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Title: Woher die Kindlein kommen
Author: Hoppeler, Hans
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Woher die Kindlein kommen" ***


Woher die Kindlein
kommen.

Der Jugend von 8-12 Jahren erzählt
durch
+Dr. med.+ Hans Hoppeler

Kinderheim Zürichberg.

Sechzehntes bis zwanzigstes Tausend.

[Illustration]

Verlag: _Art. Institut Orell Füßli_, Zürich.


Alle Rechte vorbehalten.

+Copyright 1916 by Art. Institut Orell Füssli, Zürich+



Vorwort an die Eltern.


Die Notwendigkeit, seine Kinder über die Entstehung des Lebens _selber_ zu
belehren, statt diese Aufgabe dem Zufall und der Straße zu überlassen,
wird heutzutage nur noch von wenigen Eltern bestritten. Und doch ergab
kürzlich eine Rundfrage in meinem Kinderpflege-Kurse, daß von den vielen
anwesenden Töchtern nicht einmal fünf Prozent durch ihre Eltern sexuelle
Aufklärung empfangen hatten. Ursache dieser Erscheinung: es kommt vielen
gar schwer vor, den geeigneten Moment, den richtigen Ton, die passenden
Worte zu finden, und so wird die Sache wider besseres Wollen immer
wieder verschoben, bis man plötzliche entdeckt, (-- oder auch jahrelang
_nicht_ entdeckt --), daß Gassenbuben oder gute Kameraden längst einem
zuvorgekommen sind. Wüßten aber die Mütter, _wie_ die Belehrung
ausgefallen, sie würden sich entsetzen. Aus solcher Überlegung heraus
entstand das vorliegende Büchlein, ein offenes Wort an Stelle geheimen
Flüsterns und ungesunden Tuschelns hinter Eltern und Lehrern. Gebt es
euern Kindern nicht zu spät, denn auch das harmloseste Gemüt kann durch
unversehens eintretende unberufene Aufklärung Schaden leiden. -- Wer die
Erzählung zu realistisch findet, bedenke, daß auf diesem Gebiete
Verschleierung und allzu blumenreiche Poesie mit der Realistik der
Straße niemals in Konkurrenz treten können.

Möge die kleine Arbeit segensreich wirken und manchen Kindern ersparen,
was leider vielen von uns Erwachsenen nicht erspart geblieben ist.

_Zürich_, im Juni 1916

                                          +Dr.+ Hans Hoppeler.



