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Title: Der Dichter in Dollarica
Author: Wolzogen, Ernst von
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Der Dichter in Dollarica" ***


                         Der Dichter in Dollarica



              Verlag von F. Fontane & Co., Berlin-Grunewald

                            _Es erschien von_

                           *Ernst von Wolzogen*

                                 _Romane_

                        Ecce ego – Erst komme ich
                Die Großherzogin a. D. | Die Entgleisten
                          Der Erzketzer. 2 Bde.

                                _Novellen_

     Was Onkel Oskar mit seiner Schwiegermutter in Amerika passierte
          Die rote Franz | Fahnenflucht | Seltsame Geschichten
  Der Topf der Danaiden und andere Geschichten aus der deutschen Bohême
           Da werden Weiber zu Hyänen | Heiteres und Weiteres
                     Erlebtes Erlauschtes Erlogenes
          Das gute Krokodil und andere Geschichten aus Italien
                   Geschichten von lieben süßen Mädeln

                                 _Verse_

Verse zu meinem Leben (Selbstbiographie mit einer Heliogravüre Wolzogens)

                                _Theater_

                    Der unverstandene Mann (Komödie)
            Daniela Weert (Schauspiel) | Unjamwewe (Komödie)
                      Lumpengesindel (Tragikomödie)
                              Die Maibraut
                   (Ein Weihespiel in drei Handlungen)

                              _Essays_ usw.

Des Schlesischen Ritters Hans von Schweinichen eigene Lebensbeschreibung
                (Neu herausgegeben von _E. von Wolzogen_)
    Augurenbriefe. Bd. I. | Ansichten und Aussichten (Ein Erntebuch)
                      Linksum kehrt schwenkt – Trab!

                       _Eheliches Andichtbüchlein_

     Herausgegeben von _Ernst Ludwig_ und _Elsa Laura von Wolzogen_
                       Buchschmuck von _J. Martini_



                                  *Der*
                         *Dichter in Dollarica*

                    Blumen-, Frucht- und Dornenstücke
             aus dem Märchenlande der unbedingten Gegenwart

                                   von

                            Ernst von Wolzogen


Zweite Auflage


Berlin 1912, F. Fontane & Co.



      Auf Grund des U.-G. vom 19. Mai 1909 gegen Nachdruck geschützt

Die erste und zweite Auflage dieses Buches ist in 2220 Exemplaren gedruckt
                  und wurde im Jahre 1912 herausgegeben.



                                Altenburg
                       Pierersche Hofbuchdruckerei
                           Stephan Geibel & Co.



                    The Germanistic Society of America


    to whom I am deeply indebted for the opportunity of seeing
    America, may kindly accept this document of how I saw America as a
    token of my sincere gratitude, and may humour it as genially as it
    was conceived.



                            ZUR VERSTÄNDIGUNG.


Ich gehöre zu den Menschen, denen das vorwitzige Aburteilen und nichtige
Klugschwätzen eilfertiger Reisender über fremde Länder, Völker,
Einrichtungen und Sitten durchaus zuwider ist. Wenn ich mich nun
gleichwohl verleiten ließ, nach einem Aufenthalt von nur drei Monaten,
dennoch meine Reiseeindrücke aus den Vereinigten Staaten zu Papier zu
bringen und sogar in Buchform herauszugeben, so muß ich wohl meinem
Unterfangen selber einen Passierschein schreiben, damit ernsthafte Leute
ihm nicht von vornherein den Zutritt in den Bereich ihrer Aufmerksamkeit
verweigern.

Ich wurde als Gast der _Germanistic Society of America_ zu einer Reihe von
Vorlesungen und Vorträgen an neunzehn Universitäten und Colleges, sowie in
zahlreichen deutschen Vereinen eingeladen und hielt mich von Anfang
November 1910 bis Mitte Februar 1911 in den östlichen, nördlichen und
mittelwestlichen Staaten auf. Die oft gerühmte großartige und herzliche
Gastfreundschaft nicht nur meiner deutschen Landsleute, sondern auch der
für deutsche Kultur und insonderheit deutsche Dichtung interessierten
akademischen Kreise des Landes, sorgte in überaus umsichtiger Weise dafür,
daß wir – denn meine reizendere Hälfte begleitete mich samt ihrer
tatbereiten Laute – in all den zahlreichen großen und kleinen Städten, die
wir berührten, möglichst viel und möglichst Eigenartiges und Bedeutsames
von dem wunderreichen Lande zu sehen bekamen. Nun ist man ja im
allgemeinen, und zwar mit gutem Recht, geneigt, die programmäßigen
Vorführungen, die liebenswürdige Komitees hastig vorbei sausenden
Ehrengästen zuliebe von den Sitten und Gebräuchen der Einwohner
veranstalten, nicht gerade für die sichersten Quellen ernsthafter
Belehrung zu halten und sich vergnüglich ins Fäustchen zu lachen, wenn der
also Gefeierte hinterher dankbaren und kindlichen Gemüts all dies
freundliche Geflunker für bare Münze nimmt und daraufhin mit wichtiger
Kennermiene seinen begeisterten Bericht erstattet. Selbstverständlich
wurde ich wie jeder andere prominente Reisende schon bei der Einfahrt in
den Hafen von New York von den das Schiff enternden Reportern gefragt, wie
mir Amerika gefiele; selbstverständlich begleitete mich diese
unvermeidliche Frage von Station zu Station, und selbstverständlich
machten die Herren Reporter, je nach ihrem Witz und ihrer stilistischen
Begabung, aus meinen verlegenen, dürftigen Antworten in ihren Interviews,
was ihnen gut dünkte. Ich wurde auch gleich in den ersten Tagen nach
meiner Ankunft gefragt, ob ich gedächte, ein Buch über Amerika zu
schreiben, und habe diese Zumutung damals mit ehrlichem Erschrecken weit
von mir gewiesen. So lange ich unter dem verwirrenden Eindruck der täglich
und stündlich in buntester Abwechslung am Auge vorüberhastenden, einander
überstürzenden Erlebnisse und Begegnungen stand, erschien es mir auch
wirklich ein unmögliches Unterfangen, diese Eindrücke auch nur
beschreibend zu einem deutlichen Bilde zu gestalten, viel weniger darüber
ein Urteil von einigem Wert zu formulieren. Daß ich nicht völlig die Tinte
würde halten können, daß vielmehr unfehlbar aus meinen Betrachtungen durch
das Fenster des Expreßzuges ein paar Feuilletons herausspringen würden,
lag ja freilich bei meiner berufsmäßigen Zugehörigkeit zur Schreiberzunft
nahe; aber den Mut und die Lust zu einer erschöpfenden Bearbeitung meiner
Reisebeute gewann ich doch erst allmählich in der stillen Beschaulichkeit
meines fruchtbaren Darmstädter Poetenwinkels. Ich schrieb erst einmal
kunterbunt alles zusammen, was mein Gedächtnis und meine Notizen mir von
Gehörtem und Geschautem bewahrten, und was mir schon drüben weiteren
Nachdenkens wert erschienen war. Und dann schleppte ich mir einen Stoß
guter Bücher über die Vereinigten Staaten zusammen, verglich die darin
niedergelegten Anschauungen eingeborener und ausländischer Kenner des
Landes und bewährter Beobachter mit den Eindrücken, die ich selbst
empfangen, und erst nach Beendigung dieser klärenden Vorarbeit begann ich
mich für berechtigt zu halten, dem großen Publikum, das bei einer
gerechten Beurteilung der neuen Welt interessiert ist, meine Meinung
aufzutischen.

Es versteht sich wohl von selbst, daß ich mir trotz dieser gewissenhaften
Vorbereitung durchaus nicht einbilde, mein Urteil könnte neben dem
eingeborener gründlicher Kenner des Landes oder ernsthafter
wissenschaftlicher Forscher ausschlaggebend in Betracht kommen; darum habe
ich schon im Titel meines Buches den Nachdruck auf den _Dichter_ gelegt.
Ein Dichter ist, wenn anders er ein wirklich berufener genannt werden
darf, „zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt“. Sein Schauen ist freilich
ein anderes als das des gelehrten Forschers: während dieser geradlinig
rückwärts oder voraus sieht oder senkrecht in die Tiefe bohrt, schweift
des Dichters Auge über den ganzen Horizont rund um und erfaßt dennoch im
Vorübergleiten eine ganze Menge bedeutsamer Einzelheiten der nächsten
Umgebung. Sein Geist liebt es, Brücken zu schlagen vom Kleinsten zum
Größten. Mögen diese Brücken oft auch luftig genug, mehr aus bunten
Regenbogenfarben als aus soliden Balken zusammengezimmert sein, wertlos
ist darum die dichterische Betrachtungsweise gewiß nicht; denn oft ahnt er
mit dem sicheren Instinkt des schöpferischen Geistes große, bedeutsame
Zusammenhänge, die dem scharfen Auge des Forschers verborgen bleiben, weil
dem sein Gewissen nicht erlaubt, bei seinen Feststellungen unbekannte
Größen in Rechnung zu setzen. Den Vorzug der dichterischen Intuition und
den guten Blick eines geschulten Beobachters nehme ich für mich in
Anspruch, ohne jedoch Straflosigkeit für dichterische Freiheit zu
beanspruchen. Ich gehöre nicht zu den Leuten, die sich durch glänzende
Äußerlichkeiten leicht blenden lassen, auch nicht zu den mißtrauischen
Duckmäusern und Leisetretern. Ich habe es mir ernstlich angelegen sein
lassen, drüben in dem merkwürdigen Lande der unbedingten Gegenwart, wo es
irgend anging, die Meinung gescheiter, mir zuverlässig erscheinender
Menschen einzuholen, um meine eignen Beobachtungen zu vervollständigen, zu
klären und zu berichtigen. Dabei ist es mir nun allerdings überaus häufig
begegnet, daß der Sachverständige B., der, sagen wir 25 Jahre im Lande
war, den Sachverständigen A., der 27 Jahre im Lande war, für einen
ausgemachten Esel erklärte, und daß der Sachverständige C., der 50 Jahre
im Lande war, zur Entscheidung aufgerufen, beiden als elenden Grünhörnern
jede Berechtigung zum Urteilen absprach. Es ist nun eine alte Erfahrung,
die jeder mit einem klaren Blick begabte gebildete Reisende schon
bestätigt gefunden haben wird, daß sich der Eingeborene eines Landes oft
gerade der auffallendsten Eigentümlichkeiten desselben nicht bewußt ist,
weil ihm eben der Maßstab zur Vergleichung fehlt und weil ihm naturgemäß
das Gewohnte als das Selbstverständliche erscheint. Ebenso verliert auch
der Einwanderer, je länger er in dem neuen Lande weilt, desto mehr den
Blick für seine Besonderheit. Ihm dünkt vieles Neue bedeutsam, weil er es
unter seinen Augen erst entstehen sah und nicht mehr weiß, daß man drüben
in der alten Heimat vielleicht schon längst über den betreffenden Zustand
hinaus gekommen ist, während ihm Dinge, die dem Fremden als höchst
eigenartig auffallen, nicht mehr der Beobachtung wert erscheinen, weil sie
für ihn Alltäglichkeiten geworden sind. Aus diesem Grunde können selbst
des flüchtigen Besuchers erste Eindrücke von ganz erheblicher Bedeutung
werden. Es ist auch ganz verkehrt, etwa nur Zahlen oder offizielle
Dokumente als wissenschaftlich beweiskräftig anzunehmen, denn mit Hilfe
der Statistik kann man bekanntlich ebenso wie mit Hilfe der Etymologie
alles Beliebige beweisen, und daß behördliche Urkunden auch nicht immer
direkt aus göttlicher Inspiration hervorgehen, dürfte wohl zugegeben
werden. Es bleibt also unter allen Umständen für das dichterische Schauen
ein weites Feld ersprießlicher Tätigkeit übrig. Und der _Forscher_, der
den _Seher_ verachtet, gleicht dem Querkopf, der bei Mondschein im
Kalender die Laterne zu Hause läßt, auch wenn dicke Wolken das freundliche
Gestirn dauernd verfinstern.

Ein wie schwieriges, unter Umständen sogar lebensgefährliches Unterfangen
es sei, auch mit dem ernstlichsten Bemühen um Gerechtigkeit über
Jung-Amerika zu schreiben, das sollte ich aber erst aus der Wirkung
erfahren, die meine Zeitungsfeuilletons drüben taten. Ich habe, was wohl
niemand einem Poeten verargen wird, ernsthafte Dinge ernst und minder
bedeutsame Äußerlichkeiten lustig behandelt und mich auch
selbstverständlich nicht geniert, in der humoristischen Betrachtungsweise
der heiteren Wirkung zuliebe keck zu übertreiben und nötigenfalls sogar
ein Weniges dazu zu lügen, in der sicheren Erwartung, daß der
amerikanische Humor, der ja bekanntlich in der grotesken Übertreibung sich
am besten gefällt, gerade an diesen heiteren Episoden Gefallen finden
würde. Darin scheine ich mich jedoch gründlich getäuscht zu haben, und
Henry F. Urban, der humoristische Entdecker Dollaricas und unzweifelhaft
genaue Kenner seiner Bewohner, dürfte doch wohl recht haben mit seiner
Behauptung, daß der richtige Dollaricaner keinen Sinn für Satire habe,
wenigstens nicht sofern sie sich auf ihn selbst und sein Land bezieht. So
erklärt sich auch die für uns merkwürdige Erscheinung, daß dieses so
humorbegabte und zu derben Späßen aufgelegte Volk noch keine politischen
Witzblätter besitzt. Der Dollaricaner sieht eben fortwährend vor seinen
Augen die Wüstenei sich in üppiges Fruchtland verwandeln, Riesenstädte aus
elenden Ansiedlungen sich quasi über Nacht entwickeln, eine luxuriöse
Tipptopp-Kultur urplötzlich, wie den glänzenden Schmetterling aus der
unscheinbaren Puppe, aus dem Chaos herausschlüpfen – da ist es freilich
begreiflich, daß sein Herz von unbändigem Stolze auf sein Wunderland und
auf die Tatkraft seiner Bewohner geschwellt ist. Dieser schöne Stolz geht
nun aber so weit, daß er jeden für einen verleumderischen Schurken
erklärt, der nicht alles und jedes für vollkommen und unvergleichlich
hält, was die Vereinigten Staaten hervorbringen, und daß er nicht nur dem
ausländischen Beobachter, sondern auch seinen eignen Landsleuten jede
kritische Anwandlung fürchterlich übel nimmt. Die englischen Zeitungen
haben sich vornehmlich an meine Späße und Übertreibungen gehalten und mich
wie gänzlich humorblinde Pedanten auf kleine Unrichtigkeiten festgenagelt
und darum ihrem Publikum als unwissenden, leichtfertigen Verleumder
hingestellt; meine ehemaligen deutschen Landsleute aber haben sogar
Entrüstungsmeetings abgehalten, weil ich mich der Feststellung der
auffallenden Tatsache nicht enthalten konnte, daß sie im allgemeinen an
körperlichen Vorzügen hinter den Yankees zurückstehen, und daß sie nicht
verstanden haben, sich rechtzeitig den politischen und gesellschaftlichen
Einfluß zu sichern, den sie nicht nur durch ihr zahlenmäßiges Übergewicht,
sondern auch als hervorragendste Kulturträger rechtens zu beanspruchen
gehabt hätten. Für diese Missetat haben mich zahlreiche
deutsch-amerikanische Blätter, vornehmlich minder beträchtliche
Provinzorgane, mit den liebenswürdigsten Schmeichelnamen bedacht, unter
denen wohl ‚krummer Hund‘ noch der mildeste war, und zahlreiche
Privatpersonen haben mich brieflich ihrer vorzüglichsten Tiefachtung
versichert und mir sogar mit Mord und Totschlag gedroht, falls ich die
Dreistigkeit haben sollte, abermals in Hoboken zu landen. Nun, ich darf
mir wohl erlauben, diese seltsamen Blüten patriotischer Entrüstung nicht
allzu tragisch zu nehmen, da außer solchen robusten Kundgebungen mir doch
auch zahlreiche bedingte oder unbedingte Zustimmungen zugingen, welche im
Gegensatz zu jener Knüppelpolemik durchweg aus den oberen geistigen
Regionen herstammten. Ich habe übrigens die in jenem Aufsatz über die
Yankeerasse, der so viel böses Blut gemacht hat, niedergelegten Ansichten
in verschiedenen anderen Kapiteln dieses Buches begründet und erweitert.
Es versteht sich von selbst, daß ich jedem dankbar sein werde, der mir
beweist, daß ich da und dort derb daneben gehauen habe, und werde es mir
zur Pflicht machen, Irrtümer zu berichtigen, soweit etwaige Neuauflagen
die Gelegenheit dazu geben sollten.

Zusammenfassend betone ich also noch einmal, daß dies Buch weder
wissenschaftlichen Wert beansprucht, noch etwa ein Führer für Reisende
sein soll, dagegen auch mehr als nur unterhaltendes Geplauder zu geben
beabsichtigt. Es ist für uns Europäer von größter Wichtigkeit, uns klare
Vorstellungen von diesem Lande ohne Vergangenheit zu verschaffen, das für
uns einen Spiegel unserer eignen Zukunft darstellt. Nach den Vereinigten
Staaten zu reisen bedeutet für den wißbegierigen Europäer soviel, wie es
für die Unschuld vom Lande bedeutet, zur Kartenschlägerin zu gehen, nur
mit dem Unterschiede, daß das, was wir drüben über unsere Zukunft
erfahren, kein plumper Schwindel, sondern unentrinnbare Wahrheit ist. Je
mehr wir mit unserer Vergangenheit aufräumen, je rückhaltloser wir uns von
dem reißenden Strome der modernen Entwicklung mit forttragen lassen, desto
sicherer werden sich unsere Zustände und unser Charakter amerikanisieren;
und darum ist es gut, wenn wir uns das Wunderland der Gegenwart so genau
wie möglich betrachten, und darum hat jeder, dem eine gute Beobachtung und
ein gesundes Urteil zu Gebote steht, das Recht und sogar die Pflicht, über
Dollarica auszusagen, was irgend er davon zu wissen glaubt.

Ich kann dies Vorwort nicht beschließen, ohne meinen verehrten Gönnern und
neugewonnenen lieben Freunden da drüben, vornehmlich der Germanistic
Society, den örtlichen Veranstaltern meiner Vorträge, den leitenden
Persönlichkeiten der deutschen Vereine, sowie den beiden so umsichtigen
und eifrigen Managern meiner Rundreise, den Herren Professor Rudolf Tombo
jun. und Paul C. Holter, meinen aufrichtigsten Dank auszusprechen für die
herzliche Anteilnahme, die sie meiner Person und meinem Schaffen zuteil
werden ließen, wie für die große Mühe, die sie so erfolgreich aufwendeten,
um mir in der kurzen Zeit diese reiche Fülle von Eindrücken zu
verschaffen.

_Darmstadt_, im Oktober 1911.
                                     *Ernst Ludwig Freiherr von Wolzogen.*



                           INHALTSVERZEICHNIS.


      Zur Verständigung                                    VII
 1.   Als Mauernweiler in Dollarica                          1
 2.   Die Yankeerasse                                       20
 3.   Der Yankee als Erzieher                               32
 4.   Das Universitätsleben in der Union                    41
 5.   Öffentliche und private Moral                         64
 6.   Liebe und Ehe                                         79
 7.   Die Dienstbotenfrage                                  94
 8.   Die Kochkunst der Yankees                            110
 9.   Künstlerische Kultur                                 122
10.   Vom Theater im Yankeelande                           135
11.   Die amerikanische Presse                             149
12.   Von der demokratischen Gesellschaft                  169
13.   Wie der Yankee seine Rechnung mit dem Himmel macht   186
14.   Die Landschaft                                       207
15.   Dollaricas infamster Schurke                         220
16.   Baedekereien für Amerikafahrer                       232
17.   Was können wir von Amerika lernen?                   250
18.   Das Hirn Amerikas auf einer goldenen Schüssel        273
      Bücherverzeichnis                                    284
      Namen- und Sachregister                              285



                      ALS MAUERNWEILER IN DOLLARICA.


Ein rechtschaffener „teutscher Tichter“ schlägt drei Kreuze vor dem
Gedanken einer Auswanderung nach den Vereinigten Staaten. Nikolaus Lenau,
der seinerzeit aus Begeisterung für die Freiheit und für die biederen
Rothäute hinübersegelte, hat bekanntlich das nächste Retourschiff benutzt,
und sein Entsetzen hat ihn das Wort prägen lassen von dem Lande, in
welchem die Vögel keine Lieder und die Blumen keinen Duft hätten. (Eine
Behauptung, die übrigens nicht einmal zutrifft.) Auch Detlev v. Liliencron
mochte kein intimes Verhältnis mit der Dame Dollarica eingehen, weil sie
gar keine Miene machte, ihm von ihrem Überfluß an Dollars etwas abzugeben.
Ich vermute, daß sie ihn zunächst hat Flaschen spülen lassen, eine Prüfung
auf die männliche Tüchtigkeit, die sie allen gestrandeten Offizieren und
sonstigen mit Bildung oder hohen Lebensansprüchen beschwerten, zu grober
Handarbeit jedoch untauglichen deutschen Gunstbewerbern zunächst einmal
auferlegt. Wilhelm v. Polenz, der nicht mit den Hintergedanken eines
galanten Räubers, sondern nur mit einem Scheckbuch bewaffnet einige Monate
im Lande herumreiste, kehrte dagegen zufrieden und bereichert heim und
bescherte uns, als Frucht seines fleißigen Studiums, sein schönes und
gerechtes Buch „Das Land der Zukunft“. Dafür war aber auch Polenz kein
solch närrischer Lyriker, der in zornige Tränen ausbricht, wenn ihm ein
fremder Weltteil nicht den Gefallen tut, Nachtigallen in Kaktushainen
schlagen und Affen auf Lindenbäumen herumklettern zu lassen. Paul Lindau,
der welt-, witz- und wortgewandte, ist durch das Land geflitzt und hat
eine Masse von Eindrücken gleich bunten Schmetterlingen im Vorbeifliegen
mit „gewandter Feder“ feuilletonistisch aufgespießt; gelegentlich der
großen Weltmessen von Chicago und St. Louis ist auch sonst wohl noch der
und jener aus unserem Federvolke mit drüben gewesen, um mit mehr oder
minder leichtsinniger Wichtigkeit den Maßstab seiner kleinen Person an die
Ungeheuerlichkeit der Verhältnisse da drüben zu legen, und sie sind alle,
durch starke Eindrücke bereichert, heimgekehrt. Erst seitdem einige
hervorragende Deutsch-Amerikaner mit Hilfe der Professoren der
germanistischen Fakultäten und Unterstützung etlicher für deutsche Kunst
und Wissenschaft eingenommener amerikanischer Mäzene die _Germanistic
Society of America_ gegründet haben, ist es möglich geworden, richtigen
deutschen Dichtern und Gelehrten, ohne Rücksicht auf Geldverdienst und
etwaige lyrische Sentimentalitäten, die große Kinderstube im fernen
Westen, das Märchenland der absoluten Gegenwärtigkeit, zu zeigen und
andererseits diese seltsamen Tiere dem amerikanischen Volke lebend
vorzuführen. Auf diese Weise sind Ludwig Fulda, Hermann Anders Krüger,
Karl Hauptmann und zuletzt der Schreiber dieser Zeilen dazu gelangt, ihren
deutschen Landsleuten drüben, sowie den für deutsche Geistesart
interessierten Amerikanern lebendige Kunde vom deutschen Dichten der
Gegenwart zu bringen.

(M1)

Ich habe im Laufe von etwa acht Wochen an neunzehn Universitäten und
Colleges, sowie fünfzehnmal in deutschen Vereinen gesprochen. Ich habe
dabei teils aus meinen Werken rezitiert, teils die letzten dreißig Jahre
deutscher Literaturgeschichte in skizzenhaften Schilderungen persönlicher
Eindrücke und Begegnungen durchgenommen, oder mich über das Theater der
deutschen Gegenwart verbreitet, oder endlich mit Unterstützung meiner Frau
die Entwicklungsgeschichte des deutschen Volksliedes behandelt. Und daß
ich diese kleine Singefrau mit hatte, war sehr gut. Denn wo immer sie in
die Zupfgeige griff und ihre Volkslieder aus alten Zeiten erschallen ließ,
da leuchteten die Augen, da war der Jubel groß, und die gewohnten
Redensarten eines höflichen Dankes bekamen einen echten Herzensklang. Sie
haben mir ja auch die Frau nicht wieder herausgegeben, als ich nach
getaner Arbeit heimwärts strebte; sie haben sie mit sanfter Gewalt da
behalten, weil sie von ihr noch lange nicht genug hatten. Das soll nun
nicht etwa heißen, daß ich mich über eine laue Aufnahme oder über
Unverständnis zu beklagen gehabt hätte. Ganz im Gegenteil: man muß bei uns
schon bis nach Wien gehen, um eine solche Temperatur der dankbaren
Begeisterung zu finden; aber ich merkte doch sehr bald, daß ich diesen
lebhaften Beifall vornehmlich meiner rezitatorischen Leistung sowie dem
Umstande zu verdanken hatte, daß ich einen wichtigen Teil meines Wesens
vorsorglich unterschlug. Als praktischer Theatermann habe ich die Kunst
gelernt, unterhaltende Programme zusammenzustellen, und auf die
Psychologie der Massen verstehe ich mich auch einigermaßen; das ist der
Grund, weshalb mir’s drüben so gut gegangen ist. Ich wußte schon vorher
genug über den Geschmack des amerikanischen Publikums, um ungefähr
beurteilen zu können, welche meiner Werke und Anschauungen für drüben
möglich wären und welche nicht. Und da mußte von vornherein vieles von dem
als unmöglich ausgeschlossen werden, womit ich mir hier meine wertvollsten
Erfolge geholt und meiner literarischen Persönlichkeit überhaupt erst
feste Umrisse gegeben habe. Die Natürlichkeiten der Erotik sind bei den
Angloamerikanern ebenso von der öffentlichen Besprechung und
künstlerischen Gestaltung ausgeschlossen wie die heiligen Stoffe, und die
Deutsch-Amerikaner, die lange genug drüben gelebt haben, sind immerhin von
diesem Puritanertum soweit angesteckt, daß die Grenzen des künstlerisch
Erlaubten bei ihnen nicht weiter gehen als etwa beim deutschen
Familienblatt älteren Stils. Du lieber Himmel – und ich bin der Verfasser
des „Dritten Geschlechts“, der „Geschichten von lieben süßen Mädeln“ und
gar „des Erzketzers“ und habe niemals einen Beitrag zur „Gartenlaube“ oder
zum „Daheim“ geliefert! Selbstverständlich hatte ich wohl ausnahmslos an
jedem meiner Vortragsabende ein paar literarisch gebildete, vorurteilslose
Leute unter meinem Publikum, die sich gerne hätten stärker beschwören
lassen; aber ich sollte mich doch der Mehrheit erfreulich und nützlich
machen, den des Deutschen beflissenen Studenten englischer Zunge und
besonders den aus allen Bildungsschichten zusammengewürfelten
Deutsch-Amerikanern.

(M2)

Mit den Versen gab’s wenig Schwierigkeit. Meine Balladen und Hymnen auf
die moderne Technik mußten ja in dem Lande der technischen Hochkultur
zünden, und auch von den satirischen Scherzgedichten wurde das meiste
verstanden; aber mit der Auswahl von Prosastücken hatte ich meine liebe
Not, und bei meinen Streifzügen durch die deutsche Literatur der letzten
dreißig Jahre bemerkte ich auch gar bald, wie wenig davon selbst dem
gebildeten Publikum bekannt war. Sobald ich bei einer meiner
Lieblingsfiguren etwas länger verweilte oder den Versuch machte, ein
bißchen in die Tiefe zu bohren, bemerkte ich, wie sich alsbald ein
suggestives Gähnen durch die Reihen fortpflanzte und die teilnahmsvoll
gespannten Züge zu erschlaffen begannen. Da mußte ich mich denn beeilen,
mit einer scherzhaften Anekdote oder einer satirisch zugespitzten
Bemerkung die entflatternde Aufmerksamkeit wieder einzufangen. Wie in so
vieler anderer Beziehung, so sind die Amerikaner auch darin noch auf einem
kindlichen Standpunkt, daß sie, und zwar nicht nur die Jungen, sondern
auch die Alten, durchaus lachen wollen, wenn sie sich zu irgendwelchem
Zwecke in Massen versammeln. Der Politiker muß so gut wie der
Universitätsprofessor und sogar der Kanzelredner Witze machen, wenn er
sein Publikum fesseln will. Kein Redner wird jemals in diesem Lande Erfolg
haben, der nicht zum mindesten die Kunst versteht, selbst ernstesten
Gegenständen humoristische Lichter aufzusetzen. Ich habe eine feierliche
Universitätssitzung mitgemacht, bei welcher der Präsident der Universität
eine ausgezeichnete Gedenkrede auf eine verstorbene Leuchte derselben
hielt. Es war ein kalter, nebliger Morgen und man saß in Überziehern und
Galoschen da, aber sobald der Vortragende eine drollige Wendung
gebrauchte, einen freundlich heiteren Zug aus dem Leben des Gefeierten
erzählte, oder gar eine witzige Nutzanwendung machte, erwärmte sich die
frierende Gesellschaft an lautem Gelächter. In dem amerikanischen
nationalen Drama, der _Blood and Thunder-Show_, muß die erbauliche
Abwechslung zwischen Leichenaufhäufung unter Revolvergeknatter und
sentimentaler Rührung über unmenschliche Edelmutsausbrüche (vom obligaten
Tremolo der Geigen begleitet) in regelmäßigen Abständen von derben
Clownspäßen unterbrochen werden, um dem guten Volke schmackhaft zu
bleiben, und der bekannte kleine polnische Jude, der auf die Frage, wie
ihm der „Tristan“ gefallen habe, achselzuckend erwiderte: „Nu, mer lacht“,
könnte hier leicht manches Gegenstück finden. Das ist nun etwa nicht als
besonderes Schandmal der amerikanischen Unkultur aufzufassen, denn der
Banause hat in der ganzen Welt der Kunst gegenüber genau denselben
Standpunkt: er schätzt sie bestenfalls als erheiternden Zeitvertreib. Die
geistige Erhebung durch tragische Erschütterung vermag er ebensowenig zu
genießen, wie die rein ästhetische Freude an der schönen Form; sein
Interesse hängt rein am Stofflichen, am gröblich Sinnfälligen, an der
handgreiflichen Moral oder Tendenz. Da in Amerika noch nicht viele Leute
und auch diese erst seit kurzem Zeit gefunden haben, ihre etwaigen
ästhetischen Veranlagungen zu pflegen, so ist es selbstverständlich, daß
es dort im Verhältnis zur Einwohnerzahl sehr viel weniger ästhetisch
interessierte Menschen gibt als bei uns, und unsere guten Landsleute
können von dieser Regel um so weniger eine Ausnahme machen, als sie ja zum
weitaus überwiegenden Teil von gänzlich amusischer Herkunft sind. Die
deutschen Amerikaner, die heute vornehmlich sich eine Ehrenpflicht daraus
machen, den Zusammenhang mit der deutschen Geisteskultur aufrecht zu
erhalten, setzen sich zusammen aus den Überresten der achtundvierziger
Emigranten und ihrer Nachkommen, aus den neuerdings Eingewanderten mit
akademischer Bildung, die hier als Lehrer und Lehrerinnen, als Ärzte,
Künstler usw. eine Lebensstellung gefunden haben, und endlich aus einigen
nicht allzu zahlreichen Nachkommen von Leuten, die in Handel und Gewerbe
hier ihr Glück gemacht haben und daher imstande waren, ihren Kindern eine
höhere Schulbildung zuteil werden zu lassen. Die vielen deutschen Vereine
sind folglich auch noch nicht imstande, sich rein künstlerischen und
literarischen Bestrebungen zu widmen. Sie scheiden sich mehr nach
Landsmannschaften oder Gesellschaftsschichten als nach geistigen
Ansprüchen. Man darf also nicht erwarten, für irgend welche
wissenschaftlichen oder künstlerischen Darbietungen in den Vereinigten
Staaten ein so homogenes, wohlgezogenes und anspruchsvolles Publikum zu
finden, wie etwa in unseren deutschen literarischen Gesellschaften,
kaufmännischen oder auch selbst sozialdemokratischen Bildungsvereinen. Man
kann aber sicher sein, überall unter seinen Zuhörern eine Anzahl fein
gebildeter und verständnisvoller Menschen zu finden, wenn es auch nur eine
kleine Minderheit sein mag. Für diese Minderheit wird man dann aber, wenn
man seine Mission ernst nimmt, sein Bestes geben und die Kleinen und Armen
im Geiste nach Möglichkeit durch Konzessionen an ihr
Unterhaltungsbedürfnis mit zu ziehen suchen. Manchmal kann es einen
freilich bei solchen überraschenden Ausbrüchen kindlicher Heiterkeit kalt
überlaufen. Im Hörsaal der Universität zu Rochester wollten sich Studenten
deutscher Abkunft halb tot lachen über die von mir berichtete traurige
Tatsache, daß Liliencron im Feldzuge von 1870/71 diverse Kugeln in den
Leib bekommen habe, von denen ihm alle paar Jahre eine im Operationssaal
der Universitätsklinik zu Kiel herausgeholt wurde! Und in der _High
School_ von Youngstown (Ohio) kreischten die _Boys_ und _Girls_ vor
Vergnügen, als ich ihnen die tief ergreifende Ballade von der Großmutter
Schlangenköchin übersetzte. Über die Fischlein, die die böse Hexe mit
einem Stock im Krautgärtlein fängt, und gar über „_The black and tan
Doggie, that burst into a thousand pieces_“ (das schwarzbraune Hündlein,
das in tausend Stücke zersprang), bogen sie sich krumm vor Lachen, und
meine Frau, die sie gerade durch diese Ballade zu Tränen zu rühren
gedachte, war blaß vor Schrecken, – hat sie aber dann doch zu packen
gekriegt, diese robusten Neuweltler, denen die lieb herzige Einfalt des
deutschen Märchenstiles so siebenfach versiegelt ist.

(M3)

Wenn man in den Vereinigten Staaten unter den Auspizien einer
hochangesehenen Gesellschaft reist, so bekommt man eine deutliche
Vorstellung davon, wie angenehm und erhebend es sein muß, als
Fürstlichkeit durchs Dasein zu wallen. Genau so wie bei uns eine die
Provinzen bereisende bessere Fürstlichkeit wird man nämlich in den
Vereinigten Staaten behandelt, sobald man offiziell als großes Tier, als
illustrer Gast gemanagt wird. Am Bahnhof Empfang durch ein Komitee, das
einen in das erste Hotel der Stadt geleitet, wo man sich kaum des
Reiseschmutzes entledigt hat, als einem auch schon die Reporter auf den
Leib rücken. In der kurzen Zeit, die einem das Komitee zum Säubern und
Ausruhen gönnt, (meistens ist man ja die Nacht durch gefahren, denn die
einzelnen Vortragsstädte liegen nicht selten so weit auseinander wie etwa
Berlin und Neapel!) muß man mehrere Interviews über sich ergehen lassen,
bei denen einen der stete Zweifel nervös macht, wer von beiden der größere
Esel sei, der Interviewer oder der Interviewte. Dann tritt das Komitee
wieder an, um einem die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu zeigen, wobei zu
bemerken ist, daß im ganzen Osten bis zum Mittelwesten der Union, bis
hinauf an die kanadische und hinunter an die virginische Grenze eine Stadt
genau so reizlos und uninteressant ist wie die andere (mit vielleicht
einziger Ausnahme von Boston und Washington), daß die Kriegerdenkmäler
noch erheblich fürchterlicher sind als bei uns, und man die berühmtesten
Bauten meistens schon im Original in Europa gesehen hat. Erfreulich werden
diese Besichtigungsfahrten nur, wenn sie aus den wüsten Steinhaufen der
Citys hinaus ins Land führen und man einen schönen Tag erwischt.
Architektonisch interessante Villenviertel mit reizenden Schmuckgärten wie
bei uns gibt es freilich kaum irgendwo. Aber wenn die Sonne lacht, sind
selbst die zum Gähnen einförmigen gemütlichen Holzhäuschen, mit denen auch
sehr wohlhabende Amerikaner glücklich und zufrieden sind, eine Wohltat zu
sehen. Nachdem der ästhetische Graus der Städte dergestalt überstanden
ist, geht es zum Lunch, und der ist eigentlich immer erfreulich und
gemütlich, gleichviel ob man in eine wildfremde Familie, in ein feines
Restaurant oder in einen exklusiven Klub geladen ist. Denn die
amerikanische Gastfreundschaft, mag sie von Yankees oder Deutschen
ausgeübt werden, ist über alles Lob erhaben. Und wenn bei solchen
Gelegenheiten das Menü nur nicht zu amerikanisch und die Gastgeber keine
Teatotalers sind, so kann man sich seines Lebens freuen, ohne durch steife
Förmlichkeit oder durch aufdringliche Protzerei geärgert zu werden. Nicht
selten ist bereits mit dem Lunch eine kleine _reception_ verbunden, d. h.
nach dem Essen treten mehrere Dutzend Menschen, die ganze Fakultät, wenn
der Gastgeber ein Professor ist, die ganze Freundschaft und
Verwandtschaft, wenn der Empfang inoffiziell ist, in den zumeist winzig
kleinen Stuben an, um Bekanntschaft zu machen. Das ist die mildeste Form
der „reception“. Man hört alle Namen, schüttelt alle Hände, schwätzt ein
Stündchen herum und hat im Fluge einen oberflächlichen Eindruck von dem
Verkehrskreis des Gastgebers gewonnen, vielleicht sogar eine wirklich
interessante Persönlichkeit flüchtig angebohrt. Ist man an ein Komitee
geraten, das bereits Erfahrungen mit europäischen Nerven gemacht hat, so
darf man sich zu einem Ruhestündchen zurückziehen, andernfalls geht es
ohne Gnade und Barmherzigkeit weiter im Programm. Man wird zur
Besichtigung der Universitätsinstitute, der Bibliotheken, der
Laboratorien, Museen, bemerkenswerter Fabrikbetriebe oder was es auch
immer sei, mit Vorliebe auch zu dem Gouverneur des Staates oder doch
mindestens zum Bürgermeister der Stadt geschleppt. Wenn man bedenkt, daß
so ein Gouverneur der konstitutionelle Regent eines Landes ist, das in den
meisten Fällen größer als das Königreich Bayern, in einigen Fällen sogar
größer als ganz Deutschland ist, so ist man erstaunt über die leichte
Zugänglichkeit und jeder steifen Förmlichkeit abholde Art dieser großen
Herren. Sie haben natürlich keine Ahnung davon, wer man ist, aber sie
beteuern, über die Bekanntschaft entzückt zu sein, und stellen sich aufs
Liebenswürdigste unseren Wünschen zur Verfügung. Mittlerweile wird es dann
Zeit, sich zum _dinner_ in _full dress_ zu werfen. Dabei geht es ohne
mehrere Toaste niemals ab, denn der Amerikaner redet gern und hervorragend
gut, und man muß sein bißchen Witz gehörig zusammennehmen, um diesem
nationalen Talente gegenüber mit seiner Antwort zu bestehen. Hat man den
Abend frei, so ist solch ein _dinner_ um 7 Uhr eine erquickliche
Angelegenheit; denn nirgends existiert in Amerika die deutsche Unsitte,
stundenlang bei Tische zu sitzen, eine unmögliche Masse von Speisen und
ebenso viel verschiedene, in der Schwere sich steigernde Weinsorten
eingepumpt zu bekommen. Große offizielle Festessen dehnen sich freilich
auch sehr lang aus, aber nicht wegen der Länge des Menüs, sondern nur
wegen der nationalen Sitte, die Schleusen der Beredsamkeit erst nach dem
Dessert zu öffnen. _Toastmaster_ und _Chairman_ regulieren den Strom nach
parlamentarischer Sitte, und wenn die Rednerliste erschöpft ist, beginnt
erst der echt amerikanische Hauptspaß, indem der _Toastmaster_ noch unter
den besonders prominenten, durch ihre Eigenart berühmten oder berüchtigten
Anwesenden eine ganze Anzahl zu Improvisationen reizt. Selten daß einer
auf solche Reizung nicht reagiert. Natürlich reitet bei dieser Gelegenheit
jeder sein Steckenpferd, wobei aber erst recht viel witziges oder
gedankenreiches Eigengut zutage gefördert wird. Schlimm ist es, wenn man
unmittelbar nach dem Essen seinen Vortrag halten muß, wie das gar nicht
selten vorkommt. Und noch schlimmer, wenn einem, wie mir das auch passiert
ist, erst beim Besteigen der Rednertribüne vom Vorsitzenden zugeraunt
wird, daß man doch gefälligst nur eine Stunde lang sprechen möge – über
ein Thema, das in dreien kaum halbwegs gründlich zu erledigen wäre! Diese
beneidenswert robusten Neuweltler nehmen eben als selbstverständlich an,
daß ein Mensch, der einen Beruf, ein Geschäft daraus macht, öffentliche
Vorträge zu halten, jederzeit und unter allen Umständen bereit sein müßte,
sie aus der Pistole zu schießen. Daß wir schwächlichen Ostleute zu jeder
geistigen Leistung Sammlung und Stimmung brauchen, das scheinen sie nicht
zu verstehen. Dem nervenlosen Amerikaner ist es auch ganz gleichgültig,
wie das Lokal ausschaut, in dem er seine Kunst genießt oder seine Bildung
bereichert; offene Türen, hin- und herlaufende Menschen, pfeifende und
klingelnde Lokomotiven vor den Fenstern, polternde Kegel- unter und
probende Gesangvereine über dem Lokal genieren ihn nicht im mindesten. Ich
ging an einem Universitätshörsaal vorbei, dessen Tür sperrangelweit offen
stand; im Korridor trappten laut schwatzende und lachende Studenten auf
und ab, aber weder der vortragende Professor noch die eifrig
nachschreibenden Hörer ließen sich dadurch auch nur im geringsten stören.
In St. Louis waren die Leute, die mein Auditorium in Stand setzen sollten,
ausgeblieben. Infolgedessen war das Lokal so schmutzig von Kohlenruß, daß
ich einen weißen Handschuh, der mir entfiel, schwarz wieder aufhob und das
elektrische Licht versagte; wir saßen also bei einigen Notlampen im
Finstern, und ich trug eine rührende Geschichte vom bitteren Leiden und
Sterben eines schwindsüchtigen Mädchens unter der rhythmischen Begleitung
zweier melodisch knallender Heizkörper vor. Natürlich war ich nahe daran,
aus der Haut zu fahren; mein Publikum aber schien durch diese
stimmungsmordenden Umstände nicht im mindesten berührt zu werden. Der
Vorsitzende bat für diese Übelstände um Entschuldigung, und damit war es
gut. Der Amerikaner fügt sich in das Unvermeidliche mit bewundernswerter
Ruhe und Geduld. Wenn er gekommen ist, um für sein Geld Kunst zu genießen
oder Weisheit zu schlürfen, so führt er diesen Vorsatz auch unter den
widrigsten Verhältnissen aus, denn er will auf seine Kosten kommen. Und
seine Nerven parieren ihm so absolut, daß er imstande ist, durch einfachen
Willensakt während des zartesten Pianissimos einer Sängerin den knallenden
Heizkörper oder die läutende Lokomotive nicht zu hören.

(M4)

Die große _reception_, dieser Schrecken aller Schrecken für berühmte
Mauernweiler, diese echt amerikanische „Hetz“, pflegt nach dem Vortrag des
zu feiernden Gastes in einem möglichst großen Saale stattzufinden. Der
Amerikaner stellt sich bekanntlich nie selber vor. Man kann stundenlang im
Eisenbahnwagen miteinander fahren und sich angeregt unterhalten, man kann
sogar wochenlang auf einem Dampfer Tisch- und Kabinennachbar eines
scharmanten Menschen sein, ohne daß es ihm einfallen wird, sich selber
vorzustellen. Und wenn der wackere Deutsche in seiner angeborenen
Höflichkeit sich bemüßigt fühlt, einer solch angenehmen Reise- oder Table
d’hote-Bekanntschaft gegenüber die Hacken zusammenzuschlagen und mit
kommentmäßig heruntergeklapptem Haupte zu schnarren: „Sie gestatten, mein
Name ist Müller,“ so riskiert er, daß der Angeredete, ohne sich von seinem
Sitz zu erheben, ihn von unten herauf gelangweilt anschaut und mit
gequetschtem Nasentone die impertinent zweifelnde Frage zurückgibt: „_Aoh,
is that so?_“ Der Amerikaner hat stets den Ehrgeiz, mit prominenten Leuten
bekannt zu werden. Ausländische Berühmtheiten interessieren ihn brennend,
und für Leute mit schönen Titeln und langen Namen aus Europa hat er eine
besondere Schwäche, aber niemals würde er sich einfallen lassen, eine
formlose Vorstellung zu provozieren. Man kann in der guten Gesellschaft
nur miteinander bekannt werden, indem man von dem Gastgeber, bei dem man
sich trifft, offiziell einander vorgestellt wird. Diesen Zweck erfüllen
unter anderen Veranstaltungen auch die berüchtigten _receptions_. Jeder,
der nur irgendwelche Berührungspunkte mit der gesellschaftlichen Sphäre
oder mit dem Beruf des prominenten Gastes hat, bemüht sich, eine Einladung
zu solcher _reception_ zu bekommen. Der Vorgang bei dieser
hochnotpeinlichen Prozedur, wie ich sie im Staate Wisconsin in
musterhafter Form erlebt habe, ist folgender: Man stellte mich an eine
Säule an der Schmalseite des großen Saales und meine Frau an eine andere
Säule wenige Schritte davon entfernt. Mir zur Seite trat ein
_Gentleman-Usher_ und an die Seite meiner Frau eine _Lady-Usher_ (Usher =
Einführer). Von diesen wird vorausgesetzt, daß sie wie ein Hofmarschall
alle eingeladenen Herrschaften nach Namen, Rang und Stand kennen. In
langer Reihe, einzeln oder paarweise hintereinander nahen sich nun die
Scharen derer, die unsere Bekanntschaft zu machen wünschen, und der Usher
waltet seines Amtes. „Erlauben Sie mir, Ihnen Mister und Missis John
Dubbleju Weber (sprich: Uebbäh) vorzustellen. Einer der prominentesten
Bürger unserer Stadt, man kann sagen einer ihrer Begründer, denn er hat
vor vierzig Jahren hier in dem Indianerdorf, das damals auf dieser Stelle
stand, den ersten Laden für baumwollene Taschentücher, Whisky, Kautabak
und Schießpulver eröffnet.“

„_How do you do, Mister Uolsogen?_“ gurgelt Mister John Dubbleju Uebbäh
aus seiner respektablen Speckwampe heraus und beginnt mit meinem Arme wie
mit einem Pumpenschwengel zu hantieren. „Komme Se mal zu mir, da wer’ ich
Se mal was Scheenes ßeigen; und bringen Se auch de Frau Uolsogen mit, wenn
se Äntiquitis gleicht.“ (Antiquitäten gern hat).

Und Missis Uebbäh, eine umfangreiche Dame mit kolossalen Brillantboutons
in den Ohrlappen, grinst mich mütterlich bewegt an und versichert,
entzückt zu sein, mich zu treffen. Der Mann gibt meine Hand an sie weiter,
und sie pumpt die Behauptung aus mir heraus, daß ich glücklich sei,
Persönlichkeiten vor mir zu sehen, welche die ganze Geschichte dieser
berühmten Stadt nicht nur mit erlebt, sondern sozusagen selber gemacht
hätten.

„_Move on, please!_“ sagt der Usher und schiebt das imposante Ehepaar
sanft weiter, worauf er mich mit Mister und Missis Isaak O.
Waddlepaddledaddle (oder so was ähnliches) bekannt macht. Mister
Waddlepaddledaddle (oder so was ähnliches) ist mit sieben Cents in der
Tasche vor fünfundzwanzig Jahren hier eingewandert und hat etwa ein
Dutzend Mal seinen Beruf gewechselt, bis er sich auf Rattengift geworfen
hat. Seit einigen Jahren steht er an der Spitze des
Patent-Ungeziefervertilgungsmitteltrusts und ist elf Millionen Dollar
wert. Seine Frau ist tief ausgeschnitten und bedeckt ihre wogende Blöße
mit Brillanten für etliche Hunderttausende. Sie ist so schrecklich betrübt
(_so awfully sorry!_), daß ihre Tochter mich nicht kennen lernen kann,
denn die ist vergangenes Jahr in Deutschland gewesen und so eingenommen
von der deutschen Literatur. Sie habe viele von meinen Büchern gelesen,
darunter natürlich auch meinen entzückenden „Herrgottsschnitzer von
Oberammergau“ und meinen reizenden „Hüttenbesitzer“ und überhaupt beinahe
alles. Leider habe das Mädchen die Mumps.

Beschämt und tief gerührt bekenne ich, daß diese genaue Kenntnis meines
dichterischen Schaffens mich zum ersten Mal das Hochgefühl einer wahren
Popularität auf zwei Hemisphären voll empfinden lasse.

Mister Waddlepaddledaddle (oder so was ähnliches) quetscht mir bewegt die
Hand, und Missis Waddlepaddledaddle (oder so was ähnliches) hat noch eine
Frage auf den üppigen Lippen, als mein Usher mir bereits einen ehrwürdigen
Greis in weißem Lockenschmucke, das glattrasierte Antlitz scharf und
geistvoll geschnitten, als den berühmten Professor der Ethik, Dr. James
Cadwalleder B. Mapletree vorstellt. Der berühmte Gelehrte ist so steinalt,
daß ich ihm aufs Wort geglaubt hätte, wenn er mir versichert hätte, daß
bereits George Washington, Benjamin Franklin und Henry Clay (welch
letzterer übrigens keineswegs Zigarrenfabrikant in Havanna, sondern ein
1852 verstorbener bedeutender Staatsmann ist) bei ihm Colleg gehört
hätten. „Froh, Sie zu treffen, Baron“, beginnt der große Gelehrte, mir
kräftig die Hand drückend, und wissend, daß ihm nicht viel Zeit gegeben
ist, knüpft er gleich eine Frage über den Stand der Ethik in Deutschland
als wissenschaftliche Disziplin sowie als bewußte Ausdrucksform der
Volksseele an. Ich erinnere mich zum Glück, daß ich jahrelang eifriges
Mitglied des Ethischen Klubs im Kellerlokal des Hofbräu-Ausschankes in der
Französischen Straße in Berlin gewesen bin und erkläre ihm, daß wir in der
Ethik durchaus obenauf, _up to date_ wären und überhaupt...

„_Move on, please!_“ ruft der unerbittliche Usher, und der große Gelehrte
bezähmt lächelnd seinen Wissensdurst und läßt sich ohne Murren weiter
schieben.

Es kommen deutsche Mitglieder der Fakultät an die Reihe, mit denen ich im
Fluge gemeinsame Beziehungen in der Heimat entdecke, es kommen Yankees,
die wirklich im deutschen Geistesleben zu Hause sind und auch tatsächlich
den „Kraft-Mayr“ gelesen haben, es kommt die Vorsteherin einer
Mädchenschule, die just meine „Gloriahose“ in ihrer Klasse übersetzen läßt
– lauter Menschen, mit denen man sich gern zum Warmwerden in ein Eckchen
zurückziehen möchte – es hilft nichts: „_Move on, please!_“ kommandiert
die sanfte Stimme meines Ushers. Folgsam und wohlanständig schieben sich
die Hunderte von Menschen, alte und junge, Zierden der Alma mater und
feste Säulen der Bürgerschaft, prominente und unerhebliche Leute, Männlein
und Weiblein langsam weiter, und alle, die mir mit größerer oder
geringerer Ausgiebigkeit die Hand geschüttelt und versichert hatten, daß
sie _so_ glücklich seien, mich zu treffen, fragen zwei Minuten später an
der nächsten Säule meine Frau, wie es ihr gehe, und sind alle ausnahmslos
so glücklich, sie zu treffen. Zuletzt kommt das junge Volk an die Reihe:
lustige Studentinnen, die mit einem vergnügten Knall in die Hand
einschlagen und die Affäre mit dem stereotypen „_How d’ye do?_“ möglichst
rasch erledigen, oder aber kichernd ihre deutschen Brocken anzubringen
versuchen. Unter den letzten ist ein lang aufgeschossener Student mit sehr
großen roten und kalten Händen, der mir sein deutsches
Literaturgeschichtsbuch mit der Bitte überreicht, ihm da etwas
hineinzuschreiben.

„Stehe ich drin in diesem Leitfaden?“ frage ich den glatten Jüngling.

„Ich bin betrübt, nein zu sagen,“ lächelte er verlegen, und ich attestiere
es ihm schriftlich in sein Buch hinein, daß das eine ganz miserable
Literaturgeschichte sei.

(M5)

Gott sei Dank, endlich ausgestanden! 170 Menschen sollen es gewesen sein.
Man darf sich endlich setzen und bekommt ein Sandwich oder so etwas
ähnliches und selbstverständlich das entsetzliche Eiswasser oder den
unvermeidlichen Icecream angeboten. Man nimmt sich einige der Herrschaften
beiseite und fragt sie auf Ehre und Gewissen, ob sie etwa durch diese
„reception“ glücklich geworden seien. Die sind mit uns völlig einig
darüber, das solche Veranstaltungen der größte Blödsinn von der Welt
seien, so ungeeignet wie möglich, den angeblichen Zweck des gegenseitigen
Kennenlernens zu erfüllen. Aber trotzdem: wenn das nächste Mal zur
Besichtigung eines importierten Dichters oder eines sonstigen seltenen
Tieres eingeladen wird, so sind sie doch alle wieder da. Missis
Waddlepaddledaddle (oder so was ähnliches) mit ihren sämtlichen Brillanten
und mit der Tochter, die inzwischen vielleicht die Mumps überstanden haben
wird, Mister und Missis John Dubbleju Uebbäh, der eigentliche Gründer des
jetzt so blühenden Gemeinwesens, und die sämtlichen anderen Prominenten
der Stadt, die Professoren mit ihren Damen, und auch der achtzigjährige
James Cadwalleder B. Mapletree wird sich wieder geduldig in die Reihe
stellen und wieder seine Frage nach dem Stand der Ethik in Europa nicht
beantwortet kriegen. Es ist nun einmal eine Genugtuung für den richtigen
Amerikaner, sagen zu dürfen: „Da und da traf ich den berühmten X. und
schüttelte Hände mit ihm.“ Der Präsident der Vereinigten Staaten hat das
Vergnügen, alljährlich bei der großen Neujahrsreception Tausenden von
Menschen die Hände zu schütteln und jedem einzeln zu versichern, daß er
_so_ froh sei, ihn zu treffen. Unser Prinz Heinrich soll sich nach
Beendigung seiner Amerikatour in seine Kabine eingeschlossen und 48
Stunden hintereinander geschlafen haben. Ich glaub’s gerne, daß er das
nötig hatte, denn der mußte täglich Bankette und Receptions mitmachen, bei
denen noch x-mal so viel Hände zu schütteln und Trinksprüche zu
beantworten waren, abgesehen davon, daß er im Laufe des Tages auch noch
sämtliche Kriegerdenkmäler, Bibliotheken, bedeutende Fabrikbetriebe,
Preisbullen und Deckhengste besichtigen mußte. Auch mir, dem bescheidenen
Dichter, wurde der berühmte arabische Deckhengst von Columbus mit seinen
hochmütig starren Monokelaugen vorgeführt, auch vor mir tänzelte der
kokette Racker, die x-fach preisgekrönte Jerseykuh, auch mir zu Ehren
wurden Hekatomben von Schweinen in den Stockyards abgestochen; aber für
mich gab es doch immerhin Ruhepausen, stille Tage in befreundeten
Familien, zeitweises Untertauchen in Hausrock und Pantoffeln. Für unseren
unglücklichen Repräsentationsprinzen gab es das alles nicht, er war von
früh bis in die späte Nacht tagtäglich im Geschirr. Seine Nervenleistung
war so enorm, daß sie schließlich sogar den Amerikanern imponiert hat.

Die erste Frage jedes Eingeborenen der Vereinigten Staaten an den
Fremdling, und wäre er auch eben erst in Hoboken gelandet, ist: „Wie
gefällt Ihnen Amerika?“ Sie sollten eigentlich fragen: „Wie halten Sie
Amerika aus?“ Denn das ist, wenigstens für den offiziell herumgezeigten
Mauernweiler, wirklich die Kardinalfrage da drüben. Mein Gott, es ist eben
ein ganz junges Volk, und sie sind so ungeheuer stolz auf die riesigen
Proportionen ihres Landes, auf die erstaunliche Größe, Neuheit, Kühnheit
aller ihrer Unternehmungen, daß jeder Amerikaner den Kitzel in sich
verspürt, jeden Fremden, der auf der Straße irgend etwas anstaunt, zu
fragen: „Na, was sagen Sie dazu, elender Europäer, bartbewachsenes
Blaßgesicht, kolossal, was? Habt Ihr drüben nicht!“

(M6)

In Philadelphia wurde ich von einer reizenden jungen Reporterin
interviewt. Selbstverständlich: „_How do you like America_“ usw., und dann
kam die verfängliche Frage: „Und was denken Sie von unserer Kultur?“ Da
kratzte ich mir den Kopf und sagte: „Mein liebes Fräulein, in diese
Mausefalle spaziere ich Ihnen nicht.“ Und nun schlug das süße Ding seine
wunderschönen Augen mit einem so traurig enttäuschten, kindlich
erschrockenen Blick zu mir empor – ich werde diesen rührenden Blick nie
vergessen! Und um Ihrer schönen traurigen Augen willen, reizendes Fräulein
von Philadelphia, gedenke ich nunmehr alle meine Eindrücke von meiner
Amerikafahrt unter dem Gesichtspunkt zu revidieren, daß bei diesem großen
Volke eben alles noch Jugend, holde, wilde, ungezogene, starke,
unanständig gesunde Jugend ist.



                             DIE YANKEERASSE.


(M7)

Es ist ein weitverbreiteter europäischer Irrtum, daß sich in den
Vereinigten Staaten Nordamerikas allmählich durch energisches Umrühren
eines überaus buntscheckigen Völkergemisches die Bildung einer neuen Rasse
vollziehe. Ich gestehe, daß ich mich, bevor ich selber drüben war,
gleichfalls in diesem Irrtum befunden habe und mir von jenem zukünftigen
form- und farblosen Völkerbrei nichts Gutes versprach. Wer aber mit
offenen Augen und ohne vorgefaßte Meinung sich die Menschen in den
Vereinigten Staaten anschaut und von verkeilten Theoretikern sich nichts
weis machen läßt, der muß zu der Erkenntnis kommen, daß es drüben (mit
Ausnahme der südlichsten Staaten) nur Yankees(1) und Fremdvölker gibt.
_Der Yankee aber ist ein reiner Großbritannier oder, wenn man will, eine
Mischrasse aus Angelsachsen und Kelten, in welcher das keltische Blut
stärker vertreten ist als im alten England._ Durch die neuen, eigenartigen
Lebensbedingungen, vor die seit drei Jahrhunderten die Auswanderer aus den
britischen Inseln in dem neuen Weltteil gestellt wurden – drei
Jahrhunderte voll harter Kämpfe, wilder Arbeit und glänzender Erfolge –
haben sich die guten wie die schlechten Eigenschaften des angelsächsischen
und des keltischen Blutes aufs heftigste herauskristallisieren und der
neuen, gut durchgemischten Rasse dadurch auch einen neu erscheinenden
Charakter aufzwingen müssen. Angelsächsisch im Wesen des Yankees ist sein
Kolonisationstalent, seine Zähigkeit im Verfolgen des Zwecks, seine
nüchterne Beschränkung auf das Nächstliegende, Nützliche,
Erfolgversprechende; dagegen ist auf den keltischen Einschlag
zurückzuführen sein leichtherziger Optimismus, sein wagemutiges
Spielertemperament, seine Begeisterungsfähigkeit und seine leichte
Zugänglichkeit für alle Arten von Korruption. Der als Spieler, Säufer und
Raufbold einigermaßen berüchtigte Irländer spielt in der Weltgeschichte
gewiß keine besonders sympathische Rolle, aber der englische Puritaner aus
Cromwells Zeiten war denn doch noch ein weit üblerer Geselle. Mit den
argen Schwächen des Iren konnte seine katholisch gefärbte Phantastik, sein
kindlich liebenswürdiger Frohsinn immerhin versöhnen, während die
sittenstrenge Lebensführung und die ehrenhafte Geschäftstüchtigkeit des
Puritaners doch noch lange nicht hinreichen, um uns mit seiner niedrigen,
boshaften Feindschaft gegen die Natur, gegen alles Freie, Frohe, Schöne
und mit seinem muffigen Tugendhochmut auszusöhnen. „Der Herr ist mit uns“,
war das Feldgeschrei der Pilgerväter – aber dieser Herr war eben ein
grimmiger Spezialgott für die Rechtgläubigen, d. h. also für die blinden
Anbeter des Bibelbuchstabens. Und dieser grimmige Spezialgott begeisterte
sein auserwähltes Volk dazu, die Rothäute mit Feuerwasser und Feuerwaffen
auszurotten und die Ketzer mit Skorpionen zu züchtigen. Wenn drüben nicht
anfangs die Menschen so rar und die Hände so notwendig gewesen wären,
hätten diese europäischen Berserker gerade so eifervoll wie die
Dominikaner der Inquisition mit Folter und Scheiterhaufen gegen Papisten
und protestantische Sektierer gewütet, so aber begnügten sie sich damit,
alle denkenden Köpfe, alle freien Geister, alle vornehmen Menschen
geschäftlich lahm zu legen und aus ihren Wohnorten hinauszuekeln. Ein
amerikanischer Geschichtsschreiber sagt, daß bei den Puritanern außer
Heiraten und Geldverdienen eigentlich alles verboten war. Bei schwerer
Strafe im Nichtbeachtungsfalle war jedem Bürger vorgeschrieben, wie er
sich zu kleiden und zu benehmen, was er zu essen und zu trinken, was er zu
denken und wie er zu fühlen habe. Selbstverständlich wären diese Menschen
niemals die Begründer des größten demokratischen Freistaates der Welt
geworden, wenn nicht ihre geschäftlichen Interessen sie gezwungen hätten,
allmählich einen nach dem anderen von ihren starren Grundsätzen fallen zu
lassen. Die Kolonie Rhode-Island, von einem abtrünnigen, grimmig
verfolgten Prediger, dem edlen Roger Williams, gegründet, war die erste,
welche religiöse Toleranz und wahrhaft freiheitliche Grundsätze einführte,
und gerade sie gedieh so sichtbarlich besser als die Puritanerkolonien,
daß die frommen Väter am geschäftlichen Vorteil ihrer Strenge zu zweifeln
begannen. Das war das Ausschlaggebende. Von jeher hat der angelsächsischen
Rasse der praktische Nutzen über allen Idealen gestanden, und ihr klarer,
nüchterner Wirklichkeitssinn hat sie noch immer davor bewahrt, sich trotz
ihres Hanges zum Spleen in unfruchtbare Träumereien und eigensinnige
Prinzipienreiterei zu verlieren. Das englische Denken ist durchaus _matter
of fact_, und diese Eigenschaft hat die Engländer befähigt, die
mustergültigsten Kolonisatoren der Neuzeit, Handelsherren großen Stiles
und kaltblütige Geschäfts-Politiker zu werden. Für das Klima des
nördlichen amerikanischen Kontinents waren darum auch die Angelsachsen die
denkbar geeignetsten Besiedler. Die rote Urbevölkerung war trotz ihrer
Kriegstüchtigkeit, trotz ihrer Klugheit und Noblesse ihnen gegenüber
verloren, denn die Indianer waren fromm naturgläubig und darum hilflos
abhängig von der Natur, die für die naturfeindlichen Puritaner nur ein
Objekt zur Ausbeutung durch den Menschen bedeutete. Die starke Beimischung
keltischen Blutes hat nun, wie gesagt, viel dazu beigetragen, die
unsympathischen Charaktereigenschaften der angelsächsischen Rasse zu
verwischen. Das feurige Temperament der Kelten besiegte die englische
Steifheit und langweilige Ehrpußlichkeit und erzeugte in der Vereinigung
jenes Geschlecht von waghalsigen Draufgängern, von willensstarken
Optimisten, dem allein das große Werk gelingen konnte, durch die Steppe,
durch die Wüste und über das wilde Hochgebirge hinweg bis zu den üppigen
Gestaden des Stillen Ozeans vorzudringen und sich selbst zu einer
Herrenrasse aufzuschwingen, der alle übrigen von Europa nachdringenden
Völker sich ebenso bedingungslos unterwerfen mußten, wie die unglücklichen
Eingeborenen. Die unwiderstehliche Kraft des Yankeetums liegt ohne Zweifel
in seinem unbeugsamen Rassestolz. Dem Yankee ist es so heilig ernst damit,
daß er sich nicht einmal im Spaß, d. h. im freien Verhältnis, viel weniger
in der Ehe, mit den Angehörigen der zahlreichen anderen Rassen, die seinen
riesigen Kontinent bevölkern, vermischt. Für die lateinischen Eroberer
Südamerikas und auch der südlichen Länder des nördlichen Kontinents hat es
immer einen, wie es scheint, besonderen Reiz gehabt, sich liebespielerisch
mit Frauen anderer Hautfarbe abzugeben. Und was ist dabei herausgekommen?
Kreolen, Mestizen, Quatronen usw. usw., ein schauderhaftes Gesindel, das
für jede höhere Gesittung verloren ist, zuchtlos, widerstandsunfähig, in
Leidenschaften verlottert oder in Trägheit versumpft. Solches
Menschenmaterial ist kaum durch Schrecken zu regieren, viel weniger durch
friedliche Mittel zu einer höheren Kultur emporzuführen, denn
_Mischmasch-Menschen nehmen eben keine Vernunft an_; das Beispiel so
mancher südamerikanischen Republik beweist es. Der Yankee-Mann dagegen hat
sich selbst in den Zeiten, als die Frauen der größte Luxusartikel im Lande
waren, niemals mit Indianermädchen beholfen; seine Vernunft begeisterte
ihn zu der Großtat edelster Gerechtigkeit, die Sklaverei aufzuheben in
einer Zeit, als diese Sklaverei im Grunde doch noch die einzige
Möglichkeit gewährte, die Plantagenwirtschaft der üppig fruchtbaren Länder
des heißen Südens durchzuführen. Dennoch hält er es bis auf den heutigen
Tag für die größte Schande, die ein Weißer auf sich laden kann, sich
geschlechtlich mit den von ihm zu Menschen gemachten Schwarzen zu
vermischen. Aber er geht noch viel weiter, indem er auch die aus Europa
herübergekommenen anderen weißen Rassen, die Romanen, die Slawen, die
Juden, ja selbst die ihm nächst verwandten Deutschen und Franzosen als
Menschen zweiter Klasse ansieht! Gewiß heißt er alle Völker der Erde
vorläufig noch gastlich willkommen, weil eben noch recht viel Platz in
seinem riesigen Lande ist und weil er die Arbeitskraft der Fremden, so
lange sie sich bescheiden gebärden und mit Eifer nützlich machen, gut
gebrauchen kann. Er gewährt diesen Fremden das Bürgerrecht, er läßt sie an
allen Vorteilen seiner freien Einrichtungen teilnehmen, er hat nichts
dawider, wenn sie sich von dem Reichtum seines Landes so viel aneignen,
als ihnen irgend möglich ist, aber er weiß sie überaus geschickt von den
einflußreichen Staatsämtern fernzuhalten und zeigt sich durchaus nicht
übermäßig beflissen, um ihre schönen Töchter zu freien oder seine schönen
Töchter ihnen ins Haus zu führen. Als im Februar dieses Jahres die Tochter
des Milliardärs Jay Gould – nicht etwa einen herunter gekommenen deutschen
oder polnischen Adeligen, sondern einen reichen und kerngesunden jungen
englischen Lord heiraten wollte, empfingen sowohl die Braut wie deren
Eltern aus allen Ländern der Union entrüstete Protestkundgebungen, ja
sogar offene Drohungen, daß das Volk die Hochzeit durch Gewalt verhindern
werde. Denn, wie es in einem solchen, in allen Zeitungen veröffentlichten
Drohbriefe hieß: das gesunde Blut, der reine Leib und die starke Seele der
freien Tochter Amerikas sei viel zu schade, um an die Sprößlinge
entarteter Herrengeschlechter Europas verhandelt zu werden. Man sieht aus
diesem Beispiel, daß der Hochmut der neuen Rasse sich bereits gegen das
eigne Stammvolk zu kehren beginnt. Wie erbärmlich leicht werden bei uns in
Deutschland Rassen- und Standesvorurteile vergessen, wenn sich eine
Gelegenheit findet, den verblaßten Glanz eines alten Wappens durch die
Mitgift einer jüdischen Braut aufzufrischen! Wenn ein Yankee eine Jüdin
heiratet – der Fall dürfte übrigens selten genug vorkommen – so tut er es
sicher aus Liebe, wie denn überhaupt die Geldheiraten in unserem Sinne
unter den Yankees äußerst selten sind, weil es durchaus nicht Sitte ist,
den Töchtern bei Lebzeiten der Eltern einen Teil des Vermögens in Gestalt
einer Mitgift auszuliefern. Die Leichtigkeit des Verdienens und das
Zutrauen, das jeder junge Amerikaner zu seinen Fähigkeiten und zu seinem
Glück hat, macht tatsächlich die Liebesheirat zu dem normalen Verfahren,
und damit ist auch schon eine starke Gewähr für die Aufrechterhaltung
einer kräftigen Rasse durch natürliche Zuchtwahl geboten. Die bevorzugte
Stellung der Frau spielt selbstverständlich unter den günstigen
Bedingungen für die Verbesserung der Rasse auch eine wichtige Rolle. Die
Frau ist in dem neuen Weltteil Jahrhunderte hindurch von den rauhen
Pionieren wie eine Halbgöttin verehrt, wie ein Kätzchen verhätschelt
worden. Niemals wurde ihr harte körperliche Arbeit zugemutet, niemals
wurde ihren Schwächen, Launen und Eitelkeiten mit Grobheit begegnet, immer
sah es der Mann als eine gern geübte Pflicht an, seine Kräfte bis aufs
äußerste anzustrengen, um es der Frau zu ermöglichen, sich gut zu nähren,
schön zu kleiden und in Muße ihre geistigen Anlagen zu pflegen. Die Folge
dieser Behandlung war die, daß sich die Yankee-Frau, wenigstens
körperlich, zur schönsten der Welt entwickelte. Allerdings wird diese
Schönheit, vornehmlich was die Gesichtsbildung betrifft, von den meisten
Europäern als kalt empfunden, auch fehlt ihr die weiche, schmiegsame
Üppigkeit z. B. der Wienerinnen zumeist; aber unbestreitbar verdient sie
den Preis von allen Frauen der Welt in bezug auf die Schmalheit des Fußes
und die edle, schlanke Form des Beins. In ihrem Sinn für Eleganz, in ihrem
aparten Geschmack für Kleidung kommt sie sogar der Pariserin mindestens
sehr nahe. Da sich diese schöne und verwöhnte Frau nur äußerst selten zu
mehr als zwei Kindern bequemt, erhält sie sich lange jung und frisch, und
man sieht daher in den Vereinigten Staaten mehr schlanke, bewegliche,
muntere und hübsch angezogene alte Damen, wie sonst irgendwo in der Welt.
Übrigens hat die Rasse von England den Sinn für vernünftige Körperkultur,
besonders für peinlichste Reinlichkeit mitgebracht, und diese Erbschaft
ist auch den Männern zugute gekommen. Die Arbeit, die die ersten
Kolonisten zu leisten hatten, und in den neuen Staaten heute noch leisten
müssen, vollzog sich ja zumeist im Freien, und der stete Kampf mit Hitze
und Kälte, mit wilden Tieren und Menschen, mit den bösen Fiebern der
Sumpfgegenden, mit Hunger und Durst in den Wüsteneien raffte das
widerstandsunfähige Menschenmaterial hinweg und ließ nur die Stärksten mit
dem Leben davon kommen. Diese unerbittliche Auslese schuf ein Kapital von
Muskel- und Nervenkraft, wovon die Männlichkeit der Nation noch auf eine
gute Weile zu zehren haben wird. Außerdem ist es durch Gesetz streng
verboten, Kranke oder gar Krüppel aus der alten Welt an den Gestaden der
neuen landen zu lassen.

(M8)

Unmittelbar nach meiner Rückkehr aus Amerika besuchte ich ein beliebtes
Kaffeehaus in Berlin. Es war die erste größere Versammlung deutscher
Menschen, die mir nach einer Abwesenheit von ungefähr vier Monaten wieder
vor Augen kam. Und ich muß gestehen, ich war entsetzt, nein, geradezu
erschüttert über den Anblick von so viel Garstigkeit. Diese Speckwampen,
diese Bierbäuche, Kahlköpfe, X- und Säbelbeine, diese verpustelten und
verpickelten, grämlich grauen, brutalen oder schwächlichen, gierigen oder
ärgerlich verknitterten Gesichter gehörten also meinen lieben Landsleuten!
Und mit diesen in ihrem schwappenden Fett schwankend daher watschelnden,
geschmacklos aufgedonnerten Madams, mit diesen käsbleichen, blaßäugig
blöden, stumpfnasigen, schiefzähnigen, feuchthändigen und dickbeinigen
Jungfrauen hatten sie bereits oder gedachten sie fürderhin ihren Nachwuchs
zu erzeugen! Herzzerkrampfend schauderhaft! Gewiß war es ein tückischer
Zufall, der mich gerade bei meinem ersten Ausgang auf diesen Kongreß von
Mißgeburten stoßen ließ, aber daß unsere arg vermanschte Rasse immer noch
von dem ganzen Jammer der deutschen Geschichte in ihrer körperlichen
Erscheinung Zeugnis ablegt, und erst neuerdings in der kultiviertesten
Oberschicht und in der Generation, die bereits die Segnungen einer nach
englischem Muster betätigten Säuglingspflege und einer vernunft- und
naturgemäßen Lebensweise genossen hat, sich deutlich zu verschönern
beginnt, das scheint mir leider unbestreitbar. Drüben in den Vereinigten
Staaten ist der Deutsche und besonders _die_ Deutsche der ersten
Generation meist auf den ersten Blick vom Yankee zu unterscheiden. Dem
deutschen Einwanderer wird es, auch wenn er zu Wohlhabenheit und
angesehener gesellschaftlicher Stellung gelangt, im allgemeinen doch recht
schwer, sich die freie, selbstsichere Nonchalance der Haltung und die
guten Manieren des gebildeten Yankees anzueignen. Und die deutsche
Auswanderin lernt nur in sehr seltenen Fällen Toilette machen und scheint
im höheren Lebensalter unrettbar zu verfetten. Die Kinder dieser
Einwanderer sitzen aber in der Schule neben sehnig schlanken, körperlich
glänzend gepflegten Yankeekindern. Der vornehmste Zweck dieser Schule ist,
den Kindern die Überzeugung beizubringen, daß es ein unüberschätzbarer
Vorzug sei, als amerikanischer Mensch auf die Welt zu kommen, daß sich
alle übrigen Weltteile, alle übrigen Völker nicht im entferntesten mit der
unerhörten Vorzüglichkeit der Vereinigten Staaten und der stolzen
Yankeerasse messen könnten. Selbstverständlich lernt das Kind die
englische Sprache sehr bald viel besser beherrschen, als es seinen Eltern
jemals möglich wird. Es kommt dazu, daß das amerikanische Leben, die ganze
Art der Erziehung die Beobachtungsgabe der Kinder außerordentlich schärft.
Da können nun die deutschen Kinder nicht umhin, Vergleiche anzustellen und
sich darüber ihre Gedanken zu machen; zudem lassen es die Yankeekinder an
boshaften Sticheleien nicht fehlen. Ich habe selber gehört, wie ein
Yankeebübchen einem deutschen Knaben, der bei irgendeinem Unternehmen
mitzutun zauderte, weil sein Vater es ihm verboten hätte, verächtlich die
Achsel zuckend entgegnete: „Ich würde mich doch nicht darum kümmern, was
der olle Dutchman sagt.“ („_I would’nt care, what that old Dutchman
says._“) So wird es selbstverständlich der Kinder größter Ehrgeiz, in
ihrem Äußeren zunächst ihre Abstammung zu verleugnen und sich dem
Wirtsvolk anzuähneln. Und dieser Ehrgeiz entwickelt sich naturgemäß bei
den geistig beweglichsten Kindern am stärksten. Es ist erstaunlich, wie
rasch durch solche Selbstzucht oft die deutschen Kinder ihren Eltern
unähnlich werden. Die Söhne schießen um Kopfeslänge über ihren Vater
hinaus, und wenn sie zum ersten Mal dem amerikanischen Barbier unter die
Finger geraten sind, so ist der smarte Yankeejüngling mit der
aristokratischen Sicherheit seines schlottrig flegelhaften Auftretens bald
fertig. Zu Hause liegen seine langen Beine auf allen Möbeln herum, und er
trifft mit tödlicher Sicherheit die messingene Spuckvase in der
entferntesten Ecke des Zimmers. Das sechzehnjährige Töchterchen aber kann
seiner Mutter aus dem Gesicht geschnitten sein und wird ihr doch so
unähnlich wie ein geraubtes Grafenkind seiner zigeunerischen Ziehmutter.
Die Yankee-Miß führt in ihrer kecken Selbständigkeit ein so
beneidenswertes Dasein, daß jedes deutsche Mädchen, wenn anders es nicht
völlig auf den Kopf gefallen ist, sich mit Händen und Füßen dagegen
sträuben müßte, sich von einer törichten Mutter gewaltsam zu einem
ängstlich daher stolpernden, unmotiviert kichernden und errötenden,
Sittigkeit und Bescheidenheit markierenden Backfisch dressieren zu lassen.

