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Title: Zeitgemäßes über Krieg und Tod
Author: Freud, Sigmund, 1856-1939
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Zeitgemäßes über Krieg und Tod" ***


  [ Anmerkungen zur Transkription:

    Der Text stammt aus: Imago. Zeitschrift für Anwendung der
    Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften IV (1915). S. 1-21.

    Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen;
    lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Eine Liste
    der vorgenommenen Änderungen findet sich am Ende des Textes.

    Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit _ markiert.
  ]



Zeitgemäßes über Krieg und Tod.

Von SIGM. FREUD.


I. Die Enttäuschung des Krieges.

Von dem Wirbel dieser Kriegszeit gepackt, einseitig unterrichtet, ohne
Distanz von den großen Veränderungen, die sich bereits vollzogen haben
oder zu vollziehen beginnen, und ohne Witterung der sich gestaltenden
Zukunft, werden wir selbst irre an der Bedeutung der Eindrücke, die sich
uns aufdrängen, und an dem Wert der Urteile, die wir bilden. Es will uns
scheinen, als hätte noch niemals ein Ereignis soviel kostbares Gemeingut
der Menschheit zerstört, soviele der klarsten Intelligenzen verwirrt, so
gründlich das Hohe erniedrigt. Selbst die Wissenschaft hat ihre
leidenschaftslose Unparteilichkeit verloren; ihre aufs tiefste
erbitterten Diener suchen ihr Waffen zu entnehmen, um einen Beitrag zur
Bekämpfung des Feindes zu leisten. Der Anthropologe muß den Gegner für
minderwertig und degeneriert erklären, der Psychiater die Diagnose
seiner Geistes- oder Seelenstörung verkünden. Aber wahrscheinlich
empfinden wir das Böse dieser Zeit unmäßig stark und haben kein Recht,
es mit dem Bösen anderer Zeiten zu vergleichen, die wir nicht erlebt
haben.

Der Einzelne, der nicht selbst ein Kämpfer und somit ein Partikelchen
der riesigen Kriegsmaschinerie geworden ist, fühlt sich in seiner
Orientierung verwirrt und in seiner Leistungsfähigkeit gehemmt. Ich
meine, ihm wird jeder kleine Wink willkommen sein, der es ihm
erleichtert, sich wenigstens in seinem eigenen Innern zurechtzufinden.
Unter den Momenten, welche das seelische Elend der Daheimgebliebenen
verschuldet haben, und deren Bewältigung ihnen so schwierige Aufgaben
stellt, möchte ich zwei hervorheben und an dieser Stelle behandeln: Die
Enttäuschung, die dieser Krieg hervorgerufen hat, und die veränderte
Einstellung zum Tode, zu der er uns -- wie alle anderen Kriege --
nötigt.

Wenn ich von Enttäuschung rede, weiß jedermann sofort, was damit
gemeint ist. Man braucht kein Mitleidsschwärmer zu sein, man kann die
biologische und psychologische Notwendigkeit des Leidens für die
Ökonomie des Menschenlebens einsehen und darf doch den Krieg in seinen
Mitteln und Zielen verurteilen und das Aufhören der Kriege herbeisehnen.
Man sagte sich zwar, die Kriege könnten nicht aufhören, so lange die
Völker unter so verschiedenartigen Existenzbedingungen leben, so lange
die Wertungen des Einzellebens bei ihnen weit auseinandergehen, und so
lange die Gehässigkeiten, welche sie trennen, so starke seelische
Triebkräfte repräsentieren. Man war also darauf vorbereitet, daß Kriege
zwischen den primitiven und den zivilisierten Völkern, zwischen den
Menschenrassen, die durch die Hautfarbe voneinander geschieden werden,
ja Kriege mit und unter den wenig entwickelten oder verwilderten
Völkerindividuen Europas die Menschheit noch durch geraume Zeit in
Anspruch nehmen werden. Aber man getraute sich etwas anderes zu hoffen.
Von den großen weltbeherrschenden Nationen weißer Rasse, denen die
Führung des Menschengeschlechtes zugefallen ist, die man mit der Pflege
weltumspannender Interessen beschäftigt wußte, deren Schöpfungen die
technischen Fortschritte in der Beherrschung der Natur wie die
künstlerischen und wissenschaftlichen Kulturwerte sind, von diesen
Völkern hatte man erwartet, daß sie es verstehen würden, Mißhelligkeiten
und Interessenkonflikte auf anderem Wege zum Austrag zu bringen.
Innerhalb jeder dieser Nationen waren hohe sittliche Normen für den
Einzelnen aufgestellt worden, nach denen er seine Lebensführung
einzurichten hatte, wenn er an der Kulturgemeinschaft teilnehmen wollte.
Diese oft überstrengen Vorschriften forderten viel von ihm, eine
ausgiebige Selbstbeschränkung, einen weitgehenden Verzicht auf
Triebbefriedigung. Es war ihm vor allem versagt, sich der
außerordentlichen Vorteile zu bedienen, die der Gebrauch von Lüge und
Betrug im Wettkampf mit den Nebenmenschen schafft. Der Kulturstaat hielt
diese sittlichen Normen für die Grundlage seines Bestandes, er schritt
ernsthaft ein, wenn man sie anzutasten wagte, erklärte es oft für
untunlich, sie auch nur einer Prüfung durch den kritischen Verstand zu
unterziehen. Es war also anzunehmen, daß er sie selbst respektieren
wolle und nichts gegen sie zu unternehmen gedenke, wodurch er der
Begründung seiner eigenen Existenz widersprochen hätte. Endlich konnte
man zwar die Wahrnehmung machen, daß es innerhalb dieser Kulturnationen
gewisse eingesprengte Völkerreste gäbe, die ganz allgemein unliebsam
wären und darum nur widerwillig, auch nicht im vollen Umfange, zur
Teilnahme an der gemeinsamen Kulturarbeit zugelassen würden, für die sie
sich als genug geeignet erwiesen hatten. Aber die großen Völker selbst,
konnte man meinen, hätten soviel Verständnis für ihre Gemeinsamkeiten
und soviel Toleranz für ihre Verschiedenheiten erworben, daß »fremd« und
»feindlich« nicht mehr wie noch im klassischen Altertum für sie zu einem
Begriff verschmelzen durften.

Vertrauend auf diese Einigung der Kulturvölker haben ungezählte Menschen
ihren Wohnort in der Heimat gegen den Aufenthalt in der Fremde
eingetauscht und ihre Existenz an die Verkehrsbeziehungen zwischen den
befreundeten Völkern geknüpft. Wen aber die Not des Lebens nicht ständig
an die nämliche Stelle bannte, der konnte sich aus allen Vorzügen und
Reizen der Kulturländer ein neues größeres Vaterland zusammensetzen, in
dem er sich ungehemmt und unverdächtigt erging. Er genoß so das blaue
und das graue Meer, die Schönheit der Schneeberge und die der grünen
Wiesenflächen, den Zauber des nordischen Waldes und die Pracht der
südlichen Vegetation, die Stimmung der Landschaften, auf denen große
historische Erinnerungen ruhen, und die Stille der unberührten Natur.
Dies neue Vaterland war für ihn auch ein Museum, erfüllt mit allen
Schätzen, welche die Künstler der Kulturmenschheit seit vielen
Jahrhunderten geschaffen und hinterlassen hatten. Während er von einem
Saal dieses Museums in einen anderen wanderte, konnte er in parteiloser
Anerkennung feststellen, was für verschiedene Typen von Vollkommenheit
Blutmischung, Geschichte und die Eigenart der Mutter Erde an seinen
weiteren Kompatrioten ausgebildet hatten. Hier war die kühle unbeugsame
Energie aufs höchste entwickelt, dort die graziöse Kunst, das Leben zu
verschönern, anderswo der Sinn für Ordnung und Gesetz oder andere der
Eigenschaften, die den Menschen zum Herrn der Erde gemacht haben.

Vergessen wir auch nicht daran, daß jeder Kulturweltbürger sich einen
besonderen »Parnaß« und eine »Schule von Athen« geschaffen hatte. Unter
den großen Denkern, Dichtern, Künstlern aller Nationen, hatte er die
ausgewählt, denen er das Beste zu schulden vermeinte, was ihm an
Lebensgenuß und Lebensverständnis zugänglich geworden war, und sie den
unsterblichen Alten in seiner Verehrung zugesellt wie den vertrauten
Meistern seiner eigenen Zunge. Keiner von diesen Großen war ihm darum
fremd erschienen, weil er in anderer Sprache geredet hatte, weder der
unvergleichliche Ergründer der menschlichen Leidenschaften, noch der
schönheitstrunkene Schwärmer oder der gewaltig drohende Prophet, der
feinsinnige Spötter, und niemals warf er sich dabei vor, abtrünnig
geworden zu sein der eigenen Nation und der geliebten Muttersprache.