Am Gartenzaune eines freundlichen Hauses an der Freien Straße in Zürich
stand ein blonder etwa 40jähriger Herr in dunklem Überzieher, und
blickte durch das kleine Vorgärtchen hinein in die geöffneten Fenster
des Erdgeschosses. Er trug ein braunes Reisetäschlein in der Hand und
kam offenbar vom Bahnhofe. Vielleicht hatte er eine weite Reise hinter
sich, war hungrig und müde. Trotzdem schien er es nicht sehr eilig zu
haben, an sein Ziel zu kommen; denn schon einige Minuten hatte er nun
hier vor dem Hause gestanden, und noch immer machte er keine Anstalten,
weiter zu gehen. Es war aber auch wirklich unterhaltsam und lustig, was
er da drinnen sah. Eine große Zahl Kinder, wohl fünfzig mochten es sein,
saßen da auf langen Bänken, alle mäuschenstill. Die Hände hielten sie
alle auf dem Rücken verschränkt, und gespannt blickten sie nach vorn, um
die prächtige Geschichte vom Zigeunerfriedel zu hören, die ihnen soeben
Tante Emma erzählte. Und wie konnte diese herrliche Tante des
Kindergartens erzählen! Grad' zu hören meinte man all' die Glocken,
Pfeifen, Orgeln und Ausrufer, wenn sie den Jahrmarkt von Goßlingen
schilderte, und Tränen des Mitleids liefen da und dort einem Kinde über
die Wangen, wenn sie vom langen Balthasar berichtete, dem
Zigeunerhauptmann mit dem furchtbar großen Schlapphut, der den Friedel
plagte bei Tag und bei Nacht, bis er seine Seiltänzervorstellungen
gelernt hatte. Auf der zweitvordersten Bank saß Hannchen. Ihre dunklen
Augen funkelten und ihre kleinen Fäustchen waren fest geballt, sodaß die
Fingernägelchen sich tief in die Handballen eingruben. Mit diesen
Fingernägelchen hatte sie vorgestern den Armin gekratzt, als er in
grober Weise ihr Brüderchen die Treppe hinuntergestoßen, und mit diesen
Nägelchen hätte sie jetzt des Balthasars Gesicht furchtbar zugerichtet,
wenn er zur Stelle gewesen wäre. Glühend rot waren ihre Wangen, und der
Atem ging keuchend. Suchend wanderten ihre Augen umher, als ob sie den
bösen Zigeuner irgendwo finden müßten. Da blieb ihr Blick haften an dem
Mann auf der Straße, dem Mann mit dem dunklen Überzieher und dem
Reisetäschchen. Wie gebannt schaute sie ihm einen Moment ins Angesicht.
Da plötzlich fährt sie in die Höhe mit gellendem, jubelndem Schrei.
»Onkel Theophil!« hallte es in mächtigen Tönen durchs Zimmer. Mit zwei
Sprüngen ist Hannchen am Fenster, mit dem dritten steht sie oben auf dem
Gesims, und jetzt -- Tante Emma, die eilends herzurannte, kam längst zu
spät -- jetzt ist sie schon flink wie ein Eichhörnchen herunter
geklettert und dem Onkel in die Arme geflogen. Droben an den Fenstern
standen die Kinder Kopf an Kopf. Vergessen waren Karussel und
Jahrmarktbuden, vergessen Balthasar und Zigeunerfriedel, vergessen ob
dem einen großen Wort: Onkel Theophil! Hatte nicht Hannchen schon oft
und erst gestern wieder von ihm erzählt? Erzählt von ihren prächtigen
Ferien in Basel bei Onkel und Tante? Hatte es nicht einst die
Photographie in die Schule bringen und ihn allen zeigen dürfen, den
prächtigen Onkel? Hatten sie nicht alle einen ganz besonderen Respekt
vor Hannchen und ihren zwei Brüdern, weil sie diesen Onkel besaßen, den
Onkel Theophil? Und jetzt war er da! Und wie bestürzt er aussah, ganz
verlegen und erschrocken. Er hatte ja gar nicht daran gedacht, daß die
Kinder ihn sehen würden, und nun war eine so furchtbare Revolution im
Kindergarten ausgebrochen, alles war außer Rand und Band gekommen nur
wegen ihm. Das hatte er nicht beabsichtigt. Aber das große Durcheinander
währte nicht lange. Tante Emma klatschte in die Hände, und im Nu gab es
Ruhe. »Kinder, nun singen wir dem Onkel ein hübsches Liedchen, ja?«
Begeistert stimmten die Kleinen zu, Tantes Stimmgabel gab den Ton an,
und: »Mir sind chlini Musikante« tönte es alsbald lustig und fröhlich
aus fünfzig kleinen Mäulchen, während hundert flinke Händchen dazu
trompeteten, geigten und aus Leibeskräften trommelten. Kaum war der
letzte Ton verklungen, so verkündete die Kreuzkirche mit vier lauten
Schlägen, daß es Zeit sei, zu schließen. Wohl hätten die Kinder gar zu
gerne noch die Geschichte vom Zigeunerfriedel gehört, aber doch mochten
sie es kaum erwarten, den Onkel ganz aus der Nähe zu sehen. Darum waren
sie alle zufrieden, als ihnen die Tante den Schluß der Geschichte für
morgen in Aussicht stellte und sie nach kurzem entließ. Wie ein
fröhlicher Bergbach stürmten sie zum Tore hinaus, und jedes wollte des
freundlichen Mannes Hand drücken. Hannchen aber sorgte dafür, daß keines
an derselben zu lange hängen blieb; mit großer Beharrlichkeit stieß es
jedes der Kinder nach erfolgtem Gruße wieder weg, um zu zeigen, daß hier
niemand als es das Recht habe, geführt zu werden. Der Trupp setzte sich
in Bewegung, Hannchen immer an Onkels Seite, triumphierend bald links
und bald rechts blickend, als wollte es sagen: »Gäll he, dä g'hört
mine!« Die Gesellschaft wurde allmählich kleiner, indem bei jeder
Wegkreuzung wieder einige Kinder abschwenken mußten, und endlich waren
der Onkel und Hanni allein. Jetzt bogen sie in die Hofackerstraße ein,
und schon sah man das elterliche Haus in der Nähe, als plötzlich in
großen Sprüngen Hannchens siebenjähriger Bruder dahergerannt kam. »Ein
Schwesterchen, ein Schwesterchen!« so rief er schon von weitem; »man
kann nicht hinein, es ist geschlossen, es ist geschlossen, aber es ist
wahr, der Storch hat es gebracht, und er hat die Mutter ins Bein
gebissen, und die Frau Burkhard ist da, und der Herr Doktor ist schon
wieder fort, und er hat eine gelbe Tasche gehabt mit etwas darin, aber
ich weiß nicht was! Und zur Taufe, da dürfen wir Kutsche fahren, und
dann sitze ich vorn auf dem Bock!« »Nein, da sitze ich, ich bin älter
als du,« fiel plötzlich Walter ein, der soeben dazu gekommen war, und
sicherlich hätte es einen artigen Streit abgesetzt, wenn nicht auf
einmal beide den Onkel erkannt hätten. »Onkel Theophil«, jubelten sie,
fielen ihm um den Hals und küßten ihn zum Willkomm. Derweil stob
Hannchen mit Windeseile davon, auf das Haus zu. »O bleib nur da,« riefen
ihm die Buben nach, »oben lassen sie dich doch nicht hinein!« Aber
Hannchen hörte nichts und war schon hinter der Haustüre verschwunden.
Ein neues Schwesterchen, ha wie fein, das mußte sie sehen!

