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Title: Der Fremde
Author: Kahlenberg, Hans von
Language: German
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                              Der Fremde.

                             Ein Gleichniss

                                   von

Hans von Kahlenberg.


Dresden und Leipzig.
_Verlag von Carl Reissner._
1901.



                            DAS ERSTE KAPITEL.


Es war Weihnachtsabend.

Das Wetter war schlecht gewesen seit Wochen schon, keine Kälte, aber
beständig sickerte von oben eine feine, durchdringende Feuchtigkeit. Der
Himmel schien sehr nah an die Erde gerückt, die Grenzlinien beider
vermischten sich in diesem Grau, das Alles einhüllte, auflöste, aus der
Erde kroch, sich herabsenkte in wattiger, flockender Schicht. Wie durch
einen Schleier gewahrte man die nächsten Gegenstände, kahle Baumstümpfe
verkümmerter Weiden, Rasenflecke des Feldrains, und Telegraphenstangen.
Sie folgten sich in regelmässigen Abständen wie Schildwachen einer
ungezählten einzingelnden Armee, die man nicht sah, die da im Nebel
lauerte, wo er sich zu verdicken schien, braun wurde, mit schwarzen
Ausströmungen, die sehr lange Linien durch die Luft zogen und hängen
blieben. Sie brachten einen faden Gasgeschmack in die scharfe Kälte, den
Moorgeruch der aufgeweichten Felder. Seit Wochen durchschwemmte sie der
Regen, unbarmherziges, Alles durchdringendes Gewässer, in dem die letzten
Lebensreste des Sommers sich auflösten, verfaulten.... Irgendwo da – sehr
weit ab noch – vor ihnen lag die Stadt. Manchmal hörte man Eisenbahnzüge
kreischen; sie glitten rasch auf rohaufgeworfenen Dämmen mit Alarmrufen
der Schiffe auf hoher See in der Nacht. Die Stille und der Nebel
herrschten wieder, eine unheimliche, lastende Stille, hinter der das
überreizte Ohr Lärm zu vernehmen glaubte – des Meers, oder einer Schlacht.
Ein heissrer Athem streifte von da zuweilen: Menagerie, Küchengeruch,
Schweiss, – diese undefinierbare Atmosphäre, die die Nähe einer grossen
Stadt anzeigt, einer jener gewaltigen, überquälten Lungen des
zusammengepressten Menschheitsorganismus, wo die natürliche Luft nicht
genügt, verbraucht lasten bleibt, in einem Nebel, der nicht weggeht, sich
erhitzt am Abend von Millionen Lichtern, neu aufsteigt jeden Morgen aus
athmenden Brüsten.

Lachen hatten sich auf der Chaussee gebildet. Ihre ganze Oberschicht
bestand aus einem weichen, feinen Schmutz, der sich teigig an die Stiefel
ansetzte, sofort krustete; und vor allem war er kalt, von einer Kälte des
Eiswassers, unterer Schichten unter dem Wasser, die nie die Sonne sahen.
Er trug sich schwer; auf der Höhe des Strassendammes zog er sich endlos
hin, kleine Teiche bildend, Runzeln und Ränder, die Spuren unzähliger
Menschenfüsse, Pferdehufe, die da gegangen waren.

Manchmal schleppte sich ein Lastwagen müde vorüber. Die Räder knatterten
auf dem harten Kiesgrund unter der Kothschicht. Langsam, von oben bis
unten mit Schmutzkrusten bedeckt, schritten die Pferde. Unter seiner
gelben Plancapotte liess der Fuhrmann misstönige Laute des Unbehagens
vernehmen. An solchen Tagen trinkt man. Er hatte Eile anzukommen, sich von
Neuem zu füllen mit Warmem, das von innen hitzt, die Traurigkeit wegnahm,
die sich in grauer Schicht aus diesem sonnenlosen Abendhimmel herabsenkte.
Auch raschere Gefährte rollten vorüber, Bäcker- oder Fleischerwagen aus
den Vororten mit warmgekleideten, wohlgenährten Insassen. Jetzt liessen
sie die Gäule ausgreifen, um nach Hause zu kommen, knallten mit der
Peitsche im Vorgefühl der Heimathfreude, warmer Oefen und wohlbesetzter
Abendbrottische.

Arbeiter sah man nicht mehr. Sie hatten früher Feierabend gemacht wegen
des Festes, und es wurde spät. Da und dort an den Bahnkörpern entzündeten
sich Lichter. Sie konnten nicht ankämpfen und blieben wie blasse
Wasserflecken in dem Nebel, der sich nur zusammenballte, dunkel wurde, vom
Weissgrau des sonnenlosen Tages zum Schwarz der Winternacht, die da über
die Felder herbeikam, Alles verschlingend, einpackend, bis auf die
Chaussee, die sich hinzog ohne Bäume, ein endloser Landstreifen durch die
Oede.

Zwei Handwerksburschen zogen auf der Chaussee entlang. Es waren
Arbeitslose. Der Eine war ein Böttchergesell aus Greifenberg in Pommern,
der Andere zog schon seit lange so. Er hatte Drechseln gelernt. Aber das
Handwerk warf nichts ab; vielleicht war ihm auch nach und nach die
Gewohnheit der regelmässigen Arbeit verloren gegangen. Er war der
bedeutend Aeltere. Die Beiden hatten sich in der Herberge zur Heimath in
Bernau kennen gelernt und zogen nun auf Berlin zu, die grosse Metropole
der Arbeit und des Verdienstes, um da ihr Glück zu versuchen.

Der Jüngere war ängstlich; dennoch voll guter Hoffnungen. Er begriff es
nicht, dass ein Mensch, der arbeitsam und mässig war, arbeiten wollte,
keine Arbeit finden sollte. Er glaubte an ein vorübergehendes
Missgeschick. Berlin sollte ihm Glück bringen, obwohl es ihm Furcht
einflösste.

Er war ein Junge, der zu Hause aus ganz kleinen, aber geordneten
Verhältnissen kam. Sein Vater war beim Torfstechen ertrunken. Er hatte für
die Mutter und drei kleine Geschwister mitsorgen müssen; alles das hielt
sich über Wasser, lebte sehr respektabel. Er war ein Kind geblieben, mit
runden, erstaunten Augen, die vergebens den Nebel zu durchforschen
schienen, etwas ängstlich vor dem Gefährten an seiner Seite, aber doch
gefügig gegenüber dessen grösserer Welterfahrung, beeindruckt vom Cynismus
seiner Reden und Handlungen.

Der war ein ziemlich wüster Gesell, der durch die halbe Welt gerollt war.
Man wusste nicht, woher er kam, und er sprach nicht davon. Seine Papiere
wiesen allerlei Bestrafungen auf, für Diebstähle, Widersetzlichkeiten. Das
hatte ihn nicht gebrochen. Es lag Hohn und Trotz gegen die Gesellschaft in
seiner Art, das Bewusstsein eines Ichs, der Kraft, in diesem Menschen, der
mit klaffenden Schuhen über die Landstrasse stapfte, Hass gegen die Kälte,
der er den Alkohol entgegensetzte, den brennenden Rausch, der besser hitzt
wie Feuer.

Ein gewisser Galgenhumor kam über ihn, während sein Gefährte ängstlich in
seine blaugefrornen Finger pustete, die besten Stellen im Matsch
aussuchte, um seine Füsse zu schonen, vor allem die Schuhe, die trotzdem
schon barsten, Wasser einliessen, das sickerte, quietschte zwischen den
Sohlen.

Der Kumpan sah es mit gutmüthigem Spott: „Gieb’s nur auf, kleiner Richard!
Das nützt Dir nichts. Das frisst sich durch Pelz und Wolle, um so mehr
durch Lumpen und Löcher. Dagegen giebt’s nur eins!“

Er bot dem Andern die Flasche, die der ängstlich zurückwies. So leerte er
sie selbst auf einen Zug.

„Das giebt wenigstens Muck! Das ist die einzige vernünftige Erfindung in
diesem elenden Hundedasein. Sie sagen, der Teufel hat sie gemacht. Mich
dünkt, der Teufel, das ist der einzige wahre Heilige in der ganzen
Muschpoke. Er ist mein Schutzpatron. Es lebe der heilige Satanas!“

Der Kleine sah sich scheu um, ob Jemand die Lästrung hörte. Er war fromm
erzogen, gewohnt in die Kirche zu gehen des Sonntags. Die Mutter sass da
und die andern alten Weiber in schwarzen, gehäkelten Kopftüchern mit dem
goldbedruckten Gesangbuch. – Es war hart, dass man keine Arbeit fand. Aber
er vertraute auf Gott. Und Berlin war nah, wo Tausende arbeiteten und
assen. Sehr müde war er und weit konnte es nicht mehr sein.

Es war, als ob Fritz Kuhlemann seine Gedanken errieth: „Ja, das ist fein,
nach Hause zu kommen, wenn Einem die Olle schon in der Thür entgegenläuft!
Der Junge hängt sich uns an den Rock. Auf dem Tisch dampft ein guter
Happenpappen. Die Stube ist schon abgeschlossen, weil da der Christbaum
steht. – So gut wird’s uns nicht bei meinem Freund Matzke. Eine fidele
Bude, und Mädels auch die schwere Menge! Ich möchte wissen, ob die rothe
Lene noch da ist?“ ... Er vertiefte sich in diese Erinnerungen,
Saufgelage, Prügeleien, Dirnen,... während der Andre neben ihm
hertrottete. Er war sehr müde. Er hätte am liebsten geweint, aber er
schämte sich.

„Du bist auch noch so ein Grüner. Dich werden sie schon erst hochnehmen!
Wenn Du denkst, mit Gottvertrauen und Dummheit kommt man durch die Welt!
Das ist gut für die, die mit einem silbernen Löffel im Munde geboren sind.
Unsereiner, wenn der nicht eine Nase zehnmal so fein hat und Krallen
zehnmal so lang, – dann kannst Du Dich man gleich am nächsten
Laternenpfosten aufhängen lassen. Da drinne, da verstehen sie’s! Ist schon
Mancher wie die reine Unschuld vom Lande eingewandert. Und wie er wieder
rausgekommen ist! Per Schub mit zwei Gensdarmen neben sich. Auf Sonnenburg
zu, oder Plötzensee. Ich kannte Einen, den haben sie gehetzt wie das liebe
Vieh. In den Weiden und Binsen unten bei Tegel. Jede Nacht die Jagd und
den ganzen Tag lang. Ob das noch ein Mensch ist! – Todtgeschlagen hatte er
Einen. Todtschlagen – das ist auch dumm. Alles todtschlagen, kurz und
klein! Dann wär’s noch was.“

Nun ermannte sich der Andre. „Es giebt doch aber auch noch gute Menschen
auf der Welt.“

„Hast Du je Einen gesehn, dem’s auch gut gegangen ist dabei? Die
Schlechten, die kommen auf, die sind hoch. Verfluchte Schweinerei!“

„Man kann’s. Wenn man ehrlich ist und arbeitet.“

„Versuch’s doch! Geh hin! Biete Deine Arbeit an. Lauf rum! Verkauf Dich
für vier Groschen den Tag. Sieh doch, ob Dich Einer nimmt! En Vieh und en
Esel. – Aber ein Stück Mensch! Und dann fallen Einem die Lumpen immer mehr
vom Leib. Der Schutzmann hält die Augen drauf. Und wenn Du mal auf einer
Bank, unter der Brücke einschläfst, hat er Dich am Kragen. Dann geht’s auf
die Wache. Na, und wenn die erst ihren Stempel draufgesetzt haben! Die
grosse Klappe – oder der Strick vorher und das stille Wasser!“

Der Andre war dem Weinen sehr nahe. Es war die grosse Müdigkeit und die
Aufregung vor dieser Stadt, die sich näherte, wie das Verhängniss,
unsichtbar, in dem Nebel, der immer dicker wurde. Ein Wagen, der
vorüberfuhr, eine Equipage oder geschlossene Droschke, bespritzte sie von
oben bis unten.

Kuhlemann sprang mit einem Fluch zur Seite: „Verdammte Protzenbande! Ich
gönnt’s Euch! Ich gönnt’s Euch! Frisst sich satt von unserm Mark und
Knochen. Sauft sich voll von unserm Blut, bis sie besoffen sind und
speien!“

Sie waren jetzt in der Gegend der Fabriken. Von beiden Seiten reihten sich
dunkle, niedrige Schuppen um gemauerte Schlote, mit Latten eingezingelte
Höfe. Man sah die schwarzen Eisenconstructionen zum Heben, die achatne
Spiegelung der Fensterscheiben, ungeheure, stumpfe Massen aufgeschichteten
Materials, die warteten, sich zersetzten. Aber Alles lag ganz still wegen
des Festes, Alles war sehr schwarz. Der Kohlengeruch wurde bemerkbarer.
Auf ihren Schienensträngen eilten die Züge der Vororte mit roten und
grünen Lichtern, wie grosse Schlangen mit Augen, in die schweigende Ebene
ausgeschickt.

Der kleine Richard war vollkommen kaput. „Ach mein Gott!“ schluchzte er
auf. „Mein Gott!“

„An den glaubst Du auch noch?“ Die Nachwirkung des Schnapses begann sich
bei Fritz Kuhlemann zu äussern. Er sah roth jetzt und schrie mit erhobner
Stimme: „Die olle Finte, die uns die Pfaffen aufgebunden haben, damit wir
kuschen und nicht Muck sagen! Ich sage Dir, wenn’s den giebt da oben, dann
kann er sich begraben lassen für das, was er gemacht hat. Ich lach’ ihm
in’s Gesicht. Ich schlag’ ihm die Faust in’s Gesicht für sein feines
Zauberkunststück hier!“

Die Lästrung verhallte in der Dunkelheit, die sich nicht rührte. Ein Wind
schien sich erhoben zu haben, strich mit schriller Klage über die
Telegraphendrähte, durch die Löcher der Jacke, in der der Kleine sich
zusammendrückte. Alles blieb so, die schwarzen Fabrikgebäude, die
Dunkelheit, die Kälte.... Und in der Ferne das Verhängniss, das anzog,
sich näherte, etwas Schwarzes, Compactes, mit Augen ... Berlin, die
Grossstadt.

„Guten Abend!“ sagte eine Stimme neben ihnen.

Jemand musste an ihrer Seite heraufgekommen sein. Er war wohl von
rückwärts nahe gekommen. Sie hatten ihn nicht gehört, weil der weiche
Schmutz alle Schritte erstickte. Und es war finster.

Sie sahen, dass es ein Mann war. Er mochte in ihrer eigenen Grösse sein,
nicht über Mittelgrösse. Er trug die Tracht eines Arbeiters, nicht gut und
nicht schlecht, die eines Mannes, der Arbeit gethan hat und weit gewandert
ist.

„Guten Abend!“ sagte der Fremde noch einmal.

Er sagte es mit einer ruhigen, sehr angenehmen Stimme, die aus dem Nebel
zu kommen schien. Etwas von Traurigkeit und Entfernung lag in dem Klang
der Stimme.

„Guten Abend!“ sagte der kleine Richard.

Fritz Kuhlemann brummte widerwillig seinen Gruss.

Der Fremde war an ihrer Seite geblieben. Er ging denselben Schritt wie
sie. Nur war es dem Kleinen, als ob der Wind ihn jetzt nicht so träfe. Er
empfand das angenehm.

„Es ist spät,“ sagte der Fremde. „Und es ist kalt hier aussen.“

„Das ist nun nicht gerade etwas Neues, was Du uns sagst,“ höhnte Fritz
Kuhlemann. „Wenn Du eine Pulle in Deiner Tasche hast und etwas Warmes
drin, thätest Du uns einen grösseren Gefallen, wenn Du uns theilen
liessest.“

„Ich habe keinen Wein und keinen Branntwein,“ sagte der Fremde. „Ich komme
von weit. Und es ist spät.“

„Sehr spät, um den Christbaum zu schmücken und den Aufbau fertig zu
stellen. Aber vielleicht sind Sie hier herum Hausbesitzer oder haben eine
Villa gemiethet und die liebe Familie erwartet Sie?“

„Ich habe kein Haus.“

„Dann würde ich Dir rathen, Freund, dass Du Dir Geld in die Tasche thust.
Denn umsonst giebt’s hier nichts auf dieser faulen Welt. Und zumal in
Berlin, wohin wir unsre Schritte jetzt lenken. Mein Freund Matzke kann
sehr eklig werden gegen flaue Kunden. Also, Freundchen, wenn Deine Tasche
wohlgefüllt ist, öffne sie und spendire Deinen guten Freunden, die im
Dalles sind, in der That nicht wissen, wo sie ihr Haupt niederlegen
sollen.“

„Ich habe kein Geld Dir zu geben,“ sagte der Fremde. Er sagte es traurig,
mit seiner sanften, klingenden Stimme, die von sehr weit herzukommen
schien.

Der Rothe lachte: „Du bist ein famoser Bruder, das muss ich sagen!
Schleichst hier auf nächtlichen Wegen und schlängelst Dich an andre Leute
ran. Denkst Du, wir können einen Zaungast brauchen? Lass doch mal sehen,
wie Du aussiehst bei dieser noblen Beleuchtung!“

Die kleine Laterne eines Zimmerhofs warf einen zweifelhaften Schein. Der
rohe Bursche drehte den Fremden um. Er stiess ihm die Schulter gegen den
Lichtfleck.

Er sah ein blasses Gesicht. Ein bescheidner Bart umrahmte den unteren
Theil. Es war das Gesicht eines Mannes von etwa zweiunddreissig Jahren.
Der Fremde hatte seltsame Augen und sah ihn ernsthaft und traurig an.

„Lass doch den Mann!“ sagte der kleine Richard müde.

Selbst der Rothe war betroffen. „Teufel auch!“ knurrte er in den Bart. „Wo
hab’ ich das Gesicht schon gesehen? Du bist ein seltsamer Heiliger, Du!...
So eine Sorte Wanderprediger wohl? Ich habe mal Einen gekannt. Er war mit
uns in der Herberge. Des Abends las er seine Bibel. Er that das alle
Abend. Er sah dabei aus wie Du. Er sagte nichts.“

Der Fremde sagte auch nichts.

... „Er hat mir den Fuss kurirt und eingewickelt. Ich wusste, wo er sein
Geld hatte. Ich hab’s ihm gelassen.“

Das Gesicht des Fremden schien berauschend auf ihn zu wirken. Er verwirrte
sich in wilden Erinnerungen.... „Ein Mädchen ... Ich drängte sie gegen das
Thor. Was hatte die dumme Liese sich anzustellen? Sie war doch genau wie
die Andern. Hexe! – Weibervolk, die sind Alle nichts wert.

„... In ihrer Karosse sah ich sie mal. Eine vornehme Dame. O sehr vornehm!
Vornehmer wie eine Prinzessin. Sie sass in ihrer Karosse und wartete. Ich
wollte sie ermorden. Weil ich hungrig war und kein Bett hatte. Sie war
reich und sass im Wagen. Sie sah mich an. – Ich fasste an den Hut und
schlich mich fort. ... Nachher brachte mir der Diener ein Goldstück. Das
warf ich ihm nach in den Dreck gegen seine unverschämten Kalbswaden.

„... Weisst Du, wo ich herkomme? In der Gosse haben sie mich gefunden
neben einer todten Katze und einem Kohlstrunk. Meine Eltern wollten nichts
wissen von der Rabenbrut. Dann haben sie mich so rumgestossen. Die hohe
Polizei! Das ist eine zarte Nährmutter. Glaube mir, Bruder, es ist eine
lustige Welt! Man muss sie nur lustig zu nehmen wissen.“

Er lachte roh auf. Der kleine Richard zitterte vor Kälte. Er fühlte
glühende Zangen in seinen Eingeweiden. Seine Zähne schlugen aufeinander.

„Nimm diesen Mantel,“ sagte der Fremde freundlich.

Es war ein alter, fadenscheiniger Ueberzieher, wie ihn arme Leute tragen,
auch zu dünn für den Winter. Der Junge wickelte sich mechanisch gehorchend
hinein. Er fühlte die Hand des Fremden, die glättete, um ihn streichelte.
Eine Art magnetischer Beruhigung ging von ihr aus. Es erinnerte ihn an die
Berührung seiner Mutter. „Aber Du?“ fragte er wie betäubt.

„Ich friere nicht,“ sagte der Fremde.

„Dann musst Du von seltsamem Stoff gemacht sein,“ bemerkte Kuhlemann.
„Dies verfluchte Wetter macht Einem die Blutstropfen im Leibe gefrieren.“

In der That war es jetzt ganz empfindlich kalt. Der Wind pfiff mit
scharfem Eishauch. Unter seinem Mantel glühte der Junge. Er wusste nicht
mehr, wo er war. Er phantasirte.

Er war bei sich zu Hause. In der kleinen Küche war es stickend warm.
Solch’ eine fröhliche Wärme! Der ganze Heerd glühte, rothglühend mit
hüpfenden, spritzenden Lichtern, obgleich es dunkel war, um Petroleum zu
sparen. Aus dem Suppentopf stiegen weisse, nahrhafte Wolken. Ein Duft von
Aepfeln kam aus der Röhre; man hörte ihre feinen, braunen Häute britzelnd
zerspringen.... Er war da. Er war ein Knabe, er hielt die kleine Schwester
auf den Knieen. Er fühlte deutlich den warmen, pulsenden Körper. Das Kind
hatte die Aermchen um seinen Hals gelegt. Sie warteten auf die Mutter. Er
erzählte ihr von Weihnachten.

Von einem alten Mann mit weissem Bart erzählte er ihr. Er trug einen
grossen Sack mit Aepfeln und Nüssen über der Schulter. Er hatte ein
rothes, freundliches Gesicht, und eine Birkenruthe hielt er in der Hand.
Wenn man seine Sprüche nicht wusste, gab es Schläge. _Sie_ waren gute
Kinder, sie konnten ihre Sprüche. Das kleine Mädchen hatte die Hände
gefaltet und wiederholte sie mit halblauter Stimme. Die ganze Geschichte,
die freundliche Lehrerin in der Kleinkinderschule hatte sie ihr
vorgesprochen. Der grosse Bruder, der schon klug war und lesen konnte,
half ein:

„Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus
ausging, dass alle Welt geschätzet würde.

„Und diese Schatzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Cyrenius
Landpfleger in Syrien war.

„Und Jedermann ging, dass er sich schätzen liesse, ein Jeglicher in seine
Stadt.

„Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in
das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heisst Bethlehem, darum, dass
er vom Hause und Geschlechte Davids war.

„Auf dass er sich schätzen liesse mit Maria, seinem vertrauten Weib, die
war schwanger.

„Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn
in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“

„... Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“ ... wiederholte
der kleine Handwerksbursche mit glühenden Lippen auf der eisigen
Landstrasse.

Dann fing er auf einmal mit leiser Stimme an zu singen: „O du fröhliche! O
du selige! Gnadenbringende Weihnachtszeit!“

„Nanu?“ sagte der Rothe grob. „Bei dem ist’s wohl nicht recht helle? Singt
der Mensch hier auf der Landstrasse wie eine Lerche! Du hast doch wohl
einen heimlichen Trunk zuviel gethan? So’n verfluchter Duckmäuser!“

Aber der Kleine hörte ihn nicht. Er war ganz glücklich. Er hielt seine
kleine Schwester. Es war so warm in der Küche. Er fing an, an seinen
Kleidern zu reissen. – Auf allen Kirchthürmen begannen die Glocken zu
läuten. Die kleine Küche war voll vom hellen Schein. Sie hatte überhaupt
keine Decke mehr, keine Balken und angeblakten Kalkwände. Da war der
Himmel. Er war ganz offen und die Engel sangen. Sie sangen: „Ehre sei Gott
in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“

Sie sangen sehr laut mit hellen, schmetternden Stimmen. Alles hallte davon
wider. Dieser Gesang erfüllte das ganze Gewölbe des Himmels, der eine
grosse, dunkelblaue Glocke war, in der goldne Sterne schwangen und
spannen. Sie drehten sich sehr rasch mit langen, lichten Streifen hinter
sich her in der Bahn ihrer Schwingung, die feurige Ringe bildete, Kreise
und Sphären. Die ganze Glocke drehte sich, sang und schwang.

Der kleine Handwerksbursche sang laut, vorwärts stolpernd im schleimigen
Strassenkoth, zwischen den schwarzen Fabrikschuppen mit hohen Schloten,
vor der Stadt, die rings umher anfing sich zu entzünden, wie ein Halbkreis
der Hölle mit feurigen Augen.

„Bist Du verrückt?“ schnauzte ihn der Andre an.

„Dein Gefährte ist sehr krank,“ sagte der Fremde sanft.

So war es. Alles hatte bei dem Kleinen zusammengewirkt: die langen Wochen
der Angst und schlechter Ernährung, der unheimliche Gefährte, der
Weihnachtsabend.

Er fuhr fort zu singen. Er wehrte sich gegen den Andern in seinem
Fieberrausche: „Lass mich! Du erfrierst mir das Herz. Du stösst mir
glühende Messer in’s Weiche. Du bist schlecht und roh! Schlecht! Schlecht!
Du bist der Teufel!“

Er war wie ein Rasender. Er fing an mit beiden Armen um sich zu schlagen.
Er bäumte sich wie ein scheugewordenes Pferd. Er wollte plötzlich nicht
weitergehen. Er liess sich wie ein Sack zur Erde fallen.

„Halloh!“ sagte der Rothe. „Das ist eine schöne Geschichte. Nun stirbt uns
der hier im Dreck. Das hetzt uns die Grünröcke gleich auf die Hacken.“

„Hilf mir ihn aufheben!“ sagte der Fremde. „Er darf nicht sterben so.“

Sie hoben ihn auf. Auch der Rothe that seine Pflicht, sanft genug für
seine rauhen, frostgeschwollenen Fäuste. Die Mütze war dem Kleinen vom
Kopf gefallen, Koth hatte sich in die blonden Locken gesetzt. Er entfernte
ihn mit einem grimmigen Scherz: „Das würde seiner Liebsten nicht
gefallen.“

Es lag da ein Steinhaufen am Chausseerand aufgeschüttet. Der Fremde hatte
sich darauf gesetzt, der Junge lag in seinem Schooss mit dem Kopf an
seiner Brust. Er lag ganz still und lächelte.

„Ich kenne Dich wohl,“ sagte der Junge. Er sprach mit erstaunlicher
Geläufigkeit, in einer hellen, klingenden Stimme des Entzückens, wie wenn
Alles, was in ihm schweigsam und gefroren gewesen war, sich jetzt löste,
aufthaute.

„O, ich kenne Dich ganz gut. Du bist mein alter Lehrer in Greifenberg, der
freundlich zu uns war. Wenn man’s gut gemacht hatte, strich er mit der
Hand über den Kopf. Manchmal durfte ich ihm die Bücher nach Hause tragen.
Dann bekam ich einen Apfel.... Er war alt und arm, und hatte viele Kinder,
wie wir.“

„Nette Suse!“ murmelte der Rothe. „So ’ne weisse Wassersuppe!“

Der Fremde sass ganz still und hielt den Kopf des Jungen. Der lachte, er
griff ihm mit der Hand in den Bart. „Du bist mein Vater, der gestorben
ist,“ sagte der Junge. „Er ging des Morgens sehr früh fort. Dann trat er
leise auf und zog sich im Dunkeln an, damit wir nicht aufwachen sollten.
Es war noch sehr früh und sehr kalt draussen. Im Bett war es warm. Der
Winter hatte grosse, weisse Eisblumen vor das Fenster gemalt. Wie hinter
einer Wattenwand schlief sich’s da.... Dann ging er fort einen Morgen und
kam nicht wieder.

„... ‚Nun bist Du der Mann in der Familie, Richard,‘ sagte die Mutter.
‚Versprich mir’s, dass Du immer für die Schwestern sorgst, wenn Du gross
bist und viel Geld verdienst.‘

„Ich verdiene nichts. Ich kann nicht sorgen für die Schwester. Meine
Schwester soll nicht weinen und hungern wie die Andern, nicht frieren! Es
ist so kalt ... kalt ...“

„Gott wird für sie sorgen,“ sagte der Fremde.

Der Rothe lachte.

„Es giebt keinen Gott,“ sagte der Junge unruhig. „Alle sagen, er ist nicht
und dass es nur eine Kinderfabel ist. Wer nicht arbeiten kann und krank
wird, der stirbt und verdirbt. Reiche Leute haben es gut in der Welt und
sind geehrt. Die Andern holt der Teufel.“

„Amen!“ machte Fritz Kuhlemann.

„Es giebt keinen Teufel,“ sagte der Fremde ruhig. „Gott kennt keine
reichen Leute und keine armen. Er liebt Alle.“

Wieder lachte der Rothe, scharf und schrillend.

„Ich habe Schmerzen,“ wimmerte der kleine Handwerksbursche. „Es zerreisst
mir die Glieder. In meinem Kopf geht es wie eine Säge. Alle Knochen
krachen. Ach, das ist die Folter! Wasser! Wasser!“

Es war kein Brunnen zu sehen ringsum, zwischen den Schmutzlachen, all’
dieser triefenden Feuchtigkeit, die von den Dächern rieselte, die Kleider
festklebte am erstarrten Körper.

„Ich habe Hunger,“ klagte der Sterbende.

Der Fremde legte ihm die Hand auf die Stirn.

Bald glätteten sich die Züge. Sie wurden heiter, fast strahlend. „... Eine
Ruhe kommt langsam, das ist der Schlaf. Es kommt wie ein Schatten über
eine grüne Wiese. Es ist weiss und breitet die Arme aus. Ah, mir ist
wohl!“ ...

Er nestelte sich dichter an die Brust des Andern. Der Fremde beugte sich
über ihn und küsste ihn auf die Stirn.

Fritz Kuhlemann kam mit einem Blechgefäss voll Wasser. Er hatte es beim
Eindringen in einen Zimmerhof gefunden. Ein wütender Hund war gegen ihn
angekläfft, hatte ihm die Hose zerrissen. Seine Hand blutete vom
Zerschlagen des Eises. Er sah schrecklich aus.

„Er braucht es nicht. Er ist todt,“ sagte der Fremde.

In der That war der Junge todt. Er sah aus wie ein schlafendes Kind. Ein
süsser Ausdruck war in seinem Gesicht.

„Gestorben wie ein Hund! Wie ein Hund!“

„Er ist kein Hund. Er ist schön.“

„Und Du? Wer bist Du?“

„Kennst Du mich nicht, Fritz Kuhlemann?“

                  ‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐

Der Mond war aufgegangen, ein ganz klarer, heller Mond, den man niemals
erwartet hätte aus diesem Nebel. Er stand ruhig mit sattem, blauem Schein
im Grau, das jetzt ganz ungefährlich erschien, die einförmige, milde
Trauerfarbe der Nacht, eine sanfte Schwermuth der tieferen Töne und Farben
des Lebens. Im Mondschein stand der Fremde. Er stand ohne Hut, im Licht,
das leise fluthete.

Der Mann starrte ihn an. Seine Augen traten fast aus ihren Höhlen, die
Stirn unter den wüsten, rothen Haarzotteln arbeitete furchtbar.

Der Fremde sah ihn an.

„Du hast ihn geliebt, den da“ ... sagte der Fremde. „Er war oft müde. Du
gingst langsamer um seinetwillen. Du schliefst schlecht, damit er besser
läge. Manchmal hast Du ihm Brod gegeben, wenn Du selbst keins hattest. Und
der Hund hat Dich zerrissen um das Wasser, das Du ihm brachtest. – Ich
kenne Dich, Fritz Kuhlemann.“

„Teufel!“ stiess der Andre hervor.

„Du hast ihn sehr gekränkt,“ fuhr der Fremde fort. „Aber Dein Herz war
wund, als es ihm harte Worte gab. Der Pflug war über Deine Seele gegangen
und hat sie zerrissen, eh’ sie wild klang und falsch. Du hast geliebt, eh’
Du hasstest.... Ich kenne Dich wohl, Fritz Kuhlemann.“

„Herr ... Herr ...“ stammelte der Bursche.

„Und sie haben Alle geliebt. Deine Mutter, die Dich in die Gosse legte,
weil sie kein Brot hatte, Dich zu füttern, als ihr Herz sich in ihr wand
in Angst über der Qual ihrer Eingeweide. Der, der Dich zeugte in einer
Stunde, wo er sich selbst vergessen, der niemals sich vergass. Gott, der
die Welt gemacht hat, weil er liebte. Die Liebe ist Schmerz. Im Schmerz
der Liebe liegt der Urgrund alles Geborenen.“

„Wer bist Du?“ schrie der Andre auf.

Er hatte sich auf ihn gestürzt. Sie rangen miteinander, Leib gegen Leib.
Der Mond stand am Himmel, kalt und bläulich. Dann sah man nur noch ihre
beiden Gesichter, das des Fremden, das ruhig war, blass und ein wenig
traurig, das des Mannes, der in grossen Tropfen schwitzte, dunkel
blutrünstig mit roth durchschossenen Augäpfeln. Er athmete in schweren,
keuchenden Stössen.

Plötzlich fielen seine Hände: „Mach’, was Du willst! Tödte mich auch!
Tödte mich!“

„Geh voran! Ich folge Dir!“ sagte der Fremde.



                           DAS ZWEITE KAPITEL.


Eine rothe Laterne hing über der Thür der Destille. Die Thür war schräg
eingestellt nach der Strassenecke zu. Drei schlechte Eisenstufen führten
hinauf. Sie hallten und dröhnten, wenn schwere, nägelbeschlagene Schuhe
darauf traten. Nach der andern Seite leuchtete ein grosses Fenster. Eine
breite, grüne Aufschrift zog sich quer darüber hin, auf der zu lesen
stand, dass der Pfiff Bier fünf Pfennige kostete. Sonst Reklamen in
grossen Lettern von Wein, Bier, Rum, Punsch, Zettel in lebhaften Farben so
zusammengestellt, dass sie sich möglichst schnitten, das Auge
herausforderten. Aber der Strassenstaub hatte sie ausgebleicht, Alles war
von derselben schmutziggrauen Schleimschicht überzogen. Die Fenster hingen
schief in ihren Rahmen. Gegen das Haus lagen schwarze, faulende
Holzplanken aufgeschichtet von irgend einem Neubau, der nie fertig wurde.
Die Fenster nach der Strasse zu waren durch schwere Rollbretter geschützt.
In den oberen Stockwerken hatte man die Jalousien heruntergelassen. Nur
die Laterne blinkte wie ein trübes, rothes Auge durch die Nacht.

Es war Weihnachtsnacht. Man war lustig. Die Frau des Destillateurs hatte
Fische in süsser Sauce gemacht, von denen man für fünfzig Pfennige ein
Gericht bekam. Dazu gab es Punsch. Auch ein Weihnachtsbaum war geschmückt,
auf den sie stolz waren. Mit Papierblumen und ein paar dicken
Stearinlichtern prangte er. Im Nebenraum zwischen alten Lumpen schliefen
die beiden kleinen Mädchen, die Kinder des Ehepaars. Sie hielten die
Holzpuppen, die ihnen bescheert worden waren. Man hatte ihnen auch Punsch
gegeben. Sie schliefen ganz fest mit feuerroten Backen, im Luftzug ihres
Athems leise zitternden, langen Wimpern.

August Matzke war ein schwerer Mann, erst an die Vierzig, obgleich er
älter aussah, ganz und gar ruinirt, vergiftet durch den Trunk. Er war
schon zweimal wegen Delirium tremens im Krankenhaus gewesen. Alle hofften,
dass das sein Ende bedeutete. Aber er kam zurück, graublass, verblödet,
schrecklicher als vorher. Dieser Mann hatte mit Auszeichnung seine
Dienstzeit absolvirt und war zum Sergeanten aufgerückt. Bei einer
Schiessübung kam er durch Unvorsichtigkeit um ein Auge. Er erhielt die
Verstümmelungszulage und nahm seinen Abschied. Die Frau war aus ganz gutem
Hause, eine Süddeutsche von zierlichen Formen, freundlichem, einnehmendem
Wesen. Sie hatten ein ganz hübsches kleines Kapital gehabt, als sie
heiratheten, und fingen nach seiner Verabschiedung eine Gastwirthschaft
an. Man sagte, dass die sehr zuvorkommenden Manieren seiner Frau gegen
Fremde ihn zuerst an die Flasche getrieben hatten. Jetzt war er unheilbar;
das Geld ihrer Liebhaber hielt die Wirthschaft flott. Sie liessen sich
nicht scheiden, weil er ihr dann ihr Eingebrachtes auszahlen musste. Er
schlug sie. Sie insultirte ihn. Dann kam wieder anfallweise die alte
Verliebtheit; sie schliefen zusammen. Zwischen alledem, Schlägen, Zänken,
Liebkosungen, wuchsen die Kinder auf, behend und geschmeidig wie kleine
Katzen, beide der Mutter auffallend ähnlich, schon spürend, horchend,
zwischentragend....

Kuhlemann wurde mit lärmender Freude begrüsst. Matzke hatte schon schwer
gesoffen und sah schief. Es war da noch ein älterer Mann mit breitem,
krummem Rücken, der stumm in sich hineintrank. Ein junger Tapezier mit
aufgebürstetem Lieutenantsschnurrbart spielte den Forschen, zog die Andern
auf und scharmuzirte mit Frau Matzke. Ein Dienstmädchen aus dem Hause,
eine grobe, gewöhnliche Person, kam zuweilen, um sich auch einen Schnaps
stossen zu lassen, die Neuigkeiten zu hören. Ein paar zerlesene Nummern
des Vorwärts und des Lokalanzeigers lagen auf dem Tisch. Im Hintergrund
stand ein Klavier. Matzke als alter Soldat war Patriot und kaisertreu, er
hielt das socialdemokratische Blatt um seiner Kunden willen. Er selbst
liebte patriotische Lieder und erging sich, wenn er voll war, sehr gern in
hochtrabenden Erinnerungen an Gravelotte und Sedan, „unsern ollen Kaiser
Willem“ und Prinz Friedrich Karl, auf deren Wohl er dann die ganze
Gesellschaft anzustossen zwang. Heute war er noch nicht ganz so weit.

Frau Matzke hatte sofort ein Punschglas vor Fritz Kuhlemann aufgestellt
und eins vor dem Fremden, der sich bescheiden mit an den Tisch setzte. Das
grosse Dienstmädchen strebte neugierig näher. Sie war ein durchaus
anständiges Mädchen und stolz auf ihre Anständigkeit, aber sie hatte es
doch gern, wenn man sie kitzelte, Witzchen mit ihr machte. So zum Beispiel
foppte sie sich stets mit Matzke, dass er sie heirathen sollte. Er wollte
dann von ihrem Gelde seine Frau auszahlen und sich scheiden lassen. Das
amüsirte sie königlich.

„Ich möchte nur um ein Glas Wasser bitten und ein Stück Brot, wenn ich es
haben kann,“ sagte der Fremde.

Die Frau sah ihn erstaunt an, willfahrte aber der Bitte. Matzke schoss aus
seinen geschwollenen Augen einen trüben, gehässigen Blick.

„Wer’n rechter Kerl is, der is Soldat jewesen. Wer nich Soldat jewesen is,
der is überhaupt kein Mann nich, sag ick!“

Er wiederholte das mit der Faust aufschlagend gegen den Tapezier, der sich
damit belustigte, ihn aufzuziehen. Er schien sich damit das besondre
Wohlwollen der Frau Matzke verdienen zu wollen, denn er blinzte ihr zu.
Die grosse Hanne juchzte lärmend auf.

„Un eene volle Pulle liebt er ooch, was ’n rechter Mann is? Was Aujust?
Tapfre, olle Kriegsgurgel?“

Der Trunkenbold stierte ihn giftig an, that aber Bescheid. In der
Hülflosigkeit seines benebelten Gehirns gegen die Kniffe und Finten des
Andern blieb ihm nur dies eine Bedürfniss, zuzuschlagen, seine Fäuste zu
gebrauchen.

„Kanonen ufffahren und derzwischen jepfeffert, denn würden sie schon
fertig mit det Jesindel!“

„Und Du wärst der commandirende Jeneral von det Janze! Herr Aujust Matzke
mit dem schwarzen Adlerorden da vorne aus der Weste.“

Der Tapezier amüsirte sich königlich. Frau Matzke zog verächtlich die
Lippen. Das Dienstmädchen bog sich vor Vergnügen.

„Ick sage: Wer seinen Kaiser nich ehrt, der is kein deutscher Mann, der
jehört in den Schweinestall.“

„Sieh man zu, dass Du nich selber zuerst reinbummelst, oller Freund. Wer
so schwach uff seine eijnen Beene steht, sollte man ja nich so forsch
jejen Andre losziehen.“

„Ick nich fest uff meine Beene! Ick bin Dein oller Freund nich. Ick will
Dich lehren, mir Aujust zu heissen. Aujust Dir wat in Deine unjewaschne
Schnauze. Du – Du – Hurenjäger Du!“

Er hatte sich schwerfällig erhoben und griff nach der Stuhllehne, um sich
daran festzuhalten. Der Tapezier lachte, er gehörte zu Frau Matzke’s
eleganten Freunden, die den Haushalt im Gang erhielten. Der Mann in der
braunen Weste rührte sich nicht.

„Aber August! so lass doch!“ machte die Frau gelangweilt. Sie zwinkerte
Wernicke zu, Hanne in ihrer sicheren Ecke am Büffet erstickte fast vor
unterdrückter Heiterkeit. Sie fand das einen ausgezeichneten Spass.

Nun wandte sich der Wüthende gegen sie, die Ehebrecherin, in den
unfläthigsten Ausdrücken. „Ick will Dir ... Ick will Dir ... Hure ...
Hure ... Hure!“ Er sah schrecklich aus mit den sabbernden Lippen, seinen
blutunterschossenen Augen, von denen das eine, künstliche, immer gerade
blieb, glotzend, ungeheuerlich. Das Wort in seinem dumpfen Laut des
Stiergebrülls wiederholte sich. Er packte sein schweres Bierseidel; es
flog dicht an ihrem Kopf vorbei in die Fensterscheibe, die splitternd
zerbrach. Der Ton schien ihn vollends wahnsinnig zu machen. Er ergriff
eins der Seidel nach dem andern und fensterte sie in das Glas. Leere und
halbvolle Flaschen flogen nach. Man hörte die Scherben auf dem
Strassenpflaster sich knisternd zusammenhäufen. Gleichzeitig drang die
kalte, klare Winterluft ein. Der Tapezier weidete sich an seinem
Heldenstück. Hanne kreischte, die Hände vor den Ohren, dachte aber nicht
daran zu flüchten. Der andre Gast blieb ganz stumpfsinnig.

„Das giebt ein nettes Christkindchen für morgen. Na, ich bin nur froh,
dass ich die Rechnung nicht zu bezahlen brauche.“ Der junge Mann griff
nach seinem Hut und Paletot, einem eleganten Paletot mit Sammetaufschlag
und hellem Futter. Er hing ihn immer so, dass man das Futter sah. „Ich
gehe jetzt, Frau Matzke. Adieu auch. Ich werde erwartet.“

Sie sagte nichts. In der Thür drückte sie ihm die Hand sehr stark, ihre
Nüstern bebten. „Nimm Dich in acht!“ ...

Durch den Thürspalt nach der Kammer guckten die beiden Kinder. Der Lärm
des klirrenden Glases hatte sie aufgeweckt. Sie witterten eine Scene, und
waren nun dabei, neugierig, erwartungsvoll.

Matzke hatte seine letzte Bierflasche dem Abgehenden gegen die Thür
nachgeschleudert. Sie zerbrach auf dem Fussboden in ihrer braunen Sauce.
Frau Matzke fing ruhig an, die Unordnung des Fensters zu repariren. Sie
steckte eine weisse Bettplane auf; sie kannte das schon.

„Nanu? Hier is wohl Polterabend heut’?“ sagte eine lustige Stimme.

Es war ein Mädchen. Sie trug gescheitelte Haare und ein einfaches
Umschlagetüchelchen. An einer gewissen Unordnung des lose gewundenen
Nackenknotens, der zerschlissenen, rothen Seidentaille erkannte man die
Leichtfertigkeit ihres Berufs.

„Ich konnte nicht früher kommen, habe auch den Kindern noch was
mitgebracht.“

„Ach Lene! Lenchen!“ In ihren Hemden drängten sie sich um sie. Das Mädchen
küsste sie leidenschaftlich. Frau Matzke sah zu.

Fritz Kuhlemann lachte. „Geht’s Geschäft auch heut’ Abend?“ fragte er
boshaft. Der Fuhrmann starrte sie an. Lene Hoff war der eigentliche Grund,
weshalb er jeden Abend kam. Er hätte nie gewagt, es ihr zu sagen,
ausserdem wusste er ja, dass sie unter Sittenkontrolle stand. Die grosse
Hanne zog eine höhnische Fluntsch. Sie hatte das Mädchen nicht begrüsst,
als sie eintrat, stand jetzt, einen Arm in die Hüfte gestützt, und
musterte sie von oben bis unten. Dann drehte sie sich nach der Thür zu:
„Ich muss jetzt raufgehen. Es ist meine Zeit.“ Sie beschäftigte sich sehr
viel mit der jungen Prostituirten, ihren Toiletten, ihrem Thun und Lassen.
In ihren Gedanken stand sie weit unter ihr; sie war ein anständiges
Mädchen.

Lene pustete sich in die Finger. Sie war immer ein bischen genirt, so
lange die Grosse da war. „Kalt ist’s. So’n Weihnachten! Lustig sein! Wir
wollen Klavier spielen.“

Sie hatte sich an’s Klavier gesetzt. Ein Tanz wirbelte hervor unter ihren
flinken Fingern.

Niemand tanzte.

„Das ist nichts.“ Sie stand wieder auf, schloss den Deckel. Sie näherte
sich Fritz Kuhlemann, kraute mit der Hand den untern Teil seines rothen
Schopfes: „Na Du?“ ... Die ganze gewerbsmässige Schmeichelei ihres Berufs
lag in dem Ton, vielleicht noch mehr. „Bist so eklig heut’, geh! Spendirst
mir nicht mal was?“

„Seh’ ich Dir nach Spendiren aus?“ Man hörte die Leidenschaft aus seiner
Stimme. Diese Liebkosung einer Frau stachelte ihn. Er verschlang sie mit
den Augen.

Sie hatte sich auf seinen Schoss gesetzt. „Armer Kerl! Keine Chance. So
viel Pech gehabt.“ Er zerdrückte ihr die Lippen mit einem brutalen Kuss.
„Du – frech biste!“

Sie sah den Fuhrmann an. Dieser Mann hätte sie geheirathet. Er hatte vier
Kinder zu Haus. Aber ihr graute vor der Langeweile. Ihr Vogelgehirn
arbeitete schon auf einer andern Spur wieder, sie hatte den Fremden
entdeckt.

„Wer is denn der?“ fragte sie Frau Matzke.

Die Frau zuckte die Achseln.

„War der Josef hier heute?“

„Er ist eben fort.“

„Ach darum ...“ Das Mädchen kannte die Leidenschaft der Freundin. Der
schöne Tapezier hätte ihr auch gefallen. Sie seufzte.

„Oed’ ist’s heute. Ich bin vorher gegangen und hab’ mir die Christbäume
angesehen. Christbäume, das ist so rührend. Einen ganz grossen sah ich mit
Lametta wie Haare. Das möcht’ ich haben.“

Sie hatte sich wieder an’s Klavier gesetzt. Ein Weihnachtslied klang aus
den Tasten.

„Hübsch war das, die Engelchen und Schäfchen in der Krippe. Ich hab’ das
mal gesehen, wie ich klein war. In der Kirche.“

Sie wandte sich wieder an Kuhlemann. „Sag’ mal, Du hast nicht einen Nickel
für mich? Zu einer neuen Schleife für den Ball am Sonntag. Kommste mit zum
Ball, Schätzchen?“

Er drehte ein zerfetztes Portemonnaie um vor ihren Augen: „Da sieh.“ ...
Der Fuhrmann warf einen Thaler auf den Tisch. Hart klang das Metall auf
der Holzplatte. Alle sahen auf. Frau Matzke hatte ihren Besen, mit dem sie
die Scherben zusammenfegte, hingestellt.

Die Lene war näher gekommen wie ein naschhaftes Kind. Der Thaler lag da,
und blinkte – brutal, schmutzig gleissend. Sie sog lang den Athem ein.

„Du rührst nicht dran!“ schrie Fritz Kuhlemann.

„Wenn man selber keinen Pfennig hat, hat man nichts dreinzureden,“
entschied Frau Matzke schneidend.

Der Andre wartete, schwerfällig, lauernd, wie ein Jäger, der das Wild in
der Falle hat.

„Ich schlag’ ihn todt!“

Ein scharfes Lachen der Frau traf den Burschen wie ein Hieb.

Das Mädchen war wie ein lüsternes Mäuschen noch näher gekrochen. Die
feinen Zähne blinkten zwischen ihren gespitzten Lippen hervor.

Der Trunkenbold machte einen scheusslichen Witz: „Wer das Geld hat, hat
das Recht,“ bestimmte Frau Matzke.

Sie streckte die Hand aus.

Ein gurgelnder Laut wie Tigergebrüll entrang sich der Brust des Burschen.

Der Fremde hatte die Hand auf den Tisch gelegt. Diese feine, blasse,
bläulich geäderte, abgezehrte Hand bedeckte das Geldstück. Sie bildete
eine Weisse auf der mit Bier- und Fettflecken besudelten Tischplatte.

„Komm’ zu mir!“ sagte der Fremde.

Er hatte sich aufgerichtet. Er stand ganz gerade. Die andere Hand, die
nicht das Geldstück deckte, streckte sich gebietend vor.

„Komm hierher!“ befahl der Fremde.

Sie kam. Sie gehorchte. Wie mit durchgeschnittnen Flechsen schleppte sie
sich. Sie kroch. Plötzlich schlug sie beide Hände vor’s Gesicht, mit einem
dumpfen Schmerzenslaut sank sie in die Knie.

„Nimm Dein Geld!“

Der Fremde hatte den Thaler ergriffen. Er schleuderte ihn nach der Thür.
Das Silber schlug hart auf, kugelte sich im Weiterrollen. Der Fuhrmann
bückte sich gierig danach und verschwand.

Fritz Kuhlemann stand mit unter der Brust gekrampfter Hand. Es war der
Blick des Mörders, mit dem er sah, der Bestie, des wilden Thieres.

„Geh!“

Er ging.

Der Trunkenbold lachte auf mit einem hässlichen Gluckser. „Ein
Schmatzchen, Haseken. Du – Du ...“ Er griff schwankend in die Luft. Es
reichte nicht mehr, wie ein Bleisack sank er schwer zusammen.

„Leg ihn schlafen,“ sagte der Fremde. Das Weib schnellte gegen ihn an wie
eine gereizte Viper. Dann gab sie der schnarchenden Masse einen
verächtlichen Fussstoss. „Vieh!“

Sie stiess ihn gegen die Kammer mit rachsüchtigen Püffen und Tritten, dann
nahm sie ihren Besen und kehrte wüthend.

Die kühle Nachtluft strich durch den schweren Fuseldunst. Alle Lampen
brannten. An den Wänden hingen patriotische Bilder, Reklameschilder mit
Emblemen der Arbeit, eine schwere Faust, die den Hammer emporhält, einem
Tischler an der Hobelbank. Jemand hatte allerlei Unfläthigkeiten
angeschrieben. Dazwischen machte sich ein widerliches, süsses
Moschusparfüm fühlbar, der von dem Mädchen ausging. Sie hatte die Hände
vom Gesicht genommen. Sie schielte zwischen den Fingern wie ein unartiges,
gescholtnes Kind. Es erschreckte sie, dass sie so allein waren. Sie
begriff nicht. „Sie sollen nicht weggehen! Der Dicke würde mich heirathen.
Vier Göhren hat er zu Haus. Hundertundfünfzig Mark im Monat und die ganze
Einrichtung. – So Einer; der’s Einem hinterher alle Tage vorwirft!
Zweiundvierzig Jahre ist er schon, krumm wie’n oller Zumpelbär. Der drückt
Einen ja todt. Taps, dämlicher!“

Sie lachte leichtfertig, ihre blonde Mähne schüttelnd, die Augen
eingekniffen.

„Der Andre, Wernicke, der ist ein ganz Feiner. Gestärkte Hemden trägt er
sogar am Alltag. Er kriegt auch einen guten Lohn bei Krüger. Er ist der
Erste da, der Alles allein macht. – Dieser Fritze! Das ist so komisch.
Komisch ist der!“

Ihr Lachen rang sich auf in hellen, klingenden Trillern. Sie lachte, dass
ihr die Augen übergingen. Ihr ganzer Körper krampfte sich unter dem
Lachen.

„Alle Leute haben mich gern, weil ich immer lustig bin. Und Kinder! – das
is immer Leneken hier, Leneken da! Wir haben eine alte Frau im Haus, die
lahm ist und zu Bett liegt. Ich bringe ihr Kaffee und Chocolade. O, ich
thue auch das Meine.

„... Wie die vornehmen Damen, die aus dem Wagen steigen, die Näsen kraus
ziehen.... Beten und trocknes Brot und Arbeit. Als ob wir’s nicht wüssten,
wie die’s treiben!

„Warum ist denn Unsereins schlecht? Weil’s einen schlechten Rock anhat,
einen billigen Hut trägt. Die sind nicht besser wie wir! Pfui!“

Sie spuckte aus.

„Einen Spatz hatte ich mal, den ich unter’m Baum fand. Hier im Kleid unter
der Brust trug ich ihn. Den schlugen mir die Jungen todt.

„Schweine sind die Männer! Ach, solche Hunde! Hunde! Nicht mal Geld geben
sie Einem. Aber schlagen! Sie stehlen’s noch von uns.“ Ihre Fäuste
krampften sich megärenartig. Das junge Gesicht wurde erdfahl, verzerrt.

„Ich hab’ Klavier spielen gelernt. O, ich hatte mal Einen in der
Georgenstrasse. Der war sehr gebildet. Sogar Verse hat er auf mich
gemacht. ‚Du hast ja die schönsten Augen, Feinsliebchen, was willst Du
noch mehr?‘“

Sie wiederholte die Worte liebkosend, den Oberkörper wiegend wie im Tanze.
Sie blähte sich eitel.

„Warum sprichst Du nicht mit mir? Wenn ich einen Vater gehabt hätte, eine
Mutter, kleine Kinder – – –

„Ich bin ganz zufrieden. Was kommt auch drauf an? Man schlägt’s so um die
Ohren. Lustig gelebt und fröhlich gestorben, das ist dem Teufel die
Rechnung verdorben.

„Tanzen, Zuckerzeug, fein riechen! Hübsche Kleider!

„Eine Freundin von mir ist im Spital gestorben, Becker’s Lene, die lange.
Sterben ist grässlich. Huh! Huh!“

Sie fing wieder an, ihr Gesicht zu verstecken. Sie rutschte auf den Knieen
hin und her. Sie gab kleine Töne von sich, wie ein gescheuchter,
flatternder Vogel. „Du machst mir Angst. Sprich doch. Guck mich nicht an!
Guck mich nicht an!“

Sie streckte beide Arme aus, wie unter dem Schrecken einer Erscheinung.
Sie bog den Kopf zurück. Ihre Augen weiteten sich starr. „Ich bin mal in
der Wiese gewesen. Blumen wuchsen so reinlich mit weissen Gesichtchen. Auf
dem Teich fuhren Schwäne. Grüner Wasserliesch schwamm. Wo sie fuhren,
wurden dunkle, tiefe Flecken. Das hörte man gar nicht. Ueberall theilte
sich der Sumpf. Klar war’s und dunkel ...

„Ich will Dir noch etwas sagen, was kein Mensch weiss. Ich hätte ein
Kindchen gehabt, aber es ist nicht zur Welt gekommen. So gross war’s, todt
und feucht. Es hätte nicht gelebt und nichts zu essen gehabt. Mein kleines
Bübchen! Mein todtes, kleines Kindchen!

„Manchmal denk’ ich, die Sterne, wenn die so funkeln, dass man dort sein
könnte. Alles weiss an mir runter.“ ... Sie strich an sich herunter mit
glättenden Händen. Sie strich, als ob sie all’ ihre Gewänder abstreifen
wollte. Wie im Fieber gingen die dünnen streichenden Hände. ... Das
Hälschen über den zarten, fallenden Brüsten reckte sich wie ein
Lilienstengel. Eine Bläue war in den Augen, die nicht mehr vom Leben war.
Die Lippen seufzten wie die Jemandes, der trinkt. Sie trank – trank –
trank.

Der Fremde sagte nichts. Seine Hand legte sich auf diese junge, noch
weisse Stirn. Zart und gütig lag sie, ganz leise.

Unter der Hand sank die Frau zusammen. Sie wurde klein. Sie wurde ein
Wurm, der sich am Boden schleppte.

Sie weinte. Sie drückte sich ganz dicht an seine Füsse. Ihre Thränen
tropften auf seine Füsse. Ihre blonden Haare hatten sich gelöst und fielen
über ihr gebeugtes Haupt und seine benetzten Füsse. Er rührte sich nicht.
Sie weinte – weinte.

Frau Matzke war mit dem Besen in der Hand in der Schlafzimmerthür
erschienen. Sie stand da mit einem harten, steinernen Ausdruck,
unbeweglich. Man hörte das tiefe, röchelnde Schnarchen des Trunkenbolds,
unschuldige, tiefe Athemzüge der Kinder.

Jemand wartete in der Strasse mit einem weissen, elenden Gesicht. Er hatte
die ganze Nacht gewartet. Nun war es Morgen.

Der Fremde rief den Burschen. Draussen begann schwerfällig, schlafbetäubt
das Leben sich zu regen. Lastkarren fuhren müde. Einzelne dunkle Gestalten
huschten. Man sah die lange graue Breite der Strasse mit Häusern zu beiden
Seiten, unzähligen Fenstern und Thürluken, unter dem trüben Himmel, von
dem es leise wie Thau tropfte.

Der Fremde wies auf die weinende Frau: „Geht!“

Sie gingen. Sie geknickt, an seine Schulter gelehnt mit schwankenden,
irren Schritten. Er hochgehobenen Hauptes, sehr ernst und sehr gerade.

Frau Matzke in der Thür ihres Hauses sah sie sich entfernen. Sie sagte gar
nichts. Sie nahm ihren Besen wieder auf und fegte. Man sah die Silhouette
ihres gebückten Rückens, die wüthende Wucht der Besenstösse, mit denen sie
den Staub aufwarf und in die Schaufel schob.

Sie fegte.



                           DAS DRITTE KAPITEL.


Man fürchtete, dass der Zudrang zu der Versammlung ein sehr grosser würde.
In Folge dessen war die Schutzmannschaft reichlich aufgeboten. Man gab
Achtung, den Saal auf die Minute eine Viertelstunde vor der anberaumten
Zeit zu schliessen. Viele sahen sich so ausgeschlossen, auch ergab das
einen Vorwand, die Galerie nicht freizugeben. Man führte den Krieg mit
diesen kleinen Mitteln seit einiger Zeit, obgleich eigentlich das
Verhältniss ein gutes, fast behagliches war. Sie kannten sich so genau,
die Gewohnheit des häufigen Zusammentreffens hatte einen förmlichen
kleinen Comment herausgebildet, bis auf die ganz regelmässig
wiederkehrenden Witze. Man hätte sich fast vermisst, wenn man sich nicht
vorgefunden hätte. Der Riesenhund des Wirths trieb seine Allotria
dazwischen mit einer ganz kleinen Hündin, einer proletarischen Mischung
aller Rassen, die von jeder die Hässlichkeiten angenommen hatte. –
Ueberdies waren es genau dieselben Typen, die da Wache gingen, als
Ueberwachte eintraten, Blonde, nicht schlecht genährte, bourgeoise Ruhe
und Anständigkeit, dazwischen einige knallfarbige, federbewallte Hüte der
Genossinnen. Die Frauen überhaupt drängten sich vor, zeigten sich
aufgeregter als die Männer; es war bekannt, dass einige der Führerinnen
eine Zunge führten, die ihre männlichen Kollegen im Schach hielt.

Einige Parteiveteraninnen hatten sich an den Eingang des Saals postirt. Da
Viele noch immer aus- und eingingen, deckten sie die Thür mit ihren
breiten Rückseiten. Sie warben für ihren Verein, überwachten den Verkauf
der Zeitungen und Broschüren, die auf kleinen Tischchen aufgeschichtet
lagen. Dazwischen wurden Bons zur Unterstützung armer Abgeordneter
feilgeboten. Die Kellner circulirten mit Bierseideln. Alle rauchten,
sprachen durcheinander. Von weitem, mit den schwarzbehuteten Köpfen, die
auf- und untertauchten, ergab das den Eindruck eines heftig bewegten Sees,
der gegen die Tribüne andrängte, sich staute. Man erwartete den Anfang der
Versammlung und wurde ungeduldig. Die dichten Rauchschwaden brachten eine
lila mystificirende Beleuchtung mit in das ordinäre, gelbe Gaslicht. – Es
waren da Leute, die ruhig ihre Butterbrote und Häringe verzehrten, Andre
sprachen von Parteiangelegenheiten, ihren kleinen und kleinsten
Privataffairen. Ein junger Mann mit einem rothen Shlips und einem
Apostelkopf stand neben der Thür. Er sah krank aus und blickte mit
glänzenden, unirdischen Augen in das Leere, als ob er etwas Wunderbares
sähe.

Die Parteiveteraninnen behaupteten, dass unter den Anwesenden Spitzel
wären. Sie versuchten sie ausfindig zu machen, mit den Fingern zu zeigen.
Einige Studenten waren augenscheinlich für einen Ulk hergekommen. Es waren
Fremde da, die Keiner kannte, und eine junge Dame in eleganter Kleidung
ganz allein, die man ansah, was sie da suche. Im Ganzen war es eine sehr
guterzogene Menge, friedlich, ohne Aufregung, fast bourgeoismässig.

Der Saal war der banale grosse Festsaal der mittleren Restaurants, weiss
mit Gold, rothsammetner Rampe. Da wurde auch Theater gespielt und getanzt.
Es war nicht schlechter wie für die Bourgeois bei ähnlichen Gelegenheiten,
man war höflich und kam in weissen Handschuhen.

Auch das Thema der Einberufung bot nichts Besondres. Es war die jährlich
wiederkehrende Einbringung der Militairvorlage von Seiten der Regierung.
Man wusste im Voraus, dass sie durchgehen würde. Der Protest geschah rein
berufsmässig, aus Princip. Und man wusste, dass es für Jahre so gehen
würde. Die Aufregungen, das Märtyrerthum, aber auch die Hoffnungen der
ersten Jahre waren verschwunden. Die junge Partei hatte zu leben gelernt,
fast konnte man sagen, Manieren gelernt. Man nahm, was man kriegen konnte.
Man war stark, zahlreich, wohlorganisirt, das Odium war weggenommen,
ebenso der Heldennimbus. Man hatte nicht mehr die Angst zu sterben, aber
auch nicht die Aussicht zu siegen; man „entwickelte sich“.

Zurufe begrüssten den Eintritt des grossen Mannes, in Wahrheit eines ganz
kleinen Männchens. Alles das ging rasch, wenig theatermässig. Nur das
Antlitz des Johannes leuchtete auf. Er drängte sich an den Bewunderten, um
seine Hand zu schütteln. Eine Leibgarde, die Veteraninnen, hatten ihn
sofort eingezingelt, beinah protzenhaft, mit dieser Miene: „Wir gehören
zum Haus“, die Unberufene einschüchtert. Nun wurden die Formalitäten rasch
erledigt. Einige Witze fielen gegen die Polizei, die die Galerie gesperrt
hielt. Man kannte sich zu gut, sehr alte Feinde, Gladiatoren, die sich
jeden Tag treffen und beinah Freundschaft gemacht haben. Der Saal war voll
zum Ersticken. Es waren Männer zumeist, Männer mittleren Alters. Die
Jugend, wie überall, zog es vor, sich zu amüsiren. Oder man liebte
Radauversammlungen in Rixdorf, Charlottenburg, den Vororten. Dies war eine
wohlgeschulte, ausgediente Armee, ihr Capitain der sprach.

Der grosse Mann auch war alt geworden, sehr alt. Das Feuer, das seine
Jugend gefährlich und unwiderstehlich gemacht, hatte sich gewöhnt, für den
Hausbedarf zu brodeln. Er wusste sich zu beherrschen jetzt, dessen
Leidenschaftlichkeit einst sein Ruhm und sein Fluch gewesen war. – Im
gleichmässigen Tonfall flossen die Sätze, periodisch, deutlich hörbar in
der geübten Stimme des Redners bis an’s äusserste Ende des Saals. So war
er sachlich geworden, ein Typus, wie so mancher Andre, den die Gegner fast
vermissen, sich mit Rührung seinen leeren Platz zeigen, wenn er nicht mehr
da ist: So focht er, und so führt’ ich meine Klinge. – Auch die Rede hielt
sich genau in den Grenzen. Ein Rückblick auf die immer sich steigernden
Forderungen, die Entwicklung des Militarismus in Europa. Das neue
Friedensmanifest des Zaren erregte Ironie. Man brauchte die Armeeen für
die Söhne der oberen Zehntausend, das Niederhalten der revolutionären
Bewegung. Wieder der gefährliche, ironische Beifall. Sie wussten das wohl
– sie!

Nur einmal erhob sich die Stimmung zu einer gewissen Grösse. Der Redner
hatte Aeusserungen zur Philosophie des Krieges angeführt, von Moltke,
Treitschke, General von Boguslawski. Dann wurden statistisch die Verluste
in der Industrie seit siebzig nachgewiesen. Eine halbe Million! Mehr wie
alle Kriege! Wir brauchen keine künstliche, gewaltsame Schöpfung, um uns
männlich und kraftvoll zu erhalten. – Ein Ausruf begleitete diese lange
Liste von Blut, Verstümmelung, Asphyxie, Marter, – ein Schrei des
Schmerzes, aber auch der Kraft, imponirend in dieser friedlichen,
mittelmässigen Masse. _Sie_ waren diejenigen, die sein mussten. Sie würden
sein. Da war die Grösse der Partei, das Selbstbewusstsein des thätigen,
unreflektirenden Lebens, die Haupterrungenschaft der modernen,
demokratischen Zeit. Und das wird bleiben.

Ein früherer Pastor sprach nach dem grossen Mann. Er hatte seine Stellung
aufgegeben um seiner politischen Meinung willen, verwahrte sich aber
ebenso gegen die Partei. Er entwickelte des Längeren seine Ansichten. Er
glaubte an Gott, war königstreu. Seinen Traum bildete eine Art
christlich-sociales Königtum. Man hörte zu, nicht gerade unhöflich, aber
ohne Interesse, leicht ironisch. Und er war confus, quasselte. Es lag
etwas Gefährliches in dieser höflichen Ironie selbst. Man hatte das zu oft
gehört. Man glaubte sowas nicht mehr.

Den Beschluss machte ein Anarchist. Er hatte wenig Glück, die
Parteiveteraninnen protestirten von vornherein. Die Rede war ein krauses
Sammelsurium, eine Gesellschaftsordnung auf nur natürlicher Grundlage,
freie Geschlechtswahl, mit einer seltsamen Verquickung von
naturphilosophischen Dingen, abstrusem Mysticismus. Man rief ihm Schweigen
zu, pfiff, trampelte mit den Füssen: „Schliess auf! Halt’ die Schnauze!“
Man wollte das nicht, man war Polizei für sich selbst. Wenn Einer das
Martyrium der Lächerlichkeit auf sich nehmen wollte, desto schlimmer für
ihn selbst. Sie schüttelten sich das von den Rockschössen. Sie hielten auf
ihre neue, sauererworbene Respektabilität.

Der Verhöhnte stand einen Augenblick, blass, mit einem kränklichen
Lächeln, stotternd. Dann stieg er unter allgemeinem Gelächter die Tribüne
herunter.

Die Versammlung löste sich auf in bester Ordnung. Der Abgeordnete
wechselte mit den Polizisten einen Gruss. Er war sorgfältig in einen
gestrickten Wollshawl eingewickelt, er litt an Katarrhen. Der Sergeant
lächelte gutmütig mit Bezug auf den letzten Redner. „Verrückter Kunde! Wir
lassen ihn laufen“ ... Sie hatten ihn schon so oft eingesteckt. Da war
nichts zu machen. Und er war ungefährlich. – Beide Gewalthaber schieden im
besten Einvernehmen. Hätten sich die Machtverhältnisse eines Tages
umgedreht, diese Gegensätze würden ruhig in ihren beiderseitigen
Functionen bleiben können. Es wäre dasselbe gewesen.

Der Pastor vereinigte sich mit dem berühmten Führer. Er sprach eifrig auf
ihn ein. Mit einer gewissen Nachsicht des alten Praktikers unterbrach ihn
der Andre nicht. Schliesslich – diese Leute thaten seine Arbeit.

Am Strassenausgang stand ein Fremder. Er stand da und sah sie an.

Sie sahen ihn Beide, der grosse Mann und der Pastor. Auch die Polizisten
sahen ihn.

„Wer war der Mann?“ fragte der Pastor.

Der Abgeordnete zuckte die Achseln. „Ich kenne ihn nicht.“ Er hatte Eile,
nach Hause zu kommen. Er musste sich schonen.

„Ein grosser Mann,“ sagte der Johannes ekstatisch. Ihn fror. Er stand da
am Ausgang und hatte die Hände in die Taschen gesteckt und sah ihm nach.
Seine Backenknochen glühten. Er musste husten in sein Taschentuch. Wenn er
es wieder herunternahm, war es immer voll Blut. Er wusste das schon. „Was
er sagt ist wahr. Er versteht’s.“

„Ein grosser Mann,“ sagte der Fremde.

Die ganze Masse schob an ihnen vorüber. Die Veteraninnen sprachen sehr
laut. Sie hatten die Kasse abgeschlossen und entrüsteten sich über wieder
einmal constatirte Gnietschigkeit. Eine wollte sich noch zu Hause Puffer
backen. Sie gaben Parolen aus für den nächsten Tag und Rendezvous in den
Vereinen. Die Studenten wollten noch zum Bier, die eingenommene Quantität
hatte ihnen nicht genügt. Man war froh, sich zu bewegen, die Beine
auseinander zu setzen, nachdem man drinne eingepökelt gewesen war wie
Pökelhäringe. Einige Damen riefen nach einer Droschke, sie gehörten zur
Frauenbewegung und besuchten dergleichen aus Princip. Man truppte
zufrieden nach Haus. Man hatte seine Pflicht gethan und ihr Häuptling
hatte seine Sache gut gemacht. Es gab Keinen, der über diesen Mann ging,
und die immer zunehmende Stimmenzahl bei den Wahlen. Das war das grosse
Kampfmittel. Es liess sich nachrechnen, wie das stieg von fünf Jahren zu
den nächsten fünf Jahren.

Dann kam auch der Anarchist. Er trug einen ganz dünnen, kleinen
Sommerpaletot und ging, als ob er gar nicht wüsste, wo er wäre. Seine
vagen, schweifenden Augen trafen den Fremden und den Johannes. Es lag eine
nachdenkliche, zärtliche Wehmuth in dem Blick, eine Bitte, oder als ob er
sich entschuldigen wollte, dass er anfragte – aber man wusste nicht, ob er
überhaupt wirklich sah. Er war noch nicht alt, aber er sah hungrig aus,
mehr vom Hunger des Geistes, als vom leiblichen Hunger. So hatte er etwas
von einem Kind, oder auch von einem hülflosen getretnen Thier. Er seufzte
und blickte in das Laternenlicht. „Es ist schon elf Uhr,“ sagte der
Anarchist.

Er schauerte und kroch tiefer in seinen Ueberzieherkragen. Er hatte einen
sehr weichen, hellen gelben Hut auf, der in weitem Rand von seinem Kopf
abstand. Seine Haare fielen gerade über seine Ohren und waren lange nicht
geschnitten. Wenn er sprach, lächelte er jedesmal, ein schüchternes
Lächeln, wie von Einem, der im Unrecht ist und doch etwas Gutes und
Wichtiges sagen möchte. Dann hatte er ungeschickte Bewegungen, wie von
einem Wurm, und hüpfte zuweilen auf einem Fuss, als ob er stolperte.

Der Johannes ging auf der andern Seite. Er hustete. Er war ganz selig im
Gedanken an diesen grossen Mann, dessen Hand er gedrückt hatte, der so gut
sprach, eine Stimme war, auf die man hörte, für die armen Leute. Die
gebildeten, sachlichen Sätze hatten ihm imponirt. Sicher! Das wandte sich
zum Bessern, wenn einfache Gerber- und Brauergesellen sprachen wie der! Er
trug seine rothe Cravatte wie ein Triumphzeichen. Mehr konnte er nicht
thun. Aber das Blut seines Herzens war darin. Er fühlte seine Lungen
brennen und flattern unter ihr.

„Es ist immer am schlimmsten des Abends,“ entschuldigte er sich.

„Das thut der Rauch. Sie sollten nicht rauchen im Saal. Es strengt auch
die Stimme an, wenn man sprechen muss. Und er hat zwei Stunden gesprochen.
Das ist bewunderungswürdig für solch’ einen Mann!“

Er war rührend in seiner Zärtlichkeit für diese Stimme, den Mann, der
sprach, während er nur husten konnte, unnütz sein Blut ausspie, in das
Taschentuch, das sich färbte, klebrig wurde zwischen seinen dünnen,
fiebernden Fingern. Sie waren gelb wie aus Wachs und gezeichnet von aussen
durch die harte Arbeit, roher, oberflächlicher, als durch die Krankheit
von innen, die sie zehrte, fein machte, spiritualisirte.

„Wir werden es ja nie erleben,“ sagte er friedlich. „Aber die Andern, die
nach uns kommen! Einen Tag haben wir genug Stimmen im Reichstag. Sie
können nicht mehr an gegen uns. Dann wird Alles gut sein. Wir werden die
Gesetze machen. Es giebt keine Kriege mehr. Alle Völker sind Brüder. Man
arbeitet. Man lebt“ ... Er hustete heftiger wieder, sich abwendend, um den
Andern den Anblick seiner Schwäche zu ersparen.

„Ich – ich hasse die reichen Leute nicht. Sie wissen es nicht besser. Es
sind Viele, die es gut meinen. Man wird Gesetze finden. Das geht ganz von
selbst, ohne Revolution und Blutvergiessen. Die Soldaten sind ja auch auf
unsrer Seite. Nur Zeit braucht’s. Man hört. Man liest Bücher. Die Vernunft
muss ja ihren Weg finden. Es ist nur schlecht eingerichtet. Man hat die
Religion gehabt, den Aberglauben. Die Menschen sehen jetzt, wie es
wirklich ist. Man kommt vorwärts. Man bildet sich. Alles geht gut. Die
Gerechtigkeit muss aufkommen.“

Alle diese kleinen Sätze sagte er ruhig, sanft, ohne Aufregung, von
Hustenanfällen unterbrochen, die ihn quälten, seinen Körper schmerzhaft
zusammenkrümmten, wie aufgespiesst an einer glühenden Nadel.

Sie gingen in dem Strassengetriebe vorwärts. Es trieb sie ohne ihren
Willen. Vielleicht wussten sie gar nicht, wohin sie gingen. Eine alte Frau
in einer schwarzen Pelerine wackelte vor ihnen her, enorm wie eine
wandelnde Glocke. Einige hatten Regenschirme aufgespannt. Sie sprachen von
Geld: „Wenn man dreissig Pfennige die Stunde verdient, aber fünfundvierzig
müsste man haben.“ Ein junges Mädchen trug einen grossen Carton. Sie
trippelte und sah hinter sich nach drei jungen Burschen, die sich lärmend
stiessen.

Die Laternen schwammen wie gelbe, ausgeflossene Dotterflecken, schaukelnd.
Der Schmutz mit dem geschmolzenen Schnee bildete eine bräunliche, zähe
Masse. Eine leere Droschke fuhr sehr dicht am Trottoir, als ob der
Kutscher Kunden suchte. In den Destillationen discutirte man oder spielte
Billard. Man sah die grauen Hauswände feuchtigkeitstriefend mit
Ladenschildern und Plakaten, Pferdebahnen, die klingelnd trotteten mit
müden, geduldigen Pferden. Aber Alles ungewiss, wie verwischt, unruhig, in
Schatten ...

„Man müsste es machen wie die Thiere,“ sagte der Anarchist. „Thiere sind
klüger wie Menschen. Sie haben keine Gesetze und keinen Staat. – Aber es
giebt auch eine Seele. Ich habe Todte gesehen, die wiedergekommen sind und
mit den Händen in der Luft zeichneten. Nun, ich habe die Königin Luise
gesehen. Sie ist zu mir gekommen am Weihnachtsabend und hat mir eine
weisse Rose geschenkt. Eine weisse Rose, die duftete. Sie kommt oft zu
mir. Der Kaiser Friedrich kommt auch, und Napoleon und der Kaiser
Alexander. Ich weiss nicht, warum sie zu mir kommen. Aber sie kommen.“

Er lachte, ein kleines, ungewisses, eitles, ungläubiges Lachen. Es sollte
um Entschuldigung bitten für ihn. Im Grunde war er stolz. Es gab so viel
Dinge. Er wusste nicht ...

„Man fühlt sie, wenn man nicht viel gegessen hat. Und Jeder fühlt sie auch
nicht. Manche Menschen schlafen auch die ganze Nacht. Ich zum Beispiel,
ich kann sehr oft nicht schlafen. Dann denke ich über Alles nach. O, es
giebt sehr viele Sachen! Wenn man wüsste ... Vielleicht ist es auch nicht
gut. Man muss essen.

„... Die Thiere sind klug. Und die Kinder. Sie wissen alles Mögliche,
diese Kleinen. Aber sie können nichts sagen. Die Todten können auch nichts
sagen. Viele glauben nicht, dass es ein Leben nach dem Tode giebt. Nun,
diesen kann man auch nichts sagen. Das ist Alles Gnade, wem es gezeigt
wird. Und Viele wollen auch nicht sehen. Ich, ich glaube zum Beispiel an
eine Seele.“ ...

Nervös, schüchtern sagte er das, mit einer schweren, etwas singenden
Stimme. Er war wohl gewöhnt, dass man ihn oft für verrückt hielt.
Vielleicht war er auch etwas blödsinnig. Aber das waren seine Geheimnisse.
Er war stolz auf sie andrerseits. Oft erfüllte ihn eine schlechte
Eitelkeit. Er kam sich dann besser wie andre Leute vor, eine strahlende
und durchgeistigte Persönlichkeit. Häufig war er auch traurig und
verachtete sich. Er hatte oft nichts zu essen. Der Hunger und die Gedanken
hielten ihn wach des Nachts.

Sie waren so auf einem freien Platz angelangt, wo die Strasse aufhörte.
Gerade über diesem Platz stand der Mond. Aber er war hinter den Wolken.
Die Wolken umwellten ihn, zogen rasch über ihn her. Manchmal versteckten
sie ihn ganz. Dann war es noch dunkler, wo er stand. Oder er war am Rande
ein heller Fleck. Selbst wenn er ganz von ihnen befreit war, zeigte sein
Rund schwarze Flecken wie Wollfasern, hingeworfene Schwämme. Diese Wolken
zogen sehr rasch und wechselten ihre Form fortwährend. Manchmal waren sie
Kameele, hüpfende Känguruhs oder grosse Schildkröten. Oder auch nur
Dämpfe, gezupfte Watte. Auf dem Trottoir kämpften die Laternenstrahlen.
Aber das Gas war unruhig im Winde, flackerte hin und her. Metall blinkte
zuweilen oder eine Fensterscheibe funkelte schwarz polirt. Weisse Kanten
von Gesims oder Mauern leuchteten urplötzlich auf im Dunkeln. Festes
schien zu gleiten und Unbewegliches bewegt. Ringsum schlief die Stadt,
Dach an Dach und Schornstein über Schornstein. Aber das fratzenhafte,
lügnerische Wesen liess sie nicht schlafen. Es webte und irrte.

Eine letzte Pferdebahn hielt am äussersten Ende des Platzes. Die Pferde
waren noch nicht eingespannt. Sie stand unbeweglich. Der Kutscher mochte
wohl einen Schlaf halten im Innern des Wagens, bis seine Zeit war.

Sie waren alle Drei stehen geblieben.

Die beiden Männer sahen den Fremden an. Sie sahen ihn an, als ob sie
warteten. Sie standen da und warteten, fröstelnd, etwas benommen,
zwinkernd in das Halblicht ...

Der Eine war halb aufgefressen vom physischen Leiden. Den Andern trieb die
Rastlosigkeit vorbei und weiter.

Alle Beide hatten dieselben cernirten, etwas blöden Augen von einem
unbestimmten, sanften Grau mit grünlichen Lichtern, Augen von
Nachtthieren, die man mit einiger Ueberraschung entdeckt, weil ihr Funkeln
irreführte im Dunkeln, – Schultern, die getragen hatten, und zu hohe,
weitoffene Stirnen über fliehenden, demüthigen Unterpartien gutartiger
Hunde.

Sie warteten.



                           DAS VIERTE KAPITEL.


Er ging auf’s Land.

Er kam durch Dörfer, die sich lang hinstreckten in einer einzigen Strasse.
Oder eine andre zweigte sich ab vom Mündungsplatz, sehr ausgefahren, in
einer flachen Tränke endigend am Waldrand, gleich sehr einfachen,
primitiven Verdauungsorganen ganz untergeordneter Thiere. Es gab ärmliche
Häuser, abseits im Koth stehend mit zerfallnen Stacketen und windschiefen
Mauern, wohlgebaute, schmucke, die steinerne Treppen vor der Thür hatten;
weisse Gardinen umrahmten die Fenster über blühenden Töpfen. Recht in der
Mitte war die Kirche gebaut. Ueberall hatte man da zuerst die Todten
begraben, eh’ man anfing sie hinauszutragen weit abseits in gleichgültiges
Flachland. Uralter Epheu kletterte empor nach dem verwitterten Holzthurm.
Eine runde Zifferscheibe zeigte die Stunde mit eingerostetem eisernen
Finger. Des Abends riefen die Glocken und antworteten sich. Vor dem
Wirthshaus stand irgend ein hundertjähriger Baum, eine Ulme oder Linde.
Sehr oft war sie schon ganz zerfressen, eine Seite fehlte, dass man
hineinsehen konnte, wie in einen hohlen Ring. Aber oben trieben die Aeste
noch grüne Ruthen. Die Alten betrachteten sie sorgenvoll, aber die Jungen
dachten, dass sie etwas Heiliges wäre und das Glück ihres Dorfes davon
abhinge. Die Hühner scharrten in den Fahrgeleisen. Das Vieh wohnte
friedlich neben den Menschen. Die Kühe tranken aus der steinernen Tränke
am Brunnen. Sie auch waren heilig, freundlich, der Reichthum ihres
Besitzers, und sahen mit ruhigen Augen wie Berechtigte, die ihren Weg
kennen. Kleine Kinder liefen dem Wandrer nach in ihren Holzschuhen. Oder
sie nahmen die Schuhe in die Hand und folgten so auf den blossen Füssen.
Sie liefen mit, so lange sie Lust hatten, und kehrten dann um, wenn sie
müde waren. Sie standen, den Finger im Mund, mit grossen Augen, sagten gar
nichts, und sahen ihm nach.

In den Feldern war man an der Arbeit. Männer stiessen die Pflugschar,
langsam, sehr langsam hinter dem Pferdegespann, das sich wie ein
Schattenriss abhob vom grauen Frühlingshimmel. Die Erde wellte sich hier
in grossen Hügeln, wie Wogen eines Meers, das die Fluth verlassen hat. Man
sah den Pflug mit dem Gespann aufsteigen und niedersinken. Manchmal war er
in den Schluchten ganz verschwunden; er kroch langsam und steil hinan in
runder Schwingung um die Schwellung des Bodens. Rhythmisch drehte und
wandte er sich, dem stärkeren Rhythmus der Erdmassen folgend. Ins Graue,
Harte schnitten die blanken Schaufeln, es aufwerfend in blanker, oben
gekräuselter Scholle. Sehr dunkles Bauernbrot hat diese Farbe. Es duftete
vom Frischgebacknen. Die Pferde schritten geduldig. Sorgsam, merkend auf
Zahl und Curve der Furchen lenkte der Pflüger. – Sie waren geschritten so
seit Jahren. Ihre Väter hatten gepflügt. Die Erde war da, und die Menschen
waren vergangen, zur Erde gekehrt wieder.

Geheimnissvoll in verschwiegenen Furchen keimte die Saat; kleine,
schüchterne Hälmchen aus dem festen, lagernden Erdreich. Krähen strichen
kraxend über die Felder. Ganz oben zogen Schwärme wilder Gänse in
mystischer Keilreihe mit schrillem fernen Kreischen. Der Wind klang wie
brauendes Tosen und Kollern, Kobolde und Trollen aus dem Norden,
Vorgeborner, Eddabewohner.

Er kam durch Bergland. Da waren die Menschen arm und wenige.

Sie wohnten dicht zusammengedrückt in Thälern oder an den Abhängen. Die
Berge reckten sich hoch, Kuppe an Kuppe. Runde, langgestreckte, mit
breitem, fichtenbestandnem Rücken, oder sie trugen Laubwälder, braun und
grün, die ihre Umrisse verbargen. Fast kahle gab es, von Gestrüpp, ganz
jungen Hölzern bestanden, zwischen denen man Korn gesät hatte, um den
Boden fruchtbar zu machen. Schneisen öffneten Ausluge in grüne Wirrnisse,
neue Seitenthäler und auf hohe ernste Wände. Am Wege rankte
Brombeergesträuch und man sah zwischen Farrenkräuter wie in grüne,
niedrige Dome unter den hohen, wo Elfen hätten spaziren können, Thau
schlürfen aus blauen Glockenblumenkelchen oder Honig melken aus den gelben
Blüthenrüsseln der wilden Bienensaug. Holz schlug man da in grossen
geschichteten Würfeln. Jedes Stück trug den Stempel, die Nummer. Manchmal
aus einem verwachsenen Seitenweg zwischen den hohen Gräsern kam ein
Arbeiter, der seiner Heimath zustrebte, Bergleute oder Hausirer, stille
Leute und gewohnt im Dunkeln zu finden.

Durch fruchtbare Ebenen kam er, wo Dorf an Dorf sich drängte, Hof neben
Hof, stattliche Höfe mit rothen Ziegeldächern und steinernen Ställen,
weiter Einfriedigung für das Gelände. Obstgärten bildeten den Reichthum
der Gegend. Selbst das Vieh war schöner, fett und glatthäutig, wie die
Leute, die in steifen Trachten gingen, mit seltsamen Hauben und Mützen,
weiten Röcken und verschnürten Stiefeln. Die Kinder truppten zur Schule
steif und artig. Alles war numerirt und eingetragen vom Landrathsamt. Man
sah die neue Bahn ohne Ehrfurcht. Man wusste, was man werth war, und
wünschte nicht, dass eine Vermischung stattfand.

... Manchmal ging er sehr früh am Tage. Alles war grau, grau wie im Wasser
gewaschen und noch nicht getrocknet wieder. Die Feuchtigkeit sass in der
Erde wie in einem Schwamm. Die Luft war zu schwer noch, dass sie
ausdampfen konnte. Kleine Kiesel blinkten gewaschen, braun mit stumpfen
Steingries in der Mitte. An jedem Grashalm hing ein Tropfen. Unzählige,
unendlich winzige Tröpfchen bildeten einen feinen, weiss-grauen
Seidenschleier auf seiner klebrigen, mit kleinen Härchen besetzten
Oberfläche. Die Kräuter streiften feucht beim Durchschreiten. Man fühlte
die Erde sich ansetzen und schwer werden unter den Schuhen. Der Wind blies
mit einem Geruch von frischer Wäsche. Zwischen rothen Steinfassungen einer
Brücke floss breit ausgelaufen ein Mühlbach. Niemand wusste, ob es regnen
würde, aber inwendig war ein Tropfen und Sickern, die Thätigkeit des
Wassers, das filterte, sich einsackte.

Der Wind erhob sich in den Pappelkronen. Sie verbeugten sich und neigten
ihre schlanken Ruthen gegeneinander. Die Ruthen rieben sich und wechselten
sehr schnell in der Berührung, wie Tasten eines Klaviers, die man
nacheinander anklinkt, ein Spiel der Stäbe, die Zeichen geben, eine
Botschaft weitertragen. Die ganze lange Reihe hindurch lief die Bewegung.
Sie schüttelten die Köpfe, rauschten und raunten.

Erst kam es nur wie ein feiner, leichter Wasserstaub, ein Schleier im
Gesicht, den der Wind nach Laune vor- und zurücktrieb. Graue Huschen zogen
rasch wie Watteballen in der Luft. Dann wurde es wie ein leises Stossen,
wie wenn es in einem Kessel anfing langsam zu kochen. Man hörte das
Klatschen auf nackte glatte Häute der Blätter. Aber es kam noch nicht
durch. Sie schützten wie ein Regenschirm. Es rieselte, rauschte, tropfte,
plätscherte ... Es regnete.

Im Frühlingsregen ging man wie in einer grauen Tarnkappe. Alles erschien
ohne Farbe, sehr jung noch, wie eben ausgebrütet, als ob die Eihäutchen
noch herum wären, eine Fötuslandschaft. Das Nass begoss, trieb, schwellte.
Unter den Fusssohlen sickerten Lachen. Alles Grün wurde grell, fast
giftig. Die Blumenkronen schienen grösser, vom Wasser beschwert. Fast
schwarz glichen die Baumrinden aufgebrochner Erde. Ein lauer
Schweissgeruch des Brütens lagerte. Unter den Steinen höhlten sich Löcher.
Alle Steine schienen dunkler. Ihre weissen Aederchen und Brüche zeigten
sich sehr deutlich. Die Steine waren nicht steinern und die Tropfen
schlugen sie.

Dann kam ein gelber Schein von irgendwoher. Er flatterte auf wie ein
Vogel. Es war ein Spiel der Lichter ohne eine Quelle des Lichts, ohne dass
man wusste, woher die Strahlen kamen. Grosse Flecken von Klarheit rissen
ein und vergrösserten sich im Grau. Alles ging sehr rasch, wie das
Anschlagen eines Instruments, ein Finger, der sehr schnell über Saiten
läuft. Es giebt einen Klingklang hier und da, aber noch keine Melodie. Die
Regenstriche schienen blank und sprühend. Einen Moment funkelte Alles. Ein
Regenbogen stand sicher geschwungen über der Landschaft, ein zweiter
verschwamm zitternd im Grauen.

Die Vögel fingen schüchtern wieder an zu piepen.

... Man sah keinen Menschen des Abends. Ueber die Felder zogen Nebel. Am
Waldrand schien sich’s zu brauen, zusammenzurotten. Man unterschied die
einzelnen Bäume nicht mehr. Es waren Alles Rundungen, wie Hammelrücken,
Riste flockiger Widder sehr eng zusammengepresst. Das wiederholte sich
unendlich. Es schien wie ein Meer, das da angewachsen, festgenagelt war,
dunkel, drohend, gierig, immer dieselbe Form in immer tieferen Schatten,
Röthen, Violetten, die der Tag nicht kannte. Das drang vorwärts, frass
sich weiter, eine schlechte Anziehung schien von ihm auszugehen, etwas von
Hexenkraft, Räthselhaftigkeit, Unerlöstem. Sehr sanft schmiegten sich die
Saaten. – Ein Reh trat heraus. Es äugte mit merkenden Lichtern, spitzte
die Horcher, eh’ es sich zum Aesen bückte. Dann kamen mehrere. Man glaubte
den leichten Anschlag ihrer Hufe auf dem Rasen zu hören, wie sie sich
bewegten, malmten. Nun wurde Einem wohler.

... Die Kastanien trieben eidicke Knospen. Blättchen an Blättchen faltete
sich in drängender Enge, rundlich, breiter am Grunde und spitz zulaufend
im Abschluss. Der klebrige Lebenssaft hielt sie alle zusammen. Zartbraun
waren die äussren, wie dünne abfallende Schalen, die ihren Dienst gethan
haben. Die inneren blieben weiss und lichtgelb, wie feines Fleisch der
Eier, das man isst.

Er fand einen jungen Mann unter dem Kastanienbaum. Er hielt ein Buch auf
seinen Knieen, aber er las nicht.

Er sprach zu ihm: „Warum liest Du nicht in Deinem Buch, das Du hältst?“

Er sprach: „Dieses Buch habe ich gelesen, viele Bücher, alle Bücher der
Welt, die ich finden konnte. Ihre Worte sind Buchstaben und ihr Wissen ist
Worte. Jetzt lese ich gar nichts mehr. Ich bin nur hier und studire den
Baum.

„Recht herrlich anzusehen ist dieser Baum. Aufgepflanzt auf starken
Wurzeln, unter der Erde gegründet wie über ihr. Der Mittelstamm reckt sich
stolz und gerade. Jedes Jahr weitet sich der Ring. Eine Schnur fügt sich
mystisch zur Schnur der gewesnen, die die Vergangenheit zeichnen, und jene
Zukünftiges. So entsendet er Aeste ringsum im Kreise nach allen vier
Richtungen der Sonne, dass die Sonne sie bescheine und wachsen macht.
Kleine Zweige schiessen auf von den grossen, aus knorrigen Höhlen, wo das
Geheimniss der Geburt sich erneuert. Diese wieder theilen sich in
fächernde Finger.

„Keine Regel scheint in dem Ganzen und stolz giebt er die Rundung des
Erdballs wieder. Fast flach breiten sich die untern tragenden Aeste. Die
mittleren reichen an den Kreis des Aequators. Zum Pole der Spitze fügen
sich in schärferer Steigung die oberen.

„Und Alles lebt. Die Wurzel entsendet die Kräfte, die die Aeste leiten.
Zur äussersten Spitze des ärmlichsten Stieles steigt pulsender Saft, der
schwärt und gebiert. Ohne Ende ist dieses Leben, grossmüthig und doch
sparsam. Es scheint zu schlafen und wirkt doch in der Stille. Prangend
steht es in der Blüthe und sicher reift doch die Frucht. Es giebt kein
Meistern an seiner Form und Bestimmung. Denn Alles ist meisterlich von
Anfang gegründet wie es sein muss, bis er stirbt, sein Tag um ist, da er
lebte.“

Er sprach: „Bist Du also weit und hast Du dies Alles erkannt, so will ich
Dir mehr sagen, das wichtiger ist denn Werden und Sterben. Lass Dein Buch
und den Baum und folge mir.“

So folgte ihm dieser.

Zwei Brüder, Maurermeister, lebten in einer kleinen Stadt. Sie lebten dort
schlicht und redlich, waren verheirathet und hatten Kinder. Ihr Gut
mehrten sie täglich und sie hatten zusammen ein schönes Haus gebaut, dass
sie dort auf ihrem Eignen sässen und ihre Tage friedlich endeten.

Sprach der Eine zum Andern: „Was hilft es uns nun, dass unser Gut sich
mehrt von der Arbeit unsrer Hände, unser Haus fest und stattlich steht?
Wir müssen doch sterben. Die Zeit reisst es ein, was wir gebaut haben.“

Der Andre sprach zu seinem Bruder: „Ich kenne einen Fremden, der Worte
weiss stärker wie das Leben. Was er meint, bindet keine Zeit. Mauern
fassen es nicht, die stärker sind wie unsre.“

Er sprach, der der ältre Bruder war und der Weiseste von Beiden: „Diesen
Mann muss ich hören. Und wenn ich alle meine Güter dahintenlasse, was das
Herz froh macht, ein Weib und junge Kinder. Es ist wichtiger, dass ich
habe, was ewig bleibt. In sich bauen, dass man fest wird, ist mehr denn
Häuser bauen, die der Sturm einreisst.“

Diese Beiden gingen und suchten den Fremden auf.

Sie waren aber redliche Leute, wohlgeachtet von allen Menschen und von
nachdenklicher Gemüthsart, wie es das Handwerk mit sich bringt. Denn ein
Maurermeister in seinem Handwerk, so er es recht versteht und ernst nimmt,
ist etwas vom lieben Gott und Schöpfer selbst, der die Welt geschaffen
hat. Er hält in seiner Hand Thon und Mörtel. Was er baut, soll für Jahre
und Jahrzehnte sein, wohlgegründet und ausgemessen in allen seinen
Theilen, dass nicht das Hohe auf das Niedrige falle, der Boden nachgiebt
unter zu schwerer Belastung von Schnörkeln, Pfeilern, buntausgemalten
Fenstern.

Alle diese und Andre, an der Landstrasse, sah und fand der Fremde.

Manchmal, wenn Viele beisammen waren, an einem Wegrain oder auf der
Rasenhöhe über dem Teich, sprach er zu ihnen.

Er sprach ihnen von der Armuth des Reichthums und wie die gering sind und
Knechte, die streben und hochstehen.

Von den Thörichten des Herzens und den Armen im Geist sagte er ihnen
süsse, geheimnissvolle Worte. Und von der Güte der Unklugen, die weiser
ist denn Weisheit und stärker denn Stärke aller Gewaffneten und Starken.

Kleine Kinder umstanden seine Kniee und sahen zu ihm auf mit grossen,
unbewussten, gläubigen Augen. Sehr alte Leute nickten in tiefen
Meditationen. Mütter hielten sich lächelnd an mit ihren Säuglingen an der
Brust, die nach der nährenden Zitze lallend griffen, sie patschten mit
ihren rosigen Händchen.

„Die Liebe kennt kein Gesetz. Sie ist über dem Gesetz. Alles Gesetz ist in
ihr.“

„Gieb! Man wird Dir nicht stehlen, wenn Deins ist wie Deines Bruders und
Deines Bruders wie Deins.“

„Die Unkeuschheit ist nicht in der That. In der Scham schon ist Sünde. Der
Gedanke der Wollust schlägt und beschädigt.“

„Nicht das Wort ist Lüge, der Eid betheuert nicht. Eure Rede sei klar,
weil Euer Denken Wahrheit ist.“

„Der Hass, der keinen Widerstand findet, erlahmt in ihm selbst, wie der
Stein, der geworfen wird und in’s Wasser fällt.“

„Und widerstrebet dem Uebel nicht.“

Die kleinen Blumen blühten mit tiefen, duftenden Kelchen. Feiner wie
köstlichste Seide waren ihre Blättchen. Die Staubfäden standen wie
brennende Kerzen, Goldkrystalle edelster Kronleuchter. Auf grünen Stengeln
trugen sie ihre Häupter wie Kronen. Die Luft war schwanger von ihren
Düften und die Winde trugen ihre Samen. Die Vögel kamen sorglos und
pickten ihre Nahrung. Im Gras athmeten Cicaden und Mückchen, Käfer,
Gewürme – ein tausendfältiges Leben.

„Warum sorget Ihr Euch? Alles Leben findet seine Nahrung. Alles Lebendige
erfüllt seine Bestimmung des Lebens. Ihr sorget und sammelt Schätze. Die
Motten zerfressen sie und der Rost, die Diebe graben danach und stehlen.“

„Der Reiche ist arm und der Arme ist reich. Stark ist, wer fest steht in
sich selbst. Der weise geworden ist in Gott, dem haben Stürme, Hass der
Menschen und Noth nichts an. Die Welt ist dem Menschen gegeben. Ueber der
Welt steht der Mensch, der die Welt in sich trägt. Gott ist in Euch und
Ihr seid Gottes. Erwacht zu Eurer Herrlichkeit! Ein königliches Volk, ohne
Könige, Herren Alle und Freie, die Ihrer selbst Herr geworden sind.“

Sehr schön war er mit seiner strahlenden Stirn, dem melodienreichen Mund,
dem die Worte entströmten, die Hände lang und fein mit heilender
Berührung. Seine Worte klangen lieblich wie Musik. Und in ihnen war die
Tiefe. Der blaue Himmel spannte sich über ihn, blau, ganz blau, in immer
lichterem Blau bis zur lächelnden Sonne, über die Erde gestellt mit
grünsammetnem Rain, – einen König im schlichten Bettlergewand, einen
Gebietenden auf dem Feldstein seines Throns.

Die Leute kamen von weit, ihn zu hören.

Etliche sagten: „Es sind Gedichte. Wir haben das schon oft gehört, so oder
so.“ – Aber sie hatten viel zu thun und gingen.

Viele sagten: „Das ist Alles Lüge. Träumereien sind das.“ – Sie erklärten
lange, wie es besser zu machen sei mit dem Aufhören der Militairlasten
oder einer neuen Steuerordnung oder indem man die Güter anders vertheilte.

Sie waren die Klügsten. Aber die Meisten gingen hin und thaten weiter, wie
sie vorher gethan hatten.

Und war Niemand, der ihn verstand.



                           DAS FÜNFTE KAPITEL.


Es begab sich, da er müde war, setzte er sich nieder an einem Brunnen.

Ein sehr lieblicher Platz war es. Weidenzweige hingen tief wie feine
wehende Schleier. In der gemauerten Höhlung hörte man es murmeln vom
schwärzlichen, verborgnen Wasser. Alles Gras ringsum war grün, sammetgrün
mit Schatten, wie der Wind es wehte oder die Sonne fiel. Eine Stille war
in der Luft, diese Klage der Feuchtigkeit, die der Nacht vorangeht, denn
es war Abenddämmerung. Nur die Heimchen zirpten. Man hörte das Locken der
Vögel, aber befriedigt, nur mehr wie ein Glucksen. Die Winde auch kamen
sacht, mit etwas lebhafterem Rauschen oben in den Baumkronen.

Er setzte sich auf die Steinbrüstung des Brunnens.

Eine Frau kam. Sie ging langsam und hielt eine Reitgerte in der Hand. Der
Saum ihrer grauen Amazone fegte schleppend den Boden. Sie führte ein
weisses Pferd am Zügel. Es trat so leicht auf, dass man seinen Hufschlag
nicht hörte, den Kopf hielt es gesenkt, als wollte es sich bemühen, die
Saatsprossen zu erhaschen, und schnoberte leise aus rosa feinen Nüstern.
Ein Windspiel sprang auf ihrer andern Seite. Es streckte zuweilen wie
liebkosend seinen schmalen spitzen Kopf in ihre hängende Hand. Sie ging in
tiefen Gedanken. Ihre Haare waren in dicken Flechten gewunden, weit unten
im Nacken aufgesteckt, als ob sie zu schwer wären für ihren schmalen Kopf.
Sie ging sehr langsam und hielt die Augen zur Erde gerichtet, wie wenn sie
suchte. Sie suchte mit der schwanken zitternden Spitze der Reitgerte auf
dem Boden. Der Hund lief neben ihr und sah sie an. Er versuchte ihre Augen
zu fangen. Aber sie antworteten seinem Blick nicht. Sie ging und führte
das weisse Pferd am Zügel. Ganz weiss, mit gesenktem Kopf folgte es, ein
edles, geduldiges, sehr feines Thier.

Gerade über die Wiese kam sie, zu der Quelle, wo der Fremde sass.

Sie seufzte. Gegenüber am Brunnen sass der Fremde. Und sie sah ihn nicht.

Sie hob die Augen auf und sah ihn.

„Warum bist Du unglücklich?“ fragte der Fremde.

„Ich bin unglücklich, weil ich glücklich bin. Ich habe Alles, was die
Menschen Glück nennen. Ich wohne in einem Schloss im Reichthum. Meine
Eltern hielten alle Sorge fern von mir. Ich habe einen Mann, der mich
anbetet, gute Kinder. Doch bin ich unglücklich. Ich gehe zu diesem
Brunnen, um Ruhe zu finden, weil mein Schmerz sich auflöst in dem der
Natur, der über diesem Ort lagert. – Warum ist sie unglücklich?“

„Weil sie sterblich ist und vergänglich.“

Die junge Frau seufzte tiefer. Die Zweige der Weiden rauschten auf wie
leichte, faltige Frauengewänder und fielen zusammen. Der Hund schob
liebkosend seine kalte Nase ein. Ueber die Felder trug der Wind die Klage
der Weiden und geheimnissvoll in der Tiefe gluckste und murmelte das
Wasser. „Sind wir es nicht auch? Vergänglich und sterblich? Der Tod ist in
Allem. Das Schöne hat keine Dauer. Die Leidenschaft flieht. Der Tag unsrer
Kraft ist der unsrer Güte. Wenn wir krank sind, sind wir selbstsüchtig,
schlecht, Andre quälend und gequält von ihnen. Aller Anstrengung Ende ist
der Tod.“

„Es giebt etwas über dem Tod,“ sagte der Fremde.

„Es giebt etwas,“ sagte sie in sehr tiefen Gedanken. „Ja, es muss etwas
geben. Man denkt nicht daran, wenn man glücklich ist. – All’ diese Tiefen
– diese Schmerzen! Diese Schmerzen müssen unsterblich sein.“

„Die Schmerzen sind unsterblich.“

„Die Ahnung des Unendlichen – diese Sehnsucht hinaus! Es ist das Beste,
was wir haben. – Es ist sehr schmerzlich.“

„Leiden ist schön.“

„Ja, es ist schön. Ich möchte nicht ohne es sein. – Doch die Andern sind
glücklicher. Warum gab man es uns nicht wie dem Thier zu leben? wenn es
aus ist, Sterben ohne Bewusstsein?“

„Nichts stirbt. Alles Leben lebt unvergänglich.“

„Sie auch, diese Bäume? Die Wehmuth dieser Felder? Es gäbe eine
Vollkommenheit für sie? Eine Erfüllung? Wo ist sie?“

„Ahnst Du sie nicht? – Sieh in die Weite!“ ...

„Manchmal ahne ich sie. Etwas wie einen Zusammenklang, einen verlornen,
fernen. Ich weiss nicht. ... Es ist das Leiden, die Sünde: Einer hat Einen
getödtet. Man tödtet ihn wieder. Er leidet. Ist er nicht erlöst? ... Aber
es sind so viele Andre. Sie gehen hin und leben, correct, alltäglich“ ...

„Sie sind weitab.“

Sie sprach wie im Traume. Der Hund, zu ihren Füssen gelagert, sah sie an
mit treuen, klugen Augen. So beweglich waren sie, dass die Lichter
fortwährend wechselten wie in einem Spiegel. Im Grase weidete das weisse
Pferd. Man hörte es die zarten Halme abrupfen, sie zermalmen zwischen
starken, höckrigen Zähnen. Und von Zeit zu Zeit wieherte es leise, wie
wenn es antwortete, als röche es den Frühling.

„Ja, ja,“ sagte sie athemlos. „Ich weiss nicht. Aber es muss auch sein.
Man quält auch Thiere. Sie leiden und sie ahnen. ... Was ist es?“

„Wenn Du wüsstest, wäre es das?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, man muss es finden, selber in sich finden.
Dann ist es der Friede. Ein Glück über dem Glück, Erfolg und Schande,
Reichthum und Armuth, – das ist Alles so gleichgültig. Es ist über dem
Allen.“

Sie sah den Fremden an. Die junge Frau mit zarten, spielenden Fingern
strich langsam die Säume ihres Kleides entlang. Ihre Augen verschleierten
sich in dem Schleier, der über die Felder ging. Es war, als ob die Farbe
der Felder in sie eindränge und es bliebe nur _eine_ Farbe in ihren Augen
und in der der wehenden Saaten. In der Curve ihrer Schultern fand sich die
gesenkte Kruppe des weissen Pferdes. Die graue Seidenhaut des Windspiels
schmiegte sich wollüstig, verloren in die Kleiderfalten. Das Wasser fiel
in kleinen plätschernden Cascaden, oder es ruhte sich lange aus, in
Pausen, wo nur das Unterirdische murmelte, die kleine Stimme von Tropfen,
die höhlen, klopfen.

„Manchmal fühle ich, als ob ich gar nicht mehr Ich bin. Eine hässliche
Kröte. Eine Tigerkatze. Ich bin ein Wesen, was vor vielen tausend Jahren
war und hundertmal gestorben ist. Ein Thier und ein Gott. Vom Thier zu
Gott. Das ist der Weg.“

„So ist es.“

„Ja, ich habe gelebt,“ sagte sie sehr leise, liebkosend. „Ich habe
gemordet. Ich habe gesündigt und triumphirt. Vielleicht habe ich am
Märtyrerpfahl gestanden. Und es machte mir Freude, meine weisse, feine
Hand in Blut zu tauchen, bis sie roth war. – Ich sah einen Mann einmal. Er
war ein Strolch und ein Mörder. Er auch, war ein König. In seinem Auge las
ich den Stolz der Starken. Wir kannten uns so gut, wie wir uns sahen. ...
Das ist seltsam.“

„Nichts ist seltsam.“

„Nichts! Nichts!“ wiederholte sie inbrünstig. Eine feine Röthe schlug von
ihrem Hals auf wie Sonne unter Lilienblättern. „Gar nichts ist seltsam.
Manchmal in Büchern, in der sehr grossen Kunst fühlt man es. – Ich habe es
in Felsbrüchen gesehen, in dem spitzen Speerschaft irgend eines Grashalms.
Es giebt Worte, Reime. ... Goethe hat sie. Und Shakespeare, wenn Ophelia
wahnsinnige, kleine Lieder singt. Ich kenne chinesische alte Götzenbilder
und Michelangelo’s Grabfiguren am Mediceer-Denkmal. ... In der
Marseillaise hört man die Tuba der Erzengel. Warum ist Lucrezia Borgia
süss wie Nachtigallsang am Maiabend und Napoleon gekreuzigt wie der von
Golgatha ... Es ist so schwer zu denken ...“ Sie presste die weiche kleine
Hand gegen die Stirn, an der die Schläfen flogen wie unter Hämmern einer
Schmiede.

„Warum denkst Du?“ fragte er gütig.

„... Wenn man nicht denken brauchte! Alles weiss man. Nur weil man
versucht, sein Wissen zu erklären, _ein_ Wissen für Alle, Gesetze sucht,
weiss man nicht mehr. Kinder wissen. Und Frauen! Ah, Frauen wissen eher
wie Männer! Sie fühlen. Es ist ihr Körper, der in ihrem Willen ist, ...
weil Frauen lieben.“

„Und Gott?“ fragte er.

„Gott auch liebt,“ sagte sie träumend. „Er hasst nicht. Das Gute ist
dasselbe wie das Böse. Alles ist ein Leben und es dreht die Welt. Die
Thaten, die gethan werden, sind seine Aeusserungen. Es ist nichts gut und
nichts schlecht. Es ist wie es ist.“

Er antwortete nicht. Sie seufzte. Die müde Traurigkeit erschien wieder in
ihrer Haltung, dem Körper, der sich zurückbog, während die Linie des
Halses straff wurde.

„... Sie haben Kirchen gebaut. Ich habe versucht in der Kirche zu beten.
Die Sehnsucht erstickte mich.... Hier ist es besser.“

„Es ist besser hier.“

„Sie sind zu eng, die Kirchen. Dies Alles müsste mit hinein. Viel, viel
mehr als die alte Geschichte. Und die neuen Geschichten. Das ist weit –
weit ...“

Sie zeigte mit ihrer Hand. Von allen Seiten wallten die Nebel. Es glitt
über die Felder. Das Entfernteste verlor sich im Ferneren und das Nahe
schien weitgerückt, aufgesogen im Allen ...

Eine Fledermaus strich leise mit unhörbaren, schwarzen, tappenden
Schwingen. Näher und wieder weiter, geheimnissvolle Kreise ziehend. Sehr
deutlich sah man die feinen Krallennägel, zwischen denen die Flughäute
angemacht waren gleich Stofffächern eines Regenschirms, den kleinen,
platten Kopf mit spitzen Zähnchen, die nach Insekten schnappten, sie rasch
zerrissen. Eine Eidechse kam hervor unter der Brunnenmauer. Sie blieb da
wie angewachsen, horchend. In der Saat putzten sich die Hasen und machten
Männchen. Sie ohrfeigten einander mit harten, flinken Pfoten und
hamsterten leise in sich hinein wie Geizhälse. Ein Fuchs schlich auf Raub
mit vorgestreckter spitzer Schnauze und fuchtelnder Ruthe.

Ganz fern quakten Frösche im Feuchten. Von allen Wiesen stieg der Athem
auf.

Sehr lange sassen sie.

Sie erhob sich langsam. Das weisse Pferd kam ohne Ruf. Der Hund witterte
in die Richtung mit angelegten Ohren, aufmerksam, zitternd.

„Gehe in Frieden,“ sagte der Fremde, „Du bist näher wie die Andern.“



                           DAS SECHSTE KAPITEL.


Nun hatte die Frau des Landraths eine Idee.

Das Gerücht von ihm war nämlich sehr stark geworden in dieser Gegend, so
dass viele Leute aus Neugier kamen, um ihn zu sehen. Viele logen und
erzählten seltsame Geschichten von Wundern und Kranken, die geheilt worden
waren. Und die Menschen liefen hin. Sie blieben da und folgten ihm etliche
Tage und warteten auf ein Zeichen. Wenn nichts geschah, was ihre
Hoffnungen erfüllte, gingen sie nach Hause, ihren Geschäften nach. Diese
sagten stets, dass Alles gelogen war. Sie bewiesen sonnenklar, dass solche
Wunder unmöglich und gegen die Natur seien, warteten doch darauf und
würden sie bestritten haben, wenn sie geschehen wären. Die Zeitungen
bemächtigten sich des Stoffes. Sie hofften ihre Leser zu amüsiren. Einmal
tauchte er hier auf und einmal da. Es machte den Reportern Spass, gerade
die abenteuerlichsten Geschichten zusammenzutragen, gefälschte Interviews
und lange Extrakte aus Reden, die er niemals gehalten hatte. Auskunft war
da ertheilt über Himmel und Hölle mit genauer Beschreibung der Lage und
Gliederung der Letzteren, eines jeden Pfeilers, auf dem Gottes Thron
stand. Einige brachten sogar ein ganzes Nationale, dass er der Sohn eines
Zimmermanns Joseph Schäppli aus Bing an der Enz in Württemberg sei. Dieser
Sohn hatte für einen Narren gegolten in seiner Jugend. Im Ort gab es viel
zu erzählen von seinen sonderbaren Thaten und Reden. Dann war er
verschwunden, als er etwa dreissig Jahr alt war. Etliche sagten, er wäre
in der Enz ertrunken, Andre, dass er in die Wälder gegangen wäre und dort
als ein Waldmensch und Einsiedler hauste. Sie behaupteten, dieser selbe
Zimmermannssohn aus Bing sei es, der jetzt aufgetaucht wäre und predigte.
Seine eignen Eltern sollten es beschworen haben. Ein besonders eifriger
Neuigkeitenvertreiber hatte sogar seine Mutter aufgesucht und wusste, dass
sie eine Haube trug und in ihrer Jugend Visionen gehabt hatte. Das war
übrigens nichts Seltnes bei diesem schwäbischen Gebirgsvolk, arbeitsam und
verständig, aber von schweifender Phantasie, mit einer beständigen
Sehnsucht im Herzen, die die Berge wachhielten, oder auch der alte Schatz
von Legenden, einstiger Herrlichkeit und Weltgrösse, die in diesen Stämmen
lebendig geblieben waren trotz des neuen deutschen Reichs, Lutherthum und
Schulbehörden. Wieder Andre hielten ihn für einen Wanderprediger aus den
norwegischen Bergen. Es gab ihnen Gelegenheit, über mystische Schwärmer,
Tolstoi und Ibsen zu reden, den Geist des Urchristenthums, der sich dort
in einigen weltabgeschiedenen Gemeinden rein erhalten hatte. Diese
verbreiteten, dass er der Sohn eines schottischen Lords oder vornehmen
Grafen wäre. Es that ihnen wohl, das zu glauben.

Und gewaltig erschütterte Alle Fritz Kuhlemann’s Stimme, eines einfachen
Arbeiters und verlorenen Gesellen, der in den grossen Städten auftrat und
forderte Busse zu thun: Im Namen Jesu des Lebendigen, der Fleisch war und
unter ihnen wandelte. „Denn die Zeit ist gekommen.“

Das Volk lief ihm zu. Etliche erwarteten Lohnerhöhungen, Gaben der
Reichen. Andre rechneten auf die Revolution, wo er ihr Häuptling werden
sollte. Denn seine Rede klang gewaltig. Es war in ihr der rothe Hass der
Ungerechtigkeit und eine neue strahlende Liebe, weit wie die Sonne, die
über Gerechte und Ungerechte scheint, aber wild auch und schöpferisch, wie
die des Mannes zum Weibe. Es gab Viele, die sich betroffen fühlten unter
den Vornehmen und Reichen, zu sich selbst sagten: Wir können nicht
wohlleben und in Wagen fahren, wo unser Bruder hungert und nicht hat, da
er sein Haupt hinlegen soll? – Denn so sprach er: „Nicht ausser Euch,
sondern in Euch richtet auf das Reich Gottes! Denn das ist Gottes in Euch,
dass Ihr Liebe gebet. Das Andre, Neid, Geiz, Hoffarth, ist des Thieres und
des Teufels. Und Ihr seid Alle Gottes.“

Viele kamen auch zu ihm und sagten: Wir wollen sehen, ehe wir glauben. Er
sagte ihnen: Seht die Werke an in seinem Namen gethan und thut wie Er. –
Aber das gefiel diesen nicht.

Es gab Viele unter den reichen und vornehmen Leuten, die den Fremden auch
gern gesehen hätten. Aber sie wollten sich nicht lächerlich machen. Auch
fürchteten sie in der Oeffentlichkeit ihre Namen zu compromittiren.

Diese Landräthin, deren Mann zugleich Reichstagsabgeordneter war, hatte
eine grosse Gesellschaft zu geben. Sie war eine kluge Dame aus
reichsgräflichem Hause, die sich viel einbildete auf ihre Bildung, dass
auf ihren Gesellschaften immer etwas Besonderes, Geistiges und
Interessantes war. Da bei vielen ihrer Freundinnen und Nebenbuhlerinnen
Theosophie in Mode war, dachte sie, es würde sehr interessant sein, den
Fremden einzuladen, ihn ihren Gästen gleichsam als Curiosität und zur
Unterhaltung vorzuführen.

Gleichzeitig that sie damit einem Mann einen Gefallen, der ihr selbst und
ihrem Landrath sehr nützlich war, in einem Kreis, wo er vermöge seines
Namens und Reichthums eine höchste und selbstverständliche Stellung
einnahm, die sie als arme Beamte und Frischnobilitirte sich nur mühsam
erobern konnten, mit allen Mitteln suchen mussten zu befestigen. Dieser
Mann war der alte Prinz Schönheim-Wagram-Trauttenberg, Minister unter der
liberalen Aera Friedrich Wilhelms des Vierten. Er hatte in seiner Jugend
mit der Revolution und dem Dilettantismus coquettirt, dabei als Lebemann
und Schöngeist sich ein Renommee erworben. Seine „Briefe eines Diplomaten“
erregten das grösste Aufsehen seiner Zeit. Er war der Erste gewesen, der
mit der Tradition brach, dass Heuchelei und geheimnissvolle Zugeknöpftheit
unentbehrliche Attribute der Staatsklugheit bildeten. Unter einem fast
ruchlosen, scheinbar offenherzigsten Cynismus verbarg er füchsische
Verschlagenheit, die Raubthierkralle eines Cäsar Borgia im
Sammethandschuh. Man nannte ihn den Fürsten Talleyrand der Provinz. Seine
Stellung dort war unerschütterlich selbst nach seiner officiellen
Niederlage als Staatsmann, seitdem neue Systeme und Principien ihn und
sein System hinweggefegt hatten. Die Landräthin gehörte zu seinen
Protegees. Nicht, dass ihre spärlichen Reize den alten Viveur in
Versuchung geführt hätten. Nach einem galanten Sabbath ohne Gleichen hatte
das Küchenpersonal und noch tiefer hinab, bei ihm endgültig die Palme
davongetragen. Er bezeugte diese Vorliebe sehr ungenirt. Aber er liebte es
immer, seinen Finger mit in der Pastete zu haben, die Landräthin und ihr
strebsamer Gatte erschienen ihm als gefügige Werkzeuge für seine kleinen
Pläne, die er durchaus nicht aufgegeben hatte, nur versteckt hielt unter
witzelnder Indifferenz. Das Renommee eines mystischen Einflusses erfreute
ihn. Er fand es vornehmer, hinter den Coulissen zu operiren, als vorne auf
der Bühne die grossen Schreie auszustossen: heutzutage weiss man von jeder
Macht die Adresse. Jeder trägt seine Befugnisse und Eigenschaften wie
aufgeklebte Etiketten mit sich herum: Büreau für Stellenbesetzung,
Vermittlung von Börsengeschäften, Vademecum für Hoflieferanten. Früher
ging das in’s Geheimnissvolle wie der liebe Gott. Und hielt die Bande in
Schrecken. Man weiss zu gut, was wir _nicht_ können. Darum will jetzt
Jeder Alles besser wissen.

Das Neueste in dem sehr beweglichen Geiste und fieberhaften
Lebensbezeugungsdrang des Prinzen war ein Werk über Buddhismus, den er für
die Religion der Religionen hielt. Sie passte in den Cynismus des alten
Diplomaten, diese Idee des Jenseits von Gut und Böse, der souveränen
Verachtung aller Moralsysteme. Viele zweifelten an seiner Gelehrsamkeit,
sie war etwas zusammengewürfelt nach der Mode des Ancien Régime. Er besass
diese Eigenheit der Regierenden, dass er über Alles reden und geistreich
reden konnte. Trotzdem wurde sein wirkliches Wissen bestritten. Er selbst
vermied Gelehrte, sein eigentliches und Hauptpublikum blieben Damen. Nur
der Doctor Rothe konnte es mit ihm aushalten. Dies war um so
verwunderlicher, als der junge Mann thatsächlich ein sehr bedeutender Kopf
war. Seine Examina hatten das Staunen seiner Lehrer erregt. Professoren
und Mitschüler erwarteten von Anton Rothe etwas ganz Außerordentliches,
den Aufgang eines neuen Sterns am Himmel der Gelehrtenwelt. Einen Stürmer
und Dränger sahen die Andern in ihm, einen grossen Künstler. Er hatte alle
ihre Erwartungen getäuscht, war mit sechsundzwanzig Jahren als
Privatsecretair in die Dienste des Fürsten getreten, der ihn in einer Art
Auerbach-Keller kennen gelernt hatte, und diesem seitdem auf allen seinen
Reisen gefolgt. Legenden von geheimen, raffinirtesten Ausschweifungen,
denen sich Herr und Diener auf solchen Weltreisen in afrikanischen
Lasterhöhlen, den Schmutzpfühlen überseeischer Hafenstädte hingegeben
hätten, konnten allein diese seltsame Anziehung zwischen dem beinah
achtzigjährigen Weltmann und dem zweiunddreissigjährigen, prachtvollen,
genialen Menschen erklären. Man hatte das ungleiche Paar Faust und
Mephisto getauft, der äussere Eindruck entsprach der Vorstellung, neben
dem ernsthaften, schönen jungen Mann, schwerer germanischer Typus, das
sardonische, zahnlose Affengesicht des Alten, der es liebte, von seinen
literarischen Speichelleckern als Voltaire bezeichnet zu werden.

Dies waren die Hauptpersönlichkeiten, denen die Gräfin den Fremden
vorführen wollte. Sie hatte eigentlich eine Abneigung gegen den Doctor
wegen seiner bürgerlichen Abkunft und sonstigen Anrüchigkeit. Aber die
allgemeine Werthschätzung, deren er sich erfreute, seine sagenhafte
Allmächtigkeit bei dem Fürsten zwang sie, freundlich gegen ihn zu sein.
Ihre Sauersüsse bei solchen Gelegenheiten amüsirte dann den Alten: „Es ist
wunderbar, wie diese Frau aus Ehrgeiz sich zu beherrschen weiss. Da sagt
man, nur Männer hätten eine Hundenatur. Sie schlagen uns noch auf allen
Punkten.“

Der Landrath, ihr Mann, that immer, was sie wollte: „Wenn Du meinst,
Amélie.“ ... Sie schrieb also ein Billetchen an den Fremden des Inhalts,
dass eine distinguirte Reunion im Schlosse von X., Datum und Stunde, von
seinem Geist und Wirken gehört, den Wunsch hätte, ihn zu kennen und sich
belehren zu lassen. – Höflichkeit bei solchen Gelegenheiten ist immer
angebracht. Sie kostet nicht viel und leistet dasselbe wie baares Geld.
Uebrigens lag der Gräfin wirklich an dieser Attraction für ihren Rout.
Boshafte Leute waren hier wieder der Meinung, dass diese berühmten
gräflichen „geistigen Attractions“ vieles Andre, weniger Attractive
verbergen sollten, zum Beispiel eine entschiedene Dürftigkeit des
Vorgesetzten, und den Umstand, dass der Champagner immer ausserordentlich
spät, im letzten Augenblick servirt wurde.

Der Diener fand den Fremden unter einem Apfelbaum, wo er sich ruhte. Zwei
schwarze Amseln liefen nach Würmern pickend neben ihm im Grase. Es schien,
als ob diese Thiere ihn fragten und er ihnen antwortete. Der Mann schwor
nachher auf die Hexerei.

„Ich werde kommen,“ sagte der Fremde.

Die Gräfin, die es nie verschmähte, auch ihre Kammerdiener auszufragen,
merkte sich diesen kleinen interessanten Zug. Sie hatte eine sozusagen
symbolistische Toilette gemacht: Weiss, sehr in’s Crême spielend, mit
schwarzen Jetkettenschnüren viermal um den Hals.

Der Landrath war etwas sorgenvoll: seine Stellung und quasi officielle
Sanction ... „Das verstehst Du nicht, mein Freund,“ sagte sie milde, aber
fest. – „Man wird sich erdrücken.“

Man erdrückte sich.

Die Gräfin war allgegenwärtig. Es galt, ihren Gästen das Ausserordentliche
ihres Schrittes klar zu machen, diese Einladung an den Fremden, mit der
sie ihren geistreichen Freunden einen Gefallen thun wollte, und sich
gleichzeitig möglichst gegen üble Folgen schützen, da man es ihr nach oben
hin falsch auslegen konnte.

Gegen die Einen, die sie für freie Geister hielt, war sie frivol, für die
Andern ernsthaft, priesterlich. Allerliebst reumüthig, bescheiden,
entschuldigte sie sich gegen den Superintendenten, einigen alten Damen
gegenüber. „Ich bin so eine moderne Ketzerin. Es ist doch auch, damit Sie
selbst den Unsinn sehen ...“

„Interessant“ war ihr Wort. Dafür liess sie sich einen scherzhaften
Fächerschlag auf den Arm von der alten Baronin Rehden gefallen. Die
Superintendentin bat sie um ihr Recept für schwarzen Johannisbeergelee.
Dabei vergass sie niemals dem Prinzen zuzulächeln: „Wie werden wir uns
nachher über alle diese mokiren. Wir Beide verstehen uns, dass Alles nur
eine Farce ist.“ ...

„Ist sie nun nicht bewundrungswürdig?“ fragte der Prinz seinen Adjutanten.
„Diese Frau wäre bei August dem Starken die Orczelska, bei Ludwig dem
Vierzehnten Maintenon, bei Alexander Krüdener gewesen. Für die Tochter der
Herodias reicht’s leider nicht. Sie hätte auch da ihr Bestes gethan und
man würde ihr wahrscheinlich das Haupt bewilligt haben, wenn auch aus
andern Gründen.“

Der junge Mann antwortete nicht. Er betrachtete den Fremden, der allein an
einem Ende des Saales stand.

Er stand ganz ruhig in seinem einfachen Anzug zwischen den plaudernden,
lachenden, zischelnden Gruppen. Fortwährend drängten sich die Diener durch
unter irgend einem Vorwand, um ihn anzustarren.

„Eigentlich eine tolle Idee der guten Gräfin,“ sagte die alte Baronin
Steuben, sich Luft zufächelnd. Sie war eine wirkliche grosse Dame und
verachtete die kleinen Trics und Kniffe der Andern.

Ein junges Mädchen erstaunte, dass er keinen Frack trüge. Der Prinz
bemühte sich, der kleinen Frau eines Rittergutsbesitzers einzureden, dass
es sehr möglich sein könnte, dieser wäre wirklich Christus. Die kleine
Frau begriff nicht. Ihre Augen vergrösserten sich unmässig. Sie stand
buchstäblich mit offenem Mund.

In einer Gruppe junger Damen und Offiziere hatte man beschlossen, den
geheimnissvollen Gast direct zu attaquiren. Ein kleiner, kecker Dragoner
war ausgesandt worden als Avantgarde. Man setzte ihm zu von allen Seiten.
Und er that auch, als ob er etwas besonders Gefährliches unternähme, hegte
noch Skrupel über die Anrede. „‚Meister‘ ist ja wohl das Officielle?“ ...

„Ach gehen Sie!“

Aller Augen folgten ihm, wie er gesucht dandyhaft quer durch den Saal
chassirte. Die jungen Damen kicherten.

„Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle.“ Der junge Mann verbeugte sich,
forcirt vorschriftsmässig die Hacken zusammenschlagend.

Der Fremde sah ihn an. „Ich möchte mir eine Frage erlauben, Herr ...“ Er
zögerte vor dem Namen, um dem Andern zu markiren, dass er seine
Vorstellung erwartete. „Halten Sie es für Ihren und dem christlichen
Grundgedanken entsprechend, Kriegsdienste zu nehmen?“

Der Fremde antwortete nicht.

„Ich betrachte die Frage ganz ernsthaft. Es steht doch in der Bibel: Du
sollst nicht tödten. Wir versprechen unsre Feinde zu lieben, Böses mit
Gutem zu vergelten. Christus nimmt Petrus das Schwert aus der Hand.
Dennoch zwingt uns das Gesetz.“

„Welches Gesetz?“ fragte der Fremde.

„Nun, das bürgerliche, das des Staats, dem wir angehören.“

„Du gehörst nicht dem Staat, der Staat gehört Dir,“ sagte der Fremde.

„Aber das Staatsgesetz bestraft mich. Ich werde schuldig gefunden und
verurtheilt, wenn ich mich weigre ihm zu folgen. Gehorsam gegen das Gesetz
ist uns ebenfalls anbefohlen. Was soll ich thun?“

„Was Du willst,“ sagte der Fremde.

„Das ist es. Aber ich weiss doch nicht, was ich will.“ Der junge Offizier
war in einen gewissen Eifer gerathen, er nahm sich vor, den Punkt bis zu
Ende zu verfechten. „Wenn mein Wille gegen das steht, was ich soll?“

„Du sollst wollen.“

„Man zwingt mich. Ich komme in’s Gefängniss. Man behandelt mich als
Verbrecher. Was bin ich, Einer gegen so Viele?“

„Viele Einzelne sind Viele.“

„... Die Duchoborzen. Eine Art Tolstoi. Auch Quäker leisten ja keine
Kriegsdienste, glaube ich? Interessant, sehr interessant!“ sagte die
Gräfin.

„Jedes Land hat alle seine Kräfte nöthig gegen den äusseren Feind!“ sagte
der Candidat der Theologie, der zugleich Reserveoffizier war. „Ein Land,
das sich seine Waffen nimmt, ist wie ein Körper ohne Widerstandskraft. Es
entmannt eine Nation, sie ist dann nicht fähig, ihre Ehre zu vertheidigen.
Die Ehre eines Volkes ist wie die Ehre eines Individuums.“

Er liebte das Wort: Ehre. Er sagte es in einem besonderen schnarrenden
Ton. Er war auch _für_ das Duell und fing ein längeres Gespräch mit dem
Lieutenant darüber an, „zum Beispiel, wenn Einer mich mit meiner Frau
betrügt. Dann greift schließlich jeder Holzknecht zur Axt.“

„Aber der Holzknecht ist ein Mörder und kriegt seine fünf Jahr Zuchthaus,“
sagte der Prinz freundschaftlich. „Das ist der ganze Unterschied, mein
braver Langenhahn.“

Natürlich müssten gewisse Formalitäten beobachtet werden; der Candidat gab
das zu. Der Lieutenant sah nicht ein, warum schliesslich Messerstechen und
Ohrabbeissen nicht auch gelten sollten, immer gerade mit diesem Falle des
Ehemanns gegen die Ehebrecherin und ihren Mitschuldigen gerechnet.

„Ich fände es doch einfacher für ihn, Beide todtzuschlagen,“ sagte der
Doctor.

„O, aber lieber Doctor! Das nun wieder!“ ... Die Gräfin flatterte
skandalisirt.

„Es wäre das Logische. Entweder wir haben Faustrecht oder wir haben keins.
Diese Mittelzustände machen unsre heilige Civilisation so ungeniessbar.“

„Das ist nun doch schrecklich, Doctor, was Sie sagen!“ Die Baronin
schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Ihr gefiel der junge Mann, seine schöne
Stirn.

„Erlauben Sie. Es ist in Allem so. Besonders was die Frauen angeht.
Entweder eine Frau ist ein für sich selbst verantwortliches Wesen, ein
Mensch, eine Seele, oder sie ist Sache. Mein Eigenthum. Mein Stück
Kuhfleisch. Dann der Sack und der Bosporus.“

„Aber es giebt doch Mitteldinge.“

„Die sind dann einfach absurd. Ich schlage mich – aber ich gebe ihm
dieselbe Chance. Ich sage, sie weiss nicht was sie thut, und lade ihr die
volle Verantwortung auf. Wir können eben nie etwas reinlich durchführen.“

„Dann wären wir Teufel.“

„Oder Engel. Sie haben die Wahl.“

„Ich glaube, _Sie_ haben schon gewählt!“ Sie wollte damit discret auf
Einiges hindeuten, was über seine Reisen zu ihren Ohren gedrungen war.

„Vielleicht doch noch nicht so ganz,“ sagte der junge Mann kalt.

„Es giebt auch noch ein Drittes.“

– „Sagen Sie mal, sind Sie glücklich?“

„Befehlen Sie Thee oder Kaffee, Baronin?“

Jemand, ein älteres Fräulein, sagte, dass alle Völker eine Familie wären,
Deutsche, Franzosen, Juden. Sie hatte „Die Waffen nieder!“ der Baronin
Suttner gelesen und schwärmte für Völkerverbrüderung.

„Das ist doch eine etwas grosse Familie,“ sagte der Lieutenant von Detten
zu seiner hübschen Nachbarin. „Ich goutire Juden nur allenfalls als
Schwiegerväter.“

Der Candidat fand, man dürfte nicht Antisemit sein vom Vernunftstandpunkt
aus. Aber man wäre es physisch.

Der Superintendent drohte ihm mit dem Finger: „Wir sind Alle Brüder und
unser Herr Christus kam von den Juden.“

Der Prinz erzählte eine amüsante Anekdote von einem Orientalen, einem
befreundeten Pascha, der alle Hufthiere verabscheute, weil er selbst einen
Klumpfuss hatte.

Der Blaustrumpf unterhielt sich über Frauenfrage mit einem
Gymnasialprofessor. Er hatte einen schmutzigen Hemdkragen an und kaute
seine Nägel: „Nun gewiss, auch Frauen haben eine Seele,“ sagte der
Professor zerstreut. „Das heisst – Seele! –“ er lachte sardonisch. Er
hatte Lust, auf den Fussboden zu spucken. Aber er besann sich. Man hatte
ihn eingeladen, weil er in den Wahlvereinen wichtig war.

„Man muss das schwache Gefäss in Geduld tragen,“ sagte der Superintendent.
„Wir haben ja auch aus der ersten christlichen Kirche schöne Beispiele:
Tabbea, Phoebe, die der Apostel erwähnt. Echt evangelische
Frauengestalten.“

„Darf man heirathen?“ fragte ein sehr junges Mädchen. „Es steht doch in
der Bibel, nicht heirathen ist besser?“

„Dann würde aber die Welt aussterben?“

„Und das wäre sehr schade,“ sagte der Prinz ernsthaft. Der Superintendent
witterte römische Ketzereien. Er wies auf das grosse Exempel Martin
Luther’s und seinen gesegneten Ehestand. Die Superintendentin sass steif
mit einer spitzen Nase. Sie dachte an den übriggebliebenen Gänsebraten für
morgen, ob ihr die Mägde nicht drangingen. Der Prinz machte confiscirte
Witze und trieb den Superintendenten in die Enge mit einigen fröhlichen
Vierzeilern von Martin „Nonnenfreund“. Die Lieutenants secundirten, der
alte Herr wehrte sich tapfer. Sein Gesicht wurde schweissroth vor
Anstrengung: „Ein echter deutscher Mann! Ein Mann nach dem Herzen Gottes!“

„Ein Bismarck!“

Der Candidat schwärmte für Bismarck. Die Gesellschaft verhielt sich etwas
ablehnend. Für die Offiziere war er eigentlich ein Rebell, ein unruhiger
Kopf, der die Consigne brach. Die Gräfin brachte rasch das Thema auf etwas
Anderes, um ihren Mann aus der Verlegenheit zu retten. Der Candidat war
oft recht taktlos.

Einige Leute wollten Fragen stellen: Werde ich eine grosse Carriere
machen? Siegt mein Gaul beim nächsten Rennen? Wann werde ich meine
Schulden bezahlen? Die jungen Mädchen hätten gern gewusst, ob „er“ ihnen
treu war? Wird der Bestimmte mich zum Cotillon engagiren? – Die Meisten
hatten so eine Art Taschenspielervorstellung, Tischrücken, Kartenlegen
oder Aehnliches erwartet und waren enttäuscht.

Der Superintendent hatte den Fremden mit Beschlag belegt. Er hatte eine
Broschüre über das Glaubensbekenntnis, Harnack und die Agende
veröffentlicht und wollte jetzt dem Andern auf den Zahn fühlen über diese
wichtigen Punkte. Sein Grundsatz war, dass Kirche und Staat zusammengehen
müssten in den jetzigen socialen Wirren. Vernünftige Reform. Aber die
feste Hand von oben. Und vor allem musste die Autorität gewahrt werden.
Das Patriarchalische ist das einzig Wahre. Dabei hatte er einen Geschmack
für weltliche schöne Literatur, citirte Classiker und bekannte sich zur
Goethe’schen Schule.

Der Candidat war ein Heisssporn. Er war für ein sociales Kaiserthum, eine
Art Theokratie unter von oben inspirirtem Oberhaupt mit unumschränkter
Autorität. „Die Idee des Gottesgnadenthums muss wieder herrschend werden.“
Dieser Ausdruck gefiel ihm. Ihn zog das Katholische an. Er war für
High-Church-Reforms. Allenfalls für einen deutschen Papst, grössere
Prunkentfaltung. Er selbst mit einer edelsteinbedeckten Brust hohe
Kirchenakte celebrirend – das hätte seiner Neigung entsprochen.

Wenn der Superintendent das Presbyterianische, die Selbstverwaltung der
Gemeinden betonte, betrachtete er ihn fast als eine Art Hochverräther.
Dieser im Gegentheil versprach sich nicht viel von den jungen Leuten. Er
war mehr für die kleinen Lokalpäpstchen. Man lebte in Frieden und that
sein Möglichstes. Die Frau Superintendent liess bei sich nähen und war im
Vorstand aller Wohlthätigkeitsvereine. Alles das, diese kleinen Spiele und
Gegenspiele, die er witterte, erheiterte den Prinzen. Er hatte die
„Baalspfaffen“ speciell auf dem Korn und liebte es, an ihren Bäffchen sein
Müthchen zu kühlen. Er erzählte die bekannte Anekdote von Friedrich dem
Grossen: „Der Pfaff soll sein Maul halten, mein Reich ist nicht von dieser
Welt,“ mit der die Kinder der Welt die Pfarrer anöden. Der Doctor
secundirte ihm eifrig, ebenfalls einige von den Lieutenants. Alle waren
für apostolische Einfachheit, den Stab und einen Rock: er hatte nicht, da
er sein Haupt niederlegen sollte.

„Aber erlauben Sie! Erlauben Sie!“ Der Superintendent hielt seine
halbgeleerte Kaffeetasse in der Hand, in der er den dicken, bräunlichen
Zuckerseim hin- und herschob. Er nahm gern ein bischen viel Zucker; bei
andern Leuten kostete es nichts. „Unser Herr hat durchaus nicht gewollt,
dass die Gläubigen sich kasteien. Das ist eine ganz irrige Auffassung,
katholische Ketzerei: hat er doch selbst auf der Hochzeit zu Kana das
Wasser in Wein gewandelt, durch seine gesegnete Gegenwart den heiligen
Ehestand ausgezeichnet.“

„Er hat doch aber selbst nicht geheirathet, Maria oder Magdalena?“ Dies
war ein vorlauter Lieutenant.

„Diese Ausnahme lag doch wohl in seinem heiligen Amt. Und wir müssen nicht
vergessen, dass er in verhältnissmässig jungen Jahren –“

„Sie meinen, er ist nicht alt genug geworden dazu,“ sagte der Prinz. „Das
ist auch eine Auffassung.“

Diese Bemerkung erregte allgemeinen Jubel.

„Das ist profan! Das ist profan! ... Wirklich, meine Herren! ... Sie
müssen selbst einsehen ...“

Der Prinz klopfte ihm auf die Schulter. Er mochte begreifen, dass sein
Scherz etwas zu weit gegangen war: „Darum keine Feindschaft nicht. Ich
weiss ja, wir brauchen das für die Dummen.“

Der Candidat ärgerte sich. Die Kirche musste eine ganz andre Gewalt wieder
haben. Und es wäre in der That gut gewesen für die Stellung des Priesters
– er sagte immer „Priester“, er fand, dass das nach mehr klang – wenn das
Cölibat innegehalten würde. Wenigstens für die höheren und höchsten
Kirchenämter. Vieles in der römischen Kirche war sehr beherzigenswerth.

Der Landrath verstand ihn. Er war auch dieser Meinung, übrigens war sie
jetzt die tonangebende. „Die militairische Organisation muss durchgeführt
werden, mehr Disciplin! Diese Disciplin ist Alles.“

Ein Umschlag in der Meinungsäusserung war eingetreten.

„Ich hatte einen famosen Pastor, bei dem ich im Quartier lag,“ versicherte
ein Lieutenant. „Wirklich ein famoser Kerl!“

„Ach, und die schöne Kirchenmusik!“

„Und Weihnachten!“ sagte eine andre junge Dame. „Es ist so tief und
bedeutungsvoll.“

„Ich fände es doch schrecklich zum Beispiel, sich nicht in der Kirche
trauen zu lassen,“ sagte der Doctor.

„O, pfui!“ machten Alle. Sie wussten nicht recht, ob er es im Ernst
meinte. Der Doctor war ein schrecklicher Mensch, sehr interessant. Sie
waren Alle fest entschlossen, ihn nie zu heirathen, wenn er um Eine von
ihnen anhielte; aber er hielt nie an.

Ein junges Mädchen war sehr traurig. Sie fühlte dunkel, dass dieser Mensch
etwas Extraes war, klüger und stärker als die Andern. Warum lachte er
höhnisch und sagte scharfe Worte, die weh thaten? – Ein alter Herr war da,
der an Gesichtszucken litt, seine Hände sonderbar und krampfig bewegte.
Sie sah, dass Einige dies beobachteten, darüber lachten. – Sie fühlte sich
abgestossen, elend. Dieses junge Mädchen war sehr jung noch, ein halbes
Kind fast. Niemand bekümmerte sich um sie.

Der Fürst unterhielt sich mit dem Fremden. Die Gräfin Thornhill fand ihn
sehr interessant. Sie behauptete, sie sähe deutlich einen breiten, blauen
Schein um seine Stirn. Sie nannte das das Fluidum. Das Fluidum, das von
dem Fremden ausging, war erstaunlich. Die Gräfin Thornhill galt für eine
Heilige. Es kamen sehr einflussreiche Leute zu ihren spiritistischen
Reunions; so geschahen wirklich manchmal Wunder da.

Der Assessor von Brincken bestritt sehr ernsthaft, dass er keineswegs
nicht an Wunder glaubte. „Ich war früher wie Sie. Aber seit ich Frau
Gräfin kenne ...“ Sie hatte ihn bekehrt. „Es giebt eben doch mehr Dinge
zwischen Himmel und Erde, als unsre Schulweisheit sich träumen lässt.“ Der
Assessor war sehr zugeknöpft über diese Dinge. Er war eben ein
Eingeweihter. Den Doctor schnitt er: „Ein gefährlicher Charakter! Ich
würde mich nicht wundern, den Burschen eines Tages auf den Barrikaden zu
sehen.“ Auch der Fürst war ihm unsympathisch: „Er ist frivol, er schadet.“
Der Assessor war für’s Correcte, sein Vater war erst geadelt worden; da
ist es der sicherste und geradeste Weg.

Der Doctor beobachtete seinen Patron und den Fremden. Er sah das breite
Faungrinsen des Alten. Er kannte diese kühle Manier, mit der er die
teuflischsten Dinge sagte, dies freche Augurenzwinkern des Eingeweihten,
das dem Andern gleichsam die Replik über dem Kopf wegnahm: Wir Beide
wollen uns doch nichts vormachen. Du denkst darin ebenso wie ich. Die
Andern sind Dummköpfe. – Er hielt sich noch ganz gerade, zu gerade. Der
weisse Schnurrbart stand steif aufgewichst. Die Backen waren roth
geschminkt, die Augen glänzten, um die Brauen sorgfältig geschwärzt. Auf
der schwarzseidigen Frackfläche bildete der grosse Stern mit dem
Ordensband einen markanten Fleck. Seine Hand trug kostbare Ringe. Er war
stolz auf diese lange, magre, aristokratische Hand, gebrauchte sie, um
seine Bartspitzen zu liebkosen. Es war eine Lieblingsredensart von ihm:
„Profile giebt’s wohl noch allenfalls, aber Hände! Hände! – Wir sind Alle
Ouvriers geworden.“ Tadellos zog sich die Scheitelspur. Er war der König
des Kreises; er dominirte.

Anton Rothe allein und sein vertrauter Kammerdiener wussten, was das Alles
kostete, dies Gerüst, das noch immer zusammenhielt, zu neuen Blendungen,
neuen Ausschweifungen. Er und nur er kannte die erstaunliche Lebens- und
Genusskraft des Skeletts, die standhielt, in einer kalten Douche sich neu
schmiedete, wenn er selbst, der Junge, erschöpft war, rasend, zum
Selbstmord angeekelt.

Er dachte an eine junge Dame. Sie war arm gewesen und stolz. Ein
herrliches Weib! Mit solcher geht man in unbebaute Colonien und hat Kinder
und stirbt vor dem Feind für seinen Herd. Er hatte für ihn geboten auf
sie. Der Kampf reizte ihn. Er bot höher und höher. Weil sie arm war und
Hungers starb, hatte sie angenommen. Nur darum. Er wusste es. – Sie sagte
nur ein Wort: Schurke! Er hatte gelächelt.

Warum fiel ihm das jetzt ein?

Ein Hass kam über ihn, ein glühender, fressender Mörderhass gegen dies
miserable Kunststück der Hypercivilisation, diesen Fetzen von Haut und
ausgedörrten Knochen, den er schütteln konnte, der ihn hielt wie eine
Viper unter seinem kalten, grausamen Willen, seine Intelligenz zerbrach
wie morschen Baumbast unter der polirten Stahlschneide seiner frechen
Philosophie der Verneinung.

Plötzlich sah er den Alten blass werden. Seine Farbe wechselte sich in
Leichenfarbe. Er war ein grinsender Todtenschädel. Unter dem weissen,
gestärkten Vorhemd schien die Brust einzuschrumpfen. Es war hohl dahinter.
Er lehnte sich gegen die Portiere.

Anton Rothe war im Nu an seiner Seite.

„Es ist nichts. Eine kleine Uebelkeit. Der verdammte Büchsenhummer ...“ Er
war wieder ganz höflicher Weltmann, als die Gräfin, nun auch besorgt,
herbeieilte. Gleichzeitig wurden die Klänge der Polonaise laut, die den
Ball eröffnen sollte: „Wir werden noch manche Polonaise zusammen führen.“

Der kalte Schweiss stand auf seiner Stirn. Er zitterte, lächelte mit
bläulichen, lallenden Lippen.

Anton Rothe hob ihn wie ein Kind in den Wagen. Er selbst sprang auf den
Bock. Niemand achtete auf den Andern in einem allgemeinen Hin- und
Hergelaufe, während drinnen zur Tanzmusik die geschmückten Paare sich
ordneten. Es wetterleuchtete. Lichter leckten auf in bläulichen, breiten
Zungen, duckten sich wieder, huschten auf einer andern Seite spielerisch
entlang. – Sie fuhren die schwarzen Trakehner, das berühmteste Viergespann
der Gegend, auf das königliche und kaiserliche Marställe fabelhafte Summen
geboten hatten. Der Fürst liebte sein Leben, aber er hielt auf Rasse.

Die Gräfin stand am Schlage mit ihrem Gattenadjutanten. Der Greis, jetzt
wohl eingehüllt in seine Zobelpelze, bückte sich noch hinaus: „O nichts,
nichts, schöne Frau – meine kluge Freundin. Der Fremde – der Fremde ...
Cocasse! Ein sonderbarer Kunde, Ihr Fremder ...“

Anton Rothe hob die Peitsche und zog die Pferde an. Sie waren unruhig und
warfen die Köpfe, als ob sie das Gewitter röchen. Es lag Phosphorgeschmack
in der Luft. Man öffnete das grosse Hofthor. Einen Moment stand der ganze
Horizont in Flammen, ehe es sich wieder hinter ihnen schloss. Sie waren
ganz schwarz wie auf Feuer gezeichnet, eine schwarze Kutsche mit schwarzen
Pferden und einem kohlschwarzen Kutscher auf dem Bock. ...

Er wusste, er fuhr einen Sterbenden.

Der Fremde war verschwunden.

Am dunklen Fenster der verlassnen Garderobe stand das kleine Mädchen. Sie
mochte nicht tanzen. Sie weinte. Sie fühlte sich sehr traurig. ...



                          DAS SIEBENTE KAPITEL.


Durch die Gewitternacht fuhr der junge Mann den Sterbenden.

Es gab einen kürzeren Weg über die Berge durch eine seichte Furth im
Flusse. Schmuggler benutzten ihn für lichtscheuen Handel. Man vermied ihn
am Tage. Ihn bei Nacht zu fahren, war Wahnsinn.

Das Gewitter näherte sich. Es war ein Sausen in der Luft, das die Bäume
zur Erde bog. Kiefern und magere Birken, die an den Abhängen wuchsen im
beständigen Kampf um ihr Dasein. Der Wind fing sich in den gewundenen
Schluchten der Thäler. Da heulte und rasselte er wie ein eingeschlossener
Wolf. Und unten der Fluss, von einer mysteriösen Anziehungskraft
aufgetrieben, begann zu brüllen, kurze Wellen aufzuwerfen mit schnellen
Kruppen, die zu den Steinen hinüberleckten. Bewegungslos, weiss lagen noch
die schimmernden Ränder. Runde Backen von Kieseln gleissten. Aber die
Schilfe rauschten und raunten. Während von weiter, über dem Gebirge
unheilschwangere Laute eines brauenden, überkochenden Hexenkessels kamen,
jagende, schwarze Wolkenfetzen mit der peitschenden Bewegung der Bäume
eine fratzenhafte Mischung von Licht und Schatten verursachten. Alles in
Galoppade, die Kutsche einhüllend, die wie ein Gespann der Hölle
dahinsauste. Inwendig den Sterbenden. Ueber den Hälsen der Pferde, halb
hängend in der Luft, den Mann, der die Pferde antrieb, dass die Steine
knatterten, Funken aufsprühten.

Nun fuhr der erste Blitz herunter. Der Eclaireur, senkrecht, elegant, halb
spielerisch, ein Fechterhieb im beginnenden Duell der Elemente. Die Pferde
bäumten sich. Er riss sie zurück. Sie rasten vorwärts wie der Teufel.

Drinnen hörte er den Sterbenden röcheln. Er schrie. Er flehte. Das Gehör
des Fahrenden, unnatürlich angespannt, vernahm jeden Laut. Er fühlte die
schweissfeuchten, huschenden Finger, die sich anklammern wollten, das
Fenster niederzulassen versuchten. Der hülflose Körper verweigerte die
Anstrengung. – „Hülfe! Hülfe!“ keuchte der drinnen.

Er lachte laut auf. Er klopfte mit dem Peitschenstock an das Fenster und
schrie: „Hoho!“ Er sah den drinnen sich verzerren in Todesangst, die
künstlichen Zähne heruntergefallen, die Augen vorgequollen, in weissgrünem
Schweiss.

Er jauchzte wilder. Der Ton brachte die Pferde ausser sich. Sie flogen vor
ihm her wie Raben im Dampf.

Es fiel ihm ein, wie er ein Hirtenjunge gewesen war, den Berg
hinuntersprang, mit dem schäumenden Sturzbach um die Wette. Manchmal kamen
Steine. Der Bach sprang klaftertief mit sprühendem Gischt, der Junge
sprang noch über Bach und Stein hinweg. Seine nackten Sohlen tanzten in
dem grünen, eiskalten Wasser, das nach ihm aufleckte, nach den weissen,
zappelnden Füssen. Er wusste, dass sie Feinde waren, er und der Bach.
Trotzdem konnte er ihn nicht kriegen; trotzdem liebte er ihn.

Er liebte den Bergwind, der die Bäume zerbrach, um seine Schutzhütte
tobte, diesen grossen Ton der Wuth, der Unterwelt, Gewaltigerer gegen die
dumme Ordnung, die banale Heiterkeit der Sonne. Von sehr hoch sah er
winzige abgetheilte Felder. Häuser wie Schneckenhäuser angeklebt,
ängstlich. Sie hatten Mühlräder eingesetzt, um das Wasser zu nützen und
bepackte Postwagen keuchten schwerfällig die Strassen hinauf. Manchmal
kamen Städter mit dünnen Beinen, wischten sich den Schweiss ab und
lächelten höflich. Er stand vor ihnen wie ein kleiner Wildling. Er
verachtete sie.

Wie er sie verachtete! Sie vermeinten, dass der Berggeist sie foppte, wenn
er schallend hinter ihnen her lachte, weil sie sich verliefen und
ängstlich suchten. Hässliche alte Weiber traten ihnen entgegen aus
Versenkungen, die sie nie gesehen hatten, murmelten ihnen Verwünschungen
nach, die sie nicht verstanden, für Segenswünsche hielten als Entgelt
ihrer blanken Nickelstücke.

Ab und zu stürzte auch mal Einer wirklich ab, mit der Brille, dem
Photographierkasten. Das war dann ein grosses Unglück. Herren vom Gericht
kamen, Leidtragende, wichtig thuend. Sie trugen gar nicht wirklich Leid.
Sie freuten sich heimlich. Er gönnte es ihnen. Was kamen sie herauf mit
ihren dünnen Beinen, ihren Glatzen und Gläsern, ihrem Geld.

Freilich ihr Geld! Er wusste bald, was es werth war, dass er ein Lump war
mit seinen Fäusten, seinem prachtvollen Krauskopf und weissen starken
Zähnen, wenn er es nicht hatte. Dafür gab man ihm Hutfedern, blanke
Stiefel, die gleissten in der Sonne. Sonst musste er hungern. Anton Rothe
wollte Geld.

In der Schule verschlang er seine Bücher. Er zeigte einen Heisshunger nach
Wissen, der die Lehrer erstaunte, unbedeutende eingesumpfte Dorfmenschen,
die sie waren. Das peinigte ihn. Er brachte seine Nächte zu, schwierige
Aufgaben sich auszudenken und zu lösen, mehr zu erfahren, mehr – mehr! Mit
einer wahren Wuth riss er jetzt an den Thoren der Erkenntniss, der vorher
in scheue Wildheit sich eingeschlossen hatte.

Und er hatte Glück.

Der Patron des Gutes nahm sich seiner an, ein wohlthätiger und gelehrter
Mann, sehr reich. Er liess ihn studiren. Vielleicht wollte er sich einen
brauchbaren Präceptor seiner Söhne erziehen. Es ist immer angenehm, einen
Clienten zu haben, Wohlthun ist ein Vergnügen für reiche Leute.

Die Freude an seiner Wohlthat war kurz. Der Junge entlief zwischen die
rotheste Rotte. Er hielt zündende Reden, schrieb Zeitungsartikel, die die
Presse in Bewegung setzten. Er wurde selbst Arbeiter. Seine Fäuste zwangen
das Eisen wie sein Geist den Stoff – ein interessanter junger Mann, dem
man eine Zukunft prophezeite!

Er verliebte sich. Irgend eine gleichgültige, hellblonde Tochter seines
Patrons. Sie liess ihn lächelnd sich glühend erklären und heirathete
kaltblütig und vernünftig ihren Dragonerlieutenant. – Nun fing er an wie
ein grosser Herr zu leben, machte wahnsinnige Schulden. Alles musste ihm
den einen Zweck, Geld zu machen, dienen, seine Feder, seine Talente,
skrupelloseste Börsenmachinationen. Summen glitten zwischen seinen
Fingern. Auf Reisen im Orient machte er die Bekanntschaft des Prinzen.
Seitdem waren die Beiden unzertrennliche Begleiter.

Bergabwärts raste das Gespann. Er hatte die Peitsche fortgeworfen, die
Zügel losgelassen. Er kutschirte mit gekreuzten Armen wie im Circus. Er
hätte wie eine Katze den Pferden auf den Rücken springen mögen, mit seinem
Athem an ihren Ohren, wie Cowboys, Uncultivirte reiten.

Hinter ihm zerbrach splitternd das Fensterglas: „Hülfe! Hülfe!“ klang es
gellend, kreischend, nicht mehr menschlich.

Er schlug ein teuflisches Gelächter auf. Sie rasten weiter.

Wie Rabenfittiche sausten die Rappen durch die Luft. Die Luft litt unter
dem Ansturm und pfiff schmerzhaft. In Peitschenhieben traf sie die Flanken
der Wüthenden. Ihre Nüstern schnoben Feuer. Von ihren Hufen sprühte der
Stein in knisternden Funken. Das Heulen der Winde wurde grässlicher. Sie
fingen sich, drehten sich, verschlangen einander in kreisenden Strudeln.
Regenhuschen stoben auf. Irgendwo musste es schon giessen in Strömen. Es
schlug prasselnd gegen das Fenster. Die krampfende Hand im Rahmen
verschwand. – Dadrinnen war die Sündfluth.

Irgend etwas war zerbrochen. Ein Hinterrad. Die Pferde rasten weiter mit
dem geschleiften Kasten, der knackte in allen seinen Fugen, aufsprang,
fiel, kratzte, quietschte, mit dem dumpfen Geräusch von Schlittenkufen auf
dem Trocknen.

Dadrinne war ein Skelett, ein nicht mehr menschliches Ding, getödtet von
Furcht, und doch lebend, das agonisirte. Es dachte an diese schreckliche
Angst und Hülflosigkeit, dass er ihn hielt in seiner starken Hand, stark
wie die Lawine!

Vor ihnen knatterte der Fluss. Der Regen prasselte. Er schlug hernieder
wie in Ruthenbündeln. Haarscharf wendend, zeigten sich im Blitzlicht
zerrissne Sprünge, schweflig gähnend, dass die Pferde zur Seite
schnellten, grausend.

„Auf! Auf, alter Satan! Wir fahren zur Hölle!“

Singend pfiffen die Riemen. Die Pferde mit blutenden Flanken,
schaumbedeckt, keuchten wie apokalyptische Spukdinge. Lucifer, der
gefallne Engel, lenkte sie selbst im höhnenden Rausch seiner Kraft und
seines Stolzes. Es war unmöglich, dass sie so ankamen, der Wagen musste
sich überschlagen, zerschellen.

Die tolle Eile steigerte sich. Sie verbrannten den Boden, dass die Geleise
rauchten, die Räder sich hitzten zu dunkler Rostgluth. Hinter ihnen
losgelassen folgte das ganze Gewitter, Frauen mit feuchten Haaren,
Rübezahl der Berggeist mit dem Barte, das ganze Heer der Wilden,
Eingebannten.

„Ich kenne Euch! Ich kenne Euch! Willkommen, Gesindel!“

Drinnen war es still. Er hörte nichts mehr. Der Wagen schlug auf wie ein
klappender Kasten, nur noch Holz, etwas Lebloses, etwas Unförmiges, das
die Pferde erschreckte, hinter ihnen hing, nach dem man sich nicht umsah,
immer zwischen ihren Beinen verwickelt, sie stiess zu rasenderem Lauf.

Und nun, ganz deutlich, vernahm man die Stimme des Flusses, zwischen allen
diesen Bächen, Wässern, die neben ihnen gossen, vom Walde und Wolkenbruch
angeschwollen. Er röhrte wie ein Hirsch in Wollust. Er war allmächtig.
Bäume, mit der Wurzel ausgerissen, fuhren und drehten sich blitzgeschwind.
Die Steine seiner Tiefe kollerten polternd übereinander. „Ihr denkt, ich
drehe Euch Eure Mühlen, schaffe Euer Licht, trage Eure Brücken – Euer
Diener, Euer gehorsamer! Euer Speichellecker! Ich hasse Euch! Ich hasse
Euch!“

Er fühlte sich stolz, alle Demüthigung dieser vielen Jahre fortgeschwemmt,
zerbrochen der Zaum, den er im Munde getragen. Bücken, heucheln und lügen!
– Sie hatten ihn gehalten. Er hielt sie. Er war stark.

Da war der rothe, glorreiche Tod dahinter, über ihm und in ihm, Satan mit
prachtvollem Lachen, aufgereckt der Titan. Er war der Starke. Nichts!
Nichts gegen ihn!

Er schnalzte mit der Zunge, schwang die Arme fuchtelnd in der Luft, Laute
südlicher, infernalischer Idiome, die den Blutdurst rufen, Tänzer zu den
tollsten Gliederverrenkungen aufstacheln und die Frauen willenlos machen
unter dem Gluthhauch der Brunst. Alles das hatte er gesehen und genossen
im delirirenden Suchen nach Genuss, unter der platzenden Sonne des
Mittags.

Todt! Todt! Todt! Elendes Aas, von dem sich die Hunde abwenden mit Grauen,
sein leeres Hirn zerschellt an den Steinwänden. Nichts drin, das Grinsen
selbst des Todtenschädels zerstört im grösseren Grausen, dieser
zersplitterten Knochen, zerschundnen Häute unter dem Orden, dem Frack.

„Geht! Geht, meine Engel! Fliegt, meine Feuerrosse! Springt an, meine
Wildlinge!“

Senkrecht weiter ging es in toller Flucht. Ein Rudel Wild hatte sich da
zusammengedrängt im Hohlweg, Schutz suchend in scheuem Schrecken. Mitten
unter sie sprangen die tollgewordenen Rappen. Ein Gekreisch der Stummen,
die nie sprechen, fuhr auf, Blutgeruch, warme Spritzer ... Die Klage
erstarb im Tannenwald.

Und jetzt setzte der Donner ein. Ein Trommelrollen wie von tausend
Tambouren. Der Wirbel ging über den ganzen Himmel hin, zornig und
rufend ... und verhallte.

Er war jetzt ganz frei. Er führte die wilden Rosse seines Lebenswagens
gegen den Abgrund. Eine jauchzende Kraft kam über ihn.

„Wir können nicht leben wie wir wollen. Aber wir können sterben und den
Tod verachten, denn wir wissen, dass er kein Tod ist. Nur ein leeres
Schreckgespenst, ein lächerlicher Schwindel gar nicht existirender
Gewalten. Taschenspielerkunststück Derer, die sich schwach fühlen!“

Der Donner, ein zweites Mal, gab Antwort, ein Tiger mit ungeheurem
hängenden Bauch, der über weite Flächen springt; im Sprunge brüllt er ...

... „Der Schwarze Bock in Purpurfinsterniss erscheint“ ...

Höllengeschichten fielen ihm ein. In Pariser Schlammpfühlen, affreuse
Weiber, schwarze Messen, wo man mit dem Blut der Wollust die Todten
beschwor, Hüftenverrenkungen in Bauchtänzen geschlechtsloser
Vorstadtbajaderen, Augen, die über der Verwesung schwammen wie fischige
Perlen in perlmutternem Glanze.... Diese ganze Civilisation, impotent und
pervers, in den letzten Zügen röchelnd, mit Haschisch und Qualen sich
aufpeitschend zu neuen Sensationen, ein zweites, neues, junges,
greisenhaft altes Rom, wo die Messalinen ordinaire Cocotten sind, die
Neros und Heliogabals, Boulevardbummler, verwöhnte Muttersöhnchen,
Sprösslinge jüdischer Banquiers und christlicher Prostituirter. Wie
gemein! Wie gemein!

Ein Gelächter schüttelte ihn wie im Krampf. Der Hut war ihm vom Kopf
geschlagen. Er riss sich den Rock auf. Er drängte sich nackt, hoch, dem
Tod und dem Nachtwind entgegen.

Ein Schrei gellte auf von irgendwo. Vielleicht ein Wandrer? Der
Chausseewärter? Die wilde Jagd stob vorüber.

Er fühlte die feuchten wehenden Haare der Hexen hinter sich, ein lascives
Gelächter nackter Trollen und Faune. Sie ritten mit entsetzlichen,
unbeschreibbaren Gesten. Die Jungen waren hübsch mit traurigen Augen. Die
Aeltern waren noch schrecklicher, schwarz, Aeser geworden in der
lebendigen Verwesung ihres Lasters.

Er wusste nicht mehr, was er hinter sich herzog. Einen Cadaver. Ein Aas in
Fetzen. Einen Lumpen ...

Er hörte nur noch das Brüllen des Wassers, fühlte die Feuchtigkeit. Steine
rollten mit ihm bergab. Sie hüpften, kugelten, kollerten, surrten. Hohhi
hoh! Er hetzte die Rappen zum Todessprung.

Plötzlich standen sie kerzengerade. Der ganze Himmel flammte im Feuer. Er
schien zusammenzukrachen von allen Seiten, zu bersten, zu schüttern, zu
schwingen ...

Wie ein eiserner Vorhang, ganz von Eisen, schwarz, und schwer vom Gewicht
aller Himmelsgewölbe klappte der Donnerschlag.

Dann nichts mehr. Dunkelheit.

Eine Hand hielt seine Hand gefasst. Er versuchte die andre gegen seine
Stirn zu führen. Sie war warm vom Blut. „Wohin führst Du mich?“

„Wohin Du nicht gewollt hast – _Paulus_!“



                            DAS ACHTE KAPITEL.


Der Superintendent war doch in einer gewissen Erregung. Der „geniale“
Streich der Gräfin hatte ihn etwas verletzt, trotzdem sie es seitdem
wieder gut zu machen versuchte, die Frau Superintendentin in ihrem eignen
Wagen mitnahm.

Man sprach viel von dem Fremden. Die Baronin hatte überall von dem
Odschein erzählt. Man brachte das Neuaufblühen des Socialismus mit ihm in
Verbindung. Zeitungen, die der Kirche übelwollten, erzählten kleine
Anekdoten. Ein wissenschaftlicher Aufsatz behandelte die Frage ganz
ernsthaft, er war von einem modernen Schriftsteller verfasst, der sich bis
dahin hauptsächlich mit Ehebruchsdramen und Erotik beschäftigt hatte, nun
alles Heil im Mysticismus sah. Unter den schönen Seelen der Stadt bestand
eine gewisse Erregung. Ein junger Hülfsprediger wurde sehr populär. „Er
ist so tief,“ sagten diese Damen. Unglücklicher Weise bildeten diese Damen
eine Macht. Es wurmte den alten Herrn, dass sie ihn für „nüchtern und
protestantisch“ hielten. Niemand sieht seine Kirche gern leer.

Er hatte natürlich zunächst an eine Denunciation nach oben gedacht, das
war wohl seine Pflicht eigentlich. Aber ein zweischneidiges Mittel. Man
konnte finden, dass er eine Schwindelaffaire zu sehr aufbauschte.
Andrerseits hielt man es wohl gar für Eifersucht, die Pfaffen kriegten es
mit der Angst. Ein jovialer Reitergeneral, Durchlaucht, hatte ihn schon
gefragt: „Was würden Sie jetzt mit dem neuen Christus machen? Da können
Sie einpacken, Pasterchen!“ Er durfte sich solche Jovialitäten erlauben.
Dafür wurde der Superintendent immer eingeladen. Er war Burgpfaffe bei den
Herren Offizieren.

Dann die katholische Concurrenz – die rührte sich nicht. Man wusste ja, da
war Alles Mysterium. Es gab geheime Winke von oben. Vielleicht war ihnen
die Geschichte nicht unangenehm. Sie hatten ja zum Schluss immer den
Vortheil, weil sie abwarten und schweigen durften. Schweigen und abwarten
dürfen war eine grosse Sache. Das ist der Vortheil der alten historischen
Gewalten; man, als Parvenü, musste auf dem Posten sein, Schritt halten,
die Vereinigung mit der Wissenschaft nicht fallen lassen.

Die Wissenschaft hatte dem geistlichen Herrn schon manche schwere Stunde
bereitet. Es war eine Universität in der Stadt, dadurch beständige
Kabbeleien. Die Herren passten Einem auf die Finger. Von Hölle und
persönlichem Teufel durfte man schon gar nicht reden; obgleich diese Dinge
für die Plebs noch immer zogen. Dann waren die schönen Seelen, die Einen
nüchtern fanden, zur Weihnachts- und Ostermesse in den Dom liefen oder mit
mystisch angehauchten Hülfsgeistlichen Conventikel abhielten.

Der Superintendent war ein geplagter Mann.

Uebrigens grollte die Superintendentin. Sie fand, dass er als _Mann_ dem
Unfug mit einem Schlag ein Ende machen musste. Die Superintendentin
appellirte oft an den Mann. Sie selbst war ein Charakter. Dann hatte man
die Sanitätsräthin über sie placirt; so gut wie die Sanitätsräthin war sie
allemal. Der Sanitätsrath war ein Cyniker. Das Interessanteste an Tolstoi
wäre seine Diät, sagte er. Er erlaubte sich dann sogar Anspielungen auf
die gar nicht Tolstoi’sche Diät in der Superintendentur. – Man hatte etwas
auszustehen als Mann Gottes in diesem ungläubigen Jahrhundert.

Und oft dachte der Superintendent mit Seufzen an die Zeiten, als noch ein
kirchlicher Fingerzeig genügt hatte, um Unbefugte auf den Scheiterhaufen
zu schicken, Calvin über dem fröhlichen Genf seine Ruthe schwang.

Der saubereingebundne Band seiner Predigten 1897–1900 tröstete ihn dann.
Ein Geschenk der Frau Superintendentin. Sie hatte sie selbst
nachgeschrieben. – So hatte doch auch der Fortschritt, selbst die
Buchdruckerkunst, diese Teufelserfindung, sein Gutes.

Der Superintendent hatte den Fremden zu einer Besprechung zu sich
eingeladen. Die Einladung war in ganz höflichen Worten erfolgt. Erstens,
die christliche Milde auch gegen den irrenden Bruder, dann existirte ja
auch eine geistliche Gerichtsbarkeit, die vorfordern konnte, nicht mehr.

Er erklärte sich die Sache so: Ein ungebildeter Mann, ein Handwerker – der
Superintendent betonte das „ungebildet“ –, von Mysticismus, sitzender
Lebensweise angekränkelt, hatte sich in diese Dinge vertieft.
Voraussichtlich würde er ihm lange confuse Reden halten, von einer
Mission, Erscheinungen. Man kannte das, und seine Wirkung auf das
ungebildete Volk. Gerade weil ihnen das Alltägliche nicht gut genug war,
sie das Ruhige und Vernünftige nicht thun wollten, liefen sie nach dem
Wunderbaren. Der Hirte kannte seine Heerde.

Man würde mit diesem Manne vernünftig sprechen, seine Absurditäten
nachweisen, selbst wenn man ihn nicht überzeugte. Heilsarmee,
tausendjährige Reichsgeschichten waren ja Mode jetzt. Dieser Hang hatte
ihm schon viel Sorge gemacht. Er witterte die alte Hure von Rom, das
babylonische Weib, das von Neuem seine Netze auswarf. Und man musste so
vorsichtig sein wegen der Behörden, durfte das Unkraut nicht ausjäten.

Der Superintendent hatte sich zu dieser Besprechung noch einen Confrater
eingeladen, der Consistorialrath war, Professor an der theologischen
Fakultät, Kirchenhistoriker. Man war so zu Zweien, stärkte sich vorher
weidlich an gutem Tabak und bessrem Wein und konnte die möglichen
Ergebnisse gleich erörtern, während die Frau Superintendentin mit der
Consistorialräthin Kaffee trank. Dabei hatte man dann auch allerlei
interessante Fälle und Ketzereien zu erörtern.

Der Superintendent war dafür, den Fremden nicht gleich vor den Kopf zu
stossen, ihn im Gegentheil leutselig, als gewissermaassen zum Fach
gehörig, zu behandeln.

„Es ist ja auch möglich, dass ein Laie durch Nachdenken, besondre Gnade,
ungewöhnliche Einsicht in göttliche Dinge erlangt und Beherzigenswerthes
von sich giebt. Der Fall wäre denkbar. Ich kannte einen Schuster, der über
die Gnadenwege und Melchisedek, den König von Salem, stritt wie der
gewiegteste Theologe.“

Der Confrater schüttelte lächelnd den Kopf: „Wir haben das Beispiel der
Wiedertäufer, der Methodisten in England. Die theologisch geschulte
Intelligenz fehlt, das Reguläre, Feste, darum Lebensfähige.“

„Aber es waren doch in den Irrthümern dieser Leute – allerdings gleich
Körnern in der Spreu verborgen – auch einige unbestreitbare evangelische
Wahrheiten enthalten.“

„Das ist eine gefährliche Ansicht. Jesuitisch – so gewissermaassen: der
Zweck heiligt das Mittel, lieber Bruder.“

Dieser Herr war bekannt dafür, dass er die feinste Nase in Deutschland
hatte, um die Jesuiten zu riechen. Das war sein rother Lappen, auf den er
überall losging, ihn überall herausfand, wie der Spürhund die Fährte. „Hat
uns nicht Martinus von dem Aberglauben befreit? Und sagt nicht der Herr
selbst: Ihr, die Ihr Zeichen und Wunder sehen wollt ...“ Der Confrater hob
warnend den Finger.

„Nichtsdestoweniger giebt die Schrift ausdrücklich die Möglichkeit solcher
zu. Nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichsten Sinn.“

„Wir sollen Gott nicht versuchen. Vermessenheit, Freund, Vermessenheit! Es
ist die grosse Aufgabe der modernen Theologie, die Wissenschaft mit der
Religion zu vereinigen.“

„Es wird immer Vieles bleiben, was wir nicht wissen.“

„Da haben wir uns dann wohl in Demuth mit der beschränkten Einsicht
hienieden zu genügen. Das ist eine gefährliche Bahn, lieber Bruder. Eine
Schlinge des Argen, ebenso gut wie die er in der Lauheit uns legt, dem
vollständigen, rationalistischen Ablehnen des Wunderbaren und
Unfasslichen. ‚Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort.
Dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich es stückweise.
Dann aber werde ich erkennen, gleich wie ich erkannt bin.‘“

Hier meldete das Dienstmädchen, dass ein fremder Mann in der guten Stube
wartete. Sie war augenscheinlich etwas in Zweifel, ob ihm wirklich die
gute Stube gebührte und wartete auf Bescheid. – Man hörte eine Thür sich
öffnen und vorsichtig wieder einklinken aus dem Zimmer, wo die Frau
Superintendentin mit ihrer Freundin sass.

Der Superintendent empfing den Gast dem Programm gemäss mit demonstrativer
Herzlichkeit. „Nun, lieber Freund? Nehmen Sie Platz, mein Lieber! Ich habe
Sie hergebeten mit diesem meinem sehr geschätzten und verehrten Collegen,
um mich mit Ihnen über Ihre religiösen Ansichten zu unterhalten. Das ist
immer lehrreich für einen Diener am Wort, gewissermaassen ja auch meine
geistliche Pflicht, obgleich Sie ganz als Freund hier sind, mein Gast und
in aller Güte. – Ich vermuthe, Sie gehen von der sehr richtigen Ansicht
aus, dass das Evangelium den Laien wieder mehr in der Form des täglichen
Brotes gleichsam, nicht nur an Sonntagen in der Kirche, näher gebracht
werden muss. Es soll wieder ein Bestandtheil des täglichen Lebens werden,
und Sie denken, dass dazu Predigt und persönliche Ansprache, selbst
Aufsuchen des Einzelnen, das Geeignetste ist. Es wären dies wohl gleichsam
die Principien, auf die sich die mir sehr interessante moderne Agitation
der Heilsarmee stützt. Ich möchte, dass Sie mir nun in kurzen Worten das
Dogmatische Ihrer Lehre, den festen Kern der Heilswahrheiten, auf die Sie
persönlich den Hauptnachdruck legen, entwickelten.“

„Ich habe keine.“

„Sie verstehen mich nicht. Jedenfalls gehören Sie doch irgend einem
Bekenntniss an, oder haben sich in Ihrem Innern für ein solches
entschieden? Wenn Sie Protestant sind, halten Sie sich an die Augsburger
Confession? Folgen Sie eher Luther? Jedenfalls doch – und das ist wohl
kaum eine Frage – stehen Sie mit uns auf dem Boden des apostolischen
Glaubensbekenntnisses?“

Der Superintendent sah ihn streng an.

Der Confrater nahm eine Prise.

„Ich kenne es nicht,“ sagte der Fremde.

Der Superintendent war roth geworden wie ein Mohnkopf. „Aber – aber – das
ist die Hauptsache. Das ist Christenthum, die geheiligte Norm, für die
unsre Väter, die erste Christenheit gelitten und gestritten haben. Das
Andre ist leere Phantastik, giebt der weitesten Irrung Spielraum, der
Regellosigkeit.“

„Es giebt das Leben.“

„Welch’ ein Irrthum! Welch’ ein verhängnissvoller und weittragender
Irrthum!“ rief der Superintendent warm. „Es wäre ja denkbar, dass ein
Mensch, der ganz ausserhalb der christlichen Heilssphäre stände, den Namen
Christi nie gehört hat, auf rein deduktivem, moralphilosophischem Wege zu
einer der christlichen durchaus ähnlichen Ethik gekommen wäre, wenn hier
eben blos die Ethik das Entscheidende wäre. Denken Sie, dass das ganz
denkbar sein könnte?“

„Es ist denkbar,“ sagte der Fremde.

„Stoiker,“ nickte der Confrater. „Griechische Philosophen der
nachplatonischen Schule! Das sind die Argumente, die schon die
französische Revolution gebrauchte.“

„Sie würden doch nicht sagen, dass ein solcher Mensch ein Christ wäre, mit
uns Theil hätte an der Erlösung durch den Leib des Herrn?“

„Ich würde es sagen.“

„Und wie wird er dastehen im nächsten Leben, wenn Christus die Seinen um
sich versammelt, die im Blut des Lammes Gewaschenen, auf seinen Namen
Getauften eingehen, und die Andern abgetheilt werden zur Linken?“ Der
Superintendent wischte sich den Schweiss. Er schnappte nach Luft wie ein
Fisch auf dem Trocknen.

„Ich weiss es nicht.“

„Eine Art Allheilslehre,“ beruhigte der Confrater. Das Wortspiel zwischen
„Leere“ und „Lehre“ amüsirte ihn. „Socialistische Moral des Christenthums.
Das ist blos die Frucht. Der Glaube ist das Erste.“

„Ich glaube, dass die That das Erste ist.“

Jetzt sah der Superintendent wieder Fahrwasser. Er war ganz erfreut. „Das
ist die Lehre von den Werken, das Katholische, Papistische, wogegen schon
Lutherus sich auflehnte. Wir können aus uns selbst nicht gerecht werden.“

„Wir können wollen.“

„Und die Rückfälle? Das menschliche Gesetz bestraft sie. Wie wird sie Gott
nicht strafen?“

„Wie soll Gott sie strafen, wenn sie in sich selbst ihre Strafe tragen?“

„Fatalismus,“ notirte der Confrater.

„Die Bösen! Die Bösen, Mann! Wie erklären Sie die Bösen?“

„Es ist ihr Unglück.“

Dem Superintendenten wurde in der That die Halsbinde zu eng: „Unglück? Und
der, der kämpft, das Gute will, Gutes thut? Sollen die Guten keinen
Vortheil vor den Schlechten haben?“

„Sie sind glücklich.“

Der Confrater mischte sich jetzt ein: „Sehr interessant. In der That
höchst interessant. Das ist Buddhismus. Es ist die Lehre des Buddha. Wenn
man denkt, dass sie dreitausend Jahre alt ist! Haben Sie irgend welche
Verbindung mit diesen Religionsgesellschaften gehabt? – Es könnte doch
sein in irgend einer corrupten Form“ – (dies für den Collegen) –, „Bücher
darüber gelesen?“

Der Fremde sah den Confrater an. „Alles ist Verbindung,“ sagte er.

„Natürlich! Die Wiederkehr! Die Wiederkehr!“ Der Professor rieb sich die
Hände höchst befriedigt. „Das ist das charakteristische Merkmal. Sie geben
sich das weiter wie ein Geheimniss. Fragen Sie ihn doch, ob er an die
Seelenwanderung glaubt? Gerade für die populäre, gewissermaassen kindliche
Phantasie haben diese Verwandlungen etwas Anziehendes. Sie finden das im
Volk in tausend Märchenvorstellungen, Geschichten von Wehrwölfen,
Schwanenjungfrauen, sprechenden Bäumen. Selbst in dem indianischen Märchen
des Hiawatha von Longfellow kommt diese Idee wieder, in der Verkörperung
des Samenkorns. Isis und Osiris, Baldur, ... Es ist Alles dasselbe.“

„Aber das ist nicht das Schlimme, das ist das Gefährliche nicht!“ platzte
der Superintendent los. „Die Moral! Die Moral! Diese Lehre vom Nirwana,
der blinden Ergebung, der Thatenlosigkeit, der stumpfsinnige Fatalismus
des Orients wieder zu uns verpflanzt! Das ist der Tod aller Cultur, allen
Fortschritts, aller Humanität. Das ist Heidenthum! Heidenthum! Das
Christentum ist Kampfesmuth, Streben, Krieg!“

„Auf den Krieg folgt der Friede.“

„Friede da droben! Hier ist Kampf. Wir sollen Kämpfer sein.“

„Krieg in uns, Friede nach aussen.“

„Wir sind nicht hier, um Frieden zu haben. Unser Leben ist Ringen und
Unruhe. Da oben erst wird er uns zu Theil. Aus Gnade.“

Der Fremde lächelte.

Der Superintendent war auf einem Lieblingsthema. „Der wahre Christ ist vor
Allem ein Streiter. Seine Feinde sind der Satan, die Sünde in uns und
ausser uns. Wir sind arme Sünder.“

„Wenn wir siegen?“

„Selbst wenn wir unser eignes Fleisch überwunden haben. Die Sünde in der
Welt bleibt. Sie greift uns an. Wir haben uns zu wehren gegen sie.“

„Sie existirt nicht gegen uns, wenn sie in uns nicht ist.“

Der Confrater nickte von Antwort zu Antwort mehr befriedigt.

„Wir kommen jetzt auf das Fakirwesen, Hallucinationen der Märtyrer.“

„Sie wollen das nicht sagen? Das ist Vermessenheit, mein Lieber! Unser
Fleisch bleibt der Anfechtung unterworfen, so lange wir im Fleisch
wandeln. Wer da meint, er stehe, der sehe wohl zu, dass er nicht falle.
Der Ehrgeiz – die böse Lust – Reichthum. Selbst ich –“, hier fasste der
Superintendent den Fremden beinah am Rockknopf, „– selbst ich, der ich ein
Diener am göttlichen Wort bin und alle seine Schlingen kenne – ich habe
meine Momente der Schwäche, der Anfechtung. Ich habe Versuchungen zu
bestehen ... Das ist unchristlich, Mann! Stützen Sie den Glauben! Sprechen
Sie gegen die Gottlosigkeit! Auf dem Lande. Unsre Bauern haben dicke
Nacken. Stolz und Habsucht sitzen da steif drin. Gott sei Dank! sind sie
noch gläubig. Die Grundvesten unsres Glaubens sind unangetastet. Die
moderne Anarchie und Zweifelsucht ist da noch nicht eingedrungen. Das geht
immer Hand in Hand. Das bedeutet die Emanzipation des Fleisches. Wir
würden uns wie Schweine im Koth wälzen. Im Koth! Sehen Sie das alte Rom!
Babylon! Die antike Welt vor Christo.“

„Sie hat Christus hervorgebracht.“

„Christus ist das ganz Vollkommene, Gute. Das Fleisch ist das Böse. So
kämpfen diese beiden Gewalten. Bis das Gericht kommt, das Gute siegreich
bleibt im unschuldigen Blute des Lammes, das Böse im Abgrund verschlossen
wird mit adamantnen Ketten. – Das ist der uralte Kampf.“

„Demiurgos, Ahriman und Ormuzd,“ bestätigte der Confrater. „Lehre von der
primären Theilung der Gewalten.“

Die Frau Superintendent hatte schon mehrmals merklich und merklicher an
die Thür geklopft. Jetzt steckte sie ihre Haube selbst durch den Spalt.
„Excellenz von Koschemann ist für den Bazar gekommen. Wenn Du einen
Augenblick Zeit hättest, lieber Willibald ...“

„Auch ich bin ein Soldat des Herrn. Sehen wir zu, dass wir gut kämpfen.
Und das Heil finden, das es für uns nicht giebt, denn allein im gesegneten
Blut des Lammes dereinst, das unsre Sünden abwäscht weiss wie Schnee.“

Der Fremde war entlassen.

Der Confrater sah ganz klar. „Gnostiker, die alte Geschichte. Das hat
immer angefangen mit der Antastung des Buchstabens. Der Buchstabe, mein
Freund! Das Wort sie sollen lassen stahn! ... Und jetzt lass uns zu unsern
liebenswürdigen Damen gehen.“



                           DAS NEUNTE KAPITEL.


Und er ward im Geist entrückt in eine fremde Stadt.

Die Glocken läuteten. Eine ungeheure, unzählbare Anzahl von Glocken. Es
waren dumpfe, grosse darunter, die mit der Stimme des Erzes riefen, der
Kanonen, furchtbarer Ereignisse, Krieg, Pest und Feuersbrunst. So stark
riefen sie, dass Niemand ihren Klang in der Nähe aushalten konnte, die
Luft ihn lange behielt, ehe er verhallte. Sie schwangen in furchtbaren
Höhen und thronten einsam in Kammern weit über den Köpfen der Menschen.
Die ihre Stricke bewegten, sassen sehr niedrig auf schwebenden Balken und
wurden beinah gespalten von der Heftigkeit des Klanges. Diese Glocken
läutete man nur bei ganz grossen Gelegenheiten. Wenn sie klangen, sahen
die Leute auf und sagten: Es ist das oder das. Sie meinten ein sehr hohes
Fest, ein grosses Unglück oder eine grosse Freude. Die ganze Stadt und das
Land ringsum kannte den Klang dieser Glocken. Man war stolz darauf und
fürchtete sie auch.

Andre waren milder, mittlere. Die läutete man alle Sonntage. Man hörte sie
auch weit, über ein ganzes Stadttheil oder eine Strasse. Ein Klang von
Silber war in ihrem Erz, der sprach von Güte und Milde. Sie lockten, und
schreckten nicht, läuteten regelmäßig mit kräftigen, hallenden Schlägen,
wie die Stimme eines Predigers, die klangvoll spricht in schönen, malenden
Worten.

Und es waren ganz kleine, die einzeln riefen wie einzelne, verlorene
Stimmen. In mancher war ein sehr helles, feines Klingeln oder zitterndes
Wimmern, die eilige Angst einer Agonie, oder der sanfte Schmelz einer
Frauenstimme, sehr weit fortgetragen auf himmelansteigenden Trillern zu
reinen Aetherhöhen. Der pure Goldklang ganz feiner Eliteseelen, die um den
Thron Gottes lobpreisen, und ein kleines, gleichgültiges, hastendes
Bimmeln, in dem Viele sich vereinten, wie das der Pferdebahnwagen, dieser
Schellenbeutel, die herumgegeben werden in den Gemeinden zwischen den
Pausen des Gottesdienstes – lästig fast, nur die Ohren füllend, das zum
Alltagslärm gehörte, ihn irritirend machte.

Alle Glocken läuteten. Die grossen gaben den Ton an. Die mittleren fielen
ein wie ein gutgeschulter Chor. Die ganz kleinen waren Geräusche, oder
Stimmen junger Kinder. Alle läuteten. Die Luft war sehr voll und schwang
von ihrem Klange. Und die andern Stimmen des Lebens schwiegen.

In den Kirchen und Domen drängte sich die Menge. Es war halbdunkel in
diesen Hallen, dass man die Einzelnen in den Tausenden nicht erkennen
konnte, Männer oder Frauen, reiche, gutgekleidete Leute oder ganz Arme.
Ihre Gesichter bildeten blasse Flecken im Dämmer, wie aufgewandte Kelche
von Blumen, die ihr Athmen wie ein Duft umwallte. Die übrige Schwere des
Körpers blieb unbestimmt, ertrunken in unruhigem Schattenspiel der Vielen,
dem lastenden, schweren Dunkel dieser Steine, ungeheurer Steinmassen der
Gewölbe und Mauern.

Säulen standen wie Baumstämme ohne Aeste mit schweren Blättern und
Steingewinden um ihre Kronen, während feine, tiefe Rillen an ihnen
hinabliefen, von Regentropfen gegraben oder ewig fliessenden. Von
stützenden, lastbaren Pfeilern schwangen sich die Wölbungen auf, Bogen und
Brücken, gespreizte Fittiche des Adlers, kühn und immer kühner bis zum
schwindelnden Ansturm der Kuppel, die den Stein zerbrach, die Schwere des
Materials aufhob im ungeheuren, athemlosen Aufschwung der Seelen.

Der Schritt klang hohl vom Echo der Millionen Schritte, die da schliefen
in tausendjährigen Steinquadern. Von schlanken, weissen Kerzen stiegen
gelbe, zitternde Flammen, umgekehrte Herzen, blauen Schein der Sehnsucht
ausathmend. Ein Duft von Weihrauch, Wachs und Thränen lag schwer in Nebeln
und wallenden Wogen.

Man sah Altäre sich golden recken, Gold vom Fuss bis zur Spitze, in immer
feineren Säulchen, Treppen, Bögen, inkrustirt mit bunten Edelsteinen, die
Lichter gaben im Dunkeln wie Schlangenhäute, Augen seltsamer Reptile und
Käfer, Wunder von goldnen und silbernen Spitzen, Rosen und Blumen,
eingefrorne Rhythmen, mystische Zeichen und Runen aufsteigend wie
Gedichte. Eine unverwelkliche Pflanzung aus menschlichen Herzen,
mirakulöse Flora des Glaubens, hierher geflüchtet in eine heilige Grotte,
unter dem Dämmerlicht der bunten Gläser, gefärbt mit ihrem Blute: Roth,
welches die Liebe und der Tod ist, Blau des Glaubens, festruhendes warmes
Grün der Hoffnung und des Lebens. Und Krämpfe, furchtbare Leiden,
zerschnitten den himmlischen Dreiklang: Gelb der Pein und des Geizes, in
den Gewändern der Aeltesten und Schreiber; Violett der Eifersucht, das
zugleich die heilige Farbe der priesterlichen Macht und der Ehrfurcht ist;
ein helles, gefiltertes Rosa, welches gemartertes Fleisch der Gequälten
vorstellt und auch die liebliche Unschuld des Kindes. Alle spiegelnd,
irrend, flehend um das klare Gold des Triumphes, Farbe der Sonne, wo die
Mutter thront mit dem Kinde, die Heiligen knieen in seliger,
weltentrückter Anbetung.

Wie ewige Pfeiler standen sie da, die Starken, der Apostel heilige
Zwölfzahl, wunderbar die Reihe der Monde, des Sternkreises wiederholend,
Propheten, Sybillen – die wussten und aushielten. Märtyrer öffneten
blutrothe Wunden, Laurentius auf dem flammenden Bett, Sebastian mit
durchbohrter Brust, Agnes, ganz nackt, nur in den strahlenden Mantel ihrer
Haare gehüllt, unter den Augen der Wollust, – aufgerissne Seiten,
furchtbare Verrenkungen der Gefolterten, Striemen der Gegeisselten. Die
Heiligenscheine dominirten über verklärten Stirnen. Die weisse Taube des
Geistes schwingt sich glorreich auf über Blut, Flammen und Qual.

Sie singen. Aus den Tiefen hebt es sich. Von der geknickten, schwarzen,
wimmelnden Masse – De Profundis. Langgetragen, hohle Rufe wie Appellrufe
in der Noth, schneidender Wehschrei der Gequälten, zitternd, sehr hoch
schwebend, wie ein Weib schreit in Kindesnöthen: Miserere – Miserere ...
Dumpfer Trommelschlag. Vokale fast Alles, sonore, volltönige, die nicht
fallen – Ora pro nobis, aufsteigend zu männlichem Muth, Schlachtgesang,
bis zum jauchzenden, hellen Posaunenstoss der Befreiten, gellend fast,
schmetternd in Siegeszuversicht: Tedeum laudamus.

Die Stimmen schweigen. Das Wort allein spricht. In marmornen Worten,
Sätze, die feststehen wie die Welt. Rollende Vokale, geheimnissvoll,
kräftig, wie die die schufen, – das grösste Mysterium der Menschheit, Wein
und Brot, uralte Mysterien, heiligste Symbole des sacrosancten Lebens.

Ueber der Menge, die kniet, hungernd, brünstig, erhebt der Priester das
Allerheiligste. Er selbst ist weiss, ganz weiss. Er ist hundertjährig. –
Es giebt einen goldnen Schein wie die Sonne.

In einem ungeheuren wehen Seufzer hebt sie sich, es zu empfangen – das
Opfer von Gott angeboten. Blut und Fleisch, für das andre Opfer des
Fleisches und des Blutes, des Lebens, an das grosse Leben, das prangend
weggeht über den Tod, Jammer und Kleinheit.

                  ‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐

... Ein enger Holzpfad im Gebirge. Das Gebirge liegt verschneit seit
Wochen. Bis an die Knie hoch steigt der Schnee. Die Tannenzweige brechen
unter seiner Last. Gleich Zuckerhüten ragen die Baumwipfel aus der Weisse.
Man unterscheidet nur höhere und niedrigere Lagen, Steine sind
Schneekuppen. Gleichmässig ist er im Grunde, hart, vereist, eingestampft.
Aber die Oberschicht ist federweich, eine Hand hoch, glitzernd, feiner wie
der Flaum auf Brüsten der Eidergänse, mit Seidenreflexen.

Unter dem Schnee begraben liegen Moos, Gräser und Gesträuche. Er stäubt in
Puder von den überlasteten Zweigen. Kleine Aeste und Holzstückchen, die
sich ablösen, versinken lautlos. Die Lücke, die sie verursachen, schliesst
sofort die streichelnde Sammethand. Der ganze Wald leuchtet weiss,
blauweiss vom Schimmer des jungfräulichen Schnees. Der Fuss versinkt in
ihm wie in Daunenteppichen. Ohne Kühle fast. Aber er hebt sich schwer
heraus. Das Leder des Stiefels wird hart und spröde von der Feuchtigkeit,
die nirgends das Wasser zeigt.

Und immer fällt der Schnee. Man sieht keine Spuren des Wildes. Es ist
erfroren, festgefroren wie stehende, steinerne Bildsäulen in Mauern von
schmeichelnden Krystallen oder es verkriecht sich im inneren Tann, wo das
Dach der Zweige es schützt, karge Nahrung sich findet an Sprossen und
Rinde. Der Schnee füllt die Fahrgeleise des Weges aus. Er steigt zu seinen
Rändern und vermischt sie. Wie Gespinnste in seinem Innern ziehen sich
dürre Bastadern der Farne und Heidelbeerbüsche. – Die Stille ist sehr tief
und der Schnee fällt.

Durch den tiefen Schnee sucht sich der kleine Priester seinen Weg. Er
trägt die letzte Tröstung zu einem Sterbenden.

Der Tod ist rasch gekommen. Ein blutjunger Bursch, der Spielmann Anderl.
Heute hatte sein Schatz Hochzeit gemacht mit einem Andern. Der Spielmann
war zurückgesprungen über die Berge, das fressende Gift im Leibe und den
Kopf im Feuer. „Geht’s schlecht, so geht’s schlecht, geht’s gut, kürz’ ich
mir den Weg um Stunden.“

Am Hornbiehel war er abgestürzt. Jetzt lag er im Todeskampf in der
Holzschlägerhütte.

Durch Schnee und Nebel im beeisten Gebirge kämpfte sich der kleine
Priester zu dem Sterbenden.

Er war noch sehr jung, noch nicht lange da oben. Man nahm für die Stelle
die ganz Unbedeutenden, die Bescheidenen, die nicht Carriere machen
würden. Niemals hatte er daran gedacht, ein Findelkind, das man den
Priestern übergeben. Regelmäßig liefen die kargen Beiträge für ihn ein,
von einem Büreau bezahlt an eine Kasse, ohne Persönlichkeit, ohne Namen.

Er hatte niemals eine andre Heimath gekannt als das Kloster. Da war seine
Stätte, am Altar. Der liebte ihn und der hatte ihn nicht zurückgestossen.
Mit weissen Blumen umkränzte er ihn. Er sang. Er schwang seine
Weihrauchschale, weissgekleidet als Chorknabe, Diener am heiligsten
Messopfer, eh’ er selbst daran theilgenommen. So war er aufgewachsen, in
dieser Atmosphäre der Liebe, Weiss und Gold, den heiligen Farben der
Unschuld und des Triumphes. Ohne einen andern Gedanken. Er liebte Alles.

Es war um ihn wie der weiche, milde Schein, der vom linnengedeckten Altar
ausging, der Lampe, die ewig brannte in all dieser Weisse, dieser Stille.
In lasterverzerrten Zügen sah er das Leid. In ihrem Hochmuth die Angst. In
ihrer Schönheit, rührender als ihre Schönheit, den Tod.

Wie auf weissen Rosen ging er mit nackten Füssen, lächelnd das Heilige
tragend gleich Engelknaben. Und vor seiner demüthigen Stirn neigten sich
die Stolzen. Die Bescheidnen fassten Muth. Alles liebte ihn. Es war, wie
wenn die Vögel süsser sangen, wenn er vorbeischritt im Klostergarten. Sie
waren zutraulich und pickten von seinen Händen. Die Blumen, die er
pflanzte, gediehen. Ruhig und majestätisch entfalteten sie sich. Die Sonne
schien nicht zu heiss auf sie. Irgendwie hörte der Sturm auf um ihre
schlanken Stengel.

Es gab alte Mönche im Kloster, die das Leben gekannt hatten. Es hatte
harte Narben gegraben in ihre Seele. Sie liebten ihn, die alten Wunden
brannten nicht, wenn er da war. Nur eine Gabe besass er, die lieblichste
David’s, der Musik. Die Töne wurden lind unter seiner Hand und wenn er
spielte, hörte der Tumult auf in leidenschaftdurchwühlten Herzen.

Niemals war er stolz gewesen oder ungütig. Ein Kind Jesu! Er trug diesen
Namen, halb der Schande, wie eine feine, goldne Aureole.

Die Grossen übersahen ihn und für die Klugen war er nichts. Er hatte keine
Disputationen geschrieben über Fragen des Glaubens. Die weltliche Macht
der Kirche liess ihn kalt. Der Beifall einer Menge hätte ihn schüchtern
gemacht.

Aber er liebte die kleinen Kinder. Sehr alte, hülflose Leute waren ihm
ehrwürdig. Er richtete die geknickten Halme auf und ihn erbarmte der Vogel
unter dem Himmel.

Tapfer kämpfte der kleine Priester durch den Schnee. Der Schnee fiel in
weichen, grossen, fasernden Flocken aus Wolken, die selbst Schneesäcke
waren. Sie hingen so niedrig, dass man nicht sah, wo sie aufhörten und das
Gestöber anfing. Ihre Vorräthe schienen unendlich, als ob ein ganzer
Himmel voll von Schnee hinter ihnen läge. Er leerte sich langsam. Von den
Schichten bauten sich Mauern ihm entgegen. Nichts konnte mehr welchen
aufnehmen. Aus dem Ueberfluss wallten neue Hügel über. – Diese Flocken
lösten sich nicht auf. Sie schwebten und drehten sich langsam in der Luft
und blieben hängen wie im Festen, Gesättigten. Man dachte an Nesterbauen
dabei, Eiderdaunen, in die man sehr tief einsank. Und es war gar nicht
kalt. Der Schnee schien wie eine schützende Schicht zwischen der Kälte und
der Erde. Es war wunderbar, wie lautlos er fiel. Und überall, wo er fiel,
hörten die Contouren auf, alles Steife, Eckige, Nackte. Wie ein
liebevoller Pelzmantel hüllte er sie ein, dass sie nicht mehr froren,
zeigten. Er fiel ... fiel ...

Der kleine Priester fror gar nicht. Im Gegentheil, ihm war warm. Er trug
das Allerheiligste unter seiner Soutane, gegen die Brust gepresst. Und es
war ihm, als wäre es da eingedrungen. Es sass da und brannte. Goldne
Strahlen warf es. Immer grösser, immer weiter. In der Mitte war ein
blutrothes, glühendes Herz und sein Scheinen war wie Karfunkel. Es
leuchtete weit durch den nächtlichen Wald.

„Das ist, als ob ich ein Licht bei mir trage,“ sagte der kleine Priester.
„Wie seltsam das ist! Und wie schön!“

Schön war es in der That. Alle Bäume standen wie schwarze Säulen, ganz
gerade mit seltsamem Ast- und Aderwerk. Ihre Zweige verbanden sich. Sie
kreuzten sich und rankten ineinander geheimnissvoll in Rosetten, Sternen,
wie ein Kirchendach. Er ging ganz leise, wie auf weichen, weissen Rosen.
Er zertrat sie nicht. Sie richteten sich auf unter seinem Fusstritt. Sie
dufteten sehr süss, Ambra, Weihrauch und Myrrhen, die mystischen Düfte der
Kirche, die Seele darstellend, die sich spiritualisirt in Sehnsucht.

Jetzt fing es auch an zu läuten. Zwischen den hohen Bäumen schwangen die
Glocken. Sie hingen da in Stricken von einem Baum zum andern. Und sie
schwangen, schwangen. Wunderbare Melodieen waren die Melodieen der hohen,
ernsten Bäume. Den kleinen Priester erstaunten sie. „Ich habe es doch oft
rauschen hören im Walde. Niemals wusste ich, was es war. Aber jetzt weiss
ich es.“

Und er hörte kleine, liebliche Stimmen. Das waren die der todten Blumen
unter dem Schnee. Er hatte gedacht, dass sie todt wären. Sie waren nicht
todt, sie warteten nur auf den Frühling, lagen warm und weich gebettet
unter dem Schnee, der sie zudeckte und fiel – fiel.

Die Schneeflocken selbst sangen. Sie fassten sich an und tanzten. Es war
richtiger Rhythmus in ihrer Bewegung. Dazu klangen sie. Und dann waren sie
Engelsköpfchen mit weichen, flaumigen, ganz jungen Flügeln. Das sind die
Seelen der todten Kinderchen, die sterben, ehe sie zum Bewusstsein ihrer
Seele erwachen.

Er hatte nie gewusst, wo diese todten Seelen hinkommen. Jetzt wusste er
es. Sie waren glücklich und deckten die kleinen Blumen zu, dass sie gut
schliefen, nicht erfroren im harten Winter.

Er musste über einen Bach, der ganz zugefroren war. Aber das Wasser war
auch nicht todt, es schlief nur in der Tiefe. Er hörte es singen
geschäftig am Werke, in kleine Röhrchen tausend Tröpfchen zu giessen, die
Erde aufzuweichen. Es wird Frühling! Es wird Frühling!

Auf einmal war es Frühling.

Er wandelte in einem grünen Dom. Wände von lichterem Grün schoben sich
zwischen die andern, hohen. Alle regten tausend Blättchen. Einige waren
fast durchsichtig vom Licht, das sie golden durchglühte. Die Andern
blieben im Schatten beinah schwarz, oder ihre Ränder zeichneten sich wie
in hellem Feuer gezogen. Atlasglänzend lief es entlang am Buchenstamm wie
feinste Haut des Apfelschimmels, röthlich schwelend an der rissigen
Kiefernborke. Die Birken standen ganz weiss mit gesenkten, wehenden
Zweigen, ein kleines, zitterndes Herz jedes Blättchen, Jungfrauen
vergleichbar in der Schönheit ihrer Haare im Mai. Pelze hatten die
Haselnussblätter. Die Erlen bogen sich, schwärzliche, schuppige
Schlangenleiber, dem Sumpf entsprossen, mit klebrigem, bitterschmeckendem,
starkgerieftem Blattgrund. – Und da oben über dem Blätterdach stand die
Sonne, goldne, warme Frühlingssonne.

Er wandelte mit nackten Füssen auf einem Blumenteppich. Wo er hintrat,
blühten die Blumen. Sie blühten auf wie Kissen unter seinen Füssen, nur
Blumen ohne Blätter und Stengel. Vögel sangen, goldne Vögel mit silbernen
Schwingen, die Stimme des Windes, der Erde und des Wassers, Alle priesen
Gott.

Er sah auf und die Sonne war Gott. Seine Strahlen fielen warm über Alles.
Er war gut – gut.

„Ihr könnt mich nicht verstehen so. So gross und gut bin ich. Darum bin
ich das Grösste und das Gute, was Ihr verstehen könnt.“

Er verstand sehr wohl, wie gut Er war. Und dass Er tausendmal besser und
grösser sein musste, als er verstehen konnte.

Aber es war da eine Brücke aus den Strahlen, die von Seiner Brust
ausgingen, und den weissen, funkelnden Sonnenstrahlen mit Perlen und
Emeralden und köstlichen Topasen geschmückt, die das Licht gebiert im
Wasser, aus der Tiefe. Auf der schritt er.

Durch das Blaue schritt er gerade in die strahlende Sonne hinein. Er
wusste, dass sie Feuer war, aber sie brannte nicht. Sie war auch nicht
golden. Sie war weiss, von einer lichten, unbeschreiblichen Klarheit,
lichter denn das Mondlicht im Kerne der junggebornen Mondsichel, und
Atlasschimmer aus keuschen Lilienkelchen.

Er sah eine Frau in der obersten Klarheit. Sie hielt einen Lilienstengel
in der Hand. Er wusste, dass es seine Mutter war, die er nie gekannt und
verloren hatte. Jetzt erkannte er sie gleich. Sie lächelte ihm zu.

„Ich komme. Ich komme,“ sagte der kleine Priester begeistert.

Auch ein ganz weisses Lamm sah er. Er freute sich, dass es da war. Er
hatte die Thiere immer geliebt. Er hoffte, dass es auch für sie einen
Himmel gab. Dies wusste er nun auch.

Alle Bäume waren eitel lichtes Silber. Ihre Früchte waren Diamanten und
Perlen. Weisse Schneelilien sprangen auf, die süss dufteten. Man konnte in
die Erde sehen, tief hinein, denn sie war weiss und durchsichtig wie
Milchglas, Opale, in denen das Sternenlicht floss. Es war dies innere
Licht, von dem sie leuchtete, denn es gab nicht Schatten mehr. Wo Festes
gewesen war, wurde es weich und floss im Schimmer, der löste.

Und er war ganz weiss, er selbst. Seine Finger waren weisse Strahlen. Aus
seiner Brust schien die Klarheit, Alles, wo sie hinfiel, ward weiss.

Er trat in das kleine Stübchen der Holzschlägerhütte. Dies war ein elendes
winziges Gelass. Blut lag da auf der Bettdecke, Blut auf dem Fussboden,
Blut über den hastig hingeworfenen Kleidern. Man hatte die Fiedel
gerettet. Aber der Kasten war zerschlagen im Falle. Die Saiten hingen wirr
und ungesträngt.

Die Augen des Sterbenden waren weitgeöffnet. Ein Ausdruck des Schreckens
lag darin, und Brennen, als ob er sähe und Furcht hatte. Er phantasirte:
„Hast Du die Frauen gesehen, wenn sie zur Kirche schreiten? Ihre Hacken
schlagen kurz auf und ihre Hüften tanzen unter den runden Röcken, die der
Wind hin- und herschlägt. Wenn der Sechzehnender durch das Unterholz
bricht und der Stolz des Waldes ist in seiner keilenden Brust! Hei! Der
Zug der Burschen, der zum Schützenfest zieht. Alle Fiedeln spielen auf und
die Schenkel stampfen. Wie Herrenblick, der zwingt, trifft der nie
fehlende Bolzen. – Ich sage Dir, es ist nichts, was über des Weibes Anmuth
geht, denn ihre Falschheit! Wie ich sie geliebt habe und wie ich sie
hasse! Ihre Augenbrauen, die wie Bögen der Krönung sind, darunter
triumphirende Heere einziehen. Ihre Augen locken und ertränken wie der
wilde Bergsee. – Das ist roth – roth Alles – vor meinen brennenden Augen!“

Der kleine Priester strich mit der Hand über die Augen. Sie schlossen
sich. Sie brannten nicht mehr.

„Ich habe die Erde gerochen am Frühlingsmorgen, wenn sie dampfend
aufbricht, ehe der Tag kommt. Tausend Würzbäche strömen, wo die
tausendjährige Edelfichte krachend niederschlägt. Gefährlich wie Blutdunst
ist der umnebelnde Duft des Weines, der zu Kopfe steigt und die Fäuste
straff macht. Aber der Frauen Athem ist röther wie Blut. Wie Weizenacker
frisch geöffnet ist der Leib des Weibes. – Es ist die Schwüle der
Sommererde, die die Todten nicht schlafen lässt.“

Er strich mit der Hand über die Nasenlöcher. Leise fuhr der tröstende
Finger die zitternden, hastenden Nüstern entlang. Der Geruch war fort.

„Hast Du auf Deinen Lippen ihre Küsse gefühlt? Wenn sie schwören und
lügen. Worte, die fallen wie der Wasserfall, lieblicher denn
Nachtigallentriller. – Worte! Worte! Worte!“

Er strich über die Lippen und sie schlossen sich. Sie wurden stumm und
weich.

„Ich habe sie mit meiner Hand gehalten. Ich lasse sie nicht. – Wenn man
das Messer sehr fest packt und rothes Herzblut springt herüber ... Weisst
Du, dass ich mein Messer unter meiner Hand hatte? Sie haben mir gesagt,
dass ich das Holz sprechen machen konnte, die Saiten riefen unter meinen
Fingern wie mit Menschenstimmen. Ich will spielen. Sie sollen tanzen. Sie
sollen lachen und schreien. Ich will den Ton finden, der die Todten tanzen
macht. Die Todten haben Knochenhände und lassen nicht los.“

Die gekrampften Finger lösen sich unter den andern streichenden,
gleitenden. Die Hände fielen. Sie lagen ruhig und straff.

„Meine Füsse tragen mich nicht mehr. Aber sie haben mich getragen durch
die Nacht. Im Tanze. Wer kann tanzen wie ich, der Spielmann Anderl! Wenn
der Boden knackt, die Dirne hoch anfliegt zur schwelenden Decke. Ich kann
springen! Der Teufel ist in meinen Füssen. Ich springe mit dem Teufel zur
Hölle!“

Er berührte die Füsse an ihren Sohlen. Er salbte den rechten. Er salbte
auch den linken. Die Füsse lagen still.

Der ganze Mann war weiss und still jetzt.

Der kleine Priester hatte die Fiedel genommen, das Holz zeigte keinen
Sprung, die Saiten fügten sich wie von selbst und erklangen:

„Wenn Eure Sünde gleich blutroth ist, soll sie doch schneeweiss werden,“
sang der kleine Priester. „Und wenn sie gleich ist wie Rosinfarbe, soll
sie doch wie Wolle werden.

„Und heute noch wirst Du mit mir im Paradiese sein!“ schloss der kleine
Priester.

                  ‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐

In der Holzschlägerhütte lag der Wilddieb todt. Er lag mit gefalteten
Händen und lächelnden Lippen. Eine weisse Kerze brannte. Das blasse goldne
Herz stand zitternd aufrecht im Dunkel, das der Schnee warf.

Der Schnee fiel.

Unter der weissen Schneedecke, das Allerheiligste gegen seine Brust
gepresst, schlief der kleine Priester.

Der Schnee fiel ... fiel.



                           DAS ZEHNTE KAPITEL.


Nun war aber in einer Stadt ein junger Mann, der sich dem geistlichen
Stande gewidmet hatte.

Nie war für ihn die Frage gewesen, irgend ein anderes Amt zu erwählen. Von
früh auf zeigte er sich in geistlichen Dingen wohlbewandert, geneigt
darüber nachzudenken, die Texte auszulegen in ihrem deutlichen Sinne.
Dabei war er von mässiger und strenger Lebensweise. Er hatte sich Jahre
lang nur von Pflanzennahrung erhalten. Sein Geld gab er den Armen und
lebte wie der Aermsten Einer mitten unter ihnen. Zudem voll Würde in aller
Gütigkeit, dass er die Spötter zurückwies, Niemand ihm etwas anhaben
konnte. Im Gegentheil, es war eine gemeine Rede in der Stadt, wenn man
Jemand etwas Gutes wünschte, und diese Leute waren älter, dass man ihnen
einen Sohn wünschte wie Johannes. Seine alten Eltern, denen er zuerst ein
Kummer gewesen, dass er also herausging aus der Bahn, die sie selbst
gegangen, ein Amt erwählte, das ihnen fremdartig war und nicht so
angesehen in ihrer Meinung wie ihr eignes vor den Leuten, priesen Gott
alle Tage, der ihnen ein solches Kind gegeben, von dem sie Ehre hatten
jede Stunde, der als ein Muster stand unter jungen Leuten, in frühen
Jahren Ruhm erwarb wie Andre, die Jahre lang gedient, Last und Mühsal
getragen hatten.

Selbst solche, die ihm heimlich entgegenstanden, weil er sie strafte in
ihren Sünden, wagten nicht, ihn offen zu missbilligen, denn sein Ansehen
war gross unter allen Leuten, und seine Rede gewaltig. Dazu, weil er eines
vornehmen Mannes Sohn war, trug das zu seinem Ruhm bei. Das Gerücht drang
bis an den Hof. Er musste predigen dort und ward als Hofprediger
angestellt auf den eignen Wunsch des Fürsten, der gern seine Predigt
hörte, auch manches Gespräch mit ihm pflog. Er war selbst von ernster und
redlicher Gemüthsart, dachte viel nach über die Pflichten und Vorrechte
seines Amtes. Wenn er sich beunruhigt fühlte in seinem Gemüth, liess er
oft den jungen Prediger rufen, dass diese wie Freunde und treue Gesellen
wurden, sein Einfluss also gross war im Lande.

Aber Niemand neidete ihm denselben. Er war wohlgeachtet von Hohen und
Geringen. Gegen Arm und Reich hielt er sich gleich. Kein Rang und kein
klingender Lohn konnte ihn bestechen in seiner Entscheidung. Wiewohl es
ihm freigestanden hätte, ein Weib zu wählen, Niemand ihm seine beste
Tochter geweigert hätte, zog er es doch vor, einzeln zu bleiben, dass
keine weltliche Lust oder Sorge ihn abzöge von seinem geistlichen Amt,
welches er als das höchste erachtete in der Welt, ihm selbst von Gott
anvertraut, davon er Rechenschaft abzulegen hatte dereinst vor Seinem
strengen Richterstuhl. Es gab keinen geachteteren und würdigeren jungen
Mann weit und breit. Sein Ruf stand fest wie ein Felsen. Sein Wort war für
Viele Recht und Unrecht, klarer und unzweifelhafter wie geschriebnes
Gesetz. Wenn sich Einige verwunderten, dass er trotz seiner Jugend so
geachtet war und solchen Einfluss besass, verwies man nur auf sein Leben,
das schlichter war wie manchen Arbeiters und keusch wie vielfach
geschliffener Stahl vor Aller Augen.

Derselbe, als er eines Tages allein spazieren ging vor der Stadt, wo die
Stadt schon aufhörte, blühende Sträucher standen und Fruchtbäume im Laub –
wie er oftmals that in seinen tiefen Gedanken, um klar zu werden vor sich
selber –, freute er sich am Gesang der Vögel, wie sie alle einträchtig
sangen und war keiner grösser und mehr geachtet denn der andre in ihrem
Singen. Jeder hatte seine besondre Gabe und Tugenden. Die, die nichts
empfingen, kleine graue Meislein und Spatzen, zwitscherten just so munter
ihre zwei Pieptöne, wie die Andern kunstreiche Triller und Solfeggien.
Sorgten nicht um den Tag, bauten sich Nestlein, setzten ihre Kinder in die
Welt, dass die Sonne sie grosszog, sie satt würden von dem, was flog und
kroch in der Luft, auf der Erde.

Die Schwalben flogen auf und nieder. Sie wiegten sich in der Luft und
beschrieben Wellenlinien. Manchmal strichen sie so niedrig, dass ihre
Schwingen fast die Erde berührten. Dann hoben sie sich wieder, blieben
segelnd im Blauen. Aus dem Gras der Böschung dufteten Veilchen. Libellen
schwirrten aus der Wasserrichtung von der andern Seite. Es roch fischig
von da, Teichgeruch, nach sich zersetzender Pflanzenfaser.

Wie er nun also ging und sich freute, die Vöglein lieblich und fröhlich
sangen, sah er eine magere, gelbgefleckte Katze, die Jagd machte, auf
einem der Bäume. Leise schlich sie auf unhörbaren, tastenden Zehen. Ihr
Kopf war lang vorgestreckt, die kugelige Stirn mit spitzen Oehrchen. In
den Flanken sassen tiefe Löcher von der Anstrengung des Dehnens. Die
Rippen flogen kurzathmend in der Aufregung der Jagd. Auch war sie mager,
schlechtgenährt und struppig, wie eine Katze, die wohl schon lange heimlos
geirrt ist, keinen Herrn mehr hat, sondern der Wildniss preisgegeben ist.
So war sie ausgegangen auf die Jagd, da es dämmrig wurde, sass auf dem
Baum und hob ihre Kralle über dem Nestchen.

Da Johannes solches sah, ergrimmte er in seinem Herzen. Es dauerten ihn
die unschuldigen Vöglein um dieser schlechten Katze willen. Er nahm einen
Stein, zielte und warf. Und traf so gut, dass er die Katze hart schlug in
ihrer Seite, wo es weich ist, die Knochen nicht schützen. Sie stiess einen
schrillen, klagenden Schrei aus und fiel herab vom Baum, lag da auf der
Erde, das Blut floss von ihrer getroffenen Seite, schrie ganz jämmerlich
wie ein kleines, wehleidiges Kind, versuchte sich zu lecken, vorwärts zu
strecken mit strebenden Vorderfüssen und schwachem, nachschleppendem
Rücken. Und lag im Staube, blutend.

Da fing ihn an zu gereuen, was er gethan hatte. Er kam herzu, um der Katze
aufzuhelfen. Wie er sie genau betrachtete, sah er, dass diese Katze heute
oder den Tag zuvor Junge geworfen haben musste, denn die Haut ihres
Bauches hing ganz lose unter den vorstehenden Rippen, dass sie fast auf
dem Boden schleppte. Die Oeffnung des Afters war unnatürlich weit, noch
vom geronnenen Blute verklebt. Man sah die Zitzen, die weit, aber schlaff,
ohne Milch sich sackten. Denn sie war sehr erschöpft und hatte gehungert
seit langen Tagen. Nun lag sie im Staub und blutete. Niemand würde diesem
Nest voll kleiner Katzen in irgend einer verlassnen Scheune oder auf einem
Heuboden Nahrung bringen. Sie würden warten und miauen, elendiglich
verhungern, um ihre Mutter, die nicht kam, den spitzen, harten Stein, den
er geworfen und sie getroffen hatte, da sie ging Jagd zu machen auf Vögel
für ihre Kleinen, die hungerten.

Er stand nun da vor der Katze und sah sie an. Die Katze sah auf zu ihm mit
schiefen, wilden Augen, ob er ihr helfen würde oder sie weiterquälen? Sie
wusste nicht, dass es sein Stein gewesen, der sie getroffen hatte. Aber
sie hatte Angst vor den Menschen, die stark sind, war da wie ein wildes
Ding, das man eingefangen hat. Und es kann sich nicht wehren, denn all’
sein Gift, scharfe Zähne und Krallen, die ihm ja nützlich sind gegen die
Kleinen und ganz Schwachen, werden ohnmächtig und nützen ihm nichts. Es
wartet, dass man es vollendet.

Da er noch stand, dieses Thier ihn ansah und er über solches dachte in
seinem Herzen, kam ein fremder Mann des Wegs. Er nahm die Katze, die nach
ihm fauchte, wusch ihre Wunden sorgfältig mit Wasser und gab ihr zu
trinken aus einer Flasche, die er bei sich führte. Dazu, um das Wasser zu
finden, hatte er hinabsteigen müssen zum Fluss. Wie der wieder heraufkam
und die Katze auf seinen Arm nahm, biss ihn das Vieh in die Hand und
entsprang zwischen die Weidengebüsche.

Da dieser nun die Schramme an seiner Hand besah, das Blut abtrocknete mit
seinem Tuch, sprach Johannes zu ihm: „Wie magst Du dem schädlichen
Raubzeug helfen? Sein Leben ist der Tod Vieler. So es verreckt, wem
schadet es? Ein werthloses Vieh! Tückisch und voll Argheit.“ Das sagte er
aber, den Andern zu versuchen, denn in seinem Herzen gereute ihn der
Katze. Er wusste wohl, dass es ihre Natur ist, Vögel und Mäuse zu fangen.
Er fragte sich nur: Warum ist das in der Natur, und hätte gern eine
Antwort gewusst.

Der fremde Mann sprach: „Ich helfe jeglicher Creatur. Sie war hungrig und
litt. So war es meine Schuld, ihr zu geben, sie zu heilen.“

„Sie wird hingehen und neues Uebel stiften, tödten und quälen.“

„Der Tod ist kein Uebel,“ sagte der fremde Mann. „Der Geist, der
widerstehet dem Uebel, der ist vom Uebel.“

Diese Antwort verstand Johannes nicht, aber sie quälte ihn in seinem
Herzen. Er sprach: „Deute mir das!“

Der Andre sprach: „So Dich Jemand schlägt und Du schlägst ihn wieder, so
ist der Schlag Dir nicht Unehre, aber dass Du zurückschlägst und also
Böses vergiltst mit Bösem. So ist das Böse an sich nicht böse, aber es
böse _macht_ in seiner Wirkung, sind Böse.“

Johannes sprach: „Soll ich einen Mann nicht tödten, der Andre tödtet?
Würde Mord und Todtschlag nicht überhandnehmen in der Welt, so Solches
ungestraft bliebe? Jeder thun könnte, was ihm gefällt, sein böser Muth ihm
eingiebt gegen seinen Nächsten?“

Der Fremde sprach: „So es sein böser Muth thut, ist es seine Natur. Alles,
was in der Natur ist, ist von Gott. Der Mensch kann nichts dagegen. So Du
aber schlägst _gegen_ Deine Natur, ist es Dir Sünde, grösseres Unrecht
denn dess, der Dich geschlagen.“

Er sprach: „So werden alle Bösen fortab triumphiren und straflos sein. Die
Guten müssen nur dulden und ertragen.“

Der Fremde sprach: „Dulden und ertragen ist nicht böse. Selig sind, die
das erkannt haben! Aber es ist dem Menschen schwer, zu erkennen, und
Wenige sind, die es fassen hier im Leibe. Das Fleisch ist schwach in
ihnen. Der Tod scheint bitter dem, der kräftig ist und sich bewegt.“

„Der Tod ist immer bitter,“ sagte Johannes. „Das ist auch gegen die Natur
des Menschen.“

„Weil sie die Natur nur halb erkannt haben,“ sagte der Fremde. „Sie
wissen, dass sie sterben müssen, aber sie wissen nicht, was hinterher
kommt. Sie sehen, so lange es hell ist. Aber die Nacht lebt auch, hat
Farben und Formen. Nur sie sehen sie nicht. Sie nennen das Eine Leben und
das Andre Tod. Und der Tod ist Leben, eins so gut wie das Andre. Alles ist
Leben. Es ist ein Neugebären in jeglichem Sterben.“

Der Fremde sagte ihm ein andres Gleichniss und sprach: „Die Menschen
rechnen die That, die Gedanken sehen sie nicht. Sie können die Gesinnung
nicht lesen, die im Herzen ist. Die That ist nicht besser wie der Gedanke.
Sondern er war der Erstgeborne und wirkt weiter. Die Sünde ist geboren,
ehe die That That wird. Es ist nicht mehr Sünde im Thun wie im Wollen. Zu
diesem aber sprach die Schlange. – Und der Stolz ist der Urgrund alles
Uebels.“

Er sprach: „Wie deutest Du das?“

Der Fremde sprach: „Da der Mensch anfing zu mischen von seinem Willen in
den grossen Gang des Wollens, der der reine Strom und Urquell des Lebens
ist. Er sprach – und er sollte hören. Er dachte, wo er sehen sollte. Ein
Kleines, Staubgebornes, Willkürliches will stehen, wo das Grosse, Ewige,
Gesetzte steht.“

Er sprach: „Widerspricht nicht Solches der eignen Adligkeit und
Freiwilligkeit des Menschen?“

Darauf antwortete der Fremde: „Mit nichten. Sondern ist es nicht edler,
das Gesetz in sich selbst zu erkennen und ihm folgen, als sich von aussen
verschreiben lassen, Buchstaben zu gehorchen. Das ist Sklaventhum. Das
Andre Adliger und Freigeborner.“

Johannes sprach: „Wie kann das Gesetz für Alle dasselbe sein, so doch der
Menschen viele sind und Millionen, Jeder anders geht wie der Andre?“

Er sprach: „Es ist auch nicht dasselbe Gesetz für Alle. Händewaschen ist
nicht dasselbe, Kleidertrachten und Fasten ist nicht dasselbe, Götter von
Stein und Götter von Erzen. – Aber Alle, die suchen, finden wohl den Weg.“

Da erschrak Johannes in seinem Herzen und sprach: „Die alten Weisen haben
wohl gelehrt. Sie dachten, sie hätten die Weisheit gefunden. Und waren
Edle. Tiefe Worte kamen von ihren Lippen. Buddha und Mohammed sind
gekommen. – Wie sagst Du, Einer ist wie der Andre?“

Er sprach: „Alle diese sind gegangen und haben gefunden. Unschuldige
Kindlein finden auch, kleine Blumen und Kräuter. Es führen viele Wege.
Aber unselig sind, die stehen bleiben und nicht gehen um der Dornen willen
und Steinblöcke.“

Damit wollte er weitergehen. Aber der Andre hielt ihn an in grosser Angst
seines Herzens, flehte ihn an und bat: „Gieb mir ein Zeichen.“

Er sprach: „Kein andres Zeichen habe ich als dies: Die Blinden werden
nicht blind sein, ob sie gleich blind sind. Die Lahmen werden gehen können
und eilen, ob sie lahm sind, festgekettet an ihr Lager. Die Armen sind
reich und ihr Reichthum ist köstlicher denn aller Reichen. Die Todten
sterben nicht und leben, ob sie gleich gestorben sind. – Ein Kind findet
es in seiner Einfalt. Den Weisen und Mächtigen aber bleibt es verborgen.“

Er sprach: „Sage mir nun noch dies Eine. So Einer Sünde gethan hat, ist er
nicht schlimmer denn Einer, der keine gethan hat? Warum denn sollten wir
nicht Alle sündigen und froh sein?“

Er sprach: „So Du sie thust, ist es Dir Sünde. Die Andern aber gehen auch
nicht verloren. Der Hochmuth ist das Aergste der Uebel. Freude war über
den, der Busse thut vor neunundneunzig Gerechten. Der verloren war und
heim kam, fand über dem der zu Hause geblieben, niemals irrte.“

So liess er diesen und ging von ihm weiter in der Abenddämmerung.



                            DAS ELFTE KAPITEL.


Es war Fritz Kuhlemann, der ihm diese Botschaft schickte:

„Die ausgehen sollten, wohnen in reichen Häusern. In steinernen Kirchen
ist das Wort verschlossen für blöde Mengen am Sonntagmorgen. Die Mächtigen
missbrauchen Deine Worte für ihre Zwecke. Man führt Kriege in Deinem
Namen. Ungerechtes Gericht ist gesprochen unter dem Zeichen der Liebe. Der
Arme geht hungrig. Der Niedrige ist verachtet. Der Sünder stirbt nachher
wie zuvor. Was ist Deine Heilsbotschaft an die Welt?“

Er sprach: „Siehe zu, was ich thue:

„Soll ich Krieg führen, um die Welt zu überzeugen? Der Hass wäre schlimmer
denn zuvor. Die Sklaven von heute wären grausamere Herren, als die Herren
von gestern.

„Soll ich Gesetze geben, neue Ordnung erfinden? Dies Gesetz wäre gut, aber
die Menschen sind schlecht. Unter der guten Ordnung bliebe die wilde
Wüste.

„Vielen ist es gesagt, aber Wenige hören. Allen ist es ein Schlachtwort
und Wenigen Frieden. Einige finden, weil sie von Anfang an hatten, und
Viele, die suchen, finden niemals. Schrecklich und scharf ist es, wie ein
Schwert, das durchbohrt, süsse Milch, die ganz junge Kinder trinken.“

Er war aber auf einem Schiff, wo er dies sagte, dass er sich übersetzen
liesse von einem Ufer zum andern. Und es war ein Mann neben ihm, der ein
Tuch mit Samenkörnern eingebunden hatte, die er säen wollte auf seinem
Acker.

Er sprach zu ihm: „Gieb mir von Deinen Körnern.“

Der Mann sprach: „Nimm so viele, wie Du willst?“

Er nahm eine Handvoll und streute sie auf das Wasser.

Sprach der Mann zu ihm: „Wie kannst Du solches thun, so doch das Wasser
die Samen nicht hält und austreibt?“

Er sprach: „Sollen sie keimen, wird es sie schon tragen, wo sie Wurzel
finden. Die Erde ist nicht besser denn das Wasser. Wo ein Same leben soll,
müssen tausende sterben.“

Und es war ein Buckliger auf demselben Schiff, der war ganz verwachsen.
Alle Knochen seines Leibes standen schief und sein Gesicht war scheusslich
anzusehen mit schielenden Augen und einer platten, queren Nase.

Derselbe sprach zu ihm: „Meister, es ist recht, was Du sagst, dass alle
Menschen gleich sind, und ist nicht Einer schön und der Andre hässlich,
Jener klug und Dieser thöricht. So sage auch diesen, dass sie mich schön
finden, und lobe meine Verwachsenheit, die keine Missgestaltung mehr ist.“

Er sprach zu ihm: „Was habe ich mit Dir zu schaffen? Ganz hässlich bist Du
und schauerlich anzusehen. Was wagst Du zu hoffen von der Schönheit, die
Du beleidigst, und woher kommt Dir der Muth, der Du feige bist und ganz
niedrig.“

Trieb ihn von sich mit harten Worten und sah wieder in den Fluss, darin
die Landschaft sich spiegelte im klaren Wasser.

Aber sie hörten es nicht gern. Die, die das hörten, fuhren fort, das Volk
zu reizen zur Gewalt, um die Machthaber umzustürzen, oder System und
Lehrsätze zu erfinden, die Alles gerecht machen sollten, dass Jeder seine
Fülle hätte, kein Unfrieden mehr sei in der Welt. Diesen liefen Viele zu.
Sie hatten ein grosses Gefolge hinter sich, die sagten: „Morgen kommt der
grosse Zusammensturz. Wir werden dann essen, die wir jetzt hungrig sind.
Wir werden herrschen, die dienen. Wir sind Viele und sie sind Wenige.
Lasst uns uns zusammenrotten und laut schreien, dass wir sie übertäuben
und ihre Stimmen mit unseren Stimmen, die zahlreicher sind und lauter
schreien.“

Gewaltig erscholl die Stimme Fritz Kuhlemann’s aus der grossen Stadt.
„Gebt Eure Güter und verlasst Eure stolzen Paläste! Gebt Eure Macht auf,
Ihr Herren und Regierenden! Lasst uns gute Gesetze haben und nicht mehr
unsre Frauen und Mädchen verkaufen zu Laster und Unzucht! Wir wollen keine
Kriege mehr und keine Hungersnoth. Wir wollen Alle arbeiten und essen.
Einer soll sein wie der Andre, Keiner König und Keiner ein Bettler. Unsre
Frauen sollen gleichgeachtet sein wie wir und unsre Töchter wie unsre
Söhne. Wir wollen glücklich sein auf dieser Welt und Kinder zeugen. – Denn
was nachher kommt, wissen wir nicht, Niemand kann an gegen den Tod.“

Ein junger Mann kam zu dem Fremden. Er wollte mit ihm über seinen
Seelenzustand sprechen.

Er sagte: „Ich habe immer ein untadeliges Leben geführt. Von Lastern und
verbotnen Dingen habe ich mich ferngehalten. Ich habe versucht, meinen
Geist zu bilden mit allem Wissen und der Bildung unsrer Zeit. Ich habe
meine Lehrer in Ehrfurcht gehalten und meinen Eltern gehorcht. Gegen
Niedrigstehende bemühe ich mich höflich und gerecht zu sein. Es fehlt
meinen Leuten an nichts. Sie haben ihre Gebühr und über Gebühr. Ich bin
allgemein angesehen und hochgeachtet. Wenn ich ein Weib nehmen will, wird
Niemand zögern, mir seine beste Tochter anzuvertrauen. Ich werde sie
unschuldig, wohlgebildet und von gutem Ruf nehmen, wie ich selber bin. Es
klebt kein Stäubchen an meinem Vermögen. Alles ist auf ehrliche Weise
erworben und von meinen Voreltern langsam erarbeitet. Kein Blutrichter
fände einen Flecken daran. Niemand ist von mir um einen Pfennig betrogen.
Dem Staat zahle ich pünklich, was ihm zukommt. Ich betheilige mich an
allen Wohlfahrtseinrichtungen und gemeinnützigen Anstalten. Die Leute auf
meiner Besitzung sind glücklich gepriesen von Allen. Sprich nun selbst,
bin ich vollkommen so und nach Deinem Sinn?“

Er sprach: „Du sagst, dass Du Güter hast. Nimm Deine Güter, den letzten
Pfennig, den Du besitzest, und gieb ihn den Armen, den Bettlern und den
Hunden.“

Der junge Mann ward sehr traurig und ging von ihm. Er sah ihm lange nach,
denn er war ein trefflicher junger Mann, licht und schön von Ansehen, der
das Gute suchte.

Darauf sprach er: „Der Reichthum ist schlimmer denn die Wollust, die
Wollust giebt für Andre. Er denkt nur an sich. Auch thut der wohl eher
Busse, der grobe Sünde thut, denn der angesehen ist vor aller Welt und
niemals fiel. Ach es ist schwer! schwer für einen Menschen, der viele
Güter hat, dass er das Gute finde!“

Nun sprach Jemand aus seiner Umgebung zu ihm: „Was nützt es den Armen, so
Einer giebt? Es käme wenig auf Alle. Morgen wäre dasselbe wieder, dass
Einige nichts hätten und Andre mehr.“

Er sprach: „Es ist nicht um der Armen willen. Wenn er es auf’s Meer würfe,
die Wellen trügen es fort, wäre es ihm ebenso gut. Siehst Du nicht, dass
seine Güter wie eine Mauer stehen zwischen seinem Thun und dem freien
Wollen seiner Seele? Alle seine Liebe bleibt eingeschlossen und wird
ersticken in ihm, ohnmächtig und schlaff werden. Nur weil er reich ist. –
Der Arme liebt wohl leichter. Er hat dafür Neid und Niedrigkeit als seine
Feinde. Die Seelen, auf denen das Joch lange liegt, werden niedrig. Und
die wahre Liebe ist stolz und eine Königin. Aber die begehren, sind
Sklaven. Nur der nichts mehr begehrt, ist ein Vornehmer und ein Fürst.“

Wenige verstanden dies und Viele murrten darüber. Einige sagten, er liebt
nur die Armen. Die Andern fanden, dass er ein Reactionär sei und es mit
den Hohen nicht verderben wollte.

Es gefiel ihnen auch sehr, ihm schwierige Fragen zu stellen, weil sie ihn
fangen wollten in den Antworten. Und er schickte sie ihnen zurück, fragte:
Was _willst_ Du thun?, dass sie selber sich antworten mussten, beschämt
standen in ihrer Nacktheit und List.

So war ein Mann, der ein Eheweib hatte, die ihn betrog.

Er kam zu ihm und fragte, ob er ihr verzeihen sollte? „Das Gesetz erlaubt
mir, mich von ihr zu trennen, sie zu strafen an Gut und Habe. Die
allgemeine Meinung und meine Stärke würden mir wohl gestatten, sie zu
tödten. Das erste ist Gerechtigkeit, das zweite Rache.“

„Und Deine Liebe?“

„Aber sie hat meine Liebe verrathen. Alle Zärtlichkeiten, die ich ihr
erwiesen habe, sind vergessen. Sie hat Kinder von mir gehabt. Ich habe ihr
Ehre gezollt als dem Oberhaupt meines Hauses. Ihre Schönheit erfreute
mich. Ich gab ihr genug, um sich zu schmücken. Keiner ihrer Wünsche, den
es in meiner Macht war zu erfüllen, blieb unerfüllt. Ich liebte ihren
Verstand, ihre Art sich auszudrücken, die Weichheit ihrer Stimme, die
Liebesbezeugungen, die sie mir erwies, und dadurch Neigungen in mir
erweckte, ihre Schüchternheit und Hülflosigkeit selbst.“

„Und ihre Seele? – Hast Du ihre Seele geliebt? Was in ihr schwach war und
arm und nach Hülfe schrie? Ihre Zögerungen, den Glauben an Dich, Deine
Vollkommenheit, die nicht war, diese verzweifelte Liebe, die im Fleisch
suchte, was in Deiner Seele fern von ihr war, – Deine Seele, die sich
nicht mit ihr vereinigen konnte. Die sie in die Arme eines Andern fliehen
machte, der sie noch unglücklicher liess? – Diese arme, nackte frierende,
beschämte Seele, hast Du sie geliebt?“

Auch der verstand ihn nicht. Viele Leute sagten nun: „Er ist nachsichtig
für die Sünden des Fleisches. Huren und Lüstlinge sind ihm recht.“

„Die Sünden der Wollust sind traurig,“ sagte er. „Sie tragen ihre Strafe
in sich. In dieser Traurigkeit, die nachher kommt von der Unvollkommenheit
der Liebe, dass es nur wieder Unvollkommnes ist, was sie gebärt. Die
Unreinheit ist das Gift, das Alles vergiftet, das ihr naht. Es giebt keine
Schönheit mehr für den, der faul sieht. Sie lieben nicht, die sich der
Leidenschaft hingegeben haben. Das ist eine eiternde Krankheit,
Würmerfrass der Seele.“

„So wäre es also besser, ganz keusch zu sein, keine Kinder mehr zu zeugen
und dass die Welt aufhörte?“ fragte Einer. Er war ein Mann, der im Laster
gelebt hatte, und er wollte ihm eine Falle stellen, um zu sagen: „Welch’
ein Unsinn!“

Er sah ihn lange an. „Was weisst Du von der Keuschheit? Das ist die weisse
Blume des Paradieses, das erste Gewebe aus den Strahlen der Morgenröthe.
Wenige sind ihrer theilhaftig. Und ob sie nackt gingen durch den eklen
Sumpf, er befleckte sie nicht. Alle Schande und Schmach kann ihnen nichts
anhaben, _denn sie schämen sich nicht_. Das ist das Höchste, sich nicht zu
schämen. Weil die Scham in uns ist von der Sünde.“

Aber Viele wollten, dass er sich deutlicher erklärte.

Er that es nicht: „Vielleicht begreifen nur sie es, die das Andre gekannt
haben, durchgegangen sind durch den feurigen Ofen und im Feuer wieder rein
wurden. Die irdische unvollkommene Liebe ist in sich ein Abbild der
andern. Sie giebt die Sehnsucht. Die Sehnsucht schafft neues Leben – immer
neues! Sie sind wohl die Unglücklichsten, die nie geliebt haben. Sie sind
unfruchtbar.“

Manche hätten gehofft, dass er mehr darüber sagte. Aber er hielt seinen
Mund geschlossen und sprach nicht mehr den Tag.

So setzten sie ihm zu mit vielen spitzfindigen Fragen. „Ich habe meinem
Nachbar Geld geliehen. Nun will er es mir nicht wiedergeben. Ist er im
Recht oder ich?“

Er sprach: „Warum forderst Du es?“

Es entstand da ein ganz lächerlicher Disput über die Ehre. „Wenn Einer
mich geschlagen hat, muss ich ihn wieder schlagen?“

Er sprach: „Ein Schlag und noch ein Schlag sind zwei Schläge. Machst Du
ein Loch damit zu, dass Du es doppelt weit einschlägst?“

Aber in seinem Herzen wurde es traurig über sie. Und er that seinen Mund
auf und fing an zu wehklagen.

„Arme! die Ihr reich seid, und Eure Güter fressen Euch selbst, Geiz, Neid
und Habsucht! Was Du zu viel hast, nimmst Du einem Andern, der zu wenig
hat, und für jedes Ueberflüssige, das Du Deinem Leibe anthust, leidet ein
Andrer Mangel.

„Geht Ihr hin und gebt Theile, baut Krankenhäuser und sammelt für
Wohlfahrtsanstalten: Dies thue ich – und wollt Lob Eurer Nachbarn und
Ansehen vor den Leuten, Ihr Heuchler! Wo Ihr nicht genommen habt zuvor,
was brauchet Ihr zu geben?

„Ihr sagt, dass Ihr sie hochbringt und streitet für die Freiheit Eurer
Brüder, Gesetze, Unterricht und Bürgerrechte. Was brauchtet Ihr Freiheit,
wenn Ihr nicht Unfreie gemacht hättet zuvor, Eure Seelen nicht in Banden
wären des Geizes, des Trotzes, des Hochmuths, der Lüge, der Trägheit und
der feigen Angst?

„Nach Macht trachtet Ihr selbst, wie Ihr Euch hochbaut vor den Leuten,
dass sie Euch anstaunen möchten. Innerlich seid Ihr hohl. Ihr zehrt vom
Kostbarsten, das Ihr habt. Und wenn der Tag kommt, dass man Euren Leib zu
Grabe trägt, Eure Seele war todt in Euch lange vorher.

„Ihr denkt, Ihr habt gefunden, darum sucht Ihr nicht mehr. Das Gesuchte
ist weiter von Euch, denn da Ihr irrtet in Noth und Zagen. Ihr stopft die
äussre Wunde zu und der Brand frisst fort inwendig. Ihr seid stolz in
Eurer Erkenntniss, Eurem Wissen, köstlichen Kleidern um Eure Nacktheit.
Und wenn Ihr ganz nackt steht, kommt der Frost. Ihr erstarrt unter dem
faulen Schimmer. Eure Herrlichkeit ist die der Eintagsfliege, Eure Grösse
die des Maulwurfs, der seinen Erdhaufen aufwirft.

„O Ihr Kleinen! Ihr Armseligen! Ihr Ungläubigen! Wie unglücklich seid Ihr
in Eurem Glücke! Wie erbärmlich in Eurem Stolz!

„Die Kinder und Unmündigen werden wissen vor Euch, die Kleinen, die Ihr
verachtet habt. Das Lamm wird stärker sein denn der Löwe, der laut brüllt.
Eine Jungfrau mit der Seide ihres Haares wird Königreiche leiten, die der
Eisenfuss zertritt.

„Wehe Euch! Wehe Euch!

„Die Pflanzen wissen, die Felsstücke. Die Wasser, die ihren Weg laufen.
Alle Sterne, die gehen in ihrer Bahn.

„Ihr werdet nie wissen, die Ihr klug seid. Ihr könnt nicht, die Ihr stark
seid. Die wollen, werden niemals erreichen. Die kämpfen, siegen nicht.“

Solche Rede erbitterte Viele. Sie suchten ihn zu erhaschen. Aber er ging
mitten durch sie hindurch und entwischte ihnen immer.



                           DAS ZWÖLFTE KAPITEL.


Es war Einer, der kam zu ihm bei der Nacht.

Er war aber ein sehr vornehmer Mann des Landes, der Vornehmste und
Reichste im ganzen Lande. Er hatte sein Gesicht im Mantel verhüllt, dass
Niemand sein Gesicht erkennen konnte. Die Falten des Mantels verbarg seine
Gestalt, dass es unmöglich war zu sagen, ob er klein gewachsen war oder
gross, breit oder schlank. Er war von weit gekommen mitten in der Nacht.
Er kam zu Pferd und allein. Ein vertrauter Diener hütete sein Pferd,
während er hinaufgegangen war, mit ihm zu sprechen in der Nacht.

Die Nacht war stürmisch und sehr finster. Man hörte den Wind brausen. Er
trieb die nassen Zweige der Bäume in grossen Packen gegen die Fenster,
dass es klatschte und prasselte. Der Wind war gewaltig. Er fuhr über die
Erde in einem weiten schwarzen Mantel, dessen unterste Schleppe die Erde
fegte. Oben blies er in die Wolken. Sie flohen eilig wie wollige,
furchtsame Schafe durch die Nacht. Der Wind zerriss sie in grosse Fetzen
und jagte sie fort. Er freute sich, dass er so allein draussen war zu
herrschen, orgelte sehr laut und blies ein Triumphlied des Trotzes und der
Herausforderung über die Erde.

Der Wind kam von den Eissteppen des Nordens und war über die See gefahren
und sein Mantel hatte die Kämme der Wogen aufgepeitscht, dass sie nach ihm
schnappten und sich überschlugen in der Jagd nach ihm. Wie hungrige, graue
Jagdhunde mit triefenden Lefzen liefen die grossen Wogen unter dem Winde.
Aber sie fingen ihn nie. Er heulte und jauchzte. Manchmal packte er sie
und wirbelte sie im Tanze, rund, rund, um einen spitzen, kreiselnden
Trichter in der Mitte, wo er seinen Kopf versteckte. Er zerschnitt sie in
glatten, gekeilten Furchen wie der scharfe Steven eines Dampfschiffs. Dann
entschlüpfte er ihnen wieder, sich überschlagend in der Luft. Sie machten
verzweifelte Sprünge und warfen sich ihm nach an den Strand wie ungefüge
Meerthiere mit nassen, schweren, aufklatschenden Leibern.

Aber er lachte nur und schrie lauter und floh davon.

Er heulte um die Fenster des Leuchtthurms, den die Menschen gebaut hatten,
um der Fluth zu wehren, dass der Leuchtthurmwächter erschrak in seinem
Herzen: Ich will die Laterne fester stellen, denn heute ist Sturmnacht. Er
blies dem Wächter die Capotte vom Gesicht und schrie laut auf vor seinem
Fenster, wie ein Meervogel mit schwarzen, schlagenden Flügeln. Dann fuhr
er weiter.

Er blies in die weissen Segel der kleinen Fischerbarken, dass sie
umschlugen vor dem Wind, platt lagen wie elende, furchtsame Sklaven. Und
er probte den stolzen Oceandampfer, der ruhig weiterschiffte in seiner
geraden, majestätischen Bahn.

Auf dem Lande bekreuzten sich die Leute und machten die Läden fester zu.
Sie dachten mit Sorge an die Schindeln auf ihren Dächern, die schlechten
Strohdecken der Scheunen. Der Wind fegte die Schindeln herunter. Er hob
das Strohdach auf und fuhr in die Scheune, dass Alles aufstob,
durcheinander wirbelte, wie wenn der Raubvogel in den Hühnerstall fährt.

Hui – hui – machte der Sturmwind.

Im Gebirge köpfte er die Tannen und schleuderte sie kopfüber den Abhang
hinunter. Von der offenen Bergseite, wo die neue Strasse lief, riss er
grobe, rohe Fetzen und kollerte sie in die blanken Eisenbahnschienen
mitten auf den Damm. Er polterte an den Pfeilern der Brücken und peitschte
die Weidenruthen am Ufer, die sich bis auf die Erde bogen, der Wind ist
ihr Herr. Er war furchtbar.

Ueber die Städte der Menschen fuhr er. Sie schlossen die Läden vor und
zogen sich die Nachtmützen tiefer über die Ohren: Es ist Sturm draussen
und gut, dass wir nicht im Freien sind. – Wo er Einen fand, der draussen
war, schüttelte er ihm die armseligen Fetzen vom Leib und kältete ihn
durch, dass der Frost in ihm blieb. Denn der Sturmwind war schrecklich und
ein Feind der Menschen.

Durch den Sturm und die Nacht ritt der einsame Reiter. Sein Gesicht war
dicht verhüllt im Mantel. Sein Pferd schritt schnell, ausgreifend, mit der
Regelmässigkeit schöner, geübter Edelthiere. Der Sturm versuchte ihm den
Mantel vom Gesicht zu zerren. Aber er hüllte sich nur noch dichter hinein.
Ganz schwarz sah er aus. Wie ein schwarzer Schatten ritt er durch die
Nacht unter dem heulenden Sturmwind. Der Diener folgte, stumm, wachsam, in
einiger Entfernung.

Der Reiter hörte dem Concert des Windes zu. Es war ihm, als bildete es
eine sehr hohe, erhabne und brausende Melodie. Aber er war zu weit
entfernt und zu niedrig. Er konnte nicht verstehen, was der Sturmwind
sang.

Es war ein Lied vom Krieg, von Trompetenrufen und Pferdegetrappel, von
wehenden Fahnen, Kanonendonner und knatterndem Gewehrfeuer – dann der
Hurrahschrei des Siegers. Einer ritt allein im strahlenden Adlerhelm. Die
Sonne seines Helms warf Strahlen. Ein weisses Pferd schritt unter ihm.
Alle schrieen: Heil! Heil dem Sieger, dem grossen König unter den
Menschen, dem Gewaltigen!

... Es war der Orgelklang eines Doms. Alle Glocken läuteten.
Festguirlanden hingen. Frauen wehten mit ihren Tüchern. Weissgekleidete
Mädchen trugen Blumen und sangen. Endlos war der Zug der Festtheilnehmer.
– Der Hermelin hing um seine Schultern. In schweren Falten umfloss ihn der
Purpur. Er schritt die Stufen zum Altar hinan. Hinter ihm rauschte der
Mantel. Das Schwert stiess klirrend gegen den Marmor und der Priester im
Ornat hob die lichte Krone, den wundersamen Reifen ohne Anfang, ohne Ende,
wie die Schlange, die den Weltkreis hält, funkelnd im Schmuck der
Edelgesteine – des Rubins, der das Blut ist, Topase, köstlicher als Gold,
der Herrschaft, und Smaragden, funkelnde grüne Augen der Edelkatze. – Und
er war es, der gross und reich war, der König war.

Lieder von Ruhm und Macht sang der Sturmwind. Der einsame Reiter in der
Mitternacht hörte ihm zu. Er hatte sein Gesicht im Mantel verhüllt und
ritt schnell, dass Niemand ihn kennen konnte.

Als ein Fremder zu dem Fremden kam er mitten in der Nacht.

Draussen tobte und fauchte der Sturmwind. Er strich dahin mit dem tiefen,
surrenden Ton zu stark gespannter Saiten. Die Luft schwang und zitterte
nach seinem Röhren. Die Erde aus ihren Eingeweiden antwortete gleich dem
vibrirenden Resonnanzboden einer Violine.

„Es ist Sturmwind und sehr finster,“ sagte der schwarze Reiter. „Ich bin
zu Dir gekommen, um mit Dir zu sprechen über Dinge, die gefährlich sind zu
nennen und sehr geheim. Darum komme ich in der Nacht. Sie ist furchtbar,
diese Nacht!“

„Es giebt einen Morgen,“ sagte der Fremde. „Das Licht wird sehr hell
kommen. Wir werden Morgen haben bald.“

„Ich darf den Morgen nicht sehen. Ich habe grosse Eile, und dass ich hier
bin, darf Keiner wissen. Das Licht nicht und nicht der weisse Nebel des
Morgens, der dem Hahnschrei vorangeht. Durch die Nacht und den Sturm bin
ich gekommen, weil es Nacht ist und Sturm in mir. Hörst Du die Weisen
draussen? Es sind alle Geister der tollen Vergangenheit, die los sind. Sie
singen mir von Stolz und Sieg und Macht. Ich sehe sie Alle, die dies Haus
umkreisen und mit mir hierhergezogen sind. Sie tragen Rüstungen von Eisen
und gehen langsam vorüber. Die Letzten haben Purpurmäntel und Einige
reiten auf herrlichen Pferden. Einer trägt sein Haupt unter seinem Arm. –
Warum sind sie grauenhaft und traurig wie diese?“

„Sie haben getödtet,“ sagte der Fremde. „Sie haben genommen. Sie haben
gerächt und gerichtet.“

„Aber Viele haben Gutes gethan. Sie haben Ordnung gestiftet. Sie haben
geschafft. Die Kraft ihres Hirns haben sie gegeben und die Stärke ihres
Arms. Sie waren Väter und Erbauer.“

„Des Vaters Amt ist ein schweres. Viele führt in die Irre, der als ein
Führer selber irrt. So er dieser Geringsten einen ärgert, besser wäre es
ihm, er verlöre Leben und Leib. Der Baumeister, der nur einen Stein falsch
wählt, gefährdet den Bau.“

„Das ist schrecklich. – Sie waren Erwählte unter den Menschen. Die Gnade
von oben hat ihnen geholfen.“

„Es ist schwer, dass ein Reicher das Himmelreich finde,“ sagte der Fremde.
„Die Gnade wird dem Demüthigen.“

„Man kann demüthig vor Gott sein und stolz vor den Menschen. Gott hat
Könige eingesetzt.“

„Einen. Er hatte nicht, da er sein Haupt hinlegen sollte und ward in der
Krippe gebettet.“

„Du denkst also, dass es ein Unrecht ist, ein Grosser dieser Welt zu
sein?“

„Es stehet geschrieben: Wer unter Euch will ein Herr sein, der sei Aller
Knecht.“

„Das ist bildlich gemeint,“ sagte der Reiter. „Wer dem Ganzen dient, ist
Aller Knecht.“

„... Und er nahm seinen Schurz und wusch ihnen die Füsse,“ sagte der
Fremde milde.

„Das ist doch auch nur symbolisch.“

„Du glaubst, dass das Kreuz ein Symbol ist?“ Der Fremde lächelte – ein
trauriges Lächeln. Man sah eine Qual von zweitausend Jahren, versteinert
gleichsam, wie lange gestorben, die lebte.

Der Reiter sah ihn ungewiss an. Er zitterte. Der Sturmwind draussen blies
zum Umwerfen. Und es war sehr finstre Nacht.

„Gewissermaassen ja. Das Leben ist eine Art Kreuz. Wir hängen am Kreuz.
Jeder, der den Kampf des Lebens ficht. Auch Unsereiner hat in sich zu
kämpfen, mehr denn Andre. Du sagtest schon, die furchtbare Verantwortung.
– Auf Einen fällt der Fehler. Es ist schwer, Recht zu scheiden vom
Unrecht. Für dieses schwere Amt müsste man Vorrechte haben. Wer wollte
freiwillig es auf sich nehmen?“

„Glaubst Du, dass es Keiner möchte?“

Der Reiter verwirrte sich. „Es muss doch sein, um der Ordnung willen. Es
ist besser, dass das Festgefügte bleibt. Einer, um den kein Kampf ist, der
den Ehrgeiz nicht kennt, Neid, Niedrigkeit. Das Alles haftet dem
Emporgekommenen an. Der Purpurgeborne kennt es nicht. Ist er nicht edler?“

„Gottes Sohn hatte zu seiner Rechten mehr denn zehntausend Legionen Engel.
Er liess sich binden und kreuzigen.“

„Er war der Edelste. Das ist nicht menschlich, das ist göttlich.“

Eine lange Pause entstand. Der Fremde hielt das Haupt geneigt. Es waren
auf seiner Stirn rothe Spuren wie von Schärfen, Spitzen, die eingedrungen
waren. Er hatte Narben in den Händen. Ein Schmerz, wie von einer schweren,
nie geheilten Wunde schien in seiner Seite zu wohnen. Er legte die Hand in
seine Seite. Er seufzte.

„Und wenn ich es thäte?“ fuhr der Reiter fort. „Wer hätte den Vortheil?
Ein Andrer, der käme und schlimmer wäre, vielleicht weniger tief angelegt,
– ein Leichtfertiger. Ein Tyrann. Wem wäre geholfen? Und was ist Einer?“

„Einer war und er that.“

„Selbst dieser Eine ...? Ist die Welt besser geworden? Die Formen der
Unterdrückung haben gewechselt. Vielleicht sind sie weniger roh. Sind sie
darum weniger grausam? Ist Hunger, Krieg, Ungerechtigkeit verschwunden? Er
war Gottes Sohn und starb vergebens. Wer bin ich?“

Der Wind hatte einen neuen Einlass gefunden. Er stiess hinein wie in eine
Trompete. Ein Fensterglas zersplitterte. Es klang wie Gelächter, das
Lachen von tausend Kobolden und Dämonen. Der Fremde antwortete nicht.

„... Es könnte sein, dass Umwälzungen kämen,“ sagte der Reiter,
„allgemeine, durch einen Umschwung des Denkens erzielte, langsam
vorbereitete. Vielleicht kommt es so? Ich weiss nicht. Wem ist es gegeben
zu erforschen? Man muss bleiben, wo man hingestellt ist, sich genügen
lassen, sein Bestes zu thun. Unsre Einsicht ist unvollkommen. Langsam nur
geht die Zeit. Ich bin nicht ein Erlöser. Nicht ein Genie ... Ich thue
meine Pflicht.“

Er hatte seinen Mantel wieder umgenommen. Er rief nach seinem Pferde.
Diese ritten hinaus wieder in die Nacht.

Ueber ihren Häuptern fegte der Sturmwind. Er sang wilde, triumphirende
Weisen.

Hoiho – hoiho – triumphirte der Sturmwind.

                  ‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐

Er ging allein fort, bis er an einen grossen Wald kam und setzte sich
daselbst auf einen Stein.

Es war ein sehr alter Wald aus lauter hundertjährigen Bäumen, Eichen mit
seltsamen verknoteten, verknöcherten Stämmen, die da wie Vorweltriesen
standen. Unten waren sie schon abgestorben, aber oben trieben immer wieder
frische grüne Zweige mit krausen Blättern und Eicheln. In einige war der
Blitz gefahren. Sie trugen seine Spur wie ein breites kohlschwarzes Band
vom Wipfel zur Wurzel. Da war alles Leben versengt, aber die andre Seite
grünte noch und breitete Aeste. Alle standen da in einem geheimnissvollen
Kreisring. Nicht zu nahe bei einander, weil sie sich sonst gestört hätten
im Wachsthum. Um den engeren Ring lief jedesmal ein weiterer. Seine Stämme
standen in den Zwischenräumen zwischen denen des Ersten, so dass es von
innen anzusehen war wie eine hölzerne geschlossene Ringwand, aus lauter
Stäben, dass man nicht unterscheiden konnte, wo der Wald aufhörte oder
anfing. Aber zwischen den einzelnen Kronen fiel breit der blaue Himmel
durch. Der Boden war mit hohem, grünem, sehr feinem Gras bewachsen. Man
konnte gehen in den Abständen der Ringe wie in einer Wandelbahn. Es war
schattig und doch hell.

Die Rinde dieser Bäume war rauh, borkig, mit starken, eingeborstnen
Abschilferungen wie die mächtigen Dickhäuter. Moose wuchsen aus ihr in
grauen Hängebärten. Knoten und Buckel hatte das Alter gebildet,
schwärzliche Warzen, in denen die Säfte sich schwärend stauten. Die Aeste
kamen wieder, verrankten und verschlangen sich in seltsamer Weise. Keine
Regel schien da mehr zu herrschen, nur Laune, grimmige, kauzige Spottsucht
des Alters. Die Wurzeln liefen sehr lang mit Knollen und Armen. Sie
verästelten und verwoben sich auch ineinander. Einige Stämme hatte man
abgehauen. Aber die Stümpfe waren geblieben. In deutlichen Ringen stand
ihr Leben geschrieben. Kleines Buschwerk, Gepilze, schoss und trieb um die
Todten. Man sah ihre Wurzeln, die weiss wurden, abstarben. Doch mächtig
mit starken Fibern und Adern wie Gespinnste einer untergegangenen
Hexenwelt.

Grosse Steine von alten Heidenzeiten her lagen in der Runde. Jedermann
wusste, dass man diese Steine nicht anrühren durfte. Es lagen grosse
Helden der Heiden darunter begraben und sie waren blos verzaubert und
nahmen es übel, wenn man sie reizte. Dann kamen sie hervor aus ihrem
Grabe, schlugen mit ihrer Zauberkraft Mensch und Vieh. Manche erzählten,
dass sie zu Zeiten ein weisses Ross da hätten grasen sehen, ohne Zaum und
Sattel, von wunderbarer Farbe und Sanftmuth. Aber wenn man es anrufen und
fangen wollte, wurde es schwarz, Feuer sprühte aus seinen Nüstern. Das war
das Schlachtross des Heidenkönigs. Auch von einer wundersamen Frau
erzählten sie. Er hielt sie dort gefangen mit sich im Tode, die im Leben
seine Braut nicht gewesen war. Denn zu den Zeiten waren Männer; solcher
liess ein Weib nicht und ob er sie im Sturm geraubt. Der alte Heidenkönig
hielt sie im Grabe, und des Nachts stand sie auf und ging zu ihrer
eigentlichen Heimath und ihren Kindern, dem weisen, guten König, dem sie
angehörte. – Aber des Nachts und wenn es finster war, hielt sie der Andre,
der sie geraubt mit seinem Leben. Und man fand, dass es so recht war im
Volke, weil er den Blutpreis gezahlt um sie. Es war darum im Herzen der
schönen Frau, dass sie nicht widerstehen konnte, wenn er sie zu sich rief
auf sein höllisches Bett des Nachts.

Aber sie war unselig und klagte. Oft hörte man ihre Klage widerhallen im
Mittag, zu Stunden des Tags, wenn die Luft lau und lind war. Sie klagte,
dass der gute König, ihr Mann, gestorben war, alle ihre Kinder und späte
Enkelkinder. Ihre Seelen waren zu Gott oder zum Teufel, je nachdem sie
thaten, recht oder unrecht gehandelt im Leben. Sie auch war längst todt im
Leibe; nur ihre Seele konnte nicht sterben um der sündigen Leidenschaft
willen, die sie festhielt an dem starken Helden.

Aus solchen Klagen der weissen Frau hatte man ein Lied gemacht. Knechte
und Mägde sangen es oft bei ihrer Arbeit. Es war ein Lied des Landes
geworden, von der armen Seele, die nicht sterben konnte, weil sie noch
immer liebte. Ihre Liebe war vom Teufel und starb doch nicht. Weil er so
stark gewesen war und so schön, der tapferste Held der Heiden und ein
Wunder, der König, vor den Leuten.

Jedermann wusste, dass sie nie den Frieden finden konnte. Sie war wie eine
unselige Seele zwischen Himmel und Erde. Der Heidenheld küsste sie heiss
und wach wieder, jede Nacht, wenn sie müde war und kalt, endlich sterben
wollte.

Der Fremde sass auf dem Stein und schrieb in den Sand mit seinem Stabe. Er
folgte den krausen Runen der Wurzeln. Buchstaben und Worte bildeten sie,
seltsame Worte von tiefer Meinung. Er folgte ihnen in jede ihrer
fliehenden Curven, bis sie sich die Hände reichen, neues Spinnen begann.
Wo sie aufhörten im Baumstamm, wurden sie sehr stark, wie starke Leiber
mannbarer Männer, und standen wie Thürme, die nichts umwirft. Der Blitz
war an ihrer Seite hinabgefahren. Er auch hatte seine Schrift gelassen. Da
war die Schrift des Blitzes, der Jahre, des Regens, uralter Zeiten.

Ein Salamander schlüpfte zwischen den Wurzeln vor, schwarz und gelb
gesprenkelt. Er sah den Fremden an mit blanken, klugen Aeugelchen, die wie
Kugeln aus seinem platten Kopfe sprangen. Man sagt von ihm, dass er fest
bleibt im Feuer. Wer den Salamanderkönig fängt, steht unversehrt mit ihm
mitten in den Flammen, alle Schätze der feurigen Tiefe sind sein. – Denn
der Molch ist der König des Feuers, derer, die hämmern ohne Unterlass im
Gestein, Zwerge, neidischer, ungefüger Riesen und Drachen. Rothes Gold
hüten sie, funkelndes Edelgestein, unerhörte Schätze, von denen die
Menschen blind werden und roth sehen in bebender Gier.

Eine schwarze Amsel kam und lief emsig hin und her. Sie blieb stehen und
horchte. Dann lief sie wieder, pickte anklopfend, neigte den Kopf und hob
ihn. Man sagt, dass diese Amsel Alles weiss, die Sprache der Vögel und der
Bäume, wie die tiefsten Sorgen und Geheimnisse des menschlichen Herzens.
Wer ihrer Weisheit zuhört, vergisst Essen und Trinken. Wenn er zu sich
kommt, ist sein Haar weiss und sein Herz vertrocknet in ihm, wo er jung
war, lieben und lachen konnte, da er zum ersten Mal die teuflische
Weisheit der Amsel und ihren Spruch vernommen.

Zwischen den Stämmen wob eine Kreuzspinne. Sie wob emsig, klebrige Fäden
ziehend und feuchtend mit hebenden Beinchen. Nach rechts und nach links
und in Strahlen von ihrem Mittelpunkt aus. Dann verbanden die Strahlen
wieder andre kreuzende Fäden. Auf und ab wob die Spinne netzend und
anziehend, wie sie Faden auf Faden spann. Die Kreuzspinne dachte: „Dies
Gewebe ist meine Welt. Ich habe es Alles allein gemacht aus mir selbst.
Hier hänge ich zwischen Himmel und Erde. Sie können mir nichts anhaben von
oben oder unten. Denn ich bin die Sonne, die scheint in der Mitte. Alles,
was auf ihren Strahlen läuft oder sie kreuzt, ist mein. Sein Blut nährt
mich. Ich werde fett und satt von ihrem Blut. Ich bin die fetteste
Kreuzspinne im ganzen Wald. Mein Gewebe ist unzerreissbarer wie die
starken Bastfäden der Bäume.“

Der Fremde sass und zeichnete im Sand.

Alsbald kam des Wegs ein sehr alter Mann, dem der Wald gehörte. Er war so
alt, dass er nicht mehr gerade gehen konnte, sondern sich auf einen Stock
stützen musste. Aber sein Rücken war breit und mächtig in dieser Krümmung,
als ob er eine Weltlast tragen könnte. Sein Haar und Bart war schlohweiss,
von Schnee, der nie mehr schmilzt in ewigem Winter. In seine Haut hatten
die Jahre Furchen gegraben wie in einen Acker. Zäh und hart war sie, von
der Sonne vielfach verbrannt, dass ihre Farbe der ungegerbten Leders glich
oder Pergamenten uralter Schriften. Wo die Adern sich unter ihr kreuzten,
bildeten sie starke, hervortretende Knoten. Sie liefen auf seinen Händen
wie Stricke, versteinerte Gänge einstiger Canäle, in denen kein Blut mehr
fliesst. Wohl hundertjährig war dieser Mann. Aber seine Augen glühten und
leuchteten vom Feuer, das nicht stirbt. Wie Steine waren sie, die
erstarren machen die, die darauf sehen, stählerne Spiegel, dass die Seele
und die geheimsten Gedanken des Mannes, den er anblickte, offen lagen
gleich einer Thür ohne Hüter vor dem Alten mit den furchtbaren Augen. Wenn
er die Brauen zusammenzog, war sein Zorn so schrecklich, dass die
stärksten Herzen zusammenschmolzen vor ihm, ihr Wille war unter seinem
Willen wie eine zappelnde Maus, eine winzige, verwickelte und verwirrte
Fliege.

Wer diesem Mann nahte, der verfiel ihm mit Leib und Seele. Und er nahm
ihre Leiber und sog ihre Seelen ein. Darum war er gross und stark,
wunderbar vor Allen und sehr alt, so dass die Leute ringsum sagten: Er
wird nicht sterben. Er aber wusste sehr gut, dass er sterben musste. Darum
hütete er den tausendjährigen Wald, liess keinen Stamm schlagen, dass er
stehen sollte, grünen und Früchte tragen tausend Jahre nach ihm.

Der alte Mann ging auf seinen Stock gestützt und sein Hund folgte ihm. Es
war ein grosser, grauer Hund vom Geschlecht der Bulldoggen, die keine
Furcht haben vor Mensch oder Thier, riesenhaft und ausgezeichnet unter
Seinesgleichen, schwer tretend und sehr alt schon, wie sein Herr war unter
seinen Gesellen, Herren und Fürsten ringsher. Etwas vom Ausdruck des
Mannes war im Ausdruck des Hundes. Diese Beiden verstanden sich ohne Wort
oder Zeichen. Wo sein Herr ging, folgte ihm der Hund. Wenn er des Nachts
schlief, lagerte sich der Geselle vor seinem Lager. Es war unmöglich zu
diesem Lager zu gelangen, ohne den Leib des Hundes zu berühren, der
aufsprang, in einem einzigen Gurgelgriff den Eindringling beendigt hätte,
dann legte er sich wieder nieder und leckte seine Tatzen. Denn so
furchtbar und gefährlich dieser Hund war für Menschen und Thier, so
gehorsam und gefügig war er seinem Herrn, dass er das Wunderbare seines
Eindrucks erhöhte, der Ruhm des Hundes gross war wie der seines Herrn, in
dieser Gegend, wo man sie für Könige hielt und Wesen über dem Maasse des
Irdischen und Staubgewordnen.

Der alte Mann war vor dem Fremden stehen geblieben und sah ihn an. So
gross war das Feuer der Sehkraft in den Augen dieses alten Mannes, dass es
wie Flammen züngelte und emporschlug an dem Andern. Einen Sterblichen
hätte dieses Feuer verbrannt. Aber der Fremde sass ganz still, zeichnete
mit seinem Stab im Sande.

„Wer bist Du?“ fragte der alte Mann, dem der Wald gehörte.

„Ich bin Der, der gewesen ist und nicht stirbt.“

„Nichts ist gewesen von Anfang, und Alles stirbt,“ sagte der alte Mann.
„Es ist Niemand, der nicht stirbt.“

„Nichts, das gewesen ist, stirbt,“ sagte der Fremde.

„Buddha ist gestorben, Alexander und Cäsar. Was ist geblieben von ihrer
Weisheit, ihrem Glanz, ihrer Stärke?“

„Die Amsel, die läuft. Der Molch, der wacht. Die Spinne, die spinnt.“

„Du sprichst sehr thöricht,“ sagte der alte Mann. „Jene waren Helden und
Weise. Diese sind arme, geringe Thiere.“

„War ihre Weisheit vorsichtiger denn die des Vogels? Ihr Reichthum grösser
denn der der Eidechse? Ihr Werk bleibender als das der Spinne?“

„Sie rechnet nach Tagen. Wir zählen Aeonen. Sein Reichthum ist Spukwesen.
Die Weisheit des Vogels ist der rohe Instinkt der Natur. Wir finden die
schwersten Regeln und lösen das Innere der Menschheitsgeschichte.“

„Euer Wesen ist Spuk und Eure Weisheit ist Spreu. Sieh, wie ich es
zerreisse!“

Der Fremde schlug mit der Hand in das Spinngewebe und zerriss es. Die
grosse Spinne fiel. Er setzte den Fuss darauf und zertrat sie. Der
Salamander duckte sich unter die Wurzeln. Die Amsel entfloh hüpfend.

„Ich fürchte den Tod nicht,“ sagte der alte Mann stolz. „Ich habe das
Leben getragen und es ist schlimmer zu tragen als der Tod. Allen Reichthum
und alle Macht habe ich gehabt. Und ich war ein Sklave, ärmer wie der
ärmste Tagelöhner. Der Tag, da ich vor meinem Hause stand und Kohl
pflanzte, war mein glücklichster Tag. Kaiser und Könige habe ich gekannt.
Ich habe an ihrem Tisch gesessen und mit ihnen gegessen. Sie waren wie die
Gummibälle in meiner Hand, Seifenblasen, die die Kinder auftreiben und
zerblasen. – An meinem Stab bin ich hierhergegangen. Ich habe die ganze
Welt besessen und konnte mein Thor zumachen vor der Welt, Eifersucht,
Noth, Neid, Hass habe ich getragen, Undank, der schlimmer ist wie der
giftige Zahn der Natter. Er hat mich nicht angefochten, mehr denn Jubel,
Ruhm, Liebe der Weiber, flüchtige Tropfen des Blüthenöls, die verfliegen.
– Hier bin ich ein sehr alter Mann. Die Zeit habe ich ausgehalten und ich
grüsse den Tod, denn ich bin müde vom Leben. In mir ist Alles todt, was
lebendig gewesen. Ich liebe die Welt nicht und ich hasse sie nicht. Alles
ist eins, und so gut als wäre es nie gewesen. Wenn etwas nachher ist,
werde ich es tragen. Niemals werde ich glücklich sein und niemals klagen.
Ich bin vom Geschlecht der Riesen hier, der Tausendjährigen. – Was bist Du
gekommen mich zu stören in meiner Oede?

„... Ich habe Zeichen am Himmel gesehen,“ sagte der alte Mann, „und
Götter. Es waren andre Götter vor ihnen, grösser und gewaltiger als Du.
Sie hassten und liebten, sie sangen und schlugen. Vielleicht schlafen sie,
vielleicht sind sie todt. Lass mich schlafen bei meinen todten Göttern! –
Sie rafften und wussten und sammelten Schätze und schufen Welten für
Zeiten und Jahre. Sie waren Götter und sind wie Menschen. Ich gehöre zu
ihnen. Du bist nicht meiner.“

„Du wirst mich kennen.“

Der alte Mann legte eine Hand vor die Augen und beschattete seine Augen
mit der Hand. Wie ein Schatten ging es über seine Augen.

„Ich träumte von Einem ... Es ist lange, lange her. Der da kommen
sollte ... Ich weiss nicht, ob er vom Himmel ist oder von der Erde? Du
bist Fleisch. Aber Dein Fleisch hat den Tod gesehen. Du bist ein König und
kommst im Kleide des Bettlers. Du könntest tödten und Du streckst die Hand
aus, um zu bitten. ..... Aber kannst Du lieben? Kannst Du lieben wie wir?“

„Ich bin für Dich gestorben. Aus Liebe zu Dir bin ich Fleisch geworden und
ich habe gelitten. Es ist die Liebe, die mich lebendig macht vor Deinen
Augen.“

Der Alte hatte sich vorgebeugt. Seine Augen drohten den Fremden zu
verschlingen. Sie bohrten sich sehr tief in sein Gesicht und schienen
seine Seele zu fassen in ihren Tiefen, wo sie nackt lag: „Wohl – wohl – Du
bist gut und barmherzig. Es giebt die Schuld. Und es giebt die Nacht.
Ueber Schuld und Nacht – – Kannst Du lieben dahinüber?“

„Ich kannte die Nacht des Todes. Und ich bin in der Hölle gewesen.“

„In der Hölle ... In der Hölle ...“ Der alte Mann beugte sich noch weiter
vor. Seine Augen schienen sich hineinzufressen in die des Andern, zu
ringen – zu ertrinken. Er athmete hart.

„Wo die Flammen steigen zum nächtlichen Himmel, die Starken schmachten in
Ketten und Banden – –“

„Wo die Flammen steigen zum nächtlichen Himmel, die Starken schmachten in
Ketten und Banden ... Einer ist, der Starke der Starken, der Stolzesten
Stolzer ... Einer – –“

„Keiner ist denn ich. Er ist Ich, Ich bin Er. Sieh mich an und verstehe!“

Der alte Mann hatte einen Schritt vorwärts gemacht. Wie ein Blitz an der
Eiche glitt er hernieder. So fiel er um und war todt.

Der Fremde drückte ihm die Augen zu. Er machte das Zeichen des Kreuzes
über ihn. Er lag da in seiner ganzen, riesigen Länge, die tausendjährige
Eiche, die tausend Jahre gestanden hat und fällt. Der Hund hielt die Wache
neben dem Leichnam. Er sass still und gerade, den Kopf hochgerichtet, die
Vorderpfoten nebeneinander gestellt, wie steinerne und eherne Hunde sitzen
auf alten Grabmälern.

Der Salamander lugte aus seiner Wurzelspalte. Die Amsel hüpfte und
beschrieb seltsame Kreise. Die Spinne wob ihr Netz.

Niemals wieder im Zauberwald hörte man die Klage der weissen Frau.



                         DAS DREIZEHNTE KAPITEL.


Es begab sich aber, dass Einer gestorben war, den er lieb hatte. Dessen
Verwandte und Freunde kamen zu ihm und sagten: „Dein Freund ist todt. Er
hat Dich geliebt und liebt nicht mehr. Er hat gesprochen und nun schweigt
er. Er ging und wandelte unter uns und er ist nun starr und stumm wie ein
Stein. Bald wird die Verwesung eintreten an seinem Leichnam. Wir werden
ihn begraben und unter die Erde senken müssen. Die Würmer werden ihn
zerfressen, sein Fleisch, das faul und stinkend wird, die Knochen, dass
von ihm nichts übrig bleibt. Pilze und lange Gräser werden wachsen aus
seinem Grab. Wo sein Hirn war, werden die Maden nisten. Ekle Larven werden
kriechen in der Höhle seines Mundes, der lieblich tönte von holdseliger
Rede, weil er lebte. Seine Mutter wird Niemand haben, der ihr Trost
bringt. Sie ist alt und kann nicht mehr ausgehen auf Arbeit. Seine
Schwestern werden sitzen und verwelken in ihrer Jungfrauenschaft. Denn wer
wird sie wollen, wo der Bruder fehlt, der Brot gab und Schutz? Ein grosses
Unglück ist es für Alle. Du konntest helfen und halfst nicht. Nun ist er
todt. So Du nicht eilig kommst, wirst Du die Leiche nicht mehr sehen im
Tode. Der Dir lieb war, geht ein wie Gras, das verdorrt.“

Dies Alles hörte er mit an, sagte nichts. Danach stand er auf und ging
sehr eilig, dass er den Todten noch sähe auf seiner Bahre, die Hand auf
sein Antlitz legte, ehe sie ihn zuschlossen im Sarge.

Im Hause fand er Alles in schwerer Trauer. In einer Stube sass die alte
Mutter und wehklagte laut. Alle Weiber des Orts waren um sie, weinten und
halfen ihr ihre Thränen trocknen. Während sie laut die Tugenden des Todten
rühmten, der ein vortrefflicher Sohn gewesen, voll Eifer und
Zuverlässigkeit gegen seine betagte Mutter, der er die Hälfte seines
Verdienstes gab, dass sie friedlich und in Eintracht lebten in ihrem
Häuschen und satt zu essen gehabt von dem, was er heimbrachte.

So trostlos war die alte Frau, dass sie ihre Haare zerrauft hatte. Ihre
Kleider hingen unordentlich um ihren Leib, denn sie hatte sie mehrere Tage
und Nächte nicht abgenommen, während er krank lag. Ihre Augen waren
geröthet vom Nachtwachen, ihre Backen eingefallen von Kummer, jämmerlich
und hülflos die ganze Erscheinung. Sie weinte laut, schrie und wollte sich
nicht trösten lassen. Es war ihr einziger Sohn gewesen, der todt lag. Sie
hatte nur diesen und würde kinderlos bleiben hinfort. Ihre Töchter konnten
in die Ferne ziehen als Mägde. Manchmal würden ihr die Nachbarn eine
Unterstützung bringen als einer Bettlerin und Ueberlästigen. Sie würde an
der Thür stehen, wo sie früher als Herrin gewaltet, ärmlich sitzen, wo sie
im Mutterstolz geschritten neben ihrem Sohn.

Die eine Schwester Martha ging ab und zu. Sie brachte warme Getränke,
Wecken und Kuchen für die Leidtragenden, während die Männer Bier aus
Krügen tranken, Branntwein hingestellt war in Flaschen. Das gebot die
Sitte. Diese Martha hatte das Hauswesen unter sich und war sehr tüchtig
darin. Ihre Wecken und Kuchen waren berühmt im Dorfe. Das Bier, das sie
selbst braute, schmeckte kräftig und süss, wie irgend ein gekauftes. Alle
assen und tranken reichlich, lobten Martha, ihre Ordnung und Führung des
Hauswesens, wie sie Alles eingeleitet und gerichtet in dieser traurigen
Gelegenheit. Sie war bald hier und bald dort, füllte die Tassen und Krüge,
schalt auf die Kinder, die anfingen das Brot zu verstreuen, sich die
Gesichter zu beschmieren mit Mus unter dem Tisch. Sie nahm einen Besen und
fegte sie damit hinaus Alle zusammen und gab ihnen Schläge auf ihre
kleinen Röckchen. Alle fanden, dass sie recht that, diese Martha ein sehr
tüchtiges Frauenzimmer sei. Es war ein oberster Bauer im Dorf, der sich
vornahm, sie als Haushälterin zu dingen. Der Wirth vom Krug wollte sie
gleichfalls. Dieser war ein Wittmann und konnte heirathen. So dass wenig
Noth war um Martha, selbst wenn sie keine Aussteuer hatte, der Bruder
fehlte, sie wegzugeben.

Maria aber, die andre Schwester, sass zu Häupten des Todten in dem kleinen
Verschlag nebenan. Sie hatte einen blühenden Kirschenzweig abgebrochen und
wehrte damit den Fliegen, die kommen wollten, sich auf das Antlitz des
Todten zu setzen. Wenn eine Fliege kam, scheuchte sie sie sacht hinweg mit
ihrem blühenden Zweig, ohne sie zu tödten, dass sie aufflog und summend
gegen das Fenster stiess. Sie hatte Wiesenblumen gepflückt, ganze
Armladungen voll, und sie zu beiden Seiten des Bettes geschichtet. Wie auf
einem lichten Frühlingsanger lag der Todte, weil er jung war,
wohlgewachsen und schön vor andern Jünglingen.

Martha schalt über das unnöthige Heu, das die Kühe fressen könnten. Sie
fand, dass die Schwester ihr helfen sollte in der Wirthschaft und bei der
Bedienung der Gäste. Aber Maria blieb sitzen bei dem Todten. Sie hatte
ihren Zweig in der Hand und scheuchte sacht die Fliegen, während sie vor
sich hinsang.

Diese Maria hatte die Gabe der Lieder. Im Hause war sie nicht so geschickt
wie Martha, von weniger flinken Fingern, so dass jene oft schalt und ihr
Vorwürfe machte. Sie konnte auch nicht ansehen, dass man Thiere und Vögel
schlachtete, wie Martha es that, trefflich davon zu kochen verstand.
Manchmal hatte sie der Schwester die blinkenden Fische wieder aus dem Netz
genommen und heimlich zurückgetragen in’s Wasser. Martha hatte gezankt,
ihre Hand geschlagen. Sie fand, dass sie unnütz war und träge in der
Arbeit. Obgleich sie sehr schön war, höchst lieblich anzusehen, fragte sie
nicht nach den jungen Leuten im Dorf, die zwar gekommen wären, unter ihren
Fenstern von Liebe zu schwätzen, auch wohl ihre Armuth übersehen hätten um
ihrer grossen Schönheit willen. Ihre Schönheit war wie die einer Königin,
nicht eines Bauernmädchens. Wenn sie durch das Dorf zum Brunnen ging,
liefen die Kinder ihr nach, die Kühe kamen mit breiten, weissen Stirnen,
sich streicheln zu lassen von ihr, zu saufen aus ihrem Eimer. Man sagte,
dass in ihrer Hand Heilkraft wäre, die Pflanzen, die sie eingesetzt hatte,
schlugen an und blühten. Ihre Lieder schläferten ein trotziges Kind ein.
Das wilde Blut wurde ruhig. Man vergass die Sorgen des Lebens, wurde
einfach, Lilien auf dem Felde, die blühen in ihrer stillen Pracht, und
kleine Vöglein, die zwitschernd flogen ohne Sorge und Noth.

Sie sass und störte mit ihrem Zweig die Fliegen. Sie sang leise. Sie war
gar nicht traurig. Ihr schönes Gesicht blieb ruhig wie zuvor. Sie weinte
auch nicht; man sah keine Unordnung in ihrem Haar oder Kleid. Keine
Herdröthe lag auf ihren Backen, wie bei Martha, die fliegend stob,
scheltend, zählend, weinend wieder zwischendurch über den Bruder, der
fehlte, die Sorge, die in den Haushalt gekommen dadurch. Besonders
beklagte sie sich, dass Er, der sein Freund war, nicht dagewesen war bei
Zeiten. Er hätte ihm ein Heilmittel geben können, wenigstens doch Trost
spenden an seinem Bett, eine Hülfe sein den geplagten Frauen.

Es kamen immer mehr Menschen, denn die Zeit des Begräbnisses war nahe.
Alle assen und tranken. Es war eine grosse Unordnung. Man hörte das Klagen
der alten Frauen, die die Tugenden des Todten aufzählten, die Kinder
spielten und trieben allerlei Schabernack. In den Ställen brüllte das
Vieh, das man vergessen hatte über dem Trubel, vor seinen Krippen.

Mitten hinein da trat der Fremde. Martha stürzte sich sofort auf ihn und
erzählte die näheren Einzelheiten von der Krankheit und dem Tod. Die alte
Mutter erhob ihre Stimme sehr hoch in Schluchzen. Alle sahen ihn an und
drängten sich um ihn, denn sie wussten, dass der Verstorbne ihm sehr lieb
gewesen war. Sie wunderten sich, was er thun würde. Einige dachten auch,
er hätte ihm helfen können: Was ist an ihm, so er nicht mal diesen retten
konnte, den er lieb hatte? Die Andern glaubten beinah an ein Wunder: Jetzt
ist die Gelegenheit für ihn. Wir müssen sehen, was er thut. Sie waren ganz
bereit zu glauben, wenn er den Todten erweckte, obgleich sie natürlich
nicht zugaben, dass so etwas möglich wäre. Es war eine Aufregung in der
ganzen Gesellschaft und Alle sahen auf ihn.

Er sprach: „Führt mich zu ihm!“

Martha führte ihn in den Verschlag. Alle drängten nach durch die niedrige
Thür. Aber er hiess sie die Thüre schliessen.

So schloss sie die Thür. Draussen warteten die Andern. Nur die alte Frau
fuhr fort laut zu wehklagen, ihre Tage zu verfluchen, dass sie lieber ihm
nachfahren wollte in die Grube, der ihr Leben gewesen, der Trost ihres
hülflosen Alters.

Martha war mit hineingegangen. Sie beeilte sich die Vorhänge fortzuziehen:
„Sieh ihn Dir genau an und merke die Zeichen des Uebels, an dem er
gestorben ist.“ Sie beschrieb sie genau. „Nun ist es zu spät. Wenn Du bei
Zeiten gekommen wärst, lebte er jetzt. Aber vielleicht ist es auch nicht
zu spät? Du weisst sehr Vieles, und es ist Dir Macht gegeben über Kunst
der gewöhnlichen Sterblichen. Sieh Du selbst und urtheile!“

Das sagte sie ihn zu versuchen. Sie dachte in ihrem Herzen: „Wenn es doch
möglich wäre? Warum sollte es ganz unmöglich sein?“

Er sprach: „Lass mich allein mit ihm.“

So ging sie hinaus und schloss die Thür hinter sich.

Es war Niemand im Zimmer, denn er und Maria. Und die Leiche zwischen
ihnen, von der sie die Fliegen wehrte mit ihrem blühenden Zweig. Denn sie
hatten ihn viele Tage liegen lassen um des Fremden willen. Der Leichnam
fing schon an sich zu zersetzen. Ein Geruch der Fäulniss war mit im Zimmer
zwischen dem frischen, kühlen der Blumen, die Maria gesammelt hatte.

Er war an das Lager getreten und sah den Todten an.

„Er ist nicht todt,“ sagte er.

„Ich weiss, dass er nicht todt ist. Er schläft blos,“ sagte Maria. Sie
fuhr fort den Fliegen zu wehren und sang leise. Vom Gras, das verwelkt,
sang sie, von der Spreu im Winde:

„Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem
Felde.

„Wenn der Wind darüber geht, ist sie nimmer da und ihre Stätte kennt sie
nicht mehr.

„Sie gehen daher wie ein Schemen und machen sich viel vergebliche Unruhe.

„Sie sammeln und wissen nicht, wer es kriegen wird.

„Wie ein Traum vergehet, so wird er auch nicht gefunden werden und wie ein
Gesicht in der Nacht verschwindet.

„Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hochkommt, so sind es
achtzig Jahr, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit
gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“

Nicht traurig klang es. Nur weich und sehr leise.

„Er ist nicht todt und er hat nicht gelebt,“ sagte der Fremde. „Er wurde
nur geboren und nun ist er gestorben.“

„Ich weiss, dass er nicht todt ist und nicht gelebt hat,“ sagte Maria.
„Was lebt, ist unsterblich. Das Unsterbliche kann niemals sterben.“

„Niemals,“ sagte der Fremde.

„Vielleicht ist er auf einem andern Stern jetzt,“ sagte Maria. „Vielleicht
ist er etwas sehr Hohes und Herrliches. Vielleicht ein Fliegeneichen. Und
der Wind führt es fort. Oder Gräser wachsen aus ihm, die blühen und Samen
tragen.“ Sie lächelte und scheuchte die Fliegen. Die Sonne stand schon
niedrig. Ein breiter Lichtbalken vom Fenster her zog sich quer durch die
Stube. Hunderte von glitzernden Stäubchen tanzten und webten. Sie stiessen
sich und kreisten.

„Vielleicht,“ sagte der Fremde. „Nur er ist nicht todt.“

„Er ist nicht todt. Sie denken es blos. Sie sind thöricht.“

„Und blind. Sie sehen nicht.“

„Sie sehen nicht, weil sie hochmüthig sind und Scheuklappen vor ihre Augen
binden, um nicht zu sehen. Alles ist schön. Alles singt. Alles lebt.“

Und fröhlich sang sie in den Tag, der sich neigte: „Sie denken, dass die
Sonne untergeht. Sie geht nur weiter. Sie sehen sie nicht. Es wird Nacht.
Nach der Nacht kommt der Morgen. Ach, die Menschen sind ungeduldig und
unverständig! Wie kleine Kinder sind sie, die weinen, wenn es dunkel wird.
Still ist die Nacht. Lieblich und gütig.“

– „Möchtest Du den wecken, der schläft? Er schläft sanft und seine Lippen
lächeln. Möchtest Du purpurn haben, was weiss ist? Zuckend und fiebrig,
was so still ward? Fühle, wie still es ist.“

Sie entfernte mit ihrer Hand das Hemd des Todten und legte ihre Hand auf
sein Herz. „Es schlägt nicht mehr. Hört darum der Ocean auf, seine Wellen
zu wälzen? Stört es etwas im Wechsel von Tag und Nacht, vom Sommer zum
Winter? Arme Menschen! Wie ihre Herzen winzig klein sind! Und Froschherzen
sind noch kleiner. Aber eine Fliege hat auch ein Herz. In ihren Adern
fliesst Blut. Kleine Menschen, kleine Fliegen- und Froschmenschen! Wie sie
klein sind!“

„Deine Mutter weint.“

„Ich habe eine Blume gepflückt und der Stengel blutete. Das ganze
Würzelchen starb. Sie muss nun sterben. Sieh, wie die Blätter hängen! Wie
sie traurig ist!“

„Man könnte sie wieder einpflanzen.“

„Wozu? Es giebt so viele Blumen. Sie wird Staub werden, eine schönere
Blume vielleicht. Vielleicht wird sie eine Königin. Sie möchte gar nicht
wieder eine arme, kleine Blume sein.“

„Die draussen verstehen es nicht.“

„Die verstehen es nicht. Sie sind ungeduldig, dumme, kleine Kinder.“

„Und unglücklich.“

„Unglück ist Ungeduld und Eigensinn. Es giebt keine Gefahr, wenn Du auf
dem Wasser liegst und Dich treiben lässt. Es trägt Dich mit sich. _Gegen_
die Fluth bist Du ohnmächtig. Sie verschlingt Dich. – Du kannst die Augen
schliessen und die Arme falten. So leicht – leicht schwimmt es sich! –
_Er_ schwimmt jetzt. Er tobt nicht mehr. Er ist nicht todt und ich lebe
nicht. Es ist Alles Eins – Alles ...“

Die Abenddämmerung war in’s Zimmer gekrochen. Alles löste sich auf, schien
zu schwimmen, emporgetragen zu werden.

„Schatten! Schatten! ... Wenn Du aus der Ferne viele Stimmen hörst, ist es
Alles nur ein Ton. Wir sind zu nah. Nicht ein Gedanke, der gedacht worden
ist, verschwindet. Was in den Schooss der Zeiten gesenkt war, trägt Frucht
und blüht in den Zeiten ewiglich. Das Leben der Zeiten ist die Ewigkeit.
Und alles Lebens Leben ist Gott.“

Da legte er die Hand auf die Stirn des Todten. Er sprach: „Leb wohl! Ich
sehe Dich jetzt nicht. Aber ich werde Dich sehen. Du bist nicht todt. Das
Leben ist in Dir nicht todt. Was Du mir davon gegeben hast, trage ich in
mir. Und diese Alle tragen etwas. Das Andre liegt gehütet wie ein
kostbarer Schatz. – Den Winden – der Erde – dem Wasser“ – er schlug die
Zeichen durch die Luft. – „Gott, der des Lebens Ursprung ist, von dem es
fliesst und zurück fliesst. – Komm jetzt, dass wir ihn rasch begraben und
ein Ende machen.“

So gingen sie Beide hinaus, Maria und er, schlossen die Thür hinter sich,
da der Todte lag. Es war dunkel bei dem Todten. Man merkte jetzt deutlich
den Geruch der Verwesung, in dem der welkenden Blumen, etwas von Blut,
Fleischfaser und schlechten, geringen Stoffen. Schlaff, mit geschlossnen
Kelchen hingen die Blüthen. Die Fliegen schwirrten.

Die Andern, da sie diese Beiden so ruhig sahen, meinten sie, es wäre ein
Wunder geschehen, dass der Todte lebte. Sie drängten nach in die Thür und
Martha rief mit lauter Stimme ihren Bruder: „Du – Du – sage ob Du lebst?“

Aber Maria sagte: „Lass ihn. Er ist nicht todt. Doch wir müssen ihn
begraben, denn es ist Abend und die Leiche fängt schon an stinkend zu
werden. Es wäre uns schädlich, ungesund, zum Schlafen in der Kammer.“

Martha sprach: „Wie sollen wir ihn begraben, so er doch nicht todt ist?“

Sie sah den Fremden hart an, weil sie ihm zürnte, dass er ihren Bruder
nicht erweckt hatte, wie er wohl konnte nach ihrem Glauben. Sie mussten
Noth leiden forthin. Ihre Mutter würde ohne Stütze sein für ihr Alter. Er
aber lächelte nur, winkte mit der Hand und ging hinweg ohne ein Wort.

Dies nahmen Viele ihm übel, Martha und die Frauen, die Neugierigen, die
auf ein Zeichen gewartet hatten.

Maria aber war nicht traurig. Sie sang und schritt leicht dahin. Wenn man
sie fragte, ob sie nicht Leid trüge um ihren Bruder, sagte sie: „Ich warte
auf ihn. Ich weiss, dass er nicht todt ist. Ich werde ihn sehen. Es ist in
sehr kurzer Zeit vorüber – Alles. Ich bin eilig, die Blume zu fassen,
meine Pflanzen zu wässern, dass sie wachsen.“

Einige sagten: Es ist Gleichgültigkeit, Andre: Grösse. Aber es war nichts
von Beiden. Sie wusste nur und sie fand, dass die Tage zu kurz sind zum
Weinen.

Denn die Nacht kommt schnell herbei, da Niemand schaffen kann.

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Nun war aber in dieser Gegend eine Jungfrau, die nie ein Mann berührt
hatte.

So rein war diese Jungfrau, dass nicht ein unkeuscher Gedanke oder Abdruck
ihr Gehirn kreuzte. Selbst in ihre unbewussten Träume kam eine solche
Vorstellung nicht, eine Hitze oder Beunruhigung. Sie hätte nackt vor
Männern hergehen können, ohne dass sie sich geschämt hätte. Man würde vor
ihren Augen alle Wollust und Sündhaftigkeit der Welt ausbreiten können,
dass ihre Augen nichts gesehen hätten, die Röthe wäre in ihre weissen
Wangen nicht gestiegen. Denn sie war rein in sich und crystallen wie
klares Wasser, der Spiegel des Bergsees, in den nie eines Menschen Auge
geblickt, nur der Himmel in seiner Bläue über den Wolken, keusch wie die
königliche Lilienblüthe, die sich erschliesst in der Nacht, in hundert
Jahren ein Mal, weil die Brunst der Sonne sie beleidigen könnte, Unreines,
das stäubt und fliegt im Tage.

Dieser Jungfrau, so Einer mit schlechten oder unzüchtigen Gedanken ihr nur
nahte, musste er sein Antlitz verhüllen und fliehen wie vom Blitz
getroffen. Die andern Frauen mochten nicht in ihrer Nähe aushalten mit
ihren bösen Zungen, täglichem Geklatsch von Heimlichkeit und Wollust. Nur
die kleinen Kinder gingen gern an ihrer Hand und mochten in ihre Augen
sehen, die gleich klaren Sternen waren in der Winternacht, wenn unten der
Boden weiss friert. Es war ein armer Blödsinniger und Taubstummer, der mit
ihr in ihrem Garten wohnte, ihr Dienstleistungen that, denn so furchtbar
und streng war die Reinheit dieser Jungfrau, dass sie den Augen wehthat
wie Sonnengefunkel im Mittag, bläuliches Gletschereis, wenn sie auf der
Strasse ging, die Menschen und Vorübergehenden zur Seite schlichen wie
scheue, geprügelte Hunde oder Wölfe. Es war, als ob sie nur Thiere waren
gegen sie. Und wenn sie grosse Herren und Fürsten hiessen, vor dem edlen
Antlitz dieser Jungfrau wurden sie klein und unfrei.

Es gab Leute, vornehme Herren und Lüstlinge, in derselben Stadt, die sich
in ihr Haus geschlichen hatten in der Nacht. Und sie hatten diese Jungfrau
nackt gesehen, wie sie sich wusch. Der Strahl ihrer Nacktheit war in ihre
Augen gedrungen wie Schwerter, dass sie laut aufschrieen, heulend
hinausstürzten wie Trunkene von zu starkem Wein oder die Tollheit
verwirrt. Und hatten Einer den Andern erwürgt in ihrer schäumenden
Tollheit. Und Einen hatte der Blöde gepackt und er hatte ihm das Haupt
aufgeschlagen auf den Stein, dass das Gehirn weit über die Strasse
spritzte. Und Alle fanden, dass es die gerechte Strafe war für ihre
Unreinheit, diese Jungfrau stärker war in ihrer Nacktheit wie ein starker
Mann in siebenfacher Rüstung.

Alle Lüge und Verläumdung prallte von ihr ab wie Hagelschlag am Felsen. Es
ging die Sage, dass ein Gerichteter gestorben war von dem Strahl ihres
Auges, der die Wahrheit erkannte, mehr denn von dem Spruch des Richters,
der ihn verdammte.

Aber die Armen hatten keine Furcht vor dieser Jungfrau. Auch nicht die
verachteten, gemiedenen Frauen und Mädchen des Orts, die unrein und
hässlich geworden waren an Leib und Seele. Denn die Klarheit dieser Einen
deckte sie Alle wie ein weisser, herrlicher Mantel, und war keine so
elend, mit Aussatz befleckt, dass nichts von dieser Glorie auf sie
gefallen wäre. Sie wussten, dass sie die Königin der Frauen war und
priesen die Kunst in der Güte, die ein solches Wunder geschaffen, herrlich
und unantastbar gemacht hatte vor allen Frauen und Männern.

Man nannte sie nur die weisse Jungfrau. Es ging die Sage, dass, wenn sie
schlief, die Seraphim um ihr Lager standen mit gezückten Schwertern, dass
es aussah, als läge sie auf blauen, züngelnden Flammen des Eises. Nur ein
Mann, der gut und keusch und edel war wie sie, konnte sie lösen und
heimführen als ihr Gemahl.

Und Viele hatten es versucht sie zu lösen, die edelsten Jünglinge aus
aller Herren Ländern, die Stärksten und die Schönsten. Und Alle waren
schamroth und betrübt weggegangen vor dem klaren Blick ihrer Augen, der
keine Lüge und keinen Fleck zuliess, sie durchsah durch kunstvolle
Verstrickung und Verschönung, bis wo die Unreinheit sass in ihrer Seele,
die Blumen ihrer Schönheit selbst wuchsen aus dem Sumpf ihrer
Unkeuschheit. Und war nicht Einer, der bestand vor ihr, so Viele gekommen
waren und gesungen hatten und gesprochen und sich gesehnt.

So sagte man, dass sie niemals einen Mann haben würde, es bestimmt war von
Gott, dass sie als Jungfrau hingehen sollte, weil sie zu edel war, um
berührt zu werden mit unreinen Händen, zu klug für die Klugheit der Lüge
und Arglist.

Und sie selber freute sich, dass es so war. Niemals wünschte oder fragte
sie wie andre Mädchen und schlief auf ihrem Lager mit den zehn Seraphim,
die um ihr Bett standen als strahlende Wächter, bis der Morgen kam, klar
wie ihr Erwachen, die junge Sonne grüsste die weisse Jungfrau.

Zu dieser nun geschah eine Stimme mitten in der Nacht: „Erhebe Dich und
wache auf, denn der Bräutigam ist gekommen!“

Worauf sie stracks sich erhob wie sie war aus ihrem Schlaf und in ihrer
Nacktheit. Und wusch ihren Leib und badete ihn rein in crystallenem Wasser
des Regens, in Tropfen aus Maiwolken, die nie die Erde berührt und
vielfach gefiltert in thönernen Krügen. Oder Wasser, vom Schnee
geschmolzen, wenn er jungfräulich ist, zu oberst ruht am Morgen, da noch
kein Fuss getreten. Und wusch sich wohl und salbte sich mit köstlichen
Salben, von Knospen der Rosen, welche noch nicht das Licht gesehen hatten,
die sie gesammelt hatte in ihrer Knospe, und ersten Blumen des Frühlings,
wenn die Sonne noch nicht heiss genug ist, die unter dem Schnee blühen und
lieblicher duften denn andre.

Und nahm ihr weisses Gewand. Das war gewebt ohne Stich und Naht aus der
allerfeinsten Seide, mit Lilien gestickt und gewirkt in silbernen Fäden.
Alle Lilien standen weit offen mit prangenden Kelchen. Die Fäden
verschlangen sich zwischen ihnen im kunstvollen Rhythmus, einer
wunderbaren Weise der Lilien, die sie sangen. Kleiner wurden sie gegen den
Saum in gereihten Ketten. Aber unter der Brust war nur noch eine Lilie,
die Königin der Lilien, mit gebreiteten Schwertblättern, die zitterten,
schwollen in der Last, die auf ihnen lag. Nur Jungfrauen waren die
Spinnerinnen gewesen, die es gewebt und gesponnen. Und man sagte, wenn
eine Jungfrau, die nicht mehr rein war, die Hand anlegte an dieses Gewand,
dass die Fäden blutroth wurden in ihren Fingern, und liefen aus ihren
Fingern wie Schlangen, wollten sich nicht halten und fassen lassen von
ihr.

Dieses nahm sie, legte es an und gürtete sich hoch unter den Brüsten mit
goldnem Gürtel. Edel war das Gold dieses Gürtels, aus einem Stücke
geschmiedet, das nie zuvor zu anderem Schmuck geschmiedet gewesen. Ein
ritterlicher Jüngling in seiner Klostereinsamkeit hatte diesen Gürtel
geschmiedet. Er zeigte alle heiligen Frauen der Welt, die sich darauf die
Hände gaben. Und waren Diana, die Göttin, Jephta’s liebliche Tochter, die
griechische Iphigenia und Antigone, und die edle Römerin Clölia in
derselben Linie mit den Märtyrerinnen und Heiligen. So legte eine ihre
Hand auf die Schulter der Andern. Alle sahen nach derselben Richtung, als
ob von da der Bräutigam käme, und bildeten einen Ring durch die Zeiten,
von den ältesten bis zu den letzten, Jegliche eine Jungfrau und Fürstin,
aus jungfräulichem Golde von diesem untadeligen Jüngling zu edelstem
Brautschmuck verbunden. Welcher, als man ihn auf solchen vermeintlichen
Fehler als heidnischen Irrthum aufmerksam machte, nur lächelte, sagte:
„Die Keuschheit ist eine besondere Tugend. Diese führt auf dem geradesten
Weg zum Himmel. So ist eine reine Jungfrau in sich selbst aller Engel
Schwester. Diese Verehrung ist allen Völkern gemeinsam. – Vom
Jungfrauensohn ist das Heil gekommen. Solche stehen immerdar am nächsten
im Licht, hundertvierundvierzigtausend, die sich der Herr selbst erwählt
aus Zion.“ So sprach dieser edle Jüngling, erstaunte Alle und Niemand
vermochte ihm zu antworten. – Das Schloss aber des Gürtels stellte die
Schlangen dar, wie sie sich aufrichteten mit züngelnden Häuptern. War also
in ihm geheimnissvoll und symbolisch der Fall und die Erlösung verwoben,
wie von dem Weibe und seiner Kraft Beides kommt, Heil und Verführung.

Und sie nahm Spangen von Perlen, die nie das Licht gesehen haben und
schloss sie um ihre Arme. Diese Perlen sind edler als alles Gestein, aus
dem Wasser gewoben, das eher war denn die Erde, und das höhere Element
ist, denn es dient nicht wie jene den Menschen. So zart sind sie, dass ihr
Schein wechselt mit der Laune und Stimmung des, der sie trägt, und wo ein
Kranker sie um seinen Hals legt, werden sie trübe und schrumpfen ein wie
die Haut unter ihnen. Silberne Sohlen band sie unter ihre Füsse und
strählte ihr Haar und flocht ihre Zöpfe mit purpurner Binde. Denn ihr Haar
war prachtvoll wie ein goldner Mantel, der sie bis in die Knie umwallte,
jeder einzelne Faden fein und gerundet wie aus gesponnener Sonne. Wenn sie
zusammenfielen, war keine Mähne der rothen Löwin so voll. Sie wogen
schwerer in der Hand wie Erntelast des vielkörnigen Weizens.

Ihre Brauen waren wie Bögen der Nacht, darunter die lichte Sonne sich
verbirgt. Ihre Wimpern standen in Strahlen. In der geraden Linie ihrer
Nase mit athmenden Nüstern war Stärke und Feuer. Der Hauch von ihren
Lippen ging wie von einem Blumenbeet, süsser denn Honig.

Es gab keine schönere Jungfrau weit und breit im Lande. Und keine
untadligere, von edlerem Geschlecht, obgleich sie arm war und Haus hielt
für sich allein mit dem stummen Diener.

Zu diesem trat sie, mit der Leuchte in ihrer Hand, im Brautschmuck wie sie
war. Und sprach: „Rege Dich und öffne die Thore! Der Bräutigam ist
gekommen.“

So gross aber war das Licht ihrer Schönheit diesem blöden Auge selbst,
dass die Leuchte in ihrer Hand davon erstarb, ihn dünkte, als ob es ganz
dunkel war, ohne sie, die strahlte herrlicher denn der Tag, der junge Mond
selbst im Viertel seiner Geburt.

So stand dieser auf, schlug die Thore auseinander, die doppelt geschlossen
waren, mit Riegeln versehen wegen der Bescheidenheit dieser Jungfrau, weil
sie allein lebte, eine ledige Magd, in einer grossen und gottlosen Stadt.

Alsbald hielt da draussen vor dem Thor ein herrlicher Prinz auf einem
weissen Pferde. Alle seine Diener hinter ihm hatten weisse Pferde und
silberne Helme, von denen das Licht lief in weissen, bläulichen Strahlen
gleich denen des Wintermonds, wenn er in seiner Vollendung ist.

Der Prinz war mit einem weissen Leibrock angethan und hatte ein goldnes
Schwert an seiner Seite und sein Helm war von Gold. Die Schabracke, darauf
er sass, war purpurn. Ein scharlachnes Stirnband gürtete sein Pferd
zwischen den Ohren. Lichte Locken fielen zu beiden Seiten auf seine
Schultern herab. So strahlend war der Glanz seines Auges, dass dieser arme
Knecht in die Kniee sank und mit gehobnen Armen flehte. Er dachte, sein
letztes Stündlein wäre gekommen, und er könnte nicht ertragen so viel
Klarheit und übergrosse Herrlichkeit.

Worauf der Andre: „Fürchte Dich nicht! Lass mich ein und heisse mein Braut
den Tisch legen für mich und sie. Ich bin gekommen, heut’ Hochzeit hier zu
halten.“

Dies sagte er aber mit seltsam lieblicher Stimme, die wie reines Silber
klang. Alle Glöckchen der Pferde läuteten dazu. Seine Diener schlugen an
ihre Schwerter und riefen: „Heil!“

Dieser arme Knecht schwur später, dass in solchem Augenblick der Himmel
über ihren Häuptern offen gewesen und eine Taube von oben aus der Klarheit
herabgekommen wäre, die trug einen goldnen Ring in ihrem Schnabel. – Denn
das Merkwürdige war, dass er sprechen konnte seit dieser Nacht und immer
nachher. Und war in seinem Kopf wie andre Menschen, nur dass er schwur zu
seinem Eide, den Prinzen gesehen zu haben, was ihm die andern Leute nicht
glaubten, für eine Blendung seines armseligen Gehirns hielten.

So ritten Alle diese durch das Thor. So Viele ihrer waren, schien es
dennoch wunderbar, dass der Hof sie doch fassen konnte. Und der arme
Knecht schloss die Thore hinter ihnen und schob die Riegel vor.

Was sich nun begab, wusste er nicht mehr, denn er folgte dem Prinzen nicht
in das Gemach, der ihm gebot: „Folge mir nicht!“ Aber durch eine Luke im
untersten Keller, wohin er sich vor Angst geflüchtet und doch zitternd
wieder auslugte, sah er, dass alle Ritter von ihren Pferden abgestiegen
waren. Und sie standen um das Haus mit gezognen Schwertern, die glänzten
blau wie Diamantlicht des Mondes. Und war so eine Kette von Schwertern um
das Haus, dass es stand gleich einer Burg in uneinnehmbarer Klarheit.

Drinnen aber in ihrem vertrauten Gemach hatte die Jungfrau den Tisch
gelegt. Sie nahm ein weisses Tuch von feinstem Damast, das in der Truhe
gelegen hatte mehr denn hundert Jahre. Es war nur weisser und feiner
geworden von den Jahren. Man sagte sich, dass zwölf Spinnerinnen daran
gewebt zwölf Jahre. Alle untadelige Jungfrauen, die der Welt entsagt, den
Faden zogen in stiller Klosterzelle. Danach hatten sie den Flachs auf dem
Rasen gebleicht, wenn die Märzsonne schien, – diese ist die früheste unter
den Sonnen, nicht geil wie die des Sommers, oder blutig vom Herbststerben
– es selbst gewebt mit ihren Händen, ohne Eisen und Maschine, weil
menschliche Hände feiner sind und getreuer. Und Muster hineingezeichnet
von ihren Gedanken, des Weibes Lust und Glorie. Die Aeltermutter Eva im
ersten Bilde, wie sie den Apfel reicht. Aber auch als Mutter, mit ihren
gesegneten Brüsten es nährend, das die Verheissung birgt, – die
Lebensgebärerin. Rebekka am Brunnen, Rahel, die Vielgeliebte,
frühgestorben, Mirjam, Deborah, begeisterte Prophetinnen, Judith und Jael,
Heroinen, Ruth, die Aehrenleserin, Esther – aber auch sie, die die Raben
scheuchte, die diese frommen und einfältigen Seelen würdig gehalten des
ruhmvollen Reigens, – zwischen den Sieben die Mutter der Makkabäer, die
Wölfin Juda’s, Elisabeth, auch eine Mutter, Johannes’ des Täufers, Hannah,
die Greisin, vorahnend die Morgenschöne. Endlich die Lieblichste von
Allen, die Erfüllung, wie um die volle Rose der Kranz sich schliesst,
Maria, die Königin, unter den Weibern Gebenedeite, an der Brust das
Kindlein, dass von Ihm alle Strahlen ausgingen, die Andern berührten.
Gleichsam als wären diese Bilder von Kraft und Unschuld nur ein Strahl der
Tugenden, die sich in ihr wie in der Sonne vereinigten.

Dies Tuch breitete sie sorgsam, die Falten glättend, sich freuend am
Silberglanz des Linnens und der Kunst der Bilder. Darauf nahm sie ein
güldnes Gefäss aus reinstem Gold, das nie zuvor zu andrem gedient hatte.
Dadrin war in kunstvoller Prägung zu sehen, wie Abraham den Besuch der
Engel empfängt. Rechts hebt er freudig preisend die Hände, ihnen
entgegenzueilen. Links sieht man schon rüstige Mägde das Federvieh rupfen,
wie sie die Butter stampfen im Troge, während Sarah hinter der Thür
verborgen steht, die Verheissung zu erlauschen, der kleine Ismael arglos
mit kindlichem Spielzeug sich tummelt. – Dieses füllte sie mit funkelndem,
edelstem Wein, der achtzig Jahre gelegen hatte und mehr. Nur wenige
Flaschen waren von diesem Wein zuerst gezogen worden, gleichsam seine
Seele. Ein Kaufmann hatte ihn mitgebracht von weit her. Er zeigte in
seiner Mischung Feuer des Blutes und Rosinfarbe von der Sonne. Süss war
dieser Wein und stärker wie Stierblut in seiner Süsse.

Danach nahm sie eine Schale von Silber, mit silbernen Henkeln und Kette.
Eine ländliche Ernte auf dem Felde war darauf abgebildet, wie hier schon
die Wagen hochbepackt fortfahren, Schnitter und Schnitterinnen Garben
bindend, alte Leute und Kinder die Aehren nachlesen. Aber auf den Stoppeln
tanzen schon lustige Mägde und Burschen. Sie legte das Brot hinein,
köstliches, feines Brot, das sie selbst mit ihren Händen gebacken. Keine
Maschine hatte daran mit geschaffen. Das Korn war gerieben worden zwischen
den Steinen. Es gab kein edleres Brot.

Sie hielt es verschlossen in einem kunstvollen Schrein, weil sie dachte:
„Ich weiss nicht, wann der Bräutigam kommt. Ich muss bereit sein zu der
Zeit.“

Solches stellte sie auf den Tisch, zündete die Lampen an, die zu beiden
Seiten standen, gefüllt mit Oel, und feine Kerzen vom reinsten Wachs, die
dufteten wie sie tropften. Die Leuchter waren von edlen Metallen und
trugen Köpfe der heiligen Thiere, Adler, Löwen und verschlungne Leiber der
Schlangen.

Und sie nahm einen Teppich von purpurfarbner Seide, der im Schrank
gelegen, auf dem nie die Sonne geruht und keines Menschen Fuss hatte ihn
je betreten. Diesen breitete sie aus von der Thür zum Sessel. Der Sessel
aber war aus geschnitztem Ebenholz. Die Schilder des Thierkreises
wechselten sich dort mit den vier Hörnern des Mondes. Die Seitenlehnen
waren Aronsstäbe und auf vier Klauen ruhten die Füsse wie auf
Widderklauen.

Und öffnete die Thüre weit und neigte sich bis zur Erde und berührte den
Fussboden mit ihrer Stirn. Und sprach: „So es Dir recht ist, Deiner Seele
gefällt, dass Du essen willst jetzt, Alles ist bereitet, mein süsser
Herr!“

Darauf ging der Prinz ein in die Kammer und setzte sich auf den
geschnitzten Sitz am Tisch.

Sie aber schritt flugs und nahm seine Schuhe ab. Und brachte ein Gefäss
mit Wasser. Und rieb seine Füsse mit Wasser. Und salbte sie mit duftender
Salbe und trocknete sie in Linnen. Und setzte sich da zu seinen Füssen und
sah ihn an.

Sprach er: „Warum kniest Du vor mir?“

Sie sprach: „Mir ist sehr wohl so, mein allerliebster Herr! Lass mich
knieen so und Dir dienen allezeit.“

Er sprach: „Kennst Du mich?“

Sie sprach: „Bist Du nicht der kommen soll? Ich kenne Dich wohl, denn Du
bist meiner Seele holdseligster Bräutigam. Ich habe nie einen andern Mann
gesehen, noch im Traume eines Zweiten gedacht. Die Thür meiner Kammer
blieb verschlossen. Niemand sah das Geheimniss meines Hauses bis heute.“

Nun sagte er: „So Du nicht weisst, was Liebe ist, wie kannst Du mich
lieben?“

Sie sprach: „Ich liebe Dich mehr als mein Leben. Ich liebe Dich mehr als
die Freiheit und den Frieden meiner Tage. Ueber die Scham meiner
Jungfrauenschaft liebe ich Dich. Ich würde meine Füsse in Flammen setzen,
um Dir zu folgen, meinen nackten Leib untertauchen in die stinkende
Faulheit des Sumpfes.“

Er sprach: „Da Du so tapfer bist, weisst Du, dass Du sterben musst? Denn
die mich freien, werben um den Tod. Ihr Weg geht über Dornen. Glühende
Nägel müssen in ihre Hände eindringen; ihre Seiten werden sich öffnen und
bluten. Sieben Schwerter gehen ein durch Deine Seele. Sie werden Dein
Fleisch zerschneiden mit scharfer Schneide, in Deinem innersten Herzen
haften wie fressendes Feuer.“

Sie aber schlug ihr weisses Gewand auf und wies ihre junge Brust, die
weisser war wie die Seide des Kleides, unter der das Leben klopfte in
hohen geduldigen Wogen. Und sie sprach: „Stich zu!“

Er sprach: „Du bist sehr schön. Schönheit ist der Stolz und die Gnade des
Weibes, und macht sie zur Freude des Mannes, seiner Augenweide, dass er
sein Leben lieber lässt denn die Süsse ihres Leibes. Um Schönheit wird ein
Weib geliebt. Die Liebe des Mannes haftet an der Lieblichkeit, den Formen
und der Feinheit der Glieder. – Gieb mir Deine Schönheit.“

Flugs legte sie nun ihr königliches Gewand ab. Sie nahm die Spangen von
ihren Armen, die Perlen, die an ihrem Hals hingen, die purpurne Stirnbinde
that sie zur Seite. Und nahm eine scharfe Scheere und schnitt ihr goldnes
Haar ab, wo es am dichtesten war hart im Nacken. Und Alles legte sie
zusammen und vor ihn hin, dass sie nun vor ihm stand im Untergewand, und
ihre Arme und Hände waren unbedeckt. Sie fror in ihrem dünnen Linnen. Dies
Alles that sie in der grössten Freude, mit den herzlichsten und
zärtlichsten Liebesworten.

Er aber seufzte und sprach: „Kummer wird über Dich kommen, Krankheit,
Verfolgung, Nachtwachen. Deine Augen werden blind werden vom Weinen, Deine
Wangen einfallen von der Sorge und täglichem Mühsal des Daseins. Du bist
sehr lieblich und jung. Du wirst hässlich sein und unansehnlich. Ein Spott
denen, die Dich priesen.“

Sie sprach: „Ich bin gerne so, so Du mich siehst, ich Dir nur wohlgefalle,
der mein erwählter Herr ist und lindester Gebieter.“

Er sprach: „Ich bin arm gewesen und hatte kein Lager für mein Haupt des
Abends. Meine Nahrung fand ich von den Feldern, was wild wuchs, karge
Barmherzigkeit gab. Du musst arm sein, ohne Frieden und Heimath wie ich.“

Sie sprach: „Gleich heute will ich fortgehen, die Thür verschliessen und
mein Haus zumachen, es nicht wiedersehen, wo ich still lebte und
glücklich. Meine Habe soll den Armen gehören. Ich nehme nichts denn einen
Stab, Brot für morgen, diesen Schleier um mein Haupt, dass ich nicht zum
Gespött der Gassenjungen werde, sie sagen: ‚Es ziemt sich nicht einem
Weib, in Freiheit zu laufen.‘ So ich doch Deine verlobte Braut bin und
eines grössten Königs Geehrte.“

Da seufzte er noch tiefer, sprach: „Gerade schleierlos musst Du gehen und
unverhüllt, nackt und in Blösse. Ich brauche Deine Scham, wie ich Dein
Leben brauche, weil sie einer Jungfrau theurer ist wie ihr Leben, sie es
zehnfach lassen würde um ihre Scham. – So gieb mir denn, was ich von Dir
heische.“

Da ward sie roth über und über, röther wie die Purpurrose, die zuerst der
Sonne sich öffnet. Es war, als ob Flammen überall aus ihrem Leibe schlugen
und um sie brannten. Sie konnte die Augen nicht aufheben, denn ihre Lider
waren schwer von Scham. Vom Scheitel bis zur äussersten Spitze ihres
Fusses fühlte sie die lohenden Fluthen der Scham. Und sie stand zitternd
mit knickenden Gliedern. Sie sprach leise: „Hier, Herr! Nimm mich.“

Und seine Seele ward weich über ihr, da sie vor ihm stand, ohne Fehl und
Flecken, weiss in ihrer purpurnen Scham wie Eine, die im Feuer steht, die
Flammen hoch um sie brennen, und sie steht und flieht nicht.

Und er sprach langsam: „Die Scham ist die Tochter der Sünde, aber die
Reinheit kennt keine Scham. Deshalb muss sie nackt gehen, dass die
Menschen sie sehen und schamrot werden vor ihrer strahlenden Nacktheit.
Jede Fiber gehört dem Ganzen. Die Seele ist nicht edler denn der Leib.
Aber der Leib muss edel sein, wenn ihn die Seele erkennt. Es giebt nicht
Mann und nicht Weib, nicht Hass und nicht Lust. Alles ist eins. Die Scham
ward gewebt zum schleiernden Schutze, den Schleier zerreisst, wer die
Wahrheit erschaut, Wenigen zu erschauen nur und Allen furchtbar! – – Das
ist das letzte der Geheimnisse. Ich sage es Dir, weil Du meine Braut und
Verlobte bist. Behalte es wohl und sage es Niemand.“

Danach küsste er sie. Er küsste ihre Augen, ihre Lippen und Wangen. An
ihren Schläfen küsste er sie. Und er nahm sie in seinen linken Arm, der
der Herzarm ist, und küsste sie auf die beiden Rosen ihres Busens. Denn im
Busen der Frau ist die Weltkugel und der Apfel, Macht und Verderben. Und
vom Schoosse des Weibes kommt alles Lebendige, Segen und Fluch.

Darauf hielten sie zusammen das Mahl. Er reichte ihr das Brot und sie ass
von seinem Brote. Er bot ihr den Wein und sie trank mit ihm von dem Wein.
Und assen von allen Dingen, die auf dem Tische standen und wurden ganz
fröhlich.

Wie nun die Morgenröthe heraufkam, verliess er sie wieder. Der blöde
Knecht sah, wie sie die Riegel aufschloss. Denn die Eisenbarren waren viel
zu schwer für einer zarten Jungfrau Hände. Dennoch that sie es mit
Leichtigkeit. Sie war in ihrem Brautschmuck, weiss in ihrem weissen
Kleide, mit der purpurnen Stirnbinde.

Er hielt sie in seinem Arm wie sein eheliches Weib. Sie küsste ihm die
Lippen und küsste seine Augen. Und sprach: „Fahre wohl, mein geliebter und
seliger Herr! Ich warte und harre des Tages, da ich neben Dir das
Brautbett besteige.“

Das dünkte dem Knecht schier eine seltsame Rede für eine so untadelige
Jungfrau. Aber sie stand ruhig und sah ihm zu, wie er sein Pferd bestieg.

Danach ging sie wieder in ihr Haus, schlug ihre Sachen zusammen, übergab
Alles dem Knecht und sprach: „Ich gehe. Ich habe viel zu thun. Und die
Zeit ruft.“

Diese wurde eine sehr heilige und wunderbare Frau. Man brachte viele
Kranke zu ihr, die sie heilte, indem sie ihnen die Hände auflegte. Und
Einige wurden nicht geheilt, die ungläubig waren, sie versuchten. Solche
trieb sie mit Schelten von ihrer Thür: „Wie Ihr thöricht seid und tückisch
und so ganz schamlos!“

Niemals aber sprach sie über ihre Geheimnisse dieser Nacht. Nur eine
grosse, selige Freude war immer in ihr. Wie sie starb, war da eine
Jungfrau, wo eine alte, blinde und kränkliche Frau gewesen war. Niemand
hatte je eine schönere Jungfrau gesehen. Diese, als man sie sehr genau
sah, hatte an ihren Händen Stiche als von rothen Nägelmalen. Sie
durchbohrten auch ihre Füsse. Eine offne Wunde war in ihrer Seite, von der
das Blut floss. Man gewahrte auf ihrer Stirn Eindrücke, als ob Dornen um
ihr Haupt gewunden gewesen und in die Haut eingedrungen waren. Alles dies
war sehr deutlich. Sie hatte es immer an sich getragen, nur verborgen in
ihrer Bescheidenheit vor den Menschen, da sie sich selbst nie für solcher
mystischen Ehrung würdig gehalten. Und beständig sich selber schalt, dass
sie schwach sei und arm im Glauben, nicht eifrig zu den Werken, wie es
sich einer guten und getreuen Hausfrau geziemte, das Erbe zu verwalten,
während der Herr und Ehgemahl abwesend ist. Als sie nun auf dem Sterbebett
lag, blass und abgezehrt, sehr schwächlich vom übergrossen Leiden, that
sie plötzlich einen lauten Schrei wie von seligster Freude. Die bei ihr
waren, darunter der Knecht, der sie einst bedient, sahen einen weissen
strahlenden Engel als einen herrlichen Helden. Und er nahm sie bei der
Hand und führte sie in das Brautgemach, wo purpurne Rosen lagen auf
silberweissen Linnen.

Der Knecht, ein uralter Mann zu der Zeit, aber ganz klar in seinem Kopf,
vorsichtig und abwägend in aller seiner Rede, schwor, dass es derselbe
gewesen, der sie damals besucht. Viele sprachen über diese seltsamen
Geschichten: Es ist ein Wunder, Hysterie und Aberglaube. Und welche
glaubten noch schlechtere Dinge.

Diesen ward die Zunge schwarz in ihrem Mund, und faule Worte kamen nur,
dass selbst die, die sie sonst gehört, einen Abscheu vor ihnen hatten.
Selbige schrieen laut auf: „Die Scham ist todt! Die Scham ist todt!“
stürzten sich unter Schweine, dass man sie für solche hielt, einsperren
und schlagen musste wie niedrige Thiere. Ein Schrecken fuhr in alle Leute
der Gegend. Und fürchteten das Grab und sagten: „Lasst uns eine hohe Mauer
darum bauen!“

Nur die Jungfrauen kamen und brachten weisse Kränze. Und ward ein
Heiligthum da für untadelige Jungfrauen, die nie ein Mann berührt hatte,
und sehr stark waren, herrliche Thaten vollbrachten vor allem Volk.



                         DAS VIERZEHNTE KAPITEL.


Aber der ganze Jammer des Daseins fiel auf ihn eines Abends, da es schon
dunkel war, er einsam sass im Staube neben der grossen Heerstrasse.

Er dachte an die Jahrhunderte, die dahingegangen waren, und dass sie alle
für nichts gewesen. Hunger, Hass und Kriegslärm füllten die Welt. Jeden
Tag unter dem richtenden Beil fielen Häupter Unseliger, Unschuldige gingen
hin und erwürgten sich selbst in Angst und blutiger Noth ihres Leibes.

Die Selbstsüchtigen herrschten immer, die, die hart waren, nur schufen für
sich selbst, ohne Sorge traten auf die nackten Leiber der Verzweifelten.
Die, die dumm waren und nicht dachten, schienen klug. Die feige waren,
tapfer, und solche, die frassen wie die gefrässige Raupe auf ihrem Blatt
und fett wurden, weil sie frassen – aber der Baum selbst starb –, galten
für die wahren Guten. Man pries sie als Muster der Tugend, zeigte sie
denen, die unvernünftig waren und eigengesinnt: „Seht, wie sie sind! Wie
sie nahrhaft werden und fett! Nehmt Euch ein Beispiel an ihrem Gedeihen,
Ihr, die Ihr Flügel habt, die zu schwach sind, der Sonne zustrebt, die
Euch verbrennt!“

Diese aber waren die schlimmsten Feinde und sie galten für den Hort aller
Tugenden, hielten die Sitte hoch in ihrer heuchlerischen Klugheit, weil
der losgelassne Wolf sie zerrissen hätte innerlich, und standen auf dem
Boden des Worts, weil es ihnen nützte für ihre Zwecke, der Strom sie sonst
fortgeschwemmt hätte in seinem Ueberschwellen.

Solcher aber waren Viele. Sie hielten die Gewalt und das Geld. Die Andern
zerbrachen ihre Kräfte an denen, stiessen ihre Stirnen blutig und sahen
doch nicht was darüber war, über ihrer dummen Klugheit, die wahre
Weisheit, über ihrem Geiz die weite Liebe, über ihrer Ungerechtigkeit die
grosse Gerechtigkeit. So dass diese ihre besten Kräfte verbrauchten, auch
müde wurden, dahingingen in Lastern, Leichtsinn und Unzucht. Weil sie
sprachen: „Unser Leben ist kurz und wird uns zugetheilt in kleinen
Tropfen. Wir wollen es auf einmal leeren, damit wir den Rausch kennen in
seiner Wollust. Und nachher hungrig sein und frieren.“

Weil sie nicht warten konnten, bis der Wein reif ward und duftig. Nicht
schauen, bis sie die Ferne erkannten und Richtung ihres Schiffens. Weil
sie jung waren, das Blut siedend schoss in ihren Adern, das lind sein
musste vom Denken, der weiten Herzlichkeit ihres Liebens.

Diese aber auch liebten zu sehr sich selbst, dass sie wie brennende
Fackeln sich verzehrten im Leeren. Die Licht gegeben hätten, reines Feuer
zum Leuchten, so sie doch nur geduldig gewesen, sich selbst gereinigt
hätten vom Unreinen.

Und die Andern, die gar kein Licht hatten, sondern dunkle Klötze blieben,
die mühsam denen ihre schiefen Strahlen auffingen, vom
Scheiterhaufenleuchten der Grossen ihren Weg suchten im Finstern,
schnobernd wie die Schweine nach Trüffeln, oder niedrige Hunde auf der
Fährte des Aases – spotteten über solche, zeigten auf sie in
Schadenfreude: „Die verzehren sich und sind gar nicht, Rauch und Asche.
Wir stehen fest und finden.“

Denn sie brauchen nicht viel zu finden, wie der Wurm immer noch Nahrung
findet in seinem Koth, dem Maulwurf die Larven niemals fehlen in seiner
niedrigen Dunkelheit.

Aber der Adler, der sehr hoch fliegt, hat oft sein Futter nicht für seine
Jungen, wenn Alles unter dem Schnee vereist liegt. Dem seltnen Vogel, der
lieblich singt, stellen die Vogelsteller nach. Sein glänzendes Gefieder
lockt Gelüste der Räuber.

So dass diese niemals aufkommen, die die Schönheit nackt gesehen hatten
und priesen, weil ihre eignen Augen unrein waren und ihre Worte die
Wollust verriethen. Die Andern aber, die gar nicht sahen und von Wollust
voll waren wie die geile Erde vom Mist, – dass sie nicht einmal wussten,
dass eine Keuschheit war, den reinen Mond befleckt hätten in ihrer
Unreinheit, – waren gross und sprachen die Urtheile über wichtige Dinge.

Und man nahm ihr Recht für _das_ Recht. Und ihre Wahrheit für _die_
Wahrheit, dass eine grosse Verwirrung war, die nichts mehr sahen, in der
Dunkelheit tappten wie Blinde und Trunkne.

Alles dies that seinem Herzen sehr weh. Der Ekel am Leben stieg in ihm auf
und würgte ihn an der Kehle wie bittre Galle, so dass er in sich selber
sprach: „Besser wäre die Welt gar nicht, Feuer und Schwefel vom Himmel,
denn dies! Und besser ein dumpfes Thier, oder eine Pflanze, die wächst und
stirbt, denn dieses Halbe im Staube, dem niemals die Flügel der Seele
wachsen. Besser, viel, viel besser ein Niegewordnes, Ungeschaffnes, als
das niemals ganz wird, nicht leben kann und nicht sterben.“

Seine Seele in ihm begann zu hadern mit Gott, dass er die Güte so klein
geschaffen und die Grösse niemals gut, die Reinheit sich verdarb an ihrer
eignen Spiegelklarheit und die Unreinheit mit dem Schwert der Reue
durchgestochen blieb, dass die Menschen sich drehten wie aufgespiesste,
unselige Fliegen an ihrem Stachel. Der Stachel war in ihrer eignen Brust
und bohrte sich tiefer bei jeder Drehung.

Und er sprach zu sich selbst: „Wozu so viel Qual und Leiden? Hast Du sie
geschaffen aus Hass oder wurden sie empfangen in Güte? Ist Dein Zweck mit
ihnen Gnade oder ist es Neid des Mächtigen, Allherrschenden gegen das
Kleine, Auch-Strebende? Bist Du gut? Oder sind sie besser wie Du, und nur
eine Zeit ward Dir Macht gegeben, sie zu quälen, im Staub Gebannte, die
ringen und stolz sind? Bist Du der Teufel? Der Ganz-Mächtige nicht? Und es
ist ein viel Mächtigerer, Unbegreiflicherer Dir und mir, und der in ihnen
ist? Wird er triumphiren, klar sein eines Tages? Und unsre Güte war vor
Ihm Halbheit? Unser Licht war Dämmerung? Sage mir, wer Du bist? Wer ich
bin für Dich? Dann lass mich mich hinlegen und sterben. Denn meine Seele
ist müde in mir. Das Licht des Tages thut meinen Augen weh und der Lärm
der noch Arbeitenden beleidigt mein Ohr. Ich grüsse die Nacht, die dunkel
ist, wo gigantische Schatten schweigen.“

So sprach er zu sich selbst. Er sah die Nacht herkommen über die Felder.
Sie kam wie eine starke, riesige Frau mit einem schwarzen, sammetnen
Mantel. Die Bäume standen wie dunkle Keulen Gewaffneter und die Stimme des
Wassers wurde deutlicher, wie es hallend fiel mit ewig sich lösenden
Tropfen.

Er sah in die Nacht und frug sie: „Bist Du, die kommen soll?“

Sie sprach: „Ich war.“

Plötzlich hob sie ihren Mantel auf. Und es war ihm, als könnte er tief
hineinsehen in die Nacht, die Nacht aller Zeiten, die vor den Zeiten
gewesen war.

Er sah die Nacht, die Nacht selbst, von der die Dunkelheit kam und der
Schatten.

Sie lag wie eine Sphynx, die ein Weib war, und ihre andre Hälfte war eine
Löwin. Die Schultern des Weibes aber lagen über den Tatzen der Löwin und
ihre Brüste starrten gerade wie gerichtete Schwerter. Zu beiden Seiten
ihres Hauptes lief eine königliche Binde mit Streifen und Zeichen. Sie
schnitt die Stirn niedrig ab und ihre Augen standen weit offen, marmorne
Augen mit todten, runden Bällen, die geradeaus sahen. Ihre Lippen waren
geschlossen. Sie lag ruhig mit milchschweren Brüsten über tödtlichen
Tatzen.

Sie wechselte sich. Und wurde ein schauderhaftes Idol. Auf den Schultern
eines eisernen geharnischten Mannes reckte sich ein Vogelkopf mit spitzem,
gebognem, hackendem Schnabel. Ein kreisrundes Auge war eingesetzt aus
blauem, hellem Email, in der Höhe des Schnabels, da wo er anfing. Gen
Osten stand dieser Mann. Auf einem hohen Postament, die Hände auf sein
Schwert gelegt. Die Arme bildeten ein Viereck mit den Schultern und staken
in Schienen. Sein Schwert stand ganz gerade, breit wie eine Hand.
Senkrechte Riefen liefen mitten durch, in denen das Blut abtropfen konnte.
Die Klauen seiner Hände krallten sich um das Schwert. Der Leib und die
Beine standen gerade, nach vorne, und der Vogelkopf mit dem Schnabel sah
gegen Osten.

Wie er diesen noch betrachtete und schaudernd ansah, geschah eine Stimme
zu ihm, die sprach: „Das ist die Gewalt. Ihr fielen Könige zum Opfer. Sein
Schnabel ist schwarz vom Geifer der Lebern. Sein Schwert roth vom Blut.
Sein eiserner Leib wird glühend vom Feuer verbrannter Städte.“

Das Symbol wechselte sich. Und es wurde eine schwarze Astarte, ganz aus
schwarzem Metall, aus Stein oder Eisen, das man geschwärzt hatte, und es
glänzte nun schwärzer wie Ebenholz, gefettete Leiber der Neger. Sie stand
ganz aufrecht. Der Leib und die Beine waren mit Binden umwickelt. Sie
kreuzten sich und kamen wieder, von der Hüfthöhe bis an die Gliederung der
Zehen. Zeichen waren in diese Binden gegraben, Striche, Muster, Rubinen,
grüne Smaragden und sehr dunkle Saphire. Sie folgten sich rhythmisch und
redeten eine geheimnissvolle Sprache über dem Schwarz, das kam und ging.
Dieser ganze Theil des Leibes mit dem Bauch und den Schenkeln war sehr
dünn und gerade wie bei einem unmündigen, ganz unentwickelten Kinde. Und
darüber drängten sich erschreckend tausend Brüste. Eine Ueberfülle von
Brüsten, Beeren der reifen Traube, Wellen, die sich stossen, strömen. Man
sah den Kopf im Dunkeln, sehr hoch, mit harten Lippen, steinernen Augen,
die hierarchische Binde, die zu beiden Seiten fiel. Die Brüste gleissten,
rieselten, Aepfel, Kugeln, gehärtete Spitzen, schwarz, von einem
ungeheuerlichen, unirdischen Schwarz, Grünschwarz der Schlangenhäute,
Tollkirschen, verwester Ueberreste in ihrer Zersetzung.

Und die Stimme sprach: „Das ist die Wollust, die Verfluchte. Alles stirbt
in ihr. Nur das Eine lebt. Und es wird zur Schauderhaftigkeit, zum
Ungethüm. Unfruchtbar ist sie, denn sie ist von Eisen. Ihre Seele in ihr
ist Mord.“

Und diese wieder wechselte sich. Es wurde eine ganz weisse Schlange. Sie
trug ein Krönchen auf dem Kopf. Sie bewegte sich rhythmisch zu einer Art
Musik. Ihre Schuppen glänzten wie Perlmutter, wenn sie sich bewegte, und
ihre Augen waren rothe Rubinen. Ein rosa Züngelchen kam aus ihrem
gespalteten Kopf. Sie züngelte damit und leckte sich zierlich wie Katzen
thun. Und rollte sich zu Ringeln und lag ganz zusammengeringelt, als ob
sie schliefe. Aber sie schlief nicht. Ein Zittern von Gier und Gift rann
durch ihren Leib, der sich milchig blähte unter dem Bauch.

Und die Stimme sprach: „Das ist die falsche Weisheit der Welt. Sie ist
arglos und ungefährlich anzuschauen. Aber das feinste, siebenmal
gefilterte Gift. Wer diese Schlange anrührt, der stirbt und fühlt nicht
den kleinsten Schmerz, nicht wie einen Nadelstich in die Hand, da man sich
das Blut abwischt und weitergeht.“

Danach sah er noch eine schwarze Kröte, die in ihrem Sumpf sass und
glotzte, Harpyen, die mit den Flügeln schlugen, Bären und Wölfe. „Das sind
die gewöhnlichen Sünden, Reichthum, faules Leben, Unfrieden und
Zankhaftigkeit der Weiber. Alle diese sind nur hässlich. Und Sünden der
gewöhnlichen Menge. Denn vornehme Herzen werden von ihnen nicht gerührt,
die Andern aber sind die Vornehmen, die Grossen. Die Besten verfallen
ihnen.“

Diese Vision verschwand. Er blieb allein in der Nacht. Die Kälte war um
ihn her und er fror. Die Gedanken huschten in seinem Kopf und schlugen an
das Schädeldach wie mit klappenden Flügeln. Seine Seele war sehr matt in
ihm. Er sprach: „So es so viele Uebel giebt, die Sünde also gross und
mächtig ist für die Besten, wäre es nicht besser zu nehmen was schön ist,
fröhlich sein im Tage und sterben, wenn es Zeit ist, das Unglück kommt?“

Alsbald kam da ein Zug von lieblichen Mädchen, die Cymbeln und Schalmeien
trugen. Und hielten in ihren Händen Flöten und Harfenspiele, harte Hölzer,
die sie schwirrend schwangen oder gegeneinanderschlugen im Tanze. Ihre
Haare waren mit Blumen gekränzt. Die Blumen fielen gleich Sternen über ihr
Gelock. Sie trugen Blumen in ihren Armen und hatten lichte Gewänder an und
sangen: „Lasst uns fröhlich sein und singen! denn das Leben ist kurz, die
Jugend verfliegt schnell. Die Jugend ist die Lenzzeit im Leben und die
Liebe ist der Sonnenschein am Maitag!“

Dann kamen junge Knaben und holten sich diese, führten sie weg zu
blühenden Lauben und heimlichen Grotten. Und wandelten mit ihnen Arm in
Arm, küssten sich zärtlich, lachten und kosten.

Sie tanzten wilder. Die Lust stieg. Becher wurden gebracht. Ein Jüngling
erschien auf goldnem Wagen, den Pardel zogen, von Weinlaub umkränzt. Und
Alle schrieen: „Heil! Heil! Bacchus Evoë!“

Der Jubel ihrer Freude scholl durch die Nacht. Sie schwangen Fackeln. Es
gab welche, die sich selbst durchstachen, sich Wunden schlugen mit kurzen
Schwertern, denn sie wollten heute sterben, weil sie doch morgen todt
sind.

Und Einige wohnten in Hüttchen und hatten Kinder gezeugt, die sie
jauchzend emporhoben: „Wir sind glücklich. Und das Leben ist kurz. Die
Liebe ist reifes Erntegold im Sommer.“

Er sah eine junge, lächelnde Mutter, die ihr Kind an der Brust hielt. Der
Sommerhimmel lag in ihren Augen blau und satt. Ihr Leib blühte und
entsandte Wärme wie der Weizenacker im Juni. Man hatte um sie einen Rahmen
gebaut in der halben Brusthöhe wie eine goldne Aureole. Das Kind sog. Sie
lächelte. Sie war glücklich.

Dies verschwand.

Er hörte neben sich die Stimme eines alten Mannes, der laut auflachte. Er
sprach höhnisch: „Diese sind Eintagsfliegen, Jahrmarktsplunder. Sie
glauben zu geniessen und geniessen doch nicht. Sie sind nicht besser denn
Schweine. Ihre Freuden sind Freuden des Magens und der Sinne. Aber der
feine Magen sagt Pfui! zu ihren schalen Freuden. Der Sinn, der fühlen
gelernt hat, rührt sich nicht mehr bei der Grobheit ihrer Eindrücke.“

Er sprach: „Hast Du Bessres gefunden?“

Damit sah er ihn an, der das gesagt hatte. Er sah, dass es ein sehr alter
Mann war, und Einer, der lange gewandert war. Sein Haar und Bart hingen
wild. Der Staub der Wege lagerte in den Runzeln seines Gesichts. Sie zogen
sich tief eingegraben wie von zahllosen Jahren gezeichnet. Die Müdigkeit
einer ungeheuren Anstrengung wohnte in den tiefen Höhlen seiner Wangen.
Man erkannte die Sonnen von brennenden Sommern, die über sein Haupt
dahingegangen waren und die Haare auf ihrer Höhe gebleicht hatten zu
Schnee. Seine Kleider waren fahl vom Staub. Sie hingen zerrissen und
schlugen in gefaserten Fetzen um seine mageren Kniee, die ausgearbeitet
und knotig waren wie Hölzer eines uralten Baumes, von denen die Moose
hingen in weissen Flocken. Keine Unze Fleisch war mehr an diesen Knieen.
Unter der braunen Haut traten die Knochen vor wie durchgeschubbert,
gewetzt in einer unausgesetzten Reibung. Seine Nase bog sich scharf wie
ein Adlerschnabel. Er hatte keinen Zahn in seinem Munde vor hohem Alter.
Aber in seinen schwarzen Augen glomm unauslöschlich Feuer des Lebens. Sie
brannten wie Fackeln in einer sehr tiefen, nächtlichen Grotte. So stark
war der Glanz ihres rothen Feuers, dass sie die Höhlen ausgebrannt hatten
um sich, die Brauen vorstanden wie Dachbalken eines eingeäscherten Hauses.
Der Schnee vieler Winter hing von seinen Brauen. Sein Haar war unbedeckt
und flatterte im Winde.

Er hielt einen rohen Stab in der Hand aus Knoten des Dornstrauchs. Ueber
seiner Schulter hing der Bettelsack. Wie er wanderte, stützte er sich auf
den Stock. Die Fetzen seines zerlumptem Gewandes schlugen um seine
schreitenden Lenden.

„Ich wandre – wandre ...“ sagte der alte Mann. „Ich weiss nicht, wie lange
ich wandre. Ich habe alle Städte der Menschen gesehen, die Wüste und die
hohen Schneegebirge, wo der Schnee ungestört liegt wie der weisse Flaum
auf dem königlichen Lager der Jungfrau. Alle Thaten und Dinge der Menschen
weiss ich. Ich habe ihre Weisheit gehört, das Mitternachtöl verbrannt über
ihren Büchern. Und ich habe dieses gefunden: dass sie gar nicht sind. All’
ihre Weisheit ist Bilder von Worten, das Echo eines Klingklang, und sie
sind eine Spiegelung des Nichts im Leeren. Dies weiss ich und bin stolz,
dass ich es weiss und lache aller ihrer Leiden und Busse. Es ist mir, als
ob ich in einen Spiegel des Wassers sehe, der schnell verrinnt, oder
Spiele des Guckkastens, wie man Kindern zeigt auf Jahrmärkten, Launen des
Lichts und Wechselungen der Schatten! So man darauf pustet und mit der
Hand hineinschlägt, ist es nichts.“

Er hauchte und schlug mit der Hand in’s Hohle und lachte laut auf.

„Aber Gott ist!“ sagte der Fremde.

„Eine Spiegelung der Spiegelbilder. Die Fratzen werfen ihren Schatten und
weil sie ihn von weit werfen, ist er grösser und dunkler. Wie die Wolken,
die Du da oben siehst. Und wenn Du hinkommst, sind es nicht Wolken,
sondern leere Luft. Nur die Sonne und Spiegelung macht sie zu Wolken.“

„Etwas muss sein.“

„Etwas muss sein. Ich suche es im Unendlichen, tausend Jahre, Schatten,
der ich bin, im Nichts, das sich bewegt und still bleibt in der Bewegung.
Bewegung ist Nichts. Und Stillstand ist nicht. Um Sonnen drehen sich
Welten. Aber die Sonne ist nur ein Schein andrer Sonne, und Welten sind
Schattenflecken im Leeren. Ich wandre – wandre – wandre.“ ...

Er fasste seinen Stab und ging weiter durch die Nacht. Die Eisenspitze
seines starken Stockes klang hart auf dem harten Kies. Die Fetzen seiner
zerlumpten Kleider schlugen um seine dürren schreitenden Lenden im Winde.

Und Einer sprach: „Das ist der ewige Jude, Ahasver, der Zweifel des
Menschen, der nicht ruht. Ob er wohl sieht und nicht sieht, das Gesehene
selbst für Hirngespinste erklärt. So er die Hand in die Seite legte und
die Wundenmale rührte mit seinem Finger, wird er sagen, dass das Blut
Farbe ist und die Seite ist Seite einer Leiche. Dieser wird niemals selig
und wandert bis an’s Ende der Tage. Alsdann wird er blind werden, wenn
Alle sehen. Und in seiner Blindheit sehen, was in ihm war und immer
gewesen ist von Anbeginn.“

„Werden Alle finden?“ fragte er eifrig.

„Alle, die suchen. Bis auf Einen, der nicht sucht.“

„Lass mich den sehen, der nicht findet,“ bat er.

„Es ist zu schrecklich zu sehen für menschliche Augen. Sie können ihn nur
ausdrücken in dem, was sie nicht kennen. Er ist die Nacht.“

Indem er das sagte, ward die Nacht noch tiefer. Sie drang in seine Seele
ein wie das Gefühl eines hohlen, schrecklichen Abgrunds. So stark war der
Schrecken der Finsterniss, dass ihm der Schweiss von der Stirne rann, und
wie er fiel, waren es Tropfen Blutes.

... Damit kam die Morgenröthe und die Sonne ging auf.



                         DAS FÜNFZEHNTE KAPITEL.


Aber um diese Zeit war das Gerücht von ihm sehr gewaltig geworden.

In der Hauptstadt erschütterten die Predigten Fritz Kuhlemann’s, der mit
starker Stimme sprach. Er schonte Niemand und rief laut zur Busse. Denn
die Zeit war gekommen. Ein grosses Erwachen ging durch die Völker.
Schweres Unheil, Empörung und Blutvergießen lag in der Luft, so die
Machthaber sich nicht bekehrten, die neue Lehre anerkannten von der
Theilung der Güter, der Brüderschaft aller Sterblichen. Er sprach: „Es ist
Unrecht, dass Ihr Armeen habt, Einer den Andern zu bekriegen, die Stimme
des Volks zu ersticken, die mächtig spricht. Solches thun die Thiere
nicht, die von demselben Blut und gleicher Art sind. Seid Ihr nicht besser
denn Thiere? Wehe den Reichen! Wehe denen, die Geld ansammeln und es auf
Wucherzinsen ausleihen! Die den Acker mit Schulden bedecken, dass er nicht
Frucht bringen kann unter dem verfluchten Eisen! Habt Ihr die Erde
geschaffen, dass Ihr sie Euer nennt, Grenzpfähle setzt so und so weit und
Zäune zieht, dass kein Andrer sie beschreite? Die Erde, die Luft und das
Wasser sind des Herrn. Euer aber ist Alles. Und Alle seid Ihr Eines
Geschlechts.“

So gewaltig war seine Stimme, dass ihm die Leute zuliefen in grossen
Massen. Kein Raum und kein Saal vermochte mehr die Zahl seiner Zuhörer zu
fassen. Wo man sie zurücktrieb, kamen Neue. Das Volk ward drohend, dass
man seinen Prediger antaste. Dröhnend wie Schlachtdrommeten klang seine
Rede. Er trug einen härenen Rock und nährte sich nur von Nahrung der
Pflanzen. Was er verzehrte, gewann er von seiner Hände Arbeit, denn wilde
Kraft des Volkes lebte in diesem Manne. Wenn er vor ihnen stand, gewaltig
mit dürren Händen und Armen, gedachte man der alten Prediger in der Wüste.
Seine Augen warfen Feuerflammen. Von vielem Denken und Nachtwachen war
sein Haar grau geworden. Er trug keinen Hut auf seinem Haupte. Wenn er in
einer Stadt fertig geworden war, wanderte er die Nacht über zu einer
andern.

Ueberall gegen Ungerechtigkeit und List erscholl sein Zeugniss: „Ihr nehmt
dem Armen scheffelweis. Dann straft und hängt Ihr für das, was er Euch
wiedernimmt in Körnern. Ihr predigt Demuth und freut Euch an dem, der vor
Euch steht mit abgezognem Hut und zitternden Knieen. Vor Gott beugt Ihr
die Knie, auf dass vor Euch die Menschen knieen um Eurer Gottesfurcht
willen. Seinen heiligen Namen schreibt Ihr über Eure schlechten Thaten,
Kriege und Händel, dass Eure Thaten heilig stehen in seinem Namen. Ihr
behauptet seine Weisheit zu wissen. Es ist Eure List, die Ihr fein und
schneidend schleift am adamantnen Felsen Seiner Gerechtigkeit. Ihr zieht
den Strick nicht zu, weil Euch das Lastvieh Säcke tragen soll. Dann
sprecht Ihr noch: Seht meine Langmuth und Gütigkeit, dass ich nicht würge,
wo ich doch würgen könnte. Der Aermste trägt alle Beschwerde. Ihr wischt
Euch die Stirn, sprecht von Eurem Schweiss, Nächten, die Ihr hingebt für
Euer Rechnen und Raffen in Keller, die Ihr auffüllt für Euch und Eure
Söhne. O Ihr Heuchler und dreifachen Heuchler! die Ihr die Steine
verschluckt, die man gegen Euch wirft, Euch dadurch schwerer macht, vom
Gift, das Euch tödten müsste, fresst, bis Ihr giftfest seid! Ihr seid
erkannt in Eurer Nacktheit. In Eurer Lüge steht Ihr frierend und ganz
hülflos.“

Also trieb er die Gegner vor sich her mit harten Worten. Ein mächtiger
Schrecken ging von ihm aus. Viele auch hingen ihm an, Soldaten, die in der
activen Armee standen, und man fürchtete, dass diese im Fall eines Kampfes
ihre Waffen gegen ihre Oberen kehren, gemeinsame Sache machen würden mit
dem Volk, denn des grossen Führers Wort war überzeugend. Er scheute sich
nicht und nannte die Dinge mit deutlichem Namen wie sie waren. Und Niemand
war, der ihm widerstehen konnte, weder mit feingedrehten Gründen, noch mit
Gewalt.

So dass davon bewegt wurden bis in die höchsten Schichten, Regierungen und
Ministerien. Man liess ihm unter der Hand anbieten, er sollte da eintreten
in die Verwaltung. Man würde Verbesserungen machen, Vorschläge aufstellen,
dass die Ungerechtigkeit beseitigt würde, Zufriedenheit, genug zu essen
sei im Lande.

Er aber schlug Alles aus und stiess diese in die Enge mit harten Worten:
Dass sie halb wären und niemals ganz, die den zerrissenen Schlauch flicken
wollten mit alten Lappen, klaffende Löcher verkleben mit Pappe von
papiernen Acten, Kleister von Speichel: „Ihr selbst müsst weg zunächst aus
dem Platz, da Ihr feststeht, damit frische Luft werde und Bewegung, das
Neue sich nicht zerbreche am harten Stein des Gewordenen, von der
Verwesung das Leben Farbe und Geruch annehme.“

Dieses hörten sie ungern. Da er aber sehr laut sprach, das Volk ihm
anhing, machten sie einen andern Versuch. Er ward zum Fürsten befohlen,
dass er diesen selbst spräche, vor der höchsten Majestät, so er dessen
fähig sei, zeugte für die Richtigkeit seiner Ansprüche.

Dieser, der noch ein junger und rechtlicher Monarch war, empfing ihn
freundlich. Er hatte auch gute Gedanken für die Besserung und für Alle,
beklagte dass Vieles nicht zu seinem Ohr kam, auf ihm aber als dem
Höchsten die Verantwortung ruhte. Nur hoffte er zu Gott, dass ihm das
nicht angerechnet würde, da er sich nach besten Kräften bestrebte, auch zu
Gott betete, bevor er Urtheil abgab in den grossen Sachen, die über Tod
und Leben waren und Leben und Tod vieler Tausende.

Zu ihm sprach der kühne Mann: „Mein Fürst! Du bist ganz und gar unfähig zu
urtheilen, im Einzelnen, wie nun gar über viele Hunderte und Tausende.
Siehst Du die Seelen der Menschen, vom unschuldigen Kindlein an, wie es
war, dass sie also schlecht wurden und Böses thaten? Ob es eine Krankheit
im Blut gewesen sein mag, Schlechtigkeit, Ungerechtigkeit und Unsauberkeit
der Welt, die Deines Volkes ist, davon Du Verantwortung trägst? Das
Gericht wird gesprochen in des Königs Namen. Wenn ein Krieg ist, erklärst
Du ihn. Der fremde Fürst nimmt Deine Erklärung an. Ihr Beide steht für
Eure Völker, das Recht Eurer Sache. Wie mag ein Einzelner solche
Beschwerung ernstlich übernehmen? Und wie Du zerbrechlich und von elendem
Staube bist, in Schmerzen geboren, krank eines Tages und einen andern
gesund, sterben musst und Dein Leib wird Würmerspeise, so sind Deine
Brüder, nicht besser und nicht schlechter. Niemals war es Gottes Wille,
dass der Eine herrlich gehen sollte in Purpur und Sammet, der Andre wie
ein Vieh im Staub kriechen, und viel weniger denn ein Vieh, da er nicht
hat seine Blösse zu bedecken.“

Worauf der Fürst sagte, dass er dies in der That beklage, auch sich selbst
nicht für besser hielte denn andre Menschen. Nur müsste Einer der
Mächtigste sein um der Ordnung willen. Es würde sonst Alles Unordnung und
Anarchie.

„Unordnung und Anarchie ist schon in der Welt,“ sprach der Mann des Volkes
traurig. „Eine Nation steht gegen die andre. Die stark sind, überwältigen
die Schwachen. Die schwach sind treten wider die Andern, die noch
schwächer sind, Weiber und Kinder. Es ist nicht mehr Gerechtigkeit denn
unter Läusen und Ungeziefer, und was das Recht genannt wird, ist eine neue
Waffe, die die Besitzenden geschmiedet haben, um ihren Besitz festzuhalten
und den Gar-nichts-Habenden zu wehren. Durch List, Ehrgeiz und Kriechen
gelingt es denen manchmal hineinzukommen. Diese Söhne von Sklaven drücken
ärger denn die Herrengebornen, denn sie sind niedrig. Ihre Seelen sind
niedrig wie der Staub, dem sie entkrochen sind. Der aber eine hohe Seele
hätte, könnte Niedriges nicht um sich dulden. Es würde ihm unerträglich
sein, sein Ebenbild besudelt zu sehen im Koth, schlechter denn der
Fussboden unter seinen Füssen, den er tritt. Ja, welcher ganz hoch dächte,
steige hernieder von seinem Thron und würfe über ihre blutige Schmach den
blutrothen Purpur seiner Hoheit, wie unser höchster Herr Christus sein
edelstes Blut vergossen hat für uns Alle. – Und recht königlich handelte
er, der so thäte, fürstlich und kaiserlich!“

Da ward der junge Fürst ungeduldig, hiess ihn fortführen. „Ich will Dich
später hören,“ sagte er. Die Rede hatte ihn unmuthig gemacht. Aber Manches
nahm er sich an, hiess auch den Mann öfter vor sich kommen, discutirte mit
ihm. Aber auf seine Rede kam er nicht zurück. Er blieb traurig. Die Diener
des Königs liessen den Demagogen nicht aus dem Gewahrsam, denn die
Aufregung war gross in der Stadt und im Land. Viele zogen durch die
Strassen in Haufen, die Brot und Arbeit verlangten. Man rief den Soldaten
zu, dass es ihre Pflicht wäre, die Waffen niederzulegen, sich zu verbinden
mit den Empörten.

Fritz Kuhlemann aber blieb im Gefängniss.

Um dieselbe Zeit nun sprach man von einem wundersamen Buch, das ein
Unbekannter geschrieben hatte, oder doch ein Bekannter, denn Viele
vermeinten die Art und Redeweise zu erkennen eines gewissen Doctor Anton
Rothe, der grosses Aufsehen erregt hatte zu einer Zeit, dann lange Jahre
verschollen war. Man sagte, dass er sie in wüsten Ausschweifungen
verbracht mit einem Fürsten auf Reisen. Derselbe war blind und auf den Tod
krank gewesen Monate lang. In diesen Wochen hatte er das Buch geschrieben.
Er hatte es einem Knaben in die Hand dictirt, der nicht schreiben konnte.
Und siehe! die Zeichen standen fest und deutlich wie Buchstaben, dass
Jeder sie lesen konnte, die die zu lesen verstanden und so nichts vom
Lesen und Schreiben wussten, als Kinder und ganz ungebildetes Volk. Es
hiess: „Die Blinden, die sehen ...“ In wundervoller und deutlicher Weise
war geschrieben, wie Christus eintritt in alle Dinge dieser Welt, das
Heilige und Kräftige in der Verwesung, die linde Sonne, die schafft und
leuchtet. Und schied das Licht von der Finsterniss, und ging grausam in’s
Gericht mit dem, was schön gewesen war und herrlich, zeigte es klar wie es
war in entsetzlicher Todtenlarve, dass ein Schauder die Menschheit
erfasste, Manche in fliegendem Entsetzen das Werk ihrer Hände zerbrachen.

Und schied überall die Finsterniss vom Licht, die Gedanken von der Form,
den Geist vom Körperlichen, das heilsam und gut gewesen für eine
kindlichere Zeit.

Und pries die Güte, die reine Unschuld, die Schwachheit, die das
Heldenthum ist. Wie Alles ewig ist und Bestand hat, das aus der Liebe
geboren ist. Das Andre ist Staub und Schlacke. Es muss verbrennen und
immer mehr wegbrennen in immer reinerem und stärkerem Licht, bis nichts
mehr bleibt, als das unaussprechliche wunderbare Licht in Gott. Einige
sehen es schon im Leibe. Viele aber erst nach diesem Leben. In Allen ist
der Funke und das Abbild. Sie leiden und brennen. Das Feuer des Leidens
ist die Läuterung.

Der aber das Buch geschrieben in den unaussprechlichen Qualen seines
Leibes und Gewissens, dem war es wie Schuppen von den Augen gefallen. Er
sah nun und niemals wieder würde ein Flecken in sein Auge kommen. Ganz
kleine Kindlein sahen von selbst. Ihre Augen sind stet, flackern nicht
unruhig wie die der Menschen.

Aber ein solch wundersames Buch war nicht geschrieben seit die Welt stand.
Und zeigte den Strom des Lichts von Gott, vom Licht ausgehend, durch alle
Zeiten und Alter, wie er Form und Blut geworden in Golgatha, und floss in
herrlicher, schimmernder Fluth. Um die Häupter der Heiligen, niedrige
Stirnen der Suchenden, Bibelerforscher, Bastillestürmer. ... Immer mit nie
fehlender Sicherheit der Gang zum Licht.

Das endete ausbrechend mit der grossen Apotheose: Friede auf Erden und den
Menschen ein Wohlgefallen. Gold – das Reichste, daran des Menschen Herz
hängt, Weihrauch, der den Aufschwung der Seele begleitet, und Myrrhen, die
feinste, edle Blüthe der schönen Künste.

Dies Buch war in der wunderbarsten Sprache geschrieben, die wie Gesang
ging. Die Worte waren einfach und tief, dass die Weisesten davor
ehrfürchtig standen und die Einfältigen sie fassen konnten. Die Kraft
dieser Worte war wie ein zweischneidendes Schwert und ihre Süsse süsser
denn Honig, feinster Duft der Blumen.

Ein solches Buch war nicht geschrieben worden und es stand leuchtend und
in Erz gegraben, was man an ihm drehte und deutete. Im Gegentheil, seine
Strahlen wurden rother und inbrünstiger. Alle rothe Wuth und Finsterniss
der Welt konnte das leuchtende Buch nicht umstossen.

Wie auf das Volk die Rede des grossen Socialisten, so wirkte das Buch auf
die Gebildeten. Es gab vornehme Herren und Grafen, die ihre Güter abgaben
und niederstiegen zu den Geringen. Die Frauen richteten sich auf in
leuchtender Keuschheit. Was man als Notwendigkeit mit Widerwillen
geleistet, wurde wieder die herrlichste der Tugenden. Maler und Bildner
ergriffen begeistert Pinsel und Meissel. Es war ein Wettlauf nach der
leuchtenden Schönheit, wie er nie gewesen. Ahnend standen die Völker vor
den Werken der Geweihten, denn solche Schönheit war nicht gesehen worden.

Und jubelnd noch einmal schwang der Sang des Unbekannten sich auf, im
schwindelnden Adlerflug der Seele, das Hohelied des Lichts, das Neue
Jerusalem, die Stadt, die den Schatten nicht kennt. Die Farben steigen an
in Tonleitern, Symphonieen des Glanzes schwingen sich schwirrend, der
trunkne Pinsel, in Sonne getaucht, stolzirt im tönenden Reigengesang der
Edelsteine. Zum schmetternden Tedeum vereinen sich die Lichtspender.

„Der erste Grund war ein Jaspis, der andre ein Saphir, der dritte ein
Chalcedonier, der vierte ein Smaragd.

„Der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Sarder, der siebente ein
Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein
Chrysopras, der elfte ein Hyacinth, der zwölfte ein Amethyst.

„Und die zwölf Thore waren zwölf Perlen und ein jeglich Thor war von einer
Perle; und die Gassen der Stadt waren lauter Gold als ein durchscheinend
Glas.

„Und ich sah keinen Tempel darinnen, denn der Herr, der allmächtige Gott
ist ihr Tempel und das Lamm.

„Und die Stadt bedarf keiner Sonne, noch des Mondes, dass sie ihr
scheinen, denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist
das Lamm.

„Und die Heiden, die da selig werden, wandeln in demselben Licht; und die
Könige auf Erden werden ihre Herrlichkeit in dieselbige bringen.

„Und ihre Thore werden nicht verschlossen des Tages, denn da wird keine
Nacht sein.“

... Und es war ein Jüngling in einer Stadt desselbigen Landes, der hatte
die Schönheit gesucht sein Leben lang. Denn er dachte richtig, dass, wer
die Wahrheit findet, der Schönheit nahe ist und es keine andre Wahrheit
giebt denn in der Vollkommenheit der Schönheit. Erst hatte er sie gesucht
in der Schönheit des Gedankens. Dann hatte er zu der Schönheit des
Fleisches gebetet, denn der lebendige Leib ist mehr denn der Schatten und
die Form höher denn das Wort; aber das Alter und die Unvollkommenheit
nehmen alle Schönheit hinweg.

Dieser kam zu Ihm, da Er auf einem sehr hohen Berge war. Die ganze Nacht
war er den Berg hinaufgeklettert. Die Dornen hatten seine Hände zerrissen,
dass sie bluteten. Er war gestolpert im Finstern. Die Steine hatten seine
Kniee zerschlagen, dass sie matt und wund geworden waren unter ihm. Oft
war er irre gegangen. Lichter hatten ihn genarrt im Finstern. Im Nebel
tastete er sich vorwärts mit Händen und Füssen. Seine Augen waren wie
blind, dass er die Hand nicht sah vor seinen Augen.

Er sah nicht das Gesicht dessen, der vor ihm stand. Aber er fiel vor ihm
nieder und hob die Hände hoch. Flehte ihn an und bat: „Lass mich sehen die
grosse Schönheit Deines Antlitzes und sterben.“

Er sprach: „Ich will sie Dir zeigen. Aber hüte Dich wohl, dass der
Schrecken Dich nicht niederstürzt vom Felsen. Denn meine Schönheit ist
schrecklich wie der Adler.“

Und er sah ein Unendliches, Furchtbares. Das fuhr dahin über seinem
Haupte. Kreisende Sterne sassen in Seinen Lenden. Wolken bildeten den Saum
Seines Kleides. Seine Stimme glich dem Donner und das Zucken Seiner Brauen
war der Blitz. Zugleich geschah ein Windesbrausen wie von tausend Winden.

Er fiel auf den Boden wie betäubt und der Blitz fuhr über ihn hin.

Danach hörte er Schalmeien. Die kamen sehr lieblich und klingend aus
goldner Ferne. Er sah einen Jüngling ganz nackt in der jungen Herrlichkeit
seiner prangenden Glieder. Der Bogen hing über seiner Schulter und die
Leyer lehnte zu seinen Füssen. Die Gesänge seiner Leyer waren lockender
wie Goldklingen. Wo er hintrat, blühten Veilchen. Die wilden Thiere des
Waldes kamen angezogen von dem Wunder seiner Laute. – Aber das Antlitz des
Jünglings blieb marmorn.

Danach sprach eine andre Stimme: „Kennst Du mich?“ Er sah einen Mann am
Kreuze hängen. Sein Antlitz hing auf seine Brust und seine Arme blieben
ausgestreckt; denn die Schwere seines Körpers war zu gross für seine Arme.
Dornen krönten seine Stirn. Das Blut troff von den Dornenmalen. Es floss
aus seiner geöffneten Seite. Die Nägel gingen durch sein Fleisch und die
Stricke schnitten tiefe Wundenstriemen. Aber der Mund blieb weit gezerrt.
Der Mund schrie in seiner Qual und rief: „Mich dürstet ...“

Seine Thränen tropften sehr schnell, er sprach: „Herr! Ich kenne Dich. Du
bist schön und der Edelste unter den Geschaffnen. Aber ich habe eine
Schönheit geträumt, grösser denn Deine. Und ich bitte Dich, dass Du mir
zeigest Deine letzte Schönheit.“

Aber der Mann am Kreuz schien zu lächeln. Seine Wunden wurden Rosen und
die Rosen fielen im rothen, duftenden Regen. Die Dornen um seine Stirn
waren Strahlen, die aus seiner Stirn brachen wie Sonnengluth. Vom Gold
dieser Strahlen wurde die Welt warm und tönend. – Aber die Schlange war
der Strick, der ringelnd niedersank.

Und das Kreuz wurde der Baum, der Baum des Lebens aus dem Paradiese. Und
Er streckte seine Hand aus und brach von ihm die Frucht der Erkenntniss,
die roth war vom Blut des Lebens, in der Form des Apfels, der den Samen
birgt. Und Er reichte sie ihm hin und sprach: „Iss!“

Da fiel der hin wie sinnlos.

Als man diesen aufhob, waren seine Augen blind. Er sah niemals wieder und
seine Haare waren weiss geworden wie die eines sehr alten Mannes. Aber er
hatte die Dinge geschaut, die unbeschreiblich sind, frohlockte in seinem
Herzen und pries jeden Tag Gott, bis an seinen Tod, der bald kam. Denn er
hatte in einer Stunde das ganze Leben gesehen und allen Kreislauf des
Gewordnen. Und die Fibern und Hirne der Sterblichen sind schwach.



                         DAS SECHZEHNTE KAPITEL.


Aber seine Feinde waren sehr thätig und machten böses Geschrei wider ihn.

Denn es war grosse Aufregung im Lande. Die Hungrigen und Arbeitslosen
thaten sich zusammen auf den Landstrassen, zogen hin und her und forderten
Brot mit lauter Stimme. Es kam auch vor in abgelegenen Gegenden, dass man
Fabriken und Lagerräume verwüstete, Läden der Bäcker und Fleischer
plünderte. Wo man auf der einen Seite die Empörung niedergeschlagen mit
Blei und Kanonen, schlugen am andern Ort die Flammen wieder auf.

Auch bestand eine Art Verbindung zwischen den Arbeitern aller Länder, dass
sie sich zusammenthun und Gewalten umstürzen wollten. Die Einen gaben
Geldmittel für die Andern, die feierten. Man vereinigte sich in
Kongressen, Zeitungen und Druckschriften riefen auf zum allgemeinen
Ausstand.

So dass eine grosse Bewegung, niemals Ruhe war im Lande, denn Viele auch
der Gelehrten und Gebildeten nahmen sich der Sache an, forderten, die
Einen eine Bodenreform, dass man den Grundbesitz allgemein machen sollte,
Andre eine Verstaatlichung der grossen Betriebe und Waarenhäuser. Viele
aber gar die ganze Theilung, wie es die armen Leute auf ihr Programm
geschrieben hatten. Und waren bereit für ihr Theil anzufangen, mitzugehen
mit diesen. Es gab selbst Priester der herrschenden Kirchen, die kühn
ihren Mund aufthaten; forderten die Reichen auf abzulassen von Habsucht
und Wollust. Die Armen aber nannten sie das Volk Gottes und riefen aus,
dass ihre Sache gerecht sei.

So befand sich Alles in Unordnung. Einige zogen hierhin, die Andern
dorthin. Welche sprachen: „Morgen wird die Befreiung kommen. Sie wird
kommen durch Waffengewalt, denn wir sind Viele. Sie aber sind Wenige. So
wir dazu kommen uns zu messen im Kampf und zusammenhalten, sind wir ihnen
überlegen zehnfach und hundertfach. Es kann uns nicht fehlen. Wir müssen
nur einstehen Einer für den Andern und unser Pulver trocken halten.“

Gerade dies aber zeigte sich schwierig, dass sie zusammenhielten. Denn von
den Führern suchte ein Jeder das Seine. Sie stritten her und hin über die
einzelnen Sätze. Die Rivalität der Nationen machte sich geltend, auch eine
Frage der Geschlechter, da die Männer die Weiber nicht wollten als voll
gelten lassen, diese aber wiederum sprechen und Herren sein wollten wie
Jene.

In den gelehrten Büchern und Blättern stritten sie sich gleichfalls. Der
Eine warf dem Andern niedre Beweggründe und Tücken vor. Es waren nicht
Zwei, die dieselbe Meinung hatten. Die es wohl meinten, waren schwach und
träumten. Die Andern aber wühlten und zeigten sich sehr thätig.

Das ganz rohe Volk drängte zu Thaten. Sie sprachen: „Es ist besser wir
sterben, als wir tragen dies Leben länger, das schlimmer ist wie der Tod,
und setzen Kinder in die Welt, die Last weiterzutragen mit gekrümmtem
Nacken wie wir.“

Diese waren nicht viel besser wie die Thiere. Sie sprachen: „Lasst uns
trinken! Wenn wir uns Muth getrunken haben, wollen wir gehen und
todtschlagen!“ Und schlugen blindlings drauf los, wen sie fanden. Die man
ihrerseits schlug und gefangen setzte wie wilde Raubthiere.

Auch zu dem Fremden kamen Etliche von Solchen. Sie sprachen: „Sei Du unser
Führer! Sage uns, was wir thun sollen. Wir wollen hinter Dir herziehen und
Du sollst unser Fürst sein.“ Diese sah er an. Er sah, dass ihre Gesichter
entstellt waren von Lastern. Der Geist des Branntweins war in ihren Augen.
Ihr Athem roch schlecht vom giftigen Fusel, der sie verbrannte. Alle ihre
Bewegungen waren obscön. Sie schrieen nach Weibern und Trunk. So sie
solche hatten, nahmen sie ihren Theil, soffen sich voll. Nicht anders
waren sie denn Schweine.

Und er antwortete ihnen kein Wort.

Sie sprachen: „Du verachtest uns, weil wir schmutzig sind und übel
riechen. Sind wir nicht ebenso gut und besser denn Jene, die sich mit
Seife und Salben waschen, süsse Weine trinken?“

Er sprach: „Ihr seid nicht besser. Ihre Hände sind gewaschen. Sie brauchen
nicht rohe Worte. Sie essen und trinken ihr Maass. Ihre Leidenschaften
sind in ihren Händen wie gute und gehorsame Pferde. Sie wissen genug, um
voraus zu denken und rechnen zu können. Ihr Wissen giebt ihnen die Grenze
und Wirkung ihres Thuns. Ihr seid ganz schlecht und ganz nutzlos.“

Dann sprachen Einige: „So bist Du also ein Vornehmer und hältst es mit den
Reichen und Mächtigen?“

Er sprach: „Die Mächtigen und Reichen haben andre Laster wie Ihr. Sie
lügen, wo Ihr roh seid. Wenn Ihr fresst, kitzeln sie ihre Gaumen mit
scharfen und unnatürlichen Sachen. Wo Ihr dem Augenblick folgt, rechnen
sie mit List und legen Schlingen. Ein Armer sorgt nicht so um Leib und
Blut, lässt wohl sein Leben. Der Reiche zittert für seine Güter. Nichts
Lieberes ist ihm als das Leben, dass er sich Aerzte sucht, es zu
verlängern, noch im Tode mit Denkmälern und Bildsäulen sich ehrt, so er
doch todt ist, nichts wie Staub und Würmer. Der Arme ist weit ab vom
Reiche Gottes, weil er arm ist. Aber der Reiche ist weiter entfernt.“

Sie sprachen: „Sage uns, was ist das Reich Gottes?“

Er sprach: „Was Ihr Glück nennt, Frieden in uns und ausserhalb.“

Sie sprachen: „Wer hat das Glück? Und wie sagst Du, dass der Arme ihm
näher ist als der Reiche?“

Er sprach: „Der Reiche hat viele Bedürfnisse. So er nicht sein festes Haus
hat, Pferde und Dienerschaft, ein köstliches Essen, wie mag er sich
freuen? Der Arme bedarf des Allen nicht. Der unter freiem Himmel nächtigt,
braucht kein Dach. Der am Brot sich satt isst, bedarf des Fleisches nicht.
Wem Wasser genügt, was soll ihm der Wein?“

Sie sprachen: „Das ist ganz thöricht. Wir wollen Alle in Schlössern
wohnen, Fleisch essen und Wein trinken alle Tage.“

Er sprach: „Seht zu, wo Ihr es findet,“ wandte sich von ihnen und sprach
nicht mehr.

Zu ihm kamen Andre, die sich klug dünkten, sprachen: „Wir wissen sehr
wohl, dass Du recht hast. Alles ist in der Klugheit, im Witz des Menschen.
Mit ihm erfindet er, verbindet Meere und Erdtheile. Sieh das System, das
wir aufgebaut haben, darin das Glück ist und Wohlleben für Alle.“

Er sprach: „Der Stein ist geduldig. Er trägt die Marke, die man ihm
eingräbt. Wie wollt Ihr solches zeichnen in Fleisch und Blut? Die Kräfte
der Natur gehorchen Gesetzen. Wer ihr ihre Gesetze ablauscht, der ist ihr
Herr; weil er ihr folgt in ihren Zwecken, nur ihr Diener ist, den sie
trägt. Kennst Du das Gesetz, das den Knaben leitet zum rothen Mord oder
die tugendsame Jungfrau zur Buhlschaft?“

Sie sprachen: „Wir kennen es nicht.“

Er sprach: „Es giebt kein Gesetz, das gut ist für Alle. Aber das Gute ist
in Allem. So Jeder gut thut, ist Alles gut.“

Das verstanden sie nicht und sprachen: „Es wird immer Schlechte geben.“

Er sprach: „So lange es sie giebt, ist Nichts gut.“

„So sollen wir gar nichts thun, die Hände in den Schooss legen?“ fragten
sie nun.

Er sprach zu dem, der das sagte: „Thue Du für Dich! Mächtiger denn viele
Worte spricht das Beispiel. Eine That wiegt schwerer denn tausend
Gleichnisse. Einer, der stirbt für sein Leben, schafft zehnfaches Leben.“

Aber es gefiel Keinem, was er sagte. Sie murrten gegen ihn: „Das haben wir
längst gewusst. Diese Weisheit ist so alt wie die Sonne. Es ist nichts
gekommen aus ihr und hat sich nichts geändert, seit die Sonne scheint.“

Er aber ward traurig in seinem Herzen, dachte: „O dass Ihr hasstet oder
liebtet! Aber es ist nur Erde in Euch oder kalter Verstand. Ihr seht die
Sonne nicht vor so vielem künstlichen Licht. Rom war besser und Babylon
war edler. Im blutrothen Blut müsst Ihr roth werden! Von den Flammen Eurer
Städte und Häuser werden in Euch Flammen aufschlagen! O Ihr armseliges
Geschlecht in Eurem Reichthum! Würmer und Elende in all’ Eurer Kunst!“

Da er weiterging, fand er einen sehr alten Mann. Der sass vor seiner Hütte
in der Abendsonne.

Wie er vorbeiging, grüsste ihn der alte Mann.

Er sprach: „Lass mich trinken und gieb mir zu essen von Deinem Mahle.“

Da gab ihm der alte Mann frisches Wasser, Brot und eine reife Frucht von
den Fruchtbäumen, die vor seiner Hütte wuchsen.

Der alte Mann sprach: „Dies ist meine Nahrung Winter und Sommer. Ich nehme
niemals andre. Fleisch und Blutiges kommt nicht über meine Lippen. Und
Frucht der Traube nicht, deren Saft gegohren ist. Ich bin stark damit und
gesund. Nichts fehlt mir. Ein Arzt hat meine Hütte nicht betreten, seit
ich diese Lebensweise annahm. Winter und Sommer stehe ich zeitig auf. Ich
trage mein Holz selbst und reinige meine Hütte. Meine Mahlzeit bereite ich
mir mit meinen Händen. Ein wollner Rock genügt mir, wenn es kalt ist, und
ein leinener für den Sommer. Wasser reicht mir die Quelle vor meiner
Hütte. Mit meinen Händen habe ich diese Fruchtbäume gepflanzt, die um mein
Haus stehen. Mein Acker, den ich selbst bestelle, giebt mir mein Brot.
Meine Thiere sind meine Freunde. Sie hören meine Stimme. Wenn ich einsam
bin, leisten sie mir Gesellschaft. Ihre Nöthe sind meine Nöthe. Das Kalb,
das geboren wird, gehört mir, wie es zu seiner Mutter läuft. Sie kennen
keine Scheu und keine Furcht. Selbst die wilden Thiere des Waldes kennen
mich und kommen zu meiner Hütte, wenn sie Futter suchen. Die scheuen Vögel
unter dem Himmel setzen sich auf meine Hand, wenn ich sie ausstrecke, und
erzählen ihre unschuldigen Geschichten.“

Damit streckte er seine Hand aus. Kleine Meislein und Rothkelchen, die
hüpften und liefen, kamen kecklich, flogen auf seinen Finger. Sie pickten
an seinen Lippen, als ob sie anfragen wollten, setzten sich auf seine
Schulter und klappten mit den Flügeln. Rehe aus dem Walde traten heraus
ohne Scheu und nahmen ihr Futter aus seiner Hand. Die furchtsamen Hasen
machten friedliche Männchen, putzten und überschlugen sich.

„Alle sind meine Brüder,“ sagte der alte Mann. „Meine Kinder, weil sie
schwächer und unkluger sind wie ich. Aber ihre Unklugheit ist nur
scheinbar. Sie wissen sehr gut, wie sie zu leben haben, wo sie ihre
Nahrung finden. Sie wissen auch, dass noch etwas Andres ist wie hienieden;
nur sie _wissen_ es und sorgen nicht. Höre!“

Im Busch schlug die Nachtigall eine sehnende Weise. So lieblich, so voll
Klage und schmelzendem, lockendem Zuruf! Das Reh sah ihn an mit treuen,
verständigen Augen.

„Es ist nicht nur die Brunst, die sie lebendig macht für die Fortsetzung
dieses armen, kleinen, lebendigen Lebens. Weil sie fühlen, dass sie in
einer Kette sind, Alle zum Lobe Gottes, den sie preisen aus ihren kleinen
Kehlen, mit dem stummen Blühen ihrer Kelche, täglich. Das sind die
Unschuldigen der Natur. Ich liebe sie, obgleich die Menschen sie
verachten, sich klüger dünken in ihrem Stolz, ihrer Geschäftigkeit.“

Er aber erstaunte sich, so viel Weisheit und Demuth zu finden in einem
alten Mann. Ein wundersamer Mann war er, mit der grossen, viereckigen
Stirn, die das Denken ausgearbeitet hatte wie einen Marmorblock. Sein Haar
und Bart war langgewachsen. Er sah aus wie ein Bauer und war doch ein
Herr. Ruhende Stärke lag in ihm, der Blick, der über Viele sieht. Aber er
blieb milde. Seine Hand koste den Flaum des Rehs, wo es weich ist unter
dem Hals des Thiers.

Er fuhr fort: „Früher war ich auch wie die andern Menschen. Hochmüthig und
geschäftig, verzagt in meinem Thun, wenn es nicht ging wie ich wollte.
Geschäfte der Könige wollte ich thun an Fürstenhöfen. Ich wollte weise
sein wie ihre Weisesten, lustig leben wie die Lustigen und Tollen. Ich
habe ihre Bücher gelesen. Ich habe Frauen geküsst. Ich habe um Reichthum
gesorgt und gerafft. Alles ist eitel. Glücklich ist, der Niemandes bedarf,
und Alles zu geben hat den Andern.

„... Ich habe ihre Künste getrieben. Mir gefiel das schlanke Spiel der
Wörter, dass sie sich verwirrten und kreuzten wie blanke Schwerter –
auseinander sinken und zur Erde flattern, harmlose Strohhalme. Farben
liebte ich, die die Worte lebendig machen wie von getrunknem Blut, Töne,
die rufen, die locken und befehlen, weinen machen und lachen, wie es der
Zauber verfügt, der sie Alle regiert. – Ich berauschte mich selbst am
Wohlklang meiner Töne. Wollust war in der Farbe meiner Bilder. Meine Worte
waren klingelnd wie Schlittenklang, tönende Erze und hallende Schellen. –
Alles ist eitel. _Eine_ Kunst giebt es zu thun, was recht ist. Eine Farbe
der Wahrheit. Einen Ton, des Verlornen, den wir wiedergefunden.“

Er sprach: „Welches ist der Ton, den Du wiedergefunden? Lass mich hören,
dass ich weiss, ob es der rechte ist.“

Der alte Mann sprach: „Vor langen Jahrhunderten klang er am See. Am See,
der zwischen den Bergen liegt, Genezareth. Was da gesprochen in
himmlischen Tönen, durch die Zeiten und Alter klingt es als Wahrsang. Wir
zählen die Jahre. Der Sang ging verloren in Schwertschlag und Goldklink.
In blinkenden Fabeln von Wissen und Kunst. – Es giebt nur den. Niemals
ward er vollkommen.“

Er sprach: „Der Sang ist der rechte, den Du gefunden. In ihm liegt Alles.
Erfüllung und Leben.“

„In ihm liegt Antwort, Weisheit und Einfalt. Dreierlei seh’ ich die Zeiten
zu deuten: Dass Einige weigern Kriegsdienst zu thun, Verfolgung erleiden,
Gefängniss und Tod. Dass Viele erkannten, ihr Wissen ist eitel im weiseren
Wissen. Dass Keuschheit wieder die oberste Tugend, die Frauen erwachen,
die stark sind und künden. – Der bedarf nicht der Schätze, der die Perle
gefunden. Der Tod ist ihm Freund, der das Leben erkannt. Ich sitze hier
und warte des Todes. Des Führers harr’ ich, der einführt zum Tage.“

So nahmen sie Abschied. Der alte Mann sass ganz still auf der Bank vor
seiner Hütte. Um ihn liefen die Thiere, weideten, piepten. Er sah in die
rothe, sinkende Sonne.

Die Sonne sank.



                         DAS SIEBZEHNTE KAPITEL.


Dies geschah, als eine Empörung kam im Lande.

Die Armen wollten nicht Hunger leiden und arm sein mehr. Es gab eine
grosse Anzahl der Arbeitslosen auf allen Landstrassen, weil die Zeiten
schlecht waren. Man hatte eine solche Fülle der Güter in den vergangenen
Jahren auf den Markt geworfen, dass Niemand mehr Waaren kaufen wollte. Das
Korn lag in den Speichern und verdarb. Das Fleisch wurde zu theuren
Preisen verkauft, weil die Händler nicht wussten was zu thun mit den
Massen ihres Viehs, Einige riethen es todtzuschlagen und zu vergraben.
Während die Armen Hunger litten. Sie zogen umher in grossen Banden, Weiber
und Kinder, müssig vom Morgen bis zum Abend, denn sie sprachen: „Was nützt
es, so wir doch keine Arbeit finden. Lasst uns essen und trinken und
todtschlagen, denn morgen sind wir todt.“

Gegen diese schickte man grosse Mengen Soldaten und Militair. Sie
vertilgten Viele von ihnen und schlugen sie in blutigen Schlachten, dass
das Blut auf dem Strassenpflaster floss, die Köpfe der Fallenden sich
zerschlugen am harten Stein. Ihr Gehirn stürzte aus den Schädeln gleich
Wasser aus festen Töpfen. Von Geschrei und Wehklagen war die Luft erfüllt
wie in einem Schlachthause.

Es kam aber auch vor, dass welche von den Soldaten ihre Helme und Röcke
wegwarfen, zu den Feinden übergingen, neben welchen sie kämpften auf hohen
Barrikaden, in engen Strassen, die man versperrt hatte mit umgestürzten
Wagen, Matratzen und Möbelstücken aus den Häusern.

Der Kampf wurde noch blutiger dadurch. Die Andern machten Jagd auf ihre
früheren Kameraden, schlugen sie todt wie die Hunde. Es gab keinen Pardon
mehr auf beiden Seiten. Das Gemetzel war furchtbar, dass alle Häuser
gefüllt waren mit Sterbenden und Verwundeten. Selbst die Leichen
verschonte man nicht, übte an ihnen grausame Verstümmelung, dass viele
zarte Frauen und Mädchen den Verstand verloren vom Grauen des Anblicks.
Die Leute, die sich verloren sahen, tödteten sich lieber selber, ehe sie
sich dem Feind übergaben in seiner Grausamkeit, der sie einschloss,
zusammenpackte in den Gefängnissen, getödtet zu werden oder gerichtet zum
Leben, wie es der Richter recht befand. Es waren junge Leute unter ihnen
von achtzehn und zwanzig Jahren, denen der Tod lieblich und glorreich
dünkte gegen Zuchthausarbeit und Ketten.

Solches kam auch vor den König und verdross ihn sehr in seinem Herzen,
bekümmerte ihn, dass er keine Ruhe fand, oft nicht schlafen konnte in der
Nacht.

So liess er sich den grossen Prediger der Socialisten holen, den er noch
immer im Gefängniss hielt. Denn wiewohl keine Ursache gegen ihn vorlag,
wollte man ihn doch nicht freilassen. Seine Name ward geschrieen auf den
Strassen. Viele behaupteten, dass geheime Verbindung bestand zwischen ihm
im Gefängniss und seinen Anhängern ausserhalb. Diese forderten laut, dass
man ihm den Process machte, ein Exempel statuirte zur Abschreckung der
Andern, weil er wohlbekannt war, sein Name als eine Fahne diente, der sie
Alle folgten.

Dieser sprach unerschrocken vor dem König. „Es ist Deine Schuld so gut wie
dieser, wenn sie jetzt blutgierige Thiere sind. Ihr habt sie gehalten als
Thiere in Unwissenheit und Rohheit.“

Der König sprach: „Ich will ihnen ja geben. Aber ich kann ihnen nicht
Alles geben.“

Er sprach: „Es ist viel wichtiger, dass Du giebst, denn was sie nehmen. So
lange Einer hat, werden sie unzufrieden sein. So aber Keiner hat, sich
sorge, wie er seine Habe halte, sind Alle zufrieden. Ausserdem dass es
Deiner eignen Seele gut ist.“

Davon wollte er nichts hören, schickte ihn immer und immer wieder weg.
Aber wenn seine Bekümmerniss gross war und seine Seele sehr unruhig in
ihm, schickte er von Neuem und liess ihn holen. Und wollte nichts hören,
wenn seine Räthe drängten, sie sprachen: „Wir haben den Beweis und den.
Sein Kopf muss fallen, denn er ist ein Hochverräther.“

So dass ein Gerede ging im ganzen Land: „Der Drechslergeselle ist mehr
denn unser König. Der Sohn der Gosse giebt die Gesetze im Staat.“

Sie verbreiteten dies Gerücht mit Fleiss bis zu den fremden Königen, dass
diese Briefe schrieben, sich darüber bewegten. Alle sagten: „Er hat keine
Macht mehr in seinem eignen Staat. Sie ist in die Hände dieses Aufrührers
gegeben, der ihn am Narrenseil führt, eine Herrschaft der Bettler
errichtet über seinem Thron.“

Seine Räthe beeilten sich, dieses Gerede wieder vor den Fürsten zu
bringen, denn sie wussten, dass solches ihn wurmen, in ihm fressen musste
wie glühendes Eisen. Er hielt viel auf seine Würde, die er von seinen
Vätern ererbt hatte, und war noch ein junger Fürst, solchen Tand der
Majestät gewohnt von Jugend auf.

Sie neigten sich bis zur Erde vor ihm, leckten seine Schuhsohlen, während
sie ihm grobe Schmeicheleien sagten. „Dein Angesicht ist strahlender wie
die Sonne. Wer in seinem Schatten lebt, muss sterben und verkümmern.“ Sie
priesen seine Weisheit, die grösser sei denn die aller Gelehrten und
Weisesten im Land. Aber seine Macht war grösser als aller Könige ringsum.
So er nur wollte, war er der Herr der Welt. Das Wort aus seinem Munde
blieb Gesetz. Der blutige Kriegsruhm seiner Vorfahren würde ihm folgen auf
allen seinen Fahrten.

Zur selben Zeit versuchten sie geflissentlich den Reformator zu
verringern: „Wer ist dieser Mann? Ein Niedriggeborner und Aufgeblasner,
der seinen eignen Vortheil sucht in dem der Crapule. Wie wagt er zu Dir zu
sprechen, den Gott selbst gesalbt hat! Könige sind gewesen von Anbeginn
der Zeiten. Wer wird die Macht haben, wenn Du sie nicht hältst?
Vielschwätzer, armselige, kleine Krämer und Pillendreher? Man denkt, dass
Du ihn fürchtest. Der Aufruhr zieht neues Blut aus seiner Gegenwart, weil
Keiner denkt, dass Du ihn angreifen wirst, dem Dein Schweigen Recht giebt.
Du selbst bist erschüttert in Deinem Innern, glaubst nicht an Dein
heiliges Richteramt, dass Du bist von der Gnade Gottes, der Höchste der
Sterblichen, ihnen zu Dienst und Anbetung gesetzt von oben.“

So peinigten sie die Seele des Fürsten, beugten sich in den Staub, gaben
grosse Feste. Böller donnerten, Fahnen wehten. Man brachte köstliche
Geschenke von Silber und Gold. Alle Truppen in glänzenden Uniformen mit
blinkenden Waffen defilirten. Das Zucken seiner Wimpern war für sie
Gesetz. Wo er auftrat, folgten seinem Tritt Tausende.

So dass sein Herz wieder stark wurde in ihm: „Es ist Alles zum Besten
eingerichtet. Da sieh doch! Und höre den Jubel meines Volkes bei meinem
Einzug.“

Der Gefangene aber blieb fest. „Es ist nicht gut. Von Dir wird gefordert
werden Gut und Böse.“

Dass sie sich nicht einigen konnten, der König ihn wegschickte im Aerger.

Diesem stiess ein ganz seltsames Begebniss zu.

Als er nach seinem Jugendfreund Johannes fragte, der sein bester Geselle
gewesen war, Rathgeber in allen Dingen, – und er hatte keinen lieberen
Freund wie ihn oder einen, der gerechter war und weiser, – sagte man ihm,
dass dieser sein Haus nicht verlassen habe, hielt sich eingeschlossen in
seinem Hause und antwortete Niemandem, nicht seinen Eltern, die ihn mit
Thränen beschworen, noch seinen Freunden, die um ihn sorgten, auch nicht
den Vorgesetzten, die ihn zu den Pflichten seines Amtes ermahnten. So dass
Jedermann anfing an seinem Verstand zu zweifeln, die seltsamsten Gerüchte
über ihn umgingen in der Stadt. Nur eine schlechte, wilde Katze hätte er
mit sich gebracht aus dem Walde. Er gab ihr zu essen und beobachtete sie
lange auf ihren Raubgängen. Des Abends kam sie sehr nahe zum Feuer und
schlief da zusammengerollt mit eingezogenen Krallen, während er wachend
dachte, das Oel nicht ausgehen liess Tag und Nacht. Ganz verwildert war er
in seinem Aeussern, mit langhängendem Bart und Haaren, dass alle seine
Freunde anfingen, an eine Verwirrtheit zu glauben, grosse und berühmte
Aerzte herbeizogen aus der Stadt und Gegend. Sie stellten ihm viele
Fragen, betasteten seinen Puls und die Zunge. Aber er antwortete ihnen gar
nichts. Sie konnten kein Zeichen einer Krankheit an ihm finden.

Es war ein junges Mädchen in der Stadt, die Tochter eines angesehenen und
gräflichen Hauses, wohl angeschrieben bei Hofe. Diese hatte schon lange im
Geheimen eine Zuneigung zu dem jungen Prediger, wie kindliche, unschuldige
Mädchen fühlen, ohne davon zu sprechen oder gar demjenigen ein Zeichen zu
geben. Nur fehlte sie niemals in seiner Kirche, jedes kleine Geschenk oder
zufällig von seiner Hand Berührte hob sie sorgfältig auf. Traf sie ihn
unversehens, stieg sofort die hohe Röthe der Scham ihr in die Stirn, denn
sie schämte sich ihrer Sehnsucht nach dem Mann, in der Keuschheit ihres
Leibes, während ihre Liebe doch zugleich ihr höchste Freude und Seligkeit
war, also trefflich erschien er, wohlgelobt und hochgehalten vor allen
Menschen. Und war nicht, der an ihm rühren konnte, weder die Frechen, noch
die Lügner.

So liebte sie allein im Garten sich zu ergehen, oder in ihrer Stube lange
zu sitzen mit dem offnen Fenster im Frühling. Sonst war sie sanft und
freundlich zu Jedermann, ein sehr liebliches, junges Mädchen, obgleich
zart, zierlich gebildet wie eine Maiblume, mit zu schweren blonden Haaren,
einer weissen Haut, unter der man die blauen Adern sah. Ihre Eltern, ob
sie gleich ihre geheime Zuneigung ahnten, sagten sie ihr doch nichts. Weil
sie so jung war, wollten sie sie nicht erschrecken, indem sie an die
Geheimnisse des Geschlechts in ihr rührten. Vielleicht hofften sie auch,
dass später sich finden würde, was noch fern war und Zeit hatte. Selbst
die alten Eltern des von ihr Verehrten wollten ihr sehr wohl, empfingen
sie oft und seine Mutter liess sie an ihrer Seite sitzen. Denn sie war ein
sehr anmuthiges und feines Kind, lind und kosend wie ein früher Lenzmorgen
unter Aprilschauern.

Diese Jungfrau, als sie von der Krankheit ihres Geliebten hörte, dass
Niemand zu ihm sprechen könnte, er allein sass mit der hässlichen Katze,
machte sie sich allein auf, ohne irgend einem Menschen etwas zu sagen. Sie
zog ihr weisses Kleid an, das ihr ihre Eltern geschenkt hatten zu dem
ersten grossen Fest am Hofe, band ihre Haare auf, machte sich zurecht also
hübsch und zierlich, als sie vermochte in ihrer Jugend und Unschuld, und
ging zu ihrem Johannes hinauf in die Kammer, wo er sass und brütete. Und
die Katze hockte neben ihm am Feuer, blinzelte mit grünlichen Augen,
putzte sich zierlich und schlug mit den Pfoten in die Luft nach Fliegen.
So satt war sie geworden von all’ der Milch und dem guten Fressen, dass
ihr Körper rund erschien wie ein Ball. Er selbst war ganz eingefallen.
Seine Backen zeigten tiefe Löcher wie die eines Todtkranken. Er starrte
aus hohlen Augen und rieb die mageren Finger hin und her, eine Hand über
der andern.

So erschien vor ihm die Jungfrau in all’ ihrer Scham und Lieblichkeit.
Aber er sah sie gar nicht, fuhr fort zu starren und die Finger
gegeneinander zu reiben.

Sprach sie zu ihm: „Lieber Herr! Was fehlt Euch? Alle Eure Freunde sind in
Sorge. Eure Eltern weinen. Vielen ist es ein grosses Kümmerniss, Euch also
schwerkrank und schweigsam zu wissen.“

Darauf sah er sie wirklich an, aber immer noch ohne sie zu sehen,
gleichsam als schaute er durch sie hindurch, da, wo sie war, blieb nichts.
„Bist Du eine Katze?“ sagte er zu ihr. „Gehst Du des Nachts auf Raub aus,
wenn es dämmrig ist? Hast Du Junge, die Du säugst mit Deinem Blute?“

Solche Rede erschreckte sie. Sie konnte nicht anders glauben, als dass es
der Wahnsinn sei, der aus ihm redete. So kamen ihr die Thränen in die
Augen. Sie sprach mit thränenvoller Stimme: „Lieber Herr! Wollt doch zu
Euch kommen und Euch bedenken. Ich bin die Jungfrau Ottilia, die Ihr wohl
kennt. Ich bin hierhergekommen, weil mich die Sorge um Euch trieb und ich
Sehnsucht zu Euch getragen lange unter meinem Herzen.“

Denn jetzt in seiner schweren Krankheit dachte sie, dass es wohl Zeit sein
müsste, ihr Geheimniss preiszugeben. Sie wollte ihn aufrütteln. Sie
fühlte, dass es für sein Leben wichtig war, wenn er sprach.

Er aber sprach: „Sehnsucht ist nichts. Auch Nachtwachen ist nicht viel,
Fasten und Hungerleiden. Ich sehne, sehne mich ...“

So kam sie noch näher an ihn heran, nahm ihn in ihre Arme. Denn ob sie
gleich ein Kind war und noch sehr jung, fühlte sie doch in ihrer grossen,
reifen Liebe, dass sie ihn retten musste, aus diesem ein Ende gefunden
würde um jeden Preis. Und nahm seine Hand. Aber seine Hand war kalt wie
Eis. Sie küsste seine Lippen. Diese Lippen waren trocken und ohne Athem,
fast wie die eines Sterbenden.

„Sehnt Ihr Euch nach Liebe,“ sprach die Jungfrau, „so will ich sie Euch
geben, warm und geduldig, wie ein Weib zu geben vermag. Folgt mir nach
draussen, Lieber! Seht, die Sonne scheint und die Vögel singen freundlich
dem wärmenden Licht.“

Damit zog sie den Vorhang vom Fenster, dass die Sonne warm hereinschien.
Denn die Fenster waren verschlossen und verhangen gewesen die ganze Zeit,
und schwere, eiskalte Luft wie die des Grabes im Zimmer.

Er fuhr mit der Hand über die Stirn: „Liebe – Liebe ...“ sagte er. „Das
ist Liebe einer Stunde, Wärme des Lenztags. Ich möchte die Sonne selbst
sehen. – Ich habe Sehnsucht nach dem Tode.“

„Der Tod kommt,“ sprach sie freundlich und ohne Zürnen, obgleich ihr Herz
aufschwoll, ihr weh war zum Sterben. „Aber erst ist das Leben. Seht,
lieber Herr! Alle Knösplein strecken ihre zarten Blätter. Alle leben und
athmen.“

Sie nahm ihn noch fester in ihre Arme und legte seinen Kopf auf ihr Herz,
dass er ihr Herz athmen fühlte, die Wärme ihres Busens ihn umfing. „Du
lebst jetzt,“ sagte er langsam. „Aber Du wirst todt sein. Würmer werden in
Dir wachsen, Du stinkst ...“ Er schleuderte seine Hände fort, als ob er
Würmer von ihnen abschlenkerte. Seine Nüstern zogen sich zusammen im Ekel.

Dieses junge Kind in ihrer Einfalt und grossen Liebe schrak nicht zurück:
„Ich werde auch mit Euch sterben,“ sagte sie, „aber später. Es ist noch
lange hin. Dann giebt es ein ewiges Leben. Wir werden vereint sein. Alles
Fragen, alle Sehnsucht hört auf im Himmel.“

Diese einfachen Worte machten einen schrecklichen Eindruck auf den
Kranken. Er sprang plötzlich auf, fasste ihre beiden Hände in den
Gelenken, drückte sie zusammen wie in eisernen Ringen und schrie: „Das ist
nicht wahr. Es giebt keinen Himmel, es giebt keinen Gott und keinen
Teufel. Es giebt nur Aas und Maden. Diese Maden sind wir. Ekelhafte,
stinkende Maden!“

Er fing an sich die Kleider vom Leibe zu reissen, roh zu lachen,
hässliche, unfläthige Worte auszustossen, derselbe, so fein, so anmuthig
und wohlgebildet früher. Aber die Schwere der Geheimnisse war zu viel
gewesen. Im Rathen über ihnen hatte er seinen Verstand verloren. Er war
jetzt nicht viel mehr als ein Thier. Er raste und fletschte die Zähne.

Dieser Jungfrau, als sie Solches mit ansah, war es zuviel für ihr
zärtliches und noch so kindliches Herz. Sie fühlte wie einen grossen
Sprung durch sie hindurch, der durch ihre Gedanken ging, ihr Besinnen und
Wollen. Sie fiel ohnmächtig hin.

Dann stürzte er sich auf sie. Er riss sie an den Haaren. Er zerriss ihre
Kleider, zerfleischte ihr Gesicht mit den Nägeln, trat und beleidigte sie.
„Ihr – Ihr seid der Fluch der Welt,“ stiess er hervor. „Ihr habt uns zu
Grunde gerichtet. Das Weib! Das Weib! Warum habt Ihr den Apfel gegessen
und nur zur Hälfte? Warum macht Ihr das Leben neu und es ist kein Leben?
Ihr! Ihr! Der Schmutz seid Ihr, der Schlamm! Wir sind Götter. Wir sind
reine Geister. Die Engel des Lichts sind wir. Ihr habt uns in Koth
verkehrt. Ich habe die andre Hälfte wiedergefunden, die, die Ihr selbst
verzehrt habt. Ich bin Eines Geschlechts. Ich bin androgyn. Ich bin Gott!
Gott! Gott!“ ...

Die Katze mit gesträubten Haaren, auf dem Kaminsims hockend, sah zu. Ihre
Augen funkelten bösartig. Sie hatte beide Vorderkrallen vorgebogen. Als er
die Halbgestorbne zurückstiess, sprang sie ihr an die Kehle und biss sie
todt.

Die Andern fanden diesen jungen Mann, der das todte Kind über seinen
Knieen hielt. Er hatte ihr die Haare wohlgeordnet und Frühlingsblüthen
hineingestreut. Ihr weisses Kleid war über sie gebreitet wie ein Leintuch.
Aus der rothen Halswunde troff das Blut.

Die Katze hatte es an ihren Pfoten. Und leckte sie putzend.

„So viel Schönheit,“ sagte er, „so viel Unschuld und Güte. Das ist nun
Alles dahin – dahin.“

Und weinte über die junge, süsse Maid, nahm ihre Hände, küsste sie. Und
küsste ihre weissen, kleinen Füsschen in den seidnen Schuhen, die sie
angezogen, ihn zu ehren. Denn sie dachte in ihrem kindlichem Herzen:
Vielleicht, dass dieses mein Brauttag wird, der ihr Todestag geworden, des
schrecklichsten Todes.

Dann seufzte er sehr tief, sagte: „So vergehen die Blumen. O süsse Blume!
Blume der Unschuld, der Güte und des Verzeihens! Sie hätte liebliche,
kleine Kinder gehabt. Ihre Enkel hätten sie gesegnet. Keinem hast Du je
Unrecht gethan. Kein unreiner und unfreundlicher Gedanke hat Dich
bestürzt. Kein Anblick der Hässlichkeit Deinen Sonnenweg gekreuzt. Weint
nicht um sie, denn ihr ist wohl. Warum weint Ihr?“

Er begriff es nicht, dass sie weinten, versank in tiefes Brüten. Da
Etliche die Katze todtgeschlagen hatten, nahm er den Balg auf, streichelte
ihr zerrüttetes Fell und bettete sie neben die Jungfrau. Die Hand der
Jungfrau lag auf dem runden Kopf des Thieres. Beide waren weiss, Eine wie
die Andre, von zierlichen Gliedern, weich anzusehen und zärtlich in ihrer
Geberde.

Dies that er. Niemand konnte ihn hindern. Denn es war etwas Besondres in
seinem Wesen, weit weg, als ob er erhaben wäre über alles Lob oder
Anschuldigung der Welt. Und that, was er wollte. Denn es war Niemand, der
ihm zuwider sein konnte, oder erklären mochte, warum er so that.

Etliche forderten, dass er vor Gericht gestellt würde um des Todes willen
der Jungfrau. Ihre Eltern waren reiche Leute, wohlangesehen bei Hofe.
Andre sagten, er sei nicht richtig in seinem Gemüth, das viele Lernen habe
ihn verwirrt. Diese hatten wohl recht.

Da nun aber auch Etliche der Jungfrau nachsagten, dass sie mit Recht zu
Schaden gekommen sei, weil sie zu einem Manne gegangen um die einsame
Stunde, wurden sie bestraft. Denn wie man den Staub auf ihr Grab warf,
darin sie begraben war mit der Katze, blühten daraus Lilien auf. Also dass
das ganze Grab ein Liliengarten war. Die Lilien wuchsen ohne Unterschied
über der Jungfrau und über der Katze. Und war grosses Wunder vor allem
Volk.

Er schwieg zu Allem. Da er vom Kirchhof zurückkam, legte er sein Kleid
nicht ab und zog seine Schuhe nicht aus. Aber er setzte sich an’s Fenster
und sah in die Nacht.

So sass er viele Tage. Alle, die ihn mit Thränen beschworen, seine Eltern,
die klagten, die Freunde, die ihn lieb hatten, die Richter, die ihn
ausfragten, das Volk, das gegen ihn lärmte, sah er gar nicht. Er nahm
nicht Speise und Trank, sah in die Nacht gen Osten gerichtet und wartete
auf den Morgen.

Zu diesem, da er noch in diesem Zustand war, kam der Fürst, weil er sein
Freund gewesen und der Vertraute seiner Jugend, der ihm guten Rath gegeben
in allen Dingen. Sein Wort stand fest wie ein Fels. Und es war eine Regel
der Gerechtigkeit, gerecht zu sein wie Johannes.

Der Fürst, da er ihn so bleich sah mit grossen, unirdischen, blauen Augen,
erschrak er wie alle die Andern, sprach zu ihm: „Warum sitzt Du und
schaust in die Nacht? Denn es ist Nacht draussen.“

Er sprach: „Es ist wohl Nacht jetzt. Aber der Morgen kommt. Ich warte auf
die Sonne.“

Und wandte seine Augen wieder gen Osten, sass und wartete.

Dann veränderte sich sein Benehmen. Er wurde eilfertig, thätig, voller
Freude, scheerte sich und legte ordentliche Kleidung an. Seinen Dienern
gab er gute Vermahnung, dankte ihnen für Alles, was sie ihm gethan hatten.
Als seine alten Eltern kamen, tröstete er sie mit freundlichen und
sonderlichen Worten: „Seid froh, liebe Eltern, denn es ist bald Zeit für
uns Alle, vereint zu sein. Ich habe Eure weissen Haare lieb, Eure Thränen
sind mir Lindigkeit,“ küsste ihre Hände. Einen jungen Bruder der Jungfrau,
fast ein Knabe noch, den er oft geliebkost, befahl er ihnen als Sohn,
segnete diesen und liess ihn nicht von seiner Seite.

Es war aber schon die siebente Nacht. Danach als die Sonne aufging, that
er einen lauten Schrei: „Die Sonne! Die Sonne!“ ... fiel hin und war todt.

Dies verbreitete grossen Schrecken über Alle, die es mit angesehen hatten.
Der Fürst blieb sehr bedrückt in seinem Gemüth, wurde nicht froh, griff
Dieses auf und Jenes, liess es wieder fallen in der wandernden Unruhe
seiner Gedanken.

Es war aber sehr schwül im Gemach, unleidlich, vom sengenden Brand der
Sommersonne. Seit Wochen prallte die Sonne. Man konnte keine Frische
finden, weder auf der Terrasse, noch in den Gärten. Die ganze Luft schien
mit Feuer gesättigt und verschlang sich schwer wie stagnirendes Wasser,
das Uebelkeit hervorruft, eine Umwendung im Magen. Jeden Abend sah man am
Horizont Feuerspiele, vom Licht, das niemals ganz unterging, weil es in
den Ausströmungen der Erde selbst war, der lagernden Hitze, die nie ein
Regen erfrischte.

Man sprach von einem Brand der Welt. Hass und Aufruhr schlugen sehr hohe
Wogen. Die sengende Hitze blies in’s Hirn der Menge wahnwitzige Gedanken
von Tod und Orgie. Sie sprachen: „Lasst uns sterben und saufen.“

Auf seinem purpurnen Lager ruhte der König. Aber er wälzte sich rastlos,
die Kissen aufwerfend und niederdrückend. Seine Finger stachen in weichen
Atlas. Seine Augenhöhlen schienen verbrannt von der Hitze, der
Schlaflosigkeit langer Nächte, die seine Lider mit Braun gemalt hätte,
dass die Pupillen wie Kohlenfunken glühten in einem Haufen von Asche. Von
den aufgesprungnen, gedörrten Lippen hauchte Glutathem. Das innere Zittern
schlug und schüttelte ihn wie eine ferne, aufreizende Musik. Er hatte
Fieber und der kühlende Trank des Arztes gab keine Labe.

Durch die weiten Hallen des Palastes trieb das ruhelose Fieber den jungen
Fürsten.

Alle Wände waren mit wundervollen Fresken und Gobelins verziert,
Grossthaten seines Hauses, Schlachten, Krönungen, Staatsakte. Auf
feurigen, sich bäumenden Schlachtrossen stiegen junge Helden,
lockenumwallte, im flatternden Helmbusch. Das ausgestreckte Schwert
deutete nach vorne. Der Brustpanzer gleisste. Unter den Hufen wand sich
formlos, ein Gequältes, Bezwungnes, der Drache, der Lindwurm der
Unordnung, der Feind. Andre waren ernsthafter. Sie standen gerade,
hierarchisch, die Mäntel flossen in weiten priesterlichen Falten. Eine
Hand hielt den Apfel, das Sinnbild der Gewalt, die andre den Stab. Ueber
der Stirn gleisste mystisch der Goldreif. Das waren die Sagenhaften, die
grossen Gründer, die Könige, Hirten, Väter der Geschlechter. Sie hüteten
und herrschten. – Es gab ganz geharnischte unter ihnen, schwarz in
schwarzen Rüstungen, wo das Gesicht klein, vogelartig schien unter dem
Eisen der Sturmhaube. Ihre Nasen bogen sich wie Raubthierschnäbel. In der
schweifenden Linie des Bartes wohnte die Grausamkeit. Sie hielten das
Schwert in eiserner Faust. Der Fuss im Stahlschuh trat auf graslose Wüste.
Einige beteten. Ganz junge Knaben waren, denen die schweren Gewänder zu
schwer erschienen, zu weit der gezackte Goldreif über zarten, bläulich
geäderten Stirnen. Sie verblühten in kaum erschlossner Knospe.
Melancholische schauten mit Schatten des Wahnsinns in erschrocknen Augen.
Heuchlerische mit tückischem Fuchsunterbau des Gesichts. Das Scapulier
hing an ihrer Hüfte. – Die Carreaus der Gemälde zeigten kleine Pläne der
Städte, Festungsbauten in Miniatur. Fröhliche Könige trugen zierliche,
gestickte Hoftracht. Der Falke auf der Faust zeigte den Jäger, das
lächelnde Auge den Freund der Damen. Und Kolosse folgten: Wandelnde
Fleischmassen, doppelte und dreifache Kinne, bartlose, saftige Lippen der
Wollüstlinge, kleine, feuchte, in Fett vergrabne Augen, das Ganze mit
Gold, Purpurstickerei überladen, unter enormen Perrücken, die sie grotesk
und übermenschlich machten. – Alles das wurde blasser. Ein Gedanke war
hineingekommen, eine gewisse Traurigkeit, Schrecken bei Einigen,
Resignation der Andern, unter der gegebenen Maske, derselben Decoration
von Gold, Kronen, Löwen, Hermelinfalten, – der Mensch, etwas Einzelnes,
Abgelöstes, Persönliches. _Der_ war gestorben in der Verachtung der
Menschen, nachdem er sie gegeisselt und gegängelt hatte. Dieser hatte die
Verbannung gekannt, das Unglück, den Verrath, die Demüthigung. Jener
Junggestorbne wollte und konnte nicht. Sein Nachfolger hatte gewogen und
klug gerechnet. Unter der gesuchten Bonhomie, dem fast gemüthlichen
Lächeln, lauerte der Tigerzug. – Sie hatten gewusst und durften nicht
sagen. Einige hatten sagen gewollt. Aber sie waren todt. Sie waren traurig
und unglücklich. – Ueber die ging man schnell hinweg, wie über Kranke,
deren Krankheit gefährlich ist und anstecken könnte.

Er war der Letzte. Er war ein Ende ihrer Rasse. Sie betrachteten ihn Alle:
Die herrischen Augen, die ruhigen, satten, die anklagenden,
flackernden ... Zehn Jahrhunderte! Er war da. Alle diese Jahrhunderte
waren in seinem Blut, ein Stück von ihm. Es war sein Leben, was er schon
vorher gelebt hatte. Es erschien ihm furchtbar auf einmal – ein so langes
Leben! – eine Kette, eine erstickende Last, drückende Schwere ...

Eine goldne Sonne war im Plafond des Saals gemalt. Sie schickte ihre
Strahlen nach allen Seiten. Kreisrund war diese Sonne, ohne Schatten, und
ihre Strahlen standen gerade wie geschliffne Schwerter. Goldne Leisten
liefen am Gesims entlang. In unnatürlicher, üppiger Fülle drängten sich
Beeren, Früchte, Blumen, die Ecken hielten Adler, Greifen und
Wappenschilder mit anspringenden Löwen. An den Fenstern fielen senkrechte
Purpurdraperieen. Sie fielen in runden, tiefen Falten einer Tuba. Dunkler,
lichtlos erschien der Sammet in den Wölbungen, tiefroth glühend in den
Schatten zwischen den Falten. Wie Priestermäntel fielen sie, rothe Güsse
von Blut, gleichmässig ausgegossen in immerwährendem strömenden Fliessen.
Alles Gold, zurückgeworfen im Glanz von hundert Spiegeln, ertränkte sich
im Purpur, ohne ihn zu erwärmen, der alles Licht verschlang, dunkler
wurde, satt, brutal, sich triumphirend breitete, ein Vampyr, der Oger der
Farben.

Und er sah eine Jungfrau, wunderbarer denn sterbliche Weiber, und über die
Grösse der Frauen.

Ganz von Gold erschien diese Jungfrau, leuchtender wie die leuchtende
Sonne. Das Gold schmiegte sich um ihre Schenkel in schmalen gehämmerten
Ringen von seltner Feinheit. Es umschloss ihre Arme wie in einem
Handschuh. Die Spitzen der Finger waren von dunklerem Golde wie in
Goldstaub gepudert. Es schuppte sich über ihrem Leib in gleissender
Schuppenbräune. Aber ihre Brüste waren aus reinem, geschmiedetem Gold,
aufrechtstehend mit geschliffnen Spitzen wie Schwerter. Sie trug einen
goldnen Helm auf dem Haupte. Der war geformt mit überragender Spitze wie
ein Helm der Pallas, aufrechtgestellter Fittich eines Adlers. Er stieg
sehr tief in die Stirn. Die Stirn war gebunden mit einer purpurnen Binde.
Purpurstreifen fielen nieder von ihrer Schulter und hingen nieder zu ihren
Beinen wie Lazzis, Striemen geschnittnen Leders, die benäht waren mit
Edelsteinen in Streifen und Kreisen. Bei jeder Bewegung funkelten und
blitzten die Steine, dass man nicht hinsehen konnte, die Augen geblendet
bluteten vom sprühenden Glanz der Steine. Sie trug in ihrer Hand zwei
stählerne Schwerter. Schellen waren an ihren Gelenken befestigt, die
klirrten und klangen. Der Arm reckte sich frei aus den Purpurstreifen der
Schulter. Wenn sie ihn bewegte, klatschten und fielen die purpurnen
Streifen wie Peitschenbänder. Die Schwerter kreuzten sich in der Luft über
ihrem Haupte und beschrieben Kreise, und fielen herunter.

Die Haare dieser Jungfrau waren schwarz mit stählernem Glanz wie des
Rabenfittichs, roth vom aufsteigenden Gleisch der Flammen. Ihre Augen
waren grün wie Smaragden im Ring schwarzer Diamanten, die purpurne Lichter
schossen, dass ihr Glanz unerträglich war für den, der hineinsehen wollte,
der Blick gebannt sass in ihnen, hängen blieb wie die Motte in der Flamme.
Aber ihr Mund war Blut. Die Röthe ihrer Lippen war röther denn die vom
Blute, als ob sie Blut getrunken hätten, unersättlich gierig, frisches
Blut jeden Tages. Ihre Zähne waren Raubthierzähne, spitz mit geschliffnen
Spitzen. Zähne, die bissen in Fleisch, das blutete. Dieses Blut tranken
ihre tödtlichen Lippen.

Und er wusste, dass diese Jungfrau „die Macht“ hiess, Helena von Troja,
Judith und Herodias, Cleopatra, die Aegypterin. Sie war von königlichem
Geschlecht, eine einzige Jungfrau in der Welt und gab mehr Wollust denn
Jede. Und es hatte sie nie ein Mann besessen. Alle, die sie freiten, waren
gestorben. Sie hatte ihr Blut getrunken. Und es war ihr Blut und ihre
Kraft, die sie so schön machte, unwiderstehlich und herrlich vor den
Sinnen der Männer.

Und sie tanzte vor ihm.

Sie tanzte. Sehr langsam wandte sie sich und ihre Schulter kehrte an ihren
Platz zurück. Sie hob den Arm. Und der andre Arm stieg rund auf, die Brust
aus den Hüften reckte sich in langsamer, schwellender Anstrengung. Einen
Moment blieb sie weit vorgeschoben, keuchend, wie eine gezüngelte,
gefährliche Schlange, während die Beine angenagelt warteten, zitternd,
gezwungen. Im Kopf, zurückgebogen, schlugen die Lider. Der Hals strebte
weiss, liliensehnsüchtig unter dem blutigen, dürstenden Bogen der
Lippen ... Eine Woge schien die harte Linie der Schultern zu verwirren.
Das Kinn sank zur Seite mit einem Seufzer.

Kriegerische, wilde Musik schien sie zu wecken. Sie richtete sich auf ganz
erzitternd. Man sah das Erzittern vom Fuss bis zur Helmspitze laufen, wie
eines Uhrwerks, dessen Feder man berührt hat, das sich in Gang setzt. Die
Hüften krümmten sich abgezeichnet zum Sprunge. Ganz vorgeneigt, das Kinn
in der Luft, beide Hände flach ausgespreizt, dass die ganze Last des
Körpers auf der Zehe ruhte, horchte sie. – Sie bückte sich noch tiefer.
Die Spitzen der Brüste schienen den Schooss zu berühren. Sie kroch. Sie
schnellte sich. Sie stiess einen rauhen Schrei aus. Die Finger griffen
krallend in die Leere. Hart über dem Boden wie im Anzug einer Armbrust,
bohrte der Ellbogen, ein Tremolo, das nicht nachliess, rascher und rascher
wurde. – Sie war wach geworden.

Ihre Zunge gegen ihren Gaumen gab einen Lockton. Sie warf sich nach
rechts. Sie schnellte ihre Schultern nach links hinüber. Der Hals im
scharfen, zuckenden Rücken gab das Tempo an. Ein Fuss stahl sich tastend
vor. Der andre folgte in schürfender Schleife. Ihre Kniee tanzten. Sie
gaukelte in den Hüften. Die Erde liess sie. Sie flog auf, ihr gellendes
Tambourin schüttelnd.

Das war die Bewegung. Die Erde belebt durch den Willen, unsterbliche Kunst
des Ausdrucks. Es giebt keine Schwere. Kein Gesetz der Unwandelbarkeit
hemmt. Der Körper spricht. Die Formen singen, das Fleisch hat Seele. – Sie
tanzte.

Sie marschirte in einem tönenden, triumphirenden Marsche. Ihre Sohlen
stampften den Boden wie Schlachtrosse, schwere Kolonnen Gepanzerter. Der
Leib zwischen den stelzenden Säulen der Beine schien getragen wie eine
kostbare Last, ein Altartisch köstlicher Güter, der avancirte, langsam,
feierlich, mit der Feierlichkeit und Langsamkeit einer Procession. Ihre
Arme blieben steif wie die Arme einer Statue, einer ehernen Jungfrau, die
zermalmt, was sie an ihren Busen drückt. Sie näherte sich wie ein
Traumbild, ein schrecklicher Alpdruck der Fiebernacht, die schwarze Venus
der Aegypter, der Leben gegeben ist. ... Wie man Elephanten zur Schlacht
ruft, in kurzen Stössen, antworteten die Schellen und Schwerter.

Sie tanzte. Sie stiess kurze, wilde Schreie aus wie Möwengekreische über
dem Sturmmeer. Ihre Arme schlugen die Luft aufgescheucht. Ihre Füsse
suchten mit gekrümmten Spitzen im sich steigernden Zittern, der Furcht,
des Wunsches, der Raserei. Sie drehte sich. Ihre Haare peitschten den
Boden wie ein aufgespanntes, schwarzes Pfauenrad. Die unteren Glieder
schienen sich zu verschieben mit den Gelenken der oberen im verzweifelten
Wunsche der Vermählung. Losgelöst zwischen den Hüften, eine Blüthe im
Sturmwind, schwankte und bog sich die Taille. Sie zerbrach sich, knickte.
Mit irrem Klopfen huschten die Finger in der Leere. Kleine Wehmuthsrufe
schrillten die Schellen, Klagegezwitscher flatternder, fremder Vögelchen.

Diese Drehung wurde schneller, schwindelnd schnell. Schnell, wie von
Rädern, Maschinen, Stählernem. Man unterschied die Töne der Schellen und
Castagnetten nicht mehr. Es war ein Wirbel, ein zügelloser Tanz,
Sichineinanderverschlingen der Töne. Die Arme waren die Flügel einer
Windmühle, die sich schwangen im Drehen. Roth und goldne Streifen. Sie
peitschten, flogen. Die Felder wurden Kreise. Vom Boden, Kreisel gleich,
immer an derselben Stelle, wirbelten die Fussspitzen. Sie war ein Kreisel
im Ganzen, mit der weiten Fläche nach oben, ein Rad, eine Blume, eine
Libelle aufgespiesst an einer Nadel, eine rothgoldne Rose, über der das
Gesicht schwebte, unbeweglich, zurückgebogen mit lächelnden Lippen unter
dem goldnen Helme.

Sie drehte sich, drehte. Sie war die Sonne. Rothgoldne Sonne. Die Lazzi
waren Strahlen. Strahlen waren ihre Arme und Beine. Die Brüste waren die
Scheibe, die stille stand, mit metallnen, weissglühenden Spitzen. Sie
stachen wie brennende Eisennadeln. Ein Athem von Blut und Hitze schlug
über ihn hin. Immer wieder Hitze und Blut, roth und gold, nur noch eine
Farbe bildend, die der Wollust, der Frau, der Bewegung. – Der Lustwille
des Feuers, der die Erde dreht, in den Adern kocht wie Gluthsud.

Das war keine Frau mehr, die Frau nicht. Das war die Schlange, spiegelnd
in allen Farben des Universums, die glorreiche, erste Schlange, sie, die
herrlicher war denn alle Thiere. Sie richtete sich zischend auf mit ihrem
ganz weissen Leibe, der goldnen Krone und der blutrothen, dürstenden
Zunge: Und wirst wie Gott sein ... Wie Gott. Wie Gott. ...

Er hielt sich nicht mehr: „Sei mein!“ schrie er auf. „Sei mein!“

Diesen Abend unterzeichnete der König das Todesurtheil des grossen
Demagogen. Er wurde im Gefängniss hingerichtet in der Frühe, ehe die Sonne
aufging, ohne dass Unruhen darum entstanden in der Stadt.

Diesem in seiner letzten Nacht, da er auf den Tod müde war und das Sterben
nahe fühlte, wurde eine wunderbare Tröstung zu Theil.

Er sah plötzlich an sein Lager treten eine Frau, eine vornehme Dame, in
der Tracht einer Reiterin. Sie reichte ihm einen Krug mit Wasser von ihrer
Schulter und sprach: „Trinke, mein Bruder. Einmal habe ich Dich im Leibe
gesehen und ich wusste, dass Du mein Bruder warst. Jetzt weiss ich es
besser und Niemand soll uns mehr trennen.“

Er erkannte, dass es dieselbe Dame war, die ihn damals angesehen hatte im
Wagen, da er noch irre ging und mit Mordgedanken rang, auch diejenige, die
zu dem Fremden gesprochen hatte am Brunnen. – Es befand sich aber, dass
diese edle Frau und Gräfin gestorben war in derselbigen Nacht, also eine
mysteriöse Geschwisterschaft gewesen zwischen ihnen, die Vielen
unbegreiflich dünkte zwischen einem niedrigen Mann, der damals so niedrig
gewesen, und einer hochgebornen Dame.

Mit dieser Neuigkeit von seinem Tode kamen Etliche und sagten sie dem
Fremden.

Er sprach: „Er war ein Starker, stark vor allen Menschen, den selbst die
Könige hörten. Er ist nun dahin und nichts bleibt von ihm übrig.“

Sie sprachen: „Hat er denn nicht recht gethan mit dem, was er forderte, da
er von den Königen und Mächtigen forderte?“

Er sprach: „Die Könige und Mächtigen sind nicht die, die geben können. Von
innen muss es kommen, was die Welt neu gebiert. Wenn die Bettler die
Letzten sind, werden die Könige die Ersten sein. – Es ist aber auch
möglich, dass es von einem König käme.“ ...

Sie wollten, dass er dies noch näher erklärte. Aber er sagte nichts und
ging weit fort in eine einsame Gegend.



                         DAS ACHTZEHNTE KAPITEL.


Ueber dem Schlachtfeld war die Sonne untergegangen, eine rothe, müde Sonne
des Spätherbstes, die zerfliesst in einem Blutmeer. Man sah nur noch
Streifen von ihr wie lange Wundenstriche, rothe, zerflatternde im Grauen.
Sie wurden dunkler. Die Finsterniss schien in sie einzudringen, vage
Grüne, Violette. Alles starb in einem brandigen Nebel.

Zweimal über den Acker waren die Heere dahingestampft. Erst die
Flüchtenden, Fussvolk und Reiterei durcheinander in wilder Panik. Oft
gingen die Letzten über die Ersten. Dazwischen schob man Geschütze,
Munitionswaggons. Wo die Pferde nicht genügten, halfen Männer mit. Andre
hatte man im Stich lassen müssen. Sie lagen in unnatürlichen Positionen,
mit aufgereckten Hälsen, zerbrochnen Rädern, unschädlich gemachte
Eisenungethüme, Sättel, Flinten, Uniformstücke, Leichen. Zuerst hatten die
Pferde versucht, sie nicht zu treten. Aber man spornte sie an. Es galt das
Leben. Die zu schwach oder verwundet waren, blieben zurück. Eine Zeitlang
hatten sie sich fortgeschleppt. Oder Andre zogen sie mit. Dann hatte man
sie verlassen. Sie schrieen. Manche versuchten noch zu kriechen, sich
weiter fortzubewegen, anzukrampfen. Sie gaben es bald auf. Die gingen hin.
Dann war nur noch ein einziges, zielloses Trappeln von Zweibeinen,
Vierbeinigen, Rädern, die liefen, liefen ...

Man ertheilte noch Commandos. Berittne Offiziere sprengten ab und zu. In
einigen Abtheilungen herrschte eine gewisse Ordnung. Sie hielten sich von
den andern getrennt und marschirten rhythmisch. – Man sah sehr hohe
Offiziere mit den Abzeichen ihres Ranges, einen alten General auf seinem
weissen Pferde. Sein Gesicht war vollständig schwarz vom Pulver und Staub.
Er opferte sich auf. Er war überall. Man hörte seine Stimme wie die eines
Hirten. Einige junge Rekruten acclamirten ihn. Man wusste, dass dieser ein
Held war. Er konnte nichts mehr ändern, die Eile des Rückzugs nahm zu. Sie
fühlten den Athem des verfolgenden Feindes im Nacken. Einige hatten Alles
weggeworfen und liefen laut schreiend. Sie wussten nicht, wohin sie
liefen. Nur eine Angst beherrschte sie, sich zu verlieren,
zurückzubleiben, einzeln zu sein, getrennt von der Horde, die rannte,
galoppirte. Sie hatten sich wie Männer geschlagen, Tage und Wochen lang,
an diesem Tage. Das war Alles, was blieb, ein Gruselgefühl, die Empfindung
der Ohnmacht des Einzelnen in dem des Ganzen, des Geschlagnen, Besiegten.

Sie liefen, liefen für ihr Leben.

Diesen nach brauste der Sieger. Da waren die Pferde zuvorderst. Sie
griffen mächtig aus in weiten, jagenden Sprüngen. Ihre Reiter feuerten sie
an, wie man Jagdhunde anfeuert, eine Meute auf der Fährte. Diese sassen
aufrecht im Sattel, zurückgeworfen. In ihnen lebte nur noch die Lust zu
fangen, zu stechen, abzuthun, Feuer des Kampfes und der Stolz des Sieges.
Ein ganz junger Kürassier fiel auf, ein Knabe noch, bartlos. Er sah aus
wie ein rächender Engel mit schrecklichen, offenen Augen, den Mund
dürstend emporgehoben.

Das Fussvolk folgte langsam. Diese installirten sich auf dem Schlachtfeld.
Sie bezogen Vierecke und Gassen. Man pflanzte die Geschütze auf in einer
Art Park. Feuer zum Kochen wurden angezündet. Alle diese Menschen
rieselten von Schweiss, waren zu Tod ermüdet. Sie schliefen, eh’ sie noch
daran dachten, zu essen. Mit geöffnetem Munde, in der Stellung, die sie
gerade innehatten. Zwischen Ueberresten des Tages, Leichen und
Pferdeäsern.

Die Barmherzigkeit begann ihr Werk. Man sah sie mit Laternen herumgehen,
irrenden Glühwürmchen vergleichbar, weissgekleidete Gehülfen, rothe Kreuze
auf den Aermeln, dunkle Gestalten der Aerzte. In der Eile wurden Tische
aufgeschlagen, Verbandzeug entrollt, in dem Schwestern hantirten.

Ein Zelt war hergerichtet. Da schnitten, sägten, verbanden die Aerzte die
ganze Nacht. Wenn Einige vor Erschöpfung umsanken, traten Andre ein. Aber
der Aelteste wurde nie müde. Bis über die Ellenbogen im Blut, mit
triefender Schürze, ein kurzes Wort hier und da, that er seine Arbeit.

Auf dem Schlachtfeld selbst, einem kleinen Hügel gegenüber, hatte der
siegende Feldherr sein Hauptquartier aufgeschlagen. Auch da ging es
lautlos zu. Adjutanten glitten wie Schatten. Man sah es ihnen an, sie
kamen sich ausserordentlich wichtig vor. Jetzt gingen die Depeschen in
ihre Hauptstadt. Sie würden die Helden des Tages sein. Man sprach von
ihnen. Mancher schwebte sich schon wieder im glänzenden Salon vor,
männlich ernst in hochgeschlossner Uniform, die zärtliche Huldigung der
Schönheit entgegennehmend. Man würde sagen, dass der Feind tapfer war, der
Krieg ein grosses Unglück sei. – Je näher sie dem General kamen, seiner
Person und seinem Rang, desto ernsthafter und wichtiger wurden sie. Sie
befahlen gleichgültige Dinge, eine Tasse Thee oder kalte Zunge, mit der
Miene von Diplomaten, die über Sein und Nichtsein von Staaten entscheiden.
Niemand war heiter oder betrank sich. Das war für die Troupiers draussen,
die gewöhnliche Mittelsorte, das Kanonenfutter. Der General liebte
dergleichen nicht. Man entsann sich nie, ihn lachen gesehen zu haben. Die
Soldaten liebten ihn. Er war einfach und gerecht. Das ist ein sichrer Weg
zum Herzen des gemeinen Mannes; er erkennt die Comödianten sofort,
sogenannte Liebenswürdigkeit ist ihm als Laune verdächtig. – Niemals sah
man diesen Feldherrn Vorlieben haben. Er liebte seine Soldaten. Er that
seine Pflicht.

Der General war allein. Er hatte seine Berichte abgefasst, schlicht, ohne
Zusätze und Phrasen, wie es seine Art war. Die Schlacht war gewonnen, die
Verfolgung im Gange. Die Kreisbewegung, durch die er den Feind in die
Mitte nahm, ihn dann von allen Seiten zugleich zermalmte, hatte sich als
vollkommner Erfolg bewiesen.

Er war ein Greis von beinah achtzig Jahren. Aber ein sehr starker Greis.
Man sah es seinem Gesicht an, dass er das Klima aller Zonen getragen
hatte. Sein Ruhm stand ehern wie ein Felsen. Unerschütterlich wie sein
Ruhm war seine Gerechtigkeit. Dieser Mann verzieh nicht. Er strafte auch
nie ungerecht, weil er die Macht dazu hatte. Seine Siege waren wie die
eines Richtschwerts, das aufgehoben ist und fällt. Er besass keinerlei
Eitelkeit, keine Leidenschaften und Schwächen. Sein junger, einziger Sohn
war gefallen in diesem selben Krieg, gegen den General, den er heute
vernichtet hatte. Dies erbitterte ihn nicht. Es machte ihn auch nicht
weicher. – Er war ein grosser Mann.

In dem engen Zelt war es heiss. Ein fader Geruch war in der Luft, von
Pulver, zu vielen Menschen, stehendem Blut. Selbst in dieser Nachtkühle
machte er sich bemerkbar.

Der Adjutant schlief im Vorzimmer auf einem Stuhle. Es war ein junger
Edelmann aus einer sehr vornehmen Familie, äusserst correct immer mit
blendend weisser Wäsche und gefeilten Nägeln. Wenn er den General gesehen
hätte, wie er aufspringen, eilig sich neben ihn rangiren würde: Excellenz
befehlen dies – geruhen das –! Jetzt im Schlaf sah er dumm aus wie ein
Hammel. Er träumte nicht einmal. Er dachte an gar nichts.

Er schritt über mehrere Schläfer. Die Wachen präsentirten. Es waren
Soldaten von seinem Leibregiment, seinem eignen Heimathsregiment. Dieses
Regiment hatte eine lange, glorreiche Geschichte. Er dachte daran, dass
sie heut’ sehr schwere Verluste gehabt hatten. Es that ihm weh. Er
verabscheute den Gedanken. Alle hatten verloren. Tausende waren geblieben,
Freund und Feind.

Da bivouakirten auch andre, frische Regimenter, die erst eben auf dem
Schlachtfeld angekommen waren, noch nicht mit am Triumphe theilgenommen
hatten. Diese waren prächtig. Das Metall der sauber zusammengestellten
Waffen blinkte. Sie schliefen in ihren Uniformen bis an den Hals
zugeknöpft, noch im Schlafe stramm und gerade. Alles ausgewählte junge
Leute. Man hatte sie noch immer gut genährt. Die Landsleute hatten ihnen
zugetrunken auf dem Marsche. Sie fürchteten sich nicht und schliefen mit
einem leichtsinnigen Soldatenliedchen auf den Lippen.

Für ein andres Mal reservirte man diese.

Er ging über das Feld. Der Boden war hartgestampft, wie um niemals wieder
weich zu werden. Man konnte nicht sagen, was vorher darauf gewachsen war,
Gras, Gärten oder Weizen. Er war Stein jetzt, zerhämmert, geschmiedet von
Millionen Füssen und Hufen. Im Ring die Berge behielten ihre alte Form von
Wellen, Rücken. Ihre Abhänge waren mit Leichen gedüngt. Jeder Einzelne war
für sich getrennt mit ungeheuerster Anstrengung genommen worden. Den
ganzen Tag hatten ihre Flanken Feuer gespieen. Es brachte sie nicht aus
dem Gleichgewicht. Sie waren Ewige, Steinerne.

Er sah einen prachtvollen Menschen zu seinen Füssen lang ausgestreckt. Der
war mausetodt, in’s Herz geschossen. Ein ganz junger Mensch, wie ein
Achilles. Er bewunderte das Viereck der Schultern, dieses herrlichen
Brustkastens. Das Gesicht war ganz unentstellt. Er lag da wie auf dem
Paradebett, ein gefällter Eichstamm.

Vierzig Jahre und fünfzig hätte er noch leben können. Und er, der General,
war achtzig, ein kleiner, müder, gebrechlicher Greis. Der Krieg blieb eine
schreckliche Sache.

Von der einen Seite aus den Gebüschen kam Wimmern. Schwerverwundete hatten
sich da hingeschleppt, die Sanitätscolonnen hatten sie noch nicht
entdeckt. Es klang wie Hundegewinsel. Manchmal stockte sein Fuss wie in
Leim. Er zog ihn mit einer Art Ekel zurück.

Grässlich waren die Pferdecadaver. Sie hatten nicht die Würde, die der
Mensch unwillkürlich im Tode bewahrt, oder sein Menschenthum ihm gewährt.
Und etwas Schrecklicheres. Als ob sie fragen wollten: Warum? Das stupide,
blödsinnige Warum? der Unbewussten. Gigantisch waren sie mit hängenden
Bäuchen, unter denen Pfühle standen, in der Ungeschicklichkeit der
leblosen vier Beine, gebrochnen, vorgequollnen, fischigen Augen, – während
die Menschen sehr klein erschienen, holzpuppenhaft. Wo Granaten crepirt
waren, lagen abgerissne Stücke, groteske Nacktheiten – beinah lächerlich.
Wie hässlich der Tod war!

Freund und Feind lagerten durcheinander. Es war gar kein Unterschied mehr.
Die meisten zeigten diesen selben Ausdruck dummen Schreckens. Man konnte
fast sagen betrübter Kinder, die man mitten im Spiel unterbrochen hatte. –
Er wunderte sich fast, so wenig edle und heroische Gesichter zu sehen.
Dieser junge Mann war beinah der Einzige gewesen, der der Vorstellung
entsprach, die man wohl in Heldengedichten hat oder auf Denkmälern, wenn
über dem gefallnen Krieger der Genius die Fahne schwingt. Dann sagte er
sich: „Wie könnte es auch anders sein? Was sind diese Leute? Wo kommen sie
her? Was wissen sie von den grossen Ideen des Vaterlands, der Herrschaft,
der Volksehre, für die sie sich schlagen? Es ist sonderbar, dass sie sich
überhaupt schlagen, Heerdenzug, Schafsintelligenz. Was sind sie? Was ist
ihr Werth?“

An dem Hügel war der Kampf am heissesten gewesen. Da lagen Leichen dicht
wie abgemähte Schwaden. Immer dieselben Uniformen. Nach ihrer Lage und
Fallrichtung konnte man deutlich die Stellung des Feindes erkennen. Der
ganze Kampf war da aufgezeichnet in menschlichen Ueberresten. – Etwas
Dunkles verschwand im Schatten. Abgehackte Finger, nackte Todte verriethen
unmenschliche Hantirung. Mit einer Geste des Ekels wandte er sich ab.
Leichenraben! Schakale – das rief ihm einen Spion zurück, den er den Tag
zuvor hatte erschiessen lassen. Seine Frau hatte für ihn gefleht und
gebettelt, eine elende, zerrissne Schlumpe. Sie hatte ein Kind an der
Brust, einer hängenden, welken, ekelhaften Brust. Die Andern hingen in
ihren Röcken. Natürlich war die Gerechtigkeit vollzogen worden. Ein
Schuft! – er hatte eine Frau – kleine Kinder ...

Ein Windzug hatte sich erhoben und kam über das Schlachtfeld, ein
trauervoller, trauriger Wind der Feuchtigkeit mit tappenden Flügeln. Er
brachte ein Röcheln mit. Gar nicht boshaft oder zornig. Ganz sanft. Aber
es setzte nicht aus. Es erhob sich wieder in weiten Entfernungen. Und
starb im Winde. Vielleicht war es mehr ein Geist der Klage, als die Klage
selbst. Vielleicht war es die Hallucination des Orts. Dieser Ort war
traurig.

Vielleicht litten sie gar nicht. Es war nur das Räderwerk der Maschine,
das auslief. – Eine Fratze grinste ihn an, schauerlich, idiot, mit
heraushängender Zunge und glotzenden Augen. Der auch war für’s Vaterland
gestorben. Welches zusammengewürfelte Material, diese Haufen der Todten! –
Ernsthafte Familienväter mit Vollbärten. Sie hatten zur Waffe gegriffen,
weil man sie angriff. Ihre Beschäftigung war, den Acker zu bauen, Städte
aufzurichten. Ruinirte junge Lebeleute. Verbrechervolk, Jugend aus
allerlei Ländern, die mit lachendem Mund in Abenteuer rennt. Jetzt war
Alles dasselbe. Alles hatte aufgehört, die Sorge, der Leichtsinn, die
Liebschaft. Was ist das Leben? Was ist alle Mühe, die man aufgewendet hat,
es zu schützen? Diese ewige Erneuerung, zu der alle lebenden Wesen sich
gezogen fühlen?

Er rief sich die grossen Momente seiner Existenz zurück. Die Befreiung,
der schreckliche Zug durch Schneegebirge, die athemlose Erregung, als ein
Volk mit Thränen und Gebeten ihm folgte wie die verwittwete Mutter ihrem
Erstgebornen ... Wie sie ihm entgegenstürzten, vom Hunger ausgemergelt ...
Männer weinten wie kleine Kinder. Sie küssten ihm die Hände. Er war Gott,
der Retter! Sein Einzug – das ganze Land schwoll ihm entgegen wie eine
zitternde, erwartungsvolle Geliebte. Er sah es zu seinen Füssen. Sie
küssten ihm die Füsse, die Steigbügel. Alle Ehren und allen Ruhm hatte er
gekostet. Er war alt geworden und traurig.

Er blieb plötzlich stehen. Das Röcheln war ganz deutlich geworden. Es
klang wie das Weinen einer Kinderstimme. Dann in einer andern Sprache,
doch sehr vernehmlich, hörte er: „Mama ... Mama ...“

Der General zitterte. Es war ein ganz junger Bauernknabe von den Feinden,
erbärmlich jung, viel zu jung. Ein spitzes, blasses Gesicht, zwei Augen,
überirdisch. Der Schuss musste im Unterleib sitzen. Er litt. Er streckte
die Arme aus. Er rief nach seiner Mutter.

Da – da war die ganze Tragödie des Krieges, die ewige Feindschaft, die
Mutter, die immer wieder gebiert, nährt, hofft. Und man nimmt ihr immer
wieder, tödtet, vernichtet.

„Mama ... Mama ...“ schluchzte der kleine Bauernjunge.

Er war vielleicht ein Held. Er wusste es nicht mehr. Vielleicht wäre er
ein Mann geworden, hätte getödtet, geherrscht, vernichtet seinerseits. Er
fror. Er hatte Schmerzen. Er fürchtete sich.

„Mama ...“ rief er. „Mama ...“

Und er dachte an eine andre Mutter, diese eine tragische Mutter, schwarz
in schwarzen Schleiern. Die eigne jähe Wunde fing an zu bluten. Sie hatte
nicht geweint. Sie hatte ihn nicht gebeten zu bleiben. „Gott segne Dich!“
sagte sie und hatte ihn geküsst.

Und über ihr wieder stand eine noch grössere, tragischere Mutter. Eine
Königin – sein Land, sein ganzes Land in Trauer. Es schickte seine Söhne,
ohne zu klagen, bleich und erhaben. Er gab und die Andre gab ...
Opfergabe, hinter der die Mütter standen, die vielfach Gestorbnen, die
zehnmal Gekreuzigten – Sie, die wahren Leidenden, die wahre Grösse,
Lebensträgerinnen ...

Und ein andres erstaunliches Phänomen machte ihn betroffen. An einem
Dornstrauch, der Blut trug, weil ihn die Flüchtenden gestreift, halb
zerstampft, niedergetreten, ein elender Stummel nur, ein einziges noch
lebendiges Hölzchen, – blühte eine weisse Blume. Sie musste sich erst eben
erschlossen haben. Sie duftete – sie blühte ...

Er sah die Mutter der Mütter. Er sah die Natur treibend und unverletzt,
trotz Brand, Tod und Blutregen, den Acker, der seine Frucht trägt, den
Baum, in dem die Säfte steigen, das Thier, das seine Jungen säugt ...

Wüstes Gelärme unterbrach ihn. Da hinten im Bivouak feierte man den Sieg.
Sie zechten und brachten Toaste aus; die triumphirten. – Jetzt musste die
Kunde auch in der Heimat sein. Man liess die Glocken läuten und steckte
die Fahnen heraus. Leute auf der Strasse umarmten sich mit der
Siegesbotschaft. Ein wirres Freudengelärm schien sein Ohr zu erreichen,
ein Beifall, der von weit kam, seinen Namen rief über die Meere. Das war
der Sieg.

Und Andres stieg auf, undeutlicher: Flüche, Thränen, Racheschwüre ... Sie
auch wussten jetzt. Sie beteten.

Derselbe Gott war über ihnen Beiden, unerbittlich, gleichgültig. Er sprach
nicht und hörte nicht. Der Gott der Weltgeschichte, der Eherne der
Nationen, dem Babylon und Rom gesunken war. Alexander und Napoleon waren
gross geworden und fielen. Vae victis! und Ave Caesar! – Es war Alles
dasselbe ...

Die Landschaft war flacher hier. Eine Kühle wurde deutlich fühlbar. Er
schritt eiliger vorwärts. Eine Bewegung des Bodens schien ihn mit
fortzuziehen, ein mächtiges Einathmen und Ausstossen wieder. Alles ging
und kam. Aber das Gehen schien noch kräftiger wie das Kommen. Im Werden
verging Alles. Ein Tödtliches, Beständiges, Festes war in der Bewegung.
Alles starb.

Er war am Strand. Der Sand machte diesen Erdstreifen heller. Dahinter lag
es grau, unruhig, sich anwälzend und weichend. Salzathem stieg. Das Meer
fluthete und ebbte, endlos, schwarz unter dem schwarzen Himmel ohne
Sterne.

Und er sah etwas Andres. – Ein Schatten? Ein Seufzer? ... Es war schon
vorüber. Die Hallucination des Elends, ein Geist des blutigen
Schlachtfelds, das da hinten dünstend lag: ein blasser Mann trug ein
Kreuz. Das Kreuz war riesengross, aus rohem Holz geschnitten. Der eine Arm
des Querbalkens ragte gegen den Himmel. Das Ende schleppte lang nach auf
den schwarzen Wellen. „Und er wandelte auf dem Meer.“ ...

In diesem Augenblick, ganz deutlich wie in Metall geritzt, krähte ein
Hahn.

Es war Nacht.



                         DAS NEUNZEHNTE KAPITEL.


Der Amtsgerichtsrath war durchaus nicht der Meinung seines jüngeren
Collegen.

„Ein Narr,“ sagte er, „und nicht schlimmer wie Andre, die lose rumlaufen.
Lassen Sie ihn laufen, Salvatius!“

Der Andre machte Vorstellungen. Er war ein hagrer, dünner Herr und neigte
zu einer pessimistischen Weltauffassung, während der Gerichtsrath in
seiner rosigen, behäbigen Fülle auch Alles rosig sah. Die Specialität
dieses Ersteren waren Majestätsbeleidigungen. Er sah diese überall. Er
roch sie, witterte, zog sie hervor aus den gröbsten Verwicklungen.
Irgendwie wurden alle Verbrechen das bei ihm. Sie waren es ja auch
insofern, als die Majestät für ihn die Autorität Gottes auf Erden vertrat.
– Er war schlimmer wie ein römischer Statthalter.

„I bewahre!“ sagte der Amtsgerichtsrath. „Wo wollen Sie das nun wieder
rausschinden? Schliesslich, wenn wir das Vaterunser beten, ist das auch
eine Majestätsbeleidigung. – Dreck sind wir Alle.“

Der Dünne blinzte, unangenehm berührt. Der Assessor drehte die Daumen. Er
lernte noch. Dann war er von Berlin hierher versetzt, konnte nur jeden
Sonnabend nach Hause. Er lebte von Sonnabend zu Sonnabend. Auch hatte er
die Absicht, Carriere zu machen. Deshalb achtete er abwechselnd auf seine
beiden Vorgesetzten. Der Dicke gefiel ihm um seines heiteren Cynismus
willen. Aber der Eifer des Andern imponirte ihm. So wurde man was.

Der gelbe Herr behauptete, dass Unruhen kämen, die Leute liefen zusammen;
„na, und wenn die Lausewenzel des Sonntags ein bischen weniger söffen?“ –
Ueberdies hatte der Pfarrer Gentz eine Denunciation eingereicht.

„Nur weil er ihm in’s Handwerk pfuscht, seine Kunden stiehlt. Die Pfaffen!
– Das hackte sich am liebsten gegenseitig die Augen aus. Dadran sehen
Sie’s schon. Predigte er den leibhaftigen Satan, ginge es noch. Dann
hätten sie Wasser auf ihre Mühlen. Dasselbe sagen wie die Herren Pastoren!
Die verbrennten uns Christus heute noch.“

Der Assessor lachte. Die Ausfälle gegen die Clerisei amüsirten ihn. Er
konnte auch die Pfaffen nicht leiden. Trotzdem – ein leichter Anflug von
Semitismus haftete ihm an – deswegen war er kirchlich.

„Sie beleidigen einen hochachtbaren Stand,“ sagte der Gelbe bitter. „Die
Geistlichkeit hat eine Pflicht im Staate. Sie sind gleichsam – die
Gewissenspolizei.“

„Ich verlasse mich lieber auf unsern Pommeränicke. Sehen Sie, zum
Ketzerrichter bin ich nun mal verdorben. Aber wenn Einer lange Finger
macht, gar zu übermüthig wird, dann giebt’s was drauf. Das hält die
Gesellschaft zusammen.“

„Es giebt sehr Vieles, was vielleicht schlimmer ist.“

„Das überlasse ich feineren Nasen. Es wäre doch ungemüthlich schliesslich,
allein als Krone übrig zu bleiben und am Ende entdeckte man in sich selbst
unerlaubte Magenbeschwerden. Eine gewisse mittlere Dickhäutigkeit macht
allein das Leben auf diesem mangelhaften Planeten für sich und Andre
erträglich. So’n Rhinoceros ist das philosophische Vieh. Alle Stoiker
bleiben Waisenknaben dagegen.“

Der Dicke ging seinen Amtsgeschäften nach, ohne sich dadurch den Appetit
verderben zu lassen. Selbstmörder, die er zu recognosciren hatte, theilte
er in Krammetsvögel und Rohrdommeln ein, Erhängte oder Ertränkte.
Eigentlich war er beliebt. Er vertrat eine praktische Nothwendigkeit. Die
armen Teufel liessen die Köpfe hängen und ergaben sich in ihre Strafe. Er
begrüsste die Rückfälligen auch stets wieder mit derselben Jovialität.
Unter der Hand war er wohlthätig. Manches arme Weib hatte sich seine Mark
fünfzig oder drei Mark Conventionalstrafe für Holzsammeln, Beerensuchen
von ihm zugesteckt gesehen. Eine gewisse rüde Ausdrucksweise ging dabei
mit in den Kauf. Er nannte das patriarchalisches Regime.

Ganz anders der Gelbe. Die Angeklagten waren von vornherein seine
persönlichen Feinde. Er suchte sie noch privatim möglichst zu
zerknirschen. Nichts konnte ihm mehr Freude machen, als solche, die sich
erhängten, Weiber, die sich in Zuckungen auf der Erde wanden. In
Alimentationsklagen trat er nie ein, ohne das Frauenzimmer vorher
gründlich zu verdonnern. Ueberhaupt Unsittlichkeit! Er hatte dann ein
Gefühl des lieben Gottes, eines Rhadamanthus. Zum allgemeinen Besten
musste man unbarmherzig sein, während der Dicke sich vorgenommen hatte,
dann lieber nach der andern Seite zu sündigen, die Sittlichkeitsfrage von
vornherein ironisirte.

Die leichtherzige Auffassung des Collegen hatte den Andern geärgert. Er
fand den Fremden im Gegentheil höchst gefährlich, staatsauflösend. Dabei
blieb der Kerl heimlich, verstockt. Er liess sich nicht fangen.

„Sie sind Communist?“ fragte ihn der Vorsitzende. „Sie predigen den
Communismus?“

„Was mein ist, ist meines Bruders.“

„Wenn er es nicht giebt?“

„Es ist nicht an mir zu fordern.“

„Ich habe gehört, dass Sie auflösende Tendenzen gegen die Ehe predigen?
Wie denken Sie darüber?“

„Nicht die Ehe ist unheilig, die Unkeuschheit macht sie so.“

„Wie ist denn aber eine Ehe möglich ohne physischen Umgang?“

„Das wäre allerdings die Radicalcur für alle unsre Gebresten,“ sagte der
dicke Amtsgerichtsrath. Er fand die Idee höchst spasshaft.

Man wollte wissen, ob er sich weigerte, Militärdienst zu thun?

„So mich Keiner angreift, wozu brauche ich Soldaten? Wenn ich angegriffen
werde, ist es mir besser, Unrecht zu dulden, als Unrecht zu thun ...“

„Das bricht den Gehorsam gegen das Gesetz.“

Er wies auf ein Cruzifix, das neben dem Richterstuhl hing, zu
Eidesleistungen gebraucht wurde: „So Er Euch Gesetz ist, was braucht Ihr
Gesetze?“

Sie fragten: „Was bezeichnen Sie als sein Gesetz?“

Er sprach: „Es steht geschrieben: Wer gestohlen hat, der stehle nicht
wieder, sondern schaffe mit seinen Händen, auf dass er habe zu geben dem
Dürftigen. Du sollst Deinem Bruder vergeben sieben mal siebenzig mal. Und
was Du nicht gethan hast diesem Geringsten Einem, das hast Du mir nicht
gethan.“

„Ein geschriebnes Recht muss sein um der Ordnung willen,“ warfen sie ein.

„Ich sehe nur Unordnung. Ihr habt täglich zu thun mit Solchen.“

„Das sind Ausnahmen.“

„Die Andern bleiben in der Regel, weil sie den Vortheil davon haben.“

„Er ist scharf wie ein alter Fuchs,“ schmunzelte der Amtsrichter.

„Ohne Zwang ist in menschlichen Dingen kein dauerhafter Zustand möglich.“

„Der Zwang trifft nur die Aeusserung. Er ändert die Gesinnung nicht. Die
mächtig genug sind, verachten ihn, und diese sind die stärksten, die das
Beispiel geben.“

„Da hat er, den Teufel! nicht Unrecht. Unsre Banquiers und Minister
könnten davon ein Liedchen singen.“

„Glauben Sie, dass dieser Zustand ohne Gesetzlosigkeit, ohne Mord und
Todtschlag je möglich sein wird?“

„Wenn Jeder sich selbst Gesetz ist.“

„Dann hat’s gute Weile.“

Der Gelbe wollte wissen, ob er Seine Majestät den König anerkennte?

„Wenn Unordnung ist, ist es gut, dass Einer sei. So aber Ordnung ist, wozu
ist ein Herr?“

Der Feierliche fand, dass darin doch eine Majestätsbeleidigung läge, zum
Mindesten Zweideutigkeit.

„Glauben Sie an Gott?“

Er glaubte natürlich nicht. Der Pfarrer hatte es haarklein bewiesen,
Aussprüche zusammengestellt. Ein ganz hohler Pantheismus war vielleicht
vorhanden.

Der Assessor fand, ein paar Monate könnten nichts schaden. Man musste sich
schneidig zeigen.

Der joviale Amtsrichter war dagegen: „Er hat nicht gestohlen, thut Keinem
was zu Leide. Lassen Sie ihn laufen!“

Der Assessor langweilte sich. Er fand, dass es für ihn überhaupt nicht der
Mühe werth sei, sich mit einem abgerissnen Strolch länger zu beschäftigen.
Man hatte genug zu thun, Beleidigungen socialistischer Redacteure
aufzunehmen. Das machte einen guten Eindruck nach oben. Er sah sich gern
als Präsidenten des Reichsgerichts in scharfer, schneidender Rede die
Gesellschaft retten. Das war vornehm gewesen seit Jeffrey’s Zeiten. Aus
diesem Grunde opinirte er auch gegen Dreyfus.

Den Vorsitzenden verfolgte die fixe Idee der Majestätsbeleidigung: „Ob man
die Steuer zahlen sollte?“ wollte er wissen.

„Ist sie für das Allgemeine, so ist es billig, dass ein Jeder trage. Ist
sie nicht, so mag der tragen, der sie braucht.“

Sie stellten ihm eine Menge Fragen, woher er käme, was sein Name und Stand
sei? Auch über seine Geldverhältnisse wollten sie wissen? Wovon er sich
ernährte?

Auf dieses Alles antwortete er nicht.

Nun fingen sie an, Erkundigungen anderweitig einzuziehen. Es gab Leute,
die es beschworen, dass er ein Joseph Schäppli aus Bing in Württemberg
sei, der schon in seiner Jugend geistesgestört gewesen, seinen Eltern
davongelaufen und dann verschwunden war.

Man that noch ein Uebriges. Da die alte Mutter Schäppli noch lebte,
beschloss man ihn mit dieser zu confrontiren, sie auf Gerichtskosten
herkommen zu lassen.

Der Erfolg schien allen Zweiflern Recht zu geben. Es erschien vor Gericht
eine uralte verhutzelte Bauersfrau, ganz benommen von der Wichtigkeit und
Würde des Orts, diesen vielen Augen, die auf sie gerichtet waren. Sie
versuchte abwechselnd ihren mitgebrachten Korb mit Esswaaren zu sichern,
aus den Mienen der Umstehenden zu errathen, was man mit ihr vorhatte.
Natürlich hatte sie ihren besten Sonntagsstaat angelegt. Man hatte das
Gefühl eines alten Nacht- oder Erdthiers, plötzlich an’s Licht gebracht,
das in die Sonne blinzelt, sich verkriechen möchte.

Sie erkannte ihn sofort: „O mein Sohn Joseph!“ schrie sie. „Mein armer
Sohn! Du böses Kind! Bist Du mir fortgelaufen und wo hast Du Dich
umgetrieben so lange?“

Auf dies Alles antwortete er kühl, aber freundlich: „Du irrst, Frau! Ich
bin Dein Sohn nicht.“

Nun gerieth die Alte ganz ausser sich: „Nicht mein Sohn? Was? Habe ich
Dich nicht in Schmerzen geboren? So spät kamst Du, dass die Wehmutter es
aufgab. Wir dachten, ich würde nicht lebendig bleiben. Dann war es ein
grosses, starkes Kind, zehn Pfund schwer, dass alle Nachbarinnen über das
Wunder schrieen. Hinterher kam das mit dem schwachen Kopf, wo gar nichts
anzufangen war. Nicht mal zum Viehhüten taugte das. ‚Geben Sie’s nur auf,
Schäpplerin,‘ sagte der Herr Pfarrer. ‚Den hat sich der Herrgott
gezeichnet.‘“

Sie fing plötzlich an zu weinen und wurde zärtlich. „Bin ich nicht doch
gut zu Dir gewesen? Hab’ Dich trocken gelegt jede Nacht, wenn Du
schrieest? Und wie Du krank warst, hab’ ich Dir Hirsenbrei gekocht. Du
assest so gern Hirsenbrei und getrocknete Pflaumen. Dafür liessest Du
gerade Dein Leben. Mein Joseph! Mein Seppli! Mein eigner Herzbub! Und
willst nun Deine eigne alte Mutter nicht kennen?“

Er sprach: „So nun sind die Weiber. Weil sie Dir Brot gegeben und den Leib
gewaschen, bilden sie sich ein, dass sie Dir eine Seele geschaffen, einen
unsterblichen Menschen aus Dir gemacht haben. O kleine Kinder im grauen
Haar! Thörinnen, die Ihr Mütter seid!“

Danach, wie er sah, dass Einige diese Rede hart fanden, Andre sie richtig
nannten, die Alte aber schluchzte und lamentirte, sagte er:

„Dennoch ist die Mutter immer verehrungswürdig. Sie hat gelitten. Sie hat
leibliche Schmerzen gelitten, wie das Kind zur Welt kam. Alle Noth und
Last trägt sie mit ihm in seiner Schwachheit. Danach wird es zum Manne und
lässt sie. So ist es wohl ihres und doch nicht ihrs. – Sie leidet im
Fleische um einer unsterblichen Seele willen. – Viele schelten dies
Geschlecht schwach. Es ist aber nicht so, da sich in ihrem Leibe sichtlich
das heilige Wunder der Erlösung zeigt.“

Und war gütig zu der alten Frau, tröstete sie und hinterliess sie mit
Gaben, die seine Freunde für ihn sandten.

Vielen war das wieder ein Zeichen: „Er weiss sehr wohl, dass er ihr Sohn
ist. Würde er sie ehren, wenn sie nicht seine Mutter ist?“

Er sprach: „Und wenn sie es wäre? Was ist eine Mutter? Hat sie mir meine
Gedanken gegeben? Trägt sie Schmerzen für mich? Und fühlt sie mit meinem
Fühlen? Der Antheil der Mutter ist vom Fleisch. Wir sind aber nicht
Fleisch, sondern Geist.

... „Vor Augen siehet diese Art, was wahrscheinlich ist. – Das Wahre aber
siehet sie nicht. Wenn sie es sähen, würde es ihre Augen verbrennen. –
Aber die Blinden haben auch Augen.“

Danach schwieg er und sagte nichts mehr über diesen Fall, erklärte sich
auch nicht deutlicher.

Dieser Umstand der Recognoscirung durch die eigne Mutter beruhigte die
Richter ganz und gar. Sie dachten nun wohl, dass er ein Narr und Kranker
sei. Uebrigens bildete nicht die Familie die Grundlage und Urform jedes
gesunden Staatsorganismus? Das heiligste Gut der Nation? Einer, der nicht
mal die Familie anerkannte, leugnete das Bestehende durch diese Thatsache
schon. – Der Gelbe war für mindestens zwei Jahre und kurzen Process. Aber
die Herren amüsirten sich zu gut bei dem Fall. Es machte ihnen Spass, ihn
auszuhorchen über seine Ansichten. Was er von ihrer Justiz denke? Ob er
mehr für deutsches Recht sei oder für römisches? Auch fanden sie
verzwickte Streitfälle, die er entscheiden sollte. Und ob er die
Todesstrafe billigte oder missbilligte?

Es war ein förmlicher Sport unter ihnen geworden. Der dicke
Amtsgerichtsrath war der Lustigste. Er nannte ihn scherzhaft seinen
Christus und sich Pontius Pilatus. – Der Assessor dachte an Berlin und die
Blumensäle. Er war weit weg. Der grosse Gelehrte fand, dass dergleichen
die Köpfe verwirrte. Er war sehr gegen Verwirrung der Köpfe. Er hatte alle
Materien in Schubfächer und Unterschubfächer eingetheilt, und man wusste,
dass sein Urtheil unbestechlich war. Ueberdies _fand_ er die
Majestätsbeleidigung. Die Majestätsbeleidigung lag sonnenklar.

Besonders konnte ihn eine Behauptung des Jovialen irritiren, dass der
Fremde eigentlich ein „genialer Kerl“ sei, ein religiöses Genie.

„Genies – Genies – die hätte man auch Alle einstecken sollen.“

„Auch Goethe?“

„Was ist Goethe? Ein Kerl, der keinen Patriotismus hatte, einen
unmoralischen Lebenswandel führte.“

„Er ist aber doch Excellenz geworden.“

„Es kommt ja vor. Im Grunde ist das Alles höherer Anarchismus,
selbstverfertigte Autoritäten, Parvenügewalten. Sehen Sie selbst
Bismarck ...“ Der eminente Jurist war ultramontan.

„Aber Pommeränicke!“ Der dicke Polizeidiener bildete das besondere
Steckenpferd seines humoristisch veranlagten Vorgesetzten. In seinen
Mussestunden schlachtete er Schweine, lieh Geld auf Wucherzinsen und
füllte in seiner kleinen Methodistengemeinde ein kirchliches Amt aus.

„Pommeränicke ist nothwendig, existenzberechtigt. Pommeränicke _ist_!“

„Die Fleisch und Fett gewordene Potenz des mittleren
Gerechtigkeitsgefühls. _Es lebe_ Pommeränicke!“

„Sie sind ein Farceur.“ Der Gelbe grollte und kollerte in sich hinein. Er
hasste, wenn man irgend etwas, das mit einer Staatseinrichtung
zusammenhing, nicht ernsthaft nahm. Er war immer ernsthaft. Lachen war
eine Frechheit eigentlich. Anarchismus, Majestätsbeleidigung. Nur
pietätlose Menschen lachten.

Der Assessor hatte Besuch von Berlin. Diese Damen und Herren wünschten
innig ein Zuchthaus zu besichtigen. Das Sociale war Mode. Man verständigte
sich mit dem Director.

Auch der Amtsrichter und sein Freund waren mit.

Alles interessirte ausnehmend. Die Hunderte von kleinen Zellen mit starken
Eisenbarren vor den hohen Fensterluken, der Arbeitssaal, die Kirche, wo
die einzelnen Sitze durch Brettwände abgetheilt waren, um eine
Communication der Sträflinge miteinander zu verhindern, der gepflasterte
Hofstreifen zwischen Steinwänden, in dem sie ihre Spaziergänge machen.

Alles war musterhaft eingerichtet, beinah comfortabel, mit Lazareth,
Apotheke, Badeanstalt. Und diese wohlthuende Stille! „Förmlich
nervenberuhigend,“ meinte die Mama.

Der Herr erkundigte sich, ob und unter welchen Bedingungen geprügelt
werden dürfte? Er liess sich die Einrichtung erklären. Er war sehr
überzeugt von der Zweckmässigkeit solcher Strafen. Der affenartige
Gehorsam, mit dem die Sträflinge aufsprangen, Antwort gaben, imponirte
ihm. Er war selbst Besitzer eines grossen industriellen Etablissements.
„Da haben Sie’s bequemer!“ meinte er scherzend.

Die jungen Damen interessirten hauptsächlich die Insassen. Besonders ganz
schwere Verbrecher. Sie waren fast enttäuscht, dass ihre Unthaten nicht
noch viel furchtbarer waren. Und waren Frauen da? Sie baten und flehten,
wenigstens einen Ausblick auf die im Hofe Promenirenden thun zu dürfen. –
Es war so amüsant, durch die kleinen Gitterfenster zu gucken, gerade als
ob man wilde Thiere beobachtete. So Einer konnte doch jeden Moment
ausbrechen und ihnen mit der Hand an die Gurgel fahren.

Dass Alle glattgeschoren und rasirt waren, wunderte sie am meisten. „Die
sehen ja fast wie katholische Priester aus,“ meinte ein Offizier.

Von da kam man auf physische Eigenthümlichkeiten, Abnormitäten der
Verbrecher zu sprechen. Der Assessor als moderner Mann hatte sich mit
Anthropometrie befasst. Man citirte Charcot, Tarbe, Lombroso. Es stand ja
beinah fest, dass alle Verbrechen Wahnsinn seien, erbliche Belastung,
durch Alkoholismus hervorgerufen: „Man müsste die Leute einfach in
Irrenanstalten unterbringen.“

„Oder blenden, verstümmeln,“ schlug Einer vor.

Man rechnete genau aus, wieviel ein solcher Zuchthäusler dem Staat
jährlich kostete. Davon konnte fast schon ein ehrlicher Arbeiter satt
werden. Zudem drückte ihre Arbeit die Preise der in Freiheit Arbeitenden
herab. Nun ja, das jetzige System war dumm.

Der Amtsgerichtsrath erzählte von einer Hinrichtung, der er als ganz
junger Mensch aus professionellen und psychologischen Gründen beigewohnt
hatte. Es handelte sich um irgend einen ganz entsetzlichen Mörder, einen
Zwanzigjährigen, der eine alte Frau, seine eigne Grossmutter, mit der Axt
todtgeschlagen und zerstückelt hatte. Er war nach vollbrachter That ruhig
noch in ein Café gegangen, um eine Parthie Billard zu spielen. Da war er
auch arretirt worden.

„Sie ärgerte mich,“ blieb seine stereotype Antwort auf alle Fragen nach
den Beweggründen seines Verbrechens. Er blieb ganz stumpfsinnig, ass und
trank und ergab sich in sein Schicksal.

„Nun gut. Diesen Kerl habe ich genau beobachtet. Er hatte nur etwas
Verblüfftes, wie Einer, der eben aus dem Schlaf geweckt und noch nicht
vollständig wach geworden ist. Alle Reden des Pastors, der Gerichtsbeamten
liess er ruhig über sich ergehen. Noch zuletzt forderte er eine Cigarette.
– Alles hatte etwas Eiliges, Unvorbereitetes, Gesudeltes, obgleich es
feierlich sein sollte, eindrucksvoll, wirksam. Dieser Mann starb wie ein
Ochse, der geschlachtet wird. Ich hatte nur den Eindruck stupidester,
verantwortungsloser Dummheit.“

Man kam auf die politischen Verbrecher zu sprechen, Verbrecher aus
Mitleid, Nihilisten und Fenier. Jeder wusste curiose Facta: Dieser hatte
jedes Stück Brot mit Aermeren getheilt. Ein Andrer schrieb die
sentimentalsten Verse und päppelte kranke Hunde auf. Ein Dritter wieder
besass eine Geliebte, die mit ihm sterben wollte, Freunde, die um ihn zu
rächen ihr eignes Leben dran setzten. Manche waren Märtyrer, Helden.
Spätere Jahrhunderte hatten ihnen Denksteine gesetzt.

Der Contrast brachte den Gerichtsrath auf einen andern Fall. „Da haben wir
nun heute eine Frau im hochschwangeren Zustand, die beim Jäten im Garten
ein Gericht Bohnen gestohlen hat. Die Frau bekam für ihre Arbeit
fünfundsiebzig Pfennig Tagelohn. Sie war hungrig. Das Gericht Bohnen hat
einen Werth von fünfundzwanzig Pfennigen. Die eigentliche wirkliche
Gemeinheit ist die Anzeige der Gartenbesitzerin, als der Arbeitgeberin,
die sie seit sechs Jahren beschäftigt. Die ärztliche Wissenschaft, die
Menschlichkeit sprechen sie frei. Dennoch müssen wir sie verurtheilen,
weil es der Buchstabe will, weil es gedruckt steht. Wo bleibt nun da die
Vernunft?“

Der Amtsgerichtsrath zuckte die behäbigen Schultern. „Schliesslich, meine
Herrschaften – was ist Vernunft?“



                         DAS ZWANZIGSTE KAPITEL.


Der berühmte Professor wusch sich die Hände. Er that das immer mit
besondrer Umständlichkeit und Sorgfalt, schon um des guten Beispiels
willen. Man musste ein Beispiel geben. Uebrigens hatte er berühmt schöne
Hände.

„Es giebt nichts, was auf das Gehirn schädlicher einwirkt, als religiöse
Wahnvorstellungen,“ sagte der grosse Mann. „Schon das Bedürfniss einer
Religion überhaupt. Ich will nicht mit einem hochlöblichen Consistorium in
Conflict kommen oder auf den neuesten Paragraphen der Lex eingesteckt
werden ...“ Der Geheimrath geruhte zuweilen dergleichen Witze, die immer
auf brüllenden Applaus rechnen konnten ... „Es ist bekannt, dass Mohammed
epileptisch war, an der Fallsucht litt. Christus hatte in seiner Jugend
die Satzungen der Essäer angenommen, unter denen die Forderung der
absoluten geschlechtlichen Enthaltsamkeit, neben strictem Vegetarismus,
Fasten, Waschungen aller orientalischen Kulte, obenan stand. Nun weiss
heutzutage Jedermann, dass die Unterdrückung des Paarungstriebes die
Ursache zahlreicher Verbrechen, in vielen Fällen des Irrsinns ist. Chassez
le naturel, il reviendra au galop. Die Natur, meine Herren! Die
Wissenschaft ist die erkannte Natur.“

Der Professor hatte seine Hände fertig gewaschen und sorgfältig
abgetrocknet. Er stand jetzt, die Fingerspitzen beider gegeneinander
gepresst. Er wusste, dass er keinen Widerspruch zu erwarten hatte. Er war
nicht an Widerspruch gewöhnt. Er verachtete ihn.

„Es ist eine Schande für unser Jahrhundert, dass derartige Erscheinungen
noch möglich sind,“ fuhr er streng fort, „dass der Aberglaube eine solche
Macht auf die Gemüther noch ausüben kann. Allein die Ignoranz ist daran
schuld, systematisches Zurücksetzen des Wissenschaftlichen, des Positiven
in der Erziehung gegen Abstractionen, sogenannte Moral. Ich bitte Sie,
meine Herren! Was ist Moral? Moral ist die Anforderung des Magens in
Einklang gebracht mit dem, was von aussen diesen Magen befriedigen kann.
Unsre Moral, gesellschaftliche Moral ist das geregelte Productions- und
Consumtionsverhältniss. Moral endlich ist eine Sache des Bluts, der
Hirnpartikeln, Zellenconglomerat. Die Zelle ist Alles.“

Der grosse Mann sah sich triumphirend um. Er wusste, dass er etwas Grosses
gesagt hatte. „Wie es übrigens die Seele selber ist ...“ fuhr er
leutseliger fort. „Was ist Seele, als das vitale Princip der
Zellenschwingung auf das Abstracte angewendet? In den ersten Zeiten
brauchte man Kutscher und Pferde für die Wagen. Dann machte man’s mit
Dampf. Jetzt treibt die Electricität ohne äusserlich sichtbaren
Fortbewegungsapparat. Ein Grieche des Alcibiades hätte an Dämonen
geglaubt, ein Mönch des Mittelalters an den Teufel, ein von den
Missionaren bekehrter Wilder an Gott. – Wir wissen, weil wir sehen. Wo wir
nicht mehr sinnlich wahrnehmen, haben wir nur ein: Ignorabimus.“

Der Professor verbeugte sich gegen sein Publikum. Er war eilig. Eine hohe
Persönlichkeit verlangte seine Autorität in schwierigen Nervenleiden.
„Grosse Ueberreizung,“ decretirte der Professor. Ruhe, frische Luft,
blutbildende Nahrung, Pepton: Hygieia.

Das hatte er selbst erfunden und sich patentiren lassen. Der Professor
verstand auch das. Er war ein wirklich grosser Mann.

Dabei machte er sich niemals durch Propaganda missliebig. In seinem
Wahlkreis wählte er conservativ. „Für die Crapule ist das gut und schön.
Halbbildung bleibt das Allergefährlichste. Das fehlte uns gerade noch,
dass jeder Apothekerlehrling auf eigne Hand Experimente anstellte. Die
Laien sind eben Laien.“

Es war eine Lieblingsredensart von ihm, dass in der modernen Gesellschaft
die Autorität des Arztes die des Priesters ersetzt habe. Die Wissenschaft
war eine Macht, die Macht. Eigentlich verachtete er alle Andern, die
vielleicht momentan viel Lärm machten, sich wichtiger dünkten. Sie hatten
das nicht nöthig. „Alles das sind Blasen, flüchtige Gährungserscheinungen
an der Oberfläche, die die Grundbedingungen ganz unangetastet lassen. Es
ist das eben wie der Unterschied, ob ich mit meinen Augen sehe oder durch
ein sehr scharfes, vollkommenes Instrument. – Der grösste Geist, ein
König, ein Eroberer ist doch schließlich nur ein Laie, ein Decadent, ein
Entarteter vielleicht. Er betrifft uns eigentlich darum gar nicht, ändert
aber auch gar nichts an der Marche du jeu, den einmal gewonnenen und
festgelegten Resultaten. _Wir_ passen ihn ein, nicht er uns.“

Er machte einen abschneidenden Eindruck, wenn er dergleichen sagte,
inmitten seiner Arbeitssäle und Laboratorien, mit ihren kahlen,
weissgestrichnen Wänden, wo Instrumente und Präparate standen. Alle diese
Instrumente waren tadellos gehalten und blinkten in der Sonne. Man sah
alle Stoffe in ihre primitivsten Elemente zerlegt. Diese geistvollen
Einrichtungen und Neuerfindungen arbeiteten mit erstaunlicher Präcision
und Genauigkeit. Der Mann passte in dieses Milieu. Zusammen hatten sie
eine gewisse Grösse. Sein Colleg war immer gedrängt voll. Es gab eine
ganze neue Generation von Jugend, die sich mit Stolz seine Schüler
nannten. Er hatte sein ganzes Leben geforscht und gearbeitet. Arbeit und
Forschung waren ihm das Höchste.

Man warf ihm den grossen, weltumwendenden Einfluss des Christentums vor.
Er hatte einen jüngeren Freund und Collegen, der sich gern mit dem
Philosophischen befasste.

„Das sind Epidemieen, die ganze Zeitalter erfassen, wie die Blattern, die
Beulenpest. Uebrigens, was rechnen diese zwei- oder dreitausend Jahre
gegen die Tausende von Jahrtausenden, die die Erdoberfläche gebraucht hat,
sich zu bilden, ein einziger Diamant zu seiner Crystallisation bedurfte!
Das ist Alles sehr gleichgültig.“

„Es haben sich doch Menschen dafür schlachten und verbrennen lassen.“

„Menschen haben von jeher eine grosse Vorliebe dafür gehabt, sich um hohle
Töpfe die Schädel zu zerschlagen. Wie Hamlet sagt: Worte – Worte – Worte.
Uebrigens dieser Hamlet ist sehr interessant. In seinen Reflexionen auf
dem Kirchhof finden Sie alle Anfänge der Naturphilosophie. Sie erinnern
sich des Passus von Cäsar’s Staub?“

„Trotzdem stach er sich um ein Phantom.“

„Hamlet war eben ein Künstler,“ sagte der Professor beinah mitleidig.
„Shakespeare war ein grosser Dichter. Die grossen Dichter sind immer sehr
miserable Naturforscher. Nehmen wir Goethe! Die Phantasie – die
Phantasie!“

„Die Phantasie kann doch aber auch immer nur Vorstellungen von
Existirendem weiterspinnen. Sie müssen irgendwie in der Natur mit
vorhanden sein.“

„In der Natur ist noch Vieles.“ Der Professor zuckte die Achseln. „Wir
wissen es nicht.“

Aber der Freund ereiferte sich. Er war jung. Er neigte zur Phantastik. –
Jemand Andres war miteingetreten. Es war die junge Frau des Professors.
Sie war noch sehr jung, glücklich verheirathet und sollte zum ersten Mal
Mutter werden. Sie sprach wenig. Es war etwas Schleppendes, Sachtes in
ihren Bewegungen. Sie trug den Nacken gesenkt wie eine zu beschwerte
Aehre. Der Professor schob ihr sorgsam einen Stuhl zurecht. Sie sah nur
dankbar lächelnd zu ihm auf, und blieb so sitzen, ihre Hand in seiner.

„Es könnte doch aber eine Zeit kommen, dass wir wüssten,“ argumentirte der
Freund. „Und wäre es nicht denkbar, dass besonders begnadete Genies, sagen
wir Shakespeare, Goethe, Christus, Vieles vorgeahnt haben? Auch
Geheimnisse wieder verloren gingen? Waren doch schon die Phänomene des
Hypnotismus, der Autosuggestion den Alten bekannt? Dass man mit ihnen die
Wunder der biblischen Geschichte erklären könnte?“

„Ich weiss es nicht. Das erscheinen mir wieder Speculationen.“

Der Andre war begeistert, einmal lancirt: „Denken Sie sich auf diesem rein
empirischen Wege die Vereinigung des Uebersinnlichen mit der Wissenschaft
wiederhergestellt, im Fortschritt den Aufschritt! Die Natur, die wir arm
und nüchtern auffassen, tausendmal reicher, üppiger, wollüstiger. Eine
beseelte Natur. Die _Seele_, die wir suchen, nach der wir verhungern,
unsre Künstler, unsre grossen Energieen, unsre Jugend – da hätten wir die
Seele! Im Christentum die Darwinsche Theorie, Lombroso, Krafft-Ebing, kein
Gut und kein Böse, Tolstoi nicht mehr pathologisch, – unser ewiges,
elendes, billiges ‚pathologisch‘!“

Er gestikulirte heftig, den Sprüngen seiner Gedanken folgend. Er war ein
schöner, feuriger Mensch, fuhr sich mit der Hand durch die dichten
Haarbüschel.

Die junge Frau des Professors hatte aufmerksam zugehört. Sie sagte nichts,
sie dachte. Ein sehr süsser, sehnsüchtiger Friede lag auf ihrem Gesicht.

„Sie sind ein Dichter,“ sagte der Professor. „Enfin ... Wie wir uns drehen
und wenden: ‚Ein Mensch, der speculirt‘ ... Carpe diem. Es giebt keine
Weisheit als diese.“

„Zarathustra? Zarathustra! Auch blos ein pathologisches Problem jetzt –
der Weisheit letzter Schluss, das Endglied der grossen Kette. – Dionysos!
Die Entfesslung aller Kräfte. Flügel! Flügel! Flügel!“

„Wir müssen uns an die Erde, an das Normale halten.“

„Und das heutzutage Uebernormale, das Unternormale? Wo bringen wir das
unter?“

Das offne Gesicht des Freundes glühte. Er stand da in einer Pose des
Kampfes mit gereckten Fäusten.

Die junge Frau sah von einem der Männer zum andern. Sie litt nicht. Aber
sie war müde – von einer süssen Müdigkeit. Das beschwerte sie, aber machte
sie froh. – Ihre Augen hatten sich verschleiert. Es war, als ob sie sähe,
in etwas sehr Helles, Glänzendes sähe. Aber sie sprach nicht. Ein
träumendes Fühlen war in ihrem Sehen. ...

Der Professor machte eine abschneidende Handbewegung: „In unsern
Irrenhäusern.“



                                  ENDE.


Weitab von der Stadt lag die Irrenanstalt, ein Complex langgestreckter,
gelber Häuser, am Rande des Kiefernwaldes. Von der Chaussee führte eine
Fahrstrasse, alleeartig mit Bäumen bestanden. Rechts und links lagen
Felder. Die leichter Kranken und Unbemittelten arbeiteten dort unter der
Aufsicht eines Wärters.

Man sah sie Kohlstrünke ausreissen, Gräben ziehen, jäten. Manchmal lachte
einer seltsam, kichernd, unmotivirt.

Die Vorübergehenden auf der Chaussee blieben wohl stehen und sahen sie an.
Sie stiessen sich mit den Ellenbogen. „Irre!“ Das interessirte sie. Sie
fanden es auch ein bischen komisch. Jedenfalls erwarteten sie
Außerordentliches. Vielleicht dass Einer sich auf seinen Wärter stürzte
und ihn erdrosselte oder etwas Aehnliches.

An der Chaussee lagen die Wärterhäuser. Sie sahen schmutzig grau aus mit
kahlen Fenstern. Es war einsam hier und nicht behaglich. Der fegende Wind
über die Ebene traf sie von allen Seiten. Alles das hatte etwas Trauriges.

Noch weiter ab lag ein Oeconomiegebäude. Es war mit einer hohen rothen
Backsteinmauer umgeben. Man hörte Gänsegeschnatter. Ein fauliger Gestank
von Dünger verpestete die Luft, die scharf war, prickelnd, wie im Winter
schon.

Alle Felder lagen unter Dünger und waren kahl. Auch der Rasen am Feldrain
sah verbrannt aus. Ueber der ganzen Landschaft lagerte die üble Laune des
Novembers, eine Stimmung des Unbehagens und der Trostlosigkeit, die der
blaugrüne Saum der Kiefernwälder nicht unterbrach. Sie zogen sich nach
allen Seiten. Sie schienen das natürliche Moos dieser graubraunen Erde,
stumpf, ohne Leben und Wechsel, langweilig. Das ist kein Wald. Das ist
Haide.

Das Mittelgebäude in der Anstalt selbst enthielt die Wohnungen des
Directors, der Oberärzte. Man hatte eine Kapelle für die Irren,
Gesellschaftssäle, Bibliothek- und Musiksaal. Die Räume waren mit dem
neuesten Comfort, Gas, und Centralheizung ausgestattet. Die vergitterten
Fenster zeigte man nur nach dem Garten zu, auf der Rückseite.

Alles war beinah elegant. Man versicherte gern, dass sich die Kranken da
außerordentlich wohl fühlten. Sie würden gar nicht wieder wo anders leben
mögen, selbst wenn man sie liesse. Dies war Wohlthat für überreizte
Nerven.

Die Aerzte sagten immer: „Die Kranken.“ Der Ausdruck Verrückte oder
Irrsinnige beleidigte sie fast. Noch mehr der dumme Aberglauben des
Publikums. Das war eine Krankheit so gut wie jede andre, mit ganz
bestimmten, anatomisch nachweisbaren Veränderungen im Gehirn, Störungen
des Sensoriums und der Motilität verbunden. Mit der
mönchisch-moralistischen Betrachtungsweise solcher Erscheinungen in
früheren Jahrhunderten hatte man ja Gott sei Dank! aufgeräumt. Aufgeklärte
Leute traten gern dagegen auf. Sie waren sogar zu Gesellschaften in der
Anstalt gewesen und hatten sich sehr gut unterhalten. Oder zum
Gottesdienst am Sonntag. Es gab da hinter den Mauern sehr geistreiche und
gebildete Leute. Diese Legenden von Zwangsjacken, Tollwuth, rohen,
prügelnden Wärtern erzählten sich Köchinnen. – Es war wirklich angenehm da
zu existiren. Aufgeklärte Leute versicherten, dass sie sofort bei der
ersten Störung ihres Nervensystems in eine solche Anstalt gehen würden. Es
war das einzig wahre Mittel, sich zu curiren.

Von Zeit zu Zeit erschoss sich ein Arzt. Er hatte an sich selbst die
Fortschritte der Krankheit beobachtet und genau festgestellt: Noch so und
so lange. Dann greift man zur Pistole ...... „Kranke eben.“

Es gab so viel Krankheitsursachen im modernen Leben: Lärm,
Pferdebahngebimmel, electrische Bahnen, der immer härter werdende Kampf
um’s Dasein, Rastlosigkeit. Die Zeit verbrauchte die Menschen. Da hinten
lagen die Ungethüme, Grossstädte, die sie schickten. Hier war’s still.
Gesunder Kiefernadelduft.

Es gab sehr interessante Sujets unter den Internen: Einige, die am
Verfolgungswahn litten; eine ältere adelige Dame glaubte, dass man sie in
ihrem Standesgefühl beleidigen wollte; dann der Mann, der einen Schatz
gefunden hatte; Einer, der sich einbildete, der Kaiser Napoleon zu sein;
besonders scherzhaft war der sogenannte „Gott Ra“, eine Persönlichkeit,
die plötzlich mitten im Gespräch abbrach, die Kiefern auf- und
zuschnappte, als ob er etwas verschlänge. Alle diese waren ungefährlich,
lebten beinah glücklich. Da waren welche, die die griechischen Tragödien
in der Ursprache lasen, sich mit Forschungen beschäftigten.

Auch die Blödsinnigen litten ja nicht. Diese Menschen wurden Thiere. Die
Hauptsache für sie war Essen und Trinken. Sie hatten keine Ahnung von
ihrer Degradation. – Das Publikum macht sich so falsche Vorstellungen.

Es war unangenehm, dass einmal eine ältere Dame eine Häkelnadel
verschluckt hatte. Natürlich war es den Wärterinnen streng verboten
gewesen, Derartiges zu arbeiten, oder dass die Wärter an Kranke Schnaps
verkauften. – So etwas kam überall vor. Man konnte nicht vorsichtig genug
sein in der Auswahl des Materials. Das war die wichtigste Frage.

Es war ein sehr friedlicher Platz. Im Sommer, wenn Alles grün ist, war es
noch viel schöner, beinah heiter. Der Kiefernwald erstickt. Man hatte die
Gitter sehr weit vorgeschoben, immerhin. Und man musste sich gegen die
Neugier des Publikums schützen. Die Leute, die da wohnten, waren Stille.
Ihre Angehörigen bezahlten für sie, erster, zweiter oder dritter Klasse,
je nachdem sie vermögend waren. Erster Klasse hatte man natürlich bessres
Essen und mehr Luxus. Die ganz Unbemittelten übernahm der Staat. Sie
machten auch allerlei Arbeiten. Wohlwollende Besucher kauften von diesen
Arbeiten. Alle waren immer entzückt von der Reinlichkeit, Vortrefflichkeit
und practischen Anlage der Anstalt. Wirklich! Die da hinein kamen, waren
nicht zu bedauern. Sie waren in einem Hafen förmlich. Die Bilder grosser
Ärzte und Philanthropen schmückten das Wartezimmer. Es war ein Segen, dass
die Wissenschaft dies übernommen hatte. Wenn man dachte, welche Zustände
früher herrschten!

Man konnte seine theuersten Angehörigen mit der grössten Seelenruhe
dalassen. Was sollte man denn auch thun?

Ab und zu dann ein Begräbniss. Ernst, ohne Prunk. Es war vorüber. Er oder
sie waren „erlöst“. Eine grosse Last war von den Schultern ihrer Familie
genommen. Fast konnte man sie beneiden um den Frieden. Man musste zurück.
In den Kampf. In’s Laute.

Sie waren nicht sehr interessant. Etwas zwischen Kindern und Thieren.
Sogar ihre Leiden waren halb komisch, eingebildete Leiden. Man giebt ihnen
Alles zu wie Kranken. Jedermann ist gut und wohlwollend gegen diese
Unglücklichen.

Bei Vielen ist die Krankheitsanlage erblich. Sie sind idiot, ganz harmlos.
Man muss sie einschliessen, wenn sie gemeingefährlich werden. Jedermann
kennt solche Erscheinungen in Dörfern, abgelegenen Gebirgshöfen. Man
nannte sie „Gottes Narr“, Fexe, Gezeichnete. Heilbar sind solche
secundären Formen der Geisteskrankheiten selten. Dann giebt es Wahnsinn,
Schwermuth. Diese Leute können ganz lichte Zeiten haben. Sie kehren wohl
von Zeit zu Zeit wieder in ihre Familien, ihre Umgebung zurück. Aber
irgendwie tragen sie eine Kette am Fuss. Eine Schraube bleibt locker.

Immer wieder wollten die Damen wissen, ob die Kranken „es fühlen“, sich
ihrer mentalen Abirrung bewusst sind, unter dem Stigma leiden? Man las
darüber so Schauerliches in Romanen. – Nur die Melancholischen leiden. Sie
empfinden wirkliche neuralgische, acute Schmerzen. Ganz hoffnungslos sind
die mit fixen Ideen Behafteten, oder solche, die religiöse
Wahnvorstellungen haben. Sie hatten eine sehr feine, dreissigjährige Dame
aus gutem Hause, die an erotischem Wahnsinn litt. Eine Dame, sonst sehr
scheu und wohlerzogen!

Man rief berühmte Beispiele zurück: Torquato Tasso, Johanna von Castilien,
Ludwig von Bayern. War Hamlet wahnsinnig gewesen, oder König Lear?

Aber ein Thema interessirte sie Alle. Sie hatten ein wirklich
interessantes Sujet, einen Clou. Das kitzelte nicht nur die Damen.

Die erste Intelligenz der Zeit, die brillanteste, genialste. Der Mann,
dessen Adlerflug die Welt erst schweigend, dann mit wüthenden
Verwünschungen in glühender Bewunderung verfolgt hatte.

Jetzt, wo er wahnsinnig war, konnte man ihn ja ungehindert bewundern.
Niemand hatte mehr eine Concurrenz zu befürchten, seinen schneidenden Hohn
schlimmer als seine Verachtung. Aus dem Löwenfell des grossen Mannes hatte
man sich kleine Fellchen geschnitten, die so gut standen. Was konnte man
da interpretiren, insinuiren, Kapital schlagen. Aus diesem ungeheuren
Brachfeld, das er mit den Schätzen einer ungehobnen Welt hinterlassen.
Seine Fehler und Extravaganzen vermied man natürlich. Er war ja eben
bekanntlich ... Ein Strich über die Stirne vollendete den Gedanken.

O ja! Für den interessirte man sich. Gedichte, Blumen wurden für ihn
gesandt. Alle Augenblicke standen in den Zeitungen gefälschte Interviews.
Es bildete den beständigen Aerger der Aerzte. Sie hatten es doch so klar
gesagt: Eine organische Krankheit, colossale Ueberanstrengung, verschärft
durch Schlafmittel, Narcotica. – Es wurde Zeit, dass endlich einmal mit
dem alten Aberglauben aufgeräumt wurde.

Fromme Leute betrachteten diesen Irrsinn als eine gerechte Strafe des
Himmels. In ihren Augen war er der Antichrist. Man sah Gottes Gericht
recht deutlich! Der Titan, der Ihn anzugreifen gewagt, Felsblöcke gegen
Ihn geschleudert und jetzt ohnmächtig und gebrochen im Stuhl sass in einer
Irrenhauszelle: „Ich bin dumm. Ich bin dumm.“

Selbst die, die nicht so weit gingen, moralisirten über den Fall auf ihre
Weise. „Bleib’ im Land und nähr’ Dich redlich.“ Hier sah man, wohin das
Gegentheil führte: „die grosse Kunst macht Dich rasend.“ Wozu auch? Wenn
man arbeitete, recht that, kam man immer noch zurecht auf dieser Welt. Der
religiöse Aberglaube war zu missbilligen. Ebenso wie die rohe
Ausschweifung. Das Leben fand schon immer die Mittellinie. Es ist gut auf
der Mittellinie bleiben.

Es war ja freilich wahr, dass jeder Esel ebenso gut wahnsinnig werden
konnte. Sie blieben doch überzeugt, dass Müller es zum Beispiel nie würde,
und Buchholz ebenfalls nicht. Diese würden sich auch nie das Leben nehmen
oder mit der Polizei in Conflicte gerathen.

Die Fachleute bemühten sich vergebens, das ganz Natürliche, rein
Anatomische des Vorgangs auseinander zu setzen. Ein junger Arzt zeigte zur
Exemplificirung sorgfältig präparirte Plättchen, auf denen man den Verlauf
der Aederchen im Gehirn normal und anormal verfolgen konnte. Ordentlich
niedlich anzusehen waren diese Präparate, etwa wie Blumenblättchen,
fettig-weiss und rosig durchzeichnet. – Einige Damen grauten sich davor, –
immer zurück in der Cultur, diese Frauenzimmer! Der junge Gelehrte liebte
seine Plättchen. Er zitterte, ihren Schatz zu bereichern. Für ihn war auch
dieser Kranke nur ein Object.

Ganz Intime waren zuweilen zugelassen worden. Sie erzählten, dass der
grosse Philosoph im Rollstuhl auf der Terrasse gesessen. Er sah in die
sinkende Sonne. Er schien ganz „friedlich“, der kranke Adler. Man nahm ein
ganz angenehmes Gefühl mit fort der allgemeinen Rührung und der eignen
speciellen Empfänglichkeit für schöne Emotionen.

Uebrigens hatte er’s gut. Erster Klasse sogar. Mancher hatte es nicht so.

Was dachte er in den langen vierundzwanzig Stunden des Tages seit sieben
Jahren? Die Aerzte versicherten, Nichts. Er lächelte. Er wartete ... Es
war doch furchtbar. Der Mann des jauchzenden Lachens, der sich selbst die
Stirn mit Rosen bekränzt und das schwache Mitleid verachtete. – Nun, das
war immer schon Wahnsinn gewesen.

Den Schluss der Besichtigung bildete immer die Kapelle. Nur ein steinernes
Kreuz stand hinter dem Altar. Eine Lebensähnlichkeit, Blut und Nacktheit,
hätte die Kranken gestört. Man musste vorsichtig sein. Eine Frau in
schwarzen Schleiern weinte zu seinen Füssen. Sie bildete sich ein, die
Pietà zu sein. Sieben Schwerter des Weltwehs gingen durch ihren Busen. Sie
weinte immer – immer. Eine vornehme Frau aus reichen, guten Verhältnissen,
Mutter und Gattin. – Man liess sie, weil sie ganz sanft und ungefährlich
war.

Ein engelschönes, blödsinniges Kind, das zwischen den Bänken hantirte,
nickte und lachte geheimnissvoll. Die Geschlechter schienen hier seltsam
verwoben. Man wusste nicht, ob es ein Knabe oder ein Mädchen war. Die
Aerzte erklärten ihn für einen Adolescent von sechzehn Jahren. Er lief
überall frei umher. Die Kapelle war sein Lieblingsaufenthalt. Er bildete
sich ein, ein Chorknabe zu sein, schwang sein Räucherfass, bückte sich und
nickte und küsste dann mit Inbrunst die Altarstufen. Dieser Jüngling war
immer glücklich, von einer Serenität der Cherubim. Jeder verwöhnte und
liebte ihn.

Auch von dem neuen Patienten wurde gesprochen, diesem „Fremden“ der
Zeitungen und Verhandlungen, der sich einbildete, Christus zu sein.

Der Arzt erklärte, dass dies eine häufig vorkommende specielle Form des
religiösen Wahnsinns sei: „Wir haben hier Chiliasten, Gott Vater, eine
Jungfrau Maria, Apostel Paulus und Petrus. In Wahrheit ist dieser Mensch
ein schwachsinniger Zimmermannssohn aus dem Württembergischen. – Braucht
man bündigere Beweise, dass es Zeit ist, mit dem alten Priesterhocuspocus
aufzuhören?“

Eine der Damen sah ihn lange an: „Er hat schöne Augen ...“

Die Besucher gingen wieder. Es fing auch schon an dämmrig zu werden.

                  ‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐

Dann begab sich etwas Schreckliches, niemals Geklärtes, vor dem denen, die
es später sich erzählten, die Haare sich sträubten, wo die Vernünftigsten
den ewigen Blödsinn der Dinge zugeben müssen und stumpfe Hirne peitschende
Schauer der Unwelt fühlen.

In der Kapelle fand man den Wahnsinnigen, den Ewig-Stummen, den zum
untersten Abgrund Geketteten. Man erfuhr niemals, was ihn dahingetrieben,
wer den Andern herführte, welcher furchtbare Auftritt stattgefunden
zwischen diesen Beiden, deren Einen Keiner kannte.

Der Irre hatte den Fremden an das Kreuz gebunden. Die Stricke waren seine
Kleider, die er sich abgerissen hatte. Aus zertrümmertem Holzgeräth,
Bänken und Stühlen, hatte er Nägel, Eisentheile, geklaubt. Dieser ganz
nackte, misshandelte Leib war buchstäblich zerstossen, zerschunden,
erwürgt damit. Er stach sie ihm in die Stirne. Er schrie, er lachte. Mit
einem schweren zugespitzten Holzstück sah man ihn grosse Streiche führen
nach der Seite unter der Brust, von wo dickes, schwärzliches Blut troff:

„Du hast die Welt zerstört! Du! Du!...

„Die Schönheit hast Du getödtet, den Ruhm, die Lust!

„Sie leben noch, aber Du hast sie vergiftet. Du hast ihnen das Gift in’s
Herz geträufelt. Schlange Du! Erste Schlange! Verfluchte!

„Mit Deinen zerrissnen Händen hast Du die Kraft unsrer Hände zerbrochen.

„Deine Füsse, die angenagelt sind, haben uns festgebohrt.

„Aus Deiner Seite fliesst unser Lebensblut.

„Die Stricke umwürgen unsre Leiber und machen sie hässlich.

„Von Deiner Stirn die Dornen sind in unsre Hirne gedrungen ... Die Dornen
von Deiner Stirn! Die Dornen!“ ...

Seine Stimme erstarb in wimmernder Klage. Er hatte seine Haare gepackt zu
beiden Seiten des Kopfes. Ganz nackt, mit blutigen Händen, über und über
mit Blut beschmiert, raufte er sie aus in vollen Fäusten.

Und es war eine Aehnlichkeit, eine furchtbare, schauerliche Brüderlichkeit
in diesen beiden gemarterten, verrenkten Leibern, dem todten und dem
lebendigen, dem, der vollendet hatte und dem, der niemals vollenden
würde, ... seinen Gliedern gekrümmt und schlaff geworden durch das Sitzen,
die Schreibtischarbeit, den Händen zu fein und zu lang, die nicht mehr
fassen konnten, verkrüppelten, zagen Füssen, die das Gehen verlernt. Viel
zu hoch war diese Stirn, blass vom Gedanken, vorgeschoben über das ganze
übrige Gesicht mit allen Organen der Sinne. Die wirren Haare bildeten eine
fürchterliche, struppige Aureole.

Er riss seine Brust auf, als ob er sein Herz packte, es ihm hinschleuderte
in Hohn und Verzweiflung: „Teufel! Teufel!“

– – – Der Blödsinnige lachte, sein leises, triumphirendes Lachen. Er that,
als ob er sein Weihrauchfass schwänge, bückte sich und küsste die
Altarstufen. Die Frau in schwarzen Trauerkleidern weinte. Ein monotones,
endloses, zweckloses Weinen ...

Der Sohn des Menschen, vom Kreuz, todt, mitleidig, erhaben, sah herab.

Der Kopf hatte sich etwas zur Seite geneigt. Die Augen unter den bleichen
Lidern waren gebrochen. Aber die Lippen standen ein wenig geöffnet, als ob
Ihn dürstete. Er hielt die beiden Arme nach oben ausgebreitet. Aus seiner
geöffneten Seite unter der Brust floss das Blut.

Das Blut floss.

Es tropfte auf die grauen, breiten Steinfliesen des Fussbodens. Die
Fliesen blieben grau und steinern. Eine rothe, schmerzliche Lache hatte
sich auf ihnen gebildet. Der Stein färbte sich violett unter ihr.

Beständig aus dem blutenden, durchbohrten Herzen fielen die Tropfen.



                   Druck von Ramm & Seemann in Leipzig.



Von demselben Verfasser ist erschienen:

*Ein Narr.* Roman.                                        Mk.   3.–
*Die Jungen.* Roman.                                      "     3.–
*Misere.* Roman.                                          "     3.–
*Nixchen.* Ein Beitrag zur Psychologie der höheren        "     1.50
Tochter. Fünfte Auflage.
*Häusliches Glück.* Aus den Papieren eines Ehemannes.     "     1.50



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