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Title: Melusine - Ein Liebesroman Author: Wassermann, Jakob, 1873-1934 Language: German As this book started as an ASCII text book there are no pictures available. *** Start of this LibraryBlog Digital Book "Melusine - Ein Liebesroman" *** produced from scanned images of public domain material Jakob Wassermann Melusine Ein Liebesroman Paris, Leipzig, München (München, Kaulbachstr. 51 a) Verlag von Albert Langen 1896. I. Wenige Menschen verstehen es, ihre Wünsche im Bereich des Möglichen zu lassen. – Nach monatelangem Hungern war es Vidl Falk endlich gelungen, ein Stipendium von der Hochschule zu erhalten. Mehr hatte er nicht gewünscht. Er betrachtete sich als gemachten Mann und strebte, sich das Leben etwas gemächlicher einzurichten. Mit der ganzen Besitzesfreude eines Kapitalisten trug er sein Vermögen spazieren. Jedoch vermied er das Gedränge der Verkehrsstraßen, denn er fürchtete sich vor Taschendieben. Wenn er beim Mittagessen die Zeitung zur Hand nahm, so studierte er zuerst unter der Rubrik »Lokalnachrichten« die Aufzählung der Diebstähle und der verlorenen Geldbörsen. Der plötzlich eingetretene Reichtum berauschte ihn. Die schmale, armselige Zelle, in der er bis jetzt gehaust, ekelte ihn auf einmal an. Er kündigte und ging aus, ein Zimmer zu suchen, das mit seinen Träumen möglichst übereinstimmen sollte. Der erfinderische Sinn münchner Vermieterinnen, der schon den Aushängezettel mit jenen feinen Nüancen versieht, welche auf den Preis schließen lassen, erleichterte ihm das Suchen. Eines Nachmittags erkletterte er die zwei steilen Treppen eines ziemlich vornehmen Hauses in der Heßstraße. »Pension Bender« stand an der Korridorthüre. Ein kleines, zierliches Fräulein führte ihn in das ausgeschriebene Zimmer. Leutselig und mit weltmännischem Behagen betrachtete Falk die vier Wände des Zimmerchens und beklagte, daß keine Ottomane oder »so was Ähnliches« vorhanden sei. Derselbe herablassende junge Mann hatte sich vor noch nicht vier Tagen mit einem Mittagessen begnügt, das aus einem für zehn Pfennige Äpfel bereiteten Mus und mit einem Abendessen, welches aus purem Schwarzbrot bestand. Mit ironischem Lächeln beobachtete ihn das junge Mädchen. Es schien seine Spottlust mit Mühe zu zügeln. »Warum lachen Sie denn?« fragte Falk indem er ein möglichst gutmütiges Gesicht machte, fügte aber sogleich hastig hinzu, daß er das Zimmer mieten würde. »Wer wohnt denn sonst noch bei Ihnen?« fragte er, mit der Nase in der Luft schnuppernd, denn es roch nach Weihrauch. Das Mädchen ließ ein helles, hölzernes Lachen hören und erwiderte: »Nebenan wohnt Doktor Brosam – er ist Arzt und er mag den Weihrauch sehr gern –« »Pfui!« »Dann ein Fräulein von Erdmann, eine Gelehrte, und Fräulein Mirbeth. Das ist alles.« »Eine Gelehrte –? Jung?« Jetzt lachten sie Beide. – Gegen Abend des nächsten Tages – es war der 1. November – bezog Falk seine neue Wohnung. Als er mit Auspacken und Ordnen seiner Habseligkeiten fertig war, ging er in die Küche, um die Magd nach etwas zu fragen. Die Küchenthüre stand halboffen und er wollte sie schon aufstoßen, als ihn der Anblick einer weiblichen Gestalt, welche drinnen ganz nahe an der Thür stand, daran hinderte. Diese Gestalt war groß und schlank, fast hager. Das ihm zugewandte Profil zeigte herbe und unschöne Linien, ja, es erschien ihm fast abstoßend. Soviel er im Dunkeln urteilen konnte, war sie noch sehr jung; er hörte eine schleppende und etwas gewöhnliche Stimme, die mit dem Tonfall einer Ermüdeten der Magd Erklärungen irgend welcher Art gab. Vidl Falk wandte sich rasch ab, um nicht gesehen zu werden; aber in diesem Augenblick kam das Fräulein Bender aus dem Wohnzimmer und fragte nach seinem Begehr. Während er noch mit ihr sprach, verließ das schlanke, junge Mädchen die Küche und ging an ihnen vorbei. Falk sah ihr nicht ins Gesicht, obwohl er ihre Züge jetzt genau hätte sehen können, da die Magd mit der Korridorlampe folgte. Nur flüchtig musterte er ihren Schlafrock von düsterroter Färbung mit den Aufschlägen an der Brust und dem Brokatverputz. Doch obwohl er der Vorbeigehenden durchaus keine Beachtung schenkte, hörte er doch auch nicht darauf, was das kleine, spöttische Fräulein Bender sagte. Eine Unruhe, die freilich nur einige Sekunden dauerte, hatte ihn daran verhindert. »Wer war denn das?« fragte er nachher ganz gleichgültig die Kleine. Das Mädchen streifte ihn mit einem kurzen Seitenblick und sagte mit komischer, fast komödiantischer Wichtigkeit: »Das war Fräulein Mirbeth.« Falk glaubte etwas Gehässiges aus dem Ton dieser Antwort zu hören, nicht gegen ihn, sondern gegen jene Dame. Nach Monaten noch erinnerte er sich der ironischen Betonung des Namens und des überlegen gespitzten Mundes mit der hervortretenden Unterlippe. Noch in derselben Nacht schrieb Vidl Falk die folgenden, etwas jugendlich klingenden Sätze in sein Tagebuch: »Ich bin ruhig und glücklich jetzt, – beglückt von der Einsamkeit und allerlei unnützen Gedanken. Und doch fühle ich etwas Leeres in mir, eine Lücke, ein Loch. Sollte dies das Weib sein? Ich glaube kaum. Man kann sich doch nicht nach dem Giftbecher sehnen.« Auf der ersten Seite dieses Tagebuchs befanden sich in lapidaren Lettern die prunkvollen Worte: Die reine Wahrheit. II. Fräulein Emilie von Erdmann erwachte seufzend aus dem Morgenschlummer. Das Auf- und Zuklappen der Thüren hatte ihren Schlaf verscheucht. Die dicke, ältliche Dame stöhnte sehr laut und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Als der Lärm kein Ende nahm, murmelte sie Flüche und Schimpfworte, ballte beide Fäuste gegen die unsichtbaren Feinde draußen und rief endlich verzweifelt aus: »Mein Leben ist verpfuscht!« Dann sank sie theatralisch in die Kissen zurück und holte ein Brustbonbon aus dem Schubfach eines kleinen Tisches neben dem Bett. Sie empfand jenes heftige Unbehagen, das Jeden heimsucht, der aus dem Schlaf zu den Sorgen des Lebens zurückkehrt. Auch die Überlegung, wieder um einen Tag älter geworden zu sein, verstimmte sie. Der Verfall ihres Körpers war das Schauspiel, worüber sie täglich von neuem grollen mußte. Und sie wollte noch jung sein und zur Jugend gezählt werden. Aber mit fünfzig Jahren ist man alt, der kunstreichsten Modistin zum Trotz. Das Dienstmädchen brachte den Morgenkaffee und Fräulein von Erdmann beschwerte sich lebhaft über die Unruhe. »Liebste Anna,« sagte sie mit vibrirender Stimme, »ich bin so elend, so krank. Sehen Sie her« (sie streckte ihre Gichtfinger aus den Kissen) »wissen Sie was das ist? Das ist der Hohn des Lebens! Geben Sie mir die Hand, Anna! Ich weiß, daß Sie es gut mit mir meinen. Ich war nicht immer so. Ich habe Tage des Glanzes gesehn.« Das Mädchen lächelte kalt. Mit kecker Vertraulichkeit betrachtete es nach Dienstbotenart die gelbe, schwammige Hand. Wieder allein, nahm die Kranke eilig den kleinen Spiegel von der Wand und blickte starr hinein. Sie zuckte mit keiner Wimper, ihr Gesicht nahm einen königlich strengen und dann einen finstern, zürnenden Ausdruck an, und ihre abnorm langen, fleischigen Ohrlappen röteten sich. Von neuem wurden draußen die Thüren zugeschlagen, polternde Schritte ertönten auf dem Korridor, und der neue Herr rief nach Wasser. Mit einem Wutschrei sprang das Fräulein aus dem Bette. Sie suchte nach ihren Strümpfen, und kramte zu diesem Zweck unter den am Boden liegenden Wäschestücken, Zigarrenschachteln, Büchern, Zeitungen, Briefen und Unterröcken; sogar auf dem Tisch suchte sie zwischen den Kaffeetassen, Flaschen und Speiseresten. Aber das Erfolglose ihrer Bemühungen erkennend, begnügte sie sich damit, einen langen, faltenlosen Mantel um die Schultern zu hängen, der das schmutzige Nachthemd nur schlecht verhüllte, und barfuß in ein paar zerrissene Pantoffeln von ehrwürdigem Alter zu schlüpfen. Sie wollte schon hinausgehen, aber zwei Gründe hielten sie von ihrem Beschwerdegang ab. Erstens, dachte sie, wird mein Kaffee kalt und zweitens wäre diese kleine Frau Bender fähig, mich wegen der lumpigen paar hundert Mark, die ich schuldig bin, zu enuyiren. Dies »enuyiren« gefiel ihr; es verhüllte das am Besten, was zu denken sie sich schämte. Nach dem reichlichen Frühstück hatte sie ihre Morgenzigarre angezündet und sich in schöner Pose auf die Ottomane gelegt. Da knarrte die Thür in den Angeln und unwillig wandte die Liegende das Haupt. Sie sah Fräulein Mirbeth im Zimmer stehen, dicht neben der Thür, die das junge Mädchen langsam geschlossen hatte. Emilie von Erdmann sprang auf, »Was – Sie, Fräulein!« rief sie erstaunt. Fräulein Mirbeth antwortete nicht. Sie schaute gerade vor sich hin, aber nicht auf einen bestimmten Punkt, sondern sie blickte weit in die Ferne und sie schien etwas wahrzunehmen, das mehr und mehr ihre Angst erregte. Ihre Arme hingen schlaff an dem grauen, wollenen, schwarzgemusterten Morgenrock herab und ihre kleinen, feinen, schmalen und mageren Hände leuchteten förmlich durch das Zimmer. »Aber liebes Kind, was haben Sie denn?« rief Fräulein von Erdmann erschrocken und haschte zärtlich nach der Hand dieses »Kindes,« das einen Kopf größer war als sie. Das junge Mädchen machte noch immer keine Bewegung. Wohl aber begannen die Nasenflügel zu beben und die schwarzen Augen, die aus dem blassen Gesicht hervorleuchteten wie zwei überaus glänzende Perlen, füllten sich mit Thränen. Beständig, ohne aufzuhören, nagte sie an der Unterlippe und dann ging ein Zucken durch ihren Körper. Sie zitterte. Plötzlich machte sie zwei oder drei Schritte vorwärts, – schnell als fürchte sie zu fallen, warf sich auf die Ottomane, legte den Kopf auf die verschränkten Arme und begann zu weinen, – leise und unaufhaltsam. Fräulein von Erdmann war ratlos. Mechanisch strich sie über das wirre, dunkle, glanzlose Haar der Weinenden, das bei jeder Berührung knisterte wie Seide. Die dicke Dame suchte zu trösten. »Wer hat Ihnen denn ein Leids gethan, Sie Arme? Ist es Ihr, – Ihr Vormund, ist es dieser schreckliche Oberst? Sagen Sie mir alles. Unbesorgt dürfen Sie sich mir anvertrauen. Ich bin verschwiegen wie das Grab. Vertrauen Sie mir, liebes Kind. Ist er denn in Sie verliebt, dieser Oberst? Und hat er Sie beleidigt? Vertrauen Sie mir!« Und sie drängte in das junge Mädchen mit dem ganzen Ungestüm einer Frau, die um jeden Preis ein Geheimnis zu erpressen sucht. Fräulein Mirbeth richtete sich auf. Sie drückte einen Augenblick die Lider zu, wie um dadurch widerwärtige Bilder hinwegzuscheuchen und sagte schroff. »Lassen Sie mich!« Ihr Gesicht war voll Scham, und sie wußte nicht, wohin sie den Blick wenden sollte. Mit aufgehobenen Händen stand Fräulein von Erdmann vor ihr und sagte mehr als zehnmal: »Vertrauen Sie mir!« Das junge Mädchen schüttelte den Kopf und entgegnete langsam: »Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein. Ich war wohl recht dumm. Aber ich kann jetzt nicht reden. Verzeihen Sie mir.« Sie nickte zerstreut und ging hastig hinaus. Wütend, mit verächtlich zusammengepreßten Lippen sah ihr die dicke Gnädige nach. III. Fräulein Mirbeth kehrte in ihr Zimmer zurück. Lange Zeit ging sie auf und nieder, mit großen Schritten und scheinbar völlig losgelöst von allem, was sie umgab. Sie war phlegmatisch in ihren Bewegungen und ihr Gesicht verriet keine innere Regung mehr. Aber etwas Freudloses und Hoffnungsloses lag auf ihr wie Novemberreif. Beim ersten Anblick erschien sie schlaff, müde und gleichgültig. Sie setzte sich an den Schreibtisch, nahm Feder und Papier zur Hand und schickte sich an, zu schreiben. Doch blieb es nur beim Ansetzen der Feder, deren Spitze sie stets ängstlich betrachtete. Offenbar wußte sie genau, was sie schreiben wollte: Satz für Satz; aber diese Sätze aufs Papier zu bringen, war ihr unmöglich. Unmutig warf sie die Feder fort und stützte den Kopf in die Hand. Jetzt mußte sie aufquellende Thränen verschlucken und plötzlich errötete sie vor Scham oder vor Haß. Sie zog ein kleines, mit flotter Hand beschriebenes Stück Papier aus der Tasche, entknitterte es und sah länger als eine Viertelstunde darauf nieder. Da klopfte es und das kleine Fräulein Bender trat herein. Mit ihren schwebenden, etwas gesucht graziösen Schritten ging sie auf die regungslos Dasitzende zu, faßte sie bei der Hand und sagte: »Was ist Ihnen denn, Mely? Sie sind so verstört, schon seit gestern. Sogar Mama hat es bemerkt und hat gesagt, ich möchte doch mal herein.« Mely Mirbeth schüttelte langsam den Kopf, wie jemand, der fest entschlossen ist, seinen Kummer allein zu tragen. Aber im Nu war dieser Entschluß bei ihr vergessen und die vorige Schwäche ergriff sie wieder. Hastig und suchend erfaßte sie die Hand des jüngeren Mädchens. In dieser unwillkürlichen Bewegung lag ein Schwächegeständnis und ein Anschmiegungsbedürfnis und dies wurde von dem jungen Mädchen wohl verstanden. Es näherte seine Lippen den Wangen Melys und fragte leis: »Sie waren bei Fräulein von Erdmann?« Mely lächelte schuldbewußt. »Das sollten Sie wirklich nicht thun,« fuhr die Kleine fort. »Warum das? Die haßt uns ja doch, weil wir jünger sind als sie. Sie stirbt vor Neid um unsere Jugend.« Melys Lächeln wurde heller und fröhlicher. Mit naiver Verwunderung sah sie das zierliche Mädchen an, das ein so scharfes und selbständiges Urteil zu geben wagte. Man sah auch an der schnellen Bewegung ihrer Lider, daß sie darüber nachdachte. »Sie sind bös Helene,« sagte sie endlich, erhob sich und begann wieder ihr Umherwandern. »Ach Helene,« rief sie nach einer langen Pause, »wenn Sie wüßten, was ich alles durchzumachen habe!« Helene Bender saß mit verschränkten Armen auf der Lehne des Fauteuils und blickte mit ihren klugen, grauen Augen Mely an. Etwas Ungläubiges und Ironisches lag in ihrem aufmerksamen Blick. So klein sie war und so unbedeutend sie aussah, so skeptisch blieb sie gegenüber jedem Gefühlsausbruch und um den schmalen Mund mit der vorgeschobenen Unterlippe lag stets ein gleichgültiger Spott. Sie glaubte nicht an Melys Leiden, sie hielt jene für zimperlich und anspruchsvoll und vor allem für oberflächlich. Nur aus Neugierde war sie hereingekommen. Mely ahnte nichts davon. Sie vertraute allen Menschen, außer denen, die sie haßte. Was man ihr sagte, das glaubte sie, selbst die plumpen Lügen. In ihrem Schmerz befangen, hielt sie es für unmöglich, daß jemand an der Tiefe dieses Gefühls zweifeln könne. Sie setzte sich und sagte mit ihrer jetzt weichen und einschmeichelnden Stimme, die etwas Bekümmertes stets in sich hatte: »Ich wollte ja auf alles gern verzichten, wenn ich nur meine Ruhe hätte. Mit nacktem Brot nähm ich vorlieb, – nur endlich einmal ein anderes Leben. Die Aufregungen, die Quälereien, die Beleidigungen, – ich bin ganz krank.« Und sie seufzte tief auf, wie Kinder thun, wenn sie sich ausgeweint haben. »Sie wissen nicht, was das ist, Helene,« fuhr sie traurig fort. »Sie haben Ihre Mutter da und leben so bequem und Sorgen haben Sie keine. Aber ich bin ganz allein auf der Welt und dieser Mann darf mich mißhandeln wie er will, darf mich beschimpfen – o, ich bin ganz krank! Da hab ich wieder einen Brief, sehn Sie Helene, – da, was das ist! – Ich muß mich zu Tod schämen.« »Was ist es denn?« »Ach – das kann ich Ihnen ja gar nicht sagen. Es ist – er will – – nein, es ist unmöglich.« Verwirrt und voll Scham wandte sich Mely ab. »Schon einmal hat er es verlangt,« flüsterte sie. »Und weil ich nicht will, muß ich mich quälen lassen, um nichts, um jede Kleinigkeit.« Sie nahm den Brief und zerfetzte ihn nervös zwischen den Fingern. Dann ging sie zum Kleiderschrank, nahm ihre Straßenrobe heraus und öffnete mit einem einzigen Riß die Knöpfe ihres Morgenrocks. »Ja, – mögen Sie ihn denn nicht?« fragte Helene schüchtern. »Oder wie ist das?« »Mögen! Erschießen könnt ich ihn.« Das kleine Mädchen lächelte verständig. Sie trat zu Mely und ergriff deren beide Hände. »Seien Sie doch ruhiger,« sagte sie. »Ist es denn gar so schlimm? Wer weiß, vielleicht stellen Sie sichs nur so entsetzlich vor. Er ist doch oft recht nett mit Ihnen. Wie viel Schönes hat er Ihnen schon geschenkt.« Die Trostgründe waren banal; doch auf Mely übte die stille, sichere und selbstbewußte Art dieser Frühreifen einen beruhigenden Einfluß. Sie strich mit der Hand über die Stirn und blickte unschlüssig vor sich hin. »Was wollen Sie denn thun?« fragte Helene ängstlich. »Hinüber will ich. Alles will ich ihm sagen. Seinen Brief will ich ihm vor die Füße werfen!« stieß das junge Weib hervor. Sie hatte vergessen, daß sie den Brief soeben zerrissen hatte. »Nicht – nicht das,« beschwichtigte Helene. »Warten Sie noch bis heute Abend wenigstens. Sie machen es ja nur schlimmer, – warten Sie.« Das Mädchen sprach sanft und zugleich überlegen. Doch Mely schüttelte den Kopf. »Ich muß,« sagte sie. »Ich bin sonst ganz unglücklich den ganzen Tag.« Und während sie sich ankleidete, erzählte sie. »Sehn Sie Helene, ich habe neulich zu meinem schwarzen Kleid einen bunten Hut gekauft. Da gabs Skandal. Das sei gemein, sagte er. Die Dienstboten thäten das. Ich möchte mich auffallend kleiden, nur aus Koketterie. Ich soll kokett sein Helene, das ist doch lächerlich, wie? Aber er will nicht, daß mich ein anderer Mann nur anschaut, deswegen soll ich keine Farben tragen. Und dann das: ich habe dreitausend Mark Vermögen gehabt, von der Mutter noch. Und als ich volljährig war, – nein etwas später, vor drei Jahren wars, bekam ich das Geld. Da hat er nicht aufgehört, zu drängen, ich solle doch das Geld verbrauchen, und ich – so dumm! – mache die unsinnigsten Ausgaben. Kurz, in sechs Monaten war alles verputzt. Und wie ich dann das erste Mal von ihm Geld verlangen mußte, da hätten Sie ihn sehen sollen. Ganz glücklich war er darüber, ganz weg vor Freude.« Helene war erstaunt. »Nun – das ist doch schön!« »Aber verstehen Sie denn nicht? Jetzt war ich doch von ihm abhängig und er konnte machen mit mir, was er wollte. Jetzt hieß es gehorchen, – oder ... Verstehn Sie nicht? Aber es ist beim Oder geblieben. O, es war gemein.« Sie war fertig mit der Toilette, nahm Handschuhe und Schirm und zur Thür gehend, sagte sie leichthin: »Gelt, ich bin dumm, Helene. Andere würden lachen. Ach Gott und grade zu dieser alten Erdmann muß ich hinein. Wie dumm, wie dumm! Was denkt sich jetzt die.« Als ob sie aus sich selbst nicht klug zu werden vermöchte, schüttelte sie ganz langsam den Kopf. Sie war unzufrieden mit sich, auch deswegen, weil sie so offen gegen Helene gewesen war. Als sie schon im Hausflur angelangt war, kehrte sie wieder um und ging in ihr Zimmer zurück. Furcht und Mutlosigkeit hatten sie erfaßt. Sie lehnte sich in den Fauteuil und schloß die Augen. Trotz des Mantels, den sie nicht abgelegt hatte, fror sie aus dem Innern heraus. Wie Spreu im Winde wirbelt, so stürmten die Gedanken in ihr durcheinander. Heiraten kann ich dich nicht, das wirst du doch einsehen, citirte sie nervös lächelnd. Seine Frau hat er zu Grund gerichtet, dachte sie und runzelte feindselig die Stirn. Es war seltsam, daß diese Frau jetzt vor ihr stand, wie sie an einem Maskenball des letzten Karnevals kostümirt gewesen: im roten Pierrotgewand mit weißer Zipfelmütze. Noch deutlich entsann sie sich dabei des glühenden Gesichts, das oft mit einem spähenden und unterwürfigen Ausdruck dem Oberst sich zuwandte. Zwei Jahre erst war sie tot. Sie war ein feines Geschöpf gewesen, klug und wenig kokett, groß und in ihren Zügen der Saskia von Uhlenburg ähnlich. Sie war stets die Sklavin ihres Gatten gewesen. Bis ins Unbedeutendste ging dieser sklavische Zug an ihr, dies gänzliche und für Andere oft so unbegreifliche Aufgelöstsein im Wesen des Mannes. Mely rührte sich nicht. Ihre Lippen waren nicht geschlossen, und sie hielt den Atem an. Und dann lächelte sie so, als sei sie mit allem einverstanden, was man mit ihr treibe. Eine große Müdigkeit kam über sie, und sie hegte den Wunsch zu schlafen. Aber Bild auf Bild stieg herauf: sie lebte wieder in ihrer Vergangenheit. Sie sah sich als Kind zur Volksschule gehen; sie sah beide Eltern auf dem Totenbette liegen, und sie sah den alten, gütigen Herrn, den Vater des Obersts, der ihr gerichtlicher Vormund geworden war. Dann blickte sie in die hellen, kahlen Klostergänge hinein, in denen sie zum erstenmal mit entsetzten Augen gestanden. Wie fremd und feierlich war dort die Welt! Sie hatte geglaubt, die Mauern seien endlos und hinter ihnen begänne das Meer. Sie hatte sich gefangen, bestraft gefühlt inmitten der gleichgekleideten Mädchen, unter der strengen Obhut der Schwestern. Ihre Sehnsucht nach der Stadt war groß; die Sandhaufen am Bahndamm erschienen in ihren Träumen, und die elterlichen Püffe und Prügel kamen ihr vor wie süße Späße. Sie mußte merkwürdig schwierige Dinge auswendig lernen und vor jedem, der sie ansprach, ängstigte sie sich. Sie fürchtete alle Menschen mit Ausnahme des Katecheten Kilian, den sie mit der Fülle ihres zwölfjährigen Herzens liebte. Er war ein schöner, blühender Jüngling, der niemals seitwärts blickte, auch nicht zu Boden, sondern stets gegen Himmel. In dieser Zeit wurde sie sehr fromm und sehr folgsam und wurde den Andern als gutes Beispiel gepriesen. Doch unverständlich war ihr nur das eine, daß sie für alle Menschen, die sie kannte, mitbeten sollte. Das konnte sie nie fassen. Wie sorgsam und gewissenhaft hatte sie stets ihre Sünden notirt, um bei der Beichte ja nichts zu vergessen: ich habe der Schwester Cäcilia in Gedanken unrecht gethan; ich war zu träg, um die salischen Kaiser zu lernen; ich habe mich beim Aufwecken schlafend gestellt, um noch länger im Bett bleiben zu können – – Wie lange war das schon her! Wie schnell waren die Jahre hingegangen! Allmählich hatte sie die Welt draußen vergessen, und sie begriff nicht mehr, daß es außerhalb des Klosters noch etwas von Wichtigkeit und Bestand geben könne. Weltlich und sündhaft waren ihr jene Mädchen erschienen, die, lustig und guter Dinge, das Leben sonnig fanden und von ihren Eltern in der Stadt erzählten, von Kaffeekränzchen, Musik und Tanz. Eines Umstands erinnerte sie sich mit Entsetzen und stets suchte sie ihre Gedanken daran zu verscheuchen, nur um sich das Nachfühlen jenes Schreckens zu ersparen. An einem Osterfest, kurz nach ihrem fünfzehnten Geburtstag, ging mit ihrem Körper etwas Neues, Unbegreifliches vor. Sie stand vor einem Rätsel, das sie tief erschütterte. Noch sah sie sich mit zitterndem Leib an den Fensterpfosten gelehnt und in den verregneten Frühlingsmorgen hinausschauen. Sie wünschte aufs Innigste, zu sterben, sie glaubte gesündigt zu haben und wußte nicht, worin diese Sünde bestand. Sie sah das Leben als etwas Finsteres und Gewaltthätiges vor sich stehen und fürchtete sich. Stundenlang in der Nacht lag sie weinend auf ihren Kissen, und die Qual der Verheimlichung erdrückte sie. Sie schämte sich vor allen, sie versteckte sorgfältig die benutzte Wäsche, und kein Mensch fand sich, der das Dunkel ihrer kindlichen Phantasieen gelichtet hätte. Einst, als ihre Seele durch das erneute Auftreten des Ungewohnten in Schrecken versetzt war, ging sie, unwissend wie sie war, ins Bad. Darauf kam die furchtbare Krankheit, deren Folgen sie niemals verwunden hatte. Eine unsichere Empfindung des Grolls und des Hasses beherrschte sie jetzt, wenn sie daran dachte, wieviel Schmerz ihr hätte erspart werden können durch die verständige Offenheit einer Lehrerin oder einer Freundin. Aber nie hatte sie eine Freundin besessen. Von Allen war sie abseits stehen gelassen worden. Etwas, das sie unaufhörlich bedrückte, etwas Hoffnungsloses stand über ihrem Leben. Sie überlegte, was sie thun könnte, um sich frei und unabhängig zu machen. Und doch, welche Angst empfand sie vor dieser Freiheit. Sie sah dabei immer das Bild eines einzelnen Baumes auf einer endlosen Haide, und dieses Bild der Hülflosigkeit machte sie schwach. Wenn ich doch nur einen Bruder hätte, dachte sie, der mich vor Beleidigungen wie der heutigen schützen könnte. Dann dachte sie an ihre Schwester, die sich hatte verführen lassen und die sich nun mit einem Kind elend durch die Welt schleppte. Niemand durfte wissen, daß sie eine Schwester hatte und wer das sei. Das hatte sie dem Oberst geschworen, und er hatte ihr unter dieser Bedingung erlaubt, das Mädchen zu unterstützen. »Aber sei vorsichtig dabei; denn die Gesellschaft, in der du verkehrst, und zu der ich dich emporgehoben habe, ist schlau und argwöhnisch.« Sie zerknüllte ihren Handschuh in der Faust. Entschlossen stand sie auf, und bald darauf ging sie mit hastigen Schritten dem Hause des Oberst Thewalt zu. Ihre Augen blitzten vor Kampflust. IV. Es war Nacht, als sie die Wohnung des Obersts verließ. Sie mußte gegen den Wind ankämpfen, der ihren Schleier aufblies. Fest schloß sie den Mund, und mit weit vorgebeugtem Kopf ging sie. Sie hatte die Begleitung des Obersts ausgeschlagen. »Nie mehr werde ich dies Haus betreten, nie mehr,« flüsterte sie verzweifelt, »ich Elende, ich Elende.« Ganz belanglose Dinge fuhren ihr durch den Kopf. Es wäre schön, dachte sie, wenn ich jetzt mitten durch den Wind reiten könnte auf einem wilden Gaul, wie neulich draußen am See. In der Pension saß man beim Thee. Fräulein von Erdmann, ein polnischer Adliger, Doktor Brosam, Frau Bender und Helene waren da. Die Herren erhoben sich, als Mely eintrat. Sie atmete noch heftig vom Treppensteigen und preßte eine Hand auf die Brust. Zerstreut nickte sie, wobei sie keinen der Anwesenden ansah, und die Zähne schauten unter den schwellenden Lippen hervor, ohne daß sie jedoch lächelte. »Nehmen Sie vielleicht noch eine Tasse Thee, Fräulein Mirbeth?« fragte Frau Bender, und ihre großen, blauen Augen leuchteten dabei. Sie lachte fröhlich, als Mely bejahte und zeigte ihre prachtvollen Zähne. Es entstand eine peinliche Pause, so daß Mely den Argwohn faßte, man habe sich über sie unterhalten. Darüber erschrak sie; denn nichts fürchtete sie so sehr, als das, was man hinter ihrem Rücken über sie sprach. »Nein, welcher Sturm heute!« sagte sie endlich zögernd. Sie fing den spöttischen Blick auf, den die Erdmann mit dem Doktor wechselte, und ihr Argwohn wurde bestärkt. Wie sie in den Doktor verliebt ist, die alte Schachtel, dachte sie. Wie sie sich herausgeputzt hat über ihrem Schmutz. Sie lächelte Helene verständnisinnig zu, die, als begriffe sie nicht, mit einem kaum sichtbaren, verwunderten Kopfschütteln antwortete. »Das ist noch gar nichts, – _der_ Wind genügt nicht,« erwiderte der Doktor, behaglich schlürfend. »Um die ungesunde Sumpfluft unserer Zustände zu vernichten, müßte ein ganz anderer Sturm gehen.« »Sie Socialist!« seufzte Fräulein von Erdmann heiß und näherte ihre Hand dem Arm des Doktors. »Sie habben abber garr keine Kälte hier,« sagte der Pole wichtig. »In Rußland – ooh! Was für Kälte, was für Kälte! Werde ick Ihnen eine Geschichte erzählen. Vorikes Jahr fahrt ein Pfarrer russischer in ein #village# Umgegend von Kiew. War serr kalt, Schnee so hoch und Wind eisiker. Und wie Abbend kommt, laufen, – wie sakt man: #loup, des loups?# –« »Wölfe –« »Richtik, kommen Wölfe, heulen und laufen hinter Troika herr. Wölfen werden immer gieriker und Pfarrer – was thun? Kann sich nicht helfen, was thut, wirft seine Kinder die Wölfe vor. Eins, zwei, drei Kinder, immer in große Wekstrecke, bis am Ziel war.« Der Pole sah sich herausfordernd um. »Das ist wahr, bei meine Seel,« beteuerte er, als ein Gelächter, das vom Doktor ausging und alle anderen ansteckte, ihn unterbrach. Nur Mely lachte nicht. »Was will das heißen,« keuchte Dr. Brosam in verhaltenem Lachen. »Die Chinesen werfen ihre Kinder den Schweinen vor. Allerdings neugeboren, da sind sie zarter.« »Nun, bei uns werden die Schweine den Kindern vorgeworfen,« meinte Helene trocken und freute sich, als das Gelächter von neuem begann. »Da giebt es noch viel merkwürdigere Sachen,« hob der Doktor wieder an, und sein schönes, bleiches Gesicht wurde sehr ernst. »Ich weiß nicht, ob Sie die Geschichte von dem normannischen Fischer kennen, dessen Großmutter ins Wasser gefallen war. Als er die Leiche auffand, sah er, daß sich Krebse daran festgesetzt hatten. Seitdem benutzt er seine tote Großmutter zum Krebsfang.« »Entsetzlich – pfui! Wie können Sie so etwas erzählen!« stöhnte Fräulein von Erdmann. Der Pole war wütend und empfahl sich bald. Mely entging es nicht, daß er einen glühenden, fragenden Blick auf sie gerichtet hatte und sie zog die Brauen zusammen. Schutzlos bin ich diesen Leuten preisgegeben, dachte sie. »Was haben Sie denn,« wandte sich Frau Bender an sie. »Sie sind so beklommen heute, so ganz abwesend, so verstört –« Die kleine Dame hatte etwas Kindliches und Bestechendes in ihrem Wesen, das Jeden gefangen nahm. Mely errötete tief. Sie wollte antworten, doch Dr. Brosam nahm für sie das Wort. »Ja, ich glaube, das gnädige Fräulein ist sehr launisch. Die meisten Damen sind so. Meine verstorbene Braut hatte nichts von dieser modernen Sucht, möglichst wetterwendisch zu scheinen.« Mely lachte so hart, daß sie selbst darüber erschrak. »Ihre verstorbene Braut war halt ein Tugendspiegel,« entgegnete sie achselzuckend. »Ja, allerdings,« rief der Doktor heftig und mit flammenden Augen. Er richtete sich würdevoll auf und ließ seine kostbaren Brillanten in den Strahlen der Lampe spielen. Die Erdmann blickte entzückt an dem Hünen empor. »Das ist ja schön,« spottete Mely. »Aber weshalb erzählen Sie das immer wieder? Das interessirt uns ja gar nicht. Wir fühlen uns ganz wohl, wenn wir auch nicht so tugendhaft sind.« »Bitte sehr!« rief Fräulein von Erdmann entrüstet und warf giftig den Kopf zurück. Mely verlor alle Zurückhaltung, alle Fassung. »War sie vielleicht auch eine Demokratin, diese verstorbene Braut? War sie auch für die Vermögensteilung?« Sie sprach rasch, voll Haß und Wildheit. Wie sehr mußte sie im Grund ihrer Seele verzweifelt sein, um so leidenschaftlich zu disputiren. »Wie Sie sagen, genau wie ich!« antwortete der Doktor sanft. Er preßte seine Lippen zusammen, daß sie nur eine einzige gerade Linie bildeten. Mely lachte wieder. »Dann trug sie vielleicht auch einen Brillantring für achtzehnhundert Mark? So viel kostet er doch, haben Sie gesagt. Und ging sie auch zu Schleich, um für sieben Mark zu frühstücken, wie Sie immer von sich erzählen –? Wie kann jemand, der so prahlt mit dem, was er hat, Demokrat sein wollen!« Noch viel sanfter als vorhin erwiderte der Doktor: »Ich bitte Sie, gnädiges Fräulein, meine verstorbene Braut nicht mehr zu erwähnen. Ich will diesen trauten Namen von solchen Lippen nicht nennen hören. Sie mögen wohl vorhin recht gehabt haben mit der Tugend – ja! Man kann gesund sein ohne Tugend, jawohl! Aber gerade Sie wissen ja auch, wie die Welt dann urteilt!« »Herr Doktor!« schrie Frau Bender empört und schlug mit der Faust auf den Tisch. Helene erhob sich und ging zum Fenster. Der Doktor saß leichenblaß da und strich sich unaufhörlich das reiche Künstlerhaar zurück. Mely sah ihm entsetzt in die Augen, – so sehr fassungslos, daß Fräulein von Erdmann eine mitleidige Handbewegung machte. Dann stand sie auf und sagte mit erstickter Stimme: »Frau Bender –.« Es war ein Hilferuf. Aber ohne sich umzublicken, eilte sie aus dem Zimmer. Im Korridor saß die Hauskatze auf einem Stuhl und putzte sich. Dann begegnete Mely Vidl Falk, der an seiner Thür stehen blieb, um sie vorbeizulassen. Er grüßte, doch beachtete sie ihn nicht, und er schaute ihr nach mit einem zweifelnden und verwunderten Blick. In ihrem Zimmer setzte sie sich ans Fenster und blieb unbeweglich sitzen. Sie sah hinaus in die dunkle Novembernacht, auf die regenglänzende Straße und auf die sturmgepeitschten Bäume des Gartens. Sie schauerte zusammen und dachte: wenn ich doch meinen Shawl hätte. Dabei hätte sie nur aufstehen und zum Sofa gehen brauchen, wo er lag. Wie schön haben es andere Mädchen, sinnirte sie; sie verlieben sich und verheiraten sich. Dann sind sie glücklich. Aber sie sehnte sich durchaus nicht nach dem, was man Liebe nennt, – ganz im Gegenteil. Dies Gefühl hatte sie bisher in so abschreckender Gestalt auftreten sehen, daß sie nur Geringschätzung dafür hatte. Nur der Wunsch, beschützt zu werden, lebte in ihr, und dann zwei Empfindungen: die der Verlassenheit und eine nagende Reue. Es klopfte und Frau Bender trat ein. »Warum machen Sie denn kein Licht, Fräulein Mirbeth?« rief sie erschrocken. Sie sah nur einen regungslosen Schatten am Fenster und ging darauf zu. Sie nahm Melys Hand und sagte herzlich: »Es thut mir so leid, Sie können mir’s gar nicht glauben. Nein, so gemein, so gemein! Regen Sie sich nur nicht auf. Ich habe ihm schon gekündigt, und morgen wird er ausziehen. Jetzt kommen Sie mit und trinken noch ein Glas Punsch mit mir und Helene.« Mely schüttelte den Kopf. »Nein, ach nein, heute nicht.« Dann sagte sie leise und preßte die Hand der vor ihr Stehenden: »Frau Bender, es ist schrecklich, daß er das gesagt hat. O, ich schäme mich so sehr, ich schäme mich. Alle Leute glauben es, ich weiß. Aber es ist mir egal, alles ist mir jetzt gleich. Raten Sie mir, Frau Bender, was soll ich thun? Ich – –« Sie stockte, und trotz der Dunkelheit wandte sie sich ab. Frau Bender tröstete in ihrer weichen, hinreißenden Art. Sie mußte nicht nach Worten suchen, sondern sie flossen natürlich und eindringlich von ihren Lippen. Doch Mely wurde dadurch nicht beruhigt. Je mehr die kleine Frau sprach, desto erregter wurde Mely. Die Leiden, die sie in sich verschlossen halten mußte, drückten ihr das Herz ab; denn sie hatte den Trieb, sich mitzuteilen. Frau Bender irrte auf ihr eigenes Leben ab, ja, sie verlor sich in Jugenderinnerungen. Sie vergaß, wo sie war, und berichtete mit feuriger Hingabe von ihrem Elternhaus, von ihrer Heirat und von der Flucht ihres Mannes nach Amerika. Schließlich erging sie sich in so heftigen Klagen, daß sich nun Mely genötigt sah, zu trösten und zu ermutigen. »Kommen Sie, Frau Bender, wir wollen vorgehen. Ich will noch bei Ihnen bleiben,« sagte sie, ihren Vorsatz vergessend. »Ja, ja, trinken wir, ich werde einen famosen Punsch brauen,« entgegnete die kleine zapplige Dame, plötzlich heiter werdend. Als sie im Korridor vor der Thüre des Fräuleins von Erdmann vorbeigingen, hörten sie pathetische Worte: »Ja, lieber Doktor, das ist der blutige Hohn meines Lebens! Er schleicht hinter mir her und wird mich verschlingen. Bitte, – nein, bleiben Sie noch, Sie wissen ja, wie Sie mich beglücken, mit diesen Genieaugen, Sie Abscheulicher!