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Title: Leben und Schicksale des Katers Rosaurus - oder die kleine Prinzessin und ihre Katze
Author: Winter, Amalie, 1803-
Language: German
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  [Bild: Prinzessin Marie und Rosaurus
  Stahlstich d. Kunst u. geogr. Anst. v. Serz & C^ie]


  Leben und Schicksale
  des
  _Katers Rosaurus_,

  oder
  die kleine Prinzessin und ihre Katze.

  Ein unterhaltendes Lese- und Bilderbuch für Kinder
  von
  Amalie Winter.

  Mit 1 schwarzem und 5 colorirten Stahlstichen.


  Leipzig, 1851.
  _Baumgärtners Buchhandlung._



Kapitel 1.

Die Ueberraschung.


  Meine Freuden.

  Wollt Ihr meine Freude hören,
  Ruft ein Mädchen voller Lust,
  Nun ich will sie gern Euch lehren,
  Hegt sie auch in reiner Brust.

    Meine Freude sind die Blüthen
    Und die Blumen groß und klein
    Die des Himmels Lust und Frieden
    Durch die weite Schöpfung streu’n.

  Meine Freuden sind die Thiere,
  Schäfchen, Biene, Schmetterling.
  Denn in Gottes Lustreviere
  Ist mir keines zu gering.

Die kleine Prinzessin Marie war 6 Jahr alt und führte ein glückliches
Leben. Alle Welt war ihr gut und Jedermann bemühte sich, ihr Freude zu
machen. Täglich wurden kleine Mädchen eingeladen, mit denen sie im
schönen Wagen spatzieren fuhr und mit schönen Spielsachen spielte.

Die Spielsachen waren aber ganz außerordentlich schön. Sie hatte unter
Anderm eine Puppenstube, welche so groß war, daß nicht nur die Puppen,
sondern auch deren Besitzerin, nebst zwei ihrer Freundinnen darin Platz
fanden. Kanapee, Stühle und der Tisch waren so eingerichtet, daß die
Kinder sich ihrer bedienen konnten und oft wurde dort in Gesellschaft
der Puppen von verschiedener Größe Chocolade getrunken. Der kleine Hund
_Joly_ wurde bei solchen Gelegenheiten ebenfalls eingelassen und erhielt
einen Platz auf dem Kanapee, von wo aus er mit wahrhaft menschlicher
Grazie, ebenfalls Chocolade trank und Bisquit fraß. Wenn er sich
zuweilen vergaß und sich allzu gefräßig zeigte, so wurde er ernstlich
ermahnt und das Prinzeßchen drohte mit dem Finger.

Die Puppen waren indeß von verschiedener Größe und von ganz
verschiedener Art. Da sah man eine große Puppe als Königin angethan,
mit einer goldenen Krone auf dem Kopf und dem Hermelinmantel um die
Schultern. Neben ihr saß das Bauermädchen in der Landestracht, mit
Bändermütze, kurzem Rock und goldgesticktem Latz. Ein kleiner Knabe
und ein kleines Mädchen waren in den kurzen Flügelkleidern und weißen
Beinkleidern mit den runden Strohhüten sehr hübsch anzusehen.
-- Außerdem gab es auch Puppen in Haus- und Ball-Kleidern und alle
hatten ihre besondere Garderobe. Viele davon besaßen sehr schönes langes
Haar, und es gewährte den Kindern große Freude, solches zu kämmen und zu
flechten; andere hatten blos Locken, was ihnen auch sehr gut stand.

Alle diese Puppen waren aber, in dem Augenblick wo diese Geschichte
beginnt, ganz vergessen und lagen in einer Ecke der Puppenstube über
einander gehäuft, denn die Prinzessin hatte kürzlich eine Puppe
erhalten, welche alle anderen aus ihrem Herzen verdrängte; das war
nämlich eine schöne Wickelpuppe. -- Kopf, Arme und Beine waren von
Wachs und das Kinderzeug war äußerst vollständig. Es fehlte nicht an
Windeln, Stopfläppchen und Wickelschnuren. Die Wickelkissen waren mit
Bandschleifen versehen und mit Stickereien garnirt. Die Mützchen waren
prächtig, ganz mit Spitzen und Bändern bedeckt. Es gewährte den Kindern
große Freude, das Puppenkind zu wickeln und trocken zu legen, herum zu
tragen und einzuschläfern, und ihm Brei zu geben, mit dem kleinen
silbernen Breilöffel, aus dem vergoldeten Breinäpfchen. Des Abends wurde
die Puppe immer in die Wiege gelegt, welche ebenfalls in der Puppenstube
stand; und das war eine sehr schöne Wiege von Mahagoniholz, wie nur
wenig Menschenkinder sie besitzen. Es schläft sich nun zwar eben so gut
in einer einfachen Wiege; aber für die Puppe einer kleinen Prinzessin
heißt es doch: „je schöner, je besser“. An dieser Wiege waren nun reiche
Vergoldungen angebracht; ein vergoldeter Engel schwebte darüber und
hielt in seinen Händen den grünen Vorhang von schwerem rauschenden
Seidenstoff: Kopfkissen und Decke waren von rosa Atlas mit Ueberzug von
gesticktem Tüll mit Spitzenbesatz.

Das schönste Eigenthum der Wickelpuppe war aber das Taufzeug. Es bestand
aus einem langen Kleid von Spitzentüll über rosa Atlas. Das Kind lag auf
einem Kissen von rosa Atlas und nun gab es Spitzen und Schleifen in
Menge. Besonders schön waren die Aermelchen gestickt, und das Mützchen
erregte allgemeine Bewunderung. Eine arme Stickerin hatte vier Wochen
daran gearbeitet und von dem Lohn, den sie dafür bekam, ihre ganze
Familie erhalten. Die Wickelpuppe sah aber in diesem Taufzeug gerade so
aus, wie das Prinzeßchen selbst bei der Taufe ausgesehen hatte.

„Wir wollen doch Taufens spielen“, sagte _Lisi_ eines Tages, als eine
Gesellschaft kleiner Mädchen bei der Prinzeß versammelt war. Lisi war
die älteste von ihnen und pflegte gewöhnlich die Spiele anzugeben. „Wir
wollen die Wickelpuppe taufen“, sagte sie, „und ich will der Pastor
sein“. Die Kinder nahmen den Vorschlag mit Jubel an; Mademoiselle Gogo,
die Bonne, hatte das Zimmer verlassen wegen eines Besuches und hatte die
Kinder gebeten, recht still zu spielen; nun! bei der Taufe machte man
auch gewiß keinen Spectakel. Lisi wickelte sich in einen schwarzen Shawl
und machte sich von Papier Päffchen an den Hals. Ein kleiner Tisch wurde
als Altar angeputzt. Nun putzten sich auch die Pathen. Das Prinzeßchen
setzte ein Diadem ihrer Mama auf, welches diese wegen dessen Schwere auf
einige Stunden bei ihr abgelegt hatte; ein goldgestickter Longshawl ward
ihr als Schleppe angemacht. Die kleine _Diana_ befestigte zwei
Blumenkränze der Balldamenpuppe auf den Kopf und band ihren himmelblauen
Mantel um die Taille, so daß er hinten Schleppe bildete; die kleine
_Amelie_ hatte eine Echarpe von rosa Flor auf dem Kopfe befestigt und
hüllte sich hinein, so daß sie in einem jener Wölkchen zu stecken
schien, welche Abends vor Untergang der Sonne so schön roth aussehen.
Die lange _Jenny_ hatte aber die Mütze des kleinen Prinzen aufgesetzt,
einen Kindersäbel umgeschnallt und ein Paar Vorhangsquasten als
Epauletten an die Schultern befestigt und wollte durchaus der Herr
Gevatter sein.

Nun sollte die Taufe losgehen. Lisi hatte nämlich ihr Schwesterchen
taufen sehen und nahm sich vor, es gerade so zu machen. Joly mußte sich
auf die Hinterpfoten setzen, um das Mützchen zu halten, was damals Lisis
Amt gewesen war.

Als nun die Vorbereitungen vollendet waren und die Kinder feierlich im
Kreise standen, vernahm man plötzlich ein fremdartiges Geräusch, ein
Poltern, Miauen, Winseln. Die Kinder wußten gar nicht, was es war,
-- die Wickelpuppe konnte es doch nicht sein!

Das Geräusch kam aus dem Kamin, welches im Sommer zugestellt wurde,
damit der Wind nicht herein fauchen konnte. Die Kinder fürchteten sich
und flüchteten schreiend und um Hülfe rufend in das andere Zimmer und
Joly verfiel in ein fürchterliches Gebell. Ueber dem Lärm kam
Mademoiselle Gogo herbei und frug, was es gäbe? Als die Kinder von dem
Spektakel im Kamin erzählten, schüttelte sie bedenklich den Kopf; sie
wußte nicht recht, ob es gerathen sei, das Kamin zu öffnen, es konnte ja
eine Eule oder ein Uhu hineingeflogen sein; diese Vögel haben aber große
Schnäbel und pflegen damit um sich herum zu hacken; es konnte auch eine
Fledermaus sein und Mademoiselle Gogo fürchtete sich vor Fledermäusen.
-- Alles stand um das Kamin in horchender Stellung. -- Ach, die Töne
waren so leise, so hülfebedürftig, man mußte ahnden, daß ein Geschöpf
Gottes sich sehr unbehaglich darin fühle. Lisi riß geschwind das Kamin
auf und siehe, da lag ein kleines allerliebstes Kätzchen. Es konnte kaum
14 Tage alt sein und gefiel den Kindern ungemein. Es war ein buntes
Cypernkätzchen. Es hatte einen langen Schwanz, den es anmuthig bewegte,
kurze Ohren, die es klug zu spitzen wußte und ein Fellchen, so weich und
glatt wie Seide. Dabei schnurrte es äußerst lieblich und schien sich im
Schooß des Prinzeßchens sehr wohl zu befinden. Die Kinder holten Milch
herbei und es leckte dieselbe mit seinem rosarothen Züngelchen. Man sah
es ihm an, daß es ihm gutschmeckte. -- Die Kinder hatten sich um das
Prinzeßchen herumgekauert, um den kleinen Ankömmling recht betrachten zu
können; alle waren davon entzückt, nur nicht Joly, welcher zur Thüre
hinaus gebracht werden mußte, da er Lust zu haben schien, das arme
Kätzchen zu beißen und aufzufressen.

  [Buntbild: Das Kätzchen wird im Kamin entdeckt.]

Als Lisi aber die Freundinnen aufmerksam machte auf die Sammetpfötchen
des Kätzchens und auf deren rosarothe Sohlen, wurden die Bedienten zum
Abholen gemeldet und man mußte sich trennen. Das Kätzchen war im Schooß
des Prinzeßchens eingeschlafen, und wir wollen es schlafen lassen, um zu
erforschen, wie der kleine Gast eigentlich in das Kamin gekommen war.



Kapitel 2.

Wie das Kätzchen in’s Kamin kam.


  In Sonnenschein --
  In dunkler Nacht
  Für Mensch und Thier
  Gottes Auge wacht.

Die Art und Weise, wie das Kätzchen in’s Kamin gelangt war, gewährt dem
aufmerksamen Leser einen Blick in die traurigen Familienverhältnisse der
Katzen. Bei dem Vogelgeschlecht ist das Männchen dem Weibchen beim
Nestbauen, Brüten und Füttern der Jungen behilflich. Der liebenswürdige
Gatte der Nachtigall singt seinem brütenden Weibchen vor und erfreut
durch seine herrlichen Liebestöne das Ohr des lustwandelnden Menschen.
Auch bei manchem vierfüßigen Thier findet man väterliche Zuneigung und
Fürsorge für die Jungen; aber bei den Katzen ist das nicht der Fall.
Mancher Katzenpapa hat sogar die schlechte Gewohnheit, seine Kleinen zu
fressen. Vielleicht hält er sie für Mäuse oder Ratten; vielleicht haßt
er sie, weil sie die Katzen zu sehr beschäftigen und von den
Mondscheinpromenaden auf den Dächern, vom Besuch der
Katzengesellschaften und von der Theilnahme an den herrlichen
Katzenconzerten, deren Ihr, lieben Kinder, gewiß schon oft gehört habt,
abhalten. Kurz, der Kater frißt seine Jungen und die liebende Katzenmama
ist genöthigt, dieselben gegen ihn zu vertheidigen oder vor ihm zu
verbergen. Das thut sie nun so gut sie kann, indem sie sich zu ihrem
Wochenbett Stellen aufsucht, wo Niemand so leicht hinkommt. -- Kätzchens
Mutter war nun niemand Anders als Mies Mies, die Hofkatze, und sein
Vater, der sehr ehrenwerthe Hofkater, Namens Murr. Beide Eltern
erfreuten sich einer sehr einträglichen Anstellung bei der Küche und
erhielten eine reichliche Besoldung an Hühnerknochen und Fischgräten,
die sie blos mit dem Hofraben zu theilen hatten. Mies Mies fand indeß
noch nebenbei Gelegenheit, manche verhungerte Stadtkatze zu
unterstützen, denn Mies Mies hatte ein gutes Herz; aber der Kater Murr
und der Hofrabe Hans wollten das nicht leiden und scharrten in die Erde,
was sie nicht fressen konnten, lieber, als andere Thiere damit zu
erfreuen. Man hätte nun meinen sollen, bei so reichlicher Kost würde der
Vater seine Kinder verschonen, aber nein! er hatte von Zeit zu Zeit
förmlich Appetit nach jungen Kätzchen und auch der Hofrabe liebte solche
zu verspeisen. Mies Mies kannte alle diese drohenden Gefahren und war
ernstlich darauf bedacht, ihre Kinder denselben zu entziehen.

Mies Mies hatte auch ein Gespräch der Schloßmagd und des Schloßvoigts
belauscht, worin diese sich vornahmen, keine jungen Kätzchen mehr im
Schloß zu dulden, weil solche Unreinlichkeiten verursachten; alle Kinder
der Mies Mies sollten künftighin ersäuft werden. Man kann sich denken,
wie das Herz der armen Hofkatze schlug, als die Stunde nahte, wo sie
Mutter werden sollte.

In ihre traurigen Gedanken vertieft schlich sie auf einem vorragenden
Haussims, in den Fenstern der fürstlichen Gastzimmer vorüber und
bemerkte, daß der Wind eines dieser Fenster aufgerissen hatte, ohne daß
irgend Jemand es bemerkt zu haben schien. Im Fremdenzimmer stand aber
ein Himmelbett mit blauseidenen Vorhängen, worin schon Fürsten und
Grafen geschlafen hatten; das mußte sich vortrefflich zum Wochenbett
eignen, es war ganz so weich und sanft, wie Mies Mies es für ihre jungen
Kätzchen nur wünschen konnte; sie schlüpfte also zum Fenster hinein,
sprang auf das Bett, wühlte mit ihren Pfoten eine Art von Nest zwischen
Kopfkissen und Plümeau, und sah sich bald von drei allerliebsten
Kätzchen umgeben, die sie auch während neun Tagen ungestört säugte. Nur
ein Mal täglich verließ sie ihre Kinder, um selbst Nahrung einzunehmen;
das that sie aber nur in der Nacht, damit Niemand erspähen möge, wohin
sie ihre Schritte wendete.

Die Kätzchen pflegen bis zum neunten Tag blind zu sein, bis dahin leiht
die sorgsame Mutter ihnen ihr Auge und wacht über sie. Mies Mies
erwartete stündlich, daß ihren Kindern das Licht aufgehen werde und
hatte fleißig die geschlossenen Augen geleckt, um ihnen das Aufschlagen
derselben zu erleichtern. Da vernahm sie eines Tages ein Geräusch an der
Thür; ein Schlüssel wurde in’s Schlüsselloch gesteckt, das Schloß
gedreht, die Thür ging auf und herein trat die entsetzliche Schloßmagd,
mit einem furchtbaren Besen an einem langen, langen Stiel. Mies Mies
befahl ihren Kindern ganz still zu sein; sie hoffte, die Hofmagd würde
nur kehren und nicht das Bett machen; ängstlich blinzelte sie durch die
Spalten des Vorhangs und verfolgte jede Bewegung der Entsetzlichen. Ach
-- all ihr Hoffen war vergeblich! -- Es waren Gäste angesagt und die
Fremden-Zimmer und Fremden-Betten mußten in Ordnung gebracht werden.
Eine kräftige Hand riß den Vorhang auseinander und das Plümeau in die
Höh’! Welch eine Unthat war da geschehen! --

Die Schloßmagd erhob einen gewaltigen Lärm; sie schrie und tobte gegen
die Katze, sie schimpfte und drohte sie zu verderben mit ihrer ganzen
Brut. Mies Mies ließ sich aber nicht so leicht einschüchtern, sie machte
wahre Tigeraugen; sie zischte, knurrte, pustete, machte einen
furchtbaren Katzenbuckel und schien sich zu einem gewaltigen Sprung nach
dem Angesichte der Schloßmagd zu rüsten; dabei bewegte sie ihren Schwanz
wie eine Löwin und zeigte ihre spitzen, scharfen Zähne wie ein Leopard.
Sie erschien in ihrer muthigen Mutterliebe so furchtbar, daß der
Schloßmagd ganz angst und bange wurde für ihre Augen und für ihre rothen
Wangen und sie davon eilte, um den Schloßvoigt als Beistand herbei zu
rufen.

Frau Mies Mies war indeß nicht so dumm, diesen Beistand abzuwarten; sie
dachte: wenn der Schloßvoigt und die Schloßmagd sich mit ihren
Besenstielen über mich hermachen, dann bin ich mit meinen lieben Kleinen
verloren, da geht es uns schlecht. -- Sie beschloß also, so schnell als
möglich ihre Kätzchen hinweg zu tragen und ihnen ein anderes Unterkommen
zu suchen. So nahm sie denn ein Kätzchen in’s Maul und trug es auf’s
Dach; dann holte sie das zweite, dann das dritte, und als die Hofmagd
und der Hofknecht kamen, fanden sie das Bett leer. Dasselbe sah aber
nicht reinlich aus und der Hofknecht hielt sich die Nase zu und lief so
schnell als möglich davon.

Nun ergriff Mies Mies wieder das Kätzchen, das sie zuerst auf das Dach
niedergelegt hatte; sie, deren Zähne so scharf für die Mäuse waren, sie
wußte dieselben ganz stumpf zu machen, damit ihr Kind den mütterlichen
Zahn nicht fühlte. Sie trug es nach einer Bodenkammer, wo sie sich eines
alten Strohsacks erinnerte; dort waren die Kleinen zwar nicht so weich
und vornehm gebettet, wie früher, doch sicher vor Störung. Dann holte
die Mutter das zweite Kind -- unser Kätzchen war aber das dritte,
welches bis zuletzt warten mußte.

So lag es denn allein auf dem Dache; es war bis jetzt noch blind gewesen
und wußte eigentlich nicht, was man mit ihm vorgenommen hatte; es fror
und ihm war ganz unheimlich zu Muthe; da berührt ein Strahl der
scheidenden Sonne das arme Thier und suchte dessen geschlossenes Auge,
welches sich plötzlich öffnete und zum ersten Male das Licht der Welt
erblickte. Kätzchen verfiel darüber in ein ungeheures Nießen und gerieth
durch diese Bewegung in’s Rollen; es rollte vom Dachgiebel herab, immer
weiter, immer weiter; es wäre bis in den Schloßhof gerollt, wenn das
Kamin es nicht aufgenommen hätte. So kam es denn in des Prinzeßchens
Zimmer und gewiß in sehr gute, liebevolle Hände.



Kapitel 3.

Wie die Kinder mit dem Kätzchen spielen.


  Quäle nie ein Thier zum Scherz,
  Denn es fühlt wie Du den Schmerz.

