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Title: Traum und Telepathie - Vortrag in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung
Author: Freud, Sigmund, 1856-1939
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Traum und Telepathie - Vortrag in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung" ***


  [ Anmerkungen zur Transkription:

    Der Text stammt aus: Imago. Zeitschrift für Anwendung der
    Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften VIII (1922). S. 1-22.

    Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen;
    lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Eine Liste
    der vorgenommenen Änderungen findet sich am Ende des Textes.

    Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit _ markiert.
  ]



Traum und Telepathie.

(Vortrag in der Wiener psychoanalytischen Vereinigung.)

Von SIGM. FREUD.


Eine Ankündigung wie die meinige muß in diesen Zeiten, die so voll sind
von Interesse für die sogenannt _okkulten_ Phänomene, ganz bestimmte
Erwartungen erwecken. Ich beeile mich also, diesen zu widersprechen.
Sie werden aus meinem Vortrag nichts über das Rätsel der Telepathie
erfahren, nicht einmal Aufschluß darüber erhalten, ob ich an die
Existenz einer »Telepathie« glaube oder nicht. Ich habe mir hier die
sehr bescheidene Aufgabe gestellt, das Verhältnis der telepathischen
Vorkommnisse, welcher Herkunft immer sie sein mögen, zum Traum, genauer:
zu unserer Theorie des Traumes, zu untersuchen. Es ist Ihnen bekannt,
daß man die Beziehung zwischen Traum und Telepathie gemeinhin für eine
sehr innige hält; ich werde vor Ihnen die Ansicht vertreten, daß die
beiden wenig miteinander zu tun haben, und daß, wenn die Existenz
telepathischer Träume sichergestellt würde, dies an unserer Auffassung
des Traumes nichts zu ändern brauchte.

Das Material, das dieser Mitteilung zugrunde liegt, ist sehr klein. Ich
muß vor allem meinem Bedauern Ausdruck geben, daß ich nicht wie damals,
als ich die »Traumdeutung« (1900) schrieb, an eigenen Träumen arbeiten
konnte. Aber ich habe nie einen »telepathischen« Traum gehabt. Nicht
etwa, daß es mir an Träumen gefehlt hätte, welche die Mitteilung
enthielten, an einem gewissen entfernten Ort spiele sich ein bestimmtes
Ereignis ab, wobei es der Auffassung des Träumers überlassen ist, zu
entscheiden, ob das Ereignis eben jetzt eintrete oder zu irgend einer
späteren Zeit; auch Ahnungen entfernter Vorgänge mitten im Wachleben
habe ich oft verspürt, aber alle diese Anzeigen, Vorhersagen und
Ahnungen sind, wie wir uns ausdrücken: nicht eingetroffen; es zeigte
sich, daß ihnen keine äußere Realität entsprach, und sie mußten darum
als rein subjektive Erwartungen aufgefaßt werden.

Ich habe z. B. einmal während des Krieges geträumt, daß einer meiner an
der Front befindlichen Söhne gefallen sei. Der Traum sagte dies nicht
direkt, aber doch unverkennbar, er drückte es mit den Mitteln der
bekannten, zuerst von _W. Stekel_ angegebenen Todessymbolik aus.
(Versäumen wir nicht, hier die oft unbequeme Pflicht literarischer
Gewissenhaftigkeit zu erfüllen!) Ich sah den jungen Krieger an einem
Landungssteg stehen, an der Grenze von Land und Wasser; er kam mir sehr
bleich vor, ich sprach ihn an, er aber antwortete nicht. Dazu kamen
andere nicht mißverständliche Anspielungen. Er trug nicht militärische
Uniform, sondern ein Skifahrerkostüm, wie er es bei seinem schweren
Skiunfall mehrere Jahre vor dem Krieg getragen hatte. Er stand auf einer
schemelartigen Erhöhung vor einem Kasten, welche Situation mir die
Deutung des »Fallens« mit Hinsicht auf eine eigene Kindheitserinnerung
nahe legen mußte, denn ich selbst war als Kind von wenig mehr als zwei
Jahren auf einen solchen Schemel gestiegen, um etwas von einem Kasten
herunterzuholen -- wahrscheinlich etwas Gutes -- bin dabei umgefallen
und habe mir eine Wunde geschlagen, deren Spur ich noch heute zeigen
kann. Mein Sohn aber, den jener Traum totsagte, ist heil aus den
Gefahren des Krieges zurückgekehrt.

Vor kurzem erst habe ich einen anderen Unheil verkündenden Traum gehabt,
ich glaube, es war, unmittelbar ehe ich mich zur Abfassung dieser
kleinen Mitteilung entschloß; diesmal war nicht viel Verhüllung
aufgewendet worden; ich sah meine beiden in England lebenden Nichten,
sie waren schwarz gekleidet und sagten mir: am Donnerstag haben wir sie
begraben. Ich wußte, daß es sich um den Tod ihrer jetzt
siebenundachtzigjährigen Mutter, der Frau meines verstorbenen ältesten
Bruders, handle.

Es gab natürlich eine Zeit peinlicher Erwartung bei mir; das plötzliche
Ableben einer so alten Frau wäre ja nichts Überraschendes und es wäre
doch so unerwünscht, wenn mein Traum gerade mit diesem Ereignis
zusammenträfe. Aber der nächste Brief aus England zerstreute diese
Befürchtung. Für alle diejenigen, welche um die Wunschtheorie des
Traumes besorgt sind, will ich die beruhigende Versicherung einschalten,
daß es der Analyse nicht schwer geworden ist, auch für diese Todesträume
die zu vermutenden unbewußten Motive aufzudecken.

Unterbrechen Sie mich jetzt nicht mit dem Einwand, daß solche Mitteilungen
wertlos sind, weil negative Erfahrungen hier so wenig, wie auf anderen
minder okkulten Gebieten, irgend etwas beweisen können. Ich weiß das
auch selbst und habe diese Beispiele auch gar nicht in der Absicht
angeführt, um einen Beweis zu geben oder eine bestimmte Einstellung bei
Ihnen zu erschleichen. Ich wollte nur die Einschränkung meines Materials
rechtfertigen.

Bedeutsamer erscheint mir allerdings eine andere Tatsache, daß ich
nämlich während meiner ungefähr siebenundzwanzigjährigen Tätigkeit als
Analytiker niemals in die Lage gekommen bin, bei einem meiner Patienten
einen richtigen telepathischen Traum mitzuerleben. Die Menschen, an
denen ich arbeitete, waren doch eine gute Sammlung von schwer
neuropathischen und »hochsensitiven« Naturen; viele unter ihnen haben
mir die merkwürdigsten Vorkommnisse aus ihrem früheren Leben erzählt,
auf die sie ihren Glauben an geheimnisvolle okkulte Einflüsse stützten.
Ereignisse wie Unfälle, Erkrankungen naher Angehöriger, insbesondere
Todesfälle eines Elternteiles, haben sich während der Kur oft genug
zugetragen und dieselbe unterbrochen, aber nicht ein einziges Mal
verschafften mir diese ihrem Wesen nach so geeigneten Zufälle die
Gelegenheit, eines telepathischen Traumes habhaft zu werden, obwohl die
Kur sich über halbe, ganze Jahre und eine Mehrzahl von Jahren ausdehnte.
Um die Erklärung dieser Tatsache, die wiederum eine Einschränkung meines
Materials mit sich bringt, möge sich bemühen, wer immer will. Sie werden
sehen, daß sie selbst für den Inhalt meiner Mitteilung nicht in Betracht
kommt.

Ebensowenig kann mich die Frage in Verlegenheit bringen, warum ich nicht
aus der reichen Fülle der in der Literatur niedergelegten telepathischen
Träume geschöpft habe. Ich hätte nicht lange zu suchen gehabt, da mir
die Veröffentlichungen der englischen wie der amerikanischen Society for
Psychical Research als deren Mitglied zu Gebote stehen. In all diesen
Mitteilungen wird eine analytische Würdigung der Träume, wie sie uns in
erster Linie interessieren muß, niemals versucht[1]. Anderseits werden
Sie bald einsehen, daß den Absichten dieser Mitteilung auch durch ein
einziges Traumbeispiel Genüge geleistet wird.

  [1] In zwei Schriften des oben genannten Autors _W. Stekel_ (»Der
  telepathische Traum«, Berlin, ohne Jahreszahl und »Die Sprache des
  Traumes«, zweite Auflage 1922) finden sich wenigstens Ansätze zur
  Anwendung der analytischen Technik auf angeblich telepathische Träume.
  Der Autor bekennt sich zum Glauben an die Realität der Telepathie.