Der Genuß der Kulturgemeinschaft wurde gelegentlich durch Stimmen
gestört, welche warnten, daß infolge altüberkommener Differenzen Kriege
auch unter den Mitgliedern derselben unvermeidlich wären. Man wollte
nicht daran glauben, aber wie stellte man sich einen solchen Krieg vor,
wenn es dazu kommen sollte? Als eine Gelegenheit die Fortschritte im
Gemeingefühl der Menschen aufzuzeigen seit jener Zeit, da die
griechischen Amphiktyonien verboten hatten, eine dem Bündnis angehörige
Stadt zu zerstören, ihre Ölbäume umzuhauen und ihr das Wasser
abzuschneiden. Als einen ritterlichen Waffengang, der sich darauf
beschränken wollte, die Überlegenheit des einen Teils festzustellen,
unter möglichster Vermeidung schwerer Leiden, die zu dieser Entscheidung
nichts beitragen könnten, mit voller Schonung für den Verwundeten, der
aus dem Kampf ausscheiden muß, und für den Arzt und Pfleger, der sich
seiner Herstellung widmet. Natürlich mit allen Rücksichten für den nicht
kriegführenden Teil der Bevölkerung, für die Frauen, die dem
Kriegshandwerk ferne bleiben, und für die Kinder, die, herangewachsen,
einander von beiden Seiten Freunde und Mithelfer werden sollen. Auch mit
Erhaltung all der internationalen Unternehmungen und Institutionen, in
denen sich die Kulturgemeinschaft der Friedenszeit verkörpert hatte.

Ein solcher Krieg hätte immer noch genug des Schrecklichen und schwer zu
Ertragenden enthalten, aber er hätte die Entwicklung ethischer
Beziehungen zwischen den Großindividuen der Menschheit, den Völkern und
Staaten, nicht unterbrochen.

Der Krieg, an den wir nicht glauben wollten, brach nun aus und er
brachte die -- Enttäuschung. Er ist nicht nur blutiger und
verlustreicher als einer der Kriege vorher, infolge der mächtig
vervollkommneten Waffen des Angriffs und der Verteidigung, sondern
mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos wie irgend ein
früherer. Er setzt sich über alle Einschränkungen hinaus, zu denen man
sich in friedlichen Zeiten verpflichtet, die man das Völkerrecht genannt
hatte, anerkennt nicht die Vorrechte des Verwundeten und des Arztes, die
Unterscheidung des friedlichen und des kämpfenden Teils der Bevölkerung,
die Ansprüche des Privateigentums. Er wirft nieder, was ihm im Wege
steht, in blinder Wut, als sollte es keine Zukunft und keinen Frieden
unter den Menschen nach ihm geben. Er zerreißt alle Bande der
Gemeinschaft unter den miteinander ringenden Völkern und droht eine
Erbitterung zu hinterlassen, welche eine Wiederanknüpfung derselben für
lange Zeit unmöglich machen wird.

Er brachte auch das kaum begreifliche Phänomen zum Vorschein, daß die
Kulturvölker einander so wenig kennen und verstehen, daß sich das eine
mit Haß und Abscheu gegen das andere wenden kann. Ja daß eine der großen
Kulturnationen so allgemein mißliebig ist, daß der Versuch gewagt werden
kann, sie als »barbarisch« von der Kulturgemeinschaft auszuschließen,
obwohl sie ihre Eignung durch die großartigsten Beitragsleistungen
längst erwiesen hat. Wir leben der Hoffnung, eine unparteiische
Geschichtsschreibung werde den Nachweis erbringen, daß gerade diese
Nation, die, in deren Sprache wir schreiben, für deren Sieg unsere
Lieben kämpfen, sich am wenigsten gegen die Gesetze der menschlichen
Gesittung vergangen habe, aber wer darf in solcher Zeit als Richter
auftreten in eigener Sache?

Völker werden ungefähr durch die Staaten, die sie bilden, repräsentiert;
diese Staaten durch die Regierungen, die sie leiten. Der einzelne
Volksangehörige kann in diesem Krieg mit Schreck feststellen, was sich
ihm gelegentlich schon in Friedenszeiten aufdrängen wollte, daß der
Staat dem Einzelnen den Gebrauch des Unrechts untersagt hat, nicht weil
er es abschaffen, sondern weil er es monopolisieren will wie Salz und
Tabak. Der kriegführende Staat gibt sich jedes Unrecht, jede
Gewalttätigkeit frei, die den Einzelnen entehren würde. Er bedient sich
nicht nur der erlaubten List, sondern auch der bewußten Lüge und des
absichtlichen Betruges gegen den Feind, und dies zwar in einem Maße,
welches das in früheren Kriegen Gebräuchliche zu übersteigen scheint.
Der Staat fordert das Äußerste an Gehorsam und Aufopferung von seinen
Bürgern, entmündigt sie aber dabei durch ein Übermaß von Verheimlichung
und eine Zensur der Mitteilung und Meinungsäußerung, welche die Stimmung
der so intellektuell Unterdrückten wehrlos macht gegen jede ungünstige
Situation und jedes wüste Gerücht. Er löst sich los von Zusicherungen
und Verträgen, durch die er sich gegen andere Staaten gebunden hatte,
bekennt sich ungescheut zu seiner Habgier und seinem Machtstreben, die
dann der Einzelne aus Patriotismus gutheißen soll.

Man wende nicht ein, daß der Staat auf den Gebrauch des Unrechts nicht
verzichten kann, weil er sich dadurch in Nachteil setzte. Auch für den
Einzelnen ist die Befolgung der sittlichen Normen, der Verzicht auf
brutale Machtbetätigung in der Regel sehr unvorteilhaft, und der Staat
zeigt sich nur selten dazu fähig, den Einzelnen für das Opfer zu
entschädigen, das er von ihm gefordert hat. Man darf sich auch nicht
darüber verwundern, daß die Lockerung aller sittlichen Beziehungen
zwischen den Großindividuen der Menschheit eine Rückwirkung auf die
Sittlichkeit der Einzelnen geäußert hat, denn unser Gewissen ist nicht
der unbeugsame Richter, für den die Ethiker es ausgeben, es ist in
seinem Ursprunge »_soziale Angst_« und nichts anderes. Wo die
Gemeinschaft den Vorwurf aufhebt, hört auch die Unterdrückung der bösen
Gelüste auf, und die Menschen begehen Taten von Grausamkeit, Tücke,
Verrat und Roheit, deren Möglichkeit man mit ihrem kulturellen Niveau
für unvereinbar gehalten hätte.

So mag der Kulturweltbürger, den ich vorhin eingeführt habe, ratlos
dastehen in der ihm fremd gewordenen Welt, sein großes Vaterland
zerfallen, die gemeinsamen Besitztümer verwüstet, die Mitbürger entzweit
und erniedrigt!

Zur Kritik seiner Enttäuschung wäre einiges zu bemerken. Sie ist,
strenge genommen, nicht berechtigt, denn sie besteht in der Zerstörung
einer Illusion. Illusionen empfehlen sich uns dadurch, daß sie
Unlustgefühle ersparen und uns an ihrer Statt Befriedigungen genießen
lassen. Wir müssen es dann ohne Klage hinnehmen, daß sie irgend einmal
mit einem Stück der Wirklichkeit zusammenstoßen, an dem sie zerschellen.

Zweierlei in diesem Kriege hat unsere Enttäuschung rege gemacht: die
geringe Sittlichkeit der Staaten nach außen, die sich nach innen als die
Wächter der sittlichen Normen gebärden, und die Brutalität im Benehmen
der Einzelnen, denen man als Teilnehmer an der höchsten menschlichen
Kultur ähnliches nicht zugetraut hat.

Beginnen wir mit dem zweiten Punkt und versuchen wir es, die Anschauung,
die wir kritisieren wollen, in einen einzigen knappen Satz zu fassen.
Wie stellt man sich denn eigentlich den Vorgang vor, durch welchen ein
einzelner Mensch zu einer höheren Stufe von Sittlichkeit gelangt? Die
erste Antwort wird wohl lauten: Er ist eben von Geburt und von Anfang an
gut und edel. Sie soll hier weiter nicht berücksichtigt werden. Eine
zweite Antwort wird auf die Anregung eingehen, daß hier ein
Entwicklungsvorgang vorliegen müsse, und wird wohl annehmen, diese
Entwicklung bestehe darin, daß die bösen Neigungen des Menschen in ihm
ausgerottet und unter dem Einfluß von Erziehung und Kulturumgebung durch
Neigungen zum Guten ersetzt werden. Dann darf man sich allerdings
verwundern, daß bei dem so Erzogenen das Böse wieder so tatkräftig zum
Vorschein kommt.

