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Title: Tubutsch
Author: Ehrenstein, Albert
Language: German
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Albert Ehrenstein

Tubutsch



2. Auflage



Verlegt bei Georg Müller

München und Leipzig

1914



Copyright by Georg Müller, München-Leipzig



Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch. Ich erwähne das nur deswegen, weil
ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze . . .

Es ist nicht die Melancholie und Bitterkeit des Herbstes, nicht die
Vollendung einer größeren Arbeit, nicht die Benommenheit des aus langer,
schwerer Krankheit dumpf Erwachenden, ich verstehe überhaupt nicht, wie ich
in diesen Zustand versunken bin. Um mich, in mir herrscht die Leere, die
Öde, ich bin ausgehöhlt und weiß nicht wovon. Wer oder was dies Grauenvolle
heraufgerufen hat: der große anonyme Zauberer, der Reflex eines Spiegels,
das Fallen der Feder eines Vogels, das Lachen eines Kindes, der Tod zweier
Fliegen: danach zu forschen, ja auch nur forschen zu wollen, ist
vergeblich, töricht wie alles Fahnden nach einer Ursache auf dieser Welt.

Ich sehe nur die Wirkung und Folge. Daß meine Seele das Gleichgewicht
verloren hat, etwas in ihr geknickt, gebrochen ist, ein Versiegen der
inneren Quellen ist zu konstatieren. Den Grund davon, den Grund meines
Falles vermag ich nicht einmal zu ahnen, das Schlimmste: ich sehe nichts,
wodurch in meiner trostlosen Lage eine wenn auch noch so geringe Änderung
eintreten könnte. Weil eben die Leere in mir eine vollständige, sozusagen
planmäßige ist bei dem beklagenswerten Fehlen irgendwelcher chaotischer
Elemente. Die Tage gleiten dahin, die Wochen, die Monate. Nein, nein! nur
die Tage. Ich glaube nicht, daß es Wochen, Monate und Jahre gibt, es sind
immer wieder nur Tage, Tage, die ineinanderstürzen, die ich nicht durch
irgendein Erlebnis zu halten vermag.

                                * * *

Wenn man mich fragte, was ich gestern erlebt habe, meine Antwort wäre:
»Gestern? Gestern ist mir ein Schuhschnürl gerissen.«

Vor Jahren, riß mir ein Schuhschnürl, fiel ein Knopf ab, war ich wütend,
erfand einen eigenen Teufel, der diesem Ressort vorstand, und gab ihm sogar
einen Namen. Gorymaaz, wenn ich mich recht entsinne. Reißt mir heute
unterwegs ein Schuhschnürl, danke ich Gott. Denn nun darf ich mit einiger
Berechtigung in ein Geschäft treten, Schuhschnürln verlangen, die Frage,
was ich noch wolle, mit: »Nichts!« beantworten, an der Kasse zahlen und
mich entfernen. Oder aber: ich kaufe einem der unerbittlich: »Vier Stück
fünf Kreuzer!« schreienden Knaben seine Ware ab und werde von mehreren
Leuten als Wohltäter angestaunt. Auf jeden Fall vergehen dadurch etliche
Minuten, und das ist auch etwas!

Man sage nicht, ich sei wohl besonders geschickt darin, Langeweile zu
empfinden. Das ist nicht richtig. Ich habe von jeher die außerordentliche
Fähigkeit besessen, ich war von jeher mit dem Talent dotiert, die Zeit zu
vertreiben, unter allen denkbaren Beschäftigungen die exotischeste
ausfindig zu machen.

Beweis dessen: als ich unlängst in die Gansterergasse gehen sollte, trat
ich auskunftheischend an einen Wachmann heran, obwohl mir die Lage des
genannten Straßenzuges unbekannt war. Da nun machte ich eine wichtige
Entdeckung, die mir geeignet erscheint, mehrere Weltgesetze zu erschüttern.

Der Wachmann roch nach Rosenparfüm. Man bedenke: ein parfümierter Wachmann.
Welch eine contradictio in adjecto! Im ersten Augenblicke traute ich meiner
Nase nicht. Zweifel an der Echtheit des Sicherheitsmannes stiegen in mir
empor. Vielleicht hatte ein geriebener Verbrecher, um den Nachforschungen
zu entrinnen, ein Usurpator sich in die Uniform eines Polizisten gehüllt.
Erst die Auskunft überzeugte mich von seiner Echtheit. So delphisch war
sie. Jetzt galt es herauszubekommen, ob vielleicht alle Sicherheitsleute --
etwa infolge einer neuen Verordnung -- Wohlgerüche zu verbreiten hatten
oder ob der eine mit dieser Eigenschaft allein stand und damit sozusagen
auf eigene Verantwortung handelte. Ohne Murren unterzog ich mich der
weitläufigen Aufgabe. Eine Dissertation, oder noch besser, ein Essay: »Von
den Wachleuten und ihren Gerüchen« schwebte mir vor . . . Polizist um
Polizist ward beschnuppert, zwar kein zweiter Schandfleck seines Standes
gefunden, immerhin aber festgestellt, daß kein einziger einen englisch
gestutzten Schnurrbart besaß. Eine Beobachtung, die sich an ähnlicher
Bedeutung für die Wissenschaft nur mit einer anderen messen kann, die zu
machen mir vor kurzem nach unsäglicher Mühe gelang. Nämlich: daß kein
einziges Säugetier grün gefärbt ist.

Ob jener Polizist durch ein Dienstmädchen oder anderweitig-eigenes
Verschulden zu seinem Geruche kam, dies festzustellen, mangelte mir der
Mut. Und aus der Abhandlung »De odoribuz polyporum« wurde nichts. Ich
traute mich nicht, ihn zu fragen. Weil ein Sicherheitsmann, der nach Rosen
roch, ein so außerordentlicher Sicherheitsmann, wenn nicht den
»Raskolnikow«, so doch ganz gut »Schuld und Sühne« gelesen haben konnte.
Und wissend, welch spannenden Kitzel es manchem Verbrecher bereite, sich zu
martern und die Behörden zu eludieren, mich dann einfach als einen den
Schauplatz seines Frevels frivol umkreisenden Missetäter verhaftete. Und
mir das Geständnis, das beschämende Geständnis meiner Unschuld bevorstand.

Ähnliche Feigheit, wie dem Wachmann gegenüber, verhinderte mich auch,
andere Rätsel völlig zu lösen, die zu wittern, denen nachzugehen mir
einzige Beschäftigung und Lebensinhalt ist. Auf meinen Streifgängen kam ich
oft an einer Gemüsefrau vorbei, einem Weibe mittleren Alters von ordinärem
Aussehen und realistischer Ausdrucksweise. Sie führt hauptsächlich grüne
Erbsen. Eine Kunde, die von diesem Artikel gekostet hatte, dann aber
achselzuckend fortging, ohne zu kaufen, erhielt von ihr Titel, die denen
irgendeines orientalischen Herrschers weder an Berechtigung noch an
Mannigfaltigkeit nachstanden. Aber ein alter Spatz nascht täglich
ungestraft, nie verscheucht von den Erbsen, pickt die Schoten an und
schmaust die Körner. Und noch nie hatte ich die Courage, die
Grünzeughändlerin zu fragen, ob sie vielleicht Witwe sei. Denn der Gedanke
ist nicht von der Hand zu weisen: der Spatz ist niemand anderer als ihr
verstorbener Gatte, der sie besuchen kommt und -- o ahnungsvolles
Unterbewußtsein -- von ihr gefüttert wird!

Infolge meiner Schüchternheit werde ich niemals Klarheit darüber erringen.

Ebensowenig über das Schild eines Schusters. »Engelbert Kokoschnigg,
bürgerlicher Schuhmachermeister zu den zwei Löwen. Gegründet 1891.«
Welträtsel sind schwer zu lösen. Wochenlang zermarterte ich mir vergebens
den Kopf, warum wohl der ehrsame Handwerker dieses doch nur einem Wirt
zustehende Schild führte. Sollte durch diesen Übergriff die vermutlich mit
der Geschäftsgründung zusammenfallende Eheschließung verherrlicht werden
und einer der brüllenden Löwen die Schusterin sein? Oder war in jenem Jahre
ein Dompteur von Weltruf in Wien gewesen, in den Strudel seiner Berühmtheit
auch diese Bürgersleute reißend?

Wenn ich diesem unerträglichen Dilemma ein Ende machen, den Meister selbst
ungestraft interviewen wollte, müßte ich mir unbedingt bei ihm ein Paar
Schuhe machen lassen. Und das wäre wiederum, abgesehen von meinem immer
chronischer werdenden Mangel an gebräuchlichen Zahlungsmitteln, schwarzer
Verrat an meinem Leibschuster, dem alten Peter Kekrewischy, der mir schon
so oft mit seinen Erzählungen die Zeit vertrieben hat.