Mein Material besteht also einzig und allein aus zwei Berichten, die ich
von Korrespondenten aus Deutschland erhalten habe. Die Betreffenden sind
mir persönlich nicht bekannt, sie geben aber Namen und Wohnort an; ich
habe nicht den mindesten Grund an eine irreführende Absicht der
Schreiber zu glauben.

I. Mit dem einen der beiden stand ich schon früher in Briefverkehr; er
war so liebenswürdig, mir, wie es auch viele andere Leser tun,
Beobachtungen aus dem Alltagsleben und ähnliches mitzuteilen. Diesmal
stellt der offenbar gebildete und intelligente Mann mir sein Material
ausdrücklich zur Verfügung, wenn ich es »literarisch verwerten« wollte.

Sein Brief lautet:

    »Nachstehenden Traum halte ich für interessant genug, um ihn Ihnen
    als Material für Ihre Studien zu liefern.

    Vorausschicken muß ich: Meine Tochter, die in _Berlin_ verheiratet
    ist, erwartet Mitte Dezember d. J. ihre erste Niederkunft. Ich
    beabsichtige, mit meiner (zweiten) Frau, der Stiefmutter meiner
    Tochter, um diese Zeit nach Berlin zu fahren. In der Nacht vom 16.
    auf 17. November träume ich, und zwar so lebhaft und anschaulich wie
    sonst nie, daß meine Frau Zwillinge geboren hat. Ich sehe die beiden
    prächtig ausschauenden Kinder mit ihren roten Pausbacken deutlich
    nebeneinander in ihrem Bettchen liegen, das Geschlecht stelle ich
    nicht fest, das eine mit semmelblondem Haar trägt deutlich meine
    Züge, gemischt mit Zügen meiner Frau, das andere mit kastanienbraunem
    Haar, trägt deutlich die Züge meiner Frau, gemischt mit Zügen von
    mir. Ich sage zu meiner Frau, die rotblondes Haar hat, wahrscheinlich
    wird das kastanienbraune Haar »deines« Kindes später auch rot
    werden. Meine Frau gibt den Kindern die Brust. Sie hatte in einer
    Waschschüssel Marmelade gekocht (auch Traum) und beide Kinder
    klettern auf allen vieren in der Schüssel herum und lecken sie aus.

    Dies der Traum. Vier- oder fünfmal bin ich dabei halb erwacht, frage
    mich, ob es wahr ist, daß wir Zwillinge bekommen haben, komme aber
    doch nicht mit voller Sicherheit zu dem Ergebnis, daß ich nur
    geträumt habe. Der Traum dauert bis zum Erwachen und auch danach
    dauert es eine Weile, bis ich mir über die Wahrheit klar geworden
    bin. Beim Kaffee erzähle ich meiner Frau den Traum, der sie sehr
    belustigt. Sie meint: Ilse (meine Tochter) wird doch nicht etwa
    Zwillinge bekommen? Ich erwidere: Das kann ich mir kaum denken, denn
    weder in meiner noch in Gs. (ihres Mannes) Familie sind Zwillinge
    heimisch. Am 18. November früh zehn Uhr erhalte ich ein nachmittags
    vorher aufgegebenes Telegramm meines Schwiegersohnes, in dem er mir
    die Geburt von Zwillingen, eines Knaben und eines Mädchens anzeigt.
    Die Geburt ist also in der Zeit vor sich gegangen, wo ich träumte,
    daß meine Frau Zwillinge bekommen habe. Die Niederkunft ist vier
    Wochen früher erfolgt, als wir alle auf Grund der Vermutungen meiner
    Tochter und ihres Mannes annahmen.

    Und nun weiter: In der nächsten Nacht träume ich, meine verstorbene
    Frau, die Mutter meiner Tochter, habe achtundvierzig neugeborene
    Kinder in Pflege genommen. Als das erste Dutzend eingeliefert wird,
    protestiere ich. Damit endet der Traum.

    Meine verstorbene Frau war sehr kinderlieb. Oft sprach sie davon,
    daß sie eine ganze Schar um sich haben möchte, je mehr desto
    lieber, daß sie sich als Kindergärtnerin ganz besonders eignen
    und wohlfühlen würde. Kinderlärm und Geschrei war ihr Musik.
    Gelegentlich lud sie auch einmal eine ganze Schar Kinder aus der
    Straße und traktierte sie auf dem Hof unserer Villa mit Schokolade
    und Kuchen. Meine Tochter hat nach der Entbindung und besonders nach
    der Überraschung durch das vorzeitige Eintreten, durch die Zwillinge
    und die Verschiedenheit des Geschlechts gewiß gleich an ihre Mutter
    gedacht, von der sie wußte, daß sie das Ereignis mit lebhafter
    Freude und Anteilnahme aufnehmen werde. »Was würde erst Mutti sagen,
    wenn sie jetzt an meinem Wochenbett stände?« Dieser Gedanke ist ihr
    zweifellos durch den Kopf gegangen. Und ich träume nun diesen Traum
    von meiner verstorbenen ersten Frau, von der ich sehr selten träume,
    nach dem ersten Traum aber auch nicht gesprochen und mit keinem
    Gedanken an sie gedacht habe.

    Halten Sie das Zusammentreffen von Traum und Ereignis in beiden
    Fällen für Zufall? Meine Tochter, die sehr an mir hängt, hat in
    ihrer schweren Stunde sicher besonders an mich gedacht, wohl auch,
    weil ich oft mit ihr über Verhalten in der Schwangerschaft
    korrespondiert und ihr immer wieder Ratschläge gegeben habe.«

Es ist leicht zu erraten, was ich auf diesen Brief antwortete. Es tat
mir leid, daß auch bei meinem Korrespondenten das analytische Interesse
vom telepathischen so völlig erschlagen worden war; ich lenkte also von
seiner direkten Frage ab, bemerkte, daß der Traum auch sonst noch
allerlei enthielt, außer seiner Beziehung zur Zwillingsgeburt, und bat,
mir jene Auskünfte und Einfälle mitzuteilen, die mir eine Deutung des
Traumes ermöglichen könnten.

Daraufhin erhielt ich den nachstehenden zweiten Brief, der meine Wünsche
freilich nicht ganz befriedigte:

    »Erst heute komme ich dazu, Ihren freundlichen Brief vom 24. d. M.
    zu beantworten. Ich will Ihnen gern »lückenlos und rückhaltlos« alle
    Assoziationen, auf die ich komme, mitteilen. Leider ist es nicht
    viel geworden, bei einer mündlichen Aussprache käme mehr heraus.

    Also! Meine Frau und ich wünschen uns keine Kinder mehr. Wir
    verkehren auch so gut wie gar nicht geschlechtlich miteinander,
    wenigstens lag zur Zeit des Traumes keinerlei »Gefahr« vor. Die
    Niederkunft meiner Tochter, die Mitte Dezember erwartet wurde, war
    natürlich öfter Gegenstand unserer Unterhaltung. Meine Tochter
    war im Sommer untersucht und geröntgt worden, dabei stellte der
    Untersuchende fest, daß es ein Junge werde. Meine Frau äußerte
    gelegentlich: »Ich würde lachen, wenn es nun doch ein Mädchen
    würde.« Sie meinte auch gelegentlich, es wäre besser, wenn es ein
    H. als ein G. (Name meines Schwiegersohnes) würde, meine Tochter
    ist hübscher und stattlicher in der Figur als mein Schwiegersohn,
    obgleich er Marineoffizier war. Ich beschäftigte mich mit
    Vererbungsfragen und habe die Gewohnheit, mir kleine Kinder darauf
    anzusehen, wem sie gleichen. Noch eins! Wir haben ein kleines
    Hündchen, das abends mit am Tisch sitzt, sein Futter bekommt und
    Teller und Schüsseln ausleckt. All dieses Material kehrt im Traum
    wieder.

