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Title: Schläfst du Mutter?, Ruth - Novellen
Author: Wassermann, Jakob, 1873-1934
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Schläfst du Mutter?, Ruth - Novellen" ***


produced from scanned images of public domain material


                    Kleine Bibliothek Langen Bd. I


                           Jakob Wassermann


                          Schläfst du Mutter?
                                 Ruth

                               Novellen


                    [Illustration: Verlagslogo AL]


                        Paris, Leipzig, München
                      _Verlag von Albert Langen_
                                 1897



                                Inhalt.

                                                Seite
                 Schläfst du, Mutter?               9
                 Ruth                              83



                          Schläfst du Mutter?

                            [Illustration]

                                  I.


    Peter Vogelsang
    Geht auf den Grillenfang,
    Hat eine lange Nase
    Und Ohren wie ein Hase ...

Ich lasse sie schreien, die Knirpse, dachte Peter und schritt würdevoll
seine Straße fürbaß. Das Spottgedicht stammte vom Herrn Lehrer selbst,
aber Peter war fest überzeugt davon, daß ihn diese »Kinderei«
gleichgültig lasse. Wenn er in den Zwischenpausen träumerisch, fast
tiefsinnig im Schulhof stand, hinten am Zaun, wo man auf den Fluß
hinabsehen konnte, der so ruhig und so klar vorbeiströmte, oder wenn er
abseits von dem Knäuel der Aufgeregten mit nachdenklich verschränkten
Armen dastand, mußte ihn oft die spöttische Mahnung des Lehrers aus
seinem Sinnen wecken. Aber Peter lächelte nur, und dieses Lächeln war
nicht ohne eine gewisse Geringschätzung; denn er war bei seinen neun
Jahren schon ein beachtenswerter Philosoph, der über den lieben Gott
bereits sein ganz bestimmtes Urteil hatte.

Es war ein Mittwoch-Nachmittag und er ging spazieren. Er trug einen
dünnen Spazierstock aus Weichselrohr, – die Mutter hatte ihn gestern
erst gekauft, – und damit hieb er fortwährend auf die Einfassung des
Trottoirs los, gerade als könne er sich damit von einer Summe innerer
Zweifel befreien. Am Lilienplatz ertönten die Schmiedehämmer und das war
ein heller, fast klagender Laut. Peter blieb stehen, denn diese Töne
fesselten ihn sehr. Klang es nicht, wie wenn die alten und berühmten
Recken mit ihren Schwertern aufeinander loshieben? Wahrlich, wenn man
die Augen schloß, so konnte man glauben, Laurin kämpfe in vollem
Gewaffen mit Dietrich von Bern. Dann sah er noch zu, wie einem Pferd die
Hufeisen erneuert wurden, und so beklommen war sein Herz bei diesem
Schauspiel, daß ihn selbst der arge Gestank des angesengten Hufs nicht
vertreiben konnte. Er staunte nur, daß ein Pferd so schön stille halten
konnte, während man ihm Nägel in die Füße schlug. Er ging weiter, aber
das Staunen über diesen sonderbaren Umstand wollte ihn gar nicht mehr
verlassen. Er dachte: man sollte das einmal bei mir probieren! man
sollte _mir_ einmal Nägel in die Füße schlagen! Erstens würde ich
schreien und dann ... dann würde schon Papa kommen ...

Als er sich der Fischergasse mit ihrem schlechten Pflaster und ihren
kleinen, baufälligen Häusern näherte, dachte er: dies Fürth ist doch
eine häßliche Stadt. Warum hat mich der liebe Gott nicht in einer Stadt
mit schöneren Häusern geboren werden lassen? Schon der Name ist so
häßlich. Es giebt doch so schöne Städte: Babylon oder Bagdad oder
Palmyra ....

Seine kindische Sehnsucht machte seine Schritte größer und hurtiger.
Bald lagen die Wiesen vor ihm.

                            [Illustration]

                            [Illustration]



                                  II.


Lange Zeit verfolgte er die Landstraße, die kahl und schattenlos dalag,
während der weiße Staub sie gleich einer Mehlschicht bedeckte. Am
wolkenlosen Himmel stand die Sonne, und alles Land lag da: leblos,
gleichsam schlaftrunken. Bienen und Hummeln summten vorbei und der
Kohlweißling und das Pfauenauge flatterten umher. Hinter den Hügeln
drüben erhob sich ein Dorfkirchturm einsam in die Luft, lang und schmal
wie eine Lanze. Ein leichter Schleier verhüllte die Fernen, und je
weiter sich der Knabe von der Stadt entfernte, desto stiller, desto
feiertäglicher wurde es in der Runde um ihn. Er hätte immer zuwandern
mögen in diese große Ebene hinaus, die so trügerisch den Schein eines
Unermeßlichen erweckte. Nichts fesselte das Auge hier und stets sah man
die schwere, gleichförmige Linie des Horizonts: aber dies Flachland
birgt Schönheiten, die denen der Nacht verwandt sind.

Peter Vogelsangs Ziel war der Wald. Und während er weitertrippelte,
überließ er sich völlig seinen Träumereien. Wie herrlich wäre es, wenn
er jetzt als Anführer einer Armee die Straße zöge! Natürlich mußte er
dazu schon groß sein und stark, – stärker wie Haushammers Fritz, ja
sogar stärker wie der Vater selbst. Er blieb stehen ..... nein, am Ende
war es doch viel hübscher, Kapitän zu werden, Seeräuber zu werden. Er
legte den Finger an die Nase und sann emsig darüber nach, was wohl
ersprießlicher sein möchte: Feldmarschall zu werden oder Seeräuber?
Wenn er aber bedachte, daß man es vom Feldmarschall gar leicht zum
Kaiser bringen kann? Es war schwer, darüber ins Klare zu kommen. Er
wollte die Bäume an der linken Seite der Straße zählen, bis hinauf zur
Hügelspitze; und wenn eine gerade Zahl herauskam, wollte er Kaiser
werden und wenn eine ungerade herauskam, wollte er Seeräuber werden.
Wenn das Tante Lina wüßte, würde sie natürlich wieder lachen, aber wovon
verstand sie denn eigentlich etwas? Überhaupt, die Mädchen verstehen ja
gar nichts, sagte er finster vor sich hin. Er haßte die Mädchen, und
obwohl Tante Lina schon verheiratet war, rechnete sie Peter doch zu den
Mädchen. Sie redete immer bloß von ihrem Alfredchen und von ihren neuen
Tüllgardinen oder so und vom lieben Gott zum Beispiel verstand sie gar
nichts. Auch hatte sie nicht einmal gewußt, daß die Sonne größer ist,
als die Erde. Das Empörendste war aber, daß sie immer vom Storch
sprach, der die kleinen Kinder bringe. Als ob er das geglaubt hätte,
solche Kindermärchen!

Und er versank in tiefes Grübeln. Eigentlich war er doch noch nicht
fertig mit diesem Storch. Wer sollte einen denn sonst bringen, wenn es
nicht der Storch war? Aber andrerseits, welches Interesse konnte der
Storch daran haben, daß die Menschen Kinder bekämen? Ja, – und dies war
der Hauptpunkt: im Herbst ziehen doch die Störche fort, können also
keine Kinder bringen: er wußte aber ganz genau, daß die Kinder auch dann
auf die Welt kommen, wenn gar keine Störche mehr da sind. Und was ist
dies für ein geheimnißvoller Ort, wo die vielen winzigen Kinderchen
liegen? Ein großer See, von dunklen Wildnissen umspannt; rosenfarbige
Vögel schwimmen darauf umher und am Rand steht himmelhohes Schilf. Und
es giebt keinen Tag und es giebt keine Nacht dort, sondern immer nur
ein seltsames Dämmern und eine Prinzessin liegt im Wald und ist
verzaubert und schläft, bis der Königssohn kommt.

Er betrat den Wald. Schlanke Föhren standen da, soweit man sehen konnte.
Ringsherum war es halbhell; aber wenn man zwischen den Stämmen
durchschaute, wurde es dunkler und immer dunkler, bis sich der Blick in
Nacht verlor. Der Boden war schwellend weich und glatt, denn er war von
Nadeln ganz besät. Ein Specht hackte unaufhörlich, und weit in der Ferne
rief der Kuckuck. Drüben am Grabenrand standen große, schneeweiße Blüten
auf starken Stengeln, und sie schwankten hin und her, wenn ein Luftzug
sie traf.

Hier und dort waren die Stümpfe frisch abgesägter Bäume, und das glatte
Holz leuchtete mit seinem dunklen Gelb weithin durch den Wald. Bald
schlossen sich die Stämme dichter zusammen und jegliches Geräusch
verstummte. Es schien auch, als ob die Bäume höher würden und die
Dämmerung breitete sich aus gleich einem Schleier. Müde schlich Peter
vorwärts. Spinnfäden, die sich von Stamm zu Stamm spannten, legten sich
um seine Wangen, und das Unterholz breitete sich aus wie eine kleine
Wildnis und erschwerte das Gehen. Erschöpft legte sich der Knabe unter
einigen Tannen zur Rast nieder. Wie schlank und stolz erhoben sich die
starken Bäume! Wie weich war dieses Lager trockener Nadeln, wie süß und
still war die Luft und wie voll von Frühlingsträumen war sie! Wie schwer
wurden die Gedanken und wie heimlich zugleich! Wie fern war die Welt,
wie fern der Lehrer mit seinen Schulaufgaben und die dummen Buben alle
mit ihren Neckereien! Wie müd konnte man sein und wie froh zugleich!

Peter wollte sich bald wieder erheben, aber auf seinen Gliedern lastete
es wie Blei. Er sagte sich: ich muß ja nach Hause; ich werde sonst zu
spät zum Abendessen kommen. Doch er hatte nicht einmal die Kraft, den
Kopf zu heben. Es war schön, mit ausgestreckten Gliedern daliegen zu
können wie ein Kaiser und ins dunkelgrüne Nadelwerk zu blicken. Immer zu
phantasieren, so, als ob es keine Menschen gäbe. Wenn er Kaiser wäre,
wie schön würde es auf der Welt sein! Nur dreimal in der Woche würde
Schule abgehalten und dann würde er Stolbergs Wilhelm, der ihn immer
während der Rechenstunde am Nacken kitzelte, von seinen Leibwächtern
durchprügeln lassen. Aber mitten in die herrlichen Gedanken trat wieder
die Sorge um die Heimkehr. Er fühlte es wie einen Druck auf dem Herzen,
ja, es wurde ihm sehr angst, aber dennoch fesselte es ihn wie mit Ketten
an diese weiche, kühle Walderde. Die Mutter glaubte ihn bei Haushammers
Fritz oder bei Tante Lina, und er lag da, fern von der Stadt und ihm war
so gut! Er hatte nun die Empfindung, als sei er aufgesprungen und
wandere heimwärts, aber in Wirklichkeit waren ihm die Lider zugefallen
und er schlief.

Er träumte, daß er ein Pferd sei und man ihm Hufeisen an die Füße
nagelte. Aber siehe, er empfand gar keinen Schmerz und er war sogar
stolz auf diesen neuen glänzenden Schmuck.

Dann träumte er, er sei gestorben. Er wurde in einen Sarg gelegt und
wurde begraben. Aber als er drunten lag im Grab, da fand er, daß er noch
nicht ganz gestorben sei, und er wachte wieder auf. Er krabbelte aus dem
Loch heraus und, angethan mit einem großen weißen Totenlaken, machte er
sich auf den Heimweg. Die Stadt lag noch im Morgengrauen und war ganz,
ganz öde. Da begegnete ihm am Bahnhof Haushammers Fritz.

»Ich hab’ gedacht, du bist tot,« sagte der.

»Ich war schon tot,« erwiderte Peter, »aber jetzt bin ich wieder
aufgewacht.«

»Jetzt gehst gewiß heim?«

Peter nickte.

»Was wird denn da dein Vater sagen, wennst jetzt schon wieder kommst?
Der wird schimpfen!«

Am Brunnendenkmal blieb Peter stehen und dachte nach. Und er bekam
solche Furcht davor, was der Vater sagen würde, daß er schnell wieder
umkehrte und sich ins Grab legte.

                            [Illustration]

                            [Illustration]



                                 III.