Aber diese Antwort enthält auch den Satz, dem wir widersprechen wollen.
In Wirklichkeit gibt es keine »Ausrottung« des Bösen. Die psychologische
-- im strengeren Sinne die psychoanalytische -- Untersuchung zeigt
vielmehr, daß das tiefste Wesen des Menschen in Triebregungen besteht,
die elementarer Natur, bei allen Menschen gleichartig sind und auf die
Befriedigung gewisser ursprünglicher Bedürfnisse zielen. Diese
Triebregungen sind an sich weder gut noch böse. Wir klassifizieren sie
und ihre Äußerungen in solcher Weise je nach ihrer Beziehung zu den
Bedürfnissen und Anforderungen der menschlichen Gemeinschaft. Zuzugeben
ist, daß alle die Regungen, welche von der Gesellschaft als böse verpönt
werden -- nehmen wir als Vertretung derselben die eigensüchtigen und die
grausamen -- sich unter diesen primitiven befinden.

Diese primitiven Regungen legen einen langen Entwicklungsweg zurück, bis
sie zur Betätigung beim Erwachsenen zugelassen werden. Sie werden
gehemmt, auf andere Ziele und Gebiete gelenkt, gehen Verschmelzungen
miteinander ein, wechseln ihre Objekte, wenden sich zum Teil gegen die
eigene Person. Reaktionsbildungen gegen gewisse Triebe täuschen die
inhaltliche Verwandlung derselben vor, als ob aus Egoismus --
Altruismus, aus Grausamkeit -- Mitleid geworden wäre. Diesen
Reaktionsbildungen kommt zugute, daß manche Triebregungen fast von
Anfang an in Gegensatzpaaren auftreten, ein sehr merkwürdiges und der
populären Kenntnis fremdes Verhältnis, das man die »Gefühlsambivalenz«
benannt hat. Am leichtesten zu beobachten und vom Verständnis zu
bewältigen ist die Tatsache, daß starkes Lieben und starkes Hassen so
häufig miteinander bei derselben Person vereint vorkommen. Die
Psychoanalyse fügt dem hinzu, daß die beiden entgegengesetzten
Gefühlsregungen nicht selten auch die nämliche Person zum Objekt nehmen.

Erst nach Überwindung all solcher »Triebschicksale« stellt sich das
heraus, was man den Charakter eines Menschen nennt, und was mit »gut«
oder »böse« bekanntlich nur sehr unzureichend klassifiziert werden kann.
Der Mensch ist selten im ganzen gut oder böse, meist »gut« in dieser
Relation, böse in einer anderen oder »gut« unter solchen äußeren
Bedingungen, unter anderen entschieden »böse«. Interessant ist die
Erfahrung, daß die kindliche Präexistenz starker »böser« Regungen oft
geradezu die Bedingung wird für eine besonders deutliche Wendung des
Erwachsenen zum »Guten«. Die stärksten kindlichen Egoisten können die
hilfreichsten und aufopferungsfähigsten Bürger werden; die meisten
Mitleidschwärmer, Menschenfreunde, Tierschützer haben sich aus kleinen
Sadisten und Tierquälern entwickelt.

Die Umbildung der »bösen« Triebe ist das Werk zweier im gleichen Sinne
wirkenden Faktoren, eines inneren und eines äußeren. Der innere Faktor
besteht in der Beeinflussung der bösen -- sagen wir: eigensüchtigen --
Triebe durch die Erotik, das Liebesbedürfnis des Menschen im weitesten
Sinne genommen. Durch die Zumischung der _erotischen_ Komponenten werden
die eigensüchtigen Triebe in _soziale_ umgewandelt. Man lernt das
Geliebtwerden als einen Vorteil schätzen, wegen dessen man auf andere
Vorteile verzichten darf. Der äußere Faktor ist der Zwang der Erziehung,
welche die Ansprüche der kulturellen Umgebung vertritt, und die dann
durch die direkte Einwirkung des Kulturmilieus fortgesetzt wird. Kultur
ist durch Verzicht auf Triebbefriedigung gewonnen worden und fordert von
jedem neu Ankommenden, daß er denselben Triebverzicht leiste. Während
des individuellen Lebens findet eine beständige Umsetzung von äußerem
Zwang in inneren Zwang statt. Die Kultureinflüsse leiten dazu an, daß
immer mehr von den eigensüchtigen Strebungen durch erotische Zusätze in
altruistische, soziale verwandelt werden. Man darf endlich annehmen, daß
aller innere Zwang, der sich in der Entwicklung des Menschen geltend
macht, ursprünglich, d. h. in _der Menschheitsgeschichte_ nur äußerer
Zwang war. Die Menschen, die heute geboren werden, bringen ein Stück
Neigung (Disposition) zur Umwandlung der egoistischen in soziale Triebe
als ererbte Organisation mit, die auf leichte Anstöße hin diese
Umwandlung durchführt. Ein anderes Stück dieser Triebumwandlung muß im
Leben selbst geleistet werden. In solcher Art steht der einzelne Mensch
nicht nur unter der Einwirkung seines gegenwärtigen Kulturmilieus,
sondern unterliegt auch dem Einflusse der Kulturgeschichte seiner
Vorfahren.

Heißen wir die einem Menschen zukommende Fähigkeit zur Umbildung der
egoistischen Triebe unter dem Einfluß der Erotik seine _Kultureignung_,
so können wir aussagen, daß dieselbe aus zwei Anteilen besteht, einem
angeborenen und einem im Leben erworbenen, und daß das Verhältnis der
beiden zueinander und zu dem unverwandelt gebliebenen Anteil des
Trieblebens ein sehr variables ist.

Im allgemeinen sind wir geneigt, den angeborenen Anteil zu hoch zu
veranschlagen, und überdies laufen wir Gefahr, die gesamte Kultureignung
in ihrem Verhältnis zum primitiv gebliebenen Triebleben zu überschätzen,
d. h. wir werden dazu verleitet, die Menschen »besser« zu beurteilen,
als sie in Wirklichkeit sind. Es besteht nämlich noch ein anderes
Moment, welches unser Urteil trübt und das Ergebnis im günstigen Sinne
verfälscht.

Die Triebregungen eines anderen Menschen sind unserer Wahrnehmung
natürlich entrückt. Wir schließen auf sie aus seinen Handlungen und
seinem Benehmen, welche wir auf _Motive_ aus seinem Triebleben
zurückführen. Ein solcher Schluß geht notwendigerweise in einer Anzahl
von Fällen irre. Die nämlichen, kulturell »guten« Handlungen können das
einemal von »edlen« Motiven herstammen, das anderemal nicht. Die
theoretischen Ethiker heißen nur solche Handlungen »gut«, welche der
Ausdruck guter Triebregungen sind, den anderen versagen sie ihre
Anerkennung. Die von praktischen Absichten geleitete Gesellschaft
kümmert sich aber im ganzen um diese Unterscheidung nicht; sie begnügt
sich damit, daß ein Mensch sein Benehmen und seine Handlungen nach den
kulturellen Vorschriften richte, und fragt wenig nach seinen Motiven.

Wir haben gehört, daß der _äußere Zwang_, den Erziehung und Umgebung auf
den Menschen üben, eine weitere Umbildung seines Trieblebens zum Guten,
eine Wendung vom Egoismus zum Altruismus herbeiführt. Aber dies ist
nicht die notwendige oder regelmäßige Wirkung des äußeren Zwanges.
Erziehung und Umgebung haben nicht nur Liebesprämien anzubieten, sondern
arbeiten auch mit Vorteilsprämien anderer Art, mit Lohn und Strafen. Sie
können also die Wirkung äußern, daß der ihrem Einfluß Unterliegende sich
zum guten Handeln im kulturellen Sinne entschließt, ohne daß sich eine
Triebveredlung, eine Umsetzung egoistischer in soziale Neigungen, in ihm
vollzogen hat. Der Erfolg wird im groben derselbe sein; erst unter
besonderen Verhältnissen wird es sich zeigen, daß der eine immer gut
handelt, weil ihn seine Triebneigungen dazu nötigen, der andere nur gut
ist, weil, insolange und insoweit dies kulturelle Verhalten seinen
eigensüchtigen Absichten Vorteile bringt. Wir aber werden bei
oberflächlicher Bekanntschaft mit den Einzelnen kein Mittel haben, die
beiden Fälle zu unterscheiden, und gewiß durch unseren Optimismus
verführt werden, die Anzahl der kulturell veränderten Menschen arg zu
überschätzen.

