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Title: Das Werk Heinrich Manns
Author: Leonhard, Rudolf, 1889-1953
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Das Werk Heinrich Manns" ***


Rudolf Leonhard

Das Werk Heinrich Manns

      »Aber er, der ehemals lachend den
      Lästerungen getrotzt hat, würde heute
      wohl mit Lächeln den Ruhm hinnehmen,
      der selten mehr ist als ein
      weitverbreiteter Irrtum über unsere
      Person.«
            Heinrich Mann über Choderlos de Laclos.



Seitdem der Roman aus der quellenden Unordnung eines gereihten Berichts
zahlreicher, zählbarer Ereignisse zu einer Kunstform beschränkt wurde, ist
er nur voller, erfüllter geworden: hat er, in höherem Sinne als eine andre
Form, die Totalität des Kunstwerks gefunden. -- Anders als im Drama,
vergleitet in ihm das Ereignis und steht ohne Auszeichnung zwischen
Zuständen; und die Auswahl, deren Gesetz auch er unterstellt ist, geschieht
breiter, vielleicht weniger scharf und gewiß weniger beschränkt. Und so ist
seither -- auch deshalb schon, weil er näher als irgendeine Kunstform dem
Gange des Lebens zugeordnet ist -- natürlich eigentlich nur die Rundung und
Vereinigung von jedes Dichters epischem Bekenntnis in _einem_ Roman. So hat
Mörike einen Roman bescheiden geschrieben, hat Schlegel die eine Luzinde
hinterlassen, die nicht formlos, sondern monströs ist, der erste Roman vom
Blute des neunzehnten Jahrhunderts, der erste zynische Roman nach den
pädagogischen; Novalis den einen Ofterdingen, den er nicht vollendete; und
Goethe hat die drei Leben, die er eins hinter das andre gesetzt hat, jedes
in einem Roman festgestellt. Dies ist natürlich; der Roman ist angelegt,
der Ertrag eines Lebens zu sein, und dies waren nur Beispiele; es ließe
sich zeigen, daß manches an Nummern reichere Werk doch um den _einen_ Roman
gruppiert ist, mit andern Romanen, die Wiederholungen, Ergänzungen,
Verwicklungen und Abschweifungen darstellen, und Übertragungen: wie etwa
Thomas Manns Königliche Hoheit, bei aller Verschiebung, Entwicklung und
Umfärbung, eine Wiederaufnahme der Buddenbrooks ist. Entgegen scheint nur
das umfangreiche Werk der großen epischen Naturen zu stehn, erbaut zu einer
Reihe -- meist an Ton und Umfang sogar, nicht nur an Art und Komposition
gleicher Romane, deren keiner vor dem andern ausgezeichnet scheint. Für die
Novelle ist es die Ausnahme, daß sie allein bestehn muß; ihre Notwendigkeit
ist die Sammlung, der Band, ihr Gesetz ist die Gruppe. Ihr Streben zum
Absoluten erfüllt sich auf dem Wege der Ergänzung und ausfüllenden
Relation, denn sie hat zwar die formale Totalität jedes Kunstwerks, nicht
aber die stoffliche: selten ist das Faktum, in dem ihr Bau gipfelt, von so
einziger Rundheit und Strahlkraft, daß in ihr selbst die Einzigkeit des
schöpferischen Willens vollendet steht. Dem Roman wieder ist die stoffliche
Totalität, die Vollständigkeit des Weltbildes -- die kraft der Kunstmittel
dem Gesetz, daß Kunst Auswahl ist, so wenig widerspricht wie die Kunst der
Welt -- selbstverständlich. Aber große epische Naturen zwingen, eigenwillig
bei aller dienenden Objektivität, das Gesetz _ihrer_ Totalität dem Roman
auf und nötigen den einzelnen Roman, ungenügsam vor dem abgeschlossenen, in
der endlosen Fülle ihrer Anschauung in die Reihe. Für sie ist der Roman, so
geschlossen und undeutelbar sein eignes Leben auch steht, nur Kapitel im
Werke; und es ist natürlich, daß sie, falls das Leben ihnen Vollendung
gönnt, _einen_ Titel über die ganze Reihe setzen; sei es die Geschichte nur
der Rougon Macquarts, sei es die ganze Comédie humaine. In der Tat gehört
der Vater Goriot zu Eugénie Grandet wie die Grenadière zur Peau de Chagrin.
Diese Romanreihen des naturwissenschaftlichen Jahrhunderts, in einem Lande
entstanden, das zuerst die bürgerliche Wirtschaft, die bürgerliche
Gesellschaft, die Herrschaft des Bürgertums vollendete, sind Musterfälle
des deskriptiven Romans. Sie finden ihre Einheit und Totalität in der Fülle
des bürgerlichen Lebens selbst, in der Vollständigkeit der Typen, der
möglichst großen Zahl der Fälle; ganz deskriptiv dem bürgerlichen Leben
gegenüber und ohne jede Kritik, wie bei Balzac, dessen Romane eine über
alles, selbst das bürgerliche, Maß gediehene Dokumentierung der
Bürgerlichkeit und des Bürgertums sind -- ohne jede Kritik, denn Balzacs
gelegentliche Moralität ist, selbst bürgerlich, als Erscheinung des
bürgerlichen Lebens stofflich gegeben; oder mit einer destruktiven, in der
Wucht, Aufrichtigkeit und Schonungslosigkeit der Beschreibung liegenden
Kritik ohne bewußte Richtung. Die Richtung ist in dieser Kritik, wie Kritik
notwendig in jeder Beschreibung ist; sie kann hinein- oder herausgelesen
werden, von einem, der zugleich ein übersichtiger Leser und ein gewaltiger
Darsteller von gewaltsamer Aufrichtigkeit ist. -- Aber schon im Frankreich
des bürgerlichen Zeitalters geschah eine Fortentwicklung: Gustave Flaubert
fand den antibourgeoisen Roman, voll nicht nur innewohnenden, sondern
deutlichen Hasses, aber antibürgerlich noch und darum stark und befangen,
und antibürgerlich durch seine Vollkommenheit -- also durch Dasein und
schweigendes Ethos --, und mit dem Ergebnis einer überaus edlen Absonderung
und Privatheit.

