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Title: Aus tiefem Schacht
Author: Zobeltitz, Fedor von, 1857-1934
Language: German
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                          Aus tiefem Schacht

                               Roman von
                          Fedor von Zobeltitz


                            Stuttgart 1915
                    Verlag von J. Engelhorns Nachf.



Alle Rechte, namentlich das Übersetzungsrecht, vorbehalten

Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart



Erstes Kapitel


Hedda stand mitten unter dem Hühnervolk und sah mit andächtiger Miene
zu, wie die Magd das Futter auswarf. Der Hühnerhof war ihre besondere
Vorliebe, und für ihn verschwendete sie reuelos, was von den
Erträgnissen der kleinen Wirtschaft übrig blieb. Es gab da allerhand
sonderbares Getier, das mit unserm braven deutschen Haushuhn nur eine
sehr entfernte Ähnlichkeit hatte und das Hedda aus weither bezogenen
Eiern hatte ausbrüten lassen: ganz kleine, zierliche Geschöpfe mit
bronzefarbenem Gefieder und wieder riesengroße, mit breiten Federlappen
an den Füßen und buschigem Kamme, Perlhühner und solche aus Cochinchina,
Liliputaner aus Java und ähnliche Arten, die sich nicht leicht züchten
ließen und zärtlich behandelt sein wollten.

Dörthe streute die Körner mit der rechten Hand unter das gackernde Volk,
während sie mit der Linken die Futterschwinge hielt. Die Verehrung für
das Hühnervolk hatte sie von ihrer Herrin geerbt; das frische,
sonnenbraune, bildhübsche Gesicht der Dirne strahlte vor Vergnügen.

»Der große Gottlieb frißt uns noch tot,« sagte sie, lachend ihre blanken
Zahnreihen zeigend. »Nee gnä’ges Fräulein – was _der_ fressen kann!!
Und den Zwerghühnern nimmt er immer ihr bißchen Futter weg; man merkt,
daß er ausländ’sch ist.«

Hedda nickte. »Er ist nur gegen die eigne Art galant,« erwiderte sie;
»die Menschen machen’s nicht anders.«

Dann fragte sie nach dem Vater Dörthes. Der war Stellmacher unten im
Dorfe und hatte sich kürzlich eine leichte Lungenentzündung geholt. Aber
es ging ihm schon besser; der Doktor war dreimal dagewesen – nun
brauchte er nicht mehr zu kommen. Morgen oder übermorgen konnte der
alte Klempt wieder an die Arbeit gehen.

»Hat er denn viel zu tun?« fragte Hedda.

»O ja, gnä’ges Fräulein,« entgegnete Dörthe lebhaft und klappte die
Futterschwinge aus, damit auch nicht das letzte Körnlein verloren gehe.
»Seit Kommerzienrats drüben wohnen, könnte er sechs Arme haben. Da
gibt’s immerwährend was!«

Sie trieb die Hühner davon, die sie noch immer umringten und an ihr
emporzuflattern versuchten.

Hedda schritt quer über den Wirtschaftshof und trat in den kleinen
Vorderpark, in dem das Rosenrundell in voller Blüte stand. Es war in der
fünften Nachmittagsstunde und noch ziemlich heiß. Aber das junge Mädchen
spürte von der Hitze nicht viel. Hedda behauptete, ihr kühles Herz
temperiere sie so völlig, daß sie gegen jede sommerliche Bosheit
geschützt sei. Sie gehörte zu jenen blonden Schönheiten, die in der Tat
eine beständige Frische auszuströmen scheinen. Obwohl sie erst Anfangs
der Zwanzig war, machte sie doch einen reiferen Eindruck. Mit ihrer
großen, stattlichen Gestalt und der vollen Büste hätte man sie für eine
junge Frau halten können.

Auf der glasüberdachten Veranda des Herrenhauses blieb sie stehen und
schaute hinab auf das Dorf. Der Baronshof lag auf einer Anhöhe. Man
erzählte sich, der Großvater des jetzigen Besitzers, des Freiherrn von
Hellstern, habe ihn auf derselben Stelle erbaut, auf der ehemals das
alte Schloß gestanden habe. Das kannte man freilich nur noch der Sage
nach. Den Hellsterns war es ergangen wie manch anderm alten Geschlechte.
Die Ahnen hatten nichts übrig gelassen für die Nachkömmlinge. Freilich
– der Letzte im Mannesstamme hatte sich lange und bitter genug gewehrt
gegen den Untergang, mit Kraft und mit Zähigkeit, mit hartem Schädel und
beiden Fäusten. Aber schließlich hatte er doch den aussichtslosen Kampf
aufgeben und die Waffen strecken müssen. Das war mit vollen Ehren
geschehen, und die Leute sagten, er könne noch froh sein, daß
Kommerzienrat Schellheim ihm seinen Landbesitz abgekauft habe, und daß
der Baron nun in Frieden seine alten Tage auf der Scholle seiner Väter
verleben könne. Denn Herrenhaus und Hof hatte er behalten; der
Kommerzienrat legte keinen Wert auf die halbverfallenen Baulichkeiten –
er wohnte drüben in seinem neuen Schloß, das mit glänzenden
Fensterreihen vom Auberge hinab zum Tale grüßte.

Hedda hatte die Hände auf dem Rücken verschränkt. Im Sonnendunst des
Tages verschwamm der kaum eine Wegstunde entfernte Auberg mit seiner
modernen Ritterburg in bläulich-grauen Nebelschleiern. Die ganze
Umgebung war reich an Wald und Höhen. Die Landschaft erinnerte mehr an
Thüringen als an die vielgeschmähte Streusandbüchse des heiligen
römischen Reichs. Dunkle Linien begrenzten in unregelmäßigen Kurven den
Horizont: weit ausgedehnte Kiefernforsten, die mit wunderschön
gepflegten, unter fiskalischer Verwaltung stehenden Buchen- und
Eichenwaldungen wechselten. Durch die breite Talmulde, in deren Mitte
das Dorf Oberlemmingen lag, rann ein Nebenfluß der Oder, die kleine
Barbe, die aber zur Zeit der Schneeschmelze gar stattlich anwachsen
konnte. Sie trennte das Tal in zwei ziemlich gleiche Hälften, und hüben
und drüben wuchsen aus flacher Sohle zwei Anhöhen empor, der Auberg und
der Lemminger Zacken, auf dem der Baronshof lag.

Hedda trat in das Haus. Es war ein alter, viereckiger Kasten mit hohem,
schrägem Ziegeldach, so wie man zu friderizianischer Zeit auf dem Lande
zu bauen pflegte. Und es war schon richtig: man spürte überall, daß das
Gebäude arg vernachlässigt worden war. Ställe und Scheunen hatte der
Freiherr stets in sauberster Ordnung gehalten, aber für das Herrenhaus
tat er nicht viel. Er war nicht verwöhnt, war mehr eine soldatische
Natur. Es war ihm herzlich gleichgültig, daß die alten Ledertapeten im
Speisezimmer immer schwärzer wurden, und daß in den Korridoren der Putz
von der Decke fiel – auch jetzt noch, wo er durch den Verkauf seines
Landbesitzes wenigstens ein sorgenloses Auskommen hatte. Es gab immer
einen kleinen Kampf zwischen ihm und Hedda, wenn die letztere Handwerker
ins Haus bestellte, um die notwendigsten Ausbesserungen vornehmen zu
lassen.

Das Zimmer, das Hedda bewohnte, war das freundlichste auf dem ganzen
Baronshofe. Es lag im ersten Stockwerk, nach hinten hinaus, mit dem
Ausblick auf den schönsten Teil des Parks, war groß, luftig und sonnig
und mit dem bunten Komfort eines Backfischchens eingerichtet, das sich
sein Heiligtum nach Möglichkeit hübsch zu machen sucht.

Die ganze Seite einer Wand nahm ein breites, tannenes Büchergestell ein.
Auf diese ihre Bücher war Hedda stolz. Es waren die Reste einer
stattlichen Sammlung, die einst ihr Urgroßvater, einer der Generale des
großen Friedrich, zusammengebracht hatte, meist französische Geschichts-
und Memoirenwerke, in die sich Hedda in ihren freien Abendstunden zu
vertiefen pflegte, ohne Kritik und mit kindlicher Naivität über die
tollsten und albernsten Klatschgeschichten fortlesend. Zuweilen schaffte
sie sich auch von ihren Ersparnissen einiges Neue an, aber sie hatte
wenig Sinn für das Moderne; die Ritterromane Florians interessierten sie
mehr als die Belletristik der Zeitgenossen.

Hedda war müde. Den halben Tag über hatte sie im Hofe gewirtschaftet.
Der Haushalt war nur klein, aber auch die wenigen Kühe, der Hühnerhof
und der Gemüsegarten verlangten Pflege, und sie hatte nur zwei Mägde und
einen alten Diener, der zugleich Knecht und Gärtner war, zur Hand. Sie
hatte viel zu tun, um alles in Ordnung zu halten. Heute früh war sie
schon vor fünf Uhr auf dem Posten gewesen; die »schwarze Marie«, ihre
Lieblingskuh, hatte ein Kälbchen zur Welt gebracht, früher, als man
erwartet, und darum hatte die Dörthe ihre Herrin so zeitig geweckt.

Ja, sie war müde. Sie wollte ein wenig ausruhen. Das große Fenster auf
der Südseite reichte mit seinen Glasscheiben nach italienischer Art bis
auf den Fußboden und war draußen halb mannshoch mit Eisen umgittert. Es
stand weit offen; schräg davor der Schreibtisch, sehr ordentlich
gehalten, mit den Photographieen der verstorbenen Mutter und einiger
Pensionsfreundinnen und einer Glasvase, die einen großen Buschen gelber
Rosen enthielt. Hedda tauchte ihr Gesicht in die Rosen, atmete tief
deren Duft ein und ließ sich dann in den mit licht geblümtem Cretonne
überzogenen Lehnstuhl fallen.

Herrgott, war sie müde! Das kam nicht oft vor. Mit blinzelnden, halb
geschlossenen Augen schaute sie auf den Park hinaus. Die Glut der
Nachmittagssonne brütete über den Wipfeln der Bäume. Kein Windhauch
ging. Auf dem fahlgrünen Rasenfleck dicht unter dem Fenster stand ein
geborstener Sandsteinpfeiler mit einer Marmorplatte, auf der eine
Sonnenuhr eingraviert war. Jetzt gluckte ein dickes, weißes Huhn darauf
und schlief. Weiter hinten schimmerten helle Silbereschen durch das
dunkle Grün der Buchen; dort senkte sich mählich das Blättermeer. Der
Park fiel zum Tale ab; ein Zaun aus Eichenholz umgab ihn hier. Vom
Fenster aus konnte man über Wiesen und Felder sehen. Alles war in bester
Kultur; der Kommerzienrat besaß eine tätige Hand. Die Ernte stand vor
der Tür; das gelbe Getreide zitterte in der Sonne.

Ein breiter, staubgrauer Landweg durchschnitt das Gelände. Dort rollte
ein offener Wagen daher, der Hedda aufmerksam werden ließ. Sie stand
auf, trat dicht an das Fenstergitter und spähte scharf in die Ferne.

Wahrhaftig, sie täuschte sich nicht: es war der Wagen Schellheims, –
der Kommerzienrat, der erst vor wenigen Tagen aus Karlsbad zurückgekehrt
war, wollte auf dem Baronshof seinen Besuch machen.

Das war zu erwarten gewesen. Trotzdem fürchtete sich Hedda ein wenig
davor. Ihr Vater konnte den Mann nicht leiden; man durfte kaum dessen
Namen in seiner Gegenwart nennen. Es war lächerlich – Hedda nahm in
dieser Beziehung dem alten Herrn gegenüber kein Blatt vor den Mund –,
aber mit der Tatsache mußte gerechnet werden. Es galt, den Vater
vorzubereiten.

Sie warf einen Blick in den Spiegel, ordnete hastig ihr Haar und eilte
dann flinken Fußes in das Erdgeschoß hinab.

Der Baron saß bei der Arbeit – in einem großen, kahlen, gewölbten
Gemach, vor einem riesenhaften Tische aus weißem Tannenholz, in dessen
Platte ein Halbkreis eingeschnitten war, in den der Lehnsessel
Hellsterns weit hineingeschoben wurde, wenn der Alte Platz nehmen
wollte. Hellstern litt seit einigen Jahren an periodisch wiederkehrender
Ischias, die ihm die Bewegung erschwerte. Er hatte sich deshalb den
merkwürdigen Tisch bauen lassen, in dessen Ausschnitt er saß, ringsum
von Bergen uralter Akten, Folianten und Pergamentrollen umgeben, vor
sich ein Buch Papier, dessen einzelne Blätter er mit großen, groben
Schriftzügen bedeckte.

Baron Hellstern war ein Sechziger mit rotbraunem, gesundem Gesicht, kurz
geschorenem weißem Haar und langem, grauem Vollbart. Augenblicklich trug
er eine Brille; dunkelblaue, sehr klare Augen blickten durch ihre
Gläser. Trotz mäßigen Lebens und vieler, erst in letzter Zeit durch sein
Leiden beeinträchtigter Bewegung hatte er schon frühzeitig das leibliche
Erbe der männlichen Hellsterns übernehmen müssen: eine lästige
Korpulenz. Der Baron war, wenn er aufrecht stand, eine kolossale
Erscheinung – sehr groß, mit der Schulterbreite eines Enaksohns und
falstaffischem Leibesumfang. In früherer Zeit hatte man Wunderdinge von
seiner Körperkraft erzählt; jetzt nagte der Wurm an der nordischen
Eiche.

Er arbeitete. Seit er die Landwirtschaft aufgegeben, hatte er sich mit
Leidenschaft auf ein andres Steckenpferd geworfen. Er schrieb im
Auftrage eines Lehnsvetters, seines letzten männlichen Verwandten von
der schwedischen Linie der Familie, an einer Chronik seines Geschlechts.

Schon als junger Offizier, als sein Vater noch lebte und den Baronshof
bewirtschaftete, hatte er sich lebhaft für die Familiengeschichte
interessiert und an Quellen dafür zusammengebracht, was er nur fand.
Nach dem Verkauf seiner Ländereien begann ihn die Langweile zu packen;
anfänglich nur, um seine Mußestunden auszufüllen, ging er an das Sichten
und Ordnen des im Laufe der Zeit gewaltig angewachsenen Materials. Die
lateinischen Codices übersetzte ihm der Pastor, bei den französischen
und schwedischen Schriftstücken half ihm Hedda. Die Hellsterns oder
Hellstjerns, wie sie sich ehemals schrieben, waren allerdings
schwedischer Abstammung, aber seit dem Großen Kurfürsten seßhaft in der
Mark. Mit den Wrangels und Sparres und Crusenstolpes waren sie dazumal
nach dem Brandenburgischen gekommen. Und in der Dauer dreier
Jahrhunderte hatten sie ihre Muttersprache vergessen. Nun lernten die
beiden letzten Abkömmlinge jenes ersten Hellstjern, der unter dem
brandenburgischen Roten Adler gedient hatte, aus Liebe zu ihrem
Geschlecht noch nachträglich die einschmeichelnd klingende, melodiöse
Sprache der Ahnen. Sie lernten tapfer – Hedda sowohl wie der alte
Brummbär, ihr Vater, dessen Ausdauer und Zähigkeit gleich
bewunderungswürdig waren wie sein ausgezeichnetes Gedächtnis. Die Akten
vergangener Jahrhunderte, Ritter- und Lehnsbriefe mit ihrem antiquierten
Schwedisch, machten ihnen unendlich viel Mühe; aber sie rangen sich
durch und freuten sich wie die Kinder, wenn sie wieder einmal einen Berg
staubiger Faszikel bewältigt hatten.

Eines Tages war der Baron auf einen guten Gedanken gekommen. Das
vorhandene Material genügte ihm noch nicht. Da fiel ihm ein, daß im
Freiherrnkalender neben seinem Namen noch ein andrer stand, der
folgendermaßen lautete: Axel Freiherr von Hellstjern, geboren 18. Juni
1865 (Sohn des Geheimen Konferenzrats Frederik Jasper v. H., Gesandten
zu Kopenhagen, dann in Paris, und der Leontine, Gräfin von Hetfried),
Königl. schwed. Kammerjunker, Erbherr auf Jarlsberg, Valö und
Brennwolde.... Dieser junge Mann war der letzte Hellstjern von der
schwedischen Linie, wie der Besitzer des Baronshofs der letzte der
märkischen Linie war. Jarlsberg – das wußte der Baron – hieß das
uralte Stammschloß des Geschlechts; es lag hoch oben an der Felsküste
Schwedens, von weißem Meeresgischt umspült, ein Denkmal aus grauer Zeit,
da man mit der Baronskrone auf dem blonden Haupt noch ungestraft
seeräubern konnte. In den Archiven der Burg schlummerte vielleicht auch
noch mancher litterarische Schatz, der für die Geschichte des
aussterbenden Hauses von Wichtigkeit war.... Der Freiherr schrieb an den
jungen Vetter. Lange blieb die Antwort aus. Dann trafen große Kisten
ein, mit Büchern, Papieren und Dokumenten bis obenhin vollgestopft, und
dazu ein liebenswürdiger Brief des Herrn Axel: er habe alles
zusammengesucht, was er im Interesse der Chronik habe auftreiben können,
und stelle es dem werten Herrn Vetter mit Freuden zur Verfügung. Ja,
noch mehr: er nehme selbst einen so großen Anteil an der
Familiengeschichte, daß er den Herrn Vetter bitte, irgend eine geeignete
Kraft ausfindig zu machen, die jene Chronik zu Ehren des Hauses
Hellstjern verfassen könne. Gern willige er in ein Honorar von
zehntausend deutschen Reichsmark.

Das konnte der Axel von Jarlsberg, denn er war ungeheuer reich. Und nun
gedachte der Baron, sich jene Summe selbst zu verdienen. Er hätte sich
unter andern Verhältnissen sicher gegen die »Soldschreiberei« gesträubt,
aber der Gedanke an Hedda und ihre Zukunft unterdrückte seinen
törichten Stolz. Zudem war er mit ganzer Seele an der Sache. Er saß von
früh bis zum späten Abend an seinem wunderlichen Schreibtisch, beständig
rauchend und halblaut vor sich hinsprechend, blätternd, studierend,
prüfend und ordnend. Das Fenster vor ihm stand immer offen, und wenn ihn
draußen ein piepsendes Sperlingspaar oder ein gackerndes Huhn störte, so
warf er zuweilen mit dem Wörterbuche danach; dann scholl seine Klingel
durch das Haus, und August, der Diener, mußte den Sprachschatz wieder
ins Zimmer holen.

       *       *       *       *       *

»Puh,« sagte Hedda, als sie bei dem Alten eintrat, »Vater, dein Tabak
ist furchtbar! Die Pfeife qualmt ordentlich und – ich weiß nicht,
riecht denn jeder Tabak so stark?«

»Der vom Kommerzienrat drüben wohl nicht,« antwortete der Baron, ruhig
weiterschreibend; »aber der hat’s auch dazu, sich Havannazigarren
leisten zu können.... Hederle, es ist gut, daß du kommst. Ich werde aus
der Verwandtschaft nicht klug. Die Leute heißen alle Axel, und bei den
meisten folgt nicht mal ein zweiter Vorname hinterher. Hilf mir ein
bißchen!«

»Nachher gern – jetzt geht’s nicht! Zupf dich ein wenig zurecht,
Väterchen – Schellheims sind auf der Visitentour. Ich habe ihren Wagen
vom Fenster aus erkannt ...«

Der Baron spritzte den Gänsekiel aus, dessen er sich bediente, warf ihn
hin und lehnte sich im Sessel zurück.

»Sind nicht zu Hause, mein Kind,« sagte er ruhig, nachdem er einen
neuen, tiefen Zug aus seiner Pfeife genommen hatte; »August soll’s den
Herrschaften melden – damit sela.«

»Nein – nicht sela,« widersprach Hedda, setzte sich auf den
Schreibtischrand und strich ihrem Vater über die Stirn. »Du wirst
vernünftig sein, lieber Alter. Es liegt gar kein Grund vor, die
kommerzienrätliche Gesellschaft vor den Kopf zu stoßen.«

»Ich kann sie nicht leiden,« grunzte der Freiherr und zog die Nase
kraus.

»Warum nicht? Weil Schellheim dir dein Gut abgekauft hat?«

»Er hat geschachert wie ein Mühlendammer!«

»Das gehört zu seinem Beruf. Er ist nun mal Kaufmann.«

»Hemdenfritze!«

»Ob einer Hemden verkauft oder Rohtabake oder goldene Manschettenknöpfe,
ist gleichgültig; jeder ehrliche Erwerb verdient Achtung.«

»Ach, fang mir nur nicht wieder mit Moralpredigten an, Hederle!« rief
der Alte halb ärgerlich, halb lachend. »Was du immer für grüne Weisheit
im Schnabel führst! ...« Er rückte an seinem Stuhl. »Also meinetwegen!
Um deinetwillen! Kommt er mit Gattin?«

»Weiß nicht. Aber jedenfalls! Die Dörthe erzählte, es sei Besuch auf dem
Auberg. Vielleicht sind die Söhne da.«

Ein neues Grunzen des alten Herrn.

»Wappnen wir uns mit Geduld! Schick mir den August! Muß ich mich erst
umkleiden?«

»Ich würde es schicklich finden, wenn der Baron Hellstern seine Gäste
in –«

»Im Bratenrock empfangen wollte!« fiel der Baron ein. »Ich lass’ schon
alles über mich ergehen. Gott, diese Umstände!«

Er stöhnte, ächzte und grunzte noch lange. Aber es half ihm nicht viel.
Hedda verstand, mit dem Alten umzugehen, und August auch. Der letztere
war dreißig Jahre im Hause und dem Baron unentbehrlich geworden. Er
stöhnte, ächzte und grunzte genau soviel wie sein Herr und konnte auch
ebenso grob werden. Aber er war dabei die beste, treueste und ehrlichste
Seele, eines der aussterbenden Exemplare des dienenden Geschlechts.

Auf seinen beiden Krückstöcken humpelte der Baron, von Hedda gestützt,
in sein Schlafzimmer. Das war ein merkwürdiger Raum, ein wahrer
Tanzsaal, aber fast ohne Möbel. In der Mitte stand ein schmales,
eisernes Bettgestell mit einigen Decken. An den Fenstern hingen keine
Gardinen; in der Nacht schloß man die Läden von draußen, die herzförmige
Öffnungen hatten und die Spuren von Schrotladungen zeigten.

August zog seinem Herrn die Flauschjoppe aus.

»Nicht so reißen, du Esel!« brummte Hellstern.

»Das Ding ist zu eng,« gab August unwirsch zurück. »Ich kann nicht
davor, daß der Herr Baron immer dicker werden! Das Marienbader hat auch
nichts genützt.«

»Weiß ich allein. Halt keine Reden!«

»Wenn der Herr Baron fragen, muß ich antworten.«

»Ich frage gar nichts! Her mit dem Rock! Es ist wahr – ich werd’ immer
dicker. Hedda muß die Knöpfe noch ein Stück weiter vorsetzen. Ich kriege
das Ding nicht mal mehr zu.«

»Lassen ihn der Herr Baron doch man offen stehen,« meinte August. »Es
sieht ja besser aus. Aber die gestrickte Weste würd’ ich nicht
anbehalten –«

»Ich tu’, was ich will. Die Weste bleibt drunter. Ich bin kein Popanz
und kein Modegigerl. Drück mal von hinten ein bißchen nach, dann geht
der Rock schon zu ... Hupla – na, siehst du wohl!«

Der Alte trat vor den kleinen Spiegel, der über dem Waschtisch hing. Er
gefiel sich ganz gut. Aber in Wahrheit sah er weniger hübsch als grotesk
aus. Der lange, schwarzblaue Rock hatte eine eigentümliche
Biedermaierfasson, umspannte den Oberkörper und den mächtigen Leib in
ängstlicher Faltenlosigkeit und strebte von den Hüften an wie das Kleid
einer Bäuerin nach auswärts. Dazu trug der Baron dunkle, gestreifte
Beinkleider von außerordentlicher Weite und bequeme Filzstiefel.

Hellstern lächelte, als er sein Ebenbild im Spiegel erschaute.

»Wie ein Elefant,« meinte er schmunzelnd; »man kann auch Dickhäuter
sagen. Aber dennoch ganz stattlich. Das Halstuch, August!«

»Erst setzen!« antwortete dieser und schob dem Baron einen massiven
eisernen Stuhl zu, auf dem sich Hellstern wuchtig niederließ. Dann
schlang August seinem Herrn das sauber gefaltete schwarze Tuch um den
Hals und steckte vorn eine goldene Busennadel hinein; Hedda hatte sie
aus einem Ohrring der seligen Mutter anfertigen lassen.

Indessen rollte unten die Viktoria des Kommerzienrats vor die Veranda.
August beeilte sich, den Schlag öffnen zu helfen. Er trug einen
verschossenen blauen Rock mit versilberten Knöpfen. Der reich
galonnierte Diener des Kommerzienrats, der neben dem Kutscher gesessen
hatte, war ihm bereits zuvorgekommen und schaute ihn ein klein wenig von
der Seite an. Das ärgerte August. Er gab dem Livreekollegen einen
kräftigen Schubbs und stellte sich neben den Schlag.

Auf der Veranda erschien Hedda. Zwei junge Herren sprangen zuerst aus
dem Wagen, Hagen und Gunther, die Söhne des Kommerzienrats, beide in
Gehröcken und blanken Zylinderhüten. Dann kam die Mutter, eine
zierliche, kleine Dame von sympathischem Äußern – dann der Rat selbst,
untersetzt, mit gefälligem Embonpoint, das kluge Gesicht nach englischer
Sitte bis auf einen kurzen, auf der halben Backe wie über einem Lineal
abgeschnittenen grauen Bart glatt rasiert.

Die Begrüßung seitens Schellheims war lebhaft und herzlich, seitens
seiner Frau liebenswürdig reserviert. Die Söhne hielten sich zurück, die
Zylinder im Arm, den Oberkörper leicht nach vorn geneigt. Hedda gab
jedem die Hand und führte den Besuch sodann in das Wohnzimmer.

Hellstern war noch nicht anwesend, aber man hörte im Korridor bereits
das gleichförmige Geräusch, das das Aufstoßen seiner Stöcke auf dem
Fußboden hervorrief.

Als er eintrat, ging ihm der Kommerzienrat mit strahlendem Gesicht und
rascher, pendelnder Armbewegung entgegen.

»Mein sehr verehrter Herr Baron – ich freue mich herzlich – ich freu’
mich von ganzem Herzen ...«

»Lieber Herr Kommerzienrat!« Hellstern drückte Schellheim so kräftig die
Rechte, daß dieser am liebsten mit einem energischen Donnerwetter
geantwortet hätte, küßte sodann der tief herniederrauschenden Rätin die
Hand und sagte den jungen Herren »Guten Tag«.

Man setzte sich, und rasch war die Unterhaltung im Fluß. Schellheim war
ein weltgewandter Mann, bei dem nur zuweilen, in seltenen
Ausnahmefällen, die Protzigkeit des Parvenus, der sich aus kleinen
Anfängen emporgearbeitet, hervorbrach. Aber die große Lebhaftigkeit, mit
der er, von ausdrucksvollem Gebärdenspiel unterstützt, sprach und
agierte, ließ dies nicht sonderlich auffallen.

Seine Frau war ziemlich still. Nur auf direkte Anrede hin pflegte sie
etwas zu sagen, mit einer Stimme, die wunderbar einschmeichelnd, weich
und melodiös klang. Auf Hedda machte die Rätin einen sehr angenehmen
Eindruck. Sie war nicht hübsch, aber chic und vornehm. Sie mußte auch
bedeutend jünger als ihr Gatte sein. Er hatte sie geheiratet, als er
bereits ein gemachter Mann war und seine Verhältnisse es ihm
gestatteten, in eine »gute Familie zu kommen«. Er war immer
liebenswürdig zu ihr, aber nie gütig. Ihre Bescheidenheit mißfiel ihm
zuweilen; er hätte sich eine glänzendere Repräsentantin für sein
Hauswesen gewünscht. Ihrer feinen musikalischen Bildung und ihrer
Verehrung für Wagner zuliebe war er auf den schnurrigen Einfall
gekommen, seinen Söhnen die Namen Hagen und Gunther geben zu lassen.

»Aber der grimme Hagen macht durchaus keinen blutdürstigen Eindruck,«
bemerkte Herr von Hellstern lächelnd, als das Gespräch sich dem
Wagnerianismus zuwandte; »im Gegenteil ...«

Gunther, der jüngere der Brüder, errötete leicht, obschon nicht von ihm
die Rede war. Er war schlank und schmächtig und ähnelte der Mutter. Ein
Paar sehr schöne und kluge, sammetbraune Augen belebten das etwas blasse
Gesicht.

Der »grimme Hagen« schlug mehr dem Vater nach. Er war ebenso lebhaft wie
dieser in Sprache und Bewegungen und zog den Mund ein wenig schief, wenn
er lächelte. Er war auch der ganze Stolz seines Erzeugers, der Leiter
der Fabrik und Träger der Firma, ein tüchtiger Kaufmann trotz seiner
Lebemannsallüren. Gunther war aus der Rasse gefallen. Er hatte keinerlei
merkantile Neigungen und galt für einen Gelehrten. Er war
Literarhistoriker.

Das interessierte Hedda. Sie fragte, wo er studiere, und befand sich
bald in angeregter Unterhaltung mit ihm. Gunther erzählte, daß er es
bereits bis zum Dozenten an der Berliner Universität gebracht habe, und
daß seine Spezialität die höfische Dichtung des Mittelalters sei.
Insofern mache er auch seinem »ihm wider Willen« gegebenen Vornamen
Ehre, als er sich mit besonderem Eifer auf die Erforschung des
Nibelungenliedes geworfen habe. Er führte noch einige Lyriker und
Didaktiker aus der Blütezeit des Minnesangs an, Namen, die Hedda
ziemlich fremd an das Ohr klangen; nur von Walter von der Vogelweide,
von Tannhäuser und Ulrich von Lichtenstein hatte sie schon gehört.

Aber es gefiel ihr alles, was der junge Gelehrte sagte. Er hatte so eine
nette Art, sich auszudrücken, und das weiche, sympathische Organ seiner
Mutter. Er sprach bescheiden und ruhig und schien sichtlich erfreut zu
sein über das Interesse, das Hedda ihm und seinem Studium
entgegenbrachte. Unwillkürlich hatten die beiden während ihrer
Unterhaltung sich ein wenig von den übrigen zurückgezogen. Sie standen
in einer Fensternische, während die andern sich um den Sofatisch
gruppierten.

Der Kommerzienrat führte im Augenblick das Wort.

»Ja, denken Sie sich, mein verehrter Herr Baron,« sagte er, den
ausgestreckten Zeigefinger seiner Rechten hoch in der Luft, »die Quelle
soll in der Tat Mineralgehalt haben. Hören Sie mal, das könnte ’ne große
Sache werden! Was meinen Sie, wenn wir aus Oberlemmingen ein Bad
machten?!«

»Bleiben Sie mir vom Leibe!« rief der Baron zurück. »Ein Bad – na, das
fehlte noch! Bin froh, daß wir hier so in der Stille und Ruhe sitzen!
Übrigens glaub’ ich das noch nicht recht – das mit der Quelle. Wo soll
sie sein – an der Grauen Lehne?«

Schellheim nickte eifrig.

»Ja – an der Grauen Lehne, im Möllerschen Gehölz,« antwortete er. »Man
hat sie gar nicht beachtet – was versteht der Bauer vom Gurkensalat!
Aber da hat sich ein Lehrer aus Frankfurt während der großen Ferien bei
Möller im Gasthof eingemietet, und dem ist die Gaseentwicklung
aufgefallen, mit der die Quelle aus dem Boden sprudelt, – wissen Sie,
ich habe mir das Dings angesehen, es moussiert förmlich – wie eine
Pommery ... Und da hat er denn einen befreundeten Chemiker darauf
aufmerksam gemacht, der hat das Wasser genauer untersucht. Was soll ich
Ihnen sagen, mein bester Herr Baron, – der Mann hat Kohlensäure und
Eisen konstatiert und Möller angeraten, die Quelle schleunigst fassen zu
lassen.«

Der Baron schüttelte den Kopf und strich sich dann über den Leib.

»Das Marienbader hat mich nicht schlanker gemacht,« meinte er;
»vielleicht ist unser heimisches Wässerchen wirkungsvoller.«

Schellheim lachte.

»Nun denken Sie mal an! Wenn wir nicht mehr in die Ferne zu schweifen
brauchten, sondern gleich immer an Ort und Stelle unser alljährliches
Gesundungsbad nehmen könnten! Alle Wetter, das wäre doch wirklich famos!
Ich hätte große Lust, dem alten Möller das Quellenterrain abzukaufen.
Allzu unverschämt wird er ja hoffentlich nicht sein.«

»Eh – na – warten Sie’s ab, Herr Kommerzienrat! Wie ich unsre Bauern
kenne, lassen sie sich nicht so leicht die Butter vom Brote nehmen. Und
namentlich der alte Möller, – der hat’s faustdick hinter den Ohren ...
Offen gestanden, ich wünschte, die ganze Geschichte beruhte auf einem
Irrtum. Mit unserm stillen Frieden ist’s aus, wenn wir erst Badegäste
hierher bekommen. Ich gucke unsre paar Sommerfrischler schon immer
unwirsch von der Seite an.«

»Das ist egoistisch, lieber Baron –«

»Ah was, jeder ist sich selbst der Nächste! Ich bin glücklich in meiner
Einsamkeit. Hab’ neulich einmal irgend einen modernen Dichter gelesen,
der nennt die Einsamkeit ein ›vornehm’ Land‹. Und, weiß Gott, der Poet
hat recht! Ich möchte mir nicht gern mein letztes Eckchen ›vornehm’
Land‹ rauben lassen.«

Der Kommerzienrat verzog den Mund.

»Alle Achtung vor Ihrem Dichtersmann, Herr Baron – aber die Einsamkeit
widerspricht dem Zeitgeist. Wer für die Menschheit lebt, muß mitten im
Menschentreiben stehn.«

»Oho – haha – Kommerzienrat, fragen Sie mal den Jüngsten Ihrer
Nibelungen, ob er im Trubel und Gewühl schaffen und arbeiten kann! Und
lebt doch am Ende auch für die Menschen seiner Zeit.«

Die Rätin nickte, und der grimme Hagen warf ein, mit schiefen
Mundwinkeln gleich seinem Herrn Vater, sich an der Krawatte zupfend:
»Ach nein, Herr Baron – den Gunther muß man als Sonderling beurteilen.
Der ist am glücklichsten, wenn sich kein Mensch um ihn bekümmert, und
selbst seine Forschungen hält er ängstlich geheim.«

»’s ist so,« fiel Schellheim ein, während die beiden in der
Fensternische sich nicht in ihrer Unterhaltung stören ließen, sondern
nur zuweilen mit leichtem Lächeln zu den andern herüberschauten; »ich
bin kein Banause, lieber Baron, und schätze Wissenschaft und Kunst –
ah, nun ja – ganz gewiß! Aber ich frage dennoch: was gewinnt die
Menschheit, wenn irgend ein Gelehrter nach unendlichen Mühen
herausgekriegt hat, daß Heinrich von Ofterdingen möglicherweise ein paar
Strophen des Nibelungenliedes gedichtet habe? – Ich bitte Sie, die
ganzen gelehrten Wissenschaften, die nicht praktischen Zwecken dienen,
sind doch eigentlich nur Füllsel im Dasein, pikante Zutaten zu der
Pastete, aber keine Kost, die den Hunger der Lebenden stillt! Den Hunger
der Lebenden,« wiederholte er nochmals, als gefalle ihm der Ausdruck
besonders, und dann fuhr er raschen Wortes fort, da er sah, daß seine
Frau unruhig wurde und verschiedenfach nach dem Fenster blickte: »Ich
hätte ja am liebsten gehabt, Gunther hätte gleichfalls die kaufmännische
Karriere ergriffen. Er wollte nicht – schön – ich bin kein Rabenvater.
Aber nun ausgesucht Literarhistoriker! Warum nicht Jurist? Warum nicht
Mediziner? Meinethalben bloß Theoretiker – Anthropologe, Bazillenmensch
– die haben doch feste Ziele im Auge, ich bitte Sie, und ihre
Untersuchungen nützen der Gesamtheit.... Nein – er wollte partout ein
Bücherwurm werden –«

»Und fühlt sich recht wohl dabei,« warf Gunther ein. Er war aus der
Nische getreten. Sein blasses Gesicht hatte sich leicht gerötet. Er
lächelte, aber es zuckte doch auch ein wenig bitter um seine Mundwinkel.
»Papa ist nun mal ein Fanatiker der sogenannten praktischen Berufe, Herr
von Hellstern,« wandte er sich wie entschuldigend an den Baron; »ich
begreife es auch. Wer, wie er, sich nur in rastloser produktiver
Tätigkeit wohl fühlt, der kann einer stillen Gelehrtenarbeit schwerlich
Geschmack abgewinnen. Ich höre übrigens, daß Sie mit einer Geschichte
Ihres Geschlechts beschäftigt sind, Herr Baron, und sich in
umfangreiches Quellenmaterial zu vertiefen haben. Wenn ich Ihnen
irgendwie dienlich sein kann –«

»Merci, Herr Doktor – sehr liebenswürdig,« entgegnete Hellstern; »das
Lateinische macht mir ja manchmal Kopfzerbrechen; und wenn mir etwas
besonders Verzwicktes unter die Finger kommen sollte, will ich mich gern
an Sie wenden. Bleiben Sie noch einige Tage hier?«

»Leider nein,« erwiderte die Rätin seufzend, und ihr Gatte fiel ein:
»Sie fahren alle beide schon morgen abend wieder zurück, die Jungen ...«
Er klopfte Gunther auf die Schulter. »Ich hab’s nicht böse gemeint –
#de gustibus# und so weiter. _Mir_ würde das Herumwühlen in alten
Scharteken den Appetit verderben. Da lob’ ich mir noch die Musik.
Gnädigste Baronesse sind gewiß auch Wagnerschwärmerin?«

Das war sie wirklich, und nun erfolgte eine kurze Zwiesprache zwischen
ihr und der Rätin über den vergötterten Meister und seine Musik. Da
wurde Frau Schellheim warm. Sie konnte sich gar nicht beruhigen, daß
Hedda ihren Liebling nur aus den Klavierpartituren kannte und noch keins
seiner Bühnenwerke gesehen hatte. Ihr drittes Wort war Bayreuth und Frau
Cosima. In der Villa Wahnfried kannte sie jeden Raum.

Der Baron beobachtete scharf, während er ungezwungen plauderte. Sein
Urteil über die Familie Schellheim stand fest. Der Rat ein intelligenter
Emporkömmling, wie man seinen Typus in allen Großstädten hundertfach
findet; die Frau unterdrückt, nicht uneben; aber von sklavischer
Ergebenheit; der grimme Hagen ein modernes Kaufmannsgigerl, das nach
Abschluß der Geschäftszeit den Lebemann und Kulissenjäger spielt – und
Gunther der aus der Art geschlagene Idealist. Gunther gefiel dem Baron
noch am besten, obschon auch er für grüblerische Gelehrtentüftelei wenig
übrig hatte.

Man sprach von guter Nachbarschaft und dergleichen. Bei dieser
Gelegenheit erfuhr Hellstern, daß der Kommerzienrat beabsichtigte, sich
gänzlich auf der »Auburg« – so hatte er sein Schloß getauft –
festzusetzen. Hagen sollte die Fabrik allein weiterführen.

»Ich möchte mich gern einmal etwas intimer mit der Landwirtschaft
befassen,« sagte Schellheim, schon zum Aufbruch gerüstet. »Es macht mir
Spaß – möchte mal versuchen, ob dem Boden nicht doch ganz gute
Erträgnisse abzuringen sind.... Also wegen der Quelle, – stehen Sie mit
dem Möller auf gutem Fuß, Herr Baron, wenn ich fragen darf?«

»Auf gar keinem,« erwiderte Hellstern ziemlich kurz. »Aber, falls Sie
mit ihm in Verbindung treten sollten – #attention!# Es ist ein brutaler
Schlaukopf.«

Schellheim lachte.

»Mich führt niemand so leicht hinters Licht, bester Herr Baron,« sagte
er. Dann empfahl man sich. Auf der Veranda blieb der Kommerzienrat noch
einen Augenblick stehen und pries die Lage des Baronshofes. Auch das
alte Herrenhaus gefalle ihm sehr. Er habe für diese alten Landhäuser
viel mehr übrig als für die modernen Luxusbauten. Er sei überhaupt nicht
für den Luxus, wenn er sich nicht mit solider Gediegenheit vereine ...

August stand wieder am Wagenschlag. Er sah sehr schäbig aus neben den
frisch livrierten Dienern Schellheims und dem lackierten Glanz der
Viktoria. Aber er machte ein hochmütiges Gesicht; die Leute vom Auberg
imponierten ihm durchaus nicht.

Der Wagen rollte davon. Der Kommerzienrat winkte noch wiederholt mit
seinem abgezogenen Handschuh aus dem Fenster.

Hellstern sah dem unter seinem silbergeschmückten Geschirr sich sehr
stattlich ausnehmenden Fuchsgespann lange nach.

»Solche Karrossiers hab’ ich mir mein Lebtag nicht gegönnt,« sagte er zu
Hedda. »Hübsche Gäule und gut eingefahren ... Es ist merkwürdig, wie es
im Leben auf und nieder geht. Jetzt sind die Krämer die Sieger und wir
vom Adel die Besiegten. Das war ehemals anders.«

»Freilich,« entgegnete Hedda mit leichtem Seufzer, »’s ist leider immer
so in der Weltgeschichte. Hammer und Amboß wechseln. Aber allzu schlimm
sind die Schellheims noch nicht.«

»Na, es geht,« erwiderte der Baron etwas mürrisch.



Zweites Kapitel


Am Westausgange des Dorfes wohnte der Vater Dörthes, der Stellmacher
Klempt. Man mußte einen kleinen Garten durchschreiten, ehe man zu dem
mit Schindeln gedeckten Häuschen des Alten kam. Das heißt, es war
eigentlich kein richtiger Garten, denn es blühten nur wenige Blumen
darin – ein paar Georginen und Pechnelken, die dicht am Staketzaun
standen –, alles übrige war Wiese und Kartoffelland. Dicht am Hause
hatte Klempt sich eine kleine Baumschule angelegt. Das war seine
besondere Freude. Er zog allerdings keine Seltenheiten, sondern nur
einige Reihen echter Kastanien, Edelakazien und Pfirsiche und ein paar
hochstämmige Rosen, seine Sorgenkinder, die er im Winter durch
Moosumhüllung und eine Panzerung von stachligem Wacholderbuschwerk vor
den Angriffen hungriger Hasen schützte.

Klempt war ein stiller und ruhiger Mensch, der sich durch mancherlei
Ungemach des Lebens zu einer gewissen philosophischen Resignation
durchgerungen hatte. In der Tat, er war ein Bauernphilosoph von
eigentümlicher Prägung; dadurch, daß er sich von den andern zurückhielt
und auch den abendlichen Zusammenkünften in der Krugwirtschaft
fernblieb, daß er ein ziemlich einsames Leben führte und fast beständig
auf sich selbst angewiesen war, hatte er sich in eine sonderliche
Gedankenwelt eingesponnen, die er mit Emsigkeit pflegte, und in der er
mit ganzem Sein aufging. Er hatte seine Frau und vier blühende Kinder
hinsterben sehen. Die Dörthe war seine Letzte, aber er hatte es nicht
gelitten, daß sie ihm die Wirtschaft führte. Sie sollte »die Welt kennen
lernen«, wie er sich ausdrückte, und das fing damit an, daß sie auf dem
Baronshofe in Dienst trat. Da Klempt indessen in seinem Haushalt der
weiblichen Hand nicht völlig entbehren konnte, so nahm er seine einzige,
unverheiratete Schwester Pauline zu sich. Das war ein langes, hageres
Weibsbild, fast an die Sechzig, aber noch schwarzhaarig und mit
glänzenden Augen in dem die Spuren einstiger großer Schönheit tragenden
Gesicht. Die Pauline paßte zu ihrem Bruder; sie führte ein ähnliches
Traumleben wie er, denn sie war völlig taub und pflegte sich nur durch
ein eigenartiges Gebärdenspiel mit ihm zu verständigen. Sie war eine
brave Person, etwas mystisch veranlagt, ewig in Punktierbüchern und
Traumdeutungen kramend, männerscheu und von nervöser Empfindlichkeit,
aber auch fleißig und sorgsam im Haushalt.

Das war die Rechte für den Stellmacher. Auch er liebte es nicht, viel
Worte zu machen. Dafür las er gern, besonders an den Winterabenden, und
zwar am liebsten Geschichtswerke oder Geographiebücher, doch nie Romane,
für die er nichts übrig hatte. Baron Hellstern, der Pastor und der
Kantor liehen ihm, was sie auf ihren Repositorien hatten; bei der
Arbeit verdaute der alte Klempt sodann seine Lektüre. Das war ein Genuß
für ihn. Saß er draußen im Hofe auf seiner Hobelbank oder schlug die
Speichen eines Rades ein, daß es weithin dröhnte durch das stille Dorf,
so arbeitete nicht nur seine fleißige Hand, sondern auch seine
Phantasie. Da war er mit Stanley in Afrika, unter den schwarzen Heiden
und Menschenfressern, oder mit irgend einem Missionar an den Ufern des
Ganges, oder oben am Nordpol, oder er schüttelte den grauen Kopf über
die Greuel des Dreißigjährigen Krieges und berauschte sich an dem
Freiheitsdurst der Griechen. In seinem groben Bauernhirn blieben
naturgemäß nur die außerordentlichen Ereignisse haften, aber die Lust am
Reflektieren, auf die ihn sein einsames Leben hinwies, hatte doch
allgemach seine Anschauungsweise geläutert; er verglich gern,
kritisierte auch und zog naive Schlüsse aus der Vergangenheit auf die
Gegenwart.

Jetzt saß er auf der hölzernen Bank rechts von der Tür seines Häuschens,
hatte die Hände gefaltet im Schoß und schaute stumm auf das Spatzenheer,
das sich vor ihm im heißen Sande des Hofes zankte. Man sah ihm die kaum
überstandene Krankheit an. Er war recht hager geworden, und noch stärker
und zottiger als vorher erschien der weiße Zimmermannsbart, der seine
Wangen umrahmte. Aus dem braunen Gesicht blickten zwei hellblaue,
treuherzige Augen; die von zahlreichen kleinen Falten durchzogenen
Lippen waren fest aufeinandergepreßt; der linke Mundwinkel, in dem
gewöhnlich die Pfeife hing, senkte sich ein wenig. Das Rauchen hatte ihm
der Arzt strengstens verboten, und unter diesem Verbot litt der Alte am
meisten. Er konnte ohne Pfeife nicht sein.

Den Himmel überstrahlte bereits das Abendrot. Die weißen Lämmerwölkchen
am Firmament waren rosig durchleuchtet, selbst der breite Schatten des
alten Birnbaumes, der mitten im Hofe stand, hatte eine violette
Umsäumung. Vom Anger herüber klang ein leises, melodisches Läuten; der
Schäfer des Krugwirts trieb seine kleine Herde heim.

Pauline trat in die Haustür, blieb einen Augenblick stehen und schaute
nach dem Himmel, um zu sehen, ob während der Nacht ein Gewitter zu
gewärtigen sei, und sagte sodann mit der etwas monoton klingenden
Stimme, die allen Tauben eigen ist:

»Komm ’rein, August; es fängt an, kühle zu werden.«

Klempt nickte und erhob sich gehorsam. Aber er ging doch nicht, sondern
wies hinüber nach der Gartenpforte, wo eine frische Mädchenstimme das
Lied von den wandernden Schwalben sang. Die Dörthe kam. Sie hatte Urlaub
erhalten, den Vater und den Bräutigam zu besuchen, trug ihr
Feiertagskleid aus geblümtem Kattun und ein buntes Tüchlein um den Hals.

»Holla, Vater,« rief sie schon von weitem, »bist du noch draußen? Und
hat nicht der Doktor gesagt, du sollst vor Sonnenuntergang wieder in der
Stube sein?«

»’s ist ja so schöne,« antwortete Klempt lächelnd, und als er den
Sonntagsstaat Dörthes sah, fügte er fragend hinzu: »Ist denn heute
Kirmes, daß du dich so fein gemacht hast?«

Dörthe gab dem Vater und der Tante die Hand.

»Ich will mal zu Fritzen gehn,« entgegnete sie. »Heut ist ’was los im
Kruge. Das Springelchen an der Grauen Lehne soll ein Heilquell sein, hat
ein Professor aus Frankfurt an den Kantor geschrieben. Da kommen sie
alle zusammen.«

»Hab’s auch schon gehört,« meinte Klempt; »ein Wunderwasser, das Kranke
gesund machen soll. ’s käm’ mir zunutze.« Er schüttelte den Kopf. »’s
wird bloß wieder so ein Gerede sein,« fuhr er fort; »die Leute reden
viel ...«

Pauline tupfte ihrem Bruder auf die Schulter und zeigte nach der Tür.

»Ja, ich komme,« sagte er nickend. »Hast du’s so eilig, Dörthe? Wirst
schon noch frühe genug im Kruge sein; bleib noch ein Huschchen!«

»Aber nicht lange,« antwortete Dörthe. Doch sie trat mit den beiden in
das Stübchen, das vom Glanze des Sonnenrots völlig durchstrahlt zu sein
schien.

Pauline bereitete das Abendbrot, während sich Dörthe, die Hände auf die
Hüften gestemmt, vor ihren Vater stellte.

»Wie fühlst du dich denn?« fragte sie.

Er winkte mit der Hand.

»So gesund wie früher, Dörthe, verlaß dich drauf! ’s ist ’ne Narretei
vom Doktor, daß er mir noch immer das Rauchen verbieten tut. Das ist das
einzigste, was mir noch fehlt.«

»Solange du noch hustest, darfst du’s nicht,« erklärte Dörthe. »Vater,
ich riech’s, ich rieche gleich, wenn du geraucht hast. Du mußt doch
parieren. Der Doktor kostet Geld, und wenn du nicht tust, was er
befiehlt, ist das schöne Geld reinweg zum Fenster hinausgeworfen.«

Sie sagte das sehr ernst. Klempt nickte grämlich.

»Na, ja doch,« sagte er. »Es dauert alles so lange. Und dabei hab’ ich
mehr zu tun, als mir lieb ist!«

»So nimm dir doch noch ’nen Gesellen, Vater! Ich hab’ dir’s schon ein
paarmal gesagt!«

»Ach was, daß er bloß ’rumlungert! Was tut denn so ’n Junge! Bis jetzt
bin ich alleine fertig geworden und werd’s auch noch länger werden!
Kotzschock, ich bin doch erst sechzig! ... Es war wohl Besuch auf dem
Baronshof?«

»Ja, die von drüben. Die Söhne auch ...« Dörthe schnitt eine Grimasse
und lachte schelmisch. »Paß einmal auf, unser Fräulein heiratet den
ältesten! Da soll’s hinaus!«

»Da käm’ wieder mal Geld ins Haus! Die drüben messen’s nach Scheffeln.
Aber ob der Baron will?«

»Warum denn nicht?«

»Na, er ist doch so stolz!«

»Ist er nicht,« erklärte Dörthe kopfschüttelnd. »Und dann macht das
Fräulein doch, was sie will. Aber ich will nichts gesagt haben. Die
Hanne meint auch, das würde was werden.«

»Was sagt denn August?«

»Den hab’ ich gefragt. Da ist er mir aber grob gekommen. Der ist grob
wie Bohnenstroh, Vater. Zum Baron geradeso wie zu uns, und dem scheint’s
noch zu gefallen.«

»Hast du ihm meine Rechnung gegeben?«

»Nee, Vater, das eilt ja nicht so. Sie ist ziemlich hoch, da wart’ ich
lieber bis zum Ersten und geb’ sie dem Fräulein. Am Ersten kriegt der
Alte seine Pension und Zinsen und so was. Da wart’ ich lieber.«

»Wart ruhig,« stimmte der Stellmacher zu. »Die gehn mir nicht durch.
Sind sie denn immer noch gut zu dir?«

»Ja, sehr! Das Fräulein besonders – na, die ist ja immer gut! Den Alten
kriegt man kaum zu Gesicht. Er hat’s wieder so schlimm in den Füßen,
sagt August. Aber nu geh’ ich, Vater! Ich muß doch hören, was es im
Kruge gibt.«

»Verzähl’s mir morgen! Adjö, Dörthe! ... Du, Dörthe, und bedenk’s dir
mit Möllers Fritze ...«

Sie gab ihm einen herzhaften Kuß auf den Mund, so daß er den Satz nicht
beenden konnte, und sprang aus dem Zimmer, der Tante beinahe in die
Arme, die ihr im Hausflur mit einer Schüssel voll weißen Käses und der
Leinölflasche entgegenkam.

»Herrjeses,« sagte Pauline, »so sieh dich doch vor! Hast du letzte Nacht
was geträumt?«

Dörthe nickte.

Die Tante wurde wißbegierig.

»Von was denn?«

Dörthe tippte auf die Flasche.

»Von Leinöl?« fragte die Tante verwundert.

Dörthe nickte wieder und tippte auf die Käseschüssel.

Die Augen Paulinens wurden immer größer.

»I – auch von Quark?«

Dörthe machte mit der Hand eine wirbelnde Bewegung in der Luft.

»Ach so,« sagte die Tante, »zusammengerührt – Leinöl und Quark ...«

Nun wies Dörthe auf die Lampe, die auf der Futterkiste in der Ecke
stand.

»Bei Licht?« fragte die Tante.

Dörthe tippte an das Bassin.

»Was?« rief Pauline. »Mit Petroleum? Leinöl und Quark und Petroleum? Wo
soll ich denn das im Traumbuche finden! I – du willst mich wohl bloß
zum Narren haben?! Dörthe, hör mal, Dörthe, du machst dich immer lustig
über mich, aber ich will dir was sagen: ich habe vor ein paar Tagen von
einem Gewitter geträumt, und es hätte eingeschlagen. Das gibt Unfrieden
im Hause. Sieh dich vor mit dem Fritze. Ich rede sonst nicht davon ...«

Das hatte die Dörthe nun so oft gehört, daß sie ärgerlich wurde.

»Laß mich in Frieden, Tante!« rief sie zurück, gar nicht daran denkend,
daß Pauline sie nicht verstehen könne, und eilte hinaus, den Gartenweg
hinauf, auf den Dorfplatz.

Erst hier mäßigte sie ihren Schritt. Sie war ganz rot im Gesicht, und
auf ihrer Stirn, von der das braune Haar glatt gescheitelt
zurückgestrichen war, lag eine schwere Falte.

Sie ärgerte sich. Zu dumm, diese ewigen Mahnungen und Warnungen! Sie war
doch klug genug, auf sich selbst Obacht zu geben! Aber der Vater hatte
von jeher im Streit mit den Möllers gelegen, und von der Tante erzählte
man sich, daß sie einstmals der Schatz des alten Möller gewesen sei. Der
aber hatte sie sitzen lassen. Daher ihr grimmiger Haß gegen alles, was
im Kruge wohnte ...

Der Abend sank über das Dorf herab. Auf dem Anger spielte noch eine
Schar Kinder. Sie hatten sich an den Händen gefaßt, drehten sich im
Kreise und sangen dazu mit ihren dünnen Stimmen:

    »Ich steh’ auf einem hohen Söller,
    Ich steh’ in einem tiefen Keller,
            Heisa dusematee!
            Fängst du mich,
            Lieb’ ich dich,
    Aber nee, du kriegst mich nich –
            Heisa dusematee!«

Von der Chaussee aus rollten ein paar Ackerwagen in das Dorf, und ein
Viehjunge trieb seine Herde zum Stall. Vereinzelte Bauern hatten schon
mit der Ernte begonnen, aber sie machten heut frühzeitig Feierabend,
denn es hatte sich herumgesprochen, daß der Kantor am Abend im Kruge
sein wolle, um nähere Mitteilungen über den Heilquell an der Grauen
Lehne zu machen. Und da waren sie neugierig geworden.

Als Dörthe am Gehöft des Lehnschulzen vorüberschritt, hörte sie ihren
Namen rufen. Albert Möller trat mit dem Schulzen aus dem Hause.

»Willst du auch in den Krug, Kleine?« fragte er.

»Versteht sich,« entgegnete sie, »so gut wie du. Bist du mal wieder in
Oberlemmingen?«

»Heut früh angekommen, von wegen der Quelle. Da muß ich doch dabei
sein ...« Er gab Dörthe die Rechte und faßte sie dann schäkernd unter
das Kinn. Sie gab ihm einen Klaps auf die Hand und lief davon.

Den Albert konnte sie nicht leiden. Es ärgerte sie schon, daß er sie
immer »Kleine« nannte. Er bildete sich viel darauf ein, daß er ganz
städtisch geworden war, und schaute die Bauern über die Achseln an. Seit
drei Jahren lebte er gänzlich in Frankfurt und kam nur dann und wann zu
Besuch nach der Heimat. Er war Maurerpolier, nannte sich aber
Bauunternehmer, und man erzählte von ihm, daß er schon einmal unter der
Anklage der Begünstigung betrügerischen Bankerotts in Untersuchungshaft
genommen und nur aus Mangel an Beweis freigesprochen worden sei. Er war
übrigens ein sehr hübscher Mann: groß, schlank und blondbärtig, und wenn
er einen mit seinen hellen blauen Augen anschaute, hätte man darauf
schwören können, daß er der beste und treuherzigste Bursche unter der
Sonne sei.

Dörthe ging nicht durch den Haupteingang in den Krug, sondern hinten
herum, durch die Küche. Hier brannte schon Licht, und die alte Möllern
hantierte geschäftig am Herd, denn der Förster Damke aus dem nahen
Vorwerk hatte sich seiner Gewohnheit gemäß Grog bestellt. Die Möllern
war eine große und starke Frau mit vollem grauen Haar und trotz ihrer
Siebzig noch ungemein rüstig. Das Herdfeuer überstrahlte mit roter Glut
ihre harten, ausgearbeiteten Züge.

»’n Abend, Mutter Möllern,« sagte die Dörthe beim Eintritt in die Küche.
»Ist der Fritz nicht hier?«

Die Alte zog eine Schulter hoch.

»Im Keller,« antwortete sie, »er zappt ab; ’s is ja heute wie eine
Volksversammlung da drinne’!«

Sie war immer mürrisch und unfreundlich, insonderheit Dörthe gegenüber,
der sie es nicht vergeben konnte, daß sich ihr Fritz in sie verliebt
hatte. Denn die alten Möllers waren stolz, und obwohl Fritz die
Krugwirtschaft bereits übernommen hatte, meinten sie, es sei nicht
nötig, daß er sich nach einer Frau umschaue, solange sie selbst noch mit
Hand anlegen könnten. Die Dörthe paßte ihnen vollends nicht; ein Mädel
ohne Geld war nicht nach ihrem Geschmack. Fritz konnte Besseres haben.

Dörthe schwankte, ob sie in das Gastzimmer gehen sollte, als sie den
dicken, blonden Wirrkopf Fritzens aus der Kellerluke auftauchen sah.
Eine Falltür führte von der Küche aus direkt in den Keller, und wenn sie
offen stand, wie jetzt, roch es immer nach Hefe und schalem Bier.

Fritz trug unter jedem Arm einen mächtigen Henkelkorb mit Bierflaschen.
Er war ein riesiger Kerl und hatte auch riesige Kräfte. Die Bauern
fürchteten seine Fäuste. Den kleinen Lemmert hatte er einfach einmal aus
dem Fenster geworfen; wer in der Betrunkenheit Krakeel bei ihm anfangen
wollte, mit dem fackelte er nicht lange. Aber auch auf seinem dicken und
gesunden Gesicht lag der den Möllers eigne Zug von Treuherzigkeit und
gutmütiger Gesinnung.

»Ach, Dörthe, du bist’s,« sagte er, stellte einen Korb hin, wischte mit
der Handfläche seiner Rechten rasch über seine blaue Schürze und
begrüßte sodann seine Braut. »Möchtst wohl auch wissen, wie’s wird?«

»I nu ja,« erwiderte das Mädchen lächelnd. »Es wird ja so viel davon
gesprochen. Der Albert ist auch schon hier.«

»Weil er der einzige is, der was davon versteht,« bemerkte die Alte. »Er
hat auch schon ’ne Bank hinter sich, sagt er ...«

Dörthe dachte darüber nach, warum der Albert »’ne Bank hinter sich«
habe, aber Fritz ließ ihr zum Grübeln nicht lange Zeit.

»Trag immer ’rein,« sagte er und schob ihr einen der Körbe unter den
Arm; »heut könnte man zwanzig Hände haben!«

Und er folgte ihr mit dem zweiten Korbe.

So voll war das Krugzimmer allerdings selten. Aus der Mitte der
weißgekalkten Decke hing eine alte Petroleumlampe herab, die den großen
Raum nur notdürftig erleuchtete, so daß in allen Ecken und Winkeln
schwarze und dämmergraue Schatten lagen. Nur auf dem Schenktische stand
noch eine zweite Lampe. Hier machte sich der alte Möller zu schaffen,
ein Siebziger, der aussah, als könne er das Hundertste noch erleben.
Rastlos liefen die scharfblickenden Augen unter den buschigen weißen
Brauen umher, und immer war er zur Hand, wenn er verlangt wurde. Er
fühlte gewissermaßen, wo ein Glas leer war, und er hatte genau im Kopfe,
wieviel ein jeder getrunken hatte. Er brauchte nichts anzuschreiben,
seine Rechnung stimmte doch.

Alle Tische waren besetzt. Die paar Großbauern, die reichsten im Dorfe,
hielten zusammen. Da war zuerst der dicke Braumüller, dessen Gehöft der
Krugwirtschaft gegenüber an der Chaussee lag, dann der einäugige
Langheinrich, der einzige in Oberlemmingen, der weder schreiben noch
lesen konnte; ferner der kleine Raupach, ein ungemein bewegliches,
leicht aufbrausendes Männchen, und der Bauer Tengler, der seiner käsigen
Gesichtsfarbe wegen gewöhnlich »Schlippermilch« genannt wurde. Noch
einer saß am Tische der Großbauern: der dritte Sohn des alten Möller,
der Bertold. Der war Kaufmann geworden und betrieb ein Kurzwarengeschäft
in der benachbarten Kreisstadt Zielenberg. Er war nicht von der
Möllerschen Art, kein Riese wie die übrigen, sondern ein wenig
verwachsen und trug auch eine Brille, hinter der ein Paar dunkle Augen
listig und lebhaft funkelten.

An den sonstigen Tischen hatten die kleineren Leute Platz genommen: der
Krämer Thielemann, die Kossäten Bachert, Maracke und Klauert und eine
Anzahl Taglöhner, Häusler und Knechte. Nebenan im Extrazimmerchen saß
der Förster Damke allein in seiner Sofaecke, trank Grog und las dazu die
Inserate im »Zielenberger Kreisblatt«.

Es ging, trotzdem viel getrunken wurde, nicht allzu lebhaft zu. Die
meisten unterhielten sich mit nur halblauter Stimme. Erst als die Tür
aufging und Wittke, der Lehnschulze, mit Albert Möller ins Zimmer trat,
wurde es lauter. Bertold rief seinen Bruder sofort an den Tisch heran,
wo Albert jedem der Bauern die Hand reichte.

»Warst du beim Kantor?« fragte Bertold, an seiner Brille rückend, eine
ihm eigentümliche Bewegung.

»Ja,« entgegnete der andre nickend. »Der Professor hat geantwortet. Es
hat seine Richtigkeit. Die Quelle ist großartig, sage ich dir,
Bertold ...«

Er brach mit einem Seitenblick auf die Bauern mitten im Satze ab. Es
schien, als wolle er seine Zukunftshoffnungen nicht so vor allen Leuten
preisgeben.

»Wie ist’s denn eigentlich ans Licht gekommen mit der Quelle?« fragte
Langheinrich.

»Ganz einfach,« und Albert erzählte zum zwanzigstenmal die Geschichte
der Entdeckung. Der Lehrer aus Frankfurt, der sich vorjährig mit Frau
und Kindern während der großen Ferien im Kruge eingemietet hatte, um
hier eine billige Sommerfrische zu genießen, war häufig in dem
Buchenwäldchen auf der Grauen Lehne spazieren gegangen. Und da hatte er
denn eines Tages mitten im Geröll und ganz verborgen unter
Brombeerranken und Wacholdergestrüpp ein Wässerchen entdeckt, das mit
auffallend starkem Geräusch zutage trat und zugleich Tausende von
kleinen zierlichen Perlen und Bläschen bildete, – »so wie beim
Selterswasser, Langheinrich, verstehst du?« erläuterte Albert das
Phänomen. Jedenfalls erschien dem Lehrer die kleine Quelle interessant
genug, um den ihm befreundeten Professor Statius darauf aufmerksam zu
machen. Der Professor analysierte das Wasser denn auch und sandte seinen
Bericht dem Lehrer ein, der ihn wiederum an Herrn Feilner, den Kantor
von Oberlemmingen, schickte.

»Da is er schunst!« rief Tengler, der gewöhnlich platt sprach, und
deutete nach der Tür. Feilner trat ein, ein langer Mensch mit einem um
die Wangen gebundenen Taschentuch. Man kannte ihn gar nicht ohne
Zahnschmerzen.

Die vier Möllers gingen ihm entgegen und begrüßten ihn höflicher, als es
sonst ihre Art war; der Alte brachte sogar ein Glas Bier herbei und
fragte, ob der Herr Kantor vielleicht etwas zu essen wünsche. Aber
Feilner dankte; er habe nicht viel Zeit und wolle sich nur rasch seines
Auftrags entledigen.

Dann nahm er am Mitteltische unter der Hängelampe Platz und zog den
Brief des Professors hervor. Im Zimmer hatte sich alles erhoben und
bildete einen Kreis um den Kantor. Eine aufmerksame Spannung lag auf den
Gesichtern. Der alte Maracke hatte die Augen weit aufgerissen und hielt
das linke Ohr umgeklappt, um besser hören zu können. Auch Dörthe hatte
sich herangeschlichen und reckte sich auf den Zehen empor.

»Also paßt auf,« sagte Herr Feilner. »Nämlich zuerst kommt, was die
Quelle alles enthält. Hauptbestandteile: kieselsaurer Kalk,
schwefelsaurer Kalk, Chlornatrium, Chlorkalium, Ferrokarbonat,
schwefelsaure Magnesia.«

Er schaute auf und begegnete auf allen Seiten mordsdummen Gesichtern.
Der alte Maracke schüttelte vor sprachlosem Erstaunen den Kopf und
Braumüller fragte:

»Wat denn? Das ist alles drin?«

»Es kommt noch mehr,« sagte Feilner, und Albert Möller rief »Ruhe«,
obschon niemand sprach, und drängte den dicken Braumüller unsanft vom
Tische zurück.

Der Kantor nahm wieder den Brief zur Hand und las weiter:

»Temperatur 8,07 Grad #R. R.# heißt nämlich Réaumur, womit das Wasser
gemessen worden ist, und weil’s auch noch andre Thermometer gibt, zum
Beispiel Celsius, der mißt höher, und Fahrenheit, den braucht man aber
nur manchmal. Nun geht’s weiter. Geschmack leicht bitter, kristallhell,
dem Rakoczy ähnlich, aber an Bestandteilen quantitativ geringer. Habt
ihr verstanden?«

Den Mienen der Anwesenden sah man dies nicht an. Maracke schüttelte noch
immer den Kopf und kratzte sich dabei hinter den Ohren. Braumüller
wollte etwas fragen, aber der wißbegierige kleine Raupach kam ihm zuvor
und schrie aufgeregt:

»Kinder, nu denkt mal, und das haben wir alles gar nicht gewußt? Dem
Ra—, dem Ra—, wie war’s denn gleich? Wem soll das Wasser ähnlich
sein?«

»Dem Rakoczy,« erwiderte Bertold Möller, »das ist ’ne Quelle in
Kissingen – auch eine Heilquelle ...«

»Und was ist denn nun so gesund da dran?« fiel Langheinrich ein.

»Wartet mal,« sagte der Kantor, »davon hat Professor Statius auch etwas
geschrieben.« Und er suchte in seinem Briefe. »Aha – da – hier
steht’s: ›Beschleunigung des Stoffwechsels, Ausscheidung anormaler
Stoffe, gesteigerte Oxydation.‹«

Er schwieg wieder und steckte den Brief in die Tasche zurück.

»Was hat er gesagt?« fragte Maracke, der noch immer sein Ohr umgeklappt
hielt. Sein Nachbar zuckte mit den Achseln, doch der kleine Raupach
schrie lebhaft:

»Stoffwechsel hat er gesagt! Das ist doch ganz einfach!« – und Maracke
nickte dankend und war so klug wie zuvor.

Der Kantor nippte an seinem Bier und erhob sich; er wollte wieder gehen.
Aber zuvor faßte er den alten Möller noch einmal an einem Rockknopf.

»Hören Sie mal, Herr Möller,« sagte er, »was da der Herr Professor noch
geschrieben hat: er läßt Ihnen raten, Sie möchten doch die Quelle fassen
lassen.«

»Schön, schön, Herr Kantor,« erwiderte Albert anstatt des Alten rasch,
»wird alles gemacht werden,« – und leise flüsterte er seinem Vater zu:
»Ich weiß schon Bescheid – nachher! ...«

Als der Kantor gegangen war, kehrte alles auf die verlassenen Plätze
zurück. Man bestellte sich neues Bier und neuen Schnaps. Der Heilquell
an der Grauen Lehne bildete das einzige Thema der Unterhaltung.
Allerhand Meinungen wurden ausgetauscht. Man war sich noch nicht recht
klar über das neue Wunder. Raupach geriet mit Braumüller in Streit, weil
ersterer behauptete, die heilende Wirkung des Wassers liege im Trinken,
und letzterer, nein, im Baden. Schließlich schlichtete »Schlippermilch«
den Zank durch die salomonische Erklärung, es sei beides richtig; erst
baden, dann trinken, worauf Maracke meinte, das sei eine Schweinerei.

Der alte Möller hatte seine Frau gerufen, damit sie die Gäste bediene.
Dörthe sollte ihr dabei helfen, denn die vier Möllers zogen sich zu
einer »Familienrücksprache«, wie Albert sagte, in das Extrazimmer
zurück. Der Förster Damke war nach Hause gegangen, aber das ganze
Stübchen roch noch nach dem schlechten Grog, den er getrunken hatte.
Albert öffnete einen Fensterflügel. Draußen rauschte mit leisem,
einförmigem Murmeln die Barbe vorüber. Der Himmel war ausgesternt: es
gab gutes Erntewetter.

Die drei Brüder hatten sich an den mit Wachstuch überzogenen Tisch
gesetzt, der mit klebrigen Flecken übersät war, und auf dem ein flacher
Teller mit gezuckertem Spiritus und Fliegengiftpapier stand.

»Wollt ihr Bier, Jungens?« fragte der Alte.

»Danke,« erwiderte Bertold, und Albert schüttelte naserümpfend den Kopf.
Er war verwöhnt. Das Lemminger Bier war nicht zu trinken. Aber es würde
ja alles anders kommen.

»Nun hört einmal zu,« sagte er. »Setz dich, Vater, ich kann das
zwecklose Herumstehen nicht leiden. Die Tatsache, daß wir in dem Wasser
an der Grauen Lehne einen Heilquell besitzen, ist erwiesen. Ich will
euch gestehen, daß ich extra deswegen zu einem berühmten Arzte in Berlin
gefahren bin. Ich wollte mir Gewißheit schaffen. Der hat das Wasser
ebenfalls genau analysiert und stimmt in allem mit Professor Statius
überein. Er sagte mir, das sei etwas sehr Wichtiges, daß wir in der Mark
so ’ne Art Kissinger hätten; das fehlte uns, und Oberlemmingen würde
eine große Zukunft haben.«

»Also wahr und wahrhaftig?« fragte der Alte, seine Pfeife aus dem Munde
nehmend. Er brachte der Sache noch immer ein gewisses Mißtrauen
entgegen. Bertold stieß ihn leicht von der Seite an; Albert sollte erst
aussprechen. Nachher konnte man fragen.

Aber Albert sprach nicht gleich weiter. Er zündete sich zunächst eine
Zigarre an, während die andern ihn aufmerksam betrachteten. Er war der
Klügste in der Familie und hatte als Großstädter seine Verbindungen.
Endlich hub er etwas zögernd und mit schwerer Stimme wieder an:

»Erst wollen wir uns mal über das Eigentumsrecht einigen, Kinder,« sagte
er, und sofort fiel Bertold ein:

»So ist’s! Man muß doch wissen, woran man ist. Eher rühr’ ich auch nicht
’nen Finger in der Sache!«

Fritz wühlte mit beiden Händen in seinem Flachshaar. Er hatte genau
gewußt, daß das so kommen würde. Aber er mußte sich fügen; ohne Albert
war nichts anzufangen.

»Vater hat ja doch schon geteilt,« entgegnete er. »Und alles gerichtlich
und schwarz auf weiß. Ihr habt bar Geld gekriegt und ich die
Krugwirtschaft. Das ist doch längst in Ordnung.«

»Es handelt sich um die Quelle,« bemerkte Albert ernst, »das ist ein
neues Objekt ...«

»Aber die Quelle liegt auf meinem Grund und Boden, dagegen ist nichts zu
sagen,« antwortete Fritz. Er wollte wenigstens versuchen, die Position
zu verteidigen.

»Schön,« erwiderte Albert und erhob sich. »Bist du der Meinung, so geh’
ich. Dann kümmre ich mich nicht weiter darum. Nehmt euch ’ne andre
Beihilfe.«

Der Alte hielt ihn am Rockschoß fest.

»Hier bleiben!« befahl er. Er sprach in grollendem Tone. Wenn er gereizt
war, schob er die Oberlippe ein wenig empor und zeigte die breiten,
gelben Zähne. Dann wurde sein von kurzen, grauen Stoppeln umrahmtes
Gesicht böse, und das Auge begann zu funkeln.

Er nahm, während Albert achselzuckend am Tische stehen blieb, noch ein
paar Züge aus seiner Pfeife und fuhr sodann in kurzen, knurrend
hervorgestoßenen Sätzen fort:

»Es ist klar, daß die Quelle uns allen gehört. Nicht bloß einem.
Freilich, die Graue Lehne gehört zur Krugwirtschaft. Aber der Quell hat
sich jetzt erst gefunden. Und ich habe bei der Verteilung besonders
ausmachen lassen, daß bei neuen Funden im Boden der Wirtschaft, sei’s
Mergel, seien’s Kohlen oder sei’s Alaun, gedrittelt werden soll. So
ist’s auch gerecht!«

Albert und Bertold nickten, und Fritz verzog den Mund. Richtig war’s;
man hatte diese Bestimmung getroffen, vor allem in Rücksicht auf den
Alaun, den man in letzter Zeit vielfach in der Gegend entdeckt,
allerdings ziemlich unrein, so daß sich eine Förderung bisher nicht
gelohnt hatte.

»Ich will nicht streiten,« entgegnete Fritz schließlich; er wie die
andern hatten einen gewaltigen Respekt vor dem Vater, der die
erwachsenen Männer zuweilen noch wie Schulbuben behandelte. »Setzt’s auf
und dann wollen wir’s vor dem Notar schriftlich machen: alles, was die
Quelle bringt, geht in drei Teile.«

»In vier,« sagte der Alte bestimmt.

Die drei Söhne schauten erstaunt auf. Was hieß denn das nun wieder?
Wollte der Alte, der seit fünf Jahren bequem und ruhig in seinem
Ausgedinge lebte, auch noch an den Einnahmen partizipieren?

»Warum denn in vier?« fragte Albert endlich zaghaft.

»Weil ich auch meinen Teil haben will,« erwiderte der Alte fest. »Ich
bin sechsundsiebzig, aber will’s Gott, so leb’ ich noch zwanzig Jahr’.
Und bringt uns die Quelle Glück, so bau’ ich mir ein Extrahäuschen und
zieh’ mit Muttern hinein. Denn wenn der Fritze wirklich heiraten
tut ...«

»Es ist noch nicht so weit,« fiel Albert ein, und Bertold setzte, an
seiner Brille rückend, hinzu: »Das mit der Dörthe wird er sich auch noch
überlegen.«

Fritz erwiderte nichts; doch der Alte sagte, die Pfeife zwischen den
Zähnen behaltend, in trotzigem Tone: »Ganz gleich. Es bleibt dabei. In
vier Teile.«

Darauf war nichts zu erwidern. Die Brüder kannten den Alten. Machten sie
Schwierigkeiten, so konnten sie auf endlose Prozesse gefaßt sein. Und
verlor der Alte auch wirklich, der Ruf des Unternehmens stand in Gefahr.

Albert setzte sich wieder.

»Also abgemacht: in vier Teile,« wiederholte er. »Ich werde morgen mit
Rechtsanwalt Felitz sprechen. Und nun zur Sache selbst. Es muß Reklame
gemacht werden. Professor Statius will in der ›Medizinischen
Wochenschrift‹ über seine Analyse berichten. Den Artikel lass’ ich an
alle großen Zeitungen schicken. Klappern gehört zum Handwerk. Dann das
nötige Geld, um alles instand zu setzen ...«

»Ja, das Geld,« warf Bertold nickend ein.

»Wir brauchen etwa 300000 Mark ...«

»Ihr seid wohl verrückt!« fuhr der Alte auf.

»Das ist noch nicht einmal hoch gerechnet,« entgegnete Albert lächelnd.
»Laß man, Vater, darin hab’ ich meine Erfahrung! Das Geld wird beschafft
werden. Ich habe die Frankfurter Produktenbank hinter mir, will auch mal
zu Schellheim gehen. Es muß ein Konsortium gebildet werden – mit guten
Namen –, ein paar Finanzleute, einige Ärzte und ein Adliger an der
Spitze. Ich will morgen auf den Baronshof. Hellstern wird leicht zu
kriegen sein. Und dann muß ein Sanatorium begründet werden ...«

»Ein –?« fragte der Alte.

Albert winkte mit der Hand. »Du wirst schon verstehen lernen, Vater.
Warte man ab. Ich entwickle nur so meine Ideen. Der ›Krug‹ muß ausgebaut
werden – zu einem Hotel. Dann brauchen wir Logierhäuser, neue Wege,
Pflasterung, eine Brauerei, vielleicht auch Gas. Aus der Buchhalde muß
der Kurpark werden. Ein großes und vornehmes Kurhaus bauen wir
späterhin. Rings um die Quelle wird eine Art Tempelbau errichtet, mit
Säulen, das muß elegant aussehen. Bertold kann hier einen Basar
errichten; dann müssen wir einen Fleischer heranziehen, Bäcker, Konditor
und andre Professionisten. Das wird sich alles entwickeln ...«

Er steckte die Zigarre wieder in den Mund und schaute einen Augenblick
sinnend den im Halbdunkel des Zimmers zerrinnenden Rauchwölkchen nach.
Er war ein geborener Spekulant. Seine kühne Phantasie und seine
wagmutige Frechheit ergänzten, was ihm an Bildung fehlte. Er war ein
schlechter Arbeiter gewesen, als er nach Frankfurt gekommen, aber er
besaß ein gewisses Organisationstalent, und er hatte auch Glück. Seine
Häuser vermieteten sich schnell. Er baute unsolid, stattete jedoch die
Wohnungen mit oberflächlicher Eleganz aus, mit Stuck an den Decken,
Kassettierungen, hübschen Öfen und Tapeten. Es war ihm sogar gelungen,
sich am Bau der neuen Kaserne für die Albrecht-Dragoner beteiligen zu
dürfen, und er hatte ein gutes Stück Geld dabei verdient. Aber all das
waren nur vorbereitende Kleinigkeiten für ihn. Er wollte viel höher
hinaus. Er plante unausgesetzt, er baute in Gedanken – im Traume selbst
– Riesenpaläste und halbe Städte. Oberlemmingen stand in der Zukunft
schon fix und fertig in seiner Phantasie. Kein Dorf mehr, sondern ein
moderner Kurort. Die kleinen Häuschen und Lehmbaracken mit ihren
gelbgrauen Strohperücken waren verschwunden – eine ganze Reihe von
Villen erhob sich an ihrer Stelle: niedliche Chalets im Schweizerstil,
dazwischen ein paar holländische Bauernhäuser, ein norwegisches
Blockhaus, eines nach russischem Muster, mit gemalten Balken. Albert sah
das alles schon vor sich. Er sah auch den Quellentempel inmitten
blühender Anlagen, im Grün des Kurparks, und das Möllersche Hotel an der
Chaussee, die in einer halben Fahrtstunde nach Zielenberg führte, wo
sich drei Bahnstränge kreuzten. Die Lage war günstig. In fünf Jahren,
taxierte Albert, mußten die Möllers sich Oberlemmingen erobert haben.

Bertold hatte schweigend zugehört. Er war, wie Albert, längst der
Bauernsphäre entwachsen, und auch er war ein heller Kopf. Geldverdienen
war seine Losung. Seit er sich mit der ältesten Tochter des
Getreidehändlers Ring in Zielenberg verheiratet, die ihn zweimal
hintereinander mit Zwillingen beschenkt hatte, war sein Erwerbsfieber
noch gewachsen. Man mußte doch für die Seinigen sorgen! Er lieh auch
Geld auf Pfänder und machte dann und wann kleine Wuchergeschäfte mit den
Inspektoren der Umgegend. Er begriff schon, was Albert wollte, und
glaubte an dessen Stern. Aber eine heimliche Angst peinigte ihn dennoch:
die, daß Albert ihn betrügen könne.

Auch Fritz und der Alte sagten nichts. Doch man sah es ihnen an, daß der
Zukunftsgalopp Alberts nicht nach ihrem Sinne war. Sie steckten bei
aller natürlichen Gerissenheit doch noch zu tief im Bäurischen, um sich
mit den Spekulationsideen Alberts befreunden zu können. Vor
Schuldenmachen hatten sie eine grimmige Angst; man gab das Geld fort und
hatte auch noch die Zinsen zu bezahlen. Und sie fürchteten, daß die
ungeheuern Summen, die Albert aufnehmen wollte, sie alle ersticken und
erdrücken würden.

Ein Lärm in der Schenkstube, die schimpfende Stimme der alten Möllern
und das laute Weinen Dörthes störten die Konferenz. Fritz erhob sich, um
nachzusehen, was es gebe. Dörthe hatte eine Flasche mit Himbeerlikör vom
Schenktisch gestoßen; die Flasche war zerbrochen, und der rote Saft floß
träge über die schwarzen, mit Sand bestreuten Dielen. Und da hatte die
Möllern der Dörthe in ihrer zügellosen Heftigkeit eine derbe Ohrfeige
gegeben und schimpfte in unflätiger Weise auf sie los.

Dörthe stand an der Wand und hielt den Zipfel ihres Kleides vor das
Gesicht. Sie schluchzte so, daß ihre ganze Gestalt zitterte – nicht
aus Schmerz, sondern aus Scham, vor allen Leuten gezüchtigt worden zu
sein. Jeder schaute zu ihr hinüber. Braumüller, Raupach und Tengler, die
»Schafskopf« spielten, hielten im Spiel inne, und der alte Maracke
schritt gutmütig auf sie zu und sagte:

»Nanu, flenn man nich, Dörthe – es is doch nich so schlimm! Bis du
heiratst, is die Backe wedder gutt! ...«

Aber auch Fritz schimpfte. So was Ungeschicktes wie die Dörthe sei noch
nicht dagewesen. Als ob der Himbeerlikör kein Geld koste. Und das wolle
einmal eine tüchtige Hausfrau werden! Nee – da werde er es sich doch
noch lieber bedenken ...

