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Title: Peter Camenzind
Author: Hesse, Hermann, 1877-1962
Language: German
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Peter Camenzind
von
Hermann Hesse


Achtundfünfzigste Auflage



S. Fischer, Verlag, Berlin
1911


Alle Rechte vorbehalten


Meinem Freund Ludwig Finckh



Peter Camenzind



I.


Im Anfang war der Mythus. Wie der große Gott in den Seelen der Inder,
Griechen und Germanen dichtete und nach Ausdruck rang, so dichtet er in
jedes Kindes Seele täglich wieder.

Wie der See und die Berge und die Bäche meiner Heimat hießen, wußte ich
noch nicht. Aber ich sah die blaugrüne glatte Seebreite, mit kleinen
Lichtern durchwirkt, in der Sonne liegen und im dichten Kranz um sie die
jähen Berge, und in ihren höchsten Ritzen die blanken Schneescharten und
kleinen, winzigen Wasserfälle, und an ihrem Fuß die schrägen, lichten
Matten, mit Obstbäumen, Hütten und grauen Alpkühen besetzt. Und da meine
arme, kleine Seele so leer und still und wartend lag, schrieben die Geister
des Sees und der Berge ihre schönen kühnen Taten auf sie. Die starren Wände
und Flühen sprachen trotzig und ehrfürchtig von Zeiten, deren Söhne sie
sind und deren Wundmale sie tragen. Sie sprachen von damals, da die Erde
barst und sich bog und aus ihrem gequälten Leibe in stöhnender Werdenot
Gipfel und Grate hervortrieb. Felsberge drängten sich brüllend und krachend
empor, bis sie ziellos vergipfelnd knickten, Zwillingsberge rangen in
verzweifelter Not um Raum, bis einer siegte und stieg und den Bruder
beiseite warf und zerbrach. Noch immer hingen von jenen Zeiten her da und
dort hoch in den Schlüften abgebrochene Gipfel, weggedrängte und gespaltene
Felsen, und in jeder Schneeschmelze führte der Wassersturz hausgroße Blöcke
nieder, zersplitterte sie wie Glas oder rannte sie mit mächtigem Schlage
tief in weiche Matten ein.

Sie sagten immer dasselbe, diese Felsberge. Und es war leicht sie zu
verstehen, wenn man ihre jähen Wände sah, Schicht um Schicht geknickt,
verbogen, geborsten, jede voll von klaffenden Wunden. »Wir haben
Schauerliches gelitten,« sagten sie, »und wir leiden noch.« Aber sie sagten
es stolz, streng und verbissen, wie alte unverwüstliche Kriegsleute.

Jawohl, Kriegsleute. Ich sah sie kämpfen, mit Wasser und Sturm, in den
schauerlichen Vorfrühlingsnächten, wenn der erbitterte Föhn um ihre alten
Häupter brüllte und wenn die Bachstürze frische, rohe Stücke aus ihren
Flanken rissen. Sie standen mit trotzig gestemmten Wurzeln in diesen
Nächten, finster, atemlos und verbissen, streckten dem Sturm die
zerspaltenen Wetterwände und Hörner entgegen und spannten alle Kraft in
trotzig geduckter Sammlung zusammen. Und bei jeder Wunde ließen sie das
grausige Rollen der Wut und Angst vernehmen, und durch alle fernsten
Rüfenen klang gebrochen und zornig ihr schreckliches Stöhnen wieder.

Und ich sah Matten und Hänge und erdige Felsritzen mit Gräsern, Blumen,
Farnen und Moosen bedeckt, denen die alte Volkssprache merkwürdige,
ahnungsvolle Namen gegeben hatte. Sie lebten, Kinder und Enkel der Berge,
farbig und harmlos an ihren Stätten. Ich befühlte sie, betrachtete sie,
roch ihren Duft und lernte ihre Namen. Ernster und tiefer berührte mich der
Anblick der Bäume. Ich sah jeden von ihnen sein abgesondertes Leben führen,
seine besondere Form und Krone bilden und seinen eigenartigen Schatten
werfen. Sie schienen mir, als Einsiedler und Kämpfer, den Bergen näher
verwandt, denn jeder von ihnen, zumal die höher am Berge stehenden, hatte
seinen stillen, zähen Kampf um Bestand und Wachstum, mit Wind, Wetter und
Gestein. Jeder hatte seine Last zu tragen und sich festzuklammern, und
davon trug jeder seine eigene Gestalt und besondere Wunden. Es gab Föhren,
denen der Sturm nur auf einer einzigen Seite Äste zu haben erlaubte, und
solche, deren rote Stämme sich wie Schlangen um überhängende Felsen gebogen
hatten, sodaß Baum und Fels eins das andere an sich drückte und erhielt.
Sie sahen mich wie kriegerische Männer an und erweckten Scheu und Ehrfurcht
in meinem Herzen.

Unsere Männer und Frauen aber glichen ihnen, waren hart, streng gefaltet
und wenig redend, die besten am wenigsten. Daher lernte ich die Menschen
gleich Bäumen oder Felsen anschauen, mir Gedanken über sie zu machen und
sie nicht weniger zu ehren und nicht mehr zu lieben als die stillen Föhren.