(M9)

So spornt das Beispiel der stärkeren und gesunderen Rasse die körperlich
und geistig bevorzugtesten unter den Kindern der fremden Einwanderer
mächtig zur Anpassung an. Die zweite Generation, vornehmlich der deutschen
Einwanderer, weist schon recht zahlreiche Exemplare auf, die von echten
Yankees kaum oder gar nicht zu unterscheiden sind – und dennoch verhält
sich der Yankee selbst diesen seinen talentvollsten Nachahmern gegenüber
in bezug auf die Ehe immer noch ziemlich spröde. Er sieht die Deutschen
sehr gern in seinem Lande, er schätzt sie hoch als ehrliche, anständige
Menschen, die der politischen Korruption einen zähen Widerstand
entgegensetzen, die mit ihren geschickten Händen, ihrem Fleiß, ihrer
Geduld zu allen feineren Handwerken vorzüglich geeignet und mit ihrer
Klugheit und Gewissenhaftigkeit für allerlei ruhige Ämter, die dem Yankee
zu langweilig sind, und schließlich auch in der Kunst und Wissenschaft
ganz hervorragend brauchbar sind – und dennoch gibt er ihnen seine Töchter
nicht gern zur Ehe! Nicht anders ist es mit den Angehörigen der
romanischen, slawischen, mongolischen und semitischen Völker. Sie hocken
alle in gewissen Stadtvierteln oder Straßenzügen der Großstädte, oder in
kleineren Ansiedlungen auf dem Lande dicht beieinander und bleiben, obwohl
mit allen Rechten des freien Bürgers der Vereinigten Staaten ausgestattet,
fremde Einsprengsel in dem gastlichen Lande. Die Juden z. B. haben es
ebenso wie in Europa zum großen Teil zu bedeutendem Wohlstand gebracht.
Sie entwickeln unter den freiheitlichen Grundsätzen der Gesetze und
Anschauungen einen ungeheuren Ehrgeiz und Lerneifer. In der Presse, in der
Literatur, im Theater, in der Rechtsanwaltschaft und im ärztlichen Beruf
haben sie, geradeso wie in Europa, die Oberherrschaft erlangt. Einzelne
ihrer Mitglieder sind als Inhaber großer Bankhäuser zu einem
weltumspannenden Einfluß gelangt, und dennoch haust die große Masse
derselben noch immer im Ghetto beisammen. Die meisten Yankees würden, wenn
man ihnen den Vorwurf des Antisemitismus machen wollte, erstaunt die
Brauen hochziehen und gar nicht wissen, was das sei; nichtsdestoweniger
findet man auf den gesellschaftlichen Veranstaltungen auch schwer reicher
Juden kaum irgend welche Yankees von Belang, und in den vornehmsten
Badeorten und vielen Hotels ersten Ranges werden Juden überhaupt nicht
zugelassen!

Wenn die Deutschen in der Zeit der großen Massenauswanderung, als auf dem
nordamerikanischen Kontinent noch weite Gebiete herrenlos und unkultiviert
waren, für sich ein solches Neuland erobert, zäh festgehalten, und alle
neu zuströmenden Landsleute hätten zwingen können, sich dort gleichfalls
anzusiedeln, dann hätten die Deutschen einen starken Staat im Staate
bilden können und ihre Selbständigkeit zu wahren vermocht, auch wenn sie
sich dem Staatenbund angeschlossen hätten. Diese Gelegenheit ist endgültig
verpaßt. Aber damit sie in den anderen jungfräulichen Weltgegenden nicht
abermals verpaßt werde, gehet hin, ihr lieben Landsleute, und lernt von
den Yankees, was das unerschütterliche Kraftbewußtsein einer starken,
gesunden Rasse vermag und wie man seine Rasse rein erhält!



                         DER YANKEE ALS ERZIEHER.


(M10)

Die alte Erfahrung, daß junge Eltern sehr häufig bessere Erzieher ihrer
Kinder sind als ältere und reifere, findet im Yankeelande eine auffallende
Bestätigung. Die Yankees sind eben als Rasse und die übrigen Bürger der
Vereinigten Staaten als Nation noch so kindhaft jung, noch so tief
befangen in dem glückseligen Taumel des Kraftüberschusses, daß sie ihre
klügsten wie ihre dümmsten Streiche mit der gleichen schönen Begeisterung
verüben und mit reizender Naivität dem eigenen Verdienst gutschreiben, was
sie oft doch nur glücklichen Umständen zu verdanken haben. Der leichte
Erfolg, der den kraftvollen und rücksichtslosen Ausbeutern jenes
jungfräulichen Kontinents voll ungehobener Naturschätze zu teil wurde, hat
die ganze Rasse eitel, prahlerisch und sorglos wie Kinder gemacht, und
diese Kindlichkeit ist bis auf den heutigen Tag die liebenswürdigste
Eigenschaft des neuen Volkes. Es lebt in den Tag hinein, denkt kaum an
morgen, grundsätzlich nicht an übermorgen, kennt keine Gefahr, erschrickt
vor keinem Hindernis und tröstet sich über alle Schwierigkeiten hinweg mit
dem Gedanken: Es ist noch immer gegangen und wird auch diesmal gehen!
Weist ein Außenstehender auf offenbare Schwächen hin, so erwidert der
Yankee gut gelaunt: „Nun ja, Sie mögen recht haben; aber Sie sehen ja, wir
leben auch so, und wir leben recht gut!“ Man läßt sich alle
Unbequemlichkeiten lachend gefallen und schickt sich in alles, da man an
ein jähes Auf und Nieder von Überfluß und Mangel, von absoluter geistiger
Öde und raffinierter Luxuskultur wie an die schroffen Übergänge von
eisiger Kälte zu glühender Hitze gewöhnt ist. Aus dieser Quelle entspringt
der siegessichere Optimismus und die heiße Vaterlandsliebe des
amerikanischen Volkes. Dem Yankee gilt ganz selbstverständlich alles
Amerikanische als das Beste, das Größte, das Schönste in der Welt, und das
jünglinghafte Renommieren mit all diesen Superlativen ist ebenso
charakteristisch für die Nation, wie ihre Vorliebe für unsinnige
Kraftproben, närrische Wetten, sensationelle Schaustellungen und lärmende
Vergnügungen. Der Yankee bewahrt sich diese jugendlichen Eigenschaften bis
in sein hohes Alter. Greise, die sich necken, puffen und balgen wie Buben,
alte Damen, die sich wie Backfische anziehen, sind alltägliche
Erscheinungen.

(M11)

Es versteht sich von selbst, daß so geartete erwachsene Menschen für das
Denken und Empfinden der Kindesseele weit mehr Verständnis haben müssen,
als das gesetzte, bequemlich würdevolle Alter der Kulturvölker unserer
alten Welt, welches aus der Erfahrung von Jahrtausenden die vorsichtige
Kritik und damit sehr häufig auch den steten mißmutigen Zweifel gelernt
hat. Die geistige Überlegenheit hört auf, ein glücklicher Erziehungsfaktor
zu sein, sobald sie zum geistigen Hochmut ausartet, und in diese Gefahr
gerät sie ja in unserer alten Welt leider nur zu leicht. Wenn es
andererseits richtig ist, daß der Einfluß der Kameradschaft die Jugend
besser zu erziehen vermöge, als das Beispiel des Alters, so sind
zweifellos junge Völker uns als Erzieher überlegen. Der Yankee vergöttert
sein Kind. Erstens einmal, weil es überhaupt ein rarer Artikel ist, und
zweitens, weil es den ungeheuren Vorzug hat, als Amerikaner auf die Welt
gekommen zu sein. Man sollte eigentlich meinen, daß eine so stolze,
exklusive Rasse wie die der Yankees darauf aus sein müßte, die Reichtümer
ihres Landes und die vielen glänzenden Lebensaussichten lieber ihrer
eigenen zahlreichen Nachkommenschaft zuzuführen, als sie den
einwandernden, ihrer Meinung nach doch unendlich minderwertigen
Fremdlingen aus aller Welt zuteil werden zu lassen. Wenn der Yankee dieser
nahe liegenden Erwägung zum Trotz Neumalthusianer ist und folglich selten
mehr als zwei Kinder hat, so erklärt sich das aus der eigenartigen
Stellung, die die Frau im nördlichen Amerika einnimmt. Sie war in den
ersten Jahrhunderten der britischen Kolonisationsarbeit infolge ihrer
Seltenheit ein Gegenstand des beneideten Luxus und der unterwürfigen
Verehrung. Der glückliche Besitzer einer jungen Frau nahm freudig alle
Last der Arbeit auf sich, um seiner Gefährtin die Möglichkeit zu gewähren,
ihre Schönheit, ihre geistige und körperliche Beweglichkeit bis ins Alter
zu pflegen. Die Ansicht, daß es für den Mann die denkbar größte Schande
sei, der schwachen Frau harte Arbeit zuzumuten, brachten die Kolonisten ja
schon aus der britischen Heimat mit, und es ist begreiflich, daß sie unter
den besonderen Verhältnissen des abenteuerlichen Lebens im neuen Lande
noch verstärkt und sogar unvernünftig übertrieben werden mußte. So wurde
also auch das Wochenbett unter die schweren körperlichen Leistungen
gerechnet, die ein Mann seiner Frau nicht öfters zumuten dürfe, als der
Bestand und die Interessenpolitik der Familie es unbedingt erforderten. So
ist es erklärlich, daß bis auf den heutigen Tag Anglo-Amerikanerinnen, die
ihren Stolz darin suchten, viele Kinder zu haben, äußerst selten sind. Die
wenigen vorhandenen Kinder profitieren natürlich am meisten bei diesem
Zustand. Bei der ungemein bevorzugten Stellung der Frau und bei den
günstigen Lebensaussichten, welche nicht nur das begüterte, sondern auch
das auf seine Arbeit angewiesene Mädchen in den Vereinigten Staaten hat,
erklärt es sich, daß die Geburt eines Knaben durchaus nicht höher
eingeschätzt wird, als die eines Mädchens. Eine vernünftige
Säuglingskultur herrscht als gute englische Erbschaft über den ganzen
Kontinent. Die Eltern sind von einer rührenden Geduld und Nachsicht den
Kleinen gegenüber. Ein Kind zu schlagen gilt als unerhörte Roheit.
Kinderzucht in unserem Sinne wird drüben wohl nur noch von manchen der
eingewanderten Fremdvölker, vornehmlich in deutschen Familien versucht,
aber meist vergeblich, denn schon die Kleinsten werden sehr bald durch den
Vergleich belehrt, daß sie es nicht nötig haben, sich in dem freien Lande
eine unwürdige Behandlung gefallen zu lassen. Deutschen Beobachtern
erscheint das Yankeekind sehr oft als vorlaut, unziemlich respektlos und
unerträglich ungezogen, wogegen die Yankee-Eltern das starke Hervorkehren
des Eigenwillens in ihren Kindern als einen Vorzug ansehen und sich hüten,
deren Selbständigkeit zu unterdrücken. Sie geben sich die erdenklichste
Mühe, ihren Verkehr mit den Kindern auf den Ton der Kameradschaft zu
stimmen und behandeln die unverschämten Gernegroße, sobald sie aus dem
Alter der süßen Kindlichkeit heraus sind, in dem man mit ihnen wie mit
Puppen spielen kann, wie Erwachsene. Infolgedessen emanzipieren sich die
Kinder auch sehr frühe vom Elternhause, und zwar nicht nur in den
untersten Ständen, wo die Notwendigkeit mit zu verdienen die
lächerlichsten Knirpse oft schon zu selbständigen Unternehmern, zu fixen
kleinen Handelsleuten macht.

(M12)

Die öffentliche Schule gliedert sich in Kindergarten (diese deutsche
Bezeichnung hat man allgemein übernommen), sowie Volksschule
(Popular-School), Grammar-School, High-School und Colleges oder
Universitäten. Das Hauptziel, namentlich der niederen Schulen, ist
Erziehung zum Patriotismus. Da auch die Kinder sämtlicher eingewanderter
Fremdvölker sofort für die Schule eingefangen werden, so bekommen auch die
jungen, frisch importierten Deutschen, Slowaken, Griechen, russischen
Juden, Syrer und Chinesen zunächst einmal den Grundsatz eingetrichtert,
daß alles Amerikanische von unzweifelhafter Vortrefflichkeit sei. Die
Verfassung der Vereinigten Staaten wird als höchste Leistung idealen
demokratischen Bürgersinnes auswendig gelernt. (Sie ist übrigens
tatsächlich nach Form und Inhalt ein Muster von Klarheit, Sachlichkeit und
edler, vernünftiger Menschlichkeit.) Die kurze, krause und an erziehlichen
Heldenbeispielen nicht eben überreiche Geschichte des Staatenbundes gilt
als wichtigster Gegenstand des Studiums, die Geschichte der übrigen Welt
dagegen als unbeträchtlich. So vernünftig und so schön nun auch dieser
heiße Eifer in der Förderung der Vaterlandsliebe ist, so verführt er doch
naturgemäß leicht zu ebenso gröblichen Fälschungen und Unterschlagungen
von Tatsachen, wie bei uns etwa die konfessionell gefärbten Darstellungen
der Kulturgeschichte. In einem sehr verbreiteten und hochgeschätzten
Schulbuch, „_History of the American Nation_“ von Andrew C. Mc Laughlin,
Geschichtsprofessor an der Universität von Michigan, das ich mir zu meiner
eigenen Belehrung anschaffte, kommt zum Beispiel in dem 28 eng gedruckte
Spalten umfassenden Index das Stichwort „_German_“ gar nicht vor! Der
große und rühmliche Anteil, den die eingewanderten Deutschen sowohl als
Kämpfer in den nationalen Kriegen wie auch als Kulturpioniere auf den
verschiedensten Gebieten geleistet haben, wird völlig mit Stillschweigen
übergangen und nur der Baron Steuben flüchtig als nützlicher militärischer
Drillmeister erwähnt! Das ist ein etwas starkes Stück und will gar nicht
dazu stimmen, daß die Pflege der Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit von dem
Yankeevolke als vornehmster Grundsatz der häuslichen wie der öffentlichen
Erziehungskunst laut verkündet wird. Man darf es wohl den Amerikanern
glauben, auch wenn man nicht lange genug im Lande gewesen ist, um es durch
die eigene Beobachtung genügend bestätigt gefunden zu haben, daß es ihrer
Erziehung gelinge, feige Lüge und Heuchelei den Kindern schimpflicher
erscheinen zu lassen, als selbst gefährliche Streiche des Übermuts und
sogar Ausbrüche der Roheit. Der erwachsene Amerikaner lügt zwar, wenn es
sein Vorteil erheischt, ärger als ein Gascogner und nimmt es, namentlich
dem Staate gegenüber, auch mit seinem Eide durchaus nicht genau – seine
Lügenkünste werden sogar, wenn er Geschäftsmann und Politiker ist, als
_smartness_ bewundert – aber das amerikanische Kind fühlt sich nicht so
leicht zur Lüge veranlaßt, weil es nicht in steter Furcht vor Prügeln und
sauertöpfischen Mienen aufwächst. Auch die Schule läßt keinerlei
Duckmäuserei aufkommen und straft z. B. den Angeber mit Verachtung,
anstatt ihn aufzumuntern. Die ganze Pädagogik geht darauf aus, das
Ehrgefühl zu verfeinern und den Ehrgeiz anzureizen. Sie ist
außerordentlich verschwenderisch mit Preisen und schmeichelhaften
Belobigungen und sie straft vornehmlich durch Beschämung. Dadurch, daß sie
die Leistungen körperlicher Tüchtigkeit kaum minder hoch einschätzt als
die geistige Befähigung, schafft sie auch für die minder Begabten, aber
wenigstens körperlich gewandten und mutigen Schüler eine Möglichkeit,
ehrenvolle Auszeichnungen davonzutragen. Gute Schüler, die sowohl in den
_Athletiks_ wie in den Wissenschaften Hervorragendes leisten, kommen im
Laufe der Schuljahre in den Besitz eines kleinen Museums von Ehrenflaggen
und Wimpeln, silbernen Bechern, Medaillen, Diplomen, Bücherpreisen und
dergl., und diese Trophäen aus der Schulzeit machen noch in höherem Alter
den größten Stolz der Inhaber aus.

(M13)

Sehr schwer ist es begreiflicherweise, den jungen Republikanern Disziplin
beizubringen, denn die Abneigung gegen jeden Zwang liegt ihnen im Blute.
Dazu pflegen sie im Durchschnitt auch noch erheblich temperamentvoller und
lebhafter, ungebärdiger und eigenwilliger zu sein, als die Kinder der
meisten anderen Völker. Man stelle sich eine junge Lehrerin (die
Lehrkräfte sind zum überwiegenden Teil weibliche) einer großen Klasse von
tobsüchtigen Buben und ausgelassenen Mädels gegenüber vor. Schlagen darf
sie nicht, auch wenn sie körperlich imstande wäre, diese wilden Rangen zu
bewältigen. Wüstes Anschreien ist auch verpönt; wie soll sie also mit
einer solchen Gesellschaft fertig werden? Georg v. Skal erzählt in seinem
Buche „Das amerikanische Volk“ ein hübsches Beispiel, wie solch eine schon
fast verzweifelte junge Lehrerin ihrer besonders wilden Klasse Herr wurde.
Sie erklärte nämlich der radaulustigen Gesellschaft, sie habe es satt,
sich die Schwindsucht an den Hals zu ärgern, sie möchten sich gefälligst
allein regieren; sie gebe ihnen anheim, sich einen Präsidenten, einen
Vizepräsidenten und was sonst für Beamte notwendig seien, aus ihrer Mitte
zu wählen und mache dann diese selbstgewählte Regierung für
Aufrechterhaltung der Ordnung verantwortlich. Und siehe da, der angeborene
_common sense_, d. h. der Instinkt für das Vernünftige, brachte diese
schwierige Gesellschaft ohne irgend welche Beeinflussung von oben dazu,
den besten und gesittetsten Schüler der Klasse zum Präsidenten und den
stärksten und gewalttätigsten zum Vizepräsidenten zu erwählen. Der erstere
suchte durch vernünftige Überredung einzuwirken, und der Vizepräsident,
als Haupt der Exekutive, verprügelte eigenhändig die unbotmäßigen Elemente
dergestalt, daß sie es bald vorzogen, sich widerspruchslos zu fügen. Die
junge Lehrerin durfte sich bald einer Musterklasse rühmen. Die
Selbstverwaltung spielt überhaupt eine große Rolle im amerikanischen
Schulwesen. Schülerverbindungen aller Art werden nicht wie bei uns
unterdrückt, sondern im Gegenteil begünstigt. Die Lehrer unterweisen diese
Verbindungen in der Handhabung der parlamentarischen Formen und wachen nur
darüber, daß keine unziemlichen oder unsinnigen Ausschreitungen
stattfinden. Der schlimme Anreiz zur frühzeitigen Nachahmung eines
studentischen Saufkomments fehlt den Schülern der amerikanischen
Mittelschulen vollständig, da ein solcher auf den Universitäten nicht
existiert. Und so läuft die Haupttätigkeit aller Schülerverbindungen auf
Sport und Spiel, vornehmlich auf die Nachäffung des politischen Lebens im
kleinen, auf Übung im Redenhalten und Debattieren hinaus. Der Erfolg ist
denn auch der, daß der junge Amerikaner des Durchschnitts zum mindesten
die rhetorische Phrase außerordentlich geläufig beherrschen lernt und daß
die hervorragenden Intelligenzen sich spielenderweise zu vorzüglichen
Rednern und schlagfertigen Debattern heranbilden. Der Lehrplan ist in den
Elementarschulen durchaus auf das Praktische gestellt; es wird scharf
gedrillt, viel auswendig gelernt und viel examiniert. Was jeder Mensch an
Elementarwissen zum Leben unbedingt notwendig braucht, wird zuverlässig
den im allgemeinen äußerst hellen und lernbegierigen Köpfen
eingetrichtert. Nebenbei verrichtet aber die Volksschule noch eine höchst
wichtige Kulturarbeit, indem sie auch die erwachsenen Einwanderer durch
deren Kinder erziehen läßt. Selbstverständlich erlernen diese die
englische Sprache sehr viel rascher und gründlicher als die Eltern und
werden dadurch zu deren Lehrern. Aber sie werden auch zu Lehrmeistern
ihrer Eltern in bezug auf Körperkultur, Hygiene und Manieren. Jedes Kind,
das nicht sauber gewaschen und in properem Anzug zur Schule kommt, wird
seinen Eltern heimgeschickt mit dem Auftrag, das Nötige zur Behebung
solcher Mängel sofort vorzunehmen. Die heimgeschickten Kinder fühlen sich
so beschämt durch diese Maßnahme, daß sie es in den meisten Fällen auch
bei Eltern, die einem Volke angehören, dem die Pflege des Drecks ein
Gegenstand religiöser Überzeugung ist, durchsetzen werden, daß um der
Schule willen Seife, Zahnbürste, Kamm usw. mit der der angelsächsischen
Rasse angeborenen Energie angewendet werden. In besonders schwierigen
Fällen begleiten wohl die Lehrerinnen die armen Kinder solcher
Schmutzfanatiker heim und reinigen und beflicken sie selbst vor den Augen
der Eltern; oder die Angehörigen besonderer sozialer Hilfsvereine
unterziehen sich dieser menschenfreundlichen Aufgabe. So lernen sich
unzivilisierte Eltern vor ihren Kindern schämen und bringen es noch auf
ihre alten Tage über sich, dem Weidwerk auf den eigenen Köpfen nachzugehen
und die ehrwürdige Patina des wärmenden Drecks, den sie aus Europa oder
Asien über das Weltmeer mit hinüber gebracht haben, den ungemütlichen
Idealen moderner Hygiene zu opfern.



                   DAS UNIVERSITÄTSLEBEN IN DER UNION.


(M14)

Wer sich über die tiefsten Wesensunterschiede der amerikanischen und der
europäischen Kultur klar werden will, der möge sich nur ordentlich umsehen
auf den Stätten, wo die geistigen Werte in gangbare Münze umgesetzt und
die großen Wechsel auf die kulturelle Zukunft ausgestellt werden, nämlich
– auf den Hochschulen. Wer in Deutschland akademischer Bürger gewesen ist,
dem muß zunächst unfehlbar der große Unterschied zwischen hüben und drüben
in der äußeren Erscheinung der Studenten und Studentinnen auffallen.
Abgesehen davon, daß selbstverständlich der groteske Typus des Studiosus
Süffel, des bemoosten Hauptes mit dem Bierbauch und den aufgeschwemmten,
kreuz und quer zerhackten Backen, sowie auch die des hochmütig blasierten
ultrapatenten Korpsstudenten fehlt, sieht man sich auch vergeblich nach
dem Typus unseres heißbeflissenen Jüngers der Wissenschaft um, nach den
stubenbleichen Brillenträgern, den verträumten oder frühzeitig
zergrübelten Denkerköpfen, deren Alter schwer bestimmbar und deren
ungeschicktes, weltfremdes Gebaren mit der Reife und dem Ernst ihres
Denkens und Redens oft in so drolligem Widerspruch steht. Drüben sieht man
nur frische, derbe Jungens und Mädels; die ersteren häufig noch bärenhaft
tolpatschig, die letzteren mit der ruhigen Sicherheit der früheren Reife
ihres Geschlechts auftretend. Die sozialen Unterschiede der Herkunft
machen sich nur in der Kleidung bemerkbar und in der größeren oder
geringeren Zierlichkeit der Gliedmaßen und Verfeinerung der Manieren. Im
Ausdruck der Gesichter herrscht aber eine erstaunliche Gleichartigkeit.
Die Studierenden der beiden ersten Semester werden _Freshmen_ genannt, der
zweite Jahrgang _Sophomors_, der dritte Jahrgang _Juniors_, der vierte
Jahrgang _Seniors_. Alle zusammen sind die _Undergraduates_, und was nach
dem Graduieren, d. h. also nach dem Baccalaureats oder sonstigem
Staatsexamen, noch weiter studiert, _Postgraduates_; als äußerliches
Kennzeichen führen sie verschieden gefärbte Knöpfe auf ihren Oxfordbaretts
oder gestrickten Wollkappen. Von der High-School kommen sie zwischen 17
und 19 Jahren zur Universität oder in die Colleges; aber nicht, wie bei
uns, tut nun der junge Mensch einen gewaltigen Sprung aus der strengen
Disziplin in die schrankenlose Freiheit, sondern nur einen bedächtigen
Schritt vorwärts von einer strengeren zu einer freieren Schulgattung, denn
auch auf der Universität und im College sind die jungen Leute einer
Disziplin unterworfen, die ihre persönliche Freiheit immerhin beschränkt.
Sie wohnen in sogenannten _Dormitories_ (Schlafhäusern), wo sie, je nach
ihren Mitteln, einzeln oder mit Kameraden zusammen hausen. Die Mahlzeiten
nehmen sie gemeinsam in einer großen Halle ein, wo sie für billiges Geld
eine einfache, nahrhafte Kost, aber nur Wasser zu trinken bekommen. An
denjenigen Hochschulen, die beiden Geschlechtern gemeinsam dienen, sind
für die Mädchen besondere Schlafhäuser und meist auch Speisesäle
vorhanden. Ebenso auch besondere Gymnasien, d. h. Sporthallen, und
besondere Spielplätze; dagegen häufig gemeinsame Klublokale, wo sie
Tanzvergnügungen abhalten, Liebhabertheater spielen, Nachmittagstees oder
Abendreceptions geben. Von jeder Aufsicht frei sind sie nur in ihren
Vereinen und in ihren Bruder- oder Schwesterschaften (_Fraternities_ und
_Sororities_). Diese letzteren nehmen die Stelle unserer Verbindungen ein.
Sie bezeichnen sich aber nicht nach Landsmannschaften, sondern mit
Buchstaben des griechischen Alphabets, welche die Anfangsbuchstaben eines
Wahlspruchs sind, den sie meist mit drolligem Ernst als ein großes
Geheimnis bewahren. Nur die wohlhabenden Studenten und Studentinnen können
sich die Mitgliedschaft in einer solchen Bruder- oder Schwesternschaft
leisten, denn diese Vereinigungen besitzen eigne Häuser, in denen sie, zum
Teil sogar recht luxuriös, wie Gentlemen und Ladies der besten
Gesellschaft zusammen leben, essen und arbeiten. Selbst die bescheidensten
dieser Verbindungshäuser sind mit allen modernen Bequemlichkeiten
behaglich und gediegen ausgestattet. Man sieht also auch aus dieser
Erscheinung wieder, wie das demokratische Prinzip der Gleichmacherei immer
wieder von dem natürlichen Drange des Menschen nach aristokratischer
Absonderung durchbrochen wird; nur, daß es in der großen Republik ein
selbstverständliches Gebot anständiger Gesinnung ist, Vorzüge der Geburt
und des Besitzes nicht durch anmaßendes Wesen gegenüber den vom Glück
weniger Begünstigten zum Ausdruck kommen zu lassen. Man wird schwerlich
jemals beobachten können, daß arme Studenten und Studentinnen, die sich
durch Stundengeben, Schreiber- oder gar Handlangerdienste mühsam
durchschlagen müssen, vor den Mitgliedern der reichen Verbindungen
unterwürfig kriechen, oder daß jene sich diesen gegenüber einen
überheblichen, unkameradschaftlichen Ton herausnähmen. In allen
gemeinsamen Angelegenheiten halten die Studenten fest zusammen, und der
Stolz auf ihre Alma mater äußert sich bei allen festlichen Gelegenheiten,
namentlich bei den sportlichen Wettkämpfen mit anderen Hochschulen, in
einem erfrischend jugendlichen Enthusiasmus. Jede Hochschule hat einen
besonderen _Cheer_, d. h. _Hochruf_, nach Rhythmus und Melodie
verschieden. Und mit diesem Cheer werden die beliebten Professoren und die
sportlichen Siege gefeiert, bei den großen Wettkämpfen muß er gleich dem
Kriegsruf wilder Völkerschaften zur Anspornung des Kampfeifers dienen. Wer
einmal – etwa gar in dem berühmten _Stadion_ der zwanzigtausend Menschen
fassenden Arena von Cambridge bei Boston, einem Fußballmatch zwischen
Harward und Yale beigewohnt hat, wird zeitlebens den Eindruck nicht
vergessen. Jede der beiden Parteien hat ihr eignes Musikkorps, welches in
den Spielpausen Studentenlieder und schmetternde Märsche zum besten gibt
und während des Spiels jede bedeutsame Wendung, jede gute
Augenblicksleistung des Einzelnen mit einem Tusch quittiert. Vor jedem der
beiden Musikkorps sind Angehörige der betreffenden Parteien aufgestellt,
welche, mit riesigen Sprachrohren bewaffnet, den _College-Cheer_
intonieren und, wild mit den Armen fuchtelnd, meistens gänzlich
unrhythmisch und unmusikalisch, den Tusch der Bläser dirigieren. Und dann
fallen in diesen Heilruf nicht nur die Kommilitonen, sondern auch die
anwesenden früheren Studierenden der betreffenden Universität und deren
ganzer Anhang von Freunden und Verwandten im Publikum ein, und das mit
einer Begeisterung und einem Kraftaufwand, daß dem unbeteiligten Fremdling
darüber Hören und Sehen vergeht. Man springt auf die Bänke, man schwenkt
Taschentücher und Kopfbedeckungen, wildfremde Menschen packen sich bei den
Schultern und schütteln und stoßen sich, um einander aufmerksam zu machen
auf spannende Momente oder sich zu größerer Begeisterung für die Sieger
aufzurütteln. Und dabei sieht der Fremdling, der von dem Spiel nichts
versteht, eigentlich nur einen in eine Staubwolke eingehüllten Knäuel
grotesk bekleideter Jünglinge, der sich balgend auf dem Boden wälzt, wobei
ein Individuum dem andern die Rippen eintritt, mit den Fäusten den Wind
ausbläst (_to blow the wind out_) oder die schweren Sportstiefel unter die
Nase feuert, bis sich einer mit dem eroberten Ball unterm Arm aus dem
wüsten Menschensalat herausarbeitet und in weiten Sprüngen, wie ein junger
Hirsch, unter dem betäubenden Jubel von zwanzigtausend bis zur Tollheit
begeisterten Landsleuten über den Kampfplatz stürmt.

(M15)

In diesen Wettspielen der höchst kultivierten Jugend Amerikas erlebt man
staunend bei dem traditionslosesten aller Gegenwartsvölker eine höchst
eindrucksvolle Auferstehung der Antike. Die Schönheit und Anmut der
nackten Griechen fehlt freilich völlig bei dieser unförmlich wattierten,
mit Lederkappen und Fausthandschuhen ausgerüsteten Yankeemannschaft, aber
die leidenschaftliche Teilnahme des ganzen Volkes, die diese Kraft- und
Gewandtheitsspiele seiner Jugend zu einer nationalen Angelegenheit macht,
kann auch im alten Hellas und im alten Rom nicht hinreißender gewesen
sein. Die amerikanische Mutter ist auf ihren Sohn, dem beim Ballspiel das
Nasenbein oder sonstige Extremitäten geknickt wurden, so stolz wie die
Spartanerin, deren Knabe, ohne mit der Wimper zu zucken, sich mit Ruten
bis aufs Blut peitschen ließ.

(M16)

Diese hohe Wertschätzung der körperlichen Tüchtigkeit, die übrigens
keineswegs nur auf das männliche Geschlecht beschränkt ist, trägt sehr
viel dazu bei, dem amerikanischen Studentenleben sein durchaus
eigenartiges Gepräge zu verleihen. Ich habe mir des öfteren erlaubt,
amerikanischen Studenten gegenüber meinem Zweifel Ausdruck zu geben, daß
diese Helden der Arena, diese Champions der Ballschläger, Ruderer,
Wettläufer und Boxer auch in geistiger Beziehung Zierden einer
wissenschaftlichen Anstalt seien, habe aber fast regelmäßig die Antwort
bekommen, daß meine Zweifel durchaus unbegründet, vielmehr unter den
hervorragenden Athleten häufig auch die tüchtigsten wissenschaftlichen
Begabungen, zum mindesten aber die fleißigsten Büffler zu finden seien.
Weit weniger sichere und selbstbewußte Antworten dagegen erhielt ich, wenn
ich amerikanische Studenten nach ihren wissenschaftlichen Zielen oder gar
nach ihrer Weltanschauung auszuforschen versuchte. Da hieß es meist: „Ach,
darüber zerbrechen wir uns vorläufig den Kopf nicht. Wenn wir unser Examen
gemacht haben, schickt uns die Regierung nach Portorico oder nach Haiti
oder sonst wohin, da haben wir schon eine gute Stellung in Aussicht.“ Ein
anderer sagt: „O, ich trete einfach in das Geschäft meines Vaters ein, da
brauche ich keine andere Weltanschauung als die eines Gentlemans.“ Da die
englische Sprache keinen präzisen Ausdruck für Weltanschauung kennt, so
ist es überhaupt sehr schwer, einem jungen Amerikaner begreiflich zu
machen, was man damit meint. Der Optimismus des jungen erfolgreichen
Volkes sitzt ihm so tief im Geblüt, daß er kaum begreift, wie man sich von
Zweck und Wert des Lebens, von der Vortrefflichkeit der bestehenden
Weltordnung verschiedenartige Vorstellungen machen könne. Er fühlt nicht
den mindesten Drang oder Beruf in sich, an diesen Dingen Kritik zu üben,
weil er in der Anschauung aufgewachsen ist und sie innerhalb seiner jungen
Erfahrung überall bestätigt findet, daß für einen Bürger der Vereinigten
Staaten überall Raum und Gelegenheit zur erfolgreichen Betätigung seiner
Kräfte und Talente gegeben sei. Eine solche Anschauung ist unzweifelhaft
gesund für Leib und Seele – aber für die wissenschaftliche Erkenntnis ist
sie nichts weniger als förderlich. Innerhalb dieser Zufriedenheit mit dem
Gegebenen bleibt eben kein Platz für den fruchtbaren Zweifel und für die
Unersättlichkeit des Forschers. Den amerikanischen Studenten im
allgemeinen interessiert nur jenes positive Wissen, dessen unmittelbare
praktische Verwertbarkeit ihm einleuchtet. Und wie der Zuschnitt aller
amerikanischen Erziehungsanstalten, von der Elementarschule an, darauf
eingerichtet ist, dem jungen Nachwuchs zu geben, was er braucht, wonach
seine natürlichen Instinkte sich freudig drängen, so sind auch die
Universitäten keineswegs darauf aus, Gelehrte zu züchten, sondern ihre
Absicht ist vielmehr nur, dem Schulwissen den letzten Schliff, das
_refinement_ der höheren Kultur und den Fachstudien jene Vertiefung zu
geben, die sie im praktischen Leben erst nutzbar macht. Der amerikanische
Student glaubt an sein Lehrbuch und schwört auf die Worte seines Lehrers.
Er lernt fleißig, ohne sich von Zweifeln beirren zu lassen, und beschränkt
sich auf die Fächer, die ihm für seinen künftigen Beruf als notwendig
vorgeschrieben sind. Überflüssige Wissenschaften nimmt er nur eben so mit,
sofern er die Eitelkeit besitzt, als Schöngeist zu glänzen, und um sich
von den Damen seines Kreises nicht in bezug auf allgemeine Bildung in den
Schatten stellen zu lassen. Seinen Professor plagt auch keineswegs der
Ehrgeiz, den Prometheusfunken schöpferischen Instinktes, der etwa in den
jungen Köpfen seiner Hörer schlummern mag, zur hellen Flamme aufzublasen
und die Methoden selbständiger wissenschaftlicher Forschung diesen
zukünftigen Bahnbrechern nahezubringen. Er begnügt sich meistens damit,
sein Fachwissen der Jugend mitzuteilen, und sorgt durch Abfragen und
Aufgabenstellen dafür, daß sie sich dies Fachwissen gründlich einprägen.
Er ist daher in weitaus den meisten Fällen nach unseren Begriffen selber
gar kein Gelehrter, sondern eben nur ein Reservoir von Kenntnissen, ein
Experte, ein Korrepetitor. Unter den überaus zahlreichen Professoren
deutscher Abstammung, die es drüben als Universitätslehrer zu großem
Ansehen gebracht haben, finden wir daher so manchen, der sich niemals
wissenschaftlich betätigt hat und als einfacher Töchterschul-, Real- oder
Gymnasiallehrer ausgewandert ist. Erweisen sich solche bescheidene
Handlanger der Wissenschaft drüben als gute Pädagogen, bei denen die
Kinder gern und gut lernen, so haben sie es nicht schwer, zu
Hochschullehrern aufzurücken. Anstandshalber pflegen sie dann einen
Leitfaden, ein Kompendium oder eine populäre Darstellung ihres speziellen
Wissensgebietes zu verfassen. Im Colleg ist der freie Vortrag von seiten
der Professoren durchaus nicht die Regel, sondern eher die Ausnahme. Die
meisten halten sich an ein Lehrbuch eigner oder fremder Erzeugung und
pauken dies gewissenhaft den Schülern ein. Schüler bleiben die Studenten
ja in der Tat, bis sie ihren akademischen Grad erreicht haben. Der
_Freshman_ birgt in seinem Schädel keineswegs jene beängstigende Masse
verschiedenartigster Kenntnisse, deren Vorhandensein der deutsche Schüler
im Abiturientenexamen nachweisen muß. In den philologischen Fächern,
namentlich in den alten Sprachen, besitzt er kaum das Wissen eines
deutschen Untersekundaners; in den modernen Sprachen, in Geschichte und
Geographie weiß er vielleicht so viel, daß er bei uns das
Einjährigenexamen bestehen könnte, und in den Realien etwas mehr. Wer also
eine humanistische Bildung erstrebt, der arbeitet das Pensum unserer
Obersekunda und Prima erst auf der Universität durch; die übrigen werfen
sich von vornherein auf das Fach, aus dem sie später ihren Beruf zu machen
gedenken. Es gibt besondere Drillanstalten für Juristen, für Mediziner,
für Theologen – die letzteren werden von den einzelnen Denominationen
(Sekten) auf eigne Kosten unterhalten. Am stärksten besucht und am
glänzendsten ausgestattet sind die Institute für die technischen Berufe,
die chemischen und physikalischen Laboratorien, die
Maschinen-Ingenieurschulen, die Museen und Sammlungen für den
Anschauungsunterricht der Geologen, Zoologen, Landwirte, Architekten usw.
usw. Weitaus die meisten Universitäten sind im Grunde nichts anderes als
technische Hochschulen, an welche eine philosophische Fakultät, eine
juristische, medizinische oder theologische Fachschule angegliedert sind,
ganz ähnlich wie ja auch bei unseren technischen Hochschulen Vorlesungen
über Nationalökonomie, Literatur und Kunstgeschichte, über Philosophie und
dergleichen, die allgemeine Bildung bereichernde Gegenstände gehalten
werden. Es ist ja sehr begreiflich, daß vorläufig noch die weitaus
überwiegende Mehrzahl der geistig regsamen jungen Leute in Amerika sich
nach den Berufen drängt, welche noch auf lange Zeit hinaus die größte
praktische Bedeutung haben werden. Für Hoch- und Tiefbauingenieure,
Elektrotechniker, Maschinenkonstrukteure, Geologen, Schiffsbauer, Chemiker
gibt es selbstverständlich in dem Riesenkontinent mit den großen, noch
unerschöpften Möglichkeiten der Ausbeutung viel mehr zu tun, als für die
Vertreter der reinen Geisteswissenschaften. Man hegt trotzdem eine an
Ehrfurcht grenzende Hochachtung für die seltsamen Idealisten, welche,
anstatt ihre Schöpfkellen unter die zurzeit noch üppig sprudelnden
Goldquellen zu halten, den Durst ihrer Seelen mit transzendenten
Betrachtungen stillen, und statt nach blanken Metalladern nach
Regenwürmern graben. Es gibt auch in Amerika wunderliche Käuze, die
imstande sind, sagen wir über das Alpha privativum im Griechischen dicke
Wälzer zu schreiben, oder lange Jahre ihres Lebens der Erforschung
irgendeines dunkeln Winkels der Geschichte zu opfern, an dessen Aufhellung
keinem modernen Menschen das Geringste gelegen ist. Man bezahlt sogar
solche Käuze – sie sind übrigens fast alle Deutsche – sehr gut und ist
besonders stolz auf ihren Besitz – aus demselben Grunde, aus welchem man
unerhörte Summen aufwendet, um allen möglichen alten Trödel aus Europa
neben wirklichen Kostbarkeiten der Kunst in die privaten und öffentlichen
Sammlungen Amerikas zu schleppen. Man will eben der Alten Welt beweisen,
daß man sich in der Neuen den Luxus der Reliquienverehrung auch leisten
könne und daß man keineswegs den übeln Ruf verdiene, ein Volk von
Emporkömmlingen zu sein, das nur für materielle Dinge Achtung und
Verständnis besitze.

(M17)

Es ist charakteristisch, daß es drüben Privatgelehrte wohl überhaupt nicht
gibt. Wer wirklich gelehrte Studien treibt, seien es auch solche, deren
praktischer Wert nicht ersichtlich ist, kann sicher sein, in einer
Universitätsstellung seinen Lebensunterhalt zu finden, sei es auch nur als
sorgfältig unter Glas verwahrte Rarität. Es gibt also auch kein gelehrtes
Proletariat, und das scheint mir denn doch ein Vorzug zu sein, um welchen
wir das junge Land nur beneiden können. Jeder akademische Bürger ist
imstande, die Kenntnisse, die er sich auf der Hochschule erworben hat,
später praktisch zu verwerten. Der Staatsbeamte braucht nicht seinen
Eltern bis in seine 30er Jahre hinein auf der Tasche zu liegen, der Arzt,
der Rechtsanwalt, der keine Praxis, der Geistliche, der keine Gemeinde
findet, braucht deswegen immer noch nicht zu verzweifeln, sondern sich nur
einen Stoß zu geben und die Annehmlichkeiten einer östlichen Großstadt mit
der Langenweile eines wildwestlichen Standquartiers zu vertauschen, so
wird er auch seine Rechnung finden; wenn nicht, so wird er eben
Geschäftsmann, Farmer oder sonst etwas Vernünftiges. Seine Bildung braucht
ihm dabei nicht hinderlich zu sein. Handel, Industrie und Landwirtschaft
schicken ihre Söhne scharenweise auf die Universitäten, um sich dort
allgemeine Bildung und nützliche Spezialkenntnisse zu erwerben. Das für
die eigentliche wissenschaftliche Forschung in Betracht kommende
Studentenmaterial bildet nur eine fast verschwindende Minderheit. Übrigens
finden diese Leute, die sich dann wohl meist der akademischen
Lehrtätigkeit widmen wollen, als _Postgraduates_ auch in Amerika reichlich
Gelegenheit, ihre Studien zu vertiefen und zu erweitern, denn es fehlt
weder an hervorragenden Kapazitäten in fast allen wissenschaftlichen
Fächern, noch an Lehrmitteln. Die Bibliotheken zumal sind überaus reich
ausgestattet. Sollte aber ihr wissenschaftlicher Eifer sich auf Gebiete
werfen, die in der Heimat noch zu wenig angebaut sind, so finden sie
sicher Mäzene, die ihnen ein weiteres Studium im Auslande ermöglichen,
wenn die eignen Mittel dazu nicht ausreichen sollten.

(M18)

Es kann wohl keinem Zweifel unterliegen, daß die Frische und Freudigkeit,
die uns bei der amerikanischen akademischen Jugend so vorteilhaft
auffällt, die glückliche Folge der Klarheit und Sicherheit aller
Verhältnisse drüben ist. Der junge Mensch kommt nicht als überfüttertes
Geistesmastprodukt auf die hohe Schule; er hat nicht seine schönsten
Jugendjahre an eine erzwungene Arbeit verloren, deren Nutzen er nicht
einzusehen vermochte, und hat nicht seinen Charakter verdorben durch
ohnmächtiges Zähneknirschen wider ein verhaßtes System und deren lebendige
Vertreter; er kommt mit echt jugendlichem Vertrauen seinen Lehrern
entgegen und braucht sich nicht vorzeitig mit der Schicksalsfrage zu
quälen: wozu büffelst du nun eigentlich noch immer weiter? Wird dir dein
Wissen auch ein sicheres Auskommen gewähren, oder wird die einzige
Vergeltung für dein höheres Streben darin bestehen, daß du einst als
abgetriebener alter Karrengaul an der Staatskrippe ein dürftiges
Gnadenbrot findest? Wenn schon jeder gewöhnliche Amerikaner durch das
Bewußtsein, daß ihm alle Wege offen stehen, zur höchsten Anspannung seiner
Kräfte angefeuert wird, so muß dieser Auftrieb natürlich noch viel stärker
sein bei den jungen Auserwählten der Nation, die ja den Wettlauf um die
höchst erreichbaren Ziele bereits um viele Stationen näher an diesem Ziele
beginnen. Der nicht akademisch gebildete Amerikaner schaut mit stolzer
Verehrung zu jedem jungen _Harvard-Yale-Columbia-Cornellman_ wie zu einem
höheren Wesen auf, denn er weiß, daß diese strammen Burschen einst die
Richter, die Ärzte, die Gesetzgeber seiner Kinder sein und daß ohne
Zweifel geniale Erfinder, Kulturförderer großen Stils, auch wohl
Präsidenten der Vereinigten Staaten darunter sein werden. Die hohe
Wertschätzung des akademischen Wissens findet vielleicht ihren schönsten
Ausdruck in der Bereitwilligkeit, mit welcher zu Reichtum gelangte Leute
aus einfachsten Verhältnissen fürstliche Stiftungen für wissenschaftliche
Zwecke machen. Sobald eine Universität in Verlegenheit ist, woher sie das
Geld beschaffen soll für notwendige Neubauten, zur Bereicherung ihrer
Bibliotheken und sonstigen Sammlungen, so braucht der Herr Rektor, dort
Präsident genannt, nur ein paar notorische Millionäre der Stadt oder des
Staates aufzusuchen, und er kann sicher sein, binnen kurzem die nötige
Summe zusammenzubringen. Unsere Großindustriellen spenden ihre
Hunderttausende, um den Kommerzienratstitel und schöne Orden zu bekommen;
drüben sind sie zufrieden, wenn ein Collegegebäude, ein Laboratorium, eine
Klinik ihren Namen trägt. Der Holzhändler Cornell hat die nach ihm
genannte, jetzt hoch berühmte Universität von Ithaka ganz und gar aus
eignen Mitteln aufgebaut und ausgestattet. Und dieses Beispiel hat so
eifrige Nachahmung gefunden, daß heute schon die wissensdurstigen jungen
Leute selbst der unkultiviertesten Bundesstaaten nicht mehr die engere
Heimat zu verlassen brauchen, um höheren Studien obzuliegen. Es gibt jetzt
schon eher zu viel als zu wenig Universitäten und Colleges(2). Die große
Wertschätzung akademischer Bildung seitens des ganzen Volkes äußert sich
manchmal auch in einer Weise, die uns einigermaßen naiv erscheint. Die
Amerikaner haben alle Resultate der wissenschaftlichen Forschung der
ganzen Welt fertig herüber genommen, und ihre eigne Arbeit lief fast
ausschließlich auf deren praktische Verwertung hinaus; folglich erscheint
dem gemeinen Mann jeder Professor als ein moderner Hexenmeister, dessen
Zauberkünsten alles zuzutrauen sei, und darum spielt auch der akademische
Lehrer in der Öffentlichkeit eine ganz andere Rolle, wie in Europa.
Während z. B. in England der Gelehrte noch mehr wie bei uns in seinem
Wirkungskreis als Lehrer und stiller Forscher eingeschlossen bleibt, wird
er in den Vereinigten Staaten als sachverständiger Berater und tätiger
Mitarbeiter zu allen öffentlichen Angelegenheiten herangezogen. Er
schreibt fleißig für die Tageszeitungen, er hält populäre Vorträge, er
beteiligt sich an der Politik und wird gern von der Regierung zu wichtigen
diplomatischen Betätigungen herangezogen. Der Cornell-Professor Andrew D.
White ist nicht der einzige, der von seinem Lehrstuhl weg direkt auf einen
Gesandtschaftsposten berufen wurde. Man sieht also nicht im Gelehrten
einen weltfremden, in sich gekehrten Sonderling, sondern einen Mann der
Tat, dessen reiches Wissen seinen Gesichtskreis notwendig erweitert haben
muß.

(M19)

Eine schöne Gepflogenheit, die wohl auch ihr gutes Teil dazu beiträgt, die
geistige und leibliche Gesundheit der studierenden Jugend zu fördern, ist
die, daß man die Hochschulen mit Vorliebe in Kleinstädte mit
landschaftlich schöner Umgebung verlegt. Mit Ausnahme der altberühmten
Universitäten von Boston, New York, Philadelphia, Baltimore, Washington
und Chicago sind alle Hochschulen auf dem Lande. Der _Campus_, d. h. das
Gelände der Universität, befindet sich außerhalb der Ortschaften, mit
Vorliebe auf Anhöhen, die die ganze Gegend beherrschen, und auf denen noch
ein üppiger alter Baumwuchs der schändlichen Waldvernichtung der ersten
Ansiedler entgangen ist. Die Baulichkeiten sind nicht eng aneinander
gedrängt, sondern in den wohlgepflegten Parkanlagen weit zerstreut, so daß
die Studierenden auf dem Wege von einem Colleg ins andere immer reichlich
Bewegung und frische Luft haben. Gelegenheit zu aller Art Sport ist
selbstverständlich überall reichlich gegeben, wie man sich denn überhaupt
einen Studenten, der nicht rudert, Ball spielt, wettläuft usw. gar nicht
vorstellen kann. Die kleinen Städte bieten so gut wie keine Ablenkung oder
gar gefährliche Versuchung für die jungen Leute. Was sie brauchen an edler
geistiger Zerstreuung, an künstlerischer Anregung, das schaffen sie sich
selbst in ihren Vereinen für Musikpflege, ihren Liebhabertheatern und
festlichen Veranstaltungen. Studentische Gesang- und
Instrumentalvereinigungen ziehen in der Nachbarschaft der Universität
herum und verdienen sich ein hübsches Geld mit Konzerten, das sie nicht
selten dazu verwenden, hervorragende Sänger und Virtuosen kommen zu lassen
und ihren Kommilitonen vorzuführen, ja wohl gar hauptstädtische
Theatertruppen und Sinfonie-Orchester. So ziehen beispielsweise die Lehrer
und bevorzugten Schüler der Berkley-University von Kalifornien alljährlich
in den Sommerferien in den Urwald, leben dort wochenlang in Zelten und
Blockhütten, die zum Teil im Geäst der riesigen Mammutbäume (Sequoia
gigantea) errichtet werden und betreiben während dieser Zeit die
Einstudierung und Aufführung dramatischer Festspiele unter freiem Himmel.
_Bohemian Jinks_ nennen sie diese Freilichtspiele (etwa „zigeunerische
Luftsprünge“ zu übersetzen), für die sie aus eignen Kräften Dichtung,
Musik, Kostüme und Darsteller liefern. Während dieser heiligen
Zigeunerwochen ist das andere Geschlecht strengstens verbannt, und es
werden daher nach antiker Weise bei den Spielen die Frauenrollen von
jungen Männern dargestellt. Im übrigen sorgt die an den meisten
Hochschulen bestehende _Coeducation_ (kurz _Coed_ genannt) dafür, daß die
jungen Leute auch in den abgelegensten kleinen Nestern die guten Manieren
im geselligen Verkehr nicht verlernen. Die Studentinnen pflegen ihr eignes
Gesellschaftshaus mit Schwimmbassin, Turnhalle, Ballsaal und Drawingroom
zu besitzen. Dorthin laden sie ihre Freunde ein, wie auch umgekehrt die
jungen Herren die Studentinnen zu ihren Unterhaltungen heranziehen. Fast
jeder Student hat wohl unter den Kommilitoninnen sein _best girl_, mit dem
er „geht“, wie man bei uns sagen würde. Diese Kameradschaften sind aber
durchaus harmloser Natur, haben nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit der
_collage_ des französischen Studenten und verpflichten auch keineswegs zu
standesamtlichen Folgen. Amerikanische Professoren wissen nie etwas von
sittlichen Gefahren dieses ungenierten Verkehrs zu berichten; dagegen
schieben viele von ihnen die Schuld an dem niedrigen Niveau
wissenschaftlichen Geistes der Rücksichtnahme auf die weiblichen Studenten
zu.

Wo die Frauen unter sich sind, haben sie es noch viel besser als an den
gemischten Universitäten. Ich wüßte nicht, wo ein junges Mädchen mit
starkem Bildungsdrange in der Welt besser aufgehoben wäre, als z. B. in
Wellesley-College bei Boston. Wenn man den Studienplan dieser
Frauenakademie durchblättert, erstaunt man über die schier fabelhaften
Bildungsmöglichkeiten, die hier den Töchtern der Neuen Welt geboten
werden. 17 männliche und 137 weibliche Professoren, Dozenten und
Assistenten lehren an dieser überaus reich dotierten Hochschule. Um
aufgenommen zu werden, muß die junge Dame im Englischen 3, in Geschichte
1, in Mathematik 3, Latein 4, einer zweiten Sprache 3, einer dritten
Sprache 1 und in Botanik, Chemie oder Physik 1 Punkt nachweisen. Die
Anzahl der Punkte bedeutet nämlich die Anzahl der Jahre, die der Schüler,
bei durchschnittlich 5 wöchentlichen Stunden, auf den betreffenden
Gegenstand verwendet haben muß, und durch ein Abgangszeugnis oder ein
Examen muß er beweisen, daß er diese Zeit befriedigend ausgenutzt habe. Um
einen Begriff von der Reichhaltigkeit der wissenschaftlichen Speisekarte
zu geben, will ich hier nur die in der germanistischen Abteilung
angekündigten Vorlesungen aufzählen:

(M20)
       1.   Elementarkursus, Grammatik, Übungen im Sprechen, Lektüre,
            Auswendiglernen von Gedichten.
     2-4.   Vorbereitungskurse für deutsche Literaturgeschichte.
       5.   Repetitions- und Erweiterungskurs für Grammatik und Stil.
       6.   Freie Reproduktion. Bühnendeutsch. Übungen im mündlichen und
            schriftlichen Ausdruck. Kritische Betrachtung deutscher, in
            Amerika erschienener Texte.
       7.   Übungen im schriftlichen Ausdruck im Anschluß an die
            Literaturgeschichte.
       8.   Geschichte der deutschen Sprache.
       9.   Umrisse der deutschen Literaturgeschichte (Götter- und
            Heldensagen).
      10.   Goethes Leben und Werke.
      11.   Das Drama des 19. Jahrhunderts.
      12.   Der deutsche Roman.
      13.   Literaturgeschichte vom Hildebrandslied bis Hans Sachs.
      14.   Literaturgeschichte bis Goethe.
      15.   Mittelhochdeutsch.
      16.   Die romantische Schule.
      17.   Lessing als Dramatiker und Kritiker.
      18.   Schiller als Philosoph und Ästhetiker.
      19.   Goethes Faust.
      20.   Schillers Leben und Werke.
      21.   Stilübungen.
      22.   Gotisch.
      23.   Die deutsche Lyrik und Ballade.
24 u. 25.   Studien zur modernen deutschen Sprache.

(M21)

Demgegenüber stehen 45 Vorlesungen über englische Sprache und Literatur,
21 über Geschichte, 29 über Hygiene und körperliche Ausbildung, wobei
Tanzen, Schwimmen, Gymnastik, Massage und dergleichen inbegriffen sind.
Ferner 18 Vorlesungen über lateinische Sprache und Literatur, 11 über
reine und 5 über angewandte Mathematik, 18 über Musik, 29 über Philosophie
und Psychologie, 19 über Soziologie und Nationalökonomie, 6 über
Astronomie usw. usw. Die jungen Mädchen dürfen aber keineswegs nach ihrem
Belieben an all diesen Herrlichkeiten naschen, sondern der Studiengang ist
ihnen vorgeschrieben, und sie können nicht zu den höheren Offenbarungen
vordringen, bevor sie nicht durch Examina bewiesen haben, daß ihnen die
niederen Grade geläufig sind. Damit sie aber frisch und bei guter Laune
bleiben, haben sie reichlich Gelegenheit, sich in Wald, Wiese und Wasser
zu tummeln und sich mit Tanz, Mummenschanz, Theaterspiel im Freien und auf
der eignen niedlichen Bühne des Shakespearehauses nach Herzenslust zu
vergnügen, auch nach dem nahen Boston in Theater und Konzerte zu fahren,
so oft ihr Geldbeutel und ihre Zeit es erlaubt. Die jungen Damen aus
reichen Familien besitzen, sofern sie Sororities angehören, ihre eignen
Häuser innerhalb des Campus, die als griechische Tempel oder als Cottages
sich darbieten. Das Gebäude des Shakespearevereins ahmt sogar sehr hübsch
das Geburtshaus des Dichters in Stradford nach. Die technischen Fächer
sowie auch Medizin, Juristerei und Theologie existieren nicht an dieser
Akademie, die sich also darauf beschränkt, den jungen Damen eine
humanistische, expansiv wie intensiv gleich bedeutende Bildung zu
vermitteln. Wenn die Qualität der Lehrenden auch nur einigermaßen der
landschaftlichen Schönheit der Umgebung und der Vortrefflichkeit aller
praktischen Einrichtungen entspricht, so ist in Wellesley-College das
gegenwärtige Ideal wissenschaftlicher Frauenbildung verwirklicht. Und
Wellesley ist nicht einmal die einzige Anstalt dieser Art, sondern es gibt
deren noch mehrere, die nicht minder reich ausgestattet und stark besucht
sein sollen. Unter den Studierenden sind Töchter fast aller
Bevölkerungsschichten vertreten, vorwiegend ist aber der Typus der derb
gesunden, ein bißchen starkknochigen, rundlichen Farmer- und Bürgertöchter
der städtischen Mittelschicht vornehmlich in den Universitäten mit _Coed_.
Die reinen Frauenakademien werden dagegen von den Töchtern der vornehmeren
Kreise vorgezogen. Es ist auffallend, wie selten selbst unter diesen
letzteren die spezifisch amerikanischen Schönheiten sind. Das kommt daher,
daß die Amerikanerin die Schönheit als einen Beruf für sich betrachtet,
als ein Kapital, das unter allen Umständen sich reichlich verzinst. Die
jungen Schönheiten suchen ihre Erfolge ausschließlich auf dem Parkett des
Salons, und die nötige Fertigkeit zur Lieferung des seichten
Salongeschwätzes, mit dem sich drüben die elegante Welt der Amüsierlinge
begnügt, kann man sich allerdings ohne die Kenntnis antiker Sprachen und
ohne philosophische Vorstudien erwerben. Es ist nicht zu leugnen, daß das
amerikanische Salongeschwätz kaum auf der geistigen Höhe des englischen,
dagegen noch beträchtlich unter der des französischen und deutschen
Konversationstones der sogenannten guten Gesellschaft steht. Dagegen kann
man von den Frauen der Kreise, in denen Arbeitskameradschaft zwischen Mann
und Weib besteht, ohne weiteres voraussetzen, daß man mit ihnen wie mit
gebildeten Menschen reden dürfe – und man wird sich selten enttäuscht
sehen. Wohlhabende deutsche Eltern, denen daran liegt, ihren strebsamen
Töchterchen, ohne sie gerade zu Gelehrten zu machen, eine solide
weltläufige Bildung zu verschaffen, täten gut, sie auf die amerikanischen
Frauenhochschulen zu schicken. Selbst wenn sie von dort nichts anderes
mitbringen sollten, als einen abgehärteten geschmeidigen Körper,
vernünftige Lebensanschauungen und eine Ahnung von allerlei wissenswerten
Dingen, so würde das immerhin wertvoller für sie sein, als was die
üblichen Pensionate der französischen Schweiz oder die Klosterschulen für
die vornehme Welt ihnen zu bieten pflegen.

(M22)

Mir persönlich scheint überhaupt das ganze amerikanische
Unterrichtssystem, und besonders das der Universitäten, gerade für uns
sehr viel Nachahmenswertes zu enthalten. So will es mich ungemein
vernünftig bedünken, daß die Zügellockerung der strengen Schuldisziplin
zwischen dem 16. und 18. und nicht, wie bei uns, zwischen dem 18. und 20.
Jahre erfolgt, und daß dann die überschäumende Kraft des ungebärdigen
Jünglings bezw. des lebenshungrigen Mädchens nicht sofort in eine
schrankenlose Freiheit hinausgelassen, sondern noch jahrelang mit echtem
Wohlwollen und Verständnis für die Jugend geleitet wird. Es ist überaus
bezeichnend, daß, wie die kürzlich von Dr. Alfred Graf veranstaltete
Umfrage bei einer großen Anzahl bekannter führender Deutscher bewiesen
hat, außer den späteren Philologen und einigen ganz wenigen Staatsmännern
und Theologen, fast sämtliche Gefragten ihre Gymnasialzeit für die
schrecklichste Erinnerung ihres Lebens erklärten; wogegen umgekehrt in
Amerika schier ausnahmslos jeder gebildete Mensch auf seine Schüler- und
Studentenzeit als auf die schönste seines Lebens zurückblickt. Mögen
unsere höchsten Lehranstalten immerhin mit Fug und Recht sich für die
besten Gelehrtenschulen der Welt halten, so darf doch nie außer acht
gelassen werden, daß von den Tausenden und Abertausenden von Abiturienten,
die alljährlich unseren Universitäten zustreben, doch nur eine
verhältnismäßig kleine Anzahl den inneren Beruf zum Gelehrtentum in sich
trägt. Diesen wenigen mag allerdings die deutsche Universität die denkbar
beste Anleitung zum eignen Forschen geben; um dieser wenigen Auserwählten
willen aber wird die gewaltige Überzahl mehr auf das Praktische
gerichteter Geister, aus denen zwar keine schöpferischen Gedanken, wohl
aber viel nützliche Lebensarbeit herauszuholen wäre, durch ein System
vergewaltigt, das notwendig in ihren Augen ein zeitlebens verhaßtes
Schrecknis bleiben muß. Dieses System züchtet Nörgler und Hasser, es ist
auch schuld daran, daß jener garstige Hochmut sich in den Köpfen der
Auserwählten einnistet, der die herrschenden Klassen in eine dumme
Volksfeindschaft hineintreibt und gänzlich schiefe Lebensanschauungen in
ihnen groß zieht; es ist aber auch schuld daran, daß so viel
hoffnungsvolle Jugend auf den Universitäten verbummelt. Sollte nicht
schließlich ein junges Geschlecht von frohen, für die höchsten Berufe der
Gegenwart gut ausgerüsteten Akademikern auch unserer Nation von größerem
Werte sein, als die jetzige Überfülle an wirklichen und verunglückten
Gelehrten? Ich bin überzeugt, daß wir durch eine teilweise
Amerikanisierung unseres Systems von unseren alten Vorzügen nichts
einbüßen würden. Methodik und Systematik der exakten Forschung werden,
ebenso wie das künstlerische Element im wissenschaftlichen Betriebe, stets
eine Besonderheit des deutschen Universitätslehrers und Studenten bleiben,
einfach weil die Veranlagung hierzu altes Erbgut unserer Rasse ist. Die
Amerikaner haben keineswegs darum bisher keine großen Philosophen,
Dichter, schöpferischen Forscher hervorgebracht, weil ihr Schulsystem zu
diesem Zweck nichts taugte, sondern weil sie bei ihrer Jugendlichkeit als
Volk, bei der mangelhaften Mischung der verschiedenartigsten
Rassenelemente, bei dem Fehlen einer kulturellen Tradition und bei der
starken Inanspruchnahme aller geistigen Kräfte durch rein praktische
Aufgaben überhaupt noch gar keine Möglichkeit gehabt haben, nach jener
Richtung Begabung zu entwickeln. Eine selbständige Wissenschaft und eine
nationale Kunst werden erst zu verlangen sein, wenn aus den
verschiedenartigen Völkerschaften der Vereinigten Staaten wirklich eine
neue Rasse geworden und die grobe Arbeit der Zivilisation soweit getan
sein wird, daß alle feineren Geister für die Beschäftigung mit den
vornehmsten Kulturaufgaben frei werden. Es wird alsdann viel Spreu
hinweggefegt werden, aber an dem System des Hochschulbetriebes schwerlich
viel geändert werden müssen. Die wissenschaftlichen Leistungen der
Studierenden werden selbstverständlich gleichen Schritt halten mit denen
der Lehrenden. Der einzige amerikanische Philosoph, dessen Ruf bisher
durch die ganze Welt geklungen ist, Ralph Waldo Emerson, verdankt sein
hohes Ansehen bei uns mehr der fein geschliffenen Form seiner vornehmen
Weltweisheit, als dem Reichtum an neuen, fruchtbaren Gedanken; für Amerika
ist Emersons Philosophie aber selbst heute noch zu hoch, weil sie die
beliebten demokratischen Vorurteile lächelnd beiseite schiebt. Es wird
aber sicher eine Zeit kommen, wo diese demokratischen Vorurteile nur noch
bei der Masse zu finden sein werden, und wo die Freiheit der
wissenschaftlichen Kritik sich überhaupt von keinem Vorurteil mehr Halt
gebieten läßt, auch wenn es die Masse hinter sich hat. Dann erst können
wir von dem amerikanischen Volke verlangen, daß es große Künstler und
originale Denker hervorbringe. In den regsamsten Köpfen, in den tiefsten
Gemütern dieses Volkes ist schon jetzt eine große Sehnsucht lebendig nach
jener Zeit, in der seine Denker und Dichter nicht mehr nur die Resultate
europäischer Arbeit nützlich verwenden, sondern selber Finder neuer Wege
und Setzer neuer Ziele werden können. Das beweist der ungeheure Zulauf,
welchen die öffentlichen Bibliotheken, die wissenschaftlichen Vorträge der
Wanderredner und besonders gemeinnützige Institute, wie die Sommerschule
in Chautauqua finden, wo zu Zehntausenden unter freiem Himmel
wissensdurstige Menschen jedes Standes, Alters und Geschlechts andächtig
den Vorträgen der besten Gelehrten ihres Landes lauschen. Wir Europäer
werden vielleicht noch auf ein ganzes Jahrhundert oder noch länger unseren
Vorrang des weisen Alters behalten und der mächtig emporstrebenden Neuen
Welt die Leitsätze für ihre eigne wissenschaftliche Fortentwicklung
liefern. Aber wir wollen nicht vergessen, daß man von der Jugend immer
lernen kann! Wenn wir das tun, wird die neue Rasse uns zwar einholen, aber
schwerlich jemals überflügeln können. Wir werden an ihr alsdann keinen
verhöhnten oder beneideten Feind, sondern vielmehr einen guten Kameraden
besitzen, der uns in gleichem Schritt und Tritt zur Seite geht, denselben
Höchstzielen wahrer Kultur nach.



                      ÖFFENTLICHE UND PRIVATE MORAL.


Die deutschen Zeitungskorrespondenten in den Vereinigten Staaten beklagen
sich allgemein darüber, daß sie gezwungen seien, ihre Berichte den
Vorurteilen der deutschen Zeitungsleser zuliebe zu färben und so dazu
beizutragen, daß diese Vorurteile in Deutschland nicht aussterben. Daß sie
Unglücksfälle nur kabeln dürfen, wenn sich über zehn Tote ergeben haben,
ist ja eine ganz weise Beschränkung, aber daß sie sich genötigt sehen,
immer nur sensationelle Fälle von wüster Korruption in der Politik, in der
Rechtsprechung, im Gebaren der großen Truste, offenbare Verrücktheiten und
groteske Reklamemanöver auf den Gebieten des Erfindungswesens, des Handels
und Verkehrs, ja selbst der Wissenschaft, sowie schließlich gröbste
Familienskandale aus der Welt der Milliardäre zu berichten, das ist doch
recht bedenklich. Selbstverständlich sind gerade die guten Bürger jeder
Nation überzeugt, daß die allgemeine Ordnung der Dinge, die öffentliche
wie die private Moral in ihrem Lande besser sei als in irgend einem
anderen; aber es tut doch nicht gut, diese natürliche Neigung zur
Ungerechtigkeit durch die Presse, als durch das berufene Organ der
öffentlichen Aufklärung, zu unterstützen; denn die Unterschätzung fremder
und noch dazu rasseverwandter Völker kann unter Umständen doch recht üble
Folgen haben. Sei es mir als einem Amerikafahrer, der Augen und Ohren gut
aufgemacht und aufmerksam zugehört hat, wenn er wohlunterrichtete Leute
drüben die Verhältnisse besprechen hörte, gestattet, mein bescheidenes
Teil zur Aufklärung über die wichtige Frage der öffentlichen und privaten
Moral in den Vereinigten Staaten beizutragen.

(M23)

Die Korruption in der Politik ist ein öffentliches Geheimnis und wird von
niemandem geleugnet. Sie ist eine notwendige Folgeerscheinung nicht sowohl
der republikanischen Staatsform, als der ungeheueren Ausdehnung des Landes
und besonders des Umstandes, daß sich alle vier Jahre verfassungsgemäß ein
Wechsel in den Personen der Machthaber vollziehen muß. Daß jeder neue
Präsident, Gouverneur, Bürgermeister usw. seine guten Freunde und
Verwandten in die einträglichsten und einflußreichsten Stellungen zu
bringen versucht, ist menschlich begreiflich, und man braucht sich darüber
nicht weiter zu entrüsten; aber die ebenso selbstverständliche Folge, daß
der politische Ehrgeiz durch den dauernd tobenden Wahlkampf fortwährend in
Atem gehalten wird, macht es dem vielbeschäftigten Staatsbürger natürlich
unmöglich, den politischen Angelegenheiten seine kostbare Zeit zu opfern.
Er muß notgedrungen diese Betätigung Leuten überlassen, die daraus einen
Lebensberuf machen. Und so ergibt sich mit Notwendigkeit die Existenz der
Geschäftspolitiker. Da selbstverständlich diese, die sogenannten Bosse,
nicht vom Staat oder von der Gemeinde besoldet werden können, so schaffen
sie sich ihre Einkünfte dadurch, daß sie sich für die Unterstützung bei
Wahlen, für die Erlangung von öffentlichen Ämtern, von Privilegien und
Konzessionen aller Art bezahlen lassen. Es leuchtet wohl ohne weiteres
ein, daß sich nicht die Blüte der Nation, sondern nur machthungrige und
geldgierige Streber zu diesem politischen Agenturgeschäft hergeben, und
daß diese Leute nicht das geringste Interesse daran haben, dem
intellektuell und moralisch hervorragendsten Kandidaten zum Siege zu
verhelfen, sondern demjenigen, der am meisten zahlt. Da es nur zwei große
politische Parteien, Demokraten und Republikaner, gibt, so ist alle vier
Jahre die Chance eines völligen Systemwechsels durch den Sieg der
Gegenpartei gegeben. Dann werden alle kommunalen Ämter, die ganze
Beamtenschaft, vom Präsidenten bis zum Ofenheizer im Weißen Hause, an die
Anhänger der siegreichen Partei vergeben. Wer den richtigen Boß am besten
geschmiert hat, bekommt das Amt. Es ist klar, daß bei solchem System Staat
und Gesellschaft niemals davor sicher sind, schlechte Beamte für noch
schlechtere einzutauschen, und daß die öffentliche Moral dadurch
schändlich verdorben wird. Trotz alledem wird auch bei uns niemand leugnen
wollen, daß die Vereinigten Staaten bisher noch immer tüchtige, zum
mindesten doch anständige Präsidenten gehabt haben, und daß in die
obersten Stellungen wenigstens sehr selten oder nie ganz minderwertige
Personen gelangt sind. Dieses scheinbare Wunder wird begreiflich, wenn man
den hochentwickelten _common __sens_, den gesunden Menschenverstand der
führenden angelsächsischen Rasse in Betracht zieht. Der anständige
Geschäftsmann und die höher gebildeten Klassen überhaupt kümmern sich um
das schmutzige Gewerbe der Politik wenig oder gar nicht und ertragen mit
dem glücklichen Gleichmut und dem guten Humor der Yankeerasse die
tausenderlei offenbaren Ungerechtigkeiten und Widersinnigkeiten, die durch
die Korruption entstehen. Sobald sie aber merken, daß die Bosse irgend
etwas im Schilde führen, was gegen den guten Ruf des Staates, gegen die
Sicherheit des Eigentums oder gegen den demokratischen Charakter der
Verfassung geht, so tun sich ein paar einflußreiche Leute von tadellosem
Leumund zusammen – die führenden Deutschen sind immer bei dieser
Anstandspartei zu finden – und klären durch geeignete Maßnahmen die Massen
der Wähler über den Unfug auf, der verübt werden soll. Und siehe da: immer
gelingt es der Wucht der öffentlichen Meinung, wenigstens die gröbsten
Schandtaten zu verhindern, die unmöglichsten Kandidaten beiseite zu
schieben. Der Patriotismus ist dem Yankee angeboren und anerzogen; die
Verfassung der Vereinigten Staaten wird als ein unübertreffliches Werk
genialer Einsicht verehrt, und alle Gesetze, die das souveräne Volk durch
seine Erwählten in den Einzelstaaten machen läßt, werden für vorzüglich
gehalten. Das ewig verdrossene Nörgeln an den Gesetzen und öffentlichen
Einrichtungen, jenes höchste Vergnügen des deutschen Bierbankpolitikers,
kennt der Yankee nicht. Man respektiert die Gesetze und fügt sich sogar in
Unannehmlichkeiten, wenn man einsieht, daß anders die Ordnung nicht
aufrechterhalten werden kann. Im übrigen aber tut doch jeder, was ihm
beliebt, und pfeift auf die Gesetze, wenn sie ihm nicht in seinen Kram
passen. Man weiß, daß die Polizei nicht von ihrem Gehalt, sondern von den
Schmiergeldern so rosig fett und robust wird; man weiß, daß sogar die
Binde vor den Augen der Gerechtigkeit zuweilen aus lauter
zusammengefalteten Dollarnoten besteht, aber man sieht selbst an den
schreiendsten Mißständen schweigend vorbei, weil es sich so bequemer leben
läßt, und weil der Gentleman sich nicht gerne die Hosenränder beschmutzt
und daher den Pfützen lieber in weitem Bogen ausweicht. Solange sie seine
persönliche Bewegungsfreiheit und seine geschäftlichen Unternehmungen
nicht empfindlich stören, ist der Yankee mit den Gesetzen zufrieden und
gönnt den zahlreichen Mitbürgern, die von den Mängeln dieser Gesetze
leben, also den Politikern, Advokaten, smarten Geschäftsleuten und
geistvollen Hochstaplern, ihr gutes Auskommen. Den gewaltigsten
Machthabern der Industrie und des Verkehrswesens, den sogenannten Königen
der Eisenbahn, des Silbers, des Stahls, des Petroleums können ja überhaupt
die Gesetze nichts anhaben, wie es sich erst jüngst wieder in dem
vorsichtig weitmaschig abgefaßten Urteil des obersten Gerichtshofes in
Sachen des Öltrusts gezeigt hat. Mit jenen ganz großen Herren, in deren
Macht es steht, die Bundesarmee gegen mißliebige Nachbarn mobil zu machen,
oder in einer Anwandlung schlechter Launen unzählige Betriebe lahmzulegen,
Hunderttausenden von Arbeitern ihr Brot vom Munde wegzureißen, mit denen
hütet sich natürlich nicht nur der einzelne, sondern auch die Justiz der
Einzelstaaten wie der Bundesregierung anzubinden. Machen sich aber die
kleineren Machthaber irgendwie lästig, so versteht man ihnen selbst in dem
Falle beizukommen, daß die Behörde gegen sie ihre Pflicht vernachlässigt.

