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Title: Der Gehülfe Author: Walser, Robert, 1878-1956 Language: German As this book started as an ASCII text book there are no pictures available. *** Start of this LibraryBlog Digital Book "Der Gehülfe" *** [ Anmerkungen zur Transkription: Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit = markiert. Im Original nicht in Fraktur gedruckter Text wurde mit _ markiert. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Eine Liste der vorgenommenen Änderungen findet sich am Ende des Textes. ] Der Gehülfe Roman von Robert Walser Verlag von Bruno Cassirer Berlin Eines Morgens um acht Uhr stand ein junger Mann vor der Türe eines alleinstehenden, anscheinend schmucken Hauses. Es regnete. »Es wundert mich beinahe,« dachte der Dastehende, »daß ich einen Schirm bei mir habe.« Er besaß nämlich in seinen früheren Jahren nie einen Regenschirm. In der einen nach unten grad ausgestreckten Hand hielt er einen braunen Koffer, einen von den ganz billigen. Vor den Augen des scheinbar von einer Reise herkommenden Mannes war auf einem Emailleschild zu lesen: C. Tobler, technisches Bureau. Er wartete noch einen Moment, wie um über irgend etwas gewiß sehr Belangloses nachzudenken, dann drückte er auf den Knopf der elektrischen Klingel, worauf eine Person kam, allem Anschein nach eine Magd, um ihn eintreten zu lassen. »Ich bin der neue Angestellte,« sagte Joseph, denn so hieß er. Er solle nur eintreten und hier, die Magd zeigte ihm die Richtung, nach unten ins Bureau gehen. Der Herr werde gleich erscheinen. Joseph stieg eine Treppe, die eher für Hühner als für Menschen gemacht schien, hinunter und trat rechter Hand ohne weiteres in das technische Bureau ein. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, ging die Türe auf. An den festen Schritten über die hölzerne Treppe und am Türaufmachen hatte der Wartende sogleich den Herrn erkannt. Die Erscheinung bestätigte nur die vorausgegangene Gewißheit, es war in der Tat niemand anderes als Tobler, der Chef des Hauses, der Herr Ingenieur Tobler. Er machte ziemlich große Augen, er schien ärgerlich zu sein und war es auch. »Warum,« sagte er, Joseph strafend anblickend, »kommen Sie denn eigentlich heute schon? Ich habe Sie doch erst für Mittwoch bestellt. Ich bin noch gar nicht soweit eingerichtet. Haben Sie's so eilig gehabt? Wa?« Für Joseph hatte dieses Weglassen des Schluß-s am Was etwas Verächtliches. So ein verstümmeltes Wort klingt ja auch nicht gerade wie eine freundliche Liebkosung. Er erwiderte, daß man ihn im Stellenvermittlungsbureau darauf aufmerksam gemacht habe, daß er heute, Montag früh, anzutreten habe. Wenn das ein Irrtum sei, so bitte er um Entschuldigung, er aber könne wahrhaftig nichts dafür. »Sieh da, wie höflich ich bin!« dachte der junge Mann und mußte innerlich unwillkürlich über sein Betragen lächeln. Tobler schien nicht geneigt, sofort entschuldigen zu wollen. Er redete noch einige Male um dieselbe Sache herum, wobei sein ohnehin roter Kopf empört zu erröten begann. Er »begriff« nicht, es nahm ihn dies und jenes »Wunder«, schließlich, nachdem sich sein Erstaunen über den vorgekommenen Fehler beruhigt hatte, meinte er zu Joseph schräg hinüber, er könne dableiben. »Fortschicken kann ich Sie ja jetzt doch nicht mehr.« -- »Haben Sie Hunger?« setzte er hinzu. Joseph bejahte ziemlich gleichmütig. Er wunderte sich aber sogleich über die Ruhe seiner Antwort. »Vor einem halben Jahr noch,« dachte er rasch, »würde mich die Hochbeschaffenheit einer derartigen Frage eingeschüchtert haben, und wie!« »Kommen Sie,« sagte der Ingenieur. Mit diesen Worten führte er seinen neuangeworbenen Beamten ins Eßzimmer hinauf, das im Erdgeschoß gelegen war. Das Bureau lag unter der Erdlinie im Keller. Im Wohn- und Eßzimmer sprach der Herr folgendes: »Setzen Sie sich. Irgendwo, das ist ganz egal. Und essen Sie, bis Sie satt sind. Hier ist Brot. Schneiden Sie soviel davon ab wie Sie wollen. Genieren Sie sich nur nicht. Schenken Sie nur mehrere Tassen ein. Kaffee ist genug da. Und da ist Butter. Die Butter ist zum Zugreifen da, wie Sie sehen. Und da haben Sie auch Konfitüre, falls Sie ein Liebhaber davon sind. Wollen Sie Bratkartoffeln dazu essen?« »O ja, warum nicht, ganz gern,« hatte Joseph den Mut zu sagen. Worauf Herr Tobler nach Pauline, der Magd, rief und ihr auftrug, das Gewünschte rasch zuzubereiten. Nachdem das Frühstück beendet war, gab es unten im Kontor, inmitten der Zeichenbretter und Zirkel und umherliegenden Bleistifte, zwischen beiden Männern ungefähr folgende Auseinandersetzung: Er müsse, sagte Tobler in rauhem Ton, einen Kopf als Angestellten haben. Eine Maschine könne ihm nicht dienen. Wenn Joseph planlos und geistlos in den Tag hineinarbeiten wolle, so solle er so gut sein und es gleich auf der Stelle sagen, damit man von Anfang an wisse, woran man mit ihm sei. Er, Tobler, benötige eine Intelligenz, eine selbständig arbeitende Kraft. Wenn Joseph glaube, er sei keine solche, so möge er so freundlich sein, usw. Hier drückte sich der technische Erfinder in Wiederholungen aus. »Ach,« sagte Joseph, »warum sollte ich denn keinen Kopf haben, Herr Tobler? Was mich betrifft, ich glaube und hoffe des Bestimmtesten, daß ich jederzeit dasjenige zu leisten imstande sein werde, was Sie glauben werden, von mir verlangen zu dürfen: Übrigens, meine ich, bin ich hier oben (das Haus Tobler stund auf einem Hügel) ja vorläufig nur probeweise. Die Art unseres gegenseitigen Übereinkommens hindert Sie in keiner Weise, mit mir, wenn Sie es für notwendig erachten, augenblicklich Schluß zu machen.« Er wolle, fand es Herr Tobler für passend zu sagen, nicht hoffen, daß es soweit komme. Joseph möge nichts für ungut nehmen von dem, was er, Tobler, da soeben gesagt habe. Er habe eben nur geglaubt, gleich von Anfang an klaren Wein einschenken zu sollen, und er sei der Meinung, daß das für beide Teile nur vom Guten könne gewesen sein. Alsdann wisse jeder, woran er mit dem andern sei, und so sei es am besten. »Gewiß,« bekräftigte Joseph. Nach dieser Rücksprache wies der Vorgesetzte dem Untergebenen den Platz an, woran er schreiben »könne«. Es war dies ein etwas zu enges, schmales und zu niedrig gebautes Sitzpult mit einer Schieblade, worin sich die Markenkasse und einige kleinere Bücher befanden. Der Tisch, denn nur ein solcher war's und gar kein wahrhaftiges Pult, stand dicht an einem Fenster und an der Gartenerde. Darüber hinaus erblickte man in der Tiefe den ausgedehnten See, weiter das anderseitige Seeufer. Das alles sah heute sehr trübe aus, denn es regnete noch immer. »Kommen Sie,« sagte plötzlich Tobler, und er lächelte in etwas, wie es Joseph schien, unziemlicher Art zu seinen Worten, »meine Frau muß Sie doch nun auch bald endlich einmal zu Gesicht bekommen. Kommen Sie mit, ich werde Sie ihr vorstellen. Und dann müssen Sie auch das Zimmer sehen, wo Sie schlafen werden.« Er führte ihn hinauf in die erste Etage, wo den beiden eine schlanke, hohe Frauenfigur entgegentrat. Das war »sie«. »Eine gewöhnliche Frau,« wollte rasch der junge Angestellte denken, aber er setzte sogleich in Gedanken hinzu: »und doch nicht.« Die Dame betrachtete den »Neuen« ironisch und gleichgültig, aber ohne Absicht. Beides, das Kalte und das Ironische, schien ihr angeboren zu sein. Sie streckte ihm nachlässig, ja sogar träge die Hand dar, er ergriff sie und verneigte sich vor der »Herrin des Hauses«. So nannte er sie im geheimen, nicht, um sie zu etwas Schönerem zu erheben, im Gegenteil, um sie rasch im stillen zu kränken. Diese Frau benahm sich in seinen Augen entschieden zu hochmütig. »Ich hoffe, es wird Ihnen hier bei uns gefallen,« sagte sie mit einer seltsam hochklingenden Stimme und verzog dazu ein wenig ihren Mund. »Ja, sag du das nur. Sehr hübsch. Ei seht mal, wie freundlich. Wollen ja sehen.« Auf diese Art hielt es Joseph für angezeigt, für sich über jene wohlwollenden Worte nachzudenken. Alsdann wurde ihm sein Zimmer gezeigt, es lag oben im kupfernen Turm, es war also ein Turmzimmer, gewissermaßen ein romantisches und vornehmes. Übrigens erschien es hell, luftig und freundlich. Das Bett war sauber, o ja, in solch einem Zimmer würde sich's wohnen lassen. Nicht übel. Und Joseph Marti, so hieß er mit seinem ganzen Namen, legte den Koffer, den er mit hinaufgenommen hatte, auf dem Parkettboden ab. Später wurde er in die Geheimnisse der Toblerschen geschäftlichen Unternehmungen kurz eingeweiht und mit den Pflichten, die er zu erfüllen hatte, im allgemeinen vertraut gemacht. Es ging ihm dabei eigentümlich, er verstand nur die Hälfte. Was denn nur mit ihm sei, dachte er und machte sich Vorwürfe: »Bin ich ein Betrüger, ein Schwätzer? Will ich Herrn Tobler hintergehen? Er verlangt einen 'Kopf' und ich, ich bin heute absolut kopflos. Vielleicht daß es morgen früh oder bereits heute abend besser geht.« Das Mittagessen schmeckte ihm ausgezeichnet. Wiederum dachte er besorgt. »Wie? Hier sitze ich und esse, wie es mir seit vielleicht Monaten nicht mehr gemundet hat, und kapiere nichts von den Winkelzügen der Unternehmungen Toblers? Ist das nicht Diebstahl? Das Essen ist wundervoll, es erinnert mich lebhaft an zu Hause. Solche Suppe hat Mutter gemacht. Wie kräftig und saftig das Gemüse ist, und das Fleisch. Wo kriegt man in der Großstadt dergleichen?« »Essen Sie, essen Sie,« trieb Tobler an, »in meinem Haus wird tapfer gegessen, haben Sie das verstanden? Nachher wird aber auch gearbeitet.« Der Herr sehe, er esse ja, erwiderte Joseph mit einer Schüchternheit, die ihn beinahe zornig machte. Er dachte: »Wird er mich nach acht Tagen auch noch zum Essen antreiben? Wie schmachvoll, zu empfinden, wie sehr mir dieses fremde Essen schmeckt. Werde ich diesen unverschämten Appetit durch entsprechende Leistungen rechtfertigen?« Er nahm sich von jeder Speise noch einmal auf seinen Teller. Ja, er kam aus den Tiefen der menschlichen Gesellschaft her, aus den schattigen, schweigsamen, kargen Winkeln der Großstadt. Er hatte seit Monaten schlecht gegessen. Ob man ihm dies etwa anmerke, dachte er und errötete. Ja, ein ganz klein wenig merkten das Toblers sicher. Die Frau betrachtete ihn mehrfach fast mitleidig. Die vier Kinder, zwei Mädchen und zwei Knaben, sahen ihn wie etwas Wildfremdes und Sonderbares von der Seite her an. Diese ungeniert fragenden und forschenden Blicke entmutigten ihn. Solche Blicke erinnern eben an die Angeflogenheit an etwas Fremdes, an die Behäbigkeit dieses Fremden, das für sich eine Heimat darstellt, und an die Heimatlosigkeit desjenigen, der nun so dasitzt und die Pflicht hat, sich möglichst rasch und guten Willens in das behagliche fremde Bild heimatlich einzufügen. Solche Blicke machen einen frieren im heißesten Sonnenschein, sie dringen kalt in die Seele, bleiben da einen Moment kalt liegen und verlassen sie wieder, wie sie gekommen sind. »So. Jetzt an die Arbeit,« rief Tobler. Und beide verließen den Tisch und begaben sich, der Herr voran, in das Bureau hinunter, um da, wie der Befehl lautete, zu arbeiten. »Rauchen Sie?« Ja, Joseph rauche ganz gern. »Nehmen Sie sich einen Zigarrenstumpen aus dem blauen Paket dort. Sie dürfen während der Arbeit ruhig rauchen. Ich tu's ja auch. So. Und nun sehen Sie einmal hierher, das da, aber sehen Sie sie ordentlich an, sind die zur 'Reklame-Uhr' erforderlichen Papiere. Können Sie gut rechnen? -- Dann um so besser. Es handelt sich nun in erster Linie -- was tun Sie da? Mein junger Mann, die Asche gehört in den Aschenbecher. Ich habe gern Ordnung zwischen meinen eigenen vier Wänden -- also in erster Linie handelt es sich, nehmen Sie einen Bleistift zur Hand, nun, sagen wir, um die Zusammenstellung, um die genaue Gewinnberechnung dieses Unternehmens. Nehmen Sie Platz hier, ich werde Ihnen sogleich die nötigen Angaben machen. Und daß Sie mir gefälligst aufpassen, denn ich sage meine Sachen nicht gern zweimal.« »Werde ich taugen?« dachte Joseph. Es war wenigstens gut, daß zu einer so schwierigen Arbeit geraucht werden durfte. Ohne Zigarrenstumpen würde er jetzt an der Rechtbeschaffenheit seines Kopfes ehrlich gezweifelt haben. Während der Angestellte nun schrieb, wobei ihm der Prinzipal von Zeit zu Zeit über die Schulter in die entstehende Leistung hinabblickte, spazierte dieser, eine krumme, langstielige Zigarre zwischen den schönen, blendend weißen Zähnen tragend, im Bureau auf und ab, um allerhand Zahlen anzugeben, die jeweils flink von einer heute noch ein wenig ungeübten Angestelltenhand nachgezeichnet wurden. Der bläuliche Rauch hüllte beide arbeitende Gestalten bald gänzlich ein, draußen vor den Fenstern schien sich das Wetter aufhellen zu wollen, Joseph warf ab und zu einen Blick durch die Scheibe und merkte die Veränderung, die sich leise am Himmel vollzog. Einmal bellte der Hund vor der Türe. Tobler trat auf einen Moment hinaus, um das Tier zu beruhigen. Nach Verlauf zweier Arbeitsstunden ließ Frau Tobler durch eines der Kinder zum Nachmittagskaffee rufen. Es sei draußen im Gartenhaus gedeckt, weil das Wetter sich gebessert habe. Der Chef ergriff seinen Hut und sagte zu Joseph, er solle jetzt Kaffeetrinken gehen und nachher das flüchtig Geschriebene ins reine setzen, bis er damit fertig sei, werde es wohl Abend geworden sein. Dann ging er. Joseph sah ihn den Hügel durch den abstürzenden Garten hinuntergehen. Welch eine stattliche Figur er hat, dachte er, er blieb noch eine ganze Weile so stehen und begab sich dann zum Kaffee in das hübsche, grünangestrichene Gartenhaus. Während des Imbisses fragte ihn die Frau: »Sind Sie stellenlos gewesen?« »Ja,« antwortete Joseph. »Lange?« Er gab ihr Auskunft, und sie seufzte jedesmal, wenn er von gewissen kläglichen Menschen und Menschenverhältnissen sprach. Sie tat das ganz leicht und obenhin, und sie behielt außerdem die jeweiligen Seufzer länger als gerade nötig war im Mund, als habe sie sich jedesmal an der Annehmlichkeit dieses Tons und Empfindens weiden können. »Gewissen Menschen,« dachte Joseph, »scheint es Vergnügen zu machen, an bedauerliche Dinge zu denken. Wie diese Frau Nachdenklichkeit mimt. Sie seufzt, wie andere lachen, genau so fröhlich. Ist das jetzt meine Herrin?« Später stürzte er sich in seine Reinschrift. Es wurde Abend. Morgen früh würde es sich ja zeigen, ob er eine Kraft oder eine Null, eine Intelligenz oder eine Maschine, ein Kopf oder ein Hohlkopf sei. Für heute war es seines Erachtens nach genug. Er räumte seine Arbeit zusammen und ging in sein Zimmer, froh darüber, für eine kleine Zeitlang allein sein zu dürfen. Er fing nicht ohne Wehmut an, seinen Handkoffer, seine ganze Besitzung, langsam, Stück für Stück, auszupacken, wobei er der unzählbaren Umzüge gedachte, zu deren Erledigung er sich nun schon so viele Male dieses Köfferchens bedient hatte. Schlichte Sachen werden einem so lieb, das empfand der junge Angestellte. Wie es ihm hier bei Tobler wohl gehen werde, fragte er sich, während er die paar Wäschestücke, die er besaß, in absichtlich säuberlichster Manier in den Schrank legte: »Gut oder schlecht, ich bin einmal da, gehe es wie es gehen kann.« Er gelobte sich im stillen, sich Mühe zu geben, indem er ein Knäuel alter Faden, Bindfadenteile, Halsbinden, Knöpfe, Nadeln und abgerissene Leinenfetzen auf den Fußboden warf. »Wenn ich nun schon einmal hier esse und schlafe, will ich mich geistig und körperlich dafür auch anstrengen,« murmelte er weiter, »wie alt bin ich jetzt? Vierundzwanzig! Das ist keine nennenswerte Jugend mehr. Ich bin zurückgeblieben im Leben.« Er hatte den Koffer geleert und stellte ihn in eine Ecke. Sobald er glaubte, daß es ungefähr Zeit sei, ging er zum Abendessen, später noch zur Post ins Dorf hinein, später schlafen. * * * * * Im Laufe des nächsten Tages glaubte er sich mit dem Wesen der »Reklame-Uhr« dadurch bekannt gemacht zu haben, daß er begreifen lernte, daß dieses gewinnbringende Unternehmen eine dekorative Uhr sei, die Herr Tobler im Begriff war an Bahnverwaltungen, Restaurateure, Hoteliers &c. zu verpachten. Solch eine wirklich äußerst hübsch aussehende Uhr, kalkulierte Joseph, wird beispielsweise in einen oder in mehrere Straßenbahnwagen gehängt, und zwar an eine möglichst in aller Menschen Augen stechende Stelle, damit die fahrenden und reisenden Mitmenschen ihre Taschenuhren danach richten können und jederzeit wissen, wie spät oder wie früh es am Tage ist. Diese Uhr ist wahrhaftig nicht schlecht, meinte er allen Ernstes, um so weniger, als sie den Vorzug hat, mit dem Reklamewesen verbunden zu sein. Zu diesem Behufe hat man ihr ja ein einfaches oder doppeltes Adlerflügelpaar aus scheinbarem Silber oder gar Gold angehängt, zwecks zierlicher Bemalung. Und was wird man anderes darauf malen wollen als die genauen Adressen von Firmen, die sich dieser Flügel oder Felder, wie der technische Ausdruck lautet, zur nutzbringenden Insertion bedienen. »Solch ein Feld kostet Geld; infolgedessen hat man sich, wie mein Herr, der Herr Tobler, ganz richtig sagt, an nur erste Handels- und Fabriksfirmen zu wenden. Die Beträge sind jeweilen zum voraus, und zwar laut auszustellender Verträge, in monatlichen Raten, zu bezahlen. Die Reklame-Uhr kann übrigens beinahe überall im In- und Ausland Aufstellung finden. Auf sie setzt, wie es mir schien, Tobler die wichtigsten Hoffnungen. Freilich kostet die Herstellung der Uhren und deren kupfernen und zinnernen Zieraten viel Geld, auch der Dekorationsmaler will ja sein Geld haben, dafür aber laufen eben die Inseratengelder hoffentlich und sehr wahrscheinlich regelmäßig ein. Was sagte doch heute früh Herr Tobler? Er hat ziemlich viel Geld geerbt, hat nun aber bereits sein gesamtes Vermögen in die 'Reklame-Uhr geworfen'. Ein sonderbarer Spaß, zehn- bis zwanzigtausend Mark in Uhren zu werfen. Gut, daß ich mir dieses Wort 'werfen' gemerkt habe, es scheint mir ein stark im Gebrauch bestehendes, übrigens sehr klipp und klares Wort zu sein, das ich vielleicht schon in nächster Zeit in meinen Korrespondenzen werde anwenden müssen.« Joseph steckte sich einen Stumpen in Brand. »Eigentlich ein ganz netter Aufenthalt, dieses technische Bureau hier. Das meiste an der hiesigen Geschäftsführung ist mir allerdings noch ganz unverständlich. Ich habe immer das Neue und Fremde schwer begriffen. Ich erinnere mich, o ja. Im allgemeinen werde ich von den Leuten für klüger gehalten als ich bin, manchmal auch nicht. Das alles ist ja überhaupt so merkwürdig.« Er nahm einen Streifen Papier zur Hand, strich den Firmenkopf mit ein paar Federstrichen durch und schrieb rasch folgendes: Liebe Frau Weiß! Sie sind wahrhaftig der erste Mensch, an den ich von hier oben aus schreibe. Der Gedanke an Sie ist der erste und leichteste und natürlichste von allen den vielen Gedanken, die mir gegenwärtig im Kopf surren. Sie werden sich oft über mein Betragen gewundert haben in der Zeit, die ich bei Ihnen zubrachte. Wissen Sie noch, wie Sie mich oft aus meinem dumpfen, einsiedlerischen Dasein, aus all meinen üblen Gewohnheiten haben aufrütteln müssen? Sie sind eine so liebe, gute, einfache Frau, und vielleicht erlauben Sie mir, Sie lieb zu haben. Wie oft, ja beinahe alle vier Wochen, bin ich zu Ihnen ins Zimmer getreten, um Sie kurz zu ersuchen, mit der monatlichen Miete Geduld zu haben. Sie haben mich nie gedemütigt, doch ja immer, aber mit Güte. Wie dankbar ich Ihnen bin und wie froh ich bin, Ihnen dies sagen zu dürfen. Was machen und leben Ihre Fräulein Töchter? Die Größere ist ja nun wohl bald verheiratet. Und Fräulein Hedwig, ist sie immer noch in der Lebensversicherungsgesellschaft tätig? Wie ich frage! Sind diese Fragen nicht äußerst dumm, da ich Sie doch erst vor zwei Tagen verlassen habe! Mich dünkt, liebe, verehrte Frau Weiß, ich sei jahre- jahre- und jahrelang bei Ihnen gewesen, so schön, ruhig und lang mutet mich der Gedanke an das Bei-Ihnen-gewesen-sein an. Kann man Sie kennen gelernt haben, ohne daß man Sie hat lieben lernen müssen? Sie haben immer zu mir gesagt, ich sollte mich schämen, so jung zu sein und dazu so wenig unternehmenslustig, weil Sie mich stets haben in meinem dunkeln Zimmer sitzen und liegen sehen. Ihr Gesicht, Ihre Stimme, Ihr Lachen haben mich immer getröstet. Sie sind zweimal so alt wie ich und haben zwölfmal so viel Sorgen und erscheinen nur so jung, jetzt noch viel mehr als da ich noch bei Ihnen war. Wie konnte ich immer so wortkarg zu Ihnen sein. Übrigens bin ich Ihnen ja noch Geld schuldig, nicht wahr, und ich bin beinahe froh darüber. Äußere Beziehungen können dann innere lebendiger erhalten. Zweifeln Sie nie an meiner Achtung vor Ihnen. Wie dumm ich spreche. Ich wohne hier in einer hübschen Villa und kann des Nachmittags jeweilen im Gartenhaus, wenn schönes Wetter ist, Kaffee trinken. Mein Chef ist zurzeit ausgegangen. Das Haus liegt auf einem, man darf sagen, grünen Hügel, unten neben der Landstraße, hart am Seeufer, führt die Eisenbahn vorbei. Ich wohne sehr nett in einem, es kommt mir ganz herrschaftlich vor, hochgelegenen Turmzimmer. Mein Herr scheint ein braver Mann zu sein, etwas hochtrabend. Möglich, daß es zwischen uns eines Tages persönliche Keilereien gibt. Ich wünsche es nicht. Wirklich nicht, denn ich möchte in Frieden leben. Leben Sie wohl Frau Weiß. Ich habe mir ein schönes, wertvolles Bild von Ihnen bewahrt, es läßt sich nicht einrahmen aber ebenso wenig vergessen. Joseph faltete den Streifen zusammen und steckte ihn in ein Kuvert. Er lächelte. Für ihn hatte das Andenken dieser Frau Weiß etwas Freundliches, warum, darüber wußte er selber kaum recht Bescheid. Da hatte er nun an eine Frau geschrieben, die dem Eindruck zufolge, den er ihr von seiner Person hinterlassen hatte, einen so raschen und beinahe gefühlvollen Brief gar nicht erwarten durfte und sicher auch nicht gewärtigte. Hatte die zufällige Menschenbekanntschaft einen so großen Einfluß auf ihn? Liebte er es, zu überraschen und zu behexen? Aber der Brief schien ihm nach kurzer Durchsicht und Prüfung passend und er machte sich, da es ohnehin Zeit dazu war, auf den Weg zur Post. Mitten im Dorf blieb plötzlich ein von oben bis unten rußiger junger Mensch vor ihm stehen, schaute ihn lachend an und streckte ihm die Hand entgegen. Joseph spielte den Erstaunten, da er sich wirklich nicht entsinnen könnte, an welchem Ort und zu welcher Zeit im bisherigen Leben ihm diese schwarze Erscheinung konnte begegnet sein. »Du auch hier, Marti?« rief der Mensch, und nun erkannte ihn Joseph, es war ein Kamerad aus der kürzlich erst überstandenen Militärdienstzeit, er begrüßte ihn, schützte aber dringende Aufträge vor und verabschiedete sich wieder. »Ja, das Militär,« dachte er, indem er seines Weges weiter ging, »wie wirft es die Menschen aus allen nur denkbaren Lebensgebieten auf einen einzigen Empfindungspunkt zusammen. Kein so feinerzogener, im übrigen gesunder, junger Mensch lebt im Lande, der es sich nicht eines Tages müßte gefallen lassen, aus seiner bisherigen, sortierten Umgebung herauszutreten, um mit dem erstbesten, ebenfalls jungen Bauern, Kaminfeger, Arbeiter, Kommis oder gar Tunichtgut gemeinschaftliche Sache zu machen. Und welche gemeinschaftliche Sache! Die Luft in der Kaserne ist für einen jeden dieselbe, sie wird für den Baronensohn für gut genug, und für den geringsten Landarbeiter für angemessen befunden. Die Rang- und Bildungsunterschiede fallen unbarmherzig in einen großen, bis heute noch immer unerforschten Abgrund, in die Kameradschaft. Diese herrscht, denn sie faßt alles zusammen. Die Hand des Kameraden ist für keinen eine unreine, sie darf es nicht sein. Der Tyrann Gleichheit ist oft ein unerträglicher, oder scheint es zu sein, aber was für ein Erzieher ist er, was für ein Lehrer. Die Brüderlichkeit kann mißtrauisch und kleinlich im kleinen sein, sie kann aber auch groß sein, und sie ist groß, denn sie besitzt die Meinungen, die Gefühle, die Kräfte und Triebe aller. Wenn ein Staat es versteht, den Sinn der Jugend in diesen Abgrund zu lenken, der groß genug wäre für die Erde wieviel mehr für ein einzelnes Land, so hat er sich damit nach allen offenen Richtungen hin, an allen vier Grenzen, mit Festungen umgeben, die unbezwinglich sind, weil es lebendige, mit Füßen, Gedächtnissen, Augen, Händen, Köpfen und Herzen ausgestattete Festungen sind. Den jungen Leuten tut wahrhaftig eine strenge Lehre not.« Hier unterbrach der Angestellte seine Gedanken. In der Tat, er rede und denke da wie ein Feldhauptmann, dachte er lachend. Bald darauf befand er sich wieder zu Hause. * * * * * Joseph hatte in einer Elastique-Fabrik gearbeitet, ehe er zum Militär kam. Er erinnerte sich jetzt jener vormilitärischen Zeit und sah vor sich ein altes, längliches Gebäude, einen schwarzen Kiesweg, eine enge Stube und ein bebrilltes, strenges Prinzipalengesicht. Er war dort, wie man sagt, aushilfsweise engagiert gewesen, nur so vorübergehend. Er schien mit seiner ganzen Persönlichkeit nur ein Zipfel, ein flüchtiges Anhängsel zu sein, ein nur einstweilen geschlungener Knoten. Beim Antritt der Stellung war ihm bereits lebhaft der Austritt aus derselben vor Augen getreten. Der Lehrling im Elastique-Geschäft war ihm in allem »über«. Joseph mußte diesen unausgewachsenen Menschen bei jeder Gelegenheit um Rat fragen. Aber eigentlich kränkte ihn das nicht einmal. O er war schon an so vieles gewöhnt gewesen. Er arbeitete kopflos, das heißt, er mußte sich gestehen, daß ihm mancherlei durchaus notwendige Kenntnisse abhanden gekommen waren. Gewisse, für andere Menschen erstaunlich leicht zu erfassende Dinge prägten sich ihm so merkwürdig schwer ein. Was war da zu machen gewesen. Sein Trost und sein Gedanke war die »Vorübergänglichkeit« der Stellung. Er wohnte bei einem alten, spitznasigen und -mundigen Fräulein, die eine sehr sonderbare, hellgrün gestrichene Stube bewohnte. Auf einer Etagere befanden sich einige alte und moderne Bücher. Das Fräulein war, wie es schien, eine Idealistin, aber keine feurige, sondern eher eine durch und durch erfrorene. Joseph bekam rasch heraus, daß sie einen eifrigen Liebesbriefwechsel unterhielt, und zwar, wie er eines Tages aus einem achtlos auf dem runden Tisch liegenden, langen Schreiben ersah, mit einem nach Graubünden ausgewanderten Buchdrucker oder Architektenzeichner, er konnte sich dessen jetzt nicht mehr so recht genau entsinnen. Er las rasch den Brief, er hatte das Gefühl, daß er dadurch keine sehr bedeutende Ungerechtigkeit begehe. Übrigens war der Brief kaum der verstohlenen Lektüre wert, man hätte ihn ruhig dürfen an alle Säulen der Stadt plakatieren, so wenig Geheimnisvolles und dem Fernstehenden Unverständliches enthielt er. Er war den Büchern, die die Welt liest, nachgeschrieben und enthielt vorzugsweise kühnlinierte und schraffierte Reisebeschreibungen. Die Welt sei doch herrlich, hieß es da, wenn man sich die Mühe nehme, sie zu Fuß zu durchwandern. Dann wurden der Himmel, die Wolken, die Halden, die Geißen, Kühe, Kuhglocken und die Berge beschrieben. Wie wichtig das alles war. Joseph hatte eine kleine Stube nach hinten gehend inne, dort las er. Sowie er nur dieses Stübchen betrat, fing ihm auch gleich die Bücherlektüre über den Kopf zu flattern an. Er las da so einen von jenen großen Romanen, an denen man monatelang lesen kann. Die Kost hatte er in einer Pension von Technikumsschülern und Kaufmannslehrlingen. Er hatte große Mühe, sich mit dem jugendlichen Volk einigermaßen zu unterhalten und schwieg daher meist bei Tisch. Wie war das alles für ihn erniedrigend. Auch da war er ein Knopf, der nur lose hing, den man gar nicht mehr festzunähen sich abmühte, da man zum voraus wußte, daß der Rock doch nicht lange getragen werde. Ja, seine Existenz war nur ein provisorischer Rock, ein nicht recht passender Anzug. Nahe bei der Stadt lag ein runder, mäßig hoher Rebhügel, der oben mit Wald gekrönt war. Nun, das war fürs Spazierengehen ganz artig. Die Sonntagvormittage verlebte Joseph regelmäßig dort oben, während welcher Erholung er sich jedesmal in ferne, beinahe krankhaft schöne Träumereien verwickelt sah. Unten in der Fabrik ging es weniger schön zu, trotz des zunehmenden Frühlings, der seine kleinen duftenden Wunder an den Bäumen und Sträuchern zu entfalten begann. Der Prinzipal machte Joseph eines Tages ganz gehörig herunter, ja, er machte ihn schlecht, er nannte ihn geradezu einen Betrüger, und weswegen? Das war auch wieder so eine Kopfträgheit gewesen. Hohle Köpfe können ja nun allerdings einem Handelsgeschäft erheblichen Schaden zufügen. Man kann schlecht rechnen, oder aber, und das ist das Schlimme, man rechnet einfach gar nicht. Für Joseph war es so schwer gewesen, eine in englischer Pfundwährung aufgestellte Zinsenrechnung zu prüfen. Dazu fehlten ihm die paar Kenntnisse, und statt das nun offen dem Geschäftsherrn einzugestehen, wovor er sich schämte, setzte er unter die Rechnung, ohne sie wahrhaft geprüft zu haben, die lügnerische Bestätigung. Er schrieb mit Bleistift ein M zu der Schlußzahl, was so viel zu bedeuten hatte als die feste und ruhige Tatsache des Richtigbefundes. An diesem einen Tage nun kam es plötzlich durch eine mißtrauische Frage seitens des Prinzipals heraus, daß die Prüfung nur geschwindelt, und daß ja Joseph gar nicht imstande war, eine derartige Rechnung im Kopf zu lösen. Das waren eben englische Pfund, und Joseph wußte mit solchen absolut nicht umzugehen. Er verdiene, sprach der Vorgesetzte, mit Schimpf und Schande fortgejagt zu werden. Wenn er etwas nicht verstehe, so sei das keine Unehrenhaftigkeit, wenn er aber Verständnis lüge, so sei das Diebstahl. Man könne es nicht anders nennen, und Joseph solle sich in Grund und Boden hinab schämen. O das war ein tobendes Herzklopfen für ihn gewesen. Er spürte eine schwarze, fressende Welle über seinem ganzen Dasein. Die eigene, sonst, wie ihm immer schien, nicht schlechte Seele schnürte ihn von allen Seiten zu. Er zitterte so heftig, daß die Zahlen, die er eben schrieb, nachher ungeheuerlich fremd, verschoben und groß aussahen. Aber nach einer Stunde war ihm so wohl. Er ging zur Post, es war eben schönes Wetter, er ging so, und da meinte er, küsse ihn alles. Die kleinen süßen Blätter schienen alle in einem liebkosenden, farbigen Schwarm auf ihn zuzufliegen. Die vorübergehenden, im übrigen ganz alltäglichen Menschen sahen so schön aus, zum rein An-den-Hals-werfen. Er schaute glücklich in alle Gärten hinein, zum offenen Himmel hinauf. Wie rein und schön waren die weißen, frischen Wolken. Und das satte, süße Blau. Joseph hatte das eben Vorgefallene, das Wüste, nicht vergessen, er trug es beschämt mit sich, aber es hatte sich in etwas Unbekümmert-Leidvolles, in etwas Ebenmäßig-Verhängnisvolles verwandelt. Er zitterte noch ein wenig und dachte: »Also muß man mich mit Demütigungen zur reinen Freude an der Welt Gottes aufpeitschen?« Nach Feierabend trat er gemütlich in einen ihm wohlbekannten Zigarrenladen. Eine Frau hauste dort, eine womöglich, ja wahrscheinlich und nur zu sehr wahrscheinlich käufliche Frau. Joseph pflegte sich in ihrem Laden Abend für Abend auf einen Stuhl zu setzen, eine Zigarre dazu zu rauchen und zu plaudern mit der Inhaberin. Er gefiel ihr, das merkte er bald. »Wenn ich dieser Frau gefalle, so erweise ich ihr einen kleinen Dienst, regelmäßig bei ihr zu sitzen,« dachte er und tat auch so. Sie erzählte ihm ihre ganze Jugend und manches Schöne und Unschöne aus ihrem Leben. Sie alterte schon und hatte ein ziemlich häßlich geschminktes Gesicht, aber gute Augen leuchteten aus demselben hervor, und ihr Mund: »wie oft wird er geweint haben,« dachte Joseph. Er blieb immer artig und höflich bei ihr, als ob dieses Betragen selbstverständlich gewesen wäre. Einmal streichelte er ihr die Wangen, und er bemerkte die Freude, die sie über dieser Bewegung empfand, sie errötete und ihr Mund zuckte, als ob sie hätte sagen wollen: »zu spät, mein Freund.« Sie war früher eine Zeitlang Kellnerin gewesen, aber was hatte das alles zu bedeuten, da doch der ganze Anhängezipfel nach ein paar Wochen abgetrennt wurde. Der Chef schenkte Joseph zum Abschied eine Gratifikation, trotz jenes Vorfalles mit der englischen Geldwährung, und wünschte ihm Glück in die Kaserne. Jetzt kommt eine Eisenbahnfahrt durch ein frühlingverzaubertes Land, und dann weiß man nichts mehr, denn von da an ist man nur noch eine Nummer, man bekommt eine Uniform, eine Patronentasche, ein Seitengewehr, eine regelrechte Flinte, ein Käppi und schwere Marschschuhe. Man ist nichts mehr Eigenes, man ist ein Stück Gehorsam und ein Stück Übung. Man schläft, ißt, turnt, schießt, marschiert und gestattet sich Ruhepausen, aber in vorgeschriebener Weise. Selbst die Empfindungen werden scharf überwacht. Die Knochen wollen anfänglich brechen, aber nach und nach stählt sich der Körper, die biegsamen Kniescheiben werden zu eisernen Scharnieren, der Kopf wird frei von Gedanken, die Arme und Hände gewöhnen sich an das Gewehr, das den Soldaten und Rekruten überall hin begleitet. Im Traum hört Joseph Kommandoworte und das Knattern der Schüsse. Acht Wochen lang dauert das so, es ist keine Ewigkeit, aber bisweilen scheint es ihm eine. Doch was soll das alles, da er doch jetzt in Herrn Toblers Hause lebt. * * * * * Zwei oder drei Tage sind noch keine gar so sehr lange Zeit. Dieser Zeitraum genügt nicht einmal, um sich in einem Zimmer ganz zurechtzufinden, wie viel weniger in einem immerhin stattlichen Haus. Joseph war ja ohnehin schwer von Begriff, wenigstens bildete er sich das ein, und Einbildungen sind nie gänzlich ohne grundlegende Berechtigung. Das Toblersche Haus war überdies noch zweiteilig, es bestund aus einem Wohnhaus sowohl wie aus einem Geschäftshaus, und Josephs Pflicht und Schuldigkeit war, beide Sorten Häuser ergründen zu lernen. Wo Familie und Geschäft so nah beieinander sind, daß sie sich, man möchte sagen, körperlich berühren, kann man das eine nicht gründlich kennen lernen und zugleich das andere übersehen. Die Obliegenheiten eines Angestellten liegen in solch einem Haus weder ausdrücklich da noch ausdrücklich dort, sondern überall. Auch die Stunden der Pflichterfüllung sind keine exakt begrenzten, sondern erstrecken sich manchmal bis tief in die Nacht hinein, um bisweilen plötzlich mitten am Tag für eine Zeitlang aufzuhören. Wer das Vergnügen haben darf, nachmittags draußen im Gartenhaus in Gesellschaft einer gewiß gar nicht üblen Frau Kaffee zu trinken, muß nicht böse werden, wenn er abends nach acht Uhr rasch noch irgend eine dringende Arbeit erledigen soll. Wer so schön zu Mittag ißt, wie Joseph, muß dies durch verdoppelte Leistungen wieder gut zu machen suchen. Wer Stumpen rauchen darf während der Geschäftsstunden, der darf nicht brummen, wenn ihn die Herrin des Hauses um einen häuslichen oder familiären Dienst kurz ersucht, auch wenn der Ton, womit dieses Gesuch ausgesprochen wird, eher ein befehlshaberischer als ein schüchtern bittender sein sollte. Wer hat alles Annehmliche und Schmeichelnde immer zusammen? Wer wird so anmaßend der Welt gegenüber sein, von ihr nur Kissen zum Daraufruhen zu verlangen, ohne zu bedenken, daß die samtenen und seidenen, mit feinem Flaum gefüllten und gestopften Kissen Geld kosten? Aber Joseph denkt gar nicht so. Man muß bedenken, daß Joseph nie viel Geld auf einmal besessen hat. Frau Tobler fand an ihm etwas Seltsames, sozusagen Unalltägliches, ohne ihn aber auch nur im geringsten gut zu beurteilen. Sie fand ihn ziemlich lächerlich in seinem dunkelgrün gefärbten, abgetragenen und erbleichten Anzug, aber auch in seinem Benehmen wollte sie etwas Komisches entdeckt wissen, worin sie in gewisser Beziehung recht hatte. Komisch war sein undezidiertes Auftreten, sein augenscheinlicher Mangel an Selbstbewußtheit, und komisch waren auch seine Manieren. Hinwiederum muß bemerkt werden, daß Frau Tobler, eine Bürgersfrau von echtester Abstammung, sehr leicht geneigt war, vieles komisch zu finden, was auch nur ein ganz klein wenig ihre Anschauungsweise fremd berühren konnte. Wenn das aber so ist, so wollen wir uns weiter nicht darüber aufregen, daß eine solche Frau einen solchen jungen Menschen komisch fand, sondern berichten, was sie zusammen redeten. Versetzen wir uns wieder in das Gartenhäuschen und in die Fünf-Uhr-Abend-Stunde. »Es ist doch ein prächtiger Tag heute,« sagte Frau Tobler. O ja, es sei wirklich herrlich, sagte seinerseits der Gehülfe. Er drehte sich, am Tisch sitzend, halb um, und schaute in die bläuliche Ferne. Der See war ganz blaßblau. Ein Dampfschiff mit klingender Musik fuhr gerade vorüber. Man konnte die wehenden Tücher unterscheiden, die dort unten von den Vergnügungsreisenden geschwenkt wurden. Der Rauch des Dampfschiffes flog nach hinten und wurde von der Luft eingesogen. Die Berge am andern Ufer waren in dem Dunst, den der vollendet schöne Tag über den See verbreitete, kaum zu sehen. Sie schienen aus Seide gewoben zu sein. Ja, die ganze runde Aussicht war blau, selbst das nahe Grün und das Rot der Dächer sahen sich bläulich an. Man hörte ein einziges Gesumme, wie wenn die ganze Luft, der ganze durchsichtige Raum leise gesungen hätten. Auch das Summen und Surren hörte und sah sich blau an, beinahe! Wie schmeckte wieder einmal der Kaffee. »Warum denke ich an zu Hause, an die Kindheit, wenn ich diesen sonderbaren Kaffee trinke?« dachte Joseph. Die Frau fing an, von der letztjährigen Sommerfrische am Vierwaldstädtersee zu reden. Dieses Jahr gebe es, sagte sie, leider nichts aus so etwas. Keinen Gedanken! Und dann sei es ja hier wirklich auch ganz schön. Man brauche eigentlich gar keine Sommerfrische mehr, wenn man so wohnen könne, wie sie. Im Grunde genommen sei man fast immer sehr unbescheiden, man habe stets Wünsche, und das sei ja auch ganz natürlich -- Joseph nickte -- aber zuweilen ähnele es einer wirklichen Arroganz. Sie lachte. »Wie seltsam sie lacht,« dachte der Untergebene und fuhr fort zu denken: »An diesem Lachen könnte einer, der sich darauf versteifen wollte, Geographie studieren. Es bezeichnet genau die Gegend, wo diese Frau her ist. Es ist ein behindertes Lachen, es kommt nicht ganz natürlich zum Mund heraus, als wäre es früher durch eine allzupeinliche Erziehung stets etwas im Zaum gehalten worden. Aber es ist schön und fraulich, ja, es ist sogar ein bißchen frivol. Nur hochanständige Frauen dürfen so lachen.« Inzwischen hatte die Frau längst weitergesprochen, und zwar von jener geradezu ideal schönen und traulichen Sommerfrische. Ein junger Amerikaner habe sie jeden Tag in der Gondel auf den See hinausgerudert. Das sei noch ein Kavalier gewesen. Und dann war es doch für eine verheiratete Frau, wie sie eine sei, reizvoll und neu, einmal ein paar Wochen ganz allein sein zu können und dazu noch in solch einer schönen Gegend. Ohne Mann und ohne die Kinder. Man brauche dabei noch lange nicht an was Unfeines zu denken. Man tue den ganzen Tag nichts, esse köstlich und liege da so im Schatten, unter solch einem herrlichen, breitästigen Kastanienbaum, wie dort, wo sie das letzte Jahr gewesen sei, einer war. Solch ein Baum. Immer wieder sähe sie ihn und sich selbst drunter. Sie habe auch ein kleines, weißes Hündchen gehabt, sie habe es immer zu sich ins Bett genommen. So ein feines, sauberes Geschöpfchen. Nun, dieses Tier habe sie in dem reizenden Gefühl, das ihr vorgegaukelt habe, sie sei eine Dame, eine wirkliche Dame, noch bestärkt. Später habe sie es weggeben müssen. »Ich muß an die Geschäfte gehen,« sprach Joseph und erhob sich. Ob er so fleißig sei? »Nun, man tut, was man für seine Pflicht hält.« Mit diesen Worten entfernte er sich. Im Bureau trat ihm eine unsichtbar-sichtbare Erscheinung entgegen: die Reklame-Uhr. Er setzte sich an den Schreibtisch und fing an zu korrespondieren. Der Briefbote kam, um eine Nachnahme zu präsentieren, es war ein geringer Betrag, Joseph bezahlte aus seiner Privattasche. Dann schrieb er ein paar Briefe im Interesse der Reklame-Uhr. Was man für so eine Uhr nicht alles aufwenden mußte! »Sie ist wie ein kleines oder großes Kind, solch eine Uhr,« dachte der Angestellte, »wie ein eigensinniges Kind, das der beständigen, aufopfernden Pflege bedarf, und das nicht einmal dankt dafür. Gedeiht denn eigentlich dieses Unternehmen, wächst dieses Kind? Man merkt wenig davon. Ein Erfinder liebt seine Erfindungen. Diese kostspielige Uhr ist Tobler beinahe ans Herz gewachsen. Was aber denken andere Leute von dieser Idee? Eine Idee muß hinreißen, muß überwältigen, sonst ist es eine schwere Sache, sie zu praktizieren. Was mich selber betrifft, so glaube ich fest an die Möglichkeit einer Realisierung derselben, und ich glaube deshalb daran, weil es meine Pflicht ist, weil ich dafür bezahlt werde. Zwar, wie steht es denn nun mit meinem Gehalt?« Es war in diesem Punkt tatsächlich noch nichts abgemacht worden. Bis zum Sonntag verlief alles ruhig. Was hätte passieren sollen? Joseph war folgsam und bemühte sich, ein heiteres Gesicht an den Tag zu legen. Aber warum hätte er besonders mißmutig sein sollen, wo ja doch vorläufig nur Ursache zur Zufriedenheit für ihn vorhanden war. Im Militärdienst ist er auch nicht verzärtelt worden. In das Wesen der Reklame-Uhr drang er immer tiefer ein und glaubte bereits, sie vollständig erfaßt zu haben. Was hatte es zu bedeuten, daß zwei Wechsel zu je vierhundert Mark nicht bezahlt wurden. Man schob den Verfalltag dieser Billetts einfach auf einen Monat hinaus, es war sogar riesig nett für Joseph, an den Aussteller der Akzepte schreiben zu dürfen: »Bitte, haben Sie noch Geduld. Die Finanzierung meiner Patente läßt nur noch kurze Zeit auf sich warten. Bis dahin wird es mir möglich geworden sein, die fälligen Verpflichtungen prompt einzulösen«. Er hatte mehrere solcher Briefe zu schreiben, und er freute sich über die Leichtigkeit, mit der er den gesamten kaufmännischen Stil beherrschte. Das Dorf hatte er bereits halb durchstöbert. Zur Post zu gehen war ihm jedesmal ein großes Vergnügen. Es gab zwei Wege, einen dem See entlang, auf der breiten Landstraße, und einen über den Hügel, an Obstbäumen und Bauernhäusern vorbei. Er wählte fast immer den letztern. Ihm schien das alles sehr einfach. Am Sonntag erhielt er von Tobler eine gute, deutsche Zigarre nebst fünf Mark Taschengeld, damit er sich hie und da »etwas leisten könne«. Das Haus lag so schön da in dem hellen Sonnenschein. Es schien Joseph ein wahres Sonntagshaus zu sein. Er ging den Garten hinunter, die Badehose in der Hand schwenkend, an den See, zog sich in einer verfallenen Badehütte, durch deren Bretterritzen die Sonne hineinleuchtete, behaglich aus und warf sich nachher ins Wasser. Er schwamm weit hinaus, es war ihm so wohl zumute. Welchem Badenden und Schwimmenden, wenn er nicht gerade am Ertrinken ist, ist es nicht wohl zumut? Es kam ihm vor, als wölbe und runde sich die heitere, warme, glatte Seeoberfläche. Das Wasser war frisch und lau zugleich. Vielleicht strich ein leiser Windzug darüber her, oder irgend ein Vogel flog über seinem Kopf, hoch in der Luft, daher. Einmal kam er einem kleinen Boot nahe, ein einzelner Mann saß drin, ein Fischer, der friedlich den Sonntag verangelte und verschaukelte. Welche Weichheit, welche schimmernde Helle. Und mit den nackten empfindungsvollen Armen macht man Schnitte in dieses nasse, saubere, gütige Element. Jeder Stoß mit den Beinen bringt einen ein Stück vorwärts in diesem schönen, tiefen Nassen. Von unten her wird man von warmen und kühlen Strömen gehoben. Den Kopf taucht man, um den Übermut in der Brust zu bewässern, auf kurze Zeit, den Atem und den Mund und die Augen zudrückend, hinab, um am ganzen Leib dieses Entzückende zu spüren. Schwimmend möchte man schreien, oder nur rufen, oder nur lachen, oder nur etwas sagen, und man tut's auch. Und dann von den Ufern her, diese Geräusche und hohen, fernen Formen. Diese wundervollen hellen Farben an solch einem Sonntagsmorgen. Man plätschert mit den Händen und Füßen, steht im Wasser schwebend und trapezturnend, möchte man sagen, aufrecht, immer dazu die Arme bewegend. Und es gibt da kein Untersinken. Nun preßt man noch einmal die Augen geschlossen in das flüssige, grüne, feste Unergründliche hinab und schwimmt ans Land. -- Wie herrlich das war! Zum Mittagessen hatten sich Gäste eingefunden. * * * * * Dieses mit den Gästen ist Folgendes: Josephs Vorgänger im Amt war ein gewisser Wirsich gewesen. Diesen Wirsich hatten die Toblers sehr lieb gewonnen. Sie erkannten in ihm einen anhänglichen Menschen und schätzten seine Tüchtigkeit hoch. Er war ein exakter Mensch, aber er war es nur in der Nüchternheit. Solange er nüchtern war, verfügte er über fast alle, ja man darf sagen, alle Angestelltentugenden. Er war über die Maßen ordnungsliebend, er besaß Kenntnisse sowohl auf kaufmännischem wie auf dem juristischen Gebiet, er war fleißig und energisch. Seinen Chef wußte er zu jeder Zeit und in beinahe allen vorkommenden Fällen in vertrauenerweckender und überzeugender Weise zu vertreten. Zudem hatte er eine saubere Handschrift. Hell von Verstand und mit lebhaftem Interesse begabt war es diesem Wirsich ein Leichtes gewesen, die Geschäfte seines Brotherrn zu dessen vollkommener Zufriedenheit ganz selbständig zu führen. In der Führung der Bücher war er sogar mustergültig. Alle diese Eigenschaften nun konnten zuzeiten mit einem Mal gänzlich verschwimmen, und zwar in der Trunkenheit. Wirsich war kein junger Mann mehr, er zählte ungefähr fünfunddreißig Jahre, und das ist ein Alter, wo gewisse Leidenschaften, wenn sie der Träger nicht vorher gelernt hat zu bezwingen, ein schreckliches Aussehen und eine furchtbare Ausdehnung anzunehmen pflegen. Der Alkoholgenuß machte jeweils, das heißt von Zeit zu Zeit aus diesem Menschen ein wildes, unvernünftiges Tier, mit dem begreiflicherweise nichts anzufangen war. Mehrfach wies ihm Herr Tobler auch die Tür und befahl ihm, seine Sachen zu packen und sich nie wieder blicken zu lassen. Wirsich ging dann auch, fluchend und Beleidigungen ausstoßend, zum Haus hinaus, kehrte aber jeweils, sobald er wieder er selber geworden war, mit einem zerknirschten Armesündergesicht zu der Schwelle zurück, die nie wieder zu betreten er ein paar Tage vorher im Unfug und Wahnsinn seiner Betrunkenheit heftig geschworen hatte. Und Wunder: Tobler behielt ihn immer wieder. Er hielt ihm bei solcher Gelegenheit je eine gesalzene Strafpredigt, wie man sie auch ungezogenen Kindern gegenüber anwendet, sagte ihm aber dann, er könne dableiben, man wolle über das Vergangene einen Schleier werfen und es nochmals mit ihm probieren. Das geschah vier oder fünf Male. Wirsich hatte etwas Unwiderstehliches an sich. Dies trat besonders hervor, wenn er den Mund zu einer Bitte oder Abbitte auftat. Er erschien in diesem Fall so vollkommen reuig und unglücklich, daß es den Toblers warm und heiß wurde und sie ihm verziehen, ohne daß sie sich Rechenschaft gaben, warum eigentlich. Dazu kam noch der sonderbare, wie es schien, tiefgehende Eindruck, den es Wirsich verstand auf die Personen weiblichen Geschlechtes zu machen. Es ist als ziemlich sicher anzunehmen, daß auch Frau Tobler diesem fremdartigen Zauber, diesem Unerklärlichen, nicht widerstand. Sie respektierte ihn, solange er ruhig und vernünftig blieb, und mit dem Rohling und Wüstling hatte sie ein ihr selber ganz unerklärbares Mitleiden. Schon sein Äußeres war ja wie für das Urteil der Frauen geschaffen. Seine scharfen, männlichen Gesichtszüge, in der Schärfe und Sicherheit durch eine blasse Hautfarbe noch unterstützt, sein schwarzes Haar, seine tiefliegenden, großen, dunklen Augen gefielen ebenso unwillkürlich wie eine gewisse Trockenheit, die seinem ganzen sonstigen Auftreten und Wesen anhaftete. Eine solche Hausbackenheit macht in der Regel den Eindruck der Herzensgüte und der Charakterfestigkeit, zwei Erscheinungen, denen keine fühlende Frau widersteht. Und so kam es, daß Wirsich immer wieder von neuem angenommen wurde. Was eine Frau beim Mittagstisch zu ihrem Mann in leichtem, lachendem, reichem Ton sagt, bleibt nie gänzlich ohne Einfluß, hier um so weniger als ja Tobler selber »diesen unglückseligen Menschen immer gern hatte leiden mögen«. Die Mutter des Wirsich kam regelmäßig bei Anlaß einer Wiederanstellung ihres Sohnes in die Villa hinauf, um für denselben zu danken. Auch sie mochte man gern leiden. Übrigens sind einem ja die Menschen, die man Macht und Einfluß hat fühlen lassen, immer lieb. Die Wohlhabenheit und Gutbürgerlichkeit demütigt gern, nein, vielleicht das nicht gerade, aber sie schaut doch ganz gern auf Gedemütigte hernieder, was eine Empfindung ist, der man eine gewisse Gutmütigkeit, aber auch eine gewisse Roheit nicht absprechen kann. Eines Nachts nun trieb es Wirsich doch zu bunt. Er kam aus der an der Landstraße gelegenen, stark von allerhand vagabundierendem Volk, darunter unsaubern Weibern, frequentierten Wirtsstube zur »Rose« vollständig berauscht, schreiend und tobend, nach Hause und begehrte Einlaß. Da man ihm diesen verweigerte, zertrümmerte er mit Hilfe eines Hackenstockes, den er bei sich trug, die Haustürscheibe und dann das Gitter derselben, soweit ihm das gelang. Auch drohte er mit fürchterlicher und unkenntlicher Stimme mit »Anzünden des ganzen Nestes«, wie er sich in der Wildheit und Zerstörtheit seines Kopfes ausdrückte, brüllte, daß ihn nicht nur die Nachbarschaft, sondern auch die weiter in der Umgegend wohnenden Leute hören mußten, und gefiel sich in schmählichen Verwünschungen gegen seine Wohltäter. Schon hatte er, von den Körperkräften aller Besinnungslosen und Unempfindlichen unterstützt, beinahe die Türe eingeworfen, das Schloß und der Riegel wackelten schon bedenklich, als Herr Tobler, der, wie es schien, endlich die Geduld verloren hatte, die Türe von innen her aufriß und über den Trunkenbold mit einem Hagel von Stockschlägen herfiel, der denselben zu Boden auf den Kies warf. Auf den nicht zu mißverstehenden Befehl Toblers, sich sofort vom Platz wegzubegeben, da sonst weitere und ähnliche Hiebe seiner harren würden, erhob sich Wirsich auf allen Vieren, um aus dem Garten zu rutschen. Einige Male fiel die Gestalt des Säufers, vom Mond beleuchtet, so daß die Obenstehenden jede seiner ungeheuerlichen Bewegungen verfolgen konnten, wieder an die Erde, stund wieder auf und warf sich endlich, einem plumpen Bären ähnlich, vollends zum Garten an die Landstraße hinaus, worauf sie sich gänzlich verlor. Zwei Wochen nach diesem nächtlichen Vorfall hielt Tobler ein umfangreiches Entschuldigungsschreiben Wirsichs in der Hand, worin der Übeltäter in scheinbar geradezu klassischem Stil Besserung versprach und bat, Herr Tobler möchte ihn doch noch ein einziges Mal anstellen, da sich Wirsich sonst der bittersten Not preisgegeben sähe. Beide, er sowohl als seine alte Mutter, bäten inständig um eine nochmalige, wenn auch letzte Zuwendung der alten, wohltuenden Gunst, die er, er bekenne es schmerzhaft und aufrichtig, nun schon so oft verscherzt habe. Wirsich, hieß es in dem Schreiben zum Schluß, sehne sich so sehr nach dem Haus, nach der ganzen ihm lieb und wert gewordenen Familie, nach der Stätte der früheren Wirksamkeit zurück, daß er sich sagen müsse, entweder er dürfe auf eine Neubelebung all dieser Dinge hoffen und darüber froh sein, oder der Riegel sei ihm ein für allemal zugeschoben und für ihn bleibe nur noch die Verzweiflung, die Reue, die Scham und die Bitternis übrig. Es war indessen zu spät. Der Riegel war in der Tat schon vorgeschoben, es war schon ein Ersatz im Haus. Gleich am nächsten Morgen nach jener wüsten Nachtszene hatte sich Tobler nach der Hauptstadt in das Bureau für Stellenvermittlung begeben und hatte dort Joseph verpflichtet. Das obige Schreiben gelangte an demselben Tage wie Joseph ins Toblersche Haus. Die sonntäglichen Gäste aber waren niemand anders als Wirsich und seine Mutter. * * * * * Von der Bewegung des Badens erfrischt begrüßte Joseph seinen Vorgänger herzlich. Vor der alten Frau machte er eine leichte Verbeugung. Er sah wohl auf den ersten Blick, daß die Stimmung am Mittagstisch eine ziemlich gedrückte war. Man sprach wenig, und das Wenige der Unterhaltung war allgemeiner Natur. Etwas Klägliches, Zimperliches hatte sich rund um das weiße Tischtuch und um die dampfenden und duftenden Speisen und um die Menschengesichter herum breit gemacht. Herr Tobler machte »seine größten Augen«, im übrigen war er fröhlich und freundlich und ermunterte seine Gäste in wohlwollend-herablassendem Ton, zuzugreifen. Jedes Essen schmeckt nach jedem Baden, auch im Freien, unter solch einem blauen Himmel, will fast jedes Essen schmecken, dieses heutige Essen aber fand Joseph geradezu herrlich, so einfach es auch war. Auch den andern schien es zu munden, nicht zum mindesten der alten Frau Wirsich, die sich heute mit einem Schein von feinerem Weltgebaren umgeben hatte. Wo mochte diese ärmliche Dame sonst wohnen, und wie? In welchen Zimmern und in was für Umgebungen? Wie dürftig und mager sie aussah! Gleichsam sparsam oder gespart oder spärlich sah sie aus, besonders neben dieser üppigen, bürgerlichen, in Fülle und Wärme geborenen und erzogenen Frau Tobler. Frau Wirsich und Frau Tobler. Ja, das waren, wenn es in der Welt irgendwie Differenzen gab, Unterschiede vom klarsten, reinsten Wasser. Immer ein bißchen hochmütig sieht Frau Tobler aus, aber wie gut steht zu den Linien ihres Gesichtes und Körpers diese beständige, zarte Spur von Hochmut. So etwas will man von ihrer Figur gar nicht wegwünschen, denn es gehört ganz einfach dazu, wie der tönende, unaussprechliche Zauber zu einem Volkslied. Dieses Lied klingt fein und in den allerhöchsten Tönen, Frau Wirsich verstand und empfand es gar wohl. Wie kläglich das eine Lied ertönte und wie voll das andere. Herr Tobler schenkte Rotwein ein. Er wollte auch Wirsich einschenken, aber die Mutter verdeckte rasch das Glas ihres Sohnes mit der alten, verknöcherten Hand. »Ah bah, warum denn jetzt nicht? Er muß doch auch etwas trinken,« rief Tobler. Da stürzten plötzlich Tränen in die Augen der alten Frau. Alle sahen es und erbebten. Wirsich wollte seiner Mutter irgend etwas zuflüstern, aber eine steife, steinerne Macht, deren er sich nicht zu erwehren vermochte, lähmte ihm den Gebrauch der Zunge. Er saß da wie ein Stockfisch und schaute auf sein eigenes, zaghaftes Essen hinab. Frau Wirsich hatte die Hand zurückgenommen, gleichsam erklärend, es sei ihr nun gezwungenermaßen ganz gleichgültig, ob jetzt ihr Sohn trinke oder nicht. Ihre Bewegung sagte: Ja, schenkt ihm nur ein. Es ist ja doch alles verloren! Wirsich nippte ein wenig an dem Glas, er schien eine unwiderstehliche Scheu zu haben vor dem Genuß des Dinges, das ihn von einer in der Tat für ihn gemütlichen Weltposition herabgestürzt hatte. O Frau Wirsich, deine verweinten Augen trüben ja ganz deine paar angenommenen, glänzenden Weltmanieren. Wie hattest du dir vorgenommen, dich fein zu bewegen, und wie hat dich nun dein Gram überwältigt. Deine alten Hände, die wie Stirnen durchfurcht sind, zittern recht sehr. Was spricht dein Mund? Nichts? Ei, Mutter Wirsich, man muß sprechen in guter Gesellschaft. Sieh, sieh, wie dich eine gewisse andere Dame anschaut. Frau Tobler schaute Frau Wirsich mit besorgten, aber kalten Augen leicht von der Seite her an, indem sie zugleich die Locken ihres jüngsten Kindes, das neben ihr saß, streichelte. Eine wirklich wohlhabende Frau! Von der einen Seite strahlte die kindliche Zärtlichkeit und Zutulichkeit zu ihr hinauf, und die andere Seite erfüllte das Weh einer menschlichen Schwester. Beides, sowohl das Liebliche wie das Traurige, schmeichelte der Frau. Sie sagte leise etwas Tröstliches zu Frau Wirsich, worüber diese nur abwehrend aber demutvoll den Kopf schüttelte. Man hatte jetzt gespeist. Herr Tobler reichte sein Zigarrenetui herum, die Herren rauchten. Diese Sonne, diese wundervolle Berg- und See- und Wiesenumgebung. Und dann diese schmale, vorsichtübende Unterhaltung von diesem Häuflein Menschen. Ja, man muß schonen, andere sind auch Menschen! Der Gesichtsausdruck der Herrin des Hauses sagte das lebhaft. Aber gerade dieses stumme Zuverstehengeben, daß man schonen wolle, war schonungslos. Es war vernichtend. Die beiden Frauen sprachen dann über die Kinder Tobler; sie schienen beide erfreut zu sein, einen, jeglichen Ton der Verletzung entfernenden, Gesprächsstoff gefunden zu haben. Auch fand sich das ganz von selber. Man vergaß sich eben ein bißchen. Von Zeit zu Zeit ruhte das Auge der alten Frau auf Josephs Gestalt, Gesicht und Benehmen, wie um die Vorzüge und Schwächen desselben herauszustudieren und sie in Gedanken mit der Sohnes-Erscheinung zu vergleichen. Die Knaben sprangen bald von ihren Plätzen weg und spielten im Garten, die Mädchen folgten ihnen, so daß die erwachsenen Herrschaften allein am Tisch sitzen blieben. Inzwischen kam die Magd mit einem hölzernen Tablett in der Hand, um den Tisch abzuräumen. Man erhob sich. Tobler trug Joseph auf, »die Glaskugel hinaus zu tragen«, letzterer schickte sich an, den Befehl auszuführen. Die Glaskugel war der Stolz der ganzen Villa Tobler. Sie hing an kleinen Ketten und Angeln in einem zierlichen, eisernen Gestell, und war verschiedenfarbig, so daß sich die umliegenden Weltbilder in runder, gleichsam aufeinandergetürmter Perspektive grün, blau, braun, gelb und rot darin abspiegelten. Sie war ungefähr so groß wie ein überlebensgroßer Menschenkopf, aber zusammen mit dem Fußgestell wog sie sicherlich ihre achtzig oder neunzig Pfund und war schwer zu tragen. Bei Regenwetter durfte sie nie draußen im Freien stehen bleiben. Man trug sie immer hinaus und hinein, hinein und hinaus. Wurde sie einmal naß, so schimpfte Herr Tobler sehr heftig. Die nasse Kugel tat ihm direkt weh, wie es denn Menschen gibt, die mit gewissen, toten Besitztümern wie mit etwas durchaus Lebendigem umgehen und umgegangen wissen wollen. Joseph sprang daher sehr rasch nach der schönen, farbigen Glaskugel, weil er die Vorliebe Toblers zu derselben bereits Gelegenheit gehabt hatte kennen zu lernen. Nachdem er den Wunsch und die Schönwetterlaune und -Freude seines Meisters erfüllt hatte, entwischte er flink den Augen der Übrigen, trieb sich die Treppen empor und verschwand in sein Turmgemach. Wie ruhig und still es hier oben war. Hier fühlte er sich befreit, von was, das wußte er eigentlich gar nicht einmal. Aber es genügte, dieses Gefühl zu haben; die wahre Ursache sei, dachte er, ja sicherlich irgendwie und wo versteckt da, aber was bekümmerten ihn jetzt Ursachen. Etwas Goldenes schien um ihn herum zu schweben. Er besah sich einen Moment lang im Spiegel: O er sah noch ganz jung aus, gar nicht so wie Wirsich. Er mußte unwillkürlich lachen. Es trieb ihn, die Photographie seiner verstorbenen Mutter zur Hand zu nehmen. Sie stand da so auf dem Tische. Warum sie also nicht nehmen und betrachten? Er schaute sie ziemlich lange, wie ihn deuchte, an, und legte sie dann wieder an ihren Platz zurück. Dann zog er ein anderes, jüngeres Bild aus der Tasche seines Rockes, es war das Porträt einer Tanzschülerin, eines Mädchens, das er »in der Großstadt« kennen gelernt hatte. Diese ganze, ferne, menschenerfüllte Großstadt. Dieses belebte, hohe Bild, wie entschwunden schien es ihm, wie lang schon entschwunden. Er mußte in diesen Gedanken hinein wieder unwillkürlich lachen. Er machte gewichtige Schritte im Zimmer auf und ab, rauchend natürlich. Ob es denn eigentlich durchaus immer nötig sei, so einen Stengel im Mund zu tragen? Wie herrlich die frische Berg- und Seeluft durch seine erhöhten vier Wände strich. Und hier hatte Wirsich gehaust? Der Mann mit dem Leidensantlitz? Joseph bog seinen atmenden Kopf zum Fenster hinaus, an die sonntägliche und mittägliche Welt-Freiheit. Und ich habe fünf Mark Taschengeld, und kann den Kopf zu solch einem fürstlich gebauten und gelegenen Fenster hinausstrecken? -- Unten im Bureau ging es indessen mehr gedämpft als fürstlich zu. Der Ton, in dem Herr Tobler und sein ehemaliger Angestellter, Herr Wirsich, sich dort unterhielten, war ein sehr, sehr gedämpfter, ja, beinahe ein dumpfer. »Das müssen Sie selbst zugeben,« sagte Tobler, »daß von einer Wiederaufnahme unserer früheren, gegenseitigen Beziehungen vorläufig die Rede nicht mehr sein kann. Den Bruch haben Sie herbeigeführt, nicht ich, ich würde Sie gerne behalten haben. Nichts veranlaßt mich, den Marti wegzuschicken, er macht seine Sache auch ganz ordentlich. Es tut mir leid, Wirsich, glauben Sie mir das nur, aber Sie sind selbst schuld. Es hat Ihnen niemand befohlen, mich, Ihren Brotherrn, wie einen dummen Jungen zu behandeln. Machen Sie nun alles Weitere mit sich selber ab. Was ich anstandshalber tun kann, Ihnen zu einem anderweitigen Posten zu verhelfen, will ich gern tun. Hier ist noch eine Zigarre. Da. Nehmen Sie.