Unser Dörflein Nimikon liegt auf einer dreieckigen, zwischen zwei
Bergvorsprünge geklemmten schrägen Fläche am See. Ein Weg führt nach dem
nahen Kloster, ein zweiter nach einem viereinhalb Stunden entfernten
Nachbarort, die übrigen am See gelegenen Dörfer erreicht man zu Wasser.
Unsere Häuser sind im alten Holzstil erbaut und haben kein bestimmtes
Alter, es kommen fast niemals Neubauten vor und die alten Häuslein werden
je nach Bedürfnis stückweise repariert, dies Jahr die Diele, ein andermal
ein Stück am Dach, und mancher halbe Balken und manche Latte, die früher
einmal etwa zur Stubenwand gehört haben, findet man jetzt als Sparren im
Dach und wenn sie auch dazu nimmer dienen und doch noch zu gut zum
Verbrennen sind, so kommen sie das nächste mal beim Flicken des Stalls oder
Heubodens oder als Querlatte an der Haustüre zur Verwendung. Ähnlich ist es
mit den darin Wohnenden selber; jeder spielt so lang er kann seine Rolle
mit, tritt dann zögernd in den Kreis der Unbrauchbaren und taucht
schließlich ins Dunkel unter, ohne daß viel Aufsehens davon gemacht würde.
Wer nach jahrelanger Fremde zu uns heimkehrt, findet nichts verändert, als
daß ein paar alte Dächer erneuert und ein paar neuere alt geworden sind;
die Greise von ehemals sind zwar dahin, aber es sind andere Greise da,
welche die gleichen Hütten bewohnen, die gleichen Namen tragen, dasselbe
dunkelhaarige Kindervolk bewachen und an Gesicht und Gebahren sich von den
indessen Weggestorbenen kaum unterscheiden.

Unsrer Gemeinde mangelte eine häufigere Zufuhr frischen Blutes und Lebens
von außen her. Die Bewohner, ein leidlich rüstiges Geschlecht, sind fast
alle untereinander aufs engste verschwägert und reichlich drei Viertel
tragen den Namen Camenzind. Er füllt die Seiten des Kirchenbuchs und steht
auf den Kirchhofkreuzen, prangt an den Häusern in Ölfarbe oder in derber
Schnitzarbeit und ist auf den Wagen des Fuhrhalters, auf den Stalleimern
und auf den Seebooten zu lesen. Auch über meines Vaters Haustür stand
gemalt: »Dieses Haus haben gebauen Jost und Franziska Camenzind,« doch ging
das nicht meinen Vater, sondern dessen Ahn, meinen Urgroßvater an; und wenn
ich auch vermutlich einmal sterben werde ohne Kinder dazulassen, so weiß
ich doch, daß wieder ein Camenzind das alte Nest besiedeln wird, wenn
anders es bis dorthin noch steht und ein Dach über hat.

Ungeachtet der scheinbaren Eintönigkeit gab es dennoch in unsrer
Bürgerschaft Böse und Gute, Vornehme und Geringe, Mächtige und Niedrige und
neben manchen Klugen eine ergötzliche kleine Sammlung von Narren, die
Kretins gar nicht mitgerechnet. Es war wie überall ein kleines Abbild der
großen Welt und da Große und Kleine, Schlaumeier und Narren unlöslich
untereinander verwandt und vervettert waren, traten sich strenger Hochmut
und bornierter Leichtsinn oft genug unter demselben Dach auf die Zehen, so
daß unser Leben für die Tiefe und Komik des Menschlichen hinreichenden Raum
bot. Nur lag ein ewiger Schleier von verheimlichter oder unbewußter
Bedrücktheit darüber. Das Abhängigsein von den Naturmächten und die
Kümmerlichkeit eines arbeitsvollen Daseins hatten im Verlauf der Zeiten
unsrem ohnehin alternden Geschlecht eine Neigung zum Tiefsinn eingegeben,
der zu den scharfen, schroffen Gesichtern zwar nicht übel paßte, sonst aber
keinerlei Früchte zeitigte, wenigstens keine erfreulichen. Eben darum war
man froh an den paar Narren, welche zwar noch still und ernsthaft genug
waren, aber doch einige Farbe und einige Gelegenheit zu Gelächter und Spott
hereinbrachten. Wenn einer von ihnen durch einen neuen Streich von sich
reden machte, ging ein frohes Wetterleuchten über die faltigen, braunen
Gesichter der Söhne Nimikons und zur Lust am Spaße selber kam noch als
feine pharisäische Würze der Genuß der eigenen Überlegenheit, welche vor
Vergnügen schnalzte im Gefühl, vor solchen Irrungen oder Fehltritten sicher
zu sein. Zu jenen Vielen, die in der Mitte zwischen Gerechten und Sündern
standen und von beiden gern das Annehmliche mitgenossen hätten, gehörte
auch mein Vater. Es wurde kein Narrenstreich reif, der ihn nicht mit
seliger Unruhe erfüllt hätte, und er schwankte alsdann zwischen der
teilnehmenden Bewunderung für den Anstifter und dem feisten Bewußtsein der
eigenen Makellosigkeit possierlich hin und wider.