« Die Lauscherinnen verschlossen beide den Mund mit den Händen, um nicht herauszuplatzen. Dann flohen sie auf den Zehen. Mely lachte viel und übermäßig in den zwei Stunden, die sie noch mit den Damen vom Haus verbrachte. Ja, sie trieb zum Schluß Narrenspossen, und sie schien alles vergessen zu haben, was über sie ergangen war. Sie war begeistert für diese gewinnende, gutherzige Frau Bender und diese zutrauliche, kluge Helene. Bessere Menschen giebt es gar nicht, dachte sie sich. V. Am andern Morgen, es war ein Samstag, erhielt Mely ein Billet vom Oberst. Mit zitternden Händen erbrach sie das Couvert. »Liebe Melusine,« schrieb er. »Ich bitte Dich heute zum Abendessen, da ich mittags durch den Direktor Skolny verhindert bin. Ich erwarte von Dir, daß Du auch weiterhin ein gutes Kind sein wirst. Beifolgendes Epheublatt erhielt ich einst aus Genf. Erinnerst Du Dich? Herzlichen Gruß. Wolfgang.« Der Regen fiel in Strömen, und in den Zimmern hatte man zum ersten Mal geheizt. Als um elf Uhr die kleine Dele, Frau Benders sechsjähriges Töchterchen, aus der Schule kam, hatte sie Wangen rot wie Kirschen. »Na, du siehst schön zerzaust aus,« sagte Mely, nahm sie bei den Armen und küßte sie ab. »Ja, die dummen Buben laufen uns immer nach und lassen uns net in Ruh’,« entgegnete das Kind und schob die Unterlippe noch weiter heraus, als sie von Natur schon vorhing. »Ich werd’s jetzt meiner Lehrerin sagen.« »Recht so, Schatz,« pflichtete Mely bei, die mit dem Mädchen völlig zum Kind wurde. Dele sagte auch du zu ihr. »Ich möchte nur wissen, was sie von uns wollen,« fuhr die Kleine fort. Sie runzelte klug die Stirn. »Du,« sprang sie plötzlich ab, »heut früh hat die Puzzi Junge bekommen, hast es gesehen?« Mely verneinte. Dele zog einen Zettel aus der Tasche, der mit den steilen, zurückgebogenen Schriftzügen Helenes beschrieben war. Es stand darauf: Die Geburt von vier gesunden Jungen zeigen hocherfreut an: Frau Puzzi, Kater Jonas. Mely lachte. »Wundernette Katzerln sind’s,« sagte Dele und setzte sich der großen Kameradin auf den Schoß. »Viere. Ich war dabei. Ich hab’s ganz genau gesehn.« Sie kicherte geheimnisvoll und fragte dann flüsternd: »Du (sie begann fast triumphirend jeden Satz mit diesem du), kommt zu den Katzen auch der Storch?« »Natürlich,« gab Mely zur Antwort. »Gell, zu denen kommt der Katzenstorch?« Als Mely laut lachte, wußte das Kind nicht, was es vor Verlegenheit anfangen sollte, und feuerrot werdend, gab es dem durch diese Fragen verblüfften jungen Mädchen einen schallenden Kuß. Gegen Mittag wurde vor der Korridorthüre ein ungestümes Bellen laut. »Jetzt kommt Pitt!« rief Mely freudig und sprang hinaus, um dem Hund zu öffnen. Es war ein Foxterrier, der dem Oberst gehörte, aber fast nur Mely gehorchte. Die Wiedersehensfreude war auf beiden Seiten groß. Pitt wollte gar nicht aufhören, mit seinem Schwanzrestchen hin- und herzupendeln. – Drei Tage vergingen. Mely hatte alles unterlassen, um ihre Lage irgendwie zu klären. Nicht einmal nachgedacht hatte sie darüber. »Nicht daran denken« war in solchen Fällen ihr ganzes Nachdenken, und immerfort war sie geschäftig, um sich zu betäuben. Unstät, beklommen und furchtsam verbrachte sie diese Tage. Am Mittwoch schrieb der Oberst wieder, aber an Frau Bender. Er schrieb, daß sich Fräulein Mirbeth von ihm losgesagt habe, und daß er ihr dies mitteile, um spätere Gelddifferenzen zu vermeiden; für diesen Monat wolle er noch bezahlen, doch lehne er für die Zukunft jede Verbindlichkeit im Voraus ab. Als Mely dies erfuhr, lächelte sie verächtlich, aber in Wirklichkeit fühlte sie sich zum Tod elend. Nun steh’ ich da und habe niemand auf der Welt, dachte sie. Kein Mensch wird sich um mich kümmern, und ich werde zu Grund gehen. Diese Frau Bender macht schon ein recht langes Gesicht. Ja, so sind eben die Leute. Dies alles dachte sie in einem Augenblick, während Frau Bender mit dem Brief vor ihr stand und sie etwas dumm anlächelte. »Losgesagt – losgesagt,« murmelte sie finster. »Ich bin halt nimmer hinüber, das ist alles.« Eine dumpfe Wut wachte in ihr auf. »Sehn Sie, Frau Bender, so werd’ ich behandelt,« sagte sie weich, als ob sie Vertrauen und Glauben suche. Aber dabei überlegte sie im Innern: lauter Feinde sind das. Diese Frau, dann Helene, ja sogar das Kind, – lauter Feinde. Einem Funken gleich fiel ein verzweifelter Entschluß in ihre Seele. Ich werde schon etwas thun, schloß sie ihre Betrachtungen. Heute nachmittag, – oder nein, morgen ... Dies »Morgen« tröstete sie. Welch eine Ewigkeit, bis morgen! Aber der nächste Tag kam und verging, auch der zweite Tag und die ganze Woche verging mit dem Trost für morgen. Sie wußte selbst nicht, wie die Stunden verflogen, so langweilig einzeln und so flüchtig im ganzen. Spät stand sie vormittags auf; dann tändelte sie mit dem Kind. Zum Lesen hatte sie keine Lust, und so nähte sie an ihren Kleidern in den langen Nachmittagsstunden. Die halben Nächte verwachte sie und träumte mit offenen Augen. Sie komponirte ganze Romane, wie sie, reich geworden, in Ansehen und Luxus lebte, eine Sklavenschar um sich. Aber für diese glücklichen Phantasieen rächte sich der Schlaf durch böse Träume, die wie Alp auf ihr lagen, – tagelang. Es waren immer Träume, in denen sie bedroht war, in denen sie sich allein sah auf einem weiten Plan, in einem Wald, in Schluchten. Und da wurde sie verfolgt, bis sie zu müde war, um weiterfliehen zu können. – »Nun, was wollen Sie denn jetzt beginnen, Fräulein Mirbeth?« fragte einmal Frau Bender mit demselben dummverlegenen Lächeln, mit dem sie stets von dieser Angelegenheit sprach. »Ja was denn, was denn!« flüsterte Mely bestürzt wie ein Schuldner, der sich gemahnt und bedrängt sieht. Heute, – gewiß heute thu’ ich’s, dachte sie im Stillen. »Ach Helene,« fügte sie verzweifelt hinzu, und lehnte sich in den Fauteuil zurück, den Kopf in die gefalteten Hände legend. Helene sah verständnislos über Melys Schulter hinweg und lächelte ebenso einfältig, wie ihre Mutter. Sie wissen alle beide, daß ich nichts habe, dachte Mely. Wo ist jetzt diese ganze Liebenswürdigkeit und Freundschaft? Sie redete sich in einen bitteren Menschenhaß hinein. »Sie brauchen keine Angst zu haben, Frau Bender,« sagte sie kühl. »Sie werden durch mich um nichts kommen.« »Fassen Sie das nicht so auf, Fräulein,« entgegnete Frau Bender mit großer Herzlichkeit. »Ich bin nur besorgt um Sie. Wie schlecht sehen Sie aus, ganz mager sind Sie im Gesicht geworden. Sie müssen doch etwas thun, irgend etwas!« Mely antwortete nichts. Sie nagte an ihrer Unterlippe, daß die Haut riß. Mit weitgeöffneten Augen saß sie da und blickte nach oben, ein Bild der Hülflosigkeit. Kurze Zeit darauf kleidete sie sich an und ging fort. Bald überfiel sie die Müdigkeit, und ihr Gesicht hatte einen klagenden und bekümmerten Ausdruck. Das leuchtende Blaß ihrer Haut unter dem schwarzen Schleier hatte etwas Krankhaftes, und auch ihr lässiger Gang hatte gleichsam dies Klagende, Zielunbewußte. Sie fühlte Hunger und suchte ein vornehmes Restaurant im Innern der Stadt auf. Aber als das Essen vor ihr stand, sah sie, daß sie sich getäuscht hatte, denn sie brachte keinen Bissen hinunter. Sie bemerkte mit Schrecken, daß sie fieberte; es fror sie. Rasch zahlte sie und ging, von zahlreichen, bewundernden Männerblicken verfolgt. Sie betrat ein Waffengeschäft und kaufte einen sechsläufigen Revolver für fünfzehn Mark. Sie ließ sich den Mechanismus erläutern, und dann bestieg sie eine Droschke. Es hatte zu regnen begonnen, und der Regen war mit Schneeflocken vermischt. Sie hatte Kopfschmerz, und ihre Zähne klapperten. »Ich habe nichts mehr zu leben,« sagte sie sich, während sie wie erstarrt im Wagen lehnte und die Beine ausstreckte. »Was soll ich noch leben, das hat ja gar keinen Wert.« Sie stand in ihrem Zimmer, ohne daß sie wußte, wie sie heraufgekommen war. Sie erinnerte sich nicht, den Kutscher bezahlt zu haben. Lange Zeit hindurch – länger als eine Viertelstunde blickte sie in den Spiegel. Da lächelte sie bisweilen hochmütig, aber sie erschien sich fremd. Sie hatte das Gefühl, als könne sie nicht mehr das denken, was sie denken wollte. Sie dachte nicht an den Tod, den sie doch suchte, und den sie doch mehr als jeder andere Mensch fürchtete, sondern sie dachte: das Roastbeef, das ich mir da im Restaurant geben ließ, sah sehr schön aus. Schade, daß ich es nicht gegessen habe. Oder: mein Schleier hat ein großes Loch; man kann nicht mehr damit ausgehen. Oder sie hatte den Wunsch, ein Erdbeben möchte eintreten und das Haus, die Stadt möchten zerstört werden, nur damit dies langsam Erdrückende ihrer Lage ein Ende habe. Es war dunkel geworden. Sie zündete die Kerze an. Der Regen klatschte an die Scheiben. Im Korridor machte Dele mit einer Spielgenossin großen Lärm. Die Hausfrau hantirte in der Küche. Alles war verstimmend, freudlos, hoffnungslos für die Sinne Melys. Sie glaubte jetzt ganz ruhig zu sein, und sie sagte sich das auch. Ja, sie sagte es leise vor sich hin und verwunderte sich noch im Stillen darüber. Bald aber schlug ihr das Herz wie ein Hammer so kräftig, es schlug zum Zerspringen. Sie wollte die Thür verriegeln, doch fand sie, daß sie es schon vorhin gethan hatte. Sie lachte einmal laut auf, ohne zu wissen weshalb. So eine Dunkelheit herrschte in ihren Gedanken. Plötzlich nahm sie die Schußwaffe in die Hand und sagte dabei laut: »Es ist ja ein Unsinn, aber ich thu’s doch.« Ihr Arm zitterte heftig; eigentlich war es kein Zittern, sondern ein Auf- und Niederfahren, genau im Takt der Herzschläge. Sie war wie besinnungslos. »Das Licht sollte ich auslöschen,« flüsterte sie. »Aber nein, nein, nein,« entschied sie dann trotzig, »es mag brennen bleiben.« Und sie nickte der Flamme flüchtig zu. Sie spannte den Hahn und drückte. Es knackte wohl, aber der Schuß ging nicht los. Sie wartete einige Sekunden. Sie war verstört, einer Ohnmacht nahe. Sie probirte am Schloß der Waffe, aber ihre Bemühungen waren erfolglos. Sie setzte sich aufs Sofa. Die Füße waren bleischwer. Die alte Unruhe und die alte Angst kamen wieder. »Nun, ich werde morgen zu dem Verkäufer gehen und den Revolver untersuchen lassen,« beschloß sie achselzuckend. Sie wußte genau, daß sie diesen Vorsatz nicht ausführen würde. Man klopfte an die Thür. Die Magd bat zum Abendessen. Mely, froh, daß ihr Alleinsein ein Ende habe, kleidete sich rasch um, verlöschte die Kerze und ging hinaus. Als sie das Eßzimmer betrat, sah sie einen jungen Mann am Tisch sitzen. Frau Bender stellte vor: »Herr Falk – Fräulein Mirbeth.« VI. »Herr Falk hat sich entschlossen, bei uns zu essen,« erklärte Frau Bender. »Er will seine Einsamkeit endlich ein bischen verlassen.« Mely antwortete mit einer höflichen Grimasse. Sie betrachtete ihren grauen Schlafrock und ärgerte sich, daß sie nicht eleganter erschienen war. »Wo ist denn Fräulein von Erdmann heute?« fragte sie. »Herr Doktor Brosam besucht mit ihr das Theater,« erwiderte Frau Bender lachend. »So zum Abschied, wissen Sie. Ach, sie liebt ihn doch so,« flötete sie mit komischer Innigkeit. »Ja, denken Sie, und nicht einmal ein Liebesdrama wird aufgeführt,« sagte die boshafte Helene. »Wir bekommen jetzt eine noch ältere Dame, ein Fräulein von Mahnke,« erzählte die Hausfrau. »Auch eine Gelehrte oder so was Ähnliches.« »Hoffentlich nur was Ähnliches, denn etwas Schlimmeres gibt es nicht,« bemerkte Falk. Er hatte bis jetzt seine junge Nachbarin noch nicht betrachtet. Nun sah er sie an, wandte aber sofort den Blick wieder ab. »Wie werden Sie da erst über mich urteilen!« sagte Mely. »Warum?« »Fräulein Mirbeth malt,« erläuterte Helene, das letzte Wort ironisch betonend. »Ach, eigentlich nur ein wenig. Ich lerne ja noch,« setzte Mely hinzu. »Ich habe nicht viel Talent und nicht viel Lust. Aber ich muß,« fügte sie rasch bei, als sie den erstaunten Blick des jungen Mannes bemerkte. »Ich muß,« wiederholte sie schüchtern. »Man muß doch etwas sein.« »So–o! – Was malen Sie? Porträt?« »Landschaft – nur Landschaft,« sagte sie mit blitzenden Augen, denn der geringschätzige Ton seiner Stimme reizte sie. »Sie wollen wohl auch, daß die Frauen stumpfsinnig bei der Kocherei und bei der Näherei bleiben?« fragte sie, schon erschreckend über ihre Kühnheit. »Nein, nein,« entgegnete Falk stirnrunzelnd. »Sie müssen schon verzeihen« – er errötete und machte eine linkische Geste – »aber ich meine, wen es dazu treibt, der soll’s treiben. Das ist ja selbstverständlich. Ich spreche ungern darüber, weil man immer dieselben Dinge sagen muß. Gewiß, die Frau soll nicht beschränkt sein in dem, was sie thut, aber auf zehn talentvolle Männer wird doch höchstens eine talentvolle Frau kommen, die es auch um der Sache willen thut. Bei den meisten Frauen ist die Beschäftigung mit Wissenschaft und Kunst nichts als eine verfehlte Heirat. Aber das ist ja alles so oft gesagt worden und so selbstverständlich.« »Ja, Sie haben recht,« pflichtete Mely bei. Sie sah Vidl Falk ein wenig träumerisch an, ohne sich dessen bewußt zu werden. Durch ein verstecktes Lächeln, das um seine Lippen spielte, erwachte sie gleichsam, und errötend pickte sie mit den Fingern die Brotkrumen vom Tischtuch. Das Mahl ging unter gleichgültigen Gesprächen zu Ende. »Sie sehen sehr abgespannt aus, Fräulein,« sagte Falk beim Thee zu Mely. »Als ob Sie eine große Fußreise gemacht hätten.« »Ja, ich habe Kopfweh,« entgegnete sie rasch mit gesenkten Lidern. Seltsam, aufs neue, aufs quälendste erwachte gerade in diesem Augenblick die Reue in ihr. Die Worte Falks erwärmten sie. So vergessen von aller Welt erschien sie sich, daß diese in fast besorgtem Ton gemachte Bemerkung, die doch möglicherweise eine bloße Redensart sein konnte, ihr wie eine Liebkosung erschien. Sie preßte die Hand an die Stirn, wie um zu beweisen, daß sie große Schmerzen habe. Frau Bender hatte um Entschuldigung gebeten. Sie lag auf dem Divan und war dort eingeschlafen. Helene, in der altjüngferlichen Haltung, die ihr oft eigen war, saß im Stuhl zurückgelehnt und hörte zu, bald Beifall lächelnd, bald grundlos errötend. Eine Riesenrose aus Kreppstoff hing über dem Milchglassturz der Hängelampe und hüllte die eine Hälfte des Raumes in Dunkelheit. Der Divan mit der schlafenden Frau Bender, das Pianino, die Thüre nach dem Schlafzimmer der Familie und ihre braunen Portieren, ein Stahlstich nach einem Hobbema und ein Genrebildchen von Horstik, – das alles lag in Dämmerung. Falk rauchte, und der blaue Dunst schwebte in Schlangenlinien, in feinen Schleiern, in verschnörkelten Figuren, gegen das Licht, über welchem er, von dem heißen Luftstrom erfaßt, blitzschnell nach der Decke emporwirbelte. »Haben Sie sehr große Schmerzen?« fragte Falk. »Ich kann sie lindern. Oft schon hab’ ich das gethan. Ich brauche nur die Hand auf Ihre Stirn zu legen.« »Nein –?« »Gewiß, – gewiß,« beteuerte er und seine Augen funkelten. Er stand auf und stellte sich vor Mely hin. Dann nahm er ihre beiden Hände in seine beiden und forderte sie auf, ihn unverwandt anzublicken. Sie zögerte lange, mit scheuem Lächeln streifte sie die überlegen dreinschauende Helene, und endlich wagte sie es, den jungen Mann anzusehen. Aber sie ertrug es nicht, sie mußte den Blick zu Boden senken. Auch schämte sie sich, daß sie gelogen hatte, denn in Wahrheit hatte sie gar keine Schmerzen. Doch es war, als ob sein Blick sie zwänge die Augen aufzuschlagen, und sie gehorchte. Sie begegnete seinem Blick und ein paar Sekunden lang sah sie ihn ganz starr an. Dabei lag etwas Staunendes in ihren Augen und zugleich etwas Flehendes. Er nahm nun ihre zwei Hände in seine Rechte. Ihre Hände waren kalt wie Stein und glatt und trocken. Mit seiner Linken bedeckte er ihre Stirn. Da schüttelte sie energisch den Kopf, und unwillig stand sie auf. Falk war bestürzt, aber nur deshalb, weil er nicht länger in diese glänzenden Augen sehen konnte, in denen sich der Augapfel so überaus rein von dem milchigen Weiß des übrigen Auges abhob. »Sehen Sie nur her!« rief Mely am Fenster, Helene und Falk traten zu ihr und schoben die Gardine zurück. Der erste Schnee war gefallen. Er bedeckte die Dächer und die ganze Straße und die Höfe und die Gärten, wie Konditoreiwaren mit Zucker bestreut sind. Auch der Mond stand am Himmel, gerade zwischen zwei Schlöten eines Nachbarhauses. Alles war grün von seinem Licht. Wie fremd fühlte sich Mely ihren früheren Leiden gegenüber! Es war ihr zu Mute, als lägen Jahre dazwischen. Nicht daß sie gewaltsam die Augen vor Gefahren geschlossen hätte, – sie sah keine Gefahren mehr. Sie kam sich auch gar nicht mehr vereinsamt vor. So schnell wechselte ihre Stimmung, so sehr konnte sie sich der Behaglichkeit eines Moments hingeben. »Haben Sie immer noch Kopfschmerz?« fragte Falk. Sie verneinte und schämte sich aufs neue ihrer Lüge. Dabei fragte sie sich, warum sie eigentlich gelogen und warum ihr diese Lüge gerade jetzt peinlich sei. Wieviel Lügen hatte sie schon gesagt, ohne viel nachzudenken. »Sie wollten mich wohl hypnotisiren?« fragte sie, den jungen Mann furchtsam anblickend. »Bei Ihnen wär’ es nicht schwer,« erwiderte er. »Wollen Sie?« »Nein, niemals!« rief sie erschrocken. »Nicht wahr, da kann man einem alle Geheimnisse entlocken?« »O –!« machte Falk. Jetzt denkt er sicher, ich sei dumm, dachte Mely. Ich sehe es deutlich an seinem Lächeln. Bah, das macht ja nichts. »Es ist komisch,« meinte Helene, »wenn man so dasteht wie jetzt und man schaut hinaus, und es ist alles so ruhig, – da wünscht man sich doch etwas. Oder, – wie will ich sagen, man fühlt sich besser als in andern Stunden, nicht?« Wenn sie so sprach, ernst und nachdenklich, berührte alles sympathisch an ihr. Man fühlte, daß es aufrichtig war, was sie sagte, und war ihr dankbar, daß sie dadurch das Innige der Stimmung vermehrte. Sie war klug. »Das ist wahr,« antwortete Falk. »Ihnen sieht man zum Beispiel an, was Sie wünschen.« »Nun was – was?« drängte sie ein wenig kokett und als sei sie überzeugt davon, daß niemand in ihr Innerstes einzudringen vermöge. »Ich halte Sie für sehr ehrgeizig.« »Das mag sein,« bestätigte Helene geschmeichelt und blickte Falk dankbar an. »Ja, das bin ich auch,« fuhr sie nach einer Pause eifrig fort. »Ich möchte etwas anderes als andere.« »Und das wäre –?« »Ich möchte vielleicht zu meinem Vater, – möchte ihm bei seinen Arbeiten behilflich sein, – Sie wissen ja, er ist Bildhauer, ich möchte vielleicht selbst – ach Gott, was möchte man denn nicht!« brach sie ab, die Worte fast singend. Es schien, als bereue sie, so offen gewesen zu sein. Aber immer noch lag diese Dankbarkeit gegen Falk in ihrem Gesicht, als hätte er bewiesen, daß er ihre Natur richtig beurteile, und als hätte er durch diese harmlose Äußerung ungewöhnlichen Scharfsinn verraten. »So viel möchte man, so viel!« wiederholte sie, halb sehnsüchtig, halb ironisch. Sie möchte, aber sie thut nichts, dachte Mely. Den ganzen Tag faullenzt und träumt sie und ihre Mutter mag sich quälen und abarbeiten. Nicht einmal etwas nähen, nicht einmal bügeln mag sie. »Aber warum zürne ich ihr?« fragte sie sich gleich darauf. »Vielleicht weil sie etwas Kluges gesagt hat?« Ja, warum zürnte sie ihr? »Können Sie auch über mich etwas sagen?« fragte sie den jungen Mann, indem sie die Ellbogen auf die Kniee stützte und sich weit vorbeugte. Wieder konnte Falk in ihre Augen blicken, die gespannt und furchtlos auf ihn gerichtet waren; und er vergaß darüber fast, zu antworten. Er wurde verwirrt und strich die schwarzen Haarsträhne aus der Stirn. Er stotterte: »Ich – ich halte Sie für sehr vertrauensselig und – nun ja – für sehr vertrauensselig,« schloß er, als könne dies eine Wort alle andern in ihrer Charakteristik ersetzen. Sie lächelte. »Der Herr Oberst sagt immer, ich sei schrecklich mißtrauisch,« sagte sie leise. »Der Herr Oberst, – wer ist das?« »Das – das ist – mein Vormund.« Ein dunkler Schatten fiel gleichsam über sie und machte sie unruhig. »Sind Sie hier geboren?« fragte Falk. »Nein, ich bin Fränkin. Unterfranken ist meine Heimat. Dort in den Weinbergen, – in Sommerhausen ...« »Da sind wir ja Landsleute, auch ich bin Franke. Und Sie haben keine Eltern mehr? Auch keine Geschwister?« Beides verneinte sie. Und es trieb sie, die neue Lüge wahrscheinlicher zu machen. »Ganz allein hab’ ich immer gespielt als Kind,« erzählte sie. »Meine Eltern ließen mich gar nicht mit andern Kindern spielen. Immer vom Fenster aus hab’ ich zugesehn, wenn die andern so vergnügt waren, – wie eben Kinder vergnügt sind. Und ich durfte nicht mitthun. Es ist merkwürdig, – gerade jetzt träum’ ich so oft von der Kinderzeit, – aber ganz genau, wie es damals war. Ich seh’ meine Mutter noch mit ihrem schwarzen, dicken Haar und dem Scheitel in der Mitte. Meine Mutter hatte nämlich herrliches Haar, ganz blauschwarz. Wie oft hat sie mich für nichts und wieder nichts geprügelt. Sie war jähzornig, gerade wie ich. Und denken Sie, davon träum’ ich oft so deutlich, gerade von den Prügeln.« »Träumen Sie denn nicht auch von schönen Dingen? Vom Heiraten zum Beispiel –? Nein? Und Sie denken auch nicht daran?« »Jetzt nimmer, früher. Früher, als ich noch dreizehn Jahre alt war oder vierzehn, da dacht’ ich mir immer: Wie schön wird es sein, wenn ich einmal zwanzig alt bin. Da könnte ich dann heiraten. O, es wäre fein.« Sie lachten. »Haben Sie denn auch ein Ideal gehabt?« fragte Falk. »Das gehört doch dazu. Ein Dichter oder ein Raubritter, wie?« Mely ging auf den Scherz ein. »Ach nein,« sagte sie melancholisch. »Ich hätte am liebsten einen Katecheten mögen.« »O, wie komisch! Das ist wenigstens originell! Haben Sie immer so aparte Wünsche?« – – Es war spät geworden, und Mely erhob sich, um zu gehen. Sie drückte Falk und Helene die Hand, und zündete dann ihre Kerze an, die auf der Kommode stand, und die sie allabendlich dorthin stellte. In ihrem Zimmer angelangt, war das erste, was sie that, dies: Sie nahm den Revolver, der auf dem Tisch lag, und versteckte ihn sorgfältig in ihrem Wäscheschrank. Dann setzte sie sich auf den Rand des Bettes, stützte die Arme rückwärts auf die Kissen und sah mit halbgeschlossenen Augen ins Licht. »Haben Sie große Schmerzen – ich kann sie lindern,« sagte sie leise vor sich hin und klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne. Jedes Wort, das an diesem Abend gefallen war, hätte sie wiederholen können. Warum bin ich denn nur so heiter? dachte sie. Warum ist mir so leicht? – – Halb vier Uhr schlug es auf den Türmen, da lag sie noch mit offnen Augen und blickte in die Finsternis. Alle ihre Romane hatte sie schon durchlebt, den Millionenpalast und die Sklavenschar, und die abenteuerlichen Ritte, wobei sie vom Pferde fiel und von einem stolzen Grafen und seiner Mutter verpflegt wurde. Sie konnte keinen Schlaf finden. »Ich möchte einmal so recht von Herzen glücklich sein,« flüsterte sie in ihr Kissen, und sie drückte einen Kuß auf das weiße Linnen. Das war das letzte, woran sie sich am andern Tag noch erinnern konnte. VII. _Aus dem Tagebuch Vidl Falks._ 10. November. Weshalb ich eigentlich ein Tagebuch führe, darüber habe ich mir schon oft den Kopf zerbrochen. Liest man später die Konterfeis von Stimmungen und Hoffnungen, diese scheinbar so zwanglosen, mit müder Eleganz hingeworfenen Aperçus, so liegt darin etwas so Lächerliches, wenigstens für mich. Eitelkeit, Eitelkeit spöttelt jede Zeile, eitle Selbstbespiegelung. Aber ich bin ja ein nutzloser Mensch. Alle sagen es, die mich kennen. So muß es doch wahr sein. Ich möchte doch wissen, welchen Eindruck ich auf andere mache, ob ich ihnen komisch erscheine, oder unbedeutend, oder dämonisch. Wer weiß, vielleicht gerade dämonisch. Das ist ein hübsches Wort. Man empfindet ordentlich Sehnsucht, es zu sein. Aber wie, wie wird man dämonisch, wie macht man das? – Ich muß doch eigentlich ein ganz hübscher Mensch sein. Der Spiegel beweist ja nichts, aber mein Schnurrbart gleicht vielen Schnurrbärten, welche für hübsch gelten. Meine Augen sind sehr geschmackvoll; ich bin zufrieden mit ihnen. Ein Schwärmer bin ich schon. Ich habe zu nichts Lust, als zum Nichtsthun. Und wie anstrengend ist das bisweilen. Oft kommt mir der Gedanke, warum bin ich so allein? Es ist ja kindlich, darüber zu klagen, aber andere haben ein Vaterhaus, elterliche Sorge umgibt sie, sie wissen, daß jemand da ist, der sich um sie kümmert. Nichts dergleichen ward mir. Ich würde ja ganz gern allein bleiben, aber alles fängt an, mir so nüchtern zu werden. Ich habe häufig das Bedürfnis zu schlafen, tagelang, wochenlang, und ich begreife kaum, warum ich so eifrig mit aller Kraft dem Studium zugedrängt habe. Das Studium ist leer, und es ist die Wissenschaft von der Unwissenheit, besonders was die Medizin anbelangt. Auch beirrt mich das Fachmäßige, Doktrinäre, das Buchstabenrecht in der Wissenschaft. Ich möchte etwas, das mich aufregt, das mich zittern macht, das mich in Bangnis versetzt, kurz etwas, das ich nicht weiß und das ich nicht definiren kann. 15. November. Ich lese die letzte Eintragung und sage mir, daß dies für einen dreiundzwanzigjährigen Menschen sehr naiv ist. Zum wenigsten ist es ein Zeichen großer Schwachheit. Wenn nur dieses Wirtshausleben nicht wäre! Das zerstört alles Gesunde und alle Befriedigung über die Arbeit. Aber den ganzen langen Tag und den langen Abend dazu allein im stillen Zimmer und die Gedanken und der Kopfschmerz und das ewige Regengeplätscher, und die Aussicht, daß es jahre-, jahre-, jahrelang so bleiben soll, das ist auch zerstörend. Freilich, ich bin jung und wir Jungen sollten darauf bedacht sein, weniger zu lamentiren und mehr zu arbeiten. Statt Freude darüber zu empfinden, daß wir allein sind, vergießen wir Thränen. Wie absurd und sündhaft, daß ich bisweilen wünsche, krank zu sein, nur damit Jemand um mich sei, der sich bemüht um mich, dem man mehr ist, als eine Figur, um: ›Ergebener Diener!‹ oder: ›Wünschen zu speisen?‹ zu sagen. Wenn ich einmal reich sein werde – Traum der Träume – will ich mir ein Schloß im Schwarzwald bauen und mit einem Freund oder einer Freundin dort leben. Aber kann es Jemand geben, der sich mit mir befreundet? Ich muß zu dumm sein, zu unbedeutend, zu häßlich – oder bin ich am Ende das verborgene Veilchen? Der Gedanke ist so poetisch! 17. November. Es ist spät in der Nacht. Heut hab ich es über mich gebracht, daheim zu bleiben. Und ich bin glücklich im Bewußtsein der Einsamkeit. Die glühenden Kohlen starren zum Ofenloch heraus. Bisweilen zucken kleine, blaue Flämmchen hindurch. Dann werden die Ränder schwarz, und alles versinkt zu Asche. Ich denke mir: Wieviel Schmerz ist in der Welt und wieviel Glück, und alles versinkt zu Asche. Ein oftgedachter Gedanke. Ich sehe hinein in die glühenden Brocken und erblicke mein Schwarzwaldschloß, wie es sein wird, wenn die Abendröte drüber hinfliegt und der Wind um die Parktannen streicht. Jetzt denke ich mir: wie muß wohl das Weib beschaffen sein, das ich lieben würde. Vor allem müßte es klein sein, zart und heiter. Es müßte blond sein und blaue Augen haben mit dunklen Rändern um den Augapfel und schwarzen Wimpern. (Das soll pikant sein.) Die Haare dürften schließlich auch kastanienbraun sein, ja sogar jene bronzefarbnen, oder jene, die aussehen wie ein schwer mit Kupfer legirtes Goldstück gefielen mir. Gescheiter als ich dürfte sie nicht sein, wohl aber müßte sie besser als ich sein. Sanft, nachgiebig und beständig müßte sie sein. – Es ist nicht sehr weise, sich ein Rezept zu schreiben, bevor man weiß, woran man erkranken wird, – als #stud. med.# sehe ich das ein. Diese Frau Bender quält mich so sehr, ich solle Pension nehmen. Aber wozu soll ich so viele Menschen kennen lernen? 19. November. Frau Bender stellte mir den Doktor Brosam im Korridor vor, und wir gingen zusammen nach der Stadt. Welch ein Ideal von Männlichkeit: kraftvoll, graziös, selbstbewußt. In solche Persönlichkeiten verlegt man unwillkürlich jene Eigenschaften, die zu besitzen man ersehnt. Er muß wegen eines Zwischenfalls ausziehn, wie ich höre: das ist schade. Wir haben verabredet, uns im Café zu treffen. Die ganze Zeit über wohnten wir Thür an Thür, und ich wußte nichts von ihm, als daß er den Geruch der Weihrauchkerzen liebe und beim Studiren Bonbons kaue. Das nennt man durchs Schlüsselloch des Nächsten Thun betrachten, und das ist verächtlich. 20. November. Ich habe Frau Bender nachgegeben. Heute Abend war ich zum ersten Mal in der Familie. Ich habe mich gut unterhalten. Die kleine Helene scheint ein wenig verliebt in mich zu sein. Das thut mir morschem Jüngling wohl. Komisch, sie ist klein, zart und heiter, blauäugig und blond. Sollte die es sein? Nur hat sie gar keine Augenbrauen. Das Fräulein Mirbeth gefällt mir übrigens. Sie besitzt eine große Natürlichkeit und ihre Augen (nie im Leben sah ich so schwarze, leuchtende Augen: schwärmerisch und leidend) verraten viel mehr als ihr Mund (welch ein weicher, wohlgeformter Mund) verraten könnte. Ihr Lachen verletzt mich, sie schleppt es so eigentümlich nach. 24. November. Ich bin sehr fortgeschritten auf dem Pfad der Kultur: seit einigen Tagen besuche ich kein Wirtshaus mehr. Allabendlich sitze ich bis elf Uhr bei Benders, und ich gewöhne mich völlig hinein in diesen Kreis. Auch Fräulein Mirbeth ist da, und ich spiele Karten oder Halma mit ihr. Ich weiß nicht, woher es rührt, aber eine neue Lebensfreude ist über mich gekommen. Wir führen oft träumerische Gespräche da vorn, zu dreien, während Frau Bender auf dem Divan schläft. Und dabei sieht mich Fräulein Mirbeth oft so starr, fast erschrocken an, und ihre Augen glänzen dabei so sehr, daß ich die meinen zu Boden schlagen muß. Aber dieser Blick hat etwas, das einen verfolgt. Er sitzt mir bisweilen gleichsam im Nacken. Heute Nachmittag war ich beim Kaffee. Frau Bender erzählte aus ihrer Jugendzeit. Sie hat eine bezaubernde Art zu erzählen; kaum sah ich je ähnliches. Selbst ganz hingerissen von ihrem Gegenstand, lächelt sie beständig und zeigt ihre großen, dichten, blitzenden Zähne. Ihre Augen werden größer und leuchtender und ihr Gesicht wird förmlich jung. Sie hat viel erlebt und ist viel in der Welt herumgezogen. Ich weiß nicht, wie es kam, daß ich im Verlauf des Nachmittags auf Fräulein Mirbeth zu sprechen kam. Aber es berührte mich peinlich, wenn sie von ihr redeten. Sie gebrauchten geheimnisvolle Wendungen, sie redeten Gedankenstriche. »Der Herr Oberst meint es eben doch sehr gut mit ihr –« oder: »Der Herr Oberst ist ein sehr edler Mensch, ein idealer Charakter« – – Doch was geht das mich an. Ich machte ein ziemlich verblüfftes Gesicht, und Frau Bender stand mit einem konventionellen Seufzer auf. Ich beobachtete ihren Gang, der unsicher, voll Hast und Nervosität ist. Es ist der Gang unterleibskranker Frauen. 26. November. Zwei Uhr hat es geschlagen, und die Nacht ist sehr still. Der Schnee liegt überall. Ich öffne das Fenster und die frische, klare Luft durchdringt mich völlig. Ich sehe das große, runde Kuppeldach des römischen Panoramas und die neue Pinakothek, die so sehr einer großen Zigarrenschachtel gleicht. Einen schlanken Kirchturm seh ich in der Ferne, der wie ein zugeklappter Regenschirm aussieht. Ich versuche jetzt, mir das Bild des Fräulein Mirbeth vorzustellen. Aber ich kann es nicht. Ich kann sie nur wie durch dicke Nebelwände wahrnehmen. Ich weiß wohl, daß ihre Haare ganz dunkel sind, daß sie wirr sind und hinten in einen griechischen Knoten geknüpft. Ich weiß, daß sie zu beiden Seiten die Ohren fast ganz verdecken und daß eine einsame Locke mitten auf der Stirn liegt. Ich weiß, daß sie eine unvergleichliche Gestalt besitzt, aber das kann ich alles nicht innerlich _sehen_. Doch ich bin verwundert, daß ich mich bemühe, es zu sehen. Warum? Sie ist mir fremd. Ich könnte mir nicht vorstellen, daß sie mehr für mich wäre, als das Fräulein Mirbeth. Doch wer ist eigentlich dieser Oberst? Was will er von ihr? Die kleine Helene gefällt mir. Übrigens bemerke ich, daß mir Alles und Alle gefallen. Das beschämt mich ein wenig. Ich bin so gar nicht blasirt. Da habe ich wahrlich wenig Aussicht, dämonisch zu werden. 27. November. Ich traf Doktor Brosam und erwähnte beiläufig Fräulein Mirbeth. Da lachte er verächtlich und sagte: »Na, die –!« – »Was? Wie meinen Sie das?« erwiderte ich unwirsch. – »Sie werden doch der ihre Unschuldsmiene nicht für bare Münze nehmen?« gellte er. Sein Ton verriet solche Kennerschaft, daß ich schweigen mußte. Wir sprachen von etwas andrem. Der Mann hat diese eigentümliche Art zuzuhören: wie man einem Diener zuhört. Vom Fach versteht er nicht viel. Dagegen stellte er mir einen noch jungen Arzt vor, der es in kurzer Zeit zu großer Praxis in der besten Gesellschaft gebracht hat. Er heißt Doktor Wendland und gefiel mir besonders durch den Ausdruck von Güte, der in seinem Gesicht liegt. Am Abend erwähnte ich den Doktor Brosam und daß ich ihn getroffen. Fräulein Mirbeth wurde sehr bleich und fragte, während ihre Augenlider ruhelos zuckten: »Ah, Sie kennen ihn? Was sprach er denn? Hat er etwas von mir gesagt?« – Das geht mir im Kopf herum. 1. Dezember. Beim Abendessen lernte ich Fräulein von Erdmann kennen. Sie imponirt mir, sie hat jenes echt aristokratische Timbre, das ich liebe. Es gleicht dem Bouquet eines guten Weines. Sie ist sehr gebildet und viel gereist. Sie muß viel Schlimmes hinter sich haben, viele Leiden und Leidenschaften. Sie interessirt mich. Zudem sagte sie mir eine solche Menge angenehmer Sachen, daß ich, als ich allein war, lange mit der Kerze vor dem Spiegel gestanden bin. Fräulein Mirbeth schien mir etwas verstimmt an diesem Abend. 2. Dezember. Die Erdmann ließ mich in ihr Zimmer rufen. Sie habe entsetzliche Kopfschmerzen, ich möchte ihr ein Mittel geben. Etwas exaltirt benimmt sie sich schon, das muß ich sagen. Ihr Haupt war von starrenden Haarbüscheln umrahmt. Weinend zeigte sie mir ihre Gichtfinger und sagte, das werde sie noch zum Selbstmord treiben. Für eine Frau, die noch so frisch in den Dreißigen stehe, sei dies der Wegweiser zum Grab. Ich war überrascht: denn ich hatte sie für viel älter gehalten. Gut, daß sie nicht davon weiß. »Nun,« sagte sie gleich nach dieser Scene, »wie ich höre, sind Sie stark um Fräulein Mirbeth bemüht?