(M24)

Ein hübsches Beispiel solcher demokratischen Selbsthilfe erlebten wir in
St. Louis. Durch wochenlange Trockenheit war die Rauchplage daselbst
unerträglich geworden. Im ganzen weiten Mississippi- und Missouritale
herrschte herrliches klares Winterwetter. Die Sonne lachte frühlingsheiter
vom wolkenlosen Himmel herab. Als der Zug aber in das Weichbild der Stadt
einfuhr, verblaßte plötzlich die Sonne zu einem fahlgelben transparenten
Fettfleck in einer Wand gleichmäßig grauen, schweflig riechenden Nebels,
der selbst die nächsten Gegenstände nur in verschwommenen Umrissen
erscheinen ließ. In den Häusern herrschte eine erstickende, verbrauchte
Luft, weil man kein Fenster öffnen konnte, ohne daß sofort eine dichte
Rußschicht, wie von einer schwer blakenden Öllampe, sich auf alle
Gegenstände im Zimmer legte. Wenn man über die Straße ging, waren Kragen
und Manschetten geliefert, und wenn man sich morgens sein Bad einließ, so
schwamm eine schwarze Rahmschicht auf dem Wasser. Die Zeitungen waren voll
von Entrüstungsartikeln über diesen schmachvollen Zustand. Überall
erschollen laut die Stimmen der Sachverständigen mit Vorschlägen zur
Beseitigung des Übels. Man erinnerte sich plötzlich wieder, daß es im
Staate Missouri, ebensogut wie anderswo, vorzügliche gesetzliche
Vorschriften gebe, welche die auf die einheimische Weichkohle angewiesenen
Industrien zur Anbringung von Rauchverzehrungsvorrichtungen und ähnlichen
Maßnahmen von erprobter Wirkung verpflichteten. Die Herren Fabrikbesitzer
hatten aber bisher keine Lust gehabt, sich in Unkosten zu stürzen wegen
dieser ärgerlichen Gesetze, denn sie hatten ja ihre Villen weit vor der
Stadt in erfreulich reiner Luft. Und wenn der Wind einigermaßen günstig
wehte, und hin und wieder ein Niederschlag den in der Luft herumfliegenden
Kohlenstaub band, so konnten ja selbst die Leute, die in der Stadt wohnen
mußten, ihre Lungen genügend mit Sauerstoff füttern. Es mußte wohl immer
noch billiger sein, den polizeilichen Aufsichtsorganen gelegentlich gute
Trinkgelder zu verabfolgen, als die vorschriftsmäßigen Umbauten zu
bestreiten. Da geschah es in den Tagen unserer Anwesenheit, daß ein
vornehmer Damenverein, der Mittwochsklub, die Sache in die Hand nahm. Um
ein möglichst großes Damenpublikum für ihre Zwecke herbeizuziehen,
kündigten sie mit gehöriger Reklame ein Konzert meiner Frau an.
Vierzehnhundert Frauen und Mädchen aus den besten Kreisen wurden hierzu
zusammengetrommelt und nach Schluß der musikalischen Darbietungen ersuchte
die Vorsitzende die ganze Gesellschaft, noch da zu bleiben, um sich über
die Beseitigung der Rauchplage auszusprechen. Es war alles so gut
vorbereitet, daß in kurzer Zeit ein leitendes Komitee und eine große
Anzahl von Offizieren und Mannschaften aus der Mitte der Damen heraus
gewählt und die notwendigen Mittel zur Ausführung des Planes gezeichnet
waren. Diese kleine freiwillige weibliche Polizeimannschaft übernahm es
nämlich, mit List oder Gewalt in alle industriellen Betriebe mit
Weichkohlenfeuerung einzudringen und nötigenfalls Tag und Nacht Patrouille
zu gehen und Posten zu stehen, so lange, bis alle Mißachter der Gesetze
zur gerichtlichen Verantwortung gezogen, gebührend bestraft und die
vorgeschriebenen Maßnahmen gegen den Rauch tatsächlich ausgeführt waren.
Das Mittel soll einen durchgreifenden Erfolg gehabt haben, denn vor
energischen Frauen kapituliert der Yankee immer.

(M25)

Die Zuversicht, daß aus allen Schwierigkeiten und Übelständen, wenn auch
vielleicht erst im Moment der höchsten Gefahr, und wenn sie bis zur
Unerträglichkeit gestiegen sind, ein Ausweg sich zeigen, von irgendwo die
Rettung kommen muß, erhält dem Volke seinen optimistischen Gleichmut.
Selbstverständlich erzeugt die Demokratie nichts weniger als Ehrfurcht vor
Paragraphen oder Untertänigkeit vor Amtspersonen, ja, sie untergräbt sogar
recht bedenklich die Disziplin, ohne die schließlich keine Ordnung
irgendwelcher Art aufrecht zu erhalten ist. Die Warnungs- und
Verbotstafeln, mit denen bei uns zu Lande unser ganzes Leben von der Wiege
bis zum Grabe von den Behörden so rücksichtsvoll eingezäunt wird, kann man
sich drüben fast völlig sparen, da sie doch keine Beachtung finden würden;
aber wo der gesunde Menschenverstand einsieht, daß Vorsicht, Unterordnung,
Geduld und Rücksicht auf den Nebenmenschen am Platze sind, da übt er sie
auch ohne Warnungstafeln und ohne Einschüchterung durch säbelfuchtelnde
Schutzleute aus. Dem Europäer fällt z. B. die ausgezeichnete Disziplin im
Straßenverkehr der Großstädte sehr angenehm auf; nie hört man wild
aufeinander los fluchende Kutscher im Wagengedränge; nie werden
Schutzmannsketten durchbrochen, wo eine Absperrung notwendig ist; mit
einem Wink des Fingers dirigieren die Posten an den Straßenkreuzungen den
kolossalen Verkehr. Ohne Murren findet sich alle Welt mit der Einrichtung
ab, daß um 6 Uhr abends alle Geschäfte geschlossen werden. In den Straßen-
und Untergrundbahnen, in überfüllten Lokalen jeder Art macht jedermann
bereitwillig Platz, so gut es geht. Am Weihnachtsheiligabend fuhren wir in
der Neuyorker Subway. Da es um die Zeit des Geschäftsschlusses war, so
waren die Wagen mit sitzenden und stehenden Menschen so voll, daß der
berühmte Apfel nicht mehr zur Erde fallen konnte. Da drängte sich auf
einer Station im letzten Moment noch eine alte Frau mit einem riesigen
Schaukelpferd herein. Die Männer auf der hinteren Plattform schufen der
Frau mit kräftigen Ellenbogen Platz, die ganze Menschenmauer geriet ins
Schwanken, man trampelte sich gegenseitig kräftig auf den Zehen herum, die
hervorragenden Spitzen der Kufen des Schaukelpferdes stießen einigen
Passagieren in die Bäuche oder gegen die Kniescheiben – und dennoch zeigte
sich niemand gekränkt oder nervös gereizt. Mit ein paar gutmütigen
Scherzen ging man über die Unannehmlichkeiten hinweg; bei uns wäre ein
Sturm der Entrüstung losgebrochen. Auch der eiligste Geschäftsmann wartet
geduldig bei Verkehrsschwierigkeiten, bis die Passage frei ist, und
niemals wird ein höher Gestellter versuchen, für sich Ausnahmemaßregeln
durchzusetzen. Auch die strengen Polizeivorschriften im Interesse der
öffentlichen Hygiene werden bereitwillig befolgt, weil der Nutzen jedem
vernünftigen Menschen klar ist.

(M26)

Höchst merkwürdig ist die Art, wie der Yankee öffentliche Fragen löst, die
anderwärts der Polizei die allergrößten Schwierigkeiten machen und über
die sich Juristen, Verwaltungsbeamte, Geistliche und Laien vergeblich die
Köpfe zerbrechen. Solche Schwierigkeiten beseitigt der Yankee nämlich
einfach dadurch, daß er erklärt, sie existierten gar nicht. Der
Prostitution z. B. ist im Gesetze überhaupt nicht Erwähnung getan, und in
den Zeitungen wird nie davon gesprochen. Unter ernsten Männern nennt man
die Prostitution verschämt „das soziale Übel“ (_the social evel_), aber in
der Öffentlichkeit erwähnt man diesen unsittlichen Gegenstand niemals,
weil die jungen Mädchen nichts von seiner Existenz erfahren sollen, und
weil man annimmt, daß der Amerikaner überhaupt viel zu anständig sei, um
irgendwelcher heimlicher Notbehelfe für die Forderungen seines Trieblebens
zu bedürfen. Dessenungeachtet weiß selbstverständlich jeder erwachsene
Mensch, daß die Zahl der Prostituierten, der freien wie der kasernierten,
auch in den Vereinigten Staaten ungeheuer groß ist. Die Polizei hat dafür
zu sorgen, daß die Öffentlichkeit von diesen Damen nichts merkt; sie hat
also nicht nur die öffentlichen Häuser, sondern auch jede einzeln
flanierende Dirne wachsam im Auge zu behalten. Wenn die öffentlichen
Gerichtshöfe sich sehr viel mit der Bestrafung von Prostituierten
beschäftigen müßten, so könnte es nicht ausbleiben, daß das Publikum auf
diese Dinge aufmerksam würde, selbst wenn die Zeitungen ihrem Grundsatze
des Totschweigens unverbrüchlich treu blieben. Folglich duldet es die
Behörde wissentlich, daß die Polizeiorgane sich von den Übeltäterinnen
dafür bezahlen lassen, daß sie sie nicht vor den Kadi schleppen, und daß
die Bordellwirtinnen hohe Steuern an die politischen Bosse dafür
entrichten, daß sie sie vor Konflikten mit Behörden bewahren.
Selbstverständlich erhalten solche Häuser keine polizeilichen
Konzessionen, noch gibt es irgendwelche offizielle Kontrolle der freien
Prostitution. In den Adreßbüchern figurieren jene Damen als Ladnerinnen,
Näherinnen, Masseusen und dergleichen, und die zahlreichen Freudenhäuser
werden von den erfindungsreichen Bossen mit fingierten Personen bevölkert,
und zwar vornehmlich mit – wahlfähigen Männern! Man bedient sich zu diesem
Zweck der Namen längst verzogener oder gar verstorbener Persönlichkeiten.
Durch dieses schlaue Manöver wächst bei den Wahlen dem Boß für jede
Gefangene einer solchen Lasterstätte ein Wahlzettel für seine Partei zu.
Eine Folge dieser unerhörten Heuchelei ist auch die, daß die Bestrebungen
des internationalen Vereins gegen den Mädchenhandel in den Vereinigten
Staaten wirkungslos bleiben. Dieses schmachvollste aller Geschäfte, der
weiße Sklavenhandel, blüht im Gegenteil in den nordamerikanischen großen
Hafenplätzen wo möglich noch üppiger als in denen Südamerikas. Die dunkeln
Ehrenmänner, die sich mit diesem schmutzigen Geschäft befassen,
ausschließlich galizische, ungarische und rumänische Juden, führen der
Parteikasse der Bosse, die ihnen durch die Finger sehen, ansehnliche
Summen zu.

Es ist jüngst ein Roman über diese Zustände erschienen: „_The House of
Bondage, by Reginald Wright Kaufmann_“. Es dürfte wohl das erstemal sein,
daß in dem Lande der puritanischen Heuchelei ein solches Thema von der
Dichtung erörtert wird. Freilich kann sich der Roman, was seine
literarische Qualität anbetrifft, nicht entfernt mit Else Jerusalems „Der
heilige Scarabäus“ messen, und es ist bezeichnend, daß der mutige
Verfasser selbst mit dem größten Eifer betont, er habe in diesem Werke
nichts weniger als dichten, sondern nur nackte traurige Wahrheit berichten
wollen. Im Anhang des Buches sind all die behördlichen Aktenstücke
abgedruckt, welche die Grundlage zu den Behauptungen des Verfassers
gegeben haben. Ich habe bis jetzt nicht gehört, ob die Zeitungen
angesichts der furchtbaren Anklagen dieses Buches aus ihrer traditionellen
heuchlerischen Reserve herausgegangen sind, oder ob sich gar die Behörden
zu einem energischen Eingreifen entschlossen haben. Da die Bosse und die
niederen Polizeiorgane dadurch eine empfindliche Einbuße an ihren
Einkünften erleiden würden, so ist das auch kaum anzunehmen. Aber einen
schönen Erfolg hat der Verfasser trotzdem dadurch erreicht, daß der junge
Herr Rockefeller sein Werk in alle unter den nordamerikanischen
Einwanderern vertretenen Sprachen übersetzen und in vielen Tausenden von
Exemplaren unter den unteren Volksschichten, deren Töchter ja
hauptsächlich gefährdet sind, verteilen ließ. So kann wenigstens nicht
mehr Ahnungslosigkeit der Eltern und der Mädchen dafür verantwortlich
gemacht werden, wenn sie in die Schlingen der gewissenlosen Vogelsteller
geraten.

(M27)

Für uns Europäer ist es schwer begreiflich, daß in demselben Lande, in
welchem jeder gesellschaftliche Skandal, jede pikante Scheidungsgeschichte
in den Zeitungen breitgetreten wird, in dem kaum das Schlafzimmer vor den
Reportern sicher ist, aus Anstandsrücksichten in der gesamten Tagespresse
kein Wort über ein so unendlich wichtiges Ereignis wie die Entdeckung des
berühmten Heilmittels von Ehrlich-Hata geschrieben werden darf. Wir haben
hier den für uns überaus seltsamen Fall, daß selbst der indiskreteste und
von Amts wegen quasi zur Plauderhaftigkeit verpflichtete Stand der
Journalisten aus Patriotismus eine verblüffende Selbstverleugnung übt. Die
verehrten Pilgerväter schon haben das Dogma aufgestellt, daß in den
Vereinigten Staaten die Sicherheit der weiblichen Ehre absolut garantiert
sei. Und diesem Dogma aus den Zeiten des fanatischen Puritanertums zuliebe
wird noch heute der Yankee als ein untadelhafter Gentleman hingestellt,
der mit einer jungen Dame zusammen baden, nachts in einem Zelt schlafen
oder auf einer einsamen Insel wohnen könne, ohne menschliche Begierden zu
verspüren. Der Yankee steckt es lachend ein, wenn man ihm ins Gesicht
sagt, daß seine smarten Geschäftsleute die größten Gauner der Welt seien;
aber selbst seine eigenen bedeutendsten Schriftsteller dürfen es nicht
wagen, einen Yankee als Verführer der Unschuld hinzustellen. Die
schärfsten Sozialkritiker, die realistischen Romanschriftsteller, müssen
dieses nationale Dogma respektieren, wenn sie sich nicht in ihrem
Heimatlande unmöglich machen wollen. Eine segensreiche Wirkung dieses
starr festgehaltenen Vorurteils ist unzweifelhaft die, daß es im
Yankeelande eine pornographische Literatur überhaupt nicht gibt, daß die
schlüpfrigen französischen Schwänke der Bühne ferngehalten und der Import
von pikanter Lektüre, Bildern und dergleichen höchstens auf ganz
versteckten Schleichwegen stattfindet. Es muß auch unbedingt zugegeben
werden, daß der zwanglose Verkehr der Geschlechter und die allgemeine
starke körperliche Betätigung im Sport, verbunden mit dem Fehlen
ungesunder Reizungen durch schlechte Lektüre dem jungen Mann, zumal der
gebildeten Oberschicht, eine Reinheit der Gesinnung in erotischen Dingen
bewahrt, die in Europa kaum irgendwo in gleichem Maße vorhanden sein
dürfte. Es ist richtig, daß kein Yankee sich durch gewandtes Erzählen von
Mikoschwitzen gesellschaftlichen Ruhm erwerben kann, und daß man selbst in
intimer Herrengesellschaft und unter dem Einfluß des Alkohols schwerlich
jemals die Sauglocke läuten hört. Es ist auch richtig, daß ein junger Mann
von guter Familie, der ein junges Mädchen aus seinem Gesellschaftskreise
kompromittiert und sitzen läßt, der Ächtung seiner Standesgenossen
verfällt – aber dennoch kann man nicht aus ehrlicher Überzeugung das
Verhalten des Amerikaners der Erotik gegenüber unbedingt zur Nachahmung
empfehlen; denn es ist nur zu geeignet, eine Art von Heuchelei zu fördern,
die den weniger vom Glück begünstigten Mitmenschen teuer zu stehen kommt,
und außerdem die Poesie der Liebe schwer schädigt. Wie in allen
gesellschaftlichen Fragen, so wird nämlich auch in bezug auf die Erotik
das demokratische Prinzip nur allzu gern vergessen. Der starke Schutzwall
der weiblichen Ehre wird im Grunde genommen doch nur um die Angehörigen
der eignen Kaste errichtet. Derselbe wohlerzogene begüterte junge Mann,
der die größte Freiheit im unbeaufsichtigten Verkehr mit jungen Damen
seines Kreises auch bei stärkster Versuchung nicht mißbrauchen würde,
macht sich doch schwerlich ein Gewissen daraus, sich ein Chorusgirl, eine
fesche Maniküre, Typewriterin oder sonst eine hübsche Angestellte aus dem
Geschäft des Herrn Papa als Geliebte auszuhalten, und das wird ihm in
seinem Kreise auch keineswegs übelgenommen, wenn er nur von seiner
Liebschaft kein großes Gerede macht und nicht versucht, etwa gar so ein
Mädchen unter falscher Flagge in seine Gesellschaftskreise
einzuschmuggeln. Es herrscht also im Grunde in derjenigen Gesellschaft,
die sich die beste zu nennen beliebt, dieselbe niederträchtige Doppelmoral
wie in der alten Welt, wo die chevaleresken Brüder mit geschliffenen
Säbeln und gespannten Pistolen vor der Ehre ihrer Schwestern Wache halten,
aber vielleicht selber auf das schmachvollste mit dem Glück und der Ehre
anderer Mädchen umspringen. Der Unterschied zugunsten der Yankeeanschauung
ist vielleicht nur der, daß drüben der Ruf des verfluchten Schwerenöters
dem Manne nicht so wie bei uns zum Vorteil gereicht, und daß ein Mädchen
aus den unteren Kreisen, sobald es von einem Mann aus den höheren
geheiratet wird, es nicht so schwer hat, von der höheren Gesellschaft
aufgenommen zu werden, falls es sich nur _ladylike_ zu benehmen versteht;
dagegen fällt der Vergleich zu ungunsten des Yankee aus, wenn man die
Gefühlsroheit in Anschlag bringt, die in der Beurteilung des freien
Liebesverhältnisses drüben herrscht. Der Yankee hat für die illegitime
Freudenspenderin nur die rohesten Worte seiner Sprache übrig. Selbst der
Ausdruck _Sweetheart_ hat einen verächtlichen Nebenklang bekommen. Die
amerikanische Moral bekreuzt sich entrüstet vor dem „Verhältnis“ des
Deutschen oder vor der „Collage“ des französischen Studenten. Die
amerikanische junge Dame würde die selbstlose Hingabe des leidenschaftlich
liebenden deutschen „Gretchens“ oder der französischen Grisette nicht nur
für _shocking_, sondern besonders für entsetzlich dumm halten; denn sie
ist gewohnt, möglichst viel zu fordern und möglichst wenig dafür zu
gewähren. In einem amerikanischen Roman oder Theaterstück ist folglich die
poetische Verklärung eines freien Liebesverhältnisses völlig unmöglich.
Ein Autor, der dergleichen wagen würde, und sei er selbst ein Mann von
anerkannter Bedeutung, würde nicht nur den Absatz seines Buches schwer
schädigen, sondern sich auch gesellschaftlich unmöglich machen. Ob bei
dieser Anschauung die Heiligkeit der Ehe viel gewinnt, wage ich nicht zu
entscheiden, sicher nur dünkt es mich, daß die Heiligkeit der Liebe viel
dabei verliert. Manche Äußerungen dieser einseitigen
christlich-pfäffischen Moralauffassung erscheinen uns Europäern ja
geradezu komisch. So kann z. B. ein Bankdefraudant, wenn er Glück hat,
sein geraubtes Schäfchen ganz gut drüben ins Trockene bringen und unter
Umständen sogar sich wieder zu allen bürgerlichen Ehren emporarbeiten;
landet er aber gleichzeitig sein Liebchen in Hoboken, so muß er gewärtig
sein, daß er sofort vor die Wahl gestellt wird, entweder umgehend zu
heiraten, oder umgehend nach Europa zurückzukehren. Auf jedem Ozeandampfer
wachen scharfe Yankeeaugen über dem Benehmen der paarweise Reisenden, und
wer da nicht einen unzweifelhaft verheirateten Eindruck macht, der kann
sicher sein, bei der Landung um Vorlage seiner Ehebescheinigung ersucht zu
werden. Sollte es der Yankeerasse gelingen, die puritanischen
Unmenschlichkeiten aus ihren Moralbegriffen auszumerzen und sich trotzdem
die Reinlichkeit des Empfindens den geschlechtlichen Dingen gegenüber zu
bewahren, die den größten Teil ihrer Jugend jetzt schon als
Begleiterscheinung der körperlichen Reinlichkeit und der vernünftigen
Erziehung auszeichnet, so dürfte sie vielleicht wirklich einmal den Rassen
der alten Welt als moralisches Vorbild gelten. Bis dahin aber müssen wir
uns doch erlauben, diese gern betonte moralische Überlegenheit mit einem
großen Fragezeichen zu versehen.



                              LIEBE UND EHE.


(M28)

So viele Kabel auch zwischen Alt-Europa und der neuen Welt gelegt sind, so
viele Geschäfts- und Familienbeziehungen die Völker diesseits und jenseits
des Ozeans miteinander verbinden, so herrschen gerade über manche wichtige
grundlegende Verhältnisse die gröbsten Mißverständnisse. Was wissen wir
Deutsche z. B. vom Familienleben, von Liebe und Ehe der Yankees? Wir lesen
in unseren Zeitungen alle Augenblicke von sensationellen Heiraten zwischen
Milliardärstöchtern und europäischen Aristokraten, von Millionenerbinnen
oder Gattinnen von Industriekönigen, die mit Chauffeuren, Friseuren oder
Klavierlehrern durchgehen; wir lesen mit moralischen Schauder die
ungeheuerlich hohen Ziffern, welche die Statistik über die Scheidungen in
den Vereinigten Staaten nennt, und wir glauben, aus allen diesen
Erscheinungen schließen zu dürfen, daß die Yankees über die Heiligkeit der
Ehe äußerst frivol denken und ihre Töchter nur als Ware, als Tauschobjekt
für gute gesellschaftliche und geschäftliche Beziehungen betrachten
müßten. Zum mindesten kommt wohl jeder gute Deutsche mit einem starken
Vorurteil gegen die koketten, herzlosen und anspruchsvollen Yankeemädchen
nach Dollarica; wem es aber gestattet ist, unvoreingenommen und aus
nächster Nähe die Frage der Liebe und der Ehe im Yankeelande zu studieren,
der dürfte doch bald zu einer anderen Meinung gelangen. Vor allen Dingen
wird ein guter Beobachter sehr bald lernen, zwischen den Sitten und
Gewohnheiten der paar Hundert Multimillionäre und denen der
überwältigenden Mehrheit des übrigen Volkes zu unterscheiden. Es brauchte
nicht erst der gute und kluge Carnegie zu kommen, um uns die Weisheit zu
offenbaren, daß Frauen desto unglücklicher, unzufriedener und zu törichten
Streichen geneigter sind, je reicher sie werden; das ist eine uralte
Weisheit, die wir bei uns zu Lande ebenso oft bestätigt finden können, wie
irgendwo sonst auf der Erde. Die Frau des Multimillionärs, die ganz in
gesellschaftlichen Interessen aufgeht, ihre Nerven in einer sinnlosen
Hetze von Vergnügen zu Vergnügen, von Gesellschaft zu Gesellschaft, von
bloß spielerischer bis zu wirklich angreifender Tätigkeit aufreibt, dabei
drei- bis viermal täglich die Toilette wechselt, unsinnigen Moden zuliebe
ihre Gesundheit aufs Spiel setzt und jede ihrer Launen rücksichtslos
befriedigen kann, die muß natürlich, falls sie nicht einen unverwüstlich
guten Kern besitzt, ihre Nervenüberreizung irgendwie büßen. Die tollen
Streiche ihrer Laune, ihre frivolen Geschmacksverirrungen sind dann nur
Folgeerscheinungen eines seelischen Schadens, der aus der zerrütteten
körperlichen Grundlage erwuchs wie der Schwamm aus einem faulen Balken.
Ebenso begreiflich ist es, daß die Männer jenes Kreises, sobald der
aufgehäufte Dollarberg ihnen bis über die Nase steigt und sie zu ersticken
droht, bedenkliche Kongestionen nach dem Kopfe bekommen, die zunächst dazu
zu führen pflegen, daß sie ihre anerzogenen demokratischen Grundsätze
vergessen und mit ihrem Überfluß das einzige zu erreichen trachten, was
drüben für kein Geld zu haben ist, nämlich einen Abglanz feudaler
Herrlichkeit. Da sie nun bei sich zu Hause nicht mit Fürsten- und
Grafenkronen auf dem Kopfe herumlaufen können, ohne sich lächerlich zu
machen, so kaufen sie diese schönen Dinge ihren ehrgeizigen Töchtern und
füttern ihre Eitelkeit mit dem Bewußtsein, mit dem ältesten Adel Europas
wenigstens verschwägert zu sein und als Großpapas Prinzlein und Komteßlein
auf ihren Knien schaukeln zu dürfen. Und dennoch ist gerade für die
Vereinigten Staaten nichts weniger kennzeichnend als der Mädchenschacher.
Man darf getrost behaupten, daß in keinem Lande der Welt den Töchtern eine
größere Freiheit der Wahl gelassen werde, als gerade in den Vereinigten
Staaten, und daß auch nirgends das Spekulieren der jungen Männer mit einer
fetten Mitgift weniger im Schwang sei. Es ist nämlich durchaus nicht
Sitte, den Töchtern eine Mitgift zu geben; nur die ganz reichen Leute
machen hiervon eine Ausnahme. In der überwältigenden Mehrzahl der
Yankeefamilien, von den untersten bis zu den obersten
Gesellschaftsschichten, denkt der Erwerber ebensowenig daran, sich selber
als Rentier zur Ruhe zu setzen, so lange er noch imstande ist, einen Brief
zu diktieren und ein Telephon zur Hand zu nehmen, als dem Erwählten seiner
Tochter in den Jahren seiner besten Kraft in Gestalt eines Kapitals eine
faule Haut zu unterbreiten, auf der Schwiegersohn und Tochter sich
behaglich räkeln dürften. Die jungen Leute mögen sich im stillen auf die
fette Erbschaft freuen, so viel sie wollen, inzwischen aber sich
gefälligst selber regen und sich den Zuschnitt ihres Lebens nach ihrem
eignen Verdienst gestalten. Dieser höchst vernünftige und gesunde
Grundsatz führt zu der selbstverständlichen Folge, daß drüben viel mehr
aus Liebe geheiratet wird, als bei uns. Außerdem wird aber auch viel
früher geheiratet, weil schon die Kindererziehung darauf ausgeht, eine
frühe Selbständigkeit der Charaktere zu erzielen, und weil die
Lebensverhältnisse heute wenigstens noch so sind, daß ein junger Mensch,
der etwas gelernt hat, sei es Mann oder Weib, viel früher als bei uns zu
einem leidlich anständigen Einkommen gelangen kann. Ein junger Mann am
Anfange der Zwanziger, der von seinem Berufseinkommen noch keine Frau
ernähren kann, braucht deshalb noch nicht auf die Freuden der Ehe und der
Häuslichkeit zu verzichten, denn er kann sich ja ein Mädchen suchen, das
auch in einem praktischen Beruf tätig ist und ein selbständiges Einkommen
daraus bezieht. Wer in der teuren Großstadt noch nicht imstande wäre, von
seinem Einkommen eine dürftige Etagenwohnung zu bestreiten, der findet
weit draußen in den weniger besiedelten Staaten doch vielleicht einen
Platz, wo er mit demselben Einkommen ein ganzes Haus nebst Dienerschaft
sich leisten kann. Die vernünftige Erziehung, bei der die beiden
Geschlechter stets auf dem Fuße der Gleichberechtigung und der guten
Kameradschaft miteinander verkehren, und auch wohl ein wenig Vererbung aus
den Zeiten puritanischer Sittenstrenge erhalten den jungen Mann gesund und
keusch in seinen Anschauungen und lassen ihn die Ehe als das normale und
schönste Ziel seiner Sehnsucht erscheinen in einem Alter, in dem der junge
Europäer sich auf seine frivole Weiberverachtung besonders viel
einzubilden pflegt. Es kommt auch wohl noch dazu, daß, wie gesagt, ein
sehr großer Teil aller jungen Leute in gottverlassenen Gegenden seine
Existenz zu begründen beginnt, wo er keinen menschenwürdigen Ersatz für
die eheliche Gemeinschaft zu finden hoffen darf. Und schließlich gibt es
in Amerika noch eine ganz besonders gute Vorbereitung auf den heiligen
Ehestand durch eine bei uns kaum in den untersten Volksschichten allgemein
eingeführte Sitte. Es gilt nämlich in der Yankeefamilie als ganz
selbstverständlich, daß der Sohn sowohl wie die Tochter, sobald sie
selbständig zu verdienen beginnen, zu den Kosten des elterlichen
Hausstandes beitragen. Da man bei den Yankees so vernünftig ist, die
geschäftliche Behandlung praktischer Fragen auch in den intimsten
Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, zwischen Mann und Frau nicht für
gefühlsroh zu halten, so erwägt man im Familienrate in aller Gemütsruhe,
wie viel jedes einzelne Kind im Verhältnis zu den Aufwendungen, die für
seine Erziehung gemacht wurden, von seinem Einkommen billigerweise den
Eltern zurück zu erstatten habe. Man hört selten davon, daß sich ein übel
geratenes Kind dieser Zahlungspflicht gegen die Eltern entzieht, noch viel
weniger davon, daß die Herzlichkeit der Beziehungen zwischen Eltern und
erwachsenen Kindern unter solcher Geschäftspraxis leide. Die Eltern
spannen vielmehr ihre Kräfte aufs äußerste an, um ihren Kindern eine
möglichst gute Ausbildung zu geben, weil sie wissen, daß sich das
aufgewendete Kapital nicht nur ideal verzinsen wird. Und die Kinder werden
durch diese geheiligte Sitte von früh an in ihrem Pflichtbewußtsein und in
ihrer selbstlosen Schätzung des Familienlebens gestärkt. Während also
unsere Sitten den jungen Mann zu einem heillos eingebildeten
Selbstsüchtling erziehen, der sich kein Gewissen daraus macht, den Eltern
noch Jahre auf der Tasche zu liegen, und der seine edle Freiheit nur um
den Preis einer stattlichen Mitgift und auch erst dann nur zu verkaufen
geneigt ist, wenn ihn der Suff und die Weiber an Leib und Seele schon
bedenklich mürbe gemacht haben, kann sich die amerikanische Sitte und
Erziehungskunst etwas darauf einbilden, das denkbar beste Männermaterial
für den heiligen Ehestand stets frisch und in reichlicher Quantität auf
Lager zu haben. Von nicht zu unterschätzender Bedeutung dünkt mich auch
der Umstand, daß die englische Sprache keinen Unterschied von Du und Sie
kennt, indem nämlich das Fürwort _thou_, also das eigentliche du, nur noch
in der Poesie und im Gebet angewendet wird, während _you_ – gleich Ihr –
schon seit Jahrhunderten ausschließlich als Anrede bei Hoch und Niedrig in
den intimsten wie in den fremdesten Beziehungen verwandt wird. Es fällt
also auch im Verkehr der Geschlechter die Scheidewand fort, welche das
förmliche Sie bei uns errichtet, und der Übergang zwischen einer bloßen
guten Bekanntschaft in höflichen Formen zur Freundschaft oder Liebe
markiert sich äußerlich gar nicht. Die jungen Männer und Mädchen, die
durch gemeinsamen Schulbesuch oder durch den gesellschaftlichen Verkehr
der Eltern schon in der Kindheit auf kameradschaftlichen Fuß gekommen
sind, behalten übrigens auch die Gewohnheit, sich beim Vornamen zu nennen,
bis ins heiratsfähige Alter bei. Ein junger Mann kann mit Dutzenden von
jungen Mädchen seines Kreises auf diesem kameradschaftlichen Fuße stehen;
ein junges Mädchen kann sich heute von ihrem Freunde Jack ins Theater,
morgen von ihrem Freunde Jimmy zu einer Bootfahrt, übermorgen von ihrem
Freunde Tom zum Baden abholen lassen, ohne daß die ganze Freundschaft,
Verwandtschaft und Nachbarschaft, wie bei uns, darüber die Köpfe
zusammensteckt und ein eifriges Getuschel beginnt. Die Verkehrsformen
zwischen den jungen Leuten sind allerdings nach den Begriffen einer
ehrsamen deutschen Tantenschaft sehr frei, und selbst der nicht allzu
leicht moralinsauer reagierende Beobachter wird von der besonderen Art,
wie die junge Amerikanerin ihre Lieblingsbeschäftigung, den Flirt, ausübt,
wenig erbaut sein. Deutsche junge Mädchen, die schon als Erwachsene
hinüber kommen, finden auch meist diesen Ton und diese Verhältnisse wenig
nach ihrem Geschmack. Selbst wenn sie Talent zur Koketterie haben und
darin rasche Fortschritte machen, so ärgert es sie doch, daß sie nie
wissen, wie sie mit den amerikanischen jungen Männern eigentlich daran
sind, weil sich der Unterschied zwischen einem frivolen Kurmacher und
einem Anbeter mit ernsten Absichten viel weniger leicht bemerkbar macht,
als bei uns. Der junge Amerikaner der höheren Schichten kann jahrelang
ohne irgendwelche Konsequenzen Freundschaften mit Töchtern seines Kreises
unterhalten, und dennoch steht es ihm frei, seine Gattin ganz überraschend
irgendwo anders her zu holen. Er wird sich auch nicht groß darüber
wundern, wenn eine seiner Freundinnen seiner Bedenklichkeit zuvorkommt und
ihn urplötzlich mit der Frage überrascht: „Was meinst du, Jim, wir könnten
doch eigentlich Verlobungskarten herumschicken?“ Der jungen Amerikanerin
geht auch ganz die heimliche Angst deutscher junger Mädchen ab, als ob der
freie Verkehr mit jungen Männern zu einer Überrumpelung in einer schwülen
Stunde führen könnte, denn sie weiß ganz genau, daß der junge Mann, der
einen solchen Vertrauensbruch begehen würde, der lebenslangen Ächtung in
seinem Kreise verfallen würde. Sie weiß ebenso genau, daß ihr Freund,
falls sein Temperament ihm keine Ruhe läßt, außereheliche Freuden bei den
leichten Mädchen geringeren Standes sucht, und wird ihm das wohl meistens
auch nicht besonders übel nehmen. Aus solchen Anschauungen und
Gewohnheiten erklärt es sich, daß in den Vereinigten Staaten der Typus Don
Juan, der kecke Herzensbrecher, gefährliche Schwerenöter und verfluchte
Kerl, durchaus kein romantisches Ideal von Männlichkeit darstellt, weder
dem Geschmack der Männer, noch dem der Frauen nach, sondern daß dieses
Ideal vielmehr gefunden wird in dem ritterlichen Beschützer weiblicher
Tugend, in dem getreulich ausharrenden, alle Launen seiner Schönen
lächelnd erduldenden und stets dienstbeflissenen Liebhaber. Von der Poesie
der Liebe, wie wir sie aufzufassen gewohnt sind, fällt durch solche
Anschauungen allerdings sehr viel weg. Die Lieblingsgestalt der deutschen
Dichtung, das unbedenklich dem Zuge seines Herzens folgende, bedingungslos
sich hingebende und schwärmerisch sich aufopfernde junge Mädchen würde
nach amerikanischer Auffassung nur eine leichtsinnige Person oder eine
dumme Gans sein. Und dem männischen Mann, dem rücksichtslosen Eroberer,
dem Schrecken und der süßen Sehnsucht deutscher Frauenherzen, würde
einfach der Charakter als Gentleman abgesprochen werden.
Bezeichnenderweise kommen diese Typen in der amerikanischen Literatur auch
gar nicht vor. „Das süße Mädel“, wie Schnitzler und ich es novellistisch
verherrlicht haben, findet auch durch die Hintertür der Übersetzung keinen
Einlaß in die amerikanische Poesie. Von meinem Roman „Das dritte
Geschlecht“ liegt seit Jahren eine ausgezeichnete amerikanische
Übersetzung vor; sie findet aber keinen Verleger, weil die darin
gepredigte Philosophie der Liebe _shocking_ ist. Überaus lehrreich war für
mich die Bekanntschaft mit einem modernen Thesendrama „_The easiest way_“
(der leichteste Weg) von einem sehr talentvollen jungen Dramatiker Walter,
der drüben als ein kühner Pfadfinder gilt. Das freie Verhältnis eines
reichen Geschäftsmannes mit einer kleinen Choristin steht im Mittelpunkt
der Handlung. Das Mädchen hat eine tiefe Sehnsucht nach der bürgerlichen
Anständigkeit und dem behördlich approbierten heiligen Ehestand. Der
Verfasser jedoch scheint es als selbstverständlich anzusehen, daß solche
gefallenen Mädchen niemals die Kraft finden können, einem faulen, eiteln
Genußleben zu entsagen. Er läßt ihren Aushälter mit seiner trotz aller
Großmut doch etwas brutalen Vernunft recht behalten und das Mädchen im
Sumpf zu Grunde gehen. Für amerikanische Begriffe war es, wie gesagt,
schon eine ungeheure Kühnheit, solch ein illegitimes Verhältnis überhaupt
auf die Bühne zu bringen. Erträglich wurde diese Kühnheit für das
Theaterpublikum drüben nur durch den moralischen Standpunkt, den der
Verfasser einnahm. Sein grausamer Schluß entsetzte freilich die zarten
Gemüter nicht wenig; aber lieber solche Grausamkeit, lieber auch die
verlogene Sentimentalität einer Kameliendame, als der aus Mitleid und
tiefem Verständnis für alles Menschliche geborene ehrliche Realismus der
modernen europäischen Dichtung. Wie im Theater und in der Literatur, so
spähen wir Deutsche auch in der Öffentlichkeit vergebens nach den uns
vertrauten Äußerungen der Verliebtheit. Liebespärchen, welche in dunkeln
Ecken von Biergärten Hand in Hand sitzen, sich anschmachten, aus einem
Glase trinken, von einem Butterbrot abbeißen, oder etwa gar im
Eisenbahncoupé wie angeleimt dicht nebeneinander hocken und sich
fortwährend zärtlich tätscheln und heimlich drücken, dürften wohl drüben
zu den Unmöglichkeiten gehören. Kaum daß man einmal auf den Bahnhöfen
Abschied nehmende Ehe- oder Brautpaare sich küssen sieht. Ob deswegen die
Amerikanerin weniger zärtlich oder gar feurig sei, als europäische Frauen,
wage ich nicht zu entscheiden, denn ich war weder mit einer Amerikanerin
verheiratet, noch habe ich bedauerlicherweise jemals ein Verhältnis mit
einer solchen gehabt.

(M29)

Der Sinn für Romantik in der Liebe geht jedoch den Amerikanern keineswegs
gänzlich ab, was man daraus erkennen kann, daß abenteuerliche Entführungen
viel mehr an der Tagesordnung sind, als vermutlich irgendwo sonst. Aber
freilich, was will eine Entführung in dem Lande der Freiheit groß
bedeuten! Die Eltern lassen ja ihren erwachsenen Kindern fast durchweg
freie Wahl; ihrer Erlaubnis zur Heirat bedürfen die Töchter in den meisten
Staaten nur in ganz jugendlichem Alter, und auch dann ist es sehr leicht,
einen gesetzlichen Dispens zu erwirken. Ich glaube, viele sehr junge
Mädchen heiraten bloß, weil ihnen das Entführtwerden so viel Spaß macht.
Es kann ja auch in allen Ehren geschehen, da man mittags durchbrennen und
sich abends schon als Ehepaar den erstaunten Eltern präsentieren kann. Man
braucht bekanntlich drüben nicht drei Wochen zu hängen oder in der Kirche
aufgeboten zu werden, sondern man holt sich einfach von der zuständigen
Magistratsperson einen Heiratsschein, den man anstandslos bekommt, sobald
man beschwört, daß keine gesetzlichen Hinderungsgründe vorliegen. Mit
diesem Schein geht man zum nächsten besten Pastor und läßt sich auf der
Stelle trauen, bezw. von dem Zivilstandsbeamten zusammen geben.
Glücklicherweise kann man fast ebenso leicht wieder auseinander kommen.
Zwar sind in betreff der Scheidung die Gesetze in den einzelnen Staaten
sehr viel verschiedener als in bezug auf das Heiraten, aber wer in seinem
Staate auf Schwierigkeiten stößt, der verfügt sich eben in einen
weitherzigeren und bequemeren Staat und riskiert höchstens, daß er sich
dort einige Zeit aufhalten muß, bevor er die Wohltat seiner Spezialgesetze
genießen darf. Es könnte wunder nehmen, daß dieselben Yankees, die
vielfach noch sehr puritanisch streng über die Ehe denken, die Scheidung
so überaus erleichtern; der praktische Erfolg hat aber gelehrt, daß hier,
wie so oft, ihr gesunder Menschenverstand ihnen den rechten Weg gewiesen
hat. Religion, Gesellschaftsmoral und die besonderen Verhältnisse des
jungen Landes begünstigen das frühe Heiraten; da nun aber ein despotisches
Eingreifen des elterlichen Willens durch die demokratischen Grundsätze
ausgeschlossen erscheint, so kommen die Ehen fast allein durch die
Leidenschaft mehr oder minder unreifer Menschen zustande, welche durchaus
noch nicht fähig sind, sich über ihre eigenen sittlichen Kräfte, noch über
die Kämpfe und Hemmungen, denen sie in ihren besonderen
Lebensverhältnissen entgegengehen, ein Urteil zu bilden. Es werden sich
folglich sehr viele dieser jugendlichen Wahlen als verfehlt erweisen. Wäre
nun diesen unglücklich Gepaarten ein Loskommen voneinander unmöglich
gemacht oder auch nur beträchtlich erschwert, so würde bald das ganze Land
überschwemmt sein von verärgerten, zähneknirschenden, entmutigten
Menschen, welche ebenso viele fanatische Prediger gegen die Ehe bedeuten
würden. So aber weiß jeder beim Eingehen seiner Ehe: Habe ich mich
gröblich getäuscht, nun dann ist’s auch weiter nicht schlimm; eine
Scheidung kostet nicht den Kopf, und das nächste Mal kann ich es ja besser
treffen. Selbstverständlich wird die leichte Scheidungsmöglichkeit aus
bloßer Veränderungssucht viel mißbraucht werden, aber sicherlich nicht so
viel, wie ängstliche Gemüter sich vorstellen mögen, denn die liebe
Gewohnheit vermag auch den brutalsten Sinnenmenschen zu bändigen. Das
Anstands- und Gerechtigkeitsgefühl des Mannes, besonders bei einer
allgemein ritterlich veranlagten Rasse, und die Liebe zu den Kindern und
zur Häuslichkeit bei der Frau richten unter allen Umständen einen starken
Schutzwall wider den rücksichtslosen Leichtsinn auf. Übrigens ist die
Gefahr der unglücklichen Ehen auch schon dadurch herabgemindert, daß die
ganze Yankeerasse nüchterner denkt als wir und sich daher über Liebe und
Ehe auch weniger Illusionen macht. Das Denken ist überhaupt dieses Volkes
Sache nicht, es wird daher um so stärker von der Tradition beherrscht, ist
auch von den Einflüssen der Erziehung, der Schule abhängiger und darum in
seiner Masse viel gleichartiger an Charakter und Gemüt als wir. Durch
diese Gleichartigkeit fällt von vornherein der bei uns häufigste Grund der
Ehestörung fort. Hyperästhetische, dekadente Männer oder verzwickte
Ibsensche Frauennaturen, wie sie bei uns als schreckhafte Beispiele
schwierigster Ehegesponse herumlaufen, dürfte man drüben nur sehr selten
antreffen. Ganz ohne Zweifel ist aber der amerikanische Ehemann für die
Frau bequemer als der deutsche. Er fühlt sich durch ihre nach unseren
Begriffen oft unverschämten Ansprüche nicht weiter gekränkt, weil ihm die
Verehrung für das zartere Geschlecht noch fest im Blute sitzt. Es dünkt
ihm ganz in der Ordnung, daß einer für das Vergnügen, mit einer hübschen
und eleganten Frau prahlen zu dürfen, einen gehörigen Preis zahlen, d. h.
bis an sein Lebensende sich mächtig anstrengen muß. Wie der Mann das viele
Geld verdient, ist der teuren Gattin ziemlich gleichgültig, denn für ihr
gesellschaftliches Ansehen macht es wenig aus, ob er mit Schuhwichse oder
mit Juwelen handelt, ob er ein wilder Spekulant oder ein solider
Industriekapitän, Beamter, Anwalt, Arzt oder Künstler ist. Der
gesellschaftliche Rang des Gatten hängt vielmehr davon ab, ob er einer
mehr oder minder alten Familie angehört, die schon lange Wohlstand und
Ansehen genießt, oder ob er ein Emporkömmling ist, von dem man in der
guten Gesellschaft noch nichts Genaues weiß. Eine gescheite und reizvolle
Frau kann die gesellschaftliche Stellung ihres Mannes wesentlich
verbessern, indem sie mit Kreisen in Fühlung kommt, die über denen stehen,
aus denen der Mann hervorgegangen ist. Sie hält es darum auch für ihre
vornehmste Pflicht, sich ihre Schönheit zu erhalten, ein elegantes Haus zu
machen und feinere Leute in ihren Verkehr zu ziehen. Wenn solche
gesellschaftlich geschickten Frauen gemütlos und geistig beschränkt sind,
dann können sie natürlich auch den geduldigsten Mann durch ihre törichten
Ansprüche zur Verzweiflung bringen; meistens sind sie aber doch klug
genug, sich gerade dann, wenn sie die ärgsten Zumutungen an seinen
Geldbeutel und seine Geduld stellen, die größte Mühe zu geben, ihn bei
guter Laune zu erhalten. Die kleinlich eifersüchtige, keifende, den
Hausschlüssel verweigernde deutsche Philisterfrau aus den „Fliegenden
Blättern“ wird man drüben nicht oft finden; dagegen ist die putzsüchtige,
mit dem Scheckbuch des Gatten täglich die Warenhäuser heimsuchende und
ihre Zeit in nichtigen Vergnügungen und spielerischer Vereinstätigkeit
verzettelnde Hausfrau sicher noch häufiger zu finden als bei uns. Es wäre
aber doch wohl ungerecht, deswegen der Amerikanerin im allgemeinen die
Fähigkeit zu entsagender Hingabe an strengere Pflichten abzusprechen. Man
hört sogar nicht selten von jungen Mädchen aus wohlhabenden Familien, die
mit ihrem Erwählten in die halbe oder ganze Wildnis ziehen und sich unter
rauhen Lebensbedingungen tapfer mit durchschlagen. Auch versteht es die
Amerikanerin in beschränkten Verhältnissen beinahe so gut wie die
Französin, ihr Haus stets nett und freundlich zu halten, sich gut
anzuziehen und ihren Körper trotz der Arbeitslast frisch zu erhalten. Die
Frau, die nur unter furchtbarem Getöse die Haushaltungsmaschine in Gang zu
halten versteht, immer seufzt und stöhnt, nie angezogen ist, und, sobald
sie den Mann sicher eingefangen hat, ihr Äußeres, ihre kleinen Talente und
ihren Bildungstrieb vernachlässigt, die soll drüben angeblich nicht
existieren – auch nicht unter den Bauern; denn die Gattin des Farmers ist
eine Lady, der niemals der Mann schwere Feldarbeit zumuten würde, und ihre
Töchter spielen Klavier und besuchen die höheren Schulen. Die arbeitende
Frau des Mittelstandes mag zwar nüchtern und uninteressant sein, aber sie
teilt doch meistens die glücklichste Eigenschaft ihrer Rasse, nämlich die
leichte Anpassungsfähigkeit an die verschiedenen Glücksumstände. Es wird
nicht oft vorkommen, daß eine Frau ihren Mann, wenn er plötzlich zu großem
Reichtum gelangt, in einer vornehmeren Gesellschaftsschicht durch
schlechte Manieren, schlechte Sprache und geschmacklosen Anzug blamieren
sollte. Das Talent zur Lady scheint wirklich der Weiblichkeit der ganzen
Rasse eigen zu sein, und es macht sich selbst bei jenen armen Geschöpfen
noch angenehm bemerkbar, welche die Gesellschaft deklassiert und zu
Freiwild für die illegitimen Begierden der Männer bestimmt hat. Einige
gefällige Amerikaner veranstalteten zum Vergnügen des Gefolges unseres
Prinzen Heinrich seinerzeit in New York eine kleine, ganz intime
Abendgesellschaft – für jeden der Herren war ein gefälliges Chorusgirl
eingeladen worden. Und das Benehmen dieser leichten Mädchen war so
anmutig, der Ton der Unterhaltung so gesittet, daß die Herren glaubten,
einer Einladung in ein feines Töchterpensionat gefolgt zu sein und gar
nicht genug Rühmens von dieser liebenswürdig kaschierten Frivolität machen
konnten.

(M30)

Man mag diese unzweifelhaften Vorzüge als Äußerlichkeiten gering
einschätzen und ihnen gegenüber die Gemütstiefe, die Pflichttreue, die
enthusiastische Opferfreudigkeit und edle Mütterlichkeit der deutschen
Frau als das Größere und Ausschlaggebende hinstellen, man mag sogar die
Liebesfähigkeit des Yankees in Zweifel ziehen, aber man darf nicht
leugnen, daß durch Gesetz, Sitte und Herkommen für den heiligen Ehestand
drüben besser gesorgt ist. Und ich glaube, es kann schwerlich einem
Zweifel unterliegen, daß die allgemeine Heiratslust der Jugend einem Volke
das sicherste Gesundheitszeugnis ausstellt.



                          DIE DIENSTBOTENFRAGE.


(M31)

Es war in Philadelphia. Mir gegenüber im zweiten Stockwerk eines netten,
epheuumrankten Familienhauses war ein junger Nigger mit Fensterputzen
beschäftigt. Bekanntlich gibt es in Amerika keine Flügelfenster, sondern
ausschließlich jene greulichen englischen Schiebefenster, welche ein
behagliches Hinausschauen, ein geschwindes Kopfherausstrecken nach einer
rasch vorüber brausenden Straßensensation fast unmöglich machen. Denn die
Fenster sind fast durchweg so niedrig über dem Fußboden angebracht, daß
die bewegliche untere Hälfte einem ausgewachsenen Menschen kaum bis zur
Brusthöhe reicht. Wenn man also hinausschauen will, so muß man, um nicht
etwa das Übergewicht zu verlieren und kopfüber hinauszupurzeln, schon auf
den Boden hinknien und seinen Hals, auf die Gefahr hin, bei etwaigem
schlechten Funktionieren der Sperrfedern geköpft zu werden, unter die
gläserne Guillotine stecken. Mein Nigger hatte es sich im Reitsitz auf dem
Fensterbrett gemütlich gemacht; das eine Bein hing auf die Straße hinaus,
obwohl es empfindlich kalt an diesem sonnigen Januartage war. Während er
sein Handwerkszeug, Schwamm, Trockentuch und Lederlappen, bedächtig auf
dem Fensterbrett zurecht legte, pfiff er sich eins, blickte die schmale
Seitenstraße hinunter und die breite Avenue hinauf (denn es war ein
Eckhaus). Da doch vorläufig nichts Besonderes zu sehen war, so stellte er
sein Pfeifen ein und schaute mit sorgenvoll gerunzelter Stirn aufwärts. Er
dachte offenbar angestrengt über das Problem nach, wie er wohl, ohne sein
kostbares Leben zu gefährden, d. h. auf dem Fensterbrett stehend, mit dem
Oberkörper rückwärts hinausgelehnt und nur mit einer Hand am Fensterrahmen
in der Mitte sich festklammernd, die obere Scheibe von außen reinigen
könnte. Da er zu diesem waghalsigen Turnerstückchen sich nicht aufgelegt
fühlte, so schüttelte er seinen dicken Wollkopf und versuchte, wie weit er
mit ausgestreckter Hand über sich emporreichen könnte. Die Fingerspitzen
langten nur gerade ein weniges über die mittlere Rahmenleiste hinaus; das
genügte ihm aber vorläufig. Er ergriff seinen Lappen und wischte am
äußeren unteren Rande der Mittelleiste ein wenig Staub hinweg. Darauf
erhob er sich und befummelte im Stehen die innere Seite des
hinaufgeschobenen Fensters. Er ließ sich sehr reichlich Zeit hierzu, ohne
deswegen jedoch die Sache gar zu ernst zu nehmen. Als die innere obere
Scheibe seiner Meinung nach genügend sauber war, nahm er wieder auf dem
Fensterbrett Platz und ließ sein linkes Bein, dessen zierliches
Plattfüßchen mit einem riesigen Footballstiefel bekleidet war, wieder ins
Freie baumeln. Nachdem er eine ganze Weile untätig vor sich hingeträumt
hatte, unternahm er den Versuch, die innere Fensterhälfte
herunterzuziehen, um nunmehr das Glas von außen zu bearbeiten. Es dauerte
sehr lange, bis es ihm gelang, das Fenster aus seiner Ruhelage zu bringen,
und als er es endlich glücklich los hatte und nun versuchte, die schwere
Glasscheibe auf seinem rechten Knie so zu stützen, daß ein genügend großer
Spalt offen blieb, um ihm das Hantieren im Sitzen zu gestatten, fand er
alsbald, daß er sich dadurch in eine höchst unbequeme Lage begeben und
besonders seinem zarten Kniechen zu viel zugemutet habe. Er schob also
stöhnend und schnaufend die Scheibe wieder hinauf, wischte sich mit dem
Ärmel über den Schädel und fletschte zornig sein anmutiges „G’frieß“ gegen
die Scheibe hinauf – gerade wie es die Kinder machen, wenn sie mit der
Kommode böse sind, an der sie sich gestoßen haben. Plötzlich verklärte
sich seine intelligente Schimpansenphysiognomie. In der Ferne ließ sich
Militärmusik vernehmen. Bum, bum, tschindara! Master Kinkywoolly wurde
ganz Ohr und ganz Seligkeit. Er beugte sich so weit hinaus wie möglich und
spähte die breite Hauptstraße hinunter. Etwas ganz besonders
Herzerhebendes mußte da los sein, denn mein Nigger klatschte begeistert in
die Hände und zeigte, seine zierliche Fresse weit aufreißend, die
lachenden Zähne im Leckermaul. Ich schob nun gleichfalls mein Fenster
hoch, kniete auf den Boden nieder und reckte den Hals hinaus, um mir den
seltenen Anblick eines militärischen Aufzuges nicht entgehen zu lassen.
Aber es war ganz etwas anderes, was ich zu sehen bekam, etwas ganz
spezifisch Amerikanisches. Gassenbuben und Strolche vorweg, dann eine
uniformierte Kapelle und dann in Rotten zu vieren ein schlotteriger
Parademarsch, inszeniert von einem politischen Boß und ausgeführt von
einer Elitetruppe seiner Parteifreunde. Lauter freie Republikaner
gesetzten Alters, wohl genährt, sauber und glatt rasiert, alle mit den
gleichen gelben Gamaschen, denselben Schlipsen, denselben Hüten und
denselben Bambusstöcken mit vernickelten Griffen, die sie wie die Gewehre
aufrecht an die Schulter gedrückt trugen, wie ehemals unser Militär bei
dem Griff „faßt das Gewehr an“. Ein gerade zu Besuch anwesender
Eingeborener erklärte mir, daß die Parteikasse die Ausrüstung an
Gamaschen, Schlipsen, Hüten und Spazierstöcken stelle und diese
öffentlichen Umzüge ansehnlicher, sichtbarlich satter und zufriedener
Mitbürger von Zeit zu Zeit veranstalte, um dem Publikum zu beweisen, wie
gut es sich unter den Fittichen ihrer Partei leben lasse. Ein unerhört
fetter schwarzer Schutzmann, der an der Straßenkreuzung postiert war,
führte vor Vergnügen über diesen gelungenen Aufzug einen veritablen
Cakewalk nach dem munteren Rhythmus der Musik aus, und mein Fenster
putzendes Niggerlein jauchzte vor Vergnügen über solchen grotesken Anblick
und bewegte sich im Takte der Musik, als ob er ein tanzendes Zirkuspferd
zwischen den Schenkeln hätte. Offenbar gehörten der cancanierende
Schutzmann und der reitende Fensterputzer gleichfalls der Partei der
Demonstranten an und fühlten sich durch den erhebenden Parademarsch ihrer
Vertrauensmänner in ihren patriotischen Gefühlen angenehm gekitzelt. – Bis
der letzte Hauch der Blechmusik verklungen war, dachte selbstverständlich
der farbige Jüngling gegenüber nicht daran, sein Fenster wieder
vorzunehmen. Dann aber griff er tief aufseufzend wieder zum Wischtuch und
hielt es nachdenklich in der Hand, während seine schwarzen Sammetaugen
sich bekümmert an den dummen Fensterrahmen hefteten, der so gar keine
Miene machte, von selber zu ihm herunter zu kommen. Plötzlich kam wieder
Leben in die schier erstarrte Gestalt. Master Kinkywoolly drehte den Kopf
über die Schulter und äugte höchst gespannt die Avenue hinauf. –
Wahrhaftig, noch eine Parade! Mehrere Dutzend Geistliche der Stadt,
paarweise nebeneinander in schwarzen Talaren. Und statt der Bambusrohre
mit Nickelknöpfen schulterten sie ihre Regenschirme. Die schwarzen Herren
waren auf dem Wege zum Oberbürgermeister, um feierlich bei ihm vorstellig
zu werden, daß er die fromme Quäkerstadt beschützen möge vor dem
Satansgreuel der Salome von Richard Strauß, deren Aufführung in
Philadelphia eine fremde Operntruppe angekündigt hatte. Es wäre eigentlich
passend gewesen, daß der fette schwarze Schutzmann an der Straßenkreuzung
bei dieser Gelegenheit den Tanz der sieben Schleier aufgeführt hätte. Aber
er schien zu Richard Strauß und seiner Kunst noch nicht Stellung genommen
zu haben, denn er ließ die Parade ohne sichtliche Gemütsbewegung
vorüberziehen und sorgte nur dafür, den Wagenverkehr derweil zu bändigen.
– Mein Fensterputzer stierte blöd der schwarzen Prozession nach, bis sie
um die Ecke verschwunden war; dann führte er mit seinem kalt gewordenen
Spielbein einige Freiübungen aus und war eben dabei, tatsächlich seinen
Schwamm ins Wasserbecken zu tauchen, um vielleicht doch den Versuch einer
flüchtigen Wäsche von außen zu wagen, als es vom nächsten Kirchturm zwölf
schlug. Der Schwamm flog ins Becken, das Bein über das Fensterbrett und
der schwarze Jüngling davon zum schwer verdienten Lunch. Ich vermute, daß
er am nächsten Ersten um eine Lohnerhöhung eingekommen ist.

(M32)

Das Beispiel dieses schwarzen Fensterputzers dürfte einigermaßen typisch
sein für den Eifer, mit dem häusliche Dienstleistungen in den Vereinigten
Staaten verrichtet werden. Gewiß arbeitet ein frisch von Europa
eingewandertes Hausmädchen fleißiger und gründlicher, dafür ist es aber
auch sehr viel anmaßender und sehr viel schwieriger zu behandeln als der
Niggerboy, der doch wenigstens freundlich grinst und danke sagt, wenn er
ein Trinkgeld kriegt. Ja, die Dienstbotennot ist wirklich die Frage aller
Fragen, nicht nur für die Hausfrau des amerikanischen Mittelstandes. Die
ganz reichen Leute freilich leisten sich einen englischen _Butler_
(Haushofmeister), einen französischen _Valet de chambre_, einen
italienischen Koch, einige griechische Lakaien von klassischer
Gesichtsbildung und unbezahlbarer Frechheit und etliche appetitliche
irische Mädchen. Für Geld, d. h. für sehr viel Geld ist natürlich auch
eine aristokratisch luxuriöse, gut gedrillte Dienerschaft in den
Vereinigten Staaten zu haben; aber die Leute von mittlerem und kleinem
Vermögen, also von einem Einkommen, wie es hier unsere armen Schlucker von
Regierungspräsidenten, Generalmajoren, Oberpostdirektoren und beliebten
Schriftsteller besitzen, können sich eine perfekte Köchin und noch ein
tüchtiges Stubenmädchen dabei schwerlich leisten. Denn eine Köchin, die
etwas Eßbares zu kochen imstande ist, dürfte unter 100 Mk. Monatslohn
nicht zu haben sein, und 10 Dollars muß man sogar für einen frisch
importierten, unerprobten Besen schon anlegen. Sind diese Damen bereits
ein paar Monate im Lande, so daß sie sowohl von der Sprache wie von dem
Wesen ihrer staatsbürgerlichen Rechte einigen Begriff haben, so machen sie
mit ihrer Herrschaft einen Vertrag mit zahlreichen Paragraphen, welche
genau ihre Pflichten und Rechte festlegen. Darin ist bestimmt, daß sie
außer dem Sonntag, an welchem sie nur morgens die Schlafzimmer aufzuräumen
haben, noch an einem Wochentag ausgehen, ferner das _Parlor_ (Wohnzimmer)
bei Besuchen ihrer Freunde und Verwandte mitbenutzen und
selbstverständlich ohne Kündigung abziehen dürfen, sobald es ihnen
beliebt. Irgendwelche schwere oder schmutzige Arbeit verrichten diese
Damen grundsätzlich nicht, dazu müssen extra Nigger, Chinesen, Polacken
oder dergleichen Kroppzeug gehalten werden. Verlangt die Hausfrau
irgendwelchen Dienst von ihnen, der nicht kontraktlich stipuliert oder
landesüblich einbegriffen ist, so entgegnet ihr das Fräulein
achselzuckend: „_That’s not my business, Ma’m_“ – und fertig. Ein Mädchen,
das für die Küche angestellt ist, wird beispielsweise um keinen Preis dem
Hausherrn einen Knopf annähen; und ein Hausmädchen wird sich auch im Falle
der höchsten Not schwerlich herbei lassen, ein Kind aufs Töpfchen zu
setzen. Einer geborenen Amerikanerin zumuten zu wollen, die Stiefel zu
putzen, wäre ungefähr gleichbedeutend mit schwerer körperlicher
Mißhandlung. Eine junge deutsche Dame, die einen amerikanischen Landsmann
geheiratet hatte, erzählte mir, daß sie, um den Schwierigkeiten der
Dienstbotenwirtschaft zu entgehen, sich eine alte, treu anhängliche
Dienerin mitgebracht habe, die schon 14 Jahre in der Familie gewesen war.
Nach drei Wochen bereits habe sie ihr die Stiefelbürste vor die Füße
geworfen und erklärt, daß sie sofort heimreisen werde, wenn ihr solche
entwürdigende Zumutung noch länger gestellt würde. An einer
Frauenuniversität, an der ich eine Vorlesung gehalten hatte, wurde mir das
einzige für männliche Gäste reservierte Zimmer zum Übernachten angewiesen,
in welchem der Herr Bischof untergebracht zu werden pflegte, wenn er zur
Kirchenvisitation kam. Ich entdeckte im Badezimmer ein schön poliertes
Mahagonikästchen, und als ich es neugierig öffnete, fand ich darin ein
komplettes Wichszeug vor. Der Herr Bischof mußte sich also auch höchst
eigenhändig seine Stiefel putzen, da es im Gebiete der Damenuniversität
natürlich keinen öffentlichen Wichsier gab. Daß gerade gegen die
ehrenhafte Betätigung des Stiefelputzens ein solches Vorurteil besteht,
ist um so merkwürdiger, als der freie Amerikaner niederen Standes es sonst
durchaus nicht für unter seiner Würde hält, seine Karriere als Inhaber
eines Straßenwichsstandes zu beginnen und als nicht wenige der heutigen
Multimillionäre in diesem Geschäft den Grundstock ihres Vermögens legten!

(M33)

Deutsche Dienstmädchen gibt es schon lange kaum mehr; die meisten der
Damen, die so anfingen, fahren heute in ihrem eignen Auto spazieren. Denn
wenn sie auch nur eine Ahnung von der edlen Kochkunst hatten und
einigermaßen nett anzusehen waren, wurden sie mit Wonne von besser
situierten Landsleuten geheiratet. Auch die einstmals als Hausmädchen
besonders beliebten Irinnen trifft man heute höchstens noch in sehr
vornehmen Hotels in dieser Stellung an. Im Westen soll es noch schlimmer
sein als im Osten. In San Franzisco verdient ein Maurer 7 $, also gegen 30
Mk. pro Tag! Selbstverständlich denken seine Töchter nicht daran, in
Dienst zu gehen, auch nicht in die Fabrik. Sie spielen lieber Klavier und
gehen in echten Ponypelzen spazieren. Gegenwärtig sind Ungarinnen
besonders gefragt, und wer eine solche dralle, hochgestiefelte Pußtadirne
nicht erschwingen kann, der nimmt mit einer Kroatin, Slowakin, Ruthenin
oder dergleichen vorlieb. Wer aber dem ewigen Ärger und der ewigen Angst,
ob er morgen noch auf die Unterstützung seiner Perle zu rechnen oder
abermals den Gang aufs Mietsbureau anzutreten haben werde, seiner
Konstitution nicht zutraut, oder als echter Demokrat zu feinfühlig ist, um
Menschen seinesgleichen, freie Mitbürger in unwürdiger Abhängigkeit zu
erhalten, der verzichtet überhaupt auf häusliche Dienstboten. Und zu
diesen vernünftigen Leuten gehören fast alle Männer, die das Glück hatten,
eine Frau zu erwischen, die von Küche und Haushalt etwas versteht, und der
eine rege Betätigung im eignen Heim mehr Freude macht, als das fade
Gesellschaftsleben und die Hetze von Verein zu Verein, von Vergnügen zu
Vergnügen.

(M34)

An einem sonnigen Sonntagvormittag traf ich beim Spaziergang durch eine
der reizenden ländlichen Universitäten des Nordens eine meiner neuen
Bekanntschaften von einem Diner am vorhergehenden Abend. Es war ein
hochgewachsener, schlanker junger Herr in den Dreißigern, der in einen
höchst eleganten Sealskinpelz gehüllt, einen glänzend gebügelten
Zylinderhut auf dem Kopf und eine edle Havanna mit goldfunkelnder
Leibbinde zwischen den kostbar plombierten Zähnen – einen eleganten
Kinderwagen mit Inhalt vor sich herschob! Lebhaftes Interesse für seinen
glücklicherweise schlummernden Sprößling heuchelnd, begrüßte ich den Herrn
Professor. Er mochte mir wohl anmerken, daß mir begriffsstutzigen Europäer
seine väterliche Betätigung in diesem Aufzuge etwas sonderbar vorkomme und
erklärte mir aus freien Stücken den Zusammenhang. „_Look here_“, sagte er,
„wir sind jung verheiratet, wir haben nur ein kleines Haus und ein kleines
Einkommen; wir können uns keine Dienstboten halten – außerdem ziehen wir
es vor, in unserer zärtlichen jungen Ehe unbeaufsichtigt zu bleiben und
wollen uns nicht den halben Tag den Kopf darüber zerbrechen, wie wir aus
unserer Mary oder Jane die größtmögliche Arbeitsleistung herausziehen
könnten, ohne ihrer Empfindlichkeit als Mitbürgerin zu nahe zu treten. Wir
haben nur eine alte Negerin zur Hilfe, die vormittags zwei Stunden die
gröblichere Arbeit verrichtet, und einen Mann, der alle Wochen einmal die
Asche aus dem Zentralfeuerloch im Keller ausräumt und die Müllkasten vor
die Tür stellt; alles andere besorgen wir selbst. Sehen Sie, heute früh
z. B. habe ich zunächst, wie alle Tage, das Feuer in der Zentralheizung
geschürt und Kohlen nachgefüllt, dann habe ich Kaffee gekocht, da meine
Frau nicht ganz wohl ist, und das Frühstück für uns beide hergerichtet.
Dann habe ich, weil es in der Nacht lustig geschneit hat, vor unserer
Haustür und auf dem Trottoir Schnee geschippt und darauf mich wieder in
einen Gentleman verwandelt. Da es darüber für die Kirche zu spät geworden
war, habe ich vorgezogen, meine Sonntagsandacht in Gesellschaft meines
vorläufig einzigen Sohnes durch ein edles Rauchopfer im Sonnenschein zu
verrichten. Zum Luncheon behelfen wir uns mit kalter Küche, und wenn
meiner Frau bis abends nicht besser wird, so nehme ich mein Dinner im
Klub, nachdem ich ihr eine Suppe gekocht und eine Konservenbüchse gewärmt
habe. Vor dem Schlafengehen schütte ich dann noch einmal im Keller Kohlen
auf die Heizung, und damit habe ich alles getan, was die
Haushaltungsmaschine braucht, um regelrecht zu funktionieren.“

„Sehr schön,“ sagte ich in ehrlicher Anerkennung. „Aber das nimmt Ihnen
doch sehr viel Zeit weg. Und wenn Sie nun früh morgens eine Vorlesung
haben, was machen Sie dann?“

„_Well_, dann stehe ich eben eine Stunde früher auf,“ lachte er vergnügt,
„und gehe abends eine Stunde früher ins Bett. Das ist sehr gesund. Ich
habe immer acht Stunden guten Schlaf, und wenn die Frau wohlauf ist,
kostet mich mein Anteil an der Hausarbeit kaum mehr als eine Stunde am
Tag. Wir haben es noch nie bereut, die Wirtschaft mit den Dienstboten
überhaupt erst gar nicht probiert zu haben. Und dabei brauchen wir noch
nicht einmal auf Geselligkeit im Hause zu verzichten. Wie haben schon
einmal 50 Leute eingeladen gehabt.“

„Nicht möglich! Wie haben Sie denn das angestellt?“

„O, sehr einfach. Wir besitzen Service für 12 Personen, also waren wir 12
Personen zum Lunch. Natürlich haben wir kein Eßzimmer, in dem 12 Personen
bei Tische sitzen könnten, es mußte sich also jeder setzen, wo er gerade
Platz fand. Dann kriegte jeder einen Teller, eine Serviette und ein
Besteck, und darauf wurden die Schüsseln, eine nach der anderen,
herumgereicht – alles auf denselben Teller. Bei einigem guten Willen geht
es schon, und meine Frau kann wirklich kochen. Natürlich hatten wir dabei
Hilfe, aber nicht etwa bezahlte Mädchen, sondern zwei meiner Studentinnen;
die machen das viel intelligenter und netter. Nach dem Essen kamen dann
die übrigen 38 Personen – die wurden aber nur mit geistigen Genüssen
traktiert. Ich las ihnen etwas vor, und eine meiner akademischen
Aushilfskellnerinnen spielte, von meiner Frau begleitet, einige
Flötensolos. Außerdem konnten wir sogar noch mit der berühmtesten
Schönheit von Pawtucket, Connecticut, die sich gerade auf der Durchreise
befand, aufwarten!“ – –

Und so wie dieser junge Professor halten es die meisten vernünftigen
Amerikaner von ähnlicher gesellschaftlicher Position und Vermögenslage.
Wir waren einmal bei der Dekanin einer Frauenuniversität zu einem intimen
Diner geladen. Während des Essens stieß mich meine Frau unter dem Tisch
mit dem Fuße und richtete meine Aufmerksamkeit durch ihre Blicke auf die
bedienende Maid, die in ihrem weißen Kleid, mit dem weißen getollten
Häubchen auf dem üppigen Blondhaar allerdings eine Sehenswürdigkeit
darstellte. Wir drückten der Gastgeberin erst auf Deutsch, und als dies
durch warnendes Räuspern abgelehnt wurde, auf Französisch, dann auf
Italienisch unsere Bewunderung für dieses nicht nur ungewöhnlich hübsche,
sondern auch ungewöhnlich intelligent aussehende Hausmädchen aus. Da aber
fing die ganze Gesellschaft zu kichern an, und die schöne Blondine bekam
einen roten Kopf und hastete in größter Verlegenheit hinaus. Und nun wurde
uns anvertraut, daß dieses reizende Servierfräulein eine junge akademische
Kollegin von Fräulein Professor sei, nämlich – die Privatdozentin für
Sanskrit!

