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Title: Briefe aus dem Gefängnis
Author: Luxemburg, Rosa, 1871-1919
Language: German
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  [ Anmerkungen zur Transkription:

    Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit _ markiert.

    Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden
    übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler wurden
    korrigiert. Eine Liste der vorgenommenen Änderungen findet
    sich am Ende des Textes.

    Inkonsistente oder falsche Schreibweisen von Eigennamen
    (Wolf/Wolff, Hoffmannsthal) wurden beibehalten.
  ]



                             ROSA LUXEMBURG

                        BRIEFE AUS DEM GEFÄNGNIS



                    INTERNATIONALE JUGENDBIBLIOTHEK
                                 Nr. 10


                             ROSA LUXEMBURG

                        Briefe aus dem Gefängnis

                   Mit einem Bild und einem Faksimile


                                  1922

                    VERLAG DER JUGENDINTERNATIONALE
                           BERLIN-SCHÖNEBERG



       Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung
                              Copyright by
          Verlag der _Jugendinternationale_, Berlin-Schöneberg

                          21. BIS 40. TAUSEND

                           Herausgegeben vom
        Exekutivkomitee der Kommunistischen Jugendinternationale

       Druck von Walter Grützmacher, Berlin SW 61, Blücherstr. 22



                     [Illustration: Rosa Luxemburg]



Zur Einführung


Drei Jahre und vier Monate hat Rosa Luxemburg während des Krieges im
Gefängnis verbracht, ein Jahr (vom Februar 1915 bis Februar 1916) im
Berliner Weibergefängnis (Barnimstraße) für eine in Frankfurt a. M.
gehaltene Rede über die Soldatenmißhandlungen, dann zwei Jahre und vier
Monate (vom 10. Juli 1916 bis zum 10. November 1918) in »Schutzhaft« in
Berlin, Wronke und Breslau. Sie war ganz von der Außenwelt abgeschnitten,
nur Bücher und Briefe, die strenge Zensur passiert hatten, durften sie
erreichen. Einmal im Monat war Besuch unter strenger Aufsicht gestattet.

Die Kraft der mutigsten Vorkämpferin des Proletariats sollte gebrochen
und ihre weckende, die Lüge geißelnde, die Wahrheit wissende Stimme
sollte zum Schweigen gebracht werden. Beides mißlang. Dieser stählerne
Wille erschlaffte nicht. Rosa Luxemburg hat in diesen Gefängnisjahren
unermüdlich gearbeitet. -- Die unsagbare Einsamkeit endloser Tage
und Nächte sammelte alle Kräfte ihres Geistes und ihrer Seele. Die
Leidenschaft der Erkenntnis ließ ihre Stimme zu Fanfarentönen anschwellen:
die berühmte »Junius-Broschüre«, die hinter Gittern entstand, war nicht
der einzige Weckruf, der den Weg aus dem Gefängnis fand. Flugblätter,
Aufrufe und wesentliche Beiträge zu den »Spartakus-Briefen« wußte Rosa
Luxemburg ihren politischen Freunden zu übermitteln. Durch aufreibende
illegale Korrespondenz und Arbeit suchte sie von ihrer Zelle aus die
revolutionäre Entwicklung der deutschen Arbeiter zu lenken.

Doch weder ihre wissenschaftliche noch ihre agitatorische Arbeit aus
diesen furchtbaren Jahren soll hier gewürdigt werden. Hier gilt es, der
Jugend, den Arbeitern, all denen, für deren Wohl und Freiheit sie
kämpfte, litt und starb -- durch feige Verbrecherhände starb -- die
ganze Seele der Vielverleumdeten zu zeigen. Hier schwindet die Scheu
vor Preisgabe persönlichen Lebens. Diese privaten Briefe sind keine
Privatbriefe mehr. Wer die Wissenschaftlerin und Kämpferin Rosa Luxemburg
kennt, kennt noch nicht alle Seiten ihres Wesens. Die Briefe aus dem
Gefängnis runden das Bild. Die Anhänger und Mitkämpfer Rosa Luxemburgs
haben ein Recht darauf, den Reichtum ihres unermüdlich quellenden
Herzens zu kennen. Sie sollen sehen, wie diese Frau, über ihren eigenen
Leiden stehend, alle Wesen der Schöpfung mit verstehender Liebe und
dichterischer Kraft umfängt, wie ihr Herz in Vogelrufen erzittert, wie
Verse beschwingter Sprache in ihr widerklingen, wie Schicksal und
tägliches Tun der Freunde in ihr geborgen sind. So stellen wir das
Denkmal auf, das die Tote sich selbst errichtet hat.

Berlin, August 1920

                                                   Die Herausgeber



                Die in dieser Sammlung enthaltenen Briefe
                sind an Frau Sophie Liebknecht gerichtet



            [Illustration: Aus dem Briefe vom 20. Juli 1917]



AUS LEIPZIG


_Postkarte._[1]

                                                      Leipzig, 7. 7. 16.

                       Meine liebe kleine Sonja!

Es ist heute eine drückende feuchte Hitze, wie meist in Leipzig -- ich
vertrage so schlecht die Luft hier. Ich saß vormittag 2 Stunden in den
Anlagen am Teich und las im »Reichen Mann«.[2] Die Sache ist brillant.
Ein altes Mütterchen setzte sich neben mich, tat einen Blick auf das
Titelblatt und lächelte: »Das muß ein feines Buch sein. Ich lese auch
gern Bücher«. Bevor ich mich zum Lesen hinsetzte, prüfte ich natürlich
die Anlagen auf Bäume und Sträucher hin -- alles bekannte Gestalten, was
ich mit Befriedigung feststellte. Die Berührung mit Menschen befriedigt
mich dagegen immer weniger; ich glaube, ich werde mich doch bald ins
Anachoretentum zurückziehen, wie der hl. Antonius, aber -- sans
tentations mehr. Seien Sie heiter und ruhig.

                                           Herzliche Grüße

                                                             Rosa.

Den Kindern viele Grüße.



AUS BERLIN


_Postkarte._

                                             Berlin, den 5. 8. 1916.
                                        (Gefängnis in der Barnimstraße.)

                       Meine liebe kleine Sonja!

Heute, am 5. August, erhalte ich soeben Ihre beiden Briefe zusammen:
den vom 11. Juli (!!) und den vom 23. Juli. Sie sehen, die Post zu mir
geht länger als nach New York. Inzwischen habe ich auch die Bücher
gekriegt, die Sie mir geschickt hatten und ich danke Ihnen für alles aufs
herzlichste. Es tut mir sehr weh, daß ich Sie in Ihrer Lage verlassen
mußte; wie gern möchte ich mit Ihnen im Feld wieder ein wenig schlendern
oder im Erker in der Küche auf den Sonnenuntergang blicken .... Von Helmi
hatte ich eine ausführliche Karte mit der Reisebeschreibung. Vielen,
vielen Dank auch für Hoelderlin. Aber Sie müssen nicht so mit dem Geld
für mich schmeißen, das ist mir eine Pein. Auch für alle guten Sachen
und die Wicken herzlichen Dank. Schreiben Sie bald, dann kriege ich es
vielleicht noch in diesem Monat. Ich drücke Ihnen fest und warm die
Hand. Bleiben Sie tapfer und lassen Sie sich nicht niederdrücken. Ich
bin in Gedanken bei Ihnen. Grüßen Sie vielmals Karl und die Kinder.

                                                        Ihre Rosa.

Pierre Loti ist wunderbar, die andern habe ich noch nicht gelesen.



AUS WRONKE


_Postkarte._[3]

                                                    Wronke, 24. 8. 1916.

Liebe Sonitschka, daß ich jetzt nicht bei Ihnen sein kann! Die Sache
trifft mich schwer. Aber, bitte, behalten Sie den Kopf oben, manches
wird schon anders, als es jetzt aussieht. _Jetzt müssen Sie aber fort_
-- irgendwo aufs Land, ins Grüne, wo es schön ist und wo Sie Pflege
finden. Es hat keinen Sinn und Zweck, daß Sie jetzt weiter hier sitzen
und immer mehr herunterkommen. Bis zur letzten Instanz können wieder
Wochen vergehen. Bitte, gehen Sie sobald wie irgend möglich.... Für Karl
wird es sicher auch eine Erleichterung sein, wenn er Sie auf Erholung
weiß. Tausend Dank für Ihre lieben Zeilen vom 10. und für die guten
Gaben. Sicher werden wir nächstes Frühjahr zusammen im Feld und im
Botanischen herumstreifen, ich freue mich jetzt schon darauf. Aber jetzt
gehen Sie fort von hier, Sonitschka! Können Sie nicht zum Bodensee,
damit Sie ein bißchen den Süden spüren!? Bevor Sie gehen, möchte ich Sie
unbedingt sehen, machen Sie eine Eingabe in der Kommandantur. Schreiben
Sie bald wieder eine Zeile. Bleiben Sie ruhig und heiter trotz alledem!
Ich umarme Sie.

                                                                R.

Für Karl tausend herzliche Grüße.

Die beiden Karten von Helmi und Bobbi habe ich erhalten und mich sehr
gefreut.


                                                     Wronke, 21. 11. 16.

                   Meine geliebte kleine Sonitschka,

ich erfuhr von Mathilde, daß Ihr Bruder gefallen ist, und bin ganz
erschüttert von diesem Schlag, der Sie wieder traf. Was müssen Sie
alles in der letzten Zeit ertragen! Und ich kann nicht einmal bei Ihnen
sein, um Sie ein wenig zu erwärmen und aufzuheitern!... Auch bin ich
unruhig um Ihre Mutter, wie sie dieses neue Leid ertragen wird. Das
sind böse Zeiten, und wir haben alle eine lange Verlustliste im Leben zu
verzeichnen. Jeder Monat kann jetzt wahrhaftig wie bei Sebastopol für
ein Jahr zählen. Hoffentlich kann ich Sie recht bald sehen, ich sehne
mich danach von ganzem Herzen. Wie haben Sie die Nachricht von Ihrem
Bruder erhalten, durch die Mutter oder direkt? Und was hören Sie von
dem anderen Bruder? Ich wollte Ihnen so gern durch die Mathilde etwas
schicken, habe aber hier leider gar nichts, als das kleine bunte
Tüchlein; lachen Sie's nicht aus; es sollte Ihnen nur sagen, daß ich
Sie sehr liebe. Schreiben Sie bald eine Zeile, damit ich sehe, in
welcher Verfassung Sie sind. Grüßen Sie tausendmal Karl. Ich umarme
Sie herzlichst

                                                        Ihre Rosa.

Den Kindern viele Grüße!


                                                      Wronke, 15. 1. 17.

.... Ach, heute gab es einen Augenblick, da ich's bitter spürte. Der
Pfiff der Lokomotive um 3,19 sagte mir, daß Mathilde abdampft, und ich
lief gerade wie ein Tier im Käfig den gewohnten »Spaziergang« an meiner
Mauer entlang, hin und zurück, und mein Herz krampfte sich zusammen vor
Schmerz, daß ich nicht auch fort von hier kann, o, nur fort von hier!
Aber das macht nichts, mein Herz kriegte gleich darauf einen Klaps und
mußte kuschen; es ist schon gewöhnt, zu parieren wie ein gut dressierter
Hund. Reden wir nicht von mir.

Sonitschka, wissen Sie noch, was wir uns vorgenommen haben, wenn der
Krieg vorbei ist? Eine Reise zusammen nach dem Süden. Und wir tun das!
Ich weiß, Sie träumen davon, mit mir nach Italien zu gehen, das Ihnen das
Höchste ist. Ich plane hingegen, Sie nach Korsika zu schleppen. Das ist
noch mehr als Italien. Dort vergißt man Europa, wenigstens das moderne
Europa. Denken Sie sich eine breite heroische Landschaft mit strengen
Konturen der Berge und Täler, oben nichts als kahle Felsklumpen von edlem
Grau, unten üppige Oliven, Lorbeerkirschen und uralte Kastanienbäume.
Und über allem eine vorweltliche Stille -- keine Menschenstimme, kein
Vogelruf, nur ein Flüßchen schlickert irgendwo zwischen Steinen, oder
in der Höhe raunt zwischen Felsklippen der Wind -- noch derselbe, der
Odysseus' Segel schwellte. Und was Sie an Menschen treffen, stimmt genau
zur Landschaft. Plötzlich erscheint z. B. hinter einer Biegung des
Bergpfades eine Karawane -- die Korsen gehen immer hintereinander in
gestreckter Karawane, nicht im Haufen wie unsere Bauern. Vorne läuft
gewöhnlich ein Hund, dann schreitet langsam etwa eine Ziege oder ein mit
Säcken voller Kastanien beladenes Eselchen, dann folgt ein großes
Maultier, auf dem eine Frau im Profil zum Tiere mit gerade herabhängenden
Beinen sitzt, ein Kind in den Armen. Sie sitzt hoch aufgerichtet, schlank
wie eine Zypresse, unbeweglich; daneben schreitet ein bärtiger Mann in
ruhiger fester Haltung, beide schweigen. Sie würden schwören: es ist die
heilige Familie. Und solche Szenen treffen Sie dort auf jeden Schritt.
Ich war jedesmal so ergriffen, daß ich unwillkürlich in die Knie sinken
wollte, wie ich's immer vor vollendeter Schönheit muß. Dort ist noch die
Bibel lebendig und die Antike. Wir müssen hin, und so wie ich's getan:
zu Fuß die ganze Insel durchqueren, jede Nacht an einem anderen Ort
ruhen, jeden Sonnenaufgang schon im Wandern begrüßen. Lockt Sie das? Ich
wäre glücklich, Ihnen diese Welt vorzuführen...