Zu den Narren selbst gehörte mein Oheim Konrad, ohne daß er deshalb etwa
meinem Vater und anderen Helden an Verstand etwas nachgegeben hätte.
Vielmehr war er ein Schlaukopf und ward von einem ruhelosen Erfindungsgeist
umgetrieben, um den die andern ihn ruhig hätten beneiden dürfen. Aber
freilich glückte ihm nichts. Daß er, statt darüber den Kopf hängen zu
lassen und tatlos tiefsinnig zu werden, immer wieder Neues begann und dabei
ein merkwürdig lebhaftes Gefühl für das Tragikomische seiner eigenen
Unternehmungen hatte, war gewiß ein Vorzug, wurde ihm aber als lächerliche
Sonderbarkeit angeschrieben, kraft welcher man ihn zu den unbesoldeten
Hanswürsten der Gemeinde zählte. Meines Vaters Verhältnis zu ihm war ein
dauerndes hin und her zwischen Bewunderung und Verachtung. Jedes neue
Projekt seines Schwagers versetzte ihn in eine gewaltige Neugierde und
Aufregung, die er vergebens hinter lauernd ironischen Fragen und
Anspielungen zu verstecken trachtete. Wenn dann der Oheim seines Erfolges
sicher zu sein glaubte und den Großartigen zu spielen begann, ließ er sich
jedesmal hinreißen und schloß sich dem Genialen in spekulierender
Brüderlichkeit an, bis der unvermeidliche Mißerfolg da war, über den der
Oheim die Achseln zuckte, während der Vater im Zorn ihn mit Hohn und
Beleidigung übergoß und monatelang keines Blickes und Wortes mehr würdigte.

Konrad war es, dem unser Dorf den ersten Anblick eines Segelboots
verdankte, und meines Vaters Nachen hat dazu herhalten müssen. Das Segel-
und Seilwerk war vom Oheim nach Kalenderholzschnitten sauber ausgeführt und
daß unser Schifflein für ein Segelboot zu schmal gebaut war, ist am Ende
nicht Konrads Schuld gewesen. Die Vorbereitungen dauerten wochenlang, mein
Vater wurde vor Spannung, Hoffnung und Angst schier zu Quecksilber und auch
das übrige Dorf sprach von nichts soviel wie von Konrad Camenzinds neuestem
Vorhaben. Es war ein denkwürdiger Tag für uns, als das Boot an einem
windigen Spätsommermorgen zum erstenmal in See gehen sollte. Mein Vater, in
scheuer Ahnung einer möglichen Katastrophe, hielt sich fern und hatte auch
mir zu meiner großen Betrübnis das Mitfahren verboten. Der Sohn des Bäckers
Füßli begleitete den Segelkünstler allein. Aber das ganze Dorf stand auf
unserem Kiesplatz und in den Gärtchen und wohnte dem unerhörten Spektakel
bei. Seeabwärts blies ein flotter Ostwind. Zu Anfang mußte der Beck rudern,
bis das Boot in die Bise geriet, sein Segel blähte und stolz davonjagte.
Wir sahen es bewundernd um den nächsten Bergvorsprung entschwinden und
richteten uns darauf ein, den schlauen Oheim bei seiner Heimkehr als Sieger
zu begrüßen und uns unserer höhnischen Aftergedanken zu schämen. Als jedoch
in der Nacht das Boot zurückkehrte, hatte es kein Segel mehr, die Schiffer
waren mehr tot als lebendig und der Bäckerssohn hustete und meinte: »Ihr
seid um ein Hauptvergnügen gekommen, leichtlich hätte es auf den Sonntag
zwei Leichenschmäuse geben können.« Mein Vater mußte zwei neue Planken in
den Nachen basteln, und seither hat sich nie wieder ein Segel in der blauen
Fläche gespiegelt. Dem Konrad rief man noch lange, so oft er irgend etwas
eilig hatte, nach: »Mußt Segel nehmen, Konrad!« Mein Vater fraß den Ärger
in sich hinein und lange Zeit, so oft der arme Schwager ihm begegnete, sah
er beiseite und spuckte in großen Bogen aus, zum Zeichen unaussprechlicher
Verachtung. Das dauerte so lang, bis Konrad eines Tags mit seinem
feuersicheren Backofenprojekt bei ihm vorsprach, welches dem Erfinder
unendlichen Spott auf den Hals brachte und meinen Vater auf vier bare Taler
zu stehen kam. Wehe dem, der ihn an diese Viertalergeschichte zu erinnern
wagte! Lange später, als einmal wieder Not im Hause war, sagte die Mutter
einmal so beiläufig, es wäre doch gut wenn jetzt das sündlich verdubelte
Geld noch da wäre. Der Vater wurde dunkelrot bis an den Hals, aber er
bezwang sich und sagte nur: »Ich wollt', ich hätt' es an einem einzigen
Sonntag versoffen.«

Am Ende jedes Winters kam der Föhn mit seinem tieftönigen Gebrause, das der
Älpler mit Zittern und Entsetzen hört und nach welchem er in der Fremde mit
verzehrendem Heimweh dürstet.