Die Kulturgesellschaft, die die gute Handlung fordert und sich um die
Triebbegründung derselben nicht kümmert, hat also eine große Zahl von
Menschen zum Kulturgehorsam gewonnen, die dabei nicht ihrer Natur
folgen. Durch diesen Erfolg ermutigt, hat sie sich verleiten lassen, die
sittlichen Anforderungen möglichst hoch zu spannen und so ihre
Teilnehmer zu noch weiterer Entfernung von ihrer Triebveranlagung
gezwungen. Diesen ist nun eine fortgesetzte Triebunterdrückung
auferlegt, deren Spannung sich in den merkwürdigsten Reaktions- und
Kompensationserscheinungen kundgibt. Auf dem Gebiete der Sexualität, wo
solche Unterdrückung am wenigsten durchzuführen ist, kommt es so zu den
Reaktionserscheinungen der neurotischen Erkrankungen. Der sonstige Druck
der Kultur zeitigt zwar keine pathologische Folgen, äußert sich aber in
Charakterverbildungen und in der steten Bereitschaft der gehemmten
Triebe, bei passender Gelegenheit zur Befriedigung durchzubrechen. Wer
so genötigt wird, dauernd im Sinne von Vorschriften zu reagieren, die
nicht der Ausdruck seiner Triebneigungen sind, der lebt, psychologisch
verstanden, über seine Mittel und darf objektiv als Heuchler bezeichnet
werden, gleichgiltig ob ihm diese Differenz klar bewußt worden ist oder
nicht. Es ist unleugbar, daß unsere gegenwärtige Kultur die Ausbildung
dieser Art von Heuchelei in außerordentlichem Umfange begünstigt. Man
könnte die Behauptung wagen, sie sei auf solcher Heuchelei aufgebaut und
müßte sich tiefgreifende Abänderungen gefallen lassen, wenn es die
Menschen unternehmen würden, der psychologischen Wahrheit nachzuleben.
Es gibt also ungleich mehr Kulturheuchler als wirklich kulturelle
Menschen, ja man kann den Standpunkt diskutieren, ob ein gewisses Maß
von Kulturheuchelei nicht zur Aufrechthaltung der Kultur unerläßlich
sei, weil die bereits organisierte Kultureignung der heute lebenden
Menschen vielleicht für diese Leistung nicht zureichen würde. Anderseits
bietet die Aufrechthaltung der Kultur auch auf so bedenklicher Grundlage
die Aussicht, bei jeder neuen Generation eine weitergehende
Triebumbildung als Trägerin einer besseren Kultur anzubahnen.

Den bisherigen Erörterungen entnehmen wir bereits den einen Trost, daß
unsere Kränkung und schmerzliche Enttäuschung wegen des unkulturellen
Benehmens unserer Weltmitbürger in diesem Kriege unberechtigt waren. Sie
beruhten auf einer Illusion, der wir uns gefangen gaben. In Wirklichkeit
sind sie nicht so tief gesunken, wie wir fürchten, weil sie gar nicht so
hoch gestiegen waren, wie wirs von ihnen glaubten. Daß die menschlichen
Großindividuen, die Völker und Staaten, die sittlichen Beschränkungen
gegeneinander fallen ließen, wurde ihnen zur begreiflichen Anregung,
sich für eine Weile dem bestehenden Drucke der Kultur zu entziehen und
ihren zurückgehaltenen Trieben vorübergehend Befriedigung zu gönnen.
Dabei geschah ihrer relativen Sittlichkeit innerhalb des eigenen
Volkstums wahrscheinlich kein Abbruch.

Wir können uns aber das Verständnis der Veränderung, die der Krieg an
unseren früheren Kompatrioten zeigt, noch vertiefen und empfangen dabei
eine Warnung, kein Unrecht an ihnen zu begehen. Seelische Entwicklungen
besitzen nämlich eine Eigentümlichkeit, welche sich bei keinem anderen
Entwicklungsvorgang mehr vorfindet. Wenn ein Dorf zur Stadt, ein Kind
zum Mann heranwächst, so gehen dabei Dorf und Kind in Stadt und Mann
unter. Nur die Erinnerung kann die alten Züge in das neue Bild
einzeichnen; in Wirklichkeit sind die alten Materialien oder Formen
beseitigt und durch neue ersetzt worden. Anders geht es bei einer
seelischen Entwicklung zu. Man kann den nicht zu vergleichenden
Sachverhalt nicht anders beschreiben als durch die Behauptung, daß jede
frühere Entwicklungsstufe neben der späteren, die aus ihr geworden ist,
erhalten bleibt; die Sukzession bedingt eine Koexistenz mit, obwohl es
doch dieselben Materialien sind, an denen die ganze Reihenfolge von
Veränderungen abgelaufen ist. Der frühere seelische Zustand mag sich
jahrelang nicht geäußert haben, er bleibt doch soweit bestehen, daß er
eines Tages wiederum die Äußerungsform der seelischen Kräfte werden
kann, und zwar die einzige, als ob alle späteren Entwicklungen
annulliert, rückgängig gemacht worden wären. Diese außerordentliche
Plastizität der seelischen Entwicklungen ist in ihrer Richtung nicht
unbeschränkt; man kann sie als eine besondere Fähigkeit zur Rückbildung
-- Regression -- bezeichnen, denn es kommt wohl vor, daß eine spätere
und höhere Entwicklungsstufe, die verlassen wurde, nicht wieder erreicht
werden kann. Aber die primitiven Zustände können immer wieder
hergestellt werden; das primitive Seelische ist im vollsten Sinne
unvergänglich.

Die sogenannten Geisteskrankheiten müssen beim Laien den Eindruck
hervorrufen, daß das Geistes- und Seelenleben der Zerstörung
anheimgefallen sei. In Wirklichkeit betrifft die Zerstörung nur spätere
Erwerbungen und Entwicklungen. Das Wesen der Geisteskrankheit besteht in
der Rückkehr zu früheren Zuständen des Affektlebens und der Funktion.
Ein ausgezeichnetes Beispiel für die Plastizität des Seelenlebens gibt
der Schlafzustand, den wir allnächtlich anstreben. Seitdem wir auch
tolle und verworrene Träume zu übersetzen verstehen, wissen wir, daß
wir mit jedem Einschlafen unsere mühsam erworbene Sittlichkeit wie
ein Gewand von uns werfen -- um es am Morgen wieder anzutun. Diese
Entblößung ist natürlich ungefährlich, weil wir durch den Schlafzustand
gelähmt, zur Inaktivität verurteilt sind. Nur der Traum kann von der
Regression unseres Gefühllebens auf eine der frühesten Entwicklungsstufen
Kunde geben. So ist es z. B. bemerkenswert, daß alle unsere Träume von
rein egoistischen Motiven beherrscht werden. Einer meiner englischen
Freunde vertrat einmal diesen Satz vor einer wissenschaftlichen
Versammlung in Amerika, worauf ihm eine anwesende Dame die Bemerkung
machte, das möge vielleicht für Österreich richtig sein, aber sie dürfe
von sich und ihren Freunden behaupten, daß sie auch noch im Traume
altruistisch fühlen. Mein Freund, obwohl selbst ein Angehöriger der
englischen Rasse, mußte auf Grund seiner eigenen Erfahrungen in der
Traumanalyse der Dame energisch widersprechen: Im Traume sei auch die
edle Amerikanerin ebenso egoistisch wie der Österreicher.

Es kann also auch die Triebumbildung, auf welcher unsere Kultureignung
beruht, durch Einwirkungen des Lebens -- dauernd oder zeitweilig --
rückgängig gemacht werden. Ohne Zweifel gehören die Einflüsse des
Krieges zu den Mächten, welche solche Rückbildung erzeugen können, und
darum brauchen wir nicht allen jenen, die sich gegenwärtig unkulturell
benehmen, die Kultureignung abzusprechen, und dürfen erwarten, daß sich
ihre Triebveredlung in ruhigeren Zeiten wieder herstellen wird.

Vielleicht hat uns aber ein anderes Symptom bei unseren Weltmitbürgern
nicht weniger überrascht und geschreckt als das so schmerzlich
empfundene Herabsinken von ihrer ethischen Höhe. Ich meine die
Einsichtslosigkeit, die sich bei den besten Köpfen zeigt, ihre
Verstocktheit, Unzugänglichkeit gegen die eindringlichsten Argumente,
ihre kritiklose Leichtgläubigkeit für die anfechtbarsten Behauptungen.
Dies ergibt freilich ein trauriges Bild, und ich will ausdrücklich
betonen, daß ich keineswegs als verblendeter Parteigänger alle
intellektuelle Verfehlungen nur auf einer der beiden Seiten finde.
Allein diese Erscheinung ist noch leichter zu erklären und weit weniger
bedenklich als die vorhin gewürdigte. Menschenkenner und Philosophen
haben uns längst belehrt, daß wir Unrecht daran tun, unsere Intelligenz
als selbständige Macht zu schätzen und ihre Abhängigkeit vom
Gefühlsleben zu übersehen. Unser Intellekt könne nur verläßlich
arbeiten, wenn er den Einwirkungen starker Gefühlsregungen entrückt sei;
im gegenteiligen Falle benehme er sich einfach wie ein Instrument zu
Handen eines Willens und liefere das Resultat, das ihm von diesem
aufgetragen sei. Logische Argumente seien also ohnmächtig gegen
affektive Interessen, und darum sei das Streiten mit Gründen, die nach
_Falstaffs_ Wort so gemein sind wie Brombeeren, in der Welt der
Interessen so unfruchtbar. Die psychoanalytische Erfahrung hat diese
Behauptung womöglich noch unterstrichen. Sie kann alle Tage zeigen, daß
sich die scharfsinnigsten Menschen plötzlich einsichtslos wie
Schwachsinnige benehmen, sobald die verlangte Einsicht einem
Gefühlswiderstand bei ihnen begegnet, aber auch alles Verständnis wieder
erlangen, wenn dieser Widerstand überwunden ist. Die logische
Verblendung, die dieser Krieg oft gerade bei den besten unserer
Mitbürger hervorgezaubert hat, ist also ein sekundäres Phänomen, eine
Folge der Gefühlserregung, und hoffentlich dazu bestimmt, mit ihr zu
verschwinden.

