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Title: Aufsätze
Author: Walser, Robert, 1878-1956
Language: German
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  [ Anmerkungen zur Transkription:

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  Aufsätze
  von
  Robert Walser


  Leipzig
  Kurt Wolff Verlag
  1913


  Einband und Vignetten zeichnete
  Karl Walser. Gedruckt bei Oscar
  Brandstetter, Leipzig. 25 Exemplare
  wurden auf Bütten abgezogen
  und handschriftlich numeriert

  Copyright 1913 by Kurt Wolff Verlag, Leipzig



Inhalt


                                               Seite

  Brief von Simon Tanner                           9

  An die Heimat                                   16

  Brief eines Mannes an einen Mann                17

  Eine Theatervorstellung                         20

  In der Provinz                                  29

  Frau und Schauspieler                           39

  Entwurf zu einem Vorspiel                       46

  Zwei kleine Märchen                             49

  Vier Späße                                      52

  Tell in Prosa                                   57

  Berühmter Auftritt                              60

  Percy                                           63

  Gebirgshallen                                   67

  Auf Knien                                       70

  »Guten Abend, Jungfer!«                         73

  Porträtskizze                                   76

  Ein Genie                                       79

  Don Juan                                        82

  Kino                                            87

  Wanda                                           90

  Fanny                                           92

  Lebendes Bild                                   95

  Ovation                                        100

  Guten Tag, Riesin!                             103

  Aschinger                                      109

  Markt                                          114

  Dinerabend                                     118

  Friedrichstraße                                123

  Berlin W                                       128

  Ballonfahrt                                    132

  Tiergarten                                     137

  Die kleine Berlinerin                          142

  Brentano                                       157

  Aus Stendhal                                   165

  Kotzebue                                       168

  Büchners Flucht                                171

  Birch-Pfeiffer                                 173

  Lenz                                           176

  Germer                                         184

  Das Büebli                                     193

  Paganini                                       202

  Der Schriftsteller                             207

  Allerlei                                       215

  Der Wald                                       224

  Zwei sonderbare Geschichten vom Sterben        227

  Der fremde Geselle                             230

  Die Einsiedelei                                233

  Reigen                                         236



  Es kommt mich Lachen
  und Lächeln an.
  Was liegt daran!
  Das sind so Sachen ...



Brief von Simon Tanner


Das alles, was ich jetzt hier schreibe, ist für Sie, liebe Frau. Ich
sehe so viel Zeit vor mir, die ich zu nichts anderem als zu einer
künstlichen Spielerei verwenden kann, eine solche Menge, einen solchen
Haufen von Zeit, daß ich nur von Herzen froh sein kann, diesen
Zeitvertreib gefunden zu haben. Man will und kann mich nicht
beschäftigen, man braucht mich nicht, ich stehe völlig außerhalb jedes
Bedürfnisses, wohlan, so gebrauche ich mich eben selber, wähle mir
selber den Zweck und halte mich für gut genug, irgendein Werk, wäre es
auch das sonderbarste und nutzloseste, zu vollführen. Ich bin breit und
schwer und voll von Empfindungen. So kläglich auch meine jetzige Lage
sein mag in dieser Spiegelgasse, so seltsam frei und mutig komme ich mir
vor, so leicht und erfinderisch in wohltuenden Gedanken ist mein Herz.
Nur ab und zu, um es offen herauszusagen, bin ich traurig und
hoffnungslos, denke an meine Zukunft als wie an etwas Verlorenes und
Düsteres, aber das sind Augenblicke, weiter nichts.

Ich schreibe an Sie, weil Sie eine schöne und liebe Frau sind, weil ich
jemanden im Sinne tragen muß, um lebhaft und aufrichtig schreiben zu
können, weil ich auf Erden immer das Nächste liebgehabt habe, und weil
Sie mir die Nächste sind, Sie, von der ich nur durch eine dünne, dumme
Zimmerwand abgetrennt atme und lebe. Ich finde darin etwas Schönes, es
hat für mich etwas Berauschendes und Geheimnisvolles und
Weithintragendes. Ich bin zu Ihnen gekommen an einem heißen Tag, Sie
wissen es auch, wo die Sonne die Gasse verbrannte, durch Zufall und
Einfall, vielleicht auch durch Wunderlichkeit, weil ich dachte, daß in
dieser Gasse die Zimmer besonders dunkel, sonnenlos, schattig, eng und
auch ... billig sein müßten. Sie standen auf dem Treppenansatz und sahen
mich mit Ihren Augen ziemlich durchdringlich an, und ich muß gestehen,
ich zitterte ein wenig vor diesem Blick, denn ich kam mir so recht vor
wie ein Suchender, Bittender, auch hatte ich nur noch eine Kleinigkeit
von Geld in der Tasche und glaubte, Sie müßten mir das ansehen. Bettler
betragen sich bekanntlich immer unsicher. Sie zeigten mir das Zimmer,
und ich drückte Ihnen, ich weiß nicht mehr aus welchem Gefühl des
Stolztuns, meine letzten Geldmünzen in die Hand; Sie nickten befriedigt
und der Handel war abgeschlossen. Seitdem habe ich kein Wort mehr mit
Ihnen gesprochen, und doch ist beinahe ein Monat seither verflossen, und
ich nehme an, Sie halten mich für einen stolzen Menschen. Es macht mir
Vergnügen, dies annehmen zu dürfen und zu denken, daß Sie es gar nicht
wagen, mich mit einem Wort anzureden, der doch glücklich wäre, wenn Sie
es tun würden. Nun, ich bin auch so glücklich. Ich sehe, ich mache einen
günstigen Eindruck auf Sie, mein Schweigen erzwingt sich Ihre Achtung,
denn gewöhnlich sind Bettler geschwätzig. Sie halten mich für einen
armen Menschen, Sie haben schon Mitleid mit mir und fürchten sicher, daß
ich nicht werde bezahlen können, wenn der Monat zu Ende geht, und doch
wagen Sie nicht die geringste Annäherung, sagen kein Wort, machen immer
ein achtungsvoll freundliches Gesicht, wenn Sie mir begegnen, in dessen
Zügen ich den Wunsch, zu reden, lebhaft unterdrückt sehe. Während Sie
fürchten müssen, von mir hintergangen zu werden, werden Sie immer
freundlicher zu mir, erweisen mir kleine Aufmerksamkeiten, die man
schätzt, weil sie schweigend geschehen, stellen mir einen Teppich und
einen Spiegel ins Zimmer und gestatten mir, Sie nachts, wenn Sie
schlafen, aus der Ruhe zu schrecken, um mich ins Haus einzulassen,
verzeihen mir das und verzeihen sogar, wenn ich nicht einmal dafür um
Entschuldigung bitte. Im ganzen genommen, Sie sehen etwas Besonderes an
mir, Sie meinen vielleicht, daß ich ein guter Mensch bin, der etwas in
die Klemme geraten ist, Sie sind davon überzeugt, daß meine Eltern
hochachtbare Menschen gewesen sind, oder noch sind, Sie schätzen mich
und wünschen, mich nicht zu kränken; nun, aus all diesen Gründen, die
ich mir zunutze machen will, und die ich deutlich klar sehe, will ich,
wenn der Monat zu Ende sein wird, vor Sie hintreten, kurz und rasch,
vielleicht mit etwas empfindlicher Röte im Gesicht, mit etwas
absichtlicher Wärme in der Stimme, und Ihnen offen bekennen, und Sie
dabei anblicken, wie, das weiß ich noch nicht, aber jedenfalls
bezwingend, Ihnen einfach frech das Bekenntnis ablegen, daß ich außer
der Lage sei, bezahlen zu können. Ich weiß, daß ich siegen werde und daß
der Sieg nicht einmal ein unfreundlicher sein wird, Sie liebe Frau! Wie
ich Sie liebe, daß ich dieses alles so genau weiß. Sie kennen mich und
ich kenne Sie, ich finde das so wunderschön, so erwärmend. Es kann mir,
solange ich bei Ihnen bin, unmöglich schlecht gehen. Nein, unmöglich!

Habe ich es nicht zum voraus gesagt? Sie hatten nicht einmal Zeit, mich
zu beruhigen und mir die Versicherung zu geben, daß ich mir doch
deswegen nicht die mindesten Gedanken zu machen brauche, so rasch
schnitt ich ab, indem ich einfach fortlief. Ich habe nur den Kopf und
ein Viertel des Leibes zur Türe ins Zimmer hineingestreckt und ziemlich
fließend und kalt mein Geständnis vorgebracht und bin verschwunden, ohne
nur hören zu wollen, was Sie auch dazu sagen würden. Sie saßen, mit
einer Handarbeit beschäftigt, auf dem Sofa und waren verwundert und
wiederum gar nicht im mindesten verwundert darüber. Sie haben gelächelt,
und Sie scheinen über diesen Punkt sorglos zu sein. Mein Betragen
scheint Ihnen, trotz seiner Kaltblütigkeit, oder vielleicht gerade
deshalb, gefallen zu haben. Es ist allerdings wahr, ich bin pünktlich
erschienen, absichtlich pünktlich, mit meiner Eröffnung: ich bin Ihr
Schuldner; ich scheine also in Ihren Augen ein ordnungsliebender Mann zu
sein, einer, der genau weiß, wann Termine ablaufen, einer, der den
Kalender mit seinen dreißig Tagen genau im Kopfe hat. Es hat also einen
guten Eindruck auf Sie gemacht, daß ich so genau wußte, wieviel und von
welchem Tage ab ich Ihnen schuldig bin, und ich bin Ihnen ganz gern
etwas schuldig und freue mich sehr, eines Tages vor Ihnen zu erscheinen,
ebenso rasch und achtlos, wie es diesmal geschah, um meine Schuld
abzubezahlen. Sie werden sich alsdann sehr wahrscheinlich fürchterlich,
und in ganz überflüssig großer Weise, bedanken, und das wird mich lachen
machen. Ich lache sehr gern über solche Sachen, man kommt so am besten
darüber hinweg. Jetzt verdiene ich etwas Geld, durch Aufsätze, die ich
an eine christliche Zeitung einsende. Außerdem schreibe ich Adressen und
rechne Rechnungen durch, so daß ich hoffen darf, Sie bald zu
befriedigen. Wenn Sie nur wüßten, wie sehr es mir Vergnügen macht, für
Sie zu sparen. Es ist doch ganz gut, daß ich Sie nicht bezahlen konnte,
nun kann ich doch Ihretwegen etwas tun, Ihre Gestalt erscheint mir
freundlich, wenn ich arbeite, ich arbeite dann sozusagen für Sie, wegen
Ihnen, unter Ihrem Eindruck. Nein, ganz sorglos möchte ich nie sein.
Sorgen haben müssen, das verfeinert das Leben und gibt dem Tag einen,
wenn auch engen und kleinen, so doch innigen Anstrich. Es ist doch ganz
gut so.



An die Heimat


Die Sonne scheint durch das kleine Loch in das kleine Zimmer, wo ich
sitze und träume, die Glocken der Heimat tönen. Es ist Sonntag, und im
Sonntag ist es Morgen, und im Morgen weht Wind, und im Wind fliegen alle
meine Sorgen wie scheue Vögel davon. Ich fühle zu sehr die wohlklingende
Nähe der Heimat, als daß ich mit einer Sorge im Wettstreit grübeln
könnte. Ehemals weinte ich. Ich war so weit entfernt von meiner Heimat;
es lagen so viele Berge, Seen, Wälder, Flüsse, Felder und Schluchten
zwischen mir und ihr, der Geliebten, der Bewunderten, der Angebeteten.
Heute morgen umarmt sie mich, und ich vergesse mich in ihrer üppigen
Umarmung. Keine Frau hat so weiche, so gebieterische Arme, keine Frau,
auch die schönste nicht, so gefühlvolle Lippen, keine Frau, auch die
gefühlvollste nicht, küßt mit so unendlicher Inbrunst, wie meine Heimat
mich küßt. Tönt Glocken, spiele Wind, braust Wälder, leuchtet Farben, es
ist doch alles in dem einzigen, süßen Kuß, welcher in diesem Augenblick
meine Sprache gefangen nimmt, in dem süßen, unendlich köstlichen Kuß der
Heimat, der Heimat enthalten.



Brief eines Mannes an einen Mann


Sie schreiben mir, daß Sie sich ängstigen, weil Sie ohne Stelle sind,
und weil Sie fürchten müßten, lange ohne Verdienst zu bleiben. Ich bin
etwas älter als Sie und darf Ihnen aus der Erfahrung raten. Fürchten Sie
sich doch ja nicht. Denken Sie weiter nichts. Wenn Sie Entbehrungen zu
tragen haben, so seien Sie stolz, sie ertragen zu dürfen. Leben Sie so,
daß Sie mit einer Suppe, einem Stück Brot und einem Glas Wein leben
können. Das kann man. Rauchen Sie nicht, denn das nimmt Ihnen die
wenigen körperlichen Stärkungen, die Sie sich leisten können, weg. Sie
haben eine ungeheure Freiheit vor sich. Rund um Sie duftet die Erde,
Ihnen gehört sie, will Ihnen gehören. Genießen Sie sie. Fürchtlinge
genießen nichts. Also weg mit der Furcht. Seien Sie nicht grob, und
fluchen Sie keinem Menschen, auch dem Bösesten nicht. Versuchen Sie
lieber, zu lieben, wo ein anderer, weniger Besonnener und Starker,
hassen würde. Glauben Sie mir dieses Wort: Der Haß zerstört den Geist im
Menschen auf eine vernichtende Weise. Lieben Sie nur gleich alles. Es
schadet nichts, zu verschwenden. Stehen Sie am Morgen früh auf, sitzen
Sie wenig, schlafen Sie korrekt und schnell. Man kann das. Wenn Sie an
der Hitze leiden, so achten Sie nicht übermäßig viel darauf, sondern tun
Sie so, als ob Sie es nicht bemerkten. Wenn Sie an eine frische
Waldquelle kommen, so versäumen Sie nicht, daraus zu trinken. Wenn man
Ihnen mit Anstand schenkt, nur genommen, aber, mit Anstand. Prüfen Sie
sich jede Stunde, rechnen Sie mit sich, unterhalten Sie sich lieber mit
Ihrem eigenen Geist, als mit dem Verstand gelehrter Menschen. Meiden Sie
die Gelehrten, denn es sind, mit wenig Ausnahmen, herzlose Menschen.
Schaffen Sie sich öfters Gelegenheit, zu lachen, zu tändeln. Die Folge
davon: Sie werden ein schöner, ernsthafter Mensch. Seien Sie, wenn es
Ihnen auch oft schwer ankommt, in allem schön. Kleiden Sie sich elegant,
das verschafft Ihnen Achtung und Liebe. Es braucht kein Geld, nur die
Anstrengung der Sinne dazu. Was die Mädchen betrifft, so halten Sie sich
die meisten vom Halse. Üben Sie sich im Verschmähen. Gewöhnen Sie sich
daran, immer eine Leidenschaft zu haben, das kennzeichnet den schönen
Mann. Der Leidenschaftlichste ist der Beste: lernen Sie es. Man lernt
alles. Ich werde Ihnen ein anderes Mal schreiben.

Simon war ein zwanzigjähriger Mann. Er war arm, aber er tat nichts,
seine Lage zu verbessern.



Eine Theatervorstellung


Der Winternachthimmel war ganz mit Sternen gespickt, ich lief den
Schneeberg hinunter, in die Stadt, an die Kasse des Madretscher
Stadttheaters, ließ mir eine Fahrkarte verabfolgen und fuhr wie ein
geistig nicht mehr Normaler die steinerne, uralte Wendeltreppe hinauf,
die ins Stehparterre führte. Das ganze Theater war dickvoll von
Menschen, eine schlechte Luft schlug mir unter die Nasenflügel, ich
erbebte und versteckte mich hinter einen Technikumsschüler. Ich war ganz
atemlos und konnte nun ein wenig verschnaufen, bis der Vorhang in die
Höhe ging, das tat er nach etwa zehn Minuten, er erhob sich und ließ in
ein Loch voll Feuer blicken. Die Gestalten bewegten sich alsobald,
riesige, plastische, übernatürlich scharf gezeichnete Gestalten, und
spielten Maria Stuart von Schiller. Königin Maria saß im Kerker, und
ihre gute Kammerfrau stand daneben, und dann zeigte sich ein finster
aussehender, mit einer Rüstung bedeckter Mann, die Königin brach in
Tränen des Zornes und des Schmerzes aus. Wie wundervoll sich das ansah.
Meine Augen brannten. Ich hatte vorher stundenlang in den hellen,
weißschimmernden Schnee gesehen und dann in das Dunkel der Logen, und
jetzt mußten sie in eitel Feuer, Glut, Pracht und Glanz schauen. Wie
schön und groß das war. Wie das von den rötlichen Lippen taktmäßig
herabtönte, in Uhrmacher-, Techniker- und sonstige Ohren hinein, schöne,
edel hin und her und auf und nieder tanzende, schwankende, tönende
Verse. Ah, das sind die Verse Schillers, so dachte wohl mancher.

Der junge, schlanke Mortimer, mit einem Busch heller, goldener Locken
auf dem Kopf, sprang aus der Szene in die offene Szene hinein und sprach
der Königin, die lächelnd zuhörte, verführerische Worte vor. Er hatte
ein merkwürdig blaß gefärbtes Gesicht, als sei ihm der ahnungsvolle
Schrecken darin gelegen, und schwarzumränderte Augen, als habe er viele
vorangegangene Nächte hindurch, von Träumen hin- und hergeschleudert,
kein Auge zudrücken können. Er spielte meiner Meinung nach herrlich;
nicht so Maria, die ihre Rolle nicht auswendig wußte, die sich eher wie
eine Kneipenkellnerin niederster Stufe benahm, als wie eine so vornehme
Frau, vornehm im zugespitzt kältesten Sinne: Königin und dazu noch
Dulderin, wie man sich Maria Stuart denken mußte. Aber sie rührte
unendlich. Das Nichtskönnen rührte in erster Linie und dann jener Mangel
an Hoheit. Der Mangel dessen, was sein sollte, erschütterte und blendete
und trieb mir das Wasser der Empfindung schamvoll zu den erregten Augen
heraus. O du Zauber der theatralischen Bühne. Ich dachte immer: »Wie
schlecht sie doch spielt, diese Maria,« und ward im selben Moment von
dem unmöglichen Spiel an Leib und Seele hingerissen. Wenn sie etwas
Trauervolles sagte, lächelte sie verschmitzt und ganz unpassend dazu,
ich korrigierte in Gedanken an ihren Gesichtszügen, Tönen und Bewegungen
herum, und indem ich das tat, hatte ich den lebendigeren und
ergreifenderen Eindruck von ihrem fehlerhaften Spiel, als ich ihn vor
dem tadellosen hätte haben können. Sie war mir so nah auf diese Weise,
es war, als würde da oben eine Schwester, Cousine oder Freundin von mir
gespielt haben, um deren Äußerungen ich Ursache gehabt hätte, ängstlich
zu zittern. Bisweilen stand sie ganz vergnügt und ratlos, also ratlos
und doch nicht fassungslos da, sah in den dunkeln Zuschauerraum hinein,
zupfte an ihrem Schleier und lächelte ganz keck, ließ das Spiel liegen,
während dieses von ihr eine bestimmte Haltung und Empfindung verlangte.
Und warum war sie trotzdem wundervoll?

In den Zwischenpausen bog ich meinen Kopf um und blickte in die Logen
hinein, in deren einer eine vornehme Dame saß, in ausgeschnittenem
Kleid, daß die Brust und die Arme aus der dunkeln Umgebung nur so
herausschimmerten. In der behandschuhten Hand hielt sie ein Lorgnon mit
langem Stiel, das sie von Zeit zu Zeit an die Augen führte. Sie schien
eine alte, doch noch immer berückende Zauberin zu sein, so allein saß
sie dort hinten, abgesondert von den übrigen Menschen. Sie wohnte, weiß
der Teufel, vielleicht in einem jener graziös erbauten Häuser aus der
Zeit Ludwigs von Frankreich, die man in Madretsch häufig hinter den
hohen Bäumen alter, verträumter Gärten weiß hervorglänzen sieht. In
einer andern Loge hockte der Präsident des Madretscher Gemeinderats und
Mitglied des Verwaltungsrats des Stadttheaters, so ein alter Bock, wie
man sich zuflüsterte, der es als ein Vergnügen empfand, den
Schauspielerinnen unter die Röcke zu greifen. Das ließ sich ja
schließlich solch eine herumwandernde Maria Stuart noch ganz gerne
gefallen. So sah sie nämlich auch aus auf der Bühne, wie eine Dirne, und
nicht einmal wie eine gut-, sondern wie eine minderwertig geartete. Wie
kam es, daß sie trotzdem so schön war?

Der Vorhang ging wieder auf. Ein breiter, weißlicher Strom Parfüm floß
aus dem offenen Loch in die Zuschauerdunkelkammer und beklemmte und
befreite die Nasen. Man war froh, wieder diesen holden Duft einzuziehen;
ich hinter meinem Technikumsschüler war es wahrscheinlich ganz
besonders. Der Bühnenrachen fing wieder an zu reden, diesmal war die
Szene ein Zimmer im königlichen Palast von England. Elisabeth saß auf
einem mit blauen Tüchern behangenen Thron, einen Baldachin über sich,
vor ihr die Großen des Hofes, Lester und jener andere mit der sanften
Denkermiene. Im Hintergrund standen dicke Weibsbilder als Pagen, nicht
etwa Knaben, nein, vierzigjährige Weiber in Trikots. Das war schamlos
schön. Diese Pagen standen mit der barocken Schwere ihrer gedunsenen
Leiber in wahnsinnig kleinen, zierlichen Schuhen auf dem Boden wie
unbegreifliche, phantastische Traumfiguren, die ins Publikum
hineinlächelten. Es war, als hätten sie sich ein wenig geniert, so
auffällig zu sein, aber dann war's wieder nichts mit diesem Genieren.
Die Sache verhielt sich so: wer sie ansah, der genierte sich. Ich zum
Beispiel genierte mich bis zur Glückseligkeit. Elisabeth stieg dann vom
Thron herab, jeder Zoll an ihr lieb und einfach, fast tantlich,
mütterlich, sie gab Zeichen von Ungnade, und die Szene verschwand.

Ein wenig später gab es eine Parkszene mit grünem, verschwommenem
Waldhintergrund, Jagdhörner tönten in der Ferne in wundervoll fern
herklingendem Spiel. Ich glaubte mich augenblicklich in das Dickicht
eines Waldes versetzt; die Hände liefen, Pferde stürzten aus dem
Laubwerk hervor, schöne, kostbar gekleidete Reiterinnen tragend, und
überall sprangen die Knechte und Falkoniere und Pagen, die Jäger in den
knappen, grünen Trachten herum. Alles das spiegelte sich ganz natürlich
in den paar Fetzen von Dekorationen tönend und leuchtend wieder. Maria,
die Königindirne, trat auf und sang, man kennt ja die Worte, nein, sie
sang nicht, aber es hörte sich ganz wie ein wehklagendes, sehnsüchtiges
Singen an. Die Frau schien eine Riesin geworden zu sein, so sehr
vergrößerte sie ihr Seelenausbruch. Sie sprang wie irrsinnig vor Freude
und Herzensqual umher, und jammerte, als sie zu jubeln meinte. Außerdem
war sie ein bißchen der Rolle wegen, die sie nicht studiert hatte, in
Verlegenheit, aber ich glaubte steif und fest, das sei der Wahnsinn des
Nicht-mehr-an-sich-halten-Könnens, die Qual der Freiheit, das Versagen
der ruhigeren Frauenvernunft. Als sie weinte, da schrie sie, denn weinen
wäre ihr zu wenig gewesen. Für nichts, was sie empfand, hatte sie einen
entsprechenden Ausdruck mehr. Das Empfinden peitschte seinen Ausdruck.
Im Übermaß alles dessen, was sie war und sah und hörte und fühlte, warf
sie sich köpflings an die Erde, da trat Elisabeth auf.

Die Peitsche in der Hand, hinter ihr her die Trabanten. Die Frau ganz
anschließend, anschmiegend in dunkelgrünen Samt gekleidet, der Rock
hinaufgerafft, daß das männerhaft bestiefelte und bespornte Bein grell
sichtbar ist. Zorn, Hohn und Furcht im Gesicht. Auf dem Jagdhut eine
schwer herunterfallende Feder, deren Spitze bei jeder Bewegung des
Hauptes die Schulter berührt. Und dann sprach sie, ah, sie spielte
meisterhaft. Überdies war sie mir eine liebe Erscheinung. Nicht lange
ging es, so prallten sie aneinander und hauchten einander das Feuer des
Wehs in die Gesichter; beider Frauen Leiber zitterten wie vom Sturm
gepackte Baumstämme. Maria, die schlechte Schauspielerin, schlug der
guten eins ins Gesicht. Darob schmerzhaftes Frohlocken der einen und
jähe Flucht der andern. Die liebe Elisabeth muß fliehen, und die dumme
Maria muß jetzt in Verlegenheit sein, wie sie es angattern soll, in die
Ohnmacht befriedigten Rachegefühls zu sinken. Sie machte es schlecht,
aber in der Art und Weise, wie sie es verpfuschte, lag wiederum das
Grandiose. Das ganze Frauengeschlecht, das vergangene und gegenwärtige
und zukünftige, schien hinten über, den Kopf seitwärts gesenkt, in
herrlich-süßer Beugung und Empfindung umfallen zu wollen. So schön
machte sie's. Dem Verstand war's hurenhaft, dem Gefühl titanisch. Ich
wußte nichts mehr, ich hatte genug, ich packte das Bild mit meinen
Augen, wie mit zwei wehrhaften Fäusten, an und trug es über die
steinerne Wendeltreppe hinunter, zum Theater hinaus, an die kalte,
winterliche Madretscher Luft hinaus, unter den eisig-schauerlichen
Sternenhimmel, in eine Kneipe von zweifelhafter Existenzberechtigung, um
es zu ersäufen.



In der Provinz


Ja, in der Provinz, da kann es der Schauspieler etwa noch schön haben.
Dort, in den kleinen Landstädtchen, die noch von alten Ringmauern
trotzig umschlossen sind, gibt es keine Premieren und keine
fünfhundertste Aufführung ein und desselben Salates. Die Stücke wechseln
mit den Tagen oder Wochen wie die blendenden Toiletten einer geborenen
Fürstin, die zornig würde, wenn einer ihr zumuten wollte, jahrelang
immer dasselbe Kleid zu tragen. Auch keine solche schnauzige Kritik gibt
es in der Provinz, wie dergleichen der Schauspieler in den Weltstädten
zu ertragen hat, wo es nichts mehr Ungewöhnliches ist, mit anzusehen,
wie der Künstler von oben bis unten von grimmigen Witzen wie von
wütenden Hunden zerrissen wird. Nein, in der guten, ehrlichen Provinz
wohnt erstens der Mann mit der Maske vor dem Gesicht im Hôtel de Paris,
allwo es toll und urgemütlich zugeht, und zweitens lädt man ihn etwa
noch zu Abendgeselligkeiten ein, in feine, alte Häuser, wo es ein ebenso
wohlschmeckendes Essen wie eine delikate Unterhaltung mit den ersten
Personen der Kleinstadt gibt. Zum Beispiel meine Tante in Madretsch, die
gab es nie und nimmermehr zu, daß von den Komödianten in unziemlichem,
wegwerfendem Ton geredet wurde, im Gegenteil, nichts war ihr angenehmer
und erschien ihr passender, als zum Abendessen, dessen Zubereitung sie
selber beaufsichtigte, jede Woche einmal mindestens, so lange sie in der
Stadt spielten, diese umherziehenden Leute recht lustig und fidel bei
sich zu sehen. Meine Tante, die jetzt gestorben ist, war eine geradezu
schöne Frau, auch noch zu einer Zeit, wo andere Frauen beginnen, ältlich
und runzelig zu werden. Mit ihren fünfzig Jahren schien sie noch eine
der allerjüngsten zu sein, und während in ihrer Umgebung die Frauen
plumpe, mißförmige Figuren zur Schau trugen, zeichnete sie sich durch
eine feste, üppig-schlanke Körperform zu ihrem eigenen, sehr großen
Vorteil aus, daß sie jedermann, der sie ansah, für schön erklären mußte.
Nie vergesse ich ihr helles, zartes Gelächter und nie den Mund, aus
dessen reizender Öffnung das Lachen heraustönte. Sie wohnte in einem
seltsamen, alten Haus; wenn man die schwere Tür auftat und eintrat, in
den stets dunkeln Korridor, lispelte einem das Plätschern eines
unaufhörlich fallenden Brunnens entgegen, der kunstreich in die Mauer
eingefügt worden war. Die Treppen und deren Geländer strotzten und
dufteten förmlich von Sauberkeit, und erst die Zimmer. Ich habe nie
nachher wieder solche Zimmer gesehen, solche heitere, polierte,
zimmerliche Zimmer. Ich glaube, wenn ich mich nicht irre, man sagt
Gemach, wenn man von einem Zimmer redet, das traulich und zugleich
äußerst vornehm und etwas altertümlich ausgestattet ist. In einem
solchen Hause, bitte ich zu beachten, dürfen also in der Provinz
Bühnenkünstler aus- und eingehen, dürfen solche Treppen mit ihren
wahrscheinlich manchmal ungeputzten Stiefeln berühren, solche Klinken,
messingene und rasend peinlich glänzende, mit ihren Händen anfassen, um
in solche Gemächer hineinzutreten, und dann einer solchen Frau, wie
meiner Tante, ungezwungen Guten Abend zu sagen. Was tut der Schauspieler
in der Großstadt? Er schuftet, läuft wie wahnsinnig in die Proben und
reibt sich auf, um es ja der säuerlichen Kritik recht zu machen. So
etwas gibt es in der Umgegend von Madretsch nicht, meine Damen und
Herren. Von Kranksein und Aufreiben wird da kaum die Rede sein dürfen,
vielmehr bummelt so ein Kerl, den Zylinder, den er weiß der Himmel woher
hat, auf dem Kopf, die Hände in womöglich hellgelben Handschuhen, den
Stock in der Rechten, in einem tragischen Mantel, dessen Schöße im Winde
flattern, so gegen elf Uhr vormittags oder halb zwölf, um nicht gelogen
zu haben, seelenheiter und von allen Passanten auf der Straße für einen
illegitimen Fürstensohn gehalten, angeblinzelt von Mädchenaugen, die
schöne Promenade entlang, um vielleicht zum See hinauszugehen und dort
eine halbe Stunde lang, bis es Zeit zum Essen ist, in die Ferne zu
schauen. Das, meine Herren, verschafft Appetit, ist gesund und wohl etwa
noch zu ertragen. Wo gibt es in der Großstadt einen See, einen
Felssturz, dessen Gipfel von einem im griechischen Stil erbauten,
niedlichen Pavillon gekrönt wird, wo man in der hellen Vormittagssonne
mit einer Frau, die man eben hat kennen lernen und die, sagen wir mal,
dreißig Jahre alt ist, ein seelenvolles Gespräch führen kann? Wo gibt es
ein Schulhaus in Weltstädten, in das der Herr jugendlicher Liebhaber,
Herr von Beck, so gegen drei Uhr, weil er gerade Lust zu einem solchen
Unternehmen hat, eintreten und den kleinen neun- bis zwölfjährigen
Schulmädchen einen Schulbesuch abstatten kann? Es ist gerade
Religionsstunde, die Mädchen langweilen sich ein bißchen, da tritt Beck
ein und frägt an, ob ihm wohl gestattet wäre, dem ihn im höchsten Grade
interessierenden Unterricht beizuwohnen. Der Pfarrer, ein durchaus
weltmännisch gebildeter, sympathischer Herr, errötet über die Keckheit
und weiß nicht recht, was er sagen soll, im ersten Augenblick nämlich,
wo ihm die Heldenmanieren eines von Beck den Verstand rauben. Aber schon
hat er sich gefaßt und schiebt den Darsteller des Ferdinand in Kabale
und Liebe sanft zur Tür hinaus, wohin er ja schließlich, wenn man die
Umstände bedenkt, auch gehört. Aber, Hand aufs Herz, ist das etwa nicht
reizend, und gibt's in Millionenstädten etwas Derartiges? Wie hübsch
dieser Herr Pfarrer gehandelt hat, Herrn Beck zu verbieten, in der edlen
Religionsstunde mit den Schülerinnen Allotria zu treiben. Aber wie
entzückend wiederum dieser Beck ist, der den Pfarrer zu dem
liebenswürdigen Benehmen veranlaßt hat; denn wenn es keine Becks gäbe,
die die Unverschämtheit besitzen, den Schulaufsichtsrat zu spielen, am
hellen Tag, wo die Sonne überall scheint und es in ganz Madretsch nach
Käsekuchen duftet, so gäbe es auch kein pfarrerlich-schönes Betragen,
wie denn Spitzbuben nicht fehlen dürfen, wo man noch hoffen will,
Tugenden anzutreffen. Solche Dinge ergeben sich in einer Kleinstadt von
selber; das reizende Erlebnis nimmt dort noch gern plastische Gestalt
an, und wer eignet sich in der Provinz besser zu Erlebnissen aller Art
als die Lumpenkomödianten, denen der Ruf des Gefährlichen, Schönen,
Geheimnisvollen und Abenteuerlichen immer vorangeht? Da sieht sie der
Bewohner von Bözingen oder Mett oder Madretsch in Gruppen vor dem
Rathause stehen, gestikulierend und in fremdartigen, eleganten Akzenten
sprechend, die Rollen, die sie abends spielen, in den blassen
durchgeistigten Händen, so wildfremd, so sehr scheinbar aus
Königsschlössern und Mätressenboudoirs herkommend, mit so schönen, hohen
Stirnen und mit wenn immer denkbar goldenen Haarlocken! Kann der
hauptstädtische oder gar reichshauptstädtische oder gar noch
literarische Schauspieler diese Genugtuung auch genießen, eine
wildfremde Figur auf Straßen, Plätzen und Promenaden zu sein? Kann er
überhaupt auch nur noch tiefer und inniger interessieren, als was auf
fünf Spalten im Lokalanzeiger gedruckt paßt? Und wenn er gar berühmt ist
und viel genannt wird, was ist das? Ich muß geradezu lächeln, daran zu
denken, wie oberflächlich das Interesse im Laufe der Jahre wird, das man
Berühmtheiten zollt. Nein und noch einmal nein. Wer gern mag, daß ihm
eine rote, warme, saftvolle, gequetschte, spritzende, sprühende und
duftende Empfindung dargebracht wird, der werde so rasch wie möglich
Schmierenschauspieler. Das bißchen finanzielle und ökonomische Elend,
das mit diesem Berufszweig ja allerdings immer verbunden sein wird, ist
zu ertragen. Ich mache gern noch auf ein paar Einzelheiten aufmerksam:
Schauspieler Beck wird eines Nachts von einem unkultivierten Burschen
einfach mir nichts dir nichts Hundsfott genannt. Das ist allerdings
starker Schnupftabak. Beck stürzt vor, und beide, der lümmelhafte Sohn
des Uhrenfabrikanten und das zierliche Söhnchen der dramatischen Kunst
packen einander am beiderseitigen Stehkragen, an den Haaren, beim
Genick, am Schopf, bei den Nasen, an den Lippen und Ohren, unterm Knie,
rund um die Leiber, um den Kampf zweier erzürnter Gottheiten
aufzuführen. Auch nicht denkbar in Reichsmetropolen, wo die Menschen
anfangen, so windig gesittet zu werden und ihren Zorn immer in die
Taschen stecken, wenn zu befürchten ist, daß er losbrennen will. Im
Hôtel de Paris sind immerhin noch ganz andere Sachen möglich. Dort küßt
man beispielsweise den Kellnerinnen die Hände, so fein sind sie, und
plaudert englisch mit der Leiterin des Geschäfts am Bufett, so lange,
bis einer kommt und einem von hinten her quer eins hinüberhaut, bis man
genug hat. Und dann die Natur in Kleinstädten. Das ist nun geradezu die
Wunderquelle, in der sich Karl Moor bis zum Strotzen gesund baden kann,
denn überall lockt's ihn, in Schluchten zu gehen, in denen Wasserfälle
schäumend und zischend und kühlend niederbrausen; über ebene, weite
Felder bis an den Rand mächtig-hoher und grüner Eichenwälder; über
Waldhügel hinüber, allwo er Blumen suchen und sie in seine
Botanisierbüchse stecken kann, um sie zu Hause in ein Glas Wasser zu
tun; auf breite, tausend Meter hohe Berge, entweder zu Fuß oder zu Roß,
wenn er eins auftreiben kann, oder per Drahtseilbahn, zu der entzückend
gelegenen Weide mit ihrer Blumen- und Gräserpracht, bis er am Abend,
erschöpft und erfüllt von schönen, müden Empfindungen, unter einer
hundertjährigen Tanne in die Matte sinkt, um den herrlichen
Sonnenuntergang zu betrachten. In Krächen und Schluchten liegt noch der
winterliche Schnee, obgleich es schon toller, üppiger Frühling ist. Oder
es lockt ihn, in eine leichte, schwankende Gondel zu steigen, die zu
haben ist bei Frau Hügli, Schiffsvermieterin, dicht am Ufer des Sees,
und aufs schöne, spiegelglatte Wasser hinauszufahren, zwischen
knirschenden Schilfgewächsen hindurch, bis er in der Mitte des Sees
angelangt ist und, die Ruder fahren lassend, sieht, wie köstlich die
Rebberge und Landhäuser und kleinen Jägerschlösser sich im tiefen Wasser
naturgetreu widerspiegeln. Und so noch vieles, und zu allen
Jahreszeiten, im Winter, Herbst, Sommer und Frühling. Die Natur ist
bekanntlich in allen ihren Verkleidungen erfrischend und bezaubernd und
immer des ganz und gar innigen Ansehens und Genusses wert. Geht in die
Provinz, in Kleinstädte; dort habt ihr noch Hoffnung, daß man euch an
euerm Benefizabend einen Lorbeerkranz vor die Füße und Nase wirft, den
ihr dankend aufheben und freudig nach Hause tragen könnt. Den
schauspielenden Damen nicht minder als den Herren sind diese Städte zu
empfehlen, auch sie werden sehr bald finden, daß ich nicht unrecht
gehabt habe, ihnen anzuraten, es einmal wieder mit der Provinz zu
versuchen. Zu guter Letzt: Es wird gut gekocht an solchen Orten, und es
muß ratsam erscheinen, bald einmal hinzugehen und diese vortreffliche
Kost zu probieren. Schmackhaftes Essen ist nicht zu verachten.