Wenn der Föhn nahe ist, spüren ihn viele Stunden voraus Männer und Weiber,
Berge, Wild und Vieh. Sein Kommen, welchem fast immer kühle Gegenwinde
vorausgehen, verkündigt ein warmes, tiefes Sausen. Der blaugrüne See wird
in ein paar Augenblicken tinteschwarz und setzt plötzlich hastige, weiße
Schaumkronen auf. Und bald darauf donnert er, der noch vor Minuten unhörbar
friedlich lag, mit erbitterter Brandung wie ein Meer ans Ufer. Zugleich
rückt die ganze Landschaft ängstlich nah zusammen. Auf Gipfeln, die sonst
in entrückter Ferne brüteten, kann man jetzt die Felsen zählen und von
Dörfern, die sonst nur als braune Flecken im Weiten lagen, unterscheidet
man jetzt Dächer, Giebel und Fenster. Alles rückt zusammen, Berge, Matten
und Häuser, wie eine furchtsame Herde. Und dann beginnt das grollende
Sausen, das Zittern im Boden. Aufgepeitschte Seewellen werden streckenweit
wie Rauch durch die Luft dahingetrieben, und fortwährend, zumal in den
Nächten, hört man den verzweifelten Kampf des Sturmes mit den Bergen. Eine
kleine Zeit später redet sich dann die Nachricht von verschütteten Bächen,
zerschlagenen Häusern, zerbrochenen Kähnen und vermißten Vätern und Brüdern
durch die Dörfer.

In Kinderzeiten fürchtete ich den Föhn und haßte ihn sogar. Mit dem
Erwachen der Knabenwildheit aber bekam ich ihn lieb, den Empörer, den
Ewigjungen, den frechen Streiter und Bringer des Frühlings. Es war so
herrlich, wie er voll Leben, Überschwang und Hoffnung seinen wilden Kampf
begann, stürmend, lachend und stöhnend, wie er heulend durch die Schluchten
hetzte, den Schnee von den Bergen fraß und die zähen alten Föhren mit
rauhen Händen bog und zum Seufzen brachte. Später vertiefte ich meine Liebe
und begrüßte nun im Föhn den süßen, schönen, allzureichen Süden, welchem
immer wieder Ströme von Lust, Wärme und Schönheit entquellen, um sich an
den Bergen zu zersprengen und endlich im flachen, kühlen Norden ermüdet zu
verbluten. Es gibt nichts Seltsameres und Köstlicheres als das süße
Föhnfieber, das in der Föhnzeit die Menschen der Bergländer und namentlich
die Frauen überfällt, den Schlaf raubt und alle Sinne streichelnd reizt.
Das ist der Süden, der sich dem spröden, ärmeren Norden immer wieder
stürmisch und lodernd an die Brust wirft und den verschneiten Alpendörfern
verkündigt, daß jetzt an den nahen, purpurnen Seen Welschlands schon wieder
Primeln, Narzissen und Mandelzweige blühen.

Alsdann, wenn der Föhn verblasen hat und die letzten schmutzigen Lawinen
zerlaufen sind, dann kommt das Schönste. Dann recken sich berghinan auf
allen Seiten die beblümten gelblichen Matten, rein und selig stehen die
Schneegipfel und Gletscher in ihren Höhen und der See wird blau und warm
und spiegelt Sonne und Wolkenzüge wieder.

Alles dieses kann schon eine Kindheit und zur Not auch ein Leben erfüllen.
Denn alles dieses redet laut und ungebrochen die Sprache Gottes, wie sie
nie über eines Menschen Lippen kam. Wer sie so in seiner Kindheit vernommen
hat, dem tönt sie sein Leben lang nach, süß und stark und furchtbar, und
ihrem Bann entflieht er nie. Wenn einer in den Bergen heimisch ist, der
kann jahrelang Philosophie oder historia naturalis studieren und mit dem
alten Herrgott aufräumen, -- wenn er den Föhn wieder einmal spürt oder hört
eine Laue durch's Holz brechen, so zittert ihm das Herz in der Brust und er
denkt an Gott und ans Sterben.

An meines Vaters Häuschen grenzte ein umzäunter, winziger Garten. Es gedieh
dort ein herber Salat, Rüben und Kohl, außerdem hatte die Mutter eine
rührend schmale, dürftige Rabatte für Blumen angelegt, in welcher zwei
Monatrosenstöcke, ein Georginenbusch und eine Handvoll Reseden hoffnungslos
und kümmerlich verschmachteten. An den Garten stieß ein noch kleinerer,
kiesiger Platz, welcher bis zum See reichte. Dort standen zwei beschädigte
Fässer, einige Bretter und Pfähle, und unten im Wasser lag unser Weidling
angebunden, welcher damals noch alle paar Jahre neu geflickt und geteert
wurde. Die Tage, an denen dies geschah, sind mir fest im Gedächtnis
geblieben. Es waren warme Nachmittage im Vorsommer, über dem Gärtchen
taumelten die schwefelgelben Citronenfalter in der Sonne, der See war
ölglatt, blau und still und leise schillernd, die Berggipfel dünn
umdünstet, und auf dem kleinen Kiesplatz roch es gewaltig nach Pech und
Ölfarbe. Auch nachher duftete der Nachen noch den ganzen Sommer hindurch
nach Teer. So oft ich, viele Jahre später, irgendwo am Meere den
eigentümlich aus Wassergeruch und Teerbrodem gemischten Duft in die Nase
bekam, trat mir sogleich unser Seeplätzlein vor's Auge, und ich sah wieder
den Vater in Hemdärmeln mit dem Pinsel hantieren, sah die bläulichen
Wölkchen aus seiner Pfeife in die stillen Sommerlüfte steigen und die
blitzgelben Falter ihre unsicheren, scheuen Flüge tun. An solchen Tagen
zeigte mein Vater eine ungewöhnlich behagliche Laune, pfiff Triller, was er
vortrefflich konnte, und gab vielleicht sogar einen einzelnen kurzen Jodler
von sich, diesen jedoch nur halblaut. Die Mutter kochte alsdann etwas Gutes
auf den Abend und ich denke mir jetzt, sie tat es in der stillen Hoffnung,
Camenzind möchte diesen Abend nicht ins Wirtshaus gehen. Er ging aber doch.