« – »Ich?« fragte ich erschrocken zurück. Sie drohte schalkhaft mit dem Finger, wurde aber plötzlich sehr ernst und ergriff mich beim Handgelenk. (Ihre Hand ist unangenehm weich und klebrig.) »Ich muß Sie warnen,« sagte sie, und ihre kleinen Augen funkelten lebhaft. »Ich muß Sie warnen vor dieser Schlange. Wenn Sie nicht in ein Gewebe von Lüge, Falschheit und Hinterlist fallen wollen –« Sie schwieg bedeutsam. Ich schwieg auch, aber das war idiotisch von mir. Wie gewöhnlich fiel mir erst eine Stunde später ein, was ich hätte antworten sollen. Ich dankte kalt und ging. Mein Gott, warum reden sie mir alle von Fräulein Mirbeth? Ich will nichts mit ihr zu thun haben. So wenig, als ich ihr bin, kann sie mir sein. 5. Dezember. »Fräulein von Erdmann ist glühend verliebt in Sie,« sagte das Fräulein Mirbeth diesen Nachmittag und blickte mich mit etwas unsicherer Fröhlichkeit an. Ich lachte. »Halten Sie mich nicht für stark genug, dieses Gefühl zu erwidern?« fragte ich ernst. Sie nahm es für bare Münze. Helene kicherte. »Die läßt keinen ungeliebt von dannen ziehen,« sagte sie pathetisch und fügte zöfchenhaft hinzu: »Passen Sie auf, nun werden Sie ins Theater geschleppt. Ins ›Käthchen von Heilbronn‹ oder in die ›alten Junggesellen‹.« Der helle Winterschnee lag draußen, blendend rein und voll Leuchtkraft. Frau Bender ging nach dem Kaffee mit Helene in die Stadt, und ich war mit dem jungen Mädchen allein. Sie trug ihr schwarzes Kleid, das ganz eng am Leibe liegt und das ich meistens an ihr sehe. Zum ersten Mal waren wir allein. Auch auf dem Korridor war es ganz ruhig. Peinliche Minuten des Schweigens entstanden zu Anfang. Sie sah mich oft scheu von der Seite an, doch wenn meine Augen den ihren begegneten, wandte sie hastig den Blick ab. »Wie kommt es, Fräulein,« fragte ich, »daß Sie so leidend aussehn? Stets, solang ich Sie jetzt kenne, haben Sie so einen vergrämten Zug im Gesicht. Sie sind doch nicht unglücklich?« (Dies »unglücklich« war albern, dachte ich bei mir) – »Ich, ach nein. Jetzt zum Beispiel ist mir so wohl. Ich habe solche Stunden, wo ich die Zeit stillstehn lassen möchte, – wie jetzt.« Sie lächelte. Ich weiß es mir nicht zu erklären, aber ihr Lächeln berührt mich namenlos wohlthätig. Wie ein lichter Schein verbreitet es sich von den vollen, weichen, schwellenden Lippen aus erhellend über das ganze Gesicht. Ich möchte ihr stets ein dankbares Wort, eine Schmeichelei sagen, wenn sie so lächelt. – »Aber ich täusche mich nicht,« fuhr ich hartnäckig fort, »Sie leiden. Ich will Sie ja nicht danach fragen, – glauben Sie nicht, daß ich zudringlich sei – –« Ich schwieg, denn ich sah sie zusammenschrecken. Sie erschien mir in diesem Augenblick ganz hülflos, ganz ein gebrechliches Wesen, und etwas Mitleidsuchendes lag in ihrem Gesicht. Ich dachte an die Äußerung des Doktor Brosam. »Verstellung! Verstellung!« rief ich mir zu und sah trotzig zu Boden. Sie stand vom Stuhl auf, setzte sich auf den Divan und bog den Oberkörper zurück. Sie thut das oft. Es ist, als wünsche sie, freier aufatmen zu können. Dann sagte sie mit einem selbstvergessnen Ausdruck in den Mienen: »Ach, wenn ich reich wäre, – wenn ich reich wäre!« Ich nickte ihr eifrig zu wie einer, der einen Fremden den eignen Traum erzählen hört. »Ich habe ja keinen Mangel,« fügte sie ein wenig hastig hinzu, »aber ich mag den Luxus riesig gern. Und die Bequemlichkeit, – kurz, ich möchte nichts missen von dem, was das Leben angenehm macht.« – »Wenn ich eine Million hätte, ich würde mit Ihnen teilen,« sagte ich leise. – »Wirklich? Das thäten Sie?« – Sie schien beglückt zu sein, und ihr Gesicht strahlte vor Freude. Nein, hier ist keine Verstellung, dachte ich voll Zorn über meinen Argwohn. – »O, was würden wir dafür alles anfangen!« sagte sie verträumt. »Das erste, was ich haben müßte, sind ein paar Jucker und die würde ich selbst kutschiren. Und dann – o so vieles, so vieles!« Ich hörte staunend zu. Ihre Augen wurden immer glänzender, und während sie den Kopf auf die hintere Lehne des Divans legte, wandte sie den Blick nicht von mir ab. Es war schon dunkel geworden, und Dele kam von der Schule. Sie stürzte jubelnd auf Fräulein Mirbeth zu, die sie in die Arme schloß, heftig emporhob und ihr ein paar wilde Küsse auf die Lippen drückte. So heftig, so feurig war sie dabei, daß mir in einer gänzlich unbestimmten Bangnis der Hals wie zugeschnürt war. Gleich darauf rauschte Fräulein von Erdmann herein. »Nun, die Herrschaften sind ja in einem höchst interessanten Tete-a-tete,« flötete sie, und ihre Augen funkelten boshaft in der Dämmerung. Niemand von uns beiden antwortete. 13. Dezember. Etwas Seltsames ist in mir vorgegangen. Ich kann es nicht verstehen und bin bestürzt, daß es mich weich macht, hoffnungsselig und traumsüchtig. Ja, das Gefühl der Bestürzung ist das Herrschende in mir. Wie kam es nur, wie war es möglich, frage ich mich beständig und es passirt mir, daß ich an allen Pflichten des Werktags wie geistesabwesend vorübergehe. Ich hatte mit zwei befreundeten Medizinern einen Ausflug nach Tirol verabredet. Wir wollten fünf bis sechs Tage fortbleiben. Am Freitag nachmittag faßten wir den Plan, und abends schon, um neun, wollten wir mit dem Schnellzug nach Kufstein fahren, um dort zu übernachten. Die zwei Kameraden wollten mich um halb neun abholen. Um sieben kam ich zum Abendessen in die Pension. Mit überlautem Triumph verkündete ich mein Vorhaben, und während die Benders neugierig nach Einzelheiten fragten, schwieg Fräulein Mirbeth, die am untern Ende des Tisches saß, still. Und als ich meiner Freude, die Berge nun im Winterschnee sehen zu können, Ausdruck gab, verfinsterte sich ihr Gesicht immer mehr. Sie sah mich gar nicht an. »Was haben Sie denn, Fräulein?« fragte ich endlich, und eine dumpfe Besorgnis erwachte in mir. Zuerst erwiderte sie nichts. Dann stand sie auf und setzte sich auf den Divan. Sie legte die Hände in den Schoß und starrte vor sich nieder. Niemals hatte ich einen so verzweifelten und fassungslosen Ausdruck in ihrem Gesicht beobachtet. Ich setzte mich neben sie. Frau Bender war in der Küche; nur Helene war noch im Zimmer. »Aber was haben Sie denn?« fragte ich nochmals. – Sie sah mich schnell und mit einem vollen Blick an. »Nein, nein! Sie _dürfen_ nicht fort, Herr Falk,« sagte sie so flehend, daß meine Augen feucht wurden. Sie betonte das ›dürfen‹, und ihre Stimme zitterte sonderbar. Sie war heiser. Ich war weit davon entfernt, hinter dieser Bitte etwas zu suchen. Nur meine Eitelkeit war geschmeichelt. Ich bewies ihr, daß es unmöglich sei, jetzt zurückzutreten. »Ich werde Ihnen schreiben,« sagte ich lächelnd und auf die Gefahr hin, abgewiesen zu werden. Aber sie sagte nichts. Draußen läutete es, und ich rief: »Man kommt, mich abzuholen.« Da stand Mely Mirbeth auf und verließ schnellen Schrittes das Zimmer. Noch immer vermutete ich nichts Ungewöhnliches. Ich sagte mir: nun, sie wird gleich wiederkommen. Die beiden jungen Leute und ich standen mit Frau Bender im Vorplatz. Es wurde viel gesprochen, und ich machte einige Bemerkungen von zweifelhaftem Witz. »Wo ist denn Fräulein Mirbeth?« fragte ich mehr als viermal. Aber sie kam nicht. Jetzt ging dies Seltsame in mir vor. Plötzlich stand vor meinen innern Augen ein Bild. Ich hatte niemals das Zimmer der jungen Dame betreten. Nun aber sah ich dieses Zimmer, und ich konnte mich später davon überzeugen, daß ich es wirklich gesehen hatte. Es war fast ganz finster drinnen. Das Licht der Straßenlaterne fiel auf die Decke, und dieser Reflex verbreitete einen schwachen Lichtschein. Ich sah ein Sofa und einen großen runden Tisch. Ein roter Lampenschirm schimmerte schwach durch den Raum. Auf dem Bett lag das junge Mädchen und hatte den Kopf in die Kissen vergraben. Mehr war es nicht. Ich sagte mir: das thut sie deinetwegen. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schreck. »Kann es denn sein? kann es denn sein?« flüsterte ich mehrmals vor mich hin, während wir in der Pferdebahn saßen. Ich erinnerte mich weder an unsern Abschied von Benders, noch an den Weg zur Tramway. Auch an die Eisenbahnfahrt erinnere ich mich nicht mehr. Meine einzige, furchtsame Überlegung war: Kann es denn sein? 15. Dezember. Ich will noch lange an die Nacht denken, die ich in jenem Kufsteiner Hotel zubrachte. Müde zu sein und doch nicht schlafen können, weil _ein_ bestimmtes Bild, dem man nicht entrinnen kann, die Seele in Aufruhr setzt, eine wilde Jagd von Träumen heraufbeschwört ... Wie die Berge aussahen, weiß ich nicht. Wie die Landschaft aussah, wohin wir gingen, wovon die beiden Andern sprachen und was sie über mich dachten, ich weiß es nicht. Ich meinerseits muß viel einfältiges Zeug geredet haben, denn mir klingen noch grausame Spötteleien im Ohr. Am Morgen des zweiten Tages behauptete ich, mir sei nicht wohl, setzte mich in den nächsten Postzug und fuhr wieder heim. Das Coupé war voll von Touristen und Jägern, die unausgesetzt lachten, sangen, tranken und Zoten erzählten. Bisweilen kam ich mir sehr lächerlich vor in der erhabenen Ruhe und Toleranz, die mich erfüllten. Aber mit meinen frivolen Gedanken wurde ich leicht fertig. Die weite, schneebedeckte Ebene, die sich allmählich auszubreiten begann, erfüllte mich mit jener Schwermut, der man sich fast mit einer Regung von Stolz hingiebt. ›Träume nicht! träume nicht!‹ rief es fortwährend in mir, und es war, als sei mein bisheriges Ich im Begriff einzuschlummern und suche sich gegen die Erstarrung zu wehren durch ironische oder warnende Ausrufe. Aber das neue Ich ließ sich nicht stören. Es war ein Ich voll Freiheit und Frohheit und Leidenschaft des Hoffens; ganz unbekannt mit der zögernden Schüchternheit und trockenen Nüchternheit des alten Ich. Das läßt sich so gut überdenken bei dem schnellen, regelmäßigen und anheimelnden Dreivierteltakt-Rhythmus der Wagenräder. Allmählich rückte der Horizont immer näher, und Himmel und Ebene wurden immer kleiner, wie ein Gummiballon, der sich zusammenzieht und erschlafft. Es dämmerte. Eine trübselige, öde Landschaft! dachte das alte Ich. Es liegt eine geheimnisvolle Düsterkeit über diesem großen Schneeland, dachte der neue Vidl Falk. Ich lachte leise vor mich hin, ob dieser komischen Zwiespältigkeit meines Wesens. VIII. Auf dem Balkon, der gegen die Gärten hinauslag, saß Mely und ließ Seifenblasen steigen. Dele saß zu ihren Füßen und blies aus einem Strohhalm emsig mit. Die Sonne schien, und es war gar nicht kalt. Wie ein flaumiges Polster lag der frischgefallene Schnee auf der Einfassung des Balkons. Mely brachte wunderschöne Seifenblasen fertig, während die Kleine nur farblose, winzige Kugeln aus ihrem Röhrchen in die Luft hauchte. »Du kannst ja nix,« spottete Mely und sah entzückt einer majestätisch emporschwebenden Blase nach, die erst am Dachfirst zerstäubte. In diesem Augenblick kam Vidl Falk. Mely sprang auf, wie über einer bösen That ertappt. Falk bemerkte ihre Verlegenheit und war so grausam, sie zu vermehren. »Sie sind ein Kind,« sagte er mit etwas gekünstelter Wehmut, als sehne er sich, selbst noch so ein Kind sein zu können. Mely schaute ihn nicht an. Ihre rechte Hand lag auf Deles Kopf und mit den Fingern spielte sie unaufhörlich im Haar des Kindes. »Wann sind Sie zurückgekommen?« fragte sie schüchtern. Falk blickte sie an, als hätte er die Frage nicht verstanden. Enttäuschung war in seinen Mienen, wie wenn ihn während seiner Abwesenheit ein überaus schönes Bild aufgeregt und die Wirklichkeit nun alles zerstört hätte. Heuchelt sie denn? fragte er sich. Ist diese Befangenheit erheuchelt? Die Weiber sollen im Allgemeinen sehr schlau sein. Er sah sie zerstreut an und sagte schroff: »Wie kann man nur in der Kälte da sitzen! Das begreif ich nicht.« Sie war verletzt, ohne sich über den Grund klar zu sein. Jetzt spielen wir Versteckenspiel, dachte sie sich und nahm das Kind bei der Hand. »Komm Dele, komm!« rief sie laut und verließ rasch den Balkon. Falk setzte sich auf den Stuhl, den sie verlassen hatte. Er stützte den Ellbogen auf die verschneite Brüstung und sah mißmutig in die blendende Schneelandschaft hinein. Bald schallte lauter Lärm vom Garten herauf. Verwundert und beunruhigt sah Falk, wie Mely mit heißem Bemühn die Schneeballwürfe einiger wilder Buben erwiderte, die sich ein Vergnügen daraus machten, das große Fräulein ihre Überlegenheit fühlen zu lassen. Gott mag wissen, was ihn dazu trieb, gleichfalls in den Garten zu gehen. Aber als er unten war, sah er Mely nicht mehr. Die Kinder, erhitzt und erregt von der Balgerei, vermochten ihm keine Auskunft zu geben, und er ging weiter auf dem nachgiebigen Schnee, ohne Ziel und Vorsatz. Als er am kleinen Holzpavillon vorbeiging, sah er durch die Thürspalte Mely. Er ging hinein und setzte sich neben sie. »Nun Fräulein –« begann er spöttisch. Ihm war, als müsse er den Spott als Waffe gegen sie benutzen. Immer noch herrschte das Gefühl der Enttäuschung in ihm. Sie war erhitzt vom Spiel, doch seit sie saß, fror sie zugleich. Verstört sah sie aus, von einem stummen Gram war sie erfüllt. Es war, als ob mit der Winterkälte die ganze Kälte ihres Daseins auf sie eindränge. Beide waren ganz allein hier. Der Pavillon, der die Gestalt einer Vase hatte – wie eine Vase war er in der Mitte ausgebaucht und verjüngte sich nach oben – war ein geschlossener Raum. Durch die Lücken der Fensterläden fielen die schrägen Strahlen der Dezembersonne. Wie aus weiter Ferne klang das Geschrei der spielenden Kinder. »Sagen Sie mir, was soll das?« flüsterte Falk. »Sie wollen sich betäuben, das ist mir klar. Dies Herumtollen mit den Kindern, das ist nicht Ihr Ernst, das ist nur Trotz, das ist Verbitterung. Hab’ ich recht?« Sie beugte den Kopf tiefer herab. »Denken Sie sich, was dieser Pole gewagt hat,« brach sie aus. »Gestern traf er mich auf der Straße und ging mit mir. Und er klagt mir, daß ihn seine Geliebte verlassen habe. Als ob mich das was anginge. Sogar geheult hat er dabei. Und so dumm bin ich, – ich tröstete ihn sogar. Da wurde er plötzlich ganz zudringlich, und schließlich bat er mich, ich möchte ihn in seinem Atelier besuchen. Ich war ganz starr ... Ja und weiter, heute Mittag war er zum Essen da und bevor er ging, schob er mir mit frechem Grinsen seine Visitenkarte hin. Was soll ich thun! Ich bin ganz außer mir. Mich darf jeder beleidigen. Wer nur will, darf mich verleumden, – ich weiß gar nicht, was ich anfangen soll.« Selten sprach sie so schnell, wie jetzt. Ohne Falks Antwort abzuwarten, stand sie auf und sagte: »Mich friert. Ich will hinauf. Ich bin ja dumm. Ich darf das nicht thun – da sitzen bleiben.« Falk packte sie am Handgelenk und zog sie auf die Bank zurück. »Eine Minute noch. Mit diesem Kerl will ich schon fertig werden –« Sie fiel ihm ins Wort. »Um Gottes willen nein! Fangen Sie nichts an. Um meinetwillen dürfen Sie das nicht thun. O wenn Sie wüßten!« Ihre drückende Lage machte sie elend; so fühlte sie sich mehr als je abhängig vom Oberst, trotzdem sie wünschte, daß mit ihm alles zu Ende sei. Ein leiser, haltloser Argwohn erwachte durch ihre Angst in Falk. Dieser Argwohn war es, der von nun ab neben ihm einherging wie sein Schatten. »Ist es denn wahr,« begann er nach langem Schweigen, »was die dicke Erdmann, – ach die dunklen Andeutungen, die immer soviel sagen sollen und nichts sagen. Doktor Brosam sagte – –« Er brach ab, denn er bedachte, daß auch dieser nichts bestimmtes ausgesprochen hatte. Mely wandte sich ihm mit einem Ruck zu. »Was hat er gesagt? Ich bitte Sie, – was?« »Ach –!« »Nicht ausweichen! Seien Sie aufrichtig, sagen Sie mir alles!« »Das kann ich nicht,« entgegnete Falk kopfschüttelnd. Wieder war es der Argwohn, der ihm dies entlockte. Und er bereute, als er die Wirkung seiner Worte sah. »Ich weiß schon,« erwiderte Mely tonlos, erhob sich und ging. Ihr Gesicht war totenbleich geworden. Falk folgte ihr nicht. Erst nach geraumer Zeit stand er auf. Im Wohnzimmer oben saß Mely am Fenster. Sie war allein. Den Ellbogen hatte sie auf das Brett der Nähmaschine gestützt, und Falk konnte ihr Gesicht nicht sehen. Es war durch die Hand verdeckt. Wiederum durchzuckte es ihn: Heuchelt sie denn bloß? Lange Minuten stand er dicht vor ihr, ohne Worte zu finden. Wie ein kleines Mädchen war er errötet, und sein Herz schlug vor Angst und Erwartung. Mely empfand nichts von dem Schmerz, den ihr Gebahren vermuten ließ. Es war alles dunkel vor ihr, und nur die eine Frage überlegte sie fortwährend: was wird er jetzt thun? Aber dennoch, dieser Ausdruck des Kummers war nicht Verstellung. Es war die tiefe Trauer über ihre Hülflosigkeit und vor allem die Angst, daß das Große, Herrliche, von dem sie in all den letzten Tagen geträumt, nicht in Erfüllung gehen möchte. Da fühlte sie die warme feuchte Hand Falks an ihrem Handgelenk. Er versuchte den Arm herunterzubiegen, die Hand vom Gesicht zu ziehen, damit er ihr Gesicht sehen könne, aber sie widerstand. Heiße Worte wollte er ihr sagen, doch er vermochte sie nicht über die Lippen zu bringen. »Lassen Sie mich,« flüsterte das junge Mädchen leidenschaftlich, »ich will nicht.« »Welch ein Narr bin ich,« stammelte Falk. »Warum mußte ich Ihnen das sagen. Wie dumm, wie gemein war das! O wie gemein von mir. Wie können Sie mir verzeihen. Sie glauben vielleicht, daß ich Ihnen wehthun wollte, und das ist doch gar nicht wahr. Antworten Sie mir: sind Sie mir gram? Sind Sie bös?« Zehnmal wiederholte er die Frage und versuchte, ihr von unten ins Gesicht zu blicken, aber sie erwiderte kein Wort. Weint sie denn? dachte Falk, und sein Schrecken, seine Erregung nahmen zu. Wie ein Feuer brannte es in seinem Herzen. Ihr Schweigen machte ihn ungeduldig und verzagt. Schließlich ließ er ihren Arm los, weil er fürchtete, dies könne sie verletzen. Er schalt sich roh, obwohl er doch nichts gesagt hatte, als dieses: Ich kann nicht. Klein und knabenhaft erschien er sich neben ihr. Endlich erhob sie den Kopf. »Glauben Sie denn das?« fragte sie mit feuchtschimmernden Augen. Das Flehende ihrer Stimme machte ihn weich. Er verstand, was sie meinte. Und die Vorstellung, daß dies Unausgesprochene möglich sein könnte, erschien ihm als ein so grenzenloses Unglück, daß ihm der bloße Gedanke phantastisch und verbrecherisch vorkam. Noch vor einer Woche, noch vor drei Tagen hätte ihn das ganz kühl gelassen und jetzt erschien er sich wie ein Lump, daß er nur daran zu rühren gewagt hatte. Aber trotzdem, in der Tiefe seiner Seele rief immer noch der Zweifel. Er empfand ihn stets, etwa wie man ein vergessenes Vorhaben empfindet, mit einem beständig nagenden Gefühl. »Ach, ich ärgere mich,« sagte Mely plötzlich und lächelte scheu. »Worüber? Worüber ärgern Sie sich?« Sie schwieg. Er fragte wieder und wurde dringender. Verlegen wehrte sie ab und flüsterte: »Nicht jetzt; heute Abend sollen Sie es wissen. Aber werden Sie auch bald kommen?« »Woher wissen Sie, daß ich ausgehe?« Sie errötete. »Frau Bender sagte, Sie hätten eine Einladung.« »Ich komme bald,« erwiderte er, beglückt vor sich hinsehend. Sie schien jetzt heiter zu sein. Träumerisch blickte sie die Straße hinab. Schnee, nichts als Schnee. Auch der Himmel war schneefarben und hing niedrig. Von den Dächern der Häuser schien man ihn mit der Hand berühren zu können. Es begann zu dämmern. Falk setzte sich ans Klavier und spielte. Er war kein Meister auf dem Instrument, aber heute lag eine ganz fremde Glut in seinem Spiel. Wie klagend, wie prachtvoll waren die Moll-Akkorde, mit denen er eine alte Melodie einleitete. Die Sonne ging unter. Der Spiegel, der dem Fenster gegenüber lag, war rot, eine Mischung von Tinte und Purpur; er glich einem großen Blutfleck bei der zunehmenden Dämmerung. Falk brach plötzlich sein Spiel ab, stand auf, lachte nervös und ging trällernd um den Tisch herum. Besorgt und befremdet sah ihm Mely zu. »Das mit der Million ist eigentlich hübsch,« sagte er. »Ein hübscher Traum. Und wissen Sie, was ich mir ausgedacht habe? Aber Sie dürfen nicht lachen. Wir würden uns ein Schloß im Schwarzwald bauen, ganz für uns allein und einen Park dazu und Tannen. Und Pferde und Hunde und Himmel was weiß ich. O, es würde wundervoll. Und an das Parkthor würden wir ein Schild nageln: Besuche verbeten. Wollen Sie?« Mely lächelte etwas unsicher. Ihr war, als mache er sich lustig über sie. Aber ihre Augen glänzten. Nichts ist herrlicher als das, wollte dieser Glanz sagen. Der Blick, mit dem sie den jungen Schwärmer ansah, war voll von einer treuherzigen Bewunderung. Aber bald schüttelte sie betrübt den Kopf. »Ach, wozu kann es führen,« sagte sie traurig. »Es ist keine Hoffnung, gar keine.« Frau Bender kam und hinter ihr Helene, die noch spöttischer als sonst dreinsah. Die Hausfrau machte Licht. »Sehn Sie mal her,« sagte sie, eine Faunbüste, die sie mit hereingeschleppt hatte, der Lampe zuwendend, »ist das nicht schön?« »Das hat mein Vater gemacht,« erklärte Helene, vor Stolz errötend. Sie betete ihren Vater an. Und nun bewunderte man den Faun, der wohl viel urwüchsiges Können, aber wenig Künstlerschaft verriet. Es war zu viel Detail in dieser läppisch grinsenden Fratze. – Als Falk am Abend ausging und die Korridorthüre schließen wollte, kam ein junges Mädchen die Treppe herauf. »Bitte, ist meine Schwester zu Hause?« fragte sie kokett. »Wer ist das, Ihre Schwester –?« »Mein Name ist Mirbeth,« erwiderte die Dame spitz, als ob sie beleidigt sei, daß man sie nicht kenne. Falk machte ein verblüfftes Gesicht. Er öffnete, ließ jene eintreten, und das ironische Schmunzeln des Fräuleins nicht beachtend, ging er die Treppe hinab. Der Gedanke, daß Mely gelogen haben könne, erschien ihm unwahrscheinlich. Warum sollte sie leugnen, eine Schwester zu haben? Allerdings, diese Schwester schien ein lockerer Zeisig zu sein.... Er dachte nicht viel darüber nach; aber seine feierliche Stimmung war zerstört. – So gänzlich allen Sorgen entfremdet war Mely, daß den ganzen Abend hindurch ein Lächeln, das gleichsam erwartungsvoll war, nicht von ihren Lippen wich. Sie redete nicht viel, – es war nicht ihre Art, viel zu reden – aber sie befand sich wie in einer Welt der Märchen. Fern, fern von aller Kleinkrämerei, von allen Brotsorgen. Ohnehin war es ihr sehr schwer geworden, zu glauben, daß einmal der Tag kommen könnte, wo sie nicht genug zu essen haben würde. Abenteuerlich und romanhaft erschien ihr ein solcher Gedanke. Sie wußte, daß es Arme in dieser großen Stadt gab, daß es Leute gab, an deren Thür der Hunger stand. Aber was waren das für Leute! Was ging das sie an? Ameisen waren das für sie, vor denen sie wohl eine gewisse Angst hatte, wie sie auch Angst vor Not und Mangel empfand. Aber im Grund fühlte sie sich erhaben über die quälenden Kämpfe ums Brot. Heute erschien ihr auch das alles unwichtig und kleinlich. Eine ganz neue Kraft war in ihrem Blick, wie wenn in ihrer Seele eine Leier berührt worden wäre, deren Saiten bis jetzt noch nicht erklungen waren. Ihr Gang war lässig, wie willenlos, und sie schien gleichsam gedrückt von einer Fülle innerer Heiterkeit. Sie spähte nicht hinaus in die Zukunft. Dicht vor ihr und dicht hinter ihr war alles dunkel; sie fand sich abgeschnitten von dem breiten Strom des Lebens. Nur in ihrem Innern war strahlendes Licht. Als Falk gegangen war, und dann auch ihre Schwester sich verabschiedet hatte, stand sie lange unter der Küchenthüre und unterhielt sich mit Frau Bender über verschiedene Kochrezepte. Aber was sie dabei sagte, geschah nur mechanisch, ihr nach innen gewendeter Blick war wie geblendet von der Leuchtkraft eines beglückenden Bildes. Zum Abendtisch erschienen das Fräulein von Erdmann und die neue Pensionärin: Fräulein von Mahnke. Als Jene das Zimmer betrat, hielt sie sich erschreckt die Nase zu und lief stöhnend zum Fenster, um es aufzureißen. Fräulein von Mahnke rückte ihre Perrücke zurecht, machte eine jugendliche Geberde des Schmollens und lispelte: »Ach Gott, schließen Sie doch das Fenster, liebstes Fräulein. Wir leben ja nicht am Äquator.« Emilie von Erdmann nahm eine dramatische Pose an und sagte nicht ohne Strenge: »Die Jugend lebt eben stets am Äquator. Man muß es nur verstehen, jung zu sein.« Plötzlich aber breitete sie die Arme gegen die Winternacht aus und seufzte tief. »Die Sterne, die Sterne, o Gott! Man begehrt sie doch! Das homerische Amphimelas erfüllt sich ganz an mir!« »Sie sind sehr gelehrt,« bemerkte die Mahnke tiefsinnig. Fräulein von Erdmann knixte. »#Les beaux esprits se recontrent#, Verehrteste.« Sie schloß das Fenster wieder, setzte sich an den Tisch und ganz nach Katzenart faßte sie Melys Hand und blickte sie innig an. »Wo ist der schwarze Zigeuner?« fragte sie süß. »Der dunkeläugige Don Juan –?« Mely stand schnell auf und verließ unter irgend einem Vorwand das Zimmer für kurze Zeit. Ach, sie wissen es alle, dachte sie beim Hinausgehen. Aber es ist mir gleichgültig. Mögen sie es wissen. Jetzt dürfen sie mich doch nimmer beleidigen. Das Gefühl ihrer Wehrlosigkeit war verschwunden. Schon um neun Uhr kam Falk. Fräulein von Erdmann nahm ihn ganz in Beschlag. Sie überfiel ihn mit Komplimenten, die ihn anregen sollten, ihr mit gleicher Münze zu bezahlen. Aber er war verstockt, ihre koketten Künste sah sie wirkungslos an ihm abprallen. Sie erzählte ihm die »Tragödie ihres Lebens,« und die Tragik dabei glich freilich sehr den Kriminalromanen mit komplizirter Handlung, die bei uns im Schwange sind. Ihr Leben sei ein ewiger Herbst gewesen, ein ewiger November. Ein unerbittliches Fatum habe sie verfolgt seit den Tagen der Jugend. Nur ihr unbeugsamer Stolz habe sie über die Wogen getragen. »Hunderte von Männern haben sich liebestammelnd auf dem Erdboden vor mir gewunden, aber ich habe verzichtet – hahaha! – und habe doch noch die Fähigkeit zu lieben bewahrt und kann es darin mit Jeder aufnehmen!« Hier bekam Mely einen finsteren Blick. Die Damen erröteten wie auf Kommando, und Falk machte ein betrübtes Gesicht. Als sich um zehn Uhr die beiden alten Fräulein empfahlen, fühlte er sich wie zerschlagen. Frau Bender legte sich ihrer Gewohnheit gemäß auf den Divan, um zu schlafen. Es wurde plötzlich sehr still. Helene nahm ein Skizzenbuch zur Hand und entwarf eine Phantasielandschaft, und Mely und Falk spielten Halma. Sie saßen sich an der Tischecke einander gegenüber. Das Spiel machte geringe Fortschritte, denn sie führten eine seltsame Unterredung, eine wortlose. Oft begegneten sich ihre Hände beim Führen der Steine und dann lächelten sie wie Kinder, beide auf einmal. Die Ruhe, die nun plötzlich eingetreten war, hatte etwas Erlösendes. Die Winternächte sind ja viel stiller, als die des Sommers. Sie haben in viel höherem Grad den Reiz träumerischen Behagens. »Wissen Sie nicht mehr, was Sie mir versprochen haben?« fragte Falk. Mely nickte errötend. »Später – später,« stammelte sie, glücklich, daß er sich noch daran erinnerte. Gar nicht mehr an das Spiel denkend, lehnte sie sich zurück und blickte gespannt ins Lampenlicht. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht,« sagte Falk geheimnisvoll, mit leuchtenden Augen. Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche. »Ich habe Verse gemacht. Halten Sie das für möglich? Vorhin, wie ich so durch den Schnee gewatet bin da draußen an der Theresienwiese, da ist mir das eingefallen, blitzschnell. Und um es nicht zu vergessen, hab’ ich mich unter einen Laternenpfahl gestellt und habs mit dem Bleistift hingekritzelt.« Noch lange bewahrte Falk dieses Bild in seinem Gedächtnis: das junge Mädchen in dem hyazinthenfarbenen Schlafrock, mit dem bleichen Gesicht, wie sie, dicht neben ihm, sich mit einem Blick des Entzückens über das Blatt beugt. Falk rückte noch näher heran und sie lasen zusammen. Dir will ich geben mein erstes Lied, Dir will ich mein Sterbelied weihn. Und es soll ein Werbelied sein Für Alle, die es zur Sonne zieht. Ach wie ein ewig schmerzender Zahn Mich bitter des Lebens Not verdrießt. Doch bis meine Lippen der Tod verschließt, – So lange bin ich dir unterthan. Sie lasen es wieder, immer wieder. Mely konnte sich gar nicht satt daran lesen. All das Glück ihrer Träume war im Nu auf sie gestürzt und drohte sie zu ersticken. Ihre Hand packte krampfhaft das Polster des Sessels und da fühlte sie auf einmal die Hand Falks auf der ihren: Langsam streckte sie die Finger und schloß die Augen. Sie blieb äußerlich ruhig und regungslos; doch ihr war, als drücke sie seine Hand weit hinab, wo ein wunderliches, unirdisches Rauschen um sie her entstand, – in einen Strom hinab. Noch klang ihr die Melodie im Ohr, die er am Klavier gespielt, als es gedämmert hatte und eine schmerzliche Begehrlichkeit erwachte in ihr, diese Melodie noch einmal zu hören. Das Herz war ihr so schwer wie ein Stück Blei. Wie ist es möglich? dachte sie sich. Wie kam das so schnell, so unerwartet? O, es wird mich unglücklich machen, es ist ein Unglück, ein großes. Länger als eine Viertelstunde saßen sie mit aufeinandergepreßten Händen. Oft zuckten sie zusammen, wie unter schwachen, elektrischen Schlägen. – »Wollen wir noch Thee kochen?« fragte Helene, von ihrer Arbeit aufsehend. Ihr Gesicht glühte in Begeisterung für diese Phantasielandschaft, – eine echte Dilettantin. »Ja, Helene!« rief Mely freudig. »Lassen Sie mich nur alles holen!« »Und ich will Ihnen leuchten,« sagte Falk. Helene lachte ihn verstohlen an. Im Korridor schrie Mely laut auf. Falk eilte mit dem Licht nach und Helene steckte den Kopf in die Thürspalte. Zitternd stand das junge Mädchen da und sah der Katze nach, die sie erschreckt hatte. Falk lächelte heldenmütig. »Ach, Sie fürchten sich vor Katzen?« fragte er, während die kleine Bender ihr Köpfchen kichernd zurückzog. »Nein; fürchten nicht. Aber sie ist vom Schrank gesprungen und hat meine Hand gestreift. Und wenn ich eine Katze berühre, das macht mich ganz krank.« »Da werden Sie nie einen Mann bekommen.« »Das mag wohl sein,« gab Mely nachdenklich zurück. Und sie sah ihn wieder mit diesem fremden und zugleich vertrauensvollen, hingebenden Blick an. Es lag dabei wie ein Geheimnis in ihren Augen, den verschleierten. Sie kniete am Küchenschrank nieder, um die Tassen herauszunehmen. Sie that es langsam, in großen Pausen. Von der Kammer nebenan hörten sie das schlafende Dienstmädchen schnarchen. »Aber jetzt müssen Sie es sagen. Worüber haben Sie sich geärgert?« Falk beugte sich ganz zu ihr nieder. »Es ist dumm, es ist wirklich dumm,« erwiderte Mely. »Nein, nein,« beharrte sie bei seinem Drängen, »es ist zu dumm.« Er hörte auf, sie zu bestürmen und darüber war sie unzufrieden, so daß sie es jetzt aus freien Stücken bekannte. Sie senkte den Kopf noch tiefer und flüsterte: »Ich habe mich geärgert, weil Sie mich weinen gesehen haben.« Er sagte nichts darauf, aber für einige Sekunden schloß er die Augen. Seltsam, selbst mit geschlossenen Augen sah er sie vor sich knieen. Es drängte ihn, ihren Hals zu umfassen, um sie zu küssen, aber nur auf das Haar. Warum kniet sie so lange? grübelte er. O, sie ist ein Rätsel für mich. Noch über eine Stunde blieben sie im Zimmer bei einander sitzen und Falk erzählte den beiden Mädchen lächelnd die Geschichte vom großen Klaus und vom kleinen Klaus. Es war schon Mitternacht, als sie zu Bett gingen. Helene war so schläfrig geworden, daß sie die beiden nicht einmal hinausbegleitete. Vor Melys Schlafzimmerthüre blieben sie stehen. Ohne zu sprechen blickten sie sich fassungslos an. Dann ergriff Falk Melys Hand und zog sie an seine Lippen. Sie wehrte sich ungestüm. »Nicht – bitte, bitte, – nicht das!« – Es war ein aufrichtiger Laut des Jammers. Er aber küßte die Hand. IX. Es war wenige Tage nach Weihnachten. Das Geläute der Sonntagsglocken erweckte Fräulein von Erdmann aus ihrem Morgenschlummer. »O Gott,« murmelte sie zerstört, »diese katholischen Städte sind fürchterlich!« Und sie stieß die Arme in die Höhe und schüttelte die Fäuste. Das Mädchen brachte den Kaffee. Auf dem Servirbrett lag ein Couvert. Das Fräulein öffnete es: Frau Bender bat dringend um die Bezahlung der rückständigen zweihundertfünfzig Mark, oder wenigstens eines Teils. »Wisch!« machte die übelgelaunte Dame, zerknitterte das Papier und warf es von sich. Bald erschien Fräulein von Mahnke, um ihre Morgenvisite abzustatten. Vorsichtig zwischen den herumliegenden, schmutzigen Wäschestücken, Zigarrenschachteln, Unterröcken und Briefschaften hindurchschreitend, gelangte die greise Dame zum Bett des Fräuleins. »Nun, Sie haben sich recht hübsch da eingenistet,« bemerkte sie anerkennend. Bei sich jedoch dachte sie: Welch ein Stall! Und die Bewohnerin ist die reinste Vogelscheuche. Die starrenden Haare, dies dicke Gesicht – puh. Ein Schwamm, eine Fettblase. »Wie mich das freut, daß Sie gekommen sind,« versicherte Fräulein von Erdmann. »Und wie reizend Ihnen das Kleidchen steht – berauschend – #parole d’honneur#.« Sie dachte jedoch: was thut denn die alte Schachtel jetzt schon da? Dies Kleid ist für einen Backfisch. Kurze Ärmel, – lächerlich! Dabei braucht sie einen Stock, um gerade gehn zu können. Puh, ihr ganzes Gesicht ist _eine_ Malerei. Diese alten Jungfern sind schrecklich. »Sie bewundern meine schönen Arme?« fragte sie, als sie den Blick des Fräuleins von Mahnke auf ihren entblößten Armen ruhen sah. »Ja, das kann ich Ihnen nicht verdenken,« fügte sie seufzend hinzu, ohne eine Antwort abzuwarten und sah mit heimlicher Ironie auf die dünnen Ärmchen des alten Fräuleins. Das sollen Arme sein? dachte die Mahnke. Würste sind es, dicke, plumpe Würste. »O der Begriff: schön ist doch sehr individuell, man kann schon sagen willkürlich,« sagte sie mit einer seltsamen Mischung von Demut und Haß. Fräulein von Erdmann streichelte liebevoll ihren Arm. »Vergessen Sie nicht, meine Teure,« erwiderte sie, überlegen lächelnd, »daß der berühmte Bildhauer – na! sein Name ist mir jetzt entfallen – vor meinen Füßen gelegen hat und mich bat, ihm meinen Arm für eine Venusbüste modelliren zu lassen. Ich schlug es aber aus. Warum den profanen Augen der Menge preisgeben, was solange unentweiht in stolzer Heimlichkeit keinem menschlichen Auge zu sehen vergönnt war? Das war zu jener Zeit, wo Fürst Lubanoff, – ein Kavalier ersten Ranges – mir seine Hand anbot und Graf Lajos Waldenburg mit dem Marquis Etienne de Grève jenes berühmte Duell hatte. Und wissen Sie warum? Es ist lächerlich, es zu erzählen. Ich hatte im Theater meinen Handschuh aus der Loge ins Parterre fallen lassen und dem Marquis, der ihn mir brachte, eine Blume ins Knopfloch gesteckt. Komisch wie?