Dörthe schlich, ohne zu antworten, hinaus. Sie weinte noch immer,
während sie langsam die paar Steinstufen hinabstieg, die zu der Haustür
führten, und dann durch die Dorfstraße schritt. Sie weinte ganz leise
vor sich hin. Daß die Möllern grob und roh war, wußte sie ja – das war
ihr nichts Neues. Die wollte überhaupt nichts von der Heirat wissen.
Aber das Benehmen Fritzens tat ihr weh; ihr Herz sprang und zuckte. Sie
liebte den großen Burschen mit seinem wirren Blondkopf und den blauen
Augen doch so sehr.

Der Abend war wundervoll. Die Sterne flimmerten hell am Himmel; die
Milchstraße leuchtete wie Opal. Und durch das ganze Dorf wehte der
frische Duft der Wiesen, die sich dreißig Morgen weit längs der Barbe
hinzogen.

Plötzlich, gegenüber dem Pastorhause, durch dessen Fenster helles Licht
schimmerte, blieb Dörthe stehen. Ihr fiel auf einmal ein, was Tante
Pauline von ihrem letzten Traum erzählt hatte. Ein Gewitter war
heraufgezogen, und dann hatte es eingeschlagen. Das bedeutete Unfrieden
und Ärger. Und so war’s auch gekommen.

Beim Lehnschulzen schlug der Hofhund an. Ein zweiter antwortete, der
große Köter Marackes mit seinem heiseren Baß. Aus der Ferne, vom
Dorfende her, kläffte die helle Stimme des Nachtwächterhundes
dazwischen. Ein vierter und fünfter fiel ein. Alle Hunde im Dorfe
begannen zu bellen.



Drittes Kapitel


Auf dem Auberg hatte früher ein Pächterhaus gestanden, ein merkwürdiger
Bau. Das untere Stockwerk stark massiv, mit mächtigen Mauern, eine Halle
mit hohen und schönen Wölbungen, von Strebepfeilern gestützt. Das war
der Kuhstall gewesen. Und auf ihm hatte sich ein schwächliches Fachwerk
erhoben, ziemlich dünnwandig und einfach weiß abgeworfen: die Wohnung
des Pächters. Er war ein närrischer Kauz gewesen; man erzählte sich im
Dorfe noch allerhand wunderliche Geschichten von ihm. Seine Leidenschaft
war die Rindviehzucht, und deshalb hatte er dem geliebten Viehzeug die
schönsten Räume im Hause angewiesen, und deshalb wollte er seine Tiere
auch immer in unmittelbarer Nähe haben. Er war lange in England gewesen
und hatte dort alle möglichen Kreuzungen kennen gelernt, auch eine neue
Art der Fütterung, von der er viel hielt. Aber er hatte kein Glück; sein
Kreuzungssystem schlug nicht an, und bei seiner neuen Fütterungsmethode
verhungerten die Rinder. Eines Nachts hing er sich im Kuhstall auf.

Als Kommerzienrat Schellheim die Auherrschaft gekauft hatte, brachte er
einen Baumeister aus Berlin mit, der ihm auf dem Auberge ein Schloß
bauen sollte. Der Mann war ganz begeistert von der Anlage des Kuhstalls
und schlug Schellheim vor, die kolossalen Fundamente beizubehalten und
aus dem Stalle eine Halle, eine englische Halle, zu machen. Die Mauern
wären so riesig, daß sich leicht noch zwei Stockwerke auf ihnen
aufführen ließen. Schellheim war einverstanden, und der Baumeister
baute los. Ein stattliches Herrenhaus entstand, aber der Kommerzienrat
wollte ein Schloß haben, und zu einem Schlosse gehörte unbedingt ein
Turm. So wurde denn rechtsseitig ein runder Turm angeklebt, mit einem
grünen Kupferhute als Dach. Das gefiel Schellheim immer noch nicht
recht: die Erker fehlten noch, von denen aus man zu Tal schauen konnte,
und auf der Südseite eine weite Glasveranda, die zur kalten Zeit als
Wintergarten benutzt werden konnte. Auch das wurde geschaffen und noch
mehr, und schließlich machte das neue Schloß einen schauderhaft
stillosen Eindruck. »Es sieht wie zerkaut aus,« meinte der alte
Hellstern. Der hübscheste Raum blieb nach wie vor der ehemalige
Kuhstall, die jetzige Halle.

Von seiner früheren Bestimmung merkte man dem weiten Saal natürlich
nichts mehr an. An den Pfeilern hing allerhand Waffenschmuck,
Hellebarden, Schilde, Morgensterne, nägelgespickte Streitkolben und
dergleichen mehr, und an den Wänden eine Reihe tiefdunkel gewordener
alter Ölporträts von stark dekolletierten Damen in Reifröcken und
gepanzerten Herren mit strichähnlichen dunkeln Schnurrbärten auf der
Oberlippe. Schellheim hatte die ganze Galerie einmal im Ramsch bei einem
Trödler in Venedig gekauft und nannte sie deshalb seine »italienischen
Ahnen«. Er spottete nicht ungern über sich selbst; er war vernünftig
genug, stolz auf sein Emporkömmlingstum zu sein.

Sein Vater hatte das Geschäft begründet, aber erst unter ihm war es zur
Blüte gekommen. Jetzt gab er zwölfhundert Arbeitern und Arbeiterinnen
Verdienst und Brot, und seine Fabriken in Berlin, Breslau und Manchester
hätten, zusammengestellt, allein einen kleinen Stadtteil bilden können.
In allen diesen Fabriken wurde nichts hergestellt als Hemden – Hemden
in vieltausendfacher Auswahl, Abstufung und Variation, für die elegante
Welt, für die einfachen Leute und für das Proletariat, und zwar nur
Männerhemden. Diese Hemden gingen über die ganze Welt. Man fertigte sie
in den Schellheimschen Fabriken unter jeder gewünschten Marke und jedem
beliebigen Firmenstempel an und versandte sie dann an die Kunden in
allen Teilen der zivilisierten Erde. So trug sie der Herzog von Sagan in
Paris, der sie aus den Ateliers von Dudevant Frères entnommen, gerade so
gut wie Ohm Krüger in Johannesburg, der Nabob in Bombay und der
Dockarbeiter in Wilhelmshaven – selbst bis Siam und China und bis in
die Eisfelder Kanadas wanderte das Schellheimsche Hemd.

Und diese Hemden ließen Gold zurück. Schellheim war Millionär. Freilich
hatten drei Generationen an den Millionen gearbeitet. Der Großvater war
noch mit dem Bündel auf dem Rücken durch das Land gezogen, und der Vater
hatte manche schwere Krisis zu überwinden gehabt. Aber nun stand der Bau
felsenfest; keine Krisis konnte ihn mehr erschüttern. Es war Schellheim
nicht leicht geworden, sich vom Geschäft zurückzuziehen; die Arbeit war
das Lebenselixir, das ihn jung erhielt. Aber er mußte an seine Kinder
denken. Der unpraktische Jüngste war für die Fabrik nicht zu gebrauchen;
ihm waren die Bücher alles. Doch Hagen, der Älteste, trat mit sicheren
Schritten in die Fußstapfen des Vaters. Er hatte zwei Jahre in
Manchester gelernt, dann einige Zeit die Breslauer Filiale geleitet, und
nun konnte er getrost an die Spitze des Ganzen treten.

Schellheim sorgte sich nicht um das Weiterblühen des Geschäfts. Es lag
bei Hagen in guten Händen. Allerdings hatte der Junge auch seine
Nebenpassionen: für Theaterpremieren und dergleichen mehr, aber das lag
nun einmal in der »Mode der Zeit« – so meinte der Rat –, und deshalb
blieb er doch ein tüchtiger Kaufmann. An Schellheim trat jedoch nun die
Frage einer anderweitigen Beschäftigung heran. Untätig konnte und
wollte er nicht sein. Und da kam ihm der Gedanke, sich anzukaufen. Zwar
die Landwirtschaft lag darnieder, aber er gab sich auch schon mit einer
dreiprozentigen Verzinsung seines Anlagekapitals zufrieden. Dann dachte
er auch an seinen Jüngsten. Der sollte das Gut einmal übernehmen, wenn
er des Studierens müde geworden. Denn es schien dem Kommerzienrat
undenkbar, daß ein Mensch, der es nicht nötig hatte, zeit seines Lebens
tagein, tagaus und von früh bis spät immer nur zwischen Büchern sitzen,
grübeln, vergleichen, schreiben könne. Zudem mußte der Wert des
Landbesitzes wieder steigen; der tote Punkt mußte erreicht sein. Es
handelte sich ja nicht um eine verfehlte Spekulation.

Man nahm das zweite Frühstück gewöhnlich in der großen Halle. Die
Glastüren standen weit offen. Auf der Terrasse wärmten sich die Palmen
in der Sonnenglut. Durch das Grün der Orangenbäume, deren blank
lackierte große Kübel die Sonnenstrahlen reflektierten, schimmerte das
helle Weiß zweier Statuen, die den Treppenabstieg zur zweiten Terrasse
flankierten. Es waren zwei Göttinnen, Pomona und Flora; Hagen, der die
Spottsucht seines Vaters geerbt hatte, bevorzugte sie wegen ihrer
Hemdenlosigkeit. Die ganze Westseite des Aubergs fiel in Terrassen zum
Tal ab, die teils durch Balustraden, teils durch Spaliere mit Wein und
selteneren Obstsorten begrenzt wurden. Im Süden erstreckte sich der Park
zirka zwölf Morgen weit in das sich hier mählich senkende Land hinein.
Er war ursprünglich Buchenforst gewesen und stieß bis dicht an die Graue
Lehne, die der Kommerzienrat gleichfalls hatte ankaufen wollen. Aber die
Möllers sagten nein. Das ärgerte Schellheim nunmehr, nach Entdeckung des
Heilquells, doppelt.

Man war beim Dessert. Ein junger Diener in ziemlich einfacher Livree
wartete auf. Die Rätin hatte eine Melone zerlegt und reichte sie ihrem
Gatten.

»Ich will dir was sagen, Gunther,« fuhr Schellheim in der Unterhaltung
fort, eine der goldgelben Scheiben auf seinen Teller legend, »du hast
ja recht: die Hellsterns sind liebenswürdige Leute. Aber die Art bleibt
dieselbe. Der alte Hochmut ist unausrottbar. Er bricht aus jeder
Äußerung, aus jedem Worte hervor. Die Tradition sitzt zu fest in ihnen.
Sie erfassen den Zeitgeist nicht. Zum Beispiel: das mit der Quelle.
Hellstern ist gegen ihre Ausnützung, weil der Fortschritt in der Kultur
ihm unbequem ist. Das stört ihn in seinem Behagen. Nun frag’ ich den
Menschen: ist das nicht verrückt?«

»Natürlich,« entgegnete Hagen; »du wirst mit den Hellsterns nicht warm
werden.«

Gunther widersprach. Man müsse die Leute nehmen, wie sie seien. Ansicht
gegen Ansicht.

»Ich glaube auch, daß dem Widerstreben des Barons noch andre
Befürchtungen zugrunde liegen. Er ist zu klug und zu weltreif, um der
Kultur Dämme zu wünschen. Nein, das ist es nicht! Seine persönlichen
Empfindungen mögen ja auch mitsprechen. Er liebt es nun einmal nicht,
von einem Schwarm fremder Sommergäste umgeben zu sein. Was aber die
Hauptsache ist: sein alter Besitz liegt ihm noch immer sehr am Herzen,
und er fürchtet, daß die Bauern sich den Segnungen der Kultur, in diesem
Falle der Heilquelle, noch nicht reif genug erweisen werden.«

Der Rat schüttelte, einen ironischen Zug um den Mund, den Kopf, und der
grimme Hagen lachte fröhlich auf.

»Nimm mir’s nicht übel, Gunther,« rief er, »das ist eine absonderliche
Idee! Was heißt denn das: noch nicht reif? Soll die Kultur vor der Türe
warten, bis auch der letzte Schafskopf ihr gütigst den Eintritt erlaubt?
Als die Eisenbahnen aufkamen, wetterte und wütete der damalige
Verkehrsminister gegen die neue Erfindung, weil er fürchtete, sie würde
die Postinstitution ruinieren. Was schadet es denn schließlich, wenn
wirklich ein paar Bauern zugrunde gehen, wo auf der andern Seite der
ganzen Menschheit gedient wird?«

»Gewiß,« fügte der Rat hinzu und faltete seine Serviette zusammen.
»Jeder Fortschritt ist im Grunde genommen brutal. Er reißt nieder, um
neu aufzubauen.«

Gunther errötete leicht. Er sah ein, daß er sich in der Verteidigung der
Insassen des Baronshofs vergaloppiert hatte, daß seine Argumente nicht
stichhaltig waren. Aber er wollte es nicht zugestehen.

»Ich bin nicht ganz eurer Ansicht,« erwiderte er. »Nur der stetige
Fortschritt bringt Segen. Selbst Guttaten wie die Emanzipation der
Bauern und die Aufhebung der Leibeigenschaft haben unsägliches Unglück
im Gefolge gehabt, weil sie zu unvorbereitet kamen.«

»Das ist das, was ich sagte,« bemerkte Schellheim. »Die Kultur reißt
Löcher, schließt sie aber auch wieder.«

»Deshalb kann man immerhin die Opfer der Kultur bedauern,« entgegnete
Gunther etwas kleinlaut. »Es tut mir leid, daß der Besitz der Quelle
nicht in verständigen Händen ruht. Vor allen Dingen kann ich aus
persönlichem Empfinden Herrn von Hellstern nur zustimmen; ich würde es
auch lieber sehen, wenn ich bei meinen Besuchen in Oberlemmingen nicht
auf Schritt und Tritt auf Kranke und Sommerfrischler stieße.«

»Mahlzeit,« sagte der Rat und erhob sich. Der Diener zog den Stuhl
seines Herrn zurück. Man trank den Kaffee stets gleich nach dem zweiten
Frühstück auf der ersten Terrasse. Dort war bereits der Tisch unter
einer blauweiß gestreiften Markise gedeckt. Ein Licht und zwei
Zigarrenkisten standen zwischen Tassen und Tellern. Das Licht brannte,
aber man sah die Flamme kaum in der blendenden Helle des Tages.

Während Schellheim sich eine Zigarre anzündete, nahm er das Thema von
vorhin wieder auf. Er wandte sich direkt an Gunther, dem Hagen soeben
eine Papyrus aus seinem Tulaetui anbot.

»Ich will dir was sagen, mein Junge,« begann er – das war eine
stehende Redewendung von ihm –, »wenn sich die Quellengeschichte
wirklich günstig entwickelt und sich nicht noch nachträglich als Mumpitz
herausstellt – ich fürchte es beinah’, ich trau’ der Sache nicht so
recht –, na, das wäre auch für uns nicht so übel. Durchaus nicht. Denk
mal, wie Grund und Boden steigen wird, wenn hier erst die Leute
zusammenströmen und Obdach und Nahrung haben wollen! Auch die
Produktenpreise werden in die Höhe gehen – ich meine, liebe Jenny« –
er wandte sich an seine Frau –, »wir könnten ganz gut noch die sechs
Morgen Wiesenland an der Barbe zum Gemüsegarten schlagen.«

Und ohne die Antwort der Rätin abzuwarten, die nur den Kopf neigte und
dann weiter die Tassen füllte, fuhr er lebhaft fort:

»Was mich grimmt, ist lediglich die Dickköpfigkeit der Möllers.
Zwölftausend Mark ist ein Stück Geld für die paar Buchenkuscheln. Ich
glaube, die Möllers witterten damals schon die Heilkraft der Quelle –
kann mir’s sonst nicht erklären, warum sie so stätisch blieben! Na, ich
bin neugierig, was sie machen werden! Ich habe mir’s überlegt: ich
misch’ mich nicht ’rein. Sie können _mir_ kommen, wenn sie wollen ...
Wie ist’s, Kinder, wollt ihr wirklich mit dem Abendzuge zurück?«

Die Brüder bejahten. Sie hätten beide zu tun. Hagen erzählte von großen
Aufträgen aus Amerika, deren Effektuierung Beschleunigung verlange. So
kam »das Geschäft« auf die Tagesordnung; der Rat wollte Einzelheiten
wissen, und Hagen zog sein Notizbuch aus der Tasche.

Inzwischen erhob sich Gunther und trat an die Sandsteinbalustrade heran.
Der Ausblick von der Höhe bot seltene Reize, und sie wechselten je nach
der Beleuchtung. Jetzt, im prallen Glanze der Mittagssonne, war die
ganze Landschaft in ein weißliches Gelb getaucht. Ein blonder Schimmer
lag über den Ährenfeldern, in die Kolonnen von Schnittern weite,
zackige Lichtungen schnitten, denn heute früh hatte man auch auf dem
Augute mit der Ernte begonnen. Auf den Wiesen tönte sich das weißgelbe
Licht zu einem ganz hellen und zarten Grün ab, und an der waldbesetzten
Bergreihe am Horizont mischte sich noch ein leichter blauer Ton hinein.

Gunther schaute nach der Seite hinüber, wo der Baronshof lag. Man sah
aus dem Dunkel der alten Bäume nur einen kleinen Dachteil des
Herrenhauses hervorlugen, ein paar hundert braunrote und geschwärzte
Ziegel. Aber vor dem Auge Gunthers öffnete sich der Vorhang aus grünem
Laub, und es schien ihm, als sehe er das ganze alte Haus vor sich liegen
und oben auf der Veranda eine große Mädchengestalt in hellem Gewande,
die ihm mit freundlichem Lächeln zunickte. Hedda hatte ihm sehr
gefallen. Er war noch nicht auf die Idee gekommen, sich ein weibliches
Idealbild zu konstruieren, aber er meinte, so wie Hedda, so ungefähr
müsse sein Ideal wohl ausschauen. Und er warf plötzlich mit ärgerlicher
Gebärde den Rest seiner Zigarette über die Balustrade. Wirklich, er
ärgerte sich über seine dummen Gedanken!

Hinter ihm ertönte eine fremde Stimme. Der Diener hatte Herrn
Bauunternehmer Möller angemeldet.

Der Kommerzienrat horchte auf, als er den Namen vernahm. Einer von den
Möllers – aha, man »kam« ihm schon! Ein breites Lächeln trat auf sein
Gesicht.

»Führen Sie den Herrn hierher,« befahl er.

»Entschuldigen der Herr Kommerzienrat,« erwiderte der Diener, »es sind
drei Leute –«

»Drei?« Und Schellheim lachte fröhlich auf. Also gleich drei – man
wollte ihm durch eine Phalanx imponieren. »So lassen Sie alle drei
herkommen, Friedrich,« entschied er.

Die Rätin fragte bescheiden, ob es nicht besser sei, wenn sie sich mit
den Kindern entferne. Aber ihr Mann verneinte; man wisse ja noch nicht
einmal, was die Herren überhaupt wollten.

Das Trio trat an. Voran Albert, dann Bertold und zuletzt Fritz Möller,
hintereinander und mit dem Ausdruck des Respekts im Gesicht, von dem ihr
Herz in dieser Atmosphäre des Reichtums erfüllt war. Der dicke Fritz
hatte sich gleich den andern beiden sonntäglich angekleidet, doch der
schwarze Rock paßte nicht recht und schlug an ungehörigen Stellen
Falten, und über dem topfförmigen Zylinderhut lag ein rosiger Bronzeton.
Der Zylinder gehörte ihm auch nicht, sondern dem Alten, der ihn nur zu
Hochzeiten und Kindtaufen trug. Dann bügelte Mutter Möller ihn auf, das
heißt sie plättete ihn mit einem heißen Bolzen. Davon hatte er seine
anmutige Färbung erhalten.

Albert und Bertold blieben stehen und verbeugten sich. Aber Fritz hatte
nicht aufgepaßt und ging weiter, rannte erst gegen Bertold an und machte
dann auch sein Kompliment. Bertold war wütend, rückte an seiner Brille
und flüsterte, während Albert bereits zu sprechen begann, dem jüngeren
Bruder zu:

»Nimm doch den Hut ab, Tolpatsch!«

Nun entblößte auch Fritz den Flachskopf. Er war rot geworden vor
Verlegenheit.

»Nehmen Sie es nicht übel, Herr Kommerzienrat,« sagte Albert inzwischen,
»daß wir Sie inkommodieren. Wir möchten Sie um eine Rücksprache bitten.
Es handelt sich nämlich um die Quelle ...«

Schellheim hatte sich erhoben und reichte jedem der drei die Hand. Es
war sein Bestreben, sich kordial zu zeigen. Die Leute da unten sollten
ihn lieben lernen.

»Ich dacht’ es mir beinah’, meine Herren,« erwiderte er. »Dürfen die
Meinen dabei sein, oder ist es Ihnen angenehmer, unter vier Augen –«

Albert wehrte ab. Ihre Sache sei durchaus kein Geheimnis.

Der Rat bot ihnen Stühle und Zigarren an. Fritz betrachtete die seine
mit Ehrfurcht. Sie hatte ein Bändchen um den schlanken Leib und sah nach
viel Geld aus.

Dann entwickelte Albert seine Ideen und Absichten. Er sprach recht
gewandt, erzählte zunächst von der Analyse des Professors Statius und
von der Auskunft, die er persönlich über die Heilkraft des Wassers
erhalten hatte, und ging hierauf auf die Finanzierungsfrage über. Man
wollte ein Konsortium bilden, das die vorbereitenden Arbeiten ausführen
solle, und dann das ganze Unternehmen in eine Aktiengesellschaft
verwandeln.

Schellheim erkannte sofort, daß dieser lange Maurerpolier eine nicht
gewöhnliche kommerzielle Begabung besaß. In der Darlegung der
Einzelheiten verriet sich sogar eine so schlaue, zuweilen überraschend
raffinierte Berechnung, wie der Kommerzienrat sie dem einfachen Manne
kaum zugetraut hätte.

Die Rätin hatte sich mit ihren Söhnen absichtlich zurückgezogen. Die
drei promenierten im Laubengang der zweiten Terrasse auf und ab, während
oben Albert Möller mit lauter Stimme weitersprach. Die beiden andern
Brüder saßen stumm neben ihm und nickten nur zuweilen mit dem Kopfe, um
ihre Zustimmung zu allem zu bekunden, was der Wortführer sagte.

Plötzlich hörten die Promenierenden, daß Schellheim den Sprecher
unterbrach. Der Rat wußte nun, wohinaus die Möllers wollten, aber es war
unnötig, noch weiter über die Sache zu reden, ehe er sie selbst nicht
klar überschauen konnte.

»Sie wünschen, daß ich mich Ihres Unternehmens annehme,« sagte er, »daß
ich mich theoretisch und praktisch daran beteilige – nicht wahr, das
wollen Sie doch? Ich soll Ihnen sozusagen helfen, die Geschichte in Gang
zu bringen, die Kapitalien zu schaffen, die geeigneten Repräsentations-
und Arbeitskräfte zusammenzutrommeln.... Nun schön, ich bin dazu
bereit –, die Sache interessiert mich, denn eure Quelle fließt mir
sozusagen an der Nase vorbei. Aber erst muß ich mich selber orientieren.
Eure Analysen genügen noch nicht. Man muß offizielle Persönlichkeiten
heranziehen, Berühmtheiten ersten Ranges.... Und dann: eine kurze Frage.
Sie wissen, lieber Herr Bau –« er zögerte einen Moment, weil ihm der
Titel Bauunternehmer zu lang erschien, und fuhr dann rascher fort: »Sie
wissen, lieber Baumeister, daß ich Ihrem Vater schon vor Jahresfrist
anbieten ließ, die Graue Lehne mit der Buchwaldparzelle zu kaufen. Ich
bin noch immer dazu geneigt. Nun haben sich durch die Auffindung der
Quelle die Preisverhältnisse natürlich wesentlich geändert. Allein
vielleicht würden wir doch noch einig werden. Überlegen Sie einmal
daheim, ob wir nicht von neuem über das Terrain in Verhandlung treten
können ...« Er schaute aufmerksam auf seine Fingernägel.... »Ich will
Ihnen was sagen, meine Herren: die Heilquelle ist ja ganz schön, aber
erstens ist es doch noch sehr die Frage, ob aus ihr wirklich etwas zu
machen ist. Solche Säuerlinge gibt es zu Tausenden im Lande – die
meisten sind nicht viel wert. Und zweitens wird Ihnen die Geschichte
unendlich viel Scherereien und Schwierigkeiten machen, – ach du lieber
Gott, Sie haben ja gar keine Ahnung, was es heißt, solch ein
weitausschauendes Unternehmen ins Leben zu rufen! Ob es sich überhaupt
lohnen wird?« Der Kommerzienrat zog die Schultern hoch. »Ich glaub’s
eigentlich nicht. Nein, ich glaub’s nicht! Wir haben kleine Badeorte,
die nicht leben und sterben können. Geschäfte werden da kaum zu machen
sein – an eine Dividende ist vorläufig gar nicht zu denken.... Na –
man muß abwarten! Jedenfalls überlegen Sie sich den Verkaufsgedanken
noch einmal. Wenn ich die Graue Lehne im Besitz hätte – ich glaube –
ich glaube, ich würde die Quelle ruhig weiter fließen lassen. Das
Risiko ist zu groß – zu groß ...«

Die drei Brüder hatten Schellheim mit keinem Wort unterbrochen. Aber von
einem zum andern flog ein rascher Blick des Einverständnisses herüber,
der zu sagen schien: nicht angst machen lassen, immer ruhig bleiben! Und
nun antwortete Albert in respektvollem Tone:

»Verzeihen Sie, Herr Kommerzienrat, aber wir verkaufen die Graue Lehne
bestimmt nicht. Und wenn Sie uns hunderttausend Mark auf den Tisch legen
wollten, wir tun es nicht. Der Vater denkt gerade so. Und wenn Ihnen
eine Beteiligung an der Ausbeutung der Quelle zu unsicher dünkt, dann
müssen wir eben weiter gehen, so leid uns das tun würde. Die Frankfurter
Produktenbank hat sich schon bereit erklärt –«

Schellheim fuhr auf. Solcher Unsinn! Man solle sich nur ja die
Bankinstitute fern halten. Es gebe genug kapitalkräftige Leute.

»Ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen, meine Herren,«
schloß er. »Senden Sie mir die Analyse und das sonstige Material über
die Quelle zu. Wenn Sie noch zu Herrn von Hellstern gehen wollen – es
soll mir recht sein. Solche Leute braucht man.... Also auf Wiedersehen!«

Das war das Zeichen zum Aufbruch. Der Kommerzienrat reichte wieder jedem
der drei die Hand und führte sie selbst nach dem Parkausgang. Dabei
plauderte er ununterbrochen, berührte aber die Quellenfrage mit keinem
Wort mehr. Er sprach über die Ernte, das Wetter, die Getreidepreise,
über alles mögliche. Und während die drei Brüder die breite Fahrstraße
einschlugen, die vom Auberge nach der Chaussee führte, blieb er noch
eine geraume Weile am eisernen Parkportal stehen und schaute den Möllers
nach. Der rötliche Bronzeton von Fritzens altväterischem Zylinderhut
leuchtete fröhlich im Sonnenschein.

»Geriebene Gesellschaft,« murmelte der Kommerzienrat halblaut vor sich
hin. Dann kehrte er auf die Terrasse zurück.

»Nun, Papa?« rief ihm Hagen entgegen. »Abgemacht?«

»I bewahre,« entgegnete Schellheim, und der Sohn spürte am Tone, daß
etwas wie eine leichte Gereiztheit herausklang. »Hellstern hat recht:
mit den Leuten ist schwer verhandeln. Ich mache auch nicht mit – ich
werde mich hüten. Es ist nichts mit der Quelle – nichts! ...« Er griff
nach einer neuen Zigarre. »Wann geht euer Zug, Hagen? Um neun, nicht
wahr?«

»Ja, um neun, Papa.«

»Schön, da könnt ihr mich noch gegen sechs auf die Felder begleiten. Ich
will eine Umfahrt halten. Das ist so Sitte am ersten Erntetage – ich
habe mich erkundigt. Und bei dieser Gelegenheit wollen wir einmal an der
Grauen Lehne aussteigen. Man kann sich das – das Dings wenigstens mal
ansehen.«

Der kluge Hagen lächelte. Er wußte ganz genau, daß sich der Vater die
Beteiligung an dem Quellenunternehmen nicht entgehen lassen würde.

       *       *       *       *       *

Die drei Möllers wendeten sich kurz vor der Chaussee rechts ab; sie
schlugen den schmalen Fußweg nach dem Baronshof ein. Anfänglich sprachen
sie wenig; stumm schritten sie nebeneinander her. Fritz rauchte noch
immer die Zigarre, die ihm der Kommerzienrat angeboten hatte, obwohl ihm
der kurze, glühende Stummel fast die Finger verbrannte. Bertold rückte
nervös an seiner Brille und nahm als erster das Wort.

»Das ist ein Schlauer, der Kommerzienrat,« meinte er.

Nun wurde Albert plötzlich sehr lebhaft. Er begann ohne Ursache auf
Schellheim zu schimpfen. Das seien alles Betrüger, die reichen Berliner
Herren. Man müßte gewaltig auf der Hut sein, sonst zögen sie einem das
Fell über die Ohren. Alles schwarz auf weiß und notariell, was man mit
denen abmache – nicht anders. Schellheim ärgere sich nur, daß man ihm
die Graue Lehne nicht verkauft habe; Millionen würde der aus der Quelle
herausschlagen. Aber man wolle die Millionen allein verdienen. »Wenn man
das Pack nur nicht brauchte!« schloß er.

»Wir brauchen es aber,« erwiderte Bertold. »Da hilft alles Schimpfen
nicht. Wir haben doch lange genug darüber gesprochen. Was uns ungeheure
Mühen machen würde, erreicht so einer im Umsehen. Aber über die Ohren
hauen lassen wir uns deshalb schon lange nicht.«

»Wir sind auch helle,« sagte Albert.

Fritz warf seinen Stummel fort. »Die Zigarre war gut,« bemerkte er.

Auf dem Baronshofe mußten die drei erst August suchen, um sich anmelden
zu lassen. In der Mittagshitze lag das Gehöft wie ausgestorben da.
Selbst das Hühnervolk hatte den Schatten aufgesucht und sich unter den
Akazien im warmen Sande eingekuschelt. Lord, der Hofhund, kläffte die
drei Männer ununterbrochen an und raste an seiner klirrenden Kette bald
in die Hütte hinein, bald wieder heraus.

Endlich fand man August, der in einem Winkel der Häckselkammer Siesta zu
halten pflegte. Mit verschlafenen Augen begrüßte er die drei als gute
Bekannte und machte zunächst seine Witzchen mit ihnen. Er glaube
übrigens nicht, daß der Herr Baron schon zu sprechen sei; um diese Zeit
halte er noch seinen Mittagsschlummer. Aber er wolle jedenfalls
nachsehen.

Indessen gingen die Möllers in der Prallsonne auf und ab. Unter dem
schweren Zylinder Fritzens rannen große Tropfen und perlten dem Burschen
über die dicken Backen. Das verteufelte Ding schien immer schwerer
werden zu wollen. Fritz nahm den Hut auf ein paar Minuten ab, aber da
brannte ihm die Sonne stechend auf den Flachskopf, und mit einem Fluch
setzte er das Ungetüm wieder auf.

Albert war mit überlegender Miene vor der Veranda stehen geblieben. Er
hatte die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen und die Augen halb
geschlossen, wie immer, wenn er in Gedanken war.

»Was grübelst du denn, Albert?« fragte Bertold.

»Ach,« entgegnete dieser lächelnd, »ich dachte so ’n bißchen nach. Das
alte Herrenhaus ist gut gebaut. Mauern wie Festungswälle und Balken von
Eisen. Das wäre leicht auszubauen. Die Lage ist wie geschaffen für das
Sanatorium.«

»Der Baron wird dir was pusten,« meinte Fritz, und Albert erwiderte
trocken: »Bar Geld lacht!«

August kehrte zurück. Der Herr Baron säße schon wieder am Schreibtisch,
aber er hätte nicht viel Zeit; es wäre ihm lieb, wenn es rasch ginge.
Und dann führte er das Dreiblatt in das große, kahle, gewölbte Gemach,
in dem der Baron zu arbeiten pflegte.

Er saß in dem ausgeschnittenen Halbkreis seines Tisches, mitten unter
Haufen von alten Folianten und Papieren, die ihn wie eine Palisadierung
umgaben. Und rechts von ihm saß Hedda, aber auf keinem gewöhnlichen
Stuhl, sondern auf einem halben Dutzend übereinandergestapelter
Foliobände von Merians Topographie, und vor sich auf dem Schoße hatte
sie ein aufgeschlagenes lateinisches Lexikon und suchte für den Alten
Vokabeln auf. Es war wundervoll kühl im Zimmer, und ein angenehmes
Dämmerlicht herrschte, da die Läden vor den Fenstern geschlossen waren.
Hellstern rauchte wieder seine Pfeife, doch es war nicht so schlimm wie
sonst, und in die Tabaksatmosphäre mischte sich ein zarter Rosenduft,
der dem großen Buschen entströmte, den Hedda auf eine Ecke des
Schreibtisches gestellt hatte: ein hübsches Symbol blühender Gegenwart
mitten unter dem Moderhauch der Vergangenheit, der aus den alten
Chroniken, Pergamenten und Briefschaften aufzusteigen schien.

Hedda nickte den Männern freundlich zu, und Hellstern rief ihnen gleich
entgegen:

»Tag, Möllers! Ich weiß schon! Wegen der Quelle – nicht wahr? Kinder,
laßt _mich_ mit der Geschichte in Ruhe! Ich will nichts davon wissen!«

Albert war sehr betroffen; Bertold rückte an seiner Brille, und Fritz
machte ein dummes Gesicht und glättete mit dem Ärmel seinen Zylinderhut.

»Herr Baron,« begann Albert endlich, »Sie werden uns doch wohl
wenigstens anhören wollen –«

»Anhören – meinetwegen,« grunzte der Freiherr. »Aber bitte, kurz,
Kinder – ich habe den Kopf voll. Ihr hättet’s auch, wenn ihr euch mit
dem schindludermäßigen alten Latein ’rumärgern müßtet –«

»Papa,« fiel Hedda mit leisem Vorwurf ein.

»Ach so – entschuld’ge – du bist ja auch da! – Nanu vorwärts, ihr
Herren!«

Er paffte aus Mund und Nase. Und Albert begann abermals seinen Vortrag
– dasselbe, was er Schellheim erzählt hatte, und Bertold und Fritz
nickten wieder an denselben Stellen, genau so wie oben auf der Terrasse
des Auschlößchens.

Hellstern hörte geduldig zu und grunzte nur zuweilen leise auf, wenn ihm
irgend etwas nicht gefiel. Schließlich fragte er, seine Pfeife aus dem
Munde nehmend:

»Was erzählt ihr _mir_ das denn eigentlich alles?! Soll ich vielleicht
auch ein paar Aktien nehmen, wenn ihr erst so weit seid? Und wovon, wenn
ich fragen darf? Ihr seid reiche Leute gegen mich, meine lieben Herren;
ich habe kein Geld – gar keins – und für eure Quellenspekulation erst
recht keins!«

»Wir wollen ja auch kein Geld von Ihnen, Herr Baron,« antwortete Albert.
»Wir wollen bloß Ihren Namen – nichts weiter.«

»Namen?! Wozu – was heißt das – Namen?!«

»Ich versteh’ schon,« fiel Hedda ein, und nun wandte sich Albert mit
Lebhaftigkeit an die Baronesse.

»Das ist doch ganz einfach, gnädiges Fräulein,« sagte er, sich zu ihr
hinabneigend. »Es ist eine große Sache, die der ganzen Menschheit nützen
soll – nichts Schlechtes dabei, nichts Unreelles, nichts
Schwindelhaftes. Aber der Welt muß man das _klar_ machen, sonst glaubt
sie’s nicht. Und wenn der Name des Herrn Barons an der Spitze des ersten
Konsortiums prangt –«

Er kam aber nicht weiter. Hellstern stieß ihn mit der Spitze des
Pfeifenkopfs in die Seite.

»Sie, lieber Möller,« fiel er ein, »bemühen Sie sich nicht weiter! Ich
mache so ’ne Geschichte nicht. Mein Name ist kein Aushängeschild –
_meiner_ nicht! Aber wenn’s schon ein Adeliger sein soll – ’s gibt ja
leider genug adeliges Proletariat im Lande –, vielleicht finden Sie
sogar ’nen Grafen –«

»Aber, Herr Baron,« schnitt ihm Albert das Wort ab und hob die Hände,
was der dicke Fritz ihm nachmachte, um sich wenigstens pantomimisch an
der Debatte zu beteiligen, »es handelt sich ja doch um _Ihren_ Namen,
nicht um einen beliebigen – und auch um Ihre _Person_! Ihr Geschlecht
sitzt hier ja hundert Jahre oder länger, was weiß ich – und Sie sind
überall beliebt, bei Bauern und Gutsbesitzern, sind mit dem Herrn
Landrat befreundet und mit beiden Abgeordneten, haben noch immer Sitz
und Stimme im Herrenhause, im Provinziallandtag, bei den Synoden, den
Kreisverhandlungen – du lieber Gott, das ist alles sehr wichtig für
uns! Und wir wollen das ja auch nicht umsonst haben – Sie sollen _mit_
bei der Sache verdienen –, wir kaufen Ihnen Ihr Haus ab und machen ein
Sanatorium daraus ...«

Der Freiherr schlug mit der Hand auf den Tisch, daß es dröhnte.

»Sie sind wohl des Teufels, Möller?!« schrie er. »Ich bin froh, daß ich
meine vier Wände behalten konnte, – hier will ich auch sterben! Bauen
Sie sich Ihr Sanatorium, wo Sie wollen, aber auf den Baronshof kommt mir
kein fremdes Volk! Ich lasse eine Tafel am Parkeingang anbringen mit der
Inschrift: ›Kurgästen ist der Eintritt verboten.‹ Oberlemmingen war
immer ein gesunder Ort, – aber mit eurer verdammten Quelle zieht ihr
die Krankheiten mit Gewalt her. Es ist kein Vergnügen, lauter leidende
Menschen um sich zu sehen. Die ganze Luft wird verpestet werden, und die
Bazillen werden nur so umherschwirren. Hübsche Aussichten – ich danke
ergebenst! Und zu dem allem soll ich euch auch noch helfen, meinen Namen
hergeben als Köder, als Lockvogel – prost Mahlzeit, da seid ihr an den
Falschen gekommen!«

Die drei Möllers schauten verdutzt vor sich nieder. Eine so
rücksichtslose Abweisung hatte keiner von ihnen erwartet. Ihre
unglücklichen Gesichter erweckten ein gewisses Mitleid in Hedda. Sie
klappte ihr Lexikon zu und sagte:

»Ich denke mir, die Sache eilt noch nicht so. Es muß doch überlegt
werden. Vielleicht kommen die Herren noch einmal wieder –«

»Nein!« schrie der Alte erbost. »Ich will nichts mehr hören! Ging’ es
nach mir, so würde die Quelle wieder zugestopft. Ich glaub’ nicht an
ihren Segen!«

»Das ist jedermanns Sache, Herr Baron,« erwiderte Albert, »zu glauben,
was er selbst will. Wir _hoffen_ etwas von der Quelle –«

»Ein gutes Geschäft hofft ihr – das lockt euch!«

»Das auch, freilich! Jeder Mensch will verdienen. Aber wir gewinnen
nicht allein. Ganz Oberlemmingen wird aufblühen –«

»Oder zugrunde gehen!« rief der Baron dazwischen. Sein braunes Gesicht
war noch dunkler geworden. »Ich kenn’ euch doch, Kinder, – mir macht
ihr nichts weis! Ihr kümmert euch den Geier um die andern, wenn _ihr_
nur eure Taschen füllen könnt! Und ich sehe kommen, wie’s werden wird –
ganz genau! Will’s Glück euch wohl und die Quelle wirft wirklich Geld ab
– ’s fließt doch nur zu euch! Ihr werdet einen Ring bilden, den keiner
durchbrechen kann, und die kleinen Leute bleiben draußen stehen und
lassen die Zunge aus dem Halse hängen und hungern weiter!«

Hedda machte eine unmutige Bewegung mit dem Kopfe. Sie fand, daß der
Vater unnötig hart sei, und dies Wort sprach Albert auch aus.

»Das klingt sehr hart, Herr Baron,« sagte er, »und ich glaube auch, daß
dazu kein Grund vorliegt. Wir haben _Sie_ ja doch aufgefordert und den
Herrn Kommerzienrat drüben auch –«

»Und soundsoviel andre dito – nämlich die, die ihr zuvörderst braucht,
ohne die ihr die Sache nicht in Szene setzen könnt. Denn ihr allein seid
hilflos. Aber wozu noch das lange Parlamentieren! Ihr seid mit einer
Anfrage zu mir gekommen, und ich lehne dankend ab. #Dixi#. Im übrigen –
ich habe keinen von euch kränken wollen – aber ihr kennt ja meine Art.
Und nun adje, Kinder!«

Er streckte den Möllers die Rechte entgegen. Hedda nickte ihnen zu und
rief Fritz noch nach:

»Wann soll denn Hochzeit sein, Krugwirt? Noch nichts bestimmt?«

Fritz hatte seinen Zylinder schon wieder aufgesetzt, riß ihn aber
schleunigst vom Kopf. Er wurde rot und lächelte breit. »Nein, gnäd’ges
Fräulein,« antwortete er, »noch nichts. Es hat ja noch Zeit.«

Und dann wendete sich auch Albert noch einmal herum und fügte hinzu:
»Wir woll’n mal erst abwarten, gnäd’ges Fräulein.«

Sie gingen.

»Grobian,« sagte Bertold draußen.

»Der Kommerzienrat ist anders,« bemerkte Fritz. »Mir schmeckt noch seine
Zigarre.«

Albert war wieder vor der Veranda stehen geblieben. Er packte die
Brüder mit beiden Händen an den Rockklappen.

»Das merk’ ich mir,« sagte er halblaut, in verbissener Wut. »Und wenn’s
mir ein Vermögen kosten sollte, – das Herrenhaus bring’ ich an mich.
Hier soll der Alte nicht sterben – oder der Teufel müßt’ ihn gerade
schon in den nächsten drei Jahren holen!« –

Hedda hatte wieder ihr Lexikon zur Hand genommen.

»Immer gleich bullern, Vater,« meinte sie. »Man kann doch auch in Ruhe
mit den Leuten sprechen.«

Hellstern schleuderte ein zusammengerolltes Pergament quer über den
Tisch.

»Kann man nicht!« schrie er zurück; »sonst tät’ ich’s!«

»Gut. Aber überlegen kann man.«

»Wieso? Was überlegen?«

»Ob die Ausbeutung der Quelle nicht doch Gemeinnütziges schaffen kann.«

Der Alte gab darauf keine Antwort. Er beugte sich nieder über den
Folianten rechter Hand. »Steck die Nase ins Buch,« befahl er grob. »Was
heißt #myrobalanum#?«

Hedda schlug nach, antwortete aber nicht.

Der Alte schrieb eine Zeile weiter und schaute auf. »Nun – hast du’s?«

»Ja,« erwiderte Hedda, »aber ich sag’ es nicht.«

»So behalt’s für dich!«

Und wieder schrieb er weiter und wieder stockte seine Feder. »Hedda, ich
will wissen, was #myrobalanum# heißt! Das muß ein blödsinniges Wort sein
– ich finde keine Bedeutung heraus.«

»So laß es doch, Vater,« erwiderte Hedda gleichmütig.

»Gib mir das Lexikon ’rüber, zum Schwerenot!«

»Nein, Vater, – erst mußt du mich ganz sanft um einen Kuß bitten.«

Da flog ein seliges Leuchten über das gerbbraune Gesicht des Brummbärs;
er warf die Feder hin und breitete beide Arme aus.



Viertes Kapitel


Die Ernte war eingebracht worden, und zugleich mit dem Sedantage wurde
das Erntefest gefeiert. Es sollte diesmal ganz besonders großartig
zugehen, da es das erste unter dem Regiment des Kommerzienrats war, von
dessen freigebiger Hand man sich viel versprach. Auf dem Baronshof hatte
man nie viel Wesens von derartigen Feiern gemacht. War die Ernte gut
ausgefallen, so gab es ein paar Achtel Bier und Schnaps, waren die
Zeiten schlecht, so gab es gar nichts. Und seit Jahren hatte es in der
Tat gar nichts gegeben.

Die halbe Nacht über hatten Frauen und Mädchen an ihrem Putz und am
Erntekranz gearbeitet. Das war eigentlich kein Kranz, sondern eine
Krone: Ähren, Blumen und bunte Bänder über ein Holzgestell geflochten,
das der alte Klempt mit vieler Kunst zurechtgebaut hatte.

Daneben hatten die Musikanten viel mit den Proben zu tun. Sie probten
unter der Leitung des Kantors in der Schulstube, daß man es durch das
ganze Dorf hören konnte. Es waren freilich nur fünf Mann: Fritz Möller,
der das Bombardon blies, dann Anton Tengler, der Sohn von
»Schlippermilch«, der junge Raupach und zwei Knechte vom Augut. Noten
kannte keiner; sie spielten alle zusammen nach dem Gehör, und zwar so
lange, bis es einigermaßen klang. Und da der Kantor das feinste Ohr im
Dorfe besaß, so mußte er immer die Entscheidung fällen. Die beiden
Knechte waren unter seiner Fuchtel aufgewachsen und ließen sich
demzufolge auch leicht belehren. Sie waren zudem die musikalischsten der
Banda. Sie bliesen des Sonntags die Posaunen in der Kirche, die der
hochselige Baron, der Vater Hellsterns, bei seiner Verheiratung der
Gemeinde geschenkt hatte. Das hörte sich ganz hübsch an, mitten unter
dem Orgelspiel, und wenn sie einmal falsch bliesen, so störte es auch
nicht, weil es keiner merkte.

Diese beiden Posaunenengel waren, wie gesagt, am leichtesten zu
regieren, aber die drei andern wollten sich durchaus nichts sagen
lassen. Der Kantor schwur jedesmal Stein und Bein, daß er sich um diese
Mordsmusik nie wieder kümmern werde, doch bei der nächsten Gelegenheit
war er gutmütig genug, abermals »die Direktion« zu übernehmen. Am
störrigsten war der dicke Fritz. Er stampfte den Takt gewöhnlich mit dem
rechten Fuße mit und zählte dabei in Gedanken so lange, bis die Reihe an
ihn kam. Und rechnete er einmal falsch und blies den andern in die Musik
hinein, so behauptete er, Tengler habe nicht aufgepaßt, oder Raupach sei
zu spät eingefallen, oder ihm sei eine Motte in das Bombardon geflogen.
Ausreden hatte er immer. Man hatte übrigens nur drei Stücke auf dem
Repertoire: »Heil dir im Siegerkranz«, »Nun danket alle Gott« und einen
Marsch. Das genügte auch. Zum Tanze am Abend kam doch der alte Vietz aus
Wallwitz mit noch einem Geiger.

Fritz hatte sich diesmal bitten lassen, ehe er zugesagt hatte. Die
freien Bauern beteiligten sich an der Cour vor dem Herrn nicht, sondern
wohnten nur dem Tanze bei, währenddessen auch sie zuweilen einen Taler
für ein neues Achtel springen ließen. Aber als Bläser hatte Fritz schon
seit Jahren mitgewirkt. Man meinte, ohne ihn ginge es gar nicht, und es
war auch wahr: es hatte niemand die Kraft, das ungeheure alte Bombardon
so zu meistern wie der starke Fritz. Das Bombardon war gleich den
Posaunen Gemeindeeigentum; man wußte nicht recht, wo es herkam.
Jedenfalls mußte es bereits hoch an Jahren sein und war wahrscheinlich
französischen Ursprungs, denn es hatte nur zwei Ventile. Ein Mensch mit
gewöhnlichen Lungen entlockte dem gelben Ungetüm keinen Ton, höchstens
einen leisen, kreischenden Wimmerlaut. Aber wenn Fritz mit geblähten
Backen hineinblies, dann klang es gewaltig und mauernerschütternd. Und
deshalb sollte er auch dieses Mal wieder dabei sein. Doch er sperrte
sich; er war plötzlich stolz geworden und meinte, das schicke sich nicht
mehr für ihn. Aber der Alte redete ihm zu: man mußte gewisse Rücksichten
auf den Kommerzienrat nehmen.

Gewiß, die Möllers hatten allen Grund dazu. Schellheim hatte Albert
eines Tages die ihm übergebenen Schriftstücke in bezug auf die Quelle
zurückgeschickt und ihm kurzerhand geschrieben, die Sache interessiere
ihn doch nicht so, wie er anfänglich gemeint hätte, auch erfordere sie
zu große Opfer, und was der ablehnenden Redewendungen mehr waren. Das
war schlimm. Albert war ganz verzweifelt. Er nahm zwar immer noch den
Mund voll und wiederholte jedem, der es hören wollte, daß er eine »Bank
hinter sich« habe. In Wahrheit aber hatte die Frankfurter Produktenbank,
ein kleines Institut unter ängstlicher Oberleitung, ihn bereits
abgewiesen, nachdem sie sich nach seinem Ruf und seinem Vorleben
erkundigt hatte. Und in Berlin war es Albert ähnlich ergangen; es war
ersichtlich, man traute dem einfachen Manne nicht. Das grimmte Albert
furchtbar; er war wütend. Er sah ein, daß er die Sache unmöglich allein
durchführen konnte, daß er eines kreditschaffenden Namens bedurfte. Und
so wandte er sich von neuem an den Kommerzienrat, hatte aber bisher noch
keine Entscheidung erhalten.

Dieser zweite September war ein wundervoller Tag. Es lag schon etwas wie
ein leiser Herbsthauch in der Luft; in dämmernder Frühe sah man über dem
Grün des Dorfangers und an den Brombeerbüschen schneeweißen
Altweibersommer hängen, und der Tau war über Nacht so stark gefallen,
daß die Leute meinten, es habe geregnet. Doch der frischherbstliche Odem
hatte etwas Erquickliches. Die Atmosphäre war wonnig rein; man sah die
Oderberge in vollster Klarheit am Horizonte liegen und sogar das
Johanniterkreuz auf dem Kirchturm von Alt-Reuthen.

Um acht Uhr sollte sich der Zug auf dem Anger sammeln. Die Musikanten
waren die ersten, nur Fritz Möller fehlte noch. Dann kamen die Knechte
und Mägde und Kleinbauern, die zugleich Handwerker waren und in Lohn und
Arbeit bei Schellheim standen. Auch einige Bauerntöchter beteiligten
sich, die nicht auf dem Augute bedienstet waren; allerseits waltete das
Bestreben vor, dem diesjährigen Erntefest einen großartigen Anstrich zu
geben.

Die Mädel hatten sich schön gemacht; es flatterte und leuchtete von
bunten Bändern. Und dies Bandwerk, das beliebteste Putzmittel, das man
für wenige Groschen beim Krämer kaufte, verlieh selbst den ältesten und
verwaschensten Kleidern das Aussehen heiterer Neuheit. Hinter der Musik
schritt der Älteste von Langheinrich mit der Erntekrone, die er auf
langer Stange trug, und ihn umgaben die Erntejungfern. Braumüllers Liese
sollte den Vers sprechen; sie war ein dickes Mädchen mit hübschem,
dummem Gesicht und hatte schreckliche Angst, daß sie beim Aufsagen der
Reime stecken bleiben würde. Hundertmal hatte die Mutter sie überhören
müssen, aber über die Stelle: »Wünschen wir einen heiligen Lohn«
stolperte sie immer. Deshalb hatte sie ihre Freundin Dörthe Klempt
gebeten, ihr zu soufflieren, und Dörthe hatte auch von Hedda Erlaubnis
erhalten, sich am Zuge beteiligen zu dürfen.

Nun waren alle da, nur Fritz Möller fehlte noch mit seinem Bombardon. Im
Glanze der Morgensonne rangierte sich der Zug. Auch die Burschen trugen
Bänder an Hüten und Mützen und ein jeder einen Strauß Ähren im
Knopfloch. Überall ruhte heute die Arbeit. Am Zaune des Kantorgartens
stand Feilner mit umwundenem Kopfe, die lange Pfeife im Munde, neben ihm
seine Frau, an jeder Hand ein kleines Mädchen. Selbst der Pastor war
neugierig geworden. Sein schneeweißer Kopf mit den dunkeln,
eigentümlich leuchtenden Augen wurde am Fenster sichtbar. Mitten auf dem
Platze hatte eine Gruppe Frauen Aufstellung genommen; man sah die
Thielemann, das Weib des Krämers, die alte Maracken, deren zahnloser
Mund noch böse klatschen konnte, die ungeheuer dicke Braumüllern, die
Bacherten und die Frau von Langheinrich, eine reiche Witwe aus
Kerbitschau, die sehr dünkelhaft war und gern klagte, wie unglücklich
sie sich fühle, weil sie einen so ungebildeten Mann geheiratet habe.
Auch die Schwester von Klempt, Tante Pauline, stand dabei, mit ihrem
geisterhaften Gesicht und den schwarzen Traumaugen.

Plötzlich schrie Luise Braumüller über den Platz:

»Sieh doch mal nach, Mutter, wo Möllers Fritze bleibt! Es wird doch nu
Zeit!«

Auf der Stelle erhob sich in der Weibergruppe ein eifriges Klatschen.

»Dem sitzt die Quelle im Kopf,« meinte die Thielemann, und die Maracken
nickte und fügte hinzu: »Paßt emoal uff, die schnappen oalsamt noch
über, die ganzen Möllersch ...« Und dann ließ man kein gutes Haar an den
Möllers. Aber die Braumüllern hatte sich schon auf den Weg gemacht; ihre
Tochter pantoffelte sie – jedes Wort von der Liese war Befehl für sie.
Sie lief, was sie konnte, und ihre fettstrotzende Körperlichkeit
schwankte förmlich.

Doch die Liese hatte sich schon wieder anders besonnen. Sie schlug vor,
man sollte ruhig anrücken und vor dem Kruge auf Fritz warten. Damit war
alles einverstanden; Dörthe konnte Fritzen holen.

So setzte sich der Zug denn in Bewegung. Die Musik schwieg, weil das
Bombardon noch fehlte, aber die Burschen jubelten und schwenkten ihre
Hüte und machten derbe Witze mit den Mädeln.

Es ging die Dorfstraße hinab, vorüber an Kirche und Friedhof, an den
Gehöften von Langheinrich, Tengler und Raupach, die alle vor der Tür
standen, vom Lehnschulzen und von Thielemann. Und dazu läuteten die
Kirchenglocken weithin; ihr Klang füllte die Luft mit schwingenden
Akkorden.

Am Kruge, dicht vor der hölzernen Barbebrücke, stockte der Zug. Dörthe
hob ihre Kleider auf und sprang die Steintreppe hinauf. Die Braumüllern
war ihr schon zuvorgekommen. Sie schimpfte auf Fritz, der eben erst
dabei war, sich ein reines Hemd anzuziehen. Er stand mitten in der
Schankstube, und die Mutter half ihm beim Ankleiden. Jedesmal kam er zu
spät.

Als die Möllern Dörthe erblickte, begann sie zu räsonnieren. »Was stehst
du denn da und hältst Maulaffen feil?« eiferte sie. »Immer faß zu! Hole
das Halstuch – ’s liegt obenauf in der Kommode – im zweiten
Schubfach!«

Auch Fritz räsonnierte, während er eiligst in die Weste fuhr, zuerst
natürlich verkehrt, was ihn noch wütender machte.

»Vater, mein Bombardon!« schrie er. »Draußen in der Küche – ich hab’ es
geputzt! Und bring meinen Hut mit! – Heiliges Donnerwetter, ich habe ja
nicht gedacht, daß es schon so spät ist! – Nun hab’ ich die Weste
schief zugeknöpft! Gib das Halstuch her, Dörthe!«

Während er das Tuch vor dem Spiegel knüpfte, trat Albert ein. Er lebte
jetzt halb in Oberlemmingen, halb in Frankfurt. Seinem blassen,
brummigen Gesicht sah man die Fehlschläge seiner Hoffnungen an.

»Du, Fritz,« sagte er, »wenn der Kommerzienrat von der Quelle anfangen
sollte – sei vernünftig! Red keinen Unsinn! Überlege jedes Wort!«

»Werd’ schon,« erwiderte Fritz, sein Haar bürstend. Liese Braumüller und
Anton Tengler kamen auch, um zu sehen, wo Fritz bleibe. Ein paar der
alten Weiber folgten. Die halbe Stube war gefüllt. Die Maracken schaute
neugierig durch den Türspalt.

Fritz brüllte, das Weibsvolk möge sich hinausscheren. Dann schimpfte er
wieder, weil ihm der Scheitel nicht gelingen wollte. Schließlich stürmte
er, unter beständigem Fluchen, in die Küche, tauchte den Kopf in eine
Schüssel voll Wasser, rieb ihn mit dem ersten besten Tuche ab, das ihm
in die Hände fiel, und scheitelte sich nun das Haar. Das ging.

Dörthe stand schon hinter ihm, mit beiden Armen das riesenhafte
Bombardon haltend, über das sie den Zylinderhut mit dem Bronzeton
gestülpt hatte.

Fritz war glücklich, daß er endlich fertig war. Er nahm das Bombardon
und blies mächtig hinein, um den draußen Wartenden zu verstehen zu
geben, nun sei es so weit. Ein paar Hunde in der Nähe begannen
anzuschlagen; die große Katze, die neben dem Kochherd lag, sprang ob des
entsetzlichen Tons mit einigen gewaltigen Sätzen davon, und der ganze
Zug schrie »Hurra!«

»Ein langweiliger Peter!« sagte Albert unter der Haustür zu seiner neben
ihm stehenden Mutter. »Aus dem wird nie was!«

»Glaub’s auch nicht,« antwortete die Alte.

Die Musikanten bliesen nunmehr ihren Reitermarsch, und das große
Bombardon klang wie eine Stimme des jüngsten Gerichts dazwischen.
Langsam bewegte sich der Zug den Auberg hinan, und alle Kinder aus
Oberlemmingen folgten ihm, schreiend, johlend und singend.

Im Schlosse war man auf das Kommende vorbereitet. Schellheim und die
Rätin hatten bereits auf der letzten Terrasse Aufstellung genommen, mit
ihnen der Oberinspektor Bandemer und zwei Eleven. Über die Balustrade
der ersten Terrasse lugten die neugierigen Gesichter der Dienerschaft.

Über das stille Antlitz der Rätin glitt etwas wie ein leichtes
Schmerzempfinden, als die Musik näher und näher kam; ihrem
feingebildeten Ohr dünkte der kriegerische Marsch wie ein ungeheurer
Korybantenlärm. Dann aber zog ein Lächeln über ihr Gesicht. Der Zug
nahte. Die Bläser transpirierten außergewöhnlich; man sah, wie über die
den Luftstrom aufnehmenden und wieder fortstoßenden dicken Backen das
Wasser strömte. Namentlich Fritz gewährte einen unfreiwillig-komischen
Eindruck. Der schöne Zylinder, über dessen sanften Bronzeton die Sonne
glitt, saß ihm tief im Nacken. Das ganze Gesicht glühte purpurn vor
Hitze und Anstrengung und erschien wie gebadet. Er war so im Eifer, daß
er das Schlußzeichen übersah, das Tengler gab, und so stieß er noch ein
paar schmetternde Töne aus, während die andern schon schwiegen, und
setzte das Instrument erst ab, als der junge Raupach ihn ärgerlich in
den Rücken puffte. Und dann machte er ein ganz erstauntes Gesicht; er
hatte nicht gedacht, daß es schon zu Ende wäre.

Liese Braumüller deklamierte ihren Spruch, die Augen zu Boden gesenkt,
voll brennender Verlegenheit, monoton sprechend, wie sie es beim
»Aufsagen« in der Schule gelernt hatte, und mit gefalteten Händen.
Zweimal stockte sie, aber Dörthe half ihr immer wieder aus. An der
Stelle: »Wir wünschen der Herrschaft einen heiligen Lohn« versprach sie
sich mehrfach, sagte erst »leiligen Hohn« und raspelte dann noch längere
Zeit an den Worten herum, ehe sie das rechte fand. Dabei schossen ihr
die Tränen in die Augen.

Als sie geendet hatte, trat der Gutsvogt vor, der mit im Zuge war, ein
stämmiger Mann, der Markuse hieß und deshalb immer »Jüd« genannt wurde,
obschon er aus altsässiger Bauernfamilie stammte. Der brachte ein Hoch
auf die gnädige Herrschaft aus, worauf die Musikanten einen Tusch
bliesen und dann merkwürdigerweise »Heil dir im Siegerkranz« anstimmten.

Das brachte den Kommerzienrat, der etwas verlegen war, wie er nach
Landesbrauch die Ovation beantworten sollte, auf einen guten Gedanken.
Er gab den Nächststehenden die Hand, dankte allerseits und ließ sodann,
an den Sedantag und seine glorreichen Erinnerungen anknüpfend, in einer
geschickten Schlußwendung Seine Majestät den Kaiser leben. Wieder fielen
die Musikanten ein und bliesen hierauf, ihrem Repertoire getreu, »Nun
danket alle Gott«.

Der Kommerzienrat sah ein wenig verwundert aus. Eine Predigt konnte er
doch nicht halten. Er nahm sein Portefeuille aus der Tasche und reichte
dem Gutsvogt einen Fünfzigmarkschein: die Leute möchten sich einen
vergnügten Abend machen. Und dann zog er diesen und jenen ins Gespräch,
während die Rätin mit liebenswürdiger Miene ein paar freundliche Worte
an Liese Braumüller richtete.

Fritz Möller stand in vorderster Reihe. Als Schellheim ihn sah, stutzte
er und fragte:

»Herr Möller – nicht wahr?«

»Jawohl, Herr Kommerzienrat,« antwortete dieser.

Schellheim zupfte an seiner Weste.

»Hören Sie mal, mein lieber Herr,« fuhr er fort, »Ihr Bruder – der
ältere ist es, glaub’ ich – hat mir da mehrfach wieder geschrieben –
wegen der Quellengeschichte. Er drangsaliert mich ein bißchen. Na – um
ihm einen Gefallen zu erweisen, will ich mich der Sache annehmen, aber
– aber ich muß freie Hand haben. Verstehen Sie, freie Hand!?«

»Jawohl, Herr Kommerzienrat,« erwiderte Fritz, vollständig überzeugt,
»freie Hand –«

»Sonst kann ich nämlich nichts machen, so gut wie gar nichts. Sagen Sie
Ihrem Bruder, er möchte mal zu mir kommen. Wenn er gerade Zeit hat – es
eilt ja nicht.«

»O, der hat schon Zeit,« sagte Fritz unklug, mit strahlendem Gesicht,
überglücklich darüber, daß die Angelegenheit nun ins Rollen kommen
werde. »Der lauert nur drauf, Herr Kommerzienrat!«

»So!« entgegnete dieser kurz und ging weiter.

Fritz war in so großer Aufregung, daß er den Heimweg kaum erwarten
konnte. Er galt als der »dumme Junge« in der Familie, wurde von allen
von oben herab behandelt und trotz seiner physischen Kräfte bei jeder
Gelegenheit unterdrückt. Und nun war _er_ es, der die frohe Botschaft
ins Haus bringen konnte, daß der Kommerzienrat eingewilligt habe, sich
der Quellenangelegenheit anzunehmen. Er beschloß, den Angehörigen
vorzulügen, daß _er_ den Kommerzienrat überredet und »breitgeschlagen«
habe. Oho, so dumm, wie die andern glaubten, war er denn doch nicht; er
wollte sich schon Respekt verschaffen.

Der Rückmarsch in das Dorf währte ewig lange für den Ungeduldigen. Er
blies in sein Bombardon, daß man es noch in Kerbitschau hören konnte,
eine Viertelmeile von Oberlemmingen. Seinen ganzen Jubel blies er in die
alte Tuba, die sich geschmeichelt zu fühlen schien und das jauchzende
Herz ihres Trägers in eine donnernde Tonfülle übersetzte. Die drei
Repertoirestücke kamen hintereinander an die Reihe. Auf dem Dorfanger
schwenkte der Zug in Frontstellung ein, und dann ging man auseinander.

Dörthe suchte ihren Vater auf.

»Das gnäd’ge Fräulein hat mir deine Rechnung bezahlt, Vater,« sagte sie.
»Mach die Hand auf! Einundzwanzig Mark achtzig – aber die Deichsel am
gelben Wagen mußt du noch mal nachsehen, die klappert noch immer.«

»Ein altes Stück Holz kann ich nicht mehr neu machen,« entgegnete Klempt
und steckte das Geld ein. »Gehst du am Abend zu Tanze?«

»Ja – ich darf, aber ich soll um Mitternacht wieder zu Hause sein.«

»Recht so. Du brauchst dir nicht die ganze Nacht um die Ohren zu
schlagen. Sei vernünftig, Dörthe – daß du mir keine Dummheiten machst!
Ich weiß, wie’s beim Erntefest zugeht.«

Dörthe lachte. »Habe doch keine Bange, Vater! Nee – ach du lieber Gott!
So bin ich nicht wie die Liese! ... Vater, du siehst immer noch blaß
aus. Du hätt’st nicht bei der Hitze mitlaufen soll’n!«

»Ich weiß, was richtig ist. Der Kommerzienrat ist mein Brotherr. Nun
geh – vielleicht springst du noch mal zu uns ’ran, eh’ du in den Krug
machst!«

»Werd’ sehen!« rief Dörthe und eilte davon, daß ihre Röcke flogen. Es
war Mittagszeit, und sie mußte auf dem Baronshof in der Küche helfen. –

Sein Bombardon im Arm, war Fritz mit großen Schritten nach dem Kruge
zurückgekehrt. Hier stand der alte Möller auf einer Leiter und nagelte
zur Feier des Tages eine Girlande an, die mit Bändchen aus rotem und
blauem Seidenpapier durchflochten war.

»Nu sind wir so weit, Vater!« rief Fritz dem Alten entgegen.

»Was hast du gesagt?« fragte dieser von der Leiter herunter, drei große
Nägel zwischen den Zähnen haltend.

»Nu sind wir so weit,« wiederholte Fritz. »Mit der Quelle. Der
Kommerzienrat ist dabei. Ich habe ihn breitgeschlagen. Albert soll zu
ihm kommen.«

Der Alte wäre vor freudigem Schreck beinahe von der Leiter gefallen. Er
nahm die Nägel aus dem Munde und sagte dreimal hintereinander:
»Donnerwetter!« Dann kletterte er rasch herab und stürzte Fritz in das
Haus nach.

Albert wollte die Siegesnachricht noch gar nicht glauben. Es schien ihm
unfaßlich, daß der dumme Junge, der Fritz, Schellheim »breitgeschlagen«
habe. Er wollte Genaueres wissen. Und nun log Fritz los. Er erzählte
unsinniges Zeug, aber das Endresultat blieb dasselbe: Albert sollte auf
das Auschloß kommen – bei Gelegenheit – »es eile nicht«....

Albert überlegte. _Ihm_ eilte es. Er wollte sogleich hinauf. Nein, nicht
sogleich, riet der Alte, das sehe zu pressiert aus. So gegen Abend
vielleicht – und Albert sollte so tun, als ob ihm an der Beteiligung
Schellheims eigentlich gar nichts mehr liege.

Der Erstgeborene nickte lächelnd. Solche gute Ratschläge brauchte er
nicht. Er nahm sich vor, am Spätnachmittag auf das Auschloß zu gehen.
Fritz brüstete sich. »Ich habe ihn breitgeschlagen,« war sein drittes
Wort.

Gegen Abend fand sich auch Bertold mit seiner Frau ein, einer kleinen,
mageren, schwarzen Person von scheuem und geducktem Wesen. Bertold war
in nicht minder großer Aufregung als Albert. Er war zu sehr
Geschäftsmann, um es nicht schmerzlich zu empfinden, daß das geplante
Unternehmen sich nicht entwickeln wollte. Er versprach sich viel von der
Sache und träumte Tag und Nacht davon. Besonders das eine Traumbild: ein
großer Basar in dem neuen Badeort, in dem alles zu bekommen sein würde,
und der schon durch seine ganze Anlage jede Konkurrenz ausschließen
sollte – ein Basar mit blitzenden Spiegelscheiben und großstädtischen
Auslagen und der weithin leuchtenden Firma: #»Maison Mœller«#. Jawohl –
#»Maison Mœller«# wollte Bertold künftighin firmieren; das gab der Sache
einen internationalen Schliff und lockte auch die Ausländer an, die das
Bad besuchen würden.

Um sechs Uhr begann das Fest im Kruge. Die Schankstube war frisch mit
Sand bestreut worden. Rings um die Wände zog sich eine große Girlande
aus Eichengrün, gleichfalls mit Rosabändchen aus Seidenpapier verziert.
Ebenso hatten die Bilder des Königspaares Kränze erhalten. Freilich
stellten diese Bilder – ein paar gelb gewordene, mit Rostflecken
übersäte Lithographieen – noch Friedrich Wilhelm IV. und die Königin
Elisabeth dar; aber der alte Möller meinte, das schade nichts. König
bleibt König. Wenn Fritz einmal heiratet, kann er sich ein Kaiserbild
kaufen; vorläufig genügt Friedrich Wilhelm IV. Wenn das Gespräch darauf
kam, vergaß Möller nie zu erzählen, daß er Friedrich Wilhelm IV. einmal
persönlich gesprochen hatte. Damals war gerade die Chaussee nach Posen
eröffnet worden, und der König fuhr mit dem Minister von Selchow einige
Dörfer ab, die der neue Verkehrsweg berührte. Und so kam er auch nach
Oberlemmingen. Möller, derzeit ein stattlicher junger Mann, war Schulze
und empfing ihn an der Barbebrücke, den berühmten Zylinderhut, den nun
der Fritz geerbt hatte, auf dem Kopfe und in der Rechten den langen, mit
schwarz-weißem Band umflochtenen Schulzenstab. Der König ließ halten und
sprach einige Worte mit Möller, und schließlich fragte er auch, ob Acker
und Feld ihre Schuldigkeit täten, und ob man zufrieden sei. Möller
erwiderte furchtlos: »O ja, Majestät, das schon, aber wenn man bloß die
Steuern nicht wären!« Und da hatte der König gelacht und war
weitergefahren.

Wenn der Alte davon erzählte, wurde er stolz. »Das hab’ ich dem König
gesagt,« erklärte er, »und wenn er auch gelacht hat, gemerkt hat er
sich’s doch. So ’n König weiß ja gar nicht, was wir für Steuern zahlen
müssen, wenn man’s ihm nicht mal sagt ...« Die Steuern waren das
Klagelied Jeremiä der Bauern. Sie hatten noch von 1806 her Beiträge für
die Kriegskosten von damals zu zahlen. Und dann die Gemeindelasten:
Kirche und Schule und vor allem der Wegebau. Wenn es nach ihnen gegangen
wäre, hätten die Wege grundlos werden und Kirche und Schule verfallen
können. Die Steuern fraßen einen langsam auf ...

Zuerst kamen die Burschen, Knechte, Taglöhner und Bauernjungen, die sich
an dem arbeitslosen Tage langweilten und nicht wußten, wie sie die Zeit
totschlagen sollten. Die Tische waren in der Schankstube beiseite
gerückt worden, dicht an die Stühle und Bänke längs der Wände heran, so
daß der Mittelraum für den Tanz frei blieb. Man forderte Bier. Dörthe
war auch schon da; Fritz hatte sie gebeten, etwas früher zu kommen,
damit sie mithelfen könne. Und das tat sie gern. Sie fühlte sich dann
schon halb und halb als Hausfrau auf dem Platze, den sie einmal
einnehmen würde. Heute sollte es übrigens zur Entscheidung kommen. Die
Verlobung war noch nicht veröffentlicht worden, das kirchliche Aufgebot
noch nicht erfolgt. Die alten Möllers sprachen noch immer dagegen und,
wie es Dörthe schien, auch Albert und Bertold. Nun wollte sie aber aus
dem Ungewissen heraus. Alle Mädel im Dorfe neckten und foppten sie
bereits, Liese Braumüller vorweg, die es auch auf Fritz abgesehen hatte
und sich nun Hoffnungen auf Albert machte. Das ging nicht so weiter. Und
deshalb war Dörthe, ehe sie nach dem Kruge gegangen, noch einmal zu
ihrem Vater herangesprungen und hatte ihn gebeten, noch an diesem Abend
die Entscheidung herbeizuführen. Klempt wollte anfänglich nicht; er war
nicht gern im Kruge; bei seiner Menschenscheu ängstigte er sich auch,
der Gesamtfamilie Möller entgegenzutreten. Und sicher waren sie heute
alle zusammen. Aber Tante Pauline unterstützte Dörthe. Es müsse zum
Klappen kommen, erklärte sie; es liege sowieso genug Unheil in der Luft.
Drei Nächte hintereinander hatte sie von einer schwarzen Henne geträumt,
die wild mit den Flügeln schlug; das bedeute sicher nichts Gutes. Und so
sagte der alte Klempt denn zu; er wollte gegen sieben im Kruge sein.

Dörthes Herz hämmerte stark, während sie in geschäftiger Eile dem alten
Möller die Gläser abnahm, in die dieser das Bier zapfte. Fritz hatte den
Schnapsschank, und Mutter Möller machte sich in der Küche zu schaffen,
während Bertold mit dem Förster und einem Eleven Schellheims im
Extrazimmer politisierte. Dörthe merkte, daß der Alte guter Laune war.
Er hatte sie einmal um die Taille gefaßt und ihr gesagt, das Kleid mit
den roten Punkten kleide sie gut, – er werde ihr, wenn er das nächste
Mal nach Zielenberg komme, ein dazu passendes Halstuch mitbringen. Das
machte das Mädchen ganz glücklich. Ihre Liebe zu dem dicken Fritz war
der Inhalt ihrer Tage. Um seinetwillen hielt sie sich von den andern
fern und vermied es, sich zur Erntezeit, an den lauen Sommerabenden,
wenn die Arbeit vorüber, zwischen den Heuhaufen auf den geschorenen
Wiesen und den Buchen an der Grauen Lehne herumzutreiben, wo man bei
Mondschein gewöhnlich das Kichern der Dirnen und das helle Lachen der
Liese Braumüller hören konnte, die überall dabei sein mußte. Ihr, der
Dörthe, konnte kein Mensch etwas nachsagen, und bei aller sonstigen
Naivität ihrer sittlichen Anschauung war sie doch stolz darauf.

Das Zimmer war schon voll, aber der alte Vietz mit seinem Geiger hatte
sich verspätet. Man schimpfte auf ihn; sicher lag er wieder irgendwo
betrunken im Graben. Es war dumm, daß die heimische Banda nur ihre drei
Stücke konnte und nicht einmal einen Tanz darunter; sonst hätte man es
mit Blechmusik versucht. Man rief Fritz zu, er solle sein Bombardon
holen; ein paar junge Leute stellten sich in eine Ecke und begannen eine
Polka zu pfeifen. Liese Braumüller und Anton Tengler tanzten danach;
einige andre folgten, schreiend und lachend; aber es ging nicht recht –
man kam immer wieder aus dem Takt. Da erhob sich draußen Kindergebrüll.
Vietz kam endlich. Der alte Kerl mit seinem blassen Gesicht, in dem nur
die große Kartoffelnase rötlich schimmerte, war in der Tat so betrunken,
daß er sich kaum aufrecht halten konnte. Sein Partner, der Geiger, hatte
ihn unter dem Arm gepackt und schleppte ihn vorwärts. Das war keine
Kleinigkeit, denn der Geiger, ein schmächtiges Kerlchen, schleppte auch
noch den Baß seines Patrons. Alle Kinder waren hinter den beiden her und
johlten und jubelten. Vietz schien das zu amüsieren; sein ganzes Gesicht
lachte. Aber plötzlich wurde er ernst, blieb stehen und hielt eine
drohende Anrede an den schreienden Schwarm, fuchtelte mit beiden Fäusten
und griff schließlich in den Sand, um den Kindern eine Handvoll Erde auf
die Köpfe zu werfen. Und alles stob unter erneutem Geheul auseinander.

Fritz erschien unter der Haustür. Er machte kurzen Prozeß, denn er
wußte, wie Vietz zu behandeln war. Er packte ihn einfach an Kragen und
Rockschoß, trug ihn in das Schankzimmer und setzte ihn hier in eine
Ecke. Dann wurde ihm der Baß zwischen die Beine geschoben, und der
Geiger nahm neben ihm Platz.

»Nu feste gespielt, Vietz,« sagte Fritz ernst; »immer nach drei Tänzen
kriegt Ihr ein Glas Bier. Aber wenn Ihr’s schlecht macht, gibt’s gar
nichts!«

Vietz nickte; er kannte das. Und dann ging es los. Der Geiger fiedelte,
und Vietz kratzte auf seinem Baß herum: es war eine höllische Musik. Der
Alte hatte offenbar das Bestreben, stets möglichst schnell zu Ende zu
kommen, während sein Partner eine behagliche Natur war und sich Zeit
ließ. So kamen die beiden niemals zusammen. Doch auf das Vergnügtsein
der Tanzenden hatte das verschiedene Tempo keinen Einfluß. Die Paare
wirbelten im Zimmer umher; man stieß sich, man stolperte, man drängte
sich und chassierte aneinander vorüber, lachte, lärmte und tollte und
unterhielt sich königlich dabei. Der Staub schwirrte auf, die Luft wurde
schwül, ein trüber Dunst stieg zu der niedrigen Decke auf. Die Möllern
öffnete ein Fenster.

Draußen im Garten spielten Braumüller, der Schulze, Raupach,
Langheinrich und noch ein paar eine Partie Kegel. Man hörte durch das
offene Fenster trotz des Lärmens der Tanzenden das dumpfe Rollen der
Kugeln und das polternde Geräusch der stürzenden Kegel.

Die Möllern schaute zum Himmel auf, schnüffelte in der Luft herum und
zog die Nase kraus.

»Braumüller,« rief sie zum Fenster hinaus, »das gibt wohl noch was –
he?!«

»Alle neune!« schrie in diesem Augenblick der Angerufene. »Dundersaxen,
Langheinrich, du bist ein verflixter Kerl!« ... Und dann schaute er
gleichfalls zum Himmel und nickte der Möllern zu. »Ja, das gibt noch
was, Mutter Möllern! Das wird ’n bißchen brummlich da hinten!« ...

Albert war schon vor zwei Stunden nach dem Auschloß gegangen. Es war
merkwürdig, daß er noch nicht zurück war. Dörthe überlegte, ob es nicht
zweckmäßig sei, daß der Vater seine Abwesenheit benutzte, um mit dem
alten Möller und Fritze zu reden. Sie hatte so viel zu tun, daß sie nur
dann und wann einmal zum Tanze kam. Und mitten im Herumschwenken hörte
sie zuweilen den Ruf der Möllern aus der Küche oder das kurze,
befehlende »Dörth’!« des Alten, der, in jeder Hand ein paar
frischgefüllte Biergläser, hinter dem Schanktische stand. Mit heißem
Gesicht und wogender Brust stürzte sie dann von ihrem Tänzer fort, um
wieder die Gäste bedienen zu helfen.

Jetzt war eine Pause eingetreten. Man öffnete noch ein zweites Fenster,
denn die Luft war zum Ersticken schwül geworden, und in den dicken Dunst
warfen die drei in der Stube aufgehängten Laternen nur ein
verschleiertes Licht. Eine Gruppe von Mädeln und Burschen hatte sich um
Vietz geschart, der ihnen mit heiserer Stimme das Lied vorsang:

    »Hans mit de Krusekragen
    Stieg up de Kachelawen –
    Bautz, fiel hinunger,
    War des kee’ Wunger –
    Wär’ he nich hinuppestegen,
    Hätt’ he nich hinunnelegen!«

Zwischen jedem Verse strich er den Baß, verdrehte dabei die Augen und
ließ zuweilen die Stimme überschnappen – und das Volk um ihn wollte
sich ausschütten vor Lachen.

»Vater, nu mach doch man!« flüsterte Dörthe Klempt zu, der ruhig in
einem Winkel saß und seine Pfeife schmauchte. »Jetzt paßt’s gerade!«

Klempt schaute nach Möller aus. Der hatte sich ermüdet hinter dem
Schanktische niedergelassen. Neben ihm hatten Fritz und die Alte auf
zwei Schemeln Platz genommen; man sprach davon, daß Albert noch immer
nicht da sei.

Klempt erhob sich, öffnete die Klappe seines Pfeifenkopfes und drückte
mit dem Daumen den Tabak fester. Dann schritt er langsam nach dem
Schanktisch.

»Es wird noch ’n Wetter geben, Möller,« begann er die Unterhaltung.

»’s soll mir recht sein,« entgegnete der Angeredete; »ich hab’ alles
’reingebracht.«

Klempt spuckte auf die Erde und zündete aus Verlegenheit ein Streichholz
an, obwohl seine Pfeife noch brannte. »Viel Arbeit heute,« meinte er;
»’s ist gut, daß sich die Dörthe freimachen konnte ...« Und einen
plötzlichen Entschluß fassend fügte er hinzu: »Habt ihr denn schon
überlegt, wann das Aufgebot sein soll?«

Die Alte schaute Klempt mit ihren dunkeln Augen böse an, und Möller tat
sehr erstaunt.

»Was denn für ein Aufgebot?«

»Na, zur Hochzeit,« erwiderte Klempt, schon wieder etwas kleinlaut.

Nun lachte Möller. »Ach so,« sagte er; »na, ich dächte, bis jetzt wären
die beiden noch gar nicht mal so recht versprochen!«

»Dächt’s auch,« fügte die Mutter hinzu. »Das ist so ’ne Liebelei, wie
sie schon vorkommen kann –«

Doch nun fiel Fritz den Eltern in das Wort. Er hatte zuweilen das Herz
auf der Zunge.

»Nein, Mutter,« sagte er; »du weißt recht gut, daß es mir Ernst ist. Ich
habe die Dörthe immer haben woll’n. Wir könnten wenigstens regelrechte
Verlobung feiern, damit sich das Mädel nicht unnötig necken zu lassen
braucht.«

»So ist’s,« setzte Klempt hinzu. »Von heute zu morgen kann niemand die
Hochzeit verlangen, aber eine ordentliche Verlobung muß sein.«

»Wir woll’n mal mit Albert darüber sprechen,« sagte Möller; »ich weiß
nicht, wo der Junge bleibt!«

Klempt hatte sich gleichfalls einen Stuhl an den Schanktisch
herangezogen. Er hatte sich nie so recht gut mit den Möllers gestanden,
und nach seinem Herzen war eine Heirat zwischen Dörthe und Fritz auch
nicht. Aber ihr Lebensglück hing doch nun einmal davon ab, und das
machte den sonst so schweigsamen Alten beredt.

»Ihr müßt nicht immer so tun, als paßte die Dörthe nicht in eure
Familie,« hub er von neuem an. »Die Klempts sind gerade so ein guter
Bauernschlag. Jawohl, Möller, und du brauchst auch nicht zu glauben, daß
ich die Dörthe arm wie ’ne Kirchenmaus in die Ehe gehen lasse. Sie hat
ihre gute Ausstattung, und ein paar Taler habe ich mir ja auch sparen
können, die sie nach meinem Tode kriegen soll. Die Ersparnisse von Tante
Pauline kommen dazu, und schließlich das Gehöft – ist denn das nichts
wert? So ’n ordentliches Haus find’st du lange nicht, und wie fest das
noch alles steht! Und der Garten und die fünfzehn Morgen Acker und dann
vor allem der schöne Wiesengrund, der bis an die Graue Lehne
heranreicht, der beste im ganzen Dorfe?! Wir sind doch keine
Bettelpackasche, Möller! Ich dränge mich euch nicht auf, aber das Mädel
ist doch nun mal so verrückt nach dem Fritz, und –«

Der Tanz hatte wieder begonnen. Fritz erhob sich und legte seine Hand
auf die Schulter Klempts.