Daß die Eltern die Entwicklung meines jungen Gemütes sonderlich gefördert
oder gestört hätten, kann ich nicht sagen. Die Mutter hatte immer beide
Hände voll Arbeit und mein Vater hatte sich gewiß mit nichts auf der Welt
so wenig beschäftigt als mit Erziehungsfragen. Er hatte genug zu tun, seine
paar Obstbäume kümmerlich im Stand zu halten, das Kartoffeläckerlein zu
bestellen und nach dem Heu zu sehen. Ungefähr alle paar Wochen aber nahm er
mich abends, ehe er ausging, bei der Hand und verschwand stillschweigend
mit mir auf den über dem Stall gelegenen Heuboden. Dort vollzog sich
alsdann ein seltsamer Straf- und Sühneakt: ich bekam eine Tracht Prügel,
ohne daß der Vater oder ich selbst genauer gewußt hätte wofür. Es waren
stille Opfer am Altar der Nemesis und sie wurden ohne Schelten seinerseits
oder Geschrei meinerseits dargebracht, als schuldiger Tribut an eine
geheimnisvolle Macht. Immer wenn ich in späteren Jahren einmal vom »blinden
Schicksal« reden hörte, fielen diese mysteriösen Szenen mir wieder ein und
schienen mir eine überaus plastische Darstellung jenes Begriffs zu sein.
Ohne es zu wissen, befolgte mein guter Vater dabei die schlichte Pädagogik,
die das Leben selbst an uns zu üben pflegt, indem es uns hie und da aus
heiteren Lüften ein Donnerwetter sendet, wobei es uns überlassen bleibt
nachzusinnen, durch was für Missetaten wir eigentlich die oberen Mächte
herausgefordert haben. Leider stellte dies Nachsinnen bei mir sich nie oder
nur selten ein, vielmehr nahm ich jene ratenweise Züchtigung ohne die
wünschenswerte Selbstprüfung gelassen oder auch trotzig hin und freute mich
an solchen Abenden stets, nun wieder meinen Zoll entrichtet und ein paar
Wochen Strafpause vor mir zu haben. Viel selbständiger trat ich den
Versuchen meines Alten, mich zur Arbeit anzuleiten, entgegen. Die
unbegreifliche und verschwenderische Natur hatte in mir zwei widerstrebende
Gaben vereinigt: eine ungewöhnliche Körperkraft und eine leider nicht
geringere Arbeitsscheu. Der Vater gab sich alle Mühe einen brauchbaren Sohn
und Mithelfer aus mir zu machen, ich aber drückte mich mit allen Chikanen
um die mir auferlegten Arbeiten und noch als Gymnasiast hatte ich für
keinen der antiken Heroen so viel Mitgefühl wie für Herakles, da er zu
jenen berühmten, lästigen Arbeiten gezwungen ward. Einstweilen kannte ich
nichts Schöneres als mich auf Felsen und Matten oder am Wasser
müßiggängerisch herumzutreiben.

Berge, See, Sturm und Sonne waren meine Freunde, erzählten mir und erzogen
mich und waren mir lange Zeit lieber und bekannter als irgend Menschen und
Menschenschicksale. Meine Lieblinge aber, die ich dem glänzenden See und
den traurigen Föhren und sonnigen Felsen vorzog, waren die Wolken.

Zeigt mir in der weiten Welt den Mann, der die Wolken besser kennt und mehr
lieb hat als ich! Oder zeigt mit das Ding in der Welt, das schöner ist als
Wolken sind! Sie sind Spiel und Augentrost, sie sind Segen und Gottesgabe,
sie sind Zorn und Todesmacht. Sie sind zart, weich und friedlich wie die
Seelen von Neugeborenen, sie sind schön, reich und spendend wie gute Engel,
sie sind dunkel, unentrinnbar und schonungslos wie die Sendboten des Todes.
Sie schweben silbern in dünner Schicht, sie segeln lachend weiß mit
goldenem Rand, sie stehen rastend in gelben, roten und bläulichen Farben.
Sie schleichen finster und langsam wie Mörder, sie jagen sausend kopfüber
wie rasende Reiter, sie hängen traurig und träumend in bleichen Höhen wie
schwermütige Einsiedler. Sie haben die Formen von seligen Inseln und die
Formen von segnenden Engeln, sie gleichen drohenden Händen, flatternden
Segeln, wandernden Kranichen. Sie schweben zwischen Gottes Himmel und der
armen Erde als schöne Gleichnisse aller Menschensehnsucht, beiden angehörig
-- Träume der Erde, in welchen sie ihre befleckte Seele an den reinen
Himmel schmiegt. Sie sind das ewige Sinnbild alles Wanderns, alles Suchens,
Verlangens und Heimbegehrens. Und so wie sie zwischen Erde und Himmel zag
und sehnend und trotzig hängen, so hängen zag und sehnend und trotzig die
Seelen der Menschen zwischen Zeit und Ewigkeit.