Kätzchens Ankunft war eine große Freude für die Kinder und besonders für
Prinzeß Marie. Wenn sie früh aufwachte, mußte man ihr das kleine Thier
ins Bett bringen, wo sie ihm das Frühstück gab, welches aus Milch und
Bisquit bestand. Joly, der oft eifersüchtig war, wurde ohne Erbarmen
geschlagen und in die Bedientenstube verwiesen, wenn er sich neidisch
zeigte und dem Kätzchen etwas anhaben wollte. Kätzchen fühlte sich auch
bald heimisch in dem blauen mit Sternen besäeten Zimmer, man merkte es
ihm an, daß es in einem Himmelbett zur Welt gekommen war; denn nichts
erschien ihm zu gut, um es zu benutzen. Das Prinzeßchen wollte auch mit
nichts Anderem mehr spielen als mit Kätzchen. Trotzig stand die schöne
große Puppen-Königin in der Ecke, seit 8 Tagen war ihr starkes Haar
nicht gebürstet und geflochten, ihr Staat nicht gewechselt worden.
-- Gabriele, die Balldame, lag eben so lang schon im Himmelbett in der
Nachtjacke und niemand dachte daran, ihr nur ein einziges Mal die
Augenlieder aufschlagen zu lassen, unter welchen doch so schöne blaue
Glasaugen ruhten. Unter dem Tisch lag aber die Wickelpuppe noch im
Taufstaat, denn sie hatte ihre schöne Wiege dem Miaukätzchen einräumen
müssen. Die Puppenstube befand sich aber in großer Unordnung, weil
Miaukätzchen alles darin herumgeworfen hatte; der Kronleuchter war
zertrümmert, die hübschen Nippsachen zerbrochen und die kleine Uhr von
Marzipan sah gar nicht mehr aus wie eine Uhr; denn Miaukätzchen hatte
die süßen Bestandtheile derselben entdeckt und häufig daran geleckt.

Kätzchen durfte sich auch alle möglichen Freiheiten nehmen. Wenn die
Fürstin durch das Zimmer ging mit dem Schleppkleid, sprang es auf die
Schleppe und ließ sich spazieren fahren. Wenn Prinzeßchen mit dem
Batisttuch wedelte, haschte Kätzchen danach und hing sich mit seinen
kleinen Krallen in dessen Spitzen, welche natürlich darunter litten.

Mademoiselle Gogo pflegte in einem Lehnsessel Platz zu nehmen, wenn sie
das Prinzeßchen an- oder auskleidete; dann hüpfte Kätzchen auf die
Lehne. „Kätzchen sieht zu“, sagte Mademoiselle Gogo, und sie meinte, das
könne Prinzeßchen vermögen, hübsch still zu halten. Das war aber eines
Tages gar nicht der Fall und Mademoiselle Gogo schüttelte unzufrieden
das Haupt, so daß die rothen Mützenbänder wackelten, und da Kätzchen
meinte, alles was sich bewege, wolle mit ihr spielen, Wupp! war es auf
Mademoiselle Gogos Kopf gesprungen und hatte die rothen Schleifen in den
Klauen. Mademoiselle Gogo fiel aber beinahe in Ohnmacht vor Schrecken
und das Prinzeßchen konnte vor Lachen vollends nicht still halten; aber
das war auch nicht nöthig, denn die gute Mademoiselle Gogo lachte gleich
darauf von ganzem Herzen mit.

Joly pflegte sein Frühstück und Mittagsmahl beim Kamin in des
Prinzeßchens Zimmer zu erhalten, und Kätzchen, obgleich es schon ganz
gesättigt war, fühlte stets Appetit danach und naschte davon. Wenn nun
der arme zurückgesetzte Joly sich darüber erzürnte, zu bellen anfing und
Kätzchen wegjagen wollte, begann dasselbe zu pusten und zu drohen und
mit ihren Sammetpfötchen Ohrfeigen auszutheilen, so daß Joly das
Schwänzchen einzog und queilte und unter das Kanapee flüchtete.

Kätzchen war noch gar nicht gut erzogen und pflegte oft die schönen
Teppiche zu verunreinigen; Mademoiselle Gogo machte eine Ruthe, um es zu
strafen, aber Prinzeßchen bat immer vor und wenn alle Welt sich die Nase
zuhielt, meinte sie immer, es sei die Resede, welche so stark dufte --
und da gab es auch manche Leute, welche das wirklich zu glauben
schienen.

Eines Tages wurden wieder die guten Freundinnen zu Chocolade gebeten und
alle freuten sich sehr am Kätzchen und spielten mit demselben auf alle
mögliche Weise. Sie bliesen eine Marabout-Feder in dem Zimmer umher und
Kätzchen haschte danach; dann kullerten sie Bälle, ließen ein wächsernes
Mäuschen mit einem Uhrwerk umher laufen; banden eine kleine Puppe an
einen Bindfaden und ließen sie tanzen. Kätzchen machte die
wunderlichsten Sprünge bei solchem Spiel und legte eine wahre
Katzengrazie an den Tag. Eine berühmte Tänzerin soll eine Katze als
Vorbild genommen haben für ihre Pas’ und Bewegungen und unser Kätzchen
hätte wirklich Tanzstunde geben können. Zuletzt setzten die Kinder dem
Kätzchen einen Federhut auf und zogen ihm einen Puppenüberrock an, was
sich Kätzchen gefallen ließ, und die Kinder waren ganz vergnügt dabei.

Endlich frug Lisi: „wie heißt denn das Kätzchen?“ und alle waren
erstaunt, daß es noch keinen Namen hatte. „O wir sollten es taufen, wie
neulich die Wickelpuppe, das war doch ein gar zu hübsches Spiel“, sagte
Lisi und Prinzeßchen klatschte vergnügt in die Hände.

„Das ist prächtig! das ist allerliebst!“ riefen die Kinder.

„Wir kleiden Kätzchen in das Taufzeug der Wickelpuppe“, sagte Diane und
Kätzchen mußte das Schleppkleid anlegen und wurde auf das rosa-atlas
Kissen festgebunden; dabei schien es sich indeß nicht so behaglich und
unterhaltend zu fühlen wie bei den anderen Spielen; es war indeß
gehorsam und lag ganz still, während die Pathen sich putzten. Es war ja
festgebunden.

Das Prinzeßchen schmückte sich wieder mit dem goldgestickten Shawl,
Diane mit dem blauen Mantel, Amelie mit dem rosa Schleier, Lisi kleidete
sich als Pastor und die lange Jenny erschien wieder als Herr Gevatter.

Wir haben bis jetzt noch nicht viel von der langen Jenny gesprochen und
das aus guten Gründen. Es ist nicht angenehm, von unartigen Kindern
sprechen zu müssen, und die lange Jenny war ein unartiges Kind. Freilich
konnte sie nichts dafür; denn sie hatte ihre Mutter sehr früh verloren
und wurde vom Vater und von der ganzen Dienerschaft verzogen, welche
über ihre Unarten lachten und ihr allen Willen thaten. Sie war 8 Jahr
alt und so groß wie ein 10jähriges Mädchen; aber in der Schule wußte sie
nicht mehr als die sechsjährigen, und da sie nie ihre Aufgaben machte,
mußte sie immer im Winkel stehen. Bei den Kindergesellschaften störte
sie gern das Spielen, auch erregte sie immer Zank und man hatte sie
nicht lieb und lud sie selten ein; heute war sie aber eingeladen worden.

„Wie soll das Kätzchen heißen?“ frug Lisi.

„Krallkätzchen!“ rief Jenny schnell.

„O nicht doch,“ erwiederte das Prinzeßchen, „das würde ja Kätzchen an
seine einzigen Fehler erinnern.“

„Schwanzelius,“ meinte Diane, „wegen des schönen Schwanzes, den es so
anmuthig zu bewegen weiß.“

„Scheckchen,“ sagte Amelie. „Kätzchen ist ja so scheckig wie die jungen
Kastanien, die wir zuweilen aus den grünen Schalen pochen.“

Prinzeßchen wollte aber von all diesen Namen nichts wissen.

„Ich dächte,“ meinte Lisi, „wir tauften Kätzchen Röschen, wegen des
hübschen rosarothen Schnäuzchens, was es hat.“

„Ja,“ sagte Prinzeßchen, „Kätzchen ist aber ein Kater und darf doch
nicht einen weiblichen Namen haben. Auch wird das liebe Thier, wenn es
so groß und dick ist wie Murr, der Hofkater, nicht gut Röschen genannt
werden können.“

„Nun,“ sagte Lisi, „so wollen wir es denn Rosaurus taufen; -- so lang es
jung ist, rufen wir es Röschen, und wird es alt und häßlich, so kann es
Saurus genannt werden.“

Damit waren die Kinder einverstanden und die Taufe begann. Die Pathen
stellten sich im Kreise auf, wie damals, als die Wickelpuppe getauft
werden sollte. Dem Joly wurde indeß die Demüthigung erspart, seinem
Feind das Mützchen zu halten und er durfte im Lehnstuhl schlummern.

Lisi begann:

„Rosaurus, du sollst nicht wie die andern Katzen, arme kleine Vögel
verspeisen; du sollst sie nicht aus ihren Käfigen herauskratzen mit
grausamer Blutgier, worüber die Kinder, denen sie gehören, dann so
bitterlich weinen; du sollst nicht die jungen Vögelchen aus den Nestern
holen, daß die Alten pipen und klagen über ihre unglücklichen Kinder.
Rosaurus, du sollst auch nicht die weißen Mäuschen verfolgen, welche bei
Nacht lustwandeln und durch die rothen Augen und hellen Fellchen sich im
Dunkeln verrathen; Rosaurus, du sollst auch die andern Mäuse ungestört
knuppern lassen an Wurst und Speck, an Zucker und Bisquit. Deine Pathen
versprechen, dich recht gut zu erziehen und dir immer so viel Bisquit
und Braten zu geben, daß du gar nicht an lebendige Leckerbissen denken
kannst. Du sollst durch die Liebe und Fürsorge deiner Pathen aus einem
wilden Raubthiere, aus einem blutdürstigen Hausthiere, in eine edle,
sanftmüthige Schooßkatze umgewandelt werden.“ -- --

So weit war Lisi in ihrer Rede gekommen, als sie plötzlich unerwarteter
Weise unterbrochen ward.

Jede Gevatterin hatte nämlich während der Rede den kleinen
Katzen-Täufling einige Secunden auf dem Arm gehalten, wie das bei Lisis
Schwesterchen auch geschehen war, und das Kind hatte ganz still auf dem
Rücken gelegen und nur zuweilen mit den halbzugekniffenen Aeugelein
geblinzelt. Als nun die lange Jenny an die Reihe kam, fing diese an es
heftig zu wiegen, so daß der kleine Rosaurus unruhig ward.

„Ich möchte wohl,“ dachte Jenny, „daß der Balg etwas schrie, er führt
sich gar zu langweilig auf.“

Während sie nun in scheinbarer Freundlichkeit das Gesicht über ihn
beugte, fuhr sie mit der Hand unter das lange Schleppkleid und kniff
Kätzchen recht tüchtig in den Schwanz. Kaum war das aber geschehen, als
der kleine Täufling ein durchdringendes Geschrei ausstieß und in der
höchsten Wuth nach Jennys Gesicht sprang; es biß sie in die Nase und
schlug beide Vorderkrallen in ihre Wangen, so daß sie vor Schreck das
Kissen fallen ließ.

Das war Kätzchen eben recht, es schlüpfte heraus aus den seidenen
Fesseln und ergriff die Flucht; dabei überpurzelte es sich einige Mal,
weil das lange Taufkleid den schnellen Lauf hinderte.

Ueber den Lärm erwachte Joly; er bemerkte schnell, welchen Vortheil
Kätzchens Staat seinem Feind in die Hände spiele. Bellend verfolgte er
das arme Thier; aber dieses sprang mit dem Taufkleid auf einen Stuhl und
gab dem wüthenden Joly, trotz den schönen gestickten Aermeln, zwei derbe
Ohrfeigen auf jede Seite, so daß ihm das Blut aus dem Munde strömte, und
Joly heulend und schreiend sich verkroch. Rosaurus aber floh weiter und
blieb mit der Schleppe an einem Thürriegel hängen, so daß dieselbe
abriß; die Mütze hatte er lange schon verloren, dann schlüpfte er aus
dem Taufjäckchen heraus, indem er mit Krallen und Zähnen alle
Hindernisse zerriß und, heilfroh, seine Banden gebrochen zu haben,
entfloh er, niemand wußte wohin. Niemand wagte auch das wilde Thier zu
verfolgen, denn die Kinder fürchteten dessen Verzweiflung; sie lachten
indeß nach überstandenem Schreck nicht wenig; nur Jenny weinte, denn sie
blutete und es war zu vermuthen, daß sie noch lange die Narben der
Katzenkrallen und Zähne tragen würde.

Mlle. Gogo kam herbei und wusch ihr die Wunden mit frischem Wasser;
dabei zankte sie aber die Kinder aus wegen des Spiels und meinte, die
Taufe sei eine heilige Handlung; sie sei eingesetzt, um die Menschen
unter die Christen aufzunehmen und man müsse nicht Scherz treiben mit
Kirche und Religion. Lisi bat sehr um Verzeihung, daß sie das Spiel
vorgeschlagen und versicherte, daß sie es nicht überlegt habe.

Hierauf hatten die Kinder noch viel über den Vorfall zu plaudern, als
die Dienerschaft gemeldet ward, um sie abzuholen; man nahm Abschied und
Prinzeßchen konnte den Moment der Trennung gar nicht erwarten, um das
liebe kleine Kätzchen ans Herz zu drücken, welches sich in seiner Angst
sehr gut verborgen hatte. Es wollte gewiß den Augenblick abwarten, wo
alles still war, um sein Abendbrot zu verlangen. -- Aber es kam nicht.
Prinzeßchen rief mit der süßesten Stimme; sie kroch unter Betten und
Komoden; sie leuchtete ins Kamin: Rosaurus war nicht zu sehen.
Prinzeßchen konnte sich lange nicht entschließen, ins Bett zu gehen; sie
meinte, Kätzchen könnte nicht schlafen, wenn es nicht wie gewöhnlich in
die Puppenwiege gebracht würde. Mlle. Gogo bestand aber darauf, daß die
Prinzessin sich niederlege; diese weinte aber bitterlich, ehe sie
einschlief und glaubte immer im Traum, den kleinen Rosaurus miauen zu
hören.



Kapitel 4.

Das Katzenconzert.


  Meine Freuden sind die Spiele
  Mit Geschwistern lieb und hold.
  In des Abends heit’rer Kühle
  Seid ihr theurer mir als Gold.

  Meine Freude ist die Liebe,
  Die das Herz den Eltern weiht,
  Des Gehorsams fromme Triebe
  Und die reine Dankbarkeit.

Rosaurus war in seiner Angst über die lange Jenny, die ihn gekniffen,
über Joly, der ihn verfolgt, über das Geschrei der Kinder, welches ihn
erschreckt hatte, in raschem Laufe geflohen und durch alle fürstlichen
Zimmer geeilt, um so viel als möglich Raum zwischen sich und seinen
Feinden zu lassen; im letzten Zimmer hatte es im Kamin eine kleine
Oeffnung entdeckt und war hineingeschlüpft, heilfroh sich in Sicherheit
zu sehen, denn dorthin konnte selbst Joly nicht dringen; er setzte sich
zufrieden auf seine Hinterbeine, schlug den Schwanz um seinen Körper und
begann zu schnurren, was die Katzen immer zu thun pflegen, wenn sie über
das Leben nachdenken. -- Es war dunkel im Kamin, nur von hoch oben drang
zur Oeffnung des Schlotes das Licht ein und erweckte in Rosaurus jenes
Streben nach oben, jenes Bedürfniß der Seele, sich immer höher und höher
zu schwingen, welches dem Katzengeschlecht angeboren ist. Er versuchte,
in die schwarzberußten Wände des Kamins die scharfen Krallen zu fügen
und siehe da! das kluge Thier, welches bisher nur auf ebener Erde und
auf weichem Teppiche gewandelt hatte, es konnte klettern. Ja, Rosaurus
kletterte und kletterte, bis er oben angelangt war, an das Ende der
dunkeln Höhle, die nach einem neuen Leben führte. Rosaurus saß auf dem
Dach; über sich hatte er den Himmel, zu seinen Füßen die Welt, d. h.
den Schloßhof und einen Theil der Stadt. Die letzten Strahlen der
untergehenden Sonne ließen die blechernen Dachrinnen in wunderbarer
Pracht erglänzen; hie und da flatterte noch ein verspäteter Vogel. Der
Hofrabe saß auf dem Balkon und krächzte sein Abendlied, während der
Hofhahn sein letztes Kickeriki, welches wahrscheinlich eine „gute Nacht“
für seine Hühner bedeuten sollte, von sich gab; Rosaurus saß staunend
und entzückt auf dem Dache und wußte gar nicht, was er über alle die
Schönheiten dieser Welt, die sich ihm erschlossen, denken sollte.

Da sah er aus einem Bodenfenster drei Gestalten hervorkriechen, bei
deren Anblick sein Herz heftig zu schlagen begann. Er hatte diese
Gestalten noch nie gesehen, er wußte nicht, wie sie hießen, es waren
keine Menschen, denn sie gingen nicht auf zwei Füßen, es waren keine
Hunde, obgleich sie auf allen Vieren einherschritten; o nein! es waren
Wesen höherer Art; es mußten Katzen sein. Er vermochte sein Auge nicht
von ihnen hinwegzuwenden, ihre anmuthigen Bewegungen hatten einen
unwiderruflichen Reiz für ihn -- die kleinen Kätzchen sprangen an der
Alten empor; diese legte sie sanft mit der großen Sammetpfote auf den
Rücken und tändelte mit ihnen in freundlicher Herablassung; dann leckte
sie die Kleinen. Dieses ist nämlich die Art und Weise, wie die Katzen
der Reinlichkeit pflegen, und für Rosaurus war dieses Beispiel eine
ernste Mahnung. Ach, wie sah er aus! Auf der einen Katerpfote hatte er
noch den Spitzenärmel des Taufkleides; der übrige Körper war geschwärzt
vom Ruß des Kamins. Rosaurus streifte den Aermel ab und begann nun auch
sich zu lecken, indem er jedoch die Katzenfamilie immer im Auge hatte
und dann und wann durch ein zartes Miau ihre Aufmerksamkeit auf sich zu
lenken suchte. Plötzlich erblickte die große Katze ihn; sie stutzte
einen Augenblick und hielt ein mit dem Tändeln; sie setzte sich auf die
Hinterbeine und sah ihn unverwandt an; dann näherte sie sich ihm mit dem
Zeichen der größten Gemüthsbewegung! -- Plötzlich fühlte Rosaurus sich
von zwei zärtlichen Armen umschlossen und es ahnete ihm, daß seine
Mutter ihn an’s Herz drückte. Ja es war Mies Mies, die Hofkatze, welche
den verlorenen Liebling so unverhofft wieder fand, nachdem sie ihn
vierzehn Tage lang beweint hatte. Heute zum ersten Mal führte sie ihre
beiden zurückgebliebenen Kinder in die Welt ein, jetzt hatten sie nichts
mehr vom unnatürlichen Vater noch vom bösen Hofraben zu fürchten, diesen
Gefahren waren sie entwachsen; auch konnte die grausame Schloßmagd sie
hier nicht erreichen. O, das war eine große Freude des Wiedersehens! wie
glücklich fühlte sich Rosaurus! wie hübsch spielte es sich mit den
Geschwistern! welche zierliche Sprünge wurden im Mondenschein von den
drei jungen Kätzchen aufgeführt! Die Mutter hatte ihre große Freude
daran und schaute mit würdiger Miene dem muntern Treiben zu. Plötzlich
drängten die Kleinen sich ängstlich um die Mutter, denn aus einem
Bodenfenster leuchteten ein Paar unheimliche Augen, die sie mit Furcht
erfüllten. Sie hatten aber keine Ursache zum Fürchten, denn es war
niemand Anderes als Murr, der schwarze Hofkater, welcher nur noch zum
Familienglück gefehlt hatte. Es gab eine rührende Erkennungsscene; dann
setzte sich der Kater neben Mies Mies, und während die beiden Alten
plauderten, spielten die Kleinen von Neuem und freueten sich des Lebens.
Als sie das Bedürfniß nach Nahrung fühlten, führte Mies Mies sie alle
nach der Bodenkammer, wo sie auf dem alten Strohsack eine leckere
Mahlzeit anrichtete; dieselbe bestand aus Häringsgräten und
Taubenknöchelchen. Rosaurus fand indeß keinen Geschmack daran; er
rümpfte die Nase und dachte an die guten Bissen des prinzeßlichen
Tisches.