In Rußland ersetzt die Einheit der Stimmung jene französische Einheit des
Stoffes, jene von der Grenze, die die Zahl der Erscheinungen bedeutet,
umzogne Einheit. Dostojewskis Romane, so unlyrisch, wie Epik nur irgend
sein kann (welche Überraschung, wenn im »Idioten« einmal ein Baum,
unbestimmter Gattung, mit Lyrik ein Herz bedrängt!), sind riesenhaft und
nahe, und fast grenzenlos, um das Herz der Erscheinungen getürmt,
einheitlich im Willen, -- der, heißt das freilich, unbestimmt ist und auch
den größeren Schein der Willenslosigkeit annehmen kann; -- und es sind,
auch hier, die Brüder Karamasoff ohne den Idioten zwar vollendet, zwar
vollkommen, aber nicht bis zum letzten Ende vollständig. In Italien, auf
vulkanischem, der Kontinuität der Epik abgünstigem Boden -- höchstens in
entarteten Malereien wird sie erreicht -- hätte vielleicht d'Annunzio ein
großes episches Werk vollbringen können, und es wäre seine Einheit von der
Leidenschaft oder doch von ihrer Geste bestimmt gewesen; Zufall, daß es
nicht dazu kam -- denn selbst die Wirksamkeit psychologischer Bedingnisse
nur aus der Seele des einzelnen Dichters ist ursprünglich Zufall, nicht
Gesetz. In Skandinavien sei an das Werk Knut Hamsuns erinnert; und es
entsteht vielleicht ein großes episches Werk in den Schöpfungen des großen
Dänen Aage von Kohl, seine Romane, außerordentlich an Umfang, Darstellung,
Gehalt und Bedeutung, sind zueinander bestimmt wie abgerundete Stücke eines
Werkes, das einst geschlossen sein wird.

Dies sei als Situation des europäischen Romans gegeben -- wobei man unter
»europäisch« nur die Benennung einer Herkunft, die Zugehörigkeit in die
noch lose Weite eines Kulturkreises zu verstehn hat, noch nicht eine
Eigenschaft, ein eindeutig charakteristisches Merkmal. Noch liegen
Provinzen der Seele und geistige Reiche zwischen dem mit ironischem Behagen
noch im Angriff durchtränkten, zu vielen Spitzen geschliffnen, klugen,
überlegnen, gesprächigen Romane des Anatole France und der urtümlich
hingeschleuderten, noch in der klingenden Klarheit dumpf durchbrausten,
ungefügen und rednerisch dunklen Buntheit der Werke Dostojewskis und seiner
Nachfolger. Sollte ein europäischer Roman entstehn -- »europäisch« im Sinne
einer Konzentration der Kräfte, im vollen Sinne eines Merkmals; im Sinne
einer kommenden Zeit, da die Musik der Ursprünge voll in das eherne Spiel
klarer, fechterisch gespannter, bronzener Gestalt gemündet hat --, sollte
ein europäischer Roman entstehn, so war Deutschland für seine Geburt
vorgesehn, geographisch und psychologisch, trotz aller Hemmnisse, die das
jetzige öffentliche Leben des Landes einem so schmerzhaft aufrichtigen, so
aggressiv politischen, in Leidenschaft und Geste so übermäßigen, einem so
zynischen Werke bedeutet hätte. Aber es gab in Deutschland kein großes
episches Werk, da es noch keine große epische Natur gegeben hatte. Wer war
bei uns? Vielleicht E. T. A. Hoffmann; aber seine Prosa, noch immer mehr
eine Angelegenheit der Philologen oder doch wenigstens schon der
Bibliophilen, aber nur in Bruchstücken weiter bekannt, war ohne Vielfalt,
war heftig, aber eintönig, und in den wesentlichen Stücken eng und von
mäßiger Faktur. Kleist, der größte Prosaiker bislang, dessen Stil die
meiste Intensität erreicht hatte, war im Kohlhaas jeder Ausbreitung eines
Romans nahe gewesen, aber er war abgeschweift, tendierte zur Novelle, und
sein Werk blieb so groß und im einzelnen einzig wie unvollendet. Keller, in
seinem Wesen mehr Epiker und mit größerer Bestimmtheit Epiker als
irgendeiner -- in seinem Gleichmut gegenüber allen Zuständen, seiner
Unerschütterlichkeit, dem oft schon recht gefährlichen Behagen --, hatte
sich willentlich beschränkt, nicht stofflich wie etwa Willibald Alexis, und
doch selbst stofflich auch; und er war herzlich, von epischer
Fühllosigkeit, doch ohne Inbrunst; seine Demokratie -- Epik ist
demokratisch -- war Gefühl und noch mehr Gewohnheit, und zu wenig Idee, um
die Einheit eines Werkes festzustellen. O, wir hatten Romane; Gutzkow, der
das Rechte wollte und von der Literaturgeschichte verleumdet wird, kam zu
keinem Ausgleich zwischen Geist und Wirklichkeit; es lag an ihm, an seinem
Lärm und seiner Unruhe noch mehr als an den Tatsachen; so führte er in ein
andres Gebiet und doch nicht weit von Tieck. Wir hatten Romane; Spielhagen
war vielleicht der bestimmten Anschauung einer gesamten Zeit in
Wirklichkeit nahe, aber er war bei aller Lebhaftigkeit befangen,
schwächlich und von frevlerischer Nüchternheit, nicht weniger Freytag.
Fontane beschränkte sich auf lebendige und warme Schilderung; Naturalisten
klebten an der Wirklichkeit wie ihr Gegner Heyse, ein Spieler, am Schein,
und waren dem Geiste gleich fern, fern und ferner. Sie alle -- erinnern wir
uns nur an Spielhagen -- waren Bürger, meist weniger in der Art Balzacs als
seiner Modelle. --

Betrachten wir das Werk Heinrich Manns. Er begann mit Novellen, in einem
Bande »Das Wunderbare«. Sie sind -- nicht für uns, die wir sie voll
genießen, aber vom Dichter aus gesehn -- Versuche. Sie ertasten den
dichterischen Ton und halten sich nahe am direkt und zunächst Poetischen.
In der Titelnovelle spielen die weißen Winden eine ähnliche Rolle wie Rosen
in einer Stormschen Erzählung. Das novellistische Ereignis ist eine
ungewöhnliche Begegnung in märchenhafter Landschaft; einer Landschaft,
deren Lage und Licht von ruhender Innigkeit breit beschrieben wird -- aber
schon hier wird, in verzehrender Gebärde, dem novellistischen Ausholen die
Frage enthoben: wie man leben soll, wie das Wunderbare aufnehmen, das
Geistige halten.