Als er erwachte, war es Nacht. Große Angst erfaßte ihn, und die kühle
Luft drang ihm bis auf die Haut. Das Weinen war ihm nah, als er sich so
allein sah, mitten im Wald, Gott weiß zu welcher Stunde der Nacht. Wenn
jetzt Räuber kämen oder Mörder, oder Kobolde oder Riesen ... Hastig ging
er vorwärts, am ganzen Körper zitternd.

Schneller, als er gedacht, lichtete sich der Wald. Und dann ging er die
Landstraße hinab und weithin dehnten sich Äcker und Wiesen und das
grüne Mondlicht lag auf allem Land. Schierlingskraut und Löwenzahn
standen am Weg und der Tau breitete sich aus, daß es schien, als ob der
Boden dampfe.

Peter schritt rasch und mit angstvollem Herzen weiter. Kein Mensch
begegnete ihm; kein Haus, keine Wirtschaft war in der Nähe. So still war
es und so voll Frieden wie in einer Kirche. Wenn er innehielt, um Atem
zu schöpfen, konnte er weit in der Ferne den Schrei des Käuzchens
vernehmen und er fürchtete sich davor. Einmal biß er sich auf die
Unterlippe, um nicht laut aufzuweinen. Was wird die Mutter sagen,
murmelte er beständig vor sich hin. Da entsann er sich dunkel, daß ein
schwerer Traum seinen Schlaf beunruhigt hatte. Aber er wußte nicht mehr,
was er geträumt hatte. Er zermarterte sich förmlich, dachte tief und
andächtig nach, aber es war, als necke ihn der Traum noch jetzt, – je
mehr er sich quälte, je ferner fühlte er sich seiner Spur. Doch hatte
er die Empfindung, als sei dadurch eine Lücke in seinem Innern
entstanden; die Vorstellung des bösen Traums beunruhigte sein Gemüt, und
die Furcht vor dem Unbekannten ließ das nur Geträumte zu einer
lebendigen Gefahr anwachsen.

Schon betrat er die Straßen der Stadt, da hörte er elf Uhr vom
Rathausturm schlagen. Er seufzte erleichtert auf, denn er hatte
geglaubt, es sei schon drei Uhr oder gar vier Uhr. Allerdings, wie
einsam war es auch auf all den Gassen! Kaum daß man in den Stockwerken
der Häuser noch hie und da ein Licht gewahrte. Keine Laterne brannte.
Zauberhaft nahm es sich aus, wenn so die Straße in Licht und Finsternis
geteilt schien, auf der einen Seite der Mondschein, der die nüchternen
Bauten verschönte und alles Häßliche an ihnen versteckte. Die
scharfgeschnittenen Schatten, die es überall gab und dann der tiefgrüne
Nachthimmel mit ein paar schüchternen Sternen, die nur wie hingehaucht
erschienen ... Über all dem schwebte dieser leise, leichte, duftige
Frühlingsnebel, unbeweglich und traumhaft.

Bald stand Peter am Wohnhaus in der Theaterstraße. Das Thor war
versperrt und er mußte läuten. Niemand kam. Sein Herz klopfte zum
Zerspringen, als er zum zweitenmal den verrosteten Glockenknopf zog. Ein
schriller, zirpender Laut drang bis auf die Straße heraus.

Endlich wurde oben ein Fenster aufgerissen, und der Kopf der alten Magd
wurde sichtbar. Ihre große, weiße Haube ragte weit vornüber. Sie
grunzte, rief etwas ins Zimmer zurück, schlug das Fenster wieder zu, und
gleich darauf polterte sie die Stiege herab und empfing den Knaben mit
jener Flut wohlgemeinter Schmähungen, die oft größere Freudenbezeugungen
sind als Küsse. Der Vater sei fort, um ihn zu suchen, und die Mutter
weine sich die Augen aus dem Kopf.

Als er furchtsam die Thür des Wohnzimmers öffnete, sah er die Mutter am
Tisch sitzen. Aber sie weinte nicht. Sie blickte den Knaben traurig an,
doch so, als ob sie ganz vergessen hätte, daß sie seinetwegen Sorgen
gehabt, und als ob ganz andere Bekümmernisse sie jetzt erfüllten, – wie
eine Frau, welche die Zukunft ihrer Kinder in dunklen Farben sieht. Sie
sagte kein Wort zu Peter.

Der Knabe stand an der andern Seite des Tisches und wagte nicht, die
Augen aufzuschlagen. Er heftete seine Blicke auf die Zeitung und
immerfort las er die Kapitelüberschrift des Romans. Immerfort las er
das: »Achtzehntes Kapitel. Alma wird gerächt.« Dabei aber schlug das
Ticktack der großen Wanduhr unaufhörlich an sein Ohr, und sogar das
schnelle Ticken der kleinen Taschenuhr vernahm er, die der Mutter
gehörte, und die an der Wand über der Kommode hing. Bald darauf begann
Barbara in der Küche geräuschvoll mit den Tellern zu hantieren, und
diesen Lärm empfand er im Innern wie einen Trost.

Als sein Blick nach einiger Zeit die Mutter traf, hatte sie sich blaß
und abgespannt in den Stuhl zurückgelehnt. Und seltsam, in diesem Moment
kam es wie eine Erleuchtung über ihn, und der Traum im Wald stand
lebhaft und in aufdringlichen Farben vor seiner Seele. Aber noch immer
redete er nicht. Das war ihm unmöglich, hinzugehn zur Mutter, ihre Hand
zu nehmen und zu sagen: verzeih mir.

»Wo warst du?« fragte endlich die Mutter mit einem Stirnrunzeln, das so
klang, als wäre sie von einer Last schwerer Träume erlöst worden. Dann
erst wiederholte sie, gleichsam sich selbst findend, in strengerem Ton
und mit drohendem Stirnrunzeln: »Wo warst du?«

Peters Finger spielten mit den Fransen des Tischtuchs, und seine Blicke
suchten am Boden umher. Und so oft auch die Mutter fragen mochte, der
Knabe schwieg beharrlich. Nicht aus Trotz, nicht aus Verstocktheit,
nicht aus Furcht, sondern nur deshalb, weil er nicht reden konnte. Er
vermochte nicht ein einziges Wort zu finden. Er kam sich in diesem
Augenblick so schuldbeladen vor und zugleich so arm und weltverloren,
daß er sich völlig in diese Vorstellungen voll Schmerz und Trauer
vertiefte.

Da hörte man Schritte auf der Treppe, und die Mutter nahm ihn rasch bei
der Hand. »Der Vater kommt,« sagte sie, »er wird dich schlagen. Schnell,
geh hinein und schlüpf ins Bett. Ich will ihm sagen, daß du schläfst.
Und jetzt mußt du brav sein, und wenn du brav bist, sag’ ich es Lizzi.
Lizzi kommt nämlich morgen. Freust du dich? Du hast sie doch schon lange
nicht mehr gesehn –? Das ist jetzt ein großes, schönes Mädchen geworden
und du mußt recht nett mit ihr sein.«

Dann stand er in dem finstern Zimmer, wo sich sein Bett befand. Aber er
entkleidete sich nicht, sondern setzte sich auf den Bettrand und versank
in tiefes Sinnen. Was die Mutter eben gethan, erschütterte ihn bis ins
Innerste. Sie wollte also nicht, daß der Vater ihn schlug –? Ja, und
warum war sie so traurig gewesen? Sonst, wenn er sich verspätet oder
wenn er irgend ein Unheil angerichtet, hatte sie ihn ermahnt oder hatte
gescholten, und heute war sie so still und nachsichtig gewesen ... Hätte
sie ihn doch lieber gescholten! Hätte sie ihn doch an den Ohren
gepackt!... Aber sie schien so traurig zu sein und er fragte sich: warum
ist die Mutter nicht glücklich? Sie hat doch immer so viel Geld, und sie
kocht doch immer so gute Sachen, und so schöne Kleider hat sie, und
Schmucksachen, und den Vater hat sie auch –? Und Lizzi sollte kommen –?
Die freche kleine Cousine Lizzi –? Er wollte ihr schon zeigen, daß er
jetzt ein Mann geworden sei, und wenn sie frech war, so würde er sie
einfach mit Verachtung strafen ... Aber im tiefsten Grund seines Herzens
wurde es gleichsam ein bischen warm und gemütlich, wenn er an Lizzi
dachte.

Die regelmäßigen Atemzüge der beiden kleineren Geschwister drangen an
sein Ohr und vom Wohnzimmer her kam jetzt die sonore Stimme des Vaters
in beständigem Gemurmel herüber. Das Mondlicht fiel durchs Fenster und
zeichnete vier Parallelogramme auf den Boden, über denen der Schatten
des Gardinenmusters wie ein Nebel gebreitet war.

Da hörte er des Vaters Stimme hart und hastig: »Es muß sein, Agnes. Das
Geld muß ich haben. Ich bedaure, daß ich so viel Liebe an dich
verschwendet habe, wenn du mir nicht einmal dies kleine Opfer bringen
kannst.«

Darauf erwiderte die Mutter eindringlich und entschieden: »Niemals,
Rudolf! Das Geld ist für unsere Kinder deponiert worden und kein Pfennig
soll davon genommen werden. Du hast es damals selbst gewollt. Ich
erinnere mich noch genau, wie du kamst. Oder soll das auch nur eine von
deinen großen Redensarten gewesen sein?«

»Ich mache keine Redensarten. Du machst Redensarten. Und wenn du eine
vernünftige Frau wärst, würdest du wissen, was du jetzt zu thun hast. Du
siehst doch, daß ich zu Grunde gehe ...«

»Du bist ein Egoist,« erwiderte die Mutter so leise und so traurig, daß
von diesem Tage an das Wort Egoist in Peters Vorstellungen als etwas
Ungeheures und Furchteinflößendes sich entpuppte. »Du hast nie für
andere Leute ein Gefühl gehabt. Nur für dich. Man braucht dich ja nur
reden zu hören. Selbst wenn du von andern sprichst, sprichst du nur von
dir selbst; heut abend, wie Peter nicht kam, hast du nur immer über die
Sorge gejammert, die dir der Bub macht, aber –«

»Schweig, schweig, du bist lächerlich,« flüsterte der Vater heftig und
sehr erregt.

»Schweigen? Ich hab elf Jahre lang geschwiegen. Ich gebe mein Herzblut
für euch hin, sagst du immer. Aber ich, ich für meinen Teil finde gar
nichts Besonderes in dem, was du thust. Erstens sitzest du jeden Abend
im Wirtshaus und spielst und bist vergnügt und ich bin dir gleichgültig.
Es ist dir gleichgültig, was ich treibe. Wir waren eine gute Partie, nun
ja, das ist eigentlich alles. Du hast nie gewußt, was eine Frau ist und
was sie sonst noch für Sehnsucht haben könnte außer ihrem Wochengeld und
– – Ich darf zu Grunde gehen in Langeweile und Einsamkeit, du hast ja
deine Gesellschaft beim Kartenspiel, und die ist dir lieber als Frau und
Kinder .... nein, nein, denke nur nicht, daß ich was von dir begehre.
Ich habe nie was gewollt, aber was du jetzt von mir willst, – o ich
durchschaue dich. Dich kenn ich!«

Noch viele Worte hörte Peter, aber es waren nur Worte für ihn. Langsam
kleidete er sich aus und kroch ins Bett. Seine Bewegungen waren alle
schwer, fast getragen vom Nachdenken. Ja, er kam sich so feierlich vor,
so viel würdevoller als sonst und viel männlicher. Und er glaubte alles
zu verstehen, was er gehört hatte. Zum erstenmal schaute er in das
Leben, das vor ihm lag, hinein wie in ein dunkles Loch. Ein leichter
Schreck ergriff seine Seele, und er fühlte etwas wie Schwäche gegenüber
den künftigen Tagen. Diese Welt erschien ihm vollgepfropft mit
unheimlichen Schicksalen und häßlichen Leiden. Sein Geist flüchtete
ängstlich in die alten Zeiten der Sagen und der Heldenthaten und das
Übernatürliche und Traumhafte war ihm das allein Begreifliche und
Berechtigte. Und er schloß die Augen und Bild auf Bild, blaß und blasser
schwebte ihm vorbei, und Märchen und Wunder erfüllten sein Herz und
seine Träume waren leicht und golden.