„Ich habe,“ sagte Murr leise zu Mies Mies, „ein Sperlingsnest entdeckt;
die Jungen müssen jetzt ziemlich flügge sein; wie wäre es, meine Liebe,
wenn wir sie jetzt zusammen verspeisten, während die Jugend sich so
herrlich belustigt.“

„Mein Lieber,“ sagte Mies Mies, „wie könnte ich schwelgen in solchem
Genuß, während meine lieben Kleinen denselben entbehren müssen; ich habe
schon längst ein solches Nest gesucht, um ihnen den ersten Unterricht zu
ertheilen, in jenem schönen anmuthigen Vogel- und Mäusespiel, worin
unser Geschlecht so große Geschicklichkeit entwickelt; denn wir stürzen
uns nicht gierig auf unsere Beute, wie andere Thiere, wir zeigen uns
nicht gefräßig und sinnlich: o nein, wir wissen den Genuß zu verlängern
und bekunden dadurch einen höhern Ursprung. Unsere Kinder hatten noch
nie Gelegenheit, dieses Talent zu entwickeln.“

Murr schien nicht große Lust zu haben, die gute Mahlzeit mit so Vielen
zu theilen, indeß schämte er sich, seinen Eigennutz einzugestehen und so
bewegte sich denn die ganze Familie nach einem andern Theil des Dorfes,
wo in dem Winkel einer Dachrinne ein Sperlingspaar auf seinem Nestchen
schlief. Murr ergriff die Sperlingsmutter mit scharfer sicherer Kralle,
während das Männchen schreiend entschlüpfte. Ach, das Angstgeschrei des
Weibchens erreichte sein Ohr. Murr hatte dasselbe der Mies Mies
gebracht, welche die kleinen Katzen lehrte, wie sie den Vogel bald am
Flügel, bald am Schwanz packen mußten, wie sie ihm bald eine Feder dort,
bald eine hier entreißen sollten und wie sie das frische Blut zu lecken
hatten; endlich fraß Murr das arme Thier, um ihnen zu zeigen, wie man
mit Anstand einen Vogel verzehren müsse. Als nun Murr sich dem Neste
wieder näherte, flatterten die jungen Vögel erschreckt auf; der
Sperlings-Vater saß trostlos auf dem Schornstein, er schwang sich hoch
in die Luft, von wo er Zeuge war des Todes seiner Kleinen; die ganze
Katzenfamilie stürzte sich über dieselben her und entwickelte ihr Talent
zum Vogelspiel; besonders Rosaurus zeigte sich sehr geschickt darin; er
hatte sich nicht umsonst an Maraboutfedern, Knäulen und Puppen geübt;
sein Vögelchen lebte am längsten -- endlich fraß er es auf, wofür er
eine derbe Ohrfeige vom Murr erhielt, welcher dieses auch hatte
verzehren wollen, wie es mit den andern geschehen war. Diese Ohrfeige
nahm Rosaurus sehr übel; er war nicht an eine so unwürdige Behandlung
gewöhnt; auch verglich er im Stillen die guten Bissen in Prinzeßchens
Zimmer, die Bisquits und gebratenen Fleische mit diesem Vögelchen au
naturel. Mies Mies merkte seine Verstimmung, und um ihn auf andere
Gedanken zu bringen, schlug sie einen Gesang vor. Mies Mies hatte eine
wunderschöne Alt-Stimme, Murr einen guten Baß; Beide stimmten ein
herrliches Duett an und die Discantstimmen der drei Kätzchen bildeten
den Chor. Es war eine erhabene Musik! So etwas hatte Rosaurus nie am
Hofe gehört. Thränen der Rührung traten ihm in’s Auge, als er im
herrlichen Mondschein, so nah dem Himmel, seine Familie auf den
Hinterbeinen sitzend, mit halbzugekniffenen Augen, weitgeöffneten
Schnauzen und auf die Seite gebeugten Häuptern, so herrlich singen
hörte.

  [Buntbild: Das Katzen-Concert.]

Aber dieser Gesang sollte fürchterlich enden. Aus dem Schornstein
tauchte ein schwarzes entsetzliches Wesen -- es war ein Schlotfeger!
Er schwang ein furchtbares Instrument und schrie gewaltig über den
Katzenspectakel. Dann schleuderte er das Instrument mitten unter die
Armen, welche in ihrer künstlerischen Begeisterung auf solche Störung
keineswegs gefaßt waren; sie flohen nach allen Seiten zu unter lautem
Jammergeschrei; das weiße und das schwarze Kätzchen waren schwer
verwundet. Rosaurus entkam aber glücklich und fand auch das bekannte
Kamin, wo er geschickt hinabsprang. Leise schlich er in die fürstlichen
Zimmer und legte sich allein in die Puppenwiege, als der Morgen schon
graute. Rosaurus dachte: Ja, hier lebt es sich doch besser als auf dem
Dach, hier ruht es sich besser als auf dem alten Strohsack und die
Hofspeisen schmecken besser als die Hofgräten. Rosaurus nahm sich vor,
noch fernerhin hier zu bleiben und nur dann und wann Spatziergänge auf
das Dach zu halten, um sich den Genuß der herrlichen Concerte zu
gewähren. -- Groß war des Prinzeßchens Freude, als sie am andern Morgen
Rosaurus das Frühstück reichen konnte; aber wie sah Rosaurus aus! Sein
ganzes Fell war schwarz geworden vom Ruß des Kamins und er hatte auch
die schöne Puppenwiege und des Prinzeßchens weißes Nachtkleid schwarz
gemacht. Er saß neben der kleinen Prinzessin, als sie folgendes Gedicht
in den Lehrstunden aufsagen mußte:

Die Katzen und der Hausherr.

  Murner, eine Cyperkatze
  Gab unlängst den Gildeschmauß,
  Und ersahe sich zum Platze
  Eines Bürgers Wohnung aus.

  Mensch und Thiere schliefen feste,
  Selbst der Hausprophete schwieg,
  Als ein Schwarm geschwänzter Gäste
  Von den nächsten Dächern stieg.

  Murner kommt, sie zu begrüßen,
  Führt sie d’rauf in einen Saal,
  Und setzt jeden auf ein Kissen
  Von der feinsten Katzenzahl.

  Sechzig feiste Mäusezimmel
  Machten die Versammlung satt;
  Ob geschickt, das weiß der Himmel,
  Jeder giebt’s so gut er hat.

  Von der Mahlzeit ging’s zum Tanze,
  Wo der Wirth sich hören ließ,
  Und auf einem Rattenschwanze
  Manch verliebtes Stückchen blies.

  Hinz, des Erstern Schwiegervater,
  Sang darein erbärmlich schön,
  Und zween abgelebte Kater
  Quälten sich, ihm beizusteh’n.

  Jetzo tanzen alle Katzen,
  Poltern, lärmen, daß es kracht,
  Zischen, heulen, sprudeln, kratzen,
  Bis der Herr im Haus erwacht.

  Dieser springt mit einem Stecken
  In den finstern Saal hinein,
  Schlägt um sich, sie zu erschrecken,
  Schmeißet einen Spiegel ein.

  Stolpert über einige Späne,
  Stürzt im Fallen auf die Uhr,
  Und zerbricht zwei Reihen Zähne.
  Blinder Eifer schadet nur!

Was mochte wohl Rosaurus denken, als die Prinzessin dieses Gedicht
aufsagte? Gewiß erweckte es in ihm Erinnerungen an die vergangene Nacht.



Kapitel 5.

Katzenerziehung.


  Artig, flink und rein
  Müssen Kätzchen sein.

Rosaurus wurde nun zu einem recht liebenswürdigen Kätzchen erzogen; ja
er zeigte täglich mehr seine großen Anlagen zu den bei einem wirklichen
Hofkater so nöthigen Hofmanieren. Er eignete sich immer mehr den Ton der
feinen Welt an, und wenn auch die kleine Prinzessin sich nicht sehr
bemühte, zu seiner Erziehung beizutragen, indem sie ihn eigentlich nur
verzog, so erwarb sich doch Mlle. Gogo große Verdienste um seine
Bildung.

Eines Tages hatte Rosaurus sich gerade auf den Sammtsessel gelegt, den
die Prinzessin bei der Lection einnehmen sollte und schien sehr süß zu
schlafen, denn er schnarchte laut. Als nun die Prinzessin ihn vom Stuhl
herunter schieben wollte, so leise und zart als möglich, indem sie ihm
noch gute Worte gab, da ließ das böse Thier ihm seine Krallen fühlen und
vier blutige Streifen liefen auf dem weißen Arm herab. Da ergriff Mlle.
Gogo aber eine kleine Ruthe und schlug Rosaurus damit recht derb auf den
Rücken; er schrie und floh unter das Kanapee. Aber er war ein kluges
Thier und man hat es nie wieder erlebt, daß er sein Sammetpfötchen
verleugnet hätte, wenn die Prinzessin sich mit ihm abgab. -- Ja er legte
sich nie wieder auf ihren Sammetsessel, sondern auf ein Fußbänkchen ihr
zu Füßen; dort rührte Rosaurus sich nicht, während sie Unterricht hatte;
ja zuweilen hörte er so aufmerksam zu, daß man hätte meinen sollen, er
verstände alles, was die Lehrer lehrten. Nur bei dem Klavier-Unterricht
wurde es ihm unheimlich zu Muthe und man sah oft, daß er sich mit seinen
kleinen Pfoten die Ohren zuhielt, wenn die Prinzessin spielte.
Vielleicht waren es einige falsche Töne, die dem für Katzenkonzerte so
gebildeten Ohre weh thaten. Oder liebte Rosaurus überhaupt nicht alles,
was zu laut war? Ja! wenn die Prinzeß die Janitscharen-Musik anstimmte,
da begann Rosaurus oft zu miauen und mußte zum Zimmer hinausgebracht
werden. Eine andere üble Angewohnheit mußte der junge Kater ablegen. Er
liebte nämlich vor Allem zu klettern, und da es im fürstlichen Zimmer
weder Bäume, noch Mauern, noch Dächer gab, um seinem angeborenen Trieb
zu genügen, sprang er gern auf die Tische. Da stieß er im kühnen Sprung
manches hübsche Nipp herab; ihm war es ganz einerlei, ob eine schöne
vergoldete Tasse, ein kostbares Kristallglas oder ein sonstiges
Kunstwerk zu Grunde ging; da mußte Mlle. Gogos Ruthe ihm erst den
richtigen Kunstsinn beibringen. Einstmals war er auf des Prinzeßchens
Schreibtisch gesprungen, hatte erst mit ihren Federn gespielt, dann ein
kostbares in Leder gebundenes Album zernagt und zuletzt noch das
Tintefaß umgeworfen. Das war eine schöne Bescherung! Der arme Rosaurus
mußte gewaltig dafür büßen.

Rosaurus hatte eine große Abneigung gegen die Ruthe; wir glauben, daß es
nicht blos um des physischen Schmerzes willen war, sondern auch wegen
seiner Ehre; dann mochte er auch nicht leiden, daß sein Fell in
Unordnung gerieth; er hatte den Grundsatz, daß wenn man in guter
Gesellschaft lebe, man auch anständig gekleidet sein müsse. Die Katzen
pflegen nun Toilette zu machen, indem sie sich lecken. Das rosa
Züngelchen dient ihnen als Kleiderbürste, der eigene Speichel als
Schönheitswasser. -- Rosaurus hatte nun ein Plätzchen gefunden, wo es
keinen Schaden anrichten konnte; das war nämlich die Fensterbrüstung.
Dort saß er viel und leckte sich. Sein Fell glänzte wie Schillertaffet;
den Schwanz schlang er auf anmuthige Weise um den Körper, so blickte er
hinaus in die Welt, und alle Vorübergehenden, die ihn sitzen sahen,
blieben stehen und sagten: -- „ach seht doch das hübsche Kätzchen der
Prinzessin!“

Als nun einstmals die Freundinnen wieder eingeladen wurden, waren sie
höchst erfreut, ihren kleinen Taufpathen wieder zu sehen und alle
streichelten ihn freundlich, nur Jenny nicht, welche noch immer Spuren
seiner Zähne und Krallen im Gesicht trug. Wenn sie ihn ansah, dachte sie
immer: „Das abscheuliche Thier, wenn ich ihm nur etwas anhaben könnte!“
Rosaurus mochte ihre üble Absicht ahnden, denn er entfernte sich und
ließ sich den ganzen Abend nicht mehr sehen.

Als die Kinder nun abgeholt wurden, war Jenny die erste, welche sich
entfernte, und als sie im Vorzimmer ihren Mantel umnehmen wollte, siehe,
da hatte sich Rosaurus auf demselben gebettet und schlief so fest und
süß, daß er nicht einmal von einer Störung träumte.

„Du häßliches Thier,“ sagte Jenny leise, „da hab’ ich dich endlich; du
sollst mir nun für deinen Frevel büßen“ und geschwind, ehe es Jemand
sah, und ehe Rosaurus sich auf ein hülferufendes Miau besinnen konnte,
steckte sie ihn in den Arbeitsbeutel und trug ihn mit sich fort.

„Das ist recht gut, dachte sie im Gehen bei sich selbst, daß das Thier
auf gute Manier fortkommt; denn seitdem es beim Prinzeßchen ist, kann
gar nichts Ordentliches mehr gespielt werden, alles bewegt sich um das
dumme Thier! Wie ich es hasse!“

Jennys Weg führte über eine Brücke; „ich werde Rosaurus ins Wasser
werfen,“ sagte sie zu sich selbst, „da ist es mit ihm auf immer vorbei!“

Als das Prinzeßchen vor Schlafengehen ihren Rosaurus vergebens suchte,
da dachte sie: O er wird gewiß wieder zur Esse hinauf sein auf das Dach
zu seinen Geschwistern; denn sie hatte durch die Hofmagd von der
Katzengesellschaft gehört, die der Schlotfeger an jenem Abend gestört
hatte, so wie auch von den zwei schwer verwundeten Kätzchen, und sie
ließ dem Schlotfeger befehlen, ihren Rosaurus nicht wieder zu
erschrecken; dann legte sie sich nieder und tröstete sich mit der
Hoffnung, am andern Morgen Rosaurus wieder zu sehen. Diese Hoffnung
sollte aber nicht in Erfüllung gehen.



Kapitel 6.

Die Kinder der Armuth.


  Trockne deine heißen Zähren
  Von dem bleichen Angesicht;
  Bald wird Gott dir Trost gewähren,
  Er vergißt dich ewig nicht.

In einer engen Straße lebte in einem kleinen Häuschen eine arme Familie.
Sie bewohnte ein niedriges rauchgeschwärztes Hinterstübchen. Vater,
Mutter und Kinder waren in Lumpen gehüllt. Der Vater lag auf einem
Strohsack, welcher des Nachts als Familienbett diente; er hatte den
ganzen Tag darauf gelegen in jenem halbwachen Zustand, den der Genuß
geistiger Getränke, vereint mit Trägheit des Körpers und Verstimmung der
Seele hervorzubringen pflegt. Ob er nicht arbeiten konnte oder wollte?
wer weiß das. Die Mutter arbeitete auch nicht, sondern saß auf einer
hölzernen Bank und hatte ein dreijähriges Töchterchen auf dem Schooß,
welches eben so schmutzig und ungekämmt war, als sie selbst. Ein anderes
kleines Mädchen von 8 Jahren kauerte im Winkel und weinte; sie hatte Weh
am Fuß, weil sie in einen Glasscherben getreten hatte; denn das arme
Kind mußte immer barfuß laufen, weil die Eltern ihr keine Schuhe kaufen
konnten.

Dieses kleine Mädchen hieß Dorothea und wurde gewöhnlich Dorte genannt.

„Mich hungert’s so sehr“, klagte Dorte, „wäre nicht mein bößer Fuß, so
hätte ich Euch schon längst etwas heim gebracht. Wilhelm braucht immer
mehr Zeit, um etwas zusammen zu betteln.“

„Wie kommt das nur?“ fragte die Mutter.

„Ja, er kann sich nie ein Herz nehmen, die Leute anzubetteln, da schiebt
er mich immer vor; er maust viel lieber.“

„Halts Maul, Mädchen!“ schrie der Vater, „wenns Jemand hört, so --“

„Ich wollte ja eben, daß Vater und Mutter es hören möchten,“ sagte
Dorte; „mir gehorcht Wilhelm nicht, und ich fürchte immer, daß er noch
sich selbst und uns Alle ins Unglück bringt.“

„Wir armen Leute,“ erwiderte der Vater, „müssen eben so gut leben, als
die Reichen, und wenn diese uns nichts geben, so nehmen wir’s.“

_Dorte._ Ich habe neulich in der Schule ein Verschen gelernt, welches
ich immer befolgen will: „Du sollst nicht lügen und nicht stehlen, und
was du findest, nicht verhehlen.“

_Mutter._ Dabei wirst Du aber nicht sehr reich werden!

_Dorte._ Und doch brachte ich neulich einen ganzen Thaler mit nach
Hause. O der glänzte! Prinzeßchen hatte ihn mir geschenkt, als es im
Winter so kalt war und ich so bitterlich weinte, weil mich so hungerte.

_Mutter._ Ich weiß wohl, daß du nie so gut weinen kannst, als wenn du
Hunger hast.

_Dorte._ Darum schickt Ihr mich so oft mit leerem Magen zum Betteln aus.

_Vater._ Ja die Dorte zwingt es immer mit ihren Thränen, der Wilhelm
aber mit dem Verstande. Das ist ein kluger Kopf! der wird es noch weit
bringen.

_Dorte._ Bis zum Galgen! so meinte neulich ein dicker Herr.

_Mutter._ Wer war der Schändliche, der sich unterstand, das von meinem
Wilhelm zu sagen?

_Dorte._ Ich kenne ihn nicht, es war am Sonntag.

_Vater._ Wo der Wetterjunge 12 Groschen nach Hause brachte.

_Dorte._ Ja! die er sich mit Lügen verdient hatte.

_Mutter._ Wie so denn?

_Dorte._ Er hatte sich an einer Straßenecke aufgestellt, wo viele Leute
vorüber gehen mußten; dort that er, als ob er weine und etwas suche. Kam
nun ein Mitleidiger vorüber und frug: was ihm fehle? so klagte er, daß
er einen Groschen verloren habe, wofür er für die kranke Mutter Arznei
habe kaufen sollen; nun werde er Schläge erhalten, wenn er nach Hause
käme. Und mancher Vorübergehende schenkte ihm einen Groschen. So wie der
Geber sich aber entfernt hatte, begann die Geschichte von Neuem.

_Vater._ Der Blitzjunge!

_Dorte._ Ja, und wie gut er weinen konnte! selbst wenn ich Hunger habe
und mit leerem Magen betteln muß, kann ich es nicht so gut.

_Mutter._ Du wirst aber immer ein dummes Mädchen bleiben.

_Dorte._ Ich möchte aber auch nicht so ankommen, wie Wilhelm an jenem
Tage.

_Vater._ Nun, wie kam er denn an?

_Dorte._ Ein dicker Herr, der ihm schon ein Mal einen Groschen geschenkt
hatte, kam zufällig denselben Weg wieder zurück. Wilhelm erkannte ihn
aber nicht wieder und begann abermals, um den verlorenen Groschen zu
weinen und zu schluchzen. Da gab der Herr ihm eine Ohrfeige rechts und
eine links und sagte: -- „Vielleicht rettet dich das von dem Galgen.“

  [Buntbild: Rosaurus wird gestohlen.]

Man hörte hier die Hausthür gehen und herein trat Wilhelm mit einem sehr
vergnügten Gesicht. Er hielt etwas unter der Rocktasche verborgen und
als er sich versichert hatte, daß niemand Fremdes im Zimmer sei, zog er
einen schweren Arbeitsbeutel von grünem Sammet hervor.

Der Vater erhob sich bei diesem Anblick von seinem Lager, die Mutter
rückte dem Tisch näher, Dorte und die kleine Hanne blickten mit
neugierigen Augen nach dem erbeuteten Gegenstande in der Hoffnung, etwas
Erfreuliches daraus hervorlangen zu sehen. Vater und Mutter erwarteten
Geld, die Kinder Lebensmittel. Wilhelm erzählte, er habe den Beutel
einem kleinen Mädchen vom Arm geschnitten bei der großen Brücke. „Die
wird sich wundern!“ sagte er; „sie hat gar nichts gemerkt; auch war es
schon etwas dunkel.“

Er öffnete den Beutel und heraus kam -- _Rosaurus_; er schien sich nicht
ganz behaglich zu fühlen, ja sogar auf einen feindseligen Angriff gefaßt
zu sein; denn er machte einen gewaltigen Katzenbuckel und begann zu
knurren und zu pusten. Die Kinder lachten. „Nun,“ meinte der Vater, „da
hättest du auch etwas Besseres erwischen können.“ Glücklicherweise fand
sich nebst einem Taschentuch auch ein Fünfgroschenstück im Beutel; auch
kramte Wilhelm einige Semmeln und Aepfel aus, die er in der Dämmerung
von Bäckern und Höckern gestohlen hatte. -- Man theilte solche unter
sich und verzehrte sie.

Rosaurus fühlte sich keineswegs heimisch in dieser Umgebung, er war ja
an den fürstlichen Palast gewöhnt; auch verschmähte er die Brodkrumen,
welche Dorte ihm bot, und machte ein ganz philosophisches und
nachdenkliches Gesicht. Vielleicht dachte er an seiner Pathen
Versprechungen von Bisquit und Leckerbissen, denn er brach in ein
klägliches Miau aus.