Frau und Schauspieler


Mein Herr, ich bin gestern abend im Stadttheater gewesen und habe Sie
als Prinzen Max in der »Hofgunst« gesehen, und ich schreibe Ihnen jetzt.
Ich bin, damit Sie es gleich im voraus wissen, eine Frau von dreißig
Jahren, etwas darüber, interessiert Sie das? Sie sind jung und hübsch,
machen eine gute Figur und sind wohl schon viel von Frauen angeschwärmt
worden. Apropos, rechnen Sie mich nicht zu den Frauen, die für Sie
schwärmen, und doch, ich muß es Ihnen nur gleich gestehen, Sie gefallen
mir, und ich sehe mich genötigt, Ihnen zu sagen, warum. Dieser Brief
wird vielleicht etwas zu lang werden, glauben Sie? Als ich Sie gestern
spielen sah, ist es mir gleich vom ersten Moment an aufgefallen, wie
unschuldig Sie sind; jedenfalls haben Sie viel Kindliches an sich, und
Sie haben sich den ganzen Abend auf der Bühne so benommen, daß ich mir
sagte, ich würde Ihnen vielleicht einiges schreiben dürfen. Ich tu es ja
jetzt; werde ich diesen Brief abschicken? Verzeihen Sie, oder so: Sie
sollen stolz sein, daß man wegen Ihnen im Zweifel sein muß. Vielleicht
schicke ich diese Worte nicht ab, dann wissen Sie nichts und werden auch
keinen Grund haben, in ein unschönes Gelächter auszubrechen. Machen Sie
so etwas? Sehen Sie, ich vermute ein schönes, frisches, reines Herz in
Ihnen, aber Sie sind vielleicht noch zu jung, um wissen zu können, daß
das wichtig ist. Wo verkehren Sie, sagen Sie mir das, wenn Sie mir
antworten, oder sagen Sie es mir mündlich, kommen Sie zu mir, morgen
nachmittag um fünf, ich erwarte Sie. Die meisten Menschen setzen ihren
ganzen Ehrgeiz in die unedle Unmöglichkeit, einer Torheit fähig zu sein,
sie lieben den Anstand des Benehmens nicht, obwohl das so scheint. Die
Sitte liebt eines nur dann, wenn es sich um ihretwillen einiger Gefahr
unterziehen mag. Denn Gefahren erziehen, und ohne die beständige Lust
mit sich zu tragen, auf lebendige Art über wichtige Dinge belehrt zu
werden, ist man sittenlos. Ängstlichkeit scheint oft die wahre Sitte zu
sein -- welch eine träge Gedankenlosigkeit! Hören Sie mir noch zu, und
tun Sie's auch aufrichtig? Oder sind Sie einer der leider vielen
Menschen, die glauben, alles, was ein wenig beschämend und anstrengend
ist, langweilig finden zu müssen? Spucken Sie auf dieses Schreiben und
zerreißen Sie es, wenn es Sie langweilt, aber nicht wahr, es reizt Sie,
es kann Sie anregen, es ist nicht langweilig. Wie hübsch Sie sind, mein
Herr, mein Gott, und so jung, sicher kaum zwanzig. Ein bischen steif
habe ich Sie gestern abend gefunden und Ihre schöne Stimme ein bischen
geschraubt. Entschuldigen Sie es, daß ich so rede? Ich bin zehn Jahre
älter als Sie, und es tut mir so wohl, mit einem Menschen reden zu
dürfen, der jung genug ist, daß ich mich als zehn Jahre älter ihm
gegenüber fühlen darf. Sie haben in Ihrem Benehmen etwas, was Sie noch
jünger erscheinen läßt, als man Sie, wenn man mit dem Verstand
nachrechnet, schätzen muß; das ist das bischen Geschraubtheit. Gewöhnen
Sie es sich, ich bitte Sie, noch nicht so rasch ab, es gefällt mir, es
wäre schade um dieses Stück, ich möchte sagen, natürlicher
Unnatürlichkeit. Kinder sind so. Beleidige ich Sie? Ich bin so offen,
nicht wahr, aber Sie wissen gar nicht, welche Freude für mich in der
Einbildung liegt, die mir zuflüstert: er gestattet es, er liebt das. Wie
Ihnen die Offiziersuniform gut gestanden hat, die engen Stiefel, der
Rock, der Kragen, das Beinkleid, ich bin entzückt gewesen, und was für
prinzliche Manieren Sie gehabt haben, was für energische Bewegungen! Und
wie Sie gesprochen haben: so ganz überflüssig heldenhaft, daß ich mich
beinahe ein bischen vor mir, vor Ihnen, vor alle dem habe genieren
müssen. So laut und wichtig haben Sie im Salon Ihres oder Ihres Herrn
Vaters Schlosse gesprochen. Wie Ihre großen Augen manchmal hin und her
rollten, als wenn Sie jemanden aus dem Zuschauerraum hätten aufessen
wollen, und so nah waren Sie. Einmal zuckte es mir im Arm, ich wollte
unwillkürlich die Hand ausstrecken, um Sie, wo Sie standen, anzurühren.
Ich sehe Sie so groß und laut vor mir. Werden Sie bei mir, wenn Sie
morgen zu mir kommen, auch so gewichtig auftreten? In meinem Zimmer,
müssen Sie wissen, ist alles so still und so einfach, ich habe noch nie
einen Offizier empfangen, und es hat noch nie eine Szene bei mir
gegeben. Wie werden Sie sich betragen? Aber das ganze, hochaufgepflanzte,
fahnenstangenhafte Wesen an Ihnen gefällt mir, es ist neu,
frisch, gut, edel und rein für mich, ich möchte es kennen lernen,
weil, wie ich es empfinde, etwas Unschuldiges und Ungebrochenes in ihm
steckt. Zeigen Sie es mir, wie es ist, ich achte es im voraus und ich
glaube, ich liebe es. Sie kennen keinen Hochmut mit diesem Ihrem ganzen
scheinbar so hochmütigen Wesen. Sie sind keines Truges fähig, Sie sind
zu jung dazu und ich zu erfahren, um mich in Ihnen täuschen zu können,
und jetzt zweifle ich nicht mehr, daß ich diesen Brief an Sie abschicken
werde, aber lassen Sie mich Ihnen noch einiges sagen. Sie kommen jetzt
also zu mir, es ist abgemacht. Putzen Sie dann zuerst Ihre Stiefel vor
der Treppe ab, bevor Sie ins Haus treten, ich werde am Fenster stehen
und Ihr Benehmen beobachten. Wie ich mich darauf freue, so dumm zu sein
und das zu tun. Sie sehen, wie ich mich freue. Vielleicht sind Sie ein
Unflätiger und werden mich dafür strafen, daß ich es unternommen habe,
Zutrauen zu mir in Ihnen zu erwecken. Wenn Sie so sind, so kommen Sie,
machen Sie sich einen Spaß, strafen Sie mich, ich habe es ja verdient.
Aber Sie sind jung, das ist ja das Gegenteil von unflätig, nicht wahr?
Wie deutlich ich Ihre Augen vor mir sehe, und ich will Ihnen etwas
sagen: für gar so klug halte ich Sie nicht, aber für recht, für gerade,
das kann mehr sein als klug. Bin ich da auf einem Holzweg? Gehören Sie
zu den Raffinierten? Wenn das ist, muß ich in Zukunft allein und
verlassen in der Stube sitzen, denn dann verstehe ich die Menschen nicht
mehr. Ich werde am Fenster stehen und Ihnen dann die Tür auftun, Sie
brauchen dann vielleicht gar nicht erst noch lange zu klingeln, und dann
werden Sie mich sehen, so bald schon. Eigentlich wünschte ich -- nein,
ich will nicht so viel sagen. Lesen Sie noch? Ich bin ziemlich schön,
ich muß Sie auch darauf im voraus aufmerksam machen, damit Sie sich ein
wenig Mühe geben und Ihr Bestes und Gebürstetstes anziehen. Was wollen
Sie trinken? Sie werden es mir ungeniert sagen, ich habe Wein im Keller,
das Mädchen wird heraufholen, aber vielleicht ist es am besten, wir
trinken zuerst eine Tasse Tee, nicht? Wir werden allein sein, mein Mann
arbeitet zu dieser Zeit im Geschäft, aber fassen Sie das nicht als eine
Aufforderung, unehrerbietig zu sein, auf, das muß Sie im Gegenteil
schüchtern machen. So will ich Sie sehen, schüchtern und schön, sonst
laufe ich dem Briefboten nach, der Ihnen diese Zeilen überbringen will,
schreie ihn an, nenne ihn einen Räuber und Mörder, begehe
Ungeheuerlichkeiten und komme ins Gefängnis. Wie mich danach verlangt,
Sie anzusehen, Sie in der Nähe zu haben; weil ich so mutig auf meiner
guten Meinung von Ihnen beharre, spreche ich so, und wenn Sie nach all
dem Gesagten kommen, so haben Sie Mut, und dann werden die anderthalb
Stunden, die wir miteinander verbringen, schön sein, und dann ist es
überflüssig gewesen, zu zittern, wie ich jetzt tue, denn es ist dann
keine solche Tollkühnheit gewesen, Sie zu mir eingeladen zu haben. Sie
sind so schlank, ich werde Sie schon erkennen, wenn Sie noch unten auf
der Straße vor der Gartentüre stehen werden. Was machen Sie jetzt? Was
meinen Sie, soll ich jetzt aufhören zu schreiben? Sie werden lachen,
wenn ich vor Sie hintrete und Ihnen vormache, wie Sie als Prinz Max
dagestanden haben. Ich beschwöre Sie, verneigen Sie sich tief vor mir,
wenn Sie mich erblicken, und seien Sie steif und benehmen Sie sich
herkömmlich, gestatten Sie sich keine freie Bewegung, ich warne Sie, und
ich werde Ihnen dafür danken, daß Sie mir gehorcht haben, wie man Ihnen
vielleicht nie in Ihrem Leben wieder danken wird.



Entwurf zu einem Vorspiel


Eine Bühne

Der Vorhang geht auf, man sieht in einen offenen Mund hinein, in eine
rötlich beleuchtete Kehle hinunter, daraus hervor eine große, breite
Zunge leckt. Die Zähne, die den Bühnenmund umrahmen, sind spitz und
blendend weiß, das Ganze sieht dem Rachen eines Ungetüms ähnlich, die
Lippen sind wie ungeheure menschliche Lippen, die Zunge bewegt sich nach
vorn, über die Rampe hinaus und berührt mit ihrer feurigen Spitze
beinahe die Köpfe der Zuschauer, dann geht sie wieder zurück, und ein
anderes Mal tritt sie wieder vor, ein schlafendes schönangekleidetes
Mädchen auf ihrer breiten, weichen Fläche dahertragend. Die
golden-hellen Haare des Mädchens fließen wie eine Flüssigkeit von ihrem
Kopf um ihr Kleid herum, in der Hand hält sie einen glitzernden Stern,
ähnlich einem großen, weichen, sonnigen Schneeflocken. Auf dem Haar
eingedrückt sitzt eine zierliche grüne Krone, ihr Mund lächelt im
Schlaf, während sie so liegt, auf ihren Ellbogen gestützt, auf der Zunge
wie in Bettkissen ruhend. Auf einmal öffnet sie ihre Augen, und das sind
Augen, wie man sie manchmal in Träumen sieht, wenn sie sich, von
irgendeinem übernatürlichen Licht umflossen, zu den unsern herabneigen.
Diese Augen haben einen wunderbar erfrischenden Glanz, und sie schauen
jetzt so nach allen Seiten herum, wie es Kinderaugen tun, die fragend
und suchend und schuldlos in die Welt blicken. Aus der feurig-schwärzlichen
Kehle klettert jetzt ein Mann hervor, angezogen mit fliegenden,
scheinbar von einem halbtollen Schneider entworfenen Tüchern,
die wie Fetzen seine massiven Glieder umgeben, schreitet auf
der unter seinen Tritten zusammenzuckenden Zunge nach vorn, zu dem
Mädchen hin, beugt sich über sie und küßt sie. Im selben Augenblick
sprühen aus dem Schlund Feuerflammen und Funken hervor, die über die
beiden, ohne sie im mindesten ängstlich zu machen, herabregnen. Der
schlanke Mann hebt die junge Dame in seinen Arm und trägt sie nach
rückwärts, die große Zunge wirft sich, indem sie sich hoch aufbäumt,
über das Paar, um es im Rachen krachend und hinabpolternd zu
verschlingen. Der weiße Stern des Mädchens blitzt vorn bei den Zähnen,
da schießen mit einem Male blaue, grüne, gelbe, hochrote,
dunkelbläuliche und schimmernd weiße Sterne in einem feurig-farbigen
Sturzregenbogen aus der dunkeln Kehle hervor, Musik spielt dazu, und die
Sterne zerspringen immer in der Luft ins Nichts, endlich bewegen sich
die Lippen des großen Maules und sprechen das stille, aber deutlich und
warm hörbare Wort:

Das Stück beginnt.

Vorhang.



Zwei kleine Märchen


1.

Es schneite in der Straße. Da kamen die Droschken und Autos vorgefahren,
setzten ihren Inhalt ab und fuhren wieder von dannen. Die Damen staken
alle in Pelzen. An der Garderobe wimmelte es von Leuten. In den Foyers
gab es ein Grüßen, Anlächeln und gegenseitiges Händedrücken. Die Kerzen
schimmerten, die Roben rauschten, die Stiefelchen flüsterten und
knarrten. Der Boden war ganz glatt gewichst und Diener standen da und
machten Handbewegungen, bald so, bald anders. Die Herren waren in Fräcke
geschnürt, so ein Frack muß sitzen. Man verbeugte sich. Artigkeiten
flogen wie Tauben von Mund zu Mund, die Frauen strahlten, manche alte
auch noch. Alles stand aufrecht bei den Sitzplätzen, um Bekannte zu
sehen, nur wenige saßen. Die Gesichter waren so nahe beisammen, der Atem
des einen berührte die Nasenflügel des zunächst Stehenden. Die Kleider
der Frauen dufteten, die Scheitel der Herren waren glatt, die Augen
blitzten, die Hände sagten: Na, auch wieder, du? Wo denn solange
gewesen? In der ersten Reihe saßen die Kritiker wie Gläubige in einer
hohen Kirche, so still, so andächtig. Der Vorhang bewegte sich ein
bischen, da ertönte das Zeichen zum Anfang, wer sich räuspern zu müssen
glaubte, tat es rasch, und da saßen sie alle wie Kinder in der
Schulstube, gradausschauend, mäuschenstill, da erhob sich was und
spielte sich was.


2.

Der Vorhang ging in die Höhe, alles war gespannt, was es geben würde, da
trat ein Knabe auf, und der fing an zu tanzen. In einer Loge im ersten
Rang saß die Königin, umringt von den Hofdamen. Der Tanz gefiel ihr so
gut, daß sie sich entschloß, auf die Bühne zu gehen, um dem Knaben etwas
Liebevolles zu sagen. Bald darauf erschien sie auf der Bühne, der Knabe
schaute sie mit seinen jungen, schönen Augen an. Er lächelte. Da
durchfuhr es die Königin wie ein Blitz, an dem Lächeln erkannte sie
ihren eigenen Sohn, sie stürzte zu Boden. Was hast du, fragte der Knabe.
Da erkannte sie ihn immer deutlicher, an der Stimme auch noch. Da war es
mit ihrer königlichen Würde vorbei. Sie warf die Hoheit beiseite und
schämte sich nicht, den Jungen fest an ihr Herz zu pressen. Ihre Brüste
hoben und senkten sich, sie weinte vor Freude, du bist mein Sohn, sagte
sie. Das Publikum klatschte Beifall, aber was wollte der Beifall? Das
Glück dieser Frau war gewiß über allen Beifall erhaben, es würde auch
ein Zischen haben ertragen können, der Kopf des Knaben wurde immer
wieder genommen und an den wogenden Busen gedrückt. Sie küßte ihn, dann
kamen die Hofdamen und erinnerten ihre Gebieterin an die
Unschicklichkeit der Szene. Da lachte das Publikum, aber die Hofdamen
streuten Verachtung auf die vielköpfige Plebs herab. Sie zuckten mit dem
Mund, da zuckte der Vorhang und fiel herab.



Vier Späße


1.

Bei Wertheim, zu oberst, dort, wo man Kaffee trinkt, ist gegenwärtig
etwas Köstliches zu sehen, nämlich der dramatische Dichter Seltmann. Er
hockt auf einem kleinen Rohrstuhl auf erhöhtem Gestell, allen Blicken
eine leichte Zielscheibe, hämmert und nagelt und klopft in einem fort
und schustert, wie es denen vorkommt, die ihn betrachten, Blankverse.
Das kleine, viereckige Gestell ist mit dunkelgrünen Tannenzweigen
geschmackvoll bekränzt. Der Dichter ist anständig angezogen worden,
Frack, Lackschuh und weiße Binde, das alles ist da, und keiner wird sich
zu genieren haben, dem Mann seine Aufmerksamkeit zu schenken. Das
Wunderbare aber ist der rostgelbe, herrliche Haarsturz, der sich von
Seltmanns Kopf, über die Schulter weg, mächtig bis an den Fußboden
niederwölbt. Er gleicht der Mähne eines Löwen. Wer ist Seltmann? Wird er
uns von der Schmach befreien, unser Theater etlichen Salpeterfabriken
ausgeliefert zu wissen? Wird er das nationale Schauspiel schreiben? Wird
er uns eines Tages als der Kerl erscheinen, nach dem wir uns jetzt alle
wieder mal so blutwürstig sehnen? Jedenfalls aber muß man der Leitung
des Warenhauses Wertheim für die Ausstellung Seltmanns Dank wissen.


2.

Wie dem Theater allmählich die besten und gediegensten Kräfte
dahinschwinden, geht zu unserm großen Leidwesen aus einer Zuschrift
hervor, die Frau Gertrud Eysoldt an uns adressiert hat. Sie teilt uns
mit, daß sie an der Kantstraße, Ecke Joachimsthaler Straße, nächstens
einen Korsettladen eröffnen werde, um sich allda gänzlich als
Geschäftsfrau zu etablieren. Welch sonderbarer Entschluß, und wie
schade! Auch Schauspieler Kayßler will wegmachen, und zwar, wie wir
hören, aus der Empfindung heraus, daß es sich in die Zeitläufe besser
schicke, hinter einem Schanktisch zu stehen, als Figurinen auf den
Brettern zu spielen. Er soll zum ersten Mai eine kleine Kneipe im Osten
übernommen haben, und er freut sich schon darauf, sagen einige, Bier
einzuschenken, Gläser zu putzen, Butterbrote zu streichen, Bücklinge zu
servieren und nachts die Besoffenen zur Bude herauszustiefelwichsen. Ein
Jammer! Wir aber müssen aufs tiefste bedauern, zwei so sehr bewunderte
und wertgeschätzte Künstler ihrer Kunst untreu werden zu sehen, und wir
wollen hoffen, daß solches nicht Mode werde.


3.

In den Kammerspielen ist noch kurz vor Toresschluß eine kleine Änderung
getroffen worden. Die Direktion hat den Dramaturgen kleidsame hellblaue
Fräcke übergeworfen, mit großen, silbernen Knöpfen dran. Wir halten das
für hübsch, denn wir halten's für richtig. Die Theaterdiener sind
abgeschafft worden, und die Dramaturgen nehmen nun an den Spielabenden,
also zu einer Zeit, wo sie ja sowieso nichts zu tun haben, den Damen die
Mäntel ab und weisen den theaterbesuchenden Herrschaften die Plätze an.
Auch öffnen sie Türen und geben allerhand kleine, aber notwendige
Auskünfte. An den Beinen tragen sie jetzt lange, dicke, ledergelbe,
kniehohe Getern, auch können sie einem schon ganz ausgezeichnet, unter
einer eleganten Verbeugung, Programme darreichen und Guckgläser
anbieten. In der Provinz würden sie außerdem noch Zettel vertragen; dies
ist aber hier in Berlin nicht nötig. Kurz und gut, kein Kritiker wird
nunmehr noch fragen dürfen, was ein Dramaturg sei, und was er für
Obliegenheiten zu erfüllen habe. Sie tun jetzt ihr Äußerstes, und man
wird sie in Zukunft in Ruhe lassen müssen.


4.

Um endlich einmal dem ewigen Gejammer und den beständigen Vorwürfen, er
gebe nur Ausstattungen, keine Stücke, energisch auszuweichen, ist
Direktor Reinhardt auf die Idee gekommen, zukünftig seine Stücke einfach
vor weißer Wäsche spielen zu lassen. Seine Dramaturgen haben natürlich
das Geheimnis bereits ausplaudern müssen, und er wird erstaunt, wenn
nicht entrüstet sein, uns schon heut mit der Neuigkeit auftrompeten zu
sehen. Weiße Wäsche! Muß es denn gerade schneeweiße sein? Kann sie nicht
von irgendeiner unbekannten Riesendame aus dem Panoptikum, sagen wir,
etwa anderthalb Tage lang getragen worden sein? Alsdann würden die
Dekorationsstücke einen sicherlich bezaubernden Schenkelduft ausströmen,
was den Herren Kritikern nur gut tun könnte, die dann vergäßen, wo sie
säßen, und betäubt würden in ihren schärfern Sinnen. Ohne Spaß.
Reinhardts Idee scheint uns entwicklungsfähig, also glänzend. Auf den
weißen Tüchern werden sich die Gesichter und Spukgestalten der Akteure
und Aktricen außerordentlich farbig abheben. Ob Reinhardt das aber auch
am Hoftheater durchsetzen wird?



Tell in Prosa


Hohlweg bei Küßnacht

=Tell= (tritt zwischen den Büschen hervor): Durch diese hohle Gasse,
glaube ich, muß er kommen. Wenn ich es recht überlege, führt kein andrer
Weg nach Küßnacht. Hier muß es sein. Es ist vielleicht ein Wahnsinn, zu
sagen: Hier muß es sein, aber die Tat, die ich vorhabe, bedarf des
Wahnsinns. Diese Armbrust ist bis jetzt nur auf Tiere gerichtet gewesen,
ich habe friedlich gelebt, ich habe gearbeitet, und wenn ich müde von
der Anstrengung des Tages gewesen bin, habe ich mich schlafen gelegt.
Wer hat ihm befohlen, mich zu stören, auf wessen Veranlassung hin hat er
mich drücken müssen? Seine böse Stellung im Land hat es ihm eingegeben.
(Er setzt sich auf einen Stein.) Tell läßt sich beleidigen, aber nicht
am Hals würgen. Er ist Herr, er darf meiner spotten, aber er hat mich an
Leib, Liebe und Gut angegriffen, er hat es zu weit getrieben. Heraus aus
dem Köcher! (Er nimmt einen Pfeil heraus.) Der Entschluß ist gefaßt, das
Schrecklichste ist getan, er ist schon erschossen durch den Gedanken.
Wie aber? Warum lege ich mich in den Hinterhalt? Wäre es nicht besser,
vor ihn hinzutreten und ihn vor den Augen seiner Knechte vom Pferd
herunterzuschlagen? Nein, ich will ihn als das ahnungslose Wild
betrachten, mich als den Jäger, das ist sicherer. (Er spannt den Bogen.)
Mit der friedlichen Welt ist es nun vorbei, ich habe auf das Haupt
meines Kindes zielen müssen, so ziele ich jetzt auf die Brust des
Wüterichs. Es ist mir, als hätte ich es bereits getan und könnte nach
Hause ziehen; was im Geist schon geschehen ist, tun die Hände hinterher
nur noch mechanisch, ich kann den Entschluß verzögern, aber nicht
brechen, das müßte Gott tun. Was höre ich. (Er horcht.) Kommt er schon?
Hat er es eilig? Ist er so ahnungslos? Das ist das Eigentümliche an
diesen Herren, daß sie ruhigen Herzens Jammervolles begehen können. (Er
zittert.) Wenn ich jetzt den Schuß verfehle, so muß ich hinabspringen
und das verfehlte Ziel zerreißen. Tell, nimm dich zusammen, die kleinste
Ungeschicklichkeit macht dich zum wilden Tier. (Hornruf hinter der
Szene.) Wie frech er durch die Länder, die er erniedrigt, blasen läßt.
Er meint, herrisch zu sein, aber er ist nur ohne Ahnung. Er ist so
sorglos wie ein tanzendes Kind. Hundertfacher Räuber und Mörder. Er
tötet, wenn er tänzelt. Ein Ungeheuer muß in der Ahnungslosigkeit
sterben. (Er macht sich zum Schuß bereit.) Jetzt bin ich ruhig. Ich
würde beten, wenn ich weniger ruhig wäre. Ruhige wie ich erledigen
Pflichten. (Der Landvogt mit Gefolge auf Pferden. Prachtvoller Auftritt.
Tell schießt.) Du kennst den Schützen. Frei ist das Land von dir. (Ab.)



Berühmter Auftritt


Gräfliches Zimmer. Der alte Moor ist gegangen.

=Franz= (allein): Du mein Gott, wie plump ich gewesen bin. Ich geniere
mich ordentlich. Ich habe ihm die Schurkerei wie ein übelduftendes
Fressen aufgetischt, und er hat es bereitwillig eingenommen. Sei's. Wie
müde ich mich fühle, mich so schmutzig benommen zu haben. Ich hatte kaum
recht die Absicht, zu töten, da gelang's mir schon. Ich habe, glaube
ich, nur eine vorläufige Probe anstellen wollen, und da ist das
widerwärtige Meisterwerk schon fertig. Meinetwegen. Alter Schafskopf.
Was sind das für lieblose Töne? (Er besieht sich im Spiegel.) Wie hübsch
ich aussehe. Eine vollkommen ruhige Miene. (Er lächelt.) Und dieses
Lächeln. Wie unboshaft. Ich hätte nicht so rohe Mittel brauchen ins Werk
zu setzen, Schrecken zu verbreiten. Aber das ist es: das Unfeine
überzeugt am raschesten. Ich bin um eine Erfahrung reicher. Wie faul ich
bin. (Er streckt sich auf einem Ruhebett aus.) Ich würde indischen Tabak
rauchen, wenn ich gerade welchen hätte. Ich bin ein bischen angeödet von
all dem Vorgefallenen. Ich habe zu schmierig gelogen, und es ist mir zu
brutal geglaubt worden. Das entkräftet. Mag's. Was soll ich jetzt tun?
Heda, Hermann! (Hermann tritt auf.) Geh wieder. Es war ein Traum, dich
zu rufen. Ich hasse Träume. (Hermann ab.) Ich will der Amalie einen
erneuten Liebesantrag machen. Ich glaube, ich habe Lust, beschimpft zu
werden. O, die Herrlichkeit der Beleidigung. Mich so zu verkennen, das
grenzt an Irrsinn. Ich habe ein zu zart entwickeltes Empfindungsvermögen,
und ich langweile mich ein wenig. Mich langweilt das Natürliche.
Mich entsetzt der Gedanke, ich könnte Erfolg in der Welt
haben. (Amalie tritt auf.) Ich habe soeben gelogen, ich habe deinen Karl
verdächtigt. Ich bitte dich, eile, sonst geschieht ein Unglück. Der alte
Moor ist daran, ihn zu verdammen. Aber ich lüge. Dieses offene
Bekenntnis ist die Kaprize eines Nichtswürdigen. (Amalie geht
verächtlich lächelnd ab.) Sie glaubt es. Und so taucht langsam hervor,
Ungeheuerlichkeiten. Breite dich aus, Schauder. Furchtbarkeiten, tretet
heran, amüsiert mich. (Er springt auf.) Ich habe der geordneten Natur
jetzt einen Fußtritt versetzt. Sie wird nie wieder gesunden. Ich
zitterte, aber vor Weh. Wenn es nicht möglich ist, zart zu sein, so ist
es erlaubt, zum Tier zu werden. (Er gähnt.) Ich glaube unerschütterlich
fest an den Segen des Furchtbaren. Ich will die Güte zur Welt
hinauspeitschen. (Er sieht ein Band am Boden.) Ich will sie zur Hure
machen, dafür, daß ich ihr nicht habe begreiflich machen können, daß ich
edlen und großen Herzens bin. Los. Vorwärts. Hermann! (Hermann
erscheint.) Mach' mich betrunken. Ich muß schlemmen. Ich muß die
Höllenkräfte, die in mir donnern, künstlich ersticken. Ich bilde mir
sonst ein, ich sei Gott und vernichte das Weltall. (Geht ab.)



Percy


Wenn man sagt, er sei ritterlich vom Scheitel bis zur Fußzehe, so ist
das noch lange keine Porträtskizze. Sein Gesicht ist nicht gerade schön.
Fast gar keine Nase. Die Nase ist in den Gesichtsball eingedrückt, als
wäre sie in irgendeiner Stunde von einem unbarmherzigen Schwerthieb zur
Hälfte abrasiert worden. Ich sage absichtlich: wegrasiert. Die
Nichtachtung des Schicklichen paßt zu dieser Manneserscheinung. Percy
haßt die treffenden Worte, die Grazie, die Parfüms. Die Zeichnung seines
Mundes drückt Wehmut und Zorn zugleich aus, aber in seine großen Augen
scheint sich das Entzücken von hundert blauen Himmeln ein für allemal
verliebt zu haben. Wenn der Mann diese Augen schließt, erwarten die
Umstehenden etwas Furchtbares, die Gegend zuckt zusammen, die Welt wird
finster. Die Gestalt ist eher klein als groß, eher unscheinbar als
imponierend. Die Rüstung ist einfach, aber die Haltung ergibt das
unsichtbar-sichtbare Bild des Königlichen. Die Lippen sind unbeweglich,
sie lächeln wunderselten, und wenn sie es einmal tun, so schießt Hohn
zum Gesicht heraus. Spott bedeutet bei Percy, infolge der Rauheit, die
ihn beherrscht, die Spitze der Gutmütigkeit. Wen er verspottet, den
liebt er, und er kann lieben. Sein Körper macht nicht die geringste
überflüssige Bewegung. Er haßt das Schöne, er bemüht sich, eckig
aufzutreten. Was an ihm schön erscheint, ist unbewußt. Wenn er wüßte,
wie hübsch er ist, zerrisse er sein eigenes goldenes Wesen, ja, er würde
sich selber ins Gesicht spucken. Aber dazu müßte er einen Spiegel haben,
und diesen Gebrauchsgegenstand kennt er gar nicht. Was er liebt,
verachtet er, was er bevorzugt, findet er langweilig, wovon er träumt,
das ist lebensgefährlich. Wo das Leben nicht auf dem Spiel steht, mag er
nicht leben. Nie ist ein Ehemann von seiner Gattin so geliebt worden und
nie mit mehr Ursache. Percy kennt gar keine Tapferkeit. Man kennt nur,
was man studiert. Percys Kühnheit ist Percy angeboren, er kann nichts
dafür, daß er ein Held ist. Seine Leibfarbe ist grau, sein Schmuck grün,
der Federbusch rot. Einer seiner Diener stülpt ihm den Helm auf den
Kopf, gleichviel welchen; Percy ist geschmacklos. Er ist zu voll von
Ahnung, als daß er in solchen Dingen eine Wahl treffen könnte. Er ist zu
frech zu irgendwelcher Bekleidungsfrage und zu zartfühlend zur
Farbenlehre. Seiner Frau ist er Gott, er weiß das, und das plagt ihn,
wenn er frühstückt. Die Zärtlichkeit, die er empfindet, sobald er sein
Weib nur anschaut, will ihn »jedesmal kaput machen«. Hoffentlich sind
das seine eigenen Worte. Er macht dann Witze, sagt Adieu und reitet zum
Teufel. Die Manieren des Rittertums sind ihm viel zu fade, er benimmt
sich wie ein heutiger einfacher Arbeiter. Die Musik liebt er wie nicht
gescheit. Wenn sie ihm, abends, nach der Schlacht, wenn er sich ermüdet
an einen Baum anlehnt, ertönt, will ihm das Herz, von Tränen getragen,
wegschwimmen. Er, der am Tag eine stattliche Sammlung von abgehauenen
Armen, Beinen, Köpfen und Händen auf die blutiggefärbte Wiese
zusammengejähzornt hat, versteht es, unmittelbar nach Vollendung des
schrecklichen Werkes, aus der Natur schöne und sonderbare Stimmungen zu
ziehen und sich denselben, wenn auch nur für kurze Zeit, hinzugeben.
Seine Stimme, wenn sie genug geschrien und trompetengeblasen hat, will
sich zur Abwechslung auch mal die Wonne des Erzitterns gönnen. Zur
Religion steht er sich, na! Lieber nicht aussprechen. Ich glaube, sie
ist ihm mehr als gleichgültig. Sie ist ihm eine Krähe oder sonst was,
genug, er bedarf ihrer nicht. Er hat Hölle und Himmel auf Erden. Ideale
hat er keine, nicht einmal Ehrgefühl; es reißt ihn zum Wagnis hin,
zufällig ist das gerade sein Ideal, er tobt und erwirbt Ehre. Er träumt
davon, den Prinzen von Wales kampfunfähig zu machen, dann zu lachen und
den Überwundenen zu küssen. Bis dahin tötet er, was ihm unter das
Schwert läuft, von da an würde er möglicherweise ein gesitteter Mensch
werden, aber wahrscheinlich auch dann nicht, sein Trotz würde es ihm
kaum gestatten. Er stirbt als Junge, aber man hat, wenn man ihn röcheln
und sterben sieht, das Gefühl, ein Riese hauche da seinen Atem aus.



Gebirgshallen


Kennen Sie die Gebirgshallen unter den Linden? Vielleicht probieren Sie
einmal einen Gang dorthin. Der Eintritt kostet nur dreißig Pfennige.
Wenn Sie die Kassiererin auch Brot oder Wurst essen sehen, so müssen Sie
nicht degoutiert umkehren, sondern sogleich bedenken, daß es Abendbrot
ist, welches da verzehrt wird. Die Natur fordert überall ihre Rechte. Wo
Natur ist, da ist Bedeutung. Und nun werden Sie eintreten, ins Gebirge.
Und da wird Ihnen eine große Figur, eine Art Rübezahl, begegnen, es ist
der Wirt des Lokals, und Sie werden gut tun, ihm durch Hutlüften zu
salutieren. Er sieht das gern, und er wird Ihnen artig für Ihre
Höflichkeit danken, dadurch, daß er sich halb vom Stuhl, auf dem er
sitzt, hochhebt. In der Seele geschmeichelt, treten Sie näher an den
Gletscher heran, es ist dies die Bühne, eine geologische, geographische
und architektonische Merkwürdigkeit. Sowie Sie sich gesetzt haben,
bekommen Sie Trinkofferten von einer vielleicht leidlich hübschen
Kellnerin. Man muß vorlieb nehmen mit dem, was da ist. Es strotzt auch
an Kammerspielabenden vielleicht nicht einmal von fraulichen Finessen.
Geben Sie acht, daß sich nicht allzu viele geschlagen und geworfen volle
Apfelweingläser um Ihre Zahlperson herum gruppieren. Die Mädchen machen
sich zu gern an solche Herren ran, die Mitleid mit ihnen haben. Mitleid
ist unschicklich bei Kunstgenüssen. Haben Sie jetzt auf diese Tänzerin
acht gegeben? Kleist hat auch jahrelang auf Anerkennung lauern müssen.
Klatschen Sie nur tapfer in die Hände, auch wenn es Ihnen beinahe
mißfallen hat. Wo haben Sie Ihren Bergstock? Zu Hause gelassen? Das
nächste Mal müssen Sie wohl oder übel sportmäßig ausgerüstet im Gebirge
erscheinen, für alle Fälle. Besser ist besser. Was trippelt da für eine
reizende Sennhütten-Prinzessin auf Sie zu? Das ist die Kleine. Die will
ein geschmettert Volles für fünfzig Pfennig von Ihnen. Werden Sie diesen
Lippen, diesen Augen, dieser süßen, dummen Bitte widerstehen können? Sie
wären zu beklagen, wenn Sie das könnten. Nun öffnet sich Ihnen wieder
der Bühnen-Gletscherspalt, und eine dänische Liedersängerin wirft Sie
mit Tönen und Anmutsschneeflocken an. Sie nehmen gerade einen Schluck
von Ihrer kuhwarmen Gebirgsmilch. Der Wirt macht die aufpassende
Rausschmeißrunde durch das Lokal. Er sorgt für den Anstand und für das
gute Betragen. Gehen Sie doch mal hin, ich kann Ihnen sagen, na!
Vielleicht treffen Sie dort auch mich wieder einmal an. Ich aber werde
Sie gar nicht kennen, ich pflege dort, von Zaubereien gebannt,
stillzusitzen. Ich lösche dort meine Dürste, Melodien wiegen mich ein,
ich träume.



Auf Knien!


  Wo sind die schönen Zeiten hin,
  da es noch Kavaliere gab?

Kann es eine reizendere Liebhaberrolle geben als den jungen Römer
Ventidius? Sonst können etwa Liebhaber auf die Nerven fallen,
anlangweilen, anöden, dieser da in keinem Moment. Der Elegant aus dem
alten Rom vermeidet es, überflüssige Worte zu machen, und doch fließt
ihm die Rede nur so sturzweise, nicht nur glas-, sondern
literflaschenweise zum Mund heraus.

  Vergib, erlauchte Frau, dem Freund des Hauses --

Glänzend versteht er es, Frauen den Hof zu machen. Er ist eher eine
liebe, als eine bedeutende Erscheinung, ein reizender Quatschkopf, ein
Gelegenheitsarbeiter, der in Schwung kommt, wo's was zu erschnappen
gibt. Seine gute Erziehung macht ihn poetisch, er ist durch und durch
Großstadtpflanze, er würde mitleidig lächeln, wenn man ihm zumuten
wollte, tief zu empfinden.

  Wie selig bin ich, Königin --

Seine Sprache atmet Aufrichtigkeit, und das ist er auch, er ist
aufrichtig, denn er ist jung, aber er ist zugleich ein Italiener, was
heißen will: ein Abkömmling von Leuten, die das Talent hatten, die Welt
zu unterjochen. Er ist herrisch und zugleich graziös, was aber ist Anmut
anderes als Demut? Unser junger Mann mit der flehenden Bitte auf der
Lippe ist ein Lügner, ein Unterdrücker aus Gewohnheit, daher
interessiert er so lebhaft.

  Nicht eh'r, Vergötterte, als bis du meiner Brust --

Wie eitel er ist. Augenblickserfolgsmensch, was er ist, verwundet es ihn
tief, sich glauben machen zu sollen, daß man ihn entbehren kann. Daß man
ihn verächtlich finden kann, das kann er unter keinen Umständen glauben.
Der Glaube an Siege war die Religion der Römer.

  Und müßt' ich so in Anbetung gestreckt --

Hier wird er zornig. Wenn er jetzt nicht entzückt, ist er lächerlich.
Der Schauspieler, der ihn spielt, muß Tränen gutgespielten Schmerzes zur
Verfügung haben. Außerdem muß er zu knien gelernt haben.
»Leidenschaftlich« wird hier, laut Kleistscher Textanmerkung gekniet.
Wie aber benimmt sich der Schauspieler bei Mondschein?

  Dies ist der stille Park, von Bergen eingeschlossen --

Eine Minute später wird er von Bären zerrissen. Jetzt hat er die
Pflicht, eines elenden Todes zu sterben.



»Guten Abend, Jungfer!«


Wurm, Haussekretär des Präsidenten. Welch eine merkwürdige Figur. Dieser
großartig angelegte Schleicher. In seiner Seele hat einstmals
jugendliches Feuer gebrannt. Man muß sich einen Wurm als jung denken.
Damals hat er noch weinen, beben, beten und hell auflachen können. Es
ist möglich, daß er sogar Gedichte geschrieben hat, und jetzt! Er möchte
gern etwas ganz Großes sein, er hat Phantasie, und er ist in den
Bezirken des Hohen und Guten wie zu Hause. Aber er hat es zu nichts
Hohem und Fertigem gebracht, zu nichts Befehlshaberischem. Da er sich
vor unfeinen, ja scheußlichen Gewalten bücken muß, hat er sich auf die
betörende Grausamkeit verlegt, das zeigt unanfechtbar deutlich an, daß
er die Hoheit des Schönen und Guten schauerlich empfindet. Er wäre ein
guter Kerl, wenn ihm ein schöner Mund zulächeln wollte. Da schleicht er
nun, wie so ein vollendeter Schleicher, das vollkommene Bild eines
lebentötenden und -vergiftenden Schurken, und hat doch eine krankhafte
Sehnsucht nach dem Lieblichen. Wie wünscht er, gut und rechtschaffen und
wohlwollend zu sein. Schon allein seine Klugheit wünscht das. O, er weiß
in allen Herzenssachen so trefflich Bescheid, er kennt die Welt, und er
weiß, daß er das beste Weltgeschäft verpaßt hat: Zündende Wärme und
Liebe. Und da geht er nun hin, eines Abends, es fängt schon zu dunkeln
an, zu Luise, die er anbetet, und will nun um sie werben, obschon er von
der Nutzlosigkeit seiner Absichten überzeugt ist. Und nun beginnt diese
furchtbare Folterung der liebenden Seelen. Unzweifelhaft ist Wurm ein
Schurke, es macht ihm Spaß, zu quälen, aber ebenso gewiß tut er sich
weh, er liebt, und das ist sehr wichtig. Denn nun tut sich vor unsern
Augen da eine wahre Seelenschmerzenhölle auf, es regnet in dieser
herrlichen Abendszene Qualen. Das Luisen-Zimmer ist gleichsam tapeziert
mit Bildern der unnennbarsten Pein. Rache und Zärtlichkeit, körperliche
Lust und Bosheit, Schurkerei und herrische Standhaftigkeit, wie wimmelt
das kraß durcheinander. Wurm ist Weltmann, er besitzt die solide Bildung
eines Mannes mit guten Beziehungen, er ist genau informiert über die
Charaktereigenschaften des Heldenmädchens. Er bewundert sie ohnegleichen
in dem Moment, wo sie sich seinen entsetzlichen Plänen überliefert. Er
fühlt die grenzenlose Verachtung, welcher er sich aussetzt, er hält das
aus, ja, er übersteigt noch die Grenze, er zwingt sich zuletzt noch zu
Widerlichkeiten. Er steht unbedingt groß da, er ist Held. Inwiefern
Ferdinand Kavalier ist, kann er stolz sein, durch so kühne Intrigen zu
fallen.



Porträtskizze


Es ist mir, als sähe ich ihn vor mir, den Prinzen von Homburg. Er ist in
das Kostüm seiner Zeit gesteckt worden, und nun bildet er sich etwas ein
auf die Farben, die er trägt, ein scheinbar so eitler Fritze ist er.
Übrigens ist er ein Talent, er kann reden, und das ist wiederum etwas,
worauf er sich etwas einbildet. Er hat hohe, glänzend gewichste Stiefel
an den gespreizten Beinen und, Donnerwetter, ritterliche Handschuhe an
den Händen, das hat nicht jeder, ein einfacher Bourgeois zum Beispiel
kann das nicht haben. Auf dem Kopf hat er eine Perücke, sein Schnurrbart
ist fabelhaft geringelt, das allein bürgt für den künstlerischen Erfolg.
Er braucht jetzt nur noch ärgerlich mit seinem Soldatenbein auf den
Boden zu stampfen, um alle übelwollenden Kritiken wegzufegen, er tut's,
und von diesem Augenblick an ist dieser Herr Prinz von Homburg ein
gottbegnadeter Künstler. Übrigens hat er seine Rolle auswendig gelernt,
reiner Überfluß, sich die Stellen gemerkt, wo sein ganzes prinzlich
homburgisches Wesen zum Durchbruch kommen soll, absoluter Mangel an
Kunstunbewußtheit. Er braucht nichts zu können, ja, es ist sogar gut,
wenn er nichts kann, der echte Schauspieler ist nicht fürs Lernen, denn
er hat's von der Geburt her. Das ist es ja, was diesen hohen Beruf von
den übrigen Erdenberufen rühmlich unterscheidet: Man stiefelt einfach in
Stiefeln hervor, rasselt mit dem Degen, macht eine Geste und heimst
Beifall ein. Das sind keine so einfachen Menschen, die sagen können:

  Nun denn auf deiner Kugel, Ungeheures --

So etwas kann ein Arzt, ein Techniker, ein Journalist, ein Buchbinder
oder ein Bergebesteiger nicht sagen, hat ja auch, Gott soll mich
strafen, keine Veranlassung dazu. Prinz von Homburgs Augen rollen
schrecklich, er spricht die Verse mehr mit seinem Augenrollen als mit
seinen Lippen. Übrigens spricht er die Verse schlecht, das beweist, daß
er ein guter Mensch ist, daß er Seele, Frau und Kind hat, Charakter hat,
und es beweist auch, ja, jetzt merke ich es endlich, daß er tief, tief
über seine Rolle nachgedacht hat. Dieser Prinz von Homburg ist von einer
bezaubernden Naturburschenhaftigkeit, wenn es gilt, zu sagen:

  Pah, eines Schuftes Fassung, keines Prinzen.
  Ich denk' mir eine andre Wendung aus.

Diese Worte brüllt er womöglich. Und jetzt gewärtigt er Beifall, aber
über den Bürger, dessen Beifall er will, fühlt er sich adlig erhaben.
Nun, er ist von Adel, er besitzt Güter am Rhein:

  Da will ich bauen, will ich niederreißen.

Du liebe Zeit, er geht eben ganz in der Rolle auf. Talent hat der
Schuster gehabt, der ihm die Kanonenstiefel angemessen hat, nicht er,
das heißt, ja, Talent schon, aber alles das geht ja den einfach
geborenen Bürger nichts an.



Ein Genie


Ich bereite mich gegenwärtig darauf vor, Schauspieler zu werden. Mein
erstes Auftreten auf den Brettern ist nur noch die übliche Frage der
Zeit. Momentan lerne ich Rollen auswendig. Den ganzen Tag, trotz des
herrlichsten Wetters, sitze oder stehe ich aufrecht in meiner Bude und
deklamiere in allen Tonarten. Ich bin vollständig vom Theaterteufel
verschlungen. Meine Nachbarschaft bringe ich durch mein Brüllen zur
Verzweiflung. Was soll aus mir werden? Aber das hat so kommen müssen.
Ich erblicke in dem Mimenberuf die höchste und reinste Menschenaufgabe,
und ich glaube nicht, daß ich mich täusche. Ich werde fürs erste in das
Heldenfach eintreten, später wird es sich dann zeigen, ob ich der Mann
dazu bin, in Charakterrollen hinüberzuspringen. Ich bin, was meine ganze
Naturanlage betrifft, einer der süßlichsten Kerls in Europa, meine
Lippen sind Zuckerfabriken, und mein Benehmen ist ein total
schokoladenes. Dagegen gibt es in mir und an mir eine Art
Männlichkeitston, der reine Fels. Ich kann plötzlich, wenn ich es für
gut finde, Stein sein, oder Holz; das wird den Liebhabern, die ich
spielen werde, notwendigerweise zu statten kommen. Von meiner Figur, die
eine sehr altbackene ist, wird Erschütterung ausgehen, meine Augen
werden faszinieren, mein Betragen wird blenden, denn es besteht aus
lauter Glühstrümpfen. Ich habe einen etwas krummen Rücken nebst einem
kleinern Buckel. Diese Verunstaltung meines Körpers wird hinreißen, denn
ich gedenke sie vergessen zu machen durch die plastische Darstellung
meiner zahlreichen innern Vollkommenheiten. Man wird etwas Häßliches und
zugleich etwas Schönes sehen, und das Schöne wird den Sieg davontragen.
Mein Kopf ist mächtig groß, meine Lippen sind dick wie starke Folianten,
meine Hände gleichen den Füßen von Elefanten, und dazu besitze ich eine
furchtbar modulationsfähige Stimme. Wenn jener melancholische Königssohn
sagen konnte, er habe Dolche geredet, so darf ich behaupten, und zwar
füglich, ich rede und schwatze Schwerter. Schon als Junge bin ich einmal
im dramatischen Verein »Edelweiß« aufgetreten, nämlich als Hausknecht,
ich spielte schlecht, denn ich fühlte mich zu Höherem berufen. Nunmehr
ist die Sache ja für mich entschieden. Nächste Woche findet mein Debüt
statt, das Stück heißt: »Du lachst dich kaput«. Hoffentlich erscheinen
nun die billettlösenden Herrschaften recht zahlreich, wenn nicht, dann
eben nicht, umbringen wird mich die Gleichgültigkeit eines
verständnislosen Publikums niemals.



Don Juan


Das Theater war voll besetzt. Das Zeichen zum Beginn der Vorstellung
ertönte. Der Vorhang ging in die Höhe. Nein, vorher tönte schon das
Orchester mit seiner Ouvertüre, und jetzt erst ging der Vorhang in die
Höhe, und Don Juan, der Verführer der Frauen, trat auf, und gar nicht
lange dauerte es, und so zog er seinen Degen und rannte ihn dem
schwächlichen Gegner in den Leib. Dies war der arme alte Vater, worauf
nun, unter einem überaus melodiösen Geschrei, das einem das Herz zerriß,
die Tochter herbeieilte, um am Leichnam des Erschlagenen
niederzustürzen. Hierauf sang die verzweifelte Frau ein so schönes, in
die höchsten Schmerzen steigendes Klagelied, daß den Hörern die Tränen
in die Augen treten mußten. Und so wogte der Inhalt der Oper auf und ab,
und Lichter schossen aus der Finsternis blendend hervor, und Geister
tauchten, zum Entsetzen derer, die sie sahen, auf, und Augen wurden naß,
und frevelhafte Worte wurden ausgesprochen, wobei die Musik bald zu
tönen aufhörte und bald wieder mit Gesang und Klang von neuem einsetzte,
um jedes Ohr zu bezaubern. Die Ohren, die das alles hörten, wurden von
der Musik verwundet, um gleich darauf wieder, nur von einem neuen Strom
von Musik, geheilt und erlöst zu werden. So wechselten der Tod mit dem
Leben, die Erschöpfung mit der Erquickung, die Verwundung mit der
Gesundung ab, und Bilder taten sich vor den Augen der Zuschauer auf, die
sie, so sagten sie sich, nie wieder würden vergessen können. Die
wunderbare Musik tröstete und beengte alle Seelen, betörte und beglückte
alle Herzen. Und der schöne, edle, volltönende Gesang glich dem
glücklichen Kind, das getragen und gehoben wird von den Armen der
vielleicht noch viel glücklicheren Mutter. Und so strömte und loderte es
gleich einer überanmutvollen, schreckenerregenden Feuersbrunst, und
gleich einem in sich selber tosenden und in die Schlucht hinabstürzenden
und brüllenden wilden Wasserfall. Dann wieder war es ein stilles, kaum
hörbares Seufzen. Einige Zeit lang glich es einem süßen, liebevollen
Anmutgeriesel oder wohltuendem Schneegestöber. Dann schien es zu sein,
als regne es leise auf Dächer herab, worauf wieder ein gereizter
gewaltiger Löwe zu brüllen schien, so daß Furcht und Schönheitsempfinden
miteinander kämpften. Und immer war es getaucht in silberne, milde
Mondesgroßartigkeit, daß man meinte, nicht ein Mensch, sondern ein
himmlischer, erdenunabhängiger Engel müsse das alles erfunden und
gemacht haben. Man dachte überhaupt, weil das Ganze eine so schöne
Schöpfung war, nicht an eine Schöpfung, denn man hatte zu viel mit dem
Bewußtsein des Genusses zu tun. Jagdhörner, Waldhörner klangen zwischen
den Flöten, Klarinetten und elegischen Geigen, daß ganze rauschende,
uralte Eichen-, Buchen- und Tannenwälder sich vor der Seele und vor dem
musikdurchschauenden Auge auftaten. Und dann, was war dann? Dann, und so
kam ja die herrliche, gnaden- und tonüberströmte Verzeihungsszene, wo
die liebliche Zerline ihren Gatten um Verzeihung des Fehltrittes bittet,
die gewährt wurde unter einem unsagbar schönen Gesang, wobei sie beide
singen, die Verzeihliche sowohl wie der liebe gute Verzeihende. So
versöhnten und verziehen sie sich, und man wußte gar nicht mehr, wo man
war vor lauter Schwelgen und Träumen in wehmutvoll-empfindungsvollen
Rätseln. In den Logen und Parketten schauten sich Gatte und Gattin,
Bruder und Schwester, Freund und Freundin, Sohn und Vater, Tochter und
Mutter in die Augen und nickten mit den gedankenvollen Köpfen. In einer
Loge, wie in einem Lusthaus oder wie in einem Tempel, saß eine schöne
Frau mit großen, schwarzen, leidenschaftdurchglühten Augen, die sich
nicht verwinden konnte, eine Bewegung zu machen, als wolle und müsse sie
an den sterblich schönen und süßen Tönen kranken und sterben, um im
Schönheitsgenuß zu endigen. Und so vielleicht noch allerlei andere,
weniger bedeutsame Personen. Oskar, der finstere Oskar, der Held der
Epoche, in der er lebte, lehnte an einer goldenen Säule, und er mußte
schaudern vor den Gewinnsüchtigkeiten und Schlechtigkeiten des Lebens,
das er führte, da er so himmlisch Schönes und Wohllautendes hörte. Doch
er verzog keine Miene seines harten Gesichtes, und er rührte kein Glied
seines schlanken, wie aus schmiegsamem Eisen gebauten Körpers. »Komm auf
mein Schloß, mein Leben« -- so sang der verwilderte Kerl mit dem
rabenschwarzen Bart im Wüstlingsgesicht. Doch wir scheinen vergessen zu
haben, zu sagen, wie eine Dame, ganz in schwarz gekleidet, mit nicht
endenwollendem Gram- und Schmerzgesang aus dem Hintergrund der Welt an
das Licht hervortrat. Zuletzt, als alles nichts half bei dem Verworfenen
und Verderblichen, öffnete sich feurig rot der Höllenschlund und
verschlang den unverbesserlichen Bösewicht mit Gepolter, Gekrach und
Geknatter. Die Musik spielte noch einige nachtragende Töne, und auf
einmal war alles mäuschenstill, der Vorhang fiel nieder, und das
Publikum ging nach Hause. An diesem Abend machte Oskar die Bekanntschaft
der schönen Gräfin von Erlach, die die Männer liebte, um sie zu
vernichten. In der Folge wußte er sich aber den schrecklichen Einflüssen
dieser Frau zu entziehen, wozu ihm die näher mit den Dingen Vertrauten
gratulierten.



Kino


Graf und Gräfin sitzen beim Frühstück. In der Tür erscheint der Diener
und überreicht seiner gnädigen Herrschaft einen anscheinend gewichtigen
Brief, den der Graf erbricht und liest.

Inhalt des Briefes: »Sehr geehrter, oder, wenn Sie lieber wollen,
hochwohlgeborener, nicht genug zu rühmender, guter Herr, hören Sie,
Ihnen ist eine Erbschaft zugefallen von rund zweimalhunderttausend Mark.
Staunen Sie und seien Sie glücklich. Sie können das Geld persönlich,
sobald es Ihnen beliebt, in Empfang nehmen.«

Der Graf setzt seine Frau von dem Glück, das ihm in den Schoß gefallen
ist, in Kenntnis, und die Gräfin, die einige Ähnlichkeit mit einer
Kellnerin hat, umarmt den höchst unwahrscheinlichen Grafen. Die beiden
Leute begeben sich weg, lassen aber den Brief auf dem Tisch liegen. Der
Kammerdiener kommt und liest, unter einem teuflischen Mienenspiel, den
Brief. Er weiß, was er zu tun hat, der Schurke.

»Bier, wurstbelegte Brötchen, Schokolade, Salzstangen, Apfelsinen
gefällig, meine Herrschaften!« ruft jetzt in der Zwischenpause der
Kellner.

Der Graf und der Kammerdiener, das ungetreue Scheusal, als welches er
sich nach und nach entwickelt, haben sich aufs Meerschiff begeben, und
jetzt sind sie in der Kajüte. Der Diener zieht seinem Herrn die Stiefel
aus, und letzterer legt sich schlafen. Wie unvorsichtig das ist, soll
sich alsbald zeigen, denn nun entpuppt sich der Schurke, und ein
mörderischer Kammerdiener gießt seinem Gebieter eine sinnberaubende
Flüssigkeit in den Mund, den er gewaltsam aufreißt. Im Nu sind dem Herrn
Hände und Füße gefesselt, und im nächsten Augenblick hat der Räuber den
Geldbrief an sich gerissen, und der arme Herr wird in den Koffer
geworfen, worauf der Deckel zugeklappt wird.

»Bier, Brause, Nußstangen, Schokolade, belegte Brötchen gefällig, meine
Herrschaften«, ruft wieder das Ungeheuer von Kellner. Einige der
anwesenden Vorortherrschaften genehmigen eine kleine Erfrischung.

Nun prunkt der verräterische Diener in den Anzügen des vergewaltigten
Grafen, der in dem Amerikakoffer schmachtet. Dämonisch sieht er aus, der
unvergleichliche Spitzbube.

Es rollen noch weitere Bilder auf. Zuletzt endet alles gut. Der Diener
wird von Detektivfäusten gepackt, und der Graf kehrt mit seinen
zweimalhunderttausend Mark glücklich, obgleich unwahrscheinlich, wieder
nach Hause.

Nun folgt ein Klavierstück mit erneuertem »Bier gefällig, meine
Herrschaften«.



Wanda


Als ganz junger Mensch schon, zu der Zeit, da ich Volksbanklehrling war,
fühlte ich mich auf das entschiedenste als Dramatiker geboren. Was für
einen wackern Schaffensdrang und -mut ich entwickelte, mag daraus
hervorgehen, daß ich oben in einer staubigen Dachstube an einem Stehpult
stand, das meinem ältern Bruder, der Student war und der ebenfalls in
großen Linien drauflos dramatisierte, von einer Verehrerin und Gönnerin
zum Geschenk gemacht worden war. Mein Bruder wälzte sich an einem
historischen Stoff herum, der den Titel trug: »Der Bürgermeister von
Zürich«. Ich aber, indem ich mich in das Polentum verliebte, hatte mich
in den polnischen Freiheitskampf geworfen, und der Gegenstand meiner
leidenschaftlichen dichterischen Bestrebungen hieß: »Wanda, die
Polenfürstin«. O Gott, wie schwelgte ich am Genuß dieses hochherzigen
Heldenkindes. Andrerseits aber träumten wir beide, mein produktiver
Bruder und ich, der ich mir nicht minder produktiv erschien, von
rauschendem Applaus, von Lorbeerkränzen und von mehr-, ja, vielleicht
hundertfach wiederholten Aufführungen, hervorgerufen durch allseitiges
stürmisches Verlangen, unsre bezaubernden Werke immer von neuem wieder
zu sehen. Es war im Sommer, und in der Dichterdachkammer herrschte eine
versengende, brütende Hitze, und den beiden jungen hoffnungsvollen
Theatralikern lief der Schweiß von den erfinderischen und schöngeistigen
Stirnen herunter. Meine Polen schienen das Leben, das doch so amüsant
sein kann, nicht sonderlich hochzuschätzen, sondern sie warfen es,
erfüllt, wie sie waren, von glühender Vaterlandsliebe, weg, als tauge es
keinen Pfifferling, oder als tauge es nur angesichts des Todes etwas.
Ich erschrecke heute, wo aus mir ein Genüßling und Lüstling geworden
ist, der die Teller leckt und den üppigen Frauen bereitwilligst den Hof
macht, über den vormaligen dramatischen Heldenmut, womit ich umging, als
sei ich nicht meiner lieben Mutter, sondern einer Löwin Sohn, bestimmt
für die Schlacht und für den grausigen Kanonendonner. »Wanda« ist
indessen nie als Buch erschienen, und ebensowenig habe ich erfahren, daß
dieses herrliche Stück je seine Aufführung erlebte.



Fanny


Meine bescheidene Wenigkeit war im elterlichen Hause, als kleiner Junge,
der noch unglaublich grün und noch ziemlich naß hinter den Ohren war,
der bevorzugte Inszeneur, Theaterspieler, Dramaturg, Regisseur und
Geschichtenmacher meiner jüngern Schwester, der ich eine Zeitlang immer
Geschichten, nicht etwa nur erzählen, nein, machen mußte, wessen ich
mich heute glücklicherweise noch deutlich erinnere, da ich sonst diesen
interessanten Aufsatz ja gar nicht schreiben könnte. Fanny, so, meine
ich, hieß die entsetzliche kindliche Tyrannin, die gebieterisch von mir
verlangte, ich solle ein dichterisches Genie sein, um sie mit Vorgängen
zu erbauen und mit Geschichten zu unterhalten, wobei sie mir stets, und
das war das Schreckliche, drohte, zu Mama zu gehen und mich als
Bösewicht zu verklagen, wenn ich mich von Zeit zu Zeit eines so
ermüdenden und geistig so aufreibenden Geschäftes, wie das edle
Dramatisieren ist, ein wenig entziehen wollte. Stundenlang dauerte das
Theater; und die Geschichten, die ich machte und in Szene setzte,
wollten schon, aber durften nicht enden, da sonst mein gestrenges
Publikum, das heißt: meine liebe Schwester, indem sie eine mir nur zu
wohlbekannte zürnende Miene aufsetzte, sogleich sagte: »Du scheinst
heute keine besondere Lust zu haben, mir eine Geschichte zu machen, an
welcher ich mich ergötzen könnte. Ich rate dir, habe nur Lust, sonst geh
ich zu Mama und sage ihr, daß du mich immer ärgerst, und dann bekommst
du Prügel, das weißt du. Nimm nur deine Phantasie mit aller Kraft
zusammen und gib mir stets nur das Beste von deinem Können. Ich weiß,
daß du kannst, wenn du willst, und ich will keinerlei Entschuldigungen
anhören, wie die, daß dir der Geist erlahme. Umsonst sind alle deine
Bemühungen, die du machst, um dich deiner Aufgabe, einer Aufgabe, zu
deren Lösung du verpflichtet bist, zu entziehen. Du mußt, du mußt
spielen. Sonst werde ich erbärmlich zu weinen anfangen, was Mama haßt,
und was das für unausbleibliche peinliche Folgen für dich hat, das kann
dir dein Geschichtenmacherkopf erzählen, den schon so mancher Schlag von
Mamas Hand getroffen hat.« So oder ähnlich redete eine schauderhafte
Unterdrückerin zum erbarmungswürdigen, armseligen Gedrückten, Gepreßten,
Verkauften und Unterdrückten. Machte ich meine Sache gut und war
Schwesterchen zufrieden mit der Kunst, die ich ausübte, so belohnte ein
reizendes, gnädiges, wenngleich etwas höhnisches Lächeln den
Angstschweiß, mit dem ich gekämpft hatte. Wenn ich aber der Tyrannin
trotzte und mich den schwesterlichen Befehlen nicht fügen wollte, so kam
es heran, das Ungeheure, und ich erhielt Hiebe auf meinen phantasielosen
Schädel, eine Maßregel, die ich natürlicherweise im höchsten Grade
verabscheute. Und da mir Mamas Zorn stets mindestens ebenso weh tat wie
die Ohrfeige, die sie mir versetzte, so suchte ich im allgemeinen meines
geehrten Publikums Gunst zu erwerben und Mißfallen zu vermeiden, und
bald kam ja dann die Zeit, wo die lästige Geschichtenmacherei und
dramatische Kunst überhaupt aufhörte.



Lebendes Bild


Ein großstädtischer Hof, vom Mond beleuchtet. Mitten im Hof eine eiserne
Kiste. Eine Partie Gesang von innen her in den Zuschauerraum tönend. Ein
Löwe an einer Kette angebunden. Ein Schwert neben der Kiste. Eine
dunkle, unerkennbare Gestalt etwas weiter davon entfernt. Der Gesang,
das heißt, eine junge, schöne Frau, beugt sich oben zu einem
lampenerhellten Fenster hinaus, immer weiter singend. Es scheint
entweder eine gefangen gehaltene Prinzessin königlichen Ursprungs oder
eine Opernsängerin zu sein. Zuerst ist der Gesang wie eine schlichte,
ziemlich schülerhafte Gesangsübung gewesen, aber nach und nach erweitert
und verbreitert er sich zu was Großem, zu was Menschlichem, er ist
hinreißend, er klagt, dann wieder scheint er sich im eigenen Schmerz zu
gefallen. Dieser Gesang reißt das Fenster auseinander und gibt der Luft
eine schöngebaute Treppe zum Hinuntersteigen. Die Frau kommt hinunter,
aber immer noch singend. Aus der eisernen oder stählernen Kiste taucht
jetzt ein Mannskopf hervor, furchtbar blaß und von schwarzen, wilden
Haaren umrahmt. Die Augen des Mannes reden die stumme Sprache der
Verzweiflung, der breite, man darf wohl sagen: volkstümliche Mund
lächelt, aber was ist das für ein schreckliches Lächeln? Der Zorn und
der Gram scheinen es in jahrelanger Übung still zusammengebaut zu haben.
Die Wangen sind eingefallen, aber das ganze Gesicht drückt
unaussprechliche Güte aus, nicht solche, der es leicht geht, sondern
solche, die das Schwerste erfahren hat. Die Sängerin setzt sich unter
einer unnachahmlichen Bewegung auf den Rand der Kiste, die Hand legt sie
wie liebkosend auf den Kopf des Eingeschlossenen. Der Löwe rasselt mit
der Kette. Ist hier alles, alles gefangen? Laß sehen. Wirklich, auch das
Schwert am Boden rührt sich in keiner Weise, aber es lebt, denn es gibt
jetzt einen kurzen Ton von sich, es seufzt. Was ist das für ein
Zeitalter, das Künstlerinnen zu Löwen wirft, neben eine klirrende Kette,
vor ein seufzendes Schwert, an die Seite von Leuten, die die sonderbare
Laune haben, in eisernen Kasten zu wohnen? Plötzlich stürzt der Mond von
seiner unermeßlichen Höhe in den Hof hinab, der Frau vor die Füße. Diese
setzt den Fuß auf die blasse, schimmernde Kugel und bewegt sich
solchermaßen rund um die Kiste herum. Da zerteilt und zerlegt sich der
Mond in ein weites Gewand, oder in eine Art Teppich, oder in eine
Schicht weißlichen Nebel, die Häuser, die den Hof bilden, verschwinden,
blendend weiße Alpengipfel steigen aus dem Abgrund der Bühne langsam in
die Höhe, der Nebel legt sich den Alpen zu Füßen, ein rötlicher Stern
schießt aus der bläulich-schwärzlichen Luft herab in die Haartracht der
Sängerin. Dieser Schmuck ist blendend, aber in diesem Moment entsteigt
der Kiste eine hohe, dunkelgrüne Tanne, und der Mann steht, mit einer
prachtvollen Rüstung bedeckt, unter den Ästen dieser Tanne, aber noch
mehr: da, wo ein Löwe an der Kette gerissen hat, steht jetzt ein
zierlicher Tempel von altgriechischer Bauart. Das Schwert hat, wie es
scheint, Bewegung gefunden, denn es befindet sich wunderbarerweise jetzt
in den Händen des Mannes, und dieser Mann! Worte wagen sich nicht an die
Beschreibung seiner kräftestrotzenden Erscheinung heran. Er singt, oder
irgend etwas um ihn herum scheint zu erbeben unter Klängen. Hinter den
Bergen läuten die Glocken. Ein ferner, blauer See spiegelt sich in der
Luft über den Häuptern der Darsteller formvollendet, aber verkleinert
ab. Dem Bühnenboden entsprießen Gräser, Kräuter und Blumen, wir befinden
uns, glauben wir, auf der üppigen Matte eines breiten Vorberges. Da
kommt auch noch eine Kuh mit bim bam und bum bum und weidet friedlich.
Ein Summen umhüllt alles. Aber wo ist die Sonne. Ei, unter dem Sonnigen
vergißt man eben die Gegenwart der Sonne. Aber plötzlich legt sich eine
schwarze, ungeheuerlich große Hand breitfingrig über das alles und
erdrückt es. Hinab! donnert eine höllische Stimme, und wieder taucht der
schwärzliche Hof auf, der Löwe brüllt, die Zeit steht etwas abseits von
dem Gebrüll an einen Pfahl angelehnt, unerkennbar und totenstill, der
Kopf des Mannes ragt zur Kiste heraus, er murmelt jetzt etwas, und der
künstlerische Schmerz singt wieder zum Fenster hinaus. Dazwischen hört
man das ferne, ferne Gezwitscher eines Vogels, wobei man an den See
denken muß, der in der losen Luft gehangen ist. Das Schwert schlägt
dumpf zu Boden. Und nun sinkt der Gesang der Frau zu der anfänglichen
Gesangschule herab, der Mann duckt sich eilig und verschwindet
vollständig in seiner eisernen oder gußeisernen Umgebung. Die dunkle
Gestalt raucht eine Zigarette, als wollte sie sagen: das ist mein
Kennzeichen. Sie gibt dadurch tatsächlich dem Bild eine andre Wendung,
denn nach einer momentanen Dunkelheit blicken die Zuschauer in ein
modern ausgestattetes Kaffeehaus, worin einzelne Leute gierig Zeitungen
lesen. Sie tippen mit den Fingern auf Gedrucktes, lächeln fein und
farblos dazu und rufen dann: Bitte zahlen, Ober! Der Löwe spaziert
manierlich herein, hinter ihm die vermeintliche Prinzessin, auch der
Mann kommt, eine »interessante Erscheinung«, dann das hübsch frisierte
Schwert, dann der blauäugige See in ganz neuem Anzug, und bestellen alle
hintereinander eine Tasse Kaffee und schwatzen miteinander.



Ovation


Stelle dir, lieber Leser, vor, wie schön, wie zauberhaft das ist, wenn
eine Schauspielerin, Sängerin oder Tänzerin durch ihr Können und durch
die Wirkung desselben ein ganzes Theaterpublikum zu stürmischem Jubel
hinreißt, daß alle Hände in Bewegung gesetzt werden und der schönste
Beifall durch das Haus braust. Stelle dir vor, daß du selber mit
hingerissen seiest, der Glanzleistung deine Huldigung darzubringen. Von
der umdunkelten, dichtbevölkerten Galerie herab hallen, Hagelschauern
ähnlich, Beifallskundgebungen herab, und gleich dem rieselnden Regen
regnet es Blumen über die Köpfe der Leute auf die Bühne, von denen
einige von der Künstlerin aufgehoben und, glücklich lächelnd, an die
Lippen gedrückt werden. Die beglückte, vom Beifall wie von einer Wolke
in die Höhe gehobene Künstlerin wirft dem Publikum, als wenn es ein
kleines, liebes, artiges Kind sei, Kußhand und Dankesgeste zu, und das
große und doch kleine Kind freut sich über diese süße Gebärde, wie eben
nur immer Kinder wieder sich freuen können. Das Rauschen bricht bald in
Toben aus, welches sich wieder ein wenig zur Ruhe legt, um gleich darauf
von neuem wieder auszubrechen. Stelle dir die goldene, wenn nicht
diamantene Jubelstimmung vor, die wie ein sichtbarer göttlicher
Nebelhauch den Raum erfüllt. Kränze werden geworfen, Buketts; und ein
schwärmerischer Baron ist vielleicht da, der ganz dicht am Rand der
Bühne steht, den Schwärmerkopf bei der Künstlerin kleinen, kostbaren
Füßen. Nun, und dieser adlige Begeisterungsfähige legt vielleicht dem
umschwärmten und umjubelten Kinde eine Tausendmarknote unter das
bestrickende Füßchen. »Du Einfaltspinsel, der du bist, behalte du doch
deine Reichtümer.« Mit solchem Wort bückt sich das Mädchen, nimmt die
Banknote und wirft sie verächtlich lächelnd dem Geber wieder zurück, den
die Scham beinahe erdrückt. Stelle dir das und andres recht lebhaft vor,
unter anderm die Klänge des Orchesters, lieber Leser, und du wirst
gestehen müssen, daß eine Ovation etwas Herrliches ist. Die Wangen
glühen, die Augen leuchten, die Herzen zittern, und die Seelen fliegen
in süßer Freiheit, als Duft, im Zuschauerraum umher, und immer wieder
muß der Vorhangmann fleißig den Vorhang hinaufziehen und herunterfallen
lassen, und immer wieder muß sie hervortreten, die Frau, die es
verstanden hat, das ganze Haus im Sturm für sich zu gewinnen. Endlich
tritt Stille ein, und das Stück kann zu Ende gespielt werden.



Guten Tag, Riesin!


Es ist einem, als schüttle da eine Riesin ihre Locken und strecke ein
Bein zum Bett heraus, wenn man am frühen Morgen, noch ehe die
Elektrischen fahren, von irgendeiner Pflicht angetrieben, in die
Weltstadt hineingeht. Kalt und weiß liegen die Straßen wie ausgestreckte
Menschenarme da; man läuft, reibt sich die Hände und sieht, wie zu den
Toren und Türen der Häuser Menschen heraustreten, als speie ein
ungeduldiges Ungeheuer seinen warmen, flammenden Speichel aus. Augen
begegnen dir, wenn du so dahergehst, Mädchen- und Männeraugen, trübe und
frohmütige; Beine laufen hinter und vor dir, und du selber beinelst
auch, was du nur kannst und schaust mit deinen eigenen Augen, mit
denselben Blicken, wie alle blicken. Und die Brüste tragen alle
irgendein verschlafenes Geheimnis, und in den Köpfen allen spukt
irgendein wehmütiger oder anspornender Gedanke. Herrlich, herrlich. Da
ist es also kalter, halb sonniger, halb trüber Morgen, viele, viele
Menschen liegen noch in ihren Betten, Schwärmer, die die Nacht und den
halben Morgen durchgelebt und -geabenteuert haben, Vornehme, zu deren
Lebensgewohnheiten es gehört, spät aufzustehen, faule Hunde, die
zwanzigmal erwachen, gähnen und wieder einschnarchen, Greise und Kranke,
die sich überhaupt nicht mehr, oder nur mühsam erheben können, Frauen,
die geliebt haben, Künstler, die sich sagen: a was, quatsch, früh
aufstehen, Kinder von reichen, schönen Eltern, fabelhaft gepflegte und
behütete Wesen, die in ihren eigenen Stuben, hinter schneeweißen
Fensterumhängen, das Mündchen offen, märchenhaft träumend, bis neun,
zehn oder elf Uhr schlafen. Was zu solch früher Morgenstunde aus den
wild ineinander verschlungenen Straßen gramselt und ameiselt, das sind,
wenn nicht Dekorationsmaler, so doch vielleicht Tapezierer,
Adressenschreiber, kleine, lausichte Agenten, Menschen auch, die einen
frühen Eisenbahnzug nach Wien, München, Paris oder Hamburg erreichen
wollen, kleine Menschen in der Regel, Mädchen von allen möglichen
Erwerbszweigen, Erwerbende also. Einer, der dem Rummel zusieht, muß das
notwendigerweise einzig finden. Er geht dann so und meint beinahe, auch
rennen, atempusten und seine Arme hin und her schwenken zu müssen; das
Treiben und Emsigtun ist ja so ansteckend, wie etwa ein schönes Lächeln
ansteckend sein kann. Nein, nicht so. Der frühe Morgen ist noch etwas
ganz anderes. Er schleudert aus Kneipen etwa noch ein paar schmierig
gekleidete Nachtgestalten mit ekelhaft rotbemalten Gesichtern auf die
blendend-staubig-weiße Straße hinaus, wo sie eine gute Weile, den
Hakenstock an der Schulter tragend, blödsinnig stehen bleiben, um
Vorübergehende anzuöden. Wie ihnen die trunkene Nacht zu den schmutzigen
Augen hinausblendet! Weiter, weiter. Bei Besoffenen hält sich das
blauäugige Wunder, der frühe Morgen, nicht auf. Er hat tausend
schimmernde Fäden, womit er dich weiterzieht, er schiebt dich von hinten
und lockt und lächelt dich von vorne an, du siehst hinauf, wo ein
weißlich verschleierter Himmel ein paar zerrissene Stücke Blau
hervorläßt; hinter dich, um einem Menschen, der dich interessiert,
nachzuschauen, neben dich, an ein reiches Portal, hinter dem ein
fürstliches Palais verdrossen und vornehm emporragt. Statuen winken dir
aus Gärten und Parkanlagen entgegen; immer gehst du und hast flüchtige
Blicke für alles, für Bewegliches und Feststehendes, für Droschken, die
träge fortrumpeln, für die Elektrische, die jetzt zu fahren beginnt, von
der herab Menschenaugen dich ansehen, für den stupiden Helm eines
Schutzmannes, für einen Menschen mit zerrissenen Schuhen und Hosen, für
einen zweifellos ehemals Gutsituierten, der im Pelzmantel und Zylinder
die Straße fegt, für alles, wie du selber für alles ein flüchtiges
Augenmerk bist. Das ist das Wunder der Stadt, daß eines jeden Haltung
und Benehmen untertaucht in all diesen tausend Arten, daß das Betrachten
ein flüchtiges, das Urteil ein schnelles und das Vergessen ein
selbstverständliches ist. Vorüber. Was ist vorüber? Eine Fassade aus der
Empirezeit? Wo? Da hinten? Ob sich da einer wohl entschließen kann, sich
nochmals umzudrehen, um der alten Baukunst einen Extrablick zu schenken?
I woher. Weiter, weiter. Die Brust dehnt sich, die Riesin Weltstadt hat
jetzt in aller üppigen Gemächlichkeit ihr schimmernd-durchsonntes Hemd
angezogen. So eine Riesin kleidet sich eben ein bißchen langsam an;
dafür aber duftet und dampft und pocht und läutet jede ihrer schönen,
großen Bewegungen. Droschken mit Amerikakoffern obenauf poltern und
radebrechen vorbei, du gehst jetzt im Park; die stillen Kanäle sind noch
mit grauem Eis bedeckt, die Matten frieren dich an, die schlanken,
dünnen, kahlen Bäume jagen dich mit ihrem zitternd-frörlichen Aussehen
flugs weiter; Karren werden geschoben, zwei herrschaftliche Fuhrwerke
aus der Remise irgendeines Menschen von offiziellem Gepräge, jedes zwei
Kutscher und einen Lakaien tragend, jagen vorüber; immer ist etwas, und
jedesmal ist das Etwas, wenn man es näher betrachten will, verschwunden.
Natürlich hast du eine Unmenge Gedanken während deines einstündigen
Marsches, du bist Dichter und kannst dazu ruhig deine Hände in den
Taschen deines hoffentlich anständigen Überziehers behalten, du bist
Maler und hast vielleicht bereits während deines Morgenspazierganges
fünf Bilder fix und fertig gemacht. Du bist Aristokrat, Held,
Löwenbändiger, Sozialist, Afrikaforscher, Tänzer, Turner oder
Kneipenwirt gewesen, hast flüchtig geträumt, eben jetzt dem Kaiser
vorgestellt worden zu sein. Er ist vom Thron herniedergestiegen und hat
dich in ein halbstündiges, vertrauliches Gespräch, an welchem sich auch
die Frau Kaiserin dürfte beteiligt haben, gezogen. Du bist in Gedanken
Stadtbahn gefahren, hast Dernburg seinen Lorbeerkranz vom Haupte
gerissen, geheiratet und dich in einer Ortschaft in der Schweiz heimisch
niedergelassen, ein bühnenfähiges Drama geschaffen -- lustig, lustig,
weiter, he da, was? Sollte das? Ja, da ist dir dein Kollege Kitsch
begegnet, und da seid ihr zusammen nach Hause gegangen und habt
Schokolade getrunken.



Aschinger


Ein Helles bitte! Der Biereingießer kennt mich schon seit geraumer Zeit.
Ich schaue das gefüllte Glas einen Moment an, nehme es mit zwei Fingern
an seinem Henkel und trage es nachlässig zu einem der runden Tische, die
mit Gabeln, Messern, Brötchen, Essig und Öl versehen sind. Ich stelle
das nässende Glas ordnungsgemäß auf den Filzuntersatz und überlege, ob
ich mir etwas zu essen holen soll, oder nicht. Der Eßgedanke treibt mich
zu dem blauweiß gestreiften Schnittwaren-Fräulein. Von dieser Dame lasse
ich mir eine Auswahl Belegtes auf einem Teller verabreichen, derart
bereichert trabe ich ordentlich träge an meinen Platz zurück. Ich
gebrauche weder Gabel noch Messer, nur das Senflöffelchen, mit dem ich
meine Schnitten braun anstreiche, worauf ich dieselben gemütvoll in den
Mund hineinschiebe, daß es die Seelenruhe selber ist, die mir jetzt
unter Umständen zuschauen darf. Bitte, noch ein Helles. Bei Aschinger
gewöhnt man sich rasch einen Eß- und Trink-Vertraulichkeitston an, man
spricht dort nach einiger Zeit fast nur noch wie Waßmann im deutschen
Theater. Mit dem zweiten oder dritten Glas Hellem in der Faust treibt's
einen dann gewöhnlich an, allerlei Beobachtungen zu machen. Man will
gern recht exakt notiert haben, wie die Berliner essen. Sie stehen
dabei, aber sie nehmen sich ganz nett Zeit dazu. Es ist ein Märchen, zu
glauben, in Berlin haste, zische oder trabe man nur. Man versteht hier
geradezu drollig, Zeit dahinfließen zu lassen, man ist eben auch Mensch.
Es ist eine innige Freude, zu sehen, wie hier nach Wurstbrötchen und
italienischen Salaten geangelt wird. Die Gelder werden meistens aus
Westentaschen hervorgezogen, es handelt sich ja doch beinahe regelmäßig
nur um einen Groschen. Jetzt habe ich mir eine Zigarette gedreht und
nehme am Selbstbrenner, der unter grünem Glas steckt, Feuer. Wie gut ich
dieses Glas kenne und die Messingkette zum Anziehen. Immer wimmelt es
ein und aus von eßlustigen und satten Menschen. Die Unbefriedigten
finden rasch an der Bierquelle und am warmen Wurstturm Befriedigung, und
die Satten springen wieder an die Geschäftsluft hinaus, gewöhnlich eine
Mappe unter dem Arm, einen Brief in der Tasche, einen Auftrag im Gehirn,
einen festen Plan im Schädel, eine Uhr in der offenen Hand, die sagt,
daß es jetzt Zeit ist. Im runden Turm in der Mitte des Gemaches thront
eine junge Königin, es ist die Beherrscherin der Würste und des
Kartoffelsalates, sie langweilt sich ein wenig in ihrer köcherlichen
Umgebung. Eine feine Dame tritt ein und spießt ein Kaviarbrötchen an
zwei Fingern auf, sofort mache ich mich ihr bemerkbar, aber so, als ob
mir das Bemerktwerden Wurst wäre. Ich habe inzwischen Zeit gefunden,
mich an einem neuen Hellen festzuhalten. Die feine Frau geniert sich ein
bischen, in die Kaviarherrlichkeit hineinzubeißen, ich bilde mir
natürlich sogleich ein, das sei ich und kein anderer, wegen dem sie
ihrer Zubeißesinne nicht so ganz völlig mächtig wäre. Man täuscht sich
so leicht und so gern. Draußen auf dem Platz ist ein Lärm, den man
eigentlich gar nicht hört, ein Durcheinander von Wagen, Menschen, Autos,
Zeitungsverkäufern, Elektrischen, Handwagen und Fahrrädern, das man
eigentlich auch gar nicht mal sieht. Es ist beinahe unpassend, zu
denken, man wolle das hören und sehen, man ist doch kein Zugereister.
Die elegant-geschweifte Taille, die soeben noch Brot geknuspert hat,
verläßt jetzt Aschinger. Wie lange habe eigentlich denn ich im Sinn,
dazubleiben? Die Bierburschen haben momentan ein wenig Ruhe, aber nicht
lange, denn es wälzt sich wieder von draußen herein und wirft sich
durstig an die sprudelnde Quelle. Menschen, die essen, betrachten
andere, die ebenfalls mit den Zähnen arbeiten. Wenn einer den Mund
gerade voll hat, so sehen zu gleicher Zeit seine Augen einen, der mit
Hereinschieben betätigt ist, an. Und die Leute lachen nicht einmal, auch
ich nicht. Seit ich in Berlin bin, habe ich mir abgewöhnt, das
Menschheitliche lächerlich zu finden. Übrigens lasse ich mir in diesem
Augenblick selber ein neues Eßzauberstück geben, es ist dies ein
Brotbrett mit einer schlafenden Sardine darauf, sie liegt auf einem
Butterlaken, dies gewährt einen so reizenden Anblick, daß ich das ganze
Schauspiel beinahe auf einen Ruck in den offenen Drehbühnen-Rachen
hinunterwerfe. Ist so etwas lächerlich? Keineswegs. Nun also. Was an mir
nicht lächerlich ist, kann es an den andern noch weniger sein, denn man
hat die Pflicht, andere unter allen Umständen höher zu achten, als sich
selber, eine Weltanschauung, die zu dem Ernst, mit dem ich jetzt an den
ruckweisen Untergang meines Sardinennachtlagers denke, prächtig paßt.
Einige von den Menschen, die mich umgeben, unterhalten sich essend. Die
Gewichtigkeit, mit der sie solches tun, ist ansprechend. Wenn man schon
dabei ist, etwas zu unternehmen, unternehme man es würdig und sachlich.
Würde und Selbstbewußtsein wirken behaglich, auf mich wenigstens, und
deshalb stehe ich so gern in irgendeinem von unsern Aschingerhäusern, wo
die Menschen zu gleicher Zeit trinken, essen, reden und denken. Wie
viele Geschäfte sind hier schon ersonnen worden. Und das Schönste ist:
man kann stundenlang am Fleck stehen, das verletzt niemanden, das findet
kein einziger von all denen, die kommen und gehen, auffällig. Wer hier
an der Bescheidenheit Geschmack findet, der kann auskommen, er kann
leben, es hindert ihn niemand. Wer keine gar so besondere Herzlichkeit
beansprucht, der darf ein Herz haben, man erlaubt ihm das.



Markt


Ein Wochenmarkt ist etwas Helles, Lebendiges, Reichliches und Lustiges.
Durch die breite, sonst so stille Straße ziehen sich zwei lange, von
Lücken unterbrochene Reihen Warenstände, belegt und behängt mit allem,
was Haushaltungen und Familien tagtäglich nötig haben. Die Sonne, die
sonst hier herum herrisch und träge liegen kann, hat heute zu springen
und zu blitzen, sozusagen zu fuchteln, denn jedes bewegliche Ding, das
hier herumrührt, jeder Gegenstand, jeder Hut, jede Schürze, jeder Topf,
jede Wurst, alles will angeblendet sein. Würste in Sonnenschein gebadet
sehen prächtig aus. Das Fleisch prahlt und prunkt von den Haken, an
denen es hängt, stolz und purpurrot herunter. Das Gemüse grünt und
lacht, Apfelsinen scherzen in prachtvoll gelben Mengen, Fische schwimmen
in breiten wassergefüllten Kübeln. Man steht so, und dann tut man einen
Schritt. Man tut. Es kommt so genau nicht darauf an, ob der geplante,
probierte und ausgeführte Schritt wirklich ein wahrhaftiger Schritt ist.
Dieses fröhliche, einfache Leben, wie es bescheiden anzieht, wie es
einen kleinbürgerlich und häuslich anlacht. Dazu ist der Himmel von
einem allererstklassigen Blau. Erstklassig! Man will sich nicht zu dem
Wort »süß« versteigen. Wo man Poesie empfindet, bedarf's keinerlei
poetischer Anwandlungen. »Drei Abbelsinen for'n Jroschen.« Wie oft,
Mann, hast du das eigentlich schon bald mal gesagt? Welche Auswahl
prächtiger, dicker Weiber. Unfeine Menschenfiguren mahnen so recht an
die Erde, an das Landweben und -leben, den Gott selbst, der sicher auch
keinen gar so übertrieben schönen Leib hat. Gott ist das Gegenteil von
Rodin. Wie entzückend ist das: an etwas Bäurischem ein wenig, wenn auch
nur für einen »Jroschen« Geschmack empfinden zu dürfen. Frische Eier,
Landschinken, Land- und Stadtleberwürste! Ich muß es heraussagen: ich
stehe und taugenichtse gern in der Nähe von lockenden Eßwaren umher.
Wieder erinnert's ans lebhaft Vergängliche, und das Lebendige ist mir
lieber als das Unsterbliche. Hier sind Blumen, dort Kachelgeschirre,
nebenan Käse, Schweizer, Tilsiter, Holländer, Harzer, und entsprechender
Geruch dazu. Wenn man nun in die Ferne schaut, so wimmelt es von
Landschaftsmalmotiven, schaut man zur Erde, so entdeckt man Schalen von
Äpfeln und Nüssen, Fleischabfälle, Papierreste, halbe und ganze
Weltblätter, einen Hosenknopf, ein Strumpfband. Blickt man hoch auf, so
ist es ein Himmel, blickt man gerade vor sich, so ist es ein
Durchschnittsmenschengesicht, von Durchschnittstagen und -nächten redet
man nicht, von einer Durchschnittsnatur auch nicht. Ist denn nicht das
Durchschnittliche das Festeste und Beste? Ich bedanke mich für Genietage
und -wochen, oder für einen außergewöhnlichen Herrgott. Das Bewegliche
ist stets das Gerechteste. -- Und wie zierlich können einen Bauernweiber
angucken. Mit welch seltsamen leisen Gebärden sich hin und her drehen.
Der Markt läßt immer ein Stück Landahnung im Stadtviertel zurück,
gleichsam, um es aus seinem monotonen Hochmut aufzurütteln. Wie hübsch
ist das, daß alle diese Kaufgegenstände in der freien, frischen Luft
liegen. Jungens kaufen sich warme Würste, sie lassen sich dieselben der
ganzen saftigen Länge nach an- und abstreichen, damit sie sie gleich
kunstgerecht verzehren können. Essen paßt so gut unter den blauen, hohen
Himmel. Wie reizend sehen mir da die üppigen Blumenkohlbüschel aus. Ich
vergleiche sie (nicht ganz gern) mit weiblichen straffen Brüsten. Der
Vergleich ist impertinent, wenn er nicht klappt. Wieviel Frauen da um
einen herum sind. Aber der Markt geht, sehe ich, zu Ende. Die Zeit des
Abrüstens ist da. Obst wird in Körbe zusammengescharrt. Bücklinge und
Sprotten werden eingepackt, Buden abgeschlagen. Das Gewimmel hat sich
verzogen. Nach kurzer Zeit wird die Straße wieder ihr vorheriges
Aussehen zurückerwischt haben. Adieu Farben. Adieu vielerlei. Adieu
Gesprenkel von Lauten, Düften, Bewegungen, Schritten und Lichtern.
Übrigens habe ich ein Pfund Wallnüsse eingehandelt. So kann ich nun nach
Hause traben, in meine Wi-wi- und Wä-wä-Kindergeschrei-Wohnung. Ich esse
so ziemlich alles gern, aber wenn ich Nuß esse, bin ich direkt
glücklich.



Dinerabend


O, in Gesellschaft zu gehen, das ist gar nicht so ohne. Man zieht sich
so hübsch an, wie es einem die Verhältnisse, in denen man vegetiert,
gestatten, und begibt sich an Ort und Stelle. Der Diener öffnet die
gastliche Pforte. Gastliche Pforte? Ein etwas feuilletonistischer
Ausdruck, aber ich liebe es, mich im Stil kleiner Tagesware zu bewegen.
Ich gebe mit so viel Manier, als ich kann, Hut und Mantel ab, streiche
mein ohnehin glattes Haar vor dem Spiegel noch ein wenig glätter, trete
ein, stürze mich dicht vor die Herrin des Hauses, möchte ihr die Hand
gleich küssen, gebe indessen diesen Gedanken auf und begnüge mich damit,
eine vollendete (?) Verbeugung vor ihr zu machen. Vollendet oder nicht,
vom geselligen Zug hingerissen, entfalte ich jetzt eine Menge Schwung
und übe mich in den Tönen und Sitten, die zu den Lichtern und Blumen am
besten zu passen scheinen. »Zum Essen, Kinder«, ruft die Hausfrau aus.
Schon will ich rennen, ich erinnere mich aber rasch, daß man so etwas
nicht tun soll, und ich zwinge mich zu einer langsamen, ruhigen,
stolzen, bescheidenen, gelassenen, geduldigen, lächelnden, flüsternden
und schicklichen Gangart. Es geht vortrefflich. Entzückend sieht mir da
wieder einmal die Tafel aus. Man setzt sich, mit und ohne Dame. Ich
prüfe das Arrangement und nenne es im stillen ein schönes. Wäre noch
schöner, wenn einer wie ich irgend was an der Dekoration auszusetzen
hätte. Gottlob, ich bin bescheiden, ich danke, indem ich jetzt zugreife,
zugable und messere und löffle und esse. Wunderbar schmecken einem
gesunden Menschen solch zartsinnig zubereitete Speisen, und das Besteck,
wie es glänzt, die Gläser, wie sie beinahe duften, die Blumen, wie sie
freundlich grüßen und lispeln. Und jetzt lispelt auch schon meinerseits
eine ziemlich ungenierte Unterhaltung. Nimmt mich bald einmal selber
wunder, wo und wie ich's hernehme, dieses Weltbetragen, derart Essen zum
Mund führen, und dazwischen parlieren zu können. Wie doch die Gesichter
purpurn anlaufen, je mehr Speisen und Weine dahergetragen werden. Schon
könnte man satt sein, wenn man wollte, aber man will nicht, und zwar in
erster Linie aus Schicklichkeitsgründen. Man hat weiter zu danken und
weiter zu essen. Appetitlosigkeit ist eine Sünde an so reichbesetzten
Tischen. Ich gieße immer mehr flüssige und leuchtende Laune in die
allezeit, wie es scheint, durstige Kehle hinunter. Wie das anhumort.
Jetzt schenkt der Diener auch noch aus dicken Flaschen schäumende
Begeisterung ein, in Gläser, breitgeformte, in denen das holde Wasser
wie in schönen Seebecken ruhen und glänzen kann. Und nun prosten alle,
Damen und Herren, einander zu, ich mache es nach, ich geborner
Nachahmer. Aber stützt sich denn nicht alles, was in der Gesellschaft
taktvoll und lieblich ist, auf die fortlaufende Nachahmung? Nachahmer
sind in der Regel glückliche Kerls, so ich. Ich bin in der Tat ganz
glücklich, schicklich und unauffällig sein zu dürfen. Und jetzt erhebt
sich der leichte Witz, die Zunge wird lose, das lachende Wort will
jedesmal an die sorglose, süße Ungezogenheit streifen. Es lebe, es lebe!
Wie dumm! Aber das Schöne und Reiche ist immer ein ganz klein wenig
dumm. Es gibt Menschen, die plötzlich lachen müssen beim Küssen. Das
Glück ist ein Kind, das »heute« wieder gottlob einmal nicht zur Schule
zu gehen braucht. Immer wieder wird eingeschenkt, und das wie von
unsichtbarer Geisterhand Eingegossene wird hinuntergeschüttet. Ich
schütte geradezu unedel hinunter. Aber die silbernen Flügel hübschen
Anstandes rauschen um mich und zwicken mich öfters mahnend an die
Wangen. Hinwiederum verpflichten die Weine und die Schönheit der Frauen
zu leisen, feinen Unverschämtheiten. Die Verzeihung dazu ist der
Kirschkuchen, der jetzt galant serviert wird. O, ich freue mich über das
alles, ich Proletarier, was ich bin. Mein Gesicht ist ein wahres,
hochrotes Eßgesicht, aber essen Aristokraten etwa nicht auch? Es ist
dumm, allzufein sein zu wollen. Die Eß- und Trinklust hat vielleicht
einen ganz aparten feinen Ton des Umganges. Das Wohlbefinden bewegt sich
möglicherweise noch am zartesten. Das sage ich so. Was? Auch noch Käse?
Und noch Obst und jetzt noch einmal einen See voll Sekt? Und nun steht
man auf, um vorsichtig nach Zigarren angeln zu gehen. Man spaziert durch
die Räume. Welche Weltsicherheit. In reizenden kleinen Nischen setzt man
sich ungezwungen und eng neben die Damen nieder. Alsdann, um es nicht
ganz zu verlernen, schritthüpft man zu den Likörtischen, um sich in
Wolken von Genüssen von neuem einzuhüllen. Der Herr des Hauses scheint
fröhlich. Das genügt, um sich wie sonnenbeschienen vorzukommen. Lässig
und witzig redet man zum weiblichen Geschlecht, wenn man kann. Immer
zündet man sich neue Zigarettenstangen an. Das Vergnügen, einen neuen
Menschen kennen zu lernen, tippt einen an die Stirne, kurz, es ist ein
beständiges, gutes, dummes, behagliches Lachen um einen herum. Nichts
kann mehr aufregend sein. Gewöhnt an das Schwelgen, bewegt man sich mit
einer behäbigen Sicherheit und mit dem Mindestmaß an Formen im Glanz und
im Menschenkranz einher, daß man leise und glücklich staunen muß, es im
Leben so weit gebracht zu haben. Spät sagt man gute Nacht, und dem
Diener drückt man mit Gewicht sein in mancherlei Beziehung redlich
verdientes Trinkgeld in die Hand.



Friedrichstraße


Oben ist ein schmaler Streifen Himmel, unten der glatte, schwärzliche,
gleichsam von Schicksalen polierte Boden. Die Häuser zu beiden Seiten
ragen kühn, zierlich und phantastisch in die architektonische Höhe. Die
Luft bebt und erschrickt von Weltleben. Bis zu den Dächern hinauf und
über die Dächer noch hinaus schweben und kleben Reklamen. Große
Buchstaben fallen in die Augen. Und immer gehen hier Menschen. Noch nie,
seit sie ist, hat in dieser Straße das Leben aufgehört zu leben. Hier
ist das Herz, die unaufhörlich atmende Brust des großstädtischen Lebens.
Hier atmet es hoch auf und tief nieder, als wenn das Leben selber über
seinem Schritt und Tritt unangenehm beengt wäre. Hier ist die Quelle,
der Bach, der Fluß, der Strom und das Meer der Bewegungen. Niemals
sterben hier die Bewegungen und die Erregungen ganz aus, und wenn das
Leben am obern Ende der Straße beinahe aufhören will, so fängt es am
untern Ende von neuem an. Arbeit und Vergnügen, Laster und guter Trieb,
Streben und Müßiggang, Edelsinn und Niedertracht, Liebe und Haß,
feuriges und höhnisches Wesen, Buntheit und Einfachheit, Armut und
Reichtum schimmern, glitzern, blöden, träumen, eilen und stolpern hier
wild und zugleich ohnmächtig durcheinander. Eine Fessel ohnegleichen
bändigt und sänftigt hier die Leidenschaften, und Verlockungen ohne Zahl
führen zugleich in die begehrlichen Versuchungen, derart, daß die
Entsagung mit dem Rockärmel den Rücken der befriedigten Begierde
streifen, daß die Unersättlichkeit mit den lodernden Augen in den weisen
Frieden der Augen des Durch-sich-selbst-gesättigten schauen muß. Hier
klaffen Abgründe, hier herrschen und gebieten bis zum offenen Unanstand,
durch den sich kein vernünftiger Mensch verletzen läßt, Gegensätze, die
unbeschreiblich sind. Wagen fahren immer an Menschenleibern, -köpfen und
-händen dicht vorüber, und auf den Verdecken und im hohlen Innern der
Wagen sitzen, dicht aneinandergepreßt und geknechtet, Menschen, die aus
irgendwelchen Gründen hier drinnen sitzen, hier oben sitzen, sich
drängen und pressen und fahren lassen. Für jede Dummheit gibt es hier
unsagbar rasch rechtfertigende, gute, kluge Gründe. Jede Torheit ist
hier durch die offenbare Schwierigkeit des Lebens geadelt und geheiligt.
Jede Bewegung hat Sinn, jeder Ton hat hier praktische Ursache, und aus
jedem Lächeln, jeder Geste, jedem Wort strahlt eine sonderbar anmutige
Gesetztheit und Korrektheit billigend hervor. Hier billigt man alles,
weil jeder einzelne, durch den Zwang des zusammengeknebelten Verkehrs
genötigt, ohne Zaudern alles, was er hört und sieht, billigen muß. Zu
Mißbilligungen scheint niemand Lust, zu Abneinungen niemand Zeit und zu
Unlust niemand ein Recht zu haben, denn hier, und das ist das
Großartige, fühlen sich alle auf leichte, vorwärtshelfende Manier,
gleichsam säuberlich, verpflichtet. Jeder Bettler, Gauner, Unhold usw.
ist hier Mitmensch und muß einstweilen, weil alles schiebt, stößt und
drängt, als etwas Mithinzugehöriges geduldet werden. Ah, hier ist die
Heimat der Nichtswürdigen, der Kleinen, nein, der ganz Kleinen, der
irgendwo und wann schon einmal Entehrten, hier, hier herrscht Duldung,
und zwar deshalb, weil sich niemand mit Ungeduld und Unfrieden aufhalten
und abgeben will. Hier wird im Sonnenschein friedlich spaziert, wie auf
einer entlegenen stillen Bergesmatte, und im Laternenschimmer elegant
gebummelt wie in einem Feenmärchen voller Zauberkünste und -worte.
Wunderbar ist, wie der zweiteilige Menschenstrom auf den Trottoirs
unaufhaltbar und unaufhörlich ist, gleich einem dickflüssigen,
schimmernden, vielbedeutenden Wasser, und herrlich ist, wie hier die
Qualen gemeistert, die Wunden verschwiegen, die Träume gefesselt, die
Brünste gebändigt, die Freuden unterdrückt und die Begierden gemäßigt
werden, weil alles Rücksicht, Rücksicht und nochmals liebende und
achtende Rücksicht nehmen muß. Wo der Mensch so nah am Menschen ist, da
erhält der Begriff Nebenmensch eine tatsächlich geübte, begriffene und
rasch verstandene Bedeutung, und es darf da niemandem mehr einfallen,
überlaut zu lachen, übereifrig sich seinen persönlichen Bedrängnissen
hinzugeben oder überhastig Geschäfte machen zu wollen, und doch, welch
eine hinreißende betörende Hast ist in all der scheinbaren Gedrängtheit
und Besonnenheit. Die Sonne scheint hier in einer Stunde auf unzählige
Köpfe, der Regen netzt und näßt hier einen Boden, der gesalbt ist
gleichsam von Lustspielen und Tragödien, und abends, ah, wenn es beginnt
zu dunkeln und wenn die Lichter angezündet werden, tut sich ein Vorhang
langsam auf, um in ein Stück üppig voll immer derselben Gewohnheiten,
Lüsternheiten und Begebenheiten schauen zu lassen. Die Sirene Vergnügen
fängt dann an in himmlisch lockenden und anmutenden Tönen zu singen, und
Seelen werden dann zerrissen von den vibrierenden Wünschen und
Nichtbefriedigungen, und ein Geldauswerfen beginnt dann, wie es der
bescheidene kluge Begriff nicht kennt, wie es sich kaum eine
dichterische Phantasie mühselig vorstellen kann. Ein wollüstig auf und
nieder atmender Körpertraum sinkt dann auf die Straße herab, und alles
läuft, läuft und läuft diesem vorherrschenden Traum mit ungewissen
Schritten nach.



Berlin W


Es scheint hier jedermann zu wissen, was sich schickt, und das erzeugt
eine gewisse Kälte, und es scheint ferner, daß hier jedermann sich durch
sich selbst behauptet, und dies ruft die Ungestörtheit hervor, die der
Neuling hier bewundert. Die Armut scheint hinausgeschoben in die
Viertel, die an die offenen Felder streifen oder nach innen ins Düster
und Dunkel der Hinterhäuser gedrängt, die von den herrschaftlichen
Vorderhäusern verdeckt werden wie von mächtigen Körpern. Es scheint, als
habe hier die Menschheit aufgehört zu seufzen und angefangen, ihres
Lebens und Daseins endgültig froh zu sein. Doch der Schein trügt, und
die Pracht und Eleganz sind nur ein Traum. Aber auch das Elend ist
vielleicht nur eine Einbildung. Was die Eleganz des Westens von Berlin
betrifft, so scheint sie ausgezeichnet durch Lebhaftigkeit und zugleich
ein wenig verdorben durch die Unmöglichkeit, sie ruhig zu entfalten. Es
steckt hier übrigens alles in einer fortlaufenden Entfaltung und
Veränderung. Die Männer sind ebenso bescheiden wie unritterlich, und man
kann sehr glücklich darüber sein, denn die Ritterlichkeit ist stets zu
drei Vierteln unpassend. Die Galanterie ist etwas außerordentlich Dummes
und Vorlautes. Es gibt hier demnach wenig gefühlvolle Auftritte, und wo
sich irgendein feinsinniges Abenteuer entspinnt, merkt man es gar nicht,
das ist doch immerhin sehr fein. Die Herrenwelt ist heute eine
Geschäftswelt, und wer Geld verdienen muß, hat keine oder wenig Zeit,
sich auffallend schön zu benehmen. Daher eine gewisse rauhe abfertigende
Tonart. Im allgemeinen gibt es viel Amüsantes im Westen; die
Lächerlichkeiten leben so reizend und hübsch, wie man es sich nur
träumen kann, weiter. Da ist die Emporkömmlingin, eine Gewaltsdame, naiv
wie ein kleines Kind. Ich persönlich schätze sie sehr, weil sie so üppig
und zugleich so drollig ist. Da ist die »Kleine vom Kurfürstendamm«. Sie
gleicht einer Gemse, und es ist viel Braves und Liebes an ihr. Da ist
der Lebegreis. Es spazieren nur noch sehr wenige Exemplare dieses
Kalibers in der Welt, die zu leben weiß, herum. Die Sorte ist im
Aussterben begriffen, und ich finde, daß das sehr schade ist. Ich sah
neulich einen solchen Herrn, er kam mir wie eine Erscheinung aus
verschwundenen Zeiten vor. Da haben wir wieder etwas anderes, den
reichgewordenen ländlichen Ansiedler. Er hat sich noch nicht abgewöhnt,
Augen zu machen, wie wenn er über sich selbst und über das Glück, in dem
er sitzt, staune. Er benimmt sich viel zu sittsam, so, als fürchte er,
zu offenbaren, woher er stamme. Da haben wir wieder die ganz, ganz
gestrenge Gnädige aus der Bismarckzeit. Ich bin ein Bewunderer von
strengen Gesichtern und von ins Wesen des Menschen übergegangenen guten
Manieren. Mich rührt ja überhaupt das Alte, sowohl an Bauten wie an
Menschengestalten; deswegen erquickt mich aber das Frische, Neue und
Junge nicht weniger; und jung ist's hier, und gesund scheint mir der
Westen zu sein. Sollte eine gewisse Portion Gesundheit eine gewisse
Portion Schönheit verdrängen? Mitnichten. Das Lebhafte ist zuletzt das
Schönste. Nun ja, vielleicht wedle und scharwenzle und schmeichle ich
jetzt ein bißchen; wie z. B. durch folgenden Satz: Die hiesigen Frauen
sind schön und anmutig! Die Gärten sind sauber, die Architektur ist
vielleicht ein wenig drastisch, was kann das mich kümmern. Es ist heute
ja jedermann überzeugt, daß wir Stümper sind im Großen, Stilvollen und
Monumentalen und wahrscheinlich deshalb, weil in uns zu sehr der Wunsch
lebt, Stil, Größe und Monumentalität zu besitzen oder zu erzeugen.
Wünsche sind schlimme Dinge. Unser Zeitalter ist entschieden das
Zeitalter der Empfindlichkeit und Rechtlichkeit, und das ist doch sehr
hübsch von uns. Wir haben Fürsorgeanstalten, Krankenhäuser,
Säuglingsheime, und ich bilde mir gerne ein, das sei doch auch etwas.
Wozu alles wollen? Man denke an die Schauder der alten Fritzen-Kriege
und an sein -- Sanssouci. Wir haben wenig Gegensätze; das beweist, daß
wir uns danach sehnen, ein gutes Gewissen zu haben. Aber wie schwenke
ich da nur ab. Darf man das? Es gibt einen sogenannten alten Westen,
einen neueren Westen (rund um die Gedächtniskirche) und einen ganz neuen
Westen. Der mittlere ist vielleicht der netteste. Ganz bestimmt trifft
man in der Tauenzienstraße die höchste und meiste Eleganz an; der
Kurfürstendamm ist reizend mit seinen Bäumen und seinen Kaleschen. Ich
sehe mich mit großem Bedauern schon an den Rahmen meines Aufsatzes
anstoßen, in der fatalen Überzeugung, daß ich vieles, was ich unbedingt
habe sagen wollen, gar nicht gesagt habe.



Ballonfahrt


Die drei Menschen, der Kapitän, ein Herr und ein junges Mädchen, steigen
in den Korb ein, die befestigenden Stricke werden losgeknöpft, und das
seltsame Haus fliegt langsam, als ob es sich erst noch auf irgend etwas
besänne, in die Höhe; gute Reise!, rufen die versammelten Menschen von
unten her, hüte- und taschentuchschwenkend, nach. Es ist zehn Uhr abends
im Sommer. Der Kapitän zieht eine Landkarte zu einer Tasche heraus und
bittet den Herrn, sich mit Kartenlesen beschäftigen zu wollen. Man kann
lesen und vergleichen, alles Sichtbare ist hell. Es hat alles eine
beinahe bräunliche Helle. Die schöne Mondnacht scheint den prachtvollen
Ballon in unsichtbare Arme zu nehmen, sanft und still fliegt der
rundliche Körper zur Höhe, und nun wird er, kaum, daß man es bemerkt,
von feinen Winden nördlich getrieben. Der kartenstudierende Herr wirft
von Zeit zu Zeit auf Anleitung des Führers eine Hand voll Ballast in die
Tiefe hinunter. Es befinden sich fünf Säcke voll Sand an Bord, und es
muß sparsam damit umgegangen werden. Wie schön ist die runde, blasse,
dunkle Tiefe. Das liebe, bedeutsame Mondlicht macht die Flüsse silbern
kenntlich. Man sieht Häuser da unten, so klein, dem unschuldigen
Spielzeug ähnlich. Die Wälder scheinen dunkle, uralte Lieder zu singen,
aber dieser Gesang mutet eher wie eine edle, stumme Wissenschaft an. Das
Bild der Erde sieht den Zügen eines schlafenden, großen Mannes ähnlich,
wenigstens träumt so das jugendliche Mädchen, es läßt seine bezaubernde
Hand träge über den Rand des Korbes herabhängen. Einer Kaprice zufolge
ist der Kopf des Kavaliers mit einem ritterlichen Federhut bedeckt, im
übrigen ist er modern gekleidet. Wie still die Erde ist. Man sieht alles
deutlich, die einzelnen Menschen in den Dorfgassen, die Kirchspitzen,
den Knecht, wie er, vom langen Tagwerk ermüdet, schwerfällig über den
Hof schreitet, die geisterhafte, vorbeisausende Eisenbahn, die
blendendweiße lange Landstraße. Bekanntes und unbekanntes Menschenleid
scheint von unten heraufzumurmeln. Die Einsamkeit verlorner Gegenden hat
ihren besondern Ton, und man meint, dieses Besondere, dieses
Unverständliche verstehen, ja sogar sehen zu sollen. Wundervoll blendet
jetzt die drei Menschen der herrlich gefärbte und beleuchtete Lauf der
Elbe an. Der nächtliche Strom entreißt dem Mädchen einen leisen
Sehnsuchtsschrei. An was mag sie denken? Sie nimmt von einem Bukett, das
sie mitgenommen hat, eine dunkle, prangende Rose und wirft sie ins
glitzernde Wasser. Wie ihre Augen traurig dabei blitzen. Es ist, als
wenn die junge Frau jetzt qualvollen Lebenskampf hinuntergeworfen hätte,
für immer. Es ist ein großer Schmerz, von einer Qual Abschied nehmen zu
müssen. Und wie lautlos die ganze Welt ist. In der Ferne glitzern die
Lichter eines Hauptortes, der Kapitän nennt sachkundig den Namen der
Stadt. Schöne, verlockende Tiefe! Man hat schon unzählige Stücke Wälder
und Felder hinter sich, es ist jetzt Mitternacht. Jetzt schleicht auf
der festen Erde irgendwo ein beutelauernder Dieb, Einbruch geschieht,
und alle diese Menschen in ihren Betten da unten, dieser große Schlaf,
geschlafen von Millionen. Eine ganze Erde träumt jetzt, und ein Volk
ruht von Mühsalen aus. Das Mädchen lächelt. Und wie es warm ist, es ist,
als säße man in einer heimatanmutenden Stube, bei Mutter, Tante,
Schwester, Bruder, oder bei dem Geliebten, bei der friedlichen Lampe und
läse in einer schönen, aber etwas eintönigen, langen, langen Geschichte.
Das Mädchen will einschlafen, sie ist jetzt etwas ermüdet vom Schauen.
Die beiden im Korb stehenden Männer blicken schweigend aber fest in die
Nacht hinaus. Merkwürdige weiße, gleichsam blank geputzte Ebenen
wechseln mit Gärten und kleinen Buschwildnissen ab. Man sieht in
Gegenden hinunter, in die einen der Fuß nie, nie hintrüge, weil man in
gewissen, ja, in den meisten Gegenden nie etwas Zweckvolles zu suchen
hat. Wie groß und wie unbekannt uns die Erde ist!, denkt der
federhutbedeckte Herr. Ja, das eigene Vaterland wird hier oben, Blicke
hinunterwerfend, endlich zum Teil verständlich. Man empfindet, wie
unerforscht und wie kraftvoll es ist. Zwei Provinzen sind durchwandert,
als es beginnt zu tagen. Unten in den Siedelungen erwacht schon wieder
das menschliche Leben. »Wie heißt dieser Ort?« schreit der Führer
hinunter. Eine helle Jungenstimme antwortet. Und immer noch schauen die
drei Menschen; auch das Mädchen ist jetzt wieder erwacht. Es zeigen sich
jetzt Farben, und die Dinge werden bestimmter. Man sieht Seen in ihren
zeichnerischen Umrissen, wundervoll zwischen Wäldern verborgen, man
erblickt Ruinen alter Festungen zwischen altem Laubwerk hochaufragen;
Hügel erheben sich fast spurlos, Schwäne sieht man weißlich im Gewässer
zittern, und Stimmen des menschlichen Lebens werden sympathisch laut,
und man fliegt immer weiter, und endlich zeigt sich die herrliche Sonne,
und von diesem stolzen Gestirn angezogen schießt der Ballon in
zauberische, schwindelerregende Höhe. Das Mädchen stößt einen
Schreckensschrei aus. Die Männer lachen.



Tiergarten


Vom Zoologischen Garten her tönt Regimentsmusik. Man geht so, ganz
gemächlich. Ist es denn nicht Sonntag? Wie warm es ist. Jedermann
scheint erstaunt darüber zu sein, daß es jetzt, wie auf Zauberschlag, so
leicht, so hell, so warm ist. Wärme allein gibt schon Farbe. Die Umwelt
ist wie ein Lächeln, und es wird einem ganz weiblich zumut. Wie gern
möchte ich jetzt (beinahe) ein Kind auf dem Arm tragen und treubesorgtes
Dienstmädchen spielen. Wie stimmt der beginnende, herzbetörende Frühling
zärtlich. Ich könnte, bilde ich mir ein, geradezu Mutter sein. Im
Frühling, so scheint es, werden Männer und Mannestaten plötzlich so
überflüssig, so dumm. Nur keine Tat jetzt. Horchen, bleiben, am Fleck
stehen. Göttlich durch ganz weniges berührt sein. In dieses wonnensüße
kindheitartige Grün schauen. Ach, ist doch Berlin und sein Tiergarten
jetzt schön. Es wimmelt von Menschen. Die Menschen sind starke,
bewegliche Flecke im zarten, verlornen Sonnenschimmer. Oben ist der
lichtblaue Himmel, der wie ein Traum das untenliegende Grün berührt. Die
Leute gehen leicht und bequem, so, als fürchteten sie, in
Marschierschritt und in grobes Gebärden zu verfallen. Es soll Leute
geben, die nie daran denken, oder die sich zieren, sich am Sonntag auf
eine Tiergartenbank zu setzen. Wie doch solche Leute sich des
reizendsten Vergnügens berauben. Ich selbst finde das Sonntagspublikum
in seiner offensichtlichen harmlosen Sonntagslust bedeutender als alles
Kairo- und Rivierareisen. Da wird das Harte gefällig, das Starre
lieblich, und alle Linien und Gewöhnlichkeiten gehen traumhaft
ineinander über. Unnennbar zart ist solch ein allgemeines Spazieren. Die
Spaziergänger verlieren sich bald einzeln, bald in anmutigen dichten
Gruppen oder Haufen zwischen den Bäumen, die hoch oben noch luftig-kahl
sind, und zwischen dem niedrigen Gesträuch, das ein Hauch von jungem,
süßem Grün ist. Es zittert und bebt in der weichen Luft von Knospen, die
zu singen, zu tanzen, zu schweben scheinen. Das ganze Tiergartenbild ist
wie ein gemaltes Bild, dann wie ein Traum, dann wie ein weitschweifiger
angenehmer Kuß. Überall ist leichte, verständliche Lockung zum lange
Hinschauen. Auf einer Bank am Schiffahrtskanal sitzen zwei Ammen im
schneeweißen imposanten Kopfputz, weißer Schürze und knallroten Röcken.
Indem man geht, ist man befriedigt; indem man sitzt, ist man ganz ruhig
und schaut gelassen in die Augen der vorübergehenden Gestalten. Diese
sind Kinder, an Leinen geführte Hunde, Soldaten mit dem Mädel im Arm,
schöne Frauen, kokette Damen, alleinstehende, -tretende und -gehende
Herren, ganze Familien, schüchterne Liebespaare. Schleier wehen, grüne
und blaue und gelbliche. Dunkle und helle Kleider wechseln ab. Die
Herren tragen meistens die unvermeidlichen trockenen halbhohen steifen
Hügelhüte auf den Kegelköpfen. Man möchte lachen und zugleich ernst
sein. Es ist alles zugleich lustig und heilig, und man ist sehr ernst
dabei, wie alle. Alle zeigen denselben schicklichen leichten Ernst. Ist
nicht so auch der Himmel, der auch so ein Gesicht macht, als spreche er:
»Wie wunderbar ist mir?« Jetzt huschen, freundlichen Schemen ähnlich,
windähnliche Schatten durch die Bäume, über die hellen weißen Wege,
wohin? Man weiß es nicht. Kaum sieht man es, so zart ist es. Maler
machen auf solche Delikatessen aufmerksam. In einiger sanfter Entfernung
rollen roträdrige Droschken durch das milde grüne Gewebe, als gleite ein
rotes Band durch ein Stück zartes Frauenhaar. Alles atmet Fraulichkeit,
alles ist Helle und Milde, alles ist so weit, so durchsichtig, so rund,
nach allen Seiten dreht man den Sonntagskopf, um die Sonntagswelt hübsch
zu genießen. Menschen machen das Ganze eigentlich. Ohne die Menschen
würde man die Schönheit des Tiergartens nicht sehen, nicht merken, nicht
empfinden. Wie das Publikum ist? Na, gemischt, alles durcheinander,
Elegantes und Einfaches, Stolzes und Demütiges, Fröhliches und
Besorgtes. Ich selbst sorge mit meiner eigenen Person ebenfalls für
Buntheit und trage mit zur Gemischtheit bei. Ich bin gemischt genug.
Doch wo ist der Traum? Laß uns ihn doch noch rasch einmal betrachten.
Auf einer rundgebogenen Brücke stehen viele Leute. Man steht selbst da,
lehnt sich leicht und voll guter Manier an das Geländer und schaut hinab
in das zärtlich-bläulich glimmende, warme Wasser, wo Boote und Kähne,
menschenbesetzt und fähnchengeschmückt, leise, wie von guten Ahnungen
gezogen, umherfahren. Die Schiffe und Gondeln schimmern in der Sonne. Da
bricht ein Stück dunkles Samtgrün aus der Lichtheit hervor, es ist eine
Bluse. Enten mit farbigen Köpfen schaukeln auf dem Gekräusel und
Gezitter des Wassers, das manchmal schimmert wie Bronze oder wie
Emaille. Herrlich ist es, wie das Feld des Wassers so eng und so klein
ist und doch so vollbesetzt mit gleitenden Lustkähnen und
Freudenfarben-Hüten. Überall, wohin man blickt, glänzt und bricht der
Damenhut mit rot, blau und andern Augengenüssen aus dem Gebüsch hervor.
Wie ist alles so einfach. Wohin geht man jetzt? In ein Kaffeehaus?
Wirklich? Ist man jetzt so barbarisch? Jawohl, man tut's. Was tut man
nicht alles? Wie schön ist es, zu tun, was ein anderer ebenfalls tut.
Wie ist er nur schön, der Tiergarten. Welcher Einwohner von Berlin
liebte ihn nicht?



Die kleine Berlinerin


Heute hat mir Papa eine Ohrfeige gegeben, natürlich eine echt
väterliche, eine zärtliche. Ich gebrauchte die Redensart: »Vater, du
hast wohl einen Knall.« Das war allerdings ein wenig unvorsichtig.
»Damen sollen sich einer gewählten Sprache bedienen«, sagt unsere
Deutschlehrerin. Sie ist entsetzlich. Aber Papa will nicht haben, daß
ich diese Person lächerlich finde, und vielleicht hat er recht. Man geht
schließlich zur Schule, um einen gewissen Lerneifer und einen gewissen
Respekt an den Tag zu legen. Übrigens ist es billig und unedel, an den
Mitmenschen Komisches zu entdecken und darüber zu lachen. Junge Damen
sollen sich an das Feine und Edle gewöhnen, das sehe ich sehr gut ein.
Man verlangt keine Arbeit von mir, man wird nie eine solche von mir
fordern, dafür aber wird man vornehmes Wesen bei mir voraussetzen. Werde
ich im späteren Leben irgendwelchen Beruf ausüben? Nicht doch. Ich werde
eine junge feine Frau sein, ich werde mich verheiraten. Es ist möglich,
daß ich meinen Mann quälen werde. Doch das wäre fürchterlich. Man
verachtet sich immer selbst, sobald man einen andern glaubt verachten zu
sollen. Ich bin zwölf Jahre alt. Ich muß geistig sehr entwickelt sein,
sonst würde ich niemals an so etwas denken. Werde ich Kinder haben? Und
wie wird das zugehen? Wenn mein zukünftiger Mann kein verachtungswürdiger
Mensch sein wird, dann, ja dann, das glaube ich bestimmt,
werde ich ein Kind haben. Dann werde ich dieses Kind erziehen.
Aber ich bedarf ja selber noch der Erziehung. Wie man nur so dummes Zeug
denken kann.

Berlin ist die schönste, die bildungsreichste Stadt der Welt. Ich wäre
abscheulich, wenn ich hiervon nicht felsenfest überzeugt wäre. Lebt
nicht hier der Kaiser? Würde er hier zu wohnen nötig haben, wenn es ihm
hier nicht am besten gefiele? Neulich sah ich Kronprinzens im offenen
Wagen. Sie sind entzückend. Der Kronprinz sieht wie ein junger, heiterer
Gott aus, und wie schön erschien mir die hohe Frau an seiner Seite. Sie
war ganz in duftende Pelze gehüllt. Es schien Blüten aus dem blauen
Himmel auf das Paar herabzuregnen. Der Tiergarten ist herrlich. Ich gehe
beinahe jeden Tag mit unserem Fräulein, der Erzieherin, darin spazieren.
Man kann stundenlang, auf geraden und krummen Wegen, unter dem Grün
gehen. Auch Vater, der sich doch eigentlich nicht zu begeistern
brauchte, begeistert sich für den Tiergarten. Vater ist ein gebildeter
Mensch. Ich glaube, er liebt mich rasend. Schrecklich, wenn er dies
läse, aber ich werde das Geschriebene zerreißen. Im Grunde schickt es
sich ja gar nicht, zugleich noch so dumm und so unreif zu sein wie ich
und schon ein Tagebuch führen zu wollen. Aber manchmal langweilt man
sich ein wenig, und dann läßt man sich sehr leicht zu Unpassendem
hinreißen. Das Fräulein ist sehr nett. Nun ja, im allgemeinen. Sie ist
treu, und sie liebt mich. Außerdem hat sie wirklichen Respekt vor Papa,
das ist die Hauptsache. Sie ist dünn von Figur. Unsere frühere
Erzieherin war dick wie ein Frosch. Sie schien immer zu platzen. Sie war
Engländerin. Sie ist gewiß auch heute noch eine Engländerin, aber sie
ging uns von dem Augenblick an, wo sie sich Frechheiten erlaubte, nichts
mehr an. Vater hat sie fortgejagt.

Wir beide, Papa und ich, werden bald reisen. Es ist jetzt ja die Zeit,
wo honette Leute einfach reisen müssen. Ist der nicht verdächtig, der zu
solch einer grünenden und blühenden Zeit nicht reist? Papa zieht an den
Meeresstrand, und er wird dort offenbar tagelang im Sand liegen und sich
von der Sommersonne dunkelbraun braten lassen. Er sieht im September
immer am gesündesten aus. Seinem Gesicht steht die Blässe der
Abgespanntheit nicht gut. Übrigens liebe ich persönlich das
Sonnverbrannte im Gesicht eines Mannes. Es ist dann, wie wenn er aus dem
Krieg käme. Sind das nicht echte Kinderdummheiten? Ja, gewiß bin ich
noch ein Kind. Was mich angeht, so reise ich nach dem Süden. Zuerst ein
wenig nach München, dann nach Venedig, wo ein Mensch wohnt, der mir
unsagbar nah steht, Mama. Meine Eltern leben aus Ursachen, deren Tiefe
ich nicht zu verstehen, also nicht zu würdigen imstande bin, getrennt.
Ich lebe die meiste Zeit bei Vati. Aber Mama hat natürlich auch das
Recht, mich wenigstens für eine Zeitlang zu besitzen. Ich freue mich
mächtig auf die bevorstehende Reise. Ich reise gern, und ich glaube, daß
fast alle Menschen gern reisen. Man steigt ein, der Zug fährt ab, und
nun geht es ins Weite. Man sitzt und wird in ungewisse Ferne getragen.
Wie gut ich es doch eigentlich habe. Weiß ich, was Not, was Armut ist?
Keine Spur. Ich finde, es ist auch gar nicht notwendig, daß ich so
nichtswürdige Erfahrungen mache. Aber die armen Kinder dauern mich. Ich
würde zum Fenster hinausspringen in solchen Verhältnissen.

Ich und Papa wohnen im vornehmsten Viertel. Viertel, die still, peinlich
sauber und von einer gewissen Älte sind, sind vornehm. Das ganz Neue?
Ich möchte nicht in einem ganz neuen Haus wohnen. Am Neuen ist stets
irgend etwas nicht ganz in Ordnung. Man sieht fast gar keine armen
Leute, z. B. Arbeiter, in unserer Gegend, wo die Häuser ihre Gärten
haben. Es wohnen Fabrikbesitzer, Bankiers und reiche Leute, deren Beruf
der Reichtum ist, in unserer Nähe. Nun, da muß also Papa zum mindesten
sehr wohlhabend sein. Arme und ärmere Leute können hier herum einfach
gar nicht wohnen, weil die Räumlichkeiten viel zu teuer sind. Papa sagt,
die Klasse, in welcher das Elend herrscht, lebe im Norden der Stadt.
Welch eine Stadt. Was ist das: der Norden? Ich kenne Moskau besser als
den Norden unserer Stadt. Von Moskau, Petersburg, Wladiwostok und aus
Yokohama sind mir zahlreiche Ansichtspostkarten geschickt worden. Ich
kenne den belgischen und holländischen Strand, ich kenne das Engadin mit
seinen himmelhohen Bergen und grünen Matten, aber die eigene Stadt?
Berlin ist vielleicht vielen, vielen Menschen, die es bewohnen, ein
Rätsel. Papa unterstützt die Kunst und die Künstler. Es ist Handel, was
er treibt. Nun, Fürsten treiben ebenfalls oft Handel, und dann sind die
Geschäfte Papas von einer absoluten Vornehmheit. Er kauft und verkauft
Gemälde. Es hängen sehr schöne Gemälde in unserer Wohnung. Die Sache mit
Vaters Geschäften, glaube ich, ist so: die Künstler verstehen in der
Regel nichts von Geschäften, oder sie dürfen aus irgendwelchen Gründen
nichts davon verstehen. Oder es ist so: die Welt ist groß und
kaltherzig. Die Welt denkt nie an die Existenz von Künstlern. Da tritt
nun mein Vater auf, der Weltmanieren besitzt und allerhand
bedeutungsreiche Beziehungen hat und macht diese im Grunde vielleicht
ganz kunstunbedürftige Welt auf die Kunst und auf die Künstler, die
darben, auf schickliche und kluge Art aufmerksam. Papa verachtet oft
seine Käufer. Aber er verachtet oft auch die Künstler. Es kommt da ganz
darauf an.

Nein, ich möchte nirgends anderswo fest wohnen als in Berlin. Leben die
Kinder der Kleinstädte, solcher Städte, die ganz alt und morsch sind,
schöner? Gewiß gibt's dort manches, was es bei uns nicht gibt. Romantik?
Ich glaube, ich irre mich nicht, wenn ich etwas, was nur noch halb lebt,
für romantisch halte. Das Defekte, Zerbröckelte, Kranke, z. B. eine
uralte Stadtmauer. Das, was zu nichts nützt, was auf geheimnisvolle Art
schön ist, das ist romantisch. Ich träume gern von derartigen Dingen,
und wie ich empfinde, genügt es, davon zu träumen. Schließlich ist das
Romantischste, was es gibt, das Herz, und jeder fühlende Mensch trägt
alte Städte, die von uralten Mauern umschlossen sind, in sich. Unser
Berlin platzt bald überhaupt von Neuheit. Vater sagt, alles historisch
Denkwürdige werde hier verschwinden, das alte Berlin kenne kein Mensch
mehr. Vater weiß alles oder wenigstens fast alles. Nun, davon profitiert
natürlich seine Tochter. Ja, kleine, mitten in der Landschaft gelegene
Städte mögen schon auch schön sein. Es wird da reizende verborgene
Schlupfwinkel zum Spielen geben, Höhlen, in die man hineinkriechen kann,
Wiesen, Felder und nur ein paar Schritte weit entfernt der Wald. Solche
Ortschaften sind ganz wie von Grün umkränzt, aber Berlin hat einen
Eispalast, wo die Menschen mitten im heißesten Sommer Schlittschuh
fahren. Berlin ist allen übrigen deutschen Städten eben einmal voran, in
allen Dingen. Es ist die sauberste, modernste Stadt der Welt. Wer sagt
das? Nun, natürlich Papa. Wie gut er eigentlich ist. Ja, ich kann viel
von ihm lernen. Unsere Berliner Straßen haben alles Schmutzige und
Holprige überwunden. Sie sind so glatt wie Eisflächen, und sie schimmern
wie peinlich polierte Fußböden. Gegenwärtig sieht man einzelne Menschen
Rollschuh laufen. Wer weiß, vielleicht werde ich das auch eines Tages
tun, wenn es nicht vorher schon wieder außer Mode geraten ist. Es gibt
hier Moden, die kaum Zeit haben, recht aufzutreten. Voriges Jahr haben
alle Kinder, auch viele Erwachsene, Diabolo gespielt. Nun, dieses Spiel
ist aus der Mode, man mag es nicht mehr spielen. So wechselt alles ab.
Berlin gibt immer den Ton an. Es ist niemand zur Nachahmung
verpflichtet, und doch ist die Frau Nachahmung die große und erhabene
Gebieterin dieses Lebens. Jedermann ahmt nach.

Papa kann reizend sein, er ist eigentlich immer nett, aber zuweilen wird
er wütend, über was, das kann man nicht wissen, und dann ist er häßlich.
Ja, ich merke es an ihm, wie die heimliche Wut, wie der Mißmut den
Menschen häßlich macht. Ist Papa nicht gut aufgelegt, so fühle ich mich
unwillkürlich als geprügelter Hund; und deshalb sollte Papa vermeiden,
seiner Umgebung, auch wenn sie nur aus einer Tochter besteht, seine
Unpäßlichkeit und seine innere Unzufriedenheit zu zeigen. Väter begehen
da, gerade da, Sünden. Das empfinde ich lebhaft. Aber wer hat keine
Schwächen, keine, gar keine Fehler? Wer ist ohne Sünde? Eltern, die es
nicht für nötig erachten, ihren Kindern ihre persönlichen Stürme
vorzuenthalten, würdigen dieselben im Nu zu Sklaven herab. Böse
Stimmungen soll ein Vater im stillen besiegen (aber wie schwer ist das!)
oder er soll sie zu fremden Leuten tragen. Eine Tochter ist eine junge
Dame, und in jedem gebildeten Erzeuger soll ein Kavalier lebendig sein.
Ich sage ausdrücklich: ich befinde mich bei Vater überhaupt wie im
Paradies, und wenn ich Mängel an ihm entdecke, so ist es die ohne
Zweifel von ihm auf mich übergegangene, also seine, nicht meine
Klugheit, die ihn scharf beobachtet. Papa mag nur füglich seinen Zorn an
Leuten auslassen, die von ihm in gewisser Beziehung abhängig sind. Es
umflattern ihn genug solche Leute.

Ich habe meine eigene Stube, meine Möbel, meinen Luxus, meine Bücher
usw. Gott, ich bin eigentlich sehr reich ausgestattet. Bin ich Papa
dankbar dafür? Welch eine geschmacklose Frage. Ich bin ihm gehorsam, und
dann bin ich doch sein Besitz, und er darf schließlich doch stolz auf
mich sein. Ich mache ihm Gedanken, ich bin seine häusliche Sorge, er
darf mich anschnauzen, und ich sehe es immer als eine Art von
feinsinniger Pflicht an, ihn auszulachen, wenn er mich anschnauzt. Papa
schnauzt gern an, er hat Humor und ist zugleich temperamentvoll.
Weihnachten überhäuft er mich mit Geschenken. Übrigens sind meine Möbel
von einem gewiß nicht unberühmten Künstler entworfen. Papa verkehrt fast
nur mit Leuten, die irgendeinen Namen haben. Er verkehrt mit Namen.
Steckt in solch einem Namen etwa auch noch ein Mensch, um so besser. Wie
gräßlich muß es sein, zu wissen, daß man berühmt ist und zu fühlen, daß
man das gar nicht verdient. Ich stelle mir viele solcher Berühmtheiten
vor. Ist solch ein Ruhm nicht wie eine unheilbare Krankheit? Wie ich
mich nur ausdrücke. Meine Möbel sind weiß lackiert und von einer
kunstverständigen Hand mit Blumen und Früchten bemalt. Die sehen reizend
aus, und der sie bemalt hat, ist ein ausgezeichneter Mensch, der von
Vater sehr geschätzt wird. Wen Vater schätzt, der soll sich aber auch
geschmeichelt fühlen. Ich meine, es bedeutet etwas, wenn Papa
wohlwollend zu jemandem ist, und diejenigen, die das nicht empfinden und
tun, als wenn es ihnen pipe sei, die schaden sich natürlich. Die blicken
zu wenig hell in die Welt. Ich halte meinen Vater für einen durchaus
seltenen Menschen; daß er in der Welt Einfluß ausübt, liegt klar auf der
Hand. -- Viele meiner Bücher langweilen mich. Nun, dann sind es eben
nicht die rechten, wie z. B. sogenannte Bücher für »das Kind«. Solche
Bücher sind eine Unverschämtheit. Wie? Man erkühnt sich, Kindern Bücher
zum Lesen zu geben, die nicht über ihren Horizont hinausgehen? Zu
Kindern soll man nicht kindlich reden, das ist kindisch. Ich, die ich
doch auch ein Kind bin, hasse das Kindische.

Wann werde ich aufhören, mich mit Spielsachen abzugeben? Nein.
Spielsachen sind süß, und ich spiele mit der Puppe noch lang, das weiß
ich, aber ich spiele bewußt. Ich weiß, daß es dumm ist, aber wie schön
ist das Dumme und Nutzlose. So, denke ich mir, empfinden
Künstlernaturen. Zu uns, d. h. zu Papa, kommen öfters verschiedene
jüngere Künstler essen. Nun, sie werden eingeladen, und dann erscheinen
sie. Oft schreibe die Einladungen ich, oft das Fräulein, und es herrscht
dann eine große, amüsante Munterkeit an unserm Eßtisch, der natürlich,
ohne zu prahlen oder geflissentlich zu prunken, wie der gedeckte Tisch
eines feinen Hauses aussieht. Papa umgibt sich scheinbar sehr gern mit
jungen Leuten, mit Leuten, die jünger sind als er, und doch ist er
eigentlich immer der Lebhafteste und Jüngste. Man hört die meiste Zeit
ihn reden; die übrigen horchen, oder sie erlauben sich kleine
Bemerkungen, was oft sehr drollig ist. Vater überragt sie alle an
Bildung und Schwung der Weltauffassung, und alle diese Leute lernen von
ihm, das sehe ich deutlich. Oft muß ich lachen bei Tisch, dann kriege
ich eine sanfte oder unsanfte Zurechtweisung. Ja, und nach dem Essen
wird bei uns gefaulenzt. Papa legt sich aufs Ledersofa und fängt an zu
schnarchen, was eigentlich recht schlechter Ton ist. Aber in Papas
Benehmen bin ich verliebt. Mir gefällt auch seine aufrichtige
Schnarcherei. Will man, oder kann man denn immer Unterhaltung machen?

Vater gibt sicher viel Geld aus. Er hat Einnahmen und Ausgaben, er lebt,
er erzielt Gewinne, und er läßt leben. Er sieht sogar ein wenig nach
Vergeudung und Verschwendung aus. Er ist stets in Bewegung. Ganz
offenbar gehört er zu den Menschen, für die es ein Genuß, ja eine
Notwendigkeit ist, immer irgend etwas zu riskieren. Es ist bei uns viel
von Erfolg und Mißerfolg die Rede. Wer bei uns ißt und mit uns verkehrt,
der hat irgendwelche kleinere oder größere Erfolge in der Welt erzielt.
Was ist Welt? Ein Gerücht, ein Gerede? Mein Vater steht jedenfalls
mitten drin, in diesem Gerede. Vielleicht dirigiert er es sogar bis zu
gewissen Grenzen. Papas Ziel ist auf alle Fälle, Macht auszuüben. Er
sucht sich und diejenigen, für die er sich interessiert, zu entfalten,
zu behaupten. Sein Grundsatz ist: für wen ich mich nicht interessiere,
der schadet sich. Infolge dieser Auffassung ist Papa immer von seinem
gesunden Menschenwert durchdrungen und kann fest und sicher auftreten,
und das schickt sich. Wer sich keine Bedeutung zumutet, dem macht es
nichts, Schlechtigkeiten zu verüben. Wie rede ich? Habe ich das von
Vater?

Genieße ich eine gute Erziehung? Ich verzichte darauf, das zu
bezweifeln. Man erzieht mich, wie eine Großstädterin erzogen werden
soll, mit Vertraulichkeit und zugleich mit einer gewissen gemessenen
Strenge, die mir erlaubt und zugleich gebietet, mich an Takt zu
gewöhnen. Der Mann, der mich heiraten wird, muß reich sein oder er muß
begründete Aussichten auf einen festen Wohlstand besitzen. Arm? Ich kann
nicht arm sein. Mir und Geschöpfen, die mir gleichen, ist es unmöglich,
pekuniäre Not zu leiden. Das sind Dummheiten. Im übrigen werde ich ganz
bestimmt die Einfachheit der Lebensführung bevorzugen. Ich mag äußern
Prunk nicht leiden. Die Schlichtheit muß ein Luxus sein. Schimmern muß
es von Propperkeit in jeder Beziehung, und solche bis ins Letzte
geforderte Lebensreinlichkeit kostet Geld. Die Annehmlichkeiten sind
teuer. Wie energisch ich da rede. Ist das nicht ein bißchen
unvorsichtig? Werde ich lieben? Was ist Liebe? Was für Seltsamkeiten und
Herrlichkeiten müssen mir noch bevorstehen, da ich mir noch so unwissend
vorkomme in Dingen, für deren Kenntnis ich noch zu jung bin. Was werde
ich erleben?



Brentano


Er sah keine Zukunft mehr vor sich, und die Vergangenheit glich, wie
sehr er sich auch bemühte, sie erklärlich zu finden, etwas
Unverständlichem. Die Rechtfertigungen zerstoben, und das Gefühl der
Wollust schien immer mehr zu verschwinden. Reisen und Wanderungen,
ehemals seine geheimnisvolle Freude, waren ihm seltsam zuwider geworden;
er fürchtete sich, einen Schritt zu tun, und er erbebte wie vor etwas
Ungeheuerlichem vor dem Wechsel des Aufenthaltsortes. Er war weder
ehrlich heimatlos noch auch redlich und natürlich irgendwo in der Welt
zu Hause. Er hätte so gern ein Orgelmann oder ein Bettler oder ein
Krüppel sein mögen, damit er Ursache hätte, um das Mitleid und um das
Almosen der Menschen zu flehen, aber noch inbrünstiger wünschte er zu
sterben. Er war nicht tot und doch tot, nicht bettelarm und doch solch
ein Bettler, aber er bettelte nicht, er trug sich auch jetzt noch
elegant, machte auch jetzt noch, ähnlich einer langweiligen Maschine,
seine Verbeugungen und machte Phrasen und entrüstete und entsetzte sich
darüber. Wie qualvoll kam ihm sein eigenes Leben vor, wie lügenhaft
seine Seele, wie tot sein elender Körper, wie fremd die Welt, wie leer
die Bewegungen, Dinge und Geschehnisse, die ihn umgaben. Er hätte sich
in einen Abgrund hinunterstürzen mögen, er hätte einen Glasberg
hinanklimmen mögen, er hätte sich auf die Folter spannen lassen mögen,
und mit Wollust würde er sich als ein Ketzer haben mögen langsam
verbrennen lassen. Die Natur glich einer Gemäldeausstellung, durch deren
Räumlichkeiten er mit geschlossenen Augen wanderte, ohne sich gelockt zu
fühlen, die Augen zu öffnen, da er doch alles mit den Augen schon längst
durchschaut hatte. Es war ihm, als sähe er den Menschen durch die Körper
mitten durch die elendiglichen Eingeweide, es war ihm, als höre er sie
denken und wissen, als sähe er sie Irrtümer und Albernheiten begehen,
als könne er es einatmen, wie unzuverlässig, dumm, feig und treulos sie
seien, und es war ihm zu guter Letzt, als sei er selber das
Unzuverlässigste, Lüsternste und Treuloseste, was es gebe auf der Erde,
und er hätte laut aufschreien, laut um Hilfe rufen, in die Knie sinken
und laut weinen, tage-, wochenlang schluchzen mögen. Dessen aber war er
nicht fähig, er war leer, hart und frostig, und vor der Härte, die ihn
erfüllte, schauderte es ihn. Wo waren die Schmelzungen, die
Bezauberungen, die er empfand, wo die Liebe, die ihn beseligte, die
Güte, die ihn durchglühte, das endlose meergleiche Vertrauen, an das er
glaubte, der Gott, der ihn durchentzückte, das Leben, das er umarmte,
die Wonnen und die Verherrlichungen, die ihn umarmten, die Wälder, die
er durchwandert, das Grün, das sein Auge erfrischte, der Himmel, in
dessen Anblick er sich verloren? Er wußte es nicht, so wenig wie er noch
wußte, was er sollte und wohinaus es mit ihm mußte. O, seine Person.
Abreißen von seinem Wesen, das noch immer gut war, hätte er sie mögen.
Die eine Hälfte des Selbst töten, damit die andere nicht zugrunde gehe,
damit der Mensch nicht zugrunde gehe, damit der Gott in ihm nicht völlig
sich verlöre. Es war ihm alles noch schön und doch zugleich so
furchtbar, noch so lieb und gut und doch so zerrissen, und nächtlich war
alles, und wüst und er selber war seine eigene Wüste. Oftmals, beim
Anhören eines Tones meinte er zurücksterben zu können in die vorigen
heißen, empfindungsvollen Sicherheiten, in die bewegliche reiche warme
Stärke von früher. Wie gespießt auf einen Eisberggipfel kam er sich vor,
schrecklich, schrecklich. -- -- --

Beim Gehen schwankte er wie ein Fiebernder oder wie ein Betrunkener, und
er hatte das Gefühl, als müßten die Häuser über ihn umstürzen. Die
Gärten, so gepflegt sie auch sein mochten, schienen ihm traurig und
unordentlich dazuliegen, er glaubte an keinen Stolz, an keine Ehre, an
kein Vergnügen, an keinen wahren, echten Jammer und an keine wahre,
echte Freude mehr. Wie ein Kartenhaus erschien ihm das bisher feste
üppige Weltgebäude: nur ein Hauch, ein Schritt, eine leichte Rührung
oder Bewegung, und es bricht in dünne papierne Platten zusammen. Wie
dumm, und wie fürchterlich -- --

In die Gesellschaft der Menschen wagte er nicht zu gehen, aus
panikartiger Furcht, man könnte merken, wie schlimm, wie trostlos es mit
ihm stand; zu Freunden zu gehen und sich auszusprechen: dieser bloße
Gedanke peinigte ihn aufs ärgste. Kleist war unzugänglich, ein elender
grandioser Glücklicher, aus dem kein Wort mehr herauszubringen war. Der
glich einem Maulwurf, einem Lebendigbegrabenen. Die andern waren ihm so
schrecklich, so greulich zuversichtlich, und die Frauen? Brentano
lächelte. Es war ein Gemisch von Kinderlächeln und Teufelslächeln. Und
er machte eine abwehrende furchtsame Handbewegung. Und dann seine
vielen, vielen Erinnerungen, wie sie ihn töteten, wie sie ihn marterten.
Die Abende voller Melodien, die Morgen mit dem Blau und Tau, die heißen,
tollen, schwülen, wunderbaren Mittagsstunden, der Winter, den er über
alles liebte, der Herbst -- -- nur nicht denken. Es soll alles
auseinandergehen, wie gelbe Blätter. Nichts soll stehen, nichts soll
einen Wert haben, nichts, nichts soll bleiben.

Ein Mädchen aus guten Kreisen, das ebenso klar-vernünftig wie schön
dachte, sagte ihm eines Tages folgendes: »Brentano, sagen Sie, fürchten
Sie sich denn nicht vor sich selber, so ohne einen höheren Wert und so
ohne Inhalt Ihr Leben dahinzuleben? Mußte es mit einem Menschen, den man
lieben, ehren und bewundern möchte, so weit kommen, daß man ihn beinahe
verabscheuen möchte? Kann ein Mensch, der so viel und so schön fühlt,
zugleich so gefühlsarm sein, kann es Sie denn wirklich immer, immer
wieder hinreißen, sich zu zerstreuen und Ihre Kräfte zu zersplittern?
Fangen, fesseln Sie sich doch. Sie sagen, daß Sie mich lieben? Und daß
Sie durch mich glücklich und wahr und aufrichtig würden? Ich aber, o des
Grauens, Brentano, kann nicht glauben an das, was Sie sagen. Sie sind
ein Unmensch, Sie sind ein lieber Mensch, und doch ein Unmensch, Sie
sollten sich hassen, und ich weiß, daß Sie das tun, ich weiß, daß Sie
sich hassen. Sonst verschwendete ich kein so warmes Wort an Sie. Bitte,
verlassen Sie mich.«

Er geht und kommt wieder, er schüttet ihr sein Herz aus, er fühlt etwas
Wunderbares in ihrer Nähe in sich aufquellen, er spricht ihr immer
wieder von seiner Verlassenheit und von seiner Liebe, sie aber bleibt
stark und starr und erklärt ihm, daß sie seine Freundin sei, daß es aber
dabei bleibe, und daß sie nie seine Frau werden kann noch will noch darf
und ersucht ihn, aufzuhören zu hoffen, daß das je geschehen könne. Er
verzweifelt, sie aber glaubt nicht an die Tiefe und an die
Wahrhaftigkeit seiner Verzweiflung. Sie bittet ihn eines Abends in einer
Gesellschaft von sehr vielen feinen und angesehenen Leuten, er möchte
ein paar seiner schönen Gedichte vortragen, er tut es und erntet großen
Beifall. Jedermann ist entzückt über den Wohllaut und über die
überquellende Lebendigkeit dieser Poesien.

Ein Jahr oder auch zwei Jahre vergehen. Er mag nicht mehr leben, und so
entschließt er sich denn, sich selber gleichsam das Leben, das ihm
lästig ist, zu nehmen, und er begibt sich dorthin, wo er weiß, daß sich
eine tiefe Höhle befindet. Freilich schaudert er davor zurück,
hinunterzugehen, aber er besinnt sich mit einer Art von Entzücken, daß
er nichts mehr zu hoffen hat, und daß es für ihn keinen Besitz und keine
Sehnsucht, etwas zu besitzen, mehr gibt, und er tritt durch das finstere
große Tor und steigt Stufe um Stufe hinunter, immer tiefer, ihm ist nach
den ersten Schritten, als wandere er schon tagelang, und kommt endlich
unten, ganz zu unterst, in der stillen kühlen tiefverborgenen Gruft an.
Eine Lampe brennt hier, und Brentano klopft an eine Türe. Hier muß er
lange, lange warten, bis endlich, nach so langer, langer Zeit des
Harrens und Bangens, ihm der Bescheid und der grausige Befehl erteilt
wird, einzutreten, und er tritt mit einer Schüchternheit, die ihn an
seine Kindheit erinnert, ein, und da steht er vor einem Mann, und dieser
Mann, dessen Gesicht mit einer Maske verhüllt ist, ersucht ihn schroff,
ihm zu folgen. »Du willst ein Diener der katholischen Kirche werden?
Hier durch geht es.« So spricht die düstere Gestalt. Und von da an weiß
man nichts mehr von Brentano.



Aus Stendhal


Stendhal erzählt in seinem schönen Buch von der Liebe eine ebenso
einfache wie schauervolle und tragische Geschichte, die von einer Gräfin
und von einem jungen Pagen handelt, die sich lieben, weil sie ein süßes
Gefallen aneinander finden. Der Graf ist eine finstere,
schrecknisversprechende Figur. Die Liebesgeschichte spielt in
Südfrankreich. Ich stelle mir Südfrankreich reich an mittelalterlichen
Burgen, Kastellen und Schlössern vor, und die Luft träumt und lispelt
dort von holder, heimlicher, schwermütiger Liebe. Es ist ziemlich lange
her, daß ich die Geschichte gelesen habe, die in einem sonderbaren
altmodischen naiven Französisch geschrieben ist, welches rauh und
lieblich zugleich klingt. Auch die Sitten müssen damals rauh und dennoch
schön gewesen sein. Da sehen sie sich also an, die Frau und der
Edelknabe, und so gewöhnen sich ihre Augen aneinander. Sie lächeln, wenn
sich ihre Blicke begegnen, und doch kennen beide wohl die grausame
barbarische Gefahr, in die sie sich begeben, wenn sie glücklich sind im
gegenseitigen Wohlgefallen. Der junge Mann singt so schön, da bittet sie
ihn, etwas zu singen, und er tut es, er greift zum Instrument, das er
mit Grazie zu handhaben weiß, und singt ein Liebeslied dazu, und sie
lauscht ihm, sie lauscht seinen Tönen. Ihr Gatte ist ein Liebhaber der
Jagd und der wilden Raufereien. Händel und Krieg interessieren ihn mehr
als die Lippen der Frau, die der milden wonnigen Mainacht an Schönheit
gleicht. So begegnen sich denn eines Tages, zu gegebener Stunde, die
Lippen des jungen Edelknechtes und der schönen Frau, und das Ergebnis
dieser reizenden Begegnung ist ein langer, heißer, wilder, süßer,
herrlicher Kuß, an dessen Wonne die beiden zu sterben wünschen. Das
Gesicht der Gräfin ist mit einer heiligen, entsetzlichen Blässe bedeckt,
und in ihren großen dunklen Augen flammt und lodert ein verzehrendes
Feuer, das mit dem Himmel und mit der Hölle verwandt ist. Doch sie
lächelt ein seliges, überglückliches Lächeln, das einer duftenden,
träumerischen Blüte gleicht. Zu bedenken ist, daß diese Frau, indem sie
am Kusse hängt, zum Tode entschlossen ist, da der Graf, ihr Gemahl, ein
schrecklicher Mann ist, von dem sie weiß, daß er tötet, wenn er in Zorn
gerät. Auf wie hohe Art liebt sie, wenn sie liebt, wo sie weiß, daß die
Liebe ihr das Leben kostet, wenn es auskommt, was nicht auskommen soll,
was aber so leicht auskommen kann. Auch das Leben des Geliebten hängt an
einem Haar, wo er sich dem Vergnügen des Kusses hingibt, woraus
notwendig folgt, daß es ein Vergnügen hoher Art ist, das er kostet. Der
Liebende und die Liebende sind beide gleich kühn, gleich entschlossen
zum Äußersten, aber sie genießen dafür auch das Höchste. Sie erleben den
Gipfel des Lebens, da sie spielen mit ihrem Leben, und nur so ist es
möglich, den Gipfel zu erreichen. Wo das Leben nie in Gefahr ist, gibt
es nie eine Beseligung eben dieses Lebens.



Kotzebue


Eigentlich kann man nicht sagen, daß Kotzebue Unvergängliches geschaffen
hat, obgleich man doch seinen kotzebutzlichen katzlichen Namen auch
heute noch hin und wieder nennt. Es ist mit Berühmtheiten, vielmehr
Unsterblichkeiten, wie Kotzebue eine ist, ein seltsames Ding. Ich
persönlich, das heißt: still für mich, stelle mir vor, daß Kotzebue
entsetzlich gewesen ist. Er bestand nicht aus Knochen und anliegendem
zähen oder weichlichem Fleisch, nein, er war Asche. So blies man zum
Beispiel: und weg war Kotzebue. Kotzebue hat einer stets dankbaren und
freundlich-anhänglichen Nachwelt seine massiven, sämtlichen, gepreßten,
gedruckten, in Kalbsleder gebundenen, gekotzten und gebutzten Werke
hinterlassen, und dennoch, so darf man sich wohl erdreisten, zu sagen,
wird er kaum noch je wieder gelesen. Die ihn lesen, müssen erblassen,
und die ihn nicht lesen, scheinen nicht viel zu verlieren, indem sie ihn
ignorieren. Immerhin ist er ein Biedermann. Sein Gesicht war ganz
verkrochen und verborgen in einem ungeheuerlich großen und kühnen
Rockkragen. Einen Hals hatte Kotzebue gar nicht. Seine Nase war lang,
und was seine Augen betrifft, so glotzten sie. Er hat zahlreiche
Lustspiele geschrieben, die mit glänzendem Kassensturzerfolg während der
Zeit, da Kleist verzweifelte, aufgeführt worden sind. Im allgemeinen,
das muß man ihm lassen, hat er saubere Arbeit geliefert. Wenn man in
Kotzebues Nähe trat, so kutzelte und kotzelte es ganz bedenklich, und
diejenigen Mitmenschen und Zeitgenossen, die mit ihm zu tun hatten,
schämten sich unwillkürlich, daß sie lebten. So und nicht anders war es
rund um Kotzebue, der denn auch, wie wir hoffen, zu den Heroen der
deutschen Geisteswelt gerechnet werden darf, wie so mancher andere, der
ein ebenso seltsamer Kotzebukauz war wie er. Wenn ich nicht ganz vom
Irrtum befangen bin, war er in Weimar tätig. Wo er aber erzogen worden
ist, und wer ihm sein bischen Bildung eingeimpft hat, das wissen die
Götter. Die Götter wissen alles. Die Großherzigen, die Gütigen! Sie
wissen sogar über einen Kotzebue Bescheid. Kotzebue hat die Götter in
jeder Beziehung beleidigt, und zwar durch nichts andres als einzig und
allein schon dadurch, daß er sich einbildete, er habe die Pflicht, sich
für was Bedeutendes zu halten. Ein dummer Mensch, der Sand hieß, glaubte
in seiner Blindheit, die Welt von Kotzebue befreien zu sollen und schoß
ihm eine Kugel durch den Schädel. So endete Kotzebue.



Büchners Flucht


In der und der geheimnisvollen Nacht, durchzuckt von der häßlichen und
entsetzlichen Furcht, durch die Häscher der Polizei arretiert zu werden,
entwischte Georg Büchner, der hellblitzende jugendliche Stern am Himmel
der deutschen Dichtkunst, den Roheiten, Dummheiten und Gewalttätigkeiten
des politischen Gaukelspiels. In der nervösen Eile, die ihn beseelte, um
schleunigst fortzukommen, steckte er das Manuskript von »Dantons Tod« in
die Tasche seines weitschweifigen, kühn geschnittenen Studentenrockes,
aus welcher es weißlich hervorblitzte. Sturm und Drang fluteten, einem
breiten königlichen Strom ähnlich, durch seine Seele; und eine vorher
nie gekannte und geahnte Freude bemächtigte sich seines Wesens, als er,
indem er mit raschen und großen Schritten auf der mondbeglänzten
Landstraße dahinschritt, das weite Land offen vor sich daliegen sah, das
die Mitternacht mit ihren großherzigen, wollüstigen Armen umarmte.
Deutschland lag sinnlich und natürlich vor ihm, und es fielen dem edlen
Jüngling unwillkürlich einige alte schöne Volkslieder ein, deren
Wortlaut und Melodie er laut vor sich hersang, als sei er ein
unbefangener, munterer Schneider- oder Schustergeselle, befindlich auf
nächtlicher Handwerkswanderung. Von Zeit zu Zeit griff er mit der
schlanken feinen Hand nach dem dramatischen, nachmals berühmt gewordenen
Kunstwerk in der Tasche, um sich zu überzeugen, daß es noch da sei. Und
es war noch da, und ein fröhliches, lustsprudelndes Gewaltiges überkam
und überrieselte ihn, daß er sich in der Freiheit befand, eben da er in
das Kerkerloch des Tyrannen hatte wandern sollen. Schwarze, große,
wildzerrissene Wolken verdeckten oft den Mond, als wollten sie ihn
einkerkern, oder als wollten sie ihn erdrosseln, aber stets wieder trat
er, gleich einem schönen Kind mit neugierigen Augen, aus der
Umfinsterung an die Hoheit und an die Freiheit hervor, Strahlen auf die
stille Welt niederwerfend. Büchner hätte sich vor lauter wilder, süßer
Flüchtlingslust auf die Knie an die Erde werfen und zu Gott beten mögen,
doch er tat das in seinen Gedanken ab, und so schnell er laufen konnte,
lief er vorwärts, hinter sich das erlebte Gewaltige und vor sich das
unbekannte, noch unerlebte Gewaltige, das ihm zu erleben bevorstand. So
lief er, und Wind wehte ihm in das schöne Gesicht.



Birch-Pfeiffer


Wenn jemals jemand, so kalkuliere ich, Talent besessen hat, so war es
die berühmte Birch-Pfeiffer. Sie hat in dem idyllisch gelegenen Zürich
gewohnt und nannte sich Gräfin. Dick und zugleich gewissermaßen schlank
von Figur, war sie eine imponierende, ja, man darf sagen, berückende und
bezaubernde Erscheinung. Alles huldigte ihr, alles und jedes kniete vor
ihr nieder. Sie hat sowohl als Mensch wie als Dichterin die üppigsten
Erfolge errungen. Sie erschwang sich, indem sie ihre breiten Röcke
raffte, mit einem prachtvollen Schwung die Bühne, und von da an
beherrschte sie sie. Sie war eine Begnadete, und sie selbst teilte in
Hülle und Fülle Gnaden, Genüsse und Entzückungen aus. Noch heute, nach
so vielen Jahren, werden ihre Bonbons, das heißt: Stücke gegeben. Sie
hat so süß und so liebreizend gedichtet, daß alle diejenigen Leute, die
ins Theater liefen, um sich ihr Stück anzusehen, vor Rührung und
Seelenbeklemmung weinen mußten. Sie hat einer liebelechzenden Welt das
Rührstück, das stets auch zugleich Zugstück war, vor die Nase geworfen,
und die gerührte und erschütterte Welt dankte ihr, indem sie sie hochhob
und im Triumph auf der Achsel herumführte. Eins ihrer am häufigsten
gegebenen Stücke heißt: Das Lorle oder Dorf und Stadt, Schauspiel in
fünf Ab- und Aufzügen. Während ein Büchner, der zu gleicher Zeit lebte
wie die Birch-Pfeiffer, so gut wie verschollen und unbekannt blieb,
schrie man nach ihr, und wenn sie vor dem Vorhang, breit und groß, wie
sie war, erschien, so wollte der Jubel kein Ende nehmen. Noch einige
Merkwürdigkeiten, die die große Frau an sich hatte, wollen wir uns
erlauben zum besten zu geben: O, daß wir stürben am Andenken an die
Unvergleichliche und Unvergeßliche. Die Süße, sie hatte einen so starken
Busen, daß, wer sie zu Gesicht bekam, umfiel, als wäre er von einer
Kanonenkugel getroffen worden. Gleich einem beweglichen Hektoliterfaß
stürmte sie daher, und ihre Adlernase konnte niemand anschauen, ohne
aufs tiefste von dem edlen Anblick betroffen zu sein. Sie trug, so heißt
es in den Annalen, mit Vorliebe grellgelbe Strümpfe mit
getrocknet-schwarzen Strumpfbändern. Ihre Taille war mächtig, und ihr
Rücken stemmte sich hinten hoch zu Berg, als wenn er zersprengen wollte.
Ihre gewitterdunklen Augen blickten stets strafend, und ihr Mund war
zugebissen. So, das sind einige der markantesten Züge. Es bliebe noch
manches zu sagen -- aber wir wollen lieber schweigen und ... ehren!



Lenz


Sesenheim. Stube

=Friederike=: Warum sind Sie traurig, lieber Herr Lenz? Machen Sie doch
eine muntere Miene. Sehen Sie: ich bin so fröhlich. Kann ich denn etwas
dafür, daß ich guter Laune bin? Nehmen Sie mir das übel? Nehmen Sie mir
übel, daß ich nicht trüb und mißgestimmt sein mag? Wie kommt mir nur
heute die Welt so schön vor. Ihnen nicht?

=Lenz=: Ich kann es nicht mehr aushalten. Ich muß hinaus. Schnell. Sie
sind glücklich, Sie sind göttlich. Um so elender bin ich. Wenn ich Sie
so schön sehe, muß ich Sie beim Kopf nehmen und küssen, und das wollen
Sie nicht, das werden Sie nie wollen, nie wünschen. Wir sind nicht für
einander. Ich bin für nichts auf der Welt.

=Friederike=: Warum nur gleich so den ganzen Mut sinken lassen. Sie
können mir recht weh tun. Sie könnten mir eine wahre Lust schenken, wenn
Sie sich ein wenig wohlbefinden wollten, aber das wollen Sie nicht.

=Lenz=: Ich kann nicht.

=Friederike=: Ja, gehen Sie. Gehen Sie hinaus. Lassen Sie mich. Es ist
besser.

=Lenz=: Wissen Sie, wie ich Sie liebe? Wie ich Sie vergöttere?

=Friederike=: Das hätten Sie nicht nötig gehabt zu sagen. Hier kommt
Goethe. Weiß Gott, es nimmt mich, es reißt mich, wie ich diesen lieben
Menschen sehe.


Friederikens Kammer. Dämmerung

=Lenz=: Leise, leise. Daß nur ja kein Mensch mich sieht. Wie bin ich
abscheulich. Aber es ist besser, abscheulich und häßlich sein als so
trostlos. Mag denn ein Elender auch seine Freude haben. Warum muß einem
Menschen gar nichts, gar nichts und einem andern alles, was es Schönes
gibt, gegönnt sein? Lieber verworfen sein als gar nichts sein. O Natur.
Wie himmlisch bist du. Selbst denen, die dich entstellen, wirfst du
Wonnen und Seligkeiten vor die Seele. Hier sind ihre Strümpfe. (Küßt
sie.) Ich bin wahnsinnig. Wie ich zittre. So zittert der Verbrecher. Wie
heilig mir diese Gegenstände sind. Wie's mir über den Kopf kommt. Wenn
jemand käme. Fort. Ich wäre auf immer zuschanden.


Straßburg. Auf dem Münster

=Goethe=: Wie herrlich dieser Blick ist. Studium und Genuß sind nie
besser verbunden als an einem solchen erhabenen Ort. Indem man Lust hat,
immer weiter mit dem Auge zu schweifen, wird die schöne weite Aussicht
immer lehrreicher. Dort der Fluß im breiten, wohlwollenden Land, wie er
schimmert. Wie eine Sage, wie eine alte, gute Wahrheit schlängelt er
sich durch die ausgedehnte Ebene. Dort hinten in der Ferne die Berge.
Man kann alles auf einmal sehen und sich doch nicht satt sehen. Unser
Auge ist eine seltsame Maschine. Es greift und läßt alles wieder fahren.
Da unten in den alten, lieben Gassen: wie sie treten, gehen und
tagewerken, die traumhaft befangenen Menschen. Man kann von hier oben
herab so recht sehen, wie wohltätig und wie rechtschaffen wir sind
ergriffen von der gesunden täglichen Gewohnheit. Ist nicht Ordnung immer
wieder das Schöne?

=Lenz=: In unsere deutsche Literatur muß der Sturm fahren, daß das alte,
morsche Haus in seinen Gebalken, Wänden und Gliedern zittert. Wenn die
Kerls doch einmal natürlich von der Leber weg reden wollten. Mein
»Hofmeister« soll sie in eine gelinde Angst jagen. Jagen, stürmen. Man
muß klettern. Man muß wagen. In der Natur ist es wie in Rauschen und
Flüstern von Blut. Blut muß sie in ihre aschgrauen, blassen, alten
Backen bekommen, die schöne Literatur. Was: schön. Schön ist nur das
Wogende, das Frische. Ah, ich wollte Hämmer nehmen und drauflos hämmern.
Der Funke, Goethe, der Funke. Die »Soldaten«, bilde ich mir ein, müssen
so etwas wie ein Blitz werden, daß es zündet.

=Goethe= (schaut ihn an, lächelt).


Gasse. Es regnet

=Lenz=: Es wird mir hier alles barbarisch. Ich verkomme. Kein
Fingerzeig. Die Illusionen schwinden. Kein Traum mehr. Und wie tot, wie
schwül ist alles. Muß es denn gerade jetzt regnen? Wozu ist überhaupt
der Regen? Der Regen ist dazu da, daß es Regenschirme und nasse Straßen
in der Welt gibt. Unter meinen Augen ist es mir siedend heiß. Am
liebsten möchte ich jetzt kriechen. Dieses ewige Gehen. Was man sich
doch für dumme Mühe macht ...


Weimar. Saal im Schloß

=Die Herzogin=: Also so sehen Sie aus? Treten Sie ungescheut näher. Wie
man Sie willkommen heißt, dürfen Sie auch ein Zutrauen haben. Ihre
dramatischen Arbeiten sehen Ihnen ähnlich. Es ist etwas Schüchternes und
etwas Wildes an beiden. Legen Sie beides ein wenig ab, so werden Sie
mehr Genuß an Ihrem Dichterfeuer und an Ihnen selbst haben. Es freut
mich aber wirklich sehr, daß Sie Neigung gefunden haben, zu uns zu
kommen, und hoffentlich wird es Ihnen bald auch bei uns einigermaßen
behagen. Das Leben will eine gewisse behagliche Wärme und auch eine
gewisse schickliche Breite haben. Doch ich tu' ja, als wenn ich Ihnen
einen Vortrag halten wollte. Das will ich und soll ich nicht; ich soll
mich nur sehr von Herzen freuen, daß Sie hier sind, und das tu' ich,
glauben Sie es mir. Haben Sie auch schon eine günstige Wohnung gefunden?
Ja? Das ist gut. Unser Weimar kann Ihnen sicher heimisch werden, es
bietet mancherlei. Nur müssen Sie es eben, wie es ist, auch zu nehmen
und zu genießen wissen. Sieht man Sie so, so glaubt man, Sie ein bischen
schulmeistern zu dürfen. Verübeln Sie, daß ich warm mit Ihnen rede?
Nicht? Um so besser. Aber ich schwatze, und der Herzog wartet auf mich.

=Lenz= (errötend; sehr unsicher, will etwas sagen).

=Herzogin=: Ach, nur keine sonderlichen Danksagungen. Sagen Sie sie mir
ein andres Mal. Oder lieber gar nicht. Ihr Gesicht gefällt mir. Das
genügt. Es hat alle Artigkeiten und Höflichkeiten schon längst
ausgesprochen. Ich werde sorgen, daß wir uns wiedersehen. (Ab.)

=Lenz=: Schweb' ich? Wo bin ich?


Terrasse. Ausblick in den Park

=Lenz=: Ich dichte, schaffe nichts. Dieses ewige Knixen und Schöntun.
Dieser Frost, diese nichtssagenden Förmlichkeiten. Bin ich noch ein
Mensch? Warum bin ich enttäuscht? Warum will ich mich nur gar nirgends
in der Welt anschmiegen? Da war's doch in Straßburg anders. War's denn
etwa dort besser? Ich weiß nicht. Kann ich nirgends Fuß fassen? Kann ich
mich nirgends behaupten? Ich fürchte mich. Ich bin grauenhaft.


Nacht. Zimmer der Hofdame Gräfin so und so

=Gräfin=: Was soll das heißen?

=Lenz=: Lassen, lassen Sie mich. Vergönnen Sie mir den Genuß, zu Ihren
Füßen liegen zu dürfen. Wie schön, wie trostreich für die verdurstende,
schrecklich gepeinigte Seele ist dieser Moment. O, klingeln Sie nicht,
rufen Sie nicht Ihre Leute. Bin ich denn ein Räuber, ein Einbrecher?
Freilich bin ich unangemeldet hergestürzt. Wo man liebt: soll man sich
da erst noch lange um die hergebrachte Sitte kümmern müssen? Wie sind
Sie schön, und wie bin ich glücklich, und wie feurig, wie innig wünsche
ich, nicht Ihr Mißfallen zu erregen. Können Worte, die aus der Brust
eines Menschen kommen, der Sie anbetet, Sie beleidigen? Gewiß ist das ja
möglich, gewiß, gewiß. Ich Sie beleidigen, ich Sie auch nur mit einem
Hauch beunruhigen? Wie wäre das möglich? Schauen, schauen Sie mich nicht
so hart an. Ihre Augen, die so schön sind, haben nicht verdient, daß sie
so kalt, so unfreundlich, so ungütig blicken müssen. Retten Sie mich.
Ich bin dem Verderben preisgegeben, wenn Sie kein Gefühl für mich haben.
Haben Sie kein Gefühl? Dürfen Sie keins haben? Bin ich denn jetzt
zerschmettert? Bin ich verloren mit allen meinen himmlisch-schönen
Träumen? Wissen Sie, wie süß, wie schön ich träumte? Doch ich weiß nicht
mehr, was ich sagen soll. Ich soll schweigen, ich soll jetzt wohl
einsehen, daß ich die höchste aller Unziemlichkeiten begangen habe, ich
soll fühlen, daß alles kalt ist, und daß alles zu Ende ist.

=Gräfin=: Ich bin sprachlos.

=Lenz=: Wie schön du bist. Dieser Busen, diese Arme, dieser Körper.
Können so viele Herrlichkeiten sich anders als sanft gebärden?

=Gräfin=: Entfernen Sie sich auf der Stelle. Soll ich Ihnen erst noch
sagen, daß Sie bewiesen haben, wie verzweifelt und wie unmöglich Sie
sind. Sind Sie um die gesunde Vernunft gekommen? Ich muß es glauben.


Arbeitskabinett des Herzogs

=Goethe=: Er ist ein Esel.

=Herzog=: Ein unglückliches Kind. Was er getan hat, wäre sonst
unbegreiflich. Man schaffe ihn auf eine sanfte Manier fort. Mein Hof
kann dergleichen nicht dulden.



Germer


Ein Lebensposten ist gar nicht so ohne. Ganz gewiß nicht. Jedermann
sieht gern ein, daß mit einer Weltposition hundert kleine Schönheiten,
Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten verbunden sein können, so zum
Beispiel die reizende, ruhige Mitgliedschaft zum literarischen
Lesezirkel. Wer eine Existenz hat, darf sich gemütliche Bockbierabende
erlauben. Das regelmäßige Einkommen sitzt abends im Konzert oder im
Theater. Der gute Monatslohn macht mit Schwung und Selbstbewußtsein
Maskenbälle mit. Und doch hängt an der Lebenspostenexistenz manches, was
nicht fein ist, unter anderem die Unterminierung der körperlichen und
geistigen Gesundheit. Hier sei schüchtern an das menschliche
Nervensystem erinnert.

Germer, langjähriger Inhaber eines schwierigen Wechselportfeuillepostens,
kann den Atem und die leibliche Bildung seiner Herren Kollegen
nicht mehr ertragen. Wer gesund und robust ist, der macht
gern Witze, die Meier vom Landgut und Stadthaus zum Beispiel.
Diese beiden sind Witzbolde ersten Ranges. Germer ist ungeduldig. Wer
ungeduldig ist, haßt das gemütliche Bockwurstwitzwesen. Außerdem hat ihn
die Langjährigkeit seines Postens krank im Geist gemacht. Er macht zwar
noch immer sein Pflichtchen, freilich, aber mit permanenter
Zusammenraffung seiner letzten Geniekräfte. Ja, ja, so ein Weltposten.

Fast täglich gibt es in der hochberühmten Bankkomptabilität, so gegen
halb zwei Uhr mittags, gratis Volksschauspiele. Zugelassen werden
natürlich nur die Herren Angestellten und Maschinenrechner, aber das ist
schon ein ganz artiges Theaterpublikum. Vollzählig sind sie da, die
Senn, die Glauser, die Tanner, die Helbling, die Schürch, die Meier von
da und dort, die Binz und die Wunderli. Sitz- und Stehplätze werden
nonchalant, den Zigarrenstumpen im Mund, eingenommen. Duft und Stimmung,
Wesen und Privatabsicht, Spezielles und Allgemeingültiges, und draußen
scheint die Sonne. »Herr Germer!« sagt einer. Dieser eine geht langsam
zu Germer hin und stellt sich dicht neben ihm auf. »Lassen Sie mich!
Weg!« sagt Germer, indem er mit der gräßlich flachen Hand wegwischt.
Alles schmettert und schnattert vor Lachen. Ja, ja, so eine duftvolle
Mittagspause.

Was gesund, rotwangig und robust ist, das muß etwas zum Spielen,
Unterhalten und Peinigen haben. Schon die lieben Kinder gehen da mit
einem selten guten Beispiel voran. Wie köstlich macht sich das, und
solch ein tönendes Lachen, wie ist das göttlich! Das heilige Lachen! Die
Götter im Olymp sind auch Angestellte. Auch sie langweilen sich
wahrscheinlich zuzeiten ziemlich stark, und auch sie begrüßen daher
Gratisvolksschauspiele und -auftritte mit dankbar schallendem Vergnügen.
Sicher ist die gepriesene Götterwohnung auch nur eine Art Komptabilität,
gerade wie die unsere, und die Götter und Göttinnen schreiben und
rechnen und korrespondieren vielleicht auch an solchen schmalen
Pultreihen, angeschmiedet, gerade wie wir's hier so furchtbar deutlich
schauen, an öden Lebensposten.

Jedes Ding auf dieser Erde hat seine trivialen zwei Seiten, eine
schattige düstere und eine fidele helle. Wem das saure tägliche Brot nur
so auf den Monatssalärtisch fällt, der muß sich verpflichtet fühlen,
nach und nach zur kontraktlich regelmäßigen Maschine zu werden. Im
Ernst: dies ist erste und letzte Aufgabe. Germer ist eine schlechte
Maschine, er beherrscht seine Empfindungen nicht, er tobt, er brüllt, er
pfeift, er wischt ab, er knirscht mit den Zähnen, er macht großzügige
Arm- und Handbewegungen, er schreitet einher wie ein König der Bretter,
die die Welt bedeuten sollen, er ist krank. Es gibt ja Krankheiten, die
zu Lebensstellungen noch ganz gut passen. Germers Krankheit aber ist der
scheinbar persönliche und überzeugte Feind seines kräftefordernden
Postens. Schickt sich das? Wer einen Posten besetzt, der muß alles
Unpostengemäße wegwischen. Unser Mann aber wischt mit der Hand seinen
Posten weg. Das ist dumm, weil es unmöglich ist. Niemand kann Existenzen
abwischen. Germer sagt immer: »Weg! Lassen Sie mich in Ruhe!« Ja, ja, so
eine defekte Maschine.

Ein Herr Kollege soll auch kollegialisch empfinden. Das Prinzip der
Kollegialität ist ein herrisches und ein nur zu tief begründetes. Das
ist so gewesen und wird sicher so bleiben. Ein hungernder Vagabund hat
nicht nötig, Rücksicht zu nehmen, dafür hungert er aber auch. Germer
aber hat jeden Tag sein Essen, Trinken, Schlafen, Wohnen, Spazieren und
Stumpenrauchen, diese wie vom Himmel auf seine Person heruntergefallenen
Tischlein-deck-dich-Sachen kommen von der weltgebietenden
Kollegenschaft. Darf er das hintansetzen? Darf er dem Herrn Buchhalter
Binz die Zunge ausstrecken, darf er »Affen!« zu den Korrespondenten
sagen? Ganz gewiß nicht, und doch tut er's, aber nicht er tut's
eigentlich, seine Krankheit begeht diese Sünden, also ist Germers
Krankheit ein Feind des mächtigen Kollegengedankens. Meier vom Land, der
weiß, wie schön es auf dem Land ist, hat schon mehrmals der Idee
Ausdruck verliehen, daß Germer aufs Land gehöre. Diese Idee wird von
Kollege Helbling, zur Abwechslung scheinbar, wieder einmal, von Mann zu
Mann im ganzen Bureau herumgetragen: »Es wäre bald besser, man täte den
Germer aufs Land.« Chef Hasler, der stets Umsichtige, macht der
Verbreitung guter Literatur in die breiten Volksschichten ein rasches,
stirnrunzelndes Ende: »Es ist mir lieber, Sie arbeiten, Helbling.«

Die Landidee ist aber nicht mehr auszurotten. Binz, der Buchhalter im
Profil, gibt ihr weiteren Ausdruck: »Da hätte er's doch verflucht gut.
Die Landluft könnte ihn am Ende wieder völlig gesund machen. Hier wird
er von Tag zu Tag dümmer. Es ist bald eine Schande, so einen Menschen
überhaupt nur anzusehen. Es ekelt einen ja bald einmal. Auf dem Land
würde er Sonnenschein und eine leichte Beschäftigung haben. Den halben
Tag könnte er unter einem Baume im Gras liegen und ›Weg von mir!‹ sagen.
Die Mücken und Fliegen würden es ihm beim Eid nicht übelnehmen. Man
geniert sich bald. Und mit dem Helbling müßte man eigentlich auch bald
endlich einmal kurzen Prozeß machen. Wenn ich Chef wäre, ich würde hier
herum allweg bald besser Ordnung machen.« Wenn ich Chef wäre! Herr Binz
im Quadrat möchte gern Chef der gesamten Abteilung sein. Seiner Nase nach
steht es schlimm mit der Zucht und Würde in den Buchhaltungsräumlichkeiten.
An seine dicken täglichen Folianten gedrückt, träumt er
von eisernen Reformen und von sich als von dem gestrengen
Vollstrecker derselben. Ja, ja, die Untergebenen.

Es wird auch nicht schlecht über die vermutlichen und vermeintlichen
Ursachen von Germers geistiger Verwilderung hin und her gesprochen. Der
Posten ist schuld. Der Posten ist zu aufreibend. Längst gehörte Germer
vom Posten weg. Jeder andere würde an solch einem Posten ebenfalls
verrückt. Und dann wird geflüstert, Rüegg sei schuld, Herr Rüegg, der
Unterchef. Dieser habe den Germer mit kalter Berechnung in den Wahnsinn
gehetzt. Kein anderer als Rüegg trägt Schuld. Das sei ein Schikaneur von
der durchtriebensten Sorte. Neben diesem Satan zu arbeiten, das sei eine
Qual. Erstens das teuflische Portefeuille, zweitens Rüegg, der
figürliche Teufel. Der Germer sei zu bedauern. Warum sich das Kalb habe
abhetzen lassen? Jedenfalls müsse er vom Posten weg. Helbling unternimmt
es bereitwilligst, im ganzen Bureau herum die Qualen des Germerschen
Postens zu schildern, er malt mit den absichtlich schwärzesten und
zeitraubendsten Malmitteln. Er schildert wieder einmal Zeit tot. Aber
Chef Hasler, kunstfeindlich wie immer, zerstört das Wandgemälde.

»Herr Germer, Sie müssen exakter arbeiten,« sagt Rüegg, der Chef des
Portefeuilles, ein älteres, stilles, bebrilltes, schmächtiges,
monotones, graues, bebartetes, bleiches Herrchen mit schmachtender,
bohrender Stimme. »Herr Rüegg, lassen Sie mich in Frieden. Verstanden!
Weg!« sagt Germer. Nun sind das ja keineswegs Untergebenenworte, noch
viel weniger Tägliche-Brots-Worte, und noch weniger Worte eines
Menschen, der fürchten muß, vom Posten weggewischt zu werden. Aber was
kann man dafür, wenn es in Gottes Namen aus einem heraussprudelt. O wie
Rüegg Germer haßt, aber noch schrecklicher ist es, wie Germer Rüegg
haßt, und am fürchterlichsten ist es, wie beide einander in den Tod sich
hassen. Und doch müssen sie zusammen arbeiten, eng verschlungen wie die
geschmeidig sein sollenden Bestandteile einer schnurrenden Maschine. Des
einen Tätigkeit ist futsch ohne die bereitwillige Tätigkeit des andern.
Macht einer Fehler, so müssen drei drunter leiden, und Germer macht
immer Fehler, aber er glaubt steif und fest, er arbeite nur deshalb
schlecht, weil Rüeggs Bosheit ihn kaput macht. Rüegg dagegen ist ein
feiner, geschmackvoller Mensch, er beteiligt sich nie an den
»Volksschauspielen«, er behandelt Germer als einen völlig Normalen, und
das gerade reizt den Kranken: »Weg!« Sagt Hebel _A_ zu Hebel _B_ solche
Worte? Ja, ja, so ein Bestandteil.

Und jahrelang haben die beiden Hebel _A_ und _B_ zusammen das Rad der
Arbeit mühsam geschwungen. Unter: »Sie müssen besser arbeiten!« und:
»Gehen Sie mir weg!« Unter heimlich fressendem Ärger. Rüegg hat den
Germer immer unter der Brille schräg hinauf angeschaut. Vielleicht haben
diese Blicke das Ungestüm in Germers Wesen heraufbeschworen. Wer kann
einer Seele sagen, woran sie erkrankt. Überlassen wir die zeitgemäße
Beantwortung dieser Frage unsern Herren der Wissenschaft. Die haben's
Patent drauf. Wenn so eine fleißige, emsige Stille im Saal herrscht,
pfeift einer plötzlich, und wer ist es? Germer. Auch laut lachen kann er
plötzlich. Und immer wischt er mit der schrecklich großen und flachen
Hand etwas aus der Luft weg. Armer Germer.

Ja, ja, das Leben ist hart, Helbling weiß auch ein Lied davon zu singen.
Man sagt, die eintönigen Lieder seien die rührendsten. Germer ist
verheiratet, er hat Frau und zwei Kinder, Mädchen, die jetzt anfangen
zur Schule zu gehen. Alle sechs bis acht Wochen besucht Frau Germer den
Direktor der Bank, um diesen hochachtbaren Mann weinend zu bitten, er
möge das Nötige tun und veranlassen, daß man ihren Mann möglichst schone
und in Ruhe lasse. Es ist der Kollegenschaft bedeutet worden, die
Veranstaltung von Extravorstellungen zu unterlassen. »Besser wäre, man
täte ihn aufs Land,« meint Meier vom Land.



Das Büebli


Er ist Bankkommis und ein kleiner Kerl, »Säubübli« von seinen Kollegen
genannt, eine Benennung, die er mit scheinbarer Gleichgültigkeit
erträgt. Etwas Geringfügiges schwebt um seine Gestalt, und eigentlich
ist er nur eine Figur, keine Gestalt, nur ein menschliches Etwas, keine
Erscheinung. Ein bißchen ländlich beträgt er sich, und er stammt in der
Tat auch vom Land, sein Vater verträgt in dem Dorf, wo er her ist, die
Briefe. Es soll also wohl oder übel auch etwas Pöstliches an ihm sein,
ja, beinahe, aber dies kommt ungefähr so schwach zum Ausdruck, wie die
Mienen an den Personen eines schlechtgeschriebenen Romanes, oder wie das
Lächeln eines jener geriebenen Menschen, die nicht mit den Lippen,
sondern mit den Ohrlappen zu lächeln pflegen. Im übrigen heißt unser
Statist Glauser, Fritz mit Vornamen. Er nimmt Fechtstunden, »so ein
Dräckbürschli«. Seine Körperhaltung ist infolgedessen eine recht gute,
die Haltung schulmeistert beständig das, vermöge dessen sie da ist, den
Körper, und der kleine, gute Glauser-Körper läßt sich ruhig und ergeben
von der unzufriedenen Geist-Haltung kommandieren. An der Haltung merkt
man etwas, und am Körper belächelt man etwas, und an Glauser will man
immer etwas auszusetzen haben.

So zum Beispiel sagt man, er sei ein Streber, was ja nun allerdings ein
wenig wahr ist, aber sein Strebertum ist ein feines und bewußtes, es
korrespondiert mit den »Fechtstunden«. Er strebt danach, seinen Herren
Abteilungschefs und Meistern Vorgesetzten zu gefallen. Keine üble Idee,
aber in den Augen des Kollegen Senn, des »aufrührischen Vasallen«, ist
das gemein. Den säuerlich dampfenden und kochenden Atem seines Meisters
Hasler verträgt Glauser, wenn derselbe unvermutet hinter ihm steht, mit
Bravour, ja sogar mit Liebe, denn er sagt sich: »Anstandshalber habe ich
gegen solcherlei Atemübungen nichts einzuwenden. Ein besserer Duft wäre
mir lieber. Aber wenn Chefs so atmen, so nehme ich 's hin.«

Er ist klug, und er hat Charakter, er kennt keine Torheiten. Seinen
weiteren Kollegen Helbling verachtet er, aber vorsichtig, und seinen
noch weiteren Kollegen Tanner hält er für einen netten Kerl, aber für
prinzipienlos. Helbling will nicht arbeiten, Tanner bezweckt nichts mit
der Arbeit, aber Glauser arbeitet an seiner persönlichen
Weiterentwicklung, er fühlt sich berufen, Großes zu erreichen, er macht
im Geist Karriere.

Er spart auch, er ißt für vierzig oder für dreißig Rappen zu Mittag,
eine Ausgabe, die ihm imponiert, weil sie zu seinen Plänen paßt. Zu
rauchen gestattet er sich nicht, obwohl er es gern täte, dafür aber
trägt er Handschuhe und einen gewichtigen Spazierstock mit silbernem
Knopf. Es ist dies ein Luxus, aber erstens nur ein einmaliger, und
zweitens gibt der Mensch, der etwas erstrebt, gerne zu merken, daß es
ihm eine Unmöglichkeit ist, sich zu unterschätzen.

»Ich bin vom Land,« denkt öfters Glauser, »und habe aus diesem Umstand
heraus die Verpflichtung, es den Städtern zu zeigen, was ein fester
Willen vermag.« Er benützt und besucht die Lesehallen, er ist im
höchsten Grade bildungsbedürftig, und er weiß sich die Vorteile, die die
Stadt bietet, zu Nutzen zu machen. Er sagt sich: »Diese Städter! Da
schwärmen sie für die Landschaft. Ihre Bibliotheken vernachlässigen sie.
Gut, dann übernehmen eben die Söhne vom Land ihre Errungenschaften.«

Glauser hat scheinbar ein Verhältnis mit der Kellnerin des »Ochsen«.
Dort pflegt er zu Abend zu essen, das ist etwas teurer als im
Volkswohltätigkeitshaus, man trinkt Bier zu einer Portion saurer Lebern,
aber es gehört sich, infolgedessen tut er's. Die Verbindung mit dem
Mädchen kostet nichts, denn sie liebt ihn. Das »Säubübli« ist also
irgendwo Hahn im Korb, hat irgendwo einen Stein im Brett, das wirkt
wohltuend, das erhebt, das macht, daß man sich seiner Vorteile beständig
bewußt bleibt. Da kann man die andern reden lassen.

Sein Gehalt ist ein geringer, aber Glauser verbietet sich auf das
strengste, von einem höheren Salär zu träumen. So etwas reibt auf und
ist inkorrekt, denn es lenkt von den Obliegenheiten des Tages ab, und
das verhindert ein Mensch, der weiß, was Pflicht und Schuldigkeit sind.
»Das ist helblingisch,« denkt er und ist stolz und froh, sich derart
bemeistern zu können. Absichtlich macht er Fehler, um ab und zu einen
Verweis zu hören, aus Diplomatie, damit es nicht in der hintersten Ecke
heißt: »Dieser kleine Luscheib von Streber!« -- Jeder will gern ein
bischen populär sein, am liebsten die zukünftigen Herrscher.

An Gehaltszahltagen freuen sich die meisten Angestellten kindlich. Der
Klang des klimpernden Goldes erinnert an schöne Naturmomente, an
Genüsse, an das Verhalten-Menschliche. Es spricht eben zu den Herzen und
zu den Einbildungskräften. Nicht so Glauser. Der begegnet der fein
lächelnden Angestelltin, die gewöhnlich auszahlt, kalt und gebärdet
sich, während die liebliche Zahlerin ihres Amtes bei ihm waltet,
folgendermaßen: »Dummköpfin! Mach's rasch!« -- Es paßt ihm nicht, sich
zu freuen, seine Lüste sind tieferer und bewußterer Art.

An gemeinschaftlichen Sonntagsvergnügungen nimmt er indessen teil, aus
Politik, aber auch aus Anstandsgefühl, da er nicht ein versteckter
Einsamer sein will. So etwas gehört sich, Grund genug, mit dabei zu
sein. Das Tanzbein schwingt er trocken, aber er schwingt es wenigstens.
Das Tanzen gehört im Vergleich zum »Saufen« noch in den schönen Kreis
des Geistigen, demnach hat man sich's in keinerlei Weise zu verbieten.
Daneben kann Glauser sich ja noch ruhig über die Sache erhaben fühlen,
sowohl als über den armen Helbling, der dem Vergnügen leidenschaftlich
ergeben ist, und der sich von der »Sache« hinreißen läßt.

Glauser liest Nietzsche, er liest ihn, aber er läßt sich durch diesen
Autor nur zeitweise fesseln, niemals bestürmen, auch nicht irgendwelche
Muster vorschreiben. Er hat seine ganz eigenen Gedanken, ihm imponiert
so leicht keiner. Die Geschichte Napoleons aber hat es ihm angetan,
diesen Mann nimmt er zum Vorbild. Daneben ist es eine englische
Grammatik, der er vorzugsweise seine Nebenstunden widmet. Er ist
Mitglied des Kaufmännischen Vereines, aber ein laxes, die
Verbandsinteressen berühren ihn wenig, übrigens ist er erst zwanzig und
ein halbes Jahr alt.

Gesundheitshalber begibt sich das kleine »Glauserli« fast jeden Mittag,
während der Bureaupause, zum See hinaus, in die dortigen, hübschen
Quaianlagen, um sich auf eine Bank zu setzen. Der Schatten ist ihm
ebenso lieb wie die Sonne, aber um kein Haar lieber. Der Wind ist ihm
angenehm, aber nicht süß wie »diesem Poeten Tanner«. Die Natur ist
nützlich und gut, keineswegs entzückend. Auf der Bank liest er ein Buch.
Drum herum ist Natur, aber eben, das ist es, die Natur ist gut zum
Drumherumliegen, das Buch ist die Hauptsache. Die Natur wärmt und
freundet sich an: von selber: eine Art Dienstbotin, eine stumme,
gutmütige Pflegerin. Man nutzt das aus, denn das lohnt sich.

Schritt für Schritt schreitet unser Held vorwärts, und das heißt soviel
als, er macht immer seine Sache ordentlich. Nie verspätet er sich. Sein
Anzug ist ebenso sauber wie seine Arbeiten, die er abliefert, sein
Auftreten aber entspricht seinen Plänen, das heißt, es ist bescheiden,
hohe Pläne schreiben das vor. Während er arbeitet, scheint er
verschwunden zu sein, er ist gar nicht mehr auf der Welt, er lebt in den
unsichtbaren und unsichtbarmachenden Regionen der Pflichterfüllung.
»Meine Arbeit ist zu geistlos für mich,« denkt er, aber es genügt ihm,
daß er diesen Einfall gehabt hat, er macht kein Drama daraus. Er
arbeitet langsam, Zahl für Zahl, Buchstabe für Buchstabe, richtig,
gesetzt, leidenschaftslos, wie es sich schickt vor einer Leistung, die
keine Anforderungen an die Begabung stellt. Das freut ihn kalt, daß es
so ist. Glauser, »das Lusbübli«, ist von einer durchtriebenen
Zufriedenheit beseelt, und das ist es, was andern in die Augen sticht,
denn »dahinter steckt etwas!« --

»Eines Tages,« denkt ›dä chli Hagel‹, »werde ich ihr Chef sein. Die
werden sich wundern.« Er hat sich im stillen längst vorgenommen, nie
Stellung zu wechseln, eigenmächtig, sondern sich langsam an immer
bessere Posten versetzen zu lassen. Er weiß, daß es jahrelang dauert,
ehe er avancieren kann, aber das schreckt ihn nicht, im Gegenteil, er
hat eine diabolische Genugtuung, empfinden zu dürfen, daß man ihm
reichlich Gelegenheit zum hartnäckig Ausharren geben wird. Er weiß sich
im Besitz der hierzu erforderlichen Tugenden, und er lacht auf den
Stockzähnen hinten. Er hat Geduld wie eine Bahnübergangsbarriere. Er
sieht ja täglich das Muster der natürlichen Ungeduld vor sich, den
Helbling, der mit den Uhren kokettiert. Von diesem denkt er: »Der
macht's nicht mehr lange.«

Tanner macht's auch nicht mehr lange. Der arbeitet um des Arbeitens
willen. Das ist so eine Art zweckloser Künstlernatur! Das still
beobachtende »Bübli« ist seiner Sache sehr sicher. Nach kurzer Zeit
fliegen die beiden »hinaus«, Helbling auf dem Wege des Schassens und
Tanner aus eigenem Drang. Der eine »geht« zwecklos und der andere mit
Schand und Spott. Glauser aber stickt und zeichnet an dem fein erdachten
Gewebe seines Berufsprogrammes ruhig weiter.

Er hält das Ding aus, und weit mehr: Die Bureausystemseele ist wie seine
eigene, das heißt, keine Verdächtigungen! Er meistert eben seine Seele.
Er sieht: aha, hier geht es so zu, und da geht es sofort in ihm selber
ähnlich zu. Seine Energie läßt kein Unwohlbefinden aufkommen. So eine
Seele ist weich, und wozu? Zum Daraufdrücken! Eine Seele ist nach
Glausers Prinzipien zum Zermalmen da.

O er bringt es weit, aber noch lange nicht. Es geht langsam, aber dann,
nachdem es ein Leben gedauert hat, wird er konstatieren können, daß er
es weit gebracht hat. Und wenn er's zu nichts bringt, so hat er doch
reich gelebt: er hat gewollt! --



Paganini


Obwohl dieses Spiel für immer dahin ist, und obwohl meine Ohren es
niemals vernommen haben, so kann ich doch träumen davon, dichten und
phantasieren und kann mir vorstellen und ausmalen, wie süß es geklungen
haben muß, wie herrlich es geklagt, wie wunderbar es gejubelt und wie
betörend es geschluchzt haben muß. Wo der Name Paganini ausgesprochen
wird, hört man noch heute die Tonwellen auf und nieder rauschen, sieht
man heute noch eine gespenstisch dünne und schlanke weiße Hand den
Zauberbogen führen, glaubt man heute noch sein himmlisches Konzert zu
hören. Dämonisch soll er gespielt haben auf seinem Seeleninstrument, auf
der Herzengeige, und ich glaube es. Er gibt Dinge, an die man mit aller
Gewalt glaubt, an die man glauben -- -- will, und so glaube ich denn,
daß Paganini zaubervoll spielte und daß er mit seinem Bogen umging, wie
Napoleon mit seinen Armeen. Gewiß, eine kühne Vergleichung. Doch lassen
wir das. Er spielte so schön, daß die Frauen ihre geheimsten Träume von
den Herrlichkeiten der Liebe in Erfüllung gehen sahen, indem sie sich
von den liebsten und schönsten Lippen geküßt, und zwar mit einer so
großen Gewalt geküßt fühlten, daß sie vergehen zu müssen meinten. Es war
nicht, als wenn Hände, nein, es war, als wenn die Liebe selber spielte;
es war weniger der Gipfel der Geigenspielerkunst, obgleich es ein
völliger Gipfel war, als vielmehr die bloße, große Seele, die ja aller
und jeder Kunst erst die Weihe, den Klang und den Inhalt gibt. Dadurch,
daß er spielte, als wenn er lachte, redete und weinte, küßte und
mordete, eine Schlacht mitkämpfte und in der Schlacht verwundet wurde,
ein Pferd bestieg und auf und davon jagte, oder als wenn er in
unendlicher, unsagbarer Einsamkeit schwermütigen Gedanken nachhinge,
oder als wenn er auf stürmischer See Schiffbruch litte, oder als wenn er
zittere im Genuß eines wilden, unverhofften Glückes -- war er dämonisch.
Weil er einfach war, war er groß. Gütiger Leser, lächle, ich bitte dich,
über alle diese, wie du sagen wirst, überreizten Einbildungen, doch höre
weiter, wie er spielte, wie Paganini spielte. Mir ist es, als hörte ich
ihn in diesem Augenblick toben, wüten, zürnen, schwelgen und spielen. Er
spielte sein Spiel so herunter, daß die Hörer glaubten, er zerrisse die
Tonwelt mit dem Bogen, um sie wieder zusammensetzen zu können, sich
verlierend in Harmonien. Nachtigallen, arabische Feenschlösser, Nächte,
von denen die träumerische Liebe träumt, Treue, Güte und engelgleiche
Zärtlichkeiten wurden wahr durch seines Spieles mondscheinmilden Zauber,
und das Spiel selber, welchem Fürsten mit Vergnügen lauschten, floß
dahin, wie zerrinnender, unter dem Kuß der Sonne sich langsam, langsam
auflösender Schnee, floß dahin wie ein musikalischer Honigstrom, sich
verliebend in die eigene Hoheit, Schönheit und Flüssigkeit. So spielte
er. Aber er spielte noch viel schöner, er spielte so, daß der Haß sich
in Liebe, die Treulosigkeit sich in Treue, der Übermut sich in Wehmut,
der Mißmut sich in Wonne, die Häßlichkeit sich in Schönheit und die
Hartnäckigkeit sich in süße, purpurn strahlende Freudigkeit,
Freundlichkeit, Versöhnlichkeit und Willigkeit verwandelte. Goethe
lauschte seinem märchenhaften Spiel, das ihn entzündete und bis tief in
die große Seele entzückte. Je größer der war, der ihm zuhörte, um so
höher und größer war auch der Genuß. Es ist dies ja das Geheimnis des
Kunstgenusses überhaupt. Paganini wußte im voraus nie genau, wie und was
er spielen wollte und würde; er ließ sich von den Tönen zu den Tönen,
von den Stufen zu den Stufen, von den Wellen zu den Wellen, von den
Unbewußtheiten zu den goldenen Bewußtheiten hinreißen, derart, daß ihm
das Geigenspiel wie eine stolze Palme aus dem Boden des Beginnens
emporwuchs und größer und größer, schöner und schöner wurde wie ein
breites, gedankenvolles, wollüstiges Meer. Ähnlich geht der Mensch durch
das Leben, nicht wissend, was aus ihm wird, keimend oder fallend, je
nachdem das Schicksal es will. So war sein Spiel ein schicksalhaftes,
zwischen Wollen und Sollen schwebendes menschliches Spiel, das darum
auch alle Herzen gefangen nahm, alle Ohren bezauberte und alle Seelen
überschwemmte mit seiner Bedeutung. Napoleon hörte ihm zu, zwei volle
Stunden lang, wiewohl ich mir das vielleicht nur einbilde, wozu ich ein
gewisses Recht habe, da doch dieser ganze Aufsatz nur auf der Einbildung
und auf der Erhebung beruht. Strenggläubige Leute, Katholiken wie
Protestanten, lauschten ihm mit Freuden, denn es strömte Religion, wie
liebliche nahrhafte Milch, aus seinem Bogen. Seine Kunst glich einem
Regen, einem Segen, einem Sonntag, einer wundervollen hinreißenden
Predigt. Der Krieger lauschte ihm, alles, alles lauschte ihm, ganz
Aufmerksamkeit, ganz nur Ohr.