»Wann ist denn das Schwesterchen gekommen?« fragte unterdessen der Onkel
die Knaben. »Heute mittag«, berichtete eifrig Walter, »grad vorhin
kamen wir aus der Schule, da stand oben auf der Treppe die Luise, unser
Mädchen, hob den Finger auf und machte: »Pst, ganz leise, sonst weckt
ihr das neue Schwesterchen; vor einer Stunde hat der Storch es
gebracht!« Und dann sagte sie noch, die Mutter sei krank, wir sollten
nur gleich in den Garten und spielen, aber ohne zu lärmen.« »Ja, und
jetzt sind wir sieben«, rief stolz der kleine Fritz, »sechs und eins
sind sieben, das haben wir gestern in der Schule gelernt.« »Ruft nicht
so laut,« mahnte der Onkel; »seht, da kommt Hannchen schon wieder.«
Richtig, da kam sie, aber ganz mit gesenktem Köpfchen. Sie war wirklich
nicht hineingelassen worden droben, Luise hatte sie wieder
hinuntergeschickt in den Garten, gleich wie die andern. Große Tränen
glänzten in ihren Augen, und als nun der Onkel seine kleine Nichte
liebkosen und trösten wollte, da brach sie in heftiges Schluchzen aus.
»Ich mag den Storch nicht, nie, nie soll er mir kommen, was braucht er
der Mutter weh zu tun?« »Ja, er hat sie ins Bein gebissen,« berichtete
nochmals Fritz. Aber der Onkel schüttelte den Kopf: »Das glaube ich
nicht; wer hat es dir denn gesagt?« »Die Frau Weber im Stockwerk unter
uns, und sie hat ihn ja gesehen.« »Nein, Fritzchen, Frau Weber hat ihn
_nicht_ gesehen,« erwiderte jetzt sehr bestimmt der Onkel. Und, als fiele
ihm plötzlich etwas ein, fuhr er fort: »Kinder wißt ihr was, wir gehen
miteinander ins Gartenhäuschen, ich will euch etwas erzählen, denn laut
spielen und lärmen dürft ihr jetzt doch nicht!« »O ja, o ja, eine
Geschichte, eine Geschichte!« Jubelnd geleiteten die Kinder den Onkel
durch den hübschen Garten zu einem aus leichten Holzlatten gezimmerten
Häuschen, das mit seinem prächtigen grünen Laubdach und den hübschen
grünen Stühlen rings um den runden Gartentisch ein reizendes Plätzchen
war, wie geschaffen zum Geschichten-Erzählen. Aber siehe da, der Tisch
war schon besetzt: Ruth, Elsa und Karl, die drei größeren der sechs
Geschwister, saßen rings herum, und außerdem noch Frieda und Hedwig, die
beiden Cousinen und unzertrennlichen Gefährtinnen der Kinder. Sie
spielten zu Vieren »Eile mit Weile,« während Elsa als fünfte eifrig den
Kampf der Farben verfolgte und jedesmal laut herauslachte, wenn wieder
eines »heimgejagt« wurde. Jetzt sah Elsa auf, erblickte den Onkel, und
mit einem Sprung hing sie ihm am Halse; die andern folgten, und jetzt
wäre der gute Onkel beinahe erstickt unter der Zahl der Arme, die ihn
von allen Seiten umfingen, und unter den Küssen, mit denen ihn seine
zärtlichen kleinen Neffen und Nichten begrüßten. Da schüttelte er mit
einem Ruck alle die krabbligen Kletterer von sich ab, gratulierte ihnen
herzlich zum neuen Schwesterlein, und dann hieß er alle achte absitzen,
während er selbst oben am Tische Platz nahm.

»Onkel, nun erzähl' uns ein Märchen!« rief Walter. »Nein, lieber eine
wahre Geschichte,« übertönte ihn Fritz. »Vor allem wünsche ich, daß ihr
hübsch ruhig seid, während ich rede,« nahm nun der Onkel das Wort. »Ich
erzähle euch heute eine wahre Geschichte, etwas Hohes und Ernstes, etwas
Uraltes und doch immer wieder Neues; ich will euch erzählen, _wie der
liebe Gott die Kinder erschafft_!«

Da wurden die Kinder plötzlich ganz still! Sie dachten an ihr neues
Schwesterlein droben im zarten Bettchen, das sie heute abend zum ersten
Male sehen sollten, und nun durften sie hören, wie der liebe Gott das
kleine Kindlein erschaffen habe. Und nicht von einem Jungen oder Mädchen
sollten sie es vernehmen, sondern vom Onkel, der nie etwas Unwahres
sagte, auf dessen Worte man sich verlassen konnte, wie auf Felsen.
»Wirklich Onkel, das willst du uns erzählen? Weißt du es denn auch ganz
sicher?« fragte ganz glücklich Frieda. »Aber Frieda«, erwiderte
vorwurfsvoll ihre Schwester, »der Onkel weiß doch alles!« »Ich weiß es
auch«, rief fröhlich der kleine Fritz, »der Storch bringt sie!« Da
mußten die Großen herzlich lachen. »O du Dummerle,« meinte Karl, »ein
Storch kann doch gar nicht ein sechs Pfund schweres Kindlein im Schnabel
tragen, er muß froh sein, wenn er stark genug ist, ein fettes,
zappelndes Fröschlein zu halten. Und denke doch vom Himmel bis nach
Zürich, das wäre doch ein furchtbar weiter Weg!« Jetzt aber wehrte sich
Walter wacker für den Storch: »Der Storch bringt sie sicher, ich weiß
es; Tante Selma hat in ihrem Album eine Karte, da sieht man's gemalt.
Aber er trägt das Kind nicht im Schnabel, es reitet auf seinem Rücken!«
Da lachten aber die Großen noch mehr als zuvor. »Ein ganz Kleines kann
ja noch gar nicht sitzen,« versicherten sie; »sogar der Ruedi Brenner
sitzt noch nicht einmal allein, und der ist doch sieben Monate alt.« Da
wurden der Walter und die übrigen Anhänger des Storches ganz kleinlaut
und sagten nichts mehr.

Dafür meldete sich jetzt Hannchen zum Wort. »Ich weiß es; der liebe
Gott hat im Himmel eine große Maschine, mit der macht er die Kinder; und
dann bringen die Engel des Nachts die Kindlein auf die Erde, in alle
Häuser, wo die Leute darum gebeten haben. In unserer Wohnstube hängt ein
Bild, da sieht man gerade, wie ein schöner Engel mit einem Kleinen
hinunterfliegt.«

Und so berichteten die Kinder noch manches, rieten hin und her, aber
keines wußte es recht, wie der liebe Gott die Kindlein macht. Darum
rückte jetzt der Onkel seinen Stuhl zurecht, und indem er freundlich
rings im Kreise herumblickte, wo lauter erwartungsvolle Gesichter auf
ihn gerichtet waren, begann er mit klarer Stimme seine Erzählung und
sagte:

»Zuerst müßt ihr wissen, daß wirklich der Storch keine Kinder bringt.
Ihr kennt ja alle die Geschichte vom Rotkäppchen; aber sie ist nur ein
Märchen, denn ein Wolf kann doch keine Großmutter hinunterschlucken. Und
ihr kennt die Geschichte vom gestiefelten Kater, aber auch sie ist ein
Märchen, denn eine Katze kann doch keine Schuhe anziehen und darin
herumspringen. Und gerade so ist auch die Geschichte vom Storch ein
Märchen, denn ein Storch kann doch keine Kindlein tragen. Man erzählt
das nur zum Spaß den Kleinen, weil sie gerne Märchen hören; aber wenn
die Kinder größer werden, dann sagt man ihnen, daß es nur ein Spaß war.
Es ist grad wie mit dem St. Niklaus. Die Kleinen meinen, der alte Mann
mit dem langen weißen Barte wohne draußen im Walde, und fürchten sich
sehr vor ihm. Aber die größeren Kinder, so wie ihr seid, die wissen
schon, daß es ja gar keinen Niklaus gibt im Walde, und daß das alles
nur Märlein sind.

Also der Storch bringt die Kinder nicht. Aber wer denn? Vielleicht doch
die Engel? Nein, auch die Engel nicht, sonst hätten wir sie sicher schon
oft über den Häusern schweben sehen, denn es kommen ja alle Tage viele
Kindlein zur Welt. Natürlich hätte der liebe Gott Englein genug, aber er
braucht sie zu andern Dingen, und hat eine viel bessere Weise ersonnen,
den Menschen Kindlein zu schenken. Er dachte nämlich: was man geschenkt
bekommt, das freut einen, was man aber selber verdient hat, das freut
einen noch viel mehr. Darum will ich den Menschen die Kindlein nicht
einfach wie ein Geschenk auf den Tisch legen, sondern sie sollen sich
die Kindlein selber verdienen, dann werden sie um so größere Freude an
ihnen haben. Und ihr werdet gleich merken, wie recht der liebe Gott
hatte, als er so dachte.

Denkt euch einmal zwei Knaben, die auf dem Gipfel eines hohen Berges die
Aussicht bewundern. Der eine ist mit der Bahn hinaufgefahren; der andere
aber hat den ganzen langen, steilen Weg zu Fuß gemacht. Welcher von
beiden wird wohl die größere Freude an der prächtigen Aussicht
empfinden? Gewiß der zweite Knabe; denn er hat durch viele Anstrengung
und manchen Schweißtropfen die prächtige Aussicht sozusagen verdient,
sie kommt ihm vor wie ein reicher Lohn für die gehabte Mühe. -- Oder
denkt euch zwei Freunde, von denen jeder eine wertvolle Markensammlung
besitzt. Welcher wird mehr Freude an derselben haben, derjenige, der sie
vom Großvater geschenkt bekommen, oder der, welcher sie selber im Laufe
von Jahren durch viel Fleiß und manchen ersparten Batzen
zusammengetragen hat? Ihr denkt doch auch der letztere, nicht wahr? Und
ihr glaubt doch auch, daß es schöner sein muß, ein Häuschen als eigen zu
besitzen, für das man zwanzig Jahre lang gearbeitet und gespart, als
wenn man es von einem reichen Vetter geerbt hat? Und so könnten wir noch
manche Beispiele nennen, die alle uns dasselbe lehren: _Was wir selber
erarbeitet, durch Anstrengung erworben haben, macht uns größere und
tiefere Freude, als was uns mühelos in den Schoß gefallen ist._

Das weiß nun unser Vater im Himmel, von dem ja alle guten Gaben kommen,
sehr wohl, und darum legt er den Menschen die herrlichsten Gaben, die er
zu schenken hat, die kleinen Kindlein, nicht einfach in den Schoß,
sondern sie müssen sich dieselben verdienen. Zwar nicht so, wie ein
Arbeiter seinen Taglohn verdient; denn ein einziges Kindlein mit seiner
unsterblichen Seele ist viel wertvoller und kostbarer, als alle Arbeit,
die ein Mensch leisten kann. Aber doch so, daß ein Vater und eine Mutter
viel bezahlen müssen, um ein Kindlein zu haben.