« Ob sich denn wirklich jetzt nichts mehr ändern ließe? »Nein, nein, jetzt nicht mehr. Entsinnen Sie sich übrigens nur, was Sie mir in jener saubern Nacht zugebrüllt haben, und Sie werden begreifen, daß es zwischen uns keine Anknüpfungen mehr geben kann.« »Aber Herr Tobler, das war doch alles die Trunkenheit, nicht ich selber.« »Ach was Trunkenheit und nicht Sie selber! Das ist es ja gerade. Ich habe zu fünf oder sechs oder mehr Malen gedacht: Das ist nicht er selber! Freilich sind Sie das alles selber gewesen. Der Mensch besteht nicht aus zweierlei Dingen, sonst wäre wahrhaftig das ganze Erdenleben eine zu bequemliche Sache. Wenn da jeder kommen könnte mit: 'das bin nicht ich selber gewesen', wenn er einen Bock geschossen hat, was würden dann noch Ordnung und Unordnung zu bedeuten haben? Nein, nein, man sei in Gottesnamen der, der man ist. Ich habe Sie auf zweierlei Art kennen gelernt. Glauben Sie, die Welt sei verpflichtet, Sie als ein Kind, als ein Schoßhündchen zu betrachten? Sie sind ein erwachsener Mann, und man verlangt von Ihnen, daß Sie wissen, was man zu tun hat. Mit verborgenen Leidenschaften, oder wie die Dinger heißen mögen, von denen die Philosophen reden, sehe ich mich nicht zu rechnen genötigt. Ich bin Geschäftsmann und Familienvater und muß mich verpflichtet fühlen, der Torheit und dem Unanstand den Eingang in mein Haus zu verbieten. Sie waren so weit immer fleißig, warum sind Sie mir mit Unflätigkeiten gekommen? Sie würden mich ja auslachen. Einfach auslachen würden Sie mich, und hätten auch ein Recht dazu, wenn ich dumm genug wäre, Sie wieder anzunehmen. Ich habe Ihnen meine Meinung jetzt gesagt, lassen Sie uns Schluß machen.« »Es ist also aus zwischen uns?« »Vorläufig, ja!« Mit diesem Wort trat Tobler zur Bureautüre hinaus, ging in den Garten, wo er seiner Frau einen bedeutenden Blick zuwarf, und stellte sich dann neben seiner geliebten Glaskugel auf. Die Zigarre zwischen den Zähnen schaute er abwärts sein Besitztum behaglich an und ergab auf diese Weise unbewußt das vollendete Bild herrschaftlicher Mittagsruhe. Zu Wirsich, der noch immer im Bureau unbeweglich festwurzelte, da, wo er zufällig stehen geblieben war, kam unversehens Joseph hinein. Beide maßen sich einen Moment mit den offenen Augen. Danach aber hielten sie es für am passendsten, sich über die Fortentwicklung der Toblerschen technischen Unternehmungen zu unterhalten, welches Gespräch aber sehr rasch in ein unausstehliches Stocken und Brechen geriet, bis es vollständig abbrach. Wirsich bemühte sich, den oberhalb über den Tatsachen Stehenden zu spielen und erteilte seinem Nachfolger allerhand Ratschläge und praktische Winke, die jedoch nicht besonders lebhaft anschlugen. Und nun nach dem Nachmittagskaffee. Es hieß jetzt für die beiden Besucher, sich zu entschließen und Abschied zu nehmen. Da gab man sich denn die Hände, und nachher sah man, insofern man oben auf dem Hügel zurückblieb, zwei unsicher gehende und auftretende Personen längs des brillanten, auf je einen Meter Abstand mit je einem vergoldeten Stern gezierten Gartengitters der Landstraße zusteuern. Ein wehmütiger Anblick war das. Frau Tobler seufzte wieder einmal. Gleich darauf aber brach sie über irgend etwas in ein Gelächter aus, und da war es deutlich zu hören, wie der Seufzer und das Gelächter ein und dieselbe Klangfarbe, ein und denselben Ton hatten. Joseph stand etwas abseits und dachte: »Da gehen sie, der Mann und die alte Frau. Man sieht sie schon nicht mehr, und hier oben sind sie bereits halb vergessen. Wie rasch vergißt man das Benehmen und Gebärden und Tun der Menschen. Da laufen sie nun, was sie können, die staubige Landstraße entlang, um zur rechten Zeit auf dem Bahnhof zu sein oder an der Schiffshaltestelle. Sie werden beide auf dem langen Weg, zehn Minuten zu gehen ist lang für zwei Geschlagene und Sorgenvolle, kaum ein Wort reden, und doch werden sie reden, eine sehr verständnisvolle Sprache, eine stumme, eine nur zu wohlverständliche. Das Leid hat seine ganz eigene Manier zu reden. Und nun lösen sie die Billetts, oder sie haben sie vielleicht schon, es gibt ja bekanntlich Retourbilletts, und der Zug braust heran, und die Armut und die Ungewißheit steigen zusammen in den Eisenbahnwagen. Die Armut ist eine alte Frau mit verknöcherten, begehrlichen Händen. Sie hat heute versucht, bei Tisch Unterhaltung zu machen, wie eine Dame, aber es ist ihr nicht recht gelungen. Nun fährt sie dahin, an der Seite der Ungewißheit, in welcher sie, wenn sie recht genau schaut, ihren eigenen Sohn erkennen muß. Und der Wagen ist voller vergnüglicher Leute, voller Sonntagsausflügler, die singen, johlen, plaudern und lachen. Ein junger Bursch hält sein Mädchen im Arm, um sie ein ums andere Mal auf den üppigen Mund zu küssen. Wie furchtbar weh kann die fremde Freude einer unmutigen Seele tun! Aber die arme, alte Frau fühlt sich an Hals und Herz geschnitten. Sie möchte vielleicht jetzt laut um Hülfe schreien. Weiter geht es. O, dieses ewige Gerassel der Räder. Die Frau nimmt ihr rötliches Taschentuch aus der Rocktasche, um die gar zu dummen und auffälligen Tränen zu verbergen, die stürmisch aus ihren alten Augen fließen. Wer so alt ist, wie diese Frau, nein, der sollte nicht mehr weinen müssen. Aber was kümmern sich die Dinge dieser sonderbaren Erde um die Gebote der edlen Schicklichkeit? Die Hämmer fallen ganz blind drauflos, manchmal auf ein arm' Kind, manchmal, merke dir das, Frau, auf eine Greisin. Und jetzt sind Mutter und Sohn an Ort und Stelle und werden aussteigen. Wie wird es jetzt bei ihnen zu Hause aussehen?« Er wurde aus seinen Gedanken durch Toblers wohltönende Stimme aufgeweckt. Was er da so allein mache? Er solle kommen und ihm helfen, den Rest Rotwein noch auszutrinken. Ein wenig später sagte der Hausherr zu ihm: »Ja, ja. Der Wirsich ist nun endgültig verabschiedet. Ich hoffe, daß ein gewisser Anderer besser zu schätzen weiß, was einer hat, wenn er hier oben leben darf. Ich brauche wohl nicht zu sagen, wen ich unter diesem 'gewissen Andern' verstehe. Sie lachen. Ja, lachen Sie meinetwegen. Das aber sage ich Ihnen im voraus, wenn Sie irgendwelche Gelüste haben, ich meine, so Sonntags, was ja auch keinem jungen gesunden Menschen zu verargen ist, so machen Sie, daß Sie in die Stadt kommen, dort ist gesorgt für so was, mehr wie genug. In meinem Hause, haben Sie verstanden, dulde ich nichts Derartiges. Der Wirsich hat sich gerade dadurch hier ein für allemal unmöglich gemacht. Hier muß Anstand herrschen.« Dann wurde über Geschäftliches gesprochen. Vor allen Dingen, meinte Herr Tobler, müsse jetzt Geld flüssig gemacht werden, das sei die Hauptsache. Es komme darauf an, einen Kapitalisten für die technischen Erfindungen zu gewinnen, womöglich einen Fabrikherrn, damit mit der Massenanfertigung der patentierten Artikel gleich begonnen werden könne. Immerhin, wer nur Geld ins Haus bringe, der sei ihm willkommen. Seinetwegen möge es ein Schneidermeister sein, zu verstehen von der ganzen Sache brauche solch ein Geldgeber gar nichts, dazu sei er da, er, Tobler. »Setzen Sie folgendes Inserat auf.« Joseph zog einen Bleistift und ein Notizbuch aus der Tasche. Es wurde ihm folgendes diktiert: Für Kapitalisten! Ingenieur sucht Anschluß an Kapitalisten zwecks Finanzierung seiner Patente. Gewinnbringendes, absolut risikofreies Unternehmen. Offerten unter ... »Und dann können Sie morgen früh, wenn Sie ins Dorf gehen, ein neues Paket Stumpen zu fünfhundert Stück nach Hause bringen. Man muß doch etwas zu rauchen hier haben.« Es wurde allmählich Abend. Im Gartenhaus tauchten zwei Frauen auf, eine Parketteriebesitzerin und deren Tochter, ein langgewachsenes, sommersprossiges Mädchen, beide aus der nächsten Nachbarschaft. Mit diesen Frauen und seiner eigenen fing Tobler ein im ganzen Lande verbreitetes und beliebtes Kartenspiel an. Sonst spielen dieses Spiel nur Männer, aber es wurde nach und nach auch bei den Frauen Mode, und zwar bei den sogenannten besseren, nämlich bei solchen, die nicht gar so streng zu arbeiten brauchten, den Tag über, und das gerade sind ja die Besseren. Diese drei Frauen, Frau Tobler, die Fabrikbesitzerin und die Tochter derselben, spielten ausgezeichnet Karten, am besten und »schneidigsten« das Fräulein, Frau Tobler noch am wenigsten gut. Wenn das Fräulein einen Trumpf ausspielte, so kam sie jedesmal in gehörige Aufregung, ganz so, wie es sich für Spielratzen ziemte, auch klatschte sie mit ihrer weiblichen Faust wie der älteste und verbohrteste Spieler auf die Tischplatte und schrie hinwiederum echt mädchenhaft auf, sobald die Sache zu ihren Gunsten sich zeigte. Ihre Figur war eckig und ihr Gesicht recht unschön. Ihre Mutter betrug sich klug und gesittet. Wie wäre es möglich, eine ältere gutsituierte Frau zu sein und ein unleidliches Betragen zu offenbaren? Joseph dachte bei sich, indem er dem Kartenspiel, das er noch nicht einmal Gelegenheit gehabt hatte zu lernen, zusah: »es ist interessant, diese drei Frauengesichter beim Spielen zu beobachten. Die eine tut es gelassen, sie lächelt dabei, das ist die Älteste. Meine Frau Tobler da aber ist vollständig weg. Ganz reißt der Zauber des Spiels sie hin. Ihr Gesicht drückt die echte, leidenschaftliche Spielerlust aus. Dies verschönt ihr Gesicht gewissermaßen. Übrigens ist sie die Herrin, und mir steht es in keinerlei Weise zu, an ihr etwas auszusetzen. Sie ist wie ein aufpassendes Kind dieser Unterhaltung gegenüber. Aber die dritte, dieses Männerfräulein da, behüte, ist das eine! Die verdreht die Augen, während sie setzt und spielt, denkt gewiß Wunder was für fremde Dinge und hält sich unbedingt für die Schönste, Beste und Gescheiteste. Nicht auf zwei Meter Entfernung, in Gedanken, möchte man der einen Kuß geben. Ein verdorbenes Mädchen. Sieh da, was für eine spitzige Nase sie hat. Da erfröre einer bei der kleinsten Berührung. Und in wie falschen Tonarten sie redet, lacht, sich beklagt und aufschreit. Ich halte sie für eine schlechte, teuflische Person, neben ihr aber meine Frau da für einen Engel.« Er würde weiter so räsoniert haben, wenn nicht Frau Tobler plötzlich auf den Gedanken gekommen wäre, den sie auch sogleich aussprach, »heute abend einmal auf dem See Gondel zu fahren.« Es sei so schön heute abend, und das bißchen Geld, was es koste, das sei doch gar nicht groß der Rede wert. Da das Kartenspiel eben beendet worden war, so hatte niemand etwas wider den Plan einzuwenden, nicht einmal Tobler selber, der brummend beistimmte. Joseph wurde, als ein richtiger Mann für alles, ins Dorf geschickt, um mit einem dreisitzigen, breiten Boot längs des Ufers, ohne sich irgendwie aufhalten zu lassen, denn es müsse jetzt, da es beginne, Nacht zu werden, flink geschehen, in die Nähe der Villa zu fahren. Unten in einer Art Hafen würde man dann einsteigen. Der Angestellte hatte sich schon auf den Weg gemacht. Tobler seinerseits verschmähte es, die Partie mitzumachen. Ebenso konnte man die alte Fabrikdame nicht mitnehmen, dagegen beschloß Frau Tobler, die Kinder mitzunehmen. Das Fräulein erklärte sich bereit, nicht nur mitfahren, sondern sogar tüchtig mitrudern zu wollen, worauf die Hausfrau sich für die Lustfahrt in Bereitschaft setzen ging. Man wartete schon an der Landungsstelle unterhalb der Villa Tobler auf den breiten Steinplatten eines alten, außer Gebrauch gestellten Dammes, als endlich das Schiff, von Joseph gerudert, anlangte. Alle begannen einzusteigen, Frau Tobler zuerst, damit man ihr die Kleinen, eins ums andere, reichen konnte. Die beiden Knaben gebärdeten sich sehr unmanierlich, man machte sie auf die Gefahr ihres wilden, unachtsamen Wesens aufmerksam, worauf sie sich stiller verhielten. Die Mädchen waren ganz ruhig, sie hielten sich mit ihren kleinen Händen fest an den Rändern des Bootes. Zuletzt stieg Joseph ein, indem er bis zuletzt das Fahrzeug an einer rasselnden Kette strammgehalten hatte. Und dann ging es auf einmal los, Joseph ruderte, er verstand es ganz gut, aber es ging langsam vorwärts, doch verlangte niemand, daß es schneller vorwärtsgehen sollte. Wie kühl auf einmal die Welt wurde. Frau Tobler sah auf die Kinder, ermahnte sie, artig zu sein, sich in keiner Weise heftig zu bewegen, da sonst ein großes Unglück geschähe und sie alle zusammen ohne Erbarmen ertrinken müßten. Alle vier Kinder horchten auf diese seltsamen Worte, hielten sich still, auch die Knaben, denn es war ihnen jetzt, so mitten draußen in der Nacht und mitten im murmelnden Wasser, in diesem leise dahingleitenden Boot doch etwas ängstlich zumute. Frau Tobler sagte leise, wie schön es sei, hier, und welch guten Gedanken sie, wie es ihr scheine, gehabt habe, solches vorzuschlagen. Da genieße man doch einmal wieder etwas, und ihr Mann würde besser getan haben, mitzukommen. Aber, setzte sie hinzu, für so etwas habe er keinen Sinn. -- Wie kühl, wie schön! Einen gewissen Abstand vom Nachen beschreibend schwamm im dunkelglitzernden Wasser Leo, der große Hund, nach. Man rief ihn. Namentlich riefen ihm die Kinder Koseworte zu. Neben Frau Tobler lag deren seidenes Schirmchen. Ein befederter Hut schmückte ihren länglich geschnittenen Kopf. Ihre Hände und Arme waren von langen, weißen Handschuhen umschlossen. Das Fräulein schwatzte in einem fort. Aber Frau Tobler, die sonst dergleichen auch nicht gerade verachtete, gab nur zerstreute und einsilbige Antworten. Etwas wie eine schöne, glückliche Naturträumerei schien ihr die gewöhnlichen Tagesdinge und deren umfangreiches Gerede unwichtig und unwert gemacht zu haben. Ihre großen Augen leuchteten ruhig und schön mit dem Gleiten des Schiffes dahin. Ob Joseph nicht müde werde vom Rudern, fragte sie. O nein, was sie denke, antwortete er. Das Fräulein wollte sich in die Ruderbank setzen, Frau Tobler aber gab es nicht zu, da das Boot sonst in zu starke Bewegung gerate. Es brauche ja gar nicht so rasch zu gehen, je langsamer gerudert werde, um so länger dauere die ohnehin kurze Fahrt, und das sei ihr lieb, denn das sei schön. Diese Frau kommt aus echt bourgeoisen Kreisen her. Sie ist in der Nützlichkeit und Reinlichkeit aufgewachsen, in Gegenden, wo die Brauchbarkeit und die Besonnenheit als das Höchste gelten. Sie hat wenig romantische Genüsse in ihrem Leben gehabt, aber eben deshalb liebt sie sie, denn sie schätzt sie in der Tiefe ihrer Seele. Was man vor dem Mann und der Welt sorgsam verbergen muß, weil man keine »überspannte Gans« sein will, ist deswegen nicht tot, sondern lebt sein eigentümliches Leben in der Enge und Stille weiter. Eines Tages kommt eine kleine mit großen Augen grüßende und bittende Gelegenheit, und da darf dann das Halbvergessene einmal erwärmen und lebendig werden, aber das wiederum nur für kurze Zeit. Wer mit seiner Genußfreude und Gier vor die Öffentlichkeit treten darf, wem solches die Lebensverhältnisse leicht und gefällig erlauben, der stumpft in der Seele und im Herzen nur zu bald, alles, was darin gebrannt hat, auslöschend, ab. Nein, diese Frau hat keinerlei Farbensinn oder dergleichen, sie versteht nichts von den Gesetzen der Schönheit, aber gerade deshalb fühlt sie, was schön ist. Sie hat nie Zeit gehabt, ein Buch voller hoher Gedanken zu lesen, ja, sie hat noch kein einziges Mal auch nur daran gedacht, was hoch und was niedrig sei, aber der hohe Gedanke selber besucht sie jetzt, und das tiefere Gefühl selber, angezogen von ihrer Unwissenheit, netzt ihr mit dem nassen Flügel das Bewußtsein. Ja kühl war's und dunkel um das langsam fahrende Schiff herum. Der See war ganz ruhig. Das Stille und Ruhige verband sich mit dem menschlichen Empfinden und mit der undurchdringlichen Schwärze der Nacht. Vom Ufer her blitzten die zerstreuten Lichter und kamen ein paar Geräusche her, darunter eine helltönende Männerstimme, und jetzt hörte man vom jenseitigen Strand her eine warme Handharfe ertönen. Die Töne dieser Musik schlangen sich wie etwas Blumenartiges oder Efeuartiges um den dunklen, duftenden Leib der Seesommernachtstille. Alles schien eine sonderbare Genugtuung, Befriedigung und Bedeutung bekommen zu haben. Das Tiefe setzte sich an das unergründlich Nasse an. Die Frau hielt ihre Hand leicht in das Wasser, sie sagte etwas, aber sie schien es in das Wasser hinabgesprochen zu haben. Wie das trug, das schöne, tiefe Wasser. Einmal fuhr ein anderes Boot, von einem einzelnen Mann besetzt, an dem Toblerschen hart vorbei. Frau Tobler stieß einen leisen Überraschungs-, ja beinahe Schreckensschrei aus. Niemand hatte das Schiff kommen sehen, es schien sich plötzlich in ihre Nähe geworfen zu haben, aus weiter unbekannter Ferne her, oder aus der Tiefe heraus. Der Himmel war über und über mit Sternen bedeckt. Wie das hob und trug und umdrehte. Die Frau sagte, sie fröstele jetzt beinahe ein wenig, und sie warf sich ein Tuch, das sie mitgenommen hatte, über die Achsel. Joseph schien es, indem er sie anschaute, als lächle sie da so im Dunkel, genau würde er es nicht haben unterscheiden können. Wo ist unser Leo, fragte sie. Dort, dort. Er schwimmt nach, rief Walter, der Knabe. Steige, hebe dich, Tiefe! Ja, sie steigt aus der Wasserfläche singend empor und macht einen neuen, großen See aus dem Raum zwischen Himmel und See. Sie hat keine Gestalt, und dafür, was sie darstellt, gibt es kein Auge. Auch singt sie, aber in Tönen, die kein Ohr zu hören vermag. Sie streckt ihre feuchten, langen Hände aus, aber es gibt keine Hand, die ihr die Hand zu reichen vermöchte. Zu beiden Seiten des nächtlichen Schiffes sträubt sie sich hoch empor, aber kein irgendwie vorhandenes Wissen weiß das. Kein Auge sieht in das Auge der Tiefe. Das Wasser verliert sich, der gläserne Abgrund tut sich auf, und das Schiff scheint jetzt unter dem Wasser ruhig und musizierend und sicher fortzuschwimmen. -- Es muß zugegeben werden, daß Joseph sich ein wenig zu sehr seinen Einbildungen überlassen hatte. Er merkte kaum, daß die Fahrt zu Ende war, als man auch schon ans Land anstieß, das heißt an einen dicken Pfahl, der in der Nähe des Aussteigedammes aus dem Wasser ragte. Tobler, der dicht daneben stand, rief seinem Untergebenen zu, er könne auch besser aufpassen. Es nehme ihn wirklich Wunder, in welchen Landesteilen Joseph rudern und steuern gelernt habe. Aber es war durchaus kein Unheil entstanden, alle stiegen wohlbehalten aus. Den Rest der Nacht verbrachte man in einem hübschen, menschenbesetzten Biergarten, wo Tobler Bekannte antraf, einen Eisenbahnwagenkontrolleur mit seiner Frau, mit denen er sich in großzügigen Gesprächen zu schaffen machte. Die kleine, lustige Beamtenfrau erzählte von ihren Hühnern und Eiern und von dem schwungvollen Handel mit diesen beiden ergiebigen Artikeln. Man lachte viel. Joseph wurde von Tobler in seiner Eigenschaft als »mein Angestellter« den Leuten vorgestellt. Ein junges, französisches Mädchen, eine Warenhausverkäuferin, trippelte an der Gesellschaft vorüber. »_Une jolie petite française_,« sagte die Kontrolleursfrau, offenkundig voller Vergnügen, ein paar französische Worte aus dem Gedächtnis frei hersagen zu dürfen. Das ist immer so in deutschen Landen, daß die Leute sich freuen, zeigen zu können, daß sie Französisch verstehen. »Meine Herrin,« dachte Joseph, »versteht kein Wort Französisch. Die Arme!« Später ging man gemeinschaftlich nach Hause. * * * * * Als Joseph in seinem Zimmer angelangt war und eine Kerze angezündet hatte, hielt er, anstatt sich sogleich ins Bett zu legen, halbausgezogen, und am Fenster stehend, folgendes Selbstgespräch: »Was leiste ich eigentlich? Ich kann mich da, wenn ich will, sogleich ungestört zu Bett legen, um in einen sehr wahrscheinlich gesunden und tiefen Schlaf zu versinken. Ich bekomme in Biergärten Bier zu trinken. Ich kann mit Frau und Kindern Gondel fahren, ich habe zu essen. Die Luft hier oben ist eine ausgezeichnete, und was die Behandlung betrifft, so wäre ich ein Lügner, wenn ich sie tadelte. Licht und Luft und Gesundheit. Aber was gebe nun ich dafür? Ist das etwas Reelles und Gewichtiges, was ich zu bieten vermag? Bin ich klug und gebe ich das Maß meiner Klugheit auch wirklich voll her? Was sind das für Dienste, die ich bis zum heutigen Tage Herrn Tobler bereits geleistet habe? Alles was recht und gut ist, aber ich bin felsenfest davon überzeugt, daß mein Herr und Meister noch wenig Nutzen durch mich davongetragen hat. Sollten mir der Schneid, die Initiative, die Begeisterungsfähigkeit fehlen? Das ist möglich, denn in der Tat, ich bin mit einer merkwürdig umfangreichen Portion Ruhe ausstaffiert zur Welt gekommen. Aber schadet denn das etwas? Freilich schadet es, denn die Unternehmungen Toblers verlangen leidenschaftliche Anteilnahme, und die Ruhe der Seele ähnelt bisweilen der trockenen Gleichgültigkeit. Das Schicksal der Reklame-Uhr zum Beispiel, hat es mich wirklich auch an allen Fasern meines Ichs angepackt? Bin ich davon erfüllt? Ich muß gestehen, ich denke nur allzu oft an ganz andere Dinge. Das aber, mein bester Herr Gehülfe, ist Verrat. Tauche jetzt endlich mal stramm unter in die Angelegenheiten Fremder, du ißt ja auch Fremder ihr Brot, gehst mit Fremder ihren Frauen und Kindern auf dem See schiffahren, liegst in Fremder Kissen und Betten und trinkst Fremder Rotwein aus. Kopf hoch jetzt, und vor allen Dingen den Kopf sauber gehalten. Ich meine, wir sind hier bei Toblers nicht deshalb, daß wir es nur schön haben. Es ist eine Ehre, es sich auch ein bißchen sauer zu machen. Hopp!« Joseph hatte sich inzwischen ausgezogen, er löschte die Kerze und warf sich ins Bett. Aber noch eine ganze Weile plagten ihn die Vorwürfe »seiner Kopflosigkeit«. Im Traum sah er sich mit einem Mal in die Wohnstube der Frau Wirsich versetzt. Er wußte, wo er war und wußte es doch nicht recht, es war ziemlich hell in der Stube, aber sie erschien ihm ganz voll Seewasser. Waren die Wirsichs Fische geworden? Verwunderlicherweise rauchte er eine Pfeife, es war Toblers Pfeife, diejenige, aus der er mit Vorliebe zu rauchen pflegte. Auch Tobler selber schien ganz in der Nähe zu sein, man hörte seine metallene Männerstimme, die reine Vorgesetztenstimme. Diese Stimme schien das Wohnzimmer umrahmt oder umarmt zu haben. Da ging die Türe auf und Wirsich erschien, noch blasser im Gesicht als sonst, und setzte sich in einen Winkel des Zimmers, das fortwährend zitterte unter der starken Umschlossenheit jener Stimme. Jawohl, die Wohnstube zitterte, sie hatte Angst, auch die Fensterscheiben zitterten. Und wie hell es dazu immer war. Es war aber kein Taglicht, auch kein Mondlicht, sondern ein wässeriges, gläsernes Licht. Nun ja, man befand sich eben unter Wasser. Frau Wirsich war mit einer weiblichen Handarbeit beschäftigt, aber plötzlich zerfloß ihr die ganze Arbeit in etwas Glitzernd-Schneidendes, und Joseph sagte dazu: »sieh da, Tränen!« Warum er das wohl gesagt hatte? In diesem Augenblick donnerte und krachte Toblers Stimme wie ein Ungewitter um die Wohnung der Armut herum. Aber die alte Frau lächelte nur dazu, und wie man das Lächeln näher betrachtete, war es der Hund Leo, noch ganz naß von der eben unternommenen Schwimmpartie. Die furchtbare Stimme ging langsam in ein Säuseln über, wie Blätter im heißen, leisen Sommermittagswinde etwa zu lispeln und zu säuseln pflegen. Da erschien Frau Tobler in tiefschwarzem Seidenkleide, warum sie das trug, konnte man nicht erraten. Sie trat auf Frau Wirsich mit vornehmer Wohltäterinnengebärde langsam zu, aber plötzlich schienen ihre Gefühle eine andere Richtung angenommen zu haben, denn sie fiel der Frau um den Hals und küßte sie. Toblers Stimme brummte dazu etwas, was, das konnte man nicht verstehen. Wahrscheinlich, dachte Joseph, findet er die Herzensüberwallung seiner Frau ziemlich überflüssig. Da verwandelte sich auf einmal die Wirsichsche Wohnung in den Laden jenes häßlich frisierten und geschminkten Zigarrenweibes, bei dem Joseph früher täglich auf einem Stuhl gesessen hatte, um Geschichten aus ihrem Mund anzuhören. Auch jetzt erzählte sie eine Geschichte, eine lange und eintönige und traurige, und merkwürdig, trotzdem sie lang war, dauerte ihre Erzählung kaum einen Moment. Träume ich das nur, oder erlebe ich's wirklich, dachte Joseph, und was hat ein Zigarrenweib mit einer Frau Wirsich zu schaffen? Da drang ein köstlich gebautes und geschweiftes, goldenes Boot in den Laden hinein, das Weib stieg ein, und fort ging es mit ihr, weit fort, bis sie sich in einem schwarzen, grellen, scharfen Luftraum verlor, aber ein Pünktchen von ihr blieb in der hohen Luft hängen. Wieder machte der Traum einen Sprung und zwar ins Toblersche Kontor hinunter, dort sah sich Joseph im bloßen Hemd schreibend an seinem Schreibtisch sitzen, und alles schaute ihn fragend an, durchdringend und fragend. Was das alles war, was ihn beobachtete, konnte er nicht genau sehen, aber es war eben alles, es war scheinbar die ganze, lebendige Welt. Überall waren Augen, die sich boshaft an seiner sonderbaren Blöße erfreuten. Das Bureau war ganz grün vor Schadenfreude, stechend grün. Da suchte er sich zu erheben, um von diesem Punkte der Scham fortzukommen, aber er blieb fest daran kleben, es war ihm entsetzlich zumut und er erwachte. -- Er empfand einen brennenden Durst, stand auf und trank ein Glas Wasser. Darauf trat er ans Fenster, atmete und horchte hinaus, es war alles ganz still, das weißliche Mondlicht umzauberte und umflüsterte die Gegend. Und so warm war es. Die kleinen, alten Arbeiterhäuser dicht unterhalb des Hügels schienen in ihrer Form zu schlafen. Kein einziges kleines Menschen- und Lampenlicht mehr! Die Seefläche war von Dunst umwoben, man sah sie nicht. Der zaghafte Schrei eines Vogels unterbrach kurz die Stille der Nacht. Solch ein Mondlicht, wie das noch den Schlaf versinnbildlichen konnte. Das war eine Stille, das. Joseph erinnerte sich nicht, je so etwas gesehen zu haben. Er wäre beinahe am offenen Fenster selber eingeschlafen. Am Morgen verspätete er sich. Das liebe er nicht, meinte Tobler grollend. Joseph hatte die Unverschämtheit, zu sagen, es werde ja doch wohl auf ein paar Minuten nicht ankommen. Da aber kam er schön an. Erstens bekam er ein böses Gesicht anzuschauen, zweitens wurde ihm folgendes gesagt: »Sie haben pünktlich bei der Arbeit zu erscheinen. Mein Haus und mein Geschäft sind kein Hühnerstall. Schaffen Sie sich einen Wecker an, wenn Sie nicht erwachen können. Übrigens, wollen Sie oder wollen Sie nicht? Wenn Sie den guten Willen nicht haben, so sagen Sie's, dann machen wir kurzen Prozeß mit Ihnen. In der Stadt gibt es genug Leute, die froh über eine solche Stelle sind. Man kann nur den Zug nehmen und hinfahren. Man kann sie heutzutage ja auf der Straße auflesen. Von Ihnen aber erwarte ich Pünktlichkeit, verstanden, sonst -- ich will das jetzt nicht mehr aussprechen.« Joseph schwieg wohlüberdachtermaßen. Eine halbe Stunde später war Herr Tobler der gütigste Herr und freundlichste Mann seinem Gehülfen gegenüber. Er hätte ihn beinahe aus überlaufender Gutherzigkeit geduzt, er sagte Marti zu ihm. Bis jetzt hatte er immer Herr Marti gesagt. Der Grund dieser Freundlichkeit war eigentlich ein außenstehender, er war in der Idee der Vaterlandsliebe zu suchen. Der folgende Tag war nämlich der 1. August, und an diesem Tage feierte man allgemein im Land das alljährlich wiederkehrende Jubelfest zur Erinnerung an eine hochherzige und wackere Tat der Vorfahren. Joseph mußte ins Dorf laufen, um für den morgigen Tag allerhand Lampen, Lampions, kleine Fahnen und Flaggen, sowie Kerzen und Brennmaterialien zu Feuerwerkzwecken einzukaufen. Außerdem hatte er so rasch wie möglich, wunderbarerweise beim Dorfbuchbinder, der dergleichen anzufertigen verstand, einen hölzernen, zwei Meter hohen und breiten Rahmen zu bestellen, sowie zwei Fahnentücher, ein dunkelrotes und ein weißes. Das Tuch würde dann über den Rahmen gespannt, und das Ganze ergäbe das Wappen des Landes, nämlich ein großes rotes Feld mit dem weißen Kreuz in der Mitte, alles zum Aufstellen in der kommenden Nacht vor die Fassade der Villa Tobler. Hinter den Rahmen und das Bild würde man brennende Lampen stellen, damit das Licht durch das Tuch schimmere und jedermann aus der weiteren und weitesten Entfernung die zwei Landesfarben leuchten sähe. Nach Verlauf von anderthalb Stunden kamen alle die notwendigen Gegenstände an. Leute stellten sich plötzlich ein, um an der Dekorierung des Hauses zu helfen, Leute, die einfach mit einmal da waren, und so begann man, überall an Gesimsen und Nischen, an Borden und Fenstern und Gittern Fähnchen zu befestigen und Lampen anzubringen. Sogar in die Büsche und festeren Gewächse des Gartens legte und hing und stellte und klemmte man die Beleuchtungsapparate an, so daß in der ganzen Toblerschen Besitzung keine heimlich nicht unterminierte und zum bevorstehenden Feuerwerk vorbereitete Stelle mehr zu finden war. Wie glücklich sah Tobler aus. Das war etwas für ihn. Für Feste und deren schöne Inszenierung schien er wie kaum ein zweiter geschaffen zu sein. Beständig trat er vors Haus hinaus, um da oder dort noch etwas anzuordnen oder selber einen Draht mit der Zange zu krümmen, eine schief hängende, elektrische Lampe gerade zu drehen oder um bloß dem Ding zuzuschauen. Seine Reklame-Uhr schien er vergessen oder wenigstens verschoben zu haben. Natürlich war diese ganze Veranstaltung etwas Freudiges, Feierliches und Geheimnisvolles für die Kinder, die sich nicht genug wundern konnten und fragen konnten und denken konnten, was das eigentlich nun zu bedeuten habe. Joseph hatte an diesem Tage genug für den Festtag zu tun, so daß ihm gar keine Zeit blieb, darüber nachzusinnen, ob die Dienste, die er Tobler leistete, wirklich auch wahre Dienste seien. Frau Tobler schien den ganzen Tag zu lächeln, und das Wetter --. Davon sagte Tobler, daß, wenn das so anhaltend prachtvoll schön sei, man ruhig etwas Besonderes in Szene setzen könne. Auch brauche man bei einer solchen Gelegenheit das bißchen Kosten nicht zu scheuen. Das sei schließlich für das Vaterland, und traurig müsse es um den Mann und Menschen stehen, der nicht auch ein bißchen Vaterlandsliebe im Leibe habe. Man mache ja da absolut nicht mehr als wie anständig sei, zu übertreiben brauche man die Sache auch nicht. Aber wer gar keinen Sinn mehr für derartiges habe, wer nur noch die ganze Zeitlang auf seinem Beruf und Geldschrank hocke, der sei wirklich nicht wert, ein schönes Heimatland zu haben, der könne jeden Tag nach Amerika oder nach Australien abdampfen, das komme solch einem doch ganz genau auf ein und dasselbe heraus. Übrigens sei das zuletzt noch Geschmackssache. Er, Tobler, möge es nun einmal eben gern so, und damit dürfe es gut sein. Von Josephs Turm herab flatterte eine schöne, große Fahne. Je nachdem der Wind wehte, machte sie mit ihrem leichten Leib einen kühnen, stolzen Schwung, oder sie bog sich beschämt und müde zusammen, oder sie kräuselte und schwang sich kokett um die Stange, wobei sie sich in ihren eigenen, graziösen Bewegungen zu sonnen und zu spiegeln schien. Und dann auf einmal wieder wehte sie hoch und breit und weit empor, einer Siegerin und starken Beschützerin ähnlich, um allmählich von neuem rührend und liebkosend in sich selber zusammenzusinken. Dieses prachtvolle Blau am Himmel. Geschäftlich vieles zu erledigen, das erschien beinahe unmöglich. Die Post (es wunderte einen, daß sie heute überhaupt kam) brachte eine ziemlich hohe Rechnung betreffend die kürzlich erst stattgefundene Ausführung des kupfernen Turmdaches, desselben Daches, auf welches man eine so schöne Fahne gesteckt hatte. Der hohe Betrag der Rechnung prägte sich in einem Stirnrunzeln auf Toblers Gesicht aus, und zwar deutlich, beinahe mathematisch genau, als hätte man der Stirn den genauen Zahlenbetrag müssen ablesen können. Als Beigabe zur patriotischen Feier war solches nicht gerade besonders erbaulich. »Der kann warten,« sagte der Chef, indem er die Faktura Joseph dicht neben den aufs Pult herabgebeugten, denkenden und korrespondierenden Kopf warf. Joseph sprach durch die Nase: natürlich! als sei er bereits jahrelang im Geschäft tätig gewesen, als kenne er mehr als zur Genüge schon die Verhältnisse, Gewohnheiten, Qualen, Freuden und Hoffnungen seines Herrn. Überdies fand er es heute für passend, gutmütige Töne und Gebärden an den Tag zu legen. Bei so schönem Wetter -- »Wie eilig es die Leute haben, wenn es gilt, Rechnungen zu präsentieren,« bemerkte Tobler. Er war gerade mit Zeichnen beschäftigt, und zwar mit der Skizzierung der »Tiefbohrmaschine«. »Wenn die Reklame-Uhr nicht geht, dann geht wenigstens die Bohrmaschine,« murmelte er zu Joseph hinüber, und von dem Korrespondenztisch her klang zur Antwort wieder ein: »Natürlich!« »Im schlimmsten Fall habe ich ja noch den 'Schützenautomaten', der reißt alles heraus,« redete der Skizziertisch, worauf die Abteilung für kaufmännisches Wesen antwortete: »Selbstverständlich!« »Glaube ich eigentlich an das, was ich da sage?« dachte Joseph. »Nicht zu vergessen der patentierte Krankenstuhl,« rief Tobler. »Aha!« machte der Gehülfe. Tobler frug Joseph, ob er nun auch wirklich schon einen einigermaßen klaren Begriff von diesen Sachen habe. »Ach ja,« glaubte der Schreiber erwidern zu dürfen. Ob er den Brief an das staatliche Patentamt aufgesetzt habe? »Nein, noch nicht.« Joseph habe heute noch keine Zeit dazu gefunden. »So machen Sie doch, zum Kuckuck!« Als Joseph den Brief zur Unterschrift vorlegte, ergab es sich, daß das Schreiben falsch war, es wurde zerrissen und mußte noch einmal geschrieben werden. Nichtsdestoweniger behagte ihm die Nachmittagskaffeestunde ausgezeichnet. Außerdem erhielt er von seiner Frau Weiß aus der Stadt eine Antwort auf seine letzte Benachrichtigung. Sie schrieb, er brauche mit Schuldenabzahlen gar nicht zu eilen, das habe gute Zeit. Der Brief war im übrigen ziemlich hausbacken, ja sogar langweilig. Aber hatte er denn etwas anderes erwartet? Nicht im geringsten. Er hielt gottlob diese gute Frau nie für geistreich. Er bemerkte heute zum ersten Mal eine vernarbte Wunde unter den Ohren am Hals der Frau Tobler. Woher sie das habe? Sie erzählte ihm, es komme von einer Operation her, und sie werde sich wahrscheinlich ein zweites Mal an derselben Stelle müssen operieren lassen, da die Krankheit noch nicht geheilt sei. Sie klagte: da werfe man für so eine Sache viel Geld aus, in den Rachen der allezeit kostspieligen Arzneikunst, und von einer wirklichen Heilung sei dann doch nicht die Rede. Ja, diese Menschen, die Ärzte und Professoren, sagte sie, nehmen für den kleinsten, dem Auge des gewöhnlichen Sterblichen kaum bemerkbaren Schnitt mit der Lanzette ein kleines, halbes Vermögen in Empfang, und wofür? Dafür, daß sie irgend einen Fehler begehen, damit man nach kurzer Zeit wieder zu ihnen laufen, und sich von neuem kurieren lassen könne. Ob es denn schmerze? »So! Bisweilen!« sagte die Frau. Dann erzählte sie Joseph den Hergang der Operation. Wie man sie aufgefordert habe, in einen großen, leeren Saal zu treten, in welchem nichts anderes zu sehen gewesen sei als ein hohes Bett oder Gestell und vier gleichmäßig angezogene Krankenschwestern. Diese Schwestern hätten eine wie die andere ausgeschaut, so leer und fühllos. Ihre Gesichter seien einander so ähnlich gewesen wie vier gleich große und gleichfarbige Steine. Alsdann habe man ihr befohlen, und zwar in sonderbar barschem Ton, das Gestell zu besteigen. Sie wolle nicht übertreiben, aber sie müsse schon sagen, daß ihr entsetzlich zumute geworden sei. Nicht ein Zug, nicht ein Fingernagel voll Freundlichkeit sei um sie herum gewesen, sondern es habe ihr alles den Eindruck der Härte und der Herzensverlassenheit gemacht. Nicht ein Schein einer milden Miene, nicht die Spur eines tröstenden oder beruhigenden Wortes. Als ob ein bißchen gütiges Wesen sie hätte vergiften, anstecken oder gar töten können. Sie meine, das heiße die Vorsicht und die Korrektheit denn doch gar zu weit treiben. Dann habe man sie eingeschläfert, und von da an habe sie natürlich nichts mehr empfunden und nichts mehr gewußt, bis es vorbei war. Und vielleicht, schloß sie ihren Bericht, müsse ja das alles so sein. Man empfinde es nur als überflüssig herzlos. Der wahre Arzt dürfe aber vielleicht gar kein Herz haben, wer könne das beurteilen. Sie seufzte und strich sich mit der Hand durch das Haar. Der Gedanke, fuhr sie fort, sich ein zweites Mal dort -- hinlegen zu müssen, sei ihr abscheulich und peinlich. Und auch noch wegen etwas anderem. Joseph könne das leicht erraten. Es sei ihr schwer, ihrem Mann mit so etwas zu kommen, wo die ganze finanzielle Lage, Joseph müsse das ja wissen, sich immer mehr zuspitze. Da sei eine Frau froh, wenn sie keine Ursache zu außergewöhnlichen Ausgaben habe. Dieses dumme Geld; wie schnöde doch eigentlich die beständige Sorge um so etwas sei. Nein, da müsse sie, und sie lächelte, zuerst das neue Kleid haben, das sie sich schon längst wünschte, ehe sie den Ärzten wieder etwas gebe. Das könne ihretwegen noch eine Zeitlang warten. Joseph dachte: »Der Herr will die Schlosserwerkstätten warten lassen und die Frau die Ärzte.« -- Der 1. August! Ein Abend, eine Nacht und ein Tag sind ohne besondere Dinge vorübergegangen. Der Abend ist wieder da, es ist der Festabend. Schon fängt man an, Kerzen in Brand zu stecken. Aus der Ferne dringen die dumpfen Schläge der Böllerschüsse zu den Ohren der um das Haus Versammelten. Tobler hat für einige Flaschen guten Weines gesorgt. Der Mechaniker, der den »Schützenautomaten« in Arbeit hat, ist vom Nachbardorf zu der festlichen Veranstaltung zu Toblers herübergekommen. Auch die beiden Parketteriefrauen sind da. Man sitzt im Gartenhaus und hat die Weine bereits angestochen. Tobler glänzt vor Festnachtfreude, schon jetzt, und je dunkler es am Himmel und auf der Erde wird, um so feuriger drückt sich dieser eigentümliche Glanz auf seinem rötlichen Gesicht ab. Joseph zündet Kerzen und Lampen an, er muß sich unter jeden Busch hinabducken, um Beleuchtungsstellen zu suchen. Vom Dorf her hört man ein murmelndes Singen und Lärmen, als müsse dort, in der Entfernung eines schwachen Kilometers, eine rauschende Freude herrschen. Neue Schüsse! Diesmal donnern sie vom andern Seeufer herüber. Tobler ruft: »Ah, die da drüben machen auch schon Ernst!« Er ruft Joseph zu sich heran, um ihm »etwas zu trinken«, und neue ergiebige Winke bezüglich der elektrischen Beleuchtung des großen Wappenschildes zu geben. Der Angestellte ist heute nacht ein Angestellter im Namen des großen, heiligen Vaterlandes. Wie tönte doch da die sonore Stimme des Herrn Tobler, an diesem großen Abend. Bald flogen die knisternden und zischenden Raketen in die Höhe, oder es platzte ein Feuerteufel. Auch ganze Glutschlangen sprangen, von der Hand des eifrigen Gehülfen dirigiert, in die dunkle Luft hinauf, wahrhaftig, es konnte bald einem Märchen aus Tausendundeine Nacht gleichen. Wiederum, pum, ein Schuß aus der Ferne. Die im Dorf schossen jetzt auch. Tobler rief: »Nun? Kommt ihr auch bald einmal? Ihr seid doch immer die Spätesten. Das gleicht euch halt, ihr Wirtstischhocker!« -- Er lachte aus vollem Halse, ein gefülltes Glas schimmernden, hellgoldenen Weines in der Hand schwenkend. Seine verhältnismäßig kleinen Augen sprühten, als hätten sie Feuerwerk abgeben mögen. Immer eine Rakete nach der andern, eine Glutgarbe und -schlange nach der andern. Joseph glich einem heldenmütigen Kanonier in der heißen Schlacht, so, wie er dastand. Er hatte die romantisch-edle Stellung und Haltung eines Kämpfers angenommen, der scheinbar entschlossen war, sein letztes bißchen Blut für die Ehre herzugeben. Das machte sich ohne eigenes Wollen, nein, ganz von allein. In solchen Momenten glauben ja die Menschen Wunder was zu sein, die Vorstellung von etwas Gutem und Hohem und Eigenartigem ist von selbst da. Es bedarf nur des Weines und des Gewehrdonners, und der Wahn des Außergewöhnlichen ist zusammengewoben, fest genug, eine ganze, lange, ruhige, bescheidene Nacht zu durchschwärmen. Auch Joseph war, wie sein Herr, vom Herzensfeuer der Festnacht ergriffen worden. »Schießt, ihr Fötzel!« Solches rief Tobler aus, und zwar in die Dorfrichtung, und er meinte damit jene paar Leute, die sich immer einen gewissen spöttischen Ton herausnahmen, wenn er angefangen hatte, am Biertisch von seinen technischen Erfindungen zu reden. Durch seinen Ausdruck und Ausruf zeigte er diesen »Schlappschwänzen«, wie seine abermalige, kurze Ansprache lautete, deutlich seine Verachtung. »Aber Karl!« Frau Tobler mußte hell auflachen. Berauschend schön war's, als jetzt von den fernen, unsichtbaren Bergen herab, gleichsam im hohen Raum bodenlos schwebend, Freudenfeuer zündeten und brannten. Auch Hornrufe, groß und wuchtig tönende, kamen aus weiter Höhe und Ferne herabgeklungen, langsam den metallenen Atem ausstoßend und ihn lange anhaltend. Das war schön, und alles, was Ohren hatte, horchte. Ja, wenn die Berge selber zu tönen und zu reden anfangen, muß wohl bald das kleine Gezische und Geknatter der hastigen Raketen schweigen. Bergfeuer brennen still aber lang, während der Sprühregen der Nähe emporprasselt, mit recht vielem augenblicklichen Erfolg und Geräusch, aber auch gleich wieder ins Nichts zusammensinkt. Mit dem Eindruck, den das große, erleuchtete Wappenschild mit der roten und weißen Farbe machte, war Tobler ausnehmend zufrieden. Er ließ daher noch ein paar Flaschen bringen und konnte sich mit Einschenken in die verschiedenen Gläser gar nicht genug tun. Ei was, sprach er laut, heute müsse eins über den Durst genommen werden. Und so klangen denn die Gläser eifrig aneinander, der Gläserklang vermischte sich mit dem Gelächter, das über allerhand rasch ersonnenen und ausgeführten Torheiten erschallte. Die Wangen waren so heiß wie der Ausdruck der Augen. Die Kinder hatte Frau Tobler natürlich schon längst in die Betten schaffen lassen. Ein Flaschenpfropfen wurde heimlicherweise mit roter Lackfarbe bestrichen und plötzlich der alten Dame aus der Parkettfabrik auf die Nase gesetzt, daß er kleben blieb. Tobler lief auf diesen Anblick hin Gefahr, sich halb krank zu lachen, er mußte sich die Backen festhalten, da diese zu zerspritzen drohten. Schließlich klingelte und lächelte das Fest mit dem letzten Glas Wein an den Lippen der Teilnehmer aus. Die Lust am Späßetreiben erlahmte und sank jeden Augenblick, hintenüber taumelnd, in Schlaf. Die Frauen standen auf und gingen nach Hause, wogegen die Männer sich noch eine halbe Stunde, allmählich wieder ernsthaft werdend, im Gartenhaus aufhielten. * * * * * Das Dorf Bärensweil, die Gemeinde, in deren Bezirk sich die Toblersche Ansiedelung befindet, liegt eine gute Dreiviertelstunde Eisenbahnfahrt von der großen Kantonshauptstadt entfernt. Der Ort ist, wie fast alle Dörfer in dieser Gegend, reizend gelegen und zeichnet sich durch eine ganze Anzahl, teilweise aus der Rokokozeit herrührender, stattlicher, herrschaftlicher oder öffentlicher Bauten aus. Auch sind viele angesehene Fabriken hier, so Seidenfabriken, Bandwebereien, die ebenfalls schon ein ziemliches Alter haben. Die Industrie und der Handel haben hier vor ungefähr hundertfünfzig Jahren zum ersten Mal ihre mehr oder minder primitiven Räder und Gurten geschwungen, und sie haben sich bis zum heutigen Tag eines fortgesetzt guten Rufes nicht nur im Inland, sondern auch in der übrigen, weiten Welt zu erfreuen gehabt. Die Kaufleute und Fabrikanten sind aber nicht bloß im Gelderwerb hängen und stecken geblieben, nein, sie haben im Laufe der Jahre und der Geschmacksänderungen auch Geld ausgegeben, sie haben, wie man noch heute sehen kann, mit einem Wort gesagt, zu leben gewußt. Sie ließen sich in den verschiedenen Zeiten und Baustilen allerhand reizende, villenartige Gebäude aufrichten, deren unaufdringliche aber graziöse Form der zufällige Beschauer noch heute bewundern und im stillen beneiden kann. Jene reichgewordenen Leute haben sicher ihre Schlößchen und Häuser mit Geschmack und Gewicht zu bewohnen verstanden, derart, daß, wie man ahnen kann, damals ein schönes, solides häusliches Leben regiert und bestanden haben muß. Nun bauen aber die Nachkommen dieser alten vornehmen Handelsfamilien auch heute noch in einem gemessenen Stil. Sie verstecken ihre Häuser gern in ältere, bereits durch ein tüchtiges Wachstum ausgezeichnete Gärten, denn ihnen ist der Sinn für die Besonderheit und Schlichtheit durch die Übertragungen des gleichen Blutes geschenkt und gegeben worden. Auf der andern Seite sehen wir in Bärenswil oder Bärensweil viele armütige und elendigliche Bauwerke, und in diesen wohnen die Arbeiter, und auch diese dem Reichtum und der zierlichen Schönheit entgegengesetzte Seite hat schon ihre lange natürliche Überlieferung. Das armselige Haus kann eben ganz genau so fest und so lang und so gutbegründet weiterbestehen wie das wohlhabende und ausgesuchte; das Elend stirbt nicht aus, so lange die Pracht und das feinere Weltleben fortexistieren. Ja, Bärensweil ist ein hübsches und nachdenkliches Dorf. Seine Gassen und Straßen gleichen Gartenwegen. Sein Anblick vereinigt sowohl städtisches als dörfliches und ländliches Wesen und Treiben. Wenn man hier eine stolze Frau nebst Gefolge zu Pferd daherreiten sieht, so muß man nicht vor lauter dummer Verwunderung vor den Kopf geschlagen sein, sondern man muß sich nur die Fabrikrohre anschauen und denken: hier wird eben Geld verdient, und das Geld schafft bekanntlich alles. Auch Kaleschen mit streng uniformierter Dienerschaft sind hier keine gar so sehr fabelhafte Seltenheit. Sie brauchen nicht Gräfinnen oder Baroninnen zu gehören, solches kann auch hie und da einer Fabrikbesitzersfrau gebühren, um so mehr, als in diesen Gegenden der stolze Gewerbefleiß wirklich zum alten Land- und Stadtadel zu zählen ist. »Ein reizendes Nest,« würde ein gebildeter Fremder von Bärensweil sagen. Herr Tobler aber sagt das seit einiger Zeit nicht mehr, ja, er schimpft sogar auf »das Drecknest«, und zwar nur deshalb, weil einige Bärensweiler, mit denen er am Stammtisch des »Segelschiffes« zu sitzen pflegt, an die gesunde Basis seiner technischen Unternehmungen nicht so recht glauben wollen. Denen wolle er es schon zeigen. Die möchten ihre Augen eines Tages schön aufreißen, sagt er in letzter Zeit öfters. Aber warum ist Herr Tobler denn eigentlich hierher gezogen? Was hat ihn veranlaßt, zum Aufenthaltsort diese Gegend zu wählen? Darüber herrscht folgende, etwas unklare Geschichte. Tobler ist vor noch drei Jahren ein einfacher Angestellter, Hilfsingenieur in einer großen Maschinenfabrik gewesen. Da hat er eines Tages eine größere Summe Geldes geerbt und dadurch den Plan genährt, sich selbständig zu machen. Ein noch verhältnismäßig so junger und heißblütiger Mann ist in allen Dingen, so auch in der Ausführung von heimlichen Plänen, stets etwas rasch, und das ist ja ganz in der Ordnung. Tobler liest eines Abends, Nachts oder Tages eine Zeitungsannonce, wonach die Villa zum Abendstern, denn so nennt sie sich, zum Verkauf ausgeschrieben ist. Prachtvolle Seegegend, schöner, hochherrschaftlicher Garten, gute Eisenbahnverbindungen mit der nicht allzu weitentfernten Hauptstadt: Teufel, das sei, denkt er, etwas für ihn! Er macht kurzen Prozeß und kauft sich das Grundstück. Er kann als freier unabhängiger Erfinder und Geschäftsmann wohnen, wo es ihm beliebt, er ist an keinerlei Scholle gebunden. Ein eigenes Heim! Dies ist der alleinige treibende Gedanke gewesen, der Tobler nach Bärensweil geführt hat. Das Heim kann stehen, wo es will, wenn es nur ein eigenes ist. Tobler will ein freiverfügender und -bestimmender Herr sein, und er ist es. * * * * * Am frühen Morgen nach der Festnacht schaute sich Joseph unten im Bureau ein wenig den »Schützenautomaten« an, der schließlich auch studiert sein wollte. Zu diesem Zweck nahm er ein Blatt Papier zur Hand, auf welchem die ausführliche Beschreibung dieser Maschine nebst zeichnerischen Wegleitungen zu lesen und zu sehen war. Was war es nun mit dieser Nummer zwei der Toblerschen Artikel? Die Nummer eins kannte man ja bereits beinahe auswendig, da sei es, dachte Joseph bei sich, Zeit, sich mit Neuem im Geist zu befassen. Und er wunderte sich, wie rasch es ihm gelang, sich mit dem innern und äußern Wesen dieser Nummer zwei vertraut zu machen. Der Schützenautomat erwies sich als ein Ding, ähnlich den Schokoladenautomaten, die die reisenden Menschen auf Bahnhöfen und in allerlei öffentlichen Lokalen antreffen, nur entsprang dem Schützenautomaten nicht eine Platte Süßigkeit, Pfefferminz oder dergleichen, sondern ein Paket scharfer Patronen. Die Idee als solche war also keine gerade neue, sondern nur eine verfeinerte und verschärfte, auf ein anderes Lebensgebiet geschickt übertragene. Auch war der Toblersche Automat bedeutend größer, er war ein dickes, hohes Gestell von einem Meter und achtzig Höhe und dreiviertel Meter Breite. Der Leibesumfang des Apparates war der eines vielleicht hundertjährigen Baumstammes. Am Automaten war in ungefährer Manneshöhe ein Schlitz angebracht, zum Hineinwerfen oder -fügen des Geldstückes oder der Münze, die für Geld erhältlich war. Nach dem Einwurf hatte man einen Moment zu warten, dann an einem bequem zu erfassenden Hebel zu ziehen und das nun in eine offene Schale stürzende Paket Patronen ruhig in Empfang zu nehmen. Die ganze Sache war praktisch und einfach. Die innere Konstruktion beruhte auf drei sich gegenseitig bedienenden Hebeln, sowie auf einem abwärts gleitenden Kanal zur Beförderung der Patronen, die sich in gleichmäßigen, der staatlichen Verpackung entsprechenden Paketen in einer Art von Kamin zu dreißigen von Stücken aufeinandergetürmt befanden; zog man nun an dem Hebel mit dem bequem zu erreichenden Griff, so fiel eben eines der im Kamin befindlichen Stücke äußerst elegant heraus, und der Apparat funktionierte weiter, das heißt er blieb still, bis ein zweiter oder ein dritter Schütze des Weges daherkam und ihn von neuem zu der eben beschriebenen Betätigung reizte. Aber noch mehr! Der Automat hatte den Vorzug, mit dem Reklamewesen verbunden zu sein, indem eine kreisrunde Öffnung am oberen Teil desselben jeweilen bei Einwurf der Münze und Ziehen am Griff des Hebels eine schönbemalte Reklamescheibe zeigte. Dieses Reklamewesen bestand sehr einfach aus einem Reifen verschiedenartig gefärbten Papieres, der mit der ganzen Hebelvorrichtung in engster und zweckentsprechendster Verbindung stand, derart, daß der Sturz eines Patronenpäckchens jeweilen eine erneute Reklame unmittelbar und exakt an die kreisrunde Öffnung schob, indem sich der Papierreifen stückweis umdrehte. Der Streifen oder Reifen war in »Felder« abgeteilt, die Besetzung und Benützung der einzelnen Felder kostete Geld, und dieses Geld mußte die Kosten der Anfertigung des Automaten brillant herausschlagen: »Aufzustellen ist der Schützenautomat auf Schützenwiesen gelegentlich der zahlreich stattfindenden Schützenfeste. Was die Reklamen betrifft, so hat man sich zur Erlangung von Bestellungen und Aufträgen wiederum, wie bei der Reklame-Uhr, an nur erste Firmen zu wenden. Wenn man annehmen darf, daß sämtliche Felder mit Reklamen besetzt werden, und man darf das wohl annehmen, so verdient da Tobler (Joseph war mit seinen Gedanken so sehr beschäftigt, daß er anfing, mit sich selbst zu reden) wieder einen schönen Haufen Geld, denn was die Inserate einbringen, das übersteigt bei weitem die Kosten der Fabrizierung. Bei der Besetzung je eines Feldes in mehreren, sagen wir zehn Automaten, tritt natürlich eine wesentliche Preisermäßigung ein.« Der Kassenbote der Bärensweiler Sparbank trat ein. »Natürlich ein Wechsel,« dachte Joseph. Er stand von seinem Platz auf, nahm das Formular in die Hand, besah es von allen Seiten, schüttelte es hin und her, prüfte es auf das Genaueste, machte ein zugleich nachdenkliches und wichtiges Gesicht und sagte dann zu dem Boten, es sei gut, man werde vorbeikommen. Der Mann nahm den Wechsel wieder zu sich und ging. Joseph nahm sogleich die Feder zur Hand, um brieflich den Aussteller des Wechsels zu ersuchen, noch einen Monat Geduld zu haben. Wie leicht sich das schrieb. Auch der Bank mußte gleich telephoniert werden. In diesen Dingen hatte man nun hoffentlich bald ein wenig Routine. Da hatte er sich einfach hingestellt und seine Augen fest auf den zu zahlenden Betrag gerichtet, und dann hatte er einfach den Boten ruhig, ja sogar etwas streng angeschaut. Wie der Mann Respekt bekam! Leute, die Geld von Tobler haben wollten, mußten in Zukunft noch ganz anders, noch viel kräftiger, abgefertigt werden. Das war Pflicht, das gebot das Zartgefühl Herrn Tobler gegenüber. Der Chef durfte jetzt unter keinen Umständen an diese widerwärtigen Bagatellen erinnert werden. Der hatte gerade jetzt ganz anderes zu tun, den konnten jetzt nur die großen Sorgen beschäftigen. Dafür hatte ja Tobler einen Angestellten, damit dieser womöglich intelligente und geistreiche Kerl ihm die kleinlichen Unannehmlichkeiten abnahm, sich dicht an der Tür aufstellte, um ungerufene, steife Akzeptwechselmenschen energisch weiterzubefördern. Nun, das tat Joseph ja auch. Aber dafür rauchte er jetzt auch wieder einmal einen von den eben aus dem Dorf herspedierten, neuen Zigarrenstumpen. Er ging im Bureauraum auf und ab. Tobler war den Geschäften nachgegangen und blieb wahrscheinlich heute den ganzen Tag von zu Hause weg. Wenn da jetzt nur nicht etwa der Herr Johannes Fischer ankam, das würde fatal sein. Dieser Johannes Fischer hatte auf die Annonce »Für Kapitalisten« hin sich schriftlich gemeldet und schrieb, er werde sehr wahrscheinlich schon in allernächster Zeit einmal in Bärensweil zwecks Besichtigung der betreffenden Erfindungen vorsprechen. Welch zarte, beinahe weibliche Handschrift der Mann besaß. Dagegen war die Schrift Toblers wie mit dem Spazierstock gesetzt. Solche schlank- und feinschreibenden Menschen machten einen schon zum voraus große Reichtümer ahnen. So wie dieser Mann schrieben beinahe alle Kapitalisten: exakt und zugleich etwas nachlässig. Diese Handschrift entsprach ganz und gar einer vornehmen und leichten Körperhaltung, einem unmerklichen Kopfnicken, einer ruhigen, sprechenden Handbewegung. Sie war so langstielig, diese Schrift, eine gewisse Kälte strömte sie aus, sicher war er das Gegenteil eines heißblütigen Gesellen, der so schrieb. Diese paar Worte: kurz und artig im Stil. Die Höflichkeit und Bündigkeit erstreckten sich sogar auf das intime Format des blitzsauberen Briefpapieres. Auch noch parfümiert trat dieser Herr Johannes Fischer unbekannterweise auf. Wenn er nur heute nicht kam. Tobler würde das lebhaft bedauern, ja, es konnte geschehen, daß er, toll vor Ärger, ganz außer sich käme. Übrigens hatte er den Befehl zurückgelassen, dem Herrn, wenn er anlangte, alles ordentlich zu zeigen und auseinanderzusetzen, und ganz besonders eingeschärft hatte er Joseph, diesen Herrn Fischer unter keinen Umständen wegziehen zu lassen, sondern ihn so lange aufzuhalten zu suchen, bis Tobler wieder zu Hause wäre. Womöglich ließ sich ja diesem anscheinend hocheleganten Fremdling eine Tasse Kaffee anbieten, denn es war noch lange nicht gesagt, daß der zu nobel für so etwas sei. Solch ein zierliches Gartenhaus, wie Toblers eins hatten, durfte für jedermann, auch für die höchstgestellte und erhobene Person, ein Gegenstand ruhigen Betrachtens und Genusses sein. Dieser Herr Kapitalist mochte also immerhin nur daherzutraben kommen, es war, glaubte Joseph, genügend gesorgt für ihn. Aber Joseph war es doch ein wenig bange. Wie nett es sich übrigens für ihn hier lebte, wenn der Herr Prinzipal sich außerhalb befand. So ein Prinzipal, er mochte der netteste Mensch von der Welt sein, blieb doch immer eine Ursache zum fortwährenden Aufpassen. War er guter Laune, so hatte man beständig Angst, etwas könnte kommen und die fröhliche Gebieterlaune ins gerade Gegenteil umschlagen. War er gehässig und bissig, so hatte man die mehr wie saure Pflicht, sich selber für einen struben Gauner zu halten, weil man sich unwillkürlich als der elende Veranlasser der schlechten Stimmung ansah. War er gleichmütig und gesetzt, so blieb die Aufgabe vor, diesem gleichmäßigen Wesen keinen auch nur fadenscheinig dünnen Schaden anzutun, damit es sich ja nicht etwa mit einem Ritzchen und Spältchen verletzt fühle. War der Herr spaßig aufgelegt, so verwandelte man sich augenblicklich in einen Pudel, da es doch galt, dieses lustige Tier nachzuahmen und die Witze und Zoten behend aufzuschnappen. War er gütig, so kam man sich wie ein Elender vor, war er grob, so fühlte man sich verpflichtet zu lächeln. Das ganze Haus war ein anderes, wenn der Hausherr nicht da war. Die Frau schien auch eine ganz andere zu sein, und die Kinder, namentlich die beiden Knaben, denen sah man das Vergnügen über des strengen Vaters Abwesenheit von weitem an. Es war etwas Ängstliches fort, wenn Tobler weg war. Auch etwas allzu Gespanntes und Gewichtiges. »Bin ich eine solche duckmäuserische Angestelltenseele?« dachte Joseph. Da kam Silvi, das ältere der kleinen Mädchen, und rief zum Mittagessen. Nachmittags, Joseph saß gerade beim Kaffee und plauderte mit Frau Tobler, schritt ein Herr den Garten zum Haus hinauf. »Gehen Sie ins Bureau, es kommt jemand,« sagte die Frau zum Gehülfen. Dieser lief eilig weg und konnte nur bis zur Bureau-Eingangstüre gelangen, als ihm auch schon der Fremde entgegentrat. Ob er die Ehre habe, Herrn Tobler selber vor sich zu haben, frug mit angenehmer Stimme der Ankömmling. Nein, sagte Joseph etwas betreten, Herr Tobler sei leider gerade verreist, er selber sei nur der Angestellte, aber er bitte, eintreten zu wollen. Der Herr sagte seinen Namen. »Ah Herr Fischer!« rief Joseph aus. Er verneigte sich etwas zu fröhlich, etwas zu freudig vor Herrn Johannes Fischer, und er bemerkte auch sogleich den Fehler, den er gemacht hatte. Sie traten beide, der Kapitalist voran, in das Zeichenbureau ein, wo derselbe sogleich nach den technischen Dingen sich zu erkundigen begann, während er sich mit einer gewissen Überlegenheit nach allen Seiten umschaute. Joseph erklärte ihm die Reklame-Uhr. Er holte ein Exemplar derselben in Natura herbei, legte sie vor die Augen des Gastes auf den Tisch zur Besichtigung, und schickte sich zu gleicher Zeit an, dem aufmerksam alles, was ihn umgab, beobachtenden Mann die Gewinnchancen des Werkes auseinanderzusetzen. Der Fremde, der mit Interesse zuzuhören schien, fragte, indem er die Adlerflügel der Uhr betrachtete, ob man sich in der Höhe der angenommenen Reklamegelder nicht vielleicht, wie das ja in einem solchen Falle leicht möglich sei, ein wenig verrechne? Und ob bereits Reklame-Aufträge eingelaufen seien? Er nahm es ruhig mit seinen Fragen. Und ein bißchen nachdenklich schien er geworden zu sein, was sich Joseph, vielleicht etwas früh, zu seinen Gunsten auslegte. Dieser erwiderte, die Summe dürfte wohl kaum als zu hoch gegriffen betrachtet werden, im Gegenteil, und Aufträge seien bereits in ganz erfreulicher Anzahl da. »Und die Uhr kostet?