« Mit teuflischem Lächeln musterte sie die gebrechliche Gestalt des Fräuleins von Mahnke. Dann aber begann sie plötzlich zu wimmern. »Ach, das ist vorbei! Was ist aus mir geworden! Ich kann keine Nacht mehr schlafen. Heute Nacht, – sehen Sie die verbrannten Papiere in der Waschschüssel? – heute Nacht wollte ich meinem Leben ein Ende machen. Sie erschrecken?« Mit einem Satz sprang Fräulein von Erdmann aus dem Bett und wanderte unbeschuhten Fußes aufgeregt umher. »Erschrecken Sie nur. Aber ich habe dies Leben gründlich satt! Dreimal verflucht sei dies unerbittliche Schicksal, das mich verfolgt, dieser Vampyr, – o Gott!« Und sie stampfte auf den Boden, daß die Fenster klirrten und die Tassen auf dem Servirbrett tanzten. Fräulein von Mahnke machte sich immer kleiner, sie schrumpfte förmlich zusammen. »Liebstes, bestes Fräulein!« fuhr die dicke Dame fort, »ich habe Romane hinter mir, – die Phantasie eines Dante ist kindisch dagegen. Immer bin ich nur einem nichtigen Phantom nachgerannt und das Glück habe ich von mir gestoßen, bis es – futsch! – nie mehr kam. Amphimelas! Amphimelas! Das ist der Hohn des Lebens!« »Um Gotteswillen, mäßigen Sie sich doch, Teure!« beschwichtigte die Mahnke beinahe heulend. »Bedenken Sie doch Ihre Nerven!« »Und nicht schlafen können, nicht essen können, – wenn man so jung ist, so lebenskräftig, so liebeskräftig, – o es ist grausam! Und dann noch die Sorge ums Allernötigste, der Kampf mit dem Drachen Not, – es ist himmelschreiend. Ich habe ja nichts mehr« – plötzlich wurde ihre Stimme ganz sanft und schmelzend – »nichts woran ich mich aufrichten kann, außer einem. Wissen Sie, daß ich ihn liebe, daß ich ihn anbete, vergöttere, – den jungen melancholischen Zigeuner, Vidl Falk –? Ich liebe ihn wahnsinnig!« Und sie schleuderte einen Strumpf, der auf dem Tisch lag, durchs Zimmer, daß er am Spiegelrahmen hängen blieb. »Aber wissen Sie auch, daß dieses Haus eine Schlange beherbergt, ein niedriges und verworfenes Geschöpf, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, diesen jungen, herrlichen Menschen in ihre Netze zu locken? Wir, bestes Fräulein, wir, die wir Vertreterinnen der Intelligenz, der Bildung und Moral hier sind, wir müssen dafür sorgen, daß dem Treiben dieser Dame Einhalt gethan werde. Meinen Sie nicht? Sie stimmen mir doch bei?« Die gepuderten Wangen des älteren Fräuleins färbten sich mit dem Rot sittlicher Entrüstung. »Denken Sie,« fuhr Emilie von Erdmann fort, »neulich kam diese nette Dame zu mir herein. Weinend fällt sie auf die Ottomane und als ich sie frage, was denn los sei, antwortet sie schluchzend, der Herr Oberst, – ich bitte Sie, der »Herr« Oberst – sei ihrer überdrüssig geworden und darüber sei sie ganz verzweifelt. Stellen Sie sich meine Indignation vor. Natürlich, jetzt geht sie einer höchst unsicheren Zukunft entgegen und da heißt es: einen Mann angeln. Was sagen Sie dazu? Frau Bender kann Ihnen übrigens die ganze Komödie ausführlich berichten.« Erregt und empört verließ Fräulein von Mahnke das Zimmer der noch immer im Hemd promenirenden, verliebten Dame. Das erste, was sie unternahm, war: bei Frau Bender die Wohnung zu kündigen. »Es ist mir unmöglich, mit Personen obskuren Charakters in einem Hause zu logiren, liebe Frau Bender,« sagte sie bekümmert. Dann flüchtete sie in ihr Gemach und griff mit tendenziöser Hast nach dem Riechfläschchen. Eintönig verlief das Mittagsmahl. Selbst Fräulein von Erdmann sprach wenig. Der Pole war der Einzige, der redete, obwohl ihm niemand zuhörte. Um zwei Uhr waren Mely und Falk allein. Helene war ausgegangen. Frau Bender schlief; sie schlief wohl vierzehn Stunden im Tag. Sie sprachen nichts, beide. Wieder entstand jene wortlose Konversation, die nur in Blicken besteht. Es ist ein stilles Hinüber- und Herüberträumen, so wie die Welle von Ufer zu Ufer schaukelt. »Was für eine schöne Hand haben Sie,« sagte endlich Falk. Er stand auf wie unter einem glücklichen Gedanken und nahm eine Feder vom Schreibtisch. Dann ergriff er lächelnd ihre Hand und sie ließ es willenlos geschehn. Er schrieb auf die zarte Haut des Handrückens in kleinen, feinen Buchstaben: »Hier ruhten zwei Wandrer aus nach hartem Kampfe.« Verständnislos und ängstlich sah ihn Mely an. »Wissen Sie nicht, was ich meine?« neckte Falk. Da begriff sie. Aber sie zeigte nicht, daß sie es verstehe, sondern that, als könne sie es immer noch nicht fassen. Da nahm er noch einmal ihre Hand und drückte die Lippen auf die Stelle, die er beschrieben hatte. Mely sträubte sich nimmer. Sie seufzte tief auf und grub die Zähne in die Unterlippe, starr auf das weiße Tischtuch blickend. Ihr Gesicht erschien noch blasser durch den Reflex des Schnees auf den Dächern. »Ich muß fort,« sagte Falk nach langem Schweigen. »Ich darf es nicht aufschieben; es handelt sich um einen wichtigen Gang.« »Aber wann kommen Sie wieder?« fragte Mely beunruhigt. »Vor neun, halb zehn kaum.« Sie entgegnete nichts. Sie senkte den Kopf so tief, daß Falk von ihrem Gesicht nichts mehr sehen konnte. In ihrer Hand ließ sie eine der kleinen Thonkugeln, mit welchen die Kinder spielen, unausgesetzt hin- und herlaufen. Bisweilen bebte sie wie vor Frost. »Was haben Sie denn, Mely?« fragte Falk und nahm ihre Hände zwischen die seinen. Die kleine Kugel rollte zu Boden. Mit einer schmerzlichen und gänzlich verzweifelten Geste erwiderte Mely: »Ach! – weil Sie jetzt schon wieder fortgehn!« Ungestüm erhob sie sich, ging zum Fenster und legte dort die Hand vor die Augen. Sie nahm ihr Taschentuch und zerknüllte es. Ihr Herz war voll zum Zerbrechen. Wie einen Strom bittern Leids fühlte sie es in der Brust und dies gab sich als körperlicher Schmerz kund. Sie bereute, was sie gesagt und sie fürchtete Falks Erwiderung. Zugleich aber wartete sie angstvoll darauf. Er trat zu ihr und legte schüchtern seinen Arm um ihre Taille. »Sei vernünftig,« sagte er sanft und rasch. »Nicht zürnen, bitte! – nicht böse sein,« (offenbar wollte er das du nicht wiederholen). »Ich muß ja wirklich fort.« »Nein – nein!« erwiderte Mely mit dem Ausdruck eines Kindes, das gezüchtigt zu werden fürchtet. Der Kummer, den sie empfand, machte Falk ratlos. »Dann will ich bis sechs wieder da sein,« sagte er nachgiebig. Mely entzog sich ihm hastig und setzte sich auf den Divan, wo sie das Gesicht mit beiden Händen bedeckte. Ihr war, als hinge all das junge Glück davon ab, daß er bliebe. Und doch fühlte sie auch, wie kindisch das sei, und daß er nicht nachgeben dürfe, um von dem Unnahbaren, Bewunderungswürdigen, das er – Gott weiß wodurch – in ihren Augen besaß, nichts zu verlieren. Aber Falk war schwach; er gab nach. Er bat sie, mitzugehen; im Vorbeigehen wollte er sich bei den Leuten entschuldigen. »Und dann streunen wir ein wenig,« meinte er lächelnd. Mely sah ihn von unten herauf mit einem schnellen, leuchtenden, verheißungsvollen Blick an. Falk trat dicht vor sie hin und berührte mit den Lippen ihr Haar. »Nicht doch! Um Gotteswillen nicht hier!« rief Mely erschrocken. Aber er machte nur eine gleichgiltige Handbewegung. »Wie seltsam duftet das Haar,« sagte er. »Ich glaube, das kann man nie vergessen. Und wie es aussieht, – dies dunkle Wirrsal, ein wahrer Strudel, – und doch geordnet. Es ist eine sehr ordentliche Unordnung. Und diese eine, dicke Locke auf der Stirn sieht aus wie ein Fragezeichen. Sie kommen mir vor wie ein Buch und diese Locke ist der Titel: ein Fragezeichen.« Wie ein glückliches Leuchten huschte es über ihr Gesicht und aller Kummer verschwand auf einmal. »Kennen Sie das Märchen von der Prinzessin?« begann er wieder. »Die kommt an die Stadt und das Thor ist geschlossen. Und der König selbst geht und öffnet das Thor, damit die Prinzessin herein kann ..... das kennen Sie nicht? Sehen Sie, das sind wir. Nur bin ich in diesem Fall die Prinzessin und Sie der König. Wie hätte ich auch sonst zu Ihnen kommen können, wenn Sie nicht eigenhändig das Stadtthor aufgemacht hätten! Ach, es ist närrisch, nicht? Es ist phantastisch,« murmelte er, sich selbst bespöttelnd und wie zerknirscht von dieser Kritik. Die Thür öffnete sich und die Leisetreterin Helene in Hut und Mantel kam herein. Und obwohl sie ganz harmlos bei einander saßen wie Leute, die sich vom Wetter unterhalten, erröteten Falk und Mely zu gleicher Zeit. Diese Verlegenheit steigerte sich so sehr, daß Falk, der aufgestanden war, mit den Fingern das Rad der Nähmaschine so lange drehte, bis die Nadel knackend brach. – Später saßen sie allein in einem Seitenzimmerchen des »Marco Polo«. Sie sprachen über die Zukunft, – immer in einer lächelnden und fast romantischen Weise, als ob keines von beiden so recht von Herzen daran glaube und es nur ein Wettstreit sei: wer den schönsten Traum erzählen könne. Mely war innerlich ruhig. Keine Sorge bedrückte sie, obwohl ihr stets gegenwärtig war, daß sie gestern das letzte Geld, das sie besessen hatte, Frau Bender gegeben und daß sie nun aller Mittel entblößt war. Sie war nicht leichtsinnig, aber wie die Wärme des Frühlings das Eis auftauen läßt, so schmolz all das Harte, Winterliche, Frostige ihres Lebens dahin vor dieser Wärme, die jetzt ihre Seele erfüllte. Bisweilen nur fühlte sie ein schweres Entsetzen, – ein kurzes Erwachen aus tiefem Schlaf. Oftmals brachte sie den größten Teil der Nacht wachend zu und da war sie voll von einer Schwermut, die sie weit emporhob über die Nahrungssorgen. Als sie den Theesalon verließen, dämmerte es schon und schon brannten die elektrischen Bogenlampen. Rötliche Leuchtkugeln, hingen sie mitten im Winternebel, und oft flackerten sie und wurden rot oder violett. Dies Aufflackern und Zusammensinken hatte etwas von dem Flügelschlag eines sterbenden Vogels. »Was haben Sie denn?« fragte Falk das junge Mädchen, das sichtlich zitterte und wie eine Schlafwandelnde dahin ging. »Mir ahnt ein Unheil,« sagte sie leise und trostsuchend. Als sie um die Ecke der Maffeistraße bogen, wurden sie durch das heftige Gebell eines Hundes erschreckt. Es war Pitt, der auf ungestüme Art seine Freude zu erkennen gab und an Mely emporzuspringen versuchte. Sie lächelte zuerst dem Tiere ein wenig zerstreut zu. Falk wollte sich niederbeugen, um den Hund zu streicheln, als er voll Entsetzen die Veränderung in Melys Gesicht wahrnahm. Sie war so weiß geworden wie der Schnee und ihre Augen starrten wie trunken, ja wie blöde auf einen einzigen Punkt. Und plötzlich wurde sie so rot, wie Falk sie noch nie gesehen hatte. Ihr Gesicht wurde purpurn, Ohren, Stirn und Hals waren von glühender Röte bedeckt. »Der Oberst,« sagte sie, mühselig lächelnd. Dieses mühevolle, bedrückende Lächeln empfand Falk wie einen Schnitt ins Fleisch. Die Angst, die Scham und die Verzweiflung und der Trotz waren so deutlich darin ausgeprägt, daß sie wie ein Bild der Zerrissenheit aussah. Der Oberst war jetzt auf vier Schritte nahe gekommen und blickte Mely an. Nie in ihrem Leben vergaß sie diesen Blick. Weder Hohn, noch Zorn, noch Bitterkeit lagen darin; aber durch die namenlose Verachtung, die er enthielt, erschien er ihr wie ein Hieb mit der Peitsche. Einer seiner Freunde ging mit ihm, den Mely kannte. Und dieser Mensch stierte sie frech an mit einem breiten, lustigen Lachen, und sein rotes Gesicht glänzte wie bei einem guten Spaß. Wie der Oberst ging auch er vorbei, ohne zu grüßen. Dieser eine Umstand machte Mely ganz schwindlig vor Schmerz. Sie schämte sich so sehr, daß sie nichts thun konnte, als das mühselige Lächeln auf den Lippen behalten. Vor der ganzen Straße voll Menschen, von denen doch keiner auf sie achtete, schämte sie sich, und das Lächeln, das etwas Irrsinniges hatte, schien auf ihrem Gesicht erstarrt zu sein. Falk ging mit ihr in einen Hausflur, wo sie sich an die Mauer lehnte und in die Höhe starrte. Wieder bedeckte eine große Blässe ihr Gesicht, das einen grauen, mehligen Ton hatte. Kraftlos stand sie da. Pitt war ihr gefolgt; das kluge Tier wandte keinen Blick von ihr. »Alles ist aus!« sagte sie leise. Falk war ratlos. »Was ist aus?« »Nun er hat mich gesehen mit Ihnen, – und« ... »Aber das macht ja nichts. Er weiß doch nicht, wer ich bin. Sie können ihm doch sagen ...« »Ach, wenn Sie wüßten! Er vermutet jetzt das Allerschlimmste. Er hat mir ja auch streng verboten, auf der Straße mit jemand zu gehen. Selbst mit einer Dame darf ich nicht gehen. Ich darf keine Freundin haben, nichts. Bah, es ist mir wirklich gleich; jetzt lach ich dazu. Es hat eben so sein sollen, das tröstet mich. Ja wirklich, das tröstet mich. Es wäre ja ohnehin zu Ende gewesen, – natürlich. Aber jetzt ist alles aus.« Diese verworrenen Sätze fielen wie eine wilde Klage von ihren Lippen. Was soll jetzt mit mir werden? dachte sie. Diese Frage folterte sie, daß sie Kopfschmerz bekam. Sie war froh über diese Schmerzen; jetzt verschwand doch das aufdringliche Bild: der lachende Freund mit seinen gelben Zähnen, seinem grinsenden Gesicht. Sie seufzte. Vidl Falk sah seinen Argwohn plötzlich groß geworden. Dieser Argwohn sah mit finsteren Augen aus seinem Versteck heraus. Er war hungrig und verschlang auch Nichtigkeiten, um sich zu sättigen. Aber er wurde niemals satt. X. Eine Stunde darauf hatte Mely den Vorfall vergessen. Der Abend kam, und Falk mußte fortgehen, da er nachmittags die Leute nicht zu Hause getroffen hatte. Er hatte sich verspätet. Als das Nachtmahl vorbei war, stand er auf, verbeugte sich gegen die Damen und wollte hinaus. Da sah er Melys blasses Gesicht mit einem bekümmerten Ausdruck auf sich gerichtet. Lange zögerte er; er wußte nicht, was er sagen sollte, um Frau Bender und Helene dies auffällige Warten zu erklären. »In einer Stunde bin ich wieder da,« murmelte er endlich, ganz zu sich redend, und stürmte hastig hinaus. Helene lächelte spöttisch. Mely war gereizt und fuhr sie schroff an. »Warum lachen Sie denn? Was soll das bedeuten?« Helene zuckte die Achseln. »Wie mißtrauisch sind Sie,« fuhr Mely leiser fort. »Sie sind mißtrauisch, ich glaube aus Vorsatz.« Helene schüttelte den Kopf. Das wollte sagen: Ich habe so viele Erfahrungen, daß ich dergleichen riskiren darf. Ihre glatte, übergroße Stirn leuchtete wie eine geschliffene Platte, und die Augen blitzten streitlustig. Aber sie war viel zu bequem, um zu reden. Sie verschränkte die Arme und sah vor sich hin mit dem unveränderlich klugen Gesichtsausdruck, der ihr eigen war. Frau Bender nähte, besserte die Wäsche aus und seufzte oft aus schwerem Herzen. »Meine Tochter thut gar nichts,« klagte sie etwas schüchtern, als fürchte sie Helenes Erwiderung. Aber die runzelte bloß die Stirn. Mely hatte sich auf den Divan gelegt, mit dem Gesicht gegen die Wand. »Eine Stunde ist lang,« flüsterte sie in sich hinein und horchte auf das Ticken der Wanduhr. Der Wind sauste und Schneekörner knatterten gegen die Fenster. Die Nacht war schwer und kalt. Es war ganz ruhig im Zimmer. Ein Schloß im Schwarzwald, dachte Mely, wie fein! Aber wie kann das sein! Wie kann das jemals Wirklichkeit werden? Er ist so arm wie ich, und wie will er so viel Geld erwerben? Allerdings, wenn er Arzt sein wird ... Aber was thu’ ich da, was für närrische Gedanken sind das! Ich muß mich schämen. Er spielt ja nur mit mir. Ein bischen Zeitvertreib, die Männer lieben das, und alle sind sie gleich; einer ist wie der andere. Wie komisch, – und wozu kann das alles führen. Wie unbegreiflich ist die Liebe, ich verstehe sie nicht. Es ist etwas so Märchenhaftes dabei, so erstaunlich ist es. Nein, ich könnte lachen, und wenn ich an ihn denke, muß ich erröten. Ob er wohl noch so nett ist, wenn wir verheiratet sind? Wie dumm bin ich! Früher einmal, da hatte ich den Oberst ganz gern, aber wie anders ist die Liebe! Ich fürchte mich eigentlich. – Ach, ist denn die Stunde noch nicht vorbei? Die Stunde verflog und Falk kam nicht. Da fühlte sie sich tief unglücklich. Jede Minute, die verstrich, ohne daß er kam, machte sie unglücklicher. Ihr Herz preßte sich zusammen wie unter einem unwiderstehlichen Schmerz, und das Tapetenmuster flimmerte vor ihren Augen. Endlich krachte das Hausthor, und atemlos, immer noch das Gesicht der Wand zugekehrt, lauschte sie den allmählich lauter werdenden Schritten auf der Treppe. Pustend und die Hände reibend, trat Falk ein. »Ah, Fräulein Mirbeth schläft!« sagte er leise, wie um sie nicht zu wecken. Sie wünschte, daß er in diesem Glauben bleibe, und regte sich nicht. Sie glaubte, er müsse sonst die überstandenen Leiden von ihrer Stirn lesen können. »Sehn Sie!« sagte Falk frohlockend: »Gerade eine Stunde.« Schlaftrunkenheit heuchelnd, wandte sich Mely schwerfällig um und gähnte, wie Erwachende zu thun pflegen. »Gar nicht wahr,« sagte sie vorwurfsvoll, »das war viel länger als eine Stunde.« »Neun Minuten mehr,« bestätigte Helene ernsthaft. Lange konnte Mely in dieser Nacht nicht schlafen. Und sie wünschte es auch nicht. Die Nacht war so still, und ihre Sinne waren durch die Ruhe, wie durch das Erlebte so geschärft, daß sie die pfeifenden Atemzüge der Erdmann vom Nebenzimmer vernahm. Es war nichts Bestimmtes, an das sie dachte, kein verlockendes Phantasiebild, sondern eine unterdrückte Erregung hielt sie wach, eine bohrende Unruhe, die sie mit Spannung gegen die kommenden Ereignisse erfüllte. Alle anderen Lebensinteressen waren für sie unbedeutend geworden. Es war nicht der Mühe wert, darüber zu sinniren. Als sie einschlief, war es drei Uhr und erst gegen elf Uhr vormittags wachte sie auf. Dann lag sie noch über eine halbe Stunde mit offenen Augen und mühte sich ab, einem Traum, der ihr entfallen, auf die Spur zu kommen. Sie lächelte in der Erinnerung an diesen Traum, aber sie wußte durchaus nicht, welcher Art er gewesen. Nach dem Mittagessen verwickelte das Fräulein von Erdmann Vidl Falk in ein sinniges Gespräch über die Rubenssche Amazonenschlacht. Mely saß am Fenster. Sie war verstimmt, und die dicke Dame bemerkte es. Instinktiv erriet sie auch den Grund und war um so mehr bemüht, den jungen Mann in die Fäden ihrer Konversation zu ziehen. Plötzlich sprang sie von ihrem Thema ab und sagte: »Ach, beantworten Sie mir einmal eine Frage: haben Sie sich schon einmal verliebt?« Und sie legte vorsichtig ihre Hand auf die seine. Ihre Ohrlappen waren röter als sonst. Dann lachte sie, während Falk seine Hand in Sicherheit brachte. »Wie er schaut! ach! – Sie sind erstaunt über meine Frage?« »O nein, – oder vielmehr ja.« »Reizend! O nein, oder vielmehr ja.« Und wiederum trällerte sie ihr Lachen wie eine Kadenz herunter. Falk runzelte die Stirn. »Warum diese Falte?« fragte die allzulaute Dame; sie schmolz in Hingebung. »Fort damit, sie ist häßlich. Wie kann man ein so finsteres Gesicht machen, wenn man so schöne Augen hat. Nicht wahr, Fräulein Mirbeth? Finden Sie das nicht auch?« Mely bejahte, dann verließ sie langsam das Zimmer, – zögernd, damit es nicht scheine, als ob sie dieser Scene wegen ging. Die Erdmann bog sich ganz zu Falk hinüber. »Ich will meine Frage einschränken,« flüsterte sie. »Sagen Sie: sind Sie verliebt, sind Sie verliebt?« Es war ihre Gewohnheit, jede Frage oder jeden Ausruf zu wiederholen. Sie war jetzt erregt, und ihre Augen funkelten. Falk errötete und lächelte kindisch. »Ich bitte Sie, Fräulein,« stammelte er. Seine Augen blitzten zornig. »Nein, diese Jugend!« gellte die Dame spöttisch und schleuderte die geballte Serviette über den Tisch. Es entstand ein langes Schweigen. »Merkwürdig,« sagte Falk; »wenn solche Verlegenheitspausen eintreten, bin ich nie derjenige, der sie unterbricht.« Das Fräulein starrte ihn verblüfft an und bemühte sich, geheimnisvoll zu lächeln. Als Falk allein war, befand er sich in einer Stimmung, in der ihn jedes Geräusch schmerzte. Wenn streitende Stimmen oder Gelächter von der Straße erschallten, schreckte er zusammen. Wenn ein Hund bellte oder ein Lastwagen rasselte, so versetzte ihn das in unbegreifliche Erregung. Besonders das Hundegebell nahm gar kein Ende. Es dunkelte, als er, von der Stadt zurückkommend, Mely im Korridor traf. Sie stand vor dem Spiegel und richtete das Haar. Sie trug den grüngrauen, großgeblümten Schlafrock, der ihr Gesicht noch bleicher erscheinen ließ. Es war, als wünsche sie mit diesem Kostüm zu sagen, daß es ihr gleichgültig sei, ob sie den Leuten gefalle oder nicht. »Ich mache Kaffee, Fräulein Mely,« sagte Falk. »Wollen Sie mittrinken? In meinem Zimmer natürlich. Wir laden auch Frau Bender und Helene dazu ein.« Mely, die zuerst gezögert hatte, war jetzt freudig dabei. Falk ließ das Zimmer heizen und stellte einen Topf Wasser auf den Spiritusapparat. Als er nach einiger Zeit ins Wohnzimmer trat, saßen Mely und Frau Bender dicht bei einander, und Frau Bender weinte. Sie sah dabei scheu nach ihm, und er hatte das Gefühl, als ob man soeben von ihm gesprochen hätte. Mely stützte den Kopf in beide Hände und sah unbeweglich auf die Tischplatte. Falk rührte sich nicht mehr von der Stelle. Indem er das junge Mädchen ansah, ohne mit den Lidern zu zucken, stieg Zweifel auf Zweifel in ihm auf. Woran er zweifelte, das wußte er nicht. Es war der dunkle Ingrimm eines Menschen, der betrogen zu werden fürchtet, während er bereit ist, sich hinzugeben mit ganzer Seele. Er sagte nichts, sondern ging, nachdem er sich etwas erstaunt geräuspert hatte, in sein Zimmer zurück und zündete die Lampe an. Bald darauf kam Mely. Sie sah bestürzt aus, und als bereue sie ihre Zusage, blieb sie unentschlossen an der Thüre stehen. Falk, gleichfalls befangen, schob einen Fauteuil zum Ofen und lud sie mit einer Handbewegung zum Sitzen ein. »Helene kommt gleich,« sagte Mely, gleichsam sich selbst entschuldigend. »Frau Bender hat zu viel Arbeit.« »Warum hat denn Frau Bender geweint?« fragte Falk, mehr um ein Gespräch anzuknüpfen, als aus Neugierde. Das junge Mädchen lächelte schwermütig und schüchtern. Ihr Blick, sonst ein wenig unstät, war plötzlich sanft und ruhig geworden. »Ich weiß das wirklich nicht,« sagte sie, und Falk bemerkte, wie sie immer noch erstaunt war über das Benehmen dieser Frau. »Sie sagte, – doch wie kann ich Ihnen das erzählen!« »O bitte –!« »Nun gut. Sie lobte Sie, – Sie seien so gescheit und so ein herzlicher Mensch – diesen Ausdruck gebrauchte sie – und ich möchte doch ein wenig lieb zu Ihnen sein. Später bereuen Sie es sonst, sagte sie zu mir. Gar gern läuft das Glück vorbei, auf Nimmersehen. Ja, und auf einmal brach sie in Thränen aus.« Falk erwiderte nichts darauf. Er blickte an Mely vorbei, aber er sah doch, daß ihr Gesicht rot war; nur konnte er nicht unterscheiden, ob es der Widerschein des roten Lampenschirms oder natürliche Färbung war. Eine schwüle Dämmerung herrschte in dem kleinen Gemach und es war sehr still. Am Kaffeekessel zuckten die blauen Spiritusflämmchen und schlugen manchmal gleich Wellen empor. Das Wasser begann zu sprudeln, und Falk ging, um die Flamme zu löschen. Er verrichtete diese Dinge mit ironischer Wichtigkeit. In seinem Innern hatten sich, während er jetzt den Kaffee bereitete, alle trüben Stimmungen geklärt; sie waren zerflattert. Er war Mely dankbar, – doch weshalb? Vielleicht für ihre Offenheit. Denn ein Geständnis lag in dem, was sie ihm mitgeteilt; daran zweifelte er nicht. Als Helene eintrat, knixte sie spöttisch, nahm Platz und sah mit wohlwollendem Ernst umher. »Hübsch – stimmungsvoll!« sagte sie und plötzlich lachte sie in ihrer hölzernen Art. »Nein, – wie Sie dastehen und kochen!« rief sie und schlug die Hände zusammen. Diese Lustigkeit hatte bei ihr stets etwas Unglaubwürdiges. Gar bald dampfte der wohlriechende Kaffee aus den Tassen. »Wie wir jetzt beisammen sitzen, – das ist komisch,« meinte Helene. »Gerade, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Wenn jetzt wer Fremdes käme und zusähe, – er müßte uns für Geschwister halten, – oder so was Ähnliches,« fügte sie hinzu, wieder spöttisch werdend. »Derweil ist der eine aus Norden, der andere aus Süden und der dritte vielleicht aus der Hölle.« »Ich bin doch hoffentlich nicht der Dritte?« fragte Falk unwirsch. »Was Sie da sagen, ist übrigens ganz gut. Aber seltsam, während Sie reden, habe ich immer das Gefühl, als dächten sie bei sich: ach was, die sind ja doch nicht wert, daß ich was Ordentliches rede.« »Ja, – ja!« bestätigte Mely eifrig. »Das wäre sehr keck von mir,« gab Helene obenhin zurück. »Wie verschieden sind Sie von Ihrer Mutter,« fuhr Falk fort. »Sie haben keinen Zug von ihr. Aber man kann Ihnen Glück wünschen zu dieser Mutter, – eine ideale Frau.« Weshalb diese Hymne? fragte er sich gleich darauf etwas beklommen. Man muß abwarten. Dieselbe Frage hatte sich Mely gestellt. In der Küche rief Frau Bender nach ihrer Tochter, und Helene huschte davon. »Ich fühle mich jetzt ganz glücklich,« sagte Mely, tief aufatmend. Und dann sah sie scheu zu Falk hinüber, ob er sie nicht verspotte. Sie begegnete seinem nachdenklichen, fast grüblerischen Blick, der sie zu durchdringen schien. Oder nein, er schien nur zu fragen: bist du wirklich so, wie du jetzt scheinst? Ist dies dein wahres Wesen? O, ich möchte in deine Seele sehen – so redete dieser Blick – wie auf den Grund eines klaren Sees. Falk rückte ihr näher. Sein Schatten fiel auf sie, so daß sie förmlich begraben war in Dunkel. Nur ihre Augen glänzten daraus hervor mit einem feuchten, perlenden Glanz und mit einem kindlich bangen Ausdruck. Nach einer langen Pause sagte sie mit unsicherer Stimme: »Ihr Amor da droben hat ja keinen Kopf mehr.« Er lächelte. »Das ist natürlich. Wissen Sie denn nicht, daß man in der Liebe den Kopf verliert?« Sie schaute ihn verwundert und erschreckt an. Diese Verwunderung, dieses Erschrecken, all das war kindlich. Es erregte ihm ungefähr folgende Empfindung. Als Kind hatte ihm die Mutter bisweilen von der märchenhaften Pracht erzählt, die bei dem oder jenem reichen Manne herrschte. Genau das zweifelnde Entzücktsein und die furchtsame Sehnsucht, die er damals empfunden, fand er jetzt bei ihr. »Sie sind immer so still,« sagte Mely. »Sie reden so selten. Und wenn ich dann was sage und Sie überlegen so lange, da mein’ ich dann immer, ich hätte eine Dummheit gesagt.« Sie hielt inne, wie um zu prüfen, welchen Eindruck ihre Worte machten. Dann fuhr sie fort: »Ich denke mir, Sie müssen immer recht allein gewesen sein. Es hat sich vielleicht Niemand um Sie gekümmert –? Nicht?« »Da haben Sie recht,« erwiderte er mit so langsamer Stimme, als könne er nicht Raum genug finden, um all die Dankbarkeit durchhören zu lassen, die er für ihre Worte hatte. »Und solche Leute, die immer allein sind, verlieren dann allen Maßstab für sich. Ich hatte wohl einen Freund, aber eines Tages mußte ich Geld von ihm leihen und dann ging das so in die Brüche, sehen Sie.« (Warum sage ich das? dachte er. Ich will mich nur putzen: will nur zeigen, daß ich für diese Geldborgerei ein feines Gefühl habe.) »Eine Zeitlang hab ich so gut wie gehungert, das dürfen Sie glauben. Kaum, daß ich manchmal Brot hatte. Denken Sie, was ich vor ein paar Monaten für eine sonderbare Leidenschaft gehabt habe. Jeden Mittag besuchte ich den nördlichen Kirchhof, und sah mir im Leichenhaus die Toten an. Ich hatte dafür das größte Interesse. Ich studirte den verschiedenen Gesichtsausdruck bei den verschiedenen Leichen, und wenn ich mich in Not befand, war es mir eine Wohlthat, stets ein Bild des Todes vor Augen zu haben. Aber das entsetzt Sie?« »Wissen Sie, was ich zuerst gedacht habe, wie ich Sie kennen lernte?« sagte Mely. »Ich hielt Sie für einen großen Weiberfeind. Erinnern Sie sich, wir sprachen einmal bei Tisch von Schopenhauers Aufsatz über die Weiber, und Sie waren so begeistert dafür –« »Ach ja, wie dumm war das!« rief Falk errötend und ärgerlich. »Aber das ist wahr, ich habe mich einmal gefürchtet vor der Liebe. Das glauben Sie nicht?« Mely wandte sich ab, wie um eine Veränderung in ihren Zügen zu verbergen. »Was haben Sie?« fragte Falk, zitternd vor Besorgnis, ihr wehe gethan zu haben. »Bitte, sehen Sie mich an!« Und er ergriff ihre Hand und bedeckte die Finger mit Küssen. Sie seufzte lange, wie Jemand, von dessen Rücken eine gar schwere Last gehoben wird. »Sagen Sie mir, wie ist das mit dem Oberst?« fragte Falk. »Das müssen Sie mir genau erzählen. Wollen Sie?« »Nicht jetzt,« entgegnete Mely betrübt und enttäuscht. »Was ist da auch zu sagen. Ich hänge von ihm ab, denn ich bin arm. Deshalb muß ich nett und freundlich gegen ihn sein. Ich muß repräsentiren und das Haus in Ordnung halten, – aber jetzt ist ja das alles vorbei. Wir haben uns schon vor der Begegnung neulich ganz zerkriegt. Mehr war es nicht, das dürfen Sie mir glauben.« »Mehr war es nicht,« wiederholte Falk sehr langsam. Die Art, wie sie die Aufklärung gab, der Ton, in dem gleichsam die Bitte lag, ihr nicht zu mißtrauen, entfachte seinen Argwohn plötzlich und lebhaft. »Und was wollen Sie jetzt beginnen?« fragte er. Mely schwieg. Sie lächelte sonderbar kühl. Weshalb dann diese Furcht vor Jenem? grübelte Falk, gleichsam seinen Argwohn hätschelnd. Es läutete draußen, und das junge Mädchen fuhr erschrocken zusammen und lauschte regungslos. Bald darauf wurden Stimmen laut: Begrüßungen, staunende Ausrufe des Wiedersehens. »Das sind Lottelotts,« sagte Mely. »Die Frau ist schrecklich. Sie hat den Wahn, eine geistreiche Frau zu sein und ist, o! so ungebildet. Sie ist klein, dürr und frech: sie schreit beständig, und wenn sie lacht, hört man es bis auf die Straße. O, sie haßt mich. Mich hassen überhaupt alle Menschen. Auch Helene haßt mich.« Falk beugte sich so weit zu ihr hinüber, daß ihre Wimpern sich fast berührten. Sie blickten sich Auge in Auge, und er stammelte mit dem Mut der Schüchternen: »Du – hast – mich.« Verwirrt ließ Mely den Kopf sinken. Vor lauter Scham lachte sie, – lautlos. Sie öffnete den Mund, die Zähne schimmerten hindurch, und sie stieß den Atem aus, aber dies Lachen war nicht hörbar. Falk ließ sie nicht aus den Augen. Das that er aus Feigheit vor der Wirkung seiner Worte. Nur einer Bewegung des Halses hätte es bedurft, und er hätte sie küssen können, aber wie ungeheuerlich, wie vermessen erschien ihm jetzt ein solches Beginnen! »Wann werden Sie reden? wann endlich reden?« flüsterte er völlig unmotivirt. »Wirst du denn immer schweigen?« Mely war wie gelähmt. Ihr war, als müßte das Gewand über der Brust zerspringen. Wenn es eine Freude gibt, die zugleich die beklemmendste Angst ist, so war es diese. In einem Augenblick übersah sie ihr vergangenes Leben, und sie hatte dabei ein Gefühl wie Jemand, der ermüdet von einer großen Reise nach Hause kommt und rasten kann. Wiederum läutete es. Beide achteten nicht darauf. Nach kurzer Zeit wurde an der Thür gepocht, und das Dienstmädchen kam herein. »Es ist Jemand da vom Herrn Oberst,« sagte sie. »Das Fräulein Mirbeth möchte sofort hinüberkommen.« Nachdem die Magd wieder hinausgegangen war, stand Mely auf und blickte verstört umher. Ist es denn möglich? dachte sie. Freilich, jetzt hat er Angst, mich ganz zu verlieren, da er mich mit einem Andern gesehen. Aber darf ich denn das thun, – hinübergehen? Was nützt es, ich muß. Ich kann ja nicht verhungern. Er kann machen mit mir, was er will. Ich bin arm. So überlegte sie in stummer Qual. »Sie gehen ja doch nicht hinüber,« sagte Falk, indem er sie gespannt anblickte. »Ich muß,« wiederholte sie laut. »Was nützt es, wenn ich dableibe? Frau Bender kann mich nicht ernähren. Niemand fragt nach mir. Bald komm’ ich wieder, sobald es geht.« Und sie wollte fort. Aber Falk vertrat ihr behend den Weg. Er schaute sie an, – lange Zeit. Seine Lippen zitterten, als ob er reden wollte. Mely hielt seinem Blick Stand. Sie ließ die Arme schlaff herunterhängen, und eine herzliche, tiefe Betrübnis lag in ihrem Gesicht. Dann nickte sie flüchtig und ging. Falk warf sich aufs Bett, bedeckte die Augen mit den Händen, und verblieb so fast eine halbe Stunde lang. – Als er ins Wohnzimmer kam, stellte man ihm Herrn und Frau Lottelott vor. Frau Bender war etwas kühl, doch er bemerkte es nicht. Sehend und doch nicht sehend, ging er umher. Er hörte wohl, daß die Leute um ihn herum sprachen, aber was sie sprachen, verstand er nicht. Eine weiche Rührung hatte ihn überfallen, eine milde, gleichsam opferfreudige Stimmung. Wenn er an die Zukunft dachte, geschah es so: es wird nicht lange währen, dies alles. Flüchtig wird es sein, wie der Winterschnee, gewiß. Aber es ist schön. Es ist ein schöner, schöner Traum. »Wo ist denn Fräulein Mirbeth heute?« fragte Frau Lottelott ein wenig schnippisch und rümpfte die Nase. Falk wurde aufmerksam. »Der Herr Oberst hat sie rufen lassen,« erwiderte Frau Bender mit einem vielsagenden Blick. »So, – der Herr Oberst!« – Dies kurze Zwiegespräch versetzte Falk in wilde Aufregung. Er sah, wie Herr Lottelott geheimnisvoll grinste und wie sein rotes Biergesicht einen Ausdruck gutmütigen Bedauerns annahm. Die Worte, die gefallen, waren harmlos, aber es lag alles darin, was ihn bedrückte mit schwerer Wucht. Er setzte sich ans Klavier und spielte: einen Marsch, einen Walzer, eine Schubertsche Sonate ... er spielte polternd, ungraziös und viel zu schnell. XI. Als Mely zurückkam vom Oberst – das war gegen zehn Uhr – fiel Falk zunächst die große Blässe ihres Gesichts auf. Sodann war ihr Blick so unstät, so unsicher flackernd, so verdüstert, wie er es noch nicht an ihr beobachtet hatte. Oder suchte er all das blos und war es in Wahrheit gar nicht vorhanden? Auch verletzte ihn die übertrieben liebenswürdige Art, mit der sie Frau Lottelott anredete, und er sagte sich: das thut sie aus Furcht. Sie fürchtet offenbar die böse Zunge dieser Frau und will sich nun durch Zuvorkommenheit bei ihr einschmeicheln. Es erregte ihn, daß er sie mit solchen Augen beobachtete, die auch den kleinsten Umstand nicht übersahen. Selbst wenn er mit Andern sprach, achtete er nur auf sie. Immerfort hörte er, was sie sprach, und er fühlte es schmerzlich, daß sie sich heute gesucht lustig gab. Sie wollte unbekümmert scheinen und unterhaltend sein. Er hatte das Gefühl, als hätte sie Wein getrunken, um sich zu betäuben. Er witterte etwas Dunkles, etwas Lichtscheues hinter dieser Heuchelei. Oft blickte sie nach ihm, aber er wich ihrem Blick aus und sie, die es bemerkte, schloß dann jedesmal für zwei, drei Sekunden die Augen. »Was haben Sie denn heute Schönes erlebt, Mely?« fragte Helene, indem sie sich vor Frau Lottelott den Anschein zu geben versuchte, als stehe sie den Interessen dieser jungen Dame völlig fern. »Ja, Sie sind so übermütig; das ist man an Ihnen gar nicht gewohnt,« setzte Frau Bender hinzu, und ein Leuchten aufrichtiger Freude ging über ihre seltsam verschwommenen Züge. »Bin ich auch!« antwortete Mely burschikos. Sie lachte. Dies Lachen schien aus ihrem Magen zu kommen. Sie bog sich dabei etwas vor und zog die Schultern in die Höhe. Warum herrscht nun diese feindselige Stimmung zwischen uns? dachte sie im gleichen Augenblick mit Beziehung auf Falk. Wir haben ja noch kein Wort miteinander gesprochen. Das Herz wurde ihr schwer und zitterte gleichsam in ihrer Brust. Wieder schloß sie die Augen und als sie sich von Frau Lottelott beobachtet sah, gähnte sie. »Sie haben Schlaf, gnädiges Fräulein,« sagte der Mann der Frau Lottelott – er war in der That sonst nichts – »Sie sehen auch schlecht aus. Ich habe eine vorzügliche Idee für Sie. Wie wäre es, wenn sie Kephirmilch trinken würden?« Herr Lottelott hatte zwei Schwächen; die eine, daß er das Familienoberhaupt, die andre, daß er den Arzt spielen wollte. Seine Frau verhöhnte ihn erbarmungslos. Sie liebte es, ihn vor Andern zu blamiren, damit alles Licht auf sie, als auf die kluge Frau eines dummen Mannes falle. Dabei war sie noch wie ein junges Mädchen in ihn verliebt. Mely lächelte dankbar. »Warum kümmern Sie sich eigentlich um mich?« fragte sie so traurig, daß Falk erstaunt aufhorchte. Was mochte in ihr vorgegangen sein? Er erschien sich roh und verständnislos, und er machte eine Geste der Selbstverachtung, wobei ihn Helene ironisch anschielte. Ohnmächtig sah er zu, wie sich die Empfindungen in seiner Seele kreuzten, wie sie stritten, wie es aufkochte in seinem Innern und wie es stürmte. Bis zu dieser Stunde hatte er sich treiben lassen von einer ihm verborgenen Macht. Er hatte das süße Bewußtsein, daß er Mely teuer sei, gleichsam nur geduldet in sich, weil es wohlthuend für ihn gewesen war. Nun aber wurde er mit Schrecken gewahr, wie der Gedanke an dies Weib Besitz genommen hatte von seinem ganzen Körper, von seiner ganzen Seele. Nichts Anderes hatte Raum daneben. Er bekam Kopfschmerz und verließ das Zimmer. Das fortwährende Gelächter der Frau Lottelott that ihm weher als Keulenschläge. Es war kein Lachen, sondern glich einer Folge von schrillen Schreien, einem epileptischen Krampf. Er ging durch die Küche auf den Balkon und blickte in die besternte Winternacht. Auf der Theresienstraße rollten Pferdebahnwagen. Er hörte ein Rauschen von Kleidern hinter sich und wandte sich um. Mely war es, die in der finsteren Küche stand und zu ihm hinblickte. Er sah nur einen dunklen Schatten, und auch sie gewahrte nur Umrisse. – ›Warum bist du eigentlich herausgegangen? Ich konnte es nicht mehr aushalten und mußte dir folgen.‹ – ›Nur an dich denk ich hier; drinnen bin ich gestört. Dich lieb ich, dich lieb ich.‹ – ›Ich weiß, daß du mich liebst, und noch tausendmal mehr lieb ich dich: aber sagen kann ich es nicht.‹ So redeten sie zu einander, aber ohne Worte. Es war ein stummes Zwiegespräch in der Finsternis. »Ich finde kein Licht,« sagte endlich Mely leise und mühsam, als müsse dies Hinträumen nun beendet werden. »Ich möchte ein Glas, um Wasser zu trinken.« »Kommen Sie, ich will Ihnen meine Kerze geben,« versetzte Falk ebenfalls leise, wie wenn er ein Geheimnis verriete. Und Mely folgte ihm willig. Er zündete Licht an in seinem Zimmer und schloß dann die Thüre. Sie ließ es geschehen. »Wann kommst du wieder, wann werden wir wieder allein sein?« stammelte Falk, wie trunken von diesem Du. »Nie mehr!« erwiderte sie heftig. Bestürzt und unwillig trat er zurück. »Ach, es ist ja nicht möglich!« stieß sie jammernd und leidenschaftlich hervor. »Wenn du nicht kommst – – dann –!« Er stand an der Thür und breitete die Arme aus, wie um zu verhüten, daß sie ging. In der Rechten hielt er das Licht. Wie groß sind seine Augen und wie leuchten sie, dachte Mely. »Sehen Sie, Frau Bender hat mir heute Abend schon Vorwürfe gemacht, daß ich so lang allein bei Ihnen war. Ich kann ja nicht und darf es nicht!« Er blickte sie fassungslos an, und sie flehte: »Bitte, lassen Sie mich hinaus jetzt.« Falk ließ die Arme sinken und öffnete die Thüre. Finster blickte er zu Boden, und Mely eilte hastig zum Wohnzimmer, wo man lustig plauderte. Ihr Körper war kalt wie Stein, und ihre Wangen glühten wie Kohlen. Sie saß taub unter den Gesprächen der Leute. Sie sah nur immer Falk an, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, und sie sah sein finsteres Gesicht und wie er die Augen nicht erhob vom Boden. Da regte sich Angst in ihr. Sie suchte einen Beschluß zu fassen und einen Ausweg zu finden, und die Unfähigkeit dazu verursachte ihr große Qual. Ich muß mit ihm reden, das ist klar, dachte sie. Alles muß ich ihm sagen, wie mir zu Mut ist. An diesen Gedanken klammerte sie sich mit aller Kraft. Unter den Lottelotts entstand ein Streit. Sie wollte noch Bier trinken, und er wollte heim. Er schalt sie eine Säuferin, und sie schalt ihn Esel. »Ich weiß, wie du heimgehst,« sagte sie wütend. »Unterwegs nimmst du alle Wirtshäuser mit, die an der Straße liegen. Sumpf und Stumpfsinn ist dein Vergnügen.« Lottelott lächelte Frau Bender entschuldigend an und hörte nicht auf, sich mit beschäftigter Miene den Kopf zu kratzen. Helene beendete den Streit mit der ihr eigenen Entschiedenheit. Sie erbot sich, Bier zu holen, und stand gleich auf, um das Glas in der Küche mitzunehmen. Falk fühlte die Verpflichtung, sie zu begleiten, und folgte stillschweigend. Draußen ließ ihn Helene hochmütig an. »Nun, – Sie bemühen sich gar zu mir herab – o!« Baß erstaunt thuend, hob sie die Hände. Sie trug ein knallrotes Kleid, das Falk wie abgestimmt erschien zu ihrem ganzen Wesen. Er wußte ihr nicht zu antworten. Für ihn war sie halb Kind, halb Greisin, und nie wußte er sich ihr gegenüber zu benehmen. Sie hatten schon die Korridorthüre geöffnet, als Mely nachkam. »Ich will mitgehen,« sagte sie mit müder Stimme. »Es ist mir zu heiß im Zimmer.« Sie schritt mit Helene die Stufen hinab, und Falk, der seinen Mantel um die Schultern geworfen hatte, tappte mit der Kerze hinterdrein. Aber bald stand Mely still und drückte die Hand aufs Herz. Falk blieb neben ihr stehen, und Helene ging, ohne auf sie zu achten, weiter. Nur mechanisch hatte Falk Halt gemacht. Er blickte Mely nicht an, sondern sah die Stufen hinab ins Dunkle. Da haschte Mely nach seiner Hand und flüsterte beklommen: »Herr Falk, – sei’n Sie nimmer böse! Ich will kommen. Ich will heute Nacht kommen, wenn alles schläft. Auf einen Augenblick.« Dann ging sie weiter. Falk glaubte sie nicht recht verstanden zu haben. Wie ein Träumender kam er im Hausflur an. Ihre Worte hatten einen dumpfen Schrecken in ihm erregt. Das erste, was er dachte, war: sollte ich mich in ihr getäuscht haben? Doch dieser Gedanke verlor sich gleichsam in die Finsternis. Er fühlte etwas in sich zerfließen, etwas Kaltes und Drückendes, das ihm sein Leben schwer gemacht hatte und nüchtern. Wäre er jetzt gezwungen worden, zu reden, er hätte nur zu lallen vermocht. Verwunderung und Scheu und ein beglücktes Nachsinnen erfüllten ihn. Und dann die Furcht, daß sie sich in seiner Achtung geschadet haben könne, oder daß sie ahnungslos wie ein Kind sich einer großen Gefahr hingab. Helene hatte schon das Thor aufgesperrt, und hüpfte nun über die Straße. Mely stand unterm Thor, und jetzt sah sie Falk an mit einem vollen, funkelnden und fast triumphirenden Blick. Schüchtern begegnete er ihren Augen. Er gewahrte, daß sie zusammenschauerte im Frost, und legte seinen Mantel um ihren Körper. Sie ließ es geschehen, doch sagte sie: »Innerlich ist mir heiß. Eigentlich friert mich gar nicht.« Ihr Gesicht war sehr bleich. Doch dies Triumphirende und zugleich Verträumte wich nicht von ihren Zügen. Bisweilen huschte ein fast wahnsinniges Lächeln um ihre Lippen. »Ich bin nicht so ruhig, als es scheint,« sagte sie ein wenig bekümmert und seufzte. Falk nickte. »Ich kenne ein Gedicht von Stauffer-Bern,« erwiderte er. »Der Mann hat es im Irrsinn geschrieben. Die erste Strophe heißt: Hinter des Kerkers Gitter singt traurig ein Vögelein: O Lieb, wie bist du bitter, o Schatz, wie bist du fein.« Sie sahen sich an, und Beider Lippen bewegten sich, gleichsam Worte des Glücks suchend. Jetzt kam Helene zurück. Erst um halb zwölf Uhr gingen die Lottelotts nach Hause. In seinem Zimmer warf sich Falk in den Fauteuil und regte sich nicht mehr. Bald war alles still im Hause. Die nachgelegten Kohlen prasselten im Ofen. Ich könnte jetzt ein bischen lesen, dachte Falk, doch er war unfähig, sich zu erheben. Und er sinnirte: Was hat es auch für einen Zweck, wenn ich jetzt lese? Was kann mich noch interessiren von den Dingen der Welt? Ihm war wie einem Menschen, der am Vorabend einer großen Reise steht, ohne daß er weiß, wohin das Schiff steuern wird. Er dürstete danach, den schwarzen Schleier der Zukunft zu lüften, nur für eine Stunde. Was wird in einer Stunde sein? fragte er sich, und er vermochte sich durchaus nicht vorzustellen, welche Ideen, welche Empfindungen ihn nach Ablauf dieser Zeit beherrschen würden. Wenn nun die Thüre aufging und sie kam herein, mußte da nicht ein neues Zeitalter beginnen –? So dachte er, solche Wichtigkeit besaß dieser Vorgang in seinen Augen. Geheimnisvoll und zugleich schmerzlich war dies. Er glaubte, sein Herz sei versengt. Wer ist sie? grübelte er. Warum hat sie das gesagt? Und sein Argwohn erfüllte ihn mit Zagen und Beklommenheit. Draußen wurde eine Thüre geöffnet und wieder zugeschlagen. Die Katze miaute. Bald war es wieder still, und es blieb auch still. Aber je länger er wartete, je mehr nahm seine Erregung zu, und er seufzte, gequält von diesem inneren Brand. Da klirrte die Thürklinke. Die Thüre wurde gar vorsichtig geöffnet, und Mely trat auf den Zehen ein. Vorsichtig schloß sie die Thüre wieder, wandte sich um und schaute sekundenlang wie geblendet ins Licht. Sie war die ganze Zeit hindurch im Finstern gesessen, dachte Falk, und diese Vorstellung erfüllte ihn mit Zärtlichkeit und mit Sorge für sie. All seine trüben Gedanken waren verschwunden, und Freude und Stolz ergriffen ihn. Er wußte nichts zu sagen, als: »Du bist gekommen –« Und er wollte auf sie zugehen. Aber sie machte eine heftige und kummervolle Geste mit den Armen und rief flehend aus: »Herr Falk, Sie dürfen nicht du zu mir sagen.« Rasch eilte sie dem Fauteuil zu und ließ sich darin nieder. Sie drückte die Hände vor das Gesicht und begann zu weinen, – unaufhaltsam. Falk setzte sich auf die Lehne des Sessels, dicht neben sie. Er schlang seinen Arm um ihren Hals, und er preßte ihren Kopf fest und heftig an seine Brust. Vor tiefer Erschütterung konnte er nicht sprechen, und er ließ sie weinen und fragte nicht warum. Sie löste die Hände von ihren Wangen und preßte das Antlitz ganz und gar an seinen Körper, und der Geruch ihrer Haare berauschte ihn. Und es machte ihn völlig verstört, ihren Leib so nahe neben sich zu wissen, der so warm war, so jung und so schön. Er beugte sich nieder, – tief, so daß seine Lippen bald die ihren berühren konnten, und nun drückte er seinen Mund auf ihren Mund. Ihr Mund war schwellend und so weich wie Sammet, und so heiß wie der Mund eines Fieberkranken. Langsam, den Genuß der Näherung bis zur Neige kostend, geschah dies Aufeinanderdrücken. Und wie angeschmiedet hafteten die Lippen zusammen, und ihre Herzen preßten sich eines dem andern entgegen, und sie wollten die dünne Decke des Körpers zerbrechen in freudiger, glücklicher Qual. Minuten vergingen und reihten sich zu Viertelstunden, aber ihre Lippen trennten sich nicht. Das große Vergessen war gekommen für beide, die lange und einzige Stunde, die den Entgelt bietet für die Leiden des Lebens. Mit geschlossenen Augen küßten sie diesen langen Kuß, und Falk saugte die bitteren Thränen ein, die von ihren Lidern niederflossen. Warum weint sie? dachte er dann. O, wenn ich das nur wüßte. Was kann der Grund sein? Ist es ein Schuldbewußtsein in ihr? Oder ist es nur, weil jetzt ein liebloses Dasein aufhört für sie? Nein, nein, sie fühlt sich schuldig, das allein ist es! Könnt ich doch lesen in ihrer Seele! Aber sie ist ein Rätsel, ein Geheimnis. Nicht umsonst heißt sie Melusine. Aber er wollte diese Gedanken ersticken, darum küßte er sie auf die Augenbrauen, in das Haar, auf den Hals, auf die Stirn, auf die Lider, auf die Wangen, küßte ihre Thränen fort und dann wieder auf die Lippen, daß sie sich öffneten wie Kelche und er die Zähne küßte. Als ob sie sich hätte wehren wollen, hielt sie sein Handgelenk fest und bäumte sich bisweilen auf, bevor sie sich seinen Küssen ganz hingab. Dann umarmte sie ihn, und aufschluchzend und immerfort weinend, klammerte sie sich fest an ihn. »Warum weinst du?« fragte Falk fassungslos. Aber sie schwieg. »Warum weinst du? Warum weinst du?« drängte er. Sie schüttelte den Kopf und preßte sich wie schutzsuchend an ihn. »Ist es meinetwegen?« fuhr er zu fragen fort. Sie verneinte. »Deinetwegen? Ist es wegen des Obersts? Ach warum? warum? So sprich doch!« – »Ach, ich weiß es ja nicht,« flüsterte sie schmerzlich. – »Liebst du mich denn? Liebst du mich? Sag Schatz, küßt dich der Oberst auch?« – Sie nickte, und als er sich abwandte, legte sie schüchtern den Arm um seinen Hals und sagte hastig, ihn zu sich herziehend: »Aber nicht so wie wir.« Und sie lächelte sanft und aufrichtig. Alles hatte sich erfüllt, was sie zusammengeträumt, all das Glück und die bittere Schönheit dieser heimlichen Liebe. »Küsse mich,« bat Falk, aber sie schüttelte den Kopf, halb neckend, halb betrübt. Er schloß sie so fest in die Arme, daß sie seufzte, und über eine Stunde lang sprachen sie kein Wort. Sie dachten beide dasselbe: wunderbar und überaus erstaunlich kam ihnen das Geschehene vor, und wenn sie in die Vergangenheit blickten, so erschien alles, was sie erlebt, nur deswegen vorhanden, um sie zusammenzuführen. Aber immer mehr erwachten Unruhe und Mißtrauen in Falk. Er schaute finster in die abnehmende Kohlenglut; dann erhob er sich und schraubte die Lampe etwas niederer. Ist es denn möglich, daß sie ahnungslos in aller Reinheit zu mir kam? dachte er. Weshalb hat sie dann geweint? Und er stand in tödlicher Furcht vor einer Thatsache, die viele Andre ausgenützt hätten auf jeden Fall und um jeden Preis. Er ging wieder zu ihr und küßte sie bedachtsam und zärtlich. Dann nahm er ihre beiden Hände und blickte sie unverwandt an. Er studirte die Linien ihres Gesichts in diesem bläulichen Dämmerlichte, und er fand Manches daran auszusetzen. Weshalb hat sie diese Falte von den Nasenflügeln aus abwärts? grübelte er. Auch ihre Stirn hat Falten, kaum sichtbar, aber sie sind da. Und diese Züge, im Ganzen ihm so teuer, wurden ihm in ihren Einzelheiten eine Minute lang förmlich verhaßt. So wird es sein, so lange die Welt steht: Haß und Liebe werden nebeneinander einhergehen, eng verschwistert. Er ließ sich auf die Kniee nieder und spielte ein wenig Komödie. »Immer wirst du bei mir bleiben, ich laß dich gar nimmer fort.« Und er zog ihren Kopf herab, wo es völlig Nacht war. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr. Sie verstand ihn nicht. Er sah sie an: erklärend und forschend. Diesen Blick verstand sie. Schreck und Enttäuschung erfüllten sie plötzlich, und sie vermochte kaum zu reden. »Nein, ach nein,« preßte sie hervor, außer sich vor Jammer. »Nicht das, – niemals, wenn du mich nicht töten willst.« Schuldbewußt legte er den Kopf in ihren Schooß. Und Melys Finger krampften sich in seine Haare, immer fester und fester. »Sag, hat der Oberst noch niemals etwas von dir verlangt, was – verstehst du mich denn nicht?« Mühsam brachte Falk das hervor, und er hob den Kopf nicht dabei. »Nur das Eine sag: hat er es gewollt?« drängte er und umklammerte ihre Hand. »Ja, aber ich bin gegangen. Das ist wahr.« Warum habe ich ›das ist wahr‹ gesagt? dachte Mely. Atemlos wartete sie auf seine Antwort. Aber er entgegnete lange nichts. Sie blickte verzagt und beschwörend zu ihm nieder, aber er sah sie nicht an, sondern drückte den Kopf tiefer in ihren Schooß. »Schatz, süßer, süßer Schatz,« stammelte er dumpf und leidenschaftlich. Dann löste er ihre Frisur, indem er die beiden Nadeln in dem griechischen Knoten entfernte, und streifte das lange dunkle Haar über seinen Kopf. Drohend und immer drohender stieg das Bild des Andern vor ihm auf, und alles was sie sagte, diente nur dazu, seinen Argwohn zu schüren. Rätselhaft war sie ihm in allem, was sie sagte, und deshalb stieg seine Liebe zu ihr mit jeder Minute. »Wie still ist die Nacht,« flüsterte er. »Wirst du je diese Nacht vergessen? Mely sprich, wirst du mich je vergessen? Wirst du nie aufhören, mich zu lieben? Bin ich es auch wirklich allein, den du liebst? Ach, wer hätte das gedacht noch vor kaum zwei Tagen. Und jetzt diese stille Nacht dazu. Sieh, die Lampe flackert nur noch, bald wird sie aus sein, und es wird finster werden. Schau mich an, Schatz, – o, warum wendest du dich denn ab? Fürchtest du dich vor mir?« »Ja –« hauchte Mely, und sie zitterte vor Erregung. Dies Zittern ging durch ihren ganzen Körper, auch innerlich. Seine Stimme war so weich, so einschmeichelnd, wenn er leise sprach, und es lag eine kindliche Güte darin. Alles war ein wenig phantastisch, was er sagte, aber das gerade, das Märchenhafte beseligte sie, und seine Güte zog sie zu ihm hin. Noch immer war das Scheue und Bewundernde in ihren Blicken, wenn sie ihn ansah, und seine wilden Küsse durchdrangen sie bis ins Mark. »Was hast du für herrliche Augen,« begann er nun wieder, und lehnte seine Wange an die ihre. »Sie sind wie Meere. Wenn du so rasch die Lider aufschlägst und verwundert und erschreckt dreinschaust wie ein ganz kleines Kind, – o, das ist herrlich!« Wenn Jemand, durchnäßt vom Regen, heimkommt und in wärmende Kleider geschlüpft, lächelnd am Herdfeuer sitzt und auf den Sturm horcht, so empfindet er ungefähr das wohlthuende Behagen, das Mely bei diesen fast wehmütig hingesprochenen Worten Falks empfand. Sie fühlte sich klein und förmlich bußbereit; sie mußte die Augen schließen, und in den Minuten, in denen er nicht sprach, suchte sie sich schöner, verheißungsvoller Träume zu entsinnen, um das Märchengleiche dieser Minuten nicht zu verletzen. »Sieh, jetzt wird das Licht aus sein,« fuhr er fort, indem er immer leiser sprach, wie eingeschüchtert durch die größere Dunkelheit. »Sag, wirst du nie aufhören, mich zu lieben? Ich will nicht schwören,« – seine Stimme zitterte – »aber ich lege zwei Finger in deine Herzgrube, das bedeutet mehr, wie schwören: nie, nie will ich aufhören, dich zu lieben.« Er hatte ihr das Gewand aufgeknöpft, und hatte seine Hand wirklich auf ihre bloße Brust gelegt, in der das Herz hämmerte, wie gejagt. Trunken starrte Mely in das winzige blaue Flämmchen, das noch übrig war. Dann füllten ihre Augen sich mit Thränen, und sie konnte sich nicht enthalten, zu schluchzen. »Was hast du, Schatz?« flüsterte er, sie stürmisch umfassend. »Bitte, sag doch blos, was hast du? Antworte, du bringst mich ja zur Verzweiflung.« Aber sie blieb stumm. Sie vermochte nicht zu reden. Sie empfand selbst, wie seltsam das alles war, wie die dunkle, späte Stunde und das enge Beieinandersein die Gefühle krankhaft verfeinerte und übertrieb. Wie hätte sie ihm sagen können, daß schon der Gedanke an ein Aufhören seiner Liebe sie mit Gram und Beklommenheit erfüllte ... Vieles hätte sie ihm noch mitteilen mögen, aber sie fand die Form nicht. Sie konnte es nicht übers Herz bringen, Du zu sagen, trotzdem sie wußte, wie kindisch und blöde diese Scheu war. Sie erwiderte schüchtern seine Küsse, als bäte sie ihn dafür um Verzeihung. Aber in ihm erwachte das dunkle und drückende Bewußtsein, daß in diesem Weib noch ein ganz andres Wesen stecke, als jenes, das sich ihm jetzt hingab mit aller Macht. Dies eine, gegenwärtige, war ein mädchenhaftes, liebevolles Geschöpf, rein und gut und frevellos. Aber das andere war ein gefährliches, wetterwendisches und unberechenbares Wesen, sphinxhaft und unfaßbar. Ganz plötzlich, wie durch Ahnung, wurde er sich dessen bewußt. Aber er küßte sie, und je mehr er sie küßte, desto unersättlicher wurde er. Traumhaft und voll von unbegreiflichem Zauber waren diese Stunden für ihn. Sie standen beide vor der Schwelle jenes schwülen, finsteren Glücks, das zur Auflösung jedes persönlichen Bewußtseins führt. Und sie haschten nach dem Flatternden, Ungewissen, aber hinein in die Finsternis schritten sie nicht. Sie ist zu feig, oder sie verbirgt mir etwas, dachte Falk. Da schlug es fünf Uhr, und erschrocken fuhren sie zusammen. Er begleitete Mely bis zur Thür ihres Schlafgemachs. Unter der Thüre umarmten sie sich noch einmal, ganz trostlos, scheiden zu müssen, und dann kehrte Falk auf den Fußspitzen in sein Zimmer zurück. Er schraubte die Lampe wieder hoch, und saß noch lange wachend im Lehnstuhl. Ein träumendes Staunen lag auf seinen Mienen. Zunächst war er verwundert, daß alles, was er jetzt erlebt, in wenigen Stunden einer einzigen Nacht vor sich gegangen war. Monate schienen es ihm zu sein, in denen er abgeschlossen von aller Welt nur mit ihr allein gelebt hatte, in denen er sie kennen gelernt bis auf den letzten Grund ihres Herzens, ohne daß sie deshalb aufgehört hatte, ein Wunder, ein Rätsel für ihn zu sein. Auch war sie noch gegenwärtig; der Duft ihrer Haare war noch im Zimmer. Noch empfand er die Wärme ihres Körpers, noch spürte er das bittre Naß ihrer Thränen auf den Lippen. Noch redete er mit ihr, und er wußte, daß sie jetzt ebensowenig schlief, wie er, sondern daß sein Schatten, sein anderes Selbst neben ihr war, wie das ihre neben ihm. Und doch, wenn er sich genau prüfte, so mußte er sich gestehen, daß etwas wie Übersättigung in ihm war, und jene Erleichterung, mit der jeder Mensch von einem Vergnügen scheidet, das ihn vollständig zufriedengestellt hat. Ja, allgemach nahm ein solches Behagen in ihm Platz, daß er noch eine Cigarette anzündete, und behaglich schmauchend in die laue Winternacht hinaussah. In der Art, wie er sorglich und vergnügt den Rauch hinausblies in die windlose Nacht, lag eine Fülle geschmeichelter Eitelkeit. Oft vermag der Mensch das Heiligste seiner Seele dadurch zu verunreinigen, daß er sich zufrieden fühlt. XII. Als Mely am andern Morgen erwachte, fiel es ihr schwer, sich auf die Vorgänge der Nacht zurückzubesinnen. Und als ihr diese klar wurden, erschrak sie bis ins Herz. Sie klagte sich eines unverzeihlichen Leichtsinns an und faßte den Entschluß, Vidl Falk gar nicht mehr zu begegnen. Was muß er von mir denken! dachte sie beständig und faltete die Hände, so unbegreiflich erschien ihr, was sie gethan. Eingeschlummert war sie, den süßen Druck seiner Lippen gleichsam nachkostend, und jetzt zeigte ihr das Tageslicht die ganze Bitterkeit eines Fehltritts. Trotzdem es schon zwölf Uhr war, konnte sie sich lange nicht entschließen, das Bett zu verlassen. Überdruß und Furcht beherrschten sie; hauptsächlich fürchtete sie eine Begegnung mit Falk. Ich werde in meinem Zimmer essen, beschloß sie. Ich werde auch den Nachmittag über da bleiben. Aber mein Gott, am Abend ist ja der Ball des französischen Clubs, zu dem auch er gehen wird. Es ist unmöglich, auszuweichen.... Aber als sie angekleidet war, als sie die Fenster geöffnet hatte, als die strahlende Schneelandschaft vor ihr lag, blendend und glitzernd, leuchtend und förmlich fleckenlos, fühlte sie sich bald froher. Die Träume waren es, dachte sie, die mich so unzufrieden gemacht haben. Der Rauch stieg in dünnen Säulen empor. Die Glöckchen der Fuhrwerke tönten nah und fern, und von dem Blechsims des Vorfensters erhob sich der farblose Dunst des verdampfenden Schneewassers. Wie bangte ihr aber trotzdem vor dem gemeinschaftlichen Mittagessen! Ein haßähnliches Gefühl gegen Falk stieg in ihr auf. Er muß mich ja verachten, grübelte sie; was sind das für Beteuerungen, die ein Mann giebt in der Nacht – – und ich habe mich ihm an den Hals geworfen, das ist klar. Sie erbleichte bei dieser Überlegung. An allem begann sie zu zweifeln und am meisten an der Aufrichtigkeit ihrer eignen Gefühle. Im Korridor stelzte Helene gravitätisch einher. »Was ist denn los?« fragte Mely, belustigt von der komischen Gespreiztheit des Mädchens. Helene tippte den Finger an den Mund und blieb gedankenvoll stehen. »Pst! Nicht reden!« lispelte sie. »Die dicke Gnädige hat Migräne. Sie leidet an Tobsuchtsanfällen. Schon um zehn Uhr hat sie nach Herrn Falk geschickt. Natürlich, der ist billig.« Mely runzelte die Stirn. Einem Stich gleich empfand sie Eifersucht, doch nur eine Sekunde lang. Dann erschien ihr das lächerlich, nur die Sorge beschlich sie, daß jenes Weib mit Verleumdung umgehen möchte. Doch geheimnisvoll ergriff Helene sie am Arm und zog sie ins Schlafzimmer der Familie. Dort lag über einer Stuhllehne ihr kanariengelbes Ballkleid. Es war im Empirestil gehalten. An manchen Stellen ging die Farbe in rostiges Orange, an andern in ein sattes Dottergelb über. Mely war entzückt. Im Innern überlegte sie, wie sie wohl von diesem Ball loskommen könnte. »Ich gehe so ungern mit, Helene,« sagte sie. »Sie wissen ja, daß der Oberst nichts davon erfahren darf. Und diese Heimlichkeit – ach!« Dann mußte sie ins Wohnzimmer. Ihr bangte davor. Sie wußte, daß Falk drinnen war, und mit klopfendem Herzen öffnete sie die Thüre. Er war allein da. Als sie ihn sah, füllte sich ihre Seele mit einer Flut neuer Liebe. »Wie hast du geschlafen?« flüsterte er hastig. – »O herrlich,« gab sie zurück, mit funkelnden Augen und jenem erwärmenden Lächeln, das sie so merkwürdig machte. Der Abend kam und mit ihm die Vorbereitungen zum Ball. Als Mely fertig war, trat sie zu Falk und sagte mit unterdrückter Stimme: »Soll ich dableiben? Ja? –« Er sah sie bestürzt an. Sie zitterte. Hinter dem dünnen Spitzengewebe des Dominos schimmerte ihre Brust. Er hatte ein schwindelähnliches Gefühl und ohne den Blick von ihr abzuwenden, versuchte er, sorglos zu lächeln. Dann fuhren sie zum Luitpold-Block. Der Ball war sehr besucht. Es gab viele befrackte und eilfertige Herrn mit einfältigen Gesichtern. Sie trugen das Bewußtsein ihrer Vornehmheit spaziren. Sie schwitzten und lächelten sanft, beinahe vorwurfsvoll. Manche standen ernst und wächtergleich an Säulen und sie gähnten in wohlvorbereiteten Pausen. Ihre Haltung war kühl und welterfahren. Was die Damen betrifft, so lächelten sie ohne Ausnahme: ein offizielles, temperamentvolles Lächeln. Falk tanzte nicht. Er war niedergeschlagen. »Ohne Zweifel sehe ich aus wie alle andern jungen Herrn,« sagte er sich. »Nur ist meine Rolle noch komischer. Ach, das Leben muß heiter sein, denn diese Leute sind sehr fröhlich. Man erwartet von Jedem, daß er lustig sei. Bunt und sorglos ist das Leben und die schwarzen Philosophen sind im Unrecht. Da ist Frau Lottelott, sie tanzt mit Feuer und ihr Gesicht ist krebsrot. Und diese Frau soll unglücklich sein, sagte Helene. Sie sollen oft kaum zu essen haben. Siehe, auch Frau Bender tanzt. Sie wird sich hübsch zurichten bei ihrem Leiden ...« Sein Gesicht verfinsterte sich und er preßte boshaft die Lippen zusammen. Er wollte nicht nach der Richtung sehen, wo Mely tanzte. Er fand die Musik unerträglich und machte die Beobachtung, daß alle Leute beim Tanz ein sehr blödes Gesicht zeigen. Einige sahen traurig aus, andre witzig, einige senkten die Lider, andre richteten die Augen verzückt nach oben; manche machten Bewegungen, als wollten sie im Finstern eine Treppe besteigen und fänden die Stufen nicht. »Alle diese Gesichter hasse ich bis auf den Tod,« murmelte er und der Walzer, das Kleiderrauschen, das Schlürfen der Tänzer, das Lachen und Liebeln, all das schmerzte ihn bitter. Sein Gesicht überzog sich mit Leichenblässe, als er Mely dicht neben sich mit einem kleinen, weißblonden Herrchen vorübertanzen sah. Sie konnte über ihren Tänzer hinwegsehen, aber sie schlug die Augen nicht auf, ihr Gesicht hatte einen angestrengten und leidenden Ausdruck und sichtlich mühevoll schleppte sie den kleinen Mann mit sich fort. Ihre Frisur hatte sich ein wenig gelockert und darüber empfand Falk Schadenfreude. Er schlich in einen Nebensaal, wo nur einige Flammen brannten. Ein paar alte Damen saßen in einem beleuchteten Winkel tuschelnd beisammen. Unterwegs hielt ihn Frau Bender an und machte ihm über sein mürrisches Wesen Vorwürfe. »Warum sind Sie so uninteressant?« fragte sie. »Sehen Sie mich an. Ich habe mehr Sorgen als Likör und fühle mich doch wie neugeboren.« Wenn sie witzig sein wollte, schlug sie stets einen melancholischen Ton an. Kurze Zeit hatte er im Halbdunkel gesessen, als Mely auf ihn zuschritt. »Mich friert,« sagte sie und nahm seufzend Platz. »Weshalb so verstimmt?« fragte sie plötzlich besorgt und ergriff seine Hand. Und als wüßte sie, was in ihm wühlte, setzte sie hinzu: »Ich bin ja so ungern hier! Viel lieber wär ich daheim. Ich bin ganz krank vor Angst.« »Angst –?« Er zuckte verächtlich die Achseln. »Nun, war der Tanz recht unterhaltend?« fragte er hart und höhnisch. Sie bejahte trotzig. Aber als er aufstehn wollte, hielt sie ihn zurück. »Das dürfen Sie nicht sagen!« flüsterte sie mit unterdrücktem Händeringen. »Sie –! Warum Schatz, – warum sagst du nicht du zu mir?« »Ich kann ja nicht.« Sie war verlegen. »Dann sag ich auch Sie.« »Bitte, – nein.« Und sie lachte ihn glückselig an. Mit einer müden Geste ordnete sie das Haar und Falk ließ sie nicht aus den Augen. Er vermochte sich ihrem Blick nicht zu entziehen. Ein feiner und bedrückender Zauber war in ihren Augen verborgen, die einen kindlich rührenden, klagenden Ausdruck hatten. Aber seine Gedanken nahmen eine feindselige Färbung an. Hier sollte sie nicht sein, dachte er. Das entfernt uns. Überaus zart ist diese junge Liebe. Sie erträgt weder fremde Augen, noch erträgt sie Vergnügungen und Tanz. Wie sie voll ist von Furcht. O, wenn ich wüßte, was hinter dieser Furcht versteckt ist! – Und wie Alkohol stiegen ihm Zweifel und Argwohn zu Kopf, so daß er die Gegenstände um sich her kaum erkennen konnte. Als sie dann an Frau Benders Tisch Platz genommen hatten, brütete er finster vor sich hin. Er rauchte unablässig. Helene beobachtete bald ihn, bald Mely. Ihre Mutter hatte sich einer maßlosen Fröhlichkeit überlassen. Sie war ein wenig betrunken, redete und lachte unablässig mit Frau Lottelott und hatte in Wirklichkeit alle Sorgen ihres Lebens vergessen. Falk wandte sich endlich an Mely, während Helene ging, um zu erhorchen, ob Dr. Brosam nicht gekommen sei; er hatte es versprochen; selbst wenn es Mitternacht werden sollte, würde er kommen. Mely hörte erst gar nicht auf ihn. Unablässig suchend, wanderte ihr Blick umher. Die Furcht, einen der Freunde und Bekannten des Obersts zu sehen, verzehrte sie. O warum bin ich mitgegangen, dachte sie, ich kann es nicht begreifen. »Sie haben mir noch nie erzählt, welch ein Mensch dieser Herr Oberst eigentlich ist,« begann Falk. »Wenn ich Sie so beobachte, muß ich ihn für einen wahren Räuberhauptmann halten.« »Nein, nein,« antwortete sie. »Er ist ein seelenguter Mensch. Ich glaube es wenigstens, ich werde selbst nicht klug aus ihm. Im Zorn ist er von maßloser Heftigkeit. Wie hat mich der Mann schon gequält! Die reinsten Schurkenstreiche hat er schon verübt an mir; und doch ist er dann wieder so liebevoll, so gut, ach es macht mich verrückt, darüber nachzudenken. Wenn Sie ihn kennen würden, Sie wären sicher begeistert von ihm, Sie würden mich für die größte Lügnerin halten.« Sie hielt inne, denn sie sah sich von Frau Lottelott belauscht. Ihr Blick richtete sich traurig in die Ferne. Und plötzlich wurde dieser Blick starr. Die Augen öffneten sich unnatürlich weit und das tiefste Entsetzen lag in ihnen. Eine Totenblässe überzog ihr Gesicht und die Lippen bewegten sich. Erschrocken folgte Falk der Richtung ihres Blickes. Er sah nichts, als daß zwei neue Ballgäste, Doktor Brosam und Doktor Wendland angekommen waren. »Was ist Ihnen denn?« fragte er mit heiserer Stimme, während er wie hülfesuchend Frau Bender anschaute. »Der Hausarzt des Obersts,« stotterte Mely, beide Hände auf die Brust legend; »er darf mich nicht sehen, um keinen Preis.« »Wer? wer denn?« »Doktor Wendland.« »Ja, aber was sollen wir thun?« »Heimgehen, Frau Bender, ich bitte Sie darum, fort, nur fort.« »Ja warum nicht gar!« kreischte Frau Lottelott mit einem drohenden und haßerfüllten Blick auf Mely. »Natürlich gehen wir!« entgegnete Falk finster und mit einer ihm sonst fremden Entschiedenheit. Die beiden Herren kamen näher. Mely stand mechanisch von ihrem Platz auf. Ihre Augen erweiterten sich noch mehr. Sie fühlte, wie ihre Gedanken stillstanden. Die Menschen um sie her wurden zu Schatten und schienen zu zerfließen. Ein Sausen entstand in ihren Ohren. Wie eine Ertrinkende umklammerte sie Falks Arm und er sah sie ebenso wahnsinnig lächeln, wie damals, als sie beide dem Oberst begegnet waren. »Frau Bender,« stammelte sie, »das dürfen Sie nicht verweigern, das können Sie nicht.« Und sie eilte fort, blindlings in einen der Nebensäle hinein. Falk ging ihr nach. Erschöpft lehnte sie an einem der Wandpolster. Auch Frau Lottelott kam. Geifer floß von ihrem lippenlosen Mund. Frau Bender schleppte sich am Arm ihrer Tochter nach. Sie war schon zu heiß im Kopf, um zu begreifen, was vorging. »Gott sei den Gläsern und Tassen daheim gnädig,« murmelte Helene. Ihre Mutter pflegte, wenn sie betrunken war, alles Zerbrechliche zum Fenster hinauszuwerfen und danach weinte sie dann stundenlang. Falk schaffte Melys Garderobe herbei. Sie ließ sich den Mantel von ihm überwerfen und den Shawl festbinden. Sie war schwach und sterbensmüde. Eine neue Sorge nagte bereits an ihr und sie fragte Frau Lottelott, ob sie noch hier bleibe. Frau Lottelott bejahte verwundert. »Und kommen Sie mit den Herren zusammen?