Lesen Sie viel, Sie müssen auch geistig vorwärts kommen, und Sie können
das -- Sie sind noch frisch und biegsam. Und nun muß ich schließen.
Seien Sie heiter und ruhig an diesem Tage.

                                                        Ihre Rosa.


                                                      Wronke, 18. 2. 17.

.... Seit langem hat mich nichts so erschüttert, wie der kurze Bericht
Marthas über Ihren Besuch bei Karl, wie Sie ihn hinter dem Gitter fanden
und wie das auf Sie wirkte. Weshalb haben Sie mir das verschwiegen? Ich
habe ein Anrecht, an allem, was Ihnen weh tut, teilzunehmen, und lasse
meine Besitzrechte nicht kürzen! Die Sache hat mich übrigens lebhaft
an mein erstes Wiedersehen mit den Geschwistern vor 10 Jahren in der
Warschauer Zitadelle erinnert. Dort wird man in einem förmlichen
Doppelkäfig aus Drahtgeflecht vorgeführt, d. h. ein kleinerer Käfig
steht frei in einem größeren, und durch das flimmernde Geflecht der
beiden muß man sich unterhalten. Da es dazu just nach einem 6tägigen
Hungerstreik war, war ich so schwach, daß mich der Rittmeister (unser
Festungskommandant) ins Sprechzimmer fast tragen mußte und ich mich im
Käfig mit beiden Händen am Draht festhielt, was wohl den Eindruck eines
wilden Tieres im Zoo verstärkte. Der Käfig stand in einem ziemlich
dunklen Winkel des Zimmers und mein Bruder drückte sein Gesicht ziemlich
dicht an den Draht. »Wo bist Du?« frug er immer und wischte sich vom
Zwicker die Tränen, die ihn am Sehen hinderten. -- Wie gern und freudig
würde ich jetzt dort im Luckauer Käfig sitzen, um es Karl abzunehmen!

Richten Sie an Pfemfert meinen herzl. Dank für den Galsworthy aus. Ich
habe ihn gestern zu Ende gelesen und freue mich sehr darüber. Dieser
Roman hat mir freilich viel weniger gefallen als »Der reiche Mann«,
nicht trotzdem, sondern weil die soziale Tendenz dort mehr überwiegt.
Im Roman schaue ich nicht nach der Tendenz, sondern nach künstlerischem
Wert. Und in dieser Beziehung stört mich in den »Weltbrüdern«, daß
Galsworthy zu _geistreich_ ist. Das wird Sie wundern. Aber es ist
derselbe Typ wie Bernard Shaw und auch wie Oskar Wilde, ein jetzt in
der englischen Intelligenz wohl stark verbreiteter Typus: eines sehr
gescheiten, verfeinerten, aber blasierten Menschen, der alles in
der Welt mit lächelnder Skepsis betrachtet. Die feinen ironischen
Bemerkungen, die Galsworthy über seine eigenen personae dramatis mit
dem ernstesten Gesicht macht, lassen mich oft laut auflachen. Aber wie
wirklich wohlerzogene und vornehme Menschen nie oder selten über ihre
Umgebung spötteln, wenn sie auch alles Lächerliche bemerken, so
ironisiert ein wirklicher Künstler nie über seine eigenen Geschöpfe.
Wohlverstanden, Sonitschka, das schließt die Satyre großen Stils
nicht aus! Zum Beispiel »Emanuel Quint« von Gerhart Hauptmann ist die
blutigste Satyre auf die moderne Gesellschaft, die seit hundert Jahren
geschrieben worden ist. Aber Hauptmann selbst grinst dabei nicht;
er steht zum Schluß mit bebenden Lippen und weit offenen Augen, in
denen Tränen schimmern. Galsworthy dagegen wirkt auf mich mit seinen
geistreichen Zwischenbemerkungen wie ein Tischnachbar, der mir auf einer
Soiree beim Eintreten jedes neuen Gastes in den Salon eine Malice über
ihn ins Ohr flüstert.....

... Heute ist wieder Sonntag, der tötlichste Tag für Gefangene und
Einsame. Ich bin traurig, wünsche aber sehnlichst, daß Sie es nicht sind
und Karl auch nicht. Schreiben Sie bald, wann und wohin Sie endlich zur
Erholung gehen.

Ich umarme Sie herzlichst und grüße die Kinder

                                                        Ihre Rosa.

Kann Pf. mir nicht noch etwas Gutes schicken? Vielleicht etwas von Th.
Mann? Ich kenne noch nichts von ihm. Noch eine Bitte: die Sonne fängt
an, mich im Freien zu blenden; vielleicht schicken Sie mir im Briefcouvert
1 Meter dünnen schwarzen Schleier mit zerstreuten schwarzen Pünktchen!
Vielen Dank im voraus.


                                                      Wronke, 19. 4. 17.

Ich habe mich gestern über Ihren Kartengruß herzlich gefreut, obwohl er
so traurig klang. Wie möchte ich jetzt bei Ihnen sein, um Sie wieder zum
Lachen zu bringen, wie damals nach Karls Verhaftung, als wir Beide --
wissen Sie noch? -- im Café Fürstenhof durch unsere übermütigen Lachsalven
einiges Aufsehen erregten. Wie war das damals schön -- trotz alledem!
Unsere tägliche Jagd am frühen Morgen auf ein Automobil auf dem Potsdamer
Platz, dann die Fahrt zum Gefängnis durch den blühenden Tiergarten in
die stille Lehrter Straße mit den hohen Rüstern, dann auf dem Rückweg
das obligate Absteigen im Fürstenhof, dann Ihr obligater Besuch bei mir
in Südende, wo alles in der Maipracht stand, die gemütlichen Stunden in
meiner Küche, wo Sie und Mimi am weißgedeckten Tischchen geduldig auf
die Erzeugnisse meiner Kochkunst warten (wissen Sie noch die feinen
haricots verts à la Parisienne?...). Zu alledem habe ich die lebhafte
Erinnerung eines unveränderlich strahlenden heißen Wetters, und nur bei
einem solchen hat man ja das richtige freudige Frühlingsgefühl. Dann
abends meine obligaten Besuche bei Ihnen, in Ihrem lieben Zimmerchen --
ich habe Sie so gern als Hausfrau, das steht Ihnen so besonders lieb,
wenn Sie mit Ihrem Backfischfigürchen am Tisch stehend, Tee einschenken
-- und schließlich um Mitternacht unsere gegenseitige Begleiterei nach
Hause durch die duftenden dunklen Straßen! Erinnern Sie sich noch der
fabelhaften Mondnacht in Südende, in der ich Sie heimbegleitete und uns
die Häusergiebel mit ihren schroffen schwarzen Konturen auf dem
Hintergrund der süßen Himmelsbläue wie alte Ritterburgen vorkamen?

Sonjuscha, so möchte ich ständig um Sie sein, Sie zerstreuen, mit Ihnen
plaudern oder schweigen, damit Sie nicht in Ihr düsteres verzweifeltes
Brüten verfallen. Sie fragen in Ihrer Karte: »warum ist alles so?« Sie
Kind, »so« ist eben das Leben seit jeher, alles gehört dazu: Leid und
Trennung und Sehnsucht. Man muß es immer mit allem nehmen und _alles_
schön und gut finden. Ich tue es wenigstens so. Nicht durch ausgeklügelte
Weisheit, sondern einfach so aus meiner Natur. Ich fühle instinktiv, daß
das die einzige richtige Art ist, das Leben zu nehmen und fühle mich
deshalb wirklich glücklich in jeder Lage. Ich möchte auch _nichts_ aus
meinem Leben missen und nichts anders haben, als es war und ist. Wenn
ich Sie doch zu dieser Lebensauffassung bringen könnte!...

Ich habe Ihnen noch nicht für das Bild Karls gedankt. Wie haben Sie mich
damit erfreut! Es war wirklich das schönste Geburtstagsgeschenk, das Sie
mir geben konnten. Es steht im guten Rahmen auf dem Tisch vor mir und
verfolgt mich überall mit seinen Blicken (Sie wissen, es gibt Bilder,
die einen anzuschauen scheinen, wo man sie auch hinstellt). Das Bild ist
ausgezeichnet getroffen. Wie muß Karl sich jetzt über die Nachrichten
aus Rußland freuen! Aber auch Sie persönlich haben Grund, fröhlich zu
sein: nun wird ja der Reise Ihrer Mutter zu Ihnen wohl nichts im Wege
stehen! Haben Sie das schon ins Auge gefaßt? Ihretwegen wünsche ich
dringend Sonne und Wärme herbei. Hier steht noch alles erst in Knospen
und gestern hatten wir Schneegraupen. Wie mag es wohl in meiner
»südlichen Landschaft« in Südende aussehen? Voriges Jahr standen wir
beide dort vor dem Gitter und Sie bewunderten die Fülle des Flors....

Sie sollen sich nicht mit Briefen abquälen. Ich will Ihnen häufig
schreiben, mir genügt aber vollkommen, wenn Sie einen kurzen Gruß auf
einer Postkarte schicken! Seien Sie viel im Freien, botanisieren Sie
viel. Haben Sie den kleinen Blumenatlas von mir mit? Seien Sie ruhig und
heiter, Liebste, alles wird gut gehen! Sie werden sehen!

Ich umarme Sie vielmals und herzlich

                                                    stets Ihre

                                                             Rosa.


                                                       Wronke, 2. 5. 17.

....... Vorigen April rief ich Euch einmal Beide, wenn Sie sich
erinnern, telephonisch dringend um 10 Uhr früh in den Botanischen, um
mit mir die Nachtigall zu hören, die ein ganzes Konzert gab. Wir saßen
dann still versteckt im dichten Gebüsch auf Steinen an einem kleinen
sickernden Wasser; nach der Nachtigall hörten wir aber plötzlich so einen
eintönigen klagenden Ruf, der etwa so lautete: »Gligligligligliglick!«
Ich sagte, das klinge wie irgend ein Sumpf- oder Wasservogel, und Karl
stimmte dem bei, aber wir konnten absolut nicht herausfinden, wer's war.
Denken Sie, denselben Klageruf hörte ich plötzlich _hier_ in der Nähe
vor einigen Tagen in der Frühe, so daß mir das Herz vor Ungeduld pochte,
endlich zu erfahren, wer das sei. Ich hatte keine Ruhe, bis ich's heute
herausfand: es ist kein Wasservogel, sondern der _Wendehals_, eine graue
Spechtart. Er ist nur ein wenig größer als der Sperling und hat seinen
Namen daher, weil er in Gefahr die Feinde durch komische Gebärden und
Kopfverrenkungen zu schrecken sucht. Er lebt nur von Ameisen, die er an
seiner klebrigen Zunge ansammelt, wie der Ameisenbär. Die Spanier nennen
ihn deshalb Hormiguero -- der Ameisenvogel. Mörike hat übrigens auf
diesen Vogel ein sehr hübsches Scherzgedicht gemacht, das Hugo Wolf
auch vertont hat. Mir ist, als hätte ich ein Geschenk gekriegt, seit ich
weiß, wer der Vogel mit der klagenden Stimme ist. Vielleicht schreiben
Sie es auch Karl, es würde ihn freuen.

Was ich lese? Hauptsächlich Naturwissenschaftliches: Pflanzengeographie
und Tiergeographie. Gestern las ich gerade über die Ursache des
Schwindens der Singvögel in Deutschland: es ist die zunehmende rationelle
Forstkultur, Gartenkultur und der Ackerbau, die ihnen alle natürlichen
Nist- und Nahrungsbedingungen: hohle Bäume, Ödland, Gestrüpp, welkes
Laub auf dem Gartenboden -- Schritt für Schritt vernichten. Mir war es
so sehr weh, als ich das las. Nicht um den Gesang für die Menschen ist
es mir, sondern das Bild des stillen unaufhaltsamen Untergangs dieser
wehrlosen kleinen Geschöpfe schmerzt mich so, daß ich weinen mußte. Es
erinnerte mich an ein russisches Buch von Prof. Sieber über den
Untergang der Rothäute in Nordamerika, das ich noch in Zürich gelesen
habe: sie werden genau so Schritt für Schritt durch die Kulturmenschen
von ihrem Boden verdrängt und einem stillen grausamen Untergang
preisgegeben.