O, die Wolken, die schönen, schwebenden, rastlosen! Ich war ein unwissendes
Kind und liebte sie, schaute sie an und wußte nicht, daß auch ich als eine
Wolke durch's Leben gehen würde -- wandernd, überall fremd, schwebend
zwischen Zeit und Ewigkeit. Von Kinderzeiten her sind sie mir liebe
Freundinnen und Schwestern gewesen. Ich kann nicht über die Gasse gehen, so
nicken wir einander zu, grüßen uns und verweilen einen Augenblick Aug' in
Auge. Auch vergaß ich nicht, was ich damals von ihnen lernte: ihre Formen,
ihre Farben, ihre Züge, ihre Spiele, Reigen, Tänze und Rasten, und ihre
seltsam irdisch-himmlischen Geschichten.

Namentlich die Geschichte der Schneeprinzessin. Ihr Schauplatz ist das
mittlere Gebirg, im Vorwinter, bei warmem Unterwind. Die Schneeprinzessin
erscheint mit kleinem Gefolge, aus gewaltiger Höhe kommend, und sucht sich
einen Rastort in weiten Bergmulden oder auf einer breiten Kuppe aus.
Neidisch sieht die falsche Bise die Arglose sich lagern, leckt heimlich
gierend am Berg empor und überfällt sie plötzlich wütend und tosend. Sie
wirft der schönen Prinzessin zerfetzte schwarze Wolkenlappen entgegen,
höhnt sie, krakehlt sie an, möchte sie verjagen. Eine Weile ist die
Prinzessin unruhig, wartet, duldet, und manchmal steigt sie kopfschüttelnd,
leise und höhnisch wieder in ihre Höhe zurück. Manchmal aber sammelt sie
plötzlich ihre geängsteten Freundinnen um sich her, enthüllt ihr blendend
fürstliches Angesicht und weist den Kobold mit kühler Hand zurück. Er
zaudert, heult, flieht. Und sie lagert sich still, hüllt ihren Sitz weitum
in blassen Nebel, und wenn der Nebel sich verzogen hat, liegen Mulden und
Kuppel klar und glänzend mit reinem, weichem Neuschnee bedeckt.

In dieser Geschichte war so etwas Nobles, etwas von Seele und Triumph der
Schönheit, das mich entzückte und mein kleines Herz wie ein frohes
Geheimnis bewegte.

Bald kam auch die Zeit, daß ich mich den Wolken nähern, zwischen sie treten
und manche aus ihrer Schaar von oben betrachten durfte. Ich war zehn Jahr
alt, als ich den ersten Gipfel erstieg, den Sennalpstock, an dessen Fuß
unser Dörflein Nimikon liegt. Da sah ich denn zum erstenmal die Schrecken
und die Schönheiten der Berge. Tiefgerissene Schluchten, voll von Eis und
Schneewasser, grüngläserne Gletscher, scheußliche Muränen, und über allem
wie ein Glocke hoch und rund der Himmel. Wenn einer zehn Jahre lang
zwischen Berg und See geklemmt gelebt hat und rings von nahen Höhen eng
umdrängt war, dann vergißt er den Tag nicht, an dem zum erstenmal ein
großer, breiter Himmel über ihm und vor ihm ein unbegrenzter Horizont lag.
Schon beim Aufstieg war ich erstaunt, die mir von unten her wohlbekannten
Schroffen und Felswände so überwältigend groß zu finden. Und nun sah ich,
vom Augenblick ganz bezwungen, mit Angst und Jubel plötzlich die ungeheure
Weite auf mich herein dringen. So fabelhaft groß war also die Welt! Unser
ganzes Dorf, tief unten verloren liegend, war nur noch ein kleiner heller
Fleck. Gipfel, die man vom Tale aus für eng benachbart hielt, lagen viele
Stunden weit auseinander.

Da fing ich an zu ahnen, daß ich nur erst ein schmales Blinzeln, noch kein
gediegenes Schauen von der Welt gehabt hatte und daß da draußen Berge
stehen und fallen und große Dinge geschehen konnten, von denen auch nicht
die leiseste Kunde je in unser abgetrenntes Bergloch kam. Zugleich aber
zitterte etwas in mir gleich dem Zeiger des Kompasses mit unbewußtem
Streben mächtig jener großen Ferne entgegen. Und nun verstand ich auch die
Schönheit und Schwermut der Wolken erst ganz, da ich sah, in was für
endlose Fernen sie wanderten.

