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Title: Über die Schönheit häßlicher Bilder - Ein Vademecum für Romantiker unserer Zeit
Author: Brod, Max
Language: German
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  [ Anmerkungen zur Transkription:

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  Max Brod

  Über die Schönheit häßlicher Bilder

  Ein Vademecum für Romantiker unserer Zeit


  =Falstaff=: »-- denn die armseligen Mißbräuche
  der Zeit haben Aufmunterung nötig«


  1913
  Kurt Wolff Verlag, Leipzig


  Copyright by Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1913

  Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig



Inhalt


                                        Seite

  Über die Schönheit häßlicher Bilder       5
  Gegen moderne Möbel                      13
  Der Frauen-Nichtkenner                   24
  Der allerletzte Brief                    29
  Zufällige Konzerte                       36
  Mein Tod                                 41
  Unter Kindern                            49
  Der Ordnungsliebende                     55
  Panorama                                 59
  Kinematographentheater                   68
  Notwendigkeit des Theaters               72
  Torquato Tasso                           76
  Bewegungen auf der Bühne                 83
  Die Liebe wacht                          87
  Louskáček                                90
  König Wenzel IV.                         92
  Weiße Wände                              99
  Untergang des Dramas                    101
  Ideen für Ausstattungsstücke            104
  Illusion                                112
  Die Vorstadtbühne                       117
  Das Wunderkind                          129
  Im Chantant                             135
  Liane de Vriès                          139
  Höhere Welten                           144
  Kommentar zu Robert Walser              158
  Verworrene Nebengedanken                167
  Meyerbeer                               173
  Gustav Mahlers III. Symphonie           178
  VI. Symphonie von Mahler                181
  Kleine Konzerte                         189
  Smetana                                 195
  Das Berlioz-Theater                     205



Über die Schönheit häßlicher Bilder


  »Ach, warum ist nicht alles operettenhaft.«
  Laforgue.

Noch heute, wenn aus der bronzierten Netzfläche einer Dampfheizung lauer
Hauch von ungefähr mich befällt (o Erinnerung, erfolgreiche
Schmutzkonkurrentin des Gegenwärtigen!) ... dann fällt mir jene
Kunstausstellung im Künstlerhaus zu Wien ein, die mich erzogen hat. Das
war reizend, damals. Schon unterwegs im rauhen Märzwind der Straßen, der
allen Damen längs empörter Frisuren die Hüte in die Höh' trieb (Balzac
würde sagen: In diesem Wind, der für Wien ebenso charakteristisch ist
wie usf.) ... schon unterwegs freute ich mich auf dieses Künstlerhaus,
das ich mir warm und nach seinem Namen als einen Versammlungsort
hochgemuter Künstlerrecken vorstellte, ja lauter solcher Tiziane, die
dort auf und ab gehn, patrizisch, und in Prunkwämsern ohne Farbflecke
mit Königen Gespräche führen. Doch ich war kaum enttäuscht, als ich nur
Bilder vorfand, Bilder ohne Zahl, und an manchen Stellen der Wand
zwischen zwei Bildern diese braven Siebe der Zentralheizung, die
unversehens mit Garben tropischer Witterung überschütten. Ich blieb
immer zwischen den Bildern. Aber meine Gefährtin war von künstlerischen
Entzückungen schon umzingelt, attackiert, überwältigt. Die Luft deutlich
gemalter Sonnenuntergänge atmete sie, wiewohl in dieser Luft
fettglänzende Wolken aus Himbeerlimonade hingen, mit Vergnügen ein, sie
fuhr in sauber-wuchtige Fjordkulissen, wurde durch Charlie Stuarts
Hinrichtung erschüttert zugleich und belehrt ... »Aber das ist doch
lauter Kitsch! Wie kann Ihnen so etwas gefallen?« rief ich
lächerlich-ernsthaft, indem ich meiner durch Wärmebedürfnis erklärbaren
Stellung ein satirisches Cachet zu geben bemüht war. Sie sah mir
gekränkt zu und ging in den nächsten Saal. Ich folgte ... Auch hier
Korbsessel, Teppiche, Palmen, Oberlicht, und an den Wänden führten
Schutzengel mit aufgereckten Gänseflügeln kleine Mädchen über Stege
unpraktischer Bauart, ein Lohengrin, dessen Bewegungen trotz seines
Silberpanzers wie unter geselligstem Frack sich zierten, küßte sein
kokettes Elschen, nebenan sagten gesund und doch melancholisch
aussehende Handwerksburschen in vormärzlichen Kostümen ihrer aber schon
sehr poetischen Heimatstadt Ade, blondeste Backfische, rosarot, frisch
vom Konditor, hatten Noten und eine Lyra und einen auch im Schlafe
blassen Dichter, den sie amüsant bekränzten, auf Schneelandschaften
(weiß, fraise, perlgrau) erschienen krächzende Raben durch das ein für
allemal feststehende Zeichen zweier aneinander gefügter Beistriche
angedeutet, und das Exotische war vertreten durch Beduinen,
Schwerttänzerinnen, slowakische Bauern, Szenen aus Buchara, Zentauren im
Galopp, Fellahfrauen neben den bekannt schrägen Raen der Nilbarken. Ja,
dieser Orient, das ist doch noch was ... Indes mit mehr als meinem Tone
der Entrüstung »Und das gefällt dir nicht?« führt mich meine Gefährtin
vor die reizendste Zofe der Welt, die ihr Händchen so geschickt hinter
eine Kerze zu halten weiß, daß die heraufsteigenden Lichtstrahlen
rotgelb ihr Gesicht schminken ... Und nun bin ich besiegt, nun gefällt
mir schon alles. Ich vergesse die Franzosen, den Fortschritt,
Meier-Graefe, die Verpflichtungen eines modernen Menschen. Schon
zurückgetaucht in Jahre unverantwortlicher Jugend, freue ich mich über
die Zahnlosigkeit eines gutmütigen Mönches, der rechts-links umflochtene
Weinflaschen an sich preßt, wie einfach-menschlich; und bin verblüfft
von glattlasierten Schlachten, den sorgfältig-blutigen Kopftüchern der
Verwundeten, den sauberen Reitersäbeln. Und »Rast im Manöver« heißt es,
wenn auf Tornister gepackte Blechgefäße grau dem grauen Straßenstaub
entgegenblitzen. Und deutlich strichliertes Schilf wächst »vor dem
Gewitter« aus zinnweißen Reflexen eines Sumpfspiegels. Am Klavier wird
Abschied genommen, für ewig vielleicht. Rosen lösen sich welkend aus
Wassergläsern. Kühe ruhen im Grünen. Miß nur, kleines Mäderl, wer höher
ist, du oder euer Barry ...

Seit damals liebe ich die Behaglichkeit, die bewußtlose Grazie
schlechter Bilder, diese Ironie, die von sich selbst nichts weiß, diese
Eleganz der unbeabsichtigten Effekte. Wie ärmlich stellen sich seriöse
Bilder daneben dar, die den Geist des Beschauers in eine einzige, vom
Künstler eben gewollte Richtung drängen. Sie sind so eindeutig, so
vollkommen, so häßlich ... die schönen Bilder. Aber Wonnen eines
triebhaften Balletts, die unwillkürliche, unausschöpfliche Natur selbst,
das Chaos und urzeitliche Zeremonien lese ich aus Annoncenklischees,
Reklamebildern, Briefmarken, Klebebogen, aus Kulissen für Kindertheater,
Abziehbildern, Vignetten; mich entzückt die Romantik des Geschmacklosen.

Seit damals sind die Plakate an den Straßenecken meine Gemäldesammlungen.
Da steht und zeugt für »Laurin & Clement« ein rotes Prachtautomobil,
bewohnt von Herr und Dame in totschicker Dreß, steht vor
einer gelben Gebirgslandschaft aus aufgetürmten Rühreiern. Der Herr
scheint mit eleganter Handbewegung dieses seltene Naturschauspiel der
Dame zu präsentieren, die indes, ungerührt von den Blicken aus seiner
imposanten Schutzbrille eines Tauchers, ihren Schleier mit spitzer Nase
zu zerstechen sucht ... Ein Chamberlain mit Monokel und
imperialistisch-frechen Mundwinkeln macht auf die Eröffnung eines
Herrenkonfektionsgeschäftes geziemend aufmerksam ... Nicht ganz so
glücklich führt sich »Altvater Jägerndorf« durch einen triefäugigen
Greis, mit Federbarett und Grubenlampe jedoch, ein ... Werden wir dieser
arglos hochgeschürzten Galathea, dem witzreich verzeichneten Knaben
einer Varieté-Affiche widerstehen?... Und nieder auf die Knie, die Knie
vor dem Porträt Zolas, vor seinem Stirnknittern, das dem Autor ernster
Bücher wohl ansteht, und das ein einsichtsvoller Plakatkleber durch
besonders runzliges Ankleben gerade dieses Plakates noch verstärkt hat
... Falls du immer noch die Wirkung dieser wahrhaft primitiven Kunst
anzweifelst, schwebt schon, nicht um zu strafen, nein, um sanft zu
überreden, ein Genius herbei, massiv, doch jungfräulich, in ein aus Bolero
und Chiffon kombiniertes Kleid gehüllt und mit unbeteiligt-symmetrischen
Flügeln, während wilde Falten den unteren Gewandsaum wegblasen.
Er verkündigt »Maifestspiele«, schleudert in der Linken
einen Kranz nach vorn und, um sich im Gleichgewicht zu erhalten,
hat er den rechten Arm eingeknickt, wobei ihm freilich das Versehen
geschieht, die Posaune statt an den Mund ans Ohr zu setzen, so daß sie
einem pompösen Hörrohr ähnelt. Doch scheint dies kein unpassendes
Symbol, da er so vortrefflichen Opern, die er anzeigt, auch wohl selbst
zu lauschen Lust bekommt. Und unbekümmert um all dies jedenfalls dringt
er in die Photographie des Theatergebäudes ein, trotz sichtlichen
Gegenwindes, und obwohl das Licht verwirrend genug ihn von links, das
Theater von rechts bestrahlt.

Glückselig darüber, daß nicht immer die Physik das letzte Wort behält,
wende ich mich weiteren Kunstgenüssen zu. Sie warten in allen Auslagen,
diese zauberhaften Offenbachiaden des Lebens, auf mich. Die Parfümerien
stehen im Farbenschmuck so schematischer Blumen, daß man »Kinder Floras«
mit Lächeln sie zu nennen versucht ist ... Van Houtens Kakao ist schon
undenkbar ohne diese etwas nördliche Dame, die im Eisenbahnkupee
vornehmer Klasse einer trostlosen Winteröde den Rücken kehrt, um desto
neckischer ihr Lieblingstäßchen zu schlürfen, de smakelijkste, in't
Gebruk de vordeeligste. Klingt es nicht wie das phantastische Deutsch
eines ganz souveränen erstklassigen Schriftstellers? Lustig, lustig ...
In einem Seidengeschäft ist die »Wiener Mode« aufgeschlagen. Was für
seltsame, von mystischen Rhythmen beherrschte Gestalten, und die
Gesichter offen, klug, unschuldig, wie eben aus der »Wiener Mode« ...
Papierfirmen stellen Ansichtskarten aus, lustig, lustig, diese
verschneiten Kapellen im Walde, die photographierten Liebespaare im
Fortschritt der Situationen, harmlose Ostergrüße, als Hasen verkleidete
Kaninchen, operettenhafte Alpengletscher, Leid und Freud, Schusterbuben,
Villa Miramare, handkolorierte Unwahrscheinlichkeiten ... Und der
Delikatessenhändler nebenan. Wie drollig zieht das Baby seinen Karren
voll von Schokolade Suchard, wie abenteuerlich und unkontrollierbar wird
auf diesen Päckchen der Tee gepflückt. Von einer Weinflasche schwingt
ein Herrenreiter höflich uns den Zylinder entgegen, Spanierinnen
verführen von Konservenbüchsen herab, an Bonbonnieren treten wie in
einer Zauberposse Feen und Ritter auf, der Karlsbader Sprudel plätschert
auf jener Kolonne von Oblatenschachteln sechsfach dazu, manche
Schnapsfabrikanten ziehen Berglandschaften, andere den biederen Jäger
vor, der die Pfeife auf den Holztisch stemmt, Herolde verkünden den Ruhm
deutschen Schaumweins, während Biscuits Pernod mit ihren rothosigen
piou-pious Deutschland okkupieren.

Ich gehe heim, verlasse das populäre Ausstattungsstück des Täglichen.
Doch auch noch zu Hause habe ich Unterhaltung genug, die Phantastik der
Zigarettenschachteln, die Etiketten auf Parfumflaschen, märchenhafte
Vaudevilleszenen auf Briefkassetten und Wandkalendern, Diplome,
Reiseandenken ...

Und gar die geliebte Mappe japanischer Holzschnitte .. Halt! Zurück!...
Japanische Holzschnitte sind doch anerkannt schön! Mir scheint, da habe
ich etwas sehr Blamables gesagt (»gesagt« ist Ziererei ... nein,
geschrieben) ... Doch die Grenze zu ziehen, das ist die Schwierigkeit
dieser an sich so einfachen Sache.

Und ich sehe schon, daß die gesamte Menschheit nichts dringender bedarf
als mein neues System der Ästhetik, das ich gewissenhaft und mit fast
barbarischem Fleiß schon lange schreibe, jedoch an meinem fünfzigsten
Geburtstage erst, das ist am siebenundzwanzigsten Mai 1934,
herauszugeben felsenfest entschlossen bin. Indes bin ich schon vorher
für Abordnungen der durch diesen Aufsatz besonders in Verwirrung
versetzten Erdstriche zu sprechen, täglich zwischen drei und vier. Um
diese Stunde sitze ich sehr behaglich zu Hause und spiele Karten mit
zwei gleichgesinnten Freunden. Ach die Feerie dieser Bildchen auf den
Karten übertrifft doch alles. Lockige Burschen mit müden,
träumerisch-verschauten Augen turnen, kreuzen ein Schwert und ein
stumpfes Rapier, trommeln, flöten, tragen stolz ihre weißen Halskrausen,
die gestickten Westen. Auf Rot-Zehn schaut ein Amor ins Publikum und
trifft dennoch seitlich das zinnoberrote Herz. Welches Lied spielst du,
Knabe, in merkwürdiger Tracht, deinem treuen Hunde vor? Gravitätische
Könige, würdevoll trotz der zu kurzen Beine, wo sind eure Untertanen,
eure chimärischen Länder?... Dann legen wir den Skat weg. Und in den
Taroks mit ihren Sarazenen, Albanesen auf Vorposten, mit
Csardastänzerinnen, Liebespaaren in Fez und Jägerhut, jugendlichen
Eheleuten, die an der Schalmei sich ergötzen, mit Wahrsagerinnen und
edlen Rossen umgibt uns der Zauber der Levante, Lord Byrons, die
abenteuerliche Luft der Türkenkriege, vielleicht der Kreuzzüge. Uns
belustigt der heraldische Aar, der wütend seine altertümliche Devise in
den Klauen hält: »Industrie und Glück.« Wir zittern für das Schicksal
der edlen Dame, die zögernd den Gondoliere nicht anblickt und doch so
gern entführt werden möchte ...



Gegen moderne Möbel


Ich habe mich mit modernen Möbeln im Grunde ebensowenig ernstlich befaßt
wie mit den andern Dingen, über die ich so schreibe. Ich gehe meines
Weges und denke eigentlich über ganz andre Sachen nach, zuweilen aber
fällt mir hier und dort etwas wie zwischen zwinkernden Augenlidern auf,
und dann notiere ich es, mögen andre zusehen, wie sie damit fertig
werden. -- Dies alles soll nicht etwa ironisch aufgefaßt werden. Ich
glaube nämlich, daß in mancher Beziehung die oberflächliche Meinung
wirklich besser ist als die fachmännische. Wir improvisieren nicht ohne
Grund.

Gegen moderne Möbel nun trage ich seit langem eine merkwürdige Art von
Haß in mir, nicht gerade gierig, eher übersättigt ... nun, man wird
sehen. Ich will der Einteilung wegen bemerken, daß ich moderne Möbel a)
aus Zeitschriften, b) aus Möbelausstellungen und c) aus bewohnten Räumen
kenne -- und habe somit den Schein der pedantischen Wissenschaft nicht
minder als den des Leichtsinns schon auf mich geladen. Sehe ich nun
diese Zeitschriften, deren Titel man sich durch beliebiges
Zusammensetzen der Worte »Kunst«, »Kunsthandwerk«, »Innendekoration« und
so weiter selbst bilden kann, so habe ich sofort die Zwangsvorstellung:
»Das muß man überblättern.« Als solche erkannt, veranlaßt mich nun diese
Zwangsvorstellung just zum bedächtigen Lesen und Bilderanschauen, da
haben wir das Malheur. Und obwohl ich dieses abwechslungslose Zeug
längst schon kenne: stets wieder stehe ich vor Villen, denen
übermächtige Schindeldächer wie Hauben über das Gesicht gerutscht sind,
wie Zylinderhüte über den kleinen Gernegroß. Und wieder trete ich, vor
Langeweile meine Zunge mit den Zähnen zerpflückend, in diese Vorhallen
oder Dielen, wo dieselbe schamlos freistehende Treppe auf denselben
Kamin herabsieht ... Kurz, um es gleich hier zu sagen, wir sind einer
Konvention imitierter Renaissance entflohn, aber sofort in eine andre
Konvention geraten, die bedeutend unangenehmer ist, weil sie »guter
Geschmack« sein und bleiben will ... Hier einige Grundeinfälle unsrer
Raumkünstler, die sich zum Überdruß wiederholen: Die Wände sind mit
spiegelnden Holzplatten belegt. Dazwischen hängen ein paar Bildchen, wie
gemaßregelt, in Rahmen von jener impertinenten Einfachheit, die das
Aufdringlichste ist, was es gibt. Hier und dort in Vasen verteilte Bäume
sollen leben, aber sie erfrieren sichtlich. Um den Kamin schart sich
etwas aus farbigem Marmor, Blöcke und leere Flächen, dann ein Dächlein
aus Metall. Niemals fehlen Sitze, in Nischen eingebaut, von der
ungemütlichsten Gemütlichkeit, zu dünn oder zu dick bepolstert; ich weiß
nicht, was mich stört. Gibt es denn in diesen Familien immer etwas zu
erzählen, wozu das lodernde Herdfeuer traulich paßt? Oder stehen diese
Sitze leer, noch ärger!... Schaudernd treten wir in das Herrenzimmer.
Ich will die Klubfauteuils nicht bemerken, sie machen es mir zu leicht.
Aber diese Beleuchtungskörper, offenbar vom Juwelier, nicht vom
Klempner, mit Ringen, rasselnden Ketten, strengen, geschlossenen
Fransenröckchen. O Gott, speit niemand aus vor dieser erlesenen Kultur!
Oder diese immerdar in die Wand versenkten Bücherkästen, hat noch
niemand das traurige Einerlei dieser Novität bemerkt! Da findet sich
immer Glas, dahinter schräge, müde Buchrücken wie Kornfelder nach
Hagelschlägen, und immer das Glas durch schmale Holzstäbe in Rechtecke
und Rhomben zerlegt. Rhomben, das ist die Hauptkunst unsrer
Wohnungskünstler. Rhomben und auf die Spitze gestellte Quadrate, die in
ein Netz von Meridianen und Parallelkreisen, mehr oder minder dicht,
Abwechslung bringen sollen: wer befreit uns von dieser Tyrannei! Und wer
zerbricht endlich diese Rähmchen- und Fensterl-Kultur, deren Vertreter
nur darin originell sind, daß sie die unerläßlichen Stäbchen bald
kantig, bald gerippt, bald glattgerundet anzufühlen machen ... Gehn wir
weiter, über die Treppe etwa, deren Geländer als Gitter derselben ewigen
Vertikallineale wie eine schräge Borte durch die Halle ziehen muß. Oben
empfängt uns die moderne Schablonenveranda, unbarmherzig ein seichtes
Kreissegment, die Fenster nahe beisammen, polygonal gestellt, die
schmalen, vom Licht überfluteten Streifen zwischen ihnen durch die
eingezogenen Vorhänge befahnt. Und wieder eingebaute Holzbänke, über
ihnen breite Fensterbretter, Gesimse, und daß überall so viel bequemer
Platz ist, Sachen hinzustellen und zu vergessen, das macht die Fadheit
vollständig. Die Uhr versäumt nicht, an einen aufgestellten Sarg zu
erinnern. Die Kredenz ist ein Grabmonument. Und daß alles so
materialecht ist, daß man den Birkenwald so vor den Augen hat -- es ist
zuviel, es macht auf mich wenigstens den Eindruck eines ungeheuren
Wasserkopfs. Ja, etwas Unheimliches liegt in der Behaglichkeit, etwas zu
Fettes und zu Süßes, etwas wie verdorbener Magen. Und genau so kann ich
mir nicht vorstellen, daß in diesem übertrieben hellen oder übertrieben
dunklen Musikzimmer wirklich gute Musik gemacht wird.

Ich gelange zum Kern der Sache: Sollen Möbel schön sein? Kann man es
wünschen, in einer Fuge von Bach zu schlafen und ein Gedicht von Goethe
als noch so ästhetischen Speisetisch zu verwenden? -- Nein, ich bin
dafür, daß das Kunsthandwerk in seine ehemalige Verächtlichkeit
zurückfalle, es verdient nicht mehr. Die Möbel seien bequem -- und es
lohnt sich nicht einmal, besonders lange über neue Bequemlichkeit
nachzudenken. Aber wozu Brüsseler Weltausstellungen, Kulturtaten, wozu
diese Pracht und dumme »angewandte Kunst« bei Sektkellereien! Ich bin
dafür, geschmacklose Möbel in Massen zu fabrizieren -- nicht aber der
Menschheit einzureden, es lasse sich auch nur ein Funken der reinen,
tugendhaften, göttlichen Schönheit, wie er etwa eine inspirierte
Prosazeile Gottfried Kellers erleuchtet, so nebenher auch noch in
Sesseln, Kredenzen und Türklinken einfangen. Ich will begeistert sein,
edel, getragen, heroisch -- nicht aber in einem lauen Mittelmaß
abgetragener Ornamente und zimperlicher Vitrinen mit zufriedener
fortschrittlicher Miene ausruhn.

Ich finde moderne geschmackvolle Möbel einfach unmoralisch. (Und nicht
anders geschmackvolle Buchausstattungen, künstlerische Photographien,
kurz: alle Mittelglieder und Vermittlungen zwischen Kunst und Alltag.)

Doch nein, etwas Schönes sind Möbelausstellungen, etwas phantastisch
Schönes, von niemandem noch bemerkt. Da stehen in einem großen,
prunkvollen Ausstellungspalais, in ganz kalten Riesensälen, in Nischen
verteilt: nicht einzelne Möbel, nein, ganze Zimmereinrichtungen, den
Blicken aller preisgegeben. Man ermesse die tiefe Komik und die Wehmut
zugleich dieser Situation. Die Zimmer sind keine Zimmer, nur Nischen
eines alten Riesensaales sind als Zimmer ausgebaut, und das soll man für
ein gemütliches Zimmer halten. Für ein Kinderzimmer dieses hier, die
Spielsachen sind auf dem Boden hingestreut wie von Kinderhänden, nicht
von Arrangeurhänden -- für ein Schreibzimmer dieses, der fleißige Herr
ist nur für einen Moment hinausgegangen, seine junge, schöne Frau
liebkosen etwa, und hat seine Feder im Tintenfaß gelassen, das offene
Heft hier, die dicken, funkelnagelneuen Nachschlagewerke auf dem Regal
-- oder dieses für ein liebenswürdiges Speisezimmer, knapp vor dem
Eintritt der Familie, alles ist schon zur Mahlzeit vorbereitet, schon
die Themen der künftigen Unterhaltung lauern sprungbereit in den
Schatten der Serviette, die man gleich, sofort entfalten wird. -- Dieser
Schein ist beabsichtigt. Und doch, wie anders, merkt es niemand, stimmt
die Wirklichkeit. Traurige Zimmer, eure vierte Wand hat man eingerissen,
und nun steht ihr, nur durch eine luftige, gewellte, rote Seidenschnur,
durch schwache Stangen vom Gehweg getrennt, jeglichem Einbruch der
Barbaren offen. Niemals werden die idealen Besitzer, deren Geister jetzt
harmonisch euren unwesenhaften Raum bevölkern, niemals wird dieses
märchenhafte, heroische, bescheidene Gedränge biedermännischer und
ehrbarer Gestalten zwischen euren Sesseln schreiten auf zarten
Teppichen, den Napf vom Ofen nehmen, in die Kanapeehöhlung sich
hinflegeln. Sondern ein von euren Jugendträumen gewiß sehr verschiedenes
Einzelindividuum wird euch roh kaufen, einpacken, in den Speditionswagen
aufladen -- und ade, reizvolles Nachdenken in ungewissem Licht. Denn
auch diese Atelierbeleuchtung, die durch einen in ausgespannte Leinwand
verdünnten Plafond fällt, werdet ihr aufgeben müssen, diese
Aquariumsbeleuchtung, diese hellgelbe Teegebäck-Sonne. Man wird
wahrhaftige Fenster in eure bisher noch geschlossenen Wände bohren,
alles wird sich verändern. Traurige Zimmer, und man geht an ihnen
vorbei, als wären sie schon jetzt gewöhnliche Zimmer. Indessen stehen
sie auf Podien, jedes auf seiner mäßigen Holzerhöhung wie ein kleiner,
wenig begabter Violinspieler, kein Virtuose etwa im Glanz der Konzerte,
sondern ein armer Knabe, den reiche Verwandte für ihr Geld ins
Konservatorium geschickt haben und der jetzt nach dem Diner vorspielen
soll, etwas Eingelerntes mit mißklingenden Doppelgriffen. So warten sie
und schauen die Betrachter an, beschämt im voraus vor lauter Angst. Und
ist es da zu verwundern, daß sie ein wenig in Unordnung geraten sind, in
künstlerische Verwirrung, ganz, ganz klein wenig in Lampenfieber? Nein,
man kann nicht die normalen Verhältnisse von ihnen verlangen, wird sich
nicht darüber bei dem diensthabenden Aufseher beschweren, daß hier eine
Vase umgefallen ist -- hier eine Decke sich mit dem Futter nach oben
schlägt -- in diesen auf Podien gestellten Zimmern. Überhaupt, alles ist
ein wenig, nur unmerklich anders als im Leben. Eine gespenstische
Mißwirtschaft hat sich in das sorgfältige Arrangement eingeschlichen,
man kann kaum davon sprechen, z. B. daß dieses Zimmer einen Eindruck wie
etwas Breitgequetschtes macht, jenes mit seinen Rosentapeten und
Seidenfauteuils trotz vorgespiegelter Eleganz entfernt an eine
Rumpelkammer erinnert, an ein staubiges Zusammengedrängtsein und
Zugrundegehen ... Ich erschrecke. Ich glaube vor hundert Bühnen zu
stehen, wo schlechte Schauspieler, als Zimmer verkleidet, unwahre
Grimassen schneiden. Zitternd laufe ich an der in meiner Hand
gleichfalls zitternden Seidenschnur hinaus, ich freue mich des neuen,
schrecklichen Gefühls -- endlich haben moderne Möbel einen Eindruck auf
mich gemacht!

Wenn ich sie aber im Leben sehe, im brauchbaren Tageslicht, dann muß ich
doch nur wieder lachen.

Ich besuchte auf einer Reise mehrere Schriftsteller. Und überall fand
ich diese geometrischen Regelmäßigkeiten, diese Glasscheiben, die nicht
flach in den Rahmen sitzen, sondern vorher noch funkelnd sich
abschrägen, ehe sie münden -- es sind gleichsam keine Glasscheiben,
sondern riesige, simpel allerdings geschliffene Brillanten. Und überall
die flache Veranda, die Metallbeschläge, die Rhomben, die weißlackierten
Kästen, die das Innere der Wand wie einen Berg Sesam öffnen ... Ein
Freund gar führte mich in sein von oben bis unten ganz schwarz gebohntes
Bibliothekszimmer, wie eine Totenburg ragte der Bücherkasten auf,
Fabrikat der »Wiener Werkstätten«. Die monumentale Einfachheit dieser
Riesenkiste stimmte mich weinerlich, das muß ich schon sagen, diese
Einfachheit hat zu sehr das Gigantische einer großen Geldbörse, nicht
eines großen Menschen. Dieses Kolossale ist nicht wie das Meer, nicht
wie eine unermeßliche Aussicht auf eine Landschaft hinab: es gleicht
eher einer Fabriksmauer oder einem unliebenswürdigen Vorgesetzten im
Bureau. Kurz, es macht keinen lustigen Eindruck. Aber dann, als man mir
im Speisesaal nebenan zu einem Braten kleine, weiße, säuerliche
Perlzwieberl anbot, brachte mich die Erinnerung an den mächtigen Schrank
plötzlich zum Lachen. Erklären kann ich das nicht, konnte das zu meiner
großen Verlegenheit auch damals nicht. Nur das gleichzeitige
Vorhandensein eines so königlichen Brokatmantel-Kastens und dieses
winzigen Gemüses mit seinem schlechten, zähen, übelriechenden, delikaten
Geschmack -- man muß das empfinden, oder man versteht es nicht -- man
muß an Mephisto neben dem langbärtigen, dummen Faust denken oder an den
merkwürdigen Zufall, der manchmal passiert, wenn man ein reizendes,
rotbäckiges Baby auf den Schoß nimmt.

Wie ich mir also ein Zimmer vorstelle, damit man darin nicht immer
weinen oder lachen muß, sondern arbeiten kann nach Herzenslust?...
Möglichst kitschig und geschmacklos, natürlich ... Ich habe mir z. B.
ein Sofa machen lassen, aus rotem Plüsch, in der abscheulichsten
Vorstadt-Sezession, mit einem Ornament aus gelben Dreiecken, die wie
Zungen auflecken und die Bestimmung haben, wenn ich mittags zu lange
schlafe, mich in den Leib zu zwicken. Mein Schreibtisch kann ohne
gedrehte Säulchen, ohne imitierte Schlösser, die gar nicht für Schlüssel
eingerichtet sind, ohne Balustraden und verkleinerte Palastarchitektur
gar nicht existieren. So stört er mich nämlich am wenigsten, nur
manchmal danke ich ihm, wenn ich ermüdet bin, durch leises Streicheln
für seine diskrete Häßlichkeit. Man möge entschuldigen, daß rote Tücher
flächenhaft über meine Büchergestelle niederwallen. Das soll kein
Kunstwerk sein, nur das Billigste in seiner Art. Und die lange Leiter
gehört dazu, die an den alten Biedermeierkasten gelehnt jede etwa
reizvolle und stilechte Linie glücklich verhindert ... So ist es, ich
kann nicht heftig genug betonen (denn ich nehme von diesem Thema
Abschied), wie gleichgültig mir Möbel sind, und daß ich die leuchtenden
Erfrischungen meiner Sinne nicht bei ihnen und nicht stündlich suche,
sondern in konzentrierter Form, in auserwählten Momenten. Und das Beste
für diese Lebensweise wären natürlich Möbel aus Wasserstaub, aus Luft,
aus Ätherwellen. Der Leser wird schon bemerkt haben: das geschmacklose
Zimmer ist mein irdisches Surrogat für das unsichtbare, das ich einmal
im Himmel bewohnen werde. Da ist alles in wohltuende Ruhe übergegangen,
an keine Kante stößt man an, niemals ist ein Buch oder ein Manuskript
verlegt, denn in dem Augenblick, in dem ich es hinter die lautlose,
gewichtlose Kastenwand stelle, ist es verschwunden, hat sich ganz
einfach in Nichts aufgelöst. Und im Nichts berühren sich ja alle Bücher,
alle Dinge, die man sucht, alles ist vorhanden, ohne irgendeine leiseste
Spur von Nervosität ... Es klingelt. Der Briefträger ist es, und ich
sehe an der Schrift auf dem Kuvert, daß eine unangenehme Nachricht von
einem unangenehmen Menschen da auf mich eindringt. Keine Angst, ich
ergreife den Brief, und er hat sich schon in so kristallhelle Luft
verflüchtigt, daß ich statt seines Gegendruckes an meinen Fingerspitzen
nur plötzliche Kälte spüre, wie wenn Salmiak verdampft ... Also
wirklich, ich soll jetzt glücklich sein, ich soll nichts mehr empfinden,
als was aus meinem reinen Herzen wie ein Baum emporwächst, wie ein Baum,
dessen Äste von innen her schon erschütternd mein Gehirn berühren. Keine
Pulte mehr, keine Federstiele, keine Schubfächer, die stecken bleiben,
wenn man sie öffnen will. Mit einem Wort, kein Hindernis mehr. Vor Jubel
greife ich mir an den Kopf. Aber auch der ist, überflüssiges Möbelstück,
weggezaubert, und in die geöffneten Nerven klingen die Diskantchöre der
Sphären.



Der Frauen-Nichtkenner


Dank den Bemühungen einiger Schriftsteller, aus deren Liste mir
augenblicklich die Namen: Marcel Prévost, Auernheimer, Maupassant (welch
ein Zufall! gerade diese) einfallen, haben wir jetzt einen Typus der
modernen Frau, einen Grundriß des Weiblichen. Gott sei Lob und Dank, ein
Schema ...

Also: die Frau ist naschhaft, immer lüstern nach Sensationen und zu
Sinnlichkeit aufgelegt, der Grausamkeit nicht abgeneigt, hysterisch,
begeisterte Lügnerin, eifersüchtig auch noch auf den Mann, den sie nicht
mehr liebt, mäßig begabt im Geiste und für theoretische und zarte
Probleme gänzlich ohne Interesse (nur Neulinge langweilen sie damit,
Erfahrenere gehen direkt aufs Ziel los), dafür in der Praxis der
Liebesangelegenheiten dem Manne weit überlegen usw. Diesem Typus »Frau«
entspricht ein Typus »Frauenkenner«. Frauenkenner ist, wer in jeder Frau
den Typus »Frau« mit scharfem Auge wiederfindet. Frauenkenner sind
vornehmlich die genannten Dichter ...

Ich ziehe es vor, ein Frauen-Nichtkenner zu sein.

Warum?... Ganz einfach, weil es mir mehr Vergnügen macht.

Wie geradlinig und schlicht wäre die Welt, wenn alle Frauen mehr oder
minder dem Schema sich näherten. Vielleicht waren es beste Glücksfälle,
daß gerade ich immer (nein, nicht immer, denn auch das wäre zu
geradlinig; aber sehr oft geschah es) mit Frauen ganz anderer Artung
zusammengetroffen bin. Ach, in Gesprächen, die so seltsam und ohne Bezug
auf Dinge dieses Lebens waren, daß sie nur aus Schabernack noch in
irdische Worte gekleidet schienen, gingen wir stundenlang um runde
Wasserbassins aus indigoblauem Marmor, kauften Bretzel und fütterten die
ruckweise auftauchenden Fischmäulchen. Es waren Spiele, sanfte Spiele,
wir dachten keinesfalls an Regeln, Bedürfnis und Ordnungsliebe.

Ein einziges Mal war es mir vielleicht bestimmt, den Typus Weib zu
sehen. Aber der trübe, regnerische Abend, an dem das geschah, verbietet
mir, mich allzusehr auf meine Erinnerung zu verlassen ... Es geschah
dies in einer Hafenstadt wertlosen Namens ...

Ein kleines Torpedoboot war eingelaufen, und nun lag es, müde und
schmutzig, an der Holzverschalung des Ufers. Der gedrungene, dunkle
Schornstein, der schief zurückgelehnt stand wie der Kopf eines, der sich
ekelt, blies seinen letzten Rauch aus. Eine Weile verging ruhig. Ich
dachte an einen gestrandeten schwarzen Vogel. Dann wurde das Brett
angelegt und einige von der Bemannung verließen lustig das Schiff,
große, braunrote Leute mit kühnen Augen, in breiten, wallenden Hosen,
Blaublusen, tief dekolletiert, eine rote, dicke Bindkrawatte unter dem
Matrosenkragen gewulstet ... Nun konnte man an Bord gehen, und viele aus
dem Hafen taten es aus Neugierde. Auch ich bestieg das enge, gewölbte
Verdeck, machte schmale Schritte, da ich immerfort an Schrauben, eiserne
Scheiben, Hebel mit dem Fuße anstieß. Die Damen hoben ihre Röcke, denn
alles war vom Regen naß. Während die Mannschaft, die in weißen
Arbeitskitteln auf dem Schiff geblieben war und eifrig an der Wäsche
seifte oder sie an Stricke zum Trocknen hängte (es regnete aber immer
noch ganz fein), um die Gäste wenig sich bekümmerte, zeigte uns ein
junger, freundlicher Offizier die Hängematten, den kleinen Schlafraum in
der Vertiefung des Vorderdecks, das imponierend-drehbare
Maschinengewehr, die Falltüren zur Kapitänskajüte und zur
Munitionskammer, die unverständlich große Dampfmaschine unten, die
Ventilationsluken, die verderblichen Lancierrohre ... Er erzählte
lächelnd, daß solch ein Torpedoboot so und so nahe, sehr nahe, an den
Feind heranfahren muß, um sein Geschoß abzufeuern. Und das ist
gefährlich, die Scheinwerfer spielen und sehen, man riskiert sein
Leben ...

Neben mir steht eine hohe Blondine, sehr fahl im Gesicht, mit fast
weißen Augenbrauen über den dunkeln Augen. Hart und gierig sieht sie den
freundlichen Offizier an, und während der Wind rauschend über unsere
Köpfe fährt, kommen aus der edlen, rosigen Kurve ihres Mundes diese
Worte: »Sind Sie schon einmal in Lebensgefahr gewesen?«

Der Offizier enttäuscht sie sichtlich, da er mit »Nein!« lächelnd und
wie ein sympathisches Kind antwortet.

Er geht weiter uns voran und zeigt uns das Rettungsboot. Mißmutig
streicht die Blonde über die nassen Planken von weißer Lackfarbe. Der
liebe Offizier erläutert den Kran, die Kommandos, er führt die
Schwimmwesten aus Kork vor, die numeriert sind und schon dadurch ein
wohliges Gefühl von Geborgenheit einflößen, er sucht uns wirklich auf
alle Weise über das Schicksal der tollkühnen Angreifer zu beruhigen.

»Aber nein,« schreit die Blonde, grell, enttäuscht, »da können Sie ja
überhaupt gar nie in Lebensgefahr kommen!«

Alle sehen sie verdutzt an. Ich halte mich zitternd am Kompaßständer
fest.

Der Offizier verbeugt sich gefällig gegen sie, und so gut (ich liebe ihn
schon wirklich) sagt er: »Nun, es ist ja allerdings doch nicht für uns
alle Platz in dem Boot, Gnädigste.«

Sie wendet sich ab, ich bemerke noch, wie sie erleichtert und mit
krankhaftem Zucken der Nasenflügel zu weinen beginnt. Der braune Wind
rauscht, die benachbarten Schiffe schaukeln ein wenig, es ist fast
Nacht ...

Also, das war der Typus »Frau«, sensationslüstern, grausam,
hysterisch ...

Lieber Gott! wie mich diese Hysterie schon langweilt! Vielleicht
brauchte ich nur die Augen aufzumachen, um mehr von diesem Typus zu
sehen. Aber ich will gar nicht. Es ist ja so angenehm, liebenswürdige
Haltungen des Kopfes vor den Augen einer Frau einzuüben, mit ihr über
die Farbe einer Wolke zu streiten, gelinde, gelinde natürlich, das
Dessert für übermorgen und die Mode unserer Urenkel zu beraten, nichts
als zwecklose Dinge. Wie gesagt, ich ziehe es vor, ein Frauen-Nichtkenner
zu bleiben ...



Der allerletzte Brief


1. Der Brief.

Mein lieber Feind,

bisher bist mein Freund Du gewesen, aber mein gehaßter Freund. Und von
diesem Haß, den Du vielleicht nie geahnt hast, wird heute noch viel die
Rede sein ... Vorläufig das eine: sei statt dessen, was Du mir bisher
warst, lieber mein Feind; mein lieber Feind, wenn Du willst.

Seit vier Jahren, seit wir einander kennen, ... verkennen wir einander.
Unausgesetzt hast Du mich mißverstanden, unermüdlich. Du hast mich
mißverstehn wollen, das ist das Schlimme, und daß es dir auch gelungen
ist, nur eine nebensächliche Verschärfung ... Erinnre Dich nur, was für
merkwürdige Eigenschaften, die ich ganz und gar nicht besitze, Du in mir
entdeckt hast. Vor allem ist Dir immer meine Feinheit bewundernswert
gewesen, meine zarten und eigentümlichen Fingerbewegungen, »diese
Aquarelle von Liebesstunden, die Mousseline des Benehmens, die
Zierstücke seltsamer Einflüsterungen« ... Nun wisse (Du weißt es schon
längst, immer), ich bin gar nicht so vornehm geartet, bin gar nicht so
eigentümlich. Ich würde es für beleidigend halten, wenn jemand eine
kultivierte Frau mich benennte. Ich bin eine schöne Frau, weiter nichts.
Mein Äußeres ist mein Tiefstes, wirkt als einziger Schatz um so
glänzender vor dem im übrigen schattigen Hintergrund meiner gewöhnlichen
Persönlichkeit ... Und ich verzichte gern darauf, den klügsten Männern
ebenbürtig und Arbeitsgenosse zu sein. Da ich sie beherrschen kann.