»Laßt’s gut sein, Vater Klempt,« meinte er, »die Alten sind schon
vernünftig. Wenn Albert zurückkommt, woll’n wir noch mal in der Familie
darüber sprechen ...«

Mutter Möller war längst in ihre Küche zurückgekehrt und warf dort mit
den Eisenringen des Herds umher, daß man es im Schankzimmer hören
konnte. Das paßte ihr alles nicht; die Dörthe war keine Partie. Aber sie
schwieg und wurmte sich heimlich. Die Eisenringe des Herds sprachen für
sie.

Dörthe hatte aus der Entfernung die kleine Szene beobachtet. Nun stand
Fritz vor ihr. »Rasch einmal ’rum,« sagte er und faßte sie um die
Taille. »Die Verlobungspolka, Dörthe! Morgen soll’s das ganze Dorf
wissen!«

Er tanzte mit ihr. Sie war selig und hing mit glückstrahlendem Gesicht
in seinen Armen.

Geige und Baß kreischten wieder. Das ganze Haus schien unter den
Schwingungen der tanzenden Paare zu dröhnen. Da klirrten auf einmal die
Fenster. Ein furchtbarer Donnerschlag erscholl, dann prasselte ein
Regenschauer, mit Schloßen gemischt, zur Erde. Schreiend stoben die
Tanzenden auseinander. Die draußen kegelnden Bauern, die von der
Plötzlichkeit des Gewitters überrascht worden waren, stürmten in das
Zimmer, triefend vor Nässe, mit dampfenden Kleidern.

Alles drängte sich an den Fenstern zusammen. Von Zeit zu Zeit
erleuchtete ein greller Blitz die Nacht, und dann sah man den dicht
fallenden Regen. Hatte es irgendwo eingeschlagen, so mußte das vom
Himmel strömende Wasser den Brand auf der Stelle löschen. Man war sehr
vergnügt bei dem Unwetter. Die meisten hatten ihre Ernte geborgen, nur
ein kleiner, verhungert aussehender Kossät, Priestegall mit Namen,
ächzte und jammerte: er hätte seinen Hafer noch nicht einfahren können.

Die Bauern von der Kegelbahn wollten tanzen, um sich warm zu machen.
Aber Vietz war eingeschlafen. Man wollte ihn wecken, doch es war nicht
möglich, den Trunkenbold zur Besinnung zu bringen. Da nahm Langheinrich
den Baß zwischen seine mageren Beine und begann ihn zu bearbeiten,
während auch der Geiger sein Spiel aufnahm. Das gab neuen Spaß, und bald
wirbelten wieder die Paare durch das Gemach, unbekümmert um die
diabolische Musik.

Auf einmal hieß es, der Kommerzienrat sei vorgefahren. In der Tat, eine
geschlossene Equipage vom Augut hielt vor der Tür. Aber nicht der Rat
stieg aus, sondern Albert Möller. Allgemeines Erstaunen; Schellheim
hatte Albert in eignem Wagen nach Hause fahren lassen, – das hatte ganz
gewiß etwas zu bedeuten!

Der alte Möller, Bertold und Fritz eilten Albert bis auf den Hausflur
entgegen. Er zog sie in die Küche. »Es ist alles abgemacht,« sagte er
hastig, mit vergnügtem Schmunzeln um den Mund; »der Kommerzienrat
schießt uns das Nötige aus eigner Tasche vor. Morgen fahre ich mit ihm
nach Berlin zu seinem Anwalt ...«

Fritz sprang wie ein Besessener in der Küche umher. »Seht ihr wohl –
hurra!« schrie er; »ich hab’ ihn breitgetreten!«

Die alten Möllers und Bertold wollten Näheres wissen. Sie rückten Albert
dicht auf den Leib und bestürmten ihn mit Fragen. Aber er war erschöpft
und wollte zuerst etwas zu essen und zu trinken haben, erklärte auch,
vom Geschäftlichen verständen sie ja doch nichts. Die Hauptsache sei,
daß der Stein nun ins Rollen käme.

»Natürlich ist das die Hauptsache,« bemerkte Fritz, »alles übrige wird
sich schon finden. Und wie ist’s nun mit der Verlobung? Grade jetzt, wo
wir alle so vergnügt sind, könnten wir auch gleich meine Verlobung
feiern!«

»Sei doch man still,« fuhr die Alte auf, und Albert fragte: »Deine
Verlobung? – Ach, mit der Dörthe?!«

»Na, mit wem denn sonst! Vielleicht mit der alten Maracken?!«

Albert zog die Brauen zusammen, doch schon im nächsten Augenblick nickte
er lebhaft mit dem Kopfe. »Schön,« meinte er, »ich hab’ nichts
dagegen ...« Und dann nahm er Fritz an der Rockklappe und führte ihn
etwas abseits. »Sag mal, du,« fuhr er im Flüstertone fort, »Klempts
Wiesenbucht grenzt doch an die Graue Lehne?«

»Dichte ’ran, Albert – dichte ’ran!«

»Na, und wenn der Alte mal stirbt, dann erbt doch die Dörthe das Ganze
als einziges Kind?«

»Alles – i nu selbstverständlich, – Vater Klempt hat’s uns vorhin
erst wieder auseinandergesetzt, daß die Dörthe noch gar nicht die
schlechteste Partie ist.«

Albert nickte wieder. »Ich glaube, der Klempt wird’s nicht mehr allzu
lange machen, Fritz. Er sieht schwindsüchtig aus. Das heißt, meinetwegen
kann er hundert Jahre alt werden! Aber mit der Wiesenbucht – na, verlob
dich nur erst! Meinen Segen hast du!«

Und wirklich wurde noch an diesem Abend die Verlobung Fritz Möllers mit
Dörthe Klempt öffentlich verkündet. Fritz kletterte während der nächsten
Tanzpause auf einen Stuhl und schrie seine Verlobung mit Stentorstimme
in das Zimmer, und wer sich jetzt noch einmal unterstehe, so fügte er
hinzu, seine Braut zu necken und zu ärgern, der werde ein paar hinter
die Ohren kriegen, es sei ihm gleich, ob Bursche oder Mädel. Und nachdem
er dies versprochen hatte, brachte er ein Hoch auf das Brautpaar, das
heißt auf sich selbst und Dörthe, aus, und die Musik mußte einfallen,
und alles brüllte mit, umringte ihn und die Dörthe, gratulierte, lachte
und witzelte. Es war ein geräuschvolles, unaufhörliches Schnattern,
während draußen noch immer mit leisem Plätschern der Regen fiel und das
abziehende Wetter den Horizont erhellte.

Dörthe war so froh, daß ihr hübsches Gesicht wie von Sonnenschein
überflutet war. Selbst die Möllern schien sich fügen zu wollen. Dörthe
mußte ihr helfen, zu backen und zu schmoren, denn es sollte »in Familie«
gegessen werden. Der alte Möller stieg selbst in den Keller, ein paar
Flaschen Rheinwein heraufholend, von denen er behauptete, die könne
»jeder Vater mit seinem Sohne trinken«. Klempt wurde genötigt, im
Extrazimmer auf dem grünen Sofa Platz zu nehmen. Er wußte gar nicht, wie
ihm geschah; er hatte sich auf einen harten Kampf mit den Möllers gefaßt
gemacht, und nun wickelte sich die Sache so glatt und rasch ab.

In der Schankstube wurden inzwischen die fünfzig Mark vertrunken, die
der Kommerzienrat gespendet hatte. In eine der Fensternischen hatte sich
Liese Braumüller mit ihrer Freundin Guste Thielemann zurückgezogen.
Beide wisperten eifrig miteinander.

»Das hat lange gedauert, eh die Dörthe Fritzen ’rumgekriegt hat,«
flüsterte Liese. »Aber ’s wird wohl auch Zeit gewesen sein. Ich könnt’
was erzählen, wenn ich wollte. Und weißt du, Guste, in der Kirche seh’
ich die beiden noch nicht. Ich möchte wetten, daß da noch was darmang
kommt –«

»Dörthe!« erscholl in diesem Augenblick die Stimme der Möllern aus der
Küche.

Das Verlobungsessen war fertig: ein kolossaler Schweinebraten in braun
glänzender, knusperiger Schale, die quadratisch durchkerbt war. Und auch
die Beilagen konnten aufgetragen werden: rote Rüben, Preiselbeeren und
Milchreis mit Zimmet.



Fünftes Kapitel


Es war am Neujahrstage, als Hedda, in der Pelzjacke, die Pelzkappe auf
dem Kopfe und den Muff in der Hand, zu ihrem Vater ins Arbeitszimmer
trat. »Ich will zum Pastor, Papa,« sagte sie, »ihm meinen Glückwunsch
bringen. Hast du etwas zu bestellen?«

»Schöne Grüße, nichts weiter,« antwortete der Baron. »Und warum er sich
denn gar nicht mehr sehen ließe. Seine Beine sind noch flotter als
meine.«

»Werd’s ausrichten. Hat die Post nichts Neues gebracht?«

Jetzt schlug sich der alte Herr mit der Hand vor den Kopf. »Sapperment,«
schalt er, »ich fang’ wirklich an, tranig zu werden! Die Hauptsache
vergess’ ich!«

Er nahm einen Brief vom Tisch. »Weißt du, wer geschrieben hat?«

»Dein Verleger?«

»Gott bewahre! Rat mal!«

Sie riet, aber das Richtige traf sie nicht.

»Dummerle,« rief der Alte endlich, »Axel hat geschrieben!«

Das kam Hedda allerdings so überraschend, daß sie sich setzen mußte.

»Axel?« wiederholte sie. »Der Jarlsberger?«

»Ja, ja – unser vielgetreuer Herr Vetter, der Nordlandsrecke, der
Wikinger! Er ist nach Berlin zur Botschaft kommandiert worden und will
uns im Frühjahr auf dem Baronshof besuchen!«

Hedda sah noch immer maßlos erstaunt aus.

»Ich ahnte ja gar nicht, daß Axel in diplomatischen Diensten steht,«
sagte sie. »Ich glaubte, er täte gar nichts – lebte von seinen
Reichtümern – reiste in der Welt umher – als Globetrotter –«

»Glaubte ich auch alles, aber du hörst doch, daß dem nicht so ist. Über
den angekündigten Besuch kann ich nicht gerade Rad schlagen vor Freude.
Das gibt allerhand Unbequemlichkeiten – und der junge Herr wird
verwöhnt sein.«

Jetzt erwachten auch die Sorgen in Hedda.

»In der Fremdenstube regnet’s durch,« klagte sie. »Auch muß da neu
tapeziert werden, und, ach, du lieber Gott, das Waschservice sieht erst
recht nicht nach dem Fortschritt der Zeit aus! Wer besucht uns denn
einmal?! Ich habe mich um die Fremdenstube seit Ewigkeiten nicht
bekümmert.«

»Der Axel ist noch nicht einmal in Berlin,« versetzte der Freiherr
begütigend; »wir haben also noch Zeit genug, unsern Schlachtplan zu
entwerfen. Außerdem weiß er, daß wir nicht auf Rosen gebettet sind –
und überdies soll mir’s sehr gleichgültig sein, ob es ihm in Jarlsberg
besser gefällt als auf dem Baronshof.«

»Puh!« machte Hedda, »hier ist’s aber fürchterlich heiß, Papa. Hältst du
das denn aus?«

»Ich schmore am liebsten – da spüre ich meine Ischias am wenigsten.«

»Im nächsten Sommer gehst du mir unbedingt nach Gastein, Papa –«

»Wohin denn noch?! Nach Paris und dann ein bißchen an die Riviera, nicht
wahr? Wir haben ja das Geld dazu!«

»Für die Badereise werd’ ich’s schon schaffen. Vielleicht versuchst du
es auch einmal mit _unsrer_ Quelle –«

»Nicht um die Welt, Hedda! Das hab’ ich mir vorgenommen: diese ekelhafte
Quelle existiert für mich nicht! Am liebsten hörte ich gar nichts von
ihr.«

Hedda stand achselzuckend auf.

»Ich streite nicht mehr, Vater. Ich richte ja doch nichts aus. Tu mir
die Liebe und laß dich um die Mittagszeit anziehen. Ich habe August
schon Auftrag gegeben. Die Herrschaften vom Auschloß kommen sicher zur
Gratulation.«

Der Alte streckte beide Hände zur Decke empor.

»Ob sie mich nicht ruhig arbeiten lassen können!« stöhnte er.

»Nein,« erwiderte Hedda, »denn sie wissen, was sich schickt.«

»Papperlapapp – die Unsitte der Neujahrsgratulation ist längst aus der
Mode gekommen!«

»In Oberlemmingen noch nicht.«

»Opponiere nicht ewig!«

»Ich bin _dein_ Fleisch und Blut.«

»Dann gib mir ’nen Kuß!«

Hedda tat es lachend und eilte hierauf hinaus ins Freie.

Das war ein herrlicher Neujahrstag. Stahlschimmernd wölbte sich der
Himmel über der Landschaft. Der Schnee lag dicht, aber nicht allzu hoch,
und die Sonne gleißte über die weiße Pracht. Es flimmerte und glitzerte,
wohin sich das Auge wandte.

Hedda schritt durch den Garten und über den Dorfplatz, wo ein Dutzend
Kinder sich mit Schlittern belustigte. Jedes einzelne trug ein
Pelzkäppchen und einen roten Schal um den Hals. Als Hedda dies sah,
lächelte sie. Es waren ihre Weihnachtsgeschenke, die sie sich von den
Erträgnissen des Hühnerhofs abgespart hatte. Die Jungen zogen ihre
Kappen ab und grüßten höflich, als Hedda vorüberschritt, und der
kleinste und frechste rief ihr »Prost Neujahr!« nach, und dann jubelten
allesamt wild durcheinander ihr »Prost Neujahr!«

Der Verkehr zwischen Baronshof und Pastorat war von jeher ein herzlicher
und intimer gewesen. Namentlich den derzeitigen Pfarrer hatte der
Freiherr in sein Herz geschlossen. Es war dies eine eigentümliche
Erscheinung, der Seelenhirt von Oberlemmingen, der Doktor von Eycken. Er
stammte aus einem alten und angesehenen westfälischen Adelsgeschlecht.
Sein Vater war General der Kavallerie und eine Zeitlang Gouverneur von
Berlin gewesen, und auch der Sohn sollte, nachdem er sein
Abiturientenexamen bestanden, die militärische Laufbahn einschlagen. So
trat der junge Eycken denn in ein am Rhein garnisonierendes
Husarenregiment ein, in dem fast das ganze Offizierkorps gleich ihm
selbst katholisch war. Bald nachdem er Offizier geworden, erkrankte er
am Typhus und wurde zu seiner Genesung für längere Zeit nach dem Süden
beurlaubt. Während dieses Urlaubs verlebte er einige Monate in dem
damals noch päpstlichen Rom, und gerade hier, in der Siebenhügelstadt,
dem Sitze klerikaler Macht, vollzog sich ein merkwürdiger Umschwung
seines seelischen Empfindens. Eycken sprach sich niemals über die Gründe
aus, die ihn zu einer Zeit, da er noch ein halber Jüngling war, zur
Konversion veranlaßt hatten. Sein Vater erfuhr nur, daß er in Rom in
vertrautem Verkehr mit einem preußischen Edelmann gestanden hatte, der
Monsignore und Kämmerer des Papstes war, und über dessen Lebensführung
man sich in der Klatschgesellschaft der Ewigen Stadt allerhand erzählte.
Tatsache war jedenfalls, daß Eycken nach seiner Rückkehr gegen den
Willen seiner Familie, mit der er in der Folge auch vollständig zerfiel,
zum Protestantismus übertrat, seinen Abschied erbat und noch
nachträglich Theologie studierte.

Seit etwa fünfzehn Jahren war er Pfarrer von Oberlemmingen. Er liebte
die Stille des Landlebens und hatte sich deshalb nie um eine städtische
Stellung bemüht. Es schien auch, als besitze er keinen Ehrgeiz, denn
sonst hätte es ihm leicht werden müssen, bei der Vornehmheit seines
Namens, bei seinem tiefen Wissen und seiner hervorragenden rednerischen
Begabung Karriere innerhalb seines Berufs zu machen. Nun stand er am
Ausgange seines Lebens. Er war ein hoher Sechziger, freilich noch immer
eine überaus stattliche Erscheinung: groß und von breiten Schultern, mit
frischfarbigem Antlitz und leuchtenden Augen. In dichten weißen Locken
umwallte das Haar sein Haupt; Schnurrbart und Vollbart waren ebenfalls
schneeweiß und lang; so sah er wie einer jener alten Patriarchen aus,
von deren das gewöhnliche Menschenalter überragendem Leben voll Wohltun
und Köstlichkeit die Bibel erzählt.

Eycken war nie verheiratet gewesen. Eine alte Haushälterin führte ihm
die Wirtschaft. Man erzählte sich, daß er sehr reich sei. Seinem
bescheidenen und anspruchslosen Wesen und der Einfachheit seiner
Lebensführung merkte man das nicht an. Dagegen half er immer und mit
vollen Händen aus, wenn die Bedürftigkeit sich hilfesuchend an ihn
wandte. Zuwider war ihm nur der Formalismus des Beamtenwesens; die
Führung der Kirchenlisten, die Instandhaltung seiner Bücher und
Rechnungen, und was dergleichen noch mehr war, besorgte ihm der Kantor
gegen eine Entschädigung; mit dem Konsistorium hatte er am liebsten gar
nichts zu tun. Er war denn auch »oben« nicht sonderlich gut
angeschrieben.

Die Wirtschafterin öffnete Hedda und gratulierte mit tiefem Knicks zum
neuen Jahre.

»Danke, Frau Stege,« antwortete das junge Mädchen; »so Gott will, gehen
Ihre guten Wünsche in Erfüllung. Ist der Herr Pastor da?«

»Jawohl, gnädiges Fräulein, aber es ist Besuch bei ihm, – einer von den
jungen Herren aus dem Auschlosse.«

Also die Nibelungenrecken waren auch wieder da. Hedda bat, sie trotzdem
anzumelden.

Eycken hatte ihre Stimme schon gehört und erkannt. Er öffnete die Tür
rechtsseitig des Flurgangs und rief: »Immer herein, Fräulein Hedda! Sie
stören nicht! Doktor Schellheim ist bei mir und stöbert meine Bücher
durch.«

Hedda trat ein und brachte ihre Glückwünsche vor. Dann begrüßte sie
Gunther mit freundlichem Handschlag. »Seit wann wieder hier, Herr
Doktor?« fragte sie.

»Erst seit vorgestern, Baronesse,« erwiderte Gunther unter leichtem
Erröten; »aber ich will den Winter über aushalten, vielleicht sogar bis
in den Mai hinein –«

»Ah – Sie bleiben längere Zeit?«

»Ja, gnädiges Fräulein. Ich habe eine Arbeit zu vollenden, die mich sehr
in Anspruch nimmt, und zu der ich Ruhe und Stille brauche.«

»Nibelungenforschung?« fragte Hedda lächelnd.

»Nein, diesmal nicht. Ich habe durch Zufall eine ganz interessante
Entdeckung gemacht, die ich ausbeuten möchte ...«

Der Pastor nötigte zum Platznehmen. Hedda knüpfte ihr Pelzjackett auf.
Es war warm im Zimmer. Das Gemach war geräumig, und alle vier Wände
waren bis zur Decke hinauf mit Büchern gefüllt, auf einfache tannene
Regale gereiht. Vor einem dieser Repositorien stand eine Leiter, und
unten am Boden, am Fuße der Regale, lagen in unregelmäßigen Abständen
weitere Bücher verschiedenen Formats aufgeschichtet. Die durfte die
Wirtschafterin beim Reinigen des Zimmers nicht anrühren; der Pastor
pflegte vor Beginn einer Arbeit die dazu nötigen Nachschlagewerke
auszuwählen und ließ sie am Boden liegen, bis er sie brauchte. Übrigens
beherbergte das Gemach noch nicht die Gesamtbibliothek Eyckens; das
eigentliche Studierzimmer lag nebenan und war gleichfalls mit Büchern
gefüllt. Der Pastor besaß an zehntausend Bände.

Hedda schlug erstaunt in die Hände.

»Was studieren und schreiben Sie nur alles zusammen, Herr Pastor!« sagte
sie naiv. »Ihre Predigten können Sie doch unmöglich so stark in Anspruch
nehmen!«

»Nein, mein Kind,« erwiderte Eycken, »das tun sie in der Tat nicht. Ich
studiere zu meinem Vergnügen, wie andre Leute ins Theater gehen,
Konzerte, Bälle und Soireen besuchen. Es ist eine Angewohnheit.«

»Eine verständliche,« fügte Gunther hinzu, und sein Auge flog über die
Bücherreihen.

Hedda interessierte das. »Weshalb lassen Sie aber Ihre Studien nicht
veröffentlichen, Herr Pastor?« forschte sie weiter.

Eycken zuckte mit den Schultern.

»Ich bin ein merkwürdiger Mensch, liebe Hedda,« entgegnete er. »Für mich
hat eine Arbeit, wenn sie fertig und abgeschlossen vor mir liegt, den
Reiz des Interesses verloren. Oben auf dem Boden stehen ganze Kisten
voll Manuskripte, die ich seit Jahren nicht mehr angeschaut habe. Sterbe
ich einmal, so werden sie wahrscheinlich als Makulatur verkauft,
eingestampft und zu neuem Papier verarbeitet werden, auf dem vielleicht
ein Besserer unsterbliche Werke schreibt. Und das ist auch ein Trost.«

Hedda schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht,« sagte sie. »Wenn
ich etwas schaffe, von dem ich annehme, daß es nicht nur mich selbst,
sondern auch einen Teil der Mitwelt interessiert, dann ist es doch in
gewisser Weise egoistisch – Pardon, Herr Pastor –, es den andern
vorzuenthalten.«

»Richtig, Hedda,« erwiderte Eycken. »Es wäre egoistisch, wenn ich mir
von meinen Studien für Mit- und Nachwelt etwas verspräche. Aber das tue
ich nicht. Ich arbeite nur für mich; ich will auch in die Polemiken, mit
denen die zünftigen Gelehrten sich gegenseitig überschütten, nicht
hineingezogen werden.... Ich habe da vor langen – ach, vor langen
Jahren« – und ein wehmütiger Zug flog über sein schönes Greisenantlitz
– »in Neapel einmal einen Komponisten kennen gelernt. Der Mann war
reich, und wenn er eine Oper oder ein Orchesterstück vollendet hatte, so
mietete er sich ein Theater oder einen Konzertsaal und ließ sich sein
Werk allein aufführen. Nur er selbst, kein Zuhörer sonst durfte dabei
sein. Und niemals befriedigte ihn eins seiner Werke völlig. Und dann
packte er seine Partituren zusammen, beschwerte sie mit Steinen, ließ
sich in schöner Mondnacht in den Golf hinausrudern und versenkte sie in
das Meer.... Sehen Sie, das begreife ich. Ich bin auch nie zufrieden mit
dem, was ich geschaffen habe, und wenn ich dann an einen Punkt komme,
von dem aus ich nicht weiter kann, wo die Forschung aufhört und die
Hypothese beginnt – da breche ich ab und lege das Manuskript zu den
übrigen ...«

Man sprach noch hin und her über das Thema. Auch Gunther verfocht die
Ansicht Heddas, daß die ernsthafte Forschung gewissermaßen die Pflicht
habe, vor die Öffentlichkeit zu treten. Und dann sprach er von seiner
interessanten Entdeckung, die ihn gegenwärtig ganz in Anspruch nahm. Er
hatte auf der Königlichen Bibliothek in Berlin in einem
handschriftlichen Faszikel von Abhandlungen Melanchthons aus dem Jahre
1560 eine Sammlung alter Anekdoten gefunden, die auch fünfzehn zum Teil
noch unbekannte Faustgeschichten enthielten. Der Schreiber des
Manuskripts war ein früherer Mönch gewesen, nannte seinen Namen und gab
auch einzelne Daten aus seinem Leben, führte vor allen Dingen als Datum
der Niederschrift seines Handbuchs das Jahr 1565 an. Damit war ein
neuer Beweis dafür erbracht, daß man schon lange vor der Drucklegung des
ersten Faustbuchs von 1587 Faustanekdoten zu sammeln pflegte. Aber auch
auf die Entstehungsgeschichte der Faustsagen und auf das Historische der
Persönlichkeit Fausts warfen diese Aufzeichnungen ein neues Licht, die
geeignet schienen, eine kleine Revolution in der gelehrten Welt
hervorzurufen.

Gunther war bei seiner Erzählung in Eifer gekommen. Die Freude an dem
Funde teilte sich seiner ganzen äußeren Wesenheit mit. Hedda sagte sich,
daß er eigentlich ein hübscher Mensch sei. Er besaß ungemein lebhafte,
braune Augen unter einer hohen und klugen Stirn und einen schön
geformten Mund. Haar und Schnurrbart waren dunkelblond; auch die Figur
war hübsch, schlank und elegant. Typisch Gelehrtenhaftes hatte er nichts
an sich. Als er merkte, daß er fast allein mit Eycken sprach und Hedda
nur Zuhörerin war, errötete er wieder – das passierte ihm häufig – und
wandte sich mit einem Entschuldigungswort an das Fräulein zurück.

»Ich langweile Sie, Baronesse,« sagte er. »Mehr oder weniger sind wir
Leute von der Feder allesamt Egoisten. Und da ich weiß, daß der Herr
Pastor ein guter Melanchthonkenner und es erwiesen ist, daß Melanchthon
den historischen Faust –«

Er unterbrach sich und lachte.

»Sehen Sie, nun komme ich wieder in das Vortragende hinein, und ich
wollte doch von etwas anderm reden! Was sagen Sie dazu, daß Papa sich an
der Quellengeschichte beteiligt hat? Im Mai soll die feierliche Weihe
stattfinden.«

Eycken war Feuer und Flamme für die Sache. Er war ein begeisterter
Anhänger der Ferienkolonieen, für die er große Summen spendete, und trug
sich mit der Absicht, aus eignen Mitteln ein Krankenhaus für bedürftige
Kinder in Oberlemmingen zu errichten. Es war merkwürdig, daß gerade
dieser Mann, der unverheiratet durch das Leben gegangen, der Kinderwelt
eine so heiße Liebe und eine so große Barmherzigkeit entgegentrug. Es
war, als erschöpfe sich den Kleinen gegenüber die Güte seines einsamen
Herzens.

Er kannte die Bedenken des Freiherrn gegen eine praktische Ausbeutung
der Quelle und versuchte Hedda zu beweisen, daß ihr Vater im Unrecht
sei. Zumal dadurch, daß der Kommerzienrat das Geschäftliche der
Angelegenheit in der Hand halte, sei Gewähr für eine solide Entwicklung
des Unternehmens gegeben. Für die Möllers hatte er auch nicht viel
übrig.

Hedda und Gunther verabschiedeten sich gemeinsam. Als sie sich vor der
Gartentür die Hand reichten, fragte der junge Mann:

»Laufen Sie Schlittschuh, gnädiges Fräulein?«

»Leidenschaftlich gern,« antwortete Hedda, »und der Döbbernitzer See
bietet auch eine prachtvolle Bahn. Aber allein ist es langweilig.«

Gunther verneigte sich. »Es wird mir ein besonderes Vergnügen sein, Sie
begleiten zu dürfen,« sagte er. »Darf ich Sie gegen drei Uhr abholen? Es
ist heute so wunderbares Wetter.«

Sie zögerte einen Augenblick und bejahte dann dankend. Zu Fuß ging er
nach dem Auschlosse zurück, während Hedda noch nebenan den Kantor
aufsuchte, dessen Frau seit einigen Tagen bettlägerig war.

Beim Mittagessen sprach sie dem Vater gegenüber beiläufig von ihrer
Verabredung mit Gunther. Der Alte schwieg anfänglich und begann dann zu
räsonieren. Das sei unschicklich; man gebe sich nicht Rendezvous mit
jungen Herren. Er verstehe Hedda nicht – sie wisse doch sonst, was Takt
sei.

Sie verteidigte sich lebhaft.

»Ich weiß nicht, was du hast, Papa,« antwortete sie. »Ich bin kein
Backfisch mehr und fühle mich durch die Anwesenheit des Doktor
Schellheim eher geschützt als gefährdet. Allein Schlittschuh zu laufen,
verbietest du mir auch. Ich kann doch nicht das Leben einer Nonne
führen!«

Der Freiherr brummte etwas halb Unverständliches vor sich hin. Es klang
so, als sage er, er könne nun einmal die Schellheims nicht leiden. Hedda
schwieg, aber sie war verstimmt und verärgert. Sie hatte zum ersten Male
das Gefühl, als laste die Einsamkeit des Baronshofs wie ein Alp auf ihr.

Gunther war pünktlich. Er kam im Schlitten, mit einem Schimmelgespann,
das der Kommerzienrat erst vor kurzem gekauft hatte und dessen
silberbeschlagenes Geschirr hell blitzte. Hellstern ließ sich nicht
sehen, aber er hatte von seinem Arbeitszimmer aus die Auffahrt
beobachten können. Und er hieb wütend mit der geballten Faust auf den
Tisch.

Hedda war beim Nahen des Schlittens auf die Veranda getreten. Gunther
half ihr beim Einsteigen und hüllte sie mit diskreter Sorglichkeit in
das weiße Bärenfell, das als Decke diente.

Mit neidischer Miene schaute August dem eleganten Gefährt nach. Dann
glitt ein zustimmendes Schmunzeln über sein Gesicht. Er hatte gehört,
daß die Klingel im Zimmer des Freiherrn stark läutete, aber er beeilte
sich nicht. Vorsichtig klopfte er den Schnee von seinen Stiefeln ab, ehe
er in das Haus zurücktrat.

»Hast du keine Ohren?!« schrie der Freiherr ihn an.

»Ich kann doch nicht hexen, Herr Baron! Erst mußte ich dem gnädigen
Fräulein helfen!«

»Feuer in den Ofen!« kommandierte der Alte. »Soll ich vielleicht hier
erfrieren?«

August schaute auf das Thermometer, das am Pfeiler zwischen den Fenstern
hing.

»Sechzehn Grad,« sagte er. »Der Herr Baron werden sich noch so
verpimpeln, bis Sie nachher kein Lüftchen mehr vertragen können.«

»Halt ’s Maul und feure!« schrie Hellstern grob.

August wurde immer freundlicher; die Schnauzerei des Alten tat ihm
sichtlich wohl. Er kniete vor dem Ofen nieder und begann langsam die
eiserne Tür aufzudrehen. Sie quietschte und kreischte, daß Hellstern
aufstöhnte.

»Schmier doch die verdammte Tür einmal ein!« rief er.

August nickte nur, steckte erst ein paar Kiensplitter in Brand und schob
dann einige Scheite Holz hinterher. Schließlich blies er mit dicken
Backen in das Ofenloch, um die Flamme wach zu halten.

»Herr Baron,« sagte er plötzlich in fragendem Tone.

»Was ist los?!«

»Haben Herr Baron den Schlitten gesehen?«

»Ja – was sonst noch?!«

»Ach – ich meinte man bloß – die gnädige Baronesse sahen so stattlich
drin aus – und der Herr Doktor auch – ein hübsches Paar –«

Jetzt fuhr Hellstern im Ausschnitt seines Tisches herum, zornrot und
prustend vor Grimm. Seine Hand suchte nach irgend einem Gegenstande, um
ihn August an den Kopf werfen zu können. Aber er fand keinen.

»Raus!« schrie er. »Mach, daß du rauskommst! Wie kannst du dich
unterstehen, vom gnädigen Fräulein und dem – und dem da per ›hübsches
Paar‹ zu sprechen?! Ich verbitte mir deine Vertraulichkeiten! Ich habe
sie lange satt! Du kannst dich zum Teufel scheren! Am liebsten gleich!
Pack deine Sachen zusammen – pascholl!«

August blies noch ein paarmal in das Ofenloch und erhob sich dann
ächzend. Sein Gesicht sah überaus freundlich aus.

»Ich fang’ nu auch an, alt zu werden, Herr Baron,« erzählte er, ohne die
letzten Äußerungen seines Herrn irgendwie zu beachten. »Nämlich – wenn
ich mir bücke, dann knackt’s mir in allen Knochen. Und das Rheuma kommt
auch wieder. Na – nu kriegen wir ja die Quelle –«

Hellstern hob die geballten Hände hoch empor und schnaufte förmlich.

»Hat jemand je ein solches Untier gesehen!« rief er. »Die Quelle! Jetzt
fängt der auch noch davon an! Ersäuf dich in ihr! Mir soll’s recht sein!
Mach, was du willst! Aber geh nur ’raus! Ich kann dich nicht mehr sehen!
Du bist mir greulich –«

»Ich geh’ schon,« sagte August und nickte freundlich. Wenn der Herr ihm
nicht monatlich wenigstens dreimal kündigte, fehlte ihm etwas. Es mußte
alles seine Ordnung haben. Und dann ging er wirklich, zufrieden und
glücklich, und Hellstern machte sich wieder, noch immer schimpfend,
schnaufend und stöhnend, an seine Arbeit.

Der Schlitten sauste über die Schneebahn. Mancher im Dorfe, der zufällig
am Fenster stand, schaute ihm mit ähnlichem Lächeln wie August nach. Die
Bauern waren leicht geneigt, Paare zusammenzubringen; man munkelte schon
lange davon, daß das Fräulein vom Baronshof einen der beiden jungen
Herren vom Auschlosse heiraten würde.

Eine Viertelstunde hinter der Chaussee begann der Wald. Das war etwas
Köstliches. Ein Märchenwald – ein verzauberter Hain, der aus
leuchtendem Silber geschaffen zu sein schien. Auf jedem Ast und jedem
Zweige und jeder Tannennadel lag der Kristallreif des Winters. Es
flimmerte und glitzerte überall. Dicht am Wege standen, die Einfassung
bildend, in langer Reihe hochstämmige Birken. Ihre Kronen waren wie mit
Eis inkrustiert; ein glänzender Panzer hüllte sie ein. Dahinter dehnte
sich Tannenforst aus, und auf dem dicken Gezweige mit seinem schweren,
schwarzgrünen Nadelwerk lag noch der Schnee. Und wenn ein leiser Wind
kam, dann perlte der Schnee gleich tausendfachem Edelgestein zur Erde.
Hie und da hingen noch Eistropfen am Geäst, feine, dünne und zierliche,
die sich langsam auflösten zu fallenden Tropfen, und schwere, armdicke,
die wie aus Glas geformt erschienen. Selbst über die Moosschicht unter
den Tannen spann sich ein gleißendes Spitzenwerk von Reif und Eis. Dazu
heller Sonnenschein und blauender Himmel und eine köstliche
Friedensstimmung: ein tiefes, heiliges Schweigen ringsum.

Das Wiehern der Pferde und das Geläute der kleinen silbernen Glöckchen
am Geschirr schienen einzig und allein diese Stille zu stören. Aber auch
in dem lustig tönenden Klingklang lag etwas Harmonisches; es war die
Musik zu dem Waldmärchen. Die Schneedecken auf den Rücken der Pferde
blähten beim eiligen Laufe sich auf wie Segel im Winde. Eine helle
Dunstwolke umgab die Gäule, und der heiße Brodem, der ihren Nüstern
entströmte, jagte vor ihnen her.

Die beiden im Schlitten sprachen wenig. Das gleiche Gefühl der
Naturbewunderung hieß sie schweigen, bei beiden kam auch noch das
instinktive Empfinden dazu, durch den Kutscher gestört zu sein. Der
brave Mann ahnte das freilich nicht. Er saß in der ganzen gemächlichen
Fülle seiner Persönlichkeit hinten auf der Pritsche, bis obenhin in
seinen langen, hellgrauen Paletot geknöpft, einen mächtigen Pelzkragen
um den Hals. Das Gesicht war völlig regungslos; er war gut gezogen.

Und seltsam genug – während dieser Fahrt durch den Wald stieg in Hedda
mehrfach die Frage auf: war es vielleicht doch nicht in der Ordnung
gewesen, daß sie der Aufforderung ihres gefälligen Nachbars nachgekommen
war? An übertriebener Prüderie litt sie ebensowenig wie an zopfigem
Konventionalismus. Sie hätte nichts dabei gefunden, mit Gunther allein
meilenweit spazieren zu gehen. Und nun saß, eine merkwürdige #dame
d’honneur#, zur Schutzwehr auch noch der Kutscher hinter ihnen. Und
gerade das genierte sie so, daß sie gar nicht recht wußte, was sie
sprechen und welchen Ton sie anschlagen sollte. Sie fand selbst, daß das
lächerlich war, und fügte in Gedanken hinzu: aber es ist dennoch so.

»Der See,« sagte Gunther und wies nach rechts hinüber. Durch eine
Lichtung, durch die in breitem Strome der Sonnenschein wie eine Goldflut
floß, sah man eine Ecke des Sees, ein großes Stück blendendes Weiß.

»O weh,« gab Hedda zurück, »wir haben an den Schnee nicht gedacht!
Werden wir da überhaupt laufen können?«

Er nickte und lächelte dabei. »Die Bucht an der Försterei ist gefegt
worden,« entgegnete er. »Ich habe über Mittag zwölf Mann hingeschickt.
Es war nicht leicht, heute am Neujahrstage die Leute aufzutreiben.«

Hedda rümpfte unwillkürlich ein klein wenig die Nase. Das gefiel ihr nun
wieder nicht. Es klang so, als hätte er sagen wollen: mit Geld kann man
alles machen. Und dann ärgerte sie sich wieder über sich selbst; es war
klar, daß sich Doktor Schellheim bei dieser Bemerkung gar nichts gedacht
hatte.

Nun senkte sich der Weg und beschrieb einen kurzen Bogen nach links. In
der Schlucht lag der Schnee noch zu dichten Haufen. Der Sturm hatte mit
mächtigem Odem hineingeblasen, ihn hier fußhoch geschichtet und dort
wieder die braune Erde reingefegt.

Dann lichtete sich der Forst. Drüben lag, inmitten überschwemmter
Wiesen, die Försterei, und in lang geschwungener Kurve dehnte der See
sich aus. In der Ferne sah man die niedrigen Häuserreihen von
Döbbernitz, und auf der Höhe dahinter das Schloß, ein burgartiges altes
Gebäude, das noch aus der Zeit der Templer stammte und in dem jetzt der
Baron Zernin mutterseelenallein hauste, immer auf der Hut vor seinen
Gläubigern und den Gerichtsvollziehern, die ihm bös zusetzten.

Der Schlitten hielt. Gunther gab dem Kutscher den Befehl, langsam im
Walde umherzufahren und sich nach einer Stunde wieder einzufinden. Dann
wandte er sich an Hedda. »Darf ich Ihnen helfen?« fragte er und deutete
auf die Schlittschuhe, die sie am Arm trug.

Sie dankte und begann sich selbst die Schlittschuhe anzuschnallen.
Gunther hatte die Pelzdecke aus dem Wagen genommen und sie über einen
Baumstumpf am Seeufer gebreitet. Hedda setzte sich, aber sie war
ungeschickt.

»Ich werde doch helfen müssen!« rief Gunther lachend. Und schon kniete
er vor ihr; die Arbeit war schnell gemacht.

Ein eigentümliches Empfinden überschlich Hedda. Sie sah zum ersten Male
einen Mann zu ihren Füßen. Es war ein gewisser pikanter Reiz, der sie
durchströmte, aber dabei schalt sie sich töricht, wie vorhin, als die
Gegenwart des Kutschers sie genierte.

Beide flogen über das Eis. Sie waren gewandte Läufer. Unter dem Stahl
ihrer Sohlen klang die glitzernde Fläche leise metallisch; es war wie
ein fernes Singen. Das Eis war in weitem Umkreise blitzblank gefegt; es
lief sich prächtig.

Gunther hatte Hedda den Arm geboten, doch sie schlug vor, sich zunächst
einmal allein »auszutoben«. Es war ein entzückendes Bild, wie sie über
den hellen Spiegel sauste, in dem die Sonnenstrahlen sich leuchtend
brachen. Gunther, der sie in weit ausholenden Kurven umkreiste, wurde
nicht müde, sie anzuschauen. Sie hatte die Arme über der Brust
verschränkt und den Kopf ein wenig zurückgeworfen. Auf dem dunkelblonden
Haar saß die Pelzkappe; das Antlitz war lebhaft gerötet von der kalten
Luft, und die Augen blitzten im Wonnegefühl der eignen Kraft.

Ringsum lagen die Waldhänge unter weißer Schneedecke. Ein Schwarm Krähen
strich durch die Luft. Vom stählernen Blau des Himmels hob sich ihr
Gefieder haarscharf ab. Der See buchtete sich nach Döbbernitz zu in
schlankem Bogen ein. Man konnte nicht sehen, wo er endete; er verlor
sich zwischen den Bergen, die im Westen höher wurden. Eine weiße
Wolkenschicht hatte sich hier gebildet, dicht über dem Horizont, und so
sah es aus, als steige der kleine märkische Höhenrücken in weiter Ferne
zu ragenden Gletschern empor.

»Aufgepaßt!« rief Hedda plötzlich. Aber es war zu spät. Die Bogen der
beiden Läufer kreuzten sich; Hedda und Gunther sausten sich in die Arme.
Beide stürzten. Gunther war außer sich; er bat »tausendmal« um
Entschuldigung und wollte Hedda aufhelfen. Dabei fiel er zum zweiten
Male hin. Nun lachte Hedda fröhlich auf. Sie stand schon wieder auf
ihren Füßen und reichte Gunther die Hände.

»Halten Sie fest!« rief sie, – »so!« – und nun stand auch er.

»Wie war das gekommen?« fragte er verlegen, und sie lachte abermals.

»Mein Gott, wie soll es gekommen sein?« gab sie harmlos zurück. »Ich
taxiere, wir waren beide schuld. Aber was schadet es? – Haben Sie sich
verletzt?«

Er fühlte einen leichten Schmerz am Knöchel; eine Sehne mochte sich
gezerrt haben.

»Nur unbedeutend,« antwortete er; »es wird sich geben, wenn ich erst
wieder in Bewegung bin.«

Nun bat sie ihn, ihren Arm zu nehmen. So flogen sie von neuem über das
Eis.

»Geht es besser?« fragte Hedda.

»Ja – danke; ich fühle mich sogar außerordentlich wohl.«

Das Rot ihrer Wangen verdunkelte sich.

»Treiben Sie viel Sport?« fuhr sie fragend fort, mit Absicht das Thema
wechselnd. »Man findet das sonst nicht häufig bei Gelehrten – die
Herren pflegen nur ungern ihren Arbeitstisch zu verlassen.«

»Das ist bei mir allerdings auch der Fall,« entgegnete er; »aber ich
begann vor zwei Jahren, wie ich glaube, infolge von Überarbeitung, zu
kränkeln, und da raffte ich mich denn mit einem energischen Entschlusse
zu einer zweckmäßigeren Tageseinteilung auf. Das wurde mir anfänglich
schwer; sportliche Neigungen sind im Grunde genommen eine
aristokratische Domäne; sie liegen im Blut. Aber heute möchte ich sie
nicht mehr entbehren; ich behaupte, daß sie auch den Geist reger und
frischer erhalten.«

»Reiten Sie auch?«

»Ja – aber speziell zum Reiten komme ich weniger. Sie sind natürlich
eine begeisterte Amazone, Baronesse?«

»Ich kann es nicht leugnen. Es ist mir schwer geworden, mein Reitpferd
aufgeben zu müssen. Aber ich habe mich über so viel getröstet, daß mir
auch das keinen Kummer mehr macht.«

Sie kreisten in schwingenden Kurven nach dem Ufer zurück.

»Ich denke mir,« begann Gunther von neuem, »daß es Ihnen zuweilen recht
einsam auf dem Baronshof werden muß. Die Umgegend bietet meines Wissens
nicht allzuviel Verkehr.«

»Nein, sehr wenig. Papa ist das recht, – er ist ein Fanatiker der
Einsamkeit. Und ich muß sagen, daß ich das Wohlempfinden des Alleinseins
verstehe. Ich habe auch genug im Hause zu tun und kann über Langeweile
nicht klagen. Aber zuweilen sehne ich mich doch stark in die Welt
hinaus, vor allem nach neuen Anregungen; mir ist dann und wann, als
verengere sich mein Gesichtskreis mehr und mehr. Möglicherweise reise
ich im Februar oder März auf ein paar Wochen nach Berlin; ich freu’ mich
darauf.«

»Haben Sie Verwandte in Berlin?«

»Eine Tante, die mich alljährlich einladet, und der ich bisher
alljährlich abgeschrieben habe. Ich habe immer Sorge, den Papa allein zu
lassen. Aber nun kommt auch noch ein Vetter von mir nach der
Hauptstadt.«

Das interessierte Gunther besonders. Er horchte auf, als Hedda von
Herrn Axel auf Jarlsberg zu erzählen begann; sie sei neugierig, ihn
kennen zu lernen – er habe schon früher einmal dem Papa sein Bild
geschickt: ein schmales, vornehmes Gesicht mit einer kleinen Hiebnarbe
auf der rechten Wange.

Gunther biß die Zähne zusammen. Da sie von dem Vetter sprach, tat ihm
das Herz weh. Warum, warum? fragte er sich – sie kennt den Herrn Axel
ja noch gar nicht! Wie lieb mußte er das Mädchen gewonnen haben, daß ihn
schon die Erwähnung eines gleichgültigen andern mit Eifersucht erfüllte!

Aber nein, sagte er sich, dieser Vetter ist kein »gleichgültiger
andrer«. Ganz gewiß nicht! Er ist reich und gehört mit zur Sippe – das
fällt beides in die Wagschale.... Es war wie ein Angstgefühl, das dem
jungen Manne plötzlich die Kehle zuschnürte. Man hatte auch ihn schon
mit Heiratsplänen bestürmt. Wie es hie und da in Kaufmannskreisen Sitte
zu sein pflegt, war er auf dies und jenes Mädchen aufmerksam gemacht
worden, »gute Partieen« und meist hübsche und wohlerzogene Fräulein,
bereit, ohne nachzudenken dem die Hand zu reichen, den die Eltern
erwählt hatten. Aber er dankte für eine »gute Partie« in kaufmännischem
Sinne; er hatte das nicht nötig. Es war sein Traum, einmal in eine
wirklich vornehme Familie hineinzuheiraten. Das war seltsam genug bei
einer so ruhigen, verhältnismäßig abgeklärten Verstandesnatur wie
Gunther, bei einem Manne, der sich gut bürgerlich fühlte und im Adel
durchaus keine Menschenklasse sah, die höher stand als jene, der er
zugehörte. Und doch kam er nicht über diesen Gedanken hinaus; es war
eine Idee, an der er mit gleicher Zähigkeit festhielt wie seinerzeit an
dem Plane, studieren zu wollen. Denn auch der hatte schwere Kämpfe
gekostet; der Vater wollte, daß er die Fabrik in Manchester übernehme,
deren Betrieb dringend einer Vergrößerung bedurfte, und war unglücklich
darüber gewesen, daß Gunther sich einen so völlig aus der Sphäre
fallenden Beruf erwählte. Und vielleicht war es gerade das Bedürfnis,
aus dieser Sphäre herauszukommen, das ihn an dem Gedanken einer
»vornehmen« Partie festhalten ließ. Er war viel zu klug und zu
rechtschaffen vor sich selbst, um nicht die Tüchtigkeit und alle die
andern guten Eigenschaften der Kreise seiner Eltern billig anzuerkennen.
Aber es war immer dasselbe; die Interessengemeinschaft verdichtete sich
gewissermaßen zu bleierner Langeweile; sie wurde zu Fesseln, unter denen
man sich nicht zu regen vermochte.

So wenigstens erschienen Gunther die Verhältnisse. Er hielt sich deshalb
auch gesellschaftlich ziemlich zurück – schon um den immer
wiederkehrenden Fragen, wann er sich zu verheiraten gedenke, zu
entgehen. Und dann lernte er Hedda kennen. Er sträubte sich zunächst
gegen das Gefühl seines Herzens, obwohl er sich beim ersten Begegnen
zugestanden hatte: das wäre eine Frau, wie du sie dir wünschest. Aber
die Liebe erwachte stärker und wurde größer in der Zeit, da er Hedda
nicht sah. Er überlegte, ob er eine Werbung wagen dürfe. Und weshalb
nicht? sagte er sich. Über kleinlichen Adelsstolz ist man in unsern
Tagen hinaus; ich habe eine gute Karriere vor mir, bin wohlhabend und
jedenfalls kein Monstrum von Häßlichkeit.... Doch da er Hedda abermals
gegenübertrat, verlor er den Mut. Vielleicht lag es nur an ihrer äußeren
Erscheinung, daß sie einen so unnahbar stolzen Eindruck machte ...

Während er weiter an ihrer Seite über die Eisfläche glitt und zerstreut
mit ihr über hunderterlei plauderte, überlegte er nochmals und
ernsthaft. Der nahende Vetter hatte ihn erschreckt. Es war das beste,
ihm zuvorzukommen. Aber – nun kam die Verlegenheit. Was war richtiger:
ein Fußfall, ein rasches Geständnis, so eine Art Überrumpelung – oder
eine ruhige Aussprache der Väter. Das letztere war in Kaufmannskreisen
üblich; da hatten gemeinhin die Väter das entscheidende Wort zu
sprechen. Und auch hier, in seinem Falle, erschien es Gunther als das
würdigste. Er konnte unmöglich in Schnee und Eis vor ihr niederknieen
und ihr in der Kälte des Tages von der Glut seines Herzens sprechen. Das
dünkte ihm lächerlich. Die Situation eignete sich nicht zu intimen
Geständnissen – nein, ganz gewiß nicht. Ja, wenn es Sommer gewesen wäre
und er allein mit ihr im Walde, bei Sonnenuntergang und Vogelsang – da
hätte sich leichter der rechte Augenblick gefunden. Aber nicht jetzt;
auch abseits von sentimentaler Romantik gibt es Momente, in denen die
Poesie ihr unbedingtes Recht fordert ...

An all dies dachte Gunther mit der Peinlichkeit eines gewissenhaften
Gelehrten. Er war sogar stolz darauf, daß er sein Herz zu zügeln und
abzuwarten verstand. Er zwang sich, korrekt zu sein. Noch eins hielt ihn
davon ab, sich auf der Stelle auszusprechen. Er begann plötzlich heftig
zu niesen. Er mußte sich erkältet haben; er nieste ein dutzendmal
hintereinander, und nach einem kleinen Weilchen begann er von neuem; ein
Riesenschnupfen war da. Wäre es nicht schrecklich gewesen, wenn dieser
dämonische Niesreiz ihn mitten in seinem Geständnis überfallen hätte? –
Gunther legte sich diese Frage allen Ernstes vor; der Gedanke, komisch
zu wirken, war entsetzlich für ihn.

»Prosit!« sagte Hedda nach dem letzten Dutzend Nieser; »ich habe noch
immer die bäuerliche Angewohnheit, Gesundheit zu wünschen, und Papa
freut sich jedesmal darüber. Er niest oft und gern; er behauptet, das
befreie ihm den Kopf. Prosit, Herr Doktor! Sie haben sich einen hübschen
Schnupfen geholt.«

Gunther antwortete zunächst durch eine kleine Salve von Niesern. Dann
atmete er tief auf.

»Es ist gräßlich,« antwortete er. Und wirklich, es war ihm gräßlich,
dieses plebejische und prosaische Niesen, wo es in seinem Herzen
frühlingswarm war.

Hedda riet, nach Hause zu fahren. Doch noch war der Schlitten nicht
wieder zurück. Der Himmel verdunkelte sich langsam. Die stählerne Bläue
ging allgemach in ein sanftes Schwarz über. Nur im Westen war es noch
hell. Da hatte die Sonne einen Purpurmantel über den Horizont gehängt,
der mit goldenen Flocken verbrämt war. Er reichte bis an die weißgraue
Wolkenschicht, deren unterer Teil völlig durchleuchtet war und den
Flammenkragen dieses königlichen Mantels zu bilden schien.

Es war ein herrlicher Anblick. Gunther machte Hedda darauf aufmerksam,
und beide blieben, noch immer Arm in Arm, auf dem Eise stehen und
schauten in den Sonnenuntergang hinein. Ganz allgemach veränderte sich
das Bild. Der Wolkenrand zerfloß, als löse die glühende Lohe ihn auf.
Nun schoß das Goldlicht in langen Feuergarben in das Wolkengrau hinein
und spaltete es. Es strömte in hundert verschiedenen Farbentönen über
den ganzen westlichen Himmel und verlor sich nach dem Zenit zu in einem
zarten, langsam erlöschenden Violett ...

Gunther wurde es weich um das Herz. Der Dualismus in seiner Seele
drängte sich wieder vor: über den nüchternen Forscher gewann zuweilen
der leicht schwärmende Poet die Überhand. Jetzt hätte er sprechen
können.

»Wie schön,« sagte er halblaut. »Ist es nicht wahr, daß die Natur
zuweilen ganz neue, uns selbst unbekannte Harmonieen in uns erklingen
läßt? Daß sie uns neues Empfinden lehrt und ein eigentümliches
rhythmisches Denken?«

Hedda nickte. Sie wollte bejahend antworten, denn es dünkte sie richtig,
was Gunther sagte: auch ihr schien es bisweilen in der Versunkenheit
eines schönen Naturspiels, als formten sich ihre Gedanken unbewußt zu
gebundenem Ausdruck, und als spüre sie etwas Ungeahntes in den Tiefen
der Seele. Aber da wollte die Bosheit des Schicksals, daß der arme,
verschnupfte Gunther abermals niesen mußte, und zwar gewaltig, den
ganzen Menschen erschütternd, vier-, fünfmal und tränenden Auges. Und
diese Explosion verlegte die Gedankenreihen Heddas; sie entgegnete an
Stelle des Gewollten mit energischer Stimme:

»Lieber Doktor Schellheim, – ich denke augenblicklich gar nichts
weiter, als daß Sie schleunigst nach Hause fahren und einen heißen Tee
trinken müssen. Da kommt der Schlitten! Machen wir kehrt!«

Entgeistert und mit betrübtem Gesicht gehorchte Gunther. Heimlich
verfluchte er seinen Schnupfen; er war ein Unglücksmensch.

Unter fröhlichem Läuten ging es durch den Wald zurück. Der schaute jetzt
anders aus als bei der Herfahrt im Sonnenschein. Die tiefer fallende
Dämmerung ließ den Schnee einförmig und grau erscheinen. In der
Wiesentrift rechter Hand brodelten die Nebel auf und zogen wie
zerrissene Schleier zwischen den Stämmen hindurch. Und obwohl am Himmel
sich nur ein kleiner Schwarm heller Wölkchen gesammelt hatte, perlte
doch ein zarter Schnee durch die Luft und näßte die Gesichter der
beiden.

Gunther ließ erst auf den Baronshof fahren und setzte Hedda ab. Sie rief
ihm ein freundliches: »Schön’ Dank und gute Besserung!« zu und stieg die
Treppe zur Veranda hinauf. Dann klingelte das Gespann weiter. Gunther
nieste und ärgerte sich; er war aus der Stimmung gekommen.



Sechstes Kapitel


Der zweite Tag im neuen Jahre war ein Sonntag. Seit der Frühe hatte es
stark geschneit. Auf dem Anger lag das weiße, flockige Naß fußtief.
Trotz des Feiertags war die halbe Gemeinde am Platze, Schnee zu
schippen, damit wenigstens der Weg zur Kirche frei war. Es ging lebhaft
und heiter zu bei der Arbeit. Die Schnapsflasche des alten Maracke
kreiste in der Runde, und dann mußte Anton Tengler nach dem Kruge
springen, sie neu füllen zu lassen.

Mitten in der Arbeit hielt man plötzlich inne und blickte auf. Albert
Möller schritt über den Dorfplatz, in hohen Wasserstiefeln und Pelz, und
neben ihm ein Fremder, ein großer Herr mit einem Zwicker auf der Nase
und in langem Kaisermantel. »Schlippermilch« wollte wissen, daß das ein
Baumeister aus Frankfurt sei, der Kompagnon Alberts. Man zerbrach sich
den Kopf, was der Fremde wolle. Seine scharfen grauen Augen spähten
unter den goldumränderten Gläsern rastlos umher. Von Zeit zu Zeit
blieben die beiden stehen und sprachen halblaut miteinander, lebendig
gestikulierend, hierhin und dahin weisend. Und dann schritten sie an den
arbeitenden Büdnern vorüber; der Baumeister grüßte tief und höflich,
Albert nickte nur.

Sicher handle es sich wieder um die Quelle, meinte der junge Raupach,
und alle stimmten zu. Noch im Herbst war die Quelle »gefaßt« worden,
ohne sonderliche Feierlichkeit; Albert hatte dies mit einigen Leuten
allein besorgt. Aber man sprach davon, daß zu der Einweihung im Mai auch
der Regierungspräsident kommen wolle, für die meisten Bauern eine
mystische Persönlichkeit, vor der sie großen Respekt hatten. Und dann
hatte das Dorf den ganzen Winter hindurch eine Unzahl fremder Leute
gesehen. Eines Tages waren drei Ärzte erschienen, die ihre Nase überall
hinstecken mußten, und später wieder ein jüdisch aussehender Herr, der
mit dem Kommerzienrat durch Oberlemmingen fuhr, und schließlich eine
ganze Kommission, die unter Anführung von Albert im Buchenhain auf der
Grauen Lehne allerhand Abmessungen vornahm, Pfähle einschlagen und
Wegstreifen durch Pflöcke bezeichnen ließ.

An den Sonntagabenden, wenn das Schankzimmer im Kruge sich zu füllen
begann, wurde fast nur von der Quelle gesprochen. Eine brennende Neugier
erfüllte alle, zu wissen, was denn nun eigentlich werden würde. Aber die
Möllers waren zurückhaltend; sie sprachen nur in Andeutungen, und
höchstens sagte Fritz dann und wann, man solle nur abwarten,
Oberlemmingen würde reich werden, oder, das mit der Quelle sei eine
große Sache, und was der schmunzelnd hingeworfenen Bemerkungen mehr
waren. Mit dem Reichwerden waren die Bauern sehr einverstanden;
geldgierig waren sie alle. Doch _wie_ ihnen die Quelle zu diesem
Reichtum verhelfen sollte, darüber zerbrachen sie sich die Köpfe.

Eines Tages versammelten sie sich vergeblich vor dem Kruge; sie wurden
nicht eingelassen. Fritz trat lachend vor die Tür und erklärte ihnen,
die Wirtschaft sei für ein paar Tage geschlossen, er wolle das Haus
renovieren lassen. Das erregte einen förmlichen Aufstand im Dorfe. Aus
den »paar Tagen« wurden ein paar Wochen. Die Bauern hatten keine Kneipe
mehr. Da die Möllers sie aber nicht gänzlich als Kunden verlieren
wollten, so wurde ein leerstehender alter Stall als Schankstube
eingerichtet. Und wenn die Bauern fragten: »Sind die Handwerker denn
immer noch im Hause?« so nickte Fritz und erwiderte, es sei gar zu viel
zu tun. Tatsächlich war aber bald nach Weihnachten schon wieder alles in
Ordnung; Fritz wollte nur nicht, daß die Bauern ihm die neutapezierte,
gedielte und gebohnerte Schankstube wieder verschmutzten – der Stall
war für sie ebenso gut. Da konnten sie spucken, wohin sie wollten, und
wenn einer einmal ein Glas Bier umwarf, so kam es auch nicht darauf an.
–

Auf dem Auschlosse kam es an diesem Sonntag schon beim Morgenfrühstück
zu einer erregten Szene.

Gunther erschien etwas blaß und übernächtig in der Halle, setzte sich
mit kurzem Gruße zu den Eltern an den Tisch und schickte den Diener
hinaus.

»Entschuldigt,« sagte er, »aber ich möchte ein paar Worte allein mit
euch sprechen!«

Der Kommerzienrat zog die nach dem Gebäck ausgestreckte Hand wieder
zurück, und auch die Rätin schaute erstaunt auf.

»Ja,« meinte Schellheim, »was gibt’s denn? Hoffentlich nichts Fatales!«

»Nein, Papa,« erwiderte Gunther, »ich will nur euern Rat hören. Es
handelt sich um eine Lebensfrage für mich, um meine Zukunft ...«

Das Mutterauge sieht immer scharf. Die Rätin reckte den schmächtigen
Oberkörper, und mit forschendem und sorgendem Ausdruck ruhte ihr Blick
auf dem Sprechenden.

»Eine Ehrensache?« fragte Schellheim ängstlich.

»Ich glaube eher – eine Herzenssache,« fügte seine Frau hinzu.

Gunther nickte. »Ja, Mutter, so ist’s. Ich – ich habe noch nie an das
Heiraten gedacht, ihr wißt’s ja selbst, und gelacht, wenn mir der und
jener mit Plänen und Anerbietungen kam. Ich hasse den Eheschacher. Ich
möchte frei wählen können –«

»Mach’s kurz,« fiel der Vater ein; »wer ist’s?«

»Fräulein von Hellstern, Papa.«

Einen Augenblick herrschte tiefes Schweigen am Tische, dann sprang der
Rat erregt empor und warf seine Serviette auf den Stuhl.

»Daß du einmal irgend eine Verrücktheit begehen würdest, wußte ich ja,«
sagte er hart. »Praktischen Erwägungen bist du niemals zugänglich
gewesen. Aber sich nun gerade –«

Er brach ab. »Bist du mit der Dame schon einig?« fragte er, vor Gunther
stehen bleibend.

»Nein, das nicht, Papa, aber ich habe die Hoffnung, daß Fräulein Hedda
meine Werbung annehmen wird – sonst würde ich es nicht wagen. Indessen
– ich wollte zunächst einmal mit euch sprechen.«

»Da hast du sehr recht getan. Und wenn du meinen Rat hören willst,
Gunther, so schlag dir die Sache aus dem Kopf. Das ist nichts für dich
– und erst recht nichts für uns. Das –«

Er wühlte mit den Händen in seinem Haar und lief erregt in der Halle auf
und ab.

Nun nahm auch die Rätin das Wort.

»Ich habe nur wenig zu sagen,« bemerkte sie mit ihrer weichen, zart
klingenden Stimme. »Wenn Gunther das Mädchen liebt, soll er’s versuchen.
Ich müßte lügen, wollte ich nicht offen gestehen, daß mir Fräulein von
Hellstern sehr sympathisch ist.«

»Sympathisch!« schrie der Rat. »Was das nun wieder heißen soll?! Bei
einer solchen Frage ist doch wahrhaftig _mehr_ zu überlegen! Ich bitte
dich, liebe Frau, sieh ein, daß es sich in gewissem Sinne auch um _uns_
handelt. Jawohl, um _uns_! Würde es dir lieb sein, wenn dich deine Frau
Schwiegertochter über die Achsel ansieht? Wenn sie eine meilenweite
Kluft zwischen Mutter und Sohn legt?« Und Schellheim breitete beide Arme
aus, als wolle er das Unermeßliche dieser Kluft andeuten.

Gunther widersprach ernsthaft. Davon könne gar keine Rede sein. Wenn
Hedda Mitglied der Familie geworden wäre, so würden ihr gütiges Herz und
ihr feiner Takt schon den rechten Ton des Verkehrs mit den Eltern
finden.

»Ich bitte dich, Papa, laß solche Bemerkungen,« schloß er und erhob sich
gleichfalls. Eine schwere Falte zeigte sich auf seiner Stirn.

»Ah was,« entgegnete der Rat unwirsch, »du wirst mir schon erlauben
müssen, das auszusprechen, was ich denke! Sei vernünftig, Gunther! Ich
glaube gleich dir, daß die Hellsterns deine Werbung nicht zurückweisen
würden. Sie sind arm, und der Baronesse fehlt jede Gelegenheit zu einer
passenden Partie. Ich habe ja auch wirklich nichts gegen die Leute! Es
ist nichts weiter gegen sie zu sagen, als daß sie adelsstolz und
unbemittelt sind. Beides sind keine Vorwürfe. Ihr Name ist gut,
glänzend, geachtet; sie haben ein Recht, darauf stolz zu sein. Für ihre
Armut aber können sie nichts. Und dennoch muß dies beides bei der
geplanten Verbindung mit in Betracht gezogen werden. Bitte – ich rede
noch – ich will aussprechen! In Betracht gezogen werden, sagte ich.
Zunächst die Geldfrage. Du wirst einmal reich – dem Anschein nach ist
diese Frage also minderwertiger Natur. Aber doch nur dem Anschein nach.
Denke an die Zukunft! Ihr könnt eine ganze Herde Kinder kriegen, und wie
zersplittert sich da das Vermögen! Fräulein Hedda bringt ja nichts mit!
Den Baronshof – na, was ist denn der wert?!«

»Papa, ich bitte dich –« und Gunther hielt es für gut, den
Zukunftsperspektiven des Rats gegenüber ein heiteres Gesicht zu machen.
Aber Schellheim war noch nicht zu Ende; er winkte abwehrend mit der
Hand.

»Weiter,« sagte er, »die zweite Frage. Zugestanden, daß Fräulein Hedda
das Herz auf dem rechten Fleck hat. Da ist aber noch der Alte. Vor dem
graul’ ich mich geradezu. Er wird _auch_ nicht nein sagen, wenn ich für
dich anhalte – i, wo wird er denn –, aber ich fürchte, wir werden
nicht gut zueinander passen. Ich habe das jetzt schon gemerkt. Er hat
etwas gegen uns Kaufleute – weniger gegen das Bürgertum im allgemeinen,
wie gerade gegen uns Kaufleute. Ah bah – ich sage dir, Gunther, es
_ist_ so! Der alte Groll der Landwirtschaft gegen die Industrie! Er kann
auch nicht verwinden, daß ich ihm seine Klitsche abgekauft habe. Und –
und – kurzum, ich will dich nicht beeinflussen, aber ich rate dir: sei
vernünftig und überlege!«

Die Rätin hatte sich nicht wieder in die Unterhaltung gemischt. Sie saß
schweigend am Teetisch und rührte mit dem Löffel in ihrer Tasse. Aber
plötzlich legte sie den Löffel hin und wandte sich auf dem Stuhle um.

»Da ich die Mutter bin, so ist mir vielleicht auch noch ein Wort
gestattet,« sagte sie. »Ich kann deine Gegengründe nicht anerkennen,
Alfred; ich will dich nicht beleidigen, ich muß dir aber sagen, daß ich
sie lächerlich finde. Wenn es sich um das Glück eines unsrer Kinder
handelt, kommen _wir_ immer erst in zweiter Reihe. Nimm wirklich an,
Fräulein Hedda und ihr Vater seien hochmütig und adelsstolz: wenn ich
weiß, daß Gunther glücklich ist, lass’ ich mich schon über die Achsel
anschauen, und ich werde die Hand auf das Herz pressen, wenn es dabei
gar zu sehr zuckt. Im übrigen stimme ich aber der Ansicht Gunthers zu:
das Fräulein hat viel zu viel Takt, um zwischen uns und den Ihren
gesellschaftliche Unterschiede zur Betonung zu bringen. Und schließlich
das Geld. Gunthers Kinder werden auch einmal erwerben lernen! Willst du
bis in das dritte und vierte Glied hinein sorgen?«

Als sie ausgesprochen hatte, erschrak sie fast über ihre Kühnheit. Sie
war an das Sich-beugen und -ducken gewohnt. Ein flammendes Rot huschte
über ihre Wangen; sie wandte sich wieder dem Tische zu und griff
abermals nach dem Teelöffel.

Gunther war hinter sie getreten und drückte einen Kuß auf ihren
Scheitel. »Ich danke dir, Mutter,« sagte er; »du hast recht.«

Der Rat zuckte mit den Schultern.

»Es fällt mir nicht ein, den Tyrannen spielen zu wollen,« bemerkte er,
mit Absicht ein wenig leichthin. »Auch mir steht das Glück meiner Kinder
über der eignen Person – jawohl, teure Gattin, und ich bitte, daß du
davon Notiz nimmst! ... Bleibst du nach reiflicher Überlegung bei deinem
Vorhaben, Gunther, so teile es mir am Nachmittag mit. Langes Fackeln
liebe ich nicht. Hellsterns sind heute abend hier – da wird sich
Gelegenheit finden, mit dem Alten ein Wörtlein unter vier Augen zu
sprechen.«

Er ging, aber man merkte an dem heftigen Zuschlagen der Tür, daß sein
leichter Ton Komödie war.

Die Rätin war still sitzen geblieben. Sie rührte noch immer mit dem
Löffel in ihrem erkalteten Tee herum, als wolle sie durch diese Bewegung
das leise Zittern ihrer Hände verdecken. Doch Gunther sah, wie es um
ihre Mundwinkel zuckte, und sah auch die schwere Träne, die über ihre
Wange rann.

»Mutterchen,« fragte er leise, »warum weinst du denn?«

Sie blickte zu ihm auf, und es lag ein so schmerzlich weher Ausdruck in
ihrem Auge, daß Gunther ein eisiges Schauern in seinem Rücken zu spüren
meinte. Es war ihm, als habe er zum erstenmal in die Seele dieser armen
Frau geschaut, die das Herzensglück, das sie für ihre Kinder erwünschte,
nie selbst kennen gelernt hatte.

Er ließ sich vor ihr nieder, küßte ihre Hände und gab ihr alte, liebe,
fast vergessene Schmeichelnamen aus seiner Kinderzeit. Fest drückte sie
ihren Liebling an sich, aber die Tapferkeit, die sie auf dem langen,
öden und traurigen, staubgrauen Wege ihrer Ehe aufrecht erhalten hatte,
brach: sie konnte den Tränen nicht mehr wehren, die unaufhaltsam
flossen.

       *       *       *       *       *

Die Kirchglocken läuteten noch immer. Der Schneefall hatte nachgelassen,
und in der reinen, sonnendurchströmten Winterluft tönte der Klang der
Glocken fast durch das ganze Tal.

Auch der Freiherr hatte sich entschlossen, einmal wieder das Gotteshaus
zu besuchen. Er war, obwohl ihm eine gewisse naive, von Skrupeln und
Grübeln freie Frömmigkeit eigen, niemals ein eifriger Kirchgänger
gewesen, und in letzter Zeit hatte er sich seiner Ischias wegen so wie
so kaum vom Platze rühren können.

Heute aber fühlte er sich wohler. Der alte Klempt hatte ihm vor einigen
Tagen eine Einreibung gebracht, die Tante Pauline nach einem Rezept
ihrer Großmutter zurechtgebraut, das sie zufällig zwischen allerhand
alten Sachen beim Aufräumen ihrer Truhe gefunden hatte. Es waren
Ingredienzien dabei, die man heute kaum noch dem Namen nach kennt, wie
zum Beispiel »Bleygötte, ein halb Pfund fein gepulvert«, und »ein
Viertelpfund geschälte Alantwurzel«, aber Tante Pauline wußte schon
Bescheid, und sie entsann sich auch, daß ihr Großvater, der schon völlig
gelähmt gewesen war, kraft dieses Mittels wieder hatte gehen lernen. Und
da hatte sie gemeint, es könne nicht schaden, wenn der Herr Baron es
auch einmal probiere, und hatte sich an die Arbeit gemacht. Schwer war
nur eins zu beschaffen gewesen, nämlich das Weiße eines Eis von einer
schwarzen Henne. Die Langheinrichen besaß allerdings ein schwarzes Huhn,
aber das legte derzeitig nicht. Glücklicherweise hieß es in dem Rezept:
»oder wenn du dies nicht hast, nimm statt dessen Bofist und menge ihn
mit ein klein wenig halb verbrannter Brotrinde in einem viertel Quart
starkem Branntwein; doch muß der Branntwein vierundzwanzig Stunden
vorher an einem warmen Ort gestanden haben, in einer Flasche, die du mit
einer Blase zubinden mußt, in welche du eine Stecknadel steckst.« Das
hatte Tante Pauline denn auch getan.

Der Freiherr hatte Klempt sehr schön gedankt, und als August des Abends
mit der Einreibung kam, hatte er den braven Diener hinauswerfen wollen.
Er verbäte sich, ihm mit dem »Geschmurgel« an den Leib zu kommen.
Indessen ein paar Tage später, als die Schmerzen gerade sehr heftig
waren, hatte Hellstern von selbst von der Klemptschen Einreibung
angefangen. »Hol mal den Jux her,« sagte er zu August; »hilft’s nichts,
ist’s noch so!« Und freudestrahlend lief August davon, um die kostbare
Mixtur zu holen. Er rieb den Alten so kräftig ein, daß Hellstern
gewaltig schimpfte, fluchte und wetterte, was für August aber eine wahre
Wohltat zu sein schien, denn sein Gesicht wurde währenddessen immer
freundlicher. Und dann packte er den Baron in das Bett, wickelte ihn
gehörig ein und legte zwei Wärmflaschen in die Kissen, denn Klempt hatte
betont, daß der gnädige Herr nach der Einreibung gehörig schwitzen
müsse.

Und merkwürdig genug – als Hellstern am andern Morgen aufstand, fühlte
er sich erheblich wohler. Vielleicht hatte nur die kräftige Massage
Augusts gewirkt, vielleicht auch die Schwitzkur – Tatsache war, daß der
Baron sich freier und ohne starke Schmerzen bewegen konnte. Das machte
ihn ganz glücklich. Dörthe mußte zu ihm kommen; die Einreibung von
Vatern sei zwar nicht viel wert, aber für den guten Willen wolle er der
Dörthe einen Taler schenken, und zwar einen mit der Inschrift: »Segen
des Mansfelder Bergbaus«. Dörthe war so gerührt, daß sie erst dem Alten
die Hand küßte und dann zu Hedda lief, ihr die Geschichte zu erzählen
und ihr gleichfalls die Hand zu küssen. Schließlich erfuhr auch August
von der Sache, und sie betrübte ihn; wenn der Alte einen Taler
verschenke, meinte er, so werde er sicher nicht mehr lange leben. –

Hellstern schritt am Arme Heddas zur Kirche. Es hatte bereits zum
dritten Mal geläutet, und von allen Seiten strömten die Leute herbei,
grüßten den Baron mit einer gewissen freundlichen Unterwürfigkeit,
blieben wohl auch, Front machend, vor ihm stehen und verbeugten sich
ungeschickt. Vor der Kirchhofstür hielt der Schlitten des
Kommerzienrats. Die Herrschaften waren bereits ausgestiegen und sprachen
mit einem hochgewachsenen Herrn in schwarzbraunem Ulster und
Zylinderhut.

Hellsterns Fuß stockte plötzlich. »Was Teufel,« sagte er halblaut, »ist
das nicht Klaus?!«

Er schaute zu Hedda auf, schien aber nicht zu bemerken, daß sie erblaßt
war.

»Ja,« erwiderte sie nickend, »es ist Klaus.«

Der Alte unterdrückte einen Fluch.

»Skandalös, daß der sich überhaupt noch sehen läßt!« murrte er. »Wir
grüßen, Hedda, doch ohne ihn anzusprechen!«

Und sie gingen vorüber. Aber der Vorsatz des Alten war unausführbar.
Kaum hatte Schellheim ihn gesehen, so schoß er auf ihn zu.

»Mein Kompliment, lieber Baron! Freu’ mich von Herzen, Sie so rüstig zu
sehen.... Denken Sie, ich wußte ja gar nicht, daß Sie mit Herrn von
Zernin verwandt sind –«

»Doch – ja, mein verehrter Herr Rat –«

Ȇber einen Scheffel Erbsen, pflegt man bei uns zu sagen, wenn man eine
weitläufige Verwandtschaft bezeichnen will,« warf der Herr im
Zylinderhut lachend ein. Dann bot er Hellstern die Hand. »Tag, Onkel!
Was macht die Chronika derer von Hellstern?« Und schon stand er vor
Hedda. »Tag, gnädigste Cousine – seit Ewigkeiten nicht gesehen!
Freilich, ich sitze wie ein Maulwurf in meinem Bau und schleiche mich
höchstens einmal nachtsüber auf den Anstand, wenn du längst in seligem
Schlummer liegst. Wie geht’s?«

»Ich danke dir, gut,« antwortete sie und wandte sich an Gunther, der mit
abgezogenem Hute an sie herangetreten war.

Aus der Kirche ertönte bereits Orgelklang. Man schritt über den
Friedhof, und bis zur Kirchentür sprach der Kommerzienrat in seiner
lebhaften Art in Hellstern hinein. Hedda war ängstlich geworden. Sie
hörte nur vereinzelte Brocken, vernahm aber wiederholt das Wort
»Quelle«, und sie sah, daß das Gesicht ihres schweigsam zuhörenden
Vaters immer röter wurde. ›Diese Quelle wird uns allen noch Unglück
bringen,‹ dachte sie.

Die Hellsterns besaßen in der Kirche ein Chor, hatten es aber der
Familie des Kommerzienrats überlassen und dafür die Sitze unten neben
der Sakristei genommen, die für die Besitzer des Auguts reserviert
waren. Der Baron vermied es seines Leidens wegen gern, Treppen zu
steigen.

Die Kirche war groß, doch kahl und dürftig im Innern. In dieser mehr
als einfachen Ausstattung fiel der neue rote Behang über Altar, Kanzel
und Taufbecken, den Schellheim gestiftet hatte, um so mehr auf. Er
leuchtete weithin, wie das Wort der Verheißung, das von dieser heiligen
Stelle ausging.

Von den Sitzen der Hellsterns aus konnte man das Augutchor übersehen.
Die Rätin saß zwischen ihrem Gatten und Gunther, dann blieben drei
Stühle frei, und in der Ecke hatte sich Herr von Zernin niedergelassen.

Sein Erscheinen in der Kirche erregte Aufsehen. Aller Blicke richteten
sich auf ihn. Besonders die jungen Mädel schienen sehr interessiert zu
sein; Liese Braumüller schielte über ihr Gesangbuch fort alle Augenblick
nach dem Chor hinauf.

Hedda sang mit ihrem schönen Alt das Einleitungslied mit. Ihr Blick
wagte sich nicht von dem Buche fort. Eine leichte Röte lag auf ihren
Wangen; sie fühlte, daß Zernin sie beobachtete. Innerlich grimmte sie
das; seine unverfrorene Keckheit schien die alte geblieben zu sein –
trotz allem. Dieses »trotz allem« fand Widerhall in ihrer Seele. Während
ihre Lippen das Lied sangen, war es ihr, als wiederhole sie immer und
immer wieder das »trotz allem«. Sie war nervös, und um sich abzulenken,
schaute sie auf den Altar, vor den soeben der Pastor trat.

Eycken neigte das graue Patriarchenhaupt und betete, das Gesicht dem
Kruzifix zugeneigt, dessen weißer Marmor sich lichthell von dem roten
Untergrunde abhob, mit dem Rücken gegen die Gemeinde. Dann wandte er
sich um und blieb aufrecht stehen, wartend, bis das Eingangslied zu Ende
sein werde. Und jetzt schweifte seiner Gewohnheit gemäß sein Auge mit
raschem Prüfen durch das Kirchenschiff. Die Gemeinde schien vollzählig
versammelt zu sein – Eycken nickte befriedigt. Plötzlich glitt über
sein Gesicht ein Ausdruck von Erstaunen; Hedda senkte wieder den Blick
auf das Gesangbuch, denn nun wußte sie, daß das Auge des greisen
Pfarrers im nächsten Moment sie selbst treffen würde. Und so war es in
der Tat, doch Eycken schaute nur flüchtig, einen leichten Wolkenschatten
auf der Stirn, zu Hedda hinüber und öffnete dann sein Buch zum Beginn
der Liturgie ...

Es war kalt in der Kirche. Die Sonne wärmte nicht, sie leuchtete nur.
Sie füllte den kahlen Raum mit einem weißgelben Schimmer, der in den
Winkeln der Sakristei zu verwischtem Graugrün wurde. Auf einer der hell
getünchten Wände lagen die Schatten der Bleiumfassung in den Fenstern,
ein leise zitterndes Gitterwerk von unbestimmten Konturen.

Während der Liturgie versuchte Hedda, sich andächtig zu sammeln. Aber es
war vergebene Mühe. Das unerwartete Wiedersehen mit dem, der kaum eine
Wegstunde vom Baronshof entfernt wohnte und für sie dennoch so gut wie
verschollen war, hatte sie stark erregt. Gegen ihren Willen rechnete sie
nach: wann hatte sie Klaus Zernin zum letztenmal gesehen? Es war lange
her – über ein Jahr. Und als reiße plötzlich ein Vorhang vor ihren
Augen, so deutlich trat die Abschiedsstunde in ihr Gedächtnis zurück.
Mit allen Einzelheiten, auch den rein äußerlichen der Szenerie: der
Eichenschonung am Forsthause, die im ersten Grün des jungen Lenzes
prangte, dem Blättermoder am Boden, in dem der Fuß bis an die Knöchel
versank, und dem Nebelmeer, das über die Wiesen brodelte. Und sie
glaubte auch seine Stimme zu hören.... Sie hatten »vernünftig«
miteinander gesprochen und ruhig und leidenschaftslos. So schien es. Sie
waren sich klar darüber geworden, daß sie sich nicht angehören konnten
– aus hundert stichhaltigen Gründen. Und deshalb wollten sie sich nicht
mehr sehen. Das war um so weniger schwer durchzuführen, als Hellstern
dem leichtsinnigen Neffen längst seine Schwelle verboten hatte; er
wollte mit dem, der »seinen Namen schändete«, keine Gemeinschaft haben
und ahnte dabei nicht einmal, wie tief sich das Bild des wilden Junkers
in das Herz seiner Tochter gegraben hatte.... Mit einem Händedruck waren
sie voneinander geschieden, und Klaus wie Hedda hatten vermeint, das
würde der letzte gewesen sein. Denn damals schon trug sich Zernin mit
dem Gedanken, auszuwandern. Er konnte sich auf dem verwüsteten Erbe
nicht länger halten; um ihn und über ihm brach alles, alles zusammen ...

Hedda hatte seit jener Abschiedsstunde in der Tat nichts mehr von ihm
gehört. Selbst der Klatsch fand in die Einsamkeit des Baronshofs keinen
Eingang. Aber daß Klaus sich so unerwartet wieder unter den Menschen
zeigte, schien zu beweisen, daß es ihm besser gehen mußte. Auch sein
Äußeres sprach dafür: das Selbstbewußtsein, mit dem er auftrat, der alte
Ausdruck übermütiger Keckheit auf seinem Gesicht. Wie alt war er jetzt?
Und wieder rechnete Hedda nach, während die dünnen Stimmen der Kinder
auf dem Orgelchor das Kyrie eleison sangen. Sechsunddreißig; sein
Geburtstag fiel in den gleichen Monat wie der ihre, in den Mai. Aber er
sah jünger aus mit seiner eleganten, geschmeidigen und elastischen Figur
und dem bildhübschen Gesicht, auf dem weder das tolle Leben noch die
Sorgen um die Existenz Spuren des Verfalls zurückgelassen hatten. Es war
glatt, rosig und heiter wie immer, dieses vornehme Junkergesicht mit der
intelligenten Stirn und der wunderschön gezeichneten Nase, dem sorgsam
gepflegten blonden Schnurrbart und dem etwas zurücktretenden Kinn. Und
auch die hellen blauen Augen sprühten noch immer in unverminderter
Lebenslust – trotz allem. Das war sein Lieblingsausdruck, dieses »trotz
allem« ...

