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Title: Vom Musikalisch-Schönen - Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst
Author: Hanslick, Eduard, 1825-1904
Language: German
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                        VOM MUSIKALISCH-SCHÖNEN

                       EIN BEITRAG ZUR REVISION
                       DER ÄSTHETIK DER TONKUNST

                                  VON

                          Dr. EDUARD HANSLICK

                WEILAND PROF. AN DER WIENER UNIVERSITÄT


                            13.-15. AUFLAGE


                                LEIPZIG

                DRUCK UND VERLAG VON BREITKOPF & HÄRTEL

                                 1922



Inhalt.


                                                                      Seite

  Kapitel I.

  Die Gefühlsästhetik                                                     1


  Kapitel II.

  Die »Darstellung von Gefühlen« ist nicht Inhalt der Musik              20


  Kapitel III.

  Das Musikalisch-Schöne                                                 58


  Kapitel IV.

  Analyse des subjektiven Eindruckes der Musik                           93


  Kapitel V.

  Das ästhetische Aufnehmen der Musik gegenüber dem pathologischen      120


  Kapitel VI.

  Die Beziehungen der Tonkunst zur Natur                                141


  Kapitel VII.

  Die Begriffe »Inhalt« und »Form« in der Musik                         160



Vorwort.


An der achten Auflage (1891) dieser zuerst im Jahre 1854 erschienenen
Schrift war nichts weiter neu, als das passendere Format und die
geschmackvollere Ausstattung. Dasselbe gilt von der hier vorliegenden
_neuen_ Auflage. Auch dieser darf ich die Worte anpassen, welche _Fr.
Th. Vischer_ dem Wiederabdruck einer älteren Abhandlung (»der Traum«)
vorausschickte.[1] »Ich nehme«, sagt Vischer, »diese Studie in die
gegenwärtige Sammlung auf, ohne sie gegen Angriffe, die sie erfahren
hat, zu schützen. Auch verbessernden Überarbeitens habe ich mich
enthalten, ausgenommen kleine unwichtige Nachhilfen. Ich würde jetzt
manches vielleicht anders sagen, mehr auseinandersetzen, gedeckter,
beschirmter hinstellen; wem gefällt eine Arbeit ganz, wenn er sie nach
Jahren wieder liest? Allein man weiß auch, wie leicht mit nachbesserndem
Eingreifen mehr verderbt als besser gemacht wird.«

  [1] »Altes und Neues« von Fr. Th. Vischer (Stuttgart 1881) S. 187.

Wollte ich hier in Polemik eingehen, auf alle Kritiken antwortend,
welche meine Schrift hervorgerufen hat, so würde dies Büchlein zu einem
erschreckend starken Band anschwellen. Meine Überzeugungen sind
dieselben geblieben, desgleichen die Positionen und schroff sich
gegenüberstehenden Musikparteien der Gegenwart. Der Leser wird mir daher
wohl auch die Wiederholung einiger Bemerkungen gestatten, mit welchen
ich das Erscheinen der dritten Auflage begleitet habe. Der Mängel dieser
Abhandlung bin ich mir sehr lebhaft bewußt. Demungeachtet hat das weit
über Erwarten günstige Schicksal der früheren Auflagen und der mich
hocherfreuende Anteil, mit welchem bedeutende Fachmänner philosophischer
wie musikalischer Disziplin davon Akt nahmen, mich überzeugt, daß meine
Ideen, auch in der etwas scharfen und rhapsodischen Weise ihres
ursprünglichen Auftretens, auf gutes Erdreich gefallen sind. Eine
merkwürdige Übereinstimmung mit diesen Anschauungen fand ich, aufs
freudigste überrascht, in den erst nach dem Tode des Dichters
erschienenen kleinen Aufsätzen und Aphorismen über Musik von
_Grillparzer_. Einige der wertvollsten dieser Aussprüche habe ich in
dieser neuen Auflage zu zitieren mir nicht versagen können;
ausführlicher davon ist in meinem Essay: »_Grillparzer und die Musik_«
gehandelt.[2]

  [2] »Musikalische Stationen« von Ed. Hanslick. Berlin, Verein f. dt.
  Lit. 1885. 5. Aufl.

Leidenschaftliche Gegner haben mir mitunter eine vollständige Polemik
gegen alles, was Gefühl heißt, aufgedichtet, während jeder unbefangene
und aufmerksame Leser doch unschwer erkennt, daß ich nur gegen die
falsche Einmischung der Gefühle in die _Wissenschaft_ protestiere, also
gegen jene ästhetischen Schwärmer kämpfe, die mit der Prätension, den
Musiker zu belehren, nur ihre klingenden Opiumträume auslegen. Ich teile
vollkommen die Ansicht, daß der letzte Wert des Schönen immer auf
unmittelbarer Evidenz des Gefühls beruhen wird. Aber ebenso fest halte
ich an der Überzeugung, daß man aus all den üblichen Appellationen an
das Gefühl nicht ein einziges musikalisches Gesetz ableiten kann.

Diese Überzeugung bildet den einen, den _negativen Hauptsatz_ dieser
Untersuchung. Er wendet sich zuerst und vornehmlich gegen die allgemein
verbreitete Ansicht, die Musik habe »Gefühle darzustellen«. Es ist nicht
einzusehen, wie man daraus die »Forderung einer absoluten
Gefühllosigkeit der Musik« herleiten will. Die Rose duftet, aber ihr
»Inhalt« ist doch nicht »die Darstellung des Duftes«; der Wald
verbreitet schattige Kühle, allein er _stellt_ doch nicht »das Gefühl
schattiger Kühle _dar_«. Es ist kein müßiges Wortgefecht, wenn
ausdrücklich gegen den Begriff »darstellen« vorgegangen wird; denn aus
ihm sind die größten Irrtümer der musikalischen Ästhetik entsprungen.
Etwas »darstellen« involviert immer die Vorstellung von zwei getrennten,
verschiedenen Dingen, deren eines erst ausdrücklich durch einen
besonderen Akt auf das andere bezogen wird.

_Emanuel Geibel_ hat durch ein glückliches Bild dies Verhältnis
anschaulicher und erfreulicher ausgedrückt, als philosophische Analyse
es vermochte, und zwar in den Distichen:[3]

    »Warum glückt es dir nie, Musik mit Worten zu schildern?
    Weil sie, ein rein Element, Bild und Gedanken verschmäht.
    Selbst das Gefühl ist nur wie ein sanft durchscheinender Flußgrund,
    Drauf ihr klingender Strom schwellend und sinkend entrollt.«

  [3] Neue Gedichte.

Wenn dies schöne Sinngedicht obendrein unter dem nachhallenden Eindruck
dieser Schrift entstand, wie ich zu vermuten Anlaß habe, so muß sich
meine, von poetischen Gemütern zumeist verketzerte, Anschauung doch auch
mit wahrer Poesie leidlich vertragen.

Jenem _negativen_ Hauptsatz steht korrespondierend der _positive_
gegenüber: die Schönheit eines Tonstücks ist _spezifisch musikalisch_,
d. h. den Tonverbindungen ohne Bezug auf einen fremden,
außermusikalischen Gedankenkreis innewohnend. Es lag in der redlichen
Absicht des Verfassers, das »Musikalisch-Schöne« als Lebensfrage unserer
Kunst und oberste Norm ihrer Ästhetik vollständig zu beleuchten. Wenn
trotzdem das polemische, negierende Element in der Ausführung ein
Übergewicht erlangt, so wird man dieses in Erwägung der besonderen
Zeitumstände hoffentlich entschuldigen. Als ich diese Abhandlung
schrieb, waren die Wortführer der Zukunftsmusik eben am lautesten bei
Stimme und mußten wohl Leute von meinem Glaubensbekenntnis zur Reaktion
reizen. Als ich die zweite Auflage veranstaltete, waren eben _Liszts_
Programm-Symphonien hinzugekommen, welche vollständiger, als es bisher
gelungen ist, die selbständige Bedeutung der Musik abdanken, und diese
dem Hörer nur mehr als gestaltentreibendes Mittel eingeben. Seither
besitzen wir nun auch _Richard Wagners_ »Tristan«, »Nibelungenring« und
seine Lehre von der »_unendlichen Melodie_«, d. h. die zum Prinzip
erhobene Formlosigkeit, den gesungenen und gegeigten Opiumrausch, für
dessen Kultus ja in Bayreuth ein eigener Tempel eröffnet worden ist.

Man möge es mir zugute halten, wenn ich angesichts solcher Zeichen keine
Neigung fühlte, den polemischen Teil meiner Schrift zu kürzen oder
abzuschwächen, sondern im Gegenteil noch dringender auf das Eine und
Unvergängliche in der Tonkunst, auf die _musikalische Schönheit_ hinwies,
wie sie unsere großen Meister verkörperten und echt musikalische Erfinder
auch in aller Zukunft pflegen werden.

                                                        Ed. H.



I.

Die Gefühlsästhetik.


Die bisherige Behandlungsweise der musikalischen Ästhetik leidet fast
durchaus an dem empfindlichen Mißgriff, daß sie sich nicht sowohl mit
der Ergründung dessen, was in der Musik schön ist, als vielmehr mit der
Schilderung der Gefühle abgibt, die sich unser dabei bemächtigen. Diese
Untersuchungen entsprechen vollständig dem Standpunkt jener älteren
ästhetischen Systeme, welche das Schöne nur in bezug auf die dadurch
wachgerufenen Empfindungen betrachteten und bekanntlich auch die
Philosophie des _Schönen_ als eine Tochter der Empfindung (αἴσθησις)
aus der Taufe hoben.

An und für sich unphilosophisch, bekommen solche Ästhetiken in ihrer
Anwendung auf die ätherischeste aller Künste geradezu etwas
Sentimentales; das, so erquickend als möglich für schöne Seelen, dem
Lernbegierigen äußerst wenig Aufklärung bietet. Wer über das Wesen der
Tonkunst Belehrung sucht, der wünscht eben aus der dunklen Herrschaft
des Gefühls herauszukommen, und nicht -- wie ihm in den meisten
Handbüchern geschieht -- fortwährend auf das Gefühl verwiesen zu
werden.

Der Drang nach einer möglichst objektiven Erkenntnis der Dinge, wie er
in unserer Zeit alle Gebiete des Wissens bewegt, muß notwendig auch an
die Erforschung des _Schönen_ rühren. Diese wird ihm nur dadurch genügen
können, daß sie mit einer Methode bricht, welche vom subjektiven Gefühl
ausgeht, um nach einem poetischen Spaziergang über die ganze Peripherie
des Gegenstandes wieder zum Gefühl zurückzukehren. Sie wird, will sie
nicht ganz illusorisch werden, sich der naturwissenschaftlichen Methode
wenigstens so weit nähern müssen, daß sie versucht, den Dingen selbst an
den Leib zu rücken, und zu forschen, was in diesen, losgelöst von den
tausendfältig wechselnden Eindrücken, das Bleibende, Objektive sei.

Die Poesie und die bildenden Künste sind in ihrer ästhetischen
Erforschung und Begründung dem gleichen Erwerb der Tonkunst weit voraus.
Ihre Gelehrten haben größtenteils den Wahn abgelegt, es könne die
Ästhetik einer bestimmten Kunst durch bloßes Anpassen des allgemeinen,
metaphysischen Schönheitsbegriffs (der doch in jeder Kunst eine Reihe
neuer Unterschiede eingeht) gewonnen werden. Die knechtische
Abhängigkeit der Spezial-Ästhetiken von dem obersten metaphysischen
Prinzip einer allgemeinen Ästhetik weicht immer mehr der Überzeugung,
daß jede Kunst in ihren eigenen technischen Bestimmungen gekannt, aus
sich selbst heraus begriffen sein will. Das »System« macht allmählich
der »Forschung« Platz, und diese hält fest an dem Grundsatz, daß die
Schönheitsgesetze jeder Kunst untrennbar sind von den Eigentümlichkeiten
ihres Materials, ihrer Technik.[4]

  [4] R. Schumann hat viel Unheil angestiftet mit seinem Satz (I, 43 der
  Gesammelten Schriften): »Die Ästhetik der einen Kunst ist die der
  andern, nur das Material ist verschieden.«

  Ganz anders urteilt Grillparzer und trifft das Richtige mit folgendem
  Ausspruch (IX, 142 der sämtl. Werke): »Der übelste Dienst, den man in
  Deutschland den Künsten erweisen konnte, war wohl der, sie sämtlich
  unter den Namen der Kunst zusammenzufassen. So viel Berührungspunkte
  sie unter sich allerdings wohl haben, so unendlich verschieden sind
  sie in den Mitteln, ja in den Grundbedingungen ihrer Ausübung. Wenn
  man den Grundunterschied der Musik und der Dichtkunst schlagend
  charakterisieren wollte, so müßte man darauf aufmerksam machen, wie
  die Wirkung der Musik vom Sinnenreiz, vom Nervenspiel beginnt und,
  nachdem das Gefühl angeregt worden, höchstens in letzter Instanz an
  das Geistige gelangt, indes die Dichtkunst zuerst den Begriff erweckt,
  nur durch ihn auf das Gefühl wirkt und als äußerste Stufe der
  Vollendung oder der Erniedrigung erst das Sinnliche teilnehmen läßt;
  der Weg beider ist daher gerade der umgekehrte. Die eine Vergeistigung
  des Körperlichen, die andere Verkörperung des Geistigen.«

Sodann pflegen die Ästhetiken der redenden und der bildenden Künste,
sowie ihre praktischen Ausläufer, die Kunstkritiken, bereits die Regel
festzuhalten, daß in ästhetischen Untersuchungen vorerst das schöne
Objekt und nicht das empfindende Subjekt zu erforschen ist.

Die _Tonkunst_ allein scheint diesen sachlichen Standpunkt noch immer nicht
erringen zu können. Sie scheidet streng ihre theoretisch-grammatikalischen
Regeln von den ästhetischen Untersuchungen und liebt es, erstere so
trocken verständig, letztere so lyrisch-sentimental als möglich zu
halten. Sich ihren Inhalt als eine selbständige Art des Schönen klar und
scharf gegenüberzustellen, war der musikalischen Ästhetik bisher eine
unerschwingliche Anstrengung. Statt dessen treiben da die »Empfindungen«
den alten Spuk bei hellichtem Tage fort. Das musikalisch Schöne wird
nach wie vor nur von Seite seines subjektiven Eindrucks angesehen, und
in Büchern, Kritiken und Gesprächen täglich bekräftigt, daß die
_Affekte_ die einzige ästhetische Grundlage der Tonkunst und allein
berechtigt seien, die Grenzen des Urteils über dieselbe abzustecken.

Die Musik -- so wird uns gelehrt -- kann nicht durch Begriffe den
Verstand unterhalten, wie die Dichtkunst, ebensowenig durch sichtbare
Formen das Auge, wie die bildenden Künste, also muß sie den Beruf haben,
auf die _Gefühle_ des Menschen zu wirken. »Die Musik hat es mit den
Gefühlen zu tun.« Dieses »zu tun haben« ist einer der charakteristischen
Ausdrücke der bisherigen musikalischen Ästhetik. _Worin_ der
Zusammenhang der Musik mit den Gefühlen, bestimmter Musikstücke mit
bestimmten Gefühlen bestehe, nach welchen Naturgesetzen er wirke, nach
welchen Kunstgesetzen er zu gestalten sei, darüber ließen uns diejenigen
vollkommen im Dunkeln, die eben damit »zu tun« hatten. Erst wenn man
sein Auge ein wenig an dieses Dunkel gewöhnt hat, gelangt man dahin, zu
entdecken, daß in der herrschenden musikalischen Anschauung die Gefühle
eine doppelte Rolle spielen.

Fürs erste wird als _Zweck_ und _Bestimmung_ der Musik aufgestellt, sie
solle Gefühle oder »schöne Gefühle« erwecken. Fürs zweite bezeichnet man
die Gefühle als den _Inhalt_, welchen die Tonkunst in ihren Werken
darstellt.

Beide Sätze haben das Ähnliche, daß der eine genau so falsch ist, wie
der andere.

Die Widerlegung des ersteren, die meisten musikalischen Handbücher
einleitenden Satzes darf uns nicht lange aufhalten. Das Schöne hat
überhaupt keinen _Zweck_; denn es ist bloße _Form_, welche zwar nach dem
_Inhalt_, mit dem sie erfüllt wird, zu den verschiedensten Zwecken
verwandt werden kann, aber selbst keinen andern hat, als sich selbst.
Wenn aus der Betrachtung des Schönen angenehme Gefühle für den
Betrachter entstehen, so gehen diese das Schöne als solches nichts an.
Ich kann wohl dem Betrachter Schönes vorführen in der bestimmten
Absicht, daß er daran Vergnügen finde, allein diese Absicht hat mit der
Schönheit des Vorgeführten selbst nichts zu schaffen. Das Schöne ist und
bleibt schön, auch wenn es keine Gefühle erzeugt, ja wenn es weder
geschaut noch betrachtet wird; also zwar nur _für_ das Wohlgefallen
eines anschauenden Subjekts, aber nicht _durch_ dasselbe.

Von einem _Zweck_ kann also in diesem Sinn auch bei der Musik nicht
gesprochen werden, und die Tatsache, daß diese Kunst in einem lebhaften
Zusammenhang mit unseren Gefühlen steht, rechtfertigt keineswegs die
Behauptung, es liege in diesem Zusammenhange ihre ästhetische Bedeutung.

Um dieses Verhältnis näher zu untersuchen, müssen wir vorerst die
Begriffe »Gefühl« und »Empfindung« -- gegen deren Verwechselung im
gewöhnlichen Sprachgebrauch nichts einzuwenden ist -- hier streng
unterscheiden.

_Empfindung_ ist das Wahrnehmen einer bestimmten Sinnesqualität: eines
Tons, einer Farbe. _Gefühl_ das Bewußtwerden einer Förderung oder
Hemmung unseres Seelenzustandes, also eines Wohlseins oder Mißbehagens.
Wenn ich den Geruch oder Geschmack eines Dinges, dessen Form, Farbe oder
Ton mit meinen Sinnen einfach wahrnehme (perzipiere), so _empfinde_ ich
diese Qualitäten; wenn Wehmut, Hoffnung, Frohsinn oder Haß mich
bemerkbar über den gewöhnlichen Seelenzustand emporheben oder unter
denselben herabdrücken, _so fühle ich_.[5]

  [5] In dieser Begriffsbezeichnung stimmen die älteren Philosophen mit
  den neueren Physiologen überein, und wir mußten sie unbedingt den
  Benennungen der _Hegel_schen Schule vorziehen, welche bekanntlich
  innere und äußere Empfindung unterscheidet.

Das Schöne trifft zuerst unsere Sinne. Dieser Weg ist ihm nicht
eigentümlich, es teilt ihn mit allem überhaupt Erscheinenden. Die
Empfindung ist Anfang und Bedingung des ästhetischen Gefallens und
bildet erst die Basis des _Gefühls_, welches stets ein Verhältnis und
oft die kompliziertesten Verhältnisse voraussetzt. _Empfindungen_ zu
erregen bedarf es nicht der Kunst; ein einzelner Ton, eine einzelne
Farbe kann das. Wie gesagt, werden beide Ausdrücke willkürlich
vertauscht, meistens aber in älteren Werken »Empfindung« genannt, was
wir als »Gefühl« bezeichnen. Unsere _Gefühle_ also, meinen jene
Schriftsteller, solle die Musik erregen und uns abwechselnd mit Andacht,
Liebe, Jubel, Wehmut erfüllen.

Solche Bestimmung hat aber in Wahrheit weder diese noch eine andere
Kunst. Die Kunst hat vorerst ein _Schönes_ darzustellen. Das Organ,
womit das Schöne aufgenommen wird, ist nicht das Gefühl,[6] sondern die
_Phantasie_, als die Tätigkeit des reinen Schauens.

  [6] _Hegel_ hat gezeigt, wie die Untersuchung der »Empfindungen« (nach
  unserer Terminologie: der Gefühle), welche eine Kunst erweckt, ganz im
  Unbestimmten stehen bleibt und gerade vom eigentlichen konkreten
  Inhalt absieht. »Was empfunden wird«, sagt er, »bleibt eingehüllt in
  der Form abstraktester, einzelner Subjektivität, und deshalb sind auch
  die Unterschiede der Empfindung ganz abstrakte, keine Unterschiede der
  Sache selbst« (Ästhetik I, 42).

Merkwürdig ist es, wie die Musiker und älteren Ästhetiker sich nur in
dem Kontrast von »Gefühl« und »Verstand« bewegen, als läge nicht die
Hauptsache gerade _inmitten_ dieses angeblichen Dilemmas. Aus der
Phantasie des Künstlers entsteigt das Tonstück für die Phantasie des
Hörers. Freilich ist die Phantasie gegenüber dem Schönen nicht bloß ein
_Schauen_, sondern ein Schauen mit _Verstand_, d. i. Vorstellen und
Urteilen, letzteres natürlich mit solcher Schnelligkeit, daß die
einzelnen Vorgänge uns gar nicht zum Bewußtsein kommen, und die
Täuschung entsteht, es geschehe _unmittelbar_, was doch in Wahrheit von
vielfach vermittelnden Geistesprozessen abhängt. Das Wort »Anschauung«,
längst von den Gesichtsvorstellungen auf alle Sinneserscheinungen
übertragen, entspricht überdies trefflich dem Akte des aufmerksamen
Hörens, welches ja in einem sukzessiven Betrachten der Tonformen
besteht. Die Phantasie ist dabei keineswegs ein abgeschlossenes Gebiet:
so wie sie ihren Lebensfunken aus den Sinnesempfindungen zog, sendet sie
wiederum ihre Radien schnell an die Tätigkeit des Verstandes und des
Gefühls aus. Dies sind für die echte Auffassung des Schönen jedoch nur
Grenzgebiete.

In reiner Anschauung genießt der Hörer das erklingende Tonstück, jedes
stoffliche Interesse muß ihm fern liegen. Ein solches ist aber die
Tendenz, Affekte in sich erregen zu lassen. Ausschließliche Betätigung
des _Verstandes_ durch das Schöne verhält sich _logisch_ anstatt
ästhetisch, eine vorherrschende Wirkung auf das _Gefühl_ ist noch
bedenklicher, nämlich gerade _pathologisch_.

Alles das, von der allgemeinen Ästhetik längst entwickelt, gilt
gleichmäßig für das Schöne aller Künste. Behandelt man also die _Musik_
als _Kunst_, so muß man die Phantasie und nicht das Gefühl als die
ästhetische Instanz derselben erkennen. Der bescheidene Vordersatz
scheint uns darum rätlich, weil bei dem wichtigen Nachdruck, welcher
unermüdlich auf die durch Musik zu erzielende Sänftigung der
menschlichen Leidenschaften gelegt wird, man in der Tat oft nicht weiß,
ob von der Tonkunst als von einer polizeilichen, einer pädagogischen
oder medizinischen Maßregel die Rede ist.

Die Musiker sind aber weniger in dem Irrtume befangen, _alle_ Künste
gleichmäßig den Gefühlen vindizieren zu wollen, als sie darin vielmehr
etwas spezifisch der _Tonkunst_ Eigentümliches sehen. Die Macht und
Tendenz, beliebige Affekte im Hörer zu erwecken, sei es eben, was die
_Musik_ vor den übrigen Künsten charakterisiere.[7]

  [7] Wo »Gefühl« nicht einmal von »Empfindung« getrennt wurde, da kann
  von einem tieferen Eingehen in die Unterschiede des ersteren um so
  weniger die Rede sein; sinnliche und intellektuelle Gefühle, die
  chronische Form der _Stimmung_, die akute des _Affektes_, Neigung und
  Leidenschaft, sowie die eigentümlichen Färbungen dieser als »pathos«
  der Griechen und »passio« der neueren Lateiner wurden in bunter
  Mischung nivelliert, und von der Musik lediglich ausgesagt, sie sei
  speziell die Kunst, Gefühle zu erregen.

Allein so wenig wir diese Wirkung als die Aufgabe der Künste überhaupt
anerkannten, so wenig können wir in ihr das spezifische Wesen der
_Musik_ erblicken. Einmal festgehalten, daß die _Phantasie_ das
eigentliche Organ des Schönen ist, wird eine sekundäre Wirkung auf das
Gefühl in _jeder_ Kunst vorkommen. Bewegt uns nicht ein großes
Geschichtsbild mit der Kraft eines Erlebnisses? Stimmen uns Raphaels
Madonnen nicht zur Andacht, Poussins Landschaften nicht zu sehnsüchtiger
Wanderlust? Bleibt etwa der Anblick des Straßburger Doms ohne Wirkung
auf unser Gemüt? Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Sie gilt
ebenso von der Poesie, ja von mancher außerästhetischen Tätigkeit, z. B.
religiöser Erbauung, Eloquenz u. a. Wir sehen, daß die übrigen Künste
ebenfalls stark genug auf das Gefühl einwirken. Den angeblichen
prinzipiellen Unterschied derselben von der Musik müßte man daher auf
ein Mehr oder Weniger dieser Wirkung basieren. Ganz unwissenschaftlich
an sich, hätte dieser Ausweg obendrein die Entscheidung, ob man stärker
und tiefer fühle bei einer Mozartschen Symphonie oder bei einem
Trauerspiele Shakespeares, bei einem Gedicht von Uhland oder einem
Hummelschen Rondo, füglich jedermann selbst zu überlassen. Meint man
aber, die Musik wirke »unmittelbar« auf das Gefühl, die andern Künste
erst durch die Vermittlung von Begriffen, so fehlt man nur mit andern
Worten, weil, wie wir gesehen, die Gefühle auch von dem
Musikalisch-Schönen nur in zweiter Linie beschäftigt werden sollen,
_unmittelbar_ nur die Phantasie. Unzähligemal wird in musikalischen
Abhandlungen die Analogie herbeigerufen, die zweifellos zwischen der
Musik und der _Baukunst_ besteht. Ist aber je einem vernünftigen
Architekten beigefallen, die Baukunst habe den _Zweck_, Gefühle zu
erregen, oder es seien diese der _Inhalt_ derselben?

_Jedes_ wahre Kunstwerk wird sich in irgendeine Beziehung zu unserm
Fühlen setzen, _keines_ in eine ausschließliche. Man sagt also gar
nichts für das ästhetische Prinzip der Musik Entscheidendes, wenn man
sie nur ganz allgemein durch ihre Wirkung auf das Gefühl
charakterisiert. Ebensowenig etwa, als man das Wesen des Weins
ergründet, indem man sich betrinkt. Es wird einzig auf die _spezifische_
Art ankommen, wie solche Affekte _durch Musik_ hervorgerufen werden.
Statt also an der sekundären und unbestimmten Gefühlswirkung
musikalischer Erscheinungen zu kleben, gilt es, in das Innere der Werke
zu dringen und die spezifische Kraft ihres Eindrucks aus den Gesetzen
ihres eigenen Organismus zu erklären. Ein Maler oder ein Poet überredet
sich kaum mehr, Rechenschaft von dem Schönen seiner Kunst abgelegt zu
haben, wenn er untersuchte, welche »Gefühle« seine Landschaft oder sein
Drama hervorruft: er wird der zwingenden Macht nachspüren, _warum_ das
Werk gefällt und weshalb gerade in dieser und keiner andern Weise. Daß
diese Untersuchung, wie wir später sehen werden, in der Tonkunst viel
schwieriger ist als in den andern Künsten, ja daß das Erforschliche in
ihr nur bis zu einer gewissen Tiefe hinabreicht, berechtigt ihre
Kritiker noch lange nicht, Gefühlsaffektionen und musikalische Schönheit
unmittelbar zu vermengen, statt sie in wissenschaftlicher Methode
möglichst getrennt darzustellen.

Kann überhaupt das Gefühl keine Basis für ästhetische Gesetze sein, so
ist obendrein gegen die Sicherheit des musikalischen Fühlens
Wesentliches zu bemerken. Wir meinen hier nicht bloß die konventionelle
Befangenheit, die es ermöglicht, daß unser Fühlen und Vorstellen oft
durch Texte, Überschriften und andere bloß gelegentliche
Gedankenverbindungen, besonders in Kirchen-, Kriegs- und
Theaterkompositionen eine Richtung erhält, welche wir fälschlich dem
Charakter der Musik an sich zuzuschreiben geneigt sind. Vielmehr ist
überhaupt der Zusammenhang eines Tonstückes mit der dadurch
hervorgerufenen Gefühlsbewegung kein unbedingt kausaler, sondern es
wechselt diese Stimmung mit dem wechselnden Standpunkt unserer
musikalischen Erfahrungen und Eindrücke. Wir begreifen heute oft kaum,
wie unsere Großeltern _diese_ Tonreihe für einen entsprechenden Ausdruck
gerade _dieses_ Affekts ansehen konnten. Dafür ist z. B. die
außerordentliche Verschiedenheit ein Beweis, mit der viele Mozartsche,
Beethovensche und Webersche Kompositionen zur Zeit ihrer Neuheit im
Gegensatz zu heute auf die Herzen der Hörer wirkten. Wie viele Werke von
Mozart erklärte man zu ihrer Zeit für das Leidenschaftlichste, Feurigste
und Kühnste, was überhaupt an musikalischen Stimmungsbildern möglich
schien. Der Behaglichkeit und dem reinen Wohlsein, welches aus Haydns
Symphonien ausströme, stellte man die Ausbrüche heftiger Leidenschaft,
ernstester Kämpfe, bitterer, schneidender Schmerzen in Mozarts[8] Musik
gegenüber. Zwanzig bis dreißig Jahre später entschied man genau so
zwischen Beethoven und Mozart. Die Stelle Mozarts als Repräsentanten der
heftigen, hinreißenden Leidenschaft nahm Beethoven ein, und Mozart war
zu der olympischen Klassizität Haydns avanciert. Ähnliche Wandlungen
seiner Anschauung erfährt jeder aufmerksame Musiker im Laufe eines
längeren Lebens an sich selbst. Durch diese Verschiedenheit der
Gefühlswirkung ist jedoch die _musikalische_ Schätzung vieler einst so
aufregend wirkender Werke, der ästhetische Genuß, den ihre Originalität
und _Schönheit_ uns heute noch bereitet, an und für sich nicht
alteriert. Der Zusammenhang musikalischer Werke mit gewissen Stimmungen
besteht also nicht immer, überall, notwendig, als ein absolut
Zwingendes, er ist vielmehr unvergleichlich wandelbarer als in jeder
andern Kunst.

  [8] Namentlich von _Rochlitz_ existieren manche solcher für uns heute
  sehr verwunderlichen Aussprüche über Mozarts Instrumentalmusiken.
  Derselbe Rochlitz bezeichnet das reizende Menuetto capriccio in Webers
  As-dur-Sonate als einen »ununterbrochen fortströmenden Erguß einer
  leidenschaftlichen, heftig aufgeregten Seele, und doch mit
  bewunderungswürdiger Festigkeit zusammengehalten«.

So besitzt denn die Wirkung der Musik auf das Gefühl weder die
Notwendigkeit, noch die Ausschließlichkeit, noch die Stetigkeit, welche
eine Erscheinung aufweisen müßte, um ein ästhetisches Prinzip begründen
zu können.

Die starken Gefühle selbst, welche die Musik aus ihrem Schlummer
wachsingt, und all die süßen wie schmerzlichen Stimmungen, in die sie
uns Halbträumende einlullt: wir möchten sie nicht durchaus
unterschätzen. Zu den schönsten, heilsamsten Mysterien gehört es ja, daß
die Kunst solche Bewegungen ohne irdischen Anlaß, recht von Gottes
Gnaden hervorzurufen vermag. Nur gegen die unwissenschaftliche
Verwertung dieser Tatsachen für _ästhetische Prinzipien_ legen wir
Verwahrung ein. Lust und Trauer können durch Musik in hohem Grade
erweckt werden; das ist richtig. Nicht in noch höherem vielleicht durch
den Gewinnst des großen Treffers, oder durch die Todeskrankheit eines
Freundes? Solange man Anstand nimmt, deshalb ein Lotterielos den
Symphonien, oder ein ärztliches Bulletin den Ouvertüren beizuzählen, so
lange darf man auch faktisch erzeugte Affekte nicht als eine ästhetische
Spezialität der Tonkunst oder eines bestimmten Tonstücks behandeln. Es
wird einzig auf die _spezifische Art_ ankommen, _wie_ solche Affekte
_durch Musik_ hervorgerufen werden. Wir werden im IV. und V. Kapitel den
Einwirkungen der Musik auf das Gefühl die aufmerksamste Betrachtung
widmen, und die _positiven_ Seiten dieses merkwürdigen Verhältnisses
untersuchen. Hier, am Eingang unserer Schrift, konnte die negative
Seite, als Protest gegen ein unwissenschaftliches Prinzip, nicht zu
scharf hervorgekehrt werden.

Der erste, der meines Wissens diese Gefühlsästhetik in der Musik
angegriffen hat, ist _Herbart_ (im 9. Kapitel seiner Enzyklopädie).
Nachdem er sich gegen die »Deutelei« von Kunstwerken erklärt hat, sagt
er: »Die Traumdeuter und Astrologen haben sich Jahrtausende nicht wollen
sagen lassen, daß ein Mensch träume, weil er schläft, und daß die
Gestirne sich bald da, bald dort zeigen, weil sie sich bewegen. So
wiederholen bis auf den heutigen Tag selbst gute Musikkenner den Satz,
die Musik drücke Gefühle aus, als ob das Gefühl, das etwa durch sie
erregt wird, und zu dessen Ausdruck sie eben deshalb, wenn man will,
sich gebrauchen läßt, den allgemeinen Regeln des einfachen und doppelten
Kontrapunktes zugrunde läge, auf denen ihr wahres Wesen beruht. Was
mögen doch die alten Künstler, welche die möglichen Formen der Fuge
entwickelten, auszudrücken beabsichtigt haben? Gar nichts wollen sie
_ausdrücken_; ihre Gedanken gingen nicht hinaus, sondern in das innere
Wesen der Kunst hinein; diejenigen aber, die sich auf Bedeutungen
_legen_, verraten ihre Scheu vor dem innern und ihre Vorliebe für den
äußern Schein.« Leider hat Herbart diese gelegentliche Opposition im
einzelnen nicht näher begründet, und neben dieser glänzenden finden sich
bei ihm auch manche schiefe Bemerkungen über Musik. Jedenfalls haben
seine obigen Worte, wie wir sogleich sehen werden, nicht die verdiente
Beachtung gefunden.

    _Anmerkung._ Es dünkt uns für den vorliegenden Zweck kaum notwendig,
    den Ansichten, deren Bekämpfung uns beschäftigt, die Namen ihrer
    Autoren beizusetzen, da diese Ansichten weniger die Blüte
    eigentümlicher Überzeugungen, als vielmehr der Ausdruck einer
    allgemein gewordenen traditionellen Denkweise sind. Nur um einen
    Einblick in die ausgebreitete Herrschaft dieser Grundsätze zu
    gewähren, mögen einige Zitate älterer und neuerer Musikschriftsteller
    aus der großen Menge derer, welche dafür zu Gebote stehen, hier
    Platz finden.

    _Mattheson_: »Wir müssen bei jeder Melodie uns eine _Gemütsbewegung_
    (wo nicht mehr als eine) zum Hauptzweck setzen.« (Vollkomm.
    Kapellmeister. S. 143.)

    _Neidhardt_: »Der Musik Endzweck ist, _alle Affekte_ durch die
    bloßen Töne und deren Rhythmum, trotz dem besten Redner, rege zu
    machen.« (Vorrede zur »Temperatur«.)

    _J. N. Forkel_ versteht unter den »Figuren in der Musik« »dasselbe,
    was sie in der Dichtkunst und Redekunst sind, nämlich der Ausdruck
    der unterschiedenen Arten, nach welchen sich _Empfindungen_ und
    _Leidenschaften_ äußern«. (Über die Theorie der Musik. Göttingen
    1777. S. 26.)

    _J. Mosel_ definiert die Musik als »die Kunst, _bestimmte
    Empfindungen_ durch geregelte Töne auszudrücken«.

    _C. F. Michaelis_: »Musik ist die Kunst des Ausdrucks von
    _Empfindungen_ durch Modulation der Töne. Sie ist die Sprache der
    Affekte« usw. (Über den Geist der Tonkunst, 2. Versuch. 1800.
    S. 29.)

    _Marburg_: »Der Zweck, den der Komponist sich in seiner Arbeit
    vorsetzen soll, ist, die Natur nachzuahmen ... die Leidenschaften
    nach seinem Willen zu regen ... die Bewegungen der Seele, die
    Neigungen des Herzens nach dem Leben zu schildern.« (Krit. Musikus,
    1. Band. 1750. 40. Stück.)

    _W. Heinse_: »Der Hauptendzweck der Musik ist die Nachahmung oder
    vielmehr Erregung von _Leidenschaften_.« (Musikal. Dialoge. 1805.
    S. 30.)

    _J. J. Engel_: »Eine Sinfonie, eine Sonate usw. muß die Ausführung
    einer Leidenschaft, die aber in mannigfaltige Empfindungen ausbeugt,
    enthalten.« (Über musikal. Malerei. 1780. S. 29.)

    _J. Ph. Kirnberger_: »Ein melodischer Satz (Thema) ist ein
    verständlicher Satz aus der Sprache der Empfindung, der einen
    empfindsamen Zuhörer die Gemütslage, die ihn hervorgebracht hat,
    fühlen läßt.« (Kunst des reinen Satzes, II. Teil, S. 152.)

    _Pierers_ Universallexikon (2. Auflage): »_Musik_ ist die Kunst,
    durch schöne Töne Empfindungen und Seelenzustände auszudrücken. Sie
    steht höher als die _Dichtkunst_, welche nur (!) mit dem Verstande
    erkennbare Stimmungen darzustellen vermag, da die Musik ganz
    unerklärliche Empfindungen und Ahnungen ausdrückt.«

    _G. Schillings_ Universallexikon der Tonkunst bringt unter dem
    Artikel »Musik« die gleiche Erklärung.

    _Koch_ definiert die Musik als die »Kunst, ein angenehmes Spiel der
    Empfindungen durch Töne auszudrücken«. (Musik. Lexikon: »Musik«.)

    _A. André_: »Musik ist die Kunst, Töne hervorzubringen, welche
    Empfindungen und Leidenschaften schildern, erregen und unterhalten.«
    (Lehrbuch der Tonkunst I.)

    _Sulzer_: »Musik ist die Kunst, durch Töne unsere Leidenschaften
    auszudrücken, wie in der Sprache durch Worte.« (Theorie der schönen
    Künste.)