Meine beiden erwachsenen Begleiter lobten mein gutes Steigen, rasteten ein
wenig auf der eiskalten Kuppe und lachten über meine fassungslose Freude.
Ich aber, nachdem ich mit dem ersten großen Staunen fertig war, brüllte vor
Lust und Erregung laut wie ein Stier in die klaren Lüfte hinaus. Das war
mein erstes, unartikuliertes Lied an die Schönheit. Ich war auf einen
dröhnenden Widerhall gefaßt, aber mein Geschrei verklang in die ruhigen
Höhen spurlos wie ein schwacher Vogelpfiff. Da war ich sehr beschämt und
hielt mich still.

Dieser Tag hatte irgend ein Eis in meinem Leben gebrochen. Denn nun kam ein
Ereignis um das andere. Zunächst nahm man mich des öfteren auf Bergfahrten
mit, auch auf schwierigere, und ich drang mit sonderbar beklommener Wollust
in die großen Geheimnisse der Höhen ein. Darauf ward ich zum Gaishirten
ernannt. An einer von den Halden, wohin ich gewöhnlich meine Tiere trieb,
gab es einen windgeschützten Winkel, von kobaltblauem Enzian und hellrotem
Steinbrech überwuchert, das war mir der liebste Platz in der Welt. Das Dorf
war von dort aus unsichtbar und auch vom See war nur über Felsen weg ein
schmaler, blanker Streifen zu erblicken, dafür brannten die Blumen in
lachend frischen Farben, der blaue Himmel lag wie ein Zeltdach auf den
spitzigen Schneegipfeln und neben dem feinen Geläut der Ziegenglocken tönte
ununterbrochen der nicht weit entfernte Wasserfall. Dort lag ich in der
Wärme, staunte den weißen Wölklein nach und jodelte halblaut vor mich hin,
bis die Gaisen meine Trägheit bemerkten und sich allerlei verbotene
Streiche und Lustbarkeiten leisten wollten. Es gab dabei gleich in den
ersten Wochen einen herben Riß in meine Phäakenherrlichkeit, als ich mit
einer verlaufenen Gais zusammen in eine Klamm abstürzte. Die Gais war tot
und mir tat der Schädel weh, außerdem ward ich jämmerlich geprügelt, lief
meinen Alten davon und ward unter Beschwörungen und Wehklagen wieder
eingebracht.

Leichtlich hätten diese Abenteuer meine ersten und letzten sein können.
Dann wäre dies Büchlein ungeschrieben und manche andere Mühe und Torheit
ungeschehen geblieben. Ich hätte vermutlich irgend eine Base geheiratet
oder läge vielleicht auch irgendwo beiseit ins Gletscherwasser gefroren. Es
wäre auch nicht übel. Aber alles kam anders und es steht mir nicht zu das
Geschehene mit Ungeschehenem zu vergleichen.

Mein Vater tat jeweils ein wenig kleinen Dienst im Welsdörfer Kloster. Nun
war er einstmals krank und befahl mir ihn dort abzusagen. Das tat ich
indessen nicht, sondern entlehnte beim Nachbar Papier und Feder und schrieb
einen manierlichen Brief an die Klosterbrüder, gab den der Botenfrau mit
und ging auf eigene Faust in den Berg.

Nächste Woche komme ich eines Tags nach hause, da sitzt ein Pater und
wartet auf denjenigen, der den schönen Brief geschrieben hat. Mir ward
etwas bänglich, aber er lobte mich und suchte meinen Alten zu bereden, daß
er mich bei ihm lernen lasse. Der Oheim Konrad war dazumal gerade wieder in
Gunst und wurde befragt. Natürlich war er sofort dafür entflammt, daß ich
lernen und später studieren und ein Gelehrter und Herr werden müsse. Der
Vater ließ sich überzeugen, und so gehörte nun auch meine Zukunft zu den
gefährlichen Oheimsprojekten, gleich dem feuersicheren Backofen, dem
Segelschiff und den vielen ähnlichen Phantastereien.

Es ging sogleich an ein gewaltiges Lernen, zumal in Lateinisch, biblischer
Geschichte, Botanik und Geographie. Mir machte das alles vielen Spaß und
ich dachte nicht daran, daß das welsche Zeug mich vielleicht Heimat und
schöne Jahre kosten könne. Das Lateinische allein tats auch nicht. Mein
Vater hätte mich zum Bauer gemacht, wenn ich auch die ganzen viri illustres
vorwärts und rückwärts auswendig gekonnt hätte. Aber der kluge Mann hatte
mir auf den Grund meines Wesens gesehen, wo als Schwerpunkt und
Kardinaluntugend meine unbesiegbare Trägheit hauste. Ich entrann, wo es nur
gehen wollte, der Arbeit und lief statt dessen den Bergen oder dem See nach
oder lag seitwärts versteckt an der Halde, las, träumte und faulenzte. In
dieser Erkenntnis gab er mich schließlich weg.