Gut, er und seine Werke sind etwas altväterisch, er grüßt noch: »Mein
Kompliment!«, und wenn ich etwas von ihm haben will, sagt er: »Ja, mein
Herzerl!« Aber er ist gütig wie der Kanarienvogel, der in seiner
Kokosnußschale uns lauscht, mit seinem Gesang unterbricht und sich dann
durch einen zuckerwärts geführten Schnabelhieb belohnt. Und die Reden des
Schusters sind auch wie ein Gesang, wie ein leiser Gesang der Resignation.
In Klausenburg ist er geboren, das Untergymnasium hat er dort absolviert,
war der beste Schüler, dann ist ihm der Vater gestorben, und der Vormund,
ein Fleischhacker, hat ihn nicht weiterstudieren lassen. In den Ferien
mußte der Knabe in der Fleischbank mithelfen, und als er dann zum
Gymnasialdirektor ging, wollte ihn der nicht aufnehmen, weil die Mitschüler
einen, der Fleisch ausgetragen hatte, ewig hänseln würden und auch die
Anstalt das Dekorum zu wahren habe . . . Der Vormund hat ihn dann zu einem
Schuster in die Lehre gegeben, weil die Fleischerburschen ein Gymnasiasterl
nicht unter sich dulden wollten und ihm selbst der Beruf viel zu ekelhaft
gewesen sei. Gar das Blutvergießen! Aber im Jahre 48, wie die Klausenburger
auch ihren Rummel haben mußten, hätte er doch tüchtig mitgetan, allerdings
bei der Musikbande.

Ein Mitschüler, der schlechtere Noten hatte als er, wurde Direktor der
Wiener Sternwarte, und ein paar Schritte von ihr entfernt, sitzt in einem
pappriechenden, finsteren Kammerl ein Mann, dessen Frau bedienen geht,
dessen einzige Tochter in Agram verheiratet ist, ein Mann, zu alt, zu
sanft, zu arm, um sich einen Gehilfen halten zu können, ein Mann, der nach
vielem Bitten froh sein muß, wenn ihm die Kunden seiner langsamen Arbeit
wegen nicht weitergehen.

Jetzt hat ihm übrigens die Frau einen kleinen Nebendienst verschafft.
Täglich sehe ich den schwachen Mann mit seinen zitternden Händen eine
Gelähmte spazieren fahren. Dafür kriegt er etwas Kleingeld und darf sich
dann am Sonntag nicht etwa ein Gläschen Wein gönnen, nein! aus der
Bibliothek der Gelähmten ein Buch aussuchen und die halbblinden Augen durch
den kleinen Druck ganz zugrunde richten, während ein anderer: Hofrat,
Baron, Komtur des Franz-Josef-Ordens etc. dafür bezahlt wird, daß er die
ewigen Sterne auf die Erde herabzieht, in einem leibhaftigen Fiaker fährt,
geradezu in Saus und Braus lebt -- aus keinem anderen Grunde, als weil er
keinen Vormund besaß, der Fleischhauer war.

Dies ist mein einziger Verkehr, ein alter Schuster und, richtig! noch ein
zugrunde gegangener Huterer an dem nichts bemerkenswert ist, außer daß er
mit dem Kaiser Max nach Mexiko geriet. Er weiß von diesem Lande sonst
nichts zu sagen, als daß es dort sehr heiß war. Nichtsdestoweniger ist er
in meinen Augen ein Mann von Bedeutung, ich habe keinen in meiner
Bekanntschaft, der weiter herumgekommen wäre als er . . . und etwas
Exotisches weht um ihn, wenn er sagt: »Ja, in Veracruz!« und ich ihn
pflichtgemäß frage, was es denn an diesem Orte gegeben habe, und er dann
seinen einzigen Witz macht: »Ja, in Veracruz, da hams keinen so guten
Sliwowitz g'habt wie hier.« . . . Ich bin gehalten, darüber zu lachen, darf
es mir mit ihm nicht verderben. Er ist Armenrat, und vielleicht setzt er es
doch endlich durch, daß ich Wiener Bürger werde. Ich könnte die kleine
Pfründe dereinst gut brauchen . . .

Einen Bekannten hatte ich noch, einen o-beinigen Doctor philosophiae, der
vor lauter Fleiß auch den Abiturientenkurs der Exportakademie absolviert
hat und unglaublich viel Sprachen kann. Er heißt Schmecker, ist bei der
Zentralbank in Kondition, strebert was Zeug hält und gönnt sich keinen
Urlaub. Ich meinte deswegen einmal zu seiner Glatze: »Ja, mein Lieber, es
hat auch seine Schattenseiten, wenn man als Bankdirektor enden will.«
Bankdirektor muß der wirklich werden, aber das »Enden« hat ihm die Freude
im vorhinein versalzen, und wenn er mich von weitem sieht, komm' ich näher,
schaut er weg.

Früher besaß ich auch einen entfernten Verwandten, den Agenten Norbert
Schigut. Einmal traf er mich unangemeldet auf der Straße und teilte mir
ohne jede Aufforderung -- offenbar wollte er allen Gerüchten zuvorkommen --
in einem triumphierenden Tone mit, seine Frau sei ihm zwar unlängst
durchgegangen, bald aber wieder reuig zu ihm zurückgekehrt. Ich sagte, das
komme oft vor. Auch ich hätte zuerst mit Stahlfedern geschrieben, sei dann
zur Füllfeder übergegangen, um enttäuscht wieder auf die Stahlfeder
zurückzugreifen, ohne deswegen die Hoffnung aufzugeben, dereinst in den
Besitz einer Schreibmaschine zu gelangen. Er erwiderte arglos, das hätte
wohl in der schlechten Qualität der Füllfeder seine Ursache gehabt und
träfe es sich direkt ausgezeichnet, daß er gerade jetzt die Vertretung
einer erstklassigen amerikanischen Füllfedermarke besitze. Ich bekam einen
unendlichen Lachkrampf, überlegte noch, ob ich mir nicht ein Bisserl von
dem Lachen einwickeln und für die Tage der Trostlosigkeit aufheben solle.
Da ging auch schon der komische Mensch fort, beleidigt, als hätte ich ihn
durch mein Gelächter in seiner -- kaufmännischen Ehre angreifen wollen.
Seitdem sind wir nicht mehr verwandt.

Allein irre ich in der großen Stadt umher. Niemand schenkt mir Beachtung.
Höchstens hie und da ein auf dem Dache eines vorbeifahrenden
Geschäftswagens ängstlich herumlaufender Pintscher, der bellt mich an. Ich
hätte oft Lust, zurückzubellen. Leider verbietet das der Anstand. Man muß
das Dekorum wahren. Und so kann ich auch zu diesem Pintscher nicht in
nähere Beziehungen treten.

                                * * *

Früher habe ich geschrieben. Aber als ich das letztemal einen Blick ins
Tintenfaß warf, lagen darin zwei Fliegen. Ertrunken.

Was da vorgefallen war, ein Doppelselbstmord aus Liebe . . . oder ein
Absturz in den Glasbergen infolge ins Rollen geratener Staubkörner . . .
das ließ sich nicht mehr eruieren. Das Wort: »Ruhm« zerbarst mir; wer weiß,
was diese Fliegen für ihr Volk gewesen waren! Ein Grauen überkam mich, es
abzuschütteln ging ich ins Freie, geriet in die Nähe der Kahlenbergbahn und
sah -- neben dem einem Bahnbediensteten gehörigen ärmlichen Hause -- auf
einem Misthaufen einen alten und einen jungen Hahn miteinander um die
Weltherrschaft kämpfen. Ganz hingenommen von diesem Ereignisse ging ich
heim, und wunderte mich am nächsten Morgen sehr, in keiner Zeitung die
kleinste Notiz über diesen Gigantenkampf um die Hegemonie auf dem
Düngerhaufen zu finden. Gar die Nachricht von dem erschütternden Ableben
der beiden Fliegen dürfte überall erst nach Schluß des Blattes eingetroffen
sein.

Die zwei Hähne hatten ihren Kampf mit dem Aufgebot aller Kräfte geführt, es
war keiner jener betrügerischen Schauringkämpfe gewesen, alles war gewiß
ehrlich zugegangen, und doch kein Wort! Vielleicht ebendeswegen . . . Sohin
hätte eigentlich für mich die Verpflichtung bestanden, alle Blätter der
Welt zu berichtigen. Aber bei dem diametralen Gegensatze der
Weltanschauungen, der mich von den Herausgebern mehr oder minder
illustrierter Publikumsblätter trennt, bei der Verschiedenheit der Dinge,
die sie und ich wichtig zu nehmen organisiert sind, war es ziemlich
fraglich, ob ich mit meiner Ansicht durchdringen würde.

Ja, wenn die abgestürzten Fliegen Besitzer eines Powidlbergwerkes gewesen
wären und Pollak von Parnaß geheißen hätten, die Hähne . . . der
österreichische Vorkämpfer, Schachmeister Papabile, und der andere der
präsumtive champion of the world . . . dann hätte man sich nicht auf die
Straße wagen können, ohne bei jedem zweiten Schritt aus dem Hinterhalte der
Trafikauflagen hervor von den Alltagsgesichtern dieser Heroen angeglotzt zu
werden.