(M35)

Das Merkwürdige an diesem kleinen Erlebnis soll nun nicht so sehr der
Umstand sein, daß es in der neuen Welt bereits Privatdozentinnen für
Sanskrit gibt, welche obendrein auch noch sehr hübsch sind, als vielmehr,
daß in diesem angeblich so freien und vorurteilslosen Lande zwar die
gebildeten Menschen keinerlei notwendige Arbeit scheuen und sich in der
liebenswürdigsten Weise gegenseitig in ihren häuslichen Schwierigkeiten
aushelfen, während gerade die untersten, auf körperliche Arbeit
angewiesenen Stände die Lohnarbeit im Hause geradezu als eine Schande
anzusehen scheinen. Obwohl es in dem Lande, wo die Dienstboten so hoch
entlohnt werden wie nirgends in der Welt und mit zarter Rücksicht wie die
rohen Eier behandelt werden müssen, damit sie nicht gleich wieder
fortlaufen, keifende Hausdrachen und grob anschnauzende Hausherrn wie bei
uns wohl überhaupt nicht geben dürfte, ziehen doch die Mädchen die
unangenehmste Arbeit in der Fabrik, den anstrengenden Laden- und
Bureaudienst dem bequemen Schlaraffenleben als Haushaltsangestellte vor.
Gehorchen zu sollen ist eben für den Amerikaner die furchtbarste Zumutung,
die man ihm stellen kann. Er dient nur so lange, wie er es absolut nötig
hat. Sobald er sich ein paar Dollar zurückgelegt hat, sucht er sich
selbständig zu machen. Bei dem elenden Dasein eines kleinen Handelsmannes,
der auf der Straße Ansichtspostkarten, Popcorn oder Kaugummi verkauft,
fühlt er sich zehnmal stolzer und zufriedener, als in der bequemsten
häuslichen Stellung, in der er sich einem fremden Willen unterzuordnen
hat. Es kommt noch dazu, daß dem Bürger der Neuen Welt nicht nur jedes
Gefühl für die Schönheit und Würde des sich Einfügens in ein
patriarchalisches Abhängigkeitsverhältnis von Herr und Knecht, von Meister
und Geselle, sondern auch jeglicher Zunftstolz abgeht, jegliche Liebe zu
dem Handwerk etwa, in das einer hinein geboren oder für das einer bei uns
erzogen wird. Im Grunde genommen sind die Menschen drüben alle Spieler und
Glücksritter. Sie ergreifen ohne langes Besinnen, was sich ihnen gerade
bietet, und treiben es nur so lange – _until a better job turns up_ –, bis
sich eine bessere Sache bietet. Jeder junge Mensch drüben fühlt sich
einfach zu allem berufen. Wenn er heute aus Hunger zugreifen und sich in
den weißen Anzug eines New Yorker Straßenkehrers stecken lassen müßte, so
zweifelte er darum doch keinen Augenblick daran, daß er berufen sein
könnte, übers Jahr bereits Teilhaber einer Minenausbeutungsgesellschaft in
Oklahama zu sein und auf der Höhe seines Lebens in den Senatspalast von
Washington einzuziehen. Es ist eigentlich niemand etwas Gewisses in diesem
Lande; selbst bei meinem Kollegen, dem erfolgreichen Dramatiker, bin ich
nicht sicher, ob er nicht übers Jahr Flugmaschinen fabriziert oder
Truthähne en gros züchtet. Daher kommt es, daß auf dem Gebiete der
persönlichen Dienstleistungen und des handwerklichen Betriebs keine
fachmännische Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit existiert. In Madison
(Wisconsin) ließ ich mir einen zerbrochenen Zeiger an meiner Uhr durch
einen neuen ersetzen. Als ich nach Hause kam, stellte sich heraus, daß der
neue Zeiger sich absolut nicht bewegte. Der angebliche Uhrmacher, der ihn
eingesetzt hatte, war vermutlich vorgestern noch Verkäufer in einer
geräucherten Fischwarenhandlung gewesen. In New York wollte ich mir eine
Kleinigkeit an einem silbernen Stockgriff löten lassen. Man schickte mich
von Pontius zu Pilatus über fünf Instanzen hinweg; endlich, in einer
Silberwarenfabrik, erbot sich der Besitzer nach vielen Bedenklichkeiten
und Hin- und Herreden über Wetter und Politik, einen seiner Arbeiter zu
ersuchen, die Kleinigkeit zu besorgen. Ich bekam auch wirklich schon nach
ein paar Minuten meinen Stock zurück. Der äußerst geschickte
Silberarbeiter hatte das losgelöste Monogramm allerdings mit dem Lötrohr
befestigt, dabei aber den oberen Rand des Stockes zu Kohle verbrannt. Und
als ich mit dem reparierten Gegenstand daheim anlangte, mußte ich die
Entdeckung machen, daß das Monogramm endgültig verloren war, nachdem es 14
Tage lang doch wenigstens noch an einem Faden gehangen hatte. Man gibt
sich eben in diesem großen Lande nicht gerne mit Kleinigkeiten ab. Was mit
der Maschine nicht gemacht werden kann, das wird schlecht oder gar nicht
gemacht, weil der Amerikaner seine Menschenwürde so überaus hoch
einschätzt, daß er die Handarbeit und gar das persönliche Dienstverhältnis
verachtet. Darum strengt er auch seinen hellen Verstand auf das äußerste
an, um immer mehr notwendige Verrichtungen durch die Maschine besorgen zu
lassen und die unumgänglichen Handarbeiten tunlichst zu vereinfachen. Weil
die Dienstboten so rar, so teuer und so überaus bequem sind, lieben sie
z. B. das Messerputzen durchaus nicht, folglich hat man fast
ausschließlich Messer von Bronze in Gebrauch genommen, mit denen man zwar
nicht schneiden kann, die dafür aber auch durch einfaches Durchziehen
durch heißes Wasser und Abtrocknen zu säubern sind. Da es nun aber Messer
mit einer scharfen Schneide nicht gibt, so kann es selbstverständlich auch
keinen Braten geben. Das Roastbeef und das Geflügel macht man durch
Zerreißen zwischen Gabel und Messer einigermaßen mundgerecht. Im
allgemeinen aber richtet man die Speisen lieber gleich in einer
breiförmigen Gestalt her, sodaß sie nur einfach in den aufgesperrten
Rachen hineingeschaufelt zu werden brauchen; man spart damit auch viel
kostbare Zeit.

Vorläufig findet ja noch ein starker Zustrom von slawischen,
südeuropäischen und westasiatischen Völkerschaften statt. So lange diesen
noch nicht der Knopf aufgegangen ist, d. h. so lange sie sich ihrer
Bedeutung als selbstherrliche Bürger der glorreichsten Republik der Welt
nicht bewußt sind, geben sie sich ja noch teils aus Hunger, teils aus
angeborener Knechtseligkeit zu Kellnern, Hausmädchen und dergl. her. Aber,
wie gesagt, immer nur bis der bessere „Job“ auftaucht, dann gesellen sie
sich alsbald der stolzen Klasse der selbständigen Unternehmer zu. Wenn nun
aber einmal das Land voll ist, so daß es seine Tore vor den Einwanderern
zusperren muß – wer soll dann all die häusliche und sonstige, niemals
völlig aus der Welt zu schaffende Handarbeit verrichten? Ich legte diese
kniffliche Frage auch meinem hochverehrten Gastfreunde in Ithaka, Andrew
D. White, dem früheren Botschafter in Berlin, vor. Er wiegte bedenklich
seinen schönen weißen Gelehrtenkopf, und dann gab er mir verschmitzt
lächelnd zur Antwort: „Ja, sehen Sie, wir Amerikaner sind eben Optimisten.
Wir sagen: es ist noch immer gegangen, und dies wird auch gehen, so oder
so. Warum sollen wir uns die Köpfe unserer Enkel zerbrechen?“

(M36)

Hm! allerdings – man hat schon Bronzemesser eingeführt und auf Braten
verzichtet; man kann sich ja das Bett, das man jetzt schon allgemein
abends selber aufdecken muß, auch morgens selber machen; man kann auch
seine Frau hinten zuknöpfen, ohne an seiner Mannesehre Schaden zu leiden,
aber man kann schließlich doch nicht auf Wohnen, Schlafen, Essen,
Kinderkriegen und Sterben im eignen Heim gänzlich und unter allen
Umständen verzichten. Und alle diese Notwendigkeiten setzen doch
wenigstens unter gewissen Verhältnissen die Hilfe von Leuten voraus, die
nicht gerade akademische Bildung oder ein Scheckkonto auf der Bank zu
besitzen brauchen. Wo sollen die herkommen, wenn alle Amerikaner erst
einmal selbständige Unternehmer geworden sind?

Ich muß gestehen, mein beschränktes Europäergehirn ist, so oft es über
diese Frage nachgedacht hat, schließlich immer wieder zu demselben Schluß
gekommen: _Die selbstlosen Idealisten der Vereinigten Staaten haben die
Sklaverei mindestens 100 Jahre zu früh aufgehoben!_



                        DIE KOCHKUNST DER YANKEES.


Da ich mich in meinem vorigen Kapitel mit Köchinnen beschäftigt habe,
dürfte es angebracht sein, im Anschluß ein wenig in die amerikanische
Küche hineinzuleuchten. Nach dem unzweifelhaften Wahrwort, daß der Weg zum
Herzen des Mannes durch den Magen führe, dürfte es noch sehr lange dauern,
bevor Dame Dollarica sich in der kulinarisch gebildeten Männerwelt einer
auch nur annähernd ähnlichen Beliebtheit erfreut wie Madame Marianne oder
die Commare Italia oder die nahrhafte Tante Austria. In Dingen des guten
Geschmacks tut es eben der Reichtum allein nicht, sondern die große
Vergangenheit einer aristokratischen Kultur, und innerhalb dreier lumpiger
Jahrhunderte entwickelt sich keine neue Rasse von Fressern zu Speisern.
Wie lange ist es denn überhaupt her, daß sich die Besiedler der neuen Welt
des Segens sicherer behaglicher Häuslichkeit erfreuen? Viele der jetzt
üppig blühenden Großstädte sind ja erst ein paar Jahrzehnte und nur ganz
wenige über ein Jahrhundert alt. Der wüsten Raubbau treibende
angelsächsische Kolonist, der meist unbeweibt in selbstgezimmertem
Blockhause hauste, briet sich über dem offenen Feuer am Spieß seinen
Fetzen Fleisch und manschte sich aus den ihm zugewachsenen Zerealien
irgend etwas zurecht, was einer genießbaren Speise vielleicht entfernt
ähnlich sah. Als dann im 18. und 19. Jahrhundert die weibliche Zuwanderung
sich hob, fanden die mit der Kochkunst einigermaßen vertrauen Frauen –
unter den Britinnen sind sie nicht besonders häufig – eine Männerwelt vor,
die einfach mit allem zufrieden war, was ihr vorgesetzt wurde. Erst in
neuester Zeit, als die Vereinigten Staaten willige und splendid zahlende
Abnehmer für alle Luxusprodukte der alten Welt wurden, begannen auch
bewährte Meister der Kochkunst über den Ozean zu ziehen; aber die traten
selbstverständlich nur in den Dienst der vornehmsten Hotels, der teuersten
Restaurants und der Milliardäre ein und konnten folglich nicht für die
breite Masse des mäßig begüterten Bürgertums erziehlich wirken. Die
amerikanischen Esser sind die dankbarsten der Welt, weil ihnen im
Vergleich zu ihrer barbarischen Küche natürlich die Speisekarte der
Kulturvölker lauter überraschende Offenbarungen bietet.

(M37)

Die unkultivierte Kindlichkeit des Geschmacks offenbart sich denn auch in
Amerika nirgends deutlicher als auf dem Gebiete der Küche. Das
Haupterfordernis der Eßbarkeit ist für den Yankee die Süße. Alles, was süß
ist, schmeckt ihm ausgezeichnet. Bezeichnenderweise ist es mir trotz
größter Mühe nicht gelungen, irgendwo in den Vereinigten Staaten ein
Mundwasser aufzutreiben, das nicht schauderhaft verzuckert gewesen wäre.
So ist Süßigkeit das erste, was der Yankee, sobald er sich dem Schlaf
entwunden, in den Mund bekommt. Seinem ersten Frühstück geht der Genuß von
Früchten: Orangen, Grapefruit oder Melonen voran, die unter einem Berge
von Streuzucker mit dem Löffel hervorgegraben werden. (Nebenbei gesagt:
das Fruchtessen vor dem Frühstück ist die einzige nationale Speisesitte,
die ich Europäern zur Nachahmung empfehlen möchte. Die wundervoll saftige
Grapefruit mit ihrem Chiningehalt besonders ist höchst erfrischend und
bekömmlich.) In einem üppigeren Haushalt ist schon der Frühstückstisch
reicher gedeckt als bei uns manche Mittagstafel. Beefsteak,
Hammelkotelette, Fischgerichte, kalter Aufschnitt verschiedenster Art
werden von den Männern bevorzugt, während die Frauen und Kinder eine große
Auswahl der zum Teil wunderlichsten Eier- und Mehlspeisen zur Verfügung
haben. Weizen, Korn, Gerste, Mais, Hirse, Buchweizen, Hafer, Reis, kurz:
alle erdenklichen Getreidearten erscheinen in der Form von Grütze,
Graupen, Flocken, Fäden oder papierdünnen Schnipfeln, roh, gekocht oder
geröstet und werden größtenteils mit Rahm und sehr viel Zucker angerührt.
Dünne Eierkuchen werden mit übersüßen Fruchtsäften übergossen, und der
Toast sowie die meist gleichfalls süßen Semmeln mit Fruchtgelees und
Marmeladen bestrichen. Diese Vorliebe für den Genuß von Süßigkeiten von
Tagesanbruch ab ist aber durchaus nicht etwa auf die Frauen und Kinder
oder auf die wohlhabenden Klassen beschränkt, sondern sie ist ganz
offenbar eine nationale Raserei.

Es gibt in den Vereinigten Staaten keine Cafés im Wienerischen Sinne. Als
ich daher einmal auf dem Broadway ein Wirtshausschild mit der Aufschrift
„Coffeehouse“ erblickte, stürmte ich begeistert in das Lokal. Es war eine
große reinliche Halle, die Diele mit Sand bestreut, ohne Tische und
Stühle, nur den Wänden entlang zogen sich Holzbänke, die durch
Zwischenwände in einzelne Sitze eingeteilt waren, und auf diesen
trennenden Seitenwänden waren genügend breite, rund geschnittene Bretter
angebracht, um eine Tasse und einen Teller daraufstellen zu können. Am
Kopfende der Halle befand sich ein riesiges Buffet, auf dem die
herrlichsten Kuchen und Torten aufgebaut waren, sowie zwei blitzblanke
vernickelte Samovars für Tee und Kaffee. Das Publikum dieses eigenartigen
Kaffeehauses bestand aber ausschließlich aus Droschkenkutschern,
Chauffeuren, Messenger Boys, Policemen und Arbeitern. Keine Frau betrat
das Lokal. Kaffee gab es reichlich und anständig, und den ganz
vorzüglichen und für New-Yorker Verhältnisse sehr billigen Schaum- und
Fruchttorten, Apfelkuchen mit Schlagrahm und Minced Pie sprach dieses
robuste Mannsvolk mit dem Behagen schleckermäuliger Schuljungens zu.

(M38)

Die eigentliche Nationalspeise ist keineswegs das Roastbeef oder der
hochfestliche _Turkey_ (Puter), sondern der _Icecream_, das Gefrorene.
Icecream wird Winters und Sommers von mittags bis Mitternacht verzehrt von
Alt und Jung, von Hoch und Niedrig; Icecream besänftigt die ungebärdigen
Säuglinge; Icecream gilt als Vorspeise, als Dessert, als Kompott sogar; er
kehrt bei großen Diners mehrmals im Laufe der Speisenfolge als
Zwischenaktsmusik wieder, er ersetzt den verpönten Alkohol und bewirkt,
daß die Amerikaner sich der besten Zahnärzte der Welt erfreuen – denn das
schroffe Durchsetzen siedheißer Suppen und glühender Breie mit Eiswasser
und Icecream können selbst die besten Gebisse nicht vertragen. Der Schmelz
springt ab, und die vom ewigen Zuckerschleimstrom umspülten, schutzlosen
Zähne sind der Karies rettungslos preisgegeben. Infolgedessen hat
jedermann fortwährend den Zahnarzt nötig, und man braucht sich nicht zu
wundern, Kanalausräumer und schmierige Nigger mit so viel Gold im Munde zu
sehen wie die köstlichste Maimorgenstunde.

(M39)

Ich habe bereits im vorigen Kapitel darauf hingewiesen, wie durch den
Mangel an Dienstpersonal die Küche und die Tafelgewohnheiten beeinflußt
werden. Ich bemerkte, daß durch den Mangel an scharfen Messern mit schwer
zu putzenden Stahlklingen ein Braten zu einer schwer zu bewältigenden
Speise geworden sei. Folglich kommen gekochtes Rindfleisch, Schmorbraten,
Sauerbraten, Kalbs- und Hammelsrücken oder Schlegel so gut wie gar nicht
auf den Tisch. Das nationale angelsächsische blutrünstige Roastbeef,
drüben jedoch nicht so, sondern _Prime rib of Beef_ genannt, muß man von
der Gabel mittels des stumpfen Bronzemessers abzustemmen versuchen, wenn
man nicht vorzieht, den ganzen Fladen in den Mund zu nehmen und mittels
der Gabel oder der Finger durch die Zähne zu ziehen. Übrigens sind diese
Ochsenrippenstücke neben den sehr üppigen und teuren Rinds- und
Hammelsteaks das einzige gebratene Fleisch, welches wirklich schmackhaft
zubereitet zu sein pflegt, während Kalbskoteletten und Schnitzel meistens
ungenießbar sind. Als niedliches Kuriosum möchte ich erwähnen, daß ich
einmal bei einem Sonntagsdiner Honig als Kompott zum Roastbeef angeboten
bekam! Geflügel wird sehr viel mehr als bei uns gegessen. Es wird zu
unwahrscheinlichen Dimensionen herangezüchtet. Ich habe Hennen gesehen,
die so hoch waren wie ein Storch und so fett wie ein Mops; aber das
Fleisch dieser abnorm großen Tiere ist dafür auch wenig zart, und die
Keulen besonders bekommen einen ganz anderen Charakter als das
Brustfleisch; es wird beim Braten braun und mürbe, während das weiße
Fleisch trocken und charakterlos bleibt. Meistens wird einem aber der
Genuß selbst eines wohlgeratenen jungen Hahns durch eine pappige, süßliche
Mehltunke verkümmert. Da das Tellerabwaschen die Geduld des feinnervigen
Küchenpersonals auf eine zu harte Probe stellen würde, so muß man sich,
wenigstens in Haushaltungen bescheideren Stils, die ganze Mittags- oder
Abendmahlzeit einschließlich des Kompotts auf ein und denselben Teller
packen. In dem Boardinghouse bester Art, in dem wir in New-York wochenlang
lebten, bestand die sonderbare Sitte, daß nach der Suppe warme Teller mit
einem Kleckschen Fisch, etwa von Daumendicke und -länge, verabfolgt
wurden, selbstverständlich in einer seimig-süßen Sauce versteckt.
(Übrigens sind die Fische des Atlantischen Ozeans auf der amerikanischen
Seite wenig schmackhaft; wirkliche Delikatessen findet man nur unter den
Fluß- und Süßseefischen.) Nachdem der Fischbissen verschluckt,
beziehungsweise mißtrauisch auf den hohen Rand geschoben war, wurde der
ganze Tisch voll kleiner Platten gestellt: verschiedene Fleischsorten
verwischten Charakters, unseren Klopsen, falschen Hasen, Bouletten,
Rouladen und dergleichen ähnlich, in irgendeiner mehlweißen oder
kapuzinerbraunen Schmiere halb versunken, das unvermeidliche Chicken, dazu
verschiedene Gemüse, unter denen grüne Erbsen, Lima-Bohnen und Blumenkohl
die genießbarsten, sowie Kartoffeln in mehrerlei Aufmachung, in der Schale
im ganzen gebacken – man bricht sie auf und schält sie mit dem Teelöffel
heraus; recht empfehlenswert – oder als Brei, oder kloßartig, oder
gebraten. Niemals fehlen auf dem Tische die beliebten _Sweet Potatoes_,
Gebilde von Gurkenausdehnung, vor denen ich Fremdlinge eindringlichst
warnen möchte, denn sie sehen wie gezuckerte Glyzerinseife aus und
schmecken leider auch so ähnlich.

All diese Genußmittel, noch um diverse eingekochte Früchte vermehrt,
arrangiert man sich nun nach Geschmack und Talent auf seinem Fischteller,
und man kann von Glück sagen, wenn einem die Gräten nicht in die grünen
Erbsen, das Kompott nicht in die ausgehöhlte Kartoffelpelle und die
Hühnerknochen nicht in den falschen Hasen geraten. Echte Hasen gibt es
überhaupt nicht. Der Ersatz dafür, und überhaupt das einzige einheimische
Wild, ist das hasenfarbige _Rabbit_ (Kaninchen), das die Natur da drüben
aus Kautschuk verfertigt zu haben scheint – möglicherweise wird es aber
auch aus Abfällen der Schuhfabrikation künstlich hergestellt. Alles übrige
Wild haben die begeisterten Freischützen in den kultivierteren Staaten
schon längst abgeschossen – bis auf die Ratten und die Klapperschlangen.
Hat man die eßbaren Bestandteile der wüsten Speisenaufhäufung auf seinem
Universalteller herausgefuttert, so bilden die Überbleibsel ein ästhetisch
reizvolles Stilleben. Sind sie endlich entfernt, so erscheint als eiserner
Bestand jedes amerikanischen Menüs sowohl im Hotel ersten Ranges, wie auf
dem einfachsten bürgerlichen Mittagstisch der Salat, der niemals in einer
Schüssel herumgereicht, sondern immer fertig auf winzigen flachen
Tellerchen einem vorgesetzt wird. Mich wundert, daß noch kein
Yankeedichter diesen Salat besungen hat, denn in ihm feiert die Phantasie
des amerikanischen Kochkünstlers orgiastische Triumphe.

(M40)

Ich glaube, es gibt in den drei Naturreichen nichts, was nicht in solch
einem amerikanischen Salat zu finden wäre. Den Grundstock bilden ein bis
drei große grüne Blätter, die nicht unbedingt der Salatstaude zu
entstammen brauchen. Darauf werden einige Tropfen Essig und Öl geschüttet
und auf dieser Unterlage ein mehr oder minder kühner Aufbau von allem
möglichen und unmöglichen Süßem, Sauerem, Salzigem, Bitterem, Hartem,
Weichem, Flüssigem, Genießbarem und Ungenießbarem vollzogen. In einem
feinen Hause, in dem sich die Hausfrau selbst auf ihre Kochkunst viel
zugute tat, wurde beispielsweise eine solche Salatdichtung mit
außerordentlichem Beifall beehrt, deren Komposition ich dem Augenschein
und der Zunge nach ungefähr folgendermaßen analysieren möchte: zwei
Blätter Salat mit je fünf Tropfen Essig und Öl, darauf eine Scheibe
frische Tomate, eine viertel Scheibe Ananas, etwas weißes Hühnerfleisch,
einige Scheiben Radieschen, einige gepickelte Erbsen und Karotten, ein
Klecks Butter, mit Streuzucker durchgerührt, ein Teelöffel
Schokoladencream und eine Rumkirsche als Turmknopf oben drauf.
Totaleindruck auf Zunge und Gaumen zauberhaft; schmeckt – wie mein Freund,
der Rechtsanwalt in Landau, sagen würde – wie Öl und Werg! Diese
kulinarische Offenbarung erfolgte aber, wie gesagt, in einem Hause, dessen
Herrin ihren Xenophon in der Ursprache zu lesen vermochte. In minder
gebildeten Familien ist man natürlich weniger wählerisch und verwendet zur
Salatbereitung die nächstliegenden Gegenstände, also in erster Reihe die
mehr oder minder traurigen Überreste früherer Mahlzeiten, soweit sie
eßbaren Naturprodukten einigermaßen noch ähnlich sehen. Fehlt es aber zum
Beispiel an gepickelten Spargelspitzen, so kann man dazu auch einen klein
geschnittenen Spazierstock verwenden, da die Spazierstöcke drüben außer
Mode gekommen sind, und statt der Fleischbeigaben die Reste in Gedanken
stehen gebliebener Gummigaloschen, die die Trüffel täuschend ersetzen,
zumal, wenn sie vorher in sauren Rahm eingelegt und dann mit braunem
Zucker kandiert werden. Salat von Fischgräten, Kalmus und Bananen, mit
roten Pfefferschoten und Knallerbsen garniert, soll auch sehr gut sein;
ich habe ihn aber nicht gegessen, sondern nur nach einer besonders
anregenden Mahlzeit – erträumt!

Den Fruchttorten, die man an Stelle der Mehlspeisen zum Nachtisch reicht,
wird regelmäßig ein derbes Stück Käse beigefügt; zu welchem Zwecke, weiß
ich nicht. Als ich zum erstenmal diese Zusammenstellung erblickte, steckte
ich den Käse instinktiv in die Westentasche; ich hielt ihn für ein Stück
Radiergummi, den ich in meinem Geschäft immer brauchen kann. Befindet sich
Obst auf dem Tische, so nehme man sich davon beizeiten und reichlich,
fülle auch womöglich seinen Pompadour damit an, denn alles Obst ist in
Amerika von ganz vorzüglicher Qualität – und man weiß ja nie, wie’s kommen
mag! Was meine Person betrifft, so muß ich gestehen, daß ich mich während
der ganzen Boardinghouse-Periode kümmerlich von Austern und Hummern
genährt habe, denn die sind von unvergleichlicher Güte, Größe und
Nahrhaftigkeit und nebenbei auch das einzige amerikanische Produkt, das
man – neben Stiefeln – als billig bezeichnen kann. Europäer von noch nicht
genügend fortgeschrittener Perversität möchte ich jedoch vor den _Clams_
warnen, einer kleinen, lachsfarbenen Muschelart, deren penetranter
Nachgeschmack einen besseren Neurastheniker zum Selbstmord verführen
könnte.

Die raffinierten Schlemmer unter den Yankees sind übrigens sehr selten,
und ihre Begierde wandelt andere Pfade wie die des europäischen Genießers.
Im vornehmsten Hotel in Buffalo „Zum Irokesen“ sollte ich zum erstenmal
die Bestimmung eines geheimnisvollen Utensils kennen lernen, das mir schon
in vielen Hotels und Restaurants aufgefallen war: ein massives, etwa einen
halben Meter hohes, zylindrisches Silbergerät mit einer oben
herausragenden, durch einen derben Querbalken betätigten Schraube. Ein
einsamer Speiser ließ sich an einem Nebentisch nieder, dessen Bestellung
sogleich eine Menge Kellner in aufgeregte Bewegung versetzte. Offenbar war
dieser wuchtige Geselle mit dem römischen Imperatorenkopf ein Genießer
höherer Grade. Nach längerer Zeit brachte man eine große verdeckte
silberne Schüssel, die auf ein Spiritusrechaud gestellt wurde. Zwei
Kellner trugen dann jenen rätselhaften schweren Silbergegenstand herbei
und schraubten dessen obere Hälfte ab. Darauf hob der Oberkellner mit
feierlicher Miene den Deckel der Silberschüssel auf und spießte von den
beiden darunter befindlichen, leicht angebratenen Vögeln (Enten waren es
meiner Meinung nach) einen auf und pfropfte ihn mit Mühe in jenen Zylinder
hinein, worauf das Oberteil wieder aufgesetzt und nunmehr die Schraube mit
Anstrengung beider Hände betätigt wurde. Aus einer Ausflußöffnung am Boden
des Gefäßes rann dickes, schwärzliches Blut in eine vorgehaltene Schale.
Dieses Blut wurde mit allerlei Gewürzen angerührt und schließlich als
Sauce über den anderen halb rohen Vogel gegossen. Dieses kannibalische
Gericht verzehrte der Einsame mit dem Gleichmut eines Lukull. Ich erinnere
mich nicht, ob er Tee dazu getrunken hat. Zu verwundern wäre es weiter
nicht gewesen, da der Yankee auch die opulentesten Mahlzeiten mit
Eiswasser, Tee oder Kaffee hinunter zu spülen pflegt.

(M41)

Der Fremde, dessen Mittel nicht ausreichen, in erstklassigen Hotels und
Restaurants zu speisen, und der sich mit der Yankeeküche gewöhnlichen
Schlages nicht zu befreunden vermag, fährt am besten, wenn er sich in
eines der zahlreichen, meist billigen und einfach gehaltene Speisehäuser
begibt, die seine heimische Küche pflegen. Man kann in dem teuren New
York, und wohl auch in den meisten der ganz großen Städte, französisch,
deutsch, italienisch, griechisch, polnisch, ungarisch, chinesisch und
koscher essen. Namentlich an guten, sehr billigen italienischen Lokalen,
in denen es noch einen trinkbaren Wein gratis gibt, ist in New York
wenigstens kein Mangel. Dagegen habe ich wienerische Speiserestaurants
ebenso schmerzlich wie Wiener Cafés vermißt. Ich meine, hier wäre noch
eine Kulturmission für die Einwanderer der österreichischen Kronländer zu
erfüllen. Wenn ich drüben irgendwo ein Stück Rindfleisch mit Beilage, wie
bei Meisl & Schaden, vorgesetzt bekommen hätte, ich hätte es knieend
verzehrt und hernach stehend die österreichische Nationalhymne gesungen.
Und die Einführung des Berliner Systems Kempinski, nämlich eine große
Auswahl von Gerichten in tadelloser Qualität zu einem sehr billigen
Einheitspreis zu geben, könnte eine Revolution des Ernährungswesens drüben
hervorbringen. Bis dahin muß der deutsche andachtsvolle Genießer mit
heißer Liebe seine wohlhabenden Landsleute umbuhlen, denn es sind drüben
fast allein die Deutschen, die den Schwerpunkt ihres gesellschaftlichen
Ehrgeizes auf eine gute Tafel im heimatlichen Stil verlegen.

(M42)

Beim richtigen Yankee scheinen es übrigens nicht die Geschmackswarzen zu
sein, welche ihm den Genuß beim Essen vermitteln, sondern vielmehr die
Kinnbacken und die Speicheldrüsen. Das Kauen und das Schlucken an sich
macht diese einfachen Naturkinder glücklich. Wer zum erstenmal nach den
Vereinigten Staaten kommt, kann sich nicht genug darüber wundern, hier
einem Volke von Wiederkäuern zu begegnen. In der Straßenbahn, in den
Geschäften, in den Vergnügungslokalen wie auf der Straße sind die
Kauwerkzeuge dieser seltsamen Nation in unausgesetzter Bewegung, und ein
Widerschein von Zufriedenheit überstrahlt von dieser Kinnbackenbetätigung
aus die Gesichter. Junge hübsche Ladnerinnen kauen, wenn sie mittags zum
Lunch gehen und wenn sie vom Lunch ins Geschäft zurückkehren. Die Soldaten
kauen beim Exerzieren; sie würden sicher auch kauend ihre Schlachten
schlagen. Der gesetzte junge Mann mit ernsten Absichten kaut, wenn er
seine Liebeserklärung macht, und seine Erwählte erwidert errötend: „Mum
mum mum – tschap tschap, sprechen Sie mit Mama.“ Und der gewaltige, 125
Kilo schwere Schutzmann rennt kauend dem Dieb nach und packt ihn beim
Kragen mit dem Ausruf: „Dscham dscham – ich verhafte Sie – mum mum – im
Namen des Gesetzes!“ Ein Stückchen gezuckerter Gummi (_Chewing Gum_)
zwischen die Backzähne geschoben, beglückt alle diese Leute wie den
Seemann sein Priemchen und wiegt sie in die freundliche Täuschung ein, in
der besten aller Welten zu leben. Wäre Cartesius als Yankee zur Welt
gekommen, er hätte sicher sein berühmtes „cogito ergo sum“ abgewandelt in:
„Ich kaue, folglich bin ich.“



                          KÜNSTLERISCHE KULTUR.


Mit Ausnahme einer kleinen Schar hochkultivierter Geister hat das neue
Volk in der Neuen Welt, wie es scheint, noch keine Zeit gehabt, seinen
Schönheitssinn zu entwickeln. Was durch seine Dimensionen, seine Masse
imponiert, was viel gekostet hat, das muß nach den Begriffen des
Durchschnittsamerikaners auch schön sein.

(M43)

Es ist mir als höchst bezeichnend aufgefallen, daß selbst hochgebildete
Leute enttäuschte Gesichter machen, wenn der Fremde, der zum erstenmal
durch New York geführt wird, sich weder durch die berühmten Wolkenkratzer,
noch durch die Verschwendung herrlichen echten Materials an öffentlichen
Prachtbauten, noch etwa durch die glänzende elektrische Lichtreklame für
ästhetisch besiegt erklärt. Allerdings vermögen diese himmelhohen Kasten
mit den unzähligen Fensterlöchern unter Umständen schön zu wirken. Wenn
man zum Beispiel vom Hafen her ihre gigantische Silhouette aus der
Dämmerung oder aus leichtem Nebel aufsteigen sieht, so können sie einen
traumhaft phantastischen Reiz entwickeln, der einen Maler toll und einen
Dichter selig zu machen vermag. Einige von diesen Ungeheuern, wie
vornehmlich das Gebäude der Manhattan-Lebensversicherungsgesellschaft,
sind auch an sich hervorragende Kunstwerke, und kein Mensch von Geschmack
wird die ideale Schönheit der neuen Staatsbibliothek in weißem Marmor oder
die Genialität des neuen Empfangsgebäudes der Pennsylvaniabahn bestreiten.
Auch die lustigen Spielereien der beweglichen Lichtreklamen sind nicht nur
als mechanische Kunststücke, sondern auch als witzige Erfindungen und
farbiger Augenschmaus höchst amüsant. Aber all diese Schönheit, Größe und
künstlerisch idealisierte Zweckmäßigkeit ist nicht einem vorbedachten Plan
organisch eingeordnet, sondern wie aus des Zufalls Hand zwischen lauter
Banalität und entschiedene Garstigkeit hingestreut. Die Umgebung ist es,
die in weitaus den meisten Fällen die Wirkung der Schönheit des einzelnen
zerstört. Selbst in New York, das doch von vornherein nach einem durch die
geographische Lage bedingten überaus vernünftigen und klaren Plane
angeordnet wurde, und immerhin der puritanischen Schönheitsfeindlichkeit
der Neuenglandstaaten weniger unterworfen war, scheint doch der
künstlerische Instinkt gefehlt zu haben. Paläste stehen neben öden
Magazinen, neben Wolkenkratzern halbverfallene niedrige Baracken;
entzückende, grünbewachsene gotische Kirchen findet man eingeklemmt
zwischen Metzger- und Grünkramläden, öffentliche Gebäude von edlen
Proportionen und mit prächtigen Fassaden neben wüsten Kasten für Bureau-
und Werkstattzwecke, an deren Straßenfronten scheußliche rotgestrichene
Feuertreppen im Zickzack hin und her laufen.

Selbst in der Fünften Avenue, der Straße der prunkvollsten Läden und der
Residenz der Milliardäre, finden sich noch genug solcher barbarischen
Scheußlichkeiten unter der nagelneuen Pracht verstreut. Und die
Nebenstraßen, wo die kleinen Einfamilienhäuser stehen, zeigen selbst in
den besseren Gegenden ein höchst langweiliges Einerlei. Auch die
nüchternsten modernen Städte Deutschlands, wie Mannheim und Karlsruhe,
fallen den amerikanischen gegenüber immerhin noch angenehm auf durch ihre
strenge Symmetrie und musterhafte Ordnung, während die enorm reiche
Kommune New York bis heute noch nicht einmal eine anständige Pflasterung
und Straßenreinigung durchzuführen vermochte. Der Fahrdamm der Fünften
Avenue besteht aus Löchern, zwischen denen hier und da aus Versehen ein
Stück Asphalt liegen geblieben ist. Oberflächliche Reparaturen werden in
der Weise ausgeführt, daß man mitten auf der Straße zur Freude der
Gassenbuben in diesen Löchern Feuer anzündet; dann schmilzt der Asphalt
ringsherum, und das Loch bekommt wenigstens abgerundete Ränder. Wem der
Arzt eine Vibrationsmassage gegen Trägheit der Unterleibsorgane verordnet
hat, der braucht nur auf dieser Fünften Avenue – oder besser noch auf den
gepflasterten Hauptstraßen des nordöstlichen Teiles von Philadelphia –
eine halbe Stunde spazieren zu fahren, dann kann er seinen Blinddarm bei
der Zirbeldrüse und seine Milz unter dem Mastdarm suchen.

Es ist merkwürdig, daß derselbe Amerikaner, den das wüste Durcheinander in
der Außenseite seiner Städte so wenig zu genieren scheint, doch fast
durchweg einen so guten Geschmack in seiner Kleidung und
Wohnungseinrichtung zeigt. Allerdings ist für die Herrenkleidung England,
für die Frauenkleidung Paris richtunggebend, allein die dortigen Muster
werden doch für den amerikanischen Geschmack einigermaßen abgeändert, und
was dabei herauskommt, ist meist zweckmäßig und apart. In der
Wohnungseinrichtung zeigt sich der Yankee außerordentlich konservativ, und
der Kolonialstil ist immer noch maßgebend. Das moderne deutsche
Kunstgewerbe hat kaum noch irgendwo Einfluß ausgeübt; dafür sieht man auch
nirgends in Amerika, selbst im bescheidenen Mittelstande, so stillos
zusammengewürfelte Einrichtungen wie in der Wohnung des zurückgebliebenen
deutschen Spießbürgers. Man hält zäh fest an der guten englischen
Tradition und verdankt ihr sowohl die praktische Anordnung der Wohnräume
als auch die unaufdringliche Schlichtheit der Formen, Harmonie der Farben,
die zusammen den Eindruck der Behaglichkeit hervorrufen.

(M44)

Spezifisch amerikanisch ist die Vorliebe für Schaukelstühle. Ich habe
Zimmer angetroffen, in denen überhaupt kein einziger Stuhl fest auf seinen
vier Beinen stand, und wo eine besondere equilibristische Begabung dazu
gehörte, um beispielsweise seine Stiefel zu schnüren oder seinen Koffer zu
packen; denn wenn man seinen Fuß auf solch ein ungemein niedriges Möbel
setzt, so kippt es nach vorn und rutscht gleichzeitig nach hinten, so daß
man also auf einem Bein dem flüchtigen Stuhl nachhüpfen muß, bis er an der
Wand einen Stützpunkt gefunden hat. Oder man placiert seinen
aufgeschlagenen Koffer auf die Lehnen zweier gegeneinander geschobener
Rockingchairs und beginnt vergnügt das Packgeschäft. Sobald der sich
füllende Koffer eine gewisse Gewichtsgrenze überschreitet, neigen sich die
stützenden Stühle nach innen, der Koffer klappt zu und rutscht zwischen
den Lehnen durch; es ist sehr amüsant, unter solchen Umständen seinen
Koffer zu packen. Hin und wieder habe ich auch die Bekanntschaft mit
einladend aussehenden Sitzmöbeln gemacht, die nicht nur vor- und
rückwärts, sondern auch seitwärts schaukelten. Auf diesen heimtückischen
Mokierstühlen kann man sich ebenso famos für das Kamelreiten trainieren,
wie auf den einfachen Rockers für die Seefahrt. Vermutlich haben die immer
praktischen Amerikaner auch diesen Nebenzweck im Auge.

So nett und gemütlich nun auch eine solche amerikanische
Durchschnittswohnung anmutet, so wird sie doch uns deutschen
Erzindividualisten recht bald langweilig, weil sie eben überall dieselbe
ist. Ich spazierte einmal mit einem jungen deutschen Gelehrten die _Common
__Wealth Avenue_ in Boston hinunter – nebenbei bemerkt eine der schönsten
Straßen, die mir überhaupt in Amerika aufgefallen sind. Es befinden sich
hier nur vornehme Familienhäuser, die als besondere Eigentümlichkeit große
Spiegelscheiben im Erdgeschoß aufweisen. Man kann also von der Straße aus
in das Treppenhaus und das Parlor hineinsehen. Ich freute mich des schönen
schmiedeeisernen Gitterwerks, das diese wohlhabenden _Homes_ von der
Straße abschloß, der prächtigen Türen und anderer reizvoller Einzelheiten.
Da unterbrach mein Begleiter meine Lobeshymne mit den Worten: „Was wollen
Sie wetten? Unter den zwölf nächsten Häusern von hier aus finden wir
mindestens sechs, in denen wir durch die Fenster genau dieselbe innere
Einrichtung konstatieren können.“ Und richtig, so war es auch. Aber nicht
nur in sechs, sondern in neun von diesen Häusern stand überall in
derselben Ecke am Parlorfenster dieselbe Säule mit demselben Blumenkübel
darauf und derselben Palme darin, genau an derselben Stelle derselben Wand
befand sich in allen diesen neun Zimmern das Ehrfurcht gebietende Sofa mit
den Porträts der Eltern oder Großeltern darüber usw. usw. Immerhin kann
man sich diese ermüdende Uniformität gefallen lassen, da sie doch
wenigstens einen guten Durchschnitt von solider Behaglichkeit verbürgt.
Groteske Geschmacklosigkeiten begegnen einem eigentlich nur in den
Palästen ungebührlich rasch reich gewordener Emporkömmlinge – gerade wie
bei uns.

(M45)

Merkwürdig ist auch, wie dasselbe Volk, das sich in den meisten seiner
Vergnügungen und künstlerischen Betätigungen doch noch recht unkultiviert
zeigt, in anderer Beziehung wieder Leistungen von feinem Geschmack und
hoher Vollendung hervorbringt, zum Beispiel in der Malerei, in der
Photographie, im Buchgewerbe. Während die amerikanischen Museen zum
weitaus größten Teile noch das sehr zweifelhafte Kunstverständnis ihrer
freigebigen Stifter verraten und ein stilloses Durcheinander von Kitsch
und Kunst bieten, begegnet man in den Ausstellungen moderner Künstler
einer sehr respektablen Durchschnittsleistung. Von einer bedeutenden
Entwicklung der Plastik kann selbstverständlich in einem Lande, das die
Scheu vor der Nacktheit in der Kunst längst noch nicht überwunden hat,
keine Rede sein. Ich habe mir sagen lassen, daß auf der Weltausstellung in
Chicago zum erstenmal in den Vereinigten Staaten nackte Frauenkörper als
Karyatiden zu sehen gewesen seien! Ein biederer Farmer war von diesem
völlig neuen Anblick dermaßen gefangen, daß er überhaupt für nichts
anderes in der ganzen Weltausstellung Interesse zeigte, sondern, die Augen
starr in die Höhe gerichtet, von Saal zu Saal schritt und dabei
kopfschüttelnd vor sich hinseufzte: „_Oh good Lord, what tits, what
tits!_“

Selbst heute noch hat jede wenig bekleidete allegorische Figur, die sich
in der Öffentlichkeit zu zeigen wagt, einen heftigen Kampf mit der
Geistlichkeit und den Tanten zu bestehen. Kann es da wundernehmen, wenn
außer etlichen anständigen Porträtstatuen, naturalistischen Kriegergruppen
und Reitermonumenten von bedeutender Plastik in den Vereinigten Staaten
nichts zu finden ist? Das Ulkigste von Kitschplastik, was mir persönlich
in den Weg gekommen ist, war das Kriegerdenkmal in Easton (Pennsylvania):
auf einer sehr hohen schlanken Säule ein moderner Militärtrompeter; und im
Schalltrichter seines Instrumentes erglühte nachts eine elektrische Birne!

(M46)

Allerdings haben die amerikanischen Künstler ihre Techniken vom Auslande
gelernt und stark eigenartige Glanzleistungen auch nur in den bildenden
Künsten sowie in der Literatur hervorgebracht. Ihre Musik ist ihnen bis
jetzt fix und fertig vom Auslande geliefert worden. Und selbst die einzige
musikalische Spezialität, die sich zurzeit als echt amerikanisch
ansprechen läßt, nämlich das Volkslied der Neger und der _Ragtime_
(eigenartig verschobener synkopierter Rhythmus für Tänze und derbe
Couplets), ist doch auf schottischen und irischen Ursprung zurückzuführen.
Es läßt sich aber nicht leugnen, daß für gute Musik heute schon ein recht
großes und verständnisvolles Publikum vorhanden ist. Wenn man bedenkt, daß
an der Geschmackserziehung des amerikanischen Hörers erst seit wenigen
Jahrzehnten von europäischen Künstlern planvoll gearbeitet wird, so ist es
doch wohl ein erstaunliches Ergebnis zu nennen, daß man heute schon den
„Parsival“ vor einer andachtsvoll ergriffenen Zuhörerschaft geben kann,
und daß Konzertprogramme, die ausschließlich aus Beethoven, Brahms, Hugo
Wolf und ähnlichen anspruchsvollen Namen bestehen, große Scharen anziehen
und begeistern. Allerdings finden bei einer großen Masse selbst der
höheren Schichten auch stillose Programme, in denen ärgste Banalitäten mit
echten Meisterwerken abwechseln, jubelnden Beifall – aber können wir das
in Deutschland nicht auch erleben? Der Unterschied ist wohl nur der, daß
bei uns kein Künstler von Bedeutung sich so leicht dazu herablassen würde,
dem schlechten Geschmack des Publikums solche Konzessionen zu machen. Wir
Deutschen dürfen uns rühmen, auf musikalischem Gebiet uns die
Meistbegünstigung für unseren Import von Kunstwerken, Künstlern und
Lehrern erstritten zu haben. Wie haben diese prachtvollen deutschen
Musikanten aber auch arbeiten müssen, in welchen harten steinigen Boden
haben sie oft ihre Pflugschar drücken müssen, um überhaupt erst den Boden
für ihre Saat zu bereiten.

Ich habe in der Person des Sängers Max Friedrich einen solchen Veteranen
von einem deutschen Musikpionier kennen gelernt. Als er vor 20–30 Jahren
hinauszog, um den Leuten des kunstversimpelten Ostens, wie den
lebenshungrigen Abenteurern des wilden Westens Schubert und Schumann, Löwe
und Franz vorzusingen, da gähnte und höhnte man ihn aus. Aber er ließ
nicht locker, er ließ sich als echt deutscher Starrkopf kein Titelchen von
seiner heiligen Überzeugung wegdisputieren. Ihm und einigen Wenigen
seinesgleichen ist es zu verdanken, wenn heute ein ernster Künstler mit
einem vornehmen Programm sich überall in der ganzen Union hören lassen
kann, ohne fürchten zu müssen, von entrüsteten Cowboys mit dem Schießeisen
vom Podium gejagt zu werden.

Talent und Liebe zur Kunst wuchsen bisher nur recht spärlich aus
amerikanischem Boden hervor. Weder die Zuchthäusler und Abenteurer in der
Zeit der Flegeljahre der neuen Welt, noch die frommen Pilgerväter haben
irgendwelche Keime zur künstlerischen Entwicklung mit herübergebracht. Und
bis die großen Kriege durchgekämpft, die Naturschätze erschlossen, das
ungeheure Land bebaut und durch Eisenbahnen in Zusammenhang gebracht
worden war, hatte jeder Mensch mit dem Kampf ums Dasein viel zu viel zu
tun, um Muße zu künstlerischer Betätigung zu finden. Gegenwärtig ist diese
Muße freilich schon für viele vorhanden, aber die Kunst hat dort noch
keinen rechten Boden, weil in der Masse des Volkes noch kein wirkliches
Bedürfnis nach ihr lebt. Eine Ahnung von der Wichtigkeit der Kunst als
Kulturfaktor ist bisher nur einer kleinen Auslese von Höchstgebildeten
aufgegangen, die große Masse jedoch sieht in ihr nur einen schmückenden
Luxus, einen angenehmen Zeitvertreib. In der alten Welt entfaltete sich
alle Kunst auf dem Boden uralten, oft umgeackerten und gedüngten
Kulturlandes. Sie wurzelt in der frühesten Vergangenheit der Völker, in
deren untersten Schichten, und ihr Wachstum stärkte sich an den Hemmungen,
die sie zu überwinden hatte. Außerdem kann Kunst unmöglich von einem Volke
hervorgebracht werden, das nicht zum mindesten eine aristokratische
Vergangenheit gehabt hat. Jeder wahre Künstler ist ein geborener
Aristokrat, der zwischen sich und den Viel zu Vielen, den Banausen und
Philistern, eine hochmütige Scheidewand errichtet.

Die demokratische Anschauung von der Gleichheit der Menschen ist dem
Instinkt des Künstlers ein Greuel. Und selbst jene naivste Betätigung
schaffender Phantasie, die wir heute Volkslied nennen, bezieht ihre
Gesetze, ihre Stoffe, ihre seelische Wesensart von Mustern, die in uralten
Zeiten königliche Sänger aufstellten. In der Neuen Welt aber, in der eine
historische Entwicklung in unserem Sinne kaum vorhanden ist, sondern wo
immer gegenwärtige Resultate eines langsamen Werdegangs aus der Alten Welt
fertig übernommen wurden, ist das Entstehen einer originalen Kunst
vernünftigerweise auch noch gar nicht zu erwarten. Die Yankees, als
Abkömmlinge der britischen Einwanderer, haben selbstverständlich eine
angeborene Vorliebe für die englische Kunst und werden die von dort
empfangenen Anregungen ausbauen; ebenso wie die Nachkommen der deutschen
Einwanderer sich instinktmäßig an die deutschen Vorbilder klammern werden.
Die Besonderheit der amerikanischen Landschaft wird natürlich ihren
Einfluß auf die Malerei, die eigenartigen Lebensbedingungen der Neuen Welt
auf die Architektur einen bestimmenden Einfluß ausüben. Darum ist es
selbstverständlich, daß in diesen beiden Künsten zunächst eigenartige
Leistungen zu erwarten und ja auch gegenwärtig schon vorhanden sind.
Dagegen kann man von einem Volke, das gar keine eigene Sprache besitzt,
auch keine originale Poesie verlangen, und die Musik ist, zum mindesten
mit ihrem Rhythmus, so fest an die Sprache gebunden, daß allein schon aus
diesem Umstande der bisherige Mangel einer amerikanischen Musik sich ohne
weiteres begreifen läßt. Das schließt natürlich nicht aus, daß geborene
Amerikaner ganz hervorragende Leistungen auf Kunstgebieten vollbringen
können, deren ausländische Muster sie mit besonderer Liebe studiert haben
und deren inneres Wesen ihnen besonders nahe liegt. Erst wenn die
Völkerwanderung nach der Neuen Welt einmal aufgehört und eine wirkliche
chemische Durchdringung der verschiedenen Rassenelemente stattgefunden
haben wird, kann sich so etwas wie eine allamerikanische Seele entwickeln,
aus der dann folgerichtig auch eine originale amerikanische Kunst
hervorgehen müßte.

(M47)

Wie die Dinge heute noch liegen, wäre aber beispielsweise ein jugendlicher
Yankee, der sich freiwillig dazu hergeben möchte, das Hungerleiderdasein
eines deutschen oder französischen Poeten zu führen, eine undenkbare
komische Figur. Der poetisch begabte Jüngling fängt drüben mit der
Journalistik an, oder er betreibt das Dichten neben seinem soliden
Broterwerb. Hat er mit einem Genre keinen Erfolg, so probiert er es eben
mit einem anderen. Schwerlich wird es ihm einfallen, sich trotzig wider
den Geschmack der Zeit und der großen Masse aufzulehnen. Auch wenn er
Neues, Eigenartiges zu sagen hat, wird er sein Publikum nicht
rücksichtslos damit erschrecken, sondern es allmählich vorzubereiten
suchen. Die Beschäftigung mit Literatur, Kunst und anderen rein idealen
Dingen ist eben drüben ein vornehmer Zeitvertreib für Ausnahmemenschen,
besonders also für solche, die keine Sorge um das tägliche Brot mehr
drückt. Man setzt auch voraus, daß der Mann, der einen Beruf aus dem
Dichten, Musizieren, Malen usw. macht, vor allen Dingen ein Gentleman sei,
also ein gut angezogenes Mitglied der auserwählten Gesellschaft mit
normalen Manieren und auch einigermaßen normalen Gesinnungen. Es ist
bezeichnend, daß der Name _Bohemiens_, der für Künstler- und
Literatenklubs besonders beliebt ist, mit Vorliebe von Vereinigungen recht
wohlhabender Männer gewählt wird, die es sich leisten können, ihre
festlichen Sitzungen in den vornehmsten Hotels abzuhalten und dazu nichts
als französischen Sekt zu trinken. Der richtige Bohemien kann schon
deshalb drüben unmöglich gedeihen, weil es keine Kaffeehäuser gibt. Es
kommt vorläufig auch noch selten vor, daß künstlerische, besonders
literarische Talente aus den untersten Volksschichten hervorgehen, weil in
denen noch alles Sinnen und Trachten auf materiellen Erwerb gerichtet ist.
In New York gibt es allerdings einen hervorragenden Dichter, der Sattler
und Tapezierer ist – Hugo Bertsch heißt er – aber der schreibt Deutsch und
ist aus Reichelsheim i. O. gebürtig.

Bemerkenswert ist, daß einer der wenigen jungen Dramatiker, die damit
begonnen haben, sich von der herrschenden Prüderie und Konvention
freizumachen und die amerikanische Bühne für moderne Probleme zu erobern,
nämlich der anderwärts von mir schon erwähnte Walter von unten
heraufgekommen ist, gehörig gehungert und im Zentralpark gepennt hat,
bevor er bekannt wurde. Auch der ausgezeichnete Romanschreiber Jack
London, der sich durch starke Eigenart spezifisch amerikanischer Färbung
auszeichnet, hat als Goldgräber angefangen, obwohl er eine gute
wissenschaftliche Bildung genossen hatte. Bret Hart begann seine Laufbahn
gleichfalls als Goldgräber und betätigte sich nacheinander als Lehrer,
Postbote und Schriftsetzer, bevor er Professor der Literatur wurde. Auch
Mark Twain begann als Setzer und wurde dann bekanntlich Lotse auf dem
Mississippi. Edgar Allan Poe war zwar reicher Eltern Kind, wurde aber
wegen schlechter Aufführung von der Universität und der Militärakademie
relegiert und desertierte aus der Armee, bevor er sich zu dem berühmten
Dichter entwickelte. Walt Whitman, ursprünglich gleichfalls Buchdrucker,
gewann seinen Lebensunterhalt als Subalternbeamter im Ministerium. Einzig
Longfellow von den bekannteren Dichtern stammte aus höheren Kreisen und
erwarb regelrechte akademische Grade, aber auch er betätigte sich zunächst
als Rechtsanwalt.

(M48)

Es scheint also, daß auch im neuen Lande das alte Gesetz, daß die
künstlerischen Kräfte am Widerstand erstarken, Geltung besitze. In dem
Paradiese der absoluten Gegenwart, dessen glückliche Bewohner so gern
alles, was ist, gut finden, wie der liebe Gott sein Schöpfungswerk, haben
natürlich nur die Narren Lust, wider den Strom zu schwimmen. Die
vernünftigen Kunstbeflissenen trachten aber, nur marktgängige Ware zu
liefern, und marktgängig ist, was dem Unterhaltungs- und
Sensationsbedürfnis entspricht. Es wird ungeheuer viel gelesen in Amerika,
folglich ist mit der Anfertigung von Literatur ein gutes Geschäft zu
machen für diejenigen, die sich auf den Geschmack des Publikums verstehen.
Dieser Geschmack heißt aber immer noch: Hintertreppengeschehnisse im
Gartenlaubenstil vorgetragen. Verbrecher und Detektivs sind nicht nur bei
den ganz kleinen Leuten die beliebtesten Helden. Es müssen daher auch
ernste Schriftsteller, z. B. solche, die ihr soziales Gewissen auf das
Gebiet des Anklageromans verlockt, auf sensationelle Erfindung und auf
strenge Wahrung einer stubenreinen Reputierlichkeit bedacht sein.
Sicherlich würde die Entwicklung des künstlerischen Geschmacks bei dem
amerikanischen Volk, das doch wahrhaftig weder ängstlich noch
begriffsstutzig ist, viel raschere Fortschritte machen, wenn nicht die
Tagespresse die mehr als kindliche Oberflächlichkeit des Urteils in
unverantwortlicher Weise nährte. Aber das ist ein Kapital für sich.



                       VOM THEATER IM YANKEELANDE.


Wer das englische Theater kennt, der kennt auch das amerikanische. Die
Yankees haben es mit all seinen Licht- und Schattenseiten herübergenommen,
nur daß die Qualität ihrer besten darstellerischen Leistungen doch wohl
noch um einiges hinter den besten englischen zurückbleibt, was bei dem
Fehlen einer guten alten Tradition nicht zu verwundern ist. Hüben wie
drüben ist für das Drama hohen Stiles kein großes Publikum vorhanden, und
darum suchen Bühnen, die diese vornehmste Dichtungsgattung pflegen, die
große Masse durch raffinierte szenische Wirkungen, durch Pomp und
Massenentfaltung anzulocken. Für das moderne Gesellschaftsdrama und das
feinere Lustspiel sind schauspielerische Begabungen besonders häufig
vorhanden, und da die Dichtung noch in keinem Lande englischer Zunge – mit
verschwindend wenigen Ausnahmen – vom Konventionellen zum Individuellen
aufgerückt ist, so sind diesseits wie jenseits des Ozeans die besten
Schauspieler, ebenso wie die unbedeutendsten, Spezialisten für das
Rollenfach, in welches äußere Erscheinung, Stimmklang und Temperament sie
verweisen. Sie alle spielen also im Grunde genommen nicht nur solange ein
Stück läuft, sondern ihr ganzes Leben lang ein und dieselbe Rolle. Es ist
wohl allgemein bekannt, daß man drüben Theater mit wechselndem Repertoir
bisher noch nicht kennt. Für jedes neue Stück wird eine Truppe
zusammengestellt, und wenn das in der Hauptstadt abgespielt ist, wandert
die Truppe damit in die Provinz, um sich aufzulösen, sobald seine Zugkraft
erschöpft ist. Wer also drüben die Schauspielerei zum Beruf erwählt, der
muß schon über recht beträchtliche Reserven an Körper- und Geisteskraft
verfügen, wenn er nicht der sicheren Verblödung und der unheilbaren
Fettsucht verfallen will. Der erste Versuch, in den Vereinigten Staaten
ein vornehmes Schauspielhaus mit wechselndem Repertoir nach künstlerischen
Grundsätzen ins Leben zu rufen, wurde im vergangenen Jahre in New York von
einer Anzahl reicher Theaterfreunde gemacht durch die Gründung des _New
Theatre_. Und dieser Versuch ist gescheitert, obwohl fast unbeschränkte
Mittel und eine auserlesene Schar feingebildeter, sehr tüchtiger
Schauspieler zur Verfügung stand, auch die Leitung in keineswegs
ungeschickten Händen lag. Ich habe in diesem Theater eine Aufführung von
Maeterlinks „Der blaue Vogel“ gesehen, die in bezug auf die
darstellerischen Leistungen sehr gut und in bezug auf künstlerische
Inszenesetzung sogar ganz hervorragend geschmackvoll war, und dennoch
gaben die Unternehmer den Versuch schon nach Beendigung der ersten
Spielzeit als vorläufig aussichtslos auf! Es wurden allerlei Gründe für
dieses seltsame Fiasko ins Feld geführt; mir scheint der erheblichste und
zugleich auch betrüblichste der zu sein, daß für das Schauspiel die Anzahl
der künstlerisch wohlerzogenen New Yorker noch zu klein ist, um ein
solches Unternehmen geschäftlich halten zu können. Man ist es einfach noch
nicht gewöhnt in jenen Gesellschaftskreisen, die für den Besuch eines den
Ansprüchen verfeinerten Geschmacks gewidmeten Theaters in Frage kommen,
täglich nach dem Theaterzettel zu sehen und sich womöglich gar wegen einer
Vorstellung, die vielleicht bald wieder vom Spielplan verschwindet, in
seinen häuslichen Gewohnheiten und gesellschaftlichen Pflichten stören zu
lassen. Wenn es die große Oper gilt, nimmt man freilich alle möglichen
Unbequemlichkeiten mit in den Kauf; aber das ist eben die große Oper, die
_muß_ wechselndes Repertoir haben, weil dieselben Sänger nicht alle Tage
große Partien singen können; und außerdem gehört die große Oper auch mehr
zu den gesellschaftlichen Veranstaltungen, denen man seiner Stellung wegen
Opfer bringen muß, als zu den bloßen künstlerischen Unterhaltungen. Ein
vornehmes Schauspielhaus mit wechselndem Repertoir würde ohne Zweifel
ebensogut möglich sein wie das Millionen verschlingende _Metropolitan
Opera House_, sobald es bei dem hohen Adel und den Großwürdenträgern der
demokratischen Gesellschaft _de rigueur_ wäre, auch in diesem
Schauspielhaus eine Loge zu besitzen und sich dort mit seinen Freunden zu
treffen. Bis dahin aber und bis ein mächtig aufblühendes nationales Drama
des Yankeetums nach einer nationalen Bühne schreit, wird noch viel Wasser
den Hudson hinunterlaufen.

(M49)

Mit der Oper steht es trotz der Starwirtschaft ganz erheblich besser als
mit dem Schauspiel, weil die Oper ein internationales Unternehmen ist, dem
es vorläufig ganz gleichgültig sein kann, ob ihm einheimische Kräfte als
Komponisten und als Sänger zuwachsen oder nicht; denn sie kann ihren
Bedarf durch die Meisterwerke und Gesangssterne Europas vollkommen decken.
Im übrigen wird die beste Oper immer da vorhanden sein, wo das meiste Geld
zur Verfügung ist, vorausgesetzt daß die Leitung nicht gänzlich unfähig
ist. Mit dem nötigen Geld kann man sich nicht nur die besten Sänger und
Sängerinnen der Welt, sondern auch die genialsten Kapellmeister und
Regisseure der Welt kaufen. Wo anders als in dem Lande, wo die
_Greenbacks_ (Dollarscheine) so leicht das Fliegen lernen, wäre es
möglich, ein genügend zahlreiches Personal von Sängern und Sängerinnen,
darunter die berühmtesten Künstlernamen der Welt, zusammenzubringen, um
damit die deutschen Meisterwerke der Opernliteratur deutsch, die
französischen französisch und die italienischen italienisch darzustellen?!
Trotzdem das Riesenhaus immer voll und die Eintrittspreise für unsere
Begriffe sehr hoch sind, ist doch immer ein Defizit vorhanden, das jedoch
durch die Freigebigkeit der milliardenschweren Logenbesitzer immer gedeckt
wird. Es ist also selbstverständlich, daß keine Opernbühne Europas an
Großartigkeit des Betriebes mit der New Yorker Oper wetteifern kann. Es
versteht sich also auch ganz von selbst, daß man in diesem Theater
Vorstellungen erleben kann, die nicht nur an äußerem Glanz, sondern auch
an echter künstlerischer Qualität alles übertreffen, was selbst Wien,
Berlin, München, Dresden, Paris, Mailand, Petersburg und London zu bieten
vermögen. Andererseits treten aber freilich auch die großen Gefahren
dieses amerikanischen Systems, bei dem die starke Triebfeder eines
hingebenden künstlerischen Idealismus durch eitle Prahlsucht und
Geldprotzentum ersetzt werden, sofort grell zutage, sobald in der Wahl der
leitenden Kräfte ein Mißgriff erfolgt ist oder diese Kräfte die Lust
verlieren, für das viele Geld, das sie bekommen, wirklich ihr Bestes zu
tun. Aber schließlich wird überall mit Wasser gekocht, und eine
ununterbrochene Reihe wirklicher Weihefestspiele kann es eben nur unter
Bedingungen geben, wie sie Bayreuth sich geschaffen hat. Es ist jedenfalls
ungerecht und töricht von uns Europäern, die glänzenden Veranstaltungen
der Metropolitan-Oper geringschätzig als eitel Blendwerk abzutun. Die
Herren Milliardäre bekommen für ihr gutes Geld wirklich gute Opernkunst
geliefert.

(M50)

Das Beste, was ich in den Vereinigten Staaten von Komödienspiel erlebt
habe, fand ich in einem der fünf jiddischen Theater an der Bowery, dem New
Yorker Ghetto, wo die frisch eingewanderten russischen Juden noch zu
Tausenden beieinander hocken. „_The Miners_“ (die Bergleute) hieß das
Theater, unansehnlich von außen, eng, schmutzig und in allen Einrichtungen
veraltet von innen. Es wird nur zwei, höchstens dreimal die Woche gespielt
an diesen kleinen Dialektbühnen; aber obwohl es nicht Schabbes, war das
Haus gesteckt voll. Ganze Familien mit Kind und Kegel im Parterre, die
besseren Leute im ersten Rang, die großen Glaubensgenossen, die schon ihr
Ziel erreicht, in den Protzszeniumslogen, und auf der Galerie die Arbeiter
und kleinen Gewerbetreibenden, ärmlich und schäbig anzuschauen, mit
steifen kleinen Hüten oder schmutzigen russischen Mützen auf dem Kopf. Sie
sind gekommen, um den derzeit vortrefflichsten Schauspieler ihrer Zunge,
_David Keßler_, zu sehen, der zugleich der künstlerische und geschäftliche
Leiter des Unternehmens ist. Das Stück hieß: „Jankel, der Schmied“, von
_David Pinsky_, einem jüdischen Autor, der schon einmal bei Reinhardt
durchgefallen ist, eine naturalistische Kleinmalerei aus dem Leben der
jüdischen Kleinbürger in Rußland, ein bis zum Ekel unerquickliches Stück
Wahrheit von einer Erbarmungslosigkeit, wie sie auf der deutschen Bühne
seit Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ kaum mehr dagewesen ist. Und diese
heimatlosen Weltwanderer, diese schwitzenden und keuchenden Arbeitstiere
mit dem starken Drange nach Ruhe, Behaglichkeit, Schönheit, Licht und
Glanz im Herzen, die in den Zwischenakten ein so wildes, mauschelndes
Geschnatter vollführen, daß einem die Ohren gellen, sie lauschen
andachtsvoll gebannt, sobald der Vorhang hochgeht, als ob diese ihre
nationale Kunst, die ihnen kaum etwas anderes bietet, als den tiefen
Einblick in unsäglich traurige Familienverhältnisse und widrige
Menschenseelen, sie nehmen all dies Häßliche mit gelassenem Ernst hin und
begrüßen die derben Späße oder auch die wenigen idyllisch gemütvollen
Lichtblicke in dieser trostlosen Öde mit dankbarem Gelächter und
begeistertem Beifall. Was aber wirklich an dieser seltsamen dramatischen
Kunst auch für den rassenfremden Zuschauer des begeisterten Beifalls
würdig ist, das ist neben der scharfen, treffsicheren Zeichenkunst des
Dichters die wirklich vollendete Leistung sämtlicher Darsteller; denn
nicht nur das Haupt der Gesellschaft, dieser David Keßler, ist ein
wirklich großer Charakterdarsteller, der ganz und gar in dem vom Dichter
geschaffenen Menschen aufzugehen versteht, sondern alle seine Schauspieler
und Schauspielerinnen erscheinen mit ihren Aufgaben derartig verwachsen,
als ob sie einfach sich selber ohne jede Rücksicht auf die Optik der Bühne
und die Sinne der Zuschauer darzustellen hätten. Im Zwischenakt machte ich
die Bekanntschaft David Keßlers und war nicht wenig erstaunt aus seinem
Munde zu hören, daß außer ihm gar keine Berufsschauspieler in seiner
Truppe vorhanden seien, sondern daß er sich die Leute von überallher
zusammengelesen und zum Theaterspielen gedrillt habe. Dieser vorzügliche
komische Episodenspieler handelt tagsüber mit alten Hosen, diese schlichte
sentimentale Liebhaberin, die so ergreifende Gemütstöne findet, ist
vielleicht Dienstmädchen in einer besseren jüdischen Familie, und diese
ausgezeichnete komische Alte mit dem ewig verrutschten schwarzen Scheitel
auf ihrem ehrwürdigen grauen Haar zieht uns beiseite und erzählt uns mit
stolz aufleuchtenden Augen, daß sie mit ihrer Hände Arbeit ihren einzigen
Sohn so weit gebracht habe, daß er nun schon als Advokat in dem fremden
Lande eine geachtete Stellung einnehme und einer glänzenden Zukunft
entgegengehe. Am Schluß des Stückes bricht ein tobender Beifall los, der
sich sonderbarerweise außer in Klatschen und wildem Trampeln auch in
gellenden Pfiffen äußert, und sobald David Keßler auf der Bühne erscheint,
rufen ihm Hunderte von Stimmen zu: „_Speech, speech!_“ Der derbe
vierschrötige Gesell steht unschlüssig mit niedergeschlagenen Augen da,
und dann stammelt er im Jargon ein paar Worte des Dankes. Wie er sich aber
zum Abgehen wendet, wird von der Galerie her der Ruf nach Musik laut. Da
macht er kehrt, stampft bis an die Rampe vor und hebt fast drohend den Arm
in der Richtung, von wo der Ruf kam. „Wer Musik haben will,“ ruft er in
kaum unterdrückter Entrüstung, „der mag ins Tingeltangel gehen, hier ist
nicht der Ort für trivialen Ohrenschmaus, hier wird unsere dramatische
Kunst mit heißem Bemühen für unsere Leute gepflegt. Hier stehe ich seit
einer Reihe von Jahren und tue mein Äußerstes, um euch, meinen armen
Landsleuten und Glaubensgenossen, eine nationale Kunst zu geben, wie ihr
sie braucht, und wie ihr sie versteht. Schritt für Schritt habe ich
versucht, euch zum Kunstbedürfnis und Kunstverständnis zu erziehen, mit
dem Einfachsten und Verständlichsten habe ich angefangen, um euch
vorzubereiten auf das Tiefere, das Ernstere, auf das Hohe und Heilige, und
jetzt schreit ihr nach Musik! Dankt ihr mir so?!“

(M51)

Es dürfte selbst für den abendländischen Juden schwer sein, das
russisch-jiddische Idiom zu verstehen, aber man hört sich allmählich
hinein. Ich wenigstens vermochte vom dritten Akt ab schon ganz leidlich zu
folgen, und so glaube ich, daß ich auch den Gedankengang dieser aus echter
Leidenschaft heraus improvisierten Rede ziemlich richtig verstanden habe.
Ganz still und beschämt saßen die Zuschauer da, und die jüngeren Leute
besonders hingen mit Ergriffenheit an den Lippen des Schauspielers, den
das Feuer seines Zornes immer beredter machte. Er sprach von der Sehnsucht
seines Volkes nach Kunst, nach tätiger Beteiligung an den höheren
Kulturaufgaben der Menschheit, er wies voller Stolz auf die großen Erfolge
hin, die jüdische Dramatiker, jüdische Darsteller vornehmlich auf der
deutschen Bühne gefunden hätten. Er nannte mit Begeisterung den Namen _Max
Reinhardts_, der einen der ihrigen, Schalom Asch, aus dem Dunkel
hervorgezogen und zahlreichen anderen jüdischen Künstlern Gelegenheit
gegeben habe, ihre große Begabung von dem anspruchsvollsten und
kritischsten Publikum Europas anerkannt zu sehen. Er leitete aus diesen
ersten großen Erfolgen die Pflicht des gesamten Judentums ab, sich mit
seinen besten Kräften immer eifriger an der Aufwärtsentwicklung der
modernen Kunst zu beteiligen. Und dann verbeugte er sich stolz-bescheiden
und verließ unter donnernden Cheers die Bühne.

Nachdem ich gesehen habe, was beliebige Dilettanten, auf gut Glück
herausgegriffen aus den unteren Schichten dieser in die westlichste aller
Kulturen verschlagenen Orientalen, für ein starkes Talent zur
Menschendarstellung, d. h. also zur künstlerischen Selbstentäußerung
besitzen, habe ich begriffen, woher es kommt, daß in allen Kulturländern
gerade das Theater von Angehörigen dieser Rasse überschwemmt wird.
Geldgier und Ruhmsucht sind in diesem Falle sicher nicht die Triebkräfte;
denn es gibt genug jüdische Schauspieler, die nicht im hellen Sonnenlichte
des Glückes sitzen, und die ebenso wie ihre arischen Kollegen aus reiner
Begeisterung für die Kunst frieren und darben. Denn gleichwie diese Rasse
eine Neigung zur Spitzfindigkeit des Denkens, zum knifflichen Problem
stellen, eine besondere Geschicklichkeit im Rätselraten und in raschen
Kombinationen des Witzes ihr eigen nennt, die sie für die Juristerei
besonders geeignet erscheinen läßt und ihren Handelsunternehmungen und
Geldspekulationen so oft einen kühn-fantastischen Anstrich verleiht, so
mag, im Verein mit solcher geistigen Disposition, auch der
jahrhundertelange Druck, der auf dem Gemüt dieses Volkes lastete, die
naive Lust am Mummenschanz zu der starken Sehnsucht hinauf gesteigert
haben, wenigstens gelegentlich durch das Mittel des künstlerischen
Selbstbetruges über das gedrückte Ich der Wirklichkeit hinauszukommen und
im Rampenlichte Könige, Helden und glückliche Liebhaber vorzustellen. Es
ist überhaupt charakteristisch, daß gerade diejenigen Völker, deren
Einwanderer sich in der Neuen Welt noch am fremdesten, am wenigsten von
der Sympathie der dort herrschenden Rassen gestützt fühlen, am eifrigsten
und mit dem größten Erfolg ihr nationales Theater pflegen. Neben den Juden
sind dies die Chinesen, die gleichfalls in New York und San Franzisco
stehende Bühnen unterhalten. Die Italiener und die Franzosen sehen ja an
der großen Oper ihre nationale Kunst glänzend vertreten, aber auch sie
werden vermutlich ebenso wie die Griechen und die zahlreichen Angehörigen
der verschiedenen slawischen Volksstämme eifrig Liebhabertheater spielen.
Ich habe leider davon nichts zu Gesicht bekommen.