Wenn wir solcher Art unsere uns entfremdeten Mitbürger wieder verstehen,
werden wir die Enttäuschung, die uns die Großindividuen der Menschheit,
die Völker, bereitet haben, um vieles leichter ertragen, denn an diese
dürfen wir nur weit bescheidenere Ansprüche stellen. Dieselben
wiederholen vielleicht die Entwicklung der Individuen und treten uns
heute noch auf sehr primitiven Stufen der Organisation, der Bildung
höherer Einheiten, entgegen. Dem entsprechend ist das erziehliche Moment
des äußeren Zwanges zur Sittlichkeit, welches wir beim Einzelnen so
wirksam fanden, bei ihnen noch kaum nachweisbar. Wir hatten zwar
gehofft, daß die großartige, durch Verkehr und Produktion hergestellte
Interessengemeinschaft den Anfang eines solchen Zwanges ergeben werde,
allein es scheint, die Völker gehorchen ihren Leidenschaften derzeit
weit mehr als ihren Interessen. Sie bedienen sich höchstens der
Interessen, um die Leidenschaften zu _rationalisieren_; sie schieben
ihre Interessen vor, um die Befriedigung ihrer Leidenschaften begründen
zu können. Warum die Völkerindividuen einander eigentlich
geringschätzen, hassen, verabscheuen, und zwar auch in Friedenszeiten,
und jede Nation die andere, das ist freilich rätselhaft. Ich weiß es
nicht zu sagen. Es ist in diesem Falle gerade so, als ob sich alle
sittlichen Erwerbungen der Einzelnen auslöschten, wenn man eine Mehrheit
oder gar Millionen Menschen zusammennimmt, und nur die primitivsten,
ältesten und rohesten, seelischen Einstellungen übrig blieben. An diesen
bedauerlichen Verhältnissen werden vielleicht erst späte Entwicklungen
etwas ändern können. Aber etwas mehr Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit
allerseits, in den Beziehungen der Menschen zueinander und zwischen
ihnen und den sie Regierenden dürfte auch für diese Umwandlung die Wege
ebnen.


II. Unser Verhältnis zum Tode.

Das zweite Moment, von dem ich es ableite, daß wir uns so befremdet
fühlen in dieser einst so schönen und trauten Welt, ist die Störung des
bisher von uns festgehaltenen Verhältnisses zum Tode.

Dies Verhältnis war kein aufrichtiges. Wenn man uns anhörte, so waren
wir natürlich bereit zu vertreten, daß der Tod der notwendige Ausgang
alles Lebens sei, daß jeder von uns der Natur einen Tod schulde und
vorbereitet sein müsse, die Schuld zu bezahlen, kurz, daß der Tod
natürlich sei, unableugbar und unvermeidlich. In Wirklichkeit pflegten
wir uns aber zu benehmen, als ob es anders wäre. Wir haben die
unverkennbare Tendenz gezeigt, den Tod beiseite zu schieben, ihn aus dem
Leben zu eliminieren. Wir haben versucht, ihn totzuschweigen; wir
besitzen ja auch das Sprichwort: man denke an etwas wie an den Tod. Wie
an den eigenen natürlich. Der eigene Tod ist ja auch unvorstellbar, und
so oft wir den Versuch dazu machen, können wir bemerken, daß wir
eigentlich als Zuschauer weiter dabei bleiben. So konnte in der
psychoanalytischen Schule der Ausspruch gewagt werden: Im Grunde glaube
niemand an seinen eigenen Tod oder, was dasselbe ist: Im Unbewußten sei
jeder von uns von seiner Unsterblichkeit überzeugt.

Was den Tod eines anderen betrifft, so wird der Kulturmensch es
sorgfältig vermeiden, von dieser Möglichkeit zu sprechen, wenn der zum
Tode Bestimmte es hören kann. Nur Kinder setzen sich über diese
Beschränkung hinweg; sie drohen einander ungescheut mit den Chancen des
Sterbens und bringen es auch zustande, einer geliebten Person
dergleichen ins Gesicht zu sagen, wie z. B.: Liebe Mama, wenn du leider
gestorben sein wirst, werde ich dies oder jenes. Der erwachsene
Kultivierte wird den Tod eines anderen auch nicht gerne in seine
Gedanken einsetzen, ohne sich hart oder böse zu erscheinen; es sei denn,
daß er berufsmäßig als Arzt, Advokat u. dgl. mit dem Tode zu tun habe.
Am wenigsten wird er sich gestatten, an den Tod des anderen zu denken,
wenn mit diesem Ereignis ein Gewinn an Freiheit, Besitz, Stellung
verbunden ist. Natürlich lassen sich Todesfälle durch dies unser
Zartgefühl nicht zurückhalten; wenn sie sich ereignet haben, sind wir
jedesmal tief ergriffen und wie in unseren Erwartungen erschüttert. Wir
betonen regelmäßig die zufällige Veranlassung des Todes, den Unfall, die
Erkrankung, die Infektion, das hohe Alter, und verraten so unser
Bestreben, den Tod von einer Notwendigkeit zu einer Zufälligkeit
herabzudrücken. Eine Häufung von Todesfällen erscheint uns als etwas
überaus Schreckliches. Dem Verstorbenen selbst bringen wir ein
besonderes Verhalten entgegen, fast wie eine Bewunderung für einen, der
etwas sehr Schwieriges zustande gebracht hat. Wir stellen die Kritik
gegen ihn ein, sehen ihm sein etwaiges Unrecht nach, geben den Befehl
aus: De mortuis nil nisi bene, und finden es gerechtfertigt, daß man ihm
in der Leichenrede und auf dem Grabstein das Vorteilhafteste nachrühmt.
Die Rücksicht auf den Toten, deren er doch nicht mehr bedarf, steht uns
über der Wahrheit, den meisten von uns gewiß auch über der Rücksicht für
den Lebenden.

Diese kulturell-konventionelle Einstellung gegen den Tod ergänzt sich
nun durch unseren völligen Zusammenbruch, wenn das Sterben eine der uns
nahestehenden Personen, einen Eltern- oder Gattenteil, ein Geschwister,
Kind oder teuren Freund getroffen hat. Wir begraben mit ihm unsere
Hoffnungen, Ansprüche, Genüsse, lassen uns nicht trösten und weigern
uns, den Verlorenen zu ersetzen. Wir benehmen uns dann wie eine Art von
_Asra_, welche _mitsterben, wenn die sterben, die sie lieben_.

Dies unser Verhältnis zum Tode hat aber eine starke Wirkung auf unser
Leben. Das Leben verarmt, es verliert an Interesse, wenn der höchste
Einsatz in den Lebensspielen, eben das Leben selbst, nicht gewagt werden
darf. Es wird so schal, gehaltlos wie etwa ein amerikanischer Flirt, bei
dem es von vorneherein feststeht, daß nichts vorfallen darf, zum
Unterschied von einer kontinentalen Liebesbeziehung, bei welcher beide
Partner stets der ernsten Konsequenzen eingedenk bleiben müssen. Unsere
Gefühlsbindungen, die unerträgliche Intensität unserer Trauer, machen
uns abgeneigt, für uns und die unserigen Gefahren aufzusuchen. Wir
getrauen uns nicht, eine Anzahl von Unternehmungen in Betracht zu
ziehen, die gefährlich, aber eigentlich unerläßlich sind wie
Flugversuche, Expeditionen in ferne Länder, Experimente mit
explodierbaren Substanzen. Uns lähmt dabei das Bedenken, wer der Mutter
den Sohn, der Gattin den Mann, den Kindern den Vater ersetzen soll, wenn
ein Unglück geschieht. Die Neigung, den Tod aus der Lebensrechnung
auszuschließen, hat so viele andere Verzichte und Ausschließungen im
Gefolge. Und doch hat der Wahlspruch der _Hansa_ gelautet: Navigare
necesse est, vivere non necesse! (Seefahren muß man, leben muß man
nicht.)