Aber ich bin ja natürlich krank, daß mich jetzt alles so tief
erschüttert. Oder wissen Sie? ich habe manchmal das Gefühl, ich bin kein
richtiger Mensch, sondern auch irgend ein Vogel oder ein anderes Tier in
Menschengestalt; innerlich fühle ich mich in so einem Stückchen Garten
wie hier oder im Feld unter Hummeln und Gras viel mehr in meiner Heimat
als -- auf einem Parteitag. Ihnen kann ich ja wohl das alles sagen: Sie
werden nicht gleich Verrat am Sozialismus wittern. Sie wissen, ich werde
trotzdem hoffentlich auf dem Posten sterben: in einer Straßenschlacht
oder im Zuchthaus. Aber mein innerstes Ich gehört mehr meinen Kohlmeisen
als den »Genossen«. Und nicht etwa, weil ich in der Natur, wie so viele,
innerlich bankerotte Politiker ein Refugium, ein Ausruhen finde. Im
Gegenteil, ich finde auch in der Natur auf Schritt und Tritt so viel
Grausames, daß ich sehr leide. Denken Sie z. B., daß mir das folgende
kleine Erlebnis nicht aus dem Sinn kommt. Vorigen Frühling ging ich in
meiner stillen leeren Straße von einem Feldspaziergang heim, als mir auf
dem Boden ein dunkler kleiner Fleck auffiel. Ich bückte mich und sah ein
lautloses Trauerspiel: ein großer Mistkäfer lag auf dem Rücken und
wehrte sich hilflos mit den Beinen, während ein ganzer Haufen winziger
Ameisen auf ihm herumwimmelten und ihn -- bei lebendigem Leibe verzehrten!
Mich schauerte es, ich nahm mein Taschentuch heraus und fing an, die
brutalen Bestien wegzujagen. Sie waren aber so frech und hartnäckig, daß
ich einen langen Kampf mit ihnen ausfechten mußte, und als ich endlich
den armen Dulder befreit und weit aufs Gras gelegt hatte, waren ihm
schon zwei Beine abgefressen.... Ich lief fort mit dem peinigenden
Gefühl, daß ich ihm schließlich eine sehr zweifelhafte Wohltat erwiesen
habe.

Jetzt gibt es schon so lange Dämmerung abends. Wie liebe ich sonst
diese Stunde! In Südende hatte ich viele Amseln, hier sehe und höre ich
jetzt keine. Den ganzen Winter fütterte ich ein Paar und nun ist es
verschwunden. In Südende pflegte ich um diese Zeit abends in der Straße
herumzuschlendern; es ist so schön, wenn noch im letzten violetten
Tageslicht plötzlich die rosigen Gasflammen an den Laternen aufzucken
und noch so fremd in der Dämmerung aussehen, als schämten sie sich
selbst ein wenig. Durch die Straße huscht dann geschäftig die undeutliche
Gestalt irgend einer verspäteten Portierfrau oder eines Dienstmädchens,
die noch schnell zum Bäcker oder Krämer laufen, um etwas zu holen. Die
Schusterkinder, mit denen ich befreundet bin, pflegten noch in der
Straße im Dunkeln zu spielen, bis sie von der Ecke aus energisch nach
Hause gerufen wurden. Um diese Stunde gab es immer noch irgend eine
Amsel, die keine Ruhe finden konnte und plötzlich wie ein ungezogenes
Kind kreischte oder plapperte aus dem Schlaf und geräuschvoll von einem
Baum zum andern flog. Und ich stand da mitten in der Straße, zählte die
ersten Sterne und mochte gar nicht heim aus der linden Luft und der
Dämmerung, in der sich der Tag und die Nacht so weich
aneinanderschmiegten.

Sonjuscha, ich schreibe Ihnen bald wieder. Seien Sie ruhig und heiter,
alles wird gut werden, auch mit Karl. Auf Wiedersehen bis zum nächsten
Brief.

Ich umarme Sie.

                                                        Ihre Rosa.


                                                      Wronke, 19. 5. 17.

....... Wie schön ist es jetzt hier! Alles grünt und blüht. Die
Kastanienbäume sind in frischem herrlichen Laubschmuck, die
Zierjohannisbeeren haben gelbe Sternchen, die Zierkirsche mit dem
rötlichen Laub blüht auch schon und der Faulbaum wird nächstens blühen.
Ich habe heute von Luise Kautsky, die mich besucht hat, zum Abschied
einen Haufen Vergißmeinnicht und Stiefmütterchen gekriegt und sie selbst
eingepflanzt! Zwei runde Klümbchen und eine gerade Linie dazwischen,
immer abwechselnd Vergißmeinnicht und Stiefmütterchen, -- alles steht so
fest; ich traue kaum meinen Augen, denn ich habe zum ersten Mal im Leben
gepflanzt und alles ist gleich so gelungen. Gerade zu Pfingsten werde
ich so viel Blumen vor dem Fenster haben!

Vögel gibt es jetzt hier eine Menge neue, jeden Tag lerne ich wieder
einen kennen, den ich nie gesehen hatte. Ach, wissen Sie noch, damals im
Botanischen mit Karl in der Frühe, als wir die Nachtigall hörten, da
sahen wir auch einen so großen Baum, der noch ganz ohne Laub, aber
massenhaft mit kleinen leuchtend weißen Blüten bedeckt war; wir
zerbrachen uns den Kopf, was denn das sei, denn es war klar, daß es kein
Obstbaum war und die Blüten waren auch etwas seltsam. Jetzt weiß ich!
Das ist eine Silberpappel und diese Blüten sind keine Blüten, sondern
junge Blättchen. Das erwachsene Blatt der Silberpappel ist nämlich nur
unten weiß, oben dunkelgrün, die jungen aber sind noch beiderseits mit
weißem Flaum bedeckt und leuchten in der Sonne wie weiße Blüten. Solch
eine große Pappel steht hier in meinem Gärtlein und auf ihr sitzen mit
Vorliebe alle Singvögel. Damals, am gleichen Tage, wart Ihr Beide bei
mir abends, erinnern Sie sich noch? Es war so schön; wir lasen uns etwas
vor, und um Mitternacht, als wir stehend Abschied nahmen -- durch die
offene Balkontür floß himmlische Luft mit Jasminduft herein --, trug ich
Euch noch jenes spanische Lied vor, das ich so gern habe:

    Gepriesen sei, durch wen die Welt entstund,
    Wie trefflich schuf er sie nach allen Seiten,
    Er schuf das Meer mit endlos tiefem Grund,
    Er schuf die Schiffe, die hinübergleiten.
    Er schuf das Paradies mit ewigem Licht,
    Er schuf die Erde -- und Dein Angesicht!....

Ach Sonitschka, wenn Sie das nicht in Wolfscher Musik gehört haben, dann
wissen Sie nicht, wieviel glühende Leidenschaft in diesen schlichten
zwei Schlußworten liegt.

Jetzt, während ich das schreibe, ist eine große Hummel ins Zimmer
geflogen und füllt es mit tiefem Brummen. Wie schön das ist, welche
tiefe Lebensfreude liegt in diesem satten Ton, der von Fleiß und
Sommerhitze und Blumenduft vibriert.

Sonitschka, seien Sie heiter und schreiben Sie bald, bald, ich habe
Sehnsucht.

                                                        Ihre Rosa.


                                                  Wronke, den 23. 5. 17.

... Ihr letzter Brief vom 14. war schon hier, als ich den meinigen
abschickte. Ich bin sehr froh, wieder in Fühlung mit Ihnen zu sein und
möchte Ihnen heute einen warmen Pfingstgruß senden! »Pfingsten, das
liebliche Fest, war gekommen«, so beginnt der Goethesche Reineke Fuchs.
Hoffentlich werden Sie es einigermaßen heiter verleben. Voriges Jahr
haben wir ja zu Pfingsten mit Mathilde den schönen Ausflug nach
Lichtenrade gemacht, wo ich die Ähren für Karl pflückte und den
wundervollen Zweig mit Birkenkätzchen. Am Abend gingen wir dann noch als
die »drei edlen Frauen aus Ravenna« mit Rosen in der Hand auf dem
Südender Feld spazieren.... Hier blüht jetzt auch schon der Flieder,
heute ist er aufgegangen; es ist so warm, daß ich mein leichtestes
Mousselinkleid anziehen mußte. Trotz Sonne und Wärme sind aber meine
Vöglein nach und nach fast ganz verstummt. Sie sind offenbar alle vom
Brutgeschäft sehr in Anspruch genommen; die Weibchen sitzen im Nest, und
die Männchen haben alle Schnabel voll zu tun, um für sich und die
Gattinnen Nahrung zu suchen. Auch nisten sie wohl mehr draußen im Feld
oder auf größeren Bäumen, wenigstens ist es jetzt in meinem Gärtlein
still; nur hie und da schlägt kurz die Nachtigall, oder der Grünling
macht seine klopfenden Tritte, oder spät abends schmettert noch einmal
der Buchfink, meine Meisen lassen sich gar nicht mehr blicken. Nur einen
kurzen Gruß bekam ich plötzlich gestern von weitem von einer Blaumeise,
und das hat mich ganz erschüttert. Die Blaumeise ist nämlich nicht wie
die Kohlmeise Standvogel, sondern sie kommt erst Ende März wieder zu
uns. Sie hielt sich auch zuerst immer in der Nähe meiner Fenster, kam
mit den anderen zum Fenster und sang fleißig ihr drolliges »Zizi bä«,
aber so ganz gedehnt, daß es wie ungezogenes Kindernecken klang. Ich
mußte jedesmal lachen und ihr ebenso antworten. Dann verschwand sie
anfangs Mai mit den anderen, um irgendwo draußen zu brüten. Ich sah und
hörte sie wochenlang nicht mehr. Gestern höre ich plötzlich von drüben
über die Mauer, die unseren Hof von einem anderen Gefängnisterrain
trennt, den bekannten Gruß, aber so ganz verändert, nur ganz kurz und
eilig dreimal hintereinander »Zizi bä -- Zizi bä -- Zizi bä«, dann wurde
es still. Mir zuckte das Herz zusammen, so viel lag in diesem eiligen,
fernen Ruf, eine ganze kleine Vogelgeschichte. Das war nämlich eine
Erinnerung der Blaumeise an die schöne Zeit des Liebeswerbens im
Vorfrühling, wo man den ganzen Tag sang und lockte; jetzt aber heißt es
den ganzen Tag fliegen und Mücken sammeln für sich und die Familie, also
nur kurz eine Reminiszenz: »Ich habe keine Zeit -- ach ja, es war schön
-- Frühling ist bald zu Ende -- Zizi bä -- Zizi bä -- Zizi bä --!
-- -- --« Glauben Sie mir, Sonjuscha, daß mich ein solcher kleiner
Vogelruf, in dem so viel Ausdruck liegt, tief ergreifen kann. Meine
Mutter, die nebst Schiller die Bibel für der höchsten Weisheit Quell
hielt, glaubte steif und fest, daß König Salomo die Sprache der Vögel
verstand. Ich lächelte damals mit der ganzen Überlegenheit meiner
14 Jahre und einer modernen naturwissenschaftlichen Bildung über diese
mütterliche Naivität. Jetzt bin ich selbst wie König Salomo: ich verstehe
auch die Sprache der Vögel und der Tiere. Natürlich nicht, als ob sie
menschliche Worte gebrauchten, sondern ich verstehe die verschiedensten
Nuancen und Empfindungen, die sie in ihre Laute legen. Nur dem rohen
Ohr eines gleichgültigen Menschen ist ein Vogelgesang immer ein und
dasselbe. Wenn man die Tiere liebt und für sie Verständnis hat, findet
man große Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, eine ganze Sprache. Auch das
allgemeine Verstummen jetzt nach dem Lärm des Vorfrühlings, und ich
weiß, wenn ich noch im Herbst hier bin, was aller Wahrscheinlichkeit
nach der Fall sein wird, dann werden alle meine Freunde wieder
zurückkehren und an meinem Fenster Futter suchen; ich freue mich schon
jetzt auf die eine Kohlmeise, mit der ich besonders befreundet bin.

Sonjuscha, Sie sind erbittert über meine lange Haft und fragen: »Wie
kommt es, daß Menschen über andere Menschen entscheiden dürfen. Wozu ist
das alles?« Verzeihen Sie, aber ich mußte beim Lesen laut herauslachen.
Bei Dostojewski, in den Brüdern Karamasoff, gibt es eine Madame
Chochlakowa, die genau solche Fragen zu stellen pflegte, wobei sie ratlos
von einem zum andern in der Gesellschaft herumblickte, ehe aber auch nur
einer zu antworten versuchte, schon auf etwas anderes herübersprang.
Mein Vöglein, die ganze Kulturgeschichte der Menschheit, die nach
bescheidenen Schätzungen einige zwanzig Jahrtausende dauert, basiert
auf der »Entscheidung von Menschen über andere Menschen«, was in den
materiellen Lebensbedingungen tiefe Wurzeln hat. Erst eine weitere
qualvolle Entwicklung vermag dies zu ändern, wir sind ja gerade jetzt
Zeugen einer dieser qualvollen Kapitel, und Sie fragen, wozu das Alles?
»Wozu« -- -- ist überhaupt kein Begriff für die Gesamtheit des Lebens
und seine Formen. Wozu gibt es Blaumeisen auf der Welt? Ich weiß es
wirklich nicht, aber ich freue mich, daß es welche gibt und empfinde als
süßen Trost, wenn mir plötzlich über die Mauer ein eiliges Zizi bä aus
der Ferne herübertönt.