(M52)

Aber seltsam muß es uns Deutsche berühren, daß dies ungeheure Neuland, als
welches Deutschland es in musikalischer Beziehung überhaupt erst urbar
gemacht und vollständig mit der Saat bestellt hat, die in Gestalt der
großen Oper und eines blühenden Konzertlebens glänzend aufgegangen ist,
doch kein deutsches Schauspielhaus von einiger Bedeutung mehr am Leben zu
erhalten vermag. Wenn man bedenkt, daß der herrschenden Yankeerasse mit
ihren 20 400 000 Köpfen 18 400 000 Amerikaner deutscher Abstammung
gegenüberstehen, daß New York dem Prozentsatz der Einwohner deutscher
Abstammung nach die zweitgrößte deutsche Stadt der Welt ist, so muß man
sich baß verwundern, daß die wenigen stehenden deutschen Bühnen in den
Vereinigten Staaten nicht nur künstlerisch immer mehr zurückgehen, sondern
auch meistens mit schweren Existenzsorgen zu kämpfen haben. Bei längerem
Hinschauen und ruhiger Überlegung wird diese traurige Tatsache allerdings
verständlich. Die Nachkommen der Einwanderer beherrschen fast ausnahmslos
das Englische schon besser als ihre Muttersprache, in der zweiten
Generation haben es die meisten wohl schon ganz vergessen. Ferner ist zu
bedenken, daß die weitaus überwiegende Zahl der Einwanderer den wenig
gebildeten Ständen entstammt, bei denen naturgemäß von einem starken
Pflichtbewußtsein als deutsche Kulturträger nicht die Rede sein kann. Wenn
nun schon die Väter der fremden Sprache und damit der fremden
künstlerischen Kultur kaum irgendwelchen Widerstand entgegensetzen, so
wird dies bei ihren Kindern und Kindeskindern erst recht nicht der Fall
sein. Es bleibt also von den 18 Millionen als befähigte Genießer und
berufene Förderer des deutschen Dramas nur ein verhältnismäßig kleiner
Bruchteil übrig, dessen Mitglieder zudem über den ganzen weiten Kontinent
verstreut sind. Nun wird freilich in sehr vielen der zahllosen deutschen
Vereine nicht nur das deutsche Lied, sondern auch die deutsche Poesie mit
schönem Eifer gepflegt; es gibt auch reiche Deutsche genug, die nicht nur
zugunsten eines Liebhabertheaters, an dem ihre Töchter und Söhne
mitspielen, sondern auch zugunsten einer öffentlichen Bühne tief in ihre
Taschen zu greifen bereit sind; aber nun taucht die andere große
Schwierigkeit auf: Für welche Gattung deutscher Dramatik soll dies Geld
gespendet, dieser rührende Eifer aufgewendet werden? Außer den paar
akademischen Lehrern deutscher Literatur und einigen auf der Höhe der
Bildung stehenden berufsmäßigen Kritikern haben doch nur verschwindend
wenige Deutsch-Amerikaner ein so starkes Interesse an der Entwicklung
speziell des Theaters, daß sie dem wunderlich sprunghaften Werdegang
unseres Dramas in den letzten vier Jahrzehnten zu folgen imstande gewesen
wären. Die internationale Mode hat lediglich das Musikdrama Wagners und
seiner Nachfolger gestützt. Die Schulen Ibsens und der Naturalisten, der
Neuromantiker, der Symbolisten, Satanisten, und wie sie sonst noch heißen
mögen, deren Modeglanz oft schon verblaßt war, bevor ernsthafte Leute sich
noch über ihren inneren Wert klar geworden waren, sie konnten zwar das
deutsche Theaterleben stark anregen, besaßen aber nicht die Kraft, zumeist
auch nicht einmal die Zeit, fruchtbar in die Ferne zu wirken. Die stärkste
Auswanderung gebildeter Deutscher erfolgte aber in den Sturmjahren um 48
herum und in den ersten Jahren nach 1870. Die Begriffe vom deutschen
Drama, die also unsere wichtigsten Kulturträger mit herüberbrachten,
stammen noch aus der Zeit, als auf unserem Theater ein blasses Epigonentum
herrschte. Von den aufregenden Kämpfen, die in den letzten vier
Jahrzehnten unsere dramatischen Dichter nicht zur Ruhe kommen ließen und
unseren Geschmack revolutionierten, hat das Deutschtum überm Ozean kaum
einen Hauch verspürt. Was ist begreiflicher, als daß der Leiter eines
deutschen Theaters in Amerika in der Aufstellung seines Repertoirs
möglichst sicher gehen will? Da er mit gutem Grunde befürchten muß, sein
Stammpublikum durch allzuviel Ibsen und Hauptmann zu langweilen, durch
Ernst Hardt und Herbert Eulenberg vor den Kopf zu stoßen und durch Frank
Wedekind zu entrüsten, weil die angelsächsische Geistesenge und Prüderie
bei langem Aufenthalt im Lande schließlich doch auch auf die kecksten
Deutschen abfärbt, so wird er sich darauf beschränken, neben den
Klassikern das harmlose Familienlustspiel und das gesinnungstüchtige
Thesenstück zu geben. Diese dramatische Kost wird nun allerdings auch den
ganz anspruchslos und lammfromm gewordenen Deutsch-Amerikaner nicht zum
entrüsteten Widerspruch reizen; sie wird ihm aber auch nichts zu geben
vermögen, was sein Gemüt in gesunde Wallung bringen und seinem Kopf zu
denken geben könnte. Die sozialen Verhältnisse, auf denen das deutsche
Familienstück beruht, die Konflikte, die durch Standesvorurteile oder
durch spießbürgerliche Beschränktheit entstehen, auch manche
Lieblingsfiguren dieser Gattung, der Schwerenöter in Uniform, der
Backfisch, der schüchterne Kandidat usw. usw., sind ihm gänzlich fremd
geworden. Wie sollten ihn Menschen und Verhältnisse auf der Bühne
interessieren, die er in seiner Umwelt niemals gesehen hat? Neuerdings
sind einzelne deutsche Theaterleiter auf den Ausweg verfallen, auch die
deutsche Operette in ihren Spielplan aufzunehmen. Eine unglücklichere Idee
konnten sie wohl nicht gut auftreiben; denn was gibt es auf theatralischem
Gebiete Abschreckenderes und Jämmerlicheres als eine Operette, mit
unzulänglichen Mitteln dargestellt? Zudem ist in den Vereinigten Staaten
an Operettenbühnen wahrlich kein Mangel, und was Wien an Schlagern
produziert, wird unfehlbar auf diesen Bühnen mit allem Pomp inszeniert und
von den zugkräftigsten Spezialisten dieser Gattung dargestellt. Die
Besonderheit der amerikanischen Operettendarstellung besteht darin, daß in
ihr keiner der Darsteller auch nur eine Minute lang seine Gliedmaßen ruhig
halten kann; jede Note schier wird mit einer Geste begleitet, und sobald
ein flotter Rhythmus einsetzt, beginnen Chor und Solisten mit allen
verfügbaren Extremitäten zu zucken, zu schlenkern, zu stoßen und zu
schleudern – kurz, es ist ein wirbelndes Durcheinander taktmäßig in
Schwung gebrachter Beine und Arme, von verzweifelten Anstrengungen
ausgepumpter Lungen und heiser geschriener Stimmritzen begleitet. Wie arg
nun auch dieser Stil einem gebildeten Geschmack auf die Nerven gehen mag,
er ist einmal der herrschende geworden, und kein seßhafter amerikanischer
Bürger wird sich eine Operette anders vorstellen können, denn als eine
solche prunkvoll inszenierte, herrlich gewandete Universalzappelei mit
Musikbegleitung. Was soll ihm unter solchen Umständen eine deutsche
Operette bieten, die für den Mangel an kostspieliger Inszenierung und
geschmackvoller Kostümierung keineswegs durch glänzende Leistungen des
Orchesters und der Sänger zu entschädigen vermag? Sie kann nur dazu
beitragen, seine Achtung vor dem deutschen Theaterwesen noch mehr
herabzusetzen, als es Klassikervorstellungen mit dürftiger Ausstattung und
mittelmäßigen Schauspielern schon zu Wege gebracht haben. Das Interesse
für deutsches Theater und die Hochachtung vor der Leistungsfähigkeit der
deutschen dramatischen Kunst kann meines Erachtens da drüben nur dadurch
wieder erweckt werden, daß _von Deutschland aus_ große Mittel aufgewendet
werden, um Gastspiele ganz hervorragender Truppen mit allerersten
Schauspielern, bedeutenden Regisseuren und glänzender Ausstattung in den
deutschen Hauptstädten der Union zu ermöglichen. Mit zweiter Garnitur und
mit abgeblaßten Sternen in Dollarica zu arbeiten, hat gar keinen Sinn.
Wenn _Max Reinhardt_ seinen Plan verwirklicht, seinen „Ödipus“, „Faust“
und andere geniale Inszenierungen nach Amerika zu bringen, so wird er ganz
sicher nicht nur gute Geschäfte machen und persönlich einen großartigen
Erfolg erzielen, sondern er wird auch die Ehre der deutschen
theatralischen Kunst wiederherstellen und für die Zukunft eine neue
Möglichkeit schaffen, ein gutes deutsches Theater ständig drüben zu
erhalten. Die Amerikaner wollen zunächst einmal verblüfft sein; es muß
ihnen etwas noch nicht Dagewesenes gebracht werden. Eine Bombenreklame muß
auch das ganze gebildete Publikum _englischer Zunge_ in dies Unternehmen
locken, und dies gesamte Publikum englischer Zunge muß vor Neid bersten
und zu dem Geständnis gezwungen werden, daß es dergleichen in seinem
Theater noch nicht erlebt habe. Und der Stolz auf diesen Neid der Yankees
wird das Solidaritätsgefühl der Deutsch-Amerikaner aufstacheln. Die
Schecks für einen deutschen Theaterfonds werden sich zu einem Berge
aufhäufen, und so gut, wie die jetzigen italienischen Leiter der großen
Oper sich unsere ersten Sänger, Sängerinnen und Kapellmeister
herüberkommen lassen, werden in Zukunft Unternehmer großen Stils die
Mittel besitzen, sich unsere hervorragendsten Regisseure und Schauspieler
zu kaufen. Und wenngleich die große Sensation, die das deutsche Theater in
Mode bringt, von Sophokles und Goethe ausging, so wird sie in der Folge
doch sogar die Denkfaulheit und die Prüderie des amerikanischen
Durchschnittsmenschen besiegen und auch kühnere Neutöner unter den
lebenden Dramatikern zu Worte kommen lassen. Wenn dann gegen den Geist des
deutschen Dramas in den Zeitungen ein ebenso lauter Kampf entbrennt und
ebenso heftig von den Kanzeln gedonnert wird, wie es gegen Richard Strauß’
letzte Opernwerke geschah, so wird manch ein geplagter deutscher
Theaterdirektor seinen Kahn schmunzelnd wieder flott werden sehen, und es
wird sogar – was schließlich doch wohl das Beste dabei ist – wieder ein
tüchtiges Stück Arbeit in der Richtung der kulturellen Germanisierung
Amerikas geleistet werden können.



                        DIE AMERIKANISCHE PRESSE.


In einer Ansprache, die Professor Henry Fairfield Osborn von der Columbia
Universität zum Beginn des Wintersemesters 1910 an seine Studenten
richtete, fand ich folgende höchst bezeichnende Worte über die
amerikanische Presse, die ich hier in Übersetzung geben will: „Einen guten
Maßstab für die Kultur Ihrer Umwelt bildet der Tiefstand, bis zu welchem
Ihre Morgen-Zeitung sich dem Dollar zuliebe prostituiert, ihre
Schattierungen von Gelbheit, ihre Frivolität, ihre Skrupellosigkeit. Mir
scheint es manchmal wirklich besser, überhaupt keine Zeitungen zu lesen,
selbst wenn sie gewissenhaft sind, und zwar wegen ihres Mangels an
Verständnis für die relative Wichtigkeit der Haupterscheinungen des
amerikanischen Lebens. Das Abendblatt, welches am ernsthaftesten über
unser Studentenleben und Treiben berichtet, widmet einem Fußballspiel
sechs Spalten und einer großen wissenschaftlichen Kontroverse zwischen
zwei Hochschulen sechs Zeilen! Das ist der Unterschied zwischen dem, was
sein _sollte_ und dem, was praktisch _ist_. Amerikanische Lorbeeren grünen
für die gigantischen Industriehäuptlinge: wenn das Leben eines solchen
bedroht oder gar ausgelöscht ist, so müssen ganze Morgen herrlichen Waldes
fallen, um das Material zu liefern für das Papier, das notwendig ist, um
seine Verdienste in das gehörige Licht zu setzen, wohingegen unser größter
Astronom und Mathematiker dahingehen kann und vielleicht die Schale eines
einzigen Baumes genügt für die paar kurzen, unauffälligen Sätzchen, die
über seine Krankheit und seinen Tod berichten. Vergleichen Sie einmal die
Ausführungen der britischen und der amerikanischen Presse über einen solch
leicht wiegenden Gegenstand, wie ein internationales Polo: die ersteren
allein sind lesenswert, weil sie von Fachleuten geschrieben sind und unser
Wissen von dem Wesen des Spieles bereichern können. Über einen noch viel
moderneren Gegenstand, die Aviatik, suchen wir in unserer Presse
vergeblich nach irgendeiner soliden Belehrung über die Konstruktion der
Apparate. Oder nehmen wir das Thema der praktischen Politik: der britische
Student findet jede bedeutungsvolle Rede, die in irgendeinem Teil des
Reiches gehalten wurde, in voller Ausführlichkeit in seinem Morgenblatt;
er bekommt also in seiner Eigenschaft als Wähler sein Material aus erster
Hand und nicht, wie wir, in der subjektiven Darstellung des Redakteurs.“

(M53)

Diese Stichprobe aus dem Munde eines hochgebildeten Amerikaners möge mir
als Schild dienen gegen die empörten Anfeindungen amerikanischer
Patrioten, die sonst sicherlich meine geringe Meinung von ihrer Presse als
einen Ausfluß bornierten europäischen Neides hinstellen würden. Jeder
ehrliche und geschmackvolle Mensch wird mir in der Behauptung beistimmen
müssen, daß wir Europäer ein gutes Recht haben, über das kulturelle Niveau
der Bürger der Vereinigten Staaten bedauernd die Achseln zu zucken, so
lange sie sich eine solche Presse gefallen lassen. Professor Osborns
Meinung ist selbstverständlich auch die aller fein empfindenden und für
den guten Ruf ihrer Geisteshöhe besorgten Amerikaner; aber der Umstand,
daß der Geschmack dieser Elite bisher noch nicht imstande gewesen ist,
eine Wendung zum Besseren zu erzwingen, beweist leider, daß der schlechte
Geschmack bei der erdrückenden Mehrheit zu finden sei. So lange der Stand
der Zeitungsverleger noch nicht ausschließlich aus reinen Idealisten
besteht, denen kein Geldopfer groß genug ist zur Hebung des geistigen
Niveaus der Leserwelt, so lange wird selbstverständlich die Zeitung nach
dem Geschmack ihrer Käufer zugeschnitten bleiben. Es gibt ohne Zweifel in
den Vereinigten Staaten reichlich Journalisten, die sowohl Bildung als
stilistisches Geschick genug besäßen, um auch einem erheblich
anspruchsvolleren Publikum zu genügen. Es dünkt mich sogar nicht
unwahrscheinlich, daß in dem Lande der glänzenden Redner, der scharfen,
witzigen Beobachter und schlagfertigen Debatter mehr gute geborene
Journalisten vorhanden sein dürften, als in manchen Ländern der Alten
Welt; wie aber gegenwärtig die Dinge in der amerikanischen Presse liegen,
haben die skrupellosen fixen Reporter das Übergewicht, und die besten
Köpfe und Federn halten sich entweder der Tagespresse fern, oder
schrauben, dem Zwange der Verhältnisse gehorchend, ihr Geistesniveau
absichtlich herunter. Wie die amerikanische Presse nun einmal ist,
erscheint sie in den Augen ernsthafter gebildeter Menschen als für Kinder
und Unmündige zugeschnitten. Selbstverständlich ist drüben, wie
schließlich auch überall in der Alten Welt, ein erheblicher Unterschied
zwischen den solid fundierten, hochangesehenen alten Blättern und der
gelben Sensationspresse modernster Aufmachung zu bemerken; aber das
Betrübliche dabei ist eben, daß das Modernste auch das Schlechteste
bedeutet, und daß die gebieterische Stimme des Publikums auch die besseren
älteren Blätter zwingt, wenigstens in der äußeren Aufmachung sich immer
mehr in jenem schlechten Sinn zu modernisieren.

(M54)

Das sicherste Mittel, eine Tageszeitung herunterzubringen, besteht darin,
sie mit Illustrationen zu versehen. Selbst unsere außerordentlich
fortgeschrittene Technik ist noch nicht imstande, für den Rotationsdruck
auf Zeitungspapier in Massenauflagen künstlerisch wirkende Bilder
herzustellen, abgesehen davon, daß es auch nur in sehr seltenen
Ausnahmefällen möglich sein wird, von Tagesereignissen im Laufe weniger
Stunden flotte künstlerische Handzeichnungen zu erhalten. Es wird sich
also für den Bedarf der Tagespresse immer nur um Photographien handeln
können, die durch irgend ein billiges Verfahren wiedergegeben werden. Was
dabei für den guten Geschmack herauskommt, wenn man den Tagesereignissen
mit dem Kodak nachläuft, jedes Festessen mit Magnesiumblitzen auffängt und
die berühmten Zeitgenossen tückisch im Vorübergehen knipst, das erleben
wir ja seit einer Reihe von Jahren bereits an unseren Wochenschriften.
Immerhin geht es da noch mit einem gelinden Schauder ab, denn die verfügen
wenigstens über ein besseres Papier und mehr Zeit für sorgfältige
technische Wiedergabe; im Hurrdiburr des täglichen Rotationsbetriebes wird
aber aus einer festlich bewegten Volksmenge ein Chaos von Klecksen und aus
der geistvollen Physiognomie eines erstklassigen Gentleman die Karikatur
eines Raubmörders. Mit vollem Rechte sehen wir, wenigstens in Deutschland,
gottlob noch jede illustrierte Tageszeitung für ein Kutscherblatt an, und
der bessere Mensch schämt sich, damit einen geräucherten Hering
einzuwickeln.

(M55)

In der Neuen Welt aber gibt es, so viel mir bewußt, überhaupt keine
unillustrierten Tageszeitungen mehr; selbst die ernsthaftesten Blätter,
die noch auf ihren guten alten Ruf etwas halten, glauben es ihren Lesern
schuldig zu sein, wenigstens Porträts vom Tage und humoristische Beigaben
zu bringen. In den ausdrücklich für den Geschmack der großen Masse
bestimmten Blättern aber sieht man vor lauter Illustrationen bald keinen
Text mehr. Die eigentliche Sensationspresse, drüben die gelbe genannt,
läßt auf ihrer ersten Seite unter lauter schreienden Aufschriften und
Bildern sogar ihren eignen Titelkopf verschwinden! Am oberen Rand der
Zeitung lese ich in Riesenbuchstaben: „_287 Menschen verkohlt_“, oder
„_Rabenmutter läßt sieben Kinder verhungern_“, oder „_Das Arnoldmädchen
mit Liebhaber in Neapel gesehen_“ – wobei zu bemerken ist, daß „das
Arnoldmädchen“ die durchgebrannte Tochter einer hochachtbaren bekannten
Familie ist, die sich durch solch rohes Ausbrüllen ihres Herzeleides wie
öffentlich geohrfeigt vorkommen muß! Dann folgen große Porträts der
Rabenmutter mit den sieben Kindsleichen, wüst hingekleckste Darstellungen
der großen Brandkatastrophe, Aufnahmen des Arnoldmädchens als Baby, als
Schulmädel, als junge Dame, ihrer Eltern und ihres Entführers. Falls der
letztere nicht wirklich von einem Detektiv oder Reporter geknipst werden
konnte, tut es das Bild eines beliebigen anderen jungen Mannes natürlich
auch. Reporternachrichten, wahre und unwahre, Telegramme über das gerade
vorliegende Hauptereignis des Tages aus dem Bereich der Unglücks-,
Verbrechens- oder Skandalchronik füllen die erste und vielleicht auch noch
die zweite Seite aus; nötigenfalls schließen sich hier die Schauer- und
Trauerfälle aus den anderen Teilen der Union und den anderen Weltteilen
an. Jedenfalls bleibt als blamable Tatsache bestehen, daß alle die
Nachrichten, die bei uns unter der Rubrik „Unglücksfälle und Verbrechen“
in möglichst knappen Notizen abgetan und nur von den Armen im Geiste mit
lebhaftem Interesse gelesen werden, drüben an erster Stelle stehen und den
meisten Raum beanspruchen, selbst in Blättern, die für anständig gelten.
Den Sportereignissen werden tagtäglich, winters und sommers, viele, viele
Spalten und massenhafte Illustrationen gewidmet. Auf diese Weise gelangt
schließlich jeder amerikanische Junge, der sich auf dem grünen Felde in
irgendeinem Sport eifrig betätigt, einmal dazu, seine interessanten Züge
in der Zeitung festgehalten zu sehen, und daß das der jugendlichen
Eitelkeit schmeichelt, ist ja begreiflich – weniger begreiflich jedoch,
daß die Nation es nicht müde wird, jahraus, jahrein seine Bills, Bobs,
Dicks, Johns und Jacks zum Frühstück serviert zu kriegen. Alle prominenten
Persönlichkeiten, die gerade irgendwie von sich reden machen, werden
fleißig interviewt und selbstverständlich abgebildet. Mehr oder minder
harmlose Indiskretionen aus dem Leben der gerade im Brennpunkt des
Tagesinteresses stehenden Personen füllen zahlreiche Spalten, und Big Bill
(der Präsident Taft) muß sich’s gefallen lassen, ebenso burschikos
angeulkt zu werden, wie irgendein Brettlstern. Um auch das meist trockene
Gebiet der Politik nicht ganz ohne den Reiz der Illustration zu lassen,
verfällt man auf die seltsamsten Auskunftsmittel. So war um die
Weihnachtszeit 1910 unter den Nachrichten aus dem Weißen Hause _The
Spinster Aunt_ Big Bills, d. h. die Altjungferntante des Präsidenten, im
Bilde zu sehen, welche ihrem lieben Neffen eigenhändig Lebkuchen und
andere Gutseln gebacken hatte; das Paket und einzelne Gutseln waren
gleichfalls abgebildet! Die Politik nimmt in den Sensationsblättern nur in
Zeiten der Wahlkämpfe einen großen Raum ein, und die Sprache, die sie dann
führt, zeichnet sich durch hahnebüchene Derbheit aus; jedes Mittel ist ihr
recht, um den Parteigegner zu verunglimpfen. Sachlich gehaltene,
gedankenvolle Leitartikel findet man nur in den besten Zeitungen. Einen
breiten Raum beansprucht ferner die Rubrik, die bei uns „Hof und
Gesellschaft“ überschrieben zu sein pflegt. Während aber bei uns nur die
regierenden Häuser, der höchste Adel und ganz wenige große
Persönlichkeiten der offiziellen Welt in dem Glashause der Öffentlichkeit
sitzen, berichtet die amerikanische Presse tagtäglich von dem Leben und
Treiben nicht nur ihrer höchsten Beamtenschaft, ihrer Multimillionäre und
Modeberühmtheiten, sondern über alle ihre besser gestellten Mitbürger,
soweit sie ein Haus ausmachen. „Mister und Missis Habakuk J. Flips von
132. Straße W. 385 hatten gestern abend zu Ehren ihrer Tochter Margaret
Blossom, die ihr sechzehntes Lebensjahr erreichte, Gäste eingeladen. Unter
den prominenten Persönlichkeiten bemerkte man ... usw.“ So geht es
spaltenlang fort während der ganzen Saison. Wenn Damen aus der
Gesellschaft für die Wohltätigkeit irgendeine Unterhaltung veranstalten,
so bringt die Presse die Portraits sämtlicher Patronessen und ausführliche
Berichte; ebenso wenn ein bekannter Bürger der Stadt eine große Reise
unternimmt, wenn seine Tochter als Schönheit in der Gesellschaft Aufsehen
erregt, oder sein Sohn beim Fußballspiel einige Rippen eingetreten kriegt,
oder sein zu drei Viertel verkalkter Großvater achtzig Jahre alt wird –
kurz und gut, der Markt der lieben Eitelkeit wird reich beschickt und
trägt zu der fürchterlichen Papiervergeudung, als welche sich das ganze
Preßunwesen darstellt, am meisten bei. Über Theater und Musik kann man
unmittelbar neben den brillant geschriebenen Artikeln feiner Kenner in
weit größerer Ausdehnung das alberne Gewäsch der Reporter finden, ebenso
wie sich auch zwischen allen anderen Spalten unmittelbar neben dem
sachverständigen Urteil des gereiften Fachmannes die zum Urteilen gänzlich
unqualifizierte Volksstimme, das Gänsegeschnatter des Salons und der
blödeste Tratsch der Hintertreppe breit macht. Hat man in dem Wirrsal von
Nichtigkeiten doch einmal einen wirklich fesselnden, bedeutsamen Artikel
erwischt, so wird man wieder des Genusses nicht froh durch die
abscheuliche Gepflogenheit, den Text durch Geschäftsreklamen zu
unterbrechen. Schreibt da ein feiner Kopf über irgendeine brennende, sagen
wir sozialpolitische Frage. Ich folge gespannt den geistvollen
Ausführungen, bis plötzlich in der Mitte der Spalte meine Augen vor einem
Hindernis stutzen, denn da schiebt sich, dick und schwarz umrändert, die
Reklame eines Apothekers für sein neues Abführmittel hinein; oder ich
erbaue mich eben mit innerlichem Schmunzeln an den philosophischen
Aphorismen zur Lebenskunst, die ein witziger Kopf in fein geschliffener
Form zum besten gibt (eine Rubrik hierfür befindet sich in allen besseren
Zeitungen und scheint sehr beliebt zu sein). Plötzlich wird eine reizende
Bosheit über die Liebe durch das sich breit hereindrängende Inserat einer
Bestattungsgesellschaft unterbrochen mit der fett gedruckten Überschritt:
„Wähle dir nie dein Leichenbestattungsgeschäft aus persönlicher
Freundschaft, denn wenn du das tust,“ geht es nun in kleinem Druck weiter,
„so schädigst du erstens den Toten, weil du ihm nicht die erste Qualität
Leichenbestattung zukommen läßt, und lädst zweitens den Hinterbliebenen
eine Schuldenlast auf, für die sie keine Valuta empfangen haben, weil ein
kleines Unternehmen, das jährlich nur wenige Begräbnisse zu liefern hat,
selbstverständlich nicht so reich ausgestattet sein kann, wie ein großes
von unserem Rang, und dennoch viel höhere Preise berechnen muß, weil es ja
auch davon leben will. Unser Institut dagegen liefert ihnen zu billigerem
Preise als irgendein anderes alles, was nur ein liebendes Herz zur
Erweisung der letzten Ehre für seine teuren Verblichenen sich wünschen
kann. Jedermann kann sich bei uns nach seinen eignen Ideen begraben
lassen, wir haben Leute von allen Rassen, Glaubensbekenntnissen und
Bruderschaften zu unserer Verfügung.“ Doppelstrich, – und dann geht es
weiter im Text. So muß ich unglücklicher Zeitungsleser mir meine
Reflexionen über die Liebe durch den unangemeldeten Besuch der
Leichenwäscherin stören lassen; kann keinen Leitartikel bewältigen, ohne
peinlichst an meine angeschoppte Leber, meine verdickte Galle oder
mangelhafte Darmtätigkeit erinnert zu werden, und selbst wenn ich den
harmlosen Roman in der Beilage schmökern will, halten mir die eifrigen
Verkäufer aller möglichen Waren fortwährend ihre Muster mit lautem
Geschrei unter die Nase.

(M56)

Ich kann die aufreizende Wirkung dieser ewigen geschmacklosen
Unterbrechungen nur mit den Gefühlen vergleichen, die das Telephon im
Busen des modernen Menschen auslöst, wenn es ihm rücksichtslos in seinen
Schlaf, in seine Andacht, in sein Nachdenken und seine Liebesfeier
hineinklingelt. Man merkt auch aus dieser Aufmachung der Zeitung, daß der
Durchschnittsamerikaner keinen Anspruch auf Schonung seiner Nerven erhebt.
Er scheint seine Zeitung zu lieben, so wie sie ist, denn er widmet ihr
alle seine freien Augenblicke, selbst während der Geschäftsstunden, und es
ist für den denkenden Europäer höchst verwunderlich zu beobachten, wie
Leute der verschiedensten geistigen Rangklassen, ohne Unterschied des
Alters und Geschlechts, den nämlichen intellektuellen Schlangenfraß
geduldig und sogar wohlig hinunterwürgen. Man traut seinen Augen nicht,
wenn man einen ehrwürdigen Greis, dessen hohe, ausgearbeitete Stirn
beträchtlichen Verstand bezeugt, mit verhaltenem Gekicher die sogenannte
humoristische Ecke seiner Zeitung studieren sieht. In dieser Abteilung
erscheint nämlich, ich weiß nicht seit wieviel Jahrzehnten bereits,
tagtäglich eine Bilderserie von absichtlich unbeholfenen Karikaturen im
Stile unseres „kleinen Moritz“. Die scheußlichen Fratzen, welche sich die
amerikanischen Exzentrikkomiker des Varietés anzuschminken pflegen, fanden
vielleicht ihre ersten Vorbilder in den tonangebenden
Karikaturenzeichnungen der Tagesblätter, und diesen Fratzen hängen Zettel
aus dem Munde, auf denen ihre erschütternd witzigen Aussprüche verzeichnet
stehen. Gewiß können auch solche grotesken Kindereien zur Abwechslung
einmal einen anspruchsvolleren Menschen belustigen – die goldig harmlosen
Dollarikaner aber lassen sich in fast all ihren Blättern tagtäglich diesen
Infantilismus gefallen; Sonntags kriegen sie sogar ganze Seiten davon in
Buntdruck!

Ein wenig begreiflicher wird einem ja allerdings diese kindliche
Anspruchslosigkeit des Geschmacks, wenn man das unbegrenzte Vertrauen, das
der amerikanische Leser in die Allwissenheit seiner Zeitung setzt,
beobachtet. Wer kein Konversationslexikon im Hause hat, telephoniert an
eine beliebige Redaktion und setzt voraus, daß er da eine prompte Auskunft
auf alle erdenklichen Fragen erhält. Die Naivität der guten Leute geht
soweit, daß sie dem Mister Editor sogar ihre Herzensgeheimnisse
anvertrauen und ihn um guten Rat bitten. Manche Zeitungen haben eine eigne
Abteilung für solche vertraulichen Auskünfte, die manchmal in ganz
ernsthaftem Ton gegeben, oft aber auch von dem spaßhaften Redakteur zur
ironischen Verulkung der Einfalt benutzt werden. Ich schlage eine
angesehene Chicagoer Zeitung auf und finde unter der Rubrik „Die Frau und
ihre Interessen“ folgende Anfrage aus dem Leserkreise: „Liebes Fräulein
Libbey!“ – das ist die Redaktrice dieser Abteilung – „Schreiber dieses ist
ein junger Mann, welcher in einer Landstadt lebt und keine Erfahrungen mit
dem schönen Geschlecht hat. Letzte Woche begegnete mir eine junge Dame,
und ich verliebte mich ganz verzweifelt in sie, sie machte mir aber nicht
die geringsten Avancen. Mein Vater ist Besitzer einer Lohnkutscherei in
der Stadt, und ich fahre den Omnibus vom Bahnhof. Wenn diese junge Dame
von mir vom Bahnhof nach ihrer Wohnung gefahren zu werden wünschen sollte,
würden Sie mir raten, sie gratis mitzunehmen? C. A.“

Antwort: „Ja, das könnte Ihnen schon vorwärts helfen.“

Ist das nicht rührend niedlich?

(M57)

Eine allbekannte Eigentümlichkeit der amerikanischen Tageszeitung sind die
_Head lines_ (Kopfzeilen). Die Redaktionen haben einen eignen Mann,
welcher nichts zu tun hat, als die vorliegenden Manuskripte mit solchen
auffallenden, kurz orientierenden Überschriften zu versehen, und dieser
Mann wird gut bezahlt. Der europäische Leser läuft anfangs blau an vor Wut
über diese gräßlichen _Head lines_; er fühlt sich zum Idioten erniedrigt,
weil man durch diese Überschriften, die jeden Artikel alle Nase lang
zusammenfassend unterbrechen, im Grunde genommen doch nur ausdrücken will,
daß man ihn für zu stumpfsinnig halte, als daß er imstande sei, sich
selber über den Hauptinhalt des Gelesenen klar zu werden. Er ärgert sich
noch ganz besonders über die Gepflogenheit der Herren Headliner, bei
Berichten über Äußerungen hervorragender Persönlichkeiten zu Tagesfragen
den Namen des Sprechers weg zu lassen. Da steht also z. B. fett und
gesperrt gedruckt: „_Sagt, Kalifrage nicht schuld_“, und erst in dem in
Diamant- oder gar Perlschrift ohne Durchschuß gesetzten Text erfährt man,
daß es sich um den amerikanischen Botschafter in Berlin handele, der die
Mutmaßung zurückweise, daß seine Haltung in der Kalifrage die Ursache
seiner Abberufung gebildet habe. – Ein Bericht über mein und meiner Frau
Auftreten in einem Universitätshörsaal war beispielsweise überschrieben:
„_Tituliertes Paar produziert sich vor erlesener Hörerschaft_“. Oder ein
Mordbericht ist überschrieben: „_Pfeift Signal aus Liebestagen, tötet
sodann Frau_“. Genug der Beispiele. Aber derselbe Europäer, der anfangs
mit knapper Not dem Schlagfluß entging vor Ärger über so viel Kinderei und
grobe Geschmacklosigkeit, kommt schon nach acht Tagen sicherlich dazu, die
Einrichtung der Headlines zu segnen, denn sie bedeuten tatsächlich den
Ariadnefaden, der allein einen durch das Labyrinth der zu wüsten Haufen
aufgetürmten Tagesneuigkeiten sicher hindurchgeleiten kann. Mit Hilfe der
Headlines ist man nämlich imstande, die umfänglichste Tageszeitung in fünf
Minuten zu erledigen, während man reichlich fünf Stunden brauchen würde,
wenn man den ganzen klein gedruckten Text lesen wollte. Sie sind also im
Grunde eine ungemein menschenfreundliche Einrichtung.

(M58)

Es sei mir gestattet, aus meiner eignen Erfahrung ein kleines Beispiel
dafür anzuführen, was der Amerikaner unter journalistischer _Smartness_
versteht. In St. Louis wurde uns unmittelbar nach unserer Ankunft früh
morgens ein Reporter gemeldet, der uns zu interviewen wünschte. Ich merkte
sehr bald, daß der sympathische, bescheidene junge Mann keinen blassen
Schimmer hatte, wer wir waren, und er gestand auch lächelnd ein, daß ihn
nur der „Baron“ veranlaßt habe, uns so rücksichtslos zu überfallen, ehe
wir uns noch den Schmutz der Nachtfahrt abgespült hatten. Da in jenen
Tagen die Aufführung von Richard Strauß’ „Salome“ in Chicago viel Staub
aufwirbelte, und die Leute von St. Louis mit Spannung darauf warteten, ob
ihr Stadtoberhaupt die Aufführung dieses gotteslästerlichen Werkes
gestatten werde, so brachte ich den netten jungen Mann auf die Idee, mich
über meine Beziehungen zu Strauß und meine Ansicht über „Salome“
auszufragen. Er stenographierte fleißig, und wir brachten, wie mir schien,
ein ganz nettes Feuilleton zustande. Höchst vergnügt zog er mit seiner
Beute ab. Bereits eine Stunde später wurden wir von seiner Redaktion
angeklingelt: da habe ihnen einer ihrer jungen Leute ein ganz blödsinniges
Gewäsch abgeliefert, wir sollten doch die überflüssige Belästigung
entschuldigen und den Besuch eines anderen jungen Herrn ihrer Redaktion
freundlichst empfangen. Bereits nach zehn Minuten erschien dieser
Ins-Reine-Interviewer. Nachdem der schneidige, elegante junge Mann seinen
Kollegen für einen Trottel erklärt hatte, ließ er sich ein Bild von meiner
Frau geben und fragte sie, wie ihr die amerikanischen Männer gefielen, ob
ihr die glattrasierten Gesichter lieber seien als die Schnurrbärte, was
sie von den Humpelröcken halte, ob sie nach dem Westen zu gehen
beabsichtige, ob sie sich nicht vor den Cowboys dort fürchtete – und
dergleichen weltbewegende Wichtigkeiten mehr. In der Nachmittagsausgabe
seines höchst gelben Blattes erschienen bereits Bild und Interview, und es
wurde uns nachher von vielen Leuten bestätigt, daß das Publikum
tatsächlich dergleichen platte Nichtigkeiten sehr gerne lese. Einige Tage
später waren wir zu Gast bei dem Besitzer jener Zeitung. Wir fanden ein
reizendes Heim und eine aus belangreichen Männern und interessanten Frauen
anmutig gemischte Gesellschaft und in der Gattin des Hausherrn eine
hochgebildete, geschmackvolle und fein empfindende Dame.

(M59)

Ich glaube, aus dieser und manchen ähnlichen Erfahrung schließen zu
dürfen, daß der Tiefstand der amerikanischen Presse durchaus nicht immer
einen Rückschluß zulasse auf mangelhafte Befähigung der amerikanischen
Journalisten. Im Gegenteil: diese Damen und Herren verfügen nicht selten
über eine sehr gute Bildung, über eine höchst gewandte Feder, einen
schlagfertigen Witz, und es wäre sehr wohl möglich, mit denselben
Mitarbeitern auch eine nach unserem Geschmack gute Zeitung herzustellen.
In allem Technischen ist uns die amerikanische Presse sogar vielfach
überlegen. Die Schnelligkeit der Berichterstattung und besonders die
Schnelligkeit in der Herstellung dieser, an Umfang unsere Tagesblätter
meist weit übertreffenden Zeitungen sind ganz erstaunlich, und die Art und
Weise, wie die Zeitung oft tatkräftig in öffentliche Angelegenheiten von
Bedeutung eingreift, und wie sich bei solchen Gelegenheiten der Journalist
zum Volksmanne großen Stiles, zum erfolgreichen Anwalt der Verkannten und
Unterdrückten entwickelt, kann uns nur mit aufrichtiger Hochachtung
erfüllen. Ich brauche wohl nur die Namen _New-York Herald_ und _Henry M.
Stanley_ zu nennen! Es betätigen sich eben im Journalismus nicht nur
Leute, „die ihren Beruf verfehlt haben,“ nicht nur Klugschwätzer und
Geistprotzen, sondern auch Tatmenschen, Willensgenies – weil sie wissen,
daß aus einem Journalisten alles werden kann: ein Nordpol-Entdecker, ein
Sherlok-Holmes, ein Theatertrustmagnat, ein Präsident der Republik!
Unserer deutschen Eitelkeit ist es besonders schmeichelhaft, daß unter den
hervorragendsten Journalisten englischer Feder sich auch zahlreiche
deutsche Einwanderer befinden. Der anerkannt beste Musikkritiker New Yorks
ist ein Deutscher; in dem am _Boston Transcript_, einer in geistigen
Dingen führenden Tageszeitung, angestellten Redakteur für literarische
Angelegenheiten entdeckte ich einen ehemaligen Wiener Feuilletonisten; er
schreibt jetzt, wie viele seiner Landsleute im Journalismus und im
Lehrfache, ein vorbildliches Englisch. Wenn solchen reichen Möglichkeiten
zum Trotz dennoch das allgemeine Niveau der Tagespresse so erschreckend
niedrig ist, so sind daran in der Hauptsache doch wohl nur die Verleger
schuld, die sich an das gefährliche Goethewort halten: „Wer vieles bringt,
wird manchem etwas bringen.“

Eine Zeitung für jedermann aus dem Volke kann es aber vernünftigerweise
überhaupt nicht geben; denn was das Herz eines Waschweibes erfreut,
bedeutet für einen denkenden Menschen eine schwere Beleidigung, was eine
weltkluge Frau von reifem Verstande lebhaft interessiert, langweilt
vielleicht einen aufgeweckten Ladenschwung zum Gähnen usw. usw. Eine
Zeitung kann ungemein erziehlich wirken nicht nur für den Geschmack,
sondern auch für die guten Sitten und sogar für das Denkvermögen ihrer
Leser, indem sie allgemein verständlich schreibt, ohne sich jedoch zu dem
Geschmack und dem beschränkten Begriffsvermögen der geistig Minderwertigen
herabzulassen, indem sie den niedrigen Instinkten der Masse keine
Konzessionen macht und den Erbärmlichkeiten gegenüber, die die Wogen des
Lebens tagtäglich ans Ufer der Öffentlichkeit schleudern, gewissermaßen
die Funktionen der Gesundheitspolizei ausübt, dadurch daß sie alle übel
riechenden Materien diskret entfernt oder wenigstens desinfiziert und zum
Nutzen der allgemeinen Moral chemisch verarbeitet. Die jämmerliche
Liebedienerei, welche fast die gesamte amerikanische Tagespresse der Masse
gegenüber betreibt, wirkt jedoch als schweres Kulturhemmnis,
geschmacksverderbend und sogar demoralisierend. Daß sie, wie ich in den
Ausführungen über öffentliche und private Moral bereits hervorhob, trotz
ihrer indiskreten Zudringlichkeit, vor der selbst die zartesten
Geheimnisse des Familienlebens nicht sicher sind, geschlechtlichen Dingen
gegenüber eine geradezu ängstlich prüde Zurückhaltung ausübt, verringert
die moralischen Gefahren, die sie heraufbeschwört, nicht im geringsten,
wenn anders man zugibt, daß Moral keineswegs im Nichtswissen um die
Natürlichkeiten des Geschlechtslebens besteht, sondern darin, daß man
seinen Mitmenschen gegenüber eine anständige Gesinnung betätigt und seine
schlechten Triebe in strenge Zucht nimmt. Wer den Instinkt der Masse zum
obersten Richter über die Moral und den gesunden Menschenverstand zum
Minister der geistigen Angelegenheiten einsetzt, der trägt notwendig zur
Verflachung der Kultur bei. Und wer einmal vor dem Mob eine etwas zu tiefe
Verbeugung gemacht hat, dem setzt er sich leicht auf den Nacken und reitet
ihn in den Sumpf der tödlichsten Trivialität hinein. Es ist sehr schwer,
sich da wieder herauszurappeln.

(M60)

Auch dafür liefert uns die amerikanische Presse ein warnendes Beispiel;
anstatt daß nämlich, um die Geringwertigkeit des täglichen Massenfutters
auszugleichen, die Wochen- und Monatsschriften nun erst recht auf
nahrhafte Qualität der von ihnen aufgetischten Geistesspeise ausgingen,
sehen wir sie vielmehr fast samt und sonders von dem bösen Beispiel der
Tagespresse angesteckt. Auch ihr Feldgeschrei lautet: Sensation um jeden
Preis! Ich weiß nicht, ob es ein einziges Blatt in Amerika gibt, das
absichtlich den Kreis seiner Leser einschränkte, um zwanglos zu einer
Gemeinde von Auserwählten sprechen zu dürfen. Weil der Hunger nach
Sensation, durch die schlechte Presse geflissentlich genährt, nunmehr
bereits eine Charaktereigenschaft des ganzen Volkes geworden ist, so
glauben ihm heute auch die guten, alten Wochen- und Monatsschriften
Rechnung tragen zu müssen, wenn es auch nur mit einem einzigen Artikel
wäre. Wenn man den Herausgebern daraus einen Vorwurf macht, so erwidern
sie einem achselzuckend: „Ja, dieses einen Artikels wegen wird aber unsere
Zeitschrift gekauft; bringen wir ihn nicht, so schnappt uns die Konkurrenz
die Leser weg.“ Dieser eine Sensationsartikel, der zum Ärger
geschmackvoller Menschen die Physiognomie einer sonst vornehmen
Zeitschrift verschandelt wie eine behaarte Warze das Antlitz einer feinen,
liebenswürdigen Matrone, wird bezogen aus dem Reiche des Schwindels, der
literarischen Hochstapelei, er wird eingegeben vom Neid, von der
Rachsucht, vom Cynismus derer, die nichts mehr zu verlieren haben. Während
meiner Anwesenheit in den Vereinigten Staaten brachte so eine angesehene
Zeitschrift einen Artikel, in welchem behauptet wurde, daß in New York
täglich etliche hunderttausend Stück faule Eier importiert würden, und daß
sämtliche Zuckerbäcker ihre appetitlichen Süßigkeiten grundsätzlich nur
aus faulen Eiern herstellten! Und eine Monatsschrift von noch älterem Rufe
entwarf ein schaudererregendes Bild von der lebensgefährlichen Ignoranz
der amerikanischen Ärzte, insonderheit der Chirurgen. Da wurde als
Beispiel erzählt, daß ein Chirurg mit großer Praxis eine Reise ins Ausland
unternehmen wollte und seine Patienten einem älteren, angesehenen Kollegen
empfahl; darunter eine Dame, an der er eine Blinddarmoperation ausgeführt
hatte, die aber neuerdings wieder über Schmerzen klagte. Der ältere
Kollege habe die Dame untersucht und beim besten Willen keine andere
Diagnose als Blinddarmentzündung stellen können. Schließlich sei der
Zustand der Dame so besorgniserregend geworden, daß sie selber auf eine
nochmalige Operation bestanden habe. Dabei zeigte sich, daß der Blinddarm,
und zwar in scheußlicher Verfassung, noch vorhanden war. Als der jüngere
Kollege dann zurückkehrte und von dem sonderbaren Ergebnis der Operation
erfuhr, habe er totenblaß ausgerufen: „Mein Gott, was habe _ich_ dann da
der Dame herausgeschnitten!?“ Ich müßte mich sehr täuschen, wenn ich
diesen Scherz nicht schon vor dreißig Jahren in Deutschland gehört hätte;
aber er genügte, gehörig aufgefrischt, um die sämtlichen medizinischen
Fakultäten, die ganze Ärzteschaft der Vereinigten Staaten mobil zu machen
und einen erbitterten Kampf der Meinungen zu entfachen, von dem jene
tüchtige alte Monatsschrift schmunzelnd den Profit einstrich. Man sieht
aus diesen Beispielen, daß sich der Sensationsgier zuliebe selbst die für
die geistige Oberschicht arbeitende Presse kein Gewissen daraus macht, mit
der Ehre des Einzelnen, eines ganzen Standes, eines Berufs oder gar der
ganzen Nation ein frivoles Spiel zu treiben. Die Entschuldigung dafür
klingt freilich plausibel genug: „Was wollen Sie?“ sagen einem die
Herausgeber, „die Wissenden täuschen wir ja doch nicht mit solchem Bluff,
die amüsieren sich nur darüber, und im übrigen wird so unendlich viel
gedruckt und gelesen, daß das Publikum es ja doch nicht alles behalten
kann. Wenn also die ärgsten Lügen wirklich einmal nicht einwandfrei
dementiert werden sollten, so vergißt sie das Publikum doch sicher über
der nächsten Sensation. Wo bleibt also der große Schaden, den wir stiften
sollen?“

Es muß allerdings zugegeben werden, daß unter den besonderen
amerikanischen Verhältnissen der Schaden vielleicht geringer ist, als er
bei uns in Deutschland sein würde, weil dort verhältnismäßig nur wenige
Menschen auf ein Blatt abonniert sind. Der Großstädter zumal kauft sich
seine Zeitung und selbst seine Wochen- und Monatsschrift auf der Straße,
und zwar heute die und morgen jene, wie es der Zufall will. Er lernt also
die politischen Tagesfragen heute in republikanischer, morgen in
demokratischer Betrachtung kennen; er sieht heute rot, morgen blau und
übermorgen gelb – wenn er noch seinen eignen grünen Optimismus hinzutut,
ergibt die Mischung nach dem Newtonschen Gesetz schließlich doch das Weiß
der reinen Wahrheit! Die Gefahr der Verblödung durch die Presse ist also
schließlich doch nicht so groß, wenigstens für den an sich schon freieren
Geist. Gesetzt aber selbst den Fall, daß unter den etlichen 90 Millionen
Menschen, welche die Vereinigten Staaten bevölkern, nur wenige Tausend
noch auf dem kindlichen Standpunkt stehen sollten, alles, was gedruckt
ist, für wahr zu halten, so bliebe noch immer die ungeheure Blamage vor
der übrigen gebildeten Welt, welche doch nicht gut umhin kann, die
Intelligenz und den Geschmack der ganzen Nation nach der Presse zu
beurteilen, die sie sich gefallen läßt.

(M61)

Es sei übrigens nachdrücklich betont, daß wenigstens ein Teil der
deutschen Presse Amerikas, und besonders der führenden Blätter New Yorks,
sich die redlichste Mühe gibt, sich über den Standard der englischen
Presse zu erheben. In den großen deutschen Zeitungen findet man, besonders
über das Ausland, eine bei weitem ausführlichere und zuverlässigere
Berichterstattung, als selbst in der guten englischen Presse. Und was
beispielsweise die New Yorker Staatszeitung in ihrem Sonntagsblatt an
Belehrungs- und Unterhaltungsstoff bietet, wird an Qualität und Quantität
von keiner unserer Zeitungen erreicht. Aber freilich: die große Mehrzahl
der deutschen Einwanderer amerikanisiert sich überraschend schnell in
Dingen des Ungeschmacks und der oberflächlichen Neugier, und so zwingt der
Selbsterhaltungstrieb auch die deutschen Blätter, manchen betrüblichen
Unfug mitzumachen. Die Frage ist nun die: ist es überhaupt möglich, diesem
rapiden Herabsinken Einhalt zu gebieten in einem großen demokratischen
Freistaat, in dem die Masse sich zum allmächtigen Tyrannen aufgeschwungen
hat? Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, daß es die natürliche Tendenz
jeder menschlichen Gemeinschaft sei, eine Aristokratie aus sich heraus zu
entwickeln. Nun, ich sehe auch die Vereinigten Staaten auf dem besten Wege
dazu. Die Zeit muß kommen, wo diese Aristokratie zahlreich und stark genug
ist, um die geistige Führung an sich zu reißen. Eine aristokratische
Kultur aber läßt sich eine kulturlose Presse nicht gefallen. Die gebildete
Welt wird die Amerikaner erst dann unter die Kulturvölker rechnen, wenn
sie eine Presse besitzen, die es sich zur heiligen Aufgabe macht, den
Geschmack der Masse zu vergewaltigen.



                   VON DER DEMOKRATISCHEN GESELLSCHAFT.


(M62)

Deutsche Auswanderer, die in den Vereinigten Staaten zu Wohlstand gelangt
sind, und es sich leisten können, von Zeit zu Zeit die alte Heimat zu
besuchen, versichern einen in weitaus den meisten Fällen, daß sie mit
staunender Genugtuung den großen Aufschwung des Vaterlandes in
wirtschaftlicher, verkehrstechnischer, wissenschaftlicher und
künstlerischer Beziehung wahrgenommen, daß sie mit stiller Rührung so
manche treu behütete Wahrzeichen der Vergangenheit, liebenswürdige alte
Sitten und Gebräuche, feuchtfröhliche Kneipwinkel und traute Gemütlichkeit
im Familienheim wieder gefunden und ihre Heimatliebe dadurch gestärkt
hätten. Wenn man sie aber dann fragt, ob sie denn das alles nicht in der
Neuen Welt schmerzlich vermißten und ihr Leben nicht lieber mehr oder
minder bescheiden, jedenfalls aber in der ruhigen Behaglichkeit des
Rentners in der alten Heimat beschließen wollten, da bekommt man fast
immer zur Antwort: „Nein, Wurzel fassen könnte ich auch in dem üppigen
modernen Deutschland nicht mehr. So sehr ihr auch fortgeschritten seid, so
habt ihr doch noch keine Ahnung von der wahren demokratischen Freiheit.
Ihr fühlt euch immer noch als Untertanen, und es scheint euch vollständig
in der Ordnung, euch euer ganzes Leben lang von euren großen und kleinen
Fürsten, von Adel und Geistlichkeit, von euren geschwollenen Beamten und
aufdringlich neugierigen Polizeiorganen grob oder sanft stupfen, gängeln
und behüten zu lassen. Euer Dasein ist nach wie vor umzäunt von Warnungs-
und Verordnungstafeln, der freie Entschluß und die freie Meinung trauen
sich immer noch nicht recht heraus, ihr wartet immer noch auf Erlaubnis
oder Befehl von oben, anstatt auf Biegen oder Brechen dem Unheil Trotz zu
bieten. Die Disziplin und Ordnung bei euch ist ja eine ganz schöne Sache,
aber die behagliche Ruhe, die sie bieten, muß doch mit zu viel
Demütigungen des Selbstbewußtseins erkauft werden. Eure gesellschaftlichen
Einrichtungen erscheinen uns Republikanern nun vollends lächerlich und
unerträglich, denn ihr habt ja noch kaum angefangen, mit den unmöglichsten
Standesvorurteilen und dem engherzigsten alten Kastengeist aufzuräumen.
Das sind die Gründe, weshalb ein Mensch, der etliche Jahrzehnte lang die
Luft echter demokratischer Freiheit geatmet hat, im alten Vaterlande nicht
mehr heimisch werden kann.“ Und dann werden einem allerlei blamabel
komische Reiseerlebnisse aufgetischt, die dieses Urteil über unsere
Unfreiheit erhärten sollen: polizeiliche Meldeformulare, welche nicht nur
Namen, Stand und Herkunft, sondern auch Alter, Religion und Zweck des
Aufenthalts des Reisenden zu wissen begehren, das Zusammenknicken
schnauzender Beamten vor einer Leutnantsuniform, die aufgeregte
Wichtigtuerei des Mannes mit der roten Mütze, der mit Papieren in der Hand
auf dem Bahnsteig hin und her rennt und seine Lunge anstrengt wie ein
Brigadegeneral, um einen harmlosen Personenzug abzufertigen; die komische
Angst der Gastgeber vor Verstößen gegen die Rangordnung bei Einladungen in
ihr Haus, die Einbeziehung der Frauen in diese Rangordnung, die
umständlichen Höflichkeitsbezeigungen wildfremder Menschen gegeneinander –
und was dergleichen niedliche Reliquien aus jammervoller deutscher Vorzeit
mehr sind.

Das stimmt alles, und wir haben kein Recht, es dem Ausländer zu verübeln,
wenn er diese Dinge bei uns mit ironischer Heiterkeit oder gar mit
bitterem Zorn bemerkt. Die Frage ist für uns nur die: lebt man in der
demokratischen Gesellschaft der größten amerikanischen Republik wirklich
so sehr viel freier? Und ist es überhaupt möglich, ein friedliches
Nebeneinanderleben von Menschen, eine öffentliche Ordnung, Sicherung des
Lebens und Eigentums, eine Entwicklung von Gesittung zu schaffen ohne
Gesetze, welche die absolute Freiheit des einzelnen beschränken und ohne
Gewaltmittel, durch welche diesen Gesetzen Achtung verschafft wird? Die
republikanische Regierung der Vereinigten Staaten hat diese Frage sehr
energisch verneint. Ich wüßte nicht, wo in der Welt mehr und eifriger
Gesetze fabriziert würden, als gerade in der Union, wo nicht nur im
Senatspalast von Washington, sondern in den Kapitalen sämtlicher 44
Bundesstaaten, jahrein, jahraus Paragraphen geschmiedet werden, die
wiederum durch die lokalen Verordnungen der einzelnen Gemeinwesen
weitgehende Ergänzungen erfahren. Gewiß, unsere Verordnungswut, unsere
kleinliche Polizeischikane verderben uns manche schöne Stunde und reizen
die Galle öfter als das Zwerchfell – aber ist das drüben so sehr viel
besser? Wenn der Zug die Grenze eines Prohibitionsstaates passiert, reißt
mir der Schwarze im Speisewagen das Bierglas vom Munde weg; in Wisconsin
mache ich mich strafbar, wenn ich jemandem eine Zigarette anbiete; in
Boston werde ich in den Kerker geworfen, wenn ich auf der Straße
ausspucke, auf der New-Yorker Untergrundbahn mit schwerer Geldstrafe
belegt, wenn ich mich auf dem Bahnsteig mit einer glimmenden Zigarre sehen
lasse; wenn ich ein schönes Mädchen bewundernd anblicke, riskiere ich,
durchgeprügelt zu werden, und wenn ich das Opernhaus anders als im Frack
und weißer Weste betrete, werde ich durch verächtliche Blicke in den Boden
gebohrt. In der demokratischen Gesellschaft gibt es angeblich keinen
Unterschied der Stände, und diese allgemeine Gleichheit soll ihren
deutlichsten Ausdruck darin finden, daß auf der Eisenbahn nur eine einzige
Wagenklasse für alle vorhanden ist. Dieser Grundsatz ist aber in Wahrheit
nur bei langsamen Lokalzügen durchgeführt, die der „bessere Mensch“ ja
doch selten benutzt, weil er sein eignes Auto hat. Sobald ich aber weite
Strecken fahren will, denke ich nicht im Traume daran, mich mit Arbeitern,
Chinesen, Negern, gummikauenden Ladenmädchen und Viehtreibern in die Car
mit den gräßlich engen Sitzen aus schmutzigem Strohgeflecht zu setzen,
sondern ich bezahle meinen Zuschlag am Schalter der Pullman-Gesellschaft
und erwerbe mir damit das Anrecht, in einem großen luftigen, schön
ausgestatteten Salonwagen einen bequemen drehbaren Polstersessel zu
benutzen und an den besonderen Luxuseinrichtungen, wie Wasch- und
Rauchkabinett, Speisewagen, Büfettwagen mit Schreibgelegenheit und
reichhaltige Journalauswahl nach Belieben teilzunehmen. Hier kann ich
sicher sein, mich in Gesellschaft reinlicher, gut gekleideter,
manierlicher und wohlhabender Menschen zu bewegen, gerade so gut oder
besser, als wenn ich in Deutschland zweiter Klasse führe. Fühle ich mich
aber so außerordentlich _prominent_, daß mir auch diese Gesellschaft noch
zu ordinär ist, gehöre ich also nach deutschen Begriffen zu den
_erstklassigen_ Menschen, so lege ich noch ein paar Dollar zu und kaufe
mir dafür ein _Compartement_, d. h. einen abgeschlossenen, bequemen Raum
innerhalb des großen Pullman-Wagens, in dem ich über üppige Salonmöbel
verfüge und nachts auch allein schlafen kann, während die Leute zweiter
Klasse, Männlein und Weiblein pêle-mêle, der Länge nach hinter einem
grünen Vorhang übereinander geschichtet und sorgfältig von der frischen
Luft abgeschlossen werden. Selbstverständlich kann man es, ebenso wie bei
uns, einem Protzenbauer in dreckigen Schmierstiefeln nicht verwehren, wenn
es ihm Spaß macht, für sein Geld erster Klasse zu fahren. Wenn aber drüben
etwa ein Cowboy in verwegenem Räuberaufzug sich für seine zerknitterten
Greenbacks (Dollarscheine) einen Platz im Pullman-Wagen leistet, so wird
er sich in der manierlichen Gesellschaft, in der er weder rauchen noch
spucken darf, bald genug ungemütlich fühlen und ganz bescheiden in den
Rauchwagen abschieben, wo die Sitten freier sind. Ist das nun etwas
anderes wie unser Dreiklassensystem? Wir mit unserer dünkelhaften
Verachtung des Proletariers schufen sogar noch eine vierte Klasse für die
Leute mit der ganz schmalen Börse – die Eisenbahnkönige im Lande der
Freiheit und Gleichheit denken aber natürlich nicht daran, diesem
Bettelpack zuliebe ganz billige Fahrgelegenheiten einzuführen. Daß – in
den Südstaaten wenigstens – Neger in der Eisen- und selbst in der
Straßenbahn im besonderen Wagen fahren müssen, ist ja eine weltbekannte,
echt demokratische Einrichtung.

(M63)

Man sieht aus diesen wenigen Beispielen, daß auch in der großen Republik
dafür gesorgt ist, daß der freie Kulturmensch sich hie und da an
Gesetzestafeln Beulen stößt und wegen lächerlicher Bevormundung gerade so
schön die Kränke kriegen kann, wie bei uns. Wenn wir näher zusehen,
welchen Mächten es denn zu danken sei, daß wir drüben nicht vor lauter
Freiheit allzu übermütig werden, so stoßen wir in den meisten Fällen auf –
_die alte Tante_! Ich für meinen Teil muß gestehen, daß mir diese alte
Tante, welche, mit einer Axt und mit einer Bibel bewaffnet, Türen
einschlägt, Schnapsflaschen demoliert, gesetzgebenden Körperschaften die
Fenster des Sitzungssaales einschmeißt und am liebsten alle freie
Fröhlichkeit durch ihr sauertöpfisches Geplärr ersticken möchte, bei
weitem unsympathischer ist, als unsere grimmigsten Polizeigewaltigen. Das
ist überhaupt die üble Kehrseite der ritterlichen Frauenverehrung bei den
Amerikanern, daß sie so leicht vor den verrücktesten Anschlägen boshafter
und beschränkter alter Weiber zu Kreuze kriecht, sobald sie im Namen der
Religion oder der Sittlichkeit unternommen werden. Denn es ist dieselbe
bösartige alte Tante, welche mich zwingt, mein gutes Diner in einem
erstklassigen Hotel wie das liebe Vieh mit Wasser hinunter zu spülen, oder
mir ein harmloses Glas Bier durch eine Lüge zu erschleichen(3), dieselbe
auch, welche mir an meinen freien Sonntagen die Theater vor der Nase
zusperrt, mir jede schöne künstlerische Nacktheit mit Feigenblättern
verschandelt und sogar meine Lektüre kontrolliert, indem sie die Tore des
Freistaates gegen die Einfuhr „freier“ Bücher verschließt und dem
einheimischen Schriftsteller nicht gestattet, seine Feder Dinge und
Gedankenkreise berühren zu lassen, die _sie_ für anstößig erklärt! Daß
diese biedere Tante mit ihrem frommen Eifer weder die Trunk- noch die
Vergnügungssucht, noch gar Kunst und Wissenschaft gänzlich auszurotten
vermag, versteht sich von selbst; ihr Erfolg besteht darin, daß sie eine
scheußliche und lächerliche Heuchelei züchtet und auf künstlerischem und
wissenschaftlichem Gebiete die freie Entwicklung immerhin beträchtlich
hemmt. Da es dem Bürger der Vereinigten Staaten an so vielen Plätzen
verboten ist, seinen Durst mit alkoholischem Naß zu löschen, so verlernt
er die guten Sitten im Umgang mit geistigen Getränken und berauscht sich
bei verschlossenen Türen an konzentrierten Giften. Da ihm Sonntags der
Genuß des Schauspiels wie der Oper versagt ist, die Gesetzgeber aber doch
nicht so unmenschlich sein wollen, um Leute, die nur Sonntags Zeit haben,
ganz und gar von dieser unter Umständen sogar bildenden Unterhaltung
auszuschließen, verfielen sie auf den Ausweg, theatralische Vorstellungen
unter dem Namen _Sacred Concert_ zu gestatten, wobei aber Kostüm und Tanz
fortfallen müssen. Zu meiner Zeit wurde im deutschen Theater in New York
am Sonntag nachmittag „Madame Bonivard“, der französische Schwank von der
alten Balletteuse, als _geistliches Konzert_ gegeben!

(M64)

Und wenn die Amerikaner behaupten, daß es einen Kastengeist oder überhaupt
gesellschaftliche Vorurteile bei ihnen nicht gebe, so muß ich mir
erlauben, auch dahinter ein großes Fragezeichen zu machen. Die Abkommen
der Knickerbockers, der True Virginians oder gar der biederen Londoner
Handwerker, die 1620 mit der „Mayflower“ landeten, entwickeln einen
Adelstick, der unsere blaublütigsten ostelbischen Junker neidisch machen
könnte. Ganz natürlich: denn ein Amerikaner, der seine Großeltern noch
kennt, ist schon ein leidlich vornehmer Mensch, da es ja ihrer viele gibt,
die kaum wissen, wes Standes und Landes ihre Eltern waren. Folglich
rechnen sich Leute, deren Ureltern schon Amerikaner waren, schon zum hohen
Adel, selbst wenn diese Herrschaften Viehräuber gewesen sein und am Galgen
geendet haben sollten. Die Nachkommen namhafter Kolonisatoren und Pioniere
genießen ganz folgerichtig eine Verehrung, wie bei uns kaum die Sprossen
königlicher Häuser. Da aber dieser Adel nicht durch Titel äußerlich
erkennbar ist, so sorgt er durch strengste Absperrung seines
gesellschaftlichen Kreises dafür, daß er nicht mit der Krapüle verwechselt
werden kann. Es ist schwerer in die Gesellschaft der sogenannten
Vierhundert hineinzukommen, als an den Höfen europäischer Kaiser und
Könige Zutritt erhalten. Und geradeso wie unsere Potentaten von den
Hofgeschichtsschreibern Fälschungen und Unterschlagungen begehen lassen,
um unangenehme Eigenschaften ihrer Vorfahren vergessen zu machen, so
scheuen die Vanderbilts, Jay Goulds, Astors usw. keine Kosten, um
unangenehme Veröffentlichungen über ihre Ahnen zu hintertreiben.
Nachschlagewerke wie „Wer ist wer?“ spielen drüben eine Rolle wie bei uns
der „Gotha“. Die guten alten Familien schütteln ihre Bekanntschaften durch
sieben Siebe, bevor sie sie ihres näheren Umganges würdigen, und die
Emporkömmlinge, mögen sie auch Millionen schwer sein, kennen kein höheres
Ziel ihres Ehrgeizes, als eine Einladung in eines dieser erlauchten Häuser
zu erreichen oder wenigstens irgend einen ihrer jüngeren Prinzen oder
Prinzessinnen bei sich zu sehen. Orden und Titel gibt es drüben offiziell
nicht, dafür recken sich aber die guten Leute in den Theater- und
Konzertsälen die Hälse aus, um die funkelnden Dekorationen der Herren
Diplomaten zu bestaunen und schmücken ihre Knopflöcher mit Vereinszeichen
in Gestalt blitzender Sternchen und Kreuzchen, die unseren Miniaturorden
von weitem wenigstens sehr ähnlich sehen. Und jeder Bürger, der durch sein
geschäftliches Glück oder durch eine gute Karriere unter die Prominenten
geraten ist, trägt eifrig dafür Sorge, so oft wie irgend möglich in den
Zeitungen erwähnt, abgebildet und interviewt zu werden, weil das seine
gesellschaftliche Stellung ungemein erhöht. Die guten Republikaner
scheinen ein vortreffliches Gedächtnis sowohl für die
Zeitungsberühmtheiten wie für die Familienverhältnisse aller ihrer großen
Tiere zu haben, denn in den besseren Kreisen wissen sie alle und besonders
die Damen ganz genau, mit wem man anstandshalber verkehren kann und mit
wem nicht. Sie haben ihre Liste der _möglichen_ Menschen so sicher im
Kopfe wie bei uns nur die Damen der exklusivsten Kreise, deren Evangelium
die Rangliste und das Gothaische Taschenbuch ist. Der Unterschied von
hüben und drüben ist also nicht gar so groß – nur daß die europäischen
Raubritter doch wenigstens ursprünglich Sprossen erlesensten Blutes waren
und nur durch die Not, die Rauheit der Zeiten zur Räuberei verführt
wurden. Drüben war aber doch meistens der Raubinstinkt das Primäre und
wurde durch den Besitz eher gesteigert als vermindert. Zum Erwerben von
ungeheuren Vermögen gehört neben hervorragender Klugheit, Beharrlichkeit,
Phantasie und Wagemut noch immer eine große Portion Rücksichts- und
Gewissenlosigkeit. In einer Gesellschaft von Abenteurern, Spielern und
Gewaltmenschen wurde das Diebsgenie begreiflicherweise mehr bewundert als
jedes andere. _Pluckyness_ ist heute noch ein höchstes Lob für einen
Amerikaner, und wer die Dummheit anderer nicht ausnutzt, der gilt ihm für
einen Schwachkopf. Wer diese Seite der amerikanischen Lebensauffassung mit
Hochgenuß studieren will, der lese die kürzlich erschienenen Memoiren des
alten Gauners Drew(4). Darin kommt eine köstliche Anekdote vor, wie er
einstens den alten ehrlichen Jakob Astor hineinlegte. Drew hatte eine gute
Gelegenheit benutzt und für ein Spottgeld eine ganze Herde höchst
minderwertigen Rindviehs gekauft. Er trieb sie selbst bis nahe vor New
York und ließ die armen Tiere in den letzten zwei Tagen Salz lecken und
erbärmlich Durst leiden. Dann ersuchte er Jakob Astor, hinauszukommen und
sich seine kapitalen Tiere anzusehen. Eine Stunde vor Ankunft des
mißtrauischen alten Geschäftsfreundes ließ er seine Herde saufen, saufen,
saufen, bis sie mit ihren prallen Wasserbäuchen eine unerhört strotzende
Gesundheit vortäuschte. Astor fiel darauf herein und bezahlte ihm einen
glänzenden Preis. Dieses Schwindelmanöver hat eine sozusagen klassische
Berühmtheit erlangt, und man nennt seither den Trick, Aktien durch
Vortäuschung großer Rentabilität bei gesundem finanziellem Fundament in
die Höhe zu treiben „_Watering the stock_“ die Herde wässern – denn das
Wort _stock_ bedeutet sowohl Aktie wie Herde. – Natürlich fällt es mir gar
nicht ein, den Yankees aus ihren undemokratischen Gelüsten einen Vorwurf
machen zu wollen; ich sehe vielmehr darin nur eine Bestätigung meiner
Überzeugung, daß das Streben nach Züchtung einer Aristokratie ein
Naturgesetz sei. Der gesunde Ehrgeiz, der zum Vorwärts- und Hochkommen
anspornt, saugt seine Nahrung aus dem Naturtriebe aller stärkeren,
wertvolleren Menschen, sich von den minderwertigen Schwächlingen
abzusondern.

(M65)

Es war mir sehr interessant, die Klage eines New Yorker Führers der
Sozialdemokratie zu vernehmen, daß es in den Vereinigten Staaten so
außerordentlich schwer sei, die Partei hoch zu bringen, weil die Leute
keine Disziplin halten wollten. Da liegt der Hase im Pfeffer. Bei uns
bekämpft die Sozialdemokratie den Militarismus aufs grimmigste – und
dennoch verdankt sie einzig und allein diesem Militarismus ihren
gewaltigen Erfolg in der Gegenwart. Der militärische Drill sitzt seit etwa
fünf Generationen unserem Volke im Blut und hat es zum Disziplinhalten
erzogen; dem freien Bürger der Vereinigten Staaten aber ist nichts auf der
Welt so verhaßt als wie Disziplin. Obwohl drüben die Herdeninstinkte noch
viel stärker wirken als bei uns, weil erst eine alte Kultur zu
weitgehender Differenzierung der Persönlichkeit führt, so ist doch jeder
Einzelne als Republikaner viel eifersüchtiger auf seine persönliche
Freiheit als bei uns. Schon im Kapitel über die Dienstbotenfrage habe ich
diesen Punkt berührt. Fast noch deutlicher tritt diese republikanische
Eitelkeit, wie ich es nennen möchte, in der Frage der Rekrutierung des
stehenden Heeres zutage. Die Armee wird vom amerikanischen Patriotismus
naiv glorifiziert und liebenswürdig verhätschelt. Es braucht nur ein
Bataillon mit klingendem Spiel durch die Straßen zu ziehen, und alles ist
tief gerührt vor nationaler Begeisterung – aber dienen will niemand, und
die allgemeine Wehrpflicht scheint undurchführbar. Die Regierung sieht
sich gezwungen, an dem alten Werbesystem festzuhalten. Riesige Plakate
müssen mit schreienden Farben die Söhne des Vaterlandes zum Heeresdienst
verlocken. Da sieht man unter azurblauem Himmel, im Schatten von Palmen
und Sykomoren, ein lustiges Zeltlager aufgeschlagen und liebestrahlende
Offiziere, den Arm in väterlichem Wohlwollen um die Schultern gemeiner
Soldaten gelegt, in freundschaftlich belehrendem Gespräch einherwandeln;
und auf den Schmuckplätzen großer Städte etablieren sich Feldwebel und
harren unter ähnlichen vielversprechenden Plakaten der jungen Leute, die
es gelüstet, dem Vaterlande als Soldat zu dienen. Diese Werber müssen
reden können wie die Versicherungsagenten und Weinreisenden. Sie stecken
voll lustiger Schwänke und sind nicht so leicht unter den Tisch zu trinken
– denn Freund Alkohol muß meistens ein übriges tun, um den schwankenden
Heldenjüngling soweit zu bringen, daß er Handgeld annimmt. Übrigens
versprechen die Werber kaum zu viel, denn so gut wie der amerikanische
dürfte es schwerlich ein anderer Soldat der Welt haben. Auf Manneszucht
wird freilich streng gehalten, und im Dienst werden die Kräfte gehörig
angespannt, aber dafür wird auch der gemeine Mann wie ein anständiger
Mensch behandelt und durch ausgezeichnete Verpflegung, musterhafte
hygienische Einrichtungen und Vorkehrungen für Unterhaltung und Erholung
dafür gesorgt, daß er nicht von Kräften komme und bei guter Laune bleibe.
Die Liebenswürdigkeit eines prächtigen, fein gebildeten Kavallerieobersten
in Columbus (Ohio) ließ mich einen Einblick in das Kasernenleben tun.
Jeder Mann hat ein blitzsauberes, behagliches Bett, jeder seine eigne
Waschgelegenheit, sein Wannen- oder Brausebad, so oft er will, und wenn er
krank ist in dem mit allen modernen Errungenschaften ausgestatteten
Hospital die denkbar sorgfältigste Pflege. Sein Dinner nimmt er abends um
6 Uhr in einer eigens dafür bestimmten großen Halle mit den Kameraden ein
und sitzt dabei ordentlich am Tisch, wird von hierzu kommandierten
Kameraden bedient und bekommt bei jedem Gang Geschirr und Besteck
gewechselt. Ich nahm an einem solchen Dinner teil, und da gab es eine
vorzügliche Reissuppe, Hamburger Beefsteaks mit Bohnengemüse und hinterher
anständigen Kaffee mit delikatem Weißbrot. Selbstverständlich haben sie
auch ihr eignes Feld zum Football- und Baseball-Spiel. Mit ihrem
Griffeklopfen und ihrem Parademarsch ist es allerdings nach altpreußischen
Begriffen nicht weit her, dafür wird aber die Entschlußfähigkeit des
einzelnen Mannes, die Gewandtheit und Ausdauer im Felddienst mit bestem
Erfolge anerzogen. Daß die Löhnung eine ungleich viel bessere ist als bei
uns, ist wohl selbstverständlich. Der amerikanische Soldat könnte also den
unsrigen höchstens in dem einen Punkte beneiden, daß er keine so bunte und
blitzende Uniform zur Schau tragen darf. Dafür ist die seinige aber auch
viel bequemer als die unsrige und außerdem ein sichererer Schutz als der
festeste Küraß, denn ihre staubgraue Farbe macht den Mann schon in einer
Entfernung von etwa 300 Meter völlig dem Erdboden gleich. Die Frau Oberst
erzählte mir, daß sie eines schönen Tages ihren Gatten vom Reitplatz habe
abholen wollen und nicht wenig erschrocken gewesen sei, als sie, auf etwa
350 Meter herangekommen, das Pferd, das der Herr Oberst an jenem Morgen
bestiegen hatte, reiterlos im Karriere durch die Bahn jagen sah. Von Angst
beflügelt, sei sie vorwärts gestürzt und – nach ein paar Minuten sei der
schmerzlich Vermißte erst schattengleich, dann immer deutlicher und
kompakter wieder auf dem Rücken seines Pferdes erschienen. Es würde also
aus der Höhe eines beobachtenden Flugzeuges zum Beispiel von einer
amerikanischen Armee unter Umständen überhaupt nichts zu sehen sein. Doch
dies nur nebenbei.

(M66)

Die Frage, ob eine noch so wohl gehaltene und gut ausgebildete
Söldnertruppe einem großen, intelligent geleiteten Volksheer gegenüber
standzuhalten vermöge, wird über kurz oder lang doch einmal zur
Entscheidung kommen, denn es ist allgemein bekannt, daß die Japs ein
äußerst begehrliches Auge auf Kalifornien gerichtet halten. Als die
amerikanische Flotte im Jahre 1910 ihre Demonstrationsfahrt um das Kap
Horn nach Japan unternahm, erkannte der amerikanische Admiral unter den
ihm zur Begrüßung entgegengeschickten hohen Würdenträgern des japanischen
Marineministeriums zu seinem nicht geringen Schreck das harmlos
freundliche Gesicht eines Mannes, der längere Zeit bei ihm als Gärtner
angestellt gewesen war! Sie sind die verteufeltsten Spione der Welt, sie
wissen tatsächlich alles und verstehen es vortrefflich, ihre Pläne von
langer Hand vorzubereiten und ganz versteckt zu intrigieren. Eingeweihte
behaupten, daß die pacifischen Republiken Südamerikas schon alle durch die
Versprechungen der Japaner für deren Zwecke eingefangen und bereit seien,
beim ersten Versuch der Japaner sich der pacifischen Küste zu bemächtigen,
dem großen Bruder in den Rücken und in die Flanke zu fallen. Gelingt es
aber den Gelben wirklich, sich in Kalifornien festzusetzen, dann würde es
eine überaus schwierige Aufgabe sein, sie wieder hinaus zu jagen. Denn es
gibt über die Rocky Mountains nur fünf einigermaßen gangbare Pässe, die
militärisch leicht zuzuschließen sind. Nur angesichts eines solchen
nationalen Unglücks würde die glühende Vaterlandsliebe der Amerikaner sich
zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht hinreißen lassen. Ich glaube,
sie wäre ein Segen für das Volk; denn der Mangel an Disziplin, an
persönlicher Opferwilligkeit macht sich überall als Hemmnis für den
Fortschritt wahrer Zivilisation bemerkbar. Eine Disziplin aber, die im
Blute sitzt, und nicht etwa, wie in Rußland, durch Angst und Schrecken
mühsam aufrecht erhalten werden muß, schafft überhaupt erst die
Vorbedingungen für das segensreiche Wirken freiheitlicher Ideen und
Einrichtungen.