Du hast mir ferner eingeredet, ich sei gut. Nicht im Sinne der
herkömmlichen Sittlichkeit, die ich um Deinetwillen oft gering schätzte.
(Und das tut mir auch heute nicht leid, das nicht.) Aber ich sei brav,
sagtest Du, von Mildheit zukünftiger Generationen erfüllt, dem
kategorischen Imperativ einer bessern Welt gehorsam. Und so unschuldig
sei ich, sagtest Du ... Was für Unsinn. Ich lehne es entschieden ab,
unschuldig zu sein. Unschuldige Frauen sehen dumm aus. Und nur die
Schuldigen wissen Mienen von Unschuldigen zu tragen.

Du dichtetest mir an, ich sei treuer als die andern; Du ließest mich
unkokett sein (unschädlich mithin für Dich und weniger zeitraubend. Wie
fein war das eingefädelt.)

Meine Redeweise, ehe ich in den Verkehr mit Dir geriet, war höchst
läppisch. Ich gefiel mir in Witzen, in Wortspielen, in Stacheln und
Qualen ... Du hast als mir eigentümlich mir eine Lyrik der Sätze
beigebracht. Glockentöne in der Stellung der Vokale und durch
merkwürdige Drehungen der syntaktischen Fügung erzeugte Melodien. Weil
es Dir gefiel, im Sommer abends am Flußnebel unklare Gespräche,
geschmückt mit sehr langen Pausen, zu haben, deutetest Du meine
Ratlosigkeit damals als ein Schweigen infolge verständnisvoller
Stimmung. Ohne Unterlaß hast Du mich umgedeutet. Immer hast Du nur das
an mir gesehn und gehört, was Du hören und sehn wolltest ... So oft war
ich trivial, meiner Natur nachgebend, habe alltägliche Dinge gesagt,
ganz einfach Sprichworte, moralische Lehren aus dem Abreißkalender. Und
Du bliebst auch dann stets noch heuchlerisch genug, diese dummen
Redensarten in Entzückung einzufangen, die durch meine Lippen in
Schwingung versetzte Luft mit kostbaren Ausrufen der Freude zu umrahmen.
Du wolltest mich glauben machen, ich sei Dir ebenbürtig, ganz von selbst
fließe mir eine Welle bedeutsamer Ansichten unversieglich zu und alles,
was ich rede, klinge reizend, sanft und entrückt ... Und Deine
bestimmten Entgegnungen, wenn ich mich weigerte, wenn ich sagte, Du
überschätzest mich! Deine manchmal beinahe überzeugenden Zwischenrufe,
wenn ich im Zuge war, meine Werktäglichkeit zu beichten!...

Ohne darüber nachzudenken, daß ich vielleicht mir eigentümliche Vorzüge
haben könnte, hast Du mir kurzwegs einige Vorzüge nach Deinem Geschmack
obenauf angeschminkt. Du hast retouchiert. Schließlich war ich eine
Vollkommenheit von Deinen Gnaden, ich danke schön.

Wenn Dir nur jemals irgend eine lebenskräftige Dummheit entschlüpft
wäre! Aber nein, selbst Deine Dummheiten waren hübsch anzusehen,
verzeihliche Streiche eines liebenswürdigen Kindes. Wenn Du mich nur
jemals gelangweilt hättest! Aber nein, Du hast mich immer entzückt. Das
verträgt keine Frau.

Wie ich Dich immer gehaßt habe! Mein Gott, wie ich Dich gehaßt habe!

Wenn ich so zu Dir kam, ein fehlerhafter Mensch, aber doch ein Mensch;
frischauf atmende Lungen, ungleichmäßige Herzschläge, Finger voll Gift,
boshaft-lebendige Wangen ... wenn ich die Treppen zu Deiner Wohnung
hinaufstürmte, mit dem festen Entschluß, heute Dir alles ins Gesicht zu
schreien, Dir ins Gesicht zu schreien: Liebe mich, aber liebe mich
endlich einmal so gemein, wie ich bin!... und wenn ich dann die Türe
öffnete, die schauspielernde Luft Deiner Zimmer, den Dunstkreis des
Unendlichen eintrank ... dann war alles wieder vorbei ... Wir sahn als
zwei seltsame Menschen einander in die Augen, ich war bezaubert, ich war
nach Deinem Wunsch. Wohin versanken da die Entschlüsse, die
Selbständigkeiten ...

Ein umgekehrter Fall der Nora: wie gern wäre ich die Puppe geblieben!
Aber Du wolltest mich jedenfalls zu Gott weiß was Besonderem machen.

Ja, ich war glücklich ... Welch eine sichere Zeit atmete ich bei Dir,
nichts konnte mir etwas anhaben. Wir besprachen dies und jenes. Wir
stellten zwecklose Dinge an. Wir küßten einander in aller Liebe, aber
immer ein wenig pierrotmäßig. Alles war ein Spaß, ein Luftzug, eine
Frage. Und die brutale Realität schien entfernt, das Leben ein
klein-harmloses, unzerreißbares Bilderbuch nur ... Und o! wie hast Du es
immer abgewehrt, wenn ich Dir sagte: Du betrachtest das Leben als einen
Spaß. Das durfte nicht ausgesprochen werden, durch so grobe
Konstatierungen wären wir schon wieder ins Reich des Tätlichen gerückt.
Daß Du das Leben wahrhaftig als einen Spaß betrachten konntest, wurde
nur dadurch ermöglicht, daß Du immer behauptetest: O nein, ich nehme das
Leben sehr ernst ... Wie wunderbar warst Du oft durch das, was Du
verschwiegst. Und nicht einmal das ließest Du zu, daß man Dein
Verschweigen bewundere. Einen Firnis von Schlichtheit, Ungeschicklichkeit
sogar legtest Du über Deine feinsten Dinge. Und durch graziöse
Schnörkel des Schweigens und Sagens hieltest Du uns beide
beständig in der Höhe, über den Wahrheiten. Nie machten wir einander
Geständnisse. Nie waren wir intim und vertraut. Aber wenn ich zu Dir
kam, verschwanden alle meine Sorgen, machten alle Befürchtungen ein
unwichtiges, fast drolliges Gesicht. Gerade dadurch, daß Du mich nicht
tröstetest, tröstetest Du mich ... Und wie schön, wenn wir uns Mühe
gaben, einander näher zu kommen! Diese Selbstbekenntnisse geschahn so
unwegsam, in einer so verzwickten und schwierigen Manier, daß wir
einander immer nur noch verhüllter, interessanter wurden. O diese
fluoreszierenden Auseinandersetzungen, diese Erleuchtungen ohne Halt,
diese unrichtigen Klarheiten und diese Unklarheiten!

Wie glücklich war all dies!

Wie ich dich immer geliebt habe! Mein Gott, wie ich Dich geliebt habe!

Ach, vielleicht ist es ein Unrecht, daß ich diesen Brief Dir schreibe.
Gewiß tue ich Dir Unrecht, denn Du warst immer gut zu mir ... Und jetzt
verwirrt sich mir alles. Als ich diese Zeilen begann, war mir unser
Verhältnis so klar, so schlimm, so verächtlich. Ein Magazin von
Kontrasten und Angriffen stand mir zur Verfügung ... Wie kommt es, daß
in diesem Augenblicke verschwimmende Gebirge über mich stürzen, rosige
Bergketten vom bewegten Horizont her, Zweifel, Subtilitäten ohne
Zahl ...

Vielleicht ist alles, was ich Dir heute schreibe, auch nichts anderes
als solch eine fluoreszierende, verzwickte Auseinandersetzung, durch die
wir einander nur noch interessanter werden?...

Ich will nicht darüber nachdenken. Aber eines: Habe Mitleid mit mir!
Mitleid! Und wenn auch gerührte Leidenschaft, Verständnis für Tragik
Deine Sache nicht ist .... aus Mitleid begreife dieses eine Mal die
nackte Wahrheit, den großen Ernst der Tatsachen, die Schrecken meiner
inneren Krisis. Gib mich frei. Gib mich endlich frei. Ich will Dir nie
mehr schreiben. Ich will Dich nie mehr sehn. Es ist mein fester
Entschluß, mich nicht länger von Dir beeinflussen zu lassen. Ich bitte
Dich, vergiß mich oder sei mein Feind. Gib mich frei!

  =Anfissa.=


2. Antwortbillett auf diesen allerletzten Brief.

Du vergißt doch nicht, Liebste? Morgen um 6 Uhr bei der
Apollinariskirche.

  =Dein Carus.=



Zufällige Konzerte


Ach wie auf Erden nichts, wie nichts auf Erden gleicht den Schauplätzen
angenehmer Begebenheiten! Das Postamt war rot. Gleichfalls die Kirche
machte kein Geheimnis aus ihren deutlichen Ziegelsteinfugen. Von da in
den Kurpark reichten wenige Schritte. Und man erging sich in diesem ohne
jegliche Verantwortung, dem Bewußtsein ungerechten Vorzugs fremd,
wiewohl die vielfach krummen Wege so zeitverschwenderisch waren und die
reichlichen Seelüfte darin eine ganz unverdiente Belohnung für uns
Müßiggänger. Daran dachte man nicht; o die Schauplätze angenehmer
Begebenheiten. Weil's mir damals gut, so richtig gut ging, fiel mir nie
es ein, die Anlage dieses Parkes auf Steuern und Taxen, seine
freundliche Abwechslung der Gebüsche, Wiesen und Bauminseln auf
ermüdende Studien ausländischer Werke über Hortikultur, die Kinderfeste
auf geschäftstüchtige Tricks der Badeverwaltung und Toiletten der Damen
auf Berufspein ihrer Ehemänner zurückzuführen; kurz alles auf das
ökonomische Prinzip. Sonst erscheint mir doch die Welt so gnadenlos
betrieblich und zielbewußt, im Dunst des Arbeiten-Müssens, von
Fabrikswaren besetzt. Damals jedoch bewegte sie sich liebenswürdig. Und
als ich einmal, von irgendwelcher Bank aus ganz ferne Kurmusik zu hören
bekam, verübelte ich dies niemandem, sondern ich hörte gut zu und
staunte nur ... Das Stück, auf seinem Wege durch die Bäume her zu mir,
hatte Blättergrün und Zweige, Tau, Sonnentupfen in seine Töne
mitgenommen, sie wehten gefärbt und aufgefrischt. Das Herablassen einer
Persienne im Hotelfenster links blinzte aus ihnen, mit den Spatzen des
Sandwegs und mit dieser Vormittagsstunde in Südostbrise. Mein Herz
klopfte. Wie ein hinter erglühender Luft bebendes Gebäude, wie ein Shawl
in Bewegung, aus dem die eingewebten Metallstücke glänzen, standen die
Akkorde vor mir, wie das Laforguische _je ne sais quoi qui n'a de nom
dans aucune langue, de même que la voix du sang_ ... Indessen erkannte
ich das Stück nicht, wiewohl es mir geläufig war. Ich ging zwischen
seinen kontrapunktischen Stimmen wie zwischen Häuserfronten, und es war
wie in der Heimatstadt manchmal, wenn man aus einem neuen Durchhaus
tritt oder von ungewohntem Standpunkt her beobachtet. Alles ist fremd
und dennoch alles vertraut. Ich weiß, daß ich zu Hause bin und dennoch
kenne ich mich nicht aus. So vergißt man auch bisweilen, aus Träumen
nachts erwachend, die Lage der Fenster, die Wand am Bettrand, rechts und
links im Dunkel. Jeden Augenblick kann die richtige Orientierung
einfallen, mit einem Schlag alles ins gewöhnliche Licht ordnen, aber das
zieht man in süßer Qual hinaus, absichtlich verwirrt man sich und ist in
fremder Stadt, in fremdem Bett. Endlich längs eines Geigenlaufs schwinge
ich mich in die Erkenntnis, daß ich die Meistersinger-Ouvertüre vor mir
habe ... So wohlgetan hat sie mir schon lange nicht, seit ich vor Jahren
mit ihr bekannt wurde, seit den ersten Entzückungen nicht mehr. Ich
sitze da und, gerührt von jeder Modulation, danke ich dem lieben Gott
für sie. Manchmal überrascht mich so die Musik, wie aus einem
freundlichen Hinterhalt, und das wollte ich sagen: dann findet sie die
Seele ganz anders offen als im Theater oder in den zweckdienlichen
Konzertsälen. Zufällig kommt sie, Wind trägt sie her und löscht sie aus,
Sonne wie über die Alpen gießt sich über Melodien. Niemand bietet mir
Programme an oder das mit einer harfenschlagenden Dame gezierte
Titelblatt eines thematischen Leitfadens. Keine Vor- und Nebensitzenden,
keine Presse, keine Bonbons, nicht Gucker, nicht Begeisterung, nicht
gemachte Begeisterung und keine aus Furcht, die Begeisterung könnte
gemacht erscheinen, gemachte Nicht-Begeisterung. So natürlich geht alles
und nicht einmal stolz sein auf seine Natürlichkeit kann man. Man hat
weder Zeit, sich in Frack, noch aus Protest gegen Zeitvergeudung bei der
Toilette nicht in Frack zu werfen. Einfach wird man vom Genuß
attackiert, auf kurzem Wege vergewaltigt ...

Himmlisch! auf der Straße entzückt es mich, wenn ein Vorübergehender
nicht ganz richtig die inniggeliebte Barcarole ans »Hoffmanns
Erzählungen« pfeift ... Der Cafetier läßt seinen Phonographen
losknirschen, ich verliere die Zeitung aus der Hand, denn so süß wie
nichts mischt sich in das Klappern der Tassen und in Geflüster von
andern Tischen her die Arie der Tosca ... In einer fremden Stadt hörte
ich einmal ein Bach-Präludium, sehr gut auf einem jedoch schlechten
Klavier (die Töne knatterten so) vorgetragen. Nie werde ich vergessen,
mit welcher Freude ich damals in das gegenüberliegende Haus trat und zu
dem offenen Fenster hinaufhorchte. Ich hörte auch noch die Fuge an und
ging dann in Glück meiner Wege ... Begeistert bin ich für Nationalhymnen
der Soldaten, die zufällig unten meinem Fenster vorbei in die Schlacht
marschieren ... für die angstvoll asthmatischen Klänge eines
Leierkastens auf verlorener Landstraße, die an den Geruch doppelt
gewärmten Dorfkaffees erinnern; der Mann beginnt zu kurbeln, wenn er uns
von weitem herannahen sieht, und zwar genau dort, mitten in einem
Doppelschlag meinetwegen, wo er aufgehört hat, als er den Wanderer vor
uns genügend weit mit seinen Tönen geleitet erachtete ... Ich liebe auch
die städtischen Flaschinetts, hohlflötend und scharf; die Musik alter
Ringelspiele; Orchestrions mit Janitscharenmusik; wispernde Aristons mit
ihren Stahlbürsten, die plötzlich vom Wäschekasten herab oder beim
Öffnen eines Stammbuchs einem Glockenspiel ähnlich erklingeln; die
Berlioz-Instrumentation der Straße zur Singstimme eines fensterputzenden
Dienstmädchens ... Oder ich ziehe mit den Gabelzinken in gestehendes
Fett der Schöpfenbratensauce Kratzrinnen, die ich dann zu wohnlichen
Gassen mit Häusern, groß und klein, mit Verkehrshindernissen und Volk zu
vergrößern weiß. Das bringe ich fertig. Ich vergrößere auch oft das
Eßzeug in Gedanken, mache aus dem Tisch eine weite Ebene, beschneit
infolge des weißen Tischtuchs, die Teller sind wie Gebirge, die Messer,
Gabeln, Löffel wie silberblinkende Seen, sicher wie ein Glaspalast steht
mitten in weiter Einsamkeit das Salzfaß. Dazu summe ich gewisse
Schlußsätze von Brahms, zum Beispiel den aus der Cellosonate F-Dur
op. 99 oder aus dem Streichquartett (oder ist es ein Quintett?) G-Dur.
Er geht so ... Könnte ich ihn doch allen vorsummen, die mir nicht
glauben wollen, daß er in diese traute, friedlich im Familienkreis
dämmernde Kinderstuben-Vergrößerungsstimmung (ich nenne sie auch
Knecht-Ruprecht-Stimmung, aber ich weiß nicht, warum, und ich denke
dabei auch an Marktbuden am Abend und Spielzeug aus farbigem Holz)
einzig schön hineinpaßt ...

Das sind meine Vergnügungen.

Nun will ich, bitte schön, nur kein Programm daraus machen, keinen
Antrag auf Umstürzung unsres gesamten Konzertlebens, keine Aktion mit
dem Motto: »Aufgepaßt! Sie können sich noch retten. Es ist höchste Zeit,
daß etwas für unsere Kultur geschieht!« ... Das liegt nicht in meinem
Sinn.

Ich habe nur meine Notizen gesammelt, von deren Belanglosigkeit leider
für das praktische Leben ich aufrichtig überzeugt bin, und gebe sie hier
zum besten.



Mein Tod


Von allen Tatsachen des Seins, die man zu szenischer und dichterischer
Behandlung in Anspruch genommen hat, scheint sich der Tod als die
unfruchtbarste erwiesen zu haben. Die Idee des Todes dient dazu, um die
Romane oder Trauerspiele abzuschließen, abzuschneiden nur in manchen
Fällen, sie soll schrecken und erhabene oder auch wohl groteske
Ausblicke gewähren (»Der Tod ist in der Welt« -- Byrons »Kain«) oder
bestenfalls wie im »Hamlet« dazu dienen, die philosophischen Spielereien
eines Grüblers zu veranschaulichen. Wo der Tod auftritt, zeigt er sich
in einer dieser drei Gestalten. Einfach und banal. Das richtige Nichts,
über das auch nichts zu sagen ist. Was jedoch nicht ausschließt, daß er
bei Publikum und Kritik in beinahe ebenso hohem Ansehen steht wie andre
banale und leere »große Ideen«, zum Beispiel: der Pantheismus. Braucht
es doch heutzutage nur des leisesten Verdachtes, daß ein Dichter
»Pantheist« ist und den großen Zusammenhang der Natur fühlt, die Natur
in sich, sich in der Natur, und wie alle die bereitstehenden Floskeln
heißen, um ihm sofort den Ruf eines großen Tiefsinns und göttlichen
Ernstes zu verschaffen, wie denn auch ganz Deutschland auf Verhaeren
prompt hineingefallen ist.

Stellen wir also fest: man hat den Tod trotz aller Pflege bisher
vernachlässigt. Man ist von ihm zu sehr geblendet, läßt sich zu sehr
imponieren. Immer nur Tod als etwas Großes, Abschließendes,
Langweiliges, ... das kann doch nicht alles sein. -- Doch nun fällt mir
der Übergang schwer. Soll ich sagen, daß ich, um dem dringenden
Bedürfnis einer detaillierteren, ruhigeren Dichterbehandlung des Todes
abzuhelfen, auf die nachfolgenden Dinge verfallen bin? Wie unrichtig
wäre das! Fasse man vielmehr das Bisherige als ungeschickte Einleitung
auf, zu der mich die innere Erregung über das Nachfolgende, das mich
natürlich zunächst beschäftigt, verlockt hat. Ich habe da wirklich
Merkwürdiges zu berichten; man kann mit der Idee des Todes ganz familiär
werden, das ist's, oder noch besser: sie ist ebenso aller
Abschattierungen vom Traurigsten zum Süßesten und Gleichgültigsten fähig
wie alle menschlichen Dinge.

Da lese ich, an einer Straßenecke wartend, ganz zerstreut, nur durch das
farbige Bild angezogen, folgenden Witz (das tschechische Witzblatt, das
ihn enthält, hängt aufgeschlagen hinter der Glasscheibe eines
Buchhändlers):

=Ballerine=: Du, und was sagt denn dein Vater eigentlich zu unserem
Verhältnis?

=Junger Herr=: Er weiß doch nichts davon.

=Ballerine=: So, wird denn bei Euch keine Bilanz gemacht?...

Das habe ich gelesen und starre nun in die Luft, den Passanten entgegen.
Es ist schwer zu beschreiben, was da in mir vorgeht ... Ich suche diesen
Witz zu begreifen, denn ich verstehe ihn nicht. Ich suche, indem ich
mein Hirn umwühle, irgendeinen Standpunkt zu finden, von dem aus mir das
eben Gelesene irgendwie auffallend, bemerkenswert, stark, wertvoll oder
amüsant erschiene. Es muß doch etwas daran sein, sage ich mir, sonst
würde man es nicht drucken, illustrieren, in der Hauptstraße ausstellen.
Aber trotz aller Anstrengungen verschwimmt es mir, erscheint matt und
von einer krankhaften Farblosigkeit. Wäre es ein Mädchen, ich müßte es
als »krankhaft-interessant« oder so ungefähr bezeichnen. So zart und
blaß steht es (ich meine: den Sinn und die Gesamtheit dieser Worte) im
Hintergrund meiner Gedanken, opernhaft bescheidene und doch jedenfalls
temperamentvolle Mignon! Ich empfinde eine krankhafte Wollust, so an der
äußersten Peripherie meiner Denkfläche gekitzelt zu sein, dort wo mein
Verständnis aufhört und nur noch unscharfe Bilder liefert. Mit
wissenschaftlichem Interesse förmlich verfolge ich das Erlahmen meines
Denkmechanismus, wie etwa der Experimentalpsychologe die geheimnisvollen
Vorgänge am Rande des Sehfeldes prüft. Ich beobachte, wie mein Verstand
dieses ihm Dargebotene, das zu weit abliegt von den Dingen, mit denen er
sich sonst befaßt, nicht mehr fassen kann, es mit andern Dingen
verwechselt, daran herumarbeitet, schließlich kraftlos es in den
allgemeinen Trubel der Welt, aus dem er es für einen Augenblick
hervorgezogen hat, zurückfallen läßt. Und ganz deutlich mischt sich in
das Gefühl der Schwäche und Ermüdung nun eine Art von humoristischer und
doch wehmütiger Todesahnung, die ich eben beschreiben will ... Doch auf
diesem Wege komme ich ihr nicht näher. Vielleicht anders.

Manchmal, wenn ich so recht müde bin, in der Nacht -- in einem
Kaffeehaus ist man schon ohne Erfolg und ohne Lust gesessen, jetzt freut
man sich auf das kühle Bett zu Hause, aber wieder fällt es zum Unglück
einem Kameraden ein, ein anderes Lokal vorzuschlagen und aus Mattigkeit
kann man nicht »nein« sagen, läßt sich wieder aus der reinen Nachtluft
in lärmenden Rauch verschleppen -- in solcher, tieftrauriger und wohl
auch erbitterter Abgeschlagenheit, wenn die Augen beißen, die Lippen weh
tun, erscheint jenes Todesgefühl wieder. Und wieder in der Form, daß ich
mein Vermögen, Dinge aufzufassen, schwinden fühle. Ich kann zum Beispiel
nicht mehr feststellen, ob der schwarze Fleck auf der Sessellehne
jenseits des Tisches ein Ornament dieser Lehne ist oder etwa ein Teil
des dunklen Anzugs meines Freundes oder vielleicht etwa ganz weit hinten
im Saal, ein Stückchen Klavier, das perspektivisch über die Sessellehne
ragt. Ich kann das nicht feststellen, weil ich keine Lust, keine
Berufung dazu fühle. Lasse lieber einen unanalysierten, unreinlichen
Komplex in meinem Gehirn. Man reicht eine komplizierte, glänzende
Schüssel auf den Tisch, allerlei Farbenflecken sind auf ihr, vielleicht
Backwerk, und ein dumpfer Lärm brandet um sie her, aus ihr heraus,
sollte sie ein Musikinstrument sein? Ich kann sie nicht mehr auflösen,
ich bitte einen neben mir, das Zweckdienlichste in bezug auf diese
Schüssel oder was es sonst ist, zu unternehmen, nur mich in Ruhe zu
lassen. Es ist der tiefste Punkt der Erschlaffung. Der ganze Körper ist
eine einzige, müde, wunde Fußsohle ... Und da denke ich mir nun: »Max,
jetzt bist du tot. Vielmehr, du warst tot und bist jetzt soeben wieder
zum Leben aufgeweckt worden. Da bist du jetzt natürlich ganz ungeübt,
unbeholfen, elementar. Nur die einfachsten Dinge des Lebens sind dir im
Gedächtnis geblieben, nur solche, die dir im Leben das Wichtigste waren.
Fragte man dich beispielsweise jetzt nach Flaubert, da würdest du noch
etwas wissen, wenn auch nicht so viel wie in deiner Blüte. Auch Worte
wie: Geliebte, Vaterland, Mutter -- wären dir zur Not verständlich,
gäben dir etwas zu fühlen. Aber diese Weinstube? Waren dir jemals in
deinem früheren Leben Weinstuben wesentlich, zentral? Nun ist aber nur
der Mittelpunkt deines Ich erst erwacht, auf das andere sollst du dich
erst allmählich besinnen, und da kommen solche barocke, willkürliche
Einrichtungen wie eine Bar mit hohen Sesseln noch lange nicht an die
Reihe. Dies, Max, die Erklärung deines gegenwärtigen Zustandes. Du hast
dich zu nebensächlichen Eindrücken zu entwickeln noch nicht Zeit gehabt.
Also schlafe, schlafe nur ruhig ...«

Ich habe auf diese Art im höchsten Grade die Eigenschaft, mich geistig
tot zu stellen und so zu vereinfachen ... Plötzlich mitten in meinem
Treiben findet sich mir die Frage ein: Was würde ich zu dieser Sache
sagen, wenn ich soeben aus dem Grabe entstiege? Oder noch verschärft:
Was würde jemand zu dieser Sache sagen, der nur für einige Augenblicke
aus der tiefen Ruhe des Jenseits hierher versetzt würde und gleich
wieder weg müßte? Hierher, zum Beispiel vor die Oper in Paris? Welchen
verworrenen Eindruck, welchen falschen, müßte er sich von diesen Dingen
machen?... Oder noch anders: ich liege halbschlafend nachmittags auf dem
Kanapee, da weckt mich leise, falsch gespielte Salonmusik, die mir nie
das Geringste bedeuten kann. Und doch, wie dankbar wäre ich für diesen
leeren Fetzen Realität -- ein Jahr nach meinem Tode, wenn ich plötzlich
erwachend nichts als eben dieses Stück hören könnte, diese Erinnerung an
meine ehemalige Existenz. Und wie würde sich diese Musik in einem
solchen Moment meiner Seele ausmalen? Ich könnte mir vielleicht im
Augenblick nicht herauskonstruieren, was das »leise« »falsch gespielte«
»Salonmusik«, was das überhaupt bedeuten soll »Schallwellen« ... Es ist
köstlich, für einen Moment mit Hilfe dieses Tricks (ich bin tot, soeben
wieder erwacht) alle die komplizierten Erfahrungen, die man hat,
preiszugeben, sich selbst gleichsam in einen Urzustand zu versetzen und
nun zwischen den fein ausgebildeten Lebensdingen ratlos umherzutappen
wie in einem ungeheuerlichen Chaos, in einer ganz sinnlosen Rumpelkammer
... Wir üben jetzt ein Quintett. »Noch einmal drei Takte vor M«, schreit
einer wütend, weil es nicht klappt. Ich weiß sofort, was er meint. So
eingefahren bin ich in diese, von mir doch so wenig notwendig erlebte
Konstellation. Was würde von all dem Herumsitzen, Stimmen, Plaudern,
Sich-Anstrengen übrig bleiben in meinem posthumen Gedächtnis? So zieht
man ein Schema seines Daseins, um dann mit doppelter Lust vorläufig noch
das Unschematische weiter zu genießen.

Das Thema dieses »posthumen Gedächtnisses« hat noch einen Ausläufer. Ich
habe nämlich schon zu Lebzeiten ein teilweise posthumes Gedächtnis ...
Zur Erklärung: Die Symphonien Beethovens, die Königsdramen Shakespeares,
die Violinsonaten von Bach, Brahms und Reger gehören doch zu meinem
essentiellen geistigen Besitzstande, glaub' ich. Näher geprüft, ergibt
sich, daß ich sie nur deshalb zu besitzen meine, weil ich sie periodisch
immer wieder durchnehme. Aber jedesmal bin ich doch wieder von ihnen
überrascht, entdecke neue, schon halbvergessene Schönheiten. An den
Percy Hotspur hatte ich schon beinahe ganz vergessen, da ist er wieder,
willkommen, mein Held, denkst du noch an unsere letzte Begegnung vor
drei Jahren, in drei Jahren also auf Wiedersehen!... Aber mein Glauben,
daß ich alle diese Dinge und noch einige andere, mir unentbehrliche, zu
jeder Zeit im Kopf habe, ist doch nur Fiktion. Dadurch entstanden, daß
ich sie jeden Augenblick wieder auffrischen kann ... Wenn ich aber nun
sterbe, dann ist doch diese Hoffnung auf weitere Periodizität zu Ende.
Dann kann ich nichts mehr auffrischen. In diesem Moment weiß ich nur
das, was mir gerade aktuell (nicht nur potentiell) im Kopf ist. Und ein
großer Teil, ja der größte der Dinge, die ich liebe, wird also schon
lange vor mir gestorben sein; -- zu jener Zeit, da ich eben nichts
ahnend zum letztenmal die Percyszenen gelesen habe und ihre Details
vergesse, sterben sie. Diesmal ist es ein Vergessen für die Ewigkeit ...
Mit einem Satze: ich kann nicht in einem Moment meiner vollsten
Ausbreitung sterben. Ich sterbe allein, ohne meine liebsten
Lebensbegleiter. Sie haben sich schon längst, zu verschiedenen Zeiten
von mir verabschiedet, allmählich, einer nach dem andern, ohne daß ich
es bemerkt habe. Vielleicht ist heute, während ich dieses schreibe,
schon ein Teil meines Ich, meines Wissens und meiner Gefühle tot, tot
für immer und ich weiß gar nichts davon ... Diesen Zustand immer vor
Augen, ist es da ein Wunder, daß ich den Erlebnissen meines Daseins mit
einer überzärtlichen Hingabe entgegenkommen möchte, daß ich sie immer,
wenn sie wieder auftauchen -- zum Beispiel den Einsatz der Geigen in der
Zweiten Brahmssymphonie, den Napoleon von Lautrec usf., -- wie Freunde
begrüße, die noch einmal zu sehen ich kaum erhofft habe ... Ja, es hat
neben den komischen auch seine rührenden Seiten, wenn man mit dem Tode
sich auf guten Fuß stellt, wenn man dem allgemeinen und nichtssagenden
Sterben es vorzieht, schon bei Lebzeiten seinen eigenen, ganz privaten
Tod zu haben.



Unter Kindern


Viele Nachmittage in diesem Sommer verbrachte ich unter Kindern. -- Eine
schöne, gütige Dame, die mich kannte und mein Vergnügen an neuen Dingen,
lud mich öfters auf ihre Villa ein, nahe bei Prag. Die Ortschaft heißt
Koschirsch. Dort sind Obstpflanzungen, Gärten, Restaurants für
Ausflügler, auch ein paar Fabriken, die aber der Luft nicht weh tun, und
vor allem ein Zug der herrlichsten Anhöhen, voll von Gestrüpp, Bäumen,
versteckten Pfaden, Drahtzäunen und feisten Grasbüscheln, über die man
ausrutschen muß.

Die Dame wußte wohl, daß zehn Jahre viel Zeit sind und daß ich
inzwischen viel Kindliches vergessen habe, wenn auch nicht alles. Und
diese Dame hat zwei Kinder, ein lustiges Mäderl und einen kühnen,
schlanken Buben, und die haben Freunde und Freundinnen, da gibt es oft
Gesellschaften. Da war ich also auch mit eingeladen.

Lärm, der zum Himmel dringt, ungeheurer Lärm, Kreischen noch darüber
hinaus wie eine Feuersäule aus einem Dorf, die Hände geschüttelt und
gerissen, Gruppen, die einen Schritt zwischen Laufen und Tanzen
einschlagen, Gespräche in drei Worten und beendet durch einen Schlag auf
die Schultern, Mädchen, die sich durch Ketten anderer drängen, sich
paarweise fassen, übereinander kollern, immerwährendes Lachen durch
dieselben Lippen hindurch, die ebenso immerwährend auch reden ...
Anfangs ging es mir steif durch den Kopf, es war mir unbegreiflich.
Diese vielen winzigen Gesichter, und sind sie nicht alle einander
ähnlich, ja gleich?... Und diese Bewegung, wird dir nicht der Arm müde,
wenn du zusiehst, wie zwecklos und außer sich dieser Knabe wie eine
Radspeiche den seinen dreht und dazu redet und lacht noch obendrein,
alles zugleich? Die Luft muß dir ausgehn ... Aber ich gewöhnte mich
daran. Bald verstand ich alles, ich unterschied diese ähnlichen Augen
und Näschen, nannte jedes mit dem Namen. Plötzlich war ich
eingeschrumpft, nach dem Maßstabe kindlicher Angelegenheiten fand ich
die kurzen Gartenwege lang wie Landstraßen, und die Beete waren nur noch
da zum Dreintrampeln. Ich schrie mit. Ich bot meine Kenntnisse an, und
es bildeten sich Spiele, wie ich wollte oder wie ein anderer wollte
manchmal. Sprach ich einen Vorschlag aus, so war ich ängstlich aus
Ehrgeiz und kränkte mich, wenn er nicht angenommen, gar interesselos
überschrien wurde.

Bald verstand ich alles. Alle Kinder wollten neben dem Haustöchterchen
sitzen, denn sie war Geburtstagskind und gab das Fest. Sie stritten, sie
schlossen Verträge: »Also du bist jetzt bei ihr, aber auf dem Heimweg
komm' ich dran,« das war die wichtigste Angelegenheit. Aber eine wurde
vorgezogen, Bascha, die hübsche Polin, die am lautesten schrie
(manchmal, denn manchmal auch schrien alle am lautesten) und die von der
Schaukel stundenlang nicht fortzubringen war ... Es begann zu regnen,
die Bäume im Garten bekamen schwarzgrüne Blätter im Schatten tiefer
Wolken, dunkel war es, feuchte Luft stieg aus dem nassen Gras wie aus
Höhlen. Man sah, wie in helleren Regionen des Himmels graue Wolkenzipfel
sich drehten, im Drehen auflösten, wie sie als Regen im Fall
verschwanden. »O weh,« sagten die Erwachsenen und bedauerten die Kinder,
»jetzt ist der Ausflug verregnet.« Aber die Kinder machten sich nichts
aus dem bißchen Wasser, sie lachten weiter, und eine sah ich mit
erhobenem Zeigefinger im strömenden Guß durch die Allee hüpfen, mit dem
Triumphruf: »Es regnet nicht mehr, es regnet nicht mehr.«

In der Veranda wurde gegessen, große Butterbrote, Kaffee, manche
erklärten sich für Milch. Und man sprach von der Schule, hauptsächlich
vom »Dividieren«, das war der Erbfeind, die Schattenseite des Daseins.
Auch der Herr Lehrer war eingeladen, und nun bildete sich in der Ecke,
mir zunächst, eine eifrige Verschwörung. Plötzlich brach eine helle
Stimme aus: »Bitte, Herr Lehrer, werden wir morgen nicht dividieren?«

Dann habe ich mit den Buben Raupen gesammelt, eine große Heuschrecke auf
die sanfteste Art getötet, nachdem ihr vorher einer ein Bein ausgerissen
hatte ... Es wurde wieder schön, und wir erstürmten die Hügel, die
Düppler Schanzen mit Hurrageschrei. Man fing eine Blindschleiche, die
wie ein Stock in der Hand erstarrte, und sekierte sie, was ich auch
sagen mochte. Bis ich drohte. Dann kamen die herrlichen Spiele meiner
Jugend: »Nationale«, »Räuber und Polizei«. Die Polizisten müssen zuerst
auf dem Bauch liegen, das Gesicht in den Händen, und dürfen nicht sehen,
wie die Räuber sich verstecken. Dabei sollen sie bis dreihundert zählen
... O wie fielen mir in dem Lärm alle Erfahrungen und Schliche aus den
Kinderjahren ein, von der Schützeninsel, als wir noch unter den
Brückenbogen spielten. Diese Streitigkeiten: »Sie haben geschaut«,
»Nein«, »Die Räuberhöhle darf nicht bewacht werden.« Dann wie man in
rasender Eile zählt und immer das Zählen dem überläßt, der größter
Virtuos im Schnellzählen ist und in neuen Schwindeln. Man zählt immer
nur bis zehn und merkt sich die Zehner, denn da gibt es weniger Silben
auszusprechen bei »eins, zwei, drei« als bei »einundzwanzig,
zweiundzwanzig, dreiundzwanzig«. Für halb und halb erlaubt gilt es auch,
statt der letzten fünfzig »langsam« bis zehn zu zählen, und wie hastig
ist dieses »langsam«. Doch die Räuber sind schon versteckt. Aus einem
sichern Gebüsch lächeln sie über die vergeblichen Operationen der
Polizei, laufen dann weit, um sie irrezuführen. Und wie war es da Freude
und Stolz, kriechend sich die Hände zu zerkratzen, die Hosen
aufzuschlitzen im Winkel. Und gar zu rennen über die Stoppelfelder hin,
die hart sind wie das beste Pflaster und noch überdies durch Knacken bei
jedem Tritt ein lustiges Gefühl ihrer Härte dem Laufenden mitteilen. Wie
der Wind blies! Wie sich das Gelb einförmig bis an den Himmel hob und
nichts mehr vor mir lag, auch in meinem Geiste nichts anderes, als diese
Fläche, die zu überlaufen war, geradeaus! Wie wir dann überraschend auf
der anderen Seite erschienen, wo niemand uns erwartet hatte, und
tollkühn, die letzten Mohikaner, den steilen Abhang hinunter mehr
sprangen, stürzten als rannten, durch die angedonnerte Meute
hindurch!... Ja es war Gesundheit und voll Frohsinn, nie mehr werde ich
mich so frei fühlen, wie in diesem Augenblick des Herunterrennens, so
glanzvoll und so mit Recht bewundert!

Nein, zehn oder fünfzehn Jahre sind nicht viel, ich habe sie gestrichen.

Überdies nannten die Erwachsenen mich ein Kind, und ich mußte mit ihnen
die Villa besichtigen, das Speisezimmer, das Bad, das Klavier, und so
fort. Aber ich hörte -- es drang durch die geschlossenen Fenster -- das
Jauchzen der Kleinen, aus dem Garten, von den Bergen her. In diesem
Moment wurde ich wirklich ein Kind. Tiefer Schmerz befiel mich, daß ich
nicht unter den andern mit unten sein durfte, daß ich mich langweilen
mußte, wie früher auf Spaziergängen mit der Gouvernante längs des Quais.
Draußen rauschten die Bäume, so hell warf die Sonne Funken durch die
naßglänzenden Blätter. Da faßte ich die Hand der guten, schönen Dame und
bat schon, man möge mich zu den Kindern fortlassen ...

Der Sommer ist vorbei, und nun bin ich wieder allein, ein erwachsener
Schriftsteller für Österreich und das Deutsche Reich.



Der Ordnungsliebende


Nun wünsche ich mir seit heute früh eine Insel.

Eine Insel zum Ordnen.

Ordnungsliebe ist meine geheimste und eigentlichste Eigenschaft, daran
zweifle man nicht, bitte. Aber jahrelang habe ich leider keinen Ausweg
für sie gefunden, keinen andern Ausweg als schäbige Pedanterien ohne
Erfolg, peinvolle Anstrengungen. Deshalb eben freue ich mich heute so,
seit dem Frühlicht, da ich über die Steinbrücke ging. Denn nun weiß ich,
wohin ich strebe, was ich mir wünschen soll ...

Seit längsten Jahren ist es meine Sehnsucht, irgendein Ding genau zu
ordnen, durch Ordnung zu beherrschen, über seine kleinlichsten
Veränderungen zu wachen und förmlich Buch zu führen, es gründlich in der
Hand zu haben, ohne daß ihm eine dunkle Ecke übrig bliebe, wahrhaft zu
einer Kolonie des eigenen Ich es auszugestalten ... Aber ahnt man, wie
schwer das ist? Gewiß gehört es zu den kompliziertesten Unternehmungen
unseres Erdballs, ohne daß sich bisher ein Ruhm oder auch nur eine
Aufmerksamkeit für das Überwinden dieser Schwierigkeit gezeigt hätte. Es
ist ein bisher noch nicht gewürdigter Sport, den ich entdeckt habe. Und
eigentlich mehr als kompliziert. Ich will gleich die Wahrheit sagen: es
ist unmöglich. Ehemals habe ich versucht, meinen Schreibtisch zu ordnen.
Das war eine meiner Jugendtorheiten, ein idealistischer Zug der zarten,
unerfahrenen Seele ... Wie schön habe ich davon geträumt, ihn
übersichtlich geschlichtet zu haben, jede Ecke und Schadhaftigkeit der
kastanienbraunen Schreibmappe zu kennen, ihre Lage genau nach eigenem
Willen zu bestimmen und die Zentimeter zu wissen, die ihr Rand von dem
Rand des Schreibtisches, von dem grün eingepflanzten Tuch Abstand hat.
Dann die Bücher! Jedes einzelne durchforscht, alle Worte, alle
Beistriche darin auf den ersten Handgriff zugänglich wie Sklavinnen im
Serail, und jedes unintriguant an seinem Platz, ohne Widerrede. Hier die
Briefe, hier die Papiere, das Tintenfaß ohne die mindeste Verzierung
eines Kleckses an seine gewisse Stelle gezwungen, von der es sich nicht
rühren darf. Lauter Kettenhunde. Willige Löschblätter, ein Messer wie
zum Rasieren, Lineale voll Pflichtgefühl, Federn von biederem Charakter
und ganz nahe auf geringstem Raum aneinander gepreßt, Tinte mit
deutlicher Abneigung gegen Staubkörner. All dies wie etwas Ewiges, dem
Wechsel der Zeit entrückt, aus dem allgemeinen Raum in einen Privatraum
meines Fabrikats gehoben, frei von der üblichen Kausalität ... Wie
herrlich: ich würde aufhören zu arbeiten, aus Angst, dieses Heiligtum zu
beflecken, und nur an manchen Abenden behaglich möchte ich die Lampe
entzünden, um verzückt und voll Andacht dieses Wunder von Ordnung,
Präzision, Dienstfertigkeit zu betrachten, so gemütlich und mit einem
sichern Haushalt zufrieden; an unruhigen Abenden, während draußen wüst
die Bohémiens zu den trostlosen Sprüngen ihres ungeordneten Lebens
ansetzen ...