Sie überschätzen übrigens meine »Abgeklärtheit«. Mein inneres
Gleichgewicht und meine Glückseligkeit können leider schon beim
leisesten Schatten, der auf mich fällt, aus den Fugen gehen, und ich
leide dann unaussprechlich, nur daß ich die Eigentümlichkeit besitze,
dann zu verstummen. Buchstäblich, Sonitschka, ich kann dann kein Wort
über die Lippen bringen. Zum Beispiel in diesen letzten Tagen, ich war
schon so heiter und selig, freute mich der Sonne, da erfaßte mich
plötzlich am Montag ein eisiger Sturmwind, und auf einmal wandelte sich
meine strahlende Heiterkeit in tiefsten Jammer. Und wenn meiner Seele
Glück in Person plötzlich vor mir stände, ich brächte keinen Ton über
die Lippen und könnte höchstens mit stummem Blick meine Verzweiflung
klagen. Freilich komme ich selten genug in die Versuchung zu reden, ich
höre ja wochenlang meine eigene Stimme nicht, dies ist übrigens der
Grund, weshalb ich den heroischen Entschluß gefaßt habe, meine Mimi doch
nicht herkommen zu lassen. Das Tierchen ist gewöhnt an Munterkeit und
Leben, sie hat es gern, wenn ich singe, lache und mit ihr durch alle
Zimmer Haschen spiele, sie würde mir ja hier trübsinnig werden. Ich
lasse sie also bei Mathilde. Mathilde kommt zu mir in den nächsten Tagen
und ich hoffe mich dann wieder aufzurappeln. Vielleicht wird Pfingsten
auch für mich »das liebliche Fest« sein. Sonitschka, seien Sie mir
heiter und ruhig, alles wird doch noch gut werden, glauben Sie mir,
grüßen Sie herzlichst Karl, ich umarme Sie vielmals

                                                        Ihre Rosa.

Vielen Dank für das schöne Bildchen.


                                                  Wronke, Ende Mai 1917.

Sonjuscha, wissen Sie, wo ich bin, wo ich Ihnen diesen Brief schreibe?
Im Garten! Ich habe mir ein kleines Tischchen herausgeschleppt und sitze
nun versteckt zwischen grünen Sträuchern. Rechts von mir die gelbe
Zierjohannisbeere, die nach Gewürznelken duftet, links ein Ligusterstrauch,
über mir reichen ein Spitzahorn und ein junger, schlanker Kastanienbaum
einander ihre breiten, grünen Hände, und vor mir rauscht langsam mit
ihren weißen Blättern die große, ernste und milde Silberpappel. Auf dem
Papier, auf dem ich schreibe, tanzen leichte Schatten der Blätter mit
hellen Lichtkringeln der Sonne, und von dem regenfeuchten Laub fällt mir
auf Gesicht und Hände ab und zu ein Tropfen. In der Gefängniskirche ist
Gottesdienst; dumpfes Orgelspiel dringt undeutlich heraus, gedeckt vom
Rauschen der Bäume und dem hellen Chor der Vögel, die heute alle munter
sind; aus der Ferne ruft der Kuckuck. Wie ist es schön, wie bin ich
glücklich, man spürt schon beinahe die Johannisstimmung -- die volle,
üppige Reife des Sommers und den Lebensrausch; kennen Sie die Szene in
den Wagnerschen Meistersingern, die Volksszene, wo eine bunte Menge in
die Hände klatscht: Johannistag! Johannistag! und alles plötzlich
anfängt, einen Biedermeierwalzer zu tanzen? In diese Stimmung könnte man
in diesen Tagen kommen. -- Was habe ich alles gestern erlebt!! Das muß
ich Ihnen erzählen. Vormittag fand ich im Baderaum am Fenster ein großes
Pfauenauge. Es war wohl schon ein paar Tage drin und hatte sich an der
harten Scheibe zu Tode mattgeflattert; es gab nur noch schwache
Lebenszeichen mit den Flügeln. Als ich es bemerkte, zog ich mich
zitternd vor Ungeduld wieder an, kletterte aufs Fenster und nahm es
behutsam in die Hände, -- es wehrte sich nicht mehr, und ich dachte, es
sei wohl schon tot. Ich setzte es bei mir auf das Gesims vor dem
Fenster, damit es zu sich käme, und da regte sich noch schwach das
Lebensflämmchen, aber es blieb still sitzen; dann legte ich ihm vor die
Fühler ein paar offene Blüten, damit es was zu essen habe; gerade sang
vor dem Fenster hell und übermütig der Gartenspötter, daß es hallte; ich
sagte unwillkürlich laut: hör zu, wie das Vöglein lustig singt, da muß
dir doch auch das bißchen Leben zurückkehren! Ich mußte selbst lachen
über diese Ansprache an das halbtote Pfauenauge und dachte mir:
verlorene Worte! Aber nein -- nach einer halben Stunde erholte sich das
Tierchen, rutschte erst ein bißchen hin und her und flog endlich langsam
fort! Wie freute ich mich über diese Rettung! Das war ein Erlebnis.

Nachmittags ging ich natürlich wieder in den Garten, in dem ich von
8 Uhr früh bis 12 bin (wo man mich zum Essen ruft) und wieder von 3 bis
6. Ich wartete auf die Sonne, ich hatte das Empfinden, sie müsse, sie
_müsse_ sich noch gestern zeigen. Aber sie zeigte sich nicht, und ich
wurde traurig. Ich ging im Garten umher und sah bei dem leichten Winde
etwas Merkwürdiges: an der Silberpappel zerflatterten die überreifen
Kätzchen und ihr Samenflaum flog rings umher, füllte die ganze Luft wie
mit Schneeflocken, bedeckte die Erde und den ganzen Hof; das sah so
geisterhaft aus, wie der Silberflaum herumflatterte! Die Silberpappel
blüht später als alle anderen Kätzchenträger, und dank dieser üppigen
Samenausstreuung verbreitet sie sich sehr weit, ihre kleinen Schößlinge
sprießen wie Unkraut aus allen Ritzen an der Mauer und zwischen
Steinen.

Dann wurde ich um 6, wie immer, wieder eingesperrt, saß traurig mit
einem dumpfen Druck im Kopf am Fenster, denn es war schwül, und blickte
hinauf, wo unter weißen, flockigen Wolken auf pastellblauem Grund in
schwindelnder Höhe die Schwalben munter herumschossen und mit ihren
spitzen Flügeln die Luft wie mit Scherchen zu zerschneiden schienen.
Bald verdunkelte sich aber der Himmel, alles verstummte, und es gab ein
Gewitter mit heftigem Platzregen und zwei krachenden Donnerschlägen, bei
denen alles erbebte. Daraus folgte ein Bild, das mir unvergeßlich bleibt.
Das Gewitter hatte sich bald weiter verzogen, der Himmel wurde dick
einfarbig grau, eine stumpfe, fahle, gespenstische Dämmerung senkte
sich plötzlich auf die Erde, es war, wie wenn dichte graue Schleier
herabhingen; der Regen rieselte ganz leise und gleichmäßig auf die
Blätter, das Wetterleuchten flammte einmal über das andere purpurrot in
das bleierne Grau auf, und ein fernes Grollen des Donners rollte immer
wieder wie letzte schwache Wellen einer Brandung heran. Und mitten in
all dieser gespenstischen Stimmung schlug plötzlich vor meinem Fenster
auf dem Ahorn die Nachtigall! Mitten in all dem Regen, im Wetterleuchten,
im Donner schmetterte sie wie eine helle Glocke, sie sang wie berauscht,
wie besessen, wollte den Donner übertönen, die Dämmerung erhellen --
ich habe nie so Schönes gehört. Ihr Gesang wirkte auf dem Hintergrund
des abwechselnd bleiernen und purpurnen Himmels wie leuchtendes
Silbergeflimmer. Das war so geheimnisvoll, so unbegreiflich schön,
und ich wiederholte unwillkürlich den letzten Vers jenes Goetheschen
Gedichts: »O wärst Du da!« ...

                               Stets Ihre

                                                             Rosa.


                                                 Wronke, den 1. 6. 1917.

... die Orchideen überhaupt kenne ich gut; in dem wundervollen
Gewächshaus in Frankfurt a. M., wo eine ganze Abteilung mit ihnen
angefüllt ist, habe ich sie damals nach meinem Prozeß, wo ich das Jahr
gekriegt habe, mehrere Tage fleißig studiert. Ich finde, sie haben in
ihrer leichten Grazie und den phantastischen, unnatürlichen Formen etwas
so Raffiniertes, Dekadentes. Sie wirken auf mich, wie die zierlichen
gepuderten Marquisen des Rokoko. Ich bewundere sie mit einem inneren
Widerstreben und einer gewissen Unruhe, wie meiner Natur überhaupt alles
Dekadente und Perverse zuwider ist. Viel mehr Freude habe ich z. B. an
dem einfachen Löwenzahn, der so viel Sonne in seiner Farbe hat und so
ganz wie ich dem Sonnenschein sich voll und dankbar öffnet, beim
geringsten Schatten aber wieder scheu verschließt.

Was für Abende jetzt und was für Nächte! Gestern lag ein unbeschreiblicher
Zauber auf allem. Der Himmel war spät nach Sonnenuntergang von leuchtender
Opalfarbe mit Streifen von unbestimmter Farbe verschmiert, ganz wie eine
große Palette, auf der der Maler nach fleißiger Tagesarbeit seine Pinsel
mit breiter Geste abgewischt hat, um zur Ruhe zu gehen. In der Luft lag
ein bißchen Gewitterschwüle, eine leichte herzbeklemmende Spannung; die
Sträucher standen völlig regungslos, die Nachtigall ließ sich nicht
hören, aber der unermüdliche »Gartenspötter« mit dem schwarzen Köpfchen
hupfte noch in den Ästen herum und rief schrill. Alles schien auf etwas
zu warten. Ich stand am Fenster und wartete gleichfalls -- weiß Gott auf
was. Nach »Einschluß« um sechs habe ich ja zwischen Himmel und Erde auf
nichts mehr zu warten....


                                              Wronke, den 20. Juli 1917.

Sonitschka, mein Liebling, da mein Ableben hier sich doch länger
hinzieht, als ich ursprünglich annahm, sollen Sie noch einen letzten
Gruß aus Wronke kriegen. Wie konnten Sie denken, ich würde Ihnen keine
Briefe mehr schreiben! In meiner Gesinnung Ihnen gegenüber hat sich
nichts geändert, konnte sich nichts ändern. Ich schrieb nicht, weil ich
Sie seit der Abreise von Ebenhausen im Trubel von tausenderlei Dingen
wußte, zum Teil wohl auch, weil ich vorübergehend nicht in Stimmung war.

Daß es mit mir nach Breslau geht, wissen Sie wohl schon. Hier habe ich
heute früh von meinem Gärtlein Abschied genommen. Das Wetter ist grau,
stürmisch und regnerisch, am Himmel jagen zerfetzte Wolken, und doch
habe ich meinen üblichen Frühspaziergang heute in vollen Zügen genossen.
Ich nahm Abschied von dem gepflasterten, schmalen Weg an der Mauer
entlang, auf dem ich nun fast neun Monate hin- und hergelaufen bin, in
dem ich nun schon jeden Stein und jedes Unkräutlein, das zwischen den
Steinen wächst, genau kenne. An den Pflastersteinen interessieren mich
die bunten Farben: rötlich, bläulich, grün, grau. Namentlich in dem
langen Winter, der so sehr auf ein bißchen lebendiges Grün warten ließ,
haben meine farbenhungrigen Augen sich an den Steinen ein wenig Buntheit
und Anregung zu schafften gesucht. Und jetzt im Sommer erst, da gab es
zwischen den Steinen so viel Eigenartiges und Interessantes zu sehen!
Hier hausen nämlich massenhaft wilde Bienen und Wespen. Sie bohren
zwischen den Steinen nußgroße, runde Löcher und weiter tiefe Gänge
hinein, schaffen dabei die Erde von innen an die Oberfläche und schichten
sie zu ganz hübschen Häuflein auf. Drinnen legen sie ihre Eier und
arbeiten Wachs und wilden Honig; es ist ein beständiges Hineinschlüpfen
und Herausfliegen und ich mußte beim Spazierengehen sehr aufpassen, um
die unterirdischen Wohnungen nicht zu verschütten. Dann ziehen an
mehreren Stellen die Ameisen quer über den Weg gerade ihre Pfade, auf
denen sie beständig hin- und herlaufen, so auffallend gradlinig, wie
wenn sie den mathematischen Satz im Leibe hätten, daß die gerade Linie
die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist (was zum Beispiel
primitiven Völkern völlig unbekannt ist). Dann wuchert das üppigste
Unkraut an der Mauer; die einen Pflänzlein schon verblüht und in Flocken
zerflatternd, die anderen unermüdlich weiter knospend. Dann gibt es eine
ganze Generation junger Bäumchen, die in diesem Frühjahr, unter meinen
Augen, auf der Erde mitten am Weg oder an der Mauer emporgesprossen
sind; eine kleine Akazie, offenbar von einer heruntergefallenen Schote
des alten Baumes heuer aufgekeimt. Mehrere kleine Silberpappeln,
gleichfalls erst seit Mai auf der Welt, aber schon im üppigen Schmuck
weißgrüner Blätter, die sie im Sturme zierlich wiegen, ganz wie die
alten. Wievielmal habe ich ihren Weg durchmessen, wie Verschiedenes
dabei innerlich erlebt und gedacht! Im strengen Winter, nach frischem
Schneefall, habe ich oft erst mit meinen Füßen mir einen Pfad gebahnt,
dabei begleitet von meiner geliebten, kleinen Kohlmeise, die ich im
Herbst wiederzusehen hoffte und die mich nicht mehr finden wird, wenn
sie an den bekannten Futterplatz am Fenster kommt. Im März, als wir
mitten unter hartem Frost ein paar Tage Tauwetter kriegten, verwandelte
sich mein Weg in ein Flüßchen. Ich weiß noch, wie unter dem lauen Wind
sich auf der Wasserfläche kleine Wellchen kräuselten, und die Backsteine
der Mauer sich darauf lebhaft und blank spiegelten, Dann kam endlich der
Mai und das erste Veilchen an der Mauer, das ich Ihnen schickte.