    _J. W. Böhm_: »Nicht den Verstand, nicht die Vernunft, sondern nur
    das _Gefühlsvermögen_ beschäftigen der Saiten harmonische Töne.«
    (Analyse des Schönen der Musik. Wien 1830. S. 62.)

    _Gottfried Weber_: »Die Tonkunst ist die Kunst, durch Töne
    _Empfindungen_ auszudrücken.« (Theorie der Tonsetzkunst, 2. Aufl.
    I. Bd. S. 15.)

    _F. Hand_: »Die Musik stellt _Gefühle_ dar. _Jedes Gefühl und jeder
    Gemütszustand_ hat an sich und so auch in der Musik seinen besonderen
    Ton und Rhythmus.« (Ästhetik der Tonkunst, I. Bd. 1837. § 24.)

    _Amadeus Autodidaktus_: »Die Tonkunst entquillt und wurzelt nur in
    der Welt der geistigen _Gefühle_ und _Empfindungen_. Musikalisch
    melodische Töne (!) erklingen nicht dem Verstande, welcher
    Empfindungen ja nur beschreibt und zergliedert, ... sie sprechen zu
    dem _Gemüt_« usw. (Aphorismen über Musik. Leipzig 1857. S. 329.)

    _Fermo Bellini_: »Musica è l'arte, che esprime i sentimenti e le
    passioni col mezzo di suoni.« (Manuale di Musica. Milano, Ricordi.
    1853.)

    _Friedrich Thiersch_: Allgemeine Ästhetik (Berlin 1846) § 18.
    S. 101: »Die Musik ist die Kunst, durch Wahl und Verbindung der Töne
    Gefühle und Stimmungen des Gemütes auszudrücken oder zu erregen.«

    _A. v. Dommer_: Elemente der Musik (Leipzig 1862): »_Aufgabe der
    Tonkunst_: Die Tonkunst soll _Gefühle_ und durch das Gefühl
    _Vorstellungen_ in uns erregen.« (S. 174.)

    _Rich. Wagner_, »Das Kunstwerk der Zukunft« (1850. Gesamm.
    Schr. III, 99 und ähnlich sonst): »Das Organ des _Herzens_ ist der
    _Ton_, seine künstlerisch bewußte Sprache die Tonkunst.« In den
    späteren Schriften freilich werden Wagners Definitionen noch
    nebelhafter; da ist ihm Musik gleich »Kunst des Ausdrucks« überhaupt
    (in »Oper und Drama«, Ges. Schriften III, 343), die ihm als »Idee
    der Welt« befähigt scheint, »das Wesen der Dinge in seiner
    unmittelbarsten Kundgebung zu erfassen« usw. (»Beethoven«. 1870.
    S. 6 ff.).



II.

Die »Darstellung von Gefühlen« ist nicht der Inhalt der Musik.


Teils als Konsequenz dieser Theorie, welche die Gefühle für das
_Endziel_ musikalischer Wirkung erklärt, teils als Korrektiv derselben,
wird der Satz aufgestellt: die _Gefühle_ seien der _Inhalt_, welchen die
Tonkunst darzustellen habe.

Die philosophische Untersuchung einer Kunst drängt zu der Frage nach dem
_Inhalt_ derselben. Die Verschiedenheit des Inhalts der Künste
(untereinander) und die damit zusammenhängende Grundverschiedenheit
ihrer Gestaltung folgt mit Notwendigkeit aus der Verschiedenheit der
_Sinne_, an welche sie gebunden sind. Jeder Kunst eignet ein Kreis von
Ideen, welche sie mit ihren Ausdrucksmitteln als Ton, Wort, Farbe, Stein
darstellt. Das einzelne Kunstwerk verkörpert demnach eine bestimmte Idee
als Schönes in sinnlicher Erscheinung. Diese bestimmte Idee, die sie
verkörpernde Form, und die Einheit beider sind Bedingungen des
Schönheitsbegriffs, von welchen keine wissenschaftliche Ergründung
irgend einer Kunst sich mehr trennen kann.

_Was_ Inhalt eines Werks der dichtenden oder bildenden Kunst sei, läßt
sich mit Worten ausdrücken und auf Begriffe zurückführen. Wir sagen:
dies Bild stellt ein Blumenmädchen vor, diese Statue einen Gladiator,
jenes Gedicht eine Tat Rolands. Das mehr oder minder vollkommene
Aufgehen des so bestimmten Inhalts in der künstlerischen Erscheinung
begründet dann unser Urteil über die Schönheit des Kunstwerks.

Als _Inhalt der Musik_ hat man ziemlich einverständlich die ganze
Stufenleiter menschlicher _Gefühle_ genannt, weil man in diesen den
Gegensatz zu begrifflicher Bestimmtheit und daher die richtige
Unterscheidung von dem Ideal der bildenden und dichtenden Kunst gefunden
glaubte. Demnach seien die Töne und ihr kunstreicher Zusammenhang bloß
Material, Ausdrucksmittel, wodurch der Komponist die Liebe, den Mut, die
Andacht, das Entzücken darstellt. Diese Gefühle in ihrer reichen
Mannigfaltigkeit seien die Idee, welche den irdischen Leib des Klanges
angetan, um als musikalisches Kunstwerk auf Erden zu wandeln. Was uns an
einer reizenden Melodie, einer sinnigen Harmonie ergötzt und erhebt, sei
nicht diese selbst, sondern was sie bedeutet: das Flüstern der
Zärtlichkeit, das Stürmen der Kampflust.

Um auf festen Boden zu gelangen, müssen wir vorerst solche altverbundene
Metaphern schonungslos trennen: Das _Flüstern_? Ja; -- aber keineswegs
der »Sehnsucht«; das _Stürmen_? Allerdings, doch nicht der »Kampflust«.
In der Tat besitzt die Musik das eine oder das andere; sie kann
flüstern, stürmen, rauschen, -- das Lieben und Zürnen aber trägt nur
unser eigenes Herz in sie hinein.

Die Darstellung eines bestimmten Gefühls oder Affektes liegt gar nicht
in dem eigenen Vermögen der Tonkunst.

Es stehen nämlich die Gefühle in der Seele nicht isoliert da, so daß sie
sich aus ihr gleichsam herausheben ließen von einer Kunst, welcher die
Darstellung der übrigen Geistestätigkeiten verschlossen ist. Sie sind im
Gegenteil abhängig von physiologischen und pathologischen
Voraussetzungen, sind bedingt durch Vorstellungen, Urteile, kurz durch
eben das ganze Gebiet verständigen und vernünftigen Denkens, welchem man
das Gefühl so gern als ein Gegensätzliches gegenüberstellt.

Was macht denn ein Gefühl zu _diesem bestimmten_ Gefühl? Zur Sehnsucht,
Hoffnung, Liebe? Etwa die bloße Stärke oder Schwäche, das Wogen der
inneren Bewegung? Gewiß nicht. Diese kann bei verschiedenen Gefühlen
gleich sein und auch wieder bei demselben Gefühl, in mehreren
Individuen, zu andern Zeiten, verschieden. Nur auf Grundlage einer
Anzahl -- im Momente starken Fühlens vielleicht unbewußter --
Vorstellungen und Urteile kann unser Seelenzustand sich zu eben diesem
bestimmten Gefühl verdichten. Das Gefühl der Hoffnung ist untrennbar von
der Vorstellung eines glücklicheren Zustandes, welcher kommen soll und
mit dem gegenwärtigen verglichen wird. Die Wehmut vergleicht ein
vergangenes Glück mit der Gegenwart. Das sind ganz bestimmte
Vorstellungen, Begriffe, _ohne sie_, ohne diesen _Gedanken_apparat, kann
man das gegenwärtige Fühlen nicht »Hoffnung«, nicht »Wehmut« nennen, er
macht sie dazu. Abstrahiert man von ihm, so bleibt eine unbestimmte
Bewegung, allenfalls die Empfindung allgemeinen Wohlbefindens oder
Mißbehagens. Die _Liebe_ kann ohne die Vorstellung einer geliebten
Persönlichkeit, ohne den Wunsch und das Streben nach der Beglückung,
Verherrlichung, dem Besitz dieses Gegenstandes nicht gedacht werden.
Nicht die Art der bloßen Seelenbewegung, sondern ihr begrifflicher Kern,
ihr wirklicher, historischer Inhalt macht sie zur _Liebe_. Ihrer
_Dynamik_ nach kann diese ebensogut sanft als stürmisch, ebensowohl froh
als schmerzlich auftreten und bleibt doch immer Liebe. Diese Betrachtung
allein reicht hin, zu zeigen, daß Musik nur jene verschiedenen
begleitenden Adjektiva ausdrücken könne, nie das Substantivum, die Liebe
selbst. Ein bestimmtes Gefühl (eine Leidenschaft, ein Affekt) existiert
als solches niemals ohne einen wirklichen historischen Inhalt, der eben
nur in Begriffen dargelegt werden kann. Begriffe kann die Musik als
»unbestimmte Sprache« zugestandenerweise nicht wiedergeben -- ist da
nicht die Folgerung psychologisch unablehnbar, daß sie auch bestimmte
Gefühle nicht auszudrücken vermag? Die _Bestimmtheit_ der Gefühle ruht
ja gerade in deren begrifflichem Kern.

Wie es komme, daß Musik dennoch Gefühle, wie Wehmut, Frohsinn u. dgl.
_erregen kann_ (nicht _muß_), das wollen wir später, wo vom subjektiven
Eindruck der Musik die Rede sein wird, untersuchen. Hier mußte bloß
theoretisch festgestellt werden, ob die Musik fähig sei, ein bestimmtes
Gefühl _darzustellen_. Die Frage war zu verneinen, da die Bestimmtheit
der Gefühle von konkreten Vorstellungen und Begriffen nicht getrennt
werden kann, welche letztere außer dem Gestaltungsbereich der Musik
liegen. -- Einen gewissen Kreis von _Ideen_ hingegen kann die Musik mit
ihren eigensten Mitteln reichlichst darstellen. Dies sind, entsprechend
dem sie aufnehmenden Organ, unmittelbar alle diejenigen Ideen, welche
auf hörbare Veränderungen der Kraft, der Bewegung, der Proportionen sich
beziehen, also die Idee des Anschwellenden, des Absterbenden, des
Eilens, Zögerns, des künstlich Verschlungenen, des einfach
Fortschreitenden u. dgl. -- Es kann ferner der ästhetische Ausdruck
einer Musik anmutig genannt werden, sanft, heftig, kraftvoll, zierlich,
frisch: lauter Ideen, welche in Tonverbindungen eine entsprechende
sinnliche Erscheinung finden. Wir können diese Eigenschaftswörter daher
unmittelbar von _musikalischen_ Bildungen gebrauchen, ohne an die
ethische Bedeutung zu denken, welche sie für das menschliche Seelenleben
haben, und die eine geläufige Ideenverbindung so schnell zur Musik
heranbringt, ja mit den rein musikalischen Eigenschaften unter der Hand
zu verwechseln pflegt.

Die Ideen, welche der Komponist darstellt, sind vor allem und zuerst
rein _musikalische_. Seiner Phantasie erscheint eine bestimmte schöne
Melodie. Sie soll nichts anderes sein als sie selbst. Wie aber jede
konkrete Erscheinung auf ihren höheren Gattungsbegriff, auf die sie
zunächst erfüllende Idee hinweist, und so fort immer höher und höher bis
zur absoluten Idee, so geschieht es auch mit den musikalischen Ideen. So
wird z. B. _dieses_ sanfte, harmonisch ausklingende Adagio die Idee des
Sanften, Harmonischen _überhaupt_ zur schönen Erscheinung bringen. Die
allgemeine Phantasie, welche gern die Ideen der Kunst in bezug zum
eigenen, menschlichen Seelenleben setzt, wird dies Ausklingen noch
höher, z. B. als den Ausdruck milder Resignation eines in sich
versöhnten Gemütes auffassen, und _kann_ vielleicht sofort bis zur
Ahnung eines ewigen jenseitigen Friedens aufsteigen.

Auch die Poesie und bildende Kunst stellen vorerst ein Konkretes dar.
Erst mittelbar kann das Bild eines Blumenmädchens auf die allgemeinere
Idee mädchenhafter Zufriedenheit und Anspruchslosigkeit, ein beschneiter
Kirchhof auf die Idee der irdischen Vergänglichkeit hinweisen. Geradeso,
nur mit ungleich unsicherer und willkürlicher Deutung, kann der Hörer in
diesem Musikstück die Idee jugendlichen Genügens, in jenem die Idee der
Vergänglichkeit heraushören; allein ebensowenig als in den genannten
Bildern sind diese abstrakten _Ideen_ der Inhalt des musikalischen
Werkes: von einer Darstellung des »_Gefühls_ der Vergänglichkeit«, des
»_Gefühls_ der jugendlichen Genügsamkeit« kann nun vollends keine Rede
sein.

Es gibt Ideen, welche durch die Tonkunst vollkommen repräsentiert werden
und trotzdem nicht als _Gefühl_ vorkommen, sowie umgekehrt _Gefühle_ von
solcher Mischung das Gemüt bewegen können, daß sie in keiner durch Musik
darstellbaren Idee ihre entsprechende Bezeichnung finden.

_Was_ kann also die Musik von den Gefühlen darstellen, wenn nicht deren
Inhalt?

Nur das _Dynamische_ derselben. Sie vermag die Bewegung eines physischen
Vorganges nach den Momenten: schnell, langsam, stark, schwach, steigend,
fallend nachzubilden. Bewegung ist aber nur eine Eigenschaft, ein Moment
des Gefühls, nicht dieses selbst. Gemeiniglich glaubt man, das
darstellende Vermögen der Musik genügend zu begrenzen, wenn man
behauptet, sie könne keineswegs den _Gegenstand_ eines Gefühls
bezeichnen, wohl aber das Gefühl selbst, z. B. nicht das Objekt einer
bestimmten Liebe, wohl aber »Liebe«. Sie kann dies in Wahrheit
ebensowenig. Nicht Liebe, sondern nur eine Bewegung kann sie schildern,
welche bei der Liebe oder auch einem andern Affekt vorkommen kann, immer
jedoch das Unwesentliche seines Charakters ist. »Liebe« ist ein
abstrakter Begriff, so gut wie »Tugend« und »Unsterblichkeit«. Die
Versicherung der Theoretiker, Musik habe keine abstrakten Begriffe
darzustellen, ist überflüssig; denn _keine_ Kunst kann dies. Daß nur
_Ideen_, d. i. lebendig gewordene Begriffe Inhalt künstlerischer
Verkörperung sind, versteht sich von selbst.[9] Aber auch die _Ideen_
der Liebe, des Zornes, der Furcht können Instrumentalwerke nicht zur
Erscheinung bringen, weil zwischen jenen Ideen und schönen
Tonverbindungen kein notwendiger Zusammenhang besteht. Welches Moment
dieser Ideen ist's denn also, dessen die Musik sich in der Tat so
wirksam zu bemächtigen weiß? Es ist die _Bewegung_ (natürlich in dem
weiteren Sinne, der auch das Anschwellen und Abschwächen des einzelnen
Tones oder Akkordes als »Bewegung« auffaßt). Sie bildet das Element,
welches die Tonkunst mit den Gefühlszuständen gemeinschaftlich hat, und
das sie schöpferisch in tausend Abstufungen und Gegensätzen zu gestalten
vermag.

  [9] Vischer (Ästh. § 11 Anmerkung) definiert die bestimmten Ideen als
  die Reiche des Lebens, sofern ihre Wirklichkeit als ihrem Begriff
  entsprechend gedacht wird. Denn _Idee_ bezeichnet immer den in seiner
  Wirklichkeit rein und mangellos gegenwärtigen Begriff.

Der Begriff der _Bewegung_ ist bisher in den Untersuchungen des Wesens
und der Wirkung der Musik auffallend vernachlässigt worden; er dünkt uns
der wichtigste und fruchtbarste.

Was uns außerdem in der Musik bestimmte Seelenzustände zu malen scheint,
ist _symbolisch_.

Wie die Farben, so besitzen nämlich die Töne schon von Haus aus und in
ihrer Vereinzelung symbolische Bedeutung, welche außerhalb und vor
aller künstlerischen Absicht wirkt. Jede Farbe atmet eigentümlichen
Charakter: sie ist uns keine bloße Ziffer, welche durch den Künstler
lediglich eine Stellung erhält, sondern eine Kraft, schon von Natur aus
in sympathetischen Zusammenhang mit gewissen Stimmungen gesetzt. Wer
kennt nicht die Farbendeutungen, wie sie in ihrer Einfachheit gang und
gäbe, oder durch feinere Geister zu poetischem Raffinement gehoben
werden? Wir verbinden Grün mit dem Gefühl der Hoffnung, Blau mit der
Treue. _Rosenkranz_ erkennt in Rotgelb »anmutige Würde«, in Violett
»philisterhafte Freundlichkeit« usw. (Psychologie, 2. Aufl. S. 102.)

In ähnlicher Weise sind uns die elementaren Stoffe der Musik: Tonarten,
Akkorde und Klangfarben schon an sich _Charaktere_. Wir haben auch eine
nur zu geschäftige Auslegekunst für die Bedeutung musikalischer
Elemente; _Schubarts_ Symbolik der Tonarten bietet in ihrer Art ein
Seitenstück zu _Goethes_ Deutung der Farben. Es folgen jedoch diese
Elemente (Töne, Farben) in ihrer künstlerischen Verwendung ganz andern
Gesetzen, als jene Wirkung ihrer isolierten Erscheinung. So wenig auf
einem Historienbild jedes Rot uns Freude, jedes Weiß Unschuld bedeutet,
ebensowenig wird in einer Symphonie alles As-dur uns eine schwärmerische,
alles H-moll eine menschenfeindliche Stimmung erwecken, oder jeder
Dreiklang Befriedigung, jeder verminderte Septakkord Verzweiflung. Auf
ästhetischem Boden neutralisieren sich derlei elementare Selbständigkeiten
unter der Gemeinsamkeit höherer Gesetze. Von einem _Ausdrücken_ oder
_Darstellen_ ist solche Naturbeziehung weit entfernt. »Symbolisch«
nannten wir sie, indem sie den Inhalt keineswegs unmittelbar darstellt,
sondern eine von diesem wesentlich verschiedene Form bleibt. Wenn wir im
Gelben Eifersucht, in G-dur Heiterkeit, in der Zypresse Trauer sehen, so
hat diese Deutung einen physiologisch-psychologischen Zusammenhang mit
Bestimmtheiten dieser Gefühle, allein es hat ihn eben nur unsere
Deutung, nicht die Farbe, der Ton, die Pflanze an und für sich. Man kann
daher weder von einem Akkord an sich sagen, er stelle ein bestimmtes
Gefühl dar, noch weniger tut er das im Zusammenhang des Kunstwerkes.

Ein anderes Mittel für den angeblichen Zweck, außer der Analogie der
Bewegung und der Symbolik der Töne, hat die Musik nicht.

Läßt sich somit ihr Unvermögen, bestimmte Gefühle darzustellen, leicht
aus der Natur der Töne ableiten, so scheint es fast unbegreiflich, daß
es auf dem Erfahrungswege nicht noch viel schneller ins allgemeine
Bewußtsein gedrungen ist. Versuche jemand, dem noch so viele
Gefühlssaiten aus einem Instrumentalstück anklingen, mit klaren Gründen
nachzuweisen, _welcher_ Affekt den Inhalt desselben bilde. Die Probe ist
unerläßlich. -- Hören wir z. B. Beethovens Ouvertüre zu »Prometheus«.
Was das aufmerksame Ohr des Kunstfreundes in stetiger Folge aus ihr
vernimmt, ist ungefähr folgendes: Die Töne des ersten Taktes perlen nach
einem Fall in die Unterquarte rasch und leise aufwärts, wiederholen sich
genau im zweiten; der dritte und vierte Takt führen denselben Gang in
größerem Umfang weiter, die Tropfen des in die Höhe getriebenen
Springbrunnens perlen herab, um in den nächsten vier Takten dieselbe
Figur und dasselbe Figurenbild auszuführen. Vor dem geistigen Sinn des
Hörers erbaut sich also in der _Melodie_ die Symmetrie zwischen dem
ersten und dem zweiten Takte, dann dieser beiden Takte zu den zwei
folgenden, endlich der vier ersten Takte als eines großen Bogens gegen
den gleich großen korrespondierenden der folgenden vier Takte. Der den
_Rhythmus_ markierende Baß bezeichnet den Anfang der ersten drei Takte
mit je einem Schlag, den vierten mit zwei Schlägen; in gleicher Weise
bei den folgenden vier Takten. Hier ist also der vierte Takt gegen die
drei ersten eine Verschiedenheit, welche durch die Wiederholung in den
nächsten vier Takten symmetrisch wird und das Ohr als ein Zug der
Neuheit im alten Gleichgewicht erfreut. Die _Harmonie_ in dem Thema
zeigt uns wieder das Korrespondieren eines großen und zweier kleinen
Bogen: dem C-dur-Dreiklang in den vier ersten Takten entspricht der
Sekundakkord im fünften und sechsten, dann der Quintsextakkord im
siebenten und achten Takt. Dieses wechselseitige Korrespondieren
zwischen Melodie, Rhythmus und Harmonie erzeugt ein symmetrisches und
doch abwechslungsvolles Bild, welches durch die Klangfarben der
verschiedenen Instrumente und den Wechsel der Tonstärke noch reichere
Lichter und Schatten erhält.

[Musikbeispiel]

Einen weiteren _Inhalt_ als den eben angedeuteten vermögen wir durchaus
nicht in dem Thema zu erkennen, am wenigsten ein _Gefühl_ zu nennen,
welches es darstellte oder im Hörer erwecken müßte. Solche Zergliederung
macht freilich ein Gerippe aus blühendem Körper, geeignet, alle
Schönheit, aber auch alle falsche Deutelei zu zerstören.

Wie mit diesem ganz zufällig gewählten Motiv geht es mit jedem andern
Instrumentalthema. Eine große Klasse von Musikfreunden hält es bloß für
ein Charakteristikum der älteren »klassischen« Musik, den Affekten
abhold zu sein, und gibt von vornherein zu, daß niemand in einer der 48
Fugen und Präludien aus J. S. Bachs »wohltemperiertem Klavier« ein
Gefühl werde nachweisen können, das den Inhalt derselben bilde. So
dilettantisch und willkürlich diese Unterscheidung auch ist, welche in
dem Umstand, daß in der älteren Musik der Selbstzweck noch
unverkennbarer, die Deutbarkeit schwieriger und weniger verlockend
erscheint, ihre Erklärung findet, -- der Beweis wäre dadurch schon
hergestellt, daß die Musik nicht Gefühle erwecken und zum Gegenstand
haben _muß_. Das ganze Gebiet der Figuralmusik fiele hinweg. Müssen aber
große, historisch wie ästhetisch begründete Kunstgattungen ignoriert
werden, um einer Theorie Haltbarkeit zu erschleichen,[10] dann ist diese
falsch. Ein Schiff muß untergehen, sobald es auch nur _ein_ Leck hat.
Wem dies nicht genügt, der mag ihr immerhin den ganzen Boden
ausschlagen. Er spiele das Thema irgend einer Mozartschen oder
Haydnschen Symphonie, eines Beethovenschen Adagios, eines
Mendelssohnschen Scherzos, eines Schumannschen oder Chopinschen
Klavierstückes, den Stamm unserer gehaltvollsten Musik; oder auch die
populärsten Ouvertürenmotive von Auber, Donizetti, Flotow. Wer tritt
hinzu und getraut sich, ein bestimmtes Gefühl als Inhalt dieser Themen
aufzuzeigen? Der eine wird »Liebe« sagen. Möglich. Der andere meint
»Sehnsucht«. Vielleicht. Der dritte fühlt »Andacht«. Niemand kann das
widerlegen. Und so fort. Heißt dies nun ein bestimmtes Gefühl
_darstellen_, wenn niemand weiß, _was_ eigentlich dargestellt wird? Über
die Schönheit und Schönheiten des Musikstückes werden wahrscheinlich
alle übereinstimmend denken, von dem Inhalt jeder verschieden.
_Darstellen_ heißt aber einen Inhalt klar, anschaulich produzieren, ihn
uns vor Augen »daher stellen«. Wie mag man nun dasjenige als das von
einer Kunst _Dargestellte_ bezeichnen, welches, das ungewisseste,
vieldeutigste Element derselben, einem ewigen Streit unterworfen ist?

  [10] Bachianer wie _Spitta_ freilich erstreben dies umgekehrt, indem
  sie, statt zugunsten ihres Meisters die Theorie selbst zu bestreiten,
  die Fugen und Suiten desselben mit ebenso beredten und positiven
  Gefühlsergüssen interpretieren, wie nur ein subtiler Beethovenianer
  seines Meisters Sonaten.

Wir haben absichtlich _Instrumentalsätze_ zu Beispielen gewählt. Denn
nur was von der Instrumentalmusik behauptet werden kann, gilt von der
Tonkunst als solcher. Wenn irgendeine allgemeine Bestimmtheit der Musik
untersucht wird, etwas so ihr Wesen und ihre Natur kennzeichnen, ihre
Grenzen und Richtung feststellen soll, so kann nur von der
Instrumentalmusik die Rede sein. Was die _Instrumentalmusik_ nicht kann,
von dem darf nie gesagt werden, die _Musik_ könne es; denn nur sie ist
reine, absolute _Tonkunst_. Ob man nun die Vokal- oder die
Instrumentalmusik an Wert und Wirkung vorziehen wolle, -- eine
unwissenschaftliche Prozedur, bei der meist dilettantische Einseitigkeit
das Wort führt, -- man wird stets einräumen müssen, daß der Begriff
»Tonkunst« in einem auf Textworte komponierten Musikstück nicht rein
aufgehe. In einer Vokalkomposition kann die Wirksamkeit der Töne nie so
genau von jener der Worte, der Handlung, der Dekoration getrennt werden,
daß die Rechnung der verschiedenen Künste sich streng sondern ließe.
Sogar Tonstücke mit bestimmten Überschriften oder Programmen müssen wir
ablehnen, wo es sich um den »Inhalt« der Musik handelt. Die Vereinigung
mit der Dichtkunst erweitert die Macht der Musik, aber nicht ihre
Grenzen.[11]

  [11] _Gervinus_ hat den Rangstreit zwischen der Vokal- und
  Instrumentalmusik in seinem »Händel und Shakespeare« (1868) wieder
  aufgenommen; aber indem er die »Sangkunst« für echte und wahre Musik,
  die »Spielkunst« für »ein von allem Innerlichen auf das Äußerliche
  herabgekommenes Kunstwerk«, für ein physikalisches Mittel zu
  physiologischen Reizen erklärt, beweist er mit allem Aufwand seines
  Scharfsinnes doch nur, daß man ein gelehrter Händel-Enthusiast und
  dennoch in wunderlichen Irrtümern über das Wesen der Musik befangen
  sein kann. Niemand hat diese Irrtümer schlagender widerlegt, als
  _Ferdinand Hiller_, dessen Kritik des Buches von Gervinus wir
  nachstehende treffende Stellen entnehmen: »Die Verbindungen des Wortes
  mit dem Tone sind von der mannigfachsten Art. Von dem einfachsten, in
  Tönen noch halb gesprochenen Rezitativ bis zu einem Chore von Bach
  oder einem Opernfinale von Mozart -- welch eine Reihe von
  Zusammensetzungen! Aber nur im Rezitativischen, mag es selbständig
  auftreten oder den Gang eines Gesangstückes auch nur durch einen
  Ausruf unterbrechen, kann der Text mit der Musik in _gleicher_ Kraft
  den Hörer ergreifen. Sobald die Musik in ihrer vollständigen Wesenheit
  auftritt, läßt sie das Wort, das sonst omnipotente Wort, weit hinter
  sich zurück. Der Beweis liegt, _leider_ möchte man sagen, allzu nahe.
  Schön komponiert, kann das schlechteste Gedicht die Freude an der
  Komposition kaum schmälern, das größte poetische Meisterwerk aber kann
  eine langweilige Musik nicht einmal stützen. Welch geringes Interesse
  erregt der Text eines Oratoriums bei der Lektüre; man begreift es
  kaum, daß er dem genialen Tondichter den Stoff geben konnte zu einer
  stundenlangen, Ohr, Herz und Seele erfüllenden Musik. Ja, mehr noch,
  es ist in den meisten Fällen dem Hörer gar nicht möglich, Worte und
  Melodie gleichzeitig zu erfassen. Die konventionellen Klänge, aus
  welchen sich ein Satz in der Sprache zusammensetzt, müssen ziemlich
  rasch miteinander verbunden werden, damit sie, vom Gedächtnisse
  zusammengehalten, im Geiste zum Verständnisse gelangen. Die Musik aber
  erfaßt den Hörer mit dem ersten Tone und führt ihn mit sich fort, ohne
  ihm die Zeit, ja nur die Möglichkeit zu lassen, auf das Gehörte
  zurückzukommen.... Mögen wir«, fährt Hiller weiter fort, »dem naivsten
  Volksliede lauschen, mag uns Händels Halleluja, von tausend Stimmen
  getragen, entgegenklingen, so wird es im ersteren Falle der Reiz einer
  kaum entfalteten Melodienknospe, im letzteren die Kraft und Pracht der
  vereinigten Elemente der ganzen Tonwelt sein, was uns reizt oder
  begeistert. Das dort vom Feinsliebchen, hier vom Himmelreich die Rede,
  trägt zu jener ersteren, unmittelbaren Wirkung nichts bei; diese ist
  rein musikalischer Natur und würde nicht ausbleiben, auch wenn man die
  Worte weder verstände, noch verstehen könnte.« (Aus dem Tonleben
  unserer Zeit. Neue Folge. Leipzig 1871. S. 40 ff.)

Wir haben in der Vokalkomposition ein untrennbar verschmolzenes Produkt
vor uns, aus dem es nicht mehr möglich ist, die Größe der einzelnen
Faktoren zu bestimmen. Wenn es sich um die Wirkung der _Dichtkunst_
handelt, so wird es niemand einfallen, die _Oper_ als Beleg
hervorzuheben; es braucht größerer Verleugnung, aber nur derselben
Einsicht, um bei den Grundbestimmungen _musikalischer_ Ästhetik ein
Gleiches zu tun.

Die Vokalmusik illuminiert die Zeichnung des Gedichtes.[12] Wir haben in
den musikalischen Elementen Farben von größter Pracht und Zartheit
erkannt, von symbolischer Bedeutsamkeit obendrein. Sie werden vielleicht
ein mittelmäßiges Gedicht zur innigsten Offenbarung des Herzens
umwandeln. Trotzdem sind es die Töne nicht, welche in einem Gesangstücke
_darstellen_, sondern der Text. Die Zeichnung, nicht das Kolorit,
bestimmt den dargestellten Gegenstand. Wir appellieren an das
Abstraktionsvermögen des Hörers, das sich irgendeine dramatisch wirksame
Melodie _abgelöst_ von aller dichterischen Bestimmung rein musikalisch
vorstellen wolle. Man wird z. B. in einer sehr wirksamen dramatischen
Melodie, welche _Zorn_ auszudrücken hat, an und für sich keinen weiteren
psychischen Ausdruck finden, als den einer raschen, leidenschaftlichen
Bewegung. Worte einer leidenschaftlich bewegten _Liebe_, also das gerade
Gegenteil, werden vielleicht gleich richtig durch dieselbe Melodie
interpretiert sein.

  [12] Diesen bekannten bildlichen Ausdruck können wir hier als
  zutreffend gebrauchen, wo es sich noch, abgesehen von jeder
  _ästhetischen_ Forderung, bloß um das abstrakte Verhalten der Musik zu
  Textworten überhaupt und damit um die Entscheidung handelt, von
  welchem dieser beiden Faktoren die selbständige, maßgebende Bestimmung
  des _Inhaltes_ (Gegenstandes) ausgehe. Sobald es sich aber nicht mehr
  um das _Was_, sondern um das _Wie_ der musikalischen Leistungen
  handelt, hört der Satz freilich auf, passend zu sein. Nur im
  _logischen_ (wir hätten beinahe gesagt im »juristischen«) Sinn ist der
  Text Hauptsache, die Musik Akzessorium, die _ästhetische_ Anforderung
  an den Komponisten geht viel höher, sie verlangt selbständige
  (zugleich natürlich textentsprechende) _musikalische Schönheit_. Fragt
  es sich also nicht mehr abstrakt, was die Musik, indem sie Textworte
  behandelt, tut, sondern wie sie es im wirklichen Falle _tun soll_, so
  darf man ihre Abhängigkeit vom Gedicht nicht in gleich enge Schranken
  bannen, wie sie der Zeichner dem Koloristen zieht. Seit _Gluck_ in der
  großen, notwendigen Reaktion gegen die melodischen Übergriffe der
  Italiener nicht _auf_, sondern _hinter_ die rechte Mitte zurückschritt
  (genau wie in unsern Tagen Richard Wagner), wird der in der Dedikation
  zur »Alceste« ausgesprochene Satz, es sei der Text die »richtige und
  wohlangelegte Zeichnung«, welche die Musik lediglich zu kolorieren
  habe, unablässig nachgebetet. Wenn die Musik nicht in viel
  großartigerem, als bloß kolorierendem Sinne das Gedicht behandelt,
  wenn sie nicht -- selbst Zeichnung und Farbe zugleich -- etwas ganz
  Neues hinzubringt, das in ureigener Schönheitskraft blättertreibend
  die Worte zum bloßen Epheuspalier umschafft: dann hat sie höchstens
  die Staffel der Schülerübung oder Dilettantenfreude erklommen, die
  reine Höhe der Kunst nimmermehr.

Als die Arie des Orpheus:

    »J'ai perdu mon Euridice,
    Rien n'égale mon malheur«


Tausende (und darunter Männer wie J. J. Rousseau) zu Tränen rührte,
bemerkte ein Zeitgenosse Glucks, _Boyé_, daß man dieser Melodie
ebensogut, ja weit richtiger die entgegengesetzten Worte unterlegen
könnte:

    »J'ai trouvé mon Euridice,
    Rien n'égale mon bonheur.«

Wir setzen den Anfang der Arie, der Kürze wegen mit Klavierbegleitung,
doch genau nach der italienischen Originalpartitur her:

[Musikbeispiel]

Wir sind zwar durchaus nicht der Meinung, daß in diesem Falle der
Komponist ganz freizusprechen sei, indem die Musik für den Ausdruck
schmerzlichster Traurigkeit gewiß weit bestimmtere Töne besitzt. Allein
wir wählen aus Hunderten gerade dies Beispiel, einmal weil es den
Meister trifft, dem die größte Genauigkeit im dramatischen Ausdruck
zugeschrieben wird, sodann weil mehrere Generationen an dieser _Melodie_
das Gefühl höchsten Schmerzes bewunderten, welchen die mit ihr
verbundenen _Worte_ aussprechen.

Allein auch weit bestimmtere und ausdrucksvollere Gesangsstellen werden,
losgelöst von ihrem Text, uns höchstens _raten_ lassen, welches Gefühl
sie ausdrücken. Sie gleichen Silhouetten, deren Original wir meistens
erst erkennen, wenn man uns gesagt hat, wer das sei.

Was hier an einzelnem gezeigt wurde, erweist sich ebenso an Werken von
größerem und größtem Umfang. Man hat ganzen Gesangstücken oft andere
Texte untergelegt. Wenn man in Wien Meyerbeers »Hugenotten« mit
Veränderung des Schauplatzes, der Zeit, der Personen, der Begebenheit
und der Worte als »Ghibellinen in Pisa« aufführt, so stört ohne Zweifel
die ungeschickte Mache einer solchen Umarbeitung, allein der rein
musikalische Ausdruck wird nicht im mindesten beleidigt. Und doch soll
das religiöse Gefühl, der Glaubensfanatismus geradezu die Springfeder
der »Hugenotten« bilden, welche in den »Ghibellinen« ganz entfällt. Der
Choral Luthers darf hier nicht eingewendet werden; er ist ein _Zitat_.
Als Musik paßt er zu jeder Konfession. -- Hat der Leser nie das fugierte
Allegro aus der Ouvertüre zur »Zauberflöte« als Vokalquartett sich
zankender Handelsjuden gehört? Mozarts Musik, an der nicht eine Note
geändert ist, paßt zum Entsetzen gut auf den niedrigkomischen Text, und
man kann sich in der Oper nicht herzlicher an dem Ernst der Komposition
erfreuen, als man hier über die Komik derselben lachen muß. Derlei
Belege für das weite Gewissen jedes musikalischen Motivs und jedes
menschlichen Affektes ließen sich zahllos vorbringen. Die Stimmung
religiöser Andacht gilt mit Recht für eine der musikalisch am wenigsten
vergreifbaren. Nun gibt es unzählige deutsche Dorf- oder Marktkirchen,
wo zur heiligen Wandlung das »Alphorn« von Proch oder die Schlußarie aus
der »Sonnambula« (mit dem koketten Dezimensprung »in meine Arme«) oder
ähnliches auf der Orgel vorgetragen wird. Jeder Deutsche, der nach
Italien kommt, hört mit Staunen in den Kirchen die bekanntesten
Opernmelodien von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi. Diese und noch
weltlichere Stücke, wenn sie nur halbwegs sanften Charakters klingen,
sind weit entfernt, die Gemeinde in ihrer Andacht zu stören, im
Gegenteil pflegt alles aufs äußerste erbaut zu sein. Wäre die Musik an
sich imstande, religiöse Andacht als Inhalt darzustellen, so würde solch
ein quid pro quo ebenso unmöglich sein, als daß der Prediger statt
seiner Exhorte eine Tiecksche Novelle oder einen Parlamentsakt von der
Kanzel rezitierte. Unsere größten Meister geistlicher Tonkunst bieten
Beispiele in Fülle für unsern Satz. Namentlich _Händel_ verfuhr hierin
mit großartiger Ungeniertheit. _Winterfeld_ hat nachgewiesen, daß viele
der berühmtesten und ob ihres frommen Ausdrucks bewundertsten Stücke im
»Messias« aus den weltlichen, meist erotischen Duetten herübergenommen
sind, welche Händel (1711 bis 1712) für die Kurprinzessin Caroline von
Hannover auf _Madrigale_ von _Mauro Ortensio_ gesetzt hatte. Die Musik
zu dem zweiten Duett:

    »Nò, di voi non uo' fidarmi,
    Cieco amor, crudel beltà;
    Troppo siete menzognere
    Lusinghiere deità!«[13]

verwendete Händel unverändert in Tonart und Melodie für den Chor im
ersten Teil des Messias: »Denn uns ist ein Kind geboren.« -- Der dritte
Satz desselben Duetts »Sò per prova i vostri inganni« hat dieselben
Motive wie der Chor im zweiten Teil des Messias »Wie Schafe gehen«. Das
Madrigal Nr. 16 (Duett für Sopran und Alt) ist im wesentlichen ganz
übereinstimmend mit dem Duett im dritten Teil des Messias: »O Tod, wo
ist dein Stachel«; -- dort lautet der Text:

    »Si tu non lasci amore
    Mio cor, ti pentirai,
    Lo so ben io!«

  [13] »Nein, ich will euch nicht trauen, blinder Amor, grausame
  Schönheit, ihr seid zu lügenhafte, schmeichlerische Gottheiten!«

Von den zahlreichen anderen Beispielen bei Seb. _Bach_ sei nur an
sämtliche madrigalische Stücke des »Weihnachts-Oratoriums« erinnert, die
bekanntlich aus ganz verschiedenen _weltlichen_ Gelegenheitskantaten
arglos herübergenommen sind. Und _Gluck_, von dem uns gelehrt wird, er
habe die hohe dramatische Wahrheit seiner Musik nur dadurch erreicht,
daß er jede Note genau der bestimmten Situation anpaßte, ja seine
Melodie aus dem Tonfall der Verse selbst zog, -- _Gluck_ hat in die
»Armida« nicht weniger als fünf Musikstücke aus seinen älteren
italienischen Opern herübergenommen. (Vgl. m. »Moderne Oper« S. 16.) Man
sieht, daß die _Vokalmusik_, deren Theorie niemals das Wesen der
Tonkunst bestimmen kann, auch praktisch nicht imstande ist, die aus dem
Begriff der Instrumentalmusik gewonnenen Grundsätze Lügen zu strafen.

Der von uns bekämpfte Satz ist übrigens so in Fleisch und Blut der
gangbaren ästhetisch-musikalischen Anschauung eingedrungen, daß auch
alle seine Deszendenten und Seitenverwandten sich gleicher
Unantastbarkeit erfreuen. Dazu gehört die Theorie von der Nachahmung
sichtbarer oder unmusikalisch hörbarer Gegenstände durch die Tonkunst.
Mit besonderer Wohlweisheit wird uns bei der Frage von der »Tonmalerei«
immer wieder versichert, die Musik könne keineswegs die außer ihrem
Bereich liegende _Erscheinung_ selbst malen, sondern nur das _Gefühl_,
welches dadurch in uns erzeugt wird. Gerade umgekehrt. Die Musik kann
nur die äußere Erscheinung nachzuahmen trachten, niemals aber das durch
sie bewirkte, spezifische Fühlen. Das Fallen der Schneeflocken, das
Flattern der Vögel, den Aufgang der Sonne kann ich nur dadurch
musikalisch malen, daß ich analoge, diesen Phänomenen dynamisch
verwandte Gehörseindrücke hervorbringe. In Höhe, Stärke, Schnelligkeit,
Rhythmus der Töne bietet sich dem Ohr eine _Figur_, deren Eindruck jene
Analogie mit der bestimmten Gesichtswahrnehmung hat, welche
Sinnesempfindungen verschiedener Gattung gegeneinander erreichen können.
Wie es physiologisch ein »Vikarieren« eines Sinnes für den andern bis zu
einer gewissen Grenze gibt, so auch ästhetisch ein gewisses Vikarieren
eines Sinneseindruckes für den andern. Da zwischen der Bewegung im Raume
und jener in der Zeit, zwischen der Farbe, Feinheit, Größe eines
Gegenstandes und der Höhe, Klangfarbe, Stärke eines Tones wohlbegründete
Analogie herrscht, so kann man in der Tat einen Gegenstand musikalisch
malen, das »Gefühl« aber in Tönen schildern zu wollen, das der fallende
Schnee, der krähende Hahn, der zuckende Blitz in uns hervorbringt, ist
einfach lächerlich.

Obgleich, meines Erinnerns, alle musikalischen Theoretiker auf dem
Grundsatz, die Musik könnte bestimmte Gefühle darstellen,
stillschweigend folgern und weiter bauen, so hinderte doch manche ein
richtiges Gefühl, ihn geradezu anzuerkennen. Der Mangel _begrifflicher_
Bestimmtheit in der Musik störte sie und ließ sie den Satz dahin ändern:
die Tonkunst habe nicht etwa bestimmte, wohl aber »_unbestimmte
Gefühle_« zu erwecken und darzustellen. Vernünftigerweise kann man damit
nur meinen, die Musik solle die _Bewegung_ des Fühlens, abgezogen von
dem Inhalt desselben, dem Gefühlten, enthalten; das also, was wir das
_Dynamische_ der Affekte genannt und der Musik vollständig eingeräumt
haben. Dies Element der Tonkunst ist aber kein »Darstellen unbestimmter
Gefühle«. Denn »Unbestimmtes« »darstellen« ist ein Widerspruch.
Seelenbewegungen als Bewegungen an sich, ohne Inhalt, sind kein
Gegenstand künstlerischer Verkörperung, weil diese ohne die Frage: was
bewegt sich oder wird bewegt, nirgend Hand anlegen kann. Das Richtige an
dem Satz, nämlich die involvierte Forderung, Musik solle kein
_bestimmtes_ Gefühl schildern, ist ein lediglich negatives Moment. Was
aber ist das Positive, das Schöpferische im musikalischen Kunstwerk?
Ein unbestimmtes Fühlen als solches ist kein _Inhalt_; soll eine Kunst
sich dessen bemächtigen, so kommt alles darauf an, _wie_ es _geformt_
wird. Jede Kunsttätigkeit besteht aber im _Individualisieren_, in dem
Prägen des Bestimmten aus dem Unbestimmten, des Besondern aus dem
Allgemeinen. Die Theorie der »unbestimmten Gefühle« verlangt das gerade
Gegenteil. Man ist hier noch schlimmer daran, als bei dem früheren Satz,
man soll glauben, daß die Musik etwas darstelle, und weiß doch niemals,
was. Sehr einfach ist von hier der kleine Schritt zu der Erkenntnis, daß
die Musik _gar keine_, weder bestimmte noch unbestimmte, Gefühle
schildert. Welcher Musiker hätte aber diese durch unvordenklichen Besitz
ersessene Reichsdomäne seiner Kunst aufgeben wollen?[14]

  [14] Zu welchen Absurditäten das falsche Prinzip führt, in jedem
  Musikstück die Darstellung eines bestimmten Gefühles zu finden, und
  das noch falschere: für jede Gattung musikalischer Kunstformen ein
  spezielles _Gefühl_ als notwendigen Inhalt zu diktieren, -- ersieht
  man aus den Werken geistreicher Männer wie _Mattheson_. Getreu seinem
  Grundsatz: »Wir müssen bei jeder Melodie uns eine Gemütsbewegung zum
  Hauptzweck setzen«, lehrt er in seinem »Vollkommenen Kapellmeister«
  (S. 230 ff.): »Die Leidenschaft, welche in einer Kurrende vorgetragen
  werden soll, ist die Hoffnung.« »Die Sarabande hat keine andere
  Leidenschaft auszudrücken, als die _Ehrsucht_.« »Im Concerto grosso
  führt die _Wollust_ das Regiment.« Die _Chaconne_ habe »Ersättigung«
  auszudrücken, die _Ouvertüre_ »Edelmut«.

Unser Resultat ließe vielleicht noch der Meinung Raum, daß die
Darstellung bestimmter Gefühle für die Musik zwar ein Ideal sei, das
sie niemals ganz erreichen, dem sie sich aber immer mehr nähern könne
und solle. Die vielen großsprechenden Redensarten von der Tendenz der
Musik, die Schranken ihrer Unbestimmtheit zu durchbrechen und konkrete
Sprache zu werden, die beliebten Lobpreisungen solcher Kompositionen, an
welchen man dies Bestreben wahrnimmt oder wahrzunehmen vermeint, zeugen
von der wirklichen Verbreitung solcher Ansicht.

Allein noch entschiedener, als wir die Möglichkeit musikalischer
Gefühlsdarstellung bekämpften, haben wir die Meinung abzuwehren, als
könne diese jemals das _ästhetische Prinzip_ der Tonkunst abgeben.

Das _Schöne_ in der Musik würde mit der Genauigkeit der
Gefühlsdarstellung auch dann nicht kongruieren, wenn diese _möglich_
wäre. Nehmen wir diese Möglichkeit für einen Moment an, um uns praktisch
zu überzeugen.

Offenbar können wir diese Fiktion nicht an der _Instrumentalmusik_
versuchen, welche die Nachweisung bestimmter Affekte von selbst
verwehrt, sondern nur an der _Vokalmusik_, der das Betonen
vorgezeichneter Seelenzustände zukommt.[15]

  [15] In Kritiken von Vokalmusik hat der Verfasser (und andere seinen
  Grundsätzen beistimmende Kritiker) der Kürze und Bequemlichkeit halber
  häufig die Worte »Ausdrücken«, »Schildern«, »Darstellen« von den Tönen
  u. dgl. arglos gebraucht, und man darf sie wohl gebrauchen, wenn man
  sich ihrer Uneigentlichkeit streng bewußt bleibt, d. h. ihrer
  Beschränktheit auf symbolischen und dynamischen Ausdruck.

Hier bestimmen die dem Komponisten vorliegenden _Worte_ das zu
schildernde Objekt; die Musik hat die Macht, es zu beleben, zu
kommentieren, ihm in mehr oder weniger hohem Grade den Ausdruck
individueller Innerlichkeit zu verleihen. Sie tut dies durch möglichste
Charakteristik der Bewegung und durch Verwertung der den Tönen
innewohnenden Symbolik. Faßt sie als Hauptgesichtspunkt den Text ins
Auge, und nicht die eigene ausgeprägte Schönheit, so kann sie es zu
hoher Individualisierung, ja zu dem Scheine bringen, sie allein stelle
wirklich das Gefühl dar, welches in den Worten bereits unverrückbar,
wenngleich steigerungsfähig vorlag. Diese Tendenz erreicht in der
Wirkung etwas Ähnliches mit dem vorgeblichen »_Darstellen_ eines
Affektes als Inhalt des bestimmten Musikstücks«. Gesetzt den Fall, jene
wirkliche und diese angebliche Kraft der Tonkunst wären kongruent, die
Gefühlsdarstellung möglich und Inhalt der Musik, so würden wir
folgerichtig solche Kompositionen die vollkommensten nennen, welche die
Aufgabe _am bestimmtesten lösen_. Allein wer kennt nicht Tonwerke von
höchster Schönheit _ohne_ solchen Inhalt? (Wir erinnern an Bachs Fugen
und Präludien.) Umgekehrt gibt es Vokalkompositionen, welche ein
bestimmtes Gefühl aufs genauste, innerhalb der eben erklärten Grenzen,
abzukonterfeien suchen, und welchen die _Wahrheit_ dieses Schilderns
über jedes andere Prinzip geht. Bei näherer Betrachtung gelangen wir zu
dem Ergebnis, daß das rücksichtslose Anschmiegen solcher musikalischen
Schilderung meist in umgekehrtem Verhältnis steht zu ihrer selbständigen
Schönheit, daß also die deklamatorisch-_dramatische Genauigkeit_ und die
_musikalische Vollendung_ nur die Hälfte Weges miteinander
fortschreiten, dann aber sich trennen.

Am deutlichsten zeigt dies das _Rezitativ_, als diejenige Form, welche
am unmittelbarsten und bis auf den Akzent des einzelnen Wortes sich dem
deklamatorischen Ausdruck anschmiegt, nicht mehr anstrebend, als einen
getreuen Abguß bestimmter, meist rasch wechselnder Gemütszustände. Dies
müßte, als wahre Verkörperung jener Lehre, die höchste, vollkommenste
Musik sein; in der Tat aber sinkt diese im Rezitativ ganz zur Dienerin
herab und verliert ihre selbständige Bedeutung. Ein Beweis, daß der
Ausdruck bestimmter Seelenvorgänge mit der Aufgabe der Musik nicht
kongruiert, sondern in letzter Konsequenz derselben hemmend
entgegensteht. Man spiele ein längeres Rezitativ mit Hinweglassung der
Worte und frage dann nach seinem musikalischen Wert und Bedeuten. Diese
Probe aber muß _jede Musik_ aushalten, welcher _allein_ wir die
hervorgebrachte Wirkung zuschreiben sollen.

Keineswegs auf das Rezitativ beschränkt, können wir vielmehr an den
höchsten und erfülltesten Kunstformen dieselbe Bestätigung finden, wie
die _musikalische Schönheit_ stets geneigt sei, dem _speziell
Ausdrückenden_ zu weichen, weil jene ein selbständiges Entfalten, dieses
ein dienendes Verleugnen erheischt.

Steigen wir empor vom deklamatorischen Prinzip im Rezitativ zum
dramatischen in der Oper. Die Musikstücke in _Mozarts_ Opern stehen im
vollen Einklang mit ihrem Text. Hört man selbst die kompliziertesten,
die Finales, ohne Text, so werden Mittelglieder etwa unklar bleiben, die
Hauptpartien und deren Ganzes aber an sich schöne Musik sein. Das
gleichmäßige Genügen an die musikalischen und die dramatischen
Anforderungen gilt bekanntlich darum mit Recht für das Ideal der Oper.
Daß jedoch das Wesen derselben eben dadurch ein steter _Kampf_ ist
zwischen dem Prinzip der dramatischen Genauigkeit und dem der
musikalischen Schönheit, ein unaufhörliches Konzedieren des einen an das
andere, dies ist meines Wissens nie erschöpfend entwickelt worden. Nicht
die Unwahrheit, daß sämtliche handelnde Personen _singen_, macht das
Prinzip der Oper schwankend und schwierig -- solche Illusionen geht die
Phantasie mit großer Leichtigkeit ein -- die unfreie Stellung aber,
welche Musik und Text zu einem fortwährenden Überschreiten oder
Nachgeben zwingt, macht, daß die Oper wie ein konstitutioneller Staat
auf einem steten Kampfe zweier berechtigter Gewalten beruht. Dieser
Kampf, in dem der Künstler bald das eine, bald das andere Prinzip muß
siegen lassen, ist der Punkt, aus welchem alle Unzulänglichkeiten der
Oper entspringen und alle Kunstregeln auszugehen haben, welche eben für
die _Oper_ Entscheidendes sagen wollen. In ihre Konsequenzen verfolgt,
müssen das musikalische und das dramatische Prinzip einander notwendig
durchschneiden. Nur sind die beiden Linien lang genug, um dem
menschlichen Auge eine beträchtliche Strecke hindurch _parallel_ zu
scheinen.

Ähnliches gilt vom _Tanze_, wie wir in jedem Ballett beobachten können.
Je mehr er die schöne Rhythmik seiner Formen verläßt, um mit
Gestikulation und Mimik _sprechend_ zu werden, bestimmte Gedanken und
Gefühle auszudrücken, desto mehr nähert er sich der formlosen
Bedeutsamkeit der bloßen Pantomime. Die Steigerung des dramatischen
Prinzips im Tanze wird im selben Maß eine Verletzung seiner
plastisch-rhythmischen Schönheit. _Ganz_ wie ein gesprochenes Drama oder
ein reines Instrumentalwerk vermag eine Oper nicht dazustehen. Darum
wird das Augenmerk des echten Opernkomponisten wenigstens ein stetes
Verbinden und Vermitteln sein, niemals ein prinzipielles
verhältnismäßiges Vorherrschen des einen oder des andern Moments. Im
Zweifel wird er sich aber für die Bevorzugung der _musikalischen_
Forderung entscheiden; denn die Oper ist vorerst Musik, nicht Drama. Man
kann dies leicht an der eigenen, sehr verschiedenen Intention ermessen,
mit der man ein Drama besucht, oder aber eine Oper derselben Handlung.
Die Vernachlässigung des musikalischen Teils wird uns immer weit
empfindlicher treffen.[16]

  [16] Ungemein charakteristisch ist, was Mozart _über die Stellung der
  Musik zur Poesie_ in der Oper sagt. Ganz im Gegensatz zu _Gluck_, der
  die Musik der Poesie untergeordnet wissen will, meint Mozart, daß die
  Poesie der Musik gehorsame Tochter sein solle. Er weist in der Oper
  der Musik, wo sie zum Ausdruck der Stimmung verwandt wird, entschieden
  die Herrschaft zu. Er beruft sich auf das Faktum, daß gute Musik die
  elendesten Texte vergessen lasse, -- ein Fall, wo das Umgekehrte
  stattfand, dürfte kaum anzuführen sein --; es folgt aber auch
  unwidersprechlich aus dem Wesen und der _Natur der Musik_. Schon
  dadurch, daß sie unmittelbar und mächtiger als jede andere Kunst die
  Sinne ergreift und ganz in Anspruch nimmt, macht sie den Eindruck,
  welchen die poetische Darstellung durch die Sprache hervorbringen
  kann, für den Augenblick zurücktreten; sie wirkt ferner durch den Sinn
  des Gehörs in einer, wie es scheint, noch nicht aufgeklärten Weise
  unmittelbar auf die Phantasie und das Gefühl mit einer erregenden
  Kraft ein, welche ebenfalls die der Poesie momentan überflügelt (O.
  Jahn, »Mozart«, III. 91).

Die größte kunstgeschichtliche Bedeutung des berühmten Streites zwischen
den _Gluckisten_ und den _Piccinisten_ liegt für uns darin, daß dabei
der innere Konflikt der _Oper_ durch den Widerstreit ihrer beiden
Faktoren, des musikalischen und des dramatischen, zum erstenmal
ausführlich zur Sprache kam. Freilich geschah dies ohne ein
wissenschaftliches Bewußtsein von der unermeßlichen prinzipiellen
Bedeutung des Entscheides. Wer sich die lohnende Mühe nicht gereuen
läßt, auf die Quellen jenes Musikstreites selbst zurückzugehen,[17]
wird wahrnehmen, wie darin auf der reichen Skala zwischen Grobheit und
Schmeichelei die ganze witzige Fechtergewandtheit französischer Polemik
herrscht, zugleich aber eine solche Unmündigkeit in der Auffassung des
prinzipiellen Teiles, ein solcher Mangel an tieferem Wissen, daß für die
musikalische Ästhetik _ein Resultat_ aus diesen langjährigen Debatten
nicht zutage steht. -- Die bevorzugtesten Köpfe: _Suard_ und _Abbé
Arnaud_ auf Glucks Seite, _Marmontel_ und _La Harpe_ wider ihn, gingen
zwar wiederholt über die Kritik Glucks hinaus zu einer Beleuchtung des
_dramatischen_ Prinzips in der Oper und seines Verhältnisses zum
_musikalischen_; allein sie behandelten dieses Verhältnis wie eine
Eigenschaft der Oper unter vielen, nicht aber als das innerste
Lebensprinzip derselben. Sie hatten keine Ahnung, daß von der
Entscheidung dieses Verhältnisses die ganze Existenz der Oper abhänge.
Merkwürdig ist, wie ganz nahe insbesondere Glucks Gegner einigemal dem
Punkte sind, von dem aus der Irrtum des dramatischen Prinzips vollkommen
erschaut und besiegt werden mag. So sagt _de la Harpe_ im Journal de
Politique et de Littérature vom 5. Oktober 1777: »On objecte, qu'il
n'est pas naturel, de chanter un air de cette nature dans une situation
passionée, que c'est un moyen d'arrêter la scène et de nuir à l'effet.
Je trouve ces objections absolument illusoires. D'abord dès qu'on admet
le chant, il faut l'admettre le plus beau possible, et il n'est pas plus
naturel de chanter mal, que de chanter bien. Tous les arts sont fondées
sur des conventions, sur des données. Quand je viens à l'opéra, c'est
pour entendre la musique. Je n'ignore pas, qu'_Alceste_ ne faisait ses
Adieux à _Admète_ en chantant un air; mais comme Alceste est sur le
théâtre pour chanter, si je retrouve sa douleur et son amour dans un air
bien melodieux, je jouirai de son chant en m'intéressant à son
infortune.« Sollte man glauben, daß de la Harpe selbst nicht erkannte,
wie prächtig er da auf festem Boden stand? Denn bald darauf läßt er sich
beikommen, das Duo zwischen Agamemnon und Achilles in der »Iphigenia«
aus dem Grunde zu bekämpfen, »weil es sich durchaus nicht mit der Würde
dieser beiden Helden vertrage, daß sie zu gleicher Zeit redeten«. Damit
hatte er jenen festen Boden, das Prinzip der _musikalischen_ Schönheit,
verlassen und verraten, das Prinzip des Gegners stillschweigend,
unbewußt anerkennend.

  [17] Die wichtigsten dieser Streitschriften finden sich in der
  Sammlung: »Mémoires pour servir à l'histoire de la Révolution opérée
  dans la musique par Mr. le chevalier _Gluck_.« Naples et Paris 1781.

Je konsequenter man das _dramatische_ Prinzip in der Oper rein halten
will, ihr die Lebensluft der musikalischen Schönheit entziehend, desto
siecher schwindet sie dahin, wie ein Vogel unter der Luftpumpe. Man muß
notwendig bis zum rein _gesprochenen_ Drama zurückkommen, womit man
wenigstens den Beweis hat, daß die Oper wirklich _unmöglich_ ist, wenn
man nicht dem _musikalischen_ Prinzip (mit vollem Bewußtsein seiner
realitätfeindlichen Natur) die Oberherrschaft in der Oper einräumt. In
der wirklichen künstlerischen Ausübung ist diese Wahrheit auch niemals
geleugnet worden, und selbst der strengste Dramatiker, Gluck, stellt
zwar die falsche Theorie auf, die Opernmusik habe nichts anderes zu sein
als eine gesteigerte Deklamation -- in der Ausübung bricht aber die
_musikalische_ Natur des Mannes oft genug durch, und stets zum großen
Vorteil seines Werkes. Dasselbe gilt von _Richard Wagner_. Für unseren
Zusammenhang ist nur scharf hervorzuheben, daß der Hauptgrundsatz
_Wagners_, wie er ihn im ersten Band von »Oper und Drama« ausspricht:
»Der Irrtum der Oper als Kunstgenre besteht darin, daß ein Mittel (die
Musik) zum Zweck, der Zweck (das Drama) aber zum Mittel gemacht wird«,
-- auf falschem Boden steht. Denn eine Oper, in der die Musik immer und
wirklich _nur als Mittel_ zum dramatischen Ausdruck gebracht wird, ist
ein musikalisches Unding.[18]

  [18] Ich kann mir nicht versagen, hier einige treffende Aussprüche von
  Grillparzer und M. Hauptmann zu zitieren:

»Unsinnig« nennt es Grillparzer, »die Musik bei der Oper zur bloßen
Sklavin der Poesie zu machen«, und fährt weiter fort: »_wäre die Musik
in der Oper nur da, um das noch einmal auszudrücken, was der Dichter
schon ausgedrückt hat, dann laßt mir die Töne weg_... Wer deine Kraft
kennt, Melodie! die du, ohne der Worterklärung eines Begriffes zu
bedürfen, unmittelbar aus dem Himmel durch die Brust wieder zum Himmel
zurückziehst, wer deine Kraft kennt, wird die Musik nicht zur
Nachtreterin der Poesie machen: er mag der letzteren den Vorrang geben
(und ich glaube, sie verdient ihn auch, wie ihn das Mannesalter verdient
vor der Kindheit), aber er wird auch der ersteren ihr eigenes,
unabhängiges Reich zugestehen, beide wie Geschwister betrachten, und
nicht wie Herrn und Knecht oder auch nur wie Vormund und Mündel.« Als
Grundsatz will er festgehalten wissen: »Keine Oper soll vom
Gesichtspunkte der Poesie betrachtet werden -- von diesem aus ist jede
_dramatisch_-musikalische Komposition Unsinn --, sondern vom
Gesichtspunkte der Musik.«

Eine andere Stelle bei Grillparzer lautet: »Es wird keinem
Opernkompositeur leichter sein, genau auf die Worte des Textes zu
setzen, als dem, der seine Musik mechanisch zusammensetzt; da hingegen
der, dessen Musik ein organisches Leben, eine in sich selbst gegründete
Notwendigkeit hat, leicht mit den Worten in Kollision kommt. Jedes
eigentlich melodische Thema hat nämlich sein inneres Gesetz der Bildung
und Entwicklung, das dem eigentlich musikalischen Genie heilig und
unantastbar ist, und das er den Worten zu Gefallen nicht aufgeben kann.
Der musikalische Prosaist kann überall anfangen und überall aufhören,
weil Stücke und Teile sich leicht versetzen und anders ordnen lassen;
wer aber Sinn für ein Ganzes hat, kann es nur entweder ganz geben oder
ganz bleiben lassen. Das soll nicht der Vernachlässigung des Textes das
Wort reden, sondern sie nur in einzelnen Fällen entschuldigen, ja
rechtfertigen. Daher ist _Rossinis_ kindisches Getändel doch mehr wert,
als _Mosels_ prosaische Verstandesnachäffung, welche das Wesen der Musik
zerreißt, um den hohlen Worten des Dichters nachzustottern, daher kann
man _Mozarten_ häufig Verstöße gegen den Text vorwerfen, _Glucken_ nie;
daher ist das so gepriesene Charakteristische der Musik häufig ein sehr
negatives Verdienst, das sich meistens darauf beschränkt, daß die Freude
durch Nicht-Traurigkeit, der Schmerz durch Nicht-Lustigkeit, die Milde
durch Nicht-Härte, der Zorn durch Nicht-Milde, die Liebe durch Flöten
und die Verzweiflung durch Trompeten und Pauken mit Kontrabässen
ausgedrückt wird. Der _Situation_ muß der Tonsetzer treu bleiben, den
_Worten_ nicht; wenn er bessere in seiner Musik findet, so mag er immer
die des Textes übergehen.« Klingt nicht vieles in diesen, vor Dezennien
geschriebenen Aphorismen wie eine Polemik gegen Wagners Theorien und den
Walkürenstil? Einen tiefen Blick in die Natur des Publikums wirft
Grillparzer mit dem Ausspruch: »Die von einer _Oper_ eine _rein
dramatische_ Wirkung fordern, sind gewöhnlich jene, die dagegen auch von
einem _dramatischen_ Gedicht eine _musikalische_ Wirkung begehren, d. i.
Wirkung mit blinder Gewalt.« IX, 144 ff.

Ähnlich _M. Hauptmann_ an O. Jahn: »Mir war's (beim Hören Gluckscher
Opern) so oft wie Absicht des Komponisten wahr zu sein, _aber nicht
musikwahr, nur wortwahr_, und dadurch wird's nicht selten musikunwahr;
das Wort schließt kurz ab, die Musik will ausklingen. Die Musik bleibt
doch immer der Vokal, zu dem das Wort nur der Konsonant ist, und den
Akzent wird hier wie sonst immer nur der Vokal haben können, das
Lautende, nicht das Mitlautende. _Man hört doch immer die Musik, wenn
sie noch so wortgetreu ist, auch für sich; so muß sie also auch für sich
zu hören sein._« (Briefe an Spohr usw. ed. F. Hiller. Leipzig 1867.
S. 106.)

Eine Konsequenz des _Wagner_schen Satzes (von Mittel und Zweck) wäre
u. a. auch, daß alle Komponisten schweres Unrecht getan haben, wenn sie
zu mittelmäßigen Texten und Situationen mehr als mittelmäßige Musik zu
machen suchten, und wir ebenso schweres Unrecht begehen, jene Musik zu
lieben.

Die Verbindung der Poesie mit der Musik und der Oper ist eine Ehe zur
linken Hand. Je näher wir diese morganatische Ehe betrachten, welche die
musikalische Schönheit mit dem ihr bestimmt vorgeschriebenen Inhalt
eingeht, desto trügerischer dünkt uns ihre Unauflöslichkeit.

Wie kommt es, daß wir in jedem Gesangstück manche kleine Änderung
vornehmen können, welche, die Richtigkeit des Gefühlsausdrucks nicht im
mindesten schwächend, doch die Schönheit des Motivs sogleich vernichtet?
Das wäre unmöglich, wenn die letztere in der ersten läge. Wie kommt es,
daß manches Gesangstück, welches seinen Text tadellos ausdrückt, uns
unleidlich schlecht erscheint? Vom Standpunkt des Gefühlsprinzips kann
man ihm nicht beikommen. Was bleibt also das Prinzip des Schönen in der
Tonkunst, nachdem wir die Gefühle, als dafür unzureichend, abgelehnt?

Ein ganz anderes selbständiges Element, das wir sogleich näher
betrachten wollen.



III.

Das Musikalisch-Schöne.


Wir sind bisher negativ zu Werke gegangen und haben lediglich die irrige
Voraussetzung abzuwehren gesucht, daß das Schöne der Musik in dem
Darstellen von Gefühlen bestehen könne.

Nun haben wir den positiven Gehalt zu jenem Umriß hinzuzubringen, indem
wir die Frage beantworten, welcher Natur das Schöne der Tondichtung sei.

_Es ist ein spezifisch Musikalisches._ Darunter verstehen wir ein
Schönes, das unabhängig und unbedürftig eines von außen her kommenden
Inhalts, einzig in den Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt.
Die sinnvollen Beziehungen in sich reizvoller Klänge, ihr
Zusammenstimmen und Widerstreben, ihr Fliehen und sich Erreichen, ihr
Aufschwingen und Ersterben, -- dies ist, was in freien Formen vor unser
geistiges Anschauen tritt und als schön gefällt.

Das Urelement der Musik ist _Wohllaut_, ihr Wesen _Rhythmus_. Rhythmus
im Großen, als die Übereinstimmung eines symmetrischen Baues, und
Rhythmus im Kleinen, als die wechselnd-gesetzmäßige Bewegung einzelner
Glieder im Zeitmaß. Das Material, aus dem der Tondichter schafft, und
dessen Reichtum nicht verschwenderisch genug gedacht werden kann, sind
die gesamten _Töne_, mit der in ihnen ruhenden Möglichkeit zu
verschiedener Melodie, Harmonie und Rhythmisierung. Unausgeschöpft und
unerschöpflich waltet vor allem die _Melodie_, als Grundgestalt
musikalischer Schönheit; mit tausendfachem Verwandeln, Umkehren,
Verstärken bietet die _Harmonie_ immer neue Grundlagen; beide vereint
bewegt der _Rhythmus_, die Pulsader musikalischen Lebens, und färbt der
Reiz mannigfaltiger _Klangfarben_.

Fragt es sich nun, was mit diesem Tonmaterial ausgedrückt werden soll,
so lautet die Antwort: _Musikalische Ideen_. Eine vollständig zur
Erscheinung gebrachte musikalische Idee aber ist bereits selbständiges
Schöne, ist Selbstzweck und keineswegs erst wieder Mittel oder Material
der Darstellung von Gefühlen und Gedanken.

Der Inhalt der Musik sind _tönend bewegte Formen_.

In welcher Weise uns die Musik _schöne Formen_ ohne den Inhalt eines
bestimmten Affektes bringen kann, zeigt uns entfernt bereits ein Zweig
der Ornamentik in der bildenden Kunst: _die Arabeske_. Wir erblicken
geschwungene Linien, hier sanft sich neigend, dort kühn emporstrebend,
sich findend und loslassend, in kleinen und großen Bogen
korrespondierend, scheinbar inkommensurabel, doch immer wohlgegliedert,
überall ein Gegen- oder Seitenstück begrüßend, eine Sammlung kleiner
Einzelheiten und doch ein Ganzes. Denken wir uns nun eine Arabeske
nicht tot und ruhend, sondern in fortwährender Selbstbildung vor unsern
Augen entstehend. Wie die starken und feinen Linien einander verfolgen,
aus kleiner Biegung zu prächtiger Höhe sich heben, dann wieder senken,
sich erweitern, zusammenziehen und in sinnigem Wechsel von Ruhe und
Anspannung das Auge stets neu überraschen! Da wird das Bild schon höher
und würdiger. Denken wir uns vollends diese lebendige Arabeske als
tätige Ausströmung eines künstlerischen Geistes, der die ganze Fülle
seiner Phantasie unablässig in die Adern dieser Bewegung ergießt, --
wird dieser Eindruck dem _musikalischen_ nicht einigermaßen nahekommend
sein?

Jeder von uns hat als Kind sich wohl an dem wechselnden Farben- und
Formenspiel eines _Kaleidoskops_ ergötzt. Ein solches Kaleidoskop,
jedoch auf unmeßbar höherer idealer Erscheinungsstufe, ist Musik. Sie
bringt in stets sich entwickelnder Abwechselung schöne Formen und Farben,
sanft übergehend, scharf kontrastierend, immer zusammenhängend und doch
immer neu, in sich abgeschlossen und von sich selbst erfüllt. Der
Hauptunterschied ist, daß solch unserm Ohr vorgeführtes _Ton_kaleidoskop
sich als unmittelbare Emanation eines künstlerisch schaffenden Geistes
gibt, jenes sichtbare aber als ein sinnreich-mechanisches Spielzeug.
Will man nicht bloß in Gedanken, sondern in Wirklichkeit die Erhebung
der Farbe zur Musik vollziehen, und die Mittel der einen Kunst in die
Wirkungen der andern einbetten, so gerät man auf die abgeschmackte
Spielerei des »Farbenklaviers« oder der »Augenorgel«, deren Erfindung
jedoch beweist, wie die formelle Seite beider Erscheinungen auf gleicher
Basis ruht.

Sollte irgend ein gefühlvoller Musikfreund unsere Kunst durch Analogien
wie die obige herabgewürdigt finden, so entgegnen wir, es handle sich
bloß darum, ob die Analogien _richtig_ seien oder nicht. Herabgewürdigt
wird nichts dadurch, daß man es besser kennen lernt. Will man auf die
Eigenschaft der Bewegung, der zeitlichen Entwicklung, wodurch das
Beispiel vom Kaleidoskop besonders treffend wird, verzichten, so kann
man allerdings für das Musikalisch-Schöne eine höhere Analogie etwa in
der Architektur, dem menschlichen Körper, oder einer Landschaft finden,
die auch eine primitive Schönheit der Umrisse und Farben (abgesehen von
der Seele, dem geistigen Ausdruck) haben.

Wenn man die Fülle von Schönheit nicht zu erkennen verstand, die im rein
Musikalischen lebt, so trägt die _Unterschätzung des Sinnlichen_ viel
Schuld, welcher wir in älteren Ästhetiken zugunsten der Moral und des
Gemüts, in Hegel zugunsten der »Idee« begegnen. Jede Kunst geht vom
Sinnlichen aus und webt darin. Die »Gefühlstheorie« verkennt dies, sie
übersieht das _Hören_ gänzlich und geht unmittelbar ans _Fühlen_. Die
Musik schaffe für das Herz, meinen sie, das Ohr sei ein triviales Ding.

Ja, was sie eben Ohr nennen -- für das »Labyrinth« oder »Trommelfell«
dichtet kein Beethoven. Aber die _Phantasie_, die auf Gehörsempfindungen
organisiert ist, und welcher der _Sinn_ etwas ganz anderes bedeutet, als
ein bloßer Trichter an die Oberfläche der Erscheinungen, _sie_ genießt
in bewußter Sinnlichkeit die klingenden Figuren, die sich aufbauenden
Töne, und lebt frei und unmittelbar in deren Anschauung.

Es ist von außerordentlicher Schwierigkeit, dies selbständige Schöne in
der Tonkunst, dies spezifisch Musikalische zu schildern. Da die Musik
kein Vorbild in der Natur besitzt und keinen begrifflichen Inhalt
ausspricht, so läßt sich von ihr nur mit trocknen technischen
Bestimmungen, oder mit poetischen Fiktionen erzählen. Ihr Reich ist in
der Tat »nicht von dieser Welt«. All die phantasiereichen Schilderungen,
Charakteristiken, Umschreibungen eines Tonwerks sind bildlich oder
irrig. Was bei jeder andern Kunst noch Beschreibung, ist bei der
Tonkunst schon Metapher. Die Musik will nun einmal als Musik aufgefaßt
sein und kann nur aus sich selbst verstanden, in sich selbst genossen
werden.

Keineswegs ist das »Spezifisch-Musikalische« als bloß akustische
Schönheit oder proportionale Symmetrie zu verstehen, -- Zweige, die es
als untergeordnet in sich begreift, -- noch weniger kann von einem
»ohrenkitzelnden Spiel in Tönen« die Rede sein und ähnlichen
Bezeichnungen, womit der Mangel an geistiger Beseelung hervorgehoben zu
werden pflegt. Dadurch, daß wir auf musikalische Schönheit dringen,
haben wir den geistigen Gehalt nicht ausgeschlossen, sondern ihn
vielmehr bedingt. Denn wir anerkennen keine Schönheit ohne jeglichen
Anteil von Geist. Indem wir aber das Schöne in der Musik wesentlich in
_Formen_ verlegt haben, ist schon angedeutet, daß der geistige Gehalt in
engstem Zusammenhange mit diesen Tonformen steht. Der Begriff der »Form«
findet in der Musik eine ganz eigentümliche Verwirklichung. Die Formen,
welche sich aus _Tönen_ bilden, sind nicht leer, sondern erfüllte, nicht
bloße Linienbegrenzung eines Vakuums, sondern sich von innen heraus
gestaltender Geist. Der Arabeske gegenüber ist demnach die Musik in der
Tat ein _Bild_, allein ein solches, dessen Gegenstand wir nicht in Worte
fassen und unsern Begriffen unterordnen können. In der Musik ist Sinn
und Folge, aber _musikalische_; sie ist eine Sprache, die wir sprechen
und verstehen, jedoch zu _übersetzen_ nicht imstande sind. Es liegt eine
tiefsinnige Erkenntnis darin, daß man auch in Tonwerken von »Gedanken«
spricht, und wie in der Rede unterscheidet da das geübte Urteil leicht
echte Gedanken von bloßen Redensarten. Ebenso erkennen wir das
vernünftig Abgeschlossene einer Tongruppe, indem wir sie einen »_Satz_«
nennen. Fühlen wir doch so genau wie bei jeder logischen Periode, wo ihr
Sinn zu Ende ist, obgleich die Wahrheit beider ganz inkommensurabel
dasteht.

Das befriedigend Vernünftige, das an und für sich in musikalischen
Formbildungen liegen kann, beruht in gewissen primitiven Grundgesetzen,
welche die Natur in die Organisation des Menschen und in die äußeren
Lauterscheinungen gelegt hat. Das Urgesetz der »harmonischen
Progression« ist es vorzugsweise, welches, analog der Kreisform bei den
bildenden Künsten, den Keim der wichtigsten Weiterbildung und die --
leider fast unerklärte -- Erklärung der verschiedenen musikalischen
Verhältnisse in sich trägt.

Alle musikalischen Elemente stehen unter sich in geheimen, auf
Naturgesetze gegründeten Verbindungen und Wahlverwandtschaften. Diese
den Rhythmus, die Melodie und Harmonie unsichtbar beherrschenden
Wahlverwandtschaften verlangen in der menschlichen Musik ihre Befolgung
und stempeln jede ihnen widersprechende Verbindung zu Willkür und
Häßlichkeit. Sie leben, wenngleich nicht in der Form wissenschaftlichen
Bewußtseins, instinktiv in jedem gebildeten Ohr, welches demnach das
Organische, Vernunftgemäße einer Tongruppe, oder das Widersinnige,
Unnatürliche derselben durch bloße Anschauung empfindet, ohne daß ein
logischer Begriff den Maßstab oder das tertium comparationis hierzu
abgäbe.[19]

  [19] »Die Poesie darf das Häßliche (Unschöne) schon einigermaßen
  freigebig anwenden. Denn da die Wirkung der Poesie nur durch das
  Medium der unmittelbar von ihr erweckten Begriffe an das Gefühl
  gelangt, so wird die Vorstellung der Zweckmäßigkeit den Eindruck des
  Häßlichen (Unschönen) von vornherein insoweit mildern, daß es als
  Reizmittel und Gegensatz sogar die höchste Wirkung hervorbringen kann.
  Der Eindruck der Musik aber wird unmittelbar vom Sinn empfangen und
  genossen, die Billigung des Verstandes kommt zu spät, um die Störungen
  des Mißfälligen wieder auszugleichen. Daher darf Shakespeare bis zum
  Gräßlichen gehen, Mozarts Grenze war das Schöne.« (_Grillparzer_, IX.
  142.)

In dieser negativen, inneren Vernünftigkeit, welche dem Tonsystem durch
Naturgesetze innewohnt, wurzelt dessen weitere Fähigkeit zur Aufnahme
_positiven_ Schönheitsgehalts.

Das Komponieren ist ein Arbeiten des Geistes in geistfähigem Material.
So reichhaltig wir dies musikalische Material befunden haben, so
elastisch und durchdringbar erweist es sich für die künstlerische
Phantasie. Diese baut nicht wie der Architekt aus rohem, schwerfälligem
Gestein, sondern auf der Nachwirkung vorher verklungener Töne.
Geistigerer, feinerer Natur als jeder andere Kunststoff, nehmen die Töne
willig jedwede Idee des Künstlers in sich auf. Da nun die
Tonverbindungen, in deren Verhältnissen das musikalisch Schöne ruht,
nicht durch mechanisches Aneinanderreihen, sondern durch freies Schaffen
der Phantasie gewonnen werden, so prägt sich die geistige Kraft und
Eigentümlichkeit dieser bestimmten Phantasie dem Erzeugnis als
_Charakter_ auf. Als Schöpfung eines denkenden und fühlenden Geistes hat
demnach eine musikalische Komposition in hohem Grade die Fähigkeit,
selbst geist- und gefühlvoll zu sein. Diesen geistigen Gehalt werden wir
in jedem musikalischen Kunstwerk fordern, doch darf er in kein anderes
Moment desselben verlegt werden, als in die _Tonbildungen selbst_.
Unsere Ansicht über den Sitz des Geistes und Gefühls einer Komposition
verhält sich zu der gewöhnlichen Meinung wie die Begriffe _Immanenz_
und _Transscendenz_. Jede Kunst hat zum Ziel, eine in der Phantasie des
Künstlers lebendig gewordene Idee zur äußeren Erscheinung zu bringen.
Dies Ideelle in der Musik ist ein _tonliches_, nicht ein begriffliches,
welches erst in Töne zu übersetzen wäre. Nicht der Vorsatz, eine
bestimmte Leidenschaft musikalisch zu schildern, sondern die Erfindung
einer bestimmten Melodie ist der springende Punkt, aus welchem jedes
weitere Schaffen des Komponisten seinen Ausgang nimmt. Durch jene
primitive, geheimnisvolle Macht, in deren Werkstätte das Menschenauge
nun und nimmermehr dringen wird, erklingt in dem Geist des Komponisten
ein Thema, ein Motiv. Hinter die Entstehung dieses _ersten_ Samenkorns
können wir nicht zurückgehen, wir müssen es als einfache Tatsache
hinnehmen. Ist es einmal in die Phantasie des Künstlers gefallen, so
beginnt sein Schaffen, welches, von diesem Hauptthema ausgehend und sich
stets darauf beziehend, das Ziel verfolgt, es in allen seinen
Beziehungen darzustellen. Das Schöne eines selbständigen einfachen
Themas kündigt sich in dem ästhetischen Gefühl mit jener Unmittelbarkeit
an, welche keine andere Erklärung duldet, als höchstens die innere
Zweckmäßigkeit der Erscheinung, die Harmonie ihrer Teile, ohne Beziehung
auf ein außerhalb existierendes Drittes. Es gefällt uns an sich, wie die
Arabeske, die Säule, oder wie Produkte des Naturschönen, wie Blatt und
Blume.

Nichts irriger und häufiger, als die Anschauung, welche »schöne Musik«
mit und ohne geistigen Gehalt unterscheidet. Sie faßt den Begriff des
Schönen in der Musik viel zu eng und stellt sich die kunstreich
zusammengefügte Form als etwas für sich selbst Bestehendes, die
hineingegossene Seele gleichfalls als etwas Selbständiges vor und teilt
nun konsequent die Kompositionen in gefüllte und leere Champagnerflaschen.
Der musikalische Champagner hat aber das Eigentümliche, er wächst _mit_
der Flasche.

Ein bestimmter musikalischer Gedanke ist ohne weiteres durch sich
geistvoll, der andere gemein; diese abschließende Kadenz klingt würdig,
durch Veränderung von zwei Noten wird sie platt. Mit voller Richtigkeit
bezeichnen wir ein musikalisches Thema als großartig, graziös, innig,
geistlos, trivial; all diese Ausdrücke bezeichnen aber den
_musikalischen_ Charakter der Stelle. Zur Charakterisierung dieses
musikalischen Ausdrucks eines Motivs wählen wir häufig Begriffe aus
unserem _Gemütsleben_, als »stolz, mißmutig, zärtlich, beherzt,
sehnend«. Wir können die Bezeichnungen aber auch aus anderen
Erscheinungskreisen nehmen und eine Musik: »duftig, frühlingsfrisch,
nebelhaft, frostig« nennen, Gefühle sind also zur Bezeichnung
musikalischen Charakters nur _Phänomene_ wie andere, welche
Ähnlichkeiten dafür bieten. Derlei Epitheta mag man im Bewußtsein ihrer
Bildlichkeit brauchen, ja man kann ihrer nicht entraten, nur hüte man
sich zu sagen: diese Musik _schildert_ Stolz usf.

Die genaue Betrachtung aller musikalischen Bestimmtheiten eines Themas
überzeugt uns aber, daß es -- bei aller Unerforschlichkeit der letzten,
ontologischen Gründe -- doch eine Anzahl näherliegender Ursachen gibt,
mit welchen der geistige Ausdruck einer Musik in genauem Zusammenhang
steht. Jedes einzelne musikalische Element (d. h. jedes Intervall, jede
Klangfarbe, jeder Akkord, jeder Rhythmus usf.) hat seine eigentümliche
Physiognomie, seine bestimmte Art zu wirken. Unerforschlich ist der
Künstler, erforschlich das Kunstwerk.

Dasselbe Thema klingt anders über dem Dreiklang, als über einem
Sextakkord; ein Melodienschritt in die Septime trägt ganz anderen
Charakter als in die Sexte, der Rhythmus, der ein Motiv begleitet, ob
laut oder leise, von dieser oder jener Klanggattung, ändert dessen
spezifische Färbung: kurz jeder einzelne Faktor einer Stelle trägt dazu
mit Notwendigkeit bei, daß sie gerade _diesen_ geistigen Ausdruck
annimmt, so und nicht anders auf den Hörer wirkt. Was die _Halévy_sche
Musik bizarr, die _Auber_sche graziös macht, was die Eigentümlichkeit
bewirkt, an der wir sogleich _Mendelssohn_, _Spohr_ erkennen, dies alles
läßt sich auf rein _musikalische_ Bestimmungen zurückführen, ohne
Berufung auf das rätselhafte _Gefühl_.

_Warum_ die häufigen Quintsext-Akkorde, die engen, diatonischen Themen
bei _Mendelssohn_, die Chromatik und Enharmonik bei _Spohr_, die kurzen,
zweiteiligen Rhythmen bei _Auber_ usw. gerade diesen bestimmten,
unvermischbaren Eindruck erzeugen -- dies kann freilich weder die
Psychologie noch die Physiologie beantworten.

Wenn man jedoch nach der _nächsten_ bestimmenden Ursache fragt, -- und
darauf kommt es ja in der Kunst vorzüglich an, -- so liegt die
leidenschaftliche Einwirkung eines Themas nicht in dem vermeintlich
übermäßigen Schmerz des Komponisten, sondern in dessen übermäßigen
Intervallen, nicht in dem Zittern seiner Seele, sondern im Tremolo der
Pauken, nicht in seiner Sehnsucht, sondern in der Chromatik. Der
_Zusammenhang_ beider soll keineswegs ignoriert, vielmehr bald näher
betrachtet werden; festzuhalten ist aber, daß der wissenschaftlichen
Untersuchung über die Wirkung eines Themas nur jene _musikalischen_
Faktoren unwandelbar und objektiv vorliegen, niemals die vermutliche
Stimmung, welche den Komponisten dabei erfüllte. Will man von dieser
unmittelbar auf die Wirkung des Werkes folgern, oder diese aus jener
erklären, so kann der Schlußsatz _vielleicht_ richtig ausfallen, aber
das wichtigste Mittelglied der Deduktion, nämlich die _Musik_ selbst,
wurde übersprungen.

Die _praktische_ Kenntnis des Charakters jedes musikalischen Elements
hat der tüchtige Komponist, sei es in mehr instinktiver oder bewußter
Weise, inne. Zur wissenschaftlichen Erklärung der verschiedenen
musikalischen Wirkungen und Eindrücke gehört jedoch eine _theoretische_
Kenntnis der genannten Charaktere, von ihrer reichsten Zusammensetzung
bis in das letzte unterscheidbare Element. Der bestimmte Eindruck, mit
welchem eine Melodie Macht über uns gewinnt, ist nicht schlechthin
»rätselhaftes, geheimnisvolles Wunder«, das wir nur »fühlen und ahnen«
dürfen, sondern unausbleibliche Konsequenz der musikalischen Faktoren,
welche in dieser bestimmten Verbindung wirken. Ein knapper oder weiter
Rhythmus, diatonische oder chromatische Fortschreitung, -- alles hat
seine charakteristische Physiognomie und besondere Art uns anzusprechen;
darum wird es dem gebildeten Musiker eine ungleich deutlichere
Vorstellung von dem Ausdruck eines ihm fremden Tonstückes geben, daß
z. B. zuviel verminderte Septakkorde und Tremolo darin vorherrschen, als
die poetischeste Schilderung der Gefühlskrisen, welche der Referent
dabei durchgemacht.

Die Erforschung der Natur jedes einzelnen musikalischen Elementes,
seines Zusammenhanges mit einem bestimmten Eindruck, -- nur der
Tatsache, nicht des letzten Grundes, -- endlich die Zurückführung dieser
speziellen Beobachtungen auf allgemeine Gesetze: das wäre jene
»philosophische Begründung der Musik«, welche so viele Autoren ersehnen,
ohne uns nebenbei mitzuteilen, was sie darunter eigentlich verstehen.
Die psychische und physische Einwirkung jedes Akkords, jedes Rhythmus,
jedes Intervalls wird aber nimmermehr erklärt, indem man sagt: dieser
ist Rot, jener Grün, oder dieser Hoffnung, jener Mißmut, sondern nur
durch Subsumierung der spezifisch musikalischen Eigenschaften unter
allgemeine ästhetische Kategorien und dieser unter Ein oberstes Prinzip.
Wären dergestalt die einzelnen Faktoren in ihrer Isolierung erklärt, so
müßte weiter gezeigt werden, wie sie einander in den verschiedensten
Kombinationen bestimmen und modifizieren. Der _Harmonie_ und der
_kontrapunktischen_ Begleitung haben die meisten Tongelehrten eine
vorzügliche Stellung zu dem geistigen _Gehalt_ der Komposition
eingeräumt. Nur ging man in dieser Vindikation viel zu oberflächlich und
atomistisch zu Werke. Man bestimmte die _Melodie_ als Eingebung des
Genies, als Trägerin der Sinnlichkeit und des Gefühls -- bei dieser
Gelegenheit erhielten die Italiener ein gnädiges Lob; im _Gegensatz_ zur
Melodie wurde die _Harmonie_ als Trägerin des gediegenen Gehalts
aufgeführt, als erlernbar und Produkt des Nachdenkens. Es ist seltsam,
wie lange man sich mit einer so dürftigen Anschauungsweise zufrieden
stellen konnte. Beiden Behauptungen liegt ein Richtiges zugrunde, doch
gelten sie weder in dieser Allgemeinheit, noch kommen sie in solcher
Isolierung vor. Der Geist ist Eins und die musikalische Erfindung eines
Künstlers gleichfalls. Melodie und Harmonie eines Themas entspringen
zugleich in _einer_ Rüstung aus dem Haupt des Tondichters. Weder das
Gesetz der Unterordnung noch des Gegensatzes trifft das _Wesen_ des
Verhältnisses der Harmonie zur Melodie. Beide können hier gleichzeitige
Entfaltungskraft ausüben, dort sich einander freiwillig unterordnen, --
in dem einen wie dem andern Fall kann die höchste geistige Schönheit
erreicht werden. Ist's etwa die (ganz fehlende) _Harmonie_ in den
Hauptmotiven zu Beethovens Coriolan- und Mendelssohns Hebriden-Ouvertüre,
was ihnen den Ausdruck gedankenreichen Tiefsinns verleiht? Wird man
_Rossinis_ Thema »O, Mathilde« oder ein neapolitanisches Volkslied mit
mehr Geist erfüllen, wenn man einen basso continuo oder komplizierte
Akkordenfolgen an die Stellen des notdürftigen Harmoniegeländes setzt?
_Diese_ Melodie mußte mit _dieser_ Harmonie zugleich erdacht werden, mit
_diesem_ Rhythmus und _dieser_ Klanggattung. Der geistige Gehalt kommt
nur dem Verein _aller_ zu, und die Verstümmlung eines Gliedes verletzt
den Ausdruck auch der übrigen. Das _Vorherrschen_ der Melodie oder der
Harmonie oder des Rhythmus kommt dem Ganzen zugute, und hier allen Geist
in den Akkorden, dort alle Trivialität in deren Mangel zu finden, ist
bare Schulmeisterei. Die Kamelie kommt duftlos zutage, die Lilie
farblos, die Rose prangt für beide Sinne -- da läßt sich nichts
übertragen, und ist doch jede von ihnen schön!

So hätte die »philosophische Begründung der Musik« vorerst zu
erforschen, welche notwendigen geistigen Bestimmtheiten mit jedem
musikalischen Element verbunden sind, und wie sie miteinander
zusammenhängen. Die doppelte Forderung eines streng wissenschaftlichen
Gerippes und einer höchst reichhaltigen Kasuistik machen die Aufgabe zu
einer sehr schwierigen, aber kaum unüberwindlichen, es wäre denn, daß
man das Ideal einer »exakten« Musikwissenschaft, nach dem Muster der
Chemie oder Physiologie, erstrebte!

Die Art, wie der Akt des Schaffens im instrumentalen Tondichter vorgeht,
gibt uns den sichersten Einblick in das Eigentümliche des musikalischen
Schönheitsprinzips. Eine _musikalische_ Idee entspringt primitiv in des
Tondichters Phantasie, er spinnt sie weiter, -- es schießen immer mehr
und mehr Kristalle an, bis unmerklich die Gestalt des ganzen Gebildes in
ihren Hauptformen vor ihm steht und nur die künstlerische Ausführung,
prüfend, messend, abändernd, hinzuzutreten hat. An die Darstellung eines
bestimmten Inhaltes denkt der instrumentale Tonsetzer nicht. Tut er es,
so stellt er sich auf einen falschen Standpunkt, mehr neben als in der
Musik. Seine Komposition wird die Übersetzung eines _Programms_ in Töne,
welche dann ohne jenes Programm unverständlich bleiben. Wir verkennen
weder, noch unterschätzen wir _Berlioz_' glänzendes Talent, wenn wir an
dieser Stelle seinen Namen nennen. Ihm ist _Liszt_ mit seinen weit
schwächeren »symphonischen Dichtungen« nachgefolgt.

Wie aus dem gleichen Marmor der eine Bildhauer bezaubernde Formen, der
andere eckiges Ungeschick heraushaut, so gestaltet sich die Tonleiter
unter verschiedenen Händen zur Beethovenschen Ouvertüre, oder zur
Verdischen. Was unterscheidet die beiden? Etwa, daß die eine höhere
Gefühle, oder dieselben Gefühle richtiger darstellt? Nein, sondern daß
sie schönere Tonformen bildet. Nur dies macht eine Musik gut oder
schlecht, daß ein Komponist ein geistsprühendes Thema einsetzt, der
andere ein gemeines, daß der erstere es nach allen Beziehungen immer neu
und bedeutend entwickelt, der letztere seines womöglich immer schlechter
macht, die Harmonie des einen wechselvoll und originell sich entfaltet,
während die zweite vor Armut nicht vom Flecke kommt, der Rhythmus hier
ein lebenswarm hüpfender Puls ist, dort ein Zapfenstreich.

Es gibt keine Kunst, welche so bald und so viele Formen verbraucht, wie
die Musik. Modulationen, Kadenzen, Intervallenfortschreitungen,
Harmonienfolgen nutzen sich in fünfzig, ja dreißig Jahren dergestalt ab,
daß der geistvolle Komponist sich deren nicht mehr bedienen kann und
fortwährend zur Erfindung neuer, rein musikalischer Züge gedrängt wird.
Man kann von einer Menge Kompositionen, die hoch über dem Alltagstand
ihrer Zeit stehen, ohne Unrichtigkeit sagen, daß sie einmal schön
_waren_. Die Phantasie des geistreichen Künstlers wird aus den
geheim-ursprünglichen Beziehungen der musikalischen Elemente und ihrer
unzählbar möglichen Kombinationen die feinsten, verborgensten entdecken,
sie wird Tonformen bilden, die aus freiester Willkür erfunden und doch
zugleich durch ein unsichtbar feines Band mit der Notwendigkeit
verknüpft erscheinen. Solche Werke oder Einzelheiten derselben werden
wir ohne Bedenken »geistreich« nennen. Hiermit berichtigt sich leicht
_Oulibicheffs_ mißverständliche Ansicht, eine Instrumentalmusik könne
nicht geistreich sein, indem »für einen Komponisten der Geist einzig und
allein in einer gewissen _Anwendung_ seiner Musik auf ein direktes oder
indirektes Programm bestehe«. Es wäre unserer Ansicht nach ganz richtig,
das berühmte dis in dem Allegro der »Don Juan«-Ouvertüre oder den
absteigenden Unisonogang darin einen geistreichen Zug zu nennen, -- nun
und nimmermehr hat aber das erstere (wie Oulibicheff meint) »die
feindliche Stellung Don Juans gegen das Menschengeschlecht«, und
letzterer die Väter, Gatten, Brüder und Liebhaber der von Don Juan
verführten Frauen vorgestellt. Sind alle diese Deutungen an sich schon
vom Übel, so werden sie es doppelt bei _Mozart_, welcher -- die
musikalischste Natur, welche die Kunstgeschichte aufweist -- alles, was
er nur berührt hat, in Musik verwandelte. _Oulibicheff_ sieht auch in
der G-moll-Symphonie die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe in
vier verschiedenen Phasen genau ausgedrückt. Die G-moll-Symphonie ist
Musik und weiter nichts. Das ist jedenfalls genug. Man suche nicht die
Darstellung bestimmter Seelenprozesse oder Ereignisse in Tonstücken,
sondern vor allem _Musik_, und man wird rein genießen, was sie
vollständig gibt. Wo das Musikalisch-Schöne fehlt, wird das
Hineinklügeln einer großartigen Bedeutung es nie ersetzen; und dies ist
unnütz, wo jenes existiert. Auf alle Fälle bringt es die musikalische
Auffassung in eine ganz falsche Richtung. Dieselben Leute, welche der
Musik eine vorragende Stellung unter den Offenbarungen des menschlichen
Geistes vindizieren wollen, welche sie nicht hat und nie erlangen wird,
weil sie nicht imstande ist, _Überzeugungen_ mitzuteilen, -- dieselben
Leute haben auch den Ausdruck »Intention« in Schwang gebracht. In der
Tonkunst gibt's keine »Intention«, welche die fehlende »Invention«
ersetzen könnte. Was nicht zur Erscheinung kommt, ist in der Musik gar
nicht da, was aber zur Erscheinung gekommen ist, hat aufgehört, bloße
Intention zu sein. Der Ausspruch: »Er hat Intentionen«, wird meist in
lobender Absicht angewandt, -- mir scheint er eher ein Tadel, welcher in
trockenes Deutsch übersetzt etwa lauten würde: der Künstler möchte wohl,
allein er kann nicht. _Kunst_ kommt aber von _Können_; wer nichts kann,
-- hat »Intentionen«.

Wie das Schöne eines Tonstücks lediglich in dessen musikalischen
Bestimmungen wurzelt, so folgen auch die Gesetze seiner Konstruktion nur
diesen. Es herrschen darüber eine Menge schwankender, irriger Ansichten,
von welchen hier nur eine angeführt werden mag.

Dies ist nämlich die aus der Gefühlsanschauung hervorgegangene
landläufige Theorie der _Sonate_ und _Symphonie_. Der Tonsetzer, heißt
es, habe vier voneinander verschiedene _Seelenzustände_, die aber
miteinander (wie?) zusammenhängen, in den einzelnen Sätzen der Sonate
darzustellen. Um den unleugbaren Zusammenhang der Sätze zu rechtfertigen
und ihre verschiedene Wirkung zu erklären, zwingt man ordentlich den
Zuhörer, ihnen bestimmte Gefühle als Inhalt unterzulegen. Die Deutung
paßt manchmal, öfter auch nicht, niemals mit Notwendigkeit. Dies aber
wird immer mit Notwendigkeit passen, daß vier Tonsätze zu einem Ganzen
verbunden sind, welche nach _musikalisch_-ästhetischen Gesetzen sich
abzuheben und zu steigern haben.

Wir verdanken dem phantasiereichen Maler _M. v. Schwind_ eine sehr
anziehende Illustration der Klavierphantasie op. 80 von _Beethoven_,
deren einzelne Sätze der Künstler als zusammenhängende Ereignisse
derselben Hauptpersonen auffaßte und bildlich darstellte. Geradeso wie
der Maler Szenen und Gestalten aus den Tönen heraussieht, so legt der
Zuhörer Gefühle und Ereignisse hinein. Beides hat damit einen gewissen
Zusammenhang, aber keinen _notwendigen_, und nur mit diesem haben es
wissenschaftliche Gesetze zu tun.

Man pflegt oft anzuführen, daß Beethoven beim Entwurf mancher seiner
Kompositionen sich bestimmte Ereignisse oder Seelenzustände gedacht
haben soll. Wo Beethoven oder irgend ein anderer Tonsetzer diesen
Vorgang beobachtet hat, benützte er ihn bloß als Hilfsmittel, sich durch
den Zusammenhang eines objektiven Ereignisses das Festhalten der
musikalischen Einheit zu erleichtern. Wenn Berlioz, Liszt u. a. _mehr_
als dies an der Dichtung, dem Titel oder dem Erlebnis zu haben glaubten,
so ist es eine Selbsttäuschung. Die Einheit der _musikalischen
Stimmung_ ist's, was die vier Sätze einer Sonate als organisch verbunden
charakterisiert, nicht aber der Zusammenhang mit dem vom Komponisten
gedachten _Objekte_. Wo sich dieser solch poetisches Gängelband versagte
und rein musikalisch erfand, da wird man keine andere Einheit der Teile
finden, als eine musikalische. Es ist ästhetisch gleichgültig, ob sich
Beethoven allenfalls bei seinen sämtlichen Kompositionen bestimmte
Vorwürfe gewählt; wir kennen sie nicht, sie sind daher für das Werk
nicht existierend. Dieses selbst, ohne allen Kommentar, ist's, was
vorliegt, und wie der Jurist aus der Welt hinausfingiert, was nicht in
den Akten liegt, so ist für die ästhetische Beurteilung nicht vorhanden,
was außerhalb des Kunstwerks lebt. Erscheinen uns die Sätze einer
Komposition als einheitlich, so muß diese Zusammengehörigkeit in
_musikalischen_ Bestimmungen ihren Grund haben.[20]

  [20] Diese Zeilen haben Beethoven-Auguren wie Herrn _Lobe_ u. a. sehr
  entsetzt. Wir können ihnen nicht besser antworten als mit folgender,
  unserer Ansicht vollkommen zustimmenden Ausführung _Otto Jahns_ in
  seinem Aufsatz über die neue Beethoven-Ausgabe von Breitkopf & Härtel
  (»Ges. Aufsätze über Musik«). Jahn knüpft an _Schindlers_ bekannte
  Mitteilung an, Beethoven habe, um die Bedeutung seiner D-moll- und
  F-moll-Sonate befragt, geantwortet: »Lesen Sie nur Shakespeares
  _Sturm_.« Vermutlich, sagt _Jahn_, wird der Frager von seiner Lektüre
  die sichere Überzeugung mitbringen, daß Shakespeares Sturm auf ihn
  anders wirke, als auf Beethoven und keine D-moll- und F-moll-Sonaten
  in ihm erzeuge. Daß gerade dieses Drama Beethoven zu solchen
  Schöpfungen anregen konnte, ist freilich nicht ohne Interesse zu
  erfahren; aus dem Shakespeare das Verständnis derselben herholen
  wollen, hieße nur die Unfähigkeit der musikalischen Auffassung
  bezeugen. Bei dem Adagio des F-dur-Quartetts (op. 18 Nr. 1) _soll_
  Beethoven die Grabesszene aus Romeo und Julie vorgeschwebt haben; wer
  nun etwa diese in seinem Shakespeare aufmerksam nachliest und dann
  beim Anhören des Adagio sich zu vergegenwärtigen sucht, wird der sich
  den wahren Genuß des Musikstücks erhöhen oder stören? Überschriften
  und Notizen, auch authentische, von Beethoven selbst herrührende,
  würden das Eindringen in Sinn und Bedeutung des Kunstwerks nicht
  wesentlich fördern, es ist vielmehr zu fürchten, daß sie ebensowohl
  Mißverständnisse und Verkehrtheiten hervorrufen würden, wie die,
  welche Beethoven veröffentlicht hat. Die schöne Sonate in Es-dur
  (op. 81) trägt bekanntlich die Überschriften »Les adieux, l'absence,
  le retour« und wird daher als zuverlässiges Beispiel von Programm-Musik
  mit Sicherheit interpretiert. »Daß es Momente aus dem Leben eines
  liebenden Paares sind«, sagt _Marx_, der es dahingestellt sein läßt,
  ob die Liebenden verheiratet sind, oder nicht, »setzt man schon
  voraus, aber die Komposition bringt auch den _Beweis_.« »Die Liebenden
  öffnen ihre Arme, wie Zugvögel ihre Flügel«, sagt _Lenz_ vom Schluß
  der Sonate. Nun hat Beethoven auf das Original der ersten Abteilung
  geschrieben: »Das Lebewohl bei der Abreise Sr. Kais. Hoheit des
  _Erzherzogs Rudolf_, d. 4. Mai 1809« und auf den Titel der zweiten:
  »Die Ankunft Sr. Kais. Hoheit des _Erzherzogs Rudolf_, d. 30. Januar
  1810.« Wie würde er protestiert haben, daß er dem Erzherzoge gegenüber
  diese »in schmeichelndem Kosen beseligter Lust« flügelschlagende Sie
  vorstellen sollte! -- »Darum können wir zufrieden sein«, schließt
  _Jahn_, »daß Beethoven (in der Regel) solche Worte nicht ausgesprochen
  hat, welche nur zu viele zu dem Irrtum verleitet haben würden, wer die
  Überschrift verstehe, der verstehe auch das Kunstwerk. Seine _Musik
  sagt alles, was er sagen wollte_«.

Einem möglichen Mißverstehen wollen wir schließlich dadurch begegnen,
daß wir unsern Begriff des »Musikalisch-Schönen« nach drei Seiten
feststellen. Das »Musikalisch-Schöne« in dem von uns angenommenen
spezifischen Sinn beschränkt sich nicht auf das »Klassische«, noch
enthält es eine Bevorzugung desselben vor dem »Romantischen«. Es gilt
sowohl in der einen als der andern Richtung, beherrscht Bach so gut wie
Beethoven, Mozart so gut wie Schumann. Unsere Thesis also enthält auch
nicht die Andeutung einer Parteinahme. Der ganze Verlauf der
gegenwärtigen Untersuchung spricht überhaupt kein _Sollen_ aus, sondern
betrachtet nur ein _Sein_; kein bestimmtes musikalisches Ideal läßt sich
daraus als das wahrhaft Schöne deduzieren, sondern bloß nachweisen, was
in jeder, auch in den entgegengesetztesten Schulen in gleicher Weise das
Schöne ist.

Es ist nicht lange her, seit man angefangen hat, Kunstwerke im
Zusammenhang mit den Ideen und Ereignissen der Zeit zu betrachten,
welche sie erzeugte. Dieser unleugbare Zusammenhang besteht wohl auch
für die Musik. Eine Manifestation des menschlichen Geistes, muß sie wohl
auch in Wechselbeziehung zu dessen übrigen Tätigkeiten stehen: zu den
gleichzeitigen Schöpfungen der dichtenden und bildenden Kunst, den
poetischen, sozialen, wissenschaftlichen Zuständen ihrer Zeit, endlich
den individuellen Erlebnissen und Überzeugungen des Autors. Die
Betrachtung und Nachweisung dieses Zusammenhangs an einzelnen
Tonkünstlern und Tonwerken ist demnach wohl berechtigt und dankenswert.
Doch muß man dabei sich stets in Erinnerung halten, daß ein solches
Parallelisieren künstlerischer Spezialitäten mit bestimmten historischen
Zuständen ein _kunstgeschichtlicher_, keineswegs ein rein _ästhetischer_
Vorgang ist. So notwendig die Verbindung der Kunstgeschichte mit der
Ästhetik von methodologischem Standpunkt erscheint, so muß doch jede
dieser beiden Wissenschaften ihr eigenstes Wesen von einer unfreien
Verwechselung mit der andern rein erhalten. Mag der Historiker, eine
künstlerische Erscheinung im großen und ganzen auffassend, in _Spontini_
den »Ausdruck des französischen Kaiserreichs«, in _Rossini_ die
»politische Restauration« erblicken, -- der Ästhetiker hat sich
lediglich an die Werke dieser Männer zu halten, zu untersuchen, was
daran schön sei und warum. Die ästhetische Untersuchung weiß nichts und
mag nichts wissen von den persönlichen Verhältnissen und der
geschichtlichen Umgebung des Komponisten; nur was das Kunstwerk selbst
ausspricht, wird sie hören und glauben. Sie wird demnach in _Beethovens_
Symphonien, auch ohne Namen und Biographie des Autors zu kennen, ein
Stürmen, Ringen, unbefriedigtes Sehnen, kraftbewußtes Trotzen
herausfinden, allein daß der Komponist republikanisch gesinnt,
unverheiratet, taub gewesen, und all die andern Züge, welche der
Kunsthistoriker beleuchtend hinzuhält, wird jene nimmermehr aus den
Werken lesen und zur Würdigung derselben verwerten dürfen. Die
Verschiedenheit der Weltanschauung eines _Bach_, _Mozart_, _Haydn_ zu
vergleichen und den Kontrast ihrer Kompositionen darauf zurückzuführen,
mag für eine höchst anziehende, verdienstliche Unternehmung gelten, doch
sie ist unendlich kompliziert und wird Fehlschlüssen um so ausgesetzter
sein, je strenger sie den Kausalnexus darlegen will. Die Gefahr der
Übertreibung ist bei Annahme dieses Prinzips außerordentlich groß. Man
kann da leicht den losesten Einfluß der Gleichzeitigkeit als eine innere
Notwendigkeit darstellen und die ewig unübersetzbare Tonsprache deuten,
wie man's eben braucht. Es wird rein auf die schlagfertige Durchführung
desselben Paradoxons ankommen, daß es im Munde des geistreichen Mannes
eine Weisheit, in jenem des schlichten ein Unsinn erscheint.

Auch _Hegel_ hat in Besprechung der Tonkunst oft irregeführt, indem er
seinen vorwiegend _kunstgeschichtlichen_ Standpunkt unmerklich mit dem
rein ästhetischen verwechselt und in der Musik Bestimmtheiten nachweist,
die sie an sich niemals hatte. »Einen Zusammenhang« hat der Charakter
jedes Tonstückes mit dem seines Autors gewiß, allein er steht für den
Ästhetiker nicht zutage; -- die Idee des notwendigen Zusammenhangs
_aller_ Erscheinungen kann in ihrer konkreten Nachweisung bis zur
Karikatur übertrieben werden. Es gehört heutzutage ein wahrer Heroismus
dazu, dieser pikanten, geistreich repräsentierten Richtung
entgegenzutreten und auszusprechen, daß das »historische Begreifen« und
das »ästhetische Beurteilen« verschiedene Dinge sind.[21] Objektiv aber
steht fest: _erstens_, daß die Verschiedenartigkeit des Ausdrucks der
verschiedenen Werke und Schulen auf einer durchgreifend verschiedenen
Stellung der _musikalischen_ Elemente beruhe, und _zweitens_, daß, was
an einer Komposition, sei es die strengste _Bach_sche Fuge, oder das
träumerischste Notturno von _Chopin_, mit Recht gefällt, _musikalisch_
schön ist.

  [21] Wenn wir hier die »Musikalischen Charakterköpfe« von _Riehl_
  nennen, so geschieht dies gleichwohl mit dankbarer Anerkennung dieses
  geistreich anregenden Buches.

Noch weniger als mit dem Klassischen kann das »Musikalisch-Schöne« mit
dem _Architektonischen_ zusammenfallen, das jenes als Zweig in sich
faßt. Die starre Erhabenheit übereinander getürmter Figuration, die
kunstreiche Verschlingung vieler Stimmen, von denen _keine_ frei und
selbständig ist, weil es _alle_ sind, haben ihre unvergängliche
Berechtigung. Doch sind jene großartig düstern Stimmpyramiden der alten
Italiener und Niederländer ebensosehr nur ein kleiner Bezirk auf dem
Gebiete der musikalischen Schönheit, als die vielen zierlich
ausgearbeiteten Gestalten in den Suiten und Konzerten von Sebastian
Bach.

Viele Ästhetiker halten den musikalischen Genuß durch das Wohlgefallen
am _Regelmäßigen_ und _Symmetrischen_ für ausreichend erklärt, worin
doch niemals ein Schönes, vollends ein Musikalisch-Schönes bestand. Das
abgeschmackteste Thema kann vollkommen symmetrisch gebaut sein.
»Symmetrie« ist ja nur ein Verhältnisbegriff und läßt die Frage offen:
_Was_ ist es denn, das hier symmetrisch erscheint? -- Die regelmäßige
Anordnung geistloser, abgenützter Teilchen wird sich gerade in den
allerschlechtesten Kompositionen nachweisen lassen. Der musikalische
Sinn verlangt immer _neue_ symmetrische Bildungen.[22]

  [22] Ich erlaube mir, zur Erläuterung hier eine Stelle aus meinem Buch
  »_Die Moderne Oper_« (Vorwort S. VI) anzuführen:

  »Das berühmte Axiom, es könne das 'wahrhaft Schöne' (-- wer ist
  Richter über diese Eigenschaft? --) niemals, auch nach längstem
  Zeitverlauf, seinen Zauber einbüßen, ist für die Musik wenig mehr, als
  eine schöne Redensart. Die Tonkunst macht es wie die Natur, welche mit
  jedem Herbst eine Welt voll Blumen zu Moder werden läßt, aus dem neue
  Blüten entstehen. Alle Tondichtung ist Menschenwerk, Produkt einer
  bestimmten Individualität, Zeit, Kultur und darum stets durchzogen von
  Elementen schnellerer oder langsamerer Sterblichkeit. Unter den großen
  Musikformen ist wieder die Oper die zusammengesetzteste,
  konventionellste und daher vergänglichste. Es mag traurig stimmen, daß
  selbst neuere Opern von edelster und glänzender Bildung (Spohr,
  Spontini) schon vom Theater zu verschwinden beginnen. Aber die
  Tatsache ist unanfechtbar und der Prozeß nicht aufzuhalten durch das
  in allen Perioden stereotype Schelten auf den bösen 'Zeitgeist'. Die
  Zeit ist auch ein Geist und schafft ihren Körper. Die Bühne
  repräsentiert das Forum für die tatsächlichen Bedürfnisse des
  Publikums, im Gegensatz zu der Studierstube des stillen
  Partiturenlesers. Die Bühne bedeutet das Leben des Dramas, der Kampf
  um ihren Besitz den Kampf um sein Dasein. In diesem Kampf siegt gar
  häufig ein geringeres Kunstwerk über seine besseren Vorfahren, wenn
  dasselbe den Atem der Gegenwart, den Pulsschlag _unseres_ Empfindens
  und Begehrens uns entgegenbringt. Publikum wie Künstler fühlen einen
  berechtigten Trieb nach Neuem in der Musik, und eine Kritik, welche
  nur Bewunderung für das Alte hat und nicht auch den Mut der
  Anerkennung für das Neue, untergräbt die Produktion. Dem schönen
  Unsterblichkeitsglauben müssen wir entsagen, -- hat doch jede Zeit mit
  demselben getäuschten Vertrauen die Unvergänglichkeit _ihrer_ besten
  Opern proklamiert. Noch Adam Hiller in Leipzig behauptete, daß, wenn
  jemals die Opern _Hasses_ nicht mehr entzücken sollten, die allgemeine
  Barbarei hereinbrechen müßte. Noch _Schubart_, der Musikästhetiker vom
  Hohenasperg, versicherte von _Jomelli_, es sei gar nicht denkbar, daß
  dieser Tondichter jemals in Vergessenheit geraten könne. Und was sind
  uns heute Hasse und Jomelli?«

Zuletzt hat für die Musik die Platonische Ansicht _Oerstedt_ an dem
Beispiel des Kreises entwickelt, dem er positive Schönheit vindiziert.
Sollte er niemals die Entsetzlichkeit einer ganz kreisrunden Komposition
an sich erlebt haben?

Vorsichtiger vielleicht als notwendig, sei endlich noch hinzugefügt, daß
die musikalische Schönheit mit dem _Mathematischen_ nichts zu tun hat.
Die Vorstellung, welche Laien (darunter auch gefühlvolle Schriftsteller)
von der Rolle hegen, welche die Mathematik in der musikalischen
Komposition spielt, ist eine merkwürdig vage. Nicht zufrieden damit, daß
die Schwingungen der Töne, der Abstand der Intervalle, das Konsonieren
und Dissonieren sich auf mathematische Verhältnisse zurückführen lassen,
sind sie überzeugt, auch das _Schöne_ einer Tondichtung gründe sich auf
Zahlen. Das Studium der Harmonielehre und des Kontrapunkts gilt für eine
Art Kabbala, welche die »Berechnung« der Komposition lehre.

Wenn für die Erforschung des physikalischen Teils der Tonkunst die
Mathematik einen unentbehrlichen Schlüssel liefert, so möge im fertigen
Tonwerk hingegen ihre Bedeutung nicht überschätzt werden. In einer
Tondichtung, sei sie die schönste oder die schlechteste, ist gar nichts
mathematisch berechnet. Schöpfungen der Phantasie sind keine
Rechenexempel. Alle Monochordexperimente, Klangfiguren,
Intervallproportionen u. dgl. gehören nicht hierher, der _ästhetische_
Bereich fängt erst an, wo jene Elementarverhältnisse in ihrer Bedeutung
aufgehört haben. Die Mathematik regelt bloß den elementaren Stoff zu
geistfähiger Behandlung und spielt verborgen in den einfachsten
Verhältnissen, aber der musikalische Gedanke kommt ohne sie ans Licht.
Wenn _Oerstedt_ fragt: »Sollte wohl die Lebenszeit mehrerer Mathematiker
hinreichen, alle Schönheiten einer _Mozart_schen Symphonie zu
berechnen?«[23], so bekenne ich, daß ich das nicht verstehe. _Was_ soll
denn oder kann berechnet werden? Etwa das Schwingungsverhältnis jedes
Tones zum nächstfolgenden, oder die Längen der einzelnen Perioden
gegeneinander? Was eine Musik zur Tondichtung macht und sie aus der
Reihe physikalischer Experimente hebt, ist ein Freies, Geistiges, daher
unberechenbar. Am musikalischen _Kunstwerk_ hat die Mathematik einen
ebenso kleinen oder ebenso großen Anteil wie an den Hervorbringungen
der übrigen Künste. Denn Mathematik muß am Ende auch die Hand des Malers
und Bildhauers führen, Mathematik webt im Gleichmaß der Vers- und
Strophenlängen, Mathematik im Bau des Architekten, in den Figuren des
Tänzers. In jeder genauen Kenntnis muß die Anwendung der Mathematik, als
Vernunfttätigkeit, eine Stelle finden. Nur eine wirklich positive,
schaffende Kraft muß man ihr nicht einräumen wollen, wie dies manche
Musiker, diese Konservativen der Ästhetik, gern möchten. Es ist mit der
Mathematik ähnlich, wie mit der Erzeugung der Gefühle im Zuhörer, -- sie
findet bei allen Künsten statt, aber großer Lärm darüber ist bloß bei
der Musik.

  [23] »Geist in der Natur«, 3. Band, deutsch von Kannegießer. S. 32.

Auch mit der _Sprache_ hat man die Musik häufig zu parallelisieren und
die Gesetze der ersteren für die letztere aufzustellen versucht. Die
Verwandtschaft des _Gesanges_ mit der Sprache lag nahe genug, mochte man
sich nun an die Gleichheit der physiologischen Bedingungen halten oder
an den gemeinsamen Charakter als Entäußerung des Innern durch die
menschliche Stimme. Die analogen Beziehungen sind zu auffällig, als daß
wir hier darauf einzugehen hätten; es sei demnach nur ausdrücklich
eingeräumt, daß, wo es sich bei der Musik wirklich bloß um die
subjektive Entäußerung eines inneren Dranges handelt, in der Tat die
Gesetzlichkeit des _sprechenden_ Menschen teilweise maßgebend für den
_singenden_ sein wird. Daß der in Leidenschaft Geratende mit der Stimme
steigt, während die Stimme des sich beruhigenden Redners fällt; daß
Sätze besonderen Gewichtes langsam, gleichgültige Nebensachen schnell
gesprochen werden: dies und ähnliches wird der Gesangskomponist,
insbesondere der _dramatische_, nicht unbeachtet lassen dürfen. Allein
man hat sich mit diesen begrenzten Analogien nicht begnügt, _sondern_
die _Musik selbst_ als eine (unbestimmtere oder feinere) _Sprache_
aufgefaßt und nun ihre Schönheitsgesetze aus der Natur der Sprache
abstrahieren wollen. Jede Eigenschaft und Wirkung der Musik wurde auf
Ähnlichkeiten mit der Sprache zurückgeführt. Wir sind der Ansicht, daß,
wo es sich um das Spezifische einer Kunst handelt, ihre Unterschiede von
verwandten Gebieten wichtiger sind als die Ähnlichkeiten. Unbeirrt durch
diese oft verlockenden, aber das eigentliche Wesen der Musik gar nicht
treffenden Analogien muß die ästhetische Untersuchung unablässig zu dem
Punkte vordringen, wo Sprache und Musik sich unversöhnlich scheiden. Nur
aus diesem Punkte werden der Tonkunst wahrhaft fruchtbringende
Bestimmungen sprießen können. Der wesentliche Grundunterschied besteht
aber darin, daß in der Sprache der _Ton_ nur ein Zeichen, d. h. _Mittel_
zum Zweck eines diesem Mittel ganz fremden Auszudrückenden ist, während
in der _Musik_ der _Ton_ eine Sache ist, d. h. als _Selbstzweck_
auftritt. Die selbständige Schönheit der Tonformen hier und die absolute
Herrschaft des Gedankens über den Ton als bloßes Ausdrucksmittel dort
stehen sich so ausschließend gegenüber, daß eine Vermischung der beiden
Prinzipe eine logische Unmöglichkeit ist.

Der Schwerpunkt des Wesens liegt also ganz wo anders bei der Sprache und
bei der Musik, und um diesen Schwerpunkt gruppieren sich alle übrigen
Eigentümlichkeiten. Alle spezifisch _musikalischen_ Gesetze werden sich
um die selbständige Bedeutung und Schönheit der Töne drehen, alle
_sprachlichen_ Gesetze um die korrekte Verwendung des Lautes zum Zweck
des Ausdrucks.

Die schädlichsten und verwirrendsten Anschauungen sind aus dem Bestreben
hervorgegangen, die Musik als eine Art Sprache aufzufassen; sie weisen
uns täglich praktische Folgen auf. So mußte es hauptsächlich Komponisten
von schwacher Schöpferkraft geeignet erscheinen, die ihnen unerreichbare
selbständige musikalische Schönheit als ein falsches, sinnliches Prinzip
anzusehen, und die charakteristische Bedeutsamkeit der Musik dafür auf
den Schild zu heben. Ganz abgesehen von Richard Wagners Opern, findet
man in den kleinsten Instrumentalsächelchen oft Unterbrechungen des
melodischen Flusses durch abgerissene Kadenzen, rezitativische Sätze
u. dgl., welche, den Hörer befremdend, sich anstellen, als _bedeuteten_
sie etwas Besonderes, während sie in der Tat nichts bedeuten als
Unschönheit. Von modernen Kompositionen, welche fortwährend den großen
Rhythmus durchbrechen, um mysteriöse Zusätze oder gehäufte Kontraste
vorzudrängen, pflegt man zu rühmen, es strebe darin die Musik, ihre
engen Grenzen zu durchbrechen und zur _Sprache_ sich zu erheben. Uns
ist ein solches Lob immer sehr zweideutig erschienen. Die Grenzen der
Musik sind durchaus nicht eng, aber recht genau festgesteckt. Die Musik
kann sich niemals »zur Sprache erheben« -- herablassen müßte man
eigentlich vom musikalischen Standpunkt sagen --, indem die Musik ja
offenbar eine _gesteigerte_ Sprache sein müßte.[24]

  [24] Es darf nicht verschwiegen werden, daß eines der genialsten,
  großartigsten Werke aller Zeiten durch seinen Glanz beitrug zu dieser
  Lieblingslüge der modernen Musikkritik von dem »inneren Drängen der
  Musik zur Bestimmtheit der Wortsprache« und »zur Abwerfung der
  eurhythmischen Fesseln«. Wir meinen _Beethovens_ »_Neunte_«. Sie ist
  eine jener geistigen Wasserscheiden, die weithin sichtbar und
  unübersteiglich sich zwischen die Strömung entgegengesetzter
  Überzeugungen legen.

  Die Musiker, welchen die Großartigkeit der »Intention«, die geistige
  Bedeutung der abstrakten Aufgabe über alles geht, stellen die neunte
  Symphonie an die Spitze aller Musik; während die kleine Schar, welche,
  an dem überwundenen Standpunkt der Schönheit festhaltend, für rein
  ästhetische Forderungen kämpft, ihrer Bewunderung einige
  Einschränkungen setzt. Wie zu erraten, handelt es sich vorzugsweise um
  das Finale, da über die hohe Schönheit der ersten drei Sätze unter
  aufmerksamen und vorbereiteten Hörern kaum ein Streit entstehen wird.
  In diesem letzten Satz vermochten wir nie mehr als den Riesenschatten
  zu sehen, den ein Riesenkörper wirft. Die Größe der Idee, das bis zur
  Verzweiflung vereinsamte Gemüt zuletzt in der Freude aller zur
  Versöhnung zu bringen, kann man vollkommen verstehen und erkennen, und
  dennoch die Musik des letzten Satzes (bei all' ihrer genialen
  Eigentümlichkeit) unschön finden. Das allgemeine Verdammungsurteil,
  dem solche Sondermeinung verfällt, kennen wir recht wohl. Einer der
  geistvollsten und vielseitigsten Gelehrten Deutschlands, der 1853 in
  der »A. Allgemeinen Zeitung« den formellen Grundgedanken der neunten
  Symphonie anzufechten unternahm, erkannte deshalb die humoristische
  Notwendigkeit, sich gleich auf dem Titel für einen »beschränkten Kopf«
  zu erklären. Er beleuchtete die ästhetische Ungeheuerlichkeit, welche
  das Ausmünden eines mehrsätzigen Instrumentalwerks in einen _Chor_
  involviert, und vergleicht _Beethoven_ mit einem Bildhauer, der Beine,
  Leib, Brust, Arme einer Figur aus farblosem Marmor fertigte, den Kopf
  aber koloriert. Man sollte glauben, daß jeden feinfühlenden Hörer beim
  Eintritt der Menschenstimme das gleiche Unbehagen überkommen müsse,
  »weil hier das Kunstwerk mit Einem Ruck seinen Schwerpunkt verändert
  und dadurch auch den Hörer umzuwerfen droht«. Fast ein Dezennium
  später erlebten wir die Freude, daß der »beschränkte Kopf« sich als
  _David Strauß_ demaskierte.

  Hingegen nennt Dr. _Becher_, der hier als Repräsentant einer ganzen
  Klasse erscheinen möge, in einer 1843 gedruckten Abhandlung über die
  neunte Symphonie den _vierten Satz_ »den mit jedem andern bestehenden
  Tonwerke an Eigentümlichkeit der Gestaltung wie an Großartigkeit der
  Komposition und kühnstem Aufschwung der einzelnen Gedanken völlig
  inkommensurabeln Ausfluß von _Beethovens_ Genialität« und versichert,
  dies Werk stehe ihm »mit Shakespeares König Lear und etwa einem
  Dutzend anderer Emanationen des Menschengeistes in seiner höchsten
  poetischen Potenz im Himalayagebirge der Kunst als Dhawalagirispitze,
  selbst seine ebenbürtigen Genossen überragend«. Wie fast alle seine
  Meinungsgenossen gibt Becher eine ausführliche _Schilderung der
  Bedeutung_ des »Inhalts« jedes der vier Sätze und ihrer tiefen
  Symbolik, -- der _Musik_ geschieht auch nicht mit Einer Silbe
  Erwähnung. Das ist höchst charakteristisch für eine ganze Schule
  musikalischer Kritik, welche der Frage, ob eine _Musik_ schön sei, mit
  der tiefsinnigen Erörterung auszuweichen liebt, was sie Großes
  _bedeute_.

Das vergessen auch unsere Sänger, welche in Momenten größten Affekts
Worte, ja Sätze _sprechend_ herausstoßen und damit die höchste
Steigerung der Musik gegeben zu haben glauben. Sie übersehen, daß der
Übergang vom Singen zum Sprechen stets ein Sinken ist, so wie der
höchste normale Sprechton noch immer tiefer klingt als selbst die
tieferen Gesangstöne desselben Organes. Ebenso schlimm als diese
praktischen Folgen, ja noch schlimmer, weil nicht allsogleich durch das
Experiment geschlagen, sind die _Theorien_, welche der Musik die
Entwickelungs- und Konstruktionsgesetze der Sprache aufdringen wollen,
wie es in älterer Zeit zum Teil von _Rousseau_ und _Rameau_, in neuerer
Zeit von den Jüngern _R. Wagners_ versucht wird. Es wird dabei das
wahrhafte Herz der Musik, die in sich selbst befriedigte Formschönheit,
durchstoßen und dem Phantom der »Bedeutung« nachgejagt. Eine Ästhetik
der Tonkunst müßte es daher zu ihren wichtigsten Aufgaben zählen, die
Grundverschiedenheit zwischen dem Wesen der Musik und dem der Sprache
unerbittlich darzulegen, und in allen Folgerungen das Prinzip
festzuhalten, daß, wo es sich um Spezifisch-Musikalisches handelt, die
Analogien mit der Sprache jede Anwendung verlieren.



IV.

Analyse des subjektiven Eindruckes der Musik.


Erachten wir es auch als Prinzip und erste Aufgabe der musikalischen
Ästhetik, daß sie die usurpierte Herrschaft des Gefühls unter die
berechtigte der Schönheit stelle -- da nicht das Gefühl, sondern die
Phantasie, als Tätigkeit des reinen Schauens, das Organ ist, aus welchem
und für welches alles Kunstschöne zunächst entsteht -- so behaupten doch
die affirmativen Äußerungen des Fühlens im praktischen Musikleben eine
zu auffallende und wichtige Rolle, um durch bloße Unterordnung abgetan
zu werden.

So sehr die ästhetische Betrachtung sich nur an das Kunstwerk selbst zu
halten hat, so erweist sich doch in der Wirklichkeit dieses selbständige
Kunstwerk als wirksame Mitte zwischen zwei lebendigen Kräften: seinem
_Woher_ und seinem _Wohin_, d. i. dem Komponisten und dem Hörer. In dem
Seelenleben dieser beiden kann die künstlerische Tätigkeit der
_Phantasie_ nicht so zu reinem Metall ausgeschieden sein, wie sie in dem
fertigen, unpersönlichen Kunstwerk vorliegt -- vielmehr wirkt sie dort
stets in enger Wechselbeziehung mit Gefühlen und Empfindungen. Das
Fühlen wird somit _vor_ und _nach_ dem fertigen Kunstwerk, vorerst im
Tondichter, dann im Hörer, eine Bedeutung behaupten, der wir unsere
Aufmerksamkeit nicht entziehen dürfen.

Betrachten wir den _Komponisten_. Ihn wird während des Schaffens eine
gehobene Stimmung erfüllen, wie sie zur Befreiung des Schönen aus dem
Schacht der Phantasie kaum entbehrlich gedacht werden kann. Daß diese
gehobene Stimmung, nach der Individualität des Künstlers, mehr oder
minder die Färbung des werdenden Kunstwerkes annehmen, daß sie bald
hoch, bald mäßiger fluten wird, nie aber bis zum überwältigenden
Affekte, der das künstlerische Hervorbringen vereitelt, daß die klare
Besinnung hierbei wenigstens gleiche Wichtigkeit behauptet mit der
Begeisterung, -- das sind bekannte, der allgemeinen Kunstlehre
angehörige Bestimmungen. Was speziell das Schaffen des _Tonsetzers_
betrifft, so muß festgehalten werden, daß es ein stetes _Bilden_ ist,
ein Formen in Tonverhältnissen. Nirgend erscheint die Souveränität des
Gefühls, welche man so gern der Musik andichtet, schlimmer angebracht,
als wenn man sie im Komponisten während des Schaffens voraussetzt und
dieses als ein begeistertes Extemporieren auffaßt. Die schrittweis
vorgehende Arbeit, durch welche ein Musikstück, das dem Tondichter
anfangs nur in Umrissen vorschwebte, bis in die einzelnen Takte zur
bestimmten Gestalt ausgemeißelt wird, allenfalls gleich in der
empfindlichen vielgestaltigen Form des Orchesters, ist so besonnen und
kompliziert, daß sie kaum verstehen kann, wer nicht selbst einmal Hand
daran gelegt. Nicht bloß etwa fugierte oder kontrapunktische Sätze, in
welchen wir abmessend Note gegen Note halten, auch das fließendste
Rondo, die melodiöseste Arie erfordert, wie es unsere Sprache bedeutsam
nennt, ein »Ausarbeiten« ins kleinste. Die Tätigkeit des Komponisten ist
eine in ihrer Art _plastische_ und jener des bildenden Künstlers
vergleichbar. Ebensowenig als dieser darf der Tondichter seinem Stoff
unfrei verwachsen sein; denn gleich ihm hat er ja sein (musikalisches)
Ideal objektiv hinzustellen, zur reinen Form zu gestalten.

Das dürfte von _Rosenkranz_ vielleicht übersehen worden sein, wenn er
den Widerspruch bemerkt, aber ungelöst läßt, warum die _Frauen_, welche
doch von Natur vorzugsweise auf das Gefühl angewiesen sind, in der
Komposition nichts leisten?[25] Der Grund liegt -- außer den allgemeinen
Bedingungen, welche Frauen von geistigen Hervorbringungen ferner halten
-- eben in dem plastischen Moment des Komponierens, das eine
_Entäußerung_ der Subjektivität nicht minder, wenngleich in
verschiedener Richtung erheischt, als die bildenden Künste. Wenn die
Stärke und Lebendigkeit des Fühlens wirklich maßgebend für das
Tondichten wäre, so würde der gänzliche Mangel an Komponistinnen neben
so zahlreichen Schriftstellerinnen und Malerinnen schwer zu erklären
sein. Nicht das Gefühl komponiert, sondern die speziell musikalische,
künstlerisch geschulte Begabung. Ergötzlich klingt es daher, wenn _F. L.
Schubart_ die »meisterhaften Andantes« des Komponisten _Stamitz_ ganz
ernsthaft als eine natürliche »Folge seines gefühlvollen Herzens«
hinstellt,[26] oder Christian _Rolle_ uns versichert, »ein leutseliger,
zärtlicher Charakter mache uns geschickt, langsame Sätze zu
Meisterstücken zu bilden«.[27]

  [25] _Rosenkranz_, Psychologie. 2. Aufl. S. 60.

  [26] _Schubart_, »Ideen zur Ästhetik der Tonkunst«. 1806.

  [27] »Neue Wahrnehmungen zur Aufnahme der Musik.« Berlin 1784. S. 102.

Ohne innere Wärme ist nichts Großes noch Schönes im Leben vollbracht
worden. Das Gefühl wird beim Tondichter, wie bei jedem Poeten, sich
reich entwickelt vorfinden, nur ist es nicht der schaffende Faktor in
ihm. Selbst wenn ein starkes, bestimmtes Pathos ihn gänzlich erfüllt, so
wird dasselbe Anlaß und Weihe manches Kunstwerks werden, allein -- wie
wir aus der Natur der Tonkunst wissen, welche einen bestimmten Affekt
darzustellen weder die Fähigkeit noch den Beruf hat -- niemals dessen
Gegenstand.

Ein inneres _Singen_, nicht ein bloßes inneres Fühlen treibt den
musikalisch Talentierten zur Erfindung eines Tonstücks.

Wir haben die Tätigkeit des Komponierens als ein _Bilden_ aufgefaßt; als
solches ist sie durchaus _objektiv_. Der Tonsetzer formt ein
selbständiges Schöne. Der unendlich ausdrucksfähige, geistige Stoff der
Töne läßt es zu, daß die Subjektivität des in ihnen Bildenden sich in
der Art seines Formens auspräge. Da schon den einzelnen musikalischen
Elementen ein charakteristischer Ausdruck eignet, so werden
vorherrschende Charakterzüge des Komponisten: Sentimentalität, Energie,
Heiterkeit usw. sich durch die konsequente Bevorzugung gewisser
Tonarten, Rhythmen, Übergänge recht wohl nach den _allgemeinen_ Momenten
ausdrücken, welche die Musik wiederzugeben fähig ist. Einmal vom
Kunstwerk aufgesogen, interessieren aber diese Charakterzüge nunmehr als
musikalische Bestimmtheiten, als Charakter der Komposition, nicht des
Komponisten.[28] Was der gefühlvolle und was der geistreiche Komponist
bringt, der graziöse oder der erhabene, ist zuerst und vor allem
_Musik_, objektives Gebilde. Ihre Werke werden sich voneinander durch
unverkennbare Eigentümlichkeiten unterscheiden und als Gesamtbild die
Individualität ihrer Schöpfer abspiegeln; doch wurden sie alle, die
einen wie die andern, als selbständiges Schöne rein musikalisch um
ihretwillen erschaffen.

  [28] Welche Vorsicht bei Rückschlüssen von den Kompositionen auf den
  menschlichen Charakter des Komponisten notwendig ist, und wie groß
  dabei die Gefahr, daß die Phantasie die nüchterne Untersuchung zum
  Nachteil der Wahrheit beeinflußt, das hat neuerdings u. a. die
  Beethoven-Biographie von _A. B. Marx_ gezeigt, deren musikalisch
  voreingenommene Panegyrik einer sorgfältigen Untersuchung der
  Tatsachen überhoben zu sein glaubte und daher durch _Thayers_ genaue
  Quellenforschungen in vielen Punkten drastisch berichtigt worden ist.

Nicht das tatsächliche Gefühl des Komponisten, als eine bloß subjektive
Affektion, ist es, was die gleiche Stimmung in den Hörern wachruft.
Räumt man der Musik solch eine zwingende Macht ein, so anerkennt man
dadurch deren Ursache als etwas Objektives in ihr; denn nur dieses
_zwingt_ in allem Schönen. Dies Objektive sind hier die _musikalischen_
Bestimmtheiten eines Tonstücks. Streng ästhetisch können wir von
irgendeinem Thema sagen, es _klinge_ stolz oder trübe, nicht aber, es
sei ein Ausdruck der stolzen oder der trüben Gefühle des Komponisten.
Noch ferner liegen dem Charakter eines Tonwerkes als solchem die
sozialen und politischen Verhältnisse, welche seine Zeit beherrschen.
Jener _musikalische_ Ausdruck des Themas ist notwendige Folge seiner so
und nicht anders gewählten Tonfaktoren; daß diese Wahl aus
psychologischen oder kulturgeschichtlichen Ursachen hervorging, müßte an
dem bestimmten Werke (nicht bloß aus Jahreszahl und Geburtsort)
nachgewiesen werden, und nachgewiesen wäre dieser Zusammenhang, wie
interessant auch immer, zunächst eine lediglich historische oder
biographische Tatsache. Die _ästhetische_ Betrachtung kann sich auf
keine Umstände stützen, die außerhalb des Kunstwerks selbst liegen.

So gewiß die Individualität des Komponisten in seinen Schöpfungen einen
symbolischen Ausdruck finden wird, so irrig wäre es, aus diesem
persönlichen Moment Begriffe ableiten zu wollen, die ihre wahrhafte
Begründung nur in der Objektivität des künstlerischen Bildens finden.
Dahin gehört der Begriff des _Stils_.[29]

  [29] Irrig ist deshalb _Forkels_ Ableitung der verschiedenen
  musikalischen Schreibarten aus »den Verschiedenheiten zu denken«,
  wonach der Stil jedes Komponisten darin seinen Grund hat, daß »der
  schwärmerische, der aufgeblasene, der kalte, kindische und pedantische
  Mann in den Zusammenhang seiner Gedanken Schwulst und unerträgliche
  Emphasis bringt, oder frostig und affektiert ist«. (Theorie der Musik.
  1777. S. 23.)

Wir möchten den Stil in der Tonkunst von seiten seiner _musikalischen_
Bestimmtheiten aufgefaßt wissen, als die vollendete Technik, wie sie im
Ausdruck des schöpferischen Gedankens als Gewöhnung erscheint. Der
Meister bewährt »Stil«, indem er, die klar erfaßte Idee verwirklichend,
alles Kleinliche, Unpassende, Triviale wegläßt und so in jeder
technischen Einzelheit die künstlerische Haltung des Ganzen
übereinstimmend wahrt. Mit Vischer (Ästhetik § 527) würden wir das Wort
»Stil« auch in der Musik absolut gebrauchen und, absehend von den
historischen oder individuellen Einteilungen, sagen: dieser Komponist
_hat Stil_, in dem Sinne wie man von jemand sagt: er hat _Charakter_.

Die _architektonische_ Seite des Musikalisch-Schönen tritt bei der
Stilfrage recht deutlich in den Vordergrund. Eine höhere Gesetzlichkeit,
als die der bloßen Proportion, wird der _Stil_ eines Tonstücks durch
einen einzigen Takt verletzt, der, an sich untadelhaft, nicht zum
Ausdruck des Ganzen stimmt. Genau so wie eine unpassende Arabeske im
Bauwerk, nennen wir stillos eine Kadenz oder Modulation, welche als
Inkonsequenz aus der einheitlichen Durchführung des Grundgedankens
abspringt. Natürlich ist diese Einheit im weiteren, höheren Sinne zu
nehmen, wonach sie unter Umständen den Kontrast, die Episode und manche
Freiheiten in sich begreift.

In der _Komposition_ eines Musikstückes findet daher eine Entäußerung
des eigenen persönlichen Affektes nur insoweit statt, als es die Grenzen
einer vorherrschend objektiven, formenden Tätigkeit zulassen.

Der Akt, in welchem die unmittelbare Ausströmung eines Gefühls in Tönen
vor sich gehen kann, ist nicht sowohl die _Erfindung_ eines Tonwerkes,
als vielmehr die _Reproduktion_, die Aufführung, desselben. Daß für den
philosophischen Begriff das komponierte Tonstück, ohne Rücksicht auf
dessen Aufführung, das _fertige_ Kunstwerk ist, darf uns nicht hindern,
die Spaltung der Musik in Komposition und Reproduktion, eine der
folgenreichsten Spezialitäten unserer Kunst, überall zu beachten, wo sie
zur Erklärung eines Phänomens beiträgt.

In der Untersuchung des subjektiven Eindrucks der Musik macht sie sich
ganz vorzugsweise geltend. Dem _Spieler_ ist es gegönnt, sich von dem
Gefühl, das ihn eben beherrscht, unmittelbar durch sein Instrument zu
befreien und in seinen Vortrag das wilde Stürmen, das sehnliche Glühen,
die heitere Kraft und Freude seines Innern zu hauchen. Schon das
_körperlich_ Innige, das durch meine Fingerspitzen die innere Bebung
unvermittelt an die Saite drückt oder den Bogen reißt oder gar im
Gesange selbsttönend wird, macht den persönlichsten Erguß der Stimmung
im Musizieren recht eigentlich möglich. Eine Subjektivität wird hier
unmittelbar in Tönen _tönend_ wirksam, nicht bloß stumm in ihnen
formend. Der Komponist schafft langsam, unterbrochen, der Spieler in
unaufhaltsamem Flug; der Komponist für das Bleiben, der Spieler für den
erfüllten Augenblick. Das Tonwerk wird geformt, die Aufführung _erleben_
wir. So liegt denn das gefühlsentäußernde und erregende Moment der Musik
im Reproduktionsakt, welcher den elektrischen Funken aus dunkelm
Geheimnis lockt und in das Herz der Zuhörer überspringen macht. Freilich
kann der Spieler nur das bringen, was die Komposition enthält, allein
diese erzwingt wenig mehr als die Richtigkeit der Noten. »Der Geist des
_Tondichters_ sei es ja nur, den der Spieler errate und offenbare« --
wohl, aber eben diese Aneignung im Moment des Wiederschaffens ist sein,
des Spielers, Geist. Dasselbe Stück belästigt oder entzückt, je nachdem
es zu tönender Wirklichkeit belebt wird. Es ist, wie derselbe Mensch,
einmal in seiner verklärendsten Begeisterung, das andere Mal in
mißmutiger Alltäglichkeit aufgefaßt. Die künstliche Spieluhr kann das
Gefühl des Hörers nicht bewegen, doch der einfachste Musikant wird es,
wenn er mit voller Seele bei seinem Liede ist.

Zur höchsten Unmittelbarkeit befreit sich die Offenbarung eines
Seelenzustandes durch Musik, wo Schöpfung und Ausführung in einen Akt
zusammenfallen. Dies geschieht in der _freien Phantasie_. Wo diese nicht
mit formell künstlerischer, sondern mit vorwiegend subjektiver Tendenz
(pathologisch in höherem Sinn) auftritt, da kann der Ausdruck, welchen
der Spieler den Tasten entlockt, ein wahres Sprechen werden. Wer dies
zensurfreie Sprechen, dies entfesselte Sichselbstgeben mitten in
strengem Bannkreise je an sich selbst erlebt hat, der wird ohne weiteres
wissen, wie da Liebe, Eifersucht, Wonne und Leid unverhüllt und doch
unfahndbar hinausrauschen aus ihrer Nacht, ihre Feste feiern, ihre Sagen
singen, ihre Schlachten schlagen, bis der Meister sie zurückruft,
beruhigt, beunruhigend.

Durch die entbundene Bewegung des Spielens teilt sich der Ausdruck des
Gespielten dem _Hörer_ mit. Wenden wir uns zu diesem.

Wir sehen ihn oft von einer Musik ergriffen, froh oder wehmütig bewegt,
weit über das bloß ästhetische Wohlgefallen hinaus im Innersten
emporgetragen oder erschüttert. Die Existenz dieser Wirkungen ist
unleugbar, wahrhaft und echt, oft die höchsten Grade erreichend, zu
bekannt endlich, als daß wir ihr ein beschreibendes Verweilen zu widmen
brauchten. Es handelt sich hier nur um zweierlei: -- worin im
Unterschied von andern Gefühlsbewegungen der spezifische Charakter
dieser Gefühlserregung durch _Musik_ liege, und wieviel von dieser
Wirkung _ästhetisch_ sei.

Müssen wir auch das Vermögen, auf die Gefühle zu wirken, _allen_ Künsten
ausnahmslos zuerkennen, so ist doch der Art und Weise, wie die _Musik_
es ausübt, etwas Spezifisches, nur _ihr_ Eigentümliches nicht
abzusprechen. Musik wirkt auf den Gemütszustand rascher und intensiver
als irgend ein anderes Kunstschöne. Mit wenigen Akkorden können wir
einer Stimmung überliefert sein, welche ein Gedicht erst durch längere
Exposition, ein Bild durch anhaltendes Hineindenken erreichen würde,
obgleich diesen beiden, im Vorteil gegen die Tonkunst, der ganze Kreis
der Vorstellungen dienstbar ist, von welchen unser Denken die Gefühle
von Lust und Schmerz abhängig weiß. Nicht nur rascher, auch
unmittelbarer und intensiver ist die Einwirkung der Töne. Die andern
Künste überreden, die Musik überfällt uns. Diese ihre eigentümliche
Gewalt auf unser Gemüt erfahren wir am stärksten, wenn wir uns in einem
Zustand größerer Aufregung oder Herabstimmung befinden.

In Gemütszuständen, wo weder Gemälde noch Gedichte, weder Statuen noch
Bauten mehr imstande sind, uns zu teilnehmender Aufmerksamkeit zu
reizen, wird _Musik_ noch Macht über uns haben, ja gerade heftiger als
sonst. Wer in schmerzhaft aufgeregter Stimmung Musik hören oder machen
muß, dem schwingt sie wie Essig in der Wunde. Keine Kunst kann da so
tief und scharf in unsere Seele schneiden. Form und Charakter des
Gehörten verlieren dann ganz ihre Bedeutung, sei es nächtigtrübes
Adagio oder ein hellfunkelnder Walzer, wir können uns nicht loswinden
von seinen Klängen, -- nicht mehr das Tonstück fühlen wir, sondern die
Töne selbst, die Musik als gestaltlos dämonische Gewalt, wie sie glühend
an die Nerven unseres ganzen Leibes rückt.

Als _Goethe_ in hohem Alter noch einmal die Gewalt der Liebe erfuhr, da
erwachte in ihm zugleich eine nie gekannte Empfänglichkeit für Musik. Er
schreibt über jene wunderbaren Marienbader Tage (1823) an _Zelter_: »Die
ungeheure Gewalt der Musik auf mich in diesen Tagen! Die Stimme der
Milder, das Klangreiche der Szymanowska, ja sogar die öffentliche
Exhibition des hiesigen Jägerkorps falten mich auseinander, wie man eine
geballte Faust freundlich flach läßt. Ich bin völlig überzeugt, daß ich
im ersten Takte Deiner Singakademie den Saal verlassen müßte.« Zu
einsichtsvoll, um nicht den großen Anteil _nervöser_ Aufregung in dieser
Erscheinung zu erkennen, schließt Goethe mit den Worten: »Du würdest
mich von einer krankhaften Reizbarkeit heilen, die denn doch eigentlich
als die Ursache jenes Phänomens anzusehen ist.«[30] Diese Beobachtungen
müssen uns schon aufmerksam machen, daß in den musikalischen Wirkungen
auf das Gefühl häufig ein fremdes, nicht rein ästhetisches Element mit
im Spiele sei. Eine rein ästhetische Wirkung wendet sich an die volle
Gesundheit des Nervenlebens und zählt auf kein krankhaftes Mehr oder
Weniger desselben.

  [30] Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter. 3. Band, S. 332.

Die intensivere Einwirkung der Musik auf unser Nervensystem vindiziert
ihr in der Tat einen Machtüberschuß vor den anderen Künsten. Wenn wir
aber die Natur dieses Machtüberschusses untersuchen, so erkennen wir,
daß er ein _qualitativer sei_, und daß die eigentümliche Qualität auf
_physiologischen_ Bedingungen ruhe. Der sinnliche Faktor, der bei jedem
Schönheitsgenuß den geistigen trägt, ist bei der Tonkunst größer als in
den andern Künsten. Die Musik, durch ihr körperloses Material die
geistigste, von seiten ihres gegenstandlosen Formspiels die sinnlichste
Kunst, zeigt in dieser geheimnisvollen Vereinigung zweier Gegensätze ein
lebhaftes Assimilationsbestreben mit den _Nerven_, diesen nicht minder
rätselhaften Organen des unsichtbaren Telegraphendienstes zwischen Leib
und Seele.

Die intensive Wirkung der Musik auf das Nervenleben ist als Tatsache von
der Psychologie wie von der Physiologie vollständig anerkannt. Leider
fehlt noch eine ausreichende Erklärung derselben. Es vermag die
_Psychologie_ nimmermehr das Magnetisch-Zwingende des Eindrucks zu
ergründen, den gewisse Akkorde, Klangfarben und Melodien auf den ganzen
Organismus des Menschen üben, weil es dabei zuvörderst auf eine
spezifische Reizung der Nerven ankommt. Ebensowenig hat die im Triumph
fortschreitende Wissenschaft der _Physiologie_ etwas Entscheidendes über
unser Problem gebracht.

Was die musikalischen Monographien dieses Zwittergegenstandes betrifft,
so ziehen sie es fast durchgängig vor, die Tonkunst durch Ausbreitung
glänzender Schaustücke in einen imposanten Nimbus von Wundertätigkeit zu
bringen, als in wissenschaftlicher Forschung den Zusammenhang der Musik
mit unserm Nervenleben auf sein Wahres und Notwendiges zurückzuführen.
Dies allein aber tut uns not, und weder die Überzeugungstreue eines
Doktor _Albrecht_, welcher seinen Patienten Musik als schweißtreibendes
Mittel verschrieb, noch der Unglaube _Oerstedts_, der das Heulen eines
Hundes bei gewissen Tonarten durch rationelle Prügel erklärt, mittelst
welcher derselbe zum Heulen abgerichtet worden sei.[31]

  [31] »Der Geist der Natur.« III, 9.

Manchem Musikfreunde dürfte es unbekannt sein, daß wir eine ganze
Literatur über die körperlichen Wirkungen der Musik und deren Anwendung
zu Heilzwecken besitzen. An interessanten Kuriositäten reich, doch in
der Beobachtung unzuverlässig, in der Erklärung unwissenschaftlich,
suchen die meisten dieser Musiko-Mediziner eine sehr zusammengesetzte
und beiläufige Eigenschaft der Tonkunst zu selbständiger Wirksamkeit
aufzustelzen.

Von _Pythagoras_, der zuerst Wunderkuren durch Musik verrichtet haben
soll, bis auf unsere Tage taucht zeitweilig immer wieder, mehr durch
neue Beispiele als durch neue Ideen bereichert, die Lehre auf, man könne
die aufregende oder lindernde Wirkung der Töne auf den körperlichen
Organismus als Heilmittel gegen zahlreiche Krankheiten in Anwendung
bringen. Peter _Lichtenthal_ erzählt uns ausführlich in seinem
»Musikalischen Arzt«, wie durch die Macht der Töne _Gicht_, _Hüftweh_,
_Epilepsie_, _Starrsucht_, _Pest_, _Fieberwahnsinn_, _Konvulsionen_,
_Nervenfieber_, ja sogar »_Dummheit_« (stupiditas) geheilt worden
sei.[32]

  [32] Die höchste Konfusion erreichte diese Lehre bei dem berühmten
  Arzt _Baptista Porta_, welcher die Begriffe von Medizinalpflanze und
  Musikinstrument kombinierte und die Wassersucht mit einer Flöte
  heilte, die aus den Stengeln des _Helleborus_ verfertigt war. Ein aus
  dem _populus_ verfertigtes Musikinstrument sollte Hüftschmerzen, ein
  aus _Zimtrohr_ geschnitztes Ohnmachten heilen. (Encyclopédie, article
  »musique«.)

Rücksichtlich der _Begründung_ dieser Theorie lassen sich diese
Schriftsteller in zwei Klassen teilen.

Die einen argumentieren vom _Körper_ aus und gründen die Heilkraft der
Musik auf die physische Einwirkung der Schallwellen, welche sich durch
den Gehörnerv den übrigen Nerven mitteile und durch solch allgemeine
Erschütterung eine heilsame Reaktion des gestörten Organismus
hervorrufe. Die Affekte, welche zugleich sich bemerkbar machten, seien
nur eine Folge dieser nervösen Erschütterung, indem Leidenschaften nicht
bloß gewisse körperliche Veränderungen hervorrufen, sondern diese auch
ihrerseits die ihnen entsprechenden Leidenschaften zu erzeugen vermögen.

Nach dieser Theorie, welcher (unter dem Vortritt des Engländers _Webb_)
_Nikolai_, _Schneider_, _Lichtenthal_, _J. J. Engel_, _Sulzer_ u. a.
anhängen, würden wir durch die Tonkunst nicht anders bewegt, als etwa
unsere Fenster und Türen, die bei einer starken Musik zu zittern
beginnen. Als unterstützend werden Beispiele angeführt, wie der Bediente
_Boyles_, dem die Zähne zu bluten anfingen, sobald er eine Säge wetzen
hörte, oder viele Personen, welche beim Kratzen einer Messerspitze auf
Glas Konvulsionen bekommen.

Das ist nur keine _Musik_. Daß Musik mit jenen so heftig auf die Nerven
wirkenden Erscheinungen dasselbe Substrat, den Schall, teilt, wird uns
für spätere Folgerungen wichtig genug werden, hier ist -- einer
materialistischen Ansicht gegenüber -- lediglich hervorzuheben, daß die
Tonkunst erst da anfange, wo jene isolierten Klangwirkungen aufhören,
übrigens auch die Wehmut, in welche ein Adagio den Hörer versetzen kann,
mit der körperlichen Empfindung eines schrillen Mißklangs gar nicht zu
vergleichen ist.

Die andere Hälfte unserer Autoren (unter ihnen _Kausch_ und die meisten
Ästhetiker) erklärt die heilkräftigen Wirkungen der Musik von der
_psychologischen_ Seite aus. Musik -- so argumentieren sie -- erzeugt
Affekte und Leidenschaften in der Seele, Affekte haben heftige
Bewegungen im Nervensystem zur Folge, heftige Bewegungen im Nervensystem
verursachen eine heilsame Reaktion im kranken Organismus. Dieses
Raisonnement, auf dessen Sprünge gar nicht erst hingedeutet zu werden
braucht, wird von der genannten idealen »psychologischen« Schule gegen
die frühere materielle so standhaft verfochten, daß sie, unter der
Autorität des Engländers _Whytt_, sogar aller Physiologie zu Trotz den
Zusammenhang des Gehörnervs mit den übrigen Nerven leugnet, wonach eine
_körperliche_ Übertragung des durch das Ohr empfangenen Reizes auf den
Gesamtorganismus freilich unmöglich wird.

Der Gedanke, durch Musik bestimmte Affekte als Liebe, Wehmut, Zorn,
Entzücken, in der Seele zu erregen, welche den Körper durch wohltätige
Aufregung heilen, klingt so übel nicht. Uns fällt dabei stets das
köstliche Parere ein, welches einer unserer berühmtesten Naturforscher
über die sogenannten »_Goldberger_schen elektromagnetischen Ketten«
abgab. Er sagte: es sei nicht ausgemacht, ob ein elektrischer Strom
gewisse Krankheiten zu heilen vermöge, -- das aber sei ausgemacht, daß
die »_Goldberger_schen Ketten« keinen elektrischen Strom zu erzeugen
imstande sind. Auf unsere Tondoktoren angewandt, heißt dies: Es ist
_möglich_, daß bestimmte Gemütsaffekte eine glückliche Krisis in
leiblichen Krankheiten herbeiführen, -- allein es ist nicht möglich,
durch Musik jederzeit beliebige Gemütsaffekte hervorzubringen.

Darin kommen beide Theorien, die psychologische und die physiologische,
überein, daß sie aus bedenklichen Voraussetzungen noch bedenklichere
Ableitungen folgern und endlich die bedenklichste _praktische_
Schlußfolgerung daraus ziehen. Logische Ausstellungen mag sich eine
Heilmethode etwa gefallen lassen, aber daß sich bis jetzt noch immer
kein Arzt bewogen findet, seine Typhuskranken in Meyerbeers »Propheten«
zu schicken, oder statt der Lanzette ein Waldhorn herauszuziehen, ist
unangenehm.

Die körperliche Wirkung der Musik ist weder an sich so stark, noch so
sicher, noch von psychischen und ästhetischen Voraussetzungen so
unabhängig, noch endlich so willkürlich behandelbar, daß sie als
wirkliches Heilmittel in Betracht kommen könnte.

Jede mit Beihilfe von Musik vollführte Kur trägt den Charakter eines
Ausnahmefalles, dessen Gelingen niemals der Musik allein zuzuschreiben
war, sondern zugleich von speziellen, vielleicht von ganz individuellen
körperlichen und geistigen Bedingungen abhing. Es ist sehr
bemerkenswert, daß die einzige Anwendung von Musik, welche wirklich in
der Medizin vorkommt, nämlich in der Behandlung von Irrsinnigen,
vorzugsweise auf die geistige Seite der musikalischen Wirkung
reflektiert. Die moderne Psychiatrie verwendet bekanntlich Musik in
vielen Fällen und mit glücklichem Erfolge. Dieser beruht aber weder auf
der materiellen Erschütterung des Nervensystems, noch auf der Erregung
der Leidenschaften, sondern auf dem besänftigend aufheiternden Einfluß,
welchen das halb zerstreuende, halb fesselnde Tonspiel auf ein
verdüstertes oder überreiztes Gemüt auszuüben vermag. Lauscht der
Geisteskranke auch dem Sinnlichen, nicht dem Künstlerischen des
Tonstücks, so steht er doch, wenn er mit Aufmerksamkeit hört, schon auf
einer, wenngleich untergeordneten Stufe ästhetischer Auffassung.

Was nun alle diese musikalisch-medizinischen Werke für die richtige
Erkenntnis der Tonkunst beitragen? Die Bestätigung einer von jeher
beobachteten starken physischen Erregung bei allen durch Musik
hervorgerufenen »Affekten« und »Leidenschaften«. Steht einmal fest, daß
ein integrierender Teil der durch Musik erzeugten Gemütsbewegung
_physisch_ ist, so folgt weiter, daß dies Phänomen, als wesentlich in
unserm Nervenleben vorkommend, auch von dieser seiner körperlichen Seite
erforscht werden müsse. Es kann demnach der Musiker über dies Problem
sich keine wissenschaftliche Überzeugung bilden, ohne sich mit den
Ergebnissen bekannt zu machen, bei welchen der gegenwärtige Standpunkt
der _Physiologie_ in Untersuchung des Zusammenhangs der Musik mit den
Gefühlen hält.

Verfolgen wir den Gang, welchen eine Melodie nehmen muß, um auf unsere
Gemütsstimmung zu wirken, so finden wir ihren Weg vom vibrierenden
Instrument bis zum Gehörnerv, besonders nach den epochemachenden
Bereicherungen dieses Gebiets durch _Helmholtz_' »_Lehre von den
Tonempfindungen_« hinreichend aufgeklärt. Die Akustik weist genau die
äußeren Bedingungen nach, unter welchen wir einen Ton überhaupt, unter
welchen wir diesen oder jenen bestimmten Ton vernehmen; die Anatomie
deckt uns unter Mithilfe des Mikroskops den Bau des Gehörorgans bis ins
Innerste und Feinste auf; die Physiologie endlich kann zwar an diesem
überaus kleinen und zarten, tief verborgenen Wunderbau keine direkten
Versuche anstellen, hat aber doch dessen Wirkungsweise zum Teil mit
Sicherheit ermittelt, zum Teil durch eine, von Helmholtz aufgestellte
Hypothese so klargelegt, daß uns jetzt der ganze Vorgang der
Tonempfindung physiologisch verständlich ist. Selbst darüber hinaus, auf
dem Gebiete, in dem sich bereits die Naturwissenschaft eng mit der
Ästhetik berührt, haben uns die Forschungen von Helmholtz über die
Konsonanz und die Verwandtschaft der Töne viel Licht gegeben, wo noch
bis vor kurzem viel Dunkel herrschte. Aber damit freilich stehen wir
auch am Ende unserer Kenntnis. Das für uns Wichtigste ist und bleibt
unerklärt: der Nervenprozeß, durch welchen nun die _Empfindung_ des
Tones zum _Gefühl_, zur _Gemütsstimmung_ wird. Die Physiologie weiß, daß
das, was wir als Ton empfinden, eine Molekularbewegung in der
Nervensubstanz ist, und zwar wenigstens ebensogut als im Akustikus in
den Centralorganen. Sie weiß, daß die Fasern des Gehörnervs mit den
anderen Nerven zusammenhängen und seine Reize auf sie übertragen, daß
das Gehör namentlich mit dem kleinen und großen Gehirn, dem Kehlkopf,
der Lunge, dem Herzen in Verbindung steht. Unbekannt ist ihr aber die
spezifische Art, wie Musik auf diese Nerven wirkt, noch mehr die
Verschiedenheit, mit welcher bestimmte musikalische Faktoren, Akkorde,
Rhythmen, Instrumente auf verschiedene Nerven wirken. Verteilt sich
eine musikalische Gehörsempfindung auf alle mit dem Akustikus
zusammenhängende Nerven oder nur auf einige? Mit welcher Intensität? Von
welchen musikalischen Elementen wird das Gehirn, von welchen werden die
zum Herzen oder zur Lunge führenden Nerven am meisten affiziert?
Unleugbar ist, daß Tanzmusik in jungen Leuten, deren natürliches
Temperament nicht durch die Zivilisation ganz zurückgehalten wird, ein
Zucken im Körper, namentlich in den Füßen, hervorruft. Es wäre
einseitig, den _physiologischen_ Einfluß von Marsch- und Tanzmusik zu
leugnen; und ihn lediglich auf _psychologische_ Ideenassoziation
reduzieren zu wollen. Was daran psychologisch ist, -- die wachgerufene
Erinnerung an das schon bekannte Vergnügen des Tanzes, -- entbehrt nicht
der Erklärung, allein diese reicht für sich keineswegs aus. Nicht weil
sie Tanzmusik ist, hebt sie die Füße, sondern sie ist Tanzmusik, weil
sie die Füße hebt. Wer in der Oper ein wenig um sich blickt, wird bald
bemerken, wie bei lebhaften, faßlichen Melodien die Damen unwillkürlich
mit dem Kopfe hin- und herschaukeln, nie wird man dies aber bei einem
Adagio sehen, sei es noch so ergreifend oder melodisch. Läßt sich daraus
schließen, daß gewisse musikalische, namentlich rhythmische Verhältnisse
auf motorische Nerven wirken, andere nur auf Empfindungsnerven? Wann
ist das erstere, wann das letztere der Fall?[33] Erleidet das
Solargeflecht, welches traditionell für einen vorzugsweisen Sitz des
Empfindens gilt, bei der Musik eine besondere Affektion? Erleiden sie
etwa die »sympathischen Nerven« -- an denen, wie _Purkinje_ mir einst
bemerkte, ihr Name das Schönste ist --? Warum ein Klang schrillend,
widerwärtig, ein anderer rein und wohllautend erscheine, das wird auf
akustischem Wege durch die Gleichförmigkeit und Ungleichförmigkeit der
aufeinanderfolgenden Luftstöße -- warum mehrere zusammenklingende Töne
konsonieren oder dissonieren, wird durch ihren ungestörten, gleichmäßigen
oder gestörten, ungleichmäßigen Abfluß erklärt.[34] Diese Erklärungen
mehr oder minder einfacher _Gehörsempfindungen_ können aber dem
Ästhetiker nicht genügen; er verlangt nach der Erklärung des _Gefühls_
und fragt: wie kommt es, daß die eine Reihe von wohlklingenden Tönen
den Eindruck der Trauer, eine zweite von gleichfalls wohlklingenden den
Eindruck der Freude macht? Woher die entgegengesetzten, oft mit
zwingender Kraft auftretenden Stimmungen, welche verschiedene Akkorde
oder Instrumente von gleich reinem, wohlklingendem Ton dem Hörer
unmittelbar einflößen?

  [33] Wenn _Carus_ den Reiz zur Bewegung damit erklärt, daß er den
  Hörnerv im kleinen Gehirn entspringen läßt, in dieses den Sitz des
  Willens verlegt und aus beiden die eigentümlichen Wirkungen der
  Gehörseindrücke auf Handlungen des Mutes u. a. ableitet, so ist das
  eine sehr unsichere Hypothese; denn nicht einmal die Abstammung des
  Gehörnervs aus dem _kleinen_ Gehirn ist eine wissenschaftlich
  ausgemachte Tatsache.

  _Harleß_ (in _R. Wagners_ Handwörterbuch der Physiologie, Artikel
  »Hören«) vindiziert der bloßen _Wahrnehmung_ des Rhythmus, ohne allen
  Gehörseindruck, denselben Trieb zu Bewegungen wie der rhythmischen
  Musik.

  [34] Helmholtz, Lehre von den Tonempfindungen. 2. Aufl. 1870. S. 319.

Dies alles kann -- soweit unser Wissen und Urteil reicht -- die
Physiologie nicht beantworten. Wie sollte sie auch? Weiß sie doch nicht,
wie der Schmerz die Träne erzeugt, wie die Freude das Lachen, -- weiß
sie doch nicht, was Schmerz und Freude _sind_! Hüte sich deshalb jeder,
von einer Wissenschaft Aufschlüsse zu verlangen, die sie nicht geben
kann.[35]

  [35] Einer unserer geistvollsten Physiologen, _Lotze_, sagt in seiner
  »medizinischen Psychologie« (S. 237): »Die Betrachtungen der
  _Melodien_ würde zu dem Geständnis führen, daß _wir gar nichts über
  die Bedingungen_ wissen, unter denen ein Übergang der Nerven aus einer
  Form der Erregung in die andere eine physische Grundlage für die
  kraftvollen ästhetischen Gefühle bietet, die der Abwechslung der Töne
  folgen.« Ferner über den Eindruck von Lust und Unlust, den selbst ein
  einfacher Ton auf das Gefühl ausüben kann (S. 236): »Es ist uns völlig
  unmöglich, gerade für diese Eindrücke einfacher Empfindungen einen
  physiologischen Grund anzugeben, da uns die Richtung, in welcher sie
  die Nerventätigkeit verändern, zu unbekannt ist, als daß wir aus ihr
  die Größe der Begünstigung oder Störung, die sie erfährt, abzuleiten
  vermöchten.«

Freilich muß der Grund jedes durch Musik hervorgerufenen Gefühls vorerst
in einer bestimmten Affektionsweise der Nerven durch einen
Gehörseindruck liegen. Wie aber eine Reizung des Gehörnervs, die wir
nicht einmal bis zu dessen Ursprungsstelle verfolgen können, als
bestimmte Empfindungsqualität ins Bewußtsein fällt, wie der körperliche
Eindruck zum Seelenzustand, die Empfindung endlich zum Gefühle wird, --
das liegt jenseits der dunkeln Brücke, die von keinem Forscher
überschritten ward. Es sind tausendfältige Umschreibungen des einen
Urrätsels: vom Zusammenhang des Leibes mit der Seele. Diese Sphinx wird
sich niemals vom Felsen stürzen.[36]

  [36] Eine neue wertvolle Bestätigung dieser Ansicht enthält _Du
  Bois-Reymonds_ Rede auf der Naturforscherversammlung in Leipzig 1872:
  »Über die Grenzen des Naturerkennens.«

Was die Physiologie der Musikwissenschaft bietet, ist von höchster
Wichtigkeit für unsere Erkenntnis der Gehörseindrücke als solcher; in
dieser Beziehung kann durch sie noch mancher Fortschritt geschehen: in
der musikalischen Hauptfrage wird dies kaum je der Fall sein.

Aus diesem Resultate ergibt sich für die Ästhetik der Tonkunst die
Betrachtung, daß diejenigen Theoretiker, welche das Prinzip des Schönen
in der Musik auf Gefühlswirkungen bauen, wissenschaftlich verloren sind,
weil sie über das Wesen dieses Zusammenhanges nichts wissen können, also
bestenfalls nur darüber zu raten oder zu phantasieren vermögen. Vom
Standpunkte des Gefühls wird eine künstlerische oder wissenschaftliche
Bestimmung der Musik niemals ausgehen können. Mit der Schilderung der
subjektiven Bewegungen, welche den Kritiker bei Anhörung einer
Symphonie überkommen, wird er deren Wert und Bedeutung nicht begründen,
ebensowenig kann er von den Affekten ausgehend den Kunstjünger etwas
lehren. Letzteres ist wichtig. Denn stünde der Zusammenhang bestimmter
Gefühle mit gewissen musikalischen Ausdrucksweisen so zuverlässig da,
als man geneigt ist zu glauben, und als er dastehen müßte, um die ihm
vindizierte Bedeutung zu behaupten, so wäre es ein leichtes, den
angehenden Komponisten bald zur Höhe ergreifendster Kunstwirkung zu
leiten. Man wollte dies auch wirklich. _Mattheson_ lehrt im dritten
Kapitel seines »vollkommenen Kapellmeisters«, wie Stolz, Demut und alle
Leidenschaften zu komponieren seien, indem er z. B. sagt, die
»Erfindungen zur _Eifersucht_ müssen alle was Verdrießliches, Grimmiges
und Klägliches haben«. Ein anderer Meister des vorigen Jahrhunderts,
_Heinchen_, gibt in seinem »Generalbaß« acht Bogen Notenbeispiele, wie
die Musik »rasende, zankende, prächtige, ängstliche oder verliebte
Empfindungen« ausdrücken sollte.[37] Es fehlt nur noch, daß derlei
Vorschriften mit der Kochbuchformel »Man nehme« anhüben, oder mit der
medizinischen Signatur m. d. s. endigten. Es holt sich aus solchen
Bestrebungen die lehrreichste Überzeugung, wie spezielle Kunstregeln
immer zugleich zu eng und zu weit sind.

  [37] Köstlich sind die Belehrungen des Herrn geheimen Rats und Doktors
  der Philosophie _v. Böcklin_, welcher S. 34 seiner »Fragmente zur
  höheren Musik« (1811) unter anderem sagt: »Angenommen, der Komponist
  wollte einen _Beleidigten_ darstellen, so muß in dieser Musik ganz
  ästhetische Wärme auf Wärme, Schlag auf Schlag, ein _erhabener_ Gesang
  mit äußerster Lebhaftigkeit hervorspringen, die Mittelstimmen _rasen_
  und schaudervolle Stöße den erwartungsvollen Zuhörer schrecken.«

Diese an sich bodenlosen Regeln für die musikalische Erweckung
bestimmter Gefühle gehören aber um so weniger in die Ästhetik, als die
erstrebte Wirkung keine rein ästhetische, sondern ein unausscheidbarer
Anteil daran _körperlich_ ist. Das _ästhetische_ Rezept müßte lehren,
wie der Tonkünstler das Schöne in der Musik erzeuge, nicht aber
beliebige Affekte im Auditorium. Wie ganz ohnmächtig diese Regeln
wirklich _sind_, das zeigt am schönsten die Erwägung, wie zaubermächtig
sie sein _müßten_. Denn wäre die Gefühlswirkung jedes musikalischen
Elements eine notwendige und erforschbare, so könnte man auf dem Gemüt
des Hörers, wie auf einer Klaviatur, spielen. Und falls man es vermöchte
-- würde die Aufgabe der Kunst dadurch gelöst? So nur lautet die
berechtigte Frage und verneint sich von selbst. _Musikalische Schönheit_
allein ist die wahre Kraft des Tonkünstlers. Auf ihren Schultern
schreitet er sicher durch die reißenden Wogen der Zeit, in denen das
Gefühlsmoment ihm keinen Strohhalm bietet vor dem Ertrinken.

Man sieht, unsere beiden Fragen -- nämlich, welches spezifische Moment
die Gefühlswirkung durch _Musik_ auszeichne, und ob dies Moment
wesentlich ästhetischer Natur sei -- erledigen sich durch die Erkenntnis
ein und desselben Faktors: der intensiven Einwirkung auf das
_Nervensystem_. Auf dieser beruht die eigentümliche Stärke und
Unmittelbarkeit, mit welcher die Musik im Vergleich mit jeder andern
nicht durch _Töne_ wirkenden Kunst Affekte aufzuregen vermag.

Je stärker aber eine Kunstwirkung körperlich überwältigend, also
pathologisch auftritt, desto geringer ist ihr _ästhetischer_ Anteil; ein
Satz, der sich freilich nicht umkehren läßt. Es muß darum in der
musikalischen Hervorbringung und Auffassung ein anderes Element
hervorgehoben werden, welches das unvermischt Ästhetische dieser Kunst
repräsentiert und als Gegenbild zu der spezifisch musikalischen
Gefühlserregung sich den allgemeinen Schönheitsbedingungen der übrigen
Künste annähert. Dies ist die _reine Anschauung_. Ihre besondere
Erscheinungsform in der Tonkunst, sowie die vielgestaltigen
Verhältnisse, welche sie in der Wirklichkeit zum Gefühlsleben eingeht,
wollen wir im folgenden Abschnitt betrachten.



V.

Das ästhetische Aufnehmen der Musik gegenüber dem pathologischen.


Nichts hat die wissenschaftliche Entwicklung der musikalischen Ästhetik
so empfindlich gehemmt als der übermäßige Wert, welchen man den
Wirkungen der Musik auf die Gefühle beilegte. Je auffallender sich diese
Wirkungen zeigten, desto höher pries man sie als Herolde musikalischer
Schönheit. Wir haben im Gegenteil gesehen, daß gerade den
überwältigendsten Eindrücken der Musik ein stärkster Anteil
_körperlicher_ Erregung von seiten des Hörers beigemischt ist. Von
seiten der Musik liegt diese heftige Eindringlichkeit in das
Nervensystem nicht sowohl in ihrem _künstlerischen_ Moment, das ja aus
dem Geiste kommt und an den Geist sich wendet, als vielmehr in ihrem
_Material_, dem die Natur jene unergründliche physiologische
Wahlverwandtschaft eingeboren hat. Das _Elementarische_ der Musik, der
_Klang_ und die _Bewegung_ ist es, was die wehrlosen Gefühle so vieler
Musikfreunde in Ketten schlägt, mit denen sie gar gerne klirren. Weit
sei es von uns, die Rechte des Gefühls an die Musik verkürzen zu wollen.
Allein dies Gefühl, welches sich tatsächlich mehr oder minder mit der
reinen Anschauung paart, kann nur dann als künstlerisch gelten, wenn es
sich seiner ästhetischen Herkunft bewußt bleibt, d. h. der Freude an
einem und zwar gerade diesem bestimmten _Schönen_.

Fehlt dies Bewußtsein, fehlt die freie Anschauung des bestimmten
Kunstschönen, und fühlt das Gemüt sich nur von der Naturgewalt der Töne
befangen, so kann die _Kunst_ sich solchen Eindruck um so weniger zugute
schreiben, je stärker er auftritt. Die Zahl derer, welche auf solche Art
Musik hören oder eigentlich fühlen, ist sehr bedeutend. Indem sie das
Elementarische der Musik in passiver Empfänglichkeit auf sich wirken
lassen, geraten sie in eine vage, nur durch den ganz allgemeinen
Charakter des Tonstücks bestimmte übersinnlich sinnliche Erregung. Ihr
Verhalten gegen die Musik ist nicht anschauend, sondern _pathologisch_;
ein stetes Dämmern, Fühlen, Schwärmen, ein Hangen und Bangen in
klingendem Nichts. Lassen wir an dem Gefühlsmusiker mehrere Tonstücke
gleichen, etwa rauschend fröhlichen Charakters, vorbeiziehen, so wird er
in dem Banne desselben Eindrucks verbleiben. Nur was diesen Stücken
gleichartig ist, also die Bewegung des rauschend Fröhlichen, assimiliert
sich seinem Fühlen, während das Besondere jeder Tondichtung, das
künstlerisch Individuelle, seiner Auffassung entschwindet. Gerade
umgekehrt wird der musikalische Zuhörer verfahren. Die eigentümliche
künstlerische Gestaltung einer Komposition, das, was sie unter einem
Dutzend ähnlich wirkender zum selbständigen Kunstwerk stempelt, erfüllt
sein Aufmerken so vorherrschend, daß er ihrem gleichen oder
verschiedenen Gefühlsausdruck nur geringes Gewicht beilegt. Das
isolierte Aufnehmen eines abstrakten Gefühlsinhalts anstatt der
konkreten Kunsterscheinung ist in solcher Ausbildung der Musik ganz
eigentümlich. Nur die Gewalt einer besonderen Beleuchtung erscheint ihr
nicht selten analog, wenn sie manchen so ergreift, daß er über die
beleuchtete Landschaft selbst sich gar keine Rechenschaft zu geben
vermag. Eine unmotivierte und darum desto eindringlichere
Totalempfindung wird in Bausch und Bogen eingesaugt.[38]

  [38] Der verliebte Herzog in Shakespeares »Twelfth night« ist eine
  poetische Personifikation solchen Musikhörens. Er sagt:

      »If music be the food of love, play on
      -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- -- --
      O, it came o'er my ear _like the sweet south_,
      _That breathes upon a bank of violets_,
      Stealing and giving odour.«

  Und später, im 2. Akt, ruft er:

      »Give me some music. -- --
      Me thought _it did relieve my passion much_« etc.

Halbwach in ihren Fauteuil geschmiegt, lassen jene Enthusiasten von den
Schwingungen der Töne sich tragen und schaukeln, statt sie scharfen
Blickes zu betrachten. Wie das stark und stärker anschwillt, nachläßt,
aufjauchzt oder auszittert, das versetzt sie in einen unbestimmten
Empfindungszustand, den sie für rein geistig zu halten so unschuldig
sind. Sie bilden das »dankbarste« Publikum und dasjenige, welches
geeignet ist, die Würde der Musik am sichersten zu diskreditieren. Das
ästhetische Merkmal des _geistigen_ Genusses geht ihrem Hören ab; eine
feine Zigarre, ein pikanter Leckerbissen, ein laues Bad leistet ihnen
unbewußt, was eine Symphonie. Vom gedankenlos gemächlichen Dasitzen der
einen bis zur tollen Verzückung der andern ist das Prinzip dasselbe: die
Lust am _Elementarischen_ der Musik. Die neue Zeit hat übrigens eine
herrliche Entdeckung gebracht, welche für Hörer, die ohne alle
Geistesbetätigung nur den Gefühlsniederschlag der Musik suchen, diese
Kunst weit überbietet. Wir meinen den Schwefeläther, das Chloroform. In
der Tat zaubern uns diese Mittel einen, den ganzen Organismus
süßtraumhaft durchbebenden Rausch -- ohne die Gemeinheit des
Weintrinkens, welches auch nicht ohne musikalische Wirkung ist.

Die Werke der Tonkunst reihen sich für solche Auffassung zu den
_Naturprodukten_, deren Genuß uns entzücken, aber nicht zwingen kann zu
denken, einem bewußt schaffenden Geiste nachzudenken. Der süße Atem
eines Akazienbaumes läßt sich auch geschlossenen Auges, träumend
einsaugen. Hervorbringungen menschlichen Geistes verwehren das durchaus,
wenn sie nicht eben auf die Stufe sinnlicher Naturreize herabsinken
sollen.

In keiner andern Kunst ist dies so hohen Grades möglich, wie in der
Musik, deren sinnliche Seite einen geistlosen Genuß wenigstens zuläßt.
Schon das _Verrauschen_ derselben, während die Werke der übrigen Künste
_bleiben_, gleicht in bedenklicher Weise dem Akt des Verzehrens.

Ein Bild, eine Kirche, ein Drama lassen sich nicht schlürfen, eine Arie
sehr wohl. Darum gibt auch der Genuß keiner andern Kunst sich zu solch
akzessorischem Dienst her. Die besten Kompositionen können als
_Tafelmusik_ gespielt werden und die Verdauung der Fasane erleichtern.
Musik ist die zudringlichste und auch wieder die nachsichtigste Kunst.
Die jämmerlichste Drehorgel, so sich vor unser Haus postiert, muß man
_hören_, aber _zuhören_ braucht man selbst einer Mendelssohnschen
Symphonie nicht.

Die gerügte Art des Musikhörens ist übrigens nicht etwa identisch mit
der in jeder Kunst vorkommenden Freude des naiven Publikums an dem bloß
sinnlichen Teil derselben, während der ideale Gehalt nur von dem
gebildeten Verständnis erkannt wird. Diese unkünstlerische Auffassung
eines Musikstückes zieht nicht den eigentlich sinnlichen Teil, die
reiche Mannigfaltigkeit der Tonreihen an sich, sondern deren abstrakte,
als bloßes Gefühl empfundene Totalidee. Dadurch wird die höchst
eigentümliche Stellung ersichtlich, welche in der Musik der geistige
_Gehalt_ zu den Kategorien der _Form_ und des _Inhalts_ einnimmt. Man
pflegt nämlich das ein Tonstück durchwehende Gefühl als den Inhalt, die
Idee, den geistigen Gehalt desselben anzusehen; die künstlerisch
geschaffenen, bestimmten _Tonfolgen_ hingegen als die bloße Form, das
Bild, die sinnliche Einkleidung jenes Übersinnlichen. Allein gerade der
»spezifisch-musikalische« Teil ist die Schöpfung des künstlerischen
Geistes, mit welchem der anschauende Geist sich verständnisvoll
vereinigt. In diesen konkreten Tonbildungen liegt der geistige Gehalt
der Komposition, nicht in dem vagen Totaleindruck eines abstrahierten
Gefühls. Die dem Gefühl, als vermeintlichem Inhalt, gegenübergestellte
bloße Form (das Tongebilde) ist gerade der wahre _Inhalt_ der Musik, ist
die Musik selbst, während das erzeugte Gefühl weder Inhalt noch Form
heißen kann, sondern faktische Wirkung. Ebenso ist das vermeintliche
_Materielle_, Darstellende, gerade das vom Geiste Gebildete, während das
angeblich Dargestellte, die Gefühlswirkung, der _Materie_ des Tons
innewohnt und zur guten Hälfte _physiologischen_ Gesetzen folgt.

Aus den obigen Betrachtungen ergibt sich leicht die richtige
Wertschätzung für die sogenannten »_moralischen Wirkungen_« der Musik,
die als glänzendes Seitenstück zu den vorher erwähnten »physischen« von
älteren Autoren mit so viel Vorliebe herausgestrichen werden. Da hierbei
die Musik nicht im entferntesten als ein Schönes genossen, sondern als
rohe Naturgewalt empfunden wird, die bis zu besinnungslosem Handeln
treibt, so stehen wir an dem geraden Widerspiel alles Ästhetischen.
Überdies liegt das Gemeinschaftliche dieser angeblich »moralischen«
Wirkungen mit den anerkannt physischen zutage.

Der drängende Gläubiger, der durch die Töne seines Schuldners bewogen
wird, ihm die ganze Summe zu schenken,[39] ist dazu nicht anders
angetrieben als der Ruhende, den ein Walzermotiv plötzlich zum Tanz
begeistert. Der erstere wird mehr durch die geistigeren Elemente:
Harmonie und Melodie, der zweite durch den sinnlicheren Rhythmus bewegt.
Keiner von beiden handelt aber aus freier Selbstbestimmung, keiner
überwältigt durch geistige Überlegenheit oder ethische Schönheit,
sondern infolge befördernder Nervenreize. Die Musik löst ihm die Füße
oder das Herz, geradeso wie der Wein die Zunge. Solche Siege predigen
nur die Schwäche des Besiegten. Ein Erleiden unmotivierter ziel- und
stoffloser Affekte durch eine Macht, die in keinem Rapport zu unserem
Wollen und Denken steht, ist des Menschengeistes unwürdig. Wenn vollends
Menschen in so hohem Grade von dem Elementarischen einer Kunst sich
hinreißen lassen, daß sie ihres freien Handelns nicht mehr mächtig sind,
so scheint uns dies weder ein Ruhm für die Kunst, noch viel weniger für
die Helden selbst.

  [39] Wird von dem neapolitanischen Sänger _Palma_ und von anderen
  erzählt (Anecdotes on music, by A. Burgh, 1814).

Die Musik hat diese Bestimmung keineswegs, allein ihr intensives
Gefühlsmoment macht es möglich, daß sie in solcher Tendenz genossen
werde. Dies ist der Punkt, in welchem die ältesten Anklagen gegen die
Tonkunst ihre Wurzel haben; daß sie entnerve, verweichliche,
erschlaffe.

Wo man Musik macht als ein Erregungsmittel »unbestimmter Affekte«, als
Nahrung des »Fühlens« an sich, da wird jener Vorwurf nur zu wahr.
_Beethoven_ verlangte, die Musik solle dem Mann »Feuer aus dem Geiste
schlagen«. Wohlgemerkt: »soll«. Ob aber nicht selbst ein Feuer, das
durch _Musik_ erzeugt und genährt wird, die willensstarke, denkkräftige
Entwickelung des Mannes hemmend zurückhält?

Jedenfalls scheint uns diese Anklage des musikalischen Einflusses
würdiger als dessen übermäßige Lobpreisung. Sowie die _physischen_
Wirkungen der Musik im geraden Verhältnis stehen zu der krankhaften
Gereiztheit des ihnen entgegenkommenden Nervensystems, so wächst der
_moralische_ Einfluß der Töne mit der Unkultur des Geistes und
Charakters. Je kleiner der Widerhall der Bildung, desto gewaltiger das
Dreinschlagen solcher Macht. Die stärkste Wirkung übt Musik bekanntlich
auf Wilde.

Das schreckt unsere Musik-Ethiker nicht ab. Sie beginnen, gleichsam
präludierend, am liebsten mit zahlreichen Beispielen, »wie sogar die
Tiere« sich der Macht der Tonkunst beugen. Es ist wahr, der Ruf der
Trompete erfüllt das Pferd mit Mut und Schlachtbegier, die Geige
begeistert den Bären zu Ballettversuchen, die zarte Spinne und der
plumpe Elefant bewegen sich horchend bei den geliebten Klängen. Ist es
denn aber wirklich so ehrenvoll, in _solcher_ Gesellschaft
Musikenthusiast zu sein?

Auf die Tierproduktionen folgen die menschlichen Kabinettstücke. Sie
sind meist im Geschmack Alexanders des Großen, welcher durch das
Flötenspiel des _Timotheus_ zuerst wütend gemacht, hierauf durch Gesang
wieder besänftigt wurde. So ließ der minder bekannte König von Dänemark
Ericus bonus, um sich von der gepriesenen Gewalt der Musik zu
überzeugen, einen berühmten Musikus spielen und zuvor alles Gewehr
entfernen. Der Künstler versetzte durch die Wahl seiner Modulationen
alle Gemüter zuerst in Traurigkeit, dann in Frohsinn. Letzteren wußte er
bis zur Raserei zu steigern. »Selbst der König brach durch die Tür,
griff zum Degen und brachte von den Umstehenden _vier_ ums Leben.«
(Albert Krantzius, Dan. lib. V., cap. 3.) Und das war noch der »_gute
Erich_«.

Wären solche »moralische _Wirkungen_« der Musik noch an der
Tagesordnung, so käme man wahrscheinlich vor innerer Empörung gar nicht
dazu, sich über die Hexenmacht vernünftig auszusprechen, welche in
souveräner Exterritorialität den Menschengeist unbekümmert um dessen
Gedanken und Entschlüsse bezwingt und verwirrt.

Die Betrachtung jedoch, daß die berühmtesten dieser musikalischen
Trophäen dem grauen Altertum angehören, macht wohl geneigt, der Sache
einen historischen Standpunkt abzugewinnen.

Es leidet gar keinen Zweifel, daß die Musik bei den alten Völkern eine
weit unmittelbarere Wirkung äußerte als gegenwärtig; weil die Menschheit
eben in ihren primitiven Bildungsstufen dem _Elementarischen_ viel
verwandter und preisgegebener ist als später, wo Bewußtsein und
Selbstbestimmung in ihr Recht treten. Dieser natürlichen Empfänglichkeit
kam der eigentümliche Zustand der Musik im griechischen Altertum
hilfreich entgegen. Sie war nicht _Kunst_ in unserem Sinn. _Klang_ und
_Rhythmus_ wirkten in fast vereinzelter Selbständigkeit und vertraten in
dürftigem Vordrängen die Stelle der reichen, geisterfüllten Formen,
welche die gegenwärtige Tonkunst bilden. Alles, was von der Musik jener
Zeiten bekannt ist, läßt mit Gewißheit auf ein bloß sinnliches, dafür
aber in dieser Beschränkung verfeinertes Wirken derselben schließen.
Musik in der modernen, künstlerischen Bedeutung gab's nicht im
klassischen Altertum, sonst hätte sie für die spätere Entwickelung
ebensowenig verloren gehen können, als die klassische Dichtkunst,
Plastik und Architektur verloren gegangen sind. Die Vorliebe der
Griechen für ein gründliches Studium ihrer ins Subtilste zugespitzten
Tonverhältnisse gehört als rein wissenschaftliche nicht hierher.

Der Mangel an Harmonie, die Befangenheit der Melodie in den engsten
Grenzen rezitativischen Ausdrucks, endlich die Entwickelungsunfähigkeit
des alten Tonsystems zu wahrhaft musikalischem Gestaltenreichtum machten
eine absolute Bedeutung der Musik als Tonkunst im musikalischen Sinne
unmöglich; sie ward auch fast niemals selbständig, sondern stets in
Verbindung mit Poesie, Tanz und Mimik angewendet, mithin als eine
Ergänzung der andern Künste. Musik hatte nur den Beruf, durch
rhythmischen Pulsschlag und Verschiedenheit der Klangfarben zu beleben;
endlich als intensive Steigerung rezitierender _Deklamation_ Worte und
Gefühle zu kommentieren. Die Tonkunst wirkte daher hauptsächlich nach
ihrer _sinnlichen_ und ihrer _symbolischen_ Seite. Auf diese Faktoren
hingedrängt, mußte sie dieselben durch solche Konzentration zu großer,
ja raffinierter Wirksamkeit ausbilden. Die Zuspitzung des melodischen
Materials bis zur Anwendung der Vierteltöne und des »enharmonischen
Tongeschlechts« hat die heutige Tonkunst ebensowenig mehr aufzuweisen,
als den charakteristischen Sonderausdruck der Tonarten und ihr enges
Anschmiegen an das gesprochene oder gesungene Wort.