(M67)

Die Freiheit, welche die Bürger der Vereinigten Staaten tatsächlich vor
uns voraus haben, und um die wir sie heute noch beneiden müssen, besteht
also keineswegs in der verlockenden Disziplinlosigkeit, in der frivolen
Verhöhnung der Gesetze und in der geringen Empfindung für die Wichtigkeit
einer ängstlich gewissenhaften Aufrechterhaltung der Standes- und
Berufsehre, als vielmehr darin, daß drüben tatsächlich jede Energie, jedes
Talent freie Bahn zum Auswirken besitzt. Wer etwas kann und etwas weiß,
wer Arbeitskraft und Eifer an den Tag legt, wer etwas Neues zu sagen hat,
der kann sicher sein, ein Feld für Betätigung seiner Kräfte zu finden,
Ohren, die auf ihn hören und Hände, die ihm vorwärts helfen. Gute
Zeugnisse, gute Familienbeziehungen, einflußreiche Gönner und ererbtes
Betriebskapital sind selbstverständlich auch drüben eine wertvolle
Vorbedingung; aber der wirklich Tüchtige kann auch ohne all das sicher
sein, vorwärts zu kommen. Bei uns hat sich die offizielle Welt mit
dünkelhafter Ängstlichkeit einen hohen Zaun um ihren geheiligten Bezirk
errichtet und sieht es schadenfroh mit an, wie so mancher temperamentvoll
Einlaßheischende sich an diesem Zaun seinen guten Kopf einrennt und
gewandte Kletterer sich wenigstens die Hosen daran zerreißen; das Beste an
der demokratischen Freiheit ist es, daß sie einen solchen Bretterzaun
zwischen Regierung und „Untertan“, zwischen Behörde und Publikum nicht
duldet. Bei uns stecken die Regierenden immer noch in der Anschauung fest,
daß nicht sie des Volkes wegen, sondern im Gegenteil das Volk ihretwegen
da sei; dagegen entspringt aus dem Bewußtsein des freien Bürgers, daß
nicht er regiert werde, sondern vielmehr sich für sein Geld eine Regierung
nach seinem Geschmack leisten könne, jenes Herrenbewußtsein, das die wahre
Menschenwürde erst zur rechten Blüte bringt. Dieses Herrenbewußtsein ist
aber auch der grimmigste Feind aller Duckmäuserei, Neidhammelei,
Nörgelsucht und aller sonstigen Laster geborener Philisterseelen. Jene
beiden, bei uns leider immer noch recht zahlreichen Typen des Spießertums,
nämlich einerseits der untertänigst vor jeder Art Obrigkeit ersterbende
und wunschlos zufriedene und andererseits der noch viel häufigere, auf
alles schimpfende und doch nie zur Selbsthülfe greifende Spießer dürften
in den Vereinigten Staaten nicht einmal in den ödesten Kleinstädten zu
finden sein. In der Luft der Freiheit gedeihen die Tugenden der wahren
Noblesse: Wagemut, Hochherzigkeit, Freigebigkeit, Zutrauen zum guten
Willen des Nebenmenschen. Man begegnet diesen Herrentugenden überall in
der Öffentlichkeit, nicht nur in den großartigen Organisationen der
Wohltätigkeit, der Erziehung, der Fürsorge für die physisch und moralisch
Kranken, in den königlichen Stiftungen der Milliardäre, sondern in vielen
kleinen Zügen, die beweisen, daß auch der ärmste dieser freien Bürger an
jenen Tugenden teil hat. So wird beispielsweise in dem Lande, das für die
genialen Diebe großen Stils so viel lächelndes Verständnis übrig hat, das
auf der Straße liegende Eigentum des Nächsten auffallend respektiert. Wenn
der Zeitungsjunge austreten oder seinen Lunch einnehmen will, so legt er
seinen Packen ruhig auf das Trottoir. Wer unterdessen eine Zeitung kaufen
will, nimmt sich eine von dem Haufen und legt seine zwei Cent oben drauf.
Man hört nie davon, daß sich jemand an dem angesammelten Kleingeld
vergriff; wenn der Briefkasten voll ist oder der Spalt für Drucksachen und
dergleichen zu eng, so legt man einfach seine Postsachen oben drauf, und
keinem kommt der Gedanke, daß sie da fortgenommen werden könnten; ja noch
mehr: man sieht in den Straßen massenhaft herrenlose Automobile
herumstehen, denn bei der Kostspieligkeit der Dienstboten können sich nur
sehr reiche Leute einen Chauffeur leisten; im Winter sind die Vergaser der
Maschinen oft mit wertvollen Decken und Teppichen vor der Kälte geschützt
– und man hört selten oder nie davon, daß ein Auto oder auch nur eine
solche Decke von der Straße weg gestohlen worden wäre. Bei hellichtem Tage
bandenweise in einen Laden oder in einen _Saloon_ einfallen und Inhaber
wie Kunden ausplündern, das ist guter Sport, das ist fesch, würde der
Wiener sagen; aber von der Straße etwas fortnehmen, das ist gemeiner
Vertrauensmißbrauch, das tut nicht einmal der Lumpenproletarier. Der
Kleine, der sich von dem Großen geschädigt und schlecht behandelt fühlt,
setzt sich energisch zur Wehr. Der Arbeiter ist leicht mit dem Streik bei
der Hand, wenn er die großen Geldsäcke allzu zugeknöpft findet. Aber es
fällt ihm nicht ein, den Arbeitgeber zu hassen und grimmig zu beneiden um
seinen Überfluß. Weiß er doch von so vielen dieser schwer reichen Herren,
daß sie ganz klein angefangen haben; folglich nimmt er an, daß die Kerle
eben einen guten Kopf, Fleiß, Energie und Glück gehabt haben – ihm selber
oder seinen Kindern mag es ja ebenfalls gelingen, es so weit zu bringen.
Warum nicht? Die Bahn ist ja frei! Das ist auch ein Grund, weshalb der
Weizen des Sozialismus drüben nicht blühen will.

Ob man wohl unsere Regierung dazu bewegen könnte, einige Schiffsladungen
voll Philister, Spießer, Paragraphenreiter, Schulfüchse,
Bureaukratsbürsten und Einfaltspinsel hinüber zu schaffen, um bei Bruder
Jonathan einen mehrjährigen Kursus zwecks Charakterverbesserung
durchzumachen?



           WIE DER YANKEE SEINE RECHNUNG MIT DEM HIMMEL MACHT.


Es war eine der klügsten Maßnahmen der Unionsbegründer, daß sie in ihrer
Verfassung die Trennung von Kirche und Staat aussprachen. Wie überall in
der Welt, so hatte auch in den ersten Jahrhunderten der Besiedelung
Nordamerikas die Verquickung des religiösen Elements mit der Politik die
übelsten Folgen gehabt. Die bischöfliche Kirche Englands, die papistische
wie die protestantische, hatte natürlich versucht, ihre Herrschaft auch
auf die amerikanischen Kolonisten auszudehnen und dadurch den unseligen
Religionshader in die neue Welt verpflanzt. Die Pilgerväter, das heißt
jene fanatischen Puritaner, die in der ersten Hälfte des siebzehnten
Jahrhunderts die sogenannten Neuenglandstaaten besiedelten, hatten sich
weit unduldsamer erwiesen als selbst die römische Pfaffenherrschaft in den
spanischen Südstaaten. Sie wären am liebsten mit Inquisition und
Scheiterhaufen gegen alles, was ihnen ketzerisch erschien, vorgegangen.
Aber wie diese Pilgerväter über dem Psalmsingen und Ketzerriechen doch
niemals vergaßen, ihre weltlichen Geschäfte als geriebene Kaufleute
intensiv zu fördern, so ließ sich auch der vielgerühmte _Common __sence_
ihrer angelsächsischen Rasse selbst durch religiöse Inbrunst nicht völlig
unterdrücken. Die stupiden Glaubensverfolgungen hatten tiefgehende
Spaltungen, verbitterte Feindschaften zwischen den in dem jungen
Kolonialreich doch so sehr auf gegenseitige Hilfsbereitschaft und festen
Zusammenhalt angewiesenen Bürgern erzeugt. Neugegründete Städte und
Staaten wurden entvölkert, abtrünnige Sektierer fanden großen Zulauf und
gründeten neue Gemeinwesen, die sich zu bedrohlichen Konkurrenten der
alten Puritanersiedelungen entwickelten. Als nun gar der kleine Freistaat
Maine, der als erster völlige Religionsfreiheit eingeführt hatte,
auffällig rasch emporblühte, begannen doch auch den starren Puritanern die
Augen aufzugehen.

(M68)

Und so kam es, daß nach der gewaltsamen Losreißung vom alten Vaterlande
die Trennung von Kirche und Staat von der Bundesregierung zum Grundsatz
erhoben wurde. Im Artikel 1 des Anhangs zur Konstitution von 1778 ist
dieser Grundsatz festgelegt, und seit dieser Zeit kann tatsächlich in den
Vereinigten Staaten jeder nach seiner Fasson selig werden. Die
Staatsgewalt schreitet nur ein in dem Falle, daß die Grundsätze einer
Religionsgemeinschaft den Gesetzen zuwiderlaufen, wie zum Beispiel die
Vielehe bei den Mormonen. Außerdem hat sie in weiser Voraussicht der
Ansammlung übermäßigen Kirchensvermögen Grenzen gesetzt. Die Folge dieser
Entfesselung der Religion war eine Spaltung des Protestantismus in
unzählige Sekten, die aber keineswegs eine Schwächung, sondern vielmehr
eine Stärkung des religiösen Lebens bedeuten. Philosophisches und
besonders kritisches Genie ist dem Yankeevolke durchaus abzusprechen,
dagegen besitzt es einen starken Hang zur Phantastik, ja auch
Begeisterungsfähigkeit und Inbrunst. Das Volk ist in seiner Allgemeinheit
heute noch kindlich denkunreif, und so erklärt es sich, daß die Bibel ihm
noch durchweg als Offenbarungsquelle dient. Natürlich aber liest jedes
grüblerisch veranlagte Individuum aus dieser Offenbarung etwas anderes
heraus. Und wer Beredsamkeit und Zähigkeit genug besitzt, vermag Anhänger
um sich zu scharen und eine unabhängige Gemeinde zu gründen. Die
Opferwilligkeit, die dazu gehört, eine solche Gemeinde, Sekte oder Kirche
(_Denomination_) aus eigenen Mitteln zu unterhalten, legt beredtes Zeugnis
ab für die Stärke des religiösen Bedürfnisses. Freigeister in unserem
Sinne gibt es bei den Yankees nur sehr wenige, und am Christentum selbst
hat noch niemand von ihnen ernsthafte Kritik geübt. Die Tradition hat die
Bibelgläubigkeit der Vorväter so lebendig erhalten, daß es heute noch,
ebenso wie in England, ein oberstes Gesetz gesellschaftlichen Anstandes
geblieben ist, seinen Eifer für das Christentum irgendwie zu betätigen.
Dieser Eifer aber tut sich etwas auf seine Freiheit zugute und nimmt daher
oft die wunderlichsten Formen an. Die katholische Kirche dagegen hält fest
zusammen wie überall und gibt kein Titelchen von ihren Dogmen preis. Sie
gründet ihre Macht auf das irische Element und erhält ständigen Zuwachs
durch italienische, polnische und slawische Einwanderer. Klug, wie sie
ist, trägt sie dem in der demokratischen Luft sehr bald auch bei den
geistig minderwertigsten Einwanderern üppig ins Kraut schießenden Stolz
auf die persönliche Freiheit Rechnung und mischt sich nicht so
aufdringlich wie in Europa in Privatangelegenheiten; politisch dagegen
versucht sie mit allen möglichen Mitteln Einfluß zu gewinnen. Die
bedeutsamste politische Verbindung der katholischen Irländer, die bekannte
Tammany Hall im Staate New-York, übt offensichtlich eine große politische
Macht aus. Ob es ihr aber wirklich gelingt, ihre Hauptabsicht, katholische
Irländer in die wichtigsten Staatsstellungen zu bringen, in gefährlicher
Weise zu betätigen, darüber gehen die Meinungen bei den Amerikanern selbst
sehr weit auseinander. Es ist doch wohl nicht anzunehmen, daß der
nüchterne, praktische Yankee, wo es sein staatsbürgerliches Wohlbefinden
und seinen Geldbeutel angeht, sich von konfessionellen Quertreibereien
übers Ohr hauen lassen sollte.

(M69)

Obwohl der Grundgedanke des Christentums entschieden demokratisch ist, so
ist doch in der demokratischen Republik gerade die Kirche der Boden, wo
sich aristokratische Absonderungsbestrebungen am lebhaftesten betätigen.
Selbstverständlich wird in sämtlichen Kirchen und Betsälen Nordamerikas –
man zählt gegenwärtig, wenn ich recht berichtet bin, 86, nach anderer
Quelle sogar gegen 200 verschiedene Bekenntnisse – der christliche
Grundsatz gepredigt, daß vor Gott alle Menschen gleich seien; in
Wirklichkeit ist aber beispielsweise die bischöfliche Hochkirche nur für
die Reichen und Vornehmen vorhanden. In ihren prächtigen Kathedralen
kostet das Abonnement auf einen Sitzplatz sicherlich so viel wie das auf
einen ersten Rangplatz in der großen Oper. Ein beliebiger Mensch der
minder gut gekleideten Klasse, dem es einfallen wollte, im vorübergehen in
solch eine Kirche einzukehren, würde nicht nur schwerlich einen Sitzplatz
finden, sondern sich auch durch die entrüsteten Blicke der Stammgäste
energisch hinausgeekelt fühlen. Die Geistlichen dieser Kirche sind feine
Weltleute, verkehren in der vornehmsten Gesellschaft und verdanken ihre
Karriere häufig ihren glänzenden Eigenschaften als Tischredner,
Bridgespieler, Musikdilettanten und Tänzer. Die Kirche der geistigen
Aristokratie, der wohl der größte Teil der akademischen Welt angehört, ist
die _Unitarian Church_. Diese hat alle Dogmen beiseite geworfen und nur
den ethischen Gehalt der Bergpredigt als Richtung gebend beibehalten. Sie
treibt keinerlei Kult mit dem starren Bibelwort und sucht die Themen für
ihre Sonntagsbetrachtungen gerne bei den Dichtern und Philosophen,
vornehmlich bei ihrem berühmtesten Mitgliede Ralph Waldo Emerson. Den
größten religiösen Eifer entfalten natürlich die kleineren Denominationen,
deren Prediger oft die seltsamsten Mittel zum Seelenfang anwenden. Die
Berichte, die zuweilen nach Europa dringen von Geistlichen, die ihre
Gemeinde mit Schokolade und Icecreme bewirten, vergnügte musikalisch
deklamatorische Unterhaltungen oder schweißtreibende Leibesübungen
veranstalten, beziehen sich wohl nur auf solche Sekten, die auf den
Geschmack des kleinen Mannes spekulieren und daher auch in ihrer Reklame
dem Hange des amerikanischen Humors zu grotesker Übertreibung Rechnung
tragen müssen. Am spaßhaftesten muß es wohl in den Negerkirchen zugehen.
Wer jemals eine Probe der geistlichen Gesänge der Nigger gehört hat, deren
Eigentümlichkeit es ist, die biblischen Geschichten sowie die Vorstellung
von Himmel und Hölle mit ganz modernen Zutaten, aus dem Bereich der
Technik etwa, auszustatten, der wird sich auch eine Vorstellung von der
Weihe eines Negergottesdienstes machen können. Der Rhythmus afrikanischer
Kriegs- und Geisterbeschwörungstänze sitzt diesem kindhaft gebliebenen
Volke eben noch so fest in den Knochen, daß auch seine religiösen Gefühle
bis auf den heutigen Tag noch in diesem Takte schwingen.

(M70)

Um einen Begriff von dem Ton dieser religiösen Niggerpoesie zu geben, habe
ich versucht, einige solche Kirchenlieder zu übersetzen, wobei freilich zu
bedenken ist, daß die Eigentümlichkeiten des Negerdialektes schon darum
jeder Wiedergabe in Deutsch spotten, weil wir ja bei uns kein Negerdeutsch
kennen. Eines dieser Lieder aus der Zeit der Sklaverei lautet
folgendermaßen: „Jossua fit de battle ob de Jerico“.

  Josua, der schlug die Schlacht bei Jericho – so froh!
  Ei, Josua, der schlug die Schlacht bei Jericho –
  und die Mauern purzeln um – glatt um!

  Kommt Brüder, in die Wildnis, wo der Sturm heult, laßt uns eilen,
  da soll da heilig Bibelwort uns unsern Kummer heilen.
  Wir wählen uns zum Text – die Deutung, die liegt nah:
  „Der Herr rief: Moses, Moses! – und der Mann sprach: Ich bin da!“
              O Daniel!
  Ei, Josua, der schlug die Schlacht bei Jericho,
  und die Mauern purzeln um, glatt um.

    Nu, oll’ Pharo von Ägypten – klüger war kein Mensch gebor’n –
  und er kriegt die Judenkinder ’ran zur Arbeit in sei’m Korn.
  Schließlich ließ der Herrgott sagen durch den Moses, seinen Knecht,
  daß der Pharo diese Juden schleunigst laufen lassen möcht’.
              O Daniel usw.

    Sollt er aber dies verweigern! – o verdammt – dann ging’s ihm schlimm.
  Auf Ägypten wollt er leeren kübelweise seinen Grimm.
  So geschah’s. Und Pharos Heere waren keinen Dreier wert.
  Also, merkt, mit seinen Kindern heute noch der Herr verfährt.
              O Daniel usw.

    Tolle Sachen dreht der Herrgott – und nicht nur in alter Zeit,
  nicht für Israel nur – Mitchristen, nein, die Hilfe ist nicht weit!
  Seine Liebe reicht für uns noch ... so, nun lauft nicht und verpetzt
  mich meinem Massa, daß die Predigt euch zum Muckschen aufgehetzt.
              O Daniel usw.

Besonders interessant ist es, daß, wie auch in den ältesten Zeiten des
Volksliedes der europäischen Kulturländer, das eigentlich sinnvolle
Gedicht von einem Solosänger vorgetragen wird, während der Chor sich durch
ganz aus dem Zusammenhang fallende Ausrufe und Kehrreime beteiligt. In
obigem Lied singt also der Chor: so froh – glatt um – o Daniel – und
wiederholt am Schlusse jedes Verses die außer Zusammenhang mit dem Inhalt
stehenden Einleitungszeilen: „Josua, der schlug die Schlacht bei Jericho“.

Ein anderes Lied, das in einen festen Rhythmus zu pressen ich mich
vergeblich bemüht habe, lautet höchst charakteristisch:

                               Der Vorsänger:
  O der Gänsekiel kratzt in dem Kontobuch des Herrn –
  Mein Herr schreibt meine Zeit ein.
  Wie im Schwanze des Opossums, sind auf deinem Schädel auch
  alle Haare dir gezählt. Weißt du das nicht?
  Oder meinst du, daß der Herr, der sie schuf, nicht einen Hecht
  von ’nem Walfisch unterscheiden sollte können?

                                   Chor:
  Sündige also lieber nicht, wenn du nicht magst Strafe zahlen,
  denn mein Herrgott schreibt es ein.

                                 Vorsänger:
  Und das Hauptbuch, das ich meine, das ist Gottes Weltgericht –
  mein Herrgott schreibt meine Zeit ein.
  Du erwarte nicht vom Nachbar, daß er deiner Seele durchhilft,
  deine Sünden müssen braten wie die Hühnchen auf dem Hofe.

                                   Chor:
  Also sündige lieber nicht usw.

In einem anderen Liede wird den armen Sündern angeraten, sich ja
rechtzeitig einen guten Platz in dem Autobus nach dem Himmel zu belegen,
denn der Andrang sei gerade in diesen Tagen enorm.

Es wäre aber ein großer Irrtum, anzunehmen, daß die groteske Form dieser
religiösen Gesänge nur der Lust der Nigger an kindischer Spaßmacherei
zuzuschreiben sei; sie sind im Gegenteil durchaus ernst gemeint und werden
von den weniger kultivierten Schwarzen auch heutigestags noch nicht als
komisch empfunden. Die meisten und eigenartigsten dieser Lieder stammen ja
aus der Zeit der Sklaverei; es sind Naturlaute verängstigter Seelen in
armen gequälten Leibern. Und die religiöse Inbrunst, die aus ihnen
spricht, ist mindestens ebenso echt wie diejenige der Heilsarmeepoesie.
Übrigens stellen diese alten Plantagenlieder so ziemlich das einzige dar,
was die Vereinigten Staaten an wirklicher Volkspoesie hervorgebracht
haben, sowie auch die Negermusik die einzige originelle musikalische
Neubildung auf amerikanischem Boden bedeutet.

(M71)

Das weiße Gegenstück zu der halbwilden Gottestrunkenheit der Schwarzen ist
die Heilsarmee, die Kirche der Allerärmsten und Untersten. Zeichnen sich
ihre Kultformen schon in Europa nicht gerade durch guten Geschmack aus, so
erreicht diese Geschmacklosigkeit in Amerika schon geradezu kannibalische
Dimensionen. Die Nigger sind wenigstens durchweg musikalisch und verfügen
oft sogar über sehr gute Singstimmen und geschickte Instrumentalisten.
Außerdem paßt der rasche Rhythmus ihrer geistlichen Gesänge, die Vorliebe
für die alttestamentarische Legende und die phantastische Ausmalung von
Himmel und Hölle vortrefflich zu ihren schwarzen, wüsten Gesichtern mit
den sanften schwärmerischen Augen. Wenn aber weiße Menschen unter einem
nördlichen Himmelsstrich ihre religiösen Gefühle in der Form einer mehr
als barbarischen Musikübung mit grauenhaftem Gesang und mißtönender
Pauken- und Trompetenbegleitung auf offener Straße ausüben und sich in
ihren Predigten wie ihren Gesängen eines Jargons bedienen, der weder für
den hohen Schwung der alttestamentlichen Sprache noch für die schlichte
Tiefe der evangelischen Darstellung das geringste Verständnis besitzt, so
muß einen Kulturmenschen wirklich das Grausen anwandeln. Kein sozial
fühlender Mensch wird dem idealen Zweck der Heilsarmee seine Hochachtung
versagen; sie allein von allen religiösen Gemeinschaften hat es vermocht,
den natürlichen Ekel jedes gesitteten Menschen vor der schmutzigen
Verkommenheit, dem stinkenden Laster und dem jämmerlichsten Elend zu
überwinden; sie allein wagt sich mutig unter den Auswurf der Menschheit
und ringt sozusagen Brust an Brust um die Seelen der Verworfensten; sie
speist ihre Geretteten nicht nur mit trostreichen Worten ab, sondern sie
gibt ihnen Brot und Arbeit und verhilft so manchem schon gänzlich
Verzweifelten, von der Gesellschaft völlig aufgegebenen doch noch zu einem
menschenwürdigen Dasein. Der große Erfolg, den sie auf der ganzen
christlichen Erde aufzuweisen hat, beweist, daß sie sich auf die
Psychologie jener alleruntersten Schichten, auf die sie es abgesehen hat,
versteht, und daß die sinnfälligen Gewaltmittel, die sie bei ihrer
Propaganda anwendet, die richtigen sind.

Gerade diese Erkenntnis ist es aber, die dem kultivierten Menschenfreund
so grausam ins Herz schneidet. So weit haben wir es also mit unserer
gepriesenen Zivilisation, mit unserer Religion der Liebe, mit unserer
Aufklärung durch die Schule und unserer bewundernswürdigen sozialen
Hilfsarbeit gebracht, daß in unseren prunkenden Weltstädten überall noch
Tausende und aber Tausende von Mitmenschen vorhanden sind, denen nur mit
fratzenhaftem Teufelsspuk und mehr als kindlichen Seeligkeitsvorstellungen
beizukommen ist! In den Vereinigten Staaten leistet zudem die organisierte
Wohltätigkeit vielleicht mehr als in irgendeinem Lande der alten Welt. Die
_Legal Aid Society_ zum Beispiel gewährt den Ärmsten und Unwissendsten
unentgeltlichen Rechtsbeistand; die Bemühungen um die Besserung erblich
belasteter Verbrechernaturen, um den Schutz entlassener Strafgefangener
gegen das Zurückgleiten in ihr früheres Leben haben großartige Erfolge
aufzuweisen und zeugen von tiefer Menschenkenntnis und echter
Menschenliebe – und dennoch, dennoch findet die Heilsarmee mit ihrer
scheußlichen Bum-Bum-Reklame gerade dort noch so viel zu tun!

(M72)

Wenn man die Verbreitung und die laute Betätigung der Heilsarmee als
Maßstab für die Gesittung eines Volkes annimmt, so müßte in dieser
Beziehung das Volk der Vereinigten Staaten am tiefsten von allen Völkern
stehen. Ich meine aber, daß dieser Maßstab doch vielleicht zu einem
ungerechten Urteil verführt: nicht im Volkscharakter als solchem liegt
wohl die größere sittliche Verkommenheit, sondern diese ist nur eine
Folgeerscheinung des unerhört raschen Emporschießens einer rein
technischen Zivilisation und des dadurch geförderten unnatürlichen raschen
Wachstums der Städte. In der kleinen Landgemeinde findet einer am andern
Halt, und die unmittelbare Berührung mit der erhabenen Natur, mit der zu
Nachdenken und Andacht stimmenden Einsamkeit bietet auch dem Ärmsten edle
Freuden – Seelenfrieden wenigstens –, während in der Großstadt alle diese
idealen Güter nur für die Besitzenden vorhanden sind. Der Arme dagegen
verliert in der Hetzjagd des Daseinskampfes jene innere Ruhe und wird so
fast unausweichlich in einen krassen Materialismus hineingetrieben. Je
mehr sich Riesenvermögen in den Händen weniger zusammenfinden, je mehr
eine glänzende Luxuskultur sich in der Öffentlichkeit breit macht, desto
sicherer verfällt der Besitzlose und dabei geistig Unkultivierte der
Verrohung. Es ist das eine Tatsache, die ein vernichtendes Urteil über den
Kulturwert des technischen Fortschrittes in sich schließt. Die Arbeiter,
die in steter Berührung mit den erstaunlichsten Erfindungen des
Menschengeistes sind, die ihnen die Bändigung der Naturkräfte durch
unseren Verstand und die subtilsten Nachahmungen eines lebendigen
Organismus durch einen wunderbaren Mechanismus tagtäglich vor Augen
führen, gewinnen von diesem Umgang weder für ihre Verstandesbildung noch
für die Bereicherung ihres sittlichen Empfindens. Das einzige, was
allenfalls dabei herausspringen kann, wäre für gut veranlagte Köpfe der
Anreiz zu erfinderischer Eigenbetätigung. Ebensowenig wird der Herr der
Maschine, der Arbeitgeber, dem sie Reichtum und folglich auch Macht,
Behagen und Luxus schafft, von allen diesen schönen Dingen eine seelische
Bereicherung erfahren, wenn es ihm an innerer Kultur, das heißt also an
Idealismus, an einem zeitig geweckten ästhetischen und ethischen Gewissen
fehlt.

Der vertierte, arbeitsscheue Trunkenbold, der sich durch die
Radauversammlungen der Heilsarmee zur Bußbank locken läßt, legt also im
Grunde ebenso beredtes Zeugnis wider die Ohnmacht der technischen
Zivilisation ab, wie der angeblich gebildete, manierliche und
reputierliche Mensch der Oberschicht, der sich von dem religiös drapierten
Hokuspokus raffinierter Spekulanten und Agitatoren einfangen läßt.

Von der öffentlichen Katzenmusik der mit der großen Trommel begleiteten
Bußpredigten, von dem rotgestrichenen Betteltopf am eisernen Dreifuß, vor
dem die wetterharten Wachposten der Heilsarmee ihre Schelle unablässig in
Bewegung setzen, bis zu den gewaltigen Marmorkathedralen mit vergoldeten
Kuppeln, welche die Christian Science in Boston, Providence und vielen
anderen Großstädten des Ostens errichtet hat, scheint es ein weiter Weg –
und ist doch nur ein Katzensprung! Wir Europäer sehen die durch Misses
Mary Baker G. Eddy hervorgerufene religiöse Bewegung als eine geistige
Epidemie an, welcher religiös veranlagte, aber denkunfähige Geister
deshalb so leicht verfallen, weil sie darin eine Wiederherstellung
urchristlicher Inbrunst mit magischer Wirkung erblicken. Wir zucken
gleichmütig die Achseln über diese sogenannte christliche Wissenschaft und
verweisen sie unter die abstrusen Erscheinungsformen moderner Hysterie.

(M73)

Der „American Encyclopedie Dictionary“ definiert die Grundlage dieser
Wissenschaft folgendermaßen: „Die Christian Science lehrt die Wirklichkeit
und Allgegenwart Gottes und die Unwirklichkeit und Nichtigkeit der
Materie, die geistige Beschaffenheit des Menschen und des Weltalls, die
Allmacht des Guten und die Unmacht des Übels. Christian Science will die
Wahrheit der ursprünglichen Lehre Christi wiederherstellen. In der
Wahrheit erblickt sie das einzige Heilmittel gegen den Irrtum; Krankheit
ist auch ein solcher Irrtum, eine Folge der Sünde. Bekämpfe also Sünde und
Irrtum, so bekämpfst du Krankheit und Tod.“ – Christlich kann man diese
Ideen allerdings nennen, neu sind sie nicht, und ihre philosophische
Begründung ist keineswegs auf Misses Eddys eigenem Geistesboden gewachsen.
Das Neue und für die große Masse der heilsuchenden Menschheit Bestehende
an dieser Lehre besteht darin, daß sie Christus zum Magier macht und die
magischen Kräfte seiner Gläubigen durch inbrünstige Gebetsübungen dermaßen
stärken zu können vorgibt, daß auch die Wunder zu wirken imstande sind,
vornehmlich Heilung von Krankheiten. Der praktische Nutzen der neuen
Religion ist also der, daß sie an die Stelle von Doktor und Apotheker die
Autosuggestion als billigsten und probatesten Heilfaktor setzt. Die Welt
ist erfüllt von Übeln und Schrecknissen aller Art, von Sorgen, Kummer, Not
und Tod; der Gläubige aber behauptet, alle diese Dinge existierten nur in
der Einbildung der noch nicht Erweckten. Sie aber vollziehen an sich durch
seelische Dressur einfach eine Art Selbstblendung; sie zwingen ihren
Willen, nicht mehr sehen zu wollen. Und wenn sie es glücklich zur
vollendeten Blindheit gebracht haben, dann existieren allerdings weder
Schmerzen noch Tod mehr. Man begreift, daß eine solche Lehre in Amerika,
wo es so wenig philosophisch geschulte Köpfe gibt, ihr Glück machen mußte.
Derselbe Optimismus des jugendlichen Volkes, der alles von ihm
Hervorgebrachte für vortrefflich hält, derselbe glückliche Leichtsinn, der
die schwierigsten Fragen dadurch löst, daß er einfach behauptet, sie
existierten nicht (wie wir es zum Beispiel bei der Frage der Prostitution
gesehen haben), dieselbe Leichtgläubigkeit, die Geheimmittelfabrikanten,
Somnambulen und Horoskopsteller so rasch reich macht, haben auch der
Misses Eddy Millionen in die Kasse und Hunderttausende von Gläubigen in
ihre Kirche gezaubert. Das eigentliche Genie dieser merkwürdigen Frau
liegt viel mehr in der praktischen als in der philosophischen Richtung.
Dem Amerikaner imponiert aber nichts so sehr, als der praktische Erfolg.
Wer in kurzer Frist seinen Mitmenschen so ungeheure Geldsummen aus der
Tasche zu locken und mit ihrer Hilfe eine festgefügte Organisation zu
schaffen versteht, der muß ein erwähltes Werkzeug Gottes sein.

(M74)

Es will uns Europäern schier unfaßlich dünken, daß im zwanzigsten
Jahrhundert unter dem angeblich nüchternsten aller Völker eine Frau zur
Gründerin einer neuen mächtigen Kirche und von ihren Gläubigen für heilig,
unfehlbar, ja selbst unsterblich erklärt werden konnte! Misses Baker Eddy
war bekanntlich schon zu ihren Lebzeiten zur sagenhaften Persönlichkeit
geworden. Man wollte wissen, daß sie schon seit Jahren tot sei, und daß in
ihrem Wagen eine Wachspuppe spazieren gefahren werde, um ihre Anhänger
nicht in ihrem Glauben an die physische Unsterblichkeit ihrer Päpstin irre
werden zu lassen. Und nun ist sie zu Ende des Jahres 1910 dennoch ganz
wirklich gestorben und begraben worden, und die Ärzte wußten ganz genau
den Charakter ihrer Krankheit und die unmittelbare Todesursache anzugeben.
Man hätte nun meinen sollen, daß mit diesem unzweifelhaften leiblichen
Tode der magische Nymbus zerstört worden sei, der die Person der Päpstin
außerhalb der Menschheit in die Reihe der Götter stellte. Aber das war
keineswegs der Fall; denn alsbald nach ihrem Begräbnis verkündete eine
ihrer vertrautesten Jüngerinnen, sie könne den Gläubigen mit Bestimmtheit
versichern, daß nur eine verbrauchte materielle Erscheinungsform der
Misses Baker Eddy begraben worden sei, sie selbst werde in erneuter
Leiblichkeit, vermutlich verjüngt, vielleicht schon in vierzehn Tagen
wieder auf Erden wandeln. Vorsichtigerweise setzte die Dame allerdings
hinzu, es könnte eventuell auch länger dauern, vielleicht Jahre, viele,
viele Jahre lang.

Die Christian-Science-Kirche ist nicht mit ihrer Gründerin gestorben; sie
hat sogar, bisher wenigstens, den starken Erschütterungen ihres Ansehens
standgehalten, denen sie durch den höchst unerquicklichen Zank der
Auserwähltesten unter ihren Getreuen um die Besetzung ihres verwaisten
päpstlichen Stuhles und die Aufteilung ihrer Millionenerbschaft ausgesetzt
war. Für uns Europäer kann die Geschichte dieser Gesundbeterkirche nur
eine entsetzliche Blamage der modernen Menschheit bedeuten. In den
Vereinigten Staaten jedoch ist es geradezu gefährlich, über diesen
Gegenstand, selbst in gut gesiebter Gesellschaft, eine ehrliche Meinung zu
äußern. In der gebildetsten Stadt Amerikas, in Boston, in einer
Gesellschaft, die nur aus Professoren, hohen Staatsbeamten und sonstigen
geistig hervorragenden Herren bestand, war ich auf dem besten Wege, mich
für ewige Zeiten unmöglich zu machen, indem ich das Thema von der
Christian Science anschlug. Durch Augenwinken und bedeutungsvolles
Räuspern brachten mich glücklicherweise einige wohlmeinende Mitmenschen
zum rechtzeitigen Schweigen. Und hinterher erfuhr ich, daß mein Nachbar
zur Linken und der bedeutende Herr vis-a-vis überzeugte Anhänger der
Misses Eddy seien.

Wie außerordentlich verhängnisvoll dieser sonderbare Fanatismus auch für
die privaten menschlichen Beziehungen sein kann, dafür wurde mir ein
Beispiel aus dem Bekanntenkreise eines Freundes erzählt. Ein gescheiter
und tüchtiger Geschäftsmann hatte eine recht wohlhabende Frau geheiratet
und führte eine durchaus glückliche Ehe mit ihr, bis er in die Netze der
Gesundbeter geriet. Von da an ließ er das Arbeiten bleiben und
beschäftigte sich nur noch mit Beten und Predigen in der eigenen Familie.
Es gelang ihm jedoch nicht, seine Frau zu sich herüberzuziehen. Die
Nichtexistenz der Materie mit ihren Sorgen und die Allmacht Gottes legte
er sich so aus, daß nunmehr auch der Herr für die Bezahlung der laufenden
Rechnungen zu sorgen habe. Da dies nun trotz eifrig betriebener
Gebetsübungen merkwürdigerweise nicht der Fall war, so mußte seine Gattin
immer mehr und mehr von ihrem Kapital flüssig machen, bis sie eines Tages
die Geduld verlor und dem frommen Eheherrn die Existenz der Materie
dadurch klar machte, daß sie ihm ein Scheidungsurteil vorlegte und mit
Sack und Pack sein Haus verließ.

(M75)

Wir würden den Yankees schwer unrecht tun mit der Annahme, daß nur in
ihrem Lande heutzutage noch ein günstiger Boden für ausgiebigen Gimpelfang
auf religiösem Gebiet zu finden wäre. Christian Science zum Beispiel hat
auch in Deutschland zahlreiche Anhänger, und zwar vornehmlich in jenen
erlauchten Kreisen, die auf die „Kreuzzeitung“ abonniert zu sein pflegen.
In meinen Händen befinden sich zwei traurige Beweisstücke für die engen
Beziehungen zwischen amerikanisch organisiertem Schwindel und deutscher
Strammgläubigkeit. Annoncierte da in den gelesensten Blättern der ganzen
Welt ein Mister G. A. Mann, Rochester, New York, U. S. A., Postdepotnummer
1106: „Woher stammt diese wunderbare Gewalt! Das ganze Land ist erstaunt
über die wunderbaren Taten, die Herr Mann vollbringt!

Den Unheilbaren wird wieder Vertrauen eingeflößt. Ärzte und Prediger
erzählen staunend von der Einfachheit, mit der dieser moderne Wundertäter
Blinde und Lahme mit Erfolg behandelt und zahlreiche Kranke den Klauen des
Todes entreißt. Seine Ratschläge sind unentgeltlich für alle. Dieser Herr
entbietet sich, seine Ratschläge unentgeltlich zu geben. Ärzte suchen
seine außerordentliche Kraft zu ergründen ...“

Und in diesem scheußlichen Reklamestil geht es zwei Spalten lang fort.
Zahlreiche Heilerfolge werden mit Namensnennung angegeben, und zum
Schlusse stellt sich Herr G. A. Mann als Dr. med. und Professor der von
ihm erfundenen Radiopathie vor. „Die Radiopathie hilft nicht nur bei
gewissen Arten von Krankheiten, sondern sie nützt gegen alle Krankheiten,
wenn die verschiedenen, magnetisch zubereiteten Tabletten, nach unserer
Formel präpariert, rechtzeitig vom Patienten benutzt werden. Wenn Sie
krank sind, es ist einerlei, an welcher Krankheit Sie leiden, schreiben
Sie Herrn Mann, beschreiben Sie ihm die Symptome, geben Sie an, wie lange
Sie krank sind, und er wird sich ein Vergnügen daraus machen, Ihnen die
Krankheit zu nennen, an der Sie leiden und Ihnen ein Verfahren zu
beschreiben, das Ihnen nützen wird. Dieses kostet Sie absolut nichts, und
Herr Mann wird Ihnen dazu ein Exemplar des wunderbaren Buches: ‚Wie man
sich selbst und anderen helfen kann‘ mitschicken usw.“

Herr G. A. Mann kennt seine Pappenheimer. Für das Postfach 1106 in
Rochester liefen aus allen Teilen der Welt die Briefe zu Hunderten und
Tausenden ein, und die Heilsuchenden, natürlich lauter arme, verzweifelte,
schmerzensreiche, meist von den Ärzten aufgegebene Menschen, erhielten ein
gedrucktes Schreiben, welches ihnen irgendeine Krankheit nannte und sie
aufforderte, 10 Dollar, also 41,80 Mk. (!) portofrei einzusenden, wofür
ihnen die wunderwirkenden radiopathischen Tabletten, natürlich eine völlig
wertlose Droge, zugehen würden. Die hochwichtige Broschüre voll angeblich
wissenschaftlichen Kauderwelschs wurde ihnen allerdings gratis beigepackt.
Und siehe da, Tausende und aber Tausende ließen sich den letzten
Hoffnungsstrahl 10 Dollar kosten und machten Herrn G. A. Mann zu einem
schwerreichen Mann. Selbstverständlich ist er in Wirklichkeit weder Dr.
med. noch Professor, sondern einfach ein geriebener amerikanischer
Schwindler mit den eigenartigen Ehrbegriffen dieser interessanten
Menschensorte. Um seinen guten Freunden auch einen Spaß zu machen, ließ er
zuweilen besonders pikante Zuschriften aus seinem Kundenkreis
photochemisch vervielfältigen. Und durch denselben wackeren Deutschen, der
diesem niederträchtigen Schwindler in Amerika das Handwerk legte, wurden
mir zwei solcher Faksimiles anvertraut, in denen eine preußische
Prinzessin und ein hoher Offizier der Potsdamer Garnison dem Herrn
Professor der Radiopathie in Rochester Geständnisse ablegen, wie man sie
selbst seinem Hausarzt und seinem Beichtiger wohl nur im Zustande höchster
Verzweiflung ablegen dürfte.

(M76)

Herr A. G. Mann aber machte sich, wie gesagt, einen Spaß daraus, diese
traurigen Intimitäten seinen guten Freunden zu verraten! Angeblich soll
dieser gemeingefährliche Schwindler übrigens sein Unwesen heute noch von
Paris aus fröhlich weiter betreiben. Charakteristisch ist es nun, daß die
erwähnten, sozial so hoch stehenden Briefschreiber alle beide Herrn Mann
gestehen, sie hätten es unter anderem auch schon mit der Christian Science
versucht! Lernen wir Bescheidenheit aus diesem Beispiel. Auch wir Europäer
sind noch längst nicht über den Berg des Aberglaubens hinweg; der
religiöse wie der medizinische Schwindel kommen auf beiden Seiten des
Ozeans noch auf ihre Kosten, und wenn sie vereint marschieren, finden sie
ihre Opfer in allen Zonen bei den Angehörigen aller Bekenntnisse, aller
Gesellschafts- und Bildungsstufen. Wie weit sind wir nun im Grunde
abgerückt von dem Glauben der Wilden an die Zauberkraft der
Beschwörungstänze ihrer Medizinmänner? Dunkle Erdteile gibt es nicht mehr,
aber in den finsteren Höhlen der Menschenseele kann der unerschrockene
Entdecker noch genug Fossilien aus dunkelster Vorzeit finden.

Bei der völligen Gewissensfreiheit, welche die Verfassung der Vereinigten
Staaten gewährleistet, und der großen Anzahl der Bekenntnisse, die der
heilsuchenden Seele zur Verfügung stehen, braucht die Wahl der
Religionsgemeinschaft, der ein erwachsener Mensch sich anschließen will,
von keinen anderen als rein idealen Erwägungen geleitet zu werden;
begreiflicherweise spielen aber dennoch Nützlichkeitsgründe, allerlei
komische oder betrübliche Menschlichkeiten, just bei dieser Wahl eine
bedeutende Rolle. Alle Leute, die nicht selbständig denken gelernt haben,
und deren Zahl ist in Amerika besonders groß, sowie alle Leute, die nicht
von einer besonderen religiösen Inbrunst erfaßt sind, werden entweder
einfach dem Bekenntnisse ihrer Eltern folgen oder aber sich einer Gemeinde
anschließen, durch die sie wertvolle geschäftliche und gesellschaftliche
Verbindungen zu erwarten haben. Da es in dem demokratischen Staat
offiziell keine Rangeinteilung, keine Klassen- und Kastenunterschiede
gibt, der Mensch aber doch von Natur so geartet ist, daß sich immer gleich
zu gleich gesellt, und sich alsbald bestrebt, Schranken zwischen sich und
der Außenwelt zu errichten, so kommen die Religionsgesellschaften der
natürlichen Neigung entgegen. Sie stellen einfach geschlossene Vereine
dar, die ihre Mitglieder aus ganz bestimmten Gesellschafts- und
Bildungsschichten rekrutieren; also ein Seitenstück zu den Klubs, die aber
nur den Wohlhabenden zugänglich sind und die Familie ausschließen. Der
selbständige junge Mensch wird sich also unter den etlichen hundert
verschiedenen Denominationen, die ihm zur Verfügung stehen, diejenigen
aussuchen, in der er ausschließlich seinesgleichen in bezug auf Bildung,
gesellschaftliche Stellung, Lebenshaltung und allgemeine Interessen
findet.

Es ist klar, daß der religiösen Heuchelei, dem Drucker- und Muckertum
durch diese Wahlfreiheit kein Vorschub geleistet wird. Wenn auch die
Respektablität es erfordert, daß man einer christlichen Gemeinschaft
angehöre, so erleidet sie doch keineswegs einen Schaden, wenn etwa eines
frommen Quäkers Sohn zu den Methodisten übertritt oder die Tochter des
Presbyterianers sich den Baptisten anschließt. Religiöse Überzeugung wird
unter allen Umständen geachtet, auch wenn sie äußerlich wunderliche Formen
annimmt. Und so fährt schließlich das echte religiöse Bedürfnis bei dieser
Zersplitterung doch noch am besten. Und die Geistlichen gar dürften in
keinem Lande der Welt so viel Freude an ihren Gemeinden erleben, wie in
den Vereinigten Staaten, weil ja bei der völligen Freiheit der
Meinungsäußerung jeder Geistliche in seiner Person gewissermaßen eine
eigene Kirche darstellt, deren unfehlbarer Papst er ist. Verweigert ihm
seine Gemeinde die Gefolgschaft, so ist er deswegen noch lange nicht
deklassiert und infamiert. Ist er ein begabter Seelenfänger, so mietet er
sich eben einfach anderswo ein Lokal und versucht neue Menschen
hineinzupredigen. Hat er deren ein Häuflein beisammen, so ist seine
Ich-Kirche wieder lebendig. Der unfähige Geistliche, dessen Persönlichkeit
der suggestiven Kraft ermangelt, wird dagegen mit Recht unter das
Proletariat derjenigen unbrauchbaren Menschen hinabgleiten, die da
brotlose Künste treiben.

(M77)

Ich will diese Betrachtung mit einem herzerquickenden Lichtbilde
schließen. Auf dem Campus der Cornell-University in Ithaka im Staate New
York erhebt sich ein schlichter Kirchenbau, der von Andrew D. White, dem
feinsinnigen Gelehrten und allverehrten früheren amerikanischen
Botschafter in Berlin, gestiftet wurde. Das Innere zeigt eine wundervolle
Holzarchitektur in Anlehnung an norwegische Muster, eine weichgedämpfte
Farbenharmonie faßt die weitgeschwungene bunte Decke mit dem dunkelbraunen
Holzton des Gestühls mild zusammen, und die farbigen Fenster dämpfen das
Licht, ohne jedoch die frohe Heimlichkeit des Raumes in mystischer
Dämmerung zu ersticken. Kein Altar, keine blutigen Kruzifixe oder
Marterdarstellungen, überhaupt keine biblischen Schildereien finden sich
in diesem, ich möchte sagen, lieblich erhabenen Gotteshause, nur eine
einfache Rednerkanzel und eine wundervolle Orgel. In einer Seitenkapelle,
die dem Charlottenburger Mausoleum einigermaßen ähnlich ist, ruhen in
herrlichen Marmorsarkophagen die Gebeine des trefflichen Holzhändlers
Cornell, der seinen Namen durch die Gründung dieser, zu den
allervornehmsten zählenden Universitäten unsterblich machte. Hier ruht
auch die erste Gemahlin Dr. Whites, und hier wird er selber seine
Ruhestätte finden. Seine Kirche aber ist keinem Bekenntnisse gewidmet,
sondern nur dem christlichen Gedanken, und ihre Kanzel steht jedem
berufenen Redner offen, dessen Denken und religiöses Fühlen sich irgendwie
unter dem Einfluß christlicher Ideen zu befinden glaubt. Es predigen also
hier allsonntäglich abwechselnd eingeladene Vertreter aller erdenklichen
Bekenntnisse, sowie auch außerhalb alles Kirchentums stehende bedeutende
Denker und Redner.

Ist es nicht bezeichnend, daß die bisher einzige Absage, die Dr. Andrew D.
White auf seine Einladungsschreiben erhielt, von katholischer Seite kam?
Allerdings hätten sich wohl einzelne hervorragende katholische Prediger
gefunden, die gern in diesem freien Gotteshause zu einer freien, Wahrheit
suchenden Gemeinde geredet hätten – Rom aber sprach: „Quod non!“



                             DIE LANDSCHAFT.


(M78)

Schließlich sieht es doch nicht überall in den Vereinigten Staaten aus wie
in der Gegend zwischen Kattowitz und Beuthen, wenn auch freilich der
Charakter der reizlos platten Ackerbaugegend und des Schönheit mordenden
Industriegeländes in den Mittelstaaten von den großen Seen bis zum
Missouri vorherrschend ist. Man braucht durchaus nicht etwa Tage und
Nächte lang durch Kohlen- und Petroleumhöllen, endlose Steppe und Wüste
bis zum Felsengebirge im fernen Westen hinüberzufahren, um auf
landschaftliche Schönheiten zu stoßen. Schon die Manhattan-Insel, auf der
die Fünfmillionenstadt New York auf dem solidesten Untergrund der Welt
erbaut ist, liegt malerisch genug in der weiten Meeresbucht zwischen den
grünen Zungen Long-Island und Staaten-Island. Auf der Fahrt am Ostufer,
von New York nach Providence, glaubt man sich im südlichen Schweden zu
befinden; die liebliche Wald- und Hügelszenerie mit ihren dunklen Tälern
und klaren Bächen, welche zwischen Boston und Albany sich erstreckt,
könnte ganz gut einem deutschen Mittelgebirge entnommen sein; die Reize
ostpreußischer oder märkischer Seenlandschaften finden wir wieder auf der
Bahnfahrt von Philadelphia nach Washington; in den Alleghanies und
vollends im Adirondak-Gebiete mit seinem Lake George, sowie in dem
nordwestlichen Seengebiet des Staates New York, am Lake Seneca, Lake
Cayuga und wie sie alle heißen; in den Tälern des Delaware, des
Susquehanna, des Chesapeake und gar des Hudson ist so viel landschaftliche
Schönheit herben und zarten, heroischen und idyllischen Stiles vorhanden,
wie ein frommer Anbeter der Natur sie nur irgend wünschen kann, Schönheit
genug, um Millionen abgehetzter Kopf- und Handarbeiter Ruhe und Erholung
zu schaffen. Aber der europäische Naturfreund wird nirgends dieser
Schönheit froh. Ich wenigstens habe alle diese Herrlichkeiten nur mit
Seufzen und Fluchen an mir vorbeifliegen sehen, denn – _es fehlt überall
an der kulturellen Inszenesetzung_. „O lieber Herrgott, wie gut hast du’s
gemeint! Pfui Teufel, o Menschheit, wie übel hast du die Absichten der
Natur verstanden!“ Das ist das Stoßgebet, das sich überall in den
Vereinigten Staaten dem schwergekränkten ästhetischen Bewußtsein entringt.
Nirgends hat die Landschaft einen eigenartigen Stil der Wohnhäuser, die
Feld- und Waldwirtschaft einen der Landschaft angepaßten, von Gau zu Gau
wechselnden Charakter angenommen; überall dasselbe tödliche Einerlei
plattester Zweckmäßigkeit. Wohl finden wir im Osten den schwedischen
Granit in mächtigen Brocken, die tiefeingeschnittenen Meeresbuchten und
hie und da sogar ein Stückchen Wald, das der erbarmungslosen Axt der
ersten Ansiedler entgangen ist; aber wo sind die reizenden, buntbemalten
Holzhäuser, in lustigen Blumengärten sauber aufgestellt, darinnen derbe,
blonde Dirnen in roten Röcken und grünen Schürzen hantieren? Wo ist die
blühende Heide, der rauschende Hochwald? Wo bleibt in den Kiefernwald- und
Seengegenden das so herrlich dazu passende niederdeutsche Bauernhaus mit
seinem riesigen, fast bis zum Boden hinab reichenden Giebeldach? Wo ist in
den anmutigen Flußtälern auch nur eine einzige Ansiedlung an den Ufern zu
finden, die den Eindruck machte, als ob sie dort wirklich zu Hause wäre?
Wo sind in den Glanzstücken der Gebirgslandschaft die romantischen Wege
für Fußwanderer, die einsamen alten Wirtshäuser an der Landstraße, die
verräucherten alten Räubernester italienischer Bergdörfer, oder gar die
lustigen Sennhütten unserer Alpenländer zu finden? Nichts, nichts von
alledem. Wo man nicht mit dem Automobil hinfahren kann, da ist überhaupt
schwer hinzugelangen. Aber überall, wo so viel zu sehen ist, daß der
Baedeker einen Stern dabei machen würde, spreizen sich die lieblosen
großen Hotelbauten, die den Mann mit dem kleinen Geldbeutel in gebührender
Entfernung halten. Für die reichen Sommergäste ist selbstverständlich
gesorgt mit Polo-, Golf- und Tennisplätzen, mit Motorbooten und allen
neuesten Mustern von Ruder- und Segelfahrzeugen, mit eleganten Restaurants
zu Weltstadtpreisen, mit Icecream und Candy, und bei all diesen
Futterplätzen konzertieren selbstverständlich kleine Musikkapellen, die
die beliebtesten Operettenmelodien der vergangenen Wintersaison zum besten
geben und den auf die Grammophonplatte gebannten Caruso begleiten.

(M79)

Der Amerikaner allerdings scheint es nicht besser zu wollen. Das Bedürfnis
nach Einsamkeit und Ruhe, nach einfachen Lebensfreuden, nach intimer
Zwiesprache mit der Natur kennt er wohl schwerlich, denn auch bei uns
sehen wir ihn ausschließlich die großen Hotels, die geräuschvollen
internationalen Vergnügungsorte bevölkern, wo er von der Eigenart einer
Gegend und ihrer Menschen niemals eine Ahnung bekommen kann. In unseren
Gebirgen, an unseren Flüssen und Seen erscheint er mit seiner fashionablen
Ausrüstung von modernsten Sportanzügen und neuesten patentierten
Sportgerätschaften. Vom jüngsten Bübchen bis zum ältesten Greise widmet er
sich unter jeglichem Himmelstrich seinen nationalen Spielen, und es freut
ihn offenbar viel mehr, kleine dumme Bällchen in Gesellschaft hübscher
Misses mit Knütteln zu bearbeiten, als mit dem Rucksack auf dem Buckel
schwer zugänglicher Schönheit nachzusteigen. Jeder Boy und jedes Girl muß
seinen Kodak umhängen haben, um die Eingeborenen im Nationalkostüm oder
das mitgenommene süße Baby in allen Lebenslagen knipsen zu können.
Allerdings, die Hochtouristik findet auch unter den Amerikanern
begeisterte Verehrer, aber wohl nur, weil sie aufregend und gefährlich ist
und ihrer Raserei für das Rekordbrechen entgegenkommt. Die wein- und
sangesfrohe Wanderlust, die sich mit einem Käsebrot und einer Streu
vergnügt bescheidet, den gründlichen Wissensdrang, der am liebsten die
stillen Winkel durchstöbert, die fromme innige Naturschwärmerei, die den
großen Menschenansammlungen und laut gepriesenen Sensationen aus dem Wege
geht, die kennt er nicht. Dem richtigen Durchschnittsamerikaner gilt für
schön, was ihm durch Dimension oder Quantität imponiert und – was viel
gekostet hat. Niemals habe ich einen Amerikaner sich über die gräßlichen
Reklameschildereien ereifern hören, die gerade an den landschaftlich
bevorzugten Bahnstrecken sich breit machen und einem im Laufe einer Fahrt
von einigen Stunden, die recht genußreich für das Auge sein könnte,
etliche hundert Mal in der Gestalt eines überlebensgroßen rotbunten Ochsen
entgegenschreit, daß _Durham Bull_ der beste Rauch-, Kau- und Schnupftabak
sei, oder sonst irgendeine mächtig interessante Feststellung. Hält man ihm
die Poesielosigkeit der großen Hotelbauten in seinen berühmten
Ausflugsorten vor, so entgegnet er: Wem die nicht gefielen, der könnte
sich ja ein Hausboot auf einem der Seen zulegen, oder mit Zelt und Canoe
ausgerüstet in die Wildnis ziehen. O gewiß, das würde auch unserem
Geschmack poetisch vorkommen, dieses neuerdings unter den jungen
Amerikanern beiderlei Geschlechts sehr beliebte „_camping out_“. Aber auch
dieses Vergnügen des Biwakierens ist mit Kosten verknüpft, die sich nur
wohlhabende Leute leisten können, denn es versteht sich von selbst, daß
man solchen abenteuerlichen Auszug ins wilde Hinterland nicht antritt,
ohne in bezug auf die Transportmittel, auf Kleidung, Schlafgelegenheit,
Kochgeschirr, Angel- und Jagdgerät usw. auf das vollkommenste mit den
allerneuesten Erzeugnissen auf diesem Gebiete ausgerüstet zu sein. In den
Vereinigten Staaten freilich gibt es kaum Leute, die so wenig Geld hätten,
daß sie sich nicht einmal so etwas leisten könnten, oder wenigstens kennt
man in besseren Kreisen solche betrübliche Armseligkeit nicht.
Andererseits würde wieder das geistige Gepäck, das unsere kultiviertesten
Naturfreunde auf ihren Wanderungen mitzunehmen pflegen, drüben für ein
außerordentlicher Luxus gelten: Sprach- und Dialektkenntnis, geographische
und ethnographische, naturwissenschaftliche und kunstgeschichtliche
gründliche Vorbereitung. Da im eigenen Lande so wenig vorhanden ist, was
dem historischen Sinn Nahrung geben könnte, so vermißt der Amerikaner die
edle Patina des Alters durchaus nicht, sondern findet selbstverständlich
alles Frischgestrichene, Neulackierte erfreulicher denn alles alte
Gerümpel.

(M80)

Es ist ein wahres Wunder zu nennen, daß die guten Kinder ihre Niagarafälle
verhältnismäßig so unverschandelt gelassen haben. Bei der kolossalen
Kraft, die dort umsonst zu haben ist, wäre es doch eine Kleinigkeit, zum
Beispiel über dem Horseshoe-Fall des Nachts ein riesiges Stern- und
Streifenbanner aus elektrischen Glühkörpern flattern zu lassen! (Sie
machen solche bewegten elektrischen Lichtreklamen famos). Und wie würden
sich die Canadier giften, wenn sie jede Nacht auf dem amerikanischen Ufer
Onkel Sams Fahne flammen sehen müßten! Sie würden vermutlich nicht lange
zögern, auf ihrer Seite einen wenn möglich noch größeren, elektrisch
bewegten _Union Jack_ zu hissen. Und damit wäre sozusagen das Eis
gebrochen: in wenigen Wochen würde der strahlende Ochse Durham das Lob des
besten Rauch-, Kau- und Schnupftabaks feuerspeiend in die Nacht hinaus
brüllen; über, unter, zwischen und hinter den Fällen selbst würden in
genial ersonnenen Lichtspielen die köstlichen Whiskys, die beliebtesten
Biere, die anerkanntesten Leberpillen und sichersten Abführmittel sich dem
staunenden Naturfreund empfehlen. Und es ist, wie gesagt, nicht zu
begreifen, daß nicht wenigstens die Fabrikanten von Babywäsche diese
glänzende Reklamegelegenheit ergriffen haben, da doch sämtliche
amerikanischen Brautpaare ihre Hochzeitsreise nach den Niagarafällen zu
unternehmen pflegen. Ich vermute, daß da irgend welche schlechten
Demokraten die Freiheit durch volksfeindliche Gesetze schändlich
unterbunden haben müssen; anders ist dieser geradezu barbarische und
schamlose Zustand gar nicht zu erklären, daß man hier die Natur so nackt
und bloß wirken lassen konnte, ohne jede zivilisierte Bekleidung durch den
menschlichen Geschäfts- und Erfindungsgeist! Nur der dekadente Europäer
kann so etwas schön finden!

Und dennoch muß ich gestehen, daß ich dekadenter Europäer auch angesichts
der Niagarafälle die feinere Regie vermißte. Ich mußte an unsern lieben
Rheinfall bei Schaffhausen denken. Wie ist da das herrliche
Naturschauspiel vorbereitet, wie ist da geschickt Stimmung gemacht durch
eine idyllisch romantische Landschaft, durch das uralt heimliche
Schaffhausen mit seiner gewaltigen Zitadelle, seiner begrünten Stadtmauer,
seinen trauten, krummen Gassen und behaglichen alten Wirtshäusern! Wie
sind auf dem Wege nach Laufen die Kraftwerke und Aluminiumfabriken – denn
auch hier ist der Mensch nicht so dumm, die üppigen Schätze der Natur aus
reiner Sentimentalität ungehoben zu lassen –, wie sind sie so geschickt
unter dichtem Grün versteckt! Dagegen dehnt sich drüben von der furchtbar
garstigen Großstadt Buffalo bis zu dem fast ebenso scheußlichen Nest
Niagara-Falls-City die trostloseste Einöde am Gestade des Eriesees
entlang. Das Klima ist windig und regnerisch, der Boden wenig fruchtbar,
und infolgedessen sieht man überall verlassene Ansiedlungen,
Trümmerhaufen, Ödland. Dazwischen massenhafte Fabrikanlagen mit ihrem
schmutzigem Abfall, Schlackenbergen und mißfarbigen Rinnsalen. Lange,
trübe Straßenzüge mit garstigen Arbeiterhäusern durcheilt die elektrische
Bahn nach den Fällen, an wüsten Schnapskneipen und Tanzsalons mit
klirrenden Drehklavieren und kreischenden Grammophons muß man vorüber,
bevor man den nett gehaltenen Park erreicht, den man um die beiden
Hauptfälle angelegt hat. Dann gelangt man zunächst an den kleineren
dritten Fall, den die Industrie ganz und gar für sich in Beschlag genommen
hat. Dicht am Rande des senkrechten Felsabsturzes ragen die Mauern und
Schlote der Fabriken empor, und die gebändigten Wassermassen quellen aus
einer Menge von eisernen Röhren hervor, jedoch nicht mehr im kristallenen
Naturzustand, sondern gar lieblich koloriert. Es müssen wohl Farbwerke
sein, denen ihre Kraft dienstbar geworden ist, denn im Winter, als ich sie
sah, waren alle diese Abflüsse zu Eiszapfen gefroren, die einen
pittoresken Behang über dem ganzen Abgrund bildeten und abwechselnd schön
chromgelb, vitriolblau und krapprot gefärbt waren. Die großen Fälle selbst
gehören ja ohne Zweifel zu den gewaltigsten Naturschauspielen der Welt,
besonders im Winter, wenn die Bäume im weiten Umkreis in wunderbar
funkelnde Kristallkandelaber verwandelt sind und wilde phantastische
Schneewachten und Eisgebilde die ungeheuren donnernden und dampfenden
Wasserschleier einrahmen. Leider aber fehlt es dem gewaltigen Schaustück
gänzlich an Hintergrund. Der Niagarafluß verbindet eben zwei an sich wenig
reizvolle große Wasserflächen, und wenn nicht zufällig der Eriesee etliche
60 Meter höher als der Ontariosee gelegen wäre, so würde es überhaupt
nicht zustande gekommen sein. Wenn unser Herrgott, sagen wir mal: die
biedere Warthe in irgendeinem preußischen Kartoffelacker einen solchen
Bocksprung von 40 bis 50 Meter ausführen ließe, so würde das einigen
Hunderttausenden Deutschen genügenden Anlaß bieten, um entrüstet aus der
Landeskirche auszutreten; in Amerika aber darf sogar der Weltbaumeister
geschmacklos sein, ohne sich Unannehmlichkeiten zuzuziehen.

(M81)

Die Zeiten, wo man die absolute Geschmacklosigkeit keinem Amerikaner
verübeln durfte, weil er eben zunächst für das Allernotwendigste zu
sorgen, Neuland urbar zu machen und Weib, Kind, Ochs, Esel und alles, was
sein war, vor wilden Tieren und roten Skalpjägern zu verteidigen hatte,
die sind doch jetzt vorbei, zum mindesten für den hochkultivierten Osten,
und die Zahl derer, die sich nach Schönheit zu sehnen beginnen, wächst von
Jahr zu Jahr. Warum, ihr lieben Yankees, entnehmt ihr nicht eurer neuesten
Schatzkammer Alaska ein paar lumpige Milliarden und stellt
Landschaftsregisseure mit unbeschränktem Kredit an? Herrgott Saxendi, was
ließe sich beispielsweise aus eurem Hudson machen! Ich weiß mir keinen
schöneren Strom in der Welt. In seinem langen, gewundenen Lauf von New
York bis Albany schlägt er leicht die gloriose Rheinstrecke von Bingen bis
Bonn und kann es selbst mit der Donau zwischen Krems und Melk und sogar
mit der Elbe zwischen Königstein und Schandau aufnehmen vermöge seiner
herrlich geformten Uferberge und des imposanten Hintergrundes, den ihm die
Catskillberge und noch weiter oben die Adirondaks geben. Wenn trotzdem der
Hudson nicht entfernt so stark wirkt wie jene deutschen Ströme, so liegt
das eben einfach daran, daß ihm die Rebenhänge mit den berühmten
Weinmarken, die lieben alten Städtchen und ganz besonders die malerischen
Burgruinen fehlen. Der Regisseur des Hudsons hätte also die Aufgabe, das
ganze städtische und dörfliche charakterlose Gerümpel, das die Ufer des
Flusses verschimpfiert, niederzureißen und durch Neubauten im Stil des
Hudsontales und der Hudsonbewohner zu ersetzen. Das wäre mit viel Geld zu
machen, wenn sich nicht von vornherein die Frage aufdrängte: Ja, welches
ist denn der Stil der Hudsonbewohner, der Hudsonlandschaft? Das weiß eben
kein Mensch! Die Hudsonleute haben eben keinen anderen Stil als die
Susquehannaleute oder die Michiganleute. Es war mehr oder weniger Zufall,
ob die ersten Kolonisten sich da oder dort niederließen, und jeder von
ihnen hat sich an seinem Orte eingerichtet, wie sein Nutzen es erforderte
und seine Mittel es erlaubten. Gewiß haben sich an unserem Rhein die
Menschen ursprünglich auch nicht aus Bewunderung für die schöne Gegend
niedergelassen, noch haben sie ihre Burgen auf die Höhen gebaut, um
späteren Geschlechtern eine Sehenswürdigkeit durch deren Ruinen zu
liefern. Nie und nirgends ist eine Landschaft späteren Dichtern und Malern
zuliebe stilisiert worden, sondern das Notwendige und Zweckmäßige ist
immer am Anfang der Entwicklung gestanden, in der Alten gerade so wie in
der Neuen Welt. Erst der Edelrost der Jahrhunderte und Jahrtausende hat
die Schönheit dazu getan. Aber diese Schönheit ist keineswegs ganz wild
gewachsen aus der vollen Freiheit des Individuums heraus. Ein
einheitlicher Stil konnte sich nur dadurch entwickeln, daß der Wille
einzelner Überragender sich den Herdenmenschen aufzwang, daß die
künstlerisch fruchtbaren Talente von den Herrschenden und Besitzenden
erkannt und mit großen Aufgaben betraut wurden. So konnten sie die Muster
schaffen, welche die Gedankenlosen alsdann aus Gewohnheit immer wieder
nachmachten. Die Zünfte mußten ihren Zwang auf die Handwerker ausüben, die
Stadtväter mußten Bau- und Kleiderordnungen erlassen, und durch die
Engigkeit der Verhältnisse mußte ein konservatives Philisterium gezüchtet
werden, damit kein individualistischer Zickzack die Gradlinigkeit der
Entwicklung störte. Die Frage ist nur, ob man das alles heutzutage noch in
einer großen demokratischen Republik nachahmen könnte. Gewiß, ein genialer
Architekt, nennen wir ihn Meyer, könnte mit den zur Verfügung gestellten
Millionen den ganzen Hudson in einem original meyerischen Stil bebauen,
und das könnte vielleicht etwas sehr Schönes geben, aber dann müßten auch
drakonische Gesetze erlassen werden, die die Anwohner des Hudsons zwängen,
ihre notwendigen Neubauten immer wieder im meyerischen Stile zu errichten
und sich überhaupt in allen Lebenslagen streng meyerisch zu benehmen.
Würden sich die freien Bürger des Staates New York das gefallen lassen?
Schwerlich. Sie würden jedoch nichts dawider haben, wenn spekulative
Unternehmer darauf verfallen sollten, auf den schön geschwungenen
Uferbergen des Hudson künstliche Burgruinen zu errichten, zu denen
Zahnradbahnen oder Elevators hinaufführten. Es wäre weiterhin nur
vernünftig, wenn in diesen Ruinen spekulative Wirte sich niederließen, die
auf den Plattformen der Türme Flugschiffstationen und auf den
Turnierplätzen Hangars für Äroplane einrichteten. Gewiß würden es die
Hudsonleute auch gern sehen, wenn hie und da eine besonders garstige
Fabrik hübschere Formen annähme und an Stelle manchen häßlichen Gerümpels
reiche Mitbürger ihre Sommervillen in allen möglichen bizarren
europäischen und asiatischen Stilen anlegen würden. Vermutlich wird man
schon in naher Zukunft Seite an Seite mit imitierten Stolzenfelsen und
Drachenburgen, japanische Teehäuser, russische Datschen und Darmstädter
Eigenheime bewundern können, aber ein origineller Hudsonstil wird sich von
selber auch in fernen Jahrhunderten schwerlich entwickeln. Wir sehen es ja
bei uns, wie schwer es die Vereine für Denkmal- und Heimatschutz haben,
unsere schönsten alten Städtebilder vor Verschandelung zu behüten, und wie
auch die strengste Baupolizei höchstens unter Mitwirkung wirklich
feinfühliger Künstler einigermaßen dem Eindringen der Stillosigkeit zu
wehren vermag; denn die instinktive Stilsicherheit unserer Vorväter ist
uns Modernen durch den Mangel an Seßhaftigkeit der großen Masse, die durch
unsere Verkehrsverhältnisse erzeugt wurde, schon sehr abhanden gekommen.
Drüben in der neuen Welt aber hat solche instinktive Stilsicherheit
natürlich niemals bestanden; der Künstler, den man zum
Landschaftsregisseur ernennen wollte, hätte es also mit Kindern und
Barbaren zu tun, denen man wohl neue Moden importieren und schmackhaft
machen, aber keinen Stil aufzwingen könnte. Die Yankees mit ihrem
wundervollen Optimismus sind natürlich überzeugt davon, daß die Schönheit
und der Stil in ihrem Lande ganz von selber sich entwickeln müßten als
eine Frucht der fortschreitenden Geschmackskultur ihrer reichen und
müßigen Leute. Ich vermag diese Zuversicht nicht zu teilen, sondern glaube
vielmehr, daß sich auch im Laufe vieler Jahrhunderte der große Unterschied
zwischen der alten Welt als einem Antiquitätenmuseum und der neuen als
einem Novitätenbazar nur wenig verwischen wird. Jahrtausende allmählicher
Kulturentwicklung sind selbst im heutigen Fortschrittstempo nicht
einzuholen.

(M82)

So müßte ich also meinen Antrag, Landschaftsregisseure für die Vereinigten
Staaten zu ernennen, hoffnungslos fallen lassen? Vielleicht doch nicht
ganz. Im weiten Süden, im äußersten Norden und im fernen Westen ist noch
Platz genug für Hunderte, ja Tausende von neuen Ansiedlungen. Wenn die
gesetzgebenden Körperschaften der betreffenden Bundesstaaten es zur
Bedingung für neue Gründungen machten, daß die Pläne nicht ohne
Hinzuziehung bewährter Künstler entworfen und ausgeführt werden dürften,
so wäre von diesen neuen Städten und Dörfern des 20. Jahrhunderts doch
wohl ein bißchen mehr Stil zu erhoffen. Ich kenne das neue San Franzisko
nicht; ich weiß nicht, ob man bei dieser kostbaren Gelegenheit schon daran
gedacht hat, die künstlerische Regie in ihre Rechte einzusetzen. Die
Amerikaner behaupten ja, daß ihr neues Frisko, ihre neue Handelsmetropole
Seattle und andere nordwestliche Gründungen von hervorragender Schönheit
seien. Nun, dann würde zum erstenmal in der Weltgeschichte das Licht von
Westen kommen. Im ganzen Osten der Union sieht es bisher noch aus wie in
einer Kinderstube, in der unartige Buben alles durcheinander geworfen und
vor dem Schlafengehen nicht fortgeräumt haben. Von dem großen Völkerumzug
sind noch überall die ausgeräumten Kisten, die Stroh- und Papierhüllen,
die ausgerissenen Nägel und zerschnittenen Stricke liegen geblieben. Wenn
erst der Osten sich vor dem Westen zu schämen beginnt, dann findet er
vielleicht auch Zeit, endlich einmal gründlich aufzuräumen. Und in der
aufgeräumten Landschaft, dem gesäuberten Stadtbilde werden wenigstens die
gröbsten Scheußlichkeiten so unliebsam auffallen, daß man sich um so mehr
beeilt, sie gänzlich wegzutilgen und durch Schöneres zu ersetzen. Dann
wird es eine starke Nachfrage geben nach solchen Regisseuren, wie ich mir
sie denke, und wir Deutschen, die wir der Neuen Welt durch unsere
Missionäre den Geschmack an edler Musik beigebracht haben, werden dann
auch vielleicht berufen sein, als kostbarsten Importartikel Künstler
hinüber zu senden, die nicht nur Architekten, sondern stilistische
Universalgenies sind, so gut wie unsere modernen Orchesterbeherrscher und
Theaterregisseure. Vielleicht erlebe ich es noch, vor einer neuen
amerikanischen Stadt eine schöne Tafel zu erblicken, auf der unter ihrem
Namen an Stelle des bei uns üblichen Hinweises auf Regierungsbezirk, Kreis
und Landwehr-Bataillon zu lesen wäre: „Gestiftet von Carnegie, in Szene
gesetzt von Johann Nepomuk Huber aus München-Pasing.“



                      DOLLARICAS INFAMSTER SCHURKE.


(M83)

Ich bin niemals ein Pessimist gewesen. Ich habe den zahlreichen Leuten
gegenüber, welche mir dringend anrieten, mich vor schmerzlichen
Enttäuschungen dadurch zu schützen, daß ich meine Mitmenschen von
vornherein jeder Bosheit und Niedertracht für fähig halten möge, stets mit
Ernst und Eifer die Meinung verfochten, daß alle Kreatur von Mutterleibe
an zur Ehrlichkeit und Biederkeit veranlagt sei, und daß nur widrige
Umstände, zumeist gänzlich unverschuldeter Art, wie üble Herkunft,
leibliche Not und ungestillte Sehnsüchte der Seele die bösen Triebe
gewaltsam einzuimpfen vermöchten. Seitdem ich aber in Chicago (Illinois)
Dollaricas infamsten Schurken kennen gelernt habe, muß ich gestehen, daß
meine Meinung von der Unschuld der Kreatur um so heftiger erschüttert
wurde, als dieser infamste aller Schurken nicht einmal ein Mensch, sondern
sogar ein Vierfüßler war, jenem sanften, geduldigen, wolletragenden
Geschlecht entsprossen, das der Mensch sich zum Symbol demütiger Ergebung
und verehrungswürdiger Dummheit erkoren hat. Der infamste Schurke der
ganzen Vereinigten Staaten ist nämlich, gerade herausgesagt – _ein
Hammel_, und zwar der Leithammel in _Armour & Co.’s Packing Company_ in
den Chicagoer Schlachthöfen. Wenn ich der pessimistische Menschenverachter
wäre, der ich, wie gesagt, nicht bin, so würde ich diesen Hammel eine
_eingemenschte Bestie_ titulieren. Denn wer hätte es je für möglich
gehalten, daß ein Schafskopf so viel Niederträchtigkeit beherbergen
könne?! Nichts in dem vertrauenerweckenden Äußeren dieses Hammels deutet
auf die Schändlichkeit seines Berufes hin. Sein stets vergnügtes
Schafsgesicht verklärt das satte Lächeln eines gutmütigen Pfäffleins auf
fetter Pfründe, und sein Gebaren und Gehaben ist ganz dasjenige eines
beleibten, aber noch rüstigen alten Herren, der unter Umständen wohl noch
zu lockeren Streichen aufgelegt ist. Offenbar hat ihm diese so geschickt
getragene Maske der Bonhomie zu der einträglichen Stellung bei Armour &
Co. verholfen.