„Was sollen wir nur mit der Katze anfangen, Wilhelm?“ sagte die Mutter,
„du wirst uns doch nicht zumuthen, unsere Kaffee-Milch mit ihr zu
theilen. Wirf sie zum Fenster hinaus oder setze sie vor die Thür.“

„Das arme Thier,“ meinte Dorte; „es ist gewiß gewohnt, recht gut
verpflegt zu werden und wird sich auf der Straße unbehaglich fühlen; wir
wollen es bis morgen früh behalten, dann trag ich es in ein vornehmes
Haus, wo man es gewiß aufnimmt.“

„Nein, nein!“ sagte Wilhelm, „die Katze ist mein und bleibt hier. Ich
weiß schon, was ich mit ihr anfange. Morgen geht das Vogelschießen los,
da bringe ich sie in die Menagerie und verkaufe sie als einen Braten für
den großen Löwen. Wenn ich auch nichts dafür bekomme als den freien
Eintritt. Ich sehe so etwas gar zu gern, besonders die Affen -- von
ihnen kann man recht geschickt stibitzen lernen. Auch giebt es dort
gefüllte Taschen, erreichbare Taschentücher, unbeachtete Arbeitsbeutel
-- kurz eine gute Ernte für arme und geschickte Leute.“

In dieser Gesellschaft brachte Rosaurus die Nacht zu, und schlummerte in
Dortens Schooß so sanft, wie in seiner Puppenwiege.

Am andern Morgen ward es sehr bald lebendig, denn es war der Tag der
Holzlese und Vater und Mutter gingen in den Wald. Beide waren dafür
bekannt, daß sie lieber frische Aeste abbrachen, als sich mit dem alten
Holz begnügten; dadurch fiel ihre Erndte auch immer reichlicher aus, als
die anderer armen Leute.

Wilhelm und Dorte sollten in die Schule gehen; letztere wusch und kämmte
vorher das Schwesterchen; dann gab sie Rosaurus ihre Milch und trank
ihren Kaffee schwarz. Wilhelm dehnte sich aber noch lange auf seinem
Strohsacke.

„Willst du nicht aufstehen?“ sagte Dorte, „es ist bald Zeit zur Schule.“
Langsam erhob er sich, frühstückte und machte Anstalt, die Schwester zu
begleiten. Als sie die Thür hinter sich geschlossen hatten, sagte Dorte:
„Es freut mich, daß Hannchen heute nicht so ganz allein bleibt, wie
gewöhnlich.“

„Wer ist denn bei ihr?“ frug der Bruder.

„Nun das Kätzchen.“

„Potztausend! das hatte ich ganz vergessen,“ sagte er, indem er noch ein
Mal die Thür aufriß, rief er in die Stube. „Hanne, wenn du mir das
Kätzchen anrührst, so kriegst du Prügel!“ --

Hannchen war aber ein sehr unfolgsames Kind; sie war nicht zum Gehorsam
erzogen worden, und man brauchte ihr nur etwas zu verbieten, so bekam
sie Lust, es zu thun. Als sie sich also allein mit Kätzchen sah, ging
sie auf dasselbe zu, um es zu streicheln. Rosaurus ließ sich das wohl
gefallen und schnurrte; dann nahm sie das Kätzchen auf den Arm und trug
es im Zimmer umher. -- Dann meinte die Kleine, sie wolle etwas zum
Fenster hinaus sehen; deshalb stieg sie auf einen Stuhl, machte das
Fenster auf und lud Kätzchen ein, sich aufs Gesims zu setzen und die
Vorübergehenden zu betrachten.

Rosaurus schien Gefallen daran zu finden und nahm seine philosophische
Stellung auf den Hinterbeinen an und überlegte sich, was er thun wolle?
Das Fenster war sehr niedrig, ein kleiner Sprung und Rosaurus war auf
der Straße. Vielleicht konnte er sich dann leicht in der Stadt zurecht
finden, und ins Schloß oder wenigstens zu einer Freundin des
Prinzeßchens gelangen.

Rosaurus fand diesen Schritt sehr gerathen, er machte Anstalt, die
innere Fensterbrüstung mit der äußeren zu vertauschen; -- Hannchen
wollte es nicht leiden und erfaßte den Flüchtling beim Schwanz -- aber
Rosaurus schlug seine Krallen in des Kindes Händchen und husch! -- unten
war er, worauf er in gestrecktem Laufe die Straße verließ.



Kapitel 7.

Weitere Erlebnisse des jungen Katers Rosaurus.


  Wer jetzt das Thierlein liebt,
  Wird einst auch Menschen lieben,
  Wer jetzt das Thierlein quält,
  Wird Menschen einst betrüben.

Als Rosaurus an das Ende der Straße gelangt war, hielt er im raschen
Laufe an, um wieder zu Athem zu kommen; er setzte sich auf einen
Prallstein, um die unbekannte Straße und seine eigene Lage besser zu
überschauen. Ach! er war in eine ganz fremde Welt gerathen, in welcher
er sich nicht zurecht finden konnte. Fremde Menschen gingen an ihm
vorüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen; ach! wie fühlte Rosaurus
sich unglücklich und verlassen. -- Plötzlich aber schien sein Schicksal
sich aufzuklären; zwei kleine wohlgekleidete Mädchen kamen daher,
begleitet von ihrer Bonne. Sie hatten große Arbeitstaschen und schienen
in die Schule gehen zu wollen. Rosaurus erkannte Lisi und Amelie, seine
beiden Freundinnen, und hoffte, die Stunde seiner Erlösung habe
geschlagen. Er sprang hinunter vom Prallsteine und eilte auf die Kinder
zu, sich mit einem ausdrucksvollen Katzenbuckel an Lisi anschmiegend und
ihr zwischen die Füße laufend. Die Kinder blieben stehen.

„Ach! das niedliche Kätzchen,“ sagte Amelie, „das sieht doch gerade aus,
wie der Rosaurus der Prinzessin.“

_Lisi._ Wie käme dieser aber hierher? der schlummert wahrscheinlich noch
in seiner Wiege, oder frühstückt Milch und Bisquit, während dieses arme
Thierchen hier ziemlich hungrig zu sein scheint.

_Amelie._ Könnten wir es doch mitnehmen, das Kätzchen sieht uns an, als
wolle es unseren Schutz anflehen, es hat gewiß seinen Herrn und seine
Heimath verloren.

„O!“ sagte die Bonne, „es gehört wahrscheinlich in eins der benachbarten
Häuser, man wird es bald suchen und wir würden einen Diebstahl begehen,
wenn wir es mit uns nehmen wollten.“ Lisi meinte auch, daß sie doch
unmöglich ein Kätzchen mit in die Schule bringen könnten, und schlug
vor, dem armen Thiere etwas zu fressen zu geben und nach beendeter
Schule wieder an dieser Stelle vorüber zu gehen, um es mitzunehmen, wenn
es noch immer so verlassen, einsam und unglücklich sein sollte.

Die Kinder brockten zufolge dieses Beschlusses, den auch die Bonne
billigte, etwas Bisquit und Semmel auf einen reinlichen Stein der
Straßenecke, wünschten dem Kätzchen guten Appetit und gingen von dannen.

Da Rosaurus wirklich großen Hunger hatte und ihm kein Mittel zu Gebote
stand, sich seinen Freundinnen zu erkennen zu geben, indem sie die
Katzenbuckel-Sprache doch nicht so ganz deutlich zu verstehen schienen,
stürzte er sich gefräßig über das Bisquit her, indem er sorgfältig die
Semmelbrocken liegen ließ. -- Er sollte indeß, noch ehe er die Mahlzeit
vollendet hatte, gestört werden; denn er vernahm aus der Ferne ein
furchtbares Donnern und Krachen, und meinte einen Augenblick, die ganze
Welt gehe unter; sein Gemüth beruhigte sich nicht, als er die
Veranlassung dieses Geräusches erblickte. Es kam nämlich ein Ungeheuer
die Straße entlang gesaust; war es ein Thier? war es etwas Anderes? Es
hatte vier glänzende Augen, acht Beine, und noch außerdem vier Räder,
welche den ungeheuren Lärm verursachten. -- Später erfuhr Rosaurus wohl,
daß es eine Kutsche mit zwei Rädern sei, aber damals war er ja gar zu
unerfahren in der Welt. Als das Ungethüm sich auf ihn zu bewegte,
ergriff er die Flucht; er wähnte sich verfolgt, weil die Kutsche
denselben Weg einschlug, wie er, und so lief und lief er denn, bis er in
eine Seitenstraße gerieth, wo der gefährliche Feind vorüber fuhr. So
hatte Rosaurus in der wilden Flucht sich weit entfernt von der Stelle,
wo Lisi und Amelie ihn wieder zu finden gedachten. Rosaurus sollte aber
bald noch andere Gefahren kennen lernen. --

Ein vierbeiniges Geschöpf ließ sich nämlich am äußersten Ende der Straße
erblicken. Rosaurus dachte sich gleich, daß dasselbe ein Hund sei,
obgleich es keineswegs dem Joly glich, es war gewiß viermal größer als
Joly, hatte ganz schwarzes gelocktes Haar, lange herunterhängende Ohren
und kleine schwarze Augen, welche unter dichten Haarbüscheln
hervorglänzten.

Als der Pudel Kartusch den Rosaurus erblickte, stutzte er einen
Augenblick und legte durch ein kurzes abgebrochenes Gebell seine
katzenfeindlichen Gesinnungen an den Tag. Rosaurus war unschlüssig über
seinen Vertheidigungsplan. Konnte er hoffen, mit seinen zarten Krallen
dem großen Hund Ehrfurcht einzuflößen, wie dem kleinen Joly? Gewiß
nicht! Ihm erschien also die Flucht das gerathenste zu sein. Ach, er
wußte nicht, wie schnell Kartusch laufen konnte! -- Kartusch hatte
großen Respekt vor den Krallen der Katzen, aber gar keinen vor ihren
Schwanz, und als er letzteren sich zugewendet sah, verfolgte er mit
freudigem Bellen das arme geängstete Thier. Rosaurus hörte sein
Schnaufen und Knurren, sein drohendes Gebell immer näher rücken, immer
mehr schwand der Raum zwischen ihm und seinem Verfolger; er fühlte schon
den heißen Athem des Pudels und glaubte auch schon dessen Zähne zu
fühlen -- da ersah er einen Baum -- noch ein Mal strengte er seine
schwindenden Kräfte an und sprang hinauf -- bloß ein kleines Stück
seines Schwänzchens blieb in Kartusch’s Zähnen zurück; das that zwar
weh, es blutete, aber sein kostbares Leben war doch gerettet. Rosaurus
blickte hohnlächelnd und pustend herab auf den wüthend bellenden
Kartusch, der sich gar nicht darüber zufrieden geben konnte, daß seine
Beute ihm entrissen war. -- Endlich wurde Kartusch durch einen Pfiff
seines Herrn abgerufen.

„O, hätte der doch eher gepfiffen,“ seufzte Rosaurus, indem er seinen
blutenden Schwanz leckte.

O welch ein Unglück! dieser Schwanz, sein Stolz, seine Freude; dieses
Glied seines Körpers, welches dem Kater eine Aehnlichkeit mit den
Kometen des Himmels giebt, es war verstümmelt; Rosaurus war auf ewig
geschändet! Er überließ sich ganz seinem Schmerz und brach in laute
Klagen aus.

Diese Klagen vernahm eine muntere Knabenschaar, welche so eben aus der
Schule kam. Das ist der Augenblick, wo die Kinder am übermüthigsten zu
sein pflegen. Sie nahmen Steine und warfen nach dem armen schreienden
Thier. Rosaurus flüchtete immer höher in die dichtesten Zweige des
Baumes; er zog sich hinter die verschlungendsten Aeste zurück und suchte
sich zu schützen gegen das Wurf-Material, welches von allen Seiten in
seiner Nähe einschlug, entweder vorbeiflog oder an den schützenden
Zweigen abprallte. Ein kühner Knabe entschloß sich, an dem Baum hinauf
zu klettern; alle jubelten über diesen Entschluß; der Steinregen war zu
Ende und die Jugend blickte neugierig und mit reger Theilnahme dem
Kletternden nach; Rosaurus hatte sonach eine neue Gefahr zu fürchten.
Der kletternde Knabe mußte sich an die innern Baumäste halten, wo
Rosaurus von den Steinen hingetrieben war, so daß letzterer sich
genöthigt sah, seine Zufluchtsstätte zu verlassen und die äußersten
Spitzen der höchsten Aeste aufzusuchen. Rosaurus war sehr leicht, ihn
trug das dünnste Zweigelchen; die Vögel flohen erschreckt aus den
Wipfeln des Baums, indem sie ein ängstliches Piep Piep ausstießen, und
Rosaurus verspürte in diesem Augenblick einiges Gelüste nach dem
Vogelspiel, er mußte aber diese strafbaren Gedanken unterdrücken wegen
der eigenen Gefahr, welche auch wirklich mit jeder Minute stieg; denn
als der Knabe auf dem Baum nicht Rosaurus selbst packen konnte, ergriff
er den Ast, auf dessen äußersten Spitzen das arme geängstete Thier saß
und schüttelte denselben so stark, daß er sich nicht länger darauf
halten konnte. Rosaurus stürzte aus der schwindelnden Höhe herab, unter
lautem Freudenruf der Schuljugend.

Jedes andere unbeflügelte Thier würde unstreitig den Hals gebrochen
haben; aber die Katzen haben die große Geschicklichkeit, immer auf den
Beinen zur Erde zu gelangen; das war auch jetzt der Fall mit Rosaurus.
-- Seine Füße waren freilich geprellt und hätten der Ruhe und Pflege auf
weichem Bettchen bedurft; aber unter dieser blutdürstigen Umgebung
konnte er nicht weilen -- er mußte wieder zu schneller Flucht greifen
und unter neuem Steinregen davon laufen. -- Als er endlich sich sicher
glaubte, fühlte er sich von einer kleinen aber kräftigen Hand gepackt
und eine wohlbekannte Stimme rief. „Du bist mein,“ und steckte Rosaurus
unter seinen Rock.

Es war niemand anders als Wilhelm, welcher aus der Schule kam und, in
der Hoffnung, dem Löwen zwei Braten, d. h. zwei Kätzchen, bringen zu
können, die ganze Verfolgung des armen Thiers geleitet hatte.

Es gab indeß großen Spektakel zu Haus, als Wilhelm Rosaurus Flucht
entdeckte und in dem armen abgehetzten, verstümmelten Kätzchen sein
Eigenthum erkannte. Hannchen wurde von ihm geschimpft, geschlagen und
gekneipt, bis Dorte ihr zu Hülfe kam.

Am Nachmittag sah Wilhelm indeß ganz anders aus, als am Morgen, denn er
hatte sich sorgsam gewaschen und gekämmt, eine wohlgeflickte
Sonntagsjacke angethan, die verschossenen Hosen stramm gezogen, die
Strümpfe in die Höh gebunden und die Schuhe geschwärzt. „Jetzt,“ sagte
er, „bin ich ein schmucker Mensch und ich glaube, der Löwe würde mich
verspeißen, wenn er könnte; ich bin ganz geeignet, um ihm Appetit
einzuflößen.“ Rosaurus wurde nun in die Rocktasche gesteckt und so gings
zum Vogelschießen.

Man zog gerade den großen hölzernen Vogel unter Musik und
Kanonenschüssen empor. Es war ein Adler mit zwei Köpfen. Kronen, Scepter
und Reichsapfel waren vergoldet. Es wurde Rosaurus recht unheimlich im
Gedränge, denn Wilhelm war immer da, wo es am dichtesten war und zwar
aus guten Gründen.

Viele Buden mit Sehenswürdigkeiten waren aufgeschlagen. Da gab es
Wachsfiguren, Panoramen, Seiltänzer, Taschenspieler und Marionetten zu
sehen; am meisten gab es aber Eßbuden, welche die herrlichsten Bissen
aufgestellt hatten. Da zischten und dampften Bratwürste, dort gab es
Kuchen, Torten, Früchte; Rosaurus verspürte großen Appetit und auch noch
andere empfanden solchen.

Viele Leute kauften und ließen es sich wohl schmecken; aber viele
standen dabei und konnten sich nichts kaufen und man sah es ihnen doch
an den Augen an, daß sie es so gern gethan hätten; das waren die Armen.
Darunter gehörte auch Wilhelm. -- Er tröstete sich aber mit dem
Gedanken, daß er noch vor Schlafengehen sich auf irgend eine Weise ein
Stück Kuchen verschaffen werde und mit diesem Trost lief er zur
Menagerie.

Diese war leicht aufzufinden, denn vor derselben schrien Papageien und
tanzten Affen in wunderlichen Sprüngen. Wilhelm bot dem Besitzer der
Menagerie sein Kätzchen zum Verkauf. „Das ist ein rechtes Futter,“ sagte
der Mann in verächtlichem Ton, „das füllt ja kaum einen hohlen Zahn des
Löwen aus; doch um des Spaßes willen nehm ich dir den Kater ab. Da hast
du einen Groschen, und wenn du sehen willst, wie dein Kätzchen gefressen
wird, so kannst du in einer Stunde wieder kommen, da wird gefüttert --
du sollst eingelassen werden, ohne zu zahlen.“

Wilhelm lief nun mit seinem Groschen zur Kuchenbude. Er dachte zwar
daran, daß der Vater ihm befohlen habe, alles Geld nach Hause zu
bringen; „da müßte ich doch ein rechter Narr sein!“ sagte er zu sich
selbst, kaufte ein Stück Kuchen, welches er sehr gemüthlich verzehrte,
während einige seiner armen Schulkameraden ihm nicht ohne Neid zusahen.



Kapitel 8.

Die großen Katzen.


  Tiger! Tiger! Flammenpracht!
  In des Waldes dunkler Nacht,
  Wo die kühne Meisterhand,
  Die sich dieses unterstand,
  Daß die Gluth sie angefaßt,
  Die du in den Augen hast.

  Ward aus Himmel oder Höll’
  Ausgeschöpft die Feuerquell?
  Alles wie aus einem Guß!
  Welche Hand! und welcher Fuß!
  Wo die Esse, die so stolz,
  Dieses Hirn aus Erz dir schmolz!

  Aller Wesen letzter Tag
  Tiger ist dein,
  Was du anfaßt, das ist roth,
  Was du angefaßt, ist todt.
  Tiger, Tiger, fürchterlich!
  Der das Lamm schuf -- schuf er dich?

Als Wilhelm nach der Menagerie zurückkam, vernahm er schon lautes
Brüllen. Im Vorplatz wurden große Stücke Fleisch zerschnitten; diese
wurden sodann vertheilt, und Wilhelm weidete sich an der Freßbegierde
der Thiere, an ihren scharfen Zähnen und an den wilden Tönen, welche sie
dabei ausstießen. Man warf das Kätzchen in des Löwen Käfig; es zitterte,
und Wilhelm dachte schon, das große Thier werde seiner Angst bald ein
Ende machen und es unter seiner Riesentatze ersticken. Aber nein! der
Löwe schien es gar nicht zu bemerken, es konnte ganz sicher bei ihm
leben; wenn er es nicht aus Zufall zertrat, mit Willen that er es gewiß
nicht. Kätzchen verlor auch wirklich bald alle Angst; es leckte von dem
blutigen Fleisch, welches der Löwe zur Mahlzeit erhielt -- das arme
Thier mußte ja auch sehr hungrig sein; der Löwe ließ es sogar geschehen,
daß es ein kleines Stückchen fraß, und als es gesättigt war, zeigte es
sogar Lust, mit dem Schweif des Königs zu spielen, wie es mit Mlle.
Gogo’s Mützenschleife gespielt hatte.

