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Title: Geschichten vom lieben Gott
Author: Rilke, Rainer Maria, 1875-1926
Language: German
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  [ Anmerkungen zur Transkription:

    Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen;
    lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Eine Liste
    der vorgenommenen Änderungen findet sich am Ende des Textes.

    Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit _ markiert.

    Das Inhaltsverzeichnis befindet sich am Ende des Buches.
  ]



24. bis 28. Tausend



  Geschichten
  vom lieben Gott

  Von
  Rainer Maria Rilke

  1921

  Im Insel-Verlag zu Leipzig



MEINE FREUNDIN, EINMAL HABE ICH DIESES BUCH IN IHRE HÄNDE GELEGT, UND
SIE HABEN ES LIEB GEHABT WIE NIEMAND VORHER. SO HABE ICH MICH DARAN
GEWÖHNT, ZU DENKEN, DASS ES IHNEN GEHÖRT. DULDEN SIE DESHALB, DASS ICH
NICHT ALLEIN IN IHR EIGENES BUCH, SONDERN IN ALLE BÜCHER DIESER NEUEN
AUSGABE IHREN NAMEN SCHREIBE; DASS ICH SCHREIBE:

  DIE GESCHICHTEN VOM LIEBEN GOTT
  GEHÖREN ELLEN KEY.

  RAINER MARIA RILKE
  ROM, IM APRIL 1904.



DAS MÄRCHEN VON DEN HÄNDEN GOTTES


Neulich, am Morgen, begegnete mir die Frau Nachbarin. Wir begrüßten uns.

»Was für ein Herbst!« sagte sie nach einer Pause und blickte nach dem
Himmel auf. Ich tat desgleichen. Der Morgen war allerdings sehr klar und
köstlich für Oktober. Plötzlich fiel mir etwas ein: »Was für ein
Herbst!« rief ich und schwenkte ein wenig mit den Händen. Und die Frau
Nachbarin nickte beifällig. Ich sah ihr so einen Augenblick zu. Ihr
gutes gesundes Gesicht ging so lieb auf und nieder. Es war recht hell,
nur um die Lippen und an den Schläfen waren kleine schattige Falten.
Woher sie das haben mag? Und da fragte ich ganz unversehens: »Und Ihre
kleinen Mädchen?« Die Falten in ihrem Gesicht verschwanden eine Sekunde,
zogen sich aber gleich, noch dunkler, zusammen. »Gesund sind sie, Gott
sei Dank, aber --«; die Frau Nachbarin setzte sich in Bewegung, und ich
schritt jetzt an ihrer Linken, wie es sich gehört. »Wissen Sie, sie sind
jetzt beide in dem Alter, die Kinder, wo sie den ganzen Tag fragen. Was,
den ganzen Tag, bis in die gerechte Nacht hinein.« »Ja,« murmelte ich,
-- »es gibt eine Zeit ...« Sie aber ließ sich nicht stören: »Und nicht
etwa: Wohin geht diese Pferdebahn? Wieviel Sterne gibt es? Und ist
zehntausend mehr als viel? Noch ganz andere Sachen! Zum Beispiel:
Spricht der liebe Gott auch chinesisch? und: Wie sieht der liebe Gott
aus? Immer alles vom lieben Gott! Darüber weiß man doch nicht
Bescheid --.« »Nein, allerdings,« stimmte ich bei, »man hat da gewisse
Vermutungen ...« »Oder von den Händen vom lieben Gott, was soll man
da --«

Ich schaute der Nachbarin in die Augen: »Erlauben Sie,« sagte ich recht
höflich, »Sie sagten zuletzt die Hände vom lieben Gott -- nicht wahr?«
Die Nachbarin nickte. Ich glaube, sie war ein wenig erstaunt. »Ja« --
beeilte ich mich anzufügen, -- »von den Händen ist mir allerdings
einiges bekannt. Zufällig« -- bemerkte ich rasch, als ich ihre Augen
rund werden sah -- »ganz zufällig -- ich habe -- -- -- nun,« schloß ich
mit ziemlicher Entschiedenheit, »ich will Ihnen erzählen, was ich weiß.
Wenn Sie einen Augenblick Zeit haben, ich begleite Sie bis zu Ihrem
Hause, das wird gerade reichen.«

»Gerne,« sagte sie, als ich sie endlich zu Worte kommen ließ, immer noch
erstaunt, »aber wollen Sie nicht vielleicht den Kindern selbst?...« »Ich
den Kindern selbst erzählen? Nein, liebe Frau, das geht nicht, das geht
auf keinen Fall. Sehen Sie, ich werde gleich verlegen, wenn ich mit den
Kindern sprechen muß. Das ist an sich nicht schlimm. Aber die Kinder
könnten meine Verwirrung dahin deuten, daß ich mich lügen fühle ... Und
da mir sehr viel an der Wahrhaftigkeit meiner Geschichte liegt -- Sie
können es den Kindern ja wiedererzählen; Sie treffen es ja gewiß auch
viel besser. Sie werden es verknüpfen und ausschmücken, ich werde nur
die einfachen Tatsachen in der kürzesten Form berichten. Ja?« »Gut,
gut,« machte die Nachbarin zerstreut.

Ich dachte nach: »Im Anfang ...« aber ich unterbrach mich sofort. »Ich
kann bei Ihnen, Frau Nachbarin, ja manches als bekannt voraussetzen, was
ich den Kindern erst erzählen müßte. Zum Beispiel die Schöpfung ...« Es
entstand eine ziemliche Pause. Dann: »Ja -- -- und am siebenten
Tage ...« die Stimme der guten Frau war hoch und spitzig. »Halt!« machte
ich, »wir wollen doch auch der früheren Tage gedenken; denn gerade um
diese handelt es sich. Also der liebe Gott begann, wie bekannt, seine
Arbeit, indem er die Erde machte, diese vom Wasser unterschied und Licht
befahl. Dann formte er in bewundernswerter Geschwindigkeit die Dinge,
ich meine die großen wirklichen Dinge, als da sind: Felsen, Gebirge,
einen Baum und nach diesem Muster viele Bäume.« Ich hörte hier schon
eine Weile lang Schritte hinter uns, die uns nicht überholten und auch
nicht zurückblieben. Das störte mich, und ich verwickelte mich in der
Schöpfungsgeschichte, als ich folgendermaßen fortfuhr: »Man kann sich
diese schnelle und erfolgreiche Tätigkeit nur begreiflich machen, wenn
man annimmt, daß eben nach langem, tiefem Nachdenken alles in seinem
Kopfe ganz fertig war, ehe er ...« Da endlich waren die Schritte neben
uns, und eine nicht gerade angenehme Stimme klebte an uns: »O, Sie
sprechen wohl von Herrn Schmidt, verzeihen Sie ...« Ich sah ärgerlich
nach der Hinzugekommenen, die Frau Nachbarin aber geriet in große
Verlegenheit: »Hm,« hustete sie, »nein -- das heißt -- ja, -- wir
sprachen gerade, gewissermaßen --.« »Was für ein Herbst,« sagte auf
einmal die andere Frau, als ob nichts geschehen wäre, und ihr rotes,
kleines Gesicht glänzte. »Ja« -- hörte ich meine Nachbarin antworten:
»Sie haben recht, Frau Hüpfer, ein selten schöner Herbst!« Dann trennten
sich die Frauen. Frau Hüpfer kicherte noch: »Und grüßen Sie mir die
Kinderchen.« Meine gute Nachbarin achtete nicht mehr darauf; sie war
doch neugierig, meine Geschichte zu erfahren. Ich aber behauptete mit
unbegreiflicher Härte: »Ja, jetzt weiß ich nicht mehr, wo wir
stehengeblieben sind.« »Sie sagten eben etwas von seinem Kopfe, das
heißt --« die Frau Nachbarin wurde ganz rot.

Sie tat mir aufrichtig leid, und so erzählte ich schnell: »Ja sehen Sie
also, solange nur die Dinge gemacht waren, hatte der liebe Gott nicht
notwendig, beständig auf die Erde herunterzuschauen. Es konnte sich ja
nichts dort begeben. Der Wind ging allerdings schon über die Berge,
welche den Wolken, die er schon seit lange kannte, so ähnlich waren,
aber den Wipfeln der Bäume wich er noch mit einem gewissen Mißtrauen
aus. Und das war dem lieben Gott sehr recht. Die Dinge hat er sozusagen
im Schlafe gemacht; allein schon bei den Tieren fing die Arbeit an, ihm
interessant zu werden; er neigte sich darüber und zog nur selten die
breiten Brauen hoch, um einen Blick auf die Erde zu werfen. Er vergaß
sie vollends, als er den Menschen formte. Ich weiß nicht, bei welchem
komplizierten Teil des Körpers er gerade angelangt war, als es um ihn
rauschte von Flügeln. Ein Engel eilte vorüber und sang: ›Der du alles
siehst ...‹

Der liebe Gott erschrak. Er hatte den Engel in Sünde gebracht, denn eben
hatte dieser eine Lüge gesungen. Rasch schaute Gottvater hinunter. Und
freilich, da hatte sich schon irgend etwas ereignet, was kaum
gutzumachen war. Ein kleiner Vogel irrte, als ob er Angst hätte, über
die Erde hin und her, und der liebe Gott war nicht imstande, ihm
heimzuhelfen, denn er hatte nicht gesehen, aus welchem Walde das arme
Tier gekommen war. Er wurde ganz ärgerlich und sagte: ›Die Vögel haben
sitzenzubleiben, wo ich sie hingesetzt habe.‹ Aber er erinnerte sich,
daß er ihnen auf Fürbitte der Engel Flügel verliehen hatte, damit es
auch auf Erden so etwas wie Engel gäbe, und dieser Umstand machte ihn
nur noch verdrießlicher. Nun ist gegen solche Zustände des Gemütes
nichts so heilsam wie Arbeit. Und mit dem Bau des Menschen beschäftigt,
wurde Gott auch rasch wieder froh. Er hatte die Augen der Engel wie
Spiegel vor sich, maß darin seine eigenen Züge und bildete langsam und
vorsichtig an einer Kugel auf seinem Schoße das erste Gesicht. Die
Stirne war ihm gelungen. Viel schwerer wurde es ihm, die beiden
Nasenlöcher symmetrisch zu machen. Er bückte sich immer mehr darüber,
bis es wieder wehte über ihm; er schaute auf. Derselbe Engel umkreiste
ihn; man hörte diesmal keine Hymne, denn in seiner Lüge war dem Knaben
die Stimme erloschen, aber an seinem Mund erkannte Gott, daß er immer
noch sang: ›Der du alles siehst.‹ Zugleich trat der heilige Nikolaus,
der bei Gott in besonderer Achtung steht, an ihn heran und sagte durch
seinen großen Bart hindurch: ›Deine Löwen sitzen ruhig, sie sind recht
hochmütige Geschöpfe, das muß ich sagen! Aber ein kleiner Hund läuft
ganz am Rande der Erde herum, ein Terrier, siehst du, er wird gleich
hinunterfallen.‹ Und wirklich merkte der liebe Gott etwas Heiteres,
Weißes, wie ein kleines Licht hin und her tanzen in der Gegend von
Skandinavien, wo es schon so furchtbar rund ist. Und er wurde recht bös
und warf dem heiligen Nikolaus vor, wenn ihm seine Löwen nicht recht
seien, so solle er versuchen, auch welche zu machen. Worauf der heilige
Nikolaus aus dem Himmel ging und die Türe zuschlug, daß ein Stern
herunterfiel, gerade dem Terrier auf den Kopf. Jetzt war das Unglück
vollständig, und der liebe Gott mußte sich eingestehen, daß er ganz
allein an allem schuld sei, und beschloß, nicht mehr den Blick von der
Erde zu rühren. Und so geschah's. Er überließ seinen Händen, welche ja
auch weise sind, die Arbeit, und obwohl er recht neugierig war, zu
erfahren, wie der Mensch wohl aussehen mochte, starrte er unablässig auf
die Erde hinab, auf welcher sich jetzt, wie zum Trotz, nicht ein
Blättchen regen wollte. Um doch wenigstens eine kleine Freude zu haben
nach aller Plage, hatte er seinen Händen befohlen, ihm den Menschen erst
zu zeigen, ehe sie ihn dem Leben ausliefern würden. Wiederholt fragte
er, wie Kinder, wenn sie Verstecken spielen: ›Schon?‹ Aber er hörte als
Antwort das Kneten seiner Hände und wartete. Es erschien ihm sehr lange.
Da auf einmal sah er etwas durch den Raum fallen, dunkel und in der
Richtung, als ob es aus seiner Nähe käme. Von einer bösen Ahnung
erfüllt, rief er seine Hände. Sie erschienen ganz von Lehm befleckt,
heiß und zitternd. ›Wo ist der Mensch?‹ schrie er sie an. Da fuhr die
Rechte auf die Linke los: ›Du hast ihn losgelassen!‹ ›Bitte,‹ sagte die
Linke gereizt, ›du wolltest ja alles allein machen, mich ließest du ja
überhaupt gar nicht mitreden.‹ ›Du hättest ihn eben halten müssen!‹ Und
die Rechte holte aus. Dann aber besann sie sich, und beide Hände sagten
einander überholend: ›Er war so ungeduldig, der Mensch. Er wollte immer
schon leben. Wir können beide nichts dafür, gewiß, wir sind beide
unschuldig.‹

Der liebe Gott aber war ernstlich böse. Er drängte beide Hände fort;
denn sie verstellten ihm die Aussicht über die Erde: ›Ich kenne euch
nicht mehr, macht, was ihr wollt.‹ Das versuchten die Hände auch
seither, aber sie können nur beginnen, was sie auch tun. Ohne Gott gibt
es keine Vollendung. Und da sind sie es endlich müde geworden. Jetzt
knien sie den ganzen Tag und tun Buße, so erzählt man wenigstens. Uns
aber erscheint es, als ob Gott ruhte, weil er auf seine Hände böse ist.
Es ist immer noch siebenter Tag.«

Ich schwieg einen Augenblick. Das benützte die Frau Nachbarin sehr
vernünftig: »Und Sie glauben, daß nie wieder eine Versöhnung zustande
kommt?« »O doch,« sagte ich, »ich hoffe es wenigstens.«

»Und wann sollte das sein?«

»Nun, bis Gott wissen wird, wie der Mensch, den die Hände gegen seinen
Willen losgelassen haben, aussieht.«

Die Frau Nachbarin dachte nach, dann lachte sie: »Aber dazu hätte er
doch bloß heruntersehen müssen ...« »Verzeihen Sie,« sagte ich artig,
»Ihre Bemerkung zeugt von Scharfsinn, aber meine Geschichte ist noch
nicht zu Ende. Also, als die Hände beiseitegetreten waren und Gott die
Erde wieder überschaute, da war eben wieder eine Minute, oder sagen wir
ein Jahrtausend, was ja bekanntlich dasselbe ist, vergangen. Statt eines
Menschen gab es schon eine Million. Aber sie waren alle schon in
Kleidern. Und da die Mode damals gerade sehr häßlich war und auch die
Gesichter arg entstellte, so bekam Gott einen ganz falschen und (ich
will es nicht verhehlen) sehr schlechten Begriff von den Menschen.«
»Hm,« machte die Nachbarin und wollte etwas bemerken. Ich beachtete es
nicht, sondern schloß mit starker Betonung: »Und darum ist es dringend
notwendig, daß Gott erfährt, wie der Mensch wirklich ist. Freuen wir
uns, daß es solche gibt, die es ihm sagen ...« Die Frau Nachbarin freute
sich noch nicht: »Und wer sollte das sein, bitte?« »Einfach die Kinder
und dann und wann auch diejenigen Leute, welche malen, Gedichte
schreiben, bauen ...« »Was denn bauen, Kirchen?« »Ja, und auch sonst,
überhaupt ...«

Die Frau Nachbarin schüttelte langsam den Kopf. Manches erschien ihr
doch recht verwunderlich. Wir waren schon über ihr Haus hinausgegangen
und kehrten jetzt langsam um. Plötzlich wurde sie sehr lustig und
lachte: »Aber, was für ein Unsinn, Gott ist doch auch allwissend. Er
hätte ja genau wissen müssen, woher zum Beispiel der kleine Vogel
gekommen ist.« Sie sah mich triumphierend an. Ich war ein bißchen
verwirrt, ich muß gestehen. Aber als ich mich gefaßt hatte, gelang es
mir, ein überaus ernstes Gesicht zu machen: »Liebe Frau,« belehrte ich
sie, »das ist eigentlich eine Geschichte für sich. Damit Sie aber nicht
glauben, das sei nur eine Ausrede von mir (sie verwahrte sich nun
natürlich heftig dagegen), will ich Ihnen in Kürze sagen: Gott hat alle
Eigenschaften, natürlich. Aber ehe er in die Lage kam, sie auf die Welt
-- gleichsam -- anzuwenden, erschienen sie ihm alle wie eine einzige
große Kraft. Ich weiß nicht, ob ich mich deutlich ausdrücke. Aber
angesichts der Dinge spezialisierten sich seine Fähigkeiten und wurden
bis zu einem gewissen Grade: Pflichten. Er hatte Mühe, sich alle zu
merken. Es gibt eben Konflikte. (Nebenbei: das alles sage ich nur Ihnen,
und Sie müssen es den Kindern keineswegs wiedererzählen.)« »Wo denken
Sie hin,« beteuerte meine Zuhörerin.

»Sehen Sie, wäre ein Engel vorübergeflogen, singend: ›Der du alles
weißt‹, so wäre alles gut geworden ...«

»Und diese Geschichte wäre überflüssig?«

»Gewiß,« bestätigte ich. Und ich wollte mich verabschieden. »Aber wissen
Sie das alles auch ganz bestimmt?« »Ich weiß es ganz bestimmt,«
erwiderte ich fast feierlich. »Da werde ich den Kindern heute zu
erzählen haben!« »Ich würde es gerne anhören dürfen. Leben Sie wohl.«
»Leben Sie wohl,« antwortete sie.

Dann kehrte sie nochmals zurück: »Aber weshalb ist gerade dieser
Engel ...« »Frau Nachbarin,« sagte ich, indem ich sie unterbrach, »ich
merke jetzt, daß Ihre beiden lieben Mädchen gar nicht deshalb soviel
fragen, weil sie Kinder sind --« »Sondern?« fragte meine Nachbarin
neugierig. »Nun, die Ärzte sagen, es gibt gewisse Vererbungen ...« Meine
Frau Nachbarin drohte mir mit dem Finger. Aber wir schieden dennoch als
gute Freunde.

                   *       *       *       *       *

Als ich meiner lieben Nachbarin später (übrigens nach ziemlich langer
Pause) wieder einmal begegnete, war sie nicht allein, und ich konnte
nicht erfahren, ob sie ihren Mädchen meine Geschichte berichtet hätte
und mit welchem Erfolg. Über diesen Zweifel klärte mich ein Brief auf,
welchen ich kurz darauf empfing. Da ich von dem Absender desselben nicht
die Erlaubnis erhalten habe, ihn zu veröffentlichen, so muß ich mich
darauf beschränken, zu erzählen, wie er endete, woraus man ohne weiteres
erkennen wird, von wem er stammte. Er schloß mit den Worten: »Ich und
noch fünf andere Kinder, nämlich, weil ich mit dabei bin.«

Ich antwortete, gleich nach Empfang, folgendes: »Liebe Kinder, daß euch
das Märchen von den Händen vom lieben Gott gefallen hat, glaube ich
gern; mir gefällt es auch. Aber ich kann trotzdem nicht zu euch kommen.
Seid nicht böse deshalb. Wer weiß, ob ich euch gefiele. Ich habe keine
schöne Nase, und wenn sie, was bisweilen vorkommt, auch noch ein rotes
Pickelchen an der Spitze hat, so würdet ihr die ganze Zeit dieses
Pünktchen anschauen und anstaunen und gar nicht hören, was ich ein
Stückchen tiefer unten sage. Auch würdet ihr wahrscheinlich von diesem
Pickelchen träumen. Das alles wäre mir gar nicht recht. Ich schlage
darum einen anderen Ausweg vor. Wir haben (auch außer der Mutter) eine
große Anzahl gemeinsamer Freunde und Bekannte, die nicht Kinder sind.
Ihr werdet schon erfahren, welche. Diesen werde ich von Zeit zu Zeit
eine Geschichte erzählen, und ihr werdet sie von diesen Vermittlern
immer noch schöner empfangen, als ich sie zu gestalten vermöchte. Denn
es sind gar große Dichter unter diesen unseren Freunden. Ich werde euch
nicht verraten, wovon meine Geschichten handeln werden. Aber, weil euch
nichts so sehr beschäftigt und am Herzen liegt wie der liebe Gott, so
werde ich an jeder passenden Gelegenheit einfügen, was ich von ihm weiß.
Sollte etwas davon nicht richtig sein, so schreibt mir wieder einen
schönen Brief, oder laßt es mir durch die Mutter sagen. Denn es ist
möglich, daß ich mich an mancher Stelle irre, weil es schon so lange
ist, seit ich die schönsten Geschichten erfahren habe, und weil ich
seither mir viele habe merken müssen, die nicht so schön sind. Das kommt
im Leben so mit. Trotzdem ist das Leben etwas ganz Prächtiges: auch
davon wird des öfteren in meinen Geschichten die Rede sein. Damit grüßt
euch -- Ich, aber auch nur deshalb Einer, weil ich mit dabei bin.«



DER FREMDE MANN


Ein fremder Mann hat mir einen Brief geschrieben. Nicht von Europa
schrieb mir der fremde Mann, nicht von Moses, weder von den großen, noch
von den kleinen Propheten, nicht vom Kaiser von Rußland oder dem Zaren
Iwan, dem Grausen, seinem fürchterlichen Vorfahren. Nicht vom
Bürgermeister oder vom Nachbar Flickschuster, nicht von der nahen Stadt,
nicht von den fernen Städten; und auch der Wald mit den vielen Rehen,
darin ich jeden Morgen mich verliere, kommt in seinem Briefe nicht vor.
Er erzählt mir auch nichts von seinem Mütterchen oder von seinen
Schwestern, die gewiß längst verheiratet sind. Vielleicht ist auch sein
Mütterchen tot; wie könnte es sonst sein, daß ich sie in einem
vierseitigen Briefe nirgends erwähnt finde! Er erweist mir ein viel,
viel größeres Vertrauen; er macht mich zu seinem Bruder, er spricht mir
von seiner Not.