Ach, daß es ein Traum geblieben ist!

Unmöglich, einen Schreibtisch bis zur letzten Feinheit zu ordnen. Ganz
einfach, weil es unmöglich ist, die Grenze dieses Schreibtisches zu
bestimmen. Seine Holzfüße verlaufen unmerklich in das Holzparkett des
Fußbodens, tröpfeln wie Regenlinien ins Meer, die Zimmerwand berührt ihn
mit ungeschickter Zärtlichkeit, andere Möbel stoßen an, es ist ein
kameradschaftliches Kitzeln und Winken von allen erdenklichen Dingen
her, schließlich bemerkt man (man bemerkt es ärgerlich), daß kein Ding
in der Stube einer gewissen Beziehung auf diesen Schreibtisch entbehrt.
Die Stube wieder steht mit allen andern Räumen des Hauses in Verbindung,
das Haus ist auf der Straße, die Straße gehört der Stadt, die Stadt
rechnet sich zur zivilisierten Welt ... So kommt es, daß man als
gewissenhafter Mensch, um einen kleinen Schreibtisch zu tyrannisieren,
schließlich die ganze Welt in Ordnung bringen müßte; eine Aufgabe, die
man vielleicht aus Bescheidenheit, vielleicht mit Rücksicht auf
mangelhafte Sprachkenntnisse ablehnt ...

Das Unendliche und die Zusammenhänge. Nun habe ich die siegreichen
Feinde meiner Ordnungsliebe genannt. Doch scheint es mir, als würden sie
von heute an nicht siegreich bleiben. Ich habe die Steinbrücke
beschritten, ich habe zufällig einen Blick der Inselfläche unter ihr
gegeben ... Ich will nicht prahlen, möglicherweise ist all das ein
Irrtum ... Aber nein, ich glaube wirklich, daß diese Insel etwas
Abgeschlossenes ist, wie nichts anderes in der Welt. Das Wasser ringsum
und die Mauer des polierten Quaderquais sind so brav, mit nichts
außerhalb zu kokettieren. Wohlan, die Insel liegt da, nichts als Insel,
punktum, keine Gemeinschaften mit unvorhergesehenen Kameraden. O diese
Insel. Und zumal im Herbst, wenn keine Belaubung stört. Zweifellos
könnte ich sie säubern, unterwerfen, regieren. Jeden Morgen würde ich an
einem Ende beginnen und, kriechend auf allen Vieren, die Blätter vom
Boden klauben, das Gras abmähen, die Bänke putzen, die Spatzen
erschießen. Sie könnte mein kleines Königreich sein, wo nichts ohne
meine Einwilligung vor sich geht, später würde ich die Bäume fällen, die
Beete umhacken, um mir die Arbeit zu erleichtern. Natürlich dürfte kein
Mensch Zutritt haben ... Allmählich müßte alles Leben und jede Zuckung
in meinem Gebiete aussterben, nichts bliebe als eine Sandfläche von
geometrisch genau berechenbarer Gestalt und einer bestimmten
gleichförmigen Farbe, hart in den Quaigürtel gepreßt und durch den Fluß
nach allen Seiten begrenzt, ein höchstes Musterbild der
Übersichtlichkeit und der eindeutigen Regel, und so durch kahle
Erstarrung wie ein Fremdkörper aus diesem zappeligen Dasein
ausgeschieden ...

Ich werde mich an einen Staat wenden und ihn bitten, mir eine seiner
Inseln zu schenken, eine ganz kleine Insel zum Ordnen ...



Panorama


Hat niemand mehr Lust, mit mir in ein Panorama zu gehn? Diese
Vergnügung, obwohl sie ja dem Namen nach alles, rundweg alles, was man
nur sehn kann, darzubieten verheißt, gehört keineswegs zu den heutigen
und irgendwie begünstigten, sie ist eine ruhige, altmodische Vergnügung
und kann als solche dem Tempo unseres Zeitalters natürlich nicht mehr
nachkommen. Das Panorama wird bald die symbolische Zufluchtsstätte aller
Unzufriedenen mit unserer Zeit sein, wird ein dunkles, melancholisches
Vergnügen mit viel Bitterkeit auf dem Grund, bekommt -- wie alles, wo
solche Schwächlingsopposition sich einnistet -- einen Beiglanz von
Poesie, von verlorner Kindheit, von süßer und höchst angenehmer
Faulenzerei, von all den lieben Dingen, welche der starke und, wie man
zu sagen pflegt, gesunde Hauch der Neuzeit etwas angegriffen hat; wir
werden ja sehn, was ihnen nachkommt. Weniger träumerisch ausgedrückt:
die Panoramen gehn halt ein. Billigerweise muß eine harmlose
Einrichtung, die auf einem so ganz einfachen physikalischen
Kunststückerl, wie das Körperlichsehn ist, beruht, dem neuen und
kompliziert-technischen Hervorzauberer beweglicher Landschaften und gar
lebendiger Wesen das Feld räumen. Armes Panorama, Vergnügung unserer
Großeltern, Überbleibsel der Biedermeierzeit: jetzt erregt unsere Nerven
der Kinematograph. Wir wollen beflimmert sein, förmlich von wechselnden
Augen aus kreidiger Leinwand heraus angeschaut, nicht selbst ruhig und
sanft durch zwei Gucklöcher in eine schwarze Kiste blicken.

Wie dem auch sei, wir treten ein. Das Gefühl, daß es heute vielleicht
zum letztenmal ist, lassen wir vorläufig gar nicht erst aufkommen. Aber
während wir uns an dem höflichen, unsagbar freundlichen und dabei gar
nicht hübschen Billettfräulein vorbeibewegen, durch geraffte,
staubigrote Portieren in den Raum treten, der die große Holztrommel mit
den Weltbildern faßt -- und schon hören wir das akzentlose, wie seit
Ewigkeit vorhandene, nagende Ticken des Uhrwerks --: während wir also
alle Vorbereitungen treffen und den Hut an einen Rechen hängen, müssen
wir doch dem allerdings gefährlichen Gedanken nachgehn, daß niemand auf
der ganzen Erde sich so feinfühlig und gütig benimmt wie Kaufleute,
denen es geschäftlich nicht gut geht, am besten: die vor dem Konkurs
stehn. Scheint es nicht, als ob alle Menschlichkeit und gute Erziehung,
Selbstbeherrschung und Demut in solchen liebenswürdigst zusammenträfen.
Als ob ihre gar nicht mehr erzwungen klingende Aufmerksamkeit gegen die
Kunden, ihr Witzigsein und ihr ernstliches Besorgtsein um mein so
bescheidenes Einkaufspaket, ja noch um die Schnurmasche an diesem Paket,
ihre vorbildliche Heiterkeit im Geschäftsgespräch sie selbst für ihre
peinliche Lage reichlich entschädigen müßten. Ich kannte einen solchen,
einen Photographen, den die Konkurrenz verbesserter Apparate ruinierte;
in der kritischen Zeit glich er einem zarten shakespearischen Edelmann,
so gewählt waren seine stets vernünftigen Worte, so fein sein Anstand.
Ein Muster des guten Tons war er, eine Blume seines Standes. Nun, ein
solcher Schimmer von Selbstlosigkeit und Moral breitet sich auch über
niedergehende ganze Unternehmungszweige aus, niedergehende
Unternehmungen haben etwas Aristokratisches und selbst ihre
Angestellten, wiewohl gegen monatliches Fixum verpflichtet (jawohl, mein
höfliches Fräulein), gewinnen Anteil an diesem ein wenig
verweichlichten, süßlich duftenden Altjungfernhimmel der Gerechten;
weiche, schwarze Seide, billige, und etwas welker Blütenflor stünde
ihnen gut zu Gesicht, doch genug davon, sonst werde ich noch ganz und
gar traurig. -- Dieses Zimmer ist von einer heillosen, sprachlosen
Wehmut, in seiner Dunkelheit, die nur von der Decke her ein wenig
rückstrahlendes Licht beregnet, es wird einem wirklich ganz feucht um
den Hals, und dazu funkeln paarweise die Fensterchen wie winzige
Kabinenluken eines fernen Dampfers. Doch jetzt erhebt sich ein Laut, ein
allgemeiner, durch den ganzen Raum fortschütternder, wie ein im Schlafe
gelalltes Wort, ein halbgelähmtes Aufatmen, die einzige Lebensäußerung
dieses Kosmos, rüttelnd an seinem ganzen Bau -- es ist nichts, nur die
Bilder sind weitergerückt und ein Glöckchen hat das Zeichen dazu
gegeben. Ruhe ist wieder eingetreten, zum Weinen tiefe Ruhe ...
Vergraben wir uns also schnell bis an die Ohren in die Schaumuscheln und
flüchten wir -- dazu ist ja das Panorama da -- aus der Nässe
heimatlicher Lebensbedingungen in fremde, schon durch ihre Entlegenheit
oder gar durch bessere Sonnen gewärmte Gegenden, frischen wir vergangene
Geographieschulstunden auf, sei es durch eine Reise über das Weltmeer,
sei es in Florenz. Ich sah neulich Bitlis, die Hauptstadt von Kurdistan,
ich fand es gemütlich dort zu wohnen am Fuße einer uralten Festung, die
Hauptstraße herunterzubummeln, welche auf der einen Seite den aus harter
Steppenerde gegrabenen Wall hat, auf der andern einen schmalen,
schnellen Fluß mit einem Halbmondbrückchen aus Stein darüber. Ich war
auch einmal in Ceylon, sah fremdartige wie aus Hanf gewebte Schiffchen
an der Küste eines Landsees, ihre Ankerseile gespannt zum Greifen. Ein
Mädchen, vielleicht eine junge Frau, lächelte mich an in der Nähe von
Kapstadt, angesichts des Tafelberges lächelte sie aus guten, starken,
weißen Zähnen. -- Doch damit die Illusion nicht zu ergreifend werde,
sind die Bilder handkoloriert wie schlechtere Ansichtskarten. Da gibt es
spaßige Bäume aus Grünspan, der Boden ist zitronengelb und mit drei
immerwiederkehrenden Nüancen müssen sich alle die bunten Trachten eines
sizilischen Volksfestes zufriedenstellen. Dann dieser Himmel, er ist
glasig grünblau, sehr transparent und milde, auch die heftigsten Wolken
bewahren das Durchsichtige, etwa wie schmutzige Wände eines
Tintenfasses, und werden niemals regnen. In diesem Glasgrund der
Diapositive finde ich die schöne, heitere Stilisierung, die Erdferne der
Panoramawelt. Zu Glas vereist das hurtige Bächlein mit seinen Schatten
unter den dichten Waldbäumen, Glas zeigt sich unterbrechend in dem allzu
naturwahren Gesicht eines Bettlers, und nicht nur Kirchenfenster sind
glitzrig, auch ihre Reflexe auf dem Estrich haben etwas seltsam
Materielles, man glaubt sie unter den Schritten der Pilger knistern zu
hören. Anläßlich dieser Kirchenfenster kann ich überdies nach so viel
Lob des Panoramas einen Tadel aus Gerechtigkeit nicht unterdrücken:
Interieurs von Kirchen, auch von Palais und Gemäldegalerien geben keine
schönen Panoramabilder. Sie wirken flächig, tot, versperrt. Wenn ich
daher auf dem kalligraphierten Programm in der Auslage meines
Stamm-Panoramas allzu oft die Worte »Inneres von --« lese, vermeide ich
es, trotz des geringfügigen Eintrittsgeldes von zwanzig Hellern,
einzutreten. Ich halte derartige Aufnahmen für stilwidrig, für eine
Verkennung des Panoramastils. Autoren von Panoramakollektionen sollten
(falls sie überhaupt vor dem endgültigen Untergang ihres Metiers noch zu
theoretischen Überlegungen kommen) ihre Bemühung dankbaren Gegenständen
zuwenden, denen sie im Kreis ihrer Methoden neue Wirkungen entlocken
mögen. Denn keine Kunst überschreitet ungestraft die Grenzen ihrer
legitimen Macht. Gute Bilder sind, zum Beispiel, Straßenszenen, weite
Ausblicke, kurz alles, worin plastisches Hervorheben und Abstände zur
Geltung kommen. --

Nun wieder etwas Trauriges: ich habe einmal, durch unziemliche Neugierde
verleitet, den Vorhang zu meinen Füßen, der rings um das Polygon
gespannt war, gehoben, um in das Innere dieser oft so lebensvollen,
weiten Gegenden zu gelangen, und ich dachte nichts anderes, als nun ganz
bestimmt in ein wärmeres Klima, nach Italien oder zwischen fahnen- und
segelartige Firmen einer japanischen Gasse zu kriechen. Aber als ich
mich bückte, sah ich nichts als einen leeren Raum, diesen grell
beleuchtet von einem in der Mitte an einer Eisenstange hoch
emporgereckten, nackten Glühstrumpf, dumpfige Luft, den schmutzigen
Boden mit drei oder vier ausgebrannten Zündhölzchen, und gar nichts von
Farbe, denn ich hatte den Kopf schon hinter dem Gürtel der überraschend
winzigen Bildchen, der von einem Zahnrad getrieben ruckweise vorging. So
starrte ich erschrocken in ein hellstrahlendes, ganz kahles Geheimnis,
und ich besaß den Leichtsinn, einen Augenblick zu denken, auch unsere
Welt, die uns so raffiniert betrieben dünkt, könnte in ihrer Mitte so
eine leere, schweigsame, einfache, gleichgültige Hauptsache haben. Doch
lehnen wir das ab, es ist unwissenschaftlich, laben wir uns dagegen an
den historischen Toiletten, die mit der ganzen Unbefangenheit des
damaligen Modernseins auf diesen Bildern getragen werden, vor Europäern
wie vor Eingeborenen, an den Hütchen, culs de Paris, den Ballonärmeln,
die man schön fand, als in Wien die Rotunde neu war. Ja, diese
Bilderserien reisen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, wie sie auch von Stadt
zu Stadt reisen, ihre Figurinen haben daher das Unbewußt-Hilflose, das
Komische von allem, was nicht mehr ist und nicht bei uns ist. Mit
verhaltenem Mitleid kommen wir ihnen am besten entgegen und doch waren
sie, die Stutzer, auf allen Bildern wiederkehrend, waren die damals
höchst gegenwärtige Reisegesellschaft des Stereographen oder seine
mächtige, einflußreiche Gemahlin, die bald auf zertrümmerten Säulen
einer schottischen Abtei sitzt, bald vor einem Zulukraal mit
zugekniffenen Augen der Sonne trotzt. Wir kennen sie schon, die gnädige
Frau. Und wir sind überhaupt von Langeweile nicht allzuweit entfernt,
wir beobachten schon nicht mehr die Bilder, sondern vielmehr den Moment,
in dem sie doppelt hereinschweben, schattenhaft anprallen mit Gerumpel
(dem einzigen Lebenslaut in dieser Karthause), nicht stehn bleiben
können und endlich wackelnd sich beruhigen. Die Bilder bleiben uns zu
lang. Dann wieder gibt es andere, die offenbar nur kürzere Zeit, zu kurz
vor dem Auge stehn, deren Einzelheiten man hastig durchsucht, umklaubt,
förmlich in Unordnung bringt aus lauter nervöser Angst, daß das Ganze im
nächsten Augenblick davonfedern muß. Das Totenglöckchen von der Wand her
klagt man, wiewohl man weiß, daß es mechanisch die Zeit abmißt, der
Ungenauigkeit und Willkür an. Ja, der Mensch ist eben eine ganz
besondere Uhr. -- Man könnte nach all dem glauben, daß ich ein Freund
der Panoramen bin, ein Sentimentaler. Aber weit entfernt davon sehe ich
kaum den Vorzug, den die Unterhaltung im Panorama vor dem Durchblättern
irgendeiner illustrierten Reisebeschreibung haben sollte. Höchstens den,
daß man gezwungen wird, alle Bilder eine gewisse gleiche Zeit lang
(obwohl sie bald länger, bald kürzer ist) zu betrachten, und wenn man
dazu noch geldgierig ist, daß man die ganze Runde zwei- oder mehrmals
ansieht. Denn das ist ohne weitere Umstände erlaubt. Freilich könnte man
einwenden, daß sich auch der Kino die Verlockung ununterbrochener
Vorstellungen zunutze gemacht hat. Aber -- nun kommt mein letzter Trumpf
-- in welchem andern Etablissement kann man, verliebt in ein besonderes
Bild, diesem von Guckloch zu Guckloch, von Sessel zu Sessel folgen und
einen ganzen Nachmittag lang nichts als dieses Eine vor der Seele haben.
Wo, ich bitte? Im Panorama nur, im altmodischen, dessen sämtliche Sessel
mit oder ohne Lederpolster beinahe immer leer sind; so sieht man am
Schluß meiner Betrachtung die Vortrefflichkeit dieser Einrichtung wieder
mit ihrer Verlassenheit zusammenfallen, was ich überdies nach so vielen
vorbereitenden Akkorden in grobe Worte zu fassen wohl gar nicht mehr
nötig gehabt hätte. Nur unruhige Kinder gehn noch hin, verarmte
ehemalige Hochzeitsreisende schwelgen in Erinnerungen, untätige
Offiziere suchen passende Schlachtfelder für ihre phantastischen
Kolonialkriege. Man kann auch mit einer Dame ins Panorama gehn und, wenn
man sich so setzt, daß man die Vorhand hat, ihr mit Kennerschaft die
Bilder, die sie zu sehn bekommen wird, angenehm vorerzählen: »Du, aber
jetzt kommt was Schönes ...« Nur muß man wissen, daß ein Bild im
Holzrahmen immer verdeckt bleibt, daß also das meine erst als
übernächstes (nicht als nächstes) zu ihr kommt, und wenn ich (wie
natürlich) noch so dicht neben der Schönen sitze.



Kinematographentheater


Mitarbeiter der Firma Pathé frères, Paris, stelle ich mir so etwa vor:
nach neuen kinematographischen Ideen ausstreifend durch die
bekannt-schöne Umgebung von Paris kommen sie, beispielsweise, zu einer
Sandgrube. Sofort ruft einer: Voilà! usf., auf französisch natürlich, zu
deutsch ungefähr heißt es, daß seiner Ansicht nach hier die beste
Gelegenheit für eine neue Aufnahme wäre, die man dann »Drama in den
Goldminen Kaliforniens« nennen könnte. Und schnell werden die
notwendigen Utensilien herbeigeschafft, wie breitkrämpige Hüte,
Revolver, Seile für Goldlasten, Kurbeln, Patronengürtel, quer um die
Brust zu schnallen, und los, man spielt schon unter Aufsicht des
gigerlhaften Regisseurs Wildwestmanieren auf den Film ... Oder ein
flaches Magazindach gibt diesen Romantischen Anregung zu maurischen
Zitadellen, ein Sumpf zu Ritten durch die Wüste Gobi, ein
vorbeifahrender Kulissenwagen zu allen Szenerien der Erde ... Und nicht
als Tadel sage ich das, nein, es entzückt mich ja, daß gerade durch
diese Edisonerfindung, die anfangs nur nüchtern kopiertes Leben sein
wollte, so viel phantastisches Theater in die Welt gekommen ist ... Nun
sitze ich manchen Abend vor der weißen Leinwand und, nachdem es mich
schon beim Eintritt jedesmal belustigt hat, daß es hier eine Kassa, eine
Garderobe, Musik, Programme, Saaldiener, Sitzreihen gibt, all dies
pedantisch genau so wie in einem wirklichen Theater mit lebendigen
Spielern, nach dieser, wie mir scheint, witzreichen Beobachtung macht
mich das leise Sausen des Apparats siedend vor Erwarten. Ich habe die
Liste studiert, ich weiß, welche Nummer »belehrend«, welche »urkomisch«,
»sensationell« oder »rührende Szene aus dem wirklichen Leben« sein wird.
Und bald verfinstert sich der Saal zu einer »Reise nach Australien«. Ich
sehe Straßen, Menschen, die vorbeigehn, sehr schnell trotz aller
Behaglichkeit, manche bleiben stehn und unbeteiligt schaun sie unter
ihren australischen Mützen her zu mir. Grüß dich Gott, Mensch, du siehst
mich nicht, vielleicht bist du schon tot, einerlei, sei mir gegrüßt!
Sodann erlebe ich eine Feuersbrunst, Alarm, die pflichtübertreue
Löschmannschaft im Ansturm. Es kommt mir vor, als hätte ich denselben
Brand auch auf einer Reise durch Chikago schon erlebt, aber vielleicht
täuscht mich da mein kinematographisches Gedächtnis. Überdies bin ich
nicht nach Australien gekommen, um nur Brände zu sehn; gleich werde ich
durch zwei Schienen überrascht, die auf mich zugleiten, ich sitze
nämlich in der Lokomotive eines Blitzzuges, ich erfreue mich an Bergen,
Flüssen, Eingeborenen, an dem absoluten Nichts im Tunnel. Typen aus dem
Innern des Landes; wie immer bei exotischen Aufnahmen fehlt der Raseur
nicht, nicht der eingeseifte Schwarze, der Grimassen mitteleuropäischen
Varietéstils schneidet. Schluß, überraschend, ach warum schon? Aber das
folgende ist nicht schlechter. Die Wissenschaft hat ihr Recht bekommen,
jetzt zappelt das Fröhliche an die Reihe und mit Adagiobegleitung eines
Wiener Liedes die Tragik. Da sind die Zaubereien, geduldig kolorierte
tausend Photographien, Verwandlungen der Blumen in Ballettmädchen,
Brahminen mit langen Bärten, Übeltäter, denen der Kopf abfällt wie
nichts, Schwebende, Reisende zum Mond, Gottheiten, der Teufel.
Geschehnisse des Alltags wollen nicht fehlen. Falschmünzer werden
entdeckt, Verbrecher nach langer Verfolgung gefangen genommen, arme
Kinder gefoltert, Familienväter unschuldig verurteilt, gerettet im
letzten Augenblick. Ich kenne das auftretende Personal schon ganz genau,
genau den Knaben, der sich vor Lachen kaum halten kann, immer wenn er
weinen soll. Dieser betrogene Gatte war gestern ein nicht zu rührender
Bruder. So erfüllt sich die Gerechtigkeit, über die einzelne Tat hinweg.
Dies bewundere ich; noch mehr aber, wie durch Gesten die
kompliziertesten Voraussetzungen deutlich gemacht werden. Man sieht:
»dich hasse ich« oder »warum hast du gestern meinem Onkel gesagt, daß
ich um halb sechs Uhr noch zu Hause war?« oder »auch der Sohn dieses
Mannes hat mich vor zwanzig Jahren bestohlen«. Und nur das eine
erscheint mir rätselhaft, da gewöhnliches Sprechen schon durch so starke
Gesten dargestellt wird: wie man kinematographisch jemanden andeuten
würde, der in einem fremden Lande gestikulierend sich verständlich macht
oder der von Natur aus zu heftigen Gebärden neigt. Indes zu Nachdenken
ist nicht die Zeit. Denn die zweite Abteilung überschüttet mich schon
mit Bildern »zum Kranklachen«, wie das Programm sie nennt, mit
betrunkenen Briefträgern, Naturmenschen, Galanen, die in einen Kasten
sich verstecken und dann die o! so lange, so zum Kranklachen lange Reise
im Speditionswagen, auf der Eisenbahn wippend mitmachen müssen.
Matratzen werden lebendig, ein Klebestoff ist unübertrefflich, der
Stiefel zu eng, Teller zerkrachen lautlos in Staub, Megären heulen,
Witzbolde lachen. Und ganze Versammlungen von Menschen, die einander
prügeln, ganze Kolonien von Leuten, die unter jeder Bedingung einen
davonlaufenden Pintscher einfangen wollen ... Die Lebendigkeit, mit der
so viel geschieht, hat mich schließlich aus meiner halbschlafenden
Daseinsart aufgeschüttelt. Nun auf dem Heimwege werde ich zum Erfinder,
denke mir selbst neue Bilder für den Biographen aus: eine Verfolgung, in
der einmal statt Automobil, Lokomotive oder Dräsine zwei Schiffe
miteinander Wettlauf machen, ein Kreuzer und ein Piratenschiff, über die
weite Meeresfläche hin verringert sich immer mehr im wütendsten Schießen
ihr Abstand ... Das wäre allerdings ein teurer Film. Um so billiger der
zweite, darstellend einen Dichter in einsamer Kammer, der über die
Schwierigkeiten eindringlicher, doch rückhaltender Darstellung in
verzweifelte Wut gerät.



Notwendigkeit des Theaters


Ich gehe allein durch die Stadt, in einer vollkommen zerworfenen
Stimmung. Ich bin so krank in mir, daß ich dreißig Gesunde anstecken
könnte. Mein Kopf ist von literarischen Plänen erfüllt, ich habe die
Sehnsucht, irgend etwas genau so darzustellen, wie ich es fühle, und
wär's auch nur was Geringes, so strahlend und klar als nur möglich es zu
sagen, nahe dem Ideal ... Ich komme über eine Brücke, steige die breite
Seitentreppe hinab und auf der parkartigen Insel bin ich nun allein.
Tausend Gedanken bewegen mich, aber nichts ist da faßbar, es scheint
mir, ich werde untergehn, heute abend ... Es ist Abend. Ich setze mich
auf eine Bank nieder, ganz im Schatten. Vom Quai drüben breitet sich ein
Lichtschein in den Himmel aus, die dichten Äste lassen nur ein paar
Sterne herein. Auf dem Boden der Allee ist aus diesen Sternen, Ästen und
städtischen Lichtern etwas geworden, eine Verwirrung, eine Ruhe zugleich
... in diesem Augenblick, während ich zu Boden sehe, ergreift mich tief
die Schwierigkeit aller Darstellung. Was kann ähnliches sein zwischen
meinen Worten und dem, was ich da sehe. Niemals, niemals. Ich empfinde
es im Herzen meines Herzens: gäbe es nicht Beweise, Beispiele, daß die
Menschen seit jeher Schriftstellerei betrieben haben, man würde den
Gedanken daran als den unglaublichsten Wahnsinn verjagen ... Meine
Stimmung jetzt genau: man sollte glauben, daß sie aufgeregt ist
irgendwie, daß ich an Literatur denke. O nein, trotz allem bin ich jetzt
so glücklich und voll von einer zufriedenen Müdigkeit, wie nur selten,
ich fühle mich ganz bei mir, ich habe mich lieb, und die Gedanken an
Schreiben zersplittern mich nicht, sie sind nur kleine Liebkosungen und
das Hauptgefühl bleibt: es ist Herbst, und da ist Wasser, eine Brücke
... Ein Licht geht schnell über das bläuliche Wasser unter den andern
Lichtern, die stehn oder langsam gehn. Ich sehe den Quai nicht, nur die
Spiegelung. Da glaube ich, dieses rasche Licht war die Spiegelung einer
Tramway. Falsch, ein Kahn mit einer Laterne voran ist vorbeigeglitten,
ohne Geräusch, es war also keine bloße Spiegelung. Und wie die Lichter
lange Glanzlinien alle ins Wasser legen, das in kleinen Wellen
dazwischenströmt! Diese Linien oder Flächen kürzen sich abwechselnd
zusammen, dehnen sich aus, wie Gummibänder, an die man etwas gehängt hat
und die jetzt eine Weile elastisch auf und ab sich ziehen, ehe sie zur
Ruhe kommen ... Ich betrachte den Brückenbogen, die Balustrade mit ihren
kleinen Pfeilern hoch oben. Von Zeit zu Zeit eine Steinkuppel zur
Verzierung, nun leuchtet hinter einer solchen Kuppel ein Nimbus hervor,
ein wunderbarer Strahlenkreis; so sind auf Reklamebildern manchmal
Moscheekuppeln im Glanz, der dann die Worte trägt: »Der beste Kaffee ist
usf.« Ich weiß, diese Strahlen kommen nicht aus dem Stein, gehören zu
einer mir unsichtbaren elektrischen Bogenlampe, die dahinter unten auf
dem andern Teil der Insel steht. Sie beleuchtet auch Bäume, die ich
unter dem Brückenbogen hindurch sehe, ein hellgrünes Licht wirft sie auf
den nächsten, dann braun scheint eine andere Gruppe, mancher Strich
gelblich. (Auch Maler müßten verzweifeln, fällt mir ein.) Und nun, hoch
oben zwischen den kleinen Pfeilern ziehn ununterbrochen Menschen vorbei,
Wagen, ein Lärm. Diese Brücke ist wie ein hohes Haus, von dem aber nur
das oberste Stockwerk benutzt wird. Und hier unten sitze ich allein im
Dunkel, ganz glücklich, bei mir. Wer das fassen könnte! Von Zeit zu Zeit
knackt etwas auf die Erde und zerschmettert, wahrscheinlich fallen die
reifen Kastanien, sage ich mir, und aus Vorsicht setze ich den Hut auf,
den ich bisher in der Hand gehalten habe. Zugleich, obwohl ich nichts
sehe, sehe ich die grünen, stachligen Früchte, innen so schön weiß, ganz
zersprungen und zerschmettert auf dem harten Boden, und der braune Kern
muß davongerollt sein, vielleicht unter meine Bank. Noch zugleich
bemerke ich eine lange Reihe von Oleanderbäumen, zwecklos. Oder zu
welchem Zweck? Vielleicht hat man sie aus der Restauration zum Lüften
hergestellt. Ich höre Lärm. Auf dem ganz finstern Spielplatz kommandiert
ein Knabe, vier winzige Mäderl stehn in einer Reihe, heben die Hände,
marschieren, drehn sich um. Werden sie nicht zu spät zum Abendessen
kommen? Indessen sitzen zwei oder drei Gouvernanten und reden leise
miteinander, auf einer entfernten Bank. Ich stelle mir durch das Dunkel
hindurch vor, doch sehe ich nichts, daß sie im Reden ähnlich ruhig die
Hände ausbreiten wie auf ägyptischen Malereien konversierende Könige.
Nur einen Moment, das geht vorbei. Auch an meine Kindertage muß ich
denken, hier auf demselben Fleck haben wir bis in die Nacht hinein den
verbotenen Fußball gespielt. Und indessen huschen über die beleuchteten
gelben, grünen und rötlichen Bäume, die ich durch den riesigen
Brückenbogen hindurch fern im Hintergrund sehe, ganz flüchtige Schatten.
Die Leute von der Brücke herab werfen also diese dünnen Schatten, das
sehe ich heute zum erstenmal, und diese Bäume, die doch unregelmäßig
auch hintereinander stehn, wirken wie eine glatte, ebene Fläche.
Merkwürdig! Aber sag' es einmal, sag' es doch so, daß man es sieht ...
Ekelhaft. Aber die gute Luft! Die gute Luft auf dieser Insel! Es ist ein
milder Herbstabend.

Plötzlich erschien mir diese Baumfläche mit ihrem Schattenspiel wie eine
Kulisse. Warum sitze ich nicht lieber im Theater, da hat man was
Sicheres, Abgegrenztes, statt allein ohnmächtig in dieser
problematischen, unendlichen Natur! Die Herbstsaison hat begonnen. Ich
werde fleißig ins Theater gehen, alles andere ist gefährliche
Ausschweifung.



Torquato Tasso


Also ich habe beschlossen, jetzt häufig ins Theater zu gehen. Ich mache
den Anfang mit »Torquato Tasso«. Das Stück ist berühmt, aber ich habe es
noch nie gesehen, nicht einmal gelesen. Ja, so bin ich, ziemlich
ungebildet. Es ist richtig eine Premiere für mich.

Ein italienischer Garten. Nun, ich hätte mir Gärten, in denen Dichter
mit Fürsten spazieren gehen, anders vorgestellt, überschwänglicher. Und
geschlossener, nicht so für uns Zuseher offen. Aber das liegt vielleicht
im Wesen der Bühne ... Und nun erklingen Verse, da beruhige ich mich
sofort, das ist schön ...

Jemand stört, die Bankreihe herein. Ich schaue zürnend auf. Aber nicht
lange zürnend. Es ist Hede, das schöne Mädchen, sie sitzt zufällig neben
mir.

»Guten Abend, Fräulein Hede.«

Sie erkennt mich und streckt mir die Linke hin, da sie mit der Rechten
allerlei zu tun hat, die Nadeln aus ihrem Hut ziehen, die Bonbonniere
hinlegen neben den kleinen Handspiegel ... Hede, die lustige Gefährtin
unsrer Nächte, jeden andern hätte ich eher hier erwartet als sie.

Und ich sage es ihr auch.

»Wissen Sie denn nicht, daß ich jetzt auf Theater studiere.«

»Nein, seit wann denn?«

»Ich hab' schon drei Stunden gehabt.«

Voll Stolz zieht sie aus ihrer Pompadour einen kleinen Flaschenstöpsel
und zeigt ihn mir: »Das muß ich jetzt immer im Mund haben und üben. Es
ist wegen der Aussprache ...« Wir reden weiter von andern Dingen, aber
sie hat keine Ruhe, sie wühlt weiter in ihrem Tascherl und endlich
findet sie, was sie sucht, einen zweiten, ebensolchen Korkstöpsel.
»Sehen Sie, da hab' ich noch einen,« weist sie mir ihn vor.

Das Parterre ist ziemlich leer, in unsrer Nähe sitzt niemand, so müssen
wir nicht fürchten, daß unsre Gespräche stören. Nur daß da auf der Bühne
etwas geschieht, stört uns.

»Ich bitte Sie, was geht denn da vor? Wovon handelt das Stück?«

Ich sage ein paar Dinge darüber, Nachklänge des Gymnasiums.

»So, und was geschieht zum Schluß?«

»Er versöhnt sich mit dem Antonio.«

»Das ist alles ..?« Sie macht ein enttäuschtes Gesicht, eine Weile
schaut sie noch auf die Bühne, mit Anspannung, wie man einem
Entfliehenden etwa nachschauen würde. Dann gibt sie sich mit einem Ruck
mir, sieht mich so lange von der Seite an, bis ich es bemerke ... Da war
gerade ein Klang, irgendein leiser Angstschrei des Genies, wie
Baudelaires Albatros zieht er traurig taumelnd vorbei. Ich fahre auf.

»Wollen Sie das Opernglas, Fräulein?«

»Ah nein, ich seh besser ohne Glas.«

Wie gesund sie ist: von den dicken Wangen angefangen, bis hinunter.
Diesen Busen könnte man für eine Merkwürdigkeit halten, so groß ist er,
so eine fremdartige Masse. Und unbegreiflich, wie sie ihn ohne Mühe
erträgt, und wie er überdies in ihre Gestalt hineinpaßt. Ganz nahe bei
mir hält sie ihre Schulter, dick, dick, dick. Und vollkommen schön und
immer aufs neue verlockend, unter diesem runden Arm seine Hand zu
wärmen. Nein, die haben wir noch nicht ruiniert. Eher gehen wir alle
zugrunde, als daß dieser unerschütterliche Felsen von Lebenskraft wankt.
Wie sie atmet, wie ruhig! Nein, unsre Nächte haben sie nicht im
mindesten nervös gemacht, da ist ein Stück Natur und ergibt sich nicht.
Nicht einmal ein Opernglas braucht sie ... Es fällt mir ein, wie sie
einmal in einer Weinstube die Röcke hob und mit Stolz ihre weißen,
widerstandsfähigen Schenkel zeigte, den schmalen Streifen wie ein weißes
Strumpfband zwischen Hose und schwarzem Strumpf. Nein, da können noch
zehn Großstädte kommen, ihr geschieht nichts, der Hede. Sie ist ja noch
so jung. Damals war ich sehr müde, in dieser Weinstube, voll von Wein,
ehrlich gern wäre ich schlafen gegangen, denn ich halte nicht viel aus.
Aber sie setzte sich auf den Tisch, und ein Schrei kam aus ihr heraus,
ein Jubel, wie ein Pferdeschrei ... Ja, ja, schöne Beine hat sie, das
muß man sagen.

»Warum sind Sie eigentlich nicht mehr beim Ballett?«

Sie murrt etwas. Etwas, was sie offenbar selbst nicht begreift.
Irgendein Beschützer hat entdeckt, daß sie eine angenehme Stimme hat.
(Warum nicht, denke ich, sicher ist alles an ihr gesund und natürlich.)
Also jetzt wird sie Heroine.

Ich lenke sie wieder zur Bühne, denn ich möchte ja ganz gern dem Drama
zuhören: »Wie gefällt Ihnen unsre Heroine?«

»Ja, sie hat eine angenehme Stimme.« Eine Weile hat sie mit strengem
Gesicht aufgepaßt, während Eleonore sprach, dann kommt dieses Urteil ...
Der zweite Akt beginnt, ein kompliziertes Gespräch der Herzogin mit
Tasso. »Liebt er sie eigentlich?« fragt mich das Mädchen neben mir ganz
einfach. Ich, ebenso einfach: »Ja.«

Sie legt den Arm oben auf die Rückenlehne des nächsten Sitzes, um sich
bequemer hinstrecken zu können. Dabei entstehen neue Arten von Rundungen
aus ihrem Körper, neue Höhlen und Einsprünge. Sonst kenne ich nur von
Bildern her so ausgedacht reizvolle Stellungen. Aber hier ist es ohne
Absicht und ist Wirklichkeit. Es ist schrecklich aufregend, so etwas zu
sehen; noch aufregender, es nicht zu sehen ... Ich wende mich also
wieder zu ihr: »Na, was?« Nur um etwas zu sagen, eine primitive
Anknüpfung.

»Was denn?« erwidert sie erschrocken. Sie hat schon halb geschlafen.

Eine Weile sehen wir einander an, keiner hat einen Einfall. Dann erlöst
sie etwas, aus vollem, aufrichtigem Herzen hat sie es erkannt und sagt
es, denn sie ist ein ehrliches, gutes Mädchen: »Wissen Sie, das Stück
ist eigentlich ziemlich fad ...«

Plötzlich bin ich entflammt. Ich weiß nicht, was das ist, manchmal
bricht tief aus mir heraus irgendeine Person, die gar nicht mein Ich
ist. Dann fange ich an, mit Begeisterung Dinge zu reden, an die ich gar
nicht glaube. Trotzdem habe ich nicht das Gefühl, zu lügen. Sondern ich
denke immer noch in der Unterströmung: »Ja, rede nur, Max, rede nur brav
weiter. Das ist zwar nicht deine Meinung. Aber nur zufällig. Ebensogut
könnte es auch deine wahre Meinung sein, das Schicksal hätte sein Steuer
nur ein wenig nach links oder rechts biegen müssen, und bums, schon wär'
aus dir wirklich das geworden, was du jetzt redest. Also lasse dich nur
aus, lasse dein ungeborenes, durch irgendwelchen Zufall nur verhindertes
Ich auch ein bissel zum Leben ...« Also nehme ich ihre Hand und werde
ganz gerührt vor innerer Roheit, die ich in mir aufwachsen fühle wie ein
Gebäude: »Sie haben recht, Hede. Wozu ich eigentlich hergekommen bin! So
ein langweiliges Stück, es geschieht ja nichts, immerfort wird nur hin
und her geredet. Da stelle ich mir ein Drama ganz anders vor. Lauter
Handlung, lauter Krawall. So wie Sherlock Holmes. Und glühende
Liebesszenen dazwischen, zum Zerspringen. Hier weiß man ja eigentlich
nie, was sie voneinander wollen und ob sie überhaupt etwas wollen ...«

Im Zusammenhang damit bespreche ich ein Rendezvous mit ihr. Warum sie
mich schon so lange nicht besucht hat? Ob sie wieder kommen will?

»Wenn's sein muß,« sagt sie. Das ist eine ihrer Lieblingsredensarten.

»Sehr gut,« entzücke ich mich weiter, »und ich werde ein Stück für Sie
schreiben. Ich plane nämlich schon lange ein Drama, bisher habe ich's
noch nicht versucht. Ausgezeichnet passen wir jetzt zusammen, Sie als
Schauspielerin! Es wird eine Bombenrolle für Sie sein, und jetzt werde
ich das Stück auch sofort anfangen. Für Sie, ja? Es soll ›Lady Hamilton
und Nelson‹ heißen, oder so ähnlich. Wissen Sie halt, ein Seeheld, und
sie liebt ihn sehr und verführt ihn auch zu ein paar Dingen, die nicht
so das Rechte waren. Auch einen Tanz muß sie drin tanzen, den Shawltanz,
den sie selbst erfunden hat. Gefällt Ihnen das?... Es ist eine
historische Sache; Goethe selbst, verstehen Sie, von dem dieser Tasso
ist, hat sie in Neapel gesehen.« Ich höre mir selbst zu und weiß jetzt
wirklich nicht mehr, ob das wahr oder falsch ist, was ich da rede. Ich
will ja im Ernst dieses Drama schreiben. Aber ich würde mich schämen,
wenn mich wirklich diese Argumente dazu bestimmt hätten, diese
Schönheiten und Vorzüge meines Planes, die ich ihr anpreise. »Und vor
allem viele Schlachten werden vorkommen. Lauter Seeschlachten. Ein Akt
spielt auf dem Verdeck des Admiralschiffes während der Schlacht bei
Trafalgar. Das Schießen darf gar nicht aufhören. Sogar in den
Zwischenakten muß geschossen werden ... Nun, was sagen Sie jetzt? Werden
Sie da keine Angst haben?«

»Ich? Angst?« Sie wird ganz wild und setzt sich aufrecht. »Ich habe nie
Angst. Hören Sie, voriges Jahr waren wir in Brandeis auf Sommerwohnung.
Abends sitzen wir da im Restaurant. Plötzlich macht sich der
Wachtmeister, was mit uns gesessen ist, einen Jux und schießt sein
Revolver los, blind geladen natürlich, auf die Erde. Alle sind sitzen
geblieben, vor Schreck, wie angemalt. Nur ich stehe auf und gehe lustig
im Zimmer herum, wie wann nix g'schehn wär« ...