Diese gesteigerten tonlichen Verhältnisse fanden für ihren engen Kreis
überdies eine viel größere Empfänglichkeit in den _Hörern_ vor. Wie das
griechische Ohr unendlich feinere Intervallenunterschiede zu fassen
fähig war, als es das unsere in der schwebenden Temperatur auferzogene
ist, so war auch das Gemüt jener Völker der wechselnden Umstimmung durch
Musik weit zugänglicher und begehrlicher als wir, die an dem
künstlerischen Bilden der Tonkunst ein kontemplatives Gefallen hegen,
das deren elementarischen Einfluß paralysiert. So erscheint denn eine
intensivere Wirkung der Musik im Altertum wohl begreiflich.

Desgleichen ein bescheidener Teil der Historien, die uns von der
spezifischen Wirkung der verschiedenen _Tonarten_ bei den Alten
überliefert sind. Sie gewinnen einen Erklärungsgrund in der strengen
Scheidung, mit welcher die einzelnen Tonarten zu bestimmten Zwecken
gewählt und unvermischt erhalten wurden. Die dorische Tonart brauchten
die Alten für ernste, namentlich religiöse Anlässe; mit der phrygischen
feuerten sie die Heere an; die lydische bedeutete Trauer und Wehmut, und
die äolische erklang, wo es in Liebe oder Wein lustig herging. Durch
diese strenge, bewußte Trennung von vier Haupttonarten für ebensoviele
Klassen von Seelenzuständen, sowie durch ihre konsequente Verbindung
_mit nur zu dieser Tonart_ passenden Gedichten mußten Ohr und Gemüt
unwillkürlich eine entschiedene Tendenz gewinnen, beim Erklingen einer
Musik gleich das ihrer Tonart entsprechende Gefühl zu reproduzieren. Auf
der Grundlage dieser einseitigen Ausbildung war nun die Musik
unentbehrliche, fügsame Begleiterin aller Künste, war Mittel zu
pädagogischen, politischen und anderen Zwecken, sie war alles, nur keine
selbständige _Kunst_. Wenn es bloß einiger phrygischen Klänge bedurfte,
um den Soldaten mutig gegen den Feind zu treiben, und die Treue der
Strohwitwen durch dorische Lieder gesichert war, so mag der Untergang
des griechischen Tonsystems von Feldherren und Ehegatten betrauert
werden, -- der Ästhetiker und der Komponist werden es sich nicht
zurückwünschen.

Wir setzen jenem pathologischen Ergriffenwerden das _bewußte_ reine
Anschauen eines Tonwerks entgegen. Diese kontemplative ist die einzig
künstlerische, wahre Form des Hörens; ihr gegenüber fällt der rohe
Affekt des Wilden und der schwärmende des Musik-Enthusiasten in Eine
Klasse. Dem Schönen entspricht ein _Genießen, kein Erleiden_, wie ja das
Wort »Kunstgenuß« sinnig ausdrückt. Die Gefühlvollen halten es freilich
für Ketzerei gegen die Allmacht der Musik, wenn jemand von den
Herzens-Revolutionen und -Krawallen Umgang nimmt, welche sie in jedem
Tonstück antreffen und redlich mitmachen. Man ist dann offenbar »kalt«,
»gemütlos«, »Verstandesnatur«. Immerhin. Edel und bedeutend wirkt es,
dem schaffenden Geist zu folgen, wie er zauberisch eine neue Welt von
Elementen vor uns aufschließt, diese in alle denkbaren Beziehungen
zueinander lockt, und so fortan aufbaut, niederreißt, hervorbringt und
vernichtet, den ganzen Reichtum eines Gebietes beherrschend, welches das
Ohr zum feinsten und ausgebildetsten Sinneswerkzeug adelt. Nicht eine
angeblich geschilderte Leidenschaft reißt uns in Mitleidenschaft.
Freudigen Geistes, in affektlosem, doch innig-hingebendem Genießen sehen
wir das Kunstwerk an uns vorüberziehen und feiner erkennend, was
_Schelling_ so schön »die erhabene Gleichgültigkeit des Schönen«
nennt.[40] Dieses Sich-Erfreuen mit wachem Geiste ist die würdigste,
heilvollste und nicht die leichteste Art, Musik zu hören.

  [40] »Über das Verhältnis der bildenden Künste zur Natur.«

Der wichtigste Faktor in dem Seelenvorgang, welcher das Auffassen eines
Tonwerks begleitet und zum Genusse macht, wird am häufigsten übersehen.
Es ist die geistige Befriedigung, die der Hörer darin findet, den
Absichten des Komponisten fortwährend zu folgen und voranzueilen, sich
in seinen Vermutungen hier bestätigt, dort angenehm getäuscht zu finden.
Es versteht sich, daß dieses intellektuelle Hinüber- und Herüberströmen,
dieses fortwährende Geben und Empfangen, unbewußt und blitzschnell vor
sich geht. Nur solche Musik wird vollen künstlerischen Genuß bieten,
welche dies geistige Nachfolgen, welches ganz eigentlich ein _Nachdenken
der Phantasie_ genannt werden könnte, hervorruft und lohnt. Ohne
geistige Tätigkeit gibt es überhaupt keinen ästhetischen Genuß. Der
_Musik_ aber ist _diese_ Form von Geistestätigkeit darum vorzüglich
eigen, weil ihre Werke nicht unverrückbar und mit Einem Schlag dastehen,
sondern sich sukzessiv am Hörer abspinnen, daher sie von diesem kein,
ein beliebiges Verweilen und Unterbrechen zulassendes _Betrachten_,
sondern ein in schärfster Wachsamkeit unermüdliches _Begleiten_ fordern.
Diese Begleitung kann bei verwickelten Kompositionen sich bis zur
geistigen Arbeit steigern. Wie viele einzelne _Individuen_, so können
auch manche _Nationen_ sich ihr nur sehr schwer unterziehen. Die
singende Alleinherrschaft der Oberstimme bei den Italienern hat einen
Hauptgrund in der geistigen Bequemlichkeit dieses Volkes, welchem das
ausdauernde Durchdringen unerreichbar ist, womit der Nordländer einem
künstlichen Gewebe von harmonischen und kontrapunktischen
Verschlingungen zu folgen liebt. Dafür wird Hörern, deren geistige
Tätigkeit gering ist, der Genuß _leichter_, und solche Musikbolde können
Massen von Musik verzehren, vor welchen der künstlerische Geist
zurückbebt.

Das bei jedem Kunstgenuß notwendige _geistige_ Moment wird sich bei
Zuhörern desselben Tonwerks in sehr verschiedener Abstufung tätig
erweisen; es kann in sinnlichen und gefühlvollen Naturen auf ein Minimum
sinken, in vorherrschend geistigen Persönlichkeiten das geradezu
Entscheidende werden. Die wahre »_rechte_ Mitte« muß sich, nach unserer
Meinung, hier eher etwas nach rechts neigen. Zum Berauschtwerden
braucht's nur der Schwäche, aber wirklich ästhetisches _Hören_ ist eine
_Kunst_.[41]

  [41] _W. Heinses_ schwärmerisch-dissolutem Temperament mußte es
  vollkommen entsprechen, von der bestimmten musikalischen Schönheit
  zugunsten des vagen Gefühlseindruckes abzusehen. Er geht (in der
  »Hildegard von Hohenthal«) so weit, zu sagen: »Die wahre Musik ...
  geht überall auf den Zweck los, den Sinn der Worte und der Empfindung
  in die Zuhörer zu übertragen, so leicht und angenehm, daß man sie (die
  Musik) nicht merkt. Solche Musik dauert ewig, sie ist gerade so
  natürlich, daß man _sie nicht merkt_, sondern nur der Sinn der Worte
  übergeht.«

  Ein ästhetisches Aufnehmen der Musik findet aber gerade im Gegenteil
  da statt, wo man sie vollkommen »_merkt_«, ihr _aufmerkt_ und jeder
  ihrer Schönheiten sich unmittelbar bewußt wird. _Heinse_, dessen
  genialem Naturalismus wir den Zoll einer angemessenen Bewunderung
  nicht versagen, ist in poetischer, noch mehr in musikalischer Hinsicht
  sehr überschätzt worden. Bei der Armut an geistreichen Schriften über
  Musik hat man sich gewöhnt, Heinse als einen vorzüglichen
  musikalischen Ästhetiker zu behandeln und zu zitieren. Konnte man
  dabei wirklich übersehen, wie nach einigen treffenden Aperçus meist
  eine Flut von Plattheiten und offenbaren Irrtümern hereinstürzt, daß
  man über solche Unbildung geradezu erschrickt? Überdies geht Hand in
  Hand mit technischer Unkenntnis Heinses schiefes ästhetisches Urteil,
  wie seine Analysen der Opern von _Gluck_, _Jomelli_, _Traëtta_ u. a.
  dartun, in welchen man anstatt künstlerischer Belehrung fast nur
  enthusiastische Ausrufungen erhält.

Das Gefühlsschwelgen ist meist Sache jener Hörer, welche für die
künstlerische Auffassung des _Musikalisch-Schönen_ keine Ausbildung
besitzen. Der Laie »fühlt« bei Musik am meisten, der gebildete Künstler
am wenigsten. Je bedeutender nämlich das _ästhetische_ Moment im Hörer
(gerade wie im Kunstwerk), desto mehr nivelliert es das bloß
elementarische. Darum ist das ehrwürdige Axiom der Theoretiker: »Eine
düstere Musik erregt Gefühle der Trauer in uns, eine heitere erweckt
Fröhlichkeit« -- in dieser Ausdehnung nicht immer richtig. Wenn jedes
hohle Requiem, jeder lärmende Trauermarsch, jedes winselnde Adagio die
Macht haben sollte, uns traurig zu machen -- wer möchte dann länger so
leben? Blickt eine Tondichtung uns an mit klaren Augen der Schönheit, so
erfreuen wir uns inniglich daran, und wenn sie alle Schmerzen des
Jahrhunderts zum Gegenstand hätte. Der lauteste Jubel aber eines
Verdischen Finales oder einer Musardschen Quadrille hat uns nicht immer
froh gemacht.

Der Laie und Gefühlsmensch fragt gerne, ob eine Musik lustig sei oder
traurig -- der Musiker, ob sie gut sei oder schlecht. Dieser kurze
Schlagschatten weist deutlich, auf welch verschiedener Seite beide
Parteien gegen die Sonne stehen.

Wenn wir sagten, daß unser ästhetisches Wohlgefallen an einem Tonstück
sich nach dessen künstlerischem Wert richte, so hindert dies nicht, daß
ein einfacher Hornruf, ein Jodler im Gebirg uns mitunter zu größerem
Entzücken anrufen kann, als die vortrefflichste Symphonie. In diesem
Fall _tritt aber die Musik in die Reihe des Naturschönen_. Nicht als
_dieses bestimmte Gebilde_ in Tönen, sondern als diese bestimmte Art von
_Naturwirkung_ kommt uns das Gehörte entgegen und kann übereinstimmend
mit dem landschaftlichen Charakter der Umgebung und der persönlichen
Stimmung jeden Kunstgenuß an Macht hinter sich zurücklassen. Es gibt
also ein Übergewicht an Eindruck, welches das Elementarische über das
Artistische erreichen kann, allein die Ästhetik, als Lehre vom
Kunstschönen, hat die Musik lediglich von ihrer _künstlerischen_ Seite
aufzufassen, also auch nur jene ihrer Wirkungen anzuerkennen, welche sie
als menschliches Geistesprodukt, durch eine bestimmte Gestaltung jener
elementarischen Faktoren, auf die reine Anschauung hervorbringt.

Die notwendigste Forderung einer ästhetischen Aufnahme der Musik ist
aber, daß man ein Tonstück um _seiner selbst willen höre_, welches es
nun immer sei und mit welcher Auffassung immer. Sobald die Musik nur als
Mittel angewandt wird, eine gewisse Stimmung in uns zu fördern,
akzessorisch, dekorativ, da hört sie auf, als reine Kunst zu wirken. Das
_Elementarische_ der Musik wird unendlich oft mit der _künstlerischen_
Schönheit derselben verwechselt, also ein Teil für das Ganze genommen
und dadurch namenlose Verwirrung verursacht. Hundert Aussprüche, die
über »die Tonkunst« gefällt werden, gelten nicht von dieser, sondern von
der sinnlichen Wirkung ihres Materials.

Wenn _Heinrich der Vierte_ bei Shakespeare (II. Teil. IV. 4.) sich
sterbend Musik machen läßt, so geschieht es wahrlich nicht, um die
vorgetragene Komposition anzuhören, sondern um träumend in deren
gegenstandlosem Element sich zu wiegen. Ebensowenig werden _Porzia_ und
_Bassanio_ (im »Kaufmann von Venedig«) gestimmt sein, während der
verhängnisvollen Kästchenwahl der bestellten Musik Aufmerksamkeit zu
schenken. _J. Strauß_ hat reizende, ja geistreiche Musik in seinen
bessern Walzern niedergelegt, -- sie hört auf, es zu sein, sobald man
lediglich dabei im Takt tanzen will. In allen diesen Fällen ist es ganz
gleichgültig, _welche_ Musik gemacht wird, wenn sie nur den verlangten
Grundcharakter hat. Wo aber Gleichgültigkeit gegen das Individuelle
eintritt, da herrscht _Klangwirkung_, nicht _Tonkunst_. Nur derjenige,
welcher nicht bloß die allgemeine Nachwirkung des Gefühls, sondern die
unvergeßliche, bestimmte Anschauung eben _dieses_ Tonstücks mit sich
nimmt, hat es gehört und genossen. Jene erhebenden Eindrücke auf unser
Gemüt und ihre hohe psychische wie physiologische Bedeutung dürfen nicht
hindern, daß die Kritik überall unterscheide, was bei einer vorhandenen
Wirkung künstlerisch, was elementarisch sei. Eine ästhetische Anschauung
hat Musik nicht sowohl als Ursache, denn als Wirkung aufzufassen, nicht
als Produzierendes, sondern als Produkt.

Ebenso häufig als die elementarische Wirkung der Musik wird deren
maßhaltendes, Ruhe und Bewegung, Dissonanz und Konkordanz vermittelndes,
allgemein harmonisches Wesen mit der Tonkunst selbst verwechselt. Bei
dem gegenwärtigen Stand der Tonkunst und Philosophie dürfen wir uns im
Interesse beider die altgriechische Ausdehnung des Begriffs »Musik« auf
_alle_ Wissenschaft und Kunst, sowie auf die Bildung sämtlicher
Seelenkräfte nicht gestatten. Die berühmte Apologie der Tonkunst im
»Kaufmann von Venedig« (V. I.)[42] beruht auf solcher Verwechselung der
Tonkunst selbst mit dem sie beherrschenden Geist des Wohlklangs, der
Übereinstimmung, des Maßes. Man könnte in ähnlichen Stellen ohne viel
Änderung statt »Musik« auch »Poesie«, »Kunst«, ja »Schönheit« überhaupt
setzen. Daß aus der Reihe der Künste gerade die _Musik_ hervorgeholt zu
werden pflegt, verdankt sie der zweideutigen Macht ihrer Popularität.
Gleich die weiteren Verse der angeführten Rede bezeugen dies, wo die
zähmende Wirkung der Töne auf Bestien sehr gerühmt wird, die Musik also
wieder einmal als Tierbändiger erscheint.

  [42]
      »The man that has no music in himself,
      Nor is not moved with concord of sweet sounds,
      Is fit for treasons, stratagems and spoils;« etc.

Die lehrreichsten Beispiele bieten _Bettinas_ »musikalische
Explosionen«, wie Goethe ihre Briefe über Musik galant bezeichnete. Als
der wahrhafte Prototyp aller vagen Schwärmerei über Musik, zeigt
Bettina, wie ungebührlich man den Begriff dieser Kunst ausdehnen kann,
um sich bequem darum zu tummeln. Mit der Prätension, von der Musik
selbst zu sprechen, redet sie stets von der dunklen Einwirkung, welche
diese auf ihr Gemüt übt, und deren üppige Traumseligkeit sie absichtlich
von jedem forschenden Denken absperrt. In einer Komposition sieht sie
immer ein unerforschliches Naturerzeugnis, nicht ein menschliches
Kunstwerk, und begreift daher Musik nie anders als rein phänomenologisch.
»Musik«, »musikalisch« nennt Bettina unzählige Erscheinungen, die
lediglich ein oder das andere Element der Tonkunst: Wohlklang, Rhythmus,
Gefühlserregung mit ihr gemein haben. Auf diese Faktoren kommt es aber
gar nicht an, sondern auf die spezifische Art, wie sie in künstlerischer
Gestaltung als _Tonkunst_ erscheinen. Es versteht sich von selbst, daß
die musiktrunkene Dame in _Goethe_, ja in _Christus_ große Musiker
sieht, obwohl von letzterem niemand weiß, daß er einer, von ersterem
jedermann, daß er keiner gewesen.

Das Recht historischer Bildungen und poetischer Freiheit halten wir in
Ehren. Wir begreifen, warum _Aristophanes_ in den »Wespen« einen
feingebildeten Geist »den Weisen und Musikalischen« (σοφὸν καὶ μουσικόν)
nennt, und finden den Ausdruck Graf _Reinhardts_ sinnig, _Oehlenschläger_
habe »musikalische Augen«. Wissenschaftliche Betrachtungen jedoch dürfen
der Musik nie einen andern Begriff beilegen oder voraussetzen, als den
_ästhetischen_, wenn nicht alle Hoffnung zur einstigen Feststellung
dieser zitternden Wissenschaft aufgegeben werden soll.



VI.

Die Beziehungen der Tonkunst zur Natur.


Das Verhältnis zur Natur ist für jedes Ding das Erste, das Ehrwürdigste
und das Einflußreichste. Wer auch nur flüchtig an den Puls der Zeit
gefühlt, der weiß, wie die Herrschaft dieser Erkenntnis in mächtigem
Anwachsen begriffen ist. Durch die moderne Forschung geht ein so starker
Zug nach der Naturseite aller Erscheinungen, daß selbst die
abstraktesten Untersuchungen merklich gegen die Methode der
Naturwissenschaften gravitieren. Auch die _Ästhetik_, will sie kein
bloßes Scheinleben führen, muß die knorrige Wurzel kennen, wie die zarte
Faser, an welcher jede einzelne Kunst mit dem Naturgrunde zusammenhängt.
Und gerade für die musikalische Ästhetik erschließt das Verhältnis der
Tonkunst zur Natur die wichtigsten Folgerungen. Die Stellung ihrer
schwierigsten Materien, die Lösung ihrer kontroversesten Fragen hängt
von der richtigen Würdigung dieses Zusammenhanges ab.

Die Künste, -- vorerst als empfangend, noch nicht als rückwirkend
betrachtet -- stehen zu der umgebenden Natur in einer doppelten
Beziehung. Erstens durch das rohe, körperliche Material, aus welchem
sie schaffen, dann durch den schönen Inhalt, den sie für künstlerische
Behandlung vorfinden. In beiden Punkten verhält sich die Natur zu den
Künsten als mütterliche Spenderin der ersten und wichtigsten Mitgift. Es
gilt den Versuch, diese Ausstattung im Interesse der musikalischen
Ästhetik rasch zu besichtigen und zu prüfen, was die vernünftig und
darum ungleich schenkende Natur für die Tonkunst getan hat.

Untersucht man, inwiefern die Natur _Stoff_ für die Musik biete, so
ergibt sich, daß sie dies nur in dem Sinn des rohen Materials tut,
welches der Mensch zum Tönen zwingt. Das stumme Erz der Berge, das Holz
des Waldes, der Tiere Fell und Gedärm sind alles, was wir vorfinden, um
den eigentlichen Baustoff für die Musik, den _reinen_ Ton, zu bereiten.
Wir erhalten also vorerst nur Material zum Material, dies letztere ist
der reine, nach Höhe und Tiefe bestimmte, d. i. meßbare Ton. Er ist
erste und unumgängliche Bedingung jeder Musik. Diese gestaltet ihn zu
_Melodie_ und _Harmonie_, den zwei Hauptfaktoren der Tonkunst. Beide
finden sich in der Natur nicht vor, sie sind Schöpfungen des
Menschengeistes.

Das geordnete Nacheinanderfolgen meßbarer Töne, welches wir _Melodie_
nennen, vernehmen wir in der Natur auch nicht in den dürftigsten
Anfängen; ihre sukzessiven Schallerscheinungen entbehren der
verständlichen Proportion und entziehen sich der Reduktion auf unsere
Skala. Die Melodie aber ist »der springende Punkt«, das Leben, die
erste Kunstgestalt des Tonreichs, an sie ist jede weitere Bestimmtheit,
alle Erfassung des Inhalts geknüpft.

Ebensowenig wie Melodie kennt die Natur, diese großartige Harmonie aller
Erscheinungen, _Harmonie_ im musikalischen Sinn, als Zusammenklingen
bestimmter Töne. Hat jemand in der Natur einen Dreiklang gehört, einen
Sext- oder Septimakkord? Wie die Melodie, so war auch (nur in viel
langsamerem Fortschreiten) die Harmonie ein Erzeugnis menschlichen
Geistes.

Die Griechen kannten keine Harmonie, sondern sangen in der Oktave oder
im Einklang, wie noch heutzutage jene asiatischen Völkerschaften, bei
welchen überhaupt Gesang angetroffen wird. Der Gebrauch der
_Dissonanzen_ (wozu auch _Terz_ und _Sext_ gehörten) begann allmählich
vom 12. Jahrhundert an, und bis ins 15. beschränkte man sich bei
Ausweichungen auf die Oktave. Jedes der Intervalle, die jetzt unserer
Harmonie dienstbar sind, mußte einzeln gewonnen werden, und oft reichte
ein Jahrhundert nicht hin für solch kleine Errungenschaft. Das
kunstgebildetste Volk des Altertums sowie die gelehrtesten Tonsetzer des
früheren Mittelalters konnten nicht, was unsere Hirtinnen auf der
entlegensten Alp: in Terzen singen. Durch die Harmonie aber ist der
Tonkunst nicht etwa ein neues Licht aufgegangen, sondern es ist zum
erstenmal Tag geworden. »Die ganze Tonschöpfung wurde von dieser Zeit an
erst ausgeboren.« (Nägeli.)

Harmonie und Melodie fehlen also in der Natur. Nur ein drittes Element
in der Musik, dasjenige, von dem die beiden ersten getragen werden,
existiert schon vor und außer dem Menschen: der _Rhythmus_. Im Galopp
des Pferdes, dem Klappern der Mühle, dem Gesang der Amsel und Wachtel
äußert sich eine Einheit, zu welcher aufeinander folgende Zeitteilchen
sich zusammenfassen und ein anschauliches Ganze bilden. Nicht alle, aber
viele Lautäußerungen der Natur sind rhythmisch. Und zwar herrscht in ihr
das Gesetz des _zweiteiligen_ Rhythmus, als Hebung und Senkung, Anlauf
und Auslauf. Was diesen Naturrhythmus von der menschlichen Musik trennt,
muß alsbald auffallen. In der _Musik_ gibt es nämlich keinen isolierten
Rhythmus als solchen, sondern nur Melodie und Harmonie, welche
rhythmisch sich äußert. In der Natur dagegen trägt der Rhythmus weder
Melodie noch Harmonie, sondern nur unmeßbare Luftschwingungen. Der
Rhythmus, das einzige musikalische Urelement in der Natur, ist auch das
erste, so im Menschen erwacht, im Kinde, im Wilden am frühesten sich
entwickelt. Wenn die Südsee-Insulaner mit Metallstücken und Holzstäben
rhythmisch klappern und dazu ein unfaßliches Geheul ausstoßen, so ist
das _natürliche_ Musik; denn es ist eben _keine Musik_. Was wir aber
einen Tiroler Bauer singen hören, zu welchem anscheinend keine Spur von
Kunst gedrungen, ist durchaus _künstliche Musik_. Der Mann meint
freilich, er singe, wie ihm der Schnabel gewachsen ist: aber damit dies
möglich wurde, mußte die Saat von Jahrhunderten wachsen.

Wir hätten somit die notwendigen Elementarbestandteile unserer Musik
betrachtet und gefunden, daß der Mensch von der ihn umgebenden Natur
nicht musizieren lernte. In welcher Art und Folge sich unser heutiges
Tonsystem ausgebildet hat, lehrt die Geschichte der Tonkunst. Wir haben
diese Nachweisung vorauszusetzen und nur ihr Ergebnis festzuhalten, daß
Melodie und Harmonie, daß unsere Intervallenverhältnisse und Tonleiter,
die Teilung von Dur und Moll nach der verschiedenen Stellung des
Halbtons, endlich die schwebende Temperatur, ohne welche unsere
(europäisch-abendländische) Musik unmöglich wäre, langsam und allmählich
entstandene Schöpfungen des menschlichen Geistes sind. Die Natur hat dem
Menschen nur die Organe und die Lust zum Singen mitgegeben, dazu die
Fähigkeit, sich auf Grundlage der einfachsten Verhältnisse nach und nach
ein Tonsystem zu bilden. Nur diese einfachsten Verhältnisse (Dreiklang,
harmonische Progression) werden als unwandelbare Grundpfeiler jedem
künftigen Weiterbau bleiben. -- Man hüte sich vor der Verwechselung, als
_ob dieses_ (gegenwärtige) _Tonsystem selbst_ notwendig in der Natur
läge. Die Erfahrung, daß selbst Naturalisten heutzutage mit den
musikalischen Verhältnissen unbewußt und leicht hantieren wie mit
angeborenen Kräften, die sich von selbst verstehen, stempelt die
herrschenden Tongesetze keineswegs zu Naturgesetzen; es ist dies
bereits Folge der unendlich verbreiteten musikalischen Kultur. _Hand_
bemerkt ganz richtig, daß darum auch unsere Kinder in der Wiege schon
besser singen als erwachsene Wilde. »Läge die Tonfolge der Musik in der
Natur fertig vor, so sänge auch jeder Mensch immer rein.«[43]

  [43] _Hand_, Ästh. d. T. I. 50. Ebendaselbst wird passend angeführt,
  daß die Gälen in Schottland mit den indischen Völkerstämmen den Mangel
  der Quart und Septime teilen, die Folge ihrer Töne also _cdegac_
  lautet. Bei den körperlich sehr ausgebildeten Patagoniern im südlichen
  Amerika findet sich keine Spur von Musik oder Gesang. -- Sehr
  gründlich und im Resultat ganz übereinstimmend mit dem Obigen ist die
  Entwickelung unseres Tonsystems neuerdings von _Helmholtz_ (»Lehre von
  den Tonempfindungen«) dargelegt worden.

Wenn man unser Tonsystem ein »künstliches« nennt, so gebraucht man dies
Wort nicht in dem raffinierten Sinn einer willkürlichen konventionellen
Erfindung. Es bezeichnet bloß ein Gewordenes im Gegensatz zum
Erschaffenen.

Dies übersieht _Hauptmann_, wenn er den Begriff eines künstlichen
Tonsystems einen »durchaus nichtigen« nennt, »indem die Musiker
ebensowenig haben Intervalle bestimmen und ein Tonsystem erfinden
können, als die Sprachgelehrten die Worte der Sprache und die
Sprachfügung erfunden haben«.[44] Gerade die Sprache ist in demselben
Sinne wie die Musik ein künstliches Erzeugnis, indem beide nicht in der
äußeren Natur vorgebildet liegen, sondern allmählich geworden sind und
erlernt werden müssen. Nicht die Sprachgelehrten, aber die Nationen
bilden sich ihre Sprache nach ihrem Charakter und ändern sie
vervollkommnend immerfort. So haben auch die »Tongelehrten« unsere Musik
nicht »errichtet«, sondern lediglich das fixiert und begründet, was der
allgemeine, musikalisch befähigte Geist mit Vernünftigkeit, aber nicht
mit Notwendigkeit unbewußt ersonnen hatte.[45] Aus diesem Prozeß ergibt
sich, daß auch unser Tonsystem im Zeitverlauf neue Bereicherungen und
Veränderungen erfahren wird. Doch sind innerhalb der gegenwärtigen
Gesetze noch so vielfache und große Evolutionen möglich, daß eine
Änderung im _Wesen_ des Systems sehr fernliegend erscheinen dürfte.
Bestände z. B. die Bereicherung in der »Emanzipation der Vierteltöne«,
wovon eine moderne Schriftstellerin schon Andeutungen bei _Chopin_
finden will,[46] so würden Theorie, Kompositionslehre und Ästhetik der
Musik eine total andere. Der musikalische Theoretiker kann daher
gegenwärtig den Ausblick auf diese Zukunft noch kaum anders frei lassen,
als durch die einfache Anerkennung ihrer Möglichkeit.

  [44] _M. Hauptmann_, Die Natur der Harmonik und Metrik. 1853. S. 7.

  [45] Unsere Ansicht stimmt mit den Forschungen _Jacob Grimms_ überein,
  welcher u. a. andeutet: »Wer nun die Überzeugung gewonnen hat, daß die
  Sprache freie Menschenerfindung war, wird auch nicht zweifeln über die
  Quelle der Poesie und _Tonkunst_.« (Ursprung der Sprache. 1852.)

  [46] _Johanna Kinkel_, Acht Briefe über Klavierunterricht. 1852,
  Cotta.

Unserem Ausspruch, es gebe keine Musik in der Natur, wird man den
Reichtum mannigfaltiger Stimmen einwenden, welche die Natur so wunderbar
beleben. Sollte das Rieseln des Baches, das Klatschen der Meereswellen,
der Donner der Lawinen, das Stürmen der Windsbraut nicht Anlaß und
Vorbild der menschlichen Musik gewesen sein? Hatten all' die lispelnden,
pfeifenden, schmetternden Laute mit unserem Musikwesen nichts zu
schaffen? Wir müssen in der Tat mit Nein antworten. Alle diese
Äußerungen der Natur sind lediglich _Schall_ und _Klang_, d. h. in
ungleichen Zeitteilen aufeinander folgende Luftschwingungen. Höchst
selten und dann nur isoliert bringt die Natur einen _Ton_ hervor, d. i.
einen Klang von bestimmter, meßbarer Höhe und Tiefe. Töne sind aber die
Grundbedingungen aller Musik. Mögen diese Klangäußerungen der Musik noch
so mächtig oder reizend das Gemüt anregen, sie sind keine Stufe zur
menschlichen Musik, sondern lediglich elementarische Andeutungen einer
solchen, welche allerdings später für die ausgebildete menschliche Musik
oft sehr kräftige Anregungen bieten. Selbst die reinste Erscheinung des
natürlichen Tonlebens, der Vogelgesang, steht zur menschlichen Musik in
keinem Bezug, da er unserer Skala nicht angepaßt werden kann. Auch das
Phänomen der Naturharmonie -- jedenfalls die einzige und unumstößliche
Naturgrundlage, auf welcher die Hauptverhältnisse unserer Musik beruhen
-- ist auf seine richtige Bedeutung zurückzuführen. Die harmonische
Progression erzeugt sich auf der gleichbesaiteten Äolsharfe von selbst,
gründet also auf einem Naturgesetz, allein das Phänomen selbst hört man
nirgend von der Natur unmittelbar erzeugt. Sobald nicht auf einem
musikalischen Instrument ein bestimmter, meßbarer Grundton angeschlagen
wird, erscheinen auch keine sympathischen Nebentöne, keine harmonische
Progression. Der Mensch muß also fragen, damit die Natur Antwort gebe.
Die Erscheinung des Echo erklärt sich noch einfacher. Es ist merkwürdig,
wie selbst tüchtige Schriftsteller sich von dem Gedanken einer
eigentlichen »Musik« in der Natur nicht losmachen können. Selbst _Hand_,
von dem wir absichtlich früher Beispiele zitierten, welche seine
richtige Einsicht in das inkommensurable, kunstunfähige Wesen der
natürlichen Schallerscheinungen dartun, bringt ein eigenes Kapitel »von
der Musik der Natur«, deren Schallerscheinungen »gewissermaßen« auch
Musik genannt werden müssen. Ebenso Krüger.[47] Wo es sich aber um
Prinzipienfragen handelt, da gibt es kein »gewissermaßen«; was wir in
der Natur vernehmen, _ist_ entweder Musik, oder es ist _keine_ Musik.
Das entscheidende Moment kann nur in die Meßbarkeit des Tons gelegt
werden. _Hand_ legt den Nachdruck überall auf die »geistige Beseelung«,
»den Ausdruck inneren Lebens, innerer Empfindung«, »die Kraft der
Selbsttätigkeit, wodurch unmittelbar ein Inneres zur Aussprache
gelangt«. Nach diesem Prinzip müßte der Vogelgesang Musik genannt
werden, die mechanische Spieluhr hingegen nicht; während gerade das
Entgegengesetzte wahr ist.

  [47] Beiträge für Leben und Wissenschaft der Tonkunst, S. 149 ff.

Die »Musik« der Natur und die Tonkunst des Menschen sind zwei
verschiedene Gebiete. Der Übergang von der ersten zur zweiten geht durch
die _Mathematik_. Ein wichtiger, folgenreicher Satz. Freilich darf man
ihn nicht so denken, als hätte der Mensch seine Töne durch absichtlich
angestellte Berechnungen geordnet; es geschah dies vielmehr durch
unbewußte Anwendung ursprünglicher Größen- und Verhältnisvorstellungen
durch ein verborgenes Messen und Zählen, dessen Gesetzmäßigkeit erst
später die Wissenschaft konstatierte.

Dadurch, daß in der Musik alles kommensurabel sein muß, in den
Naturlauten aber nichts kommensurabel ist, stehen diese beiden
Schallreiche fast unvermittelt nebeneinander. Die Natur gibt uns nicht
das künstlerische Material eines fertigen, vorgebildeten Tonsystems,
sondern nur den rohen Stoff der Körper, die wir der Musik dienstbar
machen. Nicht die Stimmen der Tiere, sondern ihre Gedärme sind uns
wichtig, und das Tier, dem die Musik am meisten verdankt, ist nicht die
Nachtigall, sondern das Schaf.

Nach dieser Untersuchung, welche für das Verhältnis des
Musikalisch-Schönen nur ein Unterbau, aber ein notwendiger, war, heben
wir uns eine Stufe höher, auf ästhetisches Gebiet.

Der meßbare Ton und das geordnete Tonsystem sind erst, _womit_ der
Komponist schafft, nicht, _was_ er schafft. Wie Holz und Erz nur
»Stoff« waren für den Ton, so ist der Ton nur »Stoff« (Material) für die
Musik. Es gibt noch eine dritte und höhere Bedeutung von »Stoff«: Stoff
im Sinne des behandelten Gegenstandes, der dargestellten Idee, des
Sujets. Woher nimmt der Komponist _diesen_ Stoff? Woher erwächst einer
bestimmten Tondichtung der Inhalt, der Gegenstand, welcher sie als
Individuum hinstellt und von andern unterscheidet?

Die _Poesie_, die _Malerei_, die _Skulptur_ haben ihren unerschöpflichen
Quell von Stoffen in der uns umgebenden Natur. Der Künstler findet sich
durch irgendein _Naturschönes_ angeregt, es wird ihm Stoff zu eigner
Hervorbringung.

In den _bildenden_ Künsten ist das Vorschaffen der Natur am
auffallendsten. Der Maler könnte keinen Baum, keine Blume zeichnen, wenn
sie nicht schon in der äußeren Natur vorgebildet wären; der Bildhauer
keine Statue, ohne die wirkliche Menschengestalt zu kennen und zum
Muster zu nehmen. Dasselbe gilt von erfundenen Stoffen. Sie können nie
im strengen Sinn »erfunden« sein. Besteht nicht die »ideale« Landschaft
aus Felsen, Bäumen, Wasser und Wolkenzügen, lauter Dingen, die in der
Natur vorgebildet sind? Der Maler kann nichts malen, was er nicht
_gesehen_ und genau beobachtet hat. Gleichviel ob er eine Landschaft
malt oder ein Genrebild, ein Historiengemälde erfindet. Wenn uns
Zeitgenossen einen »Huß«, »Luther«, »Egmont« malen, so haben sie ihren
Gegenstand nie wirklich gesehen, aber für jeden Bestandteil desselben
müssen sie das Vorbild genau der Natur entnommen haben. Der Maler muß
nicht _diesen_ Mann, aber er muß viele Männer gesehen haben, wie sie
sich bewegen, stehen, gehen, beleuchtet werden, Schatten werfen; der
gröbste Vorwurf wäre gewiß die Unmöglichkeit oder Naturwidrigkeit seiner
Figuren.

Dasselbe gilt von der _Dichtkunst_, welche ein noch weit größeres Feld
naturschöner Vorbilder hat. Die Menschen und ihre Handlungen, Gefühle,
Schicksale, wie sie uns durch eigene Wahrnehmungen oder durch Tradition
-- denn auch diese gehört zu dem Vorgefundenen, dem Dichter Dargebotenen
-- gebracht werden, sind Stoff für das Gedicht, die Tragödie, den Roman.
Der Dichter kann keinen Sonnenaufgang, kein Schneefeld beschreiben,
keinen Gefühlszustand schildern, keinen Bauer, Soldaten, Geizigen,
Verliebten auf die Bühne bringen, wenn er nicht die Vorbilder dazu in
der Natur gesehen und studiert oder durch richtige Traditionen so in
seiner Phantasie belebt hat, daß sie die unmittelbare Anschauung
ersetzen.

Stellen wir nun diesen Künsten die _Musik_ entgegen, so erkennen wir,
daß sie ein Vorbild, einen Stoff für ihre Werke nirgend vorfindet.

_Es gibt kein Naturschönes für die Musik._

Dieser Unterschied zwischen der Musik und den übrigen Künsten (nur die
_Baukunst_ findet gleichfalls kein Vorbild in der Natur) ist tiefgehend
und folgenschwer.

Das Schaffen des Malers, des Dichters ist ein stetes (inneres oder
wirkliches) Nachzeichnen, Nachformen, -- etwas _nachzumusizieren_ gibt
es in der Natur nicht. Die Natur kennt keine Sonate, keine Ouvertüre,
kein Rondo. Wohl aber Landschaften, Genrebilder, Idyllen, Trauerspiele.
Der aristotelische Satz von der Naturnachahmung in der Kunst, welcher
noch bei den Philosophen des vorigen Jahrhunderts gang und gäbe war, ist
längst berichtigt und bedarf, bis zum Überdruß abgedroschen, hier keiner
weiteren Erörterung. Nicht sklavisch nachbilden soll die Kunst die
Natur, sie hat sie _umzubilden_. Der Ausdruck zeigt schon, daß _vor_ der
Kunst etwas da sein mußte, was umgebildet wird. Dies ist eben das von
der Natur dargebotene Vorbild, das Naturschöne. Der Maler findet sich
von einer reizenden Landschaft, einer Gruppe, einem Gedicht, der Dichter
von einer historischen Begebenheit, einem Erlebnis, zur künstlichen
Darstellung des Vorgefundenen veranlaßt. Bei welcher Naturbetrachtung
könnte aber der _Tonsetzer_ jemals ausrufen: das ist ein prächtiges
Vorbild für eine Ouvertüre, eine Symphonie! Der Komponist kann gar
nichts _umbilden_, er muß alles _neu erschaffen_. Was der Maler, der
Dichter in Betrachtung des Naturschönen findet, das muß der Komponist
durch Konzentration seines Innern herausarbeiten. Er muß der guten
Stunde warten, wo es in ihm anfängt zu singen und zu klingen: da wird er
sich versenken und aus sich heraus etwas schaffen, was in der Natur
nicht seinesgleichen hat und daher auch, ungleich den andern Künsten,
geradezu nicht von dieser Welt ist.

Es unterliegt keineswegs eine parteiische Begriffsbestimmung, wenn wir
zu dem »Naturschönen« für den Maler und Dichter den _Menschen_
hinzurechneten, für den Musiker hingegen den kunstvoll aus der
Menschenbrust quellenden Gesang verschwiegen. Der singende Hirt ist
nicht Objekt, sondern schon Subjekt der Kunst. Besteht sein Lied aus
meßbaren, geordneten, wenn noch so einfachen Tonfolgen, so ist's ein
Produkt des Menschengeistes, ob es nun ein Hirtenjunge erfunden hat oder
Beethoven.

Wenn daher ein Komponist wirkliche Nationalmelodien benützt, so ist dies
kein Naturschönes; denn man muß bis zu einem zurückgehen, der sie
erfunden hat, -- woher hatte sie dieser? Fand _er_ ein Vorbild dafür in
der Natur? Dies ist die berechtigte Frage. Die Antwort kann nur
verneinend lauten. Der Volksgesang ist kein Vorgefundenes, kein
Naturschönes, sondern die erste Stufe wirklicher Kunst, _naive Kunst_.
Er ist für die Tonkunst ebensowenig ein von der Natur erzeugtes Vorbild,
wie die mit Kohle an Wachtstuben und Schuttböden geschmierten Blumen und
Soldaten natürliche Vorbilder für die Malerei sind. Beides ist
menschliches Kunstprodukt. Für die Kohlenfiguren lassen die Vorbilder in
der Natur sich nachweisen, für den Volksgesang nicht; man kann nicht
_hinter_ ihn zurückgehen.

Zu einer sehr gangbaren Verwirrung gelangt man, wenn man den Begriff des
»Stoffs« für die Musik in einem angewandten, höheren Sinne nimmt und
darauf hinweist, daß Beethoven wirklich eine Ouvertüre zu Egmont, --
oder damit das Wörtchen »zu« nicht an dramatische Zwecke mahne, -- eine
Musik »Egmont« geschrieben hat, Berlioz einen »König Lear«, Mendelssohn
eine »Melusina«. Haben diese Erzählungen, fragt man, dem Tondichter
nicht ebenso den Stoff geliefert wie dem Dichter? Keineswegs. Dem
Dichter sind diese Gestalten wirkliches Vorbild, das er umbildet, dem
Komponisten bieten sie bloß _Anregung_, und zwar _poetische_ Anregung.
Das Naturschöne für den Tondichter müßte ein _Hörbares_ sein, wie es für
den Maler ein Sichtbares, für den Bildhauer ein Greifbares ist. Nicht
die Gestalt Egmonts, nicht seine Taten, Erlebnisse, Gesinnungen sind
Inhalt der Beethovenschen Ouvertüre, wie dies im _Bilde_ »Egmont«, im
_Drama_ »Egmont« der Fall ist. Der Inhalt der Ouvertüre sind
_Tonreihen_, welche der Komponist vollkommen frei nach musikalischen
Denkgesetzen aus sich erschuf. Sie sind für die ästhetische Betrachtung
ganz unabhängig und selbständig von der Vorstellung »Egmont«, mit
welcher sie lediglich die poetische Phantasie des Tonsetzers in
Zusammenhang gebracht hat, sei es, daß diese Vorstellung auf eine
unerforschliche Weise den Keim zur Erfindung jener Tonreihen gelegt hat,
sei es, daß er diese nachträglich seinem Vorwurf entsprechend fand.
Dieser Zusammenhang ist so lose und willkürlich, daß niemals ein Hörer
des Musikstückes auf dessen angeblichen Gegenstand verfallen würde, wenn
nicht der Autor durch die _ausdrückliche Benennung_ unserer Phantasie im
vorhinein die bestimmte Richtung oktroyierte. _Berlioz_' düstere
Ouvertüre hängt an und für sich mit der Vorstellung »König Lear«
ebensowenig zusammen, als ein Straußscher Walzer. Man kann das nicht
scharf genug aussprechen, da hierüber die irrigsten Ansichten allgemein
sind. Erst mit dem Augenblick erscheint der Straußsche Walzer der
Vorstellung »König Lear« widersprechend, die Berliozsche Ouvertüre
hingegen entsprechend, wo wir diese Musiken mit jener Vorstellung
_vergleichen_. Allein eben zu dieser Vergleichung existiert kein innerer
Anlaß, sondern nur eine ausdrückliche Nötigung vom Autor. Durch eine
bestimmte Überschrift werden wir zur Vergleichung des Musikstückes mit
einem außer ihm stehenden Objekt genötigt, wir müssen es mit einem
bestimmten Maßstab messen, welcher _nicht der musikalische_ ist.

Man darf dann vielleicht sagen, Beethovens Ouvertüre »Prometheus« sei zu
wenig großartig für diesen Vorwurf. Allein nirgend kann man ihr von
innen her beikommen, nirgend ihr eine musikalische Lücke oder
Mangelhaftigkeit nachweisen. Sie ist vollkommen, weil sie ihren
_musikalischen_ Inhalt vollständig ausführt; ihr _dichterisches_ Thema
analog auszuführen ist eine zweite, ganz verschiedene Forderung. Diese
entsteht und verschwindet mit dem Titel. Überdies kann ein solcher
Anspruch an ein Tonwerk mit bestimmter Überschrift nur auf gewisse
charakteristische Eigenschaften lauten: daß die Musik erhaben oder
niedlich, düster oder froh klinge, von einfacher Exposition zu betrübtem
Abschluß sich entwickle usw. An die Dichtkunst oder Malerei stellt der
Stoff die Forderung einer bestimmten konkreten _Individualität_, nicht
bloßer Eigenschaften. Darum wäre es recht wohl denkbar, daß Beethovens
Ouvertüre zu »Egmont« ebenfalls »Wilhelm Tell« oder »Jeanne d'Arc«
überschrieben sein könnte. Das _Drama_ Egmont, das _Bild_ Egmont lassen
höchstens die Verwechslung zu, daß dies ein anderes Individuum in den
gleichen Verhältnissen, nicht aber, daß es ganz andere Verhältnisse
sind.

Man sieht, wie eng das Verhältnis der Musik zum Naturschönen mit der
ganzen Frage von ihrem _Inhalt_ zusammenhängt.

Noch einen Einwand wird man aus der musikalischen Literatur herholen, um
der Musik ein Naturschönes zu vindizieren. Beispiele nämlich, daß
Tonsetzer aus der Natur nicht bloß den poetischen Anlaß geschöpft (wie
in obigen Historien), sondern wirklich hörbare Äußerungen ihres
Tonlebens direkt nachgebildet haben: der Hahnenruf in _Haydns_
Jahreszeiten, Kuckuck, Nachtigall- und Wachtelschlag in _Spohrs_ »Weihe
der Töne« und in _Beethovens_ Pastoralsymphonie. Allein wenn wir gleich
diese Nachahmung _hören_ und in einem _musikalischen_ Kunstwerk hören,
so haben sie doch darin keine musikalische Bedeutung, sondern eine
poetische. Es soll uns der Hahnenschrei alsdann nicht als _schöne_ Musik
oder überhaupt als Musik vorgeführt, sondern nur der Eindruck
zurückgerufen werden, welcher mit jener Naturerscheinung zusammenhängt.
»Ich habe Haydns Schöpfung -- gesehen beinahe«, schreibt _Jean Paul_
nach einer Aufführung dieses Tonwerks an _Thieriot_. Allgemein bekannte
Stichwörter, Zitate sind es, welche uns erinnern: es ist früher Morgen,
laue Sommernacht, Frühling. Ohne diese bloß beschreibende Tendenz hat
nie ein Komponist Naturstimmen direkt zu wirklichen musikalischen
Zwecken verwenden können. Ein _Thema_ können alle Naturstimmen der Erde
zusammen nicht hervorbringen, eben weil sie _keine Musik_ sind,[48] und
bedeutungsvoll erscheint es, daß die Tonkunst von der Natur nur Gebrauch
machen kann, wenn sie in die Malerei pfuscht.

  [48] Von diesem Mißverständnis, den Naturlaut unmittelbar realistisch
  in das Kunstwerk zu übertragen -- was, wie O. Jahn treffend bemerkt,
  nur in seltenen Fällen als Scherz zugestanden werden kann, ist es ja
  gänzlich verschieden und sollte eigentlich nicht Malerei genannt
  werden, wenn gewisse in der Natur gegebene, durch ihren rhythmischen
  oder klanglichen Charakter halb musikalisch wirkende Elemente, wie sie
  im Rauschen und Plätschern des Wassers, im Vogelgesang, in Wind und
  Wetter, im Schwirren der Pfeile, im Schnurren des Spinnrads u. dgl.
  enthalten sind, von den Komponisten -- nicht etwa »nachgeahmt« werden,
  sondern ihnen Impulse zu Motiven von selbständiger Schönheit hergeben,
  welche sie künstlerisch frei konzipieren und durchführen. »Dieses
  Rechts bedient sich der Dichter in der Sprache wie im Rhythmus; in der
  Musik greift es aber noch viel weiter, weil der musikalischen Elemente
  viele durch die ganze Natur zerstreut sind«, und herrliche Beispiele
  aus unseren klassischen nicht minder wie aus unseren modernen
  Komponisten (die nur ungleich raffinierter verfahren als jene) sind
  jedem in Fülle gegenwärtig.



VII.

Die Begriffe »Inhalt« und »Form« in der Musik.


_Hat die Musik einen Inhalt?_

So lautet, seit man gewohnt ist, über unsere Kunst nachzudenken, ihre
hitzigste Streitfrage. Sie wurde für und wider entschieden. Gewichtige
Stimmen behaupten die Inhaltslosigkeit der Musik, sie gehören beinahe
durchaus den _Philosophen_: _Rousseau_, _Kant_, _Hegel_, _Herbart_,[49]
_Kahlert_ u. a. Von den zahlreichen Physiologen, welche diese
Überzeugungen unterstützen, sind uns die durch musikalische Bildung
hervorragenden Denker _Lotze_ und _Helmholtz_ die wichtigsten. Die
ungleich zahlreicheren Kämpfer fechten für den _Inhalt_ der Tonkunst! es
sind die eigentlichen _Musiker_ unter den Schriftstellern, und das Gros
der allgemeinen Überzeugung steht zu ihnen.

  [49] Auf _Herbart_schen Grundlagen hat in neuester Zeit _Robert
  Zimmermann_ in seiner »_Allgemeinen Ästhetik als Formwissenschaft_«
  (Wien 1865) das formale Prinzip in strenger Konsequenz in allen
  Künsten, somit auch in der Musik, durchgeführt.

Fast mag es seltsam erscheinen, daß gerade diejenigen, welchen die
technischen Bestimmungen der Musik vertraut sind, sich nicht von dem
Irrtum einer diesen Bedingungen widersprechenden Ansicht lossagen
mögen, die man eher den abstrakten Philosophen verzeihen könnte. Das
kommt daher, weil es vielen Musikschriftstellern in diesem Punkt mehr um
die vermeintliche Ehre ihrer Kunst, als um die Wahrheit zu tun ist. Sie
befehden die Lehre von der Inhaltlosigkeit der Musik nicht wie Meinung
gegen Meinung, sondern wie Ketzerei gegen Dogma. Die gegnerische Ansicht
erscheint ihnen als unwürdiges Mißverstehen, als grober, frevelnder
Materialismus. »Wie, die Kunst, die uns hoch erhebt und begeistert, der
so viele edle Geister ihr Leben gewidmet, die den höchsten Ideen
dienstbar werden kann, sie sollte mit dem Fluch der Inhaltlosigkeit
beladen sein, bloßes Spielwerk der Sinne, leeres Geklingel!?« Mit derlei
vielgehörten Ausrufungen, wie sie meist koppelweise losgelassen werden,
obwohl ein Satz zum andern nicht gehört, wird nichts widerlegt noch
bewiesen. Es handelt sich hier um keinen Ehrenpunkt, kein Parteizeichen,
sondern einfach um die Erkenntnis des Wahren, und zu dieser zu gelangen,
muß man sich vor allem über die Begriffe klar sein, die man bestreitet.

Die Verwechslung der Begriffe: _Inhalt_, _Gegenstand_, _Stoff_ ist es,
was in der Materie so viel Unklarheit verursacht hat und noch immer
veranlaßt, da jeder für denselben Begriff eine andere Bezeichnung
gebraucht, oder mit dem gleichen Wort verschiedene Vorstellungen
verbindet. »_Inhalt_« im ursprünglichen und eigentlichen Sinne ist: was
ein Ding _enthält_, in sich hält. In dieser Bedeutung sind die _Töne_,
aus welchen ein Musikstück besteht, welche als dessen Teile es zum
Ganzen bilden, der Inhalt desselben. Daß sich mit dieser Antwort niemand
zufriedenstellen mag, sie als etwas ganz Selbstverständliches
abfertigend, hat seinen Grund darin, daß man gemeiniglich den »Inhalt«
mit »Gegenstand« verwechselt. Bei der Frage nach dem »Inhalt« der Musik
hat man die Vorstellung von »_Gegenstand_« (Stoff, Sujet) im Sinne,
welchen man als die Idee, das Ideale, den Tönen als »materiellen
Bestandteilen« geradezu entgegengesetzt. Einen Inhalt in dieser
Bedeutung, einen _Stoff_ im Sinne des behandelten Gegenstandes hat die
Tonkunst in der Tat nicht. _Kahlert_ stützt sich mit Recht nachdrücklich
darauf, daß sich von der Musik nicht, wie vom Gemälde, eine
»Wortbeschreibung« liefern läßt (Ästh. 380), wenngleich seine weitere
Annahme irrig ist, daß solche Wortbeschreibung jemals eine »Abhilfe für
den fehlenden Kunstgenuß« bieten könne. Aber eine erklärende
Verständigung, um was es sich handelt, kann sie bieten. Die Frage nach
dem »Was« des musikalischen Inhaltes müßte sich notwendig in Worten
beantworten lassen, wenn das Musikstück wirklich einen »Inhalt« (einen
_Gegenstand_) hätte. Denn ein »unbestimmter Inhalt«, den sich jedermann
als etwas anderes denken kann, der sich nur fühlen, nicht in Worten
wiedergeben läßt, ist eben kein Inhalt in der genannten Bedeutung.

Die Musik besteht aus Tonreihen, Tonformen, diese haben keinen andern
Inhalt als sich selbst. Sie erinnern abermals an die Baukunst und den
Tanz, die uns gleichfalls schöne Verhältnisse ohne bestimmten Inhalt
entgegenbringen. Mag nun die Wirkung eines Tonstücks jeder nach seiner
Individualität anschlagen und benennen, der _Inhalt_ desselben ist
keiner, als eben die gehörten Tonformen; denn die Musik spricht nicht
bloß _durch_ Töne, sie spricht auch _nur_ Töne.

_Krüger_, wohl der kenntnisreichste Verfechter des musikalischen
»Inhalts« gegen Hegel und Kahlert, behauptet, die Musik gebe bloß eine
andere _Seite_ desselben Inhalts, welcher den übrigen Künsten, z. B. der
Malerei, zusteht. »Jede plastische Gestalt«, sagt er (Beiträge, 131),
»ist eine ruhende: sie gibt nicht die Handlung, sondern die gewesene
Handlung oder das Seiende. Also nicht: Apollo überwindet, sagt das
Gemälde aus, sondern es zeigt den Überwinder, den zornigen Kämpfer« usw.
Hingegen »die Musik gibt zu jenen stillstehenden plastischen
Substantiven das Verbum, die Tätigkeit, das innere Wogen hinzu, und wenn
wir dort als den wahren ruhenden Inhalt erkannt haben: zürnend, liebend,
so erkennen wir hier nicht minder den wahren bewegenden Inhalt: zürnt,
liebt, rauscht, wogt, stürmt.« Letzteres ist nur bis zur Hälfte richtig:
»rauschen, wogen und stürmen« kann die Musik, aber »zürnen« und »lieben«
kann sie nicht. Das sind schon hineingefühlte Leidenschaften. Wir müssen
hier auf unser zweites Kapitel zurückweisen. _Krüger_ fährt fort, der
Bestimmtheit des _gemalten_ Inhalts die des _musizierten_ an die Seite
zu stellen. Er sagt: »Der _Bildner_ stellt Orest von Furien verfolgt
dar: es erscheint auf der Außenfläche seines Leibes, in Auge, Mund,
Stirn und Haltung der Ausdruck des Flüchtigen, Düstern, Verzweifelten,
neben ihm die Gestalten des Fluchs, die ihn beherrschen, in gebietender,
furchtbarer Hoheit, ebenfalls äußerlich in verharrenden Umrissen,
Gesichtszügen, Stellungen. Der _Tondichter_ stellt Orest den Verfolgten
nicht im beruhenden Umriß hin, sondern nach der Seite, die dem Bildner
fehlt: er singt das Grausen und Beben seiner Seele, die fliehend
kämpfende Regung« usf. Dies ist meines Erachtens ganz falsch. Der
Tonkünstler kann den _Orestes_ weder so noch so, er kann ihn _gar nicht_
darstellen.

Man wende nicht ein, daß ja auch die bildenden Künste uns die bestimmte,
historische Person nicht zu geben vermögen, und wir die gemalte Gestalt
nicht als _dieses_ Individuum erkennen würden, brächten wir nicht die
Kenntnis des Historisch-Tatsächlichen hinzu. Freilich ist es nicht
_Orest_, der Mann mit _diesen_ Erlebnissen und bestimmten biographischen
Momenten; diesen kann nur der _Dichter_ darstellen, weil nur er zu
erzählen vermag. Allein das _Bild_ »Orest« zeigt uns doch unverkennbar
einen Jüngling mit edlen Zügen, in griechischem Gewand, Angst und
Seelenpein in den Mienen und Bewegungen, es zeigt uns die furchtbaren
Gestalten der Rachegöttinnen, ihn verfolgend und quälend. Dies alles
ist klar, unzweifelhaft, sichtlich erzählbar -- ob nun der Mann Orest
heiße oder anders. Nur die Motive: daß der Jüngling einen Muttermord
begangen usw., sind nicht ausdrückbar. Was kann die Tonkunst jenem
sichtbaren (vom Historischen abstrahierten) Inhalt des Gemäldes an
Bestimmtheit entgegensetzen? Verminderte Septimakkorde, Mollthemen,
wogende Bässe u. dgl., kurz musikalische Formen, welche ebensogut ein
Weib, anstatt eines Jünglings, einen von Häschern anstatt von Furien
Verfolgten, einen Eifersüchtigen, Rachesinnenden, einen von körperlichem
Schmerz Gequälten, kurz alles Erdenkliche bedeuten können, wenn man
schon das Tonstück etwas will bedeuten lassen.

Es bedarf wohl auch nicht der ausdrücklichen Berufung auf den früher
begründeten Satz, daß, wenn vom Inhalt und der Darstellungsfähigkeit der
Tonkunst die Rede ist, nur von der reinen _Instrumentalmusik_
ausgegangen werden darf. Niemand wird dies so weit vergessen, uns z. B.
den Orestes in Glucks »Iphigenia« einzuwenden. Diesen »Orestes« gibt ja
nicht der _Komponist_; die Worte des Dichters, Gestalt und Mimik des
Darstellers, Kostüm und Dekorationen des Malers -- dies ist's, was den
Orestes fertig hinstellt. Was der Musiker hinzugibt, ist vielleicht das
_Schönste_ von allem, aber es ist gerade das Einzige, was nichts mit dem
wirklichen Orest zu schaffen hat: Gesang.

_Lessing_ hat mit wunderbarer Klarheit auseinandergesetzt, was der
Dichter und was der bildende Künstler aus der Geschichte des Laokoon zu
machen vermag. Der Dichter, durch das Mittel der Sprache, gibt den
historischen, individuell bestimmten Laokoon, der Maler und Bildhauer
hingegen einen Greis mit zwei Knaben (von _diesem_ bestimmten Alter,
Aussehen, Kostüm usf.), von den furchtbaren Schlangen umwunden, in
Mienen, Stellung und Gebärden die Qual des nahenden Todes ausdrückend.
Vom _Musiker_ sagt Lessing nichts. Ganz begreiflich; denn nichts ist es
eben, was dieser aus dem Laokoon machen kann.

Wir haben bereits angedeutet, wie eng die Frage nach dem _Inhalt_ der
Tonkunst mit deren Stellung zum _Naturschönen_ zusammenhängt. Der
Musiker findet nirgend das Vorbild für seine Kunst, welches den anderen
Künsten die Bestimmtheit und Erkennbarkeit ihres Inhalts gewährleistet.
Eine Kunst, der das vorbildende Naturschöne abgeht, wird im eigentlichen
Sinne körperlos sein. Das Urbild ihrer Erscheinungsform begegnet uns
nirgend, fehlt daher in dem Kreis unserer gesammelten Begriffe. Es
wiederholt keinen bereits bekannten, benannten Gegenstand, darum hat
Musik für unser in bestimmte Begriffe gefaßtes Denken keinen nennbaren
Inhalt.

Vom _Inhalt_ eines Kunstwerkes kann eigentlich nur da die Rede sein, wo
man diesen Inhalt einer _Form_ entgegenhält. Die Begriffe »Inhalt« und
»Form« bedingen und ergänzen einander. Wo nicht eine Form von einem
Inhalt dem Denken trennbar erscheint, da existiert auch kein
selbständiger Inhalt. In der Musik aber sehen wir Inhalt und Form,
Stoff und Gestaltung, Bild und Idee in dunkler, untrennbarer Einheit
verschmolzen. Dieser Eigentümlichkeit der Tonkunst, Form und Inhalt
ungetrennt zu besitzen, stehen die dichtenden und bildenden Künste
schroff gegenüber, welche denselben Gedanken, dasselbe Ereignis in
verschiedener Form darstellen können. Aus der Geschichte des Wilhelm
Tell machte _Florian_ einen historischen Roman, _Schiller_ ein Drama,
_Goethe_ begann sie als Epos zu bearbeiten. Der Inhalt ist überall
derselbe, in Prosa aufzulösende, erzählbare, erkennbare; die Form ist
verschieden. Die dem Meer entsteigende Aphrodite ist der gleiche Inhalt
unzähliger gemalter und gemeißelter Kunstwerke, die durch die
verschiedene Form nicht zu verwechseln sind. Bei der Tonkunst gibt es
keinen Inhalt gegenüber der Form, weil sie keine Form hat außerhalb des
Inhalts. Betrachten wir dies näher.

Die selbständige, ästhetisch nicht weiter teilbare, musikalische
Gedankeneinheit ist in jeder Komposition das _Thema_. Die primitiven
Bestimmungen, die man der _Musik_ als solcher zuschreibt, müssen sich
immer schon am _Thema_, dem musikalischen Mikrokosmus, nachweisbar
finden. Hören wir irgendein Hauptthema, z. B. zu Beethovens
B-dur-Symphonie. Was ist dessen Inhalt? Was seine Form? Wo fängt diese
an, wo hört jener auf? Daß ein bestimmtes Gefühl nicht Inhalt des Satzes
sei, hoffen wir dargetan zu haben, und wird in diesem wie in jedem
andern konkreten Fall nur immer einleuchtender erscheinen. Was also will
man den _Inhalt_ nennen? Die Töne selbst? Gewiß; allein sie sind eben
schon geformt. Was die _Form_? Wieder die Töne selbst, -- sie aber sind
schon _erfüllte_ Form.

Jeder praktische Versuch, in einem Thema Form von Inhalt trennen zu
wollen, führt auf Widerspruch oder Willkür. Zum Beispiel: wechselt ein
Motiv, das von einem andern Instrument oder in einer höheren Oktave
wiederholt wird, seinen Inhalt oder seine _Form_? Behauptet man, wie
zumeist geschieht, das letztere, so bliebe als _Inhalt_ des Motivs bloß
die Intervallenreihe als solche, als Schema der Notenköpfe, wie sie in
der Partitur dem Auge sich darstellt. Dies ist aber keine _musikalische_
Bestimmtheit, sondern ein Abstraktum. Es verhält sich damit, wie mit den
gefärbten Glasfenstern eines Pavillons, durch welche man dieselbe Gegend
rot, blau, gelb erblicken kann. Diese ändert hierdurch weder ihren
_Inhalt_, noch ihre _Form_, sondern lediglich die _Färbung_. Solch
zahlloser Farbenwechsel derselben Formen vom grellsten Kontrast bis zur
feinsten Schattierung ist der Musik ganz eigentümlich und macht eine der
reichsten und ausgebildetsten Seiten ihrer Wirksamkeit aus.

Eine für Klavier entworfene Melodie, die ein zweiter später
instrumentiert, bekommt durch ihn ebenfalls eine _neue_ Form, aber nicht
erst _Form_; sie ist schon geformter Gedanke. Noch weniger wird man
behaupten wollen, ein Thema ändere durch Transposition seinen _Inhalt_
und behalte die Form, da sich bei dieser Ansicht die Widersprüche
verdoppeln und der Hörer augenblicklich erwidern muß, er erkenne einen
ihm bekannten Inhalt, nur »klinge er verändert«.

Bei ganzen Kompositionen, namentlich größerer Ausdehnung, pflegt man
freilich von deren Form und Inhalt zu sprechen. Dann gebraucht man aber
diese Begriffe nicht in ihrem ursprünglichen logischen Sinne, sondern
schon in einer spezifisch _musikalischen_ Bedeutung. Die »Form« einer
Symphonie, Ouvertüre, Sonate, Arie, eines Chors usw. nennt man die
Architektonik der verbundenen Einzelteile und Gruppen, aus welchen das
Tonstück besteht, näher also: die Symmetrie dieser Teile in ihrer
Reihenfolge, Kontrastierung, Wiederkehr und Durchführung. Als den Inhalt
begreift man aber dann die zu solcher Architektonik verarbeiteten
_Themen_. Hier ist also von einem Inhalt als »Gegenstand« keine Rede
mehr, sondern lediglich von einem musikalischen. Bei ganzen Tonstücken
wird daher »Inhalt« und »Form« in einer künstlerisch angewandten, nicht
in der rein logischen Bedeutung gebraucht; wollen wir _diese_ an den
Begriff der Musik legen, so müssen wir nicht an einem ganzen, daher
zusammengesetzten Kunstwerk operieren, sondern an dessen letztem,
ästhetisch nicht weiter teilbarem Kerne. Dies ist das _Thema_ oder die
Themen. Bei diesen läßt sich in gar keinem Sinne Form und Inhalt
trennen. Will man jemand den »Inhalt« eines Motivs namhaft machen, so
muß man ihm das _Motiv selbst vorspielen_. So kann also der Inhalt
eines Tonwerks niemals gegenständlich, sondern nur musikalisch aufgefaßt
werden, nämlich als das in jedem Musikstück konkret Erklingende. Da die
Komposition formellen Schönheitsgesetzen folgt, so improvisiert sich ihr
Verlauf nicht in willkürlich planlosem Schweifen, sondern entwickelt
sich in organisch übersichtlicher Allmählichkeit wie reiche Blüten aus
Einer Knospe.

Dies ist das _Hauptthema_, -- der wahre Stoff und Inhalt (Gegenstand)
des ganzen Tongebildes. Alles darin ist freie Folge und Wirkung des
Themas, durch dieses bedingt und gestaltet, von ihm beherrscht und
erfüllt. Es ist das selbständige Axiom, das zwar augenblicklich
befriedigt, aber von unserm Geist bestritten und entwickelt gesehen
werden will, was dann in der musikalischen Durchführung, analog einer
logischen Entwickelung, stattfindet. Wie die Hauptfigur eines Romans
bringt der Komponist das Thema in die verschiedensten Lagen und
Umgebungen, in die wechselndsten Erfolge und Stimmungen, -- alles
andere, wenn noch so kontrastierend, ist in bezug darauf gedacht und
gestaltet.

_Inhaltlos_ werden wir demnach etwa jenes freieste Präludieren nennen,
bei welchem der Spieler, mehr ausruhend als schaffend, sich bloß in
Akkorden, Arpeggios, Rosalien ergeht, ohne eine selbständige Tongestalt
bestimmt hervortreten zu lassen. Solch freie Präludien werden als
Individuen nicht erkennbar oder unterscheidbar sein, wir werden sagen
dürfen, sie haben (im weiteren Sinne) keinen Inhalt, weil kein Thema.

Das Thema resp. die Themen eines Tonstückes sind also sein wesentlicher
Inhalt.

In Ästhetik und Kritik wird auf das _Hauptthema_ einer Komposition lange
nicht das gehörige Gewicht gelegt. Das Thema allein offenbart schon den
Geist, der das ganze Werk geschaffen. Wenn ein Beethoven die Ouvertüre
zur »Leonore« so anfängt, oder ein Mendelssohn die Ouvertüre zur
»Fingalshöhle« so, da wird jeder Musiker, ohne von der weiteren
Durchführung noch eine Note zu wissen, ahnen, vor welchem Palast er
steht. Klingt uns aber ein Thema entgegen, wie das zur Fausta-Ouvertüre
von Donizetti oder »Louise Miller« von Verdi, so bedarf es ebenfalls
keines weiteren Eindringens in das Innere, um uns zu überzeugen, daß wir
in der Kneipe sind. In Deutschland legt Theorie und Praxis einen
überwiegenden Wert auf die musikalische Durchführung gegenüber dem
thematischen Gehalt. Was aber nicht (offenkundig oder versteckt) im
Thema ruht, kann später nicht organisch entwickelt werden, und weniger
vielleicht in der Kunst der Entwickelung, als in der symphonischen Kraft
und Fruchtbarkeit der _Themen_ liegt es, daß unsere Zeit keine
Beethovenschen Orchesterwerke mehr aufweist.

Bei der Frage nach dem _Inhalt_ der Tonkunst muß man sich insbesondere
hüten, das Wort in lobender Bedeutung zu nehmen. Daraus, daß die Musik
keinen Inhalt (Gegenstand) hat, folgt nicht, daß sie des _Gehalts_
entbehre. »Geistigen Gehalt« meinen offenbar diejenigen, welche mit dem
Eifer einer Partei für den »Inhalt« der Musik fechten. Wir müssen hier
auf das im 3. Kapitel Gesagte verweisen. Die Musik ist ein Spiel, aber
keine Spielerei. Gedanken und Gefühle rinnen wie Blut in den Adern des
ebenmäßig schönen Tonkörpers; sie sind nicht _er_, sind auch nicht
_sichtbar_, aber sie beleben ihn. Der Komponist _dichtet_ und _denkt_.
Nur dichtet und denkt er, entrückt aller gegenständlichen Realität, in
_Tönen_. Muß doch diese Trivialität hier ausdrücklich wiederholt sein,
weil sie selbst von denjenigen, die sie prinzipiell anerkennen, in den
Konsequenzen allzuhäufig verleugnet und verletzt wird. Sie denken sich
das Komponieren als Übersetzung eines gedachten Stoffs in Töne, während
doch die Töne selbst die unübersetzbare Ursprache sind. Daraus, daß der
Tondichter gezwungen ist, in Tönen zu denken, folgt ja schon die
Inhaltlosigkeit der Tonkunst, indem jeder begriffliche Inhalt in
_Worten_ müßte gedacht werden können.

So strenge wir bei der Untersuchung des _Inhalts_ alle Musik über
gegebene Texte, als dem reinen Begriff der Tonkunst widersprechend,
ausschließen mußten, so unentbehrlich sind die Meisterwerke der
Vokalmusik bei der Würdigung des _Gehaltes_ der Tonkunst. Vom einfachen
Lied bis zur gestaltenreichen Oper und der altehrwürdigen Gottesfeier
durch Kirchenmusik hat die Tonkunst nie aufgehört, die teuersten und
wichtigsten Bewegungen des Menschengeistes zu begleiten und somit
indirekt zu verherrlichen.

Nebst der Vindikation des geistigen _Gehaltes_ muß noch eine zweite
Konsequenz nachdrücklich hervorgehoben werden. Die gegenstandlose
Formschönheit der Musik hindert sie nicht, ihren Schöpfungen
_Individualität_ aufprägen zu können. Die Art der künstlerischen
Bearbeitung, sowie die Erfindung gerade dieses Themas ist in jedem Fall
eine so einzige, daß sie niemals in einer höheren Allgemeinheit
zerfließen kann, sondern als _Individuum_ dasteht. Eine Melodie von
Mozart oder Beethoven ruht so fest und unvermischt auf eigenen Füßen,
wie ein Vers _Goethes_, ein Ausspruch _Lessings_, eine Statue
_Thorwaldsens_, ein Bild _Overbecks_. Die selbständigen musikalischen
Gedanken (Themen) haben die Sicherheit eines Zitats und die
Anschaulichkeit eines Gemäldes; sie sind individuell, persönlich, ewig.

Wenn wir daher schon _Hegels_ Ansicht von der Gehaltlosigkeit der
Tonkunst nicht teilen können, so scheint es uns noch irrtümlicher, daß
er dieser Kunst nur die Aussprache des »individualitätslosen Innern«
zuweist. Selbst von _Hegels_ musikalischem Standpunkt, welcher die
wesentlich formende, objektive Tätigkeit des Komponisten übersieht, die
Musik rein als freie Entäußerung der _Subjektivität_ auffassend, folgt
nicht die »Individualitätslosigkeit« derselben, da ja der subjektiv
produzierende Geist wesentlich individuell erscheint.

Wie die Individualität sich in der Wahl und Bearbeitung der
verschiedenen musikalischen Elemente ausprägt, haben wir im 3. Kapitel
berührt. Gegenüber dem _Vorwurf_ der Inhaltlosigkeit also hat die Musik
Inhalt, allein musikalischen, welcher ein nicht geringerer Funke des
göttlichen Feuers ist, als das Schöne jeder andern Kunst. Nur dadurch
aber, daß man jeden andern »Inhalt« der Tonkunst unerbittlich negiert,
rettet man deren »Gehalt«. Denn aus dem unbestimmten Gefühle, worauf
sich jener Inhalt im besten Fall zurückführt, ist ihr eine geistige
Bedeutung nicht abzuleiten, wohl aber aus der bestimmten schönen
Tongestaltung als der freien Schöpfung des Geistes aus geistfähigem
Material.

[ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
  jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
  steht.

    Ton und Rhythmus.« (Ästhethik der Tonkunst, I. Bd. 1837. § 24.)
    Ton und Rhythmus.« (Ästhetik der Tonkunst, I. Bd. 1837. § 24.)

angetan, um als musikalisches Kunstwerk zuf Erden zu wandeln. Was uns an
angetan, um als musikalisches Kunstwerk auf Erden zu wandeln. Was uns an

_erregen kann_ (nicht _muß_), daß wollen wir später, wo vom subjektiven
_erregen kann_ (nicht _muß_), das wollen wir später, wo vom subjektiven

wiederlegen. Und so fort. Heißt dies nun ein bestimmtes Gefühl
widerlegen. Und so fort. Heißt dies nun ein bestimmtes Gefühl

Abstraktionsvermögen des Hörers, daß sich irgendeine dramatisch wirksame
Abstraktionsvermögen des Hörers, das sich irgendeine dramatisch wirksame

  Neues hinzubringt, daß in ureigener Schönheitskraft blättertreibend
  Neues hinzubringt, das in ureigener Schönheitskraft blättertreibend

Mit besonderer Wohlweisheit wird uns bei der Frage von der »Tonmalerei»
Mit besonderer Wohlweisheit wird uns bei der Frage von der »Tonmalerei«

malen, das »Gefühl« aber in Tönen schildern zu wollen, daß der fallende
malen, das »Gefühl« aber in Tönen schildern zu wollen, das der fallende

Schnee, der krähende Hahn, der zuckende Blitz in uns hervorbringt; ist
Schnee, der krähende Hahn, der zuckende Blitz in uns hervorbringt, ist

Politique et de Littérature vom 5. Oktober 1777: «On objecte, qu'il
Politique et de Littérature vom 5. Oktober 1777: »On objecte, qu'il

  Sammlung: »Mémoires pour servir à l'histoire de la Revolution opérée
  Sammlung: »Mémoires pour servir à l'histoire de la Révolution opérée

Grillparzer mit dem Auspruch: »Die von einer _Oper_ eine _rein
Grillparzer mit dem Ausspruch: »Die von einer _Oper_ eine _rein

Ein ganz anderes selbständiges Element, daß wir sogleich näher
Ein ganz anderes selbständiges Element, das wir sogleich näher

ausspricht, so läßt sich von ihr nur mir trocknen technischen
ausspricht, so läßt sich von ihr nur mit trocknen technischen

  (op. 81) trägt bekanntlich die Überschriften »Les adieux, l'abscence,
  (op. 81) trägt bekanntlich die Überschriften »Les adieux, l'absence,

  mit Sicherheit interpretiert. »Das es Momente aus dem Leben eines
  mit Sicherheit interpretiert. »Daß es Momente aus dem Leben eines

schließen, das gewisse musikalische, namentlich rhythmische Verhältnisse
schließen, daß gewisse musikalische, namentlich rhythmische Verhältnisse

  [34] Helmholz, Lehre von den Tonempfindungen. 2. Aufl. 1870. S. 319.
  [34] Helmholtz, Lehre von den Tonempfindungen. 2. Aufl. 1870. S. 319.

      O, it came o er my ear _like the sweet south_,
      O, it came o'er my ear _like the sweet south_,

  enthusiastische Ausrufungen erhält
  enthusiastische Ausrufungen erhält.

Kunstwerk, und bebegreift daher Musik nie anders als rein phänomenologisch.
Kunstwerk, und begreift daher Musik nie anders als rein phänomenologisch.

und Auslauf Was diesen Naturrhythmus von der menschlichen Musik trennt,
und Auslauf. Was diesen Naturrhythmus von der menschlichen Musik trennt,

  [45] Unsere Ansicht stimmt mit den Forschungen _Jacob Grimms_,
  [45] Unsere Ansicht stimmt mit den Forschungen _Jacob Grimms_ überein,

Diesen Unterschied zwischen der Musik und den übrigen Künsten (nur die
Dieser Unterschied zwischen der Musik und den übrigen Künsten (nur die

sind
sind.
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