Dieser ehrenwerte Beamte erfüllt nämlich die Aufgabe, während der
Schlachtperiode Hunderte und Aberhunderte, Tausende und Abertausende
seiner unschuldigen, nichts ahnenden Familienangehörigen und
Standesgenossen der Menschheit ans Messer zu liefern. In langen
Eisenbahnzügen treffen sie aus allen Teilen der Union in den _Stockyards_
von Chicago zusammen. Die Wagentüren öffnen sich, und froh, der langen
grausamen Haft entrinnen zu können, drängen sich die Scharen munterer
Hammel von Ohio, Indiana, Illinois, ja selbst von Alabama, Jowa, Kentucky,
von Texas selbst und Arizona auf die bequemen schiefen Ebenen, und ihren
bedrängten Busen entringt sich das hoffnungsfreudige „Mäh“ der Erlösung
von langer Qual. Weite Hürden nehmen sie auf, die krauswolligen, weißen
und schwarzen Brüder und Schwestern, Vettern und Basen aus sämtlichen
Staaten und Territorien der Union. Von vollen Raufen lockt das duftige
Heu, in langen Rinnen der kräftig gemischte Trank. Und doch, die rechte
Freudigkeit kann nicht aufkommen, denn alle diese Schafsseelen sind noch
erfüllt von seliger Erinnerung an blauen Himmel, grüne Weide,
kristallklare Bäche und muntere Spiele unter der freundlichen Aufsicht
treu besorgter Hunde und frommer Schäfer; hier aber engen himmelhohe
rotbraune Mauern sie ein, statt lustiger weißer Lämmerwölkchen wälzen
schwere, schwarze Rauchschwaden sich ihnen zu Häupten daher, und statt des
feierlichen Schweigens der Natur umtost das dumpfe Maschinengebrüll
rastlos gieriger Menschenarbeit ihre erschrockenen Ohren. Traurig lassen
sie die Schwänzlein und die Köpfe hängen, lassen sie die Trankrinne und
die Futterraufe unberührt.

(M84)

Siehe, da naht sich ihnen als Bote aus dieser beängstigend fremden Welt
mit freundlicher, onkelhafter Vertraulichkeit ein fetter Hammel in den
besten Jahren: „Munter, meine lieben Kinder, munter!“ beginnt er in
humoristisch gefärbtem Bockston, und alsbald umdrängt ihn ein dichter
Kreis von Zuhörern. „Ihr habt nicht die geringste Ursache, Ohren und
Schwänze mutlos hängen zu lassen; oder ist es vielleicht nicht eine große
Ehre für euch ungebildete Prairieschafe, in die große Millionenstadt
Chicago zu Besuch zu kommen? Meint ihr vielleicht, ihr wäret die einzigen
Schafsköpfe hier am Orte, mähähähä!? Hier geht es hoch her, das könnt ihr
mir glauben auf mein ehrliches Gesicht, und die Zeit wird euch hier nicht
lang werden, auf Eh – hähähähä – re! Ich habe es zwar nicht nötig, mich
für euch aufzuopfern, denn ich befinde mich Gott sei Dank in einer
auskömmlichen und gesellschaftlich angesehenen Position, aber ich will
mich dennoch eurer hilflosen Ländlichkeit annehmen, weil doch nun einmal
der Korpsgeist in unserer Familie so stark entwickelt ist. Auf, mir nach,
ich führe euch zu einem lustigen Spielplatz, wo kein Hund und kein Hirte
uns geniert.“ – Und leichtfüßig tänzelt der feiste Onkel voran einen glatt
gedielten Steg hinauf, der so schmal ist, daß nur zwei knapp nebeneinander
gehen können, aber sicher eingeplankt, so daß keines an den Seiten
herauspurzeln kann. Schon dieser Anfang des Vergnügens ist
vielversprechend. Wie auf einer Berg- und Talbahn oder einer russischen
Rutschpartie geht’s auf diesen engen Bretterwegen hinauf, hinab und kreuz
und quer, und die Tausende von leichten Hammelbeinchen trippeln und
trappeln fein langsam hinauf und im lustigen Hui herunter, daß es klingt,
wie wenn in schwülen Frühlingstagen St. Peter Erbsen siebt. Ein Auf- und
Abschwellen wie Hagelrauschen in launischen Böen, ein dumpfes Wirbeln wie
von gedämpften Trommeln, – als sollten durch solchen Trauermarsch den
unschuldig Verurteilten die militärischen letzten Ehren erwiesen werden.
Der muntere Leithammel immer an der Spitze, tapp tapp tapp, hinauf, und
hurrdiburr hinunter, und zuletzt auf ein schmales Türchen in der
rotbraunen Mauer zu. Gar im Galopp mit einem lustigen Bocksprung setzt er
in die Seligkeit hinein. In einem Sprungtuch wird er aufgefangen und mit
einem Ruck in ein gemütliches Seitenkabinett in Sicherheit gebracht,
während seine Stammgenossen unaufhaltsam, einer nach dem anderen, zu
Dutzenden, zu Hunderten, zu Tausenden ihm nachspringen in die finstere
Todesnacht. Ein eiserner Haken erwischt sie an einem Hinterschenkel, an
einer Kette fliegen sie mit dem Kopf nach unten aufwärts, ein gewaltiges
Rad empfängt sie, hebt sie in weitem Bogen hoch und läßt sie auf der
andern Seite rasch abwärts schweben der Stelle zu, wo der Mörder mit
seinem blutigen Messer steht. Ein sicherer Stoß – und lautlos haben sie
ausgelitten. Derweile läßt sich’s der erprobte Beamte von Armour & Co. in
seinem Privatkabinett bei frischem Maisschrot und duftigen Lupinen wohl
sein, bis man ihn abruft, um auf geheimem Gange sich abermals zu den neu
Angekommenen in die Hürden hinunter zu begeben und seinen niederträchtigen
Trick aufs neue auszuführen. Wenn er ein Mensch wäre, so würde er sicher
auf seine alten Tage fromm werden, das Gebetbuch auswendig lernen, fleißig
in geistlichen Kreisen verkehren und sein Vermögen wohltätigen Stiftungen
vermachen; da er nur ein Hammel ist, hat er aber nicht einmal das
Bedürfnis, sein Gewissen zu betäuben. Er bedarf nicht des Alkohols, um
seinen Mut zur Infamie täglich neu zu entflammen, sondern sein
eigentümlich hammelhafter Ehrbegriff läßt ihn vielmehr seinen Stolz drein
setzen, jahrein, jahraus mit der gleichen heiteren Selbstverständlichkeit
seine verräterische, gemeine Mordarbeit zu verrichten, bis er in Pension
geht oder bis Herzverfettung oder versetzte Blähungen ihm unversehens den
Garaus machen. – Habe ich nicht recht, diesen Oberaga der weißen Eunuchen
von Chicago für den infamsten Schurken der ganzen Vereinigten Staaten zu
erklären?

(M85)

Vielleicht, mein Herr, oder Sie, meine schöne Leserin, werden Sie mir
entgegnen wollen, daß die Unschuld der Kreatur von Armour & Co. nur
schändlich mißbraucht werde, indem der Leithammel sicherlich nicht wisse,
daß seine von ihm verführten Artgenossen dem Tode verfallen seien. – Ich
kann das leider nicht glauben; denn ich bin fest überzeugt, daß auch dem
geistig mindestbegabten Tier der Blutgeruch, der die Chicagoer
Schlachthöfe umwittert, eine Ahnung seines Schicksals aufzwingen muß,
sobald es nur den Eisenbahnwagen verläßt. Und da ein Leithammel doch
jedenfalls die Blüte der Intelligenz der Hammelschaft darstellt, so ist es
doch schwer glaublich, daß gerade ihm der Umstand nicht zu denken geben
sollte, daß alle die von ihm angeführten Herden auf Nimmerwiedersehen in
dem Abgrund verschwinden, dem jener heiße Blutgeruch entströmt, und daß es
immer wieder neue Bataillone von Schafen, Regimenter von Hammeln sind, an
deren Spitze er anfeuernd dem schwarzen Loche zu galoppiert. Fraglich
könnte es nur erscheinen, ob der Mensch, der sich solcher abgrundtiefen
Gewissenlosigkeit einer gemeinen Hammelseele zu seinen Zwecken bedient,
nicht noch eine größere Kanaille sei, als der Hammel selbst. Es ist ein
beliebter Trick des menschlichen Genius, die garstig anrüchigen
Handlungen, die im Interesse seiner höheren Zwecke verrichtet werden
müssen, nicht selbst zu verrichten, sondern sich dafür scheinbar harmloser
Umwege zu bedienen. So hat die edle weiße Haut der roten Haut ihre
Spezialkrankheiten anvertraut und sie dadurch, unter freundlicher
Nachhilfe des edlen Feuerwassers, langsam aber sicher vernichtet. Ja, man
hat es sogar schon verstanden, eine Religion, die heiligste Ausstrahlung
eines großen Herzens voller Liebe und eines tiefen, weltumfassenden
Geistes, in zweckentsprechender Umgestaltung als wirksamstes Mittel zur
Unterjochung und Vernichtung kraftvoller Völker zu verwenden. Solchen
imposanten Großtaten menschlicher Niedertracht gegenüber will es moralisch
nicht viel bedeuten, wenn die Herren Armour & Co. die Bestechlichkeit
einer infamen Hammelseele benutzen, um ohne Tierquälerei und unliebsames
Aufsehen ihren menschenfreundlichen Zweck zu erreichen. Und
Menschenfreunde muß man doch diese genialen Unternehmer nennen, welche
ganz Nordamerika tagtäglich mit leckeren Braten und die ganze bewohnte
Erde mit ihren sauber in Blech verpackten, gepökelten und geräucherten
Fleischwaren versehen. Wer an einem glänzenden Beispiel lernen will, wie
der Menschengeist es fertig bringt, durch blutigen Mord und schnöden
Verrat hindurch mit Einsatz aller seiner Erfindungskraft und körperlichen
Geschicklichkeit schließlich dazu gelangen kann, die Vollendung des
Zweckmäßigen sogar bis zum künstlerisch Erbaulichen zu steigern, der sehe
sich das Verfahren in den Chicagoer Stockyards an.

Durch Upton Sinclaires berühmten Roman „_The Jungle_“ (der Sumpf) sind ja
die Augen der ganzen Welt auf Armour & Co.’s Packing Company gerichtet
worden. Ganz Europa ist es nach diesem Roman übel geworden. Es hat
monatelang kein _corned beef_ mehr gekauft, in der Meinung, daß in den
hübschen, sauberen Blechbüchsen mehr Rattenschwänze, abgehackte
Menschenfinger und andere leckere Zutaten vorhanden wären, als solides
Ochsen- und Schweinefleisch. Wer aber selber in jüngster Zeit, wie ich,
die Schlachthäuser und Packräume Armours aufmerksam durchwandert hat, der
wird doch sagen müssen, daß entweder Mister Sinclaire ein arger
Schwarzseher und Schwarzmaler sein, oder daß die Gesellschaft sich sein
Buch inzwischen zu Herzen genommen und durchgreifende Verbesserungen
gemacht haben müsse. Denn so wie das Unternehmen sich heute präsentiert,
bedeutet es einfach einen bisher unerreichten Gipfel in bezug auf
sinnreichste Ausnutzung der Maschine und der menschlichen Arbeitskraft,
auf Reinlichkeit, strengste Disziplin und restlose Ausnutzung des
verarbeiteten Materials.

An einem schönen klaren Wintertage brachte unser Chicagoer Gastfreund mich
und meine Frau zu Armours und ersuchte einen ihm bekannten Beamten der
Firma, uns herumzuführen. Es war zufällig derselbe Herr, der auch unseren
Prinzen Heinrich geführt hatte. In der stolzen Haltung des freien Bürgers
der größten Republik der Welt, d. h. die Hände in den Hosentaschen, eine
ungeheure Havannanudel aus dem Mundwinkel herauslakelnd, machte uns dieser
Herr zunächst einmal das Kompliment, daß unser kaiserlicher Prinz ein
feiner Kerl – _a fine fellow_ – sei. Man habe ihn vorher instruiert
gehabt, den hohen Herrn mit „_Your Royal Highness_“ anzureden; aber daran
habe er sich nicht gewöhnen können, und es habe offenbar dem Prinzen ganz
gut gefallen, einmal einfach wie irgendein anderer besserer Herr von
anständiger Familie behandelt zu werden. Wir wurden darauf sofort in den
Mittelpunkt der Hölle geleitet. Sehr vernünftiges amerikanisches Prinzip:
denn wer dieses Schrecknis, ohne einen Nervenchok zu kriegen oder
wenigstens in Ohnmacht zu fallen, aushält, dem kann überhaupt auf dieser
Wanderung nichts Schlimmes mehr passieren.

(M86)

Eine schwere schmale Tür wird aufgestoßen; eine heiße Welle von süßlichem
Blutdunst schlägt über unseren Köpfen zusammen, und das furchtbare,
wahnsinnig verzweifelte Todesgekreisch der Schweine betäubt uns die Ohren,
zerreißt uns das Herz. Wir stehen auf einer hohen schmalen Holzgalerie,
die dick mit Sägespänen bestreut ist, und schauen zwei Stockwerke tief
hinunter. Dicht an der Mauer im ersten Stockwerk unter uns dreht sich
langsam eine riesige, metallene Scheibe, über die eine schwere, eiserne
Kette läuft. Aus einem dunkeln Raum unter der Galerie, den wir nicht
übersehen können, werden die Schweine von riesenstarken Fäusten eines nach
dem anderen gepackt und ein an der Kette schwebender Haken um einen ihrer
Hinterschenkel befestigt. Im nächsten Augenblick wird das Tier
emporgehoben und mit dem Kopf nach unten, aus Leibeskräften strampelnd und
schreiend, über die große Scheibe weggeführt. Auf der anderen Seite dieser
Scheibe steht der Metzger. In dem Augenblick, wo die unendliche, sich
langsam fortbewegende Kette das Tier an seinen Standort bringt, führt er
den Todesstoß in den Hals aus. Ein dicker Blutstrom schießt heraus. Der
Mann ist über und über mit Blut bespritzt; er hat hohe Stiefel an und
steht bis an die Knöchel in einem Bluttümpel. Ein zweiter Mann in seiner
Nähe hat die Aufgabe, mit einem großen Besen das Blut in ein Loch im
Estrich hineinzufegen; in einem unterirdischen Bassin wird es zur weiteren
Verwertung aufgefangen. Alle paar Sekunden passiert ein Schwein den
Schlächter, so daß er in den wenigen Stunden, die seine Arbeitszeit
dauert, Hunderten den Garaus macht. Der Mann ist der höchstbezahlte
Arbeiter des Unternehmens, ein Meister in seinem gräßlichen Fache; aber
unfehlbar ist seine Hand natürlich doch nicht, und manche der gestochenen
Tiere zappeln und schreien noch eine ganze Weile weiter. Lange währt ihre
Qual jedoch auf keinen Fall, denn die Kette führt sie in die untere Etage
hinunter, und da werden sie abgeladen in ein gewaltiges Bassin voll
kochenden Wassers. Darin sieht man von oben die weißen Schweineleichen in
dichtem Gedränge durcheinanderquirlen, und wenn sie an der Kette wieder
nach oben schweben, so sind sie bereits so sauber abgebrüht, wie man sie
in unseren Metzgerläden in der Auslage hängen sieht. Kein Unterschied mehr
zwischen schwarzen, gelben, grauen und gescheckten Schweinen. Blaßrosig,
starr und schwach dampfend kommen sie in Abständen von etwa 2 Meter wieder
in die obere Etage heraufgeschwebt. Wir verlassen die Schreckenskammer und
schreiten auf unserer erhöhten Schaugalerie in einen großen, lichten Saal
hinein. Da stehen auf einem schmalen Podium an der Fensterseite die
Arbeiter mit ihren scharfen Messern, Äxten, Knochensägen und Lötlampen auf
ihren Posten, und während die Kette in langsamer Vorwärtsbewegung das
Schwein an ihm vorbeiführt, verrichtet jeder mit sicherer Hand immer
dieselbe ihm zugewiesene Arbeit. Der erste führt einen Bauchschnitt der
ganzen Länge des Körpers nach aus, der zweite rafft mit einem Griff die
Gedärme heraus, der dritte schneidet den Kopf durch bis auf den Knochen,
der vierte sägt den Halswirbel durch, ein anderer sengt mit der Lötlampe
die etwa noch übriggebliebenen Borsten weg – und so fort. Am Ende des
Saales beschreibt die Kette einen Bogen, um ihn dann in entgegengesetzter
Bewegung noch einmal zu durchlaufen, und am Ende dieses ganzen Weges ist
das Schwein sauber zerlegt, die Speckseiten herausgelöst, die Schinken,
die Hacksen zur besonderen Verwendung beiseite gepackt.

(M87)

Ganz ähnlich ist der Hergang in dem Riesenraum, in welchem die Rinder
bearbeitet werden. Aus einer Falltür werden sie von unten heraufgehoben
und durch einen Schlag mit einem Hammer auf den Kopf betäubt. Nach dem
Grausen der Schweineschlächterei wirkt diese Art des Massenmords geradezu
zart gedämpft, man möchte fast sagen, liebenswürdig diskret, denn das Rind
schreit nicht, es ist betäubt, bewegungslos noch bevor es ihm zum
Bewußtsein kommt, daß es in den Tod zu gehen bestimmt ist. Gewaltige
Maschinenkraft hebt das schwere, bewußtlose Tier an den Hinterfüßen in die
Höhe, und an der dicken Ankerkette bewegt es sich langsam durch den großen
Arbeitssaal. Am Kopfe hängt jedem Tier ein Eimer, in dem das Blut beim
Schlachten aufgefangen wird, und so geschickt verrichten die
Schlächtergesellen ihre Arbeit, daß man in diesem Saale, mit den Augen
wenigstens, fast kein Blut gewahr wird. Da in dem mächtigen Rindskadaver
die Arbeit nicht so geschwind von statten geht, wie bei dem Kleinvieh, so
hängen die Rinder in großen Abständen an der Kette, und jeder Arbeiter
geht dem ihm zugewiesenen Stück so lange nach, bis sein Anteil an dem Werk
des Abhäutens, Zersägens und Zerteilens verrichtet ist. Der Grundsatz der
Arbeitsteilung ist strikte durchgeführt. Ein Arbeiter hat nie etwas
anderes zu tun, als das Rückgrat von oben bis unten durchzusägen, ein
anderer nur das Abhäuten zu besorgen – und wehe dem, wenn er das wertvolle
Fell durch einen ungeschickten Messerstich verletzt; sofortige Entlassung
ist seine Strafe.

(M88)

Von den Schlachträumen gelangen wir tiefaufatmend in die frische Luft.
Über hölzerne Brücken und Viadukte, auf denen Schmalspurbahnen laufen, die
die verarbeiteten Fleischteile von einem Raum zum andern befördern, gehen
wir in die Packhäuser hinüber, wo das gekochte, geräucherte und
eingepökelte Fleisch in die bekannten Blechdosen verpackt wird. Maschinen
von fabelhafter Präzision verfertigen vor unseren Augen die Tausende und
Abertausende von Blechgefäßen, und die einzige Menschenarbeit, die hierbei
in Anspruch genommen wird, ist das letzte Verlöten des Deckels und das
Bekleben der Dosen mit den schönen, buntgedruckten Papieretiketten. Das
Schlußstück in der seltsam aufregenden und dennoch bezaubernden Schau ist
der Saal, in welchem nette junge Mädchen in weißen, steif gestärkten
Häubchen und blendenden Kleiderschürzen an langen Tischen sitzen, mit
feinen weißen Händen die dünnen Fleischscheiben, die die lautlos
arbeitende Maschine vor jedem einzelnen Arbeitsplatz im unfehlbaren
Rhythmus hinstreut, in die Blechbüchsen verpacken. Die tadellose
Sauberkeit dieser Mädchenhände wird dadurch sinnfällig gemacht, daß nicht
nur reichliche Wascheinrichtungen dem Beschauer sofort ins Auge fallen,
sondern daß in einer Ecke des Saales auf einer erhöhten Tribüne eine
artige Maniküre fortwährend an der Arbeit ist, um die Fingernägel zu
säubern und streng vorschriftsmäßig im Verschnitt zu halten. Diese
Maniküre und jener infamste Schurke Dollaricas, nämlich der Leit – hammel,
stehen also als symbolische Gestalten am Eingang und am Ausgang einer der
gewaltigsten industriellen Unternehmungen der Erde: brutalste
Rücksichtslosigkeit und raffinierteste Delikatesse reichen sich die Hand
zur Vollendung eines notwendigen Menschenwerkes. Der Zweck, nämlich die
Versorgung der Menschheit mit tadellos zubereiteter Fleischspeise, heiligt
die Mittel, und die Mittel heiligen wiederum auch den Zweck; denn um mir
die gutgepökelte Zunge in sauberer, luftdicht verschlossener Büchse auf
den Tisch zu setzen, haben Menschenwitz und Menschenfleiß ihr Letztes
hergegeben und durch geniale Ausnützung des Materials und Hinaufsteigerung
aller Energien zu äußersten Leistungen das blutige Chaos in vollendete und
darum ästhetisch wirkende Harmonie verwandelt.



                     BAEDEKEREIEN FÜR AMERIKAFAHRER.


(M89)

Während meines Aufenthaltes in New York geschah es, daß ein aufgeweckter
Marschbauer, irgend so ein deftiger Klaas Petersen, oder wie er nun heißen
mochte, mit der ganz gescheiten Absicht herüber kam, sich für die etlichen
30 oder 40000 Mark, die er aus dem ererbten Bauerngut herausgewirtschaftet
hatte, im fernen Kansas, Oklahama oder sonst einem der neuen Staaten, wo
das Land noch spottbillig ist, eine große Farm zuzulegen. Der Mann war in
der Vollkraft seiner Jahre, verließ sich auf seine derbe Faust, seinen
klaren Dickkopf und seinen deutschen Fleiß und hatte guten Grund,
anzunehmen, daß er schon in ein paar Jahren Frau und Kinder würde
nachkommen und aus dem vollen an dem stolzen Herrenleben eines
Großgrundbesitzers im Lande der Freiheit teilnehmen lassen können. Der
Mann hatte in seiner biederen Offenheit auf dem Schiffe aller Welt
erzählt, wieviel er bei Heller und Pfennig wert sei, und der Kapitän, der
es gut mit ihm meinte, hatte ihm für seinen Einzug in die
Fünfmillionenstadt einen sicheren Begleiter in Gestalt eines seiner
Offiziere mitgegeben. Der nahm Klaas Petersen freundschaftlich unter den
Arm und führte ihn zunächst einmal die Kellertreppe zur _Subway_, der
Untergrundbahn hinunter, welche unter dem Bette des Hudson hindurch
Brooklyn mit New York verbindet und dann in zwei Ästen die ganze
Manhattaninsel bis in die ferne Vorstadt Bronx durchzieht. Als aber Klaas
Petersen über das Treppengewirr und durch das Menschengewimmel hindurch in
einen der Riesenwagen hineinbugsiert war und nun in drangvoll
fürchterlicher Enge, eingekeilt zwischen hinter riesigen Zeitungen
verschanzten Negern, Chinesen, Italienern, Russen und glattrasierten
Yankees stand, als der elektrische Zug donnernd in die schwarze
Felsenhöhle hineintauchte und dort mit unheimlicher Schnelligkeit um die
Kurven schlingerte, da fing Klaas Petersen aus Dithmarsen bitterlich zu
weinen an und schluchzte: „Ick will nah Huus! dor speel ick nich mit. –“
Und dabei blieb’s; er wollte keine Vernunft annehmen. Mit dem nächsten
Schiffe kehrte er tatsächlich wieder heim.

Noch übler erging es einem anderen Grünhorn, das sich auf seinen eigenen
Witz verließ und bei Brooklyn-Bridge einen Trambahnwagen bestieg, um über
die berühmte Brücke nach Brooklyn zu fahren, wo er einen Landsmann
aufsuchen wollte. Und er kam auch über die Brücke, aber er verstand nicht,
was der Schaffner ausrief, und traute sich nicht aufs Geratewohl
auszusteigen; und ehe er sich’s versah, war er wieder auf der Brücke, denn
die Trambahnlinie bildet eine geschlossene Schleife. Da er ein
Gemütsmensch war, gedachte er in Ergebung hinzunehmen, was der Herr in
seinem unerforschlichen Ratschluß über ihn beschlossen hätte. Er fuhr also
auf der großen Schleife hin und her, Tag und Nacht, drei Tage lang.
Schließlich mußte man ihn aus Mitleid erschießen, da er sonst verhungert
wäre.

Wenn du mir diese traurige Geschichte nicht glauben magst, lieber Leser,
so laß es bleiben. Deswegen bleibt es doch als unumstößliche Wahrheit
bestehen, daß du in Amerika unmöglich bist, sofern der Himmel dich zu
einem Junker Träuminsblau geschaffen oder deine Eltern dich mit der
Zipfelmütze bis über die Nase und einem schönen Brett vorm Kopf in die
Welt entlassen haben. Bist du aber kein Muttersöhnchen, das in der Bangbüx
bebbert, sondern ein gesunder Frechdachs mit offenen Sinnen und nicht zu
viel Vertrauensseligkeit, so kannst du dich dreist in das Abenteuer
stürzen. Bist du ein armer Teufel, der drüben sein Glück machen will, so
wappne dich mit Humor und Wurstigkeit, schäme dich keiner Arbeit und laß
die Ohren nicht hängen, wenn es dir in einem Fach mißlingt. „_Let us try
another chance_“ sagt der Amerikaner in diesem Falle, und das sag du auch
und pfeif drauf. Willst du aber zu deinem Vergnügen und zu deiner
Belehrung dich drüben umschauen, so tue Geld in deinen Beutel, viel Geld –
noch viel mehr Geld! Denn wisse, daß für den nicht seßhaften Menschen
drüben die meisten Dinge doppelt und viele viermal so viel kosten wie bei
uns. Für ein Seidel Würzburger Hofbräubier oder Pilsner, das nur 4/10
Liter hält, mußt du einen _Quarter_ hinlegen, das ist _M_ 1.–, und du
wirst bald dahin gelangen, diesem _Quarter_ nicht mehr wehmütig
nachzutrauern; denn das amerikanische Bier enthält zwar Wasser, Malz und
Hopfen und sieht schön braun oder goldgelb aus, hat auch wohl eine
verlockende schneeweiße Rahmhaube auf und der erste Schluck geht dir
lieblich ein, aber bald merkst du, daß es doch kein Bier ist. Und dann
wirst du auch bald finden, daß es sehr viel leichter ist, die schmalen,
schmutzigen, zerknitterten Papierlappen auf den Tisch zu werfen, als bei
uns daheim ein schönes blankes Zwanzigmarkstück anzureißen; du mußt
nämlich schon sehr weit westlich fahren, bevor du überhaupt Gold zu sehen
bekommst. Mache dir nur ja nicht etwa die Illusion, als ob du an
irgendeiner Stelle wieder hereinsparen könntest, was du an anderer Stelle
großzügig verschwendet hast. Abgesehen davon, daß der Knicker und
Pfennigfuchser in dem Lande der Milliardäre höchst verächtlich über die
Achsel angesehen wird, kommst du auch schon aus dem Grunde nicht zum
Sparen, weil die guten Dinge, die zum täglichen Bedürfnis des Gentleman
gehören, durch die ganze Union ziemlich denselben Preis haben. Du kannst
zum Beispiel nicht in einem Hotel zweiten Ranges wohnen und in einem
Restaurant ersten Ranges speisen, weil es einfach kein Hotel zweiten
Ranges gibt. In den großen Städten wenigstens sind alle Hotels, denen sich
ein besserer Zeitgenosse überhaupt anvertrauen kann, nach unseren
Begriffen erster Klasse, und was danach kommt, ist nach unseren Begriffen
gleich vierter Klasse. Du kannst auch nicht im Hotel erster Klasse wohnen
und dann anderswo billig essen gehen, d. h. du kannst es wohl, aber du
wirst bald davon zurückkommen. Denn das billige Essen ist auf die Dauer
unmöglich, und zwischen den Preisen der Speisekarte in einem guten Hotel
und einem anständigen Restaurant gibt es kaum einen Unterschied. Versuche
um Gottes willen auch nicht mit Trinkgeldern zu knausern, das würde dir
übel bekommen; nicht nur in der Welt der Kellner, sondern in der
breitesten Öffentlichkeit würde es deinem Renommee schaden. Ein werter
Freund und Kollege von mir hatte sich von Eingeborenen sagen lassen, daß
der übliche Satz für den Kellnertip, wie bei uns, bei kleineren Rechnungen
zehn Prozent betrage. Seine erste Konsumation im Hotel bestand in einem
belegten Brötchen mit einem Schnitt Bier, wofür er 70 Cent = _M_ 2,80
bezahlen mußte. Gewissenhaft wie er war, suchte er 7 Cent zusammen und
schob sie reinen Herzens dem _waiter_ zu. Der starrte erst mit
verdächtigem Grinsen auf das Sümmchen hin, dann lief er zum Oberkellner,
beriet sich längere Zeit mit ihm und kehrte endlich zurück, um die 7 Cent
zwar ohne Dank, aber mit den sichtbaren Zeichen einer unangemessenen
Fröhlichkeit einzustreichen. Am andern Morgen stand es in sämtlichen New
Yorker Blättern, daß der beliebte deutsche Dichter 7 Cent Trinkgeld
gegeben habe. Und wo immer unser lieber Landsmann erkannt wurde, lachten
ihm die Kellner frech ins Gesicht. Merke dir also, lieber Landsmann,
besonders wenn du aus München kommen solltest, wo die Kati schon für drei
Pfennige danke schön sagt, daß man unter zehn Cent überhaupt keiner
Hilfskraft in der Ernährungsbranche anbieten darf, und daß man das
Trinkgeld immer nach oben bis zur nächsten durch zehn teilbaren Ziffer
abrunden muß.

(M90)

Du darfst ruhig Piefke heißen und in Schmierölen machen und brauchst dich
doch keinen Moment zu besinnen, in den vornehmsten Hotels einzukehren.
Wenn du halbwegs wie ein besserer Zeitgenosse aussiehst und weder die
Sauce mit dem Messer aufschleckst, noch den Kompotteller ableckst, so
wirst du auch in der allerprominentesten Gesellschaft geduldet werden. Für
fünf Dollar bekommst du überall ein anständiges Zimmer mit Bad, und wenn
du dich mit deiner Frau Gemahlin gerade gut stehst, kannst du für
denselben Preis sie auch mit hinein nehmen, denn die Betten sind immer
reichlich zweischläfrig. Nur wenn du vielleicht so weit gehen wolltest,
auch deine Kleinen noch mit querzulegen, so würde man das vielleicht als
einen Mißbrauch der Gastfreundschaft betrachten und dir einige Dollars
extra tschardschen. Aber wer reist überhaupt mit Kindern nach Amerika?!

(M91)

Das Hotel spielt im amerikanischen Stadtleben eine ganz andere Rolle wie
bei uns. Es ist ein gesellschaftlicher und geschäftlicher Treffpunkt, und
die _Lobby_, d. h. die Vorhalle im Erdgeschoß mit ihren massenhaften
Schaukelstühlen, Klubsesseln, Zeitungs-, Zigarren- und sonstigen
Verkaufsständen, spielt dieselbe Rolle, wie der Barbierladen im antiken
Athen und Rom und wie das Caféhaus in Österreich. In der Lobby befinden
sich auch Sekretariat und Kasse des Hotels sowie Auskunftei und
Ausgabestelle für die Post. Die größeren Häuser haben sogar eine eigene
Telephonzentrale für die Vermittlung des riesigen Gesprächsverkehrs
innerhalb des Hauses wie mit der näheren und ferneren Außenwelt, und was
man dir nicht mündlich durch den Draht ausrichten kann, das wird dir auf
elektrochemischem Wege schriftlich gegeben. Selbst in den mittleren
Städten haben die guten Hotels selten unter zehn Stockwerken. Eine ganze
Anzahl von Lifts flitzen Tag und Nacht herauf und herunter vom Keller, wo
der Barbier, die Manikure, der Wichsier dich bearbeitet, bis hinauf zum
Dachgarten, wo du in schönen warmen Sommernächten bei Musik und feenhafter
Beleuchtung dein Nachtmahl einnehmen kannst. In der Lobby aber und in den
angrenzenden Restaurationsräumen laufen fortwährend kleine niedliche Pagen
mit Zerevismützchen auf den Kinderschädeln herum und quarren die Namen der
Leute aus, für die ein Besuch oder eine Depesche da ist, oder die am
Telephon verlangt werden usw. usw. Da sich in der Lobby jedermann
aufhalten kann, auch wenn er nicht im Hause wohnt, so kann man ruhig bei
bösem Wetter dort hineinflüchten, sich eine Zeitung und eine Zigarre
kaufen und in einem Schaukelstuhl Platz nehmen, bis es sich ausgeregnet
oder gar ein Blizzard sich ausgetobt hat. Man trifft sich dort morgens mit
seinen Geschäftsfreunden und abends mit seinem Liebchen. Bauernfänger,
Detektivs und Reporter wimmeln in Scharen dort herum. Die letzteren holen
sich drei Viertel ihres Stoffes in der Lobby. Sie liegen auf der Lauer bei
dem Clerk, der das Fremdenbuch führt, in das jeder neu ankommende Gast
sich einschreiben muß, und stürzen sich auf ihn, sofern er nur irgendwie
prominenzverdächtig oder weit hergereist ist oder sich durch einen
europäischen Titel auffällig gemacht hat. Sie haben Augen und Ohren
überall, stenographieren in ihr Taschenbuch, was sie an Gesprächen der
Politiker, der Spekulanten, der Weltreisenden und der Klatschbasen
erlauschen können, beschreiben die Toilette und das Gepäck reisender
Künstlerinnen und konstruieren sich ganze Romane aus dem bloßen
Mienenspiel aufgeregt flüsternder Leute.

Jeder, der es irgend _afforden_ kann, kehrt in den großen Hotels ein,
selbst Menschen, die man bei uns zu den kleinen Leuten rechnen würde, und
reiche Leute, die auf dem Lande oder in den Kleinstädten wohnen, aber oft
in der Hauptstadt zu tun haben, lassen sich sogar jahrein, jahraus ein
Zimmer für sich reservieren. Folglich sind die Hotels immer voll und
amüsant für jeden, der kein Menschenfeind ist. An Bequemlichkeiten und
Luxus wird dir für deine europäischen Begriffe Fabelhaftes geboten. Bad
und Telephon in jedem Zimmer sind selbstverständlich; ein Transparent
leuchtet auf und zeigt dir an, daß Briefe für dich in der Office sind, und
was das Allererstaunlichste ist – jeden Abend wird dein Bett frisch
bezogen, als ob du ein Milliardär oder ein Erzschweinepelz wärst! Nur
deine Kleider mußt du dir selber reinigen, wenn du nicht _M_ 2 extra dem
Hausschneider dafür bezahlen willst, und die Stiefel mußt du dir im Keller
oder auf der Straße putzen lassen. Was aber das Schönste ist: du kannst
ruhig abreisen ohne durch ein Spalier von Trinkgeld heischenden
Bediensteten Spießruten laufen zu müssen. Dem Hausdiener, der deine Koffer
dir aufs Zimmer schleppt, gibst du eine Kleinigkeit auf frischer Tat, und
wenn du ein Menschenfreund bist, erfreust du gelegentlich den Liftboy mit
einem Tip. Selbstverständlich kannst du auch im Office dein Bahnbillett
und dein Gepäck besorgen lassen, und wenn du als Neuling Schwierigkeiten
mit dem Zurechtfinden oder mit den Behörden hast, so wird dir ein sehr
feiner Gentleman zur Verfügung gestellt, der dich sicher geleitet und für
dich redet, wo du etwa mit deinem Englisch nicht auskommst. Der Gentleman
behandelt dich und du ihn wie seinesgleichen, und du brauchst ihm nichts
in die Hand zu drücken – er steht nachher auf deiner Rechnung. Alles, was
du im Hause verzehrst, bezahlst du bar, und es steht dir vollkommen frei,
deine Mahlzeiten einzunehmen, wo du willst.

(M92)

Wenn du ein Deutscher bist, so wirst du wahrscheinlich bei der Ankunft in
New York deine Schritte zunächst ins _Astorhotel_ lenken, und du wirst gut
daran tun, sintemal du bei dieser Gelegenheit gleich erfahren kannst, wie
herrlich weit aus kleinsten Anfängen heraus es ein intelligenter,
tatkräftiger Deutscher drüben bringen kann. In dem Hotel der _Gebrüder
Muschenheim_, aus dem hessischen Dörfchen gleichen Namens, findest du
nicht nur all den hier geschilderten Luxus und Komfort, sondern auch für
dein ästhetisches Bedürfnis in dem großen Festsaal eine der schönsten
Orgeln der Welt, die täglich von Künstlern ersten Ranges gespielt wird,
und im Grillroom etwas für deinen historischen Sinn, nämlich ein
geschmackvoll zusammengestelltes Museum, das dir über Leben und Treiben
der Indianer in Vergangenheit und Gegenwart einen höchst lebendigen
Anschauungsunterricht erteilt. – Kommst du aber weiter ins Land hinein, in
die mittleren und kleineren Städte, so erkundige dich ja, bevor du dich in
das Fremdenbuch einträgst, ob das Haus in europäischem oder amerikanischem
Stil geführt wird; andernfalls kann es dir so ergehen wie mir in einer
kleinen Stadt Wisconsins. Ich wurde mit meiner Frau in einem der besten
Zimmer eines neuen Anbaues zu dem angeblich ersten Hotel der Stadt
untergebracht. Außer dem großen Bett stand kein Möbel in diesem Zimmer
fest auf seinen vier Beinen, das vierte war nur angelehnt, wenn überhaupt
vorhanden. Auf der frisch gekalkten Wand prangten als einziger Schmuck
zwei interessant umrissene Flecke, der eine vom Wasser, der andere vom
Rauch herrührend; ein Bad gehörte selbstverständlich auch zu diesem
Staatszimmer, es war aber mehr ein Badloch zu nennen, und die Wanne darin
war, (ich habe sie ausgemessen), 47 cm lang. Wenn man seine Knie bis ans
Kinn hinaufzuziehen imstande war, konnte man allenfalls sitzend darin
Platz finden. Da wir während unseres Aufenthaltes zu allen Mahlzeiten
eingeladen waren, so verzehrten wir nichts außer dem Frühstück am anderen
Morgen, d. h. wir hätten dieses Frühstück verzehren können, wenn man es
uns noch verabreicht hätte, was aber nicht der Fall war, da wir erst nach
neun Uhr im Restaurant erschienen. Wir mußten also in die Stadt gehen und
in einer Konditorei frühstücken. Die Rechnung betrug 7 Dollar, also nahezu
_M_ 30.– für ein Bett, einen Tisch mit drei Beinen, zwei Flecken und ein
Quetschbad! Ich konnte nicht umhin, meinem Erstaunen Worte zu leihen. Da
entgegnete mir der Clerk im Office seelenruhig: „Ja, _warum haben_ Sie
denn nichts verzehrt hier? Das ist Ihr Pech. Sie hätten für die 7 Dollar
essen können, soviel Sie wollten, von morgens bis abends. Wir haben
nämlich amerikanischen Plan hier.“ Und die ganze Menschheit in der Lobby
quietschte vor Vergnügen über die lange Nase, mit der ich abziehen mußte.
Jetzt also, lieber Leser, weißt du, was _american plan_ ist.

(M93)

Wenn du nur einigermaßen prominent bist oder durch sonst welche
auffälligen Eigenschaften die Aufmerksamkeit der Reporter auf dich gelenkt
hast, so kannst du die Freude erleben, am Tage nach deinem Einzug ins
Hotel in den Morgenblättern eine schmeichelhafte Beschreibung deines
Exterieurs, eine Würdigung der Vorzüglichkeit deines eventuellen
Schmieröls und außerdem deine Ansicht über Amerika zu lesen. Unter anderen
Folgen solcher frisch gebackenen Popularität wird sich auch ein Gentleman
in tadellosem Anzug mit liebenswürdigen Manieren befinden, der dir seinen
Besuch macht und sich erbietet, dir gänzlich kostenlos deine ganze
Reiseroute auszuarbeiten und die nötigen Fahrkarten nebst den Beikarten
für Pullmanwagen und Bett zu besorgen. Du bist natürlich baß erstaunt über
diese fabelhafte Zuvorkommenheit, beschaust dich im Spiegel und begreifst,
wie Gretchen im Faust, nicht, was man an dir findet. Da läßt sich ein
zweiter, ebenso eleganter und liebenswürdiger Gentleman melden, erkundigt
sich ebenfalls, wohin deine Reise gehen soll und macht dich lächelnd
darauf aufmerksam, daß der Herr, der vorher da war, dir eine sehr
unvorteilhafte Route vorgeschlagen habe; mit seiner Gesellschaft würdest
du schneller, komfortabler und sicherer reisen. Da hast du des Rätsels
Lösung. Da zwischen den bedeutenden Plätzen der Union fast überall mehrere
Eisenbahnlinien bestehen, so suchen sich die verschiedenen Gesellschaften
ihre Kunden persönlich einzufangen, obwohl man nicht nur in allen großen
Hotels, sondern auch in den verschiedensten Stadtgegenden in den eleganten
Offices der verschiedenen Gesellschaften seine Billette vorausbestellen
kann. Diese starke Konkurrenz hat für den Reisenden das Angenehme, daß
sich jede Linie die größte Mühe gibt, ihm so viele Bequemlichkeiten und
Vorteile zu bieten, wie irgend möglich. Wenn du also zum Beispiel
geborener Berliner bist und als solcher Wert darauf legst, deiner
koddrigen Schnauze Bewegung zu machen, so kannst du während deiner Reise
alles bemäkeln, und wenn du dich irgendwie zurückgesetzt fühlst, den
erschrockenen Oberkontrolleur anfahren: „Wissen Sie, alter Freund, mit
Ihrer verdammten Linie fahre ich nie wieder, verstehen Sie mich!“ Gegen
Langeweile oder Magendrücken ist eine solche Erleichterung der Galle recht
nützlich. Übrigens ist es immer sehr angenehm, einen reisegewöhnten
Amerikaner zum Beistand zu haben, denn die Kursbücher sind für den
Uneingeweihten sehr schwer verständlich; außerdem gibt es auch keine. Die
einzelnen Gesellschaften legen ihre Fahrpläne in möglichst farbenfreudiger
Ausstattung in den Hotels auf, und wenn man eine Reise vor hat, die einen
über ein Dutzend verschiedener Linien führt, so stopft man sich also zwölf
solcher schönen bunten Büchelchen in die Tasche; man wird aber, wie
gesagt, schwer klug daraus, obwohl sonst alles, was das Verkehrswesen
betrifft, von den Amerikanern überaus praktisch angepackt wird. Wie
prächtig glatt und rasch geht z. B. die Gepäckaufgabe vonstatten! Durch
einen Handgriff deines Koffers wird ein Lederriemchen oder ein Spagat
gezogen, an dem eine Papp- oder Blechmarke befestigt ist, welche eine
Nummer und den Namen des Bestimmungsortes trägt, das Duplikat dieser Marke
wird dir ausgehändigt. Fertig! Und kostet nichts, außer wenn du über einen
Zentner mit dir schleppst. An der letzten Station vor deinem Ziel geht ein
Mann durch den Zug und ruft: „Gepäck für Chicago!“, oder was es nun sein
mag. Du gibst ihm deine Marke und nennst ihm dein Absteigequartier.
Fertig! Gibst du zerbrechliche Gegenstände oder schlecht verpackte Kolli
auf, so mußt du einen Revers unterschreiben, daß du die Bahnverwaltung
nicht für etwaigen Schaden verantwortlich machen willst. Willst du das
nicht, so nimmt man dein Gepäck nicht mit, oder du mußt es besonders
versichern. Das ist alles sehr vernünftig und nicht zeitraubend.

(M94)

Von den Bequemlichkeiten des Pullmanwagens hast du sicher schon so viel
gehört, daß ich dir darüber schwerlich etwas Neues erzählen kann.
Verwunderlich ist es nur, daß in diesem Lande der höchst entwickelten
technischen Kultur doch noch schlechte Gewohnheiten sich erhalten können,
die so fest sitzen wie ein chinesischer Zopf. So sind beispielsweise auch
die schönsten Pullmanwagen fast immer entsetzlich überheizt und während
des ganzen Winters sind die Doppelfenster hermetisch verschlossen. Die
einzige frische Luft, die hereinkommt, ist der Zug, der auf der Station
durch das Öffnen der Außentüren entsteht. Bevor du an deinem
Bestimmungsort ankommst, nimmt dich der aufwartende Neger in Behandlung,
klopft deinen Überzieher aus und bürstet dich von oben bis unten
sorgfältig ab. Das ist nun sehr hübsch von ihm, und du gibst ihm gern
seine 20 Cent dafür, aber – die Zurückbleibenden müssen deinen Staub
schlucken! Man kann sich die Atmosphäre am Ende einer langen Reise
vorstellen! In der Nacht ist die Staub- und Hitzplage natürlich noch viel
ärger, weil da die Türen seltener aufgemacht werden. Ich begreife
überhaupt nicht, wie europäische Reisende die Schlafeinrichtung der
Pullmanwagen bewundern können. Man liegt nämlich nicht, wie bei uns, quer,
sondern längs in zwei Reihen übereinander, und zwar ohne Unterschied des
Standes, Alters oder Geschlechts. Für die Ruhe soll es freilich
vorteilhafter sein, die Stöße des Wagens in der Längslage abzufangen, und
die Betten sind auch breiter als bei uns; aber man wird ganz und gar
hinter dicke, natürlich mehr oder minder staubige Vorhänge versteckt,
deren Schlitz man, wenn man glücklich in sein Bett geturnt ist, von oben
bis unten zuknöpfen muß. Ich fühlte mich einmal dem Ersticken nahe und
konnte vor Atemnot kaum noch nach dem Neger schreien. Als ich den um
Himmels willen bat, doch wenigstens die Ventilationsklappe zu öffnen,
erklärte er achselzuckend, es sei eine Dame mit einem verschnupften Kind
im Wagen, die habe sich die Ventilation strengstens verbeten. Gegen S. M.
„das Kind“ gibt es keinen Appell in Amerika. Wenn das Kind verschnupft ist
mögen die Großen ersticken und verrecken. Sehr zu empfehlen ist es, wenn
du dir einen Schlafanzug anschaffst, weil sonst mehr Geschicklichkeit dazu
gehört, das Bedürfnis nach Ausgezogenheit mit der Genierlichkeit in
Einklang zu bringen, als der Anfänger zu besitzen pflegt. Allerdings
befinden sich an beiden Enden der riesengroßen Wagen sehr geräumige
Toiletten, in denen vier bis sechs Menschen gleichzeitig sich aus- oder
ankleiden können; aber wenn man nicht praktisch im _american style_
ausgerüstet ist, so weiß man doch nicht, wohin mit seinen Sachen, und wie
man im Nachtzustande über eine Dame weg in seine luftleere Angstkammer
kriechen soll, ohne den Anstand zu verletzen. Die Damen haben das
leichter, die ziehen sich bis auf die Combinations im Toilettenraum aus
und werfen einen Schlafrock drüber. Früher pflegten sie die Strümpfe
anzubehalten und ihr Geld darin zu verwahren. Die schlauen Niggers wußten
das und verstanden mit leichter Hand unter die Bettdecken zu fahren und
tiefschlafenden Damen die Strümpfe zu erleichtern. Neuerdings rentiert
sich aber dies Geschäft nicht mehr, ebensowenig wie das Ausrauben der
Passagiere mit vorgehaltenem Schießeisen, weil kein Mensch mehr Geld bei
sich trägt als er gerade für die Reise nötig hat. Heutzutage hat jeder
Mensch sein Scheckbuch bei sich und damit kann der Räuber nichts anfangen.
(Wenn du also nach den Vereinigten Staaten kommst, so sei dein erster Gang
zu einem gut empfohlenen Bankhaus, wo du dein Geld deponierst und dir ein
Scheckkonto eröffnen läßt.) Nebenbei kannst du im Pullmanwagen lernen, was
amerikanische Reinlichkeit ist. Ich werde nie die umständliche
Morgentoilette eines herkulischen Gentleman nach einer Nachtfahrt
vergessen. Der Mann war sicherlich weder ein Gesandtschaftsattaché, noch
sonst ein Kulturgigerl, sondern, seinen reich tätowierten Armen und Händen
nach zu schließen, eher ein Metzger oder Viehhändler. Der Kerl wusch sich
vom Kopf bis zu den Füßen, rasierte und frisierte sich, putzte Zähne,
Ohren, Nägel, daß es wirklich eine Freude war, ihm zuzuschauen. Er nahm
sich eine ganze Stunde Zeit dazu und behandelte seinen ungeschlachten Leib
mit der Liebe und Sorgfalt eines Künstlers, der die letzte Feile an sein
Werk legt. Ich vermute, bei uns gibt es Durchlauchten, die von der
Akkuratesse dieses Viehtreibers profitieren könnten. – Übrigens geht so
eine amerikanische Nachtfahrt auch dadurch arg auf die Nerven für jeden,
der kein geborenes Murmeltier ist, daß die Glocken und Pfeifen der
Lokomotiven fortgesetzt einen greulich aufgeregten Lärm vollführen, bei
dem einem angst und bange werden kann. Sie müssen nämlich alle Augenblicke
Warnungssignale geben, weil es fast nirgends Schranken gibt; Fahrstraßen
sowohl wie andere Eisenbahnlinien kreuzen sich auf freier Strecke ohne
Unter- oder Überführung. Da wird der nervöse Europäer schwer den Gedanken
los, daß ihm plötzlich ein anderer Expreßzug rechtwinklig durch seinen
werten Unterleib fahren könnte. Nein, alles was recht ist, aber
Nachtfahrten sind nur in Rußland, Schweden und Norwegen wirklich
komfortabel.

(M95)

Am bequemsten, sichersten und billigsten reist du in den Vereinigten
Staaten, wenn du den Vorzug hast, weiblichen Geschlechts zu sein. Niemand
dürfte es da drüben wagen, einer Dame zu nahe zu treten. Jedermann ist auf
einen Wink ihr zu jedem Dienst erbötig, und wenn sie einen Kavalier bei
sich hat, so ist es seine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, alles für
sie zu zahlen. Ich habe ein einziges Mal in Amerika einen wilden
Wortwechsel erlebt, der in Tätlichkeiten auszuarten drohte; das war in
einem überfüllten Straßenbahnwagen in New York. Eine gut angezogene, nette
Negerin des besseren Mittelstandes versuchte durch die dicht gedrängt
stehenden Menschen den Ausgang zu gewinnen. Da rief eine Männerstimme:
„_Let the ladys get out first!_“ – und eine andere Stimme höhnte dagegen:
„_Let the Niggers get out first._“ Und nun platzten über die Doktorfrage,
ob eine Negerin auch zu den Damen zu rechnen sei, die Leidenschaften wild
aufeinander! – Merke dir auch, mein Freund, daß du Damen deiner
Bekanntschaft auf der Straße nicht zuerst grüßen darfst, das würde für
eine Anmaßung angesehen werden; du mußt abwarten, ob sie die Gnade haben
wollen, dich noch zu kennen. Du darfst auch ein Weib nicht bewundernd
anstarren, und sei es noch so schön. Hast du aber die Bekanntschaft einer
Dame in Gesellschaft oder im Familienkreise gemacht, und würdigt sie dich
ihres freundlichen Interesses, so brauchst du dich auch nicht so
zimperlich mit ihr anzustellen, wie bei uns. Handküsse sind nicht üblich,
wohl aber ein ungeniertes festes Anpacken. Wird dir z. B. die Aufgabe
zuteil, eine Dame durch gefährliches Straßengewühl zu geleiten, so packst
du sie fest am Oberarm und schiebst sie wie einen Karren vor dir her; das
ist sicher und für beide Teile angenehm. Hast du dir gar Freundinnen in
den besseren Kreisen erworben, so kannst du sie ungeniert zum Theater oder
zum Soupieren oder zu einem Ausflug und dergleichen einladen, ohne eine
Mutter oder eine Tante als Begleitung befürchten zu müssen. Wenn du von
deinen Freundinnen wohlgelitten bist, kannst du dir alle möglichen
Vertraulichkeiten herausnehmen, ohne daß sie selbst oder die Familie
deswegen auf deinen Antrag lauert. Nur mit dem Küssen sei vorsichtig; denn
das Gesetz mancher Staaten betrachtet den Kuß als Heiratsversprechen, als
tätliche Beleidigung oder Körperverletzung und brummt dir pro Stück eine
beträchtliche Geldstrafe auf. Natürlich gibt es aber auch nette
Amerikanerinnen, die gern und gratis küssen.

Den Hut kannst du fast überall aufbehalten, nicht nur in der Synagoge,
sondern auch in der Lobby des Hotels; aber im Elevator mußt du ihn stramm
herunterziehen, sobald eine weibliche Person über vierzehn Jahre
hereintritt. Im übrigen wirst du durch dein teutonisches Hutabreißen und
beflissenes Vorstellen nur lächerlich. Mache es dir zum Grundsatz, von
deinen Mitmenschen, solange sie dir nicht durch einen Dritten offiziell
vorgestellt sind, keinerlei Notiz durch höfliche Formalitäten zu nehmen.
Wenn du einem Bekannten oder Freunde gar auf der Straße begegnest, so hast
du es auch nicht nötig, deinen Deckel herunterzureißen und deinen Skalp
der Unbill der Witterung auszusetzen, du winkst mit der Hand und rufst
lächelnd: „_Hallo, Bobby, how do you do!_“, worauf er gleichfalls winkt
und ruft: „_Hallo, Fritze, how do you do!_“ Das ist praktisch und macht
einen guten Eindruck; denn vermutlich habt ihr alle beide keine Zeit, und
ist euch auch beiden gänzlich gleichgültig, zu erfahren, wie es euch geht.
Auch vor Hochgestellten brauchst du keineswegs in Wurmgestalt zu kriechen;
dafür verlangt man aber auch von dir, daß du die sozial untergeordnete
Menschheit nicht hochmütig von oben herunter behandelst. Der Schatz der
amerikanischen Umgangssprache ist reich an massiven Deutlichkeiten, und
wenn du dir herausnimmst, einen Bediensteten anzuschnauzen, so kann es dir
leicht passieren, daß du mit einer reichlichen Blumenlese aus diesem
Wortschatz beschenkt wirst. Die Quintessenz der amerikanischen Höflichkeit
besteht darin, daß man sich gegenseitig nicht im Wege ist, daß man seinem
Nebenmenschen nicht seine kostbare Zeit stiehlt, dagegen in Verlegenheiten
sich hilfreich beisteht. Ich habe gesehen, wie blinde und andere hilflose
Personen sogar auf der Untergrundbahn allein fuhren. Sie können eben
sicher sein, immer jemanden zu finden, der ihnen beim Ein- und Aussteigen
behilflich ist und sie vor Gefahr bewahrt. Man bekommt auch fast immer
klare und knappe Auskunft, wenn man sich an den ersten besten Unbekannten
wendet, und wenn man ein sympathisches, vertrauenerweckendes Äußere hat,
läßt sogar ein eiliger stark beschäftigter Großstädter seine Arbeit liegen
und begleitet einen bis an die nächste Ecke. In den kleinen Dingen der
täglichen Notdurft des Verkehrs darf man auch ruhig auf die Ehrlichkeit
seiner Mitmenschen vertrauen; handelt es sich dagegen um größere Summen,
so reiße deine Augen weit auf und halte deine Ohren steif wie ein
Schießhund.

(M96)

Willst du in Amerika ein Geschäft eröffnen, so miete dir irgendwo im
neunten oder neunundzwanzigsten Stockwerk ein Zimmerchen mit Telephon und
Schaukelstuhl und engagiere dir eine Typewriterin. Sie sind fast alle
ungemein gewandt und vielfach auch sehr hübsch. Alsdann ziehe deinen Rock
aus – denn das tut jeder Amerikaner, sobald er sein Office betritt, sei es
Winter oder Sommer –, zünde dir eine Importierte an, verbreite deine Beine
anmutig über Tisch und Stühle und beginne zu telephonieren. Telephonieren
und Briefe diktieren füllt die amerikanischen Geschäftsstunden von 10–5
Uhr vollkommen aus. Da die Amerikaner meistens gute Geschäfte machen, muß
das Verfahren wohl das richtige sein. Vielleicht liegt es auch an der
Hemdärmeligkeit. Oberster Grundsatz deines Verhaltens aber sei und bleibe
in allen Lebenslagen, solange du drüben weilst: Nicht mit dem Hut, wohl
aber mit dem Scheckbuch in der Hand, kommt man durch das ganze Land.



                    WAS KÖNNEN WIR VON AMERIKA LERNEN?


Das Land der absoluten Gegenwart ist für alle Kulturvölker ein Spiegel, in
dem sie deutlich ihre Zukunft sehen können. Der Fortschrittsgedanke
marschiert drüben in Siebenmeilenstiefeln und hat eine glatte Bahn vor
sich, während unsere Schrittmacher der Entwicklung immer noch auf
Hindernisse stoßen, die die Vergangenheit aufgerichtet hat, Berge von
Vorurteilen, Abgründe von Dummheit, die nicht immer leicht zu überklettern
oder zu überspringen sind. Wenn wir aber angesichts der drohenden
Überflügelung durch die Neue Welt in allen Fragen der technischen
Zivilisation daran gehen wollten, unsere Abgründe auszufüllen und unsere
Berge abzutragen – was würden wir damit gewinnen? Eine trostlose
Verflachung unserer Kultur. Ein wirklich gebildeter Mensch mit historisch
und philosophisch geschultem Denken, mit ästhetischem Bewußtsein und einer
idealistischen Weltanschauung ausgerüstet, wird, mit offenen Augen in
jenen Spiegel hineinschauend, nur sagen können: Gott bewahre uns vor
dieser Zukunft! Er wird einsehen lernen, daß wir unseren wertvollsten
Besitz, nämlich unsere geistige Kultur, nicht den materiellen
Errungenschaften der Gegenwart, sondern der fernen und fernsten
Vergangenheit verdanken, und daß es gerade jene Hemmungen des
Fortschrittstempos gewesen sind, die den Untergrund für unser
gegenwärtiges Empfinden, Wissen und Können so überaus solid aufgemauert
haben.

(M97)

Wir Europäer haben von Amerika schon mehr gelernt, als wir wissen und als
uns gut ist. Seit nämlich die raum- und zeitverkürzenden Erfindungen sich
zu überstürzen begannen, also seit drei Jahrzehnten ungefähr, ist von
Amerika her der _Rekordwahnsinn_ in die Welt gekommen. Fast alle die
großen Erfindungen, vermöge deren wir jetzt Wasser, Erde und Luft
beherrschen, sind in der Alten Welt gemacht und hätten unter allen
Umständen die Wirkung gehabt, das allgemeine Tempo des Lebens zu steigern;
in Amerika aber haben diese Erfindungen, der ungeheuren Entfernungen
wegen, doch die rascheste und vielseitigste Anwendung gefunden und dadurch
auch stärker als bei uns auf den Charakter der Menschen eingewirkt. Der
Ehrgeiz, alles Neueste sich zu eigen zu machen und auf allen neuen
Gebieten das Vollkommenste zu leisten, fand durch sie reichste Nahrung,
und der amerikanische Snobismus, der ja wenig Gelegenheit hat, sich auf
dem Felde der Literatur und der Kunst auszutoben, stürzte sich mit
Begeisterung auf den Kultus der Schnelligkeit und machte den Wetteifer im
Rekordbrechen zum vornehmsten Sport. Da dieser Sport sehr teuer und sehr
gefährlich ist, so sagt er dem Amerikaner, der ja bessere Nerven besitzt
und aufregende Vergnügungen in viel größeren Quantitäten vertilgen kann,
ganz besonders zu. Er blieb aber mit seinen verrückten Schnellzugs-,
Automobil-, Wasser- und Luftwettfahrten nicht im eignen Lande, sondern
begann an allen internationalen Wettbewerben teilzunehmen. Sein
Sensationsbedürfnis und seine unverbrauchte Kraft haben das Rekordfieber
in der großen Welt gewaltig geschürt. Die enorm gesteigerte Schnelligkeit,
der großartige geschmackvolle Luxus der transatlantischen Dampfschiffe
haben die Yankees in immer größeren Scharen zu uns hinübergelockt, und wo
immer sie in größerer Menge auftraten, zwangen sie durch ihren Reichtum
die betreffenden Orte, sich ihren Ansprüchen anzubequemen. Genau so, wie
ehemals die Reiselust der Engländer und ihr starres Festhalten an ihren
nationalen Gewohnheiten, ihre Unlust und Unfähigkeit, Sprachen zu erlernen
und sich fremden Sitten anzubequemen, auf die ganze Reise- und
Fremdenindustrie einen starken Einfluß ausübte, so geschieht dies jetzt
noch in höherem Maße durch die größere Kapitalskraft ihrer amerikanischen
Vettern. Während die amerikanischen Hotels sich allmählich den
europäischen Stil aneignen, bemühen sich jetzt unsere Hotels, sich zu
amerikanisieren. Die Engländer kamen früher sehr häufig auf den Kontinent,
um zu sparen, zeigten sich also hier geizig; die Amerikaner dagegen sind
viel großartiger und leichtsinniger, als Emporkömmlinge auch
protzenhafter. Das Geldausstreuen an sich macht ihnen das größte
Vergnügen; aber sie verderben nicht nur die Preise, sondern auch den Stil
bodenständiger Kultur, den guten Geschmack, weil sie überall die
Sensation, das Äußerste, das Unerhörte verlangen. Da sie bereit sind, es
gut zu bezahlen, so sucht man es ihnen zu bieten. Und so kommt es, daß
auch bei uns immer mehr das Schönste und das Bedeutendste, was unsere
Natur und unsere Kunst aufzuweisen haben, sich dem amerikanischen
Snobismus anzupassen, und was das Schlimmste ist, zu einem Vorrecht des
Reichtums zu werden beginnt. Ich erinnere nur an Bayreuth, Oberammergau,
die Münchener Musikfeste, die großen Bilder- und Antiquitätenauktionen,
die bekanntesten Schweizer Sport- und Kurorte. Nun will sich aber der
europäische Reichtum nicht gern ausstechen lassen. Er strengt sich darum
aufs äußerste an, es dem amerikanischen gleich zu tun, und so entsteht ein
gefährlicher Wettbewerb in verschwenderischem Luxus. Da ferner die tiefste
Bildung und der feinste Geschmack durchaus nicht immer an den Reichtum
geknüpft sind, so machen sich Dilettantismus und Oberflächlichkeit immer
mehr breit, und der Unbemittelte findet es immer schwerer, sein Bedürfnis
nach Kunst- und Naturgenuß zu befriedigen. Wohl dürfen wir Völker Europas
uns einbilden, daß anspruchsvoller Geschmack und tiefere Bildung bei uns
verhältnismäßig verbreiteter seien, als in der Neuen Welt; immerhin sind
doch aber auch bei uns die Ungebildeten in der Überzahl, und diese
Überzahl wird leicht verführt durch die glänzende Außenseite, die
amerikanischer Luxus auch den untergeordnetsten Betätigungen seiner
Vergnügungssucht zu geben vermag. In den Niederungen der dramatischen
Kunst, z. B. in der Operette, im Vaudeville, im Variété, im Zirkus dringt
der amerikanische Geschmack selbst in Deutschland immer mehr durch. Das
Vergnügen an den Sentimentalitäten, Hintertreppensensationen und
Clownspäßen der Lichtbildtheater, an mechanischen Musikwerken, oder gar an
den scheußlichen sechs Tage-Rennen der Radfahrer, mutet schon durchaus
amerikanisch an.

(M98)

Der ausschlaggebende Einfluß des Reichtums in Bezirken, wo eigentlich nur
die Autorität des Wissens und des Geschmacks bestimmen sollte, bringt das
Kulturniveau in Gefahr. Die stete Aufstachelung zu Leistungen, die alles
bisher Dagewesene rasch überbieten sollen, hindert die gesunde Stetigkeit
der Entwicklung und drängt den Tüchtigen überall zugunsten des Fixen
zurück. Als Vertreter der Neuen Welt lernen wir bei uns eine glänzende
Auslese von flott und sicher auftretenden geschäfts- und sportgewandten
Männern kennen, in Begleitung reizender, eleganter, siegessicherer Frauen.
Das erweckt in uns die Meinung, daß diese beneidenswerten Neuweltler, die
es in einer kurzen Spanne Zeit augenscheinlich so viel weiter gebracht
haben als wir, doch wohl in allen Dingen auf dem richtigen Wege sein
müßten, und wir beginnen folglich uns unserer Langsamkeit, unserer
bedächtigen Gründlichkeit, Sparsamkeit und Bescheidenheit zu schämen. Wir
vergessen dabei, daß gerade das Zusammenwirken dieser Eigenschaften es
ist, was uns heute immer noch über die glänzende Scheinkultur der Neuen
Welt ein beträchtliches Übergewicht gibt. Wenn wir uns auf den atemlosen
Wettbewerb mit dem Riesenkontinent über dem Ozean einlassen, so werden wir
sicher den Kürzeren ziehen. Die Quellen unseres nationalen Wohlstandes
sind nicht so unerschöpflich wie die drüben, und wenn unsere Industrie,
unsere Kunst, unser Handwerk ihr Hauptstreben darauf richten wollten, das
unerprobte Neue, das Unfertige also, nur möglichst schnell an die Stelle
des Alten zu setzen, um anderen Ländern zuvor zu kommen, so würden unsere
Erzeugnisse auf dem Weltmarkt bald nicht mehr die wichtige Rolle spielen
wie heute. Der Grund, weshalb die Vereinigten Staaten trotz ihrer
kolossalen industriellen Entwicklung immer noch so viele Dinge von uns zu
beziehen genötigt sind, liegt hauptsächlich darin, daß drüben jenes
Erbinventar von Talent, Geschicklichkeit und Geschmack, durch
Handwerksstolz und Berufstreue von Generation zu Generation bewahrt und
verstärkt, kaum vorhanden ist. Alle diese wertvollen Vorzüge würden uns
aber verloren gehen, wenn wir uns von dem amerikanischen Snobismus noch
weiter anstecken ließen.

(M99)

Ich habe schon bei der Schilderung des amerikanischen Zeitungswesens
darauf hingewiesen, daß auch unsere Presse hie und da bereits recht
bedenkliche Anläufe gemacht hat, es in skrupelloser Fixigkeit, wüster
Sensationsgier und Nachgiebigkeit gegen die schlechten Instinkte der
minderwertigsten Leserschaft sogar der _gelben_ Presse gleichzutun. Auch
bei uns beweist die Erfahrung, daß auf dem Gebiete des geistigen Schaffens
die Schleuderware, wenn sie nur recht billig und einem ordinären Geschmack
entsprechend aufgeputzt ist, durch den Massenabsatz erheblich mehr
einbringt, als das gute, aber teurere Erzeugnis. Die Massenproduktion von
Zeitungen, welche nicht zusammengeschrieben, sondern einfach
zusammengeklebt, d. h. gestohlen werden, beweist dies ebenso wie der
Massenabsatz von billiger und vielfach recht minderwertiger Reiselektüre.
Wir haben uns neuerdings in Deutschland erfreulicherweise dazu aufgerafft,
gegen diese Verflachung der Bildung, gegen diese Herabwürdigung zumal der
literarischen Arbeit zum bloßen Zeitvertreib dadurch anzukämpfen, daß wir
überall, bis in die kleinsten Nester hinein, eine überaus lebhafte
Vereinstätigkeit entwickelt haben, deren Ziel es ist, jedermann aus dem
Volke für ganz billiges Geld wertvolle Anregung, Belehrung und gute
künstlerische Unterhaltung zu bieten, indem man hervorragende Fachgelehrte
und Künstler zu Vorträgen gewinnt. Außerdem blühen überall die
Volksbibliotheken in erfreulicher Weise auf, und wirklich wertvolle
gemeinnützige Unternehmungen, wie Reclams Universalbibliothek, stehen
schon nicht mehr vereinzelt da. Durch all diese Unternehmungen wird der
Drang nach Belehrung, nach künstlerischer Erbauung auch in weite Schichten
unseres Volkes getragen, für die früher die Quellen des Wissens und der
Schönheit unerreichbar waren. Auch auf diesem Gebiete sind wir naturgemäß
erheblich weiter als das Volk in den Vereinigten Staaten, obwohl auch
dort, namentlich durch Gründung von musterhaft eingerichteten öffentlichen
Bibliotheken und Museen, durch die _University Extension_ und Gewinnung
von tüchtigen Wanderrednern neuerdings sehr viel in dieser Richtung getan
wird. Es ist also wahrscheinlich, daß uns in nicht allzu ferner Zeit
Amerika auch auf diesem Gebiete eingeholt haben wird. Wollen wir uns nicht
überflügeln lassen, so wird der Richtspruch unserer Volksbildner ebenso
wie der unserer Fabrikanten heißen müssen: „_Qualität, nicht Quantität;
nicht vom Neuen das Neuste, sondern vom Guten das Beste; nicht das
Auffallendste, sondern das Originalste, das Persönlichste, das Deutscheste
bieten._“

(M100)

Wir haben es ja so viel leichter, persönlich, original, volkstümlich zu
sein, denn wir _sind_ ein Volk, als Rasse zwar auch gemischt, aber in
dieser Mischung doch schon seit Jahrtausenden konsolidiert. Was das alte
Europa für den feinsinnigen Betrachter so unerschöpflich interessant
macht, das ist die unendliche Abwechslung und Differenzierung im Charakter
seiner Völker. Wie die Mundart schon in verhältnismäßig kleinen Bezirken
wechselt, um innerhalb eines Gebietes, das kaum so groß ist wie der eine
Unionsstaat Texas, so verschiedene Gebilde, wie etwa das Plattdeutsche und
das Oberbayrische zu erzeugen, so wechselt auch von Gau zu Gau der
Charakter der Bewohner und die Art, wie sich dieser Charakter in der
Bauart, den Sitten und Gebräuchen widerspiegelt. Eine nordamerikanische
Rasse gibt es aber vorläufig noch lange nicht, und die Behauptung
vereinzelter amerikanischer Gelehrten, daß die Menschheit drüben sich
deutlich dem Indianertypus zu nähern beginne, dürfte wohl als ein
wunderliches Hirngespinst zu betrachten sein. Die Menschen, die sich in
der Neuen Welt zusammengefunden haben, werden wohl noch auf unabsehbare
Zeit hinaus Engländer, Iren, Schotten, Deutsche, Italiener, Russen, Juden,
Neger usw. usw. bleiben. Ebenso deutlich wie z. B. die Neger in den
Vereinigten Staaten noch nach ein- bis zweihundert Jahre langem Aufenthalt
alle Schattierungen der Farbe vom Milchkaffee bis zur Schuhwichse
aufweisen und dadurch immer noch deutlich den afrikanischen Landstrich
verraten, dem ihre Vorväter entstammten, so wird man auch den Nachkommen
der weißen Einwanderer noch auf Jahrhunderte hinaus ihr ursprüngliches
Vaterland ansehen, vorausgesetzt, daß sie nicht durch fortwährende
Mischehen absichtlich darauf ausgehen, ihre Rassenmerkmale zu verwischen.
Es sind nur die neuen Lebensbedingungen und allenfalls die klimatischen
Verhältnisse, welche drüben innerhalb der verschiedenen Rassen einen
eigenartigen neuen Typus erzeugen. Wenn ein Deutscher ein oder zwei
Jahrzehnte lang in Argentinien oder in Südwestafrika Farmer gewesen ist,
so vermag er sich auch in seinem Wesen und in seinem äußeren Gebaren so
stark zu verändern, daß seine Familienangehörigen, wenn sie ihn nach so
langer Zeit wiedersehen, aus dem Verwundern nicht herauskommen. Aber er
ist doch nur ein anderer Typus von einem Deutschen und beileibe kein
Buschmann oder Pampas-Indianer geworden! In den Vereinigten Staaten ist
überdies noch die Möglichkeit, sich den Ureinwohnern zu assimilieren,
dadurch ausgeschlossen, daß diese Ureinwohner bis auf klägliche Überreste
vernichtet sind. Der Deutsche kann drüben dem Engländer, der Jude dem
Japaner, der Neger dem Italiener dies und jenes abgucken oder
unwillkürlich in fremde Anschauungen sich hineinfühlen, fremde Gebräuche
übernehmen, aber aus seiner Haut kann er deswegen noch lange nicht hinaus.
Es wohnt also drüben ein Völkermischmasch ohne eigne Sprache und ohne eine
gemeinsame Tradition, der eben erst angefangen hat, aus den neuen
Lebensbedingungen heraus gemeinsame Kulturideale zu suchen. Von einem
amerikanischen Volke wird man erst sprechen können, wenn die ungeheuren
Ländergebiete drüben so gleichmäßig bis zur Sättigung bevölkert sind, daß
die Regierung auf die Aufnahme weiterer Einwanderer dankend verzichten
kann. Aber auch bei verschlossenen Türen wird der Prozeß der Durchrührung
des so verschiedenartigen Geblütes viele Jahrhunderte in Anspruch nehmen.
Vielleicht wird es im Jahre 3000 eine nordamerikanische Rasse geben –
denkbar aber auch, daß bei der sich immer steigernden Leichtigkeit des
internationalen Verkehrs und der Interessenassimilation der großen
Kulturwelt überhaupt eine Rassenbildung nicht mehr möglich ist, und die
ganze Änderung darin bestehen wird, daß die alten Rassen ihre
charakteristischen Eigenschaften verlieren und höchstens noch, als pikante
Erinnerung an die einstige schöne Verschiedenartigkeit, Farbennuancen
übrig bleiben. Sollte dieser Zustand in ein- bis zweitausend Jahren
wirklich schon eingetreten sein, dann könnte man davon sprechen, daß
Amerika uns verschlungen habe, insofern als das Wesen des heutigen
Amerikas bereits allerlei Wirkungen jener Rassen zerstörenden Tendenz
bemerken läßt. Die Gewissensfrage ist für jeden einzelnen: soll ich dazu
beitragen, die Entwicklung zum rassenlosen Weltbürgertum zu beschleunigen,
oder soll ich mich mit all meinen Kräften dagegen sträuben?

(M101)

Wenn man aus den Vereinigten Staaten nach Europa zurückkehrt, so nimmt
zunächst das Auge mit wonnigem Behagen den Eindruck der Ordnung, der
Fertigkeit, der stilsicheren Harmonie zwischen Natur und Menschenwerk in
sich auf. Sei es eine englische Hügellandschaft mit ihrem üppigen
Wiesengrün und ihren anmutigen Heckenzäunen, sei es ein französischer
alter Herrensitz mit wundervollem Schloß, umgeben von Weinbergen, Blumen
und Obstgärten, sei es selbst nur eine arme deutsche Flachlandschaft mit
ihren peinlich nach der Schnur bestellten Feldern, ihrem trauten Dörflein,
so behaglich im Schatten alter Baumgruppen versteckt, sei es eine moderne
Großstadt mit imposanten geraden Straßenfluchten, voll prunkender
öffentlicher Gebäude, oder sei es endlich gar eine uralte, winklige,
hochgieblige, vieltürmige Kleinstadt, noch durch alte Ringmauern und
Wachttürmchen gegen einen längst nicht mehr existierenden Feind geschützt.
Alles das sind Dinge, die wir jenseits des Ozeans schmerzlich vermißt
haben und die man uns auch drüben nicht nachahmen kann. Das ist Tradition
einer alten Kultur, das sind Instinktleistungen einer tief verankerten
Disziplin, ästhetische Werte, die nicht nur die Sinne des anspruchsvollen
höheren Menschen erfreuen, sondern auch ethisch überaus fruchtbar sind,
weil in allen diesen Dingen die besten Kräfte der Rasse äußerlich sichtbar
werden. Diese ethisch ästhetischen Werte sind es, die den Begriff der
Heimat schaffen, und nur innerhalb solcher Heimat gibt es ein wirkliches
Lebensglück. Wer gedankenlos nur der Gegenwart lebt, der kann leicht dazu
kommen, die Heimat zu unterschätzen, weil er meint, daß das Glück da
wohnen müßte, wo die Mittel zu einem üppigeren Dasein leichter zu
erreichen sind, und wo es weniger schwer als daheim sei, in weiteren
Bezirken eine erheblichere Rolle zu spielen. Für solche Leute ist es wohl
angebracht, nach Amerika zu gehen; denn durch den Vergleich mit dem
trostlosen Einerlei der Menschheit und der Menschenwerke da drüben werden
sie erst den Wert der Heimat schätzen lernen – es sei denn, daß sie zu den
blinden Seelen gehören, welche im rein materiellen Genuß ihr Genügen
finden. Die Amerikaner, deren geistige Ansprüche eine vertiefte Bildung
gesteigert hat, kommen ja jetzt mit ihrem großen Hunger nach echter Kultur
zu uns nach Europa, um bei uns zu lernen, wie man zu jener herz- und
sinnerfreuenden Stilharmonie gelangen könne, die ihre vorläufig noch fast
ausschließlich technische Kultur ihnen nicht zu bieten vermag. Sie
bekommen alle eine ehrliche Hochachtung vor unserer Wissenschaft, vor
unserer Kunst, vor der Solidität unseres Handels und unserer Industrie,
vor der Geschicklichkeit unserer Handwerker, vor der wohldisziplinierten
Ordnung unserer Lebensverhältnisse; viele von ihnen bringen auch als
Reisegewinn eine liebenswürdig verschämte heimliche Liebe zu unserer
Romantik mit heim – nachahmen aber können sie auch beim besten Willen
diese unsere Vorzüge schwerlich, und es bleibt ihnen weiter nichts übrig,
als in Geduld abzuwarten, bis sie selbst ein einheitliches Volk mit eigner
Tradition geworden sind.

(M102)

Umgekehrt sendet Europa jahraus, jahrein eine gar buntscheckige
Gesellschaft von Lebensstudenten in die Neue Welt hinüber: alle die
überzähligen Esser kinderreicher Familien, unzufriedene, verärgerte,
aufsässige und abenteuerliche Naturen, verkrachte Existenzen, Durchbrenner
aus allen Ständen, und diese schwierige Gesellschaft lernt tatsächlich da
drüben mehr, als sie irgendwo in der Alten Welt lernen könnte. Der
entschlußunfähige Dummkopf, der gewohnt ist, darauf zu warten, bis eine
liebevolle Obrigkeit ihn dahin stupft, wo man seine Muskeln gebrauchen
kann, der langsame, ängstliche Philister, der faule Träumer, der vornehme
Müßiggänger, der hochmütige Geld- oder Wissensprotz – sie alle werden
zunächst einmal durch die gröblichen Fauststöße der harten Not darauf
aufmerksam gemacht, daß die Parole in der Neuen Welt laute: Augen auf!
nicht abwarten, sondern zugreifen! Nicht genieren! Wer essen will, muß
arbeiten, und der persönlichen Würde tut es keinen Eintrag, ob du von
Kartoffeln oder von Filetbeefsteaks satt wirst. Wer weder ein
Betriebskapital mitbringt, um sofort ein selbständiges Geschäft
anzufangen, noch ein Handwerk, eine Kunst, eine Wissenschaft so praktisch
zu verwerten weiß, daß er in seinem Fach ohne weiteres Unterkunft und
Nahrung findet, der muß sich eben ohne Zögern auf dem großen Arbeitsmarkt
für jede beliebige Tätigkeit zur Verfügung stellen, die bezahlt wird. Ich
habe drüben Trambahnschaffner getroffen, die erst wenige Wochen im Lande
waren und bei uns maturiert hatten, adlige Offiziere in Mengen als
Kellner, Reitknechte, Kutscher und Chauffeure. Hat jemand kaufmännische
Veranlagung, so bringt er es unschwer dazu, Agent für irgendeine
Warenspezialität zu werden; zeigt er sich hierin gewandt, so ist der
Schritt zum selbständigen Geschäftsmann nicht mehr schwer. Das Gute bei
dieser Härte ist, daß sich der Amerikaner durch Anmaßung, hinter der keine
offensichtliche Kraft steckt, nicht imponieren läßt. Der Yankee macht sich
freilich oft lächerlich durch sein übereifriges Herandrängen an unsere
Höfe, an unseren Adel, und der echte Republikaner drüben ist mit Recht
empört über das Bestreben seiner Emporkömmlinge, die schwere Mitgift der
Töchter gegen europäische Titel und Stammbäume einzutauschen; aber man
merkt bei näherem Zusehen doch bald, daß es nicht der Titel an sich ist,
welcher diese faszinierende Wirkung übt, sondern vielmehr die mit altem
Adel verbundene vornehme Sicherheit des Auftretens, die unnachahmliche
Grandseigneur-Manier. Wo diese fehlt, wie bei den meisten drüben ihr Brot
suchenden, heruntergekommenen Adligen, da versagt der Zauber völlig. Eine
Persönlichkeit, die sich nicht kraft ihrer ungewöhnlichen geistigen oder
physischen Begabung durchzusetzen versteht, muß unerbittlich in die
Hackmaschine hinein und geht in der großen Gleichheitswurst auf. Aber auch
mit philiströser Bedenklichkeit kennt das amerikanische Leben kein
Erbarmen. Wer in der kecken Fixigkeit des Lebens den Atem verliert, der
kommt elend am Wege um. Will einer das rasende Gefährt des Fortschritts
unterwegs verlassen, so muß er schon sehr geschickt in der Fahrtrichtung
abzuspringen verstehen – nach rückwärts aussteigen heißt unter die Räder
kommen.

(M103)

Eine der besten Seiten der Demokratie ist es aber, daß sie selbst dem
Verbrecher nicht den Rückweg zum anständigen Leben verlegt. Das Vertrauen
auf die eigne Kraft ist eben so stark entwickelt, daß man sich vor den
Schädlingen der Gesellschaft nicht so überängstlich fürchtet wie bei uns.
Denn wer etwa im wilden Westen sich seinen Wohlstand geschaffen hat, der
mußte ja immer gegen Räuber, Indianer oder Gauner in den eignen Reihen auf
dem _qui-vive_ stehen, und die Erfahrung hat ihn gelehrt, daß ein einziger
beherzter Mann mit einem Dutzend feigen Gesindels fertig werden kann. Er
hat aber auch an zahlreichen Beispielen gesehen, wie ausgemachte Lumpen
durch den Zwang der Arbeit und schließlich durch den Erfolg doch noch zu
brauchbaren Menschen gemacht wurden. Das Resultat dieser Erfahrungen ist,
daß man sich des Verbrechers zwar sehr energisch erwehrt, ihm jedoch immer
wieder Gelegenheit gibt, ein besseres Leben anzufangen, und wenn er dann
etwas Ordentliches erreicht, hält man ihm seine Vergangenheit nicht wieder
vor. Das ist ein großer, edel menschlicher Zug, dem viele durch falsche
Erziehung und angeborene Charakterschwäche zu Verbrechern gewordene
Menschen ihre Rettung verdanken. Auch die amerikanischen Richter sind
glücklicherweise bessere Menschen- als Gesetzeskenner. Wir sind sehr
geneigt, den manchmal grotesken Humor ihrer salomonischen Urteile zu
verspotten, aber es ist sicher, daß diese lustigen Entscheidungen nicht
halb so viel Unheil stiften und Erbitterung zurücklassen, als oft die
Paragraphentreue unserer sattelfesten Juristen. Selbst der barbarische
Richter Lynch hat sich wohl noch nie an einem Unschuldigen vergriffen, und
die Abschreckungstheorie handhabt er jedenfalls mit praktischem Erfolg.
Der Verstand von Haus aus gescheiter Menschen, den lediglich das Leben
selbst mit seinen Erfahrungen in die Lehre genommen hat, ist, wenn er
wirklich gesund geblieben ist, sicher ein besserer Urteilsfinder als alle
Schmökerweisheit des weltfremden Ofenhockers. Und unter der gesegneten
Herrschaft des Kgl. Großbritannischen _common sense_ haben sich ja alle
besten Charaktereigenschaften der Neuweltler so erfreulich entwickelt. Wir
alten Europäer werden ihnen freilich diese Charaktereigenschaften nicht
ohne weiteres ablernen können, denn ihr Optimismus, ihre prahlerische,
aber tatkräftige Zuversichtlichkeit, ihr mutiger Leichtsinn sind eben
Tugenden der Jugend, und andere Vorzüge, wie besonders ihre schöne
Neidlosigkeit, sind durch die Gewöhnung an Verhältnisse bedingt, die wir
alten Völker ebensowenig nachahmen können wie die Jugend.

Es gibt sogar rein geistige Gebiete, auf denen wir von den Yankees noch
etwas lernen können, nämlich das Kirchen- und das Schulwesen. Wir werden
ein rückständiges Volk heißen müssen, so lange wir nicht die Trennung von
Staat und Kirche durchgeführt haben und so lange es noch möglich ist, daß
ein Deutscher seines religiösen Bekenntnisses wegen gesellschaftlich
verfemt und um sein Brot gebracht werden kann. Wir marschieren nicht an
der Spitze der Zivilisation, so lange bei uns ein Vater, der seine Kinder
nicht dem Christentum ausliefern will, durch Polizeistrafen und sonstige
behördliche Schikanen drangsaliert werden kann, und so lange ein staatlich
anerkanntes religiöses Bekenntnis vorschriftsmäßige Bedingung zur
Erlangung öffentlicher Ämter und Ehrenstellen ist. In dem Lande der
absoluten Glaubensfreiheit ist das religiöse Leben, trotz mancher
blamabeln Auswüchse, viel reicher entwickelt als bei uns, und die starke
religiöse Persönlichkeit, der agitatorisches Talent verliehen ist, kann
eine Macht über die Seelen gewinnen, um die sie unsere
Generalsuperintendenten und sogar unsere Erzbischöfe ehrlich beneiden
dürften. Über das, was wir auf dem Gebiete des Schulwesens von den Yankees
lernen könnten, habe ich an anderer Stelle mich verbreitet. Ein Volk, das
Jugend in sich selber hat, versteht auch naturgemäß mit der Jugend besser
umzugehen. Übrigens machen die Yankees ja andauernd praktische Proben auf
Exempel, die unsere fortschrittlichen Theoretiker schon längst aufgestellt
haben. Lernen wir also an ihren Erfolgen und Mißerfolgen.

(M104)

Es gibt auch sonst noch Gebiete, auf denen die praktischen Erfolge des
großen Staatenbundes uns als Vorbild dienen können: dahin rechne ich in
allererster Linie die politische Macht, welche die Yankeerasse entwickelt
hat. Die Yankees, also die Nachkommen der Einwanderer aus den britischen
Inseln, sind heute der Zahl nach den Nachkommen der deutschen Einwanderer
nur noch um etwa zwei Millionen voraus und dennoch haben sie es
verstanden, ihrer Rasse die politische Vorherrschaft dauernd zu erhalten.
Die Yankees allein haben nicht nur kolonisatorisches, sondern auch
staatenbildendes Geschick bewiesen, während die Deutschen nicht einmal die
von ihnen gegründeten Gemeinwesen dauernd in der Hand zu behalten wußten.
Die Deutschen haben die Staaten Pennsylvanien, Illinois, Wisconsin,
Michigan, Missouri ihrer Zeit förmlich überflutet. Germantown, Milwaukee
und einige andere waren einmal ganz deutsche Städte. Cincinnati,
Cleveland, Chicago, St. Louis und zahlreiche andere Großstädte zeigten
vorübergehend ein Übergewicht an deutschen Einwohnern, und dennoch haben
sie sich überall das Heft aus der Hand winden lassen. Wohl gibt es noch
hie und da einen deutschen Bürgermeister, aber er versteht kein Deutsch
mehr und verdankt seine Stellung den politischen Bossen und nicht dem
einmütigen Willen seiner Rassegenossen. Die Deutschen haben doch wahrlich
nicht nur ihren Ausschuß über den Ozean geschickt, die große Mehrheit
bildeten vielmehr tüchtige bäuerliche und handwerkliche Kräfte, und im
Jahre 1848 gingen sogar zahlreiche unserer besten Intelligenzen hinüber,
die den Beruf zu geistigen Führern ihrer Stammesgenossen in sich trugen.
Woher kommt es denn nun, daß trotzdem diese 18½ Millionen Menschen es zu
keiner politischen Selbständigkeit bringen konnten? Die Zahl jener
geborenen Führer, die sich am Ende der 40er Jahre im Mississippital
niederließen, und die man spottweise die _lateinischen Bauern_ nannte, mag
allerdings wohl der erdrückenden Überzahl der ungebildeten, politisch
gleichgültigen Landsleute gegenüber zu gering gewesen sein – auch war der
Vorsprung, den die britischen Eroberer vor ihnen voraus hatten, nicht ohne
weiteres einzuholen; das Schlimmste aber war, daß alle diese Deutschen ein
stolzes Nationalgefühl überhaupt nicht besaßen, und daß sie ihren
Partikularismus, ihre subalterne Denkungsart, ihr Spießbürgertum mit
hinüberbrachten. Diese Deutschen gaben zwar sehr tüchtige Bauern,
Handwerker und Kleinbürger ab, zeigten sich aber den besonderen
Anforderungen des amerikanischen Lebens nur selten gewachsen. Viele von
ihnen waren nicht einmal fähig, sich die englische Sprache völlig
anzueignen, obwohl sie ihre Muttersprache verlernten. In Kriegszeiten
übrigens haben auch diese Deutschen Großartiges geleistet, wie denn ja
auch die von ihren edlen Fürsten verkauften Württenberger, Hessen usw.
sich in Kriegen, die sie nicht das Mindeste angingen, wie die Löwen
geschlagen haben. Im Sezessions- wie im Bürgerkrieg verdanken
amerikanische Truppen deutschen Heerführern einige ihrer glänzendsten
Siege – und dennoch waren und blieben diese Deutschen nur ein gern
geduldetes und gehörig ausgenutztes Gastvolk innerhalb der riesigen
britischen Kolonie. Die herrschende Rasse dachte selbstverständlich nicht
daran, diese bequemen Biedermänner in ihre großen Ehrenstellen der Staats-
und Gemeindeverwaltung hinein zu komplimentieren, da sie selber durchaus
keinen politischen Ehrgeiz entwickelten. Es hätten den deutschen
Einwanderern damals zwei Wege offen gestanden: entweder sie mußten resolut
ihr Deutschtum über Bord werfen und mit Haut und Haaren Amerikaner werden,
oder aber sie mußten fest zusammenstehen, sich alle in einer bestimmten,
von ihnen zuerst besetzten Gegend niederlassen, einen deutschen Staat im
Staate gründen und diesen mit rücksichtslosem Chauvinismus gegen das
Anglo-Amerikanertum und den Zustrom anderer Rassen abschließen. Die
meisten Deutschen haben aber keines von beidem getan, sie haben sich über
das ganze weite Land zerstreut und sich dann in unzähligen Vereinen
wiedergefunden, die sich gegenseitig nicht selten aus engeren
landsmannschaftlichen oder aus gesellschaftlichen Eitelkeitsgründen aufs
gehässigste bekämpfen. Aber auch der starke Zustrom aus dem geeinigten
Deutschland der 70er und ersten 80er Jahre hat keine wesentliche Änderung
in diesen Verhältnissen gebracht. Diese neuen Reichsdeutschen hätten doch
alle Ursache gehabt, ihren frischen Nationalstolz der herrschenden
Yankeerasse entgegenzustellen, aber auch unter ihnen war der politische
Ehrgeiz eine seltene Pflanze. Wenn sie in Ruhe ihren Wohlstand begründen
durften, waren sie zufrieden, und selbst diejenigen, die durch ihre
Tüchtigkeit und durch ihren Besitz zu hohem Ansehen gelangten, dachten
nicht daran, sich in das Parteigetriebe zu stürzen – die meisten wohl aus
moralischem Reinlichkeitsbedürfnis, viele auch aus reiner Bequemlichkeit.
Man muß also doch wohl sagen, daß ihnen, einige ganz wenige glänzende
Ausnahmen, wie Karl Schurz, abgerechnet, Temperament und Talent für die
Politik fehlten. Die Deutschen der heidnischen Vorzeit haben
kolonisatorisches Talent und Staatsklugheit im hohen Maße besessen und
verdankten dieser Eigenschaft die glänzende Rolle, die sie während der
Völkerwanderung und noch während der Staufferzeit in der Weltgeschichte
spielten. Der jahrhundertelange Jammer der Kleinstaaterei und
Pfaffenherrschaft haben aber jene ursprünglichen Veranlagungen vollständig
erstickt. Hingegen kamen die ersten englischen Besiedler der neuen Welt
aus einem Lande, in welchem die parlamentarische Verfassung bereits Zeit
gehabt hatte, die ganze Nation, bis in die untersten Schichten hinein,
politisch zu erziehen. Zudem waren es neben den religiösen auch zumeist
politische Ursachen, welche die Leute zum Auswandern veranlaßten, und sie
alle, mochten sie Royalisten oder puritanische Revolutionäre sein,
brachten den Stolz mit hinüber, Bürger einer Weltmacht zu sein, deren
Flagge siegreich und gefürchtet in allen Meeren der Erde wehte. Diese
Auswanderer hatten also alle Ursache, sich als ein Herrenvolk zu fühlen,
sie waren sich aber auch der vornehmsten Pflicht bewußt, welches dieses
Herrentum ihnen auferlegte – der Pflicht nämlich, ihr Blut rein zu halten.
Im Gegensatz zu den romanischen Eroberern Südamerikas und Mexikos, die
nichts Eiligeres zu tun hatten, als mit den eingeborenen Weibern eine
recht bedenkliche Mischrasse zu erzeugen, existierte für die
Anglo-Amerikaner des Nordens das rote Weib überhaupt nicht; und selbst
gegen Mischehen mit den besten europäischen Einwanderern richtete das
Rassenvorurteil einen starken Damm auf. Das ist das ganze Geheimnis der
imposanten Machtentwicklung der keltogermanischen Rasse in Nordamerika und
das ist auch das Gebiet, auf dem wir heute noch bei den Briten diesseits
und jenseits des Ozeans in die Lehre gehen müssen. Das Wort Chauvinismus
hat einen garstigen Klang für unsere kosmopolitischen Doktrinäre, unsere
edlen Friedensschwärmer und liberalen Idealisten, es ist aber schließlich
nur ein anderer Ausdruck für Kraftbewußtsein. Denn bei allen wirklich
starken Rassen und Nationen ist der Republikaner so gut wie der
Monarchist, der Liberale so gut wie der Reaktionär _chauvin_.

(M105)

Die Deutschen, die nach 1870 eingewandert sind, vielfach auch noch deren
Kinder, besitzen nun allerdings jenen schönen Nationalstolz, von dem die
vorigen Generationen noch nichts wußten. Sie lesen noch die deutschen
Zeitungen und freuen sich der Berichte über die großartige Entwicklung des
deutschen Handels, der deutschen Industrie, das Aufblühen seiner
Weltmachtstellung zur See. Auch wenn sie die Zeitungen nicht läsen, würden
sie von diesem Aufschwung einen starken Hauch verspüren, denn sie können
kaum in irgendeinen Laden gehen, ohne auf die schmeichelhafte Inschrift:
„_Made in Germany_“ zu stoßen, und die gewaltigen Schiffe der großen
Reedereien, allen voran Hapag und Lloyd, die sogar die englischen
Meergiganten an solider, geschmackvoller Pracht und Zuverlässigkeit in
jeder Beziehung übertreffen, haben für die Hebung des deutschen Ansehens
über dem Ozean mehr getan, als selbst die himmelhohen Berge bedruckten
Papieres, auf denen der deutsche Geist in diesen letzten vier Jahrzehnten
des gesegneten Friedens sich für die Ewigkeit zu manifestieren trachtete.
Die Person des deutschen Kaisers, als Symbol dieser friedlichen
Welteroberung durch deutsches Wissen und deutsches Können, genießt bei den
Deutschamerikanern eine fast uneingeschränkte Verehrung, und auch das
Vereinsleben hat durch diesen neuerwachten Vaterlandsstolz neue Triebkraft
bekommen. In New York, Brooklyn, Chicago, Indianapolis, Milwaukee und
einigen anderen Städten erheben sich schöne deutsche Vereinshäuser, in
denen nicht nur gekegelt und Skat gedroschen, sondern auch mit ernstem
Eifer deutsche Musik und überhaupt deutscher Kulturbesitz gepflegt wird.
In Cleveland haben die Deutschen in einem schönen öffentlichen Park eine
Kopie des Weimarschen Schiller-Goethe-Denkmals errichtet, in Buffalo
bemühen sie sich mit rührender Leidenschaft um denselben Zweck, und selbst
im fernen Westen, in Kalifornien und Kansas ist dieser fromme Eifer
rastlos am Werk. Der Zusammenhang mit dem literarischen Leben des
Vaterlandes ist freilich nur lose, denn es ist begreiflich, daß die
Bestrebungen einer ausschließlich auf ästhetische Kultur gerichteten
intellektuellen Oberschicht in dem neuen Lande, wo die Sorge um Begründung
und Aufrechterhaltung des materiellen Wohlstandes alle Kräfte noch fast
ausschließlich in Anspruch nimmt, wenig Verständnis finden können. In
dieser Beziehung sind es noch Großväterideale, welche die versprengten
Landsleute drüben pflegen und es ist charakteristisch, daß die wenigen
leidenschaftlichen Bekenner zum modernen Deutschtum in Kunst und Literatur
vorwiegend eingewanderte deutsche Juden sind.

(M106)

Es hat sich also nachträglich doch noch so etwas wie ein deutscher
Chauvinismus entwickelt – leider, leider kommt er jetzt um mehr als ein
halbes Jahrhundert zu spät, denn die Neue Welt ist fortgegeben! Es hieße
unseren deutschen Landsleuten einen schlechten Dienst erweisen, wenn man
sie jetzt noch zur Sonderbündelei mit prahlerischem Maulaufreißen von uns
aus aufstacheln wollte; das wäre töricht und geschmacklos. Wie würden wir
es wohl aufnehmen, wenn die vielen Slawen oder Juden, die bei uns zu Gaste
sind, uns fortwährend ihre Nationalität und Rasse unter die Nase reiben,
Fahnen schwenken, uns ihre nationalen Gesänge in die Ohren schmettern und
darauf bestehen wollten, unsere Sprache nicht zu lernen? Wir würden uns
ihrer mit Fug und Recht irgendwie zu entledigen trachten. Auch die
Yankees, die tatsächlichen Herren der Neuen Welt, haben ein gutes Recht,
zu verlangen, daß die Einwanderer aufhörten, Fremdlinge zu sein, indem sie
sich bemühen, wenigstens nach Sprache und Sitte in der Wirtsrasse
aufzugehen. Pflicht des Deutschtums ist es unter diesen Verhältnissen,
sich stolz bewußt zu bleiben, daß sie die Erben einer tieferen und
feineren geistigen Kultur als die ihrer Wirte, und daß sie dazu berufen
sind, den Blütenstaub dieser geistigen Kultur, den sie, rauhhaarigen
Insekten gleich, aus der alten Heimat mit hinüber nehmen, in die Seelen
der neuen Landsleute befruchtend abzustreifen. Deutsche Denkungsart,
deutschen wissenschaftlichen und künstlerischen Sinn, deutsche Treue,
deutsches Gemüt in der neuen Heimat zum ausschlaggebenden Kulturfaktor zu
machen, das muß ihnen als heilige Pflicht bewußt bleiben. Auf diese Weise
lassen sich immer noch Siege _gegen_ und, was noch wichtiger ist, auch
_mit_ dem Yankeetum erringen. Die stolze, erfolgtrunkene Yankeerasse mit
deutschem Geiste zu durchtränken und so zu unseren innerlichst Verbündeten
zu machen, das wäre ein Erfolg, wertvoller als selbst neue glänzende
Waffentaten. Inzwischen dürfen sich aber die Deutschen der Vereinigten
Staaten auch nicht für zu gut dünken, von den Yankees zu lernen, und
ebenso wir Deutschen im alten Vaterlande, die wir solche Belehrung noch
nötiger haben. Es ist nämlich leider nicht zu leugnen, daß wir trotz des
großen Aufschwungs seit 1870/71 es immer noch nicht dazu gebracht haben,
als Nation so respektiert zu werden, wie wir es unseren Leistungen
entsprechend wohl verdienten. Wenn die Diplomaten anderer Völker
irgendeine bedeutungsvolle Neugestaltung der Dinge unter sich ausgemacht
haben und jemand unter ihnen die Frage aufwirft: „Ja, was wird aber
Deutschland dazu sagen, wird es sich das gefallen lassen?“ so wird ihm mit
lächelndem Achselzucken die Antwort: „Ach, die Deutschen! Die sind ja so
anständig, friedliebend und zuvorkommend, die kriegen wir schon herum.“ Es
ist eben in der Politik eine zweifelhafte Tugend, sich aus Höflichkeit die
Butter vom Brot nehmen zu lassen. Also lernen wir Alten fleißig bei den
Jungen die Fehler der Jugend – in der Politik werden viele davon zu
Tugenden, vornehmlich die goldene Rücksichtslosigkeit.

Man wird einwenden, daß jene nachahmenswerten amerikanischen Tugenden
nicht nur in der Jugend des Volkes, sondern mehr noch in den freien
Entwicklungsmöglichkeiten einer großen demokratischen Republik begründet
seien. Ich für meine Person kann jedoch nicht glauben, daß die Staatsform
wirklich diese ausschlaggebende Rolle spiele. Die aufmerksame Beobachtung
hat mich gelehrt, daß die demokratische Theorie drüben, wie überall, an
der aristokratischen Veranlagung der Menschennatur scheitert; ich habe
zahlreiche Beispiele dafür beibringen können. Der innerlich freie Mensch
kann unter jeder Staatsform frei bleiben, und was uns in Deutschland
speziell noch an unseren Regierungssystemen geniert, sind alles Dinge, die
sich bei gutem Willen abstellen lassen. Es ist höchst wahrscheinlich, daß
die Propheten, die uns als nächstes Ziel unserer politischen Entwicklung
die _Vereinigten Staaten von Europa_ verheißen, recht behalten werden.
Aber alsdann werden die gesunden, stolzen Rassen immer noch ein völkisches
Sonderdasein führen und auch ihre Kaiser und Könige ebenso pietätvoll
konservieren können, wie ihre Eigenart auf allen geistigen Gebieten. Wenn
aber diese Vereinigten Staaten von Europa ein vernünftiges,
zukunftsicheres Gebilde werden sollten, dann werden sie es den Lehren mit
zu verdanken haben, die ihnen das Land der absoluten Gegenwart als
untrüglicher Spiegel der Zukunft gegeben hat.



              DAS HIRN AMERIKAS AUF EINER GOLDENEN SCHÜSSEL.


Unter all den sonderbaren und gewaltigen Menschenwerken der Neuen Welt mag
wohl keines so sehr den Europäer staunen machen, wie der Expreßelevator
eines Wolkenkratzers, der erst am elften Stockwerk hält. Wohnungen für
kochende, Kinder aufziehende Menschen pflegen sich in diesen riesigen
Steinkasten nicht zu befinden, sondern ausschließlich Geschäftsräume für
die Welt des Handels und der Industrie, Kanzleien für Rechtsanwälte, für
Konsulate, für alle erdenkbaren Vermittler eines die ganze Welt
beherrschenden Austausches von Waren und Werten aller Art. Das Herz
Amerikas schlägt in den kleinen, einfachen Holzhäuschen der Vorstädte und
ländlichen Bezirke; aber das Hirn Amerikas arbeitet fieberhaft in diesen
gigantischen Türmen und liefert zwischen 8 Uhr früh bis 6 Uhr abends die
Hochdruckspannung für den Betrieb der Dollarmaschine. Hunderte von
Telephonleitungen vereinigen sich auf den Dächern, die unablässig von
diesen eifrigsten Drahtsprechern der Welt in Anspruch genommen werden; im
Erdgeschoß unterhält eine der Telegraphen- und Kabelkompanien ein Zweigamt
und befördert unzählige Telegramme über den ganzen Kontinent, wie nach
allen bewohnten Gegenden der Erde, und der gebändigte Blitz trägt
Botschaften voll Hoffnung und Verzweiflung, voll wilder Gier und wildem
Mut in alle Welt hinaus. Millionen strömen herein, Millionen strömen
hinaus. Hier pendelt den ganzen Tag die große Wage, auf der die Gedanken
erfindungsreicher Köpfe mit Gold aufgewogen werden; hier saust geräuschlos
der schwere Schicksalshammer nieder, der mit einem Schlage Existenzen
vernichtet; hier schwirren die Webstühle, an denen die schimmernden Netze
für den Gimpelfang fabriziert werden; mit dem Lokalaufzug klettert der
fleißige, unentwegte Streber langsam von Stockwerk zu Stockwerk hinauf,
und mit dem Expreßaufzug, der erst am elften Stockwerk hält, schwingt sich
das Genie über die Köpfe der armen Durchschnittsmenschheit in
atembenehmendem Tempo empor.

(M107)

In diesem Tempo offenbart sich die Energie der jungen Rasse, und dieser
Expreßelevator ist das bezeichnendste Symbol der Kultur dieser Neuen Welt.
Nie und nirgends zuvor hat die Menschheit so tolle Luftschlösser gebaut,
wie in diesen Wolkenkratzern des amerikanischen Nordens. Ein gigantisches
Eisengerippe schießt starr und nackt aus dem Boden hervor, und der Ausbau
wird hoch droben mit dem Dach angefangen. Von oben herunter beginnt man
alsdann die Wände von Zementguß zwischen den Rippen zu spannen, also
gewissermaßen flüssigen Stein vom Dach herunter zu gießen, bis er endlich
den Boden erreicht und nun mit Quadern im Grundstock verblendet wird,
schwer und gewaltig, wie für die Ewigkeit bestimmt. Wir Menschen der Alten
Welt aber haben zuerst in den Höhlen gewohnt, die die Natur uns zum
Unterschlupf darbot; dann haben wir gelernt, uns in die Erde zu wühlen.
Stein um Stein, Balken um Balken haben wir herbeigeschleppt und langsam
aneinander gefügt, und Jahrtausende, ja Hunderttausende selbst haben wir
gebraucht, um den stolzen, sicheren Bau unserer Kultur bis in jene Höhen
hinaufzuführen, wo die Stickluft schwitzender Mühsal nicht mehr lastet, wo
der frische Wind der Freiheit weht und der Blick sich weitet in die lichte
Ferne. Die kühnen Abenteurer dagegen, die die Neue Welt besiedelten,
brachten die eisernen Träger für den Aufbau ihrer Kultur gleich fertig
mit. Es waren schwindelfreie Menschen, die zuerst das große Wagnis
unternahmen; denn ängstliche, bedächtig am Alten klebende Ofenhocker und
Duckmäuser gingen ja überhaupt nicht über das große Wasser. Die Eroberer
brauchten das Pulver nicht zu erfinden; der Knall ihrer Büchsen, der
Donner ihrer Kanonen war ihr erster Gruß an die technisch hilflosen
Besitzer des neuen Landes. Und als die weiße Besiedlung in großem Stile
einsetzte, da war die Zivilisation des 17. Jahrhunderts das A, und die
Aufgabe, sich weiter hinauf zu buchstabieren im Alphabet, verursachte
keineswegs mehr einen Riesenverbrauch von Gehirnarbeit. Jedes Schiff
brachte einen neuen Gedanken von der Alten Welt herüber, und diese neuen
Gedanken brauchten sich nicht in hartem Kampfe erst langsam durchzusetzen
gegen den widerstrebenden Willen der Alten – denn es gab keine Alten in
diesem Lande, in dem Jugend und Kraft allein regierten. Da brachte einer
die Idee der Dampfmaschine herüber, und alsbald erkannte man, daß die
Riesengröße des Landes all ihre Schrecknisse verlieren und die zahlreichen
Quellen unerschöpflichen Reichtums überhaupt erst nutzbar gemacht werden
würden, wenn der rasche Dampfwagen spielend die Entfernungen überwand.
1825 lief die erste Eisenbahn in England, 1829 gelangte die erste
Lokomotive nach den Vereinigten Staaten und wurde alsbald zwischen Boston
und Worcester in Betrieb gesetzt. Im Jahre 1840 waren schon 2818 englische
Meilen Eisenbahn ausgebaut, und im Jahre 1869 wurde die Pacificlinie
vollendet, die den Atlantischen mit dem Stillen Ozean verbindet! Man
wartete drüben nicht, wie bei uns, ab, bis reich bevölkerte Gegenden und
große Städte die Mittel zu neuen Bahnbauten aufbrachten, sondern man legte
resolut die Schienenstränge durch jungfräuliches Land, durch Wüsten und
Einöden und veranlaßte dadurch, daß jene Gegenden besiedelt wurden, Städte
und Industrien über Nacht aus dem Boden wuchsen. Kleinliche
Bedenklichkeiten kannte man nicht. In jenen Gegenden hielt man sich mit
dem Anlegen fester, kostspieliger Bahndämme nicht lange auf, sondern
rammte die Schwellen so gut oder so schlecht es gehen wollte in den Boden
ein und ließ die schweren Lokomotiven darauf los rasen; auf ein paar
Menschenleben mehr oder weniger kam es dabei nicht an. Was ist an denen
gelegen, wenn nur die Überlebenden den winkenden Dollar glücklich
erhaschen!

(M108)

Und wie mit den Eisenbahnen, so ging es mit allen anderen technischen
Errungenschaften des europäischen Geistes. Begierig wurden sie drüben
aufgegriffen und, sobald ihre praktische Verwendbarkeit feststand, im Nu
über das ganze Land verbreitet und in ihrer Leistungsfähigkeit durch
Verbesserungen bis an die Grenze der Möglichkeit gesteigert. Und genau so
wie mit den Resultaten der technischen, verfuhr man auch mit denen der
geistigen Kultur: man importierte alle wichtigen Axiome der Wissenschaft
gleichzeitig mit den neusten, kühnsten Hypothesen und flößte sie den
lernbegierigen jungen Köpfen ein. Von den sieben freien Künsten ließ man
sich reichhaltige Mustersendungen kommen und erwarb zum Schmucke des
eignen Lebens was irgend dem unreifen Geschmacke eines noch nicht zu
beschaulicher Ruhe gelangten Volkes zusagte. Man hatte auch nicht nötig,
aus dunkler Angst und Erlösungssehnsucht langsam eine nationale Religion
empor wachsen zu lassen, sondern man ließ sich die Religionen schockweise
aus den alten Ländern kommen und von einheimischen Köchen für die
amerikanischen Seelen lecker zubereiten. So besaß man auf einmal Religion
und Kunst, Wissenschaft und Technik zugleich, und alles dieses in einem
auf der Höhe des Tages befindlichen nagelneuen Zustande. Es galt für
dieses absolute Gegenwartsvolk niemals, alte Kleider aufzutragen, mit
alten Vorräten zu räumen, alte Mauern niederzulegen, alte Münzen
einzuschmelzen. Und weil jeder Anfang für die Leute dieser Neuen Welt ein
Weiterbauen auf etwas bedeutete, das die Alte Welt bereits als ein
Vollendetes geliefert hatte, so mußte sich in den Köpfen dieser
Neuweltleute die Überzeugung festsetzen, daß es für ihre Entwicklung keine
Schranken gäbe. Der Himmel hängt diesen Leuten voll unbegrenzter
Möglichkeiten. Weil sie es niemals nötig hatten, auf dunkeln Wendeltreppen
mit schmerzenden Knien in die Höhe zu klimmen, wie wir, so deucht es ihnen
die natürlichste Sache von der Welt, ihre zwanzig, dreißig Stockwerke per
Expreß mit höchstens zwei bis drei Stationen hinauf zu flitzen. Und da
droben, im Genuße der schönen Aussicht und der frischen Luft, fühlen sie
sich so pudelwohl, daß sie es gar nicht merken, wie sie in der Luft
hängen. Es muß schon ein gewaltiges Erdbeben kommen, um ihnen begreiflich
zu machen, daß in ihrer Höhe der Ausschlagswinkel der Pendelschwingung
etwas ungemütlich zu werden beginnt und daß man unten zum mindesten
sicherer wohnt. Aus eben dem Grunde aber vermögen kultivierte Menschen der
Alten Welt in jenen stolzen Luftschlössern niemals heimisch zu werden. Sie
finden es fußkalt darin, weil die unteren Stockwerke unbewohnt sind und
alle Winde frei durch das leere Eisengerippe streichen. Wir wurzeln eben
mit unserer ganzen Seele in der Vergangenheit. In den schweren Kämpfen
einer langen, langsamen Entwicklung sind unsere Kräfte gewachsen; an den
Steinen, die uns in den Weg geworfen wurden, haben wir die Waffen unseres
Geistes geschärft; unseren Göttern haben wir Wohnungen gebaut aus den
aufgetürmten Leichnamen unserer Märtyrer; den holden Rausch unseres
Frühlings haben wir uns verdient in eiskalten Winterstürmen, aus Schutt
und Brand die Ideale unserer Schönheit gerettet – aller Stolz auf unsere
Gegenwart, all unsere Sehnsucht in die Zukunft sind arm und klein, an der
heiligen Liebe zu unserer Vergangenheit gemessen. _Ein Mensch der Alten
Welt, der keine Romantik im Leibe hat, ist eine Mißgeburt._ Und wenn die
Kinder der absoluten Gegenwart zu uns herüberkommen, so wandeln sie wie in
einem Museum einher: alles, was für uns lauter lebendige Quellen ewiger
Werte bedeutet, sind für sie ausgestopfte Kuriositäten, patinierte
Schildereien, bleiche Spirituskonserven – sie gehen staunend oder lächelnd
vorbei und fragen hie und da: „Wieviel kostet das?“

O ja, wir sind auch Gegenwartsmenschen, sogar wir ehemals so verträumten
Deutschen! Wir ruhen keineswegs auf unseren Lorbeeren aus, wir stellen
immer noch unsere Welteroberer so gut wie zur Zeit der Völkerwanderung.
Diese neuen deutschen Menschen sind aber die sonderbarsten Realisten, die
die Welt je gesehen hat. Wohl sind sie modern im besten Sinne und
innerlich doch noch ganz und gar angefüllt von den ererbten Eigenschaften
ihrer ritterlichen oder spießbürgerlichen Vorfahren. Ihr Blut sträubt sich
dagegen, reine kalte Geschäftsmenschen zu werden; sie ringen mit ihrer
rührenden Gemütlichkeit, ihrer korrekten Bravheit und wohl auch mit einer
streberhaften Enge der Empfindung, und ihrem mannhaften Ringen blüht der
Erfolg, weil sie sich der Arbeit und der Disziplin verschrieben haben.
Dies neue Geschlecht der deutschen Realisten bildet heute noch einen Staat
im Staate, eine Freimaurerorganisation mit ungeschriebenen Gesetzen. Aber
es ist sicherlich berufen, den Staat von Grund aus umzuwandeln, das
Ferment der neuen deutschen Gesellschaft zu bilden – jener große, der
offiziellen Welt meist fernstehende Komplex von Ingenieuren, Technikern,
Kaufleuten, exakten Forschern, voraussetzungslosen Denkern und
rücksichtslosen Künstlern, der heute schon die eigentliche Triebkraft zu
allen tüchtigen deutschen Taten hergibt. Übermenschen sind sie darum noch
lange nicht, diese neuen Deutschen, aber doch bereits wieder ein
prächtiges Herrenvolk, unter dem die Ahnherrn des Übermenschen schon jetzt
im Fleische wandeln dürften.

(M109)

Drüben glauben sie, wie es scheinen möchte, den Übermenschen bereits zu
besitzen, und zwar in der Person des Spielers großen Stiles, des Millionen
aus der Luft greifenden und auf eine Karte setzenden kalten
Geschäftsmannes. Hören wir ein Stückchen Yankeephilosophie aus dem Munde
eines ihrer besten Schriftsteller, _Jack London_(5): „Zu Zehntausenden und
zu Hunderttausenden sitzen Menschen die Nächte durch und planen, wie sie
zwischen die Arbeiter und deren Erzeugnisse sich hineinquetschen können;
das sind die Geschäftsleute. Die Kleinen von ihnen, Krämer und
dergleichen, greifen sich aus dem Erzeugnis des Arbeiters irgend etwas
heraus, woran sie verdienen können; aber die großen Geschäftsleute
benutzen diese kleinen Geschäftsleute, um die Werterzeuger für ihre Zwecke
herzurichten. Den ganz großen Leuten aber liegt nichts daran, den
einzelnen Arbeiter auszubluten, ihm seinen Profit wegzuschnappen, sondern
sie suchen sich zwischen die Hunderte und Tausende von Arbeitern und ihre
Erzeugnisse hineinzuschieben. Diese Art von Glückspiel nennt man ‚die hohe
Finanz‘. Ursprünglich bestand das Geschäft nur darin, den Arbeiter
auszuplündern; dann aber taten sich die großen Räuber zusammen und jagten
einander die aufgehäufte Beute ab. Unter den Übermenschen der Geschäfts-
und Finanzwelt gibt es, mit einigen seltenen mythischen Ausnahmen, kein
_noblesse oblige_. Diese modernen Übermenschen sind eine Gesellschaft von
Banditen, welche die erfolgreiche Frechheit besitzen, ihren Opfern Gebote
von Recht und Unrecht zu predigen, an die sie sich selber nicht kehren.
Bei ihnen heißt es, eines Mannes Wort soll gelten, so lange als er
gezwungen ist, es zu halten. Du sollst nicht stehlen, ist ein Gebot, das
nur den ehrlichen Arbeiter angeht; sie selber stehlen selbstverständlich
und werden von ihresgleichen der Größe ihrer Beute entsprechend geschätzt.
Obwohl jeder Räuber stets auf der Lauer liegt, um jeden anderen Räuber zu
berauben, so ist doch die ganze Bande wohl organisiert. Sie hat
tatsächlich die Kontrolle über den politischen Mechanismus der
Gesellschaft. Sie bringt Gesetze durch, die ihr das Privileg zum Rauben
geben, und sie verschafft diesen Gesetzen Achtung durch die Polizeiorgane,
die Gerichte und die Armee. Des Übermenschen Hauptgefahr liegt in seinem
Mitübermenschen, nicht etwa in der dummen großen Masse des Volkes – die
kann man durch den lächerlichsten Bluff zum Narren halten – die zählt
nicht mit. Die hohe Finanz ist nur ein Pokerspiel auf höherer Basis, aber
man kann sehr wohl die Betrügereien und Vortäuschungen dabei durchschauen,
ohne sich sittlich darüber zu entrüsten. Es ist eben die Ordnung der
Natur, daß die gigantische Nichtigkeit alles menschlichen Strebens von den
Banditen organisiert und ausgenutzt wird. Auch zivilisierte Menschen
berauben einander, weil sie eben so geschaffen sind. Sie rauben, wie die
Katze kratzt, der Frost beißt und der Hunger kneift. Der große Finanzier
lernt sein Geschäft bald sportmäßig betreiben. Arbeiter und kleine Leute
beschwindeln, das ist zu leicht, zu dumm, das ist ebensowenig ein Sport,
wie etwa die Jagd auf die fetten, in der Nudelkiste aufgezogenen Fasanen,
wie sie in England noch betrieben werden soll. Der große Sport besteht
darin, den erfolgreichen Räubern einen Hinterhalt zu legen und ihnen die
Beute wieder abzunehmen. Das gibt Aufregung, das spannt, und zuweilen
setzt es dabei Klopffechtereien, an denen der Teufel seinen besonderen
Spaß hat.“

(M110)

Die Übermenschen von Wallstreet tragen mit ihren genialen Taten allerdings
dazu bei, die Physiognomie der Neuen Welt charakteristisch auszuprägen,
besonders wenn man ihr Treiben so auffaßt, wie jener witzige Engländer,
der einem Yankee auf die Behauptung: so smarte Geschäftsleute wie in den
Vereinigten Staaten hätten sie drüben in England doch nicht, kaltblütig
erwiderte: „O ja, die haben wir auch – aber bei uns sitzen diese Herren
alle im Zuchthaus.“ Der Amerikaner hat eben den guten Humor, die Taten
seiner großen Spitzbuben, wie Jack London, mit sportlichem Interesse zu
verfolgen. Er versteht aber einen sehr feinen Unterschied zu machen
zwischen den großen Tieren, über die er sich amüsiert, und denen, auf die
er stolz ist. Es gibt einige sehr vornehme Klubs drüben, in deren
Mitgliederverzeichnissen man die Quintessenz des amerikanischen Genius
suchen darf, xfach durchgesiebte Auslesen von Herren- und Höhenmenschen.
So existiert z. B. in New York der alte, hoch angesehene Century-Klub, in
welchen nur Männer aufgenommen werden können, die irgendeine
bedeutungsvolle Leistung auf irgend welchem Gebiete aufzuweisen haben. Am
26. Februar des Jahres 1902 aber ergriff ein Komitee, dem ein Dutzend der
weltbekannten Industriefürsten angehörte, die Gelegenheit eines festlichen
Frühstücks im Straßenanzug, um unserem Prinzen Heinrich von Preußen _das
Hirn Amerikas auf einer goldenen Schüssel darzubieten_. Ungefähr 150
Einladungen ließen sie ergehen an jene _Captains of Industrie_, wie Thomas
Carlyle sie genannt hat: „Jene Ahnherrn einer neuen, wirklichen, nicht
bloß eingebildeten Aristokratie!“ Bei diesem denkwürdigen Frühstück wurde
nicht die Schwere des Geldsacks in Betracht gezogen; ausgeschlossen waren
die bloßen smarten Geschäftsleute, die tollkühnen Spieler des großen
Spiels; ausgeschlossen waren auch Leute, die nur vermittels ihres hohen
Ranges eine Augenblicksbedeutung haben; es waren vielmehr nur wirkliche
Feldherrn in dem gewaltigen Heere der modernen Welteroberung durch
Wissenschaft, Technik, Handel und Industrie zur Huldigung entboten. Dem
Prinzen wurde vorher ein kleines gedrucktes Heft überreicht, in dem die
Eingeladenen dem Alphabete nach aufgeführt und die Bedeutung jedes
Einzelnen in einer ganz knapp gefaßten Notiz erläutert war. Die „New
Yorker Staatszeitung“ sagte von diesem Frühstück: „Der erlauchte Bruder
des deutschen Kaisers und mächtigen Beschirmers friedlicher Bestrebungen
hat heute echte und wahre Amerikaner kennen gelernt, Leute von dem Schlag
der Augsburger Fugger, Fürsten des Handels, Baumeister unserer Größe. Es
waren nicht lauter Millionäre, die da saßen, aber sie gehörten
ausschließlich zu der Klasse jener Arbeiter, die die unerschöpfliche
Produktionskraft der Neuen Welt in Millionen umzumünzen verstehen und die
unseren Nationalwohlstand begründen halfen.“

(M111)

Ich besinne mich vergeblich auf eine Gelegenheit, bei der ein Fürst der
Alten Welt in ähnlicher Weise gefeiert worden wäre. Wenn unsere gekrönten
Häupter reisen, so bekommen sie überall dieselben Exzellenzen, Geheimräte,
Spitzen der Behörden, Kriegervereine usw. zu sehen; zweifellos lauter
wackere und verdienstvolle Staatsbürger; aber die wahrhaft führenden
Köpfe, die genialen Organisatoren, die Träger der modernen Ideen – jene
Exzellenzen im eigentlichen Wortsinne – jene Hervorleuchtenden – sie
finden sich nur in vereinzelten Exemplaren unter den Aufwartenden. Und der
Eifer der intimen Hüter des Thrones, der Höflinge und Büreaukraten sorgt
dafür, daß von wirklich geistigen Potenzen diejenigen das Antlitz des
Herrschers niemals zu sehen bekommen, deren Gedankenschwung sich keck über
die Grenzen des beschränkten Untertanenverstandes erhebt. Auch drüben in
dem Märchenlande der absoluten Gegenwart fehlten in der Liste der
Eingeladenen die großen Philosophen, Künstler und Dichter, die Verkünder
einer neuen Sittlichkeit und einer neuen Religion, die kühnen Umwerter und
gefährlichen Fackelträger – sie mußten fehlen, weil sie drüben noch nicht
vorhanden sind, diese Kulturblüten schwer von dem Honig einer glorreichen
Vergangenheit.

Wann wird für Deutschland die Stunde schlagen, in der ein Kaiser vor
seinem Volke den Tanz der sieben Schleier tanzt, wobei seine Majestät eine
Hülle alter Vorurteile nach der andern abwirft, um schließlich zum Lohne
das Hirn Deutschlands auf einer Schüssel zu fordern? Vielleicht wird diese
Schüssel nicht, wie drüben in dem Lande der unerschöpflichen Naturschätze,
von purem Golde sein können – aber das Hirn wird sich sehen lassen dürfen!



        EINIGE FÜR DIES WERK BENUTZTE UND EMPFEHLENSWERTE BÜCHER:


_      Dr. Otto Ernst Hopp_, „Bundesstaat und Bundeskrieg in den
      Vereinigten Staaten“. Zwei Bände. Verlag G. Grote. Berlin 1886.
_      Mc. Laughlin_, „History of the American Nation“. Verlag Appleton &
      Co. New York 1903.
_      Paul Bourget_, „Outre Mer“. Verlag Alphons Lemerre. Paris 1905.
_      Georg von Skal_, „Das amerikanische Volk“. Verlag Egon Fleischel &
      Co. Berlin 1908.
_      Dr. Hintrager_, „Wie lebt und arbeitet man in den Vereinigten
      Staaten?“ Verlag F. Fontane & Co. Berlin 1904.
_      Wilhelm von Polenz_, „Das Land der Zukunft“. Verlag F. Fontane &
      Co. Berlin 1905.
_      Ludwig Max Goldberger_, „Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten.“
      Verlag F. Fontane & Co. Berlin 1903.
_      A. von Ende_, „New York“. Verlag Marquardt & Co. Berlin.



                         NAMEN- UND SACHREGISTER.


      Aberglaube 203.
      Adel 261, 175 ff.
      Akademische Vergnügungen 55.
_      American plan_ (style) 240, 244.
      Angelsachsen 21.
      Antisemitismus 31.
      Arbeit 105, 107, 261.
      Armee 177 ff.
      Armour & Co. 218 ff.
      Asch, Schalom 142.
      Astor 179.
      Astorhotel 239.
_      Athletics_ 37, 45.
      Ausgestanden! 17.
_      Avenue, common wealth_ 126.
_      Avenue, fifth_ 123 f.

      Baker G. Eddy, Mrs. Mary 196 bis 200.
      Bauern, lateinische 265.
      Bayreuth 138.
      Berufstreue 106, 254.
      Bertsch, Hugo 132.
      Bibliotheken 51, 63.
      Bier 234.
      Bildungsgang des Volkes 63.
      Bildungstrieb 63, 255.
      Bischöfliche Hochkirche 187.
      Blood and Thunder-Show 5.
_      Bohemian Jinks_ 55.
_      Bohemians_ 132.
      Bordelle 72 f.
      Bosse, die politischen 65, 73, 96.
      Bret Hart 133.
_      Brooklyn-Bridge_ 233.
      Bronzemesser 110.
      Buchgewerbe 126.
      Buffalo 118, 211.

      Cafés 112, 119, 237.
_      Camping out_ 209.
_      Campus_ 54, 205.
_      Car_ 172.
      Carnegie 80.
      Cartesius 120.
      Century-Club 281.
      Chautauqua 63.
      Chauvinismus 28, 266 ff.
      College _Cheers_ 43 f.
      Chicagos Schlachthöfe 218–229.
_      Christian Science_ 196–203.
      Clams 118.
_      Coeducation_ 36, 55, 82, 84.
_      Common sense_ 38, 66, 184, 263.
_      Compartement_ 172.
_      Concerd__, sacred_ 173.
      Confessionslose Kirche 205 f.
      Cornell 53, 205.

_      Denomination_ 49, 188 ff.
      Demokratischer Stolz 105.
      Demokratische Tugenden 181.
      Deutsch-Amerikaner 28 f., 36, 264 bis 271.
      Deutsche Pflichten 6, 271 f.
      Deutsche Städte 265.
      Deutsche System, das 61.
      Dienstboten 94–109.
      Dienstmädchen, Karriere besserer, 101.
      Dienstpersonals, Pflichten u. Rechte des 99.
      Disziplin 38, 70 f., 170, 180, 278.
      Dollarmaschine 273.
      Doppelmoral 77.
_      Dormitorys_ 42.
      Drew, Daniel 179.

      Ehe 79–93.
      Ehescheidung 79, 88 f.
      Ehrgeiz 37.
      Ehrlich-Hata 74.
      Ehrlichkeit 182.
      Einwanderers, die Kinder des 29.
      Eisenbahn 275 f.
      Eisenbahnen, Kundenfang der 241.
      Eiswasser 17.
      Eitelkeitsmarkt 176, 155.
      Emerson Ralph Waldo 62.
_      Episcopal Church_ 187.
      Erotik 75 ff.
      Erziehungskosten, Rückzahlung der 83.
      Eulenberg, Herbert 145.
      Europa, Vereinigte Staaten von 272.
      Exzellenzen, die wahren 283.
      Expreßelevator 273 f.

      Fahrpläne 242.
      Familienhäuser 123.
      Fensterputzer, der schwarze 95.
      Festessen 10 f.
      Fische 115.
      Fleischverarbeitung 230.
_      Flirtation_ 84 f.
      Forschung, wissenschaftliche 46 f.
      Fortschritt, kampfloser 275.
_      Fraternitys_ 42 f.
      Frauenakademien 56 ff.
      Friedrich, Max 129.
      Früchte 111, 118.
      Fulda, Ludwig 2.
      Frauenverehrung 26, 34, 70, 80, 90, 174, 246.

      Gastfreundschaft 9.
      Geflügel 114.
      Geldheirat 25.
      Ghetto 138.
      Gold 234.
      Gould, Jay 25, 176.
      Gouverneur 10.
      Germanistic Society of America VII, XIV, 2.
      Geschäftspolitiker 65.
      Geschlechter, freier Verkehr der 84 f.
      Gesetzen, Achtung vor den 67.
      Gesetzfabrikation 173.
      Gepäckaufgabe 242 f.
      Gesundbeter 197–200.
      Grünhörner 232 ff.
      Graf, Dr. Alfred 60.

      Handwerk 30, 106 f., 254.
      Hapag 269.
      Hardt, Ernst 147.
      Harward 44.
      Hauptmann, Gerhart 139, 145.
      Hauptmann, Karl 2.
      Hausfrauen 91 f., 93, 101.
_      Head lines_ (Kopfzeilen) 161 f.
      Heilsarmee 193–196.
      Heimatliebe 171, 259.
      Hemdärmeligkeit 249.
      Heinrich, Prinz von Preußen 18, 226, 282.
      Heirat 88.
      Heiratslust ein Gesundheitszeugnis 93.
      Herald, New York 164.
      High School von Youngstown 7.
      Hotel 207, 236 ff., 252.
      Höflichkeitsbezeugungen 13, 170, 247 f.
      Hölle, Mittelpunkt der 227.
      Hudson 207, 215 ff.
      Humanistische Bildung 48.
      Humoristische Lichter 5.

_      Icecream_ 17, 113 f.
      Illustrierte Zeitungen 151 ff.
      Indianer 23.
      Industriehäuptlinge 149, 282.
      Interviewer 8, 19, 158 f.
      Inquisition 21.

      Jerusalem, Else 74.
      Judentum 30 f., 144.
      Juristen 263.

      Kastengeist 172, 177.
      Kaiser, der deutsche 269, 283.
      Kannibalische Gerichte 119.
      Karikaturen 160.
      Kasernenleben 180.
      Kaufmann, Reginald Wright 73.
      Katholizismus 188.
      Kauer, das Volk der 120.
      Kaugummi 121.
      Kelten 21.
      Kempinskis System 120.
      Keßler, David 139 ff.
      Kindervergötterung 33 f., 244.
      Kinderzucht 35.
      Kirchenwahl 203 f.
      Kleidung 124.
      Knickebockers 175.
      Kochkunst 111–120.
      Koketterie 79, 85.
      Komisch finden, was sie alles 7.
      Kongreß deutscher Mißgeburten 27.
      Kontrakte der Dienstboten 99.
      Korruption 65 ff.
      Krüger, Hermann Anders 2.
      Kunstbedürfnis 129.
      Kunst, nationale 62, 131.
      Küssen, vom 87, 247.
      Kurmacherei, unverbindliche 85.

      Landschaftsregisseure 212 ff.
      Laughlin, Andrew C. Mc. 36.
_      Legal__ Aid Society_ 192.
      Lenau, Nikolaus 1.
      Lehrer und Lehrerin 38 ff.
      Leitartikel 154.
      Leithammel 219.
      Lesefutter für Kinder und Unmündige 151.
      Lichtreklame 122, 211.
      Liebe, die, in der Öffentlichkeit 87.
      Liebesheirat 25.
      Liebesverhältnis 77, 86 f.
      Liebe und Ehe 79–93.
      Liliencron, Detlev v. 1.
      Lindau, Paul 1.
      Lloyd, Norddeutscher 269.
      Lobby, die 237.
      London, Jack 132, 279 ff.
      Longfellow 133.
      Lügner 37.
      Lynch, Richter 263.

      Manieren 27, 29, 92.
      Mann, G. A. 201 ff.
      Malerei 126, 130.
      Mannszucht 117 ff.
      Mark Twain 133.
      Massengeschmack 133, 163 f.
      Materialismus 193, 250.
      Mayflower 175.
      Mädchenhandel 73.
      Mäzene 51 ff.
      Menschen, neue deutsche 278 f.
      Menschliche Niedertracht 223.
      Mischlinge 23 f.
      Mitgift 25, 81.
      Modedamen 80, 90 f.
      Monatsschriften 164.
      Moralbegriff 78, 164.
      Morgentoilette des Tätowierten 245.
      Multimillionäre 79 f.
      Muschenheim, Gebrüder 239.
      Musiker, deutsche 128 ff.

      Nacktheit in der Kunst 127, 174.
      Neger 95 ff., 99, 173.
      Negerkirchen 188 ff.
      Neidlosigkeit 183.
      Nervosität 11.
      Niagarafälle 209 ff.
      Niggerlied 128, 188, 191.
      Niggerpoesie 188 ff.

      Oper 136 ff.
      Operette 146 f.
      Optimismus 21, 32, 108, 215, 263.
      Osborn, Prof. Dr. Henry F. 149 f.
      Orden 53, 176.

      Pagen 237.
      Papiergeld 234.
      Parsifal 128.
      Päpstin, Tod der 198 f.
      Philister 260.
      Photographie 126.
      Pilgerväter 21, 75, 186.
      Pinsky, David 139.
      Plastik 127.
      Poet, der neuweltliche 130.
      Polenz, Wilhelm v. 1.
      Politik 65 ff., 271, 264 f., 154.
      Polizei 67, 72, 74, 171.
      Postgraduates 51.
      Prachtbauten 122 f.
      Presse, deutsche 167.
      Presse, gelbe 149, 153, 161, 164, 255.
      Privatgelehrte 50.
      Proletariat, gelehrtes 50.
      Professor, der 53 f.
      Professor, der, als Mädchen für alles 103.
      Prohibition 171, 174.
      Prostitution, die 73.
      Prüderie 4, 74, 132, 145, 174.
      Publikums, Psychologie des 3.
      Puritaner 21 ff.
      Pullman-Wagen 172 f., 243 ff.

      Quäker 204.

      Radiopathie 199 f.
_      Ragtime_ 128.
      Rasse, amerikanische 20 ff., 256 ff., 268.
      Rassestolz 23.
      Raubritter 179.
      Rauchplage 68.
_      Reception_ 9, 12 ff.
      Redegabe 10 f., 39.
_      Refinement_ 47.
      Reinhardt, Max 142, 147 f.
      Reinheit, erotische, der Männer 75 f., 82.
      Reklame 156, 208, 210.
      Rekordfieber 251.
      Rekrutierung 177.
      Reliquienverehrung 50.
      Renommage 33.
      Rentiers 81.
      Reporter 8, 241, 237, 160 f.
      Richter 262 f.
      Rockefeller jun. 74.
      Romantik 87 f.

      Salat 116 f., 117.
      Schaukelstühle 125.
      Scheidung, die 89.
      Schlachtverfahren für Schweine 227.
      Schlachtverfahren für Rinder 229.
      Schlangenfraß, intellektueller 157.
      Schliff, der letzte 47.
      Schnitzler 86.
      Schönheit, körperliche 26.
      Schönheiten, berufsmäßige 59, 104.
      Schule 35 ff.
      Schülerverbindungen 39.
      Schurz, Karl 267.
      Sehenswürdigkeiten 9.
      Sekten 186 ff.
      Selbsthilfe, energische, eines Damenklubs 69.
      Sensationsartikel 164 ff.
      Sentimentalität 87.
      Sexuelle Heuchelei 75.
      Sinclaire, Upton 226.
      Skal, Georg v. 38.
      Sklaverei 109.
      Snobismus 251 ff.
_      Social evel, the_ 72 ff.
      Soldatenwerbung 179.
      Söldnerheer 181.
      Sommerfrischen 209.
_      Sororitys_ 58.
      Sozialdemokratie 180, 185.
      Sparsamkeit 235.
      Speisehäuser, billige 119.
      Spekulationsheiraten 81.
      Spießertum 183, 185.
      Spione, japanische 181.
      Spitzbüberei als Sport 281.
      Sport 44 ff., 54, 281.
      Sportberichte 153 f.
      Sportliche Wettkämpfe 45.
      Staatszeitung, New Yorker 167, 282.
      Stanley, Henry M. 162.
      Steuben, Baron 36.
      Stiefelputzen 100.
      Straßendemonstrationen 97.
      Straßenpflaster 124.
      Straßenverkehr 71.
      Strauß, Richard 97, 98, 148, 160.
      Studenten, arme 43.
      Studentenverbindungen 43.
      Studentin, Typus der 59.
_      Subway_ 232.
      Süßigkeit 111 f., 117.
_      Sweet Potatoes_ 115.

      Tafelfreuden im Pensionat 115.
_      Tammany Hall_ 186.
      Tante, die alte 173.
      Tauschhandel, Töchter im 25.
      Technische Hochschulen 49.
      Technik und Wissenschaft 49.
      Telephon 237, 249, 273.
      Theater, amerikanisches 135–138.
      Theater, deutsches 143–148.
      Theater, jiddisches 138 ff.
      Theatre, New 136.
      Todessprung, der 221.
      Toleranz 22.
      Touristen 211.
      Transcript, Boston 162.
      Trennung von Staat und Kirche 185, 263.
      Trinkgeld 235 f., 238.
      Trustmagnaten 68.

      Übermensch, der, von Wallstreet 279 ff.
      Undergraduates 42.
      Unglücksfälle, Verbrechen 153 f.
      Uniform 180.
      Unitarier 189.
_      University Extension_ 63, 255 f.
      Urban, Henry F. XII.
_      Usher_ 13, 16.

      Verbrecher, Behandlung der 262.
      Vereinsleben 6 f., 255, 266, 269.
      Verfassung der V. St. 36.
      Virginians, true 175.
      Volkslied 3, 130.
      Völker, junge, u. Kinder 33.
      Vorstellen, nicht! 13.
      Vorurteile, demokratische 62.

      Wahlmanöver 73.
      Walt Whitman 133.
      Walter, Dramatiker 86, 132.
      Wedekind, Frank 145.
      Wehrpflicht 180.
      Wellesley-College 56–59.
      Weltanschauung 46.
      Wettkämpfe 44 f.
      White, Dr. Andrew D. 108, 203, 205 f.
      Wildpret 115 f.
      Williams, Roger 22.
      Wissenschaftliche Speisekarte für Damen 57.
      Wohltätigkeit 194.
      Wohnhäuser, Stil der 208.
      Wohnungseinrichtung 124 ff.
      Wolkenkratzer 123, 273 f.

      Yale 44.
      Yankee 20.

      Zahnarzt 113.
      Zukunft, schwierige Frage an die 109.
      Zwangsheirat 78.



                Verlag von F. Fontane & Co., Berlin/Dahlem

          Wie lebt und arbeitet man in den Vereinigten Staaten?

                      Nordamerikanische Reiseskizzen

                                   von

                              Dr. Hintrager
                          Geheimer Regierungsrat

                  Preis: broschiert M. 5,–; geb. M. 6,50

                              _II. Auflage_

New Yorker Staatszeitung:
(Aus einem mehrere Spalten füllenden Feuilleton.)

Dr. Hintrager hat in seinem Buche: „Wie lebt und arbeitet man in den
Vereinigten Staaten?“ ein gutes Werk geliefert; er hat geraume Zeit in den
Vereinigten Staaten zugebracht und sich bei seinen wiederholten Besuchen
des Landes nicht darauf beschränkt, die Außenseite der Dinge anzusehen. Er
hat nicht nur auf einer Farm in Jowa gewohnt, sondern dort auch einige
Monate mitgearbeitet. Er hat die Schulen gründlich studiert, ist im Bureau
eines Rechtsanwaltes tätig gewesen, hat die meisten der größeren
Strafanstalten besucht und geprüft und juristische Vorlesungen gehalten.
Kurzum, er hat einen Blick in das innere Leben des Volkes getan und weiß
hübsch und interessant davon zu erzählen.

Sehr gut und lesenswert – auch für Deutsch-Amerikaner, die über diesen
Punkt wenig unterrichtet sind – ist das Kapitel über die Amerikanerin. Man
fängt doch an, einzusehen, daß die amerikanische Frau nicht bloß das
Sofakissen ist, für das man sie so lange gehalten hat.

                Verlag von F. Fontane & Co., Berlin/Dahlem

                                Das Land
                                   der
                        unbegrenzten Möglichkeiten

   Beobachtungen über das Wirtschaftsleben der Vereinigten Staaten von
                                 Amerika

                                   von

                          Ludwig Max Goldberger
                          Geheimer Kommerzienrat

                  Preis: broschiert M. 5,–; geb. M. 6,50

                             _VIII. Auflage_

Literarisches Zentralblatt, Leipzig:

Unter der in der letzten Zeit beträchtlich angeschwollenen Literatur über
die Vereinigten Staaten darf das vorliegende Werk wohl den ersten Platz
beanspruchen. Eingehende Sachkunde, erschöpfende Gründlichkeit, genaue
Detailforschung ohne jede Voreingenommenheit und Gefälligkeit der
Darstellung zeichnen dieses Werk besonders aus. Man muß selbst auf den
Spuren des Verfassers in den Vereinigten Staaten gewandelt sein, um die
stets zutreffende und mit wenigen Worten überaus anschaulich gezeichnete
Schilderung ganz würdigen zu können, welche in diesem Werk vom Boden und
den Menschen, von der Arbeit und den Werkstätten, dem Nationalreichtum,
den Eisenbahnen und Steuern, der Arbeiterfrage und dem Trustwesen und
verschiedenem anderen gegeben sind. Durch das ganze Werk zieht sich die
nicht hoch genug zu veranschlagende Tendenz, die beiden großen Nationen
menschlich und wirtschaftlich näher zu bringen ...

                Verlag von F. Fontane & Co., Berlin/Dahlem

                           Das Land der Zukunft

                                  oder:

          Was können Amerika und Deutschland voneinander lernen?

                                   Von

                            Wilhelm von Polenz

                  Preis: broschiert M. 6,–; geb. M. 7,50

                              _VI. Auflage_

St. Petersburger Zeitung:

Polenz beweist auch hier bei dem Studium fremder Verhältnisse die
glänzende Beobachtungs- und Schilderungsgabe, die wir in seinen
Dichtungen, besonders in seinem klassischen Roman „Der Büttnerbauer“
bewundern. Mit offenen Augen hat er sich in der amerikanischen Welt
umgesehen und schildert scharf und klar, ohne sich auf der einen Seite
durch wirkliche und scheinbare Erfolge blenden oder aber durch das, was
dem Europäer fremd, sonderbar und vielfach auch abstoßend erscheint,
beirren zu lassen.

Rheinisch-Westfälische Zeitung, Essen:

Nicht landläufige Reiseeindrücke sind es, die uns Polenz wiedergibt, er
entrollt vielmehr vor uns ein treffliches, wahrheitsgetreues,
interessantes Gemälde von kulturhistorischer Bedeutung, von den
Verhältnissen, Sitten und Gebräuchen der heutigen Welt.



                               ANMERKUNGEN


   M1 Psychologie des Publikums.
   M2 Humoristische Lichter. Was sie alles komisch finden.
   M3 Sehenswürdigkeiten und Gastfreundschaft. Nervös sind sie nicht.
   M4 Nicht vorstellen! Great reception.
   M5 Ausgestanden!
   M6 Die reizende Reporterin.
   M7 Angelsachsen und Kelten. Rassestolz. Töchter im Tauschhandel.

    1 Das Wort Yankee kommt von einer mißhörten indianischen Aussprache
      des Wortes „english“ her und wurde in den Befreiungskriegen den
      Amerikanern von den Engländern als Spottname angehängt.

   M8 Kongreß deutscher Mißgeburten.
   M9 Die Kinder der Einwanderer. Antisemitismus?
  M10 Junge Völker und Kinder.
  M11 Kinderzucht.
  M12 Lügner und Duckmäuser.
  M13 Schülerverbindungen.
  M14 Studentenverbindungen.
  M15 Sportliche Wettkämpfe.
  M16 Der letzte Schliff. Technik und Wissenschaft.
  M17 Postgraduates.
  M18 Der Professor im öffentlichen Leben.

    2 Der Unterschied zwischen diesen beiden Gattungen ist schwer zu
      umgrenzen. Professor Münsterberg von Havard definiert ihn dahin, daß
      sich das College mit der Ansammlung von Wissen, die Universität
      dagegen mit dessen kritischer Würdigung und mit exakter Forschung
      beschäftigen soll, doch fließen die Grenzen schon deshalb oft
      ineinander, weil eben an den meisten Universitäten auch noch nicht
      viel von selbständiger Forschung und wissenschaftlicher Systematik
      zu finden ist.

  M19 Akademische Vergnügungen.
  M20 Wissenschaftliche Speisekarte für Damen.
  M21 Typus der Studentin.
  M22 Das deutsche System. Bildungsdrang des Volkes.
  M23 Geschäftspolitiker.
      Achtung vor den Gesetzen?
  M24 Energische Selbsthilfe eines Damenklubs.
  M25 Disziplin im Straßenverkehr.
  M26 Die Prostitution.
  M27 Öffentliche und private Moral. Sexuelle Heuchelei und Reinlichkeit.
      Beurteilung des freien Liebesverhältnisses.
  M28 Spekulationsheiraten.
      Rückzahlung der Erziehungskosten.
      Unverbindliche Kurmacherei.
      Die Liebe in der Öffentlichkeit.
  M29 Die Scheidung.
      Die Hausfrau und die Dame der Gesellschaft.
  M30 Heiratslust ein Gesundheitszeugnis.
  M31 Der schwarze Fensterputzer.
      Straßendemonstrationen.
  M32 Pflichten und Rechte des Dienstpersonals.
  M33 Karriere besserer Dienstmädchen.
  M34 Der Professor als Mädchen für Alles.
  M35 Demokratischer Stolz.
      Unstetigkeit des Handwerks.
  M36 Schwierige Frage an die Zukunft.
  M37 Süß muß es sein!
  M38 Icecream und Zahnarzt.
  M39 Tafelfreuden im Pensionat.
  M40 Amerikanischer Salat.
  M41 Billige Speisehäuser.
  M42 Das Volk der Kauer.
  M43 Planloses Durcheinander.
  M44 Abenteuer mit Schaukelstühlen.
  M45 Die Nacktheit in der Plastik.
  M46 Deutsche Musikpioniere.
  M47 Der neuweltliche Poet.
  M48 Diktatur des Massengeschmacks.
  M49 Die große Oper.
  M50 David Keßlers jiddisches Theater.
  M51 Eine improvisierte Standrede.
  M52 Niedergang des deutschen Theaters.
      Repertoirschwierigkeiten der deutschen Bühne.
      Reinhardt der Retter.
  M53 Lesefutter für Kinder und Unmündige.
  M54 Illustrationsunfug.
  M55 Eitelkeitsmarkt.
  M56 Intellektueller Schlangenfraß.
  M57 Kopfzeilen.
  M58 Ein smarter Reporter.
  M59 Ideale Möglichkeiten für die Zeitung.
  M60 Sensationsartikel ernster Zeitschriften.
  M61 Die deutsche Presse.
  M62 Die demokratische Freiheit.
  M63 Die alte Tante.

    3 „_A drink with a wink_“ heißt das. In den Staaten, wo die
      Prohibition streng durchgeführt ist, fordert man unter möglichst
      unmerklichem Augenzwinkern ein Glas Milch und bekommt alsdann in
      einem undurchsichtigen Gefäß sein Bier, wobei die weiße Schaumhaube
      die Milch vortäuschen muß.

  M64 Raubritter hüben und drüben.

    4 „The Book of Daniel Drew“ by Bouck White.

  M65 Soldatenwerbung.
  M66 Vom Söldnerheere.
  M67 Demokratische Tugenden.
      Neidlosigkeit.
  M68 Trennung von Staat und Kirche.
  M69 Die Bischöflichen und die Unitarier.
  M70 Die Negerkirchen.
  M71 Die Heilsarmee.
  M72 Bankrott des Materialismus.
  M73 Die Kirche der Gesundbeter.
  M74 Der Tod der Päpstin.
  M75 Christian Science in Europa.
  M76 Aberglaube, Kirchenwahl.
  M77 Eine konfessionelle Christenkirche.
  M78 Sommerfrischen.
  M79 Kostspielige Ausrüstung des Touristen.
  M80 Die Niagarafälle.
  M81 Der Hudsonstil.
  M82 Der Landschaftsregisseur. Aufgaben für deutsche Künstler.
  M83 Der Leithammel.
  M84 Der Todessprung
  M85 Menschliche Niedertracht.
  M86 Der Mittelpunkt der Hölle.
  M87 Schlachtverfahren beim Rindvieh.
  M88 Der Zweck heiligt die Mittel.
  M89 Tragikomödien des Grünhorns.
  M90 Unangebrachte Sparsamkeit.
  M91 In der Lobby.
  M92 Das Astorhotel.
  M93 Kundenfang der Eisenbahnen.
  M94 Im Pullmanwagen. Die Morgentoilette des Tätowierten.
  M95 Vom Küssen und von der Höflichkeit.
  M96 Hemdärmeligkeit.
  M97 Das Rekordfieber.
  M98 Ansteckungsgefahr des Snobismus.
  M99 Volkstümliche Bildungsbestrebungen.
 M100 Zähigkeit der Rassen.
 M101 Heimat.
 M102 Arbeit und persönliche Würde.
 M103 Juristen und Menschenkenner.
 M104 Die deutschen Kolonisatoren.
      Unsere mangelhafte politische Befähigung.
 M105 Neuerwachter Nationalstolz der Deutschen.
 M106 Heiligste Pflicht des Deutschtums.
 M107 Kampfloser Fortschritt.
 M108 Unbegrenzte Möglichkeiten.
 M109 Der Übermensch von Wallstreet.

    5 Aus dem Roman „Burning Daylight“, S. 159 ff.

 M110 Spitzbüberei als guter Sport.
 M111 Die wahren Exzellenzen.



                       BEMERKUNGEN ZUR TEXTGESTALT


Die lebenden Kolumnentitel sind als Randnotizen wiedergegeben.

Korrektur von offensichtlichen Druckfehlern:

      Seite 6: „Clownspässen“ geändert in „Clownspäßen“
      Seite 16: „sterotypen“ geändert in „stereotypen“
      Seite 39: „rethorische“ geändert in „rhetorische“
      Seite 107: „grossen“ geändert in „großen“
      Seite 109: „Unständen“ geändert in „Umständen“
      Seite 118: „Neuurastheniker“ geändert in „Neurastheniker“
      Seite 172: „Pullmann“ geändert in „Pullman“
      Seite 192: Anführungszeichen entfernt hinter „können?“
      Seite 201: Anführungszeichen entfernt hinter „Gewalt!“
      Seite 204: „auschließlich“ geändert in „ausschließlich“
      Seite 222: „Jhr“ geändert in „Ihr“
      Seite 256: Anführungszeichen ergänzt vor „Qualität“
      Seite 269: „uneingegeschränkte“ geändert in „uneingeschränkte“
      Seite 286: „Karrikaturen“ geändert in „Karikaturen“

Ungewöhnliche Schreibungen von Eigennamen (etwa „Oklahama“,
„Sherlok-Holmes“) und englischen Begriffen wurden nicht korrigiert. Im
Register wurden die Interpunktion vereinheitlicht und einige Einträge an
die alphabetisch korrekte Stelle versetzt.





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