Auf der Bühne rast eben Tasso, verwundet, wegen irgendeiner Kleinigkeit
gellen seine Schreie durch den Palast. Er zittert, seine Lippen sind
weiß und gekräuselt, wie schäumendes Wasser in immer neuer Bewegung.

»So was Überspanntes!« sagt das gesunde Mädchen neben mir.

Ich lobe sie. Ein Kerl ist das, ein Stück Felsen ...

Entschieden sind wir beide heute nicht die richtigen Zuhörer für Tasso.



Bewegungen auf der Bühne


Noch schnell, ehe das verbesserte moderne Theater die alten Gebräuche
gänzlich übermalt hat, stelle ich fest: sie waren lasterhaft, doch darum
nicht minder interessant ... Namentlich muß gesagt werden: die tiefe
Kniebeuge hatte damals eine viel ausgedehntere Verwendung, und so ist es
ja glücklich noch jetzt an den meisten Theatern außerhalb berlinischer
Neuerungen. Die tiefe Kniebeuge wird ausgeführt, wenn zwei oder drei auf
der Bühne beisammenstehen und »Das Geheimnis« an zitternden Handflächen
vorbei einander zuflüstern. Noch tiefere Kniebeuge bedeutet dann
»Verschwörung«. Und mit gänzlich eingeknickten Beinen, beinahe kriechend
nur, bewegt sich der Schauspieler älterer Konvention auf dem Erdboden
weiter, die Hände weit von sich gereckt, wenn er Bericht gibt, wie es
bei der »Verfolgung« zugegangen ist. Wohlgemerkt, wenn er wirklich auf
der Bühne verfolgt, bedarf er keiner solchen Aufwendungen von
Beweglichkeit. Nur Berichte müssen so ausdrucksvoll-anstrengend gespielt
werden ... Eben an solchen Gesetzen jenseits der Realität war, ist die
mittelmäßige Schauspielkunst überreich. Man könnte riskieren: nur der
mittelmäßige Schauspieler ist Schauspieler, denn nur er folgt Gesetzen,
die nicht aus dem ganz fremden Rayon der Naturbeobachtung stammen,
sondern immanent aus dem Wesentlichen des Theaters. Der gute
Schauspieler =stellt= etwas =dar=, der mittelmäßige =ist= etwas. Durch
den guten Schauspieler hindurch, wie durch einen Kristall, bleibt der
Blick ins Dasein, in die Historie offen. Die Vortrefflichkeit eines
Schauspielers ist Durchsichtigkeit. Und den ganz vortrefflichen sehe ich
überhaupt nicht mehr. Symbol und Symbolisiertes sind in eins gefallen
... Der Mime in Schablonenmanier hingegen hat etwas Materielles bewahrt.
Er lenkt ab von dem Helden, den er geben will. Je schlechter er wird,
desto mehr sieht man ihn, desto deutlicher tritt er aus dem Bilde ...
wie Gespenstererscheinungen im Kinematographen. Schließlich werden seine
Gesten ein selbständiges Objekt, würdiger der Beobachtung als sogar
Shakespeares unerreichbarer Jago, den sie verdunkeln und in
Vergessenheit bringen ... Mit Recht! Denn würde Jago, wenn er jetzt
lebendig aufträte, auch es verstehen, in so interessant-allgemeingebräuchlicher
Weise sein Trinklied zu brüllen, seinen Becher zu heben.
Theater-Becher eines Theater-Trinklieds werden nämlich immer
so gehoben: zuerst beschreiben sie einen großen, wagerechten
Kreis durch die Luft, dann fliegen sie empor, dann an den
Mund in halbe Höhe, und während sie sich senken, muß die linke Hand
aufsteigen mit gestrecktem Zeigefinger, der erst, wenn der Becher
geleert ist, zu den andern Fingern einknickt. Nicht wahr?... So sitze
ich oft im Theater und nichts freut mich als diese eingehenden Studien,
die ich mit ziemlichem Erfolge betreibe. Denn ich weiß jetzt schon, wie
einfach »ländliche Liebeswerbungen« darin sich ausdrücken, daß man dem
begehrten Mädchen mit dem Oberarm in den Rücken reibt und schließlich
schmunzelnd sie zur Seite wegstößt. Ich weiß, daß »träumerisch verliebte
Dirndl« ihre Wangen an zwei Finger stützen, das Gesicht etwa wie einen
dicken Federstiel in die Hand nehmen. Diese Kenntnisse verdanke ich den
vielen Volksstücken, die ich gesehen habe ... Dagegen aus dem
klassischen Kurs stammt meine Erfahrung, daß Wallensteins Offiziere im
Kriegsrat stets nur die Kante der Sessel zu beschweren pflegten, das
eine Bein geknickt, das andere nachgezogen, wie im Lauf ... Noch
hübscher sind Opern, hier bleibt das Spiel noch ergiebiger in seinen
Grenzen autonomer Natur-Unwahrheit. Nebenbuhlerinnen zerren einander
erst in die rechte, dann die linke Bühnenecke; denn die
Nebenbuhlerinnen-Arie hat zwei Strophen und so viel Haß will symmetrisch
verteilt sein. Jeder Feind wird mit »Verräter« angefaucht. Vom Geliebten
aber heißt es: »Ihn lieben ist süßer Gewinn.« Je koketter eine Zofe,
desto mehr neigt sie sich lächelnd ins Publikum, Finger an der Lippe.
Selbst der verabscheute Bewerber, der im nächsten Moment für immer
abgewiesen werden wird, darf noch im Singen Liebchens Arm umschmeicheln.
Was man im Leben für ein Zeichen nicht unbeträchtlicher Gunst halten
würde, hier ist es nichts. Und beim Stelldichein ein Kuß ohne nähere
Anpressungen, im Leben nichts, hier bleibt es alles ... Wie billige ich
diese Unterschiede! Wie liebe ich es, wenn ein Akteur, an der Rampe
nicht benötigt, jetzt zurücktritt, im Hintergrunde einen andern fest bei
den Händen packt, ihn nicht mehr losläßt und tut, als habe er
Wichtigstes mit ihm zu besprechen, indessen er angespannt nach vorn
horcht und prompt auf sein Stichwort wieder vorstürmt. Wie liebe ich
Statisten, gestikulierende, einschlafende, jubelnde, Chormädchen, die
jemanden in einer Loge suchen. Und auch dich, o illustrissimer
gastierender Tenor und Millionär, der trotz ihrer geringen Gage die
Edelleute seines Festes mit »Freunde« anspricht, bekannt mit ihnen tut,
liebevoll einem die Schulter beklopft, dann einen andern bevorzugt, an
die Rampe führt und seinen Arm, den er erfaßt hat, im Rhythmus der
berühmten Kanzone hin und her reißt ...



Die Liebe wacht


Es ist doch nicht gut, ... dachte ich im Theater während der
Vorstellung ..., wenn die Pracht von »Haben Sie nichts zu verzollen?«
mit »Weißes-Rößl«-Komik für den Mittelstand sich amalgamieren will ...
Ein Nachthemd ist immerhin ein Nachthemd, und lustig. Was aber lernen
wir aus diesem (jetzt sage ich's schon) miserablen Stück? Zum Beispiel,
es tritt ein junges Mädchen auf und legt Karten. Die Gouvernante kommt
dazu, zankt sie aus, dann dreht sie sich selbst um, fängt ihre Patience
an. Ein Abbé tritt auf ... mein Freund und ich im Publikum, wir lachen
schon, wollen ihn durch Gebärden abhalten ... es nützt nichts, es bleibt
dem Abbé nicht erspart, sich lächerlich zu machen, indem er die
Gouvernante auszankt und dann (beiseite) seine Patience anfängt ... Ist
darin eine Moral, so ist sie mindestens sehr langweilig! Und
plattgedrückt von dieser ausdrücklichen, wie mit Humor akzentuierten
Langeweile kriecht das Stück über die dreiaktige Bühne, nein vieraktige
sogar! Schließlich wirkt diese Öde verwirrend, wie eine große Stille,
diese Selbstverständlichkeit wird unverständlich; man gähnt, um sich mit
etwas zu amüsieren ...

Doch merkwürdig, jetzt zu Hause hat auf einmal dieses unaufmerksam
gehörte Spiel eine Einheit für mich bekommen ... Ein Gelehrter kommt
darin vor, schreibt über etwas Uninteressantes, Kleines aus dem
Mittelalter, liebt eine Frau, ist schüchtern, ungeschickt, mit Mißlingen
von oben bis unten bekleidet. Und dann, in dem Moment, wo er glaubt,
diese Frau liebe ihn doch, schmeißt er seine Bücher weg, verschmäht eine
Freundschaft, tanzt und bestellt Champagner (genau Champagner!). Da
erstaune ich. Und weiß: dieser Gelehrte ist nichts Reales, er ist ein
Gelehrter, wie sich die Autoren vorstellen, daß eine Frau sich ihn
vorstellt ... Daher seine vernachlässigte Tracht! Daher sein Vorname,
den er betrauert: Auguste! Daher die schlimmen Ibsen-Symbole das ganze
Stück entlang! Daher das ganze Stück!... Das ganze Stück stellt ein
Gehirn einer mittelmäßigen Frau im Sinne mittelmäßiger Autoren dar. Es
ist gleichsam ein inwendiges Stück, ein Kapitel Physiologie, ein Blick
in die arbeitenden Gedankenzellen des Fräulein Jacqueline. Deshalb muß
ihr begünstigter Liebhaber ein Lebemann und ziemlich untreu,
schlagfertig, eifersüchtig, im Grunde edelmütig sein; der Gelehrte aber
nebst allem Unglück auch unehrlich, zappelnd, zum Auslachen, ohne eine
Spur von Tesmans Tragikomik einfach zum Auslachen. -- Auch bei andern
Dichtern gibt es diesen Geistigen, der den Kürzern zieht. Aber konnte
ein einziger bisher sich zurückhalten, innerlich diesem Geistigen
wenigstens ein bißchen recht zu geben, ein bißchen ironisch auf die
siegende Eleganz zu seitenblicken? Ibsen, Hamsuns Nagel, Shakespeares
Hamlet ... In diese Galerie unterliegender Gelehrter führen nun die
Herren G. A. de Caillavet und Robert de Flers (Ritter aus den
Kreuzzügen, Autoren von »Die Liebe wacht«) ihren Auguste, als den
einzigen, der gänzlich unterliegt, gänzlich unrecht hat und dem wir´s
gönnen (im Sinne des erwähnten Zentralgehirns der kleinen
Jacqueline) ...

Und in diesem Sinne auch wünschen wir ungebrochene Erfolge weiterhin
über alle Bühnen Deutschlands diesem physiologisch-inwendigen,
originellen Stück. --



Louskáček


Man kann jetzt eines der größten Vergnügen der Welt haben, ohne
Widerrede, wenn man in Prag ist und im tschechischen Theater dieses
Ballett besucht, Louskáček, den »Nußknacker« von Tschaikovskij. Es
handelt von gar nichts. Keine Konflikte gibt es darin, nichts
Geistreiches, nicht Tragik, nicht Verwicklung. Sondern einfach wie ein
glatter Film rollt alles vorbei, alles in sich selbst nur begründet, in
sich selbst gehalten und aufgehoben, und alles so süß den Augen und
Ohren ... So stelle ich mir ein vollkommenes Drama vor, eine vollkommene
Belustigung: ohne Verlegenheit wird an grundlose Szenen ein Tanz, an
Tänze eine grundlose Szene geknüpft. Und wer ist so stumpf, daß es ihn
nicht vergnügte, ganz große Mäuse wie Känguruhs über die Bühne hüpfen zu
sehen, in glänzenden, graugrünen Fellen aus Samt, und gegen sie im
Kampfe aufgestellt eine Gruppe buntester Schildknappen? Es wird sogar
geschossen, ja, eine Kanone wird abgefeuert. Dann tanzt man weiter. Alle
Kämpfe der Erdoberfläche, das wünscht mancher und namentlich in diesen
Tagen, sollten auf so humorvolle Weise ausgetragen werden. Würde das
vielleicht irgend jemandem schaden?... Und ebenso vorbildlich ist die
Art, wie Tschaikovskij auf einem Harfen-Glissando über die gesamte
Melancholie der Erdoberfläche hinweggleitet, hinauf zum Sternenhimmel
voll von Flöten-Tonleitern in Terzen. Da kann man erfahren, wie das ist,
wenn elegante Leute ausgelassen sich benehmen, wenn am Hofe lustig es
zugeht. Kein andrer Komponist hat das so: Kerzenbeleuchtung, Übermut,
Wohlstand. O, und die Schwermut dieser Melodien, es ist eine Schwermut,
über die vornehmsten Kanapees hingelagert und ein ringgeschmücktes
Händchen gestützt an eine parfümierte Stirnfrisur, während die
Parklandschaft von Somoff ins Boudoir hereinglitzert, im Mondschein
nicht so sehr als im Zerrieseln des modischesten Feuerwerks ...

So wurde es hier auch aufgeführt. Luxuriös, russisch, mit einem Wort:
vortrefflich. In einer weißen Lichtung, schneeverweht im
Eiszapfen-Walde, hinter weißen Gazeschleiern sah man aus lockern
Schneeflockenhaufen Mädchen hervorgezaubert, Feen in weißen Locken,
weißen, lichten Tüllkleidchen, weißen Atlasschuhen, und nur ihre rosigen
Busen taten einem leid, die in dieser blendenden Kälte abfrieren mußten,
trotz aller Walzerschritte, abfrieren und vor Frost immer rosiger,
röter, härter, brennender erscheinen. Ach Gott, mitten in der freien,
unwirtlichen Natur Ballerinen; es war ein aus Mitleid, Grausamkeit und
Sinnlichkeit gemischter Effekt. Die ganze Bühne nur Weiß und Rosa, das
vergesse ich nicht so bald ... Gewißlich aber noch später die schöne
Primaballerina Anna Korecká, wenn ich sie überhaupt jemals vergesse.



König Wenzel IV.


Im Prager Tschechischen Theater findet jetzt die Tragödie eines neuen
Dichters vielen Beifall. Das Haus ist ausverkauft. Ein Teil der Presse
spricht von einer nationalen Tat, ein andrer lacht tadelnd. »König
Wenzel der Vierte« von Ernst Dvorak.

Der Theaterzettel, beinahe länger als beim Medardus, gibt schon manchen
Grund zu träumerischem Nachdenken. Neben dem König, der Königin, der
hohen Geistlichkeit tritt der hohe Adel auf, jene »böhmischen Herren«
von Bilin, Douba und Hohenstein, Rosenberg, die jetzt verschollen sind
-- und die jetzt so blühenden Adelsgeschlechter der Lobkowitze, zum
Beispiel, figurieren als niedere neue Namen. Sofort denkt man an die
Umwälzungen, die unser Heimatland betroffen haben. Und liest man nun gar
unter den Personen nach: Johann Hus, Zizka von Trocnov, den päpstlichen
Nuntius, Jost von Mähren, schlichte Bürgersleute, Bauern, einen
Bettelmönch, einen Hofnarren ... so ist man von der richtigen
historischen Atmosphäre schon durchdampft. Freilich möchte man gern noch
den Dichter, obwohl er ja sichtlich vor schönen Taten steht, gern noch
an die Schwierigkeiten erinnern, möchte ihn warnen, am Ärmel
zurückhalten: Was ist denn das? Jeder Akt spielt in einer andern Stadt,
und immer nach zehn Jahren -- in Beraun, Wien, Prag, Kuttenberg,
Kunratitz? Wirst du das bewältigen?... Doch das Stück ist ja schon
geschrieben, und mit einem Seufzer beendet man das nichtige Studium des
Theaterzettels.

Meine Sorgen steigerten sich, als ich vor dem Abend meine Kenntnisse der
vaterländischen Geschichte aus einigen Büchern auffrischte -- ach, aus
Büchern, die meiner Kindheit Spielzeug waren, in denen ich jedes Wort
und jede Vignette als unendliches Kunstwerk einst bewundert habe. Da
fiel mir auf, daß ich die Wirren unter Wenzel dem Vierten eigentlich
immer überschlagen hatte, weil ich in ihrem planlosen Hin und Her ohne
Frucht und ohne Höhe nichts Interessantes finden konnte ... Ein
schwacher König, um das Deutsche Reich wenig besorgt und also »der
Faule« benannt, das tschechische Volk liebend, von ihm geliebt, in
ewigem Streit mit dem Prager Erzbischof, mit dem frondierenden Adel,
bald für Hus, bald gegen Hus, schwankend Verratner und Verräter, Säufer,
allgemeine Unordnung, das Jahr 1411 mit drei Kaisern und drei Päpsten,
zum Schluß von einem Schlaganfall getötet, während das Volk seinen
Palast stürmt. Was ist aus all dem andres zu ersehen als die Grausamkeit
und Zwecklosigkeit alles Menschlichen, sofern es nicht geistig-logische
Richtungen nimmt?

Nun wurden aber meine Bedenken durch das aufgeführte Drama auf die
schönste Weise zerstreut. Und deshalb schreibe ich. Ein Trauerspiel ist
geschaffen, voll von Patriotismus, den ich, wo nicht als Patriotismus,
doch mindestens als Begeisterung zitternd mitfühle -- die Tragödie eines
Königs, der sein Volk liebt und mißversteht. Wenn irgendwo, so ist hier
das, was die Älteren »tragische Schuld« nannten, in herzlichster
Vollendung gegeben.

In der Hauptfigur des Wenzel hat Dvorak eine so scharf individualisierte
königliche Gestalt geschaffen, daß ich sie dicht neben Shakespeares
Könige stelle. Ein gutes Herz, heiter und gesund, so tritt er, unter dem
atemlosen, innigen Jubel des Volkes auf, im grünen Wams, mit Jägerhut
und Armbrust, wie ihn das Bild im Römer zu Frankfurt zeigt. Alle sind so
froh, ihm die Hand küssen zu dürfen. Ein Bauer bringt die Butter, die
für den Markt vorbereitet war, einen schmackhaft aussehenden gelben
Klumpen, für den geliebten König aufs Schloß. (An solchen
volkstümlich-lustigen Zügen ist das im Innern trübe Stück äußerlich
reich.) Alle lachen und trinken gern mit ihm. Doch schon hier zeigt sich
der Konflikt. »Wir lieben dich sehr,« sagt ein Greis, »aber wir möchten
auch, daß du unser Vorbild bist, ein Muster. Dein Vater Karl war so
erhaben ...« Es hat etwas unter Komik Grausiges, wie das Volk immer von
neuem diese Forderung gegen den Herrscher erhebt, von ihm das Höchste
verlangt. Wenzel, der sie auf weltliche Art glücklich machen will,
Steuern erläßt und freigebig Waldungen an die Gemeinden verschenkt,
dieser Wenzel genügt ihnen nicht. Sie wollen ihn heilig, er ist ein
Mensch. Man muß den Dichter bewundern, der diesen vielleicht historisch
unrichtigen, aber so sympathischen, neuartigen, unglücklichen Regenten
erfunden hat. Nicht wahr? Den Dramatiker ferner, der aus dem nun
vorliegenden Material einen Aufbau und eine Einheit gestaltet hat. Wie
er den Jähzorn des Königs, sein schnelles Dolchziehen benützt! Ja, er
ist gut, aber an den Tod des Johann von Nepomuk darf man ihn nicht
erinnern. Wie er ihn allen Frauen nachstellen, seine Geliebten unter den
Dienstmädchen im Volke suchen (auch darin populär, beliebt, aber den
höchsten moralischen Anforderungen des Volkes nicht gewachsen), ihn
trotzdem zärtlich, mit großem Herzen an seiner Frau hängen, sie als
»Moje kuratko« (»Mein armes Huhn«) sanft an sich reißen läßt, vor
versammeltem Hofstaate familiär mit ihr ... Man fühlt: in jeder andern
Zeit wäre er ein guter König gewesen. Aber »die Zeit ist aus den Fugen,
Schmach und Gram ....«. Hus ist aufgetreten, und der König, den eben die
Hussiten aus seinem Kerker gerissen haben, versteht die neuen »Ketzer«
nicht. Er versteht noch das Nationale ihrer Bewegung, hilft ihr gegen
die Deutschen, aber das Metaphysische, Religiöse interessiert ihn
einfach nicht ... Nun wirkt es erschütternd, wie er, der sich bewußt
ist, stets das Beste seines Volkes gewollt zu haben, der auf die
Zustimmung des Volkes stolz ist, plötzlich bemerkt, daß alle den Kelch
über ihn stellen. »Gib uns den Kelch wieder,« heulen unten die Rebellen.
Und im letzten Akt stellt sich die Rührung ein, mittelst einer
vielfachen Perspektive, mittelst eines wahrhaft geschichtsphilosophischen
Überblicks, der aber vom Dichter nirgends durch Theorien,
nur durch Gestalten ausgedrückt wird. Natürlich so: Wenzel
hat recht, wenn er das Volk irdisch beglücken will -- unrecht,
wenn er die Tiefe der religiösen Sehnsucht verkennt -- und doch wieder
recht, wenn er all das Elend, das infolge dieser Religionskämpfe über
Böhmen hereinbrechen will, prophetisch ahnt -- und doch vielleicht von
einem höchsten Standpunkt, kraft dessen die geistige Freiheit dem
Menschen wichtiger als alles leibliche Wohl und Wehe ist, wieder unrecht
-- und doch vielleicht zum Schluß recht, weil er ein Mensch ist, ein
mystischer Rationalist, eine Art Goethe, der den Himmel auf der Erde
sucht. Diese komplizierten Antithesen, von Akt zu Akt gesteigert, trotz
der Uneinheit von Raum und Zeit zu einer innern Einheit erhoben durch
Heroismus, Schönheit, blutige Aufwallungen, persönlich gemacht durch
brennende Details -- das ist eben das neue Drama dieses neuen Dichters!

Es wird vorzüglich aufgeführt, wie dies unter dem Dramaturgen des
Nationaltheaters Kvapil nicht anders zu erwarten steht. In der
Titelrolle leistet Schlaghammer Packendes, Sicheres, Springendes ... wie
seine Augen glänzen, seine Rede melodisch dröhnt, wie er unstet-trotzig
die Würden des Reiches dem einen nimmt, dem andern nach einem verwirrten
Blicke in die Runde hinwirft, wie er voll schöner, jugendlicher Ideale
in Blüten des Frühlings steht, sonnig, und schließlich im Feuerschein
geplünderter Dörfer zusammenröchelt! Ich habe geweint ... Und neben ihm
der Narr, vom Dichter zwar mit wenig Humor begabt, aber mit
melancholischen treuen Bocksprüngen ausgestattet von Haschler. Zum
Schluß nimmt er Gift aus einem Ring, sinkt lautlos am Fenster nieder,
niemand kümmert sich um ihn, nicht einmal der König bemerkt, daß der
einzige als Freund mit ihm zugleich stirbt. Ein rührender Zug ... Noch
vieles andre hat mir gefallen. Hus allerdings nicht -- Vojan spielt ihn
mit feuchten Haaren, allzu schulmeisterlich. Aber daß ihn der König, als
scheute er sich vor seinem für das Volk so suggestiven Namen, immer nur
als »Hussinetzer« nach seiner Herkunft anspricht: wie gefällt euch das?
Oder daß unter tausend Höflichkeitsformeln und Treuversicherungen,
galant beinahe, ein König gefangen gesetzt wird, mit aller Etikette. Daß
ein halbtauber Diener auftritt, dessen dunkelbraunes, altes Gesicht den
Anschein erweckt, als verrammle ihm zu viel braunes, dickes Blut das
Gehör. Daß er überdies kurzgeschorene, dichte, graue Haare hat, die man
gern streichelt wie einen Hund, und die mit einem unsäglich einfältigen
Eindruck in die Stirn hereinhängen. Daß jemand in einem Zimmer sitzt,
und man weiß gar nicht, daß er hier gefangen ist, bis plötzlich die Türe
sich öffnet, nur zufällig, eines Besuches wegen, und da sieht man
draußen vor einem hellen, in den weißlichen Himmel verästelten gotischen
Fenster unheimliche schwarze Wachtsoldaten stehen, die ein enges
Vorzimmer ganz anfüllen, dunkel abgehoben vor dem weißen Licht. Sofort
schließt sich die Türe wieder. Und so oft sie sich öffnet, derselbe
unbewegliche Anblick.

Zum Schluß nach so viel Lob eine Einschränkung, mich selbst betreffend.
Ich gehöre zu den Leuten, die Glockenklang hinter der Szene, Hochrufe
des Volkes, jeder Lärm und alle Waffen auf der Bühne aufregen. Inwiefern
es ferner zu meiner Rührung über dieses Stück beigetragen hat, daß Orte
und Gassen der geliebten Heimat in einem bedeutenden Ton genannt werden,
daß man vom uralten »Gasthaus zum grünen Frosch«, das ich kenne, und vom
Teinhof mit Zuneigung spricht -- das kann ich nicht feststellen und
wünsche es auch gar nicht zu wissen.



Weiße Wände


Schade, daß ich kein Regisseur bin. Es muß hübsch sein, in ein scheinbar
schon fertiges Kunstwerk seine Gedanken einzufügen und ihm dadurch eine
Vollkommenheit zu geben, die man vorher nicht vermißt hat, weil man sie
nicht geahnt hat ... So hat Herr Jaroslav Kvapil Schillers »Wallenstein«
durch schöne Bilder und Bewegungen vervollständigt, man spielt jetzt die
Trilogie am tschechischen Theater in Prag mit vielem Glück. Jetzt erst
sehe ich, wie das eigentlich war, dieser Krieg, wie schön Spitzenkragen
und zackiges Linnen zu Lederkollern paßt, wie gepanzerte Männer im
Marschieren klirren, wie eine rote Schärpe irgendwie einen hohen Rang
bedeutet. Sehr schön wirken auch lange, glänzende Goldquasten an dunklen
Kniehosen, diese Quasten führen ein ganz selbständiges Leben und, ob nun
ihr Träger steht oder sich erzürnt, immer wissen sie auffallend zu
schlenkern. Doch das Beste war es, daß sämtliche Szenerien (ohne das
Lager natürlich) weiße Wände waren. Reine, weiße, kahle Wände, in die
nur hölzerne Türaufsätze oder Fensterrahmen braune Lücken schnitten.
Solche Wände rufen sofort in mir das Gefühl wach, daß es lange her
seitdem ist, lange, lange vorbei. Ich weiß wirklich nicht, ob das der
Wissenschaft entspricht, ob wirklich zur Zeit jenes Krieges im Rathaus
zu Pilsen und in Eger so weiße Gespensterwände sich spannten. Einerlei.
Diese Wände bedeuten für mich »Dreißigjähriger Krieg«, überdies auch
jede andre vergangene Zeit. Vielleicht kommt das daher, weil die alten
renovierten Burgen, die ich besichtigt habe, alle so frischgekalkte,
saubere, billige Wände hatten, ohne viel Bemalung ... Und so war es auch
gestern auf der Bühne. Große, ja gigantische weiße Flächen, wenig Möbel,
hier und dort ein Fresko in dünnen harten Farben. Ich dachte an die Burg
Karlstein, wie sie jetzt ist, an hypothetische Vergangenheiten,
schließlich an die leibhafte Historie. Was für Menschen, denen so in die
Augen stechende Einfachheit genügt! Sie scheinen nicht auf lange sich
einzurichten, nirgends, morgen wird alles zusammengeschossen. Wieviel
Waffen und Quasten hat so ein Kerl auf sich, aber die Prunksäle sind
weiß wie Wäsche auf der Bleiche, sind leer, als sei man eben im Umzug
begriffen ... Und sehr gut paßte es da herein, wie Herr Vojan den
Wallenstein spielte. Müde, fast resigniert, bleich, in sich gekehrt,
langsam. Häufig sprach er nicht oder schloß im Reden für lange Zeit die
Augen. Das rührte mich sehr, denn das sah dann genau so aus wie die
weißen Wände ringsum. Es war förmlich ein Echo dieser Wände. Und man
fühlte im Herzen, was Schiller geschrieben hat: die Tragödie
niedersteigender Sterne.



Untergang des Dramas


Das Erlebnis, das mich in diese abschüssige Bahn gestipst hat, war nur
sehr einfach:

Ich wollte einmal Italienisch lernen und kaufte mir deshalb eine
rühmenswerte Grammatik »_Parla ella italiano?_« samt angefügten
Konversationsübungen.

Bei diesen Gesprächen stockte ich, las immer langsamer und wie
hingegeben: »Ich habe recht gut geschlafen« -- »Das freut mich sehr« --
»Es freut mich, Sie wohl zu sehen« -- »Befindet sich Ihre ganze Familie
wohl?« -- und immer gieriger wurde ich da, immer weniger interessierte
mich die Übersetzung ins Italienische, bis ich schließlich einsah, daß
der Inhalt mir Vergnügen machte, die spannende Handlung, und nicht mehr
das nützliche Sprach-Erlernen. In meiner Vorstellung kamen ganz deutlich
Zimmer, Gartenwege, Bäche, über die hinweg die Gutsnachbarn miteinander
Unterhaltung führen. Mehr und mehr erregt erkannte ich Situationen, die
Haltung und die Vorgeschichte. Schließlich im Weiterlesen wußte ich, daß
diese Dialoge eine dramatische Wirkung auf mich hatten und demnach
bestimmt waren, in meinem leeren Herzen Ersatz zu sein für alle
Theaterstücke, an denen ich damals gerade die Lust verloren hatte ...

Wie eindeutig und, hat man diese eine Deutung ein für allemal in sich,
wie klanglos spielen sich die Szenen der üblichen Dichter ab. Einige
Leidenschaften, schon seit langem veraltet, einige Lächerlichkeiten mit
weinerlichem Glanz erfüllen die Bühnen Europas ... Schön natürlich sind
die Kulissen, die Ballette, die Ausstattungsstücke, schön für immer und
unerschöpflich, weil diese Unerschöpflichkeit in uns liegt. Was soll man
aber dazu sagen, wenn immer noch Heerführer überredet, Frauen verführt,
Söhne verflucht werden. Solche Gespräche, akkurat eingeklemmt zwischen
die handelnden Personen wie ein Hals in die Aussparung der Guillotine,
wollen mich nicht glücklich machen.

Dagegen Luft in bester Menge geben die Dialoge meines Konversationsbuches.
Da finden sich tragische: »Was gibt es für Neuigkeiten?«
-- »Ich weiß nichts.« -- »Was wünschen Sie, daß ich tun
soll?« -- »Ich beschwöre Sie, es zu tun« ... Anmutig pastorale wie der
ganze Abschnitt über das Wetter und über Ausflüge ... Derbkomische:
»Haben Sie Mäuse in Ihrem Hotelzimmer?« -- »Nein, aber meines Oheims
Freund wird eine Falle kaufen« ... Auch das Tempo wechselt; überstürzte,
gleichgültige, gezogene Partien lassen sich unterscheiden ... Die
Charaktere treten vor, wechseln aber in jeder Zeile beinahe, wie dies
bei komplizierten Naturen nicht überraschen kann. Fast nie wird eine
Angelegenheit ganz erledigt. Man respektiert die Chiffre, das
Halbverschwiegene. So haben diese Sätze, ungewiß woher gesprochen und
wohin, und dennoch ganz sicher gesprochen, den fast mystischen Reiz und
die wirksame Undeutlichkeit diophantischer Gleichungen, in denen zwei
Variable eine konstante Beziehung bewahren ... Ich sehe es voraus, daß
man in Zukunft nur solchen Schattenspielen gestatten wird, die Phantasie
in Wallung zu bringen.



Ideen für Ausstattungsstücke


Ich habe beständig Einfälle, von denen ich wohl annehmen darf, daß sie
einem Regisseur ganz hübsch zugute kämen. Immerhin sehe ich ein, daß
unsre Zeit für diese Einfälle noch nicht reif ist, und deshalb vermeide
ich es, besondere Sorgfalt auf ihre Ausarbeitung zu verwenden.
Kunterbunt, so wie sie mir durch den Kopf marschieren, seien sie hier
aufgezeichnet, und manche werden wohl eher nur der Anfang eines
Einfalles als Einfälle genannt werden. Tut nichts; sollen sich die mit
ihnen Mühe geben, die später von ihnen profitieren wollen! Ordnung in
diese unreifen, halb ausgereiften Pläne bringen: das ist meine Sache
nicht. Möge man nur deshalb nicht das Ganze für einen Scherz halten ...

Also ich ertappe mich oft dabei, im Theater, bei langweiligen Szenen
(und das sind so viele!), daß ich schon gar nicht mehr auf das
klangreiche und doch wieder so klanglose Gerede aufpasse -- sondern
plötzlich habe ich, beispielsweise, die Lehne eines glattpolierten
Alt-Wiener Sessels auf der Bühne ins Auge gefaßt und amüsiere mich
damit, ein Pünktchen des grünlich durchs Fenster einfallenden Mondes auf
dieser Lehne zu verfolgen. Wie es behaglich da festsitzt und aus sich
heraus strahlt, als eine Filiale des Mondes, dieses Pünkterl, ja als ein
Mond für sich. Und mit jener Leichtigkeit, die ätherischen Dingen eigen
ist, rutscht es das harte, glatte Holz entlang, ohne eine Spur von
Sentimentalität, von Heimweh nach der frühern Ansiedlung, falls eine der
Bühnenfiguren eben diesen Sessel in die Hand nimmt. Ist das nicht
interessanter als das ganze Drama? Der grüne Punkt, die Blüte des
Mondes, entfaltet sich auf einmal und bedeckt den Seidensitz des Sessels
eiligst und doch so zart, daß keine Dame der Welt mit einer auch nur
annähernden Grazie so in diesem Sessel Platz nehmen könnte ... Und
hieraus entspringt mein Vorschlag. Man führe keine Handlungen auf,
sondern einfach Szenen aus dem Leben der Dinge. Der Vorhang geht auf.
Man sieht ein kahles Zimmer, einen kahlen Tisch, auf dem Tisch brennt in
einfachem Leuchter eine Kerze. Das Fenster ist geöffnet, ein Nachtwind
kommt herein. Die Kerze flackert, erhebt sich, sie kämpft, sie wirft
Lichter die Wand hinauf und hinab, sie wird schwächer, es war aber nur
eine List von ihr, gleich darauf brennt sie in voller Leuchtkraft,
glänzend, aber auch dies war nur Schein, sie hat sich erschöpft, sie
glimmt nur, atemlos zittert das Publikum, der Wind verstärkt sich, wie
zum Hohn entfacht er sie, galvanisiert gleichsam die Leiche, sie
erlischt -- und das vollkommene Dunkel des Zimmers nun, in dem nicht
einmal die schwarze Fensteröffnung sich abhebt, unterscheidet sich vom
schwächsten Glimmen viel mehr als dieses Glimmen von der hellsten
Helligkeit. Diese Einsicht erschüttert jedermanns Herz ... Ja, ich würde
mit dem Luxus der Ausstattungsstücke gründlich aufräumen. Nichts habe
ich im Kopf als lauter Reformen. Keine Ballette, keine exotischen,
hängenden Gärten, keine venezianischen Serenaden! Ich würde das Publikum
zum Genuß des Details erziehen, der verachteten groben Umgebung. So hat
man ja auch früher gemeint, man könne Stilleben nicht anders malen als
mit üppig getriebenen Pokalen, über Prunkteppiche hingebreiteten Hasen,
Rehen und Auerhähnen, den Strecken ganzer fürstlichen Jagden, den
Weinernten Italiens, mit schwellenden Pfirsichen und Guirlanden süßester
Rosen. Bis Cézanne auf einen Bauerntisch neben einen Krug ein Laib Brot
legte und das schöner oder ebenso schön war wie die verschwenderischen
Holländer. So habe ich auch bei Bernheim ein Wunderbild des van Gogh
gesehen, es stellte vor: einen rohen Sessel, der die ganze Fläche der
Leinwand einnimmt, und auf dem Sitz steht eine brennende Kerze. Zu
gestehen, daß ich diesem Bilde die Inspiration zu der obigen
Kerzen-Tragödie verdanke, hieße, die Schlußkraft, das literarische
Feingefühl und das Ahnungsvermögen meiner Leser beleidigen.

Schön wäre auch ein Zyklus: Schreibtische. Der des Ministers, des
Direktors, des Professors, des Dichters, des staatlich angestellten
Diurnisten, der Schreibtisch eines »höhern Wesens«, eines eleganten
Fräuleins, eines Gelangweilten ... Der Vorhang geht auf. Man sieht, was
man sieht. Schluß. Keine Erklärungen, kein überflüssiger Lärm. Eine
Katze schleicht zwischen stürmisch beschriebenen Papieren, und man weiß,
es handelt sich um den Dichter. Ich selbst übrigens fürchte mich vor
Katzen. Aber natürlich wäre auf individuelle Abweichungen hier keine
Rücksicht zu nehmen.

Das Butterbrotpapier, nach dem gleichnamigen Gedicht von Christian
Morgenstern, dramatisiert, gäbe eine weitere prächtige Bereicherung des
Repertoires.

Leben und Treiben in einem Korridor. Die Bühne ganz schmal, unendlich
tief. Fenster an Fenster, jedes wirft seinen Lichtstreifen über den
Boden. Viele Türen, numeriert. Wir sind in einem öffentlichen Gebäude.
Hauptfinanzamt oder so etwas. Die Katze aus dem benachbarten Dachzimmer
des Dichters schleicht vorbei. Spucknapf. Darüber warnende Inschrift,
nicht daneben zu spucken. Eine Maus. Auch Menschen werden geduldet,
sofern sie sich mit ihrem Seelenleben nicht vordrängen. Beamte, fröhlich
und trüb. Bureaudiener bringt Bier, Gabelfrühstück. Agent mit
Barttinkturen, Zahnpasta, Junggesellen-Knöpfen, die man nicht annähen
muß. Privatparteien, sich verirrend. Wieder alles leer; Katze, Maus,
Spucknapf, Sonnenstreifen. Schöne Dame erscheint, läßt ihren Freund für
ein Gespräch und einen kurzen Kuß aus seinem Bureau rufen. Sie gehen auf
und ab. Ab. Es hagelt, ein Fenster zerbricht. Ensemble der
herbeistürzenden Diener. Wir hoffen, daß die Dame vor dem Unwetter nach
Hause gekommen ist.

Der Kahn. Die Bühne stellt den Rand eines Flußbades dar, ein
Brettersteg, Geländer. Im Wasser der Kahn, zur Seite. Er schaukelt, ein
Dampfer ist vorbeigefahren. Köpfe schwimmender Mädchen, in roten und
gelben Badehauben, von ferne ähnlich Turbanen. Brennende Sonne,
Wassergeruch und Holzgeruch, hier scheint es gesünder zu sein als im
obigen Korridor. Der Kahn füllt sich mit Wasser. Unberechenbar bewegt er
sich, stößt an seine Nachbarkähne, er führt ein eigentümliches Leben.
Knaben schöpfen das Wasser aus. Ein fescher Herr vom Ruderklub dankt
ihnen durch ein paar Püffe, steigt ein und, futsch, ist er
davongefahren, über das glitzernde Wasser.