Als nun die Thiere gefüttert waren, räusperte sich der
Menageriebesitzer, und indem er mit einem Stock nach den verschiedenen
Käfigen deutete, gab er mit lauter Stimme folgenden Bericht. „Sie sehen
hier, meine Herrschaften, den großen Löwen aus Bengalen. Er ist einer
der größten, die man je in Europa gesehen hat, indem er 9 Fuß lang und 5
Fuß hoch ist. Seine prächtige Gestalt, sein fester Blick, sein stolzer
Gang und sein furchtbares Gebrüll zeugen von seiner Kraft. Seine
ungeheure Muskelstärke verräth sich durch die großen Sprünge die er
macht, um auf seine Beute zu stürzen und durch das Schlagen seines
Schweifes, womit er einen Ochsen zu Boden werfen kann. Sein gewöhnlicher
Gang ist langsam und würdevoll; er pflegt blos zu laufen, wenn er
verfolgt wird. Hinter Gebüsch und Rohr verbirgt er sich und lauert auf
das vorübergehende Wild, welches an einer nahen Quelle zu trinken
pflegt; mit einem ungeheueren Sprunge stürzt er über dasselbe her, indem
er seine Krallen tief in dessen Seiten schlägt und mit seinen Zähnen
dessen Hinterschädel zerbricht. Wenn er im Sprung seine Beute verfehlt
hat, so läßt er sie laufen und versucht nicht, sie zu verfolgen, sondern
legt sich abermals auf die Lauer. Hat er sich satt gefressen, so legt er
sich nieder und schläft zwei bis drei Tage, bis der Hunger ihn wieder
aufweckt. Wenn der Löwe unter eine Heerde geräth, so tödtet er Alles,
was ihm vorkommt, selbst wenn er gesättigt ist. Sein Muth ist nicht so
groß, als man glauben möchte; er greift nur kleinere und schwächere
Thiere an, und wenn er sich in den Bereich der menschlichen Wohnungen
geschlichen hat, so kann man ihn mit einigem Lärm oder auch mit einer
brennenden Fackel verjagen. Indem er die Haut seines Gesichts und
vorzüglich die Stirnhaut mit großer Leichtigkeit bewegt, kann er den
Ausdruck seiner Physiognomie sehr oft wechseln und ihr den einer
furchtbaren Wuth geben, welcher durch die Beweglichkeit seiner Mähne,
die er emporsträuben und nach allen Richtungen hin wenden kann, sehr
erhöht wird. Die Löwin ist kleiner, ruhiger und feiger, als der Löwe,
doch wenn sie Junge hat, ist sie furchtbarer als er, indem sie sich dann
auf Menschen und Thiere ohne Unterschied stürzt, sie tödtet und ihren
Kleinen zuträgt, denen sie bei Zeiten lehrt, das Blut zu saugen und das
Fleisch zu zerreißen. Der Löwe säuft wie ein Hund. Sein Gebrüll ist so
stark, daß man es des Nachts in der Wüste für Donner halten könnte;
er stößt es täglich 5 bis 6 Mal aus, besonders häufig, wenn Regen zu
erwarten steht. Wenn der Löwe Menschen und Thiere zusammen findet,
so fällt er lieber die letztern an, es sei denn, daß ein Mensch ihn
schlägt, bei welcher Gelegenheit er den Beleidiger gewiß schnell
herausfindet. Der Elephant, das Rhinozeros, der Tiger und das Nilpferd
sind die einzigen Thiere, welche ihm Widerstand leisten können und
welche er auch gern vermeidet, wenn er kann. Das Fleisch des Löwen hat
einen unangenehmen starken Nachgeschmack; doch essen die Neger es gern.
Der Löwe gehört dem Katzengeschlecht an, man vergleiche ihn nur mit dem
kleinen Kätzchen, welches ihm Gesellschaft leistet. Beide haben 30
scharfe Zähne, beide Pfoten mit langen starken Krallen, die sie nach
Belieben einziehen und herausstoßen können; beide haben denselben Bau
des Kopfes und tragen denselben Raubthiercharakter.


_Der Tiger_

gehört ebenfalls zum Katzengeschlecht. Während der Löwe als erstes unter
den fleischfressenden Thieren gilt, ist der Tiger das zweite. Ihm fehlt
die Würde des Löwen; er ist immer blutdürstig und fällt gern die
Menschen an. Ihm fehlt auch des Löwen edler Anstand; sein Körper ist zu
lang, seine Beine zu niedrig; das Haupt hat keine Mähne, die Augen sind
unstät und die Zunge blutroth; er ist von einer unersättlichen Blutgier,
von einer empörenden Grausamkeit beseelt; sein einziger Instinkt scheint
eine stete Wuth zu sein, welche ihn oft so weit verblendet, daß er seine
eigenen Jungen frißt und deren Mutter zerreißt, wenn sie dieselben
vertheidigen will.

Glücklicher Weise sind diese Thiere nicht sehr zahlreich und blos auf
das heißeste Klima Ostindiens beschränkt.

Wenn der Tiger irgend ein großes Thier, z. B. ein Pferd oder einen
Büffel getödtet hat, so zerreißt er es nicht an der Stelle der That,
sondern er schleppt es in die Tiefe des Waldes mit einer Leichtigkeit,
daß die Schnelligkeit seines Laufes gar nicht durch die Schwere des
Gegenstandes gehemmt zu sein scheint. Der Tiger ist vielleicht das
einzige Thier, das man nicht zähmen kann; er ist immer bös, sowohl wenn
man ihn gut, als wenn man ihn schlecht behandelt. Nicht Gewohnheit,
nicht Zeit vermag ihn zu bändigen; er zerreißt die Hand, welche ihm
Nahrung reicht, wie die, welche ihn schlägt und alles Lebendige
erscheint ihm nur als erschaffen, um seine Beute zu werden. Die Tigerin
wirft wie die Löwin 4-5 Junge, und ihre Wuth steigert sich bis zu einem
entsetzlichen Grade, wenn man dieselben raubt.


_Der Panther_

gehört ebenfalls zum Katzengeschlecht. Er sieht wild aus, hat ein stets
unruhiges Auge; seine Bewegungen sind heftig und seine Stimme gleicht
der eines wüthenden Hundes. Die Zunge ist rauh und sehr roth; die Zähne
sind stark und spitzig, die Krallen hart und scharf. Das Fell ist schön,
mit schwarzen ringelartigen Flecken besäet. Der Panther gleicht an
Gestalt und Größe einer Dogge von guter Raçe, nur mit kürzern Beinen.

In Persien und andern Theilen von Asien pflegt man den Panther zur Jagd
zu benutzen, ohne ihn jedoch zähmen zu können, denn er verliert nie
seinen wilden Charakter und wenn man sich seiner bedienen will, bedarf
es großer Mühe, um ihn abzurichten und noch größere Vorsicht, um ihn
auszuführen und zu benutzen.


_Die Unze_

ist zahlreicher und weiter verbreitet als der Panther. Sie lebt
gewöhnlich in Arabien und im südlichen Asien; man bedient sich ihrer
dort zur Jagd, weil in den heißen Ländern Asiens die Hunde selten sind.
Die Unze hat indeß den Geruch nicht so fein wie der Hund und kann das
Wild nicht nach seiner Fährte verfolgen; auch würde es nicht im
schnellen Laufe verfolgen können, sondern jagt nur nach dem Gesicht und
kann sich nur aus dem Hinterhalt auf ihre Beute stürzen und sie
niederwerfen.


_Der Leopard_

hat dieselben Gewohnheiten und denselben Charakter, wie der Panther,
aber man kann ihn nicht so leicht zähmen; er bewohnt den Senegal und
Guinea, wo man ihn sehr häufig findet. Panther, Unze und Leopard
bewohnen nur die hintersten Landesstrecken von Asien und Afrika; sie
halten sich am liebsten im dichten Walde und am Ufer der Flüsse auf oder
auch in der Nähe entlegener menschlicher Wohnungen, wo sie den
Hausthieren auf dem Wege nach der Quelle gern auflauern. Sie fallen
selten Menschen an. Leicht erklettern sie Bäume, von deren Zweigen sie
auf ihre Beute herabstürzen. Obgleich sie meistens sehr mager sind, so
gilt ihr Fleisch doch als Leckerbissen für den Reisenden.

Wilhelm wendete bald sein Interesse von dem Bericht des
Menageriebesitzers ab und den Affen zu, welche auch gar zu lustig
anzuschauen waren. Sie befanden sich in einem großen Bauer, worin sie
unaufhörlich umhersprangen. Ueberall gab es allerliebste Affengruppen.
Hier flöhte eine alte Aeffin ihr Kind mit mütterlicher Liebe; dort
wickelten sie einige Bonbons aus Papierhüllen und grinzten freudig über
den Fund. Manche balgten sich, andere schaukelten sich in großen Ringen,
die mit Seilen aufgehängt waren, oder sie wiegten sich in Zweigen, die
man im innern Raum des Bauers angebracht hatte. Wilhelm meinte immer,
diese Thiere müßten Menschen sein, weil sie so menschliche Bewegungen
zeigten.

Was ihn aber mehr als alles andere an diesen Affenbauer fesselte, das
waren die zahllosen Kinder, welche umherstanden und im Anschauen
vertieft nicht Acht hatten auf ihre Habseligkeiten. So war es dem
kleinen Taschendieb schon gelungen, einige Taschentücher und einen
wohlgefüllten Arbeitsbeutel zu rauben und in seine Rocktasche zu
verbergen.

  [Buntbild: Rosaurus in dem Löwenkäfig.]



Kapitel 9.

Die böse That und deren Folgen.


  Und ist das Fädchen noch so fein gesponnen,
  Am Ende kommt es doch ans Licht der Sonnen.

Plötzlich vernahm man Geräusch an der Thür und es hieß: -- „die kleine
Prinzessin käme, um die Thiere zu sehen.“ Alles blickte nach ihr hin und
freuete sich über ihr freundliches Grüßen und über ihren hübschen Anzug.
-- Wie sie vor den Käfig des großen Löwen trat, stieß sie einen lauten
Schrei der Ueberraschung und des Entsetzens aus, denn sie erkannte auf
den ersten Blick ihren Rosaurus. Sie wollte auch gleich mit der Hand
durch die Eisenstäbe fahren, um den kleinen Liebling zu streicheln und
zu trösten, aber Mlle. Gogo riß sie erschrocken zurück. -- Der
Menageriebesitzer wurde sogleich gefragt, wie er zu dem Kätzchen
gekommen sei? und er erzählte, daß er es einem unbekannten Knaben
abgekauft habe, welcher noch in diesem Augenblick hier gewesen, -- er
wolle sogleich nach ihm suchen.

Wilhelm war aber nicht zu finden und das ging auch ganz natürlich zu;
denn als er das Gespräch über das Kätzchen hörte, wurde ihm bang ums
Herz und er kroch unter einen Tisch, worauf Papageien standen, und
dessen unterer Raum mit einem Leinwandvorhang versehen war; da war er
sicher geborgen. Durch ein Loch konnte er Alles sehen, was in der
Menagerie vorging, und hören konnte er auch Alles. So mußte er denn
Zeuge sein, wie der Menageriebesitzer das Kätzchen aus dem Löwenkäfig
holte und einen Thaler erhielt, während er doch nur einen Groschen dafür
bezahlt hatte. Wilhelm ärgerte sich recht, daß er nicht selbst ein so
gutes Geschäft gemacht habe.

Es wurde ihm indeß sehr unheimlich unter dem Tisch zu Muthe; denn es
befand sich unter demselben eine große Aeffin im Wochenbette, welche den
unberufenen Eindringling mit den langen Armen in den Nacken kratzte, und
unter dem Käfig der Aeffin stand der eines brütenden Pelikans, welcher,
ebenfalls entrüstet über die Störung, Wilhelm so arg biß, daß die Hosen
zerrissen und das Blut strömte. Er, der schon so wenig Sitzefleisch in
der Schule hatte, fürchtete auf diese Weise ganz untüchtig zum Sitzen zu
werden und als die Nachsuchung zu Ende war, benutzte er den Moment, wo
ein dicker Herr sich vor den Tisch gestellt hatte, um hervor zu kriechen
und sich hinter diesem verborgen zu halten.

Da aber das Böse in seinem Herzen nie schlummern konnte, so entging es
seiner Aufmerksamkeit nicht, daß der dicke Herr eine sehr wohlgefüllte
Börse, woraus er so eben ein Extra-Trinkgeld für die Schlange gezahlt
hatte, in die linke Rocktasche steckte. Die Schlange fraß nämlich so
eben eine Taube in gewohnter grausamer Weise, indem sie mit der
freundlichsten Miene von der Welt dieselbe beleckte und durch ihren
Speichel schlüpfrig und geschmeidig machte; dann zog sie das arme Thier
unbarmherzig in ihren Rachen, und man fühlte, wie es im tiefen Schlund
noch zappelte.

Wilhelm meinte, der dicke Herr sähe gewiß so aufmerksam zu, daß er es
nicht merken würde, wenn seine zarte Hand ihm in die Tasche griff, und
die Börse heraus holte und im Hui war diese Hand auch drinnen. Aber in
demselben Augenblick fühlte Wilhelm, daß sie von einer anderen,
kräftigeren Hand gefaßt wurde, welche unter dem Rocke schon mußte geruht
haben; zu gleicher Zeit ward sein Ellbogen ergriffen und mit Riesenkraft
auf einen Ruck sein Unterarm wie ein dürres Stück Holz zerknickt.
Wilhelm schrie vor Schreck und vor Schmerz und als der dicke Herr sich
ihm zuwendete, da erkannte er in ihm denselben, der ihm neulich die zwei
Ohrfeigen und den Groschen gegeben hatte. Es war der Herr
Polizei-Präsident. „Aha, sagte dieser, wir kennen uns schon; jetzt hoffe
ich, stiehlst du so bald nicht wieder.“

Das ganze Publikum war aufmerksam auf den schreienden Knaben geworden
und auch die Prinzessin wollte ihn bedauern und ihm etwas schenken. Aber
der Menageriebesitzer erzählte ihr, daß es derselbe Knabe sei, der ihren
Rosaurus für den Löwen verkauft habe; auch fanden sich beim Ausleeren
seiner Taschen eine Menge gestohlener Gegenstände. „Nein, dieser
verdient kein Mitleid!“ meinten die Leute.

Aber er litt doch große Schmerzen; blaß und zitternd stand er da und
alle Blicke waren auf ihn gerichtet; ein Wundarzt, welcher zufällig in
der Nähe war, untersuchte den Arm und erklärte, derselbe müsse sogleich
eingerichtet werden.

„Das soll in meinem Haus geschehen,“ sagte der Polizei-Präsident; „ich
will ihn bei mir verpflegen lassen und auch alle Kosten tragen. Seine
Eltern taugen gewiß nicht viel, sonst würde der Junge nicht so
durchtrieben sein.“

So wurde denn Wilhelm fortgebracht, während die kleine Prinzeß mit ihrem
Rosaurus sich nach Haus begab und sich vornahm, ihm das Leben noch viel
angenehmer als früher zu machen. -- Sie konnte sich gar nicht denken,
wie er in des bösen Knaben Hände gekommen sei und als Mlle. Gogo endlich
nähere Erkundigungen einzog, und man nach der Beschreibung Wilhelms und
nach dem Arbeitsbeutel, den er noch besaß, die lange Jenny als die
Ursache von Rosaurus Verschwinden erkannte, da wurde der Letzteren
erklärt, daß sie nie wieder bei der kleinen Prinzessin eingeladen werden
solle, was allerdings eine große Strafe und auch eine große Schande war.
Der Vater schickte sie hierauf in ein Institut und man hoffte, sie werde
von da artiger zurückkehren.

Es war recht gut, daß Wilhelm in gute Pflege kam, denn zu Hause fehlte
es ja an Allem. Sein Vater hatte beim Holzlesen einen jungen Baum
abgehauen und war dabei ertappt worden, da mußte er zur Strafe für die
Waldbuße arbeiten und da die Mutter nichts verdienen konnte, so war kein
Geld zu Hause.

Im Hause des Präsidenten fehlte es indeß an Nichts. Wilhelm lag im
reinlichen Bett in einer hübschen Kammer. Eine freundliche Magd bediente
ihn und pflegte ihn. In den ersten Tagen bekam er blos Wassersuppen und
kühlende Getränke zu genießen, später sorgte man für kräftigere Nahrung;
ein freundlicher Arzt besuchte ihn täglich und der Präsident brachte ihm
Bilder und Bücher und setzte sich stundenlang an sein Bett, um ihm
Geschichten zu erzählen, er wußte deren sehr schöne: von klugen Kindern,
die anstatt ihre Geistesgaben auf das Lernen oder etwas Nützliches zu
richten, sie benutzten, um andere Menschen zu überlisten und zu
betrügen; er erzählte auch von Verbrechen, die lange geheim gehalten
wurden, endlich aber doch ans Tageslicht kamen und den Uebelthäter zur
Strafe brachten.


_Der Finger Gottes._

In einem kleinen Städtchen lebte einst eine glückliche Familie; die
Eltern waren brav und die Kinder gut erzogen. Nur ein Sohn, Namens
Ludwig, gab durch seinen heftigen Charakter oft Ursache zur
Unzufriedenheit; dabei hatte er ein rachsüchtiges Gemüth und in den
Stunden seines Zorns hatte er manchem Freund schon weh gethan und oft
die Geschwister schwer gekränkt. Trotz aller Vorstellungen hatte er
diesen Fehler nicht abgelegt; er war nun 16 Jahr, confirmirt, und noch
immer brach von Zeit zu Zeit, bei unbedeutender Gelegenheit, seine
blinde Wuth aus und äußerte sich in irgend einer Unthat, deren Folgen
indeß nie so bedeutend waren, daß sie eine andere Strafe als die Rügen
des Vaters veranlaßt hätte.

Eines Tages war Ludwig mit dem Sohn eines Gutsbesitzers beim Tanzen in
Streit gerathen; in Wuth entbrannt, wollte er mit der Faust auf seinen
Gegner losgehen, dieser aber, stärker wie er, ergriff ihn beim Kragen
und warf ihn zur Thür hinaus.

Rache brütend ging Ludwig nach Hause; er mußte vor einem Bauerngut
vorbei, welches dem Vater seines Gegners gehörte und einst dessen
Erbtheil werden sollte. Er konnte seinem Beleidiger wohl keinen größern
Schabernack anthun, als wenn er dasselbe niederbrannte. Noch immer war
er in der Aufregung des Zorns und rasch griff er nach dem Feuerzeug und
warf einige glimmende Schwammstückchen ins Fenster. Da diese aber nicht
gleich zündeten, nahm er ein Wachslichtchen, welches auf der Schwester
Weihnachtsbaum gestanden hatte, und warf es brennend in das Stroh.
-- Dann ging er weiter. Er hatte kaum die böse That gethan, als sein
Zorn sich legte und er sie zu bereuen anfing; er hoffte, es werde nicht
Feuer fangen. Als er aber eine Stunde zu Bette war, vernahm er den
Feuerlärm. Er eilte nach der Brandstätte, er half mit löschen und
retten; er war unermüdlich und scheuete keine Gefahr. Er holte sogar ein
Kind aus den Flammen, wobei er selbst sehr beschädigt ward; aber nichts
konnte das ungestüme Pochen seines Herzens beschwichtigen. Das Gut war
niedergebrannt; die Besitzer dankten denen, die beim Retten behülflich
gewesen waren und Ludwig vor allen Andern; der Dank that diesem aber
sehr weh. Er hätte gern sein Hab’ und Gut hingegeben, um ihn zu
entschädigen. -- Man quälte sich mit Vermuthungen, wer das Feuer
angelegt habe; weder der Gutsbesitzer noch dessen Sohn hatten Jemand
beleidigt; sie kannten keinen Feind; man hatte nichts gefunden von dem
Mordbrenner, als ein Wachsstöckchen, welches verlöscht war und seinen
Zweck nicht erfüllt hatte. Es giebt so viele Wachsstöckchen in der Welt.
Dieses konnte unmöglich auf den Schuldigen führen.

Ludwig ward täglich ernster und mehr in sich gekehrt. Seine Wangen
erbleichten, er schlief nicht des Nachts; sein Gewissen quälte ihn; auch
fürchtete er, man möge doch einmal entdecken, daß er ein Mordbrenner sei
und ihn dafür bestrafen. Eines Tages wurde er wirklich abgeholt und
verhört. -- Einer der Untersuchungsrichter war mit Ludwigs Vater
zusammen in der Residenz gewesen und sie hatten zusammen die bunten
Wachslichter für den Weihnachtsbaum gekauft; so wußte er, wo solche
Lichter waren; kaum war diese Spur gefunden, so gedachte man des
Streites, welchen Ludwig am Vorabend des Brandes gehabt. Dann bemerkte
man sein unruhiges Wesen, seine bleichen Wangen. Er ward verhört,
gestand und wurde auf viele Jahre ins Zuchthaus verurtheilt. So kommt
selbst das Geheimnißvollste an den Tag.

Christian, der Sohn eines Tagelöhners, ging einst an einem Garten
vorüber, wo Aprikosen an einem Baume hingen. Die Früchte waren ganz reif
und hatten die schönsten rothen Backen. „Das will ich mir merken,“
dachte der naschlustige Knabe, „heute Nacht, wenn es dunkel ist, da
komme ich und hole sie mir.“ -- Als er fort war, kam Peter, der Sohn des
Hirten; sein Vater hatte ihn betteln geschickt und er kam heim mit einem
Sack voll Brodrinden. Aber er war sehr müde, und da er noch weit von
Hause war, legte er sich vor die Gartenthür, welche eine Art von Obdach
bot, und schlief ein. -- Er wachte auf durch ein Geräusch und sah Jemand
in den Garten steigen. Christian hatte sich zwar vorsichtig umgeschaut,
aber den in dem Schatten der Thür ruhenden Hirtenknaben nicht entdeckt.
Der kleine Peter erkannte dagegen beim Mondenschein den Einsteigenden,
wollte ihn aber nicht stören, weil er fürchtete, derselbe könne ihn
schlagen. Er legte sich also auf die andere Seite und schlief weiter. Am
andern Morgen ward er unsanft von dem Gärtner geweckt, welcher ihn für
den Dieb hielt und ihn durchaus vor die Polizei schleppen wollte; aber
Peter betheuerte seine Unschuld, er zeigte den Inhalt seines Bettelsacks
vor und nannte, da alles nichts half, den wirklichen Dieb. Wirklich fand
der Gärtner, welcher gleich in Christians Wohnung ging, die gestohlenen
Früchte, während Christian noch fest schlief; er hatte ja einen Theil
der Nacht durchwacht und war fest überzeugt, daß Niemand ihn gesehen
habe. -- Gott sieht es aber immer und weiß es auch immer also zu lenken,
daß die menschliche Gerechtigkeit es erfahre und daß schon auf Erden die
Strafe den Verbrecher erreicht.


Im Anfang hörte Wilhelm nur mürrisch zu; er hatte ja Schmerzen und diese
Schmerzen hatte der Mann, welcher da vor ihm saß, verursacht. Nach und
nach aber erweichten die liebevollen Worte sein Gemüth; es war ihm oft
zu Muthe, als werde es plötzlich vor seiner Seele Tag; als falle ein
Schleier vor seinen Augen herab und er erkannte eine Wahrheit; diese
Wahrheit hieß aber: Ehrlich währt am längsten.

Eines Tages, als Wilhelm eine schmerzlose Nacht gehabt hatte und zum
ersten Mal das Bett verlassen konnte, freilich mit festgeschientem Arm,
frug der Präsident ihn mit seiner freundlichen sanften Stimme: „sage mir
doch recht aufrichtig, was du denn eigentlich mit deiner Hand in meiner
Tasche wolltest?“

_Wilhelm._ Ich wollte Ihren Geldbeutel herausholen.

_Präsident._ Wußtest du denn nicht, daß das gestohlen sei?

_Wilhelm._ O ja! das wußte ich sehr wohl.

_Präsident._ Wußtest du denn nicht, daß das Stehlen unrecht sei?

_Wilhelm._ Das wußte ich nicht so ganz genau; ich wußte nur, daß man
gestraft wird, wenn man sich dabei ertappen ließ und ich habe mich
niemals ertappen lassen (hier lächelte Wilhelm triumphirend).

_Präsident._ Machte dir denn das Stehlen Freude?

_Wilhelm._ Ja! sehr große, besonders wenn ich es recht geschickt anfing
und wenn es mir mit großer Mühe gelang. Auch war ich froh, wenn ich
etwas nach Hause brachte; und zu Hause konnte man alles brauchen.

_Präsident._ Wußten denn deine Eltern, daß das, was du nach Hause
brachtest, gestohlenes Gut sei?

Wilhelm schwieg verlegen; er scheute sich, seine Eltern zu verrathen;
„die Eltern, sagte er, schickten mich mit der Schwester aus, um zu
betteln -- es ging aber gar zu langsam, wir brachten nur wenig zusammen,
kaum genug, ein Brod zu kaufen und ich wollte doch auch manchmal ein
Stückchen Kuchen essen. Man sieht so schöne Sachen bei den Conditoren am
Fenster stehen, das giebt Lust zu naschen und ich fand es ungerecht, daß
die Reichen allein solche gute Sachen genießen sollten.“

_Präsident._ Als Gott Reiche und Arme schuf, muß er wohl sehr weise
Absichten gehabt haben. Der Arme kann übrigens reich, der Reiche arm
werden, der Arme wird aber nur reich durch Arbeit, nicht durch
Diebstahl; denn auf der Sünde ruht kein Segen. Ich will dir Mittel an
die Hand geben, die dich reich machen können, wenn du brav und arbeitsam
werden willst.

_Wilhelm._ Ja, das will ich!

_Präsident._ Nun, so gieb mir die Hand darauf, daß du nie wieder fremdes
Eigenthum an dich nehmen wirst.

Wilhelm versprach es.

_Präsident._ Auch versprich mir nie zu lügen.

Wilhelm versprach es auch.

_Präsident._ So will ich dich in eine Schule bringen, wo du erzogen und
unterrichtet wirst; dann laß ich dir ein Handwerk lernen, welches dich
ernähren kann, und du kannst dir eins wählen.

_Wilhelm._ Ich möchte gern Bäcker oder Conditor werden.

_Präsident._ Haha! wohl wegen der guten Kuchen.

_Wilhelm._ Ich meine, es muß eine Freude sein, das bereiten zu können,
was so vielen Leuten gut schmeckt.

_Präsident._ Brav, mein Junge; es ist recht, wenn man nicht blos an sich
selbst, sondern auch an Andere denkt. Bist du mir noch böse, daß ich dir
den Arm in meiner Tasche zerbrach. Ich kann in meiner eignen Tasche doch
machen, was ich will, und was sich unberufen hinein verirrt, muß sich
alles gefallen lassen.

_Wilhelm._ Ich bin jetzt recht froh, daß Sie mir den Arm zerbrachen und
ich will Ihnen immer recht dankbar dafür sein, wenn Sie mir etwas
Tüchtiges lernen lassen.

Als der Präsident eines Tages der kleinen Prinzessin begegnete, fragte
diese:

„Was macht der kleine böse Junge?“

„Er ist kein böser Junge mehr,“ antwortete der Präsident, „und es würde
gar keine bösen Jungen in der Welt geben, wenn die Eltern nicht böse
wären.“ Er erzählte hierauf, wie Wilhelm erzogen worden und daß er noch
andere Geschwister habe. Die Prinzessin frug nun, ob diese auch so böse
wären? Man ließ sich nach ihnen erkundigen und hörte bald nur Gutes von
Dorothea; die Prinzessin ließ sie kleiden und in eine Strick- und
Nähschule schicken. Die kleine Hanne wurde aber in einer
Klein-Kinderbewahrschule untergebracht, wo sie beten, singen, stricken
und hübsche Verschen lernte; man hielt sie auch dazu an, sich die Nase
zu putzen und die Hände zu waschen, was sie zu Hause nicht nöthig hatte;
auch mußte sie hübsch sittsam sein. Der Präsident sagte: auf solche
Weise rette man die Kinder von dem Verderben, und führe ihre Seelen dem
Himmel zu.



Kapitel 10.

Das große Abenteuer.


  Verliere den Muth nicht in Gefahr,
  Gott wacht und schützt dich immerdar.

Täglich besuchte die Prinzessin den Löwen und brachte eine Stunde in der
Menagerie zu. Sie war dem Thier sehr dankbar, daß er ihr Kätzchen nicht
gefressen hatte, und wollte ihm ihre Erkenntlichkeit beweisen, indem sie
ihm alle Tage einige Pfund Fleisch brachte. Dieses Fleisch war hübsch in
Stücken geschnitten und auf Papier in einem zierlichen Körbchen
geborgen, welches der Bediente ihr nachtrug. Die Fleischstücken reichte
sie selbst dem Löwen durch das Gitter und sie machte es dabei nicht wie
der Menageriebesitzer bei der Fütterung, welcher ihm das Fleisch,
nachdem er es gereicht hatte, mit dem eisernen Haken so oft wieder
entzog, um ihn recht böse zu machen und den Zuschauern ein Beispiel
seiner bestialischen Wuth zu geben. Nein, sie reichte es dem Löwen recht
schnell und ohne sich zu fürchten. Der Löwe kannte auch bald seine
kleine Wohlthäterin, besonders wenn sie Rosaurus mitbrachte, der ihr
gewöhnlich auf der Schulter saß. Wenn sie mit ihrem Gefolge eintrat,
legte er sich ganz sanftmüthig vor das Gitter nieder und empfing dankbar
sein Geschenk; dabei pflegte er mit Rosaurus um die Wette zu schnurren.

Im Sommer bewohnte die Prinzessin ein Lustschlößchen in einer kleinen
Entfernung von der Stadt; dort durfte sie recht lustig herumspringen und
recht wenig Stunden haben. Damit sie ihre Gespielinnen nicht entbehre,
wurde Lisi mitgenommen. Joly und Rosaurus durften natürlich nicht
fehlen. Das Schlößchen war von einem hübschen Garten umgeben und an den
Garten stieß ein kleiner Wald. Die Kinder durften sich darin nach
Belieben ergehen und erfreueten sich des Landlebens, indem sie Blumen
suchten, Kränze banden oder Seifenblasen machten. Letztere unterhielten
besonders Rosaurus recht gut, welcher immer danach haschte und sehr
verwundert war, wenn sie unter seinen Sammetpfötchen zerplatzten. Joly
war ebenfalls sehr verlegen, wenn die Kinder ihm ihre Seifenblasen auf
die Nase zerplatzen ließen; er bellte dieselben oft an, zog das
Schwänzchen ein und riß vor ihnen aus. Uebrigens vertrug er sich viel
besser als im Anfang mit Rosaurus. Obgleich sich wohl dann und wann bei
Freßgelegenheiten ein Streit zwischen Beiden erhob wegen des Mein und
Dein, so konnten sie doch recht oft niedlich zusammenspielen.
-- Rosaurus mochte wohl einsehen, daß Joly im Vergleich mit dem Pudel
Kartusch ein sehr wohl erzogener und höflicher Hund sei.

Eines Tages saß die Prinzessin mit Lisi und Mlle. Gogo am Rand des
Wäldchens auf weichem Rasen und flochten Kränze; Joly und Rosaurus
spielten neben ihnen und sie sprachen, wie das häufig geschah, vom
großen Löwen, den sie erst gestern besucht hatten. Die Prinzessin lobte
ihn abermals, daß er dem Rosaurus nichts zu Leid gethan, worauf Lisi
sagte:

„Ich habe neulich gelesen, daß der Löwe, obgleich er eigentlich die
Einsamkeit liebt, sich doch leicht an andere Thiere gewöhnen und mit
ihnen freundlich verkehren kann. Noch vor nicht all zu langer Zeit gab
es in Paris im Jardin des plantes eine Löwin, Namens Constantine, welche
während mehrerer Jahre mit einem kleinen Spitz sehr glücklich lebte. Man
hatte letzteren, welcher weiß und schwarz war, in ihren Käfig geworfen,
und er hatte sich, an allen Gliedern zitternd, in einen Winkel
verkrochen. Die Löwin erhob sich langsam, brüllte mit dumpfer Stimme und
näherte sich dem armen kleinen Thier, welches ein klägliches Geschrei
ausstieß und eine flehende Stellung anzunehmen schien. Sein
verzweiflungsvoller Blick schien die Löwin zu rühren; denn sie legte
sich ruhig nieder, ohne ihm wehe zu thun. Als man bei der Fütterung
Constantine ihre Nahrung gab, ließ sie etwas für den Spitz übrig; er
aber wagte nicht irgend etwas davon zu berühren; ja der größte Hunger
würde ihn nicht vermocht haben, seinen dunkeln Winkel zu verlassen.
Am nächsten Tage fürchtete er sich weniger und entschloß sich, das zu
verzehren, was die Löwin für ihn übrig gelassen hatte. Am zweiten Tag
wagte er es, aus dem Winkel hervorzukriechen und gleich nach der Löwin
zu speisen. Nach acht Tagen erlaubte er der Löwin nicht eher zu fressen,
als bis er selbst sich gesättigt hatte, und wenn sie es wagte, sich
früher dem Fleisch zu nähern, so sprang der Spitz ihr wüthend in’s
Gesicht und biß sie mit allen Kräften.

Im Herbst, als es kalt und feucht wurde, brachte der Spitz die Nächte
zwischen den Beinen der Löwin zu, um warm zu liegen, was sie ebenfalls
willig geschehen ließ. Zum Dank dafür biß er sie eines Tages in einem
Anfall von Wuth dermaßen in den Schwanz, daß das Blut strömte und sie
zeitlebens eine Narbe behielt. -- Nach einigen Jahren starb der Spitz an
Altersschwäche und Constantine schien untröstlich über diesen Verlust.
Man gab ihr verschiedene andere Hunde, die sie alle erwürgte; endlich
ließ sie den einen am Leben, aber sie zeigte demselben nur die größte
Gleichgiltigkeit und erwies ihm nie eine Gefälligkeit. Sie starb auch
bald darauf, wie man meinte, aus Sehnsucht nach ihrem bösen Spitz.“

Als Lisi kaum diese Geschichte vollendet hatte, begann Joly zu bellen,
und es erschienen drei wunderliche Wesen, welche unter dem Gestrüpp
hervorgekrochen kamen; es waren drei Affen. Die Affenmutter trug ihr
Kleines, welches krank zu sein schien; die Thiere nahten sich zutraulich
und fletschten die Zähne, und hielten die Hände flehend den Kindern hin,
die sie vielleicht erkannten, weil sie sie öfters gesehen hatten, denn
diese Affen gehörten zu der Menagerie; gewiß waren sie entsprungen.
-- Die Prinzessin ließ sogleich Milch und Semmel für sie bringen und mit
Aepfeln und Nüssen sie in ein Zimmer locken, wo sie eingesperrt wurden.

Nach diesem Ereigniß, welches die Kinder sehr beschäftigte, da sie sich
gar nicht denken konnten, wie die Affen hatten entspringen können,
wandelten sie zusammen in den Wald. Mlle. Gogo begleitete sie aus der
Ferne, Joly und Rosaurus waren ihnen zur Seite. Letzterer schien ganz
besonders gern in dem Wald zu sein und die Prinzessin befürchtete, das
Blut, welches er in des Löwen Käfig geleckt hatte und sein Antheil an
des Löwen Mahlzeit möge in ihm böse Gelüste entwickelt haben. Jedes Mal,
wenn er einen Vogel sah, wurde er stutzig und er vermochte kaum seinen
grausamen Appetit unter einer gleißnerischen Freundlichkeit zu
verbergen. Die Prinzessin pflegte ihn deshalb an einem rosarothen
Atlasband zu befestigen und so an ihrer Seite zu halten, in der
Hoffnung, ihn von seinen sündhaften Begierden zu heilen und ihm gute
Gewohnheiten zu geben.

  [Buntbild: Das große Abenteuer.]

Als die Kinder nun eine ziemliche Strecke in dem Walde zurückgelegt
hatten und Lisi meinte, sie müßten zurückkehren, indem sie Mlle. Gogo
ganz aus dem Gesicht verloren habe, da vernahmen sie ein ungewohntes
Knistern im Dickicht; die Zweige bogen sich und knickten; Rosaurus
spitzte die Ohren und Joly zog den Schwanz ein und floh eilend dem
Schloß zu. Den Kindern fing es an ganz unheimlich zu werden, sie wußten
nicht warum, und doch blieben sie stehen und blickten regungslos nach
der Stelle, woher das Geräusch kam.

Aber welch ein Schreck durchrieselte ihre Glieder, als das Gebüsch sich
theilte und niemand anders als der Löwe hervortrat; sehr feierlich und
behutsam blickte er um sich her und schritt mit wahrhaft majestätischem
Anstand auf die Kinder zu. Beiden schlug das Herz heftig und Lisi war so
erschrocken, daß sie in Ohnmacht fiel. Die kleine Prinzessin verlor aber
nicht die Gegenwart ihres Geistes, und im Vertrauen auf ihre alte
Bekanntschaft nahm sie Rosaurus auf die Schulter und blieb vor der
ohnmächtigen Lisi stehen. Der Löwe kam näher; er sah gar nicht grimmig
aus, sondern wedelte freundlich mit dem Riesenschweif und legte sich
dann vor der Prinzessin nieder. Diese nahm ihren ganzen Muth zusammen,
schaute dem Thier in die Augen und sprach einige freundliche Worte zu
ihm, wie sie es gethan, wenn sie ihm Fleisch in den Käfig brachte.

Plötzlich aber vernahm man im Gebüsch Hundegebell und menschliche
Tritte. Der Löwe horchte, sprang erschrocken auf und stürzte der andern
Seite des Waldes zu; da fand er aber Hindernisse. Dichtes Gebüsch hemmte
seine Flucht. Jäger kamen herbei und nahten auf Schußweite; vier Schüsse
krachten auf ein Mal und wohlgetroffen, mit furchtbarem kläglichen
Gebrüll fiel das edle Thier nieder und wälzte sich in seinem Blute.
Niemand wagte es, sich dem König der Thiere während seines Todeskampfes
zu nähern. -- Die Prinzessin aber wandte sich der ohnmächtigen Freundin
zu, welche mit Hilfe der herbeigeeilten Mlle. Gogo auch bald wieder zu
sich kam.

Wie aber hatte der große Löwe den Käfig durchbrechen und in den Wald
gelangen können?

In der vorhergehenden Nacht waren durch die Kohlen eines Bratwurstfeuers
unter andern Buden auch die Menagerie in Brand gerathen. Das trockene
Holz des Gerüstes hatte rasch die Flammen verbreitet, welche allen
Löschungsversuchen des Menageriebesitzers trotzten. Die Thiere stießen
die schrecklichsten Töne aus; sie liefen angsterfüllt in ihren Käfigen
umher; die Papageien schlugen mit den Flügeln, die Affen sprangen herum
und schrieen wie die kleinen Kinder; aber die Raubthiere waren
fürchterlich. Der Tiger fletschte die Zähne, indem er sich in den
Hintergrund des Käfigs zurückzog, er schien das feindliche Element
auffressen zu wollen; -- trostlos sprang der Eisbär in seinem Gefängniß
hin und her; die Hitze erschien ihm unerträglich, und als sein schöner
weißer Pelz Feuer fing, da meinte man, die ganze Welt müsse untergehen,
so tief und trostlos war sein Brummen. Der Panther und der Luchs
versuchten an den eisernen Stäben empor zu klettern, sie klammerten sich
fest daran, bis dieselben glühend wurden; heulend ließen sie dann los
von ihrem Halten und fielen auf den Boden des Käfigs herab, wo sie in
gewaltigem Todeszucken im Rauch erstickten und dann verbrannten.

Als der Menageriebesitzer sah, daß er das Feuer nicht mehr löschen
konnte, war er darauf bedacht, wenigstens einige seiner Prachtstücken zu
retten, und er versuchte den Wagen, worauf der Käfig des Löwen stand,
aus der Wagenreihe herauszuziehen; dabei fiel derselbe aber um, die Thür
sprang durch die Erschütterung auf und der vom Feuer und Todesangst
wilde Löwe kam heraus. Das Thier war keineswegs wüthend, als es seine
Freiheit erlangte, im Gegentheil war es schüchtern und furchtsam und es
wäre dem Menageriebesitzer ein Leichtes gewesen, es wieder
einzuschließen, wenn er nicht selbst unter dem umgestürzten Wagen
gelegen hätte. Ehe er sich unter demselben hervorhelfen konnte, war der
Löwe langsamen Schrittes durch die schreiende und fliehende
Menschenmenge, die das Feuer herbeigelockt hatte, dem Walde
zugeschritten. Er hatte sich sogar einige Mal sehr würdevoll umgeschaut
und als er die Feuerflamme sich noch ein Mal betrachtet hatte, war er
zögernd in das Dickicht verschwunden.

Nachdem der Menageriebesitzer noch einige andere Thiere in Sicherheit
gebracht hatte, war er seinem Löwen in den Wald gefolgt in der Hoffnung,
ihn zurückzulocken; derselbe hatte aber seitdem die Bekanntschaft einer
Schafheerde gemacht und einen Hammel verspeist. Dadurch war ihm der Sinn
für die Freiheit aufgegangen; sein Instinkt war erwacht und er gehorchte
nicht mehr der bekannten Stimme, sondern entfernte sich von dem rufenden
Herrn in würdevollem Schritt.

Man erzählte nun, der Löwe habe auch ein Kind erwürgt und die Polizei
hielt es demnach für ihre Pflicht, sich in die Sache zu mischen. Trotz
den dringenden Bitten des Menageriebesitzers, der so gern seinen Löwen
erhalten wollte, wurden Jäger ausgeschickt, um den gefährlichen Gast der
Wälder und Felder zu erlegen, damit derselbe kein weiteres Unheil
anrichten könne.



Kapitel 11.

Aus der Naturgeschichte des Löwen.


  Und herein mit bedächtigem Schritt
  Ein Löwe tritt.
  Er sieht sich stumm
  Ringsum
  Mit langem Gähnen.
  Er schüttelt die Mähnen.
  Und legt sich nieder.

Als der letzte Lebensfunke des Löwen verlöscht war, kam der
Menageriebesitzer herbei; er warf sich über die Leiche seines
Prachtstückes und weinte laut. Mit seinen Thieren hatte der arme Mann
sein Vermögen verloren. Die kleine Prinzessin erbot sich, ihm die Haut
des Löwen abzukaufen, sie wollte dieselbe ausstopfen lassen und im
Lustschlößchen aufstellen, da ein in dessen Umgegend erschossener Löwe
gewiß zu den Seltenheiten gehöre; dann lud sie den betrübten Mann ein,
seine Affen in Empfang zu nehmen, deren Erscheinen man sich jetzt
erklären konnte. Jetzt bemerkte man auch, daß das kleine Aeffchen an
Brandwunden leide und man verband es mit kühlender Salbe, wobei es ganz
still hielt.

Sodann lud man den Menageriebesitzer ein, den Thee mit der Prinzessin zu
trinken; die Kinder gedachten an ihn viele Fragen über seine Thiere zu
thun und sich zu erkundigen, wie er sie erhalten habe.

„Den Löwen,“ erzählte er, „habe ich, als er noch ganz klein war, einem
Araber abgekauft. Der Araber hatte nämlich ausfindig gemacht, daß ein
Löwenpaar in einer Höhle seine Jungen groß ziehe. Die Löwen pflegen nun
niemals ihre Jungen allein zu lassen und wachen deshalb abwechselnd bei
ihnen. Wenn die Löwin die Wache hat, ist sie stets mit ihren Kleinen
beschäftigt; der Löwe aber, welcher meist müde von der Jagd nach Hause
kommt, benutzt die Zeit der Beaufsichtigung, um zu schlafen, und da
schläft er oft sehr fest mit den Kleinen um die Wette. Diesen Augenblick
hatte der Araber nun von einem nahen Baume erlauert; als die Löwin
einige Minuten fort war, kletterte er herab, kroch in die Höhle und nahm
zwei kleine Löwen, die er in seinen Busen barg; sie winselten etwas und
der Vater knurrte im Schlafe so stark, daß der Araber schon meinte, er
sei verloren; er eilte so schnell als möglich fort nach einer Stelle auf
einem Hügel, wo ein Pferd seiner wartete; er hatte solches indeß noch
nicht erreicht, als er die Löwin hinter sich her kommen sah mit dem
Ausdruck und dem Gebrüll der höchsten Wuth. In großen Sätzen durchras’te
sie das Thal und der Araber wäre verloren gewesen, wenn er nicht die
Gegenwart des Geistes gehabt hätte, eines der kleinen Löwen
niederzulegen, so daß die Mutter es finden mußte. Dann bestieg er das
Pferd und jagte davon. Als er mir den jungen Löwen brachte, hatte
derselbe ihn mit scharfen Krallen die Brust zerkratzt, so daß das Blut
in Strömen herabrieselte. Ich mußte dem Araber viel Geld für den jungen
Löwen zahlen und hatte dann noch große Mühe, ehe ich ihn groß brachte;
da können Sie es sich wohl denken, wie sehr es mich betrübt, das schöne
Thier nun verloren zu haben.“ Thränen strömten seinen Wangen herab; dann
erzählte er weiter:

„Es ist schon so viel von den Gewohnheiten des Löwen erzählt worden und
dennoch giebt es noch manchen wenig bekannten Zug in seiner Lebensweise.
Wenn der Löwe in Gesellschaft jagt, so wird der älteste immer zuerst das
Wild anfallen. Ist er so glücklich, dasselbe zu erlegen, so streckt er
sich während einer Viertelstunde an dessen Seite nieder, um wieder zu
Odem zu kommen, und seine Gefährten lagern sich um ihn her. Hat er sich
genugsam ausgeruht, so erhebt er sich und verzehrt den Bauch und die
Brust des getödteten Thieres; das sind die Lieblingsbissen des Löwen.
Sodann legt er sich abermals nieder, ohne daß seine Gefährten oder seine
Jungen sich die geringste Bewegung erlauben. Erst wenn sein Hunger
vollständig befriedigt ist, fallen sie über das getödtete Thier her und
zerfleischen es. So auch wenn ein junger Löwe auf der Jagd glücklich
war, und ein alter ihm naht, wird er sich stets zurückziehen und warten
bis der alte seine Mahlzeit vollendet hat.“

„Ich beobachtete einst einen großen Löwen, welcher im Gebüsch lag, und
verschiedene Mal seinen ungeheuren Satz nach einem alten Baumstamm
richtete, gleichsam um Kräfte und Blick zu üben.“

„Ich kannte in Bethanien einen Mann, welcher auf einer Fußreise nach
einer Quelle einlenkte, wo er eine Gazelle zu erlegen hoffte. Die Sonne
stand schon ziemlich hoch, als er diese Quelle erreichte; da er kein
Wild bemerkte, legte er die Flinte auf einen, von wildem Dorngebüsch
beschatteten Felsen, erfrischte sich mit einem kühlen Trunk an der
Quelle und streckte sich dann auf dem Felsen nieder, wo er, nachdem er
seine Pfeife geraucht hatte, einschlief. Bald darauf erweckte ihn indeß
die Hitze der Sonne, welche die Felsenwände zurückstrahlte, und als er
die Augen aufschlug, erblickte er zu seinen Füßen einen großen Löwen,
welcher in liegender Stellung seine glühenden Augen auf ihn gerichtet
hatte. Er blieb einige Augenblicke regungslos, bis er seine
Geistesgegenwart wieder erhielt; verstohlen blickte er nach seiner
Flinte und machte eine Bewegung dieselbe zu ergreifen. Dem Löwen entging
solches indeß nicht, er richtete das Haupt empor und erhob ein
furchtbares Gebrüll. Zu verschiedenen Malen erneuerte der arme Mann den
Versuch seine Waffen zu fassen und jedes Mal drohte ihm der wüthende
Löwe von Neuem mit seinem Gebrüll. Die Lage des Hottentotten wurde immer
peinlicher; der Felsen, worauf er lag, ward so heiß, daß er kaum seine
nackten Füße darauf konnte ruhen lassen. Tag und Nacht verstrichen, ohne
daß der Löwe seine Lage gewechselt hätte. Abermal ging die Sonne empor
und die Gluth ihrer Strahlen ward bald so heftig, daß die schmerzhaften
Füße ganz gefühllos wurden. Gegen Mitte des Tages erhob sich der Löwe
und begab sich an die Quelle, indem er bei jedem Schritt den Kopf
umdrehte, um seinen Gefangenen zu bewachen; und so bald als dieser nur
die kleinste Bewegung mit der Hand machte, drohte das Thier über ihn
herzustürzen; als es getrunken hatte, legte es sich wieder an seinen
Platz und es verstrich eine zweite Nacht, ohne daß sich das Auge des
Königs der Wälder von dem armen Hottentotten abwandte.“

„Am nächsten Morgen erhob sich der Löwe abermals, um seinen Durst zu
löschen, als ein fernes Geräusch sein Ohr erreichte; er horchte auf und
verschwand im Gebüsch.“

„Der Hottentotte nahm alle seine Kräfte zusammen, um seine Flinte zu
ergreifen, und wollte sich, nachdem dieses ihm gelungen, aufrichten,
fiel aber wieder nieder, da seine Füße ihn nicht tragen konnten. Mit der
Flinte kroch er an die Quelle und trank in langen Zügen; dann erst
betrachtete er seine Füße und entdeckte, daß seine Zehen ganz verbrannt
waren. Er setzte sich nieder, um die Rückkehr des Löwen zu erwarten,
entschlossen, sein Gewehr in dessen Hirn zu entladen, da er ihn aber
nicht zurückkehren sah, begann er auf allen Vieren den Weg nach seiner
Wohnung einzuschlagen, in der Hoffnung einem Reisenden zu begegnen, der
ihm weiter helfe, was auch geschah; man brachte ihn an einen sichern
Ort, wo er gepflegt werden konnte. Er verlor indeß die Zehen und konnte
niemals wieder sich des vollständigen Gebrauchs seiner Füße erfreuen.“

„Der Löwe ist beim Fressen, wenn er Hunger hat, sehr grimmig, gesättigt
ist er aber ganz mild. Bei der Jagd ergreift er nie offenbar die Flucht
oder zeigt Furcht. Sucht er auch wegen der Menge der Jäger sich zu
entfernen, so weicht er doch nur langsam und Schritt vor Schritt und
wendet sich von Zeit zu Zeit um. Erreicht er einen Wald, so flieht er
schnell, bis er wieder ins Freie kommt; dann geht er wieder schrittweis,
oder wird er zu sehr gedrängt auch laufend, aber nie springend. Er läuft
wie ein Hund, gerade und vorgestreckt fort; will er aber selbst
angreifen, so springt er auf den Raub, sobald er ihm nahe ist. Auch ist
es wahr, daß er das Feuer fürchtet. Er hat keine besondere Vorliebe für
Menschenfleisch, und zieht jedes andere demselben vor. Nur wenn er zu
alt ist, um Jagd auf die Thiere zu machen, nähert er sich gern den
Städten und fängt Kinder zu seiner Nahrung. Er giebt den Hottentotten
immer den Vorzug vor den weißen Menschen, vielleicht weil sie
unbekleidet sind; er durchbricht oft die Reihen der Jäger, um sich das
erwählte Opfer heraus zu suchen. -- Wenn der Löwe alt wird, verliert er
die Zähne; dann hat er wenig Muth und man sah einen Löwen, der vor einem
Schweine floh, welches sich wehrte und die Borsten gegen ihn sträubte.
Er kann übrigens viele Pfeilschüsse aushalten, nur nicht in den Weichen.
Am Kopf ist er am festesten. In Lybien glaubt man, er verstehe das
Flehen der Frauen. Eine Gefangene, welche mit ihrem Kind am Wege stand,
sah plötzlich einen Löwen vor sich liegen; da warf sie sich im Schrecken
vor ihm nieder und bat ihn jammernd, sie und ihr Kind zu verschonen,
da soll er aufgestanden und fortgegangen sein. Die Absicht des Löwen
verräth der Schwanz; wenn sich derselbe nicht bewegt, so ist das Thier
guter Laune. Ist es das nicht, so schlägt er mit dem Schweif auf die
Erde, und bei wachsender Wuth sich selbst auf den Rücken, gleichsam als
wollte er seinen Zorn dadurch noch mehr reizen. Kämpft die Löwin für
ihre Jungen, so heftet sie die Augen auf den Boden, um nicht vor den
Waffen zu erschrecken. Wenn man indeß dem Löwen eine Decke über Kopf und
Augen wirft, da ist seine Kraft gebrochen und man kann ihn sogar binden,
so furchtsam ist er.“

„Zwei Jäger stießen plötzlich auf einen Löwen, welcher im Gras lag und
mit dem Schweif schlug; Beide sehen ein, daß es um sie geschehen sei;
als der Löwe nun auf den Einen zusprang, wich derselbe schnell aus,
packte das Thier an der Mähne und klammerte sich fest an ihn. Der Löwe
schüttelte und wälzte sich mit dem Unglücklichen, welcher endlich von
seinem Halten loslassen mußte. Schon sah er den Rachen über sich
geöffnet, als er mit beiden Händen hineinfuhr und des Löwen Zunge
packte. Während dem zielte der andere Jäger nach dem Thier und traf es
tödtlich.“

„Sobald ein Pferd einen Löwen riecht, achtet es nicht mehr auf Zaum und
Gebiß, sondern reißt mit dem Reiter aus oder wirft ihn ab. Der Löwe
verfolgt indeß das Pferd und läßt den Reiter liegen.“

„Als ich,“ erzählte der Menageriebesitzer, „weiter in der Nähe des
kleinen Sonntagflusses reiste, hörte ich zum ersten Mal die Löwen die
ganze Nacht hindurch brüllen. Das Brüllen besteht aus einem groben
unartikulirten Laute, der etwas Hohles hat, wie der Schall eines
Sprachrohrs. Es ist ein Mittelding zwischen U und O und scheint aus der
Erde zu kommen, so daß man die Richtung nicht errathen kann. Daher
wissen die erschreckten Thiere auch nicht, wohin sie fliehen sollen,
sondern laufen im Dunkeln hin und her und fallen dem Feind in den
Rachen. Während des Brüllens hält nämlich der Löwe das Maul gegen die
Erde. An unserm Vieh konnten wir es jedes Mal erkennen, wenn sich Löwen
näherten, selbst wenn sie nicht brüllten. Die Hunde wagten nicht einen
Laut von sich zu geben, die Ochsen und Pferde holten tief Athem und
zogen langsam an den Riemen, womit sie an die Wagen gebunden waren,
legten sich auf die Erde und standen wieder auf, als wenn sie in
Todesangst wären. Die uns begleitenden Hottentotten machten sodann
Feuer, legten ihre Wurfspieße neben sich und die Europäer luden die
Flinten mit Kugeln. Obschon die Löwen das Feuer fürchten, so wußten die
Hottentotten doch Beispiele, daß sie Menschen davon weggeholt und ganz
in der Nähe aufgefressen hatten. Sie verboten, zur Unzeit zu schießen,
damit im Finstern nicht ein Mensch getroffen werde und beschlossen, das
Thier mit ihren Spießen anzugreifen, während andere sich ihm an die Füße
hängen sollten. Sie behaupteten, daß der Löwe den Menschen, den er
überwältigt und unter sich liegen hat, nicht sogleich tödte, wofern
derselbe ruhig bleibt, sondern ihm erst später unter fürchterlichem
Gebrüll einen Schlag auf die Brust gebe. Die Hottentotten waren indeß
sehr muthig und bezeigten keine Furcht. Einer der Ochsen zeigte sich
ganz besonders ängstlich, so daß es ihm sogar vor Schreck im Leibe
rumpelte; eben so benahm sich auch ein Hengst und beide Thiere hatten
noch nie einen Löwen gesehen. Dagegen scheinen die gemsenartigen Thiere
ihn nicht zu wittern, da sie an seinem Versteck oft so sorglos
vorübergehen, wenn sie an’s Wasser wollen, um ihren Durst zu löschen
und dann auch meist seine Beute werden. Will man durch Flüsse setzen,
so pflegt man mit der großen Ochsenpeitsche so laut als möglich zu
klatschen, um auf diese Weise die lauernden Löwen aus ihrem Hinterhalte
zu vertreiben. Das Klatschen der Peitsche tönt weiter als ein
Flintenschuß.“

„Ein Hottentotte bemerkte eines Tages am obern Sonntagsfluß, daß ihm ein
Löwe zwei Stunden lang nachschlich und schloß daraus, daß derselbe nur
die Nacht abwarte, um über ihn herzufallen. Da er nichts als einen Stock
bei sich hatte, versteckte er sich beim Einbruch der Nacht in eine Kluft
an einem Abgrund, steckte Hut und Wamms auf den Stock, den er aus der
Kluft herausragen ließ, indem er ihn von Zeit zu Zeit bewegte. Der Löwe
schlich ganz leise wie eine Katze herbei, dann sprang er auf den Hut zu
und stürzte die Felsen hinab.“

„Es ist merkwürdig, daß der Löwe den Menschen gewöhnlich nur verwundet
oder eine Weile wartet, bis er ihm den tödtlichen Streich giebt, während
er die Thiere augenblicklich tödtet. So hatte einer zwei Ochsen, als sie
kaum vom Wagen ausgespannt waren, auf der Stelle den Rücken entzwei
geschlagen. Ein Mann hatte es mit seinen zwei Söhnen gewagt, Jagd auf
einen Löwen zu machen. Sie waren zu Fuß, und als der Löwe hervorstürzte,
hatte er schnell Einen ergriffen und ihn unter sich geworfen und dennoch
hatten die beiden Andern Zeit, den Löwen zu erschießen und den
Unglücklichen zu retten. Ich habe selbst einen am Backen scheußlich
verwundeten Hottentotten gesehen, dem auf einer Jagd ein Löwe bloß
diesen Biß beigebracht hatte, ohne ihm weiter etwas zu thun. Ein anderer
hatte einen Mann bloß in den Arm gebissen. Da er in der Regel keinen
Widerstand begegnet, so scheint er den Muth leicht zu verlieren, wenn
man ihm dergleichen entgegensetzt. In der Berberei, wo er die Uebermacht
des Menschen mehr kennen gelernt hat, soll er sich sogar mit
Stockschlägen von Weibern und Kindern vertreiben lassen.“

„Die Stärke des Löwen ist außerordentlich. Er schleppt ein Rind im
Rachen fort, wie die Katze eine Maus und springt damit sogar über
Gräben. Ein Büffel ist ihm jedoch zu schwer. Am Buschmannsfluß sahen
zwei Bauern einmal einen Löwen, welcher einen Büffel fortschleppte; sie
vertrieben aber den Löwen, weil sie selbst Lust nach dessen Beute
hatten. Er hatte dem Büffel das Gedärm aus dem Leibe gerissen, um ihn
leichter fortschaffen zu können. Als sie das Fleisch auf den Wagen luden
und fortfuhren, sah er sich recht oft aus dem nahen Wald nach ihnen um,
ohne Zweifel nicht ohne großen Verdruß. Wenn er den Sieg über den Büffel
davon trägt, so geschieht das bloß durch Ueberfall aus einem
Hinterhalte, nicht durch freien Kampf auf dem Felde. Er springt auf ihn
los, setzt ihm die Klauen an den Hals, schlägt ihn mit der Tatze in’s
Gesicht, schlingt sich um den Kopf, zieht ihn bei den Hörnern zu Boden
und sucht ihm Maul und Nase zuzudrücken, bis er erstickt oder an seinen
Wunden verblutet.“

„Uebrigens wehren sich die Büffel, besonders wenn sie Kälber haben, und
ein Löwe soll von einer Heerde Kühe, welche er bei hellem Tage angriff,
todt gestoßen worden sein.“

„Ein Dutzend gewöhnlicher Hofhunde werden übrigens bei Tag auch Meister
des Löwen. Sein Stolz hält ihn nämlich ab, vor ihnen zu fliehen und er
setzt sich blos hin, um sie mit den Tatzen abzuwehren, womit er freilich
2-3 todt schlägt, aber von den andern zerrissen wird.“

„Der Löwe ist viel leichter zu tödten als andere Thiere; Büffel und
große Gemsen laufen mit einem Schuß durch Bauch und Gedärme davon, der
Löwe aber bekommt gleich Erbrechen und wird unvermögend zu laufen. Der
Löwe ist übrigens eines der trägsten Raubthiere und giebt sich nicht
gern die Mühe, etwas aufzusuchen, so lange er nicht vom Hunger gedrängt
ist.“

„Am Kohmiesberge, im Lande der Nomaden, wollte ein Hottentotte eine
Heerde Vieh in’s Wasser treiben, als er einen Löwen entdeckte. Er floh
mitten durch die Heerde in der Hoffnung, daß der Löwe eher ein Stück
Vieh ergreifen würde, als ihm zu folgen. Keineswegs. Der Löwe brach
durch die Heerde und folgte dem Hottentotten, der jedoch noch so
glücklich war, auf einen Aloebaum zu klettern und sich hinter einen
Haufen Nester des grauen Webervogels zu verstecken. Der Löwe that einen
Sprung hinauf, verfehlte aber seinen Zweck und fiel auf den Boden.
In mürrischem Schweigen ging er um den Baum, warf dann und wann einen
schrecklichen Blick hinauf, legte sich endlich nieder und ging 24
Stunden nicht von der Stelle. Endlich begab er sich nach der Quelle, um
seinen Durst zu löschen; der Hottentotte stieg herunter und lief nach
Haus, welches nur eine halbe Stunde entfernt war. Der Löwe folgte ihm
und kehrte erst 300 Schritt vom Hause um.“

„Der Löwe greift, nach Aussage der Jäger, kein Thier und keinen Menschen
an, wenn sie nicht fliehen, ohne vorher in einer Entfernung von zehn
Schritt sich niedergelegt und seinen Sprung abgemessen zu haben. Daher
schießen die Jäger ihn nicht eher, als bis er sich gelegt hat, weil sie
dann richtig vor den Kopf treffen. -- Begegnet man unbewaffnet einem
Löwen, so sind Muth und Geistesgegenwart das einzige Rettungsmittel. Wer
entflieht, ist unfehlbar verloren, wer ruhig stehen bleibt, den greift
der Löwe nicht an. Die erhabene Gestalt des Menschen flößt ihm,
vorausgesetzt, daß er den leichten Kampf mit den Menschen noch nicht
versucht hat, eher Furcht und Mißtrauen in seine eigene Kraft ein und
eine ruhige Haltung verstärkt diesen Eindruck mit jedem Augenblick. Wenn
er sich auch zum Sprung niederlegt, so wird er denselben doch nicht
wagen, wenn man ihn unbeweglich wie eine Bildsäule in’s Auge schaut. Man
muß sich hüten, durch eine unbedachtsame Bewegung Furcht zu verrathen.
Der Ausgang beweist, daß er selbst sich nicht minder gefürchtet hat als
der Mensch; denn nach einiger Zeit erhebt er sich langsam, geht unter
beständigem Umsehen einige Schritte zurück, legt sich wieder, entfernt
sich abermals in immer größeren Zwischenräumen und nimmt endlich, wenn
er ganz außer dem Wirkungskreis des Menschen gekommen zu sein glaubt, in
vollem Laufe die Flucht. Der Löwe wägt die Gefahr ab, der Panther aber
stürzt sich blindlings auf den Feind, unbekümmert, ob er siegen oder
unterliegen werde.“

So erzählte der Menageriebesitzer lange den Kindern und von Zeit zu Zeit
brachen immer wieder seine Thränen aus. „O,“ sagte er betrübt, „wo werde
ich wieder einen Löwen bekommen, der so klug ist wie der meinige und so
schön Komödie spielen kann?“

„Wie, Komödie?“ riefen die Kinder einstimmig.