Nun fragt ihr aber ganz verwundert: bezahlen? Kann man denn kleine
Kinder um Geld kaufen? Ja wohl, bezahlen müssen die Eltern! Zwar nicht
Geld, aber viel Arbeit, Mühe und Schmerzen! Drum kommen die Kinder nicht
wie die Sechsjährigen auf die Welt, die schon allein essen, springen und
zur Schule gehen können, sondern Gott gibt sie den Eltern klein und ganz
unbeholfen. Ein junges Hühnchen schlüpft aus dem Ei und springt gleich
davon, ein junges Menschlein aber braucht ein ganzes Jahr, bis es die
ersten Schritte wagt. Da muß die Mutter es herumtragen, ausfahren,
trocken legen, ihm die Nahrung reichen und hunderterlei andere kleine
Dienste erweisen, und wenn es endlich allein gehen kann, dann müssen
Vater und Mutter ihm erst recht auf Schritt und Tritt nachgehen, und oft
in tausend Ängsten sein, damit ihm ja nichts Böses zustoße.

Seht ihr's jetzt, wie die Eltern _Mühe_ und _Arbeit_ bezahlen müssen, bis
sie ein großes Kind haben? Aber wir haben gehört, daß es auch _Schmerzen_
kostet, ein Kindlein zu bekommen, und von diesen Schmerzen wollen wir
auch noch reden.

Zuerst aber muß ich euch etwas ganz Wunderbares sagen. Ihr wißt, wie es
zugeht, wenn ein junges Vögelchen entsteht. Das Vogel-Weibchen legt ein
Ei, setzt sich eine Zeitlang darauf, und wenn es inwendig im Ei schön
warm geworden ist, hört man auf einmal ein ganz kleines Schnäbelchen
gegen die Schale picken, ein Löchlein entsteht, und schwipps, schlüpft
das junge Vögelchen heraus.

Und nun denkt euch: _auch die kleinen Kindlein schlüpfen aus einem Ei!_
Ist das nicht wunderbar? Nun meint ihr aber: o, das kann nicht möglich
sein, denn noch nie sahen wir ein solches Ei!

Aber hört nur weiter. Niemand kann dieses Eilein sehen, denn es liegt an
einem ganz stillen, traulichen Örtlein verborgen: im Schoße der Mutter!
Ihr wißt ja, wie es inwendig im Menschen viele merkwürdige Dinge hat,
und ihr würdet staunen, wenn ihr irgendwo ein Deckelchen öffnen und
hineingucken könntet. Da würdet ihr bei eurer Mutter oben im Kopfe
jenen wunderbaren Nervenapparat sehen, mit dem sie an euch denkt und
sinnt; weiter unten, im Brustraume, da könntet ihr das Herz betrachten,
das Tag und Nacht so treu für euch schlägt; und noch etwas tiefer, da
würdet ihr zwei wunderbare Kästlein finden, und in diesen eine Anzahl
allerliebster runder Eierchen, aus denen neue Kindlein werden. Die
Kästchen sind verschlossen, und ratet mal, wer darf sie wohl öffnen? Der
Vater! Durch seine große Liebe zu der Mutter tut sich das Türchen auf,
ein Eilein kommt heraus, setzt sich auf ein hübsches, weiches
Polsterchen ganz tief im Schoße der Mutter, und fängt nun an, zu
wachsen.

Zuerst ist es kaum so groß, wie ein Stecknadelkopf. Nach und nach aber
wird es immer größer, zuletzt wie eine große Puppe. Die Schale des Eies
ist ganz weich, wie Sammt, und unter ihr schlummert mit geschlossenen
Äuglein das neue Kindlein.

Dann fragt vielleicht ein Mädchen:

»Mutter, warum bist du auch nicht mehr dünn und schlank wie früher, und
hast einen so großen Leib?« Und die Mutter sagt: »Weil's da ein
Brüderchen oder Schwesterchen für dich drinnen hat; das ist schon groß
und braucht viel Platz.« »War ich denn auch da drinnen, liebe Mutter?«
fragt das Mädchen weiter. »Gewiß, du kleiner Schelm, und zwar so groß
und schwer, ich mochte dich kaum tragen!« Da lacht die Kleine lustig: »O
Mutter, ich freue mich, bis ich ein Schwesterchen oder Brüderchen habe;
geht's wohl noch lange?«

Aber es geht nicht mehr lange. Denn wenn das Kindchen fertig gewachsen
an seinem warmen Plätzchen, dann legt sich die Mutter zu Bette, und
durch eine kleine Öffnung schlüpft das neue Menschlein auf die Welt. Das
nennt man die _Geburt_, und der Tag, an dem ihr euer Mütterchen verlassen
habt und auf die Welt gekommen seid, ist euer _Geburtstag_.

Oft hat die Mutter tüchtige Schmerzen dabei, drum ist sie nachher müde
und muß einige Tage zu Bette bleiben, damit sie ausruhen kann. Dann
sagen manche Leute: »Schaut her, der Storch hat eure Mutter ins Bein
gebissen, darum ist sie nun krank.« Ihr aber wißt jetzt, daß das gar
nicht wahr ist, sondern daß die Mutter bloß zum Ausruhen einige Zeit
liegen muß, weil ihr die Geburt Schmerzen verursacht hat.

Darum ist jetzt auch Frau Burkhard da, die Walter oben gesehen hat. Sie
ist die _Hebamme_, das heißt eine Frau, die man jedesmal ruft, wenn eine
Geburt herannaht. Sie hilft den Müttern in ihrer schweren Stunde,
lindert ihnen die Schmerzen so gut sie kann, und nimmt das neugeborene
Kindlein in Empfang, um es sorgsam in das bereitgehaltene Bettchen zu
legen. Euch alle hat Frau Burkhard in ihren Armen gehalten, als ihr kaum
den ersten Atemzug getan; darum ist sie euch allen so anhänglich und
freut sich eures gesunden und kräftigen Heranwachsens.

Bisweilen wenn die Schmerzen der Mutter sehr stark sind oder sonst ein
wichtiger Rat nötig ist, ruft die Hebamme noch den Arzt herbei. Ihr habt
ja fast alle schon drunten am Kreuzplatz an dem großen Eckhause die
Tafel gelesen: +Dr.+ Fretz, Arzt und Geburtshelfer. Oft muß er seinen
Schlaf brechen und mitten in der Nacht an ein Geburtslager eilen. Aber
sowohl er, wie Frau Burkhard tun es mit Freuden, weil sie es für eine
hohe Ehre halten, einem neuen Kindlein ins Dasein zu helfen. Sie dürfen
mitwirken an der wunderbarsten Tat unseres Vaters im Himmel, an der
Erschaffung der Menschen.« --

Der Onkel machte eine Pause. Träumerisch blickte er hin nach dem rot
glühenden Abendhimmel, wo sich eben die Sonne, die Fürstin und Spenderin
alles Lebens, zum Untergehen anschickte. Auch die Kinder saßen
regungslos still, kaum hörte man sie atmen. Ihre Gedanken schweiften
hinauf zum Mütterlein, dem sie ihr Leben verdankten, das eben jetzt mit
Schmerzen ihnen wieder ein Schwesterlein geschenkt hatte. O wie schön
war, was der Onkel ihnen erzählt hatte, wie unendlich viel schöner, als
das Märlein vom Storche! Beim Mütterlein waren sie gewesen, lange bevor
sie zur Welt gekommen, unter ihrem treuen Herzen hatten sie geruht, wie
zarte keimende Pflänzlein in weicher Erde!

Mild flutete das Licht der Abendsonne durch die Blätter der kühler
werdenden Laube und beleuchtete die nachdenklichen Kindergesichter mit
lieblichem Glanze.

»Seht Kinder«, fuhr jetzt langsam der Onkel fort, »so wie jetzt dieser
Tag zur Neige geht, so geht auch unser irdisches Leben, das so wundersam
begonnen, einst zu Ende. Freudig und jubelnd stehen die Menschen am
Bettchen des Neugeborenen und lauschen entzückt seinem ersten Atem;
traurig und weinend stehen sie nach Jahren um das Lager des gleichen
Menschen, nachdem er seinen letzten Hauch getan. Und dann legt man den
still und kalt gewordenen Körper in die Erde. O wie weh tut es einem
Mutterherzen, wenn sie ihr Kindlein nach kurzem Dasein wieder verlieren
muß; wenn das Leben entflieht, das sie mit Wonne ihm einst gegeben.

Aber schaut, liebe Kinder, dort die untergehende Sonne spendet uns Trost
in solchem Leide, sie hält uns eine mächtige Predigt von der
Unvergänglichkeit des Lebens. Denn so wie sie jetzt niedersinkt und
Dunkelheit zurückläßt, aber strahlend am Morgen wieder emporsteigt zum
neuen Tage, so wird auch ein verstorbenes Kindlein neu erwachen zu
schönerem Leben. Und gleich wie die Sonne nach langem Winterschlafe
neues Leben aus der toten Erde hervorzaubert, so daß Blättlein und
Blümlein sprießen überall, so wird auch Gott die in ihm Entschlafenen
erwecken zu herrlichem, ewigem Leben.

Und die Sonne, die das zu stande bringt, ist unser Herr Jesus Christus.
Er selber ist das Leben, durch ihn hat Gott die Welt und auch uns
erschaffen, und seine Verheißung lautet: Ich lebe, und ihr sollt auch
leben! Und nun denkt euch, wiewohl er der Sohn des allmächtigen Gottes
ist, ist er doch ein armes kleines Kindlein geworden, wie wir. Mit
Schmerzen hat ihn Maria geboren, und nicht in vornehmem, prächtigem
Haus, sondern in einem Stall zu Bethlehem. Bleich und müde lag sie da,
als die Hirten kamen, um das Jesuskindlein anzubeten. Und so ist durch
das Wunder der Geburt der Herr Jesus unser Bruder geworden, unser
wahrhaftiger und leiblicher Bruder. War schon vorher die Geburt eines
Menschen etwas Hohes und Heiliges, so ist sie es noch viel mehr, seit
der Herr Jesus als kleines Kindlein zur Welt gekommen. Und bedeutete es
schon vorher eine hohe Ehre und Würde für die Frauen, dem lieben Gott
helfen zu dürfen bei der Erschaffung neuer Menschen, so jetzt noch viel
mehr, seit Maria gewürdigt wurde, den König aller Könige unter ihrem
Herzen zu tragen!« --

Unterdessen war die Dämmerung hereingebrochen. Die Kinder saßen da in
tiefem Entzücken. Noch nie hatte ihnen jemand so herrliche Dinge
erzählt. »O Onkel, wenn du nur immer da bleiben würdest!« brach jetzt
Hannchen das Schweigen. Es schlang seine Ärmchen kosend um den Onkel und
wollte ihm auf die Knie klettern. Er aber stellte die Kleine sanft auf
den Boden und erhob sich. »Bleibt ruhig da,« mahnte er, »ich gehe jetzt
leise hinauf, und wenn euer Mütterchen es erlaubt und wohl genug ist,
will ich euch alle rufen.«