« Joseph versuchte auch das dem Herrn Fischer klar zu machen, wobei er ein ganz klein wenig, er wußte selbst nicht warum, stotterte. In der Ungewißheit, wie er sich zu benehmen habe, wollte er sich einen gemütlichen Stumpen anzünden, verwarf aber dieses plötzliche Gelüste als nicht ganz schicklich. Er errötete. »Wie ich sehe,« sprach Herr Fischer, »handelt es sich hier um ein scheinbar ganz vortrefflich geplantes und auch, wie mir scheint, bereits ganz gut vorbereitetes Unternehmen. Dürfte ich mir erlauben, einige kleine Notizen zu machen?« »Aber bitte!« Joseph hatte eigentlich sagen wollen: bitte recht sehr. Aber Stimme und Lippe wollten ihm den erforderlichen Dienst nicht leisten. Warum? War er aufgeregt? Jedenfalls, das spürte er deutlich, war er schon darauf vorbereitet, zu sagen, dem Herrn dürfte es vielleicht angenehm sein, im Garten eine Tasse Kaffee zu trinken. »Meine Frau wartet unten,« bemerkte leicht der andere. Er schrieb einiges mit Bleistift in ein elegantes Notizbuch. Plötzlich war er fertig. Joseph hatte den unfeinen Eindruck, als habe es der Kapitalist mit seinen verständnis-erleichternden Notizen nicht ernst genommen. Er wollte den Mund auftun, um zu sagen, er könne ja rasch hinunterspringen und die Dame, die unten wartete, heraufholen. Herr Fischer sagte, er bedaure, Herrn Tobler persönlich nicht angetroffen zu haben. Dies sei schade, aber er hoffe, dieses Vergnügen werde ihm nicht verloren gehen. Jedenfalls danke er verbindlichst für die erhaltene, liebenswürdige Auskunft. Joseph versuchte zu reden. »Schade,« nahm wieder der andere das Wort, »ich würde mich äußerst wahrscheinlich gleich zu etwas Definitivem haben entschließen können. Die Reklame-Uhr hat mir sehr gut gefallen, und ich bin der Ansicht, daß sie sich rentieren wird. Wollen Sie die Güte haben, und Ihrem Herrn Chef eine höfliche Empfehlung von mir ausrichten? Ich danke Ihnen.« »Man kann ja« -- War das Joseph, der nicht besser sprechen konnte? Herr Johannes Fischer hatte sich kurz verbeugt und war gegangen. Sollte man ihm nachspringen? Was ist man in diesem Augenblick? Muß Joseph sich nun vor die Stirn schlagen? Nein, es scheint, er muß nun ins Gartenhaus gehen, zu einer gespannt und besorgt wartenden Frau, um derselben zu sagen, wie »unverantwortlich kopflos« er sich benommen hat. »Das ist dumm, sehr dumm,« dachte er. Als er im Garten- oder Kaffeehaus anlangte, war Frau Tobler eben damit beschäftigt, dem Knaben Walter eine Tracht Prügel zu verabreichen. Sie weinte und sagte, es sei nicht schön, was sie für Unholde von Kindern habe. Dadurch wurde es dem Angestellten recht eigentlich trübe ums Herz: Auf der einen Seite eine weinende und erzürnte Frau, auf der andern Seite ein ironisch winkender und grüßender Kapitalist, und im Hintergrund die Ahnung von der Mißbilligung Toblers. Er setzte sich an den vor zehn Minuten eilig verlassenen Platz und goß sich noch eine Tasse Kaffee ein. Er dachte: »Warum nicht nehmen, wenn es doch da ist? Alle Abstinenz der Welt ist jetzt doch nicht imstande, das herankommende Ungewitter von meinem Kopf abzulenken.« -- »War das dieser Herr Fischer?« fragte die Frau. Sie hatte die Augen getrocknet und schaute nach der Landstraße hinunter. Dort unten stand in der Tat noch Herr Fischer. Er und die Dame schienen sich am Anblick des Toblerschen Besitztums zu ergötzen. »Ja,« antwortete Joseph, »ich habe versucht, ihn aufzuhalten, aber es war unmöglich, er sagte, er müsse absolut gehen. Übrigens hat man ja für alle Fälle seine Adresse.« Er log! Wie einem die Schwindeleien ruhig zum Mund herauskamen. Nein, er hatte nicht sein Möglichstes getan, zu versuchen, Herrn Fischer aufzuhalten. Wenn er solches jetzt behauptete, so war es einfach eine freche, frivole Lüge. Frau Tobler sagte bekümmert, das werde ihnen beiden ihr Mann sehr übel nehmen, sie kenne ihn genau in diesen Stücken. Sie schwiegen beide eine Weile. Silvi, das Mädchen, saß auf einem Gartenstein und sang in leisen, dummen Tönen. Frau Tobler befahl ihr zu schweigen. Wie das heiß war, sonnig, gelblich und bläulich. Der Geldmann war jetzt nicht mehr zu sehen. »Sie haben wohl ein wenig Angst?« sagte die Frau und lächelte. »O wegen der Angst,« entgegnete Joseph trotzig, »das ist das wenigste. Übrigens kann Herr Tobler mich fortjagen, wenn er will.« Er solle nicht so sprechen, sagte sie, das sei weder klug noch recht und müsse eigentlich ein recht schlimmes Licht auf seinen Charakter werfen. Natürlich habe er jetzt ein wenig Angst, man könne ihm das ja ganz schön ansehen. Aber er solle sich nur beruhigen, auffressen werde ihn »Karl« nicht können. Es werde heute abend eben ein gelindes Donnerwetter absetzen, auf das dürfe Joseph immerhin sich gefaßt machen. Sie lachte hell und schön auf und fuhr fort zu sprechen. Sie habe, sagte sie, immer recht gut den Respekt begriffen, den ihr Mann andern Menschen einzuflößen verstehe. Für Fernerstehende habe er beinahe etwas Furchtgebietendes, das sei so, und sie spreche jetzt ernsthaft, und sie verstehe das ausgezeichnet. Nur sie selber habe nicht die geringste Angst vor Tobler. »Wirklich?« machte Joseph. Er war ruhiger geworden. Wirklich nicht, plauderte sie weiter. Sie müsse nicht hell von Verstand sein, wenn sie sich in dieser Beziehung einer Täuschung hingeben könne. Sie empfinde die schrecklichsten Wutausbrüche ihres Mannes eher als ein Lustspiel, als wie eine Tragödie, sie müsse jedesmal, sie wisse selbst nicht ganz recht warum, laut lachen, wenn er ihr grob begegne. Ihr sei das nie merkwürdig, sondern immer natürlich an ihr erschienen, aber sie wisse wohl, daß es Leute gebe, die, wenn sie so etwas sehen, die Augen und den Mund vor Verwunderung aufreißen, darüber, daß es eine anscheinend so unselbständige Frau, wie sie eine sei, wage, das Betragen des Mannes komisch zu finden. Komisch finden? O sie finde es manchmal gar nicht so komisch, wenn Tobler heimkomme und an ihr alle aufgesammelten schlechten Eindrücke, die ihm die Welt hinterlassen habe, auslasse, in solchen Fällen habe sie nötig, Gott zu bitten, ihr die Kraft zu einem Gelächter zu geben. Man gewöhne sich übrigens nach und nach ans Gehudelt- und Gescholtenwerden, auch wenn man nur »eine unselbständige Frau« sei. Auch eine solche Frau denke hin und wieder ernsthaft über die Dinge der Erde nach, so zum Beispiel denke sie jetzt, der Tumult, der ihnen beiden heute abend bevorstehe, werde kein andauernder, sondern, wie es stets mit derartigen Gewittern bestellt sei, nur ein vorübergehender sein können. Sie erhob sich. Sie hatte in diesem Augenblick etwas Gelassen-Ironisches an sich. Joseph rannte rasch in sein Turmzimmer hinauf. Er hatte das Bedürfnis, einen Augenblick allein mit sich zu sein. Er wollte sich in aller Eile ein wenig »zurechtdenken«, aber er fand die passenden und beruhigenden Gedanken nicht. So trieb es ihn wieder in das Kontor hinunter, aber auch dort wurde er dieses beschämende Gefühl des Unheimlichen nicht los. Um es endgültig zu bewältigen, lief er schnurstracks zur Post, obgleich es noch nicht Zeit dazu war. Das Marschieren mit den Beinen beruhigte und tröstete ihn, und der Anblick der freundlichen, landschaftlichen Welt erinnerte ihn an die Nichtigkeit und Bedeutungslosigkeit der Unruhe. Im Dorf trank er ein Glas Bier, um Humor in den Ton seiner Stimme zu bekommen, er würde eine gewisse Unempfindlichkeit heute nacht gut brauchen können, dachte er. Wieder zu Hause angekommen, machte er sich sogleich dahinter, vermittels eines langen Gummischlauches den Garten zu spritzen. Das dünne Wasser beschrieb in der Abendluft einen schönen, hohen Bogen und fiel klatschend auf die Blumen und Gräser und Bäume herab. Wenn etwas beruhigen konnte, so war es das Spritzen, denn man empfand während dieser Arbeit eine eigentümlich gemütliche und fest geschlossene Zugehörigkeit zum Toblerschen Haus. Wer noch kurz vorher so viel Eifer bewies, den Garten zu pflegen, den konnte man sicherlich nicht allzuwüst anschimpfen. Zum Abendessen gab es gebackene Fische. Es war doch einfach unmöglich, kurz vorher noch gebackene Fische zu essen und dann gleich nachher der Elendeste der Menschen zu sein. Das vertrug sich nicht recht zusammen. Wie schön wieder der Abend war. Konnte man an solch einem herrlichen Abend den Unternehmungen Toblers Verluste beigebracht haben? Die Magd setzte eine brennende Lampe ins Gartenhaus. Nein, im Licht einer so hübschen, traulichen Lampe durfte man von Tobler erwarten, daß er sich den verfehlten Besuch des Herrn Fischer nicht allzu heftig zu Herzen nähme. Endlich begehrte Frau Tobler noch, von Joseph in der Schaukelbahn geschaukelt zu werden. Sie setzte sich auf das Brett und er zog die Seile an, und die Reitschule setzte sich in schwingende Bewegung. Das war so schön anzusehen, daß der Gedanke, jetzt werde Tobler kommen und alle diese Bilder stören, leichtsinnig abgewiesen wurde. Gegen zehn Uhr hörten Frau Tobler und Joseph Schritte im Kies den Garten heraufkommen, es waren »die seinen«. Sonderbar, sowie man Schritte eines Bekannten hört, ist dieser Näherkommende auch bereits leibhaftig da, sein wirkliches Erscheinen ist dann nie eine Überraschung mehr, mag er dann ausschauen wie er will. Tobler war müde und gereizt, aber das war nichts Überraschendes, denn so pflegte er immer nach Hause zu kommen. Er setzte sich, atmete hörbar auf, als einem wohlbeleibten Mann hatte ihm das Erklimmen des Hügels Mühe verursacht, und verlangte seine Pfeifen. Joseph sprang wie besessen ins Haus hinein, um sogleich das Gewünschte herbeizuholen, glücklich darüber, seinem Vorgesetzten für eine halbe Minute wenigstens aus dem Wege zu gehen. Als er mit den Rauchutensilien zurückkam, hatte sich die Lage der Dinge bereits verändert. Tobler sah schrecklich aus. Die Frau hatte ihm rasch alles gesagt. Sie stand jetzt da, unerhört kühn, wie es Joseph erschien, den Mann ruhig anschauend. Dieser sah aus, wie einer, der nicht fluchen kann, weil er fühlt, daß er es zu unmäßig täte. »Also Herr Fischer war da, wie ich höre,« sagte er, »wie haben ihm die Dinger gefallen?« »Sehr gut!« »Die Reklame-Uhr?« »Ja, die hat ihm besonders gut gefallen. Er sagte, sie scheine ihm ein ganz ausgezeichnetes Unternehmen zu sein.« »Haben Sie ihn auch auf den Schützenautomaten aufmerksam gemacht?« »Nein.« »Warum nicht?« »Herr Fischer hatte so große Eile, seiner Frau wegen, die unten am Gartentor wartete.« »Und Sie haben sie warten lassen?« Joseph schwieg. »Und ich muß einen solchen Tropf von Angestellten haben,« schrie Tobler, außerstande, die Wut und den geschäftlichen Jammer, die ihn verzehrten, länger zurückzuhalten, »ich muß das Unglück haben, von der eigenen Frau und einem nichtsnutzigen Gehülfen betrogen zu werden. Da soll der Teufel Geschäfte machen.« Er würde die Petroleumlampe mit der Faust zerschlagen haben, wenn Frau Tobler sie nicht glücklicherweise in diesem Moment, bevor die Hand niedersauste, etwas weiter gerückt hätte. »Du brauchst dich gar nicht so furchtbar aufzuregen,« rief die Frau, »und zu sagen, ich betrüge dich, das verbiete ich dir. Sonst weiß ich dann auch noch, wo Vater und Mutter wohnen. Auch der Joseph verdient nicht, daß er mit Ausdrücken solcher Art beschimpft werde. Schick ihn ganz fort, wenn du dich durch ihn geschädigt glaubst, aber mach keine solche Szenen.« Sie hatte das als »unselbständige Frau« natürlich weinend gesprochen, aber was sie sprach, das hatte seinen Eindruck durchaus nicht verfehlt, Tobler war sofort ruhig geworden, das »Gewitter« war am Vorübergehen. Er fing an, mit Joseph zu ratschlagen, was man tun könne, um sich die Kapitalien des Herrn Johannes Fischer nicht entgehen zu lassen. Morgen früh müsse sogleich telefoniert werden. Im Leben gewisser Handelsleute spielt das Telephon eine große Rolle. Die kaufmännischen Gewaltstreiche wollen in der Regel telephonisch begonnen werden. Schon der bloße Gedanke, daß man ja diesem Herrn Fischer morgen früh telephonieren könne, machte beider, Toblers und Josephs, Hoffnungen wieder aufleben. Wie war es denn möglich, daß, wenn man derartige Hilfsmittel zur Verfügung hatte, das Geschäft zu Schanden gehen konnte? Und Tobler würde sich unmittelbar nach der drahtlichen Ankündigung in den Zug setzen und nach der Residenz fahren, um diesem »entflohenen Vogel« einen persönlichen Besuch abzustatten. Die Stimme Toblers zitterte noch dunkel, als er schon längst wieder heiter und vergnügt geworden war, als habe die Aufregung innerlich weitergebrannt. Alle drei spielten noch bis in die späte Nacht hinein Karten. Joseph müsse das Kartenspiel auch lernen, hieß es, es sei einer kein rechter Mann, wenn er dieses Spiel nicht verstehe. Am nächsten Morgen wurde, wie verabredet, telephoniert. Tobler warf sich in den Eisenbahnwagen, mit welch zuversichtlicher Miene! Abends war die Miene eine gedrückte, zornige und traurige. Das Geschäft war nicht zustande gekommen. Statt der flüssigen Gelder gab es eine neue, bittere Szene im nächtlichen Gartenhaus. Tobler saß da wie das verhaltene Ungewitter selber und gefiel sich in unschönen, gotteslästerlichen Verwünschungen. So sagte er unter anderem, seinetwegen möchte die ganze Erde in Morast versinken, das käme jetzt alles auf ein und dasselbe heraus. Er selber wate so wie so in nichts anderem mehr als in einer Unmasse von Schlamm. Als er sich sogar dazu verstieg, sich und alles, was ihn umgebe, zum Teufel in die Hölle zu wünschen, gebot ihm Frau Tobler Mäßigung. Er aber fuhr sie so grausam hart an, daß es sie, den Kopf voran, auf die Tischplatte niederstreckte, worauf sie sich hoch aufrichtete und mit sanft gesetzten Schritten davonging. »Sie haben Ihrer Frau wehgetan,« wagte Joseph in einem Anflug von weltmännischer Ritterlichkeit zu sagen. »Ach was wehgetan! Da ist eine kleine Welt verletzt,« erwiderte Tobler. Dann skizzierten sie beide zusammen eine neue Annonce für die täglich erscheinenden Weltblätter. In dem Inserat kamen Worte vor wie: »Glänzendes Unternehmen«, »Höchster Gewinn bei absoluter Risikolosigkeit«. Das würde man gleich andern Tages in die Annoncenexpedition schicken. * * * * * Es wurde wieder Sonntag und Joseph bekam wieder fünf Mark in die Tasche. Er genoß wieder den Vorzug, nach Belieben im Zeichenzimmer antreten zu dürfen. Gerade das hatte entschieden etwas Poetisches. Heute würde es wieder ein feines Essen geben, vielleicht einen Kalbsbraten, schön gelblich und bräunlich, mit Blumenkohl aus dem Garten, und dann vielleicht Apfelmus, das hier oben so wundervoll schmeckte. Auch die bessere Zigarre wurde ihm verabreicht. Was doch Tobler für eine Manier besaß, zu lachen und einen spöttisch von oben herab anzusehen, sobald es sich darum handelte, Zigarren zu verabreichen. Gerade, als ob Joseph ein Schlossermeister gewesen wäre, zu dem man sagt: »Da. Nehmen Sie. Sie rauchen gewiß auch ganz gern einmal eine bessere Zigarre.« Als ob Joseph soeben mit Gitteranstreichen oder Türschloßausbessern fertig geworden wäre, oder als ob er soeben einen Baum gestutzt hätte. Das war die Art, wie man einem tüchtigen Gärtner eine Zigarre gibt. War denn etwa Joseph nicht Toblers »rechte Hand«, und durfte man glauben, man zeichnete eine solche rechte Hand gebührend aus, indem man ihr Sonntags etwas Besseres zu rauchen darbot? Er blieb etwas länger im Bett heute, er öffnete die Fenster und ließ sich im Bett von der weißlichen Morgensonne anscheinen und anblenden, was eben auch genossen sein wollte, so gut wie verschiedenes anderes auch, wie zum Beispiel der Gedanke an das Frühstück. Wie war heute alles sonnig und sonntäglich. Das Sonnige und das Sonntägliche schienen von weit her schon Brüderschaft miteinander geschlossen zu haben, und der innige Gedanke ans ruhige Frühstück, ja, der war auch aus so etwas Sonnigem und Sonntäglichem gewoben, das spürte man jetzt deutlich. Wie wäre es möglich gewesen, heute etwa verdrießlich zu sein, oder gar mißgestimmt, oder gar melancholisch. Es war etwas Geheimnisvolles in allem, in jedem Gedanken, an den eigenen Beinen, an den Kleidern auf dem Stuhl, am Schrank, zwischen den blendend sauber gewaschenen Gardinen, an der Waschkommode, aber dieses Geheimnisvolle war nicht beunruhigend, im Gegenteil, es ruhete und lächelte und friedelte einen förmlich an. Eigentlich war man gedankenlos, und man wußte gar nicht warum, aber man schien zwingende Ursache dazu zu haben. In und an der Gedankenlosigkeit lag so viel Sonne, und wo Sonne war, da dachte Joseph unwillkürlich an köstlich gedeckte Frühstückstische. Ja, mit dem einfachen Gedanken fing dieses dumme aber beinahe süße Sonntägliche schon an. Er stund vom Bett auf, kleidete sich besser als sonst an und trat auf die viereckige Plattform, die ihm zur Verfügung stand, hinaus. Von hier sah man auf die Kronen der im Nachbarobstgarten gelegenen Bäume hinüber. Wie ruhig und blendend sonnig hier alles aussah. Pauline, die Magd, deckte den Morgentisch draußen an der freien Luft. Diesem Anblick konnte der Gehülfe nicht länger widerstehen, es riß ihn hinunter zu Kaffee, Brot, Butter und Eingemachtem. Später ging er ins Bureau hinunter. Es war ja nicht viel zu machen da unten, aber er setzte sich trotzdem, angezogen von einem beinahe lieblichen Gewohnheitsgefühl, an den Schreibtisch, der wie ein Küchentisch aussah, und korrespondierte. Ach, es war heute das reine Tändeln mit der sonst so ernsthaften Feder. Das Wort »telephonische Unterredung« erschien ihm ebenso sonntäglich geputzt wie das Wetter und die Welt draußen. Die Redewendung »und gestatte ich mir« war blau wie der See zu Füßen der Villa Tobler, und das »hochachtungsvoll« am Schluß des Schreibens schien nach Kaffee, Sonne und Kirschenmarmelade zu duften. Er trat zur Bureautür in den Garten hinaus. Das war ja auch sonntäglich, daß man sich gestatten durfte, mir nichts dir nichts die Arbeit zu unterbrechen, um rasch den Garten ein bißchen inspizieren zu gehen. Wie das duftete, wie heiß es schon war, trotz der noch frühen Morgenstunde. Da würde man vielleicht in einer halben Stunde baden gehen, so »genau kam es sicher nicht darauf an«. Ja heute durfte man diese Worte Tobler ruhig ins Gesicht hineinsagen, er würde ganz derselben Meinung wie Joseph sein. Das »Nichtdaraufankommen«, das war schließlich der ganze Unterschied zwischen einem Sonntag und einem Werktag. Wie der ganze Garten verzaubert dalag, verzaubert von Hitze, Bienensummen und Blumenduften. Heute abend würde man den Garten auch wieder einmal recht tüchtig spritzen müssen. Joseph kam sich wie das Ideal eines Angestellten vor, indem er das dachte. Er trug jetzt die Glaskugel ans Freie hinaus. Da kam ihm Tobler, mit einem wahrhaft noblen neuen Anzug bekleidet, entgegen und erklärte ihm, daß er heute mit Frau und Kindern ausreisen wolle. Man könne nicht immer zu Hause sitzen, und der Frau müsse man auch einmal eine Freude gönnen. Was Joseph beträfe, so werde der wahrscheinlich, wie Tobler denke, nach der Stadt fahren, um seine dortigen Freunde aufzusuchen. »Das laß du nur einstweilen meine Sache sein, das mit den Freunden,« gab Joseph dem Herrn im stillen als stumme Antwort zurück. Laut sagte er, nein, er wolle heute da bleiben, es passe ihm besser so. »Das können Sie meinetwegen halten, wie Sie wollen,« sprach Herr Tobler. Ungefähr nach einer halben Stunde stand die kleine Ausflugsgesellschaft, bestehend aus den beiden Ehehälften Tobler, den beiden Knaben, dem Fräulein aus der Nachbarschaft und der kleinen Dora, reisefertig vor dem Haus, um dem an einem ziemlich weit entfernten Ort stattfindenden kantonalen Sängerfest einen halbtägigen Besuch abzustatten. Frau Tobler hatte ein schwarzseidenes Kleid an und sah beinahe imponierend darin aus. Sie empfahl Pauline Obacht über das Haus an, und zu Joseph sagte sie in gemütlichem Ton, er möge ebenfalls ein bißchen aufpassen auf alles, was um das Haus herum vorgehe, da er doch, wie sie gehört habe, zu Hause bleiben wolle. Endlich begab man sich fort unter dem Geheul des an der Kette festgebundenen Hundes, den es bitter zu verdrießen schien, allein zurückbleiben zu müssen. Neben Joseph kauerte die Silvi, das Schwesterchen der Dora, am Boden. Dieses Mädchen schien sich nicht im geringsten über die Ungerechtigkeit, die ihr widerfuhr, zu grämen. Darin, daß allein sie von den vier Kindern dagelassen wurde, erblickte sie etwas Alltägliches. In der Tat war sie längst an allerlei Zurücksetzungen gewöhnt, derart, daß ihr beinahe schon alles Empfinden dafür abhanden gekommen war. »Viel Vergnügen zu Hause, Marti,« hatte Tobler zu Joseph noch gesagt. »Ja viel Vergnügen! Sorgen Sie gefälligst für Ihr Vergnügen, Herr Ingenieur Tobler,« dachte Joseph ein wenig bitter, als er es sich, mit einem Buch in der Hand, auf dem Bett, das er halb abdeckte, oben in seinem Lustgemach, bequem gemacht hatte: »Da gehen sie, diese merkwürdigen Herrschaften Tobler, mitsamt dem sauren Engel aus der Parkettfabrik, auf vergnügliche Sängerfahrten, und die kleine Silvi lassen sie zu Hause wie ein widerwärtiges Häuflein Unrat. Diese Silvi ist nur so ein kleines Hudelchen, für das das schöne Sonntagswetter zu schade ist. Die schöne Frau Tobler mag das Mädchen nicht ausstehen, es ist ihr zu wenig schön, da muß es eben zu Hause sitzen. Und dieser Herr Unternehmer! Vor drei Tagen noch haben ihn die Wut und das Gefühl der Enttäuschung von links nach rechts und im Kreis herum geschüttelt, daß es ein Jammer gewesen ist, und heute sagt er zu mir, er wünsche mir viel Vergnügen, und ich solle in die Stadt zu Bekannten und Freunden fahren. Er fürchtet, ich würde mit Pauline, seiner Dienstmagd, anbandeln, das ist alles.« Er gestand sich, daß er zu bitter sei und zwang sich zur Lektüre des Buches. Da ihm aber dies nicht gelingen wollte, legte er das Buch beiseite, trat an den Tisch heran, nahm seine private Feder zur Hand und einen Streifen Papier und schrieb folgendes darauf: Memoiren. Ich habe soeben gehässige Gedanken hegen wollen, aber ich verbiete mir das. Dann habe ich lesen wollen, aber ich bin dazu nicht imstande gewesen, der Inhalt des Buches hat mich nicht ergriffen, da habe ich das Buch weggelegt, denn es ist mir unmöglich zu lesen, ohne begeistert von der Lektüre zu sein. So sitze ich nun an diesem Tisch und beschäftige mich mit der eigenen Person, da ich niemanden auf der Welt besitze, der begehrt, von mir irgendwelche Nachrichten zu erhalten. Wie lange habe ich nun schon keinen warmen Brief geschrieben? Jener Brief an die Frau Weiß gibt mir deutlich zu verstehen, wie es mich aus dem Kreis nahestehender und teilnehmender Menschen herausgeschüttelt und -gerüttelt hat, wie sehr mir Menschen fehlen, die aus natürlichen Gründen ein billiges Recht haben, von mir Auskunft über mein Wesen und Treiben zu fordern. Jener Brief ist mit einem ersonnenen und erdichteten Gefühl geschrieben worden, er ist wahr, aber er ist zugleich eine Erfindung gewesen, herauserfunden aus einem Geist, der erschreckt ist, darüber, daß ihm einfachere und näherliegende Beziehungen vollständig mangeln. Bin ich ruhig jetzt? Ja. Und ich sage zu der mittäglichen Stille, was ich jetzt sage. Rund um mich herrscht sonntägliche Ruhe, schade, daß ich das nicht irgend einem Menschen von Gewicht mitteilen kann, denn das wäre ein ganz hübscher Briefanfang. Doch jetzt will ich mein Wesen ein bißchen beschreiben. Joseph hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort zu schreiben: Ich komme aus gutem Hause, aber ich glaube, ich habe eine etwas zu flüchtige Erziehung genossen. Ich will mit diesen Worten keineswegs meinen Vater oder meine Mutter anklagen, behüte Gott im Himmel, sondern ich will nur versuchen, ob ich mir klar darüber werden kann, was mit meiner Person eigentlich los ist und mit dem Umkreis von Welt, der die Mühe gehabt hat, mich zu ertragen. Die Verhältnisse, in denen ein Kind aufwächst, erziehen dasselbe großenteils. Die ganze Gegend und Gemeinde helfen mit, es zu erziehen. Das elterliche Wort und die Schule sind freilich die Hauptsache, aber was ist das für eine Art und Weise, mich hier mit meiner eigenen, werten Person zu befassen, ich gehe lieber baden. Der zum Tagebuchschreiben so wenig taugliche Gehülfe legte die Feder beiseite, zerriß das Geschriebene und verließ das Zimmer. Nach dem Bad gab es ein Mittagessen mit Pauline und Silvi. Die ziemlich roh fühlende Magd suchte unter beständigem Gelächter, das bei Joseph bezüglich ihres Betragens Zustimmung voraussetzte, dem Kind Manieren beizubringen, während sie doch selber kaum solche besaß. Das eitle und herzlose Bemühen gipfelte in dem mehrere Male wiederholten Vormachen und Einexerzieren der Führung von Messer und Gabel, wobei irgendwelcher Erfolg des Unterrichtes gar nicht erwartet, ja nicht einmal gewünscht wurde, da ja sonst das Vergnügen des barschen und belustigenden Einstudierens vorbei gewesen wäre. Das Kind saß da und schaute mit großen, tatsächlich dummen Augen bald seine Lehrmeisterin, bald den gleichmütig zuschauenden Joseph an und verschüttete in ziemlich garstiger Weise ihr Essen, worüber sich Pauline in einem erneuten und übertriebenen Entrüstungswortesturm berauschte, der für Silvi ernst, aber für Joseph komisch wirken sollte, gleichsam, um zwei entgegengesetzte Welt- und Lebensanschauungen mit einem Streich zu befriedigen. Silvi benahm sich so läppisch, daß es die Dienstmagd, der seitens der Mutter des Kindes beinahe unbeschränkte Herrschaft über das kleine Wesen zuerteilt worden war, für passend fand oder für nötig erachtete, den Tunichtgut ohne Umstände zu ohrfeigen und an den Haaren zu schütteln, so daß Silvi laut aufschrie, nicht vielleicht so sehr des körperlichen Schmerzes wegen, der übrigens gar so geringfügig auch nicht war, als wegen eines letzten Stümpchen Stolzes, verletzten, erniedrigten Kinderstolzes, sich derart von einer fremden Person, wie die Pauline eine war, malträtieren lassen zu müssen. Joseph schwieg dazu. Angesichts des kindlichen Zornes und Schmerzes spielte die Magd handkehrum die ernstlich Gekränkte und Beleidigte; das kam daher, weil Joseph gar nicht lachen wollte, was sie ganz unbegreiflich fand, und auch daher, weil Silvi nicht ruhig sich hatte schlagen lassen, was sie in ihrer Gedankenlosigkeit und Roheit als selbstverständlich vorausgesetzt hatte. »Ich will dich schreien lehren, du Unflat,« rief sie, oder krächzte sie vielmehr, und nahm das Kind, das von seinem Platz weggelaufen war, und stellte es wieder auf seinen Stuhl, wobei das Geschöpfchen hart an die Rücklehne desselben anprallte. Silvi mußte Gabel und Messer von neuem, und zwar ordentlich, wie ihr die Lehrerin und Erzieherin durch einen strengen und spitzen Zuruf befahl, in das Händchen nehmen, um die wehmütige und appetitlose Mahlzeit gezwungenermaßen zu beenden. Sie sah infolge der verweinten Augen für Pauline noch viel dümmer und ungerader als vorher aus, und da lachte denn das Muster aller Erziehungsmethoden der Welt laut auf. Der Anblick der traurig essenden Silvi mußte auf ihre Lachmuskeln geradezu erschütternd wirken. Der Humor war also wieder da. Ein schamloses Mundwerk ist nie zu verachten, und so frug denn mit breiter Stirn, auf der sich bäuerlich-beschränktes Erstaunen deutlich abmalte, Pauline den still dasitzenden Joseph, ob er etwa böse sei, oder was er sonst habe, daß er gar kein Wort rede? Die Dreistigkeit und Stiernackigkeit dieser mutwilligen Frage machten, zu einem unerträglichen Eindruck vereint, denselben heftig erröten. Er hätte seine Tischnachbarin tätlich angreifen müssen, wenn er es hätte unternehmen wollen, sie von dem Gefühl, das ihn beherrschte, zu überzeugen. So murmelte er nur etwas und stand vom Tisch auf, welches Benehmen die Magd in dem Instinkt bestärkte, der ihr weis machte, Joseph sei in allem ein sehr wenig verträglicher und vertraulicher Mensch, der es sicherlich darauf müsse abgesehen haben, sie zu kränken und unwirsch zu machen. Diese neue boshafte Empfindung bekam Silvi sogleich zu kosten, indem ihr befohlen wurde, den Tisch abzuräumen, eine Arbeit, der sich Pauline eigentlich selber zu unterziehen gehabt hätte. Das Kind, eifrig bemüht, dem Befehl der Tyrannin und Unterdrückerin nachzukommen, stellte sich jeweilen, wenn es etwas vom Tisch herunter zu nehmen hatte, auf die Zehen der kleinen Füße, erfaßte mit beiden Händen je eine Schüssel, einen Teller oder ein paar Bestecke und trug so Stück für Stück demütig und sorgsam, und den Küchenwüterich stets anschauend, an den Platz hinaus, wo die Sachen gereinigt werden mußten. Es tat dies so, als trüge es in den Ärmchen und Händchen jedesmal eine kleine, dornige, feuchte Krone, die von den eigenen Augen schimmernd naß geweinte Krone des frühen und unabänderlichen Kinderleides. Joseph ging in den Wald hinauf. Der Weg dahin war sehr hübsch und sehr still. Natürlich war er, während er so ging, von Gedanken an die kleine, verhutzelte und verschuggte Silvi in Anspruch genommen. Pauline kam ihm wie ein gefräßiger Raubvogel vor und Silvi wie die Maus, die sich unter den Krallen des grausamen Tieres befand. Wie konnte Frau Tobler ihr zartes Töchterchen diesem Drachen von Dienstmagd ausliefern? Aber war denn Silvi so zart und die Magd so sehr ein Drache? Vielleicht war alles das gar nicht so schlimm. Man würde da leicht zu Übertreibungen neigen, wollte man von der einen Seite sofort das Teuflischste, was es in der Welt gab, annehmen, und vom andern Teil das Lieblichste und Beste. Der »Unflat« Silvi war ja schon ein wenig ein solcher, aber Pauline war Pauline. Joseph erschien es undenkbar, im stillen etwas Günstiges von Pauline aussagen zu dürfen, als höchstens etwa, daß ihr Vater ein ehrlicher Bahnwärter und Landmann sei. Aber was hatte das Bahnwärterhaus mit dem brutalen Vergnügen an der Kindermißhandlung zu tun? Möglich war es ja, daß der Vater der Pauline ein halber, wütender Stier sein konnte, was wußte man denn Genaues! Aber diese feine, beinahe aristokratische Toblerdame, diese Mutter, diese aus echt bürgerlichen Kreisen herstammende Frau, die das zarte Empfinden mit der Muttermilch einsog, diese Kluge, in mancher Hinsicht sogar Schöne, was war es mit der? Was hatte die für Ursache, das Kind zu verstoßen und zu verschuggen? Joseph freute sich an diesem kuriosen Wort: »verschuggen«, er fand es für die Eigentümlichkeit, die es benannte, so kennzeichnend. »Verstoßen«, das erinnerte ein wenig an die Märchenbücher, aber »verschuggen« konnte man heute noch so gut arme, kleine, wehrlose Kinder wie vor aberhunderten von Jahren. Solches gelang ja sogar in einer Villa Tobler, dem Ort, wo zwei Feen sich so gern aufhielten, nach Toblers eigener Redensart, der Anstand (es muß anständig zugehen bei mir) und die Säuberlichkeit (potz tausend, mehr Ordnung, haben Sie gehört). Konnten zwei so reizende Feen etwas so Unsauberes und in der Tat Unanständiges, wie es die fortwährende Demütigung eines kindlichen Gemütes war, in ihrem Beisein dulden, war das möglich? Wie es schien, ja! Es war eben allerlei möglich, in dieser Welt, wenn man sich die Mühe und Liebe nahm, auf einem Wiesenspaziergang ein bißchen darüber nachzudenken. Joseph begegnete fast gar keinen Leuten. Ein paar Bauern standen am Weg. Zu beiden Seiten desselben streckten sich üppige Wiesen aus, von hunderten von Fruchtbäumen besetzt. Es war alles so eng und zugleich so weit und so grün. Bald langte er im Wald an, er entdeckte nach kurzer Zeit des Umherlaufens eine kleine, enge, von einem Wasser durchzogene Waldschlucht und machte es sich im Moos bequem, indem er sich einfach auf den weichen Boden hinfallen ließ. Der Bach murmelte so artig, durch die Blätter der hohen Buchen blitzte die Sonne, so bekannt, so wohlig, und das saftige Grün umwob die Schlucht wie mit feinen, süßen Schleiern. Hier wäre für eine romantische Geschichte ein schöner, passender Schauplatz gewesen. Von irgend woher aus den umliegenden Hochebenen ertönten Schüsse, da war wohl in ziemlicher Nähe ein Schießstand. Wie still sonst! Kein Lüftchen konnte in diese grüne, verborgene Welt hineindringen. Die Bäume hätten vorher umfallen müssen, aber es waren hohe und alte, die hielten einem Unwetter, ja zehn Unwettern stand, und heute sah es da oberhalb der Schlucht nicht nach Winden und Wettern aus. Irgend ein Ritterfräulein in Samtrock und ledernen Handschuhen, das weiße Roß an der Leine führend, das reiche, goldene Haar ungebunden tragend, hätte jetzt daherkommen können, Joseph würde sich nicht allzusehr über den Auftritt gewundert haben. So sah es hier aus, ganz nach ritterlichen und frauenhaften Begebenheiten. Aber was konnte viel Schönes und Ritterliches in der Nähe der Villa Tobler vorkommen? Etwa gar die Pauline, oder Tobler selber als abenteuerlustiger und ebenso gekleideter Unternehmer? Unternehmungen, ja, die gab es in Hülle und Fülle, kein Zweifel, aber was für welche? Was hatten technische Unternehmungen mit grünen Waldschluchten, weißen Rössern, edlen, lieben Frauengestalten und mit mutigen Taten zu tun? Ritten in früheren Jahrhunderten die Ritter und Unternehmer auch auf der »Reklame-Uhr« und auf dem »Schützenautomaten«, oder auf ähnlichen Gäulen herum? Gab es damals auch schon »verschuggte« Kinder, Ecepecen Silvi? O ja, aber eben, man nannte sie »Verstoßene«, und heute nannte sie da so einer, der zwischen dem herrlichsten Grün im Moose lag, »Verschuggte«. Er lachte. O es war so schön hier. Im Wald ist die Stille eine doppelte. Ein weiter Ring von Bäumen und Gesträuchen bildet die erste Stille, und die zweite, noch schönere, ist der eigene erwählte Platz. So wie der Bach murmelte, glaubte man sich schon in lange, kühle Träumereien verstrickt, und so wie man ins Grün hinaufschaute, befand man sich mitten in silbernen und goldenen und guten Weltanschauungen. Die selber erdachten, einem fernen und nahen Bekanntenkreis entnommenen Personen flüsterten leise, sie sagten etwas, oder sie machten bloß Mienen, während die Augen eine tief innerliche Sprache für sich redeten. Die Gefühle traten nackt und mutig auf, und das Feinstempfundene traf ein verborgenes, sehnsuchtsvolles Verständnis an. Die Lippen und Gedanken, ohne der Zeiträume und Lebensstraßen zu bedürfen, küßten sich, wenn sie sich erkannt hatten; auf den Lippen sah man die Freude hochaufbrennen, und aus den Gedanken heraus sang eine zu Bach, Busch und Waldstille passende, freundliche Wehmut. Man brauchte nur zu denken, es werde bald Abend werden, und so schienen auch schon alle bekannten und unbekannten Landschaften im Abendlicht zu schwimmen. Der Wald über dem Kopf des Träumers hob und senkte und wiegte sich leise und tanzte in dem hinaufgerichteten Auge, und für das Auge war das Mittanzen keine Frage. Wie schön ist es hier, sagte Joseph mehrmals still für sich. Plötzlich hatte er eine lebhafte Erinnerung aus dem Kindheitleben. Damals, in der Jugendzeit, gab es auch so eine Art Schlucht, aber eigentlich war es mehr eine Sandsteingrube, aber eine so seltsame und zierliche, wie er später nie wieder eine gesehen hatte. Diese rundliche Grube befand sich am Rand eines ausgedehnten Buchen- und Tannen- und Eichenwaldes, er und seine Geschwister entdeckten sie eines Tages auf einem hin und herstreifenden Nachmittagsspaziergang. Es war auch an einem Sommersonntag, vielleicht war es auch schon ein wenig gegen den Herbst zu. Die Kinder waren vorausgesprungen, Spiele erfindend und betreibend, hinterher kamen die Eltern. Die neuaufgefundene Grube erwies sich als der herrlichste Spielplatz, man beschloß, dazubleiben und die Eltern hier zu erwarten. Diese kamen an, und auch sie fanden den Ort reizend, es gibt Naturpunkte, die einfach berücken, so dieser. Die Ränder der Grube waren von einem wahren, kaum durchdringbaren Baumdickicht bewachsen, so daß es eigentlich nur neugierigen Kindern aufbewahrt bleiben konnte, den Ort ausfindig zu machen. Freilich befand sich an einer Stelle eine breitere Öffnung zum bequemen Durchschreiten. Mutter setzte sich auf ein Rasenbord und lehnte sich mit dem Rücken an eine Tanne an. Es gab da mitten in der Grube eine kleine Erhöhung natürlichen Ursprunges, die, da sie so hübsch mit jungen Bäumen besetzt war, von selbst zum Sitzen und Liegen einlud. Wem hätte das nicht gefallen müssen? Der Ort, wie er dalag, schien von einer sinnigen Naturschwärmerhand geschaffen worden zu sein, aber nein, die Natur selber, so unbekümmert sie sonst ist, war hier gleichsam so zartfühlend gewesen, indem sie die Traulichkeit und Geschlossenheit selber erschuf. Rund um die kleine Erhöhung streckte und rundete sich eine Spielbahn, eine Waldwiese, bewachsen von den wunderlichsten Gräsern, Kräutern und wilden Blumen, die einen berauschenden, romantischen Duft verbreiteten. Von der übrigen Welt sah man nichts als ein Stück Himmel, das die hohen Bäume am Rand der Grube gesetzmäßig den Blicken abschnitten. Das Ganze glich einem Plätzchen in einem weitläufigen, herrschaftlichen Garten, nicht einer zufälligen Waldstelle. Die Eltern schauten schweigsam dem Treiben der Kinder zu, die sich, eines das andere, die steilansteigende Sandwelle der Grube hinauf und hinabjagten, wobei gelacht und geschrieen wurde. Diese frühen Stimmen. Wie man nur so wild sein konnte. Die Kinder waren alle darüber erfreut, daß es der Mutter hier gefiel, daß sie ruhig sitzen bleiben durfte, umweht von den Annehmlichkeiten eines so hübschen Ruheplatzes. Sie kannten die Wünsche und Bedürfnisse des Muttergemütes. Bald schien denn auch der ganze Ort erfüllt zu sein von diesem freundlichen, gedankenvollen Gefallen und von dem kindlichen Meinen, Glauben und Hoffen, das Richtige getroffen zu haben. Ein sonderbarer Gemütszauber machte die lebhaften Spiele noch um ein Bedeutendes beliebter und stürmischer. Man durfte sich jetzt, da die Mutter zufrieden zu sein schien, schon ein wenig Ausgelassenheit über das gewöhnliche Maß erlauben. Wie es in fast jedem bürgerlichen Familienhaus irgend eine bedrückende Misere gibt: hier war sie vollständig neben die Seite gestellt worden, ja, die Welt schien man vergessen zu haben. Die Kinder schauten von Zeit zu Zeit auf die Mutter, ob sie böse war oder nicht, nein, sie schaute gütig und im übrigen gemessen gradaus. Das war ein gutes Zeichen, und der kleine Grashügel selbst schien von da an Empfindung bekommen zu haben. »Sie ist gut aufgelegt,« flüsterten den Kindern die Blätter der rauschenden Bäume zu. Wenn die Mutter lächeln konnte, was eine so große Seltenheit war, dann lächelte ihnen die ganze umliegende Welt zu. Mutter war schon damals krank, sie litt an übergroßer Empfindlichkeit. Wie süß kam nun den Kindern das ruhige Daliegen der Frau vor, an der das Unglück herumnagte. Das Unglück schien von diesem traulichen Winkel verbannt zu sein, und so lispelte und flüsterte denn eine Freude in jedem Grashalm der kleinen, weltentrückten Waldwiese und ein freundlicher Glauben in jeder Tannennadel. Im Schoß der Mutter lagen ein paar Feldblumen, und der Sonnenschirm lag neben ihr, den Händen war irgend ein Buch entglitten. Das Gesicht, das die Kinder fürchteten, sah so friedlich aus. Da durfte man schon toben und schreien und Übermütigkeiten einfädeln. Jeder Zug des Gesichtes sagte: »Ja tobt nur, es geht jetzt. Tobt euch nur aus, es macht nichts.« Und der ganze liebliche Ort schien sich gesellig und stürmisch mit im Kreise des Spieles zu drehen. -- »Das war eine Grube gewesen, und hier ist nur eine Waldschlucht, und das Haus Tobler ist in der Nähe, und es ist eine unverzeihliche Sünde, zu träumen, wenn der Mensch das dreiundzwanzigste Jahr überschritten hat.« Joseph machte sich auf den Heimweg. * * * * * Das Haus Tobler, wie steht es da, fest und zugleich zierlich, als werde es von lauter Anmut und Lebensgenügsamkeit bewohnt! Solch ein Haus ist nicht leicht umzuwerfen; fleißige, geschickte Hände haben es dauerhaft zusammengefügt, mit Mörtel, Balken und Ziegelsteinen. Ein Seewind weht es nicht um, selbst ein Orkan nicht einmal. Was können ein paar geschäftliche Verfehlungen solch einem Haus schaden? Nun besteht ja allerdings ein Haus aus zwei Seiten, aus einer sichtbaren und einer unsichtbaren, aus einem äußeren Gefüge und aus einem inneren Halt, und der innere Bau ist vielleicht ebenso wichtig, ja, manchmal vielleicht noch wichtiger zum Tragen und Stützen des Ganzen, wie der äußere. Was nützt es, wenn ein Haus schmuck und gefällig steht, wenn die Menschen, die es bewohnen, es nicht zu stützen und zu ertragen vermögen? Da sind allerdings die geschäftlichen und ökonomischen Fehler von großer Bedeutung. Item, das Haus Tobler besteht noch, trotzdem Herr Johannes Fischer seine geldspendende Hand jählings zurückgezogen hat. Gibt es nur einen einzigen darlehnfähigen Menschen auf der Welt? Wenn so, dann mußte ja Tobler den Mut wirklich verlieren. Wie kommt er aber dann gerade jetzt dazu, sich im Garten eine Grotte bauen zu lassen? Es scheint halt doch, der Mann hat noch nicht das mindeste verloren, sonst dächte er wohl kaum an solche Bauereien. Unten auf der Landstraße stehen öfters Menschen still, biegen den Kopf zur Höhe und schauen sich die Villa gemächlich an, und man gewinnt, wenn man von oben herabschaut, den Eindruck, daß diese zufälligen Beobachter über den Anblick erfreut sind. Wer sollte auch nicht erfreut sein beim Anschauen eines so reizend gelegenen Hauses? Schon allein der kupferne Turm ist ja allen Interesses wert. Der Turm hat ja auch genug Geld gekostet. Auf die Idee, daß die diesbezügliche Rechnung oben im Bureau im Fach der unbezahlten Rechnungen liegt, wird nicht so leicht jemand, der in den Anblick des Hauses versunken ist, verfallen, dazu machen Haus und Garten einen viel zu wohlhabenden Eindruck. Der Verwalter der Bank von Bärenswil ist ja gewiß schon ein wenig nachdenklich geworden, darüber, daß es im Hause Tobler Sitte sei, die zur Zahlung präsentierten Wechsel unter dem Gesuch, dieselben prolongieren zu lassen, zurückzuweisen. Aber er hütet sich, die Gedanken des Mißtrauens und der Besorgnis, die er leise zu hegen angefangen hat, laut zu äußern. Es kann alles nur eine vorübergehende Krisis sein, und ein Bankverwalter ist in der Regel kein Waschweib, sondern ein mit sich selbst strenger Mann, der weiß, was vorlaute Bemerkungen einem strebenden und mit der Existenz ringenden Geschäftsmann für Unheil anrichten können. Man ist ein wenig stutzig geworden, runzelt in seinem Direktionszimmer leicht die Stirn, macht mit der Hand eine kleine Geste, aber man schweigt, denn man dient dem Handel und dem industriellen Verkehr der aufblühenden Ortschaft, und Herr Tobler rechnet auch dazu, obschon es, wie es scheint, in letzter Zeit da oben auf dem Hügel zum Abendstern ein bißchen bergab geht. Die Banken und Sparkassen haben gewöhnlich einen feinen, zugekniffenen Mund, und solche Lippen reden erst dann, wenn die Gewißheit der endgültigen Zahlungsunfähigkeit buchstäblich vorhanden ist. Da kann Tobler also noch ins Fäustchen lachen und froh sein. Das Geheimnis seiner schwierigen Lage ruht in der Sparbank von Bärenswil wie in einem wohlverschlossenen Grabe. Wer noch Lust hat, mit Frau und Kindern rauschende Sänger- oder Turnerfestlichkeiten mitzumachen, der wird wohl noch im geheimen irgend eine Kreditquelle liegen und fließen haben, die er eben nur deshalb noch nicht auftut, weil er diese letzte aller Hülfsbewegungen bis jetzt noch nicht nötig gehabt hat. Wer eine solche stattliche Frau hat, die, wenn sie durchs Dorf geht, von allen Seiten fröhlich gegrüßt wird, mit dem wird es sicher noch nicht so schlimm stehen. Und es stand ja auch gar nicht so schlimm. Geld konnte über Nacht in das technische Bureau hinabregnen, inseriert war worden, man brauchte vorläufig nur Geduld zu haben, die Erfolge mußten sich ja einstellen. Welcher reiche und unternehmende Mann konnte einer Annonce widerstehen, die mit den Worten begann: »Glänzendes Unternehmen«? Und wenn einer einmal so weit gekommen war und angebissen hatte, würde man ihn schon zu halten verstehen. Man würde es nicht so machen wie mit dem Herrn Fischer, der ja übrigens, wenn man sich die Sache recht überlegte, vielleicht gar nicht gesonnen gewesen war, Ernst zu machen, und der daher eigentlich auch gar nicht verdient habe, daß man ihn so ernst nahm. War die Reklame-Uhr etwa plötzlich ins Wasser gefallen? I woher. Im Gegenteil, heller und schimmernder als je prangten die eleganten Flügel ihrer Reklamefelder, und der Schützenautomat? War man nicht mit der Herstellung eines ersten Exemplares desselben schon seit Wochen beschäftigt? Kam nicht der tüchtigste und dienstfertigste aller Mechaniker fast täglich in die Villa, um mit Tobler Karten zu spielen? Andere Leute spielten auch Karten und tranken ihr Glas Wein, und prosperierten trotzdem, warum Tobler nicht? Das war nicht einzusehen. Dazu, um voreilig kleinmütig zu werden, war Herr Tobler nicht nach »diesem Lumpen-Bärenswil« gekommen, das konnte er sich anderswo, wenn es durchaus sein mußte, auch noch leisten, und zur Genüge. Nein, es galt gerade jetzt, diesen Hechten und Heringen ein Beispiel zu geben, rund um die neugierigen, spöttischen Nasen herum, was ein lebendiger und arbeitsfroher Mensch und Mann zu leisten imstande war, selbst noch in dem Augenblick, wo ihm die Bretter des eigenen Wohn- und Geschäftshauses auseinanderzugehen drohten. Und deshalb ließ Tobler, unbekümmert um das, was man sich im Dorf in den Wirtshäusern in die Ohren flüstern würde, den Garten umbauen, um eine Grotte zu errichten, mochte es einen ganzen Heuwagen voll Geld kosten. Diese Bärenswiler mußten nicht triumphieren dürfen, das wäre noch besser gewesen! Denen mußte man mit aller verfügbaren Gewalt die Freude versalzen, die diese Menschen empfinden würden, wenn es so weit käme, daß Tobler wie ein Hampelmann im Kasperletheater »abzotteln« müßte. Nein, so weit war man noch nicht. Und zum Trotz würde Tobler gelegentlich der Einweihung seiner Grotte, sobald sie nur einigermaßen fertig hergestellt wäre, an die angesehensten Bürger des Dorfes, an solche, die es mit ihm etwa noch ein bißchen aufrichtig meinten, Einladungskarten schicken, damit sie sähen, wie fest und wie überlegen er das Leben betrachtete und anpackte. Wer sich für seine Familie, wie Tobler, verantwortlich fühlte, wer Frau und vier Kinder sein eigen nannte, den stieß man noch nicht so rasch von einem einmal erworbenen und bewohnten Platz und Punkt herunter. Da sollten nur ihrer ein paar herankommen, er würde sie davonjagen mit Hieben, geblitzt und gestrahlt aus den bloßen, zornigen Augen. Und wenn sie dann noch nicht genug hätten, die Speck- und Wurstesser, nun, so würde es ihm eben einfallen können, den einen oder den andern von ihnen handlich anzupacken und über den Gartenzaun hinüberzuwerfen, Umstände würde er in einem solchen Fall nicht machen. Aber so weit war es noch lange nicht. Noch hatte die Firma C. Tobler, technisches Bureau, überall uneingeschränkten Kredit bei den Handwerks- und Geschäftsleuten von Bärenswil. Tapezierer und Schreiner, Schlosser und Zimmermann, Fleischer und Weinhändler, Buchbinder und Buchdrucker, Gärtner und Kürschner lieferten ihre Arbeiten und Waren, ohne sofortige Zahlung zu fordern, in vollem Vertrauen auf eine spätere, gelegentliche Regulierung, in die Villa zum Abendstern. Von einem Getuschel und Gezischel in den öffentlichen Lokalen des Dorfes war keine Rede, Tobler schien sich, indem er auf seine Miteinwohner loszog, bloß auf diesen Fall und für diese Lage zum voraus einzuüben, und das auch nur dann, wenn ihn ein Mensch oder eine geschäftliche Sache geärgert hatten. Noch duftet das Haus Tobler von Sauberkeit und Wohlanständigkeit rings in die schöne Umgebung hinein, und wie! Umblitzt von der strahlenden Sonne, erhoben von einem grünen, wundervoll zum See und zur Ebene herablachenden Hügel, umgeben und umarmt von einem wahrhaft herrschaftlichen Garten, steht es da, die reine bescheidene und besonnene Freude. Nicht vergebens wird es von zufällig vorübergehenden Spaziergängern lange angeschaut, denn es ist eine wahrhaftige Zier zum Anschauen. Hell glänzen seine Fensterscheiben und seine weißen Gesimse, bräunlich winkt der schöne Turm, und die Fahne, die man vom Nachtfest her da oben hat stehen lassen, windet sich in heiter-majestätischen Bewegungen, in Zuckungen, Windungen und flammenartigem Geröll um die schlanke, feste Stange. Dieses Haus drückt in seiner Bauart und an seinem Bauplatz zweierlei Gefühle aus, das der Lebendigkeit, und das der Ruhe. Ein ganz klein wenig protzt es allerdings, es ist anders als die tief in den lieben, alten Gärten versteckten Herrenhäuser älteren Ursprungs, aber es ist lieblich, und wer darin wohnt und dabei denken muß, es könne sein, daß er es unehrenhafterweise verlassen müsse, dem darf übel zumut sein, er hat Ursache. Aber solches zu denken, das verbietet sich Herr Tobler. * * * * * Si-vi, Si-vi! Wie schneidend das klingt. Und doch schneidet es nicht einmal recht. Ein grobes, seit Jahren nicht mehr geschliffenes Küchenmesser kann ebenso gut Sivi rufen, wie Pauline, die infolge eines Zungenfehlers das l nicht zu artikulieren vermag. Aber zu befehlen weiß diese Magd ausgezeichnet, wenn es die Silvi betrifft. Betrifft es Dora, dann sinkt die Befehlshaberstimme zu einem Säuseln und Lispeln herab. Zu der Dora sagt die Pauline immer: Do-li, denn jetzt erstreckt sich ihre schwache Zunge auf das r im Namen Dorli, das l spricht sie aus, was verwunderlich genug ist, da sie es bei Si-vi doch stets wegläßt. Aber Si-vi klingt eben spitz, und die Silvi will man verwunden, man will ihr schon mit dem bloßen Zuruf wehtun, zu diesem kleinen Mädchen spricht niemand liebevoll. Die eigene Mutter mag das Kind nicht ausstehen, da geht es wohl mit ganz natürlichen Dingen zu, daß alle ein wenig es verabscheuen. Dora dagegen besteht aus Zucker, wenigstens meint man das eine Zeitlang, denn aus allen Ecken tönt und flötet und bittet es: Dorli, liebes Dorli! heraus, daß man glaubt, es müsse eine schneeweiße Konditorei in unmittelbarer Nähe sein. Dora ist beinahe nicht Fleisch und Bein, sondern es sind Mandeln, Torten und Sahne an ihr, so scheint es wenigstens, so voll ist die Luft um das Mädchen herum von Artigkeiten, Süßigkeiten, Knixen und Liebkosungen. Wenn Dora krank ist, ist sie die Lieblichkeit selber. Sie liegt dann, in Kissen gebettet, auf dem Ruhbett im Wohnzimmer, ein Spielzeug in der Hand und ein Engelslächeln auf den Lippen. Jedermann geht hin und schmeichelt ihr, auch Joseph tut das, er muß es beinahe tun, es zwingt ihn, denn die Kleine ist wirklich schön. Sie ist ganz der Vater, dieselben dunklen Augen, dieselbe Fülle des Gesichts, ein und dieselbe Nase, überhaupt ganz Herr Tobler. Silvi dagegen ist ein nicht recht gelungenes Abbild der Mutter, eine zugleich verkleinerte, aber auch ziemlich mißratene Photographie derselben. Armes Kind! Was kann sie dafür, daß man sie schlecht photographiert hat? Sie ist dünn und doch plump. Sie scheint von Charakter, wenn man bei einem Kind von einem solchen sprechen darf, mißtrauisch, und in der Seele scheint sie falsch und verlogen zu sein. Wie ist dagegen Dorli entzückend aufrichtig im ganzen Wesen. Deshalb hat man sie ja auch im ganzen Haus und in der Nachbarschaft so gern. Man macht ihr Geschenke und man gehorcht ihr. Joseph trägt die Dora im Garten herum, auf den Achseln, sie braucht nur zu sagen: tu's, und so tut er's. Sie bittet so schön. Der Himmel selber scheint ihr auf den Lippen zu liegen, wenn sie bittet. Weiße, kleine Wolken scheinen diesem Kinderhimmel alsdann zu entschweben, und irgendwo, meint man, müsse jemand plötzlich angefangen haben Harfe zu spielen. Sie bittet und befiehlt zugleich. Eine Art unwiderstehlicher Befehl ist immer mit einer tatsächlich schönen Bitte verbunden. Silvi kann nicht bitten, sie ist zu schüchtern, zu verschlagen dazu, sie getraut sich nicht recht, es zu tun, aber um bitten zu können, muß man ein unbändiges, kräftiges Vertrauen zu sich und zu andern haben. Wenn man den schönen Mut zu einer flehentlichen Bitte finden soll, muß eines zum voraus von der Erfüllung derselben fest, ja felsenfest überzeugt sein, aber Silvi ist von niemands Güte überzeugt, da man sie nur zu rasch und zu unvorsichtig an ganz anderes gewöhnt hat. Ein verprügeltes Hudelgeschöpfchen wie Silvi wird leicht von Tag zu Tag unliebenswürdiger und häßlicher zum Anschauen und Ertragen, weil sich ein solch kleiner Mensch nicht nur nicht mehr in Acht und Zucht nimmt, sondern sogar, aus einem geheimen, schmerzlichen Trotz, den nur niemand einem unentwickelten Kind zutraut, bemüht, durch ein immer schlechteres Betragen den Abscheu und den Ekel der Nebenmenschen stets höher zu reizen. Es ist überhaupt mit der Silvi ganz eigentümlich, es ist einem fast unmöglich, sie lieb zu haben, wenn man sie sieht. Die Augen beurteilen sie sogleich schlecht, nur das Herz, wenn man eines hat, sagt hinterher: Arme, kleine Silvi! Von den Knaben ist Walter der Bevorzugte, Edi, der Jüngere, der Vernachlässigte. Aber in gewissen Familien sind Knaben höher im allgemeinen geschätzt als Mädchen, so daß es nicht möglich ist, daß einem weniger geliebten Knaben in einem solchen Maß alle gütige, warme Zuneigung verloren geht, wie es beim »verschuggten« Mädchen der Fall sein kann. Auch in der Familie Tobler ist das so: Walter und Edi sind, zusammengerechnet, ein höherer Wert als das weibliche Doppelgebild Dora und Silvi. Walter und Edi sind ganz verschiedene Naturen, der erste ist ein wilder, zu Streichen aufgelegter, aber offenherziger Bursche, während Edi gern in den Winkeln der Wohnung kauern bleibt, ganz wie Silvi, sein Schwesterchen, und sehr wenig spricht, ebenso wie diese. Edi macht sich auch nie über Silvis Benehmen lustig, es herrscht zwischen den beiden ein unausgesprochenes, aber vielleicht um so natürlicher empfundenes Einverständnis. Ja, sie spielen sogar zusammen. Walter würde nie mit Silvi Ernsthaftes zu tun haben. Er macht sich über sie lustig und mißhandelt sie oft, weil man den Knaben daran gewöhnt hat, nichts dabei zu empfinden. Von Silvi muß noch erwähnt werden, daß sie fast jede Nacht ihr Bettchen vernäßt, trotzdem sie von Pauline regelmäßig aus dem Schlaf geweckt wird, um auf das Nachttöpfchen gesetzt zu werden. Diesem körperlichen Makel hat die Kleine hauptsächlich die strenge Behandlung, welcher man sie aussetzt, zu verdanken, denn man ist allgemein des festen Glaubens, sie sei zu faul zu erwachen und vom Bett aufzustehen. Pauline hat Auftrag von Frau Tobler, das Kind zu hauen, wenn das Bettlaken unsauber sei, und zwar jedesmal, und wenn Ohrfeigen nichts nützen, so solle die Magd nur den Möbelausklopfer nehmen, dann fruchte es vielleicht eher etwas, und Pauline gehorcht der Herrin. So hört man denn oft mitten in der Nacht ein jämmerliches Geschrei aus dem Kinderschlafzimmer dringen, vermischt mit den Scheltworten und laut ausgerufenen Schimpfnamen, die Pauline der Sünderin glaubt anhängen zu müssen. Morgens muß Silvi das Häfchen, das sie während der Nacht benutzt hat, selber nach unten tragen. Es ist dies auch eine Verordnung der Mama, die der Ansicht ist, daß es sich für eine Bettverunreinigerin zieme, dies mit eigenen Händen zu besorgen, die Pauline habe auch sonst noch genug zu tun. Da sitzt dann das Hutzel- und Hudelkind mit dem bewußten Gegenstand, den sie in kurioser Weise neben sich hinstellt, auf einem der Treppenabsätze und scheint, wenn man sie so betrachtet, von allen guten Schutzengeln, die sonst den Ruf haben, sich um arme, schutzlose Kinder zu bekümmern, verlassen zu sein. Wenn sie sich »zum Überfluß« noch widerspenstig zeigt, sperrt man sie in den Keller, und dann ist des Geschreies und Polterns gegen die zugeschlossene Kellertüre kein Ende, so daß sogar Nachbarn, schlichte Arbeiterleute, auf den Jammer, der aus der Villa tönt, aufmerksam werden. Tobler weiß von alledem wenig, er ist ja so selten zu Hause, jetzt geht er überhaupt immer mehr auf Reisen. Er ist von Geschäftssorgen erfüllt und kann sich der Erziehung und Überwachung seiner Kinder in nur ganz geringem Grade widmen. So ein Mann, wie Tobler einer ist, überläßt gern die häuslichen Dinge seiner Frau, denn er selber reist und kämpft in Dingen der Reklame-Uhr und des Schützenautomaten. Der Mann trägt die Verantwortung, da müßte man hoffen dürfen, die Frau trage die Liebe und die Mühe. Der Mann kämpft mit der Existenz, und die Frau sorgt für die Haltung und für das friedliche Benehmen zu Hause. Inwiefern das Frau Tobler tut, wird es sich zeigen? Vielleicht. Wo Kinder sind, da wird es ja immer Ungerechtigkeiten geben. Die Kinder Tobler bilden ein sehr ungleichmäßiges Viereck. An den vier Spitzen des Quadrates stehen Walter, Dora, Silvi und Edi. Walter spreizt seine Beine und zerreißt seinen frechen Mund zu einem gesunden Lachen. Dora saugt am Finger und lächelt und schaut auf die sie bedienende Silvi herab, die der Prinzessin die Schuhe binden muß. Edi schnitzt an einem Holzstück herum, das er irgendwo im Garten aufgelesen hat, ganz in die Arbeit, die das Taschenmesser, dessen er sich bedient, leistet, versunken. Wo ist da Regelmäßigkeit? Wie kann man jedem kleinen Sinn und Herzen gerecht sein? Pauline schaut zum Küchenfenster heraus. Diese Person aus den weiteren Volksschichten hat verwunderlicherweise keinen Sinn für Gerechtigkeit, oder sie versteht sie eben falsch. Nun verschiebt sich das unregelmäßige Viereck, die Kinder zerstreuen sich, jedes in seine Art und Weise hinein, in die Stunden und Tage und in die geheimen Kinderempfindungen, und in den Weltraum rund um das Haus Tobler herum, in die Schmerzen und Freuden hinein, in die Demütigungen und in die kosenden Worte, in die Stube und in den täglichen Kreis, in die Schlafnächte und in den Fortgang der kindlichen Erfahrungen. Vielleicht üben sie sogar einen gewissen richtungbeeinflussenden Druck auf das Steuerruder des Toblerschen Unternehmungenschiffes aus. Wer kann's wissen. -- * * * * * Im Laufe der Woche, die im übrigen ruhig verlief, waren eines Abends zwei Leute, Herr und Frau Doktor Specker, in die Villa zum Abendstern zu Besuch gekommen. Es war recht gemütlich gewesen, wie man sich auszudrücken pflegt. Man holte wieder einmal ein Spiel Karten und »jaßte«. Der »Jaß«, so hieß in der weiten und breiten Landesgegend ein beliebtes, ja sogar national gefärbtes und angehauchtes Kartenspiel. Frau Tobler, die es in diesem Spiel, wie bereits angedeutet worden ist, bis zu einer gewissen Meisterschaft gebracht hatte, unterrichtete Frau Doktor Specker in den zahlreichen Kniffen, die dasselbe enthielt, letztere Dame war darin noch nicht so sehr beschlagen. Es war an diesem Abend viel gelacht und gescherzt worden. Joseph wurde das Amt eines Kellermeisters übertragen, er hatte Wein aus dem Keller zu holen und den Inhalt der Flaschen dann in die Gläser zu gießen, und es zeigte sich bei dieser Gelegenheit, daß er einen gewissen Stolz besaß, der Tobler dumm vorkam, aber als Gegengewicht einigen gesellschaftlichen Takt, so daß sich sein Chef nicht zu genieren brauchte, ihn mit den herrschaftlichen Gästen näher bekannt zu machen. Dies ist mein Angestellter, hatte Tobler laut gesagt, auf welche Worte sich Joseph vor der Dame und dem Herrn aus dem Dorf verneigte. Was waren es denn eigentlich für Leute gewesen? Er war Arzt und dazu ein noch blutjunger Mann, und was sie betraf, so stellte sie gar nichts weiteres vor, als die Bestätigung in Weibesgestalt, die Frau des Arztes zu sein, weiter gar nichts. Sie war die Frau ihres Mannes und führte sich als solche den ganzen Abend still und schüchtern auf. So war Frau Tobler nicht ganz, der sah man denn doch, namentlich wenn man beide Frauen miteinander verglich, etwas Geheimes an, obschon wenig, aber an der Frau Doktor Specker war gar nichts Geheimes. Man aß süßes Gebäck zum Wein, und die Herren rauchten. »Welch ein junger, glücklich aussehender Mensch, dieser Herr Arzt,« dachte Joseph, indem er sich bemühte, so klug und so knifflig wie möglich zu spielen. Man hatte ihn aufgefordert, mitzuhelfen. Der Arzt richtete an den Gehülfen mehrfach Fragen, woher er sei, seit wie lange er in Bärenswil und bei Toblers wohne, und ob es ihm hier oben gefalle usw., und Joseph erstattete Antwort, so ausführlich, als ihm die Zurückhaltung, die Menschen von unstetem Lebenswandel in solchen Fällen immer eigen ist, erlaubte. Inzwischen hatte er ziemlich unklug gespielt, und es wurden ihm nun in der Spielregel von allen vier Seiten des Tisches die glänzendsten Reden gehalten, als würde es gegolten haben, einen verbohrten, schwerfälligen Ketzer zu bekehren. Gesprochen war im übrigen das Alltägliche worden, und das war ja schließlich das »Gemütliche« gewesen. Noch in derselben Woche kam auch ein kleiner Zwischenfall sittlichen und kulturellen Charakters vor, in welchem die Gestalt des Vorgängers Wirsich eine Rolle spielte, dermaßen, daß von diesem aus dem Hause Tobler beförderten Menschen einige Tage lang wieder die ziemlich beständige Rede war. Die Sache war folgende: Gleichzeitig mit Wirsich war vor einigen Wochen auch die Dienstmagd aus der Villa Tobler hinausgejagt worden, die Vorläuferin von Pauline, ein nach den Darstellungen der Frau Tobler robustes und schelmisch, d. h. diebisch veranlagtes junges Weibsbild, das der Herrin, nach deren Behauptungen, denen man wohl glauben durfte, ganze Wäschestücke und anderes gestohlen hatte. Entlassen war sie worden wegen ihres gierigsinnlichen Wesens und Treibens, demzufolge sie mit Wirsich in ziemlich kecke und schamlose, geschlechtliche Beziehungen getreten war, die der Herrschaft nicht verborgen bleiben konnten, da sie zu augenfällig und in der Tat unanständig unterhalten wurden. Außerdem war die betreffende Magdsperson hysterisch veranlagt, und das erschien als eine Gefahr für die Kinder. Sie hatte sich öfters plötzlich im bloßen Hemd auf der Treppe und in der Küche gezeigt, indem sie dann steif und fest und hoch und teuer, und unter Tränen und Krämpfen ihres fetten Leibes, auf die Vorwürfe, die man ihr machte, behauptete, sie habe es nicht mehr ausgehalten in den Kleidern, und müsse sterben, und was des zynischen und läppischen Geschwätzes mehr sein mochte. Da die Herrschaften Tobler genau um die nächtlichen Besuche wußten, die die lüsterne Person dem Wirsich im Turmzimmer abstattete, so fanden sie es kluger- und billigerweise geraten, das Dienstverhältnis zu dem ungesunden und verderblichen Mädchen aufzulösen und ihr den Abschied zu geben. Nun kam dieser Tage ein Brief eben dieser Person, adressiert an Frau Tobler, im Abendstern an, in welchem die ehemalige Magd in einem unangenehm vertraulichen Ton schrieb, es seien über Frau Tobler in der Gegend, wo sie wohne, Gerüchte verstreut worden, dahin deutend, ihre frühere Herrin habe mit dem Untergebenen Herrn Toblers, dem Wirsich, ein Liebesverhältnis unterhalten, woran sie, die Magd, in keinerlei Weise glaube, da sie zum voraus überzeugt sei, daß nur lästerliche und lügenhafte Zungen es seien, die so etwas hätten sagen können. Aber verpflichtet habe sie sich gefühlt, der Frau, bei der sie so lange Zeit gedient hätte, von den abscheulichen Lästerreden Mitteilung zu machen, um sie zu warnen usw. Dieser Brief, der natürlich weder orthographisch richtig noch auch nur vernünftig geschrieben war, versetzte die Empfängerin in die hellste Entrüstung, denn die darin enthaltene Anhänglichkeit eines Dienstboten an die frühere Herrschaft war ebenso sehr erlogen, wie das Vorhandensein eines schlimmen Gerüchtes betreffs das Betragen der Frau Tobler. Diese zeigte den Brief Joseph, es war um die Mittagsstunde, man saß draußen im Gartenhaus, und Herr Tobler war abwesend, und ersuchte ihn, nachdem sie ihn das Schreiben hatte durchlesen lassen, ihr beim Aufsetzen einer energischen Antwort, die sie der frechen Lügnerin schulde, behülflich zu sein. »Warum nicht? gern!