Jetzt ein Traum meiner Jugend: Das Seebeben. Hat man schon einmal
bemerkt, wie das Wasser in einem Lavoir schwankt, das man mit
mangelhafter Geschicklichkeit trägt? Es legt sich gleichsam mit seinem
ganzen dicken Leib, eine einzige Welle, zunächst auf die eine Seite des
Lavoirs und, nachdem es hier gehörig übergespritzt ist, liegt es schon
wieder ebenso heftig und schwer auf der andern Seite. Wie eine Bleimasse
scheint einem das Wasser, so gewichtig, und was seine Flüssigkeit dabei
anlangt, flüssiger als ein Wasserfall, direkt haltlos, sinnberaubt ...
Dies alles auf ein ungeheures Meer übertragen, und man hat das, was ich
mir unter Seebeben vorstelle, wovon ich bisher leider weder ein Bild
gesehen noch eine Beschreibung gelesen habe. Ich wäre jedoch schmerzlich
enttäuscht, falls dieses gewaltige Elementarereignis einfach so vor sich
ginge, daß das Meer Wellen, nur etwas größere als sonst, würfe. Das
würde ja ein Sturm sein, nicht viel mehr. Nein, die Natur übertrifft
gewiß unsre kühnsten Träume. Das Meer bildet eine einzige Fläche, ich
bitte darum, von Asien bis Amerika, und diese große Fläche steigt auf,
stellt sich schief, erhebt sich bis an die zerreißenden Wolken, sie
senkt sich wieder, und dumpf wie das Schicksal richtet sie sich auf der
andern Seite empor, diese ungeheure Schaukel. So wie das Verdeck eines
Schiffes schlingert ... Sache des Regisseurs ist es nun, dies auf die
Szene zu bringen. Ich würde es so machen: Eine Hafenstadt, die nachts in
ihrem unglücklichen Schlaf von einem Ausläufer des Seebebens überrascht
wird. Das Wasser ist bis zur Höhe der halben Bühne gestiegen. Jetzt
bemerkt man, daß es leise schwankt, in seiner ganzen Oberfläche, die an
der Seite der Bühne emporklettert und wieder fällt. Kein Rauschen, kein
Getöse. Es sieht beinahe sanft aus: wie eine Mutter, die ihr Kind in den
Schlaf wiegt, wie eine große Wiege. Damit aber kontrastiert aufs
gräßlichste die Hast in den dunklen Gebäuden, die aufleuchtenden
Fenster, die sofort wieder im Wasserschwall erlöschen, das Rufen
treppauf und treppab. Die Häuser stehen noch, es sieht fast aus, als
seien sie zu dem Zweck gebaut, unter Wasser zu stehen, wie die Paläste
der Stadt Vineta. Aber der Zuschauer ahnt, daß sie schon unterwaschen
sind, daß sie nicht lange mehr standhalten können. Und während die
unheimliche Flut lautlos, ohne Grausamkeit, wie gesagt, ihre
Wiegebewegung fortsetzt, brechen plötzlich in dem Moment, wo man es
nicht mehr erwartet (warum gerade jetzt? warum nicht früher?), alle
Häuser samt der Domkirche in die Knie. Sie werden in Trümmern
davongeschwemmt, die Stadt existiert nicht mehr, die Flut wiegt sich
noch immer.

Ein freundlicheres Bild: Die Liebenden in der Landschaft. Ein heiß
verliebtes Paar hat einen Ausflug unternommen, und während sie
dahinschreiten, verwandelt sich die Gegend, natürlich nur für ihre
Augen. Der geschickte Redakteur leiht uns ihre Augen. Nebst der Sonne
glänzen alle Sterne am Himmel, der Mond, zwei Kometen, deren Schweife je
einem des Paares Luft zuwedeln. Es ist sehr heiß. Der Bach, an dem sie
gehen, ist aus Silber, die Waldbäume aus patiniertem Kupfer, die kleinen
Küchlein bei der Hütte aus Gold. Sämtliche Singvögel sind Virtuosen in
ihrem Fach. Eine Wiese wird zu dem Gefieder eines sagenhaften
Riesenpapageis, der sie über alle Lande hinwegträgt, an träumerischen
Aussichten vorbei, wobei er immer den Namen eben dieser beiden Menschen
in die Luft hinausschmettert, als hätte er mehr nicht gelernt. Dies
alles ist aber nur die erste Stufe der Zauberei. Mit einem Schlage ist
die ganze Umgebung zurückverwandelt, ist gewöhnlich und ordnungsgemäß
Wiese, Bach, Wald, aber trotzdem ist sie für die beiden gänzlich neu,
sehenswert bis aufs äußerste, noch nie dagewesen. Sie sagen es einander.
(Der geschickte Bühnenkünstler sehe, wo er bleibe.) Hierauf fragen sie
einander, wann der letzte Zug nach Prag zurückfährt. Ihre Gespräche sind
nicht sehr belangreich, wie man sieht. Der erquickte Zuschauer jedoch
überhört geduldig einige Dummheiten und Kindereien, da er durch den
Anblick dieses reizenden Ausstattungsstückes genugsam entschädigt ist.



Illusion


Von hier aus, von der Kleinstadt, stelle ich mir manchmal eine Redaktion
wie einen ungeheuren Palast vor, der seinen Lärm in die dunkeln
Nebenstraßen wie eine Ausstrahlung verbreitet. Noch ehe man ums Eck
biegt, fühlt und sieht man an allem: Ah, jetzt kommen wir zur Redaktion
... Geflügelte Stiere bewachen das Portal, und wer vorbeigeht, nimmt den
Hut ab. Der Unterbau des Palastes besteht ganz aus riesigen
Rotationsdruckmaschinen, die so kompliziert wie Rechenmaschinen (als der
Erfinder sie zu Ende erdacht hatte, kam er ins Irrenhaus), aber
zweihundertmal so groß aussehen. Im ersten Stockwerk geschehen
Musterbeispiele der Dinge, die von den Redakteuren in der nächsten
Nummer beschrieben werden müssen: ein Pferd stürzt, der erste Schnee
schwebt nieder, Armeen ziehen vorbei, Parlamente debattieren, ein
Aviatiker nimmt von seiner Mutter Abschied, Schauspieler in ihren
Kostümen sprechen erhebende Verse. In der nächsten Etage, die durch ein
kompliziertes Treppensystem mit der untern verbunden ist, gibt es nichts
als Telephone, ungeheure Fernrohre, Bahnhöfe für Expreßzüge,
Warenmagazine, Kinematographen -- kurz ein solches Durcheinander aller
Kultureinrichtungen, daß dem Beherztesten der Mut sinkt. Der
Chefredakteur rollt auf Flügelrädern durch lange Galerien, in denen
seine Angestellten laut schreiend schreiben, die Füllfeder an seinem
Gürtel ist wie ein diamantbesetzter Degen. Durch das offene Fenster
sieht man auf den Hof, wo Nachrichten und Herzensergüsse aufgestapelt
werden, aus andern Höfen führen Fäden zu allen Städten des Kontinents
und Amerikas ... So stelle ich mir das Redigieren vor, und das ist
eigentlich meine regelmäßige, natürliche Ansicht, die ich nur dann
unterdrücken kann, wenn ich das Wort »Redaktion« mit absichtlicher
Schnelligkeit und Unachtsamkeit ausspreche.

Komme ich aber nach Berlin oder Paris, so sieht die Wirklichkeit ganz
anders aus. Ich muß lange das Haus der Redaktion unter fünfzig
gleichartigen derselben Gasse herausstöbern, niemand spricht noch in der
nächsten Nähe dieses Hauses von Dingen, die man als Ehrfurcht gegen ein
so ungeheures Etablissement deuten könnte. Noch der Krämer nebenan
scheint nicht zu ahnen, daß gleich benachbart eine Redaktion ist, und
hält sich selbst offenbar für wichtiger. Ein Kind spielt Reisen, es ahnt
nichts. Ein Lastwagen poltert durch die merkwürdig unbelebte Gasse. Und
nur ein kleines Emailschildchen heißt »Simplizissimus« oder sonst etwas,
ganz ebenso große Schildchen hat ein Rechtsanwalt und ein Schreibbureau
im Toreingang ausgehängt. Oft muß ich sogar an Pflaster und Blumen
vorbei ins Hinterhaus gehen, an ruhigen, mit sich selbst beschäftigten
Dienstmädchen oder Mietern vorbei. Und dann empfängt mich an einem
gewöhnlichen Schreibtisch ein gar nicht mystischer Herr, spricht die
üblichen Dinge, während ich das einfache Mobiliar betrachte: ein paar
Bücher, einen Telephon-Tischapparat wie in jedem größern Geschäft,
Briefe, ein Sofa, einen Briefordner, einen Kunstdruck an der Wand ...
Und da überfällt mich immer wieder derselbe Gedanke, den ich jetzt
ausdrücken möchte. Ich fühlte mich überlistet. Es erscheint mir
plötzlich wie eine bloße Übereinkunft, eine Legende, daß von diesem ganz
unmerkwürdigen Zimmer so viel Erschütterung und Macht ausgeht. Warum
gerade von hier aus? Wo sind die Fäden? Ist die Druckerei hinter der
Wand? Wo laufen die Verbindungen zu dem Kapital, zu den Autoren, zu den
Setzern an ihren Kästen, zu den Verkäufern in ihren Kiosken auf den
Boulevards? Ist es nicht ein bloßer Aberglaube, daß sich diese Verkäufer
immer wieder an dieses in nichts ausgezeichnete Zimmer wenden und an
andre nicht? Man müßte sie aufklären über ihre Verblendung. Man müßte
vor allem einmal folgenden Versuch machen: ein Zimmer mit sklavischer
Genauigkeit nach einem wohlrenommierten Redaktionszimmer einrichten. Ich
würde es dann übernehmen, mich ruhig wartend an den Schreibtisch zu
setzen, das getreu nachgebildete Elfenbeinmesser in der Hand. Ich bin
überzeugt, es müßte auf diesem Wege plötzlich eine mächtige Zeitschrift
entstehen. Entsteht sie nicht, dann ist das nur ein Beweis dafür, daß
die Kulissen des nachgemachten Redaktionszimmers nicht genau dem
wirklichen gleichen. Ich fühle es: die richtig ausgestattete Bühne muß
die szenischen Vorgänge in sich hineinziehen wie ein luftleerer Raum
Luft in sich saugt. Nur ruhig warten und in die Wand schauen: plötzlich
fühlst du das Kapital hinter dir, die Interessengruppen, alle
Verhandlungen, die der Gründung vorangehen mußten, plötzlich ist alles
da, wie etwas Vergessenes im Gedächtnis auftaucht und doch von jeher da
war. Und du fühlst, daß du in diesem Moment Menschenhände in einer
fernen Setzerei bewegst; der Telephonapparat, der ein bloßes
Bühnenversatzstück ist und gar nicht an die Leitung angeschlossen,
funktioniert in diesem Augenblick, du weißt es und du zweifelst nicht.
Ohne Elektrizität klingelt die Signalglocke. Du erteilst Weisungen,
Ratschläge, Entscheidungen. Du bist ein lebendiger Machtfaktor. Ein
Unterbeamter, von dessen Existenz du bisher nichts geahnt hast, tritt
herein, legt Ausarbeitungen vor, die du ihm gestern aufgegeben hast, wie
es scheint. Andre danken für empfangene Vorschüsse. Und ohne daß du dich
von deinem Platz gerührt hast, hörst du mit einem Mal, wie draußen vor
dem Fenster die Zeitungsjungen den Titel deiner Zeitschrift in die Luft
brüllen, wie sie die noch klebrigen Blätter, die nassen, schwarzen,
zischenden Lettern entfalten und schwingen, wie sie rennen und so
schnell den Vorbeigehenden das Papier in die Hand stecken, daß man
meint, sie reißen es ihnen aus der Hand ... Überdies bist du gar kein
Schwärmer für Zeitschriften natürlich, im Grunde hältst du alle für
überflüssig. Nur einmal hast du es aus wissenschaftlichem Interesse
probieren wollen, ob man eine Zeitschrift nicht intuitiv von innen
heraus gründen kann, mit Hilfe der Bühnenausstattung eines
Redaktionszimmers, statt rationalistisch mit den langweiligen
Maschinerien der Welt.

Um mein Problem zu formulieren: ich möchte den genauen Anteil suchen,
den das Bühnenmäßige an den Vorgängen des Lebens hat.

Dasselbe gewöhnliche Zimmer, als Gerichtssaal eingerichtet: und ganz
gewiß werden bald Richter, Zeugen und Angeklagte da sein. Die
Ähnlichkeit der äußern Situation, sofern sie nur täuschend und exakt
ist, muß die gewohnten Vorgänge des Lebens heranlocken ... Ebenso glaube
ich, daß ein Sterbender sofort dem Tode entrinnen müßte, wenn man ihn
aus der gewohnten Sterbeumgebung, aus diesem Bett und Nachthemd und
Kästchen nebenan mit den farbigen Arzneien in Fläschchen, aus dieser
Luft und den das Ende heranzagenden Freunden, plötzlich auf die Straße
versetzte, an eine Straßenkreuzung, wo die Reihen der Automobile vor dem
weißen Stab des Polizisten stocken, wo alles schreit und läuft und jeder
Passant eher dem nächsten absichtlich auf den Fuß treten würde als an
Sterben denken. Wenn man aufpassen muß, daß einem im Nachtwind nicht der
Hut in die nächste Pfütze fliegt, hat man keine Zeit zu sterben. Die
Szenerie ist es, die mordet und das Leben rettet.



Die Vorstadtbühne


Sie machte ein ernstes Gesicht. Und nicht nur deshalb, weil ihr dies gut
stand. Sondern sie war wirklich traurig.

Der junge Mann, namens Carus, der, ihr gegenübersitzend, das eine Bein
durch das andre gehoben hielt, tröstete sie: »Schau, ich hab' dich
wirklich nicht kränken wollen, Kindchen. Aber wie sollen wir es anders
anstellen, um aneinander Freude zu haben. Heiraten kann ich dich nicht,
du weißt, daß ich zu wenig Glück im Beruf habe. Also mußte ich dich doch
einmal bitten, meine Geliebte zu werden, nicht wahr.«

Jetzt weinte sie schon.

Das dunkle Hofzimmer nur mit einem Fenster und schmal wie ein Fernrohr
blieb eine Weile still, während die Dämmerung anbrach. Plötzlich setzte
unten laut das überraschende und häßliche Geflöte eines Leierkastens
ein ...

Da stand der junge Mann auf und, während er die Fransen der Tischdecke
zu regelmäßigen Bündeln ordnete, bat er das weinende Mädchen in leisen
Sätzen, verständig zu sein, ihm nicht zu zürnen.

Martha erhob den Kopf, noch fielen zwei Tränen, sie sagte mit Energie:
»Nein, Carus. Überwinde dich, sei ein Mann. Ich werde immer stolz darauf
sein, wenn du mich als deine Freundin betrachtest. Aber niemals kann ich
dir das werden, was deine Träume dir vorspiegeln. Verlange es nicht von
mir, du selbst würdest mich verachten, wenn ich mich und meine Ehre
vergäße. Ich muß doch einmal Klarheit zwischen uns schaffen: Du bist
mein Freund, mehr nicht, also bleibe so, wie du warst.«

»Klarheit schaffen ... Ich bitte dich, laß das. Ich verzichte auf
jegliche Klarheit.«

»Aber das Leben ist einmal so, klar und unerbittlich.«

»So kennst du es, arme Kleine. Natürlich, wenn man seit seinem
sechzehnten Jahr ganz selbständig in einer großen Stadt sein Brot
verdienen muß. Und gar durch Klavierstunden ... O, wie schlimm ist es
dir ergangen! Man hat dich immer betteln und kämpfen lassen, und
schließlich hast du dich gewöhnt, dies als den gerechtfertigten Lauf der
Welt anzusehen. Nie ist dir eingefallen, daß alles ganz anders sein
könnte, ein wenig ›operettenhaft‹, wie Jules Laforgue es wünscht. _Ah!
que tout n'est-il opéra-comique! Que tout n'évolue-t-il en mesure sur
cette valse anglaise Myosotis!..._«

»Was willst du eigentlich damit?«

Carus öffnete den Deckel des Pianinos und drückte im Dunkeln so langsam
einige Tasten nieder, daß kein Ton erklang: »Meine Liebe, du nimmst die
Sache viel zu wichtig.«

»Welche Sache eigentlich?«

»Ach Gott, alles. Und deine so ernsthafte Erklärung mit schweren
Worterbstücken wie: Ehre, verachten, Klarheit schaffen, Freundin, Träume
vorspiegeln ... Wie schön wäre es, wenn du ein einziges Mal diese Logik
vergäßest, die doch zu gar nichts taugt! Das Leben ist nicht so hart und
endgültig, wie es dir vorkommt. Es gehen immerhin witzige Dinge darin
vor. Warst du, beispielsweise, schon einmal im Vorstadttheater draußen?«

»Nie.«

»Bitte, komm morgen mit mir hin! Man spielt zwar tschechisch dort, aber
so viel verstehen wir ja. Und wenn nicht, um so operettenhafter ist es.
Du willst? Also gut, ich hole dich morgen um diese Zeit ab. Du wirst
etwas Unterrichtendes erleben ... Aber jetzt, sei nicht mehr böse, gib
mir einen Kuß ...«

                   *       *       *       *       *

Es ist hübsch, wenn Rendezvous pünktlich von beiden eingehalten werden.

Und so geschah es auch in diesem Fall.

Arm in Arm denn betraten die Beiden das Foyer des Vorstadttheaters. Aus
einem Privathaus hergerichtet, das nur durch transparente Buchstaben und
den wagerechten großen Glasfächer über der Tür auffiel, empfing es in
einem bunt mit Solenhofer Platten gepflasterten Raum, der rechts
Garderobe, links Konditorei hieß. Von hier kam man in einen schmalen
Gang, Schauplatz der Zwischenakts-Promenaden, von roten Plüschkanapees
an den Seiten in die Länge gezogen, mit Glühbirnen, Photographien des
Direktors unter seinen besten Kräften, und mit einem goldgerahmten
Spiegel versehen, den als Gegenstücke der Apoll vom Belvedere und die
Königin Luise nach Rauch bewachten. Ein gutmütiger Eisenofen machte
bieder auf die fehlenden Siebe der Luftheizungen aufmerksam. Eine Palme,
von Staub weißlich gepudert, erinnerte an den Orient.

Über ausgebeulte Holztreppen stolperten Carus und Martha lachend in ihre
Loge. Die aber war keineswegs ein Zimmerchen, wie sie es von den
langweiligen großen Theatern her gewohnt waren, sondern nur ein durch
rote, sammtbortierte Pappwände in Ordnung gebrachter und abgeteilter
Luftraum. Über ihnen direkt schwebte die Decke und an ihr eine Posaune
aus Stuck, lebhaft geblasen vom Zentralengel des Plafonds. Er hielt sie
dezent und edelmütig, kaum geängstigt durch die sezessionistischen
Blumen, die mit gesteiften, parabolischen Stengeln auf der Tünche um ihn
wucherten ... Neben der Loge gleich hockten dichtbesetzt die finstern
Bänke der Galerie; es drückten sich Dienstmädchen, Soldaten,
Modistinnen, ein ganz kindlicher Pikkolo in seiner Amtstracht, alte
Frauen in Sonntagsjacken mit sehr großen Perlmutterknöpfen und mit
Tüchern um den Kopf, ein witziger Hausmeister, Arbeiter, Bankdiener,
markensammelnde Gymnasiasten, Ladenfräuleins, Lakaien, schöne Kommis.
Und alle bewegten sich, redeten mit lauter Gedämpftheit, borgten
einander die Operngucker, die Programme, riefen nach Bier, stritten um
ihre Plätze, lachten. Es schien das Ganze nicht unähnlich einem
religiösen oder zwecklosen Tanze, ins unsichere Licht weniger Lampen
gestopft, stückweise wiederholt von schiefen Spiegeln, die hier und dort
unter Thronhimmeln aus dem braunen Dunkel funkelten, umrahmt von dem
weiten Wandbogen, dessen Papiertapete wie lustige Flaggen ihre Fetzen
herabwehen ließ ...

»Das Parterre ist wenig besetzt,« meinte Martha.

»Da brauchst du auch nicht hinzusehen. Hier wird für die Galerie
gespielt. Und für uns, wenn wir heute ein bißchen kindisch sein wollen.
Wollen wir?«

»Ja natürlich. Mir gefällt's schon großartig.«

Der eiserne Vorhang ging in die Höhe. Aber da hatte des andern kostbare
Teppichflut, rubinrot und von goldenem Tau mit großer Quaste gerafft,
noch nicht vollständig die Erde erreicht. Die eiligen Füße der
Mitspielenden sah man, ein überraschtes Getrippel im Rückzug; niemand
nahm das übel. »Die Regie wird hier nicht so ernst genommen,« erklärte
Carus, »und gerade deshalb bin ich gern da. Wie dumm ist dagegen dieser
würdevolle Zusammenhang, die Logik der großen Bühnen. Dort wird man auch
bei den hitzigsten Possenspielen, die allen Ernst verbannen wollen, doch
das Gefühl nicht los, daß all das etwas Ernstes ist, daß es im Grunde
streng und akkurat zugeht, daß alles mit Berechnung eingeübt und von dem
zweckmäßigen Herrn Regisseur hinter der Szene peinlich belauert wird.
Hier läßt man sich, gottlob, gehen, hier darf man sich in Träume,
Possen, Auflösung verlieren ...«

Nach einer sehr lauten und auf scherzend verstimmten Instrumenten
vorgebrachten Ouvertüre, die vage Erinnerungen ans Spezialitätentheater
auftauchen ließ, stellte die Bühne ein elegantes Zimmer vor. O Eleganz
für naive Seelen! Luxusidee der Vorstädter! Komfort, angedeutet durch
einen großen -- sagen wir Perserteppich! Außer diesem und zwei Sesseln
befand sich nichts zwischen den drei mit blauen Blumenkörbchen
gemusterten Wänden. Nur im Hintergrund führten zwei Stufen zu einer
Estrade mit einem Tisch, dessen Weinflaschen eine dunkle, etwas geneigte
Leinwand stützend in aufrechte Lage erhielten. Da diese Leinwand mit
Blättern und Ästen bemalt war, mußte man sie für die Aussicht in einen
Garten und gute Luft in weitem Umkreis um eine offene Veranda halten.

Ein Vater in luxuriös-abgeschabtem Frack betritt mit seiner ungarisch
kostümierten Tochter seiner Besitzung Prunkgemach. Er zankt mit ihr. Was
will sie den Baron nicht heiraten, diesen entzückenden und
ehrfurchtgebietenden Altadeligen! Er spricht wie ein Salamifabrikant und
Parvenu, der er ist. Jetzt sind Gäste zur Verlobungsfeier geladen; der
komische Diener kann es in seiner rettungslosen Betrunkenheit nicht mehr
erwarten, sie zu melden, und Ilka denkt immer noch an ihren Cousin,
diesen feschen Husarenleutnant. Sie weint, der Vater ist verzweifelt.
Dann tanzen sie miteinander einen zornigen Csardas ... Beifall. Sie
geraten noch einmal in Zorn und Csardas ... Ilka bleibt und singt. Wo
bleibt nur der Cousin, dieses süße Ekel?... Aha, da ist er schon, es
entsteht keine Lücke in der Handlung! Prachtvoll: sechs Husaren
marschieren hintereinander herein, weibliche natürlich, mit runden Armen
und herausgedrehten Becken, und dann er, der männlichste aller Husaren.
Er beeilt sich, ein triumphierendes Couplet ins Publikum zu salutieren;
dann erst hat er Zeit, die harrende Cousine zu bemerken. Er salutiert
wieder. Er salutiert überhaupt unaufhörlich, und wenn irgend jemand in
dem Stück seine Überlegenheit bezweifeln sollte, so wird er auch dann
nur salutieren und alles wird klar sein. Eljen!

»Siehst du, so nett und gar nicht traurig ist das Leben,« wandte sich
Carus an Martha, die lächelte.

Und dann das Finale. Man sieht es herannahen, man fühlt es förmlich, daß
der Akt reif ist. Zum Crescendo des Orchesters eilen aus allen Kulissen
Leute; Gastgeber, Gäste, den Baron und seine hochmütige Mama, die
Husarendamen mit ihrem Helden; sogar alle Dienstmädchen und Köche des
Hauses sind gern dabei, wo es gilt, den Chor zu verstärken. Die Bühne
wird zu eng. Die Wände zittern, die Gartenaussicht wirft Falten. Die
Türen pendeln aus und ein, noch lange, nachdem man sie geschlossen hat.
Einige Gäste setzen sich zusammen auf einen Sessel. Das ist ein Witz,
obwohl es tatsächlich an Sesseln fehlt. Mit Begeisterung wirft man sich
auf die bemalten Holzstücke des Gänsebratens, sucht die wirklichen Äpfel
aus dem Gummi-Dessert, schwenkt leere Gläser mit Unbedacht, zwickt die
Choristinnen in passende Körperstellen, schlägt einem wenig beliebten
Statistenkollegen den Hut ein und regt ihn hierdurch zu unerwartet
ausdrucksvollem Spiel an. Eine Orgie entsteht, blitzschnell, schon sind
alle betrunken! Nun gerät alles, aber auch alles, in ausdrückliche
Unordnung; vor Übermut mißlingen die Einsätze, werden die Positionen und
Gruppen verfehlt. Schnell erscheint noch eine Fee, auf dem Tremolo der
Geigen anschwebend. Dann fassen alle einander an den Händen und tanzen
in zwei Reihen vor, auch zurück, soweit Platz ist, werfen die Beine in
die Höhe, machen gemeinsame Gebärden, natürlich nicht allzu pedantisch
gemeinsam, unternehmen einen Cancan, lassen den Vorhang schnell wie eine
Guillotine über ihrem tüchtigen Geheul herunterstürzen ...

»Ach, wie schön das ist, wie vollkommen schön!« ruft Carus.

Martha: »Hast du die Fee bemerkt? So eine junge Brust, ein schönes
Mädchen. Es wäre schade um sie, hoffentlich wird sie entdeckt.«

»Du hast doch immer Sorgen, du Gute. Vielleicht wird sie entdeckt,
vielleicht nicht. Scheint dir das so wichtig?«

»Das ist wahr. Hier ist alles so leichtsinnig, so frisch, daß man sich
gar nicht vorstellen kann, es gebe außerdem wichtige Dinge.«

»Nun, so freue dich. Wir schweben, was liegt daran! Das Theater wackelt.
Hoffentlich sind auch seine Kritiker reizende Menschen und seine
Finanzen nicht übertrieben seriös. Glaubst du nicht, daß es ein durchaus
liebenswürdiges Unternehmen darstellt?«

»Ich weiß nicht ... Aber eines ist sicher, ich fühle mich hier so frei,
so glücklich ...«

»Alles ist wie Luft. Sei unbesorgt. Und ob du mein sein wirst oder
nicht: ich bleibe munter ohne Schwere. Du auch, nicht wahr?«

... »Ich möchte dich küssen.« ...

Der zweite Akt brachte einen Urwald, nein, einen Schilfsee, nein, ein
Gebirge, nein, eine Eisenbahnstrecke mit Stationsgebäude. Es war alles
zugleich auf verschiedenen Kulissen zu sehen. Und man stand nun in einer
mit Grazie unkonsequenten Welt, in einer launigen Kausalität. Da erlebte
man, daß alles wie mit Erdbeersaft begossen war, ah! einen sympathischen
Sonnenuntergang. Dann brach eine Dämmerung ein, die ruckweise
fortschritt, so, als vergäße der liebe Gott immer eine Weile, es dunkeln
zu lassen, besänne sich jedesmal und hole es dann plötzlich mit Energie
ein. Nun in der Nacht, wer erwartet nicht Liebespaare an diesem
Urwald-Eisenbahn-Gebirgs-Schilfsee zu treffen? Und da kommen sie schon,
der Cousin mit Ilka; um nicht gestört zu werden, singen sie
(selbstverständlich müssen sie ja singen) leise. Ab. Von der andern
Seite schleichen mit der zweiten Strophe genau nach derselben, gleichsam
verabredeten Melodie die Fee und der Baron. Ilka und Cousin kommen
zurück. Man entdeckt einander, man ist überrascht, wenn auch nicht mit
Heftigkeit, man tanzt eine Überraschungs- und Entführungsquadrille.

»Eine Entführung! Ah, jetzt verstehe ich, was das Stationsgebäude soll,«
flüstert Carus mit dem erregt-dummen Gesicht eines kleinen Schülers.

»Gewiß wird ein Zug auf die Bühne kommen, ein Schnellzug. Das wird schön
sein! Ich freue mich schon so sehr!« Wie ein Baby klatscht Martha in die
Hände. Carus, sorgenvoll: »Wer weiß, vielleicht wird er nur hinter der
Szene pfeifen.«

... Aber mir nichts dir nichts tauchen jetzt struppige Gesellen auf,
langsam, aber die Hände vorgestreckt wie Leute, die aus dem Wirtshaus
herausgeworfen werden, mit beschwörend eingeknickten Knien schleichend.
Ah, Räuber! Nein, es ist nur eine wandernde Schauspielergesellschaft!
Und nichts in der Welt ist selbstverständlicher, als daß sie genau hier
im Walde ihre Probe abhält, wo zwei zerrüttete Liebespaare auf den
Schnellzug warten. Natürlich strömen Bauern und Bäuerinnen aus dem
benachbarten Dorfe herbei; slawische, ungarische, sizilische, spanische
Kostüme, selbst Zigeuner, alles, was farbig und phantastisch ist. Und
wie sorglos und anheimelnd wirkt auch die Art, in der windesschnell eine
Bühne aufgezimmert, eine Zuschauerbank herbeigeschafft wird! Kurz und
gut, alles ist bei der Hand, die Vorstellung kann beginnen ... Und nun
ereignet sich in kaum möglicher Steigerung, daß diese auf der
Vorstadtbühne dargestellte Landschaft noch einen Grad primitiver sein
soll. Mit ihr verglichen, muß alles übrige auf der Szene als elegante
Welt erscheinen. Was für Dekorationsruinen erfordert diese Schmiere auf
der Schmiere, wie puppenhaft geschminkte Komödianten, welch ein exotisch
unsinniges Theaterstück. Auf der höchstens quadratmetergroßen
Szenenfläche pressen sich die Darsteller, mit übertrieben linkischen
Gesten, von roten Flammen bengalischer Streichhölzer geblendet. Und
jetzt spielen sie absichtlich, weil sie eben Dorfmimen spielen, nicht
etwa von Natur aus, schlecht. Ihre Ungeschicklichkeit wird zur Kunst;
wenn einer gierig eine Knackwurst ißt, so soll man seinem Hunger die
Ironie glauben; einen Zerlumpten für einen Dandy sonst halten, eine
komisch-alte Naive für nur heute häßlich. Und das Bauernpublikum auf der
Bühne lacht und applaudiert ... Da verkennt das reale Publikum auf der
Galerie die Sachlage, stimmt fröhlich in den Applaus ein und lacht mit,
bitte, nur keine Umstände, lacht mit und zeigt sich in den Strahlen
seiner wahrhaft volkstümlichen, unbeschränkten Toleranz. Nun ist alles
verwirrt und versöhnt, man kennt sich nicht mehr aus, man muß einfach
ein braver Mensch sein und mitlachen, lachen ohne Grund und Gnade und
die Hände in einen ziellosen Himmel ausstrecken ... Und da wird noch
schnell, unten auf der Bühne, entdeckt, daß der Cousin eigentlich ein
lange vermißtes Kind der stolzen Baronin ist. Somit adelig, darf er Ilka
heiraten, der Baron nimmt indes die Fee zur Frau. Martha schluchzt am
Hals Carus', der vor Lachen gleichfalls außer sich ist, und nur durch
Tränen sehen sie noch, daß als imposanter Schlußeffekt der Eisenbahnzug
einfährt. Die übermenschlich große Lokomotive mit feuriger Laterne am
Rauchfang bäumt sich an einigen Bäuerinnen empor, die keinen Platz
haben, aus dem Wege zu gehen, stockt, macht noch einen Schritt und
bleibt dann endgültig stehen. Die Liebenden bereiten sich zum
Einsteigen, Carus und Martha wollen ihnen nachwinken, da fällt der
Vorhang ...

                   *       *       *       *       *

In dieser Nacht gehörten sie einander zum erstenmal.



Das Wunderkind


Es gibt eine Stufe im Jahr, nur wenige Tage, da scheint alles in
Klarheit zu erstarren. Du mußt sie bemerkt haben, fühlender Freund, wenn
du durch die erfrorenen Parkanlagen mit langsamem Nicken schreitest,
wenn dein Herz urplötzlich der Seltsamkeit dieser einzigen Stunden so
hingegeben ist, daß es in entfernte Gegenden entrückt scheint, auf
kostspieligen Eisenbahnfahrten ... Der Herbst ist vorbei. Der Winter hat
alles zerstört, entlaubt, verwühlt. Und auch dein Ach, mit dem du
notwendig diesen Untergang akkompagniert hast, verhallte schon, du
Lieber. Aber zum Vorfrühling ist noch weit, zu diesen nach allgemeiner
Übereinkunft schicksalsvollen Erweckungen. Denn du siehst noch den
Schnee in soliden, beinahe ewigen Flächen über die Wiesenbeete gehüllt,
schollig aufgeschaufelt zu beiden Seiten des Parkweges und ein wenig
angeschmutzt, ganz weiß aber in den Ästen. Er scheint flockig vor lauter
Frische, du greifst ihn an, da pocht er dir steinhart in die Hand.
Zwischen Winter und Vorfrühling trifft dich dieser Schlag wie mit Klang
einer Glocke. Und nun verstehst du es: alles ruht ringsum, eine Pause
von unendlicher Bedeutung ist eingetreten. Wenn du auch im
wissenschaftlichen Bewußtsein hast, daß die Säfte in diesen Stämmen
weiterkreisen: du siehst es nicht, nichts geschieht, weder verfällt
etwas, noch lebt es wieder auf, der Tod ist vorüber und die Auferstehung
noch nicht einmal angekündigt. Was will die Sonne? Sie strahlt gelblich
zwischen Schatten der Zweige hindurch, etwas geht von ihr aus, was man
eisige Wärme nennen möchte. Aber nicht vermag sie, und nicht vermag die
milde, schnobernde Luft diesen harten, stillen Baumstämmen irgendwie
Leben zu entlocken. Fremdartig wie ein körperlicher Gegenstand an einen
andern Gegenstand fällt, so fällt das Sonnenlicht, mit Luft gemischt, an
den hölzernen Baum, ohne Reizung. Baum und Sonne haben einander nichts
zu sagen ... O einzige Stunde im Jahr, reinste, keuscheste,
unausgesprochenste! Und auch du, Freund, halte die Tränen nicht länger
zurück, geh' in Rührung den schräg geneigten Weg herab, der heute, da
nichts wirkt, da auch die Schwerkraft aufgehoben scheint, deine Schritte
nicht um ein Gran beschleunigen wird. Wie an einem kleinen schwachen
Luftballon befestigt schreitest du herab, im Gleichgewicht. Vergiß es
niemals, wie deutlich heute alle Dinge waren, innerlich ohne Zweck, ohne
Beziehung aufeinander, wie ähnlich Kristallen. Daß eine Amsel
vorbeihüpft, ist ein bloßes Naturschauspiel. Denn sieh, sie frißt
nichts, sie sucht nichts, sie will nichts, sieht nicht ihr braunes
Weibchen nebenan. Mit einem saubern Schnitt hat sich jedes Wesen heute
aus dem Gemenge der Welt losgelöst, einzeln nun und friedlich blickt es
in den lautern wolkenlosen Himmelsäther, entschlossen, für eine Zeit
unverändert so zu bleiben.

                   *       *       *       *       *

Der zwölfjährige Klaviervirtuose Széll springt aus der Kulisse, förmlich
befreit von etwas, was ihn dort festgehalten hat. Er ähnelt einem
kleinen, aber festen Fußballspieler. Seine Schenkel in den kurzen Hosen
sind dick. Eine Hand wirft er im Gehen vor und zurück wie ein Pendel,
die andre wie ein Quirl beschreibt enge Kreise am Körper. Kaum kann er
es erwarten, am Klavier zu sitzen, den Sessel in die richtige Höhe
aufzukurbeln. Wie sehr kennt man diesen Eifer an wohlgeratenen Kindern
bei ihren Spielen und Hetzen, wie natürlich dies alles ... Und nun,
während das Orchester schon dem feurigen Schmerze des F-Moll-Konzerts
von Chopin sich preisgibt, hält er sich mit den Fingern heftig an dem
gekrümmten Holzprofil unterhalb der Klaviatur fest, förmlich um nicht
gegen seinen Willen ins Spielen zu kommen. Den Kopf bewegt er im Takt,
und sein Gesicht ist so zart und weiß, daß man es in der Luft
verschwimmen sieht, nur von den blonden Haaren zurückgehalten ... Nun
setzt er ein, fröhlich wie ein Kind, dem endlich in Gesellschaft
Erwachsener zu reden erlaubt wird. Seine Läufe rutschen gesund und klar
aus dem Gelenk ... Jemand flüstert neben mir: »So soll Chopin gespielt
werden.« Nein, das ist natürlich falsche Begeisterung. Aber ich denke
mir: »So soll von Kindern Chopin gespielt werden.« Oder noch deutlicher
und wahrhaftiger wird es zum Gefühle »So mag Chopin, als er noch ein
Knabe war, wie dieser hier, in kurzen, weißen Hosen, so mag er die Keime
seiner zukünftigen Musik, seines zukünftigen Leidens mit ahnungsvollen
Regungen in sich gespürt haben.« ... Der zerlegte Dreiklang, mit dem das
Adagio beginnt und schließt, wie breitet er so sehnsüchtig die Arme aus
nach einer Geliebten, die ihm immer ferner ins Höhere entschwindet. Noch
einen Ton, noch einen gibt er zu, klettert zögernd empor, vergebens ...
So pflege ich diese Stelle zu spielen, manchmal an Abenden, wenn die
ganze mühevolle Erfahrung meiner Jahre sich in mir angesammelt hat. Ich
übertreibe es vielleicht und bleibe minutenlang bei diesen süßen Noten
... Keine Spur davon heute. Und recht so, und bravo, lieber Széll,
wackerer Knabe, du bringst das vorgeschriebene Diminuendo und das
vorgeschriebene Ritardando, aber ist es deine Sache, vergiftete Tropfen
von Liebe den zerlegten Dreiklängen zu injizieren, die musikalische
Figur am Ende durch Überschwang zu zerstören? Und du springst im letzten
Satz tapfer und richtig auf die weit entfernte F-Taste, aber ohne
wahnsinnigen Zorn, denn wer sollte dich in deinem talentierten Leben
gekränkt haben? Kurz, du spielst das ganze Stück so vorzüglich sauber,
so freundlich und durchaus nicht ohne die angemessenen Betonungen, daß
es mir heute in großen Formen entgegentritt und über allem Dampf
menschlicher Leidenschaften. Ja, man sollte sich alle Musikwerke einmal
von Wunderkindern vorspielen lassen. Das ist etwas ganz andres als das
Spiel erwachsener Virtuosen, gereifter Männer, die ihre eigenen
Erlebnisse kommentierend in die Akkorde einflechten, deren zerrissenes
Herz schreit, getröstet wird und wieder schreit ... Heute erinnert mich
das Konzert an die hellen kühlen Tage, die weder dem Winter noch dem
Vorfrühling gehören. Wie im Park draußen die Sonne wirkungslos um die
Baumstämme steht, so kann die Hitze dieser Komposition nicht in die Hand
des kleinen Spielers dringen. Die Hitze ist hier, und die Hand ist hier,
aber zwischen den beiden gibt es keinen Zusammenhang, sie grenzen
aneinander, aber sie berühren einander nicht. Und gerade dadurch
entstehen so genaue reine Konturen, eine Freude für jeden Menschen, der
das Seltene liebt ... Er ist zu Ende. Er verbeugt sich vor dem
applaudierenden Publikum und, wie man ihn belehrt hat, leitet er einen
Teil des Beifalls, indem er die drei-, viermal kurz zusammenschlagenden
Hände erhebt, dem Orchester zu. Auch diese Form des nervösen Maestro,
den man gejagt durch alle Länder, alle Orchester der Großstädte sich
vorstellt, heute hier, morgen dort, erfüllt er mit schöner fremder
Sicherheit, ohne Selbstüberwindung oder etwas derartiges Nervöses durch
sie äußern zu wollen. Er setzt sich wieder und, da man weiter
applaudiert, steht er wieder auf, um mit einem Ruck sich zu bücken.
Während aber andre, die Gereiften, während des Beifalls im Sitzen so
tun, als beschäftige sie schon wieder das Klavier und ihr nächstes Stück
und als schrecke sie nur der gesteigerte Lärm zu noch einer Verbeugung
auf: sitzt der Knabe ruhig da, die Arme über der Brust gekreuzt, schaut
dem klatschenden Publikum ins Gesicht, wartet in dieser Stellung eine
passende Weile, ehe er wieder vortritt. Man hat ihn eben belehrt, er
solle zwischen den Verbeugungen warten. Vielleicht zählt er inzwischen
bis dreißig.



Im Chantant


Ich habe eine Entdeckung gemacht: Sämtliche Soubretten der Welt haben
genau eine Art, auf dem Podium zu gehen. Wie oft habe ich darüber
gesonnen, in dieses scheinbar so zackige Hin- und Hermarschieren eine
Regel zu bringen. Da ist sie nun (und ich bitte Sie, lieber Herr
Verleger, keine Kosten zu scheuen, um ihren Lesern durch eine kleine
Reproduktion zu zeigen, was ich meine):

[Illustration: Schema der Bewegung einer Chansonette]

Nämlich: die normale Chansonette singt zuerst einige kleine Zeilen
rechts auf der Bühne, rechts vorn, das Gesicht gegen die Zuschauer
gekehrt; dann geht sie gegen den Hintergrund, geht jedoch mit dem Rücken
voran, immer noch uns zulächelnd; nicht ganz erreicht sie die Wand und
doch, als würde sie elastisch von dort (nach den Gesetzen unseres
Physiklehrbuches) zurückgeschleudert, kommt sie jetzt mit schnellerem
Schritt energisch auf uns zu, immer singend, nach links vorn, mit
wachsendem Lächeln. Von hier aus wiederholt sich vielleicht dieselbe
Kurve in der entgegengesetzten Richtung, das ist unabwendbar. Ich bin
wirklich froh, daß mir nach vielen Beobachtungen dieses
wissenschaftliche Gesetz klar geworden ist. Vielleicht gebe ich jetzt,
mit einem befreundeten Mathematiker, bald eine »Geometrie des Chantants«
heraus. Ich weiß ja auch schon, daß von den beiden Ästen der heute
entdeckten Kurve der erste immer weniger steil als der andere sein muß;
natürlich, weil die Dame vorsichtiger mit dem Rücken gegen die Wand
losgeht als mit dem Gesicht gegen das Publikum nach vorn.