Wie ich so heute hinüber wanderte, betrachtete und sann, summte mir im
Kopf immerzu der Vers von Goethe:

    »Merlin der Alte im leuchtenden Grabe
    wo ich als Jüngling gesprochen ihn habe ...«

Sie kennen das ja weiter. Das Gedicht stand natürlich in gar keinem
Zusammenhang mit meiner Stimmung und dem, was mich innerlich beschäftigte.
Es war nur die Musik der Worte und der seltsame Zauber des Gedichtes,
was mich in Ruhe wiegte. Ich weiß selbst nicht, woher es kommt, daß
ein schönes Gedicht, besonders Goethe, bei jeder starken Erregung
oder Erschütterung auf mich so tief einwirkt. Es ist schon fast eine
physiologische Wirkung, als wenn ich ein köstliches Getränk mit durstenden
Lippen schlürfte, das mich innerlich kühlt und Leib und Seele gesund
macht. Das Gedicht aus dem westöstlichen Divan, das Sie in Ihrem letzten
Brief erwähnen, kenne ich nicht; schreiben Sie es mir bitte ab. Und noch
eins möchte ich seit langem haben, das in meinem hiesigen Goethebändchen
fehlt, »Blumengruß«. Das ist ein kleines Gedichtlein von vier bis sechs
Zeilen, ich kenne es aus einem Wolffschen Lied, das unbeschreiblich
schön ist. Namentlich der Schlußvers, etwa so:

    »Ich habe sie gepflücket
    In heißer Sehnsuchtsqual,
    Ich habe sie ans Herz gedrücket,
    Ach, wohl eintausendmal!«

Das klingt in der Musik so heilig, zart und keusch, wie ein Niederknien
in stummer Anbetung. Aber ich weiß den Text nicht mehr und möchte ihn
haben.

Gestern abend, so um neun, habe ich noch ein herrliches Schauspiel
gehabt. Ich bemerkte von meinem Sofa aus in der Fensterscheibe den
leuchtenden Reflex einer Rosafarbe, die mich überraschte, da der Himmel
ganz grau war. Ich lief zum Fenster und blieb wie gebannt stehen. Auf
dem völlig grauen Einerlei des Himmels türmte sich im Osten eine große
Wolke von so überirdisch schöner rosa Farbe, so allein für sich losgelöst
von allem, daß sie wie ein Lächeln aussah, wie ein Gruß aus unbekannter
Ferne. Ich atmete wie befreit auf und streckte unwillkürlich beide Hände
dem zauberhaften Bild entgegen. Wenn es solche Farben, solche Formen
gibt, dann ist das Leben schön und lebenswert, nicht wahr? Ich sog mich
mit den Blicken fest an das leuchtende Bild und verschlang jeden rosigen
Strahl aus ihm, bis ich plötzlich selbst über mich auflachen mußte. Herr
Gott, der Himmel und die Wolken und die ganze Schönheit des Lebens bleiben
doch nicht in Wronke, daß ich von ihnen Abschied zu nehmen brauchte; nein,
sie gehen mit mir fort und bleiben mit mir, wo ich auch bin und so lange
ich lebe.

Bald berichte ich Ihnen von Breslau, besuchen Sie mich dort, sobald Sie
können. Grüßen Sie herzlich Karl.

Ich umarme Sie vielmals. Auf Wiedersehen in meinem neunten Gefängnis.

                               Ihre treue

                                                             Rosa.



AUS BRESLAU


                                                Breslau, den 2. 8. 1917.

Meine liebe Sonitschka, Ihr Brief, den ich am 28. erhielt, war die erste
Nachricht, die mich hier von der Außenwelt erreichte, und Sie können
sich leicht denken, wie sehr ich mich darüber freute. Meine Übersiedlung
nehmen Sie, in Ihrer liebevollen Sorge um mich, entschieden zu tragisch
... Ich nehme, wie Sie wissen, alle Wendungen des Schicksals mit dem
nötigen, heiteren Gleichmut hin. Ich habe mich schon hier gut eingelebt,
heute sind meine Kisten mit Büchern aus Wronke angekommen, bald werden
also meine zwei Zellen hier mit den Büchern und Bildchen und dem
bescheidenen Zierrat, den ich sonst mit herumschleppe, wieder so
anheimelnd und behaglich aussehen, wie in Wronke, und ich werde mit
doppelter Lust an die Arbeit gehen. Was mir hier fehlt, ist natürlich
die relative Bewegungsfreiheit, die ich dort hatte, wo die Festung den
ganzen Tag offen stand, während ich hier einfach eingesperrt bin, dann
die herrliche Luft, der Garten und vor allem die Vögel! Sie haben keine
Ahnung, wie ich an dieser kleinen Gesellschaft hänge. Aber das alles
kann man natürlich entbehren, und bald werde ich vergessen, daß ich es
je besser hatte als hier. Die ganze Situation hier ist so ziemlich genau
wie in der Barnimstraße, nur der hübsche, grüne Lazaretthof fehlt, in
dem ich doch jeden Tag irgendeine kleine botanische oder zoologische
Entdeckung machen konnte. Hier gibt es auf dem großen, gepflasterten
Wirtschaftshof, der mir zum Spaziergang dient, nichts »zu entdecken«.
Und ich hefte krampfhaft meine Blicke beim Wandeln auf die grauen
Pflastersteine, um dem Anblick der im Hofe beschäftigten Gefangenen zu
entgehen, die mir stets in ihrer diffamierenden Tracht eine Pein sind
und unter denen sich immer ein paar finden, bei denen Alter, Geschlecht,
individuelle Züge unter dem Stempel der tiefsten menschlichen Degradation
verwischt sind, ja aber gerade durch einen schmerzlichen Magnetismus
immer wieder meine Blicke anziehen. Freilich gibt es auch überall
einzelne Gestalten, denen sogar die Gefängnistracht nichts anhaben kann
und die ein Malerauge erfreuen würden. So entdeckte ich schon hier eine
junge Arbeiterin im Hofe, deren schlanke, knappe Formen, sowie der
tuchumwundene Kopf mit dem strengen Profil, direkt eine Millet-Gestalt
abgäbe; es ist ein Genuß zu sehen, mit welchem Adel der Bewegungen sie
Lasten schleppt, und das magere Gesicht mit der straff anliegenden Haut
und dem gleichmäßig kreideweißen Teint erinnert an eine tragische
Pierrotmaske. Aber gewitzigt durch traurige Erfahrungen suche ich
solchen vielversprechenden Erscheinungen weit aus dem Wege zu gehen.
In der Barnimstraße hatte ich nämlich auch eine Gefangene entdeckt von
wahrhaft königlicher Gestalt und Haltung und dachte mir ein entsprechendes
»Interieur« dazu. Dann kam sie als Kalfaktrice auf meine Station, und es
zeigte sich nach zwei Tagen, daß unter dieser schönen Maske ein solches
Maß von Dummheit und niedriger Gesinnung steckte, daß ich fortan die
Blicke immer abwendete, wenn sie mir in den Weg lief. Ich dachte mir
damals, daß die Venus von Milo am Ende nur deshalb ihre Reputation als
schönste der Frauen durch Jahrhunderte hat bewahren können, weil sie
schweigt. Würde sie den Mund auftun, wäre vielleicht der ganze Charme
zum Teufel.

Mein vis-à-vis ist das Männergefängnis, der übliche düstere rote
Backsteinbau. Aber quer über die Mauer sehe ich die grünen Baumwipfel
irgendeiner Anlage; eine große Schwarzpappel, die bei stärkerem Luftzug
vernehmlich rauscht und eine Reihe viel hellerer Edeleschen, die mit
gelben Schotenbündeln behängt sind. Die Fenster geben auf Nordwest
Aussicht, so daß ich manchmal schöne Abendwolken sehe, und Sie wissen,
daß mich eine solche rosige Wolke allein entzücken und für alles
entschädigen kann. In diesem Augenblicke, 8 Uhr abends (in Wirklichkeit
also 7), ist die Sonne kaum hinter den Giebeln des Männergefängnisses
gesunken, sie scheint noch grell durch die Glasbodenluke im Dache und
der ganze Himmel leuchtet goldig. Ich fühle mich sehr wohl und muß --
ich weiß selbst nicht warum -- das Ave Maria von Gounod leise vor mich
hinsingen (Sie kennen es wohl).

Vielen Dank für die abgeschriebenen Goethesachen. »Die berechtigten
Männer« sind in der Tat schön, obschon sie mir von selbst nicht
aufgefallen wären; man läßt sich ja auch manchmal die Schönheit eines
Dinges suggerieren. Ich möchte Sie noch bitten, mir gelegentlich
»Anakreons Grab« abzuschreiben. Kennen Sie es gut? Ich habe es natürlich
erst durch Hugo Wolffsche Musik richtig verstanden; im Lied macht es
geradezu einen architektonischen Eindruck; man meint einen griechischen
Tempel vor sich zu sehen.

Jetzt eben -- ich habe eine kleine Pause gemacht, um den Himmel zu
beobachten -- ist die Sonne schon viel tiefer hinter dem Gebäude
versunken und hoch oben schweben -- weiß Gott woher -- lautlos
zusammengelaufene Myriaden kleiner Wölkchen, die am Rande silbrig
leuchten, in der Mitte zart grau sind und alle ihre zerfetzten Umrisse
nach dem Norden steuern. Es liegt so viel Unbekümmertheit und kühles
Lächeln in diesem Wolkenflug, daß ich mitlächeln muß, wie ich immer den
Rhythmus des umgebenden Lebens mitmachen muß. Wie könnte man bei solchem
Himmel »bös« oder kleinlich sein? Vergessen Sie bloß nie, um sich zu
blicken, dann werden Sie immer wieder »gut« sein.

Daß Karl ein Buch speziell über den Vogelgesang will, wundert mich ein
wenig. Für mich ist die Stimme der Vögel untrennbar von ihrem ganzen
Habitus und ihrem Leben, nur das Ganze interessiert mich, nicht irgendein
losgerissenes Detail. Geben Sie ihm ein gutes Buch über Tiergeographie,
das wird ihm sicher viel Anregung geben. Hoffentlich kommen Sie bald zu
Besuch zu mir. Sobald Sie Erlaubnis haben, telegraphieren Sie mir.

Ich umarme Sie vielmals

                                                        Ihre Rosa.

Gott, Gnade mir. 8 Seiten sinds geworden, nun, für diesmal mags hingehen.
Dank für die Bücher.


                                                    Mitte November 1917.

                       Meine geliebte Sonitschka,

ich hoffe, bald Gelegenheit zu haben, Ihnen endlich wieder diesen Brief
zu schicken, und greife mit Sehnsucht zur Feder. Wie lange mußte ich
jetzt die liebe Gewohnheit entbehren, mit Ihnen wenigstens auf dem
Papier zu plaudern! Aber es ging nicht, die wenigen Briefe, die ich
schreiben durfte, mußte ich für Hans D. aufsparen, der ja darauf wartete.
Nun ist es damit vorbei, meine zwei letzten Briefe waren schon an einen
Toten geschrieben, einen habe ich schon zurückgekriegt. Unfaßbar bleibt
mir die Tatsache immer noch. Doch reden wir lieber nicht darüber, ich
mache solche Sachen am liebsten mit mir allein ab, und wenn man mich
»schonend« auf die schlimme Nachricht vorzubereiten und durch eigenes
Wehklagen »trösten« will, wie N. es tat, so irritiert mich das unsagbar.
Daß mich meine nächsten Freunde immer noch so wenig kennen und so
unterschätzen, daß sie nicht begreifen: das beste und feinste in solchen
Fällen ist, mir schleunigst aber kurz und einfach die zwei Worte zu
sagen: er ist tot -- -- -- das kränkt mich, doch Schluß damit.

.... Wie schade um die Monate und Jahre, die jetzt vergehen und in
denen wir zusammen so viel schöne Stunden verleben könnten, trotz all
dem Schrecklichen, was in der Welt vorgeht. Wissen Sie, Sonitschka, je
länger das dauert und je mehr das Niederträchtige und Ungeheuerliche,
das jeden Tag passiert, alle Grenzen und Maße übersteigt, um so ruhiger
und fester werde ich, wie man gegenüber einem Element, einem Buran,
einer Wasserflut, einer Sonnenfinsternis, nicht sittliche Maßstäbe
anwenden kann, sondern sie nur als etwas Gegebenes, als Gegenstand der
Forschung und Erkenntnis betrachten muß.