                            [Illustration]

                            [Illustration]



                                  IV.


Ganz ohne Übergang, ganz plötzlich und stürmisch waren Ende April diese
warmen Tage gekommen. In allen Gassen roch es nach Frühling und die
jungen Blüten wiegten sich bedächtig hin und her und wußten ihr junges
Leben noch nicht so recht zu genießen. Der Frühling hat uns überfallen,
sagte Frau Agnes Vogelsang und sie lächelte dabei so, als ob von einem
guten Freunde gesprochen würde.

Peter, der seit drei Tagen Ferien hatte, fühlte sich froh im Bewußtsein
der freien Herrschaft über all die Stunden des Tages. Des Morgens saß
er still im Zimmer und las. Er vertiefte sich in die Historien des alten
babylonischen Reiches. Ja, diese asiatischen Völker in all ihrem satten
Prunk, mit dem Geheimnisvollen und Düstern, das sie umgiebt, lockten ihn
sehr. Wenn er die seltsame Geschichte des Sardanapal las, so ergriff ihn
jedesmal eine fast dichterische Glut, und er sah die Feuer an den Wänden
des Palastes lodern, und er hörte die schmerzlichen Schreie der Frauen,
und er sah den König selbst, wie er inmitten seiner Getreuen stand und
die Lanze gepackt hielt wie ein echter Held und wie er bleich wurde und
wie dann die Flammen kamen und wie der Rauch kam und wie er lächelte und
immer lächelte, wenn die andern sich vor Schmerz wanden. So sah er den
Sardanapal. Und er erzählte das alles Haushammers Fritz, und sie
unternahmen Heldenthaten von ähnlicher Bedeutung, zogen mit
Holzschwertern in den Wald hinaus und suchten einsame Burgen und stille
Höhlen und wilde Tiere und die Fußstapfen böswilliger Feinde. Und er
träumte des Nachts von seltsamen Ländern, wo Blumen waren so groß wie
bei uns die Bäume und wo ein ewiger Sonnenbrand herrscht oder eine ewige
Dämmerung oder der süße Frieden des Waldes und wo die Menschen gute
Augen haben und wo fromme und starke Könige die schönsten Knaben als
Pagen in ihren Palast rufen lassen. So ging sein Tag in Träumen hin, und
sein Auge suchte in dieser Welt der Zahlen nach Wundern. Und er las auch
die Bibel (heimlich las er sie), und ein kühler Schreck erfaßte sein
empfindliches Herz vor jenen blutigen Greueln und vor jenen
übermenschlichen Gestalten der grauen Vorzeit. Und erst des Abends, wenn
er oft mit Barbara am Herdfeuer der Küche saß, wenn die Sphinxe und die
Nixen und die Nymphen sich erhoben aus düsteren Verstecken, wenn der
Wald in seiner süßen und ziehenden Dunkelheit wie ein lebendiger Mensch
erschien, wenn die flackernden Flammen des Herdfeuers als kleine,
boshafte Kobolde ein spukhaftes Wesen trieben, wenn Drachen und
Lindwürmer mit feurigen Glotzaugen vor dem Sims saßen und durch die
Scheiben starrten, wenn jeder Kochtopf sich als ein Zauberwerkzeug und
jeder Schemel sich als feige schleichendes Tier entpuppte, dann war das
Leben eitel Abenteuer und Furchtbarkeit für Peter und es lockte und rief
ihn hinaus auf Haide und Moor und Wald und Thal mit tausend
wohlverständlichen Stimmen.

Frau Agnes liebte das alles nicht. Sie liebte die Träumereien nicht und
sie liebte die Märchenbücher nicht für den Knaben. In dem
melancholischen Ausdruck seiner Augen lagen ohnehin schmerzliche
Garantieen die Fülle für sie. Sie wußte, daß er nur mit älteren Knaben
verkehrte und daß er gegen jüngere einen gewissen Hochmut zur Schau trug
oder eine fast väterliche Nachsicht. Es war ihr ja kein Rätsel, wie
dies Düstre, gleichsam Schwerflüssige in das Kind gekommen war. Ihr
selbst hatte das Leben nie viel Munterkeit und Glück gegeben, und trüb
und finster und plump war diese Stadt. Streng und ernst und geradlinig
war das Land. Wenn man draußen stand auf dem Feld und man sah die
bleiernen Wolken des Himmels über sich, so mußte man träumen. Man verlor
die Energie des Gedankens und mußte träumen. Das Haus da war nicht alt,
sonst hätte gewiß nicht jene heimliche Poesie der alten fränkischen
Häuser gefehlt, – nein, es war so neu und kahl wie die Fabrikschlöte,
die gegen den Anger hinaus lagen. Und viel Werkthätigkeit und Hastigkeit
war in allen Straßen der Nähe und spielende, schlecht gekleidete Kinder
schrieen und lärmten in allen Höfen.

Doch den Zimmern der Etage hatte Frau Agnes die Züge ihres Wesens
aufgedrückt, und jene unauffällige, wohlthuende Harmonie lag darüber,
von der Tante Regina meinte, daß man dabei an seine Kindheit denken
müsse. Wie fremd und geheiligt erschien Peter stets der halbdunkle Salon
mit seinen grünlichen Lichtern, mit dem scheuen Glanz seiner hohen
Spiegel! Und wenn seine Mutter mit ihrem ein wenig schleppenden Gang
durch die Flucht der Räume schritt und nachdenklich hier eine Decke
glättete und dort den Staub von einer Platte wischte, so fühlte selbst
der Knabe, wie vieler Enttäuschungen es bedurft hatte, um all ihre
Wünsche auf dies winzige Königreich zu beschränken, und ein schmerzlich
unbewußtes Begreifenwollen regte sich in ihm.

Heut soll Lizzi kommen, dachte Peter, der am Ofen saß, den Kopf in die
Hand und den Ellbogen auf das Knie gestützt. Und er dachte darüber nach,
welch ein ernstes und gemessenes Gesicht er machen wollte, wenn er ihr
die Hand gab; er wollte sich verbeugen und wollte sagen: Ach, das ist
schön, daß du gekommen bist. Nach dem Ach wollte er eine kleine Pause
machen.

Von der Küche drangen Bratengerüche herein, und überdies roch es nach
Kastaniengemüse. Peter lächelte begehrlich und dann runzelte er die
Stirn, in Sorge, daß die Mutter zu wenig davon kochen würde wie neulich.
Diese Sorge beunruhigte ihn so sehr, daß er beschloß, in die Küche zu
gehen.

Aber als er den Fuß über die Schwelle der Küchenthür setzte, blieb er
erschrocken stehen. Frau Agnes saß auf dem Kehrichtfaß, in der einen
Hand den langen, hölzernen Kochlöffel, mit dem sie das Mus gerührt
hatte, in der andern einen Brief. Sie sah über den Knaben hinweg,
geradeaus ins Leere. Ihr Gesicht war fahl und ihre Lippen waren blau.
Peter wagte nicht, sich zu rühren, während er lange Zeit mit zuckenden
Mundwinkeln dastand und zuschaute, wie langsam stille Thränen über die
Wangen seiner Mutter rannen und wie ihr Oberkörper sich vorbeugte und
auf das Anricht zu fallen schien. Und dann erhob sie sich rasch und sie
schämte sich, vor dem Kind so schwach gewesen zu sein; daher drückte sie
das Taschentuch fest gegen die Augen, als sie hinausging.

Peter sann und sann. Doch inmitten der Erregung sah er das
Kastaniengemüse schmoren und brodeln und damit das leckere Gericht nicht
zu Grunde gehe, nahm er zaghaft den großen Löffel und rührte und rührte,
während seine schwärmerischen Blicke gleichsam die Finsternis des Lebens
zu durchdringen suchten und ein großes Mitleiden ihn erfaßte gegen ein
Unbestimmtes, gegen ein leidendes und trauriges Geschöpf. Doch in seine
männlichen Entschlüsse und altklugen Betrachtungen fuhr die fette Stimme
der alten Barbara, die ihm den Löffel aus der Hand riß und mit
entrüsteten Naturlauten den unbequemen Koch vor die Thüre setzte.

Aber dann lief sie ihm plötzlich nach, nahm ihn auf den Arm und setzte
sich auf die Stufen im Flur. Auch sie hatte verweinte Augen, doch sah
sie nichtsdestoweniger sehr grimmig aus. Und sie sagte zu Peter, daß
sein Vater fort sei und daß sein Vater ein Taugenichts sei und daß sie
ihm, Peter, die Rippen entzweischlagen werde, wenn er nicht dazuthue,
ein ordentlicher und braver Mensch zu werden, der seiner Mutter eitel
Freude bereitet. Und sie schien Lust zu haben, die angedrohte Strafe
sogleich zu vollziehen.

Peter begriff nichts von alledem. Was sollte das heißen: der Vater ist
fort? Wenn man einmal verheiratet ist, gehört man auch zusammen und dann
hat man sich auch lieb. Was konnte der Vater ohne die Mutter anfangen?
Wer würde ihm sein Essen kochen? Wer würde ihm die Strümpfe stricken?
Peter schüttelte den Kopf und lächelte still und froh in sich hinein.
Dann ging er mit übergroßen Schritten im Wohnzimmer auf und ab und
dachte an Lizzi, die von all dem keine Ahnung hatte, und er freute sich
darauf, sie unterrichten zu können, wie bitter und ernst das Leben ist,
und daß die kleinen Kinder ganz wo anders herkommen als vom Storch, und
daß es für ihn eine beschlossene Sache sei, Feldmarschall zu werden.

Und sein Blick glitt etwas trotzig zur Mutter hinüber, die am Fenster
stand und die Stirn an den eisernen Quer-Riegel gedrückt hatte. Ihre
Frisur hatte sich gelöst und das reiche, dunkelblonde Haar fiel wie eine
Flut, wie ein Wasserfall bis hernieder auf die Erde und oben in den
zitternden Löckchen spielten die Sonnenstrahlen. Und als der Knabe den
bitteren und gequälten Ausdruck ihres Gesichts sah, wachte auf einmal
eine heiße Begierde in ihm auf, recht schnell groß zu werden, und er
fühlte es wie eine Schmach und es demütigte ihn förmlich, daß er noch so
klein war und erst neun Jahre alt.

Gleich nach Tisch schlich er davon. Im Korridor hatten die beiden
Geschwister aus einer Stiege und drei Stühlen ein Art Karosse erbaut und
davor stand ein richtiges Holzpferd. Peter sollte den Kutscher machen
wie sonst, doch Peter lächelte verächtlich und sagte: Ich bin überhaupt
schon viel zu groß für das Zeugs da. Und er achtete den Protest der
Bittsteller für nichts und schritt erhobenen Hauptes weiter. Doch er
konnte es nicht unterlassen, trotz des fast männlichen Stolzes, der ihn
jetzt erfüllte, rittlings am Stiegengeländer herabzugleiten, so daß er
blitzschnell im Hausflur anlangte.