Und solche Dinge weiß ich noch viele. Ich sitze so gern im Chantant, es
ist mein liebstes Theater. Das Zimmer ist eng, heiß, und noch am
nächsten Vormittag wird dieser Zigarrenrauch meine Augen zwicken. Der
Klavierspieler brilliert. Das heißt nicht etwa: brillant spielen. Er hat
seine eigene Technik: »brillieren«, er läßt stets die Schwierigkeit
seiner Ouvertüren durchschimmern und namentlich auch seine Ohnmacht auf
diesem (ach! zufälligerweise) so miserablen Pianino. Fast ebenso laut,
wie die Leute reden, spielt er. Wieso ermüdet er nicht? Vielleicht hofft
er, von einem dieser Gäste eines Abends entdeckt, zu einem bessern
Klavier hingeführt zu werden. -- Die Mädchen kommen, die lieben Mädchen,
und man vergißt ihn. Sie haben ihre Metallschuppen an, ihre
Trikotstrümpfe, wie zu unserer Väter Zeit, sie zeigen auf ihre Frisur,
auf ihren Schuh, den sie vorstrecken, während sie sich vorbeugen; all
dies, um anzudeuten, daß sie »von Kopf bis Fuß« einfach die
»Brettlkönigin« sind. Es sind geheiligte Bewegungen, die sie ausführen,
Stiltraditionen: dieses Vorhalten eines Spazierstocks soll »gigerlhaft«
sein; Seidenhosen, noch so kurze über noch so dicken Schenkeln, deuten
den »Gassenbub« an; das Wort »ich bin noch =jung=« wird viele Strophen
hindurch immer wieder mit demselben Geheul neuer Erkenntnisse
ausgestoßen; der Kakewalkschritt, als wate man knietief durch Sand, so
mit Aufgebot aller Kraft, ist »Amerika«; wird der steif abstehende Rock
ans Knie vorn mit beiden Händen gepreßt, so daß er hinten sich hebt, bei
seitlich geneigtem Köpfchen, so ist »Unschuld« gemeint; aber »Paris«
selbst, Metropole des Lasters, rauscht über die Szene, wenn dann die
Kleine die Röcke aufhebt, den gebückten Kopf an sie legt, als wolle sie
in diesem Polster ausruhen, und nun von hier aus lächelnde Blicke
schickt -- als Halbmond füllen die Dessous schön den Raum aus zwischen
Bein und Hals, wie ein geöffneter Fächer; oder in geänderter Figur
mischt sie jetzt alles durcheinander, beugt sich noch tiefer zu ihren
Spitzen, wie eine Wäscherin über die Wäsche, hebt schnell abwechselnd
ein Bein, das andere, und mit eiligen Händen rührt sie die schäumenden
Falten, wirft sie hin und her, während ihr Blick beschäftigt auf diesem
Schaukeln ruht. Weisheit des Chantants! Sie singt: »Was die Französin
kann. Das kann auch ich. Es ist nicht so viel dran. Ganz sicherlich. Nur
weil's Franzosen sind. Drum hamm's mehr Glück. Doch hat die Wienerin
denselben Chic.«



Liane de Vriès


Der Reklamograph: interessanter, als man glaubt. Dann schnellte eine
»akrobatische Neuheit« über die Varietébühne, dann hielten Clowns
Violinen und Glocken an Drehbänke, und es klang wie eine Art von Musik,
so sollte es auch sein. Die Kulisse oft benutzten Herbstlaubes
erzitterte vom Urwaldgekreisch dressierter Kakadus und von ihren
springenden Farben. Gut, gut, all das sind Versprechungen -- kommt sie
noch nicht? Ich sah sie verdeckt hinter den turnenden Arabern, hinter
dieser temperamentvollen Wüste, hinter synkopischen Engländerinnen,
hinter der Pause, die den Riesensaal hell machte und all die blauen
schönen Zigarrenrauchwolken zu den Wolken des Plafonds trieb, zu den
Fächerspiegeln, den Verzierungen. Aber sie zeigte sich nicht. Noch diese
Germania mit kantigen Hüften mußte auftretend sie verdecken und
Zigeunerweisen geigen, mit ihrem Bogen alle Ziehbrunnen der Pußta heben,
pizzicato und im Flageolet, wobei passenderweise ihre Postichen
kräuselnd in Unordnung gerieten, während zur nächsten Cantilene doch
wieder schon der gehörige Augenaufschlag in Bereitschaft war. Geh schon
weg! Und auch du, ade, Amerikanerin, die den Kunststücken der Brüder
hilft, auf sie zeigt, im tiefsten Mundwinkel ihren Goldzahn aufblitzen
läßt. Ade, geh schon weg ...

Dann trat Liane de Vriès auf. (»Während dieser Nummer wird nicht
serviert.« Das Plakat ist von Damaré in Paris gedruckt und schlecht. Ein
Freund hat mir erzählt, er habe in der Nacht, nachdem er sie gesehen,
nicht schlafen können ... So sammle ich schnell noch, vor dem erregten
Moment, alles, was ich bisher von ihr weiß.) Musik. Ich schließe die
Augen. Und dann sehe ich sie, sie steht da auf der Bühne, und ich höre
sie, und es ist die Sprache, die Sprache Flauberts. Da steht sie, so wie
ich mir immer die Pariserin meiner Legenden vorgestellt habe, ich habe
Paris noch nie gesehen: da ist nun das Vorbild der mondänen
Wochenschriften, der Bilder von Fabiano, Gosé, Galanis, de Mouvel, das
Vergnügen meiner einsamen Abende im Kaffeehaus, nächstens werde ich
davon schreiben. Da ist sie, und es ist keine Enttäuschung, nein, eher
war das Erwarten eine Enttäuschung, denn ich hätte sie sehnsüchtiger
erwarten sollen ... Ihr Hut, das Kleid mit Flittergold, und dazu geben
die vielen echten Perlen eine Harmonie, eine Harmonie im höheren Sinne,
o jenseits, dort wo auch die Wurzeln von Minus-Eins schweben! Die
Perlen, die solitären Brillanten und an Ketten die Schmuckstücke, neben
ihrer Schönheit sagen sie tautologisch noch einmal dasselbe: »Man muß
mich lieben, alle lieben mich.« Das sagen die Schmuckstücke, das sagt
die Schönheit auch allein. Denn sie ist schön. Hab' ich's noch nicht
gesagt?... Sie ist schön und so weiß, andere werden vom elektrischen
Reflektor beleuchtet, sie wirft ihr Licht in den Reflektor, beleuchtet
ihn. Toilettekünste, wendet eine ein. Aber mach' es ihr doch nach,
kleine Hausfrau, eben wirst du von der Bühne her aufgefordert, nicht
eifersüchtig auf deinen Mann zu sein; denn dieser Kuß gilt gerade ihm.
Sie ist schön -- können diese Hände auch Wärme geben? Unmöglich, daran
zu glauben!... Ganz ruhig nun betrachtet, denn es ist höchste Zeit,
einige wertvolle Beobachtungen zu machen: ihre Brust liegt im oberen
Fünftel etwa des Leibes, das macht ihn stark und schlank zugleich,
schafft Raum für männerartige Freiheit des Unterkörpers, für die in
Müllers System beliebten Korsettmuskeln. Wie gesund sieht sie aus, wie
schön und gesund. Lieber noch als mit ihr sein ... möchte man sie sein!
Sie ist so rein, gewaschen, überwacht, Sündfluten von Reinigungsbädern
förmlich müssen durch ihre Haare gegangen sein, daß sie so naß glänzen
und so trocken sind. Das ist unbegreiflich, obwohl nichts unbegreiflich
ist. Alles andere war Schweinerei bisher, Brunst. Hier beginnt meine
Liebe. Und diese freie Stirn, das intelligente Achselzucken, dieses
Sich-wenden einer großen Dame, wobei der nackte Rücken mit Grübchen,
Schatten, Sehnen, Anhöhen erscheint. Gewiß ist sie witzig, das sehe ich
an ihrem nackten Rücken, und gut, brav. Alle schönen Frauen sind brav,
nur bei Maupassant und andern schlechten Autoren (Wiener Schule!) sind
sie's nicht. Und siehst du, sehen Sie ... ich habe recht gehabt, sie hat
Deutsch und Tschechisch gelernt, um uns etwas zu sagen. Was ist das für
eine Szene? Ein Kellner kommt auf die Bühne, bringt ihr einen Brief.
Jetzt fetzt sie den Brief auf, ihr Zeigefinger als Messer, wie der sich
ins Seidenfutter wühlt und einen Schlitz macht, um den sich Locken des
Papiers aufbäumen! Sie erklärt uns alles: jemand möchte sie zum Souper
einladen: »Sind Sie es? Oder Sie in der Loge, auf der Galerie?«
Strophenweise antwortet niemand, natürlich, weil alle wie im magischen
Banne liegen und vielleicht auch nicht so perfekt die Sprache Flauberts
beherrschen, und das gibt ihr Gelegenheit zu ihren aufreizenden Mienen,
zu dieser ewig lügnerischen, ironischen Geste: »Niemand will mich, ach,
warum will mich niemand?« Den Finger an der Lippe steht sie da,
weinerliche Vorwürfe heuchelnd.

Ihre andern Couplets. O schönster Abend meiner Saison heuer, neben
Variationen von Reger ... Die andern Couplets: Sie ist Masseuse und
streichelt ihre Umrisse, modelliert sich, zu unserer größeren
Aufmerksamkeit. Oder sie hat was Schönes, sie gefällt und weiß nicht
warum. »Fragt nur eure Söhne, die wissen's.« Oder sie muß lachen, von
unsichtbarer Hand gekitzelt. Oder das kleine Erschrecken, die Halbkreise
(statt Halbellipsen) der Augenbrauen, der Mund, der ein o sagt, weil er
einmal rund sein möchte, nach seiner sonst so sanft geschwungenen Form.
Die Klappen des Kleides an ihrem Busen und zwischen diesen Klappen, das
feste Licht im Ausschnitt locker, doch nicht schwankend. Nun verteilt
sie Blumen und ist einfach das, was sie ist, ohne Gesang und Pointen:
eine schöne, gutartige, gescheite Frau, ein Aktivum des Weltalls ... Zum
Schluß verbeugt sie sich tief. Achtung, die Klappen!... ein
Kollektivkuß, den sie in ihre hohle Hand gibt und ausstreut; dennoch bin
ich in Dankbarkeit beschämt ...

Mein lieber Freund, auch ich habe die Nacht darauf nicht geschlafen.
Aber aus einem andern Grunde. Ich mußte das da schreiben. (In erster
Linie nämlich bin ich Schriftsteller, nicht Liebhaber.)



Höhere Welten


1.

Ich bin weder Spiritist noch Antispiritist, weder Antitheosoph noch
Theosoph. »Welcher Weltanschauung gehören Sie also an?« Ich bin Literat.

Man wird sich doch endlich angewöhnen müssen, die Literatur als eine
vollgültige alles umfassende Weltanschauung anzusehen, nicht als einen
Beruf. Der Schriftsteller hat seine ihm eigentümliche Art, die Dinge zu
sehen, er sieht eben das Literarische an ihnen, also das künstlerisch
Beschreibenswerte, das den an diesen Dingen anderweitig Beteiligten
freilich sehr oft nur einen Nebenumstand darstellen mag ... Hierdurch
gerät er allerdings in den üblen Verdacht, zu ironisieren, d. h. von den
Dingen nicht ergriffen zu sein ... Ganz falsch: er ist in seiner Art
ergriffen, literarisch ergriffen von ihnen. -- Einem Dichter vorwerfen,
daß er sich von der Welt nur literarisch beeinflussen läßt, ist genau
dasselbe, wie einem Politiker vorwerfen, daß er sich nicht um den
Knochenbau seiner Wähler kümmert, oder einem Anatomen, daß ihm einerlei
ist, ob die Skelette seines Kabinetts zu Lebzeiten der konservativen
oder freisinnigen Partei angehört haben.

Ich gestehe von vornherein und mit Stolz, ich bin Literat, ich
interessiere mich auch für »Höhere Welten« nur literarisch. -- Kommt
einer und predigt mir, daß die ganze sinnliche Welt nur Schein ist, daß
es ganz andere Dinge gibt, die zu sehen für mich von der allerhöchsten
Wichtigkeit ist, ja die nicht sehen mich in ewige Verdammnis stürzen
wird, -- so werde ich nicht umhin können, die seltsame Haarformierung
und Frisur etwa dieses Drohenden in erster Linie, als Hauptsache zu
beobachten und im Geiste unwillkürlich die treffendsten Worte und
Vergleiche dafür zu suchen. Ganz einfach: er stellt mich in seine
übersinnliche Weltanschauung, ich ihn in meine literarische. Niemals
werde ich zugeben, daß die literarische Weltanschauung irgendeiner
anderen, noch so erhabenen, nicht ebenbürtig ist. -- Dieses Gejammer
über die »Lebensschwäche des Künstlers«, über die »Minderwertigkeit der
Literatur gegenüber dem Leben«, möge endlich aufhören! Warum sich der
Literatur schämen? Sie ist ein Mittelpunkt, nicht schwächer als Erotik
oder Demagogie oder Wissenschaft.

Ich schäme mich nicht, -- dies als Vorbemerkung -- ich freue mich der
Literatur.


2.

Viele Nachmittage verbrachte ich einst mit Gustav Meyrink, nun habe ich
ihn lange nicht gesehen und hätte ihn vergessen, wenn mich nicht neulich
wieder seine vortreffliche Dickens-Ausgabe (bei Langen) gut an ihn
erinnert hätte ... Oft hatte ich damals das Gefühl, daß es rings um ihn
spuke. Als ich ihn kennen lernte, sprach zufällig gerade jemand mit
leiser Stimme auf ihn ein, erzählte von einem Spukhaus in Budapest, das
die Behörden aber versperrt hielten. Niemand dürfe hinein. Er lächelte:
»Ja, so wird es immer gemacht« ... Er selbst berichtete über
erstaunliche Erlebnisse, einmal in Tirol habe sich ein Tisch, an dem er
mit Freunden experimentierte, bis an die Decke gehoben, habe ihre Köpfe
an den Plafond gedrückt. Er hatte eine ruhige Stimme und einen
glänzend-treuen warmen Blick seiner großen blauen Augen. Ich betrachtete
jede Stunde, die er mit mir verbrachte, als Geschenk, ich stand
vollständig unter seinem Einflusse; oft erwartete ich, wenn spät nachts
das Kaffeehaus fast leer war und der herrenlose Tabaksqualm, der von
Abwesenden aufgerührte Staub wie auf matte Nachzügler eines Heeres auf
die letzten Gäste sich stürzte: jetzt müßten Geisterhände hervorgreifen,
die Tischbeine umklammern und dann auf uns los ... Ich bewunderte sein
Wissen, seine geheimen Wege. Er galt als unheilbar krank, schleppte ein
Bein nach, -- er kurierte sich selbst und wurde gesund. Er machte
alchymistische Experimente, zu denen seine ausgeschriebene
Geschäftsschrift mit banal-violetter Tinte so entzückend wenig paßte. --
Ich begleitete ihn nachts zu seiner Wohnung, in einem Vorort neben der
Gasanstalt. Und auch das schien mir okkult, daß er neben der Gasanstalt
wohnte, und entsetzte mich, unklar schwebte mir vor: wenn nun ein Funke
überirdischer Aureole in so einen gefüllten Gasometer einschlägt, dieser
Brand ... Später durfte ich ihn besuchen, in seiner Bibliothek blättern.
Eine Standuhr aus Porzellan fiel mir im Zimmer auf, das Zifferblatt war
eine Trommel, eine teuflische Gestalt hielt sie zwischen die gespreizten
Beine eingeklemmt und hob mit ungeheurer Kraft, mit wütender Grimasse
den Arm hoch empor, um auf sie loszuschlagen. Man konnte nicht hinsehen,
ohne jeden Augenblick den Knall zerkrachenden Porzellans im Ohr zu
haben. Daneben hing ein Bild, blasses Gesicht, Schlangen, Phosphor. »Was
stellt das vor?« »Den Hüter der Schwelle«, sagte er leichthin, welchen
mystischen Ausdruck ich erst Jahre darauf verstand.... Überdies schwieg
er gern, wurde plötzlich lebhaft, witzig, lebte in Rätseln und
Prozessen, niemand verstand ihn, ein Schleier von Widersprüchen hüllte
ihn leuchtend ein, fast blendend. Er verkehrte unter anderem mit einem
Mann, der Fliegen sammelte, tote Fliegen, deren er schon Tausende besaß.
Er pflegte immer an der äußersten Kante des Trottoirs zu gehen, wie um
alles übersehen zu können, was zwischen ihm und der Wand vorging; doch
sah er oft gar nicht auf. Ich erinnere mich nicht, irgendeinen Menschen
nach ihm mit der gleichen Demut geliebt zu haben ... Gegenwärtig wandelt
sich mir seine Gestalt langsam in eine Legende um, geschrieben in
violetter Geschäftsschrift.


3.

Viele Jahre später, nachdem ich meine geheimwissenschaftlichen
Kenntnisse in den Büchern der Blawatzky, in Kiesewetters Archiv, im
Lotus, Luzifer-Gnosis, Flammarion usf. erweitert hatte und mir immer
noch ein Gedicht von Goethe oder eine Fuge von Reger erstaunlicher,
geheimnisvoller, verehrungswürdiger als alle okkulten Manifestationen
erschien, selbst rätselhafter als jene beiden ineinandergeschlossenen
intakten Ringe aus hartem Holz, die Zöllner aufbewahrt, -- traf mich ein
neuer Ruf aus der Geisterwelt. Einige jüngere Freunde (daß ich auch
einmal mit Leuten, jünger als ich, verkehren werde, hätte ich noch
unlängst nicht gedacht. So altert man!) luden mich ein, sie hätten ein
Medium unter sich, sie bewegten Tische. Ich geriet in ein schlecht
erleuchtetes Zimmer, in dem einige schon aufgeregt warteten, einige von
früheren Erlebnissen lachend erzählten oder begeistert. Das Medium, ein
sechzehnjähriger starker Bursche, an dem man diese Eigenschaft zufällig
entdeckt hatte, rauchte Zigaretten, schien teilnahmslos. Wie ich erfuhr,
interessierten ihn die Versuche wenig, und er mußte jedesmal erst sehr
gebeten werden, seine Kraft wirken zu lassen. Das alles spielte unter
Kameraden, guten Freunden, alle aus reichen Familien, ein Betrug war
ausgeschlossen ... Ich fand bereits ein ausgebildetes Zeremoniell vor.
Man trat um das Tischchen (ein leichtes war ausgewählt), bildete die
Kette, indem man die Hände nur leicht auflegte, die eigenen Daumen, mit
dem Nachbar die kleinen Finger verband und nun leicht plaudernd auf die
Phänomene harrte, nicht etwa mit Willensanspannung oder Religiosität,
denn ausdrücklich wurde ein heiterer Gleichmut als besonders günstig für
den Eintritt der okkulten Ereignisse bezeichnet. Man erzählte Witze oder
Alltägliches. Dann beugte sich einer, der zum Sprecher für alle
ausersehen war, zur Tischplatte hinunter und murmelte: »Ist ein Geist im
Tisch?« Nach mehreren vergeblichen Versuchen zuckte es im Tisch, endlich
neigte er sich langsam feierlich zu einer Seite herab. Der Sprecher:
»Willst du uns antworten. Ja -- einmal, Nein -- zweimal, ich weiß nicht
-- dreimal.« Der Tisch neigt sich einmal, zweimal, dreimal, und so geht
es weiter bis zwölf. Wir schließen daraus, daß der Geist erst um zwölf
Uhr erscheinen will. Zwei Stunden lang stehen wir herum und essen
Brötchen. Um zwölf wird die Kette geschlossen und sofort meldet sich der
Geist. Man sagt ihm das Alphabet vor, und bei dem ihm passenden
Buchstaben bewegt sich der Tisch, so erfährt man seinen Namen, seine
Wünsche. Es ist eine Frau in Semlin, ihr Kind ist krank, sie bittet uns,
für das Kind zu beten. Wir geraten in Aufregung, denn keinem von uns ist
es eingefallen, jetzt gerade an Semlin zu denken. Die folgenden
Nachrichten sind noch überraschender, machen uns halb toll. »Einen Arzt,
schnell einen Arzt« zittert der Tisch. Und unfehlbar geht er seinem
eigenen Willen nach, selbst dann wenn alle einen ganz anderen Buchstaben
zur Ergänzung des eben diktierten Wortes erwarten, kommt es oft
entgegengesetzt. Oft will man nicht das ganze Alphabet aufsagen, nennt
den nächsten Buchstaben ratend. Der Tisch rührt sich nicht. Er reagiert
auf seine Art und nicht anders. »Können wir dir helfen?« fragen wir die
unbekannte Semlinerin, die auf so seltene Art uns sich genähert hat.
»Beten, beten.« Wir sind so erregt, daß wir alle laut zu beten beginnen.
»Sollen wir dich weiter fragen?« Der Tisch gibt ein so heftiges »Ja«,
daß er unsern Händen sich entreißend zu Boden stürzt. Das Schwierige
ist, in solcher Hitze über die richtige Fragestellung nachzudenken.
Endlich nach unsäglicher Mühe, alle Schweißtropfen auf der Stirn,
erfahren wir, daß wir an die Polizei telegraphieren sollen. Wohin aber
den Arzt schicken? Besonders neugierig sehn wir dieser Antwort entgegen,
denn nun mußte die Semlinerin, die uns ihren Namen, ihre Adresse vorhin
nicht näher nennen wollte, ihr Inkognito lüften. Die Antwort: »Postamt
Belgrad« ... Nun sind unsere letzten Zweifel verstummt, denn keiner hat
an Belgrad gedacht, alle schwören, gar nicht so bewandert in der
Geographie zu sein; die Landkarte, schnell geholt, zeigt uns erst, daß
Belgrad und Semlin einander gegenüberliegen. Eiligst läuft einer von uns
zur Hauptpost, es ist drei Uhr nachts, und gibt unser französisch
aufgesetztes Telegramm an die Polizeiverwaltung Belgrad auf, die über
diesen nächtlichen, so dringenden Wunsch aus Prag, sofort einen Arzt zum
dortigen Postamt zu senden, damals sehr erstaunt sein muß. Wir fühlen
uns schaudernd dem Wahnsinn nahe, wir verstummen. Nach einer Stunde
antwortet der Tisch: »Das Kind ist tot«, ein leises Zittern, das lange
anhält, folgt dem letzten Schlag ...

Um es gleich zu sagen: unsere spiritistischen Experimente, von da an mit
Eifer fortgesetzt, erreichten nie mehr die Erregungshöhe dieser ersten
Nacht. Zwar gaben sich noch viele Geister kund: ein Kammersänger, der
beklagte, am Suff gestorben zu sein -- ein Einsiedler in Tibet, dessen
Klopfen ganz zart (wie infolge der ungeheuren Entfernung) kam und dessen
Buchstaben Worte einer uns unverständlichen Sprache ergaben -- dann ein
junges Mädchen unserer Gesellschaft, das jüngst durch Selbstmord
gestorben war -- dann der Geist Lortzings (seltsam, gerade dieses
Komponisten, der keinen von uns besonders interessierte). Aber die
Resultate waren oft unklar, oft sinnlos oder banal. Es beteiligten sich
exakte Psychologen an den Sitzungen und untersuchten, ob sich ein von
uns unterschiedenes Psychisches nachweisen ließe. Wir stellten Fragen,
die keiner von uns hätte beantworten können, die man erst in
Nachschlagewerken hätte aufsuchen müssen. Die Geister ließen sich auf
solche Fragen nicht ein oder beantworteten sie unrichtig. Ein einziges
Mal gab Lortzing das Entstehungsjahr des »Wildschütz« richtig an ...
Allmählich wurden die Sitzungen immer langweiliger. Zum Schluß erschien
immer nur ein und derselbe Geist, der gar nichts wußte, gar nichts
sagte, aber immer alle andern, die sich meldeten, eifersüchtig
verdrängte. Indessen waren die spiritistischen Sitzungen zu einer
geselligen Unterhaltung herabgesunken, man fügte sie auf Hausbällen in
den Kotillon ein, Mädchen nahmen teil, wobei sich einige als hochgradig
nervös, wo nicht medial veranlagt enthüllten; schließlich benützte man
dieses Spiel, um die kleinen verliebten Affären Lebender und Toter zu
erforschen, um irgend jemanden wenigstens in Verlegenheit zu bringen,
wenn schon nichts bewiesen werden konnte. Die Ernsthafteren gaben die
Sache ganz auf.

Was mir von dieser Periode geblieben ist, sind angenehme Erinnerungen an
das rein-körperlich so süße Gefühl, wenn unter den Fingern der belebte
Tisch sich zu bewegen beginnt, dieser unirdische Druck, dem man nicht
widerstehen kann, dann die individuelle Mannigfaltigkeit der Geister,
von denen die einen hastig antworteten, andere faul und undeutlich,
einige lustig aus der Nähe, andere, wie unter Wasser vergraben,
schwerfällig. Dann denke ich immer noch gern an die hohen Grade von
Angst, die ich damals durchmachte, wenn ein Geist versprach, etwas
niederzuschreiben oder gar selbst zu erscheinen (es ging aber nie in
Erfüllung oder in so koboldhaft mißdeuteter Weise, daß ich an die
Schlauheit des Teufels in Volksmärchen denken mußte z. B. der Geist
schrieb etwas nieder, sagte auf wiederholte Fragen: ja, er habe etwas
geschrieben -- es sei aber unsichtbar). Und endlich: ich kann den
Eindruck nicht los werden, daß an diesen mysteriösen Nachrichten aus
Semlin doch etwas Wahres war. Vielleicht kann ein Mensch, durch die
innerste Not zur Ekstase getrieben, eine unglückliche Mutter wie diese,
ihre herzsprengenden Gefühle in den Weltraum hinausströmen und
mitfühlenden Wesen, deren Geist gerade um dieselbe Stunde allen
kosmischen Wellen offen steht, in zarten Schwingungen übertragen. Ist
das so undenkbar?


4.

Während der Spiritismus die Bewohner einer geahnten höheren Welt uns
physikalisch vordemonstrieren will, durch Töne, Gewichtsverlust u. ä.,
behauptet die Theosophie, daß jeder durch gewisse Seelenübungen zu einem
direkten Schauen der höheren Welt gelangen kann. Diese Lehre, die von
den Geheimlehren der Inder, mittelalterlicher Mystik, Kabbala abstammt,
gründet sich also nicht auf objektive Beweisgründe, sondern auf
subjektives Erleben jedes Beteiligten, kann aber jedem, der ihr
infolgedessen objektive Gültigkeit abspricht, entgegenhalten, daß ja
auch unsere irdische Welt kein objektives Kriterium der Wahrheit bietet.
Man lese nur in einer modernen Logik, beispielsweise bei Husserl, nach,
wie hier, nur um dem »radikalen Skeptizismus zu entgehen«, eine Evidenz
angenommen wird. Unsere ganze Erkenntnistheorie steht eben vor einem
ungelösten Rätsel, und man kann einem, der Dinge sieht, die wir nicht
sehen, nichts als statistische Wahrscheinlichkeitsgründe gegen seine
Behauptung, keine Widerlegung vorhalten ... Auf dieser Lücke irdischer
Philosophie ist das System neuer Theosophie, wie es Dr. Rudolf Steiner
in seinen sehr zahlreichen Büchern und Vorlesungsheften bietet,
nachdenklich und reizvoll aufgebaut. Seine Sprache ist bei weitem klarer
und ruhiger als die der Blawatzky, etwas weitschweifig, aber logisch
gegliedert, im Grunde unwiderleglich. Wie fein betont er, daß der
»Geheimschüler« vor allem nüchtern sein soll, daß Phantasterei mit
dieser »höheren Welt« nichts zu tun hat. Sehr einnehmend lehnt er auch
jeden Fanatismus ab, betont den Wert der Einwände: kurz, er arbeitet in
der Manier der Wissenschaft, nicht des Glaubens, er verschanzt sich nach
allen Seiten, er fordert vor allem von den Trainierenden Geduld und
Hingabe. Gelingen Experimente nicht, so ist dies nur ein Beweis dafür,
daß man nicht geduldig und devotionell genug war.

Das Merkwürdige ist ferner, daß diesem Manne Scharen von Anhängern aus
der ganzen Welt mit vollem Vertrauen folgen, daß er Verehrung wie kaum
ein anderer Lebender genießt, daß sich Legenden um ihn bilden, wie die,
er esse nur eine Weintraube täglich, er erscheine seinen Schülern als
Geist usf. Dabei soll er von allen, ehe er sie in seinen Unterricht
aufnimmt, vollständige Schulung in der Mathematik verlangen, ja gerade
in der Mathematik.

Ich höre einen Vortrag Steiners über Theosophie. Der Saal ist dicht
gefüllt. Viele Ausländer sind eigens, um ihn zu hören, nach Prag
gekommen. Wie in einem internationalen Seebad, nur moralisch
disziplinierter, wimmelt es von Französinnen, Engländern, noch
Entfernteren. Es zeigen sich ... Männer mit weißen Bärten, andere, unter
deren schöngewölbter glänzender Stirnkapsel die Brille wie eine
Bewaffnung sitzt, viele Frauen in Reformkleidern, mit gemalten
Achselbändern, weiße Haare, in ganz kleinen schmalen Zöpfchen zu einem
Häuflein geringelt, unter ihnen ein schönes Prager Mädchen, die ich von
der Gasse kenne und hier nicht erwartet habe, ihr Hut mit roten
Fittichen paßt dem schwarzen Haar, und es beruhigt mich eine Weile, daß
sie also bei aller Sorge um Karmagesetz und Wiedergeburt ihrer
zeitlichen anmutigen Existenz doch die Pflege nicht entzieht ...
Freilich verlangt ja auch Dr. Steiner (und dies gehört zu den
verlockendsten Partien seiner Lehre), daß der Geheimschüler seinen Beruf
nicht vernachlässige, daß er seinen Körper und den Geist kräftig und
gesund erhalte. Hat sie es daher? Oder aus sich selbst? -- Mir fällt da
überdies ein, daß aus denselben indischen Lehren Schopenhauer seine
Askese, dem Pessimismus ableitete, während Steiner (dem allgemeinen
amerikanischen Zug unserer Zeit folgend) Tüchtigkeit und Optimismus
diesen Quellen entnahm ... Nun steht er am Pult, ein langer schwarzer
Strich, sogar der Ausschnitt des Rockes ist von der schwarzen Krawatte
ganz ausgefüllt, nur die beiden niedrigen Dreiecke des Umlegekragens
ragen weiß vor. Das Gesicht mager, gelb, faltig, soweit die
eingefallenen Wangen mit ihrer Spannung noch Falten zeigen, schöne Augen
und Hände, wie sie Frauen gefallen. Er schreit, er läßt nicht ab, er
breitet die Arme weit aus, die Handflächen uns zugekehrt und im
Gegengewicht den schlanken Rumpf zurückgebogen, oder er fährt mit
gestrecktem Daumen und zwei Fingern, die andern Finger schlaff, durch
die Luft, er ist unermüdlich. Selbst Einwände trägt er mit demselben
Pathos vor, wie das, was ihm gefällt, und die Unverdrossenheit, mit der
er für das Publikum bei den Elementen der Lehre anfängt, deren letzte
Komplikationen ihm doch so geläufig sind, hat wirklich etwas Rührendes
und Großes. Oft schließt er die Augen, und ein Zittern von den Füßen aus
durchsteigt den ganzen Körper. Er macht auf mich den Eindruck eines
Mannes, der in seinem Ideal aufgeht ... Nach dem Vortrag:
Fragebeantwortung, geschickt und schlagfertig. Ich wundere mich, daß er
sich auf so etwas Menschliches einläßt, auf dieses Virtuosenstück. Da
habe ich aber zu laut gesprochen, und eine seiner Verehrerinnen weist
mich zurecht: »Ich denke, das überlassen wir ruhig ihm, er wird schon
wissen, was er tut. Er befolgt seine besonderen Zwecke, davon bin ich
überzeugt.« Wir kommen ins Gespräch, die Dame, obwohl der Vortrag den
Anhängern Toleranz so warm empfohlen hat, wird recht bissig. Ich stelle
mich vor. »Aber das ist ja unter Theosophen ganz egal.« »Ich bin aber
kein Theosoph,« muß ich nun noch meine Höflichkeit vor ihr
entschuldigen. Zum Schluß meint sie, sie habe so ihre Gedanken darüber,
daß Steiner die Fragezettel immer nach den Vorträgen zu sich nehme. Ich
will die Drohung nicht bemerken, die darin liegt, und meine:
»Wahrscheinlich studiert er zu Hause die Fragen genauer.« Sie aber, von
der Allwissenheit und Allmacht ihres Meisters, dem die Dämonen
gehorchen, ganz durchdrungen, fährt fort: »Er erkennt wohl auch, wer den
Zettel geschrieben hat« ... Ich fühle mich schuldig ...

Also bleibt diese dunkle Drohung in mir zurück? O nein. Denn Steiner hat
die Unvorsichtigkeit begangen, einen Vers von Goethe zu zitieren (kein
minderer Stil sollte wagen, so Hervorleuchtendes in seine Zeilen
einzulassen) -- und die schön geordneten Vokale, die unendlichmal als
alle Astralleiber mysteriösere Musik dieser Worte hat wie Mondschein
mein Gemüt schon ganz erfüllt. Und sie bleibt zurück, in meinem nur
literarisch organisierten Gehirn, auf dem Heimwege, hat mich längst
schon wieder aus den Polemiken und systemhaft verwirrten Abstraktionen
in ein Reich aufgelösten unwiderstehlichen Wohlgefallens gezogen ... Ich
bleibe bei meiner Partei. Wir werden ja sehen, was man von diesem
bornierten Parteistandpunkt aus (denn borniert ist er, begrenzt,
glücklicherweise!) noch erleben kann. Auch aus den »höheren Welten«
komme mir noch manches Schöne!



Kommentar zu Robert Walser


Die einzig richtige Form, in der Buchkritiken verfaßt sein sollten, ist:
der Kommentar. Solange es aber nicht Mode geworden ist, mit solcher Ehre
unsere zeitgenössischen Dichter auszuzeichnen, die man nur wohl den
lieben römischen und griechischen Klassikern zuteil werden läßt, --
diese Ehre, daß auf jeder Seite, die nur je ein Weniges des
unschätzbaren Textes enthält, unter dem Strich jedes wichtigere Wort des
Dichters erwogen und belobt, jede Wendung mit Parallelstellen belegt
oder als originell befunden, jeder angedeutete Gedanken und jede auch
nur etwaige Anspielung in voller Schönheit zu Ende ausgearbeitet wird,
-- solange dies alles nicht eingeführt ist, bleibt nichts übrig, als
eine kurze, unvollkommene und deshalb auch schwierigere Kritikerleistung
zu versuchen.

Ich werde also nur einen Pseudokommentar geben können, eine Auswahl
kommentierender Anmerkungen vielmehr, zusammengehalten durch
übersichtliche, dafür aber auch nur halbrichtige Leitsätze, die ich
zwischen fünfmal oder zwanzigmal so viel Anmerkungen wahrscheinlich
anmutiger, geahnter und doch auch exakter versteckt hätte.

Gleich im Beginn veranlaßt und begeistert mich der Genuß von etwas so
Außergewöhnlichem, wie es Walsers Dichtungen sind, zu folgender
unwahrscheinlicher Behauptung: -- Es gibt Zwei-Schichten-Dichter, z. B.
Dickens, der es vortrefflich versteht, wenn er etwas Lustiges darstellt,
den darunter liegenden Ernst, und im Ernsten das Lustige darunter und
dahinter ahnen zu lassen. Oder Hamsun bringt es zustande, daß jemand
eine Situation berichtet, die er selbst mißversteht, der Erzählende;
aber wir, die Leser, verstehen sie durch seine verirrte Erzählung
hindurch. Das Buch Dostojewskis »Ein Werdender« erglänzt unsterblich in
solchen Details ... Neben solchen Zwei-Schichtern gibt es die
einflächigen Dichter, natürlich. Drei-Schichter hat es aber bisher noch
nicht gegeben. Walser ist so ein Drei-Schichter, da haben wir ihn.

Obenauf, in der ersten Schicht, ist Walser naiv, fast ungeschickt,
schlicht, geradeaus. Wenige lassen sich davon täuschen, man spürt
schnell die zweite Schicht unter der ersten, die Ironie, das
Raffinement, den Feinfühligen. Also ist Walser, wie man so zu sagen
pflegt, »gemacht« und »unecht«. O nein, weit was Überraschenderes ist
er. Er hat nämlich noch unter der tiefen zweiten Schicht eine tiefere
dritte, einen Grund, und der ist wirklich naiv, kräftig und
schweizerisch-deutsch. Und den muß man gut durchgefühlt haben, ehe man
ihn versteht, in dem wurzelt manch seltsamer Reiz seiner Sprache,
Gesinnung, ja des Aufbaus seiner Werke.

Zunächst die Sprache. Man hat wohl schon lange nicht in unserer Zeit,
die sich von allen einfachen Prosamelodie abzukehren scheint, Sätze
gehört wie den: »Joseph sah ihn den Hügel durch den abstürzenden Garten
hinuntergehn.« Welche blendende, vielmehr stille Reinheit, welche
Abgewogenheit in den Vokalen, der Stellung und Länge der Worte, welche
ungezwungene Musik. Ich gestehe hiermit, daß es nur wenige Bücher gibt,
die mich durch ihren unsaubern Stil nicht anwiderten. Bei Walser aber
atme ich furchtlos auf, noch mehr: hier erquickt mich jeder Ton, hier
schallt es so angenehm ... Nun ist es aber eine Eigentümlichkeit der
Walserschen Diktion, daß er die Ruhe seiner Sätze oft mit einem
scheinbar der Zeitungssprache oder dem Vulgären entnommenen Wort
scheinbar unterbricht. Hier setzt nun die Drei-Schichten-Theorie ein.
Solche Zerrissenheit klingt naiv, unbefangen, kunstlos. Der tiefer
Zusehende erkennt wohl romantische Ironie in ihr, denkt etwa an Heine.
Der Verstehende aber sieht unter dieser wirklichen Naivität und
wirklichen Ironie (beide sind real vorhanden, nur beide nicht
selbständig, beide auf die dritte Schicht beziehungsvoll) eine ganz
inwendige Seelen-Unbekümmertheit, eine über allen Mitteln stehende und
deshalb in den Mitteln mit Fug wahllose Dichterurkraft. Ein Beispiel
(man findet leicht treffendere): »Das Feuer, das wie alle =wilden
Elemente= keine Besinnung hat, tut ganz verrückt. Warum sind noch die
=zügelnden Menschenhände= nicht in der Nähe? Müssen denn gerade in
solcher =Schreckensnacht= usf.« Ich habe mir erlaubt, natürlich gegen
den Text, die deutlichsten Papierworte hervorzuheben. Wie flüchtig sieht
man sie der Feder des Dichters entgleiten, als Anklänge fast an populäre
Schillerzitate, sieht den Dichter ihr Unangebrachtes erkennen, ironisch
belächeln, sieht ihn sie dann trotzdem stehen lassen, einer inneren
Flüchtigkeit, weil Heiterkeit folgend, die sich zu jener oberflächlichen
Flüchtigkeit wie ein lebendiger Mensch zu seiner Momentphotographie
verhält ... Walser liebt es, wie in dem zitierten Buch (»Fritz Kochers
Aufsätze«), sich als Knaben, als halberkennenden Reifenden zu
verkleiden, um diesen Stil gleichsam zu rechtfertigen. Doch führt er ihn
glücklicherweise auch ohne besondere Rechtfertigung durch alle Bücher
hindurch und ebenso durch seine schönen eilfertigen kleinen Stücke in
unsern Zeitschriften.

Was für Sätze, was für Satzneubildungen und unbewußtes Glück! »Ich wohne
sehr nett in einem, es kommt mir vor, hochgelegenen Turmzimmer.« Oder:
»Er wolle, fand es Tobler für passend zu sagen, nicht hoffen, daß es
soweit komme.« Ohne Arg und doch mit großer Schlauheit und doch im
Herzen ohne Arg wird mit der deutschen Syntax hübsch gewirtschaftet.
Gehäufte Verba geben einen halb-komischen, ganz-entzückenden Effekt:
»... daß ich jederzeit dasjenige zu leisten imstande sein werde, was Sie
glauben werden, von mir verlangen zu dürfen.« Oder alte Phrasen werden
mit einem neuen oder recht abgebrauchten Adjektiv kuriert: »Die Berge am
Ufer waren in dem Dunst, den der vollendet schöne Tag über den See
verbreitete usf.« »Zeitungen solchen Schwunges und Charakters schossen
... an die erstaunte und erfreute Öffentlichkeit.« Analog zu »Ins Reine
Schreiben« wird neu geschaffen: »Ins Mehrfache Schreiben.« -- Ist es
möglich, einer tausendjährigen Sprache so neue gezwungen-ungezwungene
Töne abzulisten, die von nun an nicht mehr verstummen werden?! Wer in
solchen neuen Stilerfindungen nicht das größte literarische Tun unserer
Zeit sieht, von dem kann man getrost sagen, daß er von dem Wesen der
Literatur noch nie eine Ahnung in der Seele verspürt hat.

Über die Schweizer Provinzialismen bei Walser und ihre Schönheit denke
man sich einen selbstverständlichen Absatz hier eingeschoben.