Diesen Orientierungen im Tone, in der Kunst der Erzählung folgt jene im
Stoff, in den Leidenschaften: es folgt, in großem Wurfe bereits des
Heinrich Mannschen Griffes, der Roman »Im Schlaraffenland«, ein »Roman
unter feinen Leuten.« Es bleibt unverständlich, daß dieser Roman des
Berliner Bürgertums nicht mindestens seine Modelle in einer ungeheuren
Explosion durcheinander schleuderte, so heftig ist er nach einer Seite
gespannt (-- aber das Berliner Bürgertum vermag eben sogar seine Karikatur
mit belanglosem Interesse zu verdauen, zu belächeln, und, da es sie sehr
gern bejaht, ohne Konsequenzen zu ziehn, abzustumpfen). Schon hier hat
Heinrich Mann Totalität erreicht, aber der Kreis ist ganz nach einer Seite
ausgewölbt, verzogen. Der große Stil der Leidenschaft, an Personen und
Gegenständen eines Kreises von machtvoller Alltäglichkeit, Verquollenheit
und Unform erprobt, muß eine riesige Groteske ergeben, aber eine Groteske
leidenschaftlichen Stils und machtvollen Formats. Schon reicht der Atem
Heinrich Manns zu souveräner Führung der Gestalten durch die ununterbrochne
Darstellung ausgedehnter Feste. Der Dichter, dessen Richtung auf das
Heroische, auf die großen Leidenschaften und die schönen Taten deutlicher
wird, ergreift zunächst mit einem wilden Gemisch aus feindlichem Interesse,
verächtlicher Aufmerksamkeit und sogar einer Art hassender Neigung -- für
alles, was selbst hier wahre Geste, Willen und Aufrichtigkeit bedeutet,
Lebensformen, die solchen, wie er sie sucht, so fern wie möglich liegen,
den Kreisen gütiger, geistiger Menschen, von denen heiße Jünglinge schon
schmerzlich träumen; ergreift diese Lebensformen. -- Er findet Fratzen,
fett überquellende und hagere; und findet, im Übermaß besorgter, aber
wuchtiger Arbeit, Gefallen an den Fratzen; verleugnet aber nicht, daß seine
Intensität nur halb wirkt, und ruht, wo sie inbrünstig werden soll, daß,
nach einem Meisterwerk bereits, wie es in jeder Hinsicht und Beziehung in
Deutschland ohne Vorgang ist, daß trotz erstaunlicher, fast übermäßig sich
gebärdender Sicherheit noch leerer Raum in ihm ist.

Gleich das nächste Werk ist das höchste, das farbigste, das stärkste, das
tiefste und lebendigste, das an Erfüllung möglich ist. Es sind --
ehrfürchtig formen unsre Lippen den vertrauten Namen -- die drei Romane der
Herzogin von Assy. Sie heißen: »Die Göttinnen.« Jene Violante von Assy --
ist einer unter uns, der sie nicht geliebt hat, seit sie in seiner Jugend
ihm an der dalmatinischen Küste begegnete, mit ihrer großen Welle schwarzen
Haars über steinerner Stirn; jene Violante von Assy, die dreier Göttinnen
Leben nacheinander durchmacht und damit alles Leben: Dianens, das heißt die
Politik, das heißt die Tat, die immer nur zur Freiheit will; Minervens, das
Leben der Kunst, des reinen Seins also und der klaren Einheit von Nähe und
Ferne im Geiste; und in dem der Venus sich erfüllt, in einer Liebe, die sie
selbst nicht ausschließt, die ungenügsam noch in der Leidenschaft ist und
gesonnen wäre, sich mit dem All eben zu begnügen, wenn sie sich, in jeder
Gestalt des Findens und Verbindens, nicht hütete auszuschweifen -- jene
Violante, die so in einem klaren Ende vergeht. Violante von Assy, deren
biegsam düstere Jugendgeschichte allein schon eine vollkommne Novelle ist;
Violante von Assy, die einem winzigen König, einem lächerlich Entarteten
der Macht, mit tödlicher Ruhe begegnet, die von einem bärtigen Tribunen
genommen wird, ohne auf den Gedanken zu kommen, daß sie sich je verlieren
könnte, die über die süchtigen, eifrigen Fettfalten eines Geldmannes die
matt gemeißelten Achseln zuckt; die mit dem Maler Jakobus ringt, daß Blut
spritzt, sich gegen Della Pergola, den gefährlichen Journalisten, mühelos
behauptet, die sich dem bezaubernden, primitiven, tierisch entwickelten
Abenteurer, dem Sohn der geschäftigen Fürstin Cucuru, bedenkenlos
überlassen darf; die der Bildhauerin Properzia Ponti, der großen massigen,
begegnet, die San Bacco, dem ritterlichen Freiheitskämpfer in allen
Erdteilen, ruhig und ernst geneigt ist, und die den Nino traumhaft liebt.
-- Aber wo sollen wir beginnen, und wo erst aufhören; die Fülle dieser
Bände, dieses erhabenen Kunstwerkes, aus dessen klaren und kaum
übersehbaren Massen nicht ein einziges Wort zu streichen ginge, anzudeuten,
dazu gehörte ein Band seines Umfangs -- und seines schwellenden Tones,
reif, süß, üppig und schmerzlich. Violante, Herzogin von Assy -- unter
allen, die uns umgaben, entgegen ihnen allen, die stolz auf ihre Kaste sind
und auf die Bezüge, in denen sie stehn, entgegen ihnen allen ist sie stolz
auf ihre Einzigkeit; auf ihren Typus also, der die Idee des Individuums ist
-- und damit verkündete sie, zuerst, die neue Größe des neuen Menschen. Wie
wäre von ihr auszusagen, außer mit den Worten Heinrich Manns! Da aber, nun
ist es oft genug gesagt, im Roman nichts fehlen darf, da _der_ Roman
vollkommen ist, der ganz ist und alles enthält -- und dieser: was enthält
er nicht! Von der dalmatinischen Revolution über die Ermordung der Blà bis
zur kurzen Aussprache mit dem alten Diener, die an ihrer Stelle kommen und
nach der Ökonomie des Ganzen nur dort und nur in diesem Umfange kommen
durfte, aber kommen mußte: nach dem Anfange des dritten Bandes -- -- darum
ist dieser dreifaltige Roman vollkommen. Was ließe sich mehr sagen als
dieses, das kaum genügt! Und er ist beschämend wie alles Vollkommne,
verpflichtend wie die Vollkommenheit -- und beglückend, da die
Vollkommenheit möglich ist und näher, heißer als nur Ziel und Möglichkeit!

Hier, ohne Studien und Übergang, ohne Reife, den Geruch nach Schweiß und
aufdringliches Bemühn, ist sie schon erreicht: die Vollkommenheit, die
Vieldeutigkeit aller Seiten; die Rundung der Töne (wenn Tamburini, der
bäurisch robuste Priester, der derb begabte Politiker der Kirche, mit
vollen Backen über dem Worte »Geld« hinausgeht, wir lachen nicht; nichts
von Groteske; wir sehn ihm feindlich vielleicht, aber in schweigender
Achtung und fast belustigt, was er tun wird, nach). Hier ist die Intensität
der Inbrunst nach der Skepsis; hier ist das verzweifelte Schillern des
Menschlichen, daß wir lesend erbeben, über so festem Grunde, daß wir die
Vergeßlichkeit verlernen. Hier ist die Strenge des Menschentums, die
Süßigkeit der Welt, groß geschwungne Üppigkeit und trunken taumelnde
Trauer, Anbetung und, inbrünstig und farbig auch sie, Ironie, irritierend,
belebend, nicht zersetzend. Hier ist Reife, Süße, Üppigkeit und Schmerz,
Gewalt des Menschen und Größe der Erde -- im Lächeln ewiger Statuen und im
Dunkeln fallender Terrassen, in Leidenschaften, Verwüstungen, Starrheit und
groß beweglicher Erhebung, hier ist der Mensch; das Neue; die große Zeit,
hier schon erfüllt: »ich möchte, daß Sie das andere sehen: das was sein
könnte und im Grunde auch ist.« Hier ist, unvermittelt und kostbar, die
mehr als die Zukunft bedeutet: die Zeitlosigkeit unsrer Zeit.