Dies sind offenbar die objektiv einzig möglichen Wege der Geschichte und
man muß ihr folgen, ohne sich an der Hauptrichtung beirren zu lassen.
Ich habe das Gefühl, daß dieser ganze moralische Schlamm, durch den wir
waten, dieses große Irrenhaus, in dem wir leben, auf ein Mal, so von
heute auf morgen wie durch einen Zauberstab ins Gegenteil umschlagen, in
ungeheuer Großes und Heldenhaftes umschlagen kann, und -- -- wenn der
Krieg noch ein paar Jahre dauern wird -- -- umschlagen _muß_.... Lesen
Sie mal »Les dieux ont soif« von An. France. Ich halte das Werk für
so groß hauptsächlich deshalb, weil es mit genialem Blick für das
Allmenschliche zeigt: Seht, aus solchen Jammergestalten und solcher
alltäglichen Kleinlichkeit werden in entsprechenden Momenten der
Geschichte die riesenhaftesten Ereignisse und die monumentalsten Gesten
gemacht. Man muß alles im gesellschaftlichen Geschehen wie im Privatleben
nehmen: ruhig, großzügig und mit einem milden Lächeln. Ich glaube fest
daran, daß sich schließlich alles nach dem Kriege oder zum Schluß des
Krieges zum Richtigen wendet, aber wir müssen offenbar erst durch eine
Periode der schlimmsten menschlichen Leiden waten.

 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Apropos, meine letzten Worte wecken in mir eine andere Vorstellung, eine
Tatsache, die ich Ihnen mitteilen möchte, weil sie mir so poetisch und
so rührend vorkam. Ich las neulich in einem wissenschaftlichen Werk über
den Vogelzug, der ja bis jetzt ein ziemlich rätselhaftes Phänomen
darstellt, daß dabei beobachtet worden ist, wie verschiedene Arten, die
sich sonst als Todfeinde befehden und auffressen, friedlich nebeneinander
die große Reise südwärts übers Meer machen: nach Ägypten kommen zum
Winter gewaltige Scharen von Vögeln, die wie Wolken in der Höhe
schwirren und den Himmel verdunkeln, und in diesen Scharen fliegen
mitten unter Raubvögeln, Habichten, Adlern, Falken, Eulen, tausende von
kleinen Singvögeln, wie Lerchen, Goldhähnchen, Nachtigallen, ohne jede
Angst mitten unter Raubvögeln, die ihnen sonst nachstellen. Auf der
Reise scheint also stillschweigend eine trève de dieu zu herrschen, alle
streben dem gemeinsamen Ziel zu, und fallen halbtot vor Erschöpfung am
Nil auf die Erde, um sich nach Arten und Landsmannschaften zu sondern.
Ja, noch mehr, man hat beobachtet, daß auf dieser Reise »über den großen
Teich« große Vögel viele kleine auf ihrem Rücken transportieren, so hat
man Scharen von Kranichen vorüberziehen sehen, auf deren Rücken winzige
Zugvögelchen lustig zwitscherten! Ist das nicht reizend?

..... Ich habe neulich in einer sonst geschmacklosen und kunterbunten
Sammlung von Gedichten eins von Hugo v. Hoffmannsthal entdeckt.[4] Ich
mag ihn sonst gar nicht, finde ihn gesucht, raffiniert, unklar, ich
verstehe ihn einfach gar nicht. Dieses Gedicht aber gefiel mir sehr und
hat auf mich einen starken poetischen Eindruck gemacht. Ich lege es
Ihnen anbei, vielleicht macht es Ihnen auch Vergnügen.

Ich bin jetzt tief in der Geologie. Sie wird Ihnen wohl als eine sehr
trockene Wissenschaft vorkommen, das ist aber ein Irrtum. Ich lese sie
mit fieberhaftem Interesse und leidenschaftlicher Befriedigung, sie
erweitert kolossal den geistigen Horizont und verschafft eine so
einheitliche allumfassende Vorstellung von der Natur, wie keine
Wissenschaft es vermag. Ich möchte Ihnen eine Menge davon erzählen,
aber dazu müßten wir uns _sprechen_ können, zusammen an einem Vormittag
am Südender Feld schlendern oder einander an einer stillen Mondnacht
ein paarmal gegenseitig nach Hause hinüber begleiten. Was lesen Sie?
Wie stehts mit der Lessing-Legende? Ich will von Ihnen alles wissen!
Schreiben Sie -- wenn es geht -- _sofort_ auf demselben Wege, oder
wenigstens auf dem offiziellen Wege, ohne diesen Brief zu erwähnen.
Ich zähle auch schon im stillen die Wochen, bis ich Sie wieder hier
sehen werde. Das wird doch wohl bald nach Neujahr sein, nicht wahr?

Was schreibt Karl? Wann werden Sie ihn wieder sehen? Grüßen Sie ihn
tausendmal von mir. Ich umarme Sie und drücke Ihnen fest die Hand,
meine liebe, liebe Sonitschka! Schreiben Sie bald und viel.

                                                        Ihre Rosa.


                                                    Breslau, 24. 11. 17.

... Sie irren sich, daß ich von vornherein gegen die modernen Dichter
bin. Vor etwa 15 Jahren habe ich Dehmel mit Begeisterung gelesen --
irgendeine Prosasache von ihm -- am Sterbelager einer geliebten Frau
-- ich habe eine dunkle Erinnerung -- hat mich entzückt. Arno Holz'
Phantasus kann ich jetzt noch auswendig. Johann Schlaf's »Frühling« hat
mich damals hingerissen. Dann bin ich abgekommen und zu Goethe und
Mörike zurückgekehrt, Hoffmannsthal verstehe ich nicht, George kenn ich
nicht. Es ist wahr: ich fürchte bei ihnen allen ein wenig die meisterhafte
vollendete Beherrschung der Form, des poetischen Ausdrucksmittels und
das Fehlen einer großen, edlen Weltanschauung dabei. Dieser Zwiespalt
klingt mir so hohl in der Seele, daß mir dadurch die schöne Form zur
Fratze wird. Sie geben gewöhnlich wunderbare Stimmungen wieder. Aber
Stimmungen machen noch keinen Menschen.

Sonitschka, es sind so zauberhafte Abende jetzt, wie im Frühling. Ich
gehe um 4 Uhr herunter in den Hof, es dämmert schon, dann sehe ich die
scheußliche Umgebung in geheimnisvolle Schleier der Dunkelheit gehüllt,
dafür leuchtet in heller Bläue der Himmel und ein silberner, klarer Mond
schwimmt darauf. Um diese Stunde ziehen jeden Tag quer über dem Hof
hoch oben Hunderte von Krähen im lockeren, weiten Band nach den Feldern
hinaus, zu ihrem »Schlafbaum«, wo sie zur Nacht rasten. Sie ziehen mit
gemächlichem Flügelschlag und tauschen merkwürdige Rufe aus -- ganz
anders als das scharfe »krah«, mit dem sie bei Tag raubgierig nach Beute
jagen. Jetzt klingt das gedämpft und weich, ein tiefer Kehllaut, der auf
mich wirkt wie eine kleine Metallkugel. Und wenn mehrere abwechselnd
dieses »kau--kau« gurgelnd ausstoßen, ist mir, als ob sie spielend
einander Metallkügelchen zuwerfen, die in der Luft im Bogen schweben.
Es ist ein richtiges Geplauder von dem Erleben »vom Tage, vom heute
gewesenen Tage« ... Sie kommen mir so ernst und wichtig vor, wie sie so
jeden Abend ihrer Sitte und vorgezeichneten Bahn folgen, ich empfinde
wie Ehrfurcht für diese großen Vögel, denen ich mit gehobenem Kopf
nachschaue, bis zum letzten. Dann wandle ich in der Dunkelheit hin und
her und sehe die Gefangenen, die eilig ihre Arbeiten noch im Hofe
verrichten, wie undeutliche Schatten herumhuschen und freue mich, daß
ich selbst unsichtbar bin -- so allein, so frei mit meinen Träumereien
und den verstohlenen Grüßen zwischen mir und dem Krähenzug droben -- mir
ist so wohl bei dem linden, frühlingsmäßigen Luftzug. Dann gehen die
Gefangenen mit den schweren Kesseln (Abendsuppe!) durch den Hof ins
Haus, zwei und zwei, marschmäßig, zehn Paar hintereinander; ich folge
als letzte; im Hof, in den Wirtschaftsgebäuden verlöschen allmählich die
Lichter, ich trete ins Haus und die Türen werden zweimal verschlossen
und zugeriegelt -- der Tag ist aus. Ich fühle mich so wohl, trotz des
Schmerzes um Hans (Dr. Hans Dieffenbach, einer der besten Freunde
R. L., ist im Kriege gefallen. Die Herausgeber). Ich lebe nämlich in
einer Traumwelt, in der er gar nicht gestorben ist. Für mich lebt er
weiter und ich lächle ihm oft zu, wenn ich an ihn denke.

Sonitschka, leben Sie wohl. Ich freue mich so auf Ihr Kommen. Schreiben
Sie bald wieder -- vorläufig offiziell -- das geht ja auch -- und dann
durch Gelegenheit.

Ich umarme Sie.

                                                        Ihre Rosa.


                                           Breslau, Mitte Dezember 1917.

... Jetzt ist es ein Jahr, daß Karl in Luckau sitzt. Ich habe in diesem
Monat oft daran gedacht und genau vor einem Jahr waren Sie bei mir in
Wronke, haben mir den schönen Weihnachtsbaum beschert ... Heuer habe ich
mir hier einen besorgen lassen, aber man brachte mir einen ganz schäbigen,
mit fehlenden Ästen -- kein Vergleich mit dem vorjährigen. Ich weiß nicht,
wie ich darauf die acht Lichtlein anbringe, die ich erstanden habe. Es
ist mein drittes Weihnachten im Kittchen, aber nehmen Sie es ja nicht
tragisch. Ich bin so ruhig und heiter wie immer. Gestern lag ich lange
wach -- ich kann jetzt nie vor ein Uhr einschlafen, muß aber schon um
zehn ins Bett -- dann träume ich verschiedenes im Dunkeln. Gestern dachte
ich also: Wie merkwürdig das ist, daß ich ständig in einem freudigen
Rausch lebe -- ohne jeden besonderen Grund. So liege ich zum Beispiel
hier in der dunklen Zelle auf einer steinharten Matratze, um mich im
Hause herrscht die übliche Kirchhofsstille, man kommt sich vor wie im
Grabe; vom Fenster her zeichnet sich auf der Decke der Reflex der Laterne,
die vor dem Gefängnis die ganze Nacht brennt. Von Zeit zu Zeit hört man
nur ganz dumpf das ferne Rattern eines vorbeigehenden Eisenbahnzuges
oder ganz in der Nähe unter den Fenstern das Räuspern der Schildwache,
die in ihren schweren Stiefeln ein paar Schritte langsam macht, um die
steifen Beine zu bewegen. Der Sand knirscht so hoffnungslos unter diesen
Schritten, daß die ganze Öde und Ausweglosigkeit des Daseins daraus klingt
in die feuchte dunkle Nacht. Da liege ich still allein, gewickelt in diese
vielfachen schwarzen Tücher der Finsternis, Langeweile, Unfreiheit, des
Winters -- und dabei klopft mein Herz von einer unbegreiflichen,
unbekannten inneren Freude, wie wenn ich im strahlenden Sonnenschein
über eine blühende Wiese gehen würde. Und ich lächle im Dunkeln dem
Leben, wie wenn ich irgendein zauberhaftes Geheimnis wüßte, das alles
Böse und Traurige Lügen straft und in lauter Helligkeit und Glück
wandelt. Und dabei suche ich selbst nach einem Grund zu dieser Freude,
finde nichts und muß wieder lächeln über mich selbst. Ich glaube, das
Geheimnis ist nichts anderes, als das Leben selbst; die tiefe nächtliche
Finsternis ist so schön und weich wie Sammet, wenn man nur richtig
schaut. Und in dem Knirschen des feuchten Sandes unter den langsamen
schweren Schritten der Schildwache singt auch ein kleines schönes Lied
vom Leben -- wenn man nur richtig zu hören weiß. In solchen Augenblicken
denke ich an Sie und möchte Ihnen so gern diesen Zauberschlüssel
mitteilen, damit Sie immer, und in allen Lagen das Schöne und Freudige
des Lebens wahrnehmen, damit Sie auch im Rausch leben und wie über eine
bunte Wiese gehen. Ich denke ja nicht daran, Sie mit Asketentum, mit
eingebildeten Freuden abzuspeisen. Ich gönne Ihnen alle reellen
Sinnesfreuden. Ich möchte Ihnen nur noch dazu meine unerschöpfliche
innere Heiterkeit geben, damit ich um Sie ruhig bin, daß Sie in einem
sternbestickten Mantel durchs Leben gehen, der Sie vor allem Kleinen,
Trivialen und Beängstigenden schützt.

Sie haben im Steglitzer Park einen schönen Strauß aus schwarzen und
rosavioletten Beeren gepflückt. Für die schwarzen Beeren kommen in
Betracht entweder Hollunder -- seine Beeren hängen in schweren dichten
Trauben zwischen großen gefiederten Blattwedeln, sicher kennen Sie sie,
oder, wahrscheinlicher, Liguster; schlanke zierliche aufrechte Rispen
von Beeren und schmale, längliche grüne Blättchen. Die rosigvioletten
unter kleinen Blättchen versteckten Beeren können die der Zwergmispel
sein; sie sind zwar eigentlich rot, aber in dieser späten Jahreszeit ein
bißchen schon überreif und angefault, erscheinen sie oft violettrötlich;
die Blättchen sehen der Myrthe ähnlich, klein, spitz am Ende, dunkelgrün
und lederig oben, unten rauh.