Aber bleiben wir lieber unter uns und erledigen wir unsere Angelegenheiten
selbst. Bezüglich der Hähne konnte ich ja nichts mehr veranlassen, es wäre
auch mir, dem Autor, ferngelegen, etwa Partei zu nehmen und gewaltsam in
den Gang der Schlacht einzugreifen. Ebenso fern wie etwa den Schlummer der
zwei ins bittere Tintenfaß des Todes gefallenen Fliegen durch eine
Exhumierung und darauffolgende Feuerbestattung zu entweihen . . . . Ich
beließ sie an dem Ort, wohin sie das Schicksal geworfen.

Angesichts des eben geschilderten Unbekanntbleibens kühnster Heldentaten
wird niemanden mein gerechter Entschluß überraschen: alles, was ich in
Hinkunft noch aufzuzeichnen habe, um es sozusagen noch vergänglicher zu
machen, mit Bleistift niederzuschreiben.

Eher kann man mir Selbstsucht nachweisen in meinem pietätvollen Vorgehen
den Fliegen gegenüber. Denn was kann besser zu meiner Stimmung passen als
der für andere, robuster Geartete vielleicht gar nicht wahrnehmbare Geruch
ihrer Verwesung?

Jetzt habe ich einen Anlauf genommen und mir ein Straßenverzeichnis
gekauft. Ich hätte das schon früher tun sollen. Leute wie ich, deren
Schwerpunkt außer ihrem Selbst liegt, irgendwo im Universum . . . jedem
Eindruck hingegeben sind wie Wachs die müssen ihr Sensorium unaufhörlich
füttern, und sei es mit Geschäftsschildern, um über die gähnende Leere
hinwegzukommen.

Ich reise im Kleinen. Tirol ist ein schönes Land, aber es werden dort bald
die Baedeker auf den Bäumen wachsen, und die meisten gar reisen, indem sie
ihr Milieu mitnehmen . . . in Form ihrer Verwandten und Freunde.

Überhaupt ist es ganz gleichgültig, wohin wir reisen: wir gehen ja mit.
Können uns nicht zu Hause lassen. Diese Art zu reisen behagt mir nicht.
Wenn schon, dann aber in die Zeit.

Ich möchte einen Herrn aus dem vierzehnten Jahrhundert sprechen, ich möchte
dem Herrn Menemptar meine Aufwartung machen, dem altägyptischen Dichter,
vokalgewaltigen Lyriker, weltberühmten Verfasser des Hymnenzyklus »An das
Nilkrokodil«, bin aber leider so sehr außer aller Form, daß ich durch keine
Vision oder Halluzination den Wackern vor mich zwingen kann. Techniker! her
mit der Zeitbahn. Nein, bevor nicht ein Kondukteur, mit dem Globus an der
Uhrkette, »Cambrium! Aussteigen!« ruft, früher tu ich nicht mit.

Oh, auch dann nicht, denn kaum so etwas existiert, ist auch der Herr Pollak
dabei und läßt im Cambrium seine Butterbrotpapiere liegen. Und das hat es
wirklich nicht verdient. Ich sehe schon, es ist besser, ich gehe hier
spazieren, auf der Linzer Straße, weil das die zweitlängste Gasse von Wien
ist . . . Ich möchte auch die zweitlängste Gasse von Wien sein . . . mir
wäre dann leichter.

Was es zu sehen gibt? Nicht viel. Neben einem Laden, in dem Regenschirme
feilgehalten werden, steht ein Literaturverschleiß, Papierstreifen posaunen
den Ruhm des Buches der letzten Tage, nebenan andere das endliche
Eintreffen der neuen Heringe. Die einen mögen das eine geniale Einrichtung
der nichtorientalischen Großstadt nennen, die übrigen, Ländlichen, über
diese Unordnung verrückt werden. Ich aber weiß nicht, welches die
Regenschirme, welches die Bücher und welches die Heringe sind: vor meinen
Augen verschwimmen alle Unterschiede, sie werden mir zu minimal, als daß
ich in den scheinbar so diversen Gegenständen mehr als geringfügige
Abstufungen ein und derselben Materie zu erblicken vermochte . . .
Abstufungen, die ewig wiederkehren, während bloß die menschliche
Ausdrucksweise wechselt. Denn sage ich, ein Buch aus der Hand legend:
»Diesen Hut muß ich schon irgendwo gesehen haben«, oder bringt mich das
Verzehren eines falschen Hasenbratens auf die Idee, daß ich es hier mit
einem Modetalent zu tun habe, das solcher Anschauungsart begrifflich und
stofflich zugrundeliegende ist und bleibt ein und dasselbe, sonst wäre sie
unmöglich.

Man glaubt, ich sei paradox? Ich habe bloß von einem Betrunkenen gelernt.

Es war Abend, ich ging die Linzer Straße retour, um mir die Häuser auch in
umgekehrter Reihenfolge zu merken, da stolperte eine schwankende Gestalt
auf mich zu und fragte: »Wo san mer denn doda?« Ich antwortete, wir
befänden uns auf der derzeit zweitlängsten Gasse Wiens, auf der Linzer
Straße. »Dö gibt's ja gar net«, scholl es zurück. »Sie haben gewiß zuviel
Schopenhauer konsumiert, guter Mann?« »Da schneiden S' Eahna aber gründli,
dös war Zöbinger Riesling«, berichtigte der weinnasige Unbekannte . . . und
ich sann darüber nach, ob nicht vielleicht auch Schopenhauer, von Dionysos
hinweggerafft, auf seine berühmte Theorie gekommen sei. Ähnlich wie ihn
angeblich Lord Byron, ihm vorgezogen, zum Weiberfeind gemacht haben soll.

Die Theorie des Betrunkenen hatte etwas für sich, denn wirklich: nahm man
der Linzer Straße die Zeit weg, dann blieb nichts übrig als Materie, die
sich hie und da den Spaß erlaubte, sich aus dem Cambrium in die
zweitlängste Gasse Wiens zu verwandeln . . . »Wo san ma denn jetzt?« fragte
eine mühsame Stimme. »Auf der Linzer Straße«, ärgerte ich mich. »Scho
wieder!« war die Antwort . . . man mußte vermutlich herben Weines voll
sein, um das Gesetz von der ewigen Wiederkehr des Gleichen zu entdecken.
Weiser und Wahnsinniger, Wahnsinniger und Trunkener -- wo ist da der
Unterschied? Ist es mit der Weisheit der großen Philosophen nicht so weit
her, jener Bazillus, der Weisheit erregt, am Ende nicht sonderlich
verschieden von anderen, nicht so renommierten? Oder sind die orphischen
Urworte der Herren nur um so wahrer, weil sie sich jeden Augenblick aus dem
durch nichts gehemmten Unterbewußtsein eines vom Weine Entrückten ergießen
konnten? . . . Der große Unbekannte machte Halt und versuchte eine Laterne
am Umfallen zu verhindern . . . ich Tor ging weiter! Später allerdings
bedauerte ich es, mich nicht mit ihm in ein lehrreiches Gespräch
eingelassen zu haben, um, wenigstens! zu erfahren, wieso er auf die
Vermutung gekommen sei, die Linzer Straße existiere nicht. Damals, erfüllt
von der Freude, von jemandem eines Gespräches gewürdigt worden zu sein,
Freude über dies für meine Verhältnisse große Erlebnis, ging ich mit
schnellen Schritten heimwärts . . . vielleicht aus Furcht, von einem
Wachmann bei dem Betrunkenen ertappt und als Dieb verhaftet zu werden.

Kein Policeman erschien. Aus Vorsicht. Denn es strolchten Plattenbrüder
herum, streiften mich nicht ganz rücksichtsvoll, und da der Abend so von
Abenteuern gestrotzt, hatte ich mich sogar mit dem Gedanken eines
nächtlichen Überfalls befreundet und war bereits entschlossen, dem nächsten
Bedrohlichen zuvorzukommen und ihm aus freien Stücken meine Geldbörse und
Uhr entgegenzuhalten, mit dem Wunsche, er möge sich fürderhin ihrer
bedienen . . .

Es wäre mir nicht leicht gefallen, mich von meiner Uhr zu trennen, der
Quelle unzähliger kleiner Lustbarkeiten.

Denn wie oft habe ich in einem Park, wenn es mir zu ermüdend wurde, einen
der alten Herrn zu beobachten, welche den ball- oder diabolospielenden
Kindern zusehen . . . die Zeit zu gerinnen begann und in die Ewigkeit zu
kreisen schien, wie oft habe ich mich da einem der Knaben genähert und ihm
zugeredet: »Möchten Sie nicht die Güte haben, mich zu fragen, wieviel Uhr
es ist?« . . . Ich glaube, man kann die Höflichkeit unmöglich weiter
treiben. Die alten Herren wenigstens drückten durch Stockbewegungen ihr
Befremden aus, aber ihr Betragen kümmerte mich nicht, sie waren ja meine
Konkurrenten, was das Zeitbieten anlangt . . . und wenn mir ein mutiger
Knabe meine Bitte gewährte, was ja manchmal geschah . . . dann ließ ich den
Deckel springen und gab chronometrisch genau an, wie weit der Tag
vorgeschritten war . . . und mein Vergnügen darüber war nicht geringer als
das eines Gefirmten, der zum erstenmal als Zeitkünder funktioniert . . . Es
läßt sich daher begreifen, wie ungern ich die Uhr weitergegeben hätte,
einen für den Betrieb meines Geschäftes unumgänglich nötigen Gegenstand
. . .

Möglich, daß die Strolche justament nicht wollten; vorbeifahrende
Straßenpflüge und ihre Lenker, in deren Nähe ich mich hielt, brachten mich
in Sicherheit und überhoben mich der Ausführung meines Planes . . .

Wenn einmal ein Tag ereignisreich anfängt, nimmt er gewöhnlich einen nicht
minder lebhaften Verlauf: Kanalräumer hoben die Gitter aus und schickten
sich herkulisch an, in die Unterwelt hinabzusteigen. Bei ihrem Anblick
brach in mir eine alte Wunde auf, die unstillbare Sehnsucht ward in mir
wach, Kanalräumersgattin zu sein. Die meisten anderen Frauen ehebrechen des
Tages, sie aber können -- ohne Gefahr zu laufen, ertappt zu werden --
diesem ihrem Berufe des Nachts nachgehen. Ich empfehle dieses Thema der
Beachtung unserer Dramatiker, überlasse es ihnen großmütig. Wie ich auch
sonst die heimische Industrie zu unterstützen gesonnen bin . . . .

Nein, der Hausmeister, der mich so lang warten läßt, soll nicht mehr über
mich zu klagen haben. Als er seinerzeit auf meinem Meldezettel unter der
Rubrik Religion: »Griechisch-paradox«, unter Beschäftigung las: »Ich strebe
eine kleine Anstellung beim Chorus mysticus an«, soll er in die Worte
ausgebrochen sein: »A so a Kampl hat im Dreirösselhaus, was i und meine
Frau denken, no nie net gwohnt.« Er soll nicht zu reden haben. Ich will
mich mittels des Straßenverzeichnisses ernstlich, gewissenhaft auf die
Fiakerprüfung vorbereiten. Oder noch besser: ich gedenke unter die Erfinder
zu gehen. Was ich erfunden habe? Ich werde mir mein Tintenfaß als
Fliegenfänger patentieren lassen. Ich teilte die mit mir vorgegangene
Wandlung sofort dem Hausmeister mit. Er sah mich verschlafen und unsicher
an, nach Erhalt des Sperrsechserls wünschte er mir sogar: »Gute Nacht!«,
und holperte auf seinen Schlapfen bettwärts. Aber auf seiner Denkerstirn
stand geschrieben: »Was san Sö? Schlafens eahna erst eahnern Rausch aus!«
. . . Erfinder? Das schließt nicht aus, daß ich mich vielleicht schon
morgen in die Kleidung eines Cabkutschers oder eines Karfiolslowaken hülle,
die Bekanntschaft einer Kanalräumerin zu machen trachte, und ihre eheliche
Treue einer Probe unterziehe . . . .

Nein, das werde ich nicht tun, ich fühle nicht mehr die Kraft dazu in mir.
Der zweifelnde Blick des Hausmeisters hat meine ganze Energie
hinweggenommen! Und als ich im Schein des zusammensinkenden Wachsstengels
aus der Visitkarte, die auf der Tür meines Kabinetts mit separiertem
Eingang prangt, ersah, daß ich der Herr Karl Tubutsch war, da sagte ich
leise, niedergeschmettert, nichts als: »Scho wieder!« . . . .

                                * * *

Oft in der Nacht fahre ich auf. Was ist? Nichts, nichts! Will denn niemand
bei mir einbrechen? Alles ist vorausberechnet. Oh, ich möchte nicht der
sein, der bei mir einbricht. Abgesehen davon, daß -- meinen Stiefelknecht
Philipp und vielleicht noch ein Straßenverzeichnis ausgenommen -- bei mir
nichts zu holen ist, ich gestehe es offen und ehrlich: ich kenne den
Betreffenden zwar nicht im geringsten, aber ich habe es auf den Tod des
armen Teufels angelegt. Das Federmesser liegt gezückt, mordbereit auf dem
Nachtkastel. Philipp, der Stiefelknecht, wacht wurfgerecht darunter . . .
will denn niemand bei mir einbrechen . . . ich sehne mich nach einem
Mörder.

Wenn ich wenigstens Zahnschmerzen hätte. Ich könnte dann dreimal
»Abracadabra« sagen, auch das heilige Wort »Zip-zip« dürfte die gleiche
magische Wirkung haben . . . und wenn es mit den Schmerzen selbst dann
nicht besser würde, möchte ich keineswegs zum Zahnarzt gehen, nein, die
Schmerzen hegen und pflegen, sie nie erlöschen lassen, immer wieder
wachrufen. Es wäre doch wenigstens ein Gefühl! Aber meine Gesundheit ist
unerschütterlich.

Daß irgendein Leid seine Krallen in mich schlüge! . . . Nur die andern, die
Nachbarn haben dies wenig gewürdigte Glück. Hier im Haus wohnt ein
behäbiges Ehepaar, beide verdienen hübsch, sie ist erste Verkäuferin in
einem großen Modewarenhaus, er Oberpostkontrollor, sie haben ein einziges
Kind und lassen sich nichts abgehen. Unlängst ist ihm der Vater gestorben,
den er schon zwanzig Jahre bei sich wohnen hatte. Es war in den Ferien, die
Leute hätten also Zeit gehabt. Und diese Unmenschen beraumen das Begräbnis
für den Vormittag an, stehen in aller Früh auf, damit sie vor halb acht Uhr
mit der Elektrischen um sechs Kreuzer auf den Zentralfriedhof fahren
können!

Wenn mir wer gestorben wäre, den rechtschaffen zu betrauern ich so Ursache
hätte, ich hätte mir zumindest einen Fiaker spendiert. Aber so ist es: den
Menschen, die nicht trauern wollen, sterben die Verwandten . . . mir jedoch
. . . ich darf nichts erleben, bin sozusagen ein Mensch, der in der Luft
steht . . .

Sechs Kinder sitzen friedlich und brotessend rund herum um einen der
Pflasterung beflissenen Straßenarbeiter, drei rechts, drei links, und
staunen seinem Werke zu; ich möchte mich auch daneben hinsetzen, schon um
die darüber entstehende Verwunderung und Verlegenheit des lieben
Straßenräumers zu genießen. Unmöglich. Bei dem heutigen Stande der
ärztlichen Wissenschaft würde man mir gewiß meine wirklich bescheidenen
Freuden durch eine kleine Internierung stören . . . .

                                * * *

Ich nehme mein Diner täglich in einer Würstlerei ein. Es kommen immer so
ziemlich dieselben scharfgeschnittenen Gesichter hin, Kommis, gehetzt und
eine Zigarette im Mund, hastige Modistinnen, die nicht einmal so viel Zeit
haben, ein Sacktuch fallen zu lassen, wenn es nötig ist . . . arme alte
Leute, Reisende oder Fremde, von denen irgendein Körperteil etwas im
Krankenhaus zu tun hat . . . es kennen mich fast alle Besucher schon
. . . bis auf den buckligen Hausierer, der hie und da durchgeht und
Zündhölzelschachteln, Bleistifte, Manschettenknöpfe, Briefpapier und
Hosenspanner an den Tischen herumbietet. Wie gesagt, die Menschen kennen
mich, aber würde es auch nur einem Mitglied dieser egoistischen
Gesellschaft einfallen, mich zu fragen, warum ich in roten Glacéhandschuhen
esse? Und ich esse doch bloß deshalb in Handschuhen, damit man mich nach
dem Grund dieser Handlungsweise fragt und ich dann antworten kann: »Ich
pflege mir in der Zerstreutheit die Nägel zu beißen und damit das nicht
geschieht, und sie ruhig wachsen und der Vollendung entgegenreifen können,
trage ich Handschuh!«

Ich habe mir die Glacéhandschuh vergebens gekauft. Sie halten mich entweder
für zu verrückt oder für zu fein, als daß sie es wagen würden, mich
anzusprechen . . . Niemand forscht mich aus, nicht einmal Thekla, die
bleiche, schwarzlockige Kellnerin, die mich täglich fragt, ob ich Gurken,
Senf oder Krenn zu den Würsteln haben wolle . . . . Thekla, der ich immer
drei Kreuzer hinschiebe, nicht einmal sie erleichtert mein Gemüt durch eine
so naheliegende Frage, obgleich sie doch gewissermaßen dazu verpflichtet
wäre.

                                * * *

Ich fürchte, das wird noch einmal traurig mit mir enden. Ich gleite in
immer zweideutigere Sphären hinab. Gewiß: Leute, die mit moral insanity
begnadet sind, Verbrecher, von dem großen Kannibalen Napoleon angefangen
bis zu dem unösterreichisch aggressiven kleinen Kind, das eine serbische
Zwetschge stiehlt und, von dem Söhnchen des Greislers verfolgt, zuerst
»Mutter!« ruft, dann aber, jedenfalls die Beute zu sichern, sie in den Mund
steckt: sie alle sind von der Natur mit Recht begünstigte Wesen, meist mit
Gewissensmangel und jede Reue ausschließender Gedächtnisschwäche gepanzert.
Auch das, was darwinferner Schwachsinn den Materialismus unserer Zeit
nennt, der Amerikanismus, die bewunderungswürdigen Trustlöwen, sie sind
moralisch berechtigt wie die Verzehrung von Ochsen, wie die Existenz von
Kamelreitern beim Vorhandensein von Reitkamelen. Was man aber nicht zu
rechtfertigen vermag, ist: anderen Leuten die kostbare Zeit stehlen und
Unheil stiften, ohne selbst daraus Nutzen zu ziehen. Aus langer Weile, um
unter Menschen zu kommen und sie kennen zu lernen, bin ich zu Prinzipalen
hinaufgegangen, die annonciert hatten . . . mich vorstellen als Hausknecht,
Mittelschullehrer, Buchhalter, Graveur, Korrespondent, Hofmeister,
Kammerdiener usw.

Und nach langem unklaren Hin- und Herreden, bis die Leute ganz verwirrt
waren, empfahl ich mich stets mit den Worten, ich wolle es mir überlegen,
und eventuell ein zweites Mal vorsprechen. Ein Nachsichtiger könnte das
vielleicht noch einen relativ harmlosen Ulk heißen. Verwerflicher,
boshafter, heimtückischer ist es schon, wenn sich einer absichtlich auf
gewissen den Liebespaaren geweihten Banken niederläßt, nichts dergleichen
tut, wenn es noch hell ist, Zeitung liest und die Verzweifelnden zum
Aufbruch nötigt . . . bei der geringen Anzahl der Sitzgelegenheiten
gleicherweise gehaßt von den tschechischen Ammen, die sich nur auf den
Bänken des Kaiser-Wilhelm-Rings schwängern lassen . . . von den langen
Bosniaken des Votivparkes wie von den Deutschmeistern der Augartenanlagen
gefürchtet, dieses Spiel bis tief in die Nacht hinein fortsetzt. Angeblich
um Daten zu sammeln für eine Statistik über die Zeit, die zwischen dem
ersten Kuß und der Umarmungspremiere verläuft . . .

Man wird fragen, warum ich nicht diese schalen Vergnügungen sein ließ und
mir nicht selber etwas leichteren Zeitvertreib gönnte? Hat es schon sein
Vorteilhaftes, Besitzer eines Hundes zu sein, wegen der Fülle damit
verbundener zeitverzehrender Beschäftigungen, wie weit werden diese simplen
und harmlosen Genüsse, die ein armseliges Tier zu gewähren vermag, durch
jene überstrahlt, welche die Gesellschaft eines Weibchens verschafft. Ich
wende ein: wenn selbst ein homerischer Held satt wird »des Schlafes sogar
und der Liebe, auch des Gesanges und fröhlichen Reigentanzes«, was für
Gefühle und Müdigkeiten soll da erst unsereiner zu registrieren haben?

Noch gellen mir in den Ohren die in den Momenten der Verzückung
hervorgestoßenen: »Ah«, »Oh«, »Jessas« und »Hast du mich auch wirklich
lieb« der Wienerinnen -- wenn es Lyrikerinnen sind, sagen sie vermutlich:
»Tandaradei!« . . . Die »Jaj«, »Joj« und »Juj« der Ungarinnen, ich höre
sie, auch wenn ich mir die Ohren zuhalte. Die Berlinerin himmelt: »Schmeckt
schön!«

Die einzigen, die nichts redeten, waren die Zigeunerinnen; aber man tat gut
daran, wenn man sich ihnen in Liebe nahte, die Uhr zuhause zu lassen
. . . und konnte dann noch von Glück reden, wenn Trántire und
Chnarpe-diches einen nicht als Vater ihrer Kinder angaben, die von Rechts
wegen dem ganzen Offizierskorps der nächsten Garnison hätten ähnlich sehen
sollen . . . Ja, noch eine war so vernünftig gewesen, zu schweigen . . .
Marischa, die Frau des Dorfrichters von Popudjin.

Sie liebte, wie sie sich einen Riegel Brot abschnitt. Alle ihre Bewegungen
waren von einer maschinenmäßigen Sicherheit. Unvergeßlich wird es mir
bleiben, wie wir uns zum erstenmal fanden. Es war am Morgen nach ihrer
Hochzeit, von der ich nichts wußte, sie, mir unbekannt, mähte auf
taufeuchter Wiese, im Vorwärtsgehen sich in den Hüften wiegend . . . die
kurzen, ihre Waden freilassenden Röcke kamen nie aus dem Schwung . . . ich
schlenderte vorbei und konnte es nicht unterlassen, mich zu ihr zu neigen
und dem schönen, frischen Weib blühende Wangen und Kinn zu streicheln. Sie
wurde rot, wehrte mir aber nicht: der Tod stand hinter mir, der Bauer mit
der Sense. Doch ich hatte gerade noch die Geistesgegenwart, zu sagen:
»Frau, also ich darf mir heut nachmittag die Maulbeeren in ihrem
Weingebirge selbst holen?« Der Bauer glotzte wie ein Ochse. Sie, sich noch
tiefer bückend, als wolle sie mir etwas auf den Boden Gefallenes suchen
helfen, bejahte, und am Nachmittag waren im Weinberg nicht bloß die
Maulbeeren anwesend . . . Und wenn ihr Mann und ihre Mutter auf der
Wallfahrt weg waren nach Sassin, dann ließ sie mich's wissen, und ich
schlich zu der Stallduftenden ins Zimmer, dann in der Dunkelheit, im Hof
mich in acht nehmend vor dem Düngerhaufen rechts und der Jauche links, nach
Hause -- die gefahrvolle Liebe zwischen Jehangir Mirza und der Maasumeh
Sultan Begum zu besingen . . .

Die Begeisterung aber mußte bald erlahmen an dem niederdrückenden
Widerstreit kleinlicher Schicksale mit ungeheuren Gefühlen und
Vorstellungen; es ist ja auch ökonomisch auf die Dauer unmöglich, Ambrosia
zu fabrizieren, während man selbst Kot fressen muß . . . Außerdem die
unglückliche Begabung, selbst bei dem geliebtesten Weibe das Skelett zu
sehen, wodurch wohl die Umarmung ein oder das andere Mal schluchzender
werden kann, schließlich aber maßloses Grauen mich vom Weibe scheiden mußte
. . .

Man gehe mir mit der Liebe! Eher möchte ich mir einen Hund halten. Die
Hausmeisterin, kinderlos, hat einen, den ich hochschätze. Junger
Zwergbulldogg, hält im Hof Cercle unter den Kindern; wenn sie ihm Rüben,
Kalbsleber oder Würsteln bringen, hört er auf die Namen Schnudi, Puffi,
Bubi und noch einige andere. Will wer bloß schön tun mit ihm, ignoriert der
Yankee alle Zurufe, wird man zudringlicher und ist man etwa eine alte
Witwe, die ein Rosamascherl an seinem Hals befestigen möchte, knurrt er
Warnung und schnappt zu. Seine unbegrenzte Reaktionsfähigkeit, sein
jugendfrisch-stiermäßiges Zufahren auf jedes ihm vorgehaltene Taschentuch
oder Papier, nicht zum letzten seine vorbildliche Selbstgenügsamkeit haben
ihn zu meinem Ideal gemacht. Er vermag es, stundenlang dazuliegen und ohne
jede Spur von langer Weile ein und denselben Knochen zu hypnotisieren,
empfindet kein Bedürfnis nach irgendeiner Wandlung, kein Lehrer sagt ihm
ironisch: »Sie werden es noch weit bringen«, er weiß es so tief, daß es ihm
gar nicht mehr zum Bewußtsein kommt: niemand kann es weiter bringen als zu
sich!

Ich jedoch muß, wenn es mir zu fad wird, »Ich« zu sein, notgedrungen ein
anderer werden. Gewöhnlich bin ich Marius und sitze auf den Ruinen von
Karthago; manchmal aber bin ich der Echsenklumm, unterhalte Beziehungen zu
einer Opernsängerin, gewähre dem Chefredakteur Armand Schigut
bereitwilligst ein Interview über den Handelsvertrag mit Monaco, verbiete
meinem Kammerdiener Dominik -- dargestellt durch den Stiefelknecht Philipp
-- jemanden vorzulassen, die Baronin Zahnstein ausgenommen . . . und kaum
mir das ewige Durchlaucht hin, Durchlaucht her auf die Nerven geht, werde
ich eine gefeierte Diva, haue meinem nichtswürdigen Direktor, dem ich das
schon lange gewünscht hab, eine herunter oder appliziere ihm einen Sessel.
Um mich von dieser ungewohnten Anstrengung zu erholen, wollte ich gerade
der Dichter Konrad Seltenhammer werden und im Cafe »Symbol« schweigend eine
Zigarette rauchen. Als mich der Stiefelknecht unterbrach. Er hatte es satt,
immer die Diener, Direktoren, Ruinen von Karthago, Zigaretten darzustellen,
sehnte sich danach, auch einmal Fürst, Heroine, dramatischer Schriftsteller
zu sein.

»Stiefel«, . . . sagte ich zu ihm, »Stiefel! Hochmut kommt vor dem Fall.«
»Meister«, sagte er, »Meister! Ich bin kein gewöhnlicher Stiefelknecht!«
»Das ist selbstverständlich. Ein Stiefelzieher, der in meinen Diensten
steht, ist eo ipso mehr kein gewöhnlicher Stiefelzieher.« »Ich meinte es
nicht so.« »In deinen Fasern stockt Götterblut? Bist du eine verzauberte
Prinzessin oder gar jener Stiefelzieher, den Zeus der Hera insinuierte?«
»Das nicht, aber immerhin aus einer alten Familie. Wisse: ich stamme in
gerader Linie von dem berühmten Stiefelzieher ab, den Mithridates
verschluckte, um seinen Magen gegen alle Gifte zu feien.« »Der muß seinen
Herrn genau so sekiert haben, wie du mich, daß er zu dieser Verwendung
gekommen ist.« Philipp verbat sich alle derartigen Anspielungen auf die
Schicksale ebenso verdienstvoller als erlauchter Ahnen. »Sonst kündige ich
schonungslos. Ohnehin bin ich als Präsident in Aussicht genommen für den
demnächst in Amerika stattfindenden I. Internationalen
Stiefelzieherkongreß. Roosevelt selbst . . .« »Roosevelt?« »Ich meine den
Stiefelzieher Roosevelts. Wir nennen ihn Roosevelt, der Kürze wegen . . .
er hat mich eingeladen zu präsidieren . . . eben wegen meiner Eigenschaft
als Nachkomme eines berühmten . . . oder glaubst du, der Stiefelzieher des
Herrn Tubutsch . . .?« »Ja, wie kommst du denn nach Amerika, o
Stiefelknecht meiner Seele?« »Mein Leib, mein schlechter Leib bleibt hier
liegen, mein Geist schwingt sich auf, entfliegt, kriecht in einen
Leitungsdraht und ist im Nu drüben. Früher waren wir schlechter dran,
Blitze sind nicht immer zu haben und auf den Vagabunden, den Wind, war kein
Verlaß, der hat uns immer justament dort abgesetzt, wo wir absolut nicht
hinwollten . . . am Tanganikasee oder auf den Fidschiinseln . . . wo weit
und breit keine verwandte Seele zu treffen war . . .«

Es schmeichelte mir, mit einem Wesen in Kontakt zu sein, durch das ich dem
Präsidenten der Vereinigten Staaten gewissermaßen sehr nahe stand, wir
schlossen also miteinander einen Pakt, dem nach wir von nun an in den
Hauptrollen abwechselten. Er war der Greisler, der: »Heut ham mer aber an
fein Primsenkas!« sagte, ich die Kunde, die achselzuckend ein Stück davon
kostete. Dann war wieder ich das Elefantenbaby . . . im Kreise rund
herumlaufend . . . und er das »Nein! wie lieb!« rufende Kind; endlich er
der Baumstamm, mit einem Hut auf einem Ast donauabwärts treibend bis ans
schwarze Meer, ich der über ihn fluchend ins Wasser gefallene Ruderer, die
Wasserratte, die zwischen den Wurzeln haust oder die das Billett des
Baumstammes auf seine Gültigkeit prüfende Fischotter. Bis die
Unmöglichkeit, durch eine wenn auch noch so große Willensanstrengung mir
selbst und den anderen Leuten meine Verwandlung in den Fürsten Echsenklumm
oder in die Wasserratte auch äußerlich wahrnehmbar zu machen, mir die Lust
an diesem Spiel verdarb. »Philipp!«, sagte ich, »Komm her.« Philipp kam,
wenn auch widerstrebend, als schwante ihm Unheil. Ich schlug ihn sorgfältig
in braunes Packpapier ein und ging spazieren. Aber niemand der
Vorübergehenden wollte mich fragen, was in dem kleinen braunen Paket
enthalten sei. Und ich hatte doch schon eine kleine Rede vorbereitet:
»Meine Damen und Herren! Hier sehen sie durchaus nichts Gewöhnliches! Ein
sprechender Stiefelzieher! Er stammt ab von dem Stiefelknechte seiner
asiatischen Majestät, des Königs Mithridates von Pontus . . . demnächst
wird er dem I. Internationalen Stiefelzieherkongresse präsidieren.
Roosevelt selbst . . .« Niemand war neugierig und aufdrängen wollte ich
mich nicht . . . daß ich unbefragt blieb, wäre möglicherweise noch zu
ertragen gewesen, doch seitdem ich so treulos an ihm gehandelt, seine
Geheimnisse zu profanieren gesucht, verstummte Philipp . . . seine Seele
war wohl für immer nach Amerika ausgewandert . . . ich war wieder allein
. . .

Früher träumte ich vom Ruhm. Er wurde mir nicht zugestellt. Und was blieb,
waren Sarkasmen gegen die Glücklicheren. Darin war ich seit jeher groß. Als
ich nichts mehr in mir zu zerfressen hatte, zerfraß ich andere. Nun bin ich
schwächer, milder geworden. Wie gesagt, ich schreibe mit Bleistift. Meine
Nahrung ist zart wie die eines Kranken. Einen ganzen Vormittag brachte ich
unlängst damit hin, einem General zuzuschauen, der auf der Mariahilfer
Straße vor jeder Auslage stehen blieb, ob es nun ein Wäschegeschäft war
oder ein Friseurladen. Es war nach den Manövern. Ich fühlte weder
Schadenfreude noch Mitleid; stand bloß und sah zu, so lang, bis ich der
General war und mich fähig fühlte, die Rolle zu übernehmen, die er des
weiteren durchzuführen hatte. Die Art, wie er den Säbel hob, um nicht das
Pflaster zu streifen, sonst eine Reflexbewegung, war unsäglich traurig
. . . . Am nächsten Tag vertiefte ich mich ebensolang in eine Dohle, die
vor einem Blumengeschäft in der Weihburggasse auf und ab, rastlos auf und
ab trippelte. Die gestutzten Flügel, gebrochen, streiften den Schmutz der
Pflastersteine. Und hatte einige Tage vorher noch den Stephansturm umkreist
oder eine Brigade kommandiert . . . Ich hätte sehr gern eine Zusammenkunft
zwischen dem General und der Dohle vermittelt. An so große Unternehmungen
aber wage ich mich nicht mehr, seitdem mir die letzte so mißglückt ist
. . .

Ich kam auf meinen Fahrten häufig an einem Gasthaus vorbei, dessen Wirt mit
dem Vornamen Dominik heißt. Nun ist der Vorname Dominik unter Wirten kein
seltener. Warum? Das ist unergründlich. Dadurch jedoch, daß ich so oft an
dem Schild dieser Weinstube vorüber mußte, spannen sich nach und nach
Beziehungen zwischen mir und seinem Inhaber. Nicht, daß ich den Wirt je
gesehen hätte, Gott bewahre! derart realer Vorbedingungen bedarf es bei mir
nicht . . . Aber als ich eines Tages in den Kalender sah, da fand ich, daß
gerade sein Namenstag war. »Heute solltest du aber doch einmal zu ihm
hineinschauen«, dachte ich und zog mir die roten Glacéhandschuhe an. Ich
trat ein. Es geschah nichts von dem, was ich erwartet hatte. Ein Mann in
einer blauen Schürze, das Abwischtuch auf der Schulter, der Hausknecht,
bediente mich. Ich warte und warte, um des Geehrten ansichtig zu werden. Er
kommt nicht. Überhaupt nichts dergleichen. Ich werde ungeduldig und will
schon bald gehen und frage den Hausknecht, wo sein Herr bleibt. Der Kerl
zögert mit der Antwort, ich sage es ihm auf den Kopf zu, der Wirt habe
vermutlich Brauereizahlungstag und sei ausgerückt. So kam es ans Licht: der
Gastwirt war verräterischerweise zu einem Heurigen gefahren, hatte an
seinem Ehrentage sich entfernt, um bei einem anderen Wirte, also sozusagen
bei sich, zu zechen. Die Vorstellung ist gewiß urkomisch und das Sujet
eines Niederländers würdig: ein Wirt, der bei einem anderen Einkehr hält.
Aber ich hatte Zeit und Geld geopfert und war doch nicht zu jener Erfüllung
gekommen, die ich ersehnt hatte. Als wollte mich das höhnende Schicksal,
das so gern dem Kleinen alles nimmt, um dem Großen noch mehr zu geben,
meiner geringen Erlebnisse, des ungeheueren Anblickes eines seinen
Namenstag feiernden Wirtes, berauben! Komisch, doch typisch, denn derartige
Vorfälle wurden wiederholt gegen mich ausgespielt. Vielleicht, um mich des
Lebens Unfähigen durch solch »feines Positionsspiel« herauszuekeln. Ich
rede nicht davon, daß ich früher, als ich noch Bekannte hatte, sie oft
monatelang nicht sah, dann wieder eines Tages sie sich offenbar zu dem
Zwecke zusammengetan zu haben schienen, mir durch eifriges Grüßen zumindest
eine Armlähmung zu verursachen. Es gibt bessere Beispiele.

Vor Jahren, da ich etwas lebenslustiger war, der erschütternde Tod der zwei
Fliegen Pollak sich noch nicht zugetragen hatte und also auch noch nicht
mir zum Mahnwort geworden war, mich vor dem Fatum ruhiger zu verhalten,
damals hatte ich über alle Bedenken hinweg einen Anlauf genommen und einen
Spazierstock erstanden. Um auf Abenteuer auszuziehen. Ohne Spazierstock
geht das nicht. Ebensowenig wie ein Ritter seine um Jungfrauen geführten
Kämpfe mit Riesen, Zwergen und Drachen ohne Tartsche unternommen hätte oder
mit einem Sattel, der noch keinen Namen hatte.

Ich knüpfte eines Sonntags zum ersten und letzten Male die Krawatte mit
jener Sorgfalt, wie sie vergleichsweise höchstens die Propheten auf das
Gürten ihrer Lenden verwendet haben dürften, und fuhr mit der Tramway nach
Sievering hinaus. Keine kleine Wollust, an den Haltestellen vorbei zu
sausen, während andere starr bei ihnen stehen bleiben mußten. Bei der
Billrothstraße stieg leider ein entfernter Bekannter ein, Snob durch und
durch, aus der Tasche protzte ihm ein französisches Buch, ein Band Balzac.
Ich verwies es ihm scherzend, in die freie Natur gebundene Bücher
hinauszuschleppen, noch dazu solche, die allgemein getragen würden, machte
ihn darauf aufmerksam, daß nur das noch nicht Moderne wahrhaft wert sei,
von ihm kolportiert zu werden, er jedoch mißverstand meine Absicht und
zerrte mich in ein längeres Gespräch, über das Ende Balzacs, wie die Sand
Musset, Friederike den Goethe betrogen haben solle, und o Idylle von
Sesenheim! als Pfarrerstochter selbstredend ein Kind von einem Theologen
zur Welt gebracht hätte -- das heißt, wenn man Lenz und einige französische
Grenzoffiziere vernachlässigt . . . Wahrheit und Dichtung!

Wir sprachen über das Weib . . . wie jedes mit Vernunft oder Phantasie
geschlagene männliche oder weibliche Wesen an sich eifersüchtig sein und
außerdem notwendig von den tierischen Ahnen ererbte Eifersucht leiden müsse
. . . kamen vom Hundertsten ins Tausendste, und erst als es zu spät war,
der Wald uns bereits aufgenommen hatte, tat der Unselige den Mund auf, um
mir mitzuteilen, daß ich das Wichtigste versäumt habe. In der Tramway hätte
ein fesches junges Mädchen meinen Witzeleien gelauscht, die ganze Zeit
hindurch vorläufig ihre Blicke auf mir ruhen lassen, sei auch nachher uns
noch ein hübsches Stück gefolgt, schließlich aber, da sie nicht gut mich
ansprechen konnte, abgefallen. Vom Weibe -- sprach ich, bis, zwei Schritte
entfernt, lachend, sich wiegend und tänzelnd und blühend in seiner Pracht
das Leben davonging! . . . Als sollte es daran nicht genug sein, da wir auf
engem Pfade einer entgegenkommenden Liebeseinheit ausweichen wollten, stieg
mir das Weibchen davon auf den Spazierstock, den ich elegisch nachschleifen
ließ: der Stock brach -- ein deutlich warnender Wink von oben, den kaum
betretenen Steig alsogleich zu verlassen . . . Auf einer Wiese nicht weit
davon konnte ein sechzehnjähriges schlankes Fräulein, von der Mama
begleitet, nichts tun als Herbstzeitlose pflücken. Ich folgte ihrem
Beispiele . . .

                                * * *

Ich lebe immer in der Erwartung eines Ungeheuerlichen, das da kommen soll,
eintreten, einbrechen soll bei mir. Ein Orang-Utan etwa, ein Auerhahn mit
glühenden Augen oder am besten ein wütender Stier. Dann aber fällt mir ein,
daß der ja gar nicht durch die Tür könnte, und ich lasse meine übergroßen
Hoffnungen sinken . . . Wenn jemand läutet, erscheinen alle Nachbarn bei
den Türen, auch ich gehe sofort an die Pforte meines Kabinetts mit
separiertem Eingang . . . falls mich einer meiner alten Freunde aufsuchen
sollte, bereit, den Überzieher umzunehmen und mit ihm spazieren zu gehen
oder aber, wenn er es wünscht, ihm die Sehenswürdigkeiten meiner Wohnung zu
weisen: meinen Stiefelknecht Philipp und -- mit umflorter Stimme -- die
zwei Fliegen Pollak . . . Ungeheures oder doch Angenehmes erwarte ich: wenn
ich öffne, hat es meistens nebenan geläutet. Oder aber es ist ein Bettler.
Denen gebe ich nichts. Erstens habe ich selber nichts, zweitens, wenn man
ihnen etwas gibt, gehen sie sofort weg und lassen einen stehen. Und das ist
durchaus nicht meine Absicht . . . Auch andere Leute sind leider so
rücksichtslos, läuten an, und dann, wenn sie ihre Auskunft haben, gehen sie
fort. So letzthin . . . Klingelt es in aller Früh, ich ziehe mich hastig
und unvollständig an, mache auf, stehe im Zug: ein Mann ist draußen, der
fragt, ob ich der Herr sei, der das Kristallöl bestellt habe? Ein anderer
hätte fluchend die Türe zugeschlagen, ich bin höflich, antworte
unvorsichtigerweise: »Nein!«, gebe aber nichtsdestoweniger meine Absicht zu
erkennen, mich mit ihm in ein Gespräch einzulassen . . . schon wegen der
Seltsamkeit seines Metiers. Kristallölausträger . . . er jedoch dreht sich
brüsk um, wendet mir den Rücken zu und schreitet die Stiege hinauf . . .
und ich muß mich zusammennehmen, daß ich nicht bei dieser Gelegenheit
infolge all der erlittenen Enttäuschungen zusammenbreche . . .

                                * * *

Jehangir Mirza sagt: »Wie ein unkörperlicher Schatten schwanke ich hin und
her, und wenn mich nicht eine Wand unterstützt, falle ich platt zur Erde.«
Eine Wand stützt mich nicht. Mir scheint, mir wird auch so etwas passieren
wie ein Fall zu Boden . . . Nein, ich halte es nicht mehr aus! Was fesselt
mich noch? Schnudi, der kleine Zwergbulldogg, ist nicht mehr. Ein alter
Mann mit stechendem Bart, einem Pinkel auf den Schultern . . . Ahasver
. . . ist in den Hof gekommen, hat sein »Handlé« gerufen, die Ankunft des
Fremden scheint den Hund irritiert zu haben, er fuhr los. Der Hausierer
ruft eins, zweimal »Marschierst?«, der Hund hört nicht, schnappt nach den
Beinen des Eindringlings. Der spuckt ihm dämonisch zwischen die Augen, und
der Hund dreht sich wie wahnsinnig im Kreise herum, mit der kurzen Zunge
bemüht, den Fremdkörper über der Nase zu entfernen. Es gelingt ihm nicht,
der Hausierer geht weg, der Hund dreht sich weiter, seine Augen sehen
nichts mehr, sind blind von der rasenden Jagd, Schnudi, Schnudi mit dem
Rosamascherl dreht sich weiter, weiter . . . bis er erschossen werden muß
. . . Nun habe ich niemand mehr. Einen Einspännergaul sah ich an, ob er
nicht mit mir reden mag . . .

Ich wette: er wollte nur nicht mit mir im Gespräche gesehen werden. Mit
andern, glaub' ich, hätte er nach einiger Anstrengung reden können . . .

                                * * *

Was hält mich ab, dem allen ein Ende zu machen, in irgendeinem See oder
Tintenfaß zur ewigen Ruhe einzugehen oder die Frage zu lösen, welchem
irrsinnig gewordenen Gott oder Dämon das Tintenfaß gehört, in dem wir leben
und sterben, und wem wieder dieser irrsinnige Gott gehört? Zu irgendeiner
Marischa, und sei sie wer sie sei, jedenfalls zu einer Dirne, Unreinen oder
Ehebrecherin zu schleichen, dabei sich in Acht nehmen vor allerhand . . .
dem Düngerhaufen rechts und der Jauche links . . um dann daheim die
leidvolle Liebe zwischen Jehangir Mirza und der Maasumeh Sultan Begum zu
besingen . . . wäre das wirklich ein so großes Vergnügen, Ambrosia zu
fabrizieren, während man selbst Kot schlingen muß? Und wenn man ein Dichter
wäre, man ist noch immer nicht mehr als ein geborener Tierstimmenimitator.
Und bist du ein Meister des Wortes, der Worte fand, voll wie das Brüllen
des Stieres: ein Bettler bist du und läßt nachahmend aus dir erschallen die
Stimme des über Pferde herrschenden Fürsten und jene des aus einer
schwarzen Puppe sich aufwärts, lichtwärts schwingenden Schmetterlings, wenn
es nicht gar die Stimme eines andern Dichters ist -- alle Stimmen läßt du
aus dir erschallen, o Tierstimmenimitator, um die eigene Leere zu
übertönen, deinen Mangel an einer eigenen Stimme . . . Was weile ich noch?
Ab! bevor ich noch zum gichtbrüchigen Schuster werde . . . Wozu noch weiter
den entnervenden Widerstreit kleinlicher Schicksale mit ungeheuren Gefühlen
und Vorstellungen hinunterwürgen?