« gab Joseph der erregten und ungehaltenen Frau zur Antwort. Da er dies in ziemlich trockenem Ton gesagt hatte, weil ihn der Eifer, mit dem sie sich in diese Wirsichsche Affäre hineinwickelte, beinahe kränkte, so glaubte Frau Tobler, er tue ihr nicht gern den erbetenen Gefallen und sagte, wenn er es nicht gern tue, so könne sie es ja wohl auch noch allein zustande bringen. Zwingen wolle sie ihn durchaus nicht. Es scheine ihm eben kein Vergnügen zu bereiten, ihr zu dienen, und höflich sei sein Benehmen ihr gegenüber heute auch nicht gerade. »Wieso kein Vergnügen?« entgegnete Joseph beinahe zornig, »erteilen Sie mir einen strikten Befehl. Sagen Sie mir, wie Sie den Brief abgefaßt haben wollen, und ich gehe ins Bureau, und in ein paar Minuten ist die Sache erledigt. Es braucht gar kein besonderes Vergnügen dabei zu sein.« Das war ungezogen. Frau Tobler fühlte das und wandte ihm, indem sie ihn mit einem erstaunten Blick maß, den Rücken. Joseph kehrte stillschweigend zu seiner Arbeit zurück. Nach ein paar Minuten erschien auch Frau Tobler, noch ganz ereifert, im Bureau, bat sich von dem Gehülfen eine Feder, sowie einen Briefbogen aus, setzte sich an das Pult ihres Mannes, dachte einen Augenblick nach und fing an zu schreiben. Da dies etwas Ungewohntes für sie war, hielt sie mehrmals während der Übung inne, wobei sie hochaufseufzte und laut über die Schlechtigkeit des niederen Volkes klagte. Endlich war sie fertig geworden, und da konnte sie sich des Bedürfnisses doch nicht erwehren, die vollendete Arbeit dem Korrespondenten zu zeigen, um dessen Meinung zu hören. Der Brief war an die Mutter der heimtückischen Magd gerichtet und lautete: Geachtete Frau! Es ist mir ein Schreiben zugegangen von Eurer Tochter, meiner ehemaligen Dienstmagd, und daß ich es nur gleich sage, ein unverschämtes und nichtswürdiges Schreiben. Es werden darin, unter dem Schein der Treue und Anhänglichkeit an die Herrschaft, Beleidigungen der gröbsten Art gegen eine Frau ausgestoßen, die, weil sie gütig und nachsichtig gewesen ist, nun dafür bestraft wird, daß sie nicht hart und mitleidlos hat sein können. Wißt, geachtete Frau, daß Eure Schande von Tochter mich, währenddem sie hier im Dienst war, bestohlen hat, und daß ich sie dem Gericht überliefern könnte, wenn ich wollte, aber so etwas sucht eine Frau wie ich zu vermeiden. Ich will mich kurz fassen: Sorget, geachtete Frau, dafür, daß dieser Nichtsnutz seinen Schnabel halte. Ich weiß, wer es ist, und wer die Gerüchte sind, die über mich Schlechtigkeiten und Schamlosigkeiten verbreiten. Es ist niemand anderes als dieselbe freche Person, die sich selber bei mir im Haus der Verletzungen guter Sitte und züchtigen Lebenswandels schuldig gemacht hat, und zwar, wie ich beweisen kann, mit demselben Menschen, mit dem die lügnerische Schwätzerin nun mich, ihre Herrin von ehemals, in eine schmutzige Verbindung setzen will. Der empfangene Brief hat mich in die höchste Aufregung versetzt, daß Ihr es wisset, Frau! Und nun habt acht auf die Böswillige, ich rate es Euch im freundlichen und schwesterlichen Sinne hiermit an, weil Ihr, wie ich gern annehme, achtenswert seid und nichts dafür könnt, daß Euer ausgeschämtes Mädchen ein »Räf« ist. Andernfalls würde ich mich zu keinen so langen und gutmütigen Worten mehr, wohl aber, wie Ihr Euch vorstellen könnt, zu strafrechtlichen Maßregeln veranlaßt sehen. Die Hochachtung, die die Welt einer Dame bezeigt, kann dieselbe, wenn es nötig ist, nicht hindern, vor die Schranken der öffentlichen Gerechtigkeit zu treten, um eine Verleumderin ihrer Ehre bestraft zu sehen. Somit achtungsvoll, Eure Euch grüßende Frau Carl Tobler. Joseph sagte, nachdem er diesen Brief durchgeflogen hatte, er finde denselben gut, nur scheine er ihm etwas zu hochtrabend. Solch ein Stil, wie Frau Tobler ihn da angewendet habe, passe eher ins Mittelalter als in die gegenwärtige Welt, die daran sei, die bestehenden gesellschaftlichen Rang- und Geburtsunterschiede allmählich, wenn auch nur nach außen, zu verwischen und aufzulösen. So schroff dürfe schließlich eine bürgerlich geborene Frau einer andern bürgerlich Geborenen nicht schreiben, das könne nur böses Blut erregen und den Wunsch und Zweck des ganzen Schreibens verfehlen. Die Wohlhabenheit tue im übrigen gut, sich gegenüber der Armut nicht allzuhoch aufzurichten, sondern es dünke ihn nichts wie recht und billig, zu der Mutter der Magd ganz einfach »Sie«, und »Sehr geehrte Frau« zu sagen, damit ein etwas herzlicherer und zugleich höflicherer Ton da sei, was sicher nicht schaden könne, wie er glaube. Frau Tobler sei eben nicht ans Briefeschreiben gewöhnt, wie er sehe. Dies erhelle sich schon aus dem Vorhandensein der zahlreichen Schreibfehler, die er während des Lesens bemerkt habe, und wenn sie gestatte, so wolle er sich gern dahintersetzen und den niedlichen Aufsatz korrigieren. Er lachte und bemerkte des weitern, er würde auch die Behauptung, daß das Mädchen eine Diebin sei, aus dem Schreiben entfernen, obschon er seinerseits keinen Moment an der Wahrhaftigkeit dessen, was Frau Tobler sage, zweifle, aber es könnten, sagte er, dumme Geschichten daraus entstehen, die mehr Verdruß als Genugtuung einbrächten. Ob sie Beweise habe? Frau Tobler wurde ein wenig nachdenklich, dann sagte sie, sie wolle einen zweiten Brief schreiben. Ihre Erregung habe jetzt ein wenig nachgelassen, und so hoffe sie, werde sie ruhiger und milder schreiben können. Aber der ganze Brief müsse doch in einem energischen Ton abgefaßt sein, sonst habe er ja gar keinen Sinn. Sonst schreibe sie lieber schon gar nicht. Während sie schrieb, wurde sie, ohne daß sie es merkte, von Joseph beobachtet, der ihren Rücken und Hals betrachtete. Das schöne, frauliche Haar betupfte und berührte in kleinen, geringelten Löckchen den schlanken Hals. Wie schlank überhaupt diese ganze Frauenerscheinung war. Da saß sie nun und bemühte sich, dem Sinn und Verstand gemäß, und der Schreiblehre und richtigen Methode entsprechend, an eine Frau zu schreiben, die vielleicht kaum lesen konnte. Joseph bedauerte jetzt unwillkürlich, indem er sie so anschaute, ihr bezüglich ihres gutbürgerlichen Hochmutes, den er im Grunde genommen reizend fand, Vorhaltungen gemacht zu haben. Ihn rührte etwas am Aussehen dieses Frauenrückens, dessen Bekleidung sich in kleine, liebliche Falten verzog, wenn der darunter befindliche Leib sich ein bißchen bewegte. War diese Frau schön? Im landläufigen Begriff sicher nicht, im Gegenteil. Aber auch das Gegenteil entsprach nicht den landläufigen Begriffen. Joseph würde noch ruhig weitere Betrachtungen angestellt haben, wenn sich die schreibende Frau nicht umgedreht hätte. Beider Augen begegneten sich. Diejenigen des Gehülfen wichen denjenigen der Frau aus, das schickte sich beinahe so. Joseph empfand und mußte empfinden, daß es fast frech gewesen wäre, den Blicken der Frau stand zu halten, die wieder einmal voll jenes Erstaunens waren, das so vortrefflich den Hochmut widerspiegelte, der der Frau, man konnte es nicht leugnen, sehr gut zu Gesicht stand. Wozu waren denn überhaupt Gehülfenaugen gut, als zum Ausweichen und Niederschlagen, und welcher andere Ausdruck war diesem andern Augenpaar natürlicher als der Ausdruck des Erstaunt- und Verwundertseins? Er bückte sich demzufolge wieder auf seine Arbeit herab, obschon es ihm um das Arbeiten jetzt gar nicht so besonders zu tun war. Eine halbe Stunde später gab es im Gartenhaus beim Kaffeetrinken einen etwas unfeinen Auftritt. Frau Tobler, die nun wieder gänzlich beruhigt schien, fing plötzlich an, lebhaft den Wirsich zu rühmen, wie dieser leider lasterhafte Mensch in allem Sonstigen so brauchbar, geschickt und anstellig gewesen, wie er sich in jeden kleinen Dienst und in jede Aufgabe sogleich, ohne viel Wesens zu machen, hineingefunden habe und dergleichen mehr, wobei sie Joseph mehrmals spöttisch, wie er es empfinden mußte, anschaute, was ihn beleidigte. Er rief deshalb aus: »Dieser ewige Wirsich. Man möchte bald meinen, er sei ein einzig dastehendes Genie gewesen. Warum befindet er sich denn eigentlich nicht mehr hier, da man doch beständig von seinen geradezu himmlischen Eigenschaften redet? Weil er betrunken gewesen ist? Und glaubt man denn, man habe ein Recht, alles und jedes Gute von der Person eines Angestellten zu verlangen, und einen Menschen wegzujagen, in die offene, schwierige Welt hinaus, nur weil eine seiner Eigenschaften, eine einzige, die übrigen ausgezeichneten verdunkelt hat? Das ist wahrhaftig ein bißchen zu viel verlangt. Da haben wir Treue und Klugheit, Wissen und Dienstfertigkeit, Unterhaltungsgabe und Gehorsamkeit, und alle diese Eigenschaften, und noch einige feine andere dazu, stecken wir in unsere Dienste, nehmen wir gleichmütig und fröhlich hin, weil sich das so schickt, und weil wir ja dem Inhaber eines solchen Sackes voll Auszeichnungen für die Hingabe derselben Gehalt, Kost und Logis geben. Und nun bemerken wir eines Tages den dunklen Fleck am schönen Körper, und weg ist die ganze, bequemliche Zufriedenheit, und wir lassen den Mann sein Bündelchen schnüren und fortziehen, wohin er will, aber wir reden nachher noch einen halben oder ganzen Meter und ein ganzes Jahr lang und breit von ihm und seinen 'guten Eigenschaften'. Man muß zugeben, daß das kein so gar besonders korrektes Verhalten ist, insbesondere dann nicht, wenn man alle diese köstlichen und königlichen Dinge dem Nachfolger, wahrscheinlich, um ihn zu treffen, auf die Nase bindet, wie Sie, gnädige Frau Tobler, mir, dem Nachfolger Ihres Wirsich.« -- Er lachte laut auf, und zwar absichtlich, um den aufrührerischen Eindruck seiner etwas langen Rede zu besänftigen und zu zerstreuen. Er hatte ein bißchen Angst, jetzt, da er wieder zu sich gekommen war, und um dem empfindlichen Ton seiner Sprache einen lustigen Anstrich zu geben, lachte er, aber es war ein gezwungenes Entschuldigungslachen. Joseph habe nicht nötig, sagte Frau Tobler nach einigem Stillschweigen, so zu ihr zu reden, einen solchen Ton verbitte sie sich, und sie sei erstaunt, ihn ein solches Betragen annehmen zu sehen. Wenn er so stolz und empfindlich sei, daß er seinen Vorgänger nicht rühmen hören könne, so sei es für ihn besser, sich eine Einsiedlerhütte oben im Wald zu bauen und da zu hausen, wo nur Wildkatzen und Füchse leben, unter die Menschen müsse er dann lieber nicht gehen wollen. In der Welt dürfe einer nicht alles auf eine so scharfe Wage nehmen. Sie werde im übrigen nicht umhin können, ihrem Mann von dem Inhalt seiner sehr sonderbaren Rede Kenntnis zu geben, damit Tobler wisse, woran er mit seinem Angestellten sei. Sie wollte aufstehen und weggehen. In diesem Augenblick rief Joseph aus: »Sagen Sie nichts. Ich bitte alles ab. Ich bitte um Verzeihung!« Frau Tobler streifte den jungen Mann mit einem Blick der Verachtung, sie sagte: »Das ist schon gescheiter« und ging weg. »Ich habe die höchste Zeit gehabt. Dort unten kommt Tobler!« dachte Joseph, und in der Tat kam eben der Chef, heute unerwarteterweise früher als sonst, nach Hause. Nach einer Viertelstunde schon, von allem, was geschehen war, peinlich genau unterrichtet, sagte Herr Tobler zu Joseph: »Sie fangen wohl an, meine Frau schlecht zu behandeln? Was?« Weiter sagte er nichts. Seiner Frau hatte er, als deren Klagen nicht aufhören wollten, zugerufen, sie solle ihm »weggehn mit so dummen Sachen.« Tatsächlich hatte der Ingenieur jetzt wichtigere Dinge zu bedenken. * * * * * Am Abend dieses Tages war das Turmzimmer wieder einmal der stille, von einer Lampe erleuchtete Schauplatz eines laut vor sich hergesprochenen Selbstgespräches. Joseph, indem er sich Rock und Weste auszog, sagte folgendes zu sich: »Ich muß mich besser zusammennehmen, das geht nicht mehr so. Was hat mich nur antreiben können, dieser Frau Tobler Grobheiten zu sagen? Achte und nehme ich so sehr wichtig, was aus dem Mund einer solchen Dame herauskommt? Und inzwischen muß sich der arme Herr Tobler auf Geschäftsreisen abplagen, und sein Herr Angestellter treibt in Gartenhäusern, neben einer Tasse Kaffee, solchen Gefühlsunsinn. Solche Frauengeschichten! Was geht es mich denn an, wenn Frau Tobler an diesem Wirsich manches Gute zu rühmen weiß? Das ist doch so einfach. Dieser bleiche Ritter mit der Armesündermiene hat ihrem Weibergemüt Eindruck gemacht. Muß mich das aufregen? Wieso denn? Statt stündlich und halbstündlich an die technischen Unternehmungen zu denken, lasse ich es mir angelegen sein, eine Frau von meinem Charakter zu überzeugen. Von was? Aha, Charakter! Als ob es nötig wäre, daß ein Ingenieur-Angestellter Charakter hat. Ich habe eben immer nur die dümmsten Dinge in einem Kopf, der sich zu einem wirklich nutzbringenden und geschäftefördernden Nachdenken verpflichtet finden sollte. Habe ich so wenig Pflichtgefühl? Ich esse hier Brot und trinke Kaffee und verbinde mit diesen hübschen Vorteilen und Nutznießungen eine in der Tat unpassende Sehnsucht nach schädlicher Gedankenlosigkeit. Und dann halte ich halbstündige Reden vor einer erschrockenen und verwunderten Frau, um ihr zu zeigen, daß sie mich erbost hat. Was nützt das Herrn Tobler? Wird dadurch seine finanziell schwierige Lage leichter? Haben sich dadurch die an den Mann zu bringenden Geschäfte von der Lähmung, die gegenwärtig an ihnen haftet, erholt? Ich bewohne hier eines der aussichtsfreisten und schönstgelegenen Zimmer der Welt. See und Gebirge und Wiesenlandschaft sind mir als Gratiszulage vor die Blicke und Füße gelegt worden, und womit rechtfertige ich ein solches verschwenderisches Entgegenkommen? Durch »Kopflosigkeit«! Was geht mich der Wirsich an samt seinen nächtlichen Weiberbesuchen? Etwas viel Wichtigeres geht mich viel näher an, und das ist die Firma, deren Schild ich auf meiner Stirne trage, deren Interessen ich im Kopf und im Herzen tragen sollte. Im Herzen? Warum nicht? Das Herz muß bei einer Sache sein, wenn die Finger und die Gedanken richtig sollen arbeiten können. Am Herzen liegen! Nicht umsonst sagen die Leute so.« Er zergrübelte sich lange darüber den Kopf, was man wohl jetzt noch tun könnte, um der Reklame-Uhr stramm auf die Beine zu helfen, über welchem »geschäftlichen Nachdenken« er endlich einschlief. Mitten in der Nacht erwachte er plötzlich. Er richtete sich in den Kissen auf: Ah, das war Silvis Geschrei! Er stund auf, ging zur Türe, öffnete sie und horchte, und da hörte er die Töne einer widerwärtigen Szene. Es war Paulines Stimme, die jetzt rief: »Bist wieder zu faul gewesen, aufzustehen und dich aufs Töpfchen zu setzen, du wüstes Geschöpf?« Silvi wimmerte und suchte sich mit abgebrochenen Worten zu rechtfertigen, was ihr aber nicht gelingen mochte, denn zur Antwort auf ihre jämmerlichen Entgegnungen gab ihr die Magd Hiebe, daß es klatschte wie nasse Wäsche. Joseph kleidete sich an, ging die Treppe hinunter, in das Schlafzimmer der Kleinen, und machte Pauline milde Vorwürfe. Diese aber rief, er habe sich gar nicht einzumischen, sie wisse, was sie zu tun habe, und er solle nur machen, daß er fortkomme, worauf sie die Silvi, wie um zu zeigen, welche Autorität sie im Kinderzimmer habe, an den Haaren riß und ihr befahl, sich wieder ins Bett zu legen, und zwar, zur Strafe, in das durchnäßte. Der Gehülfe entfernte sich wieder, scheinbar demütig das Regiment der Zuchtmeisterin anerkennend. »Morgen oder übermorgen oder wann es sei,« dachte er, indem er sich von neuem schlafen legte, »muß ich der Frau Tobler eine zweite Rede halten. Mag es lächerlich sein. Es nimmt mich doch wunder, ob sie ein Herz hat. Als Angestellter des Hauses Tobler bin ich verpflichtet, ein Wort für die Silvi einzulegen, denn Silvi ist auch ein Glied dieses Hauses, dessen Interessen ich zu vertreten habe.« Am nächsten Sonntag eilte er per Bahn nach der Hauptstadt, nachdem er ein Fünfmarkstück wie gewohnt in Empfang genommen hatte. Es war schönes, heißes Wetter, und die Eisenbahnfahrt ging den blauleuchtenden See entlang. Schon beim Aussteigen aus dem Wagen kam ihm die früher so wohlbekannte Stadt ganz fremdartig vor. Wie doch eine verhältnismäßig nur kurze Abwesenheit einen Ort umgestalten und ganz anders färben konnte; er hätte das nie für möglich gehalten. Es kam ihm alles so klein vor. Am Quai, längs des Seeufers spazierten im grellen Mittagssonnenschein eine Menge Menschen. Was für ganz fremde Gesichter! Und so arm erschienen Joseph alle diese Menschen. Freilich waren es ja Leute aus dem dürftigen, arbeitenden Volk, keine Herren und Damen, aber etwas Kümmerliches, das nichts mit der Dürftigkeit der wirtschaftlichen Armut zu tun hatte, wob sich um dieses ganze, helle Spaziergängerbild. Es war nichts anderes als die Fremdheit, die Ungewohntheit, die ihm entgegenblendete, und er fühlte es auch und sagte sich, daß, wenn einer bereits seit Wochen in der Toblerschen Villa lebe, er nicht nötig habe, sich über den Anblick eines Städtebildes und dessen Entfremdung zu verwundern. Bei Toblers gäbe es eben dickere, rötere Gesichter und festere Hände und ein gewichtigeres Auftreten, als wie man es hier in der leichten Stadt sähe, wo die Menschen nur zu bald mager und unscheinbar von Aussehen werden. Das Kleine und Enge sei immer eine ziemlich große und bedeutende Welt für sich, sobald man eine Zeitlang in nichts anderes mehr hineingeschaut habe, während gerade umgekehrt das Weite und wirklich Bedeutende anfangs klein und unansehnlich erscheine, weil es gar zu verbreitet, ausgedehnt und luftig sei. Im Toblerschen Haus herrsche eben von Anfang an eine gewisse kleine Dicke und Fülle, und die habe stets viel auf sich und bestricke sogleich, wogegen die Freiheit und die Weitschweifigkeit mit ihren breiten und auseinandergezogenen Rundsichten scheinbar erkälten, weil sie nach nichts Festem ausschauen. Das wirklich Wohltuende sei immer so bescheiden von Ansehen, während wiederum das Toblersche oder Tyrannische manches Gemütliche und Herzliche an sich habe, das einem aus Turmzimmern und dergleichen verlockend und vielversprechend entgegenkomme. Das irgendwo Gefesselt- und Gebundensein sei zuweilen wärmer und reicher voll zärtlicher Heimlichkeiten als die offene, Tür und Fenster der ganzen Welt offenstehen-lassende Freiheit, in deren hellen Räumen den Menschen oft nur zu bald grimmige Kälte oder drückende Hitze anfahre, aber die Freiheit, die er, Joseph, meine, du liebe Zeit, das sei doch am Ende das Schicklichste und Schönste und enthalte unsterblichen Zauber. -- Bald kam ihm denn auch das Bild städtischen Sonntaglebens nicht mehr so fremdartig und flüchtig und rauhbeinig vor, und je weiter er ging, um so vertrauter den Augen und dem Herzen wurde ihm alles. Er ließ seine Augen mitten unter die vielen Spaziergänger spazieren gehen, mit seiner an die Toblersche Küche gewöhnten Nase zog er wieder die Düfte der Stadt und des Stadttreibens ein, seine Beine marschierten wieder ganz munter auf städtischem Boden, als ob sie nie auf Landerde getreten wären. Wie hell doch die Sonne schien, und wie bescheiden die Menschen sich hin- und herbewegten. Wie hübsch das war, daß man sich unter das Treiben, Stehen, Gehen und Hin- und Herpendeln verlieren konnte. Wie hoch der Himmel war, und wie das Sonnenlicht es sich auf allen Gegenständen, Körpern und Bewegungen bequem machte, und wie leicht und fröhlich der Schatten dazwischenhuschte. Die Wellen des Sees schlugen gar nicht stürmisch an die steinernen Dämme an. Es war alles so mild, so bedeckt, so leicht und hübsch, es war ebenso groß wie klein geworden, ebenso nah wie fern, ebenso weit wie fein und ebenso zart wie bedeutend. Es schien bald alles, was Joseph sah, ein natürlicher, stiller, gütiger Traum geworden zu sein, nicht ein gar so sehr schöner, nein, ein bescheidener, und doch ein so schöner. -- Unter den Bäumen eines kleinen Parkes oder Anlage ruhten Menschen auf Bänken. Wie oft hatte Joseph die eine oder die andere von diesen Bänken in Anspruch genommen, damals, als er in der Stadt gewohnt hatte. Er setzte sich auch jetzt, und zwar neben ein hübsch aussehendes Mädchen. Es ergab sich in einem durch den Gehülfen eingeleiteten Gespräch, daß sie Münchnerin sei, die hier in der ihr gänzlich fremden Stadt auf Arbeit lauere. Sie erschien arm und unglücklich, aber schon so manches Mal hatte er arme und wehmütige Menschen auf diesen Bänken angetroffen und angeredet. Die beiden sprachen einiges, dann erhob sich die Münchnerin plötzlich, um davonzugehen. Ob Joseph ihr mit einer Kleinigkeit an Geld helfen könne? Nein, nein, sagte sie, nahm dann aber doch etwas an und verabschiedete sich. Was saßen auf solchen öffentlichen Ruhebänken nicht für verschiedenartige Menschen. Joseph fing an, sie der Reihe nach im Kreis herum zu betrachten. Jener junge, einzelne Mensch dort, der mit seinem Spazierstock Figuren in den Sand der Erde zeichnete, was konnte er sein, was in aller Welt, wenn nicht ein Buchhandlungsgehilfe? Vielleicht täuschte man sich, nun ja, so war er eben einer jener zahlreichen Warenhauskommis, die Sonntags jeweilen irgend etwas »vor« haben. Und dieses Mädchen da _vis-à-vis_, war sie eine Kokotte oder eine Anstandsdame oder ein artiges, zimperliches, den Erfahrungen, die die Welt mit beiden, reichen, warmen Armen den Menschen, einem wundervollen Blumenstrauß ähnlich, darbietet, abholdes Zierpflänzchen und -Püppchen? Oder konnte sie zweierlei oder gar dreierlei Gattung auf einmal sein? Möglich, denn das war ja auch schon vorgekommen. Das Leben ließ sich nicht so leicht in Kasten und Ordnungen abteilen. Und dort der alte, zerfallene Mann mit dem zerzausten Bart, was war er, woher kam er gerade, welchen Berufes und Zeichens durfte man annehmen, daß er etwa sei? War er ein Bettler? Gehörte er zu den undefinierbaren Gesellen, die während der Woche in der famosen Schreibstube für Stellenlose sitzen, wo sie ein paar Mark im Tagelohn oder Wochenlohn verdienen? Was war er früher gewesen? Trug er einen eleganten Anzug einst nebst dito Stock und Handschuhen? Ah, das Leben machte bitter, aber es konnte auch froh und innig demütig machen, und dankbar fürs Wenige, für das bißchen süße, freie Luft zum Einatmen. -- Und was war das dort links für ein feines, ja sogar, wie es schien, vornehmes Liebes- oder Brautpaar? Waren es reisende und alle vorhandene Welt im Flug genießende Engländer oder Amerikaner? Die Dame trug eine zierliche Feder auf dem kleinen, ihr wie von irgendher angeflogenen Hut, und der Herr lachte, er schien sehr glücklich, nein, beide! Daß sie doch nur immer lachten, es war ja so schön, zu lachen und sich zu freuen. Dieser schöne, liebe, lange Sommer! Joseph erhob sich und ging langsam weiter, durch eine reiche, elegante, aber stille Straße. An Sonntagen, ja, da saßen eben die reichen Leute zu Hause, die ließen sich heute recht spärlich sehen; auf die Straße zu gehen, das mochte an diesem Tage nicht fein genug sein. Alle Magazine waren geschlossen. Einzelnes, verstreutes Volk pendelte und wackelte daher, oft recht unschön anzuschauende Männer und Frauen. Welche Demut in solch einem verzettelten Spaziergängerbildnis war. Wie bitterlich arm ein Menschensonntag auftreten konnte. »Demütig werden,« dachte der Gehülfe, »wie ist das für so Manchen der letzte Lebenszufluchtsort.« -- Und er kam allmählich durch neue und andere Straßen. Wie viele Straßen! Das dehnte sich in die Ebene hinaus, Haus an Haus, und die Hügel hinauf, und den Kanälen entlang, lauter größere und kleinere Steinblöcke, ausgehauen mit Wohnungen für reichere und ärmere Menschen. Hin und wieder kam eine Kirche, eine steife, glatte, neue, oder eine eindrucksvolle, ruhig dastehende alte mit Efeu am zerbröckelnden Gemäuer. Joseph ging an einem Polizeigebäude vorüber, aus dessen Lokalen einem ihm eines Tages vor Jahren der Schrei eines gemißhandelten Menschen entgegentönte, den man geknebelt hielt und mit Stockschlägen zu bändigen versucht hatte. Es ging jetzt über eine Brücke, die Straßen erschienen nach und nach unregelmäßiger und loser, die Gegend, durch die er ging, bekam etwas Dörfliches. Katzen lagen vor den Haustüren, und die Häuser waren von kleinen Gärten umsäumt. Die Abendsonne legte sich gelblich-rot auf die hohen Hauswände und auf die Bäume in den Gärten und auf die Gesichter und Hände der Menschen. Man war in der Vorstadt. Joseph trat in eines der neuen Häuser, die dieser noch beinahe ländlichen Gegend ein so merkwürdiges Aussehen gaben, stieg die Treppen empor, in die dritte Etage, blieb dort stehen, atmete sich anstandshalber aus, putzte sich ein wenig den Staub ab und klingelte dann. Die Türe wurde aufgetan, und die Frau, die in der Öffnung erschien, stieß, wie sie den Gehülfen erblickte, einen leisen Überraschungsschrei aus: »Sie sind es, Joseph? Sie sind es? -- Kommen Sie.« Die Frau, indem sie ihm die Hand reichte, zog Joseph in ihr Zimmer hinein. Dort schaute sie ihm ziemlich lange in die Augen, nahm dem etwas steif Dastehenden den Hut vom Kopf, lächelte und sagte: »Wie lange haben wir uns nicht gesehen. Setzen Sie sich.« Einen Augenblick später sagte sie: »Komm, Joseph, komm. Setz dich hierher, ans Fenster. Und dann erzähle mir. Du mußt mir sagen, wie du so lange hast leben können, ohne mir ein einziges Sterbenswörtchen zu schreiben, und ohne mich ein einziges Mal aufzusuchen. Trinkst du? Sage es nur ruhig. Ich habe noch einen Rest Wein in der Flasche.« Sie zog ihn zu sich ans Fenster, und er fing an, ihr von der Elastiquefabrik, von den englischen Pfund, von der Militärdienstzeit und von der Firma Tobler zu erzählen. Unten auf der vorstädtischen Wiese spielten und lärmten eine Anzahl Kinder im Abendsonnenschein. Ein oder das andere Mal pfiff eine nahe Lokomotive, oder man konnte einen Betrunkenen singen und johlen hören, einer von jenen Gesellen, die den Sonntagabend mit wüsten, sozusagen brandroten Tönen zu heulen und zu charakterisieren pflegen. Name und Geschichte der Frau, die jetzt ihrem jungen Bekannten zuhörte, sind sehr einfach. Sie hieß Klara und war die Tochter eines Zimmermanns. Zufälligerweise stammte sie aus derselben Gegend wie Tobler und kannte daher dessen Jugend so ziemlich. Sie war streng katholisch erzogen worden, aber von der Zeit an, da sie in's Leben trat, veränderten sich ihre Weltanschauungen völlig, sie ergab sich der Lektüre freisinniger Schriftsteller, wie Heine und Börne. Sie arbeitete in einem Photographengeschäft, zuerst als Retoucheuse, dann als Empfangsdame und Buchführerin; der Chef des Geschäftes verliebte sich in sie, und sie gab sich ihm, nicht ohne an die Folgen einer solchen zwanglosen Hingebung zu denken, ja dieselben mit fester und freier Stirn gewärtigend, hin und war sehr glücklich. Sie bewohnte noch immer das väterliche Haus, eine jüngere Schwester von ihr war inzwischen an der Auszehrung gestorben. Nach dem Geschäft fuhr sie täglich hin, und zurück in ihr Haus, mit der Eisenbahn, ein und eine Viertelstunde lang. Zu jener Zeit empfing sie zum ersten Mal Josephs Besuche. Sie fand einiges Gefallen an dem jungen, damals kaum zwanzig Jahre alten Menschen und liebte es, seine Ergüsse, die von jugendlich-unreifer Art waren, anzuhören. Es war damals eine sonderbare Welt und Zeit gewesen. Unter dem Namen »Sozialismus« hatte sich, einer üppigen Schlingpflanze ähnlich, eine zugleich befremdende und anheimelnde Idee in die Köpfe und um die Körper der Menschen, alte und erfahrene nicht ausgenommen, geworfen, dermaßen, daß, was nur Dichter und Schriftsteller hieß, und was nur jung und rasch bei der Hand und beim Entschluß war, sich mit dieser Idee beschäftigte. Zeitungen solchen Schwunges und Charakters schossen wie brennendfarbige, mit Düften hinreißende Blumen aus dem Dunkel der Unternehmungsgeister heraus an die erstaunte und erfreute Öffentlichkeit. Die Arbeiter und ihre Interessen nahm man damals allgemein mehr geräuschvoll als ernst. Es wurden häufig Umzüge veranstaltet, an deren Spitze auch Frauen schritten, blutigrote oder schwarze Fahnen hoch in der Luft daherschwenkend. Was nur immer mit den Verhältnissen und Ordnungen der Welt unzufrieden war, schloß sich dieser leidenschaftlichen Gedanken- und Gefühlsbewegung hoffnungsvoll und zufrieden an, und was die Abenteuerlust einer gewissen Sorte von Schreiern, Krakehlmachern und Schwätzern vermochte, die Bewegung einesteils prahlerisch hochzuheben und anderteils in die Gemeinheit des Tages herabzuziehen, das bemerkten die Feinde dieses »Gedankens« mit einer Art vergnüglichem Hohnlächeln. Die ganze Welt, Europa und die übrigen Erdteile, so hieß es damals unter den jungen und halbreifen Geistern, verbände und vereinige diese Idee zu einer fröhlichen Menschenversammlung, aber nur wer arbeite, sei berechtigt, usw. Joseph und Klara waren damals ganz und gar von diesem vielleicht edlen und schönen Feuer ergriffen worden, das nach ihrer beiderseitigen Meinung kein Wasserstrahl und keine üble Nachrede auszulöschen vermochte, und das sich, einem rötlichen Himmel ähnlich, über die ganze runde rollende Erde erstreckte. Sie liebten beide, wie es damals Mode war, die »Menschheit«. Sie saßen oft stundenlang, bis in die späteste Nacht hinein, in der Stube, die Klara in dem kleinen Hause ihres Vaters bewohnte, und unterhielten sich über die Wissenschaften und über herzliche Dinge, wobei Joseph, so schüchtern er sonst auch im Umgang mit Menschen war, immer das meiste redete, wie es sich auch ziemte, da ihm die Freundin wie eine erhabene Lehrerin vorkam, der gegenüber er seine Gedanken wie mehr oder weniger gut einstudierte Schulaufgaben zu äußern und aufzuzählen hatte. Wie schön waren diese Abende. Jedesmal, wenn er dann nach Hause ging, leuchtete ihm die Frau, die damals noch Mädchen war, mit einem Licht die Treppe hinunter und sagte ihm mit ihrer sanften Stimme adieu und auf Wiedersehen. Wie ihre Augen leuchteten, wenn er sich zurückbog, um sie zu guter Letzt noch einmal anzuschauen. Dann bekam Klara ein Kind und wurde eine »freie Frau«, das heißt, sie fühlte sich sehr bald in der härtesten Weise durch ihren Freund, den Photographen, verraten und infolgedessen aufs tiefste degoutiert, so daß sie ihm eines Abends, sie selber lebte in den ärmlichsten Umständen, einfach die Türe zeigte und zu ihm nur das eine, kurze, befehlende Wort sagte: »Geh!« -- Er war ihrer unwürdig! Sie mußte sich das tapfer sagen, oder sie mußte verzweifeln. Aber von da an liebte sie nicht mehr die »Menschheit«, sondern sie betete ihr Kind an. Sie schlug sich durch, sie war mutig und war von jeher ans Zugreifen in die Arbeit gewöhnt gewesen. Bald hatte sie sich einen eigenen Photographenapparaten angeschafft und eine Dunkelkammer eingerichtet, und während sie die Herrlichkeiten der Erziehung und Pflege eines kleinen Kindes, die Mühen derselben, die Freuden, die Sorgen um dies alles empfand, photographierte sie auf Postkarten und verkehrte mit Händlern und Grossisten wie der geriebenste Geschäftemacher. Sie schloß sich einer Freundin aus der Jugendzeit, die ein ähnliches Geschick wie sie selber zu kosten bekommen hatte, häuslich an und lebte mit ihr in ein und derselben Wohnung. Es war eine Frau Wenger, eine intelligente aber ungebildete Frau, ein »guter Kerl«, wie Klara von ihr sagte. Der Mann dieser Frau war Mitglied oder Soldat der Heilsarmee, obgleich er ein durchaus an Verstand und Gemüt geradegebauter Mensch, und durchaus kein religiöser Schwärmer war. Zu den Schwärmern war er einfach aus praktischen Gründen übergetreten. »Tritt du nur dort ruhig ein, Hans, du verlernst dort am besten das Trinken,« hatte die eigene Frau zu ihm gesagt. Ihr Hans »trank« nämlich. In dieser Zwei-Frauen-Wohnung fand sich Joseph als ein gerngelittener Gast häufig ein. Etwas zu essen und zu trinken mochte es da immer geben, eine Tasse Milch oder ein Glas Tee, und fidel, wenn auch in den Schranken der Zartheit, die immer um Frauen von Lebenserfahrung gezogen sind, ging es zu. Man lachte und meinte, jetzt dürfe man lachen, da man ein Stück Welt hinter sich habe. Klaras Knabe und dessen Eigenschaften wurden besprochen. O man hatte nun schon vielerlei erfahren. Auch Joseph sprach kein Wort mehr von der »Menschheit«. Das war längst vorüber. Je schwerer es einem wurde, ein »rechter Mensch« zu werden, desto weniger mochte man große Worte in den Mund nehmen, und schwer war es, »recht« zu bleiben, das empfand man jeden Tag deutlicher. Nach und nach kam Joseph spärlicher, und dann geschah es, daß er sich ein ganzes Jahr nicht mehr blicken ließ. Ein Tages erhielt Klara dann plötzlich einen wunderlich kurzen Brief, ob er sie wieder besuchen dürfe? Sie hieß ihn willkommen, und so ein paar Male, nach wiederholten, langen Absenzen, immer wieder. Und nun saß er da am Fenster, und sie lauschte dem, was er erzählte. Auch Klara erzählte, unter anderem, daß sie sich bald ehelich verheiraten werde. Das Kind müsse einen Vater haben, und sie selber bedürfe einer Mannesstütze, sie sei jetzt öfters unwohl und unfähig, das Erwerbsleben, das sie so lange geführt habe, zu ertragen. Sie sei zu schwach geworden, so allein und ungeliebt zu leben, sie sehne sich darnach, die Müdigkeit, die ihre ganze Seele beherrsche, von einer Hand und von einem guten, offenen Willen gestreichelt und geliebkost zu sehen. Sie sei nur eine Frau, und nur eine hoffende Frau. Der Mann, den sie erwählt habe, habe sich einfach von ihr bereden, rühren und erwählen lassen, das Ganze sei eine zu einfache Geschichte, als daß sie lange erzählt zu werden brauche. »Er« liebe sie und begehre, begehre und begehre nur, sie glücklich zu machen. Ob das nicht das Einfachste von der Welt sei? Und was Joseph, den sie nun schon so lange kenne, zu dem allem sage? Er solle schweigen, denn sie wisse, daß er jetzt nur eine Artigkeit habe auf die Lippen legen wollen, sie kenne ihn, das genüge. Sie gab ihm lächelnd die Hand. All das Vergangene, sprach sie weiter, all das schöne Vergangene! Wie gut es gewesen sei, all das Vorübergegangene, und wie »recht«. Und die mannigfaltigen Irrtümer: wie recht. Und das Gedankenlose, wie notwendig! Jung sein, das irre, das müsse ohne Gedankentiefe reden und handeln, damit es ein Vorwärts gebe. Nach den Erfahrungen kämen immer noch Gedanken und Empfindungen genug, und ein langes Leben erdrücke nachher das Jugendleben. Und sie sprachen beide von der Vergangenheit, indem sie einander die Worte und Ausrufe aus dem Mund wegnahmen, um sie gutzuheißen und nachzusagen. Es gibt bei einem solchen Wiederfinden keine Widersprüche, es will keine geben. Eines sagt dem andern die Erinnerungen nachdenklich und freundlich nach, die Lippen sprechen ineinander, die gesprochenen Worte finden nur Beifall und Widerhall, keine Einwendungen; und Auseinandersetzungen finden, man möchte sagen, nur im musikalischen Sinne statt. Ja, das Vergangene kam über sie, und rauschte um sie herum, und machte sie die Welt rückwärts, gleichsam treppab, überschauen. Sie brauchten ihre Gedächtnisse gar nicht zu zwingen, dieselben bogen von selber ihre feinen Arme und Schlingen nach den Gegenden des Erinnernswerten, um es spürbar näher zu bringen und zu tragen. »Wie oft bin ich launisch und ungroßherzig gewesen,« sagte Joseph bedauernd. Und Klara erwiderte, er sei doch der einzige, der immer wieder zu ihr komme: »Du machst lange Pausen, aber du kommst immer wieder. Du liebst es, dich selten zu machen, aber man hat während der Pause das Gefühl, du denkest an einen. Und eines Tages bist du dann da, und man wundert sich darüber, wie wenig du dich verändert, wie vortrefflich du es verstanden hast, der Alte zu bleiben. Und man spricht mit dir, als seiest du bloß in den nächstbesten Bäckerladen getreten, habest kein jahrelanges Loch in die Freundschaft gemacht, wie es doch jedesmal mit dir Flüchtling der Fall ist, seiest immer um einen herum gewesen. Andere Männer, Joseph, wissen für immer wegzubleiben, das Leben wirft sie in neue Richtungen, und sie kehren nie wieder an den alten Freundschaftsplatz zurück. Dich vernachlässigt ein bißchen das Leben, hörst du, und deshalb kannst du so schön deinen eigenen Neigungen treu bleiben. Ich will dich weder verletzen noch preisen, beides wäre unwahr, und wir beide, nicht wahr, sind bis jetzt immer noch ganz gut mit der Eindeutigkeit gefahren. Was du mir bist und was ich dir bin, bleiben wir uns!« Es war Nacht geworden über den Gesprächen. Sie verabschiedeten sich. »Kommst du bald wieder?« Joseph sagte, indem er den Hut aufsetzte, es sei ja, da er doch, wie sie sage, immer der Alte bleibe, gleichgültig, ob er in Jahrzehnten oder in vier Tagen wiederkomme. Sie schieden infolge dieses Wortes kalt voneinander. * * * * * Du bist jetzt, Herr Angestellter, oder wie du sonst gern genannt sein willst, wieder in der Villa Tobler, merke dir das, und die Reklame-Uhr schießt dir als ein flügelschlagender Vogel über den etwas poetisch, wie es scheint, veranlagten Kopf. Der weichliche Sonntag ist vorüber, und der harte, robuste Werktag hat dich soeben wieder angepackt, und da wirst du dich in die Brust werfen müssen, wenn du seinem kraftvollen Willen einigermaßen Stand halten willst. Bleibe nur ruhig der »Alte«, wie deine Freundin Klara sich ausdrückte, das wird weniger schaden, als wenn du dir plötzlich einreden wolltest, ein vollkommen »Neuer« zu werden. So von einem Tag auf den andern wird man kein Neuer, auch das schreibe dir, wenn es dir beliebt, nur gleich hinter die Ohren. Wenn aber einen »das Leben vernachlässigt«, auch so ein Frauensprüchlein, und wie es scheint, ein zutreffendes, so muß man gegen diese in der Tat unwürdige Vernachlässigung ankämpfen, hörst du, und nicht am heiterhellen Tag und an Abenden voll wehmütigen Sonnenuntergangscheines mit alten Freundinnen über das »Vergangene« reden. Man wird so etwas jetzt gefälligst bleiben lassen müssen. Dagegen wird man sich seiner Pflichten zu erinnern haben, da Sonntage und Sonntagsausflüge zufälligerweise nicht ewig andauern, und wird müssen zugeben, daß diese Pflichten bislang von einem gewissen Gehülfen auch so ein wenig »vernachlässigt« worden sind, gerade wie das Leben es mit diesem Herrn selber bis jetzt getan hat. Und die »Kopflosigkeit«? Ist sie nun endgültig beseitigt worden? So schnell füllen sich Köpfe nicht an, das muß erarbeitet werden. Dulde du nur keine Trägheit in dir, und so wird, meint man, nach und nach schon etwas in deinen Kopf kommen. Die Reklame-Uhr liegt am Boden und jammert nach flüssigen Kapitalien. Nun also, gehe auf sie zu, stütze sie, damit sie sich wieder langsam, Glied für Glied, erheben und sich in der Meinung und im Urteil der Menschen ein für allemal befestigen kann. Eine deines Geistes, wenn du willst, würdige und nutzbringende Aufgabe. Sorge du nur auch dafür, daß aus dem Schützenautomaten bald Patronen herausfallen, zaudere nicht so lange, zieh energisch am Hebel, die Maschine, die von Herrn Tobler, deinem Herrn und Meister, so ingeniös erdacht und ausgeführt worden ist, wird sich dann schon in Bewegung setzen. Keine Gefühle jetzt. Man spaziert nicht immer, man leistet auch einmal etwas, und man wird sich auch gelegentlich, aber nicht erst in Wochen, sondern so rasch wie möglich, die Bohrmaschine näher ansehen müssen, damit man mit allem, was das Geschäft Tobler betrifft, Bescheid weiß. Eine nur zu bescheidene Pflicht für denselben jungen Mann, der der Frau Tobler, was er so sehr schätzt, helfen darf, im Garten Wäsche aufzuhängen. Man muß auch die verborgenen Dinge bedenken, auf die kommt es an in einem Ingenieurbureau. Zum Waschseilspannen, mein Herr Gartenbespritzer und -Bewässerer, hat man Sie nicht hier hinauf auf den grünen Hügel berufen. Sie spritzen mit Vorliebe den Garten, nicht wahr? Schämen Sie sich! Und haben Sie auch schon nur ein einziges Mal an den patentierten Krankenstuhl gedacht? Nicht? Gott im Himmel, ein solcher Angestellter. Sie verdienen, vom »Leben vernachlässigt« zu werden. -- Das ungefähr waren Josephs eigene Gedanken, als er am Montag Morgen früh im Bett erwachte. Er stund auf, schickte sich an, das Nachthemd mit dem Taghemd zu wechseln, wobei er aber eine gute Minute im Anblick seiner Beine versunken blieb. Nachdem die Beine studiert waren, wurden die nackten Arme einer Prüfung unterworfen. Joseph stellte sich vor den Spiegel und fand es sehr interessant, sich hin und her zu drehen und seinen Körper zu betrachten. Ein guter, ordentlicher Körper, und gesund, fähig, Anstrengungen und Entbehrungen zu ertragen. Mit einem solchen Leib ausgestattet mußte es eine wahre Sünde sein, länger als für das Ruhen notwendig im Bett liegen zu bleiben. Ein Karrenschieber konnte keine gesunderen, fester gebauten Glieder haben. Er zog sich an. Und zwar sehr langsam. Es war ja noch Zeit, und auf ein paar Minuten konnte es nicht ankommen. Zwar war Tobler in diesem Punkt anderer Meinung, wie Joseph bereits tüchtig erfahren hatte, aber Tobler selber, der montagete heute. Unter montagen verstund man das länger als sonst ausgestreckt im Bett Liegen-Bleiben, das sich ein bißchen mehr als alle andern Wochentage Wohlseinlassen und Gehenlassen, und gerade Tobler, der war ja der Richtige in diesen Montagdingen, der würde heute sowieso erst um halb elf Uhr unten im Bereiche der technischen Lösungen und Probleme erscheinen. Die Haare schienen heute früh außerordentlich schwer zu bürsten und zu kämmen zu sein. Die Zahnbürste erinnerte an vergangene Zeiten. Die Seife, womit man die Hände waschen sollte, glitt aus, fuhr unters Bett, und man mußte sich bücken und sie aus dem hintersten Winkel hervorziehen. Der Kragen war zu hoch und zu eng, obgleich er doch gestern prächtig gepaßt hatte. Welche wunderbaren Dinge. Und wie langweilig das alles war. An einem andern Ort und zu einer andern Stunde wäre das alles vielleicht niedlich, belehrend, nett, fein, amüsant, ja entzückend gewesen. Joseph erinnerte sich gewisser Zeiten in seinem Leben, wo ihn der Ankauf einer neuen Krawatte oder eines steifen, englischen Hutes in seelische Aufregung versetzen konnte. Vor einem halben Jahr hatte er eine solche Hutgeschichte erlebt. Es war ein halbhoher, ganz guter, normaler Hut, wie ihn die »bessern« Herren zu tragen pflegten. Er aber traute dem Hut nichts Gutes zu. Er setzte sich ihn tausendmal auf den Kopf, vor dem Spiegel, um ihn dann endlich auf den Tisch zu legen. Dann ging er drei Schritte weg von dem niedlichen Ungetüm und beobachtete ihn, wie ein Vorposten den Feind beobachtet. Es war nichts an ihm auszusetzen. Hierauf hängte er ihn an den Nagel, auch da erschien er ganz harmlos. Er versuchte es wieder mit dem Kopf, entsetzlich! Es schien ihn von unten bis oben zerspalten zu wollen. Er hatte das Gefühl, als ob seine Persönlichkeit eine benebelte, gesalzene, halbierte geworden sei. Er trat auf die Straße: er schwankte wie ein schnöder Betrunkener, er fühlte sich wie verloren. Er trat in eine Erfrischungshalle, legte den Hut ab: gerettet! -- Ja, das war eine Hutgeschichte gewesen. Auch Kragengeschichten, Mäntelgeschichten und Schuhgeschichten kamen in seinem Leben vor. Er verfügte sich ins Wohnzimmer hinunter, um zu frühstücken. Er aß unbändig, geradezu unanständig. Es befand sich übrigens niemand am Tisch, aber trotzdem! Gerade dann! Den Anstand beim Essen brauchte man ja auch so nicht außer acht zu lassen. Woher er nur einen solchen Hunger hatte? Weil es Montag war? Nein, ihm mangelte eben der Charakter, das war es. Er hatte eine solche kindische Freude beim Brotabschneiden, und doch war es Toblers Brot, nicht seines, und dann empfand er ein solches Vergnügen beim Herauslöffeln der Bratkartoffeln, und wessen Bratkartoffeln waren es wenn nicht Toblers? Es kam ihm wunder wie schön vor, noch etwas über den Appetit hinaus zu essen, und wem schadete er dadurch? Nachdem er so weit fertig war, hätte er eigentlich aufstehen können, um hinter seine Arbeit zu gehen, aber was machen, wenn es einem festhielt am Platz, wenn man sich nicht zu trennen vermochte vom Eßtisch? Da kam Pauline und verjagte ihn mit ihrer ihm unangenehmen Erscheinung. Im Bureau! Erst ein bißchen auf und ab gehen, das gehörte doch schließlich zur Sache, so fing einer immer an, wenn er zu arbeiten sich vornahm. Gehörte Joseph zu den Menschen, die mit Ausschnaufen ein Geschäft beginnen und erst nach Beendigung desselben, das heißt, nach halber Beendigung energisch werden, das heißt wiederum, nur dazu energisch, um sich über irgend einen billigen Genuß herzumachen? Er zündete langsam einen der wohlbekannten Stumpen an, die ihm jeweilen den Gedanken an die beginnende Arbeit so sehr versüßten, und rauchte drauf los wie das Mitglied eines Rauchklubs. Und dann setzte er sich wieder einmal an seinen Schreibtisch, und fing an, sich nützlich zu erweisen. Gegen zehn Uhr erschien Tobler, sehr aufgeräumt, wie Joseph sogleich bemerkte. Man durfte daher etwas Leichtigkeit in das »Guten Morgen, Herr Tobler« legen und den Stumpen von neuem anzünden. In der Tat ging von der Figur des Vorgesetzten und Chefs der Firma eine außerordentliche Fröhlichkeit aus. Er schien den Abend vorher tapfer gezecht zu haben. Jede seiner gegenwärtigen Gesten sagte: »Nun, jetzt weiß ich, wo der Haken liegt. Von jetzt an wird im Gang meiner Geschäfte eine neue Wendung eintreten.« Er erkundigte sich in der freundlichsten Weise nach der Richtung, die Josephs sonntägliche Vergnügungen eingeschlagen hätten und rief, als derselbe ihm sagte, wo er gewesen sei, aus: »Ja so? In der Stadt sind Sie gewesen? Und wie hat es Ihnen denn dort nach der längern Abwesenheit wieder gefallen? Nicht schlecht, was? Jawohl, die Städte vermögen manches zu bieten, aber man kommt schließlich doch auch gern wieder zurück. Habe ich recht oder nicht? Aber was ich sagen wollte, Sie haben, wie ich bemerkt habe, entschuldigen Sie, ha, ha, keine gar sehr guten Kleider mehr am Leib. Da gehen Sie heute nur zu meiner Frau, die soll Ihnen einen noch ganz wie neu aussehenden Anzug von mir geben. Sagen Sie nur, den grauen Anzug, dann wird sie schon verstehen, welchen. Sie brauchen sich nicht im mindesten zu genieren, ich trage doch so wie so diesen Anzug nicht mehr. Und ein paar farbige Hemden mit dazugehörigen Brüsten und Manschetten, für Sie sicher ganz ausgezeichnet passend, wird es wohl noch in der Villa Tobler geben. Meinen Sie etwa nicht?« »Ich habe alle diese Sachen gar nicht nötig,« sagte Joseph. »Warum nicht nötig? Sie sehen ja selber, wie bitter nötig Sie's haben. Machen Sie keine Umstände, wenn ich Ihnen etwas gebe. Nehmen Sie's, fertig.« Tobler war ungehalten. Plötzlich dachte er an etwas. Er setzte sich unter die Mechanik des Probe-Schützenautomaten auf einen dort stehenden Stuhl und sagte nach einer halben Minute: »Ich weiß wohl, was Sie denken, Marti. Es ist wahr, Sie haben noch keinen Gehalt bekommen, und Sie werden denken, es werde auch keinen geben. Gedulden Sie sich. Andere müssen jetzt eben auch Geduld haben. Im übrigen will ich nicht hoffen, daß Sie's für nötig finden, mir deswegen eine bittere Miene zu machen. So etwas würde ich keineswegs in meiner Umgebung dulden. Wer so ißt, wie Sie essen und eine solche Luft genießt, wie diejenige ist, die Sie hier oben bei mir einatmen, der hat noch eine lange Strecke zu laufen bis zur Klage. Sie leben! Denken Sie nur immer ein bißchen daran, in welcher Verfassung Sie dagestanden sind, als ich Sie dort in der Stadt engagiert habe. Sie sehen wie ein Fürst aus. Dafür werden Sie mir denn auch ein wenig Dank wissen müssen.« Joseph sagte, und es war ihm später unbegreiflich, wo er die Frechheit dazu hernahm: »Schon gut, Herr Tobler! Aber erlauben Sie Ihrem Untergebenen, Ihnen zu sagen, daß es mir recht peinlich ist, beständig an das gute Essen, an die prachtvolle Luft und an die Betten und Kissen, in denen ich schlafe, erinnert zu werden. So etwas kann einem die Luft, den Schlaf und das Essen beinahe vollständig verderben. Was muten Sie mir zu, wenn Sie glauben, Ursache zu haben, mir den natürlichen Aufenthalt und Genuß, den ich hier oben bei Ihnen habe, in einem fort vorwerfen zu müssen? Bin ich ein Bettler oder ein Arbeiter? Ruhig, Herr Tobler. Bitte, ich mache hier keine Szene, ich setze ganz einfach etwas für unser gegenseitig notwendiges Verständnis auseinander. Ich möchte festgestellt haben dreierlei. Erstens weiß ich Ihnen für alles, was Sie mir 'bieten', Dank, zweitens wissen Sie das, denn Sie konnten das meinem bisherigen Betragen ruhig entnehmen, und drittens leiste ich etwas, ein Beweis für dieses Letztere ist die Tatsache, daß mein Gewissen und Ihre Klugheit mich immer noch hier beschäftigt sehen. Was die Kleidergeschenke, die Sie mir gütigst machen wollen, betrifft, so habe ich mich in diesem Moment eines Bessern besonnen: ich nehme sie mit geziemendem Dank an, ich kann Wäsche und Kleider brauchen, wenn ich mich aufrichtig frage. Den Ton dieser Sprache werden Sie mir verzeihen müssen, oder -- Sie werden gezwungen sein, mich aus dem Hause zu werfen. Es bedurfte dieser Sprache und dieses Tones, denn ich habe das aufrichtige Bedürfnis gefühlt, Ihnen zu zeigen, daß ich mich unter Umständen gegen -- wie soll ich sagen -- Grobheiten wehren kann.« »Donnerwetter noch einmal! Wo haben Sie dieses Mundwerk her? Es ist ja zum Lachen, das. Sind Sie eigentlich närrisch geworden, Joseph Marti?« Tobler fand es für das Vernünftigste, laut zu lachen. Aber schon im nächsten Augenblick zog sich seine Stirne in grimmige Falten: »So zeigen Sie auch, Teufel noch einmal, daß Sie imstande sind, etwas zu leisten. Bis jetzt habe ich noch wenig davon bemerkt. Ein großes Maul macht noch keine nennenswerte Leistung, haben Sie das verstanden? Wo sind die Briefe, die noch beantwortet werden sollen?« Joseph sagte kleinmütig: »Hier!« Er war wieder völlig befangen. Die Briefe lagen am falschen Ort. Tobler packte den ganzen Briefkorb und schleuderte ihn mit einer wilden Zornesbewegung zu Boden. Er schrie: »Und das will noch immer aufbegehren. Passen Sie lieber besser auf und seien Sie weniger empfindlich. -- Schreiben Sie!« Und er diktierte folgendes: An Herrn Martin Grünen in Frauenberg. Ihren Brief, worin Sie mir das mir seinerzeit zwecks Realisierung meiner Reklame-Uhr bewilligte Darlehn von fünftausend Mark auf den Ersten des kommenden Monates aufkündigen, habe ich erhalten und gestatte mir -- haben Sie das? -- Ihnen folgendes zu erwidern: 1. ist meine derzeitige finanzielle Lage derart, daß es mir eine reine Unmöglichkeit ist, Ihnen auf den angegebenen Termin den fraglichen Darlehnsbetrag zurückzuerstatten; 2. befinden Sie sich in einem groben Irrtum, wenn Sie ein gesetzliches Recht zu haben glauben, auf so unerwartet rasche Zurückzahlung zu dringen, indem 3. zwischen uns bei Abschluß des Darlehens, so viel ich mich erinnere, und wie ich, wenn nötig, schwarz auf weiß beweisen kann, die Vereinbarung getroffen worden ist, -- sind Sie so weit? -- daß eine Zurückerstattung der Schuldsumme erst dann zu erfolgen hat, sobald die Geschäfte der Reklame-Uhr ein gewisses, gewinnbringendes Ziel gefunden haben. 4. Dies ist noch nicht der Fall. 5. Das gemachte Darlehen ist nicht außer Verbindung speziell dieses Reklame-Uhr-Unternehmens zu setzen, sowie die Abzahlung des ersteren nicht zu trennen ist vom Gelingen des letzteren. 6. Würde es sich fragen, ob eine so kurzfristige Zahlungsforderung in einem Falle, wie dem unsrigen, überhaupt gestattet wäre. Hauptsache: das geliehene Geld liegt im obengenannten Unternehmen und verfällt dem Risiko desselben. -- Sehr geehrter Herr, Sie werden sich nun hoffentlich, nachdem ich Ihnen meinen Standpunkt erklärt habe, die Sache noch einmal ernstlich überlegen. Bedenken Sie, bitte, in welcher Lage ich mich befinde, und Sie werden kaum den Mut finden, einen Geschäftsmann ruinieren zu wollen, der sich mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft dagegen stemmt und wehrt, in die ihm drohende Tiefe zu sinken. Wenn Sie Ihr Geld wieder haben wollen, so drängen Sie mich nicht. Die Reklame-Uhr wird sich bewähren! Ich hoffe Sie genügend überzeugt zu haben und zeichne hochachtungsvoll -- -- »Geben Sie her!« Und Tobler unterzeichnete, indem er eine volle Minute lang, scheinbar gedankenabwesend, in den Anblick des Schreibens versunken blieb. Inzwischen gab sich auch der Angestellte seinen privaten Gedanken hin. Er dachte: »So ist er, dieser Herr Tobler. Zuerst nimmt er eine hochmütige und drohende Stellung ein, dann duckt er plötzlich klein zusammen und bittet, zu bedenken usw. Der Herr Grünen werde nicht den Mut finden, meint mein Herr Tobler. Wie aber, wenn er ihn findet? So wie dieser Brief abgefaßt ist, so pflegen Verzweifelte zu reden. Zuerst klingt es hochtrabend, dann bedeutend, dann wichtig, dann prahlerisch, dann beißend spöttisch, dann auf einmal kleinmütig, dann zornig, dann flehentlich, dann plötzlich grob, dann Brust hoch und noch ein letztes Mal in hochmütigem Ton: die Uhr =wird= sich bewähren! Wer beweist das? O ein solcher pfiffiger Darlehngeber, wie dieser Grünen aus Frauenberg einer ist, der wird hohnlächeln, wenn er diesen gefühlvollen Brief liest.« -- Ihm scheine der Ton des Briefes kein ganz richtiger, wagte er halblaut zu seinem Chef zu sagen. Das war ein Funke ins Pulverfaß. Tobler sprang jählings auf: Was Joseph da Dummheiten zu schwatzen habe. Wenn er Bemerkungen machen müsse, so solle er sie nicht erst eine halbe Stunde nach Erledigung der Sache vom Mund ablaufen lassen, und dann solle er sehen, daß es keine so läppischen seien, wie die, die er sich soeben erlaubt habe. »Unsinn!« schrie er, ergriff seinen Hut und ging davon. Joseph kopierte das Schreiben mit der Kopierpresse, faltete es zusammen, steckte es in einen vorher schon adressierten Briefumschlag, klebte zu und frankierte. Es waren ein paar hundert Zirkulare aus der Buchdruckerei angekommen. Joseph fing an, diese Zirkulare exakt zusammenzufalten, und zwar zu jeweiliger Briefkuvertgröße, damit sie in alle Welt hinaus verschickt werden konnten. Das Rundschreiben enthielt in hübscher Druckschrift, und mit Klischee-Abbildungen versehen, die genaue Beschreibung nebst Preistabelle eines kleinen Dampfapparaten, auch einer Toblerschen Erfindung. Vor allen Dingen galt es, diesen Dampfbehälter den zahlreichen, in der Umgebung von Bärenswil und weiter im Land herum verstreuten Fabriken und mechanischen Werkstätten anzupreisen, womit man einen ganz hübschen Gewinn zu erzielen hoffte. Der Gehülfe faltete bis zur Mittagsessenszeit diese Papiere zusammen, welche Arbeit für ihn etwas geradezu Fröhliches und Gedankenförderndes enthielt, und ging dann zu Tisch. Man schwieg während des Essens, abgesehen von Dora, die ihren reizenden Mund nicht zu halten vermochte. Die Knaben erwiesen sich unartig. Frau Tobler klagte die langen Schul-Ferien als die Ursache der allgemeinen Jugendverwilderung an, indem sie sagte, sie sei wahrhaftig froh über den baldigen Wiederbeginn der Schulzeit, es werde nun gottlob bald wieder eine andere Zeit für die Schlingel herantreten. Die Autorität und das Meerrohr des Lehrers würden dann vielleicht erreichen, was der Mutter nicht möglich sei: artiges und aufmerksames Benehmen ihren Buben anzugewöhnen. Es sei ganz gut, wenn es allmählich Herbst werde. Während dieser langen, schönen Sommertage wisse das kleine Volk vor lauter Langeweile gar nicht mehr, wo noch irgend eine Gelegenheit sei, Übles und Dummes anzustellen. Bei dem Wort »Herbst« fühlte sich Joseph in der Seele betroffen. Der schöne Herbst! dachte er. Einen Augenblick später war er mit Essen fertig geworden, er stand auf und sagte zu Frau Tobler, es fehle ihm Geld, um Briefmarken kaufen zu können. Die dadurch unangenehm berührte Frau sagte, so solle sie auch noch für solche Dinge sorgen, seufzte und händigte dem Angestellten das Gewünschte schmollend, aber zugleich ein wenig geschmeichelt, ein. Man mußte also zu ihr, der Frau, kommen, um Markengeld zu erwischen und zu ergattern. Joseph spielte wiederum ein wenig den Beleidigten. Schließlich war er ein Mannesuntergebener, nicht ein Frauengehülfe. Wie lästig das war, jedes Zweimarkstück einem Frauenrock abbetteln zu müssen. Frau Tobler sah seinen unpassenden Zorn und begnügte sich, ihn von oben herab halb anzuschauen. Er begab sich zur Post. Im Garten waren mehrere Arbeiter und Handlanger damit beschäftigt, Gartenerde hoch aufzuschaufeln und zu einem mächtigen Haufen zu türmen. Die Erde war naß, es hatte kurz vorher geregnet. »Auch noch eine unterirdische Feengrotte zu allem. Was denkt Tobler?