Mit großer Herzlichkeit wurde er droben empfangen und gleich zum Bett
seiner Schwester, die die Mutter der Kinder war, geführt. »Ist alles gut
gegangen?« war seine erste Frage. »Gott sei Dank,« antwortete sie
freudig, »der Arzt ist sehr zufrieden. Wir haben ihn zur Vorsorge kommen
lassen, aber er brauchte nicht einzugreifen. -- Aber nun hör' mal,
Theophil, seit wann bist du eigentlich hier, dein Zug kam doch vor vier
Uhr an, und jetzt ist's bald sieben?« Der Onkel lächelte schalkhaft und
sagte: »In eurer prächtigen Gartenlaube bin ich gesessen, da ist es so
schön!« »Ganz allein?« »Ganz allein mit deinen sechs Kindern und ihren
Cousinen. Ich habe ihnen eine Geschichte erzählt!« -- »O, du goldiger
Bruder, drum war es so still seit zwei Stunden; nicht einmal von
Hannchen, dem Wildfang, habe ich einen Laut gehört. Was erzähltest du
denn?« »Etwas sehr Schönes: Wie der liebe Gott die Kindlein erschafft!«

Groß und verwundert blickte Frau Hotze ihren Bruder an; »ist es dein
Ernst, Theophil?« »Mein völliger Ernst! Du kennst ja seit langem meine
Überzeugung in dieser Hinsicht; wir wollen unsern Kleinen das köstliche
Geheimnis nicht so lange vorenthalten, bis Kameraden auf der Straße es
ihnen, vielleicht auf eine gar unschöne Weise, beibringen. Und da ich
wußte, daß du erst kürzlich die gleiche Ansicht geäußert, habe ich die
Gelegenheit ergriffen und den Kindern erzählt von den Wundern des
Lebens!«

Da verklärte dankbare Freude der Mutter Antlitz. »O du lieber Bruder,
komm her, daß ich dir danke. Welch großen Dienst hast du mir getan.
Schon lange paßte ich auf eine Gelegenheit, meine Kinder in dieses
Geheimnis einzuweihen, aber sie wollte sich nie bieten. Dazu braucht es
eine ruhige Stunde, aber wo findet man die in unserm lebhaften,
arbeitsreichen Haushalt? Habe herzlichen Dank! Doch nun bring mir die
Kinder, die lieben, damit sie ihr Schwesterchen sehen und ich sie
umarme, denn nun verlangt es mich doppelt nach ihnen.«

Das ließ sich der Onkel nicht zweimal sagen, und bald stand er wieder
vor der Laube im Garten, wo die Kinder eifrig flüsternd im Halbdunkel
saßen und klopfenden Herzens auf den großen Moment warteten, da man sie
rufen würde. »Nun dürft ihr alle kommen«, sagte er mit gedämpfter
Stimme, »aber seid ja recht ruhig!«

Das letztere hätte der Onkel nicht zu sagen brauchen, denn ganz von
selbst gingen alle auf den Zehenspitzen über die Kieswege, dann leise
über die Treppen hinauf, und jetzt standen sie vor der geheimnisvollen
Türe. Keines wagte zu öffnen, fast hörbar klopften die Herzen. Da drehte
sachte der Onkel den Riegel, und im stillen Gänsemarsch traten sie über
die Schwelle und sahen die Mutter, etwas bleicher als sonst, in den
Kissen liegen.

Aber jetzt konnte sich Hannchen nicht länger halten. Mit einem
Jubelschrei stürzte es sich an das Bett, kletterte wie ein Kätzlein
hinauf und umarmte stürmisch die Mutter, als wollte es sie nie mehr
loslassen. »Mutti, hast du stark Schmerzen gehabt?« fragte die Kleine.
»Nein Herzchen, diesmal nicht so sehr, das letztemal war es schlimmer!«
»Das letztemal? O Mutti! das war ja ich! aber ich kann ganz sicher
nichts dafür. Und gleichwohl hast du mich lieb?« »Erst recht, mein
Hannchen; alle hab' ich euch mit Schmerzen geboren, drum seid ihr alle
mir so lieb.« Und eins ums andere kam, um die Mutter zu küssen, und
mehrmals war die Wange ganz naß, die die Kinder an das Angesicht ihres
Mütterchens schmiegten.

Jetzt aber kam das Schwesterchen an die Reihe. Winzig klein, die Äuglein
geschlossen, lag es warm eingehüllt in seinem Korbe und hatte keine
Ahnung, daß es von vielen neugierigen Kinderaugen liebend betrachtet
werde. Keines wagte sich ganz nahe, nur Hannchen streckte ihren rechten
Zeigefinger aus und tupfte ganz sachte an das Näslein der Kleinen, um zu
sehen, ob es auch wirklich warm und lebendig sei. Dann kam Frau Burkhard
und führte die Kinder hinaus. Luise gab ihnen das Nachtessen, und bald
lag jedes sanft schlafend in seinem Nestchen, nachdem noch der Onkel
statt der Mutter die Runde gemacht und ihnen den Gute-Nacht-Kuß gegeben
hatte. --

Am andern Vormittag durften alle Kinder ins Schlafzimmer, um zu sehen,
wie Julchen -- so mußte das neue Schwesterchen heißen -- den ersten
Schoppen bekam an der Brust seiner Mutter. Hannchen stand zur Erlangung
besserer Übersicht auf den Schemel und war ganz entzückt über die
lustige Weise, wie Julchen seinen kleinen niedlichen Mund spitzte zum
Saugen.