Sonjuscha, kennen Sie Platens: »Verhängnisvolle Gabel?« Könnten Sie es
mir schicken oder bringen? Karl hat einmal erwähnt, daß er sie zu Hause
gelesen hat. Die Gedichte Georges sind schön; jetzt weiß ich, woher der
Vers: »Und unterm Rauschen rötlichen Getreides!« ... stammt, den Sie
gewöhnlich hersagten, wenn wir im Felde spazieren gingen. Können Sie mir
gelegentlich den neuen »Amadis« abschreiben, ich liebe das Gedicht so
sehr -- natürlich dank Hugo Wolffs Lied -- habe es aber nicht hier. Lesen
Sie weiter die Lessing-Legende? Ich habe wieder zu Langes Geschichte des
Materialismus gegriffen, die mich stets anregt und erfrischt. Ich möchte
so sehr, daß Sie sie mal lesen.

Ach, Sonitschka, ich habe hier einen scharfen Schmerz erlebt; auf dem
Hof, wo ich spaziere, kommen oft Wagen vom Militär, voll bepackt mit
Säcken oder alten Soldatenröcken und Hemden, oft mit Blutflecken ...,
die werden hier abgeladen, in die Zellen verteilt, geflickt, dann
wieder aufgeladen und ans Militär abgeliefert. Neulich kam so ein Wagen,
bespannt, statt mit Pferden, mit Büffeln. Ich sah die Tiere zum ersten
Mal in der Nähe. Sie sind kräftiger und breiter gebaut als unsere
Rinder, mit flachen Köpfen und flach abgebogenen Hörnern, die Schädel
also unseren Schafen ähnlicher, ganz schwarz mit großen sanften Augen.
Sie stammen aus Rumänien, sind Kriegstrophäen ... die Soldaten, die den
Wagen führen, erzählen, daß es sehr mühsam war, diese wilden Tiere zu
fangen und noch schwerer, sie, die an die Freiheit gewöhnt waren, zum
Lastdienst zu benutzen. Sie wurden furchtbar geprügelt, bis daß für sie
das Wort gilt »vae victis« ... An hundert Stück der Tiere sollen in
Breslau allein sein; dazu bekommen sie, die an die üppige rumänische
Weide gewöhnt waren, elendes und karges Futter. Sie werden schonungslos
ausgenutzt, um alle möglichen Lastwagen zu schleppen und gehen dabei
rasch zugrunde. -- Vor einigen Tagen kam also ein Wagen mit Säcken
hereingefahren, die Last war so hoch aufgetürmt, daß die Büffel nicht
über die Schwelle bei der Toreinfahrt konnten. Der begleitende Soldat,
ein brutaler Kerl, fing an, derart auf die Tiere mit dem dicken Ende des
Peitschenstieles loszuschlagen, daß die Aufseherin ihn empört zur Rede
stellte, ob er denn kein Mitleid mit den Tieren hätte! »Mit uns Menschen
hat auch niemand Mitleid«, antwortete er mit bösem Lächeln und hieb noch
kräftiger ein ... Die Tiere zogen schließlich an und kamen über den Berg,
aber eins blutete ... Sonitschka, die Büffelhaut ist sprichwörtlich an
Dicke und Zähigkeit, und die war zerrissen. Die Tiere standen dann beim
Abladen ganz still erschöpft und eins, das, welches blutete, schaute
dabei vor sich hin mit einem Ausdruck in dem schwarzen Gesicht und den
sanften schwarzen Augen, wie ein verweintes Kind. Es war direkt der
Ausdruck eines Kindes, das hart bestraft worden ist und nicht weiß,
wofür, weshalb, nicht weiß, wie es der Qual und der rohen Gewalt
entgehen soll ... ich stand davor und das Tier blickte mich an, mir
rannen die Tränen herunter -- es waren _seine_ Tränen, man kann um den
liebsten Bruder nicht schmerzlicher zucken, als ich in meiner Ohnmacht
um dieses stille Leid zuckte. Wie weit, wie unerreichbar, verloren die
freien, saftigen, grünen Weiden Rumäniens! Wie anders schien dort die
Sonne, blies der Wind, wie anders waren die schönen Laute der Vögel oder
das melodische Rufen der Hirten. Und hier -- diese fremde schaurige
Stadt, der dumpfe Stall, das ekelerregende, muffige Heu mit faulem Stroh
gemischt, die fremden furchtbaren Menschen, und -- die Schläge, das
Blut, das aus der frischen Wunde rinnt ... O, mein armer Büffel, mein
armer, geliebter Bruder, wir stehen hier beide so ohnmächtig und stumpf
und sind nur eins in Schmerz, in Ohnmacht, in Sehnsucht. -- Derweil
tummelten sich die Gefangenen geschäftig um den Wagen, luden die
schweren Säcke ab und schleppten sie ins Haus; der Soldat aber steckte
beide Hände in die Hosentaschen, spazierte mit großen Schritten über den
Hof, lächelte und pfiff leise einen Gassenhauer. Und der ganze herrliche
Krieg zog an mir vorbei ...

Schreiben Sie schnell, ich umarme Sie, Sonitschka.

                                                        Ihre Rosa.

Sonjuscha, Liebste, seien Sie trotz alledem ruhig und heiter. So ist das
Leben und so muß man es nehmen, tapfer, unverzagt und lächelnd -- trotz
alledem.


                                               Breslau, den 14. 1. 1918.

Meine liebste Sonitschka, wie lange habe ich Ihnen nicht geschrieben!
Ich glaube, es sind Monate her. Und auch heute weiß ich nicht einmal, ob
Sie schon in Berlin sind, will aber hoffen, daß diese Zeilen Sie noch
rechtzeitig zu Ihrem Geburtstag erreichen. Ich bat Mathilde, Ihnen von
mir einen Orchideenstrauß zu schicken, nun liegt die Ärmste im Krankenhaus
und wird wohl kaum meinen Auftrag ausführen können. Doch Sie wissen, daß
ich in Gedanken und mit ganzem Herzen bei Ihnen bin und Sie an Ihrem
Geburtstage ganz mit Blumen umgeben möchte: mit lila Orchideen, mit
weißen Iris, mit stark duftenden Hyazinthen, mit allem, was zu haben
ist. Vielleicht wird es mir wenigstens im nächsten Jahr[5] vergönnt
sein, Ihnen an diesem Tage selbst Blumen zu bringen und mit Ihnen
zusammen einen Spaziergang im Botanischen Garten und im Feld zu machen.
Wie herrlich wäre das! Heute haben wir hier 0 Grad. Zugleich aber liegt
in der Luft ein so linder erfrischender Frühlingshauch und oben schimmert
zwischen dicken milchweißen Wolken ein so tiefer blauer Himmel, dazu
schilpen die Spatzen ganz fröhlich, man könnte denken, es sei Ende März.
Ich freue mich schon so auf den Frühling, das Einzige, was man nie satt
kriegt, so lange man lebt, was man im Gegenteil mit jedem Jahr mehr zu
würdigen und zu lieben versteht. Wissen Sie, Sonitschka, daß der Anfang
des Frühlings in der organischen Welt, d. h. das Erwachen zum Leben
_jetzt_ beginnt, Anfang Januar, ohne auf den Kalenderfrühling zu warten.
Während nämlich nach dem Kalender erst der Winter beginnt, befinden wir
uns in der größten, astronomischen Sonnennähe, und dies hat eine so
geheimnisvolle Wirkung auf alles Leben, daß auch auf unserer nördlichen
Halbkugel, die in Winterschnee eingehüllt ist, zu Beginn des Januar wie
mit einem Zauberstab die Pflanzen- und Tierwelt erweckt wird. Die Knospen
fangen jetzt an zu treiben, viele Tiere fangen die Fortpflanzung schon
an. Neulich las ich bei Francé die Beobachtung, daß die hervorragendsten,
wissenschaftlichen und literarischen Produktionen berühmter Männer in
die Monate Januar-Februar fallen. Auch im Menschenleben soll also die
Sonnenwende nach Weihnachten ein kritischer Moment sein und einen neuen
Zustrom aller Lebenskräfte verursachen. Auch Sie, Sonitschka, sind so
ein frühes Blümchen, das noch mitten im Schnee und Eis aufgesprossen ist
und deshalb sein Lebenlang ein bißchen fröstelt, sich im Leben nicht
heimisch fühlt und zarte Treibhauspflege braucht.

Über Ihren Rodin zu Weihnachten habe ich mich mächtig gefreut und hätte
Ihnen gleich gedankt, wenn mir Mathilde nicht gesagt hätte, daß Sie
in Frankfurt sind. Was mich besonders angenehm berührt hat, ist der
Natursinn Rodins, seine Ehrfurcht vor jedem Gräslein im Felde. Das
muß ein Prachtmensch gewesen sein: offen, natürlich, überströmend von
innerer Wärme und Intelligenz; er erinnert mich entschieden an Jaurès.
Mögen Sie meinen Broodcoorens? Oder kannten Sie ihn schon? Mich hatte
dieser Roman sehr ergriffen; namentlich die landschaftlichen Schilderungen
sind von höchster poetischer Kraft. Dem Broodcoorens scheint offenbar,
genau wie dem De Coster, daß »über dem Lande Flandern« die Sonne viel
herrlicher auf- und untergeht als über der sonstigen Erde. Ich finde,
daß die Flamen alle in ihr Ländchen förmlich verliebt sind, sie
beschreiben es nicht wie ein Stück schöne Erde, sondern wie eine
strahlende junge Braut. Und auch in dem düster-tragischen Ende finde
ich eine Verwandtschaft der Farben mit den grandiosen Bildern im Till
Eulenspiegel, z. B. mit der Demolierung des öffentlichen Hauses. Finden
Sie nicht auch, daß diese Bücher im Kolorit ganz an Rembrandt erinnern:
das Dunkle der ganzen Bilder, gemischt mit einem funkelnden Altgoldton;
der verblüffendste Realismus aller Details und doch das Ganze in eine
märchenhafte Phantasieregion entrückt.

Im »Berl. Tageblatt« las ich, daß im Friedrich-Museum ein neuer großer
Tizian hängt. Haben Sie ihn schon besucht? Ich gestehe, daß Tizian
eigentlich nicht mein Freund ist, er ist mir zu geleckt und kalt, zu
virtuos -- verzeihen Sie, wenn das vielleicht eine Majestätsbeleidigung
ist, aber ich kann nicht anders als meiner unmittelbaren Empfindung
folgen. Trotzdem wäre ich glücklich, wenn ich jetzt ins Friedrich-Museum
könnte, um den neuen Gast zu besichtigen. Haben Sie auch den Kaufmannschen
Nachlaß gesehen, von dem man so viel Wesens gemacht hat?

Meine Lektüre sind jetzt verschiedene ältere Studien über Shakespeare
aus den 60er und 70er Jahren, als man noch in Deutschland lebhaft über
das Problem Shakespeare debattierte. Könnten Sie mir nicht aus der Kgl.
Bibliothek oder aus der Reichstagsbibliothek beschaffen: Klein, Geschichte
des italienischen Dramas; Schack, Geschichte der dramatischen Literatur
in Spanien; Gervinus und Ulrici über Shakespeare? Wie stehen Sie selbst
zu Shakespeare? Schreiben Sie bald! Ich umarme Sie und drücke Ihnen warm
die Hand. Seien Sie ruhig und heiter, trotz alledem. Liebste Sonitschka,
auf Wiedersehen!

Wann wollen Sie kommen?!

Sonjuscha, wollen Sie mir die Liebe tun: schicken Sie der Mathilde J.
Hyazinthen von mir. Ich erstatte es Ihnen, wenn Sie hier sind.

                                                        Ihre Rosa.


                                               Breslau, den 24. 3. 1918.

Meine geliebte Sonitschka, wie lange habe ich Ihnen nicht mehr geschrieben
und wie oft habe ich in dieser Zeit an Sie gedacht! Die »Zeitläufte«
benehmen sogar mir zeitweilig die Lust zum Schreiben.... Wenn man jetzt
zusammensein und, im Feld schlendernd, de omnibus rebus plaudern könnte,
wäre es eine Wohltat, aber darauf ist gar keine Aussicht zur Zeit. Meine
Beschwerde ist mit gründlicher Schilderung meiner Schlechtigkeit und
Unverbesserlichkeit abgewiesen und ein Antrag, wenigstens auf kurzen
Urlaub, desgleichen. Ich muß also wohl warten, bis wir die ganze Welt
besiegen.