                                * * *

Das Leben. Was für ein großes Wort! Ich stelle mir das Leben als eine
Kellnerin vor, die mich fragt, was ich zu den Würsteln dazu wolle, Senf,
Krenn oder Gurken . . . die Kellnerin heißt Thekla . . . Beschränkt sind
die Möglichkeiten, immer aber die großen Worte . . . Eine Diskrepanz für
viele. Einst war ich zur Simultanvorstellung eines berühmten Schachspielers
geladen. Der Produktionssaal ein dumpfer stickiger Raum voll von
Tabakdampf. Plötzlich erschallt der Ruf: »Der Meister naht!« Wer tritt ein?
Wegstehende, dünnschalige Ohren, ein beschränkt aussehender Mensch in einem
abgetragenen Anzug. Das kurze, blaue Röckchen war aber gewiß nicht
abgetragener als sein Gesicht. Haha! der Meister naht . . .

Was erübrigt denn noch zu tun? Nicht viel. Ich hatte früher einmal einen
Bekannten, der besaß seinerseits wiederum einen Kollegen, mit dem er in die
Tertia gegangen war. Dann wurde dieser Kollege meines gewesenen Bekannten
seiner Indolenz, seines geringen Bestrebens wegen, noch mehr Ochs zu
werden, als er ohnehin war, und dadurch Wohlgefallen zu finden in den Augen
der Professoren -- er wurde aus der Schule genommen und in eine Fleischbank
oder Schusterwerkstätte gesteckt? Nein, zufällig in ein Weingeschäft. Er
traf einige Wochen nachher am Kai meinen Bekannten -- Waldemar Tibitanzel
hieß der und machte ungedruckte Gedichte -- und berühmte sich vor ihm, nach
so kurzer Lehrzeit schon binnen weniger Minuten hundert Jahre alten
Bordeaux herstellen zu können. Es ist gewiß zu bedauern, daß der
hoffnungsvolle Jüngling traumschnell auch aus dieser Laufbahn glitt. Bei
seinem Genie hätte er uns gewiß in Bälde mit einem Bordeaux zu bedienen
vermocht, der aus der Ewigkeit stammte, wenn nicht gar aus dem Cambrium.

Das tat er aber keineswegs. Der Wandlungsfähige tauchte als Erzengel im
Burgtheater auf. Mein Bekannter sah ihn knapp hernach auf dem Graben
wieder. Waldemar Tibitanzels Barttracht hielt künstlerisch zwischen
Christusbart und Mädchenkinn gleicherweise die Mitte, und ein genauer
Beobachter hätte die der Wahrheit nahekommende Vermutung ausgesprochen, er
sei nicht rasiert. Von den Schnallen seiner Schuhe war die schwarze Politur
abgefallen, gelbes Messing kam zum Vorschein, und so auch in der
geringfügigsten Kleinigkeit offenbarte sich der desolate Zustand seiner
Finanzen und sein Österreichertum. Der Erzengel, scheinbar vertieft in sein
eigenes glattrasiertes Gesicht, ignorierte nun schon perfekt den
Ungedruckten, der sich tags darauf bitter bei mir beklagte. Und ehe noch
eine Woche ins Land gegangen war, starb Waldemar Tibitanzel, mitten in
einem Trauerspiel in fünf Aufzügen.

Wenn ich morgen den mir unbekannten Weinpantscher und Mimen zur
Rechenschaft ziehen werde für längst vergangene Sachen, so tue ich das aus
sowas wie Solidarität, kurz es handelt sich hier um rein prinzipielle Dinge
. . . und nicht bloß um derartige Velleitäten . . . Denn ich, mein Gott,
selbst früher, als ich noch König war und viele Leute auf meinen Gruß
lauerten, grüßte ich für meine Person nicht regelmäßig. Ich grüßte einmal
doppelt, mit tiefer Verbeugung, das andere Mal in einer Art Willenslähmung
gar nicht, und wenn sich die Leute nicht damit zufrieden gaben, die
doppelte Portion und die nicht erhaltene zusammenzulegen und auf zweimal zu
verteilen, sondern über mein ungeschlachtes Benehmen brummten, kümmerte ich
mich blutwenig um diese Fliegen.

Wenn ich morgen meine Sekundanten -- und sollte ich keine anderen finden:
meine Schicksalsgenossen und Wahlbrüder: den alten Schuster und den Huterer
zu dem Erzengel hinaufschicken werde, liegt da ein ganz anderer Fall vor.
Ich will sterben und bei dieser Gelegenheit einen zweiten Menschen, den ich
in seiner Nichtigkeit erkannt habe, abdrehen, wie man einen giftigen
Gashahn abdreht, wie Ahasver den inferioren Zwergbulldogg Schnudi abdrehte
. .

Sollte ich am Leben bleiben, was ich nicht hoffe, so vermache ich trotzdem
meinen Stiefelknecht Philipp und ein gewisses Tintenfaß demjenigen, der
sich darum meldet; unter mehreren Bewerbern sollen bei sonst gleicher
Qualifikation parfümierte Wachleute den Vorzug haben. Bevor ich aber die
Kurbeldrehung setze und mich aus der Kurve hinaustragen lasse, an einem
Meilenstein zu zerschellen, bevor ich mich aufmache in jenes ferne Land
. . . die Rouleaux endgültig fallen und mir die Aussicht auf die Linzer
Straße entziehen werden, will ich noch einen Anlauf nehmen und dem auf der
Plattform eines Wagens ängstlich herumlaufenden Pintscher Antwort bellen,
mit den sechs Kindern um den Straßenarbeiter herumsitzen, den Schuster
Engelbert Kokoschnigg fragen, warum er das Schild »Zu den zwei Löwen«
führt, die Grünzeugfrau, ob sie Witwe ist, und wenn nicht, warum sie den
erbsenpickenden Spatzen duldet -- ich neide ihm sein sorgenloses Dasein!
Ich werde des Wirtes Dominik ansichtig zu werden versuchen, mich in dem
flügellahmen Raben in der Weihburggasse betrachten, und wenn ich in der
dazugehörigen Stimmung sein sollte, in einem speziellen Falle eigenohrig
die Frage lösen, ob die Lyrikerinnen wirklich »Tandaradei« sagen. Mehr
Freuden gewährt ja das Leben nicht . . . Man glaubt, ich sei lustig? Ja!
Herzzerreißend lustig! Dies alles ist nichts als Galgenhumor. Und Furcht.
Scheint mir nämlich das Leben aus derartigen Nichtigkeiten, wie ich sie
vorhabe, zusammengesetzt zu sein, wie wenn der Tod mir zum Possen eine
adäquate Rolle spielen wollte? Mich enttäuschte. Der Tod, vormals der Bauer
mit der Sense, ein grober Flegel immerhin, aber als solcher eine
respektable, durch zahllose Bilder sehenswerter Maler akkreditierte
Persönlichkeit, er nimmt in meiner Vorstellung immer komischere Gestalten
an. Ich sehe ihn nicht als schwarzen Ritter, er kommt als nahender Meister,
oder ein Clown tritt auf, steckt die Zunge heraus, sie wächst ins
Unendliche und durchsticht mich . . . ich sehe den Tod als Kondukteur, der
meinen Fahrschein einzwickt, für ausgenutzt erklärt, nicht warten will bis
zur nächsten Haltestelle, mich zum Aussteigen drängt . . . mit eines
tschechischen Akzentes nicht entbehrenden Worten . . . ich sehe ihn als
rohen Jungen, Fledermäuse annagelnd, als Laternen auslöschenden Studenten,
Reichstag auflösenden Minister, und jüngst sah ich den Tod gar als
Motorführer. »Dem Wagenführer ist es verboten, mit den Fahrgästen zu
sprechen.« Die Übereinstimmung ist auffallend . . .

Ich glaube, ich würde es nicht ertragen, wenn mich auch noch der Tod mit
einer Enttäuschung abspeist . . .

Eine tiefe Apathie und Gleichgültigkeit hat mich befallen, meine Seele ist
jedes höheren Aufschwunges unfähig, seit langem vermied ich es, Goethe zu
lesen, weil ich mich im tiefsten Innern seiner unwürdig fühlte. Und nun
soll mir ein strahlender Tod entgehen, Freund Hein mir zusammenschrumpfen
zum Spottbild? Wäre das gerecht? Mag dem sein wie ihm wolle, mir bleibt
nichts anderes übrig, ich werde von dannen gehen, die Erde, dieses Kabinett
mit separiertem Ausgang! verlassen, verlassen . . . Was ist denn soviel
dabei? Rouleaux fallen . . . man sieht nichts von der Straße . . . Wie ich
mich darauf freue! Wozu sich fürchten? Ich werde einen Anlauf nehmen und
hinüberspringen. Oder sollte ich doch bleiben? Allen Leuten geht es gut. In
den Auslagen der Greisler stehen Dalmatinerweine. Das war früher nicht. Ich
aber besitze ja so gar nichts, nichts was mich im Innersten froh machen
könnte. Ich besitze nichts als wie gesagt -- mein Name ist Tubutsch, Karl
Tubutsch . . .



Druck: Buchgewerbehaus Müller & Sohn, München





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