Hinaus gegen den Fronmüllerssteg und unter die Riesenbögen der
Eisenbahnbrücke! Dort legte er sich ins warme Gras und blickte hinauf an
die Wölbung und träumte von einem Zusammenstoß, wobei viele Menschen
umkamen und wo er sich als ein hilfreicher und tapferer Mann zeigen
könne. Und dann ging es quer durch die Wiesen zum Waldmannsweiher, wo
braun und schwer und düster das Wasser lag. Und das Wasser war tief wie
ein Meer und in seinem Grund gab es ungeheure Fische und böse Geister,
die der König Salomon in Flaschen eingesperrt hatte. Und ringsherum gab
es keinen Vogel und kein Mensch ging vorbei. Und die Bäume hatten
dunkelrote Blätter, die ganz unbeweglich an den Zweigen hingen. Drüben
rauschte der Fluß und hinauf und hinunter streckte sich die Ebene schier
endlos. Die Stille war groß und der Frieden war eindringlich, und es
kamen wieder die alten Träume der Macht über Peter, und er sah sich in
samtenem Gewand vor dem Lehrer stehen und der zitterte vor Ehrfurcht und
fragte: Was begehrt mein hoher Gebieter? Und dann zerfloß diese Fülle
von Schönheit und Ruhm und eine weiche zerfließende Wehmut beherrschte
dies Kind, und seine Augen blickten verlangend nach der Lösung eines
Rätsels, obwohl es doch noch weit von jener Periode entfernt war, wo
der jugendliche Geist sich mit schemenhaften Bildern zerquält und
befleckt. Aber das Leben selbst erschien ihm als etwas ganz
Erstaunliches und Fremdartiges: in seiner Seele schrie es förmlich nach
Licht, wenn seine kindliche Phantasie vor jener Schranke Halt machen
mußte, an welcher der Storch stand, ein Gegenstand der Verachtung und
ehrfurchtgebietend zugleich. Es war auch etwas in ihm, das gleichsam
nach Hilfe rief, nach Freundschaft. Es dürstete ihn danach, in die Arme
genommen zu werden, in weiche, gute Arme, und daß man ihn dann küßte,
auf die Stirn vielleicht oder auf den Mund, und daß man ihm sagte. Du
bist brav, Peter, und ich hab’ dich gern und du hast so nette Augen und
dein Haar ist so weich. So träumte Peter und seine Frische und die
natürliche Kraft seines Wesens waren es, die ihn erschauern ließen, wenn
eine schöne Frau seinen Weg kreuzte und wenn sie ihn anlächelte, daß er
hätte vergehen mögen, oder daß er hätte weinen mögen in irgend einem
süßen Schmerz.

Und als er gegen fünf Uhr des Nachmittags am Thor des Geschäfts in der
Blumenstraße ankam, zitterte immer noch sein Herz unter der Stärke und
dem Reichtum seiner Sehnsucht. Im Gewölbe herrschte eine große Unordnung
und die lichtlosen, kellerartigen Magazine waren noch unheimlicher als
sonst. Aus den morschen, zerfaserten Dielen stieg bei jedem Schritt der
Staub auf und alle Spinngewebe waren schwer davon. Peter wagte es nicht,
die Mutter anzureden, die in einem Verschlag nebenan über Büchern und
Rechnungen gebeugt saß. Niemand beachtete ihn und er hatte den innigen
Wunsch, daß ihm jetzt etwas recht Schlimmes und Bitteres passieren möge,
nur damit man sich ein wenig um ihn kümmere.

Er ging hinaus auf den Hof, setzte sich auf den Brunnentrog und
gedachte, über all das Unerklärliche, das sich hier abspielte, tief und
eindringlich nachzudenken. Doch er dachte statt dessen nur an
Haushammers Fritz und an die Schlacht, die er heute mit ihm gewinnen
müsse. Wenn ich doch so gut wiehern könnte wie Fritz, dachte er; er
sitzt auf seinem Pfahl und wiehert wie ein richtiges Pferd.

Da berührte plötzlich eine leichte, kleine Hand seine Schulter, und als
er aufschaute, war es Lizzi. Er vermochte nicht zu sprechen. Er wurde
purpurrot im Gesicht und es ward ihm so heiß, daß er kühle Tropfen auf
seiner Stirn verspürte. »Grüß Gott, du,« begann das Mädchen. »Kannst du
nicht einmal grüß Gott sagen?« – »Grüß Gott,« flüsterte der Knabe
folgsam. »Hübsch bist du übrigens«, erklärte Lizzi anerkennend und warf
den Kopf in den Nacken. »Weißt, ich bin schon seit drei Uhr da. Um drei
Uhr bin ich mit der Bahn gekommen.« – »Allein?« fragte Peter mit
schüchterner Bewunderung. – »Ach nein, Vetter Höfting hat mich
begleitet. Der ist Soldat.« – »Hm«, machte Peter, »ich werde auch
Soldat, ich werde Marschall.«

»Eigentlich hättest du mich doch küssen sollen,« meinte Lizzi
stirnrunzelnd. »Ich bin ja von der Reise gekommen.«

»Thu’s doch!« erwiderte Peter, über und über erglühend.

»Nein, – du _mich_! eine Dame darf einem Herrn keinen Kuß geben,« sagte
Lizzi laut und nachdrücklich.

»Du bist doch keine Dame,« brummte Peter verächtlich und er freute sich,
daß er diesen wegwerfenden Ton gefunden hatte. »Du prahlst ja.«

Aber Lizzi lachte ausgelassen und schob trotzig das Kinn zurück. »Gerade
bin ich’s! Und doch! Überhaupt du! Deine Mutter hat gesagt, du bist ein
Träumer.« Und sie tanzte um ihn herum und klatschte in die Hände.

Peter antwortete nichts. Er machte ein schwermütiges Gesicht und hieb
mit seinem Weichselrohr emsig auf den Brunnenschwengel los. Da trat das
Mädchen zu ihm heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Du, Peter, was ist denn
eigentlich bei euch los? Sag doch nur? Tante Agnes hat geweint, wie ich
gekommen bin. Sag doch! Ich bin so neugierig!«

»Das verstehst du ja doch nicht!« Peter machte sich würdevoll daran,
seinen Rock zuzuknöpfen.

»Bist du mir bös?« fragte die kleine Lizzi und zog verlegen an Peters
Haaren. »Komm, sei lustig! Du mußt nicht immer so den Kopf hängen. Wenn
du lustig bist, will ich dich auch küssen, – wahrhaftig!«

Und sie näherte ihre Wangen dem Gesicht des Knaben. Und sie sah ihn an
mit jener seltsamen Koketterie kleiner Mädchen. Peter preßte die Lippen
zusammen und sein Kopf ward ihm wahrlich schwer. Und mit zwei Fingern
zog er an der Unterlippe und riß ein Stückchen Haut davon weg. Das alles
begriff Lizzi nicht. Nicht, warum er so rot geworden, und auch sein
Schweigen nicht. Doch plötzlich, während sie sinnend zum Himmel
emporblickte, ergoß sich über ihre Wangen eine Flut von Scham. Sie
wandte sich und lief ins Haus. Und Peter schüttelte betrübt den Kopf. Er
fühlte sich erbittert und erregt und unzufrieden und wußte nicht warum.
Gehässig und feindselig blickte er zu Boden.

                            [Illustration]

                            [Illustration]



                                  V.


Und gegen Abend gingen sie zusammen nach Hause, Hand in Hand.

Schon war die Sonne untergegangen und am westlichen Himmel lag die Röte
wie ein großer, gleichmäßiger Farbenklex. Der Himmel war wolkenlos; er
sah in seiner Klarheit wie poliert aus und die Bäume in den Gärten, die
Sträucher und die Hecken waren mit ihrem blauvioletten Kolorit gleichsam
hineingraviert in das stählerne Blau des Firmaments. Man sah gar keine
eilfertigen Menschen; jeder schien müde zu sein wie nach einem Bad. Man
vermochte an gar nichts anderes zu denken als nur daran, wie schön
dieser Abend sei.

Und die zwei Kinder trotteten an den Häusermauern entlang. Sie blickten
in die Abendröte und ihnen war, als müßten sie immer weitergehen, bis
hinein in das Sonnenfeuer, um dort, wer weiß, vielleicht nur zu
schlafen. Die Häuser, die mit der Front nach Westen standen, waren unten
an der Straße ganz grau, ganz in Dämmerung begraben und nach oben hin
wurde es immer heller, so daß der First in fahlem Licht erglänzte. Und
den Kindern war es, als stünden da lauter Riesen, Leib an Leib, die mit
bleichen Stirnen hinausguckten ins abendliche Land.

Dann standen sie daheim am Flurfenster, das gegen die Höfe hinausführte.
Hier war es so ruhig wie zur Mitternachtszeit. Über den Mauern, über den
Häusern war der Mond heraufgestiegen, rund und glühend wie eine
Riesen-Orange. Man mußte ihn doch greifen können, den Mond. Ob man sich
wohl die Hand verbrennen würde, wenn man seine guten Wangen streichelte?
Ach sie wollten auf die Straße und auf das Feld hinaus und wollten
wandern und wandern, bis sie den Mond erhascht hatten. Und wenn sie müde
wurden, kam vielleicht eine Fee und trug sie hin bis zum Mond und die
Fee würde ihnen Flügel geben, daß sie immer umherfliegen könnten auf der
ganzen Welt.

Um acht Uhr fuhr eine Kutsche am Haus vor. Da brachten sie Frau Agnes.
Der Buchhalter und der Reisende führten sie die Treppen herauf und
legten sie im Wohnzimmer aufs Sofa. Sie war im Gewölbe ohnmächtig
geworden.

Die Dunkelheit, die Nacht war schon hereingebrochen und die Sterne
flimmerten am Himmel. Peter saß am Fenster, während Lizzi mit den beiden
Kleinen spielte und scherzte. Er lauschte auf die Klänge eines Klaviers,
das irgendwo in der Nachbarschaft gespielt wurde. Es war wohl eine
klägliche Art Musik das, aber des Knaben Seele zitterte in andächtiger
Sehnsucht den Tönen nach. Jede Musik, auch die ärmste, griff gleichsam
mit Krallen in sein Gemüt, so daß er es im Innern wie eine Wunde
empfand, die man ihm geschlagen. Er dachte dabei an die Mutter, die er
liebte und der er niemals zeigen konnte, daß er sie liebte. Ja, weil er
sie liebte, mußte er trotzig gegen sie sein und schweigsam und er konnte
nur dann das ganze Herz in den Blick legen, mit dem er sie anschaute,
wenn sie ihn nicht bemerkte. Es war, als ob ihm jetzt manches Zukünftige
sichtbar würde, und seine Brust ward von einer lastenden Bitterkeit
erfüllt. Furchtsam, mit weiten Augen sah er ins Ungemessene.

Am andern Tag kam Tante Regina. Mürrisch, mit fast drohendem Gesicht
ging sie im Haus umher. Sie war groß und hager. Ihr Gesicht war
gänzlich verknöchert, und ihr Mund war eingekniffen, und wenn sie mit
Jemandem sprach, so schaute sie ihn ununterbrochen, fast ohne mit den
Lidern zu zucken an, so daß es Vielen völlig unmöglich war, zu lügen,
wenn sie mit ihr redeten. Wenn der Abend kam, setzte sie sich ans Bett
der Schwester und legte ihre Hand auf die Stirn der Kranken, und es lag
etwas so Beruhigendes und Liebevolles in dieser Berührung, daß Frau
Agnes oft mit einem Lächeln im Gesicht, langsam einschlummerte. Es war
beständig dasselbe Lächeln bei ihr; ein Lächeln mit diesen Worten: o ich
habe meine Ideale schon lange begraben.

Peter saß lesend im Wohnzimmer, und das Licht der Lampe war durch einen
Crepeschirm so sehr gedämpft, daß rings alles in einer warmen, roten
Dämmerung lag. Und wenn er die Augen vom Buch erhob, konnte er die
Mutter sehen, wie sie in der weißen Nachtjacke auf den weißen Kissen
lag. Auch das Gesicht erschien ihm wie ein weißer Fleck, und die
blonden Haare erschienen fast schwarz und umrahmten ihren Körper, der
bewegungslos hingestreckt war in der Dunkelheit drinnen.

Und dann kam Lizzi hergeschlichen und legte ihren Arm um des Knaben Hals
und sie sahen zusammen auf ein Buch nieder, und Peter that so, als ob er
weiterläse, während sein Herz in ungestümer Bangnis klopfte. Sie gingen
auch wohl an den Nachmittagen zusammen spazieren und spielten Vater und
Mutter, wobei Peter gar zu sehr mit Kenntnissen prahlte, während Lizzi
das Kleid raffte, als ob die Schleppe den Boden streife und schmutzig
würde. Das ärgerte dann den Knaben, und er nannte sie eine Prahlerin und
klopfte mit seinem Stock auf die Pflastersteine los. Darauf hielt sich
Lizzi die Ohren zu und rief, das könne sie nicht aushalten, der Lärm
mache sie »nervös«. »Das hast du von deiner Mutter gehört«, meinte Peter
triumphierend wie ein Ethymologe, der einen Wortstamm entdeckt hat;
dann begann Lizzi zu heulen, und dies erschütterte nun Peter gar sehr,
so daß er um Verzeihung bat und wie ein Hündchen zu Kreuze kroch.