Dies ist eine Gelegenheit, ein kurzes Wort über meine Eltern zu sagen. Die
Mutter war ehedem schön gewesen, davon war aber nur der feste, grade Wuchs
und die anmutigen, dunklen Augen übrig geblieben. Sie war groß, überaus
kräftig, fleißig und still. Obwohl sie reichlich so klug wie der Vater und
an Körperkraft ihm überlegen war, herrschte sie doch nicht im Hause,
sondern ließ das Regiment ihrem Manne. Er war mittelgroß, hatte dünne und
fast zarte Glieder und einen hartnäckigen, schlauen Kopf mit einem Gesicht,
das von heller Farbe und ganz voll von kleinen, ungemein beweglichen Falten
war. Dazu kam eine kurze, senkrechte Stirnfalte. Sie verdunkelte sich, so
oft er die Brauen bewegte, und gab ihm ein grämlich leidendes Aussehen; es
schien dann, als versuche er sich auf etwas sehr Wichtiges zu besinnen und
sei selber ohne Hoffnung je darauf zu kommen. Man hätte eine gewisse
Melancholie an ihm wahrnehmen können, aber niemand achtete darauf, denn die
Bewohner unsrer Gegend sind fast alle von einer stetigen, leichten Trübe
des Gemüts befangen, dessen Ursache die langen Winter, die Gefahren, das
mühselige Sichdurchschlagen und die Abgeschlossenheit vom Weltleben sind.

Von beiden Eltern habe ich wichtige Stücke meines Wesens übernommen. Von
der Mutter eine bescheidene Lebensklugheit, ein Stück Gottvertrauen und ein
stilles, wenig redendes Wesen. Vom Vater hingegen eine Ängstlichkeit vor
festen Entschließungen, die Unfähigkeit mit Geld zu wirtschaften und die
Kunst viel und mit Überlegung zu trinken. Letzteres zeigte sich aber an mir
in jenem zarten Alter noch nicht. Äußerlich hab ich vom Vater die Augen und
den Mund, von der Mutter den schweren, dauerhaften Gang und Körperbau und
die zähe Muskelkraft. Vom Vater und von unserer Rasse überhaupt bekam ich
ins Leben zwar einen bauernschlauen Verstand, aber auch das trübe Wesen und
den Hang zu grundloser Schwermut mit. Da mir bestimmt war mich lange
außerhalb der Heimat bei Fremden herumzuschlagen, wäre es schon besser
gewesen, statt dessen einige Beweglichkeit und etlichen frohen Leichtsinn
mitzubringen.

So ausgestattet und mit einem neuen Kleide versorgt trat ich die Reise ins
Leben an. Die elterlichen Gaben haben sich bewährt, denn ich ging und stand
in der Welt seither auf eigenen Füßen. Dennoch muß irgend etwas gefehlt
haben, das auch die Wissenschaft und das Weltleben mir nimmer einbrachte.
Denn ich kann heute noch wie je einen Berg zwingen, zehn Stunden
marschieren oder rudern und nötigenfalls einen Mann freihändig erschlagen,
zum Lebenskünstler aber fehlt mir heute noch so viel wie damals. Der frühe
einseitige Umgang mit der Erde und ihren Pflanzen und Tieren hatte wenig
soziale Fähigkeiten in mir aufkommen lassen und noch jetzt sind meine
Träume ein merkwürdiger Beweis dafür, wie sehr ich leider einem rein
animalischen Leben zuneige. Ich träume nämlich sehr oft, ich liege am
Meeresstrand als Tier, zumeist als Seehund, und empfinde dabei ein so
gewaltiges Wohlbehagen, daß ich beim Erwachen den Wiederbesitz meiner
Menschenwürde keineswegs freudig oder mit Stolz, sondern lediglich mit
Bedauern wahrnehme.

Ich ward in üblicher Weise mit Freiplatz und Freitisch an einem Gymnasium
erzogen und war zum Philologen bestimmt. Niemand weiß, warum. Es gibt kein
unnützeres und langweiligeres Fach und keines, das mir ferner lag.

Die Schülerjahre gingen mir rasch dahin. Zwischen Balgereien und Schule
kamen Stunden voll Heimweh, Stunden voll frecher Zukunftsträume, Stunden
voll ehrfürchtiger Anbetung der Wissenschaft. Zwischenein trat auch hier
meine angeborene Trägheit hervor, trug mir allerlei Ärger und Strafen ein
und wich dann irgend einem neuen Enthusiasmus.

»Peter Camenzind,« sprach mein Griechischlehrer, »du bist ein Trotzkopf und
Einspänner und wirst dir noch einmal den harten Schädel einrennen.« Ich
betrachtete den feisten Brillenträger, hörte seine Rede an und fand ihn
komisch.

»Peter Camenzind,« sprach der Mathematiklehrer, »du bist ein Genie im
Faullenzen und ich bedaure, daß es kein niedrigeres Zeugnis gibt als Null.
Ich schätze deine heutige Leistung auf minus zweieinhalb.« Ich sah ihn an,
bedauerte ihn da er schielte, und fand ihn sehr langweilig.

»Peter Camenzind,« sagte einmal der Geschichtsprofessor, »du bist kein
guter Schüler, aber du wirst trotzdem einmal ein guter Historiker werden.
Du bist faul, aber du weißt Großes und Kleines zu unterscheiden.«

Auch das war mir nicht extra wichtig. Dennoch hatte ich vor den Lehrern
Respekt, denn ich dachte sie seien im Besitze der Wissenschaft, und vor der
Wissenschaft empfand ich eine dunkle, gewaltige Ehrfurcht. Und obschon über
meine Faulheit alle Lehrer einig waren, kam ich doch vorwärts und hatte
meinen Platz über der Mitte. