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Title: Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit
Author: Freud, Sigmund, 1856-1939
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit" ***


  [ Anmerkungen zur Transkription:

    Der Text stammt aus: Imago. Zeitschrift für Anwendung der
    Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften IV (1916). S. 317-336.

    Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen;
    lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Eine Liste
    der vorgenommenen Änderungen findet sich am Ende des Textes.

    Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit _ markiert.
  ]



        Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit.

                            Von SIGM. FREUD.


Wenn der Arzt die psychoanalytische Behandlung eines Nervösen
durchführt, so ist sein Interesse dabei keineswegs in erster Linie auf
dessen Charakter gerichtet. Er möchte viel eher wissen, was seine
Symptome bedeuten, welche Triebregungen sich hinter ihnen verbergen und
durch sie befriedigen, und über welche Stationen der geheimnisvolle Weg
von jenen Triebwünschen zu diesen Symptomen geführt hat. Aber die
Technik, der er folgen muß, nötigt den Arzt bald, seine Wißbegierde
vorerst auf andere Objekte zu richten. Er bemerkt, daß seine Forschung
durch Widerstände bedroht wird, die ihm der Kranke entgegensetzt, und
darf diese Widerstände dem Charakter des Kranken zurechnen. Nun hat
dieser Charakter den ersten Anspruch an sein Interesse.

Was sich der Bemühung des Arztes widersetzt, sind nicht immer die
Charakterzüge, zu denen sich der Kranke bekennt, und die ihm von seiner
Umgebung zugesprochen werden. Oft zeigen sich Eigenschaften des Kranken
bis zu ungeahnten Intensitäten gesteigert, von denen er nur ein
bescheidenes Maß zu besitzen schien, oder es kommen Einstellungen bei
ihm zum Vorschein, die sich in anderen Beziehungen des Lebens nicht
verraten hatten. Mit der Beschreibung und Zurückführung einiger von
diesen überraschenden Charakterzügen werden sich die nachstehenden
Zeilen beschäftigen.


I.

Die Ausnahmen.

Die psychoanalytische Arbeit sieht sich immer wieder vor die Aufgabe
gestellt, den Kranken zum Verzicht auf einen naheliegenden und
unmittelbaren Lustgewinn zu bewegen. Er soll nicht auf Lust überhaupt
verzichten; das kann man vielleicht keinem Menschen zumuten, und selbst
die Religion muß ihre Forderung, irdische Lust fahren zu lassen, mit dem
Versprechen begründen, dafür ein ungleich höheres Maß von wertvollerer
Lust in einem Jenseits zu gewähren. Nein, der Kranke soll bloß auf
solche Befriedigungen verzichten, denen eine Schädigung unfehlbar
nachfolgt, er soll bloß zeitweilig entbehren, nur den unmittelbaren
Lustgewinn gegen einen besser gesicherten, wenn auch aufgeschobenen,
eintauschen lernen. Oder mit anderen Worten, er soll unter der
ärztlichen Leitung jenen _Fortschritt vom Lustprinzip zum
Realitätsprinzip_ machen, durch welchen sich der reife Mensch vom Kinde
scheidet. Bei diesem Erziehungswerk spielt die bessere Einsicht des
Arztes kaum eine entscheidende Rolle; er weiß ja in der Regel dem
Kranken nichts anderes zu sagen, als was diesem sein eigener Verstand
sagen kann. Aber es ist nicht dasselbe, etwas bei sich zu wissen und
dasselbe von anderer Seite zu hören; der Arzt übernimmt die Rolle dieses
wirksamen Anderen; er bedient sich des Einflusses, den ein Mensch auf
den anderen ausübt. Oder: erinnern wir uns daran, daß es in der
Psychoanalyse üblich ist, das Ursprüngliche und Wurzelhafte an Stelle
des Abgeleiteten und Gemilderten einzusetzen, und sagen wir, der Arzt
bedient sich bei seinem Erziehungswerk irgend einer Komponente der
_Liebe_. Er wiederholt bei solcher Nacherziehung wahrscheinlich nur den
Vorgang, der überhaupt die erste Erziehung ermöglicht hat. Neben der
Lebensnot ist die Liebe die große Erzieherin, und der unfertige Mensch
wird durch die Liebe der ihm Nächsten dazu bewogen, auf die Gebote der
Not zu achten und sich die Strafen für deren Übertretung zu ersparen.

Fordert man so von den Kranken einen vorläufigen Verzicht auf irgend
eine Lustbefriedigung, ein Opfer, die Bereitwilligkeit, zeitweilig für
ein besseres Ende Leiden auf sich zu nehmen, oder auch nur den
Entschluß, sich einer für alle geltenden Notwendigkeit zu unterwerfen,
so stößt man auf einzelne Personen, die sich mit einer besonderen
Motivierung gegen solche Zumutung sträuben. Sie sagen, sie haben genug
gelitten und entbehrt, sie haben Anspruch darauf, von weiteren
Anforderungen verschont zu werden, sie unterwerfen sich keiner
unliebsamen Notwendigkeit mehr, denn sie seien _Ausnahmen_ und gedenken
es auch zu bleiben. Bei einem Kranken solcher Art war dieser Anspruch zu
der Überzeugung gesteigert, daß eine besondere Vorsehung über ihn wache,
die ihn vor derartigen schmerzlichen Opfern bewahren werde. Gegen innere
Sicherheiten, die sich mit solcher Stärke äußern, richten die Argumente
des Arztes nichts aus, aber auch sein Einfluß versagt zunächst, und er
wird darauf hingewiesen den Quellen nachzuspüren, aus welchen das
schädliche Vorurteil gespeist wird.

Nun ist es wohl unzweifelhaft, daß ein jeder sich für eine »Ausnahme«
ausgeben und Vorrechte vor den anderen beanspruchen möchte. Aber gerade
darum bedarf es einer besonderen und nicht überall vorfindlichen
Begründung, wenn er sich wirklich als Ausnahme verkündet und benimmt. Es
mag mehr als nur eine solche Begründung geben; in den von mir
untersuchten Fällen gelang es, eine gemeinsame Eigentümlichkeit der
Kranken in deren _frühen Lebensschicksalen_ nachzuweisen: Ihre Neurose
knüpfte an ein Erlebnis oder an ein Leiden an, das sie in den ersten
Kinderzeiten betroffen hatte, an dem sie sich unschuldig wußten, und das
sie als eine ungerechte Benachteiligung ihrer Person bewerten konnten.
Die Vorrechte, die sie aus diesem Unrecht ableiteten, und die
Unbotmäßigkeit, die sich daraus ergab, hatten nicht wenig dazu
beigetragen, um die Konflikte, die später zum Ausbruch der Neurose
führten, zu verschärfen. Bei einer dieser Patientinnen wurde die
besprochene Einstellung zum Leben vollzogen, als sie erfuhr, daß ein
schmerzhaftes organisches Leiden, welches sie an der Erreichung ihrer
Lebensziele gehindert hatte, kongenitalen Ursprungs war. Solange sie
dieses Leiden für eine zufällige spätere Erwerbung hielt, ertrug sie es
geduldig; von ihrer Aufklärung an, es sei ein Stück mitgebrachter
Erbschaft, wurde sie rebellisch. Der junge Mann, der sich von einer
besonderen Vorsehung bewacht glaubte, war als Säugling das Opfer einer
zufälligen Infektion durch seine Amme geworden und hatte sein ganzes
späteres Leben über von seinen Entschädigungsansprüchen wie von einer
Unfallsrente gezehrt, ohne zu ahnen, worauf er seine Ansprüche gründete.
In seinem Falle wurde die Analyse, welche dieses Ergebnis aus dunkeln
Erinnerungsresten und Symptomdeutungen konstruierte, durch Mitteilungen
der Familie objektiv bestätigt.

Aus leicht verständlichen Gründen kann ich von diesen und anderen
Krankengeschichten ein mehreres nicht mitteilen. Ich will auch auf die
naheliegende Analogie mit der Charakterverbildung nach langer
Kränklichkeit der Kinderjahre und im Benehmen ganzer Völker mit
leidenschwerer Vergangenheit nicht eingehen. Dagegen werde ich es mir
nicht versagen, auf jene von dem größten Dichter geschaffene Gestalt
hinzuweisen, in deren Charakter der Ausnahmsanspruch mit dem Moment der
kongenitalen Benachteiligung so innig verknüpft und durch dieses
motiviert ist.

Im einleitenden Monolog zu _Shakespeares_ Richard III. sagt _Gloster_,
der spätere König:

    »Doch ich, zu Possenspielen nicht gemacht,
    Noch um zu buhlen mit verliebten Spiegeln;
    Ich, roh geprägt, entblößt von Liebes-Majestät
    Vor leicht sich dreh'nden Nymphen sich zu brüsten;
    Ich, um dies schöne Ebenmaß verkürzt,
    Von der Natur um Bildung falsch betrogen,
    Entstellt, verwahrlost, vor der Zeit gesandt
    In diese Welt des Atmens, halb kaum fertig
    Gemacht, und zwar so lahm und ungeziemend,
    Daß Hunde bellen, hink' ich wo vorbei;
    -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
    Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter
    Kann kürzen diese fein beredten Tage,
    Bin ich gewillt ein Bösewicht zu werden
    Und Feind den eitlen Freuden dieser Tage.«

Unser erster Eindruck von dieser Programmrede wird vielleicht die
Beziehung zu unserem Thema vermissen. Richard scheint nichts anderes zu
sagen als: Ich langweile mich in dieser müßigen Zeit und ich will mich
amüsieren. Weil ich aber wegen meiner Mißgestalt mich nicht als
Liebender unterhalten kann, werde ich den Bösewicht spielen,
intrigieren, morden, und was mir sonst gefällt. Eine so frivole
Motivierung müßte jede Spur von Anteilnahme beim Zuschauer ersticken,
wenn sich nichts Ernsteres hinter ihr verbärge. Dann wäre aber auch das
Stück psychologisch unmöglich, denn der Dichter muß bei uns einen
geheimen Hintergrund von Sympathie für seinen Helden zu schaffen
verstehen, wenn wir die Bewunderung für seine Kühnheit und
Geschicklichkeit ohne inneren Einspruch verspüren sollen, und solche
Sympathie kann nur im Verständnis, im Gefühl einer möglichen inneren
Gemeinschaft mit ihm, begründet sein.

Ich meine darum, der Monolog Richards sagt nicht alles; er deutet bloß
an und unterläßt es uns, das Angedeutete auszuführen. Wenn wir aber
diese Vervollständigung vornehmen, dann schwindet der Anschein von
Frivolität, dann kommt die Bitterkeit und Ausführlichkeit, mit der
Richard seine Mißgestalt geschildert hat, zu ihrem Recht, und uns wird
die Gemeinsamkeit klar gemacht, die unsere Sympathie auch für den
Bösewicht erzwingt. Es heißt dann: Die Natur hat ein schweres Unrecht an
mir begangen, indem sie mir die Wohlgestalt versagt hat, welche die
Liebe der Menschen gewinnt. Das Leben ist mir eine Entschädigung dafür
schuldig, die ich mir holen werde. Ich habe den Anspruch darauf, eine
Ausnahme zu sein, mich über die Bedenken hinwegzusetzen, durch die sich
andere hindern lassen. Ich darf selbst Unrecht tun, denn an mir ist
Unrecht geschehen, -- und nun fühlen wir, daß wir selbst so werden
könnten wie Richard, ja daß wir es im kleinen Maßstabe bereits sind.
Richard ist eine gigantische Vergrößerung dieser einen Seite, die wir
auch in uns finden. Wir glauben alle Grund zu haben, daß wir mit Natur
und Schicksal wegen kongenitaler und infantiler Benachteiligung grollen;
wir fordern alle Entschädigung für frühzeitige Kränkungen unseres
Narzißmus, unserer Eigenliebe. Warum hat uns die Natur nicht die
goldenen Locken Balders geschenkt oder die Stärke Siegfrieds oder die
hohe Stirne des Genies, den edlen Gesichtsschnitt des Aristokraten?
Warum sind wir in der Bürgerstube geboren anstatt im Königsschloß? Wir
würden es ebenso gut treffen, schön und vornehm zu sein, wie alle, die
wir jetzt darum beneiden müssen.

Es ist aber eine feine ökonomische Kunst des Dichters, daß er seinen
Helden nicht alle Geheimnisse seiner Motivierung laut und restlos
aussprechen läßt. Dadurch nötigt er uns, sie zu ergänzen, beschäftigt
unsere geistige Tätigkeit, lenkt sie vom kritischen Denken ab, und hält
uns in der Identifizierung mit dem Helden fest. Ein Stümper an seiner
Stelle würde alles, was er uns mitteilen will, in bewußten Ausdruck
fassen und fände sich dann unserer kühlen, frei beweglichen Intelligenz
gegenüber, die eine Vertiefung der Illusion unmöglich macht.

Wir wollen aber die »Ausnahmen« nicht verlassen, ohne zu bedenken, daß
der Anspruch der Frauen auf Vorrechte und Befreiung von soviel
Nötigungen des Lebens auf demselben Grunde ruht. Wie wir aus der
psychoanalytischen Arbeit erfahren, betrachten sich die Frauen alle als
infantil geschädigt, ohne ihre Schuld um ein Stück verkürzt und
zurückgesetzt, und die Erbitterung so mancher Tochter gegen ihre Mutter
hat zur letzten Wurzel den Vorwurf, daß sie sie als Weib anstatt als
Mann zur Welt gebracht hat.


II.

Die am Erfolge scheitern.

Die psychoanalytische Arbeit hat uns den Satz geschenkt: Die Menschen
erkranken neurotisch infolge der _Versagung_. Die Versagung der
Befriedigung für ihre libidinösen Wünsche ist gemeint, und ein längerer
Umweg ist nötig, um den Satz zu verstehen. Denn zur Entstehung der
Neurose bedarf es eines Konflikts zwischen den libidinösen Wünschen
eines Menschen und jenem Anteil seines Wesens, den wir sein Ich heißen,
der Ausdruck seiner Selbsterhaltungstriebe ist und seine Ideale von
seinem eigenen Wesen einschließt. Ein solcher pathogener Konflikt kommt
nur dann zustande, wenn sich die Libido auf Wege und Ziele werfen will,
die vom Ich längst überwunden und geächtet sind, die es also auch für
alle Zukunft verboten hat, und das tut die Libido erst dann, wenn ihr
die Möglichkeit einer ichgerechten idealen Befriedigung benommen ist.
Somit wird die Entbehrung, die Versagung einer realen Befriedigung die
erste Bedingung für die Entstehung der Neurose, wenn auch lange nicht
die einzige.

Um so mehr muß es überraschend, ja verwirrend wirken, wenn man als Arzt
die Erfahrung macht, daß Menschen gelegentlich gerade dann erkranken,
wenn ihnen ein tief begründeter und lange gehegter Wunsch in Erfüllung
gegangen ist. Es sieht dann so aus, als ob sie ihr Glück nicht vertragen
würden, denn an dem ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Erfolg und
der Erkrankung kann man nicht zweifeln. So hatte ich Gelegenheit, in das
Schicksal einer Frau Einsicht zu nehmen, das ich als vorbildlich für
solche tragische Wendungen beschreiben will.

Von guter Herkunft und wohlerzogen, konnte sie als ganz junges Mädchen
ihre Lebenslust nicht zügeln, riß sich vom Elternhaus los und trieb sich
abenteuernd in der Welt herum, bis sie die Bekanntschaft eines Künstlers
machte, der ihren weiblichen Reiz zu schätzen wußte, aber auch die
feinere Anlage an der Herabgewürdigten zu ahnen verstand. Er nahm sie in
sein Haus und gewann an ihr eine treue Lebensgefährtin, der zum vollen
Glück nur die bürgerliche Rehabilitierung zu fehlen schien. Nach
jahrelangem Zusammenleben setzte er es durch, daß seine Familie sich mit
ihr befreundete, und war nun bereit, sie zu seiner Frau vor dem Gesetz
zu machen. In diesem Moment begann sie zu versagen. Sie vernachlässigte
das Haus, dessen rechtmäßige Herrin sie nun werden sollte, hielt sich
für verfolgt von den Verwandten, die sie in die Familie aufnehmen
wollten, sperrte dem Manne durch sinnlose Eifersucht jeden Verkehr,
hinderte ihn an seiner künstlerischen Arbeit und verfiel bald in
unheilbare seelische Erkrankung.

Eine andere Beobachtung zeigte mir einen höchst respektablen Mann, der,
selbst akademischer Lehrer, durch viele Jahre den begreiflichen Wunsch
genährt hatte, der Nachfolger im Lehramt seines Meisters zu werden, der
ihn selbst in die Wissenschaft eingeführt hatte. Als nach dem Rücktritt
jenes Alten die Kollegen ihm mitteilten, daß kein anderer als er zu
dessen Nachfolger ausersehen sei, begann er zaghaft zu werden,
verkleinerte seine Verdienste, erklärte sich für unwürdig, die ihm
zugedachte Stellung auszufüllen, und verfiel in eine Melancholie, die
ihn für die nächsten Jahre von jeder Tätigkeit ausschaltete.

So verschieden diese beiden Fälle sonst sind, so treffen sie doch in dem
einen zusammen, daß die Erkrankung auf die Wunscherfüllung hin auftritt
und den Genuß derselben zunichte macht.

Der Widerspruch zwischen solchen Erfahrungen und dem Satze, der Mensch
erkranke an Versagung, ist nicht unlösbar. Die Unterscheidung einer
_äußerlichen_ von einer _inneren_ Versagung hebt ihn auf. Wenn in der
Realität das Objekt weggefallen ist, an dem die Libido ihre Befriedigung
finden kann, so ist dies eine äußerliche Versagung. Sie ist an sich
wirkungslos, noch nicht pathogen, so lange sich nicht eine innere
Versagung zu ihr gesellt. Diese muß vom Ich ausgehen und der Libido
andere Objekte streitig machen, deren sie sich nun bemächtigen will.
Erst dann entsteht ein Konflikt und die Möglichkeit einer neurotischen
Erkrankung, d. h. einer Ersatzbefriedigung auf dem Umwege über das
verdrängte Unbewußte. Die innere Versagung kommt also in allen Fällen in
Betracht, nur tritt sie nicht eher in Wirkung, als bis die äußerliche
reale Versagung die Situation für sie vorbereitet hat. In den
Ausnahmsfällen, wenn die Menschen am Erfolg erkranken, hat die innere
Versagung für sich allein gewirkt, ja sie ist erst hervorgetreten,
nachdem die äußerliche Versagung der Wunscherfüllung Platz gemacht hat.
Daran bleibt etwas für den ersten Anschein Auffälliges, aber bei näherer
Erwägung besinnen wir uns doch, es sei gar nicht ungewöhnlich, daß das
Ich einen Wunsch als harmlos toleriert, solange er ein Dasein als
Phantasie führt und ferne von der Erfüllung scheint, während es sich
scharf gegen ihn zur Wehre setzt, sobald er sich der Erfüllung nähert
und Realität zu werden droht. Der Unterschied gegen wohlbekannte
Situationen der Neurosenbildung liegt nur darin, daß sonst innerliche
Steigerungen der Libidobesetzung die bisher geringgeschätzte und
geduldete Phantasie zum gefürchteten Gegner machen, während in unseren
Fällen das Signal zum Ausbruch des Konflikts durch eine reale äußere
Wandlung gegeben wird.

Die analytische Arbeit zeigt uns leicht, daß es _Gewissensmächte_ sind,
welche der Person verbieten, aus der glücklichen realen Veränderung den
lange erhofften Gewinn zu ziehen. Eine schwierige Aufgabe aber ist es,
Wesen und Herkunft dieser richtenden und strafenden Tendenzen zu
erkunden, die uns durch ihre Existenz oft dort überraschen, wo wir sie
zu finden nicht erwarteten. Was wir darüber wissen oder vermuten, will
ich aus den bekannten Gründen nicht an Fällen der ärztlichen
Beobachtung, sondern an Gestalten erörtern, die große Dichter aus der
Fülle ihrer Seelenkenntnis erschaffen haben.

Eine Person, die nach erreichtem Erfolg zusammenbricht, nachdem sie mit
unbeirrter Energie um ihn gerungen hat, ist _Shakespeares_ Lady
_Macbeth_. Es ist vorher kein Schwanken und kein Anzeichen eines inneren
Kampfes in ihr, kein anderes Streben, als die Bedenken ihres ehrgeizigen
und doch mildfühlenden Mannes zu besiegen. Dem Mordvorsatz will sie
selbst ihre Weiblichkeit opfern, ohne zu erwägen, welch entscheidende
Rolle dieser Weiblichkeit zufallen muß, wenn es dann gelten soll, das
durch Verbrechen erreichte Ziel ihres Ehrgeizes zu behaupten.

    (Akt I, Szene 5):

                          »Kommt, ihr Geister,
    Die ihr auf Mordgedanken lauscht, entweibt mich.«
    -- -- -- -- -- -- -- -- -- An meine Brüste,
    Ihr Mordeshelfer! Saugt mir Milch zu Galle!«

    (Akt I, Szene 7):

                        »Ich gab die Brust und weiß,
    Wie zärtlich man das Kind liebt, das man tränkt.
    Und doch, dieweil es mir ins Antlitz lächelt,
    Wollt' reißen ich von meinem Mutterbusen
    Sein zahnlos Mündlein, und sein Hirn ausschmettern,
    Hätt' ich's geschworen, wie du jenes schwurst!«

Eine einzige leise Regung des Widerstrebens ergreift sie vor der Tat:

    (Akt II, Szene 2):

    »Hätt' er geglichen meinem Vater nicht
    Als er so schlief, ich hätt's getan.«

Nun, da sie Königin geworden durch den Mord an Duncan, meldet sich
flüchtig etwas wie eine Enttäuschung, wie ein Überdruß. Wir wissen
nicht, woher.

    (Akt III, Szene 2):

    »Nichts hat man, alles Lüge,
    Gelingt der Wunsch, und fehlt doch die Genüge,
    's ist sichrer das zu sein, was wir zerstören,
    Als durch Zerstörung ew'ger Angst zu schwören.«

Doch hält sie aus. In der nach diesen Worten folgenden Szene des
Banketts bewahrt sie allein die Besinnung, deckt die Verwirrung ihres
Mannes, findet einen Vorwand, um die Gäste zu entlassen. Und dann
entschwindet sie uns. Wir sehen sie (in der ersten Szene des fünften
Aktes) als Somnambule wieder, an die Eindrücke jener Mordnacht fixiert.
Sie spricht ihrem Manne wieder Mut zu wie damals:

    »Pfui, mein Gemahl, pfui ein Soldat und furchtsam? -- Was haben wir
    zu fürchten, wer es weiß? Niemand zieht unsere Macht zur
    Rechenschaft.« -- -- --

Sie hört das Klopfen ans Tor, das ihren Mann nach der Tat erschreckte.
Daneben aber bemüht sie sich »die Tat ungeschehen zu machen, die nicht
mehr ungeschehen werden« kann. Sie wäscht ihre Hände, die mit Blut
befleckt sind und nach Blut riechen, und wird der Vergeblichkeit dieser
Bemühung bewußt. Die Reue scheint sie niedergeworfen zu haben, die so
reuelos schien. Als sie stirbt, findet Macbeth, der unterdes so
unerbittlich geworden ist, wie sie sich anfänglich zeigte, nur die eine
kurze Nachrede für sie:

    (Akt V, Szene 5):

    »Sie konnte später sterben.
    Es war noch Zeit genug für solch ein Wort.«

Und nun fragt man sich, was hat diesen Charakter zerbrochen, der aus dem
härtesten Metall geschmiedet schien? Ist's nur die Enttäuschung, das
andere Gesicht, das die vollzogene Tat zeigt, sollen wir rückschließen,
daß auch in der Lady Macbeth ein ursprünglich weiches und weiblich
mildes Seelenleben sich zu einer Konzentration und Hochspannung
emporgearbeitet hatte, der keine Andauer beschieden sein konnte, oder
dürfen wir nach Anzeichen forschen, die uns diesen Zusammenbruch durch
eine tiefere Motivierung menschlich näher bringen?

Ich halte es für unmöglich, hier eine Entscheidung zu treffen.
_Shakespeares_ _Macbeth_ ist ein Gelegenheitsstück, zur Thronbesteigung
des bisherigen Schottenkönigs _James_ gedichtet. Der Stoff war gegeben
und gleichzeitig von anderen Autoren behandelt worden, deren Arbeit
_Shakespeare_ wahrscheinlich in gewohnter Weise genützt hat. Er bot
merkwürdige Anspielungen an die gegenwärtige Situation. Die
»jungfräuliche« Elisabeth, von der ein Gerede wissen wollte, daß sie nie
imstande gewesen wäre, ein Kind zu gebären, die sich einst bei der
Nachricht von James' Geburt im schmerzlichen Aufschrei als »einen dürren
Stamm« bezeichnet hatte[1], war eben durch ihre Kinderlosigkeit genötigt
worden, den Schottenkönig zu ihrem Nachfolger werden zu lassen. Der war
aber der Sohn jener Maria, deren Hinrichtung sie, wenn auch widerwillig,
angeordnet hatte, und die trotz aller Trübung der Beziehungen durch
politische Rücksichten doch ihre Blutsverwandte und ihr Gast genannt
werden konnte.

  [1] Vgl. Macbeth (Akt III, Szene 1):

      »Auf mein Haupt setzten sie unfruchtbar Gold,
      Ein dürres Zepter reichten sie der Faust,
      Daß es entgleite dann in fremde Hand,
      Da nicht mein Sohn mir nachfolgt. -- -- --



Die Thronbesteigung Jakobs I. war wie eine Demonstration des Fluches der
Unfruchtbarkeit und der Segnungen der fortlaufenden Generation. Und auf
diesen nämlichen Gegensatz ist die Entwicklung in Shakespeares Macbeth
eingestellt. Die Schicksalsschwestern haben ihm verheißen, daß er selbst
König werden, dem Banquo aber, daß seine Kinder die Krone überkommen
sollen. Macbeth empört sich gegen diesen Schicksalsspruch, er begnügt
sich nicht mit der Befriedigung des eigenen Ehrgeizes, er will Gründer
einer Dynastie sein und nicht zum Vorteile Fremder gemordet haben. Man
übersieht diesen Punkt, wenn man in Shakespeares Stück nur die Tragödie
des Ehrgeizes erblicken will. Es ist klar, da Macbeth selbst nicht ewig
leben kann, so gibt es für ihn nur einen Weg, den Teil der Prophezeiung,
der ihm widerstrebt, zu entkräften, wenn er nämlich selbst Kinder hat,
die ihm nachfolgen können. Er scheint sie auch von seinem starken Weib
zu erwarten:

    (Akt I, Szene 7):

    »Du, gebier nur Söhne,
    Nur Männer sollte dein unschreckbar Mark
    Zusammensetzen.« -- -- -- -- -- -- --

Und ebenso klar ist, wenn er in dieser Erwartung getäuscht wird, dann
muß er sich dem Schicksal unterwerfen, oder sein Handeln verliert Ziel
und Zweck und verwandelt sich in das blinde Wüten eines zum Untergang
Verurteilten, der vorher noch, was ihm erreichbar ist, vernichten will.
Wir sehen, daß Macbeth diese Entwicklung durchmacht, und auf der Höhe
der Tragödie finden wir jenen erschütternden, so oft schon als
vieldeutig erkannten Ausruf, der den Schlüssel für seine Wandlung
enthalten könnte, den Ausruf _Macduffs_:

    (Akt IV, Szene 3):

    »Er hat keine Kinder.«

Das heißt gewiß: Nur weil er selbst kinderlos ist, konnte er meine
Kinder morden, aber es kann auch mehr in sich fassen und vor allem
könnte es das tiefste Motiv bloßlegen, welches sowohl Macbeth weit über
seine Natur hinausdrängt, als auch den Charakter der harten Frau an
seiner einzig schwachen Stelle trifft. Hält man aber Umschau von dem
Gipfelpunkt, den diese Worte Macduffs bezeichnen, so sieht man das ganze
Stück von Beziehungen auf das Vater-Kinderverhältnis durchsetzt. Der
Mord des gütigen Duncan ist wenig anderes als ein Vatermord; im Falle
Banquos hat Macbeth den Vater getötet, während ihm der Sohn entgeht; bei
Macduff tötet er die Kinder, weil ihm der Vater entflohen ist. Ein
blutiges und ein gekröntes Kind lassen ihm die Schicksalsschwestern in
der Beschwörungszene erscheinen; das bewaffnete Haupt vorher ist wohl
Macbeth selbst. Im Hintergrunde aber erhebt sich die düstere Gestalt des
Rächers Macduff, der selbst eine Ausnahme von den Gesetzen der
Generation ist, da er nicht von seiner Mutter geboren, sondern aus ihrem
Leib geschnitten wurde.

Es wäre nun durchaus im Sinne der auf Talion aufgebauten poetischen
Gerechtigkeit, wenn die Kinderlosigkeit Macbeths und die Unfruchtbarkeit
seiner Lady die Strafe wären für ihre Verbrechen gegen die Heiligkeit
der Generation, wenn Macbeth nicht Vater werden könnte, weil er den
Kindern den Vater und dem Vater die Kinder geraubt, und wenn sich so an
der Lady Macbeth die Entweibung vollzogen hätte, zu der sie die Geister
des Mordes aufgerufen hat. Ich glaube, man verstünde ohneweiters die
Erkrankung der Lady, die Verwandlung ihres Frevelmutes in Reue, als
Reaktion auf ihre Kinderlosigkeit, durch die sie von ihrer Ohnmacht
gegen die Satzungen der Natur überzeugt und gleichzeitig daran gemahnt
wird, daß ihr Verbrechen durch ihr eigenes Verschulden um den besseren
Teil seines Ertrags gebracht worden ist.

In der Chronik von _Holinshed_ (1577), aus welcher _Shakespeare_ den
Stoff des _Macbeth_ schöpfte, findet die Lady nur eine einzige Erwähnung
als Ehrgeizige, die ihren Mann zum Morde aufstachelt, um selbst Königin
zu werden. Von ihren weiteren Schicksalen und von einer Entwicklung
ihres Charakters ist nicht die Rede. Dagegen scheint es, als ob dort die
Wandlung im Charakter _Macbeths_ zum blutigen Wüterich ähnlich motiviert
werden sollte, wie wir es eben versucht haben. Denn bei Holinshed liegen
zwischen dem Mord an Duncan, durch den Macbeth König wird, und seinen
weiteren Missetaten _zehn Jahre_, in denen er sich als strenger, aber
gerechter Herrscher erweist. Erst nach diesem Zeitraum tritt bei ihm die
Änderung ein, unter dem Einfluß der quälenden Befürchtung, daß die
Banquo erteilte Prophezeiung sich ebenso erfüllen könne, wie die seines
eigenen Schicksals. Nun erst läßt er Banquo töten und wird wie bei
Shakespeare von einem Verbrechen zum anderen fortgerissen. Es wird auch
bei Holinshed nicht ausdrücklich gesagt, daß es seine Kinderlosigkeit
ist, welche ihn auf diesen Weg treibt, aber es bleibt Zeit und Raum für
diese naheliegende Motivierung. Anders bei Shakespeare. In atemraubender
Hast jagen in der Tragödie die Ereignisse an uns vorüber, so daß sich
aus den Angaben der Personen im Stücke etwa _eine Woche_ als die
Zeitdauer ihres Ablaufes berechnen läßt[2]. Durch diese Beschleunigung
wird all unseren Konstruktionen über die Motivierung des Umschwungs im
Charakter Macbeths und seiner Lady der Boden entzogen. Es fehlt die
Zeit, innerhalb welcher die fortgesetzte Enttäuschung der Kinderhoffnung
das Weib zermürben und den Mann in trotzige Raserei treiben könnte, und
es bleibt der Widerspruch bestehen, daß soviel feine Zusammenhänge
innerhalb des Stückes und zwischen ihm und seinem Anlaß ein
Zusammentreffen im Motiv der Kinderlosigkeit anstreben, während die
zeitliche Ökonomie der Tragödie eine Charakterentwicklung aus anderen
als den innerlichsten Motiven ausdrücklich ablehnt.

  [2] _J. Darmstetter_, Macbeth, Edition classique, p. LXXV, Paris 1887.

Welches aber diese Motive sein können, die in so kurzer Zeit aus dem
zaghaften Ehrgeizigen einen hemmungslosen Wüterich und aus der
stahlharten Anstifterin eine von Reue zerknirschte Kranke machen, das
läßt sich meines Erachtens nicht erraten. Ich meine, wir müßten darauf
verzichten, das dreifach geschichtete Dunkel zu durchdringen, zu dem
sich die schlechte Erhaltung des Textes, die unbekannte Intention des
Dichters und der geheime Sinn der Sage hier verdichtet haben. Ich möchte
es auch nicht gelten lassen, daß jemand einwende, solche Untersuchungen
seien müßig angesichts der großartigen Wirkung, die die Tragödie auf den
Zuschauer ausübt. Der Dichter kann uns zwar durch seine Kunst während
der Darstellung überwältigen und unser Denken dabei lähmen, aber er kann
uns nicht daran hindern, daß wir uns nachträglich bemühen, diese Wirkung
aus ihrem psychologischen Mechanismus zu begreifen. Auch die Bemerkung,
es stehe dem Dichter frei, die natürliche Zeitfolge der von ihm
vorgeführten Begebenheiten in beliebiger Weise zu verkürzen, wenn er
durch das Opfer der gemeinen Wahrscheinlichkeit eine Steigerung des
dramatischen Effekts erzielen kann, scheint mir hier nicht an ihrem
Platze. Denn ein solches Opfer ist doch nur zu rechtfertigen, wo es bloß
die Wahrscheinlichkeit stört[3], aber nicht, wo es die kausale
Verknüpfung aufhebt, und der dramatischen Wirkung wäre kaum Abbruch
geschehen, wenn der Zeitablauf unbestimmt gelassen wäre, anstatt durch
ausdrückliche Äußerungen auf wenige Tage eingeengt zu werden.

  [3] Wie in der Werbung Richards III. um Anna, an der Bahre des von ihm
  ermordeten Königs.

Es fällt so schwer, ein Problem wie das des _Macbeth_ als unlösbar zu
verlassen, daß ich noch den Versuch wage, eine Bemerkung anzufügen, die
nach einem neuen Ausweg weist. _Ludwig Jekels_ hat kürzlich in einer
Shakespeare-Studie ein Stück der Technik des Dichters zu erraten
geglaubt, welches auch für Macbeth in Betracht kommen könnte. Er meint,
daß Shakespeare häufig einen Charakter in zwei Personen zerlegt, von
denen dann jede unvollständig begreiflich erscheint, solange man sie
nicht mit der anderen wiederum zur Einheit zusammensetzt. So könnte es
auch mit Macbeth und der Lady sein, und dann würde es natürlich zu
nichts führen, wollte man sie als selbständige Person fassen und nach
der Motivierung ihrer Umwandlung forschen, ohne auf den sie ergänzenden
Macbeth Rücksicht zu nehmen. Ich folge dieser Spur nicht weiter, aber
ich will doch anführen, was in so auffälliger Weise diese Auffassung
stützt, daß die Angstkeime, die in der Mordnacht bei Macbeth
hervorbrechen, nicht bei ihm, sondern bei der Lady zur Entwicklung
gelangen[4]. Er ist es, der vor der Tat die Halluzination des Dolches
gehabt hat, aber sie, die später der geistigen Erkrankung verfällt; er
hat nach dem Morde im Hause schreien gehört: Schlaft nicht mehr, Macbeth
mordet den Schlaf und also soll Macbeth nicht mehr schlafen, aber wir
vernehmen nichts davon, daß König Macbeth nicht mehr schläft, während
wir sehen, daß die Königin aus ihrem Schlafe aufsteht und nachtwandelnd
ihre Schuld verrät; er stand hilflos da mit blutigen Händen und klagte,
daß all des Meergotts Flut nicht reinwasche seine Hand; sie tröstete
damals: Ein wenig Wasser spült uns ab die Tat, aber dann ist sie es, die
eine Viertelstunde lang ihre Hände wäscht und die Befleckung des Blutes
nicht beseitigen kann. »Alle Wohlgerüche Arabiens machen nicht
süßduftend diese kleine Hand.« (Akt V, Szene 1.) So erfüllt sich an ihr,
was er in seiner Gewissensangst gefürchtet; sie wird die Reue nach der
Tat, er wird der Trotz, sie erschöpfen miteinander die Möglichkeiten der
Reaktion auf das Verbrechen, wie zwei uneinige Anteile einer einzigen
psychischen Individualität und vielleicht Nachbilder eines einzigen
Vorbilds.

  [4] Vgl. _Darmstetter_ l. c.

Haben wir an der Gestalt der Lady Macbeth die Frage nicht beantworten
können, warum sie nach dem Erfolge als Kranke zusammenbricht, so winkt
uns vielleicht eine bessere Aussicht bei der Schöpfung eines anderen
großen Dramatikers, der die Aufgabe der psychologischen Rechenschaft mit
unnachsichtiger Strenge zu verfolgen liebt.

Rebekka Gamvik, die Tochter einer Hebamme, ist von ihrem Adoptivvater
Doktor West zur Freidenkerin und Verächterin jener Fesseln erzogen
worden, welche eine auf religiösem Glauben gegründete Sittlichkeit den
Lebenswünschen anlegen möchte. Nach dem Tode des Doktors verschafft sie
sich Aufnahme in _Rosmersholm_, dem Stammsitz eines alten Geschlechtes,
dessen Mitglieder das Lachen nicht kennen und die Freude einer starren
Pflichterfüllung geopfert haben. Auf Rosmersholm hausen der Pastor
Johannes Rosmer und seine kränkliche, kinderlose Gattin Beate. »Von
wildem, unbezwinglichem Gelüst« nach der Liebe des adeligen Mannes
ergriffen, beschließt Rebekka, die Frau, die ihr im Wege steht,
wegzuräumen, und bedient sich dabei ihres »mutigen, freigeborenen«,
durch keine Rücksichten gehemmten Willens. Sie spielt ihr ein ärztliches
Buch in die Hand, in dem die Kinderzeugung als der Zweck der Ehe
hingestellt wird, so daß die Arme an der Berechtigung ihrer Ehe irre
wird, sie läßt sie erraten, daß Rosmer, dessen Lektüre und Gedankengänge
sie teilt, im Begriffe ist, sich vom alten Glauben loszumachen und die
Partei der Aufklärung zu nehmen, und nachdem sie so das Vertrauen der
Frau in die sittliche Verläßlichkeit ihres Mannes erschüttert hat, gibt
sie ihr endlich zu verstehen, daß sie selbst, Rebekka, bald das Haus
verlassen wird, um die Folgen eines unerlaubten Verkehrs mit Rosmer zu
verheimlichen. Der verbrecherische Plan gelingt. Die arme Frau, die für
schwermütig und unzurechnungsfähig gegolten hat, stürzt sich vom
Mühlensteg herab ins Wasser, im Gefühl des eigenen Unwerts und um dem
Glücke des geliebten Mannes nicht im Wege zu sein.

Seit Jahr und Tag leben nun Rebekka und Rosmer allein auf Rosmersholm in
einem Verhältnis, welches er für eine rein geistige und ideelle
Freundschaft halten will. Als aber von außen her die ersten Schatten der
Nachrede auf dieses Verhältnis fallen, und gleichzeitig quälende Zweifel
in Rosmer rege gemacht werden, aus welchen Motiven seine Frau in den Tod
gegangen ist, bittet er Rebekka seine zweite Frau zu werden, um der
traurigen Vergangenheit eine neue lebendige Wirklichkeit entgegenstellen
zu können. (Akt II.) Sie jubelt bei diesem Antrage einen Augenblick lang
auf, aber schon im nächsten erklärt sie, es sei unmöglich, und wenn er
weiter in sie dringe, werde sie »den Weg gehen, den Beate gegangen ist«.
Verständnislos nimmt Rosmer diese Abweisung entgegen; noch
unverständlicher ist sie aber für uns, die wir mehr von Rebekkas Tun und
Absichten wissen. Wir dürfen bloß nicht daran zweifeln, daß ihr Nein
ernst gemeint ist.

Wie konnte es kommen, daß die Abenteurerin mit dem mutigen,
freigeborenen Willen, die sich ohne jede Rücksicht den Weg zur
Verwirklichung ihrer Wünsche gebahnt, nun nicht zugreifen will, da ihr
angeboten wird, die Frucht des Erfolges zu pflücken? Sie gibt uns selbst
die Aufklärung im vierten Akt: »Das ist doch eben das Furchtbare, jetzt,
da alles Glück der Welt mir mit vollen Händen geboten wird, -- jetzt bin
ich eine solche geworden, daß meine eigene Vergangenheit mir den Weg zum
Glück versperrt.« Sie ist also eine andere geworden unterdes, ihr
Gewissen ist erwacht, sie hat ein Schuldbewußtsein bekommen, welches ihr
den Genuß versagt.

Und wodurch wurde ihr Gewissen geweckt? Hören wir sie selbst und
überlegen wir dann, ob wir ihr voll Glauben schenken dürfen: »Es ist die
Lebensanschauung des Hauses Rosmer -- oder wenigstens deine
Lebensanschauung, -- die meinen Willen angesteckt hat ... Und ihn krank
gemacht hat. Ihn geknechtet hat mit Gesetzen, die früher für mich nicht
gegolten haben. Das Zusammenleben mit dir, -- du, das hat meinen Sinn
geadelt.«

Dieser Einfluß, ist hinzuzunehmen, hat sich erst geltend gemacht, als
sie mit Rosmer allein zusammenleben durfte; »-- in Stille, -- in
Einsamkeit, -- als du mir deine Gedanken alle ohne Vorbehalt gabst, --
eine jegliche Stimmung, so weich und so fein wie du sie fühltest, -- da
trat die große Umwandlung ein«.

Kurz vorher hatte sie die andere Seite dieser Wandlung beklagt: »Weil
Rosmersholm mir die Kraft genommen hat, hier ist mein mutiger Wille
gelähmt worden. Und verschandelt! Für mich ist die Zeit vorbei, da ich
alles und jedes wagen durfte. Ich habe die Energie zum Handeln verloren,
Rosmer.«

Diese Erklärung gibt Rebekka, nachdem sie sich durch ein freiwilliges
Geständnis vor Rosmer und dem Rektor Kroll, dem Bruder der von ihr
beseitigten Frau, als Verbrecherin bloßgestellt hat. _Ibsen_ hat durch
kleine Züge von meisterhafter Feinheit festgelegt, daß diese Rebekka
nicht lügt, aber auch nie ganz aufrichtig ist. Wie sie trotz aller
Freiheit von Vorurteilen ihr Alter um ein Jahr herabgesetzt hat, so ist
auch ihr Geständnis vor den beiden Männern unvollständig und wird durch
das Drängen Krolls in einigen wesentlichen Punkten ergänzt. Auch uns
bleibt die Freiheit anzunehmen, daß die Aufklärung ihres Verzichts das
eine nur preisgibt, um ein anderes zu verschweigen.

Gewiß, wir haben keinen Grund, ihrer Aussage zu mißtrauen, daß die Luft
auf Rosmersholm, ihr Umgang mit dem edlen Rosmer, veredelnd und --
lähmend auf sie gewirkt hat. Sie sagt damit, was sie weiß und empfunden
hat. Aber es brauchte nicht alles zu sein, was in ihr vorgegangen ist;
auch ist es nicht notwendig, daß sie sich über alles Rechenschaft geben
konnte. Der Einfluß Rosmers konnte auch nur ein Deckmantel sein, hinter
dem sich eine andere Wirkung verbirgt, und nach dieser anderen Richtung
weist ein bemerkenswerter Zug.

Noch nach ihrem Geständnis, in der letzten Unterredung, die das Stück
beendet, bittet sie Rosmer nochmals, seine Frau zu werden. Er verzeiht
ihr, was sie aus Liebe zu ihm verbrochen hat. Und nun antwortet sie
nicht, was sie sollte, daß keine Verzeihung ihr das Schuldgefühl nehmen
könnte, das sie durch den tückischen Betrug an der armen Beate erworben,
sondern sie belastet sich mit einem anderen Vorwurf, der uns bei der
Freidenkerin fremdartig berühren muß, keinesfalls die Stelle verdient,
an die er von Rebekka gesetzt wird: »Ach, mein Freund, -- komm nie
wieder darauf! Es ist ein Ding der Unmöglichkeit --! Denn du mußt
wissen, Rosmer, ich habe eine Vergangenheit.« Sie will natürlich
andeuten, daß sie sexuelle Beziehungen zu einem anderen Manne gehabt
hat, und wir wollen uns merken, daß ihr diese Beziehungen zu einer Zeit,
da sie frei und niemandem verantwortlich war, ein stärkeres Hindernis
der Vereinigung mit Rosmer dünken als ihr wirklich verbrecherisches
Benehmen gegen seine Frau.

Rosmer lehnt es ab, von dieser Vergangenheit zu hören. Wir können sie
erraten, obwohl alles, was dahin weist, im Stücke sozusagen unterirdisch
bleibt und aus Andeutungen erschlossen werden muß. Aus Andeutungen
freilich, die mit solcher Kunst eingefügt sind, daß ein Mißverständnis
derselben unmöglich wird.

Zwischen Rebekkas erster Ablehnung und ihrem Geständnis geht etwas vor,
was von entscheidender Bedeutung für ihr weiteres Schicksal ist. Der
Rektor Kroll besucht sie, um sie durch die Mitteilung zu demütigen, er
wisse, daß sie ein illegitimes Kind sei, die Tochter eben jenes Doktors
West, der sie nach dem Tode ihrer Mutter adoptiert hat. Der Haß hat
seinen Spürsinn geschärft, aber er meint nicht, ihr damit etwas Neues zu
sagen. »In der Tat, ich meinte, Sie wüßten ganz genau Bescheid. Es wäre
doch sonst recht merkwürdig gewesen, daß Sie sich von Doktor West
adoptieren ließen --.« »Und da nimmt er Sie zu sich -- gleich nach dem
Tode Ihrer Mutter. Er behandelt Sie hart. Und doch bleiben Sie bei ihm.
Sie wissen, daß er Ihnen nicht einen Pfennig hinterlassen wird. Sie
haben ja auch nur eine Kiste Bücher bekommen. Und doch halten Sie bei
ihm aus. Ertragen seine Launen. Pflegen ihn bis zum letzten Augenblick.«
-- »Was Sie für ihn getan haben, das leite ich aus dem natürlichen
Instinkt der Tochter her. Ihr ganzes übriges Auftreten halte ich für ein
natürliches Ergebnis Ihrer Herkunft.«

Aber Kroll war im Irrtum. Rebekka hatte nichts davon gewußt, daß sie die
Tochter des Doktors West sein sollte. Als Kroll mit dunklen Anspielungen
auf ihre Vergangenheit begann, mußte sie annehmen, er meine etwas
anderes. Nachdem sie begriffen hat, worauf er sich bezieht, kann sie
noch eine Weile ihre Fassung bewahren, denn sie darf glauben, daß ihr
Feind seiner Berechnung jenes Alter zugrunde gelegt hat, das sie ihm bei
einem früheren Besuch fälschlich angegeben. Aber nachdem Kroll diese
Einwendung siegreich zurückgewiesen: »Mag sein. Aber die Rechnung mag
dennoch richtig sein, denn ein Jahr, ehe er angestellt wurde, ist West
dort oben vorübergehend zu Besuch gewesen«, nach dieser neuen Mitteilung
verliert sie jeden Halt. »Das ist nicht wahr.« -- Sie geht umher und
ringt die Hände: »Es ist unmöglich. Sie wollen mir das bloß einreden.
Das kann ja nun und nimmermehr wahr sein. Kann nicht wahr sein! Nun und
nimmermehr --!« Ihre Ergriffenheit ist so arg, daß Kroll sie nicht auf
seine Mitteilung zurückzuführen vermag.