« »Mit wem? Ach so! freilich, ich hoffe.« Sie lachte mit überreizter Koketterie. »Wollen Sie das verschweigen? Bitte, liebste Frau Lottelott, sagen Sie nichts, daß ich da war. Ja?« »Beruhigen Sie sich nur,« entgegnete die magere Dame kühl. »Helene, du bist meine bravste Tochter,« sang Frau Bender mit feuchten Augen und umarmte das Mädchen. Mit verstörtem Lächeln sah Mely zu. Sie schlug den Shawl um die untere Hälfte ihres Gesichts und erleichtert aufseufzend durcheilte sie schnell, beinahe laufend, den Tanzsaal. Helene und Frau Bender folgten, erstere mit verbissenen, unzufriedenen Mienen. Sie schaute sich vergebens nach Doktor Brosam um, den sie so gern getroffen hätte. Falk ließ die drei Damen in eine Droschke steigen, bezahlte den Kutscher und machte sich dann auf den Heimweg. Die Nacht war kalt und windstill. Die Straßen waren ausgefüllt mit Schnee. Er schlug eine falsche Richtung ein, änderte aber den Weg nicht, trotzdem er es bald bemerkte. Die Stille that ihm wohl, auch die Kälte. Er dachte nichts Bestimmtes, er hatte nur das Gefühl, einer Bedrängnis entronnen zu sein. Er suchte sich ein Bild des Obersts zu konstruiren und glaubte, durch Melys Angst verleitet, auf einen grausamen Despoten schließen zu müssen. So entstand in seiner Phantasie ein Bösewicht mit rollenden Augen und einem hämischen Grinsen. Damals an der Maffeistraße hatte er ihn kaum gestreift mit den Blicken, da er nur für Mely Augen gehabt. Klirr, klirr, tönten seine Schritte auf dem Schnee. Ja damals hatte es begonnen: die Unruhe in ihm, das Suchen nach dem Geheimnis. Er blieb stehen und gedachte ihrer herzzerreißenden Angst an diesem Abend. Schleier auf Schleier schien sich zu heben vor seiner Überlegung. Aber er fürchtete die Klarheit. Scham und Verzweiflung erfüllten ihn. In immer größerer Erregung und immer schnellerem Tempo ging er der Heßstraße zu. Als er am Hausthor angelangt war, zitterte er vor Ungeduld, mit ihr abrechnen zu können. Denn daß sie ihn belogen, galt ihm für unwiderlegbar. Er sprang die Treppen hinauf, immer vier Stufen auf einmal nehmend und vergaß völlig, daß es nachts ein Uhr war und Mely doch wahrscheinlich schon schlief. Jedoch er traf sie noch wach. Sie hatte auf ihn gewartet. Frau Bender lag schon im Bett und Helene schlief auf dem Divan. Die Lampe stand auf dem Tisch, ohne Sturz und der Zylinder hatte eine schwarze Rauchkrone. Die Gardinen waren zurückgezogen und das Mondlicht lag mattschimmernd auf den Dielen. Perlend und gleißend breitete sich die schneebedeckte Straße aus. Mit offenen Haaren kam Mely ihm entgegen und reichte ihm die Hand. »Wie unglücklich war ich!« sagte sie. »Warum?« »Nun weil ... weil Sie so lange nicht gekommen sind. Nicht böse sein, – ich kann nicht du sagen.« »Pst!« machte Falk und deutete mit den Augen auf Helene. Ein freudiger Rausch war über ihn gekommen. Gleich der leichten Spreu waren die finstern Gedanken verweht. Ihr liebliches, gütiges Lächeln demütigte ihn. »Ich liebe dich unaufhaltsam,« flüsterte er inbrünstig und drückte ihre Hand, daß sie einen Schrei unterdrückte. Dies »Unaufhaltsam« klang ihr ungewohnt und deshalb erregte es in ihr die Vorstellung einer großen, übermächtigen Liebe. Ihr Inneres war erfüllt von seinem Bild wie der Tempel von dem Geist der Gottheit, der er geweiht ist. Bisweilen betete sie für ihn. Doch niemals und unter keinen Umständen hätte sie ihm dies gestanden. – Am nächsten Tag war sie bettlägerig. Nach dem Mittagessen ging Falk in ihr Zimmer. Sie schien nicht erfreut über seinen Besuch. Er setzte sich an den Bettrand. »Du fürchtest wohl Frau Bender? Aber ich hatte zu sehr Sehnsucht, dich zu sehen.« Sie schaute ihn ungläubig an. »Ich habe einen schrecklichen Traum gehabt,« sagte sie. »Ich habe geträumt, der Oberst hätte alles entdeckt und dann –« »Und dann –?« »Er stand auf dem Fenstersims und schrie fortwährend nach der Polizei. Seltsam, wie?« Sie lachte. Es klopfte und Helene kam. Sie machte große Augen und ein strenges Gesicht, als sie Falk gewahrte. Sie beachtete Mely nicht, sondern stellte eine gleichgültige Frage in die Wand hinein und ging wieder. Dann läutete es im Korridor und Mely fuhr zusammen wie bei einem Böllerschuß. Falk bemerkte wohl ihre Aufregung; er stand auf und verabschiedete sich traurig von ihr. Er suchte sein Zimmer auf und wanderte rastlos auf und ab. Wieder läutete es, und jemand ging in Melys Zimmer. Er legte das Ohr an die Wand, um zu erhorchen, wer drüben sei, aber er hörte nichts. Dann fragte er die Magd in der Küche mit erheuchelter Gleichgültigkeit, wer geläutet habe. Der Doktor Wendland sei es gewesen. Falk verzog den Mund und versank in finsteres Sinnen. Später kam Melys Schwester und als Falk sie erblickte, erwachten plötzlich all seine Zweifel und bedrängten ihn schwer. Sie hat gelogen, dachte er. Daß sie ihre Schwester verleugnet, ist unbegreiflich, aber es ist doch klar, daß sie lügt. Nach dem Abendthee saß er allein bei Frau Bender. Unvermittelt wandte er sich mit der Frage an sie: »Was halten Sie eigentlich von Fräulein Mirbeth? Und von diesem Herrn Oberst, d. h. welch ein Verhältnis ist das? Was halten Sie davon?« Er that als interessire ihn das nur als Klatsch, als wolle er kein eigenes Urteil fällen und frage darum bei Andern. Doch Frau Bender machte ein verlegenes Gesicht und sagte, fein lächelnd: »Ach Sie wissen doch selbst, was man darüber spricht. So ein Mann –!« »Nun – und was spricht man denn?« erwiderte Falk ungeduldig und zornig und wurde weiß wie eine Wand. Das erschien ihm über alles wichtig: was man sprach. Das erschien ihm in diesem Augenblick entscheidend. Frau Bender hatte die Lider gesenkt und fältelte an einem Puppenkleidchen. »Mein Gott, ein alleinstehendes und noch dazu armes Mädchen, es ist bedauerlich,« sagte sie bekümmert. »Und was für ein Leben führt sie drüben! Wie drangsalirt er sie oft mit seiner Eifersucht und seiner grenzenlosen Willkür. Manchmal, wenn ein Brief kam, oder wenn ihr Name draußen genannt wurde, war sie einer Ohnmacht nahe vor Herzklopfen. Und doch kann ich den Mann eigentlich nicht verurteilen. Sie ist ja furchtbar herb und eigenwillig und – ach, Herr Falk – ich kann Ihnen nur als Freundin raten, lassen Sie es nicht zu tief gehen.« Ein namenloser Schreck ergriff ihn. Bald bunt, bald dunkel waren die Gegenstände um ihn. Flehend starrte er Frau Bender an. »Wissen Sie denn etwas Bestimmtes?« fragte er rauh. »Wer kann da entscheiden? Schließlich sind ja alle darüber einig, daß – es ist ja doch nicht anders möglich, die Männer sind eben so. Umsonst thun sie nichts. Wir haben erst gestern im Club darüber gesprochen ...« »Ja, aber was? Was denn um Gotteswillen?« Frau Bender antwortete nicht gleich. Sie riß die Reihfäden aus ihrem Puppenkleidchen und sagte errötend: »Man hält sie eben für die Geliebte des Obersts.« Falk schwieg. Er schluckte ein paar Mal hintereinander und atmete mit Mühe. »Ach – wirklich!« machte er dann, scheinbar sehr verwundert, und plötzlich lachte er aus vollem Herzen. Frau Bender sah ihn bestürzt und langsam begreifend an. In vielen Dingen war sie eine feinfühlige Frau. Und dies äußerte sich besonders darin, daß sie jetzt nicht zu trösten, oder zu widerrufen versuchte. Als er sich erhob, und ihr höflicher als sonst gute Nacht wünschte, sah sie ihm lange voll mütterlicher Güte nach. Mely hatte sich mit Helene unterhalten, und als diese gegangen war, lag sie da, träumend, und ganz ihren Träumen hingegeben. Es wurde still in der Pension, aber sie hatte kein Bedürfnis zu schlafen. Gegen elf Uhr öffnete sich die Thür leise und Falk trat ein. Er sah sie nicht an, sondern ging an ihrem Bett vorbei zum Sopha und lehnte sich in dessen Ecke zurück, so daß er ganz im Schatten saß. Mely richtete sich halb auf, stützte den Kopf in die Hand und wandte schmerzlich befremdet das Gesicht dem Sopha zu. In dumpfer Betrübnis starrte sie zu Falk hinüber. In Wahrheit, dies ist qual-, qualvoll, ging es ihr durch den Kopf. Die Furcht, ihn zu verlieren, legte sich jäh wie schwere Müdigkeit in ihre Glieder. Nach diesem langen Schweigen stellte er sich vor das Bett und sagte barsch und gehässig: »Du hast mich belogen.« »Ich – hätte gelogen?« Eine flüchtige Blässe ging über Melys Gesicht. »Also –; jetzt bitte ich dich um Wahrheit. Und wäre sie noch so furchtbar, verschweige sie nicht. Sieh, ich verspreche dir, daß ich kein Wort des Vorwurfs sagen werde: nichts. Ganz still will ich fortgehen; ich will mich nicht mucksen. Nur die Wahrheit. Ich kann diese Leiden nicht länger tragen.« »Aber mein Gott, was denn?« flüsterte Mely, und ihr Gesicht war ganz aufgelöst in Bangnis. »Dies: bist du frei von Schuld? Ist dir der Oberst nicht mehr, als, – wie soll ich sagen, du verstehst mich doch!« Melys Gesicht verfinsterte sich. Sie preßte zornig die Lippen zusammen, und dann sagte sie kalt: »Ich bitte Sie, Herr Falk, verschonen Sie mich doch damit. Ich will nichts hören.« Sie streckte sich aus im Bett und blickte zur Decke. Falk setzte sich auf den Bettrand und sagte traurig: »Ich werde ja sterben, wenn es wahr ist. Wenn ich dich nicht so liebte, daß du mir alles bist, die Luft und der Schlaf, und die Erinnerung und die Ruhe, weiß Gott, ich machte nicht viel Umstände. Aber du bist mir teuer, ich schwöre dir. Ich kann nimmer arbeiten und nichts. (Er schüttelte langsam den Kopf.) Das ist keine Eifersucht, denn ich kann mir vorstellen, daß ich diesen drückenden, heißen Schmerz des Argwohns noch hätte, selbst wenn ich aufgehört hätte, dich zu lieben ... Wer kann das begreifen!« Eine lange Pause entstand. Dann richtete sich Mely auf und griff schüchtern nach seiner Hand. Sie bohrte ihren Blick förmlich in den seinen, und diesen Blick vergaß er nie: so reich war er an Verzweiflung und Mutlosigkeit. Sie sagte weich und bedachtsam: »Schau, warum soll ich dich denn anlügen? (Wie froh und beglückt war er über dies plötzliche Du!) Das könnte doch keine ewige Lüge bleiben. Du willst nicht sehen, wie einfach alles ist. Weshalb kannst du nicht mir vertrauen? Weshalb mußt du auf das Geschwätz der Leute horchen? Es ist mir so gleichgültig geworden, was die Leute sagen, – ach!« Unaufhörlich hatte sie ihn bei diesen Worten angeschaut. Und ihre Augen waren so sehr erfüllt von Treuherzigkeit und Offenheit, daß Falk erleichtert aufseufzte. Er drückte ihre Hand und schwieg einige Zeit, wie überlegend. »Nun gut, ich glaube dir,« sagte er endlich. »Und ich will dir glauben, ohne Zweifel und Argwohn bis in alle Zukunft. Aber das will ich dir sagen: wenn du mich getäuscht hast – und du weißt ja, alle Lügen kommen ans Licht, – wenn du mich betrogen hast, werde ich zuerst dich erschießen und dann mich.« Wie romanhaft klingt das, dachte er bei sich. Aber Mely lächelte zustimmend, und ihre Lippen öffneten sich ein wenig, als sehnte sie sich, geküßt zu werden. Ihr Wesen hauchte eine wilde, beengende Glut aus. »Liebst du mich denn auch wirklich?« fragte Falk. Und als ob sie einer Eingebung folgte, erwiderte sie rasch: »Bitter.« Er sah sie erstaunt an und senkte den Kopf. Sie erzählte ihm von der neunjährigen Gefangenschaft im Kloster. Dann habe sie der Oberst zu sich genommen. »Seine Frau lebte damals noch, und er hat sie auf Händen getragen. Als sie starb, war der Mann ganz wahnsinnig. Er tobte und schrie: ›Nehmt mich auch gleich mit, nehmt mich mit,‹ als man den Sarg forttrug. Aber acht Tage später gab er mir schon zu erkennen, daß er in mich verliebt sei. Er war ganz frivol und – kurz und gut, ich bin davongelaufen. Ich war dann ein halbes Jahr bei armen, armen Verwandten in Thüringen. Die niedrigsten Dienstleistungen mußte ich verrichten. Und obendrein zahlte ich noch Logis. Ich hatte gar kein Geld mehr, und es ging mir sehr schlecht.« »Nun, und dann?« »Ja, eines Tages kam er und holte mich. Ganz aus freien Stücken. Ja, denk dir, das hätt ich bald vergessen. Wie ich so in Not war, bat ich ihn brieflich um Geld. Da ließ er mir durch seinen Advokaten mitteilen, wenn ich mich nochmal unterstünde, ihn zu belästigen, würde er mich wegen Erpressung belangen. Denk dir!« »Aber du hättest doch zu stolz sein müssen, um zu schreiben –« »Ach –! Kurz, schließlich kam er und –« »Du gingst mit ihm? Wirklich?« »Ich war so froh. Das Elend hatte mich fast aufgerieben. Er reiste dann mit mir nach Italien und das war doch wieder sehr nett.« »Und seitdem hat er nichts mehr gesagt?« »Nein.« »Nie wieder hat er das von dir verlangt?« »Nie.« »Aber warum bist du denn neulich –?« »Ach, wir haben eben gestritten wie immer.« »Und warum diese Angst vor ihm, diese mörderische Angst?« »Er ist entsetzlich eifersüchtig. Wenn ich nicht thu, was er wünscht, läßt er mich im Stich. Und wenn er mich im Stich läßt, bin ich verloren.« Leise, ganz leise regte sich das Mißtrauen aufs Neue in Falk. Aber dieses frische Mißtrauen war anderer Art. Es stützte sich auf Thatsachen, darauf, was sie selbst erzählte. Er hörte gar nicht auf, zu fragen, immer wollte er Einzelheiten wissen, und wo er einen Widerspruch vermutete, war seine Art zu fragen, ganz die eines Untersuchungsrichters, und sein Wesen war verstört und nervös. Tag um Tag hätte er ihre Vergangenheit kennen lernen mögen. Hundertmal fragte er nach denselben Dingen, und sie ermüdete nicht in der Beantwortung. Offenbar fand sie es gut und vernünftig, daß er alles zu wissen begehrte. Wenn sie so erzählte, arglos und heiter, herrschte stets ein bitterer Zwiespalt in seiner Seele. Er glaubte ihr und glaubte ihr nicht. Er sagte sich, es sei undenkbar, daß ein Mensch, und sei er der raffinirteste Heuchler, sich derart verstellen könnte, und andererseits folterte ihn das Abenteuerliche, Sprunghafte ihres Lebens und jene Verschlossenheit, die sich bisweilen an ihr kundgab, der rasche Wechsel ihrer Stimmungen, das oft Herausfordernde ja sogar Bösartige und Versteckte ihres Wesens. Besonders wurde er die Empfindung nicht los, daß alles, was sie berichtete, bis zu einem gewissen Punkte wahr sei. Von da an begann jedoch die Dunkelheit. Je mehr er sie liebte (und von Stunde zu Stunde nahm seine Liebe zu), je mehr zweifelte er an ihr. »O,« sagte er im Verlauf der Nacht zu ihr, »ich möchte nur ein einziges Mal zusehen, wenn du mit Jenem allein bist. Nur fünf Minuten lang.« Er blickte sie forschend an, aber sie lächelte. Es gibt kein Wort für die Art dieses Lächelns. Es war ein keusches Lächeln. »Noch etwas muß ich dir gestehn,« flüsterte sie bang. »Aber ich fürchte mich.« Wie ein kalter Hauch überlief es Falk. Er fühlte, wie unwahr seine Versicherung gewesen sei, daß er ihr vertraue. »Was ist es? Sag es, sag es!« murmelte er schnell und ungeduldig. »Aber du wirst böse sein.« »Gewiß nicht, Schatz,« beteuerte er, und küßte sie so heiß, als wisse er bestimmt, daß er sie nach ihrer Eröffnung nimmer küssen werde. »Ich wag es nicht,« flüsterte sie und schmiegte sich eng an ihn an. Ihr warmer Leib raubte ihm fast die Besinnung. »Sei doch nicht kindisch,« sagte er, mitergriffen von ihrer Furcht. »Aber du versprichst mir, nicht bös zu sein?« Er zögerte. »Ich verspreche es.« »Auch nicht zu schimpfen?« »Auch nicht zu schimpfen.« »Also: – Ich habe eine Schwester, die ich verleugnen muß, und die ich dir gegenüber schon verleugnet habe.« »Ah –« machte Falk erleichtert und ein wenig enttäuscht. »Aber was soll das für einen Zweck haben. Sie selbst nennt dich ja ihre Schwester. Neulich fragte sie mich, ob du zu Hause seist.« Mely schwieg erblassend. »Ja, sie beneidet mich, die Arme, und ich kann doch nicht mehr für sie thun, als _er_ mir erlaubt.« »Das ist peinlich,« sagte Falk verstimmt. »Was?« »Ach, alles das.« »Bist du bös?« »Nein, Schatz.« »Wirklich nicht?« »Nein nein, wie sollt ich auch, du armer Schatz.« »Wie gut bist du, wie gut,« stammelte sie, ihr erglühendes Gesicht an seiner Brust verbergend. »Wirst du morgen noch im Bett liegen müssen?« fragte Falk. »Du hast mir noch immer nicht gestanden, was dir eigentlich fehlt.« »Ja, – – ich bin eben krank.« »Krank! _Wie_ krank, wo krank?« »Verstehst du mich nicht? Ich habe so viel zu leiden durch – – ach verstehst du nicht? Jetzt wieder. Deshalb muß ich das Bett hüten.« »Ich – begreife aber nicht,« sagte Falk ratlos. Als er aber sah, wie sie voll Scham lächelte, verstand er plötzlich und schloß sie erregt in die Arme. Er war erschüttert, daß sie ihm dies offenbarte. Er schaute ihr lange in die Augen, die so kohlschwarz waren, und die so durchdringend leuchteten wie seltnes, kostbares Gestein. Er konnte sich nicht enthalten, sie zu küssen, sie immer und immer wieder zu küssen, zwanzig Mal, hundert Mal. Und alles vergaß er dabei, wie auch sie alles vergaß: den vergangenen Tag und den nächsten Tag, und die kommenden Tage und alle Zukunft mit ihren Sorgen. Unbewegt und voll Glück waren die gegenwärtigen Stunden. Sie glichen einem tiefen, stillen See, in dem sich der lichte Himmel spiegelt und der dadurch hell erscheint, so dunkel und geheimnisvoll er auch in Wahrheit sein mag. Und er erzählte ihr die Geschichte von Romeo und Julia, der sie atemlos lauschte. Und als er fertig war, stieß sie heftig hervor: »Und glaubst du, daß ich dich nicht so lieben könnte, wie Julia?« Schluchzend drückte sie den Kopf in die Kissen, und auch Falks Augen standen voll Thränen. Er suchte sie empor zu ziehen, aber schließlich legte er seine Wange an die ihre und flüsterte leidenschaftlich: »So hingebend? Alles könntest du von dir werfen? Ganz mir gehören?« Noch tiefer drückte sie den Kopf in die Kissen. Es war spät, und lange küßte er sie zum Abschied. XIII. Eine jener unbehaglichen Stimmungen herrschte in der Pension, die wie eine ansteckende Krankheit um sich greifen. Fräulein von Mahnke zog aus. Sie räumte und rumorte schon seit Tagen. Der Korridor glich einem Feldlager. Falk saß im Wohnzimmer am Fenster – Melys Lieblingsplatz, und faßte den Vorsatz, an sie zu denken, oder von ihr zu träumen. Aber kein glückliches Bild erschien ihm. Alle Gewißheit des Besitzes und der Liebe verging, und wie eine Wunde empfand er frisch und deutlich den Zweifel an ihr. Später setzte sich Frau Bender zu ihm. Sie frug nach Mely. Falk erwiderte, sie sei zum Oberst, um drüben zu diniren. Ganz unvermittelt begann Frau Bender von dem Oberst zu sprechen. Sie pries ihn, hob ihn in den Himmel. Es gibt eine feine Art, einen Menschen zu verkleinern: man findet die tadellos, die er haßt. So verkleinerte Frau Bender Mely Mirbeth. Aber sie wollte nicht eigentlich Böses. Sie sah auch nicht die Übel voraus, die sie verursachte. Es war lediglich der unwiderstehliche Drang in ihr, derjenigen Person, mit der sie gerade sprach, Recht zu geben, oder ihr zu schmeicheln, indem sie einem Verdacht Nahrung gab. »Ich leide sehr,« sagte Falk. »Ich taumle herum wie in der Finsternis. Was ist sie und was will er, der Andere –? Es frißt mir das Herz ab.« Er war erbittert über sich, daß er vor dieser Frau in Klagen ausbrach; er glaubte, daß er dies in der Hoffnung, beruhigt zu werden, thue. In Wahrheit jedoch wollte er nur seine Zweifel bestätigt hören. Gierig horchte er. »Wenn ich offen sein soll,« meinte Frau Bender, »so muß ich sagen, daß ich nicht glaube, alles dies sei harmlos. Bedenken Sie doch, wie die Männer sind. Der Herr Oberst ist ein Lebemann, und halten Sie es für möglich, daß er alles umsonst thut für ein Mädchen, gegen die er doch eigentlich keine Verpflichtung hat –? Ich nicht.« Falk zuckte scheinbar gleichgültig die Achseln, während durch seinen Hals eine scharfe Glut bis in den Magen ging. Bei den letzten Worten war Fräulein von Erdmann hereingekommen. »Ah! Sie sprachen von Fräulein Mirbeth –?« rief sie mit blitzenden Augen. Falk empfand einen stechenden Schmerz, als rücke nun die Gewißheit näher und näher. »Noch einmal rate ich Ihnen, Herr Falk,« fuhr Frau Bender unbeirrt fort, »als Freundin, – als gute Freundin – lassen Sie ab. Es ist ein Unglück für Sie und für Fräulein Mirbeth.« Falk schwieg. Die Erdmann betrachtete ihn zärtlich und lispelte kopfschüttelnd: »Wie kann guter Samen auf so schlechten Acker fallen!« Der junge Mann blickte sie drohend an, und trommelte aufgeregt auf die Fensterscheibe. Unbemerkt von allen war auch Helene ins Zimmer geschlüpft. Die Arme verschränkt, stand sie am Tisch und musterte Falk mit stolzen Blicken. Er begegnete ihren Augen und war gedemütigt. Sie ist klug, dachte er. Sie glaubt hoch über mir zu stehen. Sie verachtet mich, daran zweifle ich nicht. Auch die eigne Mutter verachtet sie und alle andern, die in diesem Hause sind. Zerflattert war Melys Bild vor seinen Augen, und wenn er an sie dachte, sah er nur das schlaue, verschlagene Weib, die Überlisterin des Mannes, die Betrügerin. »Die Hühner haben Ihnen wohl das Brot gestohlen, weil Sie so unglücklich aussehn?« sagte Helene nach dem Mittagessen zu ihm, als sie allein waren. »Ach ja –« seufzte Falk. Da wurde Helene plötzlich ernst. »Ich meine so, Herr Falk: Entweder man liebt; und dann vertraut man, oder man liebt nicht – nun dann nicht. Das thut ein Mann, denk ich mir. Und wenn er nicht vertraut, geht er seiner Wege.« Falk lauschte erstaunt und beklommen. Helene fuhr etwas träumerischer fort: »Die Liebe ist doch wie ein Spiegel. Ein noch so kleiner Splitter, und die ganze Scheibe hat den Wert verloren. Sehen Sie, – und dann das: ich gehe nie vor den Spiegel, wenn ich schlecht und nachlässig gekleidet bin. Wer hineinschaut, schaut wieder heraus. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehn, – vielleicht ist es auch dumm –« sie hielt errötend inne, und sagte dann, den Mund verziehend: »Ah bah! lirum, larum Löffelstiel!« Falk sah sie verwundert an. »Sie sind wie ein Gedicht von Heine,« brummte er. »Sie berauben sich selbst der schönsten Wirkungen.« Er mußte sich gestehen, daß ihr jene Worte etwas Adelndes und Liebliches verliehen hatten. Seltsam erschien ihm, daß sie ihn getröstet hatte und aufgerichtet mit diesem ziemlich dunklen Gleichnis. Doch als er ausging, war er wieder mißmutig und in gedrückter Stimmung. Er trank unter den Arkaden Kaffee und blieb Zeitung lesend sitzen, bis es dämmerte. Als er nach Hause kam, saß Mely allein im Wohnzimmer. Sie hatte ein Buch auf den Knieen, blickte aber, den einen Ellbogen auf das Knie gestützt, träumend zur Seite. »Was liest du denn da?« fragte er ziemlich hart, nahm das Buch und las den Titel: Mantegazza, Physiologie des Weibes. »Pfui, ein so schmutziges Buch liest man doch nicht!« rief er aus, und schleuderte den Band auf den Tisch. Mely errötete und sah ihn ängstlich an. In diesem Augenblick wäre sie sicherlich bereit gewesen, mit ihm zu fliehen, wohin er wollte, ihm zu folgen bis an den fernsten Winkel der Welt, und sei es in Armut und Elend. Aber plötzlich wurde sie unfreundlich, runzelte die Stirn und gab ihm auf verschiedene Fragen keine Antwort. Dieser jähe Stimmungswechsel machte ihn ratlos. Sie selbst erschien dadurch um vieles älter und häßlicher. Alles Sanfte, Nachgiebige, Gute verschwand aus ihrem Gesicht und harte Linien entstanden. Umsonst forschte er nach dem Grund dieser Veränderung; statt Auskunft zu geben, erhob sie sich und ging hinaus. Am Abend kam die Kartenlegerin. Frau Bender und das Fräulein von Erdmann hatten ihre Neugierde, Ereignisse der Zukunft zu erfahren, nicht bezähmen können, und Falks Zimmer wurde zum Quartier der Wahrsagerin gemacht. Mely atmete auf, als Falk gegen acht Uhr von einem Besuch zurückkam. Er sah sie stumm an. Ich liebe dich, hätte er ihr zurufen mögen, alle Tage denk ich nur an dich, alle Stunden, und es gibt kein Licht als die Liebe. Fräulein von Erdmann kam kichernd von der Kartenlegerin zurück. Sie stellte sich, als ob sie nicht im Entferntesten an die schönen Dinge glaube, die ihr geweissagt worden, aber schließlich konnte sie ihr Entzücken nicht mehr verbergen. »Eine geniale Person!« rief sie enthusiastisch. »Meine ganze Vergangenheit hat sie aufgedeckt, – es war staunenswert.« Falk beobachtete mit schwerem Herzen, wie jedes Wort, das sie sprach, eine feindselige Spitze gegen Mely enthielt, selbst wenn das Gesprochene sich in gar keiner Weise auf das junge Mädchen bezog. Aber der begleitende Blick und die begleitende Geste waren schon feindselig. Frauen verstehen es so gut, mit unsichtbaren Schwertern zu kämpfen. Alle sind ihr gram, dachte er. Und warum? warum? Und Mely sah ihn an mit einem Blick, der um Verzeihung bat, und der sagen wollte: Ich bin schuldig. Ich weiß, was du denkst, schien dann ein anderer Blick zu sagen, aber schon lange hassen sie mich, alle diese. Und wenn sie mich jetzt noch verachten werden, dann bist du die Ursache. Bald kam auch Frau Bender zurück und Helene ging, um sich prophezeien zu lassen. Falk fand es interessant, zu beobachten, in welcher Stimmung ein jeder zurückkam. Frau Bender war hoffnungsselig und voll gutem Glauben. Sie erzählte kindlich froh, daß sie noch in diesem Jahr zu ihrem Mann nach Amerika reisen würde. »Aber noch bevor wir dies Haus verlassen,« fügte sie hinzu, »wird eine weibliche Person darin sterben.« »Uchh!« machte Fräulein von Erdmann schaudernd. Falk wollte lächeln, aber es gelang ihm nicht. Ein kühler Strom, flüchtig und frostig, ging über seine Augen. Helene trat ein. Sie allein erzählte nichts, und machte ein skeptisches Gesicht. Jetzt erhob sich Mely. Sie schleppte sich mehr hinaus, als sie ging, und wenn auch Falk ihr Gesicht nicht sah, war er überzeugt, daß sie die Augen geschlossen haben müsse. Unter den Zurückbleibenden herrschte fortwährend jene Spannung, etwa wie unter Leuten, die sich vor Gespenstern fürchten, trotzdem Alle, Frau Bender ausgenommen, ungläubig erscheinen wollten und sich Mühe gaben, ihr inneres Erstarrtsein zu verbergen. Falk hatte Herzklopfen als er Mely kommen hörte. Sie schüttelte bloß den Kopf, als sie sich setzte und sagte zusammenfahrend, als ob es kalt sei im Zimmer: »Gar nichts hat sie mir mitteilen können. Das Eiweiß im Wasser ist ganz zu Boden gesunken, und hat gar keine Figuren gebildet. Und die Karten waren ganz wirr.« Wieder fuhr sie zusammen und häkelte den Kragen ihres Hauskleids zu. »Soll ich auch mitthun?« fragte Falk, sich belustigt umsehend, als handle es sich um einen vortrefflichen Scherz. Alle bejahten lebhaft. »Sie werden sich köstlich amüsiren!« rief Fräulein von Erdmann, indem sie bemüht war, Mely ihre Geringschätzung zu zeigen. »Gehen Sie nur, Sie Zigeuner! Marsch!« Und mit frivol gespitzten Lippen blies die dicke Dame bedächtig den Rauch ihrer Zigarre von sich. Als Falk sein Zimmer betrat, saß die Kartenlegerin am Tisch und schlürfte Thee. Er sah ein Gesicht, das einem Stück Felsen glich, wenn lange Zeit das Wasser darüber hinweggespült wurde, so daß es ganz gefurcht und grünspänig aussieht. Das Weib mischte die Karten und sagte mit fremdländischem Accent: »Aach ... Liebe, die vorübergeht.« Sie sprach ihr fremdes Deutsch im Münchner Dialekt, und wandte oft übertriebene, phrasenhafte Worte an, so daß ein halb komisches, halb beängstigendes Gemisch von Gravität und prophetischer Würde entstand. »Sie haben es verstanden, arm zu bleiben,« sagte sie dann kopfnickend. »Die Aß und der Bub, – Schellenkönig, – großes Herzeleid ist über Ihnen, wie eine schwangere Wolke. Grün Zehner und rot Sechser – durch ein großes Gebirge werden Sie fahren, und zwar im August dieses Jahres. Ein schwarzhaarigs Mädel steht bei Ihnen. Sie sehnt sich recht sehr nach Ihnen, von ganzem Herzen liebt sie Ihnen, – aber Lug und Trug ohne Ende ist dabei und Thränen und Kummer –« »Hören Sie auf!« unterbrach sie Falk, mühsam lachend. Mit blöden Augen schaute ihn die Alte an. – Im Wohnzimmer angelangt, war er sehr heiter. Er berichtete die komischen Einzelheiten in dem Gebahren der Seherin, und seine Lustigkeit wurde zum Schluß förmlich betäubend. Er fühlte, wie Mely seinen Blick zu erhaschen suchte, wie sie ängstlich und vorwurfsvoll, ihn nicht aus den Augen ließ, aber um keinen Preis hätte er sie jetzt anschauen mögen. Seine Empfindungen waren verzerrt, sein Herz war wie zersprungen. Da bemerkte er, daß sie das Zimmer verlassen hatte. Zuerst achtete er nicht darauf, aber auf einmal verlor er die Ruhe und die Besinnung und ging hinaus, um sich in seinem Zimmer einzuschließen. Doch wanderte er, seinen Vorsatz vergessend, im Korridor auf und nieder. Er hatte Sehnsucht nach ihr und wünschte heiß, sie küssen zu dürfen. Er klopfte leise an ihrer Thür. Als er keine Antwort erhielt, drückte er auf die Klinke, aber sie hatte den Riegel vorgeschoben. Er flüsterte ihren Namen, und immer erregter werdend, klopfte er schließlich heftig an die Thüre. Ohne daß er sie nahen gehört, stand plötzlich Helene hinter ihm. »Was thun Sie!« sagte sie streng. »Gehen Sie hinein, Helene,« antwortete er finster. »Ihnen wird sie öffnen. Ich weiß bestimmt, daß sie jetzt drinnen liegt und weint, aber es ist mir unverständlich, unfaßbar!« Eindringlich rief Helene Melys Namen. Falk trat ein wenig zurück in die Dunkelheit. Mely öffnete und ließ Helene ein. Es war finster in ihrem Zimmer. Am nächsten Morgen saßen die beiden Mädchen lange Zeit bei einander. Er hörte, daß sie sich dutzten, und ein beklemmendes Gefühl hinderte ihn stundenlang am ruhigen Nachdenken. Gegen Mittag kam der Diener des Obersts, ein läppisch aussehender Soldat mit einem Brief für Mely. Falk saß am Klavier. Während er weiterspielte, sah er genau, wie das junge Mädchen erbleichend das Papier durchlas, es dann hastig zerknitterte und in die Tasche steckte. Er trommelte ein wildes, sinnloses Fortissimo und schlug krachend den Deckel zu. »Herr Falk interessirt sich außerordentlich für Sie,« sagte Frau Bender, die in der Küche am dampfenden Herd stand, zu Mely. »Er ist so unglücklich und klagt mir fortwährend sein Leid. Sie müssen ihn trösten und aufrichten, Fräulein Mirbeth.« Die kleine Frau lächelte fröhlich und rührte emsig ihr Kartoffelgemüse. Finster sah Mely auf den Schnee hinaus, der schon allenthalben mit Ruß bedeckt war. Begierig hörte sie zu, als wünsche sie selbst, daß die Liebe in ihrer Brust ertötet würde. »Ich bin so elend,« sagte sie mit unstätem Blick, als Frau Bender fertig war, »ich sollte mich eigentlich ins Bett legen.« »Thun Sies doch.« »Ich muß hinüber zu Herrn Oberst.« Als sie fortging, stand Falk im Korridor. Ohne ihn anzusehn, schritt sie vorbei, matt lächelnd. Sie grüßte ihn, aber ganz leichthin, ganz in die Luft hinein rief sie das Adieu. Zuerst stand Falk wie betäubt. Dann eilte er ihr nach und sich über die Treppenbrüstung beugend, rief er flehend hinunter: »Der Brief –?« Sie blickte empor: erstaunt, fremd und kühl. Dann lachte sie kurz auf und ging weiter. Falk sah immer noch auf den Punkt, wo sie gestanden. Er sah noch ihr bleiches Gesicht hinter dem schwarzen Schleier und die funkelnden, von schwerem Feuer erfüllten Augen. Nie war sie ihm so schön, so unnahbar und so hassenswert erschienen. Im Innern war er wie zerstört. Beständig spielte ein geringschätziges Lächeln um seine Lippen: eine Maske, die ihn tröstete. Er konnte die Geringschätzung gegen das, was ihm zugestoßen, durchaus nicht in sich finden. Nun ist sie dort drüben, dachte er, und sie genießt den Triumph, so vortrefflich gut mit mir gespielt zu haben. Dann stellte er Betrachtungen an, wie er sich als charakterfester Mensch zu benehmen habe. Er wollte ihr seine Verachtung zeigen und die Liebe tief verschließen. Vor allem machte ihn das Grundlose dieser Veränderung verwirrt. Hart und böse war sie ihm erschienen, obwohl er das vor sich selbst zu verbergen und sie zu entschuldigen trachtete. An diesem Tag kam viel Besuch. Frau Kremer, eine alte Freundin Frau Benders kam mit ihrer Tochter Clodi von Köln, ferner eine Cousine Helenes, namens Rosine Malz. Die ersteren wollten vier bis fünf Tage, die letztere einige Wochen bleiben. Frau Kremer brachte Heiterkeit mit. Sie war dick und rund, lachte beständig, und nichts war ihr so heilig, als daß sie es nicht zu einem Witz mißbrauchte. Diese Witze waren meist so geartet, daß Rosine Malz purpurrot wurde, Frau Bender die Hände zusammenschlug, Clodi kicherte und »aber Mama« rief und Helene niedergeschlagen den Kopf schüttelte. Am Abend gingen alle ins Theater. Falk war in seinem Zimmer und lag mit dem Oberkörper auf dem Bett. Er hatte die Hände unter dem Kopf verschränkt und starrte in die Höhe, in den zitternden Lichtkreis, den die Flamme auf die Decke warf. Zum hundertsten Mal rief er sich all das zurück, was Mely schuldig der Lüge erscheinen ließ, und je mehr er nachdachte, um so mehr ward er überzeugt von ihrer Schuld. Auf jedes Geräusch lauschte er, und er verfolgte es, wenn es sich langsam verlor. Aber es wurde acht Uhr, und sie kam nicht. Er erhob sich und ging schnell auf und ab. Da läutete die elektrische Glocke, und er wußte: sie war es. Er legte sich wieder, scheinbar gleichgültig sinnend, aufs Bett und mit klopfendem Herzen vernahm er ihre nahenden Schritte. Als sie anpochte, rief er mit wohlvorbereiteter Nachlässigkeit: herein! Wiederum fiel ihm zuerst das gänzlich Verstörte ihres Wesens auf. Wohl empfand er eine flüchtige Freude darüber, daß sie kam, aber zugleich gewann eine so große Trauer Macht über ihn, daß er völlig abgewandt von Mely auf das schauerliche Geheul des Windes horchte und sich nicht einmal erhob, um sie zu begrüßen. »Guten Abend,« sagte sie leise und furchtsam. »Wo warst du so lange?« entgegnete Falk, ohne sich zu bewegen. Er starrte immer noch auf die Decke. Mely seufzte tief und schlug ihren Schleier zurück. »Du weißt es doch,« sagte sie mit jenem schwermütigen Tonfall, der ihn unfähig machte, ihr länger zu zürnen. Er sträubte sich gegen den Einfluß ihres Wesens, ihres Wortes, aber umsonst. Alles ist berechnet bei ihr, dachte er, alles ist Verstellung, – aber dennoch, eher hätte er ihre Verzeihung erbetteln, als ihr Vorwürfe machen mögen. Er gehörte zu jenen Menschen, die wenn sie lieben, jede Züchtigung, jede Demütigung zu vergessen wünschen. Plötzlich aber, als er aufgestanden war und ihr entgegentrat, fiel sie ihm um den Hals und stammelte fassungslos: »O, ich mag dich so gern!