»Aber Mutter, warum gibst du dem Kinde nicht aus der Flasche, wie Tante
Gertrud?« fragte Hannchen ganz erstaunt; »habe ich denn auch an deiner
Brust getrunken, als ich klein war?« »Natürlich, mein Kind,« antwortete
die Mutter, »euch allen habe ich von meiner Milch geben können. Denn der
liebe Gott schafft nicht nur die Kinder im Schoß der Mutter, sondern er
gibt ihr auch eine Nahrung in ihre Brust, von der das Kind trinken soll
nach der Geburt, manchen Monat lang, bis es seine Zähne bekommt und
sitzen kann.« --

Nach dem Mittagessen erschien der Vater, der von einer großen
Geschäftsreise heimkam und nicht wenig erstaunt war über das
vorgefallene große Ereignis, das er erst für die nächste Woche erwartet
hatte. Hannchen wich nicht von seiner Seite und erzählte ihm alles
genau, so daß ihr Plaudermäulchen keinen Moment stille stand. »Und weißt
du,« berichtete der kleine Wildfang eifrig, »Mutti gibt dem Julchen
selber zu trinken, sie braucht gar keine Flasche, und Julchen kann
schon ordentlich saugen, ganz von selbst, es hat ihm's niemand gezeigt.
Ich will schnell Mutti fragen, ob du auch mal zusehen darfst; wenn du
auf den Schemel stehst, siehst du es sehr gut!« --

Abends mußte dann der Onkel verreisen, die drei Großen begleiteten ihn
auf den Bahnhof. Als aber vier Wochen um waren, an einem prächtigen
Sonntage, da kam er wieder, diesmal samt seiner Frau, der Tante, und
zwar zu Julchens Taufe als Pate. Groß war die Freude im Hause Hotze! Und
als nun gar zwei große Landauer vorfuhren, das Julchen im prächtigen
Paradetuch hineingetragen wurde, und auch Muttchen, das längst wieder
auf den Beinen war, einstieg, da war der Jubel unbeschreiblich. Karl
durfte vorne und Fritz bei der hintern Kutsche auf den Bock steigen,
Hannchen aber dem Vater auf den Schoß sitzen. Die drei Großen fuhren mit
Onkel und Tante im zweiten Wagen. Kein Wölklein trübte den herrlichen
Tag, wie im Fluge gingen nach der ernsten kirchlichen Feier die schönen
Stunden zu Hause dahin.

Um sechs Uhr mußten die Basler Abschied nehmen, zum großen Leidwesen
aller. Hannchen hätte sicherlich geweint, wenn nicht schnell die Mutter
ihm versprochen hätte, es dürfe heute Abend dem Julchen das neue
Schlüttli, das die Tante gebracht, ganz alleine anziehen. Das wirkte,
und tapfer schluckte es seine Tränen hinunter.

»War's nicht ein schöner Tag, Kinderchen?« fragte der Onkel beim
Abschied. »Ja«, riefen sie alle, »aber halt am allerschönsten war es vor
vier Wochen im Gartenhäuschen, als du uns erzähltest, wie der liebe Gott
die Kindlein erschafft!«



Schlußwort

an alle Kinder, welche diese Erzählung gelesen haben.


So, nun wißt auch Ihr, wie die Kindlein zur Welt kommen, denn es ist
wirklich genau so, wie der Onkel berichtete. Nun braucht Ihr nicht mehr
die Köpfe zu strecken, wenn ein Bub in der Schulpause ganz leise vom
Werden der Kindlein berichtet, oder wenn ein Mädchen auf dem Heimwege
meldet, es wolle Euch etwas sagen, aber kein Mensch dürfe es wissen --
und dann erzählt es, wie die Kinder geboren werden. Da sagt Ihr dann
einfach: O, das wissen wir schon lange, das hat uns ja die Mutter zu
lesen gegeben! Nie werdet Ihr von nun an dabei sein, wenn über diese
ernsten Dinge heimlich und unschön geredet wird, und nie werdet Ihr
mithelfen, wenn Kameraden lachen über eine Frau, weil man merkt, sie
werde bald ein Kindlein haben. Von einer solchen Frau sagt man: sie ist
»in gesegneten Umständen«, weil Gott einen großen Segen auf sie gelegt
hat; darum sollen wir sie mit Achtung, ja mit Ehrfurcht grüßen. Ist Euch
noch etwas nicht klar, so fragt Eure Eltern, die wissen es besser, als
vorwitzige Schulkinder. --

So recht werdet Ihr dies allerdings erst verstehen, wenn Ihr groß seid.
Vielleicht wird dann dem einen oder andern von Euch auch ein liebes
Kindlein geschenkt, und dann werdet Ihr an den Onkel denken im
Gartenhäuschen und mit ihm sagen: es ist etwas Herrliches und
Wunderbares, wenn der liebe Gott neues Leben erschafft!





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Woher die Kindlein kommen" ***

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