Am Abend kommt der fremde Mann zu mir. Ich zünde keine Lampe an, helfe
ihm den Mantel ablegen und bitte ihn, mit mir Tee zu trinken, weil das
gerade die Stunde ist, in welcher ich täglich meinen Tee trinke. Und bei
so nahen Besuchen muß man sich keinen Zwang auferlegen. Als wir uns
schon an den Tisch setzen wollen, bemerke ich, daß mein Gast unruhig
ist; sein Gesicht ist voll Angst, und seine Hände zittern. »Richtig,«
sage ich, »hier ist ein Brief für Sie.« Und dann bin ich dabei, den Tee
einzugießen. »Nehmen Sie Zucker und vielleicht Zitrone? Ich habe in
Rußland gelernt, den Tee mit Zitrone zu trinken. Wollen Sie versuchen?«
Dann zünde ich eine Lampe an und stelle sie in eine entfernte Ecke,
etwas hoch, so daß eigentlich Dämmerung bleibt im Zimmer, nur eine etwas
wärmere als früher, eine rötliche. Und da scheint auch das Gesicht
meines Gastes sicherer, wärmer und um vieles bekannter zu sein. Ich
begrüße ihn noch einmal mit den Worten: »Wissen Sie, ich habe Sie lange
erwartet.« Und ehe der Fremde Zeit hat zu staunen, erkläre ich ihm. »Ich
weiß eine Geschichte, welche ich niemandem erzählen mag als Ihnen;
fragen Sie mich nicht warum, sagen Sie mir nur, ob Sie bequem sitzen, ob
der Tee genug süß ist und ob Sie die Geschichte hören wollen.« Mein Gast
mußte lächeln. Dann antwortete er einfach: »Ja.« »Auf alles drei: Ja?«
»Auf alles drei.«

Wir lehnten uns beide zugleich in unseren Stühlen zurück, so daß unsere
Gesichter schattig wurden. Ich stellte mein Teeglas nieder, freute mich
daran, wie goldig der Tee glänzte, vergaß diese Freude langsam wieder
und fragte plötzlich: »Erinnern Sie sich noch an den lieben Gott?«

Der Fremde dachte nach. Seine Augen vertieften sich ins Dunkel, und mit
den kleinen Lichtpunkten in den Pupillen glichen sie zwei langen
Laubengängen in einem Parke, über welchem leuchtend und breit Sommer und
Sonne liegt. Auch diese beginnen so, mit runder Dämmerung, dehnen sich
in immer engerer Finsternis bis zu einem fernen, schimmernden Punkt: dem
jenseitigen Ausgang in einen vielleicht noch viel helleren Tag. Während
ich das erkannte, sagte er zögernd und als ob er sich nur ungern seiner
Stimme bediente: »Ja, ich erinnere mich noch an Gott.« »Gut,« dankte ich
ihm, »denn gerade von ihm handelt meine Geschichte. Doch zuerst sagen
Sie mir noch: Sprechen Sie bisweilen mit Kindern?« »Es kommt wohl vor,
so im Vorübergehen, wenigstens --« »Vielleicht ist es Ihnen bekannt, daß
Gott infolge eines häßlichen Ungehorsams seiner Hände nicht weiß, wie
der fertige Mensch eigentlich aussieht?« »Das habe ich einmal irgendwo
gehört, ich weiß indessen nicht von wem« -- entgegnete mein Gast, und
ich sah unbestimmte Erinnerungen über seine Stirn jagen. »Gleichviel,«
störte ich ihn, »hören Sie weiter. Lange Zeit ertrug Gott diese
Ungewißheit. Denn seine Geduld ist wie seine Stärke groß. Einmal aber,
als dichte Wolken zwischen ihm und der Erde standen viele Tage lang, so
daß er kaum mehr wußte, ob er alles: Welt und Menschen und Zeit nicht
nur geträumt hatte, rief er seine rechte Hand, die so lange von seinem
Angesicht verbannt und verborgen gewesen war in kleinen unwichtigen
Werken. Sie eilte bereitwillig herbei; denn sie glaubte, Gott wolle ihr
endlich verzeihen. Als Gott sie so vor sich sah in ihrer Schönheit,
Jugend und Kraft, war er schon geneigt, ihr zu vergeben. Aber
rechtzeitig besann er sich und gebot, ohne hinzusehen: ›Du gehst
hinunter auf die Erde. Du nimmst die Gestalt an, die du bei den Menschen
siehst, und stellst dich, nackt, auf einen Berg, so daß ich dich genau
betrachten kann. Sobald du unten ankommst, geh zu einer jungen Frau und
sag ihr, aber ganz leise: Ich möchte leben. Es wird zuerst ein kleines
Dunkel um dich sein und dann ein großes Dunkel, welches Kindheit heißt,
und dann wirst du ein Mann sein und auf den Berg steigen, wie ich es dir
befohlen habe. Das alles dauert ja nur einen Augenblick. Leb wohl.‹

Die Rechte nahm von der Linken Abschied, gab ihr viele freundliche
Namen, ja es wurde sogar behauptet, sie habe sich plötzlich vor ihr
verneigt und gesagt: ›Du, heiliger Geist.‹ Aber schon trat der heilige
Paulus herzu, hieb dem lieben Gott die rechte Hand ab, und ein Erzengel
fing sie auf und trug sie unter seinem weiten Gewand davon. Gott aber
hielt sich mit der Linken die Wunde zu, damit sein Blut nicht über die
Sterne ströme und von da in traurigen Tropfen herunterfiele auf die
Erde. Eine kurze Zeit später bemerkte Gott, der aufmerksam alle Vorgänge
unten betrachtete, daß die Menschen in den eisernen Kleidern sich um
einen Berg mehr zu schaffen machten als um alle anderen Berge. Und er
erwartete, dort seine Hand hinaufsteigen zu sehen. Aber es kam nur ein
Mensch in einem, wie es schien, roten Mantel, welcher etwas schwarzes
Schwankendes aufwärts schleppte. In demselben Augenblicke begann Gottes
linke Hand, die vor seinem offenen Blute lag, unruhig zu werden, und mit
einem Mal verließ sie, ehe Gott es verhindern konnte, ihren Platz und
irrte wie wahnsinnig zwischen den Sternen umher und schrie: ›O, die arme
rechte Hand, und ich kann ihr nicht helfen.‹ Dabei zerrte sie an Gottes
linkem Arm, an dessen äußerstem Ende sie hing, und bemühte sich
loszukommen. Die ganze Erde aber war rot vom Blute Gottes, und man
konnte nicht erkennen, was darunter geschah. Damals wäre Gott fast
gestorben. Mit letzter Anstrengung rief er seine Rechte zurück; sie kam
blaß und bebend und legte sich an ihren Platz wie ein krankes Tier. Aber
auch die Linke, die doch schon manches wußte, da sie die rechte Hand
Gottes damals unten auf der Erde erkannt hatte, als diese in einem roten
Mantel den Berg erstieg, konnte von ihr nicht erfahren, was sich weiter
auf diesem Berge begeben hat. Es muß etwas sehr Schreckliches gewesen
sein. Denn Gottes Rechte hat sich noch nicht davon erholt, und sie
leidet unter ihrer Erinnerung nicht weniger als unter dem alten Zorne
Gottes, der ja seinen Händen immer noch nicht verziehen hat.« Meine
Stimme ruhte ein wenig aus. Der Fremde hatte sein Gesicht mit den Händen
verhüllt. Lange blieb alles so. Dann sagte der fremde Mann mit einer
Stimme, die ich längst kannte: »Und warum haben Sie mir diese Geschichte
erzählt?«

»Wer hätte mich sonst verstanden? Sie kommen zu mir ohne Rang, ohne Amt,
ohne irgendeine zeitliche Würde, fast ohne Namen. Es war dunkel, als Sie
eintraten, allein ich bemerkte in Ihren Zügen eine Ähnlichkeit --« Der
fremde Mann blickte fragend auf. »Ja,« erwiderte ich seinem stillen
Blick, »ich denke oft, vielleicht ist Gottes Hand wieder unterwegs ...«

Die Kinder haben diese Geschichte erfahren, und offenbar wurde sie ihnen
so erzählt, daß sie alles verstehen konnten; denn sie haben diese
Geschichte lieb.



WARUM DER LIEBE GOTT WILL, DASS ES ARME LEUTE GIBT


Die vorangehende Geschichte hat sich so verbreitet, daß der Herr Lehrer
mit sehr gekränktem Gesicht auf der Gasse herumgeht. Ich kann das
begreifen. Es ist immer schlimm für einen Lehrer, wenn die Kinder
plötzlich etwas wissen, was er ihnen nicht erzählt hat. Der Lehrer muß
sozusagen das einzige Loch in der Planke sein, durch welches man in den
Obstgarten sieht; sind noch andere Löcher da, so drängen sich die Kinder
jeden Tag vor einem anderen und werden bald des Ausblicks überhaupt
müde. Ich hätte diesen Vergleich nicht hier aufgezeichnet, denn nicht
jeder Lehrer ist vielleicht damit einverstanden, ein Loch zu sein; aber
der Lehrer, von dem ich rede, mein Nachbar, hat den Vergleich zuerst von
mir vernommen und ihn sogar als äußerst treffend bezeichnet. Und sollte
auch jemand anderer Meinung sein, die Autorität meines Nachbars ist mir
maßgebend.

Er stand vor mir, rückte beständig an seiner Brille und sagte: »Ich weiß
nicht, wer den Kindern diese Geschichte erzählt hat, aber es ist
jedenfalls unrecht, ihre Phantasie mit solchen ungewöhnlichen
Vorstellungen zu überladen und anzuspannen. Es handelt sich um eine Art
Märchen --.« »Ich habe es zufällig erzählen hören,« unterbrach ich ihn.
(Dabei log ich nicht, denn seit jenem Abend ist es mir wirklich schon
von meiner Frau Nachbarin wiederberichtet worden.) »So,« machte der
Lehrer; er fand das leicht erklärlich. »Nun, was sagen Sie dazu?« Ich
zögerte, auch fuhr er sehr schnell fort: »Zunächst finde ich es unrecht,
religiöse, besonders biblische Stoffe frei und eigenmächtig zu
gebrauchen. Es ist das alles im Katechismus jedenfalls so ausgedrückt,
daß es besser nicht gesagt werden kann ...« Ich wollte etwas bemerken,
erinnerte mich aber im letzten Augenblick, daß der Herr Lehrer
»zunächst« gebraucht hatte, daß also jetzt nach der Grammatik und um der
Gesundheit des Satzes willen ein »dann« und vielleicht sogar ein »und
endlich« folgen mußte, ehe ich mir erlauben durfte, etwas anzufügen. So
geschah es auch. Ich will, da der Herr Lehrer diesen selben Satz, dessen
tadelloser Bau jedem Kenner Freude bereiten wird, auch anderen
übermittelt hat, die ihn ebensowenig wie ich vergessen dürften, hier nur
noch das aufzeichnen, was hinter dem schönen, vorbereitenden Worte: »Und
endlich« wie das Finale einer Ouvertüre kam. »Und endlich ... (die sehr
phantastische Auffassung hingehen lassend) erscheint mir der Stoff gar
nicht einmal genügend durchdrungen und nach allen Seiten hin
berücksichtigt zu sein. Wenn ich Zeit hätte, Geschichten zu
schreiben --« »Sie vermissen etwas in der bewußten Erzählung?« konnte
ich mich nicht enthalten, ihn zu unterbrechen. »Ja, ich vermisse
manches. Vom literarisch-kritischen Standpunkt gewissermaßen. Wenn ich
zu Ihnen als Kollege sprechen darf --« Ich verstand nicht, was er
meinte, und sagte bescheiden: »Sie sind zu gütig, aber ich habe nie eine
Lehrtätigkeit ...« Plötzlich fiel mir etwas ein, ich brach ab, und er
fuhr etwas kühl fort: »Um nur eins zu nennen: es ist nicht anzunehmen,
daß Gott (wenn man schon auf den Sinn der Geschichte so weit eingehen
will), daß Gott, also -- sage ich -- daß Gott keinen weiteren Versuch
gemacht haben sollte, einen Menschen zu sehen, wie er ist, ich meine --«
Jetzt glaubte ich den Herrn Lehrer wieder versöhnen zu müssen. Ich
verneigte mich ein wenig und begann: »Es ist allgemein bekannt, daß Sie
sich eingehend (und, wenn man so sagen darf, nicht ohne Gegenliebe zu
finden) der sozialen Frage genähert haben.« Der Herr Lehrer lächelte.
»Nun, dann darf ich annehmen, daß, was ich Ihnen im folgenden
mitzuteilen gedenke, Ihrem Interesse nicht ganz ferne steht, zumal ich
ja auch an Ihre letzte, sehr scharfsinnige Bemerkung anknüpfen kann.« Er
sah mich erstaunt an: »Sollte Gott etwa ...« »In der Tat,« bestätigte
ich, »Gott ist eben dabei, einen neuen Versuch zu machen.« »Wirklich?«
fuhr mich der Lehrer an, »ist das an maßgebender Stelle bekannt
geworden?« »Darüber kann ich Ihnen nichts Genaues sagen --« bedauerte
ich -- »ich bin nicht in Beziehung mit jenen Kreisen, aber wenn Sie
dennoch meine kleine Geschichte hören wollen?« »Sie würden mir einen
großen Gefallen erweisen.« Der Lehrer nahm seine Brille ab und putzte
sorgfältig die Gläser, während seine nackten Augen sich schämten.

Ich begann: »Einmal sah der liebe Gott in eine große Stadt. Als ihm von
dem vielen Durcheinander die Augen ermüdeten (dazu trugen die Netze mit
den elektrischen Drähten nicht wenig bei), beschloß er, seine Blicke auf
ein einziges hohes Mietshaus für eine Weile zu beschränken, weil dieses
weit weniger anstrengend war. Gleichzeitig erinnerte er sich seines
alten Wunsches, einmal einen lebenden Menschen zu sehen, und zu diesem
Zwecke tauchten seine Blicke ansteigend in die Fenster der einzelnen
Stockwerke. Die Leute im ersten Stockwerke (es war ein reicher Kaufmann
mit Familie) waren fast nur Kleider. Nicht nur, daß alle Teile ihres
Körpers mit kostbaren Stoffen bedeckt waren, die äußeren Umrisse dieser
Kleidung zeigten an vielen Stellen eine solche Form, daß man sah, es
konnte kein Körper mehr darunter sein. Im zweiten Stock war es nicht
viel besser. Die Leute, welche drei Treppen wohnten, hatten zwar schon
bedeutend weniger an, waren aber so schmutzig, daß der liebe Gott nur
graue Furchen erkannte und in seiner Güte schon bereit war, zu befehlen,
sie möchten fruchtbar werden. Endlich unter dem Dach, in einem schrägen
Kämmerchen, fand der liebe Gott einen Mann in einem schlechten Rock, der
sich damit beschäftigte, Lehm zu kneten. ›Oho, woher hast du das?‹ rief
er ihn an. Der Mann nahm seine Pfeife gar nicht aus dem Munde und
brummte: ›Der Teufel weiß woher. Ich wollte, ich wär Schuster geworden.
Da sitzt man und plagt sich ...‹ Und was der liebe Gott auch fragen
mochte, der Mann war schlechter Laune und gab keine Antwort mehr. -- Bis
er eines Tages einen großen Brief vom Bürgermeister dieser Stadt bekam.
Da erzählte er dem lieben Gott, ungefragt, alles. Er hatte so lange
keinen Auftrag bekommen. Jetzt, plötzlich, sollte er eine Statue für den
Stadtpark machen, und sie sollte heißen: die Wahrheit. Der Künstler
arbeitete Tag und Nacht in einem entfernten Atelier, und dem lieben Gott
kamen verschiedene alte Erinnerungen, wie er das so sah. Wenn er seinen
Händen nicht immer noch böse gewesen wäre, er hätte wohl auch wieder
irgendwas begonnen. -- Als aber der Tag kam, da die Bildsäule, welche
die Wahrheit hieß, hinausgetragen werden sollte, auf ihren Platz in den
Garten, wo auch Gott sie hätte sehen können in ihrer Vollendung, da
entstand ein großer Skandal, denn eine Kommission von Stadtvätern,
Lehrern und anderen einflußreichen Persönlichkeiten hatte verlangt, die
Figur müsse erst teilweise bekleidet werden, ehe das Publikum sie zu
Gesicht bekäme. Der liebe Gott verstand nicht, weshalb, so laut fluchte
der Künstler. Stadtväter, Lehrer und die anderen haben ihn in diese
Sünde gebracht, und der liebe Gott wird gewiß an denen -- aber Sie
husten ja fürchterlich!« »Es geht schon vorüber --« sagte mein Lehrer
mit vollkommen klarer Stimme. »Nun, ich habe nur noch ein weniges zu
berichten. Der liebe Gott ließ das Mietshaus und den Stadtpark los und
wollte seinen Blick schon ganz zurückziehen, wie man eine Angelrute aus
dem Wasser zieht, mit einem Schwung, um zu sehen, ob nicht etwas
angebissen hat. In diesem Falle hing wirklich etwas daran. Ein ganz
kleines Häuschen mit mehreren Menschen drinnen, die alle sehr wenig
anhatten, denn sie waren sehr arm. ›Das also ist es --,‹ dachte der
liebe Gott, ›arm müssen die Menschen sein. Diese hier sind, glaub ich,
schon recht arm, aber ich will sie so arm machen, daß sie nicht einmal
ein Hemd zum Anziehen haben.‹ So nahm sich der liebe Gott vor.«

Hier machte ich beim Sprechen einen Punkt, um anzudeuten, daß ich am
Ende sei. Der Herr Lehrer war damit nicht zufrieden; er fand diese
Geschichte ebensowenig abgeschlossen und gerundet wie die vorhergehende.
»Ja« -- entschuldigte ich mich -- »da müßte eben ein Dichter kommen, der
zu dieser Geschichte irgendeinen phantastischen Schluß erfindet, denn
tatsächlich hat sie noch kein Ende.« »Wieso?« machte der Herr Lehrer und
schaute mich gespannt an. »Aber, lieber Herr Lehrer,« erinnerte ich,
»wie vergeßlich Sie sind! Sie sind doch selbst im Vorstand des hiesigen
Armenvereins ...« »Ja, seit etwa zehn Jahren bin ich das und --?« »Das
ist es eben; Sie und Ihr Verein verhindern den lieben Gott die längste
Zeit, sein Ziel zu erreichen. Sie kleiden die Leute --« »Aber ich bitte
Sie,« sagte der Lehrer bescheiden, »das ist einfach Nächstenliebe. Das
ist doch Gott im höchsten Grade wohlgefällig.« »Ach, davon ist man
maßgebenden Orts wohl überzeugt?« fragte ich arglos. »Natürlich ist man
das. Ich habe gerade in meiner Eigenschaft als Vorstandsmitglied des
Armenvereins manches Lobende zu hören bekommen. Vertraulich gesagt, man
will auch bei der nächsten Beförderung meine Tätigkeit in dieser Weise
-- -- -- Sie verstehen?« Der Herr Lehrer errötete schamhaft. »Ich
wünsche Ihnen das Beste,« entgegnete ich. Wir reichten uns die Hände,
und der Herr Lehrer ging mit so stolzen, gemessenen Schritten fort, daß
ich überzeugt bin: er ist zu spät in die Schule gekommen.

Wie ich später vernahm, ist ein Teil dieser Geschichte (soweit sie für
Kinder paßt) den Kindern doch bekannt geworden. Sollte der Herr Lehrer
sie zu Ende gedichtet haben?



WIE DER VERRAT NACH RUSSLAND KAM


Ich habe noch einen Freund hier in der Nachbarschaft. Das ist ein
blonder, lahmer Mann, der seinen Stuhl, winters wie sommers, hart am
Fenster hat. Er kann sehr jung aussehen, ja in seinem lauschenden
Gesicht ist manchmal etwas Knabenhaftes. Aber es gibt auch Tage, da er
altert, die Minuten gehen wie Jahre über ihn, und plötzlich ist er ein
Greis, dessen matte Augen das Leben fast schon losgelassen haben. Wir
kennen uns lang. Erst haben wir uns immer angesehen, später lächelten
wir unwillkürlich, ein Jahr lang grüßten wir einander, und seit Gott
weiß wann erzählen wir uns das eine und das andere, wahllos, wie es eben
passiert. »Guten Tag,« rief er, als ich vorüberkam, und sein Fenster war
noch offen in den reichen und stillen Herbst hinaus. »Ich habe Sie lange
nicht gesehen.«

»Guten Tag, Ewald --.« Ich trat an sein Fenster, wie ich immer zu tun
pflegte, im Vorübergehen. »Ich war verreist.« »Wo waren Sie?« fragte er
mit ungeduldigen Augen. »In Rußland.« »O so weit« -- er lehnte sich
zurück, und dann: »Was ist das für ein Land, Rußland? Ein sehr großes,
nicht wahr?« »Ja,« sagte ich, »groß ist es und außerdem --« »Habe ich
dumm gefragt?« lächelte Ewald und wurde rot. »Nein, Ewald, im Gegenteil.
Da Sie fragen: was ist das für ein Land? wird mir verschiedenes klar.
Zum Beispiel woran Rußland grenzt.« »Im Osten?« warf mein Freund ein.
Ich dachte nach: »Nein.« »Im Norden?« forschte der Lahme. »Sehen Sie,«
fiel mir ein, »das Ablesen von der Landkarte hat die Leute verdorben.
Dort ist alles plan und eben, und wenn sie die vier Weltgegenden
bezeichnet haben, scheint ihnen alles getan. Ein Land ist doch aber kein
Atlas. Es hat Berge und Abgründe. Es muß doch auch oben und unten an
etwas stoßen.« »Hm --« überlegte mein Freund, »Sie haben recht. Woran
könnte Rußland an diesen beiden Seiten grenzen?« Plötzlich sah der
Kranke wie ein Knabe aus. »Sie wissen es,« rief ich. »Vielleicht an
Gott?« »Ja,« bestätigte ich, »an Gott.« »So« -- nickte mein Freund ganz
verständnisvoll. Erst dann kamen ihm einzelne Zweifel: »Ist denn Gott
ein Land?« »Ich glaube nicht,« erwiderte ich, »aber in den primitiven
Sprachen haben viele Dinge denselben Namen. Es ist da wohl ein Reich,
das heißt Gott, und der es beherrscht, heißt auch Gott. Einfache Völker
können ihr Land und ihren Kaiser oft nicht unterscheiden; beide sind
groß und gütig, furchtbar und groß.«

»Ich verstehe,« sagte langsam der Mann am Fenster. »Und merkt man in
Rußland diese Nachbarschaft?« »Man merkt sie bei allen Gelegenheiten.
Der Einfluß Gottes ist sehr mächtig. Wieviel man auch aus Europa bringen
mag, die Dinge aus dem Westen sind Steine, sobald sie über die Grenze
sind. Mitunter kostbare Steine, aber eben nur für die Reichen, die
sogenannten ›Gebildeten‹, während von drüben aus dem anderen Reich das
Brot kommt, wovon das Volk lebt.« »Das hat das Volk wohl in Überfluß?«
Ich zögerte: »Nein, das ist nicht der Fall, die Einfuhr aus Gott ist
durch gewisse Umstände erschwert --« Ich suchte ihn von diesem Gedanken
abzubringen. »Aber man hat vieles aus den Gebräuchen jener breiten
Nachbarschaft angenommen. Das ganze Zeremoniell beispielsweise. Man
spricht zu dem Zaren ähnlich wie zu Gott.« »So, man sagt also nicht:
Majestät?« »Nein, man nennt beide Väterchen.« »Und man kniet vor
beiden?« »Man wirft sich vor beiden nieder, fühlt mit der Stirn den
Boden und weint und sagt: ›Ich bin sündig, verzeih mir, Väterchen.‹ Die
Deutschen, welche das sehen, behaupten: eine ganz unwürdige Sklaverei.
Ich denke anders darüber. Was soll das Knien bedeuten? Es hat den Sinn
zu erklären: Ich habe Ehrfurcht. Dazu genügt es auch, das Haupt zu
entblößen, meint der Deutsche. Nun ja, der Gruß, die Verbeugung,
gewissermaßen sind auch sie Ausdrücke dafür, Abkürzungen, die entstanden
sind in den Ländern, wo nicht so viel Raum war, daß jeder sich hätte
niederlegen können auf der Erde. Aber Abkürzungen gebraucht man bald
mechanisch und ohne sich ihres Sinnes mehr bewußt zu werden. Deshalb ist
es gut, wo noch Raum und Zeit dafür ist, die Gebärde auszuschreiben, das
ganze schöne und wichtige Wort: Ehrfurcht.«

»Ja, wenn ich könnte, würde ich auch niederknien --,« träumte der Lahme.
»Aber es kommt --« fuhr ich nach einer Pause fort -- »in Rußland auch
vieles andere von Gott. Man hat das Gefühl, jedes Neue wird von ihm
eingeführt, jedes Kleid, jede Speise, jede Tugend und sogar jede Sünde
muß erst von ihm bewilligt werden, ehe sie in Gebrauch kommt.« Der
Kranke sah mich fast erschrocken an. »Es ist nur ein Märchen, auf
welches ich mich berufe,« eilte ich ihn zu beruhigen, »eine sogenannte
Bylina, ein Gewesenes zu deutsch. Ich will Ihnen kurz den Inhalt
erzählen. Der Titel ist: Wie der Verrat nach Rußland kam.« Ich lehnte
mich ans Fenster, und der Gelähmte schloß die Augen, wie er gerne tat,
wenn irgendwo eine Geschichte begann.

»Der schreckliche Zar Iwan wollte den benachbarten Fürsten Tribut
auferlegen und drohte ihnen mit einem großen Krieg, falls sie nicht Gold
nach Moskau, in die weiße Stadt, schicken würden. Die Fürsten sagten,
nachdem sie Rat gepflogen hatten, wie ein Mann: ›Wir geben dir drei
Rätselfragen auf. Komm an dem Tage, den wir dir bestimmen, in den
Orient, zu dem weißen Stein, wo wir versammelt sein werden, und sage uns
die drei Lösungen. Sobald sie richtig sind, geben wir dir die zwölf
Tonnen Goldes, die du von uns verlangst.‹ Zuerst dachte der Zar Iwan
Wassiljewitsch nach, aber es störten ihn die vielen Glocken seiner
weißen Stadt Moskau. Da rief er seine Gelehrten und Räte vor sich, und
jeden, der die Frage nicht beantworten konnte, ließ er auf den großen,
roten Platz führen, wo gerade die Kirche für Wassilij, den Nackten,
gebaut wurde, und einfach köpfen. Bei einer solchen Beschäftigung
verging ihm die Zeit so rasch, daß er sich plötzlich auf der Reise fand
nach dem Orient, zu dem weißen Stein, bei welchem die Fürsten warteten.
Er wußte auf keine der drei Fragen etwas zu erwidern, aber der Ritt war
lang, und es war immer noch die Möglichkeit, einem Weisen zu begegnen;
denn damals waren viele Weise unterwegs auf der Flucht, da alle Könige
die Gewohnheit hatten, ihnen den Kopf abschneiden zu lassen, wenn sie
ihnen nicht weise genug schienen. Ein solcher kam ihm nun allerdings
nicht zu Gesicht, aber an einem Morgen sah er einen alten bärtigen
Bauer, welcher an einer Kirche baute. Er war schon dabei angelangt, den
Dachstuhl zu zimmern und die kleinen Latten darüberzulegen. Da war es
nun recht verwunderlich, daß der alte Bauer immer wieder von der Kirche
herunterstieg, um von den schmalen Latten, welche unten aufgeschichtet
waren, jede einzeln zu holen, statt viele auf einmal in seinem langen
Kaftan mitzunehmen. Er mußte so beständig auf und nieder klettern, und
es war gar nicht abzusehen, daß er auf diese Weise überhaupt jemals alle
vielhundert Latten an ihren Ort bringen würde. Der Zar wurde deshalb
ungeduldig: ›Dummkopf,‹ schrie er (so nennt man in Rußland meistens die
Bauern), ›du solltest dich tüchtig beladen mit deinem Holz und dann auf
die Kirche kriechen, das wäre bei weitem einfacher.‹ Der Bauer, der
gerade unten war, blieb stehen, hielt die Hand über die Augen und
antwortete: ›Das mußt du schon mir überlassen, Zar Iwan Wassiljewitsch,
jeder versteht sein Handwerk am besten; indessen, weil du schon hier
vorüberreitest, will ich dir die Lösung der drei Rätsel sagen, welche du
am weißen Stein im Orient, gar nicht weit von hier, wirst wissen
müssen.‹ Und er schärfte ihm die drei Antworten der Reihe nach ein. Der
Zar konnte vor Erstaunen kaum dazu kommen, zu danken. ›Was soll ich dir
geben zum Lohne?‹ fragte er endlich. ›Nichts,‹ machte der Bauer, holte
eine Latte und wollte auf die Leiter steigen. ›Halt,‹ befahl der Zar,
›das geht nicht an, du mußt dir etwas wünschen.‹ ›Nun, Väterchen, wenn
du befiehlst, gib mir eine von den zwölf Tonnen Goldes, welche du von
den Fürsten im Orient erhalten wirst.‹ ›Gut --,‹ nickte der Zar. ›Ich
gebe dir eine Tonne Goldes.‹ Dann ritt er eilends davon, um die Lösungen
nicht wieder zu vergessen.