Hedda schreckte aus ihren Erinnerungen empor. Sie hörte die Stimme des
Pastors, der die Kanzel bestiegen hatte und mit seinem schönen, sonoren
Organ die Epistel verlas. Der alte Mann dort oben hatte ihr in jenen
Zeiten schwerer Herzensbedrängnis mit lindem Wort und warmem Gemüt die
verzweifelnde Seele gerettet. Ihm allein hatte sie sich anvertraut, da
sie des Vaters rauhe Art fürchtete, die schon damals Klaus von Zernin
vom Baronshof verjagt hatte. Und Eycken konnte um so besser die
Vermittlungs- und Verständigungsrolle übernehmen, da er der intimste
Freund des alten Baron Zernin, des verstorbenen Vaters von Klaus,
gewesen war, durch dessen Beihilfe der Pastor auch seinerzeit die Stelle
in Oberlemmingen erhalten hatte. Mit milder Freundlichkeit, aber
entschiedener Energie hatte Eycken seinen ganzen Einfluß auf Hedda
aufgeboten, um sie von ihrer unseligen Liebe für den verbummelten Junker
zu bekehren. Denn besser als sie glaubte _er_ Klaus von Zernin zu
kennen. Oft genug war er zu nächtlicher Stunde und zu Fuß, um nicht
gesehen zu werden, durch den Wald nach Döbbernitz geeilt, um mit Klaus
Rücksprache zu nehmen, wenn wieder einmal einer seiner unsinnigen
Streiche zu seinen Ohren gekommen war – irgend eine tolle
Weibergeschichte, die die ganze Umgegend in Aufruhr brachte, ein wildes
Gelage in Zielenberg oder in Kölpin, wo die Königindragoner standen,
oder eine gesetzwidrige Vergewaltigung der Gläubiger.... Und bei solchen
Rücksprachen schwand die christliche Milde bei Eycken, da wurde er zum
zornigen Eiferer, und die Stimme schwoll an, und seine Augen blitzten.
Aber was half das alles?! Es kam eine Zeit, da auch er sich sagen mußte,
Klaus sei nicht mehr zu helfen, eine Zeit, da der ehrliche Zorn des
alten Mannes zu flammendem Ingrimm wurde. Hedda erfuhr niemals
Einzelheiten aus dem Leben von Klaus; sie wußte nur, daß er ein
leichtsinniger Wirtschafter war – alle Welt wußte das. Aber an jenem
Tage, da Eycken sich mit ihr einschloß, um sie beim Andenken an ihre
Mutter zu beschwören, dem wilden Burschen für immer zu entsagen, da kam
doch etwas wie ein Ahnen über sie, daß Klaus nicht nur leichtsinnig,
sondern auch schlecht sein mußte ...

Die Predigt hatte begonnen. Nur das wohllautende Organ Eyckens war
hörbar und hin und wieder ein leise raschelndes Geräusch, wenn der Wind
die schneebepackten Zweige des alten Maulbeerbaumes, der draußen vor
einem der Fenster stand, gegen die Scheiben warf. Hedda schaute mit
andachtsvollem Blick zur Kanzel empor, und der Alte neben ihr schnaufte
leise. Es saß sich unbequem in dem engen Kirchenstuhl. Oben auf dem Chor
hatte der Kommerzienrat die Hände über dem Bauche gefaltet und kämpfte
sichtlich mit einer ihn überkommenden Müdigkeit; die Rätin saß, vor
Frost zeitweilig erschauernd, mit groß offenen Augen neben ihm. Herr von
Zernin ließ den Blick im Kirchenschiff umherschweifen; er hatte Liese
Braumüller entdeckt, und ein rasches Lächeln flog um seinen Mund.

Nun Hedda die gesuchte Andacht gefunden hatte, blieb sie auch in
Sammlung bis zum Schlusse des Gottesdienstes. Beim Endchoral bliesen die
beiden Posaunen mit. Die Rätin hatte das noch nie gehört und schaute
verwundert nach dem Orgelchor hinüber, von dem die gewaltigen Töne
drangen. Es war eine vollendete Disharmonie, doch sie störte keinen –
höchstens den kleinen Raupach, der um diese Zeit aus seinem
Kirchenschlummer erweckt zu werden pflegte.

Dann läuteten wieder die Glocken, und die Gemeinde strömte hinaus, durch
die beiden Türen, vor denen hölzerne Schemel mit Tellern für die
Missionskollekte standen. Aber die wenigsten gaben; ein paar Pfennige
lagen auf den Tellern, dazwischen ein Fünfzigpfennigstück von Hedda und
ein blanker Taler als Spende des Kommerzienrats.

Hellstern wollte am Arme seiner Tochter rasch an der kleinen Gruppe
vorüberhumpeln, die sich vor dem Schlitten Schellheims gebildet hatte,
doch der Kommerzienrat rief ihm nach:

»Auf Wiedersehen heute abend, lieber Baron!«

»Auf Wiedersehen!« gab Hellstern etwas brummig zurück und tappste
weiter. Aber vor der Parktür entlud sich sein Zorn.

»Schellheim scheint den Klaus an sich ziehen zu wollen,« grollte er.
»Ein Baron mehr – das angelt nach uns! Er muß doch gehört haben, wes
Geistes Kind unser sauberer Herr Vetter ist! Er muß doch wissen, daß wir
das Tischtuch zwischen ihm und uns zerschnitten haben! Himmeldonnerwetter,
Hedda, wenn der Kommerzienrat vielleicht auf die wahnsinnige Idee
verfallen ist, den Klaus gleichfalls zu heute abend zu laden – ich mache
auf der Stelle kehrt! Ich mache kehrt, sage ich dir!«

»Das würde nur unhöflich sein, Papa,« erwiderte Hedda ruhig. »Vorderhand
glaube ich noch nicht, daß Klaus im Auschlosse sein wird. Und wenn
dennoch – dann muß es _auch_ ertragen werden. Wir leben nun einmal in
der Welt.«

Der Alte stampfte wütend mit seinen Krückstöcken auf den gefrorenen
Schnee.

»Das Blut steigt mir zu Kopf, wenn ich den Burschen nur sehe!« rief er.
»Mit welcher Frechheit er uns begrüßte! Lächelnd und gleichmütig, als ob
gar nichts geschehen sei.... Vielleicht will ihm Schellheim wieder auf
die Beine helfen – haha! Da ist Hopfen und Malz verloren – nicht
einmal die Winterung hat er mehr bestellen können – die Tagelöhner sind
ihm davongelaufen – im November war wieder einmal Subhastationstermin
angekündigt! Ich verstehe nicht, daß Klaus nicht längst zum Teufel ist!
Hätte er Ehrgefühl im Leibe, so hätte er sich schon vor drei Jahren nach
Amerika scheren müssen! Pah – Ehrgefühl – _der_?! ...«

Hedda schwieg. Ihre Wangen brannten, aber der Vater konnte nicht ahnen,
wie tief ins Herz sie jedes seiner Worte traf. Dennoch machte es ihn
stutzig, daß sie keine Antwort gab. Sie opponierte sonst gern. Er blieb
stehen und schaute sie an. »Was sagst du?!« fragte er.

»Nichts, Papa.«

»Warum nicht?! Ich glaube, du nimmst immer noch die Partei dieses
ehrlosen Patrons?!«

Eine Flamme schlug über das Gesicht Heddas.

»Ich bitte dich, Papa – bitte dich herzlich: wäg deine Worte ab! Noch
immer zählt Klaus zu unsrer Verwandtschaft –«

»Längst nicht mehr!«

»Und wenn du ihn hundertmal von deiner Schwelle jagst – er _bleibt_
unser Vetter! Vergiß das nicht! Und vergiß auch nicht, daß Leichtsinn
noch keine Ehrlosigkeit ist –«

»Halt mal, Hedda –« und Hellstern erhob seine Krücken. »Ich war auch
jung und ein Brausewind wie der da. Aber ich hielt mein Wappenschild
rein. Er hat das seine besudelt. Du weißt nicht, _was_ er alles gemacht
hat, um – aber nein, dein Ohr, mein Kind, ist zu keusch, um diese Dinge
zu hören. Nur eins laß dir sagen: ich hätte ihm nicht wie einem Banditen
mein Haus verschlossen, wenn er _nur_ leichtsinnig gewesen wäre. Und
auch nicht der Pastor, der mit dem alten Zernin so treu befreundet war
wie ich. Wir hatten unsre guten Gründe, ihn abzuschütteln.... Nun gib
mir einen Kuß!«

Er neigte den Kopf, und die Lippen Heddas berührten seine borstige
Wange. Doch es war kein Kuß wie sonst. Ein heimliches Angstgefühl begann
Hedda zu quälen. Fragen und Zweifel stiegen in ihr auf und noch ein
andres quälendes Etwas – das Gefühl, den doch nicht vergessen zu haben,
den sie hatte vergessen _wollen_.



Siebentes Kapitel


Es war die erste größere Gesellschaft, die man auf dem Auschlosse gab.
Der Kommerzienrat hatte Herbst und Winterbeginn dazu benutzt, auf den
meisten Gütern im Kreise Besuch zu machen, und man hatte den reichen
Mann fast überall mit offenen Armen empfangen. Der Grundbesitz in
unmittelbarer Umgebung von Oberlemmingen befand sich fast gänzlich in
bürgerlichen Händen. Nur Döbbernitz und Kleeberg, letzteres das Gut des
Landrats von Wessels, waren Adelssitze. Aber auch aus weiterer
Entfernung war eine Anzahl von Gästen eingetroffen: die Familie von
Klitzingk auf Wernochow, der Kammerherr von Ponteck auf Klein-Güster,
die Nehringens auf Schönwaide und schließlich auch – der Stolz
Schellheims – Exzellenz von Usen-Karst auf Karstedt.

Es war zum Diner – zu sechs Uhr – eingeladen worden, eine für
ländliche Verhältnisse ziemlich ungewöhnliche Zeit. In langer Reihe
fuhren Wagen und Schlitten den Auberg hinauf. Das halbe Dorf war auf den
Beinen, um die Auffahrt anschauen zu können. Man stand dicht gedrängt
längs des Weges und machte zu jedem Gefährt seine Bemerkungen. Die aus
der Umgegend kannte man an den Pferden, den Wagen, dem Kutscher. Da kam
zuerst der riesige Verdeckschlitten des Oberförsters, dessen Kasten, die
Arche Noah genannt, eine zahlreiche Familie beherbergte: Vater Tornow,
die Mutter und drei Töchter, niedliche Dinger, die Auguste, Berta und
Constance hießen, von dem die Kürze liebenden Oberförster aber nur A, B
und C genannt wurden. Dann die Viktoriachaise des Hauptmanns Biese von
Grochau, eines riesigen Menschen mit Bulldogggesicht, der eine ganz
kleine, unendlich verschüchterte Frau besaß, – der Schlitten der Frau
Necker, einer reichen Rittergutsbesitzerswitwe, unförmlich dick und
stets wie ein Puthahn gebläht, – und der Klapperkasten des Doktor
Stramin, des Kreisphysikus aus Zielenberg, den man eigentlich nie anders
als auf der Landstraße sah: wenn die Praxis ihn nicht unterwegs hielt,
reiste er als fanatischer Politiker im Auftrage des konservativen
Wahlkomitees umher und hielt seine donnernden Reden, wo es nur angängig
war.

Plötzlich ging eine Bewegung durch die Reihen der Zuschauer. Ein
merkwürdiges Gefährt raste den Weg hinauf – ein Schlitten in
Schwanenform, in dem eine einzelne Dame saß. Sie mußte noch jung sein;
ein dunkles Augenpaar leuchtete durch den weißen Schleier, der über die
pelzbesetzte Konföderatka gebunden war. Ein kostbarer Pelz hüllte auch
die ganze Gestalt ein; die Adjustierung der Pferde zeugte von Reichtum
– was aber am meisten auffiel, war die scharlachrote Livree des
Kutschers. Einer aus der Menge, Anton Tengler, wußte Bescheid: die Dame
war Frau Rittmeister Woydczinska aus Seelen. Nun rasselte ein großer
Landauer heran: die Klitzingks aus Wernochow – das breite, rote Gesicht
des alten Freiherrn mit dem weißen, auseinandergewirbelten
Katerschnurrbart glänzte durch die Fensterscheiben. Hinter ihm zügelte
Herr von Wessels, der Landrat, ein noch junger Herr, eigenhändig sein
feuriges Rappengespann; dann kam der Schönwaider Schlitten – den Major
von Nehringen konnte man schon von weitem an seiner großen Hakennase
erkennen, die in glänzender Röte aus dem hochgeschlagenen Pelzkragen
hervorlugte. Und abermals rasselte es auf dem hartgefrorenen Fahrdamm,
– Donnerwetter, wer war denn das?! Nichts Vornehmes, ganz gewiß nicht,
denn der Schlitten bestand nur aus einem einfachen Korbgeflecht, das auf
ein Kufenpaar gesetzt worden war, und der Kutscher trug nicht einmal
Livree, sondern einen alten Schafpelz. Und der Kutscher saß auch nicht
auf der Pritsche, weil keine vorhanden war, sondern neben seinem Herrn,
der dicht in einen ehemaligen Militärmantel gewickelt war und die
verschossene Jagdmütze so tief in die Stirn gerückt hatte, daß man von
dem ganzen Gesicht fast nur den buschigen, graugrünen Schnauzbart sehen
konnte. Sicher nichts Vornehmes – nein, diesmal war’s Täuschung: etwas
außerordentlich Vornehmes sogar, nämlich Exzellenz von Usen-Karst,
ehemals bevollmächtigter Minister und außerordentlicher Gesandter des
Reichs bei der Hohen Pforte, Besitzer der Herrschaft Karstedt und, wie
man wissen wollte, ein vielfacher Millionär....

Vom Auberge aus grüßte das Schlößchen mit achtzig leuchtenden Augen zu
Tal. Es war wie eine Illumination. Die Leute blieben auch nach beendeter
Auffahrt noch lange am Wege stehen und schauten hinauf. Trotz der
Winterkälte waren die hohen Flügeltüren, die durch eine kleine Entree in
die Halle führten, weit geöffnet, und von hier aus strömte eine ganze
Flut gelben Lichts ins Freie und mischte sich in die rote Glut, die die
beiden mit brennendem Pech gefüllten, auf schlankem eisernen Unterbau
ruhenden Pfannen zu seiten des Portals ausströmten.

Der Kommerzienrat hatte alles aufgeboten, seine Gäste würdig zu
empfangen. Auch die Zahl der Dienerschaft war vermehrt worden. Drei
Galonnierte halfen den Herrschaften aus Schlitten und Wagen, und in der
Entree warteten zwei Kammerzofen, um die Damen in die Garderobe zu
geleiten. Es ließ sich nicht leugnen: alles hatte Chic. Der
Kommerzienrat war zu weltklug, bei dieser Gelegenheit der leichten
Neigung zur Protzigkeit, die dem intelligenten Parvenü zuweilen noch
anhaftete, nachzugeben.

Flankiert von Gattin und Sohn – Hagen hielten die Geschäfte in Berlin
zurück –, empfing er die Gäste in der Halle, die eine angenehme Wärme
durchströmte, und in deren großem Kamin ein helles Feuer flackerte. Man
schüttelte sich die Hände, und immer wieder kehrten dieselben
Begrüßungsphrasen zurück.

»Herr Oberförster – freue mich sehr, sehr.... Gnädigste Frau! ... Meine
verehrten jungen Damen! ... Ah – Herr von Nehringen – freue mich sehr,
sehr – meine gnädige Frau! ... Exzellenz – freue mich sehr, sehr ...«

Und diesmal verbeugte sich Schellheim ganz besonders tief. Der alte
Usen, der mit seinem weißen Schnauzbart in dem weinroten Gesicht und
den schweren Tränensäcken unter den kleinen, listig funkelnden Augen und
mit dem burgunderfarbenen Fes, den er auf dem haarlosen Scheitel trug,
wie ein Pascha aussah, grunzte etwas Unverständliches vor sich hin und
schielte dabei lüstern zu der schönen Frau Woydczinska hinüber, die Herr
von Wessels, ihr Gutsnachbar, soeben in die Salons führte. Diese drei
Salons hatte der Kommerzienrat durchweg neu einrichten lassen, und da
gerade der Empirestil in der Mode war, so prangten in allen drei
Gemächern die geradlinigen steifen Sofas und Sessel der napoleonischen
Zeit; auch eine Bronzebüste Bonapartes und ein Ölbild des Königs von Rom
fehlten nicht. In den Kronleuchtern brannten Wachskerzen und die Tapeten
zeigten ein modernisiertes Grecquemuster. Es war alles stilgerecht.

Die Gäste fluteten in den Empirezimmern hin und her. Noch immer begrüßte
man sich oder ließ sich vorstellen. Ein Summen und Rauschen ging durch
die Gemächer. Baron Hellstern hatte ein paar gute alte Bekannte
wiedergefunden und plauderte mit ihnen in einer Fensternische, fest auf
seine Krückstöcke gestützt, denn er fühlte sich unsicher auf dem blanken
Parkett und getraute sich nicht, sich auf einem der zierlichen Stühle
mit ihren vergoldeten Füßen niederzulassen. Hedda stand mitten unter den
jungen Mädchen, die einen Kreis um sie bildeten; fröhliches Lachen klang
aus dieser Gruppe, besonders das A, B, C des Oberförsters kicherte
beständig und gewöhnlich unisono, in drei Tonlagen. Exzellenz Usen hielt
die tief dekolletierte Frau Woydczinska fest und schmunzelte dabei über
das ganze Paschagesicht. Sie war die Witwe eines Polen und selbst Polin,
eine schöne, kokette Frau, der man allerhand nachredete, die sich aber
um keinen Klatsch der Welt kümmerte und ihre emanzipierten Allüren frei
zur Schau trug. Auch Pastor von Eycken war gekommen; er war den meisten
fremd – Gunther besorgte die Vorstellung.

Ziemlich zuletzt erschien Klaus von Zernin, mit heiterem Gesicht und
einem etwas spöttischen Zug um den Mund. Er war boshaft genug, sich über
die Überraschung zu freuen, die sein Auftauchen hervorrufen würde; er
verkehrte seit Jahren nicht mehr in den Familien der Umgegend. Die
Mütter schilderten ihn als verworfenen Wüstling, und sämtliche
Backfische zitterten in süßem Schaudern vor ihm. Als er eintrat, stockte
plötzlich die Unterhaltung; es wurde ängstlich still. Die Oberförsterin
glitt in instinktiver Aufwallung ihres mütterlichen Herzens wie
schützend an ihr rosenwangiges A, B, C heran. Hellstern, der neben dem
Landrat stand, wollte aufbrausen, begegnete aber dem warnenden Blicke
Heddas und schluckte seinen Groll mit verbissenem Gesicht in sich
hinein. Im übrigen wich die allgemeine Bestürzung rasch wieder einer um
so lebhafteren Unterhaltung, mit der man glättend über das auffallende
Geschehnis hinweggehen wollte. Herr von Zernin war allen bekannt; mit
der Eleganz eines vollendeten Weltmannes verneigte er sich nach allen
Seiten, immer mit gleich liebenswürdigem Lächeln, ohne die eisigen
Gesichter der Herren, die frostigen Mienen der Damen und die Purpurglut
auf den Wangen der Backfische zu beachten. Zu allgemeinem Entsetzen
streckte ihm Frau Rittmeister Woydczinska unbefangen die Hand entgegen.

»Grüß Gott, lieber Baron,« sagte sie freundlich; »wir haben uns ja seit
Ewigkeiten nicht gesehen!«

Und dann geschah noch etwas Überraschendes. Auch Exzellenz Usen reichte
Zernin die Hand, vielleicht nur aus Gefälligkeit für seine schöne
Nachbarin, vielleicht auch, um deren Unbegreiflichkeit ein wenig zu
verdecken, – aber jedenfalls stand die Tatsache fest: er begrüßte den
Verfemten in sehr herzlicher und entgegenkommender Weise. Und das wirkte
wie ein Zauberschlag auf die ganze Gesellschaft. Unwillkürlich wurden
die Mienen freundlicher, und der Landrat flüsterte Hellstern erstaunt
und fragend ins Ohr: »Der Zernin rappelt sich wohl allmählich wieder in
die Höhe?«

Hellstern antwortete nicht, sondern begnügte sich mit einem
Achselzucken. Die Diener hatten die Türen zum Eßzimmer geöffnet; der
Alte war neugierig, wen man dem Klaus als Tischnachbarin gegeben haben
würde. Er vermutete, die Woydczinska, denn die beiden paßten in
mancherlei Beziehungen zu einander – aber sein Gesicht färbte sich
dunkel, als er sah, daß während des allgemeinen Aufbruchs Zernin auf
Hedda zuschritt und ihr den Arm reichte.

Der Kommerzienrat hatte sich dies beim Entwurf zur Tafelordnung wohl
überlegt. Er hatte gehört, daß Herr von Zernin seines Leichtsinns und
seiner brouillierten Verhältnisse wegen in schlechtem Rufe stand, – da
er indessen seine Pläne mit ihm hatte, so lag ihm daran, ihn langsam
wieder in die Gesellschaft einzuführen. Es war schwer, für ihn eine
passende Tischdame auszuwählen, aber da fiel Schellheim zum guten Glück
ein, daß die Baronesse Hellstern ja eine entfernte Cousine Zernins war.
›Die beiden Verwandten werden sich schon vertragen,‹ sagte er sich und
schrieb die Namen nebeneinander.

Das Diner war vortrefflich. Exzellenz Usen konnte nicht umhin, seiner
Nachbarin zur Rechten, der langen und mageren Frau von Ponteck,
zuzuraunen, daß alles einen recht vornehmen Eindruck mache. Und so war
es in der Tat. Der Kommerzienrat hatte Geschmack. Das Menü war nicht
übertrieben, das Service tadellos. Lautlos huschten die Diener hinter
den Stühlen der Gäste entlang; es ging alles wie am Schnürchen. Dabei
war der Anblick der Tafel ein glänzender. In den kostbaren Aufsätzen aus
Silber und Vieux Saxe blühte ein ganzer Frühlingsflor. Die Mitte des
Tisches nahm eine Art Pyramidenbau aus Silberfiligran ein, der zahllose
schräg gestellte Kristallbecher trug, aus denen eine Fülle köstlicher
Rosen in allen Farbennuancen hervorquoll. Und der Duft dieser Rosen
flutete in den Geruch der Speisen hinein, der großen Fleischstücke, die
von den Dienern auf Riesenschüsseln präsentiert wurden, geschmackvoll
angerichtet, die Fasane in rotem Federschmuck, gleichsam lebendig, und
die breiten Rehrücken so ausgezeichnet tranchiert, daß man kaum die
Schnittlinien sah. Das gefiel Exzellenz Usen-Karst besonders; er tat
sich auf seine Tranchierkunst etwas zu gute und hatte schon lange die
Absicht, ein Handbuch darüber zu schreiben, obwohl er genau wußte, daß
er es nie tun würde.

Solch ein Diner war auf den märkischen Landsitzen nicht üblich; da gab
man’s einfacher, wenn man Gäste bei sich sah. Aber es schmeckte allen
ganz ausgezeichnet. Der dicke Hauptmann Biese aus Grochau ließ keinen
Gang vorüber und nahm jedesmal zweimal; er hatte sich die Serviette um
den Hals gebunden, sprach wenig, aß den Fisch mit dem Messer und tupfte
die Soße mit kleinen Brotstückchen auf. Die jungen Mädchen wurden bei
den Gemüsen interessierter; Artischocken und Trüffeln in der Serviette
hatten bisher die wenigsten gegessen. Auch Fräulein Gerlinde noch nicht,
die Tochter des Kammerherrn von Ponteck, die demnächst bei Hofe
vorgestellt werden sollte, aber sie tat wenigstens so, und da sie gegen
diese Genüsse vollendet gleichgültig erscheinen wollte, zerstach sie
sich den Finger an einer Artischockenspitze. Exzellenz Usen hielt sich
hauptsächlich an die Präsentierweine; sein martialisches Gesicht glühte
förmlich, und der buschige Schnauzer leuchtete schneeweiß.

Gunther hatte das kleine C des Oberförsters zu Tische geführt, eine
niedliche Brünette, die aus dem Entzücken nicht herauskam und sich
jedesmal auf dem Stuhle geraderückte, wenn ein Blick der Mutter sie
traf, denn das Geradesitzen war ihr besonders vorgeschrieben worden.
Gunther gab sich alle Mühe, seine kleine Nachbarin gut zu unterhalten,
doch er fühlte selbst, daß es ihm nicht so recht gelingen wollte. Er war
zerstreut. Sein Auge flog zuweilen mit ängstlichem Aufblick zwischen
das flimmernde Gläsermeer auf dem Tische hindurch und suchte Hedda. Auch
sie war zerstreut – vielleicht langweilte sie sich auch. Sie sprach
wenig, und Gunther schien es, als sei sie heute blasser als sonst.

Das war sie. Der Schrecken, von Klaus zur Tafel geführt zu werden, hatte
jeden Blutstropfen aus ihren Wangen vertrieben. Aber sie verstand es,
sich zu beherrschen. »Man lebt doch einmal in der Welt,« hatte sie ihrem
Vater gesagt. Und dieser Philosophie schien sich selbst der Alte gefügt
zu haben. Er sah noch immer sehr brummig aus, aber er machte wenigstens
keine Dummheiten.

Auch Zernin schickte sich mit Anstand in die Situation. Das war zu
erwarten gewesen. Er tat, als sei niemals etwas zwischen ihm und der
Cousine geschehen; es gab keine himmelhohe Mauer und keine abgrundtiefe
Kluft – heiter und freundschaftlich begann er mit ihr zu plaudern.

»Wir haben uns lange nicht gesehen, gnädigste Cousine –«

»Lange nicht – wie ist es dir inzwischen ergangen?«

»Nicht besser als einem, der auf einem Pulverfasse sitzt und jeden
Augenblick auf die Explosion wartet. Aber das ist eine Situation, die
auch ihre Reize hat – bis einem schließlich das Nervenprickeln zu viel
wird und man allmählich abstumpft. Du hast deine Tage auf dem Baronshofe
vermutlich friedlicher verbracht.«

»So friedlich, daß ich mich nicht beklagen kann.«

Er dämpfte seine Stimme ein wenig; im lauten Geräusch der auf und nieder
wogenden Unterhaltung vermochten sich übrigens nur die nebeneinander
Sitzenden zu verstehen.

»Du mußt mir verzeihen,« sagte er, »daß ich mein Versprechen nicht
halten konnte. Anderthalb Jahre hindurch habe ich die Grenzlinie
zwischen Oberlemmingen und Döbbernitz respektiert. Ob es mir leicht
wurde, tut nichts zur Sache – jedenfalls hab’ ich mein Wort eingelöst.
Aber nun ging es nicht anders; ich stehe wieder einmal an der Wende.
Döbbernitz wird im Frühjahr endgültig subhastiert werden.«

Das war neu für Hedda und schmerzlich. »Also mußte es doch dahin
kommen,« sagte sie leise.

Er nickte. »Ich habe seit drei Jahren darauf gewartet. Ein Dutzend
Termine wurden angesetzt, und immer schaffte ich noch im letzten
Augenblick Hilfe. Jetzt sind alle Quellen versiegt – bis auf eine, die
erst zu sprudeln beginnt, die auf der Grauen Lehne –«

»Was hat die mit _dir_ zu tun?«

»Viel. Schellheim spekuliert auf Döbbernitz. Ein unternehmender Geist,
sozusagen der Typus der neuen Zeit, die im Zeichen der Industrie steht,
und vor der wir Landjunker die Segel streichen müssen. Das ist nun mal
nicht anders. #Enfin# – unser liebenswerter Gastgeber hat mir
vorgeschlagen, Kurdirektor von Oberlemmingen zu werden. Was sagst du zu
dieser Idee?«

Hedda antwortete nicht sofort. Das, was Klaus erzählte, kam so
überraschend für sie, daß sie sich Mühe geben mußte, ihr Erstaunen zu
verbergen. Sie schüttelte den Kopf. War das nicht einfach verrückt?
Wollte der Kommerzienrat denn die ganze Umgegend gegen sich erbittern?
Nein, dazu war er zu klug; er mußte seine besonderen Absichten mit Klaus
haben. Aber es war doch verrückt. Klaus paßte im Leben nicht in eine
solche Stellung, die großes administratives Geschick erforderte. Und
schließlich mußte es für ihn selbst demütigend sein, sich einen neuen
Wirkungskreis in unmittelbarster Nähe des durch eigne Schuld verlorenen
zu schaffen. Und endlich – dieser letzte Gedanke trieb Hedda das Blut
in die Wangen –, war es denn nicht qualvoll, sich nach alledem, was
geschehen war, täglich sehen, begrüßen und sprechen zu müssen?

Zernin neigte sich etwas tiefer über den Teller.

»Du scheinst nicht der Ansicht zu sein, daß das #changement de la
position# sonderlich beglückend für mich ist,« fuhr er fort. »Nein,
Hedda, das ist es wahrhaftig nicht. Aber was soll der Mensch machen?
Mein letzter Ausweg war die Fremde – Amerika, der Sammelplatz der
verkrachten Existenzen. Hans Zesingen ist auch schon drüben – ich
glaube, er ist Barkeeper in New York und mischt für andre Porter und
Sekt, seinen alten Lieblingstrunk. Da bleib’ ich schon lieber daheim.
Man muß sich in die Verhältnisse zu schicken suchen. Der Junkerschädel
hält nicht mehr stand. Die Handelsverträge und das römische Recht sind
unser Unglück –«

Er sprach weiter und weiter, immer halbleise, vom Ruin der
Landwirtschaft und Niedergang des alten Adels. Aber Hedda hörte nur den
Schall der Worte – sie achtete kaum auf den Sinn. Seltsam, wie sehr
sich Klaus verändert hatte. Er war doch nicht der alte geblieben, er
hatte sich »in die Verhältnisse geschickt«. Es war wohl das beste für
ihn, und trotzdem war sich Hedda klar darüber: der wilde, trotzige
Bursche von ehemals, der auf die Welt »pfiff« und mit grimmigem Lachen
aller Zucht und Sitte spottete, hatte mehr Charakter gezeigt als der
sich glatt fügende Diplomat von heute.

Das Diner näherte sich seinem Ende. Da rasch serviert worden war, so
hatte es kaum über eine Stunde gedauert. Die Diener reichten Dessert und
Früchte herum, und die Backfische des Oberförsters machten glückliche
Gesichter: sie knabberten gar zu gern Süßigkeiten. Der dicke Hauptmann
Biese hatte seine Serviette abgebunden und sah sehr zufrieden aus; so
ausgezeichnet hatte es ihm lange nicht geschmeckt. In der Tat, das Diner
war sehr gelungen, und der Kommerzienrat nickte in einer Aufwallung
ehelicher Liebenswürdigkeit seiner Gattin über den Tisch herüber
freundlich lächelnd zu.

Plötzlich klinkte Exzellenz Usen-Karst an sein Glas. Man hatte schon
längst darauf gewartet. Tiefe Stille trat ein, die nur einmal durch das
Aufkichern des oberförsterlichen B unterbrochen wurde. Die dicke
Exzellenz wuchtete vom Stuhle empor, stemmte die Hände mit den Knöcheln
fest auf den Tisch, atmete tief auf, dabei einen pfeifenden Luftstrom
durch die Nase stoßend, und begann dann zu sprechen. Der alte Diplomat,
dem die böse Welt nacherzählte, daß er seine Millionen in Konstantinopel
mit Hilfe eines griechischen Bankiers durch ganz raffinierte
Spekulationen verdient hätte, und daß er auch auf seiner Herrschaft
Karstedt ein tolles Serailleben führe, war ein geistreicher Mann und ein
vorzüglicher Sprecher. Man wußte, daß er die Extravaganzen liebte, und
erwartete auch bei dieser Gelegenheit etwas Ähnliches, zumal die Rede
mit einer humoristischen Lobhymne auf die Industrie anfing. Sie beginne
langsam auch hier, in diesem verlorenen märkischen Winkel, an Boden zu
gewinnen, wo bisher der Menschengeist sich höchstens bis in die Regionen
von Kartoffelspiritus und Schlempe verstiegen habe. Und dann ging es
weiter, in buntem und lustigem Durcheinander – ein ganzes Feuerwerk
guter Einfälle sprühte auf.

Usen sprach von allem möglichen: von der Notwendigkeit einer Aussöhnung
zwischen Industrie und Landwirtschaft, vom Wetter, von seinen Weinbergen
und von schönen Frauen, von Lukullus und von seiner Freude darüber, daß
ein so tüchtiger Vertreter des kaufmännischen Standes, wie der
Kommerzienrat Schellheim, sich im Kreise angekauft habe. Und dann
berührte er auch die neue Quelle, von der bereits die ganze Gegend
spreche, und deren Ausbeutung in die Hände des scharmanten Gastgebers
gelegt worden sei. Ein Heilquell sei es, und dem Heil der Menschheit
solle sein Wasser dienen, ein Getränk, das er im allgemeinen
verabscheue, dem er als Mittel zum Zweck aber seine Anerkennung nicht
versagen könne. Daran schloß sich ein Passus, der auf aller Mienen die
mannigfachsten Variationen von Erstaunen hervorrief. Usen sagte nämlich:

»... Daß Oberlemmingen einer neuen, zukunftsfrohen Ära entgegengeht –
ja, ja, mein alter, verehrter Freund Hellstern –, daran zweifle ich
nicht. Ich höre, daß _mit_ unserm liebenswürdigen Wirt noch ein andrer
Eingesessener des Kreises an die Spitze des Unternehmens treten will, –
und ich hoffe, daß das frisch sprudelnde Wasser in der Buchenhalde auch
für _ihn_ ein _Heil_quell werden wird. Nach Heilung dürsten wir
schließlich alle, und wenn es uns noch so gut ergeht. Denn jede Heilung
ist ein Besserwerden, und wen gibt’s, der selbstlos genug wäre, es sich
nicht besser zu wünschen, als er es hat! Ach nein, gestehen wir es uns:
wir sind Egoisten, und auch ein Stück Pharisäertum schlummert in unsrer
Brust. Neben der Hoffnung auf das Besserwerden wohnt Tür an Tür das
Besserdünken. Und so kommt es leicht, daß der Pharisäer in uns sich
gewaltig reckt, wenn einmal der Mitmensch gefehlt und geirrt hat. Ich
hatte einen Freund unten im Orient, der war weise und gut, aber er trank
Wein und nicht wenig, und das durfte er nicht, denn er war Mohammedaner.
Und wenn man ihm sagte, daß er sündige, so antwortete er: ›Geh hin nach
Chanimbaïri und sieh, ob _du_ nicht sündig bist.‹ Dort liegt nämlich ein
Brunnen, von dem die Sage erzählt, daß im Wasserspiegel sich Flecken
zeigen, wenn ein sündhafter Mensch hineinschaut. Und so mein’ ich auch
– ehe wir verdammen und verurteilen, gehen wir nach Chanimbaïri ...«

Der Schluß war kurz; er galt den Gastgebern. Man nahm fröhlich das Hoch
auf, dann aber zog, während auch die dicke Exzellenz wieder Platz
genommen hatte, ein ganz leiser Hauch von Verstimmung oder wenigstens
von Befremdung durch die Gesellschaft. Man hatte verstanden. Herr von
Usens Blick hatte bei seinen Worten deutlich den Döbbernitzer Zernin
gestreift. Der war gemeint. Der sollte im Verein mit dem Kommerzienrat
die Quellengeschichte »entrieren« – gerade der, der dem Bettelstab nahe
war –, gerade der. Und unzweifelhaft war die Rede Usens ein
Rehabilitationsversuch für Klaus von Zernin gewesen. Wie kam Usen dazu?
Er hatte schon vorher dem verlotterten Döbbernitzer so merkwürdig
herzlich die Hand geschüttelt – was sollte das alles heißen?! Herr von
Wessels, der Landrat, lächelte sein feinstes diplomatisches Lächeln, und
der Kammerherr von Ponteck flüsterte seiner Nachbarin zu: »Prost, meine
Gnädigste – also gehen wir nach Kaminbirrira, oder wie das Ding
heißt ...«

Zernins Gesicht hatte sich gar nicht verändert. Er spielte zuerst mit
der Nelke, die neben seinem Teller lag, und hierauf mit einem kleinen
goldenen Crayon, den er aus der Westentasche genommen hatte. Und auf
einmal zog er seine Tischkarte näher und kritzelte ein paar Worte auf
deren Rückseite. Dann schob er die Karte unbemerkt seiner rechten
Nachbarin zu.

Hedda, die durch die Rede Usens eigentümlich berührt wurde, und auf
deren Wangen Röte und Blässe wechselten, warf einen raschen Blick auf
die Schrift und preßte die Zähne zusammen. Sie las: »Kann ich dich
morgen nachmittag fünf Uhr auf wenige Minuten allein sprechen? – Am
alten Platz.«

Wie in mechanischer Spielerei nahm sie die Karte und zerriß sie.

»Nein!« sagte sie kurz.

Nur einer am Tische schien die kleine Episode bemerkt zu haben: der
Pastor. Er sah sehr ernst aus; etwas wie eine folternde Sorge lag auf
seinem schönen, alten Gesicht.

Der Kommerzienrat winkte seiner Gattin; man erhob sich. Die ganze
Gesellschaft flutete in die Salons zurück, und wieder schwirrte, während
man sich »Gesegnete Mahlzeit!« wünschte, die Unterhaltung lebhaft auf.
Jetzt drückte nicht mehr von allen Gästen Usen allein Herrn von Zernin
die Hand; drei, vier, fünf andre folgten. Auch die Oberförsterin
lächelte, als Klaus sich stumm vor ihr verneigte. Die Woydczinska strich
dicht an ihm vorüber.

»Kommen Sie übermorgen abend,« flüsterte sie ihm zu; »eine Cousine aus
dem Polnischen ist bei mir zu Besuch. Wir wollen eine neue Sektmarke
proben ...«

Als Herr von Usen dem Kommerzienrat die Hand drückte, fragte er
halblaut:

»So war es gut, dächt’ ich –«

»Ganz ausgezeichnet, Exzellenz – tausend Dank, tausend Dank –«

»Aber nun eine Zigarre als Belohnung –«

Schellheim nahm Usen unter den Arm und führte ihn in das Rauchzimmer.
Die meisten Herren hatten sich bereits hierher zurückgezogen; Hauptmann
Biese rauchte schon eine kolossale Upmann, die das Werk des Abends
krönen sollte. Die Diener brachten Kaffee und Liköre; man fühlte sich
sehr behaglich.

Es war selbstverständlich, daß das Thema von der Quelle nicht abriß.
Aber der Kommerzienrat wich geschickt aus; es machte den Eindruck, als
wolle er nicht vor der Zeit von der Sache sprechen. An seiner Stelle gab
der Landrat einige Einzelheiten. Gewiß, die Graue Lehne war
Bauernterrain – die Quelle gehörte den Möllers, aber der Kommerzienrat
war der Geldmann. Er war sozusagen der treibende Faktor. Die
Formalitäten waren bereits abgeschlossen: Kommanditgesellschaft – eine
Bank beteiligte sich nicht. Und im Mai sollte die Einweihung sein, das
stand fest.

Hauptmann Biese, der mit seiner Upmann im Munde in einem Fauteuil neben
dem Kamin lag, sah sich im Kreise um. Nur der Landrat, der Kammerherr
von Ponteck, der Wernochower Klitzingk, Oberförster Tornow und der
Schönwaider waren im Augenblick im Zimmer – da konnte man schon ein
bißchen klatschen.

»Aber hören Sie mal, meine Herren,« sagte Biese mit seiner fetten
Stimme, »das mit dem Döbbernitzer – unter uns – ist doch ein Wagnis.
Das ist doch eine verfluchte Geschichte – nicht?«

Der Landrat zuckte die Achseln.

»Warum denn, lieber Herr Nachbar? Es wär’ ja recht gut, wenn der arme
Kerl wieder ein bissel in die Höhe käme!«

Aber der alte Baron Klitzingk strich seinen weißen Katerbart und
schüttelte den Kopf.

»Nein, Herr von Wessels,« erwiderte er, »ich kann Ihnen in diesem Falle
nicht recht geben. Exzellenz Usen meint zwar, wir sollten nach –
Dingsda gehen und sehen, ob wir nicht auch sündig wären – na, ich habe
aus meinem Herzen nie eine Mörderhöhle gemacht, aber ich bin doch der
Ansicht, daß Zernin besser getan hätte, sich nach Amerika zu drücken. Er
hat’s _zu_ toll getrieben –«

»Ach was – der alte Bismarck hat’s auch toll getrieben, als er noch auf
Kniephof saß, und ist doch ein ganzer Mann geworden!«

»Wird sich der Zernin denn auf Döbbernitz halten können?« warf der
Oberförster ein.

Die Meinungen waren geteilt. Herr von Nehringen wollte wissen, daß
Schellheim Döbbernitz im Interesse Zernins administrieren lassen werde.
Herr von Ponteck vermutete, er wolle es kaufen – daher seine
Bemühungen, Zernin eine neue Position zu schaffen.

Biese meinte, der Kommerzienrat sei eine »ganz schlaue Unke«. Er sprach
von seinem Gastgeber nicht im freundlichsten Tone. Das ärgerte
schließlich den Landrat.

»Erlauben Sie, Herr Nachbar,« sagte er, »wir befinden uns noch immer
unter dem Dache des Kommerzienrats ...«

In der Halle hatte man Whisttische aufgestellt. Die Damen saßen im
ersten Empiresalon und sprachen von häuslichen Dingen. Im Augenblick
wurde die Frage erwogen, ob sich Eingemachtes besser in verlöteten
Blechbüchsen oder in hermetisch verschlossenen Gläsern halte. Frau
Necker aus Klotschow führte das Wort. Nebenan kicherten die Backfische.
Sie unterhielten sich über Toilettefragen; im Februar sollte in
Zielenberg der Landschaftsball stattfinden, und das war immer ein
Ereignis.

Zernin hatte rasch ein paar Züge Zigarette geraucht und war dann in die
Salons zurückgekehrt. Sein Herz klopfte ungestüm. Er fand selbst, daß er
nicht mehr der alte war. Er war in grimmigster Laune und durfte sie
nicht austoben lassen. Er wußte ganz genau, daß die Rede Usens eine
abgekartete Sache war – so eine Art »Restitutionsedikt« für ihn. Aber
nichtsdestoweniger war sie brutal und taktlos gewesen. Er kam sich
unglaublich lächerlich vor in der Rolle des reuigen Sünders. Im Grunde
seines Herzens war ihm die ganze Gesellschaft der Umgegend heute genau
so gleichgültig wie früher; heimlich »pfiff« er noch immer auf die Welt.
Aber es half alles nichts; er mußte katzbuckeln und ein frommes Gesicht
machen, wenn die Wellen nicht über ihm zusammenschlagen sollten.

Er suchte Hedda. Er mußte noch ein Wort mit ihr sprechen. Sie hatte sich
mit der Woydczinska unterhalten und fragte nun nach ihrem Vater.

»Der sitzt schon beim Whist,« antwortete Klaus.

»Gut so. Da ist er untergebracht. Mit wem spielt er?«

»Mit dem Pastor und dem Kreisphysikus, – ungefährliche Leute, die sich
widerspruchslos anschnauzen lassen ...«

Die beiden standen am Ofen, halb verdeckt von einem großen, kunstvoll
gestickten Schirm mit goldenen Bienen, der aus St. Cloud stammen sollte.
Kein Mensch war in ihrer Nähe. Von nebenan hörte man die scharfe Stimme
der Frau Necker-Klotschow, die von ungezuckerten Pfirsichen sprach.

Zernins Blick bohrte sich in die Augen Heddas. Er fand, daß sie noch
schöner geworden war, reifer; sie stand im Sommer ihrer
Jungfrauenschaft.

»Also nicht, Hedda?« fragte er.

Sie verstand sofort. »Nein,« antwortete sie, »ich will nicht.«

»Ich begreife dich nicht. Hast du Angst vor mir?«

»Die hatte ich nie; höchstens sorgte ich mich um dich.«

»Aber heute nicht mehr?«

»Was sollen diese Fragen, Klaus? Ich habe zu meiner großen Freude
gehört, daß es mit dir wieder bergauf geht. Daß mich der Gedanke
anfänglich erschreckt hat, dich künftighin häufig sehen zu müssen, war
nur natürlich. Aber ich bin schon beruhigt. Mein Schreck war Torheit.
Wir haben uns nichts vorzuwerfen. Wir sind uns ja auch klar darüber
geworden, daß wir uns nichts mehr zu sagen haben, was nicht die ganze
Welt hören könnte. Seit anderthalb Jahren sind wir uns darüber klar. Und
es ist heute nicht anders als damals.«

Er klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne. Die Ruhe, mit der sie
sprach, brachte sein Blut in Wallung.

»Ich danke dir. Du findest immer den rechten Ton. Ist es dir denn _so_
leicht geworden, dich von mir zu trennen? Soll ich dir erzählen, was
_ich_ gelitten habe? Soll es _ganz_ aus sein zwischen uns? Hedda, hast
du gar nichts mehr für mich übrig?!«

Sie fühlte, daß sie eine krankhafte Empfindung von Schwäche beschlich.

»Laß mich, Klaus,« bat sie; »quäle mich nicht ...«

Er richtete sich straff auf.

»Also gut,« sagte er. »Legen wir wieder die Maske vor. Es geht weiter
bergauf. Es geht im Galopp bergauf, Hedda. Du hast gesehen, wie man mir
mit gütigen Händen die Bahn ebnet. Der dicke Usen und Schellheim sind
mir als rettende Englein zur Seite gestellt worden – das Weltkind in
der Mitte. Ich werde noch ein reicher Mann werden und ein sehr solider
Philister. Der Kommerzienrat hat auch schon eine Frau für mich #in
petto# – irgend ein Judenmädel mit märchenhafter Mitgift. Es geht in
der Karriere bergauf, Hedda ...«

Sie starrte ihn an, als begreife sie nicht, was er sprach. Ein Ausdruck
zynischen Hohns lag auf seinem Gesicht. Es war wie eine Erlösung für
sie, daß in diesem Augenblick Gerlinde Ponteck in das Zimmer trat, um
sie in einer wichtigen Angelegenheit zu Rate zu ziehen: Auguste, Berta
und Constance Tornow wollten auf den Landschaftsball in Weiß, Blau und
Rosa gehen, doch war Gerlinde der Meinung, daß die drei Schwestern
gleichmäßig Weiß tragen sollten – ob Hedda das nicht auch hübscher
finde?

»Natürlich,« sagte Zernin, »alle drei weiß, wie die Tauben, oder nein,
wie ein Schwanentrio. Denn Weiß ist die Farbe der Unschuld und schon aus
diesem Grunde jungen Mädchen bestens zu empfehlen. Aber Halsbänder aus
schwarzem Samt dazu, wenn ich mir einen Vorschlag erlauben darf. Das
gibt eine angenehme Abwechslung und erzielt einen pikanten Kontrast,
dieweil die weiße Unschuld doch manchmal langweilig wirkt ...«

Fräulein von Ponteck lächelte krampfhaft, weil sie nicht wußte, wie sie
sich diesem schrecklichen Menschen gegenüber benehmen sollte, und war
froh, daß Hedda sie in das Nebenzimmer zog, um dort das A, B, C über die
strittige Frage zu belehren.

Gunther hatte im Verlaufe des Abends wenig Gelegenheit gefunden, sich
Hedda zu nähern. Er litt an beständigem Herzklopfen. Er hatte seinen
Vater gebeten, den alten Freiherrn mit größter Delikatesse auszuhorchen,
aber es schien, als sei es unmöglich, Hellsterns auf ein paar Minuten
allein habhaft zu werden. In seiner fieberhaften Nervosität irrte
Gunther von Zimmer zu Zimmer, langweilte sich bei den älteren Damen,
scherzte mit den Backfischen, plauderte mit Zernin und setzte sich dann
ein Viertelstündchen neben Frau Rittmeister Woydczinska, deren dunkle
Schönheit auch auf ihn eine gewisse Anziehungskraft ausübte.

Mitten in der Unterhaltung aber versagte ihm das Wort. Er sah seinen
Vater an der Seite Hellsterns durch die Zimmer schreiten. Der
Kommerzienrat schien dem Alten die Räume zeigen zu wollen; er
gestikulierte lebhaft, wies hierhin und dorthin, blieb zuweilen vor
einem Bilde oder einer Statuette stehen und verschwand schließlich mit
Hellstern im Speisesaal.

Jetzt wußte Gunther Bescheid. Jenseits des Speisezimmers lag das
Arbeitskabinett seines Vaters. Dort waren die beiden ungestört – und
stärker hämmerte das verliebte Herz.

Es war so. Der Baron hatte keine Lust mehr, weiterzuspielen. Der
Kreisphysikus hatte gewöhnlich die Cinq Honneurs und er lauter Ladons in
der Hand; der Pastor aber spielte wie im Traume – so etwas
Schlafmütziges war noch gar nicht dagewesen. Da dankte man lieber.

Und diesen Moment hatte der Kommerzienrat abgepaßt. Hellstern sagte ihm
ein liebenswürdiges Wort über die geschmackvolle Einrichtung des
Schlosses, worauf Schellheim sich erbot, den Baron ein wenig
herumzuführen. Im Arbeitszimmer hatte er ihn sicher.

Es war dies ein Turmgemach, ein runder Raum mit einem einzigen hohen
Glasfenster in einer auf einen kleinen Balkon führenden Tür. Ein Hauch
von Behaglichkeit wehte durch das Zimmer. Hellsterns Blick fiel zunächst
auf einen großen eisernen Geldschrank und dann auf zwei Stahlstiche an
der Wand: der Überfall reisender Kaufleute durch die Quitzows und die
Verbrennung der Schuldscheine Kaiser Karls V. durch Fugger.

Schellheim sah, daß der Freiherr die beiden Bilder mit einem gewissen
Interesse betrachtete, und er lächelte.

»Es sind zwei Mahnungen, Herr Baron,« sagte er. »Ein Appell an die
Vorsicht und einer an die Generosität – #»cave«# und #»noblesse
oblige«#. Knöpfe die Taschen zu, sagt mir das eine Bild, und knöpfe sie
auf, das andre. Jedes zu seiner Zeit. Ich liebe derartige kleine
Denkzettel.«

»Allerdings,« entgegnete der Freiherr, »sind sie zweckmäßiger als ein
Knoten im Taschentuch. Aber bedürfen Sie denn eines solchen Mementos?
Ein Charakter wie Sie?«

»O, lieber Baron, Sie schmeicheln mir! Wäre ich in der Tat ein ganzer
Charakter, dann wäre ich auch ein besserer Kaufmann. Man hält mich
allerdings für einen hervorragenden Industriellen, aber in Wahrheit bin
ich es nicht. Wenigstens nicht ganz. Auf der einen Seite steckt noch zu
viel vom Krämer in mir, auf der andern zu viel kaufmännischer
Aristokratismus. Und das verträgt sich schlecht. Irgend ein bekannter
Volkswirtschafter – war es nicht Friedrich List? – hat einmal gesagt,
die Kraft, Reichtümer zu erwerben, sei mehr wert, als der Reichtum
selbst. Das ist ein großes Wort, denn wirklich: klingendes Kapital kann
zerrinnen, aber die Gabe des Erwerbens stiehlt uns niemand. Ich will
nicht sagen, daß ich sie nicht auch besitze, denn sonst hätte ich es –
immerhin – nicht so weit gebracht. Doch hundertmal stelle ich mein
Licht unter den Scheffel – ach ja, es ist so. Wozu erwerbe ich
Landgüter und lege meinen Besitz fest und zersplittere damit mein
bürgerliches Erbe: die Kraft des Schaffens, die Möglichkeit des
Gewinnens? Aus aristokratischer Neigung, die sich mit dem Geiste des
kaufmännischen Bürgertums im Grunde genommen herzlich wenig verträgt.
Und diese Neigung treibt mich noch weiter. Döbbernitz soll verkauft
werden; ich hätte nicht übel Lust, es an mich zu bringen und meinem
Zweiten fideikommissarisch zu sichern ...«

Er schob den schweren Arbeitssessel, der vor dem Schreibtische stand,
neben Hellstern.

»Nehmen Sie einen Augenblick Platz, bester Baron,« sagte er, »Sie werden
ermüdet sein.«

Hellstern ließ sich nieder und lehnte seine Krücken gegen den Stuhl.

»Ja,« entgegnete er kopfnickend, »ich bin ein bißchen müde. Die
verdammte Ischias dörrt einem das Mark aus den Knochen. Also Sie
spekulieren auf Döbbernitz? Ich dacht’ mir’s beinahe, als ich Zernin bei
Ihnen sah. Es mußte einen Zweck haben –«

»Ah ja« – und Schellheim lachte kurz auf –, »so viel Kaufmann bin ich
denn doch! Aber andrerseits reizt es mich auch, Herrn von Zernin wieder
auf die Beine zu helfen. Es steckt ja doch eine ganze Portion
Tüchtigkeit in ihm. Und es berührt immer tragisch, einen großen und
berühmten Namen verschmutzen und versumpfen zu sehen –«

»Seine eigne Schuld,« bemerkte Hellstern knurrig.

»Seine eigne Schuld – freilich, freilich! Aber darum nicht minder
tragisch. Sein Vater hat am Ruhme Preußens und Deutschlands erheblich
mitarbeiten helfen, und der Sohn steht vor dem Untergange. Durch eigne
Schuld, ganz gewiß – Sie haben schon recht, Herr Baron. Aber ich
erinnere Sie an die Worte Exzellenz Usens: seien wir nicht allzu
pharisäisch! Aus Herrn von Zernin kann noch einmal etwas ganz
Brauchbares werden, wenn er mit den alten Schulden aufgeräumt hat und
man ihm ein klein wenig Beistand leistet.«

»Wird er Ihnen nicht zu viel für Döbbernitz fordern – fordern _müssen_,
um seine Gläubiger befriedigen zu können?«

»Ah nein – ich kaufe nicht direkt, ich warte die Subhastation ab. Sie
steht vor der Tür. Mit den ausfallenden Gläubigern werde ich Herrn von
Zernin zu arrangieren versuchen. Es wird sich schon machen lassen.«

»Wenn der gute Wille da ist und eine geschickte Hand – warum nicht.
Übrigens, leicht wird es Ihnen nicht werden, auf Döbbernitz Ordnung zu
schaffen. Der Junge hat alles verlottert. Seit Jahresfrist ist nichts
mehr bestellt worden, wie mir Tornow erzählt. Auf den Wiesen wächst
Schilf, und die Felder sehen wie eine Prärie aus.«

»Aber der Boden ist gut, und das Ausruhen wird ihm nicht viel geschadet
haben.«

»Ist richtig. Und schließlich – mit Geld ist alles zu machen.«

Jetzt zog der Kommerzienrat die Brauen sehr hoch.

»In gewissem Sinne, ja,« antwortete er. »Aber das Kapital, das ich in
Döbbernitz hineinstecken muß, arbeitet nicht – wenigstens vorläufig
nicht –, und wenn es zu arbeiten beginnt, wird es auch nur eine geringe
Verzinsung abwerfen. Ich sagte Ihnen ja: ein vollendeter Kaufmann bin
ich noch lange nicht. Trotz alledem – ich möchte dem Gunther ein
behagliches Nest schaffen –«

»Sehr verständlich,« warf der Freiherr ein; »er wird ja auch einmal an
das Heiraten denken.«

Schellheim fing diese Bemerkung auf. Gott sei Dank, nun war die
Anknüpfung gefunden! Er hatte schon Sorge gehabt, den rechten Faden
nicht erwischen zu können. Ein wenig in Unruhe war er doch. Er zog sich
gleichfalls einen Stuhl heran und setzte sich Hellstern gegenüber. Seine
Hände zitterten leicht.

»Ja natürlich,« entgegnete er, »an das Heiraten – nötig wär’s ja noch
nicht – er könnte immer noch ein paar Jahre warten. Aber – na, er hat
mich neulich ins Vertrauen gezogen, und da wir gerade unter uns sind,
lieber Baron, möcht’ ich mir auch ein paar vertrauliche Worte gestatten.
Der – der Junge ist nämlich in – ist nämlich bis über beide Ohren
verliebt, lieber Baron – und in wen? Wissen Sie, in wen?«

»Ahnungslos,« sagte Hellstern, und dann schoß ihm ein Gedanke durch den
Kopf. »Sapperlot – etwa in die Woydczinska? Das ist ein deubelsmäßiges
Frauenzimmer mit ihren Kohlenaugen!«

»I Gott bewahre! Das sollte mir fehlen! Nein – in – in – in – na, es
muß einmal heraus – in Baronesse Hedda!«

Hellstern war wie erstarrt.

»In Hedda?« fragte er, maßlos erstaunt. »In _meine_ Hedda?«

Der Kommerzienrat nickte.

»Ich verhehle Ihnen nicht, lieber Baron, daß ich eine ernsthafte
Aussprache mit ihm gehabt habe. Eine sehr ernsthafte. Ich habe ihm die
Sache ausreden wollen. Trotz neunzehntem Jahrhundert und allen
gegenteiligen Versicherungen sind wir noch nicht über die Klippen und
Untiefen gewisser gesellschaftlicher Vorurteile hinweggekommen. Der
uralte Gegensatz zwischen Adel und Bürgertum scheidet auch uns zwei. Sie
haben den Ruhm des historischen Namens, ich nichts als das stolze
Bewußtsein, ein Emporkömmling zu sein. Nun ja, auch darauf bin ich
stolz, denn was ich erreicht habe, erreichte ich durch mich selbst.
Plebejerstolz meinethalben, doch auch ihn soll man respektieren. Und das
war’s, was mir Sorge machte, war der Grund, der mich dazu trieb, Gunther
die Sache aus dem Kopfe zu reden: ich fürchtete, in meinem Stolze
verletzt zu werden ...«

Der Freiherr hatte den Kopf in die Hand gestützt. Er war sehr ernst
geworden. Er hatte in diesem Augenblick nur das eine Empfinden: sich so
zu beherrschen, daß er den Kommerzienrat nicht kränkte, nicht
beleidigte. Denn in der Tat – das wollte er nicht; es war doch etwas
Respekteinflößendes in dem Wesen dieses Mannes, so meilenfern dessen
Anschauungswelt auch der seinen lag.

Er ließ die Hand sinken.

»Zunächst die Hauptsache,« fragte er; »haben die beiden sich schon
verständigt?«

Schellheim schöpfte tief Atem. Es flog sonnig über sein Gesicht. Eine
strikte Absage hatte er nicht erwartet, aber ein langes Poltern. Und nun
war Hellstern so ruhig, wie man ihn selten sah.

»Nein,« antwortete der Kommerzienrat, »sie haben sich noch nicht
ausgesprochen. Aber – Sie wissen, wie die Liebe forscht. Aus hundert
kleinen Zügen hat Gunther die Berechtigung zur Werbung herleiten zu
dürfen geglaubt.«

Hellstern schüttelte den Kopf.

»Hedda hat mir keinerlei Andeutungen gemacht, nicht die kleinste. Sie
hat Gunther – hat Ihren Herrn Sohn –«

»Sagen Sie ruhig Gunther, lieber Baron –«

»Hat Ihren Herrn Sohn ja doch auch erst zwei- oder dreimal gesehen!
Freilich, das will nichts bedeuten. Ich lernte meine gute Selige des
Abends kennen, und am nächsten Abend waren wir Brautleute. Aber es
frappiert mich doch, daß Hedda – nun, und _Sie_, Kommerzienrat?
Abgesehen von Ihren prinzipiellen Bedenken: würde Ihnen die Heirat
passen?«

Jetzt glaubte Schellheim seiner Sache sicher zu sein. Aber als kluger
Mann triumphierte er nicht.

»Gott, Herr Baron,« erwiderte er, »ich bin kein Komödienvater. Ich habe
das Für und Wider reiflich erwogen und mit meinem persönlichen Empfinden
nicht hinter dem Berge gehalten. Und ich würde die Sache noch erheblich
ernster aufgefaßt haben, wäre Baronesse Hedda eine andre. Aber _so_! Ich
muß Ihnen sagen, lieber Baron, daß ich vor Baronesse Hedda die
allergrößte Hochachtung habe –«

»Der Teufel soll dich holen, wenn du es nicht hättest,« dachte
Hellstern.

»– und daß ich sie wahrhaft schätzen gelernt habe. Gerade die
Anspruchslosigkeit ihres Wesens – das ist’s, was mir so gut an ihr
gefällt. Und ich meine, die hat sie von Ihnen gelernt, Baron, Sie sind
auch so.«

»Wir sind alle so,« erwiderte Hellstern. »Der märkische Adel hat sich
immer nach der Decke strecken müssen. Er hat immer um Leben und Existenz
gekämpft, und brach einmal einer zusammen, so geschah’s in Ehren, wie
draußen auf dem Schlachtfelde. Mit Ausnahmen natürlich – die gibt’s
überall. Und wenn die liberalen Zeitungen der Welt erzählen, daß unser
Adel sein Geld verjuxt habe, so schwindeln sie einfach –«

Er hielt einen Augenblick inne. Sein Großvater fiel ihm ein, ein wilder
Mann, von dessen unsinniger Verschwendungssucht ihm die Mutter oft genug
erzählt hatte. Ein Schatten flog über seine Stirn, und er winkte mit der
Hand.

»Und Ihre Gattin, Herr Kommerzienrat?« fragte er. »Wie denkt _sie_ über
die Heirat?«

Schellheim lächelte. »Sie war von vornherein der Meinung, daß man dem
Glücke unsres Sohnes keine Schwierigkeiten bereiten dürfe.« Er seufzte.
»Das ist es ja – im Grunde genommen ist ihr Standpunkt der einzig
richtige. Ich möchte Gunther auch glücklich sehen. Er ist eine stille,
bescheidene Natur, ein Ideologe, ein echter Gelehrter. Nun gut – ich
habe nichts dawider, da er sich seinen Beruf doch einmal selbst gewählt
hat und seine irdische Seligkeit von allerhand alten Scharteken
abzuhängen scheint. Aber ich will ihm wenigstens den Weg ebnen helfen.
Er kann seine Dozentenstellung aufgeben; als Privatgelehrter kann er
sich seinen Studien noch besser widmen. Ich möchte wissen, wem es so
bequem gemacht wird. Dann mag er ein paar Wintermonate in Berlin oder
sonstwo verleben, meinetwegen auch auf Reisen, und im Sommer hat er
Döbbernitz. Das ist auch für Sie von Wert, lieber Baron. Sie haben Ihre
Tochter immer in der Nähe, können täglich ein Stündchen mit ihr zusammen
sein, wenn Sie Lust haben –«

»Und wenn aus der Heirat etwas wird,« fiel Hellstern ein. Er erhob sich
schwerfällig. »Nun hören Sie auch einmal _meine_ Ansicht, lieber
Kommerzienrat. Ich will ehrlich sein: ich bin _nicht_ für die Heirat.
Auch ich habe meine prinzipiellen Bedenken – genau so wie Sie. Kein
Mensch kann aus seiner Haut. Hätt’ ich einen Jungen und Sie hätten ein
Mädel – ich würde mit Freuden ja und Amen sagen, wenn die beiden sich
liebten und haben wollten, denn dann würde Ihre Tochter und die
Nachkommenschaft unsrer Kinder meinen Namen tragen. Nichts für ungut,
Herr Schellheim. Auch _Ihr_ Name ist gut, nicht schön, aber ehrlich und
fleckenlos. Achtung vor ihm! Doch ich stecke wirklich noch etwas in
Vorurteilen; ich würde es lieber sehen, wenn Hedda einen Edelmann
heiratet. Keinen vom Schlage Zernins natürlich – Sie verstehen mich
schon! Nennen Sie mich töricht, verbohrt, bettelstolz – ich lass’ mir’s
gefallen. Ich kann nicht anders – ich muß Ihnen die Wahrheit sagen ...«

Schellheim war etwas blaß geworden, und Hellstern sah das. Er legte
seine Hand auf die Schulter des Kommerzienrats.

»Denken Sie mal nach, lieber Freund,« fuhr er fort; »wir haben uns nie
verstanden – ich meine nicht wir zwei, sondern Adel und Bürgertum im
allgemeinen. Die Feindschaft hat nie geruht, zur Zeit des Städtewesens
so wenig wie heute. Sie lesen doch auch die Zeitungen. Die ganze
liberale Presse paukt auf dem Junker herum –«

»Doch nicht auf dem Adel, Herr Baron. Sie unterscheidet zwischen dem
Junkertum, das nur Prärogative und keine Pflichten kennt, und dem wahren
Adel, der mit der Vornehmheit des Namens auch die der Gesinnung
verbindet.«

»Ich will mit Ihnen nicht über die Verlogenheit unsrer Presse streiten,
Herr Kommerzienrat. Die Adelshetze wird systematisch betrieben – das
ist Tatsache. Offizierkorps, Diplomatie, Landräte, die adeligen Beamten
– alles Schufte, Schufte in den Augen des Liberalismus! Nur die paar,
die zur gleichen politischen Fahne schwören, der Stauffenberg und
Saucken-Tarputschen und Forckenbeck und wie sie sonst noch heißen mögen,
– das sind leuchtende Ehrenmänner! Nee, lieber Freund, an dem Faktum,
daß die Kluft zwischen Bürger und Edelmann immer mehr vertieft wird, ist
nicht zu rütteln. Und auch ein paar Heiraten herüber und hinüber
überbrücken sie nicht. Na – und nun wieder zur Sache! Meinen Standpunkt
kennen Sie. Aber auch in andrer Beziehung geht’s mir wie Ihnen. Ich will
gleichfalls das Glück meiner Tochter. Ich werde mit ihr sprechen, werde
sie einfach fragen, ohne zu- oder abzureden, werde ihr sagen: ›Hör mal,
der Gunther Schellheim ist in dich verschossen, hast du auch etwas für
ihn übrig, und wie denkst du über eine Ehe mit ihm?‹ Und nach ihrem Ja
oder Nein werde ich handeln. Ich meine, das ist das Vernünftigste.
Einverstanden, Schellheim?«

Er hielt ihm die Rechte hin, und der Kommerzienrat schlug ein. »Wie
sollte ich nicht!« antwortete er. Und sie schüttelten sich die Hände.

»Nun aber zurück zur Gesellschaft,« sagte Hellstern. »Man glaubt sonst,
ich wollte Aktionär Ihrer Quelle werden ...« Er schob seinen Arm unter
den des Rats. »Also ich denke, ich werde Ihnen schon morgen Antwort
erteilen können.«



Achtes Kapitel


Als die Herren in die Salons zurückkehrten, rüsteten die Pontecks, Biese
mit seiner Frau und die oberförsterliche Familie bereits zum Aufbruch.
Gunther suchte nach seinem Vater, der sich von Hellstern getrennt hatte
und den allgemeinen Aufbruch verhindern wollte.

»Wo steckst du denn, Papa?« fragte Gunther.

Schellheim klopfte ihm auf die blasse Wange.

»Ich habe für _dich_ gewirkt, mein Junge,« entgegnete er schmunzelnd.
»Der Alte ist entgegenkommender als ich dachte, aber der Tick sitzt ihm
doch im Kopfe. Es hängt alles von Hedda ab. Sagt sie ja, so könnt ihr
schon morgen verlobt sein. Und ich fühl’ es: sie _wird_ ja sagen ...
Später mehr davon. Warum bricht denn schon alles auf? Es ist ja kaum
zehn. Haben die Diener Bier präsentiert? Die Mama bekümmert sich nie um
dergleichen – wenn _ich_ nicht überall hinterher bin –«

»Es ist alles besorgt, Papa. Aber ich glaube, es ist im Rauchzimmer zu
einer kleinen Streitigkeit gekommen –«

»Streitigkeit? Zwischen wem?«

»Zwischen Hauptmann Biese und Herrn von Zernin. Ich weiß nicht, um was
es sich handelt. Ich hörte nur, daß der alte Usen zum Kammerherrn von
Ponteck sagte: ›Diesmal hat Zernin recht gehabt‹ – und der Kammerherr
antwortete: ›Es schadet gar nichts, wenn er dem dicken Schwadroneur
einen kleinen Denkzettel gibt.‹«

Schellheim war außer sich.

»Also gar ein Duell! Donnerwetter, und das in meinem Hause –
Donnerwetter – –«

Er stürmte fort. Sein Protektor, Exzellenz Usen, sollte ihm Rede stehen.
Er erwischte ihn, als der alte Herr sich gerade einen Kognak von einem
Diener reichen ließ.

»Was soll denn los sein, Bester!« antwortete er, den Kopf in den
gedrungenen Nacken werfend den Kognak hinuntergießend, »gar nichts ist
los! Biese und Zernin haben sich ein bißchen gekabbelt, und Zernin hat
sich dabei ganz anständig benommen. Vielleicht schießen sie morgen ein
paar Kugeln in die Luft – vielleicht auch nicht. Das hat nichts auf
sich. Tun Sie nur so, als hätten Sie gar keine Ahnung von dem
Zwischenfall!«

Das war maßgebend für Schellheim. Exzellenz Usen war wie das Evangelium
für ihn.

Er mischte sich wieder unter die Gäste. Der Aufbruch der einen Partie
versetzte die ganze Gesellschaft in Unruhe. Man rief nach den Dienern.
»Der Schönwaider soll anspannen!« – »Der Klein-Güstener auch!« – »Der
Wagen von Wernochow!« Schellheim versuchte vergeblich, diesen und jenen
noch ein halbes Stündchen zurückzuhalten. Alles empfahl sich mit größter
Herzlichkeit. Es sei reizend gewesen, ganz reizend – auf baldiges
Wiedersehen! – Auch Hauptmann Biese merkte man nichts von dem Streit im
Rauchzimmer an, hinter dessen Geheimnis Schellheim noch immer nicht
gekommen war. Er drückte dem Kommerzienrat warm die Hand und nannte ihn
»lieber Nachbar«. Im allgemeinen Aufbruch empfahl sich auch Klaus,
höflich, liebenswürdig, etwas zurückhaltend. Vor Hedda verbeugte er sich
nur. Dicht hinter ihm sauste der phantastische Schwanenschlitten der
Woydczinska den Abhang hinab.

Vor dem Portale hielt die lange Reihe der Wagen und Schlitten. Ihre
Lichter glänzten durch die Schneenacht. In der kleinen Entree drängten
sich die Gäste, bereits in Plaids gehüllt, in Pelze, Decken und Mäntel.
Die Hakennase des Majors von Nehringen lugte wie ein Fanal aus dem
hochgeschlagenen Kragen. Das kleine C des Oberförsters mußte sich noch
den dicken Shawl des Papas um Hals und Mund wickeln lassen. »Aber,
Mama,« ächzte der Backfisch, »ich kriege ja gar keine Luft!« – »Kriege
keine,« erwiderte die energische Mutter; »wenn du morgen hustest, mußt
du im Bett bleiben und schwitzen«.... Exzellenz Usen sah in seinem
verschossenen Militärmantel und der flauschigen Jagdmütze wie ein
Riesenpilz aus vorsündflutlichen Zeiten aus. Doktor Stramin hatte rasch
noch den Landrat in eine Ecke gezogen und erzählte ihm von zwei
Sozialdemokraten, die sich in Zielenberg eingenistet hätten. »Ein
Schuster und ein Klempner, Herr von Wessels, und das wühlt von unten
auf, das frißt sich in die Höhe, das vergiftet alles, wenn man nicht
rechtzeitig einen Riegel vorschiebt ...« Er schwatzte immer noch weiter,
während draußen sein Wagen wartete.

In der Halle verabschiedete sich Eycken von den Gastgebern.

»Nein, ich habe keinen Wagen,« sagte der Pastor auf eine Frage
Schellheims und reckte seine hohe Patriarchengestalt, »ich geh’ die paar
Schritte gern zu Fuß. Ich liebe die Winterlüftung. Wegen der
Kinderheilanstalt sprechen wir noch, Herr Kommerzienrat. Wir sprechen
noch über manches. Es ist vielerlei hin und her zu überlegen. Auch das
mit dem Zernin.«

»Seien wir doch froh, wenn er noch einmal ein tüchtiger Mensch wird,
lieber Herr Pastor!« entgegnete Schellheim.

»Froh?! Du lieber Gott, _wie_ würde ich dem Himmel danken! Aber – –
#nous verrons#, lieber Herr Rat, ich tu’ vielleicht unrecht, daran zu
zweifeln. Meine Empfehlungen, gnädige Frau!«

Er küßte ihr die Hand. Dann schritt er grüßend durch die Reihen der
Gäste und trat ins Freie. Der Schnee knirschte nicht; es war lauer
geworden. Zarte Flocken stäubten durch die Luft. Am Himmel glänzte die
Sternenwelt; nur im Osten baute sich eine weiße Wolkenmauer auf, aus der
phantastische Arabesken emporragten, wie geflügelte Untiere und
greifende Riesenhände. Der Pastor schritt, in seinen leichten Havelock
gewickelt, den Parkweg hinab. Auf seinem großen Rundhut bildeten die
Schneeatome einen feinen, glänzenden Kranz. Wie der Greis so aufrecht
einherging, kräftig ausschreitend und den schönen Kopf stolz erhoben,
konnte man ihn für einen Mann in den besten Jahren halten, für einen
Vierziger. Nur der lange Bart von der Farbe des Schnees, den der Wind
auseinanderwehte, vereitelte die Täuschung.

An Eycken vorüber rollten die Wagen und klingelten die Schlitten. Er war
schon außerhalb des Parks, als er hastig zur Seite springen mußte. Der
Schwan der Woydczinska fuhr dicht neben einem zweiten Schlitten, und
beide Gespanne füllten die Breite des Fahrwegs aus.

Der Pastor hörte ganz deutlich die Stimme der Woydczinska:

»Also bestimmt übermorgen, nicht wahr? Nicht zu spät – so zwischen
sechs und sieben ...«

Und eine Männerstimme aus dem zweiten Schlitten antwortete:

»Wenn ich es einrichten kann – aber ich hoffe ...«

Das war das klingende Organ Zernins. Der Pastor strich glättend über
seinen zerflatternden Bart. Ein neues Mißtrauen regte sich in seiner
Brust, doch ärgerte er sich darüber. Wahrlich, es war nicht christlich
und nicht menschlich, immer das Schlechteste zu denken! –

Oben vor dem Schloßportal schrie Exzellenz Usen nach seinem Kutscher.
Der Mann hatte zu viel getrunken; eine Wolke von Schnapsdunst umwogte
ihn. Usen schimpfte fürchterlich.

»Köpfen müßte man dich lassen, Hundesohn, vierteilen, rädern!« ... Und
dann schob er dem schweigenden Kutscher seine eigne brennende Zigarre in
den Mund, kletterte neben ihn und nahm selbst die Zügel in die Hand.

»Halt dich fest, Saufsack!« schrie er. »Wenn du in den Graben fällst,
laß ich dich liegen!«

Seine Peitsche knallte; die Gäule bäumten sich auf und rasten davon.

»Gott sei dem Kutscher gnädig,« meinte Hellstern, vor die Tür tretend.
»Wenn der Pascha selber fährt, geht’s wie der Deibel. Adjö, lieber Herr
Schellheim!«

Auch Hedda reichte Gunther, der vor dem Portal die letzten Honneurs
machte, die Hand. »Wenn Sie noch einige Tage bleiben,« sagte sie
freundlich, »so holen Sie mich doch wieder einmal zum Schlittschuhlaufen
ab. Apropos, was macht der Schnupfen?«

»Danke, gnädiges Fräulein,« erwiderte Gunther heiter und drückte
beseligt die ihm dargereichte Hand, »ich niese mich vorläufig noch
weiter durch die Welt.«

Und er blieb draußen stehen, bis die schwerfällige alte Kalesche
davongerasselt war.

Im Schlosse erloschen die Lichter. Die Diener huschten aufräumend hin
und her. Aus dem Speisesaal tönten das Klappern der Teller, die wieder
in das Büffet gepackt wurden, und das helle Klirren des Silbers.

»Es war sehr gelungen,« sagte der Kommerzienrat, der nach jeder
Festlichkeit in seinem Hause Kritik zu üben pflegte. »Im allgemeinen
wenigstens. Die Sauce zu den Artischocken hätte etwas sämiger sein
können. Wenn man schon Sauce zu den Artischocken gibt, muß sie auch
tadellos sein. Aber die meisten merkten es gar nicht; man ist hier doch
noch etwas zurück. Und dann kam das Bier zu spät. Was zwischen Herrn von
Zernin und dem dicken Biese vorgefallen ist, weiß ich nicht. Ich will es
auch nicht wissen, und ihr« – er meinte damit seine Frau und Gunther –
»wißt es ebenfalls nicht, wenn ihr’s auch wirklich wüßtet. Denn über so
etwas sieht man hinweg. Gunther, ich hoffe, der morgige Tag wird ein
Freudentag für uns werden. Hellstern ist ein Ehrenmann; unter den
Schlacken der Vorurteile sitzt doch ein wahrhaft adliges Herz. Und Hedda
erst! Gunther, ich gestehe dir offen, ich bin besiegt.«

Er umarmte seinen Sohn und küßte auch die Rätin, der über so viel
ungewohnte Liebe die Augen zu tränen begannen, auf die Stirn. Die Diener
schlichen auf den Zehenspitzen an der Gruppe vorüber und wunderten sich.

       *       *       *       *       *

Derweilen entschied sich das Schicksal des armen Gunther.

Hellstern hatte die Absicht gehabt, erst am nächsten Morgen beim
Frühstück mit Hedda Rücksprache zu nehmen. Das war nämlich jene Stunde
des Tages, in der alle beide am zugänglichsten waren. Sie saßen sich
dann gegenüber am Teetisch, der vor den einzigen Kamin des Hauses – im
sogenannten Saal – geschoben war, und es war auch die einzige Zeit am
Tage, da in diesem Kamin ein lustiges Feuer loderte. Er brauchte viel
Holz und man mußte sparen. Am selben Platze hatte man auch schon zur
Zeit, da die Baronin noch am Leben war, das Frühstück eingenommen, und
es war immer, als sei der Geist der Verstorbenen um diese Stunde den
beiden besonders nahe.

Aber der Entschluß Hellsterns änderte sich, als er neben Hedda im Wagen
saß und den Auberg hinabfuhr. ›Es ist besser, du machst die Geschichte
kurzerhand ab,‹ sagte er sich. In Wahrheit brannte es ihm auf der Seele,
zu erfahren, wie Hedda über die Werbung dachte. Er bildete sich ein,
sein Töchterchen auf das genaueste zu kennen; wenn man verliebt ist,
benimmt man sich nicht so wie alle Tage. Er räusperte sich in seiner
lauten und derben Weise.

»Ja, Vater!« fragte Hedda und zuckte in ihrem Winkel wie erschreckt
zusammen. »Sagtest du etwas?«

»Herrjeses, Hedda, ich glaube wirklich, du fängst mir an, nervös zu
werden! Wenn ich mal ›hm‹ mache, erschrickst du, als ob es eingeschlagen
hätte. Nein, ich sagte nichts, aber ich _wollte_ etwas sagen. Nämlich –
denke dir, da hat der Kommerzienrat mit mir gesprochen –«

»Wegen der Quelle?«

»Nein – deinethalben.«

Jetzt richtete Hedda sich verwundert auf. Sie schob die weiße gestrickte
Kapuze, die sie bei winterlichen Fahrten über Land zu tragen pflegte,
etwas weiter aus der Stirn und schaute den Alten mit ernsten Augen an.

»Meinetwegen?« fragte sie. »Was heißt das, Papa?«

Hellstern haschte nach der rechten Hand Heddas.

»Kuschle dich mal ein bißchen enger an mich heran, Kind,« entgegnete er.
»So – und nun lege den Dickkopf an meine Schulter – so – und gib mir
auch noch das andre Pfötchen.... Sage mal, warum klopft denn dein Herz
so stark?«

»O, es klopft nicht stärker wie sonst!«

»Doch – ich spüre es. August soll dir meine Baldriantropfen bringen.«

»Schön. Also, was wollte der Kommerzienrat?«

Hellstern drückte die Hände Heddas fest.

»Er wollte dich für seinen Jungen, den Gunther, haben.«

Es fuhr wie ein elektrischer Strom durch die Glieder Heddas.

»Das ist eine Unverschämtheit!« rief sie empört. Aber sofort tat ihr
dieser Ausruf leid. »Das ist naiv,« fuhr sie, sich selbst beschönigend,
fort. »Wie kommt der Rat auf eine so absonderliche Idee?«

»Gunther hat ihm sein Herz ausgeschüttet. Er meint, er liebe dich. Und
es muß doch wohl die Hoffnung in ihm leben, du würdest seine Liebe nicht
so ohne weiteres fortweisen.«

»Berechtigung zu dieser Hoffnung habe ich ihm nicht gegeben, Vater.«

»Wenn du es sagst, glaube ich dir’s aufs Wort. Aber man täuscht sich oft
in so subtilen Empfindungen. Gunther mag in seiner Schwärmerei eine
Liebenswürdigkeit deinerseits für Entgegenkommen gehalten haben. Ganz
sicher war er seiner Sache zweifellos nicht; immerhin war es taktvoll
von ihm, daß er durch seinen Vater sozusagen erst die Fühler ausstrecken
ließ.«

Hedda schüttelte den Kopf.

»Mir ist es unklar, Papa ...«

»War es mir auch, Herzenskind. Ich kenne dich doch. Ich hätte schon
gemerkt, wenn dein Herz lebendiger geworden wäre. Und ich gesteh’ dir
offen, ich wurde ein klein bißchen eifersüchtig, als der Kommerzienrat
mit mir sprach. Es kam auch ein Gefühl von Kränkung und Zurücksetzung
dazu. Ich fragte mich: ›Bist du denn nicht der Erste, dem sich dein Kind
anzuvertrauen hat, wenn es sich um so wichtige Dinge, um Herzens- und
Lebensfragen handelt?‹«

Hedda antwortete nicht. Sie dachte an jene Zeit, da die Liebe zum
erstenmal wie Frühlingsbrausen und Wettersturm durch ihr Herz gezogen
war. Gleich einer Träumenden war sie damals umhergewandelt, war blasser
geworden und abgemagert – und der Vater hatte nichts gemerkt. Und nach
einer endlos langen und bangen Nacht war sie in ihrer Seelenqual
schließlich zu dem alten Pastor hinübergelaufen, statt sich an der Brust
des Vaters auszuweinen.

Hellstern räusperte sich wieder.

»Ich muß noch einiges sagen, Hedda,« begann er von neuem. »Auch der
Kommerzienrat hat die heikle Sache mit taktvollen Händen angefaßt – wie
ein Mann von Welt, ich kann es nicht leugnen. Aber er setzte doch gleich
mit Zukunftsmusik ein; es herrscht eine ausgesprochene Wagnersche
Atmosphäre in dem Hause. Er will Döbbernitz kaufen und ein Fideikommiß
für Gunther daraus machen; da solltet ihr denn im Sommer leben –«

»Auch das noch!« murmelte Hedda.

»Und im Winter ein paar Monate in Berlin oder auf Reisen – ganz, wie es
euch passen würde. Er sagte das alles eigentlich ohne Protzigkeit; er
hat mir heute abend viel besser gefallen als sonst.... Sieh einmal,
Hedda, wir sind arm, und ein andres, viel glänzenderes Leben würde ja
zweifellos für dich beginnen, wenn du den Gunther heiratetest. Es ist
auch kein unübler Mensch. Ich würde schließlich selbst nichts gegen das
Bürgerliche sagen; um der Kinder willen ließe sich der Adel schon
beschaffen, obwohl derlei frische Backware auch nicht nach meinem
Geschmack ist. Aber die Hemdenindustrie gefällt mir nicht. Ich bin
kleinlich in solchen Dingen – ich weiß es –«

Hedda entzog ihre Hände dem Vater und setzte sich wieder aufrecht in
ihre Ecke.

»Das ist in der Tat kleinlich, Papa,« erwiderte sie. »Wir haben schon
einmal über den Punkt gesprochen. Ob Hemden oder Geschütze, was ist da
der Unterschied? Die Welt braucht beides, und Hemden vielleicht noch
nötiger als Kanonen. Wenn irgend ein junger Krupp um mich anhielte,
würdest du keine Bedenken haben. Aber wir wollen nicht von neuem
streiten. Es handelt sich weder um Kanonen noch um Hemden, sondern um
mein Herz.«

»Richtig, Hedda! Das ist der Punkt, um den sich alles dreht.«

»Was hast du Herrn Schellheim geantwortet?«

»Daß ich mit dir sprechen und ihm morgen Antwort geben würde.«

»So schreibe ihm, aber, bitte, in höflichster Form, daß sein Sohn sich
in eine Täuschung hineingelebt habe, und daß ich es noch nicht – für an
der Zeit hielte, über mein Herz zu entscheiden.«

Hellstern nickte.