« brummte Joseph und erreichte die Landstraße. Aus dem Wirtshaus zur »Rose«, das nicht gar weit entfernt lag, drang zur offenen Tür ein schneidender Schnapsgeruch heraus. Hier war es, wo der Wirsich seine ersparten Gehälter und Löhne vertrank. Von hier aus pflegte er in eine »andere Welt« hinüber zu taumeln, indem er seinen bessern Teil in der »Rose« unter dem Tisch liegen ließ. Im Dorf angekommen, trat der Gehülfe, einer seit kurzem erst angenommenen Gewohnheit gemäß, in das Restaurant zum Segelschiff ein, und wer saß dort am runden Stammtisch? Tobler! Da hatte man sie also beide, den Herrn und den Knecht, und wo? In der Kneipe. Gewiß muß man in den Zorn gewöhnlich rasch eins hinabtrinken, um das Hitzige, was man in der Brust fühlt, abzukühlen und zu verlöschen, und ebenso natürlich ist der Durst eines Untergebenen, der soeben erst Markengeld hat »betteln« müssen und infolgedessen ziemlich unwirsch aufgelegt ist. Der Unmut kann, indem man »eins« zu sich nimmt, zerstreut werden. Gewiß muß und kann man auch das, aber -- es war doch für einen Moment den beiden etwas kurios zumut, sich im »Segelschiff« plötzlich bei Trinkgedanken zu ertappen, und beide schauten sich kurz aber bedeutend an. »So? -- Sie scheinen ja auch Durst zu haben,« sagte Herr Tobler gewichtig aber freundschaftlich zu dem Eingetretenen. Dieser sagte: »Ja! Muß auch sein.« Herr Tobler erwartete im »Segelschiff« immer die anfahrenden und abfahrenden Züge, auch jetzt »paßte er nur auf seinen Zug auf«. Das Restaurant lag in unmittelbarer Nähe des Bahnhofes. Aber wie oft verpaßte trotzdem Tobler seine Züge; man konnte, wenn man Wirt hieß, manchmal beinahe meinen, er verpasse sie absichtlich. In solchen Fällen pflegte er jedesmal zu brummen: »Jetzt ist mir das cheibe Züglein schon wieder an der Nase vorbeigefahren.« Joseph trank aus und ging. Sein Chef rief ihm nach, so daß die andern Wirtsgäste es hören konnten: »Schreiben Sie dem Uhrmacher, wie heißt er schnell, er solle mit der Montierung der Uhren für die Utzwil-Stäfener-Bahn unverzüglich beginnen. Der Brief muß noch heute abgehen. Das Übrige werden Sie wohl wissen.« Joseph schämte sich ein wenig seines »redeseligen« Prinzipals, wie er ihn im stillen nannte, er nickte und drückte sich zur Türe hinaus. Er ging zum Buchbinder und Papierwarenhändler und ließ sich eine ganze Reihe Gebrauchsgegenstände für Bureau und Zeichentisch geben, indem er's »ins Buch aufschreiben ließ«. Solch ein niedliches Rechnungsbüchlein, was ging da nicht alles Mögliche hinein. Man nahm einfach die Waren und ließ munter aufschreiben. Der Inhaber des Papierladens erlaubte sich die Frage, wann und ob er einen gewissen Betrag einkassieren lassen dürfe. »O gelegentlich etwa,« entgegnete obenhin Joseph. »Ich handle sehr richtig,« dachte er, »man muß zu den Leuten in oberflächlichem Ton sprechen, dann haben sie absolut festes Vertrauen. Wo man keinen Ernst zeigt, da scheint auch noch keiner erforderlich zu sein. Hätte ich die Frage dieses Mannes wichtig genommen, so würde er jetzt Verdacht haben und schon morgen früh mit der quittierten Note im Bureau erscheinen. Ich diene meinem Herrn, wenn ich fortfahre, leise sich rührende Verdächtigungen von ihm abzulenken.« Während dieses Gedankenganges hatte er sich scheinbar aufs Gemütlichste eine Sammlung Ansichtspostkarten angeschaut. Indem er jetzt den Laden verließ, lächelte er freundlich, und er wurde ebenso freundlich vom Besitzer desselben angelächelt. Zu Hause angelangt machte er sich wieder mit dem Falzen der Zirkulare zu schaffen. Für je ein Zirkular verwendete er vier Händebewegungen. Er träumte dabei. Diese Arbeit forderte das gemütvolle Herumsinnen um irgend etwas geradezu heraus. Von Zeit zu Zeit wurde ein berauschender Zug aus dem Stumpenstengel getan. Dicht vor dem Schreibtisch und Bureaufenster saß auf einer dort plazierten Gartenbank Frau Tobler, sie nähte und unterhielt sich in singender Sprechweise mit ihrem Dorchen. »Was dieses Kind es gut hat!« dachte Joseph. »Wollen Sie diese ganze Masse Zirkulare fortschicken?« fragte Frau Tobler. Sie setzte hinzu: »Übrigens ist es Kaffeetrinkenszeit. Kommen Sie. Der Kaffee steht schon.« Im Gartenhaus, während des Imbisses, fühlte sich der Angestellte durch die Freundlichkeit, mit der ihn die Frau behandelte, gezwungen, zu sagen, er bereue, sich so keck gegen Frau Tobler benommen zu haben. Was er damit meine? Sie verstehe nicht. »Nun, wegen dem Wirsich!« Sie sagte, das habe sie längst vergessen. Für solche Sachen habe sie kein haarscharfes Gedächtnis. Gottlob. Was denn das auch weiter gewesen sei? Gar nichts von Bedeutung. Aber es freue sie, Joseph bekennen zu hören, daß es ihm leid sei, sie gekränkt zu haben. Er dürfe ruhig sein, und er solle sich in allem, was das Geschäft ihres Mannes anbelange, nur immer Mühe geben, das sei die Hauptsache. Ach sie wünsche manchmal, und besonders in letzter Zeit, ein geschäftstüchtiger Mensch zu sein, um Tobler helfen zu können. Wenn sie daran denke, von hier fortziehen, das Haus, das sie so lieb gewonnen habe, verlassen -- zu -- mü--ssen -- -- Tränen standen ihr in den Augen. »Ich will mir Mühe geben!« Er schrie es beinahe. Dann sei es recht, sagte sie und versuchte zu lächeln. »Sie dürfen nicht gleich verzagen.« Das tue sie auch nicht. Sie sei gleichmütig genug all diesen sorgenvollen Dingen gegenüber. Gestern habe ihr Tobler bittere, und wie ihr scheine, ungerechte Vorwürfe gemacht, deswegen, daß sie seine ganze schwere Lage zu leichtsinnig nehme; sie habe es für nötig befunden, zu schweigen dazu. Was denn in einem solchen Fall eine schwache und ungeübte Frau machen könne? Ob sie gar etwa den ganzen, guten Tag lang jammern, und eine wehklagende Miene zur Schau tragen solle? Und was das nütze? Das würde doch einer einigermaßen vernünftigen Frau weder einfallen, noch auch nur anstehen können, so etwas würde sie eher für gefährlich als ziemlich halten. Sie sei im Gegenteil immer ganz guten Mutes, und sie wage es, sich im stillen für diese Haltung zu loben. Ja, das tue sie, und wenn es auch sonst auf der ganzen Welt ihr kein einziges Wesen anerkennen wolle. -- Sie wisse im übrigen, wer sie sei, und sie fühle sich schon aus diesem Grunde verpflichtet, den fröhlichen und gemessenen Lebensmut nicht so bald sinken zu lassen. Daneben fühle sie wohl, wie schwer es ihr Mann zurzeit habe. Sie war wieder heiter geworden. »Und was Sie betrifft, Joseph,« fuhr sie fort, indem sie den Gehülfen mit ihren großen Augen anschaute, »so weiß ich ja, daß Sie ernst bei Ihren Aufgaben sind. Und von einem einzelnen Mann wird man nicht alle Lösungen und trefflichen Leistungen aufs Mal verlangen wollen. Sie fahren einen nur manchmal ein bißchen grob an. Ja, ja!« »Sie demütigen mich, aber ich verdiene es,« sagte Joseph. Beide lachten. »Sie sind ein kurioser Mensch,« bemerkte Frau Tobler, das Gespräch beendend. Sie stund auf. Joseph sprang ihr nach, um sie zu fragen, ob sie die Güte haben wolle, die Kleider, die ihm Herr Tobler soeben geschenkt habe, herauszusuchen und auf sein Zimmer legen zu lassen, er wünsche dieselben heute noch anzuprobieren. Sie sagte, ja, sie wolle die betreffenden Sachen sogleich aus dem Schrank herausnehmen. Nach ungefähr einer Stunde spritzte er den Garten. Er fand das zu nett, so den dünnen, silbernen Wasserstrahl durch die Luft schneiden zu sehen und das Aufklatschen des Wassers auf den Blättern der Bäume anzuhören. Die Erdarbeiter warfen bald ihre Schaufeln und Bickel weg und machten Feierabend. »Ein kurioser Mensch,« dachte der mit den Schläuchen Beschäftigte, und es wollte ihm beinahe trübe zumut werden: »Wieso ein kurioser Mensch?« -- Doktor Speckers kamen an diesem Abend, auch Tobler kam an, ungehalten, unfreiwillig. Er hatte es sich eben im »Segelschiff« gemütlich machen wollen, als er telephonisch angerufen, und davon in Kenntnis gesetzt worden war, wer in der Villa zu Besuch gekommen sei. »Müssen die schon wieder kommen?« hatte er durchs Telephon zu seiner Frau gesagt, konnte aber nicht gut absagen, und so verzichtete er eben auf den Wirtshausjaß, um dafür zu Hause zu jassen, was nach seinem Geschmack ein wenig »kindelig« war. In der Tat ging es beim Jaß unter Berufsjassern eben viel ernsthafter und männlicher zu, vor allem viel schweigsamer, und Tobler hatte nachgerade diese häusliche, plaudernde, unschuldige Jasserei ziemlich verachten gelernt. Joseph entschuldigte sich, er habe Kopfweh, er möchte noch ein wenig in der frischen Luft spazieren gehen. »So, der entzieht sich der Pflicht, und ich, ich muß dahocken,« schien Toblers Gesicht zu sagen, als er Joseph sich ausreden hörte. Dieser flüchtete »an die Natur« hinaus. Der Mond beleuchtete zart und groß die ganze Umgegend. Irgendwo plätscherte ein Wasser. Er ging den Berg hinauf, zwischen den bekannten Wiesen hindurch. Die großen Wegsteine waren weiß vom Mondschein. In dem Baumdickicht tuschelte und zischelte und flüsterte es. Es war alles in einen duftenden, träumerischen Dunst getaucht. Vom nahen Wald her hörte er Käuzchengeschrei. Einige zerstreute Häuser, ein paar zaghafte Geräusche, und plötzlich da oder dort ein Licht, ein wandelndes, das irgend ein später Wanderer in der Hand trug, oder ein ruhendes, ein Licht hinter einem halbverdeckten Fenster. Welche Stille im Dunkel, und welche Weite im Unsichtbaren, welche Ferne! Joseph überließ sich vollständig seinen Empfindungen. Plötzlich dachte er wieder an den »kuriosen Menschen«, der er sei. Was er denn eigentlich so Kurioses an sich hatte? Einsam in der Nacht umherzuspazieren, das war allerdings seltsam genug, dieses Vergnügen durfte man schon als kurios bezeichnen. Aber was weiter? War das alles? Nein, die Hauptsache war die: sein Leben, sein ganzes Leben, das bisher geführte und das vorauszuahnende zukünftige, das, das war kurios, und Frau Tobler hatte ganz recht, wenn sie bemerkte -- -- Diese Frauen, wie sie es verstunden, in den Herzen und Charakteren zu lesen. Wie talentiert sie waren, einem mit so einem einzigen Wort das Richtige und Treffende in die erstaunte Seele hinein zu sagen. Ein kurioser Kerl. Spaßhaft war das, nicht wahr? -- Trauernd um Vieles, Vieles ging er nach Hause. * * * * * Die Bärenswiler oder Bärensweiler sind ein gutmütiger, aber zugleich etwas heimtückischer, oder, wie vielleicht der richtige Ausdruck lautet, heimlichfeißer Menschenschlag. Sie haben es alle mehr oder weniger dick hinter den Ohren, sie besitzen alle, der eine mehr, der andere weniger, irgend etwas Geheimes oder Heimliches, und sie sehen daher alle ein bißchen pfiffig und verschlagen in die Welt hinaus. Sie sind ehrlich und moralisch und nicht ohne Stolz, sie sind von Jahrhunderten her an eine gesunde bürgerliche und politische Freiheit gewöhnt gewesen. Aber sie verbinden mit der Ehrlichkeit gern einen gewissen Schein von Schlauheit und Weltbenehmen und sehen gern nach was ganz Klugem und noch Klügerem aus. Sie schämen sich alle ein wenig ihrer kernigen, natürlichen Gradheit, und jeder von ihnen allen will lieber ein »schlechter Hund« sein als ein Tropf von Esel, den man leicht übers Ohr hauen kann. Die Bärenswiler sind nicht leicht übers Ohr zu hauen, davor kann sich jeder, der das probieren will, tüchtig gewarnt sein lassen. Sie sind herzensgut, wenn man sie achtet, sie haben eine gute Portion Ehre im Leib, denn sie sind seit Jahrhunderten usw. Aber sie schämen sich auch ihrer Güte, wie fast jeglicher Gefühlsäußerung. Sie lachen mit den Stockzähnen, wo andere Menschen und Nationen mit den Lippen lachen, sie plaudern mehr mit den gespitzten Ohren als mit dem ungenierten Mund, sie schweigen gerne, aber manchmal fangen sie an zu prahlen wie die leibhaftigen Matrosen, als ob sie alle mit einem Wirtshaustischmaul zur Welt gekommen wären. Später schweigen sie wieder volle vier Wochen lang. Im allgemeinen kennen sie sich ausgezeichnet, sie rechnen nach, wo sie Vorzüge, wo Fehler besitzen, und sie sind immer eher geneigt, ihre Mängel als ihre guten Eigenschaften öffentlich strahlen zu lassen, damit ja niemand Bescheid wisse, wie tüchtig sie sind. Um so bessere Handelsgeschäfte machen sie dann. Sie seien grob wie die Teufel, sagt man in der rundum liegenden Welt, und nicht ganz ohne Ursache, aber es sind ihrer immer nur ein paar unter ihnen, die grobe Laster sind, und um dieser paar Ausnahmen willen müssen die Bärenswiler manches kecke und ungerechte Wörtlein hören. Sie haben viel Einbildungskraft, und Lust, diese Kräfte zu üben; die Geschmacklosen unter ihnen prahlen deshalb öfters mehr als gut und recht ist und sind verschrieen im übrigen Land. Aber vor allen Dingen, Herr Tobler, sind sie trocken und nüchtern, ein Schlag Menschen, wie geschaffen dazu, bescheidene aber sichere Geschäfte zu machen und dito Erfolge zu erzielen. Die Häuser, die sie bewohnen, sind sauber wie sie selber, die Straßen, die sie bauen, sind ein bißchen holperig, genau wie sie selber, und das elektrische Licht, das ihre Dorfstraßen Abends beleuchtet, ist praktisch, wiederum exakt wie sie selber. Und unter solch ein Volk mußte Herr Tobler geraten. Herr Ingenieur Tobler! * * * * * Die Zeit machte einen unsichtbaren Schritt vorwärts. Auch in der Gegend von Bärenswil blieben die Jahreszeiten nicht stehen, sondern sie hatten natürlicherweise zu tun, was sie anderorts auch tun müssen, sie veränderten sich, trotz des Herrn Tobler, der vielleicht wünschen mochte, die Zeit stillstehen zu sehen. Ein Mann wie er, dessen Geschäfte nicht gingen, war der unbewußte Feind alles dessen, was ruhig und gleichmäßig vorwärtsschritt. Der Tag oder die Woche ist solch einem Menschen stets entweder zu kurz oder zu lang, zu kurz, weil man die Krisis herankommen sieht, zu lang, weil man sich langweilt am Anblick des lahmen Geschäftsganges. Ging die Zeit scheinbar schnell dahin, so murmelte Tobler, man komme zu gar nichts Gescheitem mehr seit einigen Tagen, und machte sie scheinbar langsame und bequemliche Schritte, so wünschte er sich über die Berge in ein späteres Jahrzehnt versetzt, um alle diese ihn umgebenden Dinge nicht mehr anschauen zu müssen. Es fing an zu herbsteln, sich zu setzen, es stund irgendwo etwas still, die Natur schien sich manchmal die Augen reiben zu müssen. Die Winde wehten anders als bisher, wenigstens schien das oft so, Schatten huschten an den Fenstern vorbei, und die Sonne war eine andere Sonne geworden. Wenn es warm war draußen, so sagten ein paar Menschen, echte Bärenswiler, sieh da, wie warm es immer noch ist. Man dankte für die Milde, weil man einen Tag vorher, unter der Haustüre stehend, gesagt hatte: Potz blitz, es fängt zu rumoren an! Hin und wieder runzelte der Himmel seine schöne, reine Stirne, oder er zog sie sogar in Gramesfalten und -schleiern zusammen. Alsdann war die ganze Hügel- und Seegegend von grauen, nassen Tüchern umhüllt. Der Regen fiel schwer auf die Bäume, was nicht hinderte, daß man zur Post lief, wenn man zufällig ein Angestellter des Hauses Tobler war. Herr Martin Grünen schien sich um die schönen, sanften Wechsel der Jahreszeiten auch nicht viel zu kümmern, sonst würde er kaum haben schreiben können, alles, was Tobler an Zahlungsverweigerungsgründen ihm angebe, das berühre ihn gar nicht, und er beharre auf seiner Kündigung. Und wenn dann das schöne Wetter wieder kam, wie glücklich konnte das einen berühren. Es waren vornehmlich drei Farben in der Natur zu sehen, ein Weiß, ein Blau und ein Gold, Nebel, Sonne und Himmelsbläue, drei sehr, sehr feine, ja sogar vornehme Farben. Man konnte dann fortfahren, draußen im Garten zu essen, man stund dann da so, lehnte sich gegen das Gitter und dachte darüber nach, ob man das schon einmal, irgendwo in der Jugend vielleicht, könne gesehen haben. Die Wärme und Farbe waren eines geworden. Ja, sagte man, solche Farben ergeben eine solche Wärme! Die Gegend schien zu lächeln, der Himmel schien selber glücklich über sein Aussehen geworden zu sein, er schien der Duft und der Inhalt und die liebe Bedeutung dieses Land- und Seelächelns zu sein. Wie das alles nur so liegen, stillsein und strahlen konnte. Wenn man über die Seefläche hinaus schaute, fühlte man sich, man brauchte nicht einmal Gehülfe zu sein, von freundlichen, wohltuenden Worten angesprochen. Schaute man in die gelbliche Baumwelt hinein, so regte sich eine zarte Melancholie in einem. Sah man das Haus an, so mußte man lachen, obschon die herrische Pauline gerade am Küchenfenster Teppiche bürstete. Die Welt schien voller Musik zu sein. Über den Kronen der Bäume erschienen wie ferne, verhallende Töne die blendend-leichten-weißen Umrisse der Alpen. Man sah hin und empfand mit einem Mal das alles als unwirklich. Dann war's wieder anders. Andere Aussichten, andere Empfindungen! Auch die Gegend schien zu empfinden und ihre Empfindungen zu ändern. Das Empfundene verlor sich jedesmal in das allesbeherrschende Blau. Ja, alles war blau angefärbt und angehaucht. Und dazu diese Frische, dieses Rauschen von den Bäumen her, in denen immer eine leise, kühle Bewegung war. Konnte man da arbeiten, sich nützlich erweisen? Ja, man spannte das Waschseil auf und half der Waschfrau einen Korb nasser Wäsche aus dem Keller hinauf an das golden-blaue Licht der Erde tragen. So etwas zu tun ziemte sich an einem so schönen, bis in die letzten Winkel von Farben und Tönen durchzuckten, gleichsam hellgeschliffenen Tage. Und es gab eine ganze Reihe solcher Tage, wo man nur vom Bett aufstehen, sich zum Fenster hinauslehnen und mehrere Male hintereinander sagen mußte: wie wundervoll! Ja, aus dem Sommerland war ein Herbstland geworden. Aber im Marschtempo der Toblerschen Geschäfte war keine neue Wendung, keinerlei Umschwung, nicht einmal ein Seitensprung eingetreten. Die Sorge und die Enttäuschungen gingen wie ermüdete, aber an Zucht gewöhnte Soldaten im Schritt vorwärts, sie erlaubten sich keine Abweichungen. Sie bildeten, Mißerfolge und Aussichtslosigkeiten mithinzugerechnet, einen wohlgeordneten Marschzug, der sich langsam aber stetig vorwärtsbewegte, gradaus in das Kommende schauend. Tobler ging jetzt immer mehr auf Geschäftsreisen, als würde ihn der Anblick seines reizenden Hauses schmerzlich und vorwurfsvoll berührt haben. Er besaß ein Generalabonnement für sämtliche Bahnen auf ein volles Vierteljahr gültig, das er schließlich, da er es sich einmal angeschafft hatte, auch ausnützen mußte. Wo wäre denn da die gesunde Vernunft gewesen? Das Reisen als solches schien ihm überhaupt Vergnügen zu bereiten. Dazu war er der Mann. Im »Segelschiff« auf den Zug zu passen, denselben womöglich fürs erste einmal zu verpassen, dann in den nächsten einzusteigen, eine gewichtige Geschäftsmappe unter dem Arm, dann so zu fahren, in alle Welt hinaus, mit den Fahrgästen ein Gespräch zu beginnen, dem einen oder dem andern derselben eine Zigarre oder einen guten Stumpen zu offerieren, in einer fremden Gegend schließlich auszusteigen, mit flotten, lebenslustigen Leuten zu verkehren, bis in alle Nächte hinein in feineren Restaurants Unterhandlungen zu pflegen usw.: das war etwas für ihn, das glich ihm und seinem Wesen, das lenkte ihn ab von unwürdigen Gedanken, das half ihm, sich wieder ein bißchen er selber zu fühlen, das war wie sein Anzug, der ihm so prachtvoll saß. Was hatte er nötig, zu Hause zu sitzen, wo er doch einen Angestellten hatte, den er »füttern« mußte? Käme ihm gerade noch recht! Da versauerte er noch gänzlich das bißchen Unternehmungsgeist, das er noch hatte. Würde dann nicht mehr viel fehlen und er konnte endgültig »die Bude zuschließen«. Das fehlte noch: zu Hause sitzen und sich von den Bärenswilergesichtern höhnisch anglotzen lassen. Nein, lieber dann gleich eine Kugel vor den Kopf. Das war dann noch vorzuziehen. Und so reiste er eben. Zu Hause hatte inzwischen die Sorge um die täglichen Lebensbedürfnisse angefangen, leise an die Fensterscheiben zu klopfen, eine Gardine hochzuheben, um gemütlich in das Interieur der Toblerschen Familie blicken zu können, an der Tür zu stehen, um jemand, der vorüberging, an das Gefühl der Unsicherheit zu erinnern. Die Sorge interessierte sich jetzt schon ein bißchen mehr als im Sommer. Sie stund einstweilen da und prüfte das Terrain, im übrigen verhielt sie sich still. Es genügte ihr, daß man manchmal ihre Anwesenheit empfand, sie war höflich und vorsichtig. Eine Türschwelle, ein Fenstergesims, ein Plätzchen auf dem Dach oder unter dem Eßtisch, diese Orte schienen ihr vollkommen zu passen. Sie machte sich in keiner Weise wichtig, sie streifte mit ihrem kalten Hauch von Zeit zu Zeit allerdings das Herz der Frau Tobler, so daß diese sich manchmal am heiter hellen Tag umdrehte, als ob jemand hinter ihr sei, als ob sie hätte fragen sollen: »wer hält sich denn da hinter mir auf?« -- Die paar Gelder, die dem technischen Geschäft zuflossen, wurden sogleich, auf Anraten ihres Mannes, von der Hausfrau in Empfang genommen. Brot, Milch und Fleisch wollten doch täglich bezahlt sein. Man lebte und aß wie immer, man sparte in keiner Weise an diesen Dingen. Lieber gar nicht leben, als schlecht leben. Pauline erhielt ihren Lohn regelmäßig ausbezahlt, dagegen setzte man beim Gehülfen Verständnis und Takt genug voraus, die Lage zu begreifen, wortlos, und sich in dieselbe zu schicken. Joseph war ein Mann, Pauline ein unberechenbares Kind aus dem Volk. Einem Mann durfte man Entsagungen zutrauen, einem Kind aus den niederen Schichten des Volkes niemals, und der Angestellte begriff das. Die Knaben gingen wieder zur Schule, was für die Mutter eine große Erleichterung war, die sich nun öfters an die milde, herbstliche Sonne auf die kleine Veranda begeben, und dort in einem sanft schaukelnden Stuhl liegen konnte. Der Traum besuchte sie da zuweilen und spiegelte ihr in angenehmen Farben vor, sie sei eine Herrin und eine von den freiesten und besten, welcher schönen Gaukelei sie jeweilen ein kurzes Viertelstündchen, nicht ohne tiefe Wehmut dabei zu empfinden, den Aufenthalt gestatten mußte. Eines Tages rief sie den Gehülfen zu sich in die Veranda hinaus, sie möchte ihn gern etwas fragen. Es war kurz nach dem Mittagessen, Tobler befand sich auf Reisen, die beiden kleinen Mädchen spielten im Wohnzimmer. Was das heute wieder für schönes Wetter sei, bemerkte Joseph beim Betreten des Balkons. Die Frau nickte, sagte jedoch, sie denke an ganz anderes. »An was denn?« So. An mancherlei. Vor allen Dingen denke sie seit ein paar Tagen beständig daran, ob es nicht viel gescheiter wäre, das Haus, wie es da sei, jetzt schon zu verkaufen, und freiwillig fortzuziehen, denn die Schande des Zwanges, es zu verlassen, das fühle sie, komme ja doch langsam heran. Mit den Unternehmungen ihres Mannes sei es doch nichts, sie glaube das jetzt bestimmt zu wissen. »Wieso jetzt gerade?« Sie wehrte mit ihrer Hand ab und ersuchte Joseph, ihr frank und frei seine Meinung bezüglich der Reklame-Uhr herauszusagen. »Ich bin fest davon überzeugt,« sagte er, »daß sie sich auf guten Wegen befindet. Man muß nur jetzt noch ein wenig Geduld haben. Anknüpfungen mit weiteren Kapitalisten« -- -- Ach, sagte sie eifrig, er solle doch schweigen. Sie sehe es ihm ja deutlich an, daß er sich verstelle und ihr da Dinge sage, an die er selber nicht glaube. Das sei wenig schön von ihm. Was ihn denn veranlasse, zu glauben, sie könne den harten Ausdruck der Wahrheit nicht aushalten? Wenn er lügen wolle, so sei er ein ungetreuer und unanhänglicher Angestellter, dann glaube sie wirklich, es habe keinen weiteren Zweck, ihn noch länger dazubehalten. Sie habe zu wissen verlangt, wie und was er denke, und sie befehle ihm jetzt, offen seine Meinung herauszusagen. Vor allem wünsche sie zu erfahren, ob der kaufmännische Gehülfe ihres Mannes überhaupt fähig eines eigenen Gedankens sei. Er solle nur ruhig sitzen bleiben und ihr Red' und Antwort stehen, wenn ihm die Mannesehre kein ganz unbekanntes Ding sei. Joseph schwieg. Was das für ein Betragen sei? Sie glaube auch noch das Recht zu haben, ihm einen Befehl erteilen zu dürfen. Ob ihm der Mund in die Schuhsohlen hinuntergefallen sei? Platz würde dort schon sein, Löcher seien genug darin. Was für ein Stolz das sei bei so wenig äußerer Ehre? Toblers Kleider stünden ihm ausgezeichnet. Ja, ja. Und er solle verschwinden, wohin er wolle, daß sie ihn ja nur nicht mehr zu sehen brauche. Joseph war bereits weggegangen. Er ging um das Haus herum, sagte ein paar Worte zu Leo, dem Hund, trat ins Bureau hinein und setzte sich an den Schreibtisch. Den Stumpen anzuzünden vergaß er beinahe, er erinnerte sich jedoch sehr bald dessen Annehmlichkeiten und steckte sich einen von diesen immer vorrätigen Rauchstengeln an. Das behagete ihn seltsam an und er konnte arbeiten. Kurz darauf erschien Frau Tobler in der Bureautüre und sagte ruhig: »Ihr Betragen hat mich gereizt, Marti, aber es war gut. Vergessen Sie was eben geschehen ist. Kommen Sie bald zum Kaffee.« Sie schloß die Tür leise und ging wieder. Der Angestellte zitterte heftig. Es war ihm eine Unmöglichkeit, die Feder in der Hand zu halten. Das Leben selber tanzte ihm vor den Augen. Fenster, Tische und Stühle schienen lebendige Wesen geworden zu sein. Er setzte den Hut auf und ging baden. »Rasch noch vor dem Kaffeetrinken,« dachte er. Und dieser Frau hatte er eine Strafrede Silvis wegen halten wollen. Welche Torheit! Das Glück und die Gesundheit selber baden nicht mit mehr Genuß in den Wellen des Lebens, wie jetzt er im See badete. Das Wasser dampfte auf seiner stillen, aber schon kalten Oberfläche, die wie Öl dalag, so ruhig, so fest. Die Frische des Elementes ließ den nackten Körper sich kräftiger und lebhafter bewegen. Vom Badehaus schrie ihm der Wärter laut zu: »Nicht so weit hinausschwimmen, Sie da draußen. He! Hören Sie nicht?« Joseph aber schwamm ruhig weiter, er fürchtete nicht im geringsten, den Gliederkrampf zu bekommen. Er zerteilte und zerschnitt mit weiten Armbewegungen die nasse, schöne Bahn. Aus der Tiefe des Sees hauchten ihn eiskalte Ströme an: um so schöner, und er legte sich auf den Rücken, die Augen zum wunderbar blauen Himmel erhoben. Als er zurückschwamm, hatte er vor den Augen das von den Herbstfarben trunkene Land, das Ufer, die Häuser. Alles lag da, eingehüllt in einen seligen Farben- und Düfterausch. Er stieg aus dem Wasser und kleidete sich an. Beim Weggehen aus der Anstalt sagte ihm der ängstlich gewordene Wärter, er hätte ihm wohl gehorchen, und auf seinen Mahnruf zurückschwimmen können; wenn ein Unglück passiere, sei er es, den man verantwortlich mache. Joseph lachte. Frau Tobler spielte die Entsetzte, als er ihr sagte, es hätte ihn zu sehr gelockt, er habe halt dieses Jahr noch ein letztes Mal baden müssen. Sie saßen im Gartenhaus. Unvergleichlich schmeckte Joseph das braune Getränk nach dem Bad. Man müsse wirklich jetzt die paar warmen Tage noch profitieren, sagte Frau Tobler. Sie fing an zu plaudern von ihrer Verheiratung, von ihrer früheren Wohnung. So ein eigenes Haus, wo man ein- und ausgehen könne, wie es einem beliebe, das sei doch etwas Reizendes und Ruhiges. Das fände man vielleicht nicht so bald wieder -- -- Joseph unterbrach sie. Er sagte höflich: »Frau Tobler, Sie werden sich wieder ereifern. Warum denken Sie immer an das? Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß ich Ihr gehorsamer Diener bin. Doch wozu diese Reibereien? Hier stehe ich vom Tisch auf und gewärtige die Erlaubnis, mich wieder setzen zu dürfen.« Er war aufgestanden. Sie sagte, er solle sich setzen. Er tat es. Sie schwiegen eine Weile, dann kam ihr plötzlich die Laune, sich in die Reitschule zu setzen, und sie bat den Gehülfen, sie zu stoßen und die Seile anzuziehen. Indem sie mit ihrem Brett hoch in die Luft flog und wieder hinuntersauste, rief sie, das gefalle ihr, und »man müsse jetzt noch ein wenig vom Garten profitieren«. Bald käme der Winter und dann heiße es nur zu herrisch: Zu Hause sitzen! Er mußte sie jedoch bald aufhalten, da es ihr schwindlig zu werden drohte. Indem er das tat, atmete er gezwungenermaßen den Duft ihres Körpers, den er einen Augenblick mit dem Arm umfassen mußte, ein. Ihre Haare berührten sein Gesicht. Diese vollen, langen Arme! Er nötigte sich, wegzusehen. Der Gedanke, ihren Hals zu küssen, durchzuckte ihn augenblicklich, aber er tat es nicht. Eine Minute später dachte er mit Schaudern an diese einfache Möglichkeit, und er war sehr froh, dieselbe vernachlässigt zu haben. Sie saßen wieder einander gegenüber. Sie plauderte ausgelassen: Wie da in dem Haus, welches ihr Mann und sie früher bewohnt hätten, ein junger Mensch ihr den Hof gemacht habe, ein so närrisch verliebter Kerl -- nein, sie müsse schon laut lachen, daran nur zu denken, geschweige denn, davon zu sprechen. Eines Nachts sei dieser junge, übrigens besseren Kreisen angehörige Mann in ihr Schlafzimmer eingedrungen und habe sich, sie sei schon im Bett gelegen, davor niedergestürzt und ihr seine heiße Sehnsucht gestanden. Sie habe ihm vergeblich entrüstet zugerufen und ihm befohlen, sich sogleich zu entfernen. Der Mensch sei aufgestanden, aber nicht, um sich fortzumachen, sondern um sie zu umarmen. Noch jetzt, wenn sie sich in jenen fürchterlichen Moment versetze, spüre sie den Druck der Hände, die sich um sie spannten. Sie habe natürlich um Hilfe gerufen, und da sei zufälligerweise -- und jetzt komme der lustige Teil der Geschichte -- ihr Mann gerade die Treppe hinaufgekommen. Er hört nur die Schreie, stürzt sich ins Zimmer, und da habe er den jungen Mann wirklich wüst hergenommen. Den Stock, und der sei dick gewesen, habe er ihm auf Kopf und Schultern entzweigeschlagen, so daß sie, die Ursache der Prügel, Tobler habe anflehen müssen, den Gegner, der ja auch gar kein solcher war, doch zu schonen. Ihr Mann habe denselben dann die Treppe hinuntergeworfen. »Ich muß mich also in acht nehmen,« sagte Joseph. »Sie?« Es hat nie ein verständnisloseres Gesicht in der Welt gegeben, wie das, das Frau Tobler dem Gehülfen zeigte, als sie das sagte. Sie fing an, sich mit Dora zu beschäftigen. Ob Joseph ihr einen Gefallen tun möge, wandte sie sich plötzlich an diesen. Auf der Post liege das etwas große Paket, das ihr neues Kleid enthalte. Sie möchte es gar zu gern heute noch anprobieren. Ob es von dem Angestellten nicht zu viel verlangt sei, zu wünschen, er möchte das Paket herbeiholen? Es sei vielleicht zu mühsam, und Joseph habe womöglich Wichtigeres zu tun. Nein, nein, er werde sofort gehen und es holen, sagte er, ganz glücklich darüber, eine Ursache gefunden zu haben, wieder einmal zur Post laufen zu können. Er lief sogleich weg und brachte nach einer halben Stunde den Karton ins Wohnzimmer der Villa Tobler. Die Frau war das völlige Selbstvergessen im Öffnen der langersehnten Postsendung. Sie ging in ihr Schlafzimmer hinauf, um das Kleid anzuziehen, Pauline mußte ihr behilflich sein. Gut, daß der Herr nicht da war. Wie würde der über ihre freudige, frauliche Erregung gehöhnt und geschimpft haben. Nach ein paar Minuten trat sie wieder in das Wohnzimmer, angetan mit dem hochmodern zugeschnittenen Kostüm. Es stand ihr prachtvoll. Sie wünschte von Joseph zu wissen, wie sie aussehe. Silvi, die kleine Botenläuferin, mußte den Gehülfen aus dem Bureau heraufholen. Dieser war erstaunt, Frau Tobler so schön zu finden. Akkurat wie eine Baronin, sagte er lachend. Nein, sagte sie, im Ernst, wie sehe ich aus? Vorzüglich sehe sie aus, gestand er, und er erlaubte sich hinzuzufügen: »Ihre Figur tritt sehr gut zum Vorschein. Sie sehen jetzt eigentlich gar nicht mehr wie Frau Tobler aus, sondern wie eine seeentstiegene Nixe. Für Bärenswiler-Augen dürfte das Kleid beinahe zu schön sein. Aber schließlich verdienen diese Leute auch, daß sie erfahren und sehen können, was hauptstädtische Schneiderinnen zu leisten vermögen. Stoff und Form dieses Kostüms sind derart, daß man meinen möchte, der Stoff selber habe zu der Form den Gedanken gegeben, und umgekehrt scheint die Form selber diesen schönen Stoff erwählt zu haben.« Über diese Rede war Frau Tobler ganz glücklich. Sie mochte in Geschmackssachen ein wenig unsicher sein. Sie sagte lächelnd, sie getraue sich nicht, in diesem Aufzug über die Gassen von Bärenswil zu gehen, sie wolle daher das Kleid nur tragen, wenn sie gelegentlich in die Stadt fahre. * * * * * Unbezahlte Wechsel und Rechnungen. Die Bank stutzte immer mehr. Der Ton, in welchem die Kassenbeamten der Bärenswiler Bank mit Joseph etwas besprachen, wenn er dort zu tun hatte, drückte nicht mehr nur Erstaunen, sondern auch herablassendes Mitleid aus. »Schlimm steht es bei euch da oben auf eurem Hügel,« sagte dieser Ton. Erinnerungen und Ermahnungen, nun doch endlich zu zahlen, liefen täglich per Post im Abendstern ein. Nichts war bezahlt, nicht einmal die Zigarren, die fortlaufend geraucht wurden. Die Gartengrotte war nun auch fertig geworden, bis auf einige Kleinigkeiten, die Tobler später machen lassen wollte, sobald es mit ihm wieder einigermaßen besser stünde. Die Bauunternehmer reichten ihre Rechnung ein, sie belief sich auf ungefähr tausendfünfhundert Mark, eine Summe, wie man sie in der Villa Tobler schon seit langer Zeit nicht mehr beisammen gesehen hatte. Wo hernehmen? Aus der Erde graben? Den Leo nächtlich auf einen lustwandelnden Rentier hetzen, denselben zu Boden schlagen und berauben? Raubrittergeschichten gab es im zwanzigsten Jahrhundert leider nicht mehr. Jetzt war die Zeit da, wo man wenigstens wieder ein kleines Fest feiern konnte. Es wurden Karten versandt an sieben angesehene Männer des Dorfes, drei nahmen die Einladung zum nächtlichen Grottenfest an, die übrigen vier waren, wie man sich zu entschuldigen pflegt, verhindert. Das tat übrigens nichts zur Sache. Je weniger Teilnehmer erschienen, desto mehr bekam jeder dieser Wenigen zu trinken. Es befanden sich noch einige Flaschen ausgezeichneten Neuenburgerweines im Keller. Der sollte jetzt verknallt werden. Eine würdigere Gelegenheit würde sich nicht so rasch wieder bieten. Die drei Männer, ein Spezereihändler, der Segelschiffwirt und ein Versicherungsagent, kamen eines Abends bei stürmischem Wetter, zu der festgesetzten Zeit, an. Alsogleich begab man sich in die Feengrotte, ein höhlenartiges, mit Zement ausgeschlagenes und tapeziertes Ding, länglich wie ein größeres Ofenloch, etwas zu niedrig, so daß die Besucher mehr als einmal die Köpfe anstießen. Ein Tisch wurde in diese Grotte gestellt nebst ein paar Stühlen, die der Gehülfe und Pauline herbeischleppten. Eine Lampe war die Beleuchtung. Bald kam auch der Wein, der sich als ein edles, feuriges Getränk in die Gläser ergoß, worauf er über die kostenden und schmeckenden und schnalzenden Lippen sprang, die Kehlen hinunter. So lange noch ein solches Weinlein im Hause sei, so -- -- Tobler hielt in seiner Ansprache inne, zur Vorsicht und Besonnenheit gemahnt durch einen blitzenden Blick aus seiner Frau Augen. Ja, da hatte er vor drei heimlichfeißen Bärenswilern eine Dummheit sagen wollen. Er, er war ein offenes Gemüt von einem Mann. Die Unterhaltung wurde immer fröhlicher und ungezwungener. Recht unfeine Witze, die in Gegenwart dreier Damen (die Parketteriedamen waren auch da) eigentlich unschicklich klangen, flogen von Mund zu Mund, aufgefangen von laut lachendem Verständnis. Nur Joseph lachte nicht viel. Ob er nicht zufrieden sei, wandte sich Tobler an ihn. Er solle nur trinken, dann werde er schon munter werden. Die Sorgen lägen auf dem Grund der Gläser, und man müsse kurzen Prozeß machen und sie austrinken. Wo Pauline sei? Die solle den Neuenburger auch zu versuchen bekommen. Frau Tobler sagte, das sei nicht nötig, aber der Ingenieur bestand darauf. Geschichten von der anzüglichsten Sorte wurden zum besten gegeben. Die drei Bärenswiler erwiesen sich als Meister in der komischen Wiedergabe derselben. Würde Tobler für jedes Lachen, das an diesem Abend erschallte, einen Hundertmarkschein bekommen haben, so wäre er über Nacht ein wahrhaft fürstlich reicher Mann geworden, hundertmal wohlhabend genug, alle seine Schulden auf einen Schlag zu tilgen. Aber das Gelächter trug nichts ein, es verhallte an den Wänden der kleinen Grotte, es belustigte bloß, aber bereicherte nicht. »Auf das Gelingen deiner Unternehmungen, Tobler!« sprach der Segelschiffwirt, indem er ein volles Glas hochhob. Hierdurch gerührt und verletzt schwang sich Herr Tobler zu folgender Rede auf: Das will ich auch hoffen! Wenn ein gesunder Mann sein Letztes an seine Ideen setzt, so gibt es immer im weiten Umkreis der Menschen Geschwätze, die dieses Mannes Werke verleumden und herabsetzen. Dieser Mann aber steht hoch über diesen Verdächtigungen. Er ist ein Unternehmer und als solcher verpflichtet, nicht nur etwas, sondern alles zu wagen. Das Wagnis, meine Herren, sieht kühn, aber es sieht auch oft prahlerisch und lächerlich aus, weil es die einzig dastehende und beständige Aufgabe hat, niemandes Urteil zu scheuen. Was will das Wagnis in der Dachstube, im Laboratorium, im Heft, auf dem Zeichentisch tun? Es entsteht an diesen Orten, aber wollte es da bleiben, wo es entstanden ist, so wäre es eine bloße, genußsüchtige Träumerei. Hinaus an das Licht der Welt muß es. Es muß sich zeigen, es muß die Gefahr, lächerlich und unbrauchbar befunden zu werden, besiegen, oder es muß von dieser Gefahr erdrückt werden. Was nützen der Welt die klugen Köpfe, wenn sie im Verborgenen dahinleben, was nützen die bloßen Erfindungen? Eine Erfindung ist eine Arbeit aber kein Wagnis, ein bloßer hoher Gedanke rüttelt nicht das Kleinste am bestehenden Bau der Welt. Die Ideen müssen sich verwirklichen, die Gedanken streben nach der Verkörperung. Hierzu braucht es des kühnen und unerschrockenen Mannes, des gesunden und starken Armes, der festen und treuen Hand. Eines Fußes, der, wenn es ihm endlich, nach vielen Widerwärtigkeiten, gelingt, Boden zu fassen, diesen Boden nicht bald wieder verlassen wird. Eines Herzens, das Stürme erträgt, einer, mit einem Wort, männlichen Seele. Es ist nicht gesagt, daß dieser Mann glücklich ist, sobald er seine Unternehmungen vom duftenden und rauschenden Erfolg gekrönt sieht, er erstrebt keine persönliche Macht, er hat nur erreicht, was ihn, wenn er es nicht erreicht hätte, würde erstickt haben. Seine Idee will etwas erreichen, nicht er, seine Idee will aber dafür auch alles erreichen. Eine Idee stirbt oder sie siegt. Mehr habe ich nicht zu sagen. Auf diese ziemlich romantisch gefärbte Rede lächelten die stillen, schlauen Bärenswilerherren mit erzwungen zugepreßten Lippen. Frau Tobler war im höchsten Grad ängstlich geworden. Das Fräulein aus der Nachbarschaft schien die gesamte ohrenspitzende, lauschende Umgegend zu verkörpern, so sehr mit offenem Mund saß sie da. Die alte Dame verstund kein Wort. Joseph teilte die Empfindungen seiner Herrin, und er war zugleich mit ihr froh, als sich Tobler wieder setzte, um ein neues volles Glas Neuenburger herunterzustürzen. Seine Rede hatte ihn beinahe stärker mithergenommen als der genossene Wein. Bald aber lachten wieder alle. Der flüchtig sich in die Grotte verlorne Ernst verflog wieder. Es wurde ein »Jaß« beschlossen. Toblers Augen glänzten wieder ganz genau so fiebrig wie in jener vergangenen Sommernacht, in der die Raketen zu Dutzenden aufgeflogen waren. »Ja, für Feste jeglicher Sorte paßt er prachtvoll,« dachte Joseph. Am nächsten Morgen schwammen etliche Pfropfen im Teich herum, nebst ein paar gelber, vom gestrigen Sturm hier herüber gewehter Blätter. Es regnete. Die ganze Besitzung sah traurig und verlassen aus. Joseph stand im Garten: welch ein Anblick! Aber er verbot sich die Stimmung, die ihn ergreifen wollte und zwang seinen Gedanken eine alltäglich-praktische Richtungnahme auf. Geschäfte im bejahenden und erwerbenden Sinne gab es immer weniger zu erledigen. Das Hauptgeschäft bestund nur noch im Abwehren der Gläubiger, die anfingen, von allen Seiten her, und in immer schrofferer Weise, zu drängen, und im Verzögern und Verschieben der Notwendigkeit, mit Geld herausrücken zu müssen. Geld, Geld, das mußte herbeigeschafft werden mit allen noch zur Verfügung stehenden Mitteln, aber der Mittel und Wege, dieses zu bewerkstelligen, gab es verschwindend wenige, und die paar wenigen Wege waren durchaus zweifelhafte und unsichere. Eines dieser noch möglichen Gelderwerbsmittel bestund in einem gemeinen und schamhaften und heimlich betriebenen Anpumpen privaten Charakters. Auf seinen Reisen traf Tobler etwa einen Verwandten oder einen Bekannten an, dem gestand er entweder die nackte, unfreundliche Wahrheit, oder er schwindelte ihm irgend eine momentane Verlegenheit vor und verstund es auf diese Weise, hie und da Geld, Summen geringen Umfanges, herauszuerwischen. Dieses Geld kam dann in der Regel auf Privat- oder auf Haushaltungskonto zu buchen. Grundsätzlich hatte Joseph seine Bureaustunden inne zu halten, aber in Wahrheit gab es im Bureau kaum noch etwas Reelles und Vorwärtsführendes zu tun, sondern es galt im Grunde nur noch überhaupt da zu sein. Eines Morgens ließ der Gehülfe aus Vergeßlichkeit die Bureautüre offen stehen beim Weggehen nach der Post. Als er zurückkam, gab es eine Szene: Tobler sagte heftig, Unordnung brauche deswegen, daß kein Geld da sei, noch lange nicht einzureißen. Das verbitte er sich. Wenn auch keine Barschaften zu entwenden seien, so könne doch jemand, sei es der Briefbote, sei es ein anderer, durch die offene Türe, unangemeldet, ohne daß ein Mensch im Hause es merke, eintreten und in den Büchern und Papieren herumstöbern. Joseph gab zur Antwort, es werde wohl Pauline gewesen sein, die die Türe habe offen stehen lassen. So etwas tue er nicht, er halte stets streng auf Ordnung. Gerade Pauline, brauste der Chef auf, sei ja diejenige, die ihn wegen dessen verklagt habe, was er, erstaunlich unverschämterweise, nun auf sie schieben wolle. Er schiebe überhaupt immer alles auf Pauline. Was sie ihn zu verklagen habe, dieses Plappermaul, sagte der in der Schlinge Gefangene. Tobler gebot ihm zu schweigen. Das waren Tage, das, nasse und stürmische, und doch war ein eigener Zauber dabei. Das Wohnzimmer wurde auf einmal so wehmütig-gemütlich. Die Nässe und Kälte draußen machten die Zimmer freundlicher. Man heizte jetzt schon. Durch das neblige Grau der Landschaft brannten und leuchteten fiebrig die gelben und roten Blätter. Das Rot der Kirschbaumblätter hatte etwas Glühendes und Wundes und Wehes, aber es war schön, das versöhnte und erheiterte wiederum. Oft erschien das ganze Wiesen- und Baumland in Schleier und nasse Tücher eingehüllt, oben und unten und in der Ferne und Nähe alles grau und naß. Wie durch einen trüben Traum schritt man durch das alles hindurch. Und doch drückte auch dieses Wetter und diese Art Welt eine geheime Heiterkeit aus. Man roch die Bäume, unter denen man ging, man hörte reifes Obst in die Wiese und auf den Weg fallen. Es schien alles doppelt und dreifach still geworden zu sein. Die Geräusche schienen zu schlafen oder sich zu fürchten, zu tönen. An den frühen Morgen und späten Abenden drang über den See der langdahingeatmete Ton der Nebelhörner, die einander da draußen, Schiffe ankündigend, das warnende Signal gaben. Sie erklangen wie Klagelaute von hülflosen Tieren. Ja, Nebel gab es genug. Dazwischen gab es einmal wieder einen schönen Tag. Und Tage gab es, echt herbstliche, weder schöne noch wüste, weder besonders freundliche, noch besonders trübe, weder sonnige, noch dunkle Tage, sondern solche, die ganz gleichmäßig licht und dunkel blieben von Morgens bis Abends, wo vier Uhr nachmittags dasselbe Weltbild bot wie elf Uhr vormittags, wo alles ruhig und mattgolden und ein bißchen betrübt da lag, wo die Farben still in sich selber zurücktraten, gleichsam für sich sorgenvoll träumend. Solche Tage, wie liebte sie Joseph. Alles kam ihm dann schön, leicht und vertraut vor. Diese leichte Traurigkeit in der Natur machte ihn sorglos, beinahe gedankenlos. Es war dann vieles nicht schlimm, vieles nicht mehr schwer, was ihm vorher schlimm und schwerfällig erschienen war. Eine angenehme Vergeßlichkeit trieb ihn an solchen Tagen die hübschen Dorfstraßen entlang. Die Welt war ruhig, gelassen und gut und gedankenvoll anzusehen. Man konnte überall hingehen, es blieb immer dasselbe blasse und volle Bild, dasselbe Gesicht, und das Gesicht blickte einen ernst und zart an. Zu dieser Zeit wurde, unter dem verschwiegenen Aufruf: Geld her! ein neues Inserat »Fabrikbeteiligung gesucht« in die Zeitungen gedruckt. Die kleinen Geschäftsleute des Dorfes hatten Geld haben wollen, waren aber abgewiesen, und auf spätere Zeiten vertröstet worden. Im Dorf wurde infolgedessen laut gesprochen: Tobler zahlt nicht! Die Frau wagte sich kaum noch recht in die innere Ortschaft, sie fürchtete, beleidigt zu werden. Die hauptstädtische Schneiderin ersuchte brieflich um Einsendung des Preises für das angefertigte Kleid. Der Betrag belief sich auf rund hundert Mark, eine dem Frauengedächtnis nur zu gut sich einprägende Summe. »Schreiben Sie ihr,« sagte Frau Tobler zum Gehülfen. Es war eben ein Faß jungen Weines oder sogenannten Sausers angekommen. Schmal wurde auch jetzt noch nicht im Hause gelebt, das verbot der natürliche Frohsinn, der sich gerade jetzt wieder einzustellen begann. Mochten die Leute im Dorf sagen und denken, was sie wollten, auch Doktor Speckers, die seit drei Wochen ihre Besuche aufgegeben hatten. Joseph schrieb der Schneiderin, einer Frau Berta Gindroz, einer Französin: sie solle gefälligst noch ein wenig Geduld haben. Momentan sei eine Berichtigung nicht gut möglich. Frau Tobler sei übrigens mit der Arbeit nicht ganz so zufrieden wie frühere Male, indem das Jüpon zu eng geraten sei, dasselbe drücke sie unter den Armen. Auf alle Fälle möchte Frau Gindroz betreffs der Zahlung nur ruhig sein. Man könne zurzeit nur nicht gut den Herrn wegen dieser Sache angehen, Herr Tobler sei mit Geschäften und Sorgen zu sehr überladen. Ob das Kleid nicht wohl erst noch müsse geändert werden? Man erwarte hierüber Bescheid und man bitte, davon überzeugt zu sein, usw. Frau Tobler unterschrieb den Brief wie ein Geschäftsherr seine zahlreichen Korrespondenzen zu unterschreiben pflegt. Der ganze Garten lag voller abgefallener und zugewehter Blätter, da machte sich der Angestellte eines Nachmittags dahinter und fing an aufzulesen, zusammenzurechen und zu Haufen zusammenzutragen, was er vermochte. Der Tag war kalt und finster. Große, unbestimmbare Wolken lagerten düster am Himmel. Das Haus Tobler schien zu frieren und sich nach dem edlen, heiteren Sommer zurückzusehnen. Die Bäume in der Umgebung waren jetzt ganz kahl geworden, ihre Äste waren schwarz und naß. Der Bahnwärter kam herzu. Derselbe wohnte ganz in der Nähe, er war ein freundlicher, bescheidener, zur Dankbarkeit geneigter Mann, und er kam nun heran und half Joseph Blätter auflesen, indem er sagte, was in guten und bessern Tagen recht gewesen sei, das sei nun wohl in schlimmen Zeiten nichts als nur billig. Er habe manches Gute von Herrn Tobler genossen. Derselbe habe ihm etwa manche Zigarre gegeben und manches hübsche Trinkgeld, so sähe er nicht ein, weshalb das immer so andauern müßte, und er sei jedenfalls einer von denjenigen Bärenswilern, die es gut mit dem allezeit freigebig gewesenen Ingenieur meinen. Bald war der ganze Garten gesäubert. »Auch schon wieder eine Arbeit erledigt,« sagte lachend der Bahnwärter. »Ja junger Herr, es gibt mancherlei Sorten Beschäftigungen, und in allem, was man mit aufrichtigem Bemühen tut, kann ein Stück Ehre liegen. Wenn Sie mir jetzt ein paar von Herrn Toblers Stumpen zum Rauchen geben wollen, so ist mir das nicht unwillkommen. Bei dieser Witterung kann man einen glühenden Stengel schon vertragen.« Frau Tobler ließ dem Mann einen halben Liter »Sauser« geben. * * * * * Der Aktienbierbrauerei Bärenswil wurde betreffs Besetzung einer Anzahl Felder oder Flügel der Reklame-Uhr Offerte gemacht. Die Firma schlug ab, später vielleicht! Das war ein neuer, peinlicher Mißerfolg, der Tobler veranlaßte, den Briefbeschwerlöwen zu Boden zu schmettern, wo er in Stücke flog, die der Gehülfe aufhob. Gleichzeitig wurde auf das technische Bureau ein neues Zahlungsforderungsgeschütz gerichtet. Die Kanonenkugel verletzte zwar niemanden, aber sie reizte, ärgerte und vermehrte die Unruhe. Das war niemand anderes als der frühere Agent und Reisende Toblers, ein gewisser Herr Sutter, der jetzt per eingeschriebenen Briefen daherzutraben kam, um die rückständigen Gehälter und Provisionen, die sich auf die Konzessionserwerbungen für die Reklame-Uhr bezogen, einzufordern. Tobler würde diesem Menschen am liebsten zurückgeantwortet haben: »Du kannst mir in der Gegend von Genua in die Schuhe hineinblasen, du Narr, was du bist,« aber er mußte vernünftigerweise auch diese neue, unangenehme Schuldforderung anerkennen und schrieb dem Mann: »ich kann nicht bezahlen!« Geduld! Herr Tobler sah sich genötigt, von allen seinen Mitarbeitern, Lieferanten und Mitmenschen Geduld zu verlangen, gleichsam so: Habt Geduld, ich, Tobler, meine es ehrlich und aufrichtig. Ich bin so unvorsichtig gewesen und habe mein gesamtes Barvermögen in meine Unternehmungen geworfen. Treibt mich nicht bis zum Äußersten. Ich ordne meine Verpflichtungen, ich kann noch erben, ich besitze noch Ansprüche auf ein mütterliches Erbteil. Auch habe ich ein neues Inserat, Kapitalien gesucht, in die Zeitungen, die die Welt bedeuten, rücken lassen. Der Kopf schwindelt mir zwar ein wenig, aber usw. -- Wegen des zu erwartenden Erbteiles unterhandelte jetzt Tobler mit seinem Advokaten, an welchen man jeden Tag Briefe und Postkarten schrieb. Das erste Schützenautomaten-Exemplar war inzwischen fertig geworden, es funktionierte in der Tat glänzend und erweckte fröhliche Hoffnungen. Diesem Automaten, meinte sein Erfinder, bleibe es womöglich noch vorbehalten, die Reklame-Uhr und das darin geworfene Vermögen zu retten. Der Hilfsmechaniker lud Joseph eines Tages ein, das fertige Werk zu besichtigen, und dieser folgte der Aufforderung gerne, umsomehr als der Herbsttag schön und mild war. Er machte sich zu Fuß auf und spazierte gemächlich gegen das eine gute Stunde weit entlegene Nachbardorf zu, rechts zur Begleitung der in die Höhe schießende Wald, links der ruhige See, so ließ es sich ganz gut »in Geschäften« die Landstraße entlang gehen. In der Ortschaft angekommen, erkundigte er sich nach der mechanischen Werkstätte, fand sie nach vielem Suchen in den durcheinander gekneteten und gebauten Dorfgassen und stand nun vor dem elegant mit Dekorationsfarben angemalten Schützenautomaten. Der Hersteller desselben, indem er Joseph dartat, wie glatt und geräuschlos das Ding lief, brummte, nun erwarte man aber auch von Herrn Tobler eine angemessene Entlöhnung, oder man dürfe, meine man, eine solche gewärtigen, nachdem man doch, was aber Tobler nur nicht anerkennen wolle, die Hauptsache am Werk getan habe. Mit Springen, Befehle erteilen und Umherreisen sei eine Sache eben noch lange nicht in Wirklichkeit im Gang. Dazu bedürfe es der Hände, die auch tatsächlich arbeiten. Ja, Joseph solle nur seinen Chef davon unterrichten, wie man hierorts die Sachlage auffasse, es könne nicht schaden, wenn Tobler es wisse. Joseph schwieg zu allen diesen unzufriedenen Auslassungen und trat bald den Heimweg wieder an. Zu Hause rief man ihm schon von Weitem entgegen, es warte ein Herr unten im Bureau auf Herrn Joseph Marti. Es war der Verwalter des hauptstädtischen Stellenvermittlungsbureaus, der Mann, dem der Gehülfe seine Stelle zu verdanken hatte, ein sonderbar verwilderter Herr, der aber, wie es schien, die demütigsten und sanftesten Manieren hatte. Die Herren begrüßten sich gegenseitig freundschaftlich, beinahe brüderlich, obschon ein bedeutender Altersunterschied sie trennte. Das gleichsam zerzauste und zerfetzte Gesicht des Verwalters ließ Joseph an längst überstandene Dinge denken. Eine armselige Schreibstube tauchte vor seinen inneren Augen auf, sich selber sah er dort an einem Pult sitzen, dann sah er den Herrn Tobler zur Tür eintreten, den Verwalter vom Platz aufstehen, wie er sich umguckte nach dem passenden Menschen, der diesem Herrn Tobler dienen konnte. Wie weit das alles schon zurücklag. Was denn den Herrn Verwalter nach Bärenswil hinaufgeführt habe? Der ältliche Mann, indem er sich im Bureau nach allen Seiten umschaute, sagte, er komme vor allen Dingen lediglich aus bloßem Interesse, damit er sich einmal den Ort ansehe, an welchem es, wie es scheine, Joseph gefalle. Es sei heute in der Schreibstube gerade ein schläfriger Tag gewesen, keinerlei Aufträge, da habe er sich eben in den Zug gesetzt und sich den kleinen Ausflug gestattet. Aber ganz nur neugierdehalber komme er auch nicht, er verbinde gerne mit dem Genußvollen das Nützliche und Notwendige, und so möchte er sich denn die Frage erlauben, warum ihm bis heute noch nicht einmal, trotzdem er wiederholt Mahnbriefe geschrieben habe, der Betrag, den die übliche Vermittlungsgebühr ausmache, eingesandt worden sei. Ob seine Briefe und Mahnungen nicht eingetroffen seien? »Ja, die sind angekommen, aber es ist kein Geld da, Herr Verwalter,« antwortete Joseph. »Wie? Und nicht einmal für einen so geringen Betrag?« »Nein!« Der Verwalter machte ziemlich nachdenkliche Augen und frug, ob Herr Tobler zu sprechen sei. Joseph sagte: »Herr Tobler ist während all dieser Tage für Menschen, die Geld von ihm haben wollen, unter keinen Umständen zu sprechen. Hiefür bin ich da, sein Angestellter. Wollen Sie sich nicht einen Moment, bitte, setzen, Herr Verwalter. Sie werden sich zehn Minuten ausruhen und alsdann wieder gehen. Bei aller Hochschätzung vor Ihnen bin ich gezwungen, Ihnen zu sagen, daß man hier im Hause Tobler die Leute, die bei uns etwas zu fordern haben, sehr ungern sieht. Sowohl Frau wie Herr Tobler haben mir den bestimmten Befehl erteilt, mit Erscheinungen solcher Gattung kurzen Handel zu machen, mich mit ihnen in keine Gespräche einzulassen, sondern sie kühl abzuweisen. Sie selber, Herr Verwalter, haben mir damals, als ich Ihnen vor dreieinhalb Monaten in der Schreibstube adieu sagte, um mich nach Bärenswil zu begeben, anempfohlen, mich als treuen, gehorsamen und fleißigen Mann zu erweisen, damit man mich brauchen könne und mich nicht nach einem halben Tag schlechtbestandener Probezeit wieder fortjagen müsse. Sie sehen, ich bin heute noch da, ich scheine mich also zu bewähren. Ich habe mich in die hiesigen, eigenartigen Verhältnisse hineingefunden, und ich glaube, ich passe in diese Verhältnisse.« »Wird Ihnen denn auch Ihr Gehalt ausgezahlt?« fragte der Verwalter. Der Gehülfe sagte: »Nein, und das gehört allerdings zu den Punkten, die mir nicht recht gefallen. Ich habe hierüber schon mehrmals mit Herrn Tobler sprechen wollen, aber jedesmal, wenn ich den Mund habe auftun wollen, um meinen Vorgesetzten an diese, wie ich wohl habe empfinden müssen, für ihn nicht gerade angenehme Sache zu erinnern, ist mir der Mut, zu reden, vergangen, und ich habe dann jedesmal zu mir gesagt: Du verschiebst es! Und ich lebe ja, auch ohne Gehalt, heute noch.« »Wie lebt sich's denn hier. Bekommen Sie gut zu essen?« »Ausgezeichnet!« Es bleibe ihm also, meinte sorgenvoll der Verwalter, nach allem was gesprochen worden sei, nichts anderes übrig, als Herrn Tobler auf gerichtlichem Wege zu betreiben. »Tun Sie das,« sagte Joseph. Der Verwalter griff nach dem abgeschabten Hut, schaute den Gehülfen väterlich an, gab ihm die Hand und ging. Joseph nahm ein Stück Papier zur Hand und schrieb, da er sich weiter mit nichts Wichtigerem beschäftigt sah, folgendes darauf: Schlechte Gewohnheit. Eine solche ist das Bedürfnis, gleich alles zu bedenken, was mir Lebendiges vorgekommen ist. Das kleinste Begegnis erregt in mir eine sonderbare Denklust. Eben ist ein Mann von mir weggegangen, der mir um der Erinnerungen willen, die mit seiner alten, armen Gestalt verbunden sind, lieb und bedeutend ist. Ich glaubte etwas vergessen, verloren, oder nur liegen gelassen zu haben, als ich in sein Gesicht schaute. Ein Verlust prägte sich sogleich meinem Herzen ein und ein altes Bild meinen Augen. Ich bin vielleicht ein etwas überspannter, aber ich bin auch ein genauer Mensch. Ich empfinde die kleinsten Verluste, ich bin in gewissen Dingen peinlich gewissenhaft, und nur ab und zu muß ich mir wohl oder übel gebieten: Vergiß das! Ein einziges Wort kann mich in die ungeheuerste und stürmischste Verlegenheit setzen, ich bin dann von dem Gedanken an dieses scheinbar Winzige und Nichtige erfüllt, durch und durch, während die Gegenwart, wie sie treibt und lebt, für mich unerklärlich geworden ist. Diese Momente sind eine schlechte Gewohnheit. Auch dies ist eine schlechte Gewohnheit, das was ich da mache, Gedankenaufnotieren. Ich gehe jetzt zu Frau Tobler. Vielleicht hat sie eine Arbeit häuslichen Charakters für mich. -- Er warf das Geschriebene in den Papierkorb und verließ das Bureau. In der Tat harrte seiner eine häusliche Arbeit, die darin bestand, die für den Winter bestimmten Vorfenster aus der Bodenkammer hinunter in den Keller zu tragen, wo sie geputzt und gewaschen werden mußten. So zog er denn gleich seinen Rock aus und schleppte Fenster hinunter. Frau Tobler war erstaunt über seinen feurigen Diensteifer, und die Waschfrau, die inzwischen putzte, sagte zu ihm, er sei etwa noch einer, den man ein bißchen zu allem brauchen könne. Sie hängte dem Lob eine Lehre an und bemerkte mit ihrer rauhen Stimme, das sei heutzutage, wo die Welt immer unsicherer und veränderlicher werde, beinahe notwendig, daß junge Leute lernten, sich in alles zu schicken. Ein Schaden sei es für einen jungen Mann jedenfalls nicht, wenn er auch mit den verachteten und geringen Dingen umzugehen wisse. Nachdem die Fenster gewaschen waren, mußten sie in die Zimmer getragen, und in die richtigen Fensteröffnungen ordentlich hineingehängt werden. Frau Tobler ermahnte den Gehülfen zur Vorsicht, stund dabei und sah ein wenig ängstlich seinen Aushänge-Bewegungen zu, die ihr manchmal zu kühn vorkamen. »Wie gut dieser Frau der Ausdruck des Bangens steht,« dachte der Fensterarbeiter und war sehr zufrieden mit sich. Das war vielleicht auch so eine schlechte Gewohnheit von ihm, daß er zufrieden, ja glücklich war, sobald es ihm vergönnt wurde, körperlich zu arbeiten. Strengte er denn wirklich seinen Geist, die bessere Menschenhälfte, so ungern an? War er zum Holzhauer oder zum Kutscher geboren? Hätte er in Urwäldern oder auf Meerschiffen als Matrose leben sollen? Schade, daß es in der Nähe von Bärenswil keine Blockhäuser zu bauen gab. Nein, geistlos war er vielleicht keineswegs, das ist übrigens nicht so rasch irgend ein gesundgeborener Mensch. Aber er hatte so etwas Körperbevorzugendes an sich. In der Schule, er erinnerte sich öfters lebhaft daran, war er ein guter Turner. Er liebte das Gehen über Land, das Steigen auf Berge, das Abwaschen von Küchengeschirr. Er hatte letzteres zu Hause als Knabe getan und dabei seiner Mutter Geschichten erzählt. Arme- und Beinbewegungen empfand er als etwas Köstliches. Das Baden in kaltem Wasser war ihm lieber als das Nachdenken über hohe Dinge. Er schwitzte gern, das ließ unter Umständen tief blicken. War er der geborne Ziegelsteinträger? Hätte man ihn an einen Karren spannen sollen? Herkules war er jedenfalls nicht. Ja, er hatte schon Geist, wenn er nur wollte, aber er machte zu gern Pausen im Denken. Als er eines Tages mitten im Dorf Bärenswil einen Mann sah, der Säcke schleppte, dachte er sogleich, das tue er auch, sobald Tobler ihn fortjage. Das war im Hochsommer gewesen. Und jetzt ist es Herbstende und man hängt Vorfenster an. Nach Beendigung dieser Arbeit gab es jungen Wein zu trinken. Auch war es schon Nacht und Abendessenszeit. Die Unterhaltung am Tisch war sehr lebhaft, man blieb sitzen, nachdem alle schon längst mit Essen fertig geworden waren. Der Mann der Waschfrau, ein einfacher Fabrikarbeiter, fand sich ein. Frau Tobler lud ihn zu einem Glas Sauser ein, er setzte sich mit an den Tisch, und bald gab er ein fröhliches Lied zum besten. Es wurde ihm immer von neuem eingeschenkt, auch die andern tranken viel. Zu Bett mit euch, Kinder! rief nach einer Stunde Frau Tobler. Pauline trug Dora auf dem Arm von einem zum andern, um gute Nacht zu sagen. Die Waschfrau bewies, daß sie ein drolliges, schnellläufiges Mundwerk hatte, sie erzählte in einem fort Dorfgeschichten, Liebes- und Schauergeschichten. Der Mann fing wieder an zu singen. Seine Frau wollte es ihm verbieten, denn was er sang, war sehr frei, aber Frau Tobler sagte, er solle nur singen, was ihm einfalle, die Kinder seien ja jetzt fort, und ihnen andern allen könne ein ausgelassenes Wort nicht viel schaden, sie selber höre so etwas auch gern einmal an. Der Zauber des Weines legte dem schwärzlich anzuschauenden, einäugigen Gesellen tolle Reimereien auf die Lippen. Es wurde unbändig gelacht, am meisten von Frau Tobler, die »profitieren« zu wollen schien, da sie in den letzten Wochen zu ihrem Kummer fast gar keine Geselligkeiten genossen hatte. Wenn es keine feinen Leute waren, die ihr heute abend Gesellschaft leisteten, so waren es doch fidele. Arme Leute, aber aufrichtig fühlende. Außerdem empfand sie, sie konnte selber kaum sagen, aus welchem Grunde, das Bedürfnis, einmal recht ausgelassen zu sein, derart, daß sie Vergnügen fand, die Gläser immer wieder neu zu füllen, bis es Mitternacht wurde. Joseph war betrunken, er lallte und war nahe daran, unter den Tisch zu sinken. Die andern hielten sich besser. Frau Tobler hatte sich überhaupt mehr dem Genuß des Gespräches und des Lachens hingegeben als dem des Trinkens. Der Arbeiter aber schien ungeheuer viel vertragen zu können. Joseph stolperte eben die Treppe hinauf, um in sein Zimmer zu gelangen, als Tobler erschien mit der ärgerlichen Frage, warum wieder einmal die Verandalampe nicht gebrannt habe. Im Garten draußen sei es stockdunkel, da könne einer ja Arm und Beine brechen. Er sah, was im Wohnzimmer vorging. Frau und Mann aus der Nachbarschaft waren aufgestanden. Ein wenig später sagten die Leute schüchtern gute Nacht und gingen. Was das für eine Wirtschaft hier sei? fragte Tobler seine Frau. Diese konnte nur noch lachen und deutete mit dem Finger auf den Angestellten, der mit der einfachen Schwierigkeit kämpfte, die Treppe emporzugelangen. Der Herr war müde, so sagte er nicht viel. »Gesausert« war worden, es war ein wenig unschicklich, aber es war kein Verbrechen. Am andern Morgen stand Joseph etwas früher auf und arbeitete extra fleißig, er empfand Gewissensbisse und fürchtete sich vor der Begegnung seines Meisters. Aber es wurde ihm weder ein Ohr abgerissen noch flog etwas um seinen Kopf herum. Tobler war freundlicher und vertraulicher als je, ja, er machte sogar Witze. Im Laufe des Tages gestand der Gehülfe Frau Tobler, daß er sich gefürchtet habe. Sie schaute ihn groß an, als begreife sie irgend etwas an ihm nicht und sagte: »Sie sind ein sonderbares Gemisch von Feigheit und Kühnheit, Joseph. Auf die schmalen Gesimse zu treten und mitten im Spätherbst in den See hinauszuschwimmen, das tun Sie ohne die mindesten Furchtgedanken. Auch eine Frau können Sie beleidigen, ohne stutzig zu werden. Wenn es aber gilt, vor dem Herrn und Vorgesetzten einen ganz unschuldigen Fehler zu vertreten, so fürchten Sie sich. Da ist man ja wahrhaftig gezwungen, anzunehmen, entweder Sie sind Ihrem Herrn sehr zugetan, oder aber, Sie hassen ihn heimlich. Was soll man glauben? Was soll ein so scharfausgeprägter Respekt eines Mannes vor einem andern Mann bedeuten? Gerade jetzt, wo es um die äußere Weltlage Toblers schlecht steht, muß es einen wundern, Sie diesen Mann in so zarter Weise hochachten zu sehen. Ich bin noch nicht klug aus Ihnen geworden. Sind Sie großherzig? Sind Sie ein Niedriger? Gehen Sie arbeiten. Ich soll nicht heftig werden und bin es doch Ihnen gegenüber. Und fürchten Sie sich in Zukunft nicht mehr vor meinem Mann, er hat noch keinem Menschen den Kopf abgebissen.