Später, als der Zar mit den zwölf Tonnen zurückgekommen war aus dem
Orient, schloß er sich in Moskau in seinen Palast, mitten im fünftorigen
Kreml, ein und schüttete eine Tonne nach der anderen auf die glänzenden
Dielen des Saales aus, so daß ein wahrer Berg aus Gold entstand, der
einen großen schwarzen Schatten über den Boden warf. In Vergeßlichkeit
hatte der Zar auch die zwölfte Tonne ausgeleert. Er wollte sie wieder
füllen, aber es tat ihm leid, so viel Gold von dem herrlichen Haufen
wieder fortnehmen zu müssen. In der Nacht ging er in den Hof hinunter,
schöpfte feinen Sand in die Tonne, bis sie zu drei Vierteilen voll war,
kehrte leise in seinen Palast zurück, legte Gold über den Sand und
schickte die Tonne mit dem nächsten Morgen durch einen Boten in die
Gegend des weiten Rußland, wo der alte Bauer seine Kirche baute. Als
dieser den Boten kommen sah, stieg er von dem Dach, welches noch lange
nicht fertig war, und rief: ›Du mußt nicht näher kommen, mein Freund,
reise zurück samt deiner Tonne, welche drei Vierteile Sand und ein
knappes Viertel Gold enthält; ich brauche sie nicht. Sage deinem Herrn,
bisher hat es keinen Verrat in Rußland gegeben. Er aber ist selbst daran
schuld, wenn er bemerken sollte, daß er sich auf keinen Menschen
verlassen kann; denn er hat nunmehr gezeigt, wie man verrät, und von
Jahrhundert zu Jahrhundert wird sein Beispiel in ganz Rußland viele
Nachahmer finden. Ich brauche nicht das Gold, ich kann ohne Gold leben.
Ich erwartete nicht Gold von ihm, sondern Wahrheit und Rechtlichkeit. Er
aber hat mich getäuscht. Sage das deinem Herrn, dem schrecklichen Zaren
Iwan Wassiljewitsch, der in seiner weißen Stadt Moskau sitzt mit seinem
bösen Gewissen und in einem goldenen Kleid.‹

Nach einer Weile Reitens wandte sich der Bote nochmals um: der Bauer und
seine Kirche waren verschwunden. Und auch die aufgeschichteten Latten
lagen nicht mehr da, es war alles leeres, flaches Land. Da jagte der
Mann entsetzt zurück nach Moskau, stand atemlos vor dem Zaren und
erzählte ihm ziemlich unverständlich, was sich begeben hatte und daß der
vermeintliche Bauer niemand anderes gewesen sei als Gott selbst.«

»Ob er wohl recht gehabt hat damit?« meinte mein Freund leise, nachdem
meine Geschichte verklungen war.

»Vielleicht --,« entgegnete ich, »aber, wissen Sie, das Volk ist --
abergläubisch -- indessen, ich muß jetzt gehen, Ewald.« »Schade,« sagte
der Lahme aufrichtig. »Wollen Sie mir nicht bald wieder eine Geschichte
erzählen?« »Gerne, -- aber unter einer Bedingung.« Ich trat noch einmal
ans Fenster heran. »Nämlich?« staunte Ewald. »Sie müssen alles
gelegentlich den Kindern in der Nachbarschaft weitererzählen,« bat ich.
»O, die Kinder kommen jetzt so selten zu mir.« Ich vertröstete ihn: »Sie
werden schon kommen. Offenbar haben Sie in der letzten Zeit nicht Lust
gehabt, ihnen etwas zu erzählen, und vielleicht auch keinen Stoff, oder
zu viel Stoffe. Aber wenn einer eine wirkliche Geschichte weiß, glauben
Sie, das kann verborgen bleiben? Bewahre, das spricht sich herum,
besonders unter den Kindern!« »Auf Wiedersehen.« Damit ging ich.

Und die Kinder haben die Geschichte noch an demselben Tage gehört.



WIE DER ALTE TIMOFEI SINGEND STARB


Was für eine Freude ist es doch, einem lahmen Menschen zu erzählen. Die
gesunden Leute sind so ungewiß; sie sehen die Dinge bald von der, bald
von jener Seite an, und wenn man mit ihnen eine Stunde lang so gegangen
ist, daß sie zur Rechten waren, kann es geschehen, daß sie plötzlich von
links antworten, nur, weil es ihnen einfällt, daß das höflicher sei und
von feinerer Bildung zeuge. Beim Lahmen hat man das nicht zu befürchten.
Seine Unbeweglichkeit macht ihn den Dingen ähnlich, mit denen er auch
wirklich viele herzliche Beziehungen pflegt, macht ihn, sozusagen, zu
einem den anderen sehr überlegenen Ding, zu einem Ding, das nicht nur
lauscht mit seiner Schweigsamkeit, sondern auch mit seinen seltenen
leisen Worten und mit seinen sanften, ehrfürchtigen Gefühlen.

Ich mag am liebsten meinem Freund Ewald erzählen. Und ich war sehr froh,
als er mir von seinem täglichen Fenster aus zurief: »Ich muß Sie etwas
fragen.«

Rasch trat ich zu ihm und begrüßte ihn. »Woher stammt die Geschichte,
die Sie mir neulich erzählt haben?« bat er endlich. »Aus einem Buch?«
»Ja« -- entgegnete ich traurig, »die Gelehrten haben sie darin begraben,
seit sie tot ist; das ist gar nicht lange her. Noch vor hundert Jahren
lebte sie, gewiß sehr sorglos, auf vielen Lippen. Aber die Worte, welche
die Menschen jetzt gebrauchen, diese schweren, nicht sangbaren Worte,
waren ihr feind und nahmen ihr einen Mund nach dem anderen weg, so daß
sie zuletzt, nur sehr eingezogen und ärmlich, auf ein paar trockenen
Lippen, wie auf einem schlechten Witwengut, lebte. Dort verstarb sie
auch, ohne Nachkommen zu hinterlassen, und wurde, wie schon erwähnt, mit
allen Ehren in einem Buche bestattet, wo schon andere aus ihrem
Geschlechte lagen.« »Und sie war sehr alt, als sie starb?« fragte mein
Freund, in meinen Ton eingehend. »400 bis 500 Jahre,« berichtete ich der
Wahrheit gemäß, »verschiedene von ihren Verwandten haben noch ein
ungleich höheres Alter erreicht.« »Wie, ohne jemals in einem Buche zu
ruhen?« staunte Ewald. Ich erklärte: »Soviel ich weiß, waren sie die
ganze Zeit von Lippe zu Lippe unterwegs.« »Und haben nie geschlafen?«
»Doch, von dem Munde des Sängers steigend, blieben sie wohl dann und
wann in einem Herzen, darin es warm und dunkel war.« »Waren denn die
Menschen so still, daß Lieder schlafen konnten in ihren Herzen?« Ewald
schien mir recht ungläubig. »Es muß wohl so gewesen sein. Man behauptet,
sie sprachen weniger, tanzten langsam anwachsende Tänze, die etwas
Wiegendes hatten, und vor allem: sie lachten nicht laut, wie man es
heute trotz der allgemeinen hohen Kultur nicht selten vernehmen kann.«

Ewald schickte sich an, noch etwas zu fragen, aber er unterdrückte es
und lächelte: »Ich frage und frage, -- aber Sie haben vielleicht eine
Geschichte vor?« Er sah mich erwartungsvoll an.

»Eine Geschichte? Ich weiß nicht. Ich wollte nur sagen: diese Gesänge
waren das Erbgut in gewissen Familien. Man hatte es übernommen, und man
gab es weiter, nicht ganz unbenützt, mit den Spuren eines täglichen
Gebrauchs, aber doch unbeschädigt, wie etwa eine alte Bibel von Vätern
zu Enkeln geht. Der Enterbte unterschied sich von den in ihre Rechte
eingesetzten Geschwistern dadurch, daß er nicht singen konnte, oder er
wußte wenigstens nur einen kleinen Teil der Lieder seines Vaters und
Großvaters und verlor mit den übrigen Gesängen das große Stück Erleben,
das alle diese Bylinen und Skaski dem Volke bedeuten. So hatte z. B.
Jegor Timofejewitsch gegen den Willen seines Vaters, des alten Timofei,
ein junges, schönes Weib geheiratet und war mit ihr nach Kiew gegangen,
in die heilige Stadt, bei welcher sich die Gräber der größten Märtyrer
der heiligen, rechtgläubigen Kirche versammelt haben. Der Vater Timofei,
der als der kundigste Sänger auf zehn Tagereisen im Umkreis galt,
verfluchte seinen Sohn und erzählte seinen Nachbarn, daß er oft
überzeugt sei, niemals einen solchen gehabt zu haben. Dennoch verstummte
er in Gram und Traurigkeit. Und er wies alle die jungen Leute zurück,
die sich in seine Hütte drängten, um die Erben der vielen Gesänge zu
werden, welche in dem Alten eingeschlossen waren, wie in einer
verstaubten Geige. ›Vater, du unser Väterchen, gib uns nur eines oder
das andere Lied. Siehst du, wir wollen es in die Dörfer tragen, und du
sollst es hören aus allen Höfen, sobald der Abend kommt und das Vieh in
den Ställen ruhig geworden ist.‹ Der Alte, der beständig auf dem Ofen
saß, schüttelte den ganzen Tag den Kopf. Er hörte nicht mehr gut, und da
er nicht wußte, ob nicht einer von den Burschen, die jetzt fortwährend
sein Haus umhorchten, eben wieder gefragt hatte, machte er mit seinem
weißen Kopf zitternd: Nein, nein, nein, bis er einschlief und auch dann
noch eine Weile -- im Schlaf. Er hätte den Burschen gerne ihren Willen
getan; es war ihm selber leid, daß sein stummer, verstorbener Staub über
diesen Liedern liegen sollte, vielleicht schon ganz bald. Aber hätte er
versucht, einen von ihnen etwas zu lehren, gewiß hätte er sich dabei
seines Jegoruschka erinnern müssen und dann -- wer weiß -- was dann
geschehen wäre. Denn nur, weil er überhaupt schwieg, hatte ihn niemand
weinen sehen. Hinter jedem Wort stand es ihm, das Schluchzen, und er
mußte immer sehr schnell und vorsichtig den Mund schließen, sonst wäre
es einmal doch mitgekommen.

Der alte Timofei hatte seinen einzigen Sohn Jegor von ganz früh an
einzelne Lieder gelehrt, und als fünfzehnjähriger Knabe wußte dieser
schon mehr und richtiger zu singen als alle erwachsenen Burschen im
Dorfe und in der Nachbarschaft. Gleichwohl pflegte der Alte meistens am
Feiertag, wenn er etwas trunken war, dem Burschen zu sagen:
›Jegoruschka, mein Täubchen, ich habe dich schon viele Lieder singen
gelehrt, viele Bylinen und auch die Legenden von Heiligen, fast für
jeden Tag eine. Aber ich bin, wie du weißt, der Kundigste im ganzen
Gouvernement, und mein Vater kannte sozusagen alle Lieder von ganz
Rußland und auch noch tatarische Geschichten dazu. Du bist noch sehr
jung, und deshalb habe ich dir die schönsten Bylinen, darin die Worte
wie Ikone sind und gar nicht zu vergleichen mit den gewöhnlichen Worten,
noch nicht erzählt, und du hast noch nicht gelernt, jene Weisen zu
singen, die noch keiner, er mochte ein Kosak sein oder ein Bauer, hat
anhören können, ohne zu weinen.‹ Dieses wiederholte Timofei seinem Sohne
an jedem Sonntag und an allen vielen Feiertagen des russischen Jahres,
also ziemlich oft. Bis dieser nach einem heftigen Auftritt mit dem
Alten, zugleich mit der schönen Ustjënka, der Tochter eines armen
Bauern, verschwunden war.

Im dritten Jahre nach diesem Vorfall erkrankte Timofei, zur selben Zeit,
als einer jener vielen Pilgerzüge, die aus allen Teilen des weiten
Reiches beständig nach Kiew ziehen, aufbrechen wollte. Da trat Ossip,
der Nachbar, bei dem Kranken ein: ›Ich gehe mit den Pilgern, Timofei
Iwanitsch, erlaube mir, dich noch einmal zu umarmen.‹ Ossip war nicht
befreundet mit dem Alten, aber nun, da er diese weite Reise begann, fand
er es für notwendig, von ihm wie von einem Vater Abschied zu nehmen.
›Ich habe dich manchmal gekränkt,‹ schluchzte er, ›verzeih mir, mein
Herzchen, es ist im Trunke geschehen, und da kann man nichts dafür, wie
du weißt. Nun, ich will für dich beten und eine Kerze anstecken für
dich; leb wohl, Timofei Iwanitsch, mein Väterchen, vielleicht wirst du
wieder gesund, wenn Gott es will, dann singst du uns wieder etwas. Ja,
ja, das ist lange her, seit du gesungen hast. Was waren das für Lieder.
Das von Djuk Stepanowitsch zum Beispiel, glaubst du, ich habe das
vergessen? Wie dumm du bist! Ich weiß es noch ganz genau. Freilich, so
wie du, -- du hast es eben gekonnt, das muß man sagen. Gott hat dir das
gegeben, einem anderen gibt er etwas anderes. Mir zum Beispiel --‹

Der Alte, der auf dem Ofen lag, drehte sich ächzend um und machte eine
Bewegung, als ob er etwas sagen wollte. Es war, als hörte man ganz leise
den Namen Jegors. Vielleicht wollte er ihm eine Nachricht schicken. Aber
als der Nachbar, von der Türe her, fragte: ›Sagst du etwas, Timofei
Iwanitsch?‹ lag er schon wieder ganz ruhig da und schüttelte nur leise
seinen weißen Kopf. Trotzdem, weiß Gott wie es geschah, kaum ein Jahr,
nachdem Ossip fortgegangen war, kehrte Jegor ganz unvermutet zurück. Der
Alte erkannte ihn nicht gleich, denn es war dunkel in der Hütte, und die
greisen Augen nahmen nur ungern eine neue fremde Gestalt auf. Aber als
Timofei die Stimme des Fremden gehört hatte, erschrak er und sprang vom
Ofen herab auf seine alten, schwankenden Beine. Jegor fing ihn auf, und
sie hielten sich in den Armen. Timofei weinte. Der junge Mensch fragte
in einem fort: ›Bist du schon lange krank, Vater?‹ Als sich der Alte ein
wenig beruhigt hatte, kroch er auf seinen Ofen zurück und erkundigte
sich in einem anderen strengen Ton: ›Und dein Weib?‹ Pause. Jegor
spuckte aus: ›Ich hab sie fortgejagt, weißt du, mit dem Kind.‹ Er
schwieg eine Weile. ›Da kommt einmal der Ossip zu mir; ›Ossip
Nikiphorowitsch?‹ sag ich. ›Ja,‹ antwortet er, ›ich bins. Dein Vater ist
krank, Jegor. Er kann nicht mehr singen. Es ist jetzt ganz still im
Dorfe, als ob es keine Seele mehr hätte, unser Dorf. Nichts klopft,
nichts rührt sich, es weint niemand mehr, und auch zum Lachen ist kein
rechter Grund.‹ Ich denke nach. Was ist da zu machen? Ich rufe also mein
Weib. ›Ustjënka‹ -- sag ich --, ›ich muß nach Hause, es singt sonst
keiner mehr dort, die Reihe ist an mir. Der Vater ist krank.‹ ›Gut,‹
sagt Ustjënka. ›Aber ich kann dich nicht mitnehmen‹ -- so erklär ich
ihr, ›der Vater, weißt du, will dich nicht. Und auch zurückkommen werd
ich wahrscheinlich nicht zu dir, wenn ich erst einmal wieder dort bin
und singe.‹ Ustjënka versteht mich: ›Nun, Gott mit dir! Es sind jetzt
viele Pilger hier, da gibt es viel Almosen. Gott wird schon helfen,
Jegor.‹ Und so geh ich also fort. Und nun, Vater, sag mir alle deine
Lieder.‹

Es verbreitete sich das Gerücht, daß Jegor zurückgekehrt sei und daß der
alte Timofei wieder singe. Aber in diesem Herbst ging der Wind so heftig
durch das Dorf, daß niemand von den Vorübergehenden mit Sicherheit
ermitteln konnte, ob in Timofeis Hause wirklich gesungen werde oder
nicht. Und die Tür wurde keinem Pochenden geöffnet. Die beiden wollten
allein sein. Jegor saß am Rande des Ofens, auf welchem der Vater lag,
und kam mit dem Ohr bisweilen dem Munde des Alten entgegen; denn dieser
sang in der Tat. Seine alte Stimme trug, etwas gebückt und zitternd,
alle die schönsten Lieder zu Jegor hin, und dieser wiegte manchmal den
Kopf oder bewegte die herabhängenden Beine, ganz, als ob er schon selber
sänge. Das ging so viele Tage lang fort. Timofei fand immer noch ein
schöneres Lied in seiner Erinnerung; oft, nachts, weckte er den Sohn,
und indem er mit den welken, zuckenden Händen ungewisse Bewegungen
machte, sang er ein kleines Lied und noch eines und noch eines -- bis
der träge Morgen sich zu rühren begann. Bald nach dem schönsten starb
er. Er hatte sich in den letzten Tagen oft arg beklagt, daß er noch eine
Unmenge Lieder in sich trüge und nicht mehr Zeit habe, sie seinem Sohne
mitzuteilen. Er lag da mit gefurchter Stirne, in angestrengtem,
ängstlichem Nachdenken, und seine Lippen zitterten vor Erwartung. Von
Zeit zu Zeit setzte er sich auf, wiegte eine Weile den Kopf, bewegte den
Mund, und endlich kam irgendein leises Lied hinzu; aber jetzt sang er
meistens immer dieselben Strophen von Djuk Stepanowitsch, die er
besonders liebte, und sein Sohn mußte erstaunt sein und tun, als
vernähme er sie zum erstenmal, um ihn nicht zu erzürnen.

Als der alte Timofei Iwanitsch gestorben war, blieb das Haus, welches
Jegor jetzt allein bewohnte, noch eine Zeitlang verschlossen. Dann, im
ersten Frühjahr, trat Jegor Timofejewitsch, der jetzt einen ziemlich
langen Bart hatte, aus seiner Tür, begann im Dorfe hin und her zu gehen
und zu singen. Später kam er auch in die benachbarten Dörfer, und die
Bauern erzählten sich schon, daß Jegor ein mindestens ebenso kundiger
Sänger geworden sei wie sein Vater Timofei; denn er wußte eine große
Anzahl ernster und heldenhafter Gesänge und alle jene Weisen, die
keiner, er mochte ein Kosak sein oder ein Bauer, anhören konnte, ohne zu
weinen. Dabei soll er noch so einen sanften und traurigen Ton gehabt
haben, wie man ihn noch von keinem Sänger vernommen hat. Und dieser Ton
fand sich immer, ganz unerwartet, im Kehrreim vor, wodurch er besonders
rührend wirkte. So habe ich wenigstens erzählen hören.«

»Diesen Ton hat er also nicht von seinem Vater gelernt?« sagte mein
Freund Ewald nach einer Weile. »Nein,« erwiderte ich, »man weiß nicht,
woher der ihm kam.« Als ich vom Fenster schon fortgetreten war, machte
der Lahme noch eine Bewegung und rief mir nach: »Er hat vielleicht an
sein Weib und sein Kind gedacht. Übrigens, hat er sie nie kommen lassen,
da ja sein Vater nun tot war?« »Nein, ich glaube nicht. Wenigstens ist
er später allein gestorben.«



DAS LIED VON DER GERECHTIGKEIT


Als ich das nächste Mal an Ewalds Fenster vorüberkam, winkte er mir und
lächelte: »Haben Sie den Kindern etwas Bestimmtes versprochen?« »Wieso?«
staunte ich. »Nun, als ich ihnen die Geschichte von Jegor erzählt hatte,
beklagten sie sich, daß Gott in derselben nicht vorkäme.« Ich erschrak:
»Was, eine Geschichte ohne Gott, aber wie ist denn das möglich?« Dann
besann ich mich: »In der Tat, es ist wahr, von Gott sagt die Geschichte,
wie ich sie mir jetzt überdenke, nichts. Ich begreife nicht, wie das
geschehen konnte; hätte jemand von mir eine solche verlangt, ich glaube,
ich hätte mein ganzes Leben nachgedacht, ohne Erfolg ...«

Mein Freund lächelte über diesen Eifer: »Sie müssen sich deshalb nicht
erregen,« unterbrach er mich mit einer gewissen Güte, »ich denke mir,
man kann ja nie wissen, ob Gott in einer Geschichte ist, ehe man sie
auch ganz beendet hat. Denn wenn auch nur noch zwei Worte fehlen
sollten, ja selbst, wenn nur noch die Pause hinter dem letzten Worte der
Erzählung aussteht: Er kann immer noch kommen.« Ich nickte, und der
Lahme sagte in anderem Ton: »Wissen Sie nicht noch etwas von diesen
russischen Sängern?«

Ich zögerte: »Ja, wollen wir nicht lieber von Gott reden, Ewald?« Er
schüttelte den Kopf: »Ich wünsche mir so, mehr von diesen eigentümlichen
Männern zu vernehmen. Ich weiß nicht, wie es kommt, ich denke mir immer,
wenn so einer hier bei mir einträte --« und er wandte den Kopf ins
Zimmer nach der Türe zu. Aber seine Augen kehrten schnell und nicht ohne
Verlegenheit zu mir zurück -- »Doch das ist ja wohl nicht möglich,«
verbesserte er eilig. »Warum sollte das nicht möglich sein, Ewald? Ihnen
kann manches begegnen, was den Menschen, die ihre Beine brauchen können,
verwehrt bleibt, weil sie an so vielem vorübergehen und vor so manchem
davonlaufen. Gott hat Sie, Ewald, dazu bestimmt, ein ruhiger Punkt zu
sein mitten in aller Hast. Fühlen Sie nicht, wie alles sich um Sie
bewegt? Die anderen jagen den Tagen nach, und wenn sie mal einen
erreicht haben, sind sie so atemlos, daß sie gar nicht mit ihm sprechen
können. Sie aber, mein Freund, sitzen einfach an Ihrem Fenster und
warten; und den Wartenden geschieht immer etwas. Sie haben ein ganz
besonderes Los. Denken Sie, sogar die Iberische Madonna in Moskau muß
aus ihrem Kapellchen heraus und fährt in einem schwarzen Wagen mit vier
Pferden zu denen, die irgend etwas feiern, sei es die Taufe oder den
Tod. Zu Ihnen aber muß alles kommen --«

»Ja,« sagte Ewald mit einem fremden Lächeln, »ich kann sogar dem Tod
nicht entgegengehen. Viele Menschen finden ihn unterwegs. Er scheut
sich, ihre Häuser zu betreten, und ruft sie hinaus in die Fremde, in den
Krieg, auf einen steilen Turm, auf eine schwankende Brücke, in eine
Wildnis oder in den Wahnsinn. Die meisten holen ihn wenigstens draußen
irgendwo ab und tragen ihn dann auf ihren Schultern nach Hause, ohne es
zu merken. Denn der Tod ist träge; wenn die Menschen ihn nicht
fortwährend stören würden, wer weiß, er schliefe vielleicht ein.« Der
Kranke dachte eine Weile nach und fuhr dann mit einem gewissen Stolz
fort: »Aber zu mir wird er kommen müssen, wenn er mich will. Hier in
meine kleine helle Stube, in der die Blumen sich so lange halten, über
diesen alten Teppich, an diesem Schrank vorbei, zwischen Tisch und
Bettende durch (es ist gar nicht leicht, vorüberzukommen) bis her an
meinen breiten, lieben, alten Stuhl, der dann wahrscheinlich mit mir
sterben wird, weil er sozusagen mit mir gelebt hat. Und er wird dies
alles tun müssen in der üblichen Art, ohne Lärm, ohne etwas umzuwerfen,
ohne etwas Ungewöhnliches zu beginnen, wie ein Besuch. Dieser Umstand
bringt mir meine Stube merkwürdig nah. Es wird sich alles hier abspielen
auf dieser engen Szene, und darum wird auch dieser letzte Vorgang sich
nicht sehr von allen anderen Ereignissen unterscheiden, welche sich hier
begeben haben und noch bevorstehen. Es hat mir immer schon als Kind
seltsam geschienen, daß die Menschen vom Tode anders sprechen als von
allen anderen Begebenheiten, und das nur deshalb, weil jeder von dem,
was ihm nachher geschieht, nichts mehr verrät. Wodurch aber
unterscheidet sich denn ein Toter von einem Menschen, welcher ernst
wird, auf die Zeit verzichtet und sich einschließt, um über etwas ruhig
nachzudenken, dessen Lösung ihn lange schon quält? Unter den Leuten kann
man sich doch nicht einmal des Vaterunsers erinnern, wie denn erst
irgendeines anderen dunkleren Zusammenhanges, der vielleicht nicht in
Worten, sondern in Ereignissen besteht. Man muß abseits gehen in
irgendeine unzugängliche Stille, und vielleicht sind die Toten solche,
die sich zurückgezogen haben, um über das Leben nachzudenken.«

Es entstand eine kleine Schweigsamkeit, die ich mit folgenden Worten
begrenzte: »Ich muß dabei an ein junges Mädchen denken. Man kann sagen,
daß sie in den ersten siebzehn Jahren ihres heiteren Lebens nur geschaut
hat. Ihre Augen waren so groß und so selbständig, daß sie alles, was sie
empfingen, selbst verbrauchten, und das Leben in dem ganzen Körper des
jungen Geschöpfes ging, unabhängig davon, von schlichten, inneren
Geräuschen genährt, vor sich. Am Ende dieser Zeit aber störte irgendein
zu heftiges Ereignis dieses doppelte, kaum sich berührende Leben, die
Augen brachen gleichsam nach innen durch, und die ganze Schwere des
Äußeren fiel durch sie in das dunkle Herz hinein, und jeder Tag stürzte
mit solcher Wucht in die tiefen, steilen Blicke, daß er in der engen
Brust zersprang wie ein Glas. Da wurde das junge Mädchen blaß, begann zu
kränkeln, einsam zu werden, nachzudenken, und endlich suchte es selbst
jene Stille auf, darin die Gedanken wahrscheinlich nicht mehr gestört
werden.«

»Wie ist sie gestorben?« fragte mein Freund leise, mit etwas heiserer
Stimme. »Sie ist ertrunken. In einem tiefen, stillen Teich, und an der
Oberfläche desselben entstanden viele Ringe, die langsam weit wurden und
unter den weißen Wasserrosen hin wuchsen, so daß alle diese badenden
Blüten sich bewegten.«

»Ist das auch eine Geschichte?« sagte Ewald, um die Stille hinter meinen
Worten nicht mächtig werden zu lassen. »Nein,« entgegnete ich, »das ist
ein Gefühl.« »Aber könnte man es nicht auch den Kindern übermitteln --
dieses Gefühl?« Ich überlegte. »Vielleicht --« »Und wodurch?« »Durch
eine andere Geschichte.« Und ich erzählte:

»Es war zur Zeit, als man im südlichen Rußland um die Freiheit kämpfte.«

»Verzeihen Sie,« sagte Ewald, »wie ist das zu verstehen -- wollte sich
das Volk etwa vom Zaren losmachen? Das würde nicht zu dem passen, was
ich mir von Rußland denke, und auch mit Ihren früheren Erzählungen in
Widerspruch stehen. In diesem Falle würde ich vorziehen, Ihre Geschichte
nicht zu hören. Denn ich liebe das Bild, welches ich mir von den Dingen
dort gemacht habe, und will es unbeschädigt behalten.«

Ich mußte lächeln und beruhigte ihn: »Die polnischen Pans (ich hätte das
vorausschicken müssen) waren Herren im südlichen Rußland und in jenen
stillen, einsamen Steppen, welche man mit dem Namen Ukraine bezeichnet.
Sie waren harte Herren. Ihre Bedrückung und die Habgier der Juden,
welche sogar den Kirchenschlüssel in Händen hatten, den sie nur gegen
Bezahlung den Rechtgläubigen auslieferten, hatte das jugendliche Volk um
Kiew herum und den ganzen Dnjepr aufwärts müde und nachdenklich gemacht.
Die Stadt selbst, Kiew, das heilige, der Ort, wo Rußland zuerst mit
vierhundert Kirchenkuppeln von sich erzählte, versank immer mehr in sich
selbst und verzehrte sich in Bränden wie in plötzlichen, irren Gedanken,
hinter denen die Nacht nur immer uferloser wird. Das Volk in der Steppe
wußte nicht recht, was geschah. Aber von seltsamer Unruhe erfaßt, traten
die Greise nachts aus den Hütten und betrachteten schweigend den hohen,
ewig windlosen Himmel, und am Tage konnte man Gestalten auf dem Rücken
der Kurgane auftauchen sehen, die sich wartend vor der flachen Ferne
erhoben. Diese Kurgane sind Grabstätten vergangener Geschlechter, die
die ganze Heide wie ein erstarrter, schlafender Wellenschlag
durchziehen. Und in diesem Land, in welchem die Gräber die Berge sind,
sind die Menschen die Abgründe. Tief, dunkel, schweigsam ist die
Bevölkerung, und ihre Worte sind nur schwache, schwankende Brücken über
ihrem wirklichen Sein. -- Manchmal heben sich dunkle Vögel von den
Kurganen. Manchmal stürzen wilde Lieder in die dämmernden Menschen
hinein und verschwinden in ihnen tief, während die Vögel im Himmel
verloren gehen. Nach allen Richtungen hin scheint alles grenzenlos. Die
Häuser selbst können nicht beschützen vor dieser Unermeßlichkeit; ihre
kleinen Fenster sind voll davon. Nur in den dunkelnden Ecken der Stuben
stehen die alten Ikone, wie Meilensteine Gottes, und der Glanz von einem
kleinen Licht geht durch ihre Rahmen, wie ein verirrtes Kind durch die
Sternennacht. Diese Ikone sind der einzige Halt, das einzige
zuverlässige Zeichen am Wege, und kein Haus kann ohne sie bestehen.
Immer wieder werden welche notwendig; wenn eines zerbricht vor Alter und
Wurm, wenn jemand heiratet und sich eine Hütte zimmert, oder wenn einer,
wie zum Beispiel der alte Abraham, stirbt mit dem Wunsch, den heiligen
Nikolaus, den Wundertäter, in den gefalteten Händen mitzunehmen,
wahrscheinlich, um die Heiligen im Himmel mit diesem Bilde zu
vergleichen und den besonders Verehrten vor allen anderen zu erkennen.