    Ich habe kleine Kinder gern und schon oft gesagt, ich möchte noch
    einmal so ein Wesen aufziehen, jetzt wo man es mit sehr viel mehr
    Verständnis, Interesse und Ruhe vermag, aber mit meiner Frau, die
    nicht die Fähigkeiten zur vernünftigen Erziehung eines Kindes
    besitzt, möchte ich keins zusammen haben. Nun beschert mir der Traum
    zwei -- das Geschlecht habe ich nicht festgestellt. Ich sehe sie
    noch heute im Bett liegen und erkenne scharf die Züge, das eine
    mehr »Ich«, das andere mehr meine Frau, jedes aber kleine Züge vom
    andern Teil. Meine Frau hat rotblondes Haar, eines der Kinder aber
    kastanien(rotes) braunes. Ich sage: »Na, das wird später auch
    noch rot werden.« Die beiden Kinder kriechen in einer großen
    Waschschüssel, in der meine Frau Marmelade gerührt hat, herum und
    lecken den Boden und die Ränder ab (Traum). Die Herkunft dieses
    Details ist leicht erklärlich, wie der Traum überhaupt nicht schwer
    verständlich und deutbar ist, wenn er nicht mit dem wider Erwarten
    frühen Eintreten der Geburt meiner Enkel (drei Wochen zu früh)
    zeitlich fast auf die Stunde (genau kann ich nicht sagen, wann der
    Traum begann, um neun und viertel zehn wurden meine Enkel geboren,
    um elf etwa ging ich zu Bett und nachts träumte ich) zusammengetroffen
    wäre und wir nicht schon vorher gewußt hätten, daß es ein Junge
    werden würde. Freilich kann wohl der Zweifel, ob die Feststellung
    richtig gewesen sei -- Junge oder Mädchen -- im Traume Zwillinge
    auftreten lassen, es bleibt aber immer noch das zeitliche
    Zusammentreffen des Traumes von den Zwillingen mit dem unerwarteten
    und drei Wochen zu frühen Eintreffen von Zwillingen bei meiner
    Tochter.

    Es ist nicht das erste Mal, daß Ereignisse in der Ferne sich mir
    bewußt machen, ehe ich die Nachricht erhalte. Eines unter
    zahlreichen! Im Oktober besuchten mich meine drei Brüder. Wir haben
    uns seit dreißig Jahren nicht wieder zusammen (der eine den andern
    natürlich öfter) gesehen, nur einmal ganz kurz beim Begräbnis meines
    Vaters und dem meiner Mutter. Beider Tod war zu erwarten, in keinem
    Falle habe ich »vorgefühlt«. Aber als vor zirka fünfundzwanzig
    Jahren mein jüngster Bruder im zehnten Lebensjahr plötzlich und
    unerwartet starb, kam mir, als mir der Briefbote die Postkarte mit
    der Nachricht von seinem Tode übergab, ohne daß ich einen Blick
    darauf geworfen hatte, sofort der Gedanke: Da steht darauf, daß dein
    Bruder gestorben ist. Er war doch allein im Elternhaus, ein
    kräftiger gesunder Bub, während wir vier älteren Brüder alle vom
    Elternhaus schon flügge geworden und abwesend waren. Zufällig kam
    das Gespräch beim Besuch meiner Brüder jetzt auf dieses mein
    Erlebnis damals, und alle drei Brüder kamen nun wie auf Kommando
    mit der Erklärung heraus, daß ihnen damals genau dasselbe passiert
    sei wie mir. Ob auf dieselbe Weise, kann ich nicht mehr sagen,
    jedenfalls erklärte jeder, den Tod vorher als Gewißheit im Gefühl
    gehabt zu haben, ehe die bald darauf eintreffende und gar nicht zu
    erwartende Nachricht ihn angezeigt hatte. Wir sind alle vier von
    Mutters Seite her sensible Naturen, große kräftige Menschen dabei,
    aber keiner etwa spiritistisch oder okkultistisch angehaucht, im
    Gegenteil, wir lehnen beides entschieden ab. Meine Brüder sind alle
    drei Akademiker, zwei Gymnasiallehrer, einer Oberlandmesser, eher
    Pedanten als Phantasten. -- Das ist alles, was ich Ihnen zum Traum
    zu sagen weiß. Wenn Sie ihn etwa literarisch verwerten wollen,
    stelle ich ihn gern zur Verfügung.«

Ich muß befürchten, daß Sie sich ähnlich verhalten werden wie der
Schreiber der beiden Briefe. Auch Sie werden sich vor allem dafür
interessieren, ob man diesen Traum wirklich als eine telepathische
Anzeige der unerwarteten Zwillingsgeburt auffassen darf, und gar nicht
dazu geneigt sein, ihn wie einen anderen der Analyse zu unterziehen.
Ich sehe voraus, daß es immer so sein wird, wenn Psychoanalyse und
Okkultismus zusammenstoßen. Die erstere hat sozusagen alle seelischen
Instinkte gegen sich, dem letzteren kommen starke, dunkle Sympathien
entgegen. Ich werde aber nicht den Standpunkt einnehmen, ich sei nichts
als ein Psychoanalytiker, die Fragen des Okkultismus gehen mich nichts
an; das würden Sie doch nur als Problemflüchtigkeit beurteilen. Sondern,
ich behaupte, daß es mir ein großes Vergnügen wäre, wenn ich mich und
andere durch untadelige Beobachtungen von der Existenz telepathischer
Vorgänge überzeugen könnte, daß aber die Mitteilungen zu diesem Traum
viel zu unzulänglich sind, um eine solche Entscheidung zu rechtfertigen.
Sehen Sie, dieser intelligente und an den Problemen seines Traumes
interessierte Mann denkt nicht einmal daran, uns anzugeben, wann er die
ein Kind erwartende Tochter zuletzt gesehen oder welche Nachrichten er
kürzlich von ihr erhalten; er schreibt im ersten Brief, daß die Geburt
um einen Monat verfrüht kam, im zweiten sind es aber nur drei Wochen
und in keinem erhalten wir Auskunft darüber, ob die Geburt wirklich
vorzeitig erfolgte, oder ob sich die Beteiligten, wie es so häufig
vorkommt, verrechnet hatten. Von diesen und anderen Details der
Begebenheit würden wir aber abhängen, wenn wir die Wahrscheinlichkeit
eines dem Träumer unbewußten Abschätzens und Erratens zu erwägen hätten.
Ich sagte mir auch, es würde nichts nützen, wenn ich auf einige solcher
Anfragen Antwort bekäme. Im Laufe des angestrebten Beweisverfahrens
würden doch immer neue Zweifel auftauchen, die nur beseitigt werden
könnten, wenn man den Mann vor sich hätte und alle die dazugehörigen
Erinnerungen bei ihm auffrischen würde, die er vielleicht als
unwesentlich beiseite geschoben hat. Er hat gewiß Recht, wenn er zu
Anfang seines zweiten Briefes sagt, bei einer mündlichen Aussprache wäre
mehr herausgekommen.

Denken Sie an einen anderen, ähnlichen Fall, an dem das störende
okkultistische Interesse gar keinen Anteil hat. Wie oft sind Sie in die
Lage gekommen, die Anamnese und den Krankheitsbericht, den Ihnen ein
beliebiger Neurotiker in der ersten Besprechung gab, mit dem zu
vergleichen, was Sie nach einigen Monaten Psychoanalyse von ihm erfahren
haben. Von der begreiflichen Verkürzung abgesehen, wieviel wesentliche
Mitteilungen hat er ausgelassen oder unterdrückt, wieviel Beziehungen
verschoben, im Grunde: wieviel Unrichtiges und Unwahres hat er Ihnen das
erste Mal erzählt! Ich glaube, Sie werden mich nicht für überbedenklich
erklären, wenn ich unter den uns vorliegenden Verhältnissen es ablehne,
darüber zu urteilen, ob der uns mitgeteilte Traum einer telepathischen
Tatsache entspricht oder einer besonders feinen unbewußten Leistung des
Träumers oder einfach als ein zufälliges Zusammentreffen hingenommen
werden muß. Unsere Wißbegierde werden wir auf eine spätere Gelegenheit
vertrösten, in der uns eine eingehende, mündliche Ausforschung des
Träumers vergönnt sein mag. Sie können aber nicht sagen, daß dieser
Ausgang unserer Untersuchung Sie enttäuscht hat, denn ich hatte Sie
darauf vorbereitet, Sie würden nichts erfahren, was auf das Problem der
Telepathie Licht wirft.

Wenn wir jetzt zur analytischen Behandlung dieses Traumes übergehen, so
müssen wir von neuem unser Mißvergnügen bekennen. Das Material von
Gedanken, die der Träumer an den manifesten Trauminhalt anknüpft, ist
wiederum ungenügend; damit können wir keine Traumanalyse machen. Der
Traum verweilt z. B. ausführlich bei der Ähnlichkeit der Kinder mit den
Eltern, erörtert deren Haarfarbe und die voraussichtliche Wandlung
derselben in späteren Zeiten, und zur Aufklärung dieser breit
ausgesponnenen Details haben wir nur die dürftige Auskunft des Träumers,
er habe sich immer für Fragen der Ähnlichkeit und Vererbung
interessiert; da sind wir doch gewohnt, weitergehende Ansprüche zu
stellen! Aber an _einer_ Stelle gestattet der Traum eine analytische
Deutung, gerade hier kommt die Analyse, die sonst nichts mit dem
Okkultismus zu tun hat, der Telepathie in merkwürdiger Weise zur Hilfe.
Dieser einen Stelle wegen nehme ich überhaupt Ihre Aufmerksamkeit für
diesen Traum in Anspruch.

Wenn Sie es recht ansehen, so hat ja dieser Traum auf den Namen eines
»telepathischen« gar kein Anrecht. Er teilt dem Träumer nichts mit, was
sich -- seinem sonstigen Wissen entzogen -- gleichzeitig an einem
anderen Orte vollzieht, sondern was der Traum erzählt, ist etwas ganz
anderes als das Ereignis, von dem ein Telegramm am zweiten Tag nach der
Traumnacht berichtet. Traum und Ereignis weichen in einem ganz besonders
wichtigen Punkt voneinander ab, nur stimmen sie, von der Gleichzeitigkeit
abgesehen, in einem anderen, sehr interessanten Element zusammen. Im
Traum hat die _Frau_ des Träumers Zwillinge bekommen. Das Ereignis besteht
aber darin, daß seine entfernt lebende _Tochter_ Zwillinge geboren hat.
Der Träumer übersieht diesen Unterschied nicht, er scheint keinen Weg zu
kennen, über ihn hinwegzukommen, und da er nach seiner eigenen Angabe
keine okkultistische Vorliebe hat, fragt er nur ganz schüchtern an, ob
das Zusammentreffen von Traum und Ereignis im Punkte der Zwillingsgeburt
mehr als ein Zufall sein kann. Die psychoanalytische Traumdeutung hebt
aber diesen Unterschied zwischen Traum und Ereignis auf und gibt beiden
den nämlichen Inhalt. Ziehen wir das Assoziationsmaterial zu diesem
Traum zu Rate, so zeigt es uns trotz seiner Spärlichkeit, daß hier eine
innige Gefühlsbindung zwischen Vater und Tochter besteht, eine
Gefühlsbindung, die so gewöhnlich und natürlich ist, daß man aufhören
sollte, sich ihrer zu schämen, die im Leben gewiß nur als zärtliches
Interesse zum Ausdruck kommt und ihre letzten Konsequenzen erst im
Traume zieht. Der Vater weiß, daß die Tochter sehr an ihm hängt, er ist
überzeugt, daß sie in ihrer schweren Stunde viel an ihn gedacht hat;
ich meine, im Grunde gönnt er sie dem Schwiegersohn nicht, den er im
Briefe mit einigen abschätzigen Bemerkungen streift. Beim Anlaß ihrer
(erwarteten oder telepathisch vernommenen) Niederkunft wird im
Verdrängten der unbewußte Wunsch rege: Sie sollte lieber meine (zweite)
Frau sein, und dieser Wunsch ist es, der den Traumgedanken entstellt
und den Unterschied zwischen dem manifesten Trauminhalt und dem Ereignis
verschuldet. Wir haben das Recht, für die zweite Frau im Traume die
Tochter einzusetzen. Besäßen wir mehr Material zum Traum, so würden wir
diese Deutung gewiß versichern und vertiefen können.

Und nun bin ich bei dem, was ich Ihnen zeigen wollte. Wir haben uns der
strengsten Unparteilichkeit bemüht und zwei Auffassungen des Traumes als
gleich möglich und gleich unbewiesen gelten gelassen. Nach der ersten
ist der Traum die Reaktion auf eine telepathische Botschaft: Deine
Tochter bringt eben jetzt Zwillinge zur Welt. Nach der zweiten liegt ihm
eine unbewußte Gedankenarbeit zugrunde, die sich etwa derart übersetzen
ließe: Heute ist ja der Tag, an dem die Entbindung eintreten müßte, wenn
sich die jungen Leute in Berlin wirklich um einen Monat verrechnet
haben, wie ich eigentlich glaube. Und wenn meine (erste) Frau noch leben
würde, die wäre doch mit _einem_ Enkelkind nicht zufrieden! Für sie
müßten es mindestens Zwillinge sein. Hat diese zweite Auffassung Recht,
so entstehen keine neuen Probleme für uns. Es ist eben ein Traum wie ein
anderer. Zu den erwähnten (vorbewußten) Traumgedanken ist der (unbewußte)
Wunsch hinzugetreten, daß keine andere als die Tochter die zweite Frau
des Träumers hätte werden sollen, und so ist der uns mitgeteilte
manifeste Traum entstanden.

Wollen Sie aber lieber annehmen, daß die telepathische Botschaft von der
Entbindung der Tochter an den Schlafenden herangetreten ist, so erheben
sich neue Fragen nach der Beziehung einer solchen Botschaft zum Traum
und nach ihrem Einfluß auf die Traumbildung. Die Antwort liegt dann sehr
nahe und ist ganz eindeutig zu geben. Die telepathische Botschaft wird
behandelt wie ein Stück des Materials zur Traumbildung, wie ein anderer
Reiz von außen oder innen, wie ein störendes Geräusch von der Straße,
wie eine aufdringliche Sensation von einem Organ des Schlafenden. In
unserem Beispiel ist es ersichtlich, wie sie mit Hilfe eines lauernden,
verdrängten Wunsches zur Wunscherfüllung umgearbeitet wird, und leider
weniger deutlich zu zeigen, daß sie mit anderem gleichzeitig rege
gewordenem Material zu einem Traum verschmilzt. Die telepathische
Botschaft -- wenn eine solche wirklich anzuerkennen ist -- kann also an
der Traumbildung nichts ändern, die Telepathie hat mit dem Wesen des
Traumes nichts zu tun. Und um den Eindruck zu vermeiden, daß ich hinter
einem abstrakten und vornehm klingenden Wort eine Unklarheit verbergen
möchte, bin ich bereit zu wiederholen: Das Wesen des Traumes besteht in
dem eigentümlichen Prozeß der Traumarbeit, welcher vorbewußte Gedanken
(Tagesreste) mit Hilfe einer unbewußten Wunschregung in den manifesten
Trauminhalt überführt. Das Problem der Telepathie geht aber den Traum so
wenig an wie das Problem der Angst.

Ich hoffe, Sie werden das zugeben, mir aber bald einwenden, es gibt doch
auch andere telepathische Träume, in denen kein Unterschied zwischen
Ereignis und Traum besteht, und in denen nichts anders zu finden ist
als die unentstellte Wiedergabe des Ereignisses. Ich kenne solche
telepathische Träume wieder nicht aus eigener Erfahrung, weiß aber,
daß sie häufig berichtet worden sind. Nehmen wir an, wir hätten es mit
einem solchen unentstellten und unvermischten telepathischen Traum zu
tun, dann erhebt sich eine andere Frage: Soll man ein derartiges,
telepathisches Erlebnis überhaupt einen »Traum« nennen? Sie werden es
ja gewiß tun, solange Sie mit dem populären Sprachgebrauch gehen, für
den alles Träumen heißt, was sich während der Schlafzeit in Ihrem
Seelenleben ereignet. Sie sagen vielleicht auch: Ich habe mich im Traum
herumgewälzt und finden erst recht keine Inkorrektheit darin zu sagen:
Ich habe im Traum geweint oder mich im Traum geängstigt. Aber Sie merken
doch wohl, daß Sie in all diesen Fällen »Traum« und »Schlaf« oder
»Schlafzustand« unterscheidungslos miteinander vertauschen. Ich meine,
es wäre im Interesse wissenschaftlicher Genauigkeit, wenn wir »Traum«
und »Schlafzustand« besser auseinanderhielten. Warum sollten wir ein
Seitenstück zu der von _Maeder_ heraufbeschworenen Konfusion schaffen,
der für den Traum eine neue Funktion entdeckte, indem er die Traumarbeit
durchaus nicht von den latenten Traumgedanken sondern wollte? Wenn wir
also einen solchen reinen telepathischen »Traum« antreffen sollten, so
wollen wir ihn doch lieber ein telepathisches Erlebnis im Schlafzustand
heißen. Ein Traum ohne Verdichtung, Entstellung, Dramatisierung, vor
allem ohne Wunscherfüllung, verdient ja doch nicht diesen Namen. Sie
werden mich daran mahnen, daß es noch andere seelische Produktionen im
Schlaf gibt, denen man dann das Recht auf den Namen »Traum« absprechen
müßte. Es kommt vor, daß reale Erlebnisse des Tages im Schlaf einfach
wiederholt werden, die Reproduktionen traumatischer Szenen im
»Traume« haben uns erst kürzlich zu einer Revision der Traumtheorie
herausgefordert; es gibt Träume, die sich durch ganz besondere
Eigenschaften von der gewohnten Art unterscheiden, die eigentlich nichts
anders sind als unversehrte und unvermengte nächtliche Phantasien, den
bekannten Tagesphantasien sonst durchaus ähnlich. Es wäre gewiß mißlich,
diese Bildungen von der Bezeichnung »Träume« auszuschließen. Aber sie
alle kommen doch von innen, sind Produkte unseres Seelenlebens, während
der reine »telepathische Traum« seinem Begriff nach eine Wahrnehmung von
außen wäre, gegen welche sich das Seelenleben rezeptiv und passiv
verhielte.