« »Mely!« rief er aus und drückte sie an sich. Quälend und überaus besorgniserregend war ihm die Verstörtheit ihres Wesens. Beglückt zugleich und bestürzt durch das Ungewisse, Finstere, vor dem er stand, küßte er sie brennend heiß. »Bist du denn wirklich mein Schatz?« fragte er, zitternd am ganzen Körper. »Ja ja,« antwortete Mely hastig und gleichsam angstvoll und drückte ihn mit bebenden Armen an sich. »Warum liebst du mich?« fragte sie, indem sie schmerzlich und kummervoll zu ihm aufsah. »Das möcht ich wissen. Es ist doch nichts an mir. Es gibt doch so Viele!« »Was ist vorgegangen mit dir!« rief Falk erschrocken. »Nichts, nichts,« erwiderte sie kaum hörbar. »Horch nur, wie der Wind rast.« »Lieber, süßer Schatz, was ist mit dir? Was hast du für einen Kummer? Schau, ich weiß, du verbirgst mir etwas, du hast ein Geheimnis. Komm, vertraue mir, sei gut, sag es mir.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist nichts, gewiß nicht. Warum bist du so mißtrauisch?« »Du hast Wein getrunken?« forschte er nervös. »Ja, – weshalb?« Er verfiel in langes Grübeln. Mely beobachtete ihn unruhig. Dann nahm er ihre Hand. »Mely – hättest du den Mut, mit mir zu sterben?« Sie entzog ihm ihre Hand. »Ach geh, den Unsinn!« erwiderte sie stirnrunzelnd. Förmlich gepeitscht von Argwohn und Zweifel, folgte er ihr ins Wohnzimmer. »Was war das für ein Brief, den du heute bekommen hast?« begann er, und setzte sich zu ihr auf den Divan. Sie lächelte versteckt. Er drängte, aber sie weigerte sich. Sie zog die Sache zuerst ins Scherzhafte, aber schließlich wurde sie finster und ungehalten. Falk hätte in den Boden sinken mögen vor Scham und Bitterkeit. Er versuchte, zärtlich zu sein, sie zu versöhnen. »Was hattest du heute Mittag?« fragte er sie schüchtern, doch mit verhaltenem Zorn. »Da fragst du noch?« gab sie gehässig zurück. »Nun?« »Ich liebe nur einen Mann, den ich bewundern kann,« sagte sie entschieden. »Aber wie kann ich das, wenn du so weibische Sachen machst. Du spionirst, du horchst, du bringst mich ins Gerede, du beschwörst den niedrigsten Klatsch herauf, – du hast gar keine Achtung vor mir.« Falk stand am Fenster und sah hinaus. »Sie macht mich wahnsinnig,« flüsterte er vor sich hin. »Überhaupt, was ist das für ein Sturm heute? Was soll das bedeuten? Die Welt ist in Aufruhr, das ist klar, klar. Finster ist die Nacht. Ich wollte, ich wäre da draußen. Vielleicht irgendwo auf der Landstraße, wo es stürmt und regnet, oder im tiefen Wald, nur nicht in diesem Zimmer. Ich hasse sie bitter.« Diese wirren Worte entfielen ihm ganz unbewußt. Alles Gegenwärtige war ihm traumhaft und verschleiert, und er suchte seine Gedanken von dem Wirrsal, das in seiner Seele herrschte, abzulenken. Gift ist die Liebe, dachte er. Und doch, den Staub hätte er von den Dielen geküßt, wenn sie jetzt ein gutes Wort gesprochen hätte. All seinen Argwohn vergaß er im Nu, wenn sie zürnte. Als um elf Uhr Frau Bender mit ihren Gästen heimkehrte, entstand eine geräuschvolle Lustigkeit. Frau Kremer hörte nicht auf, Falk und Mely mit Anzüglichkeiten zu verfolgen. Mely wurde immer verlegener; bang und traurig flehte sie Frau Bender mit Blicken um Hilfe. Clodi schalt ihre Mutter und ging zu Mely. Sie ergriff die Hand des jungen Weibes und legte den rechten Arm ihr um den Hals. Clodi hatte ein gutes Gesicht, in welchem zwei kindlich schalkhafte, treuherzige Augen saßen. Mit einem Lächeln, voll von Verwunderung, Freude und Dankbarkeit sah Mely zu ihr auf. Frau Bender spielte mit Falk Halma. Sie verlor stets und geriet darüber in große Aufregung. Den folgenden Tag über sprachen Mely und Falk fast nichts zu einander. Mely war von übertriebener Lustigkeit und spielte mit Dele und Clodi. Pitt mußte über den Stock springen und die Katze suchen, und das jüngste Kätzchen wurde, angethan mit Puppenkleidern und einer Pierrot-Mütze, auf dem Tisch spaziren geführt. Das unglückliche Tier machte die größten Anstrengungen, sich seines Kostüms zu entledigen, und darüber herrschte nun großer Jubel. Die Katzenmutter sah mit funkelnden Augen, leise brummend zu und war beständig gegen Pitt in Angriffszustand. Die Erfinderin aller tollen Streiche war Clodi, in der viel von der Laune ihrer Mutter steckte. Fräulein von Erdmann kam öfters mit feierlichen Schritten ins Wohnzimmer, um durch ihr Erscheinen dem Lärm zu steuern. Aber es war nutzlos. Unbeirrt durch das Geschrei und Gelächter, spielte Falk ein schwermütiges Adagio, ein Chopinsches Lamento und den Trauermarsch aus der Asdur-Sonate. Bald wurde er von Clodi vertrieben, die sich den »Leichenchor« verbat, am Klavier Platz nahm und einen Walzer spielte. Und sie spielte ihn so, daß man lächeln mußte in innerer Sorglosigkeit. Groß und durchdringend ist der Zauber der Jugend. Auf alle war Falk eifersüchtig: auf Clodi, auf Dele, auf den Hund und auf die Katze. Ihm schien es, als ob sich Mely nur deshalb so sehr dem Spiel hingebe, um ihm ihre Gleichgültigkeit zu zeigen. Und es war auch so. Sie that es aus Trotz. Es dämmerte und der olivenfarbne Abenddunst lag auf der Straße. Da kam sie zu ihm ins Zimmer. Er konnte nicht sprechen vor Trauer und Beklommenheit. Aber als er ihr etwas spöttisches Lächeln sah, sagte er: »Siehst du, du wirst mich krank machen.« Sie lachte hart. Dann aber veränderte sich der Ausdruck ihres Gesichts, und sie sah ihn an, als ob er in viel größerer Ferne stünde und sie sich im Ungewissen befände, ob er es denn wirklich sei. »Ach,« sagte sie, »sie machen dich schlecht. Sie wenden alles an, mich von dir abzuziehen.« Sie schwieg, denn er hatte ihr den Rücken zugedreht und sie mußte sein Gesicht sehen können, wenn sie ihm so etwas sagte. »Ich muß jetzt fort,« erwiderte Falk mit gleichgültiger Stimme. »Kannst du mitgehn? Wir gehen in den Theesalon ...« Mely brauste unwillig auf. »Was fällt dir ein? Du weißt doch, daß ich nie mehr mit dir auf der Straße gesehen werden darf. Er ahnt schon ohnehin etwas –« »So! – Na, das ist ja gleich. Ich lechze nicht so sehr nach deiner Gesellschaft. Empfiehl mich deinem Hund und den Katzen. Adieu, Fräulein.« Sie machte eine verächtliche Bewegung mit den Lippen und ging. Aber Falk blieb zu Hause. Zuerst faßte er den Entschluß, den Abend über in seinem Zimmer zu bleiben, doch das konnte er nicht ertragen. Er mußte sie sehen, er mußte sie reden hören, wenn gleich sein Herz von Bitterkeit gegen sie erfüllt war. Er unterhielt sich mit Rosine Malz, die ihm viel dümmer vorkam als andere Mädchen dieses Schlags, und später mit Fräulein von Erdmann. Er spielte den Liebenswürdigen und versuchte nicht ohne Glück, witzig zu sein. Er hoffte dadurch Mely zu reizen. Und als es Nacht war und alles schon stille, kam sie zu ihm. »Ich habe Jemand im Korridor gesehn,« flüsterte sie unruhig und gequält. Er ging hinaus und that, als suche er etwas. Er öffnete die Wohnzimmerthür, die nur angelehnt war – er erschrak darüber – und spähte hinein. Im Finstern sah er Helene am Fenster stehen. Sie setzte die Kerze in Brand und blickte ihn kalt an. Offenbar weiß sie jetzt alles, dachte er. Sie erschien ihm hinterlistig und katzenhaft. Er redete Mely die Furcht aus. Sie hörte nur halb auf ihn, denn sie lauschte beständig auch auf die leisesten Geräusche vom Flur und von der Straße. Als er wiederum bat, ihm den Brief zu geben, stieß sie ihn gereizt zurück. Er sprang auf und ballte drohend die Faust. Dann wanderte er erregt auf und ab und schleuderte eine Untertasse zu Boden, daß sie klirrend zerbrach. Mely lachte boshaft und geringschätzig. Das brachte ihn außer sich. Er stellte sich vor sie hin und sagte gehässig, mit funkelnden Augen: »Ich weiß, daß du etwas verbirgst und ich schwöre dir, daß ich es erfahren werde. Hüte dich!« »Die lächerlichen Drohungen!« erwiderte Mely gleichgültig und ruhig. Sie erhob sich, um zu gehen. »Du wirst bleiben!« rief er mit unterdrückter Stimme und mühsam an sich haltend. Er packte sie bei den Schultern und warf sie mit voller Kraft in den Fauteuil zurück. Wie gelähmt blieb sie sitzen. Ihre Augen leuchteten in grünlichem Glanz. Und Falk redete zu ihr: erst in verzweifeltem Trotz, dann mit einer Sanftmut, die mit Selbstverachtung zu kämpfen schien (weil er sich nachgiebig zeigte, da er doch ein Recht zu zürnen hatte), und immer leiser sprach er, ungereimte Dinge, Versicherungen seiner Liebe, seiner Ehrlichkeit, das Eingeständnis seiner Heftigkeit und seines Mangels an Vorsicht. Die Leidenschaft verzehrte ihn, und der Wunsch, sie weich zu stimmen, machte ihn selbst weich. Wäre sie ihm jetzt um den Hals gefallen und hätte Verzeihung erfleht, so hätte er sie geküßt und hätte großmütig verziehen, aber die ungestüme Liebe wäre zusammengesunken wie ausgekühlte Asche. Sie aber erwiderte gar nichts. Sie saß da, schaute stets auf denselben Punkt, und als er fertig war, sagte sie, als hätte sie von seiner langen Rede nichts gehört: »Ich will jetzt hinaus.« »Bitte,« erwiderte er höflich. Er _sagte_ das nur, denn er hatte nicht den Willen, sie gehen zu lassen. Er glaubte nur, daß sie milder gestimmt, oder vielleicht stutzig gemacht durch seine Einwilligung, doch bleiben werde. Aber sie wollte in der That fort und da vertrat er ihr den Weg. »Wenn du mich nicht gehen läßt, ruf ich um Hülfe,« flüsterte sie, schwer atmend. Da lachte er höhnisch, und schaute sie mit einem Blick voll Wut, Hohn und Haß an. Aber sie wagte nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Das also ist die Liebe, dachte er, innerlich frierend. »Geh! geh! ich will dich nimmer sehn!« rief er ihr zu und wandte sich ab. »Helene weiß alles,« sagte sie, als er am andern Morgen in ihr Zimmer kam. Er schämte sich, daß er zu ihr gegangen. Er wußte, daß es feig, schwach und unmännlich war, aber wie eine nimmersatte Feuersbrunst wütete die Liebe in ihm. Sie hatte ihn beleidigt, er aber wollte nichts, als ihre Verzeihung. Er achtete ihrer Worte nicht. »Ich muß mit dir reden,« sagte er streng, um sie über den Grund seines Kommens zu täuschen. »Nun?« »Ich will, daß du dich vom Oberst lossagst.« »So? Du bist sehr freundlich.« »Ich kann die Zweifel und diese Angst nicht mehr ertragen. Es ist schimpflich für uns beide. Mach ein Ende, Mely. Nur dann kann ich bei dir ausharren.« »Ach, dieses Geschwätz!« rief Mely heiter. »Ich habe dir schon gesagt: ich kann nicht, und das muß dir genügen.« »Du kannst nicht? Wie viel Tausende müssen ihr Brot verdienen und thun es willig.« »Ich bin krank, du weißt es.« »Ach –!« »Also: ich kann nicht und damit fertig.« Ihre brüske Art machte ihm heiß. Spöttisch erwiderte er: »Das Fräulein sind einfach zu bequem. Das ist zu plebejisch: sich sein Brot verdienen. Wie angenehm ist es, sich an die Tafel des reichen Mannes zu setzen und sich füttern zu lassen. Wenn man auch hin und wieder ein bischen beschimpft wird, was schadet das.« Er wußte, daß sie alles gelassen hinnahm, nur seinen Spott nicht. Darum suchte er mit Innigkeit nach spitzen Wendungen und giftigen Anspielungen, bis Mely wie außer sich aufsprang und ihn mit den Blicken maß. »Genug! genug!« rief sie mit bebender Stimme. Falk ging den ganzen Tag wie gebrochen umher. Den Nachmittag hindurch spielte er Billard im Kaffeehaus, dann Schach, endlich Karten. Erst tief in der Nacht kam er nach Hause. Sicherlich wacht sie noch, sagte er sich beim Zubettgehen. Sie hat gewartet, bis ich kam. Und mit Sehnsucht gedachte er ihrer Küsse. Hundert und hundert Mal hatte er diese Lippen berührt, mit Andacht oder mit heißem Verlangen, die sich jetzt nimmer für ihn öffnen sollten. Bei Tag hatte er sich in ein künstliches Gefühl des Befreitseins hineingeredet, aber jetzt, in der Stille der Nacht überfiel ihn der unerbittliche Schmerz des Verlustes. Am Morgen kam der Bursche vom Oberst und brachte ein großes Paket. Falk war im Wohnzimmer, als sie es öffnete. Clodi, Dele, Rosine Malz und Frau Bender standen erwartungsvoll dabei. Er sah, wie ihr Gesicht strahlte, als sie die Geschenke, eins ums andere herausnahm und auf den Tisch legte. Sie konnte sich nicht finden vor Glück. Rasch kleidete sie sich um und eilte hinüber, um zu danken. »Wie unzart von Fräulein Mirbeth, in Ihrer Gegenwart so über die Geschenke zu jauchzen,« sagte Frau Bender zu Falk, der stumm am Fenster lehnte. Wieder verbummelte er den Nachmittag und den Abend. Er verschleuderte sein Geld, hielt Selbstgespräche auf den Gassen, wobei er weite, ausdrucksvolle Gesten und ein bekümmertes Gesicht machte. Es war kalt und der Mond schien so hell wie in den Herbstnächten, als er heimging. Sein Inneres war wie ausgebrannt. »Ich bin zertrümmert,« sagte er oftmals für sich und schüttelte verwundert den Kopf. In seinem Zimmer angelangt, kühlte er die Stirn mit kaltem Wasser. Viel tausend Stimmen schrieen in seiner Seele nach ihr. Sie betrügt mich, dachte er. Aber er entbehrte sie, wie ein Hungriger die Speise. Aus seinem Zimmer schleichend, nahte er ihrer Schlafzimmerthüre. Er horchte lange, dann drückte er die Klinke. Es war nicht verriegelt und unhörbar trat er ein. Ohne sich zu rühren, blieb er lange Zeit an ihrem Bett stehen und lauschte ihren Atemzügen. Schwach fiel der Schimmer des Mondes auf ihre weiße Gestalt. Ruhig und ausgestreckt lag sie da und traumlos schien sie zu schlafen. Die Nase ist viel zu breit, dachte Falk, sogar jetzt läßt sich das erkennen. Dann beugte er sich nieder und küßte sie. Ohne sie geweckt zu haben, ging er wieder hinaus. Den folgenden Tag über sahen sie sich kaum. Frau Bender und Helene benahmen sich etwas seltsam gegen ihn, und Rosine Malz zeigte ihm offen, daß sie ihn hasse. Überdies war sie fast den ganzen Tag hindurch im Begriff, über die Scherze der Frau Kremer züchtig zu erröten. Clodi allein sprach öfter mit ihm, ja, sie machte ihm ein wenig den Hof. Sie war unschuldig wie ein Vogel, wenn sie auch all die groben Anzüglichkeiten ihrer Mutter belachte. Sie verstand es, mit ihrem Lächeln jemand das Herz leicht zu machen. »Ein Gesicht machen Sie, als ob Sie Einen erschlagen hätten,« sagte sie zu Falk. »Lachen Sie doch! Marsch!« Und sie versuchte, ihn am Halse zu kitzeln. »Wissen Sie nicht, was mit Fräulein Mirbeth ist?« fragte sie ihn flüsternd. »Die sitzt jetzt oft stundenlang da und spricht und lacht nicht ...« Einige Tage darauf ging Falk in Melys Zimmer. »Ich bitte dich, was hast du gegen mich?« begann er sogleich. »Sag mir alles, ich bin auf alles gefaßt.« Sie lag in ihrem hyacinthenfarbnen Schlafrock auf der Ottomane und schaute unbeweglich zur Decke. »Ach, das ist doch sehr einfach,« sagte sie langsam, als er nicht aufhörte, sie zu bedrängen. »Nun?« Sie schwieg, sie schien sich zu besinnen. Dann erwiderte sie so weich, daß er den Inhalt ihrer Worte kaum begriff: »Ach, ich mag dich halt nimmer.« Falk trat zurück und schlug erschüttert die Hände zusammen. »Das also!« – »Warum?« fragte er nach schier endlosem Schweigen. »Mein Gott, da kommt so vieles zusammen,« sagte sie immer noch weich, gleichsam flehend. »Deinetwegen und meinetwegen.« »Du hast also dein Herz von mir abkommandirt? – Ja, du hast mit mir gespielt,« murmelte Falk, ohne Hoffnung, dies ertragen zu können. »Wie dumm war ich doch! Wie ein Hündchen hing ich an dir. Ich habe dir meine Liebe stets auf dem Servirbrett zugetragen.« »Das war das Unglück, ja. Übrigens, was hat es für einen Zweck? Es ist doch hoffnungslos. Bis es einmal soweit käme, bin ich eine alte Schachtel.« »O ich könnte treu sein. Ich habe das Zeug dazu. Selbst die alte Schachtel könnte mich nicht hindern, treu zu sein. Aber du hast nur gespielt, das ist klar ... Alles hab ich auf dich gesetzt, die Zukunft, das ganze Leben. Und nun hast du mich zerstört. Du betrachtest mich nie mit deinen eigenen Augen, sondern immer mit denen anderer Leute, mit Helenes Augen oder so. Du hast mich nie geliebt, nie geliebt.« Der Schmerz verschloß ihm die Kehle. Immer noch ausgestreckt lag Mely da und rührte sich nicht. »Wirklich? Ist es denn wirklich wahr?« begann Falk wieder und näherte sich ihr. »Sag doch! Ich will ja gehn, wenn du es jetzt wiederholst. Ist es denn wirklich wahr?« Er redete mit heiserer, trauriger Stimme, aber keine Silbe war mehr aus ihr herauszubringen. »Sag, soll ich gehn?« fragte Falk. »Sprich nur ein Wort und ich bleibe. Sag ja, und ich bleibe. Willst du? Willst du?« Aber sie blieb stumm und nagte bloß an ihrer Unterlippe. Da ging er. Als er draußen war, erhob sich Mely und wanderte mehr als zwei Stunden lang auf und ab. Oft standen ihre Augen voll Thränen. Sie blieb an diesem Abend in ihrem Zimmer. Falk besuchte das Fräulein von Erdmann und führte mit ihr tiefsinnige Gespräche über den Wert des Lebens, wobei er zur absoluten Verneinung gelangte, wie Viele vor ihm. Aber die Dame, die jetzt in ihrem Äußern wie in ihrer Umgebung die Spuren eines immer größeren Verfalls zeigte, wollte davon nichts hören. Sie stritt für die Lebensfreude und für die Liebe und ließ den jungen Mann merken, daß er alle Gluten jungfräulicher Leidenschaft bei ihr finden könne, wenn er nur zu begehren verstehe. Sie versperrte sogar die Thüre, um ihn zum Dableiben zu zwingen. Ihr Feuer berührte Falk sehr peinlich. Aber er und alle, die in diesem Hause wohnten, sahen sie versinken in Armut und Erbärmlichkeit und es hatte Scenen gegeben, wo sie von Fremden gar sehr gedemütigt worden war. Deshalb bemitleidete er sie und benahm sich rücksichtsvoll. Zum Schluß allerdings tischte sie ihm ein paar Anekdoten auf, die Zeugnis ablegen sollten von dem lockern Leben, das im Hause des Obersts Thewalt geführt wurde. Frau Bender traf er an diesem Tag in großer Niedergeschlagenheit. Ihr Sohn hatte aus Chicago geschrieben, daß der Vater mit einer fremden Frau lebe. Das hätte sie an sich nicht zu Boden gedrückt, aber er schickte auch kein Geld mehr. Sie war in Not. Fräulein von Erdmann konnte nicht zahlen, auch Falk war im Rückstand. Das ganze Hauswesen war zerrüttet. Frau Kremer war abgereist und mit ihr war der letzte Rest von Heiterkeit fortgezogen. »Lottelotts kommen auch nicht mehr,« sagte Frau Bender beim Thee. »Sie haben mich durch Helene wissen lassen, sie könnten nicht mit einer Person wie Fräulein Mirbeth an einem Tisch sitzen.« Falk brauste auf. »Ja sehen Sie, man erzählt sich eben sehr viel,« fuhr die Hausfrau bedauernd fort. »Auch Fräulein von Erdmann hat verzichtet, beim Mittagstisch zu erscheinen. Und warum ist Fräulein von Mahnke ausgezogen? Nur deswegen. Ich muß ihr kündigen, ich bin es meinen Kindern schuldig.« Falk erbleichte bis in die Lippen. »Das werden Sie aber unterlassen, Frau Bender –! So viel Zartheit, – um Gottes willen!« Frau Bender versuchte einzulenken. »Ich glaube ja alles Gute von ihr, obwohl – – Persönlich ist sie mir ja lieb und Helene hat sie sehr gern, – aber urteilen Sie doch selbst. Früher, – was für Zwistigkeiten waren das stets zwischen ihr und dem Oberst. Er hat ihr Dinge gesagt und geschrieben, daß sie zu stolz sein müßte, ihn anzureden, – und nun, mit welcher Andacht spricht sie von ihm. Welche Fülle von Geschenken –« »Lassen Sie uns eine Partie Halma spielen, Frau Bender,« unterbrach sie Falk, bis in die tiefste Seele erzitternd. Helene summte jenen bekannten Gassenhauer aus Rigoletto vor sich hin, der von der Unverläßlichkeit des Frauenherzens handelt. Heute gewann Frau Bender. Ich muß handeln, dachte Falk, ich muß mir Beweise verschaffen und dann, – Gott sei mir gnädig. Er wollte sich nicht eingestehn, daß er sich fürchtete vor Beweisen. Alles zitterte an ihm, beständig tastete er mit der Hand an die Schläfe und schloß die Augen, wie um nicht sehen zu müssen, was er so sehr zu sehen wünschte. Was hilft es auch, grübelte er; ich bin ihr gleichgültig, sie hat es selbst gesagt. Und dieser Gedanke überwog alle andern. »Sie haben sich wohl verfeindet mit Fräulein Mirbeth?« fragte Frau Bender und als Falk bejahte, setzte sie hinzu: »Seien Sie doch stark und lassen Sie sich nicht so sehr niederdrücken.« »O sie ist falsch,« flüsterte er. Es drängte ihn nach Mitteilung seiner Leiden. Aber plötzlich stand er auf, wie von Ekel erfaßt und verabschiedete sich. Mely schloß sich von allen ab, auch von Helene. Dies Mädchen war ihr in letzter Zeit verhaßt geworden, obwohl sie sich zwang, freundlich zu sein, wenn sie mit ihr sprach. Ein ganz harmloser Vorfall war die Ursache und der Anfang dieses Hasses gewesen. Eines Abends, als Mely noch im Wohnzimmer war, hörte man draußen an der Treppe ein Geflüster. Frau Bender vermutete, daß die Magd von ihrem Kammerfenster aus sich mit einem Mann unterhielte. Helene entledigte sich blitzschnell der Schuhe, öffnete geräuschlos die Thüre, huschte ebenso lautlos hinaus und horchte draußen. Alle ihre Bewegungen dabei waren schlangenhaft. Seitdem haßte sie Mely. Sie war ihr genau wie eine junge Katze erschienen. Auch fürchtete sie, die kleine, listige Person möchte das Geheimnis ihrer Liebe ausplaudern, obwohl sie wußte, daß Helene die Gabe des Verschweigens in hohem Grade besaß. Sie fühlte wohl, daß Alle gegen sie waren, wie gegen den bösen Feind, aber sie lächelte dazu. Innerlich verwundet, vereinsamt und die Einsamkeit suchend, schloß sie sich ab von den Leuten, die so viel redeten, als sie reden hörten, ohne das Gewicht der Worte zu bemessen. Ein finsterer Menschenhaß beherrschte sie einige Tage lang durchaus. Nur die kleine Dele kam täglich zu ihr und bei diesem Kind konnte sie sich selbst vergessen. Sie liebte das Mädchen mit jener Leidenschaft, die oft an ihr hervorbrach, wie das Wasser einer unterirdischen Leitung, das einen falschen Ausweg gefunden hat. Und doch witterte sie schon bei dem Kind Eigennutz: weil sie es beschenkte, darum war es lieb und heiter, und nur in der Erwartung der Geschenke schien es zutraulich zu sein. Und als Frau Bender in einer boshaften Aufwallung über Melys Abschluß von ihrer Familie dem Kinde verbot, das junge Mädchen ferner zu besuchen, glaubte Mely, daß sie »eigentlich« froh darüber sei. – Frau Bender lag krank im Bett. Kummer und Sorgen hatten sie niedergedrückt. Der Termin nahte heran, ohne daß sie wußte, wie sie die Miete bezahlen sollte. Die Magd erzählte es Mely und dann kam auch Helene und weinte. Da ging Mely zum Oberst und schon am Abend brachte sie Frau Bender vierhundert Mark und entfloh ängstlich den stürmischen Danksagungen der gedemütigten Frau. Falk vernahm das mit den Empfindungen, die Einer im fernen Land den Nachrichten aus der Heimat entgegenbringt. Als er eines Nachts spät heimkam, schlich er wieder in Melys Zimmer. Er sah sie schlafend, beim matten Schein des nächtlichen Lichts. Und er küßte sie mit der ganzen Trauer des Verlustes. Dann ging er wieder. Und so die nächste Nacht und die folgenden Nächte. Am Tag sehnte er die Nacht herbei, den Genuß jener schnellen Minuten. Ihm war, als spüre sie seine Nähe im Traum und lächle ihm zu im Traum und erkläre sich einig mit ihm. Und einmal geschah es, daß sie erwachte. Sie schlug die Augen auf und lächelte sanft. Sie schlang ihren Arm um seinen Hals und zog sein Haupt seufzend herab und drückte es an ihre Brust. Stumm und beglückt ließ er es geschehn. Es war ein Traum für sie und für mich, dachte er beim Hinausgehen. Aber von da an erwachte sie in jeder Nacht und liebkoste ihn schüchtern, wie es ihre Art war. Bei Tag sprachen sie nicht miteinander und gingen gleichgültig eines am andern vorüber. Eines Sonntags im Februar beschloß die Familie Bender einen Ausflug zu machen. Doktor Brosam hatte sich sehr genähert und dieser Ausflug war sein Plan. Da es aber nur drei Personen waren und Frau Bender den beiden jungen Leuten Gelegenheit geben wollte, allein zu sein, – der Doktor war reich – so suchte sie nach einem vierten Teilnehmer. Rosine Malz hatte ein verschwollenes Gesicht und Falk gab einen Korb. Er stand im Korridor, als er Frau Bender sagen hörte: »Nun bleibt Fräulein Mirbeth unsre letzte Hoffnung.« Der Doktor erwiderte: »Ja, wenn wir sie nur als stumme Person mitnehmen könnten!« Helene lachte hölzern und auch Frau Bender lachte aus Artigkeit mit. Eine wilde Angst erwachte in Falk, daß Mely zusagen könnte. Er wußte, daß sie schwach genug war, die Beleidigung zu vergessen, die ihr Doktor Brosam zugefügt hatte und von der sie ihm selbst mit Entrüstung erzählt hatte. Schon aus Gefälligkeit gegen Frau Bender würde sie mitgehen. Es gab nichts, womit sie sich nicht das Wohlwollen der Leute erkaufte, die um ihre Liebe zu ihm wußten oder sie nur ahnten. So groß war ihre Furcht. Aber Falk wollte auch allein sein mit ihr. Er hoffte nichts von diesem Alleinsein, aber er wünschte es heiß. In brennender Erregung wanderte er im Korridor umher, durch die Küche auf den Balkon, dann wieder horchend an der Thür, dann wieder durch das Entree gegen die Treppe hinaus. Er war völlig besinnungslos und murmelte beständig abgerissene Sätze vor sich hin. »Ich werde sie verlieren,« sagte er, »und alles ist aus. O jetzt macht man doch keine Ausflüge, im Februar, – lächerlich. Wie hab ich mich gefreut – – – das Wetter wird ja doch schlecht werden – Mely – Mely – bleib!« »Nun Herr Falk?« hörte er die Stimme Helenes, deren Gesicht in Heiterkeit glänzte. Falk streckte ihr bittend die Hände entgegen. »Helene, wenn ich Ihnen irgend etwas bin, etwas mehr als ein Hund, dann verhindern Sie, daß Mely mitgeht.« Helene machte ein mürrisches Gesicht. »Ach gehn Sie doch! Sie sollten vernünftiger sein. Haben Sie denn gar keine Augen im Kopf?« Falk stierte wie geistesabwesend in das frische Gesicht Helenes. Eine schwere Dumpfheit lag in seiner Brust. Er hatte die Empfindung, als schmiede man im Wohnzimmer ein Komplott gegen seine Liebe und als könne er dies durch seine Anwesenheit verhindern. Darum ging er hinein ohne zu grüßen und lachte dem erstaunten Doktor gerade ins Gesicht. Frau Bender kam freudestrahlend von Mely zurück und verkündete, daß die Vierzahl nun voll sei. Falk lachte wieder, und die glückliche Frau Bender stimmte unbefangen mit ein. Dann stürzte er hinaus und betrat Melys Zimmer. Sie kämmte vor dem Spiegel das Haar und sah sich scheu nach ihm um. »Mely!« brachte Falk mühsam heraus, »wenn du gehst, ist alles vorbei zwischen uns.« Sie blickte erschreckt zu Boden und der Kamm fiel auf die Erde. Falk wandte sich zum Gehen, überzeugt, daß sie bleiben werde. Aber eine halbe Stunde später hörte er die Vier in scherzenden Gesprächen die Treppe hinabsteigen, und als er sich zum Fenster hinausbeugte, saßen sie schon in der Droschke. Mely unterhielt sich mit Doktor Brosam und sie war fröhlich. Die Sonne schien hell, und der Schnee war geschmolzen. Falk warf sich aufs Bett und schluchzte wie ein Kind. XIV. _Aus dem Tagebuch Vidl Falks._ 23. Februar. Nun habe ich auch die Liebe überstanden. Es ist eine entsetzliche, giftige, furchteinflößende Krankheit. Dies Fräulein Mirbeth ist in meinen Weg getreten, hat ihre falschen Augen aufgeschlagen und mit Inbrunst, mit ganzer Seele und ganzem Vermögen bin ich hineingestürzt in diese Augen. Ach, man wird da gedreht und gerädert, und was noch heil davonkommt, trieft von Erfahrungen und Weisheit. Ich bin noch zu voll von diesem Weib, um ein freies, gutes, erlösendes Wort niederschreiben zu können. Die Liebe ist eine Folter, grausam und nachhaltig. »Dies Fräulein Mirbeth« ist ein Wunder an Charakterlosigkeit, Treulosigkeit und jener echt weiblichen Verschlagenheit, die den Mann nie zur Ruhe kommen läßt. – Ich bin erlöst! Aber wer weiß, vielleicht liebe ich sie noch. Wie schön war es auch in diesen stillen, stürmischen Liebesnächten! 25. Februar. Es gelingt mir nichts Rechtes mehr. Was ich angreife, bleibt auf halbem Weg liegen. Ich bin wie betäubt; ich bin verdummt. Stets brennt mich etwas im Innern, stets scheucht mich etwas auf. Stets muß ich nachdenken ins Bodenlose hinein. Ich kann nicht schlafen, und ich liege des Nachts stundenlang am Fenster. Dem Wandel der Sterne schau ich zu, und dem Rauschen des Windes lausch ich. Es geht eine leise Frühlingsahnung durch die finstern Straßen. Die Natur, das ganze Universum erscheint mir wie eine Brust voll Leiden und Leidenschaften und voll Sehnsucht und sie will den Tod nicht kennen, der ihr zur Seite steht. Ich kann nicht schlafen. Es ist vier Uhr nachts. Soeben ist Mely heimgekommen; beim Oberst war Gesellschaft, wie mir Frau Bender sagte. Es friert mich vor der Zukunft. O könnt ich einen hundertjährigen Schlaf thun. Aufwachend erblickt ich die Welt verschönt und die Nationen versöhnt, und ich brauchte nimmer auf den Präparirboden, um übelriechende Leichen zu zergliedern und zu zerlegen. Wie erfinderisch ist die Natur in den Krankheiten, mit denen sie uns heimsucht. Jeder Kuß, den wir erhalten, muß bezahlt werden mit einem Übel an Leib oder Seele, und über unser Glück eilt die Zeit hinweg und hinterläßt uns blasse Bilder, blasse Schemen. 26. Februar. Ich träume seltsam. Ich träume z. B. vor mir stünde eine große Blume. Und ich bilde mir ein, das müsse eine Lotosblume sein, obwohl ich noch nie eine solche gesehen habe. Dann fließt Blut aus dem Kelch und ich kniee davor und trinke es. Oder ich träumte, Mely sei bei mir und sie ruft mich zu kommen. Aber ich kann mich nicht bewegen, ich bin nicht Herr meines Körpers, wie erstarrt stehe ich da und kann weder vorwärts noch rückwärts. 27. Februar. Sie geht an mir vorbei, – fremd und ohne Gruß. Wenn sie im Wohnzimmer ist, so thue ich gegen die Damen sehr heiter und sorglos, und bin so galant als möglich. Warum das aber? Würde ich es thun, wenn sie mir gleichgültig wäre? Ich liebe sie noch, das ist alles. Oder nein, ich liebe sie mit verzehnfachter Liebe, mit brennender, schmerzhafter, zitternder Liebe. Aber ich darf nicht nachgeben. Wenn ich mich wieder schwach zeige, ist alles verloren. Es giebt nichts Dümmeres, als einen Mann, der konsequent sein will. 1. März. Einmal sagte sie zu mir: Wenn wir beide glücklich sein wollen, müssen wir allein sein. Aber wie sollt ich sie gewinnen? Wie kann sie je mein eigen werden? Sie macht Ansprüche an das Leben, und sie will es hübsch bequem haben. Wie könnte sie den Kampf des Mannes gegen das Schicksal mitkämpfen! Trauer erfüllt mich ganz. Meine Kraft ist aufgelöst und meine Freudigkeit ist dahin. Wenn ich mir ein Bild ihres Wesens zu machen suche, so zerfließt alles vor meinen Augen. Ist sie gut oder böse? weichmütig oder boshaft? störrisch oder hingebend? Ach, am Morgen ist sie willig und des Abends trotzig; am Mittag herausfordernd und spöttisch und des Nachts dem Weinen nahe in grundloser Verstimmung. Ich sehne mich nach ihr und mir schmeckt weder Arbeit noch Essen. 4. März. Da liegt sie neben mir und schläft. Die zwei Fauteuils sind zusammengerückt, so daß sie eine Art Divan bilden und darauf schlummert sie. Das Wasser zum Kaffee wird bald zu kochen beginnen. Sie hat meinen Mantel um den Körper und über ihren Füßen liegt das weiße Deckbett. Die Haare hängen aufgelöst bis auf den Boden. Um uns ist die stille, tiefe Nacht. Bisweilen wird die Ruhe von fernem Wagengerassel gestört. Ich finde, dies ist so sehr charakteristisch. Wenn ich frage: Mely friert dich? Willst du meinen Mantel? so schüttelt sie den Kopf. Aber bald darauf erhebt sie sich und holt sich den Mantel selbst. 5. März: fünf Uhr morgens. Soeben ist sie schlafen gegangen. Wie wild, wie toll war diese Nacht wieder! In solchen Stunden, wo sie erfüllt ist von einer fast ingrimmigen, verhaltenen Leidenschaft, ist sie nicht mehr sie selbst. Sie hat sich vergessen, sich ihres Selbst beraubt, sie schmilzt hin in weicher Ergebung, in seufzender, matt abwehrender Begierde. So ist sie schön und auch überaus begehrenswert. Ich möchte die Feder, mit der ich schreibe, ganz in den wunder-wundervollen Duft tauchen, womit in solcher Nacht ihr Wesen umschleiert ist. Unvergeßlich ist es und herrlich. Stumm ist die Nacht und die Zeit hat kein Maß mehr den Sinnen. Alle Organe sind ins Krankhafte verfeinert, und wenn sie seufzt, so vermute ich einen tiefen Schmerz in ihr, und höre nicht auf zu fragen. Aber unbewußt frage ich, nur um sie zu liebkosen mit der Stimme, um sie zu trösten, um ihr zu versichern, daß sie beschützt sei. Alles was sie denkt, errate ich, und sie nimmt es mit einem halb verwunderten, halb dankbaren Lächeln auf. Nichts Verborgenes ist mehr in ihrer Seele und ich bin beruhigt. Ich weiß gewiß, daß ich nicht schlafen werde. Ich werde noch lange dasitzen und über jede ihrer Gebärden, jedes ihrer Worte sinniren. Wie ein schweres Gewicht liegt die Liebe auf meinem Herzen, aber ich trage es willig. Gleich der Blume eines kostbaren Weins, so berauschend ist dies Gefühl. Aber der Vergleich ist von geringer Güte. Schwach sind die Worte und hinfällig jedes Bild. »O du,« flüsterte sie beim Hinausgehen, »du hast mich leergetrunken mit Küssen.« 7. März. Wer vermöchte das zu glauben: Ein junges Weib besucht allnächtlich den Geliebten, der sie bestürmt, sich ihm hinzugeben, – völlig und unwiderruflich. Er taucht sie unter in eine schwüle Flut von Liebe, – und sie widersteht! Sie ist voll Furcht gegenüber diesem Letzten, und sie trauert, wenn ich sie bestürme. »Schau, warum willst du das? Du willst mich erniedrigen, du willst mich unglücklich machen. Muß es denn sein? Du sagst, das sei der Inhalt des Lebens? Das ist nicht wahr. Denn was wird nachher sein?« – So spricht sie. Und dies ist das Mädchen, das bis zu seinem zwanzigsten Jahre glaubte, vom bloßen Küssen bekäme man ein Kind. Ich kann mir nicht helfen, diese Beweisführung macht mich krank vor Mißtrauen. Es klingt so elegisch, so unjugendlich. – Aber ich prüfte mich genau: Ich selbst fürchte jenen Schritt. Weshalb? Der Himmel mag es wissen. 10. März. Sie fragte mich, ob sie meine erste Liebe sei. Ich erwiderte ihr, daß ein Mann heutzutage allzuviel Gelegenheit habe, sein Herz zu verschenken, wie man poetisch sagt. Sie verstand mich. Aber ich sagte ihr auch, daß eine Liebe, wie die, welche ich jetzt empfinde, nicht zum zweiten Mal wiederkommen könne im Leben. Man kann nur ein Mal lieben, aber verliebt sein kann man in jedem Frühling aufs neue. Sie sah mich ungläubig und zärtlich an. Sie schmiegte sich an mich und verbarg ihr Gesicht. Wie sehr quälen wir uns beide, indem wir uns die letzte, reife Frucht der Liebe vorenthalten! Bisweilen legt sich eine geheimnisvolle Verbitterung zwischen uns, dann wieder ein absichtliches Mißverstehenwollen. Ich lese dann in ihren Augen einen heißen Wunsch, aber auch die Starrheit eines festen Entschlusses. Und ich kann ihr nicht grollen. Ich möchte sie oft um Verzeihung bitten, wenn meine stürmische Leidenschaftlichkeit sie zu überwältigen droht. Wie viel sagen mir ihre Augen! Du bist mir alles, reden sie; Ziel und Ende des Lebens, und in dir kann ich vergehen. Ich bete täglich – scheinen sie oft zu sagen – daß du mich erwerben mögest, aber ich verdiene deine große Liebe gar nicht. Ich habe Sehnsucht nach dir, wenngleich du bei mir bist. Ich liebe dich mit aller Kraft meiner Seele ... So wortarm ihre Zunge ist, so reich an Ausdruck sind diese schwarzen, herrlichen Augen. Und wenn ich hineinsehe in diesen leuchtenden Abgrund, so muß ich mir sagen: Unmöglich ist es, daß dieses stolze, zarte Weib sich jemals einem ungeliebten Mann hingebe. Ich bitte ihr im Herzen all meine Zweifel ab. 13. März. Ich erhielt Nachricht, daß der einzige Oheim, den ich noch mütterlicherseits besitze, in Biarritz schwer erkrankt sei. Wenn er stirbt, so erbe ich etwa achtzigtausend Mark, falls nicht auch er mich mit dem Anathem belegt hat. * * * * * Ich kam zu Mely ins Zimmer, als sie gerade mit dem Ausräumen ihres Schranks beschäftigt war. Heiter sah ich ihr zu, und ich war beglückt, wenn sie sich mir auf einige Schritte nahte, und ich erschrak und sehnte mich nach ihr, wenn sie in eine Ecke des Zimmers ging. Wir sprachen nicht, aber sie empfand meine Gegenwart, und in jeder Bewegung drückte sich das Bewußtsein aus, mich nahe zu wissen. Plötzlich fiel ein schwerer Gegenstand zu Boden. Ich blickte hin und gewahrte einen Revolver. Lächelnd fragte ich, was sie denn mit der Waffe anfangen wolle. Mely war jedoch totenbleich geworden. Zitternd schaute sie auf den Revolver hinab und ihre blutleeren Lippen suchten vergebens nach Worten. Da ward mir heiß. Ich sprang auf und trat zu ihr hin. »Was hat es für eine Bewandtnis mit dem Ding?« fragte ich erregt. Sie sah mich wie geistesabwesend an und flüsterte: »Ich weiß nicht.« Kurze Zeit darnach, als sie sich wieder gefaßt hatte, erzählte sie mir eine Geschichte; daß ihr der Oberst den Revolver zur Jagdausrüstung geschenkt habe, daß man einst drüben nach Karten geschossen und daß sie unvorsichtigerweise den Oberst mit einem Schuß am Arm gestreift habe. Aber ich fühlte es deutlich in meinem Herzen: es war nur eine Geschichte, schnell erfunden und nicht einmal gut erfunden. Wie sehr empfand sie, daß ich die Lüge ahnte! Sie wagte nicht mehr, mir frei ins Auge zu sehn. Das brennt mich wie Feuer. 14. März. Ich erhielt den Besuch des Fräuleins von Erdmann. Sie schilderte mir in tragischer Deklamation ihre bittere Lage und ich muß gestehn, daß ich großes Mitleid mit ihr hatte. Zum Schluß fragte sie, ob ich ihr nicht zweihundert Mark leihen könne. Ich mußte lachen, so sehr ich mir auch Zwang anthat. Ich armer Teufel habe also doch verstanden, den Schein einer sicheren Existenz aufrecht zu erhalten. Das erfüllt mich beinahe mit Stolz und ich bin zufrieden mit mir. Aber ich wurde traurig über dies zerstörte Leben, welches da vor mir saß; und so bombastisch und so monumental die beleibte Dame auch ihre Rolle der Erniedrigten und Elenden spielte, ich begriff doch, daß hier das Schicksal einen wuchtigen Faustschlag geführt haben müsse, um so viel Herrischkeit, Eigenliebe und Stolz zur Pose einer Bittstellerin herabzuzwingen. Ich suchte zu trösten und zu ermutigen. Alles in diesem Hause geht seinem Ruin entgegen. Die »Pension« ist nur noch ein frommer Titel. Frau Bender ist beim Fleischer, beim Bäcker, beim Krämer so tief verschuldet, daß sie nichts mehr kreditirt erhält. Ich sehe nur gesenkte Köpfe und gerötete Lider. Die Pension war zum Verkauf ausgeschrieben, aber Niemand hat sich beworben. Jetzt sollen die Möbel veräußert werden. Die Familie will auswandern. Die Einzige, die herumgeht, heiter und guter Dinge, ist Helene. Sie thut, als ginge sie das alles gar nicht an. Sie lächelt, als ob sie sagen wollte: die Mutter ist ja da, sie muß nun einmal dafür sorgen, daß wir genug zu essen haben. 17. März. Fräulein von Erdmann ist ausgezogen, Niemand weiß, wohin. – Mely kam zu mir ins Zimmer und weinte. Sie redete nichts, sie gab auf mein Fragen keine Antwort: sie weinte und ging wieder. Es legt sich wie ein nasser Dunst um meine Augen und mir bangt vor Kommendem. – Dann am Abend sagte sie mir, daß sie oftmals in der Nacht aufwache und weinen müsse. Sie wisse nicht warum, aber die Thränen überwältigten sie. »Was wirst du thun,« fragte ich sie, »wenn ich dich verlasse, wenn ich eine Andere liebe –?« Sie zuckte die Achseln. »Nichts. Ich werde vielleicht traurig sein, aber ich werde mich trösten.« – »Nein, nein, das ist nicht wahr. Du wirst nicht länger leben mögen, –« – »O, wie sehr täuschst du dich! So viel Kummer warst du doch dann nicht wert.« – »Ja, du hast recht. Aber ich könnte niemals von dir lassen.« – »Geh, geh.« – »Ich wollte, es wäre nicht so. Doch lieb ich dich mit allem was ich bin und thu und denke. Du bist ein Bestandteil meines Körpers geworden, und wenn wir uns trennten, wärs, wie wenn man mir einen Arm amputirte.« Sie lächelte seltsam und seufzte. »Und du,« fuhr ich fort, »du entziehst dich mir, und du zeigst nur dadurch, daß du mir nicht vertraust. Hast du nicht einmal gesagt, du könntest mich lieben wie Julia?« – Sie schwieg und schloß die Lider ganz. »Ich kann es nicht,« flüsterte sie endlich beengt. – »Wenn ich dich aber nun so flehte, daß du nicht anders könntest, wenn ich weinte, wenn ich alles davon abhängig machen würde, – Schatz, du guter, könntest du dich dann immer noch weigern?« – Sie sah mich traurig an und schüttelte den Kopf. – »Du würdest nachgeben –?« – »Ja.« – »Aber dann, was dann?« fragte ich leise, erschrocken von dem Ausdruck ihres Gesichts. – »Dann würde ich mir das Leben nehmen.« – Ich fühlte, wie in mir etwas erstarrte. Aber sie blickte mich furchtlos an; nur ihre Finger zerrten krampfhaft an dem Saum meines Rocks. Und plötzlich fiel ihr Kopf auf die Lehne des Fauteuils zurück. Sie war ohnmächtig geworden. 21. März. In den letzten Nachmittagen treffe ich regelmäßig Doktor Wendland. Ich unterhalte mich vortrefflich mit ihm. Er ist durchaus kein Arzt gewöhnlichen Schlages. Er weiß viel und bringt seinem Beruf eine bedeutende Persönlichkeit als Mitgift. Jene große Güte, die mich schon beim ersten Eindruck so sehr bestach, vereinigt sich mit einer schönen Freiheit des Urteils, und er prüft Herz und Nieren seiner Patienten nicht nur im medizinischen Sinn; er will wissen, was auch in der Seele _Derer_ vorgeht, die sich ihm und seiner Wissenschaft anvertrauen. Der Mann wird es noch weit bringen. (Später.) Ich habe mich ein wenig mit Melys Schwester unterhalten. Ich war ganz allein im Hause als sie kam; denn Benders sind spaziren gegangen ... Ich bin nicht fähig, dieses Gespräch niederzuschreiben. Das Weib hat mein Herz schwer gemacht. Wie ein Wandrer die Nacht nahen sieht, ohne Hoffnung, das Ziel zu erreichen, so steh ich hülflos und verlassen auf ungebahnten Wegen und weiß nicht aus noch ein. Die Zweifel schrecken mich und quälen. Lange schon haben sie sich eingenistet in mir, und wenn ich ihnen jetzt nachspüre, muß ich sehen, wie die Schatten fester werden, lebendiger, überzeugender, bedrückender. O Mely komm! Deine Gegenwart nur, dein schmerzlich-inniges Lächeln kann die Gespenster vertreiben. 23. März. Der Frühling ist da. Kühl war der Tag und die Sonne sinkt mit einem Strahlenfeuerwerk in die Tiefen des Westens. Die glänzenden Augen der Kinder rufen: Frühling! Die festlich glühenden Wangen der Jünglinge und Mädchen sprechen davon. Dichtes Gedränge erfüllt die Promenaden. Smaragdgrün leuchtet der Himmel herüber, am Horizont in ein tiefes, schwüles Rot übergehend. Den Fluß, den ich entlang wandelte, zog eine endlose Rauchwolke von zartem Braun wie der machtvolle Arm eines Riesen. Leiser Wind hub zahllose, kleine Wellen aus dem Wasser empor. Ich bin krank. Fieber auf Fieber läuft in hastigen, kurzen Stößen durch meinen Körper. Brutal und herausfordernd starrten mir die Leute ins Gesicht. Und mir war, als seien sie alle frei, als sei die Seele aller voll Frühlingsglück und Festlichkeit, nur ich allein trug eine schwere Last auf dem Rücken, nur ich allein mußte leiden. O, was ist vorgegangen mit mir! (Nachts.) Ein Mann wie Doktor Wendland lügt nicht. Das ist unmöglich. Weshalb sollte er auch. Er konnte ja gar nicht vermuten, daß dies »Fräulein Mirbeth« die Inkarnation meiner Lebensfreude bildete. Er wußte ja gar nicht, daß ich sie überhaupt kenne ... Habe ich recht gehört? Oder habe ich nur vernommen was ich zu hören wünschte und zu hören fürchtete? Habe ich eine ahnungslos hingeworfene Bemerkung gewaltsam mißverstanden? ein harmloses Gespräch böswillig nach einem gewollten Punkt geleitet? Nein und abernein. Das alles kam von selbst. Es ist das Schicksal, das mich packt und mir einen Stoß versetzt, daß ich zum Abgrund taumelnd, allen Halt verliere. Und daß dieses Schicksal die freundlichen und mitleidenden Züge des Doktor Wendland annahm, – welche Ironie! – Das war keine von den dunklen Andeutungen. Er ist ihr Arzt und muß es wissen. Er hat mich auch zweifellos verstanden. Nachdem er es gesagt, ergriff er meine Hände und schaute mich stumm an. Sein Blick ging mir durch und durch. 24. März. Habe ich denn um Gottes willen recht gehört? Ist es möglich? ist es möglich? Bin ich belogen worden, hintergangen worden? Wo ist mein Schlaf hin, wo ist meine Ruhe? Was kümmert mich der Frühling, was schert mich die Sonne, die Blumen, die lachenden Kinder –! Dunkelheit liegt in meinem Herzen schwer und dicht. Melusine! – Sie hat diese an Güte so unerschöpflichen Augen, und sie hat mich betrogen. Sie hat diese Augen, strahlend in rührender Kindlichkeit, und sie lügt. Aber nein, ich habe mich getäuscht, ich habe den Doktor nicht verstanden. Ich will ihn wieder fragen. Ich will ihn beschwören um die Wahrheit. Wenn er seine Seele rein von Flecken halten will, möge er mir die Wahrheit sagen. * * * * * Thor! – Noch immer zweifelst du. Und zweifelst an der Gewißheit, nach der du vordem in zitternder Ungeduld haschtest. Warum weine ich nicht? Warum vergrabe ich den Kopf nicht in die Kissen und suche den Schlaf, den ewigen? Was will ich noch? Will ich die Bestätigung aus ihrem eignen Munde hören? Ich müßte mich schämen, so lange vertraut zu haben. Will ich mich rächen und zur Schußwaffe greifen, wie ich einst so pathetisch versprochen? Ist es möglich, daß die Sonne scheint, daß der Himmel so blau ist und daß es noch Dinge in der Welt gibt, worüber fröhliche Menschen sich freuen? Aber woher kommt es, daß ich schreiben kann, daß ich wohlgefügte Worte aufs Papier zu bringen noch fähig bin? 26. März. Wäre sie doch da. Ich könnte mit ihr reden. Aber sie ist auf der Jagd mit dem Oberst, schon seit acht Tagen. Und ich verbrenne hier in meinem Kummer. Sie schreibt mir: »Ich weiß nicht, wie ich Dich anreden soll. Vidl ist so abscheulich, so dumm. Ich glaube Du sagtest einmal, es kommt von Vitus. Aber das ist viel schöner. Dein Wunsch, daß ich von Dir träume, ist in Erfüllung gegangen. Du warst in meinem Zimmer, ich wollte zu Dir, konnte aber nicht gehen, und Du gingst ganz langsam einen Schritt um den andern zurück; es war furchtbar, bis ich mit schrecklichem Herzklopfen aufgewacht bin. Es ist sehr einsam und ich habe recht Sehnsucht nach Dir. Ich kann keine Ruhe finden. Ich wünsche mir nichts, als die Zeit möchte doch bald kömmen, wo wir glücklich und zufrieden beisammen sein können. Ich weiß, es ist ein Unsinn, und doch, ich denke so gerne dran. Wenn Du nur hier sein könntest, ich fürchte mich hier so, die Ruhe ist unheimlich. Ich glaube, das betrübt mich so. Oder es ist die Luft zu weich für meine Nerven.« Ich kann es nicht glauben. Mein Verdacht, der schon die Form der Gewißheit angenommen hatte, versinkt in Nichts. Ich bin ein lächerlicher Spürhund, weiter nichts. Ich werde aber doch mit Doktor Wendland noch einmal reden. Ich werde ihn bitten, – als Freund – – Der Arzt kann sich täuschen. 1. April. Sektionen von Kauflustigen kommen um Frau Benders Meublement zu besichtigen. Es wird unwohnlich in diesem Haus. Am 15. April will die Familie schon reisen. Ich begreife nicht, wo die Mittel herkommen sollen. Die Trauer weicht nicht von mir. Mir ist, wie einem, der ein Urteil erwartet, und ich verharre in Unthätigkeit. 2. April. Mein Oheim ist in einer hiesigen Privatklinik gestorben und hat mich zum Universalerben eingesetzt. Ich bin reich. Dieser Mann, der sich im Leben nie um mich bekümmert, leert nun all sein Besitztum in meine Taschen, – seltsam. Ich bin erstaunt, wie mich die Änderung meiner Verhältnisse, die glückliche Wendung meines Geschicks verhältnismäßig so kühl läßt. Ich habe den Willen, mich himmelhoch zu freuen, aber das gelingt mir nicht. Nun wird es viel Arbeit geben und viel Ceremonieen. XV. Vidl Falk hatte sich eine sehr elegante, bereits möblirte Wohnung in der Findlingstraße gemietet. In der vorletzten Nacht, die er noch in der Pension Bender zubrachte, hatte er einen Traum, über welchem er drei Mal erwachte, und der ihn hartnäckig stets wieder in den Schlaf verfolgte. Er träumte, daß er, reich wie er nun war, Mely geheiratet hätte. Und dann bestand der Traum in nichts weiter, als in dem Erblicken ihrer Gestalt. Sie hatte die Augen in stummer Klage auf ihn geheftet, darüber, daß er sie zu Boden geschlagen. Am Tage mußte er lange über den Traum nachdenken. Besonders verwunderte ihn der Umstand, daß er in der ganzen Zeit der Liebe noch nie mit einer Silbe an eine Heirat gedacht hatte. Und jetzt, da es möglich gewesen wäre, wurde er von einer beklemmenden Bangnis ergriffen, wenn er nur an ein Wiedersehen mit ihr dachte. Frau Bender und Helene nahmen an der glücklichen Veränderung seines Schicksals frohen Anteil. Was Helene anlangt, so betrachtete sie ihn jetzt mit ganz andren Augen. Obwohl noch immer spöttisch, ging eine gewisse Ehrfurcht durch ihr Benehmen, als ob sie die hohe Kunst, durch Erbschaft zu Geld zu gelangen, vollkommen anzuerkennen vermöchte. Frau Bender hoffte, daß der beneidenswerte Emporkömmling ihre schwere Not etwas lindern würde, und sie täuschte sich darin nicht. Nur konnte sie ihr Erstaunen darüber gar nicht beherrschen, daß an Falk selbst so wenig von dem Glück zu bemerken war, das ihm zugestoßen. Die Farbe seines Gesichts war bleich, und um seinen Mund lag stets ein bittrer und verbitterter Zug. In der Nacht vor seinem Umzug, als schon alles schlief, schlich er in Strümpfen nach Melys Zimmer. Lange stand er in der Finsternis vor dem unberührten Bett und in Gedanken küßte er sie und sandte seinen Kuß in die Ferne. Er zweifelte daran, daß sie ihn hintergangen haben könne, so wie er vordem an ihrer Offenheit gezweifelt hatte. Warum stehe ich eigentlich hier im finstern Zimmer? dachte er. Wie sehr muß die Liebe in meinem Innern brennen, wenn sie mich zu so unvernünftigen Schritten treibt. Aber er konnte sich nicht losreißen von diesem Raum, der einst all sein Glück beherbergt hatte. Er zündete eine Kerze an und setzte sich an den Tisch. Hier sah er die Gegenstände, die sie im Gebrauch hatte. Ihre Photographie lag da, aber er stellte sie so gegen einen Aufsatz, daß er nur die bedruckte Rückseite sehen konnte. Er legte die schmerzende Stirn auf die Tischplatte und sah lange regungslos auf den Boden, wo die zitternden Schatten der Möbel hin und her huschten. Dann öffnete er den mit Leder überzognen Handschuhkasten und fuhr träumerisch mit den Fingerspitzen über die blaue Atlasfütterung. Obenauf lag ein Paar ganz neuer beigefarbner Glacés. Dann kamen ältere, zerrissne Handschuhe, zwischen denen ein zerknittertes Stück Papier lag. Er nahm es heraus und strich es gleichgültig glatt. Er wollte es schon wieder beiseite legen, in der Meinung, es sei eine Handschuh-Rechnung, als er die ihm bekannte Schrift des Oberst gewahrte. Es war das Fragment eines Briefes und er las: »... Ich bin ja so verliebt in Dich, daß ich Dir keinen Blick eines andern Mannes vergönne. Vergiß nicht, daß ich mit Dir machen kann, was ich will. Wenn Du Dich widersetzlich zeigst, wenn Du mich in Zorn bringst, laß ich Dich einfach in ein Irrenhaus stecken. Du hast nur an mich zu denken, nur an mich zu glauben. Ich bemerke eine so große Zerstreutheit, einen finstern Unwillen an Dir. Was hilft mir Deine Liebe, wenn nicht Dein Herz dabei ist. Sei gnädig, Mely. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch sollst Du mein Eigentum sein.« Mit den Zähnen zerfetzte Falk dies Papier. Dann stieß er einen Schrei aus, der dem eines Gefolterten glich. Plötzlich blutete er an der Lippe, ohne daß er wußte, wie das gekommen war. Er stand auf und ging ans Fenster. Auf seinem Gesicht war kein Ausdruck des Schmerzes zu sehen. Er löschte das Licht und ging. In seinem Zimmer hob er die Hände, wie Einer, der einen Stockhieb abwenden will. »Mein Herz ist ganz kalt,« sagte er einmal laut und fügte nach langer Pause hinzu: »Alles, was ich sage, ist Unsinn, alles was ich denke.« Er fürchtete sich, Licht anzuzünden. Aber bald schritt er ächzend umher; denn die Wände schienen auf ihn einzustürzen. »Es ist eine Flut,« flüsterte er, »eine Flut von Elend.« Er nahm Mantel und Hut und ging fort, – mitten in der Nacht. Er begriff nichts von dem, was er that, er wußte nicht, wohin er gehen wollte. Die Nacht war kühl und hell. Das Licht des verschleierten Mondes lag überall, und zerrissene Wolkenballen sahen aus den Regenpfützen. In langen Pausen fuhren Windstöße einher. Eben schlug es zwei Uhr. Falk ging ganz langsam, denn sein heftig schmerzender Kopf erlaubte ihm keine rasche Bewegung. An der Anlage der neuen Pinakothek saßen zwei Betrunkene. Der eine war jung und hatte ein kleines, rundes Hütchen auf dem Kopf, der andere war alt, mit weißen Bartstoppeln. Der Junge hielt einen dicken Bambusrohrstock krampfhaft in der Achselhöhe fest, der Alte betrachtete fortwährend das Innere einer Tabaksdose. Sie waren so maßlos betrunken, daß sie nicht mehr sprechen konnten. Der Junge sagte zum Alten nur: »Gäck, gäk, gehrump.« Der Alte aber sprach zum Jungen: »Gock, goch ...« Sie schienen sich aber durch dies bedeutsame Zwiegespräch doch geeinigt zu haben, denn Beide erhoben sich mühsam vom Boden und wankten der nächsten Wirtschaft zu. Falk folgte ihnen und beobachtete mit Interesse, wie sie trotz des ausschweifenden Zickzacks ihrer Bahn dem Ziel doch immer näher kamen. Dann stand er vor dem Gasthaus und sah zu, wie der Alte dem Jungen unter großen Mühsalen dazu verhalf, die vier Steinstufen zu ersteigen. Aber das war erfolglos, denn als er oben war, taumelte er wieder zurück. Nun half der Junge dem Alten, aber es ging nicht besser. Dies dauerte eine Viertelstunde, bis es den Beiden endlich durch Zufall geglückt war, die Thürklinke zu erhaschen und niederzudrücken. Falk überlegte, ob er ihnen noch weiter folgen sollte. Er hatte das Bedürfnis zu trinken und das nicht etwa an einem Marmortisch und vor blanken, goldgerahmten Wandspiegeln, sondern in diese ganz elende Spelunke zog es ihn hinein. Plötzlich aber kamen die zwei Durstigen mit einer Raschheit, die ihn verblüffte, wieder zum Vorschein und im Handumdrehen hockten sie in der Gosse. Jetzt bemerkte Falk, daß der Jüngere eine Samthose hatte, die er ohne Bedauern dem Kot der Gasse preisgab. Krampfhaft hielt er noch seinen Bambusstock fest, während das Hütchen mit der Hahnenfeder lustig gegen die Barerstraße rollte, wobei die Feder eine Art Windfang bildete. Falk ging weiter. Er lächelte. Aber dies erschien ihm so sonderbar, daß er die Hand an die Stirn legte und grübelnd stehen blieb. Wohin will ich? dachte er, und er entschloß sich, am Haus des Oberst Thewalt vorbeizugehen. Unterwegs mußte er wieder an die zwei Betrunkenen denken, die man herausgeworfen hatte, und er lachte laut. In der Wohnung des Obersts gewahrte er zu seinem Erstaunen Licht. Vier Fenster waren beleuchtet. Offenbar war man heute Abend zurückgekehrt und die Jagdgesellschaft wurde bewirtet. Er stellte sich unter eine Laterne, so daß es um ihn hell war, er selbst jedoch im Schatten des Pfahls stand. Er sah hinauf. Silhouetten glitten hin und her. Bald nickten sie mit den Köpfen, bald erhoben sie die Hände. Zwei schienen sich zu umarmen und dann wieder voneinanderzugehen. Zwei schienen sich zu streiten und der Eine zählte etwas an den Fingern ab. Er wußte nicht, wie lange er gestanden, als die Hausthüre geöffnet wurde und Mely in Begleitung von drei Herren heraustrat. »Gnädiges Fräulein erleichtern uns den Heimweg, indem Sie uns das Vergnügen verschaffen, Sie zur Ruhe zu geleiten,« sagte der eine Herr, der die Stimme eines dicken Kommerzienrats hatte. »Gnädiges Fräulein, ich kann Sie versichern, – haben heute entzückend Wirtin gespielt,« sagte ein Zweiter. »Aber meine Herren, es ist doch viel zu spät für so süße Komplimente,« hörte Falk das junge Mädchen lustig erwidern. Im Geiste sah er sie lächeln: gütig, verführerisch, schwermütig, und er dachte: Diese Lippen habe ich geküßt! – Seltsam. Mit geschlossenen Augen schlenderte er weiter. Es kam, daß ihn der Klang seiner eignen Schritte schmerzte. XVI. Melys Herz pochte vor Freude, als sie die finstern Treppen zur Benderschen Pension erstieg. Sie dachte nur an Falk, und zum ersten Mal ward sie sich des ganzen Umfangs ihrer Liebe bewußt. Aber schon im Korridor überfiel sie eine heimliche Angst, und sie konnte sich von zudringlichen Ahnungen nicht befreien. Rasch entkleidete sie sich in ihrem Zimmer und schlüpfte in den grauen Schlafrock. Sie sah auf die Uhr: es war halb vier. Aber sie hatte noch kein Bedürfnis zu schlafen. Sie dachte daran, daß er jetzt reich sei, und diese Vorstellung erfüllte sie mehr und mehr mit einem quälenden Schmerz. Weshalb waren seine letzten Briefe so ironisch, grübelte sie; der rätselhafte Ton, den er darin angeschlagen, hat mich völlig unglücklich gemacht. Sie saß auf dem Bettrand, die Arme rückwärts gestemmt, und ihre Augen erweiterten sich. Ihre Freude verging und ein bitteres, nagendes Gefühl nahm statt dessen in ihrem Herzen Platz. Die schwarze Wolke, die über ihrem Leben hing, war jetzt nahe gekommen, und alles rings herum war finster geworden. Sie begriff nicht, wohin sie gegangen; sie begriff nicht, daß Gott ihr all das Glück der Liebe und der Sehnsucht hatte schenken mögen. Und sie dachte: Gott ist barmherzig; er ist wie ein Vater und hat mir in seiner Güte noch das Herz beseligen wollen. Und Dankbarkeit gegen Gott erfüllte sie. Hier an diesem Fleck hatte sie gesessen vor Monaten – wie lang und inhaltvoll waren diese Monate gewesen! – und sie hatte an den Geliebten gedacht und von ihm geträumt und hatte seine Worte nachgeflüstert: »Haben Sie große Schmerzen? ich kann sie lindern« ... Es war vorbei. Jetzt sah sie ein zerfetztes Blatt Papier am Boden liegen. Noch ehe sie es aufhob, wußte sie alles, was sich zugetragen hatte, und als sie den Zettel angesehen, wurde sie von so unerträglichem Gram ergriffen, daß sie laut aufschluchzend auf das Bett fiel. Der Morgen kam und fand sie noch wach. Sie sperrte sich ein bis zum Mittag, dann wurde ihr das Alleinsein entsetzlich. Sie erschien im Wohnzimmer zum Erstaunen von Frau Bender und Helene, die um ihre Ankunft noch nicht wußten. Auch Doktor Brosam war da und das Gespräch lenkte sich bald auf Vidl Falk und den überraschenden Wechsel seines Geschicks. Mely war nicht fähig zu reden, aber sie fühlte wohl die Tendenz dieser Konversation. Sie beobachtete auch, daß Helene und der Doktor von der Erklärung gegenseitiger Liebe nicht mehr weit entfernt waren, und dies machte sie neidisch und verbittert. Jetzt war sie verurteilt, fremdes Glück zu sehen; und wenn sie in das heitere, belebte, strahlende Gesicht Helenes schaute, ward ihre Brust voll von einem niederdrückenden Schmerz. Der Doktor erzählte, daß Fräulein von Erdmann gänzlich heruntergekommen sei. »Sie treibt jetzt feinere Bettelei,« sagte er. »Auch bei mir war sie und besang meine Genieaugen. Um sie los zu werden, gab ich ihr ein Goldstück.« Er hat sich noch nicht abgewöhnt zu prahlen, dachte Mely und sah ihn voll Haß an. Nachmittags kam ein Brief für sie. Es war ein wirres Schriftstück ohne Unterschrift und lautete: »Du hast mich betrogen. Also doch. Man hätte mir sagen dürfen, der Himmel stürzt ein, man hätte mir weiß machen können, die Sonne ist ein Aschenhaufen – ich hätte es eher geglaubt. O, was für ein Vieh bin ich. Ich bin ganz krank, daß ich so blind in den Tag hinein voll Vertrauen war. Wer hält das für möglich? Du bist Schuld, wenn ich zu Grund gehe. Ich sehe nichts mehr, ich höre nichts mehr. Meinetwegen geht die Welt unter. Je eher, je lieber. Wer hätte das geglaubt. Ich meine, ich muß verrückt werden.« Findlingstraße 3b, II. Am Abend ging sie hin. Sie wurde mehr von einer innern, unerbittlichen Macht getrieben, als daß sie freiwillig diesen Schritt that. Was um sie her auf den Straßen vorging, gewahrte sie nicht. Sie hatte nur Augen um das Unglück zu sehen, von dem sie heimgesucht wurde und das ihr immer größer und größer erschien. Er öffnete auf ihr Läuten selbst die Korridorthüre. »Ach, ich habe gewußt, daß du kommst,« murmelte er erbleichend und gab ihr die Hand. Er führte sie in einen mit dumpfer, schwüler Pracht ausgestatteten Salon. In einer Art von altdeutschem Kamin flackerte das Feuer und der Duft von Tannenharz herrschte. Es brannte noch kein Licht: die züngelnden Flammen allein warfen gespenstige, ruhlose purpurne Lichtflecke in den Raum. Mely setzte sich ermattet auf das untere Ende einer großen Ottomane. Falk trat zu ihr und zog die beiden langen Nadeln aus ihrem Hut, löste den Knoten des Schleiers, knüpfte das Jacquet auf und legte dann alles beiseite. Sie saß da, die gefalteten Hände in den Schoß gelegt und ließ ihn lautlos gewähren. Furchtsam, mit heißer Liebe und heißer Sehnsucht, sah sie zu ihm auf, bereit, ihm alles hinzugeben, was sie besaß. Aber ihre Gedanken waren nicht mehr traurig und beklommen. Sie dachte: Hier ist es schön wie in einem Schloß. So habe ich mir das Schwarzwaldschloß geträumt ... Aber plötzlich übermannte sie wieder die Bitterkeit in ihrer Brust. Ihr war, wie wenn eine starke Faust das Herz zusammenpreßte. Sie beugte sich nieder und legte den Kopf auf die verschränkten Arme. »Ist es denn wirklich wahr?« hörte sie jetzt seine Stimme und es fiel ihr auf, daß er so leise sprach und daß seine Stimme gütig klang. Als sie nicht antwortete, ging er zu ihr und setzte sich neben sie. Er strich mit der Hand über ihr Haar und fragte noch ein Mal. Ein Schluchzen, das ihren Körper zusammenkrümmte, entrang sich ihr. Sie mußte die Kniee an den Leib ziehen, ihre Schultern preßten sich zusammen und dumpfe, ächzende, von dem weichen Stoff der Ottomane gedämpfte Laute wurden hörbar. »So ist es also wahr? Mely? – Mely?« »Nein, nein,« flüsterte sie, und das klang wie aus weiter Ferne. Er lächelte wie im Traum, verließ den Platz an ihrer Seite und kauerte sich in eine Chaiselongue vor dem Kamin. Er starrte ins Feuer, bis ihm die Augen übergingen. Dann vergrub er den Kopf in die Hände und langsam fiel eine Thräne nach der andern auf den Teppich. So verging die Zeit. Dann nahte sich ihm Mely und kniete bei ihm nieder. Sie schlang die Arme um seinen Hals und suchte mit den Lippen seinen Mund. Aber er schob sie weg. Und nur wenige Schritte vor ihm blieb sie dann auf den Knieen liegen. Das Feuer war schon zur Glut geworden. Falk sah in den Kohlen die gestaltgewordenen Träume seiner Vergangenheit. Wiederum stand das lockende Schloß im Schwarzwald da mit seinen Parktannen. Festungsartige Zinken thronten an seinem First und darauf stand ein Wächter und blies das Horn. Dieser Wächter hatte die Gabe, zu weissagen und in die Zukunft zu sehen, ja er sah in ferne Jahrhunderte hinein und erblickte den Fall der Nationen und die Geburt eines neuen Heilands. Er sah die Sterne rollen in ihrer Bahn und die Kometen zu den Tiefen der Unermeßlichkeit ziehen und er lachte über die Kleinheit der menschlichen Schmerzen. Er griff an den Himmel und steckte sich den Sirius als Orden an die Brust und mit den Plejaden spielte er, wie ein Akrobat mit seinen Bällen. Felsmassen lagen in der Glut und Gemsen sprangen darüber hinweg. Dann erschien plötzlich ein Berggeist in einer Mönchskutte und kündigte den Untergang dieser glühenden Kohlenwelt an. Es war tiefe, stille Nacht, als Falk den regungslos knieenden Körper des jungen Mädchens vom Boden erhob. Ihre Hände waren eiskalt. »Wie hab ich dich geliebt,« flüsterte er und streichelte ihre Wangen. Ihr Haupt fiel auf seine Schulter. Und sie umarmten sich immer fester und dann fanden sich die Lippen zum Kuß. Ein seltsamer Frieden zog in Melys Herz und wie mit einem undurchsichtigen Schleier war all das Vergangene verhängt. Er zog sie zur Ottomane und drückte sie darauf nieder. Dann legte er sich neben sie und schloß sie weinend in die Arme. In dieser Nacht empfing er von ihr den letzten Zoll der Liebe. Der junge Tag beschien mit seinem blassen Licht die beiden Schläfer, die bisweilen im Schlafe seufzten, wie Kinder, wenn sie lange geweint haben. Als Mely am Vormittag ging, reichte sie ihm stumm die Hand. Sie sah zu Boden und lächelte verstört. Dies verstörte Lächeln war ihm wohl bekannt aus vergangenen Tagen. »Auf Wiedersehen,« sagte sie. Schluß. Aber es gab kein Wiedersehen für sie, das wußten sie Beide. – In anderthalb Jahren hatte Falk sein Vermögen von zweimalhunderttausend Mark verpraßt. Dann heiratete er die Tochter eines jüdischen Bankiers und gründete sich eine Landpraxis im Osten Bayerns. Niemals hörte er wieder von Melusine Mirbeth. Und niemals erzählte er von ihr. Langsam erlosch mit den Jahren die Liebe. Und sie wohnte noch in seinem Herzen, als er selten mehr ihrer gedachte. So frißt sich die Flamme noch im Innern eines abgebrannten Gebäudes fort, wenn die Mauern auch schon längst erkaltet sind. Ob Mely ihrem Leben ein Ende gemacht, ob sie in den wechselvollen Stürmen des Lebens ein heimisches, schützendes Dach gefunden, er wußte es nicht. Aber er suchte es auch nicht zu erfahren. Er glich darin dem Mann, der mit einer langsam heilenden Wunde umhergeht und jede Berührung fürchtet. Aber ist die Liebe eine Wunde? Oder was ist sie sonst? Wer kann es wissen. Wer kann ermessen, wie tief sie ist, wer kann begreifen, wie sie entsteht? Hier hat Gott eine große Mauer aufgerichtet. Mancher glaubt, er hätte sich ein stilles Glück am Herd gesichert. Aber der rauhe Wind bläst durch den Schlot und fort ist es. Juli – Oktober 1895. Druck von Hesse & Becker in Leipzig Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf Grundlage der 1896 erschienenen Erstausgabe erstellt. Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen. Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. Textauszeichnungen wurden folgendermaßen ersezt: Sperrung: _gesperrter Text_ Antiquaschrift: #Antiquatext# Transcriber’s Notes: This ebook has been transcribed from the first print edition, published in 1896. The table below lists all corrections applied to the original text. The original book is printed in Fraktur font. Marked-up text has been replaced by: Spaced-out: _spaced out text_ Antiqua: #text in Antiqua font# S. 10: und hing hastig hinaus. -> ging S. 14: [added comma] hat er es verlangt,« flüsterte sie. S. 23: Schriftzügen Helenes beschrieben waren -> war S. 35: Sie brauchen keine Augst zu haben -> Angst S. 39: [normalized] endlich ein bißchen verlassen -> bischen S. 42: ihre brauneu Portieren -> braunen S. 44: [added opening quotes] »O –!« machte Falk. S. 46: [normalized] indem sie die Elbogen auf die Kniee stützte -> Ellbogen S. 47: Und sie haben keine Eltern mehr? -> Sie S. 47: [added missing quotes] »Meine Eltern ließen mich S. 55: veraten könnte -> verraten S. 57: [added period] versteht er nicht viel. S. 72: [normalized] Den Elbogen hatte sie -> Ellbogen S. 73: fiüsterte das junge Mädchen -> flüsterte S. 74: [normalized] daß ihm der bloße Gedanke fantastisch -> phantastisch S. 79: stets am Äquätor -> Äquator S. 81: daß er sich noch darin erinnerte -> daran S. 83: [normalized] diese Phantasie-Landschaft -> Phantasielandschaft S. 94: [added quotes] »Ich glaube, das kann man nie S. 95: Seitenzimmerchen des »Macro Polo« -> Marco S. 96: [normalized] um die Ecke der Maffeïstraße -> Maffeistraße S. 103: Nach dem Mitagessen -> Mittagessen S. 103: die Rubenssche Amanzonenschlacht -> Amazonenschlacht S. 105: Es enstand ein langes Schweigen -> entstand S. 110: »Da haben Sie recht?« erwiderte er -> recht,« erwiderte S. 112: [added missing quotes] das dürfen Sie mir glauben.« S. 117: ein Leuchten aufrichtigter Freude -> aufrichtiger S. 117: diese feindseilige Stimmung -> feindselige S. 121: die an der Straßen liegen -> Straße S. 140: [removed extra quotes] mit unterdrücktem Händeringen.« S. 141: O warum bin ich mit gegangen -> mitgegangen S. 142: Ein Totenblässe überzog ihr Gesicht -> Eine S. 157: [added missing quotes] als _er_ mir erlaubt.« S. 157: [added comma] stammelte sie, ihr erglühendes Gesicht S. 162: [normalized] den einen Elbogen auf das Knie gestützt -> Ellbogen S. 173: Ich liebe nur einen Mann, denn ich -> den S. 179: [added missing quotes] dieses Geschwätz!« rief Mely S. 186: Sie haben mir durch Helene wissen lassen -> mich S. 192: [added comma] als er sich zum Fenster hinausbeugte, saßen sie S. 196: Meine Kraft ist anfgelöst -> aufgelöst S. 201: [added missing quotes] für eine Bewandtnis mit dem Ding?« S. 204: Ich war ganz alleim im Hause -> allein S. 212: [added comma] eine so große Zerstreutheit, einen finstern S. 219: Sie beobachtete auch, daß Helene *** End of this LibraryBlog Digital Book "Melusine - Ein Liebesroman" *** Copyright 2023 LibraryBlog. 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