    _Kroll_: »Aber, meine Liebe, -- warum um Gottes willen, werden Sie
    denn so heftig? Sie machen mir geradezu Angst! Was soll ich glauben
    und denken --!«

    _Rebekka_: »Nichts. Sie sollen weder etwas glauben noch etwas
    denken.«

    _Kroll_: »Dann müßten Sie mir aber wirklich erklären, warum Sie sich
    diese Sache -- diese Möglichkeit so zu Herzen nehmen.«

    _Rebekka_ (faßt sich wieder): »Das ist doch sehr einfach, Herr
    Rektor. Ich habe doch keine Lust, für ein uneheliches Kind zu
    gelten.«

Das Rätsel im Benehmen Rebekkas läßt nur eine Lösung zu. Die
Mitteilung, daß Doktor West ihr Vater sein kann, ist der schwerste
Schlag, der sie betreffen konnte, denn sie war nicht nur die
Adoptivtochter, sondern auch die Geliebte dieses Mannes. Als Kroll seine
Reden begann, meinte sie, er wolle auf diese Beziehungen anspielen, die
sie wahrscheinlich unter Berufung auf ihre Freiheit einbekannt hätte.
Aber das lag dem Rektor ferne; er wußte nichts von dem Liebesverhältnis
mit Doktor West, wie sie nichts von dessen Vaterschaft. Nichts anderes
als dieses Liebesverhältnis _kann_ sie im Sinne haben, wenn sie bei der
letzten Weigerung gegen Rosmer vorschützt, sie habe eine Vergangenheit,
die sie unwürdig mache, seine Frau zu werden. Wahrscheinlich hätte sie
Rosmer, wenn er gewollt hätte, auch nur die eine Hälfte ihres
Geheimnisses mitgeteilt und den schwereren Anteil desselben
verschwiegen.

Aber nun verstehen wir freilich, daß diese Vergangenheit ihr als das
schwerere Hindernis der Eheschließung erscheint, als das schwerere --
Verbrechen.

Nachdem sie erfahren hat, daß sie die Geliebte ihres eigenen Vaters
gewesen ist, unterwirft sie sich ihrem jetzt übermächtig
hervorbrechenden Schuldgefühl. Sie legt vor Rosmer und Kroll das
Geständnis ab, durch das sie sich zur Mörderin stempelt, verzichtet
endgültig auf das Glück, zu dem sie sich durch Verbrechen den Weg
gebahnt hatte, und rüstet zur Abreise. Aber das eigentliche Motiv ihres
Schuldbewußtseins, welches sie am Erfolg scheitern läßt, bleibt geheim.
Wir haben gesehen, es ist noch etwas ganz anderes als die Atmosphäre von
Rosmersholm und der sittigende Einfluß Rosmers.

Wer uns soweit gefolgt ist, wird jetzt nicht versäumen, einen Einwand
vorzubringen, der dann manchen Zweifel rechtfertigen kann. Die erste
Abweisung Rosmers durch Rebekka erfolgt ja vor dem zweiten Besuch
Krolls, also vor seiner Aufdeckung ihrer unehelichen Geburt, und zu
einer Zeit, da sie um ihren Inzest noch nichts weiß, -- wenn wir den
Dichter richtig verstanden haben. Doch ist diese Abweisung energisch und
ernst gemeint. Das Schuldbewußtsein, das sie auf den Gewinn aus ihren
Taten verzichten heißt, ist also schon vor ihrer Kenntnis um ihr
Kapitalverbrechen wirksam, und wenn wir soviel zugeben, dann ist der
Inzest als Quelle des Schuldbewußtseins vielleicht überhaupt zu
streichen.

Wir haben bisher Rebekka West behandelt, als wäre sie eine lebende
Person und nicht eine Schöpfung der von dem kritischesten Verstand
geleiteten Phantasie des Dichters _Ibsen_. Wir dürfen versuchen, bei der
Erledigung dieses Einwands denselben Standpunkt festzuhalten. Der
Einwand ist gut, ein Stück Gewissen war auch vor der Kenntnis des
Inzests bei Rebekka erwacht. Es steht nichts im Wege, für diese Wandlung
den Einfluß verantwortlich zu machen, den Rebekka selbst anerkennt und
anklagt. Aber damit kommen wir von der Anerkennung des zweiten Motivs
nicht frei. Das Benehmen Rebekkas bei der Mitteilung des Rektors, ihre
unmittelbar darauffolgende Reaktion durch das Geständnis lassen keinen
Zweifel daran, daß erst jetzt das stärkere und das entscheidende Motiv
des Verzichts in Wirkung tritt. Es liegt eben ein Fall von mehrfacher
Motivierung vor, bei dem hinter dem oberflächlicheren Motiv ein tieferes
zum Vorschein kommt. Gebote der poetischen Ökonomie hießen den Fall so
gestalten, denn dies tiefere Motiv sollte nicht laut erörtert werden, es
mußte gedeckt bleiben, der bequemen Wahrnehmung des Zuhörers im Theater
oder Lesers entzogen, sonst hätten sich bei diesem schwere Widerstände
erhoben, auf die peinlichsten Gefühle begründet, welche die Wirkung des
Schauspiels in Frage stellen könnten.

Mit Recht dürfen wir aber verlangen, daß das vorgeschobene Motiv nicht
ohne inneren Zusammenhang mit dem von ihm gedeckten sei, sondern sich
als eine Milderung und Ableitung aus dem letzteren erweise. Und wenn wir
dem Dichter zutrauen dürfen, daß seine bewußte poetische Kombination
folgerichtig aus unbewußten Voraussetzungen hervorgegangen ist, so
können wir auch den Versuch machen zu zeigen, daß er diese Forderung
erfüllt hat. Rebekkas Schuldbewußtsein entspringt aus der Quelle des
Inzestvorwurfs, noch ehe der Rektor ihr diesen mit analytischer Schärfe
zum Bewußtsein gebracht hat. Wenn wir ausführend und ergänzend ihre vom
Dichter angedeutete Vergangenheit rekonstruieren, so werden wir sagen,
sie kann nicht ohne Ahnung der intimen Beziehungen zwischen ihrer Mutter
und dem Doktor West gewesen sein. Es muß ihr einen großen Eindruck
gemacht haben, als sie die Nachfolgerin der Mutter bei diesem Manne
wurde, und sie stand unter der Herrschaft des Ödipuskomplexes, auch wenn
sie nicht wußte, daß diese allgemeine Phantasie in ihrem Falle zur
Wirklichkeit geworden war. Als sie nach Rosmersholm kam, trieb sie die
innere Gewalt jenes ersten Erlebnisses dazu an, durch tatkräftiges
Handeln dieselbe Situation herbeizuführen, die sich das erste Mal ohne
ihr Dazutun verwirklicht hatte, die Frau und Mutter zu beseitigen, um
beim Manne und Vater ihre Stelle einzunehmen. Sie schildert mit
überzeugender Eindringlichkeit, wie sie gegen ihren Willen genötigt
wurde, Schritt um Schritt zur Beseitigung Beatens zu tun.

    »Aber glaubt Ihr denn, ich ging und handelte mit kühler Überlegung!
    Damals war ich doch nicht was ich heute bin, wo ich vor Euch stehe
    und erzähle. Und dann gibt es doch auch, sollte ich meinen, zwei
    Arten Willen in einem Menschen. Ich wollte Beate weg haben! Auf
    irgend eine Art. Aber ich glaubte doch nicht, es würde jemals dahin
    kommen. Bei jedem Schritt, den es mich reizte, vorwärts zu wagen,
    war es mir, als schrie etwas in mir: Nun nicht weiter! Keinen
    Schritt mehr! -- Und doch konnte ich es nicht lassen. Ich mußte noch
    ein winziges Spürchen weiter. Und noch ein einziges Spürchen. Und
    dann noch eins -- und immer noch eins --. Und so ist es geschehen.
    -- Auf diese Weise geht so etwas vor sich.«

Das ist nicht Beschönigung, sondern wahrhafte Rechenschaft. Alles, was
auf Rosmersholm mit ihr vorging, die Verliebtheit in Rosmer und die
Feindseligkeit gegen seine Frau, war bereits Erfolg des Ödipuskomplexes,
erzwungene Nachbildung ihres Verhältnisses zu ihrer Mutter und zu Doktor
West.

Und darum ist das Schuldgefühl, das sie zuerst die Werbung Rosmers
abweisen läßt, im Grunde nicht verschieden von jenem größeren, das sie
nach der Mitteilung Krolls zum Geständnis zwingt. Wie sie aber unter dem
Einfluß des Doktors West zur Freidenkerin und Verächterin der religiösen
Moral geworden war, so wandelte sie sich durch die neue Liebe zu Rosmer
zum Gewissens- und Adelsmenschen. Soviel verstand sie selbst von ihren
inneren Vorgängen, und darum durfte sie mit Recht den Einfluß Rosmers
als das ihr zugänglich gewordene Motiv ihrer Änderung bezeichnen.

Der psychoanalytisch arbeitende Arzt weiß, wie häufig oder wie
regelmäßig das Mädchen, welches als Dienerin, Gesellschafterin,
Erzieherin in ein Haus eintritt, dort bewußt oder unbewußt am Tagtraum
spinnt, dessen Inhalt dem Ödipuskomplex entnommen ist, daß die Frau des
Hauses irgendwie wegfallen und der Herr an deren Stelle sie zur Frau
nehmen wird. »Rosmersholm« ist das höchste Kunstwerk der Gattung, welche
diese alltägliche Phantasie der Mädchen behandelt. Es wird eine
tragische Dichtung durch den Zusatz, daß dem Tagtraum der Heldin die
ganz entsprechende Wirklichkeit in ihrer Vorgeschichte vorausgegangen
ist[5].

  [5] Der Nachweis des Inzestthemas in »Rosmersholm« ist bereits mit
  denselben Mitteln wie hier, in dem überaus reichhaltigen Werke von
  _O. Rank_, Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage, 1912, erbracht
  worden.

Nach langem Aufenthalte bei der Dichtung kehren wir nun zur ärztlichen
Erfahrung zurück. Aber nur, um mit wenigen Worten die volle
Übereinstimmung beider festzustellen. Die psychoanalytische Arbeit
lehrt, daß die Gewissenskräfte, welche am Erfolg erkranken lassen
anstatt wie sonst an der Versagung, in intimer Weise mit dem
Ödipuskomplex zusammenhängen, mit dem Verhältnis zu Vater und Mutter,
wie vielleicht unser Schuldbewußtsein überhaupt.


III.

Die Verbrecher aus Schuldbewußtsein.

In den Mitteilungen über ihre Jugend, besonders über die Jahre der
Vorpubertät, haben mir oft später sehr anständige Personen von
unerlaubten Handlungen berichtet, die sie sich damals hatten zuschulden
kommen lassen, von Diebstählen, Betrügereien und selbst Brandstiftungen.
Ich pflegte über diese Angaben mit der Auskunft hinwegzugehen, daß die
Schwäche der moralischen Hemmungen in dieser Lebenszeit bekannt sei, und
versuchte nicht, sie in einen bedeutsameren Zusammenhang einzureihen.
Aber endlich wurde ich durch grelle und günstigere Fälle, bei denen
solche Vergehen begangen wurden, während die Kranken sich in meiner
Behandlung befanden, und wo es sich um Personen jenseits jener jungen
Jahre handelte, zum gründlicheren Studium solcher Vorfälle aufgefordert.
Die analytische Arbeit brachte dann das überraschende Ergebnis, daß
solche Taten vor allem darum vollzogen wurden, weil sie verboten und
weil mit ihrer Ausführung eine seelische Erleichterung für den Täter
verbunden war. Er litt an einem drückenden Schuldbewußtsein unbekannter
Herkunft, und nachdem er ein Vergehen begangen hatte, war der Druck
gemildert. Das Schuldbewußtsein war wenigstens irgendwie untergebracht.

So paradox es klingen mag, ich muß behaupten, daß das Schuldbewußtsein
früher da war als das Vergehen, daß es nicht aus diesem hervorging,
sondern umgekehrt, das Vergehen aus dem Schuldbewußtsein. Diese Personen
durfte man mit gutem Recht als Verbrecher aus Schuldbewußtsein
bezeichnen. Die Präexistenz des Schuldgefühls hatte sich natürlich durch
eine ganze Reihe von anderen Äußerungen und Wirkungen nachweisen lassen.

Die Feststellung eines Kuriosums setzt der wissenschaftlichen Arbeit
aber kein Ziel. Es sind zwei weitere Fragen zu beantworten, woher das
dunkle Schuldgefühl vor der Tat stammt, und ob es wahrscheinlich ist,
daß eine solche Art der Verursachung an den Verbrechen der Menschen
einen größeren Anteil hat.

Die Verfolgung der ersten Frage versprach eine Auskunft über die Quelle
des menschlichen Schuldgefühls überhaupt. Das regelmäßige Ergebnis der
analytischen Arbeit lautete, daß dieses dunkle Schuldgefühl aus dem
Ödipuskomplex stamme, eine Reaktion sei auf die beiden großen
verbrecherischen Absichten, den Vater zu töten und mit der Mutter
sexuell zu verkehren. Im Vergleich mit diesen beiden waren allerdings
die zur Fixierung des Schuldgefühls begangenen Verbrechen
Erleichterungen für den Gequälten. Man muß sich hier daran erinnern, daß
Vatermord und Mutterinzest die beiden großen Verbrechen der Menschen
sind, die einzigen, die in primitiven Gesellschaften als solche verfolgt
und verabscheut werden. Auch daran, wie nahe wir durch andere
Untersuchungen der Annahme gekommen sind, daß die Menschheit ihr
Gewissen, das nun als vererbte Seelenmacht auftritt, _am Ödipuskomplex
erworben hat_.

Die Beantwortung der zweiten Frage geht über die psychoanalytische
Arbeit hinaus. Bei Kindern kann man ohneweiters beobachten, daß sie
»schlimm« werden, um Strafe zu provozieren, und nach der Bestrafung
beruhigt und zufrieden sind. Eine spätere analytische Untersuchung führt
oft auf die Spur des Schuldgefühls, welches sie die Strafe suchen hieß.
Von den erwachsenen Verbrechern muß man wohl alle die abziehen, die ohne
Schuldgefühl Verbrechen begehen, die entweder keine moralischen
Hemmungen entwickelt haben oder sich im Kampf mit der Gesellschaft zu
ihrem Tun berechtigt glauben. Aber bei der Mehrzahl der anderen
Verbrecher, bei denen, für die die Strafsatzungen eigentlich gemacht
sind, könnte eine solche Motivierung des Verbrechens sehr wohl in
Betracht kommen, manche dunkle Punkte in der Psychologie des Verbrechers
erhellen, und der Strafe eine neue psychologische Fundierung geben.

Ein Freund hat mich dann darauf aufmerksam gemacht, daß der »Verbrecher
aus Schuldgefühl« auch _Nietzsche_ bekannt war. Die Präexistenz des
Schuldgefühls und die Verwendung der Tat zur Rationalisierung desselben
schimmern uns aus den dunklen Reden _Zarathustras_ Ȇber den bleichen
Verbrecher« entgegen. Überlassen wir es zukünftiger Forschung zu
entscheiden, wieviele von den Verbrechern zu diesen »bleichen« zu
rechnen sind.



  [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
    jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
    steht.

  wird; daß ihr Verbrechen durch ihr eigenes Verschulden um den besseren
  wird, daß ihr Verbrechen durch ihr eigenes Verschulden um den besseren

      denn so heftig? Sie machen mir geradezu Angst? Was soll ich glauben
      denn so heftig? Sie machen mir geradezu Angst! Was soll ich glauben

  ]





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit" ***

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