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Title: Der Fremde Author: Kahlenberg, Hans von Language: German As this book started as an ASCII text book there are no pictures available. *** Start of this LibraryBlog Digital Book "Der Fremde" *** Der Fremde. Ein Gleichniss von Hans von Kahlenberg. Dresden und Leipzig. _Verlag von Carl Reissner._ 1901. DAS ERSTE KAPITEL. Es war Weihnachtsabend. Das Wetter war schlecht gewesen seit Wochen schon, keine Kälte, aber beständig sickerte von oben eine feine, durchdringende Feuchtigkeit. Der Himmel schien sehr nah an die Erde gerückt, die Grenzlinien beider vermischten sich in diesem Grau, das Alles einhüllte, auflöste, aus der Erde kroch, sich herabsenkte in wattiger, flockender Schicht. Wie durch einen Schleier gewahrte man die nächsten Gegenstände, kahle Baumstümpfe verkümmerter Weiden, Rasenflecke des Feldrains, und Telegraphenstangen. Sie folgten sich in regelmässigen Abständen wie Schildwachen einer ungezählten einzingelnden Armee, die man nicht sah, die da im Nebel lauerte, wo er sich zu verdicken schien, braun wurde, mit schwarzen Ausströmungen, die sehr lange Linien durch die Luft zogen und hängen blieben. Sie brachten einen faden Gasgeschmack in die scharfe Kälte, den Moorgeruch der aufgeweichten Felder. Seit Wochen durchschwemmte sie der Regen, unbarmherziges, Alles durchdringendes Gewässer, in dem die letzten Lebensreste des Sommers sich auflösten, verfaulten.... Irgendwo da – sehr weit ab noch – vor ihnen lag die Stadt. Manchmal hörte man Eisenbahnzüge kreischen; sie glitten rasch auf rohaufgeworfenen Dämmen mit Alarmrufen der Schiffe auf hoher See in der Nacht. Die Stille und der Nebel herrschten wieder, eine unheimliche, lastende Stille, hinter der das überreizte Ohr Lärm zu vernehmen glaubte – des Meers, oder einer Schlacht. Ein heissrer Athem streifte von da zuweilen: Menagerie, Küchengeruch, Schweiss, – diese undefinierbare Atmosphäre, die die Nähe einer grossen Stadt anzeigt, einer jener gewaltigen, überquälten Lungen des zusammengepressten Menschheitsorganismus, wo die natürliche Luft nicht genügt, verbraucht lasten bleibt, in einem Nebel, der nicht weggeht, sich erhitzt am Abend von Millionen Lichtern, neu aufsteigt jeden Morgen aus athmenden Brüsten. Lachen hatten sich auf der Chaussee gebildet. Ihre ganze Oberschicht bestand aus einem weichen, feinen Schmutz, der sich teigig an die Stiefel ansetzte, sofort krustete; und vor allem war er kalt, von einer Kälte des Eiswassers, unterer Schichten unter dem Wasser, die nie die Sonne sahen. Er trug sich schwer; auf der Höhe des Strassendammes zog er sich endlos hin, kleine Teiche bildend, Runzeln und Ränder, die Spuren unzähliger Menschenfüsse, Pferdehufe, die da gegangen waren. Manchmal schleppte sich ein Lastwagen müde vorüber. Die Räder knatterten auf dem harten Kiesgrund unter der Kothschicht. Langsam, von oben bis unten mit Schmutzkrusten bedeckt, schritten die Pferde. Unter seiner gelben Plancapotte liess der Fuhrmann misstönige Laute des Unbehagens vernehmen. An solchen Tagen trinkt man. Er hatte Eile anzukommen, sich von Neuem zu füllen mit Warmem, das von innen hitzt, die Traurigkeit wegnahm, die sich in grauer Schicht aus diesem sonnenlosen Abendhimmel herabsenkte. Auch raschere Gefährte rollten vorüber, Bäcker- oder Fleischerwagen aus den Vororten mit warmgekleideten, wohlgenährten Insassen. Jetzt liessen sie die Gäule ausgreifen, um nach Hause zu kommen, knallten mit der Peitsche im Vorgefühl der Heimathfreude, warmer Oefen und wohlbesetzter Abendbrottische. Arbeiter sah man nicht mehr. Sie hatten früher Feierabend gemacht wegen des Festes, und es wurde spät. Da und dort an den Bahnkörpern entzündeten sich Lichter. Sie konnten nicht ankämpfen und blieben wie blasse Wasserflecken in dem Nebel, der sich nur zusammenballte, dunkel wurde, vom Weissgrau des sonnenlosen Tages zum Schwarz der Winternacht, die da über die Felder herbeikam, Alles verschlingend, einpackend, bis auf die Chaussee, die sich hinzog ohne Bäume, ein endloser Landstreifen durch die Oede. Zwei Handwerksburschen zogen auf der Chaussee entlang. Es waren Arbeitslose. Der Eine war ein Böttchergesell aus Greifenberg in Pommern, der Andere zog schon seit lange so. Er hatte Drechseln gelernt. Aber das Handwerk warf nichts ab; vielleicht war ihm auch nach und nach die Gewohnheit der regelmässigen Arbeit verloren gegangen. Er war der bedeutend Aeltere. Die Beiden hatten sich in der Herberge zur Heimath in Bernau kennen gelernt und zogen nun auf Berlin zu, die grosse Metropole der Arbeit und des Verdienstes, um da ihr Glück zu versuchen. Der Jüngere war ängstlich; dennoch voll guter Hoffnungen. Er begriff es nicht, dass ein Mensch, der arbeitsam und mässig war, arbeiten wollte, keine Arbeit finden sollte. Er glaubte an ein vorübergehendes Missgeschick. Berlin sollte ihm Glück bringen, obwohl es ihm Furcht einflösste. Er war ein Junge, der zu Hause aus ganz kleinen, aber geordneten Verhältnissen kam. Sein Vater war beim Torfstechen ertrunken. Er hatte für die Mutter und drei kleine Geschwister mitsorgen müssen; alles das hielt sich über Wasser, lebte sehr respektabel. Er war ein Kind geblieben, mit runden, erstaunten Augen, die vergebens den Nebel zu durchforschen schienen, etwas ängstlich vor dem Gefährten an seiner Seite, aber doch gefügig gegenüber dessen grösserer Welterfahrung, beeindruckt vom Cynismus seiner Reden und Handlungen. Der war ein ziemlich wüster Gesell, der durch die halbe Welt gerollt war. Man wusste nicht, woher er kam, und er sprach nicht davon. Seine Papiere wiesen allerlei Bestrafungen auf, für Diebstähle, Widersetzlichkeiten. Das hatte ihn nicht gebrochen. Es lag Hohn und Trotz gegen die Gesellschaft in seiner Art, das Bewusstsein eines Ichs, der Kraft, in diesem Menschen, der mit klaffenden Schuhen über die Landstrasse stapfte, Hass gegen die Kälte, der er den Alkohol entgegensetzte, den brennenden Rausch, der besser hitzt wie Feuer. Ein gewisser Galgenhumor kam über ihn, während sein Gefährte ängstlich in seine blaugefrornen Finger pustete, die besten Stellen im Matsch aussuchte, um seine Füsse zu schonen, vor allem die Schuhe, die trotzdem schon barsten, Wasser einliessen, das sickerte, quietschte zwischen den Sohlen. Der Kumpan sah es mit gutmüthigem Spott: „Gieb’s nur auf, kleiner Richard! Das nützt Dir nichts. Das frisst sich durch Pelz und Wolle, um so mehr durch Lumpen und Löcher. Dagegen giebt’s nur eins!“ Er bot dem Andern die Flasche, die der ängstlich zurückwies. So leerte er sie selbst auf einen Zug. „Das giebt wenigstens Muck! Das ist die einzige vernünftige Erfindung in diesem elenden Hundedasein. Sie sagen, der Teufel hat sie gemacht. Mich dünkt, der Teufel, das ist der einzige wahre Heilige in der ganzen Muschpoke. Er ist mein Schutzpatron. Es lebe der heilige Satanas!“ Der Kleine sah sich scheu um, ob Jemand die Lästrung hörte. Er war fromm erzogen, gewohnt in die Kirche zu gehen des Sonntags. Die Mutter sass da und die andern alten Weiber in schwarzen, gehäkelten Kopftüchern mit dem goldbedruckten Gesangbuch. – Es war hart, dass man keine Arbeit fand. Aber er vertraute auf Gott. Und Berlin war nah, wo Tausende arbeiteten und assen. Sehr müde war er und weit konnte es nicht mehr sein. Es war, als ob Fritz Kuhlemann seine Gedanken errieth: „Ja, das ist fein, nach Hause zu kommen, wenn Einem die Olle schon in der Thür entgegenläuft! Der Junge hängt sich uns an den Rock. Auf dem Tisch dampft ein guter Happenpappen. Die Stube ist schon abgeschlossen, weil da der Christbaum steht. – So gut wird’s uns nicht bei meinem Freund Matzke. Eine fidele Bude, und Mädels auch die schwere Menge! Ich möchte wissen, ob die rothe Lene noch da ist?“ ... Er vertiefte sich in diese Erinnerungen, Saufgelage, Prügeleien, Dirnen,... während der Andre neben ihm hertrottete. Er war sehr müde. Er hätte am liebsten geweint, aber er schämte sich. „Du bist auch noch so ein Grüner. Dich werden sie schon erst hochnehmen! Wenn Du denkst, mit Gottvertrauen und Dummheit kommt man durch die Welt! Das ist gut für die, die mit einem silbernen Löffel im Munde geboren sind. Unsereiner, wenn der nicht eine Nase zehnmal so fein hat und Krallen zehnmal so lang, – dann kannst Du Dich man gleich am nächsten Laternenpfosten aufhängen lassen. Da drinne, da verstehen sie’s! Ist schon Mancher wie die reine Unschuld vom Lande eingewandert. Und wie er wieder rausgekommen ist! Per Schub mit zwei Gensdarmen neben sich. Auf Sonnenburg zu, oder Plötzensee. Ich kannte Einen, den haben sie gehetzt wie das liebe Vieh. In den Weiden und Binsen unten bei Tegel. Jede Nacht die Jagd und den ganzen Tag lang. Ob das noch ein Mensch ist! – Todtgeschlagen hatte er Einen. Todtschlagen – das ist auch dumm. Alles todtschlagen, kurz und klein! Dann wär’s noch was.“ Nun ermannte sich der Andre. „Es giebt doch aber auch noch gute Menschen auf der Welt.“ „Hast Du je Einen gesehn, dem’s auch gut gegangen ist dabei? Die Schlechten, die kommen auf, die sind hoch. Verfluchte Schweinerei!“ „Man kann’s. Wenn man ehrlich ist und arbeitet.“ „Versuch’s doch! Geh hin! Biete Deine Arbeit an. Lauf rum! Verkauf Dich für vier Groschen den Tag. Sieh doch, ob Dich Einer nimmt! En Vieh und en Esel. – Aber ein Stück Mensch! Und dann fallen Einem die Lumpen immer mehr vom Leib. Der Schutzmann hält die Augen drauf. Und wenn Du mal auf einer Bank, unter der Brücke einschläfst, hat er Dich am Kragen. Dann geht’s auf die Wache. Na, und wenn die erst ihren Stempel draufgesetzt haben! Die grosse Klappe – oder der Strick vorher und das stille Wasser!“ Der Andre war dem Weinen sehr nahe. Es war die grosse Müdigkeit und die Aufregung vor dieser Stadt, die sich näherte, wie das Verhängniss, unsichtbar, in dem Nebel, der immer dicker wurde. Ein Wagen, der vorüberfuhr, eine Equipage oder geschlossene Droschke, bespritzte sie von oben bis unten. Kuhlemann sprang mit einem Fluch zur Seite: „Verdammte Protzenbande! Ich gönnt’s Euch! Ich gönnt’s Euch! Frisst sich satt von unserm Mark und Knochen. Sauft sich voll von unserm Blut, bis sie besoffen sind und speien!“ Sie waren jetzt in der Gegend der Fabriken. Von beiden Seiten reihten sich dunkle, niedrige Schuppen um gemauerte Schlote, mit Latten eingezingelte Höfe. Man sah die schwarzen Eisenconstructionen zum Heben, die achatne Spiegelung der Fensterscheiben, ungeheure, stumpfe Massen aufgeschichteten Materials, die warteten, sich zersetzten. Aber Alles lag ganz still wegen des Festes, Alles war sehr schwarz. Der Kohlengeruch wurde bemerkbarer. Auf ihren Schienensträngen eilten die Züge der Vororte mit roten und grünen Lichtern, wie grosse Schlangen mit Augen, in die schweigende Ebene ausgeschickt. Der kleine Richard war vollkommen kaput. „Ach mein Gott!“ schluchzte er auf. „Mein Gott!“ „An den glaubst Du auch noch?“ Die Nachwirkung des Schnapses begann sich bei Fritz Kuhlemann zu äussern. Er sah roth jetzt und schrie mit erhobner Stimme: „Die olle Finte, die uns die Pfaffen aufgebunden haben, damit wir kuschen und nicht Muck sagen! Ich sage Dir, wenn’s den giebt da oben, dann kann er sich begraben lassen für das, was er gemacht hat. Ich lach’ ihm in’s Gesicht. Ich schlag’ ihm die Faust in’s Gesicht für sein feines Zauberkunststück hier!“ Die Lästrung verhallte in der Dunkelheit, die sich nicht rührte. Ein Wind schien sich erhoben zu haben, strich mit schriller Klage über die Telegraphendrähte, durch die Löcher der Jacke, in der der Kleine sich zusammendrückte. Alles blieb so, die schwarzen Fabrikgebäude, die Dunkelheit, die Kälte.... Und in der Ferne das Verhängniss, das anzog, sich näherte, etwas Schwarzes, Compactes, mit Augen ... Berlin, die Grossstadt. „Guten Abend!“ sagte eine Stimme neben ihnen. Jemand musste an ihrer Seite heraufgekommen sein. Er war wohl von rückwärts nahe gekommen. Sie hatten ihn nicht gehört, weil der weiche Schmutz alle Schritte erstickte. Und es war finster. Sie sahen, dass es ein Mann war. Er mochte in ihrer eigenen Grösse sein, nicht über Mittelgrösse. Er trug die Tracht eines Arbeiters, nicht gut und nicht schlecht, die eines Mannes, der Arbeit gethan hat und weit gewandert ist. „Guten Abend!“ sagte der Fremde noch einmal. Er sagte es mit einer ruhigen, sehr angenehmen Stimme, die aus dem Nebel zu kommen schien. Etwas von Traurigkeit und Entfernung lag in dem Klang der Stimme. „Guten Abend!“ sagte der kleine Richard. Fritz Kuhlemann brummte widerwillig seinen Gruss. Der Fremde war an ihrer Seite geblieben. Er ging denselben Schritt wie sie. Nur war es dem Kleinen, als ob der Wind ihn jetzt nicht so träfe. Er empfand das angenehm. „Es ist spät,“ sagte der Fremde. „Und es ist kalt hier aussen.“ „Das ist nun nicht gerade etwas Neues, was Du uns sagst,“ höhnte Fritz Kuhlemann. „Wenn Du eine Pulle in Deiner Tasche hast und etwas Warmes drin, thätest Du uns einen grösseren Gefallen, wenn Du uns theilen liessest.“ „Ich habe keinen Wein und keinen Branntwein,“ sagte der Fremde. „Ich komme von weit. Und es ist spät.“ „Sehr spät, um den Christbaum zu schmücken und den Aufbau fertig zu stellen. Aber vielleicht sind Sie hier herum Hausbesitzer oder haben eine Villa gemiethet und die liebe Familie erwartet Sie?“ „Ich habe kein Haus.“ „Dann würde ich Dir rathen, Freund, dass Du Dir Geld in die Tasche thust. Denn umsonst giebt’s hier nichts auf dieser faulen Welt. Und zumal in Berlin, wohin wir unsre Schritte jetzt lenken. Mein Freund Matzke kann sehr eklig werden gegen flaue Kunden. Also, Freundchen, wenn Deine Tasche wohlgefüllt ist, öffne sie und spendire Deinen guten Freunden, die im Dalles sind, in der That nicht wissen, wo sie ihr Haupt niederlegen sollen.“ „Ich habe kein Geld Dir zu geben,“ sagte der Fremde. Er sagte es traurig, mit seiner sanften, klingenden Stimme, die von sehr weit herzukommen schien. Der Rothe lachte: „Du bist ein famoser Bruder, das muss ich sagen! Schleichst hier auf nächtlichen Wegen und schlängelst Dich an andre Leute ran. Denkst Du, wir können einen Zaungast brauchen? Lass doch mal sehen, wie Du aussiehst bei dieser noblen Beleuchtung!“ Die kleine Laterne eines Zimmerhofs warf einen zweifelhaften Schein. Der rohe Bursche drehte den Fremden um. Er stiess ihm die Schulter gegen den Lichtfleck. Er sah ein blasses Gesicht. Ein bescheidner Bart umrahmte den unteren Theil. Es war das Gesicht eines Mannes von etwa zweiunddreissig Jahren. Der Fremde hatte seltsame Augen und sah ihn ernsthaft und traurig an. „Lass doch den Mann!“ sagte der kleine Richard müde. Selbst der Rothe war betroffen. „Teufel auch!“ knurrte er in den Bart. „Wo hab’ ich das Gesicht schon gesehen? Du bist ein seltsamer Heiliger, Du!... So eine Sorte Wanderprediger wohl? Ich habe mal Einen gekannt. Er war mit uns in der Herberge. Des Abends las er seine Bibel. Er that das alle Abend. Er sah dabei aus wie Du. Er sagte nichts.“ Der Fremde sagte auch nichts. ... „Er hat mir den Fuss kurirt und eingewickelt. Ich wusste, wo er sein Geld hatte. Ich hab’s ihm gelassen.“ Das Gesicht des Fremden schien berauschend auf ihn zu wirken. Er verwirrte sich in wilden Erinnerungen.... „Ein Mädchen ... Ich drängte sie gegen das Thor. Was hatte die dumme Liese sich anzustellen? Sie war doch genau wie die Andern. Hexe! – Weibervolk, die sind Alle nichts wert. „... In ihrer Karosse sah ich sie mal. Eine vornehme Dame. O sehr vornehm! Vornehmer wie eine Prinzessin. Sie sass in ihrer Karosse und wartete. Ich wollte sie ermorden. Weil ich hungrig war und kein Bett hatte. Sie war reich und sass im Wagen. Sie sah mich an. – Ich fasste an den Hut und schlich mich fort. ... Nachher brachte mir der Diener ein Goldstück. Das warf ich ihm nach in den Dreck gegen seine unverschämten Kalbswaden. „... Weisst Du, wo ich herkomme? In der Gosse haben sie mich gefunden neben einer todten Katze und einem Kohlstrunk. Meine Eltern wollten nichts wissen von der Rabenbrut. Dann haben sie mich so rumgestossen. Die hohe Polizei! Das ist eine zarte Nährmutter. Glaube mir, Bruder, es ist eine lustige Welt! Man muss sie nur lustig zu nehmen wissen.“ Er lachte roh auf. Der kleine Richard zitterte vor Kälte. Er fühlte glühende Zangen in seinen Eingeweiden. Seine Zähne schlugen aufeinander. „Nimm diesen Mantel,“ sagte der Fremde freundlich. Es war ein alter, fadenscheiniger Ueberzieher, wie ihn arme Leute tragen, auch zu dünn für den Winter. Der Junge wickelte sich mechanisch gehorchend hinein. Er fühlte die Hand des Fremden, die glättete, um ihn streichelte. Eine Art magnetischer Beruhigung ging von ihr aus. Es erinnerte ihn an die Berührung seiner Mutter. „Aber Du?“ fragte er wie betäubt. „Ich friere nicht,“ sagte der Fremde. „Dann musst Du von seltsamem Stoff gemacht sein,“ bemerkte Kuhlemann. „Dies verfluchte Wetter macht Einem die Blutstropfen im Leibe gefrieren.“ In der That war es jetzt ganz empfindlich kalt. Der Wind pfiff mit scharfem Eishauch. Unter seinem Mantel glühte der Junge. Er wusste nicht mehr, wo er war. Er phantasirte. Er war bei sich zu Hause. In der kleinen Küche war es stickend warm. Solch’ eine fröhliche Wärme! Der ganze Heerd glühte, rothglühend mit hüpfenden, spritzenden Lichtern, obgleich es dunkel war, um Petroleum zu sparen. Aus dem Suppentopf stiegen weisse, nahrhafte Wolken. Ein Duft von Aepfeln kam aus der Röhre; man hörte ihre feinen, braunen Häute britzelnd zerspringen.... Er war da. Er war ein Knabe, er hielt die kleine Schwester auf den Knieen. Er fühlte deutlich den warmen, pulsenden Körper. Das Kind hatte die Aermchen um seinen Hals gelegt. Sie warteten auf die Mutter. Er erzählte ihr von Weihnachten. Von einem alten Mann mit weissem Bart erzählte er ihr. Er trug einen grossen Sack mit Aepfeln und Nüssen über der Schulter. Er hatte ein rothes, freundliches Gesicht, und eine Birkenruthe hielt er in der Hand. Wenn man seine Sprüche nicht wusste, gab es Schläge. _Sie_ waren gute Kinder, sie konnten ihre Sprüche. Das kleine Mädchen hatte die Hände gefaltet und wiederholte sie mit halblauter Stimme. Die ganze Geschichte, die freundliche Lehrerin in der Kleinkinderschule hatte sie ihr vorgesprochen. Der grosse Bruder, der schon klug war und lesen konnte, half ein: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot vom Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzet würde. „Und diese Schatzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Cyrenius Landpfleger in Syrien war. „Und Jedermann ging, dass er sich schätzen liesse, ein Jeglicher in seine Stadt. „Da machte sich auch auf Joseph aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das jüdische Land zur Stadt Davids, die da heisst Bethlehem, darum, dass er vom Hause und Geschlechte Davids war. „Auf dass er sich schätzen liesse mit Maria, seinem vertrauten Weib, die war schwanger. „Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“ „... Denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge“ ... wiederholte der kleine Handwerksbursche mit glühenden Lippen auf der eisigen Landstrasse. Dann fing er auf einmal mit leiser Stimme an zu singen: „O du fröhliche! O du selige! Gnadenbringende Weihnachtszeit!“ „Nanu?“ sagte der Rothe grob. „Bei dem ist’s wohl nicht recht helle? Singt der Mensch hier auf der Landstrasse wie eine Lerche! Du hast doch wohl einen heimlichen Trunk zuviel gethan? So’n verfluchter Duckmäuser!“ Aber der Kleine hörte ihn nicht. Er war ganz glücklich. Er hielt seine kleine Schwester. Es war so warm in der Küche. Er fing an, an seinen Kleidern zu reissen. – Auf allen Kirchthürmen begannen die Glocken zu läuten. Die kleine Küche war voll vom hellen Schein. Sie hatte überhaupt keine Decke mehr, keine Balken und angeblakten Kalkwände. Da war der Himmel. Er war ganz offen und die Engel sangen. Sie sangen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Sie sangen sehr laut mit hellen, schmetternden Stimmen. Alles hallte davon wider. Dieser Gesang erfüllte das ganze Gewölbe des Himmels, der eine grosse, dunkelblaue Glocke war, in der goldne Sterne schwangen und spannen. Sie drehten sich sehr rasch mit langen, lichten Streifen hinter sich her in der Bahn ihrer Schwingung, die feurige Ringe bildete, Kreise und Sphären. Die ganze Glocke drehte sich, sang und schwang. Der kleine Handwerksbursche sang laut, vorwärts stolpernd im schleimigen Strassenkoth, zwischen den schwarzen Fabrikschuppen mit hohen Schloten, vor der Stadt, die rings umher anfing sich zu entzünden, wie ein Halbkreis der Hölle mit feurigen Augen. „Bist Du verrückt?“ schnauzte ihn der Andre an. „Dein Gefährte ist sehr krank,“ sagte der Fremde sanft. So war es. Alles hatte bei dem Kleinen zusammengewirkt: die langen Wochen der Angst und schlechter Ernährung, der unheimliche Gefährte, der Weihnachtsabend. Er fuhr fort zu singen. Er wehrte sich gegen den Andern in seinem Fieberrausche: „Lass mich! Du erfrierst mir das Herz. Du stösst mir glühende Messer in’s Weiche. Du bist schlecht und roh! Schlecht! Schlecht! Du bist der Teufel!“ Er war wie ein Rasender. Er fing an mit beiden Armen um sich zu schlagen. Er bäumte sich wie ein scheugewordenes Pferd. Er wollte plötzlich nicht weitergehen. Er liess sich wie ein Sack zur Erde fallen. „Halloh!“ sagte der Rothe. „Das ist eine schöne Geschichte. Nun stirbt uns der hier im Dreck. Das hetzt uns die Grünröcke gleich auf die Hacken.“ „Hilf mir ihn aufheben!“ sagte der Fremde. „Er darf nicht sterben so.“ Sie hoben ihn auf. Auch der Rothe that seine Pflicht, sanft genug für seine rauhen, frostgeschwollenen Fäuste. Die Mütze war dem Kleinen vom Kopf gefallen, Koth hatte sich in die blonden Locken gesetzt. Er entfernte ihn mit einem grimmigen Scherz: „Das würde seiner Liebsten nicht gefallen.“ Es lag da ein Steinhaufen am Chausseerand aufgeschüttet. Der Fremde hatte sich darauf gesetzt, der Junge lag in seinem Schooss mit dem Kopf an seiner Brust. Er lag ganz still und lächelte. „Ich kenne Dich wohl,“ sagte der Junge. Er sprach mit erstaunlicher Geläufigkeit, in einer hellen, klingenden Stimme des Entzückens, wie wenn Alles, was in ihm schweigsam und gefroren gewesen war, sich jetzt löste, aufthaute. „O, ich kenne Dich ganz gut. Du bist mein alter Lehrer in Greifenberg, der freundlich zu uns war. Wenn man’s gut gemacht hatte, strich er mit der Hand über den Kopf. Manchmal durfte ich ihm die Bücher nach Hause tragen. Dann bekam ich einen Apfel.... Er war alt und arm, und hatte viele Kinder, wie wir.“ „Nette Suse!“ murmelte der Rothe. „So ’ne weisse Wassersuppe!“ Der Fremde sass ganz still und hielt den Kopf des Jungen. Der lachte, er griff ihm mit der Hand in den Bart. „Du bist mein Vater, der gestorben ist,“ sagte der Junge. „Er ging des Morgens sehr früh fort. Dann trat er leise auf und zog sich im Dunkeln an, damit wir nicht aufwachen sollten. Es war noch sehr früh und sehr kalt draussen. Im Bett war es warm. Der Winter hatte grosse, weisse Eisblumen vor das Fenster gemalt. Wie hinter einer Wattenwand schlief sich’s da.... Dann ging er fort einen Morgen und kam nicht wieder. „... ‚Nun bist Du der Mann in der Familie, Richard,‘ sagte die Mutter. ‚Versprich mir’s, dass Du immer für die Schwestern sorgst, wenn Du gross bist und viel Geld verdienst.‘ „Ich verdiene nichts. Ich kann nicht sorgen für die Schwester. Meine Schwester soll nicht weinen und hungern wie die Andern, nicht frieren! Es ist so kalt ... kalt ...“ „Gott wird für sie sorgen,“ sagte der Fremde. Der Rothe lachte. „Es giebt keinen Gott,“ sagte der Junge unruhig. „Alle sagen, er ist nicht und dass es nur eine Kinderfabel ist. Wer nicht arbeiten kann und krank wird, der stirbt und verdirbt. Reiche Leute haben es gut in der Welt und sind geehrt. Die Andern holt der Teufel.“ „Amen!“ machte Fritz Kuhlemann. „Es giebt keinen Teufel,“ sagte der Fremde ruhig. „Gott kennt keine reichen Leute und keine armen. Er liebt Alle.“ Wieder lachte der Rothe, scharf und schrillend. „Ich habe Schmerzen,“ wimmerte der kleine Handwerksbursche. „Es zerreisst mir die Glieder. In meinem Kopf geht es wie eine Säge. Alle Knochen krachen. Ach, das ist die Folter! Wasser! Wasser!“ Es war kein Brunnen zu sehen ringsum, zwischen den Schmutzlachen, all’ dieser triefenden Feuchtigkeit, die von den Dächern rieselte, die Kleider festklebte am erstarrten Körper. „Ich habe Hunger,“ klagte der Sterbende. Der Fremde legte ihm die Hand auf die Stirn. Bald glätteten sich die Züge. Sie wurden heiter, fast strahlend. „... Eine Ruhe kommt langsam, das ist der Schlaf. Es kommt wie ein Schatten über eine grüne Wiese. Es ist weiss und breitet die Arme aus. Ah, mir ist wohl!“ ... Er nestelte sich dichter an die Brust des Andern. Der Fremde beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Stirn. Fritz Kuhlemann kam mit einem Blechgefäss voll Wasser. Er hatte es beim Eindringen in einen Zimmerhof gefunden. Ein wütender Hund war gegen ihn angekläfft, hatte ihm die Hose zerrissen. Seine Hand blutete vom Zerschlagen des Eises. Er sah schrecklich aus. „Er braucht es nicht. Er ist todt,“ sagte der Fremde. In der That war der Junge todt. Er sah aus wie ein schlafendes Kind. Ein süsser Ausdruck war in seinem Gesicht. „Gestorben wie ein Hund! Wie ein Hund!“ „Er ist kein Hund. Er ist schön.“ „Und Du? Wer bist Du?“ „Kennst Du mich nicht, Fritz Kuhlemann?“ ‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐ Der Mond war aufgegangen, ein ganz klarer, heller Mond, den man niemals erwartet hätte aus diesem Nebel. Er stand ruhig mit sattem, blauem Schein im Grau, das jetzt ganz ungefährlich erschien, die einförmige, milde Trauerfarbe der Nacht, eine sanfte Schwermuth der tieferen Töne und Farben des Lebens. Im Mondschein stand der Fremde. Er stand ohne Hut, im Licht, das leise fluthete. Der Mann starrte ihn an. Seine Augen traten fast aus ihren Höhlen, die Stirn unter den wüsten, rothen Haarzotteln arbeitete furchtbar. Der Fremde sah ihn an. „Du hast ihn geliebt, den da“ ... sagte der Fremde. „Er war oft müde. Du gingst langsamer um seinetwillen. Du schliefst schlecht, damit er besser läge. Manchmal hast Du ihm Brod gegeben, wenn Du selbst keins hattest. Und der Hund hat Dich zerrissen um das Wasser, das Du ihm brachtest. – Ich kenne Dich, Fritz Kuhlemann.“ „Teufel!“ stiess der Andre hervor. „Du hast ihn sehr gekränkt,“ fuhr der Fremde fort. „Aber Dein Herz war wund, als es ihm harte Worte gab. Der Pflug war über Deine Seele gegangen und hat sie zerrissen, eh’ sie wild klang und falsch. Du hast geliebt, eh’ Du hasstest.... Ich kenne Dich wohl, Fritz Kuhlemann.“ „Herr ... Herr ...“ stammelte der Bursche. „Und sie haben Alle geliebt. Deine Mutter, die Dich in die Gosse legte, weil sie kein Brot hatte, Dich zu füttern, als ihr Herz sich in ihr wand in Angst über der Qual ihrer Eingeweide. Der, der Dich zeugte in einer Stunde, wo er sich selbst vergessen, der niemals sich vergass. Gott, der die Welt gemacht hat, weil er liebte. Die Liebe ist Schmerz. Im Schmerz der Liebe liegt der Urgrund alles Geborenen.“ „Wer bist Du?“ schrie der Andre auf. Er hatte sich auf ihn gestürzt. Sie rangen miteinander, Leib gegen Leib. Der Mond stand am Himmel, kalt und bläulich. Dann sah man nur noch ihre beiden Gesichter, das des Fremden, das ruhig war, blass und ein wenig traurig, das des Mannes, der in grossen Tropfen schwitzte, dunkel blutrünstig mit roth durchschossenen Augäpfeln. Er athmete in schweren, keuchenden Stössen. Plötzlich fielen seine Hände: „Mach’, was Du willst! Tödte mich auch! Tödte mich!“ „Geh voran! Ich folge Dir!“ sagte der Fremde. DAS ZWEITE KAPITEL. Eine rothe Laterne hing über der Thür der Destille. Die Thür war schräg eingestellt nach der Strassenecke zu. Drei schlechte Eisenstufen führten hinauf. Sie hallten und dröhnten, wenn schwere, nägelbeschlagene Schuhe darauf traten. Nach der andern Seite leuchtete ein grosses Fenster. Eine breite, grüne Aufschrift zog sich quer darüber hin, auf der zu lesen stand, dass der Pfiff Bier fünf Pfennige kostete. Sonst Reklamen in grossen Lettern von Wein, Bier, Rum, Punsch, Zettel in lebhaften Farben so zusammengestellt, dass sie sich möglichst schnitten, das Auge herausforderten. Aber der Strassenstaub hatte sie ausgebleicht, Alles war von derselben schmutziggrauen Schleimschicht überzogen. Die Fenster hingen schief in ihren Rahmen. Gegen das Haus lagen schwarze, faulende Holzplanken aufgeschichtet von irgend einem Neubau, der nie fertig wurde. Die Fenster nach der Strasse zu waren durch schwere Rollbretter geschützt. In den oberen Stockwerken hatte man die Jalousien heruntergelassen. Nur die Laterne blinkte wie ein trübes, rothes Auge durch die Nacht. Es war Weihnachtsnacht. Man war lustig. Die Frau des Destillateurs hatte Fische in süsser Sauce gemacht, von denen man für fünfzig Pfennige ein Gericht bekam. Dazu gab es Punsch. Auch ein Weihnachtsbaum war geschmückt, auf den sie stolz waren. Mit Papierblumen und ein paar dicken Stearinlichtern prangte er. Im Nebenraum zwischen alten Lumpen schliefen die beiden kleinen Mädchen, die Kinder des Ehepaars. Sie hielten die Holzpuppen, die ihnen bescheert worden waren. Man hatte ihnen auch Punsch gegeben. Sie schliefen ganz fest mit feuerroten Backen, im Luftzug ihres Athems leise zitternden, langen Wimpern. August Matzke war ein schwerer Mann, erst an die Vierzig, obgleich er älter aussah, ganz und gar ruinirt, vergiftet durch den Trunk. Er war schon zweimal wegen Delirium tremens im Krankenhaus gewesen. Alle hofften, dass das sein Ende bedeutete. Aber er kam zurück, graublass, verblödet, schrecklicher als vorher. Dieser Mann hatte mit Auszeichnung seine Dienstzeit absolvirt und war zum Sergeanten aufgerückt. Bei einer Schiessübung kam er durch Unvorsichtigkeit um ein Auge. Er erhielt die Verstümmelungszulage und nahm seinen Abschied. Die Frau war aus ganz gutem Hause, eine Süddeutsche von zierlichen Formen, freundlichem, einnehmendem Wesen. Sie hatten ein ganz hübsches kleines Kapital gehabt, als sie heiratheten, und fingen nach seiner Verabschiedung eine Gastwirthschaft an. Man sagte, dass die sehr zuvorkommenden Manieren seiner Frau gegen Fremde ihn zuerst an die Flasche getrieben hatten. Jetzt war er unheilbar; das Geld ihrer Liebhaber hielt die Wirthschaft flott. Sie liessen sich nicht scheiden, weil er ihr dann ihr Eingebrachtes auszahlen musste. Er schlug sie. Sie insultirte ihn. Dann kam wieder anfallweise die alte Verliebtheit; sie schliefen zusammen. Zwischen alledem, Schlägen, Zänken, Liebkosungen, wuchsen die Kinder auf, behend und geschmeidig wie kleine Katzen, beide der Mutter auffallend ähnlich, schon spürend, horchend, zwischentragend.... Kuhlemann wurde mit lärmender Freude begrüsst. Matzke hatte schon schwer gesoffen und sah schief. Es war da noch ein älterer Mann mit breitem, krummem Rücken, der stumm in sich hineintrank. Ein junger Tapezier mit aufgebürstetem Lieutenantsschnurrbart spielte den Forschen, zog die Andern auf und scharmuzirte mit Frau Matzke. Ein Dienstmädchen aus dem Hause, eine grobe, gewöhnliche Person, kam zuweilen, um sich auch einen Schnaps stossen zu lassen, die Neuigkeiten zu hören. Ein paar zerlesene Nummern des Vorwärts und des Lokalanzeigers lagen auf dem Tisch. Im Hintergrund stand ein Klavier. Matzke als alter Soldat war Patriot und kaisertreu, er hielt das socialdemokratische Blatt um seiner Kunden willen. Er selbst liebte patriotische Lieder und erging sich, wenn er voll war, sehr gern in hochtrabenden Erinnerungen an Gravelotte und Sedan, „unsern ollen Kaiser Willem“ und Prinz Friedrich Karl, auf deren Wohl er dann die ganze Gesellschaft anzustossen zwang. Heute war er noch nicht ganz so weit. Frau Matzke hatte sofort ein Punschglas vor Fritz Kuhlemann aufgestellt und eins vor dem Fremden, der sich bescheiden mit an den Tisch setzte. Das grosse Dienstmädchen strebte neugierig näher. Sie war ein durchaus anständiges Mädchen und stolz auf ihre Anständigkeit, aber sie hatte es doch gern, wenn man sie kitzelte, Witzchen mit ihr machte. So zum Beispiel foppte sie sich stets mit Matzke, dass er sie heirathen sollte. Er wollte dann von ihrem Gelde seine Frau auszahlen und sich scheiden lassen. Das amüsirte sie königlich. „Ich möchte nur um ein Glas Wasser bitten und ein Stück Brot, wenn ich es haben kann,“ sagte der Fremde. Die Frau sah ihn erstaunt an, willfahrte aber der Bitte. Matzke schoss aus seinen geschwollenen Augen einen trüben, gehässigen Blick. „Wer’n rechter Kerl is, der is Soldat jewesen. Wer nich Soldat jewesen is, der is überhaupt kein Mann nich, sag ick!“ Er wiederholte das mit der Faust aufschlagend gegen den Tapezier, der sich damit belustigte, ihn aufzuziehen. Er schien sich damit das besondre Wohlwollen der Frau Matzke verdienen zu wollen, denn er blinzte ihr zu. Die grosse Hanne juchzte lärmend auf. „Un eene volle Pulle liebt er ooch, was ’n rechter Mann is? Was Aujust? Tapfre, olle Kriegsgurgel?“ Der Trunkenbold stierte ihn giftig an, that aber Bescheid. In der Hülflosigkeit seines benebelten Gehirns gegen die Kniffe und Finten des Andern blieb ihm nur dies eine Bedürfniss, zuzuschlagen, seine Fäuste zu gebrauchen. „Kanonen ufffahren und derzwischen jepfeffert, denn würden sie schon fertig mit det Jesindel!“ „Und Du wärst der commandirende Jeneral von det Janze! Herr Aujust Matzke mit dem schwarzen Adlerorden da vorne aus der Weste.“ Der Tapezier amüsirte sich königlich. Frau Matzke zog verächtlich die Lippen. Das Dienstmädchen bog sich vor Vergnügen. „Ick sage: Wer seinen Kaiser nich ehrt, der is kein deutscher Mann, der jehört in den Schweinestall.“ „Sieh man zu, dass Du nich selber zuerst reinbummelst, oller Freund. Wer so schwach uff seine eijnen Beene steht, sollte man ja nich so forsch jejen Andre losziehen.“ „Ick nich fest uff meine Beene! Ick bin Dein oller Freund nich. Ick will Dich lehren, mir Aujust zu heissen. Aujust Dir wat in Deine unjewaschne Schnauze. Du – Du – Hurenjäger Du!“ Er hatte sich schwerfällig erhoben und griff nach der Stuhllehne, um sich daran festzuhalten. Der Tapezier lachte, er gehörte zu Frau Matzke’s eleganten Freunden, die den Haushalt im Gang erhielten. Der Mann in der braunen Weste rührte sich nicht. „Aber August! so lass doch!“ machte die Frau gelangweilt. Sie zwinkerte Wernicke zu, Hanne in ihrer sicheren Ecke am Büffet erstickte fast vor unterdrückter Heiterkeit. Sie fand das einen ausgezeichneten Spass. Nun wandte sich der Wüthende gegen sie, die Ehebrecherin, in den unfläthigsten Ausdrücken. „Ick will Dir ... Ick will Dir ... Hure ... Hure ... Hure!“ Er sah schrecklich aus mit den sabbernden Lippen, seinen blutunterschossenen Augen, von denen das eine, künstliche, immer gerade blieb, glotzend, ungeheuerlich. Das Wort in seinem dumpfen Laut des Stiergebrülls wiederholte sich. Er packte sein schweres Bierseidel; es flog dicht an ihrem Kopf vorbei in die Fensterscheibe, die splitternd zerbrach. Der Ton schien ihn vollends wahnsinnig zu machen. Er ergriff eins der Seidel nach dem andern und fensterte sie in das Glas. Leere und halbvolle Flaschen flogen nach. Man hörte die Scherben auf dem Strassenpflaster sich knisternd zusammenhäufen. Gleichzeitig drang die kalte, klare Winterluft ein. Der Tapezier weidete sich an seinem Heldenstück. Hanne kreischte, die Hände vor den Ohren, dachte aber nicht daran zu flüchten. Der andre Gast blieb ganz stumpfsinnig. „Das giebt ein nettes Christkindchen für morgen. Na, ich bin nur froh, dass ich die Rechnung nicht zu bezahlen brauche.“ Der junge Mann griff nach seinem Hut und Paletot, einem eleganten Paletot mit Sammetaufschlag und hellem Futter. Er hing ihn immer so, dass man das Futter sah. „Ich gehe jetzt, Frau Matzke. Adieu auch. Ich werde erwartet.“ Sie sagte nichts. In der Thür drückte sie ihm die Hand sehr stark, ihre Nüstern bebten. „Nimm Dich in acht!“ ... Durch den Thürspalt nach der Kammer guckten die beiden Kinder. Der Lärm des klirrenden Glases hatte sie aufgeweckt. Sie witterten eine Scene, und waren nun dabei, neugierig, erwartungsvoll. Matzke hatte seine letzte Bierflasche dem Abgehenden gegen die Thür nachgeschleudert. Sie zerbrach auf dem Fussboden in ihrer braunen Sauce. Frau Matzke fing ruhig an, die Unordnung des Fensters zu repariren. Sie steckte eine weisse Bettplane auf; sie kannte das schon. „Nanu? Hier is wohl Polterabend heut’?“ sagte eine lustige Stimme. Es war ein Mädchen. Sie trug gescheitelte Haare und ein einfaches Umschlagetüchelchen. An einer gewissen Unordnung des lose gewundenen Nackenknotens, der zerschlissenen, rothen Seidentaille erkannte man die Leichtfertigkeit ihres Berufs. „Ich konnte nicht früher kommen, habe auch den Kindern noch was mitgebracht.“ „Ach Lene! Lenchen!“ In ihren Hemden drängten sie sich um sie. Das Mädchen küsste sie leidenschaftlich. Frau Matzke sah zu. Fritz Kuhlemann lachte. „Geht’s Geschäft auch heut’ Abend?“ fragte er boshaft. Der Fuhrmann starrte sie an. Lene Hoff war der eigentliche Grund, weshalb er jeden Abend kam. Er hätte nie gewagt, es ihr zu sagen, ausserdem wusste er ja, dass sie unter Sittenkontrolle stand. Die grosse Hanne zog eine höhnische Fluntsch. Sie hatte das Mädchen nicht begrüsst, als sie eintrat, stand jetzt, einen Arm in die Hüfte gestützt, und musterte sie von oben bis unten. Dann drehte sie sich nach der Thür zu: „Ich muss jetzt raufgehen. Es ist meine Zeit.“ Sie beschäftigte sich sehr viel mit der jungen Prostituirten, ihren Toiletten, ihrem Thun und Lassen. In ihren Gedanken stand sie weit unter ihr; sie war ein anständiges Mädchen. Lene pustete sich in die Finger. Sie war immer ein bischen genirt, so lange die Grosse da war. „Kalt ist’s. So’n Weihnachten! Lustig sein! Wir wollen Klavier spielen.“ Sie hatte sich an’s Klavier gesetzt. Ein Tanz wirbelte hervor unter ihren flinken Fingern. Niemand tanzte. „Das ist nichts.“ Sie stand wieder auf, schloss den Deckel. Sie näherte sich Fritz Kuhlemann, kraute mit der Hand den untern Teil seines rothen Schopfes: „Na Du?“ ... Die ganze gewerbsmässige Schmeichelei ihres Berufs lag in dem Ton, vielleicht noch mehr. „Bist so eklig heut’, geh! Spendirst mir nicht mal was?“ „Seh’ ich Dir nach Spendiren aus?“ Man hörte die Leidenschaft aus seiner Stimme. Diese Liebkosung einer Frau stachelte ihn. Er verschlang sie mit den Augen. Sie hatte sich auf seinen Schoss gesetzt. „Armer Kerl! Keine Chance. So viel Pech gehabt.“ Er zerdrückte ihr die Lippen mit einem brutalen Kuss. „Du – frech biste!“ Sie sah den Fuhrmann an. Dieser Mann hätte sie geheirathet. Er hatte vier Kinder zu Haus. Aber ihr graute vor der Langeweile. Ihr Vogelgehirn arbeitete schon auf einer andern Spur wieder, sie hatte den Fremden entdeckt. „Wer is denn der?“ fragte sie Frau Matzke. Die Frau zuckte die Achseln. „War der Josef hier heute?“ „Er ist eben fort.“ „Ach darum ...“ Das Mädchen kannte die Leidenschaft der Freundin. Der schöne Tapezier hätte ihr auch gefallen. Sie seufzte. „Oed’ ist’s heute. Ich bin vorher gegangen und hab’ mir die Christbäume angesehen. Christbäume, das ist so rührend. Einen ganz grossen sah ich mit Lametta wie Haare. Das möcht’ ich haben.“ Sie hatte sich wieder an’s Klavier gesetzt. Ein Weihnachtslied klang aus den Tasten. „Hübsch war das, die Engelchen und Schäfchen in der Krippe. Ich hab’ das mal gesehen, wie ich klein war. In der Kirche.“ Sie wandte sich wieder an Kuhlemann. „Sag’ mal, Du hast nicht einen Nickel für mich? Zu einer neuen Schleife für den Ball am Sonntag. Kommste mit zum Ball, Schätzchen?“ Er drehte ein zerfetztes Portemonnaie um vor ihren Augen: „Da sieh.“ ... Der Fuhrmann warf einen Thaler auf den Tisch. Hart klang das Metall auf der Holzplatte. Alle sahen auf. Frau Matzke hatte ihren Besen, mit dem sie die Scherben zusammenfegte, hingestellt. Die Lene war näher gekommen wie ein naschhaftes Kind. Der Thaler lag da, und blinkte – brutal, schmutzig gleissend. Sie sog lang den Athem ein. „Du rührst nicht dran!“ schrie Fritz Kuhlemann. „Wenn man selber keinen Pfennig hat, hat man nichts dreinzureden,“ entschied Frau Matzke schneidend. Der Andre wartete, schwerfällig, lauernd, wie ein Jäger, der das Wild in der Falle hat. „Ich schlag’ ihn todt!“ Ein scharfes Lachen der Frau traf den Burschen wie ein Hieb. Das Mädchen war wie ein lüsternes Mäuschen noch näher gekrochen. Die feinen Zähne blinkten zwischen ihren gespitzten Lippen hervor. Der Trunkenbold machte einen scheusslichen Witz: „Wer das Geld hat, hat das Recht,“ bestimmte Frau Matzke. Sie streckte die Hand aus. Ein gurgelnder Laut wie Tigergebrüll entrang sich der Brust des Burschen. Der Fremde hatte die Hand auf den Tisch gelegt. Diese feine, blasse, bläulich geäderte, abgezehrte Hand bedeckte das Geldstück. Sie bildete eine Weisse auf der mit Bier- und Fettflecken besudelten Tischplatte. „Komm’ zu mir!“ sagte der Fremde. Er hatte sich aufgerichtet. Er stand ganz gerade. Die andere Hand, die nicht das Geldstück deckte, streckte sich gebietend vor. „Komm hierher!“ befahl der Fremde. Sie kam. Sie gehorchte. Wie mit durchgeschnittnen Flechsen schleppte sie sich. Sie kroch. Plötzlich schlug sie beide Hände vor’s Gesicht, mit einem dumpfen Schmerzenslaut sank sie in die Knie. „Nimm Dein Geld!“ Der Fremde hatte den Thaler ergriffen. Er schleuderte ihn nach der Thür. Das Silber schlug hart auf, kugelte sich im Weiterrollen. Der Fuhrmann bückte sich gierig danach und verschwand. Fritz Kuhlemann stand mit unter der Brust gekrampfter Hand. Es war der Blick des Mörders, mit dem er sah, der Bestie, des wilden Thieres. „Geh!“ Er ging. Der Trunkenbold lachte auf mit einem hässlichen Gluckser. „Ein Schmatzchen, Haseken. Du – Du ...“ Er griff schwankend in die Luft. Es reichte nicht mehr, wie ein Bleisack sank er schwer zusammen. „Leg ihn schlafen,“ sagte der Fremde. Das Weib schnellte gegen ihn an wie eine gereizte Viper. Dann gab sie der schnarchenden Masse einen verächtlichen Fussstoss. „Vieh!“ Sie stiess ihn gegen die Kammer mit rachsüchtigen Püffen und Tritten, dann nahm sie ihren Besen und kehrte wüthend. Die kühle Nachtluft strich durch den schweren Fuseldunst. Alle Lampen brannten. An den Wänden hingen patriotische Bilder, Reklameschilder mit Emblemen der Arbeit, eine schwere Faust, die den Hammer emporhält, einem Tischler an der Hobelbank. Jemand hatte allerlei Unfläthigkeiten angeschrieben. Dazwischen machte sich ein widerliches, süsses Moschusparfüm fühlbar, der von dem Mädchen ausging. Sie hatte die Hände vom Gesicht genommen. Sie schielte zwischen den Fingern wie ein unartiges, gescholtnes Kind. Es erschreckte sie, dass sie so allein waren. Sie begriff nicht. „Sie sollen nicht weggehen! Der Dicke würde mich heirathen. Vier Göhren hat er zu Haus. Hundertundfünfzig Mark im Monat und die ganze Einrichtung. – So Einer; der’s Einem hinterher alle Tage vorwirft! Zweiundvierzig Jahre ist er schon, krumm wie’n oller Zumpelbär. Der drückt Einen ja todt. Taps, dämlicher!“ Sie lachte leichtfertig, ihre blonde Mähne schüttelnd, die Augen eingekniffen. „Der Andre, Wernicke, der ist ein ganz Feiner. Gestärkte Hemden trägt er sogar am Alltag. Er kriegt auch einen guten Lohn bei Krüger. Er ist der Erste da, der Alles allein macht. – Dieser Fritze! Das ist so komisch. Komisch ist der!“ Ihr Lachen rang sich auf in hellen, klingenden Trillern. Sie lachte, dass ihr die Augen übergingen. Ihr ganzer Körper krampfte sich unter dem Lachen. „Alle Leute haben mich gern, weil ich immer lustig bin. Und Kinder! – das is immer Leneken hier, Leneken da! Wir haben eine alte Frau im Haus, die lahm ist und zu Bett liegt. Ich bringe ihr Kaffee und Chocolade. O, ich thue auch das Meine. „... Wie die vornehmen Damen, die aus dem Wagen steigen, die Näsen kraus ziehen.... Beten und trocknes Brot und Arbeit. Als ob wir’s nicht wüssten, wie die’s treiben! „Warum ist denn Unsereins schlecht? Weil’s einen schlechten Rock anhat, einen billigen Hut trägt. Die sind nicht besser wie wir! Pfui!“ Sie spuckte aus. „Einen Spatz hatte ich mal, den ich unter’m Baum fand. Hier im Kleid unter der Brust trug ich ihn. Den schlugen mir die Jungen todt. „Schweine sind die Männer! Ach, solche Hunde! Hunde! Nicht mal Geld geben sie Einem. Aber schlagen! Sie stehlen’s noch von uns.“ Ihre Fäuste krampften sich megärenartig. Das junge Gesicht wurde erdfahl, verzerrt. „Ich hab’ Klavier spielen gelernt. O, ich hatte mal Einen in der Georgenstrasse. Der war sehr gebildet. Sogar Verse hat er auf mich gemacht. ‚Du hast ja die schönsten Augen, Feinsliebchen, was willst Du noch mehr?‘“ Sie wiederholte die Worte liebkosend, den Oberkörper wiegend wie im Tanze. Sie blähte sich eitel. „Warum sprichst Du nicht mit mir? Wenn ich einen Vater gehabt hätte, eine Mutter, kleine Kinder – – – „Ich bin ganz zufrieden. Was kommt auch drauf an? Man schlägt’s so um die Ohren. Lustig gelebt und fröhlich gestorben, das ist dem Teufel die Rechnung verdorben. „Tanzen, Zuckerzeug, fein riechen! Hübsche Kleider! „Eine Freundin von mir ist im Spital gestorben, Becker’s Lene, die lange. Sterben ist grässlich. Huh! Huh!“ Sie fing wieder an, ihr Gesicht zu verstecken. Sie rutschte auf den Knieen hin und her. Sie gab kleine Töne von sich, wie ein gescheuchter, flatternder Vogel. „Du machst mir Angst. Sprich doch. Guck mich nicht an! Guck mich nicht an!“ Sie streckte beide Arme aus, wie unter dem Schrecken einer Erscheinung. Sie bog den Kopf zurück. Ihre Augen weiteten sich starr. „Ich bin mal in der Wiese gewesen. Blumen wuchsen so reinlich mit weissen Gesichtchen. Auf dem Teich fuhren Schwäne. Grüner Wasserliesch schwamm. Wo sie fuhren, wurden dunkle, tiefe Flecken. Das hörte man gar nicht. Ueberall theilte sich der Sumpf. Klar war’s und dunkel ... „Ich will Dir noch etwas sagen, was kein Mensch weiss. Ich hätte ein Kindchen gehabt, aber es ist nicht zur Welt gekommen. So gross war’s, todt und feucht. Es hätte nicht gelebt und nichts zu essen gehabt. Mein kleines Bübchen! Mein todtes, kleines Kindchen! „Manchmal denk’ ich, die Sterne, wenn die so funkeln, dass man dort sein könnte. Alles weiss an mir runter.“ ... Sie strich an sich herunter mit glättenden Händen. Sie strich, als ob sie all’ ihre Gewänder abstreifen wollte. Wie im Fieber gingen die dünnen streichenden Hände. ... Das Hälschen über den zarten, fallenden Brüsten reckte sich wie ein Lilienstengel. Eine Bläue war in den Augen, die nicht mehr vom Leben war. Die Lippen seufzten wie die Jemandes, der trinkt. Sie trank – trank – trank. Der Fremde sagte nichts. Seine Hand legte sich auf diese junge, noch weisse Stirn. Zart und gütig lag sie, ganz leise. Unter der Hand sank die Frau zusammen. Sie wurde klein. Sie wurde ein Wurm, der sich am Boden schleppte. Sie weinte. Sie drückte sich ganz dicht an seine Füsse. Ihre Thränen tropften auf seine Füsse. Ihre blonden Haare hatten sich gelöst und fielen über ihr gebeugtes Haupt und seine benetzten Füsse. Er rührte sich nicht. Sie weinte – weinte. Frau Matzke war mit dem Besen in der Hand in der Schlafzimmerthür erschienen. Sie stand da mit einem harten, steinernen Ausdruck, unbeweglich. Man hörte das tiefe, röchelnde Schnarchen des Trunkenbolds, unschuldige, tiefe Athemzüge der Kinder. Jemand wartete in der Strasse mit einem weissen, elenden Gesicht. Er hatte die ganze Nacht gewartet. Nun war es Morgen. Der Fremde rief den Burschen. Draussen begann schwerfällig, schlafbetäubt das Leben sich zu regen. Lastkarren fuhren müde. Einzelne dunkle Gestalten huschten. Man sah die lange graue Breite der Strasse mit Häusern zu beiden Seiten, unzähligen Fenstern und Thürluken, unter dem trüben Himmel, von dem es leise wie Thau tropfte. Der Fremde wies auf die weinende Frau: „Geht!“ Sie gingen. Sie geknickt, an seine Schulter gelehnt mit schwankenden, irren Schritten. Er hochgehobenen Hauptes, sehr ernst und sehr gerade. Frau Matzke in der Thür ihres Hauses sah sie sich entfernen. Sie sagte gar nichts. Sie nahm ihren Besen wieder auf und fegte. Man sah die Silhouette ihres gebückten Rückens, die wüthende Wucht der Besenstösse, mit denen sie den Staub aufwarf und in die Schaufel schob. Sie fegte. DAS DRITTE KAPITEL. Man fürchtete, dass der Zudrang zu der Versammlung ein sehr grosser würde. In Folge dessen war die Schutzmannschaft reichlich aufgeboten. Man gab Achtung, den Saal auf die Minute eine Viertelstunde vor der anberaumten Zeit zu schliessen. Viele sahen sich so ausgeschlossen, auch ergab das einen Vorwand, die Galerie nicht freizugeben. Man führte den Krieg mit diesen kleinen Mitteln seit einiger Zeit, obgleich eigentlich das Verhältniss ein gutes, fast behagliches war. Sie kannten sich so genau, die Gewohnheit des häufigen Zusammentreffens hatte einen förmlichen kleinen Comment herausgebildet, bis auf die ganz regelmässig wiederkehrenden Witze. Man hätte sich fast vermisst, wenn man sich nicht vorgefunden hätte. Der Riesenhund des Wirths trieb seine Allotria dazwischen mit einer ganz kleinen Hündin, einer proletarischen Mischung aller Rassen, die von jeder die Hässlichkeiten angenommen hatte. – Ueberdies waren es genau dieselben Typen, die da Wache gingen, als Ueberwachte eintraten, Blonde, nicht schlecht genährte, bourgeoise Ruhe und Anständigkeit, dazwischen einige knallfarbige, federbewallte Hüte der Genossinnen. Die Frauen überhaupt drängten sich vor, zeigten sich aufgeregter als die Männer; es war bekannt, dass einige der Führerinnen eine Zunge führten, die ihre männlichen Kollegen im Schach hielt. Einige Parteiveteraninnen hatten sich an den Eingang des Saals postirt. Da Viele noch immer aus- und eingingen, deckten sie die Thür mit ihren breiten Rückseiten. Sie warben für ihren Verein, überwachten den Verkauf der Zeitungen und Broschüren, die auf kleinen Tischchen aufgeschichtet lagen. Dazwischen wurden Bons zur Unterstützung armer Abgeordneter feilgeboten. Die Kellner circulirten mit Bierseideln. Alle rauchten, sprachen durcheinander. Von weitem, mit den schwarzbehuteten Köpfen, die auf- und untertauchten, ergab das den Eindruck eines heftig bewegten Sees, der gegen die Tribüne andrängte, sich staute. Man erwartete den Anfang der Versammlung und wurde ungeduldig. Die dichten Rauchschwaden brachten eine lila mystificirende Beleuchtung mit in das ordinäre, gelbe Gaslicht. – Es waren da Leute, die ruhig ihre Butterbrote und Häringe verzehrten, Andre sprachen von Parteiangelegenheiten, ihren kleinen und kleinsten Privataffairen. Ein junger Mann mit einem rothen Shlips und einem Apostelkopf stand neben der Thür. Er sah krank aus und blickte mit glänzenden, unirdischen Augen in das Leere, als ob er etwas Wunderbares sähe. Die Parteiveteraninnen behaupteten, dass unter den Anwesenden Spitzel wären. Sie versuchten sie ausfindig zu machen, mit den Fingern zu zeigen. Einige Studenten waren augenscheinlich für einen Ulk hergekommen. Es waren Fremde da, die Keiner kannte, und eine junge Dame in eleganter Kleidung ganz allein, die man ansah, was sie da suche. Im Ganzen war es eine sehr guterzogene Menge, friedlich, ohne Aufregung, fast bourgeoismässig. Der Saal war der banale grosse Festsaal der mittleren Restaurants, weiss mit Gold, rothsammetner Rampe. Da wurde auch Theater gespielt und getanzt. Es war nicht schlechter wie für die Bourgeois bei ähnlichen Gelegenheiten, man war höflich und kam in weissen Handschuhen. Auch das Thema der Einberufung bot nichts Besondres. Es war die jährlich wiederkehrende Einbringung der Militairvorlage von Seiten der Regierung. Man wusste im Voraus, dass sie durchgehen würde. Der Protest geschah rein berufsmässig, aus Princip. Und man wusste, dass es für Jahre so gehen würde. Die Aufregungen, das Märtyrerthum, aber auch die Hoffnungen der ersten Jahre waren verschwunden. Die junge Partei hatte zu leben gelernt, fast konnte man sagen, Manieren gelernt. Man nahm, was man kriegen konnte. Man war stark, zahlreich, wohlorganisirt, das Odium war weggenommen, ebenso der Heldennimbus. Man hatte nicht mehr die Angst zu sterben, aber auch nicht die Aussicht zu siegen; man „entwickelte sich“. Zurufe begrüssten den Eintritt des grossen Mannes, in Wahrheit eines ganz kleinen Männchens. Alles das ging rasch, wenig theatermässig. Nur das Antlitz des Johannes leuchtete auf. Er drängte sich an den Bewunderten, um seine Hand zu schütteln. Eine Leibgarde, die Veteraninnen, hatten ihn sofort eingezingelt, beinah protzenhaft, mit dieser Miene: „Wir gehören zum Haus“, die Unberufene einschüchtert. Nun wurden die Formalitäten rasch erledigt. Einige Witze fielen gegen die Polizei, die die Galerie gesperrt hielt. Man kannte sich zu gut, sehr alte Feinde, Gladiatoren, die sich jeden Tag treffen und beinah Freundschaft gemacht haben. Der Saal war voll zum Ersticken. Es waren Männer zumeist, Männer mittleren Alters. Die Jugend, wie überall, zog es vor, sich zu amüsiren. Oder man liebte Radauversammlungen in Rixdorf, Charlottenburg, den Vororten. Dies war eine wohlgeschulte, ausgediente Armee, ihr Capitain der sprach. Der grosse Mann auch war alt geworden, sehr alt. Das Feuer, das seine Jugend gefährlich und unwiderstehlich gemacht, hatte sich gewöhnt, für den Hausbedarf zu brodeln. Er wusste sich zu beherrschen jetzt, dessen Leidenschaftlichkeit einst sein Ruhm und sein Fluch gewesen war. – Im gleichmässigen Tonfall flossen die Sätze, periodisch, deutlich hörbar in der geübten Stimme des Redners bis an’s äusserste Ende des Saals. So war er sachlich geworden, ein Typus, wie so mancher Andre, den die Gegner fast vermissen, sich mit Rührung seinen leeren Platz zeigen, wenn er nicht mehr da ist: So focht er, und so führt’ ich meine Klinge. – Auch die Rede hielt sich genau in den Grenzen. Ein Rückblick auf die immer sich steigernden Forderungen, die Entwicklung des Militarismus in Europa. Das neue Friedensmanifest des Zaren erregte Ironie. Man brauchte die Armeeen für die Söhne der oberen Zehntausend, das Niederhalten der revolutionären Bewegung. Wieder der gefährliche, ironische Beifall. Sie wussten das wohl – sie! Nur einmal erhob sich die Stimmung zu einer gewissen Grösse. Der Redner hatte Aeusserungen zur Philosophie des Krieges angeführt, von Moltke, Treitschke, General von Boguslawski. Dann wurden statistisch die Verluste in der Industrie seit siebzig nachgewiesen. Eine halbe Million! Mehr wie alle Kriege! Wir brauchen keine künstliche, gewaltsame Schöpfung, um uns männlich und kraftvoll zu erhalten. – Ein Ausruf begleitete diese lange Liste von Blut, Verstümmelung, Asphyxie, Marter, – ein Schrei des Schmerzes, aber auch der Kraft, imponirend in dieser friedlichen, mittelmässigen Masse. _Sie_ waren diejenigen, die sein mussten. Sie würden sein. Da war die Grösse der Partei, das Selbstbewusstsein des thätigen, unreflektirenden Lebens, die Haupterrungenschaft der modernen, demokratischen Zeit. Und das wird bleiben. Ein früherer Pastor sprach nach dem grossen Mann. Er hatte seine Stellung aufgegeben um seiner politischen Meinung willen, verwahrte sich aber ebenso gegen die Partei. Er entwickelte des Längeren seine Ansichten. Er glaubte an Gott, war königstreu. Seinen Traum bildete eine Art christlich-sociales Königtum. Man hörte zu, nicht gerade unhöflich, aber ohne Interesse, leicht ironisch. Und er war confus, quasselte. Es lag etwas Gefährliches in dieser höflichen Ironie selbst. Man hatte das zu oft gehört. Man glaubte sowas nicht mehr. Den Beschluss machte ein Anarchist. Er hatte wenig Glück, die Parteiveteraninnen protestirten von vornherein. Die Rede war ein krauses Sammelsurium, eine Gesellschaftsordnung auf nur natürlicher Grundlage, freie Geschlechtswahl, mit einer seltsamen Verquickung von naturphilosophischen Dingen, abstrusem Mysticismus. Man rief ihm Schweigen zu, pfiff, trampelte mit den Füssen: „Schliess auf! Halt’ die Schnauze!“ Man wollte das nicht, man war Polizei für sich selbst. Wenn Einer das Martyrium der Lächerlichkeit auf sich nehmen wollte, desto schlimmer für ihn selbst. Sie schüttelten sich das von den Rockschössen. Sie hielten auf ihre neue, sauererworbene Respektabilität. Der Verhöhnte stand einen Augenblick, blass, mit einem kränklichen Lächeln, stotternd. Dann stieg er unter allgemeinem Gelächter die Tribüne herunter. Die Versammlung löste sich auf in bester Ordnung. Der Abgeordnete wechselte mit den Polizisten einen Gruss. Er war sorgfältig in einen gestrickten Wollshawl eingewickelt, er litt an Katarrhen. Der Sergeant lächelte gutmütig mit Bezug auf den letzten Redner. „Verrückter Kunde! Wir lassen ihn laufen“ ... Sie hatten ihn schon so oft eingesteckt. Da war nichts zu machen. Und er war ungefährlich. – Beide Gewalthaber schieden im besten Einvernehmen. Hätten sich die Machtverhältnisse eines Tages umgedreht, diese Gegensätze würden ruhig in ihren beiderseitigen Functionen bleiben können. Es wäre dasselbe gewesen. Der Pastor vereinigte sich mit dem berühmten Führer. Er sprach eifrig auf ihn ein. Mit einer gewissen Nachsicht des alten Praktikers unterbrach ihn der Andre nicht. Schliesslich – diese Leute thaten seine Arbeit. Am Strassenausgang stand ein Fremder. Er stand da und sah sie an. Sie sahen ihn Beide, der grosse Mann und der Pastor. Auch die Polizisten sahen ihn. „Wer war der Mann?“ fragte der Pastor. Der Abgeordnete zuckte die Achseln. „Ich kenne ihn nicht.“ Er hatte Eile, nach Hause zu kommen. Er musste sich schonen. „Ein grosser Mann,“ sagte der Johannes ekstatisch. Ihn fror. Er stand da am Ausgang und hatte die Hände in die Taschen gesteckt und sah ihm nach. Seine Backenknochen glühten. Er musste husten in sein Taschentuch. Wenn er es wieder herunternahm, war es immer voll Blut. Er wusste das schon. „Was er sagt ist wahr. Er versteht’s.“ „Ein grosser Mann,“ sagte der Fremde. Die ganze Masse schob an ihnen vorüber. Die Veteraninnen sprachen sehr laut. Sie hatten die Kasse abgeschlossen und entrüsteten sich über wieder einmal constatirte Gnietschigkeit. Eine wollte sich noch zu Hause Puffer backen. Sie gaben Parolen aus für den nächsten Tag und Rendezvous in den Vereinen. Die Studenten wollten noch zum Bier, die eingenommene Quantität hatte ihnen nicht genügt. Man war froh, sich zu bewegen, die Beine auseinander zu setzen, nachdem man drinne eingepökelt gewesen war wie Pökelhäringe. Einige Damen riefen nach einer Droschke, sie gehörten zur Frauenbewegung und besuchten dergleichen aus Princip. Man truppte zufrieden nach Haus. Man hatte seine Pflicht gethan und ihr Häuptling hatte seine Sache gut gemacht. Es gab Keinen, der über diesen Mann ging, und die immer zunehmende Stimmenzahl bei den Wahlen. Das war das grosse Kampfmittel. Es liess sich nachrechnen, wie das stieg von fünf Jahren zu den nächsten fünf Jahren. Dann kam auch der Anarchist. Er trug einen ganz dünnen, kleinen Sommerpaletot und ging, als ob er gar nicht wüsste, wo er wäre. Seine vagen, schweifenden Augen trafen den Fremden und den Johannes. Es lag eine nachdenkliche, zärtliche Wehmuth in dem Blick, eine Bitte, oder als ob er sich entschuldigen wollte, dass er anfragte – aber man wusste nicht, ob er überhaupt wirklich sah. Er war noch nicht alt, aber er sah hungrig aus, mehr vom Hunger des Geistes, als vom leiblichen Hunger. So hatte er etwas von einem Kind, oder auch von einem hülflosen getretnen Thier. Er seufzte und blickte in das Laternenlicht. „Es ist schon elf Uhr,“ sagte der Anarchist. Er schauerte und kroch tiefer in seinen Ueberzieherkragen. Er hatte einen sehr weichen, hellen gelben Hut auf, der in weitem Rand von seinem Kopf abstand. Seine Haare fielen gerade über seine Ohren und waren lange nicht geschnitten. Wenn er sprach, lächelte er jedesmal, ein schüchternes Lächeln, wie von Einem, der im Unrecht ist und doch etwas Gutes und Wichtiges sagen möchte. Dann hatte er ungeschickte Bewegungen, wie von einem Wurm, und hüpfte zuweilen auf einem Fuss, als ob er stolperte. Der Johannes ging auf der andern Seite. Er hustete. Er war ganz selig im Gedanken an diesen grossen Mann, dessen Hand er gedrückt hatte, der so gut sprach, eine Stimme war, auf die man hörte, für die armen Leute. Die gebildeten, sachlichen Sätze hatten ihm imponirt. Sicher! Das wandte sich zum Bessern, wenn einfache Gerber- und Brauergesellen sprachen wie der! Er trug seine rothe Cravatte wie ein Triumphzeichen. Mehr konnte er nicht thun. Aber das Blut seines Herzens war darin. Er fühlte seine Lungen brennen und flattern unter ihr. „Es ist immer am schlimmsten des Abends,“ entschuldigte er sich. „Das thut der Rauch. Sie sollten nicht rauchen im Saal. Es strengt auch die Stimme an, wenn man sprechen muss. Und er hat zwei Stunden gesprochen. Das ist bewunderungswürdig für solch’ einen Mann!“ Er war rührend in seiner Zärtlichkeit für diese Stimme, den Mann, der sprach, während er nur husten konnte, unnütz sein Blut ausspie, in das Taschentuch, das sich färbte, klebrig wurde zwischen seinen dünnen, fiebernden Fingern. Sie waren gelb wie aus Wachs und gezeichnet von aussen durch die harte Arbeit, roher, oberflächlicher, als durch die Krankheit von innen, die sie zehrte, fein machte, spiritualisirte. „Wir werden es ja nie erleben,“ sagte er friedlich. „Aber die Andern, die nach uns kommen! Einen Tag haben wir genug Stimmen im Reichstag. Sie können nicht mehr an gegen uns. Dann wird Alles gut sein. Wir werden die Gesetze machen. Es giebt keine Kriege mehr. Alle Völker sind Brüder. Man arbeitet. Man lebt“ ... Er hustete heftiger wieder, sich abwendend, um den Andern den Anblick seiner Schwäche zu ersparen. „Ich – ich hasse die reichen Leute nicht. Sie wissen es nicht besser. Es sind Viele, die es gut meinen. Man wird Gesetze finden. Das geht ganz von selbst, ohne Revolution und Blutvergiessen. Die Soldaten sind ja auch auf unsrer Seite. Nur Zeit braucht’s. Man hört. Man liest Bücher. Die Vernunft muss ja ihren Weg finden. Es ist nur schlecht eingerichtet. Man hat die Religion gehabt, den Aberglauben. Die Menschen sehen jetzt, wie es wirklich ist. Man kommt vorwärts. Man bildet sich. Alles geht gut. Die Gerechtigkeit muss aufkommen.“ Alle diese kleinen Sätze sagte er ruhig, sanft, ohne Aufregung, von Hustenanfällen unterbrochen, die ihn quälten, seinen Körper schmerzhaft zusammenkrümmten, wie aufgespiesst an einer glühenden Nadel. Sie gingen in dem Strassengetriebe vorwärts. Es trieb sie ohne ihren Willen. Vielleicht wussten sie gar nicht, wohin sie gingen. Eine alte Frau in einer schwarzen Pelerine wackelte vor ihnen her, enorm wie eine wandelnde Glocke. Einige hatten Regenschirme aufgespannt. Sie sprachen von Geld: „Wenn man dreissig Pfennige die Stunde verdient, aber fünfundvierzig müsste man haben.“ Ein junges Mädchen trug einen grossen Carton. Sie trippelte und sah hinter sich nach drei jungen Burschen, die sich lärmend stiessen. Die Laternen schwammen wie gelbe, ausgeflossene Dotterflecken, schaukelnd. Der Schmutz mit dem geschmolzenen Schnee bildete eine bräunliche, zähe Masse. Eine leere Droschke fuhr sehr dicht am Trottoir, als ob der Kutscher Kunden suchte. In den Destillationen discutirte man oder spielte Billard. Man sah die grauen Hauswände feuchtigkeitstriefend mit Ladenschildern und Plakaten, Pferdebahnen, die klingelnd trotteten mit müden, geduldigen Pferden. Aber Alles ungewiss, wie verwischt, unruhig, in Schatten ... „Man müsste es machen wie die Thiere,“ sagte der Anarchist. „Thiere sind klüger wie Menschen. Sie haben keine Gesetze und keinen Staat. – Aber es giebt auch eine Seele. Ich habe Todte gesehen, die wiedergekommen sind und mit den Händen in der Luft zeichneten. Nun, ich habe die Königin Luise gesehen. Sie ist zu mir gekommen am Weihnachtsabend und hat mir eine weisse Rose geschenkt. Eine weisse Rose, die duftete. Sie kommt oft zu mir. Der Kaiser Friedrich kommt auch, und Napoleon und der Kaiser Alexander. Ich weiss nicht, warum sie zu mir kommen. Aber sie kommen.“ Er lachte, ein kleines, ungewisses, eitles, ungläubiges Lachen. Es sollte um Entschuldigung bitten für ihn. Im Grunde war er stolz. Es gab so viel Dinge. Er wusste nicht ... „Man fühlt sie, wenn man nicht viel gegessen hat. Und Jeder fühlt sie auch nicht. Manche Menschen schlafen auch die ganze Nacht. Ich zum Beispiel, ich kann sehr oft nicht schlafen. Dann denke ich über Alles nach. O, es giebt sehr viele Sachen! Wenn man wüsste ... Vielleicht ist es auch nicht gut. Man muss essen. „... Die Thiere sind klug. Und die Kinder. Sie wissen alles Mögliche, diese Kleinen. Aber sie können nichts sagen. Die Todten können auch nichts sagen. Viele glauben nicht, dass es ein Leben nach dem Tode giebt. Nun, diesen kann man auch nichts sagen. Das ist Alles Gnade, wem es gezeigt wird. Und Viele wollen auch nicht sehen. Ich, ich glaube zum Beispiel an eine Seele.“ ... Nervös, schüchtern sagte er das, mit einer schweren, etwas singenden Stimme. Er war wohl gewöhnt, dass man ihn oft für verrückt hielt. Vielleicht war er auch etwas blödsinnig. Aber das waren seine Geheimnisse. Er war stolz auf sie andrerseits. Oft erfüllte ihn eine schlechte Eitelkeit. Er kam sich dann besser wie andre Leute vor, eine strahlende und durchgeistigte Persönlichkeit. Häufig war er auch traurig und verachtete sich. Er hatte oft nichts zu essen. Der Hunger und die Gedanken hielten ihn wach des Nachts. Sie waren so auf einem freien Platz angelangt, wo die Strasse aufhörte. Gerade über diesem Platz stand der Mond. Aber er war hinter den Wolken. Die Wolken umwellten ihn, zogen rasch über ihn her. Manchmal versteckten sie ihn ganz. Dann war es noch dunkler, wo er stand. Oder er war am Rande ein heller Fleck. Selbst wenn er ganz von ihnen befreit war, zeigte sein Rund schwarze Flecken wie Wollfasern, hingeworfene Schwämme. Diese Wolken zogen sehr rasch und wechselten ihre Form fortwährend. Manchmal waren sie Kameele, hüpfende Känguruhs oder grosse Schildkröten. Oder auch nur Dämpfe, gezupfte Watte. Auf dem Trottoir kämpften die Laternenstrahlen. Aber das Gas war unruhig im Winde, flackerte hin und her. Metall blinkte zuweilen oder eine Fensterscheibe funkelte schwarz polirt. Weisse Kanten von Gesims oder Mauern leuchteten urplötzlich auf im Dunkeln. Festes schien zu gleiten und Unbewegliches bewegt. Ringsum schlief die Stadt, Dach an Dach und Schornstein über Schornstein. Aber das fratzenhafte, lügnerische Wesen liess sie nicht schlafen. Es webte und irrte. Eine letzte Pferdebahn hielt am äussersten Ende des Platzes. Die Pferde waren noch nicht eingespannt. Sie stand unbeweglich. Der Kutscher mochte wohl einen Schlaf halten im Innern des Wagens, bis seine Zeit war. Sie waren alle Drei stehen geblieben. Die beiden Männer sahen den Fremden an. Sie sahen ihn an, als ob sie warteten. Sie standen da und warteten, fröstelnd, etwas benommen, zwinkernd in das Halblicht ... Der Eine war halb aufgefressen vom physischen Leiden. Den Andern trieb die Rastlosigkeit vorbei und weiter. Alle Beide hatten dieselben cernirten, etwas blöden Augen von einem unbestimmten, sanften Grau mit grünlichen Lichtern, Augen von Nachtthieren, die man mit einiger Ueberraschung entdeckt, weil ihr Funkeln irreführte im Dunkeln, – Schultern, die getragen hatten, und zu hohe, weitoffene Stirnen über fliehenden, demüthigen Unterpartien gutartiger Hunde. Sie warteten. DAS VIERTE KAPITEL. Er ging auf’s Land. Er kam durch Dörfer, die sich lang hinstreckten in einer einzigen Strasse. Oder eine andre zweigte sich ab vom Mündungsplatz, sehr ausgefahren, in einer flachen Tränke endigend am Waldrand, gleich sehr einfachen, primitiven Verdauungsorganen ganz untergeordneter Thiere. Es gab ärmliche Häuser, abseits im Koth stehend mit zerfallnen Stacketen und windschiefen Mauern, wohlgebaute, schmucke, die steinerne Treppen vor der Thür hatten; weisse Gardinen umrahmten die Fenster über blühenden Töpfen. Recht in der Mitte war die Kirche gebaut. Ueberall hatte man da zuerst die Todten begraben, eh’ man anfing sie hinauszutragen weit abseits in gleichgültiges Flachland. Uralter Epheu kletterte empor nach dem verwitterten Holzthurm. Eine runde Zifferscheibe zeigte die Stunde mit eingerostetem eisernen Finger. Des Abends riefen die Glocken und antworteten sich. Vor dem Wirthshaus stand irgend ein hundertjähriger Baum, eine Ulme oder Linde. Sehr oft war sie schon ganz zerfressen, eine Seite fehlte, dass man hineinsehen konnte, wie in einen hohlen Ring. Aber oben trieben die Aeste noch grüne Ruthen. Die Alten betrachteten sie sorgenvoll, aber die Jungen dachten, dass sie etwas Heiliges wäre und das Glück ihres Dorfes davon abhinge. Die Hühner scharrten in den Fahrgeleisen. Das Vieh wohnte friedlich neben den Menschen. Die Kühe tranken aus der steinernen Tränke am Brunnen. Sie auch waren heilig, freundlich, der Reichthum ihres Besitzers, und sahen mit ruhigen Augen wie Berechtigte, die ihren Weg kennen. Kleine Kinder liefen dem Wandrer nach in ihren Holzschuhen. Oder sie nahmen die Schuhe in die Hand und folgten so auf den blossen Füssen. Sie liefen mit, so lange sie Lust hatten, und kehrten dann um, wenn sie müde waren. Sie standen, den Finger im Mund, mit grossen Augen, sagten gar nichts, und sahen ihm nach. In den Feldern war man an der Arbeit. Männer stiessen die Pflugschar, langsam, sehr langsam hinter dem Pferdegespann, das sich wie ein Schattenriss abhob vom grauen Frühlingshimmel. Die Erde wellte sich hier in grossen Hügeln, wie Wogen eines Meers, das die Fluth verlassen hat. Man sah den Pflug mit dem Gespann aufsteigen und niedersinken. Manchmal war er in den Schluchten ganz verschwunden; er kroch langsam und steil hinan in runder Schwingung um die Schwellung des Bodens. Rhythmisch drehte und wandte er sich, dem stärkeren Rhythmus der Erdmassen folgend. Ins Graue, Harte schnitten die blanken Schaufeln, es aufwerfend in blanker, oben gekräuselter Scholle. Sehr dunkles Bauernbrot hat diese Farbe. Es duftete vom Frischgebacknen. Die Pferde schritten geduldig. Sorgsam, merkend auf Zahl und Curve der Furchen lenkte der Pflüger. – Sie waren geschritten so seit Jahren. Ihre Väter hatten gepflügt. Die Erde war da, und die Menschen waren vergangen, zur Erde gekehrt wieder. Geheimnissvoll in verschwiegenen Furchen keimte die Saat; kleine, schüchterne Hälmchen aus dem festen, lagernden Erdreich. Krähen strichen kraxend über die Felder. Ganz oben zogen Schwärme wilder Gänse in mystischer Keilreihe mit schrillem fernen Kreischen. Der Wind klang wie brauendes Tosen und Kollern, Kobolde und Trollen aus dem Norden, Vorgeborner, Eddabewohner. Er kam durch Bergland. Da waren die Menschen arm und wenige. Sie wohnten dicht zusammengedrückt in Thälern oder an den Abhängen. Die Berge reckten sich hoch, Kuppe an Kuppe. Runde, langgestreckte, mit breitem, fichtenbestandnem Rücken, oder sie trugen Laubwälder, braun und grün, die ihre Umrisse verbargen. Fast kahle gab es, von Gestrüpp, ganz jungen Hölzern bestanden, zwischen denen man Korn gesät hatte, um den Boden fruchtbar zu machen. Schneisen öffneten Ausluge in grüne Wirrnisse, neue Seitenthäler und auf hohe ernste Wände. Am Wege rankte Brombeergesträuch und man sah zwischen Farrenkräuter wie in grüne, niedrige Dome unter den hohen, wo Elfen hätten spaziren können, Thau schlürfen aus blauen Glockenblumenkelchen oder Honig melken aus den gelben Blüthenrüsseln der wilden Bienensaug. Holz schlug man da in grossen geschichteten Würfeln. Jedes Stück trug den Stempel, die Nummer. Manchmal aus einem verwachsenen Seitenweg zwischen den hohen Gräsern kam ein Arbeiter, der seiner Heimath zustrebte, Bergleute oder Hausirer, stille Leute und gewohnt im Dunkeln zu finden. Durch fruchtbare Ebenen kam er, wo Dorf an Dorf sich drängte, Hof neben Hof, stattliche Höfe mit rothen Ziegeldächern und steinernen Ställen, weiter Einfriedigung für das Gelände. Obstgärten bildeten den Reichthum der Gegend. Selbst das Vieh war schöner, fett und glatthäutig, wie die Leute, die in steifen Trachten gingen, mit seltsamen Hauben und Mützen, weiten Röcken und verschnürten Stiefeln. Die Kinder truppten zur Schule steif und artig. Alles war numerirt und eingetragen vom Landrathsamt. Man sah die neue Bahn ohne Ehrfurcht. Man wusste, was man werth war, und wünschte nicht, dass eine Vermischung stattfand. ... Manchmal ging er sehr früh am Tage. Alles war grau, grau wie im Wasser gewaschen und noch nicht getrocknet wieder. Die Feuchtigkeit sass in der Erde wie in einem Schwamm. Die Luft war zu schwer noch, dass sie ausdampfen konnte. Kleine Kiesel blinkten gewaschen, braun mit stumpfen Steingries in der Mitte. An jedem Grashalm hing ein Tropfen. Unzählige, unendlich winzige Tröpfchen bildeten einen feinen, weiss-grauen Seidenschleier auf seiner klebrigen, mit kleinen Härchen besetzten Oberfläche. Die Kräuter streiften feucht beim Durchschreiten. Man fühlte die Erde sich ansetzen und schwer werden unter den Schuhen. Der Wind blies mit einem Geruch von frischer Wäsche. Zwischen rothen Steinfassungen einer Brücke floss breit ausgelaufen ein Mühlbach. Niemand wusste, ob es regnen würde, aber inwendig war ein Tropfen und Sickern, die Thätigkeit des Wassers, das filterte, sich einsackte. Der Wind erhob sich in den Pappelkronen. Sie verbeugten sich und neigten ihre schlanken Ruthen gegeneinander. Die Ruthen rieben sich und wechselten sehr schnell in der Berührung, wie Tasten eines Klaviers, die man nacheinander anklinkt, ein Spiel der Stäbe, die Zeichen geben, eine Botschaft weitertragen. Die ganze lange Reihe hindurch lief die Bewegung. Sie schüttelten die Köpfe, rauschten und raunten. Erst kam es nur wie ein feiner, leichter Wasserstaub, ein Schleier im Gesicht, den der Wind nach Laune vor- und zurücktrieb. Graue Huschen zogen rasch wie Watteballen in der Luft. Dann wurde es wie ein leises Stossen, wie wenn es in einem Kessel anfing langsam zu kochen. Man hörte das Klatschen auf nackte glatte Häute der Blätter. Aber es kam noch nicht durch. Sie schützten wie ein Regenschirm. Es rieselte, rauschte, tropfte, plätscherte ... Es regnete. Im Frühlingsregen ging man wie in einer grauen Tarnkappe. Alles erschien ohne Farbe, sehr jung noch, wie eben ausgebrütet, als ob die Eihäutchen noch herum wären, eine Fötuslandschaft. Das Nass begoss, trieb, schwellte. Unter den Fusssohlen sickerten Lachen. Alles Grün wurde grell, fast giftig. Die Blumenkronen schienen grösser, vom Wasser beschwert. Fast schwarz glichen die Baumrinden aufgebrochner Erde. Ein lauer Schweissgeruch des Brütens lagerte. Unter den Steinen höhlten sich Löcher. Alle Steine schienen dunkler. Ihre weissen Aederchen und Brüche zeigten sich sehr deutlich. Die Steine waren nicht steinern und die Tropfen schlugen sie. Dann kam ein gelber Schein von irgendwoher. Er flatterte auf wie ein Vogel. Es war ein Spiel der Lichter ohne eine Quelle des Lichts, ohne dass man wusste, woher die Strahlen kamen. Grosse Flecken von Klarheit rissen ein und vergrösserten sich im Grau. Alles ging sehr rasch, wie das Anschlagen eines Instruments, ein Finger, der sehr schnell über Saiten läuft. Es giebt einen Klingklang hier und da, aber noch keine Melodie. Die Regenstriche schienen blank und sprühend. Einen Moment funkelte Alles. Ein Regenbogen stand sicher geschwungen über der Landschaft, ein zweiter verschwamm zitternd im Grauen. Die Vögel fingen schüchtern wieder an zu piepen. ... Man sah keinen Menschen des Abends. Ueber die Felder zogen Nebel. Am Waldrand schien sich’s zu brauen, zusammenzurotten. Man unterschied die einzelnen Bäume nicht mehr. Es waren Alles Rundungen, wie Hammelrücken, Riste flockiger Widder sehr eng zusammengepresst. Das wiederholte sich unendlich. Es schien wie ein Meer, das da angewachsen, festgenagelt war, dunkel, drohend, gierig, immer dieselbe Form in immer tieferen Schatten, Röthen, Violetten, die der Tag nicht kannte. Das drang vorwärts, frass sich weiter, eine schlechte Anziehung schien von ihm auszugehen, etwas von Hexenkraft, Räthselhaftigkeit, Unerlöstem. Sehr sanft schmiegten sich die Saaten. – Ein Reh trat heraus. Es äugte mit merkenden Lichtern, spitzte die Horcher, eh’ es sich zum Aesen bückte. Dann kamen mehrere. Man glaubte den leichten Anschlag ihrer Hufe auf dem Rasen zu hören, wie sie sich bewegten, malmten. Nun wurde Einem wohler. ... Die Kastanien trieben eidicke Knospen. Blättchen an Blättchen faltete sich in drängender Enge, rundlich, breiter am Grunde und spitz zulaufend im Abschluss. Der klebrige Lebenssaft hielt sie alle zusammen. Zartbraun waren die äussren, wie dünne abfallende Schalen, die ihren Dienst gethan haben. Die inneren blieben weiss und lichtgelb, wie feines Fleisch der Eier, das man isst. Er fand einen jungen Mann unter dem Kastanienbaum. Er hielt ein Buch auf seinen Knieen, aber er las nicht. Er sprach zu ihm: „Warum liest Du nicht in Deinem Buch, das Du hältst?“ Er sprach: „Dieses Buch habe ich gelesen, viele Bücher, alle Bücher der Welt, die ich finden konnte. Ihre Worte sind Buchstaben und ihr Wissen ist Worte. Jetzt lese ich gar nichts mehr. Ich bin nur hier und studire den Baum. „Recht herrlich anzusehen ist dieser Baum. Aufgepflanzt auf starken Wurzeln, unter der Erde gegründet wie über ihr. Der Mittelstamm reckt sich stolz und gerade. Jedes Jahr weitet sich der Ring. Eine Schnur fügt sich mystisch zur Schnur der gewesnen, die die Vergangenheit zeichnen, und jene Zukünftiges. So entsendet er Aeste ringsum im Kreise nach allen vier Richtungen der Sonne, dass die Sonne sie bescheine und wachsen macht. Kleine Zweige schiessen auf von den grossen, aus knorrigen Höhlen, wo das Geheimniss der Geburt sich erneuert. Diese wieder theilen sich in fächernde Finger. „Keine Regel scheint in dem Ganzen und stolz giebt er die Rundung des Erdballs wieder. Fast flach breiten sich die untern tragenden Aeste. Die mittleren reichen an den Kreis des Aequators. Zum Pole der Spitze fügen sich in schärferer Steigung die oberen. „Und Alles lebt. Die Wurzel entsendet die Kräfte, die die Aeste leiten. Zur äussersten Spitze des ärmlichsten Stieles steigt pulsender Saft, der schwärt und gebiert. Ohne Ende ist dieses Leben, grossmüthig und doch sparsam. Es scheint zu schlafen und wirkt doch in der Stille. Prangend steht es in der Blüthe und sicher reift doch die Frucht. Es giebt kein Meistern an seiner Form und Bestimmung. Denn Alles ist meisterlich von Anfang gegründet wie es sein muss, bis er stirbt, sein Tag um ist, da er lebte.“ Er sprach: „Bist Du also weit und hast Du dies Alles erkannt, so will ich Dir mehr sagen, das wichtiger ist denn Werden und Sterben. Lass Dein Buch und den Baum und folge mir.“ So folgte ihm dieser. Zwei Brüder, Maurermeister, lebten in einer kleinen Stadt. Sie lebten dort schlicht und redlich, waren verheirathet und hatten Kinder. Ihr Gut mehrten sie täglich und sie hatten zusammen ein schönes Haus gebaut, dass sie dort auf ihrem Eignen sässen und ihre Tage friedlich endeten. Sprach der Eine zum Andern: „Was hilft es uns nun, dass unser Gut sich mehrt von der Arbeit unsrer Hände, unser Haus fest und stattlich steht? Wir müssen doch sterben. Die Zeit reisst es ein, was wir gebaut haben.“ Der Andre sprach zu seinem Bruder: „Ich kenne einen Fremden, der Worte weiss stärker wie das Leben. Was er meint, bindet keine Zeit. Mauern fassen es nicht, die stärker sind wie unsre.“ Er sprach, der der ältre Bruder war und der Weiseste von Beiden: „Diesen Mann muss ich hören. Und wenn ich alle meine Güter dahintenlasse, was das Herz froh macht, ein Weib und junge Kinder. Es ist wichtiger, dass ich habe, was ewig bleibt. In sich bauen, dass man fest wird, ist mehr denn Häuser bauen, die der Sturm einreisst.“ Diese Beiden gingen und suchten den Fremden auf. Sie waren aber redliche Leute, wohlgeachtet von allen Menschen und von nachdenklicher Gemüthsart, wie es das Handwerk mit sich bringt. Denn ein Maurermeister in seinem Handwerk, so er es recht versteht und ernst nimmt, ist etwas vom lieben Gott und Schöpfer selbst, der die Welt geschaffen hat. Er hält in seiner Hand Thon und Mörtel. Was er baut, soll für Jahre und Jahrzehnte sein, wohlgegründet und ausgemessen in allen seinen Theilen, dass nicht das Hohe auf das Niedrige falle, der Boden nachgiebt unter zu schwerer Belastung von Schnörkeln, Pfeilern, buntausgemalten Fenstern. Alle diese und Andre, an der Landstrasse, sah und fand der Fremde. Manchmal, wenn Viele beisammen waren, an einem Wegrain oder auf der Rasenhöhe über dem Teich, sprach er zu ihnen. Er sprach ihnen von der Armuth des Reichthums und wie die gering sind und Knechte, die streben und hochstehen. Von den Thörichten des Herzens und den Armen im Geist sagte er ihnen süsse, geheimnissvolle Worte. Und von der Güte der Unklugen, die weiser ist denn Weisheit und stärker denn Stärke aller Gewaffneten und Starken. Kleine Kinder umstanden seine Kniee und sahen zu ihm auf mit grossen, unbewussten, gläubigen Augen. Sehr alte Leute nickten in tiefen Meditationen. Mütter hielten sich lächelnd an mit ihren Säuglingen an der Brust, die nach der nährenden Zitze lallend griffen, sie patschten mit ihren rosigen Händchen. „Die Liebe kennt kein Gesetz. Sie ist über dem Gesetz. Alles Gesetz ist in ihr.“ „Gieb! Man wird Dir nicht stehlen, wenn Deins ist wie Deines Bruders und Deines Bruders wie Deins.“ „Die Unkeuschheit ist nicht in der That. In der Scham schon ist Sünde. Der Gedanke der Wollust schlägt und beschädigt.“ „Nicht das Wort ist Lüge, der Eid betheuert nicht. Eure Rede sei klar, weil Euer Denken Wahrheit ist.“ „Der Hass, der keinen Widerstand findet, erlahmt in ihm selbst, wie der Stein, der geworfen wird und in’s Wasser fällt.“ „Und widerstrebet dem Uebel nicht.“ Die kleinen Blumen blühten mit tiefen, duftenden Kelchen. Feiner wie köstlichste Seide waren ihre Blättchen. Die Staubfäden standen wie brennende Kerzen, Goldkrystalle edelster Kronleuchter. Auf grünen Stengeln trugen sie ihre Häupter wie Kronen. Die Luft war schwanger von ihren Düften und die Winde trugen ihre Samen. Die Vögel kamen sorglos und pickten ihre Nahrung. Im Gras athmeten Cicaden und Mückchen, Käfer, Gewürme – ein tausendfältiges Leben. „Warum sorget Ihr Euch? Alles Leben findet seine Nahrung. Alles Lebendige erfüllt seine Bestimmung des Lebens. Ihr sorget und sammelt Schätze. Die Motten zerfressen sie und der Rost, die Diebe graben danach und stehlen.“ „Der Reiche ist arm und der Arme ist reich. Stark ist, wer fest steht in sich selbst. Der weise geworden ist in Gott, dem haben Stürme, Hass der Menschen und Noth nichts an. Die Welt ist dem Menschen gegeben. Ueber der Welt steht der Mensch, der die Welt in sich trägt. Gott ist in Euch und Ihr seid Gottes. Erwacht zu Eurer Herrlichkeit! Ein königliches Volk, ohne Könige, Herren Alle und Freie, die Ihrer selbst Herr geworden sind.“ Sehr schön war er mit seiner strahlenden Stirn, dem melodienreichen Mund, dem die Worte entströmten, die Hände lang und fein mit heilender Berührung. Seine Worte klangen lieblich wie Musik. Und in ihnen war die Tiefe. Der blaue Himmel spannte sich über ihn, blau, ganz blau, in immer lichterem Blau bis zur lächelnden Sonne, über die Erde gestellt mit grünsammetnem Rain, – einen König im schlichten Bettlergewand, einen Gebietenden auf dem Feldstein seines Throns. Die Leute kamen von weit, ihn zu hören. Etliche sagten: „Es sind Gedichte. Wir haben das schon oft gehört, so oder so.“ – Aber sie hatten viel zu thun und gingen. Viele sagten: „Das ist Alles Lüge. Träumereien sind das.“ – Sie erklärten lange, wie es besser zu machen sei mit dem Aufhören der Militairlasten oder einer neuen Steuerordnung oder indem man die Güter anders vertheilte. Sie waren die Klügsten. Aber die Meisten gingen hin und thaten weiter, wie sie vorher gethan hatten. Und war Niemand, der ihn verstand. DAS FÜNFTE KAPITEL. Es begab sich, da er müde war, setzte er sich nieder an einem Brunnen. Ein sehr lieblicher Platz war es. Weidenzweige hingen tief wie feine wehende Schleier. In der gemauerten Höhlung hörte man es murmeln vom schwärzlichen, verborgnen Wasser. Alles Gras ringsum war grün, sammetgrün mit Schatten, wie der Wind es wehte oder die Sonne fiel. Eine Stille war in der Luft, diese Klage der Feuchtigkeit, die der Nacht vorangeht, denn es war Abenddämmerung. Nur die Heimchen zirpten. Man hörte das Locken der Vögel, aber befriedigt, nur mehr wie ein Glucksen. Die Winde auch kamen sacht, mit etwas lebhafterem Rauschen oben in den Baumkronen. Er setzte sich auf die Steinbrüstung des Brunnens. Eine Frau kam. Sie ging langsam und hielt eine Reitgerte in der Hand. Der Saum ihrer grauen Amazone fegte schleppend den Boden. Sie führte ein weisses Pferd am Zügel. Es trat so leicht auf, dass man seinen Hufschlag nicht hörte, den Kopf hielt es gesenkt, als wollte es sich bemühen, die Saatsprossen zu erhaschen, und schnoberte leise aus rosa feinen Nüstern. Ein Windspiel sprang auf ihrer andern Seite. Es streckte zuweilen wie liebkosend seinen schmalen spitzen Kopf in ihre hängende Hand. Sie ging in tiefen Gedanken. Ihre Haare waren in dicken Flechten gewunden, weit unten im Nacken aufgesteckt, als ob sie zu schwer wären für ihren schmalen Kopf. Sie ging sehr langsam und hielt die Augen zur Erde gerichtet, wie wenn sie suchte. Sie suchte mit der schwanken zitternden Spitze der Reitgerte auf dem Boden. Der Hund lief neben ihr und sah sie an. Er versuchte ihre Augen zu fangen. Aber sie antworteten seinem Blick nicht. Sie ging und führte das weisse Pferd am Zügel. Ganz weiss, mit gesenktem Kopf folgte es, ein edles, geduldiges, sehr feines Thier. Gerade über die Wiese kam sie, zu der Quelle, wo der Fremde sass. Sie seufzte. Gegenüber am Brunnen sass der Fremde. Und sie sah ihn nicht. Sie hob die Augen auf und sah ihn. „Warum bist Du unglücklich?“ fragte der Fremde. „Ich bin unglücklich, weil ich glücklich bin. Ich habe Alles, was die Menschen Glück nennen. Ich wohne in einem Schloss im Reichthum. Meine Eltern hielten alle Sorge fern von mir. Ich habe einen Mann, der mich anbetet, gute Kinder. Doch bin ich unglücklich. Ich gehe zu diesem Brunnen, um Ruhe zu finden, weil mein Schmerz sich auflöst in dem der Natur, der über diesem Ort lagert. – Warum ist sie unglücklich?“ „Weil sie sterblich ist und vergänglich.“ Die junge Frau seufzte tiefer. Die Zweige der Weiden rauschten auf wie leichte, faltige Frauengewänder und fielen zusammen. Der Hund schob liebkosend seine kalte Nase ein. Ueber die Felder trug der Wind die Klage der Weiden und geheimnissvoll in der Tiefe gluckste und murmelte das Wasser. „Sind wir es nicht auch? Vergänglich und sterblich? Der Tod ist in Allem. Das Schöne hat keine Dauer. Die Leidenschaft flieht. Der Tag unsrer Kraft ist der unsrer Güte. Wenn wir krank sind, sind wir selbstsüchtig, schlecht, Andre quälend und gequält von ihnen. Aller Anstrengung Ende ist der Tod.“ „Es giebt etwas über dem Tod,“ sagte der Fremde. „Es giebt etwas,“ sagte sie in sehr tiefen Gedanken. „Ja, es muss etwas geben. Man denkt nicht daran, wenn man glücklich ist. – All’ diese Tiefen – diese Schmerzen! Diese Schmerzen müssen unsterblich sein.“ „Die Schmerzen sind unsterblich.“ „Die Ahnung des Unendlichen – diese Sehnsucht hinaus! Es ist das Beste, was wir haben. – Es ist sehr schmerzlich.“ „Leiden ist schön.“ „Ja, es ist schön. Ich möchte nicht ohne es sein. – Doch die Andern sind glücklicher. Warum gab man es uns nicht wie dem Thier zu leben? wenn es aus ist, Sterben ohne Bewusstsein?“ „Nichts stirbt. Alles Leben lebt unvergänglich.“ „Sie auch, diese Bäume? Die Wehmuth dieser Felder? Es gäbe eine Vollkommenheit für sie? Eine Erfüllung? Wo ist sie?“ „Ahnst Du sie nicht? – Sieh in die Weite!“ ... „Manchmal ahne ich sie. Etwas wie einen Zusammenklang, einen verlornen, fernen. Ich weiss nicht. ... Es ist das Leiden, die Sünde: Einer hat Einen getödtet. Man tödtet ihn wieder. Er leidet. Ist er nicht erlöst? ... Aber es sind so viele Andre. Sie gehen hin und leben, correct, alltäglich“ ... „Sie sind weitab.“ Sie sprach wie im Traume. Der Hund, zu ihren Füssen gelagert, sah sie an mit treuen, klugen Augen. So beweglich waren sie, dass die Lichter fortwährend wechselten wie in einem Spiegel. Im Grase weidete das weisse Pferd. Man hörte es die zarten Halme abrupfen, sie zermalmen zwischen starken, höckrigen Zähnen. Und von Zeit zu Zeit wieherte es leise, wie wenn es antwortete, als röche es den Frühling. „Ja, ja,“ sagte sie athemlos. „Ich weiss nicht. Aber es muss auch sein. Man quält auch Thiere. Sie leiden und sie ahnen. ... Was ist es?“ „Wenn Du wüsstest, wäre es das?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, man muss es finden, selber in sich finden. Dann ist es der Friede. Ein Glück über dem Glück, Erfolg und Schande, Reichthum und Armuth, – das ist Alles so gleichgültig. Es ist über dem Allen.“ Sie sah den Fremden an. Die junge Frau mit zarten, spielenden Fingern strich langsam die Säume ihres Kleides entlang. Ihre Augen verschleierten sich in dem Schleier, der über die Felder ging. Es war, als ob die Farbe der Felder in sie eindränge und es bliebe nur _eine_ Farbe in ihren Augen und in der der wehenden Saaten. In der Curve ihrer Schultern fand sich die gesenkte Kruppe des weissen Pferdes. Die graue Seidenhaut des Windspiels schmiegte sich wollüstig, verloren in die Kleiderfalten. Das Wasser fiel in kleinen plätschernden Cascaden, oder es ruhte sich lange aus, in Pausen, wo nur das Unterirdische murmelte, die kleine Stimme von Tropfen, die höhlen, klopfen. „Manchmal fühle ich, als ob ich gar nicht mehr Ich bin. Eine hässliche Kröte. Eine Tigerkatze. Ich bin ein Wesen, was vor vielen tausend Jahren war und hundertmal gestorben ist. Ein Thier und ein Gott. Vom Thier zu Gott. Das ist der Weg.“ „So ist es.“ „Ja, ich habe gelebt,“ sagte sie sehr leise, liebkosend. „Ich habe gemordet. Ich habe gesündigt und triumphirt. Vielleicht habe ich am Märtyrerpfahl gestanden. Und es machte mir Freude, meine weisse, feine Hand in Blut zu tauchen, bis sie roth war. – Ich sah einen Mann einmal. Er war ein Strolch und ein Mörder. Er auch, war ein König. In seinem Auge las ich den Stolz der Starken. Wir kannten uns so gut, wie wir uns sahen. ... Das ist seltsam.“ „Nichts ist seltsam.“ „Nichts! Nichts!“ wiederholte sie inbrünstig. Eine feine Röthe schlug von ihrem Hals auf wie Sonne unter Lilienblättern. „Gar nichts ist seltsam. Manchmal in Büchern, in der sehr grossen Kunst fühlt man es. – Ich habe es in Felsbrüchen gesehen, in dem spitzen Speerschaft irgend eines Grashalms. Es giebt Worte, Reime. ... Goethe hat sie. Und Shakespeare, wenn Ophelia wahnsinnige, kleine Lieder singt. Ich kenne chinesische alte Götzenbilder und Michelangelo’s Grabfiguren am Mediceer-Denkmal. ... In der Marseillaise hört man die Tuba der Erzengel. Warum ist Lucrezia Borgia süss wie Nachtigallsang am Maiabend und Napoleon gekreuzigt wie der von Golgatha ... Es ist so schwer zu denken ...“ Sie presste die weiche kleine Hand gegen die Stirn, an der die Schläfen flogen wie unter Hämmern einer Schmiede. „Warum denkst Du?“ fragte er gütig. „... Wenn man nicht denken brauchte! Alles weiss man. Nur weil man versucht, sein Wissen zu erklären, _ein_ Wissen für Alle, Gesetze sucht, weiss man nicht mehr. Kinder wissen. Und Frauen! Ah, Frauen wissen eher wie Männer! Sie fühlen. Es ist ihr Körper, der in ihrem Willen ist, ... weil Frauen lieben.“ „Und Gott?“ fragte er. „Gott auch liebt,“ sagte sie träumend. „Er hasst nicht. Das Gute ist dasselbe wie das Böse. Alles ist ein Leben und es dreht die Welt. Die Thaten, die gethan werden, sind seine Aeusserungen. Es ist nichts gut und nichts schlecht. Es ist wie es ist.“ Er antwortete nicht. Sie seufzte. Die müde Traurigkeit erschien wieder in ihrer Haltung, dem Körper, der sich zurückbog, während die Linie des Halses straff wurde. „... Sie haben Kirchen gebaut. Ich habe versucht in der Kirche zu beten. Die Sehnsucht erstickte mich.... Hier ist es besser.“ „Es ist besser hier.“ „Sie sind zu eng, die Kirchen. Dies Alles müsste mit hinein. Viel, viel mehr als die alte Geschichte. Und die neuen Geschichten. Das ist weit – weit ...“ Sie zeigte mit ihrer Hand. Von allen Seiten wallten die Nebel. Es glitt über die Felder. Das Entfernteste verlor sich im Ferneren und das Nahe schien weitgerückt, aufgesogen im Allen ... Eine Fledermaus strich leise mit unhörbaren, schwarzen, tappenden Schwingen. Näher und wieder weiter, geheimnissvolle Kreise ziehend. Sehr deutlich sah man die feinen Krallennägel, zwischen denen die Flughäute angemacht waren gleich Stofffächern eines Regenschirms, den kleinen, platten Kopf mit spitzen Zähnchen, die nach Insekten schnappten, sie rasch zerrissen. Eine Eidechse kam hervor unter der Brunnenmauer. Sie blieb da wie angewachsen, horchend. In der Saat putzten sich die Hasen und machten Männchen. Sie ohrfeigten einander mit harten, flinken Pfoten und hamsterten leise in sich hinein wie Geizhälse. Ein Fuchs schlich auf Raub mit vorgestreckter spitzer Schnauze und fuchtelnder Ruthe. Ganz fern quakten Frösche im Feuchten. Von allen Wiesen stieg der Athem auf. Sehr lange sassen sie. Sie erhob sich langsam. Das weisse Pferd kam ohne Ruf. Der Hund witterte in die Richtung mit angelegten Ohren, aufmerksam, zitternd. „Gehe in Frieden,“ sagte der Fremde, „Du bist näher wie die Andern.“ DAS SECHSTE KAPITEL. Nun hatte die Frau des Landraths eine Idee. Das Gerücht von ihm war nämlich sehr stark geworden in dieser Gegend, so dass viele Leute aus Neugier kamen, um ihn zu sehen. Viele logen und erzählten seltsame Geschichten von Wundern und Kranken, die geheilt worden waren. Und die Menschen liefen hin. Sie blieben da und folgten ihm etliche Tage und warteten auf ein Zeichen. Wenn nichts geschah, was ihre Hoffnungen erfüllte, gingen sie nach Hause, ihren Geschäften nach. Diese sagten stets, dass Alles gelogen war. Sie bewiesen sonnenklar, dass solche Wunder unmöglich und gegen die Natur seien, warteten doch darauf und würden sie bestritten haben, wenn sie geschehen wären. Die Zeitungen bemächtigten sich des Stoffes. Sie hofften ihre Leser zu amüsiren. Einmal tauchte er hier auf und einmal da. Es machte den Reportern Spass, gerade die abenteuerlichsten Geschichten zusammenzutragen, gefälschte Interviews und lange Extrakte aus Reden, die er niemals gehalten hatte. Auskunft war da ertheilt über Himmel und Hölle mit genauer Beschreibung der Lage und Gliederung der Letzteren, eines jeden Pfeilers, auf dem Gottes Thron stand. Einige brachten sogar ein ganzes Nationale, dass er der Sohn eines Zimmermanns Joseph Schäppli aus Bing an der Enz in Württemberg sei. Dieser Sohn hatte für einen Narren gegolten in seiner Jugend. Im Ort gab es viel zu erzählen von seinen sonderbaren Thaten und Reden. Dann war er verschwunden, als er etwa dreissig Jahr alt war. Etliche sagten, er wäre in der Enz ertrunken, Andre, dass er in die Wälder gegangen wäre und dort als ein Waldmensch und Einsiedler hauste. Sie behaupteten, dieser selbe Zimmermannssohn aus Bing sei es, der jetzt aufgetaucht wäre und predigte. Seine eignen Eltern sollten es beschworen haben. Ein besonders eifriger Neuigkeitenvertreiber hatte sogar seine Mutter aufgesucht und wusste, dass sie eine Haube trug und in ihrer Jugend Visionen gehabt hatte. Das war übrigens nichts Seltnes bei diesem schwäbischen Gebirgsvolk, arbeitsam und verständig, aber von schweifender Phantasie, mit einer beständigen Sehnsucht im Herzen, die die Berge wachhielten, oder auch der alte Schatz von Legenden, einstiger Herrlichkeit und Weltgrösse, die in diesen Stämmen lebendig geblieben waren trotz des neuen deutschen Reichs, Lutherthum und Schulbehörden. Wieder Andre hielten ihn für einen Wanderprediger aus den norwegischen Bergen. Es gab ihnen Gelegenheit, über mystische Schwärmer, Tolstoi und Ibsen zu reden, den Geist des Urchristenthums, der sich dort in einigen weltabgeschiedenen Gemeinden rein erhalten hatte. Diese verbreiteten, dass er der Sohn eines schottischen Lords oder vornehmen Grafen wäre. Es that ihnen wohl, das zu glauben. Und gewaltig erschütterte Alle Fritz Kuhlemann’s Stimme, eines einfachen Arbeiters und verlorenen Gesellen, der in den grossen Städten auftrat und forderte Busse zu thun: Im Namen Jesu des Lebendigen, der Fleisch war und unter ihnen wandelte. „Denn die Zeit ist gekommen.“ Das Volk lief ihm zu. Etliche erwarteten Lohnerhöhungen, Gaben der Reichen. Andre rechneten auf die Revolution, wo er ihr Häuptling werden sollte. Denn seine Rede klang gewaltig. Es war in ihr der rothe Hass der Ungerechtigkeit und eine neue strahlende Liebe, weit wie die Sonne, die über Gerechte und Ungerechte scheint, aber wild auch und schöpferisch, wie die des Mannes zum Weibe. Es gab Viele, die sich betroffen fühlten unter den Vornehmen und Reichen, zu sich selbst sagten: Wir können nicht wohlleben und in Wagen fahren, wo unser Bruder hungert und nicht hat, da er sein Haupt hinlegen soll? – Denn so sprach er: „Nicht ausser Euch, sondern in Euch richtet auf das Reich Gottes! Denn das ist Gottes in Euch, dass Ihr Liebe gebet. Das Andre, Neid, Geiz, Hoffarth, ist des Thieres und des Teufels. Und Ihr seid Alle Gottes.“ Viele kamen auch zu ihm und sagten: Wir wollen sehen, ehe wir glauben. Er sagte ihnen: Seht die Werke an in seinem Namen gethan und thut wie Er. – Aber das gefiel diesen nicht. Es gab Viele unter den reichen und vornehmen Leuten, die den Fremden auch gern gesehen hätten. Aber sie wollten sich nicht lächerlich machen. Auch fürchteten sie in der Oeffentlichkeit ihre Namen zu compromittiren. Diese Landräthin, deren Mann zugleich Reichstagsabgeordneter war, hatte eine grosse Gesellschaft zu geben. Sie war eine kluge Dame aus reichsgräflichem Hause, die sich viel einbildete auf ihre Bildung, dass auf ihren Gesellschaften immer etwas Besonderes, Geistiges und Interessantes war. Da bei vielen ihrer Freundinnen und Nebenbuhlerinnen Theosophie in Mode war, dachte sie, es würde sehr interessant sein, den Fremden einzuladen, ihn ihren Gästen gleichsam als Curiosität und zur Unterhaltung vorzuführen. Gleichzeitig that sie damit einem Mann einen Gefallen, der ihr selbst und ihrem Landrath sehr nützlich war, in einem Kreis, wo er vermöge seines Namens und Reichthums eine höchste und selbstverständliche Stellung einnahm, die sie als arme Beamte und Frischnobilitirte sich nur mühsam erobern konnten, mit allen Mitteln suchen mussten zu befestigen. Dieser Mann war der alte Prinz Schönheim-Wagram-Trauttenberg, Minister unter der liberalen Aera Friedrich Wilhelms des Vierten. Er hatte in seiner Jugend mit der Revolution und dem Dilettantismus coquettirt, dabei als Lebemann und Schöngeist sich ein Renommee erworben. Seine „Briefe eines Diplomaten“ erregten das grösste Aufsehen seiner Zeit. Er war der Erste gewesen, der mit der Tradition brach, dass Heuchelei und geheimnissvolle Zugeknöpftheit unentbehrliche Attribute der Staatsklugheit bildeten. Unter einem fast ruchlosen, scheinbar offenherzigsten Cynismus verbarg er füchsische Verschlagenheit, die Raubthierkralle eines Cäsar Borgia im Sammethandschuh. Man nannte ihn den Fürsten Talleyrand der Provinz. Seine Stellung dort war unerschütterlich selbst nach seiner officiellen Niederlage als Staatsmann, seitdem neue Systeme und Principien ihn und sein System hinweggefegt hatten. Die Landräthin gehörte zu seinen Protegees. Nicht, dass ihre spärlichen Reize den alten Viveur in Versuchung geführt hätten. Nach einem galanten Sabbath ohne Gleichen hatte das Küchenpersonal und noch tiefer hinab, bei ihm endgültig die Palme davongetragen. Er bezeugte diese Vorliebe sehr ungenirt. Aber er liebte es immer, seinen Finger mit in der Pastete zu haben, die Landräthin und ihr strebsamer Gatte erschienen ihm als gefügige Werkzeuge für seine kleinen Pläne, die er durchaus nicht aufgegeben hatte, nur versteckt hielt unter witzelnder Indifferenz. Das Renommee eines mystischen Einflusses erfreute ihn. Er fand es vornehmer, hinter den Coulissen zu operiren, als vorne auf der Bühne die grossen Schreie auszustossen: heutzutage weiss man von jeder Macht die Adresse. Jeder trägt seine Befugnisse und Eigenschaften wie aufgeklebte Etiketten mit sich herum: Büreau für Stellenbesetzung, Vermittlung von Börsengeschäften, Vademecum für Hoflieferanten. Früher ging das in’s Geheimnissvolle wie der liebe Gott. Und hielt die Bande in Schrecken. Man weiss zu gut, was wir _nicht_ können. Darum will jetzt Jeder Alles besser wissen. Das Neueste in dem sehr beweglichen Geiste und fieberhaften Lebensbezeugungsdrang des Prinzen war ein Werk über Buddhismus, den er für die Religion der Religionen hielt. Sie passte in den Cynismus des alten Diplomaten, diese Idee des Jenseits von Gut und Böse, der souveränen Verachtung aller Moralsysteme. Viele zweifelten an seiner Gelehrsamkeit, sie war etwas zusammengewürfelt nach der Mode des Ancien Régime. Er besass diese Eigenheit der Regierenden, dass er über Alles reden und geistreich reden konnte. Trotzdem wurde sein wirkliches Wissen bestritten. Er selbst vermied Gelehrte, sein eigentliches und Hauptpublikum blieben Damen. Nur der Doctor Rothe konnte es mit ihm aushalten. Dies war um so verwunderlicher, als der junge Mann thatsächlich ein sehr bedeutender Kopf war. Seine Examina hatten das Staunen seiner Lehrer erregt. Professoren und Mitschüler erwarteten von Anton Rothe etwas ganz Außerordentliches, den Aufgang eines neuen Sterns am Himmel der Gelehrtenwelt. Einen Stürmer und Dränger sahen die Andern in ihm, einen grossen Künstler. Er hatte alle ihre Erwartungen getäuscht, war mit sechsundzwanzig Jahren als Privatsecretair in die Dienste des Fürsten getreten, der ihn in einer Art Auerbach-Keller kennen gelernt hatte, und diesem seitdem auf allen seinen Reisen gefolgt. Legenden von geheimen, raffinirtesten Ausschweifungen, denen sich Herr und Diener auf solchen Weltreisen in afrikanischen Lasterhöhlen, den Schmutzpfühlen überseeischer Hafenstädte hingegeben hätten, konnten allein diese seltsame Anziehung zwischen dem beinah achtzigjährigen Weltmann und dem zweiunddreissigjährigen, prachtvollen, genialen Menschen erklären. Man hatte das ungleiche Paar Faust und Mephisto getauft, der äussere Eindruck entsprach der Vorstellung, neben dem ernsthaften, schönen jungen Mann, schwerer germanischer Typus, das sardonische, zahnlose Affengesicht des Alten, der es liebte, von seinen literarischen Speichelleckern als Voltaire bezeichnet zu werden. Dies waren die Hauptpersönlichkeiten, denen die Gräfin den Fremden vorführen wollte. Sie hatte eigentlich eine Abneigung gegen den Doctor wegen seiner bürgerlichen Abkunft und sonstigen Anrüchigkeit. Aber die allgemeine Werthschätzung, deren er sich erfreute, seine sagenhafte Allmächtigkeit bei dem Fürsten zwang sie, freundlich gegen ihn zu sein. Ihre Sauersüsse bei solchen Gelegenheiten amüsirte dann den Alten: „Es ist wunderbar, wie diese Frau aus Ehrgeiz sich zu beherrschen weiss. Da sagt man, nur Männer hätten eine Hundenatur. Sie schlagen uns noch auf allen Punkten.“ Der Landrath, ihr Mann, that immer, was sie wollte: „Wenn Du meinst, Amélie.“ ... Sie schrieb also ein Billetchen an den Fremden des Inhalts, dass eine distinguirte Reunion im Schlosse von X., Datum und Stunde, von seinem Geist und Wirken gehört, den Wunsch hätte, ihn zu kennen und sich belehren zu lassen. – Höflichkeit bei solchen Gelegenheiten ist immer angebracht. Sie kostet nicht viel und leistet dasselbe wie baares Geld. Uebrigens lag der Gräfin wirklich an dieser Attraction für ihren Rout. Boshafte Leute waren hier wieder der Meinung, dass diese berühmten gräflichen „geistigen Attractions“ vieles Andre, weniger Attractive verbergen sollten, zum Beispiel eine entschiedene Dürftigkeit des Vorgesetzten, und den Umstand, dass der Champagner immer ausserordentlich spät, im letzten Augenblick servirt wurde. Der Diener fand den Fremden unter einem Apfelbaum, wo er sich ruhte. Zwei schwarze Amseln liefen nach Würmern pickend neben ihm im Grase. Es schien, als ob diese Thiere ihn fragten und er ihnen antwortete. Der Mann schwor nachher auf die Hexerei. „Ich werde kommen,“ sagte der Fremde. Die Gräfin, die es nie verschmähte, auch ihre Kammerdiener auszufragen, merkte sich diesen kleinen interessanten Zug. Sie hatte eine sozusagen symbolistische Toilette gemacht: Weiss, sehr in’s Crême spielend, mit schwarzen Jetkettenschnüren viermal um den Hals. Der Landrath war etwas sorgenvoll: seine Stellung und quasi officielle Sanction ... „Das verstehst Du nicht, mein Freund,“ sagte sie milde, aber fest. – „Man wird sich erdrücken.“ Man erdrückte sich. Die Gräfin war allgegenwärtig. Es galt, ihren Gästen das Ausserordentliche ihres Schrittes klar zu machen, diese Einladung an den Fremden, mit der sie ihren geistreichen Freunden einen Gefallen thun wollte, und sich gleichzeitig möglichst gegen üble Folgen schützen, da man es ihr nach oben hin falsch auslegen konnte. Gegen die Einen, die sie für freie Geister hielt, war sie frivol, für die Andern ernsthaft, priesterlich. Allerliebst reumüthig, bescheiden, entschuldigte sie sich gegen den Superintendenten, einigen alten Damen gegenüber. „Ich bin so eine moderne Ketzerin. Es ist doch auch, damit Sie selbst den Unsinn sehen ...“ „Interessant“ war ihr Wort. Dafür liess sie sich einen scherzhaften Fächerschlag auf den Arm von der alten Baronin Rehden gefallen. Die Superintendentin bat sie um ihr Recept für schwarzen Johannisbeergelee. Dabei vergass sie niemals dem Prinzen zuzulächeln: „Wie werden wir uns nachher über alle diese mokiren. Wir Beide verstehen uns, dass Alles nur eine Farce ist.“ ... „Ist sie nun nicht bewundrungswürdig?“ fragte der Prinz seinen Adjutanten. „Diese Frau wäre bei August dem Starken die Orczelska, bei Ludwig dem Vierzehnten Maintenon, bei Alexander Krüdener gewesen. Für die Tochter der Herodias reicht’s leider nicht. Sie hätte auch da ihr Bestes gethan und man würde ihr wahrscheinlich das Haupt bewilligt haben, wenn auch aus andern Gründen.“ Der junge Mann antwortete nicht. Er betrachtete den Fremden, der allein an einem Ende des Saales stand. Er stand ganz ruhig in seinem einfachen Anzug zwischen den plaudernden, lachenden, zischelnden Gruppen. Fortwährend drängten sich die Diener durch unter irgend einem Vorwand, um ihn anzustarren. „Eigentlich eine tolle Idee der guten Gräfin,“ sagte die alte Baronin Steuben, sich Luft zufächelnd. Sie war eine wirkliche grosse Dame und verachtete die kleinen Trics und Kniffe der Andern. Ein junges Mädchen erstaunte, dass er keinen Frack trüge. Der Prinz bemühte sich, der kleinen Frau eines Rittergutsbesitzers einzureden, dass es sehr möglich sein könnte, dieser wäre wirklich Christus. Die kleine Frau begriff nicht. Ihre Augen vergrösserten sich unmässig. Sie stand buchstäblich mit offenem Mund. In einer Gruppe junger Damen und Offiziere hatte man beschlossen, den geheimnissvollen Gast direct zu attaquiren. Ein kleiner, kecker Dragoner war ausgesandt worden als Avantgarde. Man setzte ihm zu von allen Seiten. Und er that auch, als ob er etwas besonders Gefährliches unternähme, hegte noch Skrupel über die Anrede. „‚Meister‘ ist ja wohl das Officielle?“ ... „Ach gehen Sie!“ Aller Augen folgten ihm, wie er gesucht dandyhaft quer durch den Saal chassirte. Die jungen Damen kicherten. „Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle.“ Der junge Mann verbeugte sich, forcirt vorschriftsmässig die Hacken zusammenschlagend. Der Fremde sah ihn an. „Ich möchte mir eine Frage erlauben, Herr ...“ Er zögerte vor dem Namen, um dem Andern zu markiren, dass er seine Vorstellung erwartete. „Halten Sie es für Ihren und dem christlichen Grundgedanken entsprechend, Kriegsdienste zu nehmen?“ Der Fremde antwortete nicht. „Ich betrachte die Frage ganz ernsthaft. Es steht doch in der Bibel: Du sollst nicht tödten. Wir versprechen unsre Feinde zu lieben, Böses mit Gutem zu vergelten. Christus nimmt Petrus das Schwert aus der Hand. Dennoch zwingt uns das Gesetz.“ „Welches Gesetz?“ fragte der Fremde. „Nun, das bürgerliche, das des Staats, dem wir angehören.“ „Du gehörst nicht dem Staat, der Staat gehört Dir,“ sagte der Fremde. „Aber das Staatsgesetz bestraft mich. Ich werde schuldig gefunden und verurtheilt, wenn ich mich weigre ihm zu folgen. Gehorsam gegen das Gesetz ist uns ebenfalls anbefohlen. Was soll ich thun?“ „Was Du willst,“ sagte der Fremde. „Das ist es. Aber ich weiss doch nicht, was ich will.“ Der junge Offizier war in einen gewissen Eifer gerathen, er nahm sich vor, den Punkt bis zu Ende zu verfechten. „Wenn mein Wille gegen das steht, was ich soll?“ „Du sollst wollen.“ „Man zwingt mich. Ich komme in’s Gefängniss. Man behandelt mich als Verbrecher. Was bin ich, Einer gegen so Viele?“ „Viele Einzelne sind Viele.“ „... Die Duchoborzen. Eine Art Tolstoi. Auch Quäker leisten ja keine Kriegsdienste, glaube ich? Interessant, sehr interessant!“ sagte die Gräfin. „Jedes Land hat alle seine Kräfte nöthig gegen den äusseren Feind!“ sagte der Candidat der Theologie, der zugleich Reserveoffizier war. „Ein Land, das sich seine Waffen nimmt, ist wie ein Körper ohne Widerstandskraft. Es entmannt eine Nation, sie ist dann nicht fähig, ihre Ehre zu vertheidigen. Die Ehre eines Volkes ist wie die Ehre eines Individuums.“ Er liebte das Wort: Ehre. Er sagte es in einem besonderen schnarrenden Ton. Er war auch _für_ das Duell und fing ein längeres Gespräch mit dem Lieutenant darüber an, „zum Beispiel, wenn Einer mich mit meiner Frau betrügt. Dann greift schließlich jeder Holzknecht zur Axt.“ „Aber der Holzknecht ist ein Mörder und kriegt seine fünf Jahr Zuchthaus,“ sagte der Prinz freundschaftlich. „Das ist der ganze Unterschied, mein braver Langenhahn.“ Natürlich müssten gewisse Formalitäten beobachtet werden; der Candidat gab das zu. Der Lieutenant sah nicht ein, warum schliesslich Messerstechen und Ohrabbeissen nicht auch gelten sollten, immer gerade mit diesem Falle des Ehemanns gegen die Ehebrecherin und ihren Mitschuldigen gerechnet. „Ich fände es doch einfacher für ihn, Beide todtzuschlagen,“ sagte der Doctor. „O, aber lieber Doctor! Das nun wieder!“ ... Die Gräfin flatterte skandalisirt. „Es wäre das Logische. Entweder wir haben Faustrecht oder wir haben keins. Diese Mittelzustände machen unsre heilige Civilisation so ungeniessbar.“ „Das ist nun doch schrecklich, Doctor, was Sie sagen!“ Die Baronin schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Ihr gefiel der junge Mann, seine schöne Stirn. „Erlauben Sie. Es ist in Allem so. Besonders was die Frauen angeht. Entweder eine Frau ist ein für sich selbst verantwortliches Wesen, ein Mensch, eine Seele, oder sie ist Sache. Mein Eigenthum. Mein Stück Kuhfleisch. Dann der Sack und der Bosporus.“ „Aber es giebt doch Mitteldinge.“ „Die sind dann einfach absurd. Ich schlage mich – aber ich gebe ihm dieselbe Chance. Ich sage, sie weiss nicht was sie thut, und lade ihr die volle Verantwortung auf. Wir können eben nie etwas reinlich durchführen.“ „Dann wären wir Teufel.“ „Oder Engel. Sie haben die Wahl.“ „Ich glaube, _Sie_ haben schon gewählt!“ Sie wollte damit discret auf Einiges hindeuten, was über seine Reisen zu ihren Ohren gedrungen war. „Vielleicht doch noch nicht so ganz,“ sagte der junge Mann kalt. „Es giebt auch noch ein Drittes.“ – „Sagen Sie mal, sind Sie glücklich?“ „Befehlen Sie Thee oder Kaffee, Baronin?“ Jemand, ein älteres Fräulein, sagte, dass alle Völker eine Familie wären, Deutsche, Franzosen, Juden. Sie hatte „Die Waffen nieder!“ der Baronin Suttner gelesen und schwärmte für Völkerverbrüderung. „Das ist doch eine etwas grosse Familie,“ sagte der Lieutenant von Detten zu seiner hübschen Nachbarin. „Ich goutire Juden nur allenfalls als Schwiegerväter.“ Der Candidat fand, man dürfte nicht Antisemit sein vom Vernunftstandpunkt aus. Aber man wäre es physisch. Der Superintendent drohte ihm mit dem Finger: „Wir sind Alle Brüder und unser Herr Christus kam von den Juden.“ Der Prinz erzählte eine amüsante Anekdote von einem Orientalen, einem befreundeten Pascha, der alle Hufthiere verabscheute, weil er selbst einen Klumpfuss hatte. Der Blaustrumpf unterhielt sich über Frauenfrage mit einem Gymnasialprofessor. Er hatte einen schmutzigen Hemdkragen an und kaute seine Nägel: „Nun gewiss, auch Frauen haben eine Seele,“ sagte der Professor zerstreut. „Das heisst – Seele! –“ er lachte sardonisch. Er hatte Lust, auf den Fussboden zu spucken. Aber er besann sich. Man hatte ihn eingeladen, weil er in den Wahlvereinen wichtig war. „Man muss das schwache Gefäss in Geduld tragen,“ sagte der Superintendent. „Wir haben ja auch aus der ersten christlichen Kirche schöne Beispiele: Tabbea, Phoebe, die der Apostel erwähnt. Echt evangelische Frauengestalten.“ „Darf man heirathen?“ fragte ein sehr junges Mädchen. „Es steht doch in der Bibel, nicht heirathen ist besser?“ „Dann würde aber die Welt aussterben?“ „Und das wäre sehr schade,“ sagte der Prinz ernsthaft. Der Superintendent witterte römische Ketzereien. Er wies auf das grosse Exempel Martin Luther’s und seinen gesegneten Ehestand. Die Superintendentin sass steif mit einer spitzen Nase. Sie dachte an den übriggebliebenen Gänsebraten für morgen, ob ihr die Mägde nicht drangingen. Der Prinz machte confiscirte Witze und trieb den Superintendenten in die Enge mit einigen fröhlichen Vierzeilern von Martin „Nonnenfreund“. Die Lieutenants secundirten, der alte Herr wehrte sich tapfer. Sein Gesicht wurde schweissroth vor Anstrengung: „Ein echter deutscher Mann! Ein Mann nach dem Herzen Gottes!“ „Ein Bismarck!“ Der Candidat schwärmte für Bismarck. Die Gesellschaft verhielt sich etwas ablehnend. Für die Offiziere war er eigentlich ein Rebell, ein unruhiger Kopf, der die Consigne brach. Die Gräfin brachte rasch das Thema auf etwas Anderes, um ihren Mann aus der Verlegenheit zu retten. Der Candidat war oft recht taktlos. Einige Leute wollten Fragen stellen: Werde ich eine grosse Carriere machen? Siegt mein Gaul beim nächsten Rennen? Wann werde ich meine Schulden bezahlen? Die jungen Mädchen hätten gern gewusst, ob „er“ ihnen treu war? Wird der Bestimmte mich zum Cotillon engagiren? – Die Meisten hatten so eine Art Taschenspielervorstellung, Tischrücken, Kartenlegen oder Aehnliches erwartet und waren enttäuscht. Der Superintendent hatte den Fremden mit Beschlag belegt. Er hatte eine Broschüre über das Glaubensbekenntnis, Harnack und die Agende veröffentlicht und wollte jetzt dem Andern auf den Zahn fühlen über diese wichtigen Punkte. Sein Grundsatz war, dass Kirche und Staat zusammengehen müssten in den jetzigen socialen Wirren. Vernünftige Reform. Aber die feste Hand von oben. Und vor allem musste die Autorität gewahrt werden. Das Patriarchalische ist das einzig Wahre. Dabei hatte er einen Geschmack für weltliche schöne Literatur, citirte Classiker und bekannte sich zur Goethe’schen Schule. Der Candidat war ein Heisssporn. Er war für ein sociales Kaiserthum, eine Art Theokratie unter von oben inspirirtem Oberhaupt mit unumschränkter Autorität. „Die Idee des Gottesgnadenthums muss wieder herrschend werden.“ Dieser Ausdruck gefiel ihm. Ihn zog das Katholische an. Er war für High-Church-Reforms. Allenfalls für einen deutschen Papst, grössere Prunkentfaltung. Er selbst mit einer edelsteinbedeckten Brust hohe Kirchenakte celebrirend – das hätte seiner Neigung entsprochen. Wenn der Superintendent das Presbyterianische, die Selbstverwaltung der Gemeinden betonte, betrachtete er ihn fast als eine Art Hochverräther. Dieser im Gegentheil versprach sich nicht viel von den jungen Leuten. Er war mehr für die kleinen Lokalpäpstchen. Man lebte in Frieden und that sein Möglichstes. Die Frau Superintendent liess bei sich nähen und war im Vorstand aller Wohlthätigkeitsvereine. Alles das, diese kleinen Spiele und Gegenspiele, die er witterte, erheiterte den Prinzen. Er hatte die „Baalspfaffen“ speciell auf dem Korn und liebte es, an ihren Bäffchen sein Müthchen zu kühlen. Er erzählte die bekannte Anekdote von Friedrich dem Grossen: „Der Pfaff soll sein Maul halten, mein Reich ist nicht von dieser Welt,“ mit der die Kinder der Welt die Pfarrer anöden. Der Doctor secundirte ihm eifrig, ebenfalls einige von den Lieutenants. Alle waren für apostolische Einfachheit, den Stab und einen Rock: er hatte nicht, da er sein Haupt niederlegen sollte. „Aber erlauben Sie! Erlauben Sie!“ Der Superintendent hielt seine halbgeleerte Kaffeetasse in der Hand, in der er den dicken, bräunlichen Zuckerseim hin- und herschob. Er nahm gern ein bischen viel Zucker; bei andern Leuten kostete es nichts. „Unser Herr hat durchaus nicht gewollt, dass die Gläubigen sich kasteien. Das ist eine ganz irrige Auffassung, katholische Ketzerei: hat er doch selbst auf der Hochzeit zu Kana das Wasser in Wein gewandelt, durch seine gesegnete Gegenwart den heiligen Ehestand ausgezeichnet.“ „Er hat doch aber selbst nicht geheirathet, Maria oder Magdalena?“ Dies war ein vorlauter Lieutenant. „Diese Ausnahme lag doch wohl in seinem heiligen Amt. Und wir müssen nicht vergessen, dass er in verhältnissmässig jungen Jahren –“ „Sie meinen, er ist nicht alt genug geworden dazu,“ sagte der Prinz. „Das ist auch eine Auffassung.“ Diese Bemerkung erregte allgemeinen Jubel. „Das ist profan! Das ist profan! ... Wirklich, meine Herren! ... Sie müssen selbst einsehen ...“ Der Prinz klopfte ihm auf die Schulter. Er mochte begreifen, dass sein Scherz etwas zu weit gegangen war: „Darum keine Feindschaft nicht. Ich weiss ja, wir brauchen das für die Dummen.“ Der Candidat ärgerte sich. Die Kirche musste eine ganz andre Gewalt wieder haben. Und es wäre in der That gut gewesen für die Stellung des Priesters – er sagte immer „Priester“, er fand, dass das nach mehr klang – wenn das Cölibat innegehalten würde. Wenigstens für die höheren und höchsten Kirchenämter. Vieles in der römischen Kirche war sehr beherzigenswerth. Der Landrath verstand ihn. Er war auch dieser Meinung, übrigens war sie jetzt die tonangebende. „Die militairische Organisation muss durchgeführt werden, mehr Disciplin! Diese Disciplin ist Alles.“ Ein Umschlag in der Meinungsäusserung war eingetreten. „Ich hatte einen famosen Pastor, bei dem ich im Quartier lag,“ versicherte ein Lieutenant. „Wirklich ein famoser Kerl!“ „Ach, und die schöne Kirchenmusik!“ „Und Weihnachten!“ sagte eine andre junge Dame. „Es ist so tief und bedeutungsvoll.“ „Ich fände es doch schrecklich zum Beispiel, sich nicht in der Kirche trauen zu lassen,“ sagte der Doctor. „O, pfui!“ machten Alle. Sie wussten nicht recht, ob er es im Ernst meinte. Der Doctor war ein schrecklicher Mensch, sehr interessant. Sie waren Alle fest entschlossen, ihn nie zu heirathen, wenn er um Eine von ihnen anhielte; aber er hielt nie an. Ein junges Mädchen war sehr traurig. Sie fühlte dunkel, dass dieser Mensch etwas Extraes war, klüger und stärker als die Andern. Warum lachte er höhnisch und sagte scharfe Worte, die weh thaten? – Ein alter Herr war da, der an Gesichtszucken litt, seine Hände sonderbar und krampfig bewegte. Sie sah, dass Einige dies beobachteten, darüber lachten. – Sie fühlte sich abgestossen, elend. Dieses junge Mädchen war sehr jung noch, ein halbes Kind fast. Niemand bekümmerte sich um sie. Der Fürst unterhielt sich mit dem Fremden. Die Gräfin Thornhill fand ihn sehr interessant. Sie behauptete, sie sähe deutlich einen breiten, blauen Schein um seine Stirn. Sie nannte das das Fluidum. Das Fluidum, das von dem Fremden ausging, war erstaunlich. Die Gräfin Thornhill galt für eine Heilige. Es kamen sehr einflussreiche Leute zu ihren spiritistischen Reunions; so geschahen wirklich manchmal Wunder da. Der Assessor von Brincken bestritt sehr ernsthaft, dass er keineswegs nicht an Wunder glaubte. „Ich war früher wie Sie. Aber seit ich Frau Gräfin kenne ...“ Sie hatte ihn bekehrt. „Es giebt eben doch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsre Schulweisheit sich träumen lässt.“ Der Assessor war sehr zugeknöpft über diese Dinge. Er war eben ein Eingeweihter. Den Doctor schnitt er: „Ein gefährlicher Charakter! Ich würde mich nicht wundern, den Burschen eines Tages auf den Barrikaden zu sehen.“ Auch der Fürst war ihm unsympathisch: „Er ist frivol, er schadet.“ Der Assessor war für’s Correcte, sein Vater war erst geadelt worden; da ist es der sicherste und geradeste Weg. Der Doctor beobachtete seinen Patron und den Fremden. Er sah das breite Faungrinsen des Alten. Er kannte diese kühle Manier, mit der er die teuflischsten Dinge sagte, dies freche Augurenzwinkern des Eingeweihten, das dem Andern gleichsam die Replik über dem Kopf wegnahm: Wir Beide wollen uns doch nichts vormachen. Du denkst darin ebenso wie ich. Die Andern sind Dummköpfe. – Er hielt sich noch ganz gerade, zu gerade. Der weisse Schnurrbart stand steif aufgewichst. Die Backen waren roth geschminkt, die Augen glänzten, um die Brauen sorgfältig geschwärzt. Auf der schwarzseidigen Frackfläche bildete der grosse Stern mit dem Ordensband einen markanten Fleck. Seine Hand trug kostbare Ringe. Er war stolz auf diese lange, magre, aristokratische Hand, gebrauchte sie, um seine Bartspitzen zu liebkosen. Es war eine Lieblingsredensart von ihm: „Profile giebt’s wohl noch allenfalls, aber Hände! Hände! – Wir sind Alle Ouvriers geworden.“ Tadellos zog sich die Scheitelspur. Er war der König des Kreises; er dominirte. Anton Rothe allein und sein vertrauter Kammerdiener wussten, was das Alles kostete, dies Gerüst, das noch immer zusammenhielt, zu neuen Blendungen, neuen Ausschweifungen. Er und nur er kannte die erstaunliche Lebens- und Genusskraft des Skeletts, die standhielt, in einer kalten Douche sich neu schmiedete, wenn er selbst, der Junge, erschöpft war, rasend, zum Selbstmord angeekelt. Er dachte an eine junge Dame. Sie war arm gewesen und stolz. Ein herrliches Weib! Mit solcher geht man in unbebaute Colonien und hat Kinder und stirbt vor dem Feind für seinen Herd. Er hatte für ihn geboten auf sie. Der Kampf reizte ihn. Er bot höher und höher. Weil sie arm war und Hungers starb, hatte sie angenommen. Nur darum. Er wusste es. – Sie sagte nur ein Wort: Schurke! Er hatte gelächelt. Warum fiel ihm das jetzt ein? Ein Hass kam über ihn, ein glühender, fressender Mörderhass gegen dies miserable Kunststück der Hypercivilisation, diesen Fetzen von Haut und ausgedörrten Knochen, den er schütteln konnte, der ihn hielt wie eine Viper unter seinem kalten, grausamen Willen, seine Intelligenz zerbrach wie morschen Baumbast unter der polirten Stahlschneide seiner frechen Philosophie der Verneinung. Plötzlich sah er den Alten blass werden. Seine Farbe wechselte sich in Leichenfarbe. Er war ein grinsender Todtenschädel. Unter dem weissen, gestärkten Vorhemd schien die Brust einzuschrumpfen. Es war hohl dahinter. Er lehnte sich gegen die Portiere. Anton Rothe war im Nu an seiner Seite. „Es ist nichts. Eine kleine Uebelkeit. Der verdammte Büchsenhummer ...“ Er war wieder ganz höflicher Weltmann, als die Gräfin, nun auch besorgt, herbeieilte. Gleichzeitig wurden die Klänge der Polonaise laut, die den Ball eröffnen sollte: „Wir werden noch manche Polonaise zusammen führen.“ Der kalte Schweiss stand auf seiner Stirn. Er zitterte, lächelte mit bläulichen, lallenden Lippen. Anton Rothe hob ihn wie ein Kind in den Wagen. Er selbst sprang auf den Bock. Niemand achtete auf den Andern in einem allgemeinen Hin- und Hergelaufe, während drinnen zur Tanzmusik die geschmückten Paare sich ordneten. Es wetterleuchtete. Lichter leckten auf in bläulichen, breiten Zungen, duckten sich wieder, huschten auf einer andern Seite spielerisch entlang. – Sie fuhren die schwarzen Trakehner, das berühmteste Viergespann der Gegend, auf das königliche und kaiserliche Marställe fabelhafte Summen geboten hatten. Der Fürst liebte sein Leben, aber er hielt auf Rasse. Die Gräfin stand am Schlage mit ihrem Gattenadjutanten. Der Greis, jetzt wohl eingehüllt in seine Zobelpelze, bückte sich noch hinaus: „O nichts, nichts, schöne Frau – meine kluge Freundin. Der Fremde – der Fremde ... Cocasse! Ein sonderbarer Kunde, Ihr Fremder ...“ Anton Rothe hob die Peitsche und zog die Pferde an. Sie waren unruhig und warfen die Köpfe, als ob sie das Gewitter röchen. Es lag Phosphorgeschmack in der Luft. Man öffnete das grosse Hofthor. Einen Moment stand der ganze Horizont in Flammen, ehe es sich wieder hinter ihnen schloss. Sie waren ganz schwarz wie auf Feuer gezeichnet, eine schwarze Kutsche mit schwarzen Pferden und einem kohlschwarzen Kutscher auf dem Bock. ... Er wusste, er fuhr einen Sterbenden. Der Fremde war verschwunden. Am dunklen Fenster der verlassnen Garderobe stand das kleine Mädchen. Sie mochte nicht tanzen. Sie weinte. Sie fühlte sich sehr traurig. ... DAS SIEBENTE KAPITEL. Durch die Gewitternacht fuhr der junge Mann den Sterbenden. Es gab einen kürzeren Weg über die Berge durch eine seichte Furth im Flusse. Schmuggler benutzten ihn für lichtscheuen Handel. Man vermied ihn am Tage. Ihn bei Nacht zu fahren, war Wahnsinn. Das Gewitter näherte sich. Es war ein Sausen in der Luft, das die Bäume zur Erde bog. Kiefern und magere Birken, die an den Abhängen wuchsen im beständigen Kampf um ihr Dasein. Der Wind fing sich in den gewundenen Schluchten der Thäler. Da heulte und rasselte er wie ein eingeschlossener Wolf. Und unten der Fluss, von einer mysteriösen Anziehungskraft aufgetrieben, begann zu brüllen, kurze Wellen aufzuwerfen mit schnellen Kruppen, die zu den Steinen hinüberleckten. Bewegungslos, weiss lagen noch die schimmernden Ränder. Runde Backen von Kieseln gleissten. Aber die Schilfe rauschten und raunten. Während von weiter, über dem Gebirge unheilschwangere Laute eines brauenden, überkochenden Hexenkessels kamen, jagende, schwarze Wolkenfetzen mit der peitschenden Bewegung der Bäume eine fratzenhafte Mischung von Licht und Schatten verursachten. Alles in Galoppade, die Kutsche einhüllend, die wie ein Gespann der Hölle dahinsauste. Inwendig den Sterbenden. Ueber den Hälsen der Pferde, halb hängend in der Luft, den Mann, der die Pferde antrieb, dass die Steine knatterten, Funken aufsprühten. Nun fuhr der erste Blitz herunter. Der Eclaireur, senkrecht, elegant, halb spielerisch, ein Fechterhieb im beginnenden Duell der Elemente. Die Pferde bäumten sich. Er riss sie zurück. Sie rasten vorwärts wie der Teufel. Drinnen hörte er den Sterbenden röcheln. Er schrie. Er flehte. Das Gehör des Fahrenden, unnatürlich angespannt, vernahm jeden Laut. Er fühlte die schweissfeuchten, huschenden Finger, die sich anklammern wollten, das Fenster niederzulassen versuchten. Der hülflose Körper verweigerte die Anstrengung. – „Hülfe! Hülfe!“ keuchte der drinnen. Er lachte laut auf. Er klopfte mit dem Peitschenstock an das Fenster und schrie: „Hoho!“ Er sah den drinnen sich verzerren in Todesangst, die künstlichen Zähne heruntergefallen, die Augen vorgequollen, in weissgrünem Schweiss. Er jauchzte wilder. Der Ton brachte die Pferde ausser sich. Sie flogen vor ihm her wie Raben im Dampf. Es fiel ihm ein, wie er ein Hirtenjunge gewesen war, den Berg hinuntersprang, mit dem schäumenden Sturzbach um die Wette. Manchmal kamen Steine. Der Bach sprang klaftertief mit sprühendem Gischt, der Junge sprang noch über Bach und Stein hinweg. Seine nackten Sohlen tanzten in dem grünen, eiskalten Wasser, das nach ihm aufleckte, nach den weissen, zappelnden Füssen. Er wusste, dass sie Feinde waren, er und der Bach. Trotzdem konnte er ihn nicht kriegen; trotzdem liebte er ihn. Er liebte den Bergwind, der die Bäume zerbrach, um seine Schutzhütte tobte, diesen grossen Ton der Wuth, der Unterwelt, Gewaltigerer gegen die dumme Ordnung, die banale Heiterkeit der Sonne. Von sehr hoch sah er winzige abgetheilte Felder. Häuser wie Schneckenhäuser angeklebt, ängstlich. Sie hatten Mühlräder eingesetzt, um das Wasser zu nützen und bepackte Postwagen keuchten schwerfällig die Strassen hinauf. Manchmal kamen Städter mit dünnen Beinen, wischten sich den Schweiss ab und lächelten höflich. Er stand vor ihnen wie ein kleiner Wildling. Er verachtete sie. Wie er sie verachtete! Sie vermeinten, dass der Berggeist sie foppte, wenn er schallend hinter ihnen her lachte, weil sie sich verliefen und ängstlich suchten. Hässliche alte Weiber traten ihnen entgegen aus Versenkungen, die sie nie gesehen hatten, murmelten ihnen Verwünschungen nach, die sie nicht verstanden, für Segenswünsche hielten als Entgelt ihrer blanken Nickelstücke. Ab und zu stürzte auch mal Einer wirklich ab, mit der Brille, dem Photographierkasten. Das war dann ein grosses Unglück. Herren vom Gericht kamen, Leidtragende, wichtig thuend. Sie trugen gar nicht wirklich Leid. Sie freuten sich heimlich. Er gönnte es ihnen. Was kamen sie herauf mit ihren dünnen Beinen, ihren Glatzen und Gläsern, ihrem Geld. Freilich ihr Geld! Er wusste bald, was es werth war, dass er ein Lump war mit seinen Fäusten, seinem prachtvollen Krauskopf und weissen starken Zähnen, wenn er es nicht hatte. Dafür gab man ihm Hutfedern, blanke Stiefel, die gleissten in der Sonne. Sonst musste er hungern. Anton Rothe wollte Geld. In der Schule verschlang er seine Bücher. Er zeigte einen Heisshunger nach Wissen, der die Lehrer erstaunte, unbedeutende eingesumpfte Dorfmenschen, die sie waren. Das peinigte ihn. Er brachte seine Nächte zu, schwierige Aufgaben sich auszudenken und zu lösen, mehr zu erfahren, mehr – mehr! Mit einer wahren Wuth riss er jetzt an den Thoren der Erkenntniss, der vorher in scheue Wildheit sich eingeschlossen hatte. Und er hatte Glück. Der Patron des Gutes nahm sich seiner an, ein wohlthätiger und gelehrter Mann, sehr reich. Er liess ihn studiren. Vielleicht wollte er sich einen brauchbaren Präceptor seiner Söhne erziehen. Es ist immer angenehm, einen Clienten zu haben, Wohlthun ist ein Vergnügen für reiche Leute. Die Freude an seiner Wohlthat war kurz. Der Junge entlief zwischen die rotheste Rotte. Er hielt zündende Reden, schrieb Zeitungsartikel, die die Presse in Bewegung setzten. Er wurde selbst Arbeiter. Seine Fäuste zwangen das Eisen wie sein Geist den Stoff – ein interessanter junger Mann, dem man eine Zukunft prophezeite! Er verliebte sich. Irgend eine gleichgültige, hellblonde Tochter seines Patrons. Sie liess ihn lächelnd sich glühend erklären und heirathete kaltblütig und vernünftig ihren Dragonerlieutenant. – Nun fing er an wie ein grosser Herr zu leben, machte wahnsinnige Schulden. Alles musste ihm den einen Zweck, Geld zu machen, dienen, seine Feder, seine Talente, skrupelloseste Börsenmachinationen. Summen glitten zwischen seinen Fingern. Auf Reisen im Orient machte er die Bekanntschaft des Prinzen. Seitdem waren die Beiden unzertrennliche Begleiter. Bergabwärts raste das Gespann. Er hatte die Peitsche fortgeworfen, die Zügel losgelassen. Er kutschirte mit gekreuzten Armen wie im Circus. Er hätte wie eine Katze den Pferden auf den Rücken springen mögen, mit seinem Athem an ihren Ohren, wie Cowboys, Uncultivirte reiten. Hinter ihm zerbrach splitternd das Fensterglas: „Hülfe! Hülfe!“ klang es gellend, kreischend, nicht mehr menschlich. Er schlug ein teuflisches Gelächter auf. Sie rasten weiter. Wie Rabenfittiche sausten die Rappen durch die Luft. Die Luft litt unter dem Ansturm und pfiff schmerzhaft. In Peitschenhieben traf sie die Flanken der Wüthenden. Ihre Nüstern schnoben Feuer. Von ihren Hufen sprühte der Stein in knisternden Funken. Das Heulen der Winde wurde grässlicher. Sie fingen sich, drehten sich, verschlangen einander in kreisenden Strudeln. Regenhuschen stoben auf. Irgendwo musste es schon giessen in Strömen. Es schlug prasselnd gegen das Fenster. Die krampfende Hand im Rahmen verschwand. – Dadrinnen war die Sündfluth. Irgend etwas war zerbrochen. Ein Hinterrad. Die Pferde rasten weiter mit dem geschleiften Kasten, der knackte in allen seinen Fugen, aufsprang, fiel, kratzte, quietschte, mit dem dumpfen Geräusch von Schlittenkufen auf dem Trocknen. Dadrinne war ein Skelett, ein nicht mehr menschliches Ding, getödtet von Furcht, und doch lebend, das agonisirte. Es dachte an diese schreckliche Angst und Hülflosigkeit, dass er ihn hielt in seiner starken Hand, stark wie die Lawine! Vor ihnen knatterte der Fluss. Der Regen prasselte. Er schlug hernieder wie in Ruthenbündeln. Haarscharf wendend, zeigten sich im Blitzlicht zerrissne Sprünge, schweflig gähnend, dass die Pferde zur Seite schnellten, grausend. „Auf! Auf, alter Satan! Wir fahren zur Hölle!“ Singend pfiffen die Riemen. Die Pferde mit blutenden Flanken, schaumbedeckt, keuchten wie apokalyptische Spukdinge. Lucifer, der gefallne Engel, lenkte sie selbst im höhnenden Rausch seiner Kraft und seines Stolzes. Es war unmöglich, dass sie so ankamen, der Wagen musste sich überschlagen, zerschellen. Die tolle Eile steigerte sich. Sie verbrannten den Boden, dass die Geleise rauchten, die Räder sich hitzten zu dunkler Rostgluth. Hinter ihnen losgelassen folgte das ganze Gewitter, Frauen mit feuchten Haaren, Rübezahl der Berggeist mit dem Barte, das ganze Heer der Wilden, Eingebannten. „Ich kenne Euch! Ich kenne Euch! Willkommen, Gesindel!“ Drinnen war es still. Er hörte nichts mehr. Der Wagen schlug auf wie ein klappender Kasten, nur noch Holz, etwas Lebloses, etwas Unförmiges, das die Pferde erschreckte, hinter ihnen hing, nach dem man sich nicht umsah, immer zwischen ihren Beinen verwickelt, sie stiess zu rasenderem Lauf. Und nun, ganz deutlich, vernahm man die Stimme des Flusses, zwischen allen diesen Bächen, Wässern, die neben ihnen gossen, vom Walde und Wolkenbruch angeschwollen. Er röhrte wie ein Hirsch in Wollust. Er war allmächtig. Bäume, mit der Wurzel ausgerissen, fuhren und drehten sich blitzgeschwind. Die Steine seiner Tiefe kollerten polternd übereinander. „Ihr denkt, ich drehe Euch Eure Mühlen, schaffe Euer Licht, trage Eure Brücken – Euer Diener, Euer gehorsamer! Euer Speichellecker! Ich hasse Euch! Ich hasse Euch!“ Er fühlte sich stolz, alle Demüthigung dieser vielen Jahre fortgeschwemmt, zerbrochen der Zaum, den er im Munde getragen. Bücken, heucheln und lügen! – Sie hatten ihn gehalten. Er hielt sie. Er war stark. Da war der rothe, glorreiche Tod dahinter, über ihm und in ihm, Satan mit prachtvollem Lachen, aufgereckt der Titan. Er war der Starke. Nichts! Nichts gegen ihn! Er schnalzte mit der Zunge, schwang die Arme fuchtelnd in der Luft, Laute südlicher, infernalischer Idiome, die den Blutdurst rufen, Tänzer zu den tollsten Gliederverrenkungen aufstacheln und die Frauen willenlos machen unter dem Gluthhauch der Brunst. Alles das hatte er gesehen und genossen im delirirenden Suchen nach Genuss, unter der platzenden Sonne des Mittags. Todt! Todt! Todt! Elendes Aas, von dem sich die Hunde abwenden mit Grauen, sein leeres Hirn zerschellt an den Steinwänden. Nichts drin, das Grinsen selbst des Todtenschädels zerstört im grösseren Grausen, dieser zersplitterten Knochen, zerschundnen Häute unter dem Orden, dem Frack. „Geht! Geht, meine Engel! Fliegt, meine Feuerrosse! Springt an, meine Wildlinge!“ Senkrecht weiter ging es in toller Flucht. Ein Rudel Wild hatte sich da zusammengedrängt im Hohlweg, Schutz suchend in scheuem Schrecken. Mitten unter sie sprangen die tollgewordenen Rappen. Ein Gekreisch der Stummen, die nie sprechen, fuhr auf, Blutgeruch, warme Spritzer ... Die Klage erstarb im Tannenwald. Und jetzt setzte der Donner ein. Ein Trommelrollen wie von tausend Tambouren. Der Wirbel ging über den ganzen Himmel hin, zornig und rufend ... und verhallte. Er war jetzt ganz frei. Er führte die wilden Rosse seines Lebenswagens gegen den Abgrund. Eine jauchzende Kraft kam über ihn. „Wir können nicht leben wie wir wollen. Aber wir können sterben und den Tod verachten, denn wir wissen, dass er kein Tod ist. Nur ein leeres Schreckgespenst, ein lächerlicher Schwindel gar nicht existirender Gewalten. Taschenspielerkunststück Derer, die sich schwach fühlen!“ Der Donner, ein zweites Mal, gab Antwort, ein Tiger mit ungeheurem hängenden Bauch, der über weite Flächen springt; im Sprunge brüllt er ... ... „Der Schwarze Bock in Purpurfinsterniss erscheint“ ... Höllengeschichten fielen ihm ein. In Pariser Schlammpfühlen, affreuse Weiber, schwarze Messen, wo man mit dem Blut der Wollust die Todten beschwor, Hüftenverrenkungen in Bauchtänzen geschlechtsloser Vorstadtbajaderen, Augen, die über der Verwesung schwammen wie fischige Perlen in perlmutternem Glanze.... Diese ganze Civilisation, impotent und pervers, in den letzten Zügen röchelnd, mit Haschisch und Qualen sich aufpeitschend zu neuen Sensationen, ein zweites, neues, junges, greisenhaft altes Rom, wo die Messalinen ordinaire Cocotten sind, die Neros und Heliogabals, Boulevardbummler, verwöhnte Muttersöhnchen, Sprösslinge jüdischer Banquiers und christlicher Prostituirter. Wie gemein! Wie gemein! Ein Gelächter schüttelte ihn wie im Krampf. Der Hut war ihm vom Kopf geschlagen. Er riss sich den Rock auf. Er drängte sich nackt, hoch, dem Tod und dem Nachtwind entgegen. Ein Schrei gellte auf von irgendwo. Vielleicht ein Wandrer? Der Chausseewärter? Die wilde Jagd stob vorüber. Er fühlte die feuchten wehenden Haare der Hexen hinter sich, ein lascives Gelächter nackter Trollen und Faune. Sie ritten mit entsetzlichen, unbeschreibbaren Gesten. Die Jungen waren hübsch mit traurigen Augen. Die Aeltern waren noch schrecklicher, schwarz, Aeser geworden in der lebendigen Verwesung ihres Lasters. Er wusste nicht mehr, was er hinter sich herzog. Einen Cadaver. Ein Aas in Fetzen. Einen Lumpen ... Er hörte nur noch das Brüllen des Wassers, fühlte die Feuchtigkeit. Steine rollten mit ihm bergab. Sie hüpften, kugelten, kollerten, surrten. Hohhi hoh! Er hetzte die Rappen zum Todessprung. Plötzlich standen sie kerzengerade. Der ganze Himmel flammte im Feuer. Er schien zusammenzukrachen von allen Seiten, zu bersten, zu schüttern, zu schwingen ... Wie ein eiserner Vorhang, ganz von Eisen, schwarz, und schwer vom Gewicht aller Himmelsgewölbe klappte der Donnerschlag. Dann nichts mehr. Dunkelheit. Eine Hand hielt seine Hand gefasst. Er versuchte die andre gegen seine Stirn zu führen. Sie war warm vom Blut. „Wohin führst Du mich?“ „Wohin Du nicht gewollt hast – _Paulus_!“ DAS ACHTE KAPITEL. Der Superintendent war doch in einer gewissen Erregung. Der „geniale“ Streich der Gräfin hatte ihn etwas verletzt, trotzdem sie es seitdem wieder gut zu machen versuchte, die Frau Superintendentin in ihrem eignen Wagen mitnahm. Man sprach viel von dem Fremden. Die Baronin hatte überall von dem Odschein erzählt. Man brachte das Neuaufblühen des Socialismus mit ihm in Verbindung. Zeitungen, die der Kirche übelwollten, erzählten kleine Anekdoten. Ein wissenschaftlicher Aufsatz behandelte die Frage ganz ernsthaft, er war von einem modernen Schriftsteller verfasst, der sich bis dahin hauptsächlich mit Ehebruchsdramen und Erotik beschäftigt hatte, nun alles Heil im Mysticismus sah. Unter den schönen Seelen der Stadt bestand eine gewisse Erregung. Ein junger Hülfsprediger wurde sehr populär. „Er ist so tief,“ sagten diese Damen. Unglücklicher Weise bildeten diese Damen eine Macht. Es wurmte den alten Herrn, dass sie ihn für „nüchtern und protestantisch“ hielten. Niemand sieht seine Kirche gern leer. Er hatte natürlich zunächst an eine Denunciation nach oben gedacht, das war wohl seine Pflicht eigentlich. Aber ein zweischneidiges Mittel. Man konnte finden, dass er eine Schwindelaffaire zu sehr aufbauschte. Andrerseits hielt man es wohl gar für Eifersucht, die Pfaffen kriegten es mit der Angst. Ein jovialer Reitergeneral, Durchlaucht, hatte ihn schon gefragt: „Was würden Sie jetzt mit dem neuen Christus machen? Da können Sie einpacken, Pasterchen!“ Er durfte sich solche Jovialitäten erlauben. Dafür wurde der Superintendent immer eingeladen. Er war Burgpfaffe bei den Herren Offizieren. Dann die katholische Concurrenz – die rührte sich nicht. Man wusste ja, da war Alles Mysterium. Es gab geheime Winke von oben. Vielleicht war ihnen die Geschichte nicht unangenehm. Sie hatten ja zum Schluss immer den Vortheil, weil sie abwarten und schweigen durften. Schweigen und abwarten dürfen war eine grosse Sache. Das ist der Vortheil der alten historischen Gewalten; man, als Parvenü, musste auf dem Posten sein, Schritt halten, die Vereinigung mit der Wissenschaft nicht fallen lassen. Die Wissenschaft hatte dem geistlichen Herrn schon manche schwere Stunde bereitet. Es war eine Universität in der Stadt, dadurch beständige Kabbeleien. Die Herren passten Einem auf die Finger. Von Hölle und persönlichem Teufel durfte man schon gar nicht reden; obgleich diese Dinge für die Plebs noch immer zogen. Dann waren die schönen Seelen, die Einen nüchtern fanden, zur Weihnachts- und Ostermesse in den Dom liefen oder mit mystisch angehauchten Hülfsgeistlichen Conventikel abhielten. Der Superintendent war ein geplagter Mann. Uebrigens grollte die Superintendentin. Sie fand, dass er als _Mann_ dem Unfug mit einem Schlag ein Ende machen musste. Die Superintendentin appellirte oft an den Mann. Sie selbst war ein Charakter. Dann hatte man die Sanitätsräthin über sie placirt; so gut wie die Sanitätsräthin war sie allemal. Der Sanitätsrath war ein Cyniker. Das Interessanteste an Tolstoi wäre seine Diät, sagte er. Er erlaubte sich dann sogar Anspielungen auf die gar nicht Tolstoi’sche Diät in der Superintendentur. – Man hatte etwas auszustehen als Mann Gottes in diesem ungläubigen Jahrhundert. Und oft dachte der Superintendent mit Seufzen an die Zeiten, als noch ein kirchlicher Fingerzeig genügt hatte, um Unbefugte auf den Scheiterhaufen zu schicken, Calvin über dem fröhlichen Genf seine Ruthe schwang. Der saubereingebundne Band seiner Predigten 1897–1900 tröstete ihn dann. Ein Geschenk der Frau Superintendentin. Sie hatte sie selbst nachgeschrieben. – So hatte doch auch der Fortschritt, selbst die Buchdruckerkunst, diese Teufelserfindung, sein Gutes. Der Superintendent hatte den Fremden zu einer Besprechung zu sich eingeladen. Die Einladung war in ganz höflichen Worten erfolgt. Erstens, die christliche Milde auch gegen den irrenden Bruder, dann existirte ja auch eine geistliche Gerichtsbarkeit, die vorfordern konnte, nicht mehr. Er erklärte sich die Sache so: Ein ungebildeter Mann, ein Handwerker – der Superintendent betonte das „ungebildet“ –, von Mysticismus, sitzender Lebensweise angekränkelt, hatte sich in diese Dinge vertieft. Voraussichtlich würde er ihm lange confuse Reden halten, von einer Mission, Erscheinungen. Man kannte das, und seine Wirkung auf das ungebildete Volk. Gerade weil ihnen das Alltägliche nicht gut genug war, sie das Ruhige und Vernünftige nicht thun wollten, liefen sie nach dem Wunderbaren. Der Hirte kannte seine Heerde. Man würde mit diesem Manne vernünftig sprechen, seine Absurditäten nachweisen, selbst wenn man ihn nicht überzeugte. Heilsarmee, tausendjährige Reichsgeschichten waren ja Mode jetzt. Dieser Hang hatte ihm schon viel Sorge gemacht. Er witterte die alte Hure von Rom, das babylonische Weib, das von Neuem seine Netze auswarf. Und man musste so vorsichtig sein wegen der Behörden, durfte das Unkraut nicht ausjäten. Der Superintendent hatte sich zu dieser Besprechung noch einen Confrater eingeladen, der Consistorialrath war, Professor an der theologischen Fakultät, Kirchenhistoriker. Man war so zu Zweien, stärkte sich vorher weidlich an gutem Tabak und bessrem Wein und konnte die möglichen Ergebnisse gleich erörtern, während die Frau Superintendentin mit der Consistorialräthin Kaffee trank. Dabei hatte man dann auch allerlei interessante Fälle und Ketzereien zu erörtern. Der Superintendent war dafür, den Fremden nicht gleich vor den Kopf zu stossen, ihn im Gegentheil leutselig, als gewissermaassen zum Fach gehörig, zu behandeln. „Es ist ja auch möglich, dass ein Laie durch Nachdenken, besondre Gnade, ungewöhnliche Einsicht in göttliche Dinge erlangt und Beherzigenswerthes von sich giebt. Der Fall wäre denkbar. Ich kannte einen Schuster, der über die Gnadenwege und Melchisedek, den König von Salem, stritt wie der gewiegteste Theologe.“ Der Confrater schüttelte lächelnd den Kopf: „Wir haben das Beispiel der Wiedertäufer, der Methodisten in England. Die theologisch geschulte Intelligenz fehlt, das Reguläre, Feste, darum Lebensfähige.“ „Aber es waren doch in den Irrthümern dieser Leute – allerdings gleich Körnern in der Spreu verborgen – auch einige unbestreitbare evangelische Wahrheiten enthalten.“ „Das ist eine gefährliche Ansicht. Jesuitisch – so gewissermaassen: der Zweck heiligt das Mittel, lieber Bruder.“ Dieser Herr war bekannt dafür, dass er die feinste Nase in Deutschland hatte, um die Jesuiten zu riechen. Das war sein rother Lappen, auf den er überall losging, ihn überall herausfand, wie der Spürhund die Fährte. „Hat uns nicht Martinus von dem Aberglauben befreit? Und sagt nicht der Herr selbst: Ihr, die Ihr Zeichen und Wunder sehen wollt ...“ Der Confrater hob warnend den Finger. „Nichtsdestoweniger giebt die Schrift ausdrücklich die Möglichkeit solcher zu. Nicht nur im übertragenen, sondern auch im wörtlichsten Sinn.“ „Wir sollen Gott nicht versuchen. Vermessenheit, Freund, Vermessenheit! Es ist die grosse Aufgabe der modernen Theologie, die Wissenschaft mit der Religion zu vereinigen.“ „Es wird immer Vieles bleiben, was wir nicht wissen.“ „Da haben wir uns dann wohl in Demuth mit der beschränkten Einsicht hienieden zu genügen. Das ist eine gefährliche Bahn, lieber Bruder. Eine Schlinge des Argen, ebenso gut wie die er in der Lauheit uns legt, dem vollständigen, rationalistischen Ablehnen des Wunderbaren und Unfasslichen. ‚Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort. Dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich es stückweise. Dann aber werde ich erkennen, gleich wie ich erkannt bin.‘“ Hier meldete das Dienstmädchen, dass ein fremder Mann in der guten Stube wartete. Sie war augenscheinlich etwas in Zweifel, ob ihm wirklich die gute Stube gebührte und wartete auf Bescheid. – Man hörte eine Thür sich öffnen und vorsichtig wieder einklinken aus dem Zimmer, wo die Frau Superintendentin mit ihrer Freundin sass. Der Superintendent empfing den Gast dem Programm gemäss mit demonstrativer Herzlichkeit. „Nun, lieber Freund? Nehmen Sie Platz, mein Lieber! Ich habe Sie hergebeten mit diesem meinem sehr geschätzten und verehrten Collegen, um mich mit Ihnen über Ihre religiösen Ansichten zu unterhalten. Das ist immer lehrreich für einen Diener am Wort, gewissermaassen ja auch meine geistliche Pflicht, obgleich Sie ganz als Freund hier sind, mein Gast und in aller Güte. – Ich vermuthe, Sie gehen von der sehr richtigen Ansicht aus, dass das Evangelium den Laien wieder mehr in der Form des täglichen Brotes gleichsam, nicht nur an Sonntagen in der Kirche, näher gebracht werden muss. Es soll wieder ein Bestandtheil des täglichen Lebens werden, und Sie denken, dass dazu Predigt und persönliche Ansprache, selbst Aufsuchen des Einzelnen, das Geeignetste ist. Es wären dies wohl gleichsam die Principien, auf die sich die mir sehr interessante moderne Agitation der Heilsarmee stützt. Ich möchte, dass Sie mir nun in kurzen Worten das Dogmatische Ihrer Lehre, den festen Kern der Heilswahrheiten, auf die Sie persönlich den Hauptnachdruck legen, entwickelten.“ „Ich habe keine.“ „Sie verstehen mich nicht. Jedenfalls gehören Sie doch irgend einem Bekenntniss an, oder haben sich in Ihrem Innern für ein solches entschieden? Wenn Sie Protestant sind, halten Sie sich an die Augsburger Confession? Folgen Sie eher Luther? Jedenfalls doch – und das ist wohl kaum eine Frage – stehen Sie mit uns auf dem Boden des apostolischen Glaubensbekenntnisses?“ Der Superintendent sah ihn streng an. Der Confrater nahm eine Prise. „Ich kenne es nicht,“ sagte der Fremde. Der Superintendent war roth geworden wie ein Mohnkopf. „Aber – aber – das ist die Hauptsache. Das ist Christenthum, die geheiligte Norm, für die unsre Väter, die erste Christenheit gelitten und gestritten haben. Das Andre ist leere Phantastik, giebt der weitesten Irrung Spielraum, der Regellosigkeit.“ „Es giebt das Leben.“ „Welch’ ein Irrthum! Welch’ ein verhängnissvoller und weittragender Irrthum!“ rief der Superintendent warm. „Es wäre ja denkbar, dass ein Mensch, der ganz ausserhalb der christlichen Heilssphäre stände, den Namen Christi nie gehört hat, auf rein deduktivem, moralphilosophischem Wege zu einer der christlichen durchaus ähnlichen Ethik gekommen wäre, wenn hier eben blos die Ethik das Entscheidende wäre. Denken Sie, dass das ganz denkbar sein könnte?“ „Es ist denkbar,“ sagte der Fremde. „Stoiker,“ nickte der Confrater. „Griechische Philosophen der nachplatonischen Schule! Das sind die Argumente, die schon die französische Revolution gebrauchte.“ „Sie würden doch nicht sagen, dass ein solcher Mensch ein Christ wäre, mit uns Theil hätte an der Erlösung durch den Leib des Herrn?“ „Ich würde es sagen.“ „Und wie wird er dastehen im nächsten Leben, wenn Christus die Seinen um sich versammelt, die im Blut des Lammes Gewaschenen, auf seinen Namen Getauften eingehen, und die Andern abgetheilt werden zur Linken?“ Der Superintendent wischte sich den Schweiss. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trocknen. „Ich weiss es nicht.“ „Eine Art Allheilslehre,“ beruhigte der Confrater. Das Wortspiel zwischen „Leere“ und „Lehre“ amüsirte ihn. „Socialistische Moral des Christenthums. Das ist blos die Frucht. Der Glaube ist das Erste.“ „Ich glaube, dass die That das Erste ist.“ Jetzt sah der Superintendent wieder Fahrwasser. Er war ganz erfreut. „Das ist die Lehre von den Werken, das Katholische, Papistische, wogegen schon Lutherus sich auflehnte. Wir können aus uns selbst nicht gerecht werden.“ „Wir können wollen.“ „Und die Rückfälle? Das menschliche Gesetz bestraft sie. Wie wird sie Gott nicht strafen?“ „Wie soll Gott sie strafen, wenn sie in sich selbst ihre Strafe tragen?“ „Fatalismus,“ notirte der Confrater. „Die Bösen! Die Bösen, Mann! Wie erklären Sie die Bösen?“ „Es ist ihr Unglück.“ Dem Superintendenten wurde in der That die Halsbinde zu eng: „Unglück? Und der, der kämpft, das Gute will, Gutes thut? Sollen die Guten keinen Vortheil vor den Schlechten haben?“ „Sie sind glücklich.“ Der Confrater mischte sich jetzt ein: „Sehr interessant. In der That höchst interessant. Das ist Buddhismus. Es ist die Lehre des Buddha. Wenn man denkt, dass sie dreitausend Jahre alt ist! Haben Sie irgend welche Verbindung mit diesen Religionsgesellschaften gehabt? – Es könnte doch sein in irgend einer corrupten Form“ – (dies für den Collegen) –, „Bücher darüber gelesen?“ Der Fremde sah den Confrater an. „Alles ist Verbindung,“ sagte er. „Natürlich! Die Wiederkehr! Die Wiederkehr!“ Der Professor rieb sich die Hände höchst befriedigt. „Das ist das charakteristische Merkmal. Sie geben sich das weiter wie ein Geheimniss. Fragen Sie ihn doch, ob er an die Seelenwanderung glaubt? Gerade für die populäre, gewissermaassen kindliche Phantasie haben diese Verwandlungen etwas Anziehendes. Sie finden das im Volk in tausend Märchenvorstellungen, Geschichten von Wehrwölfen, Schwanenjungfrauen, sprechenden Bäumen. Selbst in dem indianischen Märchen des Hiawatha von Longfellow kommt diese Idee wieder, in der Verkörperung des Samenkorns. Isis und Osiris, Baldur, ... Es ist Alles dasselbe.“ „Aber das ist nicht das Schlimme, das ist das Gefährliche nicht!“ platzte der Superintendent los. „Die Moral! Die Moral! Diese Lehre vom Nirwana, der blinden Ergebung, der Thatenlosigkeit, der stumpfsinnige Fatalismus des Orients wieder zu uns verpflanzt! Das ist der Tod aller Cultur, allen Fortschritts, aller Humanität. Das ist Heidenthum! Heidenthum! Das Christentum ist Kampfesmuth, Streben, Krieg!“ „Auf den Krieg folgt der Friede.“ „Friede da droben! Hier ist Kampf. Wir sollen Kämpfer sein.“ „Krieg in uns, Friede nach aussen.“ „Wir sind nicht hier, um Frieden zu haben. Unser Leben ist Ringen und Unruhe. Da oben erst wird er uns zu Theil. Aus Gnade.“ Der Fremde lächelte. Der Superintendent war auf einem Lieblingsthema. „Der wahre Christ ist vor Allem ein Streiter. Seine Feinde sind der Satan, die Sünde in uns und ausser uns. Wir sind arme Sünder.“ „Wenn wir siegen?“ „Selbst wenn wir unser eignes Fleisch überwunden haben. Die Sünde in der Welt bleibt. Sie greift uns an. Wir haben uns zu wehren gegen sie.“ „Sie existirt nicht gegen uns, wenn sie in uns nicht ist.“ Der Confrater nickte von Antwort zu Antwort mehr befriedigt. „Wir kommen jetzt auf das Fakirwesen, Hallucinationen der Märtyrer.“ „Sie wollen das nicht sagen? Das ist Vermessenheit, mein Lieber! Unser Fleisch bleibt der Anfechtung unterworfen, so lange wir im Fleisch wandeln. Wer da meint, er stehe, der sehe wohl zu, dass er nicht falle. Der Ehrgeiz – die böse Lust – Reichthum. Selbst ich –“, hier fasste der Superintendent den Fremden beinah am Rockknopf, „– selbst ich, der ich ein Diener am göttlichen Wort bin und alle seine Schlingen kenne – ich habe meine Momente der Schwäche, der Anfechtung. Ich habe Versuchungen zu bestehen ... Das ist unchristlich, Mann! Stützen Sie den Glauben! Sprechen Sie gegen die Gottlosigkeit! Auf dem Lande. Unsre Bauern haben dicke Nacken. Stolz und Habsucht sitzen da steif drin. Gott sei Dank! sind sie noch gläubig. Die Grundvesten unsres Glaubens sind unangetastet. Die moderne Anarchie und Zweifelsucht ist da noch nicht eingedrungen. Das geht immer Hand in Hand. Das bedeutet die Emanzipation des Fleisches. Wir würden uns wie Schweine im Koth wälzen. Im Koth! Sehen Sie das alte Rom! Babylon! Die antike Welt vor Christo.“ „Sie hat Christus hervorgebracht.“ „Christus ist das ganz Vollkommene, Gute. Das Fleisch ist das Böse. So kämpfen diese beiden Gewalten. Bis das Gericht kommt, das Gute siegreich bleibt im unschuldigen Blute des Lammes, das Böse im Abgrund verschlossen wird mit adamantnen Ketten. – Das ist der uralte Kampf.“ „Demiurgos, Ahriman und Ormuzd,“ bestätigte der Confrater. „Lehre von der primären Theilung der Gewalten.“ Die Frau Superintendent hatte schon mehrmals merklich und merklicher an die Thür geklopft. Jetzt steckte sie ihre Haube selbst durch den Spalt. „Excellenz von Koschemann ist für den Bazar gekommen. Wenn Du einen Augenblick Zeit hättest, lieber Willibald ...“ „Auch ich bin ein Soldat des Herrn. Sehen wir zu, dass wir gut kämpfen. Und das Heil finden, das es für uns nicht giebt, denn allein im gesegneten Blut des Lammes dereinst, das unsre Sünden abwäscht weiss wie Schnee.“ Der Fremde war entlassen. Der Confrater sah ganz klar. „Gnostiker, die alte Geschichte. Das hat immer angefangen mit der Antastung des Buchstabens. Der Buchstabe, mein Freund! Das Wort sie sollen lassen stahn! ... Und jetzt lass uns zu unsern liebenswürdigen Damen gehen.“ DAS NEUNTE KAPITEL. Und er ward im Geist entrückt in eine fremde Stadt. Die Glocken läuteten. Eine ungeheure, unzählbare Anzahl von Glocken. Es waren dumpfe, grosse darunter, die mit der Stimme des Erzes riefen, der Kanonen, furchtbarer Ereignisse, Krieg, Pest und Feuersbrunst. So stark riefen sie, dass Niemand ihren Klang in der Nähe aushalten konnte, die Luft ihn lange behielt, ehe er verhallte. Sie schwangen in furchtbaren Höhen und thronten einsam in Kammern weit über den Köpfen der Menschen. Die ihre Stricke bewegten, sassen sehr niedrig auf schwebenden Balken und wurden beinah gespalten von der Heftigkeit des Klanges. Diese Glocken läutete man nur bei ganz grossen Gelegenheiten. Wenn sie klangen, sahen die Leute auf und sagten: Es ist das oder das. Sie meinten ein sehr hohes Fest, ein grosses Unglück oder eine grosse Freude. Die ganze Stadt und das Land ringsum kannte den Klang dieser Glocken. Man war stolz darauf und fürchtete sie auch. Andre waren milder, mittlere. Die läutete man alle Sonntage. Man hörte sie auch weit, über ein ganzes Stadttheil oder eine Strasse. Ein Klang von Silber war in ihrem Erz, der sprach von Güte und Milde. Sie lockten, und schreckten nicht, läuteten regelmäßig mit kräftigen, hallenden Schlägen, wie die Stimme eines Predigers, die klangvoll spricht in schönen, malenden Worten. Und es waren ganz kleine, die einzeln riefen wie einzelne, verlorene Stimmen. In mancher war ein sehr helles, feines Klingeln oder zitterndes Wimmern, die eilige Angst einer Agonie, oder der sanfte Schmelz einer Frauenstimme, sehr weit fortgetragen auf himmelansteigenden Trillern zu reinen Aetherhöhen. Der pure Goldklang ganz feiner Eliteseelen, die um den Thron Gottes lobpreisen, und ein kleines, gleichgültiges, hastendes Bimmeln, in dem Viele sich vereinten, wie das der Pferdebahnwagen, dieser Schellenbeutel, die herumgegeben werden in den Gemeinden zwischen den Pausen des Gottesdienstes – lästig fast, nur die Ohren füllend, das zum Alltagslärm gehörte, ihn irritirend machte. Alle Glocken läuteten. Die grossen gaben den Ton an. Die mittleren fielen ein wie ein gutgeschulter Chor. Die ganz kleinen waren Geräusche, oder Stimmen junger Kinder. Alle läuteten. Die Luft war sehr voll und schwang von ihrem Klange. Und die andern Stimmen des Lebens schwiegen. In den Kirchen und Domen drängte sich die Menge. Es war halbdunkel in diesen Hallen, dass man die Einzelnen in den Tausenden nicht erkennen konnte, Männer oder Frauen, reiche, gutgekleidete Leute oder ganz Arme. Ihre Gesichter bildeten blasse Flecken im Dämmer, wie aufgewandte Kelche von Blumen, die ihr Athmen wie ein Duft umwallte. Die übrige Schwere des Körpers blieb unbestimmt, ertrunken in unruhigem Schattenspiel der Vielen, dem lastenden, schweren Dunkel dieser Steine, ungeheurer Steinmassen der Gewölbe und Mauern. Säulen standen wie Baumstämme ohne Aeste mit schweren Blättern und Steingewinden um ihre Kronen, während feine, tiefe Rillen an ihnen hinabliefen, von Regentropfen gegraben oder ewig fliessenden. Von stützenden, lastbaren Pfeilern schwangen sich die Wölbungen auf, Bogen und Brücken, gespreizte Fittiche des Adlers, kühn und immer kühner bis zum schwindelnden Ansturm der Kuppel, die den Stein zerbrach, die Schwere des Materials aufhob im ungeheuren, athemlosen Aufschwung der Seelen. Der Schritt klang hohl vom Echo der Millionen Schritte, die da schliefen in tausendjährigen Steinquadern. Von schlanken, weissen Kerzen stiegen gelbe, zitternde Flammen, umgekehrte Herzen, blauen Schein der Sehnsucht ausathmend. Ein Duft von Weihrauch, Wachs und Thränen lag schwer in Nebeln und wallenden Wogen. Man sah Altäre sich golden recken, Gold vom Fuss bis zur Spitze, in immer feineren Säulchen, Treppen, Bögen, inkrustirt mit bunten Edelsteinen, die Lichter gaben im Dunkeln wie Schlangenhäute, Augen seltsamer Reptile und Käfer, Wunder von goldnen und silbernen Spitzen, Rosen und Blumen, eingefrorne Rhythmen, mystische Zeichen und Runen aufsteigend wie Gedichte. Eine unverwelkliche Pflanzung aus menschlichen Herzen, mirakulöse Flora des Glaubens, hierher geflüchtet in eine heilige Grotte, unter dem Dämmerlicht der bunten Gläser, gefärbt mit ihrem Blute: Roth, welches die Liebe und der Tod ist, Blau des Glaubens, festruhendes warmes Grün der Hoffnung und des Lebens. Und Krämpfe, furchtbare Leiden, zerschnitten den himmlischen Dreiklang: Gelb der Pein und des Geizes, in den Gewändern der Aeltesten und Schreiber; Violett der Eifersucht, das zugleich die heilige Farbe der priesterlichen Macht und der Ehrfurcht ist; ein helles, gefiltertes Rosa, welches gemartertes Fleisch der Gequälten vorstellt und auch die liebliche Unschuld des Kindes. Alle spiegelnd, irrend, flehend um das klare Gold des Triumphes, Farbe der Sonne, wo die Mutter thront mit dem Kinde, die Heiligen knieen in seliger, weltentrückter Anbetung. Wie ewige Pfeiler standen sie da, die Starken, der Apostel heilige Zwölfzahl, wunderbar die Reihe der Monde, des Sternkreises wiederholend, Propheten, Sybillen – die wussten und aushielten. Märtyrer öffneten blutrothe Wunden, Laurentius auf dem flammenden Bett, Sebastian mit durchbohrter Brust, Agnes, ganz nackt, nur in den strahlenden Mantel ihrer Haare gehüllt, unter den Augen der Wollust, – aufgerissne Seiten, furchtbare Verrenkungen der Gefolterten, Striemen der Gegeisselten. Die Heiligenscheine dominirten über verklärten Stirnen. Die weisse Taube des Geistes schwingt sich glorreich auf über Blut, Flammen und Qual. Sie singen. Aus den Tiefen hebt es sich. Von der geknickten, schwarzen, wimmelnden Masse – De Profundis. Langgetragen, hohle Rufe wie Appellrufe in der Noth, schneidender Wehschrei der Gequälten, zitternd, sehr hoch schwebend, wie ein Weib schreit in Kindesnöthen: Miserere – Miserere ... Dumpfer Trommelschlag. Vokale fast Alles, sonore, volltönige, die nicht fallen – Ora pro nobis, aufsteigend zu männlichem Muth, Schlachtgesang, bis zum jauchzenden, hellen Posaunenstoss der Befreiten, gellend fast, schmetternd in Siegeszuversicht: Tedeum laudamus. Die Stimmen schweigen. Das Wort allein spricht. In marmornen Worten, Sätze, die feststehen wie die Welt. Rollende Vokale, geheimnissvoll, kräftig, wie die die schufen, – das grösste Mysterium der Menschheit, Wein und Brot, uralte Mysterien, heiligste Symbole des sacrosancten Lebens. Ueber der Menge, die kniet, hungernd, brünstig, erhebt der Priester das Allerheiligste. Er selbst ist weiss, ganz weiss. Er ist hundertjährig. – Es giebt einen goldnen Schein wie die Sonne. In einem ungeheuren wehen Seufzer hebt sie sich, es zu empfangen – das Opfer von Gott angeboten. Blut und Fleisch, für das andre Opfer des Fleisches und des Blutes, des Lebens, an das grosse Leben, das prangend weggeht über den Tod, Jammer und Kleinheit. ‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐ ... Ein enger Holzpfad im Gebirge. Das Gebirge liegt verschneit seit Wochen. Bis an die Knie hoch steigt der Schnee. Die Tannenzweige brechen unter seiner Last. Gleich Zuckerhüten ragen die Baumwipfel aus der Weisse. Man unterscheidet nur höhere und niedrigere Lagen, Steine sind Schneekuppen. Gleichmässig ist er im Grunde, hart, vereist, eingestampft. Aber die Oberschicht ist federweich, eine Hand hoch, glitzernd, feiner wie der Flaum auf Brüsten der Eidergänse, mit Seidenreflexen. Unter dem Schnee begraben liegen Moos, Gräser und Gesträuche. Er stäubt in Puder von den überlasteten Zweigen. Kleine Aeste und Holzstückchen, die sich ablösen, versinken lautlos. Die Lücke, die sie verursachen, schliesst sofort die streichelnde Sammethand. Der ganze Wald leuchtet weiss, blauweiss vom Schimmer des jungfräulichen Schnees. Der Fuss versinkt in ihm wie in Daunenteppichen. Ohne Kühle fast. Aber er hebt sich schwer heraus. Das Leder des Stiefels wird hart und spröde von der Feuchtigkeit, die nirgends das Wasser zeigt. Und immer fällt der Schnee. Man sieht keine Spuren des Wildes. Es ist erfroren, festgefroren wie stehende, steinerne Bildsäulen in Mauern von schmeichelnden Krystallen oder es verkriecht sich im inneren Tann, wo das Dach der Zweige es schützt, karge Nahrung sich findet an Sprossen und Rinde. Der Schnee füllt die Fahrgeleise des Weges aus. Er steigt zu seinen Rändern und vermischt sie. Wie Gespinnste in seinem Innern ziehen sich dürre Bastadern der Farne und Heidelbeerbüsche. – Die Stille ist sehr tief und der Schnee fällt. Durch den tiefen Schnee sucht sich der kleine Priester seinen Weg. Er trägt die letzte Tröstung zu einem Sterbenden. Der Tod ist rasch gekommen. Ein blutjunger Bursch, der Spielmann Anderl. Heute hatte sein Schatz Hochzeit gemacht mit einem Andern. Der Spielmann war zurückgesprungen über die Berge, das fressende Gift im Leibe und den Kopf im Feuer. „Geht’s schlecht, so geht’s schlecht, geht’s gut, kürz’ ich mir den Weg um Stunden.“ Am Hornbiehel war er abgestürzt. Jetzt lag er im Todeskampf in der Holzschlägerhütte. Durch Schnee und Nebel im beeisten Gebirge kämpfte sich der kleine Priester zu dem Sterbenden. Er war noch sehr jung, noch nicht lange da oben. Man nahm für die Stelle die ganz Unbedeutenden, die Bescheidenen, die nicht Carriere machen würden. Niemals hatte er daran gedacht, ein Findelkind, das man den Priestern übergeben. Regelmäßig liefen die kargen Beiträge für ihn ein, von einem Büreau bezahlt an eine Kasse, ohne Persönlichkeit, ohne Namen. Er hatte niemals eine andre Heimath gekannt als das Kloster. Da war seine Stätte, am Altar. Der liebte ihn und der hatte ihn nicht zurückgestossen. Mit weissen Blumen umkränzte er ihn. Er sang. Er schwang seine Weihrauchschale, weissgekleidet als Chorknabe, Diener am heiligsten Messopfer, eh’ er selbst daran theilgenommen. So war er aufgewachsen, in dieser Atmosphäre der Liebe, Weiss und Gold, den heiligen Farben der Unschuld und des Triumphes. Ohne einen andern Gedanken. Er liebte Alles. Es war um ihn wie der weiche, milde Schein, der vom linnengedeckten Altar ausging, der Lampe, die ewig brannte in all dieser Weisse, dieser Stille. In lasterverzerrten Zügen sah er das Leid. In ihrem Hochmuth die Angst. In ihrer Schönheit, rührender als ihre Schönheit, den Tod. Wie auf weissen Rosen ging er mit nackten Füssen, lächelnd das Heilige tragend gleich Engelknaben. Und vor seiner demüthigen Stirn neigten sich die Stolzen. Die Bescheidnen fassten Muth. Alles liebte ihn. Es war, wie wenn die Vögel süsser sangen, wenn er vorbeischritt im Klostergarten. Sie waren zutraulich und pickten von seinen Händen. Die Blumen, die er pflanzte, gediehen. Ruhig und majestätisch entfalteten sie sich. Die Sonne schien nicht zu heiss auf sie. Irgendwie hörte der Sturm auf um ihre schlanken Stengel. Es gab alte Mönche im Kloster, die das Leben gekannt hatten. Es hatte harte Narben gegraben in ihre Seele. Sie liebten ihn, die alten Wunden brannten nicht, wenn er da war. Nur eine Gabe besass er, die lieblichste David’s, der Musik. Die Töne wurden lind unter seiner Hand und wenn er spielte, hörte der Tumult auf in leidenschaftdurchwühlten Herzen. Niemals war er stolz gewesen oder ungütig. Ein Kind Jesu! Er trug diesen Namen, halb der Schande, wie eine feine, goldne Aureole. Die Grossen übersahen ihn und für die Klugen war er nichts. Er hatte keine Disputationen geschrieben über Fragen des Glaubens. Die weltliche Macht der Kirche liess ihn kalt. Der Beifall einer Menge hätte ihn schüchtern gemacht. Aber er liebte die kleinen Kinder. Sehr alte, hülflose Leute waren ihm ehrwürdig. Er richtete die geknickten Halme auf und ihn erbarmte der Vogel unter dem Himmel. Tapfer kämpfte der kleine Priester durch den Schnee. Der Schnee fiel in weichen, grossen, fasernden Flocken aus Wolken, die selbst Schneesäcke waren. Sie hingen so niedrig, dass man nicht sah, wo sie aufhörten und das Gestöber anfing. Ihre Vorräthe schienen unendlich, als ob ein ganzer Himmel voll von Schnee hinter ihnen läge. Er leerte sich langsam. Von den Schichten bauten sich Mauern ihm entgegen. Nichts konnte mehr welchen aufnehmen. Aus dem Ueberfluss wallten neue Hügel über. – Diese Flocken lösten sich nicht auf. Sie schwebten und drehten sich langsam in der Luft und blieben hängen wie im Festen, Gesättigten. Man dachte an Nesterbauen dabei, Eiderdaunen, in die man sehr tief einsank. Und es war gar nicht kalt. Der Schnee schien wie eine schützende Schicht zwischen der Kälte und der Erde. Es war wunderbar, wie lautlos er fiel. Und überall, wo er fiel, hörten die Contouren auf, alles Steife, Eckige, Nackte. Wie ein liebevoller Pelzmantel hüllte er sie ein, dass sie nicht mehr froren, zeigten. Er fiel ... fiel ... Der kleine Priester fror gar nicht. Im Gegentheil, ihm war warm. Er trug das Allerheiligste unter seiner Soutane, gegen die Brust gepresst. Und es war ihm, als wäre es da eingedrungen. Es sass da und brannte. Goldne Strahlen warf es. Immer grösser, immer weiter. In der Mitte war ein blutrothes, glühendes Herz und sein Scheinen war wie Karfunkel. Es leuchtete weit durch den nächtlichen Wald. „Das ist, als ob ich ein Licht bei mir trage,“ sagte der kleine Priester. „Wie seltsam das ist! Und wie schön!“ Schön war es in der That. Alle Bäume standen wie schwarze Säulen, ganz gerade mit seltsamem Ast- und Aderwerk. Ihre Zweige verbanden sich. Sie kreuzten sich und rankten ineinander geheimnissvoll in Rosetten, Sternen, wie ein Kirchendach. Er ging ganz leise, wie auf weichen, weissen Rosen. Er zertrat sie nicht. Sie richteten sich auf unter seinem Fusstritt. Sie dufteten sehr süss, Ambra, Weihrauch und Myrrhen, die mystischen Düfte der Kirche, die Seele darstellend, die sich spiritualisirt in Sehnsucht. Jetzt fing es auch an zu läuten. Zwischen den hohen Bäumen schwangen die Glocken. Sie hingen da in Stricken von einem Baum zum andern. Und sie schwangen, schwangen. Wunderbare Melodieen waren die Melodieen der hohen, ernsten Bäume. Den kleinen Priester erstaunten sie. „Ich habe es doch oft rauschen hören im Walde. Niemals wusste ich, was es war. Aber jetzt weiss ich es.“ Und er hörte kleine, liebliche Stimmen. Das waren die der todten Blumen unter dem Schnee. Er hatte gedacht, dass sie todt wären. Sie waren nicht todt, sie warteten nur auf den Frühling, lagen warm und weich gebettet unter dem Schnee, der sie zudeckte und fiel – fiel. Die Schneeflocken selbst sangen. Sie fassten sich an und tanzten. Es war richtiger Rhythmus in ihrer Bewegung. Dazu klangen sie. Und dann waren sie Engelsköpfchen mit weichen, flaumigen, ganz jungen Flügeln. Das sind die Seelen der todten Kinderchen, die sterben, ehe sie zum Bewusstsein ihrer Seele erwachen. Er hatte nie gewusst, wo diese todten Seelen hinkommen. Jetzt wusste er es. Sie waren glücklich und deckten die kleinen Blumen zu, dass sie gut schliefen, nicht erfroren im harten Winter. Er musste über einen Bach, der ganz zugefroren war. Aber das Wasser war auch nicht todt, es schlief nur in der Tiefe. Er hörte es singen geschäftig am Werke, in kleine Röhrchen tausend Tröpfchen zu giessen, die Erde aufzuweichen. Es wird Frühling! Es wird Frühling! Auf einmal war es Frühling. Er wandelte in einem grünen Dom. Wände von lichterem Grün schoben sich zwischen die andern, hohen. Alle regten tausend Blättchen. Einige waren fast durchsichtig vom Licht, das sie golden durchglühte. Die Andern blieben im Schatten beinah schwarz, oder ihre Ränder zeichneten sich wie in hellem Feuer gezogen. Atlasglänzend lief es entlang am Buchenstamm wie feinste Haut des Apfelschimmels, röthlich schwelend an der rissigen Kiefernborke. Die Birken standen ganz weiss mit gesenkten, wehenden Zweigen, ein kleines, zitterndes Herz jedes Blättchen, Jungfrauen vergleichbar in der Schönheit ihrer Haare im Mai. Pelze hatten die Haselnussblätter. Die Erlen bogen sich, schwärzliche, schuppige Schlangenleiber, dem Sumpf entsprossen, mit klebrigem, bitterschmeckendem, starkgerieftem Blattgrund. – Und da oben über dem Blätterdach stand die Sonne, goldne, warme Frühlingssonne. Er wandelte mit nackten Füssen auf einem Blumenteppich. Wo er hintrat, blühten die Blumen. Sie blühten auf wie Kissen unter seinen Füssen, nur Blumen ohne Blätter und Stengel. Vögel sangen, goldne Vögel mit silbernen Schwingen, die Stimme des Windes, der Erde und des Wassers, Alle priesen Gott. Er sah auf und die Sonne war Gott. Seine Strahlen fielen warm über Alles. Er war gut – gut. „Ihr könnt mich nicht verstehen so. So gross und gut bin ich. Darum bin ich das Grösste und das Gute, was Ihr verstehen könnt.“ Er verstand sehr wohl, wie gut Er war. Und dass Er tausendmal besser und grösser sein musste, als er verstehen konnte. Aber es war da eine Brücke aus den Strahlen, die von Seiner Brust ausgingen, und den weissen, funkelnden Sonnenstrahlen mit Perlen und Emeralden und köstlichen Topasen geschmückt, die das Licht gebiert im Wasser, aus der Tiefe. Auf der schritt er. Durch das Blaue schritt er gerade in die strahlende Sonne hinein. Er wusste, dass sie Feuer war, aber sie brannte nicht. Sie war auch nicht golden. Sie war weiss, von einer lichten, unbeschreiblichen Klarheit, lichter denn das Mondlicht im Kerne der junggebornen Mondsichel, und Atlasschimmer aus keuschen Lilienkelchen. Er sah eine Frau in der obersten Klarheit. Sie hielt einen Lilienstengel in der Hand. Er wusste, dass es seine Mutter war, die er nie gekannt und verloren hatte. Jetzt erkannte er sie gleich. Sie lächelte ihm zu. „Ich komme. Ich komme,“ sagte der kleine Priester begeistert. Auch ein ganz weisses Lamm sah er. Er freute sich, dass es da war. Er hatte die Thiere immer geliebt. Er hoffte, dass es auch für sie einen Himmel gab. Dies wusste er nun auch. Alle Bäume waren eitel lichtes Silber. Ihre Früchte waren Diamanten und Perlen. Weisse Schneelilien sprangen auf, die süss dufteten. Man konnte in die Erde sehen, tief hinein, denn sie war weiss und durchsichtig wie Milchglas, Opale, in denen das Sternenlicht floss. Es war dies innere Licht, von dem sie leuchtete, denn es gab nicht Schatten mehr. Wo Festes gewesen war, wurde es weich und floss im Schimmer, der löste. Und er war ganz weiss, er selbst. Seine Finger waren weisse Strahlen. Aus seiner Brust schien die Klarheit, Alles, wo sie hinfiel, ward weiss. Er trat in das kleine Stübchen der Holzschlägerhütte. Dies war ein elendes winziges Gelass. Blut lag da auf der Bettdecke, Blut auf dem Fussboden, Blut über den hastig hingeworfenen Kleidern. Man hatte die Fiedel gerettet. Aber der Kasten war zerschlagen im Falle. Die Saiten hingen wirr und ungesträngt. Die Augen des Sterbenden waren weitgeöffnet. Ein Ausdruck des Schreckens lag darin, und Brennen, als ob er sähe und Furcht hatte. Er phantasirte: „Hast Du die Frauen gesehen, wenn sie zur Kirche schreiten? Ihre Hacken schlagen kurz auf und ihre Hüften tanzen unter den runden Röcken, die der Wind hin- und herschlägt. Wenn der Sechzehnender durch das Unterholz bricht und der Stolz des Waldes ist in seiner keilenden Brust! Hei! Der Zug der Burschen, der zum Schützenfest zieht. Alle Fiedeln spielen auf und die Schenkel stampfen. Wie Herrenblick, der zwingt, trifft der nie fehlende Bolzen. – Ich sage Dir, es ist nichts, was über des Weibes Anmuth geht, denn ihre Falschheit! Wie ich sie geliebt habe und wie ich sie hasse! Ihre Augenbrauen, die wie Bögen der Krönung sind, darunter triumphirende Heere einziehen. Ihre Augen locken und ertränken wie der wilde Bergsee. – Das ist roth – roth Alles – vor meinen brennenden Augen!“ Der kleine Priester strich mit der Hand über die Augen. Sie schlossen sich. Sie brannten nicht mehr. „Ich habe die Erde gerochen am Frühlingsmorgen, wenn sie dampfend aufbricht, ehe der Tag kommt. Tausend Würzbäche strömen, wo die tausendjährige Edelfichte krachend niederschlägt. Gefährlich wie Blutdunst ist der umnebelnde Duft des Weines, der zu Kopfe steigt und die Fäuste straff macht. Aber der Frauen Athem ist röther wie Blut. Wie Weizenacker frisch geöffnet ist der Leib des Weibes. – Es ist die Schwüle der Sommererde, die die Todten nicht schlafen lässt.“ Er strich mit der Hand über die Nasenlöcher. Leise fuhr der tröstende Finger die zitternden, hastenden Nüstern entlang. Der Geruch war fort. „Hast Du auf Deinen Lippen ihre Küsse gefühlt? Wenn sie schwören und lügen. Worte, die fallen wie der Wasserfall, lieblicher denn Nachtigallentriller. – Worte! Worte! Worte!“ Er strich über die Lippen und sie schlossen sich. Sie wurden stumm und weich. „Ich habe sie mit meiner Hand gehalten. Ich lasse sie nicht. – Wenn man das Messer sehr fest packt und rothes Herzblut springt herüber ... Weisst Du, dass ich mein Messer unter meiner Hand hatte? Sie haben mir gesagt, dass ich das Holz sprechen machen konnte, die Saiten riefen unter meinen Fingern wie mit Menschenstimmen. Ich will spielen. Sie sollen tanzen. Sie sollen lachen und schreien. Ich will den Ton finden, der die Todten tanzen macht. Die Todten haben Knochenhände und lassen nicht los.“ Die gekrampften Finger lösen sich unter den andern streichenden, gleitenden. Die Hände fielen. Sie lagen ruhig und straff. „Meine Füsse tragen mich nicht mehr. Aber sie haben mich getragen durch die Nacht. Im Tanze. Wer kann tanzen wie ich, der Spielmann Anderl! Wenn der Boden knackt, die Dirne hoch anfliegt zur schwelenden Decke. Ich kann springen! Der Teufel ist in meinen Füssen. Ich springe mit dem Teufel zur Hölle!“ Er berührte die Füsse an ihren Sohlen. Er salbte den rechten. Er salbte auch den linken. Die Füsse lagen still. Der ganze Mann war weiss und still jetzt. Der kleine Priester hatte die Fiedel genommen, das Holz zeigte keinen Sprung, die Saiten fügten sich wie von selbst und erklangen: „Wenn Eure Sünde gleich blutroth ist, soll sie doch schneeweiss werden,“ sang der kleine Priester. „Und wenn sie gleich ist wie Rosinfarbe, soll sie doch wie Wolle werden. „Und heute noch wirst Du mit mir im Paradiese sein!“ schloss der kleine Priester. ‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐ In der Holzschlägerhütte lag der Wilddieb todt. Er lag mit gefalteten Händen und lächelnden Lippen. Eine weisse Kerze brannte. Das blasse goldne Herz stand zitternd aufrecht im Dunkel, das der Schnee warf. Der Schnee fiel. Unter der weissen Schneedecke, das Allerheiligste gegen seine Brust gepresst, schlief der kleine Priester. Der Schnee fiel ... fiel. DAS ZEHNTE KAPITEL. Nun war aber in einer Stadt ein junger Mann, der sich dem geistlichen Stande gewidmet hatte. Nie war für ihn die Frage gewesen, irgend ein anderes Amt zu erwählen. Von früh auf zeigte er sich in geistlichen Dingen wohlbewandert, geneigt darüber nachzudenken, die Texte auszulegen in ihrem deutlichen Sinne. Dabei war er von mässiger und strenger Lebensweise. Er hatte sich Jahre lang nur von Pflanzennahrung erhalten. Sein Geld gab er den Armen und lebte wie der Aermsten Einer mitten unter ihnen. Zudem voll Würde in aller Gütigkeit, dass er die Spötter zurückwies, Niemand ihm etwas anhaben konnte. Im Gegentheil, es war eine gemeine Rede in der Stadt, wenn man Jemand etwas Gutes wünschte, und diese Leute waren älter, dass man ihnen einen Sohn wünschte wie Johannes. Seine alten Eltern, denen er zuerst ein Kummer gewesen, dass er also herausging aus der Bahn, die sie selbst gegangen, ein Amt erwählte, das ihnen fremdartig war und nicht so angesehen in ihrer Meinung wie ihr eignes vor den Leuten, priesen Gott alle Tage, der ihnen ein solches Kind gegeben, von dem sie Ehre hatten jede Stunde, der als ein Muster stand unter jungen Leuten, in frühen Jahren Ruhm erwarb wie Andre, die Jahre lang gedient, Last und Mühsal getragen hatten. Selbst solche, die ihm heimlich entgegenstanden, weil er sie strafte in ihren Sünden, wagten nicht, ihn offen zu missbilligen, denn sein Ansehen war gross unter allen Leuten, und seine Rede gewaltig. Dazu, weil er eines vornehmen Mannes Sohn war, trug das zu seinem Ruhm bei. Das Gerücht drang bis an den Hof. Er musste predigen dort und ward als Hofprediger angestellt auf den eignen Wunsch des Fürsten, der gern seine Predigt hörte, auch manches Gespräch mit ihm pflog. Er war selbst von ernster und redlicher Gemüthsart, dachte viel nach über die Pflichten und Vorrechte seines Amtes. Wenn er sich beunruhigt fühlte in seinem Gemüth, liess er oft den jungen Prediger rufen, dass diese wie Freunde und treue Gesellen wurden, sein Einfluss also gross war im Lande. Aber Niemand neidete ihm denselben. Er war wohlgeachtet von Hohen und Geringen. Gegen Arm und Reich hielt er sich gleich. Kein Rang und kein klingender Lohn konnte ihn bestechen in seiner Entscheidung. Wiewohl es ihm freigestanden hätte, ein Weib zu wählen, Niemand ihm seine beste Tochter geweigert hätte, zog er es doch vor, einzeln zu bleiben, dass keine weltliche Lust oder Sorge ihn abzöge von seinem geistlichen Amt, welches er als das höchste erachtete in der Welt, ihm selbst von Gott anvertraut, davon er Rechenschaft abzulegen hatte dereinst vor Seinem strengen Richterstuhl. Es gab keinen geachteteren und würdigeren jungen Mann weit und breit. Sein Ruf stand fest wie ein Felsen. Sein Wort war für Viele Recht und Unrecht, klarer und unzweifelhafter wie geschriebnes Gesetz. Wenn sich Einige verwunderten, dass er trotz seiner Jugend so geachtet war und solchen Einfluss besass, verwies man nur auf sein Leben, das schlichter war wie manchen Arbeiters und keusch wie vielfach geschliffener Stahl vor Aller Augen. Derselbe, als er eines Tages allein spazieren ging vor der Stadt, wo die Stadt schon aufhörte, blühende Sträucher standen und Fruchtbäume im Laub – wie er oftmals that in seinen tiefen Gedanken, um klar zu werden vor sich selber –, freute er sich am Gesang der Vögel, wie sie alle einträchtig sangen und war keiner grösser und mehr geachtet denn der andre in ihrem Singen. Jeder hatte seine besondre Gabe und Tugenden. Die, die nichts empfingen, kleine graue Meislein und Spatzen, zwitscherten just so munter ihre zwei Pieptöne, wie die Andern kunstreiche Triller und Solfeggien. Sorgten nicht um den Tag, bauten sich Nestlein, setzten ihre Kinder in die Welt, dass die Sonne sie grosszog, sie satt würden von dem, was flog und kroch in der Luft, auf der Erde. Die Schwalben flogen auf und nieder. Sie wiegten sich in der Luft und beschrieben Wellenlinien. Manchmal strichen sie so niedrig, dass ihre Schwingen fast die Erde berührten. Dann hoben sie sich wieder, blieben segelnd im Blauen. Aus dem Gras der Böschung dufteten Veilchen. Libellen schwirrten aus der Wasserrichtung von der andern Seite. Es roch fischig von da, Teichgeruch, nach sich zersetzender Pflanzenfaser. Wie er nun also ging und sich freute, die Vöglein lieblich und fröhlich sangen, sah er eine magere, gelbgefleckte Katze, die Jagd machte, auf einem der Bäume. Leise schlich sie auf unhörbaren, tastenden Zehen. Ihr Kopf war lang vorgestreckt, die kugelige Stirn mit spitzen Oehrchen. In den Flanken sassen tiefe Löcher von der Anstrengung des Dehnens. Die Rippen flogen kurzathmend in der Aufregung der Jagd. Auch war sie mager, schlechtgenährt und struppig, wie eine Katze, die wohl schon lange heimlos geirrt ist, keinen Herrn mehr hat, sondern der Wildniss preisgegeben ist. So war sie ausgegangen auf die Jagd, da es dämmrig wurde, sass auf dem Baum und hob ihre Kralle über dem Nestchen. Da Johannes solches sah, ergrimmte er in seinem Herzen. Es dauerten ihn die unschuldigen Vöglein um dieser schlechten Katze willen. Er nahm einen Stein, zielte und warf. Und traf so gut, dass er die Katze hart schlug in ihrer Seite, wo es weich ist, die Knochen nicht schützen. Sie stiess einen schrillen, klagenden Schrei aus und fiel herab vom Baum, lag da auf der Erde, das Blut floss von ihrer getroffenen Seite, schrie ganz jämmerlich wie ein kleines, wehleidiges Kind, versuchte sich zu lecken, vorwärts zu strecken mit strebenden Vorderfüssen und schwachem, nachschleppendem Rücken. Und lag im Staube, blutend. Da fing ihn an zu gereuen, was er gethan hatte. Er kam herzu, um der Katze aufzuhelfen. Wie er sie genau betrachtete, sah er, dass diese Katze heute oder den Tag zuvor Junge geworfen haben musste, denn die Haut ihres Bauches hing ganz lose unter den vorstehenden Rippen, dass sie fast auf dem Boden schleppte. Die Oeffnung des Afters war unnatürlich weit, noch vom geronnenen Blute verklebt. Man sah die Zitzen, die weit, aber schlaff, ohne Milch sich sackten. Denn sie war sehr erschöpft und hatte gehungert seit langen Tagen. Nun lag sie im Staub und blutete. Niemand würde diesem Nest voll kleiner Katzen in irgend einer verlassnen Scheune oder auf einem Heuboden Nahrung bringen. Sie würden warten und miauen, elendiglich verhungern, um ihre Mutter, die nicht kam, den spitzen, harten Stein, den er geworfen und sie getroffen hatte, da sie ging Jagd zu machen auf Vögel für ihre Kleinen, die hungerten. Er stand nun da vor der Katze und sah sie an. Die Katze sah auf zu ihm mit schiefen, wilden Augen, ob er ihr helfen würde oder sie weiterquälen? Sie wusste nicht, dass es sein Stein gewesen, der sie getroffen hatte. Aber sie hatte Angst vor den Menschen, die stark sind, war da wie ein wildes Ding, das man eingefangen hat. Und es kann sich nicht wehren, denn all’ sein Gift, scharfe Zähne und Krallen, die ihm ja nützlich sind gegen die Kleinen und ganz Schwachen, werden ohnmächtig und nützen ihm nichts. Es wartet, dass man es vollendet. Da er noch stand, dieses Thier ihn ansah und er über solches dachte in seinem Herzen, kam ein fremder Mann des Wegs. Er nahm die Katze, die nach ihm fauchte, wusch ihre Wunden sorgfältig mit Wasser und gab ihr zu trinken aus einer Flasche, die er bei sich führte. Dazu, um das Wasser zu finden, hatte er hinabsteigen müssen zum Fluss. Wie der wieder heraufkam und die Katze auf seinen Arm nahm, biss ihn das Vieh in die Hand und entsprang zwischen die Weidengebüsche. Da dieser nun die Schramme an seiner Hand besah, das Blut abtrocknete mit seinem Tuch, sprach Johannes zu ihm: „Wie magst Du dem schädlichen Raubzeug helfen? Sein Leben ist der Tod Vieler. So es verreckt, wem schadet es? Ein werthloses Vieh! Tückisch und voll Argheit.“ Das sagte er aber, den Andern zu versuchen, denn in seinem Herzen gereute ihn der Katze. Er wusste wohl, dass es ihre Natur ist, Vögel und Mäuse zu fangen. Er fragte sich nur: Warum ist das in der Natur, und hätte gern eine Antwort gewusst. Der fremde Mann sprach: „Ich helfe jeglicher Creatur. Sie war hungrig und litt. So war es meine Schuld, ihr zu geben, sie zu heilen.“ „Sie wird hingehen und neues Uebel stiften, tödten und quälen.“ „Der Tod ist kein Uebel,“ sagte der fremde Mann. „Der Geist, der widerstehet dem Uebel, der ist vom Uebel.“ Diese Antwort verstand Johannes nicht, aber sie quälte ihn in seinem Herzen. Er sprach: „Deute mir das!“ Der Andre sprach: „So Dich Jemand schlägt und Du schlägst ihn wieder, so ist der Schlag Dir nicht Unehre, aber dass Du zurückschlägst und also Böses vergiltst mit Bösem. So ist das Böse an sich nicht böse, aber es böse _macht_ in seiner Wirkung, sind Böse.“ Johannes sprach: „Soll ich einen Mann nicht tödten, der Andre tödtet? Würde Mord und Todtschlag nicht überhandnehmen in der Welt, so Solches ungestraft bliebe? Jeder thun könnte, was ihm gefällt, sein böser Muth ihm eingiebt gegen seinen Nächsten?“ Der Fremde sprach: „So es sein böser Muth thut, ist es seine Natur. Alles, was in der Natur ist, ist von Gott. Der Mensch kann nichts dagegen. So Du aber schlägst _gegen_ Deine Natur, ist es Dir Sünde, grösseres Unrecht denn dess, der Dich geschlagen.“ Er sprach: „So werden alle Bösen fortab triumphiren und straflos sein. Die Guten müssen nur dulden und ertragen.“ Der Fremde sprach: „Dulden und ertragen ist nicht böse. Selig sind, die das erkannt haben! Aber es ist dem Menschen schwer, zu erkennen, und Wenige sind, die es fassen hier im Leibe. Das Fleisch ist schwach in ihnen. Der Tod scheint bitter dem, der kräftig ist und sich bewegt.“ „Der Tod ist immer bitter,“ sagte Johannes. „Das ist auch gegen die Natur des Menschen.“ „Weil sie die Natur nur halb erkannt haben,“ sagte der Fremde. „Sie wissen, dass sie sterben müssen, aber sie wissen nicht, was hinterher kommt. Sie sehen, so lange es hell ist. Aber die Nacht lebt auch, hat Farben und Formen. Nur sie sehen sie nicht. Sie nennen das Eine Leben und das Andre Tod. Und der Tod ist Leben, eins so gut wie das Andre. Alles ist Leben. Es ist ein Neugebären in jeglichem Sterben.“ Der Fremde sagte ihm ein andres Gleichniss und sprach: „Die Menschen rechnen die That, die Gedanken sehen sie nicht. Sie können die Gesinnung nicht lesen, die im Herzen ist. Die That ist nicht besser wie der Gedanke. Sondern er war der Erstgeborne und wirkt weiter. Die Sünde ist geboren, ehe die That That wird. Es ist nicht mehr Sünde im Thun wie im Wollen. Zu diesem aber sprach die Schlange. – Und der Stolz ist der Urgrund alles Uebels.“ Er sprach: „Wie deutest Du das?“ Der Fremde sprach: „Da der Mensch anfing zu mischen von seinem Willen in den grossen Gang des Wollens, der der reine Strom und Urquell des Lebens ist. Er sprach – und er sollte hören. Er dachte, wo er sehen sollte. Ein Kleines, Staubgebornes, Willkürliches will stehen, wo das Grosse, Ewige, Gesetzte steht.“ Er sprach: „Widerspricht nicht Solches der eignen Adligkeit und Freiwilligkeit des Menschen?“ Darauf antwortete der Fremde: „Mit nichten. Sondern ist es nicht edler, das Gesetz in sich selbst zu erkennen und ihm folgen, als sich von aussen verschreiben lassen, Buchstaben zu gehorchen. Das ist Sklaventhum. Das Andre Adliger und Freigeborner.“ Johannes sprach: „Wie kann das Gesetz für Alle dasselbe sein, so doch der Menschen viele sind und Millionen, Jeder anders geht wie der Andre?“ Er sprach: „Es ist auch nicht dasselbe Gesetz für Alle. Händewaschen ist nicht dasselbe, Kleidertrachten und Fasten ist nicht dasselbe, Götter von Stein und Götter von Erzen. – Aber Alle, die suchen, finden wohl den Weg.“ Da erschrak Johannes in seinem Herzen und sprach: „Die alten Weisen haben wohl gelehrt. Sie dachten, sie hätten die Weisheit gefunden. Und waren Edle. Tiefe Worte kamen von ihren Lippen. Buddha und Mohammed sind gekommen. – Wie sagst Du, Einer ist wie der Andre?“ Er sprach: „Alle diese sind gegangen und haben gefunden. Unschuldige Kindlein finden auch, kleine Blumen und Kräuter. Es führen viele Wege. Aber unselig sind, die stehen bleiben und nicht gehen um der Dornen willen und Steinblöcke.“ Damit wollte er weitergehen. Aber der Andre hielt ihn an in grosser Angst seines Herzens, flehte ihn an und bat: „Gieb mir ein Zeichen.“ Er sprach: „Kein andres Zeichen habe ich als dies: Die Blinden werden nicht blind sein, ob sie gleich blind sind. Die Lahmen werden gehen können und eilen, ob sie lahm sind, festgekettet an ihr Lager. Die Armen sind reich und ihr Reichthum ist köstlicher denn aller Reichen. Die Todten sterben nicht und leben, ob sie gleich gestorben sind. – Ein Kind findet es in seiner Einfalt. Den Weisen und Mächtigen aber bleibt es verborgen.“ Er sprach: „Sage mir nun noch dies Eine. So Einer Sünde gethan hat, ist er nicht schlimmer denn Einer, der keine gethan hat? Warum denn sollten wir nicht Alle sündigen und froh sein?“ Er sprach: „So Du sie thust, ist es Dir Sünde. Die Andern aber gehen auch nicht verloren. Der Hochmuth ist das Aergste der Uebel. Freude war über den, der Busse thut vor neunundneunzig Gerechten. Der verloren war und heim kam, fand über dem der zu Hause geblieben, niemals irrte.“ So liess er diesen und ging von ihm weiter in der Abenddämmerung. DAS ELFTE KAPITEL. Es war Fritz Kuhlemann, der ihm diese Botschaft schickte: „Die ausgehen sollten, wohnen in reichen Häusern. In steinernen Kirchen ist das Wort verschlossen für blöde Mengen am Sonntagmorgen. Die Mächtigen missbrauchen Deine Worte für ihre Zwecke. Man führt Kriege in Deinem Namen. Ungerechtes Gericht ist gesprochen unter dem Zeichen der Liebe. Der Arme geht hungrig. Der Niedrige ist verachtet. Der Sünder stirbt nachher wie zuvor. Was ist Deine Heilsbotschaft an die Welt?“ Er sprach: „Siehe zu, was ich thue: „Soll ich Krieg führen, um die Welt zu überzeugen? Der Hass wäre schlimmer denn zuvor. Die Sklaven von heute wären grausamere Herren, als die Herren von gestern. „Soll ich Gesetze geben, neue Ordnung erfinden? Dies Gesetz wäre gut, aber die Menschen sind schlecht. Unter der guten Ordnung bliebe die wilde Wüste. „Vielen ist es gesagt, aber Wenige hören. Allen ist es ein Schlachtwort und Wenigen Frieden. Einige finden, weil sie von Anfang an hatten, und Viele, die suchen, finden niemals. Schrecklich und scharf ist es, wie ein Schwert, das durchbohrt, süsse Milch, die ganz junge Kinder trinken.“ Er war aber auf einem Schiff, wo er dies sagte, dass er sich übersetzen liesse von einem Ufer zum andern. Und es war ein Mann neben ihm, der ein Tuch mit Samenkörnern eingebunden hatte, die er säen wollte auf seinem Acker. Er sprach zu ihm: „Gieb mir von Deinen Körnern.“ Der Mann sprach: „Nimm so viele, wie Du willst?“ Er nahm eine Handvoll und streute sie auf das Wasser. Sprach der Mann zu ihm: „Wie kannst Du solches thun, so doch das Wasser die Samen nicht hält und austreibt?“ Er sprach: „Sollen sie keimen, wird es sie schon tragen, wo sie Wurzel finden. Die Erde ist nicht besser denn das Wasser. Wo ein Same leben soll, müssen tausende sterben.“ Und es war ein Buckliger auf demselben Schiff, der war ganz verwachsen. Alle Knochen seines Leibes standen schief und sein Gesicht war scheusslich anzusehen mit schielenden Augen und einer platten, queren Nase. Derselbe sprach zu ihm: „Meister, es ist recht, was Du sagst, dass alle Menschen gleich sind, und ist nicht Einer schön und der Andre hässlich, Jener klug und Dieser thöricht. So sage auch diesen, dass sie mich schön finden, und lobe meine Verwachsenheit, die keine Missgestaltung mehr ist.“ Er sprach zu ihm: „Was habe ich mit Dir zu schaffen? Ganz hässlich bist Du und schauerlich anzusehen. Was wagst Du zu hoffen von der Schönheit, die Du beleidigst, und woher kommt Dir der Muth, der Du feige bist und ganz niedrig.“ Trieb ihn von sich mit harten Worten und sah wieder in den Fluss, darin die Landschaft sich spiegelte im klaren Wasser. Aber sie hörten es nicht gern. Die, die das hörten, fuhren fort, das Volk zu reizen zur Gewalt, um die Machthaber umzustürzen, oder System und Lehrsätze zu erfinden, die Alles gerecht machen sollten, dass Jeder seine Fülle hätte, kein Unfrieden mehr sei in der Welt. Diesen liefen Viele zu. Sie hatten ein grosses Gefolge hinter sich, die sagten: „Morgen kommt der grosse Zusammensturz. Wir werden dann essen, die wir jetzt hungrig sind. Wir werden herrschen, die dienen. Wir sind Viele und sie sind Wenige. Lasst uns uns zusammenrotten und laut schreien, dass wir sie übertäuben und ihre Stimmen mit unseren Stimmen, die zahlreicher sind und lauter schreien.“ Gewaltig erscholl die Stimme Fritz Kuhlemann’s aus der grossen Stadt. „Gebt Eure Güter und verlasst Eure stolzen Paläste! Gebt Eure Macht auf, Ihr Herren und Regierenden! Lasst uns gute Gesetze haben und nicht mehr unsre Frauen und Mädchen verkaufen zu Laster und Unzucht! Wir wollen keine Kriege mehr und keine Hungersnoth. Wir wollen Alle arbeiten und essen. Einer soll sein wie der Andre, Keiner König und Keiner ein Bettler. Unsre Frauen sollen gleichgeachtet sein wie wir und unsre Töchter wie unsre Söhne. Wir wollen glücklich sein auf dieser Welt und Kinder zeugen. – Denn was nachher kommt, wissen wir nicht, Niemand kann an gegen den Tod.“ Ein junger Mann kam zu dem Fremden. Er wollte mit ihm über seinen Seelenzustand sprechen. Er sagte: „Ich habe immer ein untadeliges Leben geführt. Von Lastern und verbotnen Dingen habe ich mich ferngehalten. Ich habe versucht, meinen Geist zu bilden mit allem Wissen und der Bildung unsrer Zeit. Ich habe meine Lehrer in Ehrfurcht gehalten und meinen Eltern gehorcht. Gegen Niedrigstehende bemühe ich mich höflich und gerecht zu sein. Es fehlt meinen Leuten an nichts. Sie haben ihre Gebühr und über Gebühr. Ich bin allgemein angesehen und hochgeachtet. Wenn ich ein Weib nehmen will, wird Niemand zögern, mir seine beste Tochter anzuvertrauen. Ich werde sie unschuldig, wohlgebildet und von gutem Ruf nehmen, wie ich selber bin. Es klebt kein Stäubchen an meinem Vermögen. Alles ist auf ehrliche Weise erworben und von meinen Voreltern langsam erarbeitet. Kein Blutrichter fände einen Flecken daran. Niemand ist von mir um einen Pfennig betrogen. Dem Staat zahle ich pünklich, was ihm zukommt. Ich betheilige mich an allen Wohlfahrtseinrichtungen und gemeinnützigen Anstalten. Die Leute auf meiner Besitzung sind glücklich gepriesen von Allen. Sprich nun selbst, bin ich vollkommen so und nach Deinem Sinn?“ Er sprach: „Du sagst, dass Du Güter hast. Nimm Deine Güter, den letzten Pfennig, den Du besitzest, und gieb ihn den Armen, den Bettlern und den Hunden.“ Der junge Mann ward sehr traurig und ging von ihm. Er sah ihm lange nach, denn er war ein trefflicher junger Mann, licht und schön von Ansehen, der das Gute suchte. Darauf sprach er: „Der Reichthum ist schlimmer denn die Wollust, die Wollust giebt für Andre. Er denkt nur an sich. Auch thut der wohl eher Busse, der grobe Sünde thut, denn der angesehen ist vor aller Welt und niemals fiel. Ach es ist schwer! schwer für einen Menschen, der viele Güter hat, dass er das Gute finde!“ Nun sprach Jemand aus seiner Umgebung zu ihm: „Was nützt es den Armen, so Einer giebt? Es käme wenig auf Alle. Morgen wäre dasselbe wieder, dass Einige nichts hätten und Andre mehr.“ Er sprach: „Es ist nicht um der Armen willen. Wenn er es auf’s Meer würfe, die Wellen trügen es fort, wäre es ihm ebenso gut. Siehst Du nicht, dass seine Güter wie eine Mauer stehen zwischen seinem Thun und dem freien Wollen seiner Seele? Alle seine Liebe bleibt eingeschlossen und wird ersticken in ihm, ohnmächtig und schlaff werden. Nur weil er reich ist. – Der Arme liebt wohl leichter. Er hat dafür Neid und Niedrigkeit als seine Feinde. Die Seelen, auf denen das Joch lange liegt, werden niedrig. Und die wahre Liebe ist stolz und eine Königin. Aber die begehren, sind Sklaven. Nur der nichts mehr begehrt, ist ein Vornehmer und ein Fürst.“ Wenige verstanden dies und Viele murrten darüber. Einige sagten, er liebt nur die Armen. Die Andern fanden, dass er ein Reactionär sei und es mit den Hohen nicht verderben wollte. Es gefiel ihnen auch sehr, ihm schwierige Fragen zu stellen, weil sie ihn fangen wollten in den Antworten. Und er schickte sie ihnen zurück, fragte: Was _willst_ Du thun?, dass sie selber sich antworten mussten, beschämt standen in ihrer Nacktheit und List. So war ein Mann, der ein Eheweib hatte, die ihn betrog. Er kam zu ihm und fragte, ob er ihr verzeihen sollte? „Das Gesetz erlaubt mir, mich von ihr zu trennen, sie zu strafen an Gut und Habe. Die allgemeine Meinung und meine Stärke würden mir wohl gestatten, sie zu tödten. Das erste ist Gerechtigkeit, das zweite Rache.“ „Und Deine Liebe?“ „Aber sie hat meine Liebe verrathen. Alle Zärtlichkeiten, die ich ihr erwiesen habe, sind vergessen. Sie hat Kinder von mir gehabt. Ich habe ihr Ehre gezollt als dem Oberhaupt meines Hauses. Ihre Schönheit erfreute mich. Ich gab ihr genug, um sich zu schmücken. Keiner ihrer Wünsche, den es in meiner Macht war zu erfüllen, blieb unerfüllt. Ich liebte ihren Verstand, ihre Art sich auszudrücken, die Weichheit ihrer Stimme, die Liebesbezeugungen, die sie mir erwies, und dadurch Neigungen in mir erweckte, ihre Schüchternheit und Hülflosigkeit selbst.“ „Und ihre Seele? – Hast Du ihre Seele geliebt? Was in ihr schwach war und arm und nach Hülfe schrie? Ihre Zögerungen, den Glauben an Dich, Deine Vollkommenheit, die nicht war, diese verzweifelte Liebe, die im Fleisch suchte, was in Deiner Seele fern von ihr war, – Deine Seele, die sich nicht mit ihr vereinigen konnte. Die sie in die Arme eines Andern fliehen machte, der sie noch unglücklicher liess? – Diese arme, nackte frierende, beschämte Seele, hast Du sie geliebt?“ Auch der verstand ihn nicht. Viele Leute sagten nun: „Er ist nachsichtig für die Sünden des Fleisches. Huren und Lüstlinge sind ihm recht.“ „Die Sünden der Wollust sind traurig,“ sagte er. „Sie tragen ihre Strafe in sich. In dieser Traurigkeit, die nachher kommt von der Unvollkommenheit der Liebe, dass es nur wieder Unvollkommnes ist, was sie gebärt. Die Unreinheit ist das Gift, das Alles vergiftet, das ihr naht. Es giebt keine Schönheit mehr für den, der faul sieht. Sie lieben nicht, die sich der Leidenschaft hingegeben haben. Das ist eine eiternde Krankheit, Würmerfrass der Seele.“ „So wäre es also besser, ganz keusch zu sein, keine Kinder mehr zu zeugen und dass die Welt aufhörte?“ fragte Einer. Er war ein Mann, der im Laster gelebt hatte, und er wollte ihm eine Falle stellen, um zu sagen: „Welch’ ein Unsinn!“ Er sah ihn lange an. „Was weisst Du von der Keuschheit? Das ist die weisse Blume des Paradieses, das erste Gewebe aus den Strahlen der Morgenröthe. Wenige sind ihrer theilhaftig. Und ob sie nackt gingen durch den eklen Sumpf, er befleckte sie nicht. Alle Schande und Schmach kann ihnen nichts anhaben, _denn sie schämen sich nicht_. Das ist das Höchste, sich nicht zu schämen. Weil die Scham in uns ist von der Sünde.“ Aber Viele wollten, dass er sich deutlicher erklärte. Er that es nicht: „Vielleicht begreifen nur sie es, die das Andre gekannt haben, durchgegangen sind durch den feurigen Ofen und im Feuer wieder rein wurden. Die irdische unvollkommene Liebe ist in sich ein Abbild der andern. Sie giebt die Sehnsucht. Die Sehnsucht schafft neues Leben – immer neues! Sie sind wohl die Unglücklichsten, die nie geliebt haben. Sie sind unfruchtbar.“ Manche hätten gehofft, dass er mehr darüber sagte. Aber er hielt seinen Mund geschlossen und sprach nicht mehr den Tag. So setzten sie ihm zu mit vielen spitzfindigen Fragen. „Ich habe meinem Nachbar Geld geliehen. Nun will er es mir nicht wiedergeben. Ist er im Recht oder ich?“ Er sprach: „Warum forderst Du es?“ Es entstand da ein ganz lächerlicher Disput über die Ehre. „Wenn Einer mich geschlagen hat, muss ich ihn wieder schlagen?“ Er sprach: „Ein Schlag und noch ein Schlag sind zwei Schläge. Machst Du ein Loch damit zu, dass Du es doppelt weit einschlägst?“ Aber in seinem Herzen wurde es traurig über sie. Und er that seinen Mund auf und fing an zu wehklagen. „Arme! die Ihr reich seid, und Eure Güter fressen Euch selbst, Geiz, Neid und Habsucht! Was Du zu viel hast, nimmst Du einem Andern, der zu wenig hat, und für jedes Ueberflüssige, das Du Deinem Leibe anthust, leidet ein Andrer Mangel. „Geht Ihr hin und gebt Theile, baut Krankenhäuser und sammelt für Wohlfahrtsanstalten: Dies thue ich – und wollt Lob Eurer Nachbarn und Ansehen vor den Leuten, Ihr Heuchler! Wo Ihr nicht genommen habt zuvor, was brauchet Ihr zu geben? „Ihr sagt, dass Ihr sie hochbringt und streitet für die Freiheit Eurer Brüder, Gesetze, Unterricht und Bürgerrechte. Was brauchtet Ihr Freiheit, wenn Ihr nicht Unfreie gemacht hättet zuvor, Eure Seelen nicht in Banden wären des Geizes, des Trotzes, des Hochmuths, der Lüge, der Trägheit und der feigen Angst? „Nach Macht trachtet Ihr selbst, wie Ihr Euch hochbaut vor den Leuten, dass sie Euch anstaunen möchten. Innerlich seid Ihr hohl. Ihr zehrt vom Kostbarsten, das Ihr habt. Und wenn der Tag kommt, dass man Euren Leib zu Grabe trägt, Eure Seele war todt in Euch lange vorher. „Ihr denkt, Ihr habt gefunden, darum sucht Ihr nicht mehr. Das Gesuchte ist weiter von Euch, denn da Ihr irrtet in Noth und Zagen. Ihr stopft die äussre Wunde zu und der Brand frisst fort inwendig. Ihr seid stolz in Eurer Erkenntniss, Eurem Wissen, köstlichen Kleidern um Eure Nacktheit. Und wenn Ihr ganz nackt steht, kommt der Frost. Ihr erstarrt unter dem faulen Schimmer. Eure Herrlichkeit ist die der Eintagsfliege, Eure Grösse die des Maulwurfs, der seinen Erdhaufen aufwirft. „O Ihr Kleinen! Ihr Armseligen! Ihr Ungläubigen! Wie unglücklich seid Ihr in Eurem Glücke! Wie erbärmlich in Eurem Stolz! „Die Kinder und Unmündigen werden wissen vor Euch, die Kleinen, die Ihr verachtet habt. Das Lamm wird stärker sein denn der Löwe, der laut brüllt. Eine Jungfrau mit der Seide ihres Haares wird Königreiche leiten, die der Eisenfuss zertritt. „Wehe Euch! Wehe Euch! „Die Pflanzen wissen, die Felsstücke. Die Wasser, die ihren Weg laufen. Alle Sterne, die gehen in ihrer Bahn. „Ihr werdet nie wissen, die Ihr klug seid. Ihr könnt nicht, die Ihr stark seid. Die wollen, werden niemals erreichen. Die kämpfen, siegen nicht.“ Solche Rede erbitterte Viele. Sie suchten ihn zu erhaschen. Aber er ging mitten durch sie hindurch und entwischte ihnen immer. DAS ZWÖLFTE KAPITEL. Es war Einer, der kam zu ihm bei der Nacht. Er war aber ein sehr vornehmer Mann des Landes, der Vornehmste und Reichste im ganzen Lande. Er hatte sein Gesicht im Mantel verhüllt, dass Niemand sein Gesicht erkennen konnte. Die Falten des Mantels verbarg seine Gestalt, dass es unmöglich war zu sagen, ob er klein gewachsen war oder gross, breit oder schlank. Er war von weit gekommen mitten in der Nacht. Er kam zu Pferd und allein. Ein vertrauter Diener hütete sein Pferd, während er hinaufgegangen war, mit ihm zu sprechen in der Nacht. Die Nacht war stürmisch und sehr finster. Man hörte den Wind brausen. Er trieb die nassen Zweige der Bäume in grossen Packen gegen die Fenster, dass es klatschte und prasselte. Der Wind war gewaltig. Er fuhr über die Erde in einem weiten schwarzen Mantel, dessen unterste Schleppe die Erde fegte. Oben blies er in die Wolken. Sie flohen eilig wie wollige, furchtsame Schafe durch die Nacht. Der Wind zerriss sie in grosse Fetzen und jagte sie fort. Er freute sich, dass er so allein draussen war zu herrschen, orgelte sehr laut und blies ein Triumphlied des Trotzes und der Herausforderung über die Erde. Der Wind kam von den Eissteppen des Nordens und war über die See gefahren und sein Mantel hatte die Kämme der Wogen aufgepeitscht, dass sie nach ihm schnappten und sich überschlugen in der Jagd nach ihm. Wie hungrige, graue Jagdhunde mit triefenden Lefzen liefen die grossen Wogen unter dem Winde. Aber sie fingen ihn nie. Er heulte und jauchzte. Manchmal packte er sie und wirbelte sie im Tanze, rund, rund, um einen spitzen, kreiselnden Trichter in der Mitte, wo er seinen Kopf versteckte. Er zerschnitt sie in glatten, gekeilten Furchen wie der scharfe Steven eines Dampfschiffs. Dann entschlüpfte er ihnen wieder, sich überschlagend in der Luft. Sie machten verzweifelte Sprünge und warfen sich ihm nach an den Strand wie ungefüge Meerthiere mit nassen, schweren, aufklatschenden Leibern. Aber er lachte nur und schrie lauter und floh davon. Er heulte um die Fenster des Leuchtthurms, den die Menschen gebaut hatten, um der Fluth zu wehren, dass der Leuchtthurmwächter erschrak in seinem Herzen: Ich will die Laterne fester stellen, denn heute ist Sturmnacht. Er blies dem Wächter die Capotte vom Gesicht und schrie laut auf vor seinem Fenster, wie ein Meervogel mit schwarzen, schlagenden Flügeln. Dann fuhr er weiter. Er blies in die weissen Segel der kleinen Fischerbarken, dass sie umschlugen vor dem Wind, platt lagen wie elende, furchtsame Sklaven. Und er probte den stolzen Oceandampfer, der ruhig weiterschiffte in seiner geraden, majestätischen Bahn. Auf dem Lande bekreuzten sich die Leute und machten die Läden fester zu. Sie dachten mit Sorge an die Schindeln auf ihren Dächern, die schlechten Strohdecken der Scheunen. Der Wind fegte die Schindeln herunter. Er hob das Strohdach auf und fuhr in die Scheune, dass Alles aufstob, durcheinander wirbelte, wie wenn der Raubvogel in den Hühnerstall fährt. Hui – hui – machte der Sturmwind. Im Gebirge köpfte er die Tannen und schleuderte sie kopfüber den Abhang hinunter. Von der offenen Bergseite, wo die neue Strasse lief, riss er grobe, rohe Fetzen und kollerte sie in die blanken Eisenbahnschienen mitten auf den Damm. Er polterte an den Pfeilern der Brücken und peitschte die Weidenruthen am Ufer, die sich bis auf die Erde bogen, der Wind ist ihr Herr. Er war furchtbar. Ueber die Städte der Menschen fuhr er. Sie schlossen die Läden vor und zogen sich die Nachtmützen tiefer über die Ohren: Es ist Sturm draussen und gut, dass wir nicht im Freien sind. – Wo er Einen fand, der draussen war, schüttelte er ihm die armseligen Fetzen vom Leib und kältete ihn durch, dass der Frost in ihm blieb. Denn der Sturmwind war schrecklich und ein Feind der Menschen. Durch den Sturm und die Nacht ritt der einsame Reiter. Sein Gesicht war dicht verhüllt im Mantel. Sein Pferd schritt schnell, ausgreifend, mit der Regelmässigkeit schöner, geübter Edelthiere. Der Sturm versuchte ihm den Mantel vom Gesicht zu zerren. Aber er hüllte sich nur noch dichter hinein. Ganz schwarz sah er aus. Wie ein schwarzer Schatten ritt er durch die Nacht unter dem heulenden Sturmwind. Der Diener folgte, stumm, wachsam, in einiger Entfernung. Der Reiter hörte dem Concert des Windes zu. Es war ihm, als bildete es eine sehr hohe, erhabne und brausende Melodie. Aber er war zu weit entfernt und zu niedrig. Er konnte nicht verstehen, was der Sturmwind sang. Es war ein Lied vom Krieg, von Trompetenrufen und Pferdegetrappel, von wehenden Fahnen, Kanonendonner und knatterndem Gewehrfeuer – dann der Hurrahschrei des Siegers. Einer ritt allein im strahlenden Adlerhelm. Die Sonne seines Helms warf Strahlen. Ein weisses Pferd schritt unter ihm. Alle schrieen: Heil! Heil dem Sieger, dem grossen König unter den Menschen, dem Gewaltigen! ... Es war der Orgelklang eines Doms. Alle Glocken läuteten. Festguirlanden hingen. Frauen wehten mit ihren Tüchern. Weissgekleidete Mädchen trugen Blumen und sangen. Endlos war der Zug der Festtheilnehmer. – Der Hermelin hing um seine Schultern. In schweren Falten umfloss ihn der Purpur. Er schritt die Stufen zum Altar hinan. Hinter ihm rauschte der Mantel. Das Schwert stiess klirrend gegen den Marmor und der Priester im Ornat hob die lichte Krone, den wundersamen Reifen ohne Anfang, ohne Ende, wie die Schlange, die den Weltkreis hält, funkelnd im Schmuck der Edelgesteine – des Rubins, der das Blut ist, Topase, köstlicher als Gold, der Herrschaft, und Smaragden, funkelnde grüne Augen der Edelkatze. – Und er war es, der gross und reich war, der König war. Lieder von Ruhm und Macht sang der Sturmwind. Der einsame Reiter in der Mitternacht hörte ihm zu. Er hatte sein Gesicht im Mantel verhüllt und ritt schnell, dass Niemand ihn kennen konnte. Als ein Fremder zu dem Fremden kam er mitten in der Nacht. Draussen tobte und fauchte der Sturmwind. Er strich dahin mit dem tiefen, surrenden Ton zu stark gespannter Saiten. Die Luft schwang und zitterte nach seinem Röhren. Die Erde aus ihren Eingeweiden antwortete gleich dem vibrirenden Resonnanzboden einer Violine. „Es ist Sturmwind und sehr finster,“ sagte der schwarze Reiter. „Ich bin zu Dir gekommen, um mit Dir zu sprechen über Dinge, die gefährlich sind zu nennen und sehr geheim. Darum komme ich in der Nacht. Sie ist furchtbar, diese Nacht!“ „Es giebt einen Morgen,“ sagte der Fremde. „Das Licht wird sehr hell kommen. Wir werden Morgen haben bald.“ „Ich darf den Morgen nicht sehen. Ich habe grosse Eile, und dass ich hier bin, darf Keiner wissen. Das Licht nicht und nicht der weisse Nebel des Morgens, der dem Hahnschrei vorangeht. Durch die Nacht und den Sturm bin ich gekommen, weil es Nacht ist und Sturm in mir. Hörst Du die Weisen draussen? Es sind alle Geister der tollen Vergangenheit, die los sind. Sie singen mir von Stolz und Sieg und Macht. Ich sehe sie Alle, die dies Haus umkreisen und mit mir hierhergezogen sind. Sie tragen Rüstungen von Eisen und gehen langsam vorüber. Die Letzten haben Purpurmäntel und Einige reiten auf herrlichen Pferden. Einer trägt sein Haupt unter seinem Arm. – Warum sind sie grauenhaft und traurig wie diese?“ „Sie haben getödtet,“ sagte der Fremde. „Sie haben genommen. Sie haben gerächt und gerichtet.“ „Aber Viele haben Gutes gethan. Sie haben Ordnung gestiftet. Sie haben geschafft. Die Kraft ihres Hirns haben sie gegeben und die Stärke ihres Arms. Sie waren Väter und Erbauer.“ „Des Vaters Amt ist ein schweres. Viele führt in die Irre, der als ein Führer selber irrt. So er dieser Geringsten einen ärgert, besser wäre es ihm, er verlöre Leben und Leib. Der Baumeister, der nur einen Stein falsch wählt, gefährdet den Bau.“ „Das ist schrecklich. – Sie waren Erwählte unter den Menschen. Die Gnade von oben hat ihnen geholfen.“ „Es ist schwer, dass ein Reicher das Himmelreich finde,“ sagte der Fremde. „Die Gnade wird dem Demüthigen.“ „Man kann demüthig vor Gott sein und stolz vor den Menschen. Gott hat Könige eingesetzt.“ „Einen. Er hatte nicht, da er sein Haupt hinlegen sollte und ward in der Krippe gebettet.“ „Du denkst also, dass es ein Unrecht ist, ein Grosser dieser Welt zu sein?“ „Es stehet geschrieben: Wer unter Euch will ein Herr sein, der sei Aller Knecht.“ „Das ist bildlich gemeint,“ sagte der Reiter. „Wer dem Ganzen dient, ist Aller Knecht.“ „... Und er nahm seinen Schurz und wusch ihnen die Füsse,“ sagte der Fremde milde. „Das ist doch auch nur symbolisch.“ „Du glaubst, dass das Kreuz ein Symbol ist?“ Der Fremde lächelte – ein trauriges Lächeln. Man sah eine Qual von zweitausend Jahren, versteinert gleichsam, wie lange gestorben, die lebte. Der Reiter sah ihn ungewiss an. Er zitterte. Der Sturmwind draussen blies zum Umwerfen. Und es war sehr finstre Nacht. „Gewissermaassen ja. Das Leben ist eine Art Kreuz. Wir hängen am Kreuz. Jeder, der den Kampf des Lebens ficht. Auch Unsereiner hat in sich zu kämpfen, mehr denn Andre. Du sagtest schon, die furchtbare Verantwortung. – Auf Einen fällt der Fehler. Es ist schwer, Recht zu scheiden vom Unrecht. Für dieses schwere Amt müsste man Vorrechte haben. Wer wollte freiwillig es auf sich nehmen?“ „Glaubst Du, dass es Keiner möchte?“ Der Reiter verwirrte sich. „Es muss doch sein, um der Ordnung willen. Es ist besser, dass das Festgefügte bleibt. Einer, um den kein Kampf ist, der den Ehrgeiz nicht kennt, Neid, Niedrigkeit. Das Alles haftet dem Emporgekommenen an. Der Purpurgeborne kennt es nicht. Ist er nicht edler?“ „Gottes Sohn hatte zu seiner Rechten mehr denn zehntausend Legionen Engel. Er liess sich binden und kreuzigen.“ „Er war der Edelste. Das ist nicht menschlich, das ist göttlich.“ Eine lange Pause entstand. Der Fremde hielt das Haupt geneigt. Es waren auf seiner Stirn rothe Spuren wie von Schärfen, Spitzen, die eingedrungen waren. Er hatte Narben in den Händen. Ein Schmerz, wie von einer schweren, nie geheilten Wunde schien in seiner Seite zu wohnen. Er legte die Hand in seine Seite. Er seufzte. „Und wenn ich es thäte?“ fuhr der Reiter fort. „Wer hätte den Vortheil? Ein Andrer, der käme und schlimmer wäre, vielleicht weniger tief angelegt, – ein Leichtfertiger. Ein Tyrann. Wem wäre geholfen? Und was ist Einer?“ „Einer war und er that.“ „Selbst dieser Eine ...? Ist die Welt besser geworden? Die Formen der Unterdrückung haben gewechselt. Vielleicht sind sie weniger roh. Sind sie darum weniger grausam? Ist Hunger, Krieg, Ungerechtigkeit verschwunden? Er war Gottes Sohn und starb vergebens. Wer bin ich?“ Der Wind hatte einen neuen Einlass gefunden. Er stiess hinein wie in eine Trompete. Ein Fensterglas zersplitterte. Es klang wie Gelächter, das Lachen von tausend Kobolden und Dämonen. Der Fremde antwortete nicht. „... Es könnte sein, dass Umwälzungen kämen,“ sagte der Reiter, „allgemeine, durch einen Umschwung des Denkens erzielte, langsam vorbereitete. Vielleicht kommt es so? Ich weiss nicht. Wem ist es gegeben zu erforschen? Man muss bleiben, wo man hingestellt ist, sich genügen lassen, sein Bestes zu thun. Unsre Einsicht ist unvollkommen. Langsam nur geht die Zeit. Ich bin nicht ein Erlöser. Nicht ein Genie ... Ich thue meine Pflicht.“ Er hatte seinen Mantel wieder umgenommen. Er rief nach seinem Pferde. Diese ritten hinaus wieder in die Nacht. Ueber ihren Häuptern fegte der Sturmwind. Er sang wilde, triumphirende Weisen. Hoiho – hoiho – triumphirte der Sturmwind. ‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐ Er ging allein fort, bis er an einen grossen Wald kam und setzte sich daselbst auf einen Stein. Es war ein sehr alter Wald aus lauter hundertjährigen Bäumen, Eichen mit seltsamen verknoteten, verknöcherten Stämmen, die da wie Vorweltriesen standen. Unten waren sie schon abgestorben, aber oben trieben immer wieder frische grüne Zweige mit krausen Blättern und Eicheln. In einige war der Blitz gefahren. Sie trugen seine Spur wie ein breites kohlschwarzes Band vom Wipfel zur Wurzel. Da war alles Leben versengt, aber die andre Seite grünte noch und breitete Aeste. Alle standen da in einem geheimnissvollen Kreisring. Nicht zu nahe bei einander, weil sie sich sonst gestört hätten im Wachsthum. Um den engeren Ring lief jedesmal ein weiterer. Seine Stämme standen in den Zwischenräumen zwischen denen des Ersten, so dass es von innen anzusehen war wie eine hölzerne geschlossene Ringwand, aus lauter Stäben, dass man nicht unterscheiden konnte, wo der Wald aufhörte oder anfing. Aber zwischen den einzelnen Kronen fiel breit der blaue Himmel durch. Der Boden war mit hohem, grünem, sehr feinem Gras bewachsen. Man konnte gehen in den Abständen der Ringe wie in einer Wandelbahn. Es war schattig und doch hell. Die Rinde dieser Bäume war rauh, borkig, mit starken, eingeborstnen Abschilferungen wie die mächtigen Dickhäuter. Moose wuchsen aus ihr in grauen Hängebärten. Knoten und Buckel hatte das Alter gebildet, schwärzliche Warzen, in denen die Säfte sich schwärend stauten. Die Aeste kamen wieder, verrankten und verschlangen sich in seltsamer Weise. Keine Regel schien da mehr zu herrschen, nur Laune, grimmige, kauzige Spottsucht des Alters. Die Wurzeln liefen sehr lang mit Knollen und Armen. Sie verästelten und verwoben sich auch ineinander. Einige Stämme hatte man abgehauen. Aber die Stümpfe waren geblieben. In deutlichen Ringen stand ihr Leben geschrieben. Kleines Buschwerk, Gepilze, schoss und trieb um die Todten. Man sah ihre Wurzeln, die weiss wurden, abstarben. Doch mächtig mit starken Fibern und Adern wie Gespinnste einer untergegangenen Hexenwelt. Grosse Steine von alten Heidenzeiten her lagen in der Runde. Jedermann wusste, dass man diese Steine nicht anrühren durfte. Es lagen grosse Helden der Heiden darunter begraben und sie waren blos verzaubert und nahmen es übel, wenn man sie reizte. Dann kamen sie hervor aus ihrem Grabe, schlugen mit ihrer Zauberkraft Mensch und Vieh. Manche erzählten, dass sie zu Zeiten ein weisses Ross da hätten grasen sehen, ohne Zaum und Sattel, von wunderbarer Farbe und Sanftmuth. Aber wenn man es anrufen und fangen wollte, wurde es schwarz, Feuer sprühte aus seinen Nüstern. Das war das Schlachtross des Heidenkönigs. Auch von einer wundersamen Frau erzählten sie. Er hielt sie dort gefangen mit sich im Tode, die im Leben seine Braut nicht gewesen war. Denn zu den Zeiten waren Männer; solcher liess ein Weib nicht und ob er sie im Sturm geraubt. Der alte Heidenkönig hielt sie im Grabe, und des Nachts stand sie auf und ging zu ihrer eigentlichen Heimath und ihren Kindern, dem weisen, guten König, dem sie angehörte. – Aber des Nachts und wenn es finster war, hielt sie der Andre, der sie geraubt mit seinem Leben. Und man fand, dass es so recht war im Volke, weil er den Blutpreis gezahlt um sie. Es war darum im Herzen der schönen Frau, dass sie nicht widerstehen konnte, wenn er sie zu sich rief auf sein höllisches Bett des Nachts. Aber sie war unselig und klagte. Oft hörte man ihre Klage widerhallen im Mittag, zu Stunden des Tags, wenn die Luft lau und lind war. Sie klagte, dass der gute König, ihr Mann, gestorben war, alle ihre Kinder und späte Enkelkinder. Ihre Seelen waren zu Gott oder zum Teufel, je nachdem sie thaten, recht oder unrecht gehandelt im Leben. Sie auch war längst todt im Leibe; nur ihre Seele konnte nicht sterben um der sündigen Leidenschaft willen, die sie festhielt an dem starken Helden. Aus solchen Klagen der weissen Frau hatte man ein Lied gemacht. Knechte und Mägde sangen es oft bei ihrer Arbeit. Es war ein Lied des Landes geworden, von der armen Seele, die nicht sterben konnte, weil sie noch immer liebte. Ihre Liebe war vom Teufel und starb doch nicht. Weil er so stark gewesen war und so schön, der tapferste Held der Heiden und ein Wunder, der König, vor den Leuten. Jedermann wusste, dass sie nie den Frieden finden konnte. Sie war wie eine unselige Seele zwischen Himmel und Erde. Der Heidenheld küsste sie heiss und wach wieder, jede Nacht, wenn sie müde war und kalt, endlich sterben wollte. Der Fremde sass auf dem Stein und schrieb in den Sand mit seinem Stabe. Er folgte den krausen Runen der Wurzeln. Buchstaben und Worte bildeten sie, seltsame Worte von tiefer Meinung. Er folgte ihnen in jede ihrer fliehenden Curven, bis sie sich die Hände reichen, neues Spinnen begann. Wo sie aufhörten im Baumstamm, wurden sie sehr stark, wie starke Leiber mannbarer Männer, und standen wie Thürme, die nichts umwirft. Der Blitz war an ihrer Seite hinabgefahren. Er auch hatte seine Schrift gelassen. Da war die Schrift des Blitzes, der Jahre, des Regens, uralter Zeiten. Ein Salamander schlüpfte zwischen den Wurzeln vor, schwarz und gelb gesprenkelt. Er sah den Fremden an mit blanken, klugen Aeugelchen, die wie Kugeln aus seinem platten Kopfe sprangen. Man sagt von ihm, dass er fest bleibt im Feuer. Wer den Salamanderkönig fängt, steht unversehrt mit ihm mitten in den Flammen, alle Schätze der feurigen Tiefe sind sein. – Denn der Molch ist der König des Feuers, derer, die hämmern ohne Unterlass im Gestein, Zwerge, neidischer, ungefüger Riesen und Drachen. Rothes Gold hüten sie, funkelndes Edelgestein, unerhörte Schätze, von denen die Menschen blind werden und roth sehen in bebender Gier. Eine schwarze Amsel kam und lief emsig hin und her. Sie blieb stehen und horchte. Dann lief sie wieder, pickte anklopfend, neigte den Kopf und hob ihn. Man sagt, dass diese Amsel Alles weiss, die Sprache der Vögel und der Bäume, wie die tiefsten Sorgen und Geheimnisse des menschlichen Herzens. Wer ihrer Weisheit zuhört, vergisst Essen und Trinken. Wenn er zu sich kommt, ist sein Haar weiss und sein Herz vertrocknet in ihm, wo er jung war, lieben und lachen konnte, da er zum ersten Mal die teuflische Weisheit der Amsel und ihren Spruch vernommen. Zwischen den Stämmen wob eine Kreuzspinne. Sie wob emsig, klebrige Fäden ziehend und feuchtend mit hebenden Beinchen. Nach rechts und nach links und in Strahlen von ihrem Mittelpunkt aus. Dann verbanden die Strahlen wieder andre kreuzende Fäden. Auf und ab wob die Spinne netzend und anziehend, wie sie Faden auf Faden spann. Die Kreuzspinne dachte: „Dies Gewebe ist meine Welt. Ich habe es Alles allein gemacht aus mir selbst. Hier hänge ich zwischen Himmel und Erde. Sie können mir nichts anhaben von oben oder unten. Denn ich bin die Sonne, die scheint in der Mitte. Alles, was auf ihren Strahlen läuft oder sie kreuzt, ist mein. Sein Blut nährt mich. Ich werde fett und satt von ihrem Blut. Ich bin die fetteste Kreuzspinne im ganzen Wald. Mein Gewebe ist unzerreissbarer wie die starken Bastfäden der Bäume.“ Der Fremde sass und zeichnete im Sand. Alsbald kam des Wegs ein sehr alter Mann, dem der Wald gehörte. Er war so alt, dass er nicht mehr gerade gehen konnte, sondern sich auf einen Stock stützen musste. Aber sein Rücken war breit und mächtig in dieser Krümmung, als ob er eine Weltlast tragen könnte. Sein Haar und Bart war schlohweiss, von Schnee, der nie mehr schmilzt in ewigem Winter. In seine Haut hatten die Jahre Furchen gegraben wie in einen Acker. Zäh und hart war sie, von der Sonne vielfach verbrannt, dass ihre Farbe der ungegerbten Leders glich oder Pergamenten uralter Schriften. Wo die Adern sich unter ihr kreuzten, bildeten sie starke, hervortretende Knoten. Sie liefen auf seinen Händen wie Stricke, versteinerte Gänge einstiger Canäle, in denen kein Blut mehr fliesst. Wohl hundertjährig war dieser Mann. Aber seine Augen glühten und leuchteten vom Feuer, das nicht stirbt. Wie Steine waren sie, die erstarren machen die, die darauf sehen, stählerne Spiegel, dass die Seele und die geheimsten Gedanken des Mannes, den er anblickte, offen lagen gleich einer Thür ohne Hüter vor dem Alten mit den furchtbaren Augen. Wenn er die Brauen zusammenzog, war sein Zorn so schrecklich, dass die stärksten Herzen zusammenschmolzen vor ihm, ihr Wille war unter seinem Willen wie eine zappelnde Maus, eine winzige, verwickelte und verwirrte Fliege. Wer diesem Mann nahte, der verfiel ihm mit Leib und Seele. Und er nahm ihre Leiber und sog ihre Seelen ein. Darum war er gross und stark, wunderbar vor Allen und sehr alt, so dass die Leute ringsum sagten: Er wird nicht sterben. Er aber wusste sehr gut, dass er sterben musste. Darum hütete er den tausendjährigen Wald, liess keinen Stamm schlagen, dass er stehen sollte, grünen und Früchte tragen tausend Jahre nach ihm. Der alte Mann ging auf seinen Stock gestützt und sein Hund folgte ihm. Es war ein grosser, grauer Hund vom Geschlecht der Bulldoggen, die keine Furcht haben vor Mensch oder Thier, riesenhaft und ausgezeichnet unter Seinesgleichen, schwer tretend und sehr alt schon, wie sein Herr war unter seinen Gesellen, Herren und Fürsten ringsher. Etwas vom Ausdruck des Mannes war im Ausdruck des Hundes. Diese Beiden verstanden sich ohne Wort oder Zeichen. Wo sein Herr ging, folgte ihm der Hund. Wenn er des Nachts schlief, lagerte sich der Geselle vor seinem Lager. Es war unmöglich zu diesem Lager zu gelangen, ohne den Leib des Hundes zu berühren, der aufsprang, in einem einzigen Gurgelgriff den Eindringling beendigt hätte, dann legte er sich wieder nieder und leckte seine Tatzen. Denn so furchtbar und gefährlich dieser Hund war für Menschen und Thier, so gehorsam und gefügig war er seinem Herrn, dass er das Wunderbare seines Eindrucks erhöhte, der Ruhm des Hundes gross war wie der seines Herrn, in dieser Gegend, wo man sie für Könige hielt und Wesen über dem Maasse des Irdischen und Staubgewordnen. Der alte Mann war vor dem Fremden stehen geblieben und sah ihn an. So gross war das Feuer der Sehkraft in den Augen dieses alten Mannes, dass es wie Flammen züngelte und emporschlug an dem Andern. Einen Sterblichen hätte dieses Feuer verbrannt. Aber der Fremde sass ganz still, zeichnete mit seinem Stab im Sande. „Wer bist Du?“ fragte der alte Mann, dem der Wald gehörte. „Ich bin Der, der gewesen ist und nicht stirbt.“ „Nichts ist gewesen von Anfang, und Alles stirbt,“ sagte der alte Mann. „Es ist Niemand, der nicht stirbt.“ „Nichts, das gewesen ist, stirbt,“ sagte der Fremde. „Buddha ist gestorben, Alexander und Cäsar. Was ist geblieben von ihrer Weisheit, ihrem Glanz, ihrer Stärke?“ „Die Amsel, die läuft. Der Molch, der wacht. Die Spinne, die spinnt.“ „Du sprichst sehr thöricht,“ sagte der alte Mann. „Jene waren Helden und Weise. Diese sind arme, geringe Thiere.“ „War ihre Weisheit vorsichtiger denn die des Vogels? Ihr Reichthum grösser denn der der Eidechse? Ihr Werk bleibender als das der Spinne?“ „Sie rechnet nach Tagen. Wir zählen Aeonen. Sein Reichthum ist Spukwesen. Die Weisheit des Vogels ist der rohe Instinkt der Natur. Wir finden die schwersten Regeln und lösen das Innere der Menschheitsgeschichte.“ „Euer Wesen ist Spuk und Eure Weisheit ist Spreu. Sieh, wie ich es zerreisse!“ Der Fremde schlug mit der Hand in das Spinngewebe und zerriss es. Die grosse Spinne fiel. Er setzte den Fuss darauf und zertrat sie. Der Salamander duckte sich unter die Wurzeln. Die Amsel entfloh hüpfend. „Ich fürchte den Tod nicht,“ sagte der alte Mann stolz. „Ich habe das Leben getragen und es ist schlimmer zu tragen als der Tod. Allen Reichthum und alle Macht habe ich gehabt. Und ich war ein Sklave, ärmer wie der ärmste Tagelöhner. Der Tag, da ich vor meinem Hause stand und Kohl pflanzte, war mein glücklichster Tag. Kaiser und Könige habe ich gekannt. Ich habe an ihrem Tisch gesessen und mit ihnen gegessen. Sie waren wie die Gummibälle in meiner Hand, Seifenblasen, die die Kinder auftreiben und zerblasen. – An meinem Stab bin ich hierhergegangen. Ich habe die ganze Welt besessen und konnte mein Thor zumachen vor der Welt, Eifersucht, Noth, Neid, Hass habe ich getragen, Undank, der schlimmer ist wie der giftige Zahn der Natter. Er hat mich nicht angefochten, mehr denn Jubel, Ruhm, Liebe der Weiber, flüchtige Tropfen des Blüthenöls, die verfliegen. – Hier bin ich ein sehr alter Mann. Die Zeit habe ich ausgehalten und ich grüsse den Tod, denn ich bin müde vom Leben. In mir ist Alles todt, was lebendig gewesen. Ich liebe die Welt nicht und ich hasse sie nicht. Alles ist eins, und so gut als wäre es nie gewesen. Wenn etwas nachher ist, werde ich es tragen. Niemals werde ich glücklich sein und niemals klagen. Ich bin vom Geschlecht der Riesen hier, der Tausendjährigen. – Was bist Du gekommen mich zu stören in meiner Oede? „... Ich habe Zeichen am Himmel gesehen,“ sagte der alte Mann, „und Götter. Es waren andre Götter vor ihnen, grösser und gewaltiger als Du. Sie hassten und liebten, sie sangen und schlugen. Vielleicht schlafen sie, vielleicht sind sie todt. Lass mich schlafen bei meinen todten Göttern! – Sie rafften und wussten und sammelten Schätze und schufen Welten für Zeiten und Jahre. Sie waren Götter und sind wie Menschen. Ich gehöre zu ihnen. Du bist nicht meiner.“ „Du wirst mich kennen.“ Der alte Mann legte eine Hand vor die Augen und beschattete seine Augen mit der Hand. Wie ein Schatten ging es über seine Augen. „Ich träumte von Einem ... Es ist lange, lange her. Der da kommen sollte ... Ich weiss nicht, ob er vom Himmel ist oder von der Erde? Du bist Fleisch. Aber Dein Fleisch hat den Tod gesehen. Du bist ein König und kommst im Kleide des Bettlers. Du könntest tödten und Du streckst die Hand aus, um zu bitten. ..... Aber kannst Du lieben? Kannst Du lieben wie wir?“ „Ich bin für Dich gestorben. Aus Liebe zu Dir bin ich Fleisch geworden und ich habe gelitten. Es ist die Liebe, die mich lebendig macht vor Deinen Augen.“ Der Alte hatte sich vorgebeugt. Seine Augen drohten den Fremden zu verschlingen. Sie bohrten sich sehr tief in sein Gesicht und schienen seine Seele zu fassen in ihren Tiefen, wo sie nackt lag: „Wohl – wohl – Du bist gut und barmherzig. Es giebt die Schuld. Und es giebt die Nacht. Ueber Schuld und Nacht – – Kannst Du lieben dahinüber?“ „Ich kannte die Nacht des Todes. Und ich bin in der Hölle gewesen.“ „In der Hölle ... In der Hölle ...“ Der alte Mann beugte sich noch weiter vor. Seine Augen schienen sich hineinzufressen in die des Andern, zu ringen – zu ertrinken. Er athmete hart. „Wo die Flammen steigen zum nächtlichen Himmel, die Starken schmachten in Ketten und Banden – –“ „Wo die Flammen steigen zum nächtlichen Himmel, die Starken schmachten in Ketten und Banden ... Einer ist, der Starke der Starken, der Stolzesten Stolzer ... Einer – –“ „Keiner ist denn ich. Er ist Ich, Ich bin Er. Sieh mich an und verstehe!“ Der alte Mann hatte einen Schritt vorwärts gemacht. Wie ein Blitz an der Eiche glitt er hernieder. So fiel er um und war todt. Der Fremde drückte ihm die Augen zu. Er machte das Zeichen des Kreuzes über ihn. Er lag da in seiner ganzen, riesigen Länge, die tausendjährige Eiche, die tausend Jahre gestanden hat und fällt. Der Hund hielt die Wache neben dem Leichnam. Er sass still und gerade, den Kopf hochgerichtet, die Vorderpfoten nebeneinander gestellt, wie steinerne und eherne Hunde sitzen auf alten Grabmälern. Der Salamander lugte aus seiner Wurzelspalte. Die Amsel hüpfte und beschrieb seltsame Kreise. Die Spinne wob ihr Netz. Niemals wieder im Zauberwald hörte man die Klage der weissen Frau. DAS DREIZEHNTE KAPITEL. Es begab sich aber, dass Einer gestorben war, den er lieb hatte. Dessen Verwandte und Freunde kamen zu ihm und sagten: „Dein Freund ist todt. Er hat Dich geliebt und liebt nicht mehr. Er hat gesprochen und nun schweigt er. Er ging und wandelte unter uns und er ist nun starr und stumm wie ein Stein. Bald wird die Verwesung eintreten an seinem Leichnam. Wir werden ihn begraben und unter die Erde senken müssen. Die Würmer werden ihn zerfressen, sein Fleisch, das faul und stinkend wird, die Knochen, dass von ihm nichts übrig bleibt. Pilze und lange Gräser werden wachsen aus seinem Grab. Wo sein Hirn war, werden die Maden nisten. Ekle Larven werden kriechen in der Höhle seines Mundes, der lieblich tönte von holdseliger Rede, weil er lebte. Seine Mutter wird Niemand haben, der ihr Trost bringt. Sie ist alt und kann nicht mehr ausgehen auf Arbeit. Seine Schwestern werden sitzen und verwelken in ihrer Jungfrauenschaft. Denn wer wird sie wollen, wo der Bruder fehlt, der Brot gab und Schutz? Ein grosses Unglück ist es für Alle. Du konntest helfen und halfst nicht. Nun ist er todt. So Du nicht eilig kommst, wirst Du die Leiche nicht mehr sehen im Tode. Der Dir lieb war, geht ein wie Gras, das verdorrt.“ Dies Alles hörte er mit an, sagte nichts. Danach stand er auf und ging sehr eilig, dass er den Todten noch sähe auf seiner Bahre, die Hand auf sein Antlitz legte, ehe sie ihn zuschlossen im Sarge. Im Hause fand er Alles in schwerer Trauer. In einer Stube sass die alte Mutter und wehklagte laut. Alle Weiber des Orts waren um sie, weinten und halfen ihr ihre Thränen trocknen. Während sie laut die Tugenden des Todten rühmten, der ein vortrefflicher Sohn gewesen, voll Eifer und Zuverlässigkeit gegen seine betagte Mutter, der er die Hälfte seines Verdienstes gab, dass sie friedlich und in Eintracht lebten in ihrem Häuschen und satt zu essen gehabt von dem, was er heimbrachte. So trostlos war die alte Frau, dass sie ihre Haare zerrauft hatte. Ihre Kleider hingen unordentlich um ihren Leib, denn sie hatte sie mehrere Tage und Nächte nicht abgenommen, während er krank lag. Ihre Augen waren geröthet vom Nachtwachen, ihre Backen eingefallen von Kummer, jämmerlich und hülflos die ganze Erscheinung. Sie weinte laut, schrie und wollte sich nicht trösten lassen. Es war ihr einziger Sohn gewesen, der todt lag. Sie hatte nur diesen und würde kinderlos bleiben hinfort. Ihre Töchter konnten in die Ferne ziehen als Mägde. Manchmal würden ihr die Nachbarn eine Unterstützung bringen als einer Bettlerin und Ueberlästigen. Sie würde an der Thür stehen, wo sie früher als Herrin gewaltet, ärmlich sitzen, wo sie im Mutterstolz geschritten neben ihrem Sohn. Die eine Schwester Martha ging ab und zu. Sie brachte warme Getränke, Wecken und Kuchen für die Leidtragenden, während die Männer Bier aus Krügen tranken, Branntwein hingestellt war in Flaschen. Das gebot die Sitte. Diese Martha hatte das Hauswesen unter sich und war sehr tüchtig darin. Ihre Wecken und Kuchen waren berühmt im Dorfe. Das Bier, das sie selbst braute, schmeckte kräftig und süss, wie irgend ein gekauftes. Alle assen und tranken reichlich, lobten Martha, ihre Ordnung und Führung des Hauswesens, wie sie Alles eingeleitet und gerichtet in dieser traurigen Gelegenheit. Sie war bald hier und bald dort, füllte die Tassen und Krüge, schalt auf die Kinder, die anfingen das Brot zu verstreuen, sich die Gesichter zu beschmieren mit Mus unter dem Tisch. Sie nahm einen Besen und fegte sie damit hinaus Alle zusammen und gab ihnen Schläge auf ihre kleinen Röckchen. Alle fanden, dass sie recht that, diese Martha ein sehr tüchtiges Frauenzimmer sei. Es war ein oberster Bauer im Dorf, der sich vornahm, sie als Haushälterin zu dingen. Der Wirth vom Krug wollte sie gleichfalls. Dieser war ein Wittmann und konnte heirathen. So dass wenig Noth war um Martha, selbst wenn sie keine Aussteuer hatte, der Bruder fehlte, sie wegzugeben. Maria aber, die andre Schwester, sass zu Häupten des Todten in dem kleinen Verschlag nebenan. Sie hatte einen blühenden Kirschenzweig abgebrochen und wehrte damit den Fliegen, die kommen wollten, sich auf das Antlitz des Todten zu setzen. Wenn eine Fliege kam, scheuchte sie sie sacht hinweg mit ihrem blühenden Zweig, ohne sie zu tödten, dass sie aufflog und summend gegen das Fenster stiess. Sie hatte Wiesenblumen gepflückt, ganze Armladungen voll, und sie zu beiden Seiten des Bettes geschichtet. Wie auf einem lichten Frühlingsanger lag der Todte, weil er jung war, wohlgewachsen und schön vor andern Jünglingen. Martha schalt über das unnöthige Heu, das die Kühe fressen könnten. Sie fand, dass die Schwester ihr helfen sollte in der Wirthschaft und bei der Bedienung der Gäste. Aber Maria blieb sitzen bei dem Todten. Sie hatte ihren Zweig in der Hand und scheuchte sacht die Fliegen, während sie vor sich hinsang. Diese Maria hatte die Gabe der Lieder. Im Hause war sie nicht so geschickt wie Martha, von weniger flinken Fingern, so dass jene oft schalt und ihr Vorwürfe machte. Sie konnte auch nicht ansehen, dass man Thiere und Vögel schlachtete, wie Martha es that, trefflich davon zu kochen verstand. Manchmal hatte sie der Schwester die blinkenden Fische wieder aus dem Netz genommen und heimlich zurückgetragen in’s Wasser. Martha hatte gezankt, ihre Hand geschlagen. Sie fand, dass sie unnütz war und träge in der Arbeit. Obgleich sie sehr schön war, höchst lieblich anzusehen, fragte sie nicht nach den jungen Leuten im Dorf, die zwar gekommen wären, unter ihren Fenstern von Liebe zu schwätzen, auch wohl ihre Armuth übersehen hätten um ihrer grossen Schönheit willen. Ihre Schönheit war wie die einer Königin, nicht eines Bauernmädchens. Wenn sie durch das Dorf zum Brunnen ging, liefen die Kinder ihr nach, die Kühe kamen mit breiten, weissen Stirnen, sich streicheln zu lassen von ihr, zu saufen aus ihrem Eimer. Man sagte, dass in ihrer Hand Heilkraft wäre, die Pflanzen, die sie eingesetzt hatte, schlugen an und blühten. Ihre Lieder schläferten ein trotziges Kind ein. Das wilde Blut wurde ruhig. Man vergass die Sorgen des Lebens, wurde einfach, Lilien auf dem Felde, die blühen in ihrer stillen Pracht, und kleine Vöglein, die zwitschernd flogen ohne Sorge und Noth. Sie sass und störte mit ihrem Zweig die Fliegen. Sie sang leise. Sie war gar nicht traurig. Ihr schönes Gesicht blieb ruhig wie zuvor. Sie weinte auch nicht; man sah keine Unordnung in ihrem Haar oder Kleid. Keine Herdröthe lag auf ihren Backen, wie bei Martha, die fliegend stob, scheltend, zählend, weinend wieder zwischendurch über den Bruder, der fehlte, die Sorge, die in den Haushalt gekommen dadurch. Besonders beklagte sie sich, dass Er, der sein Freund war, nicht dagewesen war bei Zeiten. Er hätte ihm ein Heilmittel geben können, wenigstens doch Trost spenden an seinem Bett, eine Hülfe sein den geplagten Frauen. Es kamen immer mehr Menschen, denn die Zeit des Begräbnisses war nahe. Alle assen und tranken. Es war eine grosse Unordnung. Man hörte das Klagen der alten Frauen, die die Tugenden des Todten aufzählten, die Kinder spielten und trieben allerlei Schabernack. In den Ställen brüllte das Vieh, das man vergessen hatte über dem Trubel, vor seinen Krippen. Mitten hinein da trat der Fremde. Martha stürzte sich sofort auf ihn und erzählte die näheren Einzelheiten von der Krankheit und dem Tod. Die alte Mutter erhob ihre Stimme sehr hoch in Schluchzen. Alle sahen ihn an und drängten sich um ihn, denn sie wussten, dass der Verstorbne ihm sehr lieb gewesen war. Sie wunderten sich, was er thun würde. Einige dachten auch, er hätte ihm helfen können: Was ist an ihm, so er nicht mal diesen retten konnte, den er lieb hatte? Die Andern glaubten beinah an ein Wunder: Jetzt ist die Gelegenheit für ihn. Wir müssen sehen, was er thut. Sie waren ganz bereit zu glauben, wenn er den Todten erweckte, obgleich sie natürlich nicht zugaben, dass so etwas möglich wäre. Es war eine Aufregung in der ganzen Gesellschaft und Alle sahen auf ihn. Er sprach: „Führt mich zu ihm!“ Martha führte ihn in den Verschlag. Alle drängten nach durch die niedrige Thür. Aber er hiess sie die Thüre schliessen. So schloss sie die Thür. Draussen warteten die Andern. Nur die alte Frau fuhr fort laut zu wehklagen, ihre Tage zu verfluchen, dass sie lieber ihm nachfahren wollte in die Grube, der ihr Leben gewesen, der Trost ihres hülflosen Alters. Martha war mit hineingegangen. Sie beeilte sich die Vorhänge fortzuziehen: „Sieh ihn Dir genau an und merke die Zeichen des Uebels, an dem er gestorben ist.“ Sie beschrieb sie genau. „Nun ist es zu spät. Wenn Du bei Zeiten gekommen wärst, lebte er jetzt. Aber vielleicht ist es auch nicht zu spät? Du weisst sehr Vieles, und es ist Dir Macht gegeben über Kunst der gewöhnlichen Sterblichen. Sieh Du selbst und urtheile!“ Das sagte sie ihn zu versuchen. Sie dachte in ihrem Herzen: „Wenn es doch möglich wäre? Warum sollte es ganz unmöglich sein?“ Er sprach: „Lass mich allein mit ihm.“ So ging sie hinaus und schloss die Thür hinter sich. Es war Niemand im Zimmer, denn er und Maria. Und die Leiche zwischen ihnen, von der sie die Fliegen wehrte mit ihrem blühenden Zweig. Denn sie hatten ihn viele Tage liegen lassen um des Fremden willen. Der Leichnam fing schon an sich zu zersetzen. Ein Geruch der Fäulniss war mit im Zimmer zwischen dem frischen, kühlen der Blumen, die Maria gesammelt hatte. Er war an das Lager getreten und sah den Todten an. „Er ist nicht todt,“ sagte er. „Ich weiss, dass er nicht todt ist. Er schläft blos,“ sagte Maria. Sie fuhr fort den Fliegen zu wehren und sang leise. Vom Gras, das verwelkt, sang sie, von der Spreu im Winde: „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras, er blühet wie eine Blume auf dem Felde. „Wenn der Wind darüber geht, ist sie nimmer da und ihre Stätte kennt sie nicht mehr. „Sie gehen daher wie ein Schemen und machen sich viel vergebliche Unruhe. „Sie sammeln und wissen nicht, wer es kriegen wird. „Wie ein Traum vergehet, so wird er auch nicht gefunden werden und wie ein Gesicht in der Nacht verschwindet. „Unser Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hochkommt, so sind es achtzig Jahr, und wenn es köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon.“ Nicht traurig klang es. Nur weich und sehr leise. „Er ist nicht todt und er hat nicht gelebt,“ sagte der Fremde. „Er wurde nur geboren und nun ist er gestorben.“ „Ich weiss, dass er nicht todt ist und nicht gelebt hat,“ sagte Maria. „Was lebt, ist unsterblich. Das Unsterbliche kann niemals sterben.“ „Niemals,“ sagte der Fremde. „Vielleicht ist er auf einem andern Stern jetzt,“ sagte Maria. „Vielleicht ist er etwas sehr Hohes und Herrliches. Vielleicht ein Fliegeneichen. Und der Wind führt es fort. Oder Gräser wachsen aus ihm, die blühen und Samen tragen.“ Sie lächelte und scheuchte die Fliegen. Die Sonne stand schon niedrig. Ein breiter Lichtbalken vom Fenster her zog sich quer durch die Stube. Hunderte von glitzernden Stäubchen tanzten und webten. Sie stiessen sich und kreisten. „Vielleicht,“ sagte der Fremde. „Nur er ist nicht todt.“ „Er ist nicht todt. Sie denken es blos. Sie sind thöricht.“ „Und blind. Sie sehen nicht.“ „Sie sehen nicht, weil sie hochmüthig sind und Scheuklappen vor ihre Augen binden, um nicht zu sehen. Alles ist schön. Alles singt. Alles lebt.“ Und fröhlich sang sie in den Tag, der sich neigte: „Sie denken, dass die Sonne untergeht. Sie geht nur weiter. Sie sehen sie nicht. Es wird Nacht. Nach der Nacht kommt der Morgen. Ach, die Menschen sind ungeduldig und unverständig! Wie kleine Kinder sind sie, die weinen, wenn es dunkel wird. Still ist die Nacht. Lieblich und gütig.“ – „Möchtest Du den wecken, der schläft? Er schläft sanft und seine Lippen lächeln. Möchtest Du purpurn haben, was weiss ist? Zuckend und fiebrig, was so still ward? Fühle, wie still es ist.“ Sie entfernte mit ihrer Hand das Hemd des Todten und legte ihre Hand auf sein Herz. „Es schlägt nicht mehr. Hört darum der Ocean auf, seine Wellen zu wälzen? Stört es etwas im Wechsel von Tag und Nacht, vom Sommer zum Winter? Arme Menschen! Wie ihre Herzen winzig klein sind! Und Froschherzen sind noch kleiner. Aber eine Fliege hat auch ein Herz. In ihren Adern fliesst Blut. Kleine Menschen, kleine Fliegen- und Froschmenschen! Wie sie klein sind!“ „Deine Mutter weint.“ „Ich habe eine Blume gepflückt und der Stengel blutete. Das ganze Würzelchen starb. Sie muss nun sterben. Sieh, wie die Blätter hängen! Wie sie traurig ist!“ „Man könnte sie wieder einpflanzen.“ „Wozu? Es giebt so viele Blumen. Sie wird Staub werden, eine schönere Blume vielleicht. Vielleicht wird sie eine Königin. Sie möchte gar nicht wieder eine arme, kleine Blume sein.“ „Die draussen verstehen es nicht.“ „Die verstehen es nicht. Sie sind ungeduldig, dumme, kleine Kinder.“ „Und unglücklich.“ „Unglück ist Ungeduld und Eigensinn. Es giebt keine Gefahr, wenn Du auf dem Wasser liegst und Dich treiben lässt. Es trägt Dich mit sich. _Gegen_ die Fluth bist Du ohnmächtig. Sie verschlingt Dich. – Du kannst die Augen schliessen und die Arme falten. So leicht – leicht schwimmt es sich! – _Er_ schwimmt jetzt. Er tobt nicht mehr. Er ist nicht todt und ich lebe nicht. Es ist Alles Eins – Alles ...“ Die Abenddämmerung war in’s Zimmer gekrochen. Alles löste sich auf, schien zu schwimmen, emporgetragen zu werden. „Schatten! Schatten! ... Wenn Du aus der Ferne viele Stimmen hörst, ist es Alles nur ein Ton. Wir sind zu nah. Nicht ein Gedanke, der gedacht worden ist, verschwindet. Was in den Schooss der Zeiten gesenkt war, trägt Frucht und blüht in den Zeiten ewiglich. Das Leben der Zeiten ist die Ewigkeit. Und alles Lebens Leben ist Gott.“ Da legte er die Hand auf die Stirn des Todten. Er sprach: „Leb wohl! Ich sehe Dich jetzt nicht. Aber ich werde Dich sehen. Du bist nicht todt. Das Leben ist in Dir nicht todt. Was Du mir davon gegeben hast, trage ich in mir. Und diese Alle tragen etwas. Das Andre liegt gehütet wie ein kostbarer Schatz. – Den Winden – der Erde – dem Wasser“ – er schlug die Zeichen durch die Luft. – „Gott, der des Lebens Ursprung ist, von dem es fliesst und zurück fliesst. – Komm jetzt, dass wir ihn rasch begraben und ein Ende machen.“ So gingen sie Beide hinaus, Maria und er, schlossen die Thür hinter sich, da der Todte lag. Es war dunkel bei dem Todten. Man merkte jetzt deutlich den Geruch der Verwesung, in dem der welkenden Blumen, etwas von Blut, Fleischfaser und schlechten, geringen Stoffen. Schlaff, mit geschlossnen Kelchen hingen die Blüthen. Die Fliegen schwirrten. Die Andern, da sie diese Beiden so ruhig sahen, meinten sie, es wäre ein Wunder geschehen, dass der Todte lebte. Sie drängten nach in die Thür und Martha rief mit lauter Stimme ihren Bruder: „Du – Du – sage ob Du lebst?“ Aber Maria sagte: „Lass ihn. Er ist nicht todt. Doch wir müssen ihn begraben, denn es ist Abend und die Leiche fängt schon an stinkend zu werden. Es wäre uns schädlich, ungesund, zum Schlafen in der Kammer.“ Martha sprach: „Wie sollen wir ihn begraben, so er doch nicht todt ist?“ Sie sah den Fremden hart an, weil sie ihm zürnte, dass er ihren Bruder nicht erweckt hatte, wie er wohl konnte nach ihrem Glauben. Sie mussten Noth leiden forthin. Ihre Mutter würde ohne Stütze sein für ihr Alter. Er aber lächelte nur, winkte mit der Hand und ging hinweg ohne ein Wort. Dies nahmen Viele ihm übel, Martha und die Frauen, die Neugierigen, die auf ein Zeichen gewartet hatten. Maria aber war nicht traurig. Sie sang und schritt leicht dahin. Wenn man sie fragte, ob sie nicht Leid trüge um ihren Bruder, sagte sie: „Ich warte auf ihn. Ich weiss, dass er nicht todt ist. Ich werde ihn sehen. Es ist in sehr kurzer Zeit vorüber – Alles. Ich bin eilig, die Blume zu fassen, meine Pflanzen zu wässern, dass sie wachsen.“ Einige sagten: Es ist Gleichgültigkeit, Andre: Grösse. Aber es war nichts von Beiden. Sie wusste nur und sie fand, dass die Tage zu kurz sind zum Weinen. Denn die Nacht kommt schnell herbei, da Niemand schaffen kann. ‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐ Nun war aber in dieser Gegend eine Jungfrau, die nie ein Mann berührt hatte. So rein war diese Jungfrau, dass nicht ein unkeuscher Gedanke oder Abdruck ihr Gehirn kreuzte. Selbst in ihre unbewussten Träume kam eine solche Vorstellung nicht, eine Hitze oder Beunruhigung. Sie hätte nackt vor Männern hergehen können, ohne dass sie sich geschämt hätte. Man würde vor ihren Augen alle Wollust und Sündhaftigkeit der Welt ausbreiten können, dass ihre Augen nichts gesehen hätten, die Röthe wäre in ihre weissen Wangen nicht gestiegen. Denn sie war rein in sich und crystallen wie klares Wasser, der Spiegel des Bergsees, in den nie eines Menschen Auge geblickt, nur der Himmel in seiner Bläue über den Wolken, keusch wie die königliche Lilienblüthe, die sich erschliesst in der Nacht, in hundert Jahren ein Mal, weil die Brunst der Sonne sie beleidigen könnte, Unreines, das stäubt und fliegt im Tage. Dieser Jungfrau, so Einer mit schlechten oder unzüchtigen Gedanken ihr nur nahte, musste er sein Antlitz verhüllen und fliehen wie vom Blitz getroffen. Die andern Frauen mochten nicht in ihrer Nähe aushalten mit ihren bösen Zungen, täglichem Geklatsch von Heimlichkeit und Wollust. Nur die kleinen Kinder gingen gern an ihrer Hand und mochten in ihre Augen sehen, die gleich klaren Sternen waren in der Winternacht, wenn unten der Boden weiss friert. Es war ein armer Blödsinniger und Taubstummer, der mit ihr in ihrem Garten wohnte, ihr Dienstleistungen that, denn so furchtbar und streng war die Reinheit dieser Jungfrau, dass sie den Augen wehthat wie Sonnengefunkel im Mittag, bläuliches Gletschereis, wenn sie auf der Strasse ging, die Menschen und Vorübergehenden zur Seite schlichen wie scheue, geprügelte Hunde oder Wölfe. Es war, als ob sie nur Thiere waren gegen sie. Und wenn sie grosse Herren und Fürsten hiessen, vor dem edlen Antlitz dieser Jungfrau wurden sie klein und unfrei. Es gab Leute, vornehme Herren und Lüstlinge, in derselben Stadt, die sich in ihr Haus geschlichen hatten in der Nacht. Und sie hatten diese Jungfrau nackt gesehen, wie sie sich wusch. Der Strahl ihrer Nacktheit war in ihre Augen gedrungen wie Schwerter, dass sie laut aufschrieen, heulend hinausstürzten wie Trunkene von zu starkem Wein oder die Tollheit verwirrt. Und hatten Einer den Andern erwürgt in ihrer schäumenden Tollheit. Und Einen hatte der Blöde gepackt und er hatte ihm das Haupt aufgeschlagen auf den Stein, dass das Gehirn weit über die Strasse spritzte. Und Alle fanden, dass es die gerechte Strafe war für ihre Unreinheit, diese Jungfrau stärker war in ihrer Nacktheit wie ein starker Mann in siebenfacher Rüstung. Alle Lüge und Verläumdung prallte von ihr ab wie Hagelschlag am Felsen. Es ging die Sage, dass ein Gerichteter gestorben war von dem Strahl ihres Auges, der die Wahrheit erkannte, mehr denn von dem Spruch des Richters, der ihn verdammte. Aber die Armen hatten keine Furcht vor dieser Jungfrau. Auch nicht die verachteten, gemiedenen Frauen und Mädchen des Orts, die unrein und hässlich geworden waren an Leib und Seele. Denn die Klarheit dieser Einen deckte sie Alle wie ein weisser, herrlicher Mantel, und war keine so elend, mit Aussatz befleckt, dass nichts von dieser Glorie auf sie gefallen wäre. Sie wussten, dass sie die Königin der Frauen war und priesen die Kunst in der Güte, die ein solches Wunder geschaffen, herrlich und unantastbar gemacht hatte vor allen Frauen und Männern. Man nannte sie nur die weisse Jungfrau. Es ging die Sage, dass, wenn sie schlief, die Seraphim um ihr Lager standen mit gezückten Schwertern, dass es aussah, als läge sie auf blauen, züngelnden Flammen des Eises. Nur ein Mann, der gut und keusch und edel war wie sie, konnte sie lösen und heimführen als ihr Gemahl. Und Viele hatten es versucht sie zu lösen, die edelsten Jünglinge aus aller Herren Ländern, die Stärksten und die Schönsten. Und Alle waren schamroth und betrübt weggegangen vor dem klaren Blick ihrer Augen, der keine Lüge und keinen Fleck zuliess, sie durchsah durch kunstvolle Verstrickung und Verschönung, bis wo die Unreinheit sass in ihrer Seele, die Blumen ihrer Schönheit selbst wuchsen aus dem Sumpf ihrer Unkeuschheit. Und war nicht Einer, der bestand vor ihr, so Viele gekommen waren und gesungen hatten und gesprochen und sich gesehnt. So sagte man, dass sie niemals einen Mann haben würde, es bestimmt war von Gott, dass sie als Jungfrau hingehen sollte, weil sie zu edel war, um berührt zu werden mit unreinen Händen, zu klug für die Klugheit der Lüge und Arglist. Und sie selber freute sich, dass es so war. Niemals wünschte oder fragte sie wie andre Mädchen und schlief auf ihrem Lager mit den zehn Seraphim, die um ihr Bett standen als strahlende Wächter, bis der Morgen kam, klar wie ihr Erwachen, die junge Sonne grüsste die weisse Jungfrau. Zu dieser nun geschah eine Stimme mitten in der Nacht: „Erhebe Dich und wache auf, denn der Bräutigam ist gekommen!“ Worauf sie stracks sich erhob wie sie war aus ihrem Schlaf und in ihrer Nacktheit. Und wusch ihren Leib und badete ihn rein in crystallenem Wasser des Regens, in Tropfen aus Maiwolken, die nie die Erde berührt und vielfach gefiltert in thönernen Krügen. Oder Wasser, vom Schnee geschmolzen, wenn er jungfräulich ist, zu oberst ruht am Morgen, da noch kein Fuss getreten. Und wusch sich wohl und salbte sich mit köstlichen Salben, von Knospen der Rosen, welche noch nicht das Licht gesehen hatten, die sie gesammelt hatte in ihrer Knospe, und ersten Blumen des Frühlings, wenn die Sonne noch nicht heiss genug ist, die unter dem Schnee blühen und lieblicher duften denn andre. Und nahm ihr weisses Gewand. Das war gewebt ohne Stich und Naht aus der allerfeinsten Seide, mit Lilien gestickt und gewirkt in silbernen Fäden. Alle Lilien standen weit offen mit prangenden Kelchen. Die Fäden verschlangen sich zwischen ihnen im kunstvollen Rhythmus, einer wunderbaren Weise der Lilien, die sie sangen. Kleiner wurden sie gegen den Saum in gereihten Ketten. Aber unter der Brust war nur noch eine Lilie, die Königin der Lilien, mit gebreiteten Schwertblättern, die zitterten, schwollen in der Last, die auf ihnen lag. Nur Jungfrauen waren die Spinnerinnen gewesen, die es gewebt und gesponnen. Und man sagte, wenn eine Jungfrau, die nicht mehr rein war, die Hand anlegte an dieses Gewand, dass die Fäden blutroth wurden in ihren Fingern, und liefen aus ihren Fingern wie Schlangen, wollten sich nicht halten und fassen lassen von ihr. Dieses nahm sie, legte es an und gürtete sich hoch unter den Brüsten mit goldnem Gürtel. Edel war das Gold dieses Gürtels, aus einem Stücke geschmiedet, das nie zuvor zu anderem Schmuck geschmiedet gewesen. Ein ritterlicher Jüngling in seiner Klostereinsamkeit hatte diesen Gürtel geschmiedet. Er zeigte alle heiligen Frauen der Welt, die sich darauf die Hände gaben. Und waren Diana, die Göttin, Jephta’s liebliche Tochter, die griechische Iphigenia und Antigone, und die edle Römerin Clölia in derselben Linie mit den Märtyrerinnen und Heiligen. So legte eine ihre Hand auf die Schulter der Andern. Alle sahen nach derselben Richtung, als ob von da der Bräutigam käme, und bildeten einen Ring durch die Zeiten, von den ältesten bis zu den letzten, Jegliche eine Jungfrau und Fürstin, aus jungfräulichem Golde von diesem untadeligen Jüngling zu edelstem Brautschmuck verbunden. Welcher, als man ihn auf solchen vermeintlichen Fehler als heidnischen Irrthum aufmerksam machte, nur lächelte, sagte: „Die Keuschheit ist eine besondere Tugend. Diese führt auf dem geradesten Weg zum Himmel. So ist eine reine Jungfrau in sich selbst aller Engel Schwester. Diese Verehrung ist allen Völkern gemeinsam. – Vom Jungfrauensohn ist das Heil gekommen. Solche stehen immerdar am nächsten im Licht, hundertvierundvierzigtausend, die sich der Herr selbst erwählt aus Zion.“ So sprach dieser edle Jüngling, erstaunte Alle und Niemand vermochte ihm zu antworten. – Das Schloss aber des Gürtels stellte die Schlangen dar, wie sie sich aufrichteten mit züngelnden Häuptern. War also in ihm geheimnissvoll und symbolisch der Fall und die Erlösung verwoben, wie von dem Weibe und seiner Kraft Beides kommt, Heil und Verführung. Und sie nahm Spangen von Perlen, die nie das Licht gesehen haben und schloss sie um ihre Arme. Diese Perlen sind edler als alles Gestein, aus dem Wasser gewoben, das eher war denn die Erde, und das höhere Element ist, denn es dient nicht wie jene den Menschen. So zart sind sie, dass ihr Schein wechselt mit der Laune und Stimmung des, der sie trägt, und wo ein Kranker sie um seinen Hals legt, werden sie trübe und schrumpfen ein wie die Haut unter ihnen. Silberne Sohlen band sie unter ihre Füsse und strählte ihr Haar und flocht ihre Zöpfe mit purpurner Binde. Denn ihr Haar war prachtvoll wie ein goldner Mantel, der sie bis in die Knie umwallte, jeder einzelne Faden fein und gerundet wie aus gesponnener Sonne. Wenn sie zusammenfielen, war keine Mähne der rothen Löwin so voll. Sie wogen schwerer in der Hand wie Erntelast des vielkörnigen Weizens. Ihre Brauen waren wie Bögen der Nacht, darunter die lichte Sonne sich verbirgt. Ihre Wimpern standen in Strahlen. In der geraden Linie ihrer Nase mit athmenden Nüstern war Stärke und Feuer. Der Hauch von ihren Lippen ging wie von einem Blumenbeet, süsser denn Honig. Es gab keine schönere Jungfrau weit und breit im Lande. Und keine untadligere, von edlerem Geschlecht, obgleich sie arm war und Haus hielt für sich allein mit dem stummen Diener. Zu diesem trat sie, mit der Leuchte in ihrer Hand, im Brautschmuck wie sie war. Und sprach: „Rege Dich und öffne die Thore! Der Bräutigam ist gekommen.“ So gross aber war das Licht ihrer Schönheit diesem blöden Auge selbst, dass die Leuchte in ihrer Hand davon erstarb, ihn dünkte, als ob es ganz dunkel war, ohne sie, die strahlte herrlicher denn der Tag, der junge Mond selbst im Viertel seiner Geburt. So stand dieser auf, schlug die Thore auseinander, die doppelt geschlossen waren, mit Riegeln versehen wegen der Bescheidenheit dieser Jungfrau, weil sie allein lebte, eine ledige Magd, in einer grossen und gottlosen Stadt. Alsbald hielt da draussen vor dem Thor ein herrlicher Prinz auf einem weissen Pferde. Alle seine Diener hinter ihm hatten weisse Pferde und silberne Helme, von denen das Licht lief in weissen, bläulichen Strahlen gleich denen des Wintermonds, wenn er in seiner Vollendung ist. Der Prinz war mit einem weissen Leibrock angethan und hatte ein goldnes Schwert an seiner Seite und sein Helm war von Gold. Die Schabracke, darauf er sass, war purpurn. Ein scharlachnes Stirnband gürtete sein Pferd zwischen den Ohren. Lichte Locken fielen zu beiden Seiten auf seine Schultern herab. So strahlend war der Glanz seines Auges, dass dieser arme Knecht in die Kniee sank und mit gehobnen Armen flehte. Er dachte, sein letztes Stündlein wäre gekommen, und er könnte nicht ertragen so viel Klarheit und übergrosse Herrlichkeit. Worauf der Andre: „Fürchte Dich nicht! Lass mich ein und heisse mein Braut den Tisch legen für mich und sie. Ich bin gekommen, heut’ Hochzeit hier zu halten.“ Dies sagte er aber mit seltsam lieblicher Stimme, die wie reines Silber klang. Alle Glöckchen der Pferde läuteten dazu. Seine Diener schlugen an ihre Schwerter und riefen: „Heil!“ Dieser arme Knecht schwur später, dass in solchem Augenblick der Himmel über ihren Häuptern offen gewesen und eine Taube von oben aus der Klarheit herabgekommen wäre, die trug einen goldnen Ring in ihrem Schnabel. – Denn das Merkwürdige war, dass er sprechen konnte seit dieser Nacht und immer nachher. Und war in seinem Kopf wie andre Menschen, nur dass er schwur zu seinem Eide, den Prinzen gesehen zu haben, was ihm die andern Leute nicht glaubten, für eine Blendung seines armseligen Gehirns hielten. So ritten Alle diese durch das Thor. So Viele ihrer waren, schien es dennoch wunderbar, dass der Hof sie doch fassen konnte. Und der arme Knecht schloss die Thore hinter ihnen und schob die Riegel vor. Was sich nun begab, wusste er nicht mehr, denn er folgte dem Prinzen nicht in das Gemach, der ihm gebot: „Folge mir nicht!“ Aber durch eine Luke im untersten Keller, wohin er sich vor Angst geflüchtet und doch zitternd wieder auslugte, sah er, dass alle Ritter von ihren Pferden abgestiegen waren. Und sie standen um das Haus mit gezognen Schwertern, die glänzten blau wie Diamantlicht des Mondes. Und war so eine Kette von Schwertern um das Haus, dass es stand gleich einer Burg in uneinnehmbarer Klarheit. Drinnen aber in ihrem vertrauten Gemach hatte die Jungfrau den Tisch gelegt. Sie nahm ein weisses Tuch von feinstem Damast, das in der Truhe gelegen hatte mehr denn hundert Jahre. Es war nur weisser und feiner geworden von den Jahren. Man sagte sich, dass zwölf Spinnerinnen daran gewebt zwölf Jahre. Alle untadelige Jungfrauen, die der Welt entsagt, den Faden zogen in stiller Klosterzelle. Danach hatten sie den Flachs auf dem Rasen gebleicht, wenn die Märzsonne schien, – diese ist die früheste unter den Sonnen, nicht geil wie die des Sommers, oder blutig vom Herbststerben – es selbst gewebt mit ihren Händen, ohne Eisen und Maschine, weil menschliche Hände feiner sind und getreuer. Und Muster hineingezeichnet von ihren Gedanken, des Weibes Lust und Glorie. Die Aeltermutter Eva im ersten Bilde, wie sie den Apfel reicht. Aber auch als Mutter, mit ihren gesegneten Brüsten es nährend, das die Verheissung birgt, – die Lebensgebärerin. Rebekka am Brunnen, Rahel, die Vielgeliebte, frühgestorben, Mirjam, Deborah, begeisterte Prophetinnen, Judith und Jael, Heroinen, Ruth, die Aehrenleserin, Esther – aber auch sie, die die Raben scheuchte, die diese frommen und einfältigen Seelen würdig gehalten des ruhmvollen Reigens, – zwischen den Sieben die Mutter der Makkabäer, die Wölfin Juda’s, Elisabeth, auch eine Mutter, Johannes’ des Täufers, Hannah, die Greisin, vorahnend die Morgenschöne. Endlich die Lieblichste von Allen, die Erfüllung, wie um die volle Rose der Kranz sich schliesst, Maria, die Königin, unter den Weibern Gebenedeite, an der Brust das Kindlein, dass von Ihm alle Strahlen ausgingen, die Andern berührten. Gleichsam als wären diese Bilder von Kraft und Unschuld nur ein Strahl der Tugenden, die sich in ihr wie in der Sonne vereinigten. Dies Tuch breitete sie sorgsam, die Falten glättend, sich freuend am Silberglanz des Linnens und der Kunst der Bilder. Darauf nahm sie ein güldnes Gefäss aus reinstem Gold, das nie zuvor zu andrem gedient hatte. Dadrin war in kunstvoller Prägung zu sehen, wie Abraham den Besuch der Engel empfängt. Rechts hebt er freudig preisend die Hände, ihnen entgegenzueilen. Links sieht man schon rüstige Mägde das Federvieh rupfen, wie sie die Butter stampfen im Troge, während Sarah hinter der Thür verborgen steht, die Verheissung zu erlauschen, der kleine Ismael arglos mit kindlichem Spielzeug sich tummelt. – Dieses füllte sie mit funkelndem, edelstem Wein, der achtzig Jahre gelegen hatte und mehr. Nur wenige Flaschen waren von diesem Wein zuerst gezogen worden, gleichsam seine Seele. Ein Kaufmann hatte ihn mitgebracht von weit her. Er zeigte in seiner Mischung Feuer des Blutes und Rosinfarbe von der Sonne. Süss war dieser Wein und stärker wie Stierblut in seiner Süsse. Danach nahm sie eine Schale von Silber, mit silbernen Henkeln und Kette. Eine ländliche Ernte auf dem Felde war darauf abgebildet, wie hier schon die Wagen hochbepackt fortfahren, Schnitter und Schnitterinnen Garben bindend, alte Leute und Kinder die Aehren nachlesen. Aber auf den Stoppeln tanzen schon lustige Mägde und Burschen. Sie legte das Brot hinein, köstliches, feines Brot, das sie selbst mit ihren Händen gebacken. Keine Maschine hatte daran mit geschaffen. Das Korn war gerieben worden zwischen den Steinen. Es gab kein edleres Brot. Sie hielt es verschlossen in einem kunstvollen Schrein, weil sie dachte: „Ich weiss nicht, wann der Bräutigam kommt. Ich muss bereit sein zu der Zeit.“ Solches stellte sie auf den Tisch, zündete die Lampen an, die zu beiden Seiten standen, gefüllt mit Oel, und feine Kerzen vom reinsten Wachs, die dufteten wie sie tropften. Die Leuchter waren von edlen Metallen und trugen Köpfe der heiligen Thiere, Adler, Löwen und verschlungne Leiber der Schlangen. Und sie nahm einen Teppich von purpurfarbner Seide, der im Schrank gelegen, auf dem nie die Sonne geruht und keines Menschen Fuss hatte ihn je betreten. Diesen breitete sie aus von der Thür zum Sessel. Der Sessel aber war aus geschnitztem Ebenholz. Die Schilder des Thierkreises wechselten sich dort mit den vier Hörnern des Mondes. Die Seitenlehnen waren Aronsstäbe und auf vier Klauen ruhten die Füsse wie auf Widderklauen. Und öffnete die Thüre weit und neigte sich bis zur Erde und berührte den Fussboden mit ihrer Stirn. Und sprach: „So es Dir recht ist, Deiner Seele gefällt, dass Du essen willst jetzt, Alles ist bereitet, mein süsser Herr!“ Darauf ging der Prinz ein in die Kammer und setzte sich auf den geschnitzten Sitz am Tisch. Sie aber schritt flugs und nahm seine Schuhe ab. Und brachte ein Gefäss mit Wasser. Und rieb seine Füsse mit Wasser. Und salbte sie mit duftender Salbe und trocknete sie in Linnen. Und setzte sich da zu seinen Füssen und sah ihn an. Sprach er: „Warum kniest Du vor mir?“ Sie sprach: „Mir ist sehr wohl so, mein allerliebster Herr! Lass mich knieen so und Dir dienen allezeit.“ Er sprach: „Kennst Du mich?“ Sie sprach: „Bist Du nicht der kommen soll? Ich kenne Dich wohl, denn Du bist meiner Seele holdseligster Bräutigam. Ich habe nie einen andern Mann gesehen, noch im Traume eines Zweiten gedacht. Die Thür meiner Kammer blieb verschlossen. Niemand sah das Geheimniss meines Hauses bis heute.“ Nun sagte er: „So Du nicht weisst, was Liebe ist, wie kannst Du mich lieben?“ Sie sprach: „Ich liebe Dich mehr als mein Leben. Ich liebe Dich mehr als die Freiheit und den Frieden meiner Tage. Ueber die Scham meiner Jungfrauenschaft liebe ich Dich. Ich würde meine Füsse in Flammen setzen, um Dir zu folgen, meinen nackten Leib untertauchen in die stinkende Faulheit des Sumpfes.“ Er sprach: „Da Du so tapfer bist, weisst Du, dass Du sterben musst? Denn die mich freien, werben um den Tod. Ihr Weg geht über Dornen. Glühende Nägel müssen in ihre Hände eindringen; ihre Seiten werden sich öffnen und bluten. Sieben Schwerter gehen ein durch Deine Seele. Sie werden Dein Fleisch zerschneiden mit scharfer Schneide, in Deinem innersten Herzen haften wie fressendes Feuer.“ Sie aber schlug ihr weisses Gewand auf und wies ihre junge Brust, die weisser war wie die Seide des Kleides, unter der das Leben klopfte in hohen geduldigen Wogen. Und sie sprach: „Stich zu!“ Er sprach: „Du bist sehr schön. Schönheit ist der Stolz und die Gnade des Weibes, und macht sie zur Freude des Mannes, seiner Augenweide, dass er sein Leben lieber lässt denn die Süsse ihres Leibes. Um Schönheit wird ein Weib geliebt. Die Liebe des Mannes haftet an der Lieblichkeit, den Formen und der Feinheit der Glieder. – Gieb mir Deine Schönheit.“ Flugs legte sie nun ihr königliches Gewand ab. Sie nahm die Spangen von ihren Armen, die Perlen, die an ihrem Hals hingen, die purpurne Stirnbinde that sie zur Seite. Und nahm eine scharfe Scheere und schnitt ihr goldnes Haar ab, wo es am dichtesten war hart im Nacken. Und Alles legte sie zusammen und vor ihn hin, dass sie nun vor ihm stand im Untergewand, und ihre Arme und Hände waren unbedeckt. Sie fror in ihrem dünnen Linnen. Dies Alles that sie in der grössten Freude, mit den herzlichsten und zärtlichsten Liebesworten. Er aber seufzte und sprach: „Kummer wird über Dich kommen, Krankheit, Verfolgung, Nachtwachen. Deine Augen werden blind werden vom Weinen, Deine Wangen einfallen von der Sorge und täglichem Mühsal des Daseins. Du bist sehr lieblich und jung. Du wirst hässlich sein und unansehnlich. Ein Spott denen, die Dich priesen.“ Sie sprach: „Ich bin gerne so, so Du mich siehst, ich Dir nur wohlgefalle, der mein erwählter Herr ist und lindester Gebieter.“ Er sprach: „Ich bin arm gewesen und hatte kein Lager für mein Haupt des Abends. Meine Nahrung fand ich von den Feldern, was wild wuchs, karge Barmherzigkeit gab. Du musst arm sein, ohne Frieden und Heimath wie ich.“ Sie sprach: „Gleich heute will ich fortgehen, die Thür verschliessen und mein Haus zumachen, es nicht wiedersehen, wo ich still lebte und glücklich. Meine Habe soll den Armen gehören. Ich nehme nichts denn einen Stab, Brot für morgen, diesen Schleier um mein Haupt, dass ich nicht zum Gespött der Gassenjungen werde, sie sagen: ‚Es ziemt sich nicht einem Weib, in Freiheit zu laufen.‘ So ich doch Deine verlobte Braut bin und eines grössten Königs Geehrte.“ Da seufzte er noch tiefer, sprach: „Gerade schleierlos musst Du gehen und unverhüllt, nackt und in Blösse. Ich brauche Deine Scham, wie ich Dein Leben brauche, weil sie einer Jungfrau theurer ist wie ihr Leben, sie es zehnfach lassen würde um ihre Scham. – So gieb mir denn, was ich von Dir heische.“ Da ward sie roth über und über, röther wie die Purpurrose, die zuerst der Sonne sich öffnet. Es war, als ob Flammen überall aus ihrem Leibe schlugen und um sie brannten. Sie konnte die Augen nicht aufheben, denn ihre Lider waren schwer von Scham. Vom Scheitel bis zur äussersten Spitze ihres Fusses fühlte sie die lohenden Fluthen der Scham. Und sie stand zitternd mit knickenden Gliedern. Sie sprach leise: „Hier, Herr! Nimm mich.“ Und seine Seele ward weich über ihr, da sie vor ihm stand, ohne Fehl und Flecken, weiss in ihrer purpurnen Scham wie Eine, die im Feuer steht, die Flammen hoch um sie brennen, und sie steht und flieht nicht. Und er sprach langsam: „Die Scham ist die Tochter der Sünde, aber die Reinheit kennt keine Scham. Deshalb muss sie nackt gehen, dass die Menschen sie sehen und schamrot werden vor ihrer strahlenden Nacktheit. Jede Fiber gehört dem Ganzen. Die Seele ist nicht edler denn der Leib. Aber der Leib muss edel sein, wenn ihn die Seele erkennt. Es giebt nicht Mann und nicht Weib, nicht Hass und nicht Lust. Alles ist eins. Die Scham ward gewebt zum schleiernden Schutze, den Schleier zerreisst, wer die Wahrheit erschaut, Wenigen zu erschauen nur und Allen furchtbar! – – Das ist das letzte der Geheimnisse. Ich sage es Dir, weil Du meine Braut und Verlobte bist. Behalte es wohl und sage es Niemand.“ Danach küsste er sie. Er küsste ihre Augen, ihre Lippen und Wangen. An ihren Schläfen küsste er sie. Und er nahm sie in seinen linken Arm, der der Herzarm ist, und küsste sie auf die beiden Rosen ihres Busens. Denn im Busen der Frau ist die Weltkugel und der Apfel, Macht und Verderben. Und vom Schoosse des Weibes kommt alles Lebendige, Segen und Fluch. Darauf hielten sie zusammen das Mahl. Er reichte ihr das Brot und sie ass von seinem Brote. Er bot ihr den Wein und sie trank mit ihm von dem Wein. Und assen von allen Dingen, die auf dem Tische standen und wurden ganz fröhlich. Wie nun die Morgenröthe heraufkam, verliess er sie wieder. Der blöde Knecht sah, wie sie die Riegel aufschloss. Denn die Eisenbarren waren viel zu schwer für einer zarten Jungfrau Hände. Dennoch that sie es mit Leichtigkeit. Sie war in ihrem Brautschmuck, weiss in ihrem weissen Kleide, mit der purpurnen Stirnbinde. Er hielt sie in seinem Arm wie sein eheliches Weib. Sie küsste ihm die Lippen und küsste seine Augen. Und sprach: „Fahre wohl, mein geliebter und seliger Herr! Ich warte und harre des Tages, da ich neben Dir das Brautbett besteige.“ Das dünkte dem Knecht schier eine seltsame Rede für eine so untadelige Jungfrau. Aber sie stand ruhig und sah ihm zu, wie er sein Pferd bestieg. Danach ging sie wieder in ihr Haus, schlug ihre Sachen zusammen, übergab Alles dem Knecht und sprach: „Ich gehe. Ich habe viel zu thun. Und die Zeit ruft.“ Diese wurde eine sehr heilige und wunderbare Frau. Man brachte viele Kranke zu ihr, die sie heilte, indem sie ihnen die Hände auflegte. Und Einige wurden nicht geheilt, die ungläubig waren, sie versuchten. Solche trieb sie mit Schelten von ihrer Thür: „Wie Ihr thöricht seid und tückisch und so ganz schamlos!“ Niemals aber sprach sie über ihre Geheimnisse dieser Nacht. Nur eine grosse, selige Freude war immer in ihr. Wie sie starb, war da eine Jungfrau, wo eine alte, blinde und kränkliche Frau gewesen war. Niemand hatte je eine schönere Jungfrau gesehen. Diese, als man sie sehr genau sah, hatte an ihren Händen Stiche als von rothen Nägelmalen. Sie durchbohrten auch ihre Füsse. Eine offne Wunde war in ihrer Seite, von der das Blut floss. Man gewahrte auf ihrer Stirn Eindrücke, als ob Dornen um ihr Haupt gewunden gewesen und in die Haut eingedrungen waren. Alles dies war sehr deutlich. Sie hatte es immer an sich getragen, nur verborgen in ihrer Bescheidenheit vor den Menschen, da sie sich selbst nie für solcher mystischen Ehrung würdig gehalten. Und beständig sich selber schalt, dass sie schwach sei und arm im Glauben, nicht eifrig zu den Werken, wie es sich einer guten und getreuen Hausfrau geziemte, das Erbe zu verwalten, während der Herr und Ehgemahl abwesend ist. Als sie nun auf dem Sterbebett lag, blass und abgezehrt, sehr schwächlich vom übergrossen Leiden, that sie plötzlich einen lauten Schrei wie von seligster Freude. Die bei ihr waren, darunter der Knecht, der sie einst bedient, sahen einen weissen strahlenden Engel als einen herrlichen Helden. Und er nahm sie bei der Hand und führte sie in das Brautgemach, wo purpurne Rosen lagen auf silberweissen Linnen. Der Knecht, ein uralter Mann zu der Zeit, aber ganz klar in seinem Kopf, vorsichtig und abwägend in aller seiner Rede, schwor, dass es derselbe gewesen, der sie damals besucht. Viele sprachen über diese seltsamen Geschichten: Es ist ein Wunder, Hysterie und Aberglaube. Und welche glaubten noch schlechtere Dinge. Diesen ward die Zunge schwarz in ihrem Mund, und faule Worte kamen nur, dass selbst die, die sie sonst gehört, einen Abscheu vor ihnen hatten. Selbige schrieen laut auf: „Die Scham ist todt! Die Scham ist todt!“ stürzten sich unter Schweine, dass man sie für solche hielt, einsperren und schlagen musste wie niedrige Thiere. Ein Schrecken fuhr in alle Leute der Gegend. Und fürchteten das Grab und sagten: „Lasst uns eine hohe Mauer darum bauen!“ Nur die Jungfrauen kamen und brachten weisse Kränze. Und ward ein Heiligthum da für untadelige Jungfrauen, die nie ein Mann berührt hatte, und sehr stark waren, herrliche Thaten vollbrachten vor allem Volk. DAS VIERZEHNTE KAPITEL. Aber der ganze Jammer des Daseins fiel auf ihn eines Abends, da es schon dunkel war, er einsam sass im Staube neben der grossen Heerstrasse. Er dachte an die Jahrhunderte, die dahingegangen waren, und dass sie alle für nichts gewesen. Hunger, Hass und Kriegslärm füllten die Welt. Jeden Tag unter dem richtenden Beil fielen Häupter Unseliger, Unschuldige gingen hin und erwürgten sich selbst in Angst und blutiger Noth ihres Leibes. Die Selbstsüchtigen herrschten immer, die, die hart waren, nur schufen für sich selbst, ohne Sorge traten auf die nackten Leiber der Verzweifelten. Die, die dumm waren und nicht dachten, schienen klug. Die feige waren, tapfer, und solche, die frassen wie die gefrässige Raupe auf ihrem Blatt und fett wurden, weil sie frassen – aber der Baum selbst starb –, galten für die wahren Guten. Man pries sie als Muster der Tugend, zeigte sie denen, die unvernünftig waren und eigengesinnt: „Seht, wie sie sind! Wie sie nahrhaft werden und fett! Nehmt Euch ein Beispiel an ihrem Gedeihen, Ihr, die Ihr Flügel habt, die zu schwach sind, der Sonne zustrebt, die Euch verbrennt!“ Diese aber waren die schlimmsten Feinde und sie galten für den Hort aller Tugenden, hielten die Sitte hoch in ihrer heuchlerischen Klugheit, weil der losgelassne Wolf sie zerrissen hätte innerlich, und standen auf dem Boden des Worts, weil es ihnen nützte für ihre Zwecke, der Strom sie sonst fortgeschwemmt hätte in seinem Ueberschwellen. Solcher aber waren Viele. Sie hielten die Gewalt und das Geld. Die Andern zerbrachen ihre Kräfte an denen, stiessen ihre Stirnen blutig und sahen doch nicht was darüber war, über ihrer dummen Klugheit, die wahre Weisheit, über ihrem Geiz die weite Liebe, über ihrer Ungerechtigkeit die grosse Gerechtigkeit. So dass diese ihre besten Kräfte verbrauchten, auch müde wurden, dahingingen in Lastern, Leichtsinn und Unzucht. Weil sie sprachen: „Unser Leben ist kurz und wird uns zugetheilt in kleinen Tropfen. Wir wollen es auf einmal leeren, damit wir den Rausch kennen in seiner Wollust. Und nachher hungrig sein und frieren.“ Weil sie nicht warten konnten, bis der Wein reif ward und duftig. Nicht schauen, bis sie die Ferne erkannten und Richtung ihres Schiffens. Weil sie jung waren, das Blut siedend schoss in ihren Adern, das lind sein musste vom Denken, der weiten Herzlichkeit ihres Liebens. Diese aber auch liebten zu sehr sich selbst, dass sie wie brennende Fackeln sich verzehrten im Leeren. Die Licht gegeben hätten, reines Feuer zum Leuchten, so sie doch nur geduldig gewesen, sich selbst gereinigt hätten vom Unreinen. Und die Andern, die gar kein Licht hatten, sondern dunkle Klötze blieben, die mühsam denen ihre schiefen Strahlen auffingen, vom Scheiterhaufenleuchten der Grossen ihren Weg suchten im Finstern, schnobernd wie die Schweine nach Trüffeln, oder niedrige Hunde auf der Fährte des Aases – spotteten über solche, zeigten auf sie in Schadenfreude: „Die verzehren sich und sind gar nicht, Rauch und Asche. Wir stehen fest und finden.“ Denn sie brauchen nicht viel zu finden, wie der Wurm immer noch Nahrung findet in seinem Koth, dem Maulwurf die Larven niemals fehlen in seiner niedrigen Dunkelheit. Aber der Adler, der sehr hoch fliegt, hat oft sein Futter nicht für seine Jungen, wenn Alles unter dem Schnee vereist liegt. Dem seltnen Vogel, der lieblich singt, stellen die Vogelsteller nach. Sein glänzendes Gefieder lockt Gelüste der Räuber. So dass diese niemals aufkommen, die die Schönheit nackt gesehen hatten und priesen, weil ihre eignen Augen unrein waren und ihre Worte die Wollust verriethen. Die Andern aber, die gar nicht sahen und von Wollust voll waren wie die geile Erde vom Mist, – dass sie nicht einmal wussten, dass eine Keuschheit war, den reinen Mond befleckt hätten in ihrer Unreinheit, – waren gross und sprachen die Urtheile über wichtige Dinge. Und man nahm ihr Recht für _das_ Recht. Und ihre Wahrheit für _die_ Wahrheit, dass eine grosse Verwirrung war, die nichts mehr sahen, in der Dunkelheit tappten wie Blinde und Trunkne. Alles dies that seinem Herzen sehr weh. Der Ekel am Leben stieg in ihm auf und würgte ihn an der Kehle wie bittre Galle, so dass er in sich selber sprach: „Besser wäre die Welt gar nicht, Feuer und Schwefel vom Himmel, denn dies! Und besser ein dumpfes Thier, oder eine Pflanze, die wächst und stirbt, denn dieses Halbe im Staube, dem niemals die Flügel der Seele wachsen. Besser, viel, viel besser ein Niegewordnes, Ungeschaffnes, als das niemals ganz wird, nicht leben kann und nicht sterben.“ Seine Seele in ihm begann zu hadern mit Gott, dass er die Güte so klein geschaffen und die Grösse niemals gut, die Reinheit sich verdarb an ihrer eignen Spiegelklarheit und die Unreinheit mit dem Schwert der Reue durchgestochen blieb, dass die Menschen sich drehten wie aufgespiesste, unselige Fliegen an ihrem Stachel. Der Stachel war in ihrer eignen Brust und bohrte sich tiefer bei jeder Drehung. Und er sprach zu sich selbst: „Wozu so viel Qual und Leiden? Hast Du sie geschaffen aus Hass oder wurden sie empfangen in Güte? Ist Dein Zweck mit ihnen Gnade oder ist es Neid des Mächtigen, Allherrschenden gegen das Kleine, Auch-Strebende? Bist Du gut? Oder sind sie besser wie Du, und nur eine Zeit ward Dir Macht gegeben, sie zu quälen, im Staub Gebannte, die ringen und stolz sind? Bist Du der Teufel? Der Ganz-Mächtige nicht? Und es ist ein viel Mächtigerer, Unbegreiflicherer Dir und mir, und der in ihnen ist? Wird er triumphiren, klar sein eines Tages? Und unsre Güte war vor Ihm Halbheit? Unser Licht war Dämmerung? Sage mir, wer Du bist? Wer ich bin für Dich? Dann lass mich mich hinlegen und sterben. Denn meine Seele ist müde in mir. Das Licht des Tages thut meinen Augen weh und der Lärm der noch Arbeitenden beleidigt mein Ohr. Ich grüsse die Nacht, die dunkel ist, wo gigantische Schatten schweigen.“ So sprach er zu sich selbst. Er sah die Nacht herkommen über die Felder. Sie kam wie eine starke, riesige Frau mit einem schwarzen, sammetnen Mantel. Die Bäume standen wie dunkle Keulen Gewaffneter und die Stimme des Wassers wurde deutlicher, wie es hallend fiel mit ewig sich lösenden Tropfen. Er sah in die Nacht und frug sie: „Bist Du, die kommen soll?“ Sie sprach: „Ich war.“ Plötzlich hob sie ihren Mantel auf. Und es war ihm, als könnte er tief hineinsehen in die Nacht, die Nacht aller Zeiten, die vor den Zeiten gewesen war. Er sah die Nacht, die Nacht selbst, von der die Dunkelheit kam und der Schatten. Sie lag wie eine Sphynx, die ein Weib war, und ihre andre Hälfte war eine Löwin. Die Schultern des Weibes aber lagen über den Tatzen der Löwin und ihre Brüste starrten gerade wie gerichtete Schwerter. Zu beiden Seiten ihres Hauptes lief eine königliche Binde mit Streifen und Zeichen. Sie schnitt die Stirn niedrig ab und ihre Augen standen weit offen, marmorne Augen mit todten, runden Bällen, die geradeaus sahen. Ihre Lippen waren geschlossen. Sie lag ruhig mit milchschweren Brüsten über tödtlichen Tatzen. Sie wechselte sich. Und wurde ein schauderhaftes Idol. Auf den Schultern eines eisernen geharnischten Mannes reckte sich ein Vogelkopf mit spitzem, gebognem, hackendem Schnabel. Ein kreisrundes Auge war eingesetzt aus blauem, hellem Email, in der Höhe des Schnabels, da wo er anfing. Gen Osten stand dieser Mann. Auf einem hohen Postament, die Hände auf sein Schwert gelegt. Die Arme bildeten ein Viereck mit den Schultern und staken in Schienen. Sein Schwert stand ganz gerade, breit wie eine Hand. Senkrechte Riefen liefen mitten durch, in denen das Blut abtropfen konnte. Die Klauen seiner Hände krallten sich um das Schwert. Der Leib und die Beine standen gerade, nach vorne, und der Vogelkopf mit dem Schnabel sah gegen Osten. Wie er diesen noch betrachtete und schaudernd ansah, geschah eine Stimme zu ihm, die sprach: „Das ist die Gewalt. Ihr fielen Könige zum Opfer. Sein Schnabel ist schwarz vom Geifer der Lebern. Sein Schwert roth vom Blut. Sein eiserner Leib wird glühend vom Feuer verbrannter Städte.“ Das Symbol wechselte sich. Und es wurde eine schwarze Astarte, ganz aus schwarzem Metall, aus Stein oder Eisen, das man geschwärzt hatte, und es glänzte nun schwärzer wie Ebenholz, gefettete Leiber der Neger. Sie stand ganz aufrecht. Der Leib und die Beine waren mit Binden umwickelt. Sie kreuzten sich und kamen wieder, von der Hüfthöhe bis an die Gliederung der Zehen. Zeichen waren in diese Binden gegraben, Striche, Muster, Rubinen, grüne Smaragden und sehr dunkle Saphire. Sie folgten sich rhythmisch und redeten eine geheimnissvolle Sprache über dem Schwarz, das kam und ging. Dieser ganze Theil des Leibes mit dem Bauch und den Schenkeln war sehr dünn und gerade wie bei einem unmündigen, ganz unentwickelten Kinde. Und darüber drängten sich erschreckend tausend Brüste. Eine Ueberfülle von Brüsten, Beeren der reifen Traube, Wellen, die sich stossen, strömen. Man sah den Kopf im Dunkeln, sehr hoch, mit harten Lippen, steinernen Augen, die hierarchische Binde, die zu beiden Seiten fiel. Die Brüste gleissten, rieselten, Aepfel, Kugeln, gehärtete Spitzen, schwarz, von einem ungeheuerlichen, unirdischen Schwarz, Grünschwarz der Schlangenhäute, Tollkirschen, verwester Ueberreste in ihrer Zersetzung. Und die Stimme sprach: „Das ist die Wollust, die Verfluchte. Alles stirbt in ihr. Nur das Eine lebt. Und es wird zur Schauderhaftigkeit, zum Ungethüm. Unfruchtbar ist sie, denn sie ist von Eisen. Ihre Seele in ihr ist Mord.“ Und diese wieder wechselte sich. Es wurde eine ganz weisse Schlange. Sie trug ein Krönchen auf dem Kopf. Sie bewegte sich rhythmisch zu einer Art Musik. Ihre Schuppen glänzten wie Perlmutter, wenn sie sich bewegte, und ihre Augen waren rothe Rubinen. Ein rosa Züngelchen kam aus ihrem gespalteten Kopf. Sie züngelte damit und leckte sich zierlich wie Katzen thun. Und rollte sich zu Ringeln und lag ganz zusammengeringelt, als ob sie schliefe. Aber sie schlief nicht. Ein Zittern von Gier und Gift rann durch ihren Leib, der sich milchig blähte unter dem Bauch. Und die Stimme sprach: „Das ist die falsche Weisheit der Welt. Sie ist arglos und ungefährlich anzuschauen. Aber das feinste, siebenmal gefilterte Gift. Wer diese Schlange anrührt, der stirbt und fühlt nicht den kleinsten Schmerz, nicht wie einen Nadelstich in die Hand, da man sich das Blut abwischt und weitergeht.“ Danach sah er noch eine schwarze Kröte, die in ihrem Sumpf sass und glotzte, Harpyen, die mit den Flügeln schlugen, Bären und Wölfe. „Das sind die gewöhnlichen Sünden, Reichthum, faules Leben, Unfrieden und Zankhaftigkeit der Weiber. Alle diese sind nur hässlich. Und Sünden der gewöhnlichen Menge. Denn vornehme Herzen werden von ihnen nicht gerührt, die Andern aber sind die Vornehmen, die Grossen. Die Besten verfallen ihnen.“ Diese Vision verschwand. Er blieb allein in der Nacht. Die Kälte war um ihn her und er fror. Die Gedanken huschten in seinem Kopf und schlugen an das Schädeldach wie mit klappenden Flügeln. Seine Seele war sehr matt in ihm. Er sprach: „So es so viele Uebel giebt, die Sünde also gross und mächtig ist für die Besten, wäre es nicht besser zu nehmen was schön ist, fröhlich sein im Tage und sterben, wenn es Zeit ist, das Unglück kommt?“ Alsbald kam da ein Zug von lieblichen Mädchen, die Cymbeln und Schalmeien trugen. Und hielten in ihren Händen Flöten und Harfenspiele, harte Hölzer, die sie schwirrend schwangen oder gegeneinanderschlugen im Tanze. Ihre Haare waren mit Blumen gekränzt. Die Blumen fielen gleich Sternen über ihr Gelock. Sie trugen Blumen in ihren Armen und hatten lichte Gewänder an und sangen: „Lasst uns fröhlich sein und singen! denn das Leben ist kurz, die Jugend verfliegt schnell. Die Jugend ist die Lenzzeit im Leben und die Liebe ist der Sonnenschein am Maitag!“ Dann kamen junge Knaben und holten sich diese, führten sie weg zu blühenden Lauben und heimlichen Grotten. Und wandelten mit ihnen Arm in Arm, küssten sich zärtlich, lachten und kosten. Sie tanzten wilder. Die Lust stieg. Becher wurden gebracht. Ein Jüngling erschien auf goldnem Wagen, den Pardel zogen, von Weinlaub umkränzt. Und Alle schrieen: „Heil! Heil! Bacchus Evoë!“ Der Jubel ihrer Freude scholl durch die Nacht. Sie schwangen Fackeln. Es gab welche, die sich selbst durchstachen, sich Wunden schlugen mit kurzen Schwertern, denn sie wollten heute sterben, weil sie doch morgen todt sind. Und Einige wohnten in Hüttchen und hatten Kinder gezeugt, die sie jauchzend emporhoben: „Wir sind glücklich. Und das Leben ist kurz. Die Liebe ist reifes Erntegold im Sommer.“ Er sah eine junge, lächelnde Mutter, die ihr Kind an der Brust hielt. Der Sommerhimmel lag in ihren Augen blau und satt. Ihr Leib blühte und entsandte Wärme wie der Weizenacker im Juni. Man hatte um sie einen Rahmen gebaut in der halben Brusthöhe wie eine goldne Aureole. Das Kind sog. Sie lächelte. Sie war glücklich. Dies verschwand. Er hörte neben sich die Stimme eines alten Mannes, der laut auflachte. Er sprach höhnisch: „Diese sind Eintagsfliegen, Jahrmarktsplunder. Sie glauben zu geniessen und geniessen doch nicht. Sie sind nicht besser denn Schweine. Ihre Freuden sind Freuden des Magens und der Sinne. Aber der feine Magen sagt Pfui! zu ihren schalen Freuden. Der Sinn, der fühlen gelernt hat, rührt sich nicht mehr bei der Grobheit ihrer Eindrücke.“ Er sprach: „Hast Du Bessres gefunden?“ Damit sah er ihn an, der das gesagt hatte. Er sah, dass es ein sehr alter Mann war, und Einer, der lange gewandert war. Sein Haar und Bart hingen wild. Der Staub der Wege lagerte in den Runzeln seines Gesichts. Sie zogen sich tief eingegraben wie von zahllosen Jahren gezeichnet. Die Müdigkeit einer ungeheuren Anstrengung wohnte in den tiefen Höhlen seiner Wangen. Man erkannte die Sonnen von brennenden Sommern, die über sein Haupt dahingegangen waren und die Haare auf ihrer Höhe gebleicht hatten zu Schnee. Seine Kleider waren fahl vom Staub. Sie hingen zerrissen und schlugen in gefaserten Fetzen um seine mageren Kniee, die ausgearbeitet und knotig waren wie Hölzer eines uralten Baumes, von denen die Moose hingen in weissen Flocken. Keine Unze Fleisch war mehr an diesen Knieen. Unter der braunen Haut traten die Knochen vor wie durchgeschubbert, gewetzt in einer unausgesetzten Reibung. Seine Nase bog sich scharf wie ein Adlerschnabel. Er hatte keinen Zahn in seinem Munde vor hohem Alter. Aber in seinen schwarzen Augen glomm unauslöschlich Feuer des Lebens. Sie brannten wie Fackeln in einer sehr tiefen, nächtlichen Grotte. So stark war der Glanz ihres rothen Feuers, dass sie die Höhlen ausgebrannt hatten um sich, die Brauen vorstanden wie Dachbalken eines eingeäscherten Hauses. Der Schnee vieler Winter hing von seinen Brauen. Sein Haar war unbedeckt und flatterte im Winde. Er hielt einen rohen Stab in der Hand aus Knoten des Dornstrauchs. Ueber seiner Schulter hing der Bettelsack. Wie er wanderte, stützte er sich auf den Stock. Die Fetzen seines zerlumptem Gewandes schlugen um seine schreitenden Lenden. „Ich wandre – wandre ...“ sagte der alte Mann. „Ich weiss nicht, wie lange ich wandre. Ich habe alle Städte der Menschen gesehen, die Wüste und die hohen Schneegebirge, wo der Schnee ungestört liegt wie der weisse Flaum auf dem königlichen Lager der Jungfrau. Alle Thaten und Dinge der Menschen weiss ich. Ich habe ihre Weisheit gehört, das Mitternachtöl verbrannt über ihren Büchern. Und ich habe dieses gefunden: dass sie gar nicht sind. All’ ihre Weisheit ist Bilder von Worten, das Echo eines Klingklang, und sie sind eine Spiegelung des Nichts im Leeren. Dies weiss ich und bin stolz, dass ich es weiss und lache aller ihrer Leiden und Busse. Es ist mir, als ob ich in einen Spiegel des Wassers sehe, der schnell verrinnt, oder Spiele des Guckkastens, wie man Kindern zeigt auf Jahrmärkten, Launen des Lichts und Wechselungen der Schatten! So man darauf pustet und mit der Hand hineinschlägt, ist es nichts.“ Er hauchte und schlug mit der Hand in’s Hohle und lachte laut auf. „Aber Gott ist!“ sagte der Fremde. „Eine Spiegelung der Spiegelbilder. Die Fratzen werfen ihren Schatten und weil sie ihn von weit werfen, ist er grösser und dunkler. Wie die Wolken, die Du da oben siehst. Und wenn Du hinkommst, sind es nicht Wolken, sondern leere Luft. Nur die Sonne und Spiegelung macht sie zu Wolken.“ „Etwas muss sein.“ „Etwas muss sein. Ich suche es im Unendlichen, tausend Jahre, Schatten, der ich bin, im Nichts, das sich bewegt und still bleibt in der Bewegung. Bewegung ist Nichts. Und Stillstand ist nicht. Um Sonnen drehen sich Welten. Aber die Sonne ist nur ein Schein andrer Sonne, und Welten sind Schattenflecken im Leeren. Ich wandre – wandre – wandre.“ ... Er fasste seinen Stab und ging weiter durch die Nacht. Die Eisenspitze seines starken Stockes klang hart auf dem harten Kies. Die Fetzen seiner zerlumpten Kleider schlugen um seine dürren schreitenden Lenden im Winde. Und Einer sprach: „Das ist der ewige Jude, Ahasver, der Zweifel des Menschen, der nicht ruht. Ob er wohl sieht und nicht sieht, das Gesehene selbst für Hirngespinste erklärt. So er die Hand in die Seite legte und die Wundenmale rührte mit seinem Finger, wird er sagen, dass das Blut Farbe ist und die Seite ist Seite einer Leiche. Dieser wird niemals selig und wandert bis an’s Ende der Tage. Alsdann wird er blind werden, wenn Alle sehen. Und in seiner Blindheit sehen, was in ihm war und immer gewesen ist von Anbeginn.“ „Werden Alle finden?“ fragte er eifrig. „Alle, die suchen. Bis auf Einen, der nicht sucht.“ „Lass mich den sehen, der nicht findet,“ bat er. „Es ist zu schrecklich zu sehen für menschliche Augen. Sie können ihn nur ausdrücken in dem, was sie nicht kennen. Er ist die Nacht.“ Indem er das sagte, ward die Nacht noch tiefer. Sie drang in seine Seele ein wie das Gefühl eines hohlen, schrecklichen Abgrunds. So stark war der Schrecken der Finsterniss, dass ihm der Schweiss von der Stirne rann, und wie er fiel, waren es Tropfen Blutes. ... Damit kam die Morgenröthe und die Sonne ging auf. DAS FÜNFZEHNTE KAPITEL. Aber um diese Zeit war das Gerücht von ihm sehr gewaltig geworden. In der Hauptstadt erschütterten die Predigten Fritz Kuhlemann’s, der mit starker Stimme sprach. Er schonte Niemand und rief laut zur Busse. Denn die Zeit war gekommen. Ein grosses Erwachen ging durch die Völker. Schweres Unheil, Empörung und Blutvergießen lag in der Luft, so die Machthaber sich nicht bekehrten, die neue Lehre anerkannten von der Theilung der Güter, der Brüderschaft aller Sterblichen. Er sprach: „Es ist Unrecht, dass Ihr Armeen habt, Einer den Andern zu bekriegen, die Stimme des Volks zu ersticken, die mächtig spricht. Solches thun die Thiere nicht, die von demselben Blut und gleicher Art sind. Seid Ihr nicht besser denn Thiere? Wehe den Reichen! Wehe denen, die Geld ansammeln und es auf Wucherzinsen ausleihen! Die den Acker mit Schulden bedecken, dass er nicht Frucht bringen kann unter dem verfluchten Eisen! Habt Ihr die Erde geschaffen, dass Ihr sie Euer nennt, Grenzpfähle setzt so und so weit und Zäune zieht, dass kein Andrer sie beschreite? Die Erde, die Luft und das Wasser sind des Herrn. Euer aber ist Alles. Und Alle seid Ihr Eines Geschlechts.“ So gewaltig war seine Stimme, dass ihm die Leute zuliefen in grossen Massen. Kein Raum und kein Saal vermochte mehr die Zahl seiner Zuhörer zu fassen. Wo man sie zurücktrieb, kamen Neue. Das Volk ward drohend, dass man seinen Prediger antaste. Dröhnend wie Schlachtdrommeten klang seine Rede. Er trug einen härenen Rock und nährte sich nur von Nahrung der Pflanzen. Was er verzehrte, gewann er von seiner Hände Arbeit, denn wilde Kraft des Volkes lebte in diesem Manne. Wenn er vor ihnen stand, gewaltig mit dürren Händen und Armen, gedachte man der alten Prediger in der Wüste. Seine Augen warfen Feuerflammen. Von vielem Denken und Nachtwachen war sein Haar grau geworden. Er trug keinen Hut auf seinem Haupte. Wenn er in einer Stadt fertig geworden war, wanderte er die Nacht über zu einer andern. Ueberall gegen Ungerechtigkeit und List erscholl sein Zeugniss: „Ihr nehmt dem Armen scheffelweis. Dann straft und hängt Ihr für das, was er Euch wiedernimmt in Körnern. Ihr predigt Demuth und freut Euch an dem, der vor Euch steht mit abgezognem Hut und zitternden Knieen. Vor Gott beugt Ihr die Knie, auf dass vor Euch die Menschen knieen um Eurer Gottesfurcht willen. Seinen heiligen Namen schreibt Ihr über Eure schlechten Thaten, Kriege und Händel, dass Eure Thaten heilig stehen in seinem Namen. Ihr behauptet seine Weisheit zu wissen. Es ist Eure List, die Ihr fein und schneidend schleift am adamantnen Felsen Seiner Gerechtigkeit. Ihr zieht den Strick nicht zu, weil Euch das Lastvieh Säcke tragen soll. Dann sprecht Ihr noch: Seht meine Langmuth und Gütigkeit, dass ich nicht würge, wo ich doch würgen könnte. Der Aermste trägt alle Beschwerde. Ihr wischt Euch die Stirn, sprecht von Eurem Schweiss, Nächten, die Ihr hingebt für Euer Rechnen und Raffen in Keller, die Ihr auffüllt für Euch und Eure Söhne. O Ihr Heuchler und dreifachen Heuchler! die Ihr die Steine verschluckt, die man gegen Euch wirft, Euch dadurch schwerer macht, vom Gift, das Euch tödten müsste, fresst, bis Ihr giftfest seid! Ihr seid erkannt in Eurer Nacktheit. In Eurer Lüge steht Ihr frierend und ganz hülflos.“ Also trieb er die Gegner vor sich her mit harten Worten. Ein mächtiger Schrecken ging von ihm aus. Viele auch hingen ihm an, Soldaten, die in der activen Armee standen, und man fürchtete, dass diese im Fall eines Kampfes ihre Waffen gegen ihre Oberen kehren, gemeinsame Sache machen würden mit dem Volk, denn des grossen Führers Wort war überzeugend. Er scheute sich nicht und nannte die Dinge mit deutlichem Namen wie sie waren. Und Niemand war, der ihm widerstehen konnte, weder mit feingedrehten Gründen, noch mit Gewalt. So dass davon bewegt wurden bis in die höchsten Schichten, Regierungen und Ministerien. Man liess ihm unter der Hand anbieten, er sollte da eintreten in die Verwaltung. Man würde Verbesserungen machen, Vorschläge aufstellen, dass die Ungerechtigkeit beseitigt würde, Zufriedenheit, genug zu essen sei im Lande. Er aber schlug Alles aus und stiess diese in die Enge mit harten Worten: Dass sie halb wären und niemals ganz, die den zerrissenen Schlauch flicken wollten mit alten Lappen, klaffende Löcher verkleben mit Pappe von papiernen Acten, Kleister von Speichel: „Ihr selbst müsst weg zunächst aus dem Platz, da Ihr feststeht, damit frische Luft werde und Bewegung, das Neue sich nicht zerbreche am harten Stein des Gewordenen, von der Verwesung das Leben Farbe und Geruch annehme.“ Dieses hörten sie ungern. Da er aber sehr laut sprach, das Volk ihm anhing, machten sie einen andern Versuch. Er ward zum Fürsten befohlen, dass er diesen selbst spräche, vor der höchsten Majestät, so er dessen fähig sei, zeugte für die Richtigkeit seiner Ansprüche. Dieser, der noch ein junger und rechtlicher Monarch war, empfing ihn freundlich. Er hatte auch gute Gedanken für die Besserung und für Alle, beklagte dass Vieles nicht zu seinem Ohr kam, auf ihm aber als dem Höchsten die Verantwortung ruhte. Nur hoffte er zu Gott, dass ihm das nicht angerechnet würde, da er sich nach besten Kräften bestrebte, auch zu Gott betete, bevor er Urtheil abgab in den grossen Sachen, die über Tod und Leben waren und Leben und Tod vieler Tausende. Zu ihm sprach der kühne Mann: „Mein Fürst! Du bist ganz und gar unfähig zu urtheilen, im Einzelnen, wie nun gar über viele Hunderte und Tausende. Siehst Du die Seelen der Menschen, vom unschuldigen Kindlein an, wie es war, dass sie also schlecht wurden und Böses thaten? Ob es eine Krankheit im Blut gewesen sein mag, Schlechtigkeit, Ungerechtigkeit und Unsauberkeit der Welt, die Deines Volkes ist, davon Du Verantwortung trägst? Das Gericht wird gesprochen in des Königs Namen. Wenn ein Krieg ist, erklärst Du ihn. Der fremde Fürst nimmt Deine Erklärung an. Ihr Beide steht für Eure Völker, das Recht Eurer Sache. Wie mag ein Einzelner solche Beschwerung ernstlich übernehmen? Und wie Du zerbrechlich und von elendem Staube bist, in Schmerzen geboren, krank eines Tages und einen andern gesund, sterben musst und Dein Leib wird Würmerspeise, so sind Deine Brüder, nicht besser und nicht schlechter. Niemals war es Gottes Wille, dass der Eine herrlich gehen sollte in Purpur und Sammet, der Andre wie ein Vieh im Staub kriechen, und viel weniger denn ein Vieh, da er nicht hat seine Blösse zu bedecken.“ Worauf der Fürst sagte, dass er dies in der That beklage, auch sich selbst nicht für besser hielte denn andre Menschen. Nur müsste Einer der Mächtigste sein um der Ordnung willen. Es würde sonst Alles Unordnung und Anarchie. „Unordnung und Anarchie ist schon in der Welt,“ sprach der Mann des Volkes traurig. „Eine Nation steht gegen die andre. Die stark sind, überwältigen die Schwachen. Die schwach sind treten wider die Andern, die noch schwächer sind, Weiber und Kinder. Es ist nicht mehr Gerechtigkeit denn unter Läusen und Ungeziefer, und was das Recht genannt wird, ist eine neue Waffe, die die Besitzenden geschmiedet haben, um ihren Besitz festzuhalten und den Gar-nichts-Habenden zu wehren. Durch List, Ehrgeiz und Kriechen gelingt es denen manchmal hineinzukommen. Diese Söhne von Sklaven drücken ärger denn die Herrengebornen, denn sie sind niedrig. Ihre Seelen sind niedrig wie der Staub, dem sie entkrochen sind. Der aber eine hohe Seele hätte, könnte Niedriges nicht um sich dulden. Es würde ihm unerträglich sein, sein Ebenbild besudelt zu sehen im Koth, schlechter denn der Fussboden unter seinen Füssen, den er tritt. Ja, welcher ganz hoch dächte, steige hernieder von seinem Thron und würfe über ihre blutige Schmach den blutrothen Purpur seiner Hoheit, wie unser höchster Herr Christus sein edelstes Blut vergossen hat für uns Alle. – Und recht königlich handelte er, der so thäte, fürstlich und kaiserlich!“ Da ward der junge Fürst ungeduldig, hiess ihn fortführen. „Ich will Dich später hören,“ sagte er. Die Rede hatte ihn unmuthig gemacht. Aber Manches nahm er sich an, hiess auch den Mann öfter vor sich kommen, discutirte mit ihm. Aber auf seine Rede kam er nicht zurück. Er blieb traurig. Die Diener des Königs liessen den Demagogen nicht aus dem Gewahrsam, denn die Aufregung war gross in der Stadt und im Land. Viele zogen durch die Strassen in Haufen, die Brot und Arbeit verlangten. Man rief den Soldaten zu, dass es ihre Pflicht wäre, die Waffen niederzulegen, sich zu verbinden mit den Empörten. Fritz Kuhlemann aber blieb im Gefängniss. Um dieselbe Zeit nun sprach man von einem wundersamen Buch, das ein Unbekannter geschrieben hatte, oder doch ein Bekannter, denn Viele vermeinten die Art und Redeweise zu erkennen eines gewissen Doctor Anton Rothe, der grosses Aufsehen erregt hatte zu einer Zeit, dann lange Jahre verschollen war. Man sagte, dass er sie in wüsten Ausschweifungen verbracht mit einem Fürsten auf Reisen. Derselbe war blind und auf den Tod krank gewesen Monate lang. In diesen Wochen hatte er das Buch geschrieben. Er hatte es einem Knaben in die Hand dictirt, der nicht schreiben konnte. Und siehe! die Zeichen standen fest und deutlich wie Buchstaben, dass Jeder sie lesen konnte, die die zu lesen verstanden und so nichts vom Lesen und Schreiben wussten, als Kinder und ganz ungebildetes Volk. Es hiess: „Die Blinden, die sehen ...“ In wundervoller und deutlicher Weise war geschrieben, wie Christus eintritt in alle Dinge dieser Welt, das Heilige und Kräftige in der Verwesung, die linde Sonne, die schafft und leuchtet. Und schied das Licht von der Finsterniss, und ging grausam in’s Gericht mit dem, was schön gewesen war und herrlich, zeigte es klar wie es war in entsetzlicher Todtenlarve, dass ein Schauder die Menschheit erfasste, Manche in fliegendem Entsetzen das Werk ihrer Hände zerbrachen. Und schied überall die Finsterniss vom Licht, die Gedanken von der Form, den Geist vom Körperlichen, das heilsam und gut gewesen für eine kindlichere Zeit. Und pries die Güte, die reine Unschuld, die Schwachheit, die das Heldenthum ist. Wie Alles ewig ist und Bestand hat, das aus der Liebe geboren ist. Das Andre ist Staub und Schlacke. Es muss verbrennen und immer mehr wegbrennen in immer reinerem und stärkerem Licht, bis nichts mehr bleibt, als das unaussprechliche wunderbare Licht in Gott. Einige sehen es schon im Leibe. Viele aber erst nach diesem Leben. In Allen ist der Funke und das Abbild. Sie leiden und brennen. Das Feuer des Leidens ist die Läuterung. Der aber das Buch geschrieben in den unaussprechlichen Qualen seines Leibes und Gewissens, dem war es wie Schuppen von den Augen gefallen. Er sah nun und niemals wieder würde ein Flecken in sein Auge kommen. Ganz kleine Kindlein sahen von selbst. Ihre Augen sind stet, flackern nicht unruhig wie die der Menschen. Aber ein solch wundersames Buch war nicht geschrieben seit die Welt stand. Und zeigte den Strom des Lichts von Gott, vom Licht ausgehend, durch alle Zeiten und Alter, wie er Form und Blut geworden in Golgatha, und floss in herrlicher, schimmernder Fluth. Um die Häupter der Heiligen, niedrige Stirnen der Suchenden, Bibelerforscher, Bastillestürmer. ... Immer mit nie fehlender Sicherheit der Gang zum Licht. Das endete ausbrechend mit der grossen Apotheose: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Gold – das Reichste, daran des Menschen Herz hängt, Weihrauch, der den Aufschwung der Seele begleitet, und Myrrhen, die feinste, edle Blüthe der schönen Künste. Dies Buch war in der wunderbarsten Sprache geschrieben, die wie Gesang ging. Die Worte waren einfach und tief, dass die Weisesten davor ehrfürchtig standen und die Einfältigen sie fassen konnten. Die Kraft dieser Worte war wie ein zweischneidendes Schwert und ihre Süsse süsser denn Honig, feinster Duft der Blumen. Ein solches Buch war nicht geschrieben worden und es stand leuchtend und in Erz gegraben, was man an ihm drehte und deutete. Im Gegentheil, seine Strahlen wurden rother und inbrünstiger. Alle rothe Wuth und Finsterniss der Welt konnte das leuchtende Buch nicht umstossen. Wie auf das Volk die Rede des grossen Socialisten, so wirkte das Buch auf die Gebildeten. Es gab vornehme Herren und Grafen, die ihre Güter abgaben und niederstiegen zu den Geringen. Die Frauen richteten sich auf in leuchtender Keuschheit. Was man als Notwendigkeit mit Widerwillen geleistet, wurde wieder die herrlichste der Tugenden. Maler und Bildner ergriffen begeistert Pinsel und Meissel. Es war ein Wettlauf nach der leuchtenden Schönheit, wie er nie gewesen. Ahnend standen die Völker vor den Werken der Geweihten, denn solche Schönheit war nicht gesehen worden. Und jubelnd noch einmal schwang der Sang des Unbekannten sich auf, im schwindelnden Adlerflug der Seele, das Hohelied des Lichts, das Neue Jerusalem, die Stadt, die den Schatten nicht kennt. Die Farben steigen an in Tonleitern, Symphonieen des Glanzes schwingen sich schwirrend, der trunkne Pinsel, in Sonne getaucht, stolzirt im tönenden Reigengesang der Edelsteine. Zum schmetternden Tedeum vereinen sich die Lichtspender. „Der erste Grund war ein Jaspis, der andre ein Saphir, der dritte ein Chalcedonier, der vierte ein Smaragd. „Der fünfte ein Sardonyx, der sechste ein Sarder, der siebente ein Chrysolith, der achte ein Beryll, der neunte ein Topas, der zehnte ein Chrysopras, der elfte ein Hyacinth, der zwölfte ein Amethyst. „Und die zwölf Thore waren zwölf Perlen und ein jeglich Thor war von einer Perle; und die Gassen der Stadt waren lauter Gold als ein durchscheinend Glas. „Und ich sah keinen Tempel darinnen, denn der Herr, der allmächtige Gott ist ihr Tempel und das Lamm. „Und die Stadt bedarf keiner Sonne, noch des Mondes, dass sie ihr scheinen, denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm. „Und die Heiden, die da selig werden, wandeln in demselben Licht; und die Könige auf Erden werden ihre Herrlichkeit in dieselbige bringen. „Und ihre Thore werden nicht verschlossen des Tages, denn da wird keine Nacht sein.“ ... Und es war ein Jüngling in einer Stadt desselbigen Landes, der hatte die Schönheit gesucht sein Leben lang. Denn er dachte richtig, dass, wer die Wahrheit findet, der Schönheit nahe ist und es keine andre Wahrheit giebt denn in der Vollkommenheit der Schönheit. Erst hatte er sie gesucht in der Schönheit des Gedankens. Dann hatte er zu der Schönheit des Fleisches gebetet, denn der lebendige Leib ist mehr denn der Schatten und die Form höher denn das Wort; aber das Alter und die Unvollkommenheit nehmen alle Schönheit hinweg. Dieser kam zu Ihm, da Er auf einem sehr hohen Berge war. Die ganze Nacht war er den Berg hinaufgeklettert. Die Dornen hatten seine Hände zerrissen, dass sie bluteten. Er war gestolpert im Finstern. Die Steine hatten seine Kniee zerschlagen, dass sie matt und wund geworden waren unter ihm. Oft war er irre gegangen. Lichter hatten ihn genarrt im Finstern. Im Nebel tastete er sich vorwärts mit Händen und Füssen. Seine Augen waren wie blind, dass er die Hand nicht sah vor seinen Augen. Er sah nicht das Gesicht dessen, der vor ihm stand. Aber er fiel vor ihm nieder und hob die Hände hoch. Flehte ihn an und bat: „Lass mich sehen die grosse Schönheit Deines Antlitzes und sterben.“ Er sprach: „Ich will sie Dir zeigen. Aber hüte Dich wohl, dass der Schrecken Dich nicht niederstürzt vom Felsen. Denn meine Schönheit ist schrecklich wie der Adler.“ Und er sah ein Unendliches, Furchtbares. Das fuhr dahin über seinem Haupte. Kreisende Sterne sassen in Seinen Lenden. Wolken bildeten den Saum Seines Kleides. Seine Stimme glich dem Donner und das Zucken Seiner Brauen war der Blitz. Zugleich geschah ein Windesbrausen wie von tausend Winden. Er fiel auf den Boden wie betäubt und der Blitz fuhr über ihn hin. Danach hörte er Schalmeien. Die kamen sehr lieblich und klingend aus goldner Ferne. Er sah einen Jüngling ganz nackt in der jungen Herrlichkeit seiner prangenden Glieder. Der Bogen hing über seiner Schulter und die Leyer lehnte zu seinen Füssen. Die Gesänge seiner Leyer waren lockender wie Goldklingen. Wo er hintrat, blühten Veilchen. Die wilden Thiere des Waldes kamen angezogen von dem Wunder seiner Laute. – Aber das Antlitz des Jünglings blieb marmorn. Danach sprach eine andre Stimme: „Kennst Du mich?“ Er sah einen Mann am Kreuze hängen. Sein Antlitz hing auf seine Brust und seine Arme blieben ausgestreckt; denn die Schwere seines Körpers war zu gross für seine Arme. Dornen krönten seine Stirn. Das Blut troff von den Dornenmalen. Es floss aus seiner geöffneten Seite. Die Nägel gingen durch sein Fleisch und die Stricke schnitten tiefe Wundenstriemen. Aber der Mund blieb weit gezerrt. Der Mund schrie in seiner Qual und rief: „Mich dürstet ...“ Seine Thränen tropften sehr schnell, er sprach: „Herr! Ich kenne Dich. Du bist schön und der Edelste unter den Geschaffnen. Aber ich habe eine Schönheit geträumt, grösser denn Deine. Und ich bitte Dich, dass Du mir zeigest Deine letzte Schönheit.“ Aber der Mann am Kreuz schien zu lächeln. Seine Wunden wurden Rosen und die Rosen fielen im rothen, duftenden Regen. Die Dornen um seine Stirn waren Strahlen, die aus seiner Stirn brachen wie Sonnengluth. Vom Gold dieser Strahlen wurde die Welt warm und tönend. – Aber die Schlange war der Strick, der ringelnd niedersank. Und das Kreuz wurde der Baum, der Baum des Lebens aus dem Paradiese. Und Er streckte seine Hand aus und brach von ihm die Frucht der Erkenntniss, die roth war vom Blut des Lebens, in der Form des Apfels, der den Samen birgt. Und Er reichte sie ihm hin und sprach: „Iss!“ Da fiel der hin wie sinnlos. Als man diesen aufhob, waren seine Augen blind. Er sah niemals wieder und seine Haare waren weiss geworden wie die eines sehr alten Mannes. Aber er hatte die Dinge geschaut, die unbeschreiblich sind, frohlockte in seinem Herzen und pries jeden Tag Gott, bis an seinen Tod, der bald kam. Denn er hatte in einer Stunde das ganze Leben gesehen und allen Kreislauf des Gewordnen. Und die Fibern und Hirne der Sterblichen sind schwach. DAS SECHZEHNTE KAPITEL. Aber seine Feinde waren sehr thätig und machten böses Geschrei wider ihn. Denn es war grosse Aufregung im Lande. Die Hungrigen und Arbeitslosen thaten sich zusammen auf den Landstrassen, zogen hin und her und forderten Brot mit lauter Stimme. Es kam auch vor in abgelegenen Gegenden, dass man Fabriken und Lagerräume verwüstete, Läden der Bäcker und Fleischer plünderte. Wo man auf der einen Seite die Empörung niedergeschlagen mit Blei und Kanonen, schlugen am andern Ort die Flammen wieder auf. Auch bestand eine Art Verbindung zwischen den Arbeitern aller Länder, dass sie sich zusammenthun und Gewalten umstürzen wollten. Die Einen gaben Geldmittel für die Andern, die feierten. Man vereinigte sich in Kongressen, Zeitungen und Druckschriften riefen auf zum allgemeinen Ausstand. So dass eine grosse Bewegung, niemals Ruhe war im Lande, denn Viele auch der Gelehrten und Gebildeten nahmen sich der Sache an, forderten, die Einen eine Bodenreform, dass man den Grundbesitz allgemein machen sollte, Andre eine Verstaatlichung der grossen Betriebe und Waarenhäuser. Viele aber gar die ganze Theilung, wie es die armen Leute auf ihr Programm geschrieben hatten. Und waren bereit für ihr Theil anzufangen, mitzugehen mit diesen. Es gab selbst Priester der herrschenden Kirchen, die kühn ihren Mund aufthaten; forderten die Reichen auf abzulassen von Habsucht und Wollust. Die Armen aber nannten sie das Volk Gottes und riefen aus, dass ihre Sache gerecht sei. So befand sich Alles in Unordnung. Einige zogen hierhin, die Andern dorthin. Welche sprachen: „Morgen wird die Befreiung kommen. Sie wird kommen durch Waffengewalt, denn wir sind Viele. Sie aber sind Wenige. So wir dazu kommen uns zu messen im Kampf und zusammenhalten, sind wir ihnen überlegen zehnfach und hundertfach. Es kann uns nicht fehlen. Wir müssen nur einstehen Einer für den Andern und unser Pulver trocken halten.“ Gerade dies aber zeigte sich schwierig, dass sie zusammenhielten. Denn von den Führern suchte ein Jeder das Seine. Sie stritten her und hin über die einzelnen Sätze. Die Rivalität der Nationen machte sich geltend, auch eine Frage der Geschlechter, da die Männer die Weiber nicht wollten als voll gelten lassen, diese aber wiederum sprechen und Herren sein wollten wie Jene. In den gelehrten Büchern und Blättern stritten sie sich gleichfalls. Der Eine warf dem Andern niedre Beweggründe und Tücken vor. Es waren nicht Zwei, die dieselbe Meinung hatten. Die es wohl meinten, waren schwach und träumten. Die Andern aber wühlten und zeigten sich sehr thätig. Das ganz rohe Volk drängte zu Thaten. Sie sprachen: „Es ist besser wir sterben, als wir tragen dies Leben länger, das schlimmer ist wie der Tod, und setzen Kinder in die Welt, die Last weiterzutragen mit gekrümmtem Nacken wie wir.“ Diese waren nicht viel besser wie die Thiere. Sie sprachen: „Lasst uns trinken! Wenn wir uns Muth getrunken haben, wollen wir gehen und todtschlagen!“ Und schlugen blindlings drauf los, wen sie fanden. Die man ihrerseits schlug und gefangen setzte wie wilde Raubthiere. Auch zu dem Fremden kamen Etliche von Solchen. Sie sprachen: „Sei Du unser Führer! Sage uns, was wir thun sollen. Wir wollen hinter Dir herziehen und Du sollst unser Fürst sein.“ Diese sah er an. Er sah, dass ihre Gesichter entstellt waren von Lastern. Der Geist des Branntweins war in ihren Augen. Ihr Athem roch schlecht vom giftigen Fusel, der sie verbrannte. Alle ihre Bewegungen waren obscön. Sie schrieen nach Weibern und Trunk. So sie solche hatten, nahmen sie ihren Theil, soffen sich voll. Nicht anders waren sie denn Schweine. Und er antwortete ihnen kein Wort. Sie sprachen: „Du verachtest uns, weil wir schmutzig sind und übel riechen. Sind wir nicht ebenso gut und besser denn Jene, die sich mit Seife und Salben waschen, süsse Weine trinken?“ Er sprach: „Ihr seid nicht besser. Ihre Hände sind gewaschen. Sie brauchen nicht rohe Worte. Sie essen und trinken ihr Maass. Ihre Leidenschaften sind in ihren Händen wie gute und gehorsame Pferde. Sie wissen genug, um voraus zu denken und rechnen zu können. Ihr Wissen giebt ihnen die Grenze und Wirkung ihres Thuns. Ihr seid ganz schlecht und ganz nutzlos.“ Dann sprachen Einige: „So bist Du also ein Vornehmer und hältst es mit den Reichen und Mächtigen?“ Er sprach: „Die Mächtigen und Reichen haben andre Laster wie Ihr. Sie lügen, wo Ihr roh seid. Wenn Ihr fresst, kitzeln sie ihre Gaumen mit scharfen und unnatürlichen Sachen. Wo Ihr dem Augenblick folgt, rechnen sie mit List und legen Schlingen. Ein Armer sorgt nicht so um Leib und Blut, lässt wohl sein Leben. Der Reiche zittert für seine Güter. Nichts Lieberes ist ihm als das Leben, dass er sich Aerzte sucht, es zu verlängern, noch im Tode mit Denkmälern und Bildsäulen sich ehrt, so er doch todt ist, nichts wie Staub und Würmer. Der Arme ist weit ab vom Reiche Gottes, weil er arm ist. Aber der Reiche ist weiter entfernt.“ Sie sprachen: „Sage uns, was ist das Reich Gottes?“ Er sprach: „Was Ihr Glück nennt, Frieden in uns und ausserhalb.“ Sie sprachen: „Wer hat das Glück? Und wie sagst Du, dass der Arme ihm näher ist als der Reiche?“ Er sprach: „Der Reiche hat viele Bedürfnisse. So er nicht sein festes Haus hat, Pferde und Dienerschaft, ein köstliches Essen, wie mag er sich freuen? Der Arme bedarf des Allen nicht. Der unter freiem Himmel nächtigt, braucht kein Dach. Der am Brot sich satt isst, bedarf des Fleisches nicht. Wem Wasser genügt, was soll ihm der Wein?“ Sie sprachen: „Das ist ganz thöricht. Wir wollen Alle in Schlössern wohnen, Fleisch essen und Wein trinken alle Tage.“ Er sprach: „Seht zu, wo Ihr es findet,“ wandte sich von ihnen und sprach nicht mehr. Zu ihm kamen Andre, die sich klug dünkten, sprachen: „Wir wissen sehr wohl, dass Du recht hast. Alles ist in der Klugheit, im Witz des Menschen. Mit ihm erfindet er, verbindet Meere und Erdtheile. Sieh das System, das wir aufgebaut haben, darin das Glück ist und Wohlleben für Alle.“ Er sprach: „Der Stein ist geduldig. Er trägt die Marke, die man ihm eingräbt. Wie wollt Ihr solches zeichnen in Fleisch und Blut? Die Kräfte der Natur gehorchen Gesetzen. Wer ihr ihre Gesetze ablauscht, der ist ihr Herr; weil er ihr folgt in ihren Zwecken, nur ihr Diener ist, den sie trägt. Kennst Du das Gesetz, das den Knaben leitet zum rothen Mord oder die tugendsame Jungfrau zur Buhlschaft?“ Sie sprachen: „Wir kennen es nicht.“ Er sprach: „Es giebt kein Gesetz, das gut ist für Alle. Aber das Gute ist in Allem. So Jeder gut thut, ist Alles gut.“ Das verstanden sie nicht und sprachen: „Es wird immer Schlechte geben.“ Er sprach: „So lange es sie giebt, ist Nichts gut.“ „So sollen wir gar nichts thun, die Hände in den Schooss legen?“ fragten sie nun. Er sprach zu dem, der das sagte: „Thue Du für Dich! Mächtiger denn viele Worte spricht das Beispiel. Eine That wiegt schwerer denn tausend Gleichnisse. Einer, der stirbt für sein Leben, schafft zehnfaches Leben.“ Aber es gefiel Keinem, was er sagte. Sie murrten gegen ihn: „Das haben wir längst gewusst. Diese Weisheit ist so alt wie die Sonne. Es ist nichts gekommen aus ihr und hat sich nichts geändert, seit die Sonne scheint.“ Er aber ward traurig in seinem Herzen, dachte: „O dass Ihr hasstet oder liebtet! Aber es ist nur Erde in Euch oder kalter Verstand. Ihr seht die Sonne nicht vor so vielem künstlichen Licht. Rom war besser und Babylon war edler. Im blutrothen Blut müsst Ihr roth werden! Von den Flammen Eurer Städte und Häuser werden in Euch Flammen aufschlagen! O Ihr armseliges Geschlecht in Eurem Reichthum! Würmer und Elende in all’ Eurer Kunst!“ Da er weiterging, fand er einen sehr alten Mann. Der sass vor seiner Hütte in der Abendsonne. Wie er vorbeiging, grüsste ihn der alte Mann. Er sprach: „Lass mich trinken und gieb mir zu essen von Deinem Mahle.“ Da gab ihm der alte Mann frisches Wasser, Brot und eine reife Frucht von den Fruchtbäumen, die vor seiner Hütte wuchsen. Der alte Mann sprach: „Dies ist meine Nahrung Winter und Sommer. Ich nehme niemals andre. Fleisch und Blutiges kommt nicht über meine Lippen. Und Frucht der Traube nicht, deren Saft gegohren ist. Ich bin stark damit und gesund. Nichts fehlt mir. Ein Arzt hat meine Hütte nicht betreten, seit ich diese Lebensweise annahm. Winter und Sommer stehe ich zeitig auf. Ich trage mein Holz selbst und reinige meine Hütte. Meine Mahlzeit bereite ich mir mit meinen Händen. Ein wollner Rock genügt mir, wenn es kalt ist, und ein leinener für den Sommer. Wasser reicht mir die Quelle vor meiner Hütte. Mit meinen Händen habe ich diese Fruchtbäume gepflanzt, die um mein Haus stehen. Mein Acker, den ich selbst bestelle, giebt mir mein Brot. Meine Thiere sind meine Freunde. Sie hören meine Stimme. Wenn ich einsam bin, leisten sie mir Gesellschaft. Ihre Nöthe sind meine Nöthe. Das Kalb, das geboren wird, gehört mir, wie es zu seiner Mutter läuft. Sie kennen keine Scheu und keine Furcht. Selbst die wilden Thiere des Waldes kennen mich und kommen zu meiner Hütte, wenn sie Futter suchen. Die scheuen Vögel unter dem Himmel setzen sich auf meine Hand, wenn ich sie ausstrecke, und erzählen ihre unschuldigen Geschichten.“ Damit streckte er seine Hand aus. Kleine Meislein und Rothkelchen, die hüpften und liefen, kamen kecklich, flogen auf seinen Finger. Sie pickten an seinen Lippen, als ob sie anfragen wollten, setzten sich auf seine Schulter und klappten mit den Flügeln. Rehe aus dem Walde traten heraus ohne Scheu und nahmen ihr Futter aus seiner Hand. Die furchtsamen Hasen machten friedliche Männchen, putzten und überschlugen sich. „Alle sind meine Brüder,“ sagte der alte Mann. „Meine Kinder, weil sie schwächer und unkluger sind wie ich. Aber ihre Unklugheit ist nur scheinbar. Sie wissen sehr gut, wie sie zu leben haben, wo sie ihre Nahrung finden. Sie wissen auch, dass noch etwas Andres ist wie hienieden; nur sie _wissen_ es und sorgen nicht. Höre!“ Im Busch schlug die Nachtigall eine sehnende Weise. So lieblich, so voll Klage und schmelzendem, lockendem Zuruf! Das Reh sah ihn an mit treuen, verständigen Augen. „Es ist nicht nur die Brunst, die sie lebendig macht für die Fortsetzung dieses armen, kleinen, lebendigen Lebens. Weil sie fühlen, dass sie in einer Kette sind, Alle zum Lobe Gottes, den sie preisen aus ihren kleinen Kehlen, mit dem stummen Blühen ihrer Kelche, täglich. Das sind die Unschuldigen der Natur. Ich liebe sie, obgleich die Menschen sie verachten, sich klüger dünken in ihrem Stolz, ihrer Geschäftigkeit.“ Er aber erstaunte sich, so viel Weisheit und Demuth zu finden in einem alten Mann. Ein wundersamer Mann war er, mit der grossen, viereckigen Stirn, die das Denken ausgearbeitet hatte wie einen Marmorblock. Sein Haar und Bart war langgewachsen. Er sah aus wie ein Bauer und war doch ein Herr. Ruhende Stärke lag in ihm, der Blick, der über Viele sieht. Aber er blieb milde. Seine Hand koste den Flaum des Rehs, wo es weich ist unter dem Hals des Thiers. Er fuhr fort: „Früher war ich auch wie die andern Menschen. Hochmüthig und geschäftig, verzagt in meinem Thun, wenn es nicht ging wie ich wollte. Geschäfte der Könige wollte ich thun an Fürstenhöfen. Ich wollte weise sein wie ihre Weisesten, lustig leben wie die Lustigen und Tollen. Ich habe ihre Bücher gelesen. Ich habe Frauen geküsst. Ich habe um Reichthum gesorgt und gerafft. Alles ist eitel. Glücklich ist, der Niemandes bedarf, und Alles zu geben hat den Andern. „... Ich habe ihre Künste getrieben. Mir gefiel das schlanke Spiel der Wörter, dass sie sich verwirrten und kreuzten wie blanke Schwerter – auseinander sinken und zur Erde flattern, harmlose Strohhalme. Farben liebte ich, die die Worte lebendig machen wie von getrunknem Blut, Töne, die rufen, die locken und befehlen, weinen machen und lachen, wie es der Zauber verfügt, der sie Alle regiert. – Ich berauschte mich selbst am Wohlklang meiner Töne. Wollust war in der Farbe meiner Bilder. Meine Worte waren klingelnd wie Schlittenklang, tönende Erze und hallende Schellen. – Alles ist eitel. _Eine_ Kunst giebt es zu thun, was recht ist. Eine Farbe der Wahrheit. Einen Ton, des Verlornen, den wir wiedergefunden.“ Er sprach: „Welches ist der Ton, den Du wiedergefunden? Lass mich hören, dass ich weiss, ob es der rechte ist.“ Der alte Mann sprach: „Vor langen Jahrhunderten klang er am See. Am See, der zwischen den Bergen liegt, Genezareth. Was da gesprochen in himmlischen Tönen, durch die Zeiten und Alter klingt es als Wahrsang. Wir zählen die Jahre. Der Sang ging verloren in Schwertschlag und Goldklink. In blinkenden Fabeln von Wissen und Kunst. – Es giebt nur den. Niemals ward er vollkommen.“ Er sprach: „Der Sang ist der rechte, den Du gefunden. In ihm liegt Alles. Erfüllung und Leben.“ „In ihm liegt Antwort, Weisheit und Einfalt. Dreierlei seh’ ich die Zeiten zu deuten: Dass Einige weigern Kriegsdienst zu thun, Verfolgung erleiden, Gefängniss und Tod. Dass Viele erkannten, ihr Wissen ist eitel im weiseren Wissen. Dass Keuschheit wieder die oberste Tugend, die Frauen erwachen, die stark sind und künden. – Der bedarf nicht der Schätze, der die Perle gefunden. Der Tod ist ihm Freund, der das Leben erkannt. Ich sitze hier und warte des Todes. Des Führers harr’ ich, der einführt zum Tage.“ So nahmen sie Abschied. Der alte Mann sass ganz still auf der Bank vor seiner Hütte. Um ihn liefen die Thiere, weideten, piepten. Er sah in die rothe, sinkende Sonne. Die Sonne sank. DAS SIEBZEHNTE KAPITEL. Dies geschah, als eine Empörung kam im Lande. Die Armen wollten nicht Hunger leiden und arm sein mehr. Es gab eine grosse Anzahl der Arbeitslosen auf allen Landstrassen, weil die Zeiten schlecht waren. Man hatte eine solche Fülle der Güter in den vergangenen Jahren auf den Markt geworfen, dass Niemand mehr Waaren kaufen wollte. Das Korn lag in den Speichern und verdarb. Das Fleisch wurde zu theuren Preisen verkauft, weil die Händler nicht wussten was zu thun mit den Massen ihres Viehs, Einige riethen es todtzuschlagen und zu vergraben. Während die Armen Hunger litten. Sie zogen umher in grossen Banden, Weiber und Kinder, müssig vom Morgen bis zum Abend, denn sie sprachen: „Was nützt es, so wir doch keine Arbeit finden. Lasst uns essen und trinken und todtschlagen, denn morgen sind wir todt.“ Gegen diese schickte man grosse Mengen Soldaten und Militair. Sie vertilgten Viele von ihnen und schlugen sie in blutigen Schlachten, dass das Blut auf dem Strassenpflaster floss, die Köpfe der Fallenden sich zerschlugen am harten Stein. Ihr Gehirn stürzte aus den Schädeln gleich Wasser aus festen Töpfen. Von Geschrei und Wehklagen war die Luft erfüllt wie in einem Schlachthause. Es kam aber auch vor, dass welche von den Soldaten ihre Helme und Röcke wegwarfen, zu den Feinden übergingen, neben welchen sie kämpften auf hohen Barrikaden, in engen Strassen, die man versperrt hatte mit umgestürzten Wagen, Matratzen und Möbelstücken aus den Häusern. Der Kampf wurde noch blutiger dadurch. Die Andern machten Jagd auf ihre früheren Kameraden, schlugen sie todt wie die Hunde. Es gab keinen Pardon mehr auf beiden Seiten. Das Gemetzel war furchtbar, dass alle Häuser gefüllt waren mit Sterbenden und Verwundeten. Selbst die Leichen verschonte man nicht, übte an ihnen grausame Verstümmelung, dass viele zarte Frauen und Mädchen den Verstand verloren vom Grauen des Anblicks. Die Leute, die sich verloren sahen, tödteten sich lieber selber, ehe sie sich dem Feind übergaben in seiner Grausamkeit, der sie einschloss, zusammenpackte in den Gefängnissen, getödtet zu werden oder gerichtet zum Leben, wie es der Richter recht befand. Es waren junge Leute unter ihnen von achtzehn und zwanzig Jahren, denen der Tod lieblich und glorreich dünkte gegen Zuchthausarbeit und Ketten. Solches kam auch vor den König und verdross ihn sehr in seinem Herzen, bekümmerte ihn, dass er keine Ruhe fand, oft nicht schlafen konnte in der Nacht. So liess er sich den grossen Prediger der Socialisten holen, den er noch immer im Gefängniss hielt. Denn wiewohl keine Ursache gegen ihn vorlag, wollte man ihn doch nicht freilassen. Seine Name ward geschrieen auf den Strassen. Viele behaupteten, dass geheime Verbindung bestand zwischen ihm im Gefängniss und seinen Anhängern ausserhalb. Diese forderten laut, dass man ihm den Process machte, ein Exempel statuirte zur Abschreckung der Andern, weil er wohlbekannt war, sein Name als eine Fahne diente, der sie Alle folgten. Dieser sprach unerschrocken vor dem König. „Es ist Deine Schuld so gut wie dieser, wenn sie jetzt blutgierige Thiere sind. Ihr habt sie gehalten als Thiere in Unwissenheit und Rohheit.“ Der König sprach: „Ich will ihnen ja geben. Aber ich kann ihnen nicht Alles geben.“ Er sprach: „Es ist viel wichtiger, dass Du giebst, denn was sie nehmen. So lange Einer hat, werden sie unzufrieden sein. So aber Keiner hat, sich sorge, wie er seine Habe halte, sind Alle zufrieden. Ausserdem dass es Deiner eignen Seele gut ist.“ Davon wollte er nichts hören, schickte ihn immer und immer wieder weg. Aber wenn seine Bekümmerniss gross war und seine Seele sehr unruhig in ihm, schickte er von Neuem und liess ihn holen. Und wollte nichts hören, wenn seine Räthe drängten, sie sprachen: „Wir haben den Beweis und den. Sein Kopf muss fallen, denn er ist ein Hochverräther.“ So dass ein Gerede ging im ganzen Land: „Der Drechslergeselle ist mehr denn unser König. Der Sohn der Gosse giebt die Gesetze im Staat.“ Sie verbreiteten dies Gerücht mit Fleiss bis zu den fremden Königen, dass diese Briefe schrieben, sich darüber bewegten. Alle sagten: „Er hat keine Macht mehr in seinem eignen Staat. Sie ist in die Hände dieses Aufrührers gegeben, der ihn am Narrenseil führt, eine Herrschaft der Bettler errichtet über seinem Thron.“ Seine Räthe beeilten sich, dieses Gerede wieder vor den Fürsten zu bringen, denn sie wussten, dass solches ihn wurmen, in ihm fressen musste wie glühendes Eisen. Er hielt viel auf seine Würde, die er von seinen Vätern ererbt hatte, und war noch ein junger Fürst, solchen Tand der Majestät gewohnt von Jugend auf. Sie neigten sich bis zur Erde vor ihm, leckten seine Schuhsohlen, während sie ihm grobe Schmeicheleien sagten. „Dein Angesicht ist strahlender wie die Sonne. Wer in seinem Schatten lebt, muss sterben und verkümmern.“ Sie priesen seine Weisheit, die grösser sei denn die aller Gelehrten und Weisesten im Land. Aber seine Macht war grösser als aller Könige ringsum. So er nur wollte, war er der Herr der Welt. Das Wort aus seinem Munde blieb Gesetz. Der blutige Kriegsruhm seiner Vorfahren würde ihm folgen auf allen seinen Fahrten. Zur selben Zeit versuchten sie geflissentlich den Reformator zu verringern: „Wer ist dieser Mann? Ein Niedriggeborner und Aufgeblasner, der seinen eignen Vortheil sucht in dem der Crapule. Wie wagt er zu Dir zu sprechen, den Gott selbst gesalbt hat! Könige sind gewesen von Anbeginn der Zeiten. Wer wird die Macht haben, wenn Du sie nicht hältst? Vielschwätzer, armselige, kleine Krämer und Pillendreher? Man denkt, dass Du ihn fürchtest. Der Aufruhr zieht neues Blut aus seiner Gegenwart, weil Keiner denkt, dass Du ihn angreifen wirst, dem Dein Schweigen Recht giebt. Du selbst bist erschüttert in Deinem Innern, glaubst nicht an Dein heiliges Richteramt, dass Du bist von der Gnade Gottes, der Höchste der Sterblichen, ihnen zu Dienst und Anbetung gesetzt von oben.“ So peinigten sie die Seele des Fürsten, beugten sich in den Staub, gaben grosse Feste. Böller donnerten, Fahnen wehten. Man brachte köstliche Geschenke von Silber und Gold. Alle Truppen in glänzenden Uniformen mit blinkenden Waffen defilirten. Das Zucken seiner Wimpern war für sie Gesetz. Wo er auftrat, folgten seinem Tritt Tausende. So dass sein Herz wieder stark wurde in ihm: „Es ist Alles zum Besten eingerichtet. Da sieh doch! Und höre den Jubel meines Volkes bei meinem Einzug.“ Der Gefangene aber blieb fest. „Es ist nicht gut. Von Dir wird gefordert werden Gut und Böse.“ Dass sie sich nicht einigen konnten, der König ihn wegschickte im Aerger. Diesem stiess ein ganz seltsames Begebniss zu. Als er nach seinem Jugendfreund Johannes fragte, der sein bester Geselle gewesen war, Rathgeber in allen Dingen, – und er hatte keinen lieberen Freund wie ihn oder einen, der gerechter war und weiser, – sagte man ihm, dass dieser sein Haus nicht verlassen habe, hielt sich eingeschlossen in seinem Hause und antwortete Niemandem, nicht seinen Eltern, die ihn mit Thränen beschworen, noch seinen Freunden, die um ihn sorgten, auch nicht den Vorgesetzten, die ihn zu den Pflichten seines Amtes ermahnten. So dass Jedermann anfing an seinem Verstand zu zweifeln, die seltsamsten Gerüchte über ihn umgingen in der Stadt. Nur eine schlechte, wilde Katze hätte er mit sich gebracht aus dem Walde. Er gab ihr zu essen und beobachtete sie lange auf ihren Raubgängen. Des Abends kam sie sehr nahe zum Feuer und schlief da zusammengerollt mit eingezogenen Krallen, während er wachend dachte, das Oel nicht ausgehen liess Tag und Nacht. Ganz verwildert war er in seinem Aeussern, mit langhängendem Bart und Haaren, dass alle seine Freunde anfingen, an eine Verwirrtheit zu glauben, grosse und berühmte Aerzte herbeizogen aus der Stadt und Gegend. Sie stellten ihm viele Fragen, betasteten seinen Puls und die Zunge. Aber er antwortete ihnen gar nichts. Sie konnten kein Zeichen einer Krankheit an ihm finden. Es war ein junges Mädchen in der Stadt, die Tochter eines angesehenen und gräflichen Hauses, wohl angeschrieben bei Hofe. Diese hatte schon lange im Geheimen eine Zuneigung zu dem jungen Prediger, wie kindliche, unschuldige Mädchen fühlen, ohne davon zu sprechen oder gar demjenigen ein Zeichen zu geben. Nur fehlte sie niemals in seiner Kirche, jedes kleine Geschenk oder zufällig von seiner Hand Berührte hob sie sorgfältig auf. Traf sie ihn unversehens, stieg sofort die hohe Röthe der Scham ihr in die Stirn, denn sie schämte sich ihrer Sehnsucht nach dem Mann, in der Keuschheit ihres Leibes, während ihre Liebe doch zugleich ihr höchste Freude und Seligkeit war, also trefflich erschien er, wohlgelobt und hochgehalten vor allen Menschen. Und war nicht, der an ihm rühren konnte, weder die Frechen, noch die Lügner. So liebte sie allein im Garten sich zu ergehen, oder in ihrer Stube lange zu sitzen mit dem offnen Fenster im Frühling. Sonst war sie sanft und freundlich zu Jedermann, ein sehr liebliches, junges Mädchen, obgleich zart, zierlich gebildet wie eine Maiblume, mit zu schweren blonden Haaren, einer weissen Haut, unter der man die blauen Adern sah. Ihre Eltern, ob sie gleich ihre geheime Zuneigung ahnten, sagten sie ihr doch nichts. Weil sie so jung war, wollten sie sie nicht erschrecken, indem sie an die Geheimnisse des Geschlechts in ihr rührten. Vielleicht hofften sie auch, dass später sich finden würde, was noch fern war und Zeit hatte. Selbst die alten Eltern des von ihr Verehrten wollten ihr sehr wohl, empfingen sie oft und seine Mutter liess sie an ihrer Seite sitzen. Denn sie war ein sehr anmuthiges und feines Kind, lind und kosend wie ein früher Lenzmorgen unter Aprilschauern. Diese Jungfrau, als sie von der Krankheit ihres Geliebten hörte, dass Niemand zu ihm sprechen könnte, er allein sass mit der hässlichen Katze, machte sie sich allein auf, ohne irgend einem Menschen etwas zu sagen. Sie zog ihr weisses Kleid an, das ihr ihre Eltern geschenkt hatten zu dem ersten grossen Fest am Hofe, band ihre Haare auf, machte sich zurecht also hübsch und zierlich, als sie vermochte in ihrer Jugend und Unschuld, und ging zu ihrem Johannes hinauf in die Kammer, wo er sass und brütete. Und die Katze hockte neben ihm am Feuer, blinzelte mit grünlichen Augen, putzte sich zierlich und schlug mit den Pfoten in die Luft nach Fliegen. So satt war sie geworden von all’ der Milch und dem guten Fressen, dass ihr Körper rund erschien wie ein Ball. Er selbst war ganz eingefallen. Seine Backen zeigten tiefe Löcher wie die eines Todtkranken. Er starrte aus hohlen Augen und rieb die mageren Finger hin und her, eine Hand über der andern. So erschien vor ihm die Jungfrau in all’ ihrer Scham und Lieblichkeit. Aber er sah sie gar nicht, fuhr fort zu starren und die Finger gegeneinander zu reiben. Sprach sie zu ihm: „Lieber Herr! Was fehlt Euch? Alle Eure Freunde sind in Sorge. Eure Eltern weinen. Vielen ist es ein grosses Kümmerniss, Euch also schwerkrank und schweigsam zu wissen.“ Darauf sah er sie wirklich an, aber immer noch ohne sie zu sehen, gleichsam als schaute er durch sie hindurch, da, wo sie war, blieb nichts. „Bist Du eine Katze?“ sagte er zu ihr. „Gehst Du des Nachts auf Raub aus, wenn es dämmrig ist? Hast Du Junge, die Du säugst mit Deinem Blute?“ Solche Rede erschreckte sie. Sie konnte nicht anders glauben, als dass es der Wahnsinn sei, der aus ihm redete. So kamen ihr die Thränen in die Augen. Sie sprach mit thränenvoller Stimme: „Lieber Herr! Wollt doch zu Euch kommen und Euch bedenken. Ich bin die Jungfrau Ottilia, die Ihr wohl kennt. Ich bin hierhergekommen, weil mich die Sorge um Euch trieb und ich Sehnsucht zu Euch getragen lange unter meinem Herzen.“ Denn jetzt in seiner schweren Krankheit dachte sie, dass es wohl Zeit sein müsste, ihr Geheimniss preiszugeben. Sie wollte ihn aufrütteln. Sie fühlte, dass es für sein Leben wichtig war, wenn er sprach. Er aber sprach: „Sehnsucht ist nichts. Auch Nachtwachen ist nicht viel, Fasten und Hungerleiden. Ich sehne, sehne mich ...“ So kam sie noch näher an ihn heran, nahm ihn in ihre Arme. Denn ob sie gleich ein Kind war und noch sehr jung, fühlte sie doch in ihrer grossen, reifen Liebe, dass sie ihn retten musste, aus diesem ein Ende gefunden würde um jeden Preis. Und nahm seine Hand. Aber seine Hand war kalt wie Eis. Sie küsste seine Lippen. Diese Lippen waren trocken und ohne Athem, fast wie die eines Sterbenden. „Sehnt Ihr Euch nach Liebe,“ sprach die Jungfrau, „so will ich sie Euch geben, warm und geduldig, wie ein Weib zu geben vermag. Folgt mir nach draussen, Lieber! Seht, die Sonne scheint und die Vögel singen freundlich dem wärmenden Licht.“ Damit zog sie den Vorhang vom Fenster, dass die Sonne warm hereinschien. Denn die Fenster waren verschlossen und verhangen gewesen die ganze Zeit, und schwere, eiskalte Luft wie die des Grabes im Zimmer. Er fuhr mit der Hand über die Stirn: „Liebe – Liebe ...“ sagte er. „Das ist Liebe einer Stunde, Wärme des Lenztags. Ich möchte die Sonne selbst sehen. – Ich habe Sehnsucht nach dem Tode.“ „Der Tod kommt,“ sprach sie freundlich und ohne Zürnen, obgleich ihr Herz aufschwoll, ihr weh war zum Sterben. „Aber erst ist das Leben. Seht, lieber Herr! Alle Knösplein strecken ihre zarten Blätter. Alle leben und athmen.“ Sie nahm ihn noch fester in ihre Arme und legte seinen Kopf auf ihr Herz, dass er ihr Herz athmen fühlte, die Wärme ihres Busens ihn umfing. „Du lebst jetzt,“ sagte er langsam. „Aber Du wirst todt sein. Würmer werden in Dir wachsen, Du stinkst ...“ Er schleuderte seine Hände fort, als ob er Würmer von ihnen abschlenkerte. Seine Nüstern zogen sich zusammen im Ekel. Dieses junge Kind in ihrer Einfalt und grossen Liebe schrak nicht zurück: „Ich werde auch mit Euch sterben,“ sagte sie, „aber später. Es ist noch lange hin. Dann giebt es ein ewiges Leben. Wir werden vereint sein. Alles Fragen, alle Sehnsucht hört auf im Himmel.“ Diese einfachen Worte machten einen schrecklichen Eindruck auf den Kranken. Er sprang plötzlich auf, fasste ihre beiden Hände in den Gelenken, drückte sie zusammen wie in eisernen Ringen und schrie: „Das ist nicht wahr. Es giebt keinen Himmel, es giebt keinen Gott und keinen Teufel. Es giebt nur Aas und Maden. Diese Maden sind wir. Ekelhafte, stinkende Maden!“ Er fing an sich die Kleider vom Leibe zu reissen, roh zu lachen, hässliche, unfläthige Worte auszustossen, derselbe, so fein, so anmuthig und wohlgebildet früher. Aber die Schwere der Geheimnisse war zu viel gewesen. Im Rathen über ihnen hatte er seinen Verstand verloren. Er war jetzt nicht viel mehr als ein Thier. Er raste und fletschte die Zähne. Dieser Jungfrau, als sie Solches mit ansah, war es zuviel für ihr zärtliches und noch so kindliches Herz. Sie fühlte wie einen grossen Sprung durch sie hindurch, der durch ihre Gedanken ging, ihr Besinnen und Wollen. Sie fiel ohnmächtig hin. Dann stürzte er sich auf sie. Er riss sie an den Haaren. Er zerriss ihre Kleider, zerfleischte ihr Gesicht mit den Nägeln, trat und beleidigte sie. „Ihr – Ihr seid der Fluch der Welt,“ stiess er hervor. „Ihr habt uns zu Grunde gerichtet. Das Weib! Das Weib! Warum habt Ihr den Apfel gegessen und nur zur Hälfte? Warum macht Ihr das Leben neu und es ist kein Leben? Ihr! Ihr! Der Schmutz seid Ihr, der Schlamm! Wir sind Götter. Wir sind reine Geister. Die Engel des Lichts sind wir. Ihr habt uns in Koth verkehrt. Ich habe die andre Hälfte wiedergefunden, die, die Ihr selbst verzehrt habt. Ich bin Eines Geschlechts. Ich bin androgyn. Ich bin Gott! Gott! Gott!“ ... Die Katze mit gesträubten Haaren, auf dem Kaminsims hockend, sah zu. Ihre Augen funkelten bösartig. Sie hatte beide Vorderkrallen vorgebogen. Als er die Halbgestorbne zurückstiess, sprang sie ihr an die Kehle und biss sie todt. Die Andern fanden diesen jungen Mann, der das todte Kind über seinen Knieen hielt. Er hatte ihr die Haare wohlgeordnet und Frühlingsblüthen hineingestreut. Ihr weisses Kleid war über sie gebreitet wie ein Leintuch. Aus der rothen Halswunde troff das Blut. Die Katze hatte es an ihren Pfoten. Und leckte sie putzend. „So viel Schönheit,“ sagte er, „so viel Unschuld und Güte. Das ist nun Alles dahin – dahin.“ Und weinte über die junge, süsse Maid, nahm ihre Hände, küsste sie. Und küsste ihre weissen, kleinen Füsschen in den seidnen Schuhen, die sie angezogen, ihn zu ehren. Denn sie dachte in ihrem kindlichem Herzen: Vielleicht, dass dieses mein Brauttag wird, der ihr Todestag geworden, des schrecklichsten Todes. Dann seufzte er sehr tief, sagte: „So vergehen die Blumen. O süsse Blume! Blume der Unschuld, der Güte und des Verzeihens! Sie hätte liebliche, kleine Kinder gehabt. Ihre Enkel hätten sie gesegnet. Keinem hast Du je Unrecht gethan. Kein unreiner und unfreundlicher Gedanke hat Dich bestürzt. Kein Anblick der Hässlichkeit Deinen Sonnenweg gekreuzt. Weint nicht um sie, denn ihr ist wohl. Warum weint Ihr?“ Er begriff es nicht, dass sie weinten, versank in tiefes Brüten. Da Etliche die Katze todtgeschlagen hatten, nahm er den Balg auf, streichelte ihr zerrüttetes Fell und bettete sie neben die Jungfrau. Die Hand der Jungfrau lag auf dem runden Kopf des Thieres. Beide waren weiss, Eine wie die Andre, von zierlichen Gliedern, weich anzusehen und zärtlich in ihrer Geberde. Dies that er. Niemand konnte ihn hindern. Denn es war etwas Besondres in seinem Wesen, weit weg, als ob er erhaben wäre über alles Lob oder Anschuldigung der Welt. Und that, was er wollte. Denn es war Niemand, der ihm zuwider sein konnte, oder erklären mochte, warum er so that. Etliche forderten, dass er vor Gericht gestellt würde um des Todes willen der Jungfrau. Ihre Eltern waren reiche Leute, wohlangesehen bei Hofe. Andre sagten, er sei nicht richtig in seinem Gemüth, das viele Lernen habe ihn verwirrt. Diese hatten wohl recht. Da nun aber auch Etliche der Jungfrau nachsagten, dass sie mit Recht zu Schaden gekommen sei, weil sie zu einem Manne gegangen um die einsame Stunde, wurden sie bestraft. Denn wie man den Staub auf ihr Grab warf, darin sie begraben war mit der Katze, blühten daraus Lilien auf. Also dass das ganze Grab ein Liliengarten war. Die Lilien wuchsen ohne Unterschied über der Jungfrau und über der Katze. Und war grosses Wunder vor allem Volk. Er schwieg zu Allem. Da er vom Kirchhof zurückkam, legte er sein Kleid nicht ab und zog seine Schuhe nicht aus. Aber er setzte sich an’s Fenster und sah in die Nacht. So sass er viele Tage. Alle, die ihn mit Thränen beschworen, seine Eltern, die klagten, die Freunde, die ihn lieb hatten, die Richter, die ihn ausfragten, das Volk, das gegen ihn lärmte, sah er gar nicht. Er nahm nicht Speise und Trank, sah in die Nacht gen Osten gerichtet und wartete auf den Morgen. Zu diesem, da er noch in diesem Zustand war, kam der Fürst, weil er sein Freund gewesen und der Vertraute seiner Jugend, der ihm guten Rath gegeben in allen Dingen. Sein Wort stand fest wie ein Fels. Und es war eine Regel der Gerechtigkeit, gerecht zu sein wie Johannes. Der Fürst, da er ihn so bleich sah mit grossen, unirdischen, blauen Augen, erschrak er wie alle die Andern, sprach zu ihm: „Warum sitzt Du und schaust in die Nacht? Denn es ist Nacht draussen.“ Er sprach: „Es ist wohl Nacht jetzt. Aber der Morgen kommt. Ich warte auf die Sonne.“ Und wandte seine Augen wieder gen Osten, sass und wartete. Dann veränderte sich sein Benehmen. Er wurde eilfertig, thätig, voller Freude, scheerte sich und legte ordentliche Kleidung an. Seinen Dienern gab er gute Vermahnung, dankte ihnen für Alles, was sie ihm gethan hatten. Als seine alten Eltern kamen, tröstete er sie mit freundlichen und sonderlichen Worten: „Seid froh, liebe Eltern, denn es ist bald Zeit für uns Alle, vereint zu sein. Ich habe Eure weissen Haare lieb, Eure Thränen sind mir Lindigkeit,“ küsste ihre Hände. Einen jungen Bruder der Jungfrau, fast ein Knabe noch, den er oft geliebkost, befahl er ihnen als Sohn, segnete diesen und liess ihn nicht von seiner Seite. Es war aber schon die siebente Nacht. Danach als die Sonne aufging, that er einen lauten Schrei: „Die Sonne! Die Sonne!“ ... fiel hin und war todt. Dies verbreitete grossen Schrecken über Alle, die es mit angesehen hatten. Der Fürst blieb sehr bedrückt in seinem Gemüth, wurde nicht froh, griff Dieses auf und Jenes, liess es wieder fallen in der wandernden Unruhe seiner Gedanken. Es war aber sehr schwül im Gemach, unleidlich, vom sengenden Brand der Sommersonne. Seit Wochen prallte die Sonne. Man konnte keine Frische finden, weder auf der Terrasse, noch in den Gärten. Die ganze Luft schien mit Feuer gesättigt und verschlang sich schwer wie stagnirendes Wasser, das Uebelkeit hervorruft, eine Umwendung im Magen. Jeden Abend sah man am Horizont Feuerspiele, vom Licht, das niemals ganz unterging, weil es in den Ausströmungen der Erde selbst war, der lagernden Hitze, die nie ein Regen erfrischte. Man sprach von einem Brand der Welt. Hass und Aufruhr schlugen sehr hohe Wogen. Die sengende Hitze blies in’s Hirn der Menge wahnwitzige Gedanken von Tod und Orgie. Sie sprachen: „Lasst uns sterben und saufen.“ Auf seinem purpurnen Lager ruhte der König. Aber er wälzte sich rastlos, die Kissen aufwerfend und niederdrückend. Seine Finger stachen in weichen Atlas. Seine Augenhöhlen schienen verbrannt von der Hitze, der Schlaflosigkeit langer Nächte, die seine Lider mit Braun gemalt hätte, dass die Pupillen wie Kohlenfunken glühten in einem Haufen von Asche. Von den aufgesprungnen, gedörrten Lippen hauchte Glutathem. Das innere Zittern schlug und schüttelte ihn wie eine ferne, aufreizende Musik. Er hatte Fieber und der kühlende Trank des Arztes gab keine Labe. Durch die weiten Hallen des Palastes trieb das ruhelose Fieber den jungen Fürsten. Alle Wände waren mit wundervollen Fresken und Gobelins verziert, Grossthaten seines Hauses, Schlachten, Krönungen, Staatsakte. Auf feurigen, sich bäumenden Schlachtrossen stiegen junge Helden, lockenumwallte, im flatternden Helmbusch. Das ausgestreckte Schwert deutete nach vorne. Der Brustpanzer gleisste. Unter den Hufen wand sich formlos, ein Gequältes, Bezwungnes, der Drache, der Lindwurm der Unordnung, der Feind. Andre waren ernsthafter. Sie standen gerade, hierarchisch, die Mäntel flossen in weiten priesterlichen Falten. Eine Hand hielt den Apfel, das Sinnbild der Gewalt, die andre den Stab. Ueber der Stirn gleisste mystisch der Goldreif. Das waren die Sagenhaften, die grossen Gründer, die Könige, Hirten, Väter der Geschlechter. Sie hüteten und herrschten. – Es gab ganz geharnischte unter ihnen, schwarz in schwarzen Rüstungen, wo das Gesicht klein, vogelartig schien unter dem Eisen der Sturmhaube. Ihre Nasen bogen sich wie Raubthierschnäbel. In der schweifenden Linie des Bartes wohnte die Grausamkeit. Sie hielten das Schwert in eiserner Faust. Der Fuss im Stahlschuh trat auf graslose Wüste. Einige beteten. Ganz junge Knaben waren, denen die schweren Gewänder zu schwer erschienen, zu weit der gezackte Goldreif über zarten, bläulich geäderten Stirnen. Sie verblühten in kaum erschlossner Knospe. Melancholische schauten mit Schatten des Wahnsinns in erschrocknen Augen. Heuchlerische mit tückischem Fuchsunterbau des Gesichts. Das Scapulier hing an ihrer Hüfte. – Die Carreaus der Gemälde zeigten kleine Pläne der Städte, Festungsbauten in Miniatur. Fröhliche Könige trugen zierliche, gestickte Hoftracht. Der Falke auf der Faust zeigte den Jäger, das lächelnde Auge den Freund der Damen. Und Kolosse folgten: Wandelnde Fleischmassen, doppelte und dreifache Kinne, bartlose, saftige Lippen der Wollüstlinge, kleine, feuchte, in Fett vergrabne Augen, das Ganze mit Gold, Purpurstickerei überladen, unter enormen Perrücken, die sie grotesk und übermenschlich machten. – Alles das wurde blasser. Ein Gedanke war hineingekommen, eine gewisse Traurigkeit, Schrecken bei Einigen, Resignation der Andern, unter der gegebenen Maske, derselben Decoration von Gold, Kronen, Löwen, Hermelinfalten, – der Mensch, etwas Einzelnes, Abgelöstes, Persönliches. _Der_ war gestorben in der Verachtung der Menschen, nachdem er sie gegeisselt und gegängelt hatte. Dieser hatte die Verbannung gekannt, das Unglück, den Verrath, die Demüthigung. Jener Junggestorbne wollte und konnte nicht. Sein Nachfolger hatte gewogen und klug gerechnet. Unter der gesuchten Bonhomie, dem fast gemüthlichen Lächeln, lauerte der Tigerzug. – Sie hatten gewusst und durften nicht sagen. Einige hatten sagen gewollt. Aber sie waren todt. Sie waren traurig und unglücklich. – Ueber die ging man schnell hinweg, wie über Kranke, deren Krankheit gefährlich ist und anstecken könnte. Er war der Letzte. Er war ein Ende ihrer Rasse. Sie betrachteten ihn Alle: Die herrischen Augen, die ruhigen, satten, die anklagenden, flackernden ... Zehn Jahrhunderte! Er war da. Alle diese Jahrhunderte waren in seinem Blut, ein Stück von ihm. Es war sein Leben, was er schon vorher gelebt hatte. Es erschien ihm furchtbar auf einmal – ein so langes Leben! – eine Kette, eine erstickende Last, drückende Schwere ... Eine goldne Sonne war im Plafond des Saals gemalt. Sie schickte ihre Strahlen nach allen Seiten. Kreisrund war diese Sonne, ohne Schatten, und ihre Strahlen standen gerade wie geschliffne Schwerter. Goldne Leisten liefen am Gesims entlang. In unnatürlicher, üppiger Fülle drängten sich Beeren, Früchte, Blumen, die Ecken hielten Adler, Greifen und Wappenschilder mit anspringenden Löwen. An den Fenstern fielen senkrechte Purpurdraperieen. Sie fielen in runden, tiefen Falten einer Tuba. Dunkler, lichtlos erschien der Sammet in den Wölbungen, tiefroth glühend in den Schatten zwischen den Falten. Wie Priestermäntel fielen sie, rothe Güsse von Blut, gleichmässig ausgegossen in immerwährendem strömenden Fliessen. Alles Gold, zurückgeworfen im Glanz von hundert Spiegeln, ertränkte sich im Purpur, ohne ihn zu erwärmen, der alles Licht verschlang, dunkler wurde, satt, brutal, sich triumphirend breitete, ein Vampyr, der Oger der Farben. Und er sah eine Jungfrau, wunderbarer denn sterbliche Weiber, und über die Grösse der Frauen. Ganz von Gold erschien diese Jungfrau, leuchtender wie die leuchtende Sonne. Das Gold schmiegte sich um ihre Schenkel in schmalen gehämmerten Ringen von seltner Feinheit. Es umschloss ihre Arme wie in einem Handschuh. Die Spitzen der Finger waren von dunklerem Golde wie in Goldstaub gepudert. Es schuppte sich über ihrem Leib in gleissender Schuppenbräune. Aber ihre Brüste waren aus reinem, geschmiedetem Gold, aufrechtstehend mit geschliffnen Spitzen wie Schwerter. Sie trug einen goldnen Helm auf dem Haupte. Der war geformt mit überragender Spitze wie ein Helm der Pallas, aufrechtgestellter Fittich eines Adlers. Er stieg sehr tief in die Stirn. Die Stirn war gebunden mit einer purpurnen Binde. Purpurstreifen fielen nieder von ihrer Schulter und hingen nieder zu ihren Beinen wie Lazzis, Striemen geschnittnen Leders, die benäht waren mit Edelsteinen in Streifen und Kreisen. Bei jeder Bewegung funkelten und blitzten die Steine, dass man nicht hinsehen konnte, die Augen geblendet bluteten vom sprühenden Glanz der Steine. Sie trug in ihrer Hand zwei stählerne Schwerter. Schellen waren an ihren Gelenken befestigt, die klirrten und klangen. Der Arm reckte sich frei aus den Purpurstreifen der Schulter. Wenn sie ihn bewegte, klatschten und fielen die purpurnen Streifen wie Peitschenbänder. Die Schwerter kreuzten sich in der Luft über ihrem Haupte und beschrieben Kreise, und fielen herunter. Die Haare dieser Jungfrau waren schwarz mit stählernem Glanz wie des Rabenfittichs, roth vom aufsteigenden Gleisch der Flammen. Ihre Augen waren grün wie Smaragden im Ring schwarzer Diamanten, die purpurne Lichter schossen, dass ihr Glanz unerträglich war für den, der hineinsehen wollte, der Blick gebannt sass in ihnen, hängen blieb wie die Motte in der Flamme. Aber ihr Mund war Blut. Die Röthe ihrer Lippen war röther denn die vom Blute, als ob sie Blut getrunken hätten, unersättlich gierig, frisches Blut jeden Tages. Ihre Zähne waren Raubthierzähne, spitz mit geschliffnen Spitzen. Zähne, die bissen in Fleisch, das blutete. Dieses Blut tranken ihre tödtlichen Lippen. Und er wusste, dass diese Jungfrau „die Macht“ hiess, Helena von Troja, Judith und Herodias, Cleopatra, die Aegypterin. Sie war von königlichem Geschlecht, eine einzige Jungfrau in der Welt und gab mehr Wollust denn Jede. Und es hatte sie nie ein Mann besessen. Alle, die sie freiten, waren gestorben. Sie hatte ihr Blut getrunken. Und es war ihr Blut und ihre Kraft, die sie so schön machte, unwiderstehlich und herrlich vor den Sinnen der Männer. Und sie tanzte vor ihm. Sie tanzte. Sehr langsam wandte sie sich und ihre Schulter kehrte an ihren Platz zurück. Sie hob den Arm. Und der andre Arm stieg rund auf, die Brust aus den Hüften reckte sich in langsamer, schwellender Anstrengung. Einen Moment blieb sie weit vorgeschoben, keuchend, wie eine gezüngelte, gefährliche Schlange, während die Beine angenagelt warteten, zitternd, gezwungen. Im Kopf, zurückgebogen, schlugen die Lider. Der Hals strebte weiss, liliensehnsüchtig unter dem blutigen, dürstenden Bogen der Lippen ... Eine Woge schien die harte Linie der Schultern zu verwirren. Das Kinn sank zur Seite mit einem Seufzer. Kriegerische, wilde Musik schien sie zu wecken. Sie richtete sich auf ganz erzitternd. Man sah das Erzittern vom Fuss bis zur Helmspitze laufen, wie eines Uhrwerks, dessen Feder man berührt hat, das sich in Gang setzt. Die Hüften krümmten sich abgezeichnet zum Sprunge. Ganz vorgeneigt, das Kinn in der Luft, beide Hände flach ausgespreizt, dass die ganze Last des Körpers auf der Zehe ruhte, horchte sie. – Sie bückte sich noch tiefer. Die Spitzen der Brüste schienen den Schooss zu berühren. Sie kroch. Sie schnellte sich. Sie stiess einen rauhen Schrei aus. Die Finger griffen krallend in die Leere. Hart über dem Boden wie im Anzug einer Armbrust, bohrte der Ellbogen, ein Tremolo, das nicht nachliess, rascher und rascher wurde. – Sie war wach geworden. Ihre Zunge gegen ihren Gaumen gab einen Lockton. Sie warf sich nach rechts. Sie schnellte ihre Schultern nach links hinüber. Der Hals im scharfen, zuckenden Rücken gab das Tempo an. Ein Fuss stahl sich tastend vor. Der andre folgte in schürfender Schleife. Ihre Kniee tanzten. Sie gaukelte in den Hüften. Die Erde liess sie. Sie flog auf, ihr gellendes Tambourin schüttelnd. Das war die Bewegung. Die Erde belebt durch den Willen, unsterbliche Kunst des Ausdrucks. Es giebt keine Schwere. Kein Gesetz der Unwandelbarkeit hemmt. Der Körper spricht. Die Formen singen, das Fleisch hat Seele. – Sie tanzte. Sie marschirte in einem tönenden, triumphirenden Marsche. Ihre Sohlen stampften den Boden wie Schlachtrosse, schwere Kolonnen Gepanzerter. Der Leib zwischen den stelzenden Säulen der Beine schien getragen wie eine kostbare Last, ein Altartisch köstlicher Güter, der avancirte, langsam, feierlich, mit der Feierlichkeit und Langsamkeit einer Procession. Ihre Arme blieben steif wie die Arme einer Statue, einer ehernen Jungfrau, die zermalmt, was sie an ihren Busen drückt. Sie näherte sich wie ein Traumbild, ein schrecklicher Alpdruck der Fiebernacht, die schwarze Venus der Aegypter, der Leben gegeben ist. ... Wie man Elephanten zur Schlacht ruft, in kurzen Stössen, antworteten die Schellen und Schwerter. Sie tanzte. Sie stiess kurze, wilde Schreie aus wie Möwengekreische über dem Sturmmeer. Ihre Arme schlugen die Luft aufgescheucht. Ihre Füsse suchten mit gekrümmten Spitzen im sich steigernden Zittern, der Furcht, des Wunsches, der Raserei. Sie drehte sich. Ihre Haare peitschten den Boden wie ein aufgespanntes, schwarzes Pfauenrad. Die unteren Glieder schienen sich zu verschieben mit den Gelenken der oberen im verzweifelten Wunsche der Vermählung. Losgelöst zwischen den Hüften, eine Blüthe im Sturmwind, schwankte und bog sich die Taille. Sie zerbrach sich, knickte. Mit irrem Klopfen huschten die Finger in der Leere. Kleine Wehmuthsrufe schrillten die Schellen, Klagegezwitscher flatternder, fremder Vögelchen. Diese Drehung wurde schneller, schwindelnd schnell. Schnell, wie von Rädern, Maschinen, Stählernem. Man unterschied die Töne der Schellen und Castagnetten nicht mehr. Es war ein Wirbel, ein zügelloser Tanz, Sichineinanderverschlingen der Töne. Die Arme waren die Flügel einer Windmühle, die sich schwangen im Drehen. Roth und goldne Streifen. Sie peitschten, flogen. Die Felder wurden Kreise. Vom Boden, Kreisel gleich, immer an derselben Stelle, wirbelten die Fussspitzen. Sie war ein Kreisel im Ganzen, mit der weiten Fläche nach oben, ein Rad, eine Blume, eine Libelle aufgespiesst an einer Nadel, eine rothgoldne Rose, über der das Gesicht schwebte, unbeweglich, zurückgebogen mit lächelnden Lippen unter dem goldnen Helme. Sie drehte sich, drehte. Sie war die Sonne. Rothgoldne Sonne. Die Lazzi waren Strahlen. Strahlen waren ihre Arme und Beine. Die Brüste waren die Scheibe, die stille stand, mit metallnen, weissglühenden Spitzen. Sie stachen wie brennende Eisennadeln. Ein Athem von Blut und Hitze schlug über ihn hin. Immer wieder Hitze und Blut, roth und gold, nur noch eine Farbe bildend, die der Wollust, der Frau, der Bewegung. – Der Lustwille des Feuers, der die Erde dreht, in den Adern kocht wie Gluthsud. Das war keine Frau mehr, die Frau nicht. Das war die Schlange, spiegelnd in allen Farben des Universums, die glorreiche, erste Schlange, sie, die herrlicher war denn alle Thiere. Sie richtete sich zischend auf mit ihrem ganz weissen Leibe, der goldnen Krone und der blutrothen, dürstenden Zunge: Und wirst wie Gott sein ... Wie Gott. Wie Gott. ... Er hielt sich nicht mehr: „Sei mein!“ schrie er auf. „Sei mein!“ Diesen Abend unterzeichnete der König das Todesurtheil des grossen Demagogen. Er wurde im Gefängniss hingerichtet in der Frühe, ehe die Sonne aufging, ohne dass Unruhen darum entstanden in der Stadt. Diesem in seiner letzten Nacht, da er auf den Tod müde war und das Sterben nahe fühlte, wurde eine wunderbare Tröstung zu Theil. Er sah plötzlich an sein Lager treten eine Frau, eine vornehme Dame, in der Tracht einer Reiterin. Sie reichte ihm einen Krug mit Wasser von ihrer Schulter und sprach: „Trinke, mein Bruder. Einmal habe ich Dich im Leibe gesehen und ich wusste, dass Du mein Bruder warst. Jetzt weiss ich es besser und Niemand soll uns mehr trennen.“ Er erkannte, dass es dieselbe Dame war, die ihn damals angesehen hatte im Wagen, da er noch irre ging und mit Mordgedanken rang, auch diejenige, die zu dem Fremden gesprochen hatte am Brunnen. – Es befand sich aber, dass diese edle Frau und Gräfin gestorben war in derselbigen Nacht, also eine mysteriöse Geschwisterschaft gewesen zwischen ihnen, die Vielen unbegreiflich dünkte zwischen einem niedrigen Mann, der damals so niedrig gewesen, und einer hochgebornen Dame. Mit dieser Neuigkeit von seinem Tode kamen Etliche und sagten sie dem Fremden. Er sprach: „Er war ein Starker, stark vor allen Menschen, den selbst die Könige hörten. Er ist nun dahin und nichts bleibt von ihm übrig.“ Sie sprachen: „Hat er denn nicht recht gethan mit dem, was er forderte, da er von den Königen und Mächtigen forderte?“ Er sprach: „Die Könige und Mächtigen sind nicht die, die geben können. Von innen muss es kommen, was die Welt neu gebiert. Wenn die Bettler die Letzten sind, werden die Könige die Ersten sein. – Es ist aber auch möglich, dass es von einem König käme.“ ... Sie wollten, dass er dies noch näher erklärte. Aber er sagte nichts und ging weit fort in eine einsame Gegend. DAS ACHTZEHNTE KAPITEL. Ueber dem Schlachtfeld war die Sonne untergegangen, eine rothe, müde Sonne des Spätherbstes, die zerfliesst in einem Blutmeer. Man sah nur noch Streifen von ihr wie lange Wundenstriche, rothe, zerflatternde im Grauen. Sie wurden dunkler. Die Finsterniss schien in sie einzudringen, vage Grüne, Violette. Alles starb in einem brandigen Nebel. Zweimal über den Acker waren die Heere dahingestampft. Erst die Flüchtenden, Fussvolk und Reiterei durcheinander in wilder Panik. Oft gingen die Letzten über die Ersten. Dazwischen schob man Geschütze, Munitionswaggons. Wo die Pferde nicht genügten, halfen Männer mit. Andre hatte man im Stich lassen müssen. Sie lagen in unnatürlichen Positionen, mit aufgereckten Hälsen, zerbrochnen Rädern, unschädlich gemachte Eisenungethüme, Sättel, Flinten, Uniformstücke, Leichen. Zuerst hatten die Pferde versucht, sie nicht zu treten. Aber man spornte sie an. Es galt das Leben. Die zu schwach oder verwundet waren, blieben zurück. Eine Zeitlang hatten sie sich fortgeschleppt. Oder Andre zogen sie mit. Dann hatte man sie verlassen. Sie schrieen. Manche versuchten noch zu kriechen, sich weiter fortzubewegen, anzukrampfen. Sie gaben es bald auf. Die gingen hin. Dann war nur noch ein einziges, zielloses Trappeln von Zweibeinen, Vierbeinigen, Rädern, die liefen, liefen ... Man ertheilte noch Commandos. Berittne Offiziere sprengten ab und zu. In einigen Abtheilungen herrschte eine gewisse Ordnung. Sie hielten sich von den andern getrennt und marschirten rhythmisch. – Man sah sehr hohe Offiziere mit den Abzeichen ihres Ranges, einen alten General auf seinem weissen Pferde. Sein Gesicht war vollständig schwarz vom Pulver und Staub. Er opferte sich auf. Er war überall. Man hörte seine Stimme wie die eines Hirten. Einige junge Rekruten acclamirten ihn. Man wusste, dass dieser ein Held war. Er konnte nichts mehr ändern, die Eile des Rückzugs nahm zu. Sie fühlten den Athem des verfolgenden Feindes im Nacken. Einige hatten Alles weggeworfen und liefen laut schreiend. Sie wussten nicht, wohin sie liefen. Nur eine Angst beherrschte sie, sich zu verlieren, zurückzubleiben, einzeln zu sein, getrennt von der Horde, die rannte, galoppirte. Sie hatten sich wie Männer geschlagen, Tage und Wochen lang, an diesem Tage. Das war Alles, was blieb, ein Gruselgefühl, die Empfindung der Ohnmacht des Einzelnen in dem des Ganzen, des Geschlagnen, Besiegten. Sie liefen, liefen für ihr Leben. Diesen nach brauste der Sieger. Da waren die Pferde zuvorderst. Sie griffen mächtig aus in weiten, jagenden Sprüngen. Ihre Reiter feuerten sie an, wie man Jagdhunde anfeuert, eine Meute auf der Fährte. Diese sassen aufrecht im Sattel, zurückgeworfen. In ihnen lebte nur noch die Lust zu fangen, zu stechen, abzuthun, Feuer des Kampfes und der Stolz des Sieges. Ein ganz junger Kürassier fiel auf, ein Knabe noch, bartlos. Er sah aus wie ein rächender Engel mit schrecklichen, offenen Augen, den Mund dürstend emporgehoben. Das Fussvolk folgte langsam. Diese installirten sich auf dem Schlachtfeld. Sie bezogen Vierecke und Gassen. Man pflanzte die Geschütze auf in einer Art Park. Feuer zum Kochen wurden angezündet. Alle diese Menschen rieselten von Schweiss, waren zu Tod ermüdet. Sie schliefen, eh’ sie noch daran dachten, zu essen. Mit geöffnetem Munde, in der Stellung, die sie gerade innehatten. Zwischen Ueberresten des Tages, Leichen und Pferdeäsern. Die Barmherzigkeit begann ihr Werk. Man sah sie mit Laternen herumgehen, irrenden Glühwürmchen vergleichbar, weissgekleidete Gehülfen, rothe Kreuze auf den Aermeln, dunkle Gestalten der Aerzte. In der Eile wurden Tische aufgeschlagen, Verbandzeug entrollt, in dem Schwestern hantirten. Ein Zelt war hergerichtet. Da schnitten, sägten, verbanden die Aerzte die ganze Nacht. Wenn Einige vor Erschöpfung umsanken, traten Andre ein. Aber der Aelteste wurde nie müde. Bis über die Ellenbogen im Blut, mit triefender Schürze, ein kurzes Wort hier und da, that er seine Arbeit. Auf dem Schlachtfeld selbst, einem kleinen Hügel gegenüber, hatte der siegende Feldherr sein Hauptquartier aufgeschlagen. Auch da ging es lautlos zu. Adjutanten glitten wie Schatten. Man sah es ihnen an, sie kamen sich ausserordentlich wichtig vor. Jetzt gingen die Depeschen in ihre Hauptstadt. Sie würden die Helden des Tages sein. Man sprach von ihnen. Mancher schwebte sich schon wieder im glänzenden Salon vor, männlich ernst in hochgeschlossner Uniform, die zärtliche Huldigung der Schönheit entgegennehmend. Man würde sagen, dass der Feind tapfer war, der Krieg ein grosses Unglück sei. – Je näher sie dem General kamen, seiner Person und seinem Rang, desto ernsthafter und wichtiger wurden sie. Sie befahlen gleichgültige Dinge, eine Tasse Thee oder kalte Zunge, mit der Miene von Diplomaten, die über Sein und Nichtsein von Staaten entscheiden. Niemand war heiter oder betrank sich. Das war für die Troupiers draussen, die gewöhnliche Mittelsorte, das Kanonenfutter. Der General liebte dergleichen nicht. Man entsann sich nie, ihn lachen gesehen zu haben. Die Soldaten liebten ihn. Er war einfach und gerecht. Das ist ein sichrer Weg zum Herzen des gemeinen Mannes; er erkennt die Comödianten sofort, sogenannte Liebenswürdigkeit ist ihm als Laune verdächtig. – Niemals sah man diesen Feldherrn Vorlieben haben. Er liebte seine Soldaten. Er that seine Pflicht. Der General war allein. Er hatte seine Berichte abgefasst, schlicht, ohne Zusätze und Phrasen, wie es seine Art war. Die Schlacht war gewonnen, die Verfolgung im Gange. Die Kreisbewegung, durch die er den Feind in die Mitte nahm, ihn dann von allen Seiten zugleich zermalmte, hatte sich als vollkommner Erfolg bewiesen. Er war ein Greis von beinah achtzig Jahren. Aber ein sehr starker Greis. Man sah es seinem Gesicht an, dass er das Klima aller Zonen getragen hatte. Sein Ruhm stand ehern wie ein Felsen. Unerschütterlich wie sein Ruhm war seine Gerechtigkeit. Dieser Mann verzieh nicht. Er strafte auch nie ungerecht, weil er die Macht dazu hatte. Seine Siege waren wie die eines Richtschwerts, das aufgehoben ist und fällt. Er besass keinerlei Eitelkeit, keine Leidenschaften und Schwächen. Sein junger, einziger Sohn war gefallen in diesem selben Krieg, gegen den General, den er heute vernichtet hatte. Dies erbitterte ihn nicht. Es machte ihn auch nicht weicher. – Er war ein grosser Mann. In dem engen Zelt war es heiss. Ein fader Geruch war in der Luft, von Pulver, zu vielen Menschen, stehendem Blut. Selbst in dieser Nachtkühle machte er sich bemerkbar. Der Adjutant schlief im Vorzimmer auf einem Stuhle. Es war ein junger Edelmann aus einer sehr vornehmen Familie, äusserst correct immer mit blendend weisser Wäsche und gefeilten Nägeln. Wenn er den General gesehen hätte, wie er aufspringen, eilig sich neben ihn rangiren würde: Excellenz befehlen dies – geruhen das –! Jetzt im Schlaf sah er dumm aus wie ein Hammel. Er träumte nicht einmal. Er dachte an gar nichts. Er schritt über mehrere Schläfer. Die Wachen präsentirten. Es waren Soldaten von seinem Leibregiment, seinem eignen Heimathsregiment. Dieses Regiment hatte eine lange, glorreiche Geschichte. Er dachte daran, dass sie heut’ sehr schwere Verluste gehabt hatten. Es that ihm weh. Er verabscheute den Gedanken. Alle hatten verloren. Tausende waren geblieben, Freund und Feind. Da bivouakirten auch andre, frische Regimenter, die erst eben auf dem Schlachtfeld angekommen waren, noch nicht mit am Triumphe theilgenommen hatten. Diese waren prächtig. Das Metall der sauber zusammengestellten Waffen blinkte. Sie schliefen in ihren Uniformen bis an den Hals zugeknöpft, noch im Schlafe stramm und gerade. Alles ausgewählte junge Leute. Man hatte sie noch immer gut genährt. Die Landsleute hatten ihnen zugetrunken auf dem Marsche. Sie fürchteten sich nicht und schliefen mit einem leichtsinnigen Soldatenliedchen auf den Lippen. Für ein andres Mal reservirte man diese. Er ging über das Feld. Der Boden war hartgestampft, wie um niemals wieder weich zu werden. Man konnte nicht sagen, was vorher darauf gewachsen war, Gras, Gärten oder Weizen. Er war Stein jetzt, zerhämmert, geschmiedet von Millionen Füssen und Hufen. Im Ring die Berge behielten ihre alte Form von Wellen, Rücken. Ihre Abhänge waren mit Leichen gedüngt. Jeder Einzelne war für sich getrennt mit ungeheuerster Anstrengung genommen worden. Den ganzen Tag hatten ihre Flanken Feuer gespieen. Es brachte sie nicht aus dem Gleichgewicht. Sie waren Ewige, Steinerne. Er sah einen prachtvollen Menschen zu seinen Füssen lang ausgestreckt. Der war mausetodt, in’s Herz geschossen. Ein ganz junger Mensch, wie ein Achilles. Er bewunderte das Viereck der Schultern, dieses herrlichen Brustkastens. Das Gesicht war ganz unentstellt. Er lag da wie auf dem Paradebett, ein gefällter Eichstamm. Vierzig Jahre und fünfzig hätte er noch leben können. Und er, der General, war achtzig, ein kleiner, müder, gebrechlicher Greis. Der Krieg blieb eine schreckliche Sache. Von der einen Seite aus den Gebüschen kam Wimmern. Schwerverwundete hatten sich da hingeschleppt, die Sanitätscolonnen hatten sie noch nicht entdeckt. Es klang wie Hundegewinsel. Manchmal stockte sein Fuss wie in Leim. Er zog ihn mit einer Art Ekel zurück. Grässlich waren die Pferdecadaver. Sie hatten nicht die Würde, die der Mensch unwillkürlich im Tode bewahrt, oder sein Menschenthum ihm gewährt. Und etwas Schrecklicheres. Als ob sie fragen wollten: Warum? Das stupide, blödsinnige Warum? der Unbewussten. Gigantisch waren sie mit hängenden Bäuchen, unter denen Pfühle standen, in der Ungeschicklichkeit der leblosen vier Beine, gebrochnen, vorgequollnen, fischigen Augen, – während die Menschen sehr klein erschienen, holzpuppenhaft. Wo Granaten crepirt waren, lagen abgerissne Stücke, groteske Nacktheiten – beinah lächerlich. Wie hässlich der Tod war! Freund und Feind lagerten durcheinander. Es war gar kein Unterschied mehr. Die meisten zeigten diesen selben Ausdruck dummen Schreckens. Man konnte fast sagen betrübter Kinder, die man mitten im Spiel unterbrochen hatte. – Er wunderte sich fast, so wenig edle und heroische Gesichter zu sehen. Dieser junge Mann war beinah der Einzige gewesen, der der Vorstellung entsprach, die man wohl in Heldengedichten hat oder auf Denkmälern, wenn über dem gefallnen Krieger der Genius die Fahne schwingt. Dann sagte er sich: „Wie könnte es auch anders sein? Was sind diese Leute? Wo kommen sie her? Was wissen sie von den grossen Ideen des Vaterlands, der Herrschaft, der Volksehre, für die sie sich schlagen? Es ist sonderbar, dass sie sich überhaupt schlagen, Heerdenzug, Schafsintelligenz. Was sind sie? Was ist ihr Werth?“ An dem Hügel war der Kampf am heissesten gewesen. Da lagen Leichen dicht wie abgemähte Schwaden. Immer dieselben Uniformen. Nach ihrer Lage und Fallrichtung konnte man deutlich die Stellung des Feindes erkennen. Der ganze Kampf war da aufgezeichnet in menschlichen Ueberresten. – Etwas Dunkles verschwand im Schatten. Abgehackte Finger, nackte Todte verriethen unmenschliche Hantirung. Mit einer Geste des Ekels wandte er sich ab. Leichenraben! Schakale – das rief ihm einen Spion zurück, den er den Tag zuvor hatte erschiessen lassen. Seine Frau hatte für ihn gefleht und gebettelt, eine elende, zerrissne Schlumpe. Sie hatte ein Kind an der Brust, einer hängenden, welken, ekelhaften Brust. Die Andern hingen in ihren Röcken. Natürlich war die Gerechtigkeit vollzogen worden. Ein Schuft! – er hatte eine Frau – kleine Kinder ... Ein Windzug hatte sich erhoben und kam über das Schlachtfeld, ein trauervoller, trauriger Wind der Feuchtigkeit mit tappenden Flügeln. Er brachte ein Röcheln mit. Gar nicht boshaft oder zornig. Ganz sanft. Aber es setzte nicht aus. Es erhob sich wieder in weiten Entfernungen. Und starb im Winde. Vielleicht war es mehr ein Geist der Klage, als die Klage selbst. Vielleicht war es die Hallucination des Orts. Dieser Ort war traurig. Vielleicht litten sie gar nicht. Es war nur das Räderwerk der Maschine, das auslief. – Eine Fratze grinste ihn an, schauerlich, idiot, mit heraushängender Zunge und glotzenden Augen. Der auch war für’s Vaterland gestorben. Welches zusammengewürfelte Material, diese Haufen der Todten! – Ernsthafte Familienväter mit Vollbärten. Sie hatten zur Waffe gegriffen, weil man sie angriff. Ihre Beschäftigung war, den Acker zu bauen, Städte aufzurichten. Ruinirte junge Lebeleute. Verbrechervolk, Jugend aus allerlei Ländern, die mit lachendem Mund in Abenteuer rennt. Jetzt war Alles dasselbe. Alles hatte aufgehört, die Sorge, der Leichtsinn, die Liebschaft. Was ist das Leben? Was ist alle Mühe, die man aufgewendet hat, es zu schützen? Diese ewige Erneuerung, zu der alle lebenden Wesen sich gezogen fühlen? Er rief sich die grossen Momente seiner Existenz zurück. Die Befreiung, der schreckliche Zug durch Schneegebirge, die athemlose Erregung, als ein Volk mit Thränen und Gebeten ihm folgte wie die verwittwete Mutter ihrem Erstgebornen ... Wie sie ihm entgegenstürzten, vom Hunger ausgemergelt ... Männer weinten wie kleine Kinder. Sie küssten ihm die Hände. Er war Gott, der Retter! Sein Einzug – das ganze Land schwoll ihm entgegen wie eine zitternde, erwartungsvolle Geliebte. Er sah es zu seinen Füssen. Sie küssten ihm die Füsse, die Steigbügel. Alle Ehren und allen Ruhm hatte er gekostet. Er war alt geworden und traurig. Er blieb plötzlich stehen. Das Röcheln war ganz deutlich geworden. Es klang wie das Weinen einer Kinderstimme. Dann in einer andern Sprache, doch sehr vernehmlich, hörte er: „Mama ... Mama ...“ Der General zitterte. Es war ein ganz junger Bauernknabe von den Feinden, erbärmlich jung, viel zu jung. Ein spitzes, blasses Gesicht, zwei Augen, überirdisch. Der Schuss musste im Unterleib sitzen. Er litt. Er streckte die Arme aus. Er rief nach seiner Mutter. Da – da war die ganze Tragödie des Krieges, die ewige Feindschaft, die Mutter, die immer wieder gebiert, nährt, hofft. Und man nimmt ihr immer wieder, tödtet, vernichtet. „Mama ... Mama ...“ schluchzte der kleine Bauernjunge. Er war vielleicht ein Held. Er wusste es nicht mehr. Vielleicht wäre er ein Mann geworden, hätte getödtet, geherrscht, vernichtet seinerseits. Er fror. Er hatte Schmerzen. Er fürchtete sich. „Mama ...“ rief er. „Mama ...“ Und er dachte an eine andre Mutter, diese eine tragische Mutter, schwarz in schwarzen Schleiern. Die eigne jähe Wunde fing an zu bluten. Sie hatte nicht geweint. Sie hatte ihn nicht gebeten zu bleiben. „Gott segne Dich!“ sagte sie und hatte ihn geküsst. Und über ihr wieder stand eine noch grössere, tragischere Mutter. Eine Königin – sein Land, sein ganzes Land in Trauer. Es schickte seine Söhne, ohne zu klagen, bleich und erhaben. Er gab und die Andre gab ... Opfergabe, hinter der die Mütter standen, die vielfach Gestorbnen, die zehnmal Gekreuzigten – Sie, die wahren Leidenden, die wahre Grösse, Lebensträgerinnen ... Und ein andres erstaunliches Phänomen machte ihn betroffen. An einem Dornstrauch, der Blut trug, weil ihn die Flüchtenden gestreift, halb zerstampft, niedergetreten, ein elender Stummel nur, ein einziges noch lebendiges Hölzchen, – blühte eine weisse Blume. Sie musste sich erst eben erschlossen haben. Sie duftete – sie blühte ... Er sah die Mutter der Mütter. Er sah die Natur treibend und unverletzt, trotz Brand, Tod und Blutregen, den Acker, der seine Frucht trägt, den Baum, in dem die Säfte steigen, das Thier, das seine Jungen säugt ... Wüstes Gelärme unterbrach ihn. Da hinten im Bivouak feierte man den Sieg. Sie zechten und brachten Toaste aus; die triumphirten. – Jetzt musste die Kunde auch in der Heimat sein. Man liess die Glocken läuten und steckte die Fahnen heraus. Leute auf der Strasse umarmten sich mit der Siegesbotschaft. Ein wirres Freudengelärm schien sein Ohr zu erreichen, ein Beifall, der von weit kam, seinen Namen rief über die Meere. Das war der Sieg. Und Andres stieg auf, undeutlicher: Flüche, Thränen, Racheschwüre ... Sie auch wussten jetzt. Sie beteten. Derselbe Gott war über ihnen Beiden, unerbittlich, gleichgültig. Er sprach nicht und hörte nicht. Der Gott der Weltgeschichte, der Eherne der Nationen, dem Babylon und Rom gesunken war. Alexander und Napoleon waren gross geworden und fielen. Vae victis! und Ave Caesar! – Es war Alles dasselbe ... Die Landschaft war flacher hier. Eine Kühle wurde deutlich fühlbar. Er schritt eiliger vorwärts. Eine Bewegung des Bodens schien ihn mit fortzuziehen, ein mächtiges Einathmen und Ausstossen wieder. Alles ging und kam. Aber das Gehen schien noch kräftiger wie das Kommen. Im Werden verging Alles. Ein Tödtliches, Beständiges, Festes war in der Bewegung. Alles starb. Er war am Strand. Der Sand machte diesen Erdstreifen heller. Dahinter lag es grau, unruhig, sich anwälzend und weichend. Salzathem stieg. Das Meer fluthete und ebbte, endlos, schwarz unter dem schwarzen Himmel ohne Sterne. Und er sah etwas Andres. – Ein Schatten? Ein Seufzer? ... Es war schon vorüber. Die Hallucination des Elends, ein Geist des blutigen Schlachtfelds, das da hinten dünstend lag: ein blasser Mann trug ein Kreuz. Das Kreuz war riesengross, aus rohem Holz geschnitten. Der eine Arm des Querbalkens ragte gegen den Himmel. Das Ende schleppte lang nach auf den schwarzen Wellen. „Und er wandelte auf dem Meer.“ ... In diesem Augenblick, ganz deutlich wie in Metall geritzt, krähte ein Hahn. Es war Nacht. DAS NEUNZEHNTE KAPITEL. Der Amtsgerichtsrath war durchaus nicht der Meinung seines jüngeren Collegen. „Ein Narr,“ sagte er, „und nicht schlimmer wie Andre, die lose rumlaufen. Lassen Sie ihn laufen, Salvatius!“ Der Andre machte Vorstellungen. Er war ein hagrer, dünner Herr und neigte zu einer pessimistischen Weltauffassung, während der Gerichtsrath in seiner rosigen, behäbigen Fülle auch Alles rosig sah. Die Specialität dieses Ersteren waren Majestätsbeleidigungen. Er sah diese überall. Er roch sie, witterte, zog sie hervor aus den gröbsten Verwicklungen. Irgendwie wurden alle Verbrechen das bei ihm. Sie waren es ja auch insofern, als die Majestät für ihn die Autorität Gottes auf Erden vertrat. – Er war schlimmer wie ein römischer Statthalter. „I bewahre!“ sagte der Amtsgerichtsrath. „Wo wollen Sie das nun wieder rausschinden? Schliesslich, wenn wir das Vaterunser beten, ist das auch eine Majestätsbeleidigung. – Dreck sind wir Alle.“ Der Dünne blinzte, unangenehm berührt. Der Assessor drehte die Daumen. Er lernte noch. Dann war er von Berlin hierher versetzt, konnte nur jeden Sonnabend nach Hause. Er lebte von Sonnabend zu Sonnabend. Auch hatte er die Absicht, Carriere zu machen. Deshalb achtete er abwechselnd auf seine beiden Vorgesetzten. Der Dicke gefiel ihm um seines heiteren Cynismus willen. Aber der Eifer des Andern imponirte ihm. So wurde man was. Der gelbe Herr behauptete, dass Unruhen kämen, die Leute liefen zusammen; „na, und wenn die Lausewenzel des Sonntags ein bischen weniger söffen?“ – Ueberdies hatte der Pfarrer Gentz eine Denunciation eingereicht. „Nur weil er ihm in’s Handwerk pfuscht, seine Kunden stiehlt. Die Pfaffen! – Das hackte sich am liebsten gegenseitig die Augen aus. Dadran sehen Sie’s schon. Predigte er den leibhaftigen Satan, ginge es noch. Dann hätten sie Wasser auf ihre Mühlen. Dasselbe sagen wie die Herren Pastoren! Die verbrennten uns Christus heute noch.“ Der Assessor lachte. Die Ausfälle gegen die Clerisei amüsirten ihn. Er konnte auch die Pfaffen nicht leiden. Trotzdem – ein leichter Anflug von Semitismus haftete ihm an – deswegen war er kirchlich. „Sie beleidigen einen hochachtbaren Stand,“ sagte der Gelbe bitter. „Die Geistlichkeit hat eine Pflicht im Staate. Sie sind gleichsam – die Gewissenspolizei.“ „Ich verlasse mich lieber auf unsern Pommeränicke. Sehen Sie, zum Ketzerrichter bin ich nun mal verdorben. Aber wenn Einer lange Finger macht, gar zu übermüthig wird, dann giebt’s was drauf. Das hält die Gesellschaft zusammen.“ „Es giebt sehr Vieles, was vielleicht schlimmer ist.“ „Das überlasse ich feineren Nasen. Es wäre doch ungemüthlich schliesslich, allein als Krone übrig zu bleiben und am Ende entdeckte man in sich selbst unerlaubte Magenbeschwerden. Eine gewisse mittlere Dickhäutigkeit macht allein das Leben auf diesem mangelhaften Planeten für sich und Andre erträglich. So’n Rhinoceros ist das philosophische Vieh. Alle Stoiker bleiben Waisenknaben dagegen.“ Der Dicke ging seinen Amtsgeschäften nach, ohne sich dadurch den Appetit verderben zu lassen. Selbstmörder, die er zu recognosciren hatte, theilte er in Krammetsvögel und Rohrdommeln ein, Erhängte oder Ertränkte. Eigentlich war er beliebt. Er vertrat eine praktische Nothwendigkeit. Die armen Teufel liessen die Köpfe hängen und ergaben sich in ihre Strafe. Er begrüsste die Rückfälligen auch stets wieder mit derselben Jovialität. Unter der Hand war er wohlthätig. Manches arme Weib hatte sich seine Mark fünfzig oder drei Mark Conventionalstrafe für Holzsammeln, Beerensuchen von ihm zugesteckt gesehen. Eine gewisse rüde Ausdrucksweise ging dabei mit in den Kauf. Er nannte das patriarchalisches Regime. Ganz anders der Gelbe. Die Angeklagten waren von vornherein seine persönlichen Feinde. Er suchte sie noch privatim möglichst zu zerknirschen. Nichts konnte ihm mehr Freude machen, als solche, die sich erhängten, Weiber, die sich in Zuckungen auf der Erde wanden. In Alimentationsklagen trat er nie ein, ohne das Frauenzimmer vorher gründlich zu verdonnern. Ueberhaupt Unsittlichkeit! Er hatte dann ein Gefühl des lieben Gottes, eines Rhadamanthus. Zum allgemeinen Besten musste man unbarmherzig sein, während der Dicke sich vorgenommen hatte, dann lieber nach der andern Seite zu sündigen, die Sittlichkeitsfrage von vornherein ironisirte. Die leichtherzige Auffassung des Collegen hatte den Andern geärgert. Er fand den Fremden im Gegentheil höchst gefährlich, staatsauflösend. Dabei blieb der Kerl heimlich, verstockt. Er liess sich nicht fangen. „Sie sind Communist?“ fragte ihn der Vorsitzende. „Sie predigen den Communismus?“ „Was mein ist, ist meines Bruders.“ „Wenn er es nicht giebt?“ „Es ist nicht an mir zu fordern.“ „Ich habe gehört, dass Sie auflösende Tendenzen gegen die Ehe predigen? Wie denken Sie darüber?“ „Nicht die Ehe ist unheilig, die Unkeuschheit macht sie so.“ „Wie ist denn aber eine Ehe möglich ohne physischen Umgang?“ „Das wäre allerdings die Radicalcur für alle unsre Gebresten,“ sagte der dicke Amtsgerichtsrath. Er fand die Idee höchst spasshaft. Man wollte wissen, ob er sich weigerte, Militärdienst zu thun? „So mich Keiner angreift, wozu brauche ich Soldaten? Wenn ich angegriffen werde, ist es mir besser, Unrecht zu dulden, als Unrecht zu thun ...“ „Das bricht den Gehorsam gegen das Gesetz.“ Er wies auf ein Cruzifix, das neben dem Richterstuhl hing, zu Eidesleistungen gebraucht wurde: „So Er Euch Gesetz ist, was braucht Ihr Gesetze?“ Sie fragten: „Was bezeichnen Sie als sein Gesetz?“ Er sprach: „Es steht geschrieben: Wer gestohlen hat, der stehle nicht wieder, sondern schaffe mit seinen Händen, auf dass er habe zu geben dem Dürftigen. Du sollst Deinem Bruder vergeben sieben mal siebenzig mal. Und was Du nicht gethan hast diesem Geringsten Einem, das hast Du mir nicht gethan.“ „Ein geschriebnes Recht muss sein um der Ordnung willen,“ warfen sie ein. „Ich sehe nur Unordnung. Ihr habt täglich zu thun mit Solchen.“ „Das sind Ausnahmen.“ „Die Andern bleiben in der Regel, weil sie den Vortheil davon haben.“ „Er ist scharf wie ein alter Fuchs,“ schmunzelte der Amtsrichter. „Ohne Zwang ist in menschlichen Dingen kein dauerhafter Zustand möglich.“ „Der Zwang trifft nur die Aeusserung. Er ändert die Gesinnung nicht. Die mächtig genug sind, verachten ihn, und diese sind die stärksten, die das Beispiel geben.“ „Da hat er, den Teufel! nicht Unrecht. Unsre Banquiers und Minister könnten davon ein Liedchen singen.“ „Glauben Sie, dass dieser Zustand ohne Gesetzlosigkeit, ohne Mord und Todtschlag je möglich sein wird?“ „Wenn Jeder sich selbst Gesetz ist.“ „Dann hat’s gute Weile.“ Der Gelbe wollte wissen, ob er Seine Majestät den König anerkennte? „Wenn Unordnung ist, ist es gut, dass Einer sei. So aber Ordnung ist, wozu ist ein Herr?“ Der Feierliche fand, dass darin doch eine Majestätsbeleidigung läge, zum Mindesten Zweideutigkeit. „Glauben Sie an Gott?“ Er glaubte natürlich nicht. Der Pfarrer hatte es haarklein bewiesen, Aussprüche zusammengestellt. Ein ganz hohler Pantheismus war vielleicht vorhanden. Der Assessor fand, ein paar Monate könnten nichts schaden. Man musste sich schneidig zeigen. Der joviale Amtsrichter war dagegen: „Er hat nicht gestohlen, thut Keinem was zu Leide. Lassen Sie ihn laufen!“ Der Assessor langweilte sich. Er fand, dass es für ihn überhaupt nicht der Mühe werth sei, sich mit einem abgerissnen Strolch länger zu beschäftigen. Man hatte genug zu thun, Beleidigungen socialistischer Redacteure aufzunehmen. Das machte einen guten Eindruck nach oben. Er sah sich gern als Präsidenten des Reichsgerichts in scharfer, schneidender Rede die Gesellschaft retten. Das war vornehm gewesen seit Jeffrey’s Zeiten. Aus diesem Grunde opinirte er auch gegen Dreyfus. Den Vorsitzenden verfolgte die fixe Idee der Majestätsbeleidigung: „Ob man die Steuer zahlen sollte?“ wollte er wissen. „Ist sie für das Allgemeine, so ist es billig, dass ein Jeder trage. Ist sie nicht, so mag der tragen, der sie braucht.“ Sie stellten ihm eine Menge Fragen, woher er käme, was sein Name und Stand sei? Auch über seine Geldverhältnisse wollten sie wissen? Wovon er sich ernährte? Auf dieses Alles antwortete er nicht. Nun fingen sie an, Erkundigungen anderweitig einzuziehen. Es gab Leute, die es beschworen, dass er ein Joseph Schäppli aus Bing in Württemberg sei, der schon in seiner Jugend geistesgestört gewesen, seinen Eltern davongelaufen und dann verschwunden war. Man that noch ein Uebriges. Da die alte Mutter Schäppli noch lebte, beschloss man ihn mit dieser zu confrontiren, sie auf Gerichtskosten herkommen zu lassen. Der Erfolg schien allen Zweiflern Recht zu geben. Es erschien vor Gericht eine uralte verhutzelte Bauersfrau, ganz benommen von der Wichtigkeit und Würde des Orts, diesen vielen Augen, die auf sie gerichtet waren. Sie versuchte abwechselnd ihren mitgebrachten Korb mit Esswaaren zu sichern, aus den Mienen der Umstehenden zu errathen, was man mit ihr vorhatte. Natürlich hatte sie ihren besten Sonntagsstaat angelegt. Man hatte das Gefühl eines alten Nacht- oder Erdthiers, plötzlich an’s Licht gebracht, das in die Sonne blinzelt, sich verkriechen möchte. Sie erkannte ihn sofort: „O mein Sohn Joseph!“ schrie sie. „Mein armer Sohn! Du böses Kind! Bist Du mir fortgelaufen und wo hast Du Dich umgetrieben so lange?“ Auf dies Alles antwortete er kühl, aber freundlich: „Du irrst, Frau! Ich bin Dein Sohn nicht.“ Nun gerieth die Alte ganz ausser sich: „Nicht mein Sohn? Was? Habe ich Dich nicht in Schmerzen geboren? So spät kamst Du, dass die Wehmutter es aufgab. Wir dachten, ich würde nicht lebendig bleiben. Dann war es ein grosses, starkes Kind, zehn Pfund schwer, dass alle Nachbarinnen über das Wunder schrieen. Hinterher kam das mit dem schwachen Kopf, wo gar nichts anzufangen war. Nicht mal zum Viehhüten taugte das. ‚Geben Sie’s nur auf, Schäpplerin,‘ sagte der Herr Pfarrer. ‚Den hat sich der Herrgott gezeichnet.‘“ Sie fing plötzlich an zu weinen und wurde zärtlich. „Bin ich nicht doch gut zu Dir gewesen? Hab’ Dich trocken gelegt jede Nacht, wenn Du schrieest? Und wie Du krank warst, hab’ ich Dir Hirsenbrei gekocht. Du assest so gern Hirsenbrei und getrocknete Pflaumen. Dafür liessest Du gerade Dein Leben. Mein Joseph! Mein Seppli! Mein eigner Herzbub! Und willst nun Deine eigne alte Mutter nicht kennen?“ Er sprach: „So nun sind die Weiber. Weil sie Dir Brot gegeben und den Leib gewaschen, bilden sie sich ein, dass sie Dir eine Seele geschaffen, einen unsterblichen Menschen aus Dir gemacht haben. O kleine Kinder im grauen Haar! Thörinnen, die Ihr Mütter seid!“ Danach, wie er sah, dass Einige diese Rede hart fanden, Andre sie richtig nannten, die Alte aber schluchzte und lamentirte, sagte er: „Dennoch ist die Mutter immer verehrungswürdig. Sie hat gelitten. Sie hat leibliche Schmerzen gelitten, wie das Kind zur Welt kam. Alle Noth und Last trägt sie mit ihm in seiner Schwachheit. Danach wird es zum Manne und lässt sie. So ist es wohl ihres und doch nicht ihrs. – Sie leidet im Fleische um einer unsterblichen Seele willen. – Viele schelten dies Geschlecht schwach. Es ist aber nicht so, da sich in ihrem Leibe sichtlich das heilige Wunder der Erlösung zeigt.“ Und war gütig zu der alten Frau, tröstete sie und hinterliess sie mit Gaben, die seine Freunde für ihn sandten. Vielen war das wieder ein Zeichen: „Er weiss sehr wohl, dass er ihr Sohn ist. Würde er sie ehren, wenn sie nicht seine Mutter ist?“ Er sprach: „Und wenn sie es wäre? Was ist eine Mutter? Hat sie mir meine Gedanken gegeben? Trägt sie Schmerzen für mich? Und fühlt sie mit meinem Fühlen? Der Antheil der Mutter ist vom Fleisch. Wir sind aber nicht Fleisch, sondern Geist. ... „Vor Augen siehet diese Art, was wahrscheinlich ist. – Das Wahre aber siehet sie nicht. Wenn sie es sähen, würde es ihre Augen verbrennen. – Aber die Blinden haben auch Augen.“ Danach schwieg er und sagte nichts mehr über diesen Fall, erklärte sich auch nicht deutlicher. Dieser Umstand der Recognoscirung durch die eigne Mutter beruhigte die Richter ganz und gar. Sie dachten nun wohl, dass er ein Narr und Kranker sei. Uebrigens bildete nicht die Familie die Grundlage und Urform jedes gesunden Staatsorganismus? Das heiligste Gut der Nation? Einer, der nicht mal die Familie anerkannte, leugnete das Bestehende durch diese Thatsache schon. – Der Gelbe war für mindestens zwei Jahre und kurzen Process. Aber die Herren amüsirten sich zu gut bei dem Fall. Es machte ihnen Spass, ihn auszuhorchen über seine Ansichten. Was er von ihrer Justiz denke? Ob er mehr für deutsches Recht sei oder für römisches? Auch fanden sie verzwickte Streitfälle, die er entscheiden sollte. Und ob er die Todesstrafe billigte oder missbilligte? Es war ein förmlicher Sport unter ihnen geworden. Der dicke Amtsgerichtsrath war der Lustigste. Er nannte ihn scherzhaft seinen Christus und sich Pontius Pilatus. – Der Assessor dachte an Berlin und die Blumensäle. Er war weit weg. Der grosse Gelehrte fand, dass dergleichen die Köpfe verwirrte. Er war sehr gegen Verwirrung der Köpfe. Er hatte alle Materien in Schubfächer und Unterschubfächer eingetheilt, und man wusste, dass sein Urtheil unbestechlich war. Ueberdies _fand_ er die Majestätsbeleidigung. Die Majestätsbeleidigung lag sonnenklar. Besonders konnte ihn eine Behauptung des Jovialen irritiren, dass der Fremde eigentlich ein „genialer Kerl“ sei, ein religiöses Genie. „Genies – Genies – die hätte man auch Alle einstecken sollen.“ „Auch Goethe?“ „Was ist Goethe? Ein Kerl, der keinen Patriotismus hatte, einen unmoralischen Lebenswandel führte.“ „Er ist aber doch Excellenz geworden.“ „Es kommt ja vor. Im Grunde ist das Alles höherer Anarchismus, selbstverfertigte Autoritäten, Parvenügewalten. Sehen Sie selbst Bismarck ...“ Der eminente Jurist war ultramontan. „Aber Pommeränicke!“ Der dicke Polizeidiener bildete das besondere Steckenpferd seines humoristisch veranlagten Vorgesetzten. In seinen Mussestunden schlachtete er Schweine, lieh Geld auf Wucherzinsen und füllte in seiner kleinen Methodistengemeinde ein kirchliches Amt aus. „Pommeränicke ist nothwendig, existenzberechtigt. Pommeränicke _ist_!“ „Die Fleisch und Fett gewordene Potenz des mittleren Gerechtigkeitsgefühls. _Es lebe_ Pommeränicke!“ „Sie sind ein Farceur.“ Der Gelbe grollte und kollerte in sich hinein. Er hasste, wenn man irgend etwas, das mit einer Staatseinrichtung zusammenhing, nicht ernsthaft nahm. Er war immer ernsthaft. Lachen war eine Frechheit eigentlich. Anarchismus, Majestätsbeleidigung. Nur pietätlose Menschen lachten. Der Assessor hatte Besuch von Berlin. Diese Damen und Herren wünschten innig ein Zuchthaus zu besichtigen. Das Sociale war Mode. Man verständigte sich mit dem Director. Auch der Amtsrichter und sein Freund waren mit. Alles interessirte ausnehmend. Die Hunderte von kleinen Zellen mit starken Eisenbarren vor den hohen Fensterluken, der Arbeitssaal, die Kirche, wo die einzelnen Sitze durch Brettwände abgetheilt waren, um eine Communication der Sträflinge miteinander zu verhindern, der gepflasterte Hofstreifen zwischen Steinwänden, in dem sie ihre Spaziergänge machen. Alles war musterhaft eingerichtet, beinah comfortabel, mit Lazareth, Apotheke, Badeanstalt. Und diese wohlthuende Stille! „Förmlich nervenberuhigend,“ meinte die Mama. Der Herr erkundigte sich, ob und unter welchen Bedingungen geprügelt werden dürfte? Er liess sich die Einrichtung erklären. Er war sehr überzeugt von der Zweckmässigkeit solcher Strafen. Der affenartige Gehorsam, mit dem die Sträflinge aufsprangen, Antwort gaben, imponirte ihm. Er war selbst Besitzer eines grossen industriellen Etablissements. „Da haben Sie’s bequemer!“ meinte er scherzend. Die jungen Damen interessirten hauptsächlich die Insassen. Besonders ganz schwere Verbrecher. Sie waren fast enttäuscht, dass ihre Unthaten nicht noch viel furchtbarer waren. Und waren Frauen da? Sie baten und flehten, wenigstens einen Ausblick auf die im Hofe Promenirenden thun zu dürfen. – Es war so amüsant, durch die kleinen Gitterfenster zu gucken, gerade als ob man wilde Thiere beobachtete. So Einer konnte doch jeden Moment ausbrechen und ihnen mit der Hand an die Gurgel fahren. Dass Alle glattgeschoren und rasirt waren, wunderte sie am meisten. „Die sehen ja fast wie katholische Priester aus,“ meinte ein Offizier. Von da kam man auf physische Eigenthümlichkeiten, Abnormitäten der Verbrecher zu sprechen. Der Assessor als moderner Mann hatte sich mit Anthropometrie befasst. Man citirte Charcot, Tarbe, Lombroso. Es stand ja beinah fest, dass alle Verbrechen Wahnsinn seien, erbliche Belastung, durch Alkoholismus hervorgerufen: „Man müsste die Leute einfach in Irrenanstalten unterbringen.“ „Oder blenden, verstümmeln,“ schlug Einer vor. Man rechnete genau aus, wieviel ein solcher Zuchthäusler dem Staat jährlich kostete. Davon konnte fast schon ein ehrlicher Arbeiter satt werden. Zudem drückte ihre Arbeit die Preise der in Freiheit Arbeitenden herab. Nun ja, das jetzige System war dumm. Der Amtsgerichtsrath erzählte von einer Hinrichtung, der er als ganz junger Mensch aus professionellen und psychologischen Gründen beigewohnt hatte. Es handelte sich um irgend einen ganz entsetzlichen Mörder, einen Zwanzigjährigen, der eine alte Frau, seine eigne Grossmutter, mit der Axt todtgeschlagen und zerstückelt hatte. Er war nach vollbrachter That ruhig noch in ein Café gegangen, um eine Parthie Billard zu spielen. Da war er auch arretirt worden. „Sie ärgerte mich,“ blieb seine stereotype Antwort auf alle Fragen nach den Beweggründen seines Verbrechens. Er blieb ganz stumpfsinnig, ass und trank und ergab sich in sein Schicksal. „Nun gut. Diesen Kerl habe ich genau beobachtet. Er hatte nur etwas Verblüfftes, wie Einer, der eben aus dem Schlaf geweckt und noch nicht vollständig wach geworden ist. Alle Reden des Pastors, der Gerichtsbeamten liess er ruhig über sich ergehen. Noch zuletzt forderte er eine Cigarette. – Alles hatte etwas Eiliges, Unvorbereitetes, Gesudeltes, obgleich es feierlich sein sollte, eindrucksvoll, wirksam. Dieser Mann starb wie ein Ochse, der geschlachtet wird. Ich hatte nur den Eindruck stupidester, verantwortungsloser Dummheit.“ Man kam auf die politischen Verbrecher zu sprechen, Verbrecher aus Mitleid, Nihilisten und Fenier. Jeder wusste curiose Facta: Dieser hatte jedes Stück Brot mit Aermeren getheilt. Ein Andrer schrieb die sentimentalsten Verse und päppelte kranke Hunde auf. Ein Dritter wieder besass eine Geliebte, die mit ihm sterben wollte, Freunde, die um ihn zu rächen ihr eignes Leben dran setzten. Manche waren Märtyrer, Helden. Spätere Jahrhunderte hatten ihnen Denksteine gesetzt. Der Contrast brachte den Gerichtsrath auf einen andern Fall. „Da haben wir nun heute eine Frau im hochschwangeren Zustand, die beim Jäten im Garten ein Gericht Bohnen gestohlen hat. Die Frau bekam für ihre Arbeit fünfundsiebzig Pfennig Tagelohn. Sie war hungrig. Das Gericht Bohnen hat einen Werth von fünfundzwanzig Pfennigen. Die eigentliche wirkliche Gemeinheit ist die Anzeige der Gartenbesitzerin, als der Arbeitgeberin, die sie seit sechs Jahren beschäftigt. Die ärztliche Wissenschaft, die Menschlichkeit sprechen sie frei. Dennoch müssen wir sie verurtheilen, weil es der Buchstabe will, weil es gedruckt steht. Wo bleibt nun da die Vernunft?“ Der Amtsgerichtsrath zuckte die behäbigen Schultern. „Schliesslich, meine Herrschaften – was ist Vernunft?“ DAS ZWANZIGSTE KAPITEL. Der berühmte Professor wusch sich die Hände. Er that das immer mit besondrer Umständlichkeit und Sorgfalt, schon um des guten Beispiels willen. Man musste ein Beispiel geben. Uebrigens hatte er berühmt schöne Hände. „Es giebt nichts, was auf das Gehirn schädlicher einwirkt, als religiöse Wahnvorstellungen,“ sagte der grosse Mann. „Schon das Bedürfniss einer Religion überhaupt. Ich will nicht mit einem hochlöblichen Consistorium in Conflict kommen oder auf den neuesten Paragraphen der Lex eingesteckt werden ...“ Der Geheimrath geruhte zuweilen dergleichen Witze, die immer auf brüllenden Applaus rechnen konnten ... „Es ist bekannt, dass Mohammed epileptisch war, an der Fallsucht litt. Christus hatte in seiner Jugend die Satzungen der Essäer angenommen, unter denen die Forderung der absoluten geschlechtlichen Enthaltsamkeit, neben strictem Vegetarismus, Fasten, Waschungen aller orientalischen Kulte, obenan stand. Nun weiss heutzutage Jedermann, dass die Unterdrückung des Paarungstriebes die Ursache zahlreicher Verbrechen, in vielen Fällen des Irrsinns ist. Chassez le naturel, il reviendra au galop. Die Natur, meine Herren! Die Wissenschaft ist die erkannte Natur.“ Der Professor hatte seine Hände fertig gewaschen und sorgfältig abgetrocknet. Er stand jetzt, die Fingerspitzen beider gegeneinander gepresst. Er wusste, dass er keinen Widerspruch zu erwarten hatte. Er war nicht an Widerspruch gewöhnt. Er verachtete ihn. „Es ist eine Schande für unser Jahrhundert, dass derartige Erscheinungen noch möglich sind,“ fuhr er streng fort, „dass der Aberglaube eine solche Macht auf die Gemüther noch ausüben kann. Allein die Ignoranz ist daran schuld, systematisches Zurücksetzen des Wissenschaftlichen, des Positiven in der Erziehung gegen Abstractionen, sogenannte Moral. Ich bitte Sie, meine Herren! Was ist Moral? Moral ist die Anforderung des Magens in Einklang gebracht mit dem, was von aussen diesen Magen befriedigen kann. Unsre Moral, gesellschaftliche Moral ist das geregelte Productions- und Consumtionsverhältniss. Moral endlich ist eine Sache des Bluts, der Hirnpartikeln, Zellenconglomerat. Die Zelle ist Alles.“ Der grosse Mann sah sich triumphirend um. Er wusste, dass er etwas Grosses gesagt hatte. „Wie es übrigens die Seele selber ist ...“ fuhr er leutseliger fort. „Was ist Seele, als das vitale Princip der Zellenschwingung auf das Abstracte angewendet? In den ersten Zeiten brauchte man Kutscher und Pferde für die Wagen. Dann machte man’s mit Dampf. Jetzt treibt die Electricität ohne äusserlich sichtbaren Fortbewegungsapparat. Ein Grieche des Alcibiades hätte an Dämonen geglaubt, ein Mönch des Mittelalters an den Teufel, ein von den Missionaren bekehrter Wilder an Gott. – Wir wissen, weil wir sehen. Wo wir nicht mehr sinnlich wahrnehmen, haben wir nur ein: Ignorabimus.“ Der Professor verbeugte sich gegen sein Publikum. Er war eilig. Eine hohe Persönlichkeit verlangte seine Autorität in schwierigen Nervenleiden. „Grosse Ueberreizung,“ decretirte der Professor. Ruhe, frische Luft, blutbildende Nahrung, Pepton: Hygieia. Das hatte er selbst erfunden und sich patentiren lassen. Der Professor verstand auch das. Er war ein wirklich grosser Mann. Dabei machte er sich niemals durch Propaganda missliebig. In seinem Wahlkreis wählte er conservativ. „Für die Crapule ist das gut und schön. Halbbildung bleibt das Allergefährlichste. Das fehlte uns gerade noch, dass jeder Apothekerlehrling auf eigne Hand Experimente anstellte. Die Laien sind eben Laien.“ Es war eine Lieblingsredensart von ihm, dass in der modernen Gesellschaft die Autorität des Arztes die des Priesters ersetzt habe. Die Wissenschaft war eine Macht, die Macht. Eigentlich verachtete er alle Andern, die vielleicht momentan viel Lärm machten, sich wichtiger dünkten. Sie hatten das nicht nöthig. „Alles das sind Blasen, flüchtige Gährungserscheinungen an der Oberfläche, die die Grundbedingungen ganz unangetastet lassen. Es ist das eben wie der Unterschied, ob ich mit meinen Augen sehe oder durch ein sehr scharfes, vollkommenes Instrument. – Der grösste Geist, ein König, ein Eroberer ist doch schließlich nur ein Laie, ein Decadent, ein Entarteter vielleicht. Er betrifft uns eigentlich darum gar nicht, ändert aber auch gar nichts an der Marche du jeu, den einmal gewonnenen und festgelegten Resultaten. _Wir_ passen ihn ein, nicht er uns.“ Er machte einen abschneidenden Eindruck, wenn er dergleichen sagte, inmitten seiner Arbeitssäle und Laboratorien, mit ihren kahlen, weissgestrichnen Wänden, wo Instrumente und Präparate standen. Alle diese Instrumente waren tadellos gehalten und blinkten in der Sonne. Man sah alle Stoffe in ihre primitivsten Elemente zerlegt. Diese geistvollen Einrichtungen und Neuerfindungen arbeiteten mit erstaunlicher Präcision und Genauigkeit. Der Mann passte in dieses Milieu. Zusammen hatten sie eine gewisse Grösse. Sein Colleg war immer gedrängt voll. Es gab eine ganze neue Generation von Jugend, die sich mit Stolz seine Schüler nannten. Er hatte sein ganzes Leben geforscht und gearbeitet. Arbeit und Forschung waren ihm das Höchste. Man warf ihm den grossen, weltumwendenden Einfluss des Christentums vor. Er hatte einen jüngeren Freund und Collegen, der sich gern mit dem Philosophischen befasste. „Das sind Epidemieen, die ganze Zeitalter erfassen, wie die Blattern, die Beulenpest. Uebrigens, was rechnen diese zwei- oder dreitausend Jahre gegen die Tausende von Jahrtausenden, die die Erdoberfläche gebraucht hat, sich zu bilden, ein einziger Diamant zu seiner Crystallisation bedurfte! Das ist Alles sehr gleichgültig.“ „Es haben sich doch Menschen dafür schlachten und verbrennen lassen.“ „Menschen haben von jeher eine grosse Vorliebe dafür gehabt, sich um hohle Töpfe die Schädel zu zerschlagen. Wie Hamlet sagt: Worte – Worte – Worte. Uebrigens dieser Hamlet ist sehr interessant. In seinen Reflexionen auf dem Kirchhof finden Sie alle Anfänge der Naturphilosophie. Sie erinnern sich des Passus von Cäsar’s Staub?“ „Trotzdem stach er sich um ein Phantom.“ „Hamlet war eben ein Künstler,“ sagte der Professor beinah mitleidig. „Shakespeare war ein grosser Dichter. Die grossen Dichter sind immer sehr miserable Naturforscher. Nehmen wir Goethe! Die Phantasie – die Phantasie!“ „Die Phantasie kann doch aber auch immer nur Vorstellungen von Existirendem weiterspinnen. Sie müssen irgendwie in der Natur mit vorhanden sein.“ „In der Natur ist noch Vieles.“ Der Professor zuckte die Achseln. „Wir wissen es nicht.“ Aber der Freund ereiferte sich. Er war jung. Er neigte zur Phantastik. – Jemand Andres war miteingetreten. Es war die junge Frau des Professors. Sie war noch sehr jung, glücklich verheirathet und sollte zum ersten Mal Mutter werden. Sie sprach wenig. Es war etwas Schleppendes, Sachtes in ihren Bewegungen. Sie trug den Nacken gesenkt wie eine zu beschwerte Aehre. Der Professor schob ihr sorgsam einen Stuhl zurecht. Sie sah nur dankbar lächelnd zu ihm auf, und blieb so sitzen, ihre Hand in seiner. „Es könnte doch aber eine Zeit kommen, dass wir wüssten,“ argumentirte der Freund. „Und wäre es nicht denkbar, dass besonders begnadete Genies, sagen wir Shakespeare, Goethe, Christus, Vieles vorgeahnt haben? Auch Geheimnisse wieder verloren gingen? Waren doch schon die Phänomene des Hypnotismus, der Autosuggestion den Alten bekannt? Dass man mit ihnen die Wunder der biblischen Geschichte erklären könnte?“ „Ich weiss es nicht. Das erscheinen mir wieder Speculationen.“ Der Andre war begeistert, einmal lancirt: „Denken Sie sich auf diesem rein empirischen Wege die Vereinigung des Uebersinnlichen mit der Wissenschaft wiederhergestellt, im Fortschritt den Aufschritt! Die Natur, die wir arm und nüchtern auffassen, tausendmal reicher, üppiger, wollüstiger. Eine beseelte Natur. Die _Seele_, die wir suchen, nach der wir verhungern, unsre Künstler, unsre grossen Energieen, unsre Jugend – da hätten wir die Seele! Im Christentum die Darwinsche Theorie, Lombroso, Krafft-Ebing, kein Gut und kein Böse, Tolstoi nicht mehr pathologisch, – unser ewiges, elendes, billiges ‚pathologisch‘!“ Er gestikulirte heftig, den Sprüngen seiner Gedanken folgend. Er war ein schöner, feuriger Mensch, fuhr sich mit der Hand durch die dichten Haarbüschel. Die junge Frau des Professors hatte aufmerksam zugehört. Sie sagte nichts, sie dachte. Ein sehr süsser, sehnsüchtiger Friede lag auf ihrem Gesicht. „Sie sind ein Dichter,“ sagte der Professor. „Enfin ... Wie wir uns drehen und wenden: ‚Ein Mensch, der speculirt‘ ... Carpe diem. Es giebt keine Weisheit als diese.“ „Zarathustra? Zarathustra! Auch blos ein pathologisches Problem jetzt – der Weisheit letzter Schluss, das Endglied der grossen Kette. – Dionysos! Die Entfesslung aller Kräfte. Flügel! Flügel! Flügel!“ „Wir müssen uns an die Erde, an das Normale halten.“ „Und das heutzutage Uebernormale, das Unternormale? Wo bringen wir das unter?“ Das offne Gesicht des Freundes glühte. Er stand da in einer Pose des Kampfes mit gereckten Fäusten. Die junge Frau sah von einem der Männer zum andern. Sie litt nicht. Aber sie war müde – von einer süssen Müdigkeit. Das beschwerte sie, aber machte sie froh. – Ihre Augen hatten sich verschleiert. Es war, als ob sie sähe, in etwas sehr Helles, Glänzendes sähe. Aber sie sprach nicht. Ein träumendes Fühlen war in ihrem Sehen. ... Der Professor machte eine abschneidende Handbewegung: „In unsern Irrenhäusern.“ ENDE. Weitab von der Stadt lag die Irrenanstalt, ein Complex langgestreckter, gelber Häuser, am Rande des Kiefernwaldes. Von der Chaussee führte eine Fahrstrasse, alleeartig mit Bäumen bestanden. Rechts und links lagen Felder. Die leichter Kranken und Unbemittelten arbeiteten dort unter der Aufsicht eines Wärters. Man sah sie Kohlstrünke ausreissen, Gräben ziehen, jäten. Manchmal lachte einer seltsam, kichernd, unmotivirt. Die Vorübergehenden auf der Chaussee blieben wohl stehen und sahen sie an. Sie stiessen sich mit den Ellenbogen. „Irre!“ Das interessirte sie. Sie fanden es auch ein bischen komisch. Jedenfalls erwarteten sie Außerordentliches. Vielleicht dass Einer sich auf seinen Wärter stürzte und ihn erdrosselte oder etwas Aehnliches. An der Chaussee lagen die Wärterhäuser. Sie sahen schmutzig grau aus mit kahlen Fenstern. Es war einsam hier und nicht behaglich. Der fegende Wind über die Ebene traf sie von allen Seiten. Alles das hatte etwas Trauriges. Noch weiter ab lag ein Oeconomiegebäude. Es war mit einer hohen rothen Backsteinmauer umgeben. Man hörte Gänsegeschnatter. Ein fauliger Gestank von Dünger verpestete die Luft, die scharf war, prickelnd, wie im Winter schon. Alle Felder lagen unter Dünger und waren kahl. Auch der Rasen am Feldrain sah verbrannt aus. Ueber der ganzen Landschaft lagerte die üble Laune des Novembers, eine Stimmung des Unbehagens und der Trostlosigkeit, die der blaugrüne Saum der Kiefernwälder nicht unterbrach. Sie zogen sich nach allen Seiten. Sie schienen das natürliche Moos dieser graubraunen Erde, stumpf, ohne Leben und Wechsel, langweilig. Das ist kein Wald. Das ist Haide. Das Mittelgebäude in der Anstalt selbst enthielt die Wohnungen des Directors, der Oberärzte. Man hatte eine Kapelle für die Irren, Gesellschaftssäle, Bibliothek- und Musiksaal. Die Räume waren mit dem neuesten Comfort, Gas, und Centralheizung ausgestattet. Die vergitterten Fenster zeigte man nur nach dem Garten zu, auf der Rückseite. Alles war beinah elegant. Man versicherte gern, dass sich die Kranken da außerordentlich wohl fühlten. Sie würden gar nicht wieder wo anders leben mögen, selbst wenn man sie liesse. Dies war Wohlthat für überreizte Nerven. Die Aerzte sagten immer: „Die Kranken.“ Der Ausdruck Verrückte oder Irrsinnige beleidigte sie fast. Noch mehr der dumme Aberglauben des Publikums. Das war eine Krankheit so gut wie jede andre, mit ganz bestimmten, anatomisch nachweisbaren Veränderungen im Gehirn, Störungen des Sensoriums und der Motilität verbunden. Mit der mönchisch-moralistischen Betrachtungsweise solcher Erscheinungen in früheren Jahrhunderten hatte man ja Gott sei Dank! aufgeräumt. Aufgeklärte Leute traten gern dagegen auf. Sie waren sogar zu Gesellschaften in der Anstalt gewesen und hatten sich sehr gut unterhalten. Oder zum Gottesdienst am Sonntag. Es gab da hinter den Mauern sehr geistreiche und gebildete Leute. Diese Legenden von Zwangsjacken, Tollwuth, rohen, prügelnden Wärtern erzählten sich Köchinnen. – Es war wirklich angenehm da zu existiren. Aufgeklärte Leute versicherten, dass sie sofort bei der ersten Störung ihres Nervensystems in eine solche Anstalt gehen würden. Es war das einzig wahre Mittel, sich zu curiren. Von Zeit zu Zeit erschoss sich ein Arzt. Er hatte an sich selbst die Fortschritte der Krankheit beobachtet und genau festgestellt: Noch so und so lange. Dann greift man zur Pistole ...... „Kranke eben.“ Es gab so viel Krankheitsursachen im modernen Leben: Lärm, Pferdebahngebimmel, electrische Bahnen, der immer härter werdende Kampf um’s Dasein, Rastlosigkeit. Die Zeit verbrauchte die Menschen. Da hinten lagen die Ungethüme, Grossstädte, die sie schickten. Hier war’s still. Gesunder Kiefernadelduft. Es gab sehr interessante Sujets unter den Internen: Einige, die am Verfolgungswahn litten; eine ältere adelige Dame glaubte, dass man sie in ihrem Standesgefühl beleidigen wollte; dann der Mann, der einen Schatz gefunden hatte; Einer, der sich einbildete, der Kaiser Napoleon zu sein; besonders scherzhaft war der sogenannte „Gott Ra“, eine Persönlichkeit, die plötzlich mitten im Gespräch abbrach, die Kiefern auf- und zuschnappte, als ob er etwas verschlänge. Alle diese waren ungefährlich, lebten beinah glücklich. Da waren welche, die die griechischen Tragödien in der Ursprache lasen, sich mit Forschungen beschäftigten. Auch die Blödsinnigen litten ja nicht. Diese Menschen wurden Thiere. Die Hauptsache für sie war Essen und Trinken. Sie hatten keine Ahnung von ihrer Degradation. – Das Publikum macht sich so falsche Vorstellungen. Es war unangenehm, dass einmal eine ältere Dame eine Häkelnadel verschluckt hatte. Natürlich war es den Wärterinnen streng verboten gewesen, Derartiges zu arbeiten, oder dass die Wärter an Kranke Schnaps verkauften. – So etwas kam überall vor. Man konnte nicht vorsichtig genug sein in der Auswahl des Materials. Das war die wichtigste Frage. Es war ein sehr friedlicher Platz. Im Sommer, wenn Alles grün ist, war es noch viel schöner, beinah heiter. Der Kiefernwald erstickt. Man hatte die Gitter sehr weit vorgeschoben, immerhin. Und man musste sich gegen die Neugier des Publikums schützen. Die Leute, die da wohnten, waren Stille. Ihre Angehörigen bezahlten für sie, erster, zweiter oder dritter Klasse, je nachdem sie vermögend waren. Erster Klasse hatte man natürlich bessres Essen und mehr Luxus. Die ganz Unbemittelten übernahm der Staat. Sie machten auch allerlei Arbeiten. Wohlwollende Besucher kauften von diesen Arbeiten. Alle waren immer entzückt von der Reinlichkeit, Vortrefflichkeit und practischen Anlage der Anstalt. Wirklich! Die da hinein kamen, waren nicht zu bedauern. Sie waren in einem Hafen förmlich. Die Bilder grosser Ärzte und Philanthropen schmückten das Wartezimmer. Es war ein Segen, dass die Wissenschaft dies übernommen hatte. Wenn man dachte, welche Zustände früher herrschten! Man konnte seine theuersten Angehörigen mit der grössten Seelenruhe dalassen. Was sollte man denn auch thun? Ab und zu dann ein Begräbniss. Ernst, ohne Prunk. Es war vorüber. Er oder sie waren „erlöst“. Eine grosse Last war von den Schultern ihrer Familie genommen. Fast konnte man sie beneiden um den Frieden. Man musste zurück. In den Kampf. In’s Laute. Sie waren nicht sehr interessant. Etwas zwischen Kindern und Thieren. Sogar ihre Leiden waren halb komisch, eingebildete Leiden. Man giebt ihnen Alles zu wie Kranken. Jedermann ist gut und wohlwollend gegen diese Unglücklichen. Bei Vielen ist die Krankheitsanlage erblich. Sie sind idiot, ganz harmlos. Man muss sie einschliessen, wenn sie gemeingefährlich werden. Jedermann kennt solche Erscheinungen in Dörfern, abgelegenen Gebirgshöfen. Man nannte sie „Gottes Narr“, Fexe, Gezeichnete. Heilbar sind solche secundären Formen der Geisteskrankheiten selten. Dann giebt es Wahnsinn, Schwermuth. Diese Leute können ganz lichte Zeiten haben. Sie kehren wohl von Zeit zu Zeit wieder in ihre Familien, ihre Umgebung zurück. Aber irgendwie tragen sie eine Kette am Fuss. Eine Schraube bleibt locker. Immer wieder wollten die Damen wissen, ob die Kranken „es fühlen“, sich ihrer mentalen Abirrung bewusst sind, unter dem Stigma leiden? Man las darüber so Schauerliches in Romanen. – Nur die Melancholischen leiden. Sie empfinden wirkliche neuralgische, acute Schmerzen. Ganz hoffnungslos sind die mit fixen Ideen Behafteten, oder solche, die religiöse Wahnvorstellungen haben. Sie hatten eine sehr feine, dreissigjährige Dame aus gutem Hause, die an erotischem Wahnsinn litt. Eine Dame, sonst sehr scheu und wohlerzogen! Man rief berühmte Beispiele zurück: Torquato Tasso, Johanna von Castilien, Ludwig von Bayern. War Hamlet wahnsinnig gewesen, oder König Lear? Aber ein Thema interessirte sie Alle. Sie hatten ein wirklich interessantes Sujet, einen Clou. Das kitzelte nicht nur die Damen. Die erste Intelligenz der Zeit, die brillanteste, genialste. Der Mann, dessen Adlerflug die Welt erst schweigend, dann mit wüthenden Verwünschungen in glühender Bewunderung verfolgt hatte. Jetzt, wo er wahnsinnig war, konnte man ihn ja ungehindert bewundern. Niemand hatte mehr eine Concurrenz zu befürchten, seinen schneidenden Hohn schlimmer als seine Verachtung. Aus dem Löwenfell des grossen Mannes hatte man sich kleine Fellchen geschnitten, die so gut standen. Was konnte man da interpretiren, insinuiren, Kapital schlagen. Aus diesem ungeheuren Brachfeld, das er mit den Schätzen einer ungehobnen Welt hinterlassen. Seine Fehler und Extravaganzen vermied man natürlich. Er war ja eben bekanntlich ... Ein Strich über die Stirne vollendete den Gedanken. O ja! Für den interessirte man sich. Gedichte, Blumen wurden für ihn gesandt. Alle Augenblicke standen in den Zeitungen gefälschte Interviews. Es bildete den beständigen Aerger der Aerzte. Sie hatten es doch so klar gesagt: Eine organische Krankheit, colossale Ueberanstrengung, verschärft durch Schlafmittel, Narcotica. – Es wurde Zeit, dass endlich einmal mit dem alten Aberglauben aufgeräumt wurde. Fromme Leute betrachteten diesen Irrsinn als eine gerechte Strafe des Himmels. In ihren Augen war er der Antichrist. Man sah Gottes Gericht recht deutlich! Der Titan, der Ihn anzugreifen gewagt, Felsblöcke gegen Ihn geschleudert und jetzt ohnmächtig und gebrochen im Stuhl sass in einer Irrenhauszelle: „Ich bin dumm. Ich bin dumm.“ Selbst die, die nicht so weit gingen, moralisirten über den Fall auf ihre Weise. „Bleib’ im Land und nähr’ Dich redlich.“ Hier sah man, wohin das Gegentheil führte: „die grosse Kunst macht Dich rasend.“ Wozu auch? Wenn man arbeitete, recht that, kam man immer noch zurecht auf dieser Welt. Der religiöse Aberglaube war zu missbilligen. Ebenso wie die rohe Ausschweifung. Das Leben fand schon immer die Mittellinie. Es ist gut auf der Mittellinie bleiben. Es war ja freilich wahr, dass jeder Esel ebenso gut wahnsinnig werden konnte. Sie blieben doch überzeugt, dass Müller es zum Beispiel nie würde, und Buchholz ebenfalls nicht. Diese würden sich auch nie das Leben nehmen oder mit der Polizei in Conflicte gerathen. Die Fachleute bemühten sich vergebens, das ganz Natürliche, rein Anatomische des Vorgangs auseinander zu setzen. Ein junger Arzt zeigte zur Exemplificirung sorgfältig präparirte Plättchen, auf denen man den Verlauf der Aederchen im Gehirn normal und anormal verfolgen konnte. Ordentlich niedlich anzusehen waren diese Präparate, etwa wie Blumenblättchen, fettig-weiss und rosig durchzeichnet. – Einige Damen grauten sich davor, – immer zurück in der Cultur, diese Frauenzimmer! Der junge Gelehrte liebte seine Plättchen. Er zitterte, ihren Schatz zu bereichern. Für ihn war auch dieser Kranke nur ein Object. Ganz Intime waren zuweilen zugelassen worden. Sie erzählten, dass der grosse Philosoph im Rollstuhl auf der Terrasse gesessen. Er sah in die sinkende Sonne. Er schien ganz „friedlich“, der kranke Adler. Man nahm ein ganz angenehmes Gefühl mit fort der allgemeinen Rührung und der eignen speciellen Empfänglichkeit für schöne Emotionen. Uebrigens hatte er’s gut. Erster Klasse sogar. Mancher hatte es nicht so. Was dachte er in den langen vierundzwanzig Stunden des Tages seit sieben Jahren? Die Aerzte versicherten, Nichts. Er lächelte. Er wartete ... Es war doch furchtbar. Der Mann des jauchzenden Lachens, der sich selbst die Stirn mit Rosen bekränzt und das schwache Mitleid verachtete. – Nun, das war immer schon Wahnsinn gewesen. Den Schluss der Besichtigung bildete immer die Kapelle. Nur ein steinernes Kreuz stand hinter dem Altar. Eine Lebensähnlichkeit, Blut und Nacktheit, hätte die Kranken gestört. Man musste vorsichtig sein. Eine Frau in schwarzen Schleiern weinte zu seinen Füssen. Sie bildete sich ein, die Pietà zu sein. Sieben Schwerter des Weltwehs gingen durch ihren Busen. Sie weinte immer – immer. Eine vornehme Frau aus reichen, guten Verhältnissen, Mutter und Gattin. – Man liess sie, weil sie ganz sanft und ungefährlich war. Ein engelschönes, blödsinniges Kind, das zwischen den Bänken hantirte, nickte und lachte geheimnissvoll. Die Geschlechter schienen hier seltsam verwoben. Man wusste nicht, ob es ein Knabe oder ein Mädchen war. Die Aerzte erklärten ihn für einen Adolescent von sechzehn Jahren. Er lief überall frei umher. Die Kapelle war sein Lieblingsaufenthalt. Er bildete sich ein, ein Chorknabe zu sein, schwang sein Räucherfass, bückte sich und nickte und küsste dann mit Inbrunst die Altarstufen. Dieser Jüngling war immer glücklich, von einer Serenität der Cherubim. Jeder verwöhnte und liebte ihn. Auch von dem neuen Patienten wurde gesprochen, diesem „Fremden“ der Zeitungen und Verhandlungen, der sich einbildete, Christus zu sein. Der Arzt erklärte, dass dies eine häufig vorkommende specielle Form des religiösen Wahnsinns sei: „Wir haben hier Chiliasten, Gott Vater, eine Jungfrau Maria, Apostel Paulus und Petrus. In Wahrheit ist dieser Mensch ein schwachsinniger Zimmermannssohn aus dem Württembergischen. – Braucht man bündigere Beweise, dass es Zeit ist, mit dem alten Priesterhocuspocus aufzuhören?“ Eine der Damen sah ihn lange an: „Er hat schöne Augen ...“ Die Besucher gingen wieder. Es fing auch schon an dämmrig zu werden. ‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐‐ Dann begab sich etwas Schreckliches, niemals Geklärtes, vor dem denen, die es später sich erzählten, die Haare sich sträubten, wo die Vernünftigsten den ewigen Blödsinn der Dinge zugeben müssen und stumpfe Hirne peitschende Schauer der Unwelt fühlen. In der Kapelle fand man den Wahnsinnigen, den Ewig-Stummen, den zum untersten Abgrund Geketteten. Man erfuhr niemals, was ihn dahingetrieben, wer den Andern herführte, welcher furchtbare Auftritt stattgefunden zwischen diesen Beiden, deren Einen Keiner kannte. Der Irre hatte den Fremden an das Kreuz gebunden. Die Stricke waren seine Kleider, die er sich abgerissen hatte. Aus zertrümmertem Holzgeräth, Bänken und Stühlen, hatte er Nägel, Eisentheile, geklaubt. Dieser ganz nackte, misshandelte Leib war buchstäblich zerstossen, zerschunden, erwürgt damit. Er stach sie ihm in die Stirne. Er schrie, er lachte. Mit einem schweren zugespitzten Holzstück sah man ihn grosse Streiche führen nach der Seite unter der Brust, von wo dickes, schwärzliches Blut troff: „Du hast die Welt zerstört! Du! Du!... „Die Schönheit hast Du getödtet, den Ruhm, die Lust! „Sie leben noch, aber Du hast sie vergiftet. Du hast ihnen das Gift in’s Herz geträufelt. Schlange Du! Erste Schlange! Verfluchte! „Mit Deinen zerrissnen Händen hast Du die Kraft unsrer Hände zerbrochen. „Deine Füsse, die angenagelt sind, haben uns festgebohrt. „Aus Deiner Seite fliesst unser Lebensblut. „Die Stricke umwürgen unsre Leiber und machen sie hässlich. „Von Deiner Stirn die Dornen sind in unsre Hirne gedrungen ... Die Dornen von Deiner Stirn! Die Dornen!“ ... Seine Stimme erstarb in wimmernder Klage. Er hatte seine Haare gepackt zu beiden Seiten des Kopfes. Ganz nackt, mit blutigen Händen, über und über mit Blut beschmiert, raufte er sie aus in vollen Fäusten. Und es war eine Aehnlichkeit, eine furchtbare, schauerliche Brüderlichkeit in diesen beiden gemarterten, verrenkten Leibern, dem todten und dem lebendigen, dem, der vollendet hatte und dem, der niemals vollenden würde, ... seinen Gliedern gekrümmt und schlaff geworden durch das Sitzen, die Schreibtischarbeit, den Händen zu fein und zu lang, die nicht mehr fassen konnten, verkrüppelten, zagen Füssen, die das Gehen verlernt. Viel zu hoch war diese Stirn, blass vom Gedanken, vorgeschoben über das ganze übrige Gesicht mit allen Organen der Sinne. Die wirren Haare bildeten eine fürchterliche, struppige Aureole. Er riss seine Brust auf, als ob er sein Herz packte, es ihm hinschleuderte in Hohn und Verzweiflung: „Teufel! Teufel!“ – – – Der Blödsinnige lachte, sein leises, triumphirendes Lachen. Er that, als ob er sein Weihrauchfass schwänge, bückte sich und küsste die Altarstufen. Die Frau in schwarzen Trauerkleidern weinte. Ein monotones, endloses, zweckloses Weinen ... Der Sohn des Menschen, vom Kreuz, todt, mitleidig, erhaben, sah herab. Der Kopf hatte sich etwas zur Seite geneigt. Die Augen unter den bleichen Lidern waren gebrochen. Aber die Lippen standen ein wenig geöffnet, als ob Ihn dürstete. Er hielt die beiden Arme nach oben ausgebreitet. Aus seiner geöffneten Seite unter der Brust floss das Blut. Das Blut floss. Es tropfte auf die grauen, breiten Steinfliesen des Fussbodens. Die Fliesen blieben grau und steinern. Eine rothe, schmerzliche Lache hatte sich auf ihnen gebildet. Der Stein färbte sich violett unter ihr. Beständig aus dem blutenden, durchbohrten Herzen fielen die Tropfen. Druck von Ramm & Seemann in Leipzig. Von demselben Verfasser ist erschienen: *Ein Narr.* Roman. Mk. 3.– *Die Jungen.* Roman. " 3.– *Misere.* Roman. " 3.– *Nixchen.* Ein Beitrag zur Psychologie der höheren " 1.50 Tochter. Fünfte Auflage. *Häusliches Glück.* Aus den Papieren eines Ehemannes. " 1.50 BEMERKUNGEN ZUR TEXTGESTALT Im Original gesperrt gesetzte Passagen sind durch Unterstrich (_) gekennzeichnet, Fettdruck durch Sternchen (*). 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