So kommt es, daß Peter Akimowitsch, eigentlich Schuster von Beruf, auch
Ikone malt. Wenn er von der einen Arbeit müde ist, geht er, nachdem er
sich dreimal bekreuzt hat, zu der anderen über, und über seinem Nähen
und Hämmern wie über seinem Malen waltet die gleiche Frömmigkeit. Jetzt
ist er schon ein alter Mann, aber doch ziemlich rüstig. Den Rücken, den
er über die Stiefel biegt, richtet er vor den Bildern wieder gerade, und
so hat er sich eine gute Haltung bewahrt und ein gewisses Gleichgewicht
in den Schultern und im Kreuz. Den größten Teil seines Lebens hat er
ganz allein verbracht, sich gar nicht hineinmischend in die Unruhe, die
dadurch entstand, daß sein Weib Akulina ihm Kinder gebar und daß diese
verstarben oder sich verheirateten. Erst in seinem siebzigsten Jahre
hatte Peter sich mit denen in Verbindung gesetzt, die in seinem Hause
verblieben waren und die er nun erst als wirklich vorhanden betrachtete.
Das waren: Akulina, sein Weib, eine stille, demütige Person, die sich
fast ganz in den Kindern fortgegeben hatte, eine alternde, häßliche
Tochter und Aljoscha, ein Sohn, welcher, unverhältnismäßig spät geboren,
erst siebzehn Jahre zählte. Diesen wollte Peter für die Malerei
heranbilden; denn er sah ein, daß er bald nicht allen Bestellungen würde
entsprechen können. Aber er gab den Unterricht bald auf. Aljoscha hatte
die allerheiligste Jungfrau gemalt, aber das strenge und richtige
Vorbild so wenig erreicht, daß sein Machwerk aussah wie ein Bild der
Mariana, der Tochter des Kosaken Golokopytenko, also wie etwas durchaus
Sündiges, und der alte Peter beeilte sich, nachdem er sich oft bekreuzt
hatte, das beleidigte Brett mit einem heiligen Dmitrij zu übermalen,
welchen er aus einem unbekannten Grunde über alle anderen Heiligen
stellte.

Aljoscha versuchte auch nie mehr ein Bild zu beginnen. Wenn ihm der
Vater nicht befahl, einen Nimbus zu vergolden, war er meistens draußen
in der Steppe, kein Mensch wußte wo. Niemand hielt ihn zu Hause. Die
Mutter wunderte sich über ihn und hatte eine Scheu, mit ihm zu reden,
als ob er ein Fremder wäre oder ein Beamter. Die Schwester hatte ihn
geschlagen, solang er ein Kind war, und jetzt, seit Aljoscha erwachsen
war, begann sie ihn zu verachten, dafür, daß er sie nicht schlug. Aber
auch im Dorfe war niemand, der sich um den Burschen kümmerte. Mariana,
die Kosakentochter, hatte ihn ausgelacht, als er ihr erklärte, er wolle
sie heiraten, und die anderen Mädchen hatte Aljoscha nicht danach
gefragt, ob sie ihn als Bräutigam annehmen möchten. In die Ssetsch, zu
den Zaporogern, hatte ihn keiner mitnehmen wollen, weil er allen zu
schwächlich schien und vielleicht auch noch etwas zu jung. Einmal war er
schon davongelaufen bis zum nächsten Kloster, aber die Mönche nahmen ihn
nicht auf -- und so blieb nur die Heide für ihn, die weite, wogende
Heide. Ein Jäger hatte ihm einmal ein altes Gewehr geschenkt, das weiß
Gott womit geladen war. Das schleppte Aljoscha immer mit, schoß es aber
niemals ab, erstens, weil er den Schuß sparen wollte, und dann, weil er
nicht wußte wofür. An einem lauen, stillen Abend, zu Anfang des Sommers,
saßen alle beisammen an dem groben Tisch, auf welchem eine Schüssel mit
Grütze stand. Peter aß, und die anderen schauten ihm zu und warteten auf
das, was er übriglassen würde. Plötzlich ließ der Alte den Löffel in der
Luft stehen und streckte den breiten welken Kopf in den Lichtstreifen,
der von der Tür kam und quer über den Tisch in die Dämmerung lief. Alle
horchten. Es war außen an den Wänden der Hütte ein Geräusch, wie wenn
ein Nachtvogel mit seinen Flügeln sachte die Balken streifte; aber die
Sonne war kaum untergegangen, und die nächtlichen Vögel kamen ja
überhaupt selten bis ins Dorf. Und da war es wieder, als tappe irgendein
anderes großes Tier ums Haus und als wäre von allen Wänden zugleich sein
suchender Schritt vernehmbar. Aljoscha erhob sich leise von seiner Bank,
in demselben Augenblick verdunkelte sich die Tür von etwas Hohem,
Schwarzem; es verdrängte den ganzen Abend, brachte Nacht in die Hütte
und bewegte sich in seiner Größe nur unsicher vorwärts. ›Der Ostap!‹
sagte die Häßliche mit ihrer bösen Stimme. Und jetzt erkannten ihn alle.
Es war einer von den blinden Kobzars, ein Greis, der mit einer
zwölfsaitigen Bandura durch die Dörfer ging und von dem großen Ruhm der
Kosaken, von ihrer Tapferkeit und Treue, von ihren Hetmans Kirdjaga,
Kukubenko, Bulba und anderen Helden sang, so daß alle es gerne hörten.
Ostap verneigte sich dreimal tief in der Richtung, in der er das
Heiligenbild vermutete (und es war die Znamenskaja, zu der er sich so,
unbewußt, wandte), setzte sich dann an den Ofen und fragte mit leiser
Stimme: ›Bei wem bin ich eigentlich?‹ ›Bei uns, Väterchen, bei Peter
Akimowitsch, dem Schuster,‹ erwiderte Peter freundlich. Er war ein
Freund des Gesanges und freute sich dieses unerwarteten Besuches. ›Ah,
bei Peter Akimowitsch, dem, der die Bilder malt,‹ sagte der Blinde, um
auch eine Freundlichkeit zu erweisen. Dann wurde es still. In den langen
sechs Saiten der Bandura begann ein Klang, wuchs und kam kurz und
gleichsam erschöpft von den sechs kurzen Saiten zurück, und diese
Wirkung wiederholte sich in immer rascheren Takten, so daß man endlich
die Augen schließen mußte, in Angst, den Ton von der in rasendem Lauf
erstiegenen Melodie irgendwo hinabstürzen zu sehen; da brach das Lied ab
und gab der schönen, schweren Stimme des Kobzars Raum, welche bald das
ganze Haus erfüllte und auch aus den benachbarten Hütten die Leute rief,
die sich vor der Türe und unter den Fenstern versammelten. Aber nicht
von Helden ging diesmal das Lied. Schon ganz sicher schien Bulbas und
Ostranitzas und Naliwaikos Ruhm. Für alle Zeiten fest schien die Treue
der Kosaken. Nicht von ihren Taten ging heute das Lied. Tiefer zu
schlafen schien in allen, welche es vernahmen, der Tanz; denn keiner
rührte die Beine oder hob die Hände empor. Wie Ostaps Kopf, so waren
auch die anderen Köpfe gesenkt und wurden schwer von dem traurigen Lied:

»Es ist keine Gerechtigkeit mehr in der Welt. Die Gerechtigkeit, wer
kann sie finden? Es ist keine Gerechtigkeit mehr in der Welt; denn alle
Gerechtigkeit ist den Gesetzen der Ungerechtigkeit unterstellt.

»Heut ist die Gerechtigkeit elend in Fesseln. Und das Unrecht lacht über
sie, wir sahns, und sitzt mit den Pans in den goldenen Sesseln und sitzt
in dem goldenen Saal mit den Pans.

»Die Gerechtigkeit liegt an der Schwelle und fleht; bei den Pans ist das
Unrecht, das Schlechte, zu Gast, und sie laden es lachend in ihren
Palast, und sie schenken dem Unrecht den Becher voll Met.

»O, Gerechtigkeit, Mütterchen, Mütterchen mein, mit dem Fittich, der
jenem des Adlers gleicht, es kommt vielleicht noch ein Mann, der
gerecht, der gerecht sein will, dann helfe ihm Gott, Er vermag es
allein, und macht dem Gerechten die Tage leicht.«

Und die Köpfe hoben sich nur mühsam, und auf allen Stirnen stand
Schweigsamkeit; das erkannten auch die, welche reden wollten. Und nach
einer kleinen, ernsten Stille begann wieder das Spiel auf der Bandura,
diesmal schon besser verstanden von der immer wachsenden Menge. Dreimal
sang Ostap sein Lied von der Gerechtigkeit. Und es war jedesmal ein
anderes. War es zum erstenmal Klage, so erschien es bei der Wiederholung
Vorwurf, und endlich, da der Kobzar es zum drittenmal mit hocherhobener
Stirne wie eine Kette kurzer Befehle rief, da brach ein wilder Zorn aus
den zitternden Worten und erfaßte alle und riß sie hin in eine breite
und zugleich bange Begeisterung.

›Wo sammeln sich die Männer?‹ fragte ein junger Bauer, als der Sänger
sich erhob. Der Alte, der von allen Bewegungen der Kosaken unterrichtet
war, nannte einen nahen Ort. Schnell zerstreuten sich die Männer, man
hörte kurze Rufe, Waffen rührten sich, und vor den Türen weinten die
Weiber. Eine Stunde später zog ein Trupp Bauern, bewaffnet, aus dem
Dorfe gegen Tschernigof zu. Peter hatte dem Kobzar ein Glas Most
angeboten in der Hoffnung, mehr von ihm zu erfahren. Der Alte saß,
trank, gab aber nur kurze Antworten auf die vielen Fragen des Schusters.
Dann dankte er und ging. Aljoscha führte den Blinden über die Schwelle.
Als sie draußen waren in der Nacht und allein, bat Aljoscha: ›Und dürfen
alle mitgehen in den Krieg?‹ ›Alle,‹ sagte der Alte und verschwand
rascher ausschreitend, als ob er sehend würde in der Nacht.

Als alle schliefen, erhob sich Aljoscha vom Ofen, wo er in den Kleidern
gelegen hatte, nahm sein Gewehr und ging hinaus. Draußen fühlte er sich
mit einem Male umarmt und sanft aufs Haar geküßt. Gleich darauf erkannte
er im Mondlicht Akulina, die eilig und trippelnd auf das Haus zulief.
›Mutter?!‹ staunte er, und es wurde ihm ganz eigentümlich zumut. Er
zögerte eine Weile. Eine Tür ging irgendwo, und ein Hund heulte in der
Nähe. Da warf Aljoscha sein Gewehr über die Schulter und schritt stark
aus, denn er gedachte die Männer noch vor Morgen einzuholen. Im Hause
aber taten alle, als ob sie Aljoschas Fehlen nicht bemerkten. Nur als
sie sich wieder zu Tische setzten und Peter den leeren Platz gewahrte,
stand er noch einmal auf, ging in die Ecke und zündete eine Kerze an vor
der Znamenskaja. Eine ganz dünne Kerze. Die Häßliche zuckte mit den
Achseln.

Indessen ging Ostap, der blinde Greis, schon durch das nächste Dorf und
begann traurig und mit sanfter klagender Stimme den Gesang von der
Gerechtigkeit.«

Der Lahme wartete noch eine Weile. Dann sah er mich erstaunt an: »Nun,
weshalb schließen Sie nicht? Es ist doch wie in der Geschichte vom
Verrat. Dieser Alte war Gott.«

»O, und ich habe es nicht gewußt,« sagte ich erschauernd.



EINE SZENE AUS DEM GHETTO VON VENEDIG


Herr Baum, Hausbesitzer, Bezirksobmann, Ehrenoberster der freiwilligen
Feuerwehr und noch verschiedenes andere, aber, um es kurz zu sagen: Herr
Baum muß eines meiner Gespräche mit Ewald belauscht haben. Es ist kein
Wunder; ihm gehört das Haus, darin mein Freund zu ebener Erde wohnt.
Herr Baum und ich, wir kennen uns längst vom Sehen. Neulich aber bleibt
der Bezirksobmann stehen, hebt ein wenig den Hut, so daß ein kleiner
Vogel hätte ausfliegen können, im Falle einer drunter gefangen gewesen
wäre. Er lächelt höflich und eröffnet unsere Bekanntschaft: »Sie reisen
manchmal?« »O ja --,« erwiderte ich, etwas zerstreut, »das kann wohl
sein.« Nun fuhr er vertraulich fort: »Ich glaube, wir sind die beiden
einzigen hier, die in Italien waren.« »So --,« ich bemühte mich etwas
aufmerksamer zu sein --, »ja, dann ist es allerdings dringend notwendig,
daß wir miteinander reden.«

Herr Baum lachte. »Ja, Italien -- das ist doch noch etwas. Ich erzähle
immer meinen Kindern -- zum Beispiel nehmen Sie Venedig!« Ich blieb
stehen: »Sie erinnern sich noch Venedigs?« »Aber, ich bitte Sie,«
stöhnte er, denn er war etwas zu dick, um sich mühelos zu entrüsten, --
»wie sollte ich nicht -- wer das einmal gesehen hat -- diese Piazzetta
-- nicht wahr?« »Ja,« entgegnete ich, »ich erinnere mich besonders gern
der Fahrt durch den Kanal, dieses leisen lautlosen Hingleitens am Rande
von Vergangenheiten.« »Der Palazzo Franchetti,« fiel ihm ein. »Die Cà
Doro,« -- gab ich zurück. »Der Fischmarkt --« »Der Palazzo Vendramin --«
»Wo Richard Wagner« -- fügte er rasch, als ein gebildeter Deutscher
hinzu. Ich nickte: »Den Ponte, wissen Sie?« Er lächelte mit
Orientierung: »Selbstverständlich, und das Museum, die Akademie nicht zu
vergessen, wo ein Tizian ...«

So hat sich Herr Baum einer Art Prüfung unterzogen, die etwas
anstrengend war. Ich nahm mir vor, ihn durch eine Geschichte zu
entschädigen. Und begann ohne weiteres:

»Wenn man unter dem Ponte di Rialto hindurchfährt, an dem Fondaco de'
Turchi und an dem Fischmarkt vorbei, und dem Gondolier sagt: ›Rechts!‹
so sieht er etwas erstaunt aus und fragt wohl gar ›Dove?‹ Aber man
besteht darauf, nach rechts zu fahren, und steigt in einem der kleinen
schmutzigen Kanäle aus, handelt mit ihm, schimpft und geht durch
gedrängte Gassen und schwarze verqualmte Torgänge auf einen leeren
freien Platz hinaus. Alles das einfach aus dem Grunde, weil dort meine
Geschichte handelt.« Herr Baum berührte mich sanft am Arm: »Verzeihen
Sie, welche Geschichte?« Seine kleinen Augen gingen etwas beängstigt hin
und her.

Ich beruhigte ihn: »Irgendeine, verehrter Herr, keine irgendwie
nennenswerte. Ich kann Ihnen auch nicht sagen, wann sie geschah.
Vielleicht unter dem Dogen Alvise Moncenigo IV., aber es kann auch etwas
früher oder später gewesen sein. Die Bilder von Carpaccio, wenn Sie
solche gesehen haben sollten, sind wie auf purpurnem Samt gemalt,
überall bricht etwas Warmes, gleichsam Waldiges durch, und um die
gedämpften Lichter darin drängen sich horchende Schatten. Giorgione hat
auf mattem, alterndem Gold, Tizian auf schwarzem Atlas gemalt, aber in
der Zeit, von der ich rede, liebte man lichte Bilder, auf einen Grund
von weißer Seide gesetzt, und der Name, mit dem man spielte, den schöne
Lippen in die Sonne warfen und den reizende Ohren auffingen, wenn er
zitternd niederfiel, dieser Name ist Gian Battista Tiepolo.

Aber das alles kommt in meiner Geschichte nicht vor. Es geht nur das
wirkliche Venedig an, die Stadt der Paläste, der Abenteuer, der Masken
und der blassen Lagunennächte, die wie keine anderen Nächte sonst den
Ton von heimlichen Romanzen tragen. -- In dem Stück Venedig, von dem ich
erzähle, sind nur arme tägliche Geräusche, die Tage gehen gleichförmig
darüber hin, als ob es nur ein einziger wäre, und die Gesänge, die man
dort vernimmt, sind wachsende Klagen, die nicht aufsteigen und wie ein
wallender Qualm über den Gassen lagern. Sobald es dämmert, treibt sich
viel scheues Gesindel dort herum, unzählige Kinder haben ihre Heimat auf
den Plätzen und in den engen kalten Haustüren und spielen mit Scherben
und Abfällen von buntem Glasfluß, demselben, aus dem die Meister die
ernsten Mosaiken von San Marco fügten. Ein Adeliger kommt selten in das
Ghetto. Höchstens zur Zeit, wenn die Judenmädchen zum Brunnen kommen,
kann man manchmal eine Gestalt, schwarz, im Mantel und mit Maske
bemerken. Gewisse Leute wissen aus Erfahrung, daß diese Gestalt einen
Dolch in den Falten verborgen trägt. Jemand will einmal im Mondlicht das
Gesicht des Jünglings gesehen haben, und es wird seither behauptet,
dieser schwarze schlanke Gast sei Marcantonio Priuli, Sohn des
Proveditore Nicolò Priuli und der schönen Catharina Minelli. Man weiß,
er wartet unter dem Torweg des Hauses von Isaak Rosso, geht dann, wenn
es einsam wird, quer über den Platz und tritt bei dem alten Melchisedech
ein, dem reichen Goldschmied, der viele Söhne und sieben Töchter und von
den Söhnen und Töchtern viele Enkel hat. Die jüngste Enkelin, Esther,
erwartet ihn, an den greisen Großvater geschmiegt, in einem niederen,
dunklen Gemach, in welchem vieles glänzt und glüht, und Seide und Samt
hängt sanft über den Gefäßen, wie um ihre vollen, goldenen Flammen zu
stillen. Hier sitzt Marcantonio auf einem silbergestickten Kissen, dem
greisen Juden zu Füßen und erzählt von Venedig, wie von einem Märchen,
das es nirgendwo jemals ganz so gegeben hat. Er erzählt von den
Schauspielen, von den Schlachten des venezianischen Heeres, von fremden
Gästen, von Bildern und Bildsäulen, von der »Sensa« am Himmelfahrtstage,
von dem Karneval und von der Schönheit seiner Mutter Catharina Minelli.
Alles das ist für ihn von ähnlichem Sinn, verschiedene Ausdrücke für
Macht und Liebe und Leben. Den beiden Zuhörern ist alles fremd; denn die
Juden sind streng ausgeschlossen von jedem Verkehr, und auch der reiche
Melchisedech betritt niemals das Gebiet des Großen Rates, obwohl er als
Goldschmied und weil er allgemeine Achtung genoß, es hätte wagen dürfen.
In seinem langen Leben hat der Alte seinen Glaubensgenossen, die ihn
alle wie einen Vater fühlten, manche Vergünstigung vom Rate verschafft,
aber er hatte auch immer wieder den Rückschlag erlebt. Sooft ein Unheil
über den Staat hereinbrach, rächte man sich an den Juden; die Venezianer
selbst waren von viel zu verwandtem Geiste, als daß sie, wie andere
Völker, die Juden für den Handel gebraucht hätten, sie quälten sie mit
Abgaben, beraubten sie ihrer Güter und beschränkten immer mehr das
Gebiet des Ghetto, so daß die Familien, die sich mitten in aller Not
fruchtbar vermehrten, gezwungen waren, ihre Häuser aufwärts, eines auf
das Dach des anderen zu bauen. Und ihre Stadt, die nicht am Meere lag,
wuchs so langsam in den Himmel hinaus, wie in ein anderes Meer, und um
den Platz mit dem Brunnen erhoben sich auf allen Seiten die steilen
Gebäude wie die Wände irgendeines Riesenturms.

Der reiche Melchisedech, in der Wunderlichkeit des hohen Alters, hatte
seinen Mitbürgern, Söhnen und Enkeln einen befremdlichen Vorschlag
gemacht. Er wollte immer das jeweilig höchste dieser winzigen Häuser,
die sich in zahllosen Stockwerken übereinanderschoben, bewohnen. Man
erfüllte ihm diesen seltsamen Wunsch gerne, denn man traute ohnehin
nicht mehr der Tragkraft der unteren Mauern und setzte oben so leichte
Steine auf, daß der Wind die Wände gar nicht zu bemerken schien. So
siedelte der Greis zwei- bis dreimal im Jahre um und Esther, die ihn
nicht verlassen wollte, immer mit ihm. Schließlich waren sie so hoch,
daß, wenn sie aus der Enge ihres Gemachs auf das flache Dach traten, in
der Höhe ihrer Stirnen schon ein anderes Land begann, von dessen
Gebräuchen der Alte in dunklen Worten, halb psalmend, sprach. Es war
jetzt sehr weit zu ihnen hinauf; durch viele fremde Leben hindurch, über
steile und glitschige Stufen, an scheltenden Weibern vorüber und über
die Überfälle hungernder Kinder hinaus ging der Weg, und seine vielen
Hindernisse beschränkten jeden Verkehr. Auch Marcantonio kam nicht mehr
zu Besuch, und Esther vermißte ihn kaum. Sie hatte ihn in den Stunden,
da sie mit ihm allein gewesen war, so groß und lange angeschaut, daß ihr
schien, er wäre damals tief in ihre dunklen Augen gestürzt und
gestorben, und jetzt begönne in ihr selbst sein neues, ewiges Leben, an
das er als Christ doch geglaubt hatte. Mit diesem neuen Gefühl in ihrem
jungen Leib stand sie tagelang auf dem Dache und suchte das Meer. Aber
so hoch die Behausung auch war, man erkannte zuerst nur den Giebel des
Palazzo Foscari, irgendeinen Turm, die Kuppel einer Kirche, eine fernere
Kuppel, wie frierend im Licht, und dann ein Gitter von Masten, Balken,
Stangen vor dem Rand des feuchten, zitternden Himmels.

Gegen Ende dieses Sommers zog der Alte, obwohl ihm das Steigen schon
schwer fiel, allen Widerreden zum Trotz, dennoch um; denn man hatte eine
neue Hütte, hoch über allen, gebaut. Als er nach so langer Zeit wieder
über den Platz ging, von Esther gestützt, da drängten sich viele um ihn
und neigten sich über seine tastenden Hände und baten ihn um seinen Rat
in vielen Dingen; denn er war ihnen wie ein Toter, der aus seinem Grabe
steigt, weil irgendeine Zeit sich erfüllt hat. Und so schien es auch.
Die Männer erzählten ihm, daß in Venedig ein Aufstand sei, der Adel sei
in Gefahr, und über ein kurzes würden die Grenzen des Ghetto fallen, und
alle würden sich der gleichen Freiheit erfreuen. Der Alte antwortete
nichts und nickte nur, als sei ihm dieses alles längst bekannt und noch
vieles mehr. Er trat in das Haus des Isaak Rosso, auf dessen Gipfel
seine neue Wohnung lag, und stieg, einen halben Tag lang, hinauf. Oben
bekam Esther ein blondes, zartes Kind. Nachdem sie sich erholt hatte,
trug sie es auf den Armen hinaus auf das Dach und legte zum erstenmal
den ganzen goldenen Himmel in seine offenen Augen. Es war ein
Herbstmorgen von unbeschreiblicher Klarheit. Die Dinge dunkelten, fast
ohne Glanz, nur einzelne fliegende Lichter ließen sich, wie auf große
Blumen, auf sie nieder, ruhten eine Weile und schwebten dann über die
goldlinigen Konturen hinaus in den Himmel. Und dort, wo sie
verschwanden, erblickte man von dieser höchsten Stelle, was noch keiner
vom Ghetto aus je gesehen hatte --, ein stilles, silbernes Licht: das
Meer. Und erst jetzt, da Esthers Augen sich an die Herrlichkeit gewöhnt
hatten, bemerkte sie am Rande des Daches, ganz vorn, Melchisedech. Er
erhob sich mit ausgebreiteten Armen und zwang seine matten Augen, in den
Tag zu schauen, der sich langsam entfaltete. Seine Arme blieben hoch,
seine Stirne trug einen strahlenden Gedanken; es war, als ob er opferte.
Dann ließ er sich immer wieder vornüberfallen und preßte den alten Kopf
an die schlechten kantigen Steine. Das Volk aber stand unten auf dem
Platze versammelt und blickte herauf. Einzelne Gebärden und Worte
erhoben sich aus der Menge, aber sie reichten nicht bis zu dem einsam
betenden Greise. Und das Volk sah den Ältesten und den Jüngsten wie in
den Wolken. Der Alte aber fuhr fort, sich stolz zu erheben und aufs neue
in Demut zusammenzubrechen, eine ganze Zeit. Und die Menge unten wuchs
und ließ ihn nicht aus den Augen: Hat er das Meer gesehen oder Gott, den
Ewigen, in seiner Glorie?«

Herr Baum bemühte sich, recht schnell etwas zu bemerken. Es gelang ihm
nicht gleich. »Das Meer wahrscheinlich,« -- sagte er dann trocken, »es
ist ja auch ein Eindruck« -- wodurch er sich besonders aufgeklärt und
verständig erwies.

Ich verabschiedete mich eilig, aber ich konnte mich doch nicht
enthalten, ihm nachzurufen: »Vergessen Sie nicht, die Begebenheit Ihren
Kindern zu erzählen.« Er besann sich: »Den Kindern? Wissen Sie, da ist
dieser junge Adlige, dieser Antonio, oder wie er heißt, ein ganz und gar
nicht schöner Charakter und dann: das Kind, dieses Kind! Das dürfte doch
-- für Kinder --« »O,« beruhigte ich ihn, »Sie haben vergessen,
verehrter Herr, daß die Kinder von Gott kommen! Wie sollten die Kinder
zweifeln, daß Esther eines bekam, da sie doch so nahe am Himmel wohnt!«

Auch diese Geschichte haben die Kinder vernommen, und wenn man sie
fragt, wie sie darüber denken, was der alte Jude Melchisedech wohl
erblickt haben mag in seiner Verzückung, so sagen sie ohne nachzusinnen:
»O, das Meer auch.«



VON EINEM, DER DIE STEINE BELAUSCHT


Ich bin schon wieder bei meinem lahmen Freunde. Er lächelt in seiner
eigentümlichen Art: »Und von Italien haben Sie mir noch nie erzählt.«
»Das soll heißen, ich möge es so bald als möglich nachholen?«

Ewald nickt und schließt schon die Augen, um zuzuhören. Ich fange also
an. »Was wir Frühling fühlen, sieht Gott als ein flüchtiges, kleines
Lächeln über die Erde gehen. Sie scheint sich an etwas zu erinnern, im
Sommer erzählt sie allen davon, bis sie weiser wird in der großen,
herbstlichen Schweigsamkeit, mit welcher sie sich Einsamen vertraut.
Alle Frühlinge, welche Sie und ich erlebt haben, zusammengenommen,
reichen noch nicht aus, eine Sekunde Gottes zu füllen. Der Frühling, den
Gott bemerken soll, darf nicht in Bäumen und auf Wiesen bleiben, er muß
irgendwie in den Menschen mächtig werden, denn dann geht er sozusagen
nicht in der Zeit, vielmehr in der Ewigkeit vor sich und in Gegenwart
Gottes.

Als dieses einmal geschah, mußten Gottes Blicke in ihren dunkeln
Schwingen über Italien hängen. Das Land unten war hell, die Zeit glänzte
wie Gold, aber quer darüber, wie ein dunkler Weg, lag der Schatten eines
breiten Mannes, schwer und schwarz, und weit davor der Schatten seiner
schaffenden Hände, unruhig, zuckend, bald über Pisa, bald über Neapel,
bald zerfließend auf der ungewissen Bewegung des Meeres. Gott konnte
seine Augen nicht abwenden von diesen Händen, die ihm zuerst gefaltet
schienen, wie betende, -- aber das Gebet, welches ihnen entquoll,
drängte sie weit auseinander. Es wurde eine Stille in den Himmeln. Alle
Heiligen folgten den Blicken Gottes und betrachteten wie er den
Schatten, der halb Italien verhüllte, und die Hymnen der Engel blieben
auf ihren Gesichtern stehen, und die Sterne zitterten, denn sie
fürchteten, irgend etwas verschuldet zu haben, und warteten demütig auf
Gottes zorniges Wort. Aber nichts dergleichen geschah. Die Himmel hatten
sich in ihrer ganzen Breite über Italien aufgetan, so daß Raffael in Rom
auf den Knien lag, und der selige Fra Angelico von Fiesole stand in
einer Wolke und freute sich über ihn. Viele Gebete waren zu dieser
Stunde von der Erde unterwegs. Gott aber erkannte nur eines: die Kraft
Michelangelos stieg wie Duft von Weinbergen zu ihm empor. Und er
duldete, daß sie seine Gedanken erfüllte. Er neigte sich tiefer, fand
den schaffenden Mann, sah über seine Schultern fort auf die am Steine
horchenden Hände und erschrak: sollten in den Steinen auch Seelen sein?
Warum belauschte dieser Mann die Steine? Und nun erwachten ihm die Hände
und wühlten den Stein auf wie ein Grab, darin eine schwache, sterbende
Stimme flackert: ›Michelangelo,‹ rief Gott in Bangigkeit, ›wer ist im
Stein?‹ Michelangelo horchte auf; seine Hände zitterten. Dann antwortete
er dumpf: ›Du, mein Gott, wer denn sonst. Aber ich kann nicht zu dir.‹
Und da fühlte Gott, daß er auch im Steine sei, und es wurde ihm
ängstlich und enge. Der ganze Himmel war nur ein Stein, und er war
mitten drin eingeschlossen und hoffte auf die Hände Michelangelos, die
ihn befreien würden, und er hörte sie kommen, aber noch weit. Der
Meister aber war wieder über dem Werke. Er dachte beständig: du bist nur
ein kleiner Block, und ein anderer könnte in dir kaum einen Menschen
finden. Ich aber fühle hier eine Schulter: es ist die des Josef von
Arimathäa, hier neigt sich Maria, ich spüre ihre zitternden Hände,
welche Jesum, unseren Herrn, halten, der eben am Kreuze verstarb. Wenn
in diesem kleinen Marmor diese drei Raum haben, wie sollte ich nicht
einmal ein schlafendes Geschlecht aus einem Felsen heben? Und mit
breiten Hieben machte er die drei Gestalten der Pietà frei, aber er
löste nicht ganz die steinernen Schleier von ihren Gesichtern, als
fürchtete er, ihre tiefe Traurigkeit könnte sich lähmend über seine
Hände legen. So flüchtete er zu einem anderen Steine. Aber jedesmal
verzagte er, einer Stirne ihre volle Klarheit, einer Schulter ihre
reinste Rundung zu geben, und wenn er ein Weib bildete, so legte er
nicht das letzte Lächeln um ihren Mund, damit ihre Schönheit nicht ganz
verraten sei.

Zu dieser Zeit entwarf er das Grabdenkmal für Julius della Rovere. Einen
Berg wollte er bauen über den eisernen Papst und ein Geschlecht dazu,
welches diesen Berg bevölkerte. Von vielen dunkeln Plänen erfüllt, ging
er hinaus nach seinen Marmorbrüchen. Über einem armen Dorf erhob sich
steil der Hang. Umrahmt von Oliven und welkem Gestein, erschienen die
frisch gebrochenen Flächen wie ein großes blasses Gesicht unter
alterndem Haar. Lange stand Michelangelo vor seiner verhüllten Stirne.
Plötzlich bemerkte er darunter zwei riesige Augen aus Stein, welche ihn
betrachteten. Und Michelangelo fühlte seine Gestalt wachsen unter dem
Einfluß dieses Blickes. Jetzt ragte auch er über dem Land, und es war
ihm, als ob er von Ewigkeit her diesem Berg brüderlich gegenüberstände.
Das Tal wich unter ihm zurück wie unter einem Steigenden, die Hütten
drängten sich wie Herden aneinander, und näher und verwandter zeigte
sich das Felsengesicht unter seinen weißen steinernen Schleiern. Es
hatte einen wartenden Ausdruck, reglos und doch am Rande der Bewegung.
Michelangelo dachte nach: ›Man kann dich nicht zerschlagen, du bist ja
nur Eines,‹ und dann hob er seine Stimme: ›Dich will ich vollenden, du
bist mein Werk.‹ Und er wandte sich nach Florenz zurück. Er sah einen
Stern und den Turm vom Dom. Und um seine Füße war Abend.

Mit einem Mal, an der Porta Romana, zögerte er. Die beiden Häuserreihen
streckten sich wie Arme nach ihm aus, und schon hatten sie ihn ergriffen
und zogen ihn hinein in die Stadt. Und immer enger und dämmernder wurden
die Gassen, und als er sein Haus betrat, da wußte er sich in dunkeln
Händen, denen er nicht entgehen konnte. Er flüchtete in den Saal und von
da in die niedere, kaum zwei Schritte lange Kammer, darin er zu
schreiben pflegte. Ihre Wände legten sich an ihn, und es war, als
kämpften sie mit seinen Übermaßen und zwängten ihn zurück in die alte,
enge Gestalt. Und er duldete es. Er drückte sich in die Knie und ließ
sich formen von ihnen. Er fühlte eine nie gekannte Demut in sich und
hatte selbst den Wunsch, irgendwie klein zu sein. Und eine Stimme kam:
›Michelangelo, wer ist in dir?‹ Und der Mann in der schmalen Kammer
legte die Stirn schwer in die Hände und sagte leise: ›Du, mein Gott, wer
denn sonst.‹

Und da wurde es weit um Gott, und er hob sein Gesicht, welches über
Italien war, frei empor und schaute um sich: in Mänteln und Mitren
standen die Heiligen da, und die Engel gingen mit ihren Gesängen wie mit
Krügen voll glänzenden Quells unter den dürstenden Sternen umher, und es
war der Himmel kein Ende.«

Mein lahmer Freund hob seine Blicke und duldete, daß die Abendwolken sie
mitzogen über den Himmel hin: »Ist Gott denn _dort_?« fragte er. Ich
schwieg. Dann neigte ich mich zu ihm: »Ewald, sind wir denn _hier_?« Und
wir hielten uns herzlich die Hände.



WIE DER FINGERHUT DAZU KAM, DER LIEBE GOTT ZU SEIN


Als ich vom Fenster forttrat, waren die Abendwolken immer noch da. Sie
schienen zu warten. Soll ich ihnen auch eine Geschichte erzählen? Ich
schlug es ihnen vor. Aber sie hörten mich gar nicht. Um mich
verständlich zu machen und die Entfernung zwischen uns zu beschränken,
rief ich: »Ich bin auch eine Abendwolke.« Sie blieben stehen, offenbar
betrachteten sie mich. Dann streckten sie mir ihre feinen,
durchscheinenden rötlichen Flügel entgegen. Das ist die Art, wie
Abendwolken sich begrüßen. Sie hatten mich erkannt.

»Wir sind über der Erde,« -- erklärten sie -- »genauer über Europa, und
du?« Ich zögerte: »Es ist da ein Land --« »Wie sieht es aus?«
erkundigten sie sich. »Nun,« entgegnete ich -- »Dämmerung mit Dingen --«
»Das ist Europa auch,« lachte eine junge Wolke. »Möglich,« sagte ich,
»aber ich habe immer gehört: die Dinge in Europa sind tot.« »Ja,
allerdings,« bemerkte eine andere verächtlich. »Was wäre das für ein
Unsinn: lebende Dinge?« »Nun,« beharrte ich, »meine leben. Das ist also
der Unterschied. Sie können verschiedenes werden, und ein Ding, welches
als Bleistift oder als Ofen zur Welt kommt, muß deshalb noch nicht an
seinem Fortkommen verzweifeln. Ein Bleistift kann mal ein Stock, wenn es
gut geht, ein Mastbaum, ein Ofen aber mindestens ein Stadttor werden.«

»Du scheinst mir eine recht einfältige Abendwolke zu sein,« sagte die
junge Wolke, welche sich schon früher so wenig zurückhaltend ausgedrückt
hatte. Ein alter Wolkerich fürchtete, sie könnte mich beleidigt haben.
»Es gibt ganz verschiedene Länder,« begütigte er, »ich war einmal über
ein kleines deutsches Fürstentum geraten, und ich glaube bis heute
nicht, daß das zu Europa gehörte.« Ich dankte ihm und sagte: »Wir werden
uns schwer einigen können, sehe ich. Erlauben Sie, ich werde Ihnen
einfach das erzählen, was ich in der letzten Zeit unter mir erblickte,
das wird wohl das beste sein.« »Bitte,« gestattete der weise Wolkerich
im Auftrage aller. Ich begann: »Menschen sind in einer Stube. Ich bin
ziemlich hoch, müßt ihr wissen, und so kommt es: sie sehen für mich wie
Kinder aus; deshalb will ich auch einfach sagen: Kinder. Also: Kinder
sind in einer Stube. Zwei, fünf, sechs, sieben Kinder. Es würde zu lange
dauern, sie um ihre Namen zu fragen. Übrigens scheinen die Kinder eifrig
etwas zu besprechen; bei dieser Gelegenheit wird sich ja der eine oder
der andere Name verraten. Sie stehen wohl schon eine ganze Weile so
beisammen, denn der älteste (ich vernehme, daß er Hans gerufen wird)
bemerkt gleichsam abschließend: ›Nein, so kann es entschieden nicht
bleiben. Ich habe gehört, früher haben die Eltern den Kindern am Abend
immer, oder wenigstens an braven Abenden -- Geschichten erzählt bis zum
Einschlafen. Kommt so etwas heute vor?‹ Eine kleine Pause, dann
antwortet Hans selbst: ›Es kommt nicht vor, nirgends. Ich für meinen
Teil, auch weil ich schon groß bin gewissermaßen, schenke ihnen ja gern
diese paar elenden Drachen, mit denen sie sich quälen würden, aber
immerhin, es gehört sich, daß sie uns sagen, es gibt Nixen, Zwerge,
Prinzen und Ungeheuer.‹ ›Ich habe eine Tante,‹ bemerkte eine Kleine,
›die erzählt mir manchmal --‹ ›Ach was,‹ schneidet Hans kurz ab, ›Tanten
gelten nicht, die lügen.‹ Die ganze Gesellschaft war sehr
eingeschüchtert angesichts dieser kühnen, aber unwiderlegten Behauptung.
Hans fährt fort: ›Auch handelt es sich hier vor allem um die Eltern,
weil diese gewissermaßen die Verpflichtung haben, uns in dieser Weise zu
unterrichten: bei den anderen ist es mehr Güte. Verlangen kann man es
nicht von ihnen. Aber gebt nur mal acht: was tun unsere Eltern? Sie
gehen mit bösen gekränkten Gesichtern umher, nichts ist ihnen recht, sie
schreien und schelten, aber dabei sind sie doch so gleichgültig, und
wenn die Welt unterginge, sie würden es kaum bemerken. Sie haben etwas,
was sie »Ideale« nennen. Vielleicht ist das auch so eine Art kleine
Kinder, die nicht allein bleiben dürfen und sehr viel Mühe machen; aber
dann hätten sie eben uns nicht haben dürfen. Nun, ich denke so, Kinder:
daß die Eltern uns vernachlässigen, ist traurig, gewiß. Aber wir würden
das dennoch ertragen, wenn es nicht ein Beweis wäre dafür, daß die
Großen überhaupt dumm werden, zurückgehen, wenn man so sagen darf. Wir
können ihren Verfall nicht aufhalten; denn wir können den ganzen Tag
keinen Einfluß auf sie ausüben, und kommen wir spät aus der Schule nach
Haus, wird kein Mensch verlangen, daß wir uns hinsetzen und versuchen,
sie für etwas Vernünftiges zu interessieren. Es tut einem auch recht
weh, wenn man so unter der Lampe sitzt und sitzt, und die Mutter
begreift nicht einmal den pythagoreischen Lehrsatz. Nun, es ist einmal
nicht anders. So werden die Großen immer dümmer werden ... es schadet
nichts: was kann uns dabei verloren gehen? die Bildung? Sie ziehen den
Hut voreinander, und wenn eine Glatze dabei zum Vorschein kommt, so
lachen sie. Überhaupt: sie lachen beständig. Wenn wir nicht dann und
wann so vernünftig wären, zu weinen, es gäbe durchaus kein Gleichgewicht
auch in diesen Angelegenheiten. Dabei sind sie von einem Hochmut: sie
behaupten sogar, der Kaiser sei ein Erwachsener. Ich habe in den
Zeitungen gelesen, der König von Spanien sei ein Kind, so ist es mit
allen Königen und Kaisern, -- laßt euch nur nichts einreden! Aber neben
allem Überflüssigen haben die Großen doch etwas, was uns durchaus nicht
gleichgültig sein kann: den lieben Gott. Ich habe ihn zwar noch bei
keinem von ihnen gesehen, -- aber gerade das ist verdächtig. Es ist mir
eingefallen, sie könnten ihn in ihrer Zerstreutheit, Geschäftigkeit und
Hast irgendwo verloren haben. Nun ist er aber etwas durchaus
Notwendiges. Verschiedenes kann ohne ihn nicht geschehen, die Sonne kann
nicht aufgehen, keine Kinder können kommen, aber auch das Brot wird
aufhören. Wenn es auch beim Bäcker herauskommt, der liebe Gott sitzt und
dreht die großen Mühlen. Es lassen sich leicht viele Gründe finden,
weshalb der liebe Gott etwas Unentbehrliches ist. Aber so viel steht
fest, die Großen kümmern sich nicht um ihn, also müssen wir Kinder es
tun. Hört, was ich mir ausgedacht habe. Wir sind genau sieben Kinder.
Jedes muß den lieben Gott einen Tag tragen, dann ist er die ganze Woche
bei uns, und man weiß immer, wo er sich gerade befindet.‹

Hier entstand eine große Verlegenheit. Wie sollte das geschehen? Konnte
man denn den lieben Gott in die Hand nehmen oder in die Tasche stecken?
Dazu erzählte ein Kleiner: ›Ich war allein im Zimmer. Eine kleine Lampe
brannte nahe bei mir, und ich saß im Bett und sagte mein Abendgebet --
sehr laut. Es rührte sich etwas in meinen gefalteten Händen. Es war
weich und warm und wie ein kleines Vögelchen. Ich konnte die Hände nicht
auftun, denn das Gebet war noch nicht aus. Aber ich war sehr neugierig
und betete furchtbar schnell. Dann beim Amen machte ich so (der Kleine
streckte die Hände aus und spreizte die Finger), aber es war nichts da.‹

Das konnten sich alle vorstellen. Auch Hans wußte keinen Rat. Alle
schauten ihn an. Und auf einmal sagte er: ›Das ist ja dumm. Ein jedes
Ding kann der liebe Gott sein. Man muß es ihm nur sagen.‹ Er wandte sich
an den ihm zunächst stehenden, rothaarigen Knaben. ›Ein Tier kann das
nicht. Es läuft davon. Aber ein Ding, siehst du, es steht, du kommst in
die Stube, bei Tag, bei Nacht, es ist immer da, es kann wohl der liebe
Gott sein.‹ Allmählich überzeugten sich die anderen davon. ›Aber wir
brauchen einen kleinen Gegenstand, den man überall mittragen kann, sonst
hat es ja keinen Sinn. Leert einmal alle eure Taschen aus.‹ Da zeigten
sich nun sehr seltsame Dinge: Papierschnitzel, Federmesser, Radiergummi,
Federn, Bindfaden, kleine Steine, Schrauben, Pfeifen, Holzspänchen und
vieles andere, was sich aus der Ferne gar nicht erkennen läßt, oder
wofür der Name mir fehlt. Und alle diese Dinge lagen in den seichten
Händen der Kinder, wie erschrocken über die plötzliche Möglichkeit, der
liebe Gott zu werden, und welches von ihnen ein bißchen glänzen konnte,
glänzte, um dem Hans zu gefallen. Lange schwankte die Wahl. Endlich fand
sich bei der kleinen Resi ein Fingerhut, den sie ihrer Mutter einmal
weggenommen hatte. Er war licht wie aus Silber, und um seiner Schönheit
willen wurde er der liebe Gott. Hans selbst steckte ihn ein, denn er
begann die Reihe, und alle Kinder gingen den ganzen Tag hinter ihm her
und waren stolz auf ihn. Nur schwer einigte man sich, wer ihn morgen
haben sollte, und Hans stellte in seiner Umsicht dann das Programm
gleich für die ganze Woche fest, damit kein Streit ausbräche.

Diese Einrichtung erwies sich im ganzen als überaus zweckmäßig. Wer den
lieben Gott gerade hatte, konnte man auf den ersten Blick erkennen. Denn
der Betreffende ging etwas steifer und feierlicher und machte ein
Gesicht wie am Sonntag. Die ersten drei Tage sprachen die Kinder von
nichts anderem. Jeden Augenblick verlangte eines den lieben Gott zu
sehen, und wenn sich der Fingerhut unter dem Einfluß seiner großen Würde
auch gar nicht verändert hatte, das Fingerhutliche an ihm erschien jetzt
nur als ein bescheidenes Kleid um seine wirkliche Gestalt. Alles ging
nach der Ordnung vor sich. Am Mittwoch hatte ihn Paul, am Donnerstag die
kleine Anna. Der Samstag kam. Die Kinder spielten Fangen und tollten
atemlos durcheinander, als Hans plötzlich rief: ›Wer hat denn den lieben
Gott?‹ Alle standen. Jedes sah das andere an. Keines erinnerte sich, ihn
seit zwei Tagen gesehen zu haben. Hans zählte ab, wer an der Reihe sei;
es kam heraus: die kleine Marie. Und nun verlangte man ohne weiteres von
der kleinen Marie den lieben Gott. Was war da zu tun? Die Kleine kratzte
in ihren Taschen herum. Jetzt fiel ihr erst ein, daß sie ihn am Morgen
erhalten hatte; aber jetzt war er fort, wahrscheinlich hatte sie ihn
hier beim Spielen verloren.

Und als alle Kinder nach Hause gingen, blieb die Kleine auf der Wiese
zurück und suchte. Das Gras war ziemlich hoch. Zweimal kamen Leute
vorüber und fragten, ob sie etwas verloren hätte. Jedesmal antwortete
das Kind: ›Einen Fingerhut‹ -- und suchte. Die Leute taten eine Weile
mit, wurden aber bald des Bückens müde, und einer riet im Fortgehen:
›Geh lieber nach Haus, man kann ja einen neuen kaufen.‹ Dennoch suchte
Mariechen weiter. Die Wiese wurde immer fremder in der Dämmerung, und
das Gras begann naß zu werden. Da kam wieder ein Mann. Er beugte sich
über das Kind: ›Was suchst du?‹ Jetzt antwortete Mariechen, nicht weit
vom Weinen, aber tapfer und trotzig: ›Den lieben Gott.‹ Der Fremde
lächelte, nahm sie einfach bei der Hand, und sie ließ sich führen, als
ob jetzt alles gut wäre. Unterwegs sagte der fremde Mann: ›Und sieh mal,
was ich heute für einen schönen Fingerhut gefunden habe.‹ --«

Die Abendwolken waren schon längst ungeduldig. Jetzt wandte sich der
weise Wolkerich, welcher indessen dick geworden war, zu mir: »Verzeihen
Sie, dürfte ich nicht den Namen des Landes -- über welchem Sie --« Aber
die anderen Wolken liefen lachend in den Himmel hinein und zogen den
Alten mit.



EIN MÄRCHEN VOM TOD UND EINE FREMDE NACHSCHRIFT DAZU


Ich schaute noch immer hinauf in den langsam verlöschenden Abendhimmel,
als jemand sagte: »Sie scheinen sich ja für das Land da oben sehr zu
interessieren?«

Mein Blick fiel schnell, wie heruntergeschossen, und ich erkannte: ich
war an die niedere Mauer unseres kleinen Kirchhofs geraten, und vor mir,
jenseits derselben, stand der Mann mit dem Spaten und lächelte ernst.
»Ich interessiere mich wieder für dieses Land hier,« ergänzte er und
wies nach der schwarzen, feuchten Erde, welche an manchen Stellen
hervorsah aus den vielen welken Blättern, die sich rauschend rührten,
während ich nicht wußte, daß ein Wind begonnen hatte. Plötzlich sagte
ich, von heftigem Abscheu erfaßt: »Warum tun Sie das da?« Der
Totengräber lächelte immer noch: »Es ernährt einen auch -- und dann, ich
bitte Sie, tun nicht die meisten Menschen das gleiche? Sie begraben Gott
dort, wie ich die Menschen hier.« Er zeigte nach dem Himmel und erklärte
mir: »Ja, das ist auch ein großes Grab, im Sommer stehen wilde
Vergißmeinnicht drauf --« Ich unterbrach ihn: »Es gab eine Zeit, wo die
Menschen Gott im Himmel begruben, das ist wahr --« »Ist das anders
geworden?« fragte er seltsam traurig. Ich fuhr fort: »Einmal warf jeder
eine Hand Himmel über ihn, ich weiß. Aber da war er eigentlich schon
nicht mehr dort, oder doch --« Ich zögerte.

»Wissen Sie,« begann ich dann von neuem, »in alten Zeiten beteten die
Menschen so.« Ich breitete die Arme aus und fühlte unwillkürlich meine
Brust groß werden dabei. »Damals warf sich Gott in alle diese Abgründe
voll Demut und Dunkelheit, und nur ungern kehrte er in seine Himmel
zurück, die er, unvermerkt, immer näher über die Erde zog. Aber ein
neuer Glaube begann. Da dieser den Menschen nicht verständlich machen
konnte, worin sein neuer Gott sich von jenem alten unterscheide (sobald
er ihn nämlich zu preisen begann, erkannten die Menschen sofort den
einen alten Gott auch hier), so veränderte der Verkünder des neuen
Gebotes die Art zu beten. Er lehrte das Händefalten und entschied:
›Seht, unser Gott will so gebeten sein, also ist er ein anderer als der,
den ihr bisher in euren Armen glaubtet zu empfangen.‹ Die Menschen sahen
das ein, und die Gebärde der offenen Arme wurde eine verächtliche und
schreckliche, und später heftete man sie ans Kreuz, um sie allen als ein
Symbol der Not und des Todes zu zeigen.

Als Gott aber das nächste Mal wieder auf die Erde niederblickte,
erschrak er. Neben den vielen gefalteten Händen hatte man viele gotische
Kirchen gebaut, und so streckten sich ihm die Hände und die Dächer,
gleich steil und scharf, wie feindliche Waffen entgegen. Bei Gott ist
eine andere Tapferkeit. Er kehrte in seine Himmel zurück, und als er
merkte, daß die Türme und die neuen Gebete hinter ihm her wuchsen, da
ging er auf der anderen Seite aus seinen Himmeln hinaus und entzog sich
so der Verfolgung. Er war selbst überrascht, jenseits von seiner
strahlenden Heimat ein beginnendes Dunkel zu finden, das ihn schweigend
empfing, und er ging mit einem seltsamen Gefühl immer weiter in dieser
Dämmerung, welche ihn an die Herzen der Menschen erinnerte. Da fiel es
ihm zuerst ein, daß die Köpfe der Menschen licht, ihre Herzen aber voll
eines ähnlichen Dunkels sind, und eine Sehnsucht überkam ihn, in den
Herzen der Menschen zu wohnen und nicht mehr durch das klare, kalte
Wachsein ihrer Gedanken zu gehen. Nun, Gott hat seinen Weg fortgesetzt.
Immer dichter wird um ihn die Dunkelheit, und die Nacht, durch die er
sich drängt, hat etwas von der duftenden Wärme fruchtbarer Schollen. Und
nicht lange mehr, so strecken sich ihm die Wurzeln entgegen mit der
alten schönen Gebärde des breiten Gebetes. Es gibt nichts Weiseres als
den Kreis. Der Gott, der uns in den Himmeln entfloh, aus der Erde wird
er uns wiederkommen. Und, wer weiß, vielleicht graben gerade Sie einmal
das Tor ...« Der Mann mit dem Spaten sagte: »Aber das ist ein Märchen.«
»In unserer Stimme,« erwiderte ich leise, »wird alles Märchen, denn es
kann sich ja in ihr nie begeben haben.« Der Mann schaute eine Weile vor
sich hin. Dann zog er mit heftigen Bewegungen den Rock an und fragte:
»Wir können ja wohl zusammen gehen?« Ich nickte: »Ich gehe nach Hause.
Es wird wohl derselbe Weg sein. Aber wohnen Sie nicht hier?« Er trat aus
der kleinen Gittertür, legte sie sanft in ihre klagenden Angeln zurück
und entgegnete: »Nein.«

Nach ein paar Schritten wurde er vertraulicher: »Sie haben ganz recht
gehabt vorhin. Es ist seltsam, daß sich niemand findet, der das tun mag,
das da draußen. Ich habe früher nie daran gedacht. Aber jetzt, seit ich
älter werde, kommen mir manchmal Gedanken, eigentümliche Gedanken, wie
der mit dem Himmel, und noch andere. Der Tod. Was weiß man davon?
Scheinbar alles und vielleicht nichts. Oft stehen die Kinder (ich weiß
nicht, wem sie gehören) um mich, wenn ich arbeite. Und mir fällt gerade
so etwas ein. Dann grabe ich wie ein Tier, um alle meine Kraft aus dem
Kopfe fortzuziehen und sie in den Armen zu verbrauchen. Das Grab wird
viel tiefer, als die Vorschrift verlangt, und ein Berg Erde wächst
daneben auf. Die Kinder aber laufen davon, da sie meine wilden
Bewegungen sehen. Sie glauben, daß ich irgendwie zornig bin.« Er dachte
nach. »Und es ist ja auch eine Art Zorn. Man wird abgestumpft, man
glaubt es überwunden zu haben, und plötzlich ... Es hilft nichts, der
Tod ist etwas Unbegreifliches, Schreckliches.«

Wir gingen eine lange Straße unter schon ganz blätterlosen Obstbäumen,
und der Wald begann, uns zur Linken, wie eine Nacht, die jeden
Augenblick auch über uns hereinbrechen kann. »Ich will Ihnen eine kleine
Geschichte berichten,« versuchte ich, »sie reicht gerade bis an den
Ort.« Der Mann nickte und zündete sich seine kurze, alte Pfeife an. Ich
erzählte:

»Es waren zwei Menschen, ein Mann und ein Weib, und sie hatten einander
lieb. Liebhaben, das heißt nichts annehmen, von nirgends, alles
vergessen und von _einem_ Menschen alles empfangen wollen, das was man
schon besaß und alles andere. So wünschten es die beiden Menschen
gegenseitig. Aber in der Zeit, im Tage, unter den vielen, was alles
kommt und geht, oft ehe man eine wirkliche Beziehung dazu gewinnt, läßt
sich ein solches Liebhaben gar nicht durchführen, die Ereignisse kommen
von allen Seiten, und der Zufall öffnet ihnen jede Tür.

Deshalb beschlossen die beiden Menschen aus der Zeit in die Einsamkeit
zu gehen, weit fort vom Uhrenschlagen und von den Geräuschen der Stadt.
Und dort erbauten sie sich in einem Garten ein Haus. Und das Haus hatte
zwei Tore, eines an seiner rechten, eines an seiner linken Seite. Und
das rechte Tor war des Mannes Tor, und alles Seine sollte durch dasselbe
in das Haus einziehen. Das linke aber war das Tor des Weibes; und was
ihres Sinnes war, sollte durch seinen Bogen eintreten. So geschah es.
Wer zuerst erwachte am Morgen, stieg hinab und tat sein Tor auf. Und da
kam dann bis spät in die Nacht gar manches herein, wenn auch das Haus
nicht am Rande des Weges lag. Zu denen, die zu empfangen verstehen,
kommt die Landschaft ins Haus und das Licht und ein Wind mit einem Duft
auf den Schultern und viel anderes mehr. Aber auch Vergangenheiten,
Gestalten, Schicksale traten durch die beiden Tore ein, und allen wurde
die gleiche, schlichte Gastlichkeit zuteil, so daß sie meinten, seit
immer in dem Heidehaus gewohnt zu haben. So ging es eine lange Zeit
fort, und die beiden Menschen waren sehr glücklich dabei. Das linke Tor
war etwas häufiger geöffnet, aber durch das rechte traten buntere Gäste
ein. Vor diesem wartete auch eines Morgens -- der Tod. Der Mann schlug
seine Tür eilends zu, als er ihn bemerkte, und hielt sie den ganzen Tag
über fest verschlossen. Nach einiger Zeit tauchte der Tod vor dem linken
Eingang auf. Zitternd warf das Weib das Tor zu und schob den breiten
Riegel vor. Sie sprachen nicht miteinander über dieses Ereignis, aber
sie öffneten seltener die beiden Tore und suchten mit dem auszukommen,
was im Hause war. Da lebten sie nun freilich viel ärmlicher als vorher.
Ihre Vorräte wurden knapp, und es stellten sich Sorgen ein. Sie begannen
beide, schlecht zu schlafen, und in einer solchen wachen, langen Nacht
vernahmen sie plötzlich zugleich ein seltsames, schlürfendes und
pochendes Geräusch. Es war hinter der Wand des Hauses, gleich weit
entfernt von den beiden Toren, und klang, als ob jemand begänne, Steine
auszubrechen, um ein neues Tor mitten in die Mauer zu bauen. Die beiden
Menschen taten in ihrem Schrecken dennoch, als ob sie nichts Besonderes
vernähmen. Sie begannen zu sprechen, lachten unnatürlich laut, und als
sie müde wurden, war das Wühlen in der Wand verstummt. Seither bleiben
die beiden Tore ganz geschlossen. Die Menschen leben wie Gefangene.
Beide sind kränklich geworden und haben seltsame Einbildungen. Das
Geräusch wiederholt sich von Zeit zu Zeit. Dann lachen sie mit ihren
Lippen, während ihre Herzen fast sterben vor Angst. Und sie wissen
beide, daß das Graben immer lauter und deutlicher wird, und müssen immer
lauter sprechen und lachen mit ihren immer matteren Stimmen.«

Ich schwieg. »Ja, ja --,« sagte der Mann neben mir, »so ist es, das ist
eine wahre Geschichte.«

»Diese habe ich in einem alten Buche gelesen,« fügte ich hinzu, »und da
ereignete sich etwas sehr Merkwürdiges dabei. Hinter der Zeile, darin
erzählt wird, wie der Tod auch vor dem Tore des Weibes erschien, war mit
alter, verwelkter Tinte ein kleines Sternchen gezeichnet. Es sah aus den
Worten wie aus Wolken hervor, und ich dachte einen Augenblick, wenn die
Zeilen sich verzögen, so könnte offenbar werden, daß hinter ihnen lauter
Sterne stehen, wie es ja wohl manchmal geschieht, wenn der
Frühlingshimmel sich spät am Abend klärt. Dann vergaß ich des
unbedeutenden Umstandes ganz, bis ich hinten im Einband des Buches
dasselbe Sternchen, wie gespiegelt in einem See, in dem glatten
Glanzpapier wiederfand, und nah unter demselben begannen zarte Zeilen,
die wie Wellen in der blassen spiegelnden Fläche verliefen. Die Schrift
war an vielen Stellen undeutlich geworden, aber es gelang mir doch, sie
fast ganz zu entziffern. Da stand etwa:

›Ich habe diese Geschichte so oft gelesen, und zwar in allen möglichen
Tagen, daß ich manchmal glaube, ich habe sie selbst, aus der Erinnerung
aufgezeichnet. Aber bei mir geht es im weiteren Verlaufe so zu, wie ich
es hier niederschreibe. Das Weib hatte den Tod nie gesehen, arglos ließ
sie ihn eintreten. Der Tod aber sagte etwas hastig, und wie einer,
welcher kein gutes Gewissen hat: ›Gib das deinem Mann.‹ Und er fügte,
als das Weib ihn fragend anblickte, eilig hinzu: ›Es ist Samen, sehr
guter Samen.‹ Dann entfernte er sich, ohne zurückzusehen. Das Weib
öffnete das Säckchen, welches er ihr in die Hand gelegt hatte; es fand
sich wirklich eine Art Samen darin, harte, häßliche Körner. Da dachte
das Weib: der Same ist etwas Unfertiges, Zukünftiges. Man kann nicht
wissen, was aus ihm wird. Ich will diese unschönen Körner nicht meinem
Manne geben, sie sehen gar nicht aus wie ein Geschenk. Ich will sie
lieber in das Beet unseres Gartens drücken und warten, was sich aus
ihnen erhebt. Dann will ich ihn davor führen und ihm erzählen, wie ich
zu dieser Pflanze kam. Also tat das Weib auch. Dann lebten sie dasselbe
Leben weiter. Der Mann, der immer daran denken mußte, daß der Tod vor
seinem Tore gestanden hatte, war anfangs etwas ängstlich, aber da er das
Weib so gastlich und sorglos sah wie immer, tat auch er bald wieder die
breiten Flügel seines Tores auf, so daß viel Leben und Licht in das Haus
hereinkam. Im nächsten Frühjahr stand mitten im Beete zwischen den
schlanken Feuerlilien ein kleiner Strauch. Er hatte schmale,
schwärzliche Blätter, etwas spitz, ähnlich denen des Lorbeers, und es
lag ein sonderbarer Glanz auf ihrer Dunkelheit. Der Mann nahm sich
täglich vor, zu fragen, woher diese Pflanze stamme. Aber er unterließ es
täglich. In einem verwandten Gefühl verschwieg auch das Weib von einem
Tag zum andern die Aufklärung. Aber die unterdrückte Frage auf der
einen, die nie gewagte Antwort auf der anderen Seite führte die beiden
Menschen oft bei diesem Strauch zusammen, der sich in seiner grünen
Dunkelheit so seltsam von dem Garten unterschied. Als das nächste
Frühjahr kam, da beschäftigten sie sich wie mit den anderen Gewächsen
auch mit dem Strauch, und sie wurden traurig, als er, umringt von lauter
steigenden Blüten, unverändert und stumm, wie im ersten Jahr, gegen alle
Sonne taub, sich erhob. Damals beschlossen sie, ohne es einander zu
verraten, gerade diesem im dritten Frühjahr ihre ganze Kraft zu widmen,
und als dieses Frühjahr erschien, erfüllten sie leise und Hand in Hand,
was sich jeder versprochen hatte. Der Garten umher verwilderte, und die
Feuerlilien schienen blasser als sonst zu sein. Aber einmal, als sie
nach einer schweren, bedeckten Nacht in den Morgengarten, den stillen,
schimmernden traten, da wußten sie: aus den schwarzen, scharfen Blättern
des fremden Strauches war unversehrt eine blasse, blaue Blüte gestiegen,
welcher die Knospenschalen schon an allen Seiten enge wurden. Und sie
standen davor vereint und schweigend, und jetzt wußten sie sich erst
recht nichts zu sagen. Denn sie dachten: nun blüht der Tod, und neigten
sich zugleich, um den Duft der jungen Blüte zu kosten. -- Seit diesem
Morgen aber ist alles anders geworden in der Welt.‹ So stand es in dem
Einband des alten Buches,« schloß ich.

»Und wer das geschrieben hat?« drängte der Mann.

»Eine Frau nach der Schrift,« antwortete ich. »Aber was hätte es
geholfen, nachzuforschen. Die Buchstaben waren sehr verblaßt und etwas
altmodisch. Wahrscheinlich war sie schon längst tot.«

Der Mann war ganz in Gedanken. Endlich bekannte er: »Nur eine
Geschichte, und doch rührt es einen so an.« »Nun, das ist, wenn man
selten Geschichten hört,« begütigte ich. »Meinen Sie?« Er reichte mir
seine Hand, und ich hielt sie fest. »Aber ich möchte sie gerne
weitersagen. Das darf man doch?« Ich nickte. Plötzlich fiel ihm ein:
»Aber ich habe niemanden. Wem sollte ich sie auch erzählen?« »Nun, das
ist einfach; den Kindern, die Ihnen manchmal zusehen kommen. Wem sonst?«

Die Kinder haben auch richtig die letzten drei Geschichten gehört.
Allerdings, die von den Abendwolken wiederholte, nur teilweise, wenn ich
gut unterrichtet bin. Die Kinder sind ja klein und darum von den
Abendwolken viel weiter als wir. Doch das ist bei dieser Geschichte ganz
gut. Trotz der langen, wohlgesetzten Rede des Hans würden sie erkennen,
daß die Sache unter Kindern spielt, und meine Erzählung kritisch als
Sachverständige betrachten. Aber es ist besser, daß sie nicht erfahren,
mit welcher Anstrengung und wie ungeschickt wir die Dinge erleben, die
ihnen so ganz mühelos und einfach geschehen.



EIN VEREIN AUS EINEM DRINGENDEN BEDÜRFNIS HERAUS


Ich erfahre erst, daß unser Ort auch eine Art Künstlerverein besitzt. Er
ist kürzlich aus einem, wie man sich leicht vorstellen kann, sehr
dringenden Bedürfnis entstanden, und es geht das Gerücht, daß er
»blüht«. Wenn Vereine gar nicht wissen, was sie anfangen sollen, dann
blühen sie; sie haben gehört, daß man dies tun muß, um ein richtiger
Verein zu sein.

Ich muß nicht sagen, daß Herr Baum Ehrenmitglied, Gründer, Fahnenvater
und alles übrige in einer Person ist und Mühe hat, die verschiedenen
Würden auseinanderzuhalten. Er sandte mir einen jungen Mann, der mich
einladen sollte, an den »Abenden« teilzunehmen. Ich dankte ihm, wie es
sich von selbst versteht, sehr höflich und fügte hinzu, daß meine ganze
Tätigkeit seit etwa fünf Jahren im Gegenteil bestehe. »Es vergeht,
stellen Sie sich vor,« erklärte ich ihm mit dem entsprechenden Ernst,
»seit dieser Zeit keine Minute, in welcher ich nicht aus irgendeinem
Verbande austrete, und doch gibt es noch immer Gesellschaften, welche
mich sozusagen enthalten.« Der junge Mann schaute erst erschreckt, dann
mit dem Ausdruck respektvollen Bedauerns auf meine Füße. Er mußte ihnen
das »Austreten« ansehen, denn er nickte verständig mit dem Kopfe. Das
gefiel mir gut, und da ich gerade fortgehen mußte, schlug ich ihm vor,
mich ein Stückchen zu begleiten. So gingen wir durch den Ort und darüber
hinaus, dem Bahnhof zu, denn ich hatte in der Umgebung zu tun. Wir
sprachen über mancherlei Dinge; ich erfuhr, daß der junge Mann Musiker
sei. Er hatte es mir bescheiden mitgeteilt, ansehen konnte man es ihm
nicht. Außer seinen zahlreichen Haaren zeichnete ihn eine große,
gleichsam springende Bereitwilligkeit aus. Auf diesem nicht allzu langen
Weg hob er mir zwei Handschuhe auf, hielt mir den Schirm, als ich etwas
in meinen Taschen suchte, machte mich errötend darauf aufmerksam, daß
mir etwas im Barte hinge, daß mir Ruß auf der Nase säße, und dabei
wurden ihm die mageren Finger lang, als sehnten sie sich danach, sich
meinem Gesichte auf diese Weise hilfreich zu nähern. In seinem Eifer
blieb der junge Mensch sogar bisweilen zurück und holte mit sichtlichem
Vergnügen die welken Blätter, die im Herabflattern hängen geblieben
waren, aus den Ästen der Sträucher. Ich sah ein, daß ich durch diese
beständigen Verzögerungen den Zug versäumen würde (der Bahnhof war noch
ziemlich weit), und entschloß mich, meinem Begleiter eine Geschichte zu
erzählen, um ihn ein wenig an meiner Seite zu halten. Ich begann ohne
weiteres: »Mir ist der Verlauf einer derartigen Gründung bekannt, welche
auf wirklicher Notwendigkeit beruhte. Sie werden sehen. Es ist nicht
sehr lange her, da fanden sich drei Maler durch Zufall in einer alten
Stadt zusammen. Die drei Maler sprachen natürlich nicht von Kunst. Es
schien wenigstens so. Sie verbrachten den Abend in der Hinterstube eines
alten Gasthauses damit, sich Reiseabenteuer und Erlebnisse verschiedener
Art mitzuteilen, ihre Geschichten wurden immer kürzer und wörtlicher,
und endlich blieben noch ein paar Witze übrig, mit denen sie beständig
hin und her warfen. Um jedem Mißverständnis vorzubeugen, muß ich
übrigens gleich sagen, daß es wirkliche Künstler waren, gewissermaßen
von der Natur beabsichtigte, keine zufälligen. Dieser öde Abend in der
Hinterstube kann nichts daran ändern; man wird ja auch gleich erfahren,
wie er weiter verlief. Es traten andere Leute, profane, in dieses
Gasthaus ein, die Maler fühlten sich gestört und brachen auf. Mit dem
Augenblick, da sie aus dem Tor traten, waren sie andere Leute. Sie
gingen in der Mitte der Gasse, einer vom anderen etwas getrennt. Auf
ihren Gesichtern waren noch die Spuren des Lachens, diese merkwürdige
Unordnung der Züge, aber die Augen waren bei allen schon ernst und
betrachtend. Plötzlich stieß der in der Mitte den Rechten an. Der
verstand ihn sofort. Da war vor ihnen eine Gasse, schmal, von feiner,
warmer Dämmerung erfüllt. Sie stieg etwas an, so daß sie perspektivisch
sehr zur Geltung kam, und hatte etwas ungemein Geheimnisvolles und doch
wieder Vertrautes. Die drei Maler ließen das einen Augenblick auf sich
wirken. Sie sprachen nichts, denn sie wußten: sagen kann man das nicht.
Sie waren ja deshalb Maler geworden, weil es manches gibt, was man nicht
sagen kann. Plötzlich erhob sich der Mond irgendwo, zeichnete den einen
Giebel silbern nach, und es stieg ein Lied aus einem Hofe auf. ›Grobe
Effekthascherei --‹ brummte der Mittlere, und sie gingen weiter. Sie
schritten jetzt etwas näher nebeneinander hin, obwohl sie immer noch die
ganze Breite der Gasse brauchten. So gerieten sie unversehens auf einen
Platz. Jetzt war es der rechts, welcher die anderen aufmerksam machte.
In dieser breiteren, freieren Szene hatte der Mond nichts Störendes, im
Gegenteil, es war geradezu notwendig, daß er vorhanden war. Er ließ den
Platz größer erscheinen, gab den Häusern ein überraschendes, lauschendes
Leben, und die beleuchtete Fläche des Pflasters wurde mitten
rücksichtslos von einem Brunnen und seinem schweren Schlagschatten
unterbrochen, eine Kühnheit, welche den Malern ausnehmend imponierte.
Sie stellten sich nahe zusammen und saugten sozusagen an den Brüsten
dieser Stimmung. Aber sie wurden unangenehm unterbrochen. Eilige,
leichte Schritte näherten sich, aus dem Dunkel des Brunnens löste sich
eine männliche Gestalt, empfing jene Schritte, und was sonst zu ihnen
gehörte, mit der üblichen Zärtlichkeit, und der schöne Platz war auf
einmal eine erbärmliche Illustration geworden, von welcher sich die drei
Maler wie _ein_ Maler abwandten. ›Da ist schon wieder dieses verdammte
novellistische Element,‹ schrie der rechts, indem er das Liebespaar am
Brunnen mit diesem korrekt technischen Ausdruck begriff. Vereint in
ihrem Groll, wanderten die Maler noch lange planlos in der Stadt herum,
immerfort Motive entdeckend, aber auch jedesmal aufs neue empört durch
die Art, mit welcher irgendein banaler Umstand die Stille und
Einfachheit jedes Bildes zunichte machte. Gegen Mitternacht saßen sie im
Gasthof in der Wohnstube des Linken, des Jüngsten, beisammen und dachten
nicht ans Schlafengehen. Die nächtliche Wanderung hatte eine Menge Pläne
und Entwürfe in ihnen wachgerufen, und da sie zugleich bewiesen hatte,
daß sie eines Geistes seien im Grunde, tauschten sie jetzt, im höchsten
Maße interessiert, ihre gegenseitigen Ansichten aus. Man kann nicht
behaupten, daß sie tadellose Sätze hervorbrachten, sie schlugen mit ein
paar Worten herum, die kein profaner Mensch begriffen hätte, aber
untereinander verständigten sie sich dadurch so gut, daß sämtliche
Zimmernachbarn bis gegen vier Uhr morgens nicht einschlafen konnten. Das
lange Beisammensitzen hatte aber einen wirklichen, sichtbaren Erfolg.
Etwas wie ein Verein wurde gebildet; das heißt, er war eigentlich schon
da im Augenblick, als die Absichten und Ziele der drei Künstler sich so
verwandt erwiesen, daß man sie nur schwer voneinander trennen konnte.
Der erste gemeinsame Beschluß des »Vereins« erfüllte sich sofort. Man
zog drei Stunden weit ins Land und mietete gemeinsam einen Bauernhof. In
der Stadt zu bleiben, hätte zunächst keinen Sinn gehabt. Erst wollte man
sich draußen den »Stil« erwerben, die gewisse persönliche Sicherheit,
den Blick, die Hand und wie alle die Dinge heißen, ohne welche ein Maler
zwar leben, aber nicht malen kann. -- Zu allen diesen Tugenden sollte
das Zusammenhalten helfen, der »Verein« eben, -- besonders aber das
Ehrenmitglied dieses Vereins: die Natur. Unter »Natur« stellen sich die
Maler alles vor, was der liebe Gott selbst gemacht hat oder doch gemacht
haben könnte, unter Umständen. Ein Zaun, ein Haus, ein Brunnen -- alle
diese Dinge sind ja meistens menschlichen Ursprungs. Aber wenn sie eine
Zeitlang in der Landschaft stehen, so daß sie gewisse Eigenschaften von
den Bäumen und Büschen und von ihrer anderen Umgebung angenommen haben,
so gehen sie gleichsam in den Besitz Gottes über und damit auch in das
Eigentum des Malers. Denn Gott und der Künstler haben dasselbe Vermögen
und dieselbe Armut je nachdem. -- Nun, an der Natur, welche um den
gemeinsamen Bauernhof sich erstreckte, glaubte Gott gewiß keinen
besonderen Reichtum zu besitzen. Es dauerte indessen nicht lang, so
belehrten ihn die Maler eines Besseren. Die Gegend war flach, das ließ
sich nicht leugnen. Aber durch die Tiefe ihrer Schatten und die Höhe
ihrer Lichter waren Abgründe und Gipfel vorhanden, zwischen denen eine
Unzahl von Mitteltönen jenen Regionen weiter Wiesen und fruchtbarer
Felder entsprach, die den materiellen Wert einer gebirgigen Gegend
ausmachen. Es waren nur wenig Bäume vorhanden und fast alle von
derselben Art, botanisch betrachtet. Durch die Gefühle indessen, welche
sie ausdrückten, durch die Sehnsucht irgendeines Astes oder die sanfte
Ehrfurcht des Stammes erschienen sie als eine große Anzahl individueller
Wesen, und manche Weide war eine Persönlichkeit, die den Malern durch
die Vielseitigkeit und Tiefe ihres Charakters Überraschung um
Überraschung bereitete. Die Begeisterung war so groß, man fühlte sich so
sehr eins in dieser Arbeit, daß es nichts bedeuten will, daß jeder der
drei Maler nach Verlauf eines halben Jahres ein eigenes Haus bezog; das
hatte gewiß rein räumliche Gründe. Aber etwas anderes wird man hier doch
erwähnen müssen. Die Maler wollten irgendwie das einjährige Bestehen
ihres Vereines, aus dem in so kurzer Zeit so viel Gutes gekommen war,
feiern, und jeder entschloß sich, zu diesem Zweck heimlich die Häuser
der anderen zu malen. An dem bestimmten Tage kamen sie, jeder mit seinen
Bildern, zusammen. Es traf sich, daß sie gerade von ihren jeweiligen
Wohnungen, deren Lage, Zweckmäßigkeit usw. sich unterhielten. Sie
ereiferten sich ziemlich stark, und es geschah, daß während des
Gesprächs jeder seiner mitgebrachten Ölskizzen vergaß und spät nachts
mit dem uneröffneten Paket zu Hause ankam. Wie das geschehen konnte, ist
schwer begreiflich. Aber sie zeigten sich auch in der nächsten Zeit ihre
Bilder nicht, und wenn der eine den andern besuchte (was infolge vieler
Arbeit immer seltener geschah), fand er auf der Staffelei des Freundes
Skizzen aus jener ersten Zeit, da sie noch gemeinsam denselben Bauernhof
bewohnten. Aber einmal entdeckte der Rechte (er wohnte jetzt auch zur
Rechten, kann also weiter so heißen) bei dem, welchen ich den Jüngsten
genannt habe, eines jener genannten, nicht verratenen Jubiläumsbilder.
Er betrachtete es eine Weile nachdenklich, trat damit ans Licht und
lachte plötzlich: ›Schau, das hab ich gar nicht gewußt, nicht ohne Glück
hast du da mein Haus aufgefaßt. Eine wahrhaft geistreiche Karikatur. Mit
diesen Übertreibungen in Form und Farbe, mit dieser kühnen Ausgestaltung
meines allerdings etwas betonten Giebels, wirklich, es liegt etwas
darin.‹ Der Jüngste machte keines seiner vorteilhaftesten Gesichter, im
Gegenteil; er ging zum Mittleren in seiner Bestürzung, um sich von ihm,
dem Besonnensten, beruhigen zu lassen, denn er war nach Vorfällen
solcher Art gleich kleinmütig und geneigt, an seiner Begabung zu
zweifeln. Er traf den Mittleren nicht zu Haus und stöberte ein wenig im
Atelier umher, wobei ihm gleich ein Bild in die Augen fiel, das ihn
merkwürdig abstieß. Es war ein Haus, aber ein richtiger Narr mußte darin
wohnen. Diese Fassade! Das konnte nur irgendeiner gebaut haben, der von
Architektur keine Idee hatte und der seine armseligen, malerischen Ideen
anwandte auf ein Gebäude. Plötzlich stellte der Jüngste das Bild fort,
als ob es ihm die Finger verbrannt hätte. An dem linken Rande desselben
hatte er das Datum jenes ersten Jubiläums gelesen und daneben: »Das Haus
unseres Jüngsten.« Er wartete natürlich den Hausherrn nicht ab, sondern
kehrte etwas verstimmt nach Hause zurück. Der Jüngste und der rechts
waren seither vorsichtig geworden. Sie suchten sich entfernte Motive und
dachten selbstverständlich nicht daran, für das Fest des zweijährigen
Bestehens ihres so förderlichen Vereins etwas vorzubereiten. Um so
eifriger arbeitete der ahnungslose Mittlere daran, ein Motiv, das der
Wohnung des Rechten zunächst lag, zu malen. Etwas Unbestimmtes hielt ihn
davon ab, dessen Haus selbst zum Vorwand seiner Arbeit zu wählen. -- Als
er dem Rechtswohnenden das fertige Bild überbrachte, verhielt sich
dieser merkwürdig zurückhaltend, schaute es nur flüchtig an und bemerkte
etwas Beiläufiges. Dann, nach einer Weile sagte er: ›Ich habe übrigens
gar nicht gewußt, daß du so weit verreist warst in der letzten Zeit.‹
›Wieso, weit? Verreist?‹ Der Mittlere begriff nicht ein Wort. ›Nun --
diese tüchtige Arbeit da,‹ erwiderte der andere, ›offenbar doch
irgendein holländisches Motiv --‹ Der besonnene Mittlere lachte laut
auf. ›Köstlich, dieses holländische Motiv befindet sich vor deiner
Türe.‹ Und er wollte sich gar nicht beruhigen. Aber der Vereinsgenosse
lachte nicht, gar nicht. Er quälte sich ein Lächeln ab und meinte: ›Ein
guter Witz.‹ ›Aber ganz und gar nicht, mach mal die Tür auf, ich will
dir gleich zeigen --‹ und der Mittlere ging selbst auf die Türe zu.
›Halt,‹ befahl der Hausherr, ›und ich erkläre dir somit, daß ich diese
Gegend nie gesehen habe und auch nie sehen werde, weil sie für mein Auge
überhaupt nicht existenzfähig ist.‹ ›Aber,‹ machte der mittlere Maler
erstaunt. ›Du bleibst dabei?‹ fuhr der Rechte gereizt fort, ›gut, ich
reise heute noch ab. Du zwingst mich fortzugehen, denn ich wünsche
nicht, in dieser Gegend zu leben. Verstanden?‹ -- Damit war die
Freundschaft zu Ende, aber nicht der Verein; denn er ist bis heute nicht
statutengemäß aufgelöst worden. Niemand hat daran gedacht, und man kann
von ihm mit vollstem Rechte sagen, daß er sich über die ganze Erde
verbreitet hat.«

»Man sieht,« unterbrach mich der bereitwillige junge Mann, der schon
beständig die Lippen spitzte, »wieder einer jener kolossalen Erfolge des
Vereinslebens; gewiß sind viele hervorragende Meister aus dieser innigen
Verbindung hervorgegangen --.« »Erlauben Sie,« bat ich, und er stäubte
mir unversehens den Ärmel ab, »das war eigentlich erst die Einleitung zu
meiner Geschichte, obwohl sie komplizierter ist als die Geschichte
selbst. Also, ich sagte, daß der Verein sich über die ganze Erde
verbreitet hatte, und dieses ist Tatsache. Seine drei Mitglieder flohen
in wahrem Entsetzen voneinander. Nirgends war ihnen Ruhe gewährt. Immer
fürchtete jeder, der andere könnte noch ein Stück seines Landes erkennen
und durch seine ruchlose Darstellung entweihen, und als sie schon an
drei entgegengesetzten Punkten der irdischen Peripherie angelangt waren,
kam jedem der trostlose Einfall, daß sein Himmel, der Himmel, den er
mühsam durch seine wachsende Eigenart erworben hatte, den anderen noch
erreichbar sei. In diesem erschütternden Augenblick begannen sie, alle
drei zugleich, mit ihren Staffeleien nach rückwärts zu gehen, und noch
fünf Schritte, und sie wären vom Rande der Erde in die Unendlichkeit
gefallen und müßten jetzt in rasender Geschwindigkeit die doppelte
Bewegung um diese und um die Sonne vollführen. Aber Gottes Teilnahme und
Aufmerksamkeit verhütete dieses grausame Schicksal. Gott erkannte die
Gefahr und trat im letzten Moment (was hätte er auch sonst tun sollen?)
heraus, in die Mitte des Himmels. Die drei Maler erschraken. Sie
stellten die Staffelei fest und setzten die Palette auf. Diese
Gelegenheit durften sie sich nicht entgehen lassen. Der liebe Gott
erscheint nicht alle Tage und auch nicht jedem. Und jeder der Maler
meinte natürlich, Gott stünde nur vor ihm. Im übrigen vertieften sie
sich immer mehr in die interessante Arbeit. Und jedesmal, wenn Gott
wieder zurück in den Himmel will, bittet der heilige Lukas ihn, noch
eine Weile draußen zu bleiben, bis die drei Maler mit ihren Bildern
fertig sind.«

»Und die Herren haben diese Bilder ohne Zweifel schon ausgestellt,
vielleicht gar verkauft?« fragte der Musiker in den sanftesten Tönen.
»Wo denken Sie hin,« wehrte ich ab. »Sie malen immer noch an Gott und
werden ihn wohl bis an ihr eigenes Ende malen. Sollten sie aber (was ich
für ausgeschlossen halte) noch einmal im Leben zusammenkommen und sich
die Bilder, die sie von Gott inzwischen gemalt haben, zeigen, wer weiß:
vielleicht würden diese Bilder sich kaum voneinander unterscheiden.«

Da war auch schon der Bahnhof. Ich hatte noch fünf Minuten Zeit. Ich
dankte dem jungen Mann für seine Begleitung und wünschte ihm alles Glück
für den jungen Verein, den er so ausgezeichnet vertrat. Er tippte mit
dem rechten Zeigefinger den Staub auf, der die Fensterbretter des
kleinen Wartesaals zu bedrücken schien, und war sehr in Gedanken. Ich
muß gestehen, ich schmeichelte mir schon, meine kleine Geschichte hätte
ihn so nachdenklich gestimmt. Als er mir zum Abschied einen roten Faden
aus dem Handschuh zog, riet ich ihm aus Dankbarkeit: »Sie können zurück
ja über die Felder gehen, dieser Weg ist bedeutend näher als die
Straße.« »Verzeihen Sie,« verneigte sich der bereitwillige junge Mann,
»ich werde doch wieder die Straße nehmen. Ich suche mich eben zu
besinnen, wo das war. Während Sie die Güte hatten, mir einiges wirklich
Bedeutende zu erzählen, glaubte ich eine Vogelscheuche im Acker zu
bemerken, in einem alten Rock, und der eine -- mir scheint der linke
Ärmel war hängen geblieben an einem Pfahl, so daß er durchaus nicht
wehte. Ich fühle nun gewissermaßen die Verpflichtung, meinen kleinen
Tribut an den gemeinsamen Interessen der Menschheit, die mir auch als
eine Art Verein erscheint, in welchem jeder etwas zu leisten hat,
dadurch zu entrichten, daß ich diesen linken Ärmel seinem eigentlichen
Sinne, nämlich: zu wehen, zurückgebe ...« Der junge Mann entfernte sich
mit dem liebenswürdigsten Lächeln. Ich aber hätte beinah meinen Zug
versäumt.

Bruchstücke dieser Geschichte wurden von dem jungen Manne an einem
»Abende« des Vereines gesungen. Weiß Gott, wer ihm die Musik dazu
erfunden hat. Herr Baum, der Fahnenvater, hat sie den Kindern
mitgebracht, und die Kinder haben sich einige Melodien daraus gemerkt.



DER BETTLER UND DAS STOLZE FRÄULEIN


Es traf sich, daß wir -- der Herr Lehrer und ich -- Zeugen wurden
folgender kleinen Begebenheit. Bei uns, am Waldrand, steht bisweilen ein
alter Bettler. Auch heute war er wieder da, ärmer, elender als je, durch
ein mitleidiges Mimikry fast ununterscheidbar von den Latten des
morschen Bretterzauns, an denen er lehnte. Aber da begab es sich, daß
ein ganz kleines Mädchen auf ihn zugelaufen kam, um ihm eine kleine
Münze zu schenken. Das war weiter nicht verwunderlich, überraschend war
nur, wie sie das tat. Sie machte einen schönen braven Knicks, reichte
dem Alten rasch, als ob es niemand merken sollte, ihre Gabe, knickste
wieder und war schon davon. Diese beiden Knickse aber waren mindestens
eines Kaisers wert. Das ärgerte den Herrn Lehrer ganz besonders. Er
wollte rasch auf den Bettler zugehen, wahrscheinlich, um ihn von seiner
Zaunlatte zu verjagen; denn wie man weiß, war er im Vorstand des
Armenvereins und gegen den Straßenbettel eingenommen. Ich hielt ihn
zurück. »Die Leute werden von uns unterstützt, ja man kann wohl sagen,
versorgt,« eiferte er. »Wenn sie auf der Straße auch noch betteln, so
ist das einfach -- Übermut.« »Verehrter Herr Lehrer« -- suchte ich ihn
zu beruhigen, aber er zog mich immer noch nach dem Waldrand hin.
»Verehrter Herr Lehrer --,« bat ich, »ich muß Ihnen eine Geschichte
erzählen.« »So dringend?« fragte er giftig. Ich nahm es ernst: »Ja, eben
jetzt. Ehe Sie vergessen, was wir da gerade zufällig beobachtet haben.«
Der Lehrer mißtraute mir seit meiner letzten Geschichte. Ich las das von
seinem Gesichte und begütigte: »Nicht vom lieben Gott, wirklich nicht.
Der liebe Gott kommt in meiner Geschichte nicht vor. Es ist etwas
Historisches.« Damit hatte ich gewonnen. Man muß nur das Wort »Historie«
sagen, und schon gehen jedem Lehrer die Ohren auf; denn die Historie ist
etwas durchaus Achtbares, Unverfängliches und oft pädagogisch
Verwendbares. Ich sah, daß der Herr Lehrer wieder seine Brille putzte,
ein Zeichen, daß seine Sehkraft sich in die Ohren geschlagen hatte, und
diesen günstigen Moment wußte ich geschickt zu benutzen. Ich begann:

»Es war in Florenz, Lorenzo de' Medici, jung, noch nicht Herrscher,
hatte gerade sein Gedicht ›Trionfo di Bacco ed Arianna‹ ersonnen, und
schon wurden alle Gärten davon laut. Damals gab es lebende Lieder. Aus
dem Dunkel des Dichters stiegen sie in die Stimmen und trieben auf
ihnen, wie auf silbernen Kähnen, furchtlos, ins Unbekannte. Der Dichter
begann ein Lied, und alle, die es sangen, vollendeten es. Im ›Trionfo‹
wird, wie in den meisten Liedern jener Zeit, das Leben gefeiert, diese
Geige mit den lichten, singenden Saiten und ihrem dunklen Hintergrund:
dem Rauschen des Blutes. Die ungleich langen Strophen steigen in eine
taumelnde Lustigkeit hinauf, aber dort, wo diese atemlos wird, setzt
jedesmal ein kurzer, einfacher Kehrreim an, der sich von der
schwindelnden Höhe niederneigt und, vor dem Abgrund bang, die Augen zu
schließen scheint. Er lautet:

    Wie schön ist die Jugend, die uns erfreut,
    Doch wer will sie halten? Sie flieht und bereut,
    Und wenn einer fröhlich sein will, der sei's heut,
    Und für morgen ist keine Gewißheit.

Ist es wunderlich, daß über die Menschen, welche dieses Gedicht sangen,
eine Hast hereinbrach, ein Bestreben, alle Festlichkeit auf dieses Heute
zu türmen, auf den einzigen Fels, auf dem zu bauen sich verlohnt? Und so
kann man sich das Gedränge der Gestalten auf den Bildern der florentiner
Maler erklären, die sich bemühten, alle ihre Fürsten und Frauen und
Freunde in einem Gemälde zu vereinen, denn man malte langsam, und wer
konnte wissen, ob zur Zeit des nächsten Bildes alle noch so jung und
bunt und einig sein würden. Am deutlichsten sprach dieser Geist der
Ungeduld sich begreiflichermaßen bei den Jünglingen aus. Die
glänzendsten von ihnen saßen nach einem Gastmahle auf der Terrasse des
Palazzo Strozzi beisammen und plauderten von den Spielen, die demnächst
vor der Kirche Santa Croce stattfinden sollten. Etwas abseits in einer
Loggia stand Palla degli Albizzi mit seinem Freunde Tomaso, dem Maler.
Sie schienen etwas in wachsender Erregung zu verhandeln, bis Tomaso
plötzlich rief: ›Das tust du nicht, ich wette, das tust du nicht!‹ Nun
wurden die anderen aufmerksam. ›Was habt ihr?‹ erkundigte sich Gaetano
Strozzi und kam mit einigen Freunden näher. Tomaso erklärte: ›Palla will
auf dem Feste vor Beatrice Altichieri, dieser Hochmütigen, niederknien
und sie bitten, sie möchte ihm gestatten, den staubigen Saum ihres
Kleides zu küssen.‹ Alle lachten, und Lionardo, aus dem Hause Ricardi,
bemerkte: ›Palla wird sich das überlegen; er weiß wohl, daß die
schönsten Frauen ein Lächeln für ihn haben, das man sonst niemals bei
ihnen sieht.‹ Und ein anderer fügte hinzu: ›Und Beatrice ist noch so
jung. Ihre Lippen sind noch zu kinderhaft hart, um zu lächeln. Darum
scheint sie so stolz.‹ ›Nein --,‹ erwiderte Palla degli Albizzi mit
übermäßiger Heftigkeit, ›sie ist stolz, daran ist nicht ihre Jugend
schuld. Sie ist stolz wie ein Stein in den Händen Michelangelos, stolz
wie eine Blume an einem Madonnenbild, stolz wie ein Sonnenstrahl, der
über Diamanten geht --‹ Gaetano Strozzi unterbrach ihn etwas streng:
›Und du, Palla, bist nicht auch du stolz? Was du da sagst, das kommt mir
vor, als wolltest du dich unter die Bettler stellen, die um die Vesper
im Hofe der Sma Annunziata warten, bis Beatrice Altichieri ihnen mit
abgewendetem Gesicht einen Soldo schenkt.‹ ›Ich will auch dieses tun!‹
rief Palla mit glänzenden Augen, drängte sich durch die Freunde nach der
Treppe durch und verschwand. Tomaso wollte ihm nach. ›Laß,‹ hielt
Strozzi ihn ab, ›er muß jetzt allein sein, da wird er am ehesten
vernünftig werden.‹ Dann zerstreuten sich die jungen Leute in die
Gärten.

Im Vorhofe der Santissima Annunziata warteten auch an diesem Abend etwa
zwanzig Bettler und Bettlerinnen auf die Vesper. Beatrice, welche sie
alle dem Namen nach kannte und bisweilen auch in ihre armen Häuser an
der Porta San Niccolò zu den Kindern und zu den Kranken kam, pflegte
jeden von ihnen im Vorübergehen mit einem kleinen Silberstück zu
beschenken. Heute schien sie sich etwas zu verspäten; die Glocken hatten
schon gerufen, und nur Fäden ihres Klanges hingen noch an den Türmen
über der Dämmerung. Es entstand eine Unruhe unter den Armen, auch weil
ein neuer unbekannter Bettler sich in das Dunkel des Kirchentors
geschlichen hatte, und eben wollten sie sich seiner erwehren in ihrem
Neid, als ein junges Mädchen in schwarzem, fast nonnenhaftem Kleide im
Vorhofe erschien und, durch ihre Güte gehemmt, von einem zum anderen
ging, während eine der begleitenden Frauen den Beutel offen hielt, aus
welchem sie ihre kleinen Gaben holte. Die Bettler stürzten in die Knie,
schluchzten und suchten ihre welken Finger eine Sekunde lang an die
Schleppe des schlichten Kleides ihrer Wohltäterin zu legen, oder sie
küßten auch den letzten Saum mit ihren nassen, stammelnden Lippen. Die
Reihe war zu Ende; es hatte auch keiner von den Beatrice wohlbekannten
Armen gefehlt. Aber da gewahrte sie unter dem Schatten des Tores noch
eine fremde Gestalt in Lumpen und erschrak. Sie geriet in Verwirrung.
Alle ihre Armen hatte sie schon als Kind gekannt, und sie zu beschenken,
war ihr etwas Selbstverständliches geworden, eine Handlung wie etwa die,
daß man die Finger in die Marmorschalen voll heiligen Wassers hält, die
an den Türen jeder Kirche stehen. Aber es war ihr nie eingefallen, daß
es auch fremde Bettler geben könnte; wie sollte man das Recht haben,
auch diese zu beschenken, da man sich das Vertrauen ihrer Armut nicht
verdient hatte durch irgendein Wissen darum? Wäre es nicht eine
unerhörte Überhebung gewesen, einem Unbekannten ein Almosen zu reichen?
Und im Widerstreit dieser dunkeln Gefühle ging das Mädchen, als ob es
ihn nicht bemerkt hätte, an dem neuen Bettler vorbei und trat rasch in
die kühle, hohe Kirche ein. Aber als drinnen die Andacht begann, konnte
sie sich keines Gebetes erinnern. Eine Angst überkam sie, daß der arme
Mann nach der Vesper nicht mehr am Tore zu finden sein würde und daß sie
nichts getan hatte, seine Not zu lindern, während die Nacht so nahe war,
darin alle Armut hilfloser und trauriger ist als am Tag. Sie machte
derjenigen von ihren Frauen, die den Beutel trug, ein Zeichen und zog
sich mit ihr nach dem Eingang zurück. Dort war es indessen leer
geworden; aber der Fremde stand immer noch, an eine Säule gelehnt, da
und schien dem Gesang zu lauschen, der seltsam fern, wie aus Himmeln,
aus der Kirche kam. Sein Gesicht war fast ganz verhüllt, wie es manchmal
bei Aussätzigen der Fall ist, die ihre häßlichen Wunden erst entblößen,
wenn man nahe vor ihnen steht und sie sicher sind, daß Mitleid und Ekel
in gleichem Maße zu ihren Gunsten reden. Beatrice zögerte. Sie hatte den
kleinen Beutel selbst in Händen und fühlte nur wenige geringe Münzen
darin. Aber mit einem raschen Entschluß trat sie auf den Bettler zu und
sagte mit unsicherer, etwas singender Stimme und ohne die flüchtenden
Blicke von den eigenen Händen zu heben: ›Nicht um Euch zu kränken, Herr
... mir ist, erkenn ich Euch recht, ich bin in Eurer Schuld. Euer Vater,
ich glaube, hat in unserem Haus das reiche Geländer gemacht, aus
getriebenem Eisen, wißt Ihr, welches die Treppe uns ziert. Später einmal
-- fand sich in der Kammer, -- darin er manchmal bei uns zu arbeiten
pflegte, -- ein Beutel -- ich denke, er hat ihn verloren -- gewiß --.‹
Aber die hilflose Lüge ihrer Lippen drückte das Mädchen vor dem Fremden
in die Kniee. Sie zwang den Beutel aus Brokat in seine vom Mantel
verhüllten Hände und stammelte: ›Verzeiht --.‹

Sie fühlte noch, daß der Bettler zitterte. Dann flüchtete Beatrice mit
der erschrockenen Begleiterin zurück in die Kirche. Aus dem eine Weile
geöffneten Tor brach ein kurzer Jubel von Stimmen. -- Die Geschichte ist
zu Ende. Messer Palla degli Albizzi blieb in seinen Lumpen. Er
verschenkte seine ganze Habe und ging barfuß und arm ins Land. Später
soll er in der Nähe von Subiaco gewohnt haben.«

»Zeiten, Zeiten,« sagte der Herr Lehrer. »Was hilft das alles; er war
auf dem Wege, ein Wüstling zu werden, und wurde durch diese Begebenheit
ein Landstreicher, ein Sonderling. Heute weiß gewiß kein Mensch mehr von
ihm.« »Doch,« -- erwiderte ich bescheiden, -- »sein Name wird bisweilen
bei den großen Litaneien in den katholischen Kirchen unter den
Fürbittern genannt; denn er ist ein Heiliger geworden.«

Die Kinder haben auch diese Geschichte vernommen, und sie behaupten, zum
Ärger des Herrn Lehrer, auch in ihr käme der liebe Gott vor. Ich bin
auch ein wenig erstaunt darüber; denn ich habe dem Herrn Lehrer doch
versprochen, ihm eine Geschichte ohne den lieben Gott zu erzählen. Aber,
freilich: die Kinder müssen es wissen!



EINE GESCHICHTE, DEM DUNKEL ERZÄHLT


Ich wollte den Mantel umnehmen und zu meinem Freunde Ewald gehen. Aber
ich hatte mich über einem Buche versäumt, einem alten Buche übrigens,
und es war Abend geworden, wie es in Rußland Frühling wird. Noch vor
einem Augenblick war die Stube bis in die fernsten Ecken klar, und nun
taten alle Dinge, als ob sie nie etwas anderes gekannt hätten als
Dämmerung; überall gingen große dunkle Blumen auf, und wie auf
Libellenflügeln glitt Glanz um ihre samtenen Kelche.

Der Lahme war gewiß nicht mehr am Fenster. Ich blieb also zu Haus. Was
hatte ich ihm doch erzählen wollen? Ich wußte es nicht mehr. Aber eine
Weile später fühlte ich, daß jemand diese verlorene Geschichte von mir
verlangte, irgendein einsamer Mensch vielleicht, der fern am Fenster
seiner finstern Stube stand, oder vielleicht dieses Dunkel selbst, das
mich und ihn und die Dinge umgab. So geschah es, daß ich dem Dunkel
erzählte. Und es neigte sich immer näher zu mir, so daß ich immer leiser
sprechen konnte, ganz, wie es zu meiner Geschichte paßt. Sie handelt
übrigens in der Gegenwart und beginnt.

Nach langer Abwesenheit kehrte Doktor Georg Laßmann in seine enge Heimat
zurück. Er hatte nie viel dort besessen, und jetzt lebten ihm nur mehr
zwei Schwestern in der Vaterstadt, beide verheiratet, wie es schien, gut
verheiratet; diese nach zwölf Jahren wiederzusehen, war der Grund seines
Besuchs. So glaubte er selbst. Aber nachts, während er im überfüllten
Zuge nicht schlafen konnte, wurde ihm klar, daß er eigentlich um seiner
Kindheit willen kam, und hoffte, in den alten Gassen irgend etwas wieder
zu finden: ein Tor, einen Turm, einen Brunnen, irgendeinen Anlaß zu
einer Freude oder zu einer Traurigkeit, an welcher er sich wieder
erkennen konnte. Man verliert sich ja so im Leben. Und da fiel ihm
verschiedenes ein: die kleine Wohnung in der Heinrichsgasse mit den
glänzenden Türklinken und den dunkelgestrichenen Dielen, die geschonten
Möbel und seine Eltern, diese beiden abgenützten Menschen, fast
ehrfürchtig neben ihnen; die schnellen gehetzten Wochentage und die
Sonntage, die wie ausgeräumte Säle waren, die seltenen Besuche, die man
lachend und in Verlegenheit empfing, das verstimmte Klavier, der alte
Kanarienvogel, der ererbte Lehnstuhl, auf dem man nicht sitzen durfte,
ein Namenstag, ein Onkel, der aus Hamburg kommt, ein Puppentheater, ein
Leierkasten, eine Kindergesellschaft, und jemand ruft: ›Klara‹. Der
Doktor wäre fast eingeschlafen. Man steht in einer Station, Lichter
laufen vorüber, und der Hammer geht horchend durch die klingenden Räder.
Und das ist wie: Klara, Klara. Klara, überlegt der Doktor, jetzt ganz
wach, wer war das doch? Und gleich darauf fühlt er ein Gesicht, ein
Kindergesicht mit blondem, glattem Haar. Nicht daß er es schildern
könnte, aber er hat die Empfindung von etwas Stillem, Hilflosem,
Ergebenem, von ein paar schmalen Kinderschultern, durch ein verwaschenes
Kleidchen noch mehr zusammengepreßt, und er dichtet dazu ein Gesicht --
aber da weiß er auch schon, er muß es nicht dichten. Es ist da -- oder
vielmehr es war da -- damals. So erinnert sich Doktor Laßmann an seine
einzige Gespielin Klara, nicht ohne Mühe. Bis zur Zeit, da er in eine
Erziehungsanstalt kam, etwa zehn Jahre alt, hat er alles mit ihr
geteilt, was ihm begegnete, das Wenige (oder das Viele?). Klara hatte
keine Geschwister, und er hatte so gut wie keine; denn seine älteren
Schwestern kümmerten sich nicht um ihn. Aber seither hat er niemanden je
nach ihr gefragt. Wie war das doch möglich? Er lehnte sich zurück. Sie
war ein frommes Kind, erinnerte er sich noch, und dann fragte er sich:
Was mag aus ihr geworden sein? Eine Zeitlang ängstigte ihn der Gedanke,
sie könnte gestorben sein. Eine unermeßliche Bangigkeit überfiel ihn in
dem engen gedrängten Coupé; alles schien diese Annahme zu bestätigen:
sie war ein kränkliches Kind, sie hatte es zu Hause nicht besonders gut,
sie weinte oft; unzweifelhaft: sie ist tot. Der Doktor ertrug es nicht
länger; er störte einzelne Schlafende und schob sich zwischen ihnen
durch in den Gang des Waggons. Dort öffnete er ein Fenster und schaute
hinaus in das Schwarz mit den tanzenden Funken. Das beruhigte ihn. Und
als er später in das Coupé zurückkehrte, schlief er trotz der unbequemen
Lage bald ein.

Das Wiedersehen mit den beiden verheirateten Schwestern verlief nicht
ohne Verlegenheiten. Die drei Menschen hatten vergessen, wie weit sie
einander, trotz ihrer engen Verwandtschaft, doch immer geblieben waren,
und versuchten eine Weile, sich wie Geschwister zu benehmen. Indessen
kamen sie bald stillschweigend überein, zu dem höflichen Mittelton ihre
Zuflucht zu nehmen, den der gesellschaftliche Verkehr für alle Fälle
geschaffen hat.

Er war bei der jüngeren Schwester, deren Mann in besonders günstigen
Verhältnissen war, Fabrikant mit dem Titel kaiserlicher Rat; und es war
nach dem vierten Gange des Diners, als der Doktor fragte: ›Sag mal,
Sophie, was ist denn aus Klara geworden?‹ ›Welcher Klara?‹ ›Ich kann
mich ihres Familiennamens nicht erinnern. Der kleinen, weißt du, der
Nachbarstochter, mit der ich als Kind gespielt habe?‹ ›Ach, Klara
Söllner meinst du?‹ ›Söllner, richtig, Söllner. Jetzt fällt mir erst
ein: der alte Söllner, das war ja dieser gräßliche Alte -- -- aber was
ist mit Klara?‹ Die Schwester zögerte: ›Sie hat geheiratet -- übrigens
lebt sie jetzt ganz zurückgezogen.‹ ›Ja,‹ machte der Herr Rat, und sein
Messer glitt kreischend über den Teller, ›ganz zurückgezogen.‹ ›Du
kennst sie auch?‹ wandte sich der Doktor an seinen Schwager. ›Ja-a-a --
so flüchtig; sie ist ja hier ziemlich bekannt.‹ Die beiden Gatten
wechselten einen Blick des Einverständnisses. Der Doktor merkte, daß es
ihnen aus irgendeinem Grunde unangenehm war, über diese Angelegenheit zu
reden, und fragte nicht weiter.

Um so mehr Lust zu diesem Thema bewies der Herr Rat, als die Hausfrau
die Herren beim schwarzen Kaffee zurückgelassen hatte. ›Diese Klara,‹
fragte er mit listigem Lächeln und betrachtete die Asche, die von seiner
Zigarre in den silbernen Becher fiel, ›sie soll doch ein stilles und
überdies häßliches Kind gewesen sein?‹ Der Doktor schwieg. Der Herr Rat
rückte vertraulich näher: ›Das war eine Geschichte! -- Hast du nie davon
gehört?‹ ›Aber ich habe ja mit niemandem gesprochen.‹ ›Was, gesprochen,‹
lächelte der Rat fein, ›man hat es ja in den Zeitungen lesen können.‹
›Was?‹ fragte der Doktor nervös.

›Also, sie ist ihm durchgegangen‹ -- hinter einer Wolke Rauches her
schickte der Fabrikant diesen überraschenden Satz und wartete in
unendlichem Behagen die Wirkung desselben ab. Aber diese schien ihm
nicht zu gefallen. Er nahm eine geschäftliche Miene an, setzte sich
gerade und begann in anderem berichtenden Ton, gleichsam gekränkt. ›Hm.
Man hatte sie verheiratet an den Baurat Lehr. Du wirst ihn nicht mehr
gekannt haben. Kein alter Mann, in meinem Alter. Reich, durchaus
anständig, weißt du, durchaus anständig. Sie hatte keinen Groschen und
war obendrein nicht schön, ohne Erziehung usw. Aber der Baurat wünschte
ja auch keine große Dame, eine bescheidene Hausfrau. Aber die Klara --
sie wurde überall in der Gesellschaft aufgenommen, man brachte ihr
allgemein Wohlwollen entgegen, -- wirklich -- man benahm sich -- also
sie hätte sich eine Position schaffen können mit Leichtigkeit, weißt du
-- aber die Klara, eines Tages -- kaum zwei Jahre nach der Hochzeit:
fort ist sie. Kannst du dir denken: fort. Wohin? Nach Italien. Eine
kleine Vergnügungsreise, natürlich nicht allein. Wir haben sie schon im
ganzen letzten Jahr nicht eingeladen gehabt, -- als ob wir geahnt
hätten! Der Baurat, mein guter Freund, ein Ehrenmann, ein Mann --‹

›Und Klara?‹ unterbrach ihn der Doktor und erhob sich. ›Ach so -- ja, na
die Strafe des Himmels hat sie erreicht. Also der Betreffende -- man
sagt ein Künstler, weißt du -- ein leichter Vogel, natürlich nur so --
Also wie sie aus Italien zurück waren, in München: adieu und ward nicht
mehr gesehen. Jetzt sitzt sie mit ihrem Kind!‹

Doktor Laßmann ging erregt auf und nieder: ›In München?‹ ›Ja, in
München,‹ antwortete der Rat und erhob sich gleichfalls. ›Es soll ihr
übrigens recht elend gehen --‹ ›Was heißt elend --?‹ ›Nun,‹ der Rat
betrachtete seine Zigarre, ›pekuniär und dann überhaupt -- Gott -- so
eine Existenz -- -- --‹ Plötzlich legte er seine gepflegte Hand dem
Schwager auf die Schulter, seine Stimme gluckste vor Vergnügen: ›Weißt
du, übrigens erzählte man sich, sie lebe von --‹ Der Doktor drehte sich
kurz um und ging aus der Tür. Der Herr Rat, dem die Hand von der
Schulter des Schwagers gefallen war, brauchte zehn Minuten, um sich von
seinem Staunen zu erholen. Dann ging er zu seiner Frau hinein und sagte
ärgerlich: ›Ich hab es immer gesagt, dein Bruder ist ein Sonderling.‹
Und diese, die eben eingenickt war, gähnte träge: ›Ach Gott ja.‹

Vierzehn Tage später reiste der Doktor ab. Er wußte mit einemmal, daß er
seine Kindheit anderswo suchen müsse. In München fand er im Adreßbuch:
Klara Söllner, Schwabing, Straße und Nummer. Er meldete sich an und fuhr
hinaus. Eine schlanke Frau begrüßte ihn in einer Stube voll Licht und
Güte.

›Georg, und Sie erinnern sich meiner?‹

Der Doktor staunte. Endlich sagte er: ›Also das sind Sie, Klara,‹ sie
hielt ihr stilles Gesicht mit der reinen Stirn ganz ruhig, als wollte
sie ihm Zeit geben, sie zu erkennen. Das dauerte lange. Schließlich
schien der Doktor etwas gefunden zu haben, was ihm bewies, daß seine
alte Spielgefährtin wirklich vor ihm stünde. Er suchte noch einmal ihre
Hand und drückte sie; dann ließ er sie langsam los und schaute in der
Stube umher. Diese schien nichts Überflüssiges zu enthalten. Am Fenster
ein Schreibtisch mit Schriften und Büchern, an welchem Klara eben mußte
gesessen haben. Der Stuhl war noch zurückgeschoben. ›Sie haben
geschrieben?‹ ... und der Doktor fühlte, wie dumm diese Frage war. Aber
Klara antwortete unbefangen: ›Ja, ich übersetze.‹ ›Für den Druck?‹ ›Ja,‹
sagte Klara einfach, ›für einen Verlag.‹ Georg bemerkte an den Wänden
einige italienische Photographien. Darunter das »Konzert« des Giorgione.
›Sie lieben das?‹ Er trat nahe an das Bild heran. ›Und Sie?‹ ›Ich habe
das Original nie gesehen; es ist in Florenz, nicht wahr?‹ ›Im Pitti. Sie
müssen hinreisen.‹ ›Zu diesem Zweck?‹ ›Zu diesem Zweck.‹ Eine freie und
einfache Heiterkeit war über ihr. Der Doktor sah nachdenklich auf.

›Was haben Sie, Georg. Wollen Sie sich nicht setzen?‹ ›Ich bin traurig,‹
zögerte er. ›Ich habe gedacht -- aber Sie sind ja gar nicht elend --‹
fuhr es plötzlich heraus. Klara lächelte: ›Sie haben meine Geschichte
gehört?‹ ›Ja, das heißt --‹ ›O,‹ unterbrach ihn Klara schnell, als sie
merkte, daß seine Stirn sich verdunkelte, ›es ist nicht die Schuld der
Menschen, daß sie anders davon reden. Die Dinge, die wir erleben, lassen
sich oft nicht ausdrücken, und wer sie dennoch erzählt, muß notwendig
Fehler begehen --.‹ Pause. Und der Doktor: ›Was hat Sie so gütig
gemacht?‹ ›Alles,‹ sagte sie leise und warm. ›Aber warum sagen Sie:
gütig?‹ ›Weil -- weil Sie eigentlich hätten hart werden müssen. Sie
waren ein so schwaches, hilfloses Kind; solche Kinder werden später
entweder hart oder --‹ ›Oder sie sterben -- wollen Sie sagen. Nun, ich
bin auch gestorben. O, ich bin viele Jahre gestorben. Seit ich Sie zum
letztenmal gesehen habe, zu Haus, bis --‹ Sie langte etwas vom Tische
her: ›Sehen Sie, das ist sein Bild. Es ist etwas geschmeichelt. Sein
Gesicht ist nicht so klar, aber -- lieber, einfacher. Ich werde Ihnen
dann gleich unser Kind zeigen, es schläft jetzt nebenan. Es ist ein Bub.
Heißt Angelo, wie er. Er ist jetzt fort, auf Reisen, weit.‹

›Und Sie sind ganz allein?‹ fragte der Doktor zerstreut, immer noch über
dem Bilde.

›Ja, ich und das Kind. Ist das nicht genug? Ich will Ihnen erzählen, wie
das kommt. Angelo ist Maler. Sein Name ist wenig bekannt, Sie werden ihn
nie gehört haben. Bis in die letzte Zeit hat er gerungen mit der Welt,
mit seinen Plänen, mit sich und mit mir. Ja, auch mit mir; denn ich bat
ihn seit einem Jahr: du mußt reisen. Ich fühlte, wie sehr ihm das not
tat. Einmal sagte er scherzend: ›Mich oder ein Kind?‹ ›Ein Kind,‹ sagte
ich, und dann reiste er.‹

›Und wann wird er zurückkehren?‹

›Bis das Kind seinen Namen sagen kann, so ist es abgemacht.‹ Der Doktor
wollte etwas bemerken. Aber Klara lachte: ›Und da es ein schwerer Name
ist, wird es noch eine Weile dauern. Angelino wird im Sommer erst zwei
Jahre.‹

›Seltsam,‹ sagte der Doktor. ›Was, Georg?‹ ›Wie gut Sie das Leben
verstehen. Wie groß Sie geworden sind, wie jung. Wo haben Sie Ihre
Kindheit hingetan? -- wir waren doch beide so -- so hilflose Kinder. Das
läßt sich doch nicht ändern oder ungeschehen machen.‹ ›Sie meinen also,
wir hätten an unserer Kindheit leiden müssen, von Rechts wegen?‹ ›Ja,
gerade das meine ich. An diesem schweren Dunkel hinter uns, zu dem wir
so schwache, so ungewisse Beziehungen behalten. Da ist eine Zeit: wir
haben unsere Erstlinge hineingelegt, allen Anfang, alles Vertrauen, die
Keime zu alledem, was vielleicht einmal werden sollte. Und plötzlich
wissen wir: Alles das ist versunken in einem Meer, und wir wissen nicht
einmal genau wann. Wir haben es gar nicht bemerkt. Als ob jemand sein
ganzes Geld zusammensuchte, sich dafür eine Feder kaufte und sie auf den
Hut steckte, hui: der nächste Wind wird sie mitnehmen. Natürlich kommt
er zu Hause ohne Feder an, und ihm bleibt nichts übrig, als
nachzudenken, wann sie wohl könnte davongeflogen sein.‹

›Sie denken daran, Georg?‹

›Schon nicht mehr. Ich habe es aufgegeben. Ich beginne irgendwo hinter
meinem zehnten Jahr, dort, wo ich aufgehört habe zu beten. Das andere
gehört nicht mir.‹

›Und wie kommt es dann, daß Sie sich an mich erinnert haben?‹

›Darum komme ich ja zu Ihnen. Sie sind der einzige Zeuge jener Zeit. Ich
glaubte, ich könnte in Ihnen wiederfinden, -- was ich in mir nicht
finden kann. Irgendeine Bewegung, ein Wort, einen Namen, an dem etwas
hängt -- eine Aufklärung --‹ Der Doktor senkte den Kopf in seine kalten,
unruhigen Hände.

Frau Klara dachte nach: ›Ich erinnere mich an so weniges aus meiner
Kindheit, als wären tausend Leben dazwischen. Aber jetzt, wie Sie mich
so daran mahnen, fällt mir etwas ein. Ein Abend. Sie kamen zu uns,
unerwartet; Ihre Eltern waren ausgegangen, ins Theater oder so. Bei uns
war alles hell. Mein Vater erwartete einen Gast, einen Verwandten, einen
entfernten reichen Verwandten, wenn ich mich recht entsinne. Er sollte
kommen aus, aus -- ich weiß nicht woher, jedenfalls von weit. Bei uns
wartete man schon seit zwei Stunden auf ihn. Die Türen waren offen, die
Lampen brannten, die Mutter ging von Zeit zu Zeit und glättete eine
Schutzdecke auf dem Sofa, der Vater stand am Fenster. Niemand wagte sich
zu setzen, um keinen Stuhl zu verrücken. Da Sie gerade kamen, warteten
Sie mit uns. Wir Kinder horchten an der Tür. Und je später es wurde,
einen desto wunderbarern Gast erwarteten wir. Ja, wir zitterten sogar,
er könnte kommen, ehe er jenen letzten Grad von Herrlichkeit erreicht
haben würde, dem er mit jeder Minute seines Ausbleibens näher kam. Wir
fürchteten nicht, er könnte überhaupt nicht erscheinen; wir wußten
bestimmt: er kommt, aber wir wollten ihm Zeit lassen, groß und mächtig
zu werden.‹

Plötzlich hob der Doktor den Kopf und sagte traurig: ›Das also wissen
wir beide, daß er nicht kam --. Ich habe es auch nicht vergessen
gehabt.‹ ›Nein,‹ -- bestätigte Klara, ›er kam nicht --.‹ Und nach einer
Pause: ›Aber es war doch schön!‹ ›Was?‹ ›Nun so -- das Warten, die
vielen Lampen, -- die Stille -- das Feiertägliche.‹

Etwas rührte sich im Nebenzimmer. Frau Klara entschuldigte sich für
einen Augenblick; und als sie hell und heiter zurückkam, sagte sie: ›Wir
können dann hineingehen. Er ist jetzt wach und lächelt. -- Aber was
wollten Sie eben sagen?‹

›Ich habe mir eben überlegt, was Ihnen könnte geholfen haben zu -- zu
sich selbst, zu diesem ruhigen Sichbesitzen. Das Leben hat es Ihnen doch
nicht leicht gemacht. Offenbar half Ihnen etwas, was mir fehlt?‹ ›Was
sollte das sein, Georg?‹ Klara setzte sich neben ihn.

›Es ist seltsam; als ich mich zum erstenmal wieder Ihrer erinnerte, vor
drei Wochen nachts, auf der Reise, da fiel mir ein: sie war ein frommes
Kind. Und jetzt, seit ich Sie gesehen habe, trotzdem Sie so ganz anders
sind, als ich erwartete -- trotzdem, ich möchte fast sagen, nur noch
desto sicherer, empfinde ich, was Sie geführt hat, mitten durch alle
Gefahren, war Ihre -- Ihre Frömmigkeit.‹

›Was nennen Sie Frömmigkeit?‹

›Nun, Ihr Verhältnis zu Gott, Ihre Liebe zu ihm, Ihr Glauben.‹

Frau Klara schloß die Augen: ›Liebe zu Gott? Lassen Sie mich
nachdenken.‹ Der Doktor betrachtete sie gespannt. Sie schien ihre
Gedanken langsam auszusprechen, so wie sie ihr kamen: ›Als Kind -- hab
ich da Gott geliebt? Ich glaube nicht. Ja, ich habe nicht einmal -- es
hätte mir wie eine wahnsinnige Überhebung -- das ist nicht das richtige
Wort -- wie die größte Sünde geschienen, zu denken: Er ist. Als ob ich
ihn damit gezwungen hätte, in mir, in diesem schwachen Kind, mit den
lächerlich langen Armen, zu sein, in unserer armen Wohnung, in der alles
unecht und lügnerisch war, von den Bronze-Wandtellern aus Papiermaché
bis zum Wein in den Flaschen, die so teure Etiketten trugen. Und
später --‹ Frau Klara machte eine abwehrende Bewegung mit den Händen,
und ihre Augen schlossen sich fester, als fürchteten sie, durch die
Lider etwas Furchtbares zu sehen -- ›ich hätte ihn ja hinausdrängen
müssen aus mir, wenn er in mir gewohnt hätte damals. Aber ich wußte
nichts von ihm. Ich hatte ihn ganz vergessen. Ich hatte alles vergessen.
-- Erst in Florenz: Als ich zum erstenmal in meinem Leben sah, hörte,
fühlte, erkannte und zugleich danken lernte für alles das, da dachte ich
wieder an ihn. Überall waren Spuren von ihm. In allen Bildern fand ich
Reste von seinem Lächeln, die Glocken lebten noch von seiner Stimme, und
an den Statuen erkannte ich Abdrücke seiner Hände.‹

›Und da fanden Sie ihn?‹

Klara schaute den Doktor mit großen, glücklichen Augen an: ›Ich fühlte,
daß er war, irgendwann einmal war ... warum hätte ich mehr empfinden
sollen? Das war ja schon Überfluß.‹

Der Doktor stand auf und ging ans Fenster. Man sah ein Stück Feld und
die kleine, alte Schwabinger Kirche, darüber Himmel, nicht mehr ganz
ohne Abend. Plötzlich fragte Doktor Laßmann, ohne sich umzuwenden: ›Und
jetzt?‹ Als keine Antwort kam, kehrte er leise zurück.

›Jetzt --,‹ zögerte Klara, als er gerade vor ihr stand, und hob die
Augen voll zu ihm auf: ›jetzt denke ich manchmal: Er wird sein.‹

Der Doktor nahm ihre Hand und behielt sie einen Augenblick. Er schaute
so ins Unbestimmte.

›Woran denken Sie, Georg?‹

›Ich denke, daß das wieder wie an jenem Abend ist: Sie warten wieder auf
den Wunderbaren, auf Gott, und wissen, daß er kommen wird -- Und ich
komme zufällig dazu --.‹

Frau Klara erhob sich leicht und heiter. Sie sah sehr jung aus. ›Nun,
diesmal wollen wirs aber auch abwarten.‹ Sie sagte das so froh und
einfach, daß der Doktor lächeln mußte. So führte sie ihn in das andere
Zimmer, zu ihrem Kind. --

In dieser Geschichte ist nichts, was Kinder nicht wissen dürfen.
Indessen, die Kinder haben sie nicht erfahren. Ich habe sie nur dem
Dunkel erzählt, sonst niemandem. Und die Kinder haben Angst vor dem
Dunkel, laufen ihm davon, und müssen sie einmal drinnen bleiben, so
pressen sie die Augen zusammen und halten sich die Ohren zu. Aber auch
für sie wird einmal die Zeit kommen, da sie das Dunkel liebhaben. Sie
werden von ihm meine Geschichte empfangen, und dann werden sie sie auch
besser verstehen.



INHALT


  ALS EINLEITUNG

  Das Märchen von den Händen Gottes                           1

  GESCHICHTEN VOM LIEBEN GOTT

  Der fremde Mann                                            19

  Warum der liebe Gott will, daß es arme Leute gibt          29

  Wie der Verrat nach Rußland kam                            41

  Wie der alte Timofei singend starb                         55

  Das Lied von der Gerechtigkeit                             69

  Eine Szene aus dem Ghetto von Venedig                      89

  Von einem, der die Steine belauscht                       103

  Wie der Fingerhut dazu kam, der liebe Gott zu sein        111

  Ein Märchen vom Tod und eine fremde Nachschrift dazu      123

  Ein Verein aus einem dringenden Bedürfnis heraus          139

  Der Bettler und das stolze Fräulein                       159

  Eine Geschichte, dem Dunkel erzählt                       171



  Druck von Bernhard
  Tauchnitz in Leipzig



IM INSEL-VERLAG · LEIPZIG

DICHTUNGEN VON RAINER MARIA RILKE


DAS STUNDENBUCH. (Vom mönchischen Leben; Von der Pilgerschaft; Von der
Armut und vom Tode.) 30.-39. Tausend.

ERSTE GEDICHTE. 10.-13. Tausend.

DIE FRÜHEN GEDICHTE. 11.-14. Tausend.

NEUE GEDICHTE (1905 bis 1907). 10.-14. Tausend.

DER NEUEN GEDICHTE ANDERER TEIL. 9. bis 13. Tausend.

DAS BUCH DER BILDER. 16.-19. Tausend.

REQUIEM. (Für eine Freundin. Für Wolf Graf von Kalckreuth.) Fünfte
Auflage.

DAS MARIENLEBEN. 31.-40. Tausend. (Insel-Bücherei Nr. 43.)

DIE WEISE VON LIEBE UND TOD DES CORNETS CHRISTOPH RILKE. 201.-230.
Tausend. (Insel-Bücherei Nr. 1.)

DIE AUFZEICHNUNGEN DES MALTE LAURIDS BRIGGE. Roman. Zwei Bände. 13.-17.
Tausend.

AUGUSTE RODIN. Mit 96 Vollbildern nach Skulpturen und Handzeichnungen
Rodins. 31.-35. Tausend.

                   *       *       *       *       *

Von Rilke wurden übertragen:

ELIZABETH BARRETT-BROWNING: SONETTE AUS DEM PORTUGIESISCHEN.
(Insel-Bücherei Nr. 252.)

DIE LIEBE DER MAGDALENA. Ein französischer Sermon, gezogen durch den
Abbé Joseph Bonnet aus dem Manuskript Q I 14 der Kaiserlichen Bibliothek
zu St. Petersburg. Dritte Auflage.

DIE VIERUNDZWANZIG SONETTE DER LOUÏZE LABÉ. Lyoneserin 1555.
(Insel-Bücherei Nr. 222.) 11.-20. Tausend.

PORTUGIESISCHE BRIEFE. (Die Briefe der Marianne Alcoforado.) 21.-25.
Tausend. (Insel-Bücherei Nr. 74.)

ANDRÉ GIDE. Die Rückkehr des verlorenen Sohnes. 16.-20. Tausend.
(Insel-Bücherei Nr. 143.)



  [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
    jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
    steht.

  Rechte auf die Linke los: Du hast ihn losgelassen!‹ ›Bitte,‹ sagte die
  Rechte auf die Linke los: ›Du hast ihn losgelassen!‹ ›Bitte,‹ sagte die

  Jegoruschka, mein Täubchen, ich habe dich schon viele Lieder singen
  ›Jegoruschka, mein Täubchen, ich habe dich schon viele Lieder singen

  wofür der Name mir fehlt Und alle diese Dinge lagen in den seichten
  wofür der Name mir fehlt. Und alle diese Dinge lagen in den seichten

  Plötzlich hob der Doktor den Kopf und sagte traurig: Das also wissen
  Plötzlich hob der Doktor den Kopf und sagte traurig: ›Das also wissen

  ]





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