»Gut; das werd’ ich ihm schreiben. In höflichster Form – ich will den
Leuten ja nicht wehe tun.«

Er blieb noch einen Augenblick still sitzen. In einer raschen, heiß
aufsteigenden Aufwallung nahm er dann Heddas Kopf zwischen die Hände. Er
küßte sie stürmisch.

»Mein Liebling,« stammelte er; es klang wie verhaltenes Schluchzen. Er
tastete über ihre Wangen und streichelte sie. Er war so selig, daß er
sein Kind noch behalten durfte.

Der Wagen hielt. August, mit einer Stalllaterne in der Hand, öffnete den
Schlag. Auch Dörthe war noch auf. Sie fragte, ob die gnädigen
Herrschaften vielleicht noch Teewasser wünschten.

»Nein, Dörthe,« erwiderte Hedda; »wir gehen gleich zu Bett. Wir sind
müde. Gute Nacht, Papa – schlaf wohl!«

Er küßte sie nochmals, und da er fühlte, daß ihre Hände kalt wie Eis
waren, wandte er sich an Dörthe.

»Hast du dem gnädigen Fräulein eine Wärmflasche in das Bett gelegt?«

»Jawohl, Herr Baron.«

Er war zufrieden. Hedda stieg die Treppe hinauf in ihr Zimmer, stellte
das Licht auf den Nachttisch und begann sich langsam zu entkleiden. Es
war merkwürdig – sie fühlte sich wirklich grenzenlos müde und dabei so
zerschlagen in allen Gliedern, als ob sie einen weiten Marsch hinter
sich habe. In Korsett und Unterrock setzte sie sich auf den Bettrand und
faltete die Hände. Ein holdes Lächeln flog über ihr Gesicht. Der
Gedanke, geliebt zu sein, ist immer süß für das Herz des Weibes. Aber
das Lächeln erstarb rasch. Sie dachte an den zurück, den sie nicht
vergessen konnte, und seufzte.

An der Tür klopfte es leise.

»Was gibt’s noch?« rief Hedda.

Die Tür öffnete sich ein wenig; eine Hand, die ein Fläschchen hielt, und
ein Arm wurden sichtbar. »Der Baldrian, gnädiges Fräulein,« sprach
Augusts Stimme, »und drei Stückchen Zucker. Zwanzig Tropfen, lassen der
Herr Baron sagen, und wenn gnäd’ges Fräulein in der Nacht aufwachen
sollten, dann nochmal zwanzig.«

Hedda nahm dankend die kleine Flasche und ging zu Bett. Sie löschte das
Licht, betete und zog das Federkissen hoch. Aber was nützte der
Baldrian! Unerträglich war die Hitze, die die Wärmflasche ausströmte,
und Hedda schob die Bettdecke wieder weit zurück. Dörthe hatte auch das
Zimmer geheizt – gegen ihren ausdrücklichen Befehl. Es war nicht
auszuhalten. Eine krause Gedankenflut durchwirbelte des Mädchens Kopf.
Sie wollte sich beruhigen und zündete abermals das Licht an. Dabei fiel
ihr Blick auf das Pastellbild über ihrem Bette; es stellte die
verstorbene Mutter dar.

Ihre Augen wurden naß. ›O du liebes Mütterchen, wenn du doch noch
lebtest!‹ dachte sie. ›Dir wollte ich sagen, wie mir’s ums Herz ist! Und
du würdest auch Rat und Trost finden und würdest mir helfen und mich
aufrichten in all meinem Gram. Ich weiß ja, wie unrecht ich tue, daß ich
mich dem Papa gegenüber verschließe. Er liebt mich doch auch, aber er
ist zu rauh, und er haßt – ihn. Und jedes Schmähwort gegen ihn ist mir
wie ein Messerstich. Ich kann doch nicht anders ...‹

Sie hatte sich im Bette aufgerichtet und sprach so geraume Zeit in sich
hinein. Dann fühlte sie einen leisen Frostschauer über ihre Schultern
rinnen und kroch wieder unter die Decke. Mitten in der Nacht wachte sie
auf. An den Fensterläden rüttelte und schüttelte es. Ein Sturm schien
die schlafende Winternatur in Aufruhr bringen zu wollen. Der Wind pfiff;
hin und wieder hörte Hedda auch das Geräusch eines losgerissenen und
über das schräge Dach polternden Ziegelstückes. Aber sie hörte in ihrer
erregten Phantasie noch mehr. Sie hörte sich rufen – klagend,
schmerzend und schreiend. Und bald war es Gunthers Stimme, die nach ihr
rief, bald die Stimme von Klaus. Mit zitternden Händen entzündete sie
zum drittenmal das Licht. Der Baldrian stand noch immer auf dem
Nachttisch. Aber was nützte der.

       *       *       *       *       *

Der Sturm hatte gewaltig gehaust. Die Strohdächer der Kossätenhäuser
unten im Dorfe sahen verstrobelt aus, als hätten Riesenfäuste sie
zerzaust. Eine Anzahl Bäume war geknickt und entwurzelt worden. Den
Schnee aber hatte die Windsbraut zu großen Haufen zusammengeweht,
pyramidenförmig, hie und da auch in Schlangenlinien auseinandergequirlt
und an den Stämmen und Wänden in die Höhe gebürstet, wo er dann in der
Kälte der Morgenfrühe angefroren war und wunderliche Gebilde und Muster
zeigte: schwere Spitzensäume und Lilien mit großen offenen Kelchen und
tausendfach verschiedene Arabesken.

Auf dem Auschlosse war die Fahnenstange, die man vergessen hatte über
Nacht zu kappen, gebrochen und auf die erste Terrasse geschleudert
worden. Und dort hatte sie der Pomona den Kopf abgeschlagen, zum
höchsten Ärger des Kommerzienrats, der in der hemdenlosen Göttin ein
Symbol für die Notwendigkeit seines Geschäftsbetriebs sah.

Es war dies überhaupt ein Tag des Ärgers und der Niedergeschlagenheit.
Um zwölf Uhr kam August vom Baronshofe und brachte einen Brief. Die
Familie saß gerade beim zweiten Frühstück. August erhielt eine Mark, und
der aufwartende Diener wurde hinausgeschickt. Dann erst erbrach der
Kommerzienrat mit einer gewissen Feierlichkeit das Schreiben; voll
ängstlicher Spannung hingen die Blicke von Frau und Sohn an seinen
Zügen. Sie sahen, wie über die Stirn Schellheims während der raschen
Lektüre eine Wolke flog. Dann zuckte er mit den Achseln und reichte
Gunther den Brief.

»Kopf hoch behalten, mein Junge,« sagte er dabei. »Noch ist nicht aller
Tage Abend. Ich habe eine andre Antwort erhofft – nein, erwartet –
trotzdem: es ist nichts gegen sie einzuwenden ...«

Gunther las:


        »Baronshof, 3. Januar.
  »Mein verehrter Herr Kommerzienrat!

Ich habe mit meiner Tochter gesprochen. Es tut mir leid und wird mir
schwer, Ihnen sagen zu müssen, daß sie der Ansicht ist, Ihr Herr Sohn
sei von einer Täuschung befangen. Sie hält es noch nicht für an der
Zeit, über ihr Herz zu entscheiden ...« Das war genau so, wie Hedda es
vorgeschrieben hatte. Nun kam eine philosophische Wendung:
»Mädchenherzen sind unberechenbar, lieber Herr Kommerzienrat ...« Dann
ein Trostwort: »Die Zeit wird schon alles ausheilen ...« Und schließlich
die formelle Höflichkeit: »Ich hoffe, der kleine Zwischenfall wird
Auberg und Baronshof nicht auseinanderbringen. Mit besten Empfehlungen
allerseits

  Ihr ganz ergebener
    Freiherr von Hellstern.«


Gunther gab den Brief an die Mutter weiter. Er war weiß wie Kalk
geworden. Rasch trank er sein Glas Sherry aus, doch seine Hand zitterte
heftig dabei. Die Mutter griff, die Augen feucht, nach der Rechten ihres
Jungen und tätschelte sie wortlos.

Eine bange Stille war eingetreten.

Plötzlich sprang der Kommerzienrat wütend auf und stieß seinen Stuhl
gegen den Boden.

»Mach nicht solche Leidensmiene, Gunther!« rief er zornig. »Du hast dir
einen Korb geholt – Schwerenot, was ist weiter dabei! Du kriegst noch
andre als das hochnäsige Mädel von drüben!«

Nun erhob sich auch Gunther.

»Bitte, Papa,« entgegnete er abwehrend und mit fester Stimme, »kein Wort
weiter darüber! Vor allem keine Schmähung! Wer verdient eine solche? Die
Sache ist tot und begraben. Wenn ihr mir eine Liebe erweisen wollt,
erwähnt sie nicht mehr. Irrungen soll man abtun ...«

Seine Stimme brach. Er sah sich wie hilflos um, als suche er irgend
etwas.

»Ich – ich will fort,« fuhr er fort. »Es wäre auch nicht in der
Ordnung, wenn ich unter den obwaltenden Verhältnissen hier bleiben
wollte – gerade jetzt. Später – wird sich ja alles legen.... Wenn ihr
nichts dagegen habt, reise ich auf ein paar Wochen nach Oberitalien oder
dem Genfersee. Da kann ich in Ruhe meine Arbeit vollenden. Und dann
kommt der Sommer und dann meine Offiziersübung in Lissa – das gibt
Abwechslung genug. Das wird mir auch gut tun. Aber – ich möchte dann
schon mit dem Abendzug fahren ...«

Die Eltern redeten in ruhigen und verständigen Worten von unnötiger
Überhastung ab. Das Herz tat beiden weh. Sie fühlten, daß Gunther sehr
litt. Aber sie konnten ihm wahrlich nicht helfen. Er blieb auch fest. Er
wollte durchaus fort. Einen Augenblick schwankte er, ob er dem Pastor
lebewohl sagen sollte. Doch er konnte sich nicht dazu entschließen,
noch einmal in das Dorf zu gehen. Er fürchtete sich davor, Hedda zu
begegnen.

Der Kommerzienrat, sonst ziemlich bequem, ließ es sich nicht nehmen,
Gunther nach der Station zu begleiten. Er war auch vernünftig genug,
während der Schlittenfahrt durch den Wald mit keinem Wort auf die
Herzensgeschichte zurückzukommen. Gunther dankte ihm im stillen dafür.
Er sprach fast gar nicht. Wieder störte ihn der Kutscher hinten auf der
Pritsche – wie damals. Ach, damals! Da glitzerte der Sonnenschein durch
das Eisgezweige, und seine Brust war voller Hoffen. Und jetzt nächtete
es.

Die Herren trafen in letzter Minute auf dem Bahnhof ein. Es war gerade
noch Zeit ein Billett zu lösen.

»Grüße die Mama!« rief Gunther aus dem offenen Coupéfenster.

»Danke, mein Junge! Und sei recht vernünftig! Und laß dir nichts
abgehen! Wenn du noch Geld brauchst, so telegraphiere – hörst du,
telegraphiere!«

Der Zug brauste davon. Als Schellheim an seinen Schlitten zurückkehrte,
klingelte von der Chaussee aus ein zweiter Schlitten heran und hielt vor
dem Stationsgebäude. Der Kommerzienrat sah Herrn von Wessels aussteigen
und begrüßte ihn.

»Im Dienst, Herr Landrat?« fragte er, auf die schwarze Ledermappe
deutend, die der Angeredete unter dem Arm trug.

»Ja – sozusagen, – das ist eine verteufelte Geschichte, mein bester
Herr Kommerzienrat. Der tolle Zernin und der dicke Biese haben sich heut
früh duelliert, und Biese ist über den Haufen geschossen worden. Er kann
froh sein, wenn er mit dem Leben davonkommt. Zernin ist unglücklich, er
hat es nicht so gewollt – aber sechs Monate kostet ihm die Kugel doch.
Und vor allen Dingen: ich fürchte, Sie werden ihn an Ihrem
Quellenunternehmen nun auch nicht mehr beteiligen können. Merkwürdiges
Pech! Es ist eigentlich schade um den Menschen ...«

Schellheim starrte den Landrat an.

»I Gott bewahre – ein Duell – also wirklich ein Duell!« stammelte er.
»Ja, aber um Himmels willen, weshalb denn?! Was haben die beiden sich
getan?«

Herr von Wessels lächelte verlegen.

»Das läßt sich schwer sagen,« erwiderte er. »Sie sind gestern abend bei
Ihnen zusammengeraten, aber Zernin hat sich in diesem Falle richtig und
taktvoll benommen – jawohl. Biese – na, also kurzum, erfahren werden
Sie es ja doch einmal: Biese hat die Dreistigkeit gehabt, sich über Sie
als Gastgeber eine respektlose Bemerkung zu erlauben, und da ist Zernin
scharf geworden. Das war der Anfang ... Aber ich muß weiter! #Addio#,
mein verehrter Herr Kommerzienrat!«

Sie schüttelten sich die Hände, und ehe der Landrat in das
Bahnhofsgebäude trat, wandte er sich noch einmal um und rief
kopfnickend: »Es war gestern abend übrigens ganz reizend bei Ihnen!«

Schellheim kletterte in seinen Schlitten zurück. An seinen Sohn, an den
Baronshof und an den Korb Heddas dachte er nicht mehr. Es ging ihm im
Kopfe herum, daß man seinetwegen einen Zweikampf ausgefochten hatte. Der
dicke Biese, ein Bürgerlicher wie er, freilich Landwehrhauptmann – und
das sprach mit –, hatte eine beleidigende Äußerung über ihn fallen
lassen. Irgend eine mokante Bemerkung wahrscheinlich, wie der Grochauer
sie liebte – und da hatte Herr von Zernin Partei für ihn, den
Kommerzienrat, genommen, und schließlich war es auf Tod und Leben
gegangen – um seinetwillen. Merkwürdige Welt! Eigentlich ging die Sache
doch nur _ihn_ an als den Beleidigten; was schossen sich denn die beiden
um _seine_ Ehre?! – Und in halbem Selbstgespräch fügte er hinzu: »Es
ist im Grunde genommen lächerlich und unverzeihlich. _Mich_ kann ein
Mann wie dieser dicke Biese gar nicht beleidigen!«



Neuntes Kapitel


Als der Frühling in das Land zog, fand er Oberlemmingen in großer
Erregung. Die feierliche Einweihung der Quelle stand nahe bevor. Aus
Frankfurt war ein Kunstgärtner mit einem ganzen Schwarm von Gehilfen
herübergekommen und hatte die »Säuberung« des Buchenwäldchens auf der
Grauen Lehne in Angriff genommen. Das war nun in der Tat eine gründliche
Säuberung. Aus dem Buchenhain wurde ein regelrechter Park mit Gängen,
Plätzen, Alleen und schattigen Wandelgängen. Ganze Baumpartieen wurden
vollständig niedergelegt, und an ihre Stelle sollten Blumenparterres
treten; vorläufig wurde allerdings nur Humus in Rundellform
aufgeschüttet, und das sah aus, als lagerten zwischen dem ersten zarten
Buchengrün große Schokoladentorten.

Aber das war noch lange nicht alles. Der Frühling trug auf seinen
regenfeuchten Schwingen noch viel stärker das Wehen der neuen Zeit in
Oberlemmingen hinein. Die ersten Logierhäuser wurden gebaut. Albert
Möller hatte den beiden Kossäten Maracke und Klauert ihre Anwesen
abgekauft. Diese lagen dem »Kurpark« ungefähr gegenüber, und die beiden
kleinen, strohbedeckten Häuschen mit den anschließenden Schweineställen
und den ewigen Mistpfützen vor der Tür waren geeignet, den guten
Eindruck des neuen Kurparks erheblich abzuschwächen. Übrigens paßte
Albert, was Maracke und Klauert forderten; es war noch immer ein
Spottgeld, aber die beiden armen Teufel hatten noch nie ein paar hundert
Taler auf einem Haufen gesehen. Nachträglich ärgerten sie sich
natürlich, daß sie nicht mehr verlangt hatten. Die alte Maracken heulte
jämmerlich, als sie ihr verfallenes Häuschen verlassen mußte, und ihre
fünf Kinder heulten mit. Die ganze Familie zog nach Klein-Güster,
Klauert aber nach Zielenberg, wo er einen verheirateten Sohn besaß.

Das geschah an einem der ersten Märztage. Es wehte warm und lenzlich.
Der Schnee war überall geschmolzen; nur in den Gräben hielt sich noch
längere Zeit eine grauweiße, schmutzige, halb flüssige Masse. Auf der
Dorfau und auf Weg und Steg schillerten Wassertümpel; es tropfte von den
Dächern, und wie ein Plätschern und Gluckern ging es durch die Luft. Die
Erde schien zu dampfen; über die noch bräunlich getönten Wiesen
sickerten Wasserlinien, und Baum und Strauch hingen voll Feuchtigkeit.
Die Spiräen setzten bereits Knospen an, aber noch fehlte der grüne
Frühlingsschimmer, der vierzehn Tage später die Natur mit seinem zarten
Schleier umhüllen sollte.

Die Familien Maracke und Klauert zogen zur gleichen Zeit. Jede hatte
sich einen Einspänner geliehen, auf welchen ihre Habseligkeiten
hinaufgepackt worden waren, bunt durcheinander, gestreifte Betten,
zerbrochene Stühle, ein Tisch, dessen Beine zum Himmel ragten, und
andres Gerümpel mehr, alles mit dicken, vielfach durchknoteten Stricken
verschnürt. Die alte Maracken lief, als der Wagen schon vor der Tür
stand, jammernd und weinend nochmals durch Haus und Stall, ob auch
nichts vergessen worden sei. Richtig – in einem Winkel der Kammer neben
der Stube lag noch ein Häufchen Stroh, auf dem die weiße Henne ihr
letztes Ei gelegt hatte, bevor sie geschlachtet worden war. Die Maracken
raffte mit beiden Händen den armseligen Strohrest zusammen, trug ihn
hinaus und stopfte ihn auf den Wagen. Dann ging sie in den Stall, und
als Maracke ihr ein ungeduldiges »Mutter, nu’ mach aber!« zurief,
schleppte sie einen kleinen Schweinekoben ins Freie; der sollte auch
noch mit. Sie hätte am liebsten Haus, Stall und Komposthaufen, wie alles
stand und lag, auf den Einspänner gepackt.

In diesem Augenblick zog Klauert vorüber. Er war ganz vergnügt, hatte
sein Geld in der Tasche und freute sich auf das Ausgedinge, das sein
Sohn in Zielenberg ihm angeboten hatte. Auch sein Wagen war schwer
bepackt, und ganz oben, auf dem Berge von rot und weiß überzogenen
Betten, war ein weidengeflochtener Korb angeschnürt, in dem vergnüglich
ein paar Hennen gackerten. Das erregte den Neid und die Eifersucht der
Maracken in hohem Grade. Sie überschüttete ihren Mann mit Schimpfreden
und Vorwürfen; warum hatte man die dicke Weiße geschlachtet, die so
fleißig Eier legte, und den prächtigen Hahn an Langheinrich verkauft?
Hätte man das Viehzeug nicht ganz gut mit nach Klein-Güster nehmen
können? – Die beiden jüngsten Kinder weinten und jammerten mit, während
er, Maracke, sich in seiner philosophischen Ruhe nicht stören ließ und,
die Pfeife im Munde, schweigend zuhörte. Als der Wagen schon anzog, lief
die Frau noch einmal in die Hofecke hinter dem kleinen Düngerhaufen. Sie
hatte da noch einen eisernen Reifen entdeckt, der schon ganz verrostet
war, und da er nicht mehr auf dem Wagen unterzubringen war, so hing sie
ihn sich über die Schultern. Dann ging es los, der Einspänner voran, den
Maracke, daneben herschreitend, führte, und hinterher, gleichfalls zu
Fuß, Mutter Maracken mit ihren fünf Kindern. Ein paar Bauernweiber
standen am Wege und nickten und riefen den Abziehenden einige Grußworte
zu; mitten in dem verlassenen Hofe, wo von dem Komposthaufen eine kleine
Dunstwolke aufstieg, aber hatte sich Albert Möller breitbeinig
aufgepflanzt, eine Zigarre rauchend und behaglich lächelnd. Mit dem
Abbruch der alten Baracken sollte sofort begonnen werden; dann kam der
Neubau an die Reihe. Das ging rasch.

An diesem Tage hatte Hellstern seine erste Frühlingsausfahrt
unternommen. Der Übergang vom Winter zum Lenz war immer die schlimmste
Zeit für ihn. Er hatte sich wochenlang nicht aus dem Zimmer rühren
können; selbst die Einreibung der Tante Pauline versagte ihre Wirkung.
Nun aber ging es besser. Hedda saß neben ihm im Wagen und sah durch das
Fenster den Abzug der beiden Kossäten. Sie machte den Vater darauf
aufmerksam, der die Gelegenheit wahrnahm, wieder einmal nach Herzenslust
auf die Quelle zu räsonieren.

»Siehst du, Hedda,« sagte er, »das sind die ersten – die ersten Opfer
der neuen Kultur. Und andre werden folgen. Du bist jung – vielleicht
erlebst du noch den Tag, da dieses Dorf, zu dessen Insassen wir seit
zweihundert Jahren gehören, völlig vom Erdboden verschwunden sein wird.
Dann wird es auch keine Bauern mehr hier geben, die bei allen Sorgen und
Mühen um das tägliche Brot doch frei auf ihrer kleinen Hufe leben und
wirtschaften konnten, sondern nur ein Volk von Krämern und Spekulanten,
immer auf der Lauer liegend, wie den Besuchern dieses neuen Badeorts das
Geld am besten und schlauesten aus der Tasche zu ziehen sei....« Er
zeigte, während er weitersprach, aus dem Fenster hinaus über das Dorf.
»Sicher – es wird prachtvoll werden. Exzellenz Usen hat es damals bei
Schellheims prophezeit. Der Erzengel der Industrie hält seinen Einzug in
unser Tal – oder wie sagte er gleich? ... Die alten Hütten mit ihren
Strohkappen werden niedergerissen, neue, schöne Häuser entstehen, mit
Balkon und Stuckklecksereien und allem Komfort der Neuzeit und dem dazu
gehörigen Schwindel. Ein Sanatorium wird errichtet, in dem man nach
physikalisch-diätetischen Grundsätzen die Menschen zu Tode kuriert, und
auf allen Straßen und Wegen sieht man Blutarme und Magenleidende und
Neurastheniker, Zucker-, Darm- und Hautkranke, daß man seine Freude
daran hat. Der Pastor baut uns seine Kleinkinderbewahranstalt dicht auf
die Nase, damit wir das Gequarre der Göhren den ganzen Tag über hören
können; wahrscheinlich wird auch noch elektrisches Licht eingeführt,
denn der Spektakel der Motoren ist nicht gering anzuschlagen –
überhaupt werden mancherlei Fabrikanlagen nötig sein als Wahrzeichen des
Fortschritts, und ihr Rauch und Qualm wird uns die Luft verstänkern. Es
wird ganz großartig werden ...«

Hedda lächelte und antwortete nicht, und der Freiherr fuhr fort:

»Im Ernst, liebes Kind, der Abzug der beiden Kossäten dünkt mich
symptomatisch und ist, möchte ich sagen, so eine Art Symbol. Das Alte
muß dem Neuen weichen. Ich scherzte vorhin, wenn auch bitter. Die
kleinen Unbequemlichkeiten, die der Triumphzug der Kultur den Einzelnen
auferlegt, müssen ertragen werden. Aber wie die Kultur hier das Dorf
ruinieren und die Gemeinde auflösen wird, das kann einem doch nahe
gehen. Ich weiß, daß du mir antworten wirst: das ist nicht anders, die
Kultur fordert immer Opfer zum Besten der Allgemeinheit – aber sind
nicht auch diese Opfer bedauernswert? Es ist ein ganz guter
Menschenschlag in unsrer Gegend, doch paß auf, wie man ihn verpfuschen
wird! Die Möllers, die nur noch halbe Bauern sind, haben den Anstoß
gegeben; _sie_ werden auch gewinnen, aber die andern nicht, denen es auf
der einen Seite an Kapital und an Intelligenz mangelt, während sie auf
der andern von der gleichen Erwerbsgier erfaßt werden, wenn erst das
Spekulationsfieber in ihnen erweckt ist. Lehr mich doch die Bauern
kennen! Und dann: jeder an seinem Platz! Der Bauer ist nun einmal kein
Kaufmann, und wenn ihn der Kommerzienrat und die Möllers dazu machen
wollen, so nehmen sie ihm das Beste seines Charakters, die Solidität.
Jawohl, liebe Hedda, denn da die vernunftgemäßen Grenzen kaufmännischer
Spekulation böhmische Dörfer für ihn sind, so wird er sich, neidisch
zusehend, wie die andern ihre Taschen füllen, einem gewagten Glücksspiel
ergeben und schließlich untergehen. #Ceterum censeo# – ich sehe
durchaus kein Heil für unser Dorf in der ganzen Quellengeschichte.«

Der alte Freiherr stand mit seinem #»Ceterum censeo«# allein. Auch Hedda
teilte seine Ansichten nicht. Sie war in den letzten Monaten häufig mit
dem Pastor zusammengekommen, für dessen humanitäre Pläne sie sich
lebhaft zu interessieren begann. Eycken schwelgte in seiner Idee. In
seiner warmherzigen Kinderliebe sah er eine neue Ära für die arme und
leidende kleine Welt anbrechen, der er Hilfe bringen wollte – mit weit
offenen Armen, wie sein großes Vorbild Christus, als er sprach: »Lasset
die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht....« Die Bücher
blieben liegen; Luther, Melanchthon, Hutten und Eobanus Hessus hatten
Ruhe. Eycken hatte Wichtigeres zu tun; nicht der tote Buchstabe lockte
ihn diesmal, sondern die lebendige Liebe. Wie oben auf der Auburg so
fanden auch im Pfarrhause im Januar und Februar verschiedene Konferenzen
statt, Ärzte und Architekten trafen ein; es wurde beratschlagt, erwogen
und gerechnet. Eycken wollte das Unternehmen allein ins Leben rufen; er
hatte zwar auch mit dem Kommerzienrat über die neue Kinderheilstätte
gesprochen, aber Schellheim hatte seinem Empfinden nach den
Geschäftsstandpunkt zu stark in den Vordergrund gerückt. Und verdienen
wollte Eycken nichts – Gott bewahre; er war schon zufrieden, wenn sich
die Anstalt im Laufe der Zeit durch sich selbst erhielt, denn daß sie
anfänglich starke Zuschüsse beanspruchen würde, war klar. Doch das
ängstigte Eycken nicht; er war so reich, daß er tatsächlich nicht wußte,
was er mit seinem Gelde beginnen sollte. Er brauchte wenig; seit einem
Menschenalter hatte sich sein Vermögen Zins auf Zins gehäuft. Übrigens
war ihm auch der Fiskus entgegengekommen und hatte ihm für den Bau der
Anstalt die zum Kirchenland gehörige Wiesenparzelle zur freien Verfügung
gestellt. Schließlich hatte sich Eycken auch noch an den
Johanniterorden gewandt, der die Protektion übernahm, sich
verpflichtete, ein paar Pflegerinnen zu stellen, und Herrn von Wessels,
den Landrat, zum leitenden Ritter ernannte.

Anfangs April standen bereits die Fundamente der beiden Logierhäuser
Albert Möllers. Das Parterregeschoß des einen Hauses war für einen
großen Kaufladen bestimmt, den Bertold mieten wollte. Vorläufig nur,
denn sein heimliches Sehnen stand nach dem Gehöft Braumüllers, das dicht
an der großen Landstraße und in unmittelbarster Nähe des Kurparks lag.
Braumüllers Wohnhaus war sehr solide gebaut, stark unterkellert und
hatte gewölbte Zimmer. Mit wenigen tausend Mark konnte man es
wunderschön ausbauen, und wie prächtig eigneten sich die gewölbten
Stuben, deren Wände man einfach ausbrach, zu einem eleganten Basar!
Natürlich sollte man da alles haben können – ein riesiges Warenhaus
schwebte Bertold vor, der jede Nacht davon träumte, wie er die
Schaufenster schmücken würde, ein jedes anders, aber immer gleich
»schenial«, wie sein Lieblingsausdruck lautete.

Klempt hatte sich lange gewehrt, ehe er sich dazu entschließen konnte,
seine, die Buchenhalde begrenzende Wiesentrift zu verkaufen; der Erlös
des Heus brachte ihm eine jährliche Rente, mit der er rechnen mußte –
außerdem hing er auch an diesem Stückchen grüner Wiese, auf der er sich
schon als Kind getummelt hatte, und an deren Rain entlang er noch heute
seine Sonntagsspaziergänge zu machen pflegte. Vergeblich hielten ihm die
Möllers vor, daß ihm die Zinsen des Kapitals, das sie ihm für die paar
Morgen zahlen wollten, mehr bringen würden als der Heuertrag;
schließlich legte sich auch noch der Kommerzienrat ins Mittel, denn die
Wiese war ihrer Lage wegen wichtig – aber was auch er nicht vermochte,
das setzte Dörthe durch. Fritz hatte sich hinter sie gesteckt. Es war ja
lächerlich. Starb der Vater, so gehörte die Wiese ja doch der Dörthe,
und was der Dörthe war, war auch sein, da sie sich heiraten wollten. Und
nun drang Dörthe auf baldige Hochzeit. Gewiß, antwortete Fritz, sobald
einigermaßen Ordnung geschafft und die Sache in Gang gebracht worden
sei; denn jetzt habe man den Kopf zu voll, um an Heiraten denken zu
können, das müsse sie doch einsehen. Das sah sie auch ein, aber sie
wollte wenigstens einen bestimmten Termin wissen. Um Weihnachten, meinte
Fritz, da würde man wohl so weit sein. Und dann gab es noch Liebesworte
in Hülle und Fülle, und am nächsten Tag erklärte sich der alte Klempt
einverstanden, die Wiese abzugeben. Das Geld wurde auf die Sparkasse
gebracht und für Dörthe festgelegt.

Der wenig günstige Gesundheitszustand ihres Vaters hatte Hedda
abgehalten, ihren Plan, einen Wintermonat in der Residenz zu verleben,
zur Ausführung zu bringen; zum soundsovielsten Male hatte die Berliner
Tante einen Absagebrief erhalten und zum soundsovielsten Male mit immer
denselben Worten darauf geantwortet: »Es tut mir schrecklich leid,
liebste Hedda, daß –« und so weiter. Der Freiherr hatte allerdings
gewünscht, Hedda solle auf ihn keine Rücksicht nehmen und sich auch
einmal eine »Ausspannung« gönnen; im Grunde genommen aber war er
herzensfroh, daß sie dennoch blieb – sie war ihm unentbehrlich
geworden, und auch die Arbeit ging ihm viel flotter von der Hand, wenn
sie neben ihm saß.

Eines Tages erschien ein Telegraphenbote auf dem Baronshofe. Das war an
sich schon ein Ereignis. Hedda entsann sich nicht, daß sie jemals ein
Telegramm in Empfang genommen habe, der Freiherr aber hatte vor achtzehn
Jahren das letzte erhalten, das ihm den Konkurs eines Berliner
Finanzgeschäfts ankündigte, mit dem er in Verbindung gestanden, und das
ihm deshalb in recht unangenehmer Erinnerung war. Am meisten regte
jedoch August die Depesche auf, der die Botenfrau im Vordergarten
abfing, wo er mit Dörthe die Wege harkte.

»Eine Depesche für den Herrn Baron,« sagte die Botenfrau.

»Allmächt’ger Gott,« rief August, »eine Depesche! – Dörthe, eine
Depesche!«

Dörthe trat näher und betrachtete mit Furcht und Erstaunen das
zusammengelegte Papier mit der blauen Marke auf der Rückseite.

»Eine Depesche!« stammelte sie und faltete unwillkürlich die Hände.

»Dörthe, das bedeutet ein Unglück,« fuhr August mit Überzeugung fort.
»Wie kommt denn eine Depesche hierher, frag’ ich dich bloß!« Und er
schaute Dörthe dabei fast drohend an, als ob sie ihm verheimlichen
wolle, wie die Depesche hierher käme. Dann ging er unter beständigem
Kopfschütteln in das Herrenhaus.

»Eine Depesche, gnädiges Fräulein,« sagte er zu Hedda, die in der
Speisekammer zu tun hatte.

Hedda fuhr erschreckt zu ihm herum: »Eine Depesche?!« rief sie. »Nanu?!«

August nickte. »Das habe ich auch gesagt, gnädiges Fräulein. Wenn das
man bloß kein Unglück gibt!«

Nun berieten sie, ob man das Telegramm öffnen solle, um dem Freiherrn
die Aufregung zu ersparen. August war dafür. »Man kann nicht wissen, was
drin steht, gnädiges Fräulein,« meinte er. »Einer Depesche ist nicht zu
trauen. Das kann alles mögliche sein.« Aber Hedda schüttelte schließlich
energisch den Kopf. Das Telegramm war an den Vater gerichtet, und da
ging es nicht an, daß man es erbrach.

»Vater,« sagte sie, von August gefolgt in das Arbeitszimmer des Alten
tretend, »erschrick nicht: es ist eine Depesche angekommen.«

»Nanu?!« erwiderte der Baron, genau so wie vorhin Hedda, und August
nickte dazu: dieses »Nanu« entsprach ganz seiner Auffassung.

Hellstern erbrach das Papier und las erst die Unterschrift.

»Von Axel, Hedda. Und fünf Zeilen lang. Das soll was heißen ...« Er las
vor: »Bitte um die Erlaubnis, Euch auf ein Retourbillet besuchen zu
dürfen. Wenn keine Antwort erfolgt, bin ich Sonnabend mittag in
Zielenberg. Wagen unnötig, nehme dort Extrapost. Freue mich herzlich
darauf, Euch kennen zu lernen, und grüße Dich und die Cousine.

  Euer Vetter
    Axel Hellstjern.«


Er ließ das Papier sinken. »Was sagst du dazu? – Sonnabend – das ist
morgen.«

Hedda hatte einen roten Kopf bekommen.

»Aber, Papa, das ist ja ganz unmöglich,« antwortete sie. »Morgen schon
– und es ist nichts in Ordnung! Telegraphiere zurück, er möchte erst in
acht Tagen kommen.«

»Ja, aber wohin denn?! Axel hat vergessen, seine Adresse anzugeben.«

»An die schwedische Gesandtschaft in Berlin.«

»Ach nein, Hedda, das geht nicht. Ich meine, das wäre unliebenswürdig.
Ich bin Axel in gewisser Weise Dank schuldig. Lassen wir es nur bei
morgen. Er muß sich sagen, daß er bei uns keinen weltstädtischen Komfort
findet. Das Dach ist ja repariert – es regnet im Fremdenzimmer nicht
mehr durch. Bringe die Stube in Ordnung und sorge für etwas opulentere
Mahlzeiten in den nächsten Tagen. Wein ist noch genug da. Komm her, mein
Kind, und gib mir einen Kuß! So – und nun sei verständig!«

Das war leicht gesagt: verständig sein. Herrgott, was war nicht noch
alles zu tun bis morgen mittag! Aber Hedda behielt den Kopf oben; sie
entwarf einen Feldzugsplan. Zunächst mußte Dörthe die Tante Pauline zum
Helfen holen. Dann wurde im Fremdenzimmer »groß rein gemacht« – das
heißt in dem einzigen der sogenannten Fremdenzimmer, das leidlich
möbliert war. Es lag im ersten Stock, nach Süden hinaus, und war ein
großer, freundlicher Raum. Ströme von Wasser flossen über die Dielen;
Dörthe und Tante Pauline schrubberten und scheuerten, daß ihnen der
Schweiß von der Stirn floß. Währenddessen beschäftigte sich Hedda damit,
frische Gardinen anzustecken. Sie opferte auch ihr eignes Waschservice,
das sehr hübsch war: weiß mit rosa Streublümchen und rotem Rande.
Gottlob, daß das Bett gut war – ein altes, ungeheuer großes Bett, noch
aus dem Anfang des Jahrhunderts stammend, mit geschweiften Beinen und
naiver Schnitzerei. Zuletzt ging es an das Wohnlichmachen des Zimmers.
Die Tische erhielten saubere Decken, das Sofa wurde mit einer
Schlummerrolle geschmückt. Nur mit der Bilderzier war es eine schlimme
Sache. Die eine Wand war noch ganz leer. Da entsann sich Hedda, daß in
der früheren Räucherkammer, in der man allerhand altes Gerümpel
aufzubewahren pflegte, noch ein Ölbild stand. Es schien dorthin zu
gehören, denn es sah wirklich ganz verräuchert aus und stellte, soweit
es erkennbar war, einen Herrn in ritterlicher Tracht dar. Der Papa
glaubte, es sei irgend ein Vorfahre; das hatte gewiß Interesse für Axel.
Das Bild wurde hervorgesucht, abgestaubt, gewaschen und geseift und an
die leere Wand gehängt. Trotz aller Reinigungskünste sah es so dunkel
wie vordem aus, aber es machte sich dennoch ganz hübsch. Nur Tante
Pauline meinte, es sei ein »greuliches Gesicht«; sie würde in diesem
Zimmer nicht schlafen können. Hedda war jedenfalls zufrieden; morgen
früh kamen noch Veilchen, ein paar blühende Pirus- und Pfirsichzweige
und etwas Grün in die Vasen und Gläser – dann war das Zimmer behaglich
und traulich.

Nachdem dies getan war, kam die Rücksprache mit der Köchin an die Reihe.
Das war schon verwickelter. August mußte am Nachmittag noch nach
Zielenberg zum Schlächter fahren; außerdem mußten zwei Hennen und eine
Ente ihr Leben lassen – die letztere wurde in Aspik gelegt. Die
Konserven und das Eingemachte wurden revidiert und auch der Weinkeller
einer Prüfung unterzogen. Er war noch am besten assortiert. In einer
Ecke lagen aus früheren Tagen her sogar noch ein paar Dutzend Flaschen
vortrefflichen Johannisbergers, auch eine Flasche Champagner war noch
da, aber der fehlte das Etikett. Der Baron konnte Hedda keinen Aufschluß
darüber geben, welche Marke sie enthalte, doch neigte er der Ansicht zu,
es werde wohl Grüneberger Landkarte sein, und es sei auch fraglich, ob
der Wein noch moussiere, denn seiner Erinnerung nach rühre die
vergessene Flasche noch von Heddas Taufe her.

So war denn alles in Ordnung, und man konnte der Ankunft des Vetters aus
Schweden mit einer gewissen Ruhe entgegensehen. Axel brachte schönes
Wetter mit. Es war ein wonniger Frühlingstag, sonnig und linde, mit
einem zarten, weißen Wolkenschleier am Himmel, der die Sonne wie ein
Spitzenschal umgab. Im Parke war schon alles grün; der Rasen glänzte
smaragden, und die Junirosen hatten ihre großen Blätter bereits voll
entfaltet.

Hedda sah unaufhörlich nach der Uhr. Sie war etwas in Unruhe und
zweifelhaft geworden, ob es dem fremden Vetter auch auf dem Baronshofe
gefallen werde. Seit einer halben Stunde ging sie vor der Veranda auf
und ab, den Wagen erwartend, denn da der Zug wenige Minuten nach zwölf
in Zielenberg eintraf, so konnte die Post jeden Augenblick durch den
geöffneten Torweg einfahren.

August teilte die Unruhe seiner Herrin. Hedda hatte auf seinen blauen
Livreerock einen neuen roten Kragen gesetzt und ihm anbefohlen, beim
Servieren weiße Handschuhe anzuziehen. Und davor ängstigte sich August.
An das Servieren mit Handschuhen war er nicht gewöhnt. Er hatte es ein
paarmal probiert, aber auf der glatten Wolle rutschten die Teller immer
aus. Das Herz zitterte ihm, wenn er an das Diner dachte.

In der Ferne ließ sich – ein seltener Klang – das fröhliche Schmettern
eines Posthorns vernehmen. Das war er! Hedda stürmte in das Haus zurück,
den Alten zu rufen.

»Schnell, schnell, Vater – er kommt!«

Der Baron, in seinem langschößigen Rock und in der schwarzen Halsbinde
wie ein Veteran von 1806 aussehend, hinkte an seinen Krückstöcken auf
die Veranda – in dem Augenblick, da der Postwagen vorfuhr.

Es war eine sogenannte Beichaise, ein geschlossenes Coupé, und hinter
dem hochgezogenen Fenster des Wagens sah Hedda ein schmales, blasses,
freundliches Gesicht und eine ihr zuwinkende Hand in braunem Wildleder.

August riß den Schlag auf, und Baron Axel stieg vorsichtig aus, mit dem
Fuße nach dem Trittbrett angelnd.

»Tag, Cousine!« rief er ihr dabei entgegen, mit leicht fremdartiger
Betonung des Deutschen, »Tag, Onkel Frederic! Kinder, wie ist das hübsch
bei euch! Kinder, wie freu’ ich mich!«

Seine Begrüßung war sehr warmherzig. Hedda hatte sie steifer und
formeller erwartet, sich überhaupt, trotzdem sie eine Photographie des
Vetters kannte, ein ganz andres Bild von Axel entworfen. Er war sehr
groß, größer als der Vater, aber schmalschulterig und ging leicht
vornüber geneigt. Das bleiche Gesicht zeigte vornehme Züge, sah jedoch
ein wenig abgespannt und müde aus. Auf der rechten Wange zeichnete sich
eine feine Hiebnarbe blutrot ab. Ein langer, weißblonder Schnurrbart
sproßte auf der Oberlippe; auch das Haar war weißblond und dünn, aber
geschickt gescheitelt und über den Kopf verteilt. Aus den hellen blauen
Augen blickte viel Gutmütigkeit. Axel trug ein Monocle ohne Band, ein
großes, rundes Glas, ständig in die linke Augenhöhle geklemmt. Seine
Kleidung war ausgewählt elegant, besonders fiel Hedda der Sitz der
Stiefel auf den sehr kleinen Füßen auf.

August führte den Gast zunächst auf sein Zimmer, und dann ging man
sofort zu Tische. Axel fand alles »reezend« (er sprach das ei gern als e
aus), besonders das verräucherte Ahnenbild interessierte ihn sehr.

»Aber irgend eine Ähnlichkeit mit den Porträts in Jarlsberg kann ich
beim besten Willen nicht herausfinden,« sagte er. »Freelich, da sind
eenige fünfzig – in eener unendlich langen Galerie, in der man getrost
eene Steeplechase veranstalten könnte – ach, Cousine, es ist schade,
daß du Jarlsberg nicht kennen lernst – das würde dir gefallen ...« Und
er beschrieb das alte Schloß, das hoch oben in Schweden auf einem
Felsenvorsprung, der Lofotengruppe gegenüber, lag, umschäumt und
umrauscht von den Wellen, eine kolossale Burg, deren Grundmauern noch
aus dem vierzehnten Jahrhundert stammten, und an der acht Generationen
gebaut hatten. »Ich mit,« fügte Axel hinzu, »und es hat mich Mühe genug
gekostet, in die riesigen Zimmerfluchten eine gewisse Wohnlichkeet zu
bringen, denn Vater und Großvater lebten lieber in Stockholm und mehr
noch in Paris als auf dem einsamen Stammschlosse. Aber seht ihr, für
mich hat es einen besonderen Reez, da oben zu hausen, mutterseelenalleen,
und es tut mir von Herzen leed, daß mir der Arzt das rauhe Klima
verboten hat. Ich muß nämlich een bißchen – een bißchen vorsichtig
seen,« schloß er, und gleichsam als Bekräftigung dieser Äußerung befiel
ihn zum Schrecken Heddas ein langer und trockener Husten, den er
vergeblich niederzukämpfen sich mühte.

Er hatte sich abgewendet und hielt sein Taschentuch vor den Mund. Der
Husten erschütterte seinen ganzen Körper, so daß er nach Luft ringen
mußte, als der Anfall glücklich vorüber war.

»Schauderhaft,« sagte er endlich. »Ich habe mich vor zwee Jahren auf
der Bärenjagd erkältet und kann mich seetdem nicht wieder so recht
erholen. Ich will deshalb auch den Abschied nehmen und een paar Jahre im
Süden verleben. Vielleecht wird’s da unten besser ... Und nun, Onkel
Frederic – wie steht’s mit der Chronik? Hast du dich durch die alten
Urkunden durchfinden können?« –

Hedda war sich noch nicht ganz klar über den Vetter; sie schwankte noch
in ihrem Urteil. Jedenfalls war er ein vollendeter Gentleman und
jedenfalls ein sehr kranker Mensch, mit dem man Mitleid haben mußte. Er
hatte ein liebes, sympathisches Gesicht, und die ganze Art seines
Sichgebens war frei, herzlich und natürlich. Es zeigte sich auch, daß
Axel über eine feine und umfassende Bildung verfügte; er war viel in der
Welt herumgekommen, beherrschte ein halbes Dutzend Sprachen und war
erstaunlich belesen, so daß Hedda im Gespräche mit ihm zu öfterem ein
gewisses Schamgefühl über ihren eignen Mangel an Wissen überschlich.

Den ganzen Nachmittag über blieb Axel mit dem Freiherrn in dessen
Arbeitszimmer, um den vollendeten Teil der Chronik durchzugehen. Erst
beim Abendessen traf Hedda wieder mit ihm zusammen. Sie ärgerte sich im
stillen über die Appetitlosigkeit ihres Gastes; was hatte man für
Umstände gemacht, und nun aß er fast gar nichts! Mit dem Trinken war es
ebenso; er bevorzugte Zitronenwasser ohne jeden Beisatz von Zucker –
brrrr, dachte sich Hedda, und das will ein verwöhnter Weltmann sein!
Aber seine scharmante Liebenswürdigkeit blieb immer die gleiche. Er
sprach viel und ungemein anregend, oft sprunghaft das Thema wechselnd,
doch stets interessant; dabei nahm auch sein Gesicht eine lebhaftere
Färbung an, und um so stärker fiel die Abspannung seiner Züge auf, wenn
er einmal eine Pause in der Unterhaltung eintreten ließ. Gelegentlich
fragte ihn Hellstern nach der Ursache der Narbe auf seiner rechten
Wange; er vermutete, sie rühre von einem Schmiß aus der Studentenzeit
Axels her. Doch Axel erzählte freimütig, er habe die Wunde in einem
Duell empfangen – vor sieben oder acht Jahren, in Brüssel, wo er für
die Gattin eines Grafen Soundso mehr Interesse gezeigt habe, als dem
Ehemann lieb gewesen sei. Jetzt sei er über derlei Dummheiten hinaus.

Axel zog sich übrigens frühzeitig zurück. August mußte mit auf sein
Zimmer gehen, ihm beim Auskleiden zu helfen, und er schilderte späterhin
in der Küche mit beredten Worten, welche Geheimnisse die Garderobe des
Herrn Vetters barg. Da waren eine Unmasse Flaschen und Kapseln mit
silbernen Köpfen, alle gefüllt – »weiß der Deubel, mit was« –, die
mußten vor dem Spiegel aufgestellt werden. Und die Hosen wurden in einen
Bügel gezwängt, der sie auseinanderspannte, damit sie auch die richtige
Form behielten, und in die Stiefel kamen aus dem gleichen Grunde
hölzerne Blöcke mit silbernen Ringen hinein, und die Nachthemden waren
aus purer Seide. »So was hab’ ich mein Lebtag nicht gesehen,« schloß
August, und als Dörthe fragte, ob die Nachthemden auch wirklich aus
Seide gewesen wären, sagte er: »Auf Ehre, aus purer Seide; ich hab’ sie
befühlt.«

Hedda blieb, nachdem Axel gute Nacht gewünscht hatte, noch ein halbes
Stündchen bei ihrem Vater sitzen. Es drängte sie, ihre Eindrücke über
den Gast mit ihm auszutauschen.

»Wie findest du den Axel?« fragte sie. »Er ist schwer leidend, nicht
wahr?«

Der alte Herr nickte.

»Ich glaube auch; er verbirgt’s zwar gern, aber ich halte den armen Kerl
für schwindsüchtig. Und da ist mir etwas eingefallen, Hedda, woran ich
vorher noch gar nicht gedacht hatte. Wer bekommt denn das ganze Geld und
die Güter in Schweden und die alte Burg den Lofoten gegenüber, wenn der
Axel einmal unverheiratet sterben sollte? Ich gönne ihm, weiß Gott,
noch ein langes Leben, aber schließlich, des Herrn Wille ist
unerforschlich – und Axel sieht nicht so aus, als ob er das
Hellsternsche Alter erreichen würde. Na, da habe ich denn am Nachmittage
vorsichtig einen Fühler ausgestreckt, ob er noch irgend welche Verwandte
hat, von denen der Freiherrnkalender nichts weiß. Und es ist wirklich
so. Stirbt er ohne Nachkommen, dann fällt sein ganzer Besitz einem
Vetter zu, der in der englischen Marine dient, und den er wie die Pest
haßt. Er hat einmal irgend einen argen Zank mit ihm gehabt; nach seinen
Schilderungen muß es ein gräßlicher Kerl sein. Nun frage ich dich, ist
das nicht schandbar?«

»Weshalb?« entgegnete Hedda harmlos.

»Schlaukopf – weshalb? Wären _wir_ nicht ebenso geeignete Erben wie
dieser unausstehliche Vetter in der englischen Marine?«

Hedda lachte.

»Ich zweifle nicht daran,« entgegnete sie, »daß _wir_ uns als Erben in
der Tat ebensogut und vielleicht besser ausnehmen würden. Aber deinen
Ärger versteh’ ich trotzdem nicht recht, Vater. Du sagst ja selbst, daß
du nie an die Möglichkeit gedacht hättest, je einmal von Schweden aus
berücksichtigt zu werden –«

»Vorher nicht,« fiel der Alte ein; »aber jetzt liegt die Sache doch
anders.«

»Ich wüßte nicht inwiefern, gestrenger Herr Vater.«

Der Freiherr überhörte die letzte Äußerung. Er hatte den Kopf in die
Hand gestützt und schaute sinnend und melancholisch, mit leisem Seufzer,
zu Hedda hinüber.

»Schade, daß der Axel so ’n armer, kranker Teufel ist,« sagte er.

»Ich bemitleide ihn auch, und von ganzem Herzen –«

»Denk mal, was das für eine Partie für dich gewesen wäre!«

Hedda fuhr betroffen auf; dann lachte sie wieder: »Willst du mich denn
so absolut los sein, Papa?«

»Unsinn! Du weißt recht gut, daß ich dich am liebsten immer bei mir und
um mich behalten möchte – weißt’s recht gut! Aber ’mal muß ich mich
doch mit dem Gedanken vertraut machen, dich abzugeben – lieber Gott,
das ist doch nun einmal das Schicksal der Töchter! Glaube nicht, daß ich
gar so selbstsüchtig bin; ich habe mir über deine Zukunft schon manchmal
meine Gedanken gemacht. Jahr um Jahr vergeht, und du sitzest hier auf
dem Baronshofe und lernst keinen vernünftigen Menschen kennen –«

»Erlaube, Papa –«

»Na ja, ich meine, keinen, der sich für dich eignen würde. Mit dem
Gunther von da drüben war es doch nichts! Es ist eine niederträchtige
Geschichte. Ich ärgere mich, daß ich dich nicht doch noch zu Tante Jutta
nach Berlin geschickt habe. Es sollen sehr nette Leute bei ihr
verkehren.«

»Trotzdem ist es fraglich, ob mir einer von ihnen gefallen hätte.«

»Lieber Himmel, du kannst doch nicht alte Jungfer werden?!«

Hedda erhob sich und gab dem Alten einen Kuß.

»Ängstige dich nicht meinetwegen, Vater,« sagte sie heiter. »Das
Heiraten gehört freilich sozusagen zum weiblichen Beruf, aber es gehören
auch immer zwei dazu. Finden sich die nicht zusammen, dann muß man sich
zu trösten suchen. Und das werde ich tun – wenn es nicht anders ist.
Nun schlaf wohl und verträume die ernsten Gedanken!«

Sie strich ihm über die Stirn und klingelte nach August. –

Als Hedda am folgenden Morgen aufgestanden war, fand sie Axel bereits im
Parke vor. Er kam ihr mit fröhlichem Lachen entgegen.

»Du wunderst dich über mein Frühaufstehen,« sagte er, ihr die Hand
reichend. »Das ist aber nichts weeter als eine Folge des
Frühschlafengehens, Hedda. Ich bin etwas nervös und an kurzen Schlummer
gewöhnt. Vier Stunden genügen mir, oft auch nur dree. Sieh, wie herrlich
der Morgen ist!«

Das war er. Es strömte ein würziger Frühlingshauch durch den Park, der
Odem der Verjüngung und Auferstehung. Tau schillerte auf Gräsern und
Halmen, und auf den sprießenden Wiesen keimte schon der erste wilde
Blumenflor empor. Die Erlen und Weiden am Weiher setzten Kätzchen an;
die Essigbäume umkleideten sich mit goldbraunem Flaum. Auch an dem
Christusdorn brachen bereits zartgrüne Knöspchen auf, und die
Fliederbosketts standen in frischem Blätterschmuck.

Hedda fragte, wie Axel geschlafen habe. Seine gewohnheitsgemäßen drei
Stunden gut, antwortete er; nicht einmal der Geist des verräucherten
Ahnherrn habe ihn gestört. Und von Beginn des Frühdämmerns an, wo seine
Schlummerzeit um sei, habe er dem Erwachen der Natur gelauscht. Die
Sperlinge hätten angefangen und dann die jungen Schwalben in ihrem Nest
dicht unter dem Fenstersims. Hierauf hätten sich die Krähen in den
Birken zu rühren begonnen, eine außerordentlich lebhafte Gesellschaft,
die dem Aufgang der Sonne mit großem Geschrei entgegensehe; auch ein
Storch müsse sich in der Nähe angesiedelt haben, dessen Klappern Axel
deutlich gehört haben wollte. Schließlich kam das Geflügel auf dem
Wirtschaftshof an die Reihe, zuerst undeutlich, denn das Viehzeug war
noch in seinen Ställen eingesperrt. Aber man hätte doch schon die
verschiedenartigen Organe unterscheiden können: das dumpfe Krähen der
Hähne, das Glucken der Hennen, das Schnattern der Gänse und Enten.
Dazwischen zuweilen den sanft mahnenden Brüllton einer Kuh, ein
Pferdewiehern und im Verein mit melodischem Kettenklirren das Anschlagen
des Hofhundes. Endlich erwachte auch der Mensch. Man hörte die Pumpe
arbeiten – sie müsse einmal geölt werden, sagte Axel – und dann das
Öffnen verschiedener Türen, und nun hätten sich die sämtlichen Stimmen
zu einem gemeinsamen Konzerte vereinigt. Doch immer habe das helle
Schmettern der Hähne das Leitmotiv angegeben ...

Hedda amüsierte sich sehr über diese Schilderung. Sie fand, daß der
Vetter heut ungleich frischer, wohler und jünger aussah als gestern. Sie
fand auch, daß er ein eigentümlich feines und zartes Gesicht habe, mit
hellen, strahlend blauen Augen und einem Spinnennetz winziger Fältchen
darunter, das aber merkwürdigerweise durchaus nicht entstellend war. Was
ihr indessen am meisten auffiel, war die intensive Blutfarbe seiner
Lippen. Er war bereits fertig angezogen, nur trug er statt des Rocks ein
Morgenjackett aus bräunlichem, gestepptem Eskimo. Er sah sehr elegant
aus, trotz seiner langen, etwas schwippen Figur und seiner schlechten
Haltung.

Sie kehrten zusammen in das Haus zurück, wo der Freiherr bereits am
Teetisch saß und ungeduldig auf die beiden wartete. Trotz des
Frühlingstages brannte Feuer im Kamin, und das konnte man in dem großen
Saale schon vertragen. Die Scheite knisterten und knackten, und die
Flammen zuckten hin und her.

Während des Frühstücks fragte Axel seinen Gastgeber aus. Er sei
neugierig und wolle alles wissen, sagte er, was für den Baronshof von
Interesse sei. Hedda und der Alte begannen zu erzählen, namentlich der
Alte nahm die Gelegenheit wahr, einmal sein Herz auszuschütten. Er
schilderte den jahrelangen verzweifelten Kampf, den er um seine Scholle
geführt hatte, aber schließlich sei sie nicht mehr zu halten gewesen.
Übrigens sprach Hellstern vernünftig und ruhig. Er schimpfte nicht auf
die »Handelsverträge und das römische Recht« und vermied die
landläufigen Phrasen. Er war der Meinung, daß man heutzutage bei der
Landwirtschaft nur dann etwas erübrigen könne, wenn man für alle Fälle
Kapitalien hinter sich habe. Man müsse den Schwankungen der Preise
Trotz bieten, müsse auch Courage und die nötigen Mittel haben, um einmal
eine Neuerung wagen zu können. Zum Beispiel der alte Usen auf Karstädt
– was habe der aus seiner Herrschaft gemacht! Ein geiziger Mann, der
die niedrigsten Löhne zahle und seine Leute wahrhaft aussauge, aber für
das Land sei ihm nichts zu teuer. Sein Maschinenapparat sei ein wahres
Wunder. Und all das lohne sich; die geopferten Gelder seien nicht
fortgeworfen. Aber man müsse sie eben haben – und er, Hellstern, hatte
sie nicht. Damals, wie die Hellsterns aus Schweden herübergekommen,
waren sie reiche Leute gewesen, aber wo war der Mammon geblieben?
Verpulvert, verschleudert, vergeudet – »adjö!« ... Daß die
Landwirtschaft gute Erträgnisse abwerfe, wenn man reichlichen Hinterhalt
habe, um nachfeuern zu können, sehe jetzt selbst die Finanz ein. Alle
reichen Juden kauften sich Güter ...

Axel hatte schweigend zugehört, und als Hellstern zu Ende war, bat er
sich von Hedda noch ein Stück Streuselkuchen aus, der ihm zu Ehren
gebacken worden war, und den er als delikat bezeichnete, und sagte
sodann:

»Es ist jedenfalls jammerschade, daß du dein Besitztum verkauft hast,
Onkel Frederic. Ich verstehe dich nicht, daß du dich damals nicht an
mich gewandt hast – ich hätte dir doch so gern geholfen.«

Der Freiherr schüttelte den Kopf.

»Du standst mir zu fern, Axel,« erwiderte er. »Und dann lagen auch schon
überreichlich Hypotheken auf dem Gut. Es wäre Unsinn gewesen, noch
weitere Versuche zu wagen. Ich bin froh, daß ich den Baronshof behalten
konnte und dabei noch mein leidliches Auskommen habe. Kommerzienrat
Schellheim hat freilich gewaltig geschachert, aber ein andrer hätte
vielleicht noch weniger gezahlt. Schließlich bin ich ganz zufrieden.«

Man erhob sich. Axel schlug einen Spaziergang vor, und Hedda war
einverstanden.

Sie gingen durch das Dorf. Für alles zeigte der Vetter Interesse. Hedda
mußte ihm von der Quelle erzählen. Der neuschaffende Einfluß des
Heilwassers machte sich bereits überall bemerkbar. Die Dorfstraße wurde
gepflastert; Scharen von Arbeitern klopften und hämmerten; es klang und
gellte durch die frische Morgenluft. Am Kruge wurde ein neuer Flügel
angebaut. Die alte Inschrift: »Gastwirtschaft von C. Möller« war längst
übertüncht worden; Riesenbuchstaben, schwarz mit Goldrand: »Hotel
Möller«, sollten sie ersetzen. Die Logierhäuser Alberts stiegen in die
Höhe; überall regten sich fleißige Hände.

Axel wollte auch den »Kurpark« sehen. Man rodete und pflanzte noch. Die
Natur kam hier den Gärtnern wesentlich zu Hilfe. Der junge Buchenwald
war wunderschön, und die humusreiche Erde ermöglichte leicht die
Anbringung hübscher Bosketts. Der Kommerzienrat hatte es aber noch
vornehmer haben wollen. Auch exotische Pflanzen sollten dabei sein,
Palmen, Agaven und dergleichen mehr, und so wurde denn nach der Wiese zu
ein Treibhaus errichtet, zur Aufbewahrung der Seltenheiten während der
kälteren Jahreszeit.

Zahlreiche Menschen waren auch im Kurparke tätig. Plötzlich neigte Hedda
grüßend den Kopf; sie hatte den Kommerzienrat entdeckt. Seit der
verfehlten Werbung Gunthers war eine Entfremdung zwischen den Insassen
des Baronshofs und des Auschlosses eingetreten. Man besuchte sich nicht
mehr. Nun aber schritt Schellheim Hedda mit verbindlichem Lächeln
entgegen, lüftete seinen Hut und reichte ihr die Hand. Sie stellte Axel
vor.

»Freue mich sehr,« sagte der Kommerzienrat. »Sie lernen die
Entstehungsgeschichte eines neuen Bades bei uns kennen, Herr Baron. Herr
Baron sprechen doch Deutsch?«

»Gewiß,« erwiderte Axel; »nur mit dem Akzent geht es zeetweelig noch
nicht so recht. Das interessiert mich alles sehr, Herr Kommerzienrat.
Das ist sozusagen ein Stückchen Kulturgeschichte. Wird das da drüben ein
Pavillon, wenn ich fragen darf?«

»Nein,« entgegnete Schellheim, »das wird der Quellenbau. Wenn die
Herrschaften gestatten, führe ich Sie ein wenig umher. Wie geht es dem
Herrn Papa, gnädigstes Fräulein?«

Hedda dankte; sie fragte nach dem Befinden der Rätin, auch unbefangen
nach Gunther. Das schien Schellheim zu freuen; er wurde ausführlich.
Gunther war noch immer in Montreux; seine große Arbeit ging dem Abschluß
entgegen.

»Ein neues Kapitel zur Faustforschung, gnädiges Fräulein –«

»Ja – ich weiß, Herr Kommerzienrat –«

»So – Sie kennen das Thema? Der Pastor ist ganz begeistert; Gunther hat
ihm die ersten Bogen geschickt. Es muß etwas Eigenes sein, dies Grübeln
und Forschen und Suchen – ein Glücksgefühl, das unsereiner gar nicht
kennt, nicht einmal begreift ... Also dies wird der Quellentempel –«

Und Schellheim begann zu erklären. Den Anfängen nach zu urteilen, mußte
man mit großen Mitteln wirtschaften. Der Quellenbau bestand aus Marmor
und Schmiedeeisen; ein bekannter Berliner Architekt hatte den Entwurf
geliefert. Auch die Wandelhalle war eine elegante und luftige
Eisenkonstruktion. Hier und da wurden zwischen den Bosketts Statuen und
an den Endpunkten der Laubengänge Ruhesitze errichtet. Künstliche
Felspartien wurden geschaffen und ein ganzes Parterre hochstämmiger
Rosen. Vom Brunnen aus zog sich eine Art Boulevard quer durch den Park.
Hier waren zwei Reihen Buchen stehen geblieben, eine prächtige Allee
bildend. Die ehemalige Klemptsche Wiese sollte die Spielplätze hergeben,
für Lawn Tennis, Croquet und Golf, auch an eine Radfahrbahn dachte man.
Die Chaussee war belebt. Wagen auf Wagen rollte heran, mit Bauholz,
Eisen und Steinquadern bepackt, dazwischen ganze Fuhren von gelbem
Kies. Für die Arbeiter waren in den sogenannten »Sandkuhlen« der Grauen
Lehne Baracken errichtet worden; Fritz und die alten Möllers hatten die
Verpflegung der Leute übernommen. Neben dem Kommerzienrat sah man
überall die schlanke Gestalt Alberts. Er war der erste auf dem Platze
und verließ ihn als letzter. Seine Tätigkeit war erstaunlich; es zeigte
sich, daß er ein ganzer Geschäftsmann war und trotz seiner Halbbildung
ein Organisationstalent erster Ordnung. Gegen Schellheim war er von
kriechender Unterwürfigkeit, und wenn er mit den Seinen allein war,
schimpfte er auf ihn. Anfänglich hatte er viel schlaflose Nächte gehabt;
der Gedanke, daß der Kommerzienrat ihn übervorteilen könne, beunruhigte
ihn maßlos. Und dann hatte er wieder darüber gegrübelt, wie man sich
Schellheims am bequemsten entledigen könne, wenn alles »fertig sei«.
Schließlich aber hatte er sich gefügt. Es ging nicht anders. Schellheim
war nicht mehr los zu werden, war auch nicht zu entbehren. Die
Gesellschaft war gegründet; an ein gegenseitiges Betrügen war nicht zu
denken. Dennoch betrachteten sich beide mit einem gewissen Mißtrauen.

Hedda erschien das rastlose Leben und Treiben in und um Oberlemmingen
wie ein Traumbild. Sie dachte an die Prophezeiungen ihres Vaters. Es sah
wirklich so aus, als werde das Dorf vom Erdboden verschwinden. Die
Einrichtungen, die man traf, berücksichtigten Tausende von Badegästen.
Wo sollten diese Menschen wohnen? – Die Wohnungsfrage war in der Tat
erst in der Lösung. Man wollte sich damit nicht übereilen. Auf dem
Möllerschen Terrain ließ sich eine ganze Reihe von Logierhäusern
errichten. Spekulanten aus Frankfurt hatten bereits Bauplätze gekauft,
auch der Getreidehändler Ring aus Zielenberg, der Schwiegervater
Bertolds, begann zu bauen. Und dann unterhandelte man noch mit Raupach
und Thielemann, deren Gehöfte in der Nähe der großen Landstraße lagen.
Am wichtigsten war freilich Braumüller, doch der hatte bisher jedweder
Lockung widerstanden. Er war ein schlauer Patron; die Preise mußten noch
ganz anders in die Höhe gehen. An seinem Zaun stand ein alter
Akazienbaum, der den Kommerzienrat ärgerte, weil er die Aussicht auf den
Boulevard störte. Schellheim beauftragte Albert, den Baum zu kaufen und
fällen zu lassen. Braumüller forderte fünfzig Taler. Albert erklärte das
für eine Gemeinheit; das Holz sei nicht fünf Taler wert. Dann solle der
Baum stehen bleiben, gab Braumüller zurück. Die beiden handelten auf Tod
und Leben, vier Wochen hindurch. Jeden Abend erstattete Albert dem
Kommerzienrat Bericht. Braumüller blieb lachend bei seiner Forderung,
und schließlich sagte Schellheim wütend zu Albert: »Zahlen Sie dem Kerl
die fünfzig Taler – der Teufel soll ihn holen, den Gauner!« Braumüller
strich die fünfzig Taler ein, ohne daß ihn der Teufel holte, und betrank
sich am Abend, so daß ihn zwei Knechte nach Hause tragen mußten.

Das zukünftige Hotel Möller war nicht mehr für die Bauern da. Fritz
hatte den Stall, in dem die Schankstube provisorisch untergebracht
worden war, ausbauen lassen; das war jetzt der Krug. Die Bilder von
Friedrich Wilhelm IV. und der Königin Elisabeth waren mit
herübergekommen. Es war wie eine Revolution. Die alte Möllern weinte
zuweilen; sie sah nichts Gutes darin, daß alles so fein und so vornehm
wurde. –

Hedda war mit Axel den Döbbernitzer Weg hinabgegangen. Auf Schritt und
Tritt machte sich der Anbruch der neuen Ära bemerkbar. Auch drüben auf
dem Kirchenland, jenseits der Barbe, arbeiteten die Leute. Man sah die
ragende Gestalt des Pastors unter ihnen und seinen wehenden weißen Bart.
Mitten in der Tannenschonung wurde ein großer Platz freigelegt; dorthin
sollte das Kinderasyl Eyckens kommen. Ein hoher Mastbaum überragte das
Schwarzgrün der Tannenwipfel, mit einer flatternden Fahne, die ein
achtspitziges Kreuz trug, hinweisend auf die Protektion des Ordens von
Sankt Johannes vom Spital zu Jerusalem, unter dessen Hut die neue
Kinderheilstätte stehen würde.

Hedda fragte Axel, ob ihn der weite Spaziergang nicht anstrenge. Sie
hatte ihn wieder zu öfterem husten hören. Aber er verneinte; er fühle
sich sehr wohl und auch sehr glücklich.

»Ja – sehr glücklich, Cousine,« wiederholte er. »Ist es der Reez des
Neuen oder die frische Landluft oder die Freude, einmal mit lieben
Verwandten zusammen sein zu können – ich kann dir nur sagen: ich fühle
förmlich, wie mir das Herz auftaut – ich spüre selbst so etwas wie
Frühling in meiner Brust! Das ist mir lange nicht passiert – und ich
danke dir und dem Onkel wirklich aufrichtig dafür, daß ihr mir gestattet
habt, euch besuchen zu dürfen.«

»Aber ich bitte dich, Vetter,« wehrte Hedda den Dank unter hellem
Erröten ab, »wir haben uns ja so gefreut, dich kennen zu lernen, und
hoffen, es wird nicht das letzte Mal sein, daß du auf dem Baronshofe
bist. Du glaubst nicht, wie froh ich bin, daß es dir bei uns gefällt –
denke dir, ich habe eine Todesangst gehabt, du würdest ein furchtbar
verwöhnter Prinz sein und nichts gut genug für dich finden! Mein Gott,
es geht doch schrecklich einfach bei uns zu!«

»O Hedda, du mißverkennst mich völlig,« entgegnete Axel. »Ich bin
verwöhnt – allerdings – das heeßt, ich richte mir das Leben, soweit es
möglich ist, nach eegner Bequemlichkeit ein. Aber das will noch nicht
sagen, daß ich mich lediglich in der Bequemlichkeit wohl fühle. Ich habe
einmal eine Expedition in das Innere von Spitzbergen mitgemacht, wo wir
uns im Schneegestöber verirrten und dree Tage lang auf trockenen
Schiffszwieback angewiesen waren – es hat mir nicht wehe getan. Ich
liebe den Luxus, doch ich entbehre ihn nicht. Ich entbehre ihn um so
weniger, wenn ich mich sonst wohl fühle, Hedda. Und ich kann dir nur
wiederholen: es weht mir hier bei euch so eine Art Glücksempfinden durch
die Seele – ich weiß nicht, woher es kommt – so etwas wie
Heematluft.... Ich bin stets ein eensamer Mensch gewesen, und merkwürdig
genug: im tollsten Trubel hab’ ich mich immer am eensamsten gefühlt. Nun
hat man mir auch Jarlsberg verboten – wegen der rauhen Luft und des
verdamm – o Pardon, meines Hustens wegen. Man hat mir die Heemat
genommen. Das tut mir weher als der harte Schiffszwieback in Spitzbergen
– und es ist mir, als hätte ich hier Ersatz gefunden ...«

Hedda rührte das Geständnis des langen Vetters, des armen »Heimatlosen«,
der, mit Glücksgütern überhäuft, sich doch nicht glücklich zu fühlen
schien. Er war sicher kein Alltagsmensch, sondern eine feine und zarte
Natur, mit kompliziertem Seelenorganismus – einer, der immer einer
linden, weichen und schonenden Hand bedurfte. Sie begriff schon, daß er
sich leicht einsam fühlte bei seinem Hange, abseits zu gehen, und der
Notwendigkeit, in der großen Welt zu leben. Das war ein Zwiespalt, den
er hart empfinden mußte.

»Weißt du, Vetter,« begann sie wieder, »daß ich deinen Entschluß, den
Dienst zu quittieren, für sehr vernünftig halte?«

»Wirklich?« fragte er.

»Ja, wirklich. Ich glaube, du bist gar kein Beamtenmensch. Alles
Gegliederte, Schematische und Bureaukratische ist dir zuwider.«

»Das ist es. Dabei bin ich aber merkwürdigerweise eine peinlich
ordentliche Natur, Hedda.«

Sie lachte.

»Du bist sozusagen in keine Kategorie einzureihen –«

»Ach nein – in keine des #genus homo#!«

»Es ist noch ein Glück, daß du nicht aufs Carrieremachen angewiesen
bist,« fuhr Hedda, wieder ernster werdend, fort. »Und bei deinem
lebhaften Geiste fürchte ich auch nicht, daß du untätig bleiben und dich
langweilen wirst.«

»O du lieber Gott, Hedda – ich kenne das Wort Langeweile überhaupt
nicht! Ich habe so hunderterlei Interessen – und wenn ich mich dazu
entschloß, zur Diplomatie zu gehen, so geschah es nur – gewissermaßen
aus traditionellen Rücksichten; irgend einen Beruf mußte ich doch
ergreifen, und der diplomatische gilt bei uns als der vornehmste. Alle
Hellstjerns sind Diplomaten gewesen, aber ich glaube, es war nie ein
besonders hervorragender darunter. Doch einer, Christiern Hellstjern –
der trank um 1500 Sten Sture unter den Tisch und soll dadurch den großen
Adelsaufstand beigelegt haben – doch ist es immerhin fraglich, ob man
diese Leistung als diplomatische Heldentat betrachten darf ...«

Sie waren nun bereits mitten im Walde und schlugen den Weg nach dem See
ein. Er lag in voller Bläue vor ihnen, mit anmutig geschwungenen Ufern,
die auf allen Seiten zu Bergrücken aufstiegen. Unten erstreckte sich
Laubwald und weiter oben dunklerer Tannenforst. Die Form des Sees
erinnerte Axel an den Lago di Como und die eigentümliche Gestaltung
einzelner hoher Kiefern an die Pinien Italiens. Aus der Ferne schimmerte
wieder, in leichten Dunst gehüllt, der eckige Turm des Döbbernitzer
Schlosses in verschwimmenden Umrissen herüber.

Axel fragte nach dem Besitzer des Schlosses. Aber Hedda beschränkte sich
auf kurze Mitteilungen. Baron Zernin sei ein entfernter Verwandter; er
habe abgewirtschaftet, ein Duell gehabt und sei noch auf der Festung;
dieser Tage solle das Gut subhastiert werden – man erzähle sich,
Schellheim werde es kaufen.

Der Vetter wurde aufmerksam.

»Ist der Zernin ein Sohn des ehemaligen Ministerpräsidenten?« fragte er.

»Ja, Vetter, der einzige.«

»Und ist das Gut im Stande?«

»Nein, arg vernachlässigt. Aber der Boden soll nicht schlecht sein, und
Schloß und Park sind herrlich.«

Axel nahm seinen Hut ab und strich sich mit dem Foulard über die Stirn.
Dann suchte er sich einen Stein am Ufer aus, legte sein Taschentuch
darüber und ließ sich nieder.

»Bist du nicht auch müde, Hedda?«

»Nicht die Spur; ich bin eine sehr forsche Fußgängerin.«

Er schaute sie ernst und lange an.

»Ach,« sagte er, »wie beneide ich dich um deine quellige Frische! Du
bist ein echtes Germanenweib, Hedda –« und plötzlich brach er ab und
winkte ihr. »Komm, setz dich zu mir, wenn du auch nicht müde bist – es
plaudert sich besser.«

Er rückte ein wenig zur Seite. Der Stein bot Platz für zwei. Hedda
setzte sich zu ihm. Sie hätte gern die Röte zurückgedrängt, die sie
plötzlich auf ihren Wangen fühlte. Eine leichte Unruhe überschlich sie.
Ihr war genau so zu Mute, als müsse im nächsten Augenblick ein Antrag
kommen.

Doch sie irrte sich. Axel starrte über den See, die schilfumbuschten
Ränder und das Sonnenflirren im Wasser und sagte dann plötzlich:

»Vielleicht ist das etwas für _mich_ – dies Döbbernitz da drüben.«

»Wie meinst du das?«

»Nun – irgendwo muß ich mir doch wieder so eine Art Heimat schaffen,
Hedda – und hier in eurer Nähe gefällt mir’s schon am besten. Immer
unter fremden Menschen zu sein, ist auch schrecklich. Ich werd’ mich
nach den Verhältnissen in Döbbernitz erkundigen ...«

Hedda nickte nur zustimmend; sie antwortete nicht. Die Idee des
Vetters, sich um das Nachbargut zu bewerben, kam ihr so plötzlich, daß
sie nicht recht wußte, ob sie sich darüber freuen sollte. Axel schien
ihr Schweigen unrichtig zu deuten; er schaute sie von der Seite an und
sagte:

»Das heißt, Cousine, wenn es dir recht ist –«

Jetzt lachte Hedda.

»Aber, Vetter,« antwortete sie heiter, »warum soll es mir nicht recht
sein? Es ist doch naturgemäß, daß ich Döbbernitz lieber in den Händen
eines Verwandten als in denen eines Fremden weiß, zumal es früher einmal
Hellsternscher Besitz gewesen ist –«

»Wirklich?« fiel Axel ein.

»Jawohl, der Große Kurfürst schenkte es dem Hellstern – ich glaube, er
hieß auch Axel –, der mit Sparre zusammen aus schwedischen Diensten in
brandenburgische übertrat; dann kauften es die Rothenburgs und später
die Zernins.«

»Es ist gut, daß ich dies weiß,« erwiderte Axel ernsthaft;
»Familienerinnerungen muß man wert halten ...«

Und nun wurde er schweigsam, während man langsam den Heimweg antrat.
Offenbar ging ihm seine Idee durch den Kopf. Er sprach übrigens tagsüber
nicht mehr davon. Hedda wunderte sich, daß er nicht wenigstens ihren
Vater zu Rate zog, aber es schien, als vermeide er mit Absicht, das
Thema von neuem anzuregen.

Am nächsten Morgen trompetete abermals eine Extrapost auf dem Baronshof,
die sich Axel in Zielenberg bestellt hatte. Hellstern war böse darüber.
Sein Wagen tät’ es auch noch, meinte er, und seine dicken Füchse liefen
ganz gut. Aber Axel wollte keinerlei Umstände verursachen. Er versprach,
in Bälde wiederzukommen, und nahm herzlichen Abschied. Sein Dank klang
so warm, daß man fühlen konnte, wie ehrlich er es meinte. Er küßte den
Alten auf beide Wangen und drückte Heddas Hände fest. »Ein merkwürdiger
Mensch,« dachte sie, als sie sah, daß seine Augen feucht geworden waren.

August war voll hohen Lobes über den Herrn Vetter aus Schweden.

»Er hat jedem von uns ein Goldstück als Trinkgeld gegeben, gnädiges
Fräulein,« erzählte er Hedda. »Mir zwanzig Mark und Dörthen und Gusten
je zehne. Wenn man denkt, daß der junge Herr Baron kaum drei Tage bei
uns war, so ist das eigentlich ein bißchen viel. Aber unsereiner kann
das doch nicht zurückweisen – wie würde das denn aussehen!«

Auch bei Tische kam man nochmals auf Axel zurück.

»Ich werde nicht klug aus ihm,« sagte Hellstern. »Er ist mir zu weich,
zu lasch, nicht männlich genug. Aber vielleicht liegt das an seiner
Krankheit, vielleicht auch tatsächlich an dem Empfinden von
Heimatlosigkeit, das ihn beherrscht.... Übrigens, was ich dir erzählen
wollte, Hedda: der Klaus ist begnadigt worden – man hat ihm den Rest
seiner Festungshaft geschenkt. Ich denke mir, er wird abermals Mittel
und Wege finden, der drohenden Subhastation zu entgehen.«

»Und damit würde Axels Idee, Döbbernitz zu kaufen, ins Wasser fallen,«
entgegnete Hedda.

»Es wäre im Grunde genommen ganz gut,« erwiderte der Alte; »so mal für
ein paar Tage ist er sicher sehr nett, aber für den ständigen Verkehr –
ich kann nur wiederholen, da ist er mir zu lasch ... Meinst du nicht
auch?«

Hedda zuckte zerstreut mit den Achseln. Sie dachte in diesem Augenblick
an Klaus und nicht an den schwedischen Vetter.



Zehntes Kapitel


Nun war endlich der langersehnte Tag gekommen, an dem die neue Quelle
ihre feierliche Weihe empfangen sollte. Es war später geworden, als man
anfänglich erhofft hatte. Der Sommer war bereits mit heißem Prangen in
das Land gezogen, und auf den Feldern begann sich die Saat schon gelb zu
färben. Aber man hatte diesmal nicht das Interesse an der Ernte wie
sonst: die Quelle zog die Aufmerksamkeit aller auf sich. Ehe sie noch
offiziell erschlossen worden war, hatten sich bereits die ersten
Badegäste eingefunden: ein paar Familien aus Frankfurt an der Oder und
auch einige Berliner, die sich für den ganzen Sommer in Oberlemmingen
festsetzen wollten. Aber auch andre hatten sich angemeldet, aus weiterer
Ferne, selbst aus Süddeutschland. Die Broschüre, die Professor Statius
über die Heilwirkungen des Wassers geschrieben hatte, war zu
Hunderttausenden in alle Welt gegangen. Ein federgewandter
Schriftsteller, den Schellheim ausfindig gemacht, hatte eine
Beschreibung des neuen Badeortes angefügt und mit schönen Worten seine
romantische Lage gerühmt, den Kranz grüner Wälder, der das freundliche
Dorf umgab, die Reize des Kurparks, der Wiesen und Felder, und eine
ganze Anzahl eingestreuter Illustrationen sorgte für noch bessere
Veranschaulichung dieser Lobeshymnen. Und was die Hauptsache war: der
Ton lag auf der Billigkeit von Oberlemmingen. Hier herrschten sozusagen
noch patriarchalische Sitten; hier war es nicht wie in Karlsbad und
Kissingen und den sonstigen großen Bädern; die Kurtaxe war gering, die
Lebensmittel bekam man fast umsonst, für Logis und Bedienung waren die
denkbar niedrigsten Sätze aufgestellt worden. Bei der Lektüre der
Broschüre konnte man den Eindruck gewinnen, als mache man Ersparnisse
bei einem längeren Aufenthalt in diesem stillfriedlichen märkischen
Paradies. Als der alte Möller sich eines Tages nach mancherlei Mühe
durch die Broschüre durchgeackert hatte, bezeigte er sich nicht sehr
zufrieden. Die ewige Betonung der billigen Preise behagte ihm nicht.
»Wie sollen wir denn dabei auf die Kosten kommen?« fragte er Albert.
Doch der lächelte verschmitzt, steckte die Hände in die Hosentaschen und
klimperte mit dem lockeren Gelde, das er immer in den Beinkleidern trug.
»Das ist einfach der Köder, Vater,« antwortete er; »erst müssen die
Leute _kommen_ – nachher wird sich’s schon finden, wie wir sie
drankriegen.«

Braumüller hatte wirklich verkauft. Das war ein harter Kampf gewesen.
Wochenlang schacherte er mit Bertold. Er wollte nicht recht, hatte aber
Frau und Tochter gegen sich, die der Gedanke an das viele Geld und an
die Wahrscheinlichkeit, nach der Stadt überzusiedeln, verlockte.
Namentlich Lise drängte es nach der Stadt. Seit sie wußte, daß Albert
sie doch nicht nehmen würde, träumte sie von einer Partie mit einem fest
angestellten Beamten. Sie wollte hoch hinaus; sie hatte Geld und dankte
für die Bauernwirtschaft, für das Frühaufstehen, das Melken im
schmutzigen Stall und das Abrackern auf dem Felde in glühender
Sonnenhitze. Aber der Vater verbat sich das Gerede. Nun ja, er hatte
verkauft und ein gutes Geschäft gemacht. Doch er wollte in Oberlemmingen
bleiben, vorläufig wenigstens. Er war auch neugierig, was denn nun
eigentlich aus Oberlemmingen werden würde. Und so hatte er sich beim
Verkauf freies Wohnrecht in drei Zimmern seines alten Hauses für die
nächsten beiden Jahre ausbedungen. Da er aber keine Arbeit mehr hatte,
so lag er von früh bis spät in der Wirtsstube und kam Abend für Abend
betrunken nach Hause.

Am Weihetage der Quelle ruhte selbstverständlich die Arbeit in ganz
Oberlemmingen. Das kam selten genug vor, denn seit Monaten hatte im
Dörfchen eine geradezu fieberhafte Tätigkeit geherrscht. Aber so
vornehme Gäste wie heute hatte Oberlemmingen auch noch nicht gesehen.
Aus allen Ortschaften der Umgegend, wo ein Gutssitz war, rollten die
Equipagen heran. Man kannte sie alle: die große Glaskutsche des
Döbbernitzer Oberförsters, in der auch das ABC in rosa Mullkleidchen
dicht aneinandergedrängt Platz gefunden hatte, den Landauer des Landrats
von Wessels, den Klapperkasten des Kreisphysikus Doktor Stramin, das
elegante Gefährt der Woydczinska, die Wagen der Klitzingks, Nehringens
und Schmiedows und der reichen Frau Necker und schließlich auch den
gelben Korb Exzellenz Usens, dessen Kutscher inmitten der übrigen
Galonnierten wie ein Fuhrknecht aussah. Nur die alte Viktoriachaise aus
Grochau fehlte; Hauptmann Biese weilte noch in der Schweiz; die Kugel
Zernins hatte ihn für lange auf das Krankenlager geworfen, und die
Genesung war noch nicht vollständig.

Nach Zielenberg hatte Kommerzienrat Schellheim seine eigne Equipage
geschickt, um die Vertreter der Regierung abzuholen, die aus Frankfurt
gekommen waren. Er erwartete sie an der Spitze der Deputation, zu der
außer einigen Häuptern des Kreises auch Albert Möller, Pfarrer von
Eycken und der Lehnschulze gehörten. Baron Hellstern war vergeblich
gebeten worden, sich anzuschließen. Er hatte mit Bestimmtheit abgelehnt
und knurrte und brummte auf dem Baronshofe umher; auch Hedda und selbst
August brummten, denn der Alte hatte ihnen zu verstehen gegeben, er
wünsche nicht, daß sich irgend einer vom Baronshofe an dem Firlefanz da
unten beteilige.

Es war heiß um diese Mittagstunde, und die ganze Empfangsdeputation
schwitzte. Der Kommerzienrat trug etwas winziges Rotes im Knopfloch
seines Fracks; er war Besitzer des Ordens von der Büste Bolivias, den
man auch um den Hals tragen konnte, aber das Bändchen sah hübscher aus
als die groteske »Büste«. Der Landrat war in der Reserveuniform des
Kürassierregiments erschienen, bei dem er gedient; man wußte nicht
recht, warum er sich so kriegerisch in Szene gesetzt hatte. Eycken trug
Talar; obschon man auch den Superintendenten erwartete, sollte _er_ die
Weiherede halten.

Endlich wirbelten Staubwolken auf der Chaussee empor. Gott sei Dank –
das war »die Regierung«! Sie kam zu Hauf! Voran der Präsident im Frack
mit klingendem Ordensschmuck und dann eine ganze Masse seiner Beamten,
die meisten in Uniform, weil sich selten einmal eine Gelegenheit bot, wo
sie ihr schimmerndes Kostüm anlegen konnten. Nach kurzer Vorstellung und
Begrüßung ging es sofort in den Kurpark, den Gendarmen abgesperrt
hielten, da auch aus den Dörfern ringsum sich die Neugierigen zu vielen
Hunderten eingefunden hatten. Es war ein ganz großstädtisches Leben und
Treiben wie bei Gelegenheit einer Parade oder eines Kaiserbesuchs, ein
buntes Gewühl und Gewimmel festlich gekleideter Menschen, die die
Einweihung der Quelle als interessantes Schauspiel und willkommene
Abwechslung betrachteten.

Im Kurpark vollzog sich inzwischen der feierliche Akt genau nach den
vorher getroffenen Bestimmungen. Es war hier im Gegensatz zu der
brennenden Mittagsglut auf der Chaussee wundervoll kühl und schattig.
Ein grünlicher Dämmer spann seine Schleier zwischen den Stämmen der
Buchen aus, und Sonnenflecken kreisten und zitterten überall auf dem
gelben Kies der Wege. Der Superintendent eröffnete die Feier mit einem
Gebet, dann hielt Eycken die Weiherede. Er stand vor dem Altar, den man
vor dem Quellentempel errichtet hatte, und sein weißer Bart fiel lang
und glänzend auf den schwarzen Talar herab. Für ihn war diese Quelle
kein Objekt säckelfüllender Spekulation; sie sprang aus Sand und
Felsgestein hervor an das Licht des Tages, um der Menschheit zu dienen,
um die Tränen des Elends hinwegzuwaschen, um die Gebrechen der Welt zu
heilen. Die heiße Liebe, die Eycken für die Kleinen und Armen erfüllte,
schwoll in seinen Worten allumfassend an. Die Quelle sollte den Erdkreis
überströmen, um mit ihrem wundertätigen Wasser alles Leid
hinwegzuspülen. Sie war eine Gabe des Höchsten und deshalb auch sollte
ihr Wohltun der ganzen Welt zugute kommen.

Nun fiel die Hülle von dem Tempelbau; Arbeiter zerbrachen die
Verzimmerung, die den Quell bisher festgehalten hatte, und in vollem
Strahl, springbrunnenähnlich, sprudelte das Wasser silberklar in die
Höhe. Eycken tauchte seine Hände in das perlenwerfende Naß und schlug
dann mit der Rechten, an der noch die Tropfen schimmerten, ein Kreuz
über die Quellenöffnung.

»So weihe ich dich denn, im Namen Gottes, zum Besten der Menschen, zum
Heile der Kranken und Siechen! Und in dankbarer Erinnerung an den, der
unser deutsches Vaterland aus Not und Elend zu Kraft, Stärke und
Gesundung zurückgeführt hat, taufe ich dich Bismarckquelle!«

So war es verabredet worden. Der Kommerzienrat hatte die Anregung zu
diesem Namen gegeben; man bedauerte nur, daß die Weihe nicht am ersten
April, am Geburtstage Bismarcks, erfolgen konnte – das wäre noch
hübscher gewesen. Doch trotzdem – der Moment war sehr feierlich. Es
ging ein Rauschen und Flüstern durch die Wipfel der Buchen, wie ein
Akkord der Zustimmung, den die Natur diesem Segenswerke zollen wollte.
Aber die meisten achteten nicht auf dies geheimnisvolle Wehen. Albert
Möller, der sich ziemlich bescheiden im Hintergrunde hielt, sah andre
Zeichen. Über die Gestalt des Pfarrers, sein weißes Haar und seinen
schwarzen Talar und auch über das springende Wasser und die
Marmoreinfassung rieselte ein ganzer Regen von Sonnenfunken. Es sah
wirklich so aus, als ströme das blanke Gold in Fülle vom Himmel herab –
und das war ein Anblick, der Albert wohltat. Er hörte nicht mehr auf
den Segen, den Eycken sprach, und auch nicht auf die kurze Rede des
Regierungspräsidenten, der mit einem Hoch auf den Kaiser schloß; der
Goldregen lenkte seine Gedanken ab, zerstreute, verwirrte und blendete
ihn. Erst als der Kommerzienrat das Wort ergriff, um den zu feiern, der
der Quelle den Namen gegeben hatte, schreckte er aus seinen Träumereien
empor, und ein haßerfüllter Blick streifte den Sprechenden. O, wie
grimmte es ihn, daß er mit dem da teilen mußte!

Nach beendeter Feierlichkeit wurde der Kurpark dem Publikum freigegeben,
und nun flutete die Menge durch die Gänge und Anlagen, während
Schellheim im Auschlosse die Herren von der Regierung bewirtete. Auch
die Mitglieder des Aufsichtsrats und Kurvorstands waren dazu geladen
worden. In der großen Halle hatte man ein riesiges Büfett errichtet,
aber auch auf der ersten Terrasse waren kleine Tische gedeckt worden. Es
war ein heiteres und buntfarbiges Bild. Die neugebildete Kurkapelle
konzertierte bei dieser Gelegenheit zum ersten Male, denn es war
selbstverständlich, daß die Dorfmusik mit dem ererbten Bombardon, das
Fritz Möller so trefflich zu meistern verstand, nunmehr für immer in der
Versenkung verschwinden mußte. Albert ärgerte sich, daß man nicht auch
seinen Vater geladen hatte. Er war blaßgrün im Gesicht. Wäre es nicht
passender gewesen, diese ganz offizielle Abfütterung unten im Hotel
Möller zu veranstalten? – Als der Regierungspräsident, das
Champagnerglas in der Hand, mit seiner zarten, wispernden Stimme der
großen Verdienste des Kommerzienrats gedachte und ein Hoch auf den
intelligenten Zauberer ausbrachte, dessen Wunderstab auch »das
Unmögliche möglich mache«, da glaubte Albert, an dem Bissen
Gänseleberpastete, den er gerade genießen wollte, ersticken zu müssen.
Das klang ja wirklich, als hätte Schellheim die Quelle entdeckt, als
hätte ihm das Terrain gehört, als wäre er derjenige gewesen, der den
ersten Anstoß zu der industriellen Ausbeutung des Heilwassers gegeben
hätte! Wahrhaftig, es war zum Lachen; den Kommerzienrat feierte man, und
ihn, den Albert Möller, den eigentlichen Urheber, den Gründer, beachtete
man gar nicht!

Man hatte an Bismarck ein Huldigungstelegramm abgesandt, und der
höfliche Alte von Friedrichsruh beeilte sich, umgehend telegraphisch zu
danken und Oberlemmingen eine gedeihliche Zukunft zu wünschen. Das
brachte neues Leben in die Gesellschaft. Exzellenz Usen, der in einer
Ecke der Halle eingeschlafen war, wachte wieder auf, und Schellheims
Gesicht glänzte vor Glück. Er brauchte es, denn er hatte am Tage vorher
eine ihn stark erregende und tief erbitternde Mitteilung erhalten. Sein
Sohn Hagen, der Älteste der Nibelungen, schrieb ihm, daß er sich zu
verheiraten gedenke, und zwar mit einem kleinen Fabrikmädchen, einer
gewissen Anna Zell, einem zwar armen, aber sehr braven und lieben
Geschöpf, wie er versicherte. Er hoffe, die Eltern würden nichts dagegen
einzuwenden haben. Schellheim war außer sich. Er entsann sich dieser
niedlichen Kleinen; sie arbeitete bei den Stepperinnen, und der
Kommerzienrat hatte einmal durch Zufall gehört, daß zwischen Hagen und
ihr schon lange eine Liebelei bestand. Dagegen hatte er nichts, aber
heiraten – nein, das war eine Unmöglichkeit! Hagen war der Leiter des
Weltgeschäfts, der Träger der Firma; er hatte die Verpflichtung, sich
eine Gattin zu suchen, die zu repräsentieren verstand. Und auf der
Stelle setzte sich Schellheim hin, um Hagen zu antworten. Er sagte ihm
gründlich seine Meinung, drohte mit Fluch und Enterbung und verbat sich
energisch, den Namen dieser Anna Zell in seiner Gegenwart auch nur zu
nennen. Auch die Rätin war bekümmert, aber sie sprach es nicht aus. Sie
ließ ihren Gatten wettern und schimpfen, ging auf ihr Zimmer und schloß
sich ein, um ungestört weinen zu können.

Gegen drei Uhr kehrte Albert Möller in das Hotel zurück. Er hatte seinen
Bruder Bertold, der bereits nach Oberlemmingen übergesiedelt war, um den
Umbau des Braumüllerschen Hauses zu überwachen, abgeholt. Es war wieder
einmal eine Familienkonferenz nötig. Fritz, der – eine große weiße
Schürze um den Leib – soeben dabei war, Weinflaschen zu etikettieren,
fragte verwundert, was es denn gebe.

»Wirst es schon hören,« antwortete der Bruder, »diesmal geht’s dich an!«

In einem der Hinterzimmer fanden sie sich zusammen: Mutter Möller
mürrisch wie immer, das Gesicht vom Küchenfeuer gerötet, der Alte,
Fritz, Albert und Bertold.

Albert ging ohne Umschweife auf die Angelegenheit los. »Ich möchte mit
euch einmal wegen der Dörthe reden,« sagte er. »Der Sache muß ein Ende
gemacht werden.«

»Wieso?« fragte der dicke Fritz aufgeregt, während die Mutter zustimmend
nickte.

»Wieso?« wiederholte Albert mit strenger Stimme. »Kannst dir’s wohl
denken. Ohne Frau weiterzuwirtschaften, geht nicht.«

»Ich habe der Dörthe versprochen, daß zu Weihnachten Hochzeit sein
soll,« entgegnete Fritz; »da wird’s ja anders werden!«

»Und ich bin doch auch noch da,« fügte die Mutter hinzu.

Albert schüttelte den Kopf.

»Du bist nicht mehr die Jüngste, Mutter,« sagte er. »So einem großen
Hotelwesen muß eine rüstige Kraft vorstehen.«

»Gottlob, das ist die Dörthe,« warf Fritz ein.

»Und wenn sie’s auch zehnmal wäre,« fuhr Albert heftig auf; »wenn du dir
hier in Oberlemmingen eine Stellung schaffen willst, kannst und darfst
du kein Bauernmädel heiraten!« ... Er lenkte ein, als er das bestürzte
und unglückliche Gesicht seines Bruders sah. »Du mußt Vernunft annehmen,
Fritz,« fuhr er fort. »Ich konnte auch nicht vorher wissen, wie sich
alles gestalten würde. Es scheint, als habe der Kommerzienrat Lust, die
ganze Macht an sich zu reißen und uns auf dem Trockenen sitzen zu
lassen. Dem müssen wir vorbeugen. Das können wir aber nur, wenn wir
Brüder uns solidarisch erklären, das heißt also, wenn wir einer für alle
stehen und uns gegenseitig aushelfen. Ich sage dir, auch ich werde
heiraten, aber ich muß noch warten; die Rechte ist noch nicht da, und
ich brauche viel Geld. Geld ist die Hauptsache.«

»Die Hauptsache,« bestätigte auch der Alte, und Bertold nickte dazu:
»Man muß rechnen.«

»Also schlag dir die Dörthe aus dem Kopf, Fritz,« begann Albert von
neuem. »Das gibt ein paar Tränen, und in einem Vierteljahr ist die Sache
vergessen. Ich habe vorhin mit dem Landrat gesprochen. Er fragte, ob wir
den Wittke wieder zum Schulzen wählen würden. Der scheint ihm nicht
recht zu passen, und er hat auch recht. Wittke ist einer von den Alten,
bäurisch durch und durch, immer in Schmierstiefeln und mit der Pfeife im
Maule. So einen können wir nicht brauchen. Oberlemmingen wird wachsen
und einen städtischen Anstrich bekommen. Der Schulze wird nicht mehr
Schulze, sondern Bürgermeister sein. Er muß auch was vorstellen können
– wir wollen ja doch die vornehme Welt heranziehen! Und das sah auch
der Landrat ein. Er hat mich gefragt, ob du dich nicht zum Schulzen
eignen würdest!«

Fritz schlug die Augen zu Boden. Er wußte nicht, was er sagen sollte.
Man wollte ihm die Dörthe nehmen; das stand fest. Und so gewaltig war
das Ansehen Alberts in der Familie gewachsen, daß er gar nicht mehr zu
widerstreben wagte. Im stillen hatte er längst gefürchtet, daß die
Verlobung wieder auseinandergehen würde.

Vater Möller hatte sich neben Albert gesetzt und die Ellbogen auf den
Tisch gestützt. Sein schlaues Bauerngesicht sah hart aus, als sei es aus
Stein gehauen.

»Hast du nun gehört, Fritz?« sagte er. »Der Landrat hat gefragt, ob du
dich nicht zum Schulzen eignen würdest?«

»Na, gewiß,« entgegnete Fritz etwas zaghaft, »warum denn nicht? Dazu
gehört doch nicht so viel!«

»Mein’ ich auch,« fügte Albert ein, »und daß du gewählt wirst, dafür laß
mich nur sorgen. Das ist eine große Stütze für uns alle, wenn du der
Ortsvorstand bist. Ich für meinen Teil werde mich darum bemühen,
Amtsvorsteher zu werden; Hauptmann Biese will niederlegen – es geht
auch nicht, daß der Vertreter eines so wichtigen Postens in Grochau
wohnt. Und nun zum Schluß: ich habe eine andre Partie für dich, Fritz.«

Fritz fuhr erschreckt in die Höhe.

»Aber, Albert – ich bin ja noch nicht einmal auseinander mit der
Dörthe,« wagte er einzuwerfen.

Jetzt nahm auch die Mutter das Wort. Sie begann sofort zu keifen und zu
schimpfen. Wenn es nach ihr gegangen, wäre die Dörthe überhaupt nicht
ins Haus gekommen. Es hätte ihr von vornherein nicht gepaßt. Und
schließlich erging sie sich in allerhand Anspielungen, das Mädchen zu
verdächtigen. Sie treibe sich herum; neulich habe man sie noch nach
Mitternacht an der Seite von Anton Tengler durch das Dorf schleichen
sehen ...

Der Alte schnitt ihr endlich mit drohender Handbewegung das Wort ab.
»Was für ’ne Partie?« fragte er Albert; »rede!«

Albert legte seinen Plan dar. Ring, der Schwiegervater Bertolds, wolle
die Sache machen. Es handle sich um die einzige Tochter Franz Grödeckes,
Schlächtermeisters in Frankfurt. Der alte Möller nickte. Er kannte den
Grödecke in der Richtstraße; ein schlauer Halunke, aber er hatte Geld
gemacht. Also dessen Tochter?! – Und Albert erzählte weiter. Das
Mädchen sei nicht mehr ganz jung, etwa dreißigjährig, aber groß und ganz
hübsch und nehme sich recht stattlich aus. Grödecke habe sich bereits
einverstanden erklärt, wolle zwanzigtausend Taler Mitgift geben, stelle
aber die Bedingung, daß ihm kontraktlich die gesamten Fleischlieferungen
für Oberlemmingen verbürgt würden. Statt dessen wolle man ihm
vorschlagen, in Verbindung mit dem Hotel eine Engrosschlächterei hier an
Ort und Stelle zu errichten. In ausführlicher Weise legte Albert die
Vorteile dieser Verbindung klar. Fritz wäre ein Narr, wenn er nicht mit
beiden Händen zugriffe.

»Da gibt’s nichts weiter zu reden,« sagte der Alte ruhig; »Fritz
heiratet das Mädel.«

Noch einmal versuchte der arme Junge zu widersprechen. Er stand auf,
reckte seine riesige Gestalt, zog die Schultern, gleichsam
entschuldigend, hoch in die Höhe und stotterte: »Vater – Vater, sei mir
nicht böse; ich kann’s nicht!«

Mit einem Sprung stand der Alte dicht vor ihm. Purpurrot färbte der jähe
Zorn sein hartes Greisengesicht. Die Augen unter der vorspringenden,
viereckigen Stirn loderten, die Fäuste hoben sich.

»So,« stieß er hervor, »du gehorchst nicht – gehorchst nicht?!«

Fritz duckte sich wie ein Schuljunge, der das Lineal fürchtet. Aber er
erwiderte kein Wort. Er zitterte am ganzen Leibe.

Albert und Bertold fielen dem wutkeuchenden Alten in den Arm. Die Mutter
stand am Fenster und schaute wortlos zu.

So war es am besten; es mußte einmal zur Entscheidung kommen.

»Laß, Vater,« sagte Albert in beruhigendem Tone, »Fritz wird gehorchen.
Er ist der Jüngste. Aber er soll seine Zeit haben. Es braucht nicht
alles kopfunter, kopfüber zu gehen. Er kann die Dörthe langsam fallen
lassen. Unterdes kommt die Frida Grödecke mal her sich vorzustellen –
es wird sich schon alles finden. Ich fahr’ morgen sowieso nach
Frankfurt, da sprech’ ich mit Grödecke.«

Fritz ging hinaus. Aber in der Tür wendete er sich nochmals um. Er sah
kreideweiß aus.

»Und der alte Klempt?« fragte er; »soll der auch betrogen werden?«

Albert schüttelte den Kopf. »Betrogen?« gab er zurück. »Und weshalb?«

»Na – mit seiner Wiese.«

»Ah – was hat das mit deiner Heirat zu tun? Wir haben ihm die Wiese
bezahlt.«

»Aber er hätte sie nicht verkauft, wenn Dörthe nicht so zugeredet hätte,
und wenn –«

»Still jetzt!« brüllte der Alte und wies auf die Tür. Krachend warf
Fritz sie ins Schloß.

Er ging wieder an seine Arbeit. Aber während er die Etiketten mit der
wechselnden Aufschrift »Trabener«, »Graacher« und »Moselblümchen« auf
die schon gefüllten – übrigens aus ein und demselben Fasse gefüllten –
Flaschen klebte, wanderten seine Gedanken ruhelos umher. Er sah
immerwährend die Dörthe neben sich stehen und zermarterte sich das Hirn,
wie er ihr wohl am besten beibringen könne, daß alles aus sei. Denn daß
es nun kein Zurück mehr gab, war klar. Der Vater würde ihn zu Boden
schlagen, wenn er noch einmal nein sagen wollte. Und vor dem Vater
zitterte er. Der Riesenmensch, der es gelegentlich fertig bekommen
hatte, mit jeder Hand einen Bauern hinten am Hosengurt zu packen und
hoch emporzuheben, schlug vor dem Drohblick des Alten die Augen wie ein
gestrafter Schuljunge zu Boden.

Er atmete, immer weiterarbeitend, mit schwer sich hebender und senkender
Brust. Und plötzlich hielt er inne. Er mußte irgend etwas zerstören,
zerbrechen, vernichten. Er holte aus, um die Flasche, die er in der Hand
hielt, gegen die Wand zu schleudern. Aber er besann sich. Nein, das war
Unsinn! Der »Trabener« stand mit einer Mark fünfzig Pfennig auf der
neuen Weinkarte.

       *       *       *       *       *

Für den folgenden Tag war in Zielenberg Termin zur Subhastation von
Döbbernitz festgesetzt worden. Der Kommerzienrat hatte sich genau
informiert. Zernin hatte seine Sache aufgegeben; er wollte dem Termin
gar nicht beiwohnen. Auch sonst erwartete man wenig Reflektanten. Man
glaubte überall, Herr von Zernin werde, wie schon dreimal, auch diesmal
wieder im letzten Augenblick eine Hilfsquelle gefunden haben. Übrigens
gab es in der Umgegend auch keine ernsthaften Käufer. Jeder hatte mit
dem eignen Besitz zu tun. Es war keine günstige Zeit für die
Landwirtschaft.

Trotzdem war das verräucherte Terminzimmer mit seinen kahlen, weiß
getünchten Wänden und den grün schillernden Fensterscheiben ziemlich
voll. Eine ganze Anzahl Neugieriger hatte sich eingefunden, unter ihnen
auch der alte Usen, in dem der Kommerzienrat einen Nebenbuhler witterte.
Man wußte nie so recht, was der Sonderling vorhatte; er platzte häufig
einmal mit etwas ganz Unerwartetem heraus. Ferner sah man die meisten
Fouragehändler aus der Gegend, einige Berliner Agenten und
Hypothekengläubiger und ein paar Fremde, die von den Kreiseingesessenen
mit einem gewissen Mißtrauen gemustert wurden.

Die einleitenden Formalitäten waren rasch erledigt. Man kannte das
alles: den Grundsteuerreinertrag, die Hypothekenlast, die Rentenbeiträge
und Servitute – das war eine langweilige Sache.... Der Kommerzienrat
stand am Fenster und sah einer Spinne zu, die sich von der Decke aus an
einem langen Faden niedergelassen hatte und gerade über dem kahlen Kopfe
des amtierenden Richters schwebte.

Schellheim begann damit, dreihunderttausend Mark zu bieten. Es erfolgte
sofort ein Aufschlag von vierzigtausend Mark von seiten eines Berliner
Agenten, der damit die Hypothek seines Auftraggebers retten wollte. Der
Kommerzienrat setzte zehntausend Mark zu; er hatte die Absicht, bis auf
vierhunderttausend Mark zu gehen. Schlug man ihm dann den Besitz zu, so
hatte er ein gutes Geschäft gemacht, denn das war allein der Waldbestand
trotz allen Raubbaues noch wert. Der anwesende Vertreter der
Ritterschaftsbank saß im Hintergrunde und feilte an seinen Nägeln. Er
war gedeckt; die Geschichte interessierte ihn nicht mehr.

Ein Fremder, ein alter Herr, der sich als Graf Isingen vorgestellt hatte
und ein Verwandter Zernins war, ging bis auf dreihundertachtzigtausend
Mark. Auch in diesem Falle galt es, eine Hypothek zu sichern. Schellheim
bot jetzt von fünf- zu fünftausend Mark mehr. Plötzlich rief eine Stimme
aus der Mitte der Anwesenden:

»Vierhunderttausend Mark!«

Alles schaute sich um. Schellheim reckte den Hals und wurde unruhig.
Exzellenz Usen erhob sich und trat an die Wand.

»Den Namen bitte,« sagte der amtierende Richter.

»Rechtsanwalt Stroschein in Vollmacht des Herrn Baron von Hellstjern.«

Der Richter wiederholte dem Protokollführer den Namen. Ein Gemurmel
wurde hörbar. »Schockschwerenot – Hellstjern?!« rief Usen halblaut.
Auch der Kommerzienrat war bestürzt. Er dachte gleichfalls an den
knurrigen Alten auf dem Baronshof. Aber das war doch nicht denkbar. Und
auf einmal tauchte das Bild Axels vor ihm auf. Ja – der mußte es sein!
Er wurde wütend. Die beiden Hellstjerns, der reiche und der arme,
steckten zweifellos unter einer Decke. Man wollte ihm Döbbernitz nicht
gönnen. Er hatte sich alles schon auf das genaueste zurechtgelegt.
Zweihunderttausend Mark waren nötig, die Landwirtschaft auf Döbbernitz
wieder in Gang zu bringen. Aber das genügte auch; und dann ... Die
laute Stimme des Richters unterbrach seinen Gedankengang.
»Vierhundertzehntausend!« rief der Kommerzienrat.

»Zwanzig,« ertönte die Stimme des Rechtsanwalts Stroschein.

»Fünfundzwanzig!«

»Dreißig!«

Jetzt drängte sich Schellheim zu dem Konkurrenten hindurch.

»Kommerzienrat Schellheim,« sagte er, sich vorstellend; »Sie bieten für
den Baron Axel Hellstjern, den Schweden, wenn ich fragen darf?«

»Ganz richtig, Herr Kommerzienrat.«

»Und wollen Sie noch höher gehen?«

»So hoch es nötig sein wird.«

»Vierhundertdreißigtausend Mark – zum ersten!« rief der Vorsitzende.

»Vierhundertvierzigtausend!« erscholl die Stimme des alten Usen.

Da verlor Schellheim völlig die Fassung. Er sah Usen hilflos an, der mit
grinsendem Gesicht, die Augen mit den schweren, immer geröteten
Tränensäcken ein wenig zusammengekniffen, an der Wand lehnte. Die Sonne
beleuchtete ihn hell. Die Aufschläge seines schäbigen grauen Jagdrocks
strotzten vor Fettflecken; an der Weste fehlte ein Knopf.

Es war ganz verrückt. Das war wieder einmal einer jener tollen Streiche
des alten Paschas, mit denen er urplötzlich zutage zu treten pflegte,
und immer dann, wenn man es am wenigsten erwartete. Was wollte er denn
mit Döbbernitz?!

»Fünfundvierzig!« schrie Schellheim und biß die Zähne zusammen.

»Fünfzigtausend!« rief Rechtsanwalt Stroschein.

In seiner Aufregung packte der Kommerzienrat den Rechtsanwalt an der
Schulter.

»Geh’n Sie noch weiter?« stieß er hervor.

»O ja,« versetzte dieser gemächlich.

»Wie hoch?«

»Sechzig – siebzig – ich werde abwarten.«

»Vierhundertfünfzigtausend Mark – zum ersten!« erscholl wieder des
Vorsitzenden Stimme.

Schellheim trat achselzuckend neben Usen.

»Ich höre auf,« flüsterte er diesem zu. »Das ist eine Verrücktheit.«

»Schad’t ja nichts,« gab Usen zurück, »ein bißchen Verrücktheit versüßt
das Leben – fünfundfünfzig!«

»Sechzigtausend!«

»Hol’ euch alle der Teufel,« brummte Schellheim, nahm seinen Hut und
verließ das Zimmer. Er war sehr ärgerlich. Sein Wagen wartete vor dem
Gerichtsgebäude, aber er stieg noch nicht ein. Er wollte wenigstens
wissen, wie die Sache endgültig verlaufen würde.

Sie verlief einfach genug. In dem Augenblick, da der Kommerzienrat nicht
mehr mitbot, hörte auch Usen auf. Er lehnte noch immer an der Wand, mit
grinsendem Gesicht und zusammengekniffenen Äuglein, und der weiße Kalk
des Mauerputzes blieb an seinem verschossenen grünen Jagdrock hängen.

Döbbernitz fiel Axel Hellstjern für vierhundertsechzigtausend Mark zu.
Es verblieben somit für Zernin immer noch einige tausend Mark
Reingewinn. Das hatte niemand erwartet.

Zernin selbst am allerwenigsten. Er war kurze Zeit vorher von Magdeburg
eingetroffen, wo er eine langweilige Festungszeit verlebt hatte. Was aus
ihm werden sollte, wußte er noch nicht. Vor Amerika graute ihm. Pfui
Teufel, zum Kellner oder Hausknecht hatte er keine Anlagen!

Die Nacht vor dem Subhastationstermin schlief er schlecht. Er wachte
zwanzigmal auf und wälzte sich von einer Seite zur andern. Alte
Erinnerungen stürmten mächtig auf ihn ein – an Vergangenes, an seine
Kindheit, an die Eltern. Es dämmerte grau durch die Ritzen der
Fensterläden, als er wütend aufsprang. Es hielt ihn nicht mehr im Bette.

Er zündete ein Licht an und suchte nach einer Flasche Wein. Aber er
fand keine. »Lotterwirtschaft,« brummte er vor sich hin und stieg im
Schlafrock und Morgenschuhen in das Souterrain hinab, um den Weinkeller
zu durchstöbern.

Im Schlosse war es totenstill. Das ganze riesige Gebäude lag in tiefem
Schlafe. Die Zimmer standen gähnend leer. Klaus hatte in seiner ewigen
Geldnot verkauft, was loszuschlagen war; den Rest hatten die
Gerichtsvollzieher geholt, während er in Magdeburg saß. Durch die öden
Fenster glomm der trübe Morgen. Graue Schatten überall und noch
nächtiges Dunkel in den Winkeln und Ecken. In dem großen Saale des
Mittelbaues, in dem zur Johanniterzeit die Konvente abgehalten worden
waren, stand kein Tisch und kein Stuhl mehr. Riesenhaft reckte sich an
der einen Querwand der deckenhohe Sandsteinmantel des Kamins mit seinen
schwarz gewordenen Wappenschildern. Selbst die alten Butzenscheiben
waren ausgehoben und durch moderne Fensterflügel ersetzt worden ...

Klaus schloß den Weinkeller auf, einen riesigen, hochgewölbten Keller
mit zahllosen Flaschenregalen an den Wänden, denn der alte
Ministerpräsident hatte einen guten Tropfen geliebt. Aber auch hier sah
es leer aus; Staub und Schmutz lagen zu Haufen umher, und Spinneweben
bedeckten die Regale, in denen der Holzwurm tickte. Nur in einer Ecke
waren dicht am Boden noch einige Reihen Flaschen aufgeschichtet, und aus
diesen suchte Klaus sich eine aus. Er traf die richtige, einen
vierundachtziger Pommery, von jenem wunderbaren Jahrgange, der sich
bereits erschöpft hatte und selten zu werden begann. Und dann stieg er,
die Flasche unter dem Arm, wieder die Treppen hinauf.

Sein in den Pantoffeln schlurrend wiederhallender Schritt war der
einzige Laut, der sich hören ließ. An den Wänden des Treppenhauses
zeigten sich große helle Flecken, von den alten Ölbildern herrührend,
die hier einst gehangen hatten und von unbarmherzigen Gläubigern
abgeholt worden waren. Nichts war geblieben. Die ganze Meute hatte die
Festungszeit Zernins benutzt und sich in toller Hetzjagd auf Döbbernitz
gestürzt. Selbst die letzten Andenken an den verstorbenen
Ministerpräsidenten hatte man nicht verschont: Geschenke des alten
Königs, des Kaisers Alexander von Rußland und andrer Potentaten. Die
Bibliothek war entleert worden; man hatte Auktionen veranstaltet, und
kostbare Widmungsexemplare, wie Lamartines Geschichte der Girondisten,
die der Verfasser Friedrich von Zernin persönlich geschenkt, als dieser
Gesandter in Paris gewesen, waren für wenige Groschen verschleudert
worden. Das alte Schloß war wie ausgeraubt.

Klaus kehrte in sein Schlafzimmer zurück, entkorkte die Flasche, warf
sich wieder auf das Bett und trank den Champagner aus dem Wasserglase,
das auf seinem Nachttische stand. Auch eine Zigarre steckte er sich an,
aber sie schmeckte ihm nicht. Er warf sie mitten in die teppichlose
Stube.

Morgen kam Döbbernitz unter den Hammer. Übermorgen schon konnte ihn der
neue Besitzer von Haus und Hof jagen. Wohin dann?! –

Ein ernster Zug glitt über das Gesicht Zernins. Er war wirklich am Ende;
diesmal gab es keine Hilfe mehr – es war aus. Und zum ersten Male legte
er sich die Frage vor: hätte es nicht anders kommen können?

Gewiß – aber dann hätte er arbeiten müssen. Sein Vater hatte ihm kein
Barvermögen hinterlassen. Seine Dotation hatte der alte Minister in
Döbbernitz gesteckt, seine hohen Gehälter verbraucht. Freilich,
Döbbernitz konnte immerhin seinen Mann nähren, nur mußte man zu
wirtschaften verstehen. Und davon war keine Rede bei Klaus. Er war noch
aktiver Offizier, als sein Vater starb, und nun nahm er schleunigst den
Abschied und setzte sich auf Döbbernitz fest. Schon der Minister war
kein Landwirt gewesen und hatte mit einem ungeheuern Apparat
gearbeitet, statt langsam und mit Beharrlichkeit den Boden zu gewinnen.
Klaus ging noch stürmischer vor. Es hatte in der Tat den Anschein, als
habe er keine Ahnung vom Werte des Geldes. Er kaufte eine Lokomobile,
die er gar nicht brauchen konnte, und ungeheure Viehherden, für die
nicht genügend Futter zu beschaffen war. Ein System verdrängte das
andre; immer neue Inspektoren wurden herangezogen, und jeder kam auch
mit neuen Ideen. Endlich gab ihm seine Neigung zum Sport den Rest. Er
füllte seine Ställe mit edeln Pferden, die große Summen verschlangen; er
versuchte es mit Züchtung, doch seine Mittel reichten nicht aus. Denn
auch für seine Person verschwendete er mit vollen Händen, und in der
angeborenen Gutherzigkeit, die sich gewöhnlich mit Leichtsinn zu paaren
pflegt, ließ er sich auf allen Seiten bestehlen und betrügen. Und dabei
konnte man ihm nicht gram sein. Seine persönliche Liebenswürdigkeit
entzückte alle Welt, bis man es bei dem zunehmenden Verfall von
Döbbernitz für nötig hielt, sich langsam zurückzuziehen.

Denn allmählich artete der Leichtsinn Zernins aus. Häßliche Geschichten
kamen in Umlauf; es ging in rasendem Galopp bergab. Hin und wieder
verlangsamte die Erinnerung an den großen Vater das Tempo des
Niedergangs ein wenig. Ein Prinz des Königshauses half einmal aus, als
der Subhastationstermin für Döbbernitz schon angesetzt war; reiche
Verwandte, hohe Freunde des Verstorbenen, selbst der König wurden
angebettelt. Und fast alle gaben, mehr oder weniger, aber es verrann
rasch im großen Strome; nichts konnte den rollenden Stein aufhalten.

Und nun stand endlich der Untergang vor der Tür. Noch vor einigen
Monaten hatte sich Klaus eine helfende Hand geboten – damals, als
Kommerzienrat Schellheim ihn für seine Unternehmungen gewinnen wollte.
Das törichte Duell mit dem dicken Biese war dazwischen gekommen. Jetzt
konnte man Schellheim höchstens daraufhin anpumpen, daß man sich für
seine Ehre ins Zeug gelegt und auf die Festung hatte schicken lassen.
Aber eine Hilfe für die Dauer war’s nicht. Und auch die Heiratspläne –
das reiche Judenmädel, das irgendwo für ihn aufgetrieben werden sollte
– der Schwiegervater, der sich in aller Eile mittaufen lassen wollte –
all das war vorüber. Klaus wußte, weshalb; eine riesige schwarze
Fledermaus strich von nun ab durch sein Leben, mit weiten, weiten
Schwingen, die immer gigantischer wuchsen und immer mächtigeren Schatten
warfen, bis sie ihn ganz mit Nacht umhüllten. Das war die Schande.

Klaus schauerte zusammen. Wie eine kalte Totenhand strich es über seine
Stirn. Eisiger Schweiß perlte aus seinen Poren. Er stürzte das letzte
Glas Sekt in die Kehle und sprang aus dem Bette, eilte zum Fenster und
stieß die Läden auf. Nun war es Tag geworden. Der Himmel glühte, und die
Lohe des Frührots schlug bis über die Zinnen des Schlosses empor.

Die Fenster des Schlafzimmers führten nach dem Wirtschaftshof hinaus, wo
sonst um diese Zeit bereits reges Leben herrschte, das Leben
morgenfröhlicher Arbeit. Aber hier war es stumm und öde wie im Schlosse
selbst. Ein barfüßiges Mädel mit schwarzem Krauskopf stand am Brunnen
und pumpte einen Eimer voll Wasser – seine einzige Bedienung. Alles war
geflüchtet und, mit gierigen Händen das Letzte zusammenraffend, was da
und dort noch zu stehlen war, auf und davon gelaufen. Nur die Jule war
geblieben. Ihre jugendliche Frische hatte ihn gereizt, und sie war ihm
für seine flüchtige Gunst dankbar geblieben. Sie besorgte auch den
letzten Gaul, der im Stalle stand, den alten Christian, einen Rappen,
der mit den Jahren eine völlig graue Mähne bekommen hatte, so grau wie
das Haar eines Greises. Es war merkwürdig genug, daß sich die Wut der
Gläubiger nicht auch an diesem alten Tier vergriffen, da sie sonst alles
genommen hatten, was stand und lag.

Als Jule das Fenster klirren hörte, fuhr sie erschreckt in die Höhe.

»Herrje, Herr Baron!« rief sie hinauf. »So früh schon?! – Ich komme
gleich ’rauf, den Kaffee machen!«

»Laß nur!« gab er zur Antwort. »Ich will nichts! Aber lege den Sattel
auf – vielleicht reit’ ich aus!«

Sie war sehr erstaunt. Wenn nur der Christian die Last noch tragen
konnte! Seit sechs Monaten stand er unbenutzt im Stall und wurde immer
dürrer, obwohl sie überall für ihn Futter stahl.

Klaus kleidete sich in Eile an und stürmte hinaus in den Park. Er
fühlte, daß er nervös war – es war ihm immer, als sei jemand hinter
ihm. Er wollte auch Luft haben, und er lief mit geöffnetem Munde, wie
ein Asthmatischer, in raschen Schritten durch die Gänge des Parks.
Jahrelange Verwilderung hatte diesem herrlichen Fleckchen Erde nicht
seine zauberischen Reize rauben können. Nur war es kein Garten mehr mit
Alleen und Rundells und Rosenbeeten und zierlichen Bosketts, sondern ein
Wald, ein Meer von Laub, das sich über wuchernden Grasflächen
ausbreitete, über zerfallene Statuen seinen grünen Mantel hing und seine
Schleppen bis tief hinein in das rostig schimmernde Wasser des Weihers
tauchte. Die Wege waren kaum noch erkennbar, verwachsen und vom
Buschwerk eingeengt, und das große Rosenparterre glich einer blühenden
Wildnis, durch deren farbenglühendes Dickicht man nicht mehr
durchzukommen vermochte. Auf den Grasplätzen unterschied man noch die
Blumenrabatten, mächtig treibende Hyacinthen, Violen und Pelargonien,
bunte Flecken im Grün, doch auch von dichtem Unkraut durchwuchert, das
seine Kreise immer weiter zog.

Zernin stürmte an den Treibhäusern vorüber, deren Fenster zertrümmert
waren, und in deren Innerem die Vögel nisteten. Was wollte er
eigentlich? Ja so – ausreiten! Das war ein guter Gedanke! Noch einmal
seine verwüstete Besitzung durchqueren – lebewohl sagen – und dann
zurück! Oben lagen seine Pistolen.

Wieder durchschauerte es ihn kalt – und es war so heiß dabei, so heiß.
Er riß seine Weste auf und schob sich den Flauschhut weit aus der Stirn.
Im Hofe stand schon die Jule und hielt den Christian mit hocherhobenen
Händen an der Kinnkette fest.

Klaus schwang sich in den Sattel, und als er in die schwarzen Augen der
Jule sah, griff er in die Tasche, warf ihr einen Taler zu und rief:

»Mach dir mal heute einen vergnügten Tag, Jule – ich bin auch lustig!«

Und dann sprengte er kopfnickend davon. Nicht durch das Dorf, denn er
scheute den Anblick der Leute, sondern hinten herum, an der Schleuse
vorüber, wo er den alten Fischer traf, der ehrerbietig die Mütze zog.
Dem Christian kam die ungewohnt lebhafte Bewegung anfänglich sauer an;
die müden Knochen wollten nicht mehr recht vorwärts, aber Klaus nahm
keine Rücksichten. Im Trabe und im Galopp ging es dem Walde zu, daß der
Rappe bald schaumübergossen war. Erst als Tannen und Birken ihn umfingen
und Schatten über den Weg fielen, zügelte Zernin den Gaul.

Es war ein Wunder, daß der Wald noch stand. Das Majoratsgesetz hatte ihn
geschützt und die Ritterschaftsbank ihn unter besondere Verwaltung
genommen, sonst wäre sicher auch er gefallen. Geplündert war er genügend
worden; überall sah man durch klaffende Lichtungen und auf weite Halden,
wo zwischen grünen Farnkräutern, Ginster und Blaubeerbüschen die
Baumstümpfe hervorlugten.

Dann ging es am Saume der Wiesenniederung entlang. Die hatte Klaus, als
sein Viehbestand immer mehr zusammenschmolz, an kleine Leute
verpachtet, und man war derzeit eifrig mit der Heuernte beschäftigt.
Zernin legte wieder die Schenkel an und ließ den Christian in Galopp
fallen; die Leute auf den Wiesen blieben stehen und schauten dem
vorüberrasenden Reiter nach.

Weiter und weiter! Quer über die Felder, auf denen die Bestellung längst
aufgehört hatte, Unkraut schoß überall empor, die Quecken hatten
ausgeschlagen und überzogen die braune Erde mit ihrem grünen Gespinst.
Eine mächtige Fläche von vielleicht zweihundert Morgen sah wie eine
Prärie aus; hier wimmelte es von Hasen, und Trappen flogen in ganzen
Schwärmen zum Himmel auf. Der Rest einer Pflugschar hatte sich im Sande
eingewühlt, und auf dem verrosteten Eisen saß ein dicker Spatz.

Ein Ekelempfinden überkam Klaus angesichts dieser Wüsteneien. Seit fast
zwei Jahren war er nicht auf den Feldern gewesen. Wozu auch? Löhne
bezahlte er nicht mehr; Tagelöhner und Arbeiter liefen ihm davon; an
eine geregelte Bestellung war nicht zu denken. Da ließ man schon alles
liegen, wie es war. Nun aber, beim Anblick des grenzenlosen Elends, dem
er sein Stück Erde ausgesetzt hatte, schlich sich doch das Grauen in
sein Herz. Er dachte an die Zeiten zurück, da er Döbbernitz übernommen
hatte, an den blühenden Stand seiner Felder, die blonde Flut der Saaten,
die ersten Ernten – zweifellos, er hätte seinen Besitz schon festhalten
und auch gegen die Mißgunst schlechter Jahre verteidigen können,
wenn ...

Ja – wenn! Wozu sich noch Vorwürfe machen, wozu grübeln – es war ja
doch alles vorbei! Und mit gesenktem Haupte ritt er weiter und merkte es
kaum, daß abermals der Wald über ihm zu rauschen begann.

Er war im königlichen Forst, nahe dem Seeufer und jener Stelle an der
Försterei, wo er damals Abschied von Hedda genommen, wo sie beide
»vernünftig« miteinander gesprochen hatten. Sicher – an der Seite
eines so tapferen Kameraden hätte aus ihm immer noch etwas werden
können; sie würde ihn gestützt und gehalten haben, denn sie war ein
starkes Weib, und ihre maikühle Verständigkeit hätte wohl seinen
Leichtsinn und seinen tollen Übermut zu wahren vermocht. Ach, auch das
war vorbei! Die riesige schwarze Fledermaus, die durch sein Leben
strich, fing mit ihren stetig wachsenden Flügeln die Sonne auf. Sie
leuchtete ihm nicht mehr.

Klaus ließ die Zügel hängen. Der Rappe schritt langsam über den
Moosgrund, durch Farne und Erdbeerkraut und schnupperte umher und riß
hie und da ein Zweiglein von einem tief herabhängenden Buchenast, mit
seinen alten Zähnen die frischen grünen Blätter zermalmend. Da lag der
See in siegendem Sonnenglanze, golddurchstrahlt, mit schneeweißer
Schaumeinfassung, inmitten bewaldeter Hänge, über die, wie ein
Wahrzeichen überwundener Feudalität, der quadratische Turm des
Döbbernitzer Schlosses hinausragte. Drüben das rote Ziegeldach des
Forsthauses und die Eichenschonung, die Wiesentrift, auf der ein ganzer
Flor wilder Blumen blühte, und der große Felsstein, auf dem sie damals
gesessen hatte!

Klaus zuckte zusammen. Saß sie nicht wieder da? War sie das nicht, die
Dame im lila geblümten hellen Kleide und mit dem großen Strohhut, die
ihm den Rücken wandte, mit gesenktem Kopfe, als suche ihr Blick irgend
etwas zwischen dem Ufergeröll zu ihren Füßen?

Der Rappe wieherte plötzlich auf. Die Dame schaute sich um und erhob
sich. Klaus sah, wie sie mit beiden Händen zum Herzen griff. Er sprang
ab, schlang die Zügel um den nächsten Baum und näherte sich ihr mit
abgezogenem Hute.

»Grüß Gott, Cousine,« sagte er ruhig. »Das ist ein unerwartetes
Zusammentreffen, aber ich freue mich von Herzen darüber. So kann ich
dir wenigstens noch Lebewohl sagen.«

Sie war blaß geworden, faßte sich aber sofort und erwiderte seinen
Händedruck. »Ich hörte, daß heut über Döbbernitz entschieden werden
soll,« entgegnete sie. »Hast du noch keine Nachricht?«

Er verneinte. Das sei unmöglich; vor zwei, drei Uhr könne der Termin
nicht beendet sein.

»Und warum bist du nicht selber da?«

Sie hatte sich wieder gesetzt, und er warf sich neben sie auf die Erde.

»Was sollte ich da, Hedda?! Eingreifen konnte ich nicht mehr, und –
nun, ich schämte mich auch!«

Die Bitterkeit stieg in ihr auf.

»Warum ist dies Gefühl der Scham nicht früher über dich gekommen,
Klaus?« sagte sie in mehr klagendem als anklagendem Tone. »Herrgott, was
hättest du dir und uns ersparen können! Ich habe mich oft genug gefragt:
wie ist all das möglich gewesen? Ich habe mir nicht zu antworten
vermocht. Nein – denn du übernahmst Döbbernitz doch in geordnetem
Zustande, und du gingst mit guten Vorsätzen in den neuen Beruf! Du magst
leichtsinnig gewesen sein – aber wie konnte nur so rasch alles über dir
zusammenprasseln, im Laufe weniger Jahre? Ich begreife das nicht, habe
es nie begriffen!«

Er nagte an einem abgerissenen Grashalm und zuckte dabei mit den
Schultern.

»Ich auch nicht,« erwiderte er. »Ganz gewiß, Hedda, es geht mir wie dir
– ich habe von diesen letzten Jahren nur noch so eine Art
Traumempfinden. Es rollte wie eine Lawine über mich herab und begrub
mich. Natürlich bin ich selber schuld – ich verteidige mich auch nicht
– ich klage nicht einmal. Aber gehabt habe ich von meinem Leichtsinn
nicht so viel!«

Er schnippte mit den Fingern.

»Nein – nicht so viel! Es war im Grunde genommen ein klägliches
Amüsement. Wenn ich mein Geld in Monte Carlo verloren oder in Paris
verjubelt hätte – es wäre hundertmal vernünftiger gewesen. Aber ich
habe nur blödsinnige Geschichten getrieben – die Pferdezucht, die
Viehankäufe, die Trinkgelage und Spielabende – die Rennen und die
ewigen Reisen nach Berlin – mir steigt ein schales Gefühl auf, wenn ich
an all den Unsinn zurückdenke. Aber ich muß die Suppe ausessen, die ich
mir eingebrockt habe.« – Und wieder zuckte er mit den Schultern.

Hedda hatte die Ellbogen auf die Kniee und das Kinn in die Hände
gestützt. So schaute sie zu ihm hinab, zu dem halt- und charakterlosen
Menschen, den sie so toll geliebt hatte, daß sie nahe daran gewesen war,
um seinetwillen eine große, große Dummheit zu begehen. Die Vernunft
hatte gesiegt und siegte noch, denn sie fühlte wohl, daß es für diese
erste flammende Liebe, für dieses Frühlingsgewitter, unter dessen
Schauern sie zum Weibe gereift war, kein Vergessen gab. Aber sie hielt
sich in Schach. Er sollte nicht spüren, wie rasch ihr Herz in seiner
Nähe klopfte.

»Und was wird nun?« fragte sie.

»Was soll werden?« lachte Klaus häßlich auf. »Weißt du, was man mit
einem Gaule macht, der auf der Rennbahn zusammengebrochen ist und nicht
mehr weiter kann? – Man schießt das arme Biest tot.«

Sie starrte ihn an. Sprach er von Selbstmord? – Nein – daran glaubte
sie nicht. Er hätte längst seine Kugel finden müssen.

»Hedda, was soll ich denn noch auf der Welt?« fuhr er fort. »Wozu
törichte Illusionen? Ich kann nichts anfangen. Hier gar nichts – und
mich drüben in Amerika mühselig durchs Dasein schleppen, Steine tragen
und Biergläser füllen – lieber quittier’ ich schon mit dem Leben!«

Nun sprang sie erregt empor.

»Du sprachst von Scham, Klaus,« rief sie, »aber bei Gott, du kennst sie
nicht! Du würdest sonst anders sprechen! Begreifst du nicht, wie niedrig
dein Standpunkt ist? Wie unsittlich dein ganzes Gehaben? Du siehst
selber ein, daß du dich durch eigne Schuld ruiniert hast, und du bist zu
feige, dir ein neues Leben zu schaffen!«

»Zu feige – ganz recht,« sagte er und erhob sich gleichfalls. »Aber ich
glaube, ich habe nie Mut besessen. Ich fürchte mich vor der Arbeit –
wenigstens vor der, die mir drüben winkt – vor der schmutzigen Arbeit
im Kot der Gassen, den Handlangerdiensten. Wäre ich weniger Herrenmensch
und mehr Bedientennatur – vielleicht würd’ ich mich fügen. So kann ich
es nicht – ich kann es nicht!«

Ihr Herz flog förmlich. Alles in ihr war in Aufruhr. Ihre Wangen
flammten und auch über ihre Stirn, bis zu den Haarwurzeln, ergoß sich
die Röte des Zorns und der Scham. Ja auch der Scham, denn für ihn
schämte sie sich. Er rühmte sich seiner Herrennatur, und doch war alles
Edelmännische längst in ihm erstorben. Er suchte den Tod, weil das Leben
ihm nichts mehr zu bieten hatte als – Arbeit.

Es war wahnsinnig, so mutlos zu flüchten. Zittern und Angst ergriff sie,
und die zärtliche Sorge um ihn wich der Scham und Entrüstung. Sie sah
schon die Wunde an seiner Schläfe, das runde Kugelloch, aus dem langsam
das Blut sickerte, und hörte die Welt verachtungsvoll ihr letztes Urteil
über den Verkommenen fällen: das hatte man gewußt und erwartet –
Selbstmord – das Ende jedes Elenden!

Sie trat vor ihn hin und nahm seine Hände.

»Klaus,« begann sie mit bebender Stimme, »denkst du nicht an dich
selbst, so denke zurück – an deinen großen Vater und deine liebe,
gütige Mutter. An alle deine Vorfahren, deren Andenken du beschimpfst,
an die Ehre deines Namens, die du durch feigen Selbstmord
unauslöschlich befleckst. Man kann irren und fehlen, soll aber wieder
gut zu machen versuchen – das ist die Tapferkeit, die das Leben von uns
allen fordert. Du bist leichtsinnig gewesen, hast doch aber kein
Verbrechen begangen, das dich zum Tode verurteilt! Und du bist auch noch
jung, bist kraftvoll und rüstig, voller reicher Gaben – du wirst dich
wieder aufraffen können – – ich bitte dich, Klaus – lieber Klaus!«

Ihre Stimme erstickte. Es quoll glühend heiß in ihr empor; ihre Hände
zuckten zwischen seinen Fingern.

Klaus war fahl geworden, als sie von der Ehre seines Namens sprach.
›Wenn du wüßtest!‹ schrie es in ihm auf. Und dann sah er hinter dem
Tränenflor ihrer Augen die alte Liebe leuchten, die er durch die Schmach
seines Wandels beschimpft und niedergetreten hatte, und die nicht
ersterben wollte – die erste heiße Liebe ihres jungen Herzens, die ihr
ganzes Innenleben durchtobt und aufgewühlt hatte und auch im Entsagen
noch haften blieb. Das ließ ihn alles andre vergessen und durchströmte
ihn mit einem Rausch wilden Entzückens. Mit starker Hand riß er sie an
seine Brust und bedeckte ihr Antlitz mit stürmischen Küssen.

»Du liebst mich noch – du liebst mich noch!« schluchzte und jubelte er.
Und sie ließ ihn gewähren. Eine rein physische Schwäche hatte sich ihrer
bemächtigt, das Gefühl einer Ohnmachtsanwandlung. Sie hing hilflos in
seinen Armen. Das Rauschen des Waldes klang wie Harfenschlag an ihr Ohr
und wie feierlicher, volltöniger Gesang. Seine Küsse aber brannten auf
ihren Lippen und Wangen und loderten in ihre Seele hinein.

Mit schwerem Aufatmen riß sie sich los.

»Laß mich!«

Sie strich sich über Stirn und Haare und befestigte den Hut von neuem,
der ihr vom Scheitel geglitten war. Noch schimmerte helle Röte auf
ihren Wangen, aber sie war doch wieder Herrin über sich selbst geworden,
wenn auch große Tränen in ihren Augen standen.

»Ich liebe dich noch,« sagte sie mit fester Stimme, »nun ja – was will
das bedeuten? Angehören können wir uns nie, und wenn du mir sagen
wolltest: komm mit mir nach Amerika – ich würde mit Nein antworten.
Nicht weil mir’s an Mut gebricht, ein ungewisses Los mit dir zu teilen,
sondern weil ich meine Liebe zu dir bekämpfen will!«

Da sank er, empfindend wie klein er war und wie schwach dieser kernigen
Mädchennatur gegenüber, zu ihren Füßen nieder und preßte ihre Kleider an
sein Gesicht. Er weinte, und in diesem Augenblick waren es ehrliche
Tränen, die er über sein verpfuschtes und verlorenes Leben vergoß.

»O Hedda!« rief er, »warum konnten wir uns nicht schon vor fünf Jahren
finden? Du hättest mich retten können, und alles wäre anders geworden!«

Ja – vor fünf Jahren! Er konnte recht haben. Wenn sie über ihn gewacht
hätte, vielleicht wären dann alle die guten Keime, die in ihm
schlummerten, zu Blumen erblüht und das Unkraut verdorrt. Vielleicht! –

Sie hob ihn auf.

»Es hat nicht sollen sein,« sagte sie. »Was hilft uns die Reue? Wir
hätten stark sein müssen – heut ist es zu spät. Und doch, ich segne
auch diese Stunde. Daß wir uns immer noch lieb haben, weist uns die
Wege. Nicht sterben wollen wir, sondern am Leben bleiben und uns
einander wert halten. Gib mir deine Hand, Klaus, und versprich mir, daß
du die Pistole liegen lassen willst. Versprich mir, daß du ein neues
Dasein beginnen willst! Du kannst es, wenn du aus Liebe zu mir dein
Herrenbewußtsein unterdrückst, wenn du dich ›erniedrigst‹. Tu es;
greife zur Arbeit, wo du sie findest; es schändet dich nicht, wenn deine
Hände blutrünstig werden in harter Fron. Wandre aus und schaff dir
anderwärts Stellung! Ich will unablässig an dich denken und beten für
dich. Werde ein Mann!«

Gerade dies: »Werde ein Mann!« klang tief in das Herz des Schwächlings
– nicht wie eine harte Mahnung, sondern wie ein willkommener,
erlösender Ostergruß. Er nickte zuversichtlich und mit fast frohem
Lächeln.

»Ich danke dir, Hedda,« erwiderte er. »Du verjüngst mich. Ja – ich
fühle es: es sprießt Neues und Gutes in mir! Mein Wort darauf: der
törichte Selbstmordgedanke ist vergessen. Ich wandre aus, um Arbeit zu
lernen. Ich hab’ es eilig, denn du sollst bald von mir hören. Ich rufe
dich oder hole dich selbst!«

»Ich warte auf dich,« sagte sie mit leuchtenden Augen.

»So lebe wohl!«

Er preßte noch einmal ihre Hände an seine Lippen.

»Lebe wohl und behüte dich Gott!«

Er saß schon zu Pferde und sprengte davon, ohne sich umzuschauen. Sie
aber blieb aufrecht stehen, bis sie im Gründunkel des Waldes seine
Gestalt verschwinden sah. Und dann sank sie in die Kniee und sprach laut
mit ihrem Gott, denn nur er konnte sie hier hören und seine Schöpfung –
der schluchzende See und die Bäume am Ufer.

       *       *       *       *       *

Es war in der dritten Nachmittagstunde, als ein kleines Gefährt, ein
offener Korbwagen, in den Schloßhof von Döbbernitz rasselte. Bertold
Möller hatte selbst das Pferd gelenkt, sprang jetzt zur Erde und rief
der erstaunt aus der Häckselkammer tretenden Jule zu: »Ist der Herr
Baron zu sprechen?«

»Ja, er ist oben,« entgegnete Jule und wies hinauf nach den Fenstern.

Bertold kannte hier Weg und Steg. Er gehörte seit Jahren zu den
Geldvermittlern Zernins, aber er wie sein Schwiegervater, der
Getreidehändler Ring, hatte sein Schäfchen längst ins Trockene gebracht.

Er fand Klaus vor einem großen Koffer knieend.

»Teufel – wo kommen Sie denn her, Möller?« rief Zernin und stand auf.

»Von der Subhastation,« erzählte Bertold, »direkt vom Termin. Wissen
Sie, wer Döbbernitz gekauft hat, Herr Baron? Und wissen Sie für wieviel?
Und wissen Sie, daß so etwas noch gar nicht dagewesen ist! Und wissen
Sie –«

»Donnerwetter, so reden Sie doch vernünftig!« fiel Klaus grob ein.

Bertold erstattete Bericht. Herr Legationssekretär von Hellstjern war
Besitzer von Döbbernitz geworden, Neffe des Alten vom Baronshof, ein
schwer reicher Herr, ein Millionär. Bertold wußte das ganz genau. Und
460000 Mark kostete ihn das Vergnügen. 422000 Mark betrug der
Hypothekenstand von Döbbernitz; verblieb für Herrn von Zernin noch ein
Reingewinn von 38000 Mark. Auch darüber wußte der brave Bertold genau
Bescheid.

»Ich wollte der erste sein, der Ihnen dies meldete, Herr Baron,« fuhr er
fort. »Aus reiner Freundschaft. Ich wollte Sie vorbereiten. Ich weiß ja,
es sind noch immer eine Masse Gläubiger da, die bloß darauf lauern, daß
Sie wieder einmal zu Gelde kommen –«

Er schwieg, denn ihn erschreckte der Ausdruck im Gesicht des vor ihm
Stehenden.

Klaus war blaß geworden und sein Auge starr. Es schwirrte durch sein
Hirn, es bohrte sich nadelspitz in seine Schläfen ein, es klopfte und
hämmerte in seinen Ohren. Er antwortete nicht, sondern trat an das
Fenster und starrte hinaus. 38000 Mark! Die Summe flimmerte, mit großen
Ziffern geschrieben, vor ihm in der sonnenhellen Luft.... Wenn er
sie erhob und mit ihr nach Monte Carlo reiste, dort sein Glück zu
versuchen ...

Mit rascher Bewegung fuhr er herum.

»Haben Sie Geld im Hause, Möller?« fragte er.

Bertold begriff ohne weiteres, um was es sich handelte. Er war ja nur
hergekommen, um noch letzter Stunde ein paar hundert Taler an Zernin zu
verdienen.

»Im Hause nicht – aber in Frankfurt – auf der Bank,« erwiderte er.

»Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Möller,« fuhr Klaus fort, dessen
Augen voll Erwartung und Hoffnung einen fiebrigen Glanz anzunehmen
begannen. »Wir fahren zusammen nach Frankfurt. Dort zediere ich Ihnen
notariell meine Forderung an Herrn von Hellstjern – der Mann ist Ihnen
doch sicher?«

»Bombensicher,« sagte Bertold.

»Sie zahlen mir 36000 Mark bar aus und behalten den Rest.«

»Einverstanden, Herr Baron, aber –« Bertold holte sein dickleibiges
Notizbuch hervor, feuchtete seine Fingerspitzen an und begann zu
blättern. »Ich habe da nämlich noch einen kleinen Wechsel in die Hände
bekommen – Silbermann in Kölpin hatte ihn einmal meinem Schwiegervater
in Zahlung gegeben – es handelt sich nur um acht- oder neunhundert
Mark –«

»So ziehen Sie die auch ab, zum Donnerwetter!« rief Klaus ungeduldig.
Herrgott, was hatte der Mensch ihn schon betrogen!

Bertold steckte ruhig sein unförmiges Taschenbuch wieder ein.

»Da steh’ ich also zur Verfügung, Herr Baron,« sagte er. »Um fünf Uhr
geht der Zug – ein Bummelzug freilich, aber wir haben ja nichts zu
versäumen; Rechtsanwalt Sarnow empfängt uns auch außerhalb seiner
Sprechstunden. Dann können Sie noch um elf Uhr nach Berlin weiter – das
heißt, wenn Sie überhaupt nach Berlin wollen. Paßt Ihnen mein Wagen? Der
Koffer da geht bequem hinauf – wir binden ihn hinten fest – er hat
Platz. Das Pferd stell’ ich auf die paar Stunden bei Petersen ein – Sie
wissen ja, dem Restaurateur in –«

»Ja, ja!« rief Klaus. Das Geschwätz Bertolds machte ihn nervös. Er
pfropfte noch rasch einen Anzug in den Koffer hinein, wechselte in
fliegender Hast seine Toilette und rief aus dem Fenster nach Jule.

»Allons,« sagte er, »den Koffer auf den Wagen des Herrn Möller! Ich
verreise für einige Zeit. Du wirst ja hören, wann ich zurückkomme –«

Die Kleine starrte ihn mit großen Augen erschreckt an. Aber sie
entgegnete kein Wort. Sie war an willenloses Gehorchen gewöhnt.

Der Wagen ratterte über das Hofpflaster und fuhr staubaufwirbelnd den
Berghang hinab.

Jule war in der Prallsonne stehen geblieben. Aus dem Stalle wurde ein
leises Wiehern vernehmbar. Der Rappe wollte sein Futter haben. Er und
die Jule, die Zurückbleibenden, waren die letzten lebendigen Wesen im
Döbbernitzer Schlosse.

Hinten im Parke, ganz umbuscht vom Grün stark wuchernder Schneeballen,
stand ein einfacher Tempelbau, eine Art Mausoleum. Unter den
Sandsteinplatten im Innern ruhten die Särge der Eltern Zernins. Auch
hier tiefer und schweigender Friede, kein Laut des Lebens.

Nur ein gelber Schmetterling flatterte, hin und her huschend, über das
körnige Grau des Sandsteins.



Elftes Kapitel


Der Sommer ging zur Rüste. Die Nächte wurden kalt, es herbstelte stark.

Oberlemmingen konnte mit seiner ersten Saison zufrieden sein. Die
Reklame hatte gewirkt. Allerdings waren in ärztlichen Kreisen auch
einige Stimmen laut geworden, die dem Gutachten des Professors Statius
und seiner Leute widersprachen, die die Analyse für inkorrekt und die
unter Posaunenschall der Welt verkündete Heilkraft der Bismarckquelle
für ziemlich unbedeutend erklärten. Man habe in unglaublichster Weise
übertrieben, so äußerten sich jene Stimmen; man habe aus einer Mücke
einen Elefanten gemacht. Das Wässerchen habe seine Vorzüge – gewiß,
aber es sei mit den Kissinger Quellen gar nicht zu vergleichen; und in
einer medizinischen Monatsschrift fiel sogar der unparlamentarische
Ausdruck »Mumpitz«.

Darauf schien Kommerzienrat Schellheim nur gewartet zu haben. Sofort
wurde der Schlachtplan für den Reklamefeldzug während des Winters
entworfen. Wieder flatterten viele Tausende von Broschüren über die
Lande. Flugblätter verkündeten auch der Laienwelt die Entgegnung des
Professors Statius. Die großen Zeitungen wurden mit Inseraten
überschüttet und lobten dafür im redaktionellen Teil das märkische Bad;
Postkarten mit Ansichten von Oberlemmingen kamen in den Handel;
Schellheim ließ eine »Bismarckquellen-Polka« komponieren und auf den
Musikmarkt bringen, und eine Novelle: »Die Großbäuerin von
Oberlemmingen«, wurde sämtlichen Kreisblättern zum freien Abdruck zur
Verfügung gestellt. Das war eine rührsame Dorfgeschichte, die den
Verfasser der ersten Broschüre zum Autor hatte, und in der natürlich
auch die Quelle eine Rolle spielte. So sollte den ganzen Winter
hindurch das Tamtam gerührt werden.

Der Kommerzienrat entfaltete eine angestrengte Tätigkeit. Anfänglich
hatte er die Sache mit dem neuen Bade gewissermaßen nur als
Unterhaltung, als Abwechslung in die Hand genommen. Aber sein Interesse
wuchs, je mehr Kapitalien er dem Unternehmen opferte. Albert Möller und
er betrachteten sich immer noch mit heimlichem Mißtrauen. Jeder von
ihnen hatte das Empfinden, als warte der andre nur auf den geeigneten
Augenblick, ihn übers Ohr zu hauen. Sie gingen Hand in Hand und waren
doch Todfeinde. Und dabei wußten beide, daß sie ohne einander gar nicht
auskommen konnten. Sie waren wie Sklaven zusammengekettet oder wie die
zänkischen Weiber, die man im Mittelalter mit Hals und Händen in die
»Geige« spannte.

Übrigens sehnte sich Schellheim gerade in dieser Zeit mehr als je nach
zerstreuender Arbeit. Hagen machte ihm schwere Sorgen. Dieser tolle
Junge hatte rund heraus erklärt, er sei bereit, von der Leitung der
Firma zurückzutreten und sich auf sein Pflichtteil setzen zu lassen,
aber von seiner Liebe zu der kleinen, blonden Stepperin könne man ihn
nicht abbringen. Er werde sie unbedingt heiraten. Der Rat fuhr nach
Berlin, Hagen selbst ins Gebet zu nehmen. Doch der blieb fest; alle
Gründe, die sein Vater gegen diese unsinnige Heirat ins Gefecht führte,
fruchteten nichts. Zähneknirschend entschloß sich Schellheim zu
brutaleren Mitteln. Er suchte die Eltern der Anna Zell auf. Der Alte war
Straßenbahnschaffner, seine Frau übernahm Aufwartungen, Anna war das
fünfte von sieben Kindern. Der Rat seufzte auf, als er die zahlreiche
Familie sah, die er mit in den Kauf nehmen sollte. War es denn denkbar!?
Dieser Hagen, sein ganzer Stolz, nicht nur ein tüchtiger Kaufmann,
sondern auch durchaus Gentleman mit seiner Vorliebe für
Theaterpremieren, elegante Krawatten und kleine Soupers – gerade der
wollte ihm die Schande bereiten, tief unter seinem Stande zu heiraten!
Schellheim fand übrigens, daß die alten Zells ganz vernünftige Leute
seien. Sie wußten auf der Stelle, wohinaus er wollte, aber sie hatten
ihrer Anna nichts mehr zu befehlen, denn diese war mündig und
selbständig. Hagen hatte sie bereits aus dem Elternhause wie aus der
Fabrik genommen und in einer Pension in der Potsdamerstraße
untergebracht. Auch an sie wandte sich der Rat. Das schüchterne kleine
Persönchen war gut instruiert worden. Sie stürzte Schellheim sofort zu
Füßen, küßte seine Hände, weinte, bat und flehte und fiel schließlich in
Ohnmacht. Voller Erregung reiste Schellheim wieder ab.

Gunther war als Gast auf dem Auberge. Er hatte soeben seine Manöverübung
beendet und kehrte sonnengebräunt, frisch und gesund aussehend, zu den
Eltern zurück. Seine große Arbeit war bereits im Druck; im Oktober
sollte sie erscheinen.

Da er seit drei Vierteljahren nicht in Oberlemmingen gewesen war, so
interessierten ihn die Veränderungen im Ort naturgemäß sehr. Sehr
entrüstet war der Kommerzienrat über die anscheinende Gleichgültigkeit,
mit der Gunther die Heiratspläne seines Bruders aufnahm.

»Ich muß dir gestehen, Vater,« sagte er zu Schellheim, als die Rede auf
Hagen und seine blonde Liebe kam, »daß ich das Hagen eigentlich gar
nicht zugetraut hätte. Im Grunde genommen freut es mich, daß er sein
Herz sprechen läßt – ah, rege dich nicht auf, Papa, ich sage ja nur im
Grunde genommen. Du kennst mich. Ich würde auch nur aus Neigung
heiraten; allerdings muß ich hinzufügen, daß sich _meine_
Heiratsneigungen sicher nach andern gesellschaftlichen Richtungen hin
bewegen als diejenigen Hagens. Doch das ist lediglich eine Folge
angeborenen Geschmacks, um mich gelehrt auszudrücken, das Produkt einer
gewissen soziologischen Ästhetik. Ich würde wohl nie dazu kommen, mich
in eine Anna Zell zu verlieben, und daher auch nie auf den Gedanken
verfallen, besagte Anna heiraten zu wollen, die ich hier natürlich nicht
als Person, sondern nur als Typus aufstelle.«

»Schön,« meinte der Rat, »das bist _du_ – aber was mache ich nun mit
dem Hagen? Muß er denn zum Donnerwetter vom Fleck weg heiraten? Kann es
nicht bei der Liebelei bleiben, bis sie so sachte versandet und
verblutet ist? Man braucht nicht gleich an chinesischen Kastengeist und
an die Mandarinenknöpfe zu denken und kann doch der Ansicht sein, daß
man im Leben über bestimmte gesellschaftliche Unterschiede nicht recht
fortkommt!«

Gunther nickte. »Richtig, Papa,« antwortete er, »so hat leider auch der
Baron von Hellstern gedacht –«

Aber der Rat fiel ihm ärgerlich ins Wort:

»Ach was – das waren ganz andere Verhältnisse! Ich bitte dich, wie
kannst du das nur vergleichen?«

»Die Ähnlichkeit liegt auf der Hand. Aber streiten wir nicht darüber.
Wenn Hagen fest bleibt, wirst du dich fügen müssen. Denn ich nehme nicht
an, daß du wegen der Mesalliance – man hört dies Wort übrigens gar
nicht mehr, was ich als Beweis dafür auffassen möchte, daß wir doch
langsam einer freieren und edleren Beurteilung des Wesens der Liebe
entgegenschreiten –, also, ich nehme nicht an, daß du Hagen wegen
seiner Herzensaffäre verstoßen und enterben wirst. Abgesehen davon, daß
er dies wahrhaftig nicht verdienen würde – wer soll das Geschäft
weiterführen?«

»Das ist es ja eben, Gunther! Hagen ist mir unentbehrlich. Er ist eine
kaufmännische Kraft ersten Ranges, eine wahre Rechenmaschine – und dann
seine glückliche Hand! Aber trotzdem – Straßenbahnschaffner – es ist
gräßlich!«

Ein leichtes, etwas bitteres Lächeln flog um Gunthers Lippen: »Denke
mal: wenn Hellstern sich damals ähnlich ausgedrückt hätte! –
›Hemdenfritze – es ist gräßlich!‹ Pardon, Papa, – wer viel über
Büchern sitzt, der kommt zuweilen auf merkwürdige Gedanken. Aber bleiben
wir beim Thema! Geschäftlich könnte Hagens Heirat euch doch nicht
schädigen?«

»Gott bewahre – das Geschäft hat gar nichts damit zu tun.«

»Nun, dann würde ich dir raten: laß dir die Geschichte nicht allzu
sorgenvoll durch den Kopf gehen! Warte ab; vielleicht besinnt sich Hagen
doch noch eines andern. Jedenfalls opponiere nicht allzu heftig; du
stärkst nur den Widerstand.«

Schellheim stand auf. »Ich verstehe nur nicht, daß dich die ganze Sache
so gleichgültig läßt,« sagte er. »Es handelt sich doch um deinen
Bruder!«

Auch Gunther erhob sich. »Gleichgültig ist zu viel gesagt, Papa. Meinem
innersten Empfinden nach hätte ich mir _auch_ eine andre Partie für
Hagen gewünscht. Aber ich würde niemals versuchen, seinem Glück in den
Weg zu treten – selbst wenn ich fürchten müßte, es handle sich nur um
ein eingebildetes Glück.... Jetzt will ich den Pastor besuchen ...«

Er traf Eycken nicht zu Hause, doch sagte man ihm, daß der Pastor »auf
dem Bauplatze« sei. Das war die Lichtung in der Tannenschonung, wo das
Kinderasyl im Entstehen war.

Der Herbsttag war nicht allzu freundlich. Ein kräftiger Wind wehte von
den Bergen herab, so daß die Bäume sich neigten und ihr buntes Laub
abschüttelten. Der Wind griff es auf und drehte es zu Wirbeln zusammen,
quirlte es in langen Schraubenwindungen hoch in die Luft und ließ es
hier zerflattern, so daß es abermals wie ein farbiger Regen herabfiel,
um dann wiederum zum Spiel des Sturmes zu werden. Aber dieser lustige
Wind hatte auch sein Gutes; er hatte die Regenpfützen vom Tag vorher
aufgesogen und die Nässe des Bodens getrocknet. Es marschierte sich gut
trotz des rauhen Atmens der Natur.

Gunther schritt rasch durch das Dorf, mit lebhaften Augen umherspähend.
Die letzten Sommergäste waren noch nicht abgezogen. Ein paar Damen
begegneten ihm, ein älterer Herr im Rollstuhl, den ein Diener vor sich
her schob, ein junges Mädchen, zwei Kinder an der Hand, und auch der
»Badekommissar«. Er war von Schellheim provisorisch angestellt worden,
ein Major a. D. mit schönem, graublondem Schnurrbart und verbindlichem
Wesen. Der Kommissar grüßte Gunther, obwohl er ihn nicht kannte, er
hielt sich für verpflichtet, jeden Fremden zu grüßen, den er traf. Im
Hause Braumüllers hatte Bertold Möller schon Einzug gehalten; aber vor
den glänzenden Spiegelscheiben der Schaufenster lagen noch die Rouleaux.
Vom Kurpark herüber trieb der Wind das Laub in ungeheuren Massen und
häufte es in den Chausseegräben auf. Ein paar Arbeiter waren dabei, den
Lawn-Tennis-Platz zu säubern, andre errichteten auf der Südseite des
Platzes hinter den Ahornbäumen ein langgestrecktes, niederes Gebäude,
das zu Verkaufsbuden verpachtet werden sollte.

Die flatternde Fahne mit dem Johanniterkreuz wies Gunther den Weg. Das
Kinderhospital war bis zum zweiten Stockwerk gediehen; man hoffte, mit
Dachung und Ausbau noch vor Beginn der Frosttage fertig zu werden.
Eycken besuchte täglich den Bauplatz. Er ging auf in diesem Liebeswerk,
und Herz und Seele schienen in ihm wieder jung werden zu wollen.
Selbstverständlich überschritten die Kosten schon jetzt den Anschlag,
aber Eycken machte das wenig Kummer. Er wollte nicht sparen – für wen
auch? So stieg dieser Palast der armen Kleinen schön und stattlich in
die Höhe, mit breiten Fensterfluchten und luftigen Sälen und Zimmern,
gewissermaßen ein Stein gewordener Protest gegen die spekulativen
Zukunftsideen, die weiter unten im Tale den neuen Kurort Oberlemmingen
ins Leben gerufen hatten.

Gunther sah neben Eycken Hedda stehen. Einen Augenblick stockte sein
Fuß; er war im Begriff, umzukehren. Aber schon im nächsten Moment schalt
er sich einen Toren. Weshalb flüchten? Mußte er nicht im Gegenteil dem
Zufall dankbar sein, der ihn hier mit ihr zusammenführte?

Der Pastor hatte ihn schon gesehen.

»I, ist das nicht –« und dann zog er seinen breitkrempigen
Demokratenhut und winkte mit beiden Händen grüßend zu Gunther hinüber.

Auch Hedda nickte ihm zu, ohne Verlegenheit und Verschüchterung, mit
freundlichem Lächeln, und bot ihm die Hand, als er näher trat; er selbst
aber errötete und kam sich sehr linkisch vor. Selbst die Verbeugung, die
er machte, erschien ihm lächerlich.

Die Unterhaltung wechselte rasch. Von den neu entdeckten
Faustgeschichten Gunthers ging man zu dem Kinderasyl über, für das Hedda
ein ebenso warmes Interesse bekundete wie der Pastor. Sie war wieder
täglicher Gast im Pfarrhause und begleitete ihn auf den Bauplatz, sobald
sie sich einmal von ihrem Vater frei machen konnte, der immer grämlicher
und mürrischer wurde. Er schimpfte nun auch auf Eycken; der Pastor
wollte für seine Gründung elektrisches Licht haben, und die
Badedirektion schloß sich an. Die Sache war nicht so gefährlich, da man
in unmittelbarer Nähe bei den Grunower Mühlen starke Wasserkräfte zur
Verfügung hatte. Aber Hellstern brachte gerade diesem hellen und grellen
Lichte einen förmlichen Haß entgegen. Er klagte darüber, daß er sein
liebes Dorf nie wieder im sanften Lullen der sinkenden Dämmerung sehen
würde; selbst bis in seinen Park hinein würden die weißen Lichtstrahlen
fallen. Man »vergraulte« und »verekelte« ihm geflissentlich den
Baronshof. Er schwor Hedda zu, daß er sein Zimmer überhaupt nicht mehr
verlassen würde, murrte und räsonierte stundenlang, um das arme Mädchen
dann plötzlich wieder an seine Brust zu reißen und durch einen
stürmischen Kuß zu versöhnen.

Eycken führte Gunther durch seinen neuen Bau. Es war wirklich nicht
gespart worden. Die ganze Anlage zeugte von Zweckmäßigkeit und
Gediegenheit; Luft und Licht war die Parole gewesen. Dem Hauptbau
sollten sich die notwendigen Nebengebäude anschließen, dann die
Ausgestaltung des Gartens mitten in der würzigen und kräftigenden Luft
des Tannenwaldes in Angriff genommen werden. Der Pfarrer erläuterte
Gunther alles das mit seiner lebhaften, von der Begeisterung für das
Gute getragenen Beredsamkeit. Die klaren Augen in dem schönen
Greisenantlitz leuchteten dabei wie in heiligem apostolischem Feuer, und
Eycken war auch ein Apostel – der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit.

Als man gemeinsam nach dem Dorfe zurückkehrte, lenkte Gunther das
Gespräch auf Döbbernitz. Mit Absicht; die erstaunliche Tatsache, daß der
schwedische Hellstjern den Zerninschen Besitz gekauft, hatte ihn mit
neuer Unruhe erfüllt. Denn noch hatte er nicht alle seine Hoffnungen
begraben. Seine Liebe zu Hedda und die bewundernde Anbetung, die er ihr
entgegenbrachte, war die alte geblieben; er fand sie schöner als je und
sah auf ihrem stolzen Mädchengesicht einen Ausdruck von Vergeistigung
und träumerischem Sinnen, der ihm früher nicht aufgefallen war und sie
zu verklären schien.

Hedda erzählte in ruhigem Ton das Neueste über Döbbernitz. Klaus von
Zernin war verschwunden; irgend jemand wollte ihn in Monte Carlo gesehen
haben. Auf Döbbernitz aber regten sich seit Wochen viele hundert
fleißige Hände. Baron Hellstjern hatte sich selbst merkwürdigerweise
noch gar nicht gezeigt; an seiner Statt schaltete mit unbeschränkter
Vollmacht ein Administrator, den Heddas Vater Axel empfohlen hatte. Es
war der ehemalige Oberinspektor des alten Zernin, ein Mann, der die
Verhältnisse auf Döbbernitz auf das genaueste kannte, voll
Zuverlässigkeit und rüstigem Fleiß, eine erstklassige Kraft. Und eine
solche brauchte man. Es war keine Kleinigkeit, dies verwüstete Land
wieder ertragsfähig zu gestalten. Man mußte sozusagen von vorn anfangen,
denn auch vom Inventar war nichts zurückgeblieben; lebendes und totes,
bis auf die letzte Kuh und den letzten, schon verrosteten Pflug war
verkauft oder gepfändet und verauktioniert worden.

Und während das Land von neuem beackert wurde und aus den tiefen
Furchen, die den Boden zerrissen, ein frischer Odem von Lebensfähigkeit
aufstieg, wie ein Ahnen kommenden Keimens, trafen im Schloßhofe große
Möbelwagen ein, um zunächst dem Mittelbau wieder eine behagliche
Wohnlichkeit zu geben. Auch diese Einrichtung überließ Hellstjern
fremden Händen; er hatte an den Ohm auf dem Baronshof geschrieben, er
habe zurzeit zu viel zu tun, um sich um all diese Dinge kümmern zu
können. Die Wahrheit war, daß er sich zu einer ernstlichen Kur
entschlossen hatte; der abscheuliche Husten, der seine ganze
Konstitution zu erschüttern drohte, mußte einmal fortgeschafft werden.

Gunther hörte mit reger Aufmerksamkeit der Erzählenden zu. Er meinte, er
sei recht froh, daß Baron Hellstjern seinem Vater zuvorgekommen sei.
Seit der Vater die Leitung der Fabriken abgegeben habe, sei er von
fieberhafter Unruhe gepackt, überall wolle er sich beteiligen. Und dann
sprach Gunther ganz harmlos von den Heiratsplänen Hagens, die dem Vater
so viel Ärger bereiteten. Er tat dies mit Absicht, trotz der
anscheinenden Harmlosigkeit; er wollte Hedda auf diesen neuen
plebejischen Einbruch in seine Familie vorbereiten, war auch begierig,
was sie dazu sagen würde.

Aber sie enthielt sich des Urteils und bemerkte nur, daß sie die
Aufregung und die Abwehr des Kommerzienrats begreifen könne, denn
zweifellos sei die beabsichtigte Heirat Hagens ein »Tiefersteigen«.
Eycken war nicht dieser Ansicht, suchte wenigstens den gesellschaftlichen
Abfall des grimmen Hagen zu beschönigen und zu entschuldigen; in der
Liebe zum andern Geschlecht gäbe es keine Dummheiten, oder aber diese
ganze Liebe sei Dummheit. Im übrigen steige Hagen seiner Meinung nach
keineswegs »hinab«, sondern zöge höchstens sein Mädchen »herauf«.

Vor dem Parktore des Baronshofes trennte man sich. Hedda bat um den
Besuch Gunthers und dieser sagte mit tiefer Verneigung zu.

Der Baron saß wie gewöhnlich bei seiner Familiengeschichte. Er steckte
mitten im achtzehnten Jahrhundert; das Lateinische und Schwedische war
dem Französischen gewichen. Aber auch bei diesem verschnörkelten alten
Französisch fehlten ihm häufig Vokabeln und sinnverwandte Ausdrücke, und
dann mußte er die Lexika durchstöbern. War Hedda zugegen, so ging das
alles viel schneller.

Hellstern war im letzten Jahre noch dicker geworden. Die Ischias hatte
etwas nachgelassen, aber ein Asthma kündigte sich an. Der Baron
verzichtete jetzt auf jede Bewegung; nur mit Mühe schleppten Hedda und
August ihn dann und wann auf ein Viertelstündchen in den Park. Er hatte
sich vollständig in seinen Ärger über die modernen Veränderungen in
Oberlemmingen verbissen. Eine Art fixer Idee spielte dabei mit. Er war
überzeugt davon, daß man ihn von Haus und Hof vertreiben wolle. Die
Möllers bauten rechts seitwärts vom Parkausgange eine Brauerei und
hatten eine Parzelle des Dorfangers vom Fiskus erstanden. Das wurmte
Hellstern furchtbar. Nun hatte er wirklich Qualm, Dampf und Rauch,
Geräusch und Gestank direkt vor der Nase.

»Gunther Schellheim ist wieder hier, Papa,« sagte Hedda beim Eintreten;
»er läßt dich grüßen.«

»Ist mir ’ne hohe Ehre,« erwiderte der Alte giftig. »Hat er vielleicht
seinen Antrag wiederholt?«

»Nein,« sagte Hedda und band ihren Hut ab; »warum bist du so schlechter
Laune?«

»Das würdest du auch sein, wenn du dich so ärgern müßtest wie ich. In
diesen Akten kommen Ausdrücke vor, für die es in keinem Lexikon der Welt
Erklärungen gibt.«

»Ich werde dir helfen,« entgegnete Hedda geduldig und nahm auf dem aus
den vierzehn Folianten der Merianschen Topographie gebildeten Sitze
Platz.

Aber der Alte wollte noch plaudern. »Wie sieht der Herr Gunther aus?«
fragte er.

»Gut – männlicher als sonst. Er kommt eben aus dem Manöver. Es ist
merkwürdig, was wir für einseitige Menschen sind! Ich bin überzeugt, in
seiner hübschen Husarenuniform würde er mir sehr gefallen. Schwarz und
silberne Verschnürung, mit dem großen Totenkopf auf der Bärenmütze.«

»Ich weiß,« erwiderte Hellstern nickend; »ein gutes Regiment. Nun,
dieser Gunther ist ja doch auch immerhin ein anständiger Mann ... Da ist
ein Brief von Axel gekommen, der dich interessieren wird.«

Er reichte Hedda das Schriftstück, und sie begann zu lesen:


  »Liebster Onkel – liebste Cousine!

»Zunächst Verzeihung, daß ich französisch schreibe – es geht mir immer
noch rascher von der Hand wie Eure Muttersprache, und ich habe Euch eine
ganze Menge zu erzählen. Wie Ihr aus dem Poststempel erseht, bin ich
nicht in Berlin, sondern in Gehringen. Das liegt in der Schweiz, ein
Stündchen von Basel, und ist eine Heilanstalt, die mir ein befreundeter
Arzt empfohlen hat. Ich wollte nämlich einmal meinem Husten zu Leibe
gehen. Nun kuriert man hier unten freilich nicht auf gewöhnliche Weise,
mittels allerhand Mixturen aus Flaschen und Schachteln und Töpfen,
sondern durch Sonnenbäder, Elektrizität, Massage, kaltes und heißes
Wasser, Fichtennadeln und Gott weiß was noch – aber die Tatsache steht
fest: es geht mir bedeutend besser, so daß ich mich mit der Hoffnung
trage, Euch in üppiger Gesundheit wieder begrüßen zu können.

»Und das soll bald geschehen. Mein Abschied ist mir in Gnaden bewilligt
– sogar mit einem Orden, der sehr schön aussieht und an einem Bande mit
drei Farben hängt. Da will ich mich denn nun im Spätherbst in Eurer
Nähe, nämlich in Döbbernitz, festsetzen. Rieske, der Verwalter, den Du,
lieber Ohm, mir empfohlen hast, scheint sich ausgezeichnet zu machen. Er
schickt mir wöchentlich zwei ausführliche Berichte, die mich über alles
informieren und trotzdem knapp gehalten sind. Das gefällt mir. Ich finde
auch, daß er sparsam wirtschaftet. Die Anschaffung des Inventars und die
Instandsetzung der ganzen Geschichte verlangen natürlich Opfer, aber ich
bringe sie gern. Schon weil ich nun wieder ein Heimatplätzchen bekomme.
Ich kann Euch nur sagen, daß ich mir immer wieder von neuem Glück zu
meiner Idee wünsche. Es war der vernünftigste Streich meines Lebens, der
Ankauf von Döbbernitz.

»Sehr, sehr gern würde ich es sehen, wenn Hedda sich einmal die
Schloßeinrichtung ansehen wollte. Eine Masse hübscher Möbel habe ich
unterwegs kaufen können, auch hier in der Umgegend, auf alten
Bauerngehöften und in den Kleinstädten noch mancherlei Nettes und
Interessantes gefunden. Aber die weibliche Beihilfe fehlt mir doch. Und
dann weiß ich nicht, wie die Berliner Dekorateure die Sache arrangiert
haben. Ich werde wohl alles wieder ›umkrempeln‹ – sagt Ihr nicht immer
›umkrempeln‹? –, wenn ich erst in Döbbernitz bin. Hedda, dabei mußt Du
mir aber zur Hand gehen! Das kann ich als Vetter verlangen. Ein paar
Zimmer werden so wie so für Euch beide eingerichtet, denn ich hoffe, Ihr
werdet öfters, nein recht oft, sehr oft, bei mir zu Gast sein. Die
moosgrün bezogenen Möbel sind speziell für Dein Zimmer bestimmt, Hedda.
Ich fand die Formen so hübsch, edel und schön in den Proportionen, nicht
so spielerisch und gesucht originell, wie der moderne englische
Geschmack sie liebt. Der Renaissanceschrank und das große Himmelbett
stammen aus dem Palazzo Formosa in Bologna.

»Siehst du, Hedda, und da freue ich mich jetzt schon darauf, mit Dir
zusammen im Schlosse von Döbbernitz Ordnung und Behaglichkeit schaffen
zu können. Wir gehn zimmerweise vor, und für jedes Zimmer lasse ich dich
extra vom Baronshofe holen, damit das Vergnügen länger dauert. Und dann
freue ich mich auch auf unsre Spaziergänge im Walde, unten am See, wo
die Eichen stehen und der große Felsblock liegt. Ich sagte es Dir ja:
bei Euch werde ich wieder ganz gesund und auch noch einmal jung werden,
denn es weht Heimatluft bei Euch, und die war’s, die mir fehlte. Ich bin
ganz krank vor Sehnsucht. Das ist mir noch nie passiert.

»Ende Oktober denke ich zurück zu sein. Fröhlichen und herzlichen Gruß
Dir, Onkel, und Dir, liebe Base, von

  Euerm getreuen
    Neffen und Vetter Axel.«


Bedächtig steckte Hedda den Brief wieder in das Couvert.

»Er klingt wirklich sehnsüchtig, der Brief,« sagte Hellstern mit
Betonung. »Weißt du, Hedda, ich mache mir so meine Gedanken.«

Sie hatte sich tief über das Lexikon gebeugt, das auf ihren Knieen lag,
und in dem sie mechanisch blätterte. Als sie den Kopf hob, sah der Alte,
daß sie auffällig blaß war.

       *       *       *       *       *

An diesem Tage gedachte Fritz Möller, sich mit der Dörthe endgültig
auszusprechen. Es mußte einmal geschehen. Die Eltern drängten, Albert
und Bertold nicht minder. Grödecke aus Frankfurt hatte eines Tages
seinen Freund Albert Möller in Oberlemmingen besucht. Er brachte seine
Tochter Frida mit, ein großes, starkes, sehr brünettes Mädchen mit
energischen Zügen. Fritz sollte sich mit ihr »anvettern«, und das
geschah denn auch. Er fand sie nicht so übel, obwohl ihr stechender
Blick und ihr rasch zugreifendes Wesen, auch ihre Erscheinung ihm einen
ausgewachsenen Pantoffel prophezeiten. Noch wurde nicht vom Heiraten
gesprochen, doch Frida wußte bereits Bescheid. Sie ließ sich das ganze
Haus zeigen, vom Dach bis hinab zum Weinkeller; sie nahm es schon in
Besitz. Auch die Angelegenheit mit der Engrosschlächterei, die den
Badeort, das Kinderhospiz und die Güter in der Umgegend versorgen
sollte, war zur Reife gediehen. Wieder hatte einer der Bauern sein
Gehöft verkauft – Thielemann, dessen Besitz den Möllers am bequemsten
lag. Dorthin sollte das Schlachthaus kommen.

Gegen Abend hatte der Wind sich gelegt. Fritz hatte Dörthe gebeten, sich
mit ihm an der Quelle zu treffen; er habe Wichtiges mit ihr zu
besprechen. Sie hatte sich auf dem Baronshof auch freimachen können und
war pünktlich zur Stelle, in ihrem Arbeitskleide, aber ein neues
dreieckiges Tuch um die Schultern geschlagen, mit bloßem Kopfe.

Fritz war noch nicht da. Dörthe wanderte in den schweigenden Anlagen auf
und ab. Das falbe Laub rauschte unter ihren Füßen. Ein letztes
Sonnenflackern glitt durch die Baumkronen, fahlgelb, ein erlöschendes
Licht.

Das Mädchen war nicht in Sorgen. Im Gegenteil – ein Zug heiterer
Zufriedenheit lag auf dem hübschen, braunen Gesichtchen. Sicher handelte
es sich um eine Besprechung wegen der Hochzeit. Vielleicht sollte sie
schon vor Weihnachten sein. Wie schlug der Dörthe das Herz!

Sie hatte sich auf eine der Sandsteinstufen an der Quelle gesetzt. Das
Wasser sprudelte nicht, aber man hörte sein Rauschen unterhalb der
Einfassung, ein leises Gemurmel wie von fernen Stimmen. Die Rosen in den
Bosketts waren abgeblüht, der wilde Wein, der sich um die Eisenträger
der Wandelhalle schlang, schimmerte feuerrot. Überallhin hatte der
Herbst seine Farbenflecke gestreut.

Als Dörthe ihren Bräutigam kommen sah, sprang sie auf, lief ihm entgegen
und fiel ihm in die Arme. Er umschlang sie, ohne sie zu küssen, und
schritt mit ihr den Weg hinab. »Komm unter die Buchen,« sagte er, »die
Liese spürt mir wieder mal nach.«

Jetzt durchzitterte sie eine Ahnung aufkeimenden Leids. »Gott, Fritz,
was gibt’s denn?« fragte sie.

Er wartete mit der Antwort, bis sie tiefer im Buchenhain waren, den die
Badedirektion mit dem Kurpark verbunden hatte. Aber auch hier blieb er
nicht stehen, sondern schritt weiter mit ihr, während er rasch, als
wolle er es von der Seele haben, und mit kurzen Unterbrechungen sprach.

»Also, Dörthe, es geht nicht mit unsrer Heirat. Die ganze Familie ist
dagegen – ich habe mich mit allen herumgezankt, weil ich es durchsetzen
wollte; aber überwerfen kann ich mich mit den Eltern nicht und auch
nicht mit den Brüdern. Es steht zu viel auf dem Spiel – gerade jetzt ...
Du mußt mir nicht böse sein, Dörthe – ich habe es immer gut gemeint und
dich lieb gehabt – und wir hätten ja auch so gut zusammengepaßt – aber
– du hättest bloß einmal Vatern sehen sollen, als ich ihm sagte: nein,
ich wollte fest bleiben, denn ich hätte dir die Hochzeit versprochen.
Mit beiden Fäusten ist er da auf mich losgefahren und mit Augen wie
Teller so groß – Dörthe, an mir liegt es ja nicht – es liegt nicht an
mir ...«

Seine Stimme wurde leiser; es ging ihm doch zu Herzen, dieses
Abschiednehmen. Aber er war noch nicht zu Ende; er hatte das Bestreben,
sich gänzlich zu entlasten, und fing immer wieder von vorn an, von der
Gegnerschaft der Eltern und den wütenden Augen des Vaters und dem ewigen
Schimpfen; er wisse sich nicht mehr zu helfen; er sei abhängig von dem
Alten sowohl wie auch von Albert, der jetzt das große Wort in der
Familie führe, und alles Bitten und Jammern habe ihm nichts genützt. Und
dann kamen wieder die wütenden Augen des Vaters an die Reihe – »wie
Teller so groß«.

Dörthe hatte kein Wort entgegnet. Sie war wie vom Schlage getroffen. Aus
ihrem Gesicht war alle Farbe geschwunden; schwer schleppte Fritz sie an
seiner Seite weiter. Sie hatte keine Ahnung von den gegen sie und ihr
Glück gerichteten heimlichen Treibereien, und in der Engigkeit ihres
dummen, kleinen Bauernhirns hatte sie auch gar nicht einmal gemerkt, wie
man sie mit kluger Politik in letzter Zeit vom Gasthause fernzuhalten
suchte. Anfänglich fand sie nicht einmal Tränen unter der Wucht des auf
sie herabsausenden Unglücks. Sie war so starr, daß ihre Augen trocken
blieben und ihre Lippen schwiegen. Aber als Fritz, um das Herzweh und
die Verlegenheit des Augenblicks zu überwinden, weiter und weiter
sprach, immer mit den gleichen Phrasen, sich zwanzigmal wiederholend, da
schäumte ganz plötzlich die Wut über den ihr zugefügten Betrug und über
die Treulosigkeit und Schwäche des Geliebten in ihr auf; sie riß sich
von ihm los und schrie:

»Nu sei doch man still! Ich hör’ ja schon! Ich weiß ja schon alles!
Pfui, bist du gemein! Du hast’s gar nicht ernst gemeint! Du hast bloß
drauf gewartet, daß –«

Und dann brachen die Tränen hervor, in Strömen und unaufhaltsam. Sie
warf sich auf die Erde, in das taufeuchte Laub, und schluchzte und
wimmerte ununterbrochen. Als er sich zu ihr hinabbeugte, um sie mit
einigen schlecht angebrachten Trostworten aufzuheben, schlug sie nach
ihm und schrie von neuem los: er solle sie nicht mehr anrühren, er sei
ein elender Lump, er möge heiraten, wen er wolle, oder wen seine Eltern
für ihn aussuchten – er ließe sich ja doch nur am Gängelbande führen
wie ein kleines Kind.... Sie gebärdete sich wie unsinnig und blieb auf
der feuchten Erde liegen, während ihr Körper konvulsivisch zuckte.

Fritz wußte nicht, was er machen sollte. Am liebsten wäre er
davongelaufen – nach Hause, zu Vater und Mutter und Albert; die hätten
vielleicht Rat schaffen können. Er hatte seine Mütze auf das rechte Ohr
geschoben, kraute sich den blonden Wirrkopf und blickte hilflos umher.
Es war allgemach dunkel geworden. Am Himmel flammten schon die Sterne
auf. Ein Käuzchen schrie in der Nähe.

»Dörthe,« sagte Fritz endlich in beklommenem Tone, »Dörthchen – hör
doch man zu – ich bin ja nicht so ... ich würde ja gern, wenn’s bloß
auf mich ankäme –«

Jetzt sprang sie mit einem Satze empor. Ihr ganzes Gesicht hatte sich
verändert. Der Schmerz verzerrte es und grub seine Linien in das
niedliche Oval; die Augen blitzten.

»Ist’s wahr, Fritz – bist du mir immer noch gut?«

»O Gott!« erwiderte er und versuchte, sie zu umfassen.

Aber sie entglitt ihm.

»So wirst du noch einmal mit den Alten und mit Albert sprechen,« fuhr
sie energisch fort, und doch klapperten dabei ihre Zähne in fröstelnder
Angst. »Verstehst du? Sagst ihnen, daß du nicht mehr zurückkönntest, daß
du kein Lump sein wolltest, daß du darauf beständest, dein Wort zu
halten, und wenn’s auch zu wer weiß was käme! Wirst du das tun? Fritz,
bist du denn nicht ein Mann?!«

Die Verzweiflung beflügelte ihre Worte. Sie stieß mit ihren beiden
Händen nach seinen Schultern, als wollte sie auf seine Kraft und Stärke
pochen, drängte sich dicht an ihn heran und krallte dann wie eine
Wahnsinnige ihre Finger in seine Arme ein.

»Bist du nicht ein Mann?!« schrie sie abermals. »Und fürchtest dich vor
Vatern und vor seinen großen Augen! Und vor Albert, den du mit einer
Hand aufheben kannst! – Was ist denn, wenn du ihnen nicht gehorchst?
Bist du nicht ausgewachsen und mündig? Aber du zitterst ja schon, wenn
Vater nur spricht – du Feigling, du Bangebüchse!«

Sie begann wieder zu schimpfen und dann von neuem zu weinen. Ihre
Energie war verraucht. Aber die Verächtlichkeit, mit der sie ihn
behandelte, entzündete doch seinen Stolz. O – eine »Bangebüchse« war er
nicht! Um des lieben Friedens willen hatte er nachgegeben, aber noch war
nicht aller Tage Abend. Schön also – er würde nochmals mit dem Alten
sprechen, »ganz verflucht« würde er mit dem Alten sprechen. Was konnten
sie ihm denn tun? War er nicht ausgewachsen und mündig?

Und als er sah und spürte, wie Dörthe an allen Gliedern zitterte, nahm
er sie mit raschem Entschlusse auf seine Arme und trug sie so durch den
Wald zurück, damit sie sich an seiner Brust erwärme, wie ein kleines
Vögelchen, das aus dem Nest gefallen ist, und das ein barmherziger Junge
unter die Weste geknöpft hat, um es mit nach Hause zu nehmen. Und
wirklich – ihr wurde auch warm. Ihr Ohr lag an seinem Leinenkittel, und
sie hörte sein Herz hämmern. Ein Wonneschauer durchrieselte sie, und
frisches Hoffen ließ sie selig lächeln. Das war die letzte Stunde Glücks
der Dörthe, da er sie heimtrug durch den Wald, über den die Finsternis
immer tiefer hinabsank.

Am nächsten Vormittag gab es eine entsetzliche Szene bei den Möllers.
Vater und Sohn waren handgemein geworden. Und da hatte die alte Möllern
die Flinte aus der Ecke gerissen und sie, den Kolben gegen den Leib
gedrückt, auf Fritz angelegt. Albert war dazwischengesprungen.

Das Ende war, daß Fritz sich kraftlos ergab. Er saß mit blassem Gesicht,
das Haar in die Stirn hängend, am Tisch und schrieb den Brief, den
Albert ihm diktierte:


  »Liebe Dörthe!

Es geht nicht mit uns. Das erkläre ich Dir hiermit zum letztenmal, und
damit Du auch weißt, warum nicht, will ich es Dir sagen: nämlich wegen
der Quelle. Die Quelle stellt höhere Anforderungen an mich, liebe
Dörthe, denen ich nachkommen muß. Willst Du noch mehr darüber wissen, so
wende Dich an Albert, der Dir in Ruhe und Freundschaft alles
auseinandersetzen wird, liebe Dörthe. Jetzt wollen wir uns beide
geduldig unserm Schicksal fügen und uns möglichst wenig zu sehen
kriegen. Das ist das beste, und mit der Zeit wirst Du mir auch nicht
mehr böse sein, liebe Dörthe, denn Du wirst sicher einen andern guten
und lieben Mann bekommen, den Dir von Herzen wünscht

  Dein Fritz.«


Die verschiedenfachen »liebe Dörthe« hatte der Schreiber aus eigner
Machtvollkommenheit eingefügt. Gern hätte er am Schlusse gesagt: »Dein
Dich immer noch lieb habender Fritz« –; aber Albert schaute ihm auf die
Finger, auf denen die ungewohnte Federarbeit schwarze Tintenstreifen
hinterließ.

Ein Junge brachte den Brief zu Klempt. Man wußte, daß Dörthe
allabendlich ihren Vater besuchte, und wollte auf dem Baronshof keinen
Skandal erregen.

Das Mädchen war noch nicht da, als der Brief abgegeben wurde. Tante
Pauline nahm ihn in Empfang und betrachtete ihn mißtrauisch. Dann holte
sie ihr Punktierbuch aus der Truhe und setzte sich damit an das Fenster,
durch das der letzte Schein des Abendrots fiel. Sie war doch neugierig,
was das zu bedeuten hatte: ein Brief gerade am Neumond.

Klempt legte soeben in der Werkstatt sein Arbeitszeug beiseite, reinigte
den Hobel, mit dem er hantiert hatte, und fegte dann die Späne zusammen.
Er war im Begriff, seine Schürze abzubinden, als es an die
Fensterscheiben klopfte und die fröhliche Stimme Dörthes ihm zurief:

»Feierabend machen, Vater!«

Im nächsten Augenblick hörte er den Widerhall ihrer Pantoffeln auf den
Steinen des Hausflurs und dann eine Tür schlagen. Dörthe ging in die
Wohnstube.

Doch was war das? Der Alte lauschte. Schrie da nicht jemand?

Er stürzte hinüber. Nur der schmale Flurgang trennte die Werkstatt von
der Wohnstube, in der Tante Pauline bereits die Lampe angezündet hatte.

Dörthe saß am Tisch und hielt den Kopf mit den Armen umschlungen.
Schweigend deutete Tante Pauline auf den erbrochenen Brief; ein bitteres
Lächeln zuckte um ihre scharfen Lippen.

»Lies mal,« sagte sie; »vor fünfundvierzig Jahren – da hat mich der
alte Möller grad’ so sitzen lassen.«

Das ganze Herz voll schluchzenden Grams, gebrochen und zerschmettert,
trat Klempt unter die Haustür. Er konnte den Schmerz der Tochter nicht
sehen, tausend Wunden bluteten in ihm.

Lind und fast sommerlich verrann dieser Herbsttag. Golddurchflimmerte
Dämmergewebe umspannen das Dorf, und noch leuchtete der Himmel im Westen
in duftigem Rosa. Von den Wiesen stiegen ganz feine Nebel auf,
streifenweise und leise zitternd, und schlangen sich um die Häuserfirste
und das Geäst der Bäume. Nur der Kurpark lag schon völlig im Nebel, in
einem wogenden, milchigen Meer.

»Wegen der Quelle!«

Und in seinem furchtbaren Herzenskummer, der den stillen und ruhigen
Mann wütend machte, ballte Klempt die Hände und erhob sie drohend und
schüttelte sie nach der Richtung des weißen Nebelsees, in dem der
Kurpark versank: »Verfluchte Quelle!«



Zwölftes Kapitel


Ende Oktober ereignete sich ein tragisches Vorkommnis, das viel
besprochen wurde und Aufsehen erregte. Braumüller, der sich das Trinken
angewöhnt, seit er nichts mehr zu tun hatte, war eines Nachts wieder
einmal in vollem Rausche nach Hause getorkelt, hatte den Weg verfehlt
und war in eine Kalkgrube gestürzt, die zu Bauzwecken benutzt wurde, und
die man am Abend vorher unglücklicherweise vergessen hatte mit Brettern
zu bedecken, wie es sonst geschah. Erstickt und verbrannt wurde der
Unglückliche am nächsten Morgen aus der Grube gezogen; vielleicht hatte
ihn auch schon beim Sturze ein Schlagfluß getroffen.

Für Hellstern war der arme Braumüller ein »neues Opfer der Kulturmission
von Oberlemmingen«. Braumüllers Untergang war seiner Ansicht nach die
logische Folge der industriellen Hetzjagd, die von Schellheim und den
Möllers in Szene gesetzt wurde, um aus der Quelle so viel als möglich
herauszuschlagen. Er war ein tüchtiger und arbeitsamer Bauer gewesen;
aber dann erfaßte ihn die Gier nach schnellem Reichtum, und er verkaufte
sein Anwesen, um nun allmählich in lässiger Faulheit der Trunksucht
anheimzufallen.

Zweifellos urteilte Hellstern in seiner Vereinsamung und Verbissenheit
einseitig und ungerecht. Aber ebenso zweifellos machte sich im Dorfe die
bei ähnlichen Gelegenheiten oft beobachtete Tatsache geltend, daß das
unerwartet rasche Emporschnellen der Erwerbsverhältnisse von ungünstiger
Rückwirkung auf die Bauern war. Man ernährte sich recht und schlecht auf
seinem kleinen Besitz; man legte in guten Jahren ein paar Taler zurück
und verbrauchte sie wieder in knapperen; man schlug sich bei harter
Arbeit durch, schimpfte auf die Steuern und war dabei fröhlichen Muts.
Und nun sah man plötzlich, daß es ein viel bequemeres Verdienen gab als
das, was man erlernt, was der Sohn vom Vater und der Vater vom Großvater
übernommen hatte. Die Möllers machten es den andern vor. Die hatten den
Bauernkittel abgelegt und waren Geschäftsleute geworden, und sie wurden
reich dabei. Warum sollte man ihnen nicht folgen? War es nicht ein
kümmerliches Leben, das man bis dahin geführt hatte? – Thielemann, der
Krämer, hatte für sein Gehöft ein hübsches Stück Geld eingesackt; nun war
er nach Züllichau gezogen und eröffnete dort eine Materialwarenhandlung.
Das war _auch_ ein leichterer Verdienst, und vor allem: hatte man nicht
dabei ein viel besseres Leben als hier auf dem Lande, wo man mit
Sonnenaufgang aus den Federn mußte und des Abends todmüde ins Bett sank?

Es waren besonders die Frauen und die erwachsenen Töchter, die sich der
revolutionären Bewegung in Oberlemmingen mit Begeisterung anschlossen.
Sie steckten sich hinter die Männer und redeten in sie hinein: warum
verkaufte man nicht? Die Möllers zahlten gute Preise – mit dem
gewonnenen Gelde ließ sich schon etwas anfangen! ... In der Tat kauften
die Möllers auf, was sich ihnen anbot. Sie hatten es um so eiliger, als
einige der reicheren Bauern, wie Langheinrich und der Lehnschulze
Wittke, sich gleichfalls mit Spekulationsideen zu befassen begannen.
Auch sie wollten Logierhäuser bauen: sie legten den Pflug beiseite und
wurden »Unternehmer«. Das füllte besser die Kassen. Aber die Möllers
ärgerten sich darüber. In kluger Berechnung wollte Albert nach und nach
das ganze Dorf an sich bringen, um das Gegengewicht des Kommerzienrats
zu schwächen. Wenn den Möllers das Terrain rings um die Quelle gehörte,
wenn sie das goldspendende Heilwasser gewissermaßen zernierten, von
allen Seiten umschlossen und mit einem Villenkranze umgaben, dann mußten
sie trotz der Millionen Schellheims doch schließlich die Sieger bleiben.
Und das war die heimliche Sehnsucht Alberts: den Kommerzienrat zu
übertrumpfen und bei geeigneter Gelegenheit die gesamten Anteilscheine
des Unternehmens in die Hände der Familie zu bringen. Das war ein
schwieriger Kampf, aber Albert schreckte nicht vor ihm zurück. Sein
Kredit war gestiegen; das Bad verhieß eine blühende Zukunft; selbst die
größeren Banken verhielten sich Albert gegenüber nicht mehr so abwehrend
wie früher. Und er nahm Gelder auf, wo sie sich ihm boten; er kaufte,
was zu kaufen möglich war, und baute unverdrossen darauf los. In seiner
geschäftigen Phantasie war bereits anstatt des kleinen Dorfs eine
prächtige Villenstadt erstanden, in der es keine Bauern mehr gab,
sondern nur noch »Gäste«, die das Tal überströmten und Gold in Massen
zurückließen. Er trug sich auch immer noch mit der Absicht, den
Baronshof zu erobern, denn dorthin sollte das Sanatorium kommen, und er
spekulierte auch nach dieser Richtung hin nicht unrichtig: der Baronshof
sollte umzingelt werden. Die Brauerei vor der Parkeinfahrt war der
Anfang; man wollte Hellstern das Leben schwer machen, man kannte seine
Schwächen; der Rauch der Fabrikschlote und der Spektakel der Maschinen
sollten ihn forttreiben.

Um all diese Ideen und Machenschaften der Möllers kümmerte sich der
Kommerzienrat wenig. Das war ihm zu kleinlich; er konnte keine
Logierhäuser bauen und sie an die Badegäste vermieten. Aber die Brauerei
hätte er gern in die Hand genommen; er ärgerte sich, daß Albert ihm
zuvorgekommen war. Er hatte viel Verdruß in dieser letzten Zeit. Eines
Tages traf Hagen auf dem Auberge ein – unerbeten und unerwartet – und
brachte seine Anna mit. Er wollte sie der Mutter vorstellen.

Die kleine, blonde Stepperin hatte einen gewissen natürlichen Takt, und
das erleichterte ein wenig die Schwierigkeiten der Annäherung. Sie war
auch lernbegierig und anpassungsfähig; man hatte ihr im Pensionat schon
beigebracht, sich zu benehmen und die Sitten der sogenannten guten
Gesellschaft zu respektieren. Nur merkte man ihr noch allzusehr an, daß
sie sich mit einer beständigen inneren Angst abmühte, korrekt zu sein
und sich nichts zu vergeben. Bei Tische schielte sie zuweilen unruhig zu
den künftigen Schwiegereltern hinüber, hantierte nach bester Etikette
mit Messer und Gabel und ließ die Serviette zusammengefaltet neben sich
liegen. Sie mischte sich nie unaufgefordert in die Unterhaltung, und
wenn sie angeredet wurde, zuckte sie empor und rückte auf ihrem Stuhle
hin und her, als ob sie aufspringen wolle. Auch hatte sie vor
Verlegenheit beständig ein rotes Köpfchen und wußte nie, wo sie ihre
Hände lassen sollte. Aber das waren Kleinigkeiten. Im allgemeinen war
der Eindruck, den sie hinterließ, kein übler. Auch die Rätin schien
weniger erwartet zu haben. Sie hatte in jenen Tagen mehrfache
Unterredungen mit ihrem Gatten, der während der Konferenzen stets
aufgeregt im Zimmer umhermarschierte.

»Es ist nichts zu machen,« sagte die Rätin sanft; »Hagen bleibt fest.
Und vielleicht ist es wirklich sein Glück; sollen wir es ihm zerstören?«

»Trotzdem ist es schrecklich,« antwortete Schellheim grollend.
»Wenn nur der Vater nicht Straßenbahnschaffner wäre! Ausgesucht
Straßenbahnschaffner!« ...

Das ging wirklich nicht. Er vergaß, daß sein eigner Großahn noch mit dem
Packen auf dem Rücken die Schenken und Jahrmärkte besucht hatte. Der
Sohn eines Königlichen Kommerzienrats konnte unmöglich einen
Straßenbahnschaffner als Schwiegervater haben. Der Mann mußte aus Berlin
fortgeschafft werden; es war angebracht, wenn man möglichst wenig mit
ihm in Berührung kam. Er sollte mit seiner Familie nach Manchester
übersiedeln. Das war ein guter Gedanke. Dort konnte man ihm in der
Fabrik eine auskömmliche Stellung geben; er hatte da auch einen
bequemeren Dienst als bei der Berliner Straßenbahn ...

Gunther weilte noch immer im Auschlosse. Er hatte seine Dozentenstelle
aufgegeben, um sich in größerer Ruhe seinen Forschungen widmen zu
können. Sein Faustbuch war erschienen und hatte ihm einen glänzenden
Sieg errungen. In der wissenschaftlichen Welt war sein Name nunmehr
bekannt, sein Ruf gefestigt. Das gab ihm auch ein größeres
Selbstvertrauen. Er war nicht mehr nur der Sohn eines reichen Mannes;
der Ruhm zog vor ihm her. Wußte das Hedda? War auch auf den Baronshof
die Kunde von seiner Entdeckung gedrungen?

Der Verkehr zwischen Auschloß und Baronshof war wieder aufgenommen
worden, aber er blieb in höflichen Grenzen. Hellstern und Schellheim
verstanden sich nicht, konnten sich auch nicht verstehen. Sie sprachen
wie in fremden Zungen miteinander. Aber Gunther hatte es einzurichten
gewußt, daß er öfters mit Hedda zusammentraf. Einmal erzählte er ihr
auch von seinem Siege. Sie freute sich darüber und beglückwünschte ihn.
Das klang herzlich, aber doch nicht so warm, wie sich Gunther gewünscht
hätte. Er schaute immer noch bewundernd zu ihr auf, und seine Sehnsucht,
dies stolze Mädchen zu erringen, war die alte geblieben. Und immer noch
ängstigte er sich vor dem schwedischen Vetter, gegen dessen alten Namen
er nur seinen jungen Ruhm in die Wagschale legen konnte.

An einem der letzten Oktobertage war Axel auf Döbbernitz eingetroffen.
Irgend eine Botenfrau hatte es auf dem Baronshofe erzählt. Es dauerte
auch nicht lange, so fand sich Axel persönlich ein. Ein eleganter
Parkwagen, prächtig bespannt, hielt eines Vormittags vor der Veranda.
Elastisch und sichtlich erfrischt durch seine Kur in dem Schweizer
Wunderbad, sprang Axel die Stufen hinauf und rief nach dem Onkel und
Hedda. Hedda kam auch, aber den Alten bannte wieder die Ischias an den
Stuhl; er war wie festgenagelt. Doch auch er freute sich über das
Wohlbefinden des Neffen. Noch war ja nicht alles in Ordnung, denn bei
der leisesten Erkältung stellten sich die Bronchialbeschwerden wieder
ein – aber ein Fortschritt war da. Axel fragte, ob er Hedda mit nach
Döbbernitz nehmen könne. Sie war zwar schon einmal auf dem Schlosse
gewesen, doch in Tagen, an denen noch eine chaotische Unordnung in allen
Zimmern geherrscht hatte. Nun aber sollte sie bewundern und staunen;
Axel selbst wollte sie am Nachmittag wieder zurückbringen und »in bester
Emballage abliefern, wie ein kostbares Püppchen aus #vieux Saxe#«.

Hellstern sagte ohne weiteres zu. Es wäre lächerlich gewesen, wenn er
sich um Hedda hätte sorgen wollen; die Obhut Axels genügte ihm. Ja –
wenn Klaus Zernin noch Herr auf Döbbernitz gewesen wäre! Nicht um alle
Schätze der Welt würde der Alte seine Hedda dem auch nur für eine Stunde
anvertraut haben!

So fuhr man denn wieder einmal durch den Wald. Ach, dieser Wald, wie
kannte er Heddas Seele und alle Regungen ihres Herzens! Ihm hatte sie
sich anvertraut in Freude und Leid und Bangigkeit, und ihr Weh wie ihren
Jubel hatte sein ewiges Rauschen aufgefangen und zum Himmel getragen.
Wie vertraut war er ihr auch, wie kannte sie seine Stimme: sein kosendes
Flüstern und lindes Säuseln, sein Ächzen und Stöhnen, wenn der Sturm
anhub, und den vollen Orgelschall seiner Kronen, wenn der Wind durch die
Wipfel tanzte. Und wie lieb war er ihr! In der knospenden
Frühlingspracht, bei dem mailichen Rüsten der Natur, dem lichtgrünen
Brautschmuck, den jeder Baum, jeder Strauch anlegte, und selbst der
Moosgrund mit seinem wilden Gewirr von Erdbeerkraut, Farn und Krokus; im
glühenden Prangen des Sommers, wenn das dichte Laubwerk den
Sonnenstrahlen wehrte und unter den Buchen und Eichen ein köstliches
Dämmerlicht herrschte – im Winter, beim Flimmern der Eiskristalle und
der Weihnachtsstimmung in der weiten, schweigenden Runde, und endlich
zur Herbstzeit, wie jetzt, bald lachend in seinem bunten Kleide und bald
melancholisch, wenn die Nebel ihn umschlichen und die Regenschauer ihn
durchpeitschten. Immer hatte sie ihn gleich lieb, den Wald, der ihre
Seele kannte und alle Regungen ihres Herzens ...

Nun tat er sich auf. Die Bäume traten zurück – da sah man Döbbernitz
liegen! Vom Schloßturm herab flatterte eine Doppelfahne, die preußische
und die schwedische – »dir zu Ehren, Hedda,« sagte Axel und nahm den
Hut ab.

Er sprach das sehr feierlich, doch Hedda achtete kaum darauf. Es
beschwerte etwas ihr Herz – sie wußte selbst nicht so recht, was es
war. Vielleicht der Gedanke an Klaus. Es war nur natürlich, daß sie an
ihn dachte, da sie Döbbernitz vor sich auftauchen sah. Die Leute sagten,
er säße noch immer in Monte Carlo. Er war ja so wie so verloren für
sie ...

Der Wagen rasselte in den gepflasterten Schloßhof. Diener sprangen
herzu; unter dem Portal erschien ein älterer Mann in einfachem
Livreerock: der Schloßverwalter. Man merkte sofort, daß hier wieder
Ordnung und Reichtum herrschten.

Axel bot Hedda zunächst Frühstück an, doch sie dankte. Nun begann der
Rundgang durch das Schloß. Der westliche Flügel stand noch leer; aber
Mittelbau und Ostflügel enthielten allein schon über dreißig Zimmer und
Säle. Und Hedda erstaunte und bewunderte in der Tat. Mit reichlichen
Mitteln ließ sich ja vieles machen, aber hier hatte vor allem ein
gediegener, feiner und durchgebildeter Geschmack die Führung übernommen.
Er sprach aus jedem Arrangement, jeder Einzelheit. Es war Hedda
unfaßlich, daß Axel dies alles ohne persönliches Eingreifen, lediglich
auf dem Wege des Briefwechsels hatte nach seiner Wahl schaffen und
entstehen lassen können. Er lachte über ihre Verwunderung. Ganz leicht
war es freilich nicht gewesen. Aber er hatte seinen Sekretär, einen
kundigen und tüchtigen Menschen, bei sich in Gehringen gehabt. Mit ihm
hatte er stoßweise die eingesandten Kartons, Zeichnungen und
Musterbücher, Photographieen und Proben durchgesehen und nach diesen
seine Bestellungen gemacht. Auch durfte Hedda nicht vergessen, daß die
gesamte Einrichtung seiner Berliner Wohnung gleichfalls nach Döbbernitz
geschafft war, außerdem gar vieles, das in den letzten Jahren hie und da
zusammengekauft und inzwischen auf Speichern untergebracht worden
war.... »Ich habe sonst keinerlei Passionen,« sagte Axel, »wirklich gar
keine, aber meine Vorliebe für künstlerischen Schmuck, schöne Möbel,
Antiken, Bibelots und so weiter würde ich ungern aufgeben. Meine Freunde
behaupten immer, ich hätte den ›kunstgewerblichen Pips‹ – das sei eine
ausgesprochene Modekrankheit. Ich glaube eher, daß diese Vorliebe auf
mein einsames Leben in den letzten Jahren zurückzuführen ist, das mir
eine ernsthaftere Beschäftigung nahelegte, und da warf ich mich denn so
ein bißchen auf die Kunst. Übrigens siehst du, daß noch überall Lücken
sind. Und das paßt mir gerade, denn das Ausfüllen, Glätten und
Harmonisieren macht mir am meisten Spaß; es erfordert nämlich dann und
wann sogar eine gewisse Überlegung ... Sage mal, Hedda« – und Axel
blieb stehen –, »fällt dir denn gar nichts an mir auf? Ich meine, an
meiner Sprache?«

Sie schüttelte zuerst den Kopf, und dann nickte sie lebhaft, unter
herzlichem Lachen.

»Ach ja – das ei! Du sprichst das ei jetzt ganz menschlich aus! Wer hat
dich das gelehrt?!«

»Auch mein Sekretär – das ist ein kundiger Thebaner. Er hat mir jeden
Morgen eine halbe Stunde Unterricht gegeben. Es war mir doch sehr
unangenehm, daß du in mir immer den Ausländer merktest! ... Siehst du,
das ist der große Saal! Da fehlt ja nun noch mancherlei, aber der
Eindruck ist immerhin schon ein ganz hübscher – nicht wahr?«

Und wieder begann Axel zu erklären. Die hochlehnigen Chorstühle waren
florentinische Arbeit; er hatte sie schon vor Jahren einem Hotelier in
Venedig abgekauft, weil er sie so schön fand, und zweifellos paßten sie
mit ihren massiven und doch auch schlank und edel wirkenden Formen
ausgezeichnet in den großen Raum dieses alten Rittersaals. Die Fenster
hatten wieder buntes Glas erhalten; die Gardinen bestanden aus
geschorenem rotem Burgundersamt mit Bordüren aus gelbem Seidendamast. An
einer Wand sah Hedda einen riesigen, zweitürigen Aufsatzschrank, auf dem
ein paar köstlich gearbeitete Zunfthumpen aus Zinn standen. Überall auf
Stühlen und Tischen lagen noch Stoffe, die zur Dekoration verwandt
werden sollten, Brokate und Samtdecken, alte Kaseln, Stücke von
Meßgewändern mit geometrisch geordneten Goldstickereien; vor dem Kamin
war ein Dutzend orientalischer Gebetteppiche mit herrlichen Musterungen
übereinandergeschichtet worden, daneben häufte sich ein Wirrwarr alter
Seidenfransen, Silberspitzen und schwerer Quasten auf. So sah es in den
meisten Zimmern aus; die ganzen Sammlungen Axels waren hierher geschafft
worden und sollten Verwendung finden.

Axel sprach rasch und begeisterungsfreudig. Es machte ihm sichtlich
Spaß, Hedda seine Schätze zu zeigen; er wußte auch gut Bescheid,
erinnerte sich genau, wo er dies und jenes Stück erworben hatte,
erzählte viel, schob Anekdotisches ein und war sehr aufgeräumt.

Schließlich ermüdete Hedda ein wenig vom Sehen und Umherwandern.

»Du sollst dich ausruhen,« sagte Axel, »aber in deinen Zimmern. Ich
schrieb es dir ja; ich habe für dich und den Onkel ein paar Räume
einrichten lassen. Lieber Gott, Platz ist genug im Schlosse, und ich bin
froh, daß ich meinen alten Plunder unterbringen konnte.«

Er führte sie in den nach dem Parke hinausführenden Flügel. Dort lagen
die vier Gemächer seiner »Ehrengäste«, wie er sich ausdrückte: ein
Empiresalon mit anstoßendem Schlafkabinett für Hedda, und ein Wohn- und
Schlafzimmer für den Onkel.

Hedda war überrascht, als sie den Salon betrat. Die wunderschöne alte
Empiregarnitur, die hier aufgestellt worden war – die Sessel aus
Palisander mit reichen Intarsien und ihrem grünlichen Damastbezug, der
Schreibschrank mit den Wedgewoodvasen und seinem zwischen
Alabastersäulen hineingebauten Gewirr zahlloser kleiner Schubladen, die
Vitrinen und schön gestickten Paravents – all dies entzückte sie nicht
so sehr wie der wundervolle Duft, der ihr entgegenschlug, und der
Blumenflor, der sich vor ihr auftat. Überall standen in Vasen und
Gläsern frische Rosen. Man begriff kaum, wie Axel zur Herbstzeit diese
Blütenfülle herbeigeschafft hatte. Aus einem hohen Kelchglas mit
gedrehtem Schaft quollen voll aufgeblühte Gloires de Dijon: in einer
großen Kristallschale badeten sich blaßrosa Röschen; aus einer Vase von
Meißener Porzellan blühte es flammend rot empor, aus einer andern
burgunderfarbig und wie Atlas schimmernd, und wieder aus einer ganz
weiß, gleich frisch gefallenem Schnee. Es war zauberhaft.

Hedda war mitten im Zimmer stehen geblieben und hatte die Hände über der
Brust gefaltet. Ihr Auge strahlte.

»O wie schön – wie schön!« sagte sie flüsternd.

Er lächelte glücklich.

»Es macht mich stolz, daß ich dir eine Freude bereiten konnte,«
antwortete er. »Das Zimmer kam mir noch so kahl vor – so unbewohnt –,
und ich weiß, du liebst die Rosen ...«

Rührung überkam sie. Diese zarte und sinnige Aufmerksamkeit stimmte sie
weich. Sie streckte ihm beide Hände entgegen.

»Lieber Axel« – und nochmals wiederholte sie: »Lieber Axel!«

Vielleicht war es der zärtliche Ton ihrer Stimme, vielleicht der weiche
Ausdruck ihres Auges, der ihm Mut gab. Er lag plötzlich zu ihren Füßen
und bedeckte ihre Hände mit Küssen.

»Hedda,« stammelte er, »sei meine Herrin! In der Hoffnung auf dich
erwarb ich diesen Besitz. Schau dich um – alles sei dein! Es sind nur
irdische Güter, aber du wirst ihnen Geist und Seele geben. Es sollte
meine Heimat werden, doch ich fühle es, ich habe keine ohne dich. Woran
lag es, daß ich so einsam war? Nun weiß ich es: weil mein Herz liebeleer
war! Ich habe mein halbes Leben hinter mir und – o Gott, wie war es öde
und frostig! Ja, Hedda – jetzt bin ich erst meines Lebens froh geworden
und erst meine Liebe zu dir hat die Einsamkeit verjagt, und erst deine
Liebe wird mir die Heimat schaffen!«

Sie war sehr blaß geworden und zitterte. Er sah es, sprang auf,
umschlang sie und führte sie an den nächsten Sessel.

»Ich war stürmisch,« fuhr er fort, »vergib mir! Ich wollte noch warten
und langsam um dich werben, mir Schritt für Schritt deine Liebe zu
gewinnen suchen, aber – es kam so plötzlich über mich, als du mich
›lieber Axel‹ nanntest! Und es ist auch ganz gut – ich hatte Furcht vor
dieser Stunde –, ja, ich gestehe es – nun hab’ ich es hinter mir.« ...
Er setzte sich zu ihren Füßen.... »Du sollst Zeit haben, Hedda, sollst
prüfen und überlegen –, ich will keine Antwort von heute zu morgen....
Ich kann ja auch nicht verlangen, daß du mich so liebst wie ich dich –
aber vielleicht lernst du mich lieben. Ich bin schon zufrieden, wenn du
mir nur Hoffnung gibst.... Und passen wir denn nicht auch zu einander,
Hedda? Aus gleichem Stamme, mit gleichen Neigungen? Lockt dich nicht
auch das Ziel, diesen alten Hellsternschen Besitz wieder zu Frucht und
Blüte zu bringen?«

Er sprach noch weiter. Es mußte alles von seinem Herzen, was er an
Hoffnungen und frohen Erwartungen aufgespeichert hatte. Hedda sah,
wie dieser Glücksrausch, den die Zukunftsbilder in ihm entfachten,
seine guten und treuen Augen erstrahlen ließ, wie es gleich
Frühlingssonnenschein über sein hübsches und vornehmes, schmales Gesicht
flutete. Der Duft der Rosen betäubte sie. Sie atmete schwer.

»Ich danke dir, Axel, daß du mir Bedenkzeit gibst,« antwortete sie. »Ich
bedarf ihrer; es kam mir alles zu unerwartet.... Und – und – die Rosen
duften so stark ...«

Sie erhob sich schwankend. Er stützte sie und riß dann ein Fenster auf.
Unten dehnte der weite Park sich aus, im Schmucke des Spätherbstes –
eine tausendfach gefleckte Palette: bunte Baumwipfel, noch grüne
Rasenflächen, schillernde Teppichbeete, rotes Weinlaub. Darüber hinweg
sah man auf breite Streifen Acker und Feld; die Herbstbestellung war in
vollem Gange. Vom Wirtschaftshofe herüber erscholl der Lärm der Arbeit.

O ja – das alles lockte!

       *       *       *       *       *

Hedda fuhr allein nach Oberlemmingen zurück. Sie hatte Axel gebeten, sie
nicht zu begleiten; es wäre nicht nötig. In Wahrheit fürchtete sie sich
vor dieser Fahrt durch den Wald – zu zweien. Sie mußte Ruhe haben, um
zu sich selbst zu kommen, um überlegen und nachdenken zu können.

Sie fragte sich, ob sie die Werbung Axels nicht erwartet hätte. Schon
bei seinem ersten Besuche im Frühjahr hatte sie den Eindruck empfangen,
als hätte sie ihn nicht gleichgültig gelassen. Er war der dritte! Erst
Klaus, dann Gunther, nun er. Aber wenn sie ihr Herz durchforschte –
ach, einer nur hatte es zu entflammen gewußt, ein Verlorener! Konnte sie
Axel ihr Jawort geben, da doch das Bild des andern noch immer lebendig
in ihr war? Und war sie nicht auch immer noch an Klaus gebunden? Er
hatte sie rufen und holen wollen, wenn er sich in der Fremde eine
Stellung geschaffen haben würde; mit diesem Versprechen war er von ihr
geschieden. Darüber waren Monde vergangen. Die Leute sagten, er
verspiele seinen Erlös aus dem Verkaufe von Döbbernitz am grünen Tische
Monacos. Aber wer wußte, ob das wahr sei? Konnten die Leute nicht irren?
Hatte nicht vielleicht wirklich schon drüben in Amerika der »Fron« für
ihn begonnen, der ihn läutern und entsündigen sollte?

Axel war eine Partie nach dem Herzen ihres Vaters. Hedda hörte schon den
Jubel des alten Herrn.... Und warum sollte sie nicht glücklich werden an
der Seite dieses Mannes? Er war eine durch und durch noble Natur, von
seltener Herzensgüte und feinem Empfinden, ein Edelmann im besten Sinne
des Worts. Und ganz zweifellos – auch sein Reichtum sprach mit ...

Hedda drückte sich tief in die Wagenecke. Würde sie in Döbbernitz nicht
täglich und stündlich an Klaus erinnert werden? Würde es nicht eine
ewige Qual sein!? Warum ließ sich diese unselige Liebe nicht ausreißen
– warum mußte sie fortleben und immer neue Schmerzen erzeugen!?

Als Hedda auf dem Baronshofe eintraf, gab August ihr mit geheimnisvoller
Miene einen Brief. Ein Kind hätte ihn gebracht, und da auf dem Umschlage
stand: »An Baronesse Hedda Hellstern. Persönlich zu erbrechen«, so
glaubte August sehr klug gehandelt zu haben, daß er ihn nicht erst in
die Hände des Herrn Barons gelangen ließ.

Hedda drohte das Herz still zu stehen, als sie die Aufschrift sah. Sie
erkannte Zernins Hand, seine elegante und zierliche, charakterlose
Schrift. Hastig stürmte sie auf ihr Zimmer und riß das Kuvert
auseinander.

»Ich muß dich sprechen,« schrieb Klaus, »es handelt sich um meine
Zukunft, vielleicht um mein Leben. Sei, bitte, um fünf Uhr an der alten
Stelle am See. K.«

Um fünf Uhr – da war keine Zeit zu verlieren. Sie schwankte keinen
Augenblick. Sie überlegte auch nicht, warum Klaus wieder zurückgekehrt
sei; sein Leben stand auf dem Spiel – was gab es da noch zu überlegen!

In aller Eile begrüßte sie ihren Vater. Es sei wunderschön geworden auf
Döbbernitz, erzählte sie in Hast; beim Abendtisch wolle sie ausführlich
sein, aber jetzt habe sie unleidliche Migräne und wolle daher noch auf
ein halbes Stündchen in den Wald. Und ehe der Alte noch so recht zu Wort
kommen konnte, war sie schon fort.

Als sie den Waldrand erreicht hatte, nahm sie ihre Uhr in die Hand. Es
fehlten nur noch zehn Minuten zu fünf. Sie stürmte vorwärts –
gedankenlos, in fieberischer Aufregung. Wieder war der Wind erwacht und
rauschte im Gezweige. Große Massen falber Blätter rieselten auf sie
herab. Vier Rehe jagten in langen Sprüngen quer über den Weg.

Gottlob – da war der See! Blaugrau, mit Gischt übergossen und stark
bewegt, tauchte er zwischen den Stämmen auf. Und da war auch Klaus!

Er schritt im Ufergrase auf und ab. Schon aus der Entfernung fiel es
Hedda auf, daß sich sein Reiseanzug in arg vernachlässigtem Zustande
befand. Sein Gesicht war schmal geworden, bleich, verwüstet; tiefe
Schattenringe umgaben die Augen.

Er stürzte ihr entgegen.

»O Hedda – Gott sei gelobt!«

Er haschte nach ihren Händen und wollte sie küssen, doch sie entzog sie
ihm. Es stürmte gewaltig in ihr, aber sie wollte wenigstens Ruhe
heucheln.

»Guten Tag, Klaus! Wo kommst du her?«

»Aus dem Süden, Hedda, von der Riviera. Es war eine Verrücktheit. Ich
hätte unten bleiben oder gleich weiter reisen sollen. Aber ich wollte
dich noch einmal sehen –, noch einmal – das letzte Mal – ich verging
fast vor Sehnsucht!«

»Klaus – warum lügst du?«

Sie sagte das in so herbem Tone, daß er zusammenzuckte. Alle Nerven in
ihm schienen bis zum Übermaß angespannt zu sein. Die Muskeln blitzten in
seinem Gesicht, seine Hände flogen.

»Lügen – nein, ich lüge nicht,« stieß er hervor. »Ich – ich muß auch
wahr sein! Also ich kehrte zurück –, die Torheit ist einmal geschehen.
Ich hätte es nicht getan, wenn ich gewußt hätte, daß – daß ich verfolgt
werde – daß man mich sucht –«

Hedda starrte ihn mit großen Augen an.

»Verfolgt – aber von wem?«

»Von den Behörden ...« Nun hatte er doch ihre Hände ergriffen und hielt
sie mit seinen heißen Fingern fest, während seine Augen sich mit
unheimlichem Ausdruck in die ihren bohrten ... »Hedda, ich habe mich zu
einer schmachvollen Tat verleiten lassen. Verurteile mich, beschimpfe
mich – aber rette mich – hilf mir!« ... Und stöhnend brachte er die
furchtbare Selbstanklage heraus: »Ich habe die hinterlassenen Papiere
meines Vaters nach dem Auslande verkauft.«

Anfänglich begriff sie ihn nicht. Aber dann brach blitzschnell das
Verständnis für die Schändlichkeit in ihr durch ... Beim Tode des alten
Ministerpräsidenten hatten die Zeitungen die Nachricht gebracht, daß
sich in der Hinterlassenschaft des Freiherrn von Zernin so gut wie
nichts von politischer Bedeutung vorgefunden hätte. Klaus hatte die
wichtigsten Papiere beiseite geschafft und sie bei Gelegenheit an eine
ausländische Regierung verkauft ... Und plötzlich glaubte Hedda auch den
Grund des wütenden Hasses ihres Vaters und Eyckens gegen Klaus gefunden
zu haben. Die beiden wußten um die verschwundenen Papiere und mochten
ahnen, wohin sie gebracht worden waren ...

O Schmach – Schmach!

Hedda stand bewegungslos, wie eine Bildsäule, vor dem verkommenen Mann.
Es war ihr, als hätte der Tod in ihr Herz gegriffen, mit seiner
Knochenfaust jede Erinnerung an diese erste Liebe zu zerdrücken und zu
vernichten. Eisig durchströmte es sie. Ihre Finger krampften sich
zusammen, und in den äußersten Spitzen hatte sie das nervöse Gefühl
heftiger Stiche, wie von Nadeln. Es siedete und dröhnte in ihrem Kopf,
und dabei hatte sie doch das Bewußtsein, daß sie gefaßt und kaltblütig
bleiben müsse. Um ihre Hände zu beschäftigen und sich bei mechanischer
Spielerei allmählich zu beruhigen, riß sie ein paar Gräser aus und
zerpflückte sie.

Und dann brachte sie mühselig hervor: »Ich will nicht rechten mit dir.
Wie kann ich dir helfen?«

Klaus hatte mit Angst in ihrem Gesicht gelesen. Nun hob ein tiefer
Atemzug seine Brust.

»Ich muß morgen über die Grenze sein,« sagte er schnell und halblaut,
als fürchte er, auch hier belauscht zu werden. »Aber ich habe kein Geld.
Ich habe verdammtes Pech gehabt – da unten. Geh zu Schellheim und laß
dir ein paar tausend Mark für mich geben – fünf, sechs genügen –, er
wird es dir nicht abschlagen.... Und dann schicke mir das Geld nach dem
alten Jagdhause in der Döbbernitzer Schlucht; dort bin ich bis
Mitternacht.«

Sie nickte nur. Ihr Blick hatte etwas Erloschenes, wie auch in ihrem
Herzen alles erloschen war: der ganze Sonnenschein ihrer Jugend.

»Gut,« sagte sie tonlos, »du erhältst das Geld.« Und ohne Lebewohl
wandte sie sich um und ging.

Er sprang ihr nach. »Hedda,« keuchte er, »kein Abschiedswort, kein –«

Unter ihrem Flammenblick brach er ab. Ja – jetzt kam wieder Leben in
das tote Auge; es sprühte und loderte vor Verachtung und Empörung. Hoch
und groß stand sie vor ihm.

»Nein,« antwortete sie hart. »Kein Abschiedswort! Daß du den großen
Namen deines Vaters entehrtest, daß du dein Wappen beflecktest, daß du
deine Liebe niedertratst – alles hätte ich dir verzeihen können. Denn
meine Liebe ist stärker als deine. Aber für den Schuft, der um feiles
Geld sein Vaterland verrät –«

Sie sah, wie er sich duckte, wie ein Hund den die Peitsche trifft. Und
da sprach sie nicht weiter. Sie ging.

Hoch und groß ging sie, solange sie fürchtete, daß sein Blick ihr noch
folgte. Aber dann, als Eichen und Buchen sie dichter umscharten und der
See längst hinten liegen mußte, brach sie zusammen. Geknickt, keuchend
und nur mit Mühe schleppte sie sich vorwärts. Und der Herbststurm
brauste stärker durch den Wald und rüttelte und schüttelte die Wipfel.

       *       *       *       *       *

Pastor von Eycken freute sich, als er Hedda bei sich eintreten sah.
Aber ihm entging nicht ihr erregtes Wesen, ihr umdüsterter Blick und der
bittere Zug in ihrem Gesicht.

»Ich habe eine große Bitte an Sie, Herr Pastor,« begann Hedda, dankend
den Stuhl ablehnend, den er ihr zugeschoben hatte.

»Sie ist schon gewährt, liebes Kind – wenn nämlich ihre Erfüllung in
meiner Macht steht.«

»Ich hoffe es. Ich weiß, Sie haben größere Kapitalien liegen, Sie
bedürfen ihrer für Ihren Bau. Wollen Sie mir sechstausend Mark leihen?
Aber es muß auf der Stelle sein; wenn ich die Summe bei Ihnen nicht
erhalte, würde ich auf das Auschloß gehen.«

Eycken war erstaunt zurückgefahren. Das war das einzige, was er nicht
erwartet hatte.

»Allerdings,« erwiderte er, »ich habe das Geld liegen. Und ich gebe es
Ihnen auch, aber ich muß Ihnen gestehen –«

Mit flehend erhobenen Händen stürzte sie ihm entgegen und erfaßte seine
Arme. Sie lag fast an seiner Brust.

»Kein Aber, lieber, lieber Herr Pastor!« rief sie, während ihr ganzer
Körper bebte und ihr Auge voll Angst und Verzweiflung an seinem Antlitz
hing. »Fragen Sie auch nicht, wozu ich die Summe brauche! Ich gebe Ihnen
mein Wort – ich schwöre Ihnen, daß ich sie Ihnen in drei, vier Monaten
zurückerstatte – vielleicht schon früher –«

Er schloß sie in seine Arme und küßte sie mit väterlicher Zärtlichkeit
auf die Stirn.

»Mein liebes Herz – was gilt mir das Geld, und was sind mir diese paar
tausend Mark!« sagte er und strich mit der Rechten liebkosend über ihren
Scheitel. »Was mich beunruhigt, ist lediglich die Tatsache, daß Sie es
erbitten – und sicher doch nicht für sich selbst –«

Er stockte. Eine Ahnung überkam ihn. Sein Gesicht wurde sehr ernst; er
schaute Hedda forschend in die Augen.

»Hedda – ist Klaus wieder zurück?«

Und da sie den Kopf neigte, ließ er sie los und trat zurück.

»Dann keinen Pfennig,« sagte er rauh. »Ihm nichts mehr – nichts!« Und
plötzlich strömte wieder seine Liebe zu dem Mädchen, dessen Seele er in
allen ihren Schwingungen zu kennen glaubte, in warmen Wellen durch sein
Herz. »Hedda,« rief er, »wie konnten Sie vergessen, was Sie mir
versprochen hatten – schon vor zwei Jahren –, dieser Ihrer unwürdigen
Liebe ein Ende zu machen!? Ja, unwürdig, denn Klaus ist schlimmer
gewesen als leichtsinnig! Fragen Sie ihn einmal, wo die Papiere seines
verstorbenen Vaters geblieben sind! Ich war der beste Freund des Alten
und habe gewußt, welch reiches Material an Briefschaften und Tagebüchern
und geheimen Mappen er hinterlassen hat. Aber als nach seinem Tode die
Regierung kam, um diese Papiere einzufordern, da fand sich nur
Unwichtiges und Gleichgültiges vor. Ihr Vater, Hedda, war gerade so
erstaunt darüber als ich, – und als dann Klaus auf einmal, mitten im
Zusammenkrachen, auf Wochen verschwand, um mit den Taschen voller Geld
wieder heimzukehren, da dämmerte ein furchtbarer Verdacht in uns beiden
auf ... Hedda, wenn Sie noch einmal mit Klaus Auge in Auge stehen
sollten, dann fragen Sie ihn einmal, ob er nicht mit den Papieren seines
Vaters einen ehrlosen Schacher getrieben habe!«

Sie wagte den Sprechenden nicht anzuschauen; sie nickte mit abgewandtem
Kopfe.

»Er hat es,« erwiderte sie dumpf. »Er hat es mir selbst anvertraut –
und ich soll ihm über die Grenze helfen.«

Sie nestelte das Billet Zernins aus ihrer Tasche und reichte es Eycken.

Der Pastor überflog es. »Er fürchtet, daß man seine Schande entdeckt
habe?«

»Er sagt, man verfolge ihn bereits.«

Eycken pfiff durch die Zähne. »Und wer soll ihm das Geld bringen und
wohin?«

»Er wartet bis Mitternacht in dem verfallenen Jägerhaus – unten, in der
Döbbernitzer Schlucht. Ich wollte Kopfschmerzen vorschützen und dem
Vater früher gute Nacht sagen als sonst, und dann wollte ich mich selbst
hinausschleichen zum Jägerhaus – wen sollte ich denn schicken, ohne daß
es aufgefallen wäre?!«

Eycken hatte seinen Entschluß gefaßt. »Gehen Sie nach Hause, Hedda,«
sagte er. »Sie sollen ihn nicht mehr zu sehen bekommen – nie wieder!
Kämpfen Sie tapfer nieder, was noch für ihn in Ihnen lebt –, er ist
fürderhin tot für Sie!«

Hedda sank an des Greises Brust. »Für ewig,« schluchzte sie, »ich weiß
es –, aber beweinen kann man doch seine Toten!«

»Ja, Hedda – weinen Sie sich aus. Daheim, in stillen Stunden – Sie
werden schon solche finden. Und zagt Ihr Herz, dann sprechen Sie mit
Ihrem Gott. Er wird Sie stärken, unser Gott der Liebe, und Ihnen
überwinden helfen!«

Er drängte sie sanft zur Tür.

»Ich will mich beeilen. Ich geh’ selbst zum Jägerhause und werde Klaus
das Geld bringen. Es ist nicht das erste. Und dann soll er ein letztes
Wort von mir hören« – er hob dräuend die Rechte und reckte sich – »als
Prediger des Wortes Gottes, als sein Seelsorger, und als Edelmann will
ich ihm sagen, wie ich über ihn denke!«

Das war eine schlummerlose Nacht für Hedda. Draußen umbrauste der Sturm
das Haus, wie damals im Winter, als der Vater ihr am Abend vorher von
der Werbung Gunthers erzählt hatte, und als sie im Auschlosse nach
länger als Jahresfrist wieder einmal mit Klaus zusammengetroffen war.
Und wie damals wälzte sie sich auch heute wieder ruhelos im Bette, und
eine wilde Flut von Gedanken stürmte auf sie ein. Jetzt mußte Klaus
bereits auf der Flucht sein, und sein verbrecherischer Leichtsinn
verschloß ihm für immer die Rückkehr in die Heimat. Eycken hatte recht,
wenn er sagte: Klaus ist tot. Und unwillkürlich drängte sich Hedda die
Frage auf: Wär’ es nicht besser gewesen, sie hätte ihn bei seinem
Entschlusse belassen, als er im Sommer schon im Begriffe stand, zu den
Pistolen zu greifen, um seinem elenden Dasein ein Ende zu bereiten?
Freilich – vielleicht war auch das nur Pose und Rederei gewesen, nur
eine Lüge. Durch sein ganzes Leben ging der Fluch der Lüge – selbst
seine Liebe zu ihr trug den Stempel der Lüge. Denn sonst hätte er sich
aufraffen und zu besserem Leben durchringen müssen, hätte nicht so
erbärmlich tief sinken können. Wo spürte man an ihm etwas von der
reinigenden Kraft einer großen Neigung? Hatte er je den Vorsatz gehabt,
sich um ihretwillen aus dem Sumpfe herauszuarbeiten, dessen morastige
Wellen ihn höher und höher umschlugen?

Hedda schauerte zusammen. Sie konnte sich von dem Empfinden nicht frei
machen, als seien auch an ihr Spuren dieses Schmutzes haften geblieben,
als müsse sie nach einem Läuterungsbade suchen, nach Sühne und
Entsündigung. Bot Axel ihr die Befreiung von dem Gefühl der
Erniedrigung, das in ihr aufquoll? – Die stille Vornehmheit seines
Wesens stand in schroffem Gegensatze zu der Zügellosigkeit Zernins.
Vielleicht war es wirklich ein Reinwaschen und ein Sühnen der
Vergangenheit, wenn sie mit ganzer Kraft versuchte, diesen Mann
glücklich zu machen.

Draußen stürmte und wetterte es weiter. Mit Ungestüm brauste der Wind
durch den Park und fauchte und heulte – fauchte und heulte auch um das
verfallene, kleine Jagdhaus in der Döbbernitzer Schlucht, in dem sich
zu dieser Stunde zwei Männer mit blitzenden Augen und zorngeröteten
Gesichtern gegenüberstanden.



Dreizehntes Kapitel


Am andern Morgen hatte der Sturm zwar etwas nachgelassen, aber dafür
hatte sich der Himmel mit schwarzgrauen Wolken bedeckt, und jeden
Augenblick drohte der Regen zu fließen. Eine mürrische Stimmung lag über
der Natur.

Im Kamin neben dem Frühstückstische brannte schon das Feuer. Der Baron
saß in seinem großen, dicht an den Tisch herangeschobenen Lehnstuhl und
rührte in seiner Teetasse. Das blasse Gesicht seiner Tochter gefiel ihm
nicht.

»Hast schlecht geschlafen, Hedda – he?« fragte er.

»Ja, Papa – der Sturm war arg –«

»War arg, hast recht – ich konnte auch keine Ruhe finden. Und heute
früh um sechs Uhr ging schon wieder das Hämmern und Pumpen und Schnauben
in der Brauerei los. Auf das Wetter scheint der Halunke, der Möller,
keine Rücksichten zu nehmen.«

»Der Bau soll noch vor Frostbeginn unter Dach sein. Die Arbeiter haben
einen schweren Stand. Die eine Wand hat sich gesenkt; ich glaube, das
Fundament ist auf dieser Seite vom Wasser unterspült worden.«

Der Baron lachte höhnisch auf.

»Gute Vorbedeutung – haha! Aber ich habe mir vorgenommen, ich will mich
nicht mehr ärgern. Mögen sie bauen, was sie wollen! – Erzähle von
gestern, Hedda!«

Hedda schaute starr vor sich hin. Und dann wandte sie sich, wie unter
der Eingebung eines raschen Entschlusses, an ihren Vater.

»Ich habe gestern absichtlich nicht mit dir sprechen wollen, Papa,«
sagte sie, mit ihren Fingern in nervösem Spiel ein Stück Brot
zerkrümelnd, »weil ich mir noch einige Stunden ruhiger Überlegung gönnen
wollte. Aber es muß doch einmal gesagt sein. Axel hat mir bei
Gelegenheit meines Besuches in Döbbernitz einen Antrag gemacht.«

Dem Alten fiel der Teelöffel aus der Hand. Aber er ärgerte sich über
sein Erstaunen und tat kaltblütig.

»Also doch,« antwortete er. »Ich sah es eigentlich kommen.« Dann schaute
er Hedda abwartend an, und als sie schwieg, hämmerte er ungeduldig mit
der Faust auf den Tisch, daß Tassen und Teller klirrten. »Na und?! Herr
des Himmels, so sprich doch! Spann mich nicht auf die Folter! Hast du –
hast du ja gesagt?«

»Ich habe um Bedenkzeit gebeten, aber ich bin über Nacht zu dem
Entschluß gekommen, ihm keinen Korb zu geben.«

Ein unterdrückter Jubellaut antwortete ihr. Hellstern hatte sich erheben
wollen, doch fiel er wieder schwer in seinen Sessel zurück.

»Komm her,« rief er, »ich alter Elefant kann mich kaum noch rühren! Aber
ich muß dich umarmen! Meine Hedda – mein Liebling!«

Sie kniete ihm zur Seite und er küßte sie auf Stirn und Haar und
streichelte ihre Wangen. Die Tränen rannen ihm in den struppigen Bart.
Auch sie war bewegt, doch sie weinte nicht; sie nahm seine Hand und
führte sie an ihre Lippen.

»O, wenn das die selige Mutter doch noch erlebt hätte!« stammelte er.
Und dann wurde er ruhiger. Seine Neugier siegte. Er wollte wissen, wie
sich die Liebeserklärung abgespielt habe. Er fragte Hedda nach allen
Einzelheiten. Sie erzählte in gelassener Weise, ziemlich trocken, als ob
sie einen Bericht erstatte. Aber das fiel ihm nicht auf, er war an ihre
»ruhige Vernunft« gewöhnt. Er war glückselig. Über sein altes Gesicht
blitzte und leuchtete es vor Freude. Gott sei gelobt, nun kam noch
einmal Sonnenschein in den Abend seiner Tage! Konnte er sich für seine
Einzige ein besseres Los wünschen? Axel war reich, unabhängig, ein
Ehrenmann und ein Prachtmensch – im übrigen schien er ja auch wieder
gesund geworden zu sein. Und dazu Döbbernitz, der alte Hellsternsche
Sitz, die unmittelbare Nähe! Er schob seine Tasse mitten auf den Tisch.

»Wir müssen Axel Nachricht geben,« sagte er. »Ich selbst werde ihm
schreiben – das scheint mir das richtigste zu sein. Ich schreibe in
deinem Namen und gebe als Vater meine Zustimmung. Ich lade ihn zum
Mittagessen ein; was steht auf der Speisekarte?«

»Karbonade und Rotkraut,« antwortete Hedda. Unwillkürlich mußte sie
lächeln. »Das wird Axel ziemlich gleichgültig sein.«

»Glaub’ ich auch, wie ich ihn kenne. Trotzdem – zur Feier des Tages
müssen wir das Menü ändern. Sieh zu, daß du etwas Besseres auf den Tisch
bringst. August soll anspannen und meinen Brief nach Döbbernitz
bringen.« Er rührte gewaltig die Klingel.

August trat ein. Er kam soeben vom Reinigen der Lampen und wischte sich
die öligen Finger an der Schürze ab.

Der Baron schmunzelte.

»August,« sagte er, »ich wünsche, daß du heute nicht dein gewöhnliches
dummes Gesicht machst. Und weißt du, warum ich dies wünsche?«

»Nein, Herr Baron,« antwortete August und schüttelte heftig den Kopf.

»Dann hör zu, ich will es dir sagen. Weil heute ein Fest- und Ehrentag
für den Baronshof ist. Wisch dir das Maul ab und küsse dem gnädigen
Fräulein die Hand, denn das gnädige Fräulein hat sich mit dem Herrn
Baron Axel von Hellstjern auf Döbbernitz verlobt.«

»Mit unserm Vetter aus Schweden!?« jubelte August auf. Und dann
rubbelte er sich wirklich mit dem Handrücken den Mund ab und näherte
sich Hedda mit feierlichen Schritten, räusperte sich und wollte ihr in
wohlgefügten Worten gratulieren, denn es schien ihm passend, sich bei
dieser Gelegenheit als Mann von Bildung zu zeigen. Doch Hedda kam ihm
zuvor, erhob sich und schüttelte ihm die Hand.

»Schon gut, mein alter August,« sagte sie, »ich weiß, wie du es meinst,
und danke dir von Herzen. Und nun hilf dem Herrn Baron und führe ihn in
das Arbeitszimmer, und dann halte dich fertig, einen Brief nach
Döbbernitz zu bringen.«

Aber August war das Herz viel zu voll, um sich schweigend verhalten zu
können. Während er Hellstern unter dem Arm packte und nach der
Arbeitsstube geleitete, begann er zu plaudern.

»Das hab’ ich gewußt, Herr Baron,« sagte er, »so gewiß vier mal vier
sechzehn ist – das hab’ ich gewußt. Ich habe doch meinen Blick! Gleich
damals, wie der Herr Vetter das erste Mal hier war, da hat er das
gnäd’ge Fräulein immer so angesehen, und da hab’ ich schon mit Gusten
drüber gesprochen. Sie können Gusten fragen, Herr Baron.«

»Auch noch,« brummte Hellstern; »ich werd’ in die Küche gehen.... Knuff
mich nicht so in den Arm! Daß du dir nachher ein reines Vorhemdchen
umbindest, wenn du nach Döbbernitz fährst!«

»Fährst? Soll ich denn fahren?«

»Ja natürlich. Und du nimmst das gute Geschirr. Und in Döbbernitz
wartest du auf Antwort. Es braucht aber noch nicht überall herumerzählt
zu werden, das mit der Verlobung.«

»Gott bewahre! Ich weiß schon – erst wenn das Offiziellum da ist.«

Aber noch vor dem »Offiziellum« wußte man im Souterrain bereits von der
Verlobung. Zuerst gratulierte die Guste und dann Dörthe, die dabei in
einen Tränenstrom ausbrach. Das blasse Gesicht Dörthes und ihr
verändertes Wesen waren Hedda bereits aufgefallen.

»Aber Kind,« rief sie, »was hast du denn eigentlich?! Ich kenne dich gar
nicht wieder. Wo sind deine roten Backen geblieben und deine lustigen
Augen?!«

Dörthe hielt die Schürze vor das Gesicht und weinte noch immer; sie war
in eine Ecke der Küche getreten und machte sich am Wasserzuber zu
schaffen. An ihrer Stelle antwortete Guste halbleise:

»Ach Gott, gnäd’ges Fräulein, das arme Ding! Ihr Fritze hat sie sitzen
lassen. Die Verlobung ist zurückgegangen. Da sind aber bloß die alten
Möllers dran schuld – und der Albert, das ist ein Kerl!«

Über Heddas Gesicht glitt ein Ausdruck aufrichtiger Anteilnahme. Das
arme Mädchen tat ihr von Herzen leid. Sie rief Dörthe heran und sagte
ihr ein paar tröstende Worte, aber die Kleine war nicht zu beruhigen.

»Ich überleb’s nicht, gnädiges Fräulein,« jammerte sie; »er will eine
andre heiraten – eine Reiche aus Frankfurt –, und das überleb’ ich
nicht.«

Mißgestimmt und mit schwerem Herzen wartete Hedda auf ihren Verlobten.

Am Vormittage fand sich der Pastor ein. Er war auf seinem Bau gewesen
und hatte August vorüberfahren sehen. Und trotz des Verbots hatte August
den Mund nicht halten können. Dem Pastor konnte man es doch immerhin
sagen – so einem alten Freunde des Hauses.

Eycken glaubte die Plötzlichkeit des Entschlusses Heddas zu verstehen.
Seelische Gründe sprachen dabei mit. Sie wollte gewaltsam mit jeder
Erinnerung an die Vergangenheit brechen.

Es war Eycken lieb, daß er Hedda zunächst allein traf. In ruhigem und
liebevollem Tone sagte er ihr seine Glückwünsche, und als er nach ihrem
Dankwort ihren unruhig fragenden Blick bemerkte, zog er sie neben sich
auf das Sofa.

»Ich habe Ihre Mission von gestern abend erfüllt, Hedda,« begann er von
neuem, »und da mir daran liegt, Ihnen Beruhigung zu geben, will ich noch
einmal den Namen dessen nennen, der auch für mich tot sein sollte. Es
kam zu einer schlimmen Aussprache zwischen Klaus und mir; ich habe nicht
mit starken Worten gespart, und – nun, er gab sie mir zurück. Aber er
nahm das Geld; heut ist er in Sicherheit. Die Woydczinska in Seelen hat
ihm Pferde gestellt und ihm über die russische Grenze geholfen. Er will
nach Amerika.«

Hedda atmete auf.

»Gottlob, er ist in Sicherheit,« sagte sie leise und lehnte ihr Haupt an
die Brust des alten Freundes.

Wieder glitt des Pfarrers Hand lind und zärtlich über ihr Haar.

»Nun aber mutvoll in das neue Leben, Hedda,« antwortete er. »Sie haben
sich frei gemacht und alles abgeschüttelt, was Sie noch an die alte
Liebe band. Aber – Sie haben eine neue Verantwortung übernommen. Werden
Sie ihr gerecht!«

»Herr Pastor,« entgegnete Hedda fest, »was ich tat, geschah nach
reiflicher Überlegung. Ich habe lange genug mit mir gekämpft. Ich wollte
nicht an der Erinnerung zu Grunde gehen – und ich wollte auch etwas
Gutes tun. Ich lechzte nach einer Guttat, denn ich fühlte mich
erniedrigt und von Scham erdrückt. Fragen Sie mich nicht, wie das
möglich gewesen – es war so! Ich empfand jenes Schande wie eine eigne.
Und so kam ich zu meiner Entschließung. Sie macht zwei Menschen
glücklich: meinen Vater und Axel. Sie kennen Axel noch nicht. Er ist
vornehm und edel. Sie selbst mögen ihm in jüngeren Tagen geglichen
haben. Alles, was an Gutem in mir ist, will ich ihm geben.«

Segnend legte Eycken seine Rechte auf Heddas Haupt.

»Gott sei mit Ihnen, liebes Kind,« sagte er.

       *       *       *       *       *

Axel kam mit seinem neuen Viererzug von Döbbernitz, Kutscher und Diener
in großer Livree, er selbst in Frack und weißer Halsbinde, als gehe es
auf einen Ball. Es entsprach ganz seinem Wesen, der Feierlichkeit des
Tages auch nach außen hin Ausdruck zu geben. Aber als Hedda ihm an der
Seite ihres Vaters entgegentrat, verlor er sofort seine schöne
Korrektheit, und er wurde bewegt und gerührt. Das Wasser schoß ihm in
die Augen, als er seine blasse Braut umarmte; er vermochte kaum zu
sprechen, drückte sie an sein Herz und fühlte wohl, wie sie zitterte.
Und dann fiel der Alte Axel um den Hals, auch sehr gerührt, mit der
ganzen Wucht seiner kolossalen Persönlichkeit, so daß es dem
schmächtigen Axel Mühe kostete, unter diesen bärenhaften Liebkosungen
nicht zusammenzubrechen.

Die leichte Verlegenheit der ersten Begrüßung war bald überwunden. Man
ging zu Tisch, und ein fröhliches Plaudern begann. Die Hochzeit wurde
auf den vierten Januar festgesetzt; das war zugleich der Geburtstag
Axels. Hedda meinte, da müsse sie sich mit der Herstellung der
Ausstattung beeilen; es war dies noch ein schwieriger Punkt, da
Hellstern erklärte, er sei nicht imstande, Hedda nach Berlin zu
begleiten. Schließlich wurde verabredet, Tante Jutta zu benachrichtigen.
Dort sollte sich Hedda für ein paar Tage einquartieren und die
Ausstattung mit ihr und Axel gemeinsam besorgen. Wenigstens das
Nötigste; das übrige sollte während der Hochzeitsreise in Paris besorgt
werden, denn Axel behauptete, es gäbe gewisse Dinge in der weiblichen
Ausstattung, die man nur in Paris kaufen könne. Er war sehr aufgeräumt
und trank sogar gegen seine Gewohnheit einige Gläser von dem
vortrefflichen Johannisberger Hellsterns. Er wurde nicht müde, Pläne zu
schmieden. Die Hochzeitsreise sollte ausgedehnt werden, um dem deutschen
Winter zu entgehen; man wollte über Paris nach der Riviera und
Süditalien, vielleicht bis Sizilien. Hedda kannte das alles noch nicht,
und Axel behauptete, er freue sich jetzt schon darauf, ihr die tausend
Schönheiten Italiens zeigen zu können. Und dann, im nächsten Sommer,
mache man vielleicht einmal einen Ausflug nach dem Norden – nach
Jarlsberg, dem alten Stammschloß der Familie, das auch seine Reize habe
– die Schärenwelt, das gischtsprühende Meer, die ganze wildromantische
Umgebung. Aber vor allen Dingen: wie behaglich wollte man es sich auf
Döbbernitz einzurichten suchen und mit welcher Lust an die Arbeit gehen,
diesen hübschen Besitz wieder in die Höhe zu bringen! Bei diesem
Gedanken wurde auch Hedda lebhaft. Ach ja – nach Arbeit, die ihres
Zieles wert sei, sehnte sie sich! Und gerade eine große Wirtschaft
lockte sie doppelt ...

Während des Kaffees hörte man einen Wagen vor die Rampe rollen. Landrat
von Wessels ließ sich anmelden; er bat darum, den Baron Hellstern auf
ein paar Minuten sprechen zu dürfen.

Hellstern war sehr erstaunt. Teufel, was wollte denn der Landrat bei
ihm, der längst alle Beziehungen zu der Umgebung abgebrochen hatte?
Wessels wurde in den sogenannten Salon geführt, indes Hedda und Axel
noch im Eßzimmer verblieben.

Axel benutzte das Alleinsein mit seiner Braut, seinen Stuhl dicht neben
den ihren zu rücken, liebkosend ihre Hand zu nehmen und an seine Lippen
zu führen.

»Meine Hedda,« sagte er weich, »wie glücklich machst du mich. Ich habe
einen bösen Tag und eine böse Nacht verlebt. Ich hatte Sorge, zu rasch
und zu stürmisch gewesen zu sein. Ich habe auch keine so schnelle
Antwort erwartet. Und als nun heute vormittag euer August mit dem Briefe
des Onkels kam – Hedda, da ist für fünf Minuten meine ganze
Wohlerzogenheit in die Brüche gegangen, denn da bin ich meinem
Kammerdiener – auch so ein Faktotum wie euer August, ein alter Mensch,
der mich von Kindesbeinen an kennt –, denke dir, dem bin ich vor
unbändiger Freude um den Hals gefallen. Das war ihm noch nicht
vorgekommen und deshalb wußte er auch gleich Bescheid. Wer sich so
närrisch gebärdet, der muß unglaublich verliebt sein. Na – und – das
bin ich allerdings – und paß auf, Hedda, du wirst mich auch noch
liebgewinnen! O, das weiß ich gewiß!« Und abermals küßte er ihre Hand.

Seine Worte waren ein Trost für sie. Daß er keine stürmische
Leidenschaft von ihr forderte, sondern in heiterem Ton und trotz aller
Verliebtheit mit dem Ausdruck eines gewissen Geklärtseins der
Empfindungen von einem allmählichen Liebenlernen zu ihr sprach,
beruhigte sie sichtlich.

Sie behielt mit warmem Druck seine Rechte in ihrer Hand.

»Lieber Axel,« entgegnete sie, »wüßte ich nicht, daß ich dir von Herzen
gut bin, dann würde sich jede Fiber in mir dagegen gesträubt haben, die
Deine zu werden. Die meisten von uns Mädchen treten ahnungslos in die
Ehe, sie kennen den, dem sie für Lebenszeit angehören sollen, gewöhnlich
nur aus der kurzen Zeit ihrer Brautschaft. Alles in ihnen beruht auf
Vertrauen und seliger Hoffnung, und wie oft werden sie getäuscht! Sie
glauben zu lieben, und es fehlt ihrer Liebe am festesten Fundament: an
treuer und inniger Freundschaft. Und sieh – gerade weil ich so viel
Freundschaft für dich empfinde, deshalb werde ich dir auch eine gute
Frau sein, alles mit dir teilend, deine Freuden und Sorgen – ein Stück
deiner selbst.«

Mit glänzenden Augen hatte er ihr zugehört.

»Was will ich mehr!« sagte er in leisem Jubel. »Ich danke dir, Hedda,
ich danke dir! Was bot mir das Leben bisher, und für wen lebte ich? Nur
für mich selbst, und wahrlich, ich bin kein Egoist. Das ist kein Lob für
mich, weil ich im Egoismus nichts als die schalste Langweiligkeit
gefunden habe. Ist es nicht ertötend, immer nur an sich selbst denken
und für sich selbst sorgen zu müssen? Geht man nicht tausendmal
freudiger an sein Tagewerk, wenn man weiß, für wen man schafft und tätig
ist, wenn man Zwecke und Ziele vor Augen hat?! Tagewerk – das klingt
mir wie übertrieben. Mein Dienst war Spiel, war kaum eine Arbeit. Man
hat mich immer auf recht bequeme Posten gestellt, – ein bißchen
Repräsentieren war alles. Das ist vorbei; jetzt kommt wirklich die
Arbeit. Denn fürderhin ist es nicht mehr gleichgültig, ob ich jährlich
ein paar tausend Taler mehr oder weniger ausgebe, ich habe ja auch für
dich zu sorgen und deine Zukunft. Und das alles erfüllt mich mit
unaussprechlichem Glück, Hedda, es gibt mir recht eigentlich erst
Lebenskraft – ich möchte sagen, es macht mich erst zum Manne.«

Der Eintritt Hellsterns unterbrach sein fröhliches Sprechen. Der Alte
sah erregt aus und hatte einen roten Kopf.

»Ärger gehabt, Papa?« fragte Hedda.

»Ja – allerdings,« und der Baron nickte und winkte zugleich August, an
dessen Arm er eingetreten war, das Zimmer zu verlassen. Schwer ließ er
sich in seinen großen Stuhl fallen. »Es wird euch auch interessieren –
es ist sozusagen eine Familienangelegenheit. Ich hoffte, Klaus Zernin
würde nicht mehr zurückkehren. Aber es ist doch geschehen. Und nun das
Schlimmste dazu: die Staatsanwaltschaft fahndet auf ihn. Wessels hat
Ordre bekommen, ihn in aller Stille verhaften und nach Berlin schaffen
zu lassen.«

»Aber mein Gott – weshalb?« warf Axel ein.

Der Alte schnaufte gewaltig. Das Wort wollte ihm nicht von der Zunge.

»Eines – eines infamen Bubenstreichs wegen,« sagte er endlich. »O –
auch in unsern Reihen gibt es räudige Schafe, gibt es –«

Sein Blick fiel auf Hedda. Sie war ganz blaß geworden, und ihr
brennendes Auge hing an den Lippen des Vaters.

»Du hast ihn immer noch verteidigen wollen, Hedda!« schrie Hellstern,
die Verfärbung des Mädchens falsch deutend. »Immer noch leiteten dich
verwandtschaftliche Gefühle – aber man zerreißt die Bande des Bluts,
wenn man es mit einem Lumpen zu tun hat. Gebe der Himmel, daß er uns nun
für immer fern bleiben möge.«

Eine kurze Pause entstand, und dann fragte Hedda tonlos: »Also er ist –
wieder – fort?«

»Ja – mit einem letzten Schandstreich entlaufen. Er trieb sich schon
immer in Seelen herum, und man munkelte längst allerlei. Nun ist er mit
der Woydczinska durchgebrannt. Wessels erzählte es mir. Vergangene Nacht
haben sich die beiden auf die Socken gemacht. Die Woydczinska hat nichts
mitgenommen als ihre Juwelen; aber zu guter Letzt noch eine hübsche
Hypothek auf Seelen –«

Er brach plötzlich ab. Hedda war mit einem leisen Wehlaut vom Stuhl
geglitten. Erschreckt sprang Axel hinzu und fing sie auf. Sie hatte sich
bereits wieder gefaßt, mit aller Kraft gegen ihre Schwäche ankämpfend.
Aber noch immer zitterte sie heftig, und krampfhaft biß sie die Zähne
aufeinander, um nicht aufschreien zu müssen.

An den Lehnen seines Stuhls hatte sich mit schwerer Anstrengung auch
Hellstern aufgerichtet. Entsetzt und drohend heftete sich sein Blick auf
Hedda, und seine Rechte erhob sich bebend.

»Hedda,« rief er, »du hast diesen Menschen – diesen Menschen
geliebt?!« Er achtete nicht auf die Anwesenheit Axels; ein wilder Grimm
durchtobte seine Brust und schüttelte ihn. Eine Flut von Anklagen traf
Hedda. »Ich sehe jetzt klar – ganz klar,« fuhr er mit heiserem
Auflachen fort; »ich weiß jetzt auch, warum du Klaus immer so warm
verteidigtest, – war ich denn blind, daß ich nicht in der Seele meines
eignen Kindes lesen konnte?! Axel – tritt neben mich – laß sie los! Es
geht nicht an, daß du dich noch weiter ihr Verlobter nennst, ehe sie uns
Erklärungen gegeben hat.«

Hedda selbst machte sich frei aus den Armen Axels. Sie hatte ihre Ruhe
und die Klarheit des Denkens wiedergefunden. In der heißen Not dieser
Stunde wuchs ihre Kraft. So ernst der Ausdruck ihres Gesichts auch war
– es lag zugleich etwas wie das frohe Glück endlicher Erlösung auf
ihren Zügen.

»Ich leugne nicht, Vater,« sagte sie. »Ja, ich habe Klaus geliebt, und
aus Furcht vor deiner Heftigkeit habe ich es dir verborgen und nur den
Pastor zu meinem Vertrauten gemacht. Wie ich gelitten habe unter dieser
Liebe, und wie ich zu kämpfen hatte, eh ich mich zur Entsagung
durchzuringen vermochte – das erlaß mir, zu schildern – du würdest
mich doch nicht verstehen. Daß ich mich nie an einen Ehrlosen hängen
würde, wußtest auch du. Aber ich erfuhr von seiner Schmach erst, als ich
ihm nur noch zur Flucht verhelfen konnte. Du sowohl wie der Pastor, ihr
ahntet schon längst, was ihn belastete, doch ihr habt euch immer nur in
dunkeln Andeutungen ergangen, statt mir die Wahrheit zu sagen. Und
vielleicht hätte ich euch auch dann noch nicht geglaubt; erst sein
eigner Mund mußte mir beichten.«

Sie wandte sich, stetig ruhiger werdend und gleichmäßiger sprechend, an
Axel.

»Das ist gestern geschehen,« fuhr sie fort. »Als ich von Döbbernitz
heimkehrte, fand ich seinen Hilferuf vor. Ich hatte gehofft, Klaus sei
schon in weiter Welt, und ich ging mit schwerem Herzen zu dieser
letzten Besprechung, die ein Abschied für ewig war. Ich weiß auch jetzt
noch nicht, ob es unrecht war, daß ich dir nicht vor unsrer Verlobung
von dieser ersten gescheiterten Liebe gesprochen habe, Axel. Aber das
weiß ich, daß es mich mit unwiderstehlicher Kraft dazu trieb, dir mein
Jawort zu geben. Es drängte mich, mir in deinem Glücke ein eignes zu
schaffen und vergessen zu lernen. Ich sehnte mich nach einem treuen und
guten Herzen und nach einer Seele voll ritterlicher Empfindungen und
voll Lauterkeit, denn ich war wie niedergebrochen und fühle mich wie –
beschmutzt. Habe ich wirklich unrecht getan, Axel, so vergib mir – und
laß mich frei.«

Kopfschüttelnd und mit mildem Lächeln trat er wieder an ihre Seite und
nahm ihre Hände.

»Nein, Hedda,« sagte er, »du bist mein, und ich gebe dich nicht mehr
frei. Weniger jetzt denn je, da ich dein armes Herz zu heilen habe und
du eines Freundes bedarfst. Denn ich bin ja nicht nur dein Bräutigam,
Hedda – ich gebe dir auch deine Freundschaft vieltausendfach zurück.
Glaube an mich und vertraue mir, und du wirst genesen!«

Er nahm sie in seine Arme und schloß sie an sich. Da ertönte ein dumpfer
Fall, und entsetzt schrie Hedda auf.

Ein plötzlicher Schlaganfall hatte ihren Vater zu Boden geschmettert. Er
stürzte um wie ein Baum, den der letzte Axthieb getroffen hat, und blieb
regungslos liegen.



Vierzehntes Kapitel


In dem kleinen Häuschen Klempts war es sehr still geworden, seitdem in
den Abendstunden nicht mehr der Singsang und das lustige Lachen der
Dörthe zu hören war. Sie kam nur noch selten zum Vater, denn sie wollte
nicht ausgefragt sein, und sie hatte auch für den mystischen Trost und
die Ratschläge der Tante Pauline weder Sinn noch Verständnis. Es war
gut, daß es auf dem Baronshofe so viel Arbeit gab. Das ließ sie
wenigstens tagsüber nicht allzuviel zum Grübeln und Nachdenken kommen.
Aber wenn sie zu Bett gegangen war, dann kamen Erinnerung und Schmerz
mit arger Gewalt über sie, und in ihrer Kraftlosigkeit und ihrem Mangel
an Beherrschung weinte sie sich allabendlich in den Schlaf. Sie härmte
sich so, daß sie mager wurde; mit ihren eingefallenen Wangen und den
tiefliegenden Augen war die frische Dirne von früher gar nicht
wiederzuerkennen.

Auch Hedda hatte es aufgegeben, ihr Trost zu spenden. Es führte zu
nichts; Dörthe brach dann immer von neuem in Tränen aus und wiederholte
unter krampfhaftem Schluchzen, sie werde sich doch noch das Leben
nehmen. In dieser Zeit hatte Hedda auch mit ihren eignen Angelegenheiten
überreichlich zu tun. Der Schlaganfall, der den Vater getroffen hatte,
bewies, daß er kränker war, als man bisher geglaubt hatte.
Glücklicherweise hatte der Schlag nur die linke Körperseite gelähmt, Arm
und Bein; Gehirn und Sprache hatten nicht gelitten. Aber der Koloß war
nunmehr völlig bewegungslos geworden. Ein Krankenwärter wurde beschafft,
der August unterstützen sollte; aus dem Bette wurde der Alte in den
Fahrstuhl gepackt; er war nur noch eine Maschine, die von fremder Hand
geleitet werden mußte. Seine Laune war schrecklich geworden; Hedda hatte
viel unter seinen Wutausbrüchen zu leiden. Das Knurren, Wettern und
Schimpfen ging den ganzen Tag hindurch; August war der einzige, der ihm
mit seinem unversiegbaren Phlegma und seinem derben Humor standzuhalten
vermochte. Seit man mit der Anlage der elektrischen Leitungen in
Oberlemmingen begonnen hatte, trug sich Hellstern mit dem festen
Entschlusse, den Baronshof zu verkaufen. Das war eine neue fixe Idee.
Die Möllers wollten ihn langsam morden – das ließ er sich nicht
gefallen. Aber die Möllers sollten auch den Baronshof nicht in ihre
Hände bekommen; eher mochte das Haus einstürzen, und Eulen und
Fledermäuse mochten in den Zimmern ihre Nester bauen. Die Möllers nie –
und Hellstern schwur, wenn sie ihm auch eine Million auf den Tisch legen
wollten, er würde sie mitsamt der Million aus der Tür werfen.

Hedda hatte mit Axel darüber gesprochen, was mit dem Vater zu machen
sei. Der Arzt war der Ansicht, der Baron könne noch eine ganze Reihe von
Jahren leben, wenn man durch geeignete Mittel der Wiederholung des
Anfalls vorbeuge. Neben strenger Befolgung der ärztlichen Anordnungen
gehöre dazu vor allen Dingen absolute Ruhe, Fernhaltung jedweder
Aufregung, jedes Ärgers, jeder Gemütsbewegung. Das war nicht leicht bei
dem alten Brummbär. Axel schlug vor, ihn mit dem Wärter und August und
dem gesamten Material zu der geliebten Familiengeschichte nach
Döbbernitz zu nehmen. Da hatte er die nötige Ruhe, hatte nicht beständig
Oberlemmingen vor Augen, das mehr und mehr seine alte Dorfhülle fallen
ließ und sich aus einer Raupe in einen schillernden Schmetterling
verwandelte. Während der Hochzeitsreise sollte als weitere Pflegerin
dann auch noch Tante Jutta aus Berlin nach Döbbernitz kommen, und wie
sich im übrigen der geplante Verkauf des Baronshofs abwickeln werde, das
werde man ja sehen, das könne man abwarten.

Wider Erwarten war der Alte mit allen diesen Vorschlägen sehr
einverstanden. Besonders auf die Tante Jutta freute er sich und war
neugierig, ob sie sich immer noch wie früher die Ohrlöckchen braun und
das übrige Haar schwarz färbe und die kleine, rote Stupsnase weiß
pudere. So siedelte er denn nach Döbbernitz über. Axel hatte einen
großen geschlossenen Wagen geschickt, und bei der Fahrt durch das Dorf
zog Hellstern auch noch die Fenstergardinen zu, damit er gar nichts von
Oberlemmingen zu sehen bekomme. Damit hatte er abgeschlossen. Dieses
Dorf, das sein Geburtsort war, und in dem Vater, Großvater und Urahn
sich glücklich gefühlt hatten, existierte nicht mehr für ihn. Es war ja
das alte Dorf auch nicht mehr. Es war ein ganz moderner Badeort.

Hedda blieb vorläufig auf dem Baronshof, aber täglich holte ein
Döbbernitzer Wagen sie ab. Das gemeinsame Mittagsmahl nahm man
gewöhnlich bei Axel ein, und das waren glückliche Stunden für Hedda. Sie
gewann ihren Bräutigam täglich lieber, und auch auf den grimmigen Alten
übte die stille, vornehme und liebenswürdige Art Axels einen sichtlich
beruhigenden Einfluß aus.

Schellheims hatten sofort nach Bekanntwerden der Verlobung Heddas ihren
Besuch auf dem Baronshofe gemacht. Er galt sowohl der Braut wie auch dem
erkrankten Vater. Bei dieser Gelegenheit verabschiedete sich Gunther. Er
hatte plötzlich einen neuen Plan gefaßt. Er wollte den Winter in Spanien
verbringen, um dort Studien über die ältesten deutschen Drucker auf der
iberischen Halbinsel zu machen; schon lange beschäftigte er sich mit
Forschungen zur Druckergeschichte, für die er sich lebhaft
interessierte.

Als der Kommerzienrat mit seiner Gattin bereits wieder in den Wagen
gestiegen war, stand Gunther mit Hedda noch auf der Veranda. Sie hatte
ihm die Hand gereicht.

»Hoffentlich lassen Sie einmal von sich hören, verehrtester Herr
Doktor,« sagte Hedda mit freundlichem Lächeln; »es braucht ja nicht
gerade eine Ansichtspostkarte zu sein. Und wie würde ich mich freuen,
wenn eines Tages die frohe Nachricht bei uns eintreffen wollte, daß
Doktor Gunther Schellheim – ich brauche nicht auszusprechen – in
Spanien sollen die Frauen leicht die Männerherzen entzünden. Lieber
Doktor, wirklich, von Herzen würd’ ich mich freuen!«

Er preßte warm und fest ihre Hand.

»Ach, gnädiges Fräulein –« antwortete er, aber er kam nicht weiter. Er
würgte an den Worten; sie blieben ihm in der Kehle stecken. Und dann
sprang er hastig die Verandatreppe hinab an den Wagen.

Noch mit dem Abendzuge wollte Gunther abreisen, zunächst nach Berlin. Es
herrschte eine ziemlich trübe Stimmung bei der letzten Mittagstafel. Die
Rätin hatte tränengerötete Augen, Gunther war still und in sich gekehrt,
und auch der Kommerzienrat vermochte eine leichte sentimentale Regung
nicht zu unterdrücken.

»Hol’s der Geier,« sagte er plötzlich, als der servierende Diener das
Zimmer verlassen hatte, und warf Messer und Gabel neben den Teller, »ich
habe mir das alles ganz anders gedacht! Ich wollte Frieden und Ruhe für
das letzte Dutzend Jahre meines Lebens haben, – deshalb zog ich mich
vom Geschäft zurück. Wollte ganz philosophisch meinen Kohl bauen und
mich an der Natur erfreuen, keinen Ärger mehr haben und nur das Nötigste
vom Geschäfte hören – ja wahrhaftig, das war eigentlich meine Absicht!
Und nun? Prostmahlzeit – nun macht mir die Quellengeschichte den Kopf
wärmer, als es die bösesten Manchesterjahre zuwege bringen konnten!«

»Verzeihung, Papa, aber schließlich bist du doch selbst daran schuld,«
warf Gunther mit leichtem Lächeln ein. »Warum hast du nicht schlankweg
jede Beteiligung an dem Badeunternehmen abgelehnt?«

»Das habe ich ja anfänglich getan, aber – siehst du, mein Junge, das
verstehst du nicht! Das verstehst du nicht, weil du kein Kaufmann bist.
Als ich sah, daß die ganze Geschichte in den Händen der Möllers hätte
verhunzt werden können, da kribbelte es mir in den Fingerspitzen, da
schäumten die kaufmännischen Blutpartikelchen in meinen Adern – da
konnt’ ich mich nicht mehr halten. Es war ja ein glänzendes Geschäft –
das ist es noch heute –, trotzdem reut’s mich, daß ich mich auf die
Sache eingelassen habe! Nun ja – kurz heraus: es reut mich.«

»Und weshalb, wenn ich fragen darf?«

»Weil – ja, das ist ganz eigentümlich! Anfänglich hielt ich die Möllers
für dickköpfige, beschränkte Bauersleute. Dann merkte ich, daß der
Albert Möller es faustdick hinter den Ohren hat, daß er ein gerissener
Patron ist. Und heute _weiß_ ich, daß die ganze Sippe nichts taugt, von
A bis Z nichts taugt, daß sie allesamt Gauner sind! Sehr interessant,
wie sich so ein schlichter Bauersmann im Laufe der Zeiten verändern
kann, wenn ihn der Satan der Geldgier packt. Denn Geldgier ist alles bei
den Leuten; vom Nutzen der Industrie haben sie keine Ahnung, von
irgendwelchen idealeren Motiven ist keine Spur bei ihnen – keine Spur!«

Der Kommerzienrat betonte diese letzten Worte und schüttelte dabei den
Kopf. Er schien sehr mißgestimmt zu sein. Albert Möller hatte mit
offenen Feindseligkeiten begonnen. Alle Tage kam es zu kleinen
Reibereien. Er sperrte Wege ab, die über sein Land führten, und erlaubte
sich im Hinblick auf verschiedene Lücken in seinem Vertrag mit
Schellheim alle möglichen Eigenmächtigkeiten. Das erbitterte den Rat um
so mehr, als er empfand, daß er sich in Albert getäuscht hatte. Dieser
brave Bauerssohn war ein ganzer Filou. Schellheim hatte geglaubt,
leichtes und bequemes Spiel mit ihm zu haben, und war in seinen
Verträgen daher minder vorsichtig gewesen, als es sonst seine Art zu
sein pflegte; das rächte sich nun. Er ärgerte sich auch über die
erstaunliche Tatkraft Alberts. Überall mußte der Mann mit dabei sein. Wo
nahm er nur alle die nötigen Gelder her?!

»Mir ist die Sache allerdings langweilig geworden,« schloß Schellheim,
seine Serviette zusammenfaltend. »Ich sehe, daß sich das Unternehmen
nicht auf der von mir gewünschten soliden und gediegenen Basis weiter
entwickeln kann, wenn diese Pöbelgesellschaft immer dazwischenzureden
hat. Paßt mir’s nicht mehr, so verkaufe ich meine Anteile und gucke mir
von hier oben aus den Rummel in aller Beschaulichkeit an. Mag’s gehen,
wie es will! Unerhört – ich – _ich_ soll mich mit Bauernpack
herumschlagen! Soll mich von solchem Gesindel betrügen lassen!«

Es war wirklich tragikomisch: der Herr Kommerzienrat, der
Großindustrielle, stand im Begriffe, die Waffen vor einem raffinierten
Bauernjungen zu strecken. Er hatte seinen Meister gefunden, wo er es am
allerwenigsten geahnt hätte.

Gunther versuchte es mit einigen einlenkenden und beschönigenden Worten,
aber er regte den Vater nur noch mehr auf.

»Lassen wir die Sache ruhn,« sagte Schellheim. »Der Teufel soll nicht
schlechter Laune sein, bei all dem Mißgeschick, das einem widerfährt!
Was hab’ ich denn nun von euch Kindern?! Hagen heiratet ein Fabrikmädel,
– riesengroß wird die Kluft zwischen ihm und uns, und wenn man sich
auch hundertmal Mühe gibt, Brücken und Übergänge zu schaffen, die
Entfremdung ist doch nicht wieder gut zu machen! Du gehst nach Spanien,
Gunther, reißest uns von neuem aus – und auf Döbbernitz, das ich
bereits in meinem Besitze sah, wo ich dir ein hübsches und trauliches
Nest schaffen wollte, hat sich ein Fremder festgesetzt. Wenn’s
wenigstens ein _Wild_fremder gewesen wäre – aber nein, ausgesucht
gerade _der_ Mann, der dir die Braut vor der Nase fortgeschnappt hat!«

Gunther zog die Stirn in Falten. Er war froh, daß die Rätin die Tafel
aufhob. Es war kein allzu herzliches Abschiednehmen. Die Mutter weinte
still in sich hinein, der Vater sah mürrisch aus. Wirklich – was hatte
man von seinen Kindern!

Mit schwerem Herzen ging Gunther auf die Reise. Er hatte seine letzten
Hoffnungen über Bord werfen müssen; ihm war recht traurig zumute. Und er
nahm sich vor, sich mit verdoppeltem Eifer auf seine Studien zu werfen.
Die Arbeit war das einzige Heilmittel.

       *       *       *       *       *

Ende November fand die Hochzeit Fritz Möllers mit Frida Grödecke statt.
Vorher hatte auf Bitten Heddas der Pastor einen nochmaligen Einspruch zu
erheben versucht. Er beschied den alten Möller zu sich; er wußte ganz
genau, daß der Alte allein das Machtwort sprechen konnte; er kannte
seine Leute.

Möller kam auf der Stelle. Er hatte Respekt vor dem Pastor, war auch ein
eifriger Kirchengänger.

Eycken sprach ihm zu Herzen. Es sei doch empörend, daß der Fritz ein so
braves und liebes Mädchen wie die Dörthe Klempt unglücklich machen
wolle. Es könne ja vorkommen, daß man in Ausnahmefällen einmal ein
Verlöbnis rückgängig mache; wenn man beiderseitig fühle, daß man sich
getäuscht habe, so sei ein Auseinandergehen schon besser als eine
Heirat, der die höchste Weihe, die Liebe, fehle. »Aber in unserm Falle
liegt die Sache doch wesentlich anders, lieber Herr Möller. Ich habe mit
Dörthe gesprochen; sie sagt, nicht an Fritz, sondern an _Ihnen_ liege
die Schuld. Ich habe neulich auch einmal mit Ihrem Fritz gesprochen, als
ich ihn zufällig traf, und er antwortete mir einfach: ›Ich kann nichts
dafür – der Alte will’s so.‹ Also die Tatsache steht fest: die beiden
Menschen wollen sich angehören, und _Sie_ treiben sie auseinander! Ist
das nicht unrecht, Möller?«

Und ruhig erwiderte der alte Mann:

»Entschuldigen Sie, Herr Pastor, aber nein – es ist _nicht_ unrecht.
Ich gehöre noch zu der alten Schule, und da haben die Kinder den Eltern
zu gehorchen, wenn sie auch schon zehnmal erwachsen sind, denn sie
bleiben die Kinder. Ich selbst habe meinen Eltern auch parieren müssen,
als es zur Hochzeit ging, und hätte doch lieber eine andre geheiratet.
Fragen Sie mal die Pauline Klempt, die kann Ihnen davon erzählen. Aber
ich würde trotzdem nichts wider die Dörthe gehabt haben, wenn’s nicht
von wegen der Quelle gewesen wäre. Es ist jetzt nicht mehr so wie
früher. Aus dem Kruge ist ein Hotel geworden; schon letzten Sommer hat
ein Postdirektor und ein Geheimer Rechnungsrat bei uns gewohnt. Es wird
noch anders kommen. Da muß die Wirtin von besserem Herkommen sein als
die Dörthe, muß was von der Wirtschaft verstehen und auftreten können.
Und sie muß auch ihr Eingebrachtes haben. Denn Sie mögen mir sagen, was
Sie wollen, Herr Pastor: was nutzt die ganze Liebe, wenn kein Geld
dahinter steckt! Was heißt denn das mit der Liebe? Es find’t sich
alles.«

Der Pastor hielt nicht damit hinter dem Berge, wie er über die
eigenartige Auseinandersetzung Möllers dachte, aber es half ihm nichts.
Die Entgegnungen des Alten bewegten sich immer in demselben
Gedankenkreise. Ja, wenn die Quelle nicht wäre, da hätte man vielleicht
ein Auge zugedrückt und nicht so aufs Portemonnaie und aufs Äußere
gesehen. Aber nun _mußte_ man es. Man brauchte viel Geld; es ging nicht
anders.

Da wurde Eycken zornig und fragte Möller, ob er es auf seine Seele
nehmen wolle, wenn Dörthe sich ein Leids antun würde – ob er es
verantworten könne, wenn das Mädchen tiefer und tiefer ins Unglück käme.

Der Alte zuckte darauf mit den Achseln; sein Gesicht blieb hart wie
Stein, brutal und grausam von Ausdruck, wie immer.

»Es gibt noch mehr Männer auf der Welt wie unsern Fritze, Herr Pastor,«
antwortete er. »Und will sie keinen andern, so läßt sie’s bleiben. Ihre
Tante Pauline ist auch nicht gleich ins Wasser gegangen. Wenn sich alle
Mädel hier bei uns hätten ersäufen wollen, die den nicht gleich gekriegt
haben, den sie gerne hätten haben wollen – Herr Pastor, dann hätten wir
überhaupt keine Weiber mehr im Dorfe!«

Eycken entließ Möller. Er wollte nichts mehr hören von ihm; er sah auch
ein, daß jede Bemühung, den Hartkopf umzustimmen, vergeblich gewesen
wäre. Aber er geriet von neuem in Zorn, als ein paar Tage nach jener
Unterredung die Verlobung Fritzens mit der Schlächterstochter aus
Frankfurt bekannt wurde und bald darauf auch der standesamtliche
Namensaushang der beiden erfolgte. Der Sitte nach pflegte jeder Hochzeit
ein dreimaliges sogenanntes Aufgebot von der Kanzel aus vorherzugehen,
und Eycken freute sich jedesmal, wenn er um diese feierliche Ankündigung
gebeten wurde; er liebte es, wenn man den hübschen alten Sitten, die
noch aus der Zeit vor Einführung der Zivilehe stammten, Achtung
entgegenbrachte. Fritz hatte aber diesmal absichtlich kein Aufgebot
bestellt, und sein Vater war damit einverstanden gewesen. Albert riet
sogar von einer kirchlichen Trauung ab, bei der man sich immerhin auf
einige herbe Worte des Pastors gefaßt machen konnte. Doch davon wollte
der Alte nichts wissen. Er steckte viel zu tief im Überlieferten, um
nicht vor dem Gedanken zu erschrecken, daß sein Sohn ohne kirchlichen
Segen in die Ehe treten sollte.

Es war ein unangenehmer Auftrag für Eycken, diese Hochzeitspredigt. Daß
er die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen durfte, ohne seinem
Empfinden über die Frivolität des plötzlichen Brautwechsels Ausdruck zu
geben, war klar. Es hätte seinem ganzen Wesen widersprochen, wenn er mit
linden Worten darüber hinweggegangen wäre. Auf der andern Seite scheute
er sich aber vor Zank und Ärger. Es konnte neue Konflikte mit dem
Konsistorium geben; die hätte er gern vermieden. Er dachte sowieso
zuweilen daran, die Pfarre aufzugeben, um sich gänzlich seinem
Kinderhospiz widmen zu können, dessen Einweihung im Frühjahr erfolgen
sollte. Als letztes Aushilfsmittel wäre ihm schließlich immer noch das
Vorschützen einer Erkrankung geblieben; dann hätte der Geistliche der
Nachbarparochie die Trauung vollziehen müssen, aber solch eine Komödie
dünkte Eycken unwürdig.

Die Hochzeit fand an einem kalten Novembertage statt. Es war früh Winter
geworden, unerwartet schnell, ohne langsamen Übergang. Als man eines
Morgens erwachte, war Schnee gefallen, und an den Bäumen, an denen zum
Teil noch das bunte Herbstlaub hing, zeigten sich die ersten
Eiskristalle. Aber der Himmel strahlte in lichtem und glänzendem Blau,
und das ganze Kirchenschiff war mit heller Sonne erfüllt.

Fast die gesamte Gemeinde wohnte der Feier bei. Auch Dörthe hatte sich
heimlich in die Kirche schleichen wollen, aber Hedda hatte es zu
verhindern gewußt. Sie hatte das schreiende und weinende Mädchen mit
raschem Entschlusse in ihre Kammer eingeschlossen.

Als Eycken, vor dem Altare stehend, den Blick über die Gemeinde
schweifen ließ, fiel es ihm auf, wie stark sie sich im letzten Jahr
gelichtet hatte. Eine ganze Menge fehlte: die Familien Braumüller,
Thielemann, Maracke, Klauert und auch Tengler, der gleichfalls nicht
hatte der Versuchung widerstehen können und der goldenen Lockung Alberts
zum Opfer gefallen war. Hellstern weilte bereits in Döbbernitz; wie
Eycken gehört hatte, unterhandelte ein Berliner Arzt mit ihm wegen
Ankaufs des Baronshofs. Sicher hatte auch hier Albert Möller die Hände
im Spiel, freilich in aller Heimlichkeit, denn Hellstern wollte nichts
mit ihm zu tun haben. Er wurde unbeschreiblich wütend, wenn man in
seiner Gegenwart nur die Namen der Möllers aussprach.

Der Pastor hatte sich in letzter Zeit weniger um die Vorgänge in seiner
Gemeinde bekümmert; sein Lieblingswerk, das ihm den Abend seines Lebens
verschönen helfen sollte, der große Tempel, den er draußen auf der Heide
der Barmherzigkeit errichtete, nahm ihn völlig in Anspruch. Jetzt aber,
als er die Insassen des Dorfs um sich sah, empfand er zum ersten Male
die klaffenden Lücken, die das Fieber der Spekulation und die Sucht nach
raschem Erwerb in ihre Reihen gerissen hatte. Langsam färbte sein
schönes Patriarchenantlitz sich dunkler. Sein Blick flog nach rechts, wo
die Möllers saßen: das war die Bank der Sünder, das waren die
Zertrümmerer seiner Gemeinde. In ihrer Hand war die goldene Axt der
Industrie zu einem Mordwerkzeug geworden, zum Henkerbeil. Er entsann
sich ähnlicher Vorgänge. An der Grenze der Lausitz hatte jüngst die
Aufdeckung großer Kohlenlager eine ganze Gemeinde gewissermaßen
verschlungen; man hatte die Felder verkauft und die Häuser
niedergerissen, um der Erde ihre Schätze zu rauben, und da kam plötzlich
der Rückschlag, und der Absatz begann zu stocken; Großindustrielle
erwarben das ganze Gebiet, und die Gemeinde wanderte aus. Er entsann
sich auch eines andern Falles schnellen Reichtums, der viel besprochen
worden war, eines großen und köstlichen Waldes, den eine Gemeinde in der
Mark geerbt hatte, und den sie schleunigst niederschlagen ließ, um sich
die Säckel füllen zu können. Aber dieser gemordete Wald rächte sich;
Trunksucht und Liederlichkeit rissen im Dorfe ein, die Familien
verfielen, eine Zeit raschen Niedergangs begann. Überall, wo man den
Bauern mit Gewalt seiner ursprünglichen Tätigkeit entfremdete, wo auf
den Dörfern eine plötzliche Änderung der Erwerbsverhältnisse eintrat,
zeigte sich das gleiche Resultat ...

Fritz Möller hatte sich zur Hochzeitsfeier einen Frack machen lassen, in
dem er wie eine große und dicke Fledermaus aussah. Auch einen neuen
Zylinderhut besaß er, und dennoch schien er sich sehr unbehaglich zu
fühlen. Er blickte nicht vom Boden auf, während seine Braut, ganz in
Weiß, was die schwarze Person nicht übel kleidete, die Augen frank und
frei im Kirchenraume umherschweifen ließ, als suche sie den, der etwas
wider sie und ihren Fritz zu sagen wage. Hinter dem Brautpaar hatte die
Familie Platz genommen: die beiden Alten, Bertold mit seiner Frau und
Albert. Albert mit zerstreutem Gesicht, wie gewöhnlich, und in der Tat
wanderten seine Gedanken weit über die heilige Stätte hinaus und bauten
Haus an Haus, das Sanatorium auf der Anhöhe des Baronshofs und
ringsherum einen Kranz schöner Villen. Er hatte große Summen
aufgenommen, aber auch an Sicherheit gewonnen. Er sorgte sich nicht
mehr; er wußte nun, daß die Zukunft von Oberlemmingen den Möllers
gehörte.

Eycken hatte auch diesmal das Bibelwort aus der Genesis gewählt, das er
öfters seinen Traureden zugrunde zu legen pflegte: »Es ist nicht gut,
daß der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn
sei ...« Er sprach länger als sonst, und er bemühte sich, milde zu sein.
Aber Fritz verstand seine Anspielungen. Er wurde bald rot, bald bleich
und rückte unruhig auf seinem Stuhle hin und her, während Frida
kerzengerade dasaß und den Pastor mit ihren Kohlenaugen unverwandt
anstarrte. Auch die Gelegenheit, den Zersetzungsprozeß in der Gemeinde
zu erwähnen, ließ Eycken sich nicht entgehen. Er hielt dem Brautpaare
vor, daß ihnen beiden wie ihrer Familie durch die Entdeckung der
Heilquelle ein großes äußeres Glück beschieden worden sei, doch sollten
sie sich nicht von diesem Glücksfalle berauschen lassen und ihn auch
andern teilhaftig machen. Und dann fuhr er fort: »Gleichwie aus der Erde
tiefem Schacht neben der heilspendenden Quelle auch giftige Schwaden
aufsteigen können, die das Land verseuchen; wie das Wasser selbst, wenn
man seine Kraft nicht zügelt, mit brausender Gewalt den Boden zu
unterhöhlen vermag, bis er eines Tages einstürzt und alles in die
brodelnde Tiefe reißt, was oben trügerisch grünte – so sprudelt auch
oft aus dem tiefen Schacht der Menschenseele ein ungebärdiges Wünschen
auf, das stärker und stärker anschwillt, zerstört, schadet und
niederreißt, wenn man sich nicht bemüht, es einzudämmen und seiner Herr
zu werden. Anfangs lenkt vielleicht nur der Erwerbssinn und der Trieb
der Selbsterhaltung diese Wünsche, aber allmählich tritt Mißgunst und
Habgier dazu, und der schaffende Verstand artet in listige Ausbeutung
aus, die geschickte Hand rafft allenthalben zusammen, was sie zu eignem
Vorteil erreichen kann, und schont auch andrer Eigentum nicht. Im Herzen
eines jeden von uns entspringt der Quell des Wünschens rein und
kristallklar; doch ach, wie leicht wird er trübe, wenn sich Böses und
Übles in ihn mischt, und wie braust er auf und übertönt das Gewissen,
wenn man ihn ungehindert fließen läßt und zügellos nährt, bis er, gleich
einem wilden Strome, alles Gute in uns überschwemmt! Gebt acht, daß ihr
euer Wünschen zu bändigen versteht! Haltet ihn rein, den Quell eurer
Hoffnungen – wie jenen, den Gottes Hand draußen im Felsgestein zum
Heile der leidenden Menschheit hervorsprudeln ließ!«

Aber Albert Möller drehte an seinem Schnurrbart und zog den Mund schief.
Stumm und gleichgültig blickten die andern drein. Die Braut stierte noch
immer mit ihren schwarzen Kohlenaugen unbeweglich in das Gesicht des
Pfarrers. Fritz hatte den Kopf gesenkt.

Den Möllers gegenüber, auf der linken Seite des Altars, saß die Familie
Grödecke, Vater und Mutter und zwei Schwäger, alles ungeheure Gestalten
mit roten Gesichtern, dick und protzig. Vater Grödecke hatte seine
rechte, unbehandschuhte Tatze auf die Chorbank gelegt, so daß man den
dicken goldenen Siegelring auf seinem Zeigefinger bewundern konnte.
Dieser Ring glänzte hell im freundlichen Sonnenschein, wie einst das
goldene Kalb geleuchtet haben mochte, das sich Israel als Götzen
errichtete. Und während Eycken sprach, liebäugelte Herr Grödecke
beständig mit seinem Siegelring, der ihm bei den aggressiven Worten des
Pastors eine gewisse Beruhigung zu gewähren schien. Denn er wie die
Möllers verstanden schon den Geistlichen; sie wußten, was er meinte.
Aber es war kein einziger unter ihnen, der sich seine Ansprache zu
Herzen genommen hätte. Auch Fritz nicht; in dessen Seele lebte nur der
eine Gedanke: ›Wenn es doch erst aus wäre!‹

Es dauerte auch nicht mehr lange. Beim Ringewechsel und der
Fragestellung entstand ganz hinten in der Kirche, unter dem Orgelchor,
ein Geräusch, das Eycken aufblicken ließ. Doch die Sonne blendete. Es
schien ihm, als sehe er, halb verdeckt von einer der großen Säulen, die
den Chor trugen, den alten Klempt, den seine Schwester Pauline
zurückzudrängen versuchte. Dann fiel dröhnend die Orgel ein, und die
Posaunen bliesen ...

Das Hochzeitsmahl fand selbstverständlich im Hotel Möller statt. Man
hatte sich genötigt gesehen, auch Eycken einzuladen, der indessen
abgesagt hatte. Das war allen lieb. So blieb man denn unter sich; von
den Bauern war keiner gebeten worden.

Noch vor Beginn des Mahls tauschte man seine Ansichten über die
Traupredigt aus. Die Männer standen alle zusammen in einer Ecke des
großen Saals, in dem die Tafel gedeckt war: die von der Familie Grödecke
mit vorgeschobenen Leibern, von weißen Westen umspannt, auf denen
goldene Uhrketten flimmerten; daneben der alte Möller, schon wieder die
Pfeife im Munde, mit seinem harten und eisernen Gesicht – der kleine
Bertold, krumm, mit verschmitztem Blinzeln hinter der Brille, und
Albert, schlank, sehnig und elastisch, ein brutales Kraftgefühl zur
Schau tragend. Sie schimpften weidlich auf Eycken und in allen
Tonarten; Albert allein meinte skeptisch:

»Was schert’s _uns_?! Laßt ihn doch reden!«

Das Mahl währte lange. Es wurde gewaltig gegessen und getrunken. Man
hatte nicht gespart. In den Ecken des Saals häuften sich die leeren
Weinflaschen an. Das Gesicht der Mutter Grödecke glühte wie von Flammen
bestrahlt: ihr Mann hatte seinen Stuhl neben den Platz Alberts geschoben
und sprach mit letzterem über die neue Fleischhalle, während ringsumher
der Lärm der Tafelnden immer lauter anschwoll.

Um so stiller war es draußen. Die Nacht hatte sich über das Dorf
gesenkt, aber es war hell, denn der Himmel war ausgesternt und der Mond
aufgegangen. Der Mond hatte einstmals, vor Jahrhunderten, dies kleine
Oberlemmingen entstehen sehen. Ein versprengter Wendenstamm hatte hier,
auf den beiden Höhen, während das Tal selbst noch See war, seine
Pfahlbauten errichtet. Und dann war das Wasser gefallen, und sässige
Leute hatten sich angesiedelt und zum Pfluge gegriffen. Auf dem
Baronshofe erhob sich das erste Schloß, mit festen Mauern und
Wallgräben. Fremde Kriegsschwärme überfluteten das Land und brannten die
Häuser nieder. Aber die Liebe zur Heimat war groß; aus Schutt und
Trümmern erhob sich ein neues Dorf und ein neues Haus an Stelle des
alten Schlosses. Die Zeit verrann. Auch auf dem Auberg wurde es wieder
lebendig. Dort faßte zuerst die siegende Industrie festen Fuß, ehe sie
zu Tal stieg. Vor ihrem Triumphschritt fielen die Katen der Taglöhner
und die Bauernhütten; abermals brach eine neue Epoche an. Eine so rapide
Veränderung, wie sie im Laufe der letzten beiden Jahre über
Oberlemmingen gekommen, hatte der Mond noch nicht gesehen. Und doch war
es erst der Anfang. Wenn bei Auf- und Niedergang abermals eine Reihe von
Jahren verflossen ist, wird der Mond noch Erstaunlicheres schauen. Dann
sind auch die letzten Bauernhäuser verschwunden, die heute noch stehen,
und eine Villenstadt breitet sich unten im Tal aus, umringt von sauberen
Parkgehegen, von geschorenen Wiesen, glatt und weich wie Samt, und von
blühenden Bosketts, die in den Sommernächten duften. Das Dunkel des
Abends kennt man nicht mehr in Oberlemmingen, denn die elektrischen
Kugeln spotten der Nacht, und vor ihrem hellen, weißen Lichte erlischt
der Mondenglanz. Vom Auberge aus bis zum Lemminger Zacken zieht sich
durch das Grün der Anlagen eine ganze Reihe stattlicher Baulichkeiten,
hübsche Chalets und Wohnhäuser, ärztliche Anstalten und Institute, die
neuen Bäder, die Basarreihen, Hotels und Restaurants. Hie und da ragen
hohe Türme in die Luft; die Fabrikschlote dampfen. An den Ufern der
kleinen Barbe, die mit so silbernem Lachen das Tal durchströmt, sind
elegante Kaie entstanden, mit breiten Promenadenwegen, Pavillons und
Kiosken. Und eine bunte Menschenmenge, aus allen Weltgegenden
herbeigeströmt, belebt dieses Bild; im Kurpark stauen sich die Massen
und überfluten ihn; es wimmelt auf den Wiesen, im Walde und zwischen den
Feldern. Wagen rollen hin und her. Überall Fremde ...

Das wird der Mond sehen, wenn bei Auf- und Niedergang abermals eine
Reihe von Jahren verflossen ist. Doch nach den Bauern von Oberlemmingen
wird er vergebens Umschau halten. Denn das Triumphgespann der Kultur
gleicht dem Götzenwagen von Djaggernaut, dessen demantene Räder so
strahlen und leuchten, daß man die Opfer kaum merkt, die sie auf ihrem
Wege zermalmen.

       *       *       *       *       *

Am Abend des Hochzeitstages ihres ehemaligen Bräutigams wurde Dörthe im
väterlichen Hause vergeblich erwartet. Es war ihr ein schrecklicher
Gedanke, immer wieder in das gramdurchfurchte Gesicht des alten Vaters
blicken und die Weissagungen der Tante Pauline anhören zu müssen, die
der Familie Möller aus Eiweiß und Kaffeesätzen und Traum- und
Punktierbüchern heraus den fürchterlichsten Untergang prophezeite.

Während der Kirchenzeit hatte Dörthe in ihrer Kammer ununterbrochen
geweint. Dann war Hedda zu ihr gekommen, hatte sich neben sie gesetzt
und tröstend mit ihr zu sprechen versucht. Und wirklich war Dörthe
ruhiger geworden, hatte Heddas Hand geküßt, ihr für ihren gütigen
Zuspruch gedankt und war schließlich wieder still und emsig an ihre
Arbeit gegangen.

Nun schritt sie, ein dickes Tuch um den Kopf gebunden, die Dorfstraße
hinab. Sie trug sich schon seit einigen Wochen mit der Absicht, sich das
Leben zu nehmen. Als der Gedanke an Selbstmord zuerst in ihrem wirren
Kopfe aufgetaucht war, hatte sie sich davor erschreckt. Aber mit der
Zeit hatte sie sich fester und fester in diesen Gedanken hineingelebt,
ohne zu grübeln, immer nur das Ziel vor Augen, Fritz durch ihren Tod zu
beweisen, wie lieb sie ihn gehabt hätte, und wie groß sein Unrecht gegen
sie gewesen sei. Ihr Begriffsvermögen war zu beschränkt und die
Empfindungswelt, in der sie lebte, zu einfach, als daß sie sich über den
starren Trotz hätte klar werden können, der das leitende Motiv zu ihrem
Entschlusse war. Sie wußte ganz genau, daß die gesamten Möllers der
Ansicht waren, sie werde sich allmählich schon trösten; nun wollte sie
ihnen zeigen, daß es anders sei. Sie bedauerte nur, daß sie den
Schrecken der Möllers und das Gesicht Fritzens nicht mehr sehen könne,
wenn man sie aus dem Wasser ziehen würde.

Sie war jetzt ganz ruhig und fast heiter. Sie hatte am Spätnachmittag
noch eine Stunde im Gesangbuch gelesen. Ein altes Kirchenlied, das sie
als Kind einmal auswendig lernen mußte, war ihr wieder in die Augen
gefallen, und sie sprach es auch jetzt leise vor sich hin:

    »O Vater der Barmherzigkeit,
    Ich falle dir zu Fuße,
    Verstoß mich nicht, der zu dir schreit
    Und tut noch endlich Buße.
    Was ich begangen wider dich,
    Verzeih nur alles gnädiglich
    Durch deine große Güte ...«

Jenseits der Chaussee bellte ein Hund. Sonst war es totenstill im Dorfe.
Aber je näher Dörthe dem Möllerschen Gasthaus kam, um so deutlicher
hörte sie ein lustiges Stimmengewirr. Hinter den Parterrefenstern des
Hotels glänzte helles Licht. Man feierte noch immer da drinnen.

Dörthe trat in den Schatten des Hauses und drückte sich dicht an die
Wand, neben der breiten Treppe, die in das Haus führte. Hier lauschte
sie angestrengt. Sie hätte gern noch einmal die Stimme ihres Fritz
gehört. Aber es war unmöglich, denn jetzt hub im Saale auch eine lustige
Musik an: Vietz mit zwei Geigern war da.

Unwillkürlich mußte Dörthe an jenes Erntefest zurückdenken, auf dem man
ihre Verlobung gefeiert hatte. Eine ganze Reihe bunter Bilder schien an
ihr vorüberzuflattern. Sie sah den Alten, wie er sie um die Taille faßte
– sah sich mit Fritz tanzen, sah die Liese Braumüller und die ganzen
jungen Burschen vor sich, hörte das Krachen des plötzlich losbrechenden
Gewitters und die heisere Stimme des trunkenen Vietz das Lied »Hans mit
de Krusekragen« singen.... Und dann die Abschiedsstunde im Buchenhain.
Es strömte brennend heiß durch Dörthes Herz. Da hatte er sie auf seinen
Armen getragen, und sie hatte so sicher geglaubt, daß noch alles gut
werden würde ...

Sie ging weiter. Tränen tropften über ihre Wangen. Plötzlich fiel ihr
noch etwas ein. Sie hatte einen Brief in der Tasche, an Fritz
adressiert, nur die Nachricht enthaltend, daß sie am Lindengrund in den
See springen würde, weil sie nicht länger leben wolle – den sollten die
Hochzeitsgäste vor der Hoteltür finden. Und sie machte nochmals kehrt,
schlich sich wieder am Hause entlang, huschte rasch die Treppe hinauf
und legte den Brief auf die innere Schwelle der offenstehenden Haustür.

Dann flog sie davon. Sie rannte die Chaussee hinab und schritt erst
wieder langsamer aus, als sie in den Döbbernitzer Weg einbog.

Im Walde fürchtete sie sich. Die Mondstrahlen tanzten vor ihr im Sande,
und von allen Seiten erklangen fremdartige Töne: Rauschen, Knacken und
Ächzen. Irgend ein dunkles Getier flüchtete in der Ferne scheu über den
Weg.

Dörthe begann wieder zu laufen. Einmal schrie sie laut auf; ihr eigner
Schatten hatte sie erschreckt. Sie stürzte von neuem weiter,
rechtsseitig hinein in den Wald – da mußte der See liegen! Ihr Herz
klopfte zum Springen; sie war in Schweiß gebadet. Ganz plötzlich
umflutete sie heller Mondschein – sie stand auf einer schneeüberwehten
Lichtung, und unten schimmerte tiefschwarz der See.

Dörthe hatte atemschöpfend halt gemacht. Sie hatte ihr Kopftuch
verloren; ihr Haar war aufgegangen und flatterte um ihre Schultern. Sie
stierte mit großen, glühenden Augen auf das schwarze Wasser hinab. Es
tobte und brodelte in ihrem armen Kopf, und durch ihr Hirn zuckten
schmerzhafte Stiche. Ein unsägliches Grausen schüttelte sie – eine
furchtbare Angst vor dem Tode und vor dem kalten Wasser. Sie wollte
wieder zurück ...

Hinter ihr im Walde wurde es laut; er rauschte und knackte von neuem –
ein Schwarzwild brach durch das Unterholz und jagte die Dohlen auf.
Überall in und unter den Bäumen schien es lebendig zu werden ... Mit
gellem Schrei stürzte Dörthe den Abhang hinab, und in vollem Lauf begann
sie stammelnd ihr Lied zu beten: »O Vater der Barmherzigkeit ...« Dann
ein letzter Schrei – ein schweres Aufschlagen im Wasser, ein Gluckern
und Wogenrollen ...

Im See bildeten sich längliche Kurven, die den glatten Spiegel trübten,
sich weiter und weiter wölbten und schließlich allmählich verrannen. Aus
dem metallenen Schwarz des Wassers leuchtete wieder das Abbild des
Himmels hervor, der sternendurchglänzten Ewigkeit.



Fünfzehntes Kapitel


Wieder war es Frühling geworden – der erste warme Tag im Jahre, ein
Tag, der die Freuden des Sommers vorahnen ließ.

Im Parke von Döbbernitz knospete es an Baum und Strauch. Es war nicht
mehr die wuchernde Wildnis, die sich hier unter dem verschollenen
letzten Zernin ungebändigt und unaufgehalten ausbreiten konnte, aber ein
Hauch jener Urwaldpoesie war trotz der schmückenden und regelnden Hand
des Gärtners doch noch zurückgeblieben. Die weiten Rasenflächen legten
bereits ihr grünes Lenzkleid an, und nur hie und da lugte noch ein
Fleckchen Winterbraun hervor. Die Lärchen blühten schon, und an den
Kastanien zeigten sich dicke, harzene Knospen; die frischen Blätter der
Mahonien schimmerten wie lackiert, die Narzissen erschlossen ihre
Kelche. Das Grün der Bosketts schillerte in mancherlei Abstufungen; die
Spiräen, immer die ersten im Frühlingsschmuck, trugen ihr Blattwerk
schon in kräftigerer Färbung zur Schau, aber Flieder, Jasmin und
Schneebeeren begnügten sich noch mit zarterer Tönung und die jungen
Triebe der Edelweide hatten sich mit einem bläulichen Schleier
umsponnen. Vor allem aber zeigte das Leben in der Vogelwelt, daß der
Sommer nahte. Es zwitscherte, pfiff, trillerte und sang überall in den
Zweigen, und hoch durch die blaue Luft strichen die Schwalben.

Die Gärtner arbeiteten im Park. Die Treibhaustüren waren weit geöffnet;
ein paar Koniferen wurden ins Freie geschafft. An den Spalieren
beschnitt man das Obst und den Wein; die Wege wurden vom trockenen Laube
gesäubert und hie und da neu mit Kies bestreut; die hochstämmigen Rosen,
deren Wipfel den Winter hindurch niedergelegt und mit Erde bedeckt
worden waren, wurden aufgerichtet und wieder an ihre grünen Pfähle
gebunden. Zahlreiche Hände regten sich, den Sommer zu empfangen.

»Uff,« meinte der alte Hellstern, als er in den Schloßgarten trat;
»August, ich habe dich verkannt. Ich nehme es zurück, daß ich sagte, du
seiest ein noch größerer Esel, als ich geglaubt hätte. Du bist ein
minder großer. Es ist wahr, der Sonnenschein tut mir wohl, und eine so
warme Luft hätte ich nicht erwartet. Was meinst du: ob ich meine
Mittagspfeife im Freien rauchen kann?«

»Das konnt’ ich mir denken,« erwiderte August, die schwachen Gehversuche
des Alten mit kräftigem Arm unterstützend; »kaum fühlen sich der Herr
Baron mal wieder so ’n bißchen, und gleich müssen Sie leichtsinnig sein.
Aber ich glaube, ich werd’s diesmal verantworten können. ’s ist wirklich
wie im Sommer, und die Mücken spielen auch schon. Der Herr Baron können
sich ein Stündchen unter die Büste setzen, aber nur, wenn Sie sich die
Beine ordentlich einwickeln. Ich werde Franzen sagen, daß er die
Pelzdecke runterbringen soll.«

Hellstern nickte. »Tu das, mein Sohn, und sage dem Franz auch gleich, er
soll die Zeitungen und die Briefe mitbringen, die auf dem Tische vor dem
Sofa liegen, und die Brille vom Schreibtisch. Und dann mummle mich ein,
wie du es für gut hältst. Du siehst, ich pariere dir aufs Wort –«

»Na na, Herr Baron!«

»Widersprich nicht immer! Ich sage dir, ich pariere dir aufs Wort, du
jammervoller Mensch, denn ich bin schon froh, daß ich den Wärter
losgeworden bin, der immer nach Lazarett und Kamillentee roch. Und was
willst du denn eigentlich? Ich kann die Beine schon wieder ganz hübsch
bewegen – soll ich mal im Parademarsch an dir vorüberdefilieren – he?«

»Vorläufig setzen sich der Herr Baron man gefälligst ruhig hin. Ich habe
der Frau Baronin Tochter geschrieben, daß es gottlob besser ginge, und
wenn der Herr Baron Dummheiten machen und wieder ein Rückfall kommt,
dann bin ich mit blamiert. Sehn Sie, das ist hier so ’n schönes
Plätzchen, mitten in der Sonne, und da haben der Herr Baron den seligen
Kaiser im Rücken und vorne den grünen Rasen und können mal links in die
Birken gucken und mal rechts in die Blutbuchen, und was da sonst noch
steht. Und nun will ich den Franz rufen.«

Aber der Alte hielt August noch am Ärmel fest.

»Du,« sagte er, »weil du vorhin von der Frau Baronin sprachst: ich habe
heute nacht von ihr geträumt. Aber so deutlich, als ob es Wirklichkeit
gewesen wäre. Und vom Herrn Baron auch; der sah so blaß und elend aus,
daß ich vor Schreck aufgewacht bin. Das macht mich ein bißchen unruhig.«

»Na ja – das fehlte noch! Nu kommen der Herr Baron schon auf die
Sprünge von Klempts Paulinen. Der Doktor hat jede Gemütsbewegung
strengstens verboten. Am besten wär’s, der Herr Baron träumten überhaupt
nicht.«

»Mach, daß du fortkommst! Ich soll wohl noch eine Medizin gegen das
Träumen einnehmen? ... Vergiß mir die Briefe nicht!«

Und dann faltete er die Hände im Schoße, lehnte den Kopf zurück und ließ
sich bei halbgeschlossenen Augen von der Sonne bescheinen.

Es war in der Tat ein freundliches Plätzchen dicht neben der kleinen
Schloßtür, die zu den Fremdenzimmern führte. In einem Halbkreise von
Taxushecken stand ein Pilaster mit der Büste des alten Kaisers Wilhelm,
ein Geschenk der Landschaft an den verstorbenen Minister, das die
Gläubiger Klaus Zernins respektiert oder vergessen haben mochten. Über
die Wiesenlichtung fort konnte man von hier aus tief hinein in den Park
schauen, bis zu den großen Trauereschen am Bach und nach rechts herüber
zu den wunderschönen alten Blutbuchen, in deren Geäst noch die
abgestimmten Äolsglocken hingen, deren eigentümlich zartes Tönen und
Klingen Frau von Zernin ganz besonders geliebt hatte.

Franz brachte die Decken und die gewünschten Zeitungen, auch noch ein
paar Kissen und zur Vorsorge den Tabakskasten und Feuerzeug, und August
begann seinen Herrn einzupacken.

»So,« sagte er schließlich, »nun bleiben der Herr Baron hübsch stille
sitzen. Brennt die Pfeife noch? Ja, sie brennt noch. Hier ist auch die
Brille. Aber ich würde nicht so viel lesen, Herr Baron; es steht ja doch
nichts drin in den Zeitungen und regt Ihnen bloß die Gedanken auf.«

»Rede nicht so viel, sondern hebe dich weg, Augustus miserabilis. Wenn
ich dich brauche, schicke ich einen der Gärtnerburschen nach dir. Adjö!«

August nickte zufrieden und ging in das Schloß zurück. Geraume Zeit
hindurch war er recht in Sorgen um seinen Herrn gewesen – damals, als
die jungen Herrschaften nach der Hochzeit ihre große Reise angetreten
hatten. Der Alte brummte und schimpfte nicht mehr; es verstrichen
Wochen, ohne daß August gekündigt wurde, ohne daß ihm ein
zusammengeknülltes Zeitungsblatt oder das Brillenfutteral an den Kopf
geflogen wäre. Das waren beunruhigende Symptome. Wenn der Herr Baron
nicht mehr wütend wurden, ging es langsam zu Ende mit ihm – davon war
August überzeugt. Das Herz tat ihm weh, und eines Morgens sprach er
sich unumwunden mit seinem Gestrengen über seinen Kummer aus.

»Herr Baron,« sagte er, »ich ertrage das nicht länger. Sie müssen wieder
an die Familienchronik gehen. Ich weiß zwar, daß Ihnen der Doktor
gemütliche Erregungen verboten hat, aber ich halte es für noch
schlimmer, wenn Sie so tagaus tagein immer bloß vor sich hindrusseln. Da
kommen Ihnen erst die dummen Gedanken. Nehmen Sie ruhig Ihre Arbeit
wieder vor. So ’n kleiner Ärger von wegen der Vokabeln schadet Ihnen
nichts; das frischt Sie auf. Und ich möchte auch mal wieder besser
behandelt werden, Herr Baron. Es ist lange her, daß Sie zum letzten Male
Esel und Jammerfrosch zu mir gesagt haben. Das kränkt mich.«

Da lachte der Alte nach Monaten wieder einmal herzlich und lustig auf,
ließ August nähertreten, gab ihm die Hand und sprach einige Worte mit
ihm, die ein andrer für Injurien gehalten haben würde. Aber August
nicht; sein Gesicht glänzte und seine Augen wurden feucht; nun wußte er
doch, daß sein Herr ihn immer noch lieb hatte.

Hellstern setzte sich wirklich wieder hinter die Arbeit. Er hatte
Sehnsucht nach seiner Tochter gehabt – das hatte ihn still werden
lassen. Nun vergrub er sich wieder in seine Papiere und Dokumente. Wenn
Axel zurückkehrte, sollte er die Chronik vollendet vorfinden. Aber er
konnte nicht, wie auf dem Baronshofe, hintereinander fortarbeiten; auch
der Arzt wollte das nicht. Vor allem war ihm Bewegung verordnet worden,
und August sorgte dafür, daß der Baron die ärztlichen Vorschriften
einhielt. Außer den Marschübungen durch eine lange, geheizte
Zimmerflucht gab es noch eine Reihe mechanischer Bewegungen an
verschiedenen Apparaten; auch kam täglich der Arzt aus Oberlemmingen zur
Massage und zu einer gelinden elektrischen Kur. Besonders die letztere
schien anzuschlagen; im Laufe des Winters machte der Baron erstaunliche
Fortschritte. Das freute ihn selbst, denn er konnte darüber seiner Hedda
berichten, und Jubelbriefe trafen als Antwort ein. Auch eine gewisse
Anteilnahme an der Wirtschaft machte ihm Spaß und unterhielt ihn. Der
Administrator erschien täglich bei ihm mit dem Rapport, und bei Beginn
der Frühjahrsbestellung hatte sich Hellstern sogar öfters zu Wagen auf
die Felder gewagt. Die alte Liebe zum Lande erwachte in ihm; mit
lebhaftem Interesse verfolgte er die Maßnahmen des sehr tüchtigen
Verwalters, den er gelegentlich auch abends zu sich einlud, um mit ihm
zu plaudern.

Auf Hellsterns Schoße lagen die neuen Zeitungen und die letzten Briefe
Heddas. Sie waren etwas sorgenvoll gehalten. Man hatte schon im Februar
die Reisedispositionen ändern müssen. Axel war wieder kränklicher
geworden; auf seine zarte Natur hatte auch die unbedeutendste Erkältung
starken Einfluß. Die Ärzte wünschten, daß er nicht vor Juni nach Hause
zurückkehre – und damit wuchs die Sehnsucht Hellsterns.

An dem hohen, schmiedeeisernen Tore, das vom Parke in den inneren
Schloßhof führte, wurden Stimmen laut.

Hellstern erhob den Kopf.

»Ist es denn möglich!« rief er. »Eycken – Pastor – sind Sie es
wirklich?! Lassen Sie sich auch einmal sehen? Ist der alte Freund noch
nicht gänzlich vergessen?!«

»Immer los mit den Vorwürfen, lieber Hellstern – ich habe sie redlich
verdient! Ich habe aber auch meine Entschuldigungen – und nun mal
zuvörderst die Hand – beide Hände, damit ich sie recht kräftig drücken
kann! Gott sei Dank, Alterchen, ich sehe, August hat nicht übertrieben:
Sie werden wahrhaftig noch einmal jung!«

Eycken hatte sich neben Hellstern in einen der Korbsessel gesetzt. Er
war unverändert, noch immer der schöne, weißbärtige Patriarch mit den
klaren Augen voll Güte und Barmherzigkeit.

Die beiden alten Herren hatten sich seit längerer Zeit nicht gesehen und
einander viel zu erzählen.

»Ich habe in den letzten Monaten so viel zu tun gehabt, daß ich kaum
noch Mensch bin,« sagte Eycken. »Meine Anstalt ist fertig und vorgestern
eingeweiht worden. Sechzehn arme liebe kleine Geschöpfe sind meine
ersten Pfleglinge. Hellstern, ich bin überglücklich! Ich habe meine
Pfarre aufgegeben, um ganz dem Hospiz leben zu können. Das ist mir
lieber und füllt mein Leben besser und wohltuender aus – was mir vom
Leben übrig bleibt! Ich habe letzthin in Oberlemmingen üble Erfahrungen
gemacht; es ist nicht alles so wie es sein sollte, und wie ich es
erhofft habe.«

»Kann ich mir denken,« warf Hellstern ein.

»Nein – es ist vieles anders geworden, wie ich erhofft habe,« fuhr
Eycken fort, »und der Selbstmord der kleinen Klempt – eurer Dörthe –
der hat sozusagen das Maß zum Überlaufen gebracht. Ich hielt’s nicht
mehr aus in der Gemeinde. Was sag’ ich, Gemeinde – die alte Gemeinde
existiert überhaupt nicht mehr! Alles ist zersprengt worden; meine
Besten sind fort; die Möllers regieren da unten.... Sie wissen, daß ich
mich zu Ihren Ansichten nie habe bekehren können, lieber Freund – auch
heute noch nicht. Ich bin kein Gegner des Fortschritts, kein Feind regen
industriellen Aufschwungs. Aber es wurmt und grimmt mich, daß die
Quelle, die der liebe Gott den Menschen zu ihrem Heile geschenkt hat,
ein Objekt wilder und niedriger Spekulation geworden ist. Es grimmt
mich, daß gewissenlose Leute diese Gabe des Höchsten in schmählicher
Weise auswuchern, statt sich mit ehrlichem Verdienst zu begnügen. Und
deshalb zog ich mich zurück.«

Der Baron nickte. »Ich verstehe es,« entgegnete er; »ich sah das alles
vom ersten Moment ab, da von der Quelle gesprochen wurde, genau so
kommen, wie es sich nun tatsächlich entwickelt hat. Ich hab’s seinerzeit
auch den Möllers gesagt, als sie mich gerne als Köder und Aushängeschild
einfangen wollten. Ich kannte die Leute und wußte, daß sie einen Ring
bilden und die Erträgnisse der Quelle allein in ihre Taschen leiten
würden, soweit es nur irgendwie anging. Ein Feind der Industrie bin ich
ja auch nicht, Pastor – wahrhaftig nicht, da verkennen Sie mich –,
aber ein Feind selbstsüchtiger Spekulation, die andern das Geld aus dem
Säckel lockt! Ich hoffte noch immer, es würde Schellheim gelingen, das
Ganze in geordnete Wege zu leiten – aber als er im Winter einmal hier
war, machte auch er mir Andeutungen, als wolle er sich nach und nach
zurückziehen.«

»So ist es,« bestätigte Eycken, »er ist der ewigen Zänkereien mit den
Möllers müde geworden. Es herrscht eine trübe Stimmung im Auschlosse.
Der älteste Sohn hat geheiratet, und der Kommerzienrat will mit der
Schwiegertochter nicht warm werden. Es geht ihm zu Herzen, daß der Hagen
nicht höher hinaus gewollt hat. Ich habe meine ganze Dialektik
angewandt, ihn davon zu überzeugen, daß sich das Menschenglück nicht um
Rang und Stand und gesellschaftliche Gegensätze kümmert, aber er bleibt
frostig und kühl. Übrigens hat er mir neulich erzählt, daß sein Gunther
mit Ihren Kindern in Gibraltar zusammengetroffen ist; wie kommen Hedda
und Axel denn dahin?«

Hellstern sprach von den letzten Briefen seiner Tochter und von Axels
Rückfall. Die beiden hatten beschlossen, dem Rate des Arztes zu folgen,
den Februar und März auf Madeira zu verleben und dann in langsamen
Etappen heimzukehren. Auch an den Vater hatte Hedda von der Begegnung
mit Gunther geschrieben; der Doktor sei immer noch der liebenswürdige,
etwas schüchterne junge Mensch von früher ...

Eycken blieb bei dem alten Freunde, bis August erschien und mahnend
darauf aufmerksam machte, daß es beginne, kühler zu werden. Dann nahmen
die Herren herzlichen Abschied voneinander.

»Kommen Sie bald wieder, Pastor,« sagte Hellstern. »Ich höre gern etwas
Neues, und Sie wissen, ich hause hier wie ein Murmeltier. Schleppt mich
der August wirklich einmal heraus – nach Oberlemmingen zu setze ich
keinen Fuß! Ich möchte das Dorf nicht wiedersehen – nie wieder, – ich
glaube, es zerrisse mir das Herz, wenn ich an Stelle meiner braven
Bauern hundert fremde Gesichter sähe! Das Herrenhaus auf dem Baronshof
wird wohl auch bald abgetragen werden – nein, Eycken, ich hänge doch
noch zu sehr am Alten, und in meinen Jahren krempelt man sich nicht mehr
um wie ein Handschuh! Gott befohlen, Pastor!«

Er nickte dem Abgehenden nochmals nach und ließ sich von August die
Decken abnehmen.

»Pack an, mein Alter – unter den rechten Arm – so – hupp! ... Hör
mal, August, mein Sohn: wenn ich mal sterben sollte –«

»Reden der Herr Baron doch nicht _so_ etwas!«

»Wir können doch nicht ewig leben, Nachtmütze! Also wenn ich mal sterben
sollte, da möcht’ ich doch in Oberlemmingen beerdigt werden. Man hat es
mir zwar gehörig verekelt, aber der Tod, denk’ ich, gleicht aus und
versöhnt. Buddelt mich auf dem Kirchhofe ein, neben den andern
Hellsternschen Gräbern; der große Fleck unter der Linde gehört mir, den
hab’ ich gekauft. Da können auch die Möllers nicht ’ran. Also verstehst
du: unter der Linde will ich begraben sein!«

»Ich versteh’ schon,« entgegnete August; »aber der Herr Baron werden’s
am Ende nicht übelnehmen, wenn wir damit noch ’n bißchen warten tun. Es
eilt ja nicht so. Sehr viel sind wir nicht auseinander an Jahren, der
Herr Baron und ich; und wenn sich der Herr Baron erst hingelegt haben,
dann dauert’s mit mir auch nicht mehr lange. Das weiß ich gewiß. So ’n
altes Tier wie ich muß seine regelrechte Fütterung haben und seine
gleiche Behandlung. Ins Neue leb’ ich mich auch nicht mehr ’rein – da
geht’s mir gerade wie dem Herrn Baron. Also warten wir schon noch; der
liebe Gott wird ja wissen, wenn’s Zeit ist.«

»Das wird er,« erwiderte Hellstern ernsthaft. »Vielleicht läßt er uns am
gleichen Tage von hinnen gehen. Das wäre eine hübsche Sache, August,
denn ohne deine Dummheit würde ich, fürcht’ ich, nur noch ein schweres
Auskommen haben. Kein Mensch weiß mich so zu ärgern wie du, und auf
keinen kann ich mit so freudig bewegtem Herzen schimpfen wie auf dich.
Ich glaube, du würdest mir sehr fehlen, weil du so ein guter, treuer,
alter Esel bist.«

Beide standen jetzt vor dem Zimmer, das Hellstern bewohnte. August
klinkte die Tür auf.

»Gott sei Dank!« sagte er, »ich hör’s am Ton: es wird schon noch ein
ganzes Weilchen Jahre gehn.«

       *       *       *       *       *

An diesem gleichen schönen Frühlingstage hatte der alte Klempt eine
heftige Auseinandersetzung mit seiner Schwester Pauline.

Der Tod Dörthens hatte die beiden zu Boden geschmettert, als habe eine
Riesenfaust sie getroffen. In dem wirren Hirn der Tante Pauline lebten
nur noch ihre Träume; man sah sie ständig mit ihren Deutbüchern in der
Hand; es war ein seltsames, ruheloses und geheimnisvolles Dasein, das
sie führte.

Auch Klempt war noch stiller geworden. Der Sarg für sein Kind war seine
letzte Arbeit gewesen; er rührte die Hand nicht mehr. Man brauchte ihn
auch nicht; im Gegenteil, die Möllers wären froh gewesen, wenn sie den
alten, blassen Mann hätten aus dem Dorfe treiben können. Auch sein
kleines Haus stand ihnen beim unaufhörlichen Wachsen der Villenstadt im
Wege. Gerade dorthin sollte ein großes und elegantes Restaurant im
Pavillonstil kommen ...

Klempt hatte mit den Möllers wegen der Wiese prozessiert. Er behauptete,
er sei betrogen worden; man habe sie ihm unter der Vorspiegelung, daß
Fritz die Dörthe heiraten solle, für einen Spottpreis abgenommen. Er
verlor den Prozeß und mußte auch noch die Kosten tragen. Und nun geschah
etwas, was man niemals für möglich gehalten hätte: der nüchterne und
fleißige Klempt lernte auf seine alten Tage noch das Trinken. Er ging
freilich nicht selbst in den Krug, aber er ließ sich durch die
Schulkinder den Schnaps holen. Und dann schloß er sich ein und trank und
trank, bis er sinnlos war.... »Er macht’s nicht mehr lange,« sagte
Albert Möller eines Tages zu seinem Vater; »gestern früh hat ihn der
Nachtwächter sternhagelvoll auf dem Kirchhofe gefunden.« Ach ja, so war
es. Aber nicht allein der Schnaps war die Sehnsucht des Alten; im
brechenden Herzen schwoll höher und höher die Sehnsucht nach seinem
gemordeten Kinde an.

Den Möllers ging es immer noch nicht rasch genug. Der Prozeß um die
Wiesen hatte die Ersparnisse Klempts verschlungen. Bertold kaufte die
Hypothek, die auf dem Gehöft lag, und kündigte sie dann. Der
geschäftsunkundige Alte wußte nicht, was er tun sollte, und bat seine
Schwester, ihm ihr kleines Vermögen zu überlassen, damit er das Haus
halten könne. Aber Tante Pauline verwehrte es ihm; sie hatte plötzlich
den Entschluß gefaßt, nach Amerika auszuwandern; ein Engel hätte es ihr
im Traume geraten.

Schon lange sorgte Pauline nicht mehr für ihren Bruder. Er kochte sich
selbst das Notwendigste, fast nur Kartoffeln. Der Schnaps stillte auch
seinen Hunger. Er lebte wie ein Tier; seine Kleider zerfielen in Lumpen.

Als seine Schwester ihn abgewiesen hatte, schloß er sich in der
ehemaligen Werkstatt ein und griff nach der Flasche. Es war tiefe
Nacht, als er nach langem Rausche erwachte. Der Kopf schmerzte ihm. Er
richtete sich vom Erdboden auf, wo er auf feuchten und dumpfigen Spänen
gelegen hatte, und schaute sich um. Aber in der Dunkelheit war nichts
erkennbar. Nun tastete er sich vorsichtig nach den Fenstern und stieß
die Läden auf, die er gewöhnlich auch tagsüber zu schließen pflegte. Die
kühle Frühlingsluft drang vollflutend in das öde Gemach. Ein leiser Wind
ging und spielte mit seinem eisgrauen Haar. Draußen war es nicht dunkel;
der Himmel leuchtete in heller Sternenpracht; es hing weiß über den
Wiesen.

In der Stille der Lenznacht schlich es sich weich in das Herz des Alten.
Die Erinnerung rührte an ihm. Welch Leben lag hinter ihm! Sein Weib und
vier blühende Kinder hatte er hinsterben sehen; als Letzte war ihm die
Dörthe geblieben – und die hatte man ihm ermordet. Alles sühnt sonst
die Gerechtigkeit der Welt – aber seines Kindes Mörder stiegen an
Ansehen und lebten in Freuden. Wo war da die Vergeltung?! ... Klempt
entsann sich noch gut jenes Abends, als der Absagebrief Fritzens
eingetroffen war. Da war er ins Freie getreten, um nicht das
schmerzverzogene Gesicht seiner Dörthe sehen zu brauchen. Im Herbst war
es gewesen, doch ganz ähnlich draußen wie jetzt. Von den Wiesen stiegen
feine Nebel auf, streifenweise und leise zitternd, und schlangen sich um
die Häuserfirste und das Geäst der Bäume. Nur der Kurpark lag völlig im
Nebel, in einem wogenden, milchigen Meer. Und in dem furchtbaren
Herzenskummer, der den stillen und ruhigen Mann wütend machte, hatte
Klempt die Hände geballt und sie drohend erhoben nach der Richtung des
weißen Nebelsees, in den der Kurpark versank.... »Verfluchte
Quelle! ...«

Ja, diese Quelle, die die Not der Welt lindern helfen und der Menschheit
Trost und Heilung bringen sollte – _ihn_ hatte sie zum unglücklichen
Manne gemacht. Sie hatte ihm das Letzte geraubt, an dem sein Herz hing
– sie wollte ihn auch an den Bettelstab bringen ...

Klempt stöhnte auf. In fiebernder Hast suchte er nach seiner Flasche und
setzte sie an die Lippen. Sie enthielt noch einen Rest Branntwein, der
ihn seltsam belebte und erregte. Er zündete einige Schwefelhölzer an und
wählte bei ihrem flüchtigen Schein einige Stücke seines alten
Handwerkzeugs aus: Stemmeisen und Bohrer und den schwersten Hammer. Die
nahm er an sich und dann ging er. Auf dem Flure lauschte er einen
Augenblick. Schlief Tante Pauline? – Mit raschem Entschlusse trat er in
ihr Zimmer. Aber auch hier war es so dunkel, daß er abermals ein
Schwefelholz entzünden mußte. Nun sah er die Schwester im Bette liegen,
den Mund offen, das eingefallene Antlitz totenblaß. Er legte seine Hand
auf ihre Stirn und erschrak über das Gefühl von Kälte, das ihn plötzlich
durchrieselte. Aber schon wanderten seine Gedanken weiter; er huschte
mit schnellen Schritten hinaus – das Gesicht weiß, doch mit unheimlich
flimmerndem Blick.

Er stapfte über den Anger. Kein Menschenauge sah ihn, nur die glänzenden
Augen des Himmels schauten auf ihn herab. Das Dorf lag im Schlaf. Die
Nebel hatten sich etwas erhoben; ein leichter Dämmerschein glitt schon
durch die Nacht. Am Friedhofzaune zögerte Klempt und blieb stehen,
nickte nach dem Grabe Dörthens hinüber und schritt dann weiter.

Im Kurpark rieselte es feucht von den Bäumen. Der Wind strich durch das
Geäst; große Tropfen schlugen dem Alten ins Gesicht. Die Nebel hingen
wie Fetzen weißer Totentücher zwischen den Zweigen.

Nun stand Klempt vor dem offenen Tempelbau, der die Quelle umgab. Auf
dem Grunde des weißen Marmorbassins kochte und zischte, durch Röhren und
Hähne gebändigt, das aus der Erde strömende warme Wasser, füllte die
Schale und floß durch ein zweites Röhrensystem wieder ab.

Klempt war einen Augenblick hochaufatmend stehen geblieben. Er schaute
sich um. Kein Mensch in der Nähe, aber heller und heller begann sich der
Himmel zu färben, und die Vögel wurden schon laut ...

Klempt hob seinen Hammer mit beiden Händen und ließ ihn wuchtig auf den
Marmor des Bassins niederfallen. In dem kostbaren Gestein zeigte sich
auf der Stelle ein starker Sprung. Nun setzte der Alte das Stemmeisen an
und hämmerte nach. Es bröckelte und splitterte; einzelne Stücke rollten
plätschernd in das Wasser, das sich über die Bruchstellen auf die
Sandquadern des Bodens ergoß.... Klempt arbeitete mit furchtbarer
Anstrengung weiter; der Schweiß troff von seiner Stirn, sein Herz raste
und zuckte.... Der Hammer wütete gegen den Marmor, dessen Splitter
bereits den Rumpf des Beckens füllten. Das Wasser war abgeflossen. Die
Quelle sickerte nur noch; Steingebrösel hatte die Röhrenleitung
verstopft. Klempt sah es, und ein wildes Lachen flog über sein Gesicht.
Er häufte kleine Marmortrümmer in der Mitte der Schale auf und hämmerte
von neuem auf sie los. Jetzt war auch das Sickern nicht mehr zu
vernehmen. Die Quelle war still geworden.

Der Alte strich sich das feuchte Haar aus der Stirn. Sein hagerer Körper
flog vor Erregung, und wunderlich, wie drinnen in seiner Brust das Herz
hüpfte und sprang. Und als Klempt abermals den Hammer erheben wollte, um
ihn von sich zu schleudern, da tat das Herz einen letzten Sprung: der
Greis stürzte lautlos hintenüber und blieb liegen ...

Vor dem stärker erwachenden Morgenwinde zerflatterten die Nebel. Ein
purpurner Dämmer füllte die Luft. Die Vögel begannen ihr Jubilieren; der
große Pan reckte und streckte sich – die Natur erwachte.

Unter den Trümmern in dem zerstörten Marmorbecken wurde es ganz leise
wieder lebendig. Es wisperte und flüsterte und sang und feilte und
sägte. Ein sickerndes Geräusch wurde hörbar; zwischen den Steinsplittern
zeigten sich vereinzelte Tropfen; es begann abermals zu zischen, wie
vorhin, zu kochen und zu brodeln. Die Quelle, die der arme Narr hatte
töten wollen, um an ihr seine Rache zu kühlen – sie wurde wieder
lebendig! Leise und heimlich und fort und fort hatte sie auch unter den
Trümmern weitergerieselt, sich eine neue Bahn zu schaffen und von neuem
der leidenden Welt zu helfen, unbekümmert darum, ob gierige Hände sie
wiederum fangen und ihren Segen entehren würden.

Allgemach begann sich der Boden des Bassins mit schaumigem Wasser zu
füllen, das rieselnd über den zerbrochenen Marmor zur Erde troff, auf
dem hellen Sandstein dunkle, sich immer mehr vergrößernde Flecken
bildend.... Über dem jungen Grün der Baumwipfel entzündete das Morgenrot
seine Lichter; lauter und jauchzender sangen die Vögel dem neuen Tage
entgegen ...

Plötzlich erscholl ein Knall. An der Hahnöffnung war infolge des starken
Wasserdrucks die Quellenröhre geplatzt, und nun zischte und rauschte,
Staub und Steinchen mit sich in die Höhe führend, ein gewaltiger Strahl
empor und fiel in schimmernden Perlen zur Erde zurück. Die Quelle war
wieder lebendig geworden, und ihre Sprühatome näßten, wie in
freundlichem Kosen, das blasse Gesicht ihres Opfers.


_Ende._



Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde erstellt
auf Grundlage der 1915 erschienenen Buchausgabe. Diese bildete Band 9
und 10 des einunddreißigsten Jahrgangs der Reihe Engelhorns Allgemeine
Roman-Bibliothek. Die nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller
gegenüber dem Originaltext vorgenommenen Korrekturen.

Das Originalbuch ist in Frakturschrift gedruckt. Textauszeichnungen
wurden folgendermaßen ersetzt:

Sperrung:       _gesperrter Text_
Antiquaschrift: #Antiquatext#


Transcriber’s Notes: This ebook has been prepared from the printed
edition published in 1915. It formed volume 9 and 10 of the 31st year of
publication of Engelhorns Allgemeine Roman-Bibliothek. The table below
lists all corrections applied to the original text.

The original book is printed in Fraktur font. Marked-up text has been
replaced by:

Spaced-out: _spaced out text_
Antiqua:    #text in Antiqua font#


S. 15: [extra quotes] frage gar nichts!« Her mit dem Rock!
S. 17: ein gemachter Mann war uud -> und
S. 46: tiefdunkel gewordener alter Oelporträts -> Ölporträts
S. 52: [added period] hatte Herrn Bauunternehmer Möller angemeldet.
S. 54: verrriet sich sogar -> verriet
S. 79: Vietz mit se nem Geiger -> seinem
S. 79: stob unter erneutem Geheul auseiander -> auseinander
S. 89: Das war ein herrlicher Neujahrtstag -> Neujahrstag
S. 109: hat es stark geschneit -> hatte
S. 128ff: [normalized] Woydczynska -> Woydczinska
S. 137: Notwendigkeit einer Aussöhnnng -> Aussöhnung
S. 148: noch ein par Jahre warten -> paar
S. 177: Auguste nickte -> August
S. 259: den Sonnenstahlen wehrte -> Sonnenstrahlen
S. 274: [added comma] eines raschen Entschlusses, an ihren Vater
S. 304: [normalized] und dann die Abschiedstunde -> Abschiedsstunde
S. 309: Uber die Wiesenlichtung -> Über
S. 246ff: [normalized] Grödicke -> Grödecke





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