« Das war im Wohnzimmer gesprochen worden. Etwas später überraschte Joseph die Frau oben an der Türe ihres Schlafzimmers, sie hatte dieselbe zufällig offen stehen lassen, im Negligé. Sie stand, ohne an etwas zu denken, mit entblößten Armen neben dem Waschtisch und war mit dem Ordnen der Haare beschäftigt. Als sie Joseph hörte und sah, stieß sie einen Schrei aus und warf die Türe zu. Welche herrlichen Arme! dachte der Gehülfe und ging die Treppe weiter hinauf. Er hatte oben auf dem Boden etwas aus altem Gerümpel hervorzusuchen. Statt das was er suchte, fand er ein Paar alte Schaftstiefel von Tobler, die augenscheinlich nicht mehr benutzt wurden. Er schaute diese hohen Stiefel unverhältnismäßig lange an, bis er in Lachen ausbrach ob seiner Gedankenabwesenheit. Da erschien Silvi auf dem Estrich, sie trug Wäsche in der Hand, die sie hier oben abzulegen hatte. Sie blieb vor Joseph stehen und betrachtete ihn, als ob sie ihn überhaupt noch nie gesehen hätte. Was für ein Kind! Dann legte sie ihre Sachen ab, aber statt hinunterzugehen, stöberte sie, und zwar scheinbar ohne viel Vernunft, in einer offenen Kiste herum und richtete an den ihr zuschauenden jungen Mann allerhand unverständliche Fragen. Silvis Anblick wurde demselben rasch unerträglich und er ging hinunter. Im Bureau: »Frau Tobler wundert sich über mein Betragen. Dagegen möchte ich mich fast über das ihrige verwundern. Wie kommt sie dazu, solche Worte zu mir zu sagen, sie, die unselbständige Frau, die Mutter Silvis? Gleich werde ich gehen und es ihr ins Gesicht hineinsagen, was für eine Rabenmutter sie ist. Ich bin zwar nur der Angestellte des Hauses Tobler. Dieses Haus aber wankt, mag denn auch meine Lebensstellung wanken.« Neben der Wohnzimmertüre stand Frau Tobler und sprach mit großer Erregung ins Telephon hinein. Offenbar handelte es sich wieder einmal um eine unangenehme Sache. Ihr Rücken zitterte und die Schultern hoben und senkten sich stürmisch. Sie sprach streng und gebieterisch. Sollte der andere Sprecher ein unverschämter Gläubiger sein? Ihre Stimme klang so hoch, daß sie in den eigenen Tönen und Bändern zu zerreißen drohte. Endlich war sie fertig. Sie zeigte Joseph ein ebenso stolzes wie schmerzvolles Gesicht. Sie hatte während des Sprechens geweint. »Wer war das?« fragte er. »O,« sagte sie, »der Bauunternehmer, der, der die Grotte gemacht hat. Er will Geld. Ich habe ihn aber, wie Sie soeben werden gehört haben, in die Schranken zurückgewiesen.« Sie sagte nicht, in was für Schranken. Aber ob sie es nun gesagt oder nicht gesagt hatte, jedenfalls hatte der Gehülfe nicht mehr den Mut, sie eine Rabenmutter zu schelten. Er hätte auch ebenso gut ans Telephon gehen können. Ob er es denn nicht klingeln gehört habe? Nein? Dann solle er doch immer die Bureautüre ein wenig offen stehen lassen, dann werde er es schon hören. Joseph hatte es ganz gut klingeln gehört, aber er war zu träge gewesen und er hatte gedacht: »Die kann jetzt auch einmal telephonieren. Das schadet dem Hochmutston nichts.« Walter kam und erzählte, wie Edi, sein Bruder, einem Bärenswiler Herrn die Zunge ausgestreckt, und die lange Nase gemacht habe. Edi sei in des Mannes Garten gedrungen, um Birnen zu nehmen, er sei aber überrascht worden und habe eine Ohrfeige gekriegt. Aus der Ferne habe dann Edi dem Mann allerhand Schimpfwörter nachgerufen. Das müsse sie ihrem Mann sagen, meinte Frau Tobler. »An Ihrer Stelle, Frau Tobler«, warf Joseph ein, »würde ich selber den Knaben bestrafen, meinetwegen hart, aber ich würde es niemals 'meinem Mann' sagen. Erstens ist Herr Tobler jetzt, wie ja Sie am besten wissen, mit anderweitigen Dingen genug beschäftigt, und zweitens sind Sie doch Edis Mutter und können gewiß ebenso gut wie Ihr Mann die Strenge, womit der Schlingel bestraft werden soll, messen. Hört Herr Tobler heute abend wieder, wie nun schon so oft, solcherlei Klagen aus Ihrem Munde, so dürfte er leicht außer sich geraten, und die Strafe wird nur zu leicht eine grausame, aber keine gerechte sein. Denken Sie doch, gnädige Frau, in welche Wutstimmung Sie Ihren Mann versetzen, wenn Sie ihn mit derartigen, in der Tat nicht sehr gewichtigen Dingen, in dem Moment belästigen, den er dazu benutzen will, wieder ein wenig im Kreise seiner Familie von seinen Geschäften und Gelderwerbsplänen auszuruhen, und Sie werden mir, so sehr Sie auch geneigt sind, mich für Ihren Kränker zu halten, recht geben. Verzeihen Sie mir. Ich habe im Interesse des Hauses Tobler gesprochen, ich liebe dieses Haus, ich habe den Wunsch, hier nur nützlich zu sein. Sind Sie mir böse, Frau Tobler?« Sie lächelte und schwieg, indem sie es scheinbar für überflüssig fand, ein Wort zu erwidern. Sie ging in die Küche hinaus, er ins Bureau hinunter. Herr Tobler kam zum Abendessen nach Hause, was selten geschah. Wie es gehe zu Hause, fragte er mit dunkler, gepreßter Stimme, er befand sich in übler Laune. Joseph fühlte sich sogleich unbehaglich beim Klang dieser Stimme. Diese Stimme, welchen Eindruck sie auf ihn machte! Mußte denn Tobler gerade zum Essen heimkommen, um zu konstatieren, wie sein Gehülfe es sich wohl schmecken ließ? Der Appetit verging ihm beinahe, und er nahm sich vor, gleich nach dem Essen noch rasch zur Post ins Dorf zu springen. Tobler hatte seinen Überzieher mühsam abgelegt. Joseph dachte bei sich, vielleicht wäre es gut getan gewesen, wenn er vom Platz aufgesprungen wäre und dem Herrn geholfen hätte, aus dem Mantel herauszukommen. Das würde womöglich Toblers schlechte Laune, die man ihm anmerkte, bedeutend gebessert haben. Warum nur so wenig zuvorkommend? Ob ihm das an der Mannesehre geschadet hätte? Schöne Ehre, dazusitzen und ängstlich zu hoffen, es werde keine Szene geben. Toblers Auftreten ließ Joseph immer Szenen befürchten. Ja, dieser Mann hatte etwas so Zurückgebändigtes an sich, etwas dick und rot Aufgehäuftes, etwas innerlich Knatterndes und leise Krachendes. Das sah aus, als ob es jeden Moment losbrechen möchte. Und da war es denn wirklich nicht angebracht, an Ehrverletzung zu denken, da tat man einfach das Gute, das Notwendige und das Zornesausbruch-Verhütende. Man zog einen Überzieher aus, und der ganze Familienabend konnte gerettet sein. Tobler konnte ja so entzückend kameradschaftlich werden, wenn er bei Laune war. Geradezu freigebig. Aber Joseph hatte sich geschämt, artig zu sein, und noch etwas, die Frau tat jetzt, als ob er an einem Schnürchen mechanisch wäre aufgezogen worden, den Mund auf und erzählte in aufreizendem Tone die Geschichte und Sünde Edis. Der Vater trat zu dem Sohn hin und versetzte demselben einen Schlag an den kleinen Kopf, der einen starken Mann hätte umwerfen können, wie mehr ein derartiges Bürschchen, wie der Edi eins war. Alle im Zimmer zitterten. Frau Tobler senkte ihre Augen schamhaft. Es tat ihr jetzt leid, gesprochen zu haben. Tobler jagte Edi mit Hieben und Stößen in die dunkle Nebenkammer hinein. Walter, der kleine Angeber, war totenbleich geworden. Dora umklammerte den Arm der Mutter. Diese wagte zu sagen, es sei genug, Tobler solle sich beruhigen. Dieser stöhnte. »Eine unbegreifliche Frau,« murmelte Joseph für sich. Das müsse noch sein, zu der Zeit, da sowieso im ganzen Dorf alles, was eine Stimme und ein Maul habe, wider ihn rede, sagte Tobler, indem er sich an den Tisch setzte. Solche Rangen! Damit jeder Beliebige bald mit Fingern auf ihn, den Erzieher und Vater, deuten dürfe und sagen dürfe, die Jungen machen's halt wie der Alte. So wie man nur einen Fuß ins Haus setze, springe einem eine Widerwärtigkeit entgegen. Da solle einer noch den Mut haben, zu hoffen, es sei irgend eine Wendung zu Besserem möglich. Mit den eigenen Kindern sei man gestraft. Das komme, weil man sich verpflichtet glaube, sie ordentlich zu halten, zu kleiden und zu ernähren. Der Teufel auch. Barfuß mußten sie ihm nächstens zur Schule gehen, die Spitzbuben, und trockenes Brot zu essen haben statt Fleisch. Er werde einen andern Takt einführen. Aber das sei gar nicht nötig, es mache sich bald von selber. Wenn bald nichts mehr werde zu essen da sein, wolle er sehen, daß diese seine Brut ganz anders sich aufführe. Er versündige sich, und es genüge jetzt, sagte Frau Tobler. * * * * * Tobler führte kein anderes Regiment in seinem Hause ein, Taktstock und Tonart blieben dieselben im Abendstern. Der Dirigent hatte zu viel anderes im Kopf, und der Hülfsdirigent war eine zu bescheidene, zu zufriedene Natur. Dem brauchte man ja nicht einmal die längst verfallenen Gehälter auszubezahlen. Der nahm mit der Idylle vorlieb, mit dem, was da war. Wolken und Winde flogen auch um das Haus Tobler noch herum, und so lange diese Gebilde Lust hatten, dazubleiben, mochte es den Gehülfen auch nicht ans Fortgehen mahnen. Eines Tages schneite es. Erster Schnee im Jahr, wie bist du nur so erinnerungsreich anzuschauen. Altes Erlebtes fliegt mit dir stürmisch dem Erdboden zu. Die Gesichter von Vater und Mutter und Geschwistern lösen sich deutlich und vielsagend von deinen nassen, weißen Schleiern ab. Es wird einem so ernst und so lustig zumut, wenn du daherkommst, mit deinen unzähligen Flocken. Man glaubt, du seiest ein Kind, ein Bruder oder eine liebe, zaghafte Schwester. Man hält die Hand hin, um dich aufzufangen, nicht dich ganz, sondern nur kleine Stücke von dir. Der Kübel, der dich auffangen wollte, müßte breit und groß sein, wie die Erde. Lieber, erster Schnee, schneie! Es macht sich ganz prachtvoll, das weiche Ding, das du da über Toblers Haus und Garten in aller Stille breitest. Frau Tobler ruft erstaunt aus: »Es schneit!« Die Kinder kommen mit Geschrei und mit Flocken in den geröteten Gesichtern und mit Schneestücken in den Haaren in die warme Stube hinein. Da wird Pauline im Garten bald Wege in den Schnee hineinscharren und fegen müssen, damit Herrn Toblers Füße und Schuhe nicht allzu naß werden. Tobler schickte auch seine Buben noch nicht barfuß zur Schule. Solch eine Verordnung hatte ihre guten Wege. Auch zu essen gab es noch immer in der netten Villa trotz des wilden Schneegestöbers und trotz Kälte und Nässe. Joseph zog seinen Überzieher an, wenn er zur Post lief, es war ein geschenkt bekommener, aber er gab trotzdem warm und kleidete hübsch. Frau Tobler bat den Gehülfen, ihr aus dem Dorf etwas zum Lesen mitzubringen, das Lesen fange an in die langen Nächte ganz gut zu passen. Jassen könne man auch nicht jedesmal nach dem Abendessen. Joseph ging in die Gemeindebibliothek und holte und brachte Lesestoffe. Die Mädchen gingen in kleinen, roten, dicken Überkleidern in den Schnee hinaus, mit Schlitten, um den Hügel hinunterzufahren, aber es ging noch nicht recht, der junge Schnee war zu naß und saß nicht fest genug auf der steinigen Erde. Leo, der Hund, half mit sich umherzutummeln. Wie doch alle vier Jahreszeiten ihren besonderen Geruch und Ton haben. Den Frühling meint man, wenn man ihn sieht, nie so gesehen zu haben, nie so besonders. Im Sommer ist einem die Sommerüppigkeit jedes neue Jahr neu und zauberhaft. Den Herbst hat man sich früher nie recht angeschaut, erst dieses Jahr, und im Winter ist wieder der Winter ganz neu, ganz, ganz anders wie vor einem oder vor drei Jahren. Ja, auch die Jahre haben ihre eigene Note und ihren eigenen Duft. Das Jahr da und da zugebracht zu haben, heißt es erlebt und gesehen haben. Orte und Jahre sind eng miteinander verbunden, und erst Ereignisse und Jahre? Die Erlebnisse können ein Jahrzehnt ganz neu färben, wie mehr und wie rascher ein kurzes Jahr. Ein kurzes Jahr? Joseph ist mit diesem Ausspruch keineswegs zufrieden. Soeben ist er vor der Villa gestanden und hat, in Gedanken verloren, gesagt: »Solch ein Jahr, wie lang und wie voll ist es doch.« -- Und das Lange war ihm nicht rasch vorübergegangen, erst als er an dasselbe dachte, schien es ihm Flügel, Federn und Flaumesleichtigkeit gehabt zu haben. Es war nun Mitte November, aber wenn er es sich recht überlegte, so hatte er schon im Mai der Welt diese Miene und diese Manieren und diese Gedanken gezeigt. Er hatte sich, wie seine Freundin Klara sagte, wenig verändert. Und die Welt, verändert sie sich? Nein. Das Winterbild kann sich über die Sommerwelt werfen, aus dem Winter kann Frühling werden, aber das Gesicht der Erde ist dasselbe geblieben. Es legt Masken an und ab, es runzelt und lichtet die große, schöne Stirne, es lächelt oder es zürnt, aber bleibt immer dasselbe. Es liebt die Schminke, es färbt sich bald bunter, bald matt, bald ist es glühend und bald blaß, es ist nie ganz dasselbe, es verändert sich immer ein wenig und bleibt doch immer lebendig und ruhelos gleich. Es blitzt mit den Augen Blitze und donnert mit seiner gewaltigen Stimme den Donner, es weint den Regen in Strömen herab und läßt den saubern, glitzernden Schnee zu seinem Mund herauslächeln, aber an den Zügen und Linien des Gesichtes verändert sich spurwenig. Manchmal nur fährt ihm ein schauderndes Erdbeben, ein Hagelsturz, eine Fluten-Überschwemmung oder ein Vulkanfeuer über die ruhige Oberfläche dahin, oder es erbebt und erschaudert innerlich von Welt- und Erdempfindungen und -Zuckungen, aber es bleibt dasselbe. Die Gegenden bleiben dieselben, Städteansichten allerdings weiten und runden sich aus, aber wegfliegen und sich einen andern Ort aussuchen, von einer Stunde auf die andere, das können Städte auch nicht. Die Ströme und Flüsse fließen dieselbe Bahn wie seit Jahrtausenden, sie können versanden, aber sie stürzen nicht plötzlich über ihre Strombetten an die offene leichte Luft hinaus. Das Wasser muß sich durch Kanäle und Höhlen hindurcharbeiten. Das Strömen und Wühlen ist sein uraltes Gesetz. Und die Seen liegen, wo sie seit langer, langer Zeit liegen. Sie springen nicht zur Sonne hinauf und spielen nicht Ball wie Kinder. Sie sind manchmal empört und schlagen ihre Wasser und Wellen zornig zischend zusammen, aber sie verwandeln sich weder eines Tages in Wolken noch eines Nachts in wilde Pferde. Alles in und auf der Erde gehorcht schönen, strengen Gesetzen, wie die Menschen. Es war also jetzt Winter geworden um Toblers Haus herum. * * * * * Einen Sonntag gab es zu dieser Zeit, an dem Joseph geglaubt hatte, in die Hauptstadt fahren, und sich wieder einmal amüsieren zu sollen. In der Stadt hatte er Nebel in den Straßen gefunden, nasse Blätter am Boden, Bänke in den Anlagen, auf die man sich jetzt nicht mehr setzen konnte noch mochte, in den innern Gassen Lärm und am Abend vor den zahlreichen Kneipen gröhlende Betrunkene. Eine halbe Stunde lang war er bei seiner Frau Weiß gewesen, um ihr zu erklären, wer Tobler und Frau Tobler seien, aber eine innere Scham und Ungeduld hatte ihn bei der ruhigen und gelassenen Frau nicht lange gelitten, er war wieder in die Gassen der Sonntagnacht hinuntergegangen und hatte ein paar Lokale zweifelhaften Genres aufgesucht, um sich zu »amüsieren«. War er der Mensch dazu gewesen? Jedenfalls hatte er viel Bier getrunken, und im »Wintergarten« hatte er mit jungen, gigerlhaften Italienern am Büffet Händel angefangen. Ebendaselbst stieg er auf die kleine Variétébühne, vor aller Anwesenden Augen, und zum größten Gaudium derselben, und fing an, den Gaukler, der sich dort produzierte, in den Gesetzen des Geschmackes und der körperlichen Geschicklichkeit zu unterrichten, bis er schließlich von einer Handvoll Kellner zum Lokal hinausgewiesen wurde. In der Kälte der Nacht setzte er sich in den Anlagen auf eine Bank, um sich den Rausch von der herrschenden, rauhen Witterung aus Kopf und Gliedern hinausblasen zu lassen. Ein wahrer Sturmwind sauste und rüttelte in den Ästen der Parkanlagebäume. Das aber schien einem zweiten, nächtlich hier, wie es schien, ebenfalls ausruhenden Menschen, der sich auf die Bank _vis-à-vis_ von Joseph gelagert hatte, gänzlich gleichgültig zu sein. Was konnte das für ein Mensch sein, und was hatte ihn veranlaßt, sich hier, gleich Joseph, in die offene, rücksichtslose Sturmnacht zu setzen? Tat man solches? Der Gehülfe, irgend ein Unglück oder einen Schmerz ahnend, trat auf die ruhende, dunkle Gestalt zu und erkannte -- Wirsich. »Sie hier? Wie geht's Ihnen denn, Wirsich?« frug er erstaunt. Sein Rausch war mit einmal verflogen. Wirsich gab lange keine Antwort. Dann sagte er: »Wie es mir geht? Schlecht. Wer läge sonst hier im Regen und in der Kälte? Ich bin ohne Stellung und ohne jeden Halt. Ich werde stehlen, ich werde ins Gefängnis kommen.« Er brach in lautes, elendes Weinen aus. Joseph bot seinem Vorgänger in Toblers Amt ein Goldstück an. Dieser nahm es, ließ es aber zu Boden fallen. Der Gehülfe schrie ihn an: »Seien Sie doch nicht so borniert, Mensch. Nehmen Sie das Geld. Tobler selber hat es mir heute zaudernd genug gegeben. Wir dort oben im Abendstern haben jetzt auch sozusagen kein Geld mehr, aber wir lassen den Mut keineswegs sinken. Sie, Wirsich, brauchen durchaus nicht zu sagen, Sie müssen stehlen gehen. Da schlägt man sich lieber mit der Hand eins auf den Mund, bevor man so etwas sagt. Warum stehlen gehen? Gibt es nicht eine Schreibstube für Arbeitslose? Aber Sie schämen sich wohl, dorthin zu gehen, zu dem Herrn Verwalter, der ein sehr, sehr lieber, mildedenkender, erfahrener Mensch ist. Wir im Abendstern, wir sind eines Tages freidenkend genug gewesen und haben uns aus dieser Schreibstube einen jungen und in der Tat vielleicht nicht ganz tüchtigen, wohl aber brauchbaren und schmiegsamen Menschen, namens Joseph Marti, geholt, weil Herr Wirsich nicht mehr hat gut tun wollen. Gehen Sie und arbeiten Sie, fragen Sie morgen früh überall, wo Sie auch mit dem Fuß hintreten, nach Arbeit, und sein Sie überzeugt, man gibt Ihnen irgendwie und wo welche. Was für Manieren! Sie werden an manchen Orten sicherlich schnöde und kalt abgefertigt werden, aber dann gehen Sie eben weiters, bis Sie gefunden haben, was Sie in die Lebenslage versetzt, aus welcher heraus man langsam wieder ein Mitmensch wird. Man soll sich verbieten, ans Stehlen zu denken. Der gesunde Kopf soll der Gebieter sein und bleiben, man soll ihn nicht reizen und reizen, bis er zum Narren und Schurken wird. Doch jetzt würde ich an Ihrer Stelle mit dem Gelde da, das nicht ich, sondern Tobler Ihnen jetzt gegeben hat, irgend ein vernünftiges Nachtlager für den vorbereitenden Schlaf aufsuchen gehen. Sagen Sie, was macht Ihre Mutter?« »Krank!« machte Wirsich mehr mit der Hand als mit dem Mund. Joseph rief aus: »Und wegen Ihnen, nicht wahr? Entgegnen Sie mir nichts, ich weiß es, als ob ich der ständige Zeuge dieser Krankheit und dieses Verfalles gewesen wäre. Welche Mutter verzweifelt nicht, wo der Sohn aus jeder Art schlägt, derart, daß er dem fleißigen Zigarrenstummelaufleser nicht mehr gerade in die Augen zu blicken wagt? Da ist sie jahrelang stolz auf den Herrn Sohn gewesen, hat stets zu ihm hinauf mit den Augen der Liebe und Bewunderung geschaut, hat ihn gesorgt und gepflegt, lebt noch, ist krank, aber könnte gesund sein in den alten und ausglimmenden Tagen, wenn der Gegenstand der Pflege und Liebe recht und tüchtig und nur ein strohhalmdünn wacker tun wollte. Es brauchte ganz wenig, und die alte Frau wäre zufrieden, und sie würde versuchen, ihrem alten, zerbrochenen Stolz neue Flammen anzuhauchen. Ihr Kind würde sie schon um der Versuche willen, honett und stark zu bleiben, beinahe anbeten. Und der Vergeßliche und Entartete ist dazu noch der einzige Sohn, die erste und letzte Möglichkeit des mütterlichen Gefühlsfeuers, und er ist plump und grausam genug, auf die Liebe und tage- und jahrelange Freude täppisch zu treten. Hören Sie, Wirsich, ich möchte Sie am liebsten durchprügeln.« Sie gingen zusammen, um eine Schlafstätte ausfindig zu machen. Im Gasthaus zum »Roten Haus« war noch Licht, sie traten in die Gaststube. Allerhand Handwerks- und Wandersmenschen saßen um einen Tisch herum, einer gab Schelmenstreiche, die er scheinbar vielfach verübt hatte, zum besten, die Übrigen horchten zu. Joseph bestellte ein Nachtessen und etwas zu trinken. Er würde, dachte er, morgen früh mit dem allerersten Zug zurück nach Bärenswil fahren. Es war nur noch ein einziges Zimmer im ganzen Gasthof frei. Wirsich und Marti schliefen daher beide in ein und demselben Bett. Bevor sie einschliefen, plauderten sie noch eine ganze halbe Stunde lang zusammen. Wirsich war nach und nach munter geworden. Joseph sagte ihm, er solle nur von morgen ab ruhig in diesem Gasthauszimmer wohnen bleiben und hier fleißig Offertbriefe schreiben, die er, in Kuverts säuberlich gesteckt, selber an Ort und Stelle hintragen könne. Man müsse sich unter keinen Umständen schämen, Armut und Not an den heiteren Tag zu legen, dürfe aber dabei keine gar zu wehleidige Jammermiene machen, sonst widere das die Leute, auf deren Wohlwollen es ankomme, nur zu bald an. Eine Trauermiene sei überdies geschmacklos. Das Persönlich-Hingehen zu den Geschäftsleuten habe das Gute, daß diese meist gebildeten und vernunftvollen Menschen einem etwa ein Fünfmarkstück in die Hand drückten, da sie den Beweis vor Augen hätten, daß der Stellensuchende sich ehrlich Mühe gäbe. So hätten es etliche und andere, die er, Joseph, sehr gut kenne, gemacht, und sie hätten dabei immer gewisse bescheidene Erfolge zu erzielen gewußt. Namen und Schicksal von Hülfeflehenden seien den Reichen meist ganz schnuppe, aber diese Herren gäben eben etwas, das sei in guten, alten Firmen und Familien von alters her gutmütiger und vornehmer Brauch gewesen. Wirklich armes müsse zu wirklich vornehmem Wesen hingehen, in aller Ruhe, dort sei es immer noch am wenigsten am Halse geschnürt und könne atmen und könne sich zeigen, wie es beschaffen sei und so, wie es eben einmal leide. Man müsse, wenn man schon nun einmal am Boden liege und Not erdulde, lernen, mit Anstand und Freiheit zu zeigen, daß man bitte, das entschuldige und verstehe man, das erweiche ein wenig die Herzen und könne niemals die gute und geschmeidige Sitte verletzen. Voll Haltung müsse aber einer dabei sein, dürfe nicht zu greinen anfangen wie ein halbjähriges Wickelkind, sondern solle zeigen durch sein Benehmen, daß er von etwas Großem und Mächtigem, vom Unglück, darniedergeworfen worden sei. Das ehre wiederum ein wenig und veranlasse den Härtesten zur flüchtigen, süßen, edlen, anstandsvollen Milde. So, jetzt habe er ihm da eine lange Rede gehalten, und gehörig schwungvoll obendrein, jetzt aber, wie er zu tun gedenke, wolle er schlafen, denn er müsse früh wieder aufstehen. »Sie sind, glaube ich, ein guter Kerl, Marti,« sagte der andere. Dann schliefen sie ein. Es war schon halb vier Uhr morgens. Um acht Uhr, nach drei Stunden Schlaf und einer dämmernden Eisenbahnfahrt, stand der Gehülfe wieder im technischen Bureau, zwischen Zeichen- und Schreibtisch. Jetzt ging er ins Wohnzimmer frühstücken. * * * * * Acht Tage darauf hatte er sich wieder, und zwar als Arrestant, nach der Stadt zu begeben. Einen zweitägigen Arrest hatte er dafür abzusitzen, daß er die herbstliche Wiederholungsübung versäumte. Er meldete sich zur bestimmten Stunde in der Kaserne an, man nahm ihm die Militärpapiere ab und führte ihn in den Karzer. Dort lagerten auf Pritschen und untergelegten Mänteln an die fünfzehn jüngere und ältere Männer, die alle den Neuankömmling musterten. Es roch nach allem möglichen Schlechten in dem Raum, dessen vergittertes Fenster direkt an den Straßenboden anstieß. »Ich habe wenigstens zu rauchen,« dachte Joseph und begann, es sich auf einer der Pritschen nach Möglichkeit bequem zu machen. Bald hatten ihn alle Insassen der bunten Reihe nach angesprochen. Es waren aller Art Menschen, die ähnliche Strafen wie der Gehülfe zu verbüßen hatten. Einer wie der andere schimpfte. Entweder war es ein höherer Offizier, der irgend etwas Ungeheuerliches begangen haben sollte, oder es wurde irgend einem Staats- oder Zivilbeamten heimgezündet. Die Gesichter aller dieser fünfzehn oder sechzehn Menschen drückten Langeweile, Appetit nach Bewegungsfreiheit und Unzufriedenheit mit der Stumpfheit, die im Raume herrschte, aus. Es lagen welche Burschen da, die schon wochenlang saßen, einer sogar, ein Melker, monatelang. Neben dem Hoteliersohn und Amerikareisenden lag hier der Tapezierer, neben dem Maurer und Handlanger der Kommis, neben dem Kuhmelker und Schweizer der reiche, jüdische Handelsmann, neben dem Schlossergesellen der Bäckermeister. Keiner von den fünfzehn Leuten glich dem andern, aber alle glichen sich in der Art, wie sie schimpften und Kurzweil trieben. Daß auch wohlhabende und gebildete Leute da waren, hatte seinen Grund in der gesetzlichen Unmöglichkeit, Arreststrafen in Geldstrafen umzugestalten, so daß hier eine Gleichheit der Behandlung herrschte, wie man sie im ungebändigten, offenen Leben lange suchen konnte. Plötzlich wurde ein, wie es Joseph schien, regelmäßig an der Tagesordnung stehendes Spiel arrangiert. Es hieß das »Schinkenklopfen« und bestand in einem ziemlich brutalen Draufloshauen mit der gestreckt flachen Hand auf den Podex desjenigen, der verdammt war, denselben den unbarmherzigen Hieben darzuhalten. Einer der Nichtmitspieler mußte dem Dulder die Augen zudecken, damit er sich nicht die Herkunft der Hiebe und Schläge merken konnte. Erriet er nun aber trotzdem die Person dessen, der ihn gehauen hatte, so war er frei, und der Ertappte hatte sich, willig oder nicht, an die unangenehme Stelle des Erlösten herabzubücken, bis auch ihm das rasch- oder langsam-erkämpfte Glück des richtigen Erratens zufiel. Dieses Spiel wurde eine gute Stunde aufs eifrigste betrieben, bis die Hände vom Schlagen ermüdet waren. Nach einiger Zeit kam das Essen, du liebe Zeit, es war eben eine Karzerkost, keine Bohnen, Rüben oder Blumenkohl, nicht einmal ein kleines Schweinefilet, sondern Suppe und ein Stück Brot, langweiliges, trockenes Brot, nebst einem Schluck Wasser. Die Suppe war auch eine Art Wasser, und die Löffel waren außerdem noch in ziemlich degoutierender Art und Weise an die Suppentöpfe angekettet, wie wenn einer das Blei hätte stehlen wollen, wozu doch sicherlich kein Grund da war. Aber es war praktisch, dieses Anketten, und militärisch und beleidigend, und Karzerinsassen waren begreiflicherweise nicht dazu da, um geschmeichelt, liebkost und flattiert zu werden. »Der verächtlichen Handlungsweise die verächtliche Strafe«: das stund scheinbar auf dem Eßgeschirr deutlich und ankältend geschrieben. Langweilige, öde zwei Tage! Der Schweizer oder Melker war von allen noch der Lustigste. Diesen wahrhaft schön anzuschauenden Burschen hatten »sie« gefesselt dahergebracht, weil er sich herausgenommen hatte, den Polizeiunteroffizier, der ihn arretierte, um den Kopf zu schlagen, daß demselben das Blut zu Mund und Nase hervorspritzte. Für diese Tat wurde natürlich dem Melker dann ein ganzer Monat oder mehr zu der anfänglichen Strafe hinzudiktiert, was aber diesen scheinbar unerschrockenen und in Dingen der schönen Ehre vollständig gleichgültigen Menschen gar nicht weiter beunruhigte. Im Gegenteil, er schuf sich aus dem stumpfsinnigen, gezwungenen Daliegen einen possierlichen und fidelen, monatelang anhaltenden Witz, er verstund es vortrefflich, sich und alle andern zu unterhalten, und nie wollte in diesem Kellerraum das Lachen ganz verhallen und erlahmen. Dieser Melker sprach von Staats- oder Militärpersonen nie anders als im Tone kindlich-kräftiger Überlegenheit und Übermutes. Nie kam etwas Giftiges und Wütend-Zurückgehaltenes über seine Lippen. Tausend Anekdoten, die er, erfunden oder wahrhaft erlebt, erzählte, hatten alle mehr oder weniger zum Inhalt die Betölpelung und Naseführung irgend welcher Standesmenschen, mit denen dieser schöne, verdorbene Mensch wie mit lächerlichen und hölzernen Puppen umzugehen gewohnt schien. Kraftvoll und geschmeidig wie er war, durfte man der Hälfte seiner Erzählungen ruhig, und ohne die gesunde Vernunft zu verletzen, Glauben schenken, denn das schien in der Tat solch ein Mensch zu sein, herkommend direkt noch von den stolzen und unbändigen Ahnen des Landes, ausgestattet mit längst aus den Generationen entschwundenen Spiel- und Raufkräften, und mit dem Mute begabt, der eben die Gesetze und Gebote der weiten Öffentlichkeit fast notwendigerweise verachtete. Sonderbarerweise trug er, um den Unfug, den er mit Vorgesetzten aller Art trieb, noch zu schärfen, auf dem Lockenkopf eine Militärmütze, die er Gott weiß wo noch von einem Dienst her aufbewahrt hatte. Neben all seinen Vagabondiergewohnheiten schien er indessen durchaus den einfachen, weicheren Empfindungen nicht abhold zu sein, wenigstens hörte man ihn von Zeit zu Zeit jodeln und singen, was er sehr schön und voll Taktgefühl tat. Auch erzählte er nicht ohne Sehnsucht von seinen vielen und weitläufigen Wanderschaften, die ihn durch das ganze, große Deutschland, von Landgut zu Landgut, getrieben hatten. Wie er da mit den Herren und Rittergutsbesitzern umgegangen war, das war, ob es nun teilweise aus Schwindel oder aus fortreißender Erzählerphantasie bestehen mochte, höchst possierlich und angenehm, ja sogar romantisch anzuhören. Dieser Bursche hatte einen wahrhaft schön geschwungenen und geformten Mund, eine edle und freie und ruhige Gesichtsbildung, und er würde vielleicht, mußte man, wenn man ihn betrachtete, denken, unter kriegerischen und kühnangelegten Lebensverhältnissen dem Land außerordentliche Dienste haben erweisen können. Alles an ihm sprach von untergegangenen Lebens- und Weltformen; namentlich wenn er sang, was er zu der Zeit, die Joseph im »Loch« zubrachte, einmal plötzlich mitten in der Nacht tat, glaubte man, die Töne und den Zauber der alten, starken Zeit vernehmen zu sollen. Eine wundervolle, abendliche Landschaft stieg mit dem Lied wehmütig empor, und man bedauerte den Sänger und das Zeitalter, das sich gezwungen sah, mit Menschen von des Melkers Veranlagung derart kleinlich und mißverständlich zu verfahren, wie es tatsächlich der Fall war. Während diesen zwei Karzertagen hätte der Gehülfe die schönste Gelegenheit gehabt, über Verschiedenes nachzudenken, über sein bisheriges Leben zum Beispiel, oder über Toblers schwierige Weltlage, oder über die Zukunft, oder über das »Allgemeine Obligationenrecht«, aber er tat es wiederum nicht, er versäumte auch diese kostbare Gelegenheit und begnügte sich, den Späßen und Liedern und Zoten des Schweizers zuzuhorchen, die ihm interessanter erschienen als sämtliche Nachdenklichkeit der neuen und alten Welt. Überdies wurde beinahe alle zwei Stunden das »Schinkenklopfen« wiederholt, auch eine Ablenkung vom Drang, zu philosophieren, oder der Gefangenenwärter trat zur rasselnden Türe herein, um einen der Arrestanten, der »fertig« war, abzuberufen, was auch wiederum die geistige Aufmerksamkeit von höheren Dingen den niedrigen und gemeinen Interessen zuzog. Wozu aber auch denken? War denn nicht das Erleben und Mitleben der Gedanke, auf dessen Pflege es am allermeisten ankam? Und wenn auch die achtundvierzig Stunden des Absitzens achtundvierzig Gedanken ergaben, genügte denn nicht ein einziger, allgemeiner Gedanke, um im Leben auf guter, glatter Bahn zu bleiben? Diese reizenden, achtunggebietenden, mühsam zusammenerdachten achtundvierzig Gedanken, was konnten sie dem jungen Menschen nutzen, da es doch vorauszusehen war, daß er sie morgen vergaß? Ein einzelner richtungangebender Gedanke war da gewiß viel besser, aber dieser Gedanke war nicht zu denken, dieser Gedanke zerfloß in die Empfindungen. Einmal hörte Joseph den Melker sagen, das Vaterländli könne ihm in seiner ganzen Größe, wenn es wolle, den Buckel hinaufsteigen. Wie war das natürlich und unrecht gesprochen. Freilich, das Vaterland, oder der gesetzliche Begriff desselben, schikanierte den Melker, hemmte ihn, fesselte ihn, diktierte ihm öde und gliederzerbrechende Freiheitsstrafen, langweilte ihn, bereitete ihm Verdrießlichkeiten, Kosten und Schädigungen an der körperlichen Gesundheit. Und so wie der Melker sprach, dachten Tausende. Tausende vom Leben nicht ganz so gleichmäßig behandelte und vorwärtsgeschobene Menschen, wie es das militärische Gebot blind und trocken voraussetzte. Die Diensterfüllungen kamen nicht einem jeden so glatt gelegen, wie vielen andern, die aus den Diensterfüllungen sogar ein Lebens- und Weltgeschäftchen zu machen wußten, indem sie sich auf Staatskosten unterhalten und beköstigen ließen. Manchem riß der Dienst ein unangenehmes Loch in die Laufbahn, ja manchen konnte er sogar in die bitterste und brutalste Verlegenheit setzen, indem die paar mühsam ersparten Rappen, Centimes oder Pfennige in das anspruchsvolle Militärtreiben flossen, wovon am Ende der Dienstpflicht kein Hauch mehr übrig blieb. Nicht ein jeder konnte dann zu Vater und Mutter gehen und um Unterstützung bitten, nicht einen jeden nahmen dann Kontor, Fabrik oder Werkstätte sogleich wieder auf, sondern er mußte oft lange warten, bis er wieder zu dem Kreis arbeitender, lernender, erwerbender und zielbewußter Menschen gehörte. Konnte man da groß zählen auf dieses Einzelnen Vaterlandsliebe? Welch eine Idee! »Und trotzdem!« Mit dem erwärmenden Gefühl, das in diesem gedachten »trotzdem« lag, sprang der Gehülfe von seiner Pritsche auf, um sich am »Schinkenklopfen« zu beteiligen. Er hatte Glück, er mußte nie lange »darhalten«. Er erriet die Hand, die ihn schlug, jeweilen sofort. Den Schlossergesellen erkannte er jedesmal an der Wucht des Drauflosschlagens, den Tapezierer an der Ungeschicktheit des Schlages, den Juden an den Fehlschlägen, den Amerikaner an der Zimperlichkeit und Geniertheit, womit derselbe sich am Spiel beteiligte und den Melker an der absichtlich gemilderten und gedämpften Schwungkraft. Der Melker hatte für Joseph von Anfang an eine gewisse Zärtlichkeit empfunden. Er wandte sich jedesmal, wenn er zu erzählen begann, an diesen, weil er sah, daß der Gehülfe sein aufmerksamster Zuhörer war. Zu rauchen war den »Gefangenen« verboten, aber Schulkinder kamen an das Gitterfenster heran und vermittelten den zierlichsten und schönsten Tabakschmuggel. Einer der Insassen kletterte auf die Achseln eines zweiten hinauf und pickte vermittels eines an einen geheimnisvollen Stock befestigten Nagels die Tabak- und Zigarrenpakete behend und geschickt auf und warf dafür die Groschen oder Rappen den kleinen Verkäuferinnen und Schmugglerinnen durchs Fenster zu, derart, daß das »Loch« immer voller Rauch war. Der Gefangenenwärter, ein anscheinend gutmütiger Mann, schwieg dazu. Die zwei Karzernächte waren für Joseph kalt, fröstelnd und schlaflos. In der zweiten Nacht konnte er ein wenig schlafen, aber ein unruhiger Schlaf war es. Er träumte fieberhaft. Das »Vaterländli« des Melkers lag ihm großausgestreckt mit allen seinen Bezirken und Kantonen vor den leidenschaftlich schauenden Augen. Aus einer Schicht Nebel hervor tauchten die geisterhaften, blendenden Alpen. Zu ihren Füßen erstreckten sich himmlisch grüne und schöne Matten, umhallt von Kuhglockentönen. Ein blauer Fluß beschrieb ein leuchtendes und friedlich gezeichnetes Band durch die Gegenden, Dörfer und Städte und Ritterburgen zart berührend. Das ganze Land glich einem Gemälde, aber dieses Gemälde lebte; Menschen, Geschehnisse und Gefühle bewegten sich darin auf und ab wie hübsche und bedeutende Muster auf einem großen Teppich. Handel und Industrie schienen wunderbar zu gedeihen, und die ernsten, schönen Künste lagen in brunnenrauschenden Winkeln und träumten. Man sah die Dichtkunst am einsamen Schreibtisch sitzen und sinnen und die Malerei an der Staffelei siegreich arbeiten. Die zahlreichen Fabrikarbeiter kehrten still und schön und ermüdet von ihren Schaffenswerkstätten heim. Man sah den Wegen am Abendlicht an, daß es Heimwege waren. Weite und schallende und ergreifende Glocken tönten. Dieses hohe Tönen schien alles, was da war, zu umschallen, zu umdonnern und zu umarmen. Daraufhin hörte man das feine, silberne Klingen eines Geißenglöckchens, und es war einem, als stünde man auf einer hochgelegenen Bergweide, umschlossen von Nachbarbergen. Von weit unten her, aus den Ebenen, drangen die Pfiffe der Eisenbahnen herauf und das Lärmen der menschlichen Arbeit. Mit einem Male aber zerschnitten sich diese Bilder von selber, als wären sie auseinandergeblasen worden, und eine Kaserne hob sich in ihren Fronten deutlich und stolz empor. Vor der Kaserne stand eine Kompagnie Soldaten in geradeausgerichteter und unbeweglicher Achtungstellung. Der Oberst oder Hauptmann saß zu Pferd und ordnete die Bildung eines Quadrates an, worauf die Soldaten, geleitet von den Offizieren, diese Bewegung ausführten. Wunderbarerweise war aber dieser Oberst kein anderer als der Melker. Joseph erkannte ihn deutlich am Mund und an der weithinschallenden Stimme. Der Melker hielt nun eine kurze, aber feurige Rede, worin er der militärischen Jugend das Vaterland ans Herz legte. »Trotz allem!« dachte Joseph und lächelte. Sie waren ja in der Ruhestellung, und da durfte sich einer schon zu lächeln erlauben. Der Tag war ein Sonntag. Ein junger, hübscher Leutnant trat auf den Soldaten Joseph zu und sagte freundlich: »Nicht rasiert, Marti. He?« Worauf er säbelklirrend die Front weiterschritt. Joseph griff sich verlegen unter das Kinn: »Noch nicht einmal rasiert bin ich heute!« -- Wie die Sonne strahlte. Wie heiß es war! Plötzlich gab es im Traum einen Stoß, und ein freies Feld tat sich auf mit einer liegenden, auseinandergezogenen, halbrunden Schützenlinie. Die Gewehrschüsse widerhallten in den nahen Waldbergen, die Signale ertönten. »Sie sind tot, stürzen Sie um, Marti!« rief der auf seinem Pferd das Bild des Gefechtes überschauende Melker-Oberst. »Aha,« dachte Joseph, »er ist nett zu mir. Er läßt mich hier auf dem reizenden Grasboden ausruhen.« Er blieb am Boden liegen, bis das Gefecht aus war, indem er sich die Zeit damit vertrieb, Grashalme durch den durstigen Mund zu ziehen. Welch eine Welt, welche Sonne! Welch eine Sorglosigkeit, so dazuliegen! Aber er sollte jetzt wieder aufspringen und in Reih und Glied treten. Er konnte nicht, es hielt ihn fest am Boden. Der Grashalm wollte nicht aus dem Mund herausgehen, er arbeitete daran, Schweiß trat ihm auf die Stirn, Angst in die Seele, und er erwachte und befand sich wieder auf der Pritsche, dicht neben dem schnarchenden Schlossergesellen. Nach drei Stunden rief ihn der Wärter. Er war »fertig«. Er nahm Abschied von allen. Dem armen Melker, der noch sechs Wochen zu sitzen hatte, drückte er herzlich die Hand. Er bekam seine Papiere wieder zurück und konnte die Straße betreten. Die Glieder waren kalt und steif, im Kopf summte und läutete und schoß noch der Traum. Eine Stunde später stand er wieder inmitten der realen, Toblerschen Geschäfte. Reklame-Uhr und Schützenautomat winkten ihm ärgerlich und zugleich hilfeflehend entgegen, und Joseph schrieb wieder an seinem Schreibtisch. * * * * * »Sie haben jetzt da eine tüchtige Erholungspause gemacht,« sprach der Ingenieur, »zwei volle Tage spürt man in einem Geschäft wie dem meinigen. Es heißt jetzt doppelt hinter der Arbeit her sein. Hoffentlich merken Sie sich das, was ich sage. Dazu habe ich natürlich einen Gehülfen nicht nötig, um ihn alle Wochen etwa Arreste absitzen zu lassen. Es wird niemand von mir verlangen dürfen, daß ich Gehälter aus« -- -- Er hatte sagen wollen: »auszahle«, schnitt aber plötzlich seiner Rede, nachdenklich werdend, den Atem ab. Joseph glaubte nicht nötig zu haben, auch nur ein Wort zu erwidern. Der Krankenstuhl war fertig geworden. Ein bildhübsches, kleines Modell stand auf Toblers Zeichentisch und wurde alle Augenblicke von einer neuen Seite betrachtet, indem es der Ingenieur, scheinbar voller Entzücken, hin und her drehte, um den Genuß des Anschauens von überall her zu haben. Sogleich mußte sich der Gehülfe dahinter setzen und Offertbriefe schreiben an verschiedene in- und ausländische, größere Krankenmöbelgeschäfte. Tobler legte das feine Gerät durch einfache Schraubendrehung und Hebelverschiebung glatt zusammen, ließ sich das Ding in gutes Papier einpacken, nahm seinen Hut und ging ins Dorf, um diesen Ungläubigen, den sarkastischen Bärenswilern, zu zeigen, welch eine Erfindung da wieder komplett und gangbar gemacht worden sei. Joseph hatte inzwischen dem Friedensrichter des Ortes zu schreiben, Tobler könne der morgen früh um neun Uhr stattfindenden Besprechung bezüglich der Streitsache Martin Grünen persönlich nicht beiwohnen, da ihn dringende Geschäfte abhielten. Er erlaube sich daher, dem Herrn Friedensrichter die nötigen Aufklärungen und Zahlenaufstellungen schriftlich zu geben, woraus er ersehen könne, daß usw. »Daß mein Herr Tobler ein Engel ist,« lächelte innerlich, nicht ohne flüchtige Bosheit, der Gehülfe. Nachdem dieses Schreiben erledigt war, galt es ein ähnliches, in beinahe noch brüskerem Ton gehaltenes Erklärungsschreiben an das löbliche Bezirksgericht abzufassen. Joseph wunderte sich wieder einmal über die Prägnanz seines Briefstiles, sowie über die Höflichkeitswendungen, die er plötzlich dem energischen Ton hie und da einzuflechten wußte. »Man darf nie zu grob sein,« dachte er bei solchen Seitensprüngen in die Gegenden der Artigkeit und des bescheidenen Wesens. Er erledigte auch diesen Brief ziemlich rasch, denn er hatte die Sache jetzt ja »schon so sehr los«, über welchem zufriedenen Bewußtsein er wieder einmal einen der wohlbekannten, unfehlbaren Stumpen anzündete. Mochten sie kommen, die Friedensrichterämter und Bezirksgerichte, und die ebenso zahlreichen wie tückischen amtlichen Zahlungsaufforderungen, er und Tobler, sie würden deswegen noch lange fortfahren, und zwar ganz ruhig und seelengemütlich, ihre duftenden Stengel und Rauchzinken herunterzudampfen. Im Dorf war man allmählich, zuerst einander es zuflüsternd, jetzt aber es laut auf der Straße erzählend, einer immer höher steigenden Welle, aus Einsicht bestehend, ähnlich, zu der Überzeugung gekommen, daß da oben im Abendstern nichts mehr zu »retten« sei, wenn man nicht die nötigen Schritte, wenigstens etwas noch herauszufischen, an Hand der Betreibungsgesetze einleite. Und so war es denn dahin gekommen, daß Herr Tobler, sowohl was die Firma als was die Haushaltung betreffen mochte, von allen Himmelsrichtungen her wechselrechtlich bestrahlt, beschattet und betrieben wurde. Es glich einem festtäglichen Speerewerfen, wie es da von links und rechts, von daher und dorther auf das Haus Tobler, Löcher und Verstimmungen einschlagend, niederprasselte. Der Gerichts- oder Betreibungsbote schlich den ganzen Tag hämisch und zugleich gemütlich ums Haus und rund um den ganzen Garten herum, als hätte er hier besonders guter Weile gehabt, als würde es ihm gerade hier oben ganz besonders wohl gefallen haben. Es sah aus, als ob der Mann ein stiller Gartenkunst- und Naturbewunderer gewesen wäre. Oder war die hagere, spitze Gestalt von einem Baukonsortium oder gar von einer geographischen Gesellschaft beauftragt, mit den Augen und mit dem Gedächtnis die Gegend abzumessen? Kaum! Aber so sah der Kerl aus. Frau Tobler haßte und fürchtete ihn und floh, sobald sie ihn sah, eilig von den Fenstern weg, als wäre dieser Mann die personifizierte trübe Ahnung und Stimmung gewesen. Die Frau hatte recht, denn wenn man sich erkühnte, dieses Menschen zugeklemmtes und zugenageltes Antlitz zu betrachten, so fror einen, und man fühlte sich unwillkürlich von der eiskalten Hand des Unheiles berührt und gestrichen. Mit Joseph verkehrte dieser Mann in der ausgesucht eigentümlichsten Art und Weise. Er verstand es, plötzlich, als hätte ihn die dunkle Erde selber ausgespien, vor dem Bureau, Licht und Luft gleichsam weghauchend, zu erscheinen. Dann blieb er eine gute, volle Minute stehen, nicht, um etwas zu tun oder vorzubereiten, sondern zu seiner, wie es schien, persönlichen Lust und Freude. Dann öffnete er die Türe, trat aber noch nicht ein, würde ihm noch lange nicht eingefallen sein, sondern blieb stehen, anscheinend, um zu prüfen, welchen Eindruck sein unheimliches Benehmen machte. Seine kalten Augen fest auf den unangenehm berührten Gehülfen gerichtet, kam er jetzt in das Bureau hinein, um vorläufig abermals eine Pause zu machen. Nie sagte er guten Tag oder guten Abend. Für ihn schien die Tagesstunde gar nicht zu existieren, ja nicht einmal die Gottesluft, denn dieser Mann schaute in die Welt hinaus, als ob er nicht nötig hätte, zu atmen. Sein knochiges Gesicht fest ineinanderklemmend nahm er jetzt ein oder zwei Formulare aus einer schwarzledernen Tragtasche, hob sie absurd hoch in die Luft und ließ sie auf den Schreibtisch des Gehülfen fallen, schweigend, spitz und hackig, wie Krallen eines Raubvogels hacken. Dies abgetan schien er sich an dem Bewußtsein zu weiden, das ihm sagen mochte, seine Erscheinung sei eine trostlose und herzbeklemmende gewesen, denn er dachte in keinerlei Weise daran, sich zu entfernen, sondern probierte minutenlang, ob es ihm gelinge, die Brieftasche wieder in seine Rocktasche zu befördern. Dann sagte er -- beinahe -- adieu und ging. Dieses Adieu des Mannes war viel frostiger, als wenn er gar nichts gesagt hätte, es klang geistesabwesend und zugleich bewußt kurz und hart. Der Mann schien dann gehen zu wollen, nein, jetzt tat er jedesmal erst das Schreckliche, er maß mit seinen Augen die Umgebung, das Haus und den Garten. Dann ging die andere Türe auf, Frau Tobler erschien aufgeregt im Bureau, mit großen Augen und mit den angstvollen Worten: »Jetzt steht er wieder im Garten! Sehen Sie, sehen Sie!« -- An den Tagen, wo dieser Mann erschien, war das Wetter meist ein graues, kaltes, schweigendes Mittelding zwischen Schnee und Regen. Die Mauern des Hauses waren an den Sockeln naß, ein scharfer Seewind blies, neue Schneegestöber oder Regenstürze versprechend, und der See lag da so bleiern und farblos und traurig. Wo waren jetzt seine schönen Abend- und Morgenfarben? Versunken in der Tiefe des Wassers? An solchen Tagen gab es weder einen Morgen noch einen Abend mehr, die Stunden zeigten alle dasselbe trübe Aussehen, die Zeiten schienen ihrer Bezeichnungen und der lieben, wohlbekannten Lichtunterschiede überdrüssig geworden zu sein. Zeigte sich in solch einer Naturtrübheit und -Entstelltheit noch der Mann mit der schwarzledernen Mappe, so meinten Frau Tobler und der Angestellte, das Erdbild sei plötzlich umgedreht worden, und man erblicke die Schattenseite alles Tatsächlichen und Gewohnten, nicht mehr das Natürliche. Etwas Gespenstisches schien sich um das schöne Haus Tobler aufzuhalten, und das Glück und die Zierlichkeit dieses Hauses, ja selbst seine Berechtigung, schienen sich in einen fahlen, müden, glanzlosen und bodenlosen Traum verloren zu haben. Wenn dann Frau Tobler durchs Fenster schaute und ihren Sommersee ansah, der jetzt ein Winter- und Nebelsee geworden war, die Melancholie erblickte und empfand, die sich auf allem Sichtbaren breit machte, mußte sie ihr Tuch an die Augen halten und hineinweinen. Als einer der wildesten Gläubiger und Schuldenforderer erwies sich der Gärtner, der bis dahin stets die Gartenarbeiten besorgt, und die Gewächse geliefert und gepflegt hatte. Dieser Mann schimpfte wie ein ganzes Bataillon von Schimpfern auf Tobler und dessen ganze Familie und sagte, er wolle sich keine einzige ruhige Stunde mehr gönnen, bis der Tag da sei und er die Genugtuung habe, diese »hochmütige Gesellschaft« gepfändet und aus dem Abendstern hinausgeworfen zu sehen. Man hinterbrachte Herrn Tobler, halb, um ihm zu schmeicheln, halb, um ihn im geheimen zu kränken, diese rohen Worte, und sofort befahl dieser, die Pflanzen, die ihm gehörten, und die sich in den Gewächshäusern der Gärtnerei befanden, von dort ohne weiteres abholen, und sie nach dem Keller des befreundeten Versicherungsagenten, des Mannes, der die Grottennacht mitgemacht hatte, führen zu lassen. Joseph war mit der schleunigen Erledigung dieses Befehles betraut, und er hatte keine Ursache, zu zögern. So wurde mit einem einpferdigen Wagen nach der Gärtnerei gefahren, und dort wurden dann auch die Pflanzen, darunter ein bereits ziemlich hochgewachsenes Edeltännchen, aufgeladen. Der zum Garten verwandelte Wagen fuhr ab, durch die Straßen, neben den augenaufreißenden Leuten vorbei, und hielt vor der Wohnung des dem Fuhrmann bezeichneten Hauses und Mannes. Der Versicherungsagent selber half mit abladen und in den Keller tragen, was immer hineingehen mochte. Das junge edle Tännchen mußte an Schnüren befestigt werden, damit es in den für sein schlankes und stolzes Wachstum zu niedern Gewölben wenigstens schräg stehen konnte. Es tat dem Gehülfen weh, den Baum derart untergebracht zu schauen, aber, was war da zu machen? Tobler wollte es so, und der Wille Toblers blieb alleinige und unbedingte Richtschnur für das Tun des ersteren. Dieser Versicherungsagent war in der Tat Tobler treu geblieben. Es war dies ein einfacher aber aufgeklärter Mensch, dem es nicht einfiel, wegen Schwierigkeiten rein äußeren Gepräges einem Manne Freundschaft und Vertrautheit aufzukünden, den er einmal schätzen gelernt hatte. Er war nun noch beinahe der einzige, der etwa Sonntags herüber in die Villa kam, um einen Jaß inszenieren zu helfen. Etwas zu trinken gab es bei Toblers immer noch, behüte! Da war ja erst noch in den letzten Tagen ein kleines Faß voll prächtigen Rheinweines aus Mainz angekommen, eine verspätete, aber deshalb nur um so mehr willkommene Lieferung, die einer Bestellung aus früheren, besseren Tagen entsprechen mochte. Tobler schaute groß auf dieses Faß herab, er wußte sich gar nicht mehr an den einmal der Firma gegebenen Auftrag, ihm solchen teuren Wein zu senden, zu erinnern. Joseph hatte nun wieder eine Nebenaufgabe, die darin bestand, den Wein in Flaschen abzuziehen und dann dieselben gehörig mit Korken zu verschließen, zu welcher Arbeit er eine ganz erstaunliche Geschicklichkeit an den Tag legte, so daß Frau Tobler, die dem behenden Ding zusah, scherzweise fragte, ob er denn früher schon einmal in Kellereien gearbeitet habe. Auf solche Art gab es im Haus manche muntere und selbstvergessene Stunde, die vortrefflich dazu beitrug, über die zahlreich vorkommenden, schweren Stunden hinüberzuhelfen, was für alle nötig genug und eine nicht zu unterschätzende Wohltat war. Da aber wurde eines Tages Frau Tobler plötzlich krank. Sie mußte sich, so ungern sie das gerade jetzt tat, zu Bett legen, und man war gezwungen, den Arzt zu holen, denselben Doktor Specker, der es seit vielen Wochen zu vermeiden gewußt hatte, den Fuß weiter über die Schwelle eines Hauses zu setzen, um dessen innere Grundpfeiler es so schlimm stund. Er leistete dem Ruf Folge, trotzdem er fürchten mußte, daß er für die ärztliche Arbeit und für die Mühe des mitternächtlichen Ganges durch eine stockdunkle Gegend nicht honoriert werden würde. Er trat an das Bett der Frau still heran und tat in Manier und Sprache so, als wenn er seine freundschaftlichen Besuche nie eingestellt hätte, sondern fortwährend in bester Verbindung mit der Familie geblieben wäre. Er fragte teilnahmevoll nach den Schmerzen, und danach, seit wann Frau Tobler sie habe usw. und übte die ernsten Pflichten seines Berufes so angenehm, als er es vermochte, aus. Tobler zeigte dem Doktor später, trotzdem es schon bald ein Uhr war, noch den Krankenstuhl, dessen erstes naturgroßes Modell am selben Tag angekommen war. Jetzt könne er ja das Möbel gleich an seiner Frau praktisch erproben, sagte der Erfinder und versuchte einen lustigen Ton anzuschlagen, was aber nicht recht gelingen wollte. »Nicht noch rasch ein Glas Wein trinken, Herr Doktor?« -- Nein. Der Arzt ging. So müsse sie nun auch noch zu allem unschönen Übrigen im Bett liegen, klagte die Frau zu jedem, der zu ihr an das Bett trat. Nicht genug, wehklagte sie weiter, daß im Haus und im Geschäft bald alles zusammenstürze, möge nun nicht einmal die nackte Gesundheit mehr bleiben. Krank müsse man sein, wo eine Hand zum Arbeiten und ein Auge zum Überwachen mehr als nötig geworden sei. Und Geld werde das wieder kosten, und wo es hernehmen? Sie sei so matt, und sie möchte so gern munter sein, möchte gern das Schlimmste ertragen. Wo Dora sei? Dora solle zu ihr kommen. -- Joseph hatte keinen Zutritt in das Krankenzimmer. Da es aber tagelang so dauerte und er ihr einmal etwas, das unbedingt sein mußte, zu sagen hatte, so wagte er es, das Zimmer zu betreten. Er tat es mit der Zaghaftigkeit des Menschen von sonst rauhen Gewohnheiten. Sie schaute ihn lächelnd an und gab ihm die Hand, und er brachte es zustande, ihr gute Besserung zu wünschen. Wie groß ihre Augen waren. Und diese Hand. Was für eine Blässe. War das eine Rabenmutter? Sie fragte, wie es unten im Wohnzimmer aussehe, und wie sich die Kinder benähmen und sagte schwach, nun müsse einstweilen er ein bißchen den Erzieher spielen, bis sie wieder aufstehen könne. Sie sehne sich darnach. Ob auch Pauline noch recht koche. Und was die Geschäfte machten? Er gab ihr Auskunft und war sehr glücklich über diesen Moment. Und dieser Frau, die sogar im Bett eine vollendete Dame zu bleiben verstand, der die Krankheit eher Schönheit zutrug als wegnahm, hatte er eine Moralrede halten wollen? Wie unrecht und unreif. Und doch, wie wahrscheinlich! Denn Silvi wurde auch zu dieser Stunde noch um kein Haar besser als wie immer behandelt. Wenn Silvi während dieser Tage ein Geschrei ausstoßen wollte, zischte ihr Pauline in die Ohren: »Bist still!