Ebenso über seinen scheinbar sorglosen, dennoch sehr bedachten und doch
im Tiefsten blumenhafte frische Sorglosigkeit aushauchenden
Szenenaufbau.

Seine Gesinnung erkläre ich mir gleichfalls dreischichtig. Eine leicht
erkennbare Aristokratie im Wesen (»Warum ist Armut eine solche Schande?
Ich weiß es nicht. Meine Eltern sind wohlhabend. Papa hat Wagen und
Pferde.«); man würde aber irren, wollte man die durch solche
leichtfertige, absichtlich leichtfertige Reden als deren Widerlegung
deutlich durchschimmernde soziale Mitleidsgesinnung als die wahre
auffassen. Noch tiefer vielmehr stößt man wieder auf etwas sehr Nobles,
Feinorganisiertes, Sich-Abschließendes -- und wundervoll ist es, wenn
Walser manchmal durch einen einzigen Satz den Leser zwingt, alle drei
Standpunkte mit ihm zu durchlaufen. »Es wurde nach und nach bei den
Frauen Mode, und zwar bei den sogenannten bessern, nämlich bei solchen,
die nicht gar so streng zu arbeiten brauchten, den Tag über, und das
gerade sind ja die Besseren ...« Man suche sich das Richtige aus!

Es ist in dem labend komplizierten Wesen dieses Dichters gelegen, daß er
vielartige Figuren von solcher Vollständigkeit ihres Gehabens und
Wirkens gestalten kann und nicht im Relief, nein rund, komplett. Er
braucht nur seines eigenen Wesens Züge zu isolieren, aus sich
herauszustellen ... Da erscheint in mehrfachen Varianten die schöne,
stattliche Frau aus patrizischem Bürgerhaus, der der Hochmut so gut
steht, der man gern dient. Immer trägt sie Federn auf dem Hut ... Da
erscheint der junge Mann, bald Schüler, bald Kommis, bald Gehilfe, der
es in keinem Beruf lange aushält. Das Heroische und die Kunst leben in
ihm, hübsch verwickelt mit kleineren Begierden wie z. B. einer kräftigen
Eßlust. Die Liebe zum Bruder, der als Ideal vorschwebt, wird oft
gezeigt. »Geschwister Tanner« gar ist die Geschichte einer in sich
zusammenhaltenden, ganz bunten und doch durch einen edlen Familienzug
angeglichenen Kette von Geschwistern. In ihrem Familienstolz zeigt sich
wieder der Aristokrat. Nur das Feine, Ebenbürtige gefällt ihnen. Am
liebsten würden sie in einer märchenhaften Welt von Schönheit leben, wie
sie Karl Walser zierlich aufzuzeichnen weiß; und ebenso wird im Buche
»Der Gehilfe« gern geträumt, in der guten Art Gottfried Kellers etwa,
ausführlich im Schlaf, oder wachend vom »Ritterfräulein in Samtrock und
ledernen Handschuhen.« Doch -- und das ist das Dreischichtige,
Vielschichtige, Ungezähltschichtige meinetwegen -- in demselben Buche
spielt auch die kleine »verschuggte« Silvi ihre wichtige Rolle, und
allnächtlich »pißt sie ins Bett«. Was ich damit sagen will: Die Feinheit
Walsers hat durchaus nichts Ästhetelndes, mir so verhaßt Wienerisches!
Fritz Kocher, dessen Aufsatzheft mit den Worten »Der Mensch ist ein
feinfühliges Wesen« beginnt, sagt so schön, wie er den »Lehrer in der
Schulstube« beschreibt: »Hin und wieder kratzt er sich wollüstig in den
Haaren. Ich weiß, welche Wollust es ist, sich in den Haaren zu kratzen.
Dadurch reizt man das Denken unendlich. Es sieht allerdings nicht
besonders schön aus, aber item, es kann nicht alles schön aussehen.«

Das ist nun Walsers lieblichster Frohsinn; er steht, obwohl poetischeren
Zeiten entsprossen, fest in unserer unpoetischen Gegenwart. Er liebt
sie, er macht sie poetisch. Er hält einfach ihre Ekelhaftigkeiten aus --
der gesunde schöne Körper »fähig, Anstrengungen und Entbehrungen zu
ertragen«, das ist die gute Basis, die er allen seinen Helden gibt. Ihr
Lachen ist ein ins Akustische umgewandelter solcher Gesundkörper. Allen
Mädchen müssen sie wohlgefallen, und das freut diese jungen Herren
selbstverständlich ... In ihrer guten Laune gefällt ihnen selbst alles.
Sie finden sich zum Erstaunen mühelos in der Welt zurecht. Der liebe
verschwenderische, scheinbar so gar nicht ins 20. Jahrhundert passende
Herr Tobler, Erfinder der genial unpraktischen Reklameuhr und des
Schützenautomaten, wird sich schließlich -- so eröffnet uns die
abschließende Voraussicht des Romans --, wenn er den Gläubigern seine
»brillante« Villa am Seeufer räumen muß, auch in der engen Stadt »in
einem billigen Quartier« recht wohl fühlen. »Man gewöhnt sich an
alles ...« Von einer versinkenden Weltanschauung, von überlebten
Stimmungen ist in der obersten Schicht dieser Bücher viel die Rede (»Man
bedauerte das Zeitalter, das sich gezwungen sah, mit Menschen von des
Melkers Veranlagung derart kleinlich und mißverständlich verfahren«, so
heißt es von dem derben Naturburschen im Polizeigefängnis, der noch das
Blut der »stolzen und unbändigen Ahnen des Landes« hat und dafür, d. h.
für Raufhändel, bestraft wird), aber im Innersten der Bücher lebt schon
eine tüchtige Anpassung an die Neuzeit, an Industrie und alles, was man
will. Der Gesunde wendet sich eben von nichts ab. »Ich liebe und verehre
Tatsachen.« Oberste Schicht mag bei Walser Romantik oder Ironie der
Romantik sein, zuunterst liegt tapferster freundlich-ausgesponnenster
Positivismus: »Nichts kann mich so tief aufregen wie der Anblick und der
Geruch des Guten und Rechtschaffenen. Etwas Gemeines und Böses ist bald
ausempfunden, aber aus etwas Bravem und Edlem klug zu werden, das ist so
schwer und doch zugleich so reizvoll. Nein, die Laster interessieren
mich viel, viel weniger wie die Tugenden.« -- Hier, wenn irgendwo, finde
ich den neuen Ton, =die Romantik unserer letzten, arkadisch-gegenwärtigen
Strömung=, endlich, endlich die Reaktion auf Nietzsche,
die Freiheit, die Entspannung der Seele. Deshalb die Fülle
der Eingebungen bei Walser, als hätte er das Dichten überhaupt erfunden.

... Was für Einfälle: diese Musterschule »Benjamenta« mit ihrem so
intelligenten, so unermüdlich vom Dichter belobten und doch unterirdisch
von ihm mißachteten Vorzugsschüler, dieser Brief, der mit »Geachtete
Frau« beginnt, oder der betrunkene Wirsich, dieses Mitleidige,
Mitleidslose, Mitleidsindifferente usf. usf. ... Es ist wirklich
unmöglich, diesen Dichter nach Gebühr zu loben. Ich kann meine verliebte
Freude über seine Existenz in Kurzem nicht mehr anders ausdrücken als
indem ich die Namen seinen bisheutigen Bücher mit meiner schönsten
Schrift ins Manuskript kalligraphiere: »Gedichte« -- »Fritz Kochers
Aufsätze« -- »Geschwister Tanner« -- »Der Gehilfe« -- »Jakob von Gunten«
-- Aufsätze.



Verworrene Nebengedanken


Will man in Paris seinen Winterrock weghängen, so nähert sich ein
Vollmond aus Holz oder ein ungeschlachter Messingbügel, so daß man über
die Geringfügigkeit der heimatlichen Aufhängeösen in Verzweiflung
ausbricht. Man steht da und wartet, bis man ein Französchen herantanzen
sieht, das sein Kleidungsstück an dem Bügel nicht aufhängt, sondern wie
über den Rücken einer geliebten Dame umhüllend anlegt. Also so geht es,
man hat hier keine Ösen, und dadurch behält das Kleid vielleicht
wirklich besser seine angeborene Gestalt als in unsrer Strangulierung ...
O Fremdartigkeit! Diese Gassen, Wildbächen ähnlich, die
zu den Boulevards dunkel herabstürzen, die Häuser, die entwurzelten
umgestürzten Baumstämmen gleichen, mit ihren emporgestreckten
Rauchfängen, die zweistöckigen Omnibusse, Löwen auf Elefanten reitend,
und diese zart gewellten Wasserläufe in der Gosse, so benachbart den
verschwenderisch im Freien ausgebreiteten Stoffen und Hüten und
Backwaren zum Verkauf, alles beseelt vom Takte desselben Wirrwarrs ...
Mit allem ging es mir so. Und auch wenn ich im Vaudevilletheater abends
die Polaire tanzen sah -- ihr Mund ist groß, ihre Nase groß und zudem
rot geschminkt, die Augen eines Gassenmädchens und der Tanz einer
göttlich zu verehrenden Spanierin -- o, ihre Hände zittern, die Finger
wie die dünnsten Äste im Frühlingswind, ihr Haar verlernt den Weg den
Nacken hinab und fällt begehrlich, als hebe es Röckchen, über Stirn und
Mund, die magern Schultern scheinen Befruchtung zu verlangen und die
Schenkel sind dick -- auch da noch blieb mir das Gefühl: Anders als bei
uns ... Immer dieses ›bei uns‹, wieviel Stolz liegt darin, wieviel Ekel
schon deshalb, weil es sich immer wiederholt, wieviel Mißtrauen, weil
man nicht sagen kann ›bei mir‹, wieviel Heuchelei, weil man ein
einheitliches Gefühl statt dieser Zusammensetzung empfinden möchte. Und
gar im Odéon, wenn bei erleuchtetem Zuschauerraum die Schlösser in den
Logentüren knacken, wenn Gallipaux auf der matten Bühne sein Äffchen hin
und her zieht, dann es weinend begräbt, dann aus schrägem Sessel und
Tisch eine kaum stabile Ruhestätte für sich herstellt, hingeworfen die
Beine hebt, mit den Händen flattert, durch ungestüme Bewegungen uns in
Angst versetzt, wie bei Akrobatentricks und so, ja in dieser Siestalage
gerade, den Traum jedes Parisers anhebt: ein Schloß besitzen, die
Freunde zu sich einladen -- auf fünfzehn Tage nur ... O, wie nah war ich
der französischen Literatur in Prag, wie fern bin ich ihr in Paris! Und
dabei ist dieses Theaterstück in acht Bildern wirklich von Edmond de
Goncourt, den ich in so vielen Artikeln besungen habe, ist die ›Manette
Salomon‹ -- und ich glaubte von Prag aus immer, diesen Dichter gegen ein
Pariser Publikum in Schutz nehmen zu müssen ... indessen wird hier bei
Stellen gelacht, deren Worte mir wie Rauch um die Ohren gehen. Gänzlich
als Ausländer also wandre ich zum _Théâtre du Châtelet_, während aus
jedem der unsichtbaren Briefkästen, von jedem zinkenen Schenktisch mit
seinen farbigen Fläschchen und Siphons Hohn mir entgegenschlägt und im
Nebel die zwerghaften Tischplattenkreise vor den Kaffeehäusern, in ihren
Ringen aus Metall, die winzigen Strohsesselchen, die Zuckerstückchen wie
weiße Särge, die fremden Semmeln, die Brotwürste über mich hinstürzen.
Noch im Gedränge der Stiege bin ich bedrängt, aber da bemerke ich schon
befreundete Klavierauszüge. Schau, ein junger Mann zeigt neben mir,
während ich mich setze, seiner Freundin eine schöne Stelle, hinter mir
an der Säule diskutiert man die Instrumentation. Oben auf der Galerie
pfeift Italien, schlägt die Stöcke gleichmäßig auf den Boden, schickt
Papierpfeile zu uns herab und klatscht Beifall. Das kenne ich schon ...
Aber nun still. Der Dirigent Pierné ist aufgetreten, den ich nur aus
einem schlechten Violinschlager kenne. Ist da Hoffnung?... Aber still.
Man wird mir ja ›Fausts Verdammnis‹ von Berlioz vorspielen. Sein Grab
hab' ich auf dem Montmartre oben gesehen, mit Blumen bekränzt, wie
leuchten die Namen der Werke aus dem Stein, und oben ist in einzelnen
Buchstaben aus Eisen sein Name zwischen Feuerpfeilen aufgestellt, das
erinnert schon wieder an die Reklameaufschriften des Skating-Ring und
Moulin Rouge, nur die elektrischen Glühlämpchen fehlen ... Aber still!
Und nun setzt die Viola mit ihren stillen Tönen ein. Und auf einmal bin
ich in irgendeiner meiner lieben Landschaften Böhmens ... nein, nicht in
Böhmen, in Ungarn doch, denn bald wird der Rakoczimarsch donnern ...
nein, bei Frankfurt irgendwo, denn das deutsche Schäferlied erklingt ...
o nein, o nein, meine Lieben, jetzt hat das alles ein Ende. Zu Boden
nieder mit all den kleinen Gedanken. Wir sind im Lande der Begeisterung,
ohne Geographie, wir taumeln in einem aus Schmerz und Schmerzlosigkeit
innig vermischten, in dem süßesten Gefühl der vereinigten
Menschlichkeit. Kleine Pariserin neben mir, bist du still geworden? Kein
Parfüm mehr, keine Seide, nichts? Nur diese Chöre, die Glocken, die
Harfen, die reinen Stimmen, die entschwebenden Dreiklänge des heiligen
Osterfeiertags. O Gott, möge doch meine Seele sich ergießen, möge ich
würdig dieser Töne werden ... Komponisten, die in ihren Werken manchmal
Bläser hinter der Bühne spielen lassen, sollten bedenken, daß es immer
einen merkwürdigen Eindruck macht, wenn diese Bläser dann nachher wieder
sich hereinschleichen durch die Sitzreihen der andern, wie Leute, die zu
spät ins Theater kommen. Das ist ein Übelstand. Es müßten da vielleicht
Spieler verwendet werden, die im Orchester gar nichts zu tun haben. Sie
bleiben draußen, rätselhafte Stimmen der Wände ... Aber die Wände mußten
ja auch diesmal mittönen, mitsprechen, mithören -- denn wäre es möglich,
daß so viel Begeisterung aus nur natürlichen Instrumenten quillt an nur
natürliche Ohren? Nein, gewiß, dieses Fest war über alle Gesetze hinaus
beseligend. Ich verzeihe es Pierné, nein, ich bitte ihm ab, als hätte
ich seine Romanze geschrieben: so herrlich hat er dirigiert. Und alle
die guten Leute im Orchester, Félia Litvinne als Gretchen, Laffitte als
Faust, und so fort. Und die lieben Zuhörer, die alles noch einmal hören
wollten. Es war ein Erfolg, ein Erfolg. Und nun wüßte ich diesen Aufsatz
nicht besser als mit dem Kopf des Programms zu schließen:
Hundertundsiebenundsechzigste und unwiderruflich letzte Aufführung in
dieser Saison. Hundertundsiebenundsechzigste Aufführung des ›Faust‹ in
dieser Saison! Was ich schon oft gesagt habe: ich finde, daß man in
Deutschland Berlioz vernachlässigt. Reinhardt sollte diese Oper
inszenieren. Nedbal sollte seinen Stolz darin sehen, sie ganz zu
dirigieren, nicht herausgehackte Stücklein. Doch nein, auch wenn sie
niemand hört, niemand spielt, diese Musik bleibt mein, bleibt mir aus
meinem unfranzösischen Herzen hervorgewachsen wie das Korallenriff aus
dem schwankenden Meer herauf. O, mehr als nur ganz Paris würde ich
vergessen, wenn diese gerissene gebrüllte Teufelsserenade mich antanzt
-- aber ich freue mich, daß man applaudiert, das nebenbei -- man ist
nicht allein auf der Welt, glücklicherweise -- ich freue mich, daß
Goethe, Shakespeare, Berlioz in dieser langen Melodie vereinigt sind,
drei Nationen reichen einander die Hand und schöner als auf dem
Titelblatt der Unterrichtsbriefe zum Selbststudium, System
Toussaint-Langenscheidt. Ich freue mich, ich erlebe eine meiner
Ekstasen. Ist die Musik international etwa? Daß ich hier mitten unter
Fremdartigem mich plötzlich an die weiche Kante meines heimatlichen
Klaviers gedrückt fühle; weich, weil das Taschentuch auf ihr liegt, in
das ich weine? Niemand wird hoffentlich eine Antwort auf diese unsinnige
Frage erwarten. Und doch, als Zeichen meiner Begeisterung, als Wiehern
gleichsam sei sie notiert. Noch etwas: daß der Tanz der Irrlichter so
langsam, mit würdigem Leichtsinn, mit schneidender Lustigkeit gedehnter,
fast fauler Menuette vor sich geht, erst zum Schluß ein Reigen mit
geworfenen Händen und Haaren -- das ist es eben, das Genie, langsam war
das zu komponieren, nicht wie hergebracht: in schnellem Funkeln ... Doch
nun ist es genug. Wir treten auf die Gasse. Uns umgibt die frische
Pariser Gebirgsluft, doch eine lange Weile noch träumen wir von Heimat,
Liebe und süßer Musik, bis eine Reihe dunkler Bogenlampen uns den
Elektrizitätsstreik hier in Erinnerung ruft. Und darüber die ziehenden
glänzenden Wolken mit polierten Fingernagelrändern, »wie bei uns«, oder
ein wenig anders.



Meyerbeer


Neulich kam mein Bruder mißmutig aus dem Theater. »Nun, was hat's denn
gegeben?« frage ich aus dem Bett schon, vor dem ein Sessel, eine Kerze,
brennend, die Tasse Milch und das aufgeschlagene Buch ein gemütliches
Winkerl zusammenstellen ... Er wütet: »Eine kleine Operette hat man
aufgeführt: Der umgekippte Mastbaum! Weißt du, was aber auf dem
Theaterzettel stand: ›Die Afrikanerin‹ von Meyerbeer.«

Wirklich gibt es nichts Weinerlicheres als diese Abspielungen
Meyerbeerscher Opern, wie sie an Provinztheatern jetzt zur Mode geworden
sind. O Mode, Windhauch der Zeiten! einmal war die Mode um Meyerbeer
anders bestellt. Könige ließen ihre wappengestickten Samtdecken von den
Logenbrüstungen flattern, indes unsre Großväter jugendfrisch die Galerie
stürmten, um die Premiere des ›Kreuzfahrers in Ägypten‹ zu erleben, den
Enkeln zu überliefern. Es gab Leute, die siebenundachtzigmal die
›Hugenotten‹ gehört hatten. Was ist aus euch geworden, ihr Prachtträume
der Einzugsmärsche, vergiftete Blüten, grausige Geisterbeschwörungen in
Felsschluchten, Tanz der Wahnsinnigen mit ihrer Ziege an schroffen
Klippen, kriegerische Zeltlager, Feenballette!... Jetzt wird dieselbe
Leinwand, rissig geworden, an abgefärbte Baumstämme gelehnt, die Äste
greifen zerbogen durch Löcher der Gaze, die eine sanfte tropische Luft
im Glanz vorstellen soll, und die Strahlen des Reflektors, dieser
ersehnten Gegenden Sonne, spießen sich an einem Versatzstück, das einem
zerbrochenen Kasten ähnlicher sieht als einem großmächtigen Opferaltar.
Und über all diese Ruinen hinweg kreischt die zweite Garnitur der
Sänger, dirigiert der vierte Kapellmeister, der Chor mit undeutlichen
Einsätzen bröckelt die süße Landschaft, die Melodie auseinander, und das
Orchester schwemmt mit ein paar rohen Trompetenstößen, was übrig ist,
hinweg. Zum Aufschluchzen freilich nimmt sich neben dieser lieblosen
Vernichtung aus, was noch aus der schönen Ausstattung früherer Moden
gerettet wurde. Dieses mit großem Aufwand im Durchschnitt gezeigte
Schiff, der fallende Mast ... rings um sie hat man alles
zusammengestrichen; aber diese Utensilien, einmal dem Theaterinventar
einverleibt, trotzen der Verachtung: wie exilierte Fürsten machen sie
von Zeit zu Zeit ihren traurigen regelmäßigen Spaziergang durch fremde
Alleen. Und mit einem Schlag wird beides deutlicher: das frohe Einst,
das schlimme Jetzt.

Das anerkennend-neidische Wort des Berlioz hat sich längst ins Gegenteil
gekehrt: »Meyerbeer hat nicht nur Genie, er hat auch Glück.« Jetzt
könnte man sagen: »Er hat auch Unglück.« Und sein Genie? In dieser Welt,
wo Kunsturteile wie Mücken durcheinander schwirren, sich kreuzen und
zerstieben, von keinem mehr ernst genommen, scheint über eines nur volle
Übereinstimmung zu herrschen: daß Meyerbeer, ehedem überschätzt, ein
seiner Unwahrheit, seiner Effekthascherei wegen zu maßregelnder
Taugenichts sei. Und wie hat man ihn gemaßregelt! Am Abend durch eine
heuchlerische, gichtbrüchige Aufführung, am Morgen darauf in der Zeitung
durch Ernst und Strenge unsers Jahrhunderts. Ein in Wagners Schule
stramm erzogener Kritiker, mithin besser: ein Merker, schrieb einmal
über ›Die Afrikanerin‹, dieses heiße, verliebte, verzauberte Eiland,
etwa in diesem Sinn (die Worte habe ich vergessen): »Wagt man wirklich
noch, vernünftigen Menschen unseres Jahrhunderts ein solches Machwerk
vorzusetzen, in dem die Seefahrer sofort nach Umschiffung des Kaps der
guten Hoffnung in -- (dieser Gedankenstrich ersetzt eine Lachsalve)
Indien landen!«

Wünscht man geographisches Wissen, Effektlosigkeit von einer Oper, dann
halte man sich allerdings von Meyerbeer fern ... Mich aber hat das Wort
›Kap‹ nie mehr so mit der Wucht ferner Umblicke getroffen, mit dieser
Wahrheit einer Reisebeschreibung, die man zum dreizehnten Geburtstag
geschenkt bekommt und immer wieder liest. »Zum Himmel reicht sein Haupt,
sein Fuß zur Hölle«: ja, in diesen Noten eines seltsamen Kontrapunkts,
leer und einfach, ragte das ›furchtbare‹ Kap in die Höhe, wurde so groß
wie die Erdkugel -- und wir sahen das Meer, die zerschellten Schiffe,
sahen auch Indien, wenn du willst, sahen jedenfalls ein herzbewegendes
Leben, Abenteuer und Begeisterung. Wir pflegten ›Die Afrikanerin‹
täglich aufzuführen, mein Bruder und ich als Kinder. Die ersten zwanzig
Seiten fehlten dem Auszug, dann waren noch zwei schmutzig und zerrissen,
so daß man sie schwer auf dem Pult halten konnte -- sie krümmten sich
wie kleine Wimpel ... Wir aber begannen am liebsten mit dem dritten Akt.
Da war es heißumstritten und begehrt, die Rolle des Nelusco zu bekommen.
Abgesehen davon, daß diese Töne den eben mutierten Stimmen am besten
lagen: uns gefiel dieser edle Wildfang, wir liebten seine Erbitterung,
seine Heimtücke, die in scharfen Zwischenrufen unisono mit dem Klavier
sich ausschreien konnte. Und die Ballade von ›Adanastor‹, wobei einer
bauchrednerisch sämtliche Stimmen der bebenden Matrosen geben mußte. Wie
gut sang sich auch die Unterredung: »Ja, ihr seid's, Don Alvar«, in die
man Rache und Klugheit, adeligen Mut und Verblendung zu legen hatte. Und
wenn beim Schein der einfallenden Sonne das Morgenlied des Chores
erklang, das Gebet, die Glockenschläge, der Hymnus an irgendeinen
wohlvertrauten und unbekannten ›Sankt Dominik‹, dann waren wir lustig
auf dieses romantische Schiff versetzt, hatten jeder für sich seine
Kommandobrücke, seine gute Luft, die den Sinn erfrischt, sein
sanftgewelltes Meer ringsum ... Wir gaben auch das Parlament von
Lissabon, alle Sänger der Opposition und der Majorität mit großer Übung,
den tüchtigen kühnen Vasco auch, der es ihnen ins Gesicht zusagt: »Euch
gehören die Küsten und die Meere.« Wie wirbeln an dieser Stelle
unablässig zwei Noten umeinander herum, alle Wollust des Entdeckers, der
auf dem hohen Kap steht, die neuen Länder sieht und außer sich, atemlos
mit dem Arm winkt, um zu zeigen und zugleich auch, um seine wahnsinnige
Freude auszudrücken. Der Windhauch weiter Umblicke ist in diesen Noten,
wie etwa in dem tschechischen Wort ›_mávati_‹, das ›winken‹ bedeutet ...
Und wir traten nach kleinen Vorspielen, die mit ihrer Lieblichkeit jeden
Schmerz auflösen, in den melodiösen Kerker, wo man vom ›Sohn der Sonne‹
singt, vom ›Bengalis‹, von Ergebenheit, Tod, barbarischen Gottheiten.
Wir zitterten bei neuartigen Akkorden, bei diesen aus sich
herausschwingenden Kantilenen, die in jeder Zeile und einheitlich ihr
Feuer ausstrahlen, jede die nächste befruchtend ...

Man gewöhne es sich nur endlich ab, diesen Meyerbeer ›historisch‹ zu
nehmen. Sein Pomp kommt aus einer heroischen Seele, seine Effekte aus
hellsten, reinsten Leidenschaften. Fühlt man es noch nicht, daß sein
Stolz und seine Wehmut mit der Sprache der jungen pathetischen Dichter
zusammenklingt, die neuerdings auftreten! Die Zeitungen melden von
Neuaufführungen in Berlin und in Breslau. Mögen sie so heftig, so
ekstatisch verlaufen wie unsre Kinderaufführungen auf der schmalen Bühne
zwischen der Klavierbank und dem Notenpult.



Gustav Mahlers dritte Symphonie, von ihm selbst dirigiert


Ein junger Musiker aus dem Konservatorium steht auf der letzten Galerie.
Außer sich vor Entzückung, hört er das körnige Prasseln langatmiger
Posaunentöne, den großen Schritt des Trauermarsches, leeren Moll-Hall im
Orchester.

Und von ferne, ganz von ferne naht des Vergnügens Lichtermeer wie eine
aus der Nacht schimmernde Großstadt. Die Luft, von so üppigen Geigen
gestrichen, schmeckt süß. Mit dem ganzen Körper fühlt der Musiker den
Wohlklang einer überirdischen Operette und ist versucht, die Hand aus
der Hosentasche zu nehmen, um auch ihr einen Anteil an dieser
Himmelsmusik zu verschaffen.

Wie kommt es, daß dieser Mahler alles aussingt, was ich so tief fühle,
denkt der arme kleine Musiker. Er nimmt mir meine Einfälle weg. Und wie
er dirigiert! Jede Nuance könnte ich nur genau so ausfeilen. Wenn ich
ihn nur von hier aus sehen könnte. Nun steigt wieder ein Motiv auf, das
ich geahnt habe ... Aber wo ich einen Faden klebrig-mühsam spann,
schwingt sich ein weites, schattiges Seidennetz ... Und rote Rosen,
duftendes Lebensblut ... Ach, wenn ich ihn nur einmal sehen könnte, den
Gott! Man sagt mir, daß ich ihm ähnlich sehe ...

Da bietet sich eine Lücke in der stehenden Menschenmauer. Einen
Augenblick lang kann der Konservatorist den schwarzen Kapellmeister
unten sehen ... Ah, Mahler, das bin ich selbst! schreit er leise.

Wie eine starke, schwarze Hand überfällt ihn das Fieber. Er wankt und
fällt hintenüber hinter die Zuschauer, wo die halberlöschten Lampen
zischen, fällt mit einem dumpfen Knall. Die rote Blutrose wächst eilig
aus seinem Munde hervor und überdeckt mit warmen Blättern sein Antlitz
... In der Ekstase der Crescendo-Symphonie hat niemand sein Niederfallen
bemerkt. Nur der beste Freund, der neben ihm gestanden hatte, ringt
verzweifelt die Hände und steigt hastig zu ihm hinab.

»Ich sterbe jetzt,« sagt der Musiker.

»Wehe,« der Freund.

Sie sprechen schnell, während das Orchester schwelgerisch Tonpokale
leert und zerschellen läßt, absteigt, sich beruhigt in kleinen
chromatischen Küssen mit halboffenen Lippen, sich beruhigt ...

Aber da hat das erregte Flüstern der beiden Freunde zu einem Geräusch
sich gehoben. Und der Kapellmeister, entrüstet ... hört zu dirigieren
auf. Es wird blasse Stille im Theater. Alle Köpfe richten sich zur
letzten Galerie.

Der Musiker seufzt: »Was will er? Ist es nicht genug, daß ich ihn so
verrückt liebe, daß ich mein Leben um seines Werkes willen wegwerfe?
Haßt er mich auch noch, nach all dem, nur weil das letzte, größte
Ereignis meines Daseins einen Schatten auf einen nebensächlichen Moment
des seinen wirft?«

Inzwischen hat sich der Grimm Gustav Mahlers beruhigt. Er klopft. Man
beginnt von neuem, fortfahrend in genußsüchtigsten Trillern. Eine
Melodie ohne Ende zackt sich hin, zerspritzt, wirft ihre rosigsten
Gipfel. Infanterieregimenter von Faunen und Bacchanten marschieren auf,
man gibt Signale, man trommelt einen hypnotischen Takt ...

Da fühlt der sterbende Musiker, wie die Hand des Freundes auf seiner
roten Brust zittert ... im Takt zittert ... wie der Rhythmus dann
weiterfährt in den Arm, über die Schultern, in den Kopf des Freundes.
Und nun steht der auf, läßt den Halbtoten liegen, wie ein Schlafwandler
strebt er wieder den Stufen zu, lauscht den reichen Klängen,
angespannt ...

»Ich hasse Mahler,« röchelt der Musiker auf dem Fußboden. »Ich hasse
ihn. Er nimmt mir meine Einfälle, meine Kunst, mein Ich, mein Aussehen,
meinen besten Freund.«

Der Trauermarsch setzt ein, körnige Posaunenstöße, Rührung.

Der Musiker im Sterben: »Nein, ich bete ihn an. Seit jeher haben die
Götter Menschenopfer geliebt ...«



Sechste Symphonie von Gustav Mahler


Wie wahrscheinlich mancher andre, kämpfe ich im kleinen Kreise, von Zeit
zu Zeit auch ins Fernere wirkend, für die Meister, die ich als
glückbringend erkannt habe.

Es freut mich, beispielsweise, einer der ersten gewesen zu sein, die das
Genie Heinrich Manns geliebt haben. Zu der Zeit schon, als nur das
›Schlaraffenland‹ erschienen war, bin ich für ihn eingetreten. Ich las
schöne Stellen vor. Man hat mich ausgelacht. Mittlerweile ist meine
Meinung fast allgemeingültig geworden.

Mit keinem meiner Lieblinge habe ich größeres Unglück gehabt als mit
Gustav Mahler. Schon vor acht Jahren habe ich in der ›Schaubühne‹ einen
Dithyrambus auf seine dritte Symphonie angestimmt. Mit Grausen denke ich
an die zahllosen Debatten, die ich seither für ihn ausgefochten habe --
an die Abende, die mir dumme Kritiken gegen ihn vergällt haben -- an die
sinnlosen Gewaltmaßregeln, durch die ich nahe Freunde zur Verehrung
herbeizwingen wollte -- an meine erschöpften Hände, die auf den
Klaviertasten liegen, noch berauscht von den Tönen, die sie
hervorgebracht haben und schon belächelt von teilnahmslosen Gesichtern
einer Zuhörerschar -- an das Schlimmste von allem: an schiefe Urteile
von Männern, die mir unbegreiflich klingen, weil ich von eben diesen
Männern die richtigsten Gedanken, die gefühlvollsten Eindrücke zu hören
gewohnt hin.

Nun bin ich etwas älter geworden und habe es aufgegeben, mit dem Kopf
gegen Wände zu rennen. Ich habe die Nekrologe auf Mahlers Tod gelesen,
auch sie ergingen sich zumeist in bedingtem Lob, der große Wille wurde
anerkannt, aber viel Abstoßendes, Übertriebenes festgestellt. Man
zweifelte an der Unsterblichkeit der Riesenwerke, ganz wohlwollend
zweifelte man daran.

Meine Überzeugung ist dieselbe geblieben. Aber ich beginne nach den
Gründen zu fragen, die diese so verbreitete Unbeliebtheit Mahlers
erklären könnten.

                   *       *       *       *       *

Ganz allgemein wird man auch in Kreisen, in denen intensives Verständnis
für Musikalisches herrscht, absprechende Urteile über Mahler hören.
Reger und andre werden viel widerspruchsloser geschätzt. Dagegen reden
gerade ernste, bedächtige, innige Kunstfreunde von Mahler mit einer
gewissen Gehässigkeit. Man wirft ihm die ewigen Marschrhythmen und
Trompetensignale höhnisch vor, man hält sich die Ohren zu, man lacht
gar.

Ich habe mir dafür folgende Theorie zurechtgelegt: Mahler ist nicht der
Schwerverständlichste unter den modernen Komponisten, aber er ist
derjenige, der sich die Gunst des unvoreingenommenen Hörers am
leichtesten durch gewisse grelle und übermütige Eigenheiten verscherzt.
Zu seinem Verständnis gelangt man in zwei Stufen. Auf der ersten sieht
man ein, daß dieses Grelle nur Nebenwerk ist und lernt die eigentlichen
melodischen und harmonischen Schönheiten kennen. Auf der zweiten Stufe
erst gelangt man wieder dazu, dieses vermeintlich undisziplinierte
Nebenwerk doch eigentlich wieder als organisch mit allem Musikalischen
des Werks verbunden und als Gesamtausbruch eines Temperaments zu
empfinden, dessen Maß nur in ihm selbst zu suchen ist.

Man kann im Fall Mahler ein lehrreiches Beispiel dafür sehen, daß selbst
die ernste Kritik vor gewissen komplizierten und mit viel Hohem und
Niedrigem verschränkten Erscheinungen versagt. Die gewissenhafte Kritik
kann starke Überraschungen verdauen, sofern sie ein einheitliches
Gebilde hinter ihnen ahnt oder mindestens konstruieren kann. Sie nimmt
die heftigsten Genialitäten Regers mit in den Kauf, da sie doch immerhin
überzeugt ist, daß der Mann viel studiert, seinen Bach im kleinen Finger
hat und nur etwas Rechtes, Gerades in der Welt beabsichtigt. Wo aber das
Pathos in Narrheit umschlägt, Buntheit in Strenge, indiskrete Wollust
mit Kindlichkeit abwechselt: da wittert die Kritik einen Bluff, da geht
sie nicht mehr mit, da hat sie es ganz einfach nicht nötig.

Ergriffen habe ich einmal gelesen, daß Mahler Kritiken sehr ernst nahm,
daß er nach jeder seiner Premieren von neuem seine zahllosen Tadler
genau las. Er muß unendlich gelitten haben.

                   *       *       *       *       *

Doch ich schulde den Beweis für meine Behauptung. Zwei Stufen sollen es
sein, die zu Mahler führen. Die erste ist beispielsweise durch die
Meinung charakterisiert, daß die Orchestrierung Mahlers Symphonien nur
schade, daß man viel mehr Freude an den vierhändigen Klavierauszügen
habe. Diese Meinung habe ich selbst jahrelang als liebes Paradoxon
gehegt. Und noch jetzt bin ich der Ansicht, daß der Orchestersatz, zum
Beispiel, der Rinaldo-Kantate von Brahms in seiner Einfachheit (von
Unverständigen wird dieses Raffinement, vielmehr diese Gesundheit:
Askese genannt) viel wirkungsvoller ist als das hundertköpfige
Mahlerorchester ... Doch hier handelt es sich ja nicht um das
Wirkungsvolle, sondern um das Schöne. Und da erfährt man bald, daß
Mahlers Orchestrierung in ihrer Schärfe und Rücksichtslosigkeit
ebensogut einen Gipfel der Schönheit darstellt wie die Gesetzmäßigkeit
des Brahms.

Richtig an der oben aufgestellten Meinung ist nur, daß eine Symphonie
von Mahler so viel Neues in jeder Richtung bringt, daß man
praktischerweise zuerst die schönen Melodien mit all ihren
überraschenden Ausläufern und Verwandlungen kennen lernt, die
Verwandtschaft dieses natürlichen Gesanges mit Schubert empfindet, den
steten Fluß des einmal aufgegriffenen Einfalls von Bachs erhabenem
Vorbild ableitet -- ehe man sich den Herdenglocken und Xylophonen der
Partitur preisgibt. Es ist einfach zu viel auf einmal. Und ich kann mir
ganz gut das verärgerte und gereizte Gemüt eines unvorbereiteten
Zuhörers während einer Mahlerschen Symphonie vorstellen.

Dann gibt es aber eine Sorte von Kennern, die über das Xylophon einfach
nicht hinwegkommen. Sie verachten es; sie geben nicht zu, daß es in eine
ernsthafte Symphonie gehört. Unter keinen Umständen gehört es hinein.
Solchen Leuten kann man hundertmal die Schönheit der Melodien zeigen;
sie verstehen die Melodien ganz richtig, sie wissen jedes Nebenmotiv aus
dem Thema abzuleiten. Sie finden die Erfindung »geistreich«. Das ist ihr
höchstes Lob. Aber innig, seelenvoll? Kann ein Komponist Seele haben,
ernste, ringende Seelenregungen, dem so ein Einfall kommt wie ein
Xylophon, ein Hammer? Das beweist unsern Kennern aufs deutlichste, daß
seine Begabung »nur äußerlich« ist, »nur auf Effekt gerichtet«, »nur
seicht«. Was mich an solchen Urteilen am meisten ärgert, ist das
Wörtchen »nur«; weil es so ganz unlogisch ist. Zugegeben (wenn auch nur
für diesen Moment), daß das Xylophon ein äußerer Effekteinfall ist. Dann
mögen diese schwermütigen Kenner das Xylophon subtrahieren! Daß aber
dieser eine Effekteinfall auch alle andern Einfälle vernichtet, einfach
ausradiert, was gar nicht zu ihm gehört, was um ihn, neben ihm steht --
kann man das anders erklären als durch die übermäßige Gereiztheit dieser
Zensoren? Mahler hat es sich mit ihnen verdorben, ein für allemal. Wäre
er vorsichtiger gewesen, so hätte er das Xylophon eben nicht gebracht.

So denkt man auf der ersten Stufe.

Dann aber schlägt man die Partitur auf, zum Beispiel Seite 25 der
Sechsten Symphonie, und versteht: er mußte das Xylophon bringen. Schöner
konnte die Durchführung vom ersten Teil dieses Satzes gar nicht
abgehoben werden. Wann wird man endlich Mahlers barockes, romantisches
Genie mit Sittenstrichen und Fleißpunkten verschonen? Das
Überschwänglichste wollte er sagen, nirgends ein Ziel haben, bis an die
Sterne sich ausbreiten. Dazu brauchte er unter anderem auch Xylophon,
Celesta, Triangeln und Tamtam.

                   *       *       *       *       *

Rücksichtslos wie Mahlers Orchester ist auch seine Melodik. Er kennt
keine Scham. Er durchbricht die Zäune des sogenannten »geläuterten
Geschmacks«. Man hat ihm Banalität vorgeworfen. Richtig ist, daß er
dort, wo er lustig wird, sich nicht geniert, in die süßesten
Operettenmelodien auszuschwelgen. Aber gibt es denn nicht auch schöne
Operettenmelodien? Die meisten sind Schund und Aas, gewiß. Aber die
Gattung als solche ist der höchsten Aufschwünge fähig. Mahler beweist
es. So ist eine lange Stelle im letzten Satz der Sechsten Symphonie
(Partitur Seite 205-210) für mein Gefühl der großartigste Niggertanz. Im
besten Cakewalkrhythmus schlingen sich die Motive, zugleich den besten
Kontrapunkt bildend. Ja, muß denn Kontrapunkt immer nur vom Katheder aus
doziert werden! Gibt es nicht herrliche Lebensaugenblicke, in denen
kühle Pedanterie zu rasen beginnt, pedantisch bleibt und doch rast und
doch dabei gar nicht selbstmörderisch und verzweifelt, sondern ganz
fröhlich, selig und sogar kinderinnig bleibt! Es gibt Mischungen von
Gefühlen, Gott sei Dank, die noch gar nicht von Worten abgestempelt
sind, die es offiziell noch gar nicht gibt. Aber wage es nur ein Musiker
oder Literat, so etwas, was er doch mit der wünschenswertesten Klarheit
und Wichtigkeit in sich fühlt, hinauszuschreien! Die ernsten Zensoren
glauben sofort, man mache sich über sie lustig, man nehme die Sache
nicht ernst genug. Gerade dann, wenn man die Sache endlich ganz ernst
nimmt und, ganz unbeeinflußt von Weltwertungen, das Eigenste sagt,
gerade dann -- belächelt die Welt das Xylophon.