Kein Atemholen: der Atem reicht, in kurzer Zeit den starken Band der »Jagd
nach Liebe« folgen zu lassen. Ein Thema aus den Romanen der Herzogin: wie
Claude Marehn, wie die Gestalten dieses Buches, ja wie seine Vorgänge und
sein Stil gehetzt, aufgeregt und auf dem Zuge sind, so jagte Rustschuk
hinter Violante, und nicht nur Rustschuk. Ein Thema der Romane Violantes,
im Bande der Venus schon vollendet, hier aber zu einem Weltbild
zugeschärft: aus dem Gesichtswinkel einer Manie, der reichsten übrigens,
und ohne jede Verzerrung. Wenn hier auch München das Berlin des ersten
Romans ablöst, hier ist nur noch ein Schein von Bürgertum oder seiner
andern Seite, der Bohème, nichts von Groteske. Zwar Macht, Geld, Erfolg,
alles Erstrebenswerte des Bürgers wird genannt, und es geschieht im
bürgerlichen Sinne höchst Verblüffendes -- doch dieses Buch steht schon
nach der reinen Erfüllung der Herzogin von Assy; da ist zuviel
Leidenschaft, um die versteckte Halbohnmacht einer Groteske, die, wenn auch
sieghaft, den überlegnen Geist dem Bürgertum ausliefert, zu erlauben. Nur
die Kapitelüberschriften wiederholen den im Schlaraffenlande bereits zu
Ende versuchten Ton. Hier ist, ganz in Handlung, für den bürgerlichen
Alltag allzurasche, unerhörte, umgesetzt, ein Lied: kalte schleudernde oder
funkelnde Abenteuer. Hinter den Abschnitten eines Festes, das in breitem
Zuge Treppen und Flure eines Hauses und in langem Erzähleratem ein weites
Kapitel füllt, erscheint jedesmal ein liebendes Paar, das stumm sich selig
aneinander hält und blickt: ein Handlungsrefrain, wie er nun -- etwa seit
Phili vom Hause der Assy in der Papierkrone durch den nüchternen Morgen
stolperte -- häufig wird; ein Flötenruf, eine unsagbare Geste, ein
Schmerzwort, das die Zähne bloß zerrt, ein Dolchstoß des unerbittlichen,
schamlosen Geistes, und wieder ein Flötenruf: Handlungen, die Kehrreime in
einem Liede sind. Das Lied, hier hat es ein Ende: Claude liegt zu Bett,
sterbend und verzehrt wie die Assy, aber nicht erfüllt, satt, voll Geist
und Licht gesogen wie die Assy; Geldgierige um sein Bett wie um ihrs; eine
Ergänzung: was für ein andres, verzognes Sterben! Aber Ute ist bei ihm,
während Violante einsam lag, -- denn Nino war in jenem öffentlichen Hause,
schmachlos, wild, vorzeitig gefallen, wie es notwendig war. Hier gibt es
Ute, die wir so liebten, mit ihrem roten Haar und großen Gliedern!

Weiter: ein Band Novellen, »Flöten und Dolche«. Hier ist jene Fulvia,
uralt, die Liebesgeschichten verachtet hat, weil ihr Herz nach Wichtigerem
schlug, nach der Freiheit. Und sie, die Frau, lehrte die Freiheit den
Stolzen, Besitzenden, Abweisenden, der die Geliebte des Freiheitskämpfers
verlangte, -- daß auch er lernte, für die Freiheit zu fallen. Oder für sie,
Fulvia? Nein: für die Freiheit. Die Liebe hat sich der Idee unterstellt; zu
holdem Selbstbetrug vielleicht, aber blutig und im vollen Ernst. Daneben
steht der »Drei-Minuten-Roman«: jenes Mannes, der die Gefährtin, eine
sinkende und schon entwertete Courtisane, nach geringen Versuchen nie
geliebt hat und immer zu lieben wünschte: und dem einmal, vielleicht, das
Leben wirklich war, als er um sie in einer dunklen Straße kurz weinte; aber
schon damals war er namenlos stolz auf diese Tränen . . . In »Pippo Spano«
äußert sich die Meistergestalt dieses Buches, vorgezeichnet in allem, was
Mann bisher geschaffen hatte, und erwartet, seit ihre Elemente in den
Romanen der Herzogin lagen: der Komödiant, der gewissenhafte Abenteurer
verantwortungsvoller Worte. Ihm wird die Leidenschaft der großen, starken,
raschen Menschen zugetragen, um die er weiß, nach der er sich kaum zu
sehnen wagt; ein leidenschaftlicher Versuch verstrickt ihn, sie anzunehmen
-- ihn, dem die Entführung der kleinen Prinzessin Nora doch nur seelische
Übung war, nicht einmal gesellschaftliche Habilitation --; ihm gelingt noch
der Glaube an dieses Leben, dieses heroische Leben der Frau, die das Buch
besiegt; aber schon denkt er, was für ein Werk er daraus formen wird,
spielt auf der Bühne seines Manuskripts, die Tat mißlingt, er bleibt: ein
beschämter, verurteilter Komödiant. Welche Herbheit! welche Süßigkeit! Wie
hat er gespielt! Wie hat er gelebt -- nicht wissend, daß er lebte, daß
dieses Leben war, doppelt, da er dies Leben, dieses Versagen erlebte! So
weit und reich ist das Leben in der Novelle Heinrich Manns; in jenen kühnen
Sätzen, in denen seit der Herzogin von Assy die ganze Seele in eine rasche,
berückende, prunkende Geste gebracht ist (und dies bei Menschen, die alles
andre eher als primitiv sind); in denen selten eine direkte Rührung, immer
aber eine direkte Erschütterung aufgerissen ist. Das Sein gerann in ihnen
-- sie sind längst nicht lebend, mehr als ein Aufriß, viel mehr als ein
Ausschnitt des Lebens, sie sind Tat. Und es kommt alles auf die Tat an,
eine Verwandlung ist geschehn, die unvergänglich ist: ein Märchen steht
hier, schnell und kühn auch dieses, in berückenden Absätzen, durch die es
flügelnd rauscht, ehern tönt und edelsteinern funkelt wie in allen Sätzen
Heinrich Manns; ein Märchen steht hier, ein Leben abwickelnd, und heißt
»ein Gang vors Tor«. Da er zurückkehrt, müde, bestaubt und verdorben, der
Ausgezogne, der Mensch, und erfährt, daß alles: Liebe, Wunden, Verbrechen,
Sehnsucht und Taten nur ein Gang vors Tor waren, denn das Beste war immer
geschehn, bevor er die Augen öffnete, sein Traum hatte es vorweggespielt --
da kehrt er um und will lieber, als bei den Alten sitzen zu bleiben, den
Gang vors Tor noch einmal tun und wieder alles beginnen, was er versucht
hat. In dieser übernatürlichen, antinaturalistischen Kunst, in der die
Realität nicht um des Bildes, um der Kunst willen verachtet wird, sondern
zugunsten der Wahrheit, die Zukunft heißt, -- grade in ihr siegt, für
immer, die Aktivität des Lebens.

