte Auflage.

Die ungleichen Schalen
Fünf einaktige Dramen.

Der Mann von vierzig Jahren
Roman. Vierzehnte Auflage.

Das Gänsemännchen
Roman. Sechsundsechzigste Auflage.

Deutsche Charaktere und Begebenheiten
Mit elf Abbildungen nach zeitgenössischen Originalen
Vierte Auflage.

Christian Wahnschaffe
Roman in zwei Bänden. Vierunddreißigste Auflage.

Der niegeküßte Mund
Erzählungen. Dreiundsechzigste Auflage.

Der Wendekreis
Novellen. Neunzehnte Auflage.



Die Masken Erwin Reiners

Dieser Roman wird einmal in der Entwicklungsgeschichte der modernen
Literatur eine wichtige Rolle spielen. Man wird ihn als einen alles
Wesentliche zusammenfassenden und reflektierenden Spiegel des zügellosen
Individualitätsstrebens betrachten, das doch das entscheidende Merkmal
unserer modernen Romanliteratur bleibt, von ihm zugleich aber eine
Wendung zum realen Leben datieren. Es sind einige Kapitel in dem Roman,
die wie das Morgenrot einer neuen Klassik anmuten.
                                               (Westermanns Monatshefte)


Das Gänsemännchen

In diesem tiefen Buche hat Wassermann nach seinem »Caspar Hauser« sein
Größtes gegeben; ein Werk menschlicher und künstlerischer Reife, voll
unheimlicher Abgründe und lichter Höhen; Höllenfahrt und Himmelfahrt,
Dämonen und Engel haben ihr Wesen darin; ekles Gewürm und strahlende
Schönheit. Zum Schlusse steigt das Ganze wunderbar auf wie ein gotischer
Dom; eins und groß, einheitlich in der scheinbaren Launenhaftigkeit und
Krausheit des Bildwerkes.
                                                       (Der Tag, Berlin)


Christian Wahnschaffe

Dies Werk ist groß in Vorwurf und Ziel, vollendet und bezwingend im
Rausch seiner Farben und Gefühle. In ihm vollzieht sich der Übertritt
des großen Romanciers zum Lebensbekenntnis der neuen Generation. Unsere
Wirklichkeit ist im »Christian Wahnschaffe« eingefangen und zu deuten
versucht. Der letzte Taumeltanz einer untergehenden Welt schwillt
unerschöpflich auf und verebbt. – Es sind zeitlose Sätze darin von
tiefer und langer Gültigkeit.
                                                (B.Z. am Mittag, Berlin)


Der Wendekreis

Wassermann tastet nach den letzten verborgenen Seelenkräften, nach der
unentdeckten Magie. Starre Menschen, schwer wie uralte Eichentore, und
eine unerhörte Lebensfülle, das ist der Gehalt dieses neuen
Novellenbuches. Ein #Theatrum mundi# tut sich in den sechs Novellen auf,
so bunt, so tief, so bewegt, wie es nur höchst selten von einer Bühne
sich offenbart.
                                                   (Leipziger Tageblatt)


Buchdruckerei Julius Klinkhardt in Leipzig.



[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
Grundlage der 1921 bei S. Fischer, Berlin erschienenen Erstausgabe
erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller
gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen.

p 075: Komma hinzugefügt: Markterfolg, literarische Geltung
p 082: Trennung: ihr ge-geheimes -> geheimes

Folgende Eigenheiten des Textes wurden beibehalten:

p 076: wie von etwas sehr Geheimnisvollen (Geheimnisvollem?)
p 086: Trotz des Zurückgewiesen (Zurückgewiesenen?)

Das Originalbuch war in Frakturschrift gedruckt. Textauszeichnungen
wurden folgendermaßen ersezt:

Sperrung:       _gesperrter Text_
Fettdruck:      =fett gedruckter Text=
Antiquaschrift: #Antiquatext# ]



[Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from the first print
edition, published in 1921 by S. Fischer, Berlin. The table below lists
all corrections applied to the original text.

p 075: added comma: Markterfolg, literarische Geltung
p 082: hyphenation: ihr ge-geheimes -> geheimes

The following peculiar spellings have been kept:

p 076: wie von etwas sehr Geheimnisvollen (Geheimnisvollem?)
p 086: Trotz des Zurückgewiesen (Zurückgewiesenen?)

The original book is printed in Fraktur font. Marked-up text has been
replaced by:

Spaced-out: _spaced out text_
Boldface:   =bold face text=
Antiqua:    #text in Antiqua font# ]





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