« Die Kranke mußte geschont werden. Bei der nächsten passenden Gelegenheit geschah es sodann, daß Tobler dazu kam, den patentierten Krankenstuhl an der Frau zu probieren. Sie war wenig zufrieden mit den Eigenschaften dieser Erfindung und wagte es, die Fehler, die diesem Möbel anhafteten, zu rügen. Vor allen Dingen, sagte sie, sei der Stuhl zu schwer, er drücke, und dann müsse er breiter gebaut sein, er enge zu sehr ein. Das war unangenehmer Bescheid von der eigenen Frau. Tobler, der einsah, daß er gewisse Dinge außer acht gelassen hatte, ging sofort daran, die nötigen Änderungen zu treffen, indem er am Zeichentisch ein paar neue Bestandteile rasch entwarf, um die Muster alsobald an die Schreinerei senden zu lassen. Es bedurfte nur ganz weniger Umänderungen, und der Stuhl konnte dann um so energischer in Fabrikation genommen werden. Bereits schrieben ja eine Anzahl Verkaufs- und Vertriebsgeschäfte, sie seien gespannt auf die Zusendung eines ersten, kompletten Exemplares. Und die Reklame-Uhr, wie ging sie? Man stund mit einer ganz neubegründeten Unternehmungsgesellschaft in Verbindung, man hatte ausführlich Offerte eingereicht, sogar nebst kurzer Lebensbeschreibung des Geschäftsherrn, da dies gewünscht worden war. Man hoffte! Inzwischen war das elektrische Licht im ganzen Hause vom Werk aus abgestellt worden, aus Gründen, die auch allen andern Lieferanten verboten, weiterhin auf gutes Vertrauen Waren und Werte in den Abendstern fließen zu lassen. Die Nachricht von der plötzlichen Ausschaltung des elektrischen Stromes machte Tobler beinahe krank vor Wut und veranlaßte ihn, den Herren vom Elektrizitätswerk einen ebenso ohnmächtig zornigen wie überflüssig groben Brief zu schreiben, bei dessen Empfang und Lektüre diese Leute, allen voran der Direktor der Anstalt, in gutmütig-verächtliches Lachen ausbrachen. Zwangshalber mußte man sich nun im Hause Tobler wieder einmal der bescheidenen Petroleumlampen bedienen, an welches Licht sich alle, außer Tobler, auch rasch gewöhnen konnten. Dieser aber vermißte zu sehr, wenn er nachts spät nach Hause kam, den Anblick seiner geliebten elektrischen Verandalampe, die ihm jeweilen als das schönleuchtende Wahrzeichen und als der hellschimmernde Beweis der sicheren Fortexistenz seines Hauses vorgekommen war. Der Schmerz um das hellere Licht verband sich in seiner Brust mit der großen übrigen Wunde und trug dazu bei, seine Gemütsstimmung noch mehr zu verdunkeln, derart, daß der jähe Wechsel seiner Laune für alle Mitwohner das täglich zu kostende Brot wurde. Jetzt aber mußte in allererster Linie eine Summe Geldes beschafft werden, koste es was es wolle. Die dringendsten Verpflichtungen wenigstens mußten beseitigt werden, so galt es eines Morgens, der Mutter Toblers, einer vermögenden, aber hartnäckigen und in ihren Grundsätzen als unerschütterlich bekannten Frau, einen Brief zu schreiben, und zwar folgenden: Liebe Mutter! Durch meinen Anwalt Bintsch wird es Dir zu Ohren gekommen sein, in welch elender Lage ich mich zurzeit befinde. Ich sitze in meinem Haus wie der gefangene Vogel unter den stechenden und zum voraus schon tötenden Blicken der Schlange. Ich bin von Gläubigern derart umgeben, daß, wenn das Freunde und Gönner wären, ich zu den reichen und allbeliebten Menschen zählen müßte; aber leider sind es die unbarmherzigsten Leute und ich der Bedrängteste der Menschen. Du hast mir, liebe Mutter, früher auch schon mehr als einmal aus der Klemme geholfen, ich weiß es, und ich bin Dir allezeit im stillen dankbar dafür gewesen, so bitte ich Dich denn, und zwar dringendst, und so, wie Menschen bitten, denen das Messer der öffentlichen Schande am Halse sitzt, hilf mir auch dieses Mal noch aus der Verlegenheit und sende mir umgehend, wenn es Dir irgendwie möglich ist, wenigstens einen vorläufigen Teil der Gelder, die ich nach allem, was Recht heißt, heute noch zu beanspruchen habe. Mutter, versteh mich, ich drohe nicht, ich sehe ein, daß ich vollkommen von Deinem guten Willen abhängig bin, ich sehe auch ein, daß Du mich ins Verderben stürzen kannst, wenn Du willst, aber warum solltest Du das wollen können? Gegenwärtig ist auch noch meine Frau krank, Deine Tochter. Sie liegt im Bett und wird es so rasch nicht wieder verlassen dürfen, ja, ich darf noch froh sein, wenn sie es überhaupt eines Tages wird verlassen können. Du siehst, auch das noch! Was soll ein Geschäftsmann, der dermaßen von Schlägen und Stößen getroffen worden ist, beginnen? Bis jetzt habe ich noch immer einigermaßen gewußt mich über dem Wasser zu halten, jetzt aber bin ich in der Tat am Rande der absoluten Unmöglichkeit, mich ferner zu halten, angekommen. Was sagst Du dazu, wenn es bald einmal, eines schönen Morgens oder Abends, in der Zeitung steht, Dein Sohn habe sich das Le -- -- -- doch nein, ich bin nicht imstande, das ganz auszusprechen, denn ich spreche zu meiner Mutter. Schicke mir unverzüglich das Geld. Auch das ist keine Drohung, nur eine Mahnung, aber eine sehr ernste. Auch in der Haushaltung ist fast kein Geld mehr, und an den Gedanken, daß die Kinder über kurz oder lang nichts mehr werden zu essen haben, bin sowohl ich wie meine Frau längst gewöhnt. Ich schildere Dir meine Zustände nicht wie sie sind, sondern so, wie ich sie sehen will, um den Anstand der Sprache zu bewahren. Meine Frau grüßt Dich herzlich und umarmt Dich, ebenso Dein Sohn Karl Tobler. Nachbemerkung: Ich bin auch heute noch vom endlichen Gelingen meiner Unternehmungen felsenfest überzeugt. Die Reklame-Uhr bewährt sich, verlaß Dich darauf. Und noch etwas: Mein Gehülfe verläßt mich, wenn er seinen rückständigen Gehalt jetzt nicht ausbezahlt erhält. Der Obige. Während Tobler diesen Brief an seinem Pult aufsetzte, richtete der Angestellte an seinem Schreibtisch die Mündung des Korrespondenzgeschützes auf einen Bruder von Tobler, einen in angesehener Weltstellung in einem entfernteren Landesteil lebenden Regierungsbaumeister, indem er demselben, gemäß den von seinem Chef soeben erhaltenen Instruktionen, ans Herz legte, wie miserabel es im Abendstern hergehe und daß es allerhöchste Zeit sei usw. »Haben Sie geschrieben? Zeigen Sie her. Ich werde unterzeichnen, oder nein, halt, der Brief muß so abgefaßt sein, als würden Sie ihn aus eigenem Antrieb und Interesse für Ihren Prinzipal geschrieben haben. Schreiben Sie ihn anders und unterschreiben Sie selbst. Tun Sie so, als schrieben Sie ohne mein Wissen, haben Sie gehört? Ich stehe mit meinem Bruder nicht gut, Sie aber sind ihm ein vollständig Fremder. Machen Sie rasch. Ich muß überlesen, was Sie da aufsetzen. Und dann muß ich zum Bahnhof.« -- Tobler lachte und sagte: »Das sind Kunststücke, mein lieber Marti, aber man muß sich in Gottesnamen zu helfen wissen. Schreiben Sie das nur auch gleich meinem noblen Herrn Bruder, das von Ihrem rückständigen Gehalt. Und dann wollen wir beide jetzt sehen, ob die Dinger einschlagen, oder nicht. Meine Mutter wird schon müssen. Andernfalls -- -- und vergessen Sie nicht, die ganze Reklame-Uhr-Geschichte noch einmal mit sauberer Schrift übersichtlich zusammenzustellen. Rauchen Sie! Stumpen sind wenigstens noch da. Nun holt uns entweder der Teufel oder wir brechen durch.« »Wie diesen Mann die Hoffnungen und 'Kunststücke' hinreißen,« dachte Joseph. * * * * * Nach ein paar Tagen konnte dann Frau Tobler wieder aufstehen. Es war auch gut, denn die Pauline bedurfte einer regierenden Hand in der Tat. Sie hatte angefangen, nachlässig zu werden. Die Frau erschien wieder, mit einem dunkelblauen Hauskleid lose bedeckt, im Wohnzimmer und fing leise an, sich den häuslichen Geschäften und Sorgen wieder zu widmen. Sie trat leise und schön auf, und sie schien mit ihrer ganzen Gestalt still zu lächeln. Ihre Stimme war dünner geworden, ihre Bewegungen kürzer und furchtsamer, und ihre Augen schauten nach allen Seiten umher wie neugierige Kinderaugen. Die Krankheit hatte eine schöne Sanftheit über ihr ganzes Betragen geworfen, sie sah aus, als hätte sie sich von nun an nie mehr ereifern, als hätte sie niemals mehr für irgend etwas Partei ergreifen können. Mit ihrer Dora verfuhr sie natürlicher, nicht mehr gar so zuckerig, die Konditorei hörte ein bißchen auf zu blühen, und die Silvi konnte sie anschauen, ohne daß ihr der offenbare Zorn ins Gesicht schoß, was vorher beinahe jedesmal der Fall gewesen war. Sie schien im allgemeinen eine gewisse Kompliziertheit des Herzens abgeworfen zu haben, sie sah nach etwas Edlerem und Schlichterem als sonst aus, man schaute sie an und empfand so, und sie selber glaubte auch so empfinden zu müssen. Das Gesicht drückte Kummer aus, aber auch Freundlichkeit und Gelassenheit und etwas beinahe hoheitsvoll Mütterliches. »Ich bin wieder einigermaßen gesund, Gott sei Dank!« schienen alle ihre kleinen Gebärden zu sagen, und diese Sprache mußte eine tiefe und wahrhaftige sein, denn Bewegungen und Manieren können nicht gut lügen. Der Mund fieberte noch ein wenig, als läge auf ihm noch das erregte Zucken früherer unschöner Aufregungen, aber im großen ruhigen Auge lag es und leuchtete es klar geschrieben: »Ich bin ein wenig besser, feiner und überlegener geworden. Seht mich an. Nicht wahr, ihr merkt es?« -- Ihre Hände griffen behutsam nach den Handarbeiten oder Geschirren oder nach einem Buch, es war, als ob diese Hände die Gabe des Nachdenkens bekommen hätten. Sie schienen auch Lippen zu haben und zu sagen: »Wir denken jetzt über manches, manches viel ruhiger und offener nach. Wir sind zarter geworden.« -- Ja, die ganze Frau Tobler war ein wenig zarter, aber auch ein wenig blasser geworden. Wie gut es ihr gefiel im Wohnzimmer. Das war tüchtig geheizt worden. Sie schaute durch die Fensterscheiben hinaus. Draußen lag alles im undurchsichtbaren Nebel. Wie schön das war, daß man gar nichts sehen konnte. Wie gemütlich es hier drinnen war. Einen Augenblick lang flatterte ihr das Bild des Sommers vor den zufriedenen Augen, sie sah es in Gedanken ganz ruhig an mit einem: Nun ja! und es verschwand wieder. Dann dachte sie an ihr neues Kleid und an die hauptstädtische Schneiderin, Frau Bertha Gindroz, und sie mußte leise lachen. Sie wischte ein bißchen den Staub von den Möbeln, aber sie rührte die Möbel eigentlich mehr nur so an, als würde sie dieselben haben liebkosen und grüßen wollen. Wie ihr alles lieb und neu war. Diese paar Tage! Und diese paar Tage, diese eine kurze Woche, hatte ihr alles in eine fremdartige, wohltuende Neuheit geworfen. Es lag alles in einem eigentümlichen, verkleinernden, verzierlichenden Schimmer, es schwindelte ihr ein wenig, sie setzte sich. Der Hund war jetzt die meiste Zeit im Zimmer. Es war längst zu kalt im Hundehaus geworden. Nur während der Nacht mußte er draußen liegen. Auch oben im Turmzimmer, welches man nicht heizen konnte, fing es an unleidlich kalt zu werden, so verbrachte Joseph die Abende und manchmal halben Nächte unten in der Wohnstube, meistens allein mit der Frau, die jetzt kaum noch jemanden zu Besuch empfing. Die Parketteriefrauen, die alte Dame und das Fräulein, waren mit Toblers infolge eines Meinungs- und Rechtsstreites böse geworden. Es handelte sich um einen kleinen, an beide Nachbargüter anstoßenden Grundstücksecken, den jeder von beiden Parteien beanspruchte. Die Sache war zu geringfügig, um vor Gericht getragen zu werden, aber sie machte böses Blut, es entstanden Schimpfworte, Beleidigungen, und der bisherige freundnachbarliche Verkehr hörte eben auf. Die alte Gluckhenne solle ihm nur nie wieder über den Gartenhag ins Haus kommen, hatte Tobler gesagt. Die Freundschaft war damit bündig gebrochen. Überhaupt, von welchen Personen hatte nicht Tobler ähnliches gesagt? Fast die meisten »sollten es nur noch einmal wagen, den Fuß auf Toblersches Terrain zu setzen, dann würden sie schön ankommen!« -- So saß man an den langen Abenden allein. Die Lampe beleuchtete meistens zwei Köpfe, den der Frau und den des Gehülfen, der ihr Gesellschaft leistete, und ein Spiel Karten, oder ein Buch, das aufgeschlagen auf dem Eßtisch lag. Es vergingen einige Tage. Sie wurden in allen ihren Stunden empfunden, diese Tage. Man zählte sie, man rechnete mit ihnen, denn es war nicht gleichgültig, ob sie rasch oder langsam dahingingen, hing doch das Bestehen des Hauses Tobler nur noch von Tagen ab. Man verlernte es, an Monate oder Jahre zu denken, oder man verkürzte die Gedanken-Monate und -Jahre und veranlaßte die Erinnerungen zu einem rascheren Erfassen, und man lebte so und wartete auf die Zeichen, die die Tage gaben. Ein Geräusch war wichtig, denn es konnte der Briefbote sein, der eine neue, sorgenvolle Unannehmlichkeit brieflich oder in Form eines Postzahlungsbegehrens daherbrachte. Irgend Töne waren wichtig, denn es konnten die Töne der Haustürklingel sein, und es konnte jemand kommen, der Betrübliches im Sinn hatte. Ein Ruf war wichtig, denn er konnte bedeutend sein: »Heda, Herr Tobler und Frau,« konnte diese Stimme rufen, »rasch mit euch jetzt hinaus aus dieser lieblichsten und gewohntesten aller Menschenstätten. Sputet euch, denn es ist Zeit. Ihr habt's lange genug schön gehabt.« -- Solchen schrecklichen Inhaltes konnte irgend ein Ruf sein. Aber auch die Farben waren wichtig, das Gesicht des Tages, die Züge und Gebärden dieser, wie es schien, letzten Tage, denn sie sprachen von den letzten Hoffnungen und letzten Anstrengungen und von der Art, wie man es machen mußte, um auch jetzt noch guter Hoffnung voll zu sein. Sie redeten so leise, diese Tage. Sie waren keineswegs zornig auf das Haus Tobler, im Gegenteil, sie schienen es von hoch und von fern, in Gestalt von Wolken und Genien, beschirmen, ihm zulächeln und es trösten zu wollen. Diese Tage glichen der Frau Tobler beinahe ein wenig. Auch die Tage schienen krank gewesen zu sein, und jetzt hatten sie ein ebenso blasses und weiches Aussehen wie die Frau, um die herum sie sich in der unabänderlichen Reihenfolge ablösten. Aber Frau Tobler war nach und nach wieder die frühere Frau Tobler geworden. Je mehr sie gesundete, desto mehr glich sie wieder sich selbst. Es wäre ja auch gar zu sonderbar zugegangen, wenn sie plötzlich eine andere hätte werden können. Nein, so rasch sprang eine lebendige Menschennatur nicht aus ihrem eigenen Wesen heraus. Dafür war gesorgt, daß das nicht geschehen konnte, und wie! Daß die Frau milder ausschaute, das war nur, weil sie sich noch schwach fühlte. * * * * * Eines Abends während dieser Zeit saßen die Beiden, die Frau und der Gehülfe, bei der Lampe, im Wohnzimmer. Der Herr war auf der Reise. Wann war er denn überhaupt nicht auf der Reise? Auf dem Tisch, neben jeder der zwei Personen stand ein halb gefülltes Glas Rotwein. Sie spielten Karten. Frau Tobler war am Gewinnen, der Ausdruck ihres Gesichtes war infolgedessen heiter. Sie pflegte immer zu lachen, wenn sie beim Kartenspielen gewann, und so tat sie auch jetzt. Sie ließ ein naiv-schadenfrohes Lachen aus ihrem Mund springen, das vielleicht zu einer andern Zeit den Partner geärgert hätte. Aber Joseph trank einen Schluck Wein auf den Verlust hinab, und beide setzten das Spiel fort, indem Frau Tobler die Karten von neuem zu mischen begann. Nach ungefähr einer Stunde sagte sie, sie wolle gern noch etwas lesen, in dem Buch, das ihr der Gehülfe heute aus dem Dorf gebracht habe. Das Spiel wurde unterbrochen, die Frau begann gleich zu lesen, während Joseph sich, unlustig, eine Zeitung oder ein Buch zur Hand zu nehmen, auf das Ruhebett setzte und anfing, die lesende Frau zu betrachten. Diese schien sich ganz und gar in die Geschichte, die das Buch enthielt, versenkt zu haben. Mit der einen Hand strich sie sich von Zeit zu Zeit sorgfältig über die scheinbar tief nachdenkende Stirne, während ihr Mund sich still aber unruhig zu bewegen begann, als habe er etwas zu den Geschehnissen der Lektüre mitzusagen gehabt. Einmal stieß sie sogar einen leisen aber kummervollen Seufzer aus und atmete hörbar mit der Brust auf und ab. Wie das still und sonderbar anzuschauen war! Joseph versank immer mehr in die Betrachtung der Leserin, und es war ihm, als lese auch er in einem großen, geheimnisvoll-spannenden Buch, ja es war ihm, als lese er geradezu im selben Buch wie Frau Tobler, deren Stirne, die er aufmerksam ansah, ihm den Inhalt desselben auf merkwürdige Weise zu vermitteln und zu erklären schien. »Wie still sie liest,« dachte er, sie noch immer betrachtend. Plötzlich schaute sie vom Buch auf, großen Auges zu dem Gehülfen hinüberschauend, als sei sie mit ihren Gedanken-Augen in einer weitentfernten Welt gewesen, und als habe das Auge Mühe gehabt, sich zu entsinnen, was das sei, was es jetzt sah. Sie sagte: »Sie schauen mich scheinbar die ganze Zeit über, während ich gelesen habe, an, und ich merke nicht einmal etwas davon. Behagt Ihnen denn das? Ist es Ihnen nicht zu langweilig?« »Nein gar nicht,« erwiderte er. »Wie doch so ein Buch fesselt,« bemerkte sie und las weiter. Nach einer Weile schien sie müde geworden zu sein. Die Augen mochten ihr ein bißchen weh tun. Jedenfalls hielt sie inne mit Lesen, sie schloß aber das Buch noch nicht, als überlege sie, ob sie noch fortfahren solle oder nicht. »Frau Tobler!« sagte Joseph ruhig. »Was?« fragte sie. Sie schloß ihr Buch und schaute nach dem Angestellten hinüber, der ihr, wie es schien, etwas Besonderes zu sagen hatte. Aber es verging eine halbe Minute des Schweigens. Endlich sagte Joseph zögernd, er sei unvorsichtig. Da habe er ihr etwas ganz Bestimmtes sagen wollen. Er habe bemerkt, daß sie eben mit Lesen scheinbar fertig geworden sei, und daß sie, wie er noch jetzt sehe, einen gutmütigen Gesichtsausdruck zur Schau trage. Plötzlich sei ihm der Gedanke gekommen, die Gelegenheit, die er schon lang gesucht habe, zu ergreifen, und sie anzusprechen, und nun fehle ihm wieder einmal der Mut, das zu sagen, was er habe in den Mund nehmen wollen. Nun sehe er selber ein, was Frau Tobler schon vor Wochen einmal zu ihm gesagt habe, nämlich, daß er ein komischer Mensch sei. Das was er habe sagen wollen, sei dumm und gar nicht des Anhörens wert. Sie solle ihm erlauben, schweigen zu dürfen. Die Frau runzelte die Stirn und ersuchte den Gehülfen, sich näher zu ihr zu setzen und zu reden. Sie begehre zu wissen, was er habe sagen wollen. Man rede nicht mir nichts dir nichts die Menschen an, um sie auf Dinge neugierig zu machen, die dann nicht kämen. So etwas sei feig oder gedankenlos. Sie höre. Joseph hatte sich auf ihr Geheiß an den Tisch gesetzt und sagte, das, was er zu berichten habe, handle von der Silvi. Frau Tobler schwieg und senkte die Augen. Er fuhr fort: »Erlauben Sie mir, gnädige Frau, Ihnen rund herauszusagen, wie abscheulich mir die Behandlungsweise vorkommt, die man für dieses Kind übrig hat. Sie schweigen. Gut, ich nehme das als einen Wink, den mir Ihre Güte erteilt, fortzufahren. Sie begehen ein großes Unrecht an dem kleinen Wesen. Was soll aus diesem Geschöpfchen später werden? Wird es je den Mut und die gehörige Lust haben, den Mitmenschen ein menschliches Betragen zu zeigen, da es sich erinnern wird und erinnern muß, daß man es in seiner Jugend unmenschlich erzogen hat? Was ist das für eine Erziehung, ein Kind einer rohen und dummen Magd, einer Person, einer Pauline auszuliefern? So etwas müßte die Klugheit verbieten, auch dann noch, wenn es die Lieblosigkeit zugibt. Ich rede so, weil ich darüber nachgedacht habe, weil ich so manchen Tag gesehen habe, was mir aufrichtig weh getan hat, und weil ich in mir den Drang, Ihnen, Frau Tobler, zu dienen, so viel ich vermag, verspüre. Ich bin grob, nicht wahr? So sind eben zuweilen komische Menschen. Doch nein. Ich möchte ganz anders zu Ihnen reden. Es paßt sich nicht so. Ich habe schon zu viel gesagt, und es kommt heute kein Wort mehr über meine Lippen.« Es herrschte eine minutenlange Stille im Zimmer, endlich sagte Frau Tobler, ihr sei schon lange auch der Gedanke gekommen, man habe Ursache, sich wegen Silvi Vorwürfe zu machen. Das alles komme ihr übrigens jetzt so sonderbar vor. Der Gehülfe aber brauche keine Angst zu haben, sie verzeihe ihm die soeben gesprochenen Worte, sie sehe ja, er meine es gut. Sie schwieg wiederum. Später bemerkte sie, sie liebe eben das Kind nicht. »Warum nicht?« fragte Joseph. Warum nicht? Das komme ihr wie eine dumme, unüberlegte Frage vor. Sie liebe eben Silvi nun einmal nicht und möge sie nicht ausstehen. Ob man sich denn zur Liebe und zum Wohlwollen zwingen könne, und was das für ein Gefühl sei, solch ein erzwängtes und hervorgewürgtes? Was sie dafür könne, wenn es sie mit eisernen Schlägen und Hämmern von der Silvi fortjage, sobald sie sie nur von weitem erblicke? Warum gerade Dora ihr so süß sei? Das wisse sie nicht und begehre sie auch gar nicht zu erfahren, und wenn auch; würden ihr die treffenden Antworten auf solche, wie ihr scheine, überflüssigen und aussichtslosen Fragen je zufallen können? Das sei schwer. Ja, sie wisse wohl, daß sie Unrecht begehe. Schon als ganz kleines Kind habe sie Silvi, sonderbar genug, zu hassen angefangen. Ja, hassen, das sei das richtige Wort, es bezeichne das Gefühl, das sie mit dem Kind verbinde, ausgezeichnet. Sie wolle probieren, in den nächsten Tagen, ob sie sich ihm wieder ein wenig mit dem Herzen anschließen könne, aber sie hoffe wenig von solchen Versuchen, Liebe lasse sich nicht erlernen, die habe man und empfinde man, oder man habe und empfinde sie nicht. Sie nicht haben, das heiße, glaube sie, ebenso viel wie: sie nie haben. Aber sie wolle versuchen, und nun wünsche sie, zu Bett zu gehen, sie fühle sich recht müde. Sie stund auf und ging zur Türe. An der Schwelle drehte sie sich um und sagte: »Ich hätte es bald vergessen -- gute Nacht, Joseph. Wie zerstreut ich bin. Löschen Sie die Lampe, bevor Sie hinauf in Ihr Zimmer gehen. Tobler wird wohl noch lange nicht kommen. Sie haben mir heute abend das Herz ein wenig erschwert, aber ich bin Ihnen nicht böse.« »Ich wollte, ich hätte geschwiegen,« sagte Joseph. »Machen Sie sich keine Gedanken.« Mit diesen Worten ging sie die Treppe hinauf. Der Gehülfe blieb mitten im Zimmer stehen. Nach kurzer Zeit erschien Tobler. Der andere sagte: »Guten Abend, Herr Tobler, hm, was ich da mir zu sagen erlauben wollte: ich habe vor einer halben Stunde die Unvorsichtigkeit begangen, Ihrer Frau wieder einmal Grobheiten zu sagen. Ich will Ihnen das zum voraus bekennen. Ihre Frau Gemahlin wird sich veranlaßt fühlen, sich über mich zu beklagen. Ich beteure, es sind nur Dummheiten, Dinge letzten und allerletzten Gewichtes. Ich bitte Sie höflichst, keine so großen Augen machen zu wollen, ich glaube, weder Ihre Augen sind ein Mund noch ich etwas Verzehrbares, es gibt nichts zu essen an meiner Person. Was den Ton dieser Sprache betrifft, so erklärt sich dieser daraus, daß er von einem wütenden Gemüt diktiert wird. Wäre es nicht besser, Sie jagten Ihren kuriosen Herrn Angestellten jetzt endlich einmal zum Haus hinaus? Ihre Frau mißhandelt das ganze Jahr lang ungestört die Silvi. Wo haben Sie Ihre Augen? Sind Sie ein Vater oder nur ein Unternehmer? Gute Nacht, gute Nacht, ich glaube, ich habe es nicht mehr nötig, zu warten und zu hören, was Sie auf eine so sonderbare Aufführung erwidern. Ich darf annehmen, ich bin entlassen.« »Sind Sie betrunken? He!« Tobler rief umsonst. Der Gehülfe war bereits die Treppen hinaufgestiegen. Vor der Türe des Turmzimmers blieb er plötzlich stehen: »Bin ich ganz toll?« Und er lief so schnell er vermochte wieder die Stufen hinunter. Herr Tobler saß noch im Wohnzimmer. Joseph blieb, wie vorhin die Frau, auf der Schwelle stehen und sagte, es täte ihm leid, sich in unziemlicher und unsinniger Art und Weise benommen zu haben, er bereue, aber er bemerke, daß er -- noch nicht entlassen sei. Wenn Herr Tobler noch Geschäftliches zu besprechen habe: Joseph stehe zur Verfügung. Tobler schrie so laut er konnte: »Meine Frau ist eine Gans, und Sie sind ein verrückter Kerl. Diese verdammten Bücher!« Er nahm das Leihbibliothekbuch und schmiß es zu Boden. Er suchte nach beleidigenden Worten in seinem Gedächtnis, fand sie aber nicht. Teils sagten die, die er gefunden hatte, zu wenig, teils wieder zu viel. »Räuber« schwebte ihm auf der Zunge, aber dieses Wort konnte ja gar nicht beleidigen. Seine Wut kannte infolge seiner Verwirrung keine Grenzen. Er hätte sagen mögen »Hund«, aber dieses Wort machte dann wieder alle Vernunft zu schanden. Er schwieg, da er sich außerstande sah, seinen Gegner in anständiger Weise niederzuwerfen. Schließlich lachte er. Nein, er brüllte. »Machen Sie, daß Sie sofort hinauf in Ihr Nest kommen.« Joseph hielt es für das Geratenste, sich zu entfernen. Oben angelangt, blieb er im Zimmer stehen, lange, ohne das Kleinste denken zu können. Nur der eine Gedanke flackerte ihm wie ein Irrlicht vor dem Bewußtsein: Er hatte seinen Gehalt noch nicht und gestattete sich -- solche Torheiten. -- Wie würde das morgen werden? Er nahm sich vor, sich der Frau zu Füßen zu werfen. Wie unsinnig! Von der Unmöglichkeit, denken zu können, gepeinigt, trat er auf die Plattform hinaus. Es war eine trockene, kalte Nacht. Der Himmel strahlte und glitzerte und fror voller Sterne. Es war, als ob die Sterne alle Kälte, die herrschte, auf die Erde hinunterstrahlten. Auf der dunklen Landstraße ging noch ein Mensch. Die Schuhe klapperten metallen auf den Steinen. Alles da draußen schien von Stahl oder Stein zu sein. Die Stille der Nacht selber schien zu tönen, zu klirren. Joseph dachte an Schlittschuhe, dann an Erz, dann plötzlich an Wirsich. Wie mochte es jetzt dem ergehen? Er hatte das Gefühl von einem leisen Freundschaftsempfinden für diesen Menschen. Dem begegnete er sicher noch wieder irgend einmal. Aber wo? Er trat in sein Zimmer zurück und zog sich aus. In diesem Augenblick ertönte ein Schrei Silvis. »Da wird die Kleine wieder aus dem Bett gezogen. Hu, wie kalt,« dachte er. Er horchte noch eine Weile, im Bett aufgerichtet, aber er hörte nichts mehr und schlief ein. * * * * * Am Morgen schlich er zitternd und mutlos ins Bureau hinunter. Er dachte: »Wird man mich fortjagen? Wie? Ich dieses Haus verlassen?« Ja, er fühlte, wie lieb es ihm geworden war, und er dachte weiter: »Wie ist es mir möglich, zu leben, ohne Dummheiten zu begehen? Und in diesem Haus konnte ich so hübsch Dummheiten begehen. Wie wird es anderwärts hiermit bestellt sein? Und wie kann ich daran denken, zu existieren, ohne von Toblers Kaffee zu trinken? Wer wird mir anderswo satt zu essen geben? Und so bequem, und so mannigfaltig? An andern Orten ist das Essen so langweilig, so ganz und gar das Gegenteil von üppig! Und in wessen sauber zu- und aufgedeckten Betten will ich mich nachher schlafen legen? Unter einen behaglichen Brückenbogen wohl! Gemach! Ach Gott, sollte es schon so weit sein? Und wie kann ich fortfahren zu atmen ohne die Gegenwart dieser auch im Winter reizenden, landschaftlichen Gegend? Und wie will ich mich dann abends unterhalten, wie jetzt mit der lieben, prächtigen Frau Tobler? Wem Grobheiten sagen? Nicht alle Menschen nehmen sie so besonders, so eigen, so schön in Empfang. Wie traurig. Wie liebe ich dieses Haus! Und wo wird eine Lampe brennen, so zärtlich, und wo ein Wohnzimmer sein, so heimelig, so herz-voll, wie Toblers Lampen und Wohnzimmer sind? Wie macht mich das mutlos. Und wie können meine Gedanken, ohne alltägliche Gegenstände wie Reklame-Uhr, Schützenautomat, Krankenstuhl und Tiefbohrmaschine zu haben, ferner auskommen? Ja, das wird mich unglücklich machen, ich weiß es. Ich bin hier gebunden, ich lebe hier. Wie sonderbar anhänglich ich bin! Und Toblers tiefe, grollende Stimme, wie bitter werde ich ihren Klang entbehren. Warum kommt er noch nicht? Ich möchte wissen, woran ich bin. Ja, alles das. Was? Wo wird wieder solch ein Sommer mich in die üppigen, grünen Arme und an die blühende und duftende Brust drücken, wie der war, den ich hier oben habe erleben und genießen dürfen? Wo, in welcher Gegend der Welt, gibt es solche Turmzimmer? Und eine solche Pauline? Obschon ich mich mit ihr des öftern gezankt habe, gehört auch sie schließlich mit zu dem Schönen. Wie es mir elend zumut ist. Hier durfte ich 'kopflos' sein, wenigstens bis zu einem gewissen Grade. Ich möchte wissen, an welchen Orten der zivilisierten Welt das sonst noch gestattet wäre? Und der Garten, den ich so oft gespritzt habe, und die Grotte? Wo gibt man mir das? Menschen wie ich genießen sonst nirgends die Annehmlichkeit und den Zauber von Gärten. Bin ich verloren? Mir ist elend zumut, ich glaube, ich werde jetzt einen Stumpen rauchen müssen. Auch das wird mir fehlen. Sei es.« -- Als er auch noch an die Fahne im Sommer dachte, sah er sich genötigt, zu grinsen, um nicht plötzlich wie ein Schwächling weinen zu müssen. Dann trat Herr Tobler ins Bureau, wie jedesmal, ordentlich guten Morgen sagend. Nichts von Zum-Haus-hinaus-jagen. Nichts dergleichen! Joseph setzte seine demütigste und dienstfertigste Miene auf, er war unbeschreiblich froh, daß es noch nicht »so weit« war. Er setzte sich geradezu leidenschaftlich hinter die Erledigung der heute bestehenden geschäftlichen Aufgaben, und er drehte sich alle Augenblicke auf seinem Stuhl um, damit er sehe, was Tobler an seinem Pult machte. Tobler tat das Gewöhnliche. Was er da gestern für einen Anfall gehabt habe? frug der Chef in unglaublich freundlichem Tone. »Ja, das war dumm,« sagte der Gehülfe, bescheiden und beschämt lächelnd. Er brauche nicht zu ängsten. Seinen Gehalt kriege er schon, brummte Tobler. »O, ich will gar keinen Gehalt. Ich verdiene ihn nicht.« »Dummheiten,« sagte Tobler, »ich bin, einige Kopflosigkeiten, die Sie sich haben zuschulden kommen lassen, ausgenommen, zufrieden mit Ihnen. Und wenn ich die Fabrik bekomme, um deren Beteiligung ich mich beworben habe, so bleiben wir hoffentlich auch dann noch zusammen. Man wird in diesem Fall auch einen Buchhalter brauchen können.« Später ging der Chef. Dora war an diesem Tage krank geworden, nicht ernstlich. Es war nur eine kleine Erkältung, aber diese genügte, um das Mädchen zu pflegen, als wäre ihr letzter Tag herangekommen. Dora lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, und als Joseph zufällig sagte, er wolle zur Post gehen, es war gegen Abend, mußte er Dora versprechen, ihr ein paar Orangen oder Apfelsinen aus einer Spezereihandlung mitzubringen, was er denn auch tat. Während des Nachtessens redete Frau Tobler beständig zu der kleinen, reizenden Unpäßlichen hinüber, in der Richtung nach dem Ruhbett. Silvi machte große Augen und hielt den Mund sperrangelweit offen, als dächte sie darüber nach, wie es zugehe, daß man so reizend krank sein könne. Warum war denn eigentlich Silvi nie krank? War das nichts für sie? Mußte die Natur ihr diesen hübschen Zustand vorenthalten? War sie zu gering, eine kleine Erkältung bekommen zu dürfen? Sie wäre so gern einmal zärtlicher als sonst, ja nur einmal ein bißchen wärmer und milder als sonst behandelt worden. Die Dora! Nein! Silvi schaute ihr Schwesterchen betrübt und erstaunt an, als wäre sie nicht imstande gewesen, es sich zu erklären, wie die da so schön krank daliegen konnte. »Tu den Löffel aus dem Mund, Silvi. Ich kann das nicht ausstehen!« sagte Frau Tobler. Ihr Gesicht schien in diesem Augenblick zwei Mienen bekommen zu haben, eine liebliche und glatte für Dora, und eine darunter liegende gerunzelte und strenge für Silvi. Gleichzeitig schaute die Frau kurz den Angestellten an, als forsche sie auf dessen Gesicht nach dem, was er dazu etwa denken oder sagen mochte. Aber Josephs Gesicht lächelte zu Dora hinüber. Es war dies durchaus kein Wunder: die Menschen richten eben ihre Augen mit Vorliebe dorthin, wo das Schöne und Wohlgestaltete zu sehen ist, nicht dahin, wo in unappetitlicher Weise mit einem Kaffeelöffel in einem ausdruckslosen Mund herumgerührt wird. Doras volles Gesicht guckte anmutig zu den schneeweißen Bettkissen heraus, auf denen verstreut, und Höhlen in den Flaum eindrückend, die mitgebrachten Apfelsinen herumlagen. Dieser reizende, üppige Kindermund. Diese kleinen, aber beinahe schon bewußt schönen und graziösen Bewegungen. Diese bittende, liebe, leichte Stimme, dieses Vertrauen! Ja, Dora, du durftest vertrauen, du sahest jeden Moment aus deiner Frau Mama Gesicht Güte dir entgegenstrahlen. Wie arm war da Silvi. Würde dieses Mädchen je auf den Gedanken gekommen sein, zu wünschen, man solle ihr Orangen aus den Delikateßwarengeschäften mit nach Hause bringen? Unter keinen Umständen. Dazu wußte sie viel zu gut, wie sehr jedermann geneigt war, ihre Bitten abzuschlagen. Ihre Bitten waren auch gar keine Bitten, sondern nur gestammelter Neid. Sie bat erst, wenn Dora längst ihr gewünschtes hatte. Nie kam sie auf einen ersten Wunsch. Die Wünsche Silvis waren alle Wunschkopien, ihre Einfälle waren keine Einfälle, sondern nur Nachahmungen von solchen, die Dora zuerst gehabt hatte. Ein echtes Kinderherz nur kommt auf frische Einfälle, ein verprügeltes und verachtetes niemals. Die wahre Bitte ist immer ersten, nie zweiten Ranges, gerade wie das wahre Kunstwerk. Silvi war eben nun einmal zweiten, dritten, vielleicht sogar siebenten Ranges. Alles was sie sagte, war aus falschem Tone geschmiedet und gebacken, und alles was sie tat, war altbacken. Wie alt Silvi bei ihren blütenjungen Jahren schon war. Welches Unrecht! -- Joseph hatte das einen Moment überdacht, während er Dora anschaute. Wenn man die anschaute, konnte man sich ein klares Bild von ihrem Gegenstück machen, und man hatte dann gar nicht nötig, die prüfenden und vergleichenden Augen erst noch lange auf Silvi zu werfen. Wie das traurig war. Diese zwei ungleichen Kinder! Joseph hätte aus dem Grund seines Denkens heraus hörbar seufzen mögen. Als Dora jetzt in ihr richtiges Schlafbett hinaufgetragen werden sollte, trat er zu ihr hin und war so betroffen von dem Anblick ihres keck-unschuldigen Wesens, daß er nicht anders konnte, als ihr die kleine Hand zu küssen. Mit diesem Huldigungskuß wollte er gleichsam die zwei Arten liebkosen, die Dora-Art und auch die Silvi-Art. Aber wie hätte er der zweiten Art tatsächlich huldigen können? Unmöglich! So versuchte er, wenigstens in Gedanken der jungen Bitterkeit und Bei-Seite-Geschobenheit etwas Tröstendes und Achtungsvolles zu sagen, indem er das Unausgesprochene mit seinem Mund auf die Hand der schwesterlichen Liebe und Naturgnade drückte. Frau Tobler sah es. Sein Betragen fand ihren Beifall. »Ein kurioser Mensch, dieser Marti!« dachte sie, »da hat er mich gestern der Silvi wegen ausgescholten, und nun ist er mir selber hier halb verliebt in die Dora.« -- Sie lächelte gnädig und sagte zu Dora, da müsse sie aber in Zukunft ihre Hände säuberlicher halten, wenn sie ferner solche Küsse darauf bekommen wolle und lachte. Zur Silvi sagte sie, indem sie ihr mit verzogenem Gesicht gute Nacht sagte, sie solle sich besser zusammennehmen und ihr keine Ursache mehr geben, streng mit ihr zu sein, dann sei man auch gut zu ihr. Es sei ein Jammer, wie man sie behandeln und immer wieder strafen müsse. Sie erwarte jetzt einmal gehörig Besserung. Silvi werde auch älter. Marsch. Sie solle gehen. Zuerst hatte der Ton dieser kurzen Ansprache liebreich klingen wollen, dann aber, als sei ihm die Milde unpassend und unmöglich vorgekommen, war er in die Härte hinübergesprungen, in Abstufungen, bis er zuletzt selber in einem gebieterischen »Marsch« sich abbrach. Als die vier Kinder fort waren, wurde ein »Jaß« angefangen. Der Gehülfe hatte jetzt schon eine ziemlich bedeutende Geschicklichkeit in der Übung dieses Spiels erlangt, er bewies dieselbe und gewann fast fortwährend, was ihn veranlaßte, ganz besonders vorsichtig seine Worte zu wählen, da er die Gereiztheit, die in der Frau bei Spielverlusten hervorzubrechen pflegte, genau kannte. Sie spielten eine Stunde lang, von Zeit zu Zeit wieder an den Rotweingläsern nippend, wie am Vorabend. Plötzlich sagte Frau Tobler, indem sie das Spiel unterbrach: »Wissen Sie es schon, Marti, daß mein Mann mich zu meiner Schwiegermutter schickt? Ja, es ist so, und ich werde mich morgen früh auf die Bahn begeben, um ihr einen Besuch zu machen. Wir müssen ja jetzt das Geld haben, sonst sind wir verloren, und sie schickt nichts. Sie ist sehr geizig, wenigstens hält sie ihre Gelder scharf beisammen. Sie werden sich denken können, wie unangenehm mir eine solche Fahrt jetzt ist, aber es muß sein. Diese Frau, die ich schon so lange nicht mehr gesehen habe, die ich kaum recht kenne, werde ich bitten müssen, ja Marti! Und sie wird kalt zu mir sein, von oben herab, das fühle ich nur zu deutlich. Es wird so leicht für sie sein, mich zu kränken, mir weh zu tun, denn schließlich behandelt man ja eine Bettlerin nicht, wie man mit Glacéhandschuhen jemanden anrührt. Sie hat mich übrigens von jeher ein wenig 'auf dem Zug' gehabt, ich habe das immer empfunden. Als ob ich von jeher ihrem Sohn, meinem Mann, nur Unheil gebracht hätte. Und so wird sie mir jetzt natürlich entgegentreten: wie einer Sünderin. Sie wird mir die Kleider, die ich am Leib trage, vorwerfen, die unnötige Eleganz derselben, den unglaublich überflüssigen guten Schnitt. Nein, das neue Kleid werde ich schon nicht anziehen dürfen. Das hat auch keinen Zweck. Eine, die daherkommt, um zu heischen, soll schwarz gehen, ich werde das alte, schwarze Seidenkleid anziehen, das macht einen sehr unterwürfigen Eindruck. Ja ja, Joseph, Sie sehen, andere müssen sich auch zwingen und dulden und herabwinden zur Bescheidenheit. Es geht eben so, man weiß gar nicht, woher und wie und wieso so rasch. Diese Welt!« -- »Wir wollen hoffen, daß Sie Erfolg haben,« bemerkte der Gehülfe. Sie fuhr fort: »Dafür schickt mich ja auch Tobler, weil er der Ansicht ist, daß seiner Mutter meine Erscheinung zu einem solchen schwierigen und heiklen Zeitpunkt angenehmer sein werde als die seinige. Sonst sehe ich allerdings nicht ein, warum er selber nicht hinfahren könnte. Ein Stück Bequemlichkeit seinerseits mag ja dabei sein. Die Männer nehmen gern die gemütlosen und trockenen Geschäfte auf sich. Wo es sich aber um ein persönlich-innerliches Opfer handelt, um eine Pflicht und Arbeit herzlichen Charakters, um rein seelische Überwindungen, da schieben sie lieber ihre Frauen vor die Front und sagen gewöhnlich: 'Geh du! Du machst das besser als ich!' was man dann noch als eine Art Gnade und Liebkosung aufzufassen beinahe gezwungen ist.« Beide lachten. Frau Tobler nahm wieder das Wort: »Ja, Sie lachen! Übrigens verbiete ich Ihnen das nicht. Lachen Sie nur. Ich habe ja auch gelacht, obschon es uns beiden eigentlich ernster zu Mut sein sollte. Ja, hoffen wir, daß ich Erfolg haben werde. Im übrigen, was rede ich da! Ich meinerseits habe diese Hoffnungen, die in bezug auf Toblers Geschäfte noch immer wieder Erfolge vorspiegeln, längst aufgegeben. Es ist jetzt einmal so: das Vertrauen in meines Mannes Geschäftstüchtigkeit ist in mir gründlich ins Schwanken geraten. Ich glaube jetzt überzeugt zu sein, daß er nicht genügend Raffiniertheit, nicht genügend Herzlosigkeit besitzt, um rentable Geschäfte machen zu können. Er hat in all dieser Zeit meines Erachtens nach nur den Ton dieser pfiffigen und schlauen Leute angenommen, das äußere Betragen, die Manieren, nicht aber zugleich die Fähigkeiten. Gewiß, es muß einer, der gute Geschäfte macht, deswegen kein Blutsauger und schlechter Kerl sein. Das ist noch lange nicht gesagt. Aber mein Mann ist zu temperamentvoll, zu rasch, zu gut und zu natürlich empfindend. Auch zu leichtgläubig ist er. Nicht wahr, Sie wundern sich, mich dermaßen reden zu hören, aber glauben Sie mir, wir Frauen, beständig an die Enge und an die Beschränktheit des Hauses gebunden, wir denken über mancherlei nach, und wir sehen auch manches und fühlen manches. Es ist uns gegeben, die Dinge ein bißchen zu erraten, da einmal die korrekten Wissenschaften unsere geschwornen Feindinnen sind. Wir verstehen es, in den Blicken und im Betragen zu lesen. Wir sagen seltsamerweise nie etwas, wir schweigen, denn wir drücken uns ja in der Regel so schlecht und immer so unpassend aus. Unsere Worte regen meistens die geschäftsüberladenen Männer nur auf, aber überzeugen nie. So leben wir Frauen dahin, erklären uns mit dem allermeisten, was um uns her und mit uns selber geschieht, einverstanden, reden nebensächliche Dinge, die uns immer stärker der Vermutung, daß wir kleine und untergeordnete Geister sind, aussetzen und sind immer zufrieden, ich glaube es wenigstens. Nein, mein Mann wird mit seinen Patenten auf keinen trockenen Zweig mehr kommen, der kleine Finger, der Schuh am Fuß, meine eigene Nase sagen es mir. Er lebt zu gern gut, und das dürfen eine Zeitlang Unternehmer nicht. Er ist zu wild, das schadet. Er liebt zu sehr seine eigenen Pläne, das untergräbt dieselben. Er ist ein viel zu heiterer Mensch, und er nimmt alles zu gerade, zu plötzlich, deshalb viel zu einfach. Er ist eine schöne, volle Natur, und solche Naturen reüssieren mit solchen Unternehmungen nie, oder fast nie. Nicht wahr, Marti, wie ich heute rede.« Er schwieg und erlaubte sich ein unmerkliches Lächeln. Sie hatte schon wieder mit Reden angefangen: »Meinen Karl fürchten die Menschen und hintergehen ihn zugleich und lachen ihn hinter seinem Rücken aus, denn sie gönnen gerade ihm merkwürdigerweise allen nur erdenklichen Schaden, und ich glaube deshalb, weil er seinen Wohlstand und sein Besitztum zu offen und zu ungeniert gezeigt hat, dermaßen, daß es ihnen in die Augen hat stechen müssen. Er ist immer naiv genug gewesen, vorauszusetzen, andere Leute hätten Freude an seiner Lebensfreude und Lust an der seinigen, was offenbar ein geradezu der richtigen Auffassung entgegengesetzter Standpunkt war. Er hat immer mit vollen Händen gegeben, das ist eine Schwäche gewesen, verzeihlich zum Beispiel in meinen Augen, aber unverzeihlich im Urteil derjenigen Menschen, die von ihm eben diese verschwenderischen Wohltaten genossen, mit einem Wort, die von ihm profitiert haben. Er hat seine besondere Art, ein bißchen barsch und laut zu sein, das nennt man jetzt, jetzt im Unglück, Prahlerei. Wäre er erfolgreich, so würde man zu derselben Gewohnheit sagen: Schneid! Ja. Nein, mein Mann würde viel besser getan haben, wenn er sich nie selbständig gemacht, sich nie auf eigene Füße gestellt, sondern sich in seiner bescheidenen Stellung als technischer Angestellter still gehalten hätte. Wir waren alle so wohl damals. Freilich hatten wir kein eigenes Haus, aber was bedarf es dessen, da doch nur Sorgen in solch ein eigenes Haus kommen? Nach Feierabend machten wir unsern stillen, hübschen Spaziergang rund um den Hügel. Es war zu schön, um es derart eigensinnig von sich wegzuwerfen, aber eines Tages wurde es eben weggeworfen.« »Es kann noch alles gut kommen, Frau Tobler,« sagte Joseph. Diese Worte schlugen wie mit Flammen in ihr Gesicht. Sie rief: »Sie sollen das nicht sagen. Das ist abscheulich. So redet man nicht zu der Frau des Geschäftsmannes, in dessen Bücher man tagtäglich hineinblicken kann. Auf diese Art soll man nicht schonen wollen und einer schwachen Frau das Herz mit Gewichten beladen. Wieso kann noch alles gut kommen? Gehen Sie zu den Bedrängern meines Mannes mit dieser fluchwürdigen Redensart. Sie haben mich wieder einmal unglücklich gemacht. Ich will gehen und versuchen, dies zu vergessen.« Sie lief aus dem Zimmer. Der Gehülfe dachte: »Was ist nun da wieder? Muß es bald jeden Abend eine heftige Szene geben? Bald bin ich unmutig, bald sie, bald wir beide, und bald kracht es wieder aus Toblers Gemüt heraus. Bald schreit die Silvi, bald bellt der Leo, bald ist wieder die Dora krank. Fehlte noch, daß wir alle zusammen eines Tages, Mittags oder Abends vollständig hinten hinüber schnappten. Dann gute Nacht schönes Haus Tobler! Aber soweit sind wir noch nicht. Wollen jetzt erst einmal die mütterlichen Gelder abwarten, und dann teilweise unsere Schulden bezahlen. So viel wie in diesem Hause ist mir in meinem ganzen sonstigen Leben der Kopf nicht gewaschen worden. Aber auch das mag gut sein. Übrigens! Habe ich etwa wieder einmal Angst? Bin ich unruhig? Nein, Gott sei Dank nicht. Tobler hat wohl heute wieder im Sinn, im 'Segelschiff' zu übernachten. Das gehört scheinbar auch zu meinen Berufspflichten, daß ich inzwischen hier seiner Frau Gesellschaft leiste. Die Arme! Warum hat sie keinen bessern Gesellschafter?« Er löschte die Lampe und ging zu Bett. * * * * * Andern Tages, es war wieder mehr nasses als kaltes Wetter, und die Luft hing schwer herunter, sah man Frau Tobler, schwarzseiden gekleidet, den Gartenhügel hinabgehen, um sich zur Bahn zu begeben. Tobler begleitete sie ein Stück hinunter, sprach ihr zu, guten Mutes zu bleiben und sich nicht etwa wieder zu erkälten in der Eisenbahnwagenzugluft und dergleichen. Man sah von oben herab ein Lächeln im Gesicht der Frau, und ein Winken mit dem Taschentuch, das galt der Dora, die der Mutter ebenfalls nachwinkte. Wie naß alles war. Zu dieser Winterzeit hätte es eigentlich trockener und kälter sein können, dachte man, und dann verschwand Frau Tobler den Augen, die ihre Bewegungen bis zuletzt verfolgten. Es waren dies Josephs, Paulinens, Silvis, Doras, der Knaben und Leos Augen gewesen. Der Hund bellte traurig, wie er die Herrin fortgehen gesehen hatte. Das Ganze glich, wenn einer sich auf seine romantische Einbildungskraft hätte versteifen wollen, dem Weggang einer Königin. Joseph, der Vasalle, hätte jetzt, wenn er einer jener aus alten Geschichten zu uns modernen Menschen hinübergrüßenden getreuen Untertanen gewesen wäre, bitterlich weinen müssen, während die Kammerfrau Pauline ein Wehgeschrei ausgestoßen haben würde, wenn sie eine von denjenigen gewesen wäre, die in alten Zeiten schöne und hohe Königinnen, wie die Geschichten lehren, bedient haben. Und der Hund wäre vielleicht ein Drache gewesen, und die Kinder Königskinder und Herr Tobler der wuchtigen Rittergestalten eine, die früher immer dabei waren, wenn es solche traurige Abschiede für immer gab, als es noch Schlösser, Burgen, Stadtmauern und Tränen der Treue gab. Doch nein. Hier war es ja ganz anders. Hier handelte es sich nicht um eine immerwährende Verbannung auf eine öde Felseninsel, sondern nur um eine Tagesreise per Eisenbahn und um einen praktischen und ein wenig unangenehmen Besuch. Auch eine Königin kam hier nicht vor, es sei denn, man hätte Frau Tobler als die sorgenvolle Königin des Hauses zum Abendstern empfunden, was so ganz apart und wunderlich nicht hätte sein können. Auch keine düstere Heldengestalt, sondern nur ein modern gekleideter und beschaffener Herr Ingenieur Tobler gab der Dame ein Stück weit das Geleite, um ihr, auch nicht gerade Trost, sondern nur einige vernünftige Worte zuzusprechen. Und von einem besonders betrübten Knecht und Vasallen war hier ebensowenig die Frage und Rede als von einer noch fassungsloseren Kammerfrau. Joseph und Pauline, diese beiden Personen standen da, weiter niemand, außer den Kindern, und das waren weder Königs- noch Fürstenkinder, sondern schlichte, bürgerliche, wie sie jedes bessere Haus haben kann. Leo war kein Drache. Er würde eine solche mittelalterliche Zumutung vielleicht sogar bissig übel genommen haben. Alles in allem war es ein Bild des zwanzigsten Jahrhunderts. Es werde sich nun bald zeigen, wessen man sich zu gewärtigen habe, meinte Herr Tobler, als er wieder ins Bureau zurückkehrte. Was ihn betreffe, er werde und müsse durchdringen. Jeder andere Gedanke sei lächerlich. Was er immer behauptet habe, das behaupte er auch heute, und heute erst recht. Und er beschäftigte sich mit der Tiefbohrmaschine. Die Handelsabteilung schrieb einen Brief an den Tiefbauingenieur Joël, der sich, wie es schien, »gewaltig« für dieses Werk interessierte. Die Kinder spielten und rauften sich im Bureau. Tobler jagte sie hinaus. Später verließ er das technische Bureau selber und ging ins Dorf, des Automaten wegen. Ein wenig später ging auch der Gehülfe weg und zwar zur Post. Auf dem Wege dahin wurden ihm von zwei Landarbeitern schimpfliche Worte nachgeschrien. Diese Bauernknechte schickten dem Angestellten nach, was sie dem Chef würden nachgebrüllt haben, wenn sie den Mut dazu gehabt hätten. Joseph kam ohne weitern Zwischenfall ins Dorf, auf die breitere Straße, und hier begegnete ihm der, den er eher im Gasthaus zum »Roten Haus« vermutet hätte, Wirsich. »Sie sind wieder hier?« Sie schüttelten sich die Hände. Wirsich schaute ganz vergnügt drein, er sah aus, als wenn ihm eben etwas sehr Entgegenkömmliches passiert wäre. Er sagte zu Joseph, eben sei er neuangestellt worden und zwar in der Kolonialwarenhandlung Bachmann & Co. Er sei, wie der Gehülfe ihm angeraten habe, mit fertig geschriebenen und kuvertierten Offertbriefen in der Tasche, auf die Wanderung, von Geschäftshaus zu Geschäftshaus gezogen, und in der Tat habe man ihn fast überall menschenfreundlich behandelt, aber man habe nirgends eine Stellung für ihn frei gehabt, bis er schließlich zu den Herren Bachmann & Co. hineingegangen sei, und dort sei dann die Sache zu seinem Glück komplett geworden. Und nun glaube er sich nach langer Zeit endlich wieder als ein gehobener Mensch fühlen zu dürfen. Jedenfalls könne er sagen: »Guten Tag, Freund, du siehst, mir geht es gut.« Ob es nun nicht ganz nett sei, zusammen in die nächstbeste Wirtschaft zu treten und eins auf den Durst hinauf zu nehmen? »Aber gewiß. Sehr gern. Aber hören Sie, Wirsich, sagen Sie, können Sie's vertragen?« sagte Joseph. Der andere beteuerte: »Natürlich!« -- So gingen sie in das zunächst liegende Restaurant Central, wo sie sich jeder einen Schoppen Bier geben ließen. »Denn sonst lieber nicht. Es wäre schade um die neue Position,« glaubte Joseph gut zu tun, nachzufügen. Wirsich winkte belustigt mit der Hand ab. Es fiele ihm nicht ein, sagte er, etwa gar wieder so unvernünftig zu trinken, wie früher. Er habe sich das jetzt, glaube er, ein für allemal abgewöhnt, so verkommen sei er denn doch noch lange nicht. Wie es bei Toblers stehe? »Nicht gut,« sagte der Gehülfe, und er erzählte in kurzen Umrissen den Verfall des Hauses. Wirsich solle sich aber hüten, zu plaudern, das seien Geschäftsgeheimnisse und die gingen niemand etwas an. Wirsich sagte: »So habe ich es dem Großhans, diesem Tobler, doch noch prophezeien können, daß er noch einmal zu seinem prahlerischen Haus und Garten hinausfliegt. In jener Nacht hat er's von mir gehört, und jetzt gehen die Worte in Erfüllung. Was er andern getan hat, das geschieht ihm nun selber, und recht geschieht ihm. Ist unsereins kein Mensch? Sind wir Angestellten ohne die Spur von Empfindung auf diese Welt gekommen? Wir werden eines Abends einfach zum Haus und zur Lebensexistenz herausgeworfen, und man glaubt noch, recht und milde getan zu haben. Pardon, Marti, Sie sind mein Nachfolger und genießen infolge meines Sturzes einen, wie Sie selber sagen, angenehmen Lebensaufenthalt. Sie können natürlich nichts dafür, daß Sie mich vom Posten verdrängt haben. Was rede ich: durch Sie habe ich ja die neue Stellung gefunden. Also Entschuldigung. Ich meine nur, der Zorn kann einen fortreißen, sich eine so lange Zeit in der elendesten Verlegenheit und Erniedrigung geschaut zu haben. Wegen was? Wegen eines Fehlers? Donnerwetter, jetzt trinke ich grade extra noch eins. Heda, Herr Wirt, oder Sie lieber, Frau Gastwirtin, bringen Sie mir noch solch einen Schoppen. Sie Marti werden doch wohl auch noch einen trinken.« »Nur bitte ich,« sagte Joseph, »meinen Chef nicht angreifen zu wollen. Und dann auch nicht gar so laut, wenn ich bitten darf. Mein gegenwärtiger Prinzipal ist kein Großhans. Sie werden diesen unvorsichtigen, und ich gebe gern zu, im Zorn gesprochenen Ausdruck zurücknehmen. Tun Sie's alsogleich, sonst sind wir geschieden. Ich habe Ihnen nicht vertrauliche Aufklärungen über Toblers Lage gegeben, um diesen Mann hinterher beleidigen zu hören. Im übrigen: Prost! Es freut mich, daß es Ihnen gut geht.« »Ich sag' ja: im Zorn!« entschuldigte sich Wirsich. Der Streit sei erledigt, bemerkte Joseph. Beide tranken je noch ein Glas, auf welche »Lage« eine vierte folgte. Sie würden so fortgefahren haben, wenn nicht jetzt die Türe aufgegangen, und Herr Tobler selber ins Restaurant getreten wäre. Er überflog beide Zecher und Angestellten mit einem zündenden Blick, der den Männern genug sagte. Joseph hatte beim Eintritt des Herrn sofort den Hut abgezogen, den er vorher ziemlich burschikos auf dem Kopf behalten hatte. Das gebot die Höflichkeit, und der Toblersche Blick gebot es nicht minder. Er stand übrigens bald auf, da das Gespräch mit Wirsich ohnehin verstummte, rief, er möchte bezahlen und bewegte sich gegen den Ausgang zu. Ein Wink des Ingenieurs veranlaßte ihn jedoch, in dessen Nähe zu treten. Dieser fragte: »Was will dieser Ungut hier, der Wirsich?« Joseph antwortete: »O, er hat eine Stelle gefunden. Hier dicht nebenan, bei Bachmann & Co. Seit heute. Er freut sich sehr darüber.« »So? Und er trinkt wohl noch immer gern, was? Der wird sicherlich lange in der neuen Stellung verbleiben, der! Es ist gut. Waren Sie auf der Post?« »Nein, ich gehe jetzt. Sie werden entschuldigen. Mein Vorgänger hat mich aufgehalten. Ich werde gleich gehen, und wenn Sie wünschen, daß ich Ihnen die Briefe hieherbringe« -- -- Tobler verneinte, und der Gehülfe entfernte sich. Auch Wirsich war jetzt aufgestanden, er bezahlte, marschierte unsicher vorwärts, wußte nicht, ob er seinen ehemaligen Vorgesetzten grüßen sollte oder nicht, tat es, und sogar tief und demütig, und stieß zum Überfluß noch an einen Tisch an, bei welcher Gelegenheit er beinahe umgestürzt wäre. Sein Achtungsgruß wurde mit keinem Zug einer Miene erwidert. Tobler »wollte nichts mehr mit diesem Menschen zu tun haben«. An der Tür stolperte Wirsich zum zweiten Mal. War das eine schlimme Vorbedeutung? * * * * * Frau Tobler kam mit dem Nachtschnellzug nach Hause gefahren. Herr Tobler, Pauline und Joseph erwarteten sie am Bahnhof. Der Zug kam schnaubend und rasselnd an. Allerlei Menschen drängten sich in die Nähe des langen, schwarzen, prachtvoll-dastehenden Ungetümes heran. Die Frau stieg aus, Joseph und Pauline sprangen hinzu, um Körbe und Pakete in Empfang zu nehmen. Mutter Tobler hatte der Sohnesfrau Verschiedenes mitgegeben, das konnte man ungefähr zum Voraus wissen, deshalb war man zu dritt am Bahnhof erschienen. In zwei Körben befanden sich teils Äpfel, teils Nüsse. Die Pakete enthielten Sachen für die Frau selber und für die Kinder. Dem Gesicht der Ausgestiegenen war abzulesen, daß die ganze Sache weder ganz gut noch auch ganz schlecht abgelaufen war. Es drückte Müdigkeit und Gelassenheit aus. Es schien, als ob eine Hälfte des Gesichtes ein bißchen gelächelt hätte. Im ganzen schien sie ihrem Mann, der sie neugierig darum befragte, eine genügende und zufriedenstellende Auskunft gegeben zu haben, denn Tobler schien nicht übel Lust zu haben, rasch jetzt noch für eine Weile ins »Segelschiff« zu gehen. Seine Frau sagte, sie merke ihm wohl an, wohin er zu gehen wünsche, mit welchen paar Worten denn auch die bezügliche Erlaubnis erteilt war. Er rief den Davongehenden noch nach, er sei in mindestens einer Stunde wieder im Abendstern und verschwand in seiner Stammkneipe. Die Übrigen gingen nach Hause. Dem Gehülfen war es eine angenehme Pflicht, die Körbe, so schwer sie waren, zu tragen. Das war doch wenigstens wieder einmal etwas »Körperliches«. Er schritt hinter den beiden Frauen, hinter der Magd und der Frau, leicht daher, gänzlich gedankenlos. Ja, das kam von den Körben her. »Ich bin zum Laufburschen geboren,« dachte er. Zu Hause angelangt, gab es einen Schwarm von Fragen, aus der kindlichen Wißbegierde heraus ertönend. Und eine Belagerung der Pakete und Obstkörbe. Was Großmutter sagen ließe, wollten die drei Kinder wissen. Nur das Vierte nicht. Silvi blieb schläfrig und gleichgültig. Auch die Geschenke ließen dieses Mädchen gleichgültig. »Mich betrifft das nicht,« sagte ihre Miene. Um so mehr mußten die Sachen die übrigen drei betreffen. Sie wurden jedoch bald alle samt ihren Forderungen, Fragen und Neugierden in die Betten geschickt. »Wie bin ich müde,« sagte Frau Tobler. Pauline kniete vor ihr am Boden und zog ihr die Schuhe aus. Sie saß auf dem Sofa. Joseph, der daneben stand, dachte: »Ich muß gestehen, daß es mir nicht unangenehm gewesen wäre, wenn sie zu mir gesagt hätte: zieh mir die Schuhe aus! Ich glaube, ich hätte mich mit Vergnügen gebückt.« -- Ein Handschuh entglitt ihr, sofort sprang er hinzu und hob ihn ihr auf. Sie lächelte matt und dankte und sagte: »Wie sind Sie dienstfertig! So sind Sie nicht immer gewesen. Kommt wohl mein Mann bald nach Hause? Wie geht es Ihnen, Joseph?« »Sehr, sehr gut,« gab er zur Antwort. Pauline hatte das Zimmer verlassen. Er sei eben noch jung, da spreche er so und müsse wohl auch so sprechen, sagte die Frau. Ihr sei es so schwer zumut. »Haben Sie Verdruß gehabt?« Auch! Aber dieser kleine Verdruß berühre sie wenig. Sie fühle sich heute zu allerhand Gedanken hingezogen. Ob Joseph noch jassen möge? Ja? Das sei nett. Sie habe gerade jetzt eine unglaubliche Lust, Karten zu spielen. Sie glaube, das helfe ihr. Sie setzten sich an den Tisch und spielten Karten. Pauline trug etwas zu essen auf für Frau Tobler und ging dann wieder. »Vielleicht ist diese Frau zugleich leichtsinnig und schwermütig veranlagt. So kann es sein. Übrigens bin ich ein Dummkopf!« dachte der Gehülfe. »Sie will mir nicht gern geben, die alte Frau,« sagte mitten im Spiel Frau Tobler. »Wer? Ach so! Die Mutter Tobler! Das kann man sich denken. Aber sie wird müssen!« »Ja eben!« machte sie. Sie lachten beide. »Wie das wieder leichtsinnig ist,« dachte der Buchhalter und Korrespondent des technischen Bureau C. Tobler. Die Firma! Schließlich war man denn doch ein gesetzter Mann. Da saßen sie beide wieder zusammen, sie, die »unbegreifliche Frau« und er, der »kuriose Mensch«. Joseph mußte laut auflachen. Was er habe? -- »O nichts. Dummheiten.« Sie sagte, ernster werdend, er werde sich etwa ihr gegenüber keine Scherze erlauben. Er erwiderte auf diese Bemerkung, er sei der kaufmännische Angestellte des Hauses Tobler, worauf sie sagte, sie hoffe, daß er das bestimmte Gefühl habe, er sei das. Er warf die Karten, die er in der Hand hielt, auf den Tisch, erbebte und erklärte, ein ernsthafter und solider Angestellter sei's nicht gewohnt, bis in alle Nächte hinein Karten zu spielen. Er war aufgestanden und ging, indem er erwartete, sie werde ihn zurückrufen, nach der Türe hin. Sie ließ ihn gehen. Statt nach oben in sein Zimmer zu gehen, stieg er ins Bureau hinunter, zündete die dort befindliche Lampe an, setzte sich an seinen Tisch und schrieb an den Verwalter des Tit. Stellenvermittlungsbureau folgendes: Sehr geehrter Herr! Ich bitte Sie höflichst, mich als Bewerber um eine gelegentlich frei werdende, passende Stelle gütigst vormerken zu wollen. Ich finde mich nicht veranlaßt, es darauf ankommen zu lassen, eventuell wieder auf dem Pflaster zu sitzen. Die Dinge hier oben, Herr Verwalter, spitzen sich immer schärfer zu. Ich sage: für alle Fälle! und empfehle mich Ihnen Hochachtungsvoll Ihr aufrichtig ergebener Joseph Marti. Er war noch nicht so bald mit Kuvertieren und Adressieren dieses Schreibens fertig geworden, als er vom Garten her Schritte hörte. Eine halbe Minute später traten Herr Tobler und zwei andere Herren, offenbar Stammgäste aus dem »Segelschiff«, ins Bureau ein, laut redend und lachend, und wie es schien, voll trunkenen Übermutes. Was Joseph noch so spät in der Nacht zu arbeiten habe? fragte mit unsicherer Stimme Tobler. Er habe wenigstens noch einen wahrhaft fleißigen und aufopfernden Gehülfen, wie es scheine, bemerkte er weiter, indem er sich lachend seinen Jaßkollegen zuwandte. Jetzt aber solle er nur ruhig Feierabend machen, denn morgen früh sei es auch wieder Tag. Dann ging er zur Türe, die ins Innere des Hauses führte und rief, so laut er konnte: Pauline! »Herr Tobler?« kam die Antwort von oben herab. »Bringen Sie uns ins Bureau ein paar Flaschen von dem Rheinwein. Aber es muß rasch geschehen.