Der folgende Roman, »Professor Unrat«, ist der »Natur« näher, als, bis auf
wenige spätere Novellen, eins der Mannschen Bücher; aber auch er, da er sie
konzentriert, ordnet und versammelt, belebt und besinnt sie; nur seine
Farbe bleibt ihr näher. Es gilt »das Ende eines Tyrannen«, das andre
Problem: die Macht. Sie, die Verrat am Geiste ist -- und äußere der Geist
sich nur am Stehpult in einer grammatischen Arbeit, die, formal und fein,
scharf und wesentlich dennoch einsam macht und erdrückt, --, muß ohne
Liebe, ohne mindestens den Ausgleich der Demokratie, zum Irrsinn führen:
der Mächtigste selbst, wenn seine Maßlosigkeit der unterworfne Pöbel dumpf
erträgt, entfesselt die Anarchie. Welche Steigerung des Gefühls gibt es
denn noch, als gegen sich selbst die Gewalt loszulassen? Daß
Gymnasialprofessor Unrat an einer Chansonette zuschanden wird, bis zu der
er seine Schüler verfolgt -- den einen vor allen, der dem Geiste verfallen
scheint und der Macht am gefährlichsten ist, da er sie von vornherein
prompt und einfach bezweifelt --; die scharfe Heiterkeit dieses Buches; das
Ungeheure der Unratschen Entgleisungen; der dröhnende Weltwitz, daß die
Künstlerin Fröhlich, da sie der Macht nicht unterworfen werden kann, ihr
gesellt werden muß und sie unfaßlich widerlegt und entarten macht; dies auf
dem Grunde der Erkenntnis, daß der Bürger vor allen wurzellos ist, denn er
klebt -- dieses alles und daß dieses Buch neben allem auch amüsant ist,
hindert und ändert nicht, daß es beispielhaft ist, ernst, und das Leben
achtet, dem es sich unlegendär näher hält. Auch zu ihm wachsen Fäden von
den »Göttinnen«: dieser Lohmann, wenn auch ein Kaufmannssohn der
norddeutschen Kleinstadt, ist ein gymnasialer Verwandter Ninos, die
Gesellschaft der Künstlerin Fröhlich läßt noch einmal an jenen Variétéhahn
des dritten Bandes denken, und ein fernes Bild der Herzogin selbst taucht
in der exotischen Gattin eines Konsuls auf, zu der Lohmann seine heftige,
schwermütige, tief wahre und in der Form ein wenig mühsame Liebe, die mehr
als nur aus Liebe notwendig ist, richtet.

Sie ist, diese Liebe, Thema einer Novelle »Die Unbekannte« des nächsten
Bandes »Stürmische Morgen«. Die Gewalt einer Liebe wird zusammengefaßt;
feierlicher, da sie schon in einer Knabenseele sich ereignet, größer, da
sie mehr als nur Liebe, da sie die Beziehung zum Besondren, zur Schönheit
und Bewegtheit des Lebens ist, Traum der Tat und Notwehr gegen den
bürgerlichen Tag; und da sie nur ernster ist vor dem grausam witzigen
Abbruch, der diesem Knabenherzen angetan wird, das -- unverlogen, aber rein
dargestellt, wie es eben ist -- reiner ist als die Welt. »Abdankung«
wiederholt, knapp und gewaltsamer im kleineren Kreise, das Thema von der
Macht, die sich überbieten muß, der nur die Wollust noch bleibt, im letzten
Übermut die unterworfnen Gewalten gegen die eigne verworfen hingewandte
Brust aufstehn zu heißen. Auch diese Novelle endet kurz in ungeheurem
Ernste. -- Und »Heldin«, die stirbt, damit sie die Welt gut wissen darf;
lebt sie doch von ihrer Liebe! und »Jungfrauen«, die sich noch einmal aus
dem Sturm in den heiteren Kreis ihres schwesterlichen Lebensmorgens retten
-- welche Anfänge! Was für Morgenluft auf diesen Seiten! Meerfrisch, voll
Witterung der Küsten einer Zukunft; Kinder, die nicht verkindlicht werden,
verwickelte und nicht umgelogne Kinder einer großen Zeit und des ewigen
Landes.

Stärker werden Macht und Geist, Erfolg und Liebe kontrastiert in dem Roman:
»Zwischen den Rassen«. Ganz gleich, ob er eigner Not entstammt, wie
Professor Unrat vielleicht eigner Rache, -- ist nicht auch er im Werke
Heinrich Manns von Anfang bestimmt? Nicht als Abkehr von den Unrassigen des
Schlaraffenlandes: aber Violante von Assy stand über den Rassen -- allen
fern und geheimnisvoll zugewendet! Man erwarte hier keine
naturwissenschaftlichen Probleme, keine billigen und falschen Theoreme: der
Kampfplatz der Rassen ist das eigne Herz, es geht nicht um Blutmischung,
die höchstens Anhalt und Ausdruck ist, sondern um Lebensführung. Was ist
denn Wirklichkeit; ist alles Leben mehr als ein Gang vors Tor; sollen wir
das Wunderbare zerstückelt tun oder ganz betrachten? Violante von Assy, die
zeitlose Heilige unsrer Zeit, konnte nacheinander dem Geist und der Tat,
der Anschauung und der Handlung leben, und lebte schließlich doch alles in
jedem. Wir müssen uns entscheiden. Und es siegt die Betrachtung, die sich
zur Handlung aufreißt und aufrichtet, der Geist -- und jeder andre ist
vernichtet --, der Tat gebiert, selbst Tat wird. Es siegt Arnold, als er
aus sich tritt und mehr vermag als Pardi. Aber was sagt dies, ohnmächtige
Abstraktionen, von der Fülle und Gewalt dieser Dichtung! In ihr ist nicht
nur Jagd nach Liebe: in ihr ist Liebe. »Wie wir uns lieben!« -- von hier an
klingt es immer wieder. Wir schlagen auf: eine Mondnacht steht da, in zwei
Sätzen weit, groß und ewig, weiß über brennende Büsche an den Waldrand. Wir
blättern weiter: jede Nuance jeder Art von Geselligkeit, die raschen, mäßig
wahren Wallungen einer einfachen Seele und jede Besinnung einer
schwierigen. -- Es muß noch einmal wiederholt werden: der Roman ist um so
besser, je mehr er Dinge enthält und je aufrichtiger er sie darstellt.
Dieser hier enthält wie jeder Heinrich Manns und kaum weniger als die
Romane der Herzogin von Assy alles, und mit der unnaturalistischen
Lebensnähe letzter Wahrheit.

