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Title: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
Author: Kant, Immanuel, 1724-1804
Language: German
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  [ Anmerkungen zur Transkription:

    Der Text stammt aus: Immanuel Kants Werke. Band IV. Schriften von
    1783-1788. Herausgegeben von Dr. Artur Buchenau und Dr. Ernst Cassirer.
    Berlin: Bruno Cassirer 1913. S. 167-176 und 538-539 (Lesarten).

    Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen;
    lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Eine Liste
    der vorgenommenen Änderungen findet sich am Ende des Textes.

    Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit = markiert.
    Im Original kursiv gedruckter Text wurde mit _ markiert.
  ]



Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?


=Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit.= =Unmündigkeit= ist das Unvermögen, sich seines Verstandes
ohne Leitung eines anderen zu bedienen. =Selbstverschuldet= ist diese
Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes,
sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung
eines andern zu bedienen. _Sapere aude!_ Habe Mut, dich deines =eigenen=
Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.

Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der
Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung
freigesprochen (_naturaliter maiorennes_), dennoch gerne zeitlebens
unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren
Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein
Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen
hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt usw., so brauche ich
mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich habe nicht nötig zu denken, wenn
ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon
für mich übernehmen. Daß der bei weitem größte Teil der Menschen
(darunter das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer
dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte, dafür
sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über sie gütigst auf
sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst dumm gemacht haben
und sorgfältig verhüteten, daß diese ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt
außer dem Gängelwagen, darin sie sie einsperreten, wagen durften, so
zeigen sie ihnen nachher die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es
versuchen, allein zu gehen. Nun ist diese Gefahr zwar eben so groß
nicht, denn sie würden durch einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen;
allein ein Beispiel von der Art macht doch schüchtern und schreckt
gemeiniglich von allen ferneren Versuchen ab.

Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm
beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit herauszuarbeiten. Er hat sie
sogar liebgewonnen und ist vorderhand wirklich unfähig, sich seines
eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn niemals den Versuch davon
machen ließ. Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines
vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind
die Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe,
würde dennoch auch über den schmalesten Graben einen nur unsicheren
Sprung tun, weil er zu dergleichen freier Bewegung nicht gewöhnt ist.
Daher gibt es nur wenige, denen es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung
ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit herauszuwickeln und dennoch einen
sicheren Gang zu tun.

Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist,
wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich. Denn da werden
sich immer einige Selbstdenkende, sogar unter den eingesetzten
Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das Joch der
Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen
Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen, selbst zu
denken, um sich verbreiten werden. Besonders ist hiebei: daß das
Publikum, welches zuvor von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie
hernach selbst zwingt, darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner
Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu aufgewiegelt
worden; so schädlich ist es, Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich
zuletzt an denen selbst rächen, die oder deren Vorgänger ihre Urheber
gewesen sind. Daher kann ein Publikum nur langsam zur Aufklärung
gelangen. Durch eine Revolution wird vielleicht wohl ein Abfall von
persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger oder herrschsüchtiger
Bedrückung, aber niemals wahre Reform der Denkungsart zustande kommen;
sondern neue Vorurteile werden, ebensowohl als die alten, zum Leitbande
des gedankenlosen großen Haufens dienen.

Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als =Freiheit=; und zwar
die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich
die: von seiner Vernunft in allen Stücken =öffentlichen Gebrauch= zu
machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen: =Räsonniert nicht!=
Der Offizier sagt: Räsonniert nicht, sondern exerziert! Der Finanzrat:
Räsonniert nicht, sondern bezahlt! Der Geistliche: Räsonniert nicht,
sondern glaubt! (Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: =Räsonniert=,
soviel ihr wollt und worüber ihr wollt, =aber gehorcht=!) Hier ist
überall Einschränkung der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der
Aufklärung hinderlich, welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich?
-- Ich antworte: Der =öffentliche= Gebrauch seiner Vernunft muß
jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen
zustande bringen; der =Privatgebrauch= derselben aber darf öfters sehr
enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung
sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche
seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand =als Gelehrter= von ihr
vor dem ganzen Publikum der =Leserwelt= macht. Den Privatgebrauch nenne
ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten =bürgerlichen
Posten= oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Nun ist zu manchen
Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser
Mechanism notwendig, vermittelst dessen einige Glieder des gemeinen
Wesens sich bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche
Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet oder
wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden. Hier
ist es nun freilich nicht erlaubt zu räsonnieren; sondern man muß
gehorchen. Sofern sich aber dieser Teil der Maschine zugleich als Glied
eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft
ansieht, mithin in der Qualität eines Gelehrten, der sich an ein
Publikum im eigentlichen Verstande durch Schriften wendet, kann er
allerdings räsonnieren, ohne daß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen
er zum Teile als passives Glied angesetzt ist. So würde es sehr
verderblich sein, wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas
anbefohlen wird, im Dienste über die Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit
dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß gehorchen. Es kann ihm
aber billigermaßen nicht verwehrt werden, als Gelehrter über die Fehler
im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen und diese seinem Publikum zur
Beurteilung vorzulegen. Der Bürger kann sich nicht weigern, die ihm
auferlegten Abgaben zu leisten; sogar kann ein vorwitziger Tadel solcher
Auflagen, wenn sie von ihm geleistet werden sollen, als ein Skandal,
(das allgemeine Widersetzlichkeiten veranlassen könnte), bestraft
werden. Ebenderselbe handelt demohngeachtet der Pflicht eines Bürgers
nicht entgegen, wenn er als Gelehrter wider die Unschicklichkeit oder
auch Ungerechtigkeit solcher Ausschreibungen öffentlich seine Gedanken
äußert. Ebenso ist ein Geistlicher verbunden, seinen Katechismusschülern
und seiner Gemeinde nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen
Vortrag zu tun, denn er ist auf diese Bedingung angenommen worden. Aber
als Gelehrter hat er volle Freiheit, ja sogar den Beruf dazu, alle seine
sorgfältig geprüften und wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in
jenem Symbol und Vorschläge wegen besserer Einrichtung des Religions-
und Kirchenwesens dem Publikum mitzuteilen. Es ist hiebei auch nichts,
was dem Gewissen zur Last gelegt werden könnte. Denn was er zufolge
seines Amts als Geschäftträger der Kirche lehrt, das stellt er als etwas
vor, in Ansehung dessen er nicht freie Gewalt hat, nach eigenem
Gutdünken zu lehren, sondern das er nach Vorschrift und im Namen eines
andern vorzutragen angestellt ist. Er wird sagen: unsere Kirche lehrt
dieses oder jenes; das sind die Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er
zieht alsdann allen praktischen Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen,
die er selbst nicht mit voller Überzeugung unterschreiben würde, zu
deren Vortrag er sich gleichwohl anheischig machen kann, weil es doch
nicht ganz unmöglich ist, daß darin Wahrheit verborgen läge, auf alle
Fälle aber wenigstens doch nichts der innern Religion Widersprechendes
darin angetroffen wird. Denn glaubte er das letztere darin zu finden, so
würde er sein Amt mit Gewissen nicht verwalten können; er müßte es
niederlegen. Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von seiner
Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein =Privatgebrauch=, weil
diese immer nur eine häusliche, obzwar noch so große Versammlung ist;
und in Ansehung dessen ist er als Priester nicht frei und darf es auch
nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen als
Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der
Welt spricht, mithin der Geistliche im =öffentlichen Gebrauche= seiner
Vernunft, genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich seiner eigenen
Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen. Denn daß
die Vormünder des Volks (in geistlichen Dingen) selbst wieder unmündig
sein sollen, ist eine Ungereimtheit, die auf Verewigung der
Ungereimtheiten hinausläuft.

Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen, etwa eine
Kirchenversammlung oder eine ehrwürdige Classis (wie sie sich unter den
Holländern selbst nennt), berechtigt sein, sich eidlich auf ein gewisses
unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche
Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder und vermittelst ihrer über
das Volk zu führen und diese so gar zu verewigen? Ich sage: das ist ganz
unmöglich. Ein solcher Kontrakt, der auf immer alle weitere Aufklärung
vom Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings
null und nichtig; und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch
Reichstage und die feierlichsten Friedensschlüsse bestätigt sein. Ein
Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende
in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine
(vornehmlich so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu erweitern, von
Irrtümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiterzuschreiten.
Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche
Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die Nachkommen
sind also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als unbefugter
und frevelhafter Weise genommen, zu verwerfen. Der Probierstein alles
dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in
der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen
könnte? Nun wäre dieses wohl, gleichsam in der Erwartung eines bessern,
auf eine bestimmte kurze Zeit möglich, um eine gewisse Ordnung
einzuführen: indem man es zugleich jedem der Bürger, vornehmlich dem
Geistlichen, frei ließe, in der Qualität eines Gelehrten öffentlich,
d. i. durch Schriften, über das Fehlerhafte der dermaligen Einrichtung
seine Anmerkungen zu machen, indessen die eingeführte Ordnung noch immer
fortdauerte, bis die Einsicht in die Beschaffenheit dieser Sachen
öffentlich so weit gekommen und bewähret worden, daß sie durch Vereinigung
ihrer Stimmen (wenngleich nicht aller) einen Vorschlag vor den Thron
bringen könnte, um diejenigen Gemeinden in Schutz zu nehmen, die sich
etwa nach ihren Begriffen der besseren Einsicht zu einer veränderten
Religionseinrichtung geeinigt hätten, ohne doch diejenigen zu hindern,
die es beim alten wollten bewenden lassen. Aber auf eine beharrliche,
von niemanden öffentlich zu bezweifelnde Religionsverfassung auch nur
binnen der Lebensdauer eines Menschen sich zu einigen, und dadurch einen
Zeitraum in dem Fortgange der Menschheit zur Verbesserung gleichsam zu
vernichten und fruchtlos, dadurch aber wohl gar der Nachkommenschaft
nachteilig zu machen, ist schlechterdings unerlaubt. Ein Mensch kann
zwar für seine Person und auch alsdann nur auf einige Zeit in dem, was
ihm zu wissen obliegt, die Aufklärung aufschieben; aber auf sie Verzicht
zu tun, es sei für seine Person, mehr aber noch für die Nachkommenschaft,
heißt die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten.
Was aber nicht einmal ein Volk über sich selbst beschließen darf, das
darf noch weniger ein Monarch über das Volk beschließen; denn sein
gesetzgebendes Ansehen beruht eben darauf, daß er den gesamten
Volkswillen in dem seinigen vereinigt. Wenn er nur darauf sieht, daß
alle wahre oder vermeinte Verbesserung mit der bürgerlichen Ordnung
zusammenbestehe, so kann er seine Untertanen übrigens nur selbst machen
lassen, was sie um ihres Seelenheils willen zu tun nötig finden; das
geht ihn nichts an, wohl aber zu verhüten, daß nicht einer den andern
gewalttätig hindere, an der Bestimmung und Beförderung desselben nach
allem seinen Vermögen zu arbeiten. Es tut selbst seiner Majestät
Abbruch, wenn er sich hierin mischt, indem er die Schriften, wodurch
seine Untertanen ihre Einsichten ins reine zu bringen suchen, seiner
Regierungsaufsicht würdigt, sowohl wenn er dieses aus eigener höchsten
Einsicht tut, wo er sich dem Vorwurfe aussetzt: _Caesar non est supra
grammaticos_, als auch und noch weit mehr, wenn er seine oberste Gewalt
soweit erniedrigt, den geistlichen Despotism einiger Tyrannen in seinem
Staate gegen seine übrigen Untertanen zu unterstützen.

Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem =aufgeklärten=
Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der
=Aufklärung=. Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen
genommen, schon imstande wären oder darin auch nur gesetzt werden
könnten, in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung
eines andern sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel.
Allein, daß jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu
bearbeiten und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung oder des
Ausganges aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger
werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist
dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung oder das Jahrhundert
FRIEDERICHS.

Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet zu sagen, daß er es für
=Pflicht= halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben,
sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den
hochmütigen Namen der =Toleranz= von sich ablehnt, ist selbst aufgeklärt
und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen
zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit,
wenigstens von seiten der Regierung, entschlug und jedem frei ließ, sich
in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu
bedienen. Unter ihm dürfen verehrungswürdige Geistliche, unbeschadet
ihrer Amtspflicht, ihre vom angenommenen Symbol hier oder da abweichenden
Urteile und Einsichten in der Qualität der Gelehrten frei und öffentlich
der Welt zur Prüfung darlegen; noch mehr aber jeder andere, der durch
keine Amtspflicht eingeschränkt ist. Dieser Geist der Freiheit breitet
sich auch außerhalb aus, selbst da, wo er mit äußeren Hindernissen einer
sich selbst mißverstehenden Regierung zu ringen hat. Denn es leuchtet
dieser doch ein Beispiel vor, daß bei Freiheit für die öffentliche Ruhe
und Einigkeit des gemeinen Wesens nicht das mindeste zu besorgen sei.
Die Menschen arbeiten sich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit
heraus, wenn man nur nicht absichtlich künstelt, um sie darin zu
erhalten.

Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, d. i. des Ausganges der Menschen
aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich in =Religionssachen=
gesetzt, weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere
Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu
spielen, überdem auch jene Unmündigkeit, so wie die schädlichste, also
auch die entehrendste unter allen ist. Aber die Denkungsart eines
Staatsoberhaupts, der die erstere begünstigt, geht noch weiter und sieht
ein: daß selbst in Ansehung seiner =Gesetzgebung= es ohne Gefahr sei,
seinen Untertanen zu erlauben, von ihrer eigenen Vernunft =öffentlichen=
Gebrauch zu machen und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung
derselben, sogar mit einer freimütigen Kritik der schon gegebenen, der
Welt öffentlich vorzulegen; davon wir ein glänzendes Beispiel haben,
wodurch noch kein Monarch demjenigen vorging, welchen wir verehren.

Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vor Schatten
fürchtet, zugleich aber ein wohldiszipliniertes zahlreiches Heer zum
Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, -- kann das sagen, was ein
Freistaat nicht wagen darf: =Räsonniert, soviel ihr wollt, und worüber
ihr wollt; nur gehorcht!= So zeigt sich hier ein befremdlicher, nicht
erwarteter Gang menschlicher Dinge; sowie auch sonst, wenn man ihn im
großen betrachtet, darin fast alles paradox ist. Ein größerer Grad
bürgerlicher Freiheit scheint der Freiheit des =Geistes= des Volks
vorteilhaft und setzt ihr doch unübersteigliche Schranken; ein Grad
weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum, sich nach allem
seinen Vermögen auszubreiten. Wenn denn die Natur unter dieser harten
Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten sorgt, nämlich den Hang und
Beruf zum =freien Denken=, ausgewickelt hat: so wirkt dieser allmählich
zurück auf die Sinnesart des Volks, (wodurch dies der =Freiheit zu
handeln= nach und nach fähiger wird), und endlich auch sogar auf die
Grundsätze der =Regierung=, die es ihr selbst zuträglich findet, den
Menschen, der nun =mehr als Maschine= ist, seiner Würde gemäß zu
behandeln.[1]

Königsberg in Preußen, den 30. Septemb. 1784.

                                               =I. Kant.=

  [1] In den =Büsching=schen Wöchentlichen Nachrichten vom 13. Sept. lese
  ich heute den 30. ebendess. die Anzeige der Berlinischen Monatsschrift
  von diesem Monat, worin des Herrn =Mendelssohn= Beantwortung
  ebenderselben Frage angeführt wird. Mir ist sie noch nicht zu Händen
  gekommen; sonst würde sie die gegenwärtige zurückgehalten haben, die
  jetzt nur zum Versuche dastehen mag, wiefern der Zufall Einstimmigkeit
  der Gedanken zuwege bringen könne.



Lesarten


Drucke:

1. Berlinische Monatsschrift. Dezember-Heft 1784. S. 481-494.

2. Kant. Kleine Schriften. Neuwied 1793. Haupt. 8o. S. 34-50.

3. I. Kant. Zerstreute Aufsätze. Frankfurt und Leipzig 1793. 8o. S. 25-37.

4. I. Kant. Sämmtliche kleine Schriften. 4 Bände. 1797-98. 8o.
Königsberg u. Leipzig (Voigt, Jena). Nachdruck. Bd. III, S. 159-172.

5. I. Kant's vermischte Schriften. 3 Bände. Halle 1799. (Tieftrunk).
Bd. II. S. 687-700.

6. Kant. Vorzügliche kleine Schriften und Aufsätze, hrsg. mit Noten von
F. Ch. Starke. 2 Bände. Leipzig 1833 und Quedlinburg 1838. Bd. I, S. 75-84.

                   *       *       *       *       *

170, 23 hiebei] Vorl. bemerkt dazu: sc. etwa »hervorzuheben«. 171, 10
v. u. seinen (T)] seinem (A) 174, 20 höchsten (A, 93)] höchster (so alle
späteren Ausgaben). 175, 20 d. i.] die (A)



  [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
    jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
    steht.

  und seiner Gemeine nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen
  und seiner Gemeinde nach dem Symbol der Kirche, der er dient, seinen

  wenigsten von seiten der Regierung, entschlug und jedem frei ließ, sich
  wenigstens von seiten der Regierung, entschlug und jedem frei ließ, sich

  ]





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