Der Schriftsteller


Der Schriftsteller besitzt in der Regel zwei Anzüge, einen für die
Straße und zum Besuche machen und einen für die Arbeit. Er ist ein
ordentlicher Mensch; das Sitzen am engen Schreibtisch hat ihn bescheiden
gemacht, er verzichtet auf die heitern Genüsse des Lebens, und wenn er
von irgendeinem nützlichen Ausgang nach Hause kommt, so zieht er seinen
guten Anzug rasch vom Leib, hängt Hose und Rock, wie es sich gehört,
säuberlich in den Kleiderschrank, wirft sich in seine Arbeiterbluse und
Hausschuhe, geht in die Küche, macht Tee zurecht und begibt sich zur
gewohnten Arbeit. Er trinkt nämlich immer Tee während des Schaffens, das
behagt ihm sehr, es erhält ihn gesund, und seiner Meinung nach ersetzt
ihm das alle übrigen weltlichen Genüsse. Verheiratet ist er nicht, denn
er hat nicht die Kühnheit gehabt, sich zu verlieben, weil er allen ihm
zu Gebote stehenden Mut dazu hat anwenden müssen, seiner künstlerischen
Pflicht gegenüber, die, wie es vielleicht bekannt ist, eine sehr harte
sein kann, treu zu bleiben. Er hauswirtschaftet in der Regel gänzlich
allein, es sei denn, eine Freundin helfe ihm beim Ausruhen und ein
unsichtbarer Schutzgeist beim Arbeiten. Seiner innersten Überzeugung
nach ist sein Leben weder besonders freudig noch gar sehr trübe, weder
leicht noch schwer, weder eintönig noch abwechslungsreich, weder eine
fortdauernde noch eine oft unterbrochene Lustbarkeit, weder ein Schrei
noch ein anhaltendes, munteres Lächeln: er schafft, das ist sein Leben.
Er versucht in einem fort, sich in alles und jedes hineinzuleben, darin
besteht sein Schaffen, und wenn er von seiner Arbeit einen Augenblick
aufsteht, um sich eine neue Zigarette zu drehen, einen Schluck Tee zu
trinken, ein Wort zur Katze zu sagen, jemandem die Tür zu öffnen oder
rasch aus dem Fenster zu schauen, so sind das nicht wesentliche
Unterbrechungen, sondern gewissermaßen nur Kunstpausen oder Atemübungen.
Manchmal turnt er ein bischen im Zimmer, oder es fällt ihm ein, ein
wenig zu jonglieren; auch Übungen im Gesang oder in der tönenden
Deklamation sind ihm willkommen. Diese kleinen Dinge tut er, damit er
beim Schreiben nicht ganz und gar, wie er sonst leicht befürchten müßte,
zum Narren wird. Er ist ein exakter Mensch; sein Beruf hat ihn dazu
gezwungen, denn was sollten Liederlichkeit oder Unordentlichkeit
tagelang am Schreibtisch zu suchen haben? Der Wunsch und die
Leidenschaft, das Leben in Worten zu zeichnen, entstammen schließlich
nur einer gewissen Genauigkeit und schönen Pedanterie der Seele, der es
Schmerz bereitet, beobachten zu müssen, wie so viel Schönes, Lebendiges,
Eilendes und Flüchtiges in der Welt davonfliegt, ohne daß man es hat ins
Notizbuch bannen können. Welche ewige Sorge! Der Mann mit der Feder in
der Hand ist quasi ein Held im Halbdunkel, dessen Betragen nur deshalb
kein heroisches und edles ist, weil es der Welt nicht zu Gesicht kommen
kann. Man spricht nicht umsonst von »Helden der Feder«. Vielleicht ist
das nur ein trivialer Ausdruck für eine ebenso triviale Sache, aber ein
Feuerwehrsmann ist auch etwas Triviales, obschon nicht ausgeschlossen
ist, daß er gesetzten Falls ein Held und ein Lebensretter sein kann.
Wenn es bisweilen einem Mutigen gelingt, ein Kind, oder was es sei, mit
Lebensgefahr aus dem strömenden Wasser zu retten, so dürfte es
vielleicht des öftern der Kunst und dem aufopfernden Bemühen eines
Schriftstellers vorbehalten bleiben, dem achtlos und gedankenlos
dahinflutenden Strom des Lebens Schönheitswerte, die eben am Ertrinken
und Untergehen sind, mit Gefahr seiner Gesundheit zu entreißen, denn
gesund ist es nicht, zehn bis dreizehn Stunden hintereinander am
Romanen- oder Novellentisch zu sitzen. Er kann also wohl zu den mutigen,
kühnen Naturen gerechnet werden. In der Gesellschaft, wo es immer so
glänzend und glatt zugeht, benimmt er sich mitunter steif aus
Schüchternheit, rauh aus Gutmütigkeit und holperig aus Mangel an
Schliff. Aber man unternehme es doch, ihn in ein Gespräch zu ziehen oder
ins Netz einer herzlichen Unterhaltung einzufädeln, und man wird ihn
alsobald sein linkisches Wesen abwerfen sehen; seine Zunge wird sprechen
wie jede beliebige andre Zunge, seine Hände bekommen die
allernatürlichsten Bewegungen, und in seinen Augen wird gewiß ebensoviel
Feuer schimmern, als in den Augen irgendeines Staats-, Industrie- oder
Marinemenschen. Er ist gesellig, wie nur irgendeiner. Er erlebt
vielleicht einmal während eines ganzen Jahres nichts Neues, da er sich
immer mit Satz- und Tonreihen abgegeben hat und mit der Vollendung
seines Werkes, aber, ich bitte, hat er dafür nicht Phantasie? Schätzt
man die gar nicht mehr heutzutage? Er ist fähig, mit seinen Einfällen
eine Gesellschaft von, sagen wir, zwanzig Menschen sich beinahe kaput
lachen zu machen, oder er kann Staunen erwecken, und zwar im
Handumdrehen, oder er kann Tränen entlocken, indem er einfach ein
Gedicht, das er gemacht hat, vorliest. Und dann, wenn seine Bücher auf
dem Markt erscheinen! Alle Welt, bildet er sich in seiner dachstubigten
Verlassenheit ein, springt danach und reißt sich um die hübsch
eingebundenen oder sogar in braunes Leder gepreßten Exemplare. Auf dem
Titelblatt steht sein Name, ein Umstand, der seiner naiven Meinung nach
genügt, ihn überall in der runden, weiten Welt bekannt zu machen.
Alsdann kommen die Enttäuschungen, die Zurechtweisungen in den Blättern,
das Zischen zu Tode, das Verschweigen ins Grab hinein; unser Mann
erträgt es eben. Er geht nach Hause, vernichtet alle seine Papiere,
versetzt dem Schreibtisch einen furchtbaren Stoß, daß er umfliegt,
zerreißt einen angefangenen Roman, zerfetzt die Schreibunterlage, wirft
den Vorrat an Schreibfedern zum offenen Fenster hinaus, schreibt seinem
Verleger: »Sehr geehrter Herr, ich bitte Sie, aufzuhören, an mich zu
glauben,« und segelt auf Wanderschaften. Sein Zorn und seine Scham
kommen ihm übrigens nach kurzer Zeit lächerlich vor, und er sagt sich,
daß es seine Pflicht und Schuldigkeit sei, von neuem mit seiner Arbeit
zu beginnen. So macht's der eine, der andre macht's vielleicht um eine
Schattierung anders. Nie verliert ein zum Schriftstellern geborener
Schriftsteller den Mut; er hat ein beinahe ununterbrochenes Vertrauen
zur Welt und zu den tausend neuen Möglichkeiten, die sie ihm jeden neuen
Morgen bietet. Er kennt jede Art Verzweiflung, aber auch jede Art
Glücksgefühl. Das Sonderbare ist, daß ihn eher die Erfolge als die
Mißerfolge mißtrauisch gegen sich machen; das kommt aber vielleicht nur
daher, weil die Maschine seines Denkens fortgesetzt in Bewegung ist. Hin
und wieder macht der Schriftsteller Vermögen, aber er geniert sich
beinahe, Haufen Geldes erworben zu haben, und er macht sich in solchen
Fällen absichtlich klein, um den vergifteten Pfeilen des Neides und der
Spottsucht möglichst auszuweichen. Ein ganz natürliches Verhalten! Wie
aber, wenn er arm und verachtet dahinlebt, in feuchten, kalten Stuben,
an Tischen, über deren Platten ihm das Ungeziefer kriecht, in Betten aus
Stroh, in Häusern voll wüsten Gelärms und Geschreis, auf ganz und gar
einsamen Wegen, in der Nässe des herabströmenden Regens, auf der Suche
nach Lebensunterhalt, den ihm, weil er vielleicht eine dumme Figur
macht, kein vernünftiger Mensch gewähren will, unter der Glut der
hauptstädtischen Sonne, in Herbergen voll Ungemach, in Gegenden voll
Sturm oder in Asylen ohne die Freundlichkeit und Heimatlichkeit, die in
dem Namen so schön enthalten ist? Ist ein derartiges Unglück
ausgeschlossen? Nun also: auch Gefahren kann der Schriftsteller
durchmachen, und von seinem Genie, sich in alle üblen Umstände zu
schicken, wird es abhängen, wie er sie durchmacht. Der Schriftsteller
liebt die Welt, denn er fühlt, daß er aufhört, ihr Kind zu sein, wenn er
sie nicht mehr lieben kann. In diesem Fall ist er ja auch meist nur noch
ein mittelmäßiger Schriftsteller, das empfindet er deutlich, und deshalb
vermeidet er es, dem Leben ein mißmutiges Gesicht zu zeigen.
Infolgedessen kommt es auch oft vor, daß man ihn für einen urteilslosen,
beschränkten Schwärmer ansieht, während man doch gar nicht bedenkt, daß
er ein Mensch ist, der sich weder den Spott, noch den Haß gestatten
darf, weil ihm diese Empfindungen zu leicht die Lust am Schaffen rauben.



Allerlei


Das Sittsame fördert; das Rücksichtvolle scheint es zu etwas zu bringen.
Der, der die Zeit niemals mit irgend etwas Ablenkendem verlieren will,
trocknet und rostet ein. Es scheint, daß es unklug und bösartig ist,
immer energisch zu sein. Mangel an Zuversicht gebärdet sich gern
konstant energisch. Nun ist ja das alles so wunderbar. Fallen und seinen
Posten verlieren, heißt oft: einen neuen unter die Füße bekommen.
Triumphieren ist oft nichts anderes als Versinken in den Wellen der
Anmaßung; und doch triumphiert man so gern. Immer und immer gesetzt,
gerecht und gefaßt sein, ist hart und streift ans Unmenschliche, während
doch menschlich sein unser unabänderliches Los ist. Schön und
vortrefflich ist nur das Menschliche. Gewisse Tugenden sind ein Laster
oder die Blüte eines solchen. Das Laster scheint eine Höhle voll Unrat
und Unverständnis zu sein, aber aus dem Laster hervortreten, mit Reue in
der Seele, ist schöner als niemals sündigen. Sind denn nicht vielfach
die Fehler der Anlaß zu den Entzückungen und Rührungen? Wie willkommen
ist dem alten Vater der verlorene Sohn; wie herrlich, wie herrlich ist
es, Gnade und Erbarmen zu finden. Die Tugend beißt sich in die Lippen
und kehrt dem liebevollen Schauspiel schamhaft und boshaft den Rücken,
schauervoll fühlend, wie häßlich es ist, nie fehlzugehen. Das Sittsame,
das Kämpfe duldet und übersteht, ist das Wundervolle. Der wirkliche
Weltmann, zum Beispiel, ist sittsam; er ist fromm und duldet.

                   *       *       *       *       *

Die Wortkargheit kann in eine Schwäche ausarten; genau wie das
Gegenteil. Das Schweigen beherrscht uns oft, wie uns die Sucht, alles
auszuplaudern, beherrschen kann. Man soll nicht schweigen, wo es uns
schicklich scheint, den Mund aufzutun; nur müssen wir freilich ungefähr
wissen, was schicklich ist: und das weiß der Seelenvolle. Kann man nicht
auch durch das Schweigen verleumden? Jedenfalls sehr unangenehm kann man
sein. Man soll stets ein wenig lügen, das, was man nicht sagen darf, so
sagen können, daß es wie eine einfache Unterhaltung klingt. Das Gehörte
dem, den es angeht, genau so wiedersagen, wie es uns gesagt wurde, ist
taktlos und muß verletzen. Aus Rücksicht ein wenig die Wahrheit
entstellen, heißt sie vertiefen und verfeinern. Die Liebe versteht zu
lügen, die Liebe versteht zu reden, die Liebe allein versteht, auf
schöne Art zu schweigen. Übrigens sind das alles Schwankungen. Es kommt
da auf die Fälle an und auf die Personen. Zu gewissen Menschen steht man
so, daß ich und der andere es fühlen, wie unmöglich es ist, daß wir
einander verkennen oder mißverstehen können. Beleidigungen, zum
Beispiel, liegen nie im Ausdruck, sondern immer in den besonderen
Umständen. Plötzlich habe ich irgendwen tief verletzt und ich weiß es
gar nicht. Dich liebt jemand: und du drehst dieser Person im Weltleben
den Rücken. Du liebst dann wieder dort, wo du mißverstanden und verkannt
wirst.

                   *       *       *       *       *

Der große Dienst, den wir einer Frau erweisen, stürzt uns in die Gefahr,
von ihr für einen Dummkopf gehalten zu werden. Man muß ihr dann grausam
hart begegnen, um sie zu überzeugen, daß sie es mit einem Menschen von
Selbstbewußtsein zu tun hatte. Nichts verachten und verschmähen echte
weibliche Naturen so sehr wie Güte so ins Blaue hinein. Die Frauen
erziehen den anwachsenden Mann zur Schätzung und Wertung seiner selber.
Vielleicht geht im Meer dieser Erziehung manche feine, gute und tüchtige
Mannesgesinnung für immer unter, denn edel und hochherzig ist man nicht
gern zum zweitenmal, wo man das erstemal ausgelacht worden ist. Doch wer
könnte edel von Natur sein und nicht für immer?

                   *       *       *       *       *

Das Schweizerland, wie kühn und klein steht es da, umarmt von den
Staaten! Was ist es als Land allein für eine zugleich hehre und anmutige
Erscheinung! Europas schneeige Pelzboa könnte man es nennen. Wundervoll
wie seine Geschichte ist seine Natur. Merkwürdig wie sein Volk ist sein
Bestand. Es ist, als ducke es sich. Doch scheint es auch nicht ein
Panther, denn es hat keine Grenzenbeute zu machen. Seine Enthaltsamkeit
ist seine Festigkeit, seine Bescheidenheit ist seine Schönheit, seine
Beschränkung sein unvergleichliches Ideal. Wie ein politischer Felsen
steht es da, umbrüllt von den politischen Wogen. So lange es bleibt, was
es ist, schadet ihm, scheint es, nichts. Inwiefern es sich klein fühlt,
darf es sich stark und eigen und unabhängig fühlen, abhängig nur von der
Besonnenheit und Unerschrockenheit. Seine Würde ist seine Grenze; und
solange es diese in ihrer Art unübersehbare Grenze zu bewahren weiß, ist
es in seiner Art ein bedeutendes und großes Land, groß als Gedanke. Wie
reizend und wie gefährlich ist seine Lage. Seine Menschen, wie
heimatlich wissen sie, das Altertum bekräftigend, zu leben. Sein Handel
geht hoch, seine Wissenschaften blühen. Doch wozu ihm schmeicheln? Daß
es sein Eigen ist, schmeichelt ihm am tiefsten. Man will sie grob nennen
im Ausland, die Schweizer. Das ist so, als nennte man den Franzosen
unzuverlässig, den Deutschen anmaßend, den Türken unsauber, den Russen
rückständig. Wie verpesten Redensarten die Erde! Wie vergiften gewisse
Gerüchte das Leben!

                   *       *       *       *       *

Reisen, im Eisenbahnwagen sitzen, erster Klasse natürlich. Man ist
eingestiegen und immer fährt man ins unbekannte, fremde Weite. Das ist
reizend. Man beherrscht so ein bischen alle Sprachen. Kauderwelschen:
Das ist so nett. Attachiert ist man als richtiger Reisender. Süß,
einfach göttlich. Und nun sitzt man; draußen ist Winternacht, es
schneit. Von der Wagendecke lächelt das Lämpchen wie ein unaufgeklärtes
tiefes Menschenbrust-Geheimnis dich an. Tränen treten dir plötzlich in
die Augen. Wie ist dir, du attachierter perfekter Reisender? Empfindest
du Schmerzliches? Ja, ich bin versunken in ein Meer von wehmutvollen
Erinnerungen. Ich werde in die fernen Länder davongetragen. Übrigens
lese ich ja jetzt die Zeitung. Plötzlich ist mir vollkommenem
Weltreisenden, als fahre ich zurück in die freudenüberströmte, liebe
Kindheit. Die Eltern tauchen vor mir auf; und da schaue ich namentlich
Mama tief in die Augen. Welch eine Wonne, welch ein Glück ist es, klein
zu sein! Mir ist, als möchte ich gerade jetzt von Papa verprügelt
werden. Doch weiter fährt es, weiter, weiter. Reisender sein: ach ja;
und draußen der Mitternachtschnee. Ach ja, Reisender sein, ist hübsch.
Aber richtiger attachierter Reisender muß man sein.

                   *       *       *       *       *

»Das alles ist nicht so schlimm«: finde ich hübsch gesagt. Mein lieber
Bruder Hans sagte das immer. Er ist ein goldener Mensch, golden durch
Treue. Ja, wenn es bei uns zu Haus oft schlimm aussah, sagte Hans: »Das
alles ist nicht so schlimm. Es sieht nur so schlimm aus.« Mir scheint,
Ehre und Liebe reden so. Tragisch die Dinge nehmen, ist ja plump. Wenn
du keinen Erfolg in der Welt hast, so ist das gar nicht so schlimm. Der
Humor ist die unübertreffliche Königin des Weltlebens. Hier wäre wieder
ein Wörtchen vom Wesen des wahren Weltmannes zu sagen. Doch man muß sich
diese Schreibfreude leider versagen; und das ist gar nicht so schlimm.
Einen Hieb bekommen, ist gar nicht so schlimm. Verachtung wecken, wo man
meinte, es recht getan zu haben, ist auch nicht so schlimm. Was ist
schlimm? Mutlos und freudlos sein? Ist das wirklich so schlimm? Ja: das,
das ist schlimm. Wenn ich falle und dazu lache, ist das gar nicht so
schlimm. Wenn ich mich aber über die Niederlage ärgere, dann ist es
schlimm. Doch ich habe noch allerlei anderes zu sagen. Das Leben enthält
nicht nur einerlei, sondern gar mancherlei. Also auf ins Allerlei!

                   *       *       *       *       *

Wenn ich eine Weile nicht habe denken dürfen, sondern habe wirken
müssen, wie sehne ich mich da wieder nach dem Leben in den Gedanken!
Wenn es mir schlecht in der Welt geht, wie wünsche ich da wieder,
geachtet, ausgezeichnet, gestreichelt, verwöhnt und geliebt zu werden!
Wenn ich lange Zeit mit gewöhnlichen Menschen zu tun gehabt habe, wie
schwebt mir da der Umgang mit feinen, ungewöhnlichen Menschen
paradiesgartenähnlich wieder vor! Und wenn ich dahingesunken bin in den
Abgrund der Verwilderung, ach, wie so gern betrage ich mich nachher
wieder gesetzt und gesittet! Muß alles so sein Gegengewicht haben? Soll
man immer und immer wieder durch die Schärfe der Gegensätze gerüttelt
und geschüttelt werden? So scheint es; und so mache du dich nur stets
auf Schwankungen, Unklarheiten und Unordnungen gefaßt. Trage es immer
wieder, das Schwere, dulde es immer wieder, das Unangenehme, finde es
immer wieder beherzigenswert und liebenswert, das Vielerlei. Pünktliche
Ordnung schaffst du nie rund um dich und in dir. Deshalb sei doch ja
nicht versessen auf die Ordentlichkeit. Dies stört, macht feig und
blendet.

                   *       *       *       *       *

Wir stecken immer noch sehr im Mittelalter, und diejenigen, die über die
Neuzeit murren, weil sie seelenarm sei, im Vergleich mit der Vorwelt,
irren arg. Abschaffen ist der Lauf der Welt? Wie? Wenn alles so leer, so
leicht würde, daß man an gar nichts mehr zu denken brauchte? Anzeichen,
daß die Menschen der Kultur und ihrer Peinlichkeiten überdrüssig werden,
sind vorhanden. Eine Welt glatt wie Glas, ein Leben sauber wie eine
Stube am Sonntag. Keine Kirchen und keine Gedanken mehr. Puh, mich
friert. Es sollte doch wohl immer noch allerlei in der Welt geben. Mich
würde nichts bewegen, wenn nicht allerlei mich bewegte.



Der Wald


Von allerlei seltsamen Empfindungen durchdrungen, ging ich langsam auf
dem felsigen Weg in den Wald hinauf, der mir wie ein dunkelgrünes
undurchdringliches Rätsel entgegentrat. Er war still, und doch schien es
mir, als bewege er sich und trete mir mit allen seinen Schönheiten
entgegen. Es war Abend, und soviel ich mich erinnere, war die Luft von
süßer melodischer Kühle erfüllt. Der Himmel warf goldene Gluten in das
Dickicht hinein, und die Gräser und Kräuter dufteten so sonderbar. Der
Duft der Walderde bezauberte mir die Seele, und ich vermochte, benommen
und beklommen wie ich war, nur langsamen, ganz langsamen Schrittes
vorwärtszugehen. Da tauchte aus dem niedrigen Eichengebüsch, zwischen
Tannenstämmen, eine wilde, große, schöne fremde Frau hervor, angetan mit
wenigen Kleidern und den Kopf bedeckt mit einem kleinen Strohhut, von
dem ein Band aufs schwarze Haar herabfiel. Es war eine Waldfrau. Sie
nickte und winkte mir mit ihrer Hand zu und kam mir langsam entgegen.
Der Abend war schon so schön, die Vögel, die unsichtbaren, sangen schon
so süß, und nun noch diese schöne Frau, die mir wie der Traum einer
Frau, wie die bloße Vorstellung dessen, was sie war, erschien. Wir
traten uns näher und begrüßten uns. Sie lächelte, und ich, ich mußte
ebenfalls lächeln, bezwungen von ihrem Lächeln und gefangen genommen von
der herrlichen, tannengleichen Gestalt, die sie hatte. Ihr Gesicht war
blaß. Der Mond trat nun auch zwischen den Ästen hervor und schaute uns
beide mit gedankenvollem Ernst an, und da setzten wir uns nebeneinander
ins feuchte, weiche, süßduftende Moos und schauten uns zufrieden in die
Augen. O, was hatte sie für schöne, große, wehmutsvolle Augen. Eine Welt
schien in ihnen zu liegen. Ich faßte sie um den großen weichen Leib und
bat sie, mit so viel Schmeichelei in der Stimme, als ich hineinzulegen
vermochte (und das war nicht schwer), mir ihre Beine zu zeigen; und sie
nahm den Rock von den Beinen weg, und da schimmerte mir durch das Dunkel
des Waldes sanft das himmlisch schöne weiße Elfenbein entgegen. Ich
neigte mich und küßte beide Beine, und ein freundlicher willkommener
Strom strömte mir durch den beseligten Körper, und ich küßte nun ihren
Mund, der die schwellende nachgiebige Güte und Liebe selber war, und wir
umarmten uns und hielten uns lange, lange, zu unserem gegenseitigen
stillen Entzücken, umschlungen. Ach, wie mich der Duft der Waldnacht
entzückte, wie mich aber auch der Duft entzückte, der dem Körper der
Frau entströmte. Wir lagerten auf dem Moos wie in einem kostbaren,
reichgeschmückten Bett, Stille und Finsternis und Frieden um uns her,
über uns die tanzenden und blitzenden Sterne und der gute, sorglose,
liebe, große, göttliche Mond.



Zwei sonderbare Geschichten vom Sterben


=Die Magd=. Eine reiche Dame hatte eine Magd, die mußte das Kind hüten.
Das Kind war so zart wie Mondstrahlen, so rein wie frisch gefallener
Schnee und so lieb wie die Sonne. Die Magd hatte es lieb wie Mond, wie
Sonne, fast wie ihren lieben Gott selbst. Aber da ging das Kind einmal
verloren, man wußte nicht wie, und da suchte es die Magd, suchte es in
der ganzen Welt, in allen Städten und Ländern, sogar in Persien. Dort in
Persien kam die Magd eines Nachts vor einen finstern, hohen Turm, der
stand an einem breiten, dunklen Strom. Hoch oben aber im Turm brannte
ein rotes Licht, und dieses Licht fragte die treue Magd: Kannst du mir
nicht sagen, wo mein Kind ist? es ist verloren gegangen, ich suche es
nun schon zehn Jahre! -- So suche noch weitere zehn Jahre! antwortete
das Licht und erlosch. Da suchte die Magd weitere zehn Jahre lang nach
dem Kind, in allen Gegenden und Umgegenden der Erde, sogar in
Frankreich. In Frankreich ist eine große, prächtige Stadt, die heißt
Paris, zu der kam sie. Da stand sie eines Abends vor einem schönen
Garten, weinte, daß sie das Kind nicht zu finden vermochte und nahm ihr
rotes Schnupftuch hervor, um ihre Augen damit abzuwischen. Da ging der
Garten plötzlich auf, und ihr Kind trat heraus. Da sah sie es, und da
starb sie vor Freude. Warum starb sie? Hat das denn etwas genützt? Sie
war aber schon alt und konnte nicht mehr soviel vertragen. Das Kind ist
jetzt eine große, schöne Dame. Wenn du ihr begegnest, so grüße sie doch
von mir.

                   *       *       *       *       *

=Der Mann mit dem Kürbiskopf=. Es war einmal ein Mann, der hatte statt
eines Kopfes einen hohlen Kürbis auf den Schultern. Damit konnte er
nicht weit kommen. Und doch wollte er der Vorderste sein! So einer! --
Als Zunge hatte er ein Eichblatt aus dem Munde hängen, und die Zähne
waren nur mit dem Messer ausgeschnitzt. Statt der Augen hatte er bloß
zwei runde Löcher. Hinter den Löchern flackten zwei Kerzenstümpchen. Das
waren die Augen. Damit konnte er nicht weit sehen. Und doch sagte er, er
habe die besten Augen, der Prahler! -- Auf dem Kopf hatte er einen hohen
Hut; den zog er ab, wenn jemand zu ihm redete, so höflich war er. Da
ging der Mann einmal spazieren. Doch der Wind blies so heftig, daß die
Augen ausloschen. Da wollte er sie wieder anzünden; aber er hatte keine
Zündhölzchen. Er fing an zu weinen mit seinen Kerzenrestchen, weil er
den Weg nach Hause nicht mehr finden konnte. Da saß er nun, nahm den
Kürbiskopf zwischen seine beiden Hände und wünschte zu sterben. Aber das
Sterben ging ihm nicht so leicht. Es kam vorher noch ein Maikäfer und
fraß ihm das Eichblatt vom Munde weg. Es kam vorher noch ein Vogel, und
pickte ein Loch in seinen Kürbisschädel. Es kam vorher noch ein Kind und
nahm ihm beide Kerzenstümpchen weg. Da konnte er sterben. Noch frißt der
Käfer am Blatt, noch pickt der Vogel, und das Kind spielt mit den
Kerzchen.



Der fremde Geselle


Das sind große Unterlassungssünden. Ich bin ein bedeutender Schurke
gegen mich selber. An mir sehe ich, wie die Menschen durch Trägheit
sündigen. Ich warte immer auf etwas, das mir entgegenzutreten habe. Wie
nun, wenn alle Menschen das tun; wenn jeder so wartet auf das, was da
kommen soll? Es kommt nie etwas. Es kommt demnach für niemand das
betreffende Etwas. Was einer so erwartet und erwartet, kommt nie. Was
also alle erwarten, erscheint allen nie. Hier ist die große Sünde.
Anstatt daß ich gehe und jemand entgegengehe, warte ich, bis jemand mir
gefällig entgegentritt, das ist die rechte Trägheit, der rechte
ungerechtfertigte Stolz. Gestern abend schaute ein sonderbarer
wildfremder Geselle, der irgend etwas zu suchen schien, zu mir hinauf.
Ich stand am offenen Fenster. Ich schaute ihn an, der zu mir
hinaufschaute, so, als sei er eines kleinen Zeichens gewärtig. Ich hätte
nur zu nicken brauchen mit dem Kopf, und eine seltsame, ungewöhnliche
Menschenverbindung wäre vielleicht schon angebahnt gewesen. Vielleicht
auch nicht. Wer vermag es zu wissen. Etwas Ungewisses vermag man nicht
zu wissen, aber gleichviel. Ich hätte der dunklen, ungewissen, vom
zauberischen Abendlicht umflossenen Menschengestalt ein Zeichen geben
sollen. Es sah aus, als sei der fremde Mensch einsam, arm und einsam.
Doch sah es zur selben Zeit aus, als wisse er viel und vermöge manches,
das wert sei, vernommen zu werden, zu erzählen, als sei alles das, was
er zu sagen habe, angetan, zu Herzen genommen zu werden. Und warum bin
ich ihm nun gar nicht entgegengekommen? Ich begreife mein Benehmen kaum;
auf solche Art und Weise kommen sich Menschen in die Nähe und gehen,
ohne Spuren zu hinterlassen, wieder voneinander weg. Das ist nicht gut.
Das ist eigentlich recht schlecht. Es ist eine rechte Sünde. Nun will
ich natürlich eine Ausrede suchen und mir vorsagen, daß an dem Fremdling
möglicherweise nichts gelegen sei. Möglicherweise? Da bin ich schon
gefangen; denn ich gebe ja zu, daß, auf der andern Seite, d. h. bei
anderem Licht besehen, irgend etwas ist an ihm. Ich bin demnach also
keineswegs zu entschuldigen. Kalt habe ich den Gesellen, der mir
vielleicht ein Freund hätte werden, und dem auch ich ein Freund hätte
werden können, abziehen lassen. Seltsam, seltsam. Ich bin erstaunt,
nein, ich bin mehr als erstaunt, ich bin ergriffen, und Trauer schleicht
sich mir in das Herz.

Ich komme mir ganz unverantwortlich vor, und ich könnte sagen, daß ich
unglücklich sei. Doch ich liebe die Worte Glück und Unglück nicht; sie
sagen nicht das Rechte. Ich habe bereits dem unbekannten Menschen, der
zu mir hinaufgeschaut hat, einen Namen gegeben. Ich nenne ihn, wenn ich
an ihn denke, Tobold. Mir ist dieser Name zwischen Schlafen und Wachen
eingefallen. Wo ist er jetzt, und an was denkt er? Ob es mir wohl
möglich sein wird, seine Gedanken zu denken, zu erraten, was er denkt,
und das gleiche, wie er, zu denken? Meine Gedanken sind bei ihm, der
mich suchte. Offenbar hat er mich gesucht, und ich habe ihn nicht
eingeladen, zu mir zu kommen, und er ist dann wieder gegangen. An der
Ecke des Hauses hat er sich nochmals umgedreht, dann verschwand er. Ist
er nun für immer verschwunden?



Die Einsiedelei


Irgendwo in der Schweiz, in bergiger Gegend, findet sich, zwischen
Felsen eingeklemmt und von Tannenwald umgeben, eine Einsiedelei, die so
schön ist, daß man, wenn man sie erblickt, nicht an Wirklichkeit glaubt,
sondern daß man sie für die zarte und träumerische Phantasie eines
Dichters hält. Wie aus einem anmutigen Gedicht gesprungen, sitzt und
liegt und steht das kleine, gartenumsäumte, friedliche Häuschen da, mit
dem Kreuz Christi davor, und mit all dem holden, lieben Duft der
Frömmigkeit umschlungen, der nicht auszusprechen ist in Worten, den man
nur empfinden, sinnen, fühlen und singen kann. Hoffentlich steht das
liebliche, kleine Bauwerk noch heute. Ich sah es vor ein paar Jahren,
und ich müßte weinen bei dem Gedanken, daß es verschwunden sei, was ich
nicht für möglich halten mag. Es wohnt ein Einsiedler dort. Schöner,
feiner und besser kann man nicht wohnen. Gleicht das Haus, das er
bewohnt, einem Bild, so ist auch das Leben, das er lebt, einem Bilde
ähnlich. Wortlos und einflußlos lebt er seinen Tag dahin. Tag und Nacht
sind in der stillen Einsiedelei wie Bruder und Schwester. Die Woche
fließt dahin wie ein stiller, kleiner, tiefer Bach, die Monate kennen
und grüßen und lieben einander wie alte, gute Freunde, und das Jahr ist
ein langer und ein kurzer Traum. O wie beneidenswert, wie schön, wie
reich ist dieses einsamen Mannes Leben, der sein Gebet und seine
tägliche, gesunde Arbeit gleich schön und ruhig verrichtet. Wenn er am
frühen Morgen erwacht, so schmettert das heilige und fröhliche Konzert,
das die Waldvögel unaufgefordert anstimmen, in sein Ohr, und die ersten,
süßen Sonnenstrahlen hüpfen in sein Zimmer. Beglückter Mann. Sein
bedächtiger Schritt ist sein gutes Recht, und Natur umgibt ihn, wohin er
mit den Augen schauen mag. Ein Millionär mit all dem Aufwand, den er
treibt, erscheint wie ein Bettler, verglichen mit dem Bewohner dieser
Lieblichkeit und Heimlichkeit. Jede Bewegung ist hier ein Gedanke, und
jede Verrichtung umkleidet die Hoheit; doch der Einsiedler braucht an
nichts zu denken, denn der, zu dem er betet, denkt für ihn. Wie aus
weiter Ferne Königssöhne geheimnisvoll und graziös daherkommen, so
kommen, um dem lieben Tag einen Kuß zu geben und ihn einzuschläfern, die
Abende heran, und ihnen nach folgen, mit Schleier und Sternen und
wundersamer Dunkelheit, die Nächte. Wie gerne möchte ich der Einsiedler
sein und in der Einsiedelei leben.



Reigen


Plötzlich, ehe es die andern alle nur wissen, ist einer als groß und
bedeutend erklärt. Wer zuerst die Erklärung gegeben hat, das weiß später
niemand unter der Schar ganz genau. Das Leben und das Spiel des Lebens
scheinen auf einer Fülle von erhitzenden und erregenden Ungenauigkeiten
zu beruhen, und es fühlen es alle, daß die Besonnenheit nicht das Hohe
erreicht. Es sind aber auch welche da, die mit Mäßigem erstaunlich
zufrieden sind, und so erstaunlich ist das wohl gar nicht. Die Wünsche
und Begierden harmonieren letzten Endes immer mit den Fähigkeiten, und
es vergeht kein Jahr, so empfindet der Mensch, was er ungefähr vermag.
Im rundlichen Kreis des Spiels befindet sich eine Einsame, die weint.
Nun benehmen sich die übrigen so, als bemerkten sie das nicht, und das
ist doch immerhin schicklich. Wen ich bemitleide, zu dem soll ich auch
hintreten und ihn umhalsen und ihm das Leben weihen, und davor scheut
man denn doch ein wenig zurück. Wie tief und wie sehr müssen sie alle
sich selbst schätzen und lieben. So lautet das Naturgesetz. Die Liebe
spielt eine eigentümliche Rolle auf dem grünen Rasen des Lebens. Es
lieben sich zwei, aber sie vermögen nicht einander auch zu ehren. Hier
verachten sich zwei, und können doch sehr gut miteinander für den
täglichen Verkehr auskommen. Liebe ist unergründlich und ein Ziel für
Irrtümer. Da ist einer, der gern ein Gewaltiger wäre, aber man merkt es
ihm schon an, daß er niemals Gelegenheit haben wird, zu herrschen und
anzuordnen. Ein andrer möchte Bevormundeter sein und muß bevormunden.
Seltsames Spiel des Lebens. Man sieht schneeweiße Schmetterlinge
umherflattern: das sind Gedanken, deren Los das Flattern, Ermüden und
Stürzen ist. Die Luft ist voll unsagbarer Sehnsucht, heiß von Entsagung.
An einem entfernten Ort steht der Vater, und wenn eins der
Menschenkinder zu ihm hinspringt, um eine Klage vorzubringen, lächelt er
und bittet es, in den spielerischen Kreis zurückzutreten. Wenn ein Kind
stirbt, hat es ausgespielt. Die andern aber spielen fort und fort
weiter.



  [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
    jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
    steht.

  was aber so leicht auskommen kann. Auch das Leben der Geliebten hängt an
  was aber so leicht auskommen kann. Auch das Leben des Geliebten hängt an

  ergriffen von der gesunden täglichen Gewohnheit, Ist nicht Ordnung immer
  ergriffen von der gesunden täglichen Gewohnheit. Ist nicht Ordnung immer

  nicht nötig, Rücksich zu nehmen, dafür hungert er aber auch. Germer
  nicht nötig, Rücksicht zu nehmen, dafür hungert er aber auch. Germer

  ]





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