                   *       *       *       *       *

Vor einiger Zeit wurde Mahlers Sechste Symphonie in Prag aufgeführt. Die
tschechische Philharmonie unter Zemaneks Leitung spielte herrlich, mußte
auch die Kältesten entflammen. Ich weiß nicht, ob sie sie wirklich
entflammt hat. Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, ich erlebte
alle Ekstasen, deren meine Seele fähig ist. Jahrelang habe ich mich
gesehnt, während ich dieses tragischste Opus unsrer Zeit studierte,
seine Aufführung zu erleben. Nun fühlte ich mich für alle Sehnsucht
belohnt, sammelte Kraft gegen Enttäuschungen und Fehlschläge ... Nachher
gab es viel Applaus. Die Kritik tadelte.

Noch eines sei festgestellt: als es zu der Stelle kam, die ich für mich
›Niggertanz‹ getauft habe, erlebte ich doch noch eine Überraschung. Ich
hatte nicht bemerkt, daß in der Partitur gerade zum Einsatz dieser
Wendung ›Rutenschläge‹ verzeichnet sind. Nun bei dem frechen Klang der
Hölzer, der die an sich freche Melodie zerhackt, faßte mich ein
andachtsvoller Schauer vor Mahler: weil er so würdelos, so unbändig war,
so naiv und ohne Rücksicht das unterstrich, was andre für seine Fehler
hielten -- was zukünftigen Geschlechtern seine Größe sein wird.



Kleine Konzerte


Ich liebe es, statt in großen Konzertsälen das Räuspern einer Volksmenge
zu überhören und in Pausen Leuten, denen ich lieber ausgewichen wäre,
auf gleichgültige Fragen noch gleichgültiger zu antworten, ich liebe es,
meine Musik mir allein zu machen, einen Freund etwa zu besuchen, der
schön, wie ein eifriger Dilettant eben, die Violine spielt, dann nach
kurzem Gruß an seinem Klavier niederzusitzen und die Sonne unsterblicher
Melodien erstrahlen zu lassen, wir beiden Zauberer. Die gewohnten Möbel
sind gute und angenehme Zuhörer. Die Aussicht auf die Gasse nebenan
friedet uns ein.

Allen denen nun, die es gern ebenso machen wie ich, habe ich einen guten
Rat zu geben. Gewiß haben sie, ebenso wie ich, schon schmerzlich
empfunden, wie gering eigentlich die Literatur für diese kleinen
Konzerte ist. Die Violinsonaten von Beethoven kennt man auswendig, bei
Mozart sucht man Überraschungen, ohne sie immer zu finden, man kehrt zu
Tartini, Spohr, Stamitz zurück, ohne viel Glück, man atmet auf bei Bach,
aber schließlich wird auch in diesen erquickenden Gebilden jede Note
wohlbekannt. Ein Glück, als Reger kam. Und die drei fabelhaften Sonaten
von Brahms, die beiden nachgelassenen noch, mit ihrem rührenden Ade,
Ade, Lebewohl ... Zu Ende. Da muß jeder dankbar sein, dem ein neues
Licht begegnet, ein wirklich schönes Werk für diese beiden Instrumente,
die so schrill und sanft zusammenklingen zwischen den bekannten Möbeln.
Ich kenne eine solche Violinsonate, die von Carl Nielsen, ich will sie
loben. (Opus 9, Verlag Wilhelm Hansen in Kopenhagen.)

Lange Zeit schien es mir seltsam und bedenklich, daß die nordischen
Völker, die in Knut Hamsun einen so natürlichen und zugleich
bewundernswürdigen Poeten haben, als Musiker nichts Ähnliches
hervorgebracht haben sollten. Ihr Kjerulf schien mir zu simpel, Gade zu
maßvoll, Grieg zu sehr im Glanz von Salonparketten jodelnd. Alle drei
hatte ich gern, aber entrangen sie mir wie Hamsun süße Tränen?... Seit
ich Nielsens Kompositionen kenne, ist diese (übrigens so kindische, so
jugendliche) Nachfrage beschwichtigt. Ich erkenne in Nielsen viele
Elemente von Hamsuns Kunst wieder: seine unter tüchtiger Männlichkeit
verhüllte Zartheit, seine gute Laune bei allen Übeln, niemals weich,
niemals Chopinsche Zerflossenheit und vor allem: seine Moral. Lebt in
Hamsuns zentralen Figuren immer ein heißer, fast übertriebener Trieb zu
Rechtlichkeit, Anständigkeit, zu erlaubten Mitteln, Vermeidung aller
Effekte, Bescheidenheit, ja zu einer Verschleierung eigener Vorzüge: so
finde ich dasselbe beinahe in Nielsens legitimem Kontrapunkt, in seiner
ehrlichen und reinen Stimmführung, die keiner noch so scharfen Kante
ausweicht, in seiner Vorliebe für das Fortissimo, in seiner zarten
einfachen und doch so neuen Melodik, kurz in dieser ganzen Musik, die
unzergliedert bleiben möge, so wie sie einer liebevollen Landschaft
gleich mit Freudengewalt bis zum Zerspringen mein Herz erfüllt hat, so
wie ich mich diesem Genie, diesem Genie gern zu Füßen werfen möchte und
seine Hände mit Küssen bedecken.

Fürwahr, ist der Lauf unserer Zeit den Ausbrüchen solcher Zärtlichkeit
nicht günstig, soll es lächerlich scheinen, einem Künstler laut
schreiend und außer sich für seine Gaben zu huldigen, dann lohnt es sich
nicht mehr, zu leben ... Ich bin von Nielsen einfach besessen, ich
stelle ihn neben Brahms, Reger, Smetana, Bach ... neben alle die Namen,
die mir zu Altären geworden sind. Ich habe mir sogar ein Bild Nielsens
verschafft, aus dem er mich anschaut wie ein begabter, unergründlicher
Schuljunge, mit nackten breiten Lippen, starrer Stirn, abstehenden
Ohren, aufgebürsteten weichen dünnen Haaren, die aber einen tüchtigen
Polster bilden, und mit solchen regellos glänzenden Augen! Dieses
Gesicht, ähnlich wie das Regers, wirkt auf den ersten Blick kahl und
matt, das Gesicht eines erwachsenen Kindes. Aber schnell ahnt man bei
beiden den Reichtum hinter dieser Nüchternheit, hinter diesem
Uninteressanten den Blitz! -- Ich weiß auch einiges aus Nielsens
Biographie. Er ist Hofkapellmeister in Kopenhagen, schon fünfundvierzig
Jahre alt. Und ich frage entrüstet, indem ich mich nach allen Seiten
drehe: Wer kennt ihn? Warum hat, außer einigen Fachblättern und dem
»Kunstwart« einmal, niemand über ihn geschrieben? Wo sind seine
Triumphe? seine Münchener Festspielwochen? Ist es möglich, daß auf der
Welt das Schöne keine Beachtung findet?

Gern wende ich mich von diesen fruchtlosen Ausrufungen ab, die
wahrscheinlich nicht viel ändern werden, und ergebe mich wieder dem
sanft in-sich-ruhenden Frieden der neuen Hamsun-Musik. Die Waldtiere
schaun langsam auf, und, während sie sich auf ihren duftenden
Futterplätzen im Schatten der Bäume lagern, den Abglanz entfernter
Gletscher wie ein dünnes Schneegestöber zwischen sich, gleichen sie
schon den ernsten, gesetzmäßigen, kraftvollen Tönen der lieben Sonate,
scheinen sie im Chor zu singen und zu brüllen, Rehe, Vögel, Eidechsen,
Käfer, Bären ... Wir sind im Norden. Seltsam mischt sich zur strengen
Kunst Nielsens das Nationale, diese abwechselnd großen und kleinen
Terzenschritte, die immer wieder auf denselben Grundton zurückfallen,
eine hartnäckige Schalmei, aus der hie und da eine Quart jubelnd
heraufschlägt, eine Sekunde traurig herab, das Ganze trotzig und
klagend, hart und doch in unklaren Nebeln, präzise Verschwommenheit. Wie
bei Bach zeigt sich hier die Kraft in mannigfaltigen, durchsichtigen und
beweglichen Sechzehntelfiguren, die gleichsam stets bis ins Innere
erleuchtete, veränderliche Organismen bleiben, niemals zur Begleitung
trübe erstarrt ... So in dieser Prachtsonate. Königlich setzt das
Hauptmotiv ein, nie gehört, es spaltet sich, ein Teil dient als
Nebenstimme der Kantilene, er breitet sich fächerförmig aus, zuckt wie
nach elektrischen Schlägen empfindlich zusammen, ein anderer Teil wird
in der Durchführung überraschend selbständig, durch eben diese
abwechselnd geschärften und abgestumpften Terzen zu einem zauberhaften
Gewebe ausgespannt, die Verlängerung des Einfalls mit dem Original
verbunden zu einem eigensinnigen Witz. Und die Stimmung über all dem
durch Gesetze hervorgebracht, für deren Benennung noch keine Worte
existieren. Lauter Geheimnisse, Urkräfte am Werk ... Ich notiere noch:
Nielsen hat Opern geschrieben, Symphonien, Quartette, Lieder, die Texte
von Holstein und Jacobsen sind durch diese Melodien übertroffen. In der
Übersetzung heißt es einmal »Sonnes Liebchen«, als Genetiv von »Sonne«
gebildet. Wen stört das? Es klingt ja gar nicht dumm, nur rauh und
nordisch. Einfache Tonleitern in Gegenbewegung bringen unerhörte Rührung
hervor »Gruß«, »Fahr wohl, du kleiner Dampfer«. Ist es möglich, daß
dieses Lied noch nicht zum Lieblingslied der gesamten zivilisierten
Menschheit geworden ist? Ich gestehe, das Erstaunen hierüber stört mich
sehr in meinem Kunstgenuß. Würde nur Nielsen bekannt und von allen
geliebt sein, wie er es verdient, so könnte ich mich ruhiger seinen
Werken hingeben. Es liegt gar nicht in meiner Art, Propaganda zu machen.
Ich empfinde das nur als Pflicht, als lästige ... Ich notiere noch:
seine Vorliebe für Sextengänge. Seine herrlichen Schlüsse. Man erkennt
den großen Meister immer an den originellen Schlüssen, da setzt sich die
Melodie pulsierend bis ins äußerste Glied des letzten Akkordes fort, ein
klopfendes Herz, während die Nichtskönner ein schallendes Bumbum
imposant an ihr Machwerk picken, alle nach derselben Schablone. Und
dann, ich bitte alle Leser, sich doch zumindest die »Symphonische Suite«
für Klavier allein zu kaufen, die Goethes Worte »Ach, die zärtlichen
Herzen! Ein Pfuscher vermag sie zu rühren« ironisch über ihren
unsterblichen vier Sätzen trägt. Ich bitte alle Kapellmeister, die
Orchesterwerke von Nielsen aufzuführen, damit ich endlich Ruhe habe.
Dann würde ich auch trotz meiner Abneigung gegen die großen Konzerte
diese wieder einmal ausnahmsweise besuchen.



Smetana


Meine Augen füllen sich mit Tränen, alle meine Nerven sammeln sich, um
so überirdischer Musik gewachsen zu sein, zu einem einzigen
musikalischen Gesamtnerven, wenn Töne von Smetana mein Ohr treffen.
Armer Freund -- so erlaube ich mir, mich anzusprechen -- Armer, der
seine Tage in oft allzu wohl ertragener Niedrigkeit verbringt: woher
diese Aufwallungen, vielmehr diese ganz naturgemäßen wohltuenden
Entspannungen, die dich plötzlich wie in einen Zustand vor dem
Sündenfall, in eine Luft ohne Staub und ohne Ruß versetzen? Woher dieses
gierige Ja-Sagen deiner Seele, dessen Begier auch im Ja noch anhält --
so wie ein Kind schreit, noch lange, nachdem man ihm jenes Glänzende,
Verlangte gereicht hat? Armer, armer Yorick, deine Sehnsucht muß sehr
stark gewesen sein, du kannst nicht glauben, daß sie endlich erfüllt
ist?... Doch wozu diese Begründungen! Verweilen wir lieber noch ein
Weilchen, lassen wir diese köstlichen Augenblicke noch einmal und
wiederum in unsere Seele treten. Da nähern sich Marschenka und ihr Jenik
(man spielt ›Die verkaufte Braut‹), der Chor unterbricht seine
schneidig-lustige Melodie, die sofort als Moll-Nachhall von der
Klarinette aufgenommen wird und bald in ihrer neuen Färbung, wie
irgendwo ganz anders, in einem andern Lande, ihr Dur wiederfindet, da
stehen die Liebenden allein, wie auf einer erhöhten Ebene, über den
allgemeinen Freuden und Sorgen der Dorfgenossen mit ihrem privaten Leid
und Glück. Ihre Nachfrage und Antwort überbaut, bald noch gefestigter,
die Orchesternachklänge. Nun haben sie einander die vier oder fünf
wichtigen Sätze gesagt, die sie sich mitzuteilen haben. Sofort löst der
Chor ab und rundet die Szene mit einer Reprise seines Liedes. Nachspiel
verhallt, Ende der ersten Szene. Wie einfach ist das, wie
selbstverständlich! Man sagt sich: Würde der liebe Gott Musik schreiben,
er hätte für diese Situation keine andre erschaffen können. Und in
dieser Vollkommenheit geht es weiter, gleich wird unser Pärchen allein
sein, und die ganze Mythologie einfacher Leute, die Stiefmutter, Segnen
und Fluchen, Schwüre, Vergangenheit, Treue, Eifersucht, alles wird ohne
Zwang wie im Glanze der ersten Jugend erscheinen. Oder hört nur, etwas
andres! Wir sitzen im Theater und erwarten, wie immer, irgendeine
Steigerung unsres Selbst, eine Verkomplizierung, Beängstigung, nur um
Himmels willen nicht dieses Stadtleben weiter! Da rauschen die ersten
D-Dur-Akkorde des ›Kuß‹, steigen auf und ab, immer noch derselbe Akkord
ist es, der allereinfachste Dreiklang in seinen selbstverständlichen
angeborenen Lagen: wie ein Wald mit der Gleichmäßigkeit von
zwanzigtausend gesunden Baumwipfeln beruhigt es unsere gärenden Sinne.
Wir sind gesteigert, aber nicht durch Komplikation, sondern durch
äußerste, intensivste Vereinfachung. Darin liegt meiner Ansicht nach die
tiefste Wirkung der Kunst Smetanas.

Der ›Kuß‹, dieses Meisterwerk, dessen Vernachlässigung außerhalb Böhmens
unbegreiflich ist (nachdem die ›Verkaufte Braut‹ längst internationales
Kunstgut geworden ist), zeigt wohl am deutlichsten, was ich meine. Wie
leicht und simpel ist schon der Text! Man hat in ihm oft einen Fehler
gesehen. Ich finde in seiner Wahl das Zeichen von Smetanas genialer
Selbsterkenntnis. Wenn freilich die deutsche Übersetzung so ruinös vor
sich geht, daß sie aus der frischen trotzigen ›Vendulka‹ eine
gouvernantenhafte ›Pauline‹ macht, daß sie das urwüchsige, blumengleiche
Schlummerlied mit Zeilen wie: »Fromme Taube, fleug' und glaube!«
ausposamentiert -- dann kann man das Kopfschütteln in fernen
Zuschauerräumen verstehen. Eine ungekünstelte Übersetzung wäre
Grundbedingung des Verständnisses. Dann aber würde man sehen, worum es
sich in diesem Werk handelt: in bäurischen Gemütern steigen große, ja
unendliche Leidenschaften auf, die im Kreise heimatlicher Ehrbarkeit,
ohne Nebengeräusch und ohne Verbiegungen, ausgetragen werden. Jeden
Charakter bis zu Ende gedacht, bis ins Herz hinein ehrlich. Nirgends
eine Anlehnung an die Schablone. Selbst der frömmelnde Vater, dem man
irgendwie bei Anzengruber auf die Spur zu kommen meint, ist eine ganz
selbständige Figur, er frömmelt eben nicht, sondern ist wirklich fromm,
und dabei hat er, in spaßigem Egoismus, seine einzige Freude daran, daß
zu Hause durch Heirat der Tochter endlich »heilige Ruh« wird. Und nun
kommen die Gäste, nun erfolgt mit ererbtem Pathos ohne Augenzwinkern die
Werbung. Alle tun, als hörten sie das Neueste; obwohl alle es wissen.
Mit gemessener Heiterkeit steigert die Musik ihr Schritt-Thema, das aus
dem Jubel vorhin allein im Baß übrig geblieben ist. Und wenn nun nach
einer kleinen Zwischenepisode die Liebenden, so lange Getrennten,
einander in die Arme stürzen und ihre Stimmen im Duett vereinen, dann
drängt sich mir der Vergleich mit einem andern Einander-in-die-Arme-stürzen
auf, mit der großen Szene in ›Tristan und Isolde‹, zweiter
Akt. Hier wie dort in der Musik ein atemlos seliges Endlich;
aber was sich bei Smetana vor allen Freunden und Verwandten,
konfliktlos und erlaubt vollzieht, gleichsam feierlich vor der
Öffentlichkeit und doch in einsamstem Vergessen aller kleinen Dinge --
dasselbe ist bei Wagner überreizt, verboten, schwül, umlauert. Hier
scheiden sich zwei Welten der Kunst. Und es scheint mir ganz
leichtfertig gedacht, was die Zeitgenossen über Smetanas
Wagner-Nachfolge schmierten.

Smetana ist kein Dramatiker, wenn man darunter das Erzeugen von
Spannungen, Überraschungen, Handlungen versteht. Versucht er derartiges,
zum Beispiel in der ›Teufelswand‹, so wird er oft ungeschickt, freilich
so hübsch kindlich ungeschickt, daß man ihn deshalb nur doppelt liebt.
Smetana ist aber der größte, der einzige Musikdramatiker, wenn man seine
Eigenart der idyllischen Ruhe und der dank ihrer Größe bescheidenen
Verschiebungen erkannt hat. Es ist wahr, die Oper ›Der Kuß‹ handelt von
gar nichts, von einem Kuß. Aber eben dieses Nichts ist in einer Art
gestaltet, spielt sich unter herrlichen Personen, in schönster freiester
Natur so gütig ab, daß man alle Sherlock Holmes der Welt vergißt. Da
wird dem ersten Akt mit seinem Tag, seiner gastlichen Bauernstube der
zweite Akt entgegengestellt: offener kalter Wald, Schmuggler in den
Nacht, Einöde. Ins Symbolische steigert sich die Flucht des Mädchens,
ihr Klagen, die gleichmütigen Konstatierungen der alten Martinka (die
Übersetzung muß sie natürlich zur ›Brigitta‹ entfärben), ihre ironische
Weisheit und die Flinte des Gendarmen. Dieser Akt handelt von gar
nichts, nur vom Urgesetz aller menschlichen Sozietät, vom Urgebot der
Verträglichkeit und Milde, dem man plötzlich in ungeahnter Ergebenheit
die Brust zu öffnen sich willig fühlt. Nein, sonst handelt der Akt von
gar nichts.

Die Idylle grenzte an heroische Welten. Smetanas Kreis wird von
derselben Atmosphäre erfüllt wie die Gedichte Homers. Eine aufrechte
ungebrochene Menschlichkeit spricht und singt sich aus, und gerade weil
die Charaktere so großartig sind, und weil alle ihre Eigenschaften so
offen daliegen, kann die Handlung keine schnellen Sprünge machen. Es ist
gleichsam zu schade um diese Riesenleute, als daß sie im Räderwerk
eiligen Geschehens hastig abgetan werden könnten. Stücke, in denen viel
vorgeht, drücken ihre Figuren leicht zu Chargen herab. Dagegen wollen
Helden sich in einer langsamen Aktion förmlich auswachsen. So ist es bei
Homer, wie bei Smetana. Und bei beiden fühle ich dieselbe ethische
Parteinahme für das Ganze und Rechte, für das Gute und Volkstümlich-Gesunde.
Beide verweilen gern dabei, wenn es ihren Helden gut geht,
sie suchen Tugend und Billigkeit, sie verabscheuen Böses, das
wie ein Einbruch dargestellt wird.

Es ist vielleicht kein Zufall, daß ich diese Zeilen über Smetana gerade
in einer Zeit schreibe, da in der deutschen Literatur aus verschiedenen
Quellen, einander unbewußt, eine neue Bewegung entstehen will, die ich
am besten vielleicht negativ, als Abkehr von der Dekadenz bezeichnen
möchte. Ihr Positives ist schwerer zu fassen: einige Dichter, die
einander vielleicht nicht einmal kennen, haben entdeckt, daß das
phosphoreszierend Lasterhafte und Faulende nicht das einzige
interessante Thema der Kunst ist, wie man in den letzten zehn Jahren
etwa geglaubt hat. Den Optimismus nämlich hat man in diesen letzten
Jahren fast ausschließlich schlechten Stilisten und ›Heimatkünstlern‹
wie Bartsch, Stilgebauer, Frenssen überlassen oder denen, die extreme
Nietzsche- und Amerika-Weltreise-Stimmung wie J. V. Jensen zu verkünden
hatten. Nun aber hat Robert Walser den Roman ›Der Gehilfe‹
veröffentlicht, in dem die ganze scharfsichtige Beobachtungsart der
Moderne wie ihre verfeinerte Sprachkunst wieder einfachen, naiven,
heroischen Menschen in Freude sich zuwendet. Max Mell hat in seinen
Novellen ›Hans Hochgedacht‹ und ›Barbara Naderers Viehzucht‹ die
Bauernnovelle auf ein bisher nie erreichtes Niveau der Kunst gehoben,
Otto Stoessl entdeckt im Roman ›Morgenrot‹ die wuchtigen heroischen
Stimmungen, die jeder Mensch in seiner Kindheit als seiner einzigen
Heldenzeit erlebt. Franz Werfels Gedichte ›Der Weltfreund‹, Otto Picks
›Freundliches Erleben‹ bringen den frohen und erhabenen Ton in die
Lyrik. Auch meinen eigenen letzten Büchern möchte ich gern diese
Stimmung entnommen wissen. Fast in allen genannten Werken zeigt sich
eine Freude am idyllischen, langsamen Erzählen, an werten und
hochachtbaren Menschen, an freundlichen Kräften der Natur, am
Lebenspendenden, am Arkadischen. Man hofft wieder, man vertraut. Dabei
verzichtet man auf kein Mittel einer ausgebildeten psychologischen und
sprachlichen Technik, man wendet sie aber endlich einmal auch auf
Almwiesen an, statt immer nur auf Lasterhöhlen. Und dabei klingt mir die
Musik Smetanas als liebste Begleitung in den Ohren ...

Ich würde mich getrauen, aus der eben geschilderten moralischen Stimmung
die charakteristischen Eigenschaften dieser Musik abzuleiten. Die
heroischen und idyllischen Töne Smetanas sind ja offenbar. Seinem
gütigen Ernst entspringt auch ein Spezifikum, der lange Atem seiner
Inspirationen. Bei keinem andern Komponisten findet man wohl eine Figur
so ausgiebig wiederholt und gesteigert wie bei ihm. Der Einzugsmarsch in
›Dalibor‹ ist das auffallendste Beispiel, in seiner eisernen Konsequenz.
Dadurch erhalten Smetanas Arbeiten diese Architektur im Kolossalstil,
die den Teilnehmenden beinahe erschreckt. Sie dehnt sich über das
Menschliche hinaus. Der Wiederholung gesellt sich oft eine unermüdliche
Modulation derselben Akkordreihe, man wird gehoben, ins Unendliche mit
fortgezogen, man fühlt sich verirrt, auf Wolken ohne Halt, plötzlich
öffnet eine Lücke wieder den Blick auf den heimatlichen Boden, auf die
ursprüngliche Tonart. In der Symphonie ›Blanik‹ wiederholt sich dieses
unnachahmliche Zauberspiel an zwei Stellen, vom fünfzehnten Takt an und
bei _Meno mosso_. In der ganzen Musikliteratur wüßte ich diesen Stellen
nichts ebenso Gewaltiges an die Seite zu stellen. Man merkt: Smetanas
Gewalt entspringt keinen Massenmitteln, sondern seiner echt
musikalischen Logik und strengen Form. So sehen wir den heroischen Zug
bei Smetana gleichsam zwei Tendenzen zustreben: wie jeder Heroismus
wendet er sich an das Volk, wird also national -- zugleich nimmt er sein
Mittel aus den strengsten exklusivsten Kunstgesetzen, wendet sich also
vom Volkstümlichen ab. Jede geringere Begabung als Smetanas hätte diese
Doppeltendenz als Konflikt empfunden. Meine Verehrung Smetanas beginnt
aber gerade da, wo er diesen Zwiespalt ausglich. Man könnte das Paradox
wagen: Smetana ist volkstümlich ohne das Volk, ja, gegen das Volk.
Niemals hat er bei seinen ›Volksopern‹ dem Banalen irgendeine Konzession
gemacht. Die Ouvertüre zu seiner nationalsten Oper beginnt mit einen
langen Fuge. Während andre volkstümliche Komponisten wie Lortzing,
Nicolai immer ein wenig zur Operette neigen, zum Possengeschmack, zum
entartenden ›Volksstück‹, bleibt Smetana bei aller Heiterkeit
anstandsvoll, edel, harmonisch, seine komischen Opern haben etwas von
der Weihe eines Festspiels. Er wendet sich nicht an irgendein gegebenes
Theaterpublikum mit seinen schlechten Instinkten, sondern er hat sich in
seiner höherfliegenden Menschlichkeit ein ideales Volk von Helden und
Bauern, von unwandelbaren Gesinnungen und starken Armen gebildet, dem er
in seinem Patriotismus die Züge des geliebten Heimatlandes aufprägte.
Nicht ihn hat das Nationale beeinflußt, er hat es so lange umgemodelt,
bis es so war, wie er es brauchte. Anfängliche Mißerfolge haben ja nicht
gefehlt. Heute aber, da die Nation das Segensreiche dieser Arbeit eines
einzigen Mannes in sich aufgesogen hat und als Gemeingut fühlt, steht
die Sache so, daß ich mir eher Smetana ohne Prag als Prag ohne Smetana
vorstellen kann. So stark schwebt das göttliche Licht und diese Moral
über der Stadt. Niemand kann daran zweifeln, daß die Moldau, weil er es
so gewollt, fortan in G-dur fließt, daß die Mauern des Wyschehrad die
Röte der Es-dur-Tonart haben und eigentlich als versteinerte
Harfenakkorde in der Luft stehen, zart und fest.



Das Berlioz-Theater


Zu meinen größten, quälendsten Rätseln gehört es, von Jugend an: Warum
wird der Opernkomponist Berlioz nicht häufiger aufgeführt? Ich halte
mich jetzt zurück, ich erwähne nur still: Berlioz ist edel, neu, auch
für uns noch neu, ein nie mehr erreichter Siedepunkt des Genies, erhaben
zugleich und zart, die »kolossale Nachtigall« Heines. Das sind keine
Gründe, ich weiß es ... Aber Berlioz ist hinreißend, wirksam! Nun? Ihr
schweigt, Freunde? Wie ich, wißt ihr das Rätsel nicht zu lösen?

Und nun dämmern wir ein wenig. Wir träumen davon, ein Reinhardt der Oper
(und warum nicht Reinhardt selbst?) nehme die Sache in die Hand. Es
entsteht ein zweites Bayreuth. Ich stelle mir ein wundervolles Theater
vor, überwältigend schon durch die Kühle in seinen weiten Vorhallen,
zwischen den hohen Säulen. Mitten in Gärten, die schwarzgrauen Mauern
wie ungeheure Meereswellen an das Grün stürmend ... Nein, hören wir
lieber, wie Berlioz selbst es sich vorstellt, in seinen Memoiren: »Ich
fühle wohl, was ich für die dramatische Musik schaffen könnte, aber es
ist ebenso zwecklos wie gefährlich, den Versuch zu wagen. Zunächst sind
die meisten unserer Operntheater recht übelberüchtigte Gegenden,
musikalisch gesprochen, und besonders usf. Ferner könnte ich auf diesem
musikalischen Gebiet meinen Gedanken nur dann freien Lauf lassen, wenn
ich mich als den absoluten Herrscher über ein großes Theater betrachten
könnte, wie ich der Herrscher über mein Orchester bin, wenn ich eine
meiner Symphonien dirigiere. Ich müßte über den guten Willen aller
Beteiligten verfügen können, über den Gehorsam aller, von der ersten
Sängerin und dem ersten Tenor, den Choristen, den Orchestermusikern, den
Tänzerinnen und den Statisten an bis zum Dekorateur, zu den Maschinisten
und zum Regisseur. Ein Opernhaus, wie ich es mir vorstelle, ist vor
allem ein großes Musikinstrument; ich weiß darauf zu spielen usf.«

Sein Leben lang hat man ihn an dieses Instrument nicht herangelassen.
Eine Zeitlang hieß es, er werde Direktor der Großen Pariser Oper werden.
Nichts. Man verbannte ihn in die kalten, sinnlosen Gegenden des
Feuilletons, man bezahlte ihm Kritiken, die er mit Ekel schrieb, nicht
Opern. So unterdrückt er einmal, in der Stille eines feierlichen
Morgens, eine neue Symphonie, deren Hauptgedanke in A-Moll schon vor ihm
in alle Nebenwege sich ausbreiten will. Er unterdrückt diesen Gedanken
-- und man liest diese Stelle seiner Biographie mit mehr Grauen als die
neueste Zeitungsnotiz von sechzig Ertrunkenen --, unterdrückt ihn, weil
er fürchtet, er werde sich nicht zurückhalten können, ihn auszuführen,
das Ausgeführte darzustellen, wieder mit Tausenden von Musikern
dröhnend, verstummend in einer Ausstellungsrotunde, und mit
ungeheuerstem Defizit ... So sehr kannte er sich als Sklaven seiner
Sehnsucht, die nach guten Aufführungen seiner Werke lechzte.

Statt menschlicher Worte stehe hier seine göttliche Beschreibung eines
Dirigenten während der Arbeit: »Mit welcher rasenden Freude gibt er sich
der Wonne hin, auf dem Orchester zu spielen! Wie versteht er es, dieses
großartige feurige Instrument zu drängen, zu fassen, zu umklammern! Er
entfaltet eine allseitige Aufmerksamkeit; er sieht überall hin: mit
einem Blick gibt er den Sängern und Musikern ihre Einsätze an, oben,
unten, links, rechts, mit einer Bewegung des rechten Armes wirft er
Akkorde hin, welche wie harmonische Geschosse in der Ferne zu platzen
scheinen; dann läßt er in den Fermaten die ganze durch ihn entstandene
Bewegung anhalten; er fesselt die Aufmerksamkeit aller; er hält jeden
Arm, jeden Atemzug in seinem Bann, er lauscht einen Augenblick der
Stille und gibt den bezähmten Wirbelsturm zu noch tollerem Laufe wieder
frei.«

Die Sänger: sie gehören hier ausdrücklich zum Orchester. Auch seine
Opern wollte Berlioz aufgeführt sehen, an Theatern. Wie dankte er's dem
Liszt, daß er »Beatrice und Benedikt« in Weimar gab, mit guten Erfolgen.

Und jetzt ... Wir hören Berlioz in Konzerten. Faust tritt im Frack auf.
Die Gäste, die vom glänzenden Feste gehen, leise die Melodie noch
nachsingen, indes Romeo schmachtend im zauberhaften Garten steht, bald
zu summen anfängt ... diese Gäste sind nie auf der Bühne gewesen, haben
nie getanzt. Oder Lelio ... Neulich gab man »Ernani« im Theater, diese
schöne italienisch-eingeborene Oper. Trotzdem hatte ich da meine
Gedanken. Der Vorhang ging auf. Auf den Steinen umher lagen, saßen,
erhoben sich die Räuber, schüttelten ihre breiten Hüte, ihre mit
Lederriemen benähten Seidengürtel. Und am Waldrand tritt langsam er
hervor, elegant trotz seiner Schritte, die vor Würde steif sind. Von
Zeit zu Zeit bleibt er stehen, der Räuberhauptmann, sperrt mit beiden
Händen die Mündung des Gewehres zu, das er aufstellt, und darauf legt er
sein Gesicht, stützt das Kinn so fest an, daß es grausam blutgierig
vorstößt, zu allem entschlossen bei diesen eng verbissenen Lippen ...
Damals dachte ich: nun ist alles so schön beisammen, der Wald, die
Horde, der Hauptmann -- warum beginnen sie nicht plötzlich statt
»Ernani« den Räuberchor aus »Lelio« zu singen, zu brüllen, daß alles
begeistert sein muß. Nichts bedürfte es als einer kleinen Verschwörung
dazu. Der Kapellmeister lächelt schon im Einverständnis. Ein Ruck ...
man singt »Ernani«.

Nein, ich sehe schon, so geht es nicht. Ich muß diesen Artikel schreiben
... Also ich wünsche, o Theaterdirektoren, vor allem den »Faust« den man
ja hie und da versucht, immerfort im Repertoire. »Fausts Verdammung«,
diesen pessimistisch gedrehten Goethe, ich will ihn rufen hören,
zugrunde gehn in seiner Hölle will ich. Die liebliche Musik, die ihn am
Anfang zwischen Vogelstimmen in freie Luft bringt, soll zwischen schön
gemalten Bäumen tönen, eine Lichtung im Hintergrund bleibe frei für die
tanzenden Hirten, das vorüberziehende ungarische Heer. Dann die
gotischen Fenster des Studierzimmers, Auerbachs Keller, die wundervollen
Sylphiden, die von fernen Gestirnen und Hügeln flüstern, von Margarethe,
bis ihre Melodie in den berühmten Tanz sich sanft variiert. O all
dieses, das Mädchen auch am Spinnrad, den Studentenchor in die Krieger
gemischt, mit Waffenklirren und dem Hintaumeln weingeröteter Gesichter,
kurz alles sei wirklich und ziehe vorüber. Vielleicht lächelt man dann
in den Zwischenakten und denkt verwundert, warum ehemals nur Gounods
zwar süße, aber glanzlos zähe Musik diese Bilder umklingen durfte ...
Ein Zyklus werde gewagt und zeige uns den abenteuerlichen Goldschmied
Cellini mitten im schnellsten Sechsachteltakt des Karnevals, zeige die
heilige Familie, wie sie in der ägyptischen Wüste beinahe verdurstet.
Dann Troja, und hier habe ein geschmackvoller Maler alle Freiheit, die
Tänze am Grabe des Achilles, das edelmütige Herz der Kassandra, die
betrogene Dido mit den Farben seiner Phantasie zu schmücken. Gern sähe
ich Kostüme und Hintergründe von Kokoschka, während Koröbus mit der
Prophetin im unsterblichen Duette »Dich verlassen noch heut« wetteifert.
Und nicht, bitte, vergesse man den unglücklichen Lelio. Man spiele die
phantastische Symphonie zunächst und dann lasse man ihm, der silberne
Vorhang weicht zurück, sein einsames Zimmer, sein Klavier, seine
Musikschüler. Alles ungekürzt natürlich, den vollständigen Text, dort wo
er schwärmt und dort wo er als tüchtiger Dirigent belehrende Winke
austeilt. Man höre nun die romantischen Stimmen, die aus den Wänden des
Zimmers wie ein Uhrenticken zu entquillen scheinen: die magische Ballade
vom Fischer mit ihrer kunstvoll dreimal gesteigerten Kantilene, die
Geister auf Hamlets Burg, das Lied vom ewigen Liebesglück, das traumhaft
in scheinbarer Unordnung hier und nochmals eine Harfensaite zupft, einen
gebrochenen Akkord wie im Wind hinhaucht. O und die, wenn sie nicht
geschrieben wäre, unmögliche Phantasie über Shakespeares »Sturm«, die
Luftgeister in Trillern und Arpeggien, und sie singen italienische
wohlklingende Worte (genial ist das, ebenso wie das Swedenborgische der
Teufel an anderer Stelle): »_Miranda, conoscerai l'amore._« Nur diese
drei Worte, und doch ist alles da, was wir in jugendlicher
Shakespearefreude auf diese Insel geträumt haben: blauer Himmel, Flügel,
Zaubereien, etwas Gebäck und Korallenriffe. Dann fallen wieder nur ein
paar Worte: »_Caliban, Caliban, horrido monstro, oh Caliban!_« Und er
stampft, er ist außer sich, pfui, schnappt nach Luft, unser dumpfer
Bruder mit den Erdklößen, die in der langen Behaarung seiner Beine
zittern. Niemals, nein, nie ist so kurz und gut die wahre Essenz eines
Stoffes erfaßt worden, das Musikalische eine Musik, der Mittelpunkt der
Oper; nur hier. Und das ist der richtige Weg der Oper, nicht Wagner und
Richard Strauß. Was kümmern mich rhetorische Auseinandersetzungen,
Konflikte, Dialoge, Ermordungsszenen, Gefechte, kurz: dramatische
Handlung. Nein, das ist die Oper, die mir unbegreiflich die Stimmung
eines Dramas in Tönen nachbildet, irgendwo beiseite, durch ungeahnte
Einfälle, durch Dinge, die in dem Drama gar nicht vorkommen, die eben
spezifisch musikalische Mittel sind. Aber Gott im Himmel, wer wird denn
so langweilig sein und setzt einen Text Wort für Wort und Zeile für
Zeile pedantisch in Musik und läßt seine Helden bei symphonischen
Zwischenspielen brüten, in die Luft starren, drei Schritte machen, weil
das Orchester eine Triole spielt! Nein, alles gehe so vor sich, daß man
gar nicht weiß, warum jetzt Bässe und jetzt Flöte klingen, warum ein
Vorhang sich aufbläht und ein unsichtbarer Chor fremde Worte
verschleiert; nur ein zauberhafter Klang, ein Echo, eine Erinnerung und
»Ah, seit meinem zehnten Jahr hab' ich das nicht mehr gefühlt, dieses
Märchen ohne Vernunft, diesen Schwung, der meine Haare erstarren läßt.«

Natürlich, jetzt ist es gesagt, es handelt sich nicht um Ruhm für
Berlioz, nein, um mein Glück, vielleicht um aller Glück. Wir haben ja
jetzt vielerlei, wir sind erfinderisch und feinfühlend. Aber etwas fehlt
vielleicht im modernen Leben. Und deshalb brauchen wir Berlioz-Aufführungen,
Berlioz im Theater, und wenn wir das von den Theaterherrschaften
nicht kriegen: ein Berlioz-Theater. Etwas fehlt: die Ahnung
heroischer Zeiten ... Man fühlt, was ich sagen will. So etwas
Großartiges gibt es jetzt nicht mehr oder gibt es zufällig jetzt nicht,
etwas Entflammendes, über alles Irdische hinaus. Etwas, was nach großen
pathetischen Worten verlangt, nach einer Begeisterung, deren man sich
nicht schämt. Etwas wie feurige Tränen oder wie diese Szene damals, als
Paganini durch das Publikum sich drängte und auf offener Bühne dem
unbekannten Berlioz zu Füßen stürzte, die Schuhe ihm küßte, oder als er
am nächsten Morgen ihm viel, viel Geld schickte und im Brief: »Nur
Berlioz konnte Beethoven ersetzen.« Diese edlen Herzen, erglühend für
die Kunst und voll von erhabenen Gedanken, Herzen, größer als die Welt
... Ich könnte mich mäßigen und sagen: Berlioz hat die wahre lyrische
Oper erfunden, indem er mit nichtigem Griff nur die musikalisch
eindrucksvollen Stellen der Handlung komponiert, bei ihnen sich ausdehnt
und unbekümmert dazwischen wegläßt, was des Dichters und nicht des
Musikers ist ... Und ich könnte mein Postulat in die Worte fassen: man
würdige seine neuartigen Opern nicht zu frostigen Oratorien herab ...
Aber ich halte mich auf der Höhe, seht ihr, und verlange das Theater,
das eigene Theater, das zweite Bayreuth. Ich gehe zu Bett und erbaue es
schon; die schwarzgrauen Mauern werfen ihre Schatten über weite
Baumpflanzungen, die verödet und trotz ihres Laubes winterlich kühl
aussehen. Hier ist Ernsthaftigkeit, Heldenmut, großer Schmerz und
Harmonie. Hier werde ich mich immer erholen, wenn es mir vor lauter
Kleinigkeiten im Leben, vor lauter Schönheiten häßlicher Bilder zu bunt
wird.



  [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
    jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
    steht.

  Geburtstage erst, das ist am siebenundzwanzigsten Mai 1834,
  Geburtstage erst, das ist am siebenundzwanzigsten Mai 1934,

  geblieben, vor Schreck, wie angemalt. Nur ist stehe auf und gehe lustig
  geblieben, vor Schreck, wie angemalt. Nur ich stehe auf und gehe lustig

  wenigstens ein bißen recht zu geben, ein bißchen ironisch auf die
  wenigstens ein bißchen recht zu geben, ein bißchen ironisch auf die

  bieder auf die fehlenden Siebe der Luftheizungen aufmerksam. Ein Palme,
  bieder auf die fehlenden Siebe der Luftheizungen aufmerksam. Eine Palme,

  gespielt. Und für uns, wenn wir heute ein bißen kindisch sein wollen.
  gespielt. Und für uns, wenn wir heute ein bißchen kindisch sein wollen.

  Der zweite Akt brachte einen Urwald, nein, einen Schilfsee, ein, ein
  Der zweite Akt brachte einen Urwald, nein, einen Schilfsee, nein, ein

  Wichtigkeit ist, ja die nicht sehen mich in ewige Verdamnis stürzen
  Wichtigkeit ist, ja die nicht sehen mich in ewige Verdammnis stürzen

  Beine eingeklemmt und hob mit ungeheurer Kraft, mit wüten- Grimasse
  Beine eingeklemmt und hob mit ungeheurer Kraft, mit wütender Grimasse

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