II. Der zweite Fall, von dem ich Ihnen berichten will, liegt eigentlich
auf einer anderen Linie. Er bringt uns keinen telepathischen Traum,
sondern einen seit Kindheitsjahren rekurrierenden Traum bei einer
Person, die viel telepathische Erlebnisse gehabt hat. Ihr Brief, den ich
nachstehend wiedergebe, enthält manches Merkwürdige, worüber uns zu
urteilen versagt ist. Einiges davon kann für das Verhältnis der
Telepathie zum Traum verwertet werden.


1.

    »... Mein Arzt, Herr Doktor N., riet mir, Ihnen einen Traum zu
    erzählen, der mich seit ungefähr dreißig bis zweiunddreißig Jahren
    verfolgt. Ich folge seinem Rate, vielleicht hat der Traum in
    wissenschaftlicher Beziehung für Sie Interesse. Da nach Ihrer
    Meinung solche Träume auf ein Erlebnis in sexueller Beziehung
    während der ersten Kinderjahre zurückzuführen sind, gebe ich
    Kindheitserinnerungen wieder, es sind Erlebnisse, die heute noch
    ihren Eindruck auf mich machen und so nachdrücklich gewesen sind,
    daß sie mir meine Religion bestimmt haben.

    Darf ich Sie bitten, mir nach Kenntnisnahme vielleicht mitzuteilen,
    in welcher Weise Sie sich diesen Traum erklären und ob es nicht
    möglich ist, ihn aus meinem Leben verschwinden zu lassen, da er mich
    wie ein Gespenst verfolgt und durch die Umstände, von denen er
    begleitet ist -- ich falle stets aus dem Bette und habe mir schon
    nicht unerhebliche Verletzungen zugezogen -- sehr unangenehm und
    peinlich für mich ist.


2.

    Ich bin siebenunddreißig Jahre alt, sehr kräftig und körperlich
    gesund, habe außer Masern und Scharlach in der Kindheit eine
    Nierenentzündung durchgemacht. Im fünften Jahre hatte ich eine sehr
    schwere Augenentzündung, nach der ein Doppeltsehen zurückblieb.
    Die Bilder stehen schräg zueinander, die Umrisse des Bildes sind
    verwischt, weil Narben von Geschwüren die Klarheit beeinträchtigen.
    Nach fachärztlichem Urteil ist am Auge aber nichts mehr zu ändern
    oder zu bessern. Durch das Zukneifen des linken Auges, um klarer zu
    sehen, hat sich die linke Gesichtshälfte nach oben verzerrt. Ich
    vermag, durch Übung und Wille, die feinsten Handarbeiten zu machen;
    ebenso habe ich mir als sechsjähriges Kind das schiefe Sehen vor dem
    Spiegel weggelernt, so daß heute von dem Augenfehler äußerlich
    nichts zu sehen ist.

    In den frühesten Kinderjahren schon bin ich immer einsam gewesen,
    habe mich von allen Kindern zurückgezogen und habe schon Gesichte
    gehabt (hellhören und hellsehen), habe das aber von der Wirklichkeit
    nicht unterscheiden können und bin deshalb oft in Konflikte geraten,
    die aus mir einen sehr zurückhaltenden, scheuen Menschen gemacht
    haben. Da ich schon als kleinstes Kind viel mehr gewußt habe, als
    ich hatte lernen können, verstand ich einfach die Kinder meines
    Alters nicht mehr. Ich selbst bin die älteste von zwölf
    Geschwistern.

    Von sechs bis zehn Jahren besuchte ich die Gemeindeschule und dann
    bis sechzehn Jahre die höhere Schule der Ursulinerinnen in B. Mit
    zehn Jahren habe ich innerhalb vier Wochen, es waren acht
    Nachhilfestunden, soviel Französisch nachgeholt, als andere Kinder
    in zwei Jahren lernen. Ich hatte nur zu repetieren, es war, als ob
    ich es schon gelernt und nur vergessen hätte. Überhaupt habe ich
    auch später Französisch nie zu lernen brauchen, im Gegensatz zu
    Englisch, das mir zwar keine Mühe machte, das mir aber unbekannt
    war. Ähnlich wie mit Französisch ging es mir mit Latein, das ich
    eigentlich nie richtig gelernt habe, sondern nur vom Kirchenlatein
    her kenne, das mir aber vollkommen vertraut ist. Lese ich heute ein
    französisches Werk, dann denke ich auch sofort in Französisch,
    während mir das bei Englisch nie passiert, trotzdem ich englisch
    besser beherrsche. -- Meine Eltern sind Bauersleute, die durch
    Generationen nie andere Sprachen als deutsch und polnisch gesprochen
    haben.

    _Gesichte_: Zuweilen verschwindet für Augenblicke die Wirklichkeit
    und ich sehe etwas ganz anderes. In meiner Wohnung sehe ich z. B.
    sehr oft ein altes Ehepaar und ein Kind, die Wohnung hat dann andere
    Einrichtung. -- Noch in der Heilanstalt kam früh gegen vier Uhr
    meine Freundin in mein Zimmer, ich war wach, hatte die Lampe brennen
    und saß am Tische lesend, da ich sehr viel an Schlaflosigkeit leide.
    Stets bedeutet diese Erscheinung für mich Ärger, auch dieses Mal.

    Im Jahre 1914 war mein Bruder im Felde, ich nicht bei den Eltern in
    B., sondern in Ch. Es war vormittags 10 Uhr, 22. August, da hörte
    ich »Mutter, Mutter« von der Stimme meines Bruders rufen. Nach zehn
    Minuten nochmals, habe aber _nichts_ gesehen. Am 24. August kam ich
    heim, fand Mutter bedrückt und auf Befragen erklärte sie, der Junge
    hätte sich am 22. August angemeldet. Sie sei vormittags im Garten
    gewesen, da hätte sie den Jungen »Mutter, Mutter« rufen hören. Ich
    tröstete sie und sagte ihr nichts von mir. Drei Wochen darauf kam
    eine Karte meines Bruders an, die er am 22. August zwischen neun und
    zehn Uhr vormittags geschrieben hatte, kurz darauf starb er.

    Am 27. September 1921 meldete sich mir etwas in der Heilanstalt an.
    Es wurde zwei- bis dreimal an das Bett meiner Zimmerkollegin heftig
    geklopft. Wir waren beide wach, ich fragte, ob sie geklopft hätte,
    sie hatte nicht einmal etwas gehört. Nach acht Wochen hörte ich,
    daß eine meiner Freundinnen in der Nacht vom 26. auf 27. gestorben
    wäre.

    Nun etwas, was Sinnestäuschung sein soll, Ansichtssache! Ich habe
    eine Freundin, die sich einen Witwer mit fünf Kindern geheiratet
    hat, den Mann lernte ich erst durch meine Freundin kennen. In deren
    Wohnung sehe ich fast jedes Mal, wenn ich bei ihr bin, eine Dame
    aus- und eingehen. Die Annahme lag nahe, daß das die erste Frau des
    Mannes sei. Ich fragte gelegentlich nach einem Bilde, konnte aber
    nach der Photographie die Erscheinung nicht identifizieren. Nach
    sieben Jahren sehe ich bei einem der Kinder ein Bild mit den Zügen
    der Dame. Es war doch die erste Frau. Auf dem ersten Bilde sah sie
    bedeutend besser aus, sie hatte gerade eine Mastkur durchgemacht und
    daher das für eine Lungenkranke veränderte Aussehen. -- Das sind nur
    Beispiele von vielen.

    _Der Traum_: Ich sehe eine Landzunge, von Wasser umgeben. Die Wellen
    werden von der Brandung herangetrieben und wieder zurückgerissen.
    Auf der Landzunge steht eine Palme, die etwas zum Wasser gebogen
    ist. Um den Stamm der Palme schlingt eine Frau ihren Arm und beugt
    sich ganz tief ins Wasser, wo ein Mann versucht, an Land zu kommen.
    Zuletzt legt sie sich auf die Erde, hält sich mit der Linken an der
    Palme fest und reicht, so weit wie möglich, ihre Rechte dem Manne
    ins Wasser, ohne ihn zu erreichen. Dabei falle ich aus dem Bette und
    wache auf. -- Ich war ungefähr fünfzehn bis sechzehn Jahre, als ich
    wahrnahm, daß ich ja selbst diese Frau sei und nun erlebte ich nicht
    nur die Angst der Frau um den Mann, sondern stand manchmal auch als
    unbeteiligte Dritte dabei und sah zu. Auch in Etappen träumte ich
    dieses Erlebnis. Wie das Interesse am Manne wach wurde (achtzehn bis
    zwanzig Jahre), versuchte ich das Gesicht des Mannes zu erkennen, es
    war mir nie möglich. Die Gischt ließ nur Nacken und Hinterkopf frei.
    Ich bin zweimal verlobt gewesen, aber dem Kopf und Körperbau nach
    war es keiner dieser beiden Männer. -- Als ich in der Heilanstalt
    einmal im Paraldehydrausche lag, sah ich das Gesicht des Mannes, das
    ich nunmehr in jedem Traume sehe. Es ist das des mich in der Anstalt
    behandelnden Arztes, der mir wohl als Arzt sympathisch ist, mit dem
    mich aber nichts verbindet.

    _Erinnerungen_: ½ bis ¾ Jahr alt. Ich im Kinderwagen, rechts mir
    zur Seite zwei Pferde, das eine, ein Brauner, sieht mich groß und
    eindrucksvoll an. Das ist das stärkste Erlebnis, ich hatte das
    Gefühl, es sei ein Mensch.

    _Ein Jahr alt._ Vater und ich im Stadtparke, wo mir ein Parkwärter
    ein Vögelchen in die Hand gibt. Seine Augen sehen mich wieder an,
    ich fühle, das ist ein Wesen wie du.

    _Hausschlachtungen._ Beim Quieken der Schweine habe ich stets um
    Hilfe geschrien und immer gerufen: Ihr schlagt ja einen Menschen
    tot (vier Jahre alt). Ich habe Fleisch als Nahrungsmittel stets
    abgelehnt. Schweinefleisch hat mir stets Erbrechen verursacht. Erst
    im Kriege habe ich Fleisch essen gelernt, aber nur mit Widerwillen,
    jetzt entwöhne ich mich dessen wieder.

    _Fünf Jahre alt._ Mutter kam nieder und ich hörte sie schreien. Ich
    hatte die Empfindung, dort ist ein Tier oder Mensch in höchster Not,
    ebenso wie ich es bei den Schlachtungen hatte.

    In sexueller Beziehung bin ich als Kind ganz indifferent gewesen,
    mit zehn Jahren gingen Sünden wider die Keuschheit noch nicht in
    mein Begriffsvermögen. Mit zwölf Jahren wurde ich menstruiert. Mit
    sechsundzwanzig Jahren, nachdem ich einem Kinde das Leben gegeben
    hatte, erwachte erst das Weib in mir, bis dahin (ein halbes Jahr)
    hatte ich beim Koitus stets heftiges Erbrechen. Auch später trat
    Erbrechen ein, wenn die kleinste Verstimmung mich bedrückte.

    Ich habe eine außerordentlich scharfe Beobachtungsgabe und ein
    ganz ausnahmsweise scharfes Gehör, Geruch ist ebenso ausgebildet.
    Bekannte Menschen kann ich mit verbundenen Augen unter einem Haufen
    anderer herausriechen.

    Ich führe mein Mehrsehen und Hören nicht auf krankhaftes Wesen,
    sondern auf feineres Empfinden und schnelleres Kombinationsvermögen
    zurück, habe aber darüber nur mit meinem Religionslehrer und Herrn
    Dr. ... gesprochen, zu letzterem auch nur sehr widerwillig, weil ich
    mich davor scheute, zu hören, daß ich Minuseigenschaften habe, die
    ich persönlich als Pluseigenschaften ansehe, und weil ich durch
    Mißverständnis in meiner Jugend sehr scheu geworden bin.«

Der Traum, dessen Deutung uns die Schreiberin auferlegt, ist nicht
schwer zu verstehen. Es ist ein Traum der Rettung aus dem Wasser, also
ein typischer Geburtstraum. Die Sprache der Symbolik kennt, wie Sie
wissen, keine Grammatik, sie ist das Extrem einer Infinitivsprache, auch
das Aktivum und das Passivum werden durch dasselbe Bild dargestellt.
Wenn im Traum eine Frau einen Mann aus dem Wasser zieht (oder ziehen
will), so kann das heißen, sie will seine Mutter sein (anerkennt ihn als
Sohn wie die Pharaotochter den Moses) oder auch: sie will durch ihn
Mutter werden, einen Sohn von ihm haben, welcher als sein Ebenbild ihm
gleichgesetzt wird. Der Baumstamm, an den die Frau sich hält, ist leicht
als Phallussymbol zu erkennen, auch wenn er nicht gerade steht, sondern
gegen den Wasserspiegel geneigt -- im Traum heißt es: gebogen -- ist.
Das Andrängen und Zurückfluten der Brandung legte einmal einer anderen
Träumerin, die einen ganz ähnlichen Traum produziert hatte, den
Vergleich mit der intermittierenden Wehentätigkeit nahe, und als ich
sie, die noch nie geboren hatte, fragte, woher sie diesen Charakter der
Geburtsarbeit kenne, sagte sie, man stellt sich die Wehen wie eine Art
Kolik vor, was physiologisch ganz untadelig ist. Sie assoziierte dazu:
»Des Meeres und der Liebe Wellen.« Woher unsere Träumerin die feinere
Ausstattung des Symbols in so frühen Jahren genommen haben kann
(Landzunge, Palme), weiß ich natürlich nicht zu sagen. Übrigens
vergessen wir nicht daran: Wenn Personen behaupten, daß sie seit Jahren
von demselben Traum verfolgt werden, so stellt sich oft heraus, daß es
manifester Weise nicht ganz derselbe ist. Nur der Kern des Traumes ist
jedesmal wiedergekehrt, Einzelheiten des Inhalts sind abgeändert worden
oder neu hinzugekommen.

Am Ende dieses offenbar angstvollen Traumes fällt die Träumerin aus
dem Bett. Das ist eine neuerliche Darstellung der Niederkunft. Die
analytische Erforschung der Höhenphobien, der Angst vor dem Impuls, sich
aus dem Fenster zu stürzen, hat Ihnen gewiß allen das nämliche Ergebnis
geliefert.

Wer ist nun der Mann, von dem sich die Träumerin ein Kind wünscht oder
zu dessen Ebenbild sie Mutter sein möchte? Sie hat sich oft bemüht, sein
Gesicht zu sehen, aber der Traum ließ es nicht zu, der Mann sollte
inkognito bleiben. Wir wissen aus ungezählten Analysen, was diese
Verschleierung bedeutet, und unser Analogieschluß wird durch eine andere
Angabe der Träumerin gesichert. In einem Paraldehydrausch erkannte sie
einmal das Gesicht des Mannes im Traum als das des Anstaltsarztes, der
sie behandelte und der ihrem bewußten Gefühlsleben nichts weiter
bedeutete. Das Original hatte sich also nie gezeigt, aber dessen Abdruck
in der »Übertragung« gestattet den Schluß, daß es immer früher der Vater
hätte sein sollen. Wie Recht hatte doch _Ferenczi_, als er auf die
»Träume der Ahnungslosen« als wertvolle Urkunden zur Bestätigung unserer
analytischen Vermutungen hinwies! Unsere Träumerin war die älteste von
zwölf Kindern; wie oft muß sie die Qualen der Eifersucht und
Enttäuschung durchgemacht haben, wenn nicht sie, sondern die Mutter das
ersehnte Kind vom Vater empfing!

Ganz richtig hat unsere Träumerin verstanden, daß ihre ersten
Kindheitserinnerungen für die Deutung ihres frühen und seither
wiederkehrenden Traumes wertvoll sein würden. In der ersten Szene vor
einem Jahr sitzt sie im Kinderwagen, neben ihr zwei Pferde, von denen
eines sie groß und eindrucksvoll ansieht. Sie bezeichnet das ihr
stärkstes Erlebnis, sie hatte das Gefühl, es sei ein Mensch. Wir aber
können uns in diese Wertung nur einfühlen, wenn wir annehmen, zwei
Pferde ständen hier, wie so oft, für ein Ehepaar, für Vater und Mutter.
Es ist dann wie ein Aufblitzen des infantilen Totemismus. Könnten wir
die Schreiberin sprechen, so würden wir die Frage an sie richten, ob
nicht der Vater seiner Farbe nach in dem _braunen_ Pferd, das sie so
menschlich ansieht, erkannt werden darf. Die zweite Erinnerung ist mit
der ersten durch das gleiche »verständnisvolle Ansehen« assoziativ
verknüpft. Aber das Indiehandnehmen des Vögelchens mahnt den Analytiker,
der nun einmal seine Vorurteile hat, an einen Zug des Traumes, der die
Hand der Frau in Beziehung zu einem anderen Phallussymbol bringt.

Die nächsten beiden Erinnerungen gehören zusammen, sie bieten der
Deutung noch geringere Schwierigkeiten. Das Schreien der Mutter bei
ihrer Niederkunft erinnert sie direkt an das Quieken der Schweine bei
einer Hausschlachtung und versetzt sie in dieselbe mitleidige Raserei.
Wir vermuten aber auch, hier liegt eine heftige Reaktion gegen einen
bösen Todeswunsch vor, welcher der Mutter galt.

Mit diesen Andeutungen der Zärtlichkeit für den Vater, der genitalen
Berührungen mit ihm und der Todeswünsche gegen die Mutter ist der Umriß
des weiblichen Ödipuskomplexes gezogen. Die lang bewahrte sexuelle
Unwissenheit und spätere Frigidität entsprechen diesen Voraussetzungen.
Unsere Schreiberin ist virtuell -- und zeitweise gewiß auch faktisch --
eine hysterische Neurotika geworden. Die Mächte des Lebens haben sie zu
ihrem Glück mit sich fortgerissen, ihr weibliches Sexualempfinden,
Mutterglück und mannigfache Erwerbsleistung möglich gemacht, aber ein
Anteil ihrer Libido haftet noch immer an den Fixierungsstellen ihrer
Kindheit, sie träumt noch immer jenen Traum, der sie aus dem Bette wirft
und für die inzestuöse Objektwahl mit »nicht unerheblichen Verletzungen«
bestraft.

Was die stärksten Einflüsse späteren Erlebens nicht zustande brachten,
soll jetzt die briefliche Aufklärung eines fremden Arztes leisten.
Wahrscheinlich würde es einer regelrechten Analyse in längerer Zeit
gelingen. Wie die Verhältnisse liegen, mußte ich mich damit begnügen ihr
zu schreiben, ich sei überzeugt, daß sie an der Nachwirkung einer starken
Gefühlsbindung an den Vater und der entsprechenden Identifizierung mit
der Mutter leide, hoffe aber selbst nicht, daß diese Aufklärung ihr
nützen werde. Spontanheilungen von Neurosen hinterlassen in der Regel
Narben und diese werden von Zeit zu Zeit wieder schmerzhaft. Wir sind
sehr stolz auf unsere Kunst, wenn wir eine Heilung durch Psychoanalyse
vollbracht haben, können aber einen solchen Ausgang in Bildung einer
schmerzhaften Narbe auch nicht immer abwenden.

Die kleine Erinnerungsreihe soll unsere Aufmerksamkeit noch ein wenig
festhalten. Ich habe einmal behauptet, daß solche Kindheitsszenen
»Denkerinnerungen« sind, die zu einer späteren Zeit herausgesucht,
zusammengestellt, und dabei nicht selten verfälscht werden. Mitunter
läßt sich erraten, welcher Tendenz diese späte Umarbeitung dient. In
unserem Falle hört man geradezu das Ich der Schreiberin sich mittels
dieser Erinnerungsreihe rühmen oder beschwichtigen: Ich war von klein
auf ein besonders edles und mitleidiges Menschenkind. Ich habe
frühzeitig erkannt, daß die Tiere ebenso eine Seele haben wie wir und
habe Grausamkeit gegen Tiere nicht vertragen. Die Sünden des Fleisches
sind mir fern geblieben und meine Keuschheit habe ich bis in späte Jahre
bewahrt. Mit solcher Erklärung widerspricht sie laut den Annahmen, die
wir auf Grund unserer analytischen Erfahrung über ihre frühe Kindheit
machen müssen, daß sie voll war von vorzeitigen Sexualregungen und
heftigen Haßregungen gegen die Mutter und die jüngeren Geschwister. (Das
kleine Vögelchen kann, außer der ihm zugewiesenen genitalen Bedeutung,
auch die eines Symbols für ein kleines Kind haben, wie alle kleinen Tiere,
und die Erinnerung betont so sehr aufdringlich die Gleichberechtigung
dieses kleinen Wesens mit ihr selbst.) Die kurze Erinnerungsreihe gibt
so ein hübsches Beispiel für eine psychische Bildung mit zweifachem
Aspekt. Oberflächlich betrachtet, gibt sie einem abstrakten Gedanken
Ausdruck, der hier wie meistens sich auf Ethisches bezieht, sie hat nach
_V. Silberers_ Bezeichnung _anagogischen_ Inhalt; bei tiefer eindringender
Untersuchung erweist sie sich als eine Kette von Tatsachen aus dem Gebiet
des verdrängten Trieblebens, sie offenbart ihren _psychoanalytischen_
Gehalt. Wie Sie wissen, hat _Silberer_, der als einer der ersten die
Warnung an uns ergehen ließ, ja nicht an den edleren Anteil der
menschlichen Seele zu vergessen, die Behauptung aufgestellt, daß alle
oder die meisten Träume eine solche doppelte Deutung, eine reinere,
anagogische, über der gemeinen, psychoanalytischen, zulassen. Dies ist
nun leider nicht der Fall; im Gegenteil, eine solche Überdeutung gelingt
recht selten; es ist auch meines Wissens bisher nicht ein brauchbares
Beispiel einer solchen doppeldeutigen Traumanalyse veröffentlicht
worden. Aber an den Assoziationsreihen, welche unsere Patienten in der
analytischen Kur vorbringen, können Sie solche Beobachtungen relativ
häufig machen. Die aufeinander folgenden Einfälle verknüpfen sich
einerseits durch eine klar zutage liegende, durchlaufende Assoziation,
anderseits werden Sie auf ein tiefer liegendes, geheim gehaltenes Thema
aufmerksam, welches gleichzeitig an all diesen Einfällen beteiligt ist.
Der Gegensatz zwischen beiden in derselben Einfallsreihe dominierenden
Themen ist nicht immer der von hoch-anagogisch und gemein-analytisch,
eher der von _anstößig_ und _anständig_ oder indifferent, was Sie dann
das Motiv für die Entstehung einer solchen Assoziationskette mit
doppelter Determinierung leicht verstehen läßt. In unserem Beispiel ist
es natürlich kein Zufall, daß Anagogie und psychoanalytische Deutung in
so scharfem Gegensatze stehen; beide beziehen sich auf das nämliche
Material und die spätere Tendenz ist gerade die der Reaktionsbildungen,
die sich gegen die verleugneten Triebregungen erhoben hatten.

Warum wir aber überhaupt nach einer psychoanalytischen Deutung suchen
und uns nicht mit der näher liegenden anagogischen begnügen? Das hängt
mit vielerlei zusammen, mit der Existenz der Neurose überhaupt, mit den
Erklärungen, die sie notwendig fordert, mit der Tatsache, daß die Tugend
die Menschen nicht so froh und lebensstark macht, wie man erwarten
sollte, als ob sie noch zuviel von ihrer Herkunft an sich trüge -- auch
unsere Träumerin ist für ihre Tugend nicht recht belohnt worden -- und
mit manchem anderen, was ich gerade vor Ihnen nicht zu erörtern brauche.

Wir haben aber bisher die Telepathie, die andere Determinante unseres
Interesses an diesem Fall, ganz beiseite gelassen. Es ist Zeit, zu ihr
zurückzukehren. Wir haben es hier in gewissem Sinne leichter als im
Falle des Herrn G. Bei einer Person, der so leicht und schon in früher
Jugend die Wirklichkeit entschwindet, um einer Phantasiewelt Platz zu
machen, wird die Versuchung überstark, ihre telepathischen Erlebnisse
und »Gesichte« mit ihrer Neurose zusammenzubringen und aus dieser
abzuleiten, wenngleich wir uns auch hier über die zwingende Kraft
unserer Aufstellungen nicht täuschen dürfen. Wir setzen nur
verständliche Möglichkeiten an die Stelle des Unbekannten und
Unverständlichen.

Am 22. August 1914, vormittags zehn Uhr, unterliegt die Schreiberin der
telepathischen Wahrnehmung, daß ihr im Feld befindlicher Bruder »Mutter,
Mutter« ausruft. Das Phänomen ist ein rein akustisches, wiederholt sich
kurz nachher, sie sieht aber nichts dabei. Zwei Tage später sieht sie
ihre Mutter und findet sie schwer bedrückt, da sich der Junge bei ihr
mit dem wiederholten Ausruf: Mutter, Mutter angemeldet. Sie erinnert
sich sofort an die nämliche telepathische Botschaft, die ihr zur
gleichen Zeit zuteil geworden, und wirklich läßt sich nach Wochen
feststellen, daß der junge Krieger an jenem Tag, zur bezeichneten
Stunde, gestorben ist.

Es ist nicht zu beweisen, aber auch nicht abzuweisen, daß der Vorgang
vielmehr der folgende war: Die Mutter macht ihr eines Tages die
Mitteilung, daß sich der Sohn telepathisch bei ihr angezeigt. Sofort
entsteht bei ihr die Überzeugung, sie habe um dieselbe Zeit das gleiche
Erlebnis gehabt. Solche Erinnerungstäuschungen treten mit zwanghafter
Stärke auf, die sie aus realer Quelle beziehen; sie setzen aber psychische
Realität in materielle um. Das Starke an der Erinnerungstäuschung ist,
daß sie ein guter Ausdruck für die in der Schwester vorhandene Tendenz
zur Identifizierung mit der Mutter werden kann. »Du sorgst dich um den
Jungen, aber ich bin ja eigentlich seine Mutter. Also hat sein Ausruf
mich gemeint, ich habe jene telepathische Botschaft empfangen.« Die
Schwester würde natürlich unseren Erklärungsversuch entschieden ablehnen
und ihren Glauben an das eigene Erlebnis festhalten. Allein sie kann gar
nicht anders; sie muß an die Realität des pathologischen Erfolges
glauben, solange ihr die Realität der unbewußten Voraussetzung unbekannt
ist. Die Stärke und Unangreifbarkeit eines jeden Wahns führt sich ja auf
seine Abstammung von einer unbewußten psychischen Realität zurück. Ich
bemerke noch, das Erlebnis der Mutter haben wir hier nicht zu erklären
und dessen Tatsächlichkeit nicht zu untersuchen.

Der verstorbene Bruder ist aber nicht nur das imaginäre Kind unserer
Schreiberin, sondern er steht auch für einen schon bei der Geburt mit
Haß empfangenen Rivalen. Weitaus die zahlreichsten telepathischen
Ahnungen beziehen sich auf Tod und Todesmöglichkeit; den analytischen
Patienten, die uns von der Häufigkeit und Untrüglichkeit ihrer düsteren
Vorahnungen berichten, können wir mit ebensolcher Regelmäßigkeit
nachweisen, daß sie besonders starke unbewußte Todeswünsche gegen ihre
Nächsten im Unbewußten hegen und darum seit langem unterdrücken. Der
Patient, dessen Geschichte ich 1909 in den »Bemerkungen über einen Fall
von Zwangsneurose« erzählt, war ein Beispiel hiefür; er hieß bei seinen
Angehörigen auch der »Leichenvogel«; aber als der liebenswürdige und
geistreiche Mann -- der seither selbst im Kriege untergegangen ist --
auf den Weg der Besserung kam, verhalf er mir selbst dazu, seine
psychologischen Taschenspielereien aufzuhellen. Auch die im Brief
unseres ersten Korrespondenten enthaltene Mitteilung, wie er und seine
drei Brüder die Nachricht vom Tod ihres jüngsten Bruders als etwas
innerlich längst Gewußtes aufgenommen, scheint keiner anderen Aufklärung
zu bedürfen. Die älteren Brüder werden alle die gleiche Überzeugung von
der Überflüssigkeit dieses jüngsten Ankömmlings bei sich entwickelt
haben.

Ein anderes »Gesicht« unserer Träumerin, dessen Verständnis vielleicht
durch analytische Einsicht erleichtert wird! Freundinnen haben offenbar
eine große Bedeutung für ihr Gefühlsleben. Der Tod einer derselben
zeigte sich ihr kürzlich durch nächtliches Klopfen an das Bett einer
Zimmerkollegin in der Heilanstalt an. Eine andere Freundin hatte vor
vielen Jahren einen Witwer mit vielen (fünf) Kindern geheiratet. In
deren Wohnung sah sie regelmäßig bei ihren Besuchen die Erscheinung
einer Dame, in der sie die verstorbene erste Frau vermuten mußte, was
sich zunächst nicht bestätigen ließ und ihr erst nach sieben Jahren
durch die Auffindung einer neuen Photographie der Verstorbenen zur
Gewißheit wurde. Diese visionäre Leistung steht in der nämlichen innigen
Abhängigkeit von den uns bekannten Familienkomplexen der Schreiberin
wie ihre Ahnung vom Tod des Bruders. Wenn sie sich mit der Freundin
identifizierte, konnte sie in deren Person ihre Wunscherfüllung finden,
denn alle ältesten Töchter kinderreicher Familien schaffen im Unbewußten
die Phantasie, durch den Tod der Mutter die zweite Frau des Vaters zu
werden. Wenn die Mutter krank ist oder stirbt, rückt die älteste Tochter
wie selbstverständlich an ihre Stelle im Verhältnis zu den Geschwistern
und darf auch beim Vater einen Teil der Funktionen der Frau übernehmen.
Der unbewußte Wunsch ergänzt hiezu den anderen Teil.

Das ist nun bald alles, was ich Ihnen erzählen wollte. Ich könnte noch
die Bemerkung hinzufügen, daß die Fälle von telepathischer Botschaft
oder Leistung, die wir hier besprochen haben, deutlich an Erregungen
geknüpft sind, welche dem Bereich des Ödipuskomplexes angehören. Das mag
frappant klingen, ich möchte es aber nicht für eine große Entdeckung
ausgeben. Wir wollen lieber zu dem Ergebnis zurückkehren, welches wir
aus der Untersuchung des Traumes in unserem ersten Fall gewonnen haben.
Die Telepathie hat mit dem Wesen des Traumes nichts zu tun, sie kann
auch unser analytisches Verständnis des Traumes nicht vertiefen. Im
Gegenteil kann die Psychoanalyse das Studium der Telepathie fördern,
indem sie mit Hilfe ihrer Deutungen manche Unbegreiflichkeiten der
telepathischen Phänomene unserem Verständnis näher bringt, oder von
anderen, noch zweifelhaften Phänomenen erst nachweist, daß sie
telepathischer Natur sind.

Was von dem Anschein einer innigen Beziehung zwischen Telepathie und
Traum übrig bleibt, ist die unbestrittene Begünstigung der Telepathie
durch den Schlafzustand. Dieser ist zwar keine unumgängliche Bedingung
für das Zustandekommen telepathischer Vorgänge, -- beruhen sie nun auf
Botschaften oder auf unbewußter Leistung. Wenn Sie dies noch nicht
wissen sollten, so muß das Beispiel unseres zweiten Falles, in dem
der Junge sich zwischen neun und zehn Uhr vormittags anmeldet, es Sie
lehren. Aber wir müssen doch sagen, man hat kein Recht, telepathische
Beobachtungen darum zu beanständen, weil Ereignis und Ahnung (oder
Botschaft) nicht zur gleichen astronomischen Zeit vorgefallen sind.
Von der telepathischen Botschaft ist es sehr wohl denkbar, daß sie
gleichzeitig mit dem Ereignis eintrifft und doch erst während des
Schlafzustandes der nächsten Nacht -- oder selbst im Wachleben erst
nach einer Weile, während einer Pause der aktiven Geistestätigkeit --
vom Bewußtsein wahrgenommen wird. Wir sind ja auch der Meinung, daß
die Traumbildung nicht notwendigerweise erst mit dem Einsetzen des
Schlafzustandes beginnt. Die latenten Traumgedanken mögen oft den ganzen
Tag über vorbereitet worden sein, bis sie zur Nachtzeit den Anschluß
an den unbewußten Wunsch finden, der sie zum Traum umbildet. Wenn das
telepathische Phänomen aber nur eine Leistung des Unbewußten ist,
dann liegt ja kein neues Problem vor. Die Anwendung der Gesetze des
unbewußten Seelenlebens verstünde sich dann für die Telepathie von
selbst.

Habe ich bei Ihnen den Eindruck erweckt, daß ich für die Realität der
Telepathie im okkulten Sinne versteckt Partei nehmen will? Ich würde es
sehr bedauern, daß es so schwer ist, solchen Eindruck zu vermeiden. Denn
ich wollte wirklich voll unparteiisch sein. Ich habe auch allen Grund
dazu, denn ich habe kein Urteil, ich weiß nichts darüber.



  [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
    jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
    steht.

  stellenl Aber an _einer_ Stelle gestattet der Traum eine analytische
  stellen! Aber an _einer_ Stelle gestattet der Traum eine analytische

      hatte ich beim Koitus stets heftiges Erbrechen Auch später trat
      hatte ich beim Koitus stets heftiges Erbrechen. Auch später trat

  ]





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