« Joseph hatte kaum nötig, sich von den Herren zu verabschieden, er sagte kurz gute Nacht und ging weg. Die andern hörten und bemerkten ihn gar nicht mehr, denn die hatten jetzt ganz anderes zu tun. Die lagen halb am Boden, halb auf dem Zeichentisch, ohne sonderlich zu achten, auf was sie saßen. Die Stühle wurden als Fußschemel benutzt, und mit den zeichnerischen Entwürfen Toblers kamen die schläfrigen und lustigen Köpfe in engste Berührung. Tobler stopfte, hin und her taumelnd, seine Tabakpfeife, und als endlich der Wein kam, machte er sich mit vieler Mühe und Ungeschicktheit an das Geschäft des Gläserfüllens, worauf dann ein Trinken begann, das halb mit Schnarchen und Hochaufgähnen verbunden und vermischt war. Das bißchen gute Vernunft, das der Ingenieur noch zur Verfügung hatte, glaubte er jetzt mit einem Mal dazu verwenden zu sollen, den Herren und Kameraden die Toblerschen Erfindungen zu erklären, er stieß aber nur auf ein Gelächter und sonst auf keinerlei Verständnis. Der Ernst der männlichen Weltanschauung lag in einem fallen gelassenen und zerbrochenen und seinen Inhalt ausgeschütteten Glas Wein am Boden. Der männliche und menschliche Verstand gröhlte und johlte und lallte, daß die Wände des Hauses beinahe erzitterten. Tobler hatte zu allem, was er eben inszeniert hatte, jetzt noch die wenig rücksichtsvolle Idee, seine Frau mit lauter Stimme in das Bureau hinunterzurufen, um ihr, wie er sagte, seine guten Freunde aus dem Dorf vorzustellen. Sie kam, steckte aber nur den Kopf durch die Türe, die sie schüchtern geöffnet hatte, und verschwand wieder, zurückgeworfen von dem, wie sie selber andern Tags zu ihrem Mann sagte, widerlichen und unflätigen Bilde, das sich ihren Augen darbot, und welches ein holländischer Trunkenboldszenenmaler nicht überzeugender und abschreckender hätte malen können, als wie es hier in Wahrheit und Wirklichkeit lebte und sich regte. Die Trinkerei hatte mit dem Verschwinden der Frau noch lange nicht ihr Ende erreicht, im Gegenteil, sie flammte und kochte und brannte bis zum frühen Morgen und bis zu der Ermattung, jener vollständigen, die den stärksten Zechern schließlich über die Nacken herfällt, um sie zu beugen und der Länge und Breite nach unter Tische und Stühle zu strecken. So geschah's auch, und die ausgelassene Gesellschaft übernachtete unter gräßlichem Schnarchen im technischen Bureau, bis Pauline kam, um den Ofen zu heizen. Es war Tag. Die Gesellen erwachten. Die zwei Bärenswiler zottelten in ihre Dorfschaft und engere Heimat zurück, während Herr Tobler nach oben ging, in sein und seiner Frau Zimmer, um den Rausch und Sturm auszuschlafen. Pauline hatte eine wahre Heidenarbeit zu verrichten, das verwüstete und entstellte Bureau wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen. Als Joseph um acht Uhr unten ankam, sah es noch bitterlich schlimm darin aus, so daß er sich entschloß, sogleich auf die Post zu gehen. Alles lag durcheinander, Stühle, Zeichnungen, Schreib- und Zeichengegenstände, Gläser und Pfropfen. Tinte war verschüttet, rote und schwarze. Wein schwamm am Boden. Einer Flasche war der Hals abgeschlagen worden. Es schienen Bären, nicht nur Bärenswiler in dem Raum gewirtschaftet zu haben, den ein Geruch erfüllte, daß es schien, als müßte man zehn Tage hintereinander die Fenster offen stehen behalten, um es hier wieder sauber, gemütlich und wohnlich zu bekommen. Auf der Post warf Joseph den Brief an den Verwalter in den Kasten. »Für alle Fälle,« dachte er. * * * * * Am folgenden Tag flossen dem Hause Tobler aus dem elterlichen Vermögen viertausend Mark zu. Das war wenig, aber es war wenigstens etwas, es genügte gerade, um die allerungeduldigsten und am schärfsten vorgehenden Dränger zufriedenzustellen. Joseph hatte längst eine Gläubigerliste zusammengestellt, und so wurden nun aus dieser bunten Wiese die am heftigsten duftenden Blumen ausgesucht, um wenigstens vorläufig diese zu betäuben. Unter diesen wütenden und augenblendenden Gewächsen befanden sich unter andern der Gärtner, der gesagt hatte, er wolle nicht eher ruhen, bis er Tobler gepfändet und vom Ort verjagt sähe, das Elektrizitätswerk, das so höhnisch mit den Schultern gezuckt, und die schöne Beleuchtung abgestellt hatte, der Schlosser aus der Nachbarschaft, dieser »undankbare Hund«, wie Tobler ihn nannte, dem man, wie man sich vorgenommen hatte, das »Geld vor die Füße schmeißen würde«, der Fleischer, und aber von jetzt an »keinen Bissen Fleisch mehr aus dieser Metzgerei«! Der Buchbinder, das »alte Kamel«, der froh sein dürfte usw., die Uhrenfabrikanten, denen »man allerdings ihr Drängen nicht sehr verübeln konnte«, der Metallwarenfabrikant, der den kupfernen Turm gebaut und verrechnet hatte, und einige, die ihr Geld »wohl verdienten«. Ein halber Tag genügte, um diesen lautesten und unverschämtesten Forderungen den Mund zu verstopfen, aber auch das Geld war damit verschwunden. Was bedeuteten viertausend Mark für ein über und über verschuldetes Haus? Ein kleiner Rest dieser Summe wurde der Haushaltung gegeben, und einen noch winzigeren erhielt Joseph als Gehalt-Anzahlung. Es war ein sonniger Schneevormittag gewesen, mit blauem Himmel und Winden und mit Schneenässe an der Erde, als der Gehülfe von Haus zu Haus gegangen war, um Beträge auszubezahlen. Auch beim Betreibungsbeamten war er vorbeigegangen. Und wie rasch das Geld schwand, das merkte er an der leichter werdenden Rocktasche. Gegen den Nachmittag langte ein Schreiben des Advokaten Bintsch an, worin derselbe erklärte, es sei von der Mutter nichts mehr zu gewärtigen. Er habe sein Möglichstes versucht, die Frau zu überzeugen; seine Bemühungen seien aber zu seinem Leidwesen ohne Erfolg geblieben. Er rate daher Tobler an, mit Ruhe die Folgen dieser Resultatlosigkeit zu ertragen. Tobler verzog, während er diesen Brief las, sein Gesicht zu einer schmerzhaft anzusehenden Grimasse. Er schien einen namenlosen Zorn zu bemeistern. Dann brach es aus ihm los und warf ihn auf einen Stuhl nieder, als ob Zentnerlasten ihn niedergeschmettert hätten. Er keuchte mit seiner starken Brust, die zu zersprengen drohte, ähnlich einem zu straff angespannten Bogen. Sein Gesicht schaute von unten herauf, als sei es von oben herab von Fäusten niedergepreßt worden. Auf seinem Nacken schienen jähzornig wiegende und sausende und stemmende Gewichte zu liegen, lebendige Gewichte. Die Farbe seines Gesichtes war dunkelrot. Rund um ihn schien die Luft dick und steinern geworden zu sein, und eine unsichtbar-sichtbare Gestalt schien sich jetzt dicht neben Tobler zu erheben, um ihm gemütlich aber kalt auf die zusammenzuckende Achsel zu klopfen. Die eiserne Notwendigkeit selber schien ihm zugeflüstert zu haben. »Mann! Versuche dein Letztes!« Tobler öffnete schwerfällig sein amerikanisches Rollschreibpult, nahm unter Ächzen und Rückenbiegungen, als ob er Schmerzen gehabt hätte, eine Feder zur Hand, ein Blatt Papier, um seiner Mutter einen Brief zu schreiben. Aber die Buchstaben, die er aufsetzte, tanzten ihm vor den Augen. Das Pult flog an seiner wild gewordenen Empfindung hoch auf, das Bureau drehte sich, er mußte aufhören. Er sagte mit röchelnder Stimme zu Joseph: »Telefonieren Sie Bintsch und ersuchen Sie ihn, Ihnen zu sagen, wann er zu einer Besprechung mit mir bereit sein kann. Sagen Sie ihm, es hätte die größte Eile.« Joseph schickte sich sogleich an, dem Befehl Folge zu leisten. Er war aufgeregt, sprach vielleicht etwas undeutlich, es war möglich, daß man ihn nicht recht verstanden hatte, kurz und gut, es dauerte ziemlich lange, ehe er mit Doktor Bintsch reden konnte. Hinter ihm her war Tobler die Treppe hinaufgekommen und stund nun hinter dem Gehülfen, den die Gegenwart eines so krankhaft erregten Herrn und Meisters noch mehr verwirrte, derart, daß, als nunmehr die gewünschte Verbindung hergestellt war, er sich mit dem Rechtsanwalt in stammelnden Gesprächen herumschlug, ohne sich verständlich machen zu können. Das war zu viel für Tobler. Mit einem häßlich tönenden Wutschrei warf er den ungeschickten Sprecher zur Seite, daß derselbe an den Türrahmen des Wohnzimmers anflog, und ergriff selber den telephonischen Hörer, um das verunglückte Gespräch zu Ende zu führen und sich den erforderlichen Bescheid selbst sagen zu lassen. Seine Wut war verflogen, aber er zitterte am ganzen Leib heftig. Er bekam Fieber und mußte sich auf das Ruhbett legen, auf dasselbe, das vor kurzer Zeit Dora eingenommen hatte. »Ist Vater krank?« frug diese jetzt. Frau Tobler, die besorgt neben dem liegenden und stöhnenden Manne stand, sagte zu dem Mädchen: »Ja Kind, Vater ist krank. Joseph hat ihn geärgert,« wobei sie den Gehülfen mit einem erstaunten und verächtlichen Blick streifte, der denselben ins Bureau hinunter jagte. An seinem Schreibtisch angelangt, versuchte er, als ob nichts geschehen wäre, zu arbeiten, aber es war keine Arbeit, was er tat, sondern ein Tappen und Tasten mit zitternden, zerstreuten Fingern, ein Bemühen, gleichmütig zu sein, ein Nichtkönnen, ein Anderes, ein Nichts, etwas Schwarzes. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Später wurde er zum Kaffee gerufen. Tobler war inzwischen in sein Schlafzimmer hinaufgegangen. Die Besprechung mit dem Advokaten konnte erst andern Tags stattfinden, und bis dahin gab es für den Ingenieur ja in der weiten Welt, scheinbar und offenbar, vorläufig nichts mehr zu tun. Welches Bemühen konnte noch einen reellen Zweck haben? Welche Pläne waren nicht lächerlich? Und krank! Es tat dem gehetzten Mann so wohl, zu denken, er liege im Bett und könne bis am andern Tag ungestört liegen bleiben. Er ließ sagen, wenn Joseph zur Post gehe, so möchte er ihm ein paar gute Zigarren mit nach Hause bringen. »Und für Dora ein paar Orangen, Joseph,« fügte Frau Tobler hinzu. Dieser führte die Aufträge aus. Nach dem Abendessen, die Kinder waren bereits zu Bett gebracht worden, sagte der Gehülfe zu Frau Tobler, es sei ihm schwer, länger in einem Hause zu bleiben, dessen Chef sich nicht scheue, ihn, nachdem er ihn oft genug schon mit Worten beleidigt habe, nun auch tätlich und körperlich zu beschimpfen. Das sei zu viel, und er glaube, er täte am besten, gleich jetzt zu Tobler hinaufzugehen, und es diesem Mann zu sagen, wie roh und dumm seine Handlungen seien. Er könne nicht mehr arbeiten, das fühle er deutlich. Einer, den man herumstoße und gegen Türen heranwerfe, der sei wohl auch nicht imstande, Nutzen zu bringen. Solch einer müsse ein Esel und Taugenichts sein, sonst sei es ja gar nicht möglich, ihn derart, wie es geschehen sei, zu behandeln. Dies drücke ihm den Atem ab. Er meine, auch wenn er nichts wie Schindluder all die Zeit her, die er nun hier oben zugebracht habe, getrieben hätte, so könne das körperliche Schmach und Schande noch nicht einmal rechtfertigen, und er? Ob er nicht sich immer ein wenig Mühe gegeben habe? Er wenigstens wisse es, daß er hin und wieder mit Liebe und Lust und mit allen seinen Kräften gearbeitet habe, wenn auch die Kräfte nicht immer den, er gestehe es, gerechten Anforderungen hätten entsprechen können. Ob man so, wie es geschehen sei, die Versuche, tüchtig und aufrichtig zu sein und zu bleiben, behandle? Er weinte. Frau Tobler sagte kalt: »Mein Mann ist krank, wie Sie wissen, und eine Störung wird ihm nicht gerade willkommen sein. Aber wenn Sie Lust haben, und wenn Sie glauben, es hier oben bei uns nun so plötzlich nicht mehr aushalten zu können, so gehen Sie nur zu ihm hinauf und sagen Sie ihm, was Sie auf Ihrem Herzen haben. Ich denke, Sie werden den Ihnen und Ihrem Betragen geziemenden, kurz und bündigen Bescheid erhalten.« Der Gehülfe blieb sitzen. Dann erhob er sich und sagte: »Ich gehe noch rasch auf die Post.« »Sie wollen also nicht zu meinem Manne hinaufgehen?« Nein, Herr Tobler sei krank, sagte Joseph, man dürfe ihn nicht stören. Er dagegen habe jetzt noch Lust, einen kleinen Spaziergang zu machen. Draußen empfing ihn eine klare, kalte Welt. Etwas Hohes und Gewölbtes von einer Welt. Es war kalt geworden. Die Füße schlugen gegen Steine und Eisstücke. Ein eiskalter Wind wehte durch die Bäume. Durch die Äste derselben schimmerten die Sterne. Sein Herz war voll, er lief wie besessen. Nein, er mochte nicht fortgehen. Er hatte Angst, Frau Tobler würde inzwischen ihrem Mann alles ausplaudern gehen. Infolge dieses Gedankens beschleunigte und jagte er seine Schritte. Seinen Gehalt hatte er überdies auch noch nicht endgültig ausbezahlt erhalten. Item. Die Hauptsache war: im Haus bleiben. »Wie unanständig, mich derart beklagt zu haben,« rief er in die Winternacht hinaus. Er nahm sich vor, Frau Tobler kniefällig die Hände zu küssen. Sie saß noch im Wohnzimmer, als er es wieder betrat. Er fing schon in der Türe, welche er aber vorsichtig zuschloß, zu reden an: »Ich habe Ihnen zu sagen, Frau Tobler, wie gut, daß Sie noch hier sitzen, daß ich mich vollständig im Unrecht fühle, darum, daß ich gegen meinen Chef Klagen vorgebracht habe. Ich bin zu voreilig gewesen, und ich bitte, verzeihen Sie mir. Ich habe mich läppisch benommen, und Herr Tobler, in welche Aufregung hat ihn der unselige Advokatenbrief geworfen. Waren Sie schon bei Ihrem Mann? Haben Sie es ihm schon sagen müssen?« »Nein, ich habe ihm noch nichts gesagt,« antwortete die Frau. »Ich bin froh!« sagte der Gehülfe, und er setzte sich. Er fuhr fort: »Und ich bin hieher zu springen gekommen, in der hellen Angst, daß Sie es ihm schon hätten können gesagt haben. Es tut mir alles leid, was ich gesagt habe. Man sagt im Sturm der Gefühle, gnädige Frau, gar so manches, was man nicht aussprechen sollte. Ich bin so froh, daß Sie noch nichts gesagt haben.« Das sei vernünftig gesprochen, sagte Frau Tobler. »Ich habe mir vorgenommen, Ihnen zu Füßen zu stürzen und kniend Abbitte zu tun,« stammelte der Gehülfe. So etwas sei gar nicht nötig, pfui, entgegnete sie. Sie schwiegen eine Weile. Es kam dem Angestellten so schön im Zimmer vor. Das war etwas, das glich einem Heim. Und wie oft war er in früheren Zeiten durch die bewegten und menschenleeren Gassen gegangen mit dem kalten und bösen und niederwerfenden Verlassenheitsgefühl im Herzen. Er war so alt gewesen in seiner Jugend. Wie hatte ihn das Bewußtsein, nirgends zu Hause zu sein, lähmen und innerlich würgen können. Wie schön war es, jemandem anzugehören, in Haß oder in Ungeduld, in Mißmut oder in Ergebenheit, in Liebe oder in Wehmut. Dieser Menschenzauber in solchen Heimstätten, wie war Joseph immer davon traurig entzückt gewesen, wenn er ihn aus irgend einem offen stehen gelassenen Fenster zu sich, dem Einsamen und Umhergeworfenen und Heimatlosen, herabwiderspiegeln sah, zu dem auf der kalten Straße Stehenden hernieder. Wie dufteten Ostern, Weihnachten oder Pfingsten oder das Neujahr zu solchen Fenstern heraus, und wie arm mutete der Gedanke an, von diesem Goldenen und Uraltschönen nur den kargen, kaum empfindbaren Widerschein mitgenießen zu dürfen. Dieses schöne Vorrecht der Bürgerlichen. Diese Güte in den Gesichtern. Dieses friedliche Weben und Lassen und Leben! Er sagte: »Es ist so dumm, sich gleich so beleidigt zu glauben.« Er habe recht, wenn er das sage, meinte die Frau, indem sie ruhig fortfuhr, an einem Unterjäckchen für Dora zu stricken oder zu häkeln. Sie setzte hinzu: »Und muß ich, seine Frau, nicht auch allerhand von ihm dulden und ertragen? Er ist nun eben einmal der Herr im Hause, und das ist eine verantwortliche Position, die von den übrigen Bewohnern und Gliedern Duldung und Achtung herausfordert. Freilich soll er nicht beleidigen, aber kann er sich immer im Zaum behalten? Kann er seinem Zorn sagen: sei vernünftig? Der Zorn und die Gereiztheit sind halt nicht vernünftig. Und wir andern, die den unübersehbaren Vorteil haben, seinen Anordnungen, deren Entwurf und Plan ihn anstrengen, gehorchen zu dürfen, seine Winke, deren Weisheit wir fast immer einsehen, zu befolgen, wir sollen ihm in Zeiten der Unruhe und der Empörtheit eben ein wenig aus dem Wege zu gehen verstehen. Wir sollen es gelernt haben, ihn zu behandeln, denn ein Herr und Gebieter will auch auf eine ganz bestimmte Art und Weise behandelt werden. Wir sollen geschickt und geschmeidig sein in Momenten, wo er seiner Gelassenheit und sicheren Kräfte nicht mehr, wie sonst immer, bewußt ist, in denen wir ihn unfähig, sich noch, wie bisher, zu beherrschen, erblicken. Und wenn wir plump, und, nach unsern Verhältnissen gerechnet, voll Fehler gewesen sind, so müssen wir nicht allzusehr gekränkt sein, wenn seine Stimme und das Unmaß seiner Sorgen und Qualen uns andonnern. Marti! Glauben Sie mir, auch ich bin oft voll Wut über denselben Mann gewesen, der Ihnen heute Unrecht getan hat, der Sie soll beleidigt und in der unwürdigsten Weise soll gekränkt haben. Nun, so setzt man selber eben diese seine Würde ein bißchen herab und verzeiht, denn -- man muß seinem Herrn und Vorgesetzten verzeihen. Was sollte aus Unternehmungen, aus Haushalten, aus Geschäften aller Art, aus Häusern, ja, was sollte aus der Welt selber werden, wenn die Gesetze mit einem Mal nicht auch fernerhin einen ein wenig zwicken und stoßen und verletzen dürften? Hat man das ganze Jahr lang deshalb die Wohltat des Gehorchens und Nachahmens genossen, daß man dann eines Tages oder Abends auftreten durfte und sich in die stolze Brust werfen durfte und sagen durfte: beleidige mich nicht!? Nein, zum Beleidigtwerden ist man ja allerdings nicht da, aber auch nicht zum Zorn-Anlaß-Geben. Wenn die Verwirrtheit nichts dafür kann, daß sie sich dumm benimmt, so ist auch die Wut nicht so rasch für ihr Schnauben und Toben verantwortlich zu machen. Und es ist immer die Frage, wo ist man, und wer ist man. Ich bin jetzt ja zufrieden mit Ihnen, Joseph. Geben Sie mir die Hand. Man kann reden mit Ihnen, und gehen wir jetzt zu Bett.« * * * * * Weihnachten näherten sich. Auch ins Haus Tobler mußte die festliche Zeit ja kommen, die Festzeit, das war etwas Unentrinnbares, das war etwas Flugartiges, das war ein Gedanke, der sich allen Menschen mitteilte, der alle Empfindungen durchdrang, warum hätte er, dieser Gedanke, um die Villa zum Abendstern herum einen Umweg machen sollen? Wie wäre das möglich gewesen? Wenn ein Haus schon einmal, und dazu noch so hübsch, so auffällig, wie das Toblersche, in der Welt stund, so gab es ja auch keine vernünftige oder natürliche Ursache, warum es von irgend etwas, das in dieser Welt voll Ansehen und Duft bestund, hätte sollen verschont bleiben. Und dann war auch noch die Frage: hätten Toblers gern mögen verschont bleiben? Nein, sie freuten sich darauf. Tobler sagte, wenn es schon schlimm mit ihm stehe, so meine er doch, Weihnachten brauchten deshalb nicht etwa gar ungefeiert an und in seinem Haus vorüberzuziehen. So etwas möchte ihm noch gefehlt haben. Die umliegende Gegend selber schien sich ja sogar in ihrer Art auf das schöne Fest zu freuen. Sie ließ sich ruhig und wohlig mit dicht herabfallendem Schnee bedecken und hielt so still gleichsam die große, breite, alte und weite Hand dar, um aufzunehmen, was da fleißig herunterstürzte, daß alle Menschen beinahe sagten: »Seht! Es wird weiß, es weißelt in der Welt. Das ist recht, denn das schickt sich für Weihnachten.« Bald lag auch das ganze See- und Bergland in einem dicken, festen Schneeschleier. Die rasch sich etwas einbildenden Köpfe hörten schon das Klingeln von schnell dahinfahrenden Schlitten, obschon noch gar keine herumfuhren. Die Weihnachtstische waren auch schon gedeckt, denn das ganze Land glich einem säuberlich weiß überzogenen Weihnachtstisch. Und die Stille und Gedämpftheit und Wärme solch einer Landschaft! Man hörte alle Geräusche nur halb, als ob die Schlosser ihre Hämmer, und die Zimmerleute ihre Balken, und die Fabrikräder ihre Schaufeln, und die Lokomotiven ihre schrillen Pfiffe mit Watte oder mit wollenen Tüchern eingewickelt hätten. Man sah nur das Nächste, das, was man mit zehn Schritten abmessen konnte, die Ferne war ein undurchdringliches Geschneie und ein fleißiges Übermalen mit grauer und weißer Farbe. Auch die Menschen kamen weiß dahergestampft, und man konnte unter fünf Menschen immer einen sehen, der sich den Schnee von den Kleidern abschüttelte. Es war ein Friede da draußen, daß man unwillkürlich alle Weltdinge als befriedigt und erledigt und beruhigt annehmen mußte. Und da mußte nun Tobler hinfahren, durch solchen Schneezauber hindurch, per Eisenbahn nach der Stadt, um eine Zwiesprache mit dem Herrn Rechtsanwalt Bintsch abzuhalten. Aber an seiner Seite saß wenigstens seine Frau, die mitfuhr, um einige Geschenksachen im hauptstädtischen Warenhaus für das nahe bevorstehende Fest einzukaufen. Am Abend gab es wieder eine Bahnhofsszene, aber diesmal eine verschneite und deshalb ein wenig fröhlichere. Paulinens Gelächter und Leos freudiges Gebell warfen in den Schnee dunklere Ton-Flecken, obschon sonst ein Gelächter und ein Gebell hell zu färben pflegten, aber was kam gegen die glitzernde Schneeweiße an Helligkeit und Schimmer auf? Man nahm wieder Pakete in Empfang, und eine Dame in Pelzen war ausgestiegen und sah aus wie die wahrhaftige, reiche und gütige Weihnachtsfrau selber, und doch war es nur Frau Tobler, die Frau eines Geschäftsmannes, und noch dazu eines ruinierten. Aber sie lächelte, und solch ein Lächeln kann aus der ärmsten und bedrängtesten Frau eine halbe Fürstin machen, denn ein Lächeln erinnert immer an etwas Hochachtbares und Wohlanständiges. Der Schnee blieb liegen bis zum eigentlichen Tage, sauber und fest, denn es gab kalte Nächte, die die weiße Decke knirschend zufrieren machten. Am Weihnachtstag ging Joseph gegen Abend den bekannten Berg hinauf. Die kleinen Wege schlängelten sich hellgelb durch die schimmernd weißen Wiesen, die Äste der tausend Bäume waren mit Reif überglitzert: ein zu süßes Schauspiel! Die Bauernhäuser stunden in dieser feinen, weißen, verzweigten Pracht da, wie Schmuck- oder Zierhäuser, für den Anblick und für das unschuldige Verständnis eines Kindes geschaffen. Die ganze Gegend schien eine hohe Prinzessin zu erwarten: so zierlich und sauber angezogen sah sie aus. Sie schien ein Mädchen zu sein, ein schüchternes und ein bißchen kränkliches, ein unendlich zart veranlagtes. Joseph schritt höher hinauf, und da hoben sich mit einem Mal die grauen Schleier, die die untere Erde belegten, zerfasernd auf, durchstochen von dem feurigsten Himmelblau, und eine Sonne, so warm wie im Sommer, machte den Spaziergänger an ein eitles Märchen glauben. Hohe Tannen standen da, in stolzer, kraftvoller Haltung, mit Schnee beladen, der in der Sonne zerfloß und von den großen Ästen herabfiel. Als Joseph mit der bereits begonnenen Nacht nach Hause kam, brannte schon im Gastzimmer, einem Eckzimmer, das man fast nie betrat, der Weihnachtsbaum. Frau Tobler führte die Kinder zu demselben hinein und zeigte ihnen die Geschenke. Auch Pauline wurde beschenkt, und Joseph erhielt eine Kiste Zigarren unter der Bemerkung, daß das zwar wenig aber dafür von Herzen sei. Tobler war bemüht, dem Fest einen gemütlichen, wirtshäuselnden Anstrich zu geben, er rauchte die gewohnte Pfeife und blinzelte mit seinen Augen den Tannenbaum an, der lieblich umherstrahlte. Frau Tobler lächelte und sagte ein paar schickliche Worte, zum Beispiel, wie schön doch so ein Bäumchen sei. Aber es mochte ihr nicht so recht zum Mund herauskommen. Überhaupt stockte alles ein bißchen, und es verbreitete sich keine sonderliche Freudenandacht um die paar dastehenden Menschen, sondern es legte sich Wehmut um alles. Auch war es kalt im Gastzimmer, und wo Weihnachtsfreude hätte herrschen sollen, da durfte es nicht kalt sein. Man ging daher immer ins Wohnzimmer hinüber, um sich dort ein wenig Wärme zu holen, und kam dann wieder zum Baum. Jeder Weihnachtsbaum ist schön und jeder hat noch Rührung erzwungen. Auch der Toblersche war schön, nur die Menschen, die um ihn herumstanden, konnten sich zu keiner längeren und tieferen Rührung und Freude aufschwingen. »Da hätten Sie letztes Jahr sollen dabei gewesen sein, das waren noch Weihnachten! Kommen Sie. Trinken Sie ein Glas Wein,« sagte Tobler zum Gehülfen und veranlaßte ihn, ins Wohnzimmer an die Wärme zu treten. Letzterer machte ein unzufriedenes Gesicht, als wäre er der Zigarren wegen verstimmt gewesen, was er selber nicht genau wußte. Man sei halt dieses Jahr, sagte und seufzte die Frau, nicht in der richtigen Stimmung für so etwas. Sie schlug zaghaft vor, noch einen »Jaß« zu machen. Habe man es das ganze Jahr lang getan, so könne man auch einmal am Weihnachtsabend zu den Karten greifen, vielleicht werde es dann ein bißchen lustiger im Zimmer. So nahm man zu den Spielkarten Zuflucht. Der Baum war inzwischen strahlen- und lichterlos geworden. Die Kinder ließ man noch eine halbe Stunde sich mit den Geschenken beschäftigen, worauf sie in die Betten geschickt wurden. Nach und nach verwirtshäuselte die Luft im weihnachtlichen Wohnzimmer gänzlich. Das Lachen und Benehmen der drei einsamen Menschen, die da Wein tranken, teils Zigarren rauchten, teils Bonbons aßen und miteinander Karten spielten, verlor alle besondere Scheu und Eigenheit, die etwa noch hätten an einen Festhauch erinnern können. Es war das gewöhnliche Benehmen und das allerunfeierlichste Lachen. Die Stimmung, die nun diese Spieler beherrschte, war aber nicht einmal die gewohnt-gemütliche, denn -- es war halt doch Weihnachten, und der feinere und schönere Gedanke, der hie und da aufblitzen mochte, mahnte vorüberhuschend an die Sünde, das Fest und den Inhalt desselben derart, wie es geschah, verdorben und entwertet zu haben. Ja, einsam waren diese drei Menschen, am einsamsten der Gehülfe, weil er fühlte, daß er als ein hinzugeflogenes Glied einem Haus angehörte, das langsam aufhörte, ein solches zu sein; weil er sich nicht, wie Herr Tobler, sagen durfte, er habe das Recht, in diesem Hause zu tun und zu verhindern oder zu umgehen, was ihm beliebe, da es nicht sein eigenes war; weil er hätte Weihnachten haben und begehen wollen, da er sich doch einmal in solch einem Hause und in solch einer bürgerlichen Familie befand; weil er des Glaubens gewesen war in den letzten Jahren, er entbehre viel, solches vermissen zu müssen, und weil er am mißgestimmtesten von allen dreien Kartenspielern war und dies als ein großes Unrecht empfinden mußte. »Ist dieses nun heiliger Abend?« dachte er. Die Frau sagte unter anderem auf einmal, es sei doch nicht ganz recht, an Weihnachten Karten zu spielen. Bei ihnen im Elternhaus würde es so etwas nie gegeben haben. Es habe doch eigentlich gar keine Art, wie man da heute Nacht wieder wirtshäusele. Dadurch in Unlaune versetzt, erwiderte Tobler: »So hören wir eben auf!« Er warf die Karten auf den Tisch und rief aus: »Jawohl ist es nicht recht, so etwas am Weihnachtsabend zu tun. Aber was ist das für ein Kreis, wir hier? Was sind wir? Uns kann der Wind morgen zum Haus hinausfegen. Ja, da wo Geld ist, da ist noch Lust, Feste, und noch dazu heilige, zu feiern. Wo Wohlstand ist, wo Glück, Erfolg und allgemeine, häusliche Freude ist. Wer hat sich drei oder mehr Monate hindurch unnatürlich um das Gelingen der Lebensgeschäfte abplagen müssen, erfolglos, und will dann mit einem Mal fröhliche Feste feiern? Ist so etwas überhaupt denkbar? Habe ich recht oder nicht, Marti? He?« »Nicht ganz, Herr Tobler,« sagte der Gehülfe. Es gab ein langanhaltendes Schweigen, das, je länger es dauerte, niemand zu unterbrechen wagte. Tobler wollte etwas von der Reklame-Uhr, die Frau etwas von Dora, und Joseph etwas von Weihnachten sagen, aber alle unterdrückten ihre Gedanken. Es war, als ob allen der Mund zugenäht gewesen wäre. Plötzlich schrie Tobler: »So tut doch bald eure Schnäbel auf und saget etwas. Das ist zu langweilig, da geht man ja gescheiter ins Wirtshaus.« »Ich gehe ins Bett,« sagte Joseph und verabschiedete sich. Auch die andern gingen bald nach oben, und das war Weihnacht gewesen. * * * * * Die Neujahrswoche verlief still und eigentümlich gemütvoll, die Geschäfte lagen am Boden, es gab wenig zu tun, außer, um einen seltsamen Menschen, den Erfinder einer Kraftmaschine, im Kontor von Zeit zu Zeit zu empfangen. Dieser halb bäuerlich, halb weltstädtisch angehauchte Kauz besuchte in dieser Woche das Haus Tobler fast täglich, indem er den Chef desselben antrieb, er möchte für das Geniewerk, dessen Entwürfe er im Bureau liegen ließ, tätig sein. Man lachte über den Mann, dessen Sache man nicht ernst nehmen konnte, aber Tobler sagte einmal beim Mittagessen zu den übrigen: »Lacht doch nicht so. Der Mann ist gar nicht dumm.« Die Begeisterung, mit welcher der Kraftanlagenschöpfer das Kind seines Geistes verfocht und in fast himmelhohe Bedeutung hochhob, gab viel zu reden und sorgte in gar nicht übler Weise für die Unterhaltung in der still und träge dahingehenden Woche. Der seltsame Mensch besaß keinerlei exakte und elegante Bildung, er sprach einesteils wie ein junger Träumer und Bauer, und andersteils hätte man ihn für einen Schwindler oder Jahrmarktbudenbesitzer halten können, denn eines Tages schlug er Herrn Tobler die öffentliche und unter Bezahlung von Eintrittsgeld zu besichtigende Schaustellung der Selbstkrafterzeugmaschine in Städten und Großstädten vor, an Orten, wo recht viel Volk sich zu tummeln pflege, über welche Idee man gar nicht genug glaubte lachen zu sollen. Da sollte nun Tobler schon wieder einmal einem anscheinend ganz begabten Menschen auf die Beine helfen, damit derselbe nicht in einer Schlosserwerkstätte als Arbeiter geistig zu verträgen und zu erlahmen brauchte, aber er, Tobler, selber, wie erging es denn ihm, und wo waren die hülfsbereiten Menschen, die dann auch ihm halfen? »Alle kommen zu ihm,« sagte Frau Tobler, »alle denken sie an ihn, wenn sie auf der Suche nach einem Bereitwilligen sind, alle haben sie Lust, ihn und seine gesellige Natur auszubeuten, und er hilft jedem. So ist er.« Der Gehülfe machte in dieser Woche kürzere und weitere Spaziergänge in die kalten aber schönen Winterlandschaftsgegenden und -Bilder hinein. Da gab es Wagenfurchen auf der Landstraße, an die die Füße anschlugen. Da gab es steifgefrorene Wiesen, die den Berg anliefen, und kalte, rote Hände, die man vor den Mund hielt, um hineinzublasen. Dickbemäntelte Menschen begegneten ihm, und Nächte überraschten ihn in unbekannten Gegenden. Oder es gab da eine Eisbahn auf einem ehemalig herrschaftlich gewesenen Parkweiher, fahrende und umfallende Menschen jeden Alters und beiderlei Geschlechtes darauf, mit den Geräuschen, die solche Schlittschuhbahnen auszuzeichnen und abzumalen pflegen. Und dann stand er plötzlich wieder vor dem Toblerschen Haus, schaute von unten zu ihm hinauf und sah, wie der kalte Mond es verzauberte, während die halbdunklen Nachtwolken um dasselbe herumflogen, großen, trauernden, aber lieblichen Frauen ähnlich, um es scheinbar in die Höhe zu ziehen, damit es sich auflöse in schöner Weise. Zu Hause war dann alles so sonderbar still, nicht einmal die Silvi mehr konnte man hören. Die Tugenden und Untugenden des Hauses Tobler schienen sich beiderseits zufrieden gegeben und sich stumm verbrüdert zu haben. In der Wohnstube saß etwa die Frau in dem Schaukelstuhl, arbeitete etwas oder las etwas, oder sie hielt Dora auf ihrem Schoß und tat gar nichts. »Wie Sie mich im Sommer draußen im Garten gereitschaukelt haben, Marti!« sagte sie einmal. Sie sehne sich nach dem Garten, sie wisse nicht wie. Wie das schon so lange her scheine. Joseph sei jetzt ein halbes Jahr hier, und ihr sei es, als sei er schon so viel länger um sie herum. Wie doch so etwas derart ins Gefühl komme. Sie schaute die Lampe an. Der Blick, womit sie das tat, schien zu seufzen. Sie sagte: »Sie, Marti, haben es eigentlich recht gut, viel besser als mein Mann und als ich, aber von mir will ich gar nicht reden. Sie können von hier weggehen, Sie packen einfach Ihre paar Sachen, setzen sich in die Eisenbahn und fahren nach wohin Sie wollen. Sie finden überall Stellung, denn Sie sind jung, und man glaubt, wenn man Sie vor sich sieht, Sie seien tüchtig, und Sie sind es ja auch. Sie haben mit niemandem auf der Welt, mit niemandes Eigenheit und Bedürfnis, zu rechnen, es zieht niemand Sie ab, in die Weite und in die Ungewißheit hinauszuschweifen. Das ist vielleicht oft bitter, aber wie schön und wie frei kann es sein. Wenn es Ihnen paßt, und wenn es Ihnen die paar kleinen, nicht gar sehr genierenden Verhältnisse erlauben, so marschieren Sie, und wenn Sie zu dürfen glauben, ruhen Sie an irgend einem festen Punkt und Ort wieder aus, und wer wollte, und was wollte und könnte Sie daran verhindern? Sie sind vielleicht manchmal unglücklich, aber wer ist es nicht, manchmal verzweifelt, aber wessen Seele schonen die Schwierigkeiten? An nichts Dauerndes sind Sie gebunden, an nichts Hemmendes gefangen und an nichts Allzuliebevolles gefesselt und angekettet. Es muß Ihnen manchmal unerhört läuferisch und luftspringerisch zumute sein, daß Sie sich dermaßen voller Bewegungs-Erlaubnis erblicken dürfen. Und gesund sind Sie auch, und Ihr Herz mag schon am rechten Fleck sitzen, ich kann es mir denken, trotzdem Sie sich öfters so zaghaft benommen haben. Vielleicht bin ich undankbar. Ich habe mich nun all die Zeit her mit Ihnen nett und lang und ruhig unterhalten können, und es hat sich vielleicht gut getroffen, daß Sie ins Haus zu fliegen gekommen sind, und ich habe Sie oft schlecht behandelt --« »Frau Tobler!« bat Joseph. Sie schnitt ihm das Wort ab und fuhr fort: »Unterbrechen Sie mich nicht. Lassen Sie mich die Gelegenheit ergreifen, Ihnen zu raten, wenn Sie einmal von uns fort sind -- --« »Aber ich gehe ja gar nicht fort!« -- Sie fuhr weiter: »-- -- fort sind, und gedenken, sich selbständig zu machen, es anders anzustellen als mein Mann, ganz anders. Pfiffiger vor allen Dingen.« »Ich bin nicht pfiffig,« sagte der Gehülfe. »Wollen Sie denn Ihr Lebtag lang Angestellter bleiben?« Er sagte, das wisse er nicht. Er bekümmere sich um Zukunftsfragen nicht viel. Sie nahm wieder das Wort auf und sagte: »Jedenfalls haben Sie hier oben etwas sehen und sich etwas einprägen können, auch gelernt haben Sie mancherlei, wenn Sie es der Mühe wert gehalten haben, die Augen zu öffnen, und das werden Sie, so wie ich Sie einigermaßen schon kenne, getan haben. Sie sind ein bißchen an Erfahrung, an Wissen und an Gesetzen reicher geworden, und Sie werden das alles womöglich eines Tages brauchen können. Nicht wahr, manches Mal ist man Ihnen über den Mund gefahren, und getragen und ertragen haben Sie manches. Sie mußten! Wenn ich so denke -- ach was, ich habe, mit einem Wort, das Gefühl, Joseph, daß Sie uns jetzt bald, bald verlassen. Nein, sagen Sie nichts. Sagen Sie lieber nichts. Einige Tage werden wir ja doch wohl schon noch zusammen bleiben, oder nicht? Was meinen Sie?« »Ja,« sagte er. Es war ihm unmöglich, mehr zu sagen. Am nächsten Tag schickte er die zu Weihnachten geschenkt bekommene Kiste Zigarren per Post seinem Vater, folgendes Schreiben der Sendung beifügend: Lieber Vater, hier mache ich Dir ein kleines Neujahrsgeschenk. Die Zigarren sind mir von meinem gegenwärtigen Herrn zu Weihnachten gegeben worden. Du wirst sie gewiß gern rauchen, es sind gute, zwei davon habe ich probiert, wie Du siehst, denn zwei fehlen. Wenn ich mit meinen heutigen sprunghaften Gedanken diese zwei fehlenden Stücke mit zwei Fehlern vergleiche, die meinen Eigenschaften anhaften, so kommt mir so recht zum Bewußtsein, erstens, daß ich Dir niemals schreibe, zweitens, daß ich arm bin, derart, daß ich Dir nie Geld schicken kann, zwei Mängel, die ich beweinen würde, wenn ich mir das erlauben dürfte. Wie geht es Dir? Ich bin überzeugt, daß ich ein schlechter Sohn bin, aber ich bin ebenso vollkommen von der Gewißheit durchdrungen, daß ich ein guter Kerl von Sohn wäre, wenn es einen Sinn hätte, Briefe zu schreiben ohne erfreulichen Inhalt. Das Leben, mit dem man ehrlich glaubt kämpfen zu sollen, gestattete mir bis jetzt nicht, Dir zu gefallen. Adieu lieber Papa. Bleibe gesund und lasse Dir das Essen immer wohlschmecken und fange das neue Jahr gut an. Ich will's auch versuchen. Dein Sohn Joseph. »Er ist ein Greis und geht immer noch den Geschäften nach,« dachte er. * * * * * Die mündlichen Verhandlungen Toblers mit seinem Rechtsbeistand bewirkten, daß derselbe der Mutter Tobler einen in energischen Tönen gehaltenen Brief schrieb, den aber die festbewußte alte Dame dahin beantwortete, daß der Rest der Sohnesansprüche bei weitem erschöpft sei, ja, daß sie selber, eine nunmehr hochbejahrte Frau, sehen müsse, wie sie sich in ihren alten Tagen durchschlage, und daß von weiteren Auszahlungen an Karl Tobler die Rede überhaupt nicht mehr sein könne. Derselbe Mann, fast möchte sie sagen, leider ihr Sohn, habe nichts anderes zu tun, als die notwendigen Folgen seiner Unvorsichtigkeiten und Unüberlegtheiten zu tragen. In der Art der Geschäfte, in die er sein Vermögen geworfen habe, könne sie nichts Gewinn- und Existenzversprechendes begründet erblicken. Das Haus zum Abendstern solle nur aufgegeben werden, es sei allerhöchste Zeit, daß Tobler sich wieder in bescheidenere Lebensverhältnisse fügen lerne, die ihn zwängen, ehrlich, wie es andere Menschen ebenfalls tun müssen, zu arbeiten. Für ihn sei es das Beste, wenn man ihn in der selbsteingebrockten Suppe belasse, damit er aus den Verlegenheiten, in die er sich gestürzt sehe, eine Lehre ziehe. Von ihr, der Mutter, sei nichts mehr zu erwarten. Tobler, dem der Advokat eine Abschrift des mütterlichen Bescheides übermittelte, wurde rasend, als er dieselbe durchgelesen hatte. Er gebärdete sich wie ein wildes Tier, stieß unnatürliche Schimpfworte gegen seine Mutter aus, in der direkten Anrede, als wenn sie zugegen gewesen wäre, und brach dann, wie schon einmal, erschöpft zusammen. Dies geschah am letzten Tage des Jahres, im technischen Bureau, das nun so oft schon der Schauplatz ungehöriger und unbeherrschter Szenen hatte sein müssen. Auch Joseph hatte alles Würdelose und Fassungslose wieder mit angesehen und angehört. In diesem Moment wäre er am liebsten gleich auf und davon gegangen, aber »wozu es herbeiziehen,« dachte er, »es kommt schon von selber.« Er bemitleidete Tobler, er verachtete ihn, und er fürchtete sich zugleich vor ihm. Das waren drei sehr häßliche Empfindungen, eine wie die andere natürlich, aber auch ungerecht. Was veranlaßte ihn, nun noch länger der Angestellte dieses Mannes zu bleiben? Der Gehalt-Rückstand? Ja, das auch. Aber es war noch etwas ganz anderes, etwas Wichtigeres: er liebte aus dem Grund seines Herzens diesen Menschen. Die reine Farbe dieser einen Empfindung machte die Flecken der drei andern vergessen. Und wegen dieser einen Empfindung waren auch die drei andern immer, beinahe von Anfang an, dagewesen, und um so lebhafter. Denn was einer gern hatte, an was einer sich gebunden und geschlossen fühlte, das machte ihm eben zu schaffen, mit dem stritt er sich, an dem paßte ihm vieles nicht, das haßte er gelegentlich, weil er sich mächtig von ihm immer angezogen gefühlt hatte. Das Wetter war an diesem letzten Jahres-Tag mit einmal wunderbar mild geworden. Die winterliche Natur schien gleichsam zu schmelzen und stille Freudentränen zu weinen, denn was Eis und Schnee sein mochte, das lief als munteres, warmes Wasser die Hänge und Hügel hinunter, dem Seewasser zu. Es rauschte und dampfte, als wenn sich ein Frühlingstag mitten in den Winter hinein verloren hätte. Eine solche Sonne! Der reine Maitag. Die beiderlei Sorten Gefühle, die schönen und die schmerzlichen, die sich heute besonders lebhaft in der Brust des Gehülfen bewegten, reizte das herrliche Wetter noch mehr hervor, beruhigte und beunruhigte sie zugleich, so daß es ihm, als er zur Post lief, war, als laufe er nun da zum letzten Mal den schönen Weg entlang, unter diesen bekannten, guten Bäumen, an all den Dingen und Gesichtern vorbei, die Winters und Sommers immer gleich angenehm anzuschauen gewesen waren. Er trat bei Bachmann & Co. ein und fragte nach Wirsich, den er schon an die zehn Tage nicht mehr gesehen hatte, und mit dem er sich für den Silvesterabend zu einer gemütlichen Zusammenkunft zu verabreden gedachte. Der Wirsich? Der sei längst abgegangen. Das sei ja eine pure Unmöglichkeit gewesen, den zu behalten. Der sei ja den halben und ganzen Tag betrunken gewesen. Joseph entschuldigte sich und verließ den Laden. »Ist das möglich,« dachte er und ging langsamen Schrittes nach dem Postgebäude. Im Postfach lag eine Neujahrswunschkarte seiner Frau Weiß, auf welcher diese gute Frau ihm Glück und Gedeihen wünschte. Er lächelte, schloß das Fach zu und machte sich auf den Heimweg, indem er die Richtung der Landstraße einschlug. Das Wirtshaus zur »Rose« streifend, das an der Straße lag, erblickte er in demselben Wirsich, der an einem Tisch saß und den Kopf schrecklich verzweifelt in die hohle Hand stützte. Das Gesicht des unglücklichen Menschen war blaß wie der Tod, seine Kleider waren schmutzig, und sein Blick hatte alles Leben verloren. Joseph trat näher und setzte sich zu seinem Vorgänger. Viel wurde zwischen den beiden nicht gesprochen. Das Bewußtsein des Unheils findet in der Regel keine Worte. Der Gehülfe trank ziemlich stark, gleichsam, um dem Kameraden um eine Seelenstufe und um ein Stück Verständnis näher zu rücken, indem er fühlte, daß hier der nüchterne Sinn und Verstand beinahe unpassend gewesen wäre. Die Zeit verging, indem er sich erzählen ließ, wie es gekommen war, daß der andere aus dem guten Lebensposten wieder verjagt werden mußte. »Kommen Sie, Wirsich, wir wollen ein wenig spazieren gehen,« sagte dann Joseph. Sie bezahlten, der Festere nahm den Schwankenden und Trostlosen unter den Arm, es war schon Nachmittag geworden, und so gingen sie zusammen, erst ein Stück gradaus, dann bergauf, über die freundlichen Wiesen. Wie milde alles war. Wie man da hätte plaudern und scherzen können, wenn man in Begleitung eines Kindes, eines Mädchens oder einer schönen Dame gegangen wäre. Wie man sich, wenn es halb erlaubt gewesen wäre, hätte küssen können. Auf einer Bank in Bergeshöhe vielleicht. Oder wie man gesprochen hätte, etwa mit einem Bruder, oder wie es da hätte sein können, wenn Wirsich ein gesetzter, welterfahrener und gutmütiger älterer Herr gewesen wäre. Gelacht würde man haben, und ein ernstes, aber ruhiges Wort würde man schön vor sich hingesprochen haben. Wenn man aber Wirsich betrachtete, mußte man mit den Verhältnissen und Geschicken der Welt heimlich zürnen und grollen, denn Wirsich bot keinen schönen Anblick dar. Joseph dachte an Toblers und das Herz schlug ihm leise. Wie kam er dazu, den ganzen halben Tag von Geschäft und Haus fern zu bleiben, ohne um Erlaubnis gebeten zu haben? Er machte sich unbehagliche Vorwürfe. Und dazwischen war es ihm beinahe heilig zumut. Die ganze Landschaft schien ihm zu beten, so freundlich, mit all den leisen, gedämpften Erdfarben. Das Grün der Matten lächelte aus dem Schnee, dieser war von der Sonne zu weißen Flecken und Inseln zerteilt worden. Jetzt fing es an, Abend zu werden, und nun hätte er doch nicht wünschen mögen, er wäre besser nicht mit Wirsich spazieren gegangen. Doch! Er hatte ganz gut daran getan, das fühlte er lebhaft. Dieser verunglückte Mensch durfte nicht gänzlich allein gelassen werden. Und jetzt paßte die Gestalt des Trinkers auf einmal wundervoll in die Gegend und in die Dämmerungen des Abends. Schon zündeten Menschen in Häusern Lichter an, schon sah man die Farben nicht mehr, nur noch die weicheren und breiteren Umrisse, und sie gingen heim, und sonderbar, sie schlugen beide den Weg nach Toblers Haus ein, ohne irgend welche Verabredung getroffen zu haben. Tobler war nicht zu Hause. Die Frau saß im Wohnzimmer, in der Dunkelheit, ganz allein, die Lampe hatte sie noch nicht angezündet, und Pauline und die Kinder waren noch irgendwo draußen in der Umgebung. Sie erschrak über die unvermutete Ankunft zweier solcher abendlichen Gesellen, aber sie faßte sich rasch, machte Licht und frug Joseph, warum er denn heute nicht zum Essen erschienen sei, Tobler habe sich darüber aufgeregt, er sei böse, und sie fürchte, es werde nun wieder etwas Unangenehmes geben. »Guten Abend, Wirsich,« sagte sie zu dem andern und reichte die Hand, »wie geht es Ihnen?« »So! Es geht so,« machte der. Joseph ergriff das Wort: »Frau Tobler, würden Sie mir erlauben, für heute nacht meinen Kameraden bei mir oben im Turmzimmer zu behalten? Wie ich denke, befindet er sich in Verlegenheit, wo er übernachten soll, es sei denn in der 'Rose' da unten, aber ich will mein Möglichstes getan haben, zu versuchen, daß man ihn verhindert, dort zu nächtigen. Wirsich hat soeben seine neue Lebensstellung verloren, durch eigene Schuld, das weiß er selber. Sein Geld hat er vertrunken. Wenn er sich nun in den See stürzt, so begeht er ein Ding, worüber wohlsituierte Leute leicht die Achseln zucken können, das aber schrecklich und nie wieder zu verbessern ist. Er ist ein Säufer und ein kaum noch zu rettender Mensch, ich spreche das hier, auch vor Ihnen selber, Wirsich, laut aus, denn es gibt vor Naturen, wie er eine ist, keinerlei Takt zu bewahren, weil überhaupt keine Haltung mehr da ist. Aber er muß nicht heute zugrunde gehen, und was mich betrifft, so nehme ich ihn als meinen besten Freund und Kameraden ungeniert in ein Haus mit, in dem ich als Arbeiter tätig, und als Bewohner vertraut bin. Ich werde jetzt noch ein wenig mit ihm ausgehen, denn es hat heute am Silvesterabend keinen Sinn, sich in ein Zimmer einzusperren, trocken und lustlos; ich gedenke im Gegenteil die Nacht mit meinem Vorgänger, daß ich es nur sage, ruhig und anständig zu durchzechen, denn so machen es heute ja alle Menschen, die glauben, es sich erlauben zu dürfen. Ich werde dann mit Wirsich hieher zurückkehren, um ihn bei mir oben übernachten zu lassen, mag Herr Tobler das nun übel nehmen oder nicht. Ich wollte Ihnen das, gnädige Frau, im voraus sagen. Vieles, was mich diese ganze Zeit über in Erregung hat versetzen können, begegnet in meinem Herzen hier jetzt, nachdem ich das Unglück meines Kameraden angeschaut habe, der gleichmütigsten und allerschönsten Ruhe. Ich wage es, dem kommenden Leben tief und sorglos und warm ins Auge zu blicken. Ich vertraue meinem bißchen Kraft aufrichtig, und das ist mehr, als wenn einer Wagenladungen voller Kräfte und Heuschober voll Fähigkeiten hätte, aber denselben nicht traute oder sie gar nicht kennte. Gute Nacht, Frau Tobler, Ihnen danke ich, daß Sie die Güte hatten, mich anzuhören.« Frau Tobler sagte den beiden gute Nacht. Die Kinder kamen gerade in diesem Augenblick zurück. »Der Wirsich ist da,« riefen sie in heller, lustiger Freude aus. Er mußte allen die Hand geben, und alle, die dabeistanden, hatten das seltsame Gefühl, als habe jetzt Wirsich angefangen, wieder ein Glied des Hauses Tobler zu werden, oder als sei er während all dieser Zeit seiner Abwesenheit eins geblieben, als wäre er nur in ein anderes Zimmer gegangen und hätte dort ein etwas ausschweifendes, überspanntes Buch gelesen, als hätte seine Abschweifung nur eine Stunde oder zwei gedauert, so sehr sprach jetzt die Wiedersehensfröhlichkeit der Kinder für ihn. Da wurde auch die Frau, die ein strenges und kaltes Gesicht hatte aufsetzen wollen, wieder leutselig und gewohnt-heiter, und sie sagte den beiden, die schon in den Garten hinaus getreten waren, sie sollten aber etwa auch ein bißchen aufs Maß schauen und mit Trinken und Feten nicht allzu hoch über die Schnur hauen. Daß Wirsich hier bei Toblers, wo er doch früher wie zur Familie gehört habe, übernachten könne, das verstehe sich von selber. Und sie werde mit ihrem Mann schon ein Wort reden, damit es keine Szene gebe. »Gut' Nacht, Frau Tobler, adieu Dora, adieu Walter!« scholl es aus Josephs Mund nach dem Haus zurück. Unten in seinem kleinen Haus sang der Bahnwärter ein Lied. Die warme Männerstimme wollte, wie es schien, ausgezeichnet in die milde Nacht hineinpassen. Das Lied klang so gleichmäßig und gleichtönend, daß man ihm, als man es hörte, zutraute, es werde noch über das alte Jahr hinaus ins neue hinein und hinüber tönen wollen. Joseph Marti und Wirsich bewegten sich auf der Landstraße langsam gegen das Dorf zu. * * * * * Was diese zwei Neujahrskameraden in der Ortschaft und während der Nacht betrieben und taten, welche Wirtschaften sie aufsuchten, wie viele Gläser sie tranken, welche Art von Gesprächen sie zusammen führten, das zu beschreiben würde das Wichtige und Wesentliche in das Unwichtige und Unbedeutende hinüberschieben. Sie sprachen, was Kollegen zu sprechen pflegen, und sie handelten, wie man in der Silvesternacht etwa zu handeln pflegt, das heißt, sie gaben sich einem langsamen, aber desto vergnüglicheren und desto zielbewußteren Rausch hin. In einem der zahlreichen Bärenswiler Restaurants streiften sie Tobler, der am Tisch mit Freunden saß und merkwürdigerweise über Religion sprach. Joseph hörte, so gut er noch hören konnte, wie sein Chef ausrief, er erziehe seine Kinder gemäß den Prinzipien der Religion, er selber aber glaube an nichts, so etwas höre auf, wenn einer Mann werde. Den beiden Angestellten, dem gegenwärtigen und dem früheren, schenkte der Ingenieur infolge seiner heftigen Gesprächsanteilnahme keine Beachtung. Um zwölf Uhr fingen die Glocken an zu tönen und zu erschallen, um den Beginn des neuen Jahres läutend und donnernd anzuzeigen. Am Hafenplatz spielte die Dorfmusik, begleitet und abgelöst von den Chören des Männergesangvereines. Viele Leute umstanden, die Gesichter von Fackeln beleuchtet, das nächtliche Konzert. Joseph bemerkte den Versicherungsagenten, der mit Tobler gut stand, aber auch den wütenden Handelsgärtner, den ärgsten Feind der technischen Unternehmungen, unter den Zuschauern und Zuhörern. Die Wirte machten in dieser Nacht gute Geschäfte, bessere, als sonst in Wochen. Manch einer trank heute eine Flasche vom ganz Guten, der das ganze Jahr nur Bier getrunken hatte. Mancher gönnte sich etwas, das er sich sonst nicht wohl hätte erlauben dürfen; das ergab schöne, fette Rechnungen, und diese wurden gleich bar bezahlt. Frau Tobler war in Begleitung Paulinens zu der Mitternachtsmusik gekommen, still und verschämt, im Gegensatz zu den unverschämten Augen, die sie unter ihren Mitbürgerinnen antraf, die es sich zur Wonne machten, die Frau in Verlegenheit zu bringen. Sie war heute eine einsame, wenig geachtete, wenig beliebte Frau, aber sie ertrug es. Am späten Morgen erwachten im Turmzimmer zwei noch nicht ausgeschlafene Köpfe. Es war heller Tag und bereits elf, halb zwölf Uhr, also schon beinahe Mittag. Schnell kleideten sich Marti und Wirsich an, um hinunter zu gehen. Im Bureau stund schon Herr Tobler. Sein Zorn, als er den Spätling und den unberufenen Eindringling erblickte, kannte keine Grenzen. Er war nahe daran, Joseph zu schlagen. »Nicht nur,« rief er aus, »daß Sie den ganzen vorigen Tag, ohne auch nur ein Wort der Entschuldigung oder der Benachrichtigung zu sagen, weggeblieben sind und die Nacht durchgelungert haben, besitzen Sie auch noch die Frechheit, einen neuen halben Tag zu versäumen und zu verschlafen. Unerhört ist das. Es gibt ja vielleicht hier unten heute gar nichts Wesentliches zu tun, zugegeben, aber es kann jemand Geschäfte halber daherkommen, und welchen Eindruck macht dann das, wenn die Magd dem Ankömmling sagen muß, der Lump von Angestellter liege noch oben in seinem Nest. Schweigen Sie. Seien Sie froh, wenn ich Sie nicht links und rechts, wie Sie's verdienen, ohrfeige. Und hat auch noch die Stirne, in Gesellschaft eines Menschen anzulangen, der, wenn er sich nicht augenblicklich jetzt aus dem Staube macht, auf Niewiedersehen, wie ich ihm befehle, anderes und deutlicheres zu gewärtigen hat. Und kommt an, mit einer Gelassenheit, die dem erstbesten Galgenvogel, aber nicht dem schuldbewußt sein sollenden Angestellten des Hauses Tobler ziemt. Dieses Haus ist noch immer ein Haus und mein Haus, und wegen der Unsicherheit, in der es sich befindet, darf niemand mich zum Narren und Buben machen, am allerletzten mein Angestellter, dem ich Lohn ausbezahle, damit er zu leben hat. Setzen Sie sich ans Pult und arbeiten Sie. Schreiben Sie. Es gilt einen letzten Versuch mit der Reklame-Uhr zu machen. Nehmen Sie die Feder zur Hand.« Der Gehülfe sagte mit einer endgültig verletzenden Ruhe: »Zahlen Sie mir den Rest des versprochenen Lohnes aus.« Er wußte kaum, was er sagte, er hatte nur das bestimmte Schluß-Bewußtsein. Es wäre ihm unmöglich gewesen, die Feder in die Hand zu nehmen, so stark erzitterte er, deshalb sagte er unwillkürlich dasjenige, was die stärkste Möglichkeit darbot, zu Ende mit all diesen Dingen zu gelangen. Tobler war denn auch außer aller Fassung. »Machen Sie, daß Sie sofort zum Haus hinauskommen. Fort! Zu meinen Feinden! Ich brauche Sie nicht mehr.« Er überhäufte Joseph mit Beleidigungen, zuerst heftigen, dann immer schwächeren, bis der Ton der Wut gänzlich in Klage und Schmerz übergegangen war. Joseph stand immer noch da. Es dünkte ihn, mit der ganzen Welt Mitleiden haben zu sollen, ein wenig auch mit sich, aber stark und nachdenklich mit allem ihn Umgebenden. Wirsich war längst vorläufig in den Garten hinausgetreten. Der Hund wedelte seinen alten Bekannten an. Frau Tobler aber stand unterdessen am Fenster des Wohnzimmers und hörte mit gespanntem Ohr durch die Wände und Mauern, was von unten her zu ihr durchdringen mochte. Gleichzeitig beobachtete sie die Bewegungen des im Garten stehenden, früheren Gehülfen. »Ich erledige noch diese paar Briefe, Herr Tobler, dann gehe ich,« sprach's vom Schreibtisch aus. Ob er ohne Lohn fortgehen wolle? fragte Tobler. Der andere erwiderte, es sei ihm nicht mehr möglich, zu bleiben, worauf Tobler sagte, das sei doch wohl nicht so bluternst aufzufassen. Der Chef nahm seinen Hut und entfernte sich. Nach einer Stunde begab sich der Gehülfe, so unauffällig er konnte, in sein Turmzimmer hinauf und begann dort, seine paar Sachen einzupacken. Da nahm er der Reihe nach wieder diese kleinen, nichts- und für ihn vielbedeutenden Gegenstände in die Hand, um sie säuberlich aber rasch in den bereitgehaltenen Koffer zu stecken. Als er mit Packen fertig war, stellte er sich für zwei Minuten an das offene Fenster und schaute noch einmal so recht mit dem dankbaren Herzen die Gegend an. Dem großen See da unten warf er sogar eine Kußhand zu, ohne zu überlegen, was er tat, sondern einfach in dem Gefühl des plötzlich notwendig gewordenen Abschiednehmens. Von der Plattform aus, auf die er jetzt trat, rief er Wirsich zu: »Warten Sie. Ich komme im Moment.« -- Dann ging er die Treppe hinunter, das Köfferchen in der Hand tragend. Wie ihm das Herz klopfte! »Ich muß nun Adieu sagen, ich muß nun gehen,« sagte er zu Frau Tobler. Diese fragte: »Was hat's denn gegeben? Müssen Sie gehen?« »Ja,« antwortete der Gehülfe. »Denken Sie ein bißchen an mich, wenn Sie fort sind?« Er bückte sich und küßte ihr beide Hände. Sie sagte: »Ja, Joseph, denken Sie ein wenig an Frau Tobler, es wird Ihnen nicht schaden. Das ist eine Frau, wie viele, keine bedeutende Frau. Lassen Sie! Küssen Sie mir jetzt nicht mehr die Hand. Sagen Sie meinen Kindern adieu. Walter! Komm doch. Joseph will uns verlassen. Komm Dora, gib Joseph die Hand. Kommt. Ja.« -- Sie schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Es wird Ihnen sicherlich gut gehen, ich hoffe es und wünsche es, und ich weiß es beinahe. Seien Sie immer ein bißchen demütig, nicht zu viel, Ihren Mann werden Sie immer stellen müssen. Aber brausen Sie nie auf, lassen Sie die ersten Worte des Übelwollens immer unbeantwortet; auf ein heftiges erstes Wort folgt ja so schnell ein züchtiges, sanftes. Gewöhnen Sie sich daran, Empfindlichkeiten in der Stille zu besiegen. Was Frauen jeden Tag tun müssen das soll auch der Mann nicht wollen ganz außer acht lassen. Das Weltleben unterliegt ja denselben Gesetzen wie das häusliche Leben, nur größeren und breiteren. Nur nie stürmisch! Haben Sie auch alles, was Ihnen gehört, eingepackt? Gehen Sie jetzt mit Wirsich? Hören Sie, Marti, nur nie zwangsweise, immer ein bißchen artig. Dann werden Sie schon vorwärtskommen. Ich, ich werde auch bald fortgehen. Dieses Haus ist verloren. Wir werden, ich und mein Mann und meine Kinder, irgendwo dann in der Stadt wohnen, wahrscheinlich in einem billigen Quartier. Man gewöhnt sich an alles, und nicht wahr, ein ganz klein wenig gern sind Sie doch hier bei uns gewesen. Nicht wahr? Es war doch vieles hübsch. Wollen Sie Tobler nicht auch adieu sagen lassen?« »Von Herzen!« sagte der Gehülfe. Sie ergriff zum letzten Mal das Wort: »Ich werde es ihm ausrichten, es wird ihn freuen. Er hat es um Sie verdient, daß Sie ihm nicht grollen, er hat Sie gern gehabt, wie wir alle. Sie sind unser Angestellter gewesen -- nein, gehen Sie jetzt. Viel Glück, Joseph.« Sie bot ihm die Hand und wandte sich dann zu ihren Kindern, als sei gar nichts weiter geschehen. Er nahm seinen Handkoffer vom Boden auf und ging. Und dann verließen die beiden, Marti und Wirsich, den Abendstern. Unten auf der Landstraße angekommen, machte Joseph halt, zog einen Toblerschen Stumpen aus der Tasche, zündete sich denselben an und drehte sich noch einmal nach dem Haus um. Er grüßte es in Gedanken, dann gingen sie weiter. [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile steht. gehen kann. Er gelobte sich im stillen, sich Mühe zu geben, indem er gehen kann.« Er gelobte sich im stillen, sich Mühe zu geben, indem er zur nutzbringenden Insertion bedienen. Solch ein Feld kostet Geld; zur nutzbringenden Insertion bedienen. »Solch ein Feld kostet Geld; »Reklame-Uhr geworfen«. Ein sonderbarer Spaß, zehn- bis zwanzigtausend 'Reklame-Uhr geworfen'. Ein sonderbarer Spaß, zehn- bis zwanzigtausend Mark in Uhren zu werfen. Gut, daß ich mir dieses Wort »werfen« gemerkt Mark in Uhren zu werfen. Gut, daß ich mir dieses Wort 'werfen' gemerkt Rang- und Bildungsunterschiede fallen umbarmherzig in einen großen, bis Rang- und Bildungsunterschiede fallen unbarmherzig in einen großen, bis heiß wurde und sie ihm verzeihten, ohne daß sie sich Rechenschaft gaben, heiß wurde und sie ihm verziehen, ohne daß sie sich Rechenschaft gaben, einums andere Mal auf den üppigen Mund zu küssen. Wie furchtbar weh ein ums andere Mal auf den üppigen Mund zu küssen. Wie furchtbar weh Tiefe setzte sich an das unergündlich Nasse an. Die Frau hielt ihre Tiefe setzte sich an das unergründlich Nasse an. Die Frau hielt ihre »Meine Herrin,« dachte Josef, »versteht kein Wort Französisch. Die »Meine Herrin,« dachte Joseph, »versteht kein Wort Französisch. Die des Hauses zu helfen, Leute, die einfach mit einmal dawaren, und so des Hauses zu helfen, Leute, die einfach mit einmal da waren, und so toblerschen Besitzung keine heimlich nicht unterminierte und zum Toblerschen Besitzung keine heimlich nicht unterminierte und zum »Aha!« machte der Gehilfe. »Aha!« machte der Gehülfe. Tobler frug Josef, ob er nun auch wirklich schon einen einigermaßen Tobler frug Joseph, ob er nun auch wirklich schon einen einigermaßen »Nein, noch nicht.« Josef habe heute noch keine Zeit dazu gefunden. »Nein, noch nicht.« Joseph habe heute noch keine Zeit dazu gefunden. der Hand des eifrigen Gehilfen dirigiert, in die dunkle Luft hinauf, der Hand des eifrigen Gehülfen dirigiert, in die dunkle Luft hinauf, aufzuhalten. Wenn er solches jetzt behauptete, so war es jetzt einfach eine aufzuhalten. Wenn er solches jetzt behauptete, so war es einfach eine absetzen, auf das dürfe Joseph immer sich gefaßt machen. absetzen, auf das dürfe Joseph immerhin sich gefaßt machen. ganz fort, wenn du dich durch ihn geschädigt glaubst, aber mach' keine ganz fort, wenn du dich durch ihn geschädigt glaubst, aber mach keine seinem Luftgemach, bequem gemacht hatte: seinem Lustgemach, bequem gemacht hatte: Eine halbe Stunde später gab es im Gartenhaus beim Kaffetrinken einen Eine halbe Stunde später gab es im Gartenhaus beim Kaffeetrinken einen um dem Empfindlichen von seiner Sprache einen lustigen Anstrich zu um dem empfindlichen Ton seiner Sprache einen lustigen Anstrich zu Kissen auf! Ah, das war Silvis Geschrei! Er stund auf, ging zur Türe, Kissen auf: Ah, das war Silvis Geschrei! Er stund auf, ging zur Türe, Es ergab sich in einem durch den Gehülfen eingeleitenen Gespräch, daß Es ergab sich in einem durch den Gehülfen eingeleiteten Gespräch, daß Sie zog ihn zu sich ans Fenster, und er fing an, ihr vonder Sie zog ihn zu sich ans Fenster, und er fing an, ihr von der Stimme adieu und auf Wiedersehen. Wie ihre Augen leuchteten wenn er Stimme adieu und auf Wiedersehen. Wie ihre Augen leuchteten, wenn er manigfaltigen Irrtümer: wie recht. Und das Gedankenlose, wie notwendig! mannigfaltigen Irrtümer: wie recht. Und das Gedankenlose, wie notwendig! naß. Der Bahnwäter kam herzu. Derselbe wohnte ganz in der Nähe, er war naß. Der Bahnwärter kam herzu. Derselbe wohnte ganz in der Nähe, er war nichts Wichtigerem beschäftigt sich, folgendes darauf: nichts Wichtigerem beschäftigt sah, folgendes darauf: herum, und so lange die Gebilde Lust hatten, dazubleiben, mochte es herum, und so lange diese Gebilde Lust hatten, dazubleiben, mochte es teilweise aus Schwindel oder aus fortreißender Erzählungsphantasie teilweise aus Schwindel oder aus fortreißender Erzählerphantasie Drang, zu philosophieren, oder der Gefangenwärter trat zur rasselnden Drang, zu philosophieren, oder der Gefangenenwärter trat zur rasselnden »Loch« immer voller Rauch war. Der Gefangenwärter, ein anscheinend »Loch« immer voller Rauch war. Der Gefangenenwärter, ein anscheinend im Wohnzimmer aussehe, und wie sich die Kinder benehmen und sagte im Wohnzimmer aussehe, und wie sich die Kinder benähmen und sagte den Eßtisch lag. dem Eßtisch lag. sah, seinen Gegner in anstäniger Weise niederzuwerfen. Schließlich sah, seinen Gegner in anständiger Weise niederzuwerfen. Schließlich durftest vertrauen, da sahest jeden Moment aus deiner Frau Mama Gesicht durftest vertrauen, du sahest jeden Moment aus deiner Frau Mama Gesicht gedankenlos Ja, das kam von den Körben her. »Ich bin zum Laufburschen gedankenlos. Ja, das kam von den Körben her. »Ich bin zum Laufburschen Winden und mit Schneenässe an der Erde, als der Gehülfe von Haus zu zu Haus Winden und mit Schneenässe an der Erde, als der Gehülfe von Haus zu Haus desselben antrieb, er er möchte für das Geniewerk, dessen Entwürfe er im desselben antrieb, er möchte für das Geniewerk, dessen Entwürfe er im schuldbewußt voll sein sollenden Angestellten des Hauses Tobler ziemt. Dieses schuldbewußt sein sollenden Angestellten des Hauses Tobler ziemt. Dieses ] *** End of this LibraryBlog Digital Book "Der Gehülfe" *** Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.