Sie hatten bald keine Geheimnisse mehr, und das Leben war ihnen wie ein
großer Blütengarten und die Sonne schien hell, bis sie ahnten, was im
Hause vorging und der schwüle Hauch des Unglücks ihre unschuldige Stirn
streifte.

Von Tag zu Tag wurde Frau Agnes kränker. Erst war der Doktor jeden
zweiten und dritten Tag gekommen, nach einer Woche schon kam er täglich.
Und Tag und Nacht saß Tante Regina an ihrem Bett, oder sie sah in der
Küche nach, schaffte Ruhe und Ordnung im Haus, und dabei wurde sie immer
wortkarger und mürrischer. Zu Ende des Mai wurde nach einem Professor
von der Universität telegraphiert. Als Peter dies hörte, berichtete er
es atemlos, jedoch ohne Arg, seiner kleinen Kameradin und die beiden
freuten sich, einmal einen Professor mit eigenen Augen sehen zu können.

Kein Laut durfte im Haus hörbar werden. Jetzt begann es auch zu regnen,
und es regnete unaufhörlich, den ganzen Tag und die ganze Nacht. Da
gingen Peter und Lizzi in den Flur, setzten sich ans Fenster und lasen
Märchen. Und es war sehr still. Die beiden kleineren Geschwister waren
schon gestern zu einer entfernten Verwandten geschafft worden, da sie
immer großen Lärm verübten.

»Du, ich möchte eigentlich wissen, wie das ist, wenn man tot ist,«
unterbrach plötzlich die kleine Lizzi die Lektüre.

»Da hat man kein Herz und kein Gehirn mehr«, erwiderte Peter. »Ja,
eigentlich möcht ich auch wissen, wie das ist,« fügte er nach einer
Weile träumerisch hinzu. »Tot .... tot .... was für ein dummes Wort:
t, o, t ...«

»Was ist mehr: tot oder maustot?« fragte Lizzi. »Du, – glaubst du das
vom Himmel und von der Hölle?«

»Von der Hölle, – nein! aber einen Himmel muß es doch geben.«

»Ja, aber die Räuber und die, –?«

Lizzi nagte beklommen an ihrer Unterlippe.

»Ich habe schon einmal geträumt, ich wäre tot,« erzählte Peter, der
seiner Kameradin imponieren wollte. »Aber da bin ich wieder aufgewacht.
Möchtest du sterben?«

Das Mädchen schüttelte langsam den Kopf, und sie flüsterte
geheimnisvoll: »Weißt du, wo der liebe Gott wohnt? Ich weiß es. Neben
dem Leichenhaus wohnt er, auf dem alten Kirchhof .... Ja, das ist wahr,
das hat meine Freundin gesagt und der hat’s ihr Bruder gesagt.«

»Das ist blöd«, erklärte Peter. »Der liebe Gott hat gar nicht Platz im
Leichenhaus und dann kann er ja auch viel schönere Häuser haben, wenn
er will.«

»Er will aber nicht.«

»Ach und überhaupt, der liebe Gott wohnt gar nicht auf der Welt. Er
wohnt im Firmament, weit, weit, weit draußen überm Meer, wo schon die
Mauer ist. Die ist so hoch wie der Himmel. Das hat Barbara gesagt. Die
muß es doch wissen, die ist doch schon groß.«

Lizzi zuckte die Achseln und sprang davon. Sie wollte in den Hof, aber
sie erinnerte sich des Regens, und so blieb sie auf der Treppe sitzen
und legte das Köpfchen zwischen ihre Hände; die Ellbogen auf die Kniee
gestützt, sah sie gedankenvoll vor sich nieder. Peter kam und setzte
sich zu ihr. Wie mechanisch ergriffen sich beide an den Händen und sie
redeten kein Wort zu einander. Es war so dunkel da und so heimlich und
man konnte hinabsehen in den Hausflur, und sogar ein Stückchen Straße
konnte man sehen. Der Regen plätscherte und plätscherte und rann die
Rinnen herab und es war wie ein Traum, daß sie da saßen, dicht eins ans
andere geschmiegt, so daß Jedes des Andern Herz klopfen hörte. Und es
schien das Haus voll Todesahnungen zu sein und Peter dachte daran, daß
Barbara ihm gestern gesagt, wenn in einem Haus jemand sterben muß, dann
fliegt drei Tage vorher der Totenvogel um das Dach. Dreimal fliegt er um
den First und stößt einen Schrei aus und dann ist er verschwunden. Ihm
war, als sehe er die schwarzen Fittige, als fühle er das Rauschen dieser
Fittige und sein Gesicht wurde gar bleich bei solcher Vorstellung. Den
ganzen Tag über waren schon die Verwandten gekommen und hatten die
Mutter besucht und hatten so trübselig dreingeschaut. Kaum daß sie zu
sprechen gewagt hatten. Was sollte das alles bedeuten? Er fürchtete sich
vor etwas Unbestimmtem und Namenlosem, vor etwas Schrecklichem. Stets
sah er den finstern Herrn Professor von der Universität vor sich, den
Alle so ehrfürchtig behandelten, und der so vornehm war, daß er gar
nicht einmal reden mochte. O, er hätte groß sein mögen, er hätte dies
alles durchschauen mögen ..... Ein Hahn krähte und Lizzi lachte und
versuchte, das grelle Kikeriki nachzuahmen. Aber Peter legte ihr
erschrocken die Hand auf den Mund. Ihm war, als seien sie jetzt in einem
Heiligtum und die Stille und der Frieden dürften nicht gestört werden,
um keinen Preis. Der Regen und sein Geplätscher, die Dämmerung
ringsumher und das alles machte ihn unbeschreiblich traurig. Er hätte
gar gern weinen mögen, wenn er sich nicht geschämt hätte vor dem
Mädchen. Daher zuckten nur seine Lippen, und er schaute am
Stiegengeländer hinab, als ob er da in die Ewigkeit schaute. Und er
nickte immer recht ernst, wenn in kurzen Pausen ein großer Tropfen vor
dem Hofthor klatschte. Dort hat die Dachrinne ein Loch, dachte er.

Dann sagte Lizzi, sie habe Hunger, und Peter, als sei dies eine
Bevorzugung, versicherte eilig, auch er habe Hunger. So gingen sie
hinauf in die Küche und verlangten von Barbara ein Butterbrot. Die aber
zog ihr Taschentuch rasch vom Gesicht und herrschte die Kinder grimmig
an. Herzlose Rangen seien sie; jetzt sei keine Zeit, um zu essen; sie
sollten sich zum Teufel scheren und wenn noch einmal eins komme, werde
sie den Besen nehmen.

Nun wurde auch Lizzi traurig. Müd und gottverlassen wanderten sie im
Haus herum, vom Zimmer in den Flur, in den Hof. Niemand kümmerte sich um
sie und das Herz ward ihnen plötzlich schwer wie Blei. Peter schlug vor,
sie wollten in den Speicher gehen, und das Mädchen folgte willenlos. Es
war, wie wenn sie sich ihm jetzt unterwürfe und sich bereit erkläre,
ihm in allen Stücken zu gehorchen. So ängstlich war ihr zu Mut.

Ein graues, dämmeriges Licht herrschte im Speicher und eine trockene,
schwüle Luft. Hier giebt es Taranteln und Molche, dachte Peter, und er
fürchtete sich, laut aufzutreten. Alle Verschläge waren geschlossen, bis
auf einen einzigen, der sich ganz hinten, zwischen zwei Kaminen befand.
Da hinein gingen die Kinder, und Lizzi breitete eine braune,
durchlöcherte Decke, die in einer großen Kiste gelegen, auf dem Boden
aus, und beide setzten sich darauf, ganz in den spitzen Winkel zwischen
Dach und Boden hinein. Und das Rascheln und Trommeln des Regens auf dem
Dach war ganz sonderlich anzuhören, und bald sagte Lizzi, daß sie sich
fürchte. Doch Peter stand auf und versuchte, den mutigen Beschützer zu
spielen, obwohl auch ihm sehr bang zu Mut war und er es bitter bereute,
heraufgegangen zu sein. Er stand jetzt am Dachfensterchen und sah
hinaus auf die Stadt, auf das weite, ebene Land. Und der Abend nahte
heran und drüben im Westen war der Himmel mit einem tiefdüsterroten Band
gesäumt. Kein Geräusch drang bis hier herauf aus dem Gewimmel der
Häuser, und die Türme, die emporragten, erschienen ihm fast wie Stengel
ohne Blüten. Jetzt begannen hinten am Giebel die Tauben zu gurren, und
immer stärker trommelte der Regen auf das Schieferdach und tropfte in
die Rinne hinab. Über das kleine Fenster floß das Wasser in Strömen, so
daß man den Himmel nicht mehr sehen konnte. Peter wagte sich nicht mehr
zu rühren; alles in der Runde war ihm plötzlich unheimlich geworden, und
er bat den lieben Gott um Hilfe in dieser Not. Lizzi begann leise zu
weinen, da ging er doch hin, um sie zu trösten und er setzte sich wieder
zu ihr. Sie schlang ihren Arm um seinen Nacken und legte ihre Wange an
die seine. Peter schloß seine Augen, denn auf einmal war es ziemlich
dunkel geworden, und er wagte nicht hineinzublicken in diese Dunkelheit,
denn da sah er den Tod leibhaftig vor sich stehen. Und dann kam auch der
liebe Gott und blickte streng herab auf Peter. Es fiel ihm ein, daß er
noch gar nicht seine Schulaufgaben gemacht habe, und wie ein leiser
Schauer wurde ihm dunkel bewußt, daß es nicht gut sei, solch ein Träumer
zu sein. Er sagte gute Worte zu dem kleinen furchtsamen Mädchen, dessen
Körper zitternd an ihm lehnte, und er küßte sie auf den Mund. Dann sagte
er, sie wollten jetzt wieder hinunter gehen, er fürchte sich nimmer. Da
wischte Lizzi die Thränen von ihren Wangen und folgte ihm, bisweilen
einen leisen Schrei ausstoßend, wenn irgend ein ungewohnter Laut hörbar
wurde. Kaum war sie unten, so war es für sie, als ob nichts geschehen
wäre. Sie forderte Peter auf, mit ihr zu spielen und sie spielten
Namen-Erraten. Da stritten sie, welcher Name schöner sei: Regina oder
Agnes. Peter behauptete, Tante Regina laute häßlich, aber Tante Agnes,
das sei wunderbar, herrlich sei das. Lizzi fand jedoch, daß damit die
Ehre ihrer Mutter angegriffen sei und schmollte mit Peter.

Am andern Tag kam Peter ins Wohnzimmer, um zu lesen. Als ihn Tante
Regina sah, lächelte sie voll Trauer und Güte, und sie sagte, daß die
Mutter sehr krank sei. Sie hatte die Thür zum Schlafzimmer nicht ganz
geschlossen, darum dämpfte sie ihre Stimme. Aber die Kranke hatte sie
trotzdem gehört, und sie rief mit erloschener Stimme, Peter solle hinein
kommen.

Es war halbdunkel drinnen. Es roch nach Karbol und nach jener
abgelagerten, aufgespeicherten Wärme, die den Krankenzimmern eigen ist.
Weiche Teppiche bedeckten den Boden, und Peter beschaute neugierig die
vielen Flaschen und Fläschchen und Schachteln und Schüsseln. Er empfand
nicht Mitleid mit der Mutter, sondern nur Neugierde und Ehrfurcht
erfüllten ihn. Ja, er wünschte auch einmal so krank zu werden, damit man
so besorgt um ihn sei, und damit er alles so schön habe. Und die Mutter
legte nun ihren Arm um seinen Hals und küßte ihn auf den Mund. Da hatte
sie auf einmal jenen Zug der Unerbittlichkeit, den die Mutter als die
strafende Macht in seiner Vorstellung besaß, verloren. Und das machte
ihn traurig. Er hätte ihr gern sein armes Herz ausschütten mögen. Er
hätte ihr sagen mögen, wie verhaßt ihm die Schule war und der dumme
Lehrer, und daß niemand da sei, der ihn verstehe und der ihn so recht
von ganzer Seele lieb habe, und daß er die Mutter schrecklich lieb habe
und es nur nicht sagen könne .... Er brachte kein Wort über die Lippen.
Die Mutter reichte ihm eine der Aprikosen, die auf dem kleinen Tischchen
am Bett lagen, und er konnte ihr nicht einmal danken.

»Willst du denn ein guter Mensch werden, Peter?« fragte Frau Agnes
leise. »Schau, du mußt später immer an mich denken, wenn dir etwas nicht
recht erscheint. Ach, und du mußt kein solcher Träumer sein, das mußt du
mir versprechen. Du mußt nicht den Kopf immer hängen lassen. Du mußt
froh sein, du mußt dir was Großes vornehmen im Leben und mußt immer
deine Pflicht erfüllen. Nur nicht so viel träumen; schau, ich hab’ auch
mein Leben verträumt und es ist nichts daraus geworden.«

Erschöpft hielt sie inne, und dann kamen die Ärzte, und Tante Regina
schob ihn hinaus. Immerfort mußte er an die Mutter denken und an das,
was sie ihm gesagt. Er vermochte nicht eigentlich darüber nachzudenken,
sondern es war nur ein dumpfes Hinträumen; er fragte sich furchtsam, was
das wohl sei, dies geheimnisvolle »Leben«, daß man sich so sorgen mußte
darob. Er dachte auch wieder daran, daß er bis jetzt noch keine
Schulaufgaben gemacht und daß er alle Ferientage verbummelt und
verträumt habe. Doch der Abend nahte schon, und er war so müde vom
Grübeln, daß er ins Bett ging. Stundenlang hatte er schon geschlafen, da
hatte er folgenden Traum.

Er fuhr in einer Karosse und neben ihm saß die Mutter. Und sie blickte
mit ihren großen, wundervollen Augen nachdenklich vor sich nieder. Durch
eine weite Wüste fuhren sie, in der man nichts als Sand und Steine und
die rote Sonne sah. Und hinter der Kutsche lief der Vater und schwang
die Peitsche. Sein Gesicht war ganz rot und aufgequollen, ganz häßlich
und er schrie immer und konnte nicht nachkommen. Die Mutter aber
lächelte verächtlich und streichelte Peters Haar langsam und liebevoll
und flüsterte: verträumt hab’ ich mein Leben, verträumt ... Plötzlich
aber traf sie die Peitsche des Vaters mitten ins Gesicht, und das helle
Blut floß aus ihren Wangen und aus ihrer Stirn. Sie wurde immer
bleicher, aber der Vater schrie immerzu, und die Karosse stand nicht
still. Peter fühlte, wie die Hand der Mutter auf seinem Kopf erstarrte,
wie sich die Finger ins Haar einkrampften, als sie sich zurücklehnte,
seufzend und bleich .....

Da erwachte er mit einem halberstickten Schrei. Es war anfangs so völlig
Nacht um ihn, daß er nicht einmal das Fenster sehen konnte, gerade wie
wenn seine Augen im Traum durch eine grelle Lichtflut geblendet worden
wären. Eine unbestimmte Angst erfaßte ihn, jenes Gefühl, das gar oft in
der Finsternis der Nacht kommt, und das den Menschen unerbittlich
zwingt, Schreckbilder zu sehen und an sie zu glauben. Und dann ging
diese Angst wieder in jene allgemeine und beklemmende Furcht vor dem
Leben über und er kam sich so hilflos vor, so allein. Sein Herz klopfte
laut ... Doch plötzlich war es, als ob ein wilder und ungestümer
Entschluß in seiner Seele erwacht sei. Ich will nicht träumen, sagte er
sich, ich will ein Mann werden. Und jetzt muß ich auch meine
Schulaufgaben machen, ja heute Nacht noch, und die Mutter soll sehen,
daß ich nicht so ein Herumträumer bin. Feldmarschall werden, das ist ja
Unsinn; Baumeister will ich werden, da kann man viele schöne Häuser
bauen, und man kann über alle Maurer befehlen und hat auch viel Geld. Da
kann ich dann der Mutter was davon geben. Ich will ihr ein großes,
marmornes Schloß am Meer bauen, darinnen soll sie wohnen, ganz allein
mit mir. Und ihm wurde das Leben plötzlich golden und heiter in seiner
Wirklichkeit, nicht mehr wie früher im Traum. Und eine ganz fremde Glut
erwärmte nun seinen Körper, so, als ob er vorher hätte leiden müssen
durch Frost, und als ob man ihn an nun ein wärmendes Feuer getragen
hätte. Ein ganzes Weltbild spiegelte sich in seinem kindlichen Geist,
und er sah wohl, daß er noch im Thal wandere, wo es düster war, in der
Schlucht, dahin der Tag noch nicht dringen könne; doch oben auf dem Kamm
der Berge, da war das Licht und da war Helligkeit, so daß man die Augen
zumachen mußte davor. Glück war da oben und Frohheit und Jauchzen und
frischer Kampf und keine Träume, sondern der Weg lag da so klar und
bestimmt, daß man nicht fehltreten konnte. Und eine schöne Frau stand
da. Sie lächelte ihm zu, sie warf ihm Blüten ins Gesicht, und sie neckte
ihn, wenn er den Kopf hängen ließ und grübeln wollte. Blühende
Landschaften sah er und Flüsse, die vom Gold der Sonne glänzten, und er
gewahrte nichts mehr von der Finsternis ringsumher. Ach, wenn er doch
jetzt groß wäre und stark, dann hätte er heiraten können, und ein Schloß
würde er sich bauen mitten im Wald, und lauter Schlösser in der Runde so
herrlich, wie die Residenz des Königs ... Was wollte er alles
ausrichten im Leben, was alles vor sich bringen! Wie große Augen würde
Lizzi machen, wenn er ihr dies alles berichtete! Und nun mußte er zur
Mutter, jetzt gleich, und mußte ihr sagen, daß er kein Träumer mehr sei
und kein Kopfhänger, daß er froh sein werde und gut, und gegen alle
Menschen freundlich ....

Er sprang aus dem Bett und eilte in das Zimmer der Mutter. Im Wohnzimmer
war es finster und ihm schien, als klänge vom Sofa her ein Stöhnen. Er
blieb stehen und betastete sich und knöpfte das Hemdchen, das über der
Brust offen stand, wieder zu. Denn es fror ihn, barfüßig und im Hemd,
wie er war.

Im Krankenzimmer brannte Licht. Aber die Lampe war so tief
heruntergeschraubt, daß von der Schwelle aus kaum noch die Gardinen
sichtbar waren. Dem Knaben erschien alles anders, gleichsam starrer,
lebloser. Er wußte nicht, wie weit die Nacht vorgerückt war, und ihm
graute auf einmal vor dieser Einsamkeit und vor der Stille. Wo war Tante
Regina? Wo war Barbara? Indem er ins Wohnzimmer zurückschaute, sah er
sich selbst im Spiegel, – nur einen weißen Fleck, düster und
gespensterhaft.

Dort lag die Mutter. Sie rührte sich nicht. Er flüsterte: »Mutter!« Aber
sie blieb trotzdem unbeweglich. Er ging näher heran. Kaum konnte er sich
aufrecht erhalten, so sehr hatte ihn eine unbestimmte Furcht ergriffen,
eine Furcht, die ihm heiß machte, die sein Herz beschwerte, die ihn
daran denken ließ, ob es nicht gut wäre, niederzuknieen und zu beten. Er
hatte sehr große Lust zu weinen, aber es umwehte ihn wie ein Schauer
unsichtbarer Fittiche, so daß er mit weit aufgerissenen Augen vergeblich
der Thränen harrte ... Da stand er nun am Bett. Die Aprikosen lagen
noch auf dem Tischchen. Wie leicht hätte er nun eine nehmen können und
niemand würde was merken. Und die Arzneiflaschen standen da, rot
beklebt.

Die Mutter war bleicher, als er je an einem Menschen gesehen. Er sah sie
gar nicht atmen, und er fragte sich neugierig, wie es komme, daß sie so
unnatürlich starr dalag, mit dieser wächsernen Farbe des Angesichts. Die
Augenlider waren ja nicht einmal völlig geschlossen; das Dunkel des
Augapfels schimmerte durch die Wimpern, – so, als wäre sie über irgend
einen Gegenstand in sehr tiefe Gedanken gefallen, so daß sie alles um
sich her vergessen mußte. Aufgelöst waren die Haare und sie flossen
hinab über den Bettrand .... Jetzt hörte er ganz deutlich, daß Jemand im
Wohnzimmer draußen stöhnte! Das mußte wohl Tante Regina sein. Aber
weshalb sollte sie wohl weinen? Sie war doch schon so alt. So alte Leute
weinen doch nicht mehr.

Peter berührte die Hand der Mutter und erschrak. Wie kalt fühlte sich
das Fleisch an! So kalt wie ein Stein. Er beugte sich zu ihr. Er näherte
die Lippen ihrem Ohr und fragte: »Schläfst du Mutter?«

                            [Illustration]



                                 Ruth

                            [Illustration]


Abgespannt und unbeweglich saß Formes, der Student in seiner Kammer und
starrte mit verglasten Blicken zu Boden. Ein Leben der Eintönigkeit und
der Demütigungen, wie er es führte, ein Leben des Nichtsthuns und der
Jagd nach schalen Genüssen hat freilich seine Augenblicke der
Zerknirschung, in denen man jene guten Vorsätze faßt, welche später
zertrümmert und zerschellt sich wiederfinden, gleichwie die Fetzen eines
vom Packeis zerrissenen Kahnes. Lange Zeit saß der hagere Student so,
dem schmerzlichen Anschauen eines leeren Daseins hingegeben, und der
Regen fiel vom Himmel und benetzte die Scheiben und klatschte auf den
Pflastersteinen der Gasse mit seltsamer Geschwätzigkeit, und nebenan
lärmten die Kinder und eines sang ein Lied und das andere knallte mit
einer Peitsche und ein drittes blies in ein Trompetchen, so daß es
schrill und durchdringend in alle Ecken des Hauses scholl. Die Bälge
verbittern mir auch noch das Leben, dachte Formes und blickte finster in
den grauen Himmel hinein. Wie traurig, daß die Mutter auf die
Verpflegung fremder Kinder angewiesen ist. Und wie kläglich ist der
Gewinn daraus! Meist waren es Bauernkinder aus den umliegenden
Ortschaften, die in der Stadt die Schule besuchten und nur am Sonnabend
zu ihren Eltern gingen, um den Feiertag zu Hause zuzubringen. Und als
die Dämmerung hereinbrach, erhob sich Formes, froh, von seinen
Grübeleien abgelenkt zu sein, und betrat das Zimmer, wo die sechs Kinder
wie sechs Vögelchen in heiterem und lautem Spiel umhertollten. Sie
haschten einander mit Jauchzen und Händeklatschen; ihre Augen
leuchteten und ihre Wangen waren frisch gerötet. Eine düster brennende
Lampe stand auf dem Tisch; um die Lampe herum lagen in krausem Wirrsal
Schiefertafeln und Fibeln und Griffel, und die kleinen, braunen
Rechenbüchelchen von Heuner.

In dem Augenblick, wo Formes den Raum betrat, wurde es mäuschenstill
unter dem kleinen Völkchen. Jedes der Kinder blieb an seinem Platz wie
angewurzelt stehen und jedes schaute zu Boden, – so, als ob es genascht
hätte und dabei ertappt worden wäre. Manche blinzelten scheu von unten
herauf an dem »Mann« empor, und zwei lächelten sich sogar verstohlen zu.

Mit den Händen in den Hosentaschen blieb Formes an der Thüre stehen und
versuchte, kindlich unbefangen zu lächeln. Aber er fühlte selbst, wie
schlecht ihm das gelang, und aus Ärger darüber, wohl auch aus Ärger, daß
er sich bei Kindern mit einem Lächeln einschmeicheln wollte, klapperte
er heftig mit den Schlüsseln in seiner Tasche. Und er forderte die
Kleinen mit rauher Stimme auf, weiter zu spielen, und dazu nickte er
jovial und zwinkerte mit den Augen. Die Kinder begannen sich wieder zu
bewegen; sie gingen umher, plauderten miteinander, aber es lastete
gleichsam wie ein Druck auf ihren Herzen. Kein frohes Spiel wollte sich
mehr gestalten, und Formes gewahrte mit einem Zorn, der ihn selbst
betroffen machte, wie sie immer stiller und scheuer wurden, wie sie sich
schließlich um den Tisch gruppierten, um mit etwas trotziger und
herausfordernder Geschäftigkeit ihre Schulaufgaben zu vollenden. Formes
runzelte die Stirn und blies den Atem durch die gespitzten Lippen. Er
fühlte sich überflüssig und beschämt und wußte durchaus nicht weshalb.
Er errötete (wie lange schon war er nicht mehr errötet!), und auch
hiervon wurde ihm der Grund nicht klar. Er versuchte, kindlich mit den
Kindern zu reden, aber was er sagte, war nur kindisch, so daß die vier
Mädchen leise darüber kicherten und sich viel verständiger dünkten als
er.

Da gewahrte er in einer Ecke, dicht an die bunte Gardine geschmiegt, ein
Kind, das ihm gänzlich fremd war. Und er war bestürzt durch den Anblick,
der sich ihm bot. Ein bleiches Gesichtchen sah in süßen Ovallinien aus
einer Flut glänzend schwarzer Haare hervor. Die gelbliche Blässe dieses
Antlitzes war so fremdartig, und die großen, dunkelen Augen, die wie
Sterne aus der finsteren Ecke herüberleuchteten, waren von so seltner
Glut erfüllt, daß Formes hinüberstarrte wie auf eine Erscheinung. Das
Kind rührte sich nicht. Es hatte die Blicke unverwandt auf den langen,
hageren Menschen gerichtet, voll Furcht und zugleich voll Wildheit. Und
die Nasenflügel zitterten leicht, und die kleinen schmalen Händchen
klammerten sich fest an die Gardine und hinter diesem Bild voll Zauber
lugte die matte Nacht herein, durchzittert und durchwogt von letzten
Dämmerlichtern. Formes fragte sich beklommen, wo das Mädchen herkomme,
denn er hatte es noch nicht gesehen unter den übrigen. Aber unter den
Blicken des Kindes verwirrten sich seine Gedanken. Sein Herz öffnete
sich plötzlich einer Bitterkeit, die ihm ganz neu war, und die ihn auf
sein vergangenes Leben schauen ließ, wie auf eine einzige durchschlemmte
Nacht. Eine brennende Sehnsucht nach Frieden und friedlicher Arbeit
erfüllte ihn plötzlich und ein sonnenvolles Land öffnete sich plötzlich
seiner Seele, und ein Haus stand davor mit weißgetünchten Mauern und
grünen Fensterläden und ein Park, an dessen Wegen die Bäume wie
Brautpaare standen und sich die Äste reichten. Doch dies währte kaum
länger, als man braucht, es zu erzählen. Er wollte hingehen, um das
Mädchen anzureden, aber siehe, seine Glieder waren wie gelähmt. Er
wagte es nicht, das Kind anzureden. Darüber war er sich völlig klar,
daß er zu feig war, den furchtsamen und doch unbefangenen,
durchbohrenden Blicken des seltsamen Geschöpfes stand zu halten, und er
ging, – er flüchtete aus dem Zimmer. Draußen fragte er die Schwester
nach dem Neuankömmling. »Aus der werden wir auch nicht klug,« erwiderte
Cenci etwas hastig. »Das Kind spricht nicht, es lacht nicht, es spielt
nicht, wenn sie alle spielen. Seine Mutter ist ein armes, armes Mädchen,
das sich kümmerlich mit Nähen fristet. Kaum ein paar Pfennige kann sie
für das Wurm zahlen.«

Formes nahm Hut und Mantel. Erst als er die einsame Straße entlang ging,
verlor sich langsam die drückende Wehmut in seinem Herzen. Aber am
folgenden Tage suchte er den Anblick des Kindes zu vermeiden, wo es
möglich war. Er schalt sich thöricht, er machte sich mit Heftigkeit und
Erbitterung vor sich selbst lächerlich, aber er gedachte mit Schrecken
an die Reihe jener nagenden Gefühle, die das erste Erblicken des blassen
Mädchens in ihm hervorgerufen hatte. Einmal jedoch, spät war es am
Abend, stand das Kind im Flur, eben als er sich zum Ausgehen rüstete. Es
war barfüßig und mit einem dünnen, weißen, Kattunschlafröckchen angethan
und schaute mit unverwandten Blicken in den Sternenhimmel, der über den
Schneedächern, über den Schneefeldern, über den Gärten und über den
Wäldern lag, wie eine schwarzblaue Glasglocke, die an vielen, vielen
Punkten durchlöchert ist, so daß man das goldene Feuer durchblitzen
sieht, welches im Himmel brennt. Da faßte Formes den Entschluß, das Kind
anzureden. Er that es mit Widerwillen und mit Überwindung, aber ihm war,
als könne er sich dadurch loskaufen von der fremden, eindringlichen,
beängstigenden Macht, welche dies Kind auf ihn ausübte.

»Wie heißt du denn?« fragte er, zu dem Mädchen tretend, und sah mit
einem seltsamen Gemisch von Geringschätzung und Scham auf dessen ruhig
zum Nacken strömendes Haupthaar.

»Ruth heiße ich,« erwiderte die Kleine mit einer vornehmen Biegung des
Köpfchens. »Ruth« wiederholte sie scheu, als könne man ihren Namen nicht
gleich aufs erste Mal verstehen. Dann sah sie ihm wieder mit jenem
vollen, bangen Blick in die Augen, der ihn zwang, sich abzuwenden. Wenn
nur jenes Grübeln von mir ginge, dachte Formes. Und von neuem kam das
Bild: blaßwangig mit feuchten, schweren Augen, in denen der suchende
Blick lag und von Verlassenheit und Freudlosigkeit redete. Es war, wie
wenn Stimmen des Himmels sprächen; es war auch, wie wenn in tiefer
Nacht, gleich nachdem der Sturm sich zur Ruhe gelegt hat, eine sanfte
und gleichmäßige Musik aus geheimnisvollen Räumen fließt und sie wogt
und schwindet, während das Herz klopft und die Lippen ein verlangendes
Wort murmeln. Und wir können wähnen, daß auf unserm Haupt eine goldene
Krone säße und langsam hinschmölze vor den Strahlen des Glücks und der
Erwartung. Und ein fremder Stolz umgiebt die Wangen und den Mund. Und
die Nacht ist so reich, und die Sterne wandeln so vorsichtig dahin, um
die Sehnsucht nicht geringer werden zu lassen. Und in den Flammen des
Ofens steigen feurige Paläste auf und lassen uns wünschen: so möcht’ ich
wohnen.

Alles dies empfand Formes und noch mehr.

In der nächsten Nacht ereignete es sich, daß er durch den leisen Druck
einer Kinderhand aus dem Schlafe geweckt wurde. Ruth stand an seinem
Bett. Wie das Kind zu dieser tiefen Nachtstunde hereingefunden, blieb
ihm verborgen. In wenigen Sekunden war all seine Schlaftrunkenheit
verscheucht, und mit Schrecken und Staunen betrachtete er das Kind in
dem ungewissen Dämmerlicht der halbhellen Winternacht.

»Du mußt uns helfen; willst du?« flüsterte Ruth ganz leise und schauerte
zusammen. »Schau, die Mutter weint oft die ganze Nacht, wenn sie glaubt,
daß ich schlafe. Weißt du, warum sie weint? Nicht? Dann mußt du hingehen
und mußt sie fragen.«

Formes fühlte etwas zerfließen in seinem Herzen und er preßte die Lippen
zusammen. »Du frierst ja, Kind,« sagte er mit rauher Stimme, nahm das
Mädchen und zog es in sein Bett.

»Bist du auch brav? Betest du auch?« fragte Ruth, als sie zufrieden das
Köpfchen in den Kissen zurecht gelegt hatte.

»Nein.«

»Nein? Wirklich? Niemals betest du?«

»Doch – bisweilen –«

»Und warum hast du denn so einen langen Bart? Wie häßlich das ist, der
kratzt ja, den mußt du dir wegthun lassen. Willst du? O, was bist du
für ein schwarzer, schwarzer Mann, – du!«

Und sie bedeckte das Gesicht mit den Händen. Formes lachte.

»Gelt, du läßt deinen Bart ein wenig schneiden? Dann hab’ ich dich gern.
Und versprich mir auch, daß du der Mutter helfen willst. Du weißt doch
wo sie wohnt? Also paß auf: nämlich in der Bauerngasse im dritten
Stock.«

»Warum hab’ ich denn keinen Vater wie die anderen Kinder?« fragte die
kleine Ruth nach langem Stillschweigen. Und als Formes nicht antwortete,
weil wieder jene beengende und heiße Wehmut über ihn hereinbrach,
flüsterte sie weiter: »Sie fragen mich immer alle, wie heißt denn dein
Vater?... aber ich weiß nicht, ich weiß gar nicht. Das ist doch dumm,
gelt? Was ist er denn nur? Vielleicht hat er mich nicht lieb, du? Sag
doch.«

»Ja, ich weiß auch nicht,« erwiderte Formes, und er fand es gar schwer,
Worte zu finden für das Kind.

Und nach langem Nachdenken begann das Mädchen hastig, als dürfe es diese
Frage nicht vergessen. »Du, was ist weiter, Amerika oder die Welt?«

Der große Student konnte nicht darauf antworten. Es war eine fremde
Sprache, die er vernahm. Ungewohnter Gefühle voll, schaute er in die
dunkle Nacht hinein, die lautlos auf der Erde lag und die sich
unermeßlich hinzudehnen schien über alle Länder und über alle Sterne. Er
hörte wohl, wie das Kind weiter plauderte, und nicht zur Ruhe darüber
kommen konnte, wo der liebe Gott wohne und ob er Flügel habe wie die
Engel und ob das Paradies schöner sei wie der Stadtgarten hinter der
Burg, aber er fühlte sich arm dieser kindlichen Welt gegenüber und er
sah immer nur auf die Häusermauern hinaus, den Kopf auf den Arm
gestützt. Er sah gleichsam die Stille draußen schleichen, wie sie mit
wehenden Tüchern alle Dinge umwand, und er sah den dunklen Schlaf mit
müßigem Schritt durch die Gassen schleichen. Endlich warf er auch seine
Körner in die Augen der kleinen Ruth, während Formes bis zum Anbruch des
Tages wach blieb.

Am folgenden Nachmittag ließ er sich die Hälfte des Bartes abnehmen und
ging dann in die Bauerngasse, nachdem ihm Cenci auch die Nummer des
Hauses angegeben hatte. Er vermochte sich zwar durchaus nicht
vorzustellen, wie er helfen könnte; denn Geld besaß er nicht. Aber er
ging von einer fremden Macht befehligt, und ein wunderbares Vertrauen zu
dieser Macht erfüllte ihn.

Als er die drei überaus steilen Treppen erklommen und eine zerbrechliche
Thür geöffnet hatte, sah er ein junges, schmächtiges Weib beim Fenster
sitzen, das sich bei seinem Eintritt erhob. Aber sie sah ihn kaum, als
sie laut aufschrie, und es war, als ob sie seinen Namen suchte. Er
zitterte. Das junge Weib blickte ihn lange Zeit an, mit Lippen, die
gleichsam durstig waren, zu reden, aber sie brachte nicht eine Silbe
hervor. Formes fühlte, daß er kalt wurde an Händen und Füßen. Nur
unvollkommen konnte er denken, und er sah das Gesicht dieser Frau, wie
es jünger war und schöner; er sah es wie sie heraufstieg aus den Nebeln
vergangener Jahre mit all der jugendlichen Anmut des Weibes, das eben
die Schwelle der Kindheit verläßt. Nur flüchtige Tage waren es gewesen,
Tage der Leidenschaft und lange, lange hatte Formes selbst den Namen des
Mädchens vergessen, das sich ihm so hingegeben: ohne Frage, was die
Zukunft bringen möge und ob der Mann mit strenger Faust den Zügel des
tollen Renners Leben zu halten verstünde. Und das Voneinandergehen kam
still und natürlich, wie bei zweien, die sich nun entbehren können,
nachdem sie gemeinsam das Mahl der Freude genossen haben. Und das eine
versank in Not und das andere versank in Not und auf Flügelfüßen
enteilte die Zeit, leer an Glück und berstend von gespenstigen
Schicksalen. Sie ist an meinem Herzen gelegen und Ruth ist mein Kind,
dachte Formes und eine solche süße Befriedigung floß in seine Brust, daß
sich seine Augen mit hellen Thränen füllten. Wie der Mondschein im
Herbst an den Fenstern zittert, so durchirrte eine scheue Glut sein
ganzes Wesen und warf einen zauberischen Schein auf den Weg, der vor ihm
lag. Er wußte nicht, was er zu dem jungen Weib sagte, er sah nur, daß es
ihr plötzlich klar geworden, wohin sie ihr Kind gebracht, sah, wie sich
ihr Gesicht in Angst, Abscheu und Reue verzog, und da wandte er sich zum
Gehen. Nicht, als ob er zu verstockt gewesen wäre, ihr die Hand zur
Versöhnung zu reichen, aber er erachtete dies nicht für wesentlich;
ganz Anderes erfüllte ihn nun und das Kind, das er gewonnen, wollte er
schnell beglücken mit allem Glück der Liebe. Darum war er gegangen.

Das arme Weib aber raffte ein Tuch und ihren Mantel aus einer Ecke
hervor und stürzte fort: ihr war, als sei Ruth in Gefahr und als müsse
sie das Kind noch in dieser Stunde sehen und zurückbringen in ihr
dürftiges Heim, damit es nicht verdorben werde durch den Blick des
betrügerischen Mannes, dem sie sich einst berechnungslos ergeben hatte.

Formes wanderte weit hinaus in die Felder, wo es sehr einsam war. Ein
bleiern schwerer Himmel hing droben und der niedere Flug der Raben trieb
Staub aus den Äckern empor. Und hinten lag die Stadt ausgebreitet, und
die roten Ziegeldächer schoben sich ineinander wie die Schuppen eines
Reptils, und die Häuser stiegen an bis gegen die Burg hinauf, dem
ehrwürdigen Heim heldenhafter Kaiser. Niemals hatte diesen hagern
Studenten eine solche Fülle weicher und trauriger Empfindungen
beherrscht. Bereit zur Hingebung an Gutes und Edles, sah er einen Weg in
die Zukunft vor sich, den er wandeln wollte mit herber Entschlossenheit.
Sich loslösen von den Genossen und allein den stillen Pfad zur Kraft
wandeln, das beschloß er. Die lockere Weisheit des fatalistischen
Beharrens verachten zu lernen und sich mit strenger Arbeit ein Bett zum
guten Schlaf erkaufen, das Leben der Mühe wert zu leben machen, hingehen
und hoffen und allen Kleingeist zerbrechen wie dürres Rohr, das war ein
Ziel. Er fühlte, daß es gut würde, wenn er jetzt gehorchte und die
beglückende Frohheit und Kampfwilligkeit nicht ungenutzt vergehen ließ.
Und das alles hatte ein armes Kind vollbracht, das an ihn glaubte und
dem er näher stand, als irgend ein Mann der Welt. Er sagte sich, daß
etwas Herrliches und Erhabenes darin liegt, ein Wesen zu lieben,
welches vom eigenen Fleische stammt, ein Wesen, das lachen kann und
weinen kann und beten kann, und das Schönheit besitzt, die ihm
zugeflossen reichlich und wundervoll, wie aus einem unsichtbaren
Gnadenquell.

Er kehrte nach der Stadt zurück und hatte indes einen feinen,
glücklichen Plan ersonnen. Er suchte einen jungen Freund auf und bat so
ernst und eindringlich, wie er nie zuvor gethan, um ein Darlehn von zehn
Mark. Im Besitz des Verlangten, betrat er einen großen Spielwarenbazar,
wo er eine überaus prächtige Puppe kaufte. Sie hatte echtes Haar von
aschblonder Färbung und besaß einen edlen, damenhaften Gesichtsausdruck.
Es war eine Puppe, die Persönlichkeit besaß. Ihre Bewegungen waren weder
eckig noch kreischten die Gelenke dabei, sondern sie hatte die
einschmeichelnde Grazie einer Südländerin, und wenn sie »Mama« sagte, so
klang das, wie wenn ein wirkliches Mädchen sagt: Ich liebe dich. Ihre
Kleidung war so kostbar, daß ein tartarischer Chan vor ihr sich hätte
schämen müssen. Mit diesem köstlichen Schatz also bepackt, wanderte
Formes dem nördlichen Stadtteil zu. Sein Herz klopfte vor ungestümer
Bewegung und zum erstenmal empfand er, darüber erstaunend, die Freude
des Gebens.

Es war schon acht Uhr, als er zu Hause anlangte. Freilich waren die
Kinder jetzt schon zu Bett gegangen, aber er wollte Ruth wieder wecken.
Ohne der Schwester oder der Mutter zu begegnen, schlich er zum
Schlafzimmer der Sieben. Er zündete eine Kerze an und bemerkte, daß
seine Hände dabei zitterten. Dann suchte er die Bettchen ab; immer
ungeduldiger ging er von einem zum andern, und er wußte nicht, wie ihm
geschah, als er das Mädchen nicht fand. Es waren vier Betten und eins
stand leer. In den andern lagen je zwei Kinder. Er suchte noch einmal,
er leuchtete jedem der Schläfer ins Gesicht, aber die kleine Ruth fand
er nicht. Da lächelte er plötzlich, und dieses Lächeln war kindlich und
voll Heiterkeit. Während der Dauer dieses schönen Lächelns war er ein
völlig anderer Mensch. Er ging mit der Kerze in der Hand in sein eigenes
Zimmer; denn er war fest überzeugt, das Kind habe sich heimlich dort
drüben eingenistet, um bei ihm bleiben zu können. Im Korridor jedoch
traf ihn seine Schwester Cenci, die ihn etwas erstaunt ansah, als sie
ihn mit dem Licht in der einen und dem Packet in der andern Hand
erblickte. »Du, Hans,« sagte sie, als sie sich schon abgewandt hatte,
»die kleine Ruth ist heute plötzlich geholt worden. Ihre Mutter war da
und war sehr aufgeregt. Sie hat uns das Geld auf den Tisch geworfen und
ist dann mit dem Kinde gegangen. – Was ist dir denn, Hans? Du bist ja so
bleich?« Mit langsamem Kopfschütteln wandte sie sich ab und zum ersten
Male fühlte sie sich durch irgend etwas dem Bruder nahe, obwohl ihr
keineswegs der Grund davon klar wurde. Stets lag Finsternis und Sorge
über diesem Haus und die Menschen darin waren froh, wenn sie mit ihrem
Tag zu Ende waren und sich das bischen Schlaf ergattert hatten.

Formes stand noch geraume Zeit. Ein dumpfer Laut entwand sich seinen
Lippen und mit heißem Ingrimm fühlte er, daß etwas Herrliches für ihn
verloren gegangen sei in dieser Stunde. Dann ging er hinab auf die
Straße und zertrümmerte die kostbare Puppe am Rinnstein. Damit
zertrümmerte er auch das lockende Gebäude der süßen und hoffnungsvollen
Träume. Schwer und grau zogen die Wolken der kommenden Jahre heran. Wie
lichtlos war all dies Treiben, all dies Hangen zwischen Hoffnung und
Verbitterung! Es geht einer einen blühenden Wiesenweg entlang und
mühelos vermeint er das köstliche Dach seiner Heimat zu erreichen. Aber
da öffnet sich plötzlich eine weite Schlucht vor seinem stockenden Fuß,
und er kniet verzweifelt auf einen harten Fels nieder, und mit
geringschätzigem Lächeln giebt er es auf, das Hoffen und das Warten.

Formes ging zum Thor und sah gegen den hellen Mond empor. Schwebte nicht
unter den Himmeln ein Kind mit blassen Wangen und streckte die Arme nach
ihm aus?

                            [Illustration]



                 Druck von Hesse & Becker in Leipzig.



          Verlag von Albert Langen, Paris, Leipzig, München.

                           Jakob Wassermann

                               Melusine
                            Ein Liebesroman

                          Preis 2 Mark 50 Pf.

Der Liebesroman von _Jakob Wassermann_ _»Melusine«_ ist ein schweres und
trauriges Buch. Von der ersten Seite des Buches an fühlt man sich
seltsam und unwiderstehlich festgehalten. Man ahnt bereits das Ende der
Geschichte, wenn man den Anfang liest. Man merkt schon an dem Ton, an
der Vortragsart des Verfassers, daß er uns Verhältnisse schildert, aus
denen es kein Entrinnen giebt, bange, zerrüttete, trostlose
Verhältnisse, in denen die Gefangenen nur stumm, eintönig, unaufhörlich
weinen, ohne etwas ändern zu können an ihrem Geschick. Ein kindhaft
scheues und schwermütiges weibliches Wesen mit großer Hingebung und
einem bösen Geheimnis treibt in dem Buche ihr Spiel. Sie ist leidend,
die rätselhafte, weltfremde Melusine, die, jung und elternlos, von ihrem
Vormund verführt wurde und seitdem heimlich seine Geliebte ist. Sie
haßt, verachtet ihn, sie hat schon unzähligemal mit ihm gebrochen, aber
sie ist arm und hilflos und so muß sie sich von ihm brutalisieren
lassen. In der Familienpension lernt sie einen jungen Studenten kennen,
und ein leidenschaftliches Verhältnis entspinnt sich bald zwischen den
beiden. Aber das Geheimnis liegt zwischen ihnen und dann die Armut. Mit
Ekel vor der Liebe erfüllt, hat das Mädchen nicht den Mut, nicht die
Kraft, der Lüge zu entrinnen, ihr Schicksal zu ändern. Und so
entschwindet sie dem jungen Mann plötzlich und wie ihm, so auch dem
Leser. Man vernimmt nichts mehr von ihr und es bedarf auch dessen nicht.
Ihr Bild ist vollendet, ihr Wesen steht klar vor unserer Seele. Eine
große Sehnsucht weht durch das Buch, das ganz in Moll klingt und das ein
eigenartiges und dichterisches genannt werden darf.

                                    (Frankfurter Zeitung, 29. VI. 96.)



                   Kleine Bibliothek Langen Bd. II.

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                            [Illustration]

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               Abonnement vierteljährlich 1 Mark 25 Pf.



[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
Grundlage der 1897 erschienenen Erstausgabe erstellt. Die nachfolgende
Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext
vorgenommenen Korrekturen.

S. 012: von einer Summe iunerer Zweifel -> innerer
S. 022: [Anführungszeichen ergänzt] jetzt bin ich wieder aufgewacht.«
S. 031: [Ellipse vervollständigt] an den Ohren gepackt!...
S. 041: Wenn man draußeu stand -> draußen
S. 041: die Züge ihres Wesens anfgedrückt -> aufgedrückt
S. 075: gerade wie wenn seine Angen -> Augen
S. 076: [Ellipse vervollständigt] Sein Herz klopfte laut ...
S. 088: wie sie sich schießlich um den Tisch gruppierten -> schließlich
S. 093: [Anführungszeichen ergänzt] heißt du denn?« fragte er
S. 094: ereignete es sich. daß er -> sich, daß
S. 096: [Ellipse vervollständigt] wie heißt denn dein Vater?... aber
S. 101: ihr war. als sei Ruth -> war, als
S. 101: dem ehwürdigen Heim -> ehrwürdigen ]



[Transcriber’s Notes: This ebook has been transcribed from the first
print edition, published in 1897. The table below lists all corrections
applied to the original text.

p. 012: von einer Summe iunerer Zweifel -> innerer
p. 022: [added closing quotes] jetzt bin ich wieder aufgewacht.«
p. 031: [extended ellipsis] an den Ohren gepackt!...
p. 041: Wenn man draußeu stand -> draußen
p. 041: die Züge ihres Wesens anfgedrückt -> aufgedrückt
p. 075: gerade wie wenn seine Angen -> Augen
p. 076: [extended ellipsis] Sein Herz klopfte laut ...
p. 088: wie sie sich schießlich um den Tisch gruppierten -> schließlich
p. 093: [added closing quotes] heißt du denn?« fragte er
p. 094: ereignete es sich. daß er -> sich, daß
p. 096: [extended ellipsis] wie heißt denn dein Vater?... aber
p. 101: ihr war. als sei Ruth -> war, als
p. 101: dem ehwürdigen Heim -> ehrwürdigen ]





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