Wieder ein Roman: »Die kleine Stadt«. War jener ein Lied, ehern gesungen
aus schluchzenden, zuckenden Mündern, war die Herzogin von Assy eine
Kantate des Lebens, dieser ist ein fugiertes Hohes Lied, von einer
Polyphonie, daß die Bewunderung die Sprache verliert. Die ganze Comédie
humaine auf engem Raume, und nicht mehr Comédie; es gibt keinen Roman
Europas, der mehr Gestalten bewegt, nicht einmal der der Göttinnen; aber
wie sollte je ein Leser den Schneider Chiaralunzi mit dem Kaufmann
Mancafede verwechseln! Die ganze Stadt ist Held dieses Buches; der zum
Zwerge versunkne Uralte und der Baron, der Caféhauswirt und der Priester,
der Advokat und die Hühnerlucia, Nello Gennari und Alba, und sie alle,
jeder umhüllt von seiner Musik. -- Das furiose Accelerando bis zum
Prestissimo politischen Kampfes, der -- merkt es wohl! -- aufrichtig, um
das Ideal, in bitterem Ernst geschieht; das Andante der Andacht, Allegro
staccato geistiger oder künstlerischer Leidenschaft, und das verlorne
Zeitmaß der Liebe -- Heinrich Mann, dem die Kunst am ehsten sich immer in
Bildern darstellt, während am Gesang ihn die Arbeit, das Werden
interessiert, hat das äußerste an Musik den Dingen hergegeben und aus ihnen
gezogen; nicht in der berauschenden Sprache nur, mehr als nur in der
außerordentlichen Komposition: in den Begegnungen der Seelen, in den
Geschehnissen, im Ablauf und im Sinn. Und in der Musik selbst: in der
Aufführung der Armen Tonietta, die eine zielsichere Hand über Terrassen und
durch Kapitel dehnt und leitet, wie das Spiel im dritten Bande der
Göttinnen. Was für ein Regisseur! So ist, vice versa, der Kampf zwischen
den Parteien kapitellang geführt, genau und unpedantisch, atemlos in der
Gebärde und mit überlegen gespartem Atem in der Darstellung; eine Holzerei,
könnte der Kritiker einer Realität sagen, aber an Ernst und Bedeutung gewiß
nicht die gewöhnliche Klopffechterei der sattsam bekannten Dramatik,
antwortet ein aufrichtiger Leser. Eine Komödiantengesellschaft ist in die
Stadt gekommen: und ihr Leben und ihre Kunst verändern die Stadt,
vergeistigen und vergröbern sie, stürzen und erheben sie, führen sie
menschlich zusammen zu Tod und Frieden. Im Dichter war von je die Sehnsucht
übermächtig -- nicht nur nach jenen gütigen, geistigen Menschen, von denen
in besten Zeiten Jünglinge träumen: nach jenen Menschen wenigstens, die
stark und einheitlich leben, die so stark sind und so groß glauben, daß sie
zur Tat kommen -- sei es auch noch nicht die größte, die gütige Tat (zu der
freilich, im stürmischen Morgen, jenes junge Mädchen, die Heldin kam); nach
jenen Menschen, die wir nur noch, wie Pippo Spano, im Bilde kennen. So
hatte Heinrich Mann die Menschen zu den Bildern geflüchtet, hatte
Renaissancenaturen in die heutige Umwelt gestellt: in diesen letzten Bänden
sind sie zu Menschen von der Wucht, dem herrischen Selbst, der reinen
Stärke, der Verschrobenheit und harten Vielfältigkeit der Renaissance
ausgestaltet, Menschen dieser Zeit oder einer kommenden. Und in der kleinen
Stadt, die dies nach unten vollendet, leben Menschen, die, wie das Volk
jener Zeit gewesen sein mag, sind. Er ist gerecht, der Dichter: auch der
Priester, der Fanatische, ist verirrter Diener am Geiste und
gerechtfertigt.

Dies ist nun das Geschehnis des nächsten Bandes, der Novellen, die nach der
ersten »Das Herz« heißen; in einem Wort: die Renaissance des Menschen. Wie
sollte es möglich sein, von diesen Novellen etwas zu sagen! Etwas, das mehr
wäre als dies: sie erzählen von Herzen; sie vollenden die Renaissance des
Menschen. Sie sind dem übrigen Werke fest verbunden: die Geschichte der
armen Tonietta wird erzählt, dem nächsten Roman in wilder, genauer
Verspottung vorgearbeitet (»Gretchen«); Herzen dulden und erfüllen sich;
das Geschick der Schauspielerin wird wieder aufgenommen, und auch ihm
geschieht die äußerste Erfüllung: die Härte schmilzt ab; daß sie spielen
wird, daß sie im Wahnsinn peinvollen Erlebens schon aus dem Grunde ihrer
Seele spielte, das rettet sie, es ist Ursprung und Heilung der Mängel ihres
Erlebens, ist Gift und Heilmittel. Dies gilt, und gilt viel weiter: der
Schauspieler, der alle Keime der vielen Gestalten seines Herzens wechselnd
entwickelt, ist das Urbild des Künstlers, denn alle Kunst ist
Selbstdarstellung; nicht nur die Dichtung Heinrich Manns, sogar die
Malerei; und letzten Endes ist der Schauspieler der deutlichste Ausdruck
des Menschen, mindestens des sozialen Menschen, wohl des moralischen
Menschen, und wohl des ganzen Menschen überhaupt.