Es kann dann nicht anders kommen, als daß wir in der Welt der Fiktion,
in der Literatur, im Theater Ersatz suchen für die Einbuße des Lebens.
Dort finden wir noch Menschen, die zu sterben verstehen, ja die es auch
zustande bringen, einen anderen zu töten. Dort allein erfüllt sich uns
auch die Bedingung, unter welcher wir uns mit dem Tod versöhnen könnten,
wenn wir nämlich hinter allen Wechselfällen des Lebens noch ein
unantastbares Leben übrig behielten. Es ist doch zu traurig, daß es im
Leben zugehen kann wie im Schachspiel, wo ein falscher Zug uns zwingen
kann, die Partie verloren zu geben, mit dem Unterschied aber, daß wir
keine zweite, keine Revanchepartie beginnen können. Auf dem Gebiete der
Fiktion finden wir jene Mehrheit von Leben, deren wir bedürfen. Wir
sterben in der Identifizierung mit dem einen Helden, überleben ihn aber
doch und sind bereit, ebenso ungeschädigt ein zweites Mal mit einem
anderen Helden zu sterben.

Es ist evident, daß der Krieg diese konventionelle Behandlung des Todes
hinwegfegen muß. Der Tod läßt sich jetzt nicht mehr verleugnen; man muß
an ihn glauben. Die Menschen sterben wirklich, auch nicht mehr einzeln,
sondern viele, oft Zehntausende an einem Tag. Er ist auch kein Zufall
mehr. Es scheint freilich noch zufällig, ob diese Kugel den einen trifft
oder den andern; aber diesen anderen mag leicht eine zweite Kugel
treffen, die Häufung macht dem Eindruck des Zufälligen ein Ende. Das
Leben ist freilich wieder interessant geworden, es hat seinen vollen
Inhalt wieder bekommen.

Man müßte hier eine Scheidung in zwei Gruppen vornehmen, diejenigen, die
selbst im Kampf ihr Leben preisgeben, trennen von den anderen, die zu
Hause geblieben sind und nur zu erwarten haben, einen ihrer Lieben an
den Tod durch Verletzung, Krankheit oder Infektion zu verlieren. Es wäre
gewiß sehr interessant, die Veränderungen in der Psychologie der Kämpfer
zu studieren, aber ich weiß zu wenig darüber. Wir müssen uns an die
zweite Gruppe halten, zu der wir selbst gehören. Ich sagte schon, daß
ich meine, die Verwirrung und die Lähmung unserer Leistungsfähigkeit,
unter denen wir leiden, seien wesentlich mitbestimmt durch den Umstand,
daß wir unser bisheriges Verhältnis zum Tode nicht aufrecht halten
können und ein neues noch nicht gefunden haben. Vielleicht hilft es uns
dazu, wenn wir unsere psychologische Untersuchung auf zwei andere
Beziehungen zum Tode richten, auf jene, die wir dem Urmenschen, dem
Menschen der Vorzeit zuschreiben dürfen, und jene andere, die in jedem
von uns noch erhalten ist, aber sich unsichtbar für unser Bewußtsein in
tieferen Schichten unseres Seelenlebens verbirgt.

Wie sich der Mensch der Vorzeit gegen den Tod verhalten, wissen wir
natürlich nur durch Rückschlüsse und Konstruktionen, aber ich meine, daß
diese Mittel uns ziemlich vertrauenswürdige Auskünfte ergeben haben.

Der Urmensch hat sich in sehr merkwürdiger Weise zum Tode eingestellt.
Gar nicht einheitlich, vielmehr recht widerspruchsvoll. Er hat
einerseits den Tod ernst genommen, ihn als Aufhebung des Lebens
anerkannt und sich seiner in diesem Sinne bedient, anderseits aber auch
den Tod geleugnet, ihn zu nichts herabgedrückt. Dieser Widerspruch wurde
durch den Umstand ermöglicht, daß er zum Tode des anderen, des Fremden,
des Feindes eine radikal andere Stellung einnahm als zu seinem eigenen.
Der Tod des anderen war ihm recht, galt ihm als Vernichtung des
Verhaßten, und der Urmensch kannte kein Bedenken, ihn herbeizuführen. Er
war gewiß ein sehr leidenschaftliches Wesen, grausamer und bösartiger
als andere Tiere. Er mordete gerne und wie selbstverständlich. Den
Instinkt, der andere Tiere davon abhalten soll, Wesen der gleichen Art
zu töten und zu verzehren, brauchen wir ihm nicht zuzuschreiben.

Die Urgeschichte der Menschheit ist denn auch vom Morde erfüllt. Noch
heute ist das, was unsere Kinder in der Schule als Weltgeschichte
lernen, im wesentlichen eine Reihenfolge von Völkermorden. Das dunkle
Schuldgefühl, unter dem die Menschheit seit Urzeiten steht, das sich in
manchen Religionen zur Annahme einer _Urschuld_, einer Erbsünde,
verdichtet hat, ist wahrscheinlich der Ausdruck einer Blutschuld, mit
welcher sich die urzeitliche Menschheit beladen hat. Ich habe in meinem
Buche »_Totem_ und _Tabu_« (1913), den Winken von W. _Robertson Smith_,
_Atkinson_ und Ch. _Darwin_ folgend, die Natur dieser alten Schuld
erraten wollen, und meine, daß noch die heutige christliche Lehre uns
den Rückschluß auf sie ermöglicht. Wenn Gottes Sohn sein Leben opfern
mußte, um die Menschheit von der Erbsünde zu erlösen, so muß nach der
Regel der Talion, der Vergeltung durch Gleiches, diese Sünde eine
Tötung, ein Mord gewesen sein. Nur dies konnte zu seiner Sühne das Opfer
eines Lebens erfordern. Und wenn die Erbsünde ein Verschulden gegen
Gott-Vater war, so muß das älteste Verbrechen der Menschheit ein
Vatermord gewesen sein, die Tötung des Urvaters der primitiven
Menschenhorde, dessen Erinnerungsbild später zur Gottheit verklärt
wurde[1].

  [1] Vgl. diese Zeitschr. Bd. II. 1913. (Die infantile Wiederkehr des
  Totemismus.)

Der eigene Tod war dem Urmenschen gewiß ebenso unvorstellbar und
unwirklich, wie heute noch jedem von uns. Es ergab sich aber für ihn ein
Fall, in dem die beiden gegensätzlichen Einstellungen zum Tode
zusammenstießen und in Konflikt miteinander gerieten, und dieser Fall
wurde sehr bedeutsam und reich an fernwirkenden Folgen. Er ereignete
sich, wenn der Urmensch einen seiner Angehörigen sterben sah, sein
Weib, sein Kind, seinen Freund, die er sicherlich ähnlich liebte wie wir
die unseren, denn die Liebe kann nicht um vieles jünger sein als die
Mordlust. Da mußte er in seinem Schmerz die Erfahrung machen, daß man
auch selbst sterben könne, und sein ganzes Wesen empörte sich gegen
dieses Zugeständnis; jeder dieser Lieben war ja doch ein Stück seines
eigenen geliebten Ichs. Anderseits war ihm ein solcher Tod doch auch
recht, denn in jeder der geliebten Personen stak auch ein Stück
Fremdheit. Das Gesetz der Gefühlsambivalenz, das heute noch unsere
Gefühlsbeziehungen zu den von uns geliebtesten Personen beherrscht, galt
in Urzeiten gewiß noch uneingeschränkter. Somit waren diese geliebten
Verstorbenen doch auch Fremde und Feinde gewesen, die einen Anteil von
feindseligen Gefühlen bei ihm hervorgerufen hatten[2].

  [2] Siehe diese Zeitschr. Bd. I. 1912, Tabu und Ambivalenz. Und
  »_Totem_ und _Tabu_«.

Die Philosophen haben behauptet, das intellektuelle Rätsel, welches das
Bild des Todes dem Urmenschen aufgab, habe sein Nachdenken erzwungen und
sei der Ausgang jeder Spekulation geworden. Ich glaube, die Philosophen
denken da zu -- philosophisch, nehmen zu wenig Rücksicht auf die primär
wirksamen Motive. Ich möchte darum die obige Behauptung einschränken und
korrigieren: an der Leiche des erschlagenen Feindes wird der Urmensch
triumphiert haben, ohne einen Anlaß zu finden, sich den Kopf über die
Rätsel des Lebens und des Todes zu zerbrechen. Nicht das intellektuelle
Rätsel und nicht jeder Todesfall, sondern der Gefühlskonflikt beim Tode
geliebter und dabei doch auch fremder und gehaßter Personen hat die
Forschung der Menschen entbunden. Aus diesem Gefühlskonflikt wurde
zunächst die Psychologie geboren. Der Mensch konnte den Tod nicht mehr
von sich ferne halten, da er ihn in dem Schmerz um den Verstorbenen
verkostet hatte, aber er wollte ihn doch nicht zugestehen, da er sich
selbst nicht tot vorstellen konnte. So ließ er sich auf Kompromisse ein,
gab den Tod auch für sich zu, bestritt ihm aber die Bedeutung der
Lebensvernichtung, wofür ihm beim Tode des Feindes jedes Motiv gefehlt
hatte. An der Leiche der geliebten Person ersann er die Geister, und
sein Schuldbewußtsein ob der Befriedigung, die der Trauer beigemengt
war, bewirkte, daß diese erstgeschaffenen Geister böse Dämonen wurden,
vor denen man sich ängstigen mußte. Die Veränderungen des Todes legten
ihm die Zerlegung des Individuums in einen Leib und in eine --
ursprünglich mehrere -- Seelen nahe; in solcher Weise ging sein
Gedankengang dem Zersetzungsprozeß, den der Tod einleitet, parallel. Die
fortdauernde Erinnerung an den Verstorbenen wurde die Grundlage der
Annahme anderer Existenzformen, gab ihm die Idee eines Fortlebens nach
dem anscheinenden Tode.