Sonjuscha, wenn ich längere Zeit von Ihnen keine Nachricht habe, lebe
ich in dem Gefühl, daß Sie dort einsam, unruhig, verdrossen und
verzweifelt herumflattern, wie ein vom Baume losgelöstes Blatt im
Winde, und das tut mir sehr weh. Schauen Sie, jetzt beginnt wieder der
Frühling, die Tage werden schon so hell und lang, und im Feld gibt es
sicherlich schon viel zu sehen und zu hören! Gehen Sie doch viel hinaus,
der Himmel ist jetzt so interessant und mannigfaltig mit den jagenden
unruhigen Wolken, die noch nackte Kalkerde muß in dieser wechselnden
Beleuchtung schön sein. Sehen Sie sich für mich an alledem satt.... Es
ist das Einzige, was man nie im Leben überkriegt, was stets denselben
Reiz der Neuheit hat und einem immer treu bleibt. Sie müssen auch
unbedingt für mich in den Botanischen Garten gehen, um mir genau über
etwas zu berichten. Es geht nämlich in diesem Frühjahr etwas Merkwürdiges
vor. Die Vögel sind alle um 1-1½ Monate zu früh angekommen. Die
Nachtigall war schon am 10. März hier, der Wendehals, der erst Ende
April kommt, lachte schon am 15. und sogar der Pirol, den man den
»Pfingstvogel« nennt und der nie vor Mai kommt, flötet hier schon seit
einer Woche vor Sonnenaufgang im Morgengrauen! Ich höre sie alle von
weitem aus der Anlage des Irrenhauses. Ich weiß mir diesen verfrühten
Heimgang gar nicht zu deuten und möchte wissen, ob dasselbe anderswo zu
beobachten ist oder nur auf die Wirkung des hiesigen Irrenhauses
zurückzuführen ist. Gehen Sie also in den Botanischen, Sonitschka, aber
so in den Mittagsstunden bei sonnigem Tag, und belauschen Sie alles, um
mir zu berichten. Das ist mir ja, neben dem Ausgang der Schlacht bei
Cambrai, das Wichtigste auf Erden, eine wahre Herzensangelegenheit.

Wie schön sind die Bilder, die Sie mir schickten! Von Rembrandt braucht
man ja kein Wort zu sagen. Bei Tizian war ich von dem Pferd noch mehr
überwältigt als von dem Reiter; so viel wahrhaft königliche Macht und
Vornehmheit in einem Tier ausgedrückt, hätte ich nicht für möglich
gehalten, Aber das aller-, allerschönste ist das Frauenbildnis von
Bartolomeo da Venezia (den ich übrigens gar nicht kannte). Welcher Rausch
in den Farben, welche Feinheit der Zeichnung, welcher geheimnisvolle
Zauber des Ausdrucks! Sie erinnert mich darin in irgendeiner unbestimmten
Weise an die Mona Lisa. Sie haben mir mit diesen Bildern eine Fülle der
Freude und des Lichts in die Zelle gebracht.

Das Buch von Hänschen (Hans Dieffenbach. Die Herausgeber) müssen Sie
natürlich behalten; es schmerzt mich, daß alle seine Bücher nicht in
_unsere_ Hände kommen. Ich hätte sie Ihnen lieber als sonst wem gegeben.
Haben Sie den Shakespeare einigermaßen zur Zeit erhalten? Was schreibt
Karl, wann sehen Sie ihn wieder? Grüßen Sie ihn tausendmal von mir und
sagen Sie ihm von mir: Ça ira -- trotz alledem. Und seien Sie frisch und
munter, freuen Sie sich über den Frühling: den nächsten werden wir schon
zusammen verleben. Ich umarme Sie, Liebste. Fröhliche Ostern! Auch den
Kindern viele Grüße!

                                                        Ihre Rosa.


                                                      Breslau, 2. 5. 18.

... Ich habe den Candide und die Gräfin Ulfeldt gelesen und mich über
beides gefreut. Candide ist eine so köstliche Ausgabe, daß ich es nicht
übers Herz bringen konnte, das Buch aufzuschneiden und es so gelesen
habe; da es in halben Bogen gefaßt ist, ging das sehr gut. Diese boshafte
Zusammenstellung aller menschlichen Erbärmlichkeiten hätte auf mich vor
dem Kriege wahrscheinlich den Eindruck eines Zerrbildes gemacht, jetzt
wirkt sie durchaus realistisch ... Zum Schluß erfuhr ich endlich, woher
die Redensart stammt: »mais il faut cultiver notre jardin«, die ich
selbst schon gelegentlich gebrauchte. Die Gräfin Ulfeldt ist ein
interessantes Kulturdokument, eine Ergänzung Grimmelshausens.... Was
machen Sie? Genießen Sie nicht den herrlichen Frühling?

                               Stets Ihre

                                                             Rosa.


                                               Breslau, den 12. 5. 1918.

Sonitschka, Ihr Brieflein hat mich so erfreut, daß ich es gleich
beantworten will. Sehen Sie, wieviel Genuß und Begeisterung Ihnen ein
Besuch im Botanischen Garten verschafft! Warum gönnen Sie sich das nicht
öfters?! Und auch ich habe etwas davon, wenn Sie mir Ihre Eindrücke
gleich so warm und farbenreich schildern, ich versichere Sie! Ja, ich
kenne die wunderbaren, rubinroten Kätzchen der blühenden Fichte. Sie
sind so unwahrscheinlich schön, wie übrigens das meiste andere, wenn es
in voller Blüte steht, daß man jedesmal den eigenen Augen nicht traut.
Diese roten Kätzchen sind weibliche Blüten, aus denen dann die großen,
schweren Zapfen werden, die sich umdrehen und nach unten hängen; daneben
gibt es unscheinbare, fahlgelbe, männliche Kätzchen der Fichte, die den
goldigen Staub verbreiten, -- »Pettoria« kenne ich nicht, Sie schreiben
eine Akazienart. Meinen Sie, daß sie ähnlich gefiederte Blättchen und
Schmetterlingsblüten hat, wie die sogenannte »Akazie«? Sie wissen
wahrscheinlich, daß der Baum, den man so landläufig nennt, gar keine
Akazie sondern »_Robinia_« ist; eine wirkliche Akazie ist z. B. die
Mimose; diese blüht allerdings schwefelgelb und duftet berauschend, aber
ich kann mir nicht denken, daß sie im Freien in Berlin wächst, da es
eine tropische Pflanze ist. In Ajaccio auf Korsika sah ich im Dezember
auf dem Platz in der Stadt herrlich blühende Mimosen, riesige Bäume ...
Hier kann ich leider nur von weitem aus meinem Fenster das Grünen der
Bäume beobachten, deren Spitzen ich über der Mauer sehe; ich suche meist
nach dem Habitus und dem Farbenton die Baumarten zu erraten und, wie es
scheint, meist richtig. Neulich wurde hier ein gefundener, abgebrochener
Ast ins Haus gebracht, und hat durch sein bizarres Aussehen allgemeine
Aufregung hervorgerufen; jedermann frug, was das sei. Es war eine Rüster
(Ulme); erinnern Sie sich noch, wie ich sie Ihnen zeigte in der Straße in
meinem Südende, vollbeladen mit duftigen Paketen der fahl-rosig-grünlichen
Früchtchen; es war auch im Mai, und Sie waren ganz hingerissen von dem
phantastischen Anblick. Hier wohnen die Leute jahrzehntelang in der
Straße, die mit Rüstern bepflanzt ist, und haben noch nicht »bemerkt«,
wie eine blühende Rüster aussieht.... Und derselbe Stumpfsinn ist ja
allgemein Tieren gegenüber. Die meisten Städter sind doch wirklich rohe
Barbaren, im Grunde genommen....

Bei mir nimmt, umgekehrt, das innere Verwachsen mit der organischen
Natur -- en defrit de l'humanité -- beinahe krankhafte Formen an, was
wohl mit meinem Nervenzustand zusammenhängt. Da unten hat ein Paar
Haubenlerchen ein Junges ausgebrütet -- die übrigen drei sind wohl
kaputt gegangen. Und dieses eine kann schon sehr gut laufen -- Sie haben
vielleicht bemerkt, wie drollig die Haubenlerchen laufen, mit kleinen
behenden Schrittchen, trippelnd, wie der Spatz mit beiden Beinchen
hüpfend, es kann auch schon gut fliegen, findet wohl aber noch nicht
selbst genug Nahrung: Insekten, Räupchen usw. -- zumal bei diesen kalten
Tagen. So erscheint es jeden Abend unten im Hof vor meinem Fenster und
piept ganz laut, schrill und kläglich, worauf auch gleich die beiden
Alten erscheinen und mit ängstlichem, bekümmerten »Huid--huid« halblaut
Antwort geben, dann schnell herumlaufen, verzweifelt suchend, um noch in
der Dämmerung und Kälte etwas Eßbares zu finden, und dann kommen sie an
den klagenden Balg heran und stecken ihm das Gefundene in den Schnabel.
Das wiederholt sich jetzt jeden Abend um ½9 Uhr, und wenn dies schrille,
klagende Piepen unter meinem Fenster beginnt, und ich die Unruhe und
Sorge der beiden kleinen Eltern sehe, bekomme ich buchstäblich einen
Herzkrampf. Dabei kann ich nichts helfen, denn die Haubenlerchen sind
sehr scheu, und wenn man ihnen Brot hinwirft, fliegen sie weg, nicht
so wie die Tauben und Spatzen, die mir schon wie Hunde nachlaufen. Ich
sage mir vergeblich, daß es lächerlich ist, daß ich ja nicht für alle
hungrigen Haubenlerchen der Welt verantwortlich bin und nicht um alle
geschlagenen Büffel -- wie die, die hier täglich mit Säcken in den Hof
kommen -- weinen kann. Das hilft mir nichts und ich bin förmlich krank,
wenn ich solches höre und sehe. Und wenn der Star, der bis zum Überdruß
den ganzen, lieben Tag, irgendwo in der Nähe sein aufgeregtes Geschwätz
wiederholt, wenn er für einige Tage verstummt, habe ich wieder keine
Ruhe, daß ihm was Böses zugestoßen sein mag und warte gequält, daß er
seinen Unsinn nur weiter pfeift, damit ich weiß, daß es ihm wohlergeht.
So bin ich aus meiner Zelle nach allen Seiten durch unmittelbare, feine
Fäden an tausend kleine und große Kreaturen geknüpft, und reagiere auf
alles mit Unruhe, Schmerz, Selbstvorwürfen.... _Sie_ gehören auch zu all
diesen Vögeln und Kreaturen, um die ich von weitem innerlich vibriere.
Ich fühle, wie Sie darunter leiden, daß Jahre unwiederbringlich vergehen,
ohne daß man »lebt«. Aber Geduld und Mut! Wir werden noch leben und Großes
erleben. Jetzt sehen wir vorerst, wie eine ganze alte Welt versinkt, jeden
Tag ein Stück, ein neuer Abrutsch, ein neuer Riesensturz.... Und das
Komischste ist, daß die meisten es gar nicht merken und glauben, noch auf
festem Boden zu wandeln....

Sonitschka, haben Sie vielleicht oder könnten Sie beschaffen den Gil
Blas und den hinkenden Teufel? Ich kenne Lesage gar nicht und wollte ihn
schon längst lesen. Kennen Sie ihn? Schlimmstenfalls kaufe ich mir ihn
in der Reclam-Ausgabe.

            Ich umarme Sie herzlich

                                                        Ihre Rosa.

Schreiben Sie bald, wie es Karl geht.

Vielleicht hat Pfemfert den »Flachsacker« von Stijn Streuvels, das ist
wieder ein Flame; erschienen im Inselverlag, soll sehr gut sein.


                                              Breslau, den 18. 10. 1918.

Liebste Sonitschka, ich schrieb Ihnen vorgestern. Bis heute habe ich
noch keinen Bescheid auf mein Telegramm an den Reichskanzler, es kann
vielleicht noch einige Tage dauern. Jedenfalls steht aber eins fest:
meine Stimmung ist schon derart, daß mir ein Besuch meiner Freunde unter
Aufsicht zur Unmöglichkeit geworden ist. Ich ertrug alles ganz geduldig
die Jahre hindurch und wäre unter anderen Umständen noch weitere Jahre
ebenso geduldig geblieben. Nachdem aber der allgemeine Umschwung in der
Lage kam, gab es auch in meiner Psychologie einen Knick. Die Unterredungen
unter Aufsicht, die Unmöglichkeit, darüber zu reden, was mich wirklich
interessiert, sind mir schon so lästig, daß ich lieber auf jeden Besuch
verzichte, bis wir uns als freie Menschen sehn.

Lange kann es ja nicht mehr dauern. Wenn Dittmann und Kurt Eisner frei
gelassen sind, können sie mich nicht länger im Gefängnis halten und auch
Karl wird bald frei sein. Warten wir also lieber auf das Wiedersehen in
Berlin.

Bis dahin tausend Grüße.

                                   Stets Ihre

                                                        Rosa.



Anmerkungen


[1] Diese Karte ist die einzige Karte aus der Freiheit. Am 10. 7. 16
erfolgte Rosa Luxemburgs Verhaftung.

[2] »Der reiche Mann«, von Galsworthy.

[3] Diese Karte wurde geschrieben an dem Tag, an dem Karl Liebknecht
in zweiter Instanz zu 4 Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.

[4] »Vor Tag« von Hugo v. Hoffmannsthal.

[5] Im nächsten Jahre, am 15. Januar 1919, war Rosa Luxemburg in
Gemeinschaft mit Karl Liebknecht, von der unter dem Protektorate der
Ebert-Noske, Stampfer und Konsorten an der Wiederaufrichtung des alten
Regimes arbeitenden Mörderzentrale gemordet.


[ Die folgende Textzeile wurde geändert; es ist zuerst die Zeile wie im
  Original, danach die geänderte Zeile angeführt.

Ich fühle, wie Sie darunter leiden, daß Jahre unwiderbringlich
Ich fühle, wie Sie darunter leiden, daß Jahre unwiederbringlich
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