In den Romanen der Herzogin von Assy trafen und erkannten sich Renaissance
und das Heute -- nein, das Morgen -- in der Mitte: in heroischer Landschaft
der Gegenwart. Im letzten Novellenbande, der »Rückkehr vom Hades«, ist
einheitlich von der späten Antike bis in die Zeit des Risorgimento die
Renaissance des Menschen -- als Mal für das lebende Geschlecht
durchgeführt. Die Rückkehr vom Hades, ernstestes Komädiantenstück, voll
Süßigkeit und Wildheit, thrazischem Aberglauben und achivischer Andacht;
die Branzilla, Sängerin, härter als Properzia Ponti, nur physisch von der
Sängerin der kleinen Stadt verschieden, sie, die böse ist vor Größe, sie,
die Verbrecherin des Vollkommnen. Wie ist hier gearbeitet: drei die Zeit
deutlich machende Winzigkeiten -- eine Borte, ein Toilettenstück, irgend
etwas -- werden angegeben; dann beginnt ein Dialog, der, die Stichworte
selbst aufnehmend, meist Monolog ist; und ergießt sein letztes. Ferner:
Mnaïs, die andre Galathea, die dem vor sie hingestohlnen Knaben nachts ihr
einfaches Hirtinnen- und Statuengeschick erzählt, abergläubisch, innig in
gütiger Bescheidenheit, bebend vor Süße. »Einfach sein und sich lieben!«
wiederholte Properzia Ponti, die das eine nicht, das andre zu gewaltig und
falsch konnte. Ähnlich diesen der Monolog der Ginevra degli Amieri, die (in
»Zwischen den Rassen« schon erwähnt) nach dem Tode wiederkommt und nur vom
Geliebten, dem sie sich zu gestehn nicht gewagt hatte, aufgenommen wird.
Und »Der Tyrann«, der Branzilla im Bösen und in der Einsamkeit verwandt,
vollkommen im Verbrechen, der, dennoch sehnsüchtig aus der Macht, die
Wahrheit sagte, als er verriet, gegen sich selbst, und verzerrt bleibt
statt beschämt. Alle diese Erhabenheit, diese sanften und harten, diese
schonungslosen Werke -- und das letzte: »Auferstehung«, das Werk von
unerreichter Komposition, unnachahmlich gedrängter Kraft des Vorgangs und
des Tones -- die Geschichte jenes Abtrünnigen und doch Zurückgeführten, die
man auf den Knien lesen sollte: sie hat unser Leben errettet, wir können
uns nicht mehr töten, vielleicht werden wir ewig sein: unvermittelt ist zu
wissen, daß der Weg der Menschheit, führe er im Kreise und durch Not und
Schmutz, daß er aufwärts steigt; gehe er durch Jahrhunderte oder
Jahrtausende, er geht zum Ziel, und nicht zu einem zufälligen: zur
Menschheit, des Menschen Weg. Ihn führt, den Weg des Geistes, auch hier die
Liebe; wie schon Fulvia, wie Violante von Assy, ist die Frau vielleicht
nicht Trägerin der Idee -- auch dies mag sein -- aber Führerin; sie mag sie
selbst vom Manne genommen haben, mag sein, sie fanden sich in ihr -- und
ihr führt sie den andern zu.

Schon liegen neue Novellen vor, an die Art des Bandes »Das Herz«
geschlossen, in wenigen Sätzen das Wesen eines Geschicks, die Seltsamkeit
des Vertrauten, den Sinn des Alltags sagend: »Der Vater« etwa, und »Der
Bruder«. Groß steht unter ihnen »Die Tote«, die Novelle eines Betrognen,
der sich betrügen läßt -- da dieser Betrug seine Seele reicher wandelt,
statt sie aufzuheben; es kommt für diese Entwicklung des Geistes so wenig
auf das Mittel an, daß nicht nur ein Betrug, sondern sogar ein in jeder
Hinsicht -- ökonomisch und psychisch -- unwirksamer Betrug sie bewirkt:
doppelte Parodie, und wie reich, und wie einfach! Schon besteht ein neuer
Roman, »Der Untertan«. Noch einmal kehrt Heinrich Mann in die deutsche
kleine Stadt zurück, zu unerbittlicher Kritik, hingestellt, nicht
hingesagt, in einem Kunstwerk von geschmeidiger Härte. Er findet nur einen
Gerechten, den alten Buck, den Aufrechten der vierziger Jahre, einen
deutschen, ruhigeren, aber nicht weniger festen San Bacco. Und dieser
stirbt: am Ende liegt er auf dem Bett, wie früher Claude Marehn und
Violante von Assy; und an _seinem_ Bett erscheint der Feind. Wäre nicht die
Hoffnung, daß einige Knaben mit gefurchteren Stirnen, als sie in der Stadt
üblich sind, noch bis zuletzt ihn, den Verfemten, gegrüßt haben -- o, warum
sind die San Baccos, die Bucks so alt! und die Ninos sind so gefährdet! --
Dies wird als der Roman des neuen Kurses, der erste und der einzige,
bekannt werden, eindringlicher, als es kurz gesagt werden kann; und wenn
dem Bürger den ersten Roman noch zu genießen gelang, hier empfängt er den
Todesstoß.

Dies ist das epische Werk Heinrich Manns -- zu dessen Lobe noch etwas sagen
zu wollen vermessen wäre. Aber es ist noch nicht das Werk: da sind noch die
Dramen, deren eins »die Schauspielerin« wieder darstellt, und eins,
»Variété«, Episoden der Umgebung, die ihr Geschick ist, da ist die rührende
Gestalt Brabachs, und Madame Legros, die neue, einfachere, aber reiner
besessene Jungfrau von Orleans, davon entzündet, daß ein Unschuldiger
leidet, darum in eine Umgebung sich begebend, die gelockert ist, weil keine
Idee sie hält, die zerfallen wird -- und einfach zu sich zurückkehrend.

Da sind noch Essays, in einer bisher ungekannten Vollendung; über »Geist
und Tat« die wichtigsten, Aufrufe zum Geiste (und des Geistes zur Tat)
gegen die Macht, über Flaubert, Choderlos de Laclos, Zola. Auch diese
Aufsätze gehören in das Werk eines Unerschöpflichen. Es nimmt einen Umfang
an, daß die homerische Frage aufgeworfen werden könnte, wenn ihn nicht
einige gesehn und gehört hätten -- einen Mann hinter einem Werke. Seine
Aufsätze sind Romane europäischer Begebenheiten und Personen, Novellen
europäischer Gedanken (die keiner besser formulieren könnte, als er es tat:
im Aufsatz über den Europäer, den er erkannte, wenn er ihn nicht
entdeckte). Sie haben den heroischen Stil seiner Epik, diese Wendungen, die
erzittern lassen vor ihrer Genauigkeit, diese Sätze, die Tore aufsprengen
bis in den Abgrund, diese Leuchtkugelworte, die Musik dieses Schmelzens
oder Berstens. Seine Sprache, das vollendetste Deutsch, das seit Heinrich
von Kleist geschrieben wurde (aber den an Härte übertrifft wie Stifter an
Reinheit, den Amerikaner Poe an Präzision; und Shakespeares gelenkigen
Überschwang erreicht), seine Sprache hat die Vorzüge aller europäischen
Dialekte; ihr gelingt das südlich dunkle Timbre und die scharfe
Sachlichkeit eines gescheiten Norddeutschen; sie kann die ausrufende,
biegsame Naivität des Italienischen haben und die schnelle Helligkeit des
Französischen, ja seine hart hitzigen Wendungen, seine Verschiebungen
gewinnen, -- und kann dies alles, während sie mehr als nur fehlerloses
Deutsch bleibt. Das ist die europäische Sprache -- europäischer Romane, des
europäischen Romans, den Heinrich Mann geschaffen hat.