„Ja, auf einem großen Theater in Paris.“

„Man erzählt nämlich eine Geschichte von einer englischen Dame, welche
nach einem andern Welttheil reisen wollte, um ihren Mann zu besuchen.
Das Schiff legte an der Küste von Afrika an, um Wasser einzunehmen und
die Frau stieg mit ihrem Kind an’s Land. Sie setzte letzteres unter
einen Baum, um einen Trunk zu holen, und als sie wieder zurückkehren
wollte, erblickte sie mit Schrecken einen Löwen, welcher um das Kind
herumging, es beschnupperte und leckte. Als das kleine Wesen über die
unsanfte Berührung seiner rauhen Zunge zu schreien begann, stutzte der
Löwe und entfernte sich in ruhigem Schritt. Die Mutter eilte nun herbei;
sie hatte schon gemeint, ihren Liebling todt oder verstümmelt zu finden,
aber siehe da, er war unversehrt, und sie sank nieder auf das Knie neben
dem Kinde und dankte Gott, daß er das Herz des Raubthiers gerührt
hatte.“

„Diese Geschichte wird nun als Singspiel in Paris aufgeführt und mein
Löwe spielte mit. Ich hatte ihn seit seiner frühesten Kindheit darauf
abgerichtet.“

_Prinzeß._ Aber, wenn er nun wild wird?

_Lisi._ Fürchtet sich denn das Publikum nicht?

„Das Publikum weiß wohl,“ versetzte der Menageriebesitzer, „daß mein
Löwe von vier dicken Seilen gebunden ist, die man aber nicht sieht.“

_Prinzeß._ Das Kind ist wohl durch eine Puppe vorgestellt?

_Menageriebesitzer._ Nein, es ist ein lebendiges Kind.

_Prinzeß._ Aber welche Mutter wird ihr Kind zu so etwas hergeben?

_Menageriebesitzer._ Das Kind läuft keine Gefahr, denn es liegt unter
einem Gitter von starkem Draht; dieses schützt vor des Löwen Zahn und
Zunge, während es für das Publikum unsichtbar ist.

Als der Menageriebesitzer seine Erzählung beendet hatte, begab er sich
auf den Heimweg. Die Kinder aber plauderten noch lange über das
Löwenabenteuer, über den Löwen und dessen Naturgeschichte.



Kapitel 12.

Der Kater Rosaurus will König der Wälder werden.


  Hochmuth
  Thut selten gut.

Das Kind, welches der Löwe gefressen hatte, war niemand anders als die
kleine Hanne. -- Dorte hatte sie wie gewöhnlich sorgsam angekleidet,
gewaschen und gekämmt, um sie in die Klein-Kinderbewahrschule zu
bringen. Sie hatte ihr auch ein Taschentuch mitgegeben, was sie wohl
konnte, da Wilhelm deren so viel gestohlen hatte. Hanne aber wollte
nicht in die Bewahrschule gehen, sondern lieber auf der Straße spielen;
sie war noch immer ein ungehorsames Kind, und als die Schwester mit ihr
auf dem Wege war, riß sie sich los von deren Halten und lief weg. Sie
hatte sich im nahen Gebüsch verstecken wollen, bis Dorte selbst in die
Schule gehen mußte; dann wäre sie während mehrer Stunden ganz ohne
Aufsicht gewesen. Hannchen wußte nicht, daß man nicht davon laufen müsse
vor dem Löwen, und als sie das große Thier erblickte, war sie trotz
ihrem Schrecken auf nichts als auf ihre Flucht bedacht. Sie riß aus, so
schnell die vor Angst zitternden Füße sie tragen konnten, -- aber der
Löwe hatte sie mit zwei Sprüngen erreicht; er mußte noch hungrig sein
trotz des erlegten Schafs, bei dessen Verzehren seine Verfolger ihn
gestört hatten. Mit seiner großen Tatze schlug er das Kind zu Boden und
bald war sie mit Haut und Haaren verspeist.

Der Ungehorsam wird immer bestraft, auch wenn keine Löwen frei im Walde
herum laufen! --

Der große Löwe wurde nun ausgestopft und im Lustschloß der Prinzessin
aufgestellt. Er stand im Hausplatz, und wer zur Hausthür hereintrat,
bewunderte das schöne Thier. Rosaurus erfreute sich ganz besonders an
demselben; er kletterte an dem Schwanz hinauf, setzte sich auf des Löwen
Kopf, zaußte in dessen Mähnen herum und ergötzte durch seine
wunderlichen Sprünge und Geberden die Prinzessin und deren Freundinnen.

Wenn Rosaurus auf des Löwen Haupte saß, so kamen ihm oft wunderliche
Gedanken; es war, als ob der Muth des großen Todten ihm durch die
Glieder ströme, er bekam Lust, auch ein König der Wälder zu werden. „Ich
verbringe“, sagte Rosaurus zu sich selbst, „hier meine Tage in
Müßiggang; wenn ich durch meine Sprünge eine lachlustige Jugend
unterhalte, so habe ich meinen Beruf erfüllt. Ich führe eigentlich ein
wahres Schlaraffenleben; mir fliegen, so zu sagen, die gebratenen Tauben
in den Mund, während die Natur mir List und Geschicklichkeit verliehen
hat, sie lebendig zu fangen. Ich hänge ab von den Launen einer kleinen
Prinzessin, ich bin gebannt auf die weichen Teppiche der fürstlichen
Zimmer, während die ganze große Welt mir offen steht und Millionen von
Mäusen herumlaufen, die eigentlich nur für mich geschaffen sind. Ich bin
ein Sklave und könnte so gut frei sein. Im Wald, wo alle Thiere froh und
vergnügt herumklettern, muß ich allein Fesseln tragen und werde an einem
rosa Atlasband gehalten. Nein! das geht nicht länger so. Ich bin zwar
noch nicht ein ganz großer ausgewachsener Kater, aber ich fühle doch
schon Kraft und Muth genug, um meine goldenen Fesseln zu brechen und
mich selbst zu ernähren; ich will ein freier Kater sein!“

Nach diesen Betrachtungen erwartete Rosaurus nur die Gelegenheit, aus
dem Lustschloß zu entkommen, die sich auch leicht fand, da das erste
offene Fenster im Parterre ihm zu seiner Flucht behülflich war; er
bewerkstelligte dieselbe am frühen Morgen, und eilte sogleich, aus
Furcht, daß man ihn bald einfangen würde, in den tiefsten Wald. Er hatte
noch kein Frühstück genossen und freute sich, dasselbe zum ersten Mal in
seinem Leben sich selbst zu erwerben. -- In den Gipfeln der Bäume
erblickte er Nester; das Wasser lief ihm in dem Mund zusammen beim
Gedanken an die zarten Vögelchen, die er knacken wollte; aber ach! als
er die Bäume erklettert hatte, fand er die Nester leer, es war die
Brutzeit vorüber. Nachdem er zu verschiedenen Malen auf ähnliche Weise
getäuscht worden, nahm er sich vor, lieber den Mäusen nachzugehen. Er
wußte sehr wenig Bescheid im Wald, kannte also nicht die mäusereichen
Distrikte und hielt es für das Beste, sich auf die Lauer zu legen.
Es war ein starker Thau gefallen und Rosaurus hatte ganz nasse Füße
bekommen; er suchte also ein trockenes Plätzchen unter einem großen
Baum, wo mehrere Mäuselöcher ihm einige Hoffnung auf Erfüllung seiner
Wünsche eröffneten; dort leckte er seine Pfötchen, putzte sich das Kinn,
und machte eine sehr sorgfältige Toilette, denn er meinte, ein freier
Kater müsse auch auf eine anständige Weise einhergehen.

Während dieser Beschäftigung hörte er etwas neben sich rascheln -- „eine
Maus“, dachte er -- aber nein, es war ein anderes niedliches Thier.
-- Gelb der Rücken und weiß die Brust, zierlich der Bau. Es war ein
Wiesel. Beide Thiere freuten sich, Bekanntschaft mit einander zu machen;
sie schlossen Freundschaft. -- „Lieber Freund“, sagte das Wiesel, „wenn
du mich lieb hast, so entferne dich von hier; wir befinden uns auf
_meinem_ Mäuserevier; ich habe noch nicht gefrühstückt und wenn mein
Wild dich so schön schnurren hört, da bleibt es in den Höhlen -- vergieb
-- mit Freunden macht man nicht Umstände.“

Rosaurus hatte gemeint, alle Mäuse wären nur für ihn geschaffen und
siehe, da war ein Nebenbuhler; schnell eilte er nach einem andern Platz;
die Sonne hatte den Thau getrocknet und er schlich im zarten Grase so
leise und weich einher, wie auf dem fürstlichen Teppich. „Hier ist mir
gewiß das Glück hold“, dachte er. Da bemerkte er plötzlich ein
wunderliches Geschöpf; es war ein rundes, ganz mit Stacheln bedecktes
Thier, welches einen sehr kleinen Kopf und sehr kurze Füße hatte; es war
ein Igel. „Was willst du?“ frug derselbe mit sanfter Stimme; „du weißt
wohl nicht, daß du hier auf meinem Mäuserevier bist; habe die Güte, dich
zu entfernen, denn mich hungert’s. Ich laure schon den ganzen Morgen
vergebens auf ein Frühstück.“

Rosaurus eilte weiter; er war sehr hungrig; an einem Bergabhang hoffte
er Schutz vor den heißen Strahlen der Sonne und eine Maus zu finden.
Kaum dort angelangt aber vernahm er eine tiefe grobe Stimme, welche aus
einer Höhle hervortönte, und die mit scharfen Zähnen versehene Schnauze
eines Fuchses ließ sich sehen. -- „Mach, daß du fort kommst, du
mauselustiges Thier; das Mäusenest in der Nähe habe ich nicht etwa so
lange für dich aufgespart; wenn ich kein besseres Mahl erwischen kann,
so sollen dessen Bewohner mir gar nicht übel schmecken. Der Hunger ist
der beste Koch!“

Rosaurus schlich betrübt weiter; er, der gemeint hatte, die Mäuse wären
nur für die Katzen geschaffen, er fand nun, daß noch so viele andere
Thiere auf diese Speise angewiesen waren. -- Sein Muth sank immer mehr;
als er müde sich auf einen Baumstummel setzte, vernahm er ein klägliches
Schreien -- ein Sperber hatte eine Maus gefangen und verzehrte dieselbe
auf einem benachbarten Zweig.

Der Abend brach ein und Rosaurus war noch nüchtern. Es war dunkle Nacht
und dichte Wolken hatten sich über dem Himmel gelagert und verhüllten
Mond und Sterne; ein fernes Donnern ließ sich vernehmen und Rosaurus
suchte Obdach hinter der verfallenen Mauer eines alten Thurmes.
„Vielleicht läuft mir ein Mäuschen in den Weg, welches Schutz sucht, wie
ich.“ -- So dachte Rosaurus und sollte abermals getäuscht werden. Eine
große Eule hatte dort ihr Nest aufgeschlagen und Rosaurus fühlte
plötzlich den krummen Schnabel auf seinem Rücken. Die Eulen hassen die
Katzen von Natur, weil sie von Mäusen leben, wie sie selbst; diese hier
hatte noch obendrein Junge, denen Rosaurus gefährlich werden konnte.

Erschrocken eilte der arme Kater von dannen; die Eule hatte ihm eine
tiefe Wunde auf dem rechten Schenkel beigebracht und diese schmerzte.
Der Regen strömte herab und Rosaurus befand sich auf freiem Feld; -- er
fühlte sich sehr unglücklich. Was war aus seinen Träumen von Freiheit
geworden? er, welcher ein König der Thiere hatte werden wollen, was war
er jetzt? Ein gedemüthigtes nasses Kätzchen, ohne Obdach, ohne Speise,
das sich nicht mehr nach Hause finden konnte. Ach, er mochte wohl sehr
weit von Hause entfernt sein; wie war er müde! Er streckte sich ins
nasse Gras und sein klägliches Miau mußte alle Mäuse verscheuchen, wenn
der Regen das nicht schon gethan hätte. -- Zuletzt verstummte auch
dieses Miau; Rosaurus lag erstarrt und ohnmächtig und alles Bewußtsein
war von ihm geschwunden. Armer Rosaurus! das war ein schreckliches Ende
seines ehrgeizigen Strebens.

Die Nacht war vorbei, der Regen hatte aufgehört, die Sonne ging auf, die
Vögel zwitscherten, die Regenwürmer krochen hervor; die Feldmäuschen
streckten ihr spitzig Näschen aus den Löchern, aber Rosaurus merkte
nichts davon. Da kam ein kleines Mädchen daher, es war Dortchen, welche
Etwas nach dem fürstlichen Lustschloß zu tragen hatte; sie sah Rosaurus
am Wege liegen und erkannte ihn an dem abgebissenen Schwänzchen; denn an
etwas Anderem hätte sie ihn nicht erkennen können, so häßlich, schmutzig
und zerzaußt sah er aus. Sie nahm das erstarrte Thier in ihren Mantel
und wärmte es; dann trug sie es zur kleinen Prinzessin. Rosaurus schlug
die Augen auf, ihm war es, als habe er einen schweren Traum gehabt, nur
der große Hunger, den er fühlte, sagte ihm, daß es kein Traum gewesen
sei. Aber da stand auch schon die warme Milch mit Bisquit; während er
fraß, wurde die Wunde ausgewaschen und mit kaltem Rahm benetzt; dann
trug man Rosaurus in sein weiches Bettchen und deckte ihn mit warmen
Tüchern zu. -- Er schlief ein. --

Als er erwachte, fühlte er sich neu gestärkt, alle Sehnsucht nach der
Freiheit war geschwunden, er spürte nichts mehr von Gelüsten -- ein
König der Wälder zu sein und empfand mit großem Behagen die
Annehmlichkeit seiner Hofexistenz. Er nahm sich vor, dieselbe nicht mehr
freiwillig aufzugeben, und die unsichere Mäusejagd nicht mehr höher zu
stellen als die Süßigkeiten, welche der Prinzessin weiße Hand ihm
stündlich reichte.



Schluß.


  Gieb sie, gieb sie des Lebens Gaben
  Und was Dein Herz in Liebe trägt:
  Das Herz will seine Stimme haben,
  Bevor es stolz und ruhig schlägt.

Jahre verstrichen. Rosaurus war ein großer dicker Kater geworden; die
niedlichen Sprünge hatte er eingestellt; selten erlaubte er sich einen
Spatziergang auf das Dach; seine Eltern waren gestorben und seine
Geschwister kannten ihn nicht mehr; sie meinten, er habe gar zu feine
Manieren angenommen; wollte immer etwas vorstellen, wenn er unter ihnen
wäre, und wisse von gar nichts zu erzählen, als von dem großen Löwen,
bei dem er drei Stunden zugebracht und den er in Respekt erhalten habe.
-- Dagegen mache er eine verächtliche Miene, wenn sie von ihren Mäusen-
und Ratten-Abenteuern im Keller erzählten; er schien die wichtigsten
Ereignisse ihres Lebens für höchst kleinlich und unbedeutend zu halten
und bei ihren schönsten Konzerten schlief er ein oder schnurrte so laut,
daß der kräftigste Katzenbaß kaum vernehmbar werden konnte. Rosaurus
wurde demnach nicht mehr eingeladen und wenn seine Verwandten ihn mit
einiger Höflichkeit behandelten, so geschah es blos, weil sie
vermutheten, daß er große Schätze an Knochen, Zucker und Bisquit
besitze, die er ihnen einmal Preis geben oder vermachen könne.

Indessen war Joly gestorben; -- er hatte von allzuguter Nahrung und, wie
Lisi meinte, vom steten Aerger über Rosaurus, die Raute bekommen und war
so ekelhaft geworden, daß man es für nothwendig hielt, ihn todt zu
schießen, wovon freilich die Prinzessin nichts erfahren durfte. Bald
darauf brachte man ihr ein anderes Hündchen, welches dem Joly ähnlich
sah, nur jünger und lustiger. Jetzt kam die Reihe an Rosaurus
eifersüchtig zu werden und er zeigte sich so heftig und erbarmungslos
gegen das kleine Thier, er hatte so wenig von der Großmuth des Löwen
gelernt, daß er dem neuen kleinen Joly einst mit einem starken Schlag
seiner Tatze ein Auge auskratzte.

Demnach wurde Rosaurus ins Vorzimmer verbannt und der kleine Joly wurde
der Schooßhund und der stete Gefährte der Prinzessin.

Einst erhielt sie zwei allerliebste kleine Vögelchen; sie waren grün und
man nannte sie die Unzertrennlichen, weil sie immer ganz dicht bei
einander saßen und das Bild einer guten Ehe abgaben. Sie kamen aus
Amerika, wo sie heimisch sind. Die Prinzessin freute sich sehr an den
kleinen Thieren. -- Rosaurus erblickte sie eines Tages und schien zu
meinen, daß sie blos seinetwegen so weit hergekommen seien; er stürzte
sich über den Bauer her und fügte seine Krallen in dessen Drathgitter,
um sie herauszuholen; glücklicherweise trat gerade Lisi ins Zimmer und
erhob ein furchtbares Geschrei. -- Rosaurus ward verjagt und das Leben
der kleinen Vögel gerettet. Der Schreck mochte aber sehr groß gewesen
sein und ihre schönen grünen Federchen flogen im Käfig herum, und hier
und da blutete eine Stelle, wo eine scharfe Kralle die Haut geritzt
hatte.

Nach dieser Missethat fiel Rosaurus gänzlich in Ungnade; und als
Mademoiselle Gogo einer jungen Erzieherin Platz machte, weil sie wegen
Kränklichkeit in den Ruhestand versetzt zu werden bat, nahm sie
Rosaurus, an den sie sich gewöhnt hatte, mit in ihre Wohnung, wo sie ihn
mit großer Liebe und Sorgfalt pflegte. Die Prinzessin hatte ihr ein
großes weiches Sammetkissen für diesen Lebensgefährten geschenkt; darauf
lag Rosaurus und war noch im Alter ein schöner Kater. Er that eigentlich
nichts als fressen und schnurren -- und das Spinnrädchen der Mlle. Gogo
schnurrte mit ihm um die Wette.



Druck der Vereins-Buchdruckerei in Leipzig.


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ERRATA

  Die kleine _Diana_  [_ungeändert: später immer »Diane«_]
  Prinzeßchen wollte aber von all diesen Namen nichts wissen.
    [_Original hat überflüssiges “ am Ende_]
  wenn diese uns nichts geben, so nehmen wir’s.“  [_“ fehlt_]
  Versprechungen von Bisquit und Leckerbissen  [_Orig. Pisquit_]
  wenn wir es mit uns nehmen wollten.“  [_“ fehlt_]
  folgenden Bericht. „Sie  [_“ kommt nie_]
  solche gute Sachen genießen sollten.“  [_“ fehlt_]
  Bist du mir noch böse, daß ich dir den Arm in meiner Tasche zerbrach.
    [_ungeändert: Fehler . for ?_]
  „wenn du mich lieb hast  [_„ fehlt_]





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Leben und Schicksale des Katers Rosaurus - oder die kleine Prinzessin und ihre Katze" ***

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