Diese späteren Existenzen waren anfänglich nur Anhängsel an die durch
den Tod abgeschlossene, schattenhaft, inhaltsleer und bis in späte
Zeiten hinauf geringgeschätzt; sie trugen noch den Charakter
kümmerlicher Auskünfte. Wir erinnern, was die Seele des Achilleus dem
Odysseus erwidert:

    »Denn dich Lebenden einst verehrten wir, gleich den Göttern,
    Argos Söhn'; und jetzo gebietest du mächtig den Geistern,
    Wohnend allhier. Drum laß dich den Tod nicht reuen, Achilleus.
    Also ich selbst; und sogleich antwortet' er, solches erwidernd:
    Nicht mir rede vom Tod ein Trostwort, edler Odysseus!
    Lieber ja wollt' ich das Feld als Tagelöhner bestellen
    Einem dürftigen Mann, ohn' Erb' und eigenen Wohlstand,
    Als die sämtliche Schaar der geschwundenen Toten beherrschen.«

    (Odyssee XI v. 484-491)

Oder in der kraftvollen, bitter-parodistischen Fassung von H. _Heine_:

    »Der kleinste lebendige Philister
    Zu Stuckert am Neckar
    Viel glücklicher ist er
    Als ich, der Pelide, der tote Held,
    Der Schattenfürst in der Unterwelt«.

Erst später brachten es die Religionen zustande, diese Nachexistenz für
die wertvollere, vollgültige auszugeben und das durch den Tod
abgeschlossene Leben zu einer bloßen Vorbereitung herabzudrücken. Es war
dann nur konsequent, wenn man auch das Leben in die Vergangenheit
verlängerte, die früheren Existenzen, die Seelenwanderung und
Wiedergeburt ersann, alles in der Absicht, dem Tod seine Bedeutung als
Aufhebung des Lebens zu rauben. So frühzeitig hat die Verleugnung des
Todes, die wir als konventionell-kulturell bezeichnet haben, ihren
Anfang genommen.

An der Leiche der geliebten Person entstanden nicht nur die Seelenlehre,
der Unsterblichkeitsglaube und eine mächtige Wurzel des menschlichen
Schuldbewußtseins, sondern auch die ersten ethischen Gebote. Das erste
und bedeutsamste Verbot des erwachenden Gewissens lautete: _Du sollst
nicht töten._ Es war als die Reaktion gegen die hinter der Trauer
versteckte Haßbefriedigung am geliebten Toten gewonnen worden, und wurde
allmählich auf den ungeliebten Fremden und endlich auch auf den Feind
ausgedehnt.

An letzterer Stelle wird es vom Kulturmenschen nicht mehr verspürt. Wenn
das wilde Ringen dieses Krieges seine Entscheidung gefunden hat, wird
jeder der siegreichen Kämpfer froh in sein Heim zurückkehren, zu seinem
Weib und Kindern, unverweilt und ungestört durch Gedanken an die Feinde,
die er im Nahekampf oder durch die fernwirkende Waffe getötet hat. Es
ist bemerkenswert, daß sich die primitiven Völker, die noch auf der Erde
leben und dem Urmenschen gewiß näher stehen als wir, in diesem Punkte
anders verhalten -- oder verhalten haben, so lange sie noch nicht den
Einfluß unserer Kultur erfahren hatten. Der Wilde -- Australier,
Buschmann, Feuerländer -- ist keineswegs ein reueloser Mörder; wenn er
als Sieger vom Kriegspfade heimkehrt, darf er sein Dorf nicht betreten
und sein Weib nicht berühren, ehe er seine kriegerischen Mordtaten durch
oft langwierige und mühselige Bußen gesühnt hat. Natürlich liegt die
Erklärung aus seinem Aberglauben nahe; der Wilde fürchtet noch die
Geisterrache der Erschlagenen. Aber die Geister der erschlagenen Feinde
sind nichts anderes als der Ausdruck seines bösen Gewissens ob seiner
Blutschuld; hinter diesem Aberglauben verbirgt sich ein Stück ethischer
Feinfühligkeit, welches uns Kulturmenschen verloren gegangen ist[3].

  [3] S. diese Zeitschr., Bd. II. l. c.

Fromme Seelen, welche unser Wesen gerne von der Berührung mit Bösem und
Gemeinem ferne wissen möchten, werden gewiß nicht versäumen, aus der
Frühzeitigkeit und Eindringlichkeit des Mordverbotes befriedigende
Schlüsse zu ziehen auf die Stärke ethischer Regungen, welche uns
eingepflanzt sein müssen. Leider beweist dieses Argument noch mehr für
das Gegenteil. Ein so starkes Verbot kann sich nur gegen einen ebenso
starken Impuls richten. Was keines Menschen Seele begehrt, braucht man
nicht zu verbieten[4], es schließt sich von selbst aus. Gerade die
Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, daß wir
von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen
die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst, im Blute lag. Die
ethischen Strebungen der Menschheit, an deren Stärke und Bedeutsamkeit
man nicht zu nörgeln braucht, sind ein Erwerb der Menschengeschichte; in
leider sehr wechselndem Ausmaße sind sie dann zum ererbten Besitz der
heute lebenden Menschen geworden.

  [4] Vgl. die glänzende Argumentation von _Frazer_ in dieser Zeitschr.,
  Bd. III. p. 377.

Verlassen wir nun den Urmenschen und wenden wir uns dem Unbewußten im
eigenen Seelenleben zu. Wir fußen hier ganz auf der Untersuchungsmethode
der Psychoanalyse, der einzigen, die in solche Tiefen reicht. Wir
fragen: wie verhält sich unser Unbewußtes zum Problem des Todes? Die
Antwort muß lauten: fast genau so wie der Urmensch. In dieser wie in
vielen anderen Hinsichten lebt der Mensch der Vorzeit ungeändert in
unserem Unbewußten fort. Also unser Unbewußtes glaubt nicht an den
eigenen Tod, es gebärdet sich wie unsterblich. Was wir unser
»Unbewußtes« heißen, die tiefsten, aus Triebregungen bestehenden
Schichten unserer Seele, kennt überhaupt nichts Negatives, keine
Verneinung -- Gegensätze fallen in ihm zusammen -- und kennt darum auch
nicht den eigenen Tod, dem wir nur einen negativen Inhalt geben können.
Dem Todesglauben kommt also nichts Triebhaftes in uns entgegen.
Vielleicht ist dies sogar das Geheimnis des Heldentums. Die rationelle
Begründung des Heldentums ruht auf dem Urteil, daß das eigene Leben
nicht so wertvoll sein kann wie gewisse abstrakte und allgemeine Güter.
Aber ich meine, häufiger dürfte das instinktive und impulsive Heldentum
sein, welches von solcher Motivierung absieht und einfach nach der
Zusicherung des _Anzengruber_'schen Steinklopferhanns: _Es kann dir nix
g'scheh'n_, den Gefahren trotzt. Oder jene Motivierung dient nur dazu,
die Bedenken wegzuräumen, welche die dem Unbewußten entsprechende
heldenhafte Reaktion hintanhalten können. Die Todesangst, unter deren
Herrschaft wir häufiger stehen, als wir selbst wissen, ist dagegen etwas
Sekundäres, und meist aus Schuldbewußtsein hervorgegangen.

Anderseits anerkennen wir den Tod für Fremde und Feinde und verhängen
ihn über sie ebenso bereitwillig und unbedenklich wie der Urmensch. Hier
zeigt sich freilich ein Unterschied, den man in der Wirklichkeit für
entscheidend erklären wird. Unser Unbewußtes führt die Tötung nicht aus,
es denkt und wünscht sie bloß. Aber es wäre unrecht, diese _psychische_
Realität im Vergleiche zur _faktischen_ so ganz zu unterschätzen. Sie
ist bedeutsam und folgenschwer genug. Wir beseitigen in unseren
unbewußten Regungen täglich und stündlich alle, die uns im Wege stehen,
die uns beleidigt und geschädigt haben. Das »Hol' ihn der Teufel«, das
sich so häufig in scherzendem Unmut über unsere Lippen drängt, und das
eigentlich sagen will: Hol' ihn der Tod, in unserem Unbewußten ist es
ernsthafter, kraftvoller Todeswunsch. Ja, unser Unbewußtes mordet selbst
für Kleinigkeiten; wie die alte athenische Gesetzgebung des _Drakon_
kennt es für Verbrechen keine andere Strafe als den Tod, und dies mit
einer gewissen Konsequenz, denn jede Schädigung unseres allmächtigen und
selbstherrlichen Ichs ist im Grunde ein crimen laesae majestatis.