Was vermag dieser Stil! Wie biegt er sich, und wie trifft er: Ginevras Hirn
liegt entblößt, daß wir jede Mühsal ihres Erkennens fühlen und erschreckt
in ihre Zeit beschränkt sind; aber auch die sanfte Stirn der Contessa Blà
leuchtet klar, auch Käthchen Zillig sitzt auf starken Rundungen weißblond
bei uns, und die Künstlerin Fröhlich bewegt sich -- so schafft er mit
bildnerischer Kraft den Leib. Wir schlagen einen Band auf -- das erste
Wort, wir lesen: »mit trocknem Mißtrauen«. Wer fühlt es nicht? Wir blättern
-- es ist »Zwischen den Rassen« -- zum ersten besten: »Gugigl warf
ironische Blicke dazwischen; plötzlich schnitt er ein Gesicht und fragte,
ob die Rede von Zuckerwerk sei. Die Damen kicherten. Pardi hatte nicht
verstanden. Er blieb süß; und doch ging in seinem Lächeln jäh ein
Hinterhalt auf, eine Drohung. Gugigl bekam eine treuherzige Miene. Darauf
verbeugte Pardi sich ein wenig, als habe er Genugtuung erhalten, -- und
wendete sich wieder Lola zu.« Wieviel Wechsel in einem Satze! Was für
Verbindungen! Durch was für Zustände sind wir geführt worden! Aber um was
nicht weiß auch alles dieser Dichter; welche Geheimnisse, welche Künste,
welche Rezepte -- wie etwa, in der kleinen Stadt, jenes Italias mit den
getrennten Fingern! Dieser Stil bleibt absolut überlegen jeder Situation,
der unwahrscheinlichen Fülle von Episoden: das heißt er ist episch.
Vielleicht wäre diese epische Fülle nicht möglich, wenn Mann Lyriker wäre,
bei einer Vielzahl lyrischer Entladungen. So kommt, aus verdrängter Lyrik
-- welche Arbeit! welche Entsagung! -- die tiefe Färbung jeder Einzelszene,
die Glut, Herbheit und Süßigkeit, das Wirkende. Denn das Wirkende jeder
Einzelheit in der Kunst ist lyrisch, alles Verbindende episch.

Als Epiker geht Heinrich Mann ganz in die Menschenerde ein. Er fragt nicht
nach dem Himmel, Gott ist höchstens ein Requisit der Gestalt; ihn selbst
kümmert er nicht, und von der Hölle zeigt er nur die Zurückgekehrten. Aber
nicht mehr, wie im bürgerlichen Roman, gilt es Charaktere; sondern mehr, es
gilt Menschen. Psychologie ist nicht mehr als ein Mittel. Seine Gestalten
sind ihr Typus, sind die Idee ihrer selbst. Wovon sprechen sie, in seiner
Sprache? Von sich selbst, vom Leben, weil es des Menschen Leben ist, und
vom Ideal; alles andre ist Durchgang, Ausdruck oder Zubehör. Wovon sprechen
sie? Sie antworten sich immer selbst, mit Ausrufen, die einschneiden, sie
erwarten nur Antworten, die sie schon wissen. »Wie wir uns lieben!«

Es sind die letzten Menschen, die erlebten und zu erleben sind. Zwar die
Skepsis erschüttert nur den Tyrannen (warum nicht den Empörer? ganz
einfach: weil er recht hat!), doch sie alle sind fragwürdig gemacht, alle,
sie haben sich zu behaupten. Man könnte sagen: amerikanische Schicksale --
wenn die Unbegrenztheit ihrer Möglichkeiten nicht auf einer bewußten
Regelung ihrer Triebe beruhte und nicht getränkt mit allen Raffinements und
allen Edelmuten Europas wäre; und wenn die Farbe nicht ins Romanische
tendierte, also höchstens nach Südamerika, das wir nicht recht zu Amerika
mehr rechnen. Sie alle haben sich in diesen Schicksalen zu behaupten, warum
sind die San Baccos alt, die Rinos so gefährdet, warum stirbt Violante,
unbewegt und nach allen Erschütterungen? Sie sind in Frage gestellt, aber
diese Fragwürdigkeit, zu allem bereit, ist unsre Kraft. Das Abenteuer ist
unser Beginn. Dieses Werk ist, weit über das Antibourgeoise hinaus, die
große Folge des unbürgerlichen Romans. Der Dichter sagt, wen er Bürger
nennt: »alle, die häßlich empfinden und ihre häßlichen Empfindungen
obendrein lügenhaft ausdrücken«. Nichts mehr von Bürgertum, nichts mehr vom
Tage. Es gilt die weiteste Beziehung; nicht einer Familie wird durch die
Zeiten gefolgt: eine Rasse wird in der Ewigkeit der Zeit gelebt, die
geistige, die Menschheit heißt. Die Menschheit, nicht mehr als Comédie,
schonungslos und ehrfürchtig angesehn, hinter dem Erfolg, auf der Jagd nach
Liebe, die große, arme Menschheit, menschlich betrachtet, nach ihrem Recht
befragt und mit ihrer Verheißung gesegnet.

Alles ist in diesem Werk, alles Menschliche. Alles: Liebe und Erfolg, das
Geld (groß ist, daß es hier nicht wie so oft verschwiegen oder verleugnet
wird), Sucht nach Liebe und nach Erfolg, Qual des Strebens und Bitterkeit
des Gelingens, das Schwerste sogar: das Vollkommene -- ist Schönheit
geworden. Was aber ist Schönheit?

Erstens: eine Waffe, dann -- ein Gebot. Und dann eine Verpflichtung. Kein
Sein und keine Ruhe. Aufreizend, revolutionär. Hier ist keine Schilderung,
kein Abmalen, hier ist kein Verweilen, das Romanwerk ist unter die Idee
gestellt. Unter welche? Es gibt, von hier aus und zur Schönheit, nur eine:
die Renaissance der Menschheit. Ihre Rufe: Gerechtigkeit! darum: Freiheit!,
und darum: Demokratie! und Tat! Um ihretwillen hat Mann dem ihm doch
fremden Zola preisend nachgelebt, sie hat er aus dem französischen Werke
entwickelt. Sein eignes Werk, groß wie mindestens die Comédie humaine, ist
der Roman, der die Idee wiedergefunden hat. Er, der Leidenschaftlichste,
wenn nicht von Person, so doch zumindest im Werk: er bekennt den
Rationalismus, nicht für die Betrachtung -- für die Ordnung. Die Kunst
steht immer, wenn sie echt ist, ganz auf der linken Seite; auch ist sie
rechts, die viel zu viel Bewegung hat, von je verdächtig. Die großen
Romanwerke waren, außer den sehr anzweifelbaren Walter Scotts, liberal. Das
letzte, Heinrich Manns, zieht die Konsequenz: es ist demokratisch. Dies
aber im Sinne der groß, frei und ganz Lebenden, der Starken und Tätigen,
der Gütigen und Geistigen -- es ist also die echte Demokratie, die nichts
als die verwandelte Aristokratie ist: möglichste Herrschaft des Geistes,
Tat des Geistes, der die Gewalt vernichtet. Hier greift er zu seinem
nächsten, der Kunst, die nun ganz Ausdruck ist. Der neue Roman, europäisch,
unbürgerlich und revolutionär, hat im Werke Heinrich Manns die Idee auf
sich genommen: die Renaissance der Menschheit, die Auferstehung.





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