So sind wir auch selbst, wenn man uns nach unseren unbewußten
Wunschregungen beurteilt, wie die Urmenschen eine Rotte von Mördern. Es
ist ein Glück, daß alle diese Wünsche nicht die Kraft besitzen, die
ihnen die Menschen in Urzeiten noch zutrauten[5]; in dem Kreuzfeuer von
gegenseitigen Verwünschungen wäre die Menschheit längst zugrunde
gegangen, die besten und weisesten der Männer darunter wie die schönsten
und holdesten der Frauen.

  [5] Vgl. über »Allmacht der Gedanken« in dieser Zeitschr., Bd. III.
  1913.

Mit Aufstellungen wie dieser findet die Psychoanalyse bei den Laien
meist keinen Glauben. Man weist sie als Verleumdungen zurück, welche
gegen die Versicherungen des Bewußtseins nicht in Betracht kommen, und
übersieht geschickt die geringen Anzeichen, durch welche sich auch das
Unbewußte dem Bewußtsein zu verraten pflegt. Es ist darum am Platze
darauf hinzuweisen, daß viele Denker, die nicht von der Psychoanalyse
beeinflußt sein konnten, die Bereitschaft unserer stillen Gedanken, mit
Hinwegsetzung über das Mordverbot zu beseitigen, was uns im Wege steht,
deutlich genug angeklagt haben. Ich wähle hiefür ein einziges berühmt
gewordenes Beispiel an Stelle vieler anderer:

Im »Père Goriot« spielt _Balzac_ auf eine Stelle in den Werken J. J.
_Rousseau's_ an, in welcher dieser Autor den Leser fragt, was er wohl
tun würde, wenn er -- ohne Paris zu verlassen und natürlich ohne
entdeckt zu werden -- einen alten Mandarin in Peking durch einen bloßen
Willensakt töten könnte, dessen Ableben ihm einen großen Vorteil
einbringen müßte. Er läßt erraten, daß er das Leben dieses Würdenträgers
für nicht sehr gesichert hält. »Tuer son mandarin« ist dann
sprichwörtlich worden für diese geheime Bereitschaft auch der heutigen
Menschen.

Es gibt auch eine ganze Anzahl von zynischen Witzen und Anekdoten,
welche nach derselben Richtung Zeugnis ablegen, wie z. B. die dem
Ehemanne zugeschriebene Äußerung: Wenn einer von uns beiden stirbt,
übersiedle ich nach Paris. Solche zynische Witze wären nicht möglich,
wenn sie nicht eine verleugnete Wahrheit mitzuteilen hätten, zu der man
sich nicht bekennen darf, wenn sie ernsthaft und unverhüllt
ausgesprochen wird. Im Scherz darf man bekanntlich sogar die Wahrheit
sagen.

Wie für den Urmenschen, so ergibt sich auch für unser Unbewußtes ein
Fall, in dem die beiden entgegengesetzten Einstellungen gegen den Tod,
die eine, welche ihn als Lebensvernichtung anerkennt, und die andere,
die ihn als unwirklich verleugnet, zusammenstoßen und in Konflikt
geraten. Und dieser Fall ist der nämliche wie in der Urzeit, der Tod
oder die Todesgefahr eines unserer Lieben, eines Eltern- oder
Gattenteils, eines Geschwisters, Kindes oder lieben Freundes. Diese
Lieben sind uns einerseits ein innerer Besitz, Bestandteile unseres
eigenen Ichs, anderseits aber auch teilweise Fremde, ja Feinde. Den
zärtlichsten und innigsten unserer Liebesbeziehungen hängt mit Ausnahme
ganz weniger Situationen ein Stückchen Feindseligkeit an, welches den
unbewußten Todeswunsch anregen kann. Aus diesem Ambivalenzkonflikt geht
aber nicht wie dereinst die Seelenlehre und die Ethik hervor, sondern
die Neurose, die uns tiefe Einblicke auch in das normale Seelenleben
gestattet. Wie häufig haben die psychoanalytisch behandelnden Ärzte mit
dem Symptom der überzärtlichen Sorge um das Wohl der Angehörigen oder
mit völlig unbegründeten Selbstvorwürfen nach dem Tode einer geliebten
Person zu tun gehabt. Das Studium dieser Vorfälle hat ihnen über die
Verbreitung und Bedeutung der unbewußten Todeswünsche keinen Zweifel
gelassen.

Der Laie empfindet ein außerordentliches Grauen vor dieser
Gefühlsmöglichkeit und nimmt diese Abneigung als legitimen Grund zum
Unglauben gegen die Behauptungen der Psychoanalyse. Ich meine mit
Unrecht. Es wird keine Herabsetzung unseres Liebeslebens beabsichtigt,
und es liegt auch keine solche vor. Unserem Verständnis wie unserer
Empfindung liegt es freilich ferne, Liebe und Haß in solcher Weise
miteinander zu verkoppeln, aber indem die Natur mit diesem Gegensatzpaar
arbeitet, bringt sie es zustande, die Liebe immer wach und frisch zu
erhalten, um sie gegen den hinter ihr lauernden Haß zu versichern. Man
darf sagen, die schönsten Entfaltungen unseres Liebeslebens danken wir
der _Reaktion_ gegen den feindseligen Impuls, den wir in unserer Brust
verspüren.

Resümieren wir nun: unser Unbewußtes ist gegen die Vorstellung des
eigenen Todes ebenso unzugänglich, gegen den Fremden ebenso mordlustig,
gegen die geliebte Person ebenso zwiespältig (ambivalent) wie der Mensch
der Urzeit. Wie weit haben wir uns aber in der konventionell-kulturellen
Einstellung gegen den Tod von diesem Urzustand entfernt!

Es ist leicht zu sagen, wie der Krieg in diese Entzweiung eingreift. Er
streift uns die späteren Kulturauflagerungen ab und läßt den Urmenschen
in uns wieder zum Vorschein kommen. Er zwingt uns wieder, Helden zu
sein, die an den eigenen Tod nicht glauben können; er bezeichnet uns die
Fremden als Feinde, deren Tod man herbeiführen oder herbeiwünschen soll;
er rät uns, uns über den Tod geliebter Personen hinwegzusetzen. Der
Krieg ist aber nicht abzuschaffen; solange die Existenzbedingungen der
Völker so verschieden und die Abstoßungen unter ihnen so heftig sind,
wird es Kriege geben müssen. Da erhebt sich denn die Frage: Sollen wir
nicht diejenigen sein, die nachgeben und sich ihm anpassen? Sollen wir
nicht zugestehen, daß wir mit unserer kulturellen Einstellung zum Tode
psychologisch wieder einmal über unseren Stand gelebt haben, und
vielmehr umkehren und die Wahrheit fatieren? Wäre es nicht besser, dem
Tod den Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken einzuräumen,
der ihm gebührt, und unsere unbewußte Einstellung zum Tode, die wir
bisher so sorgfältig unterdrückt haben, ein wenig mehr hervorzukehren?
Es scheine das keine Höherleistung zu sein, eher ein Rückschritt in
manchen Stücken, eine Regression, aber es hat den Vorteil, der
Wahrhaftigkeit mehr Rechnung zu tragen und uns das Leben wieder
erträglicher zu machen. Das Leben zu ertragen, bleibt ja doch die erste
Pflicht aller Lebenden. Die Illusion wird wertlos, wenn sie uns darin
stört.

Wir erinnern uns des alten Spruches:

    _Si vis pacem, para bellum._
    (Wenn du den Frieden erhalten willst, so rüste zum Krieg.)

Es wäre zeitgemäß ihn abzuändern:

    _Si vis vitam, para mortem._
    (Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein.)



  [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
    jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
    steht.

  Zwang war. Die Menschen die heute geboren werden, bringen ein Stück
  Zwang war. Die Menschen, die heute geboren werden, bringen ein Stück

  Ausdruck guter Triebregungen sind, dem anderen versagen sie ihre
  Ausdruck guter Triebregungen sind, den anderen versagen sie ihre

  englischen Rasse, müßte auf Grund seiner eigenen Erfahrungen in der
  englischen Rasse, mußte auf Grund seiner eigenen Erfahrungen in der

  Gemeinem ferne wissen möchten; werden gewiß nicht versäumen, aus der
  Gemeinem ferne wissen möchten, werden gewiß nicht versäumen, aus der

  Mit Aufstellungen wie diese findet die Psychoanalyse bei den Laien
  Mit Aufstellungen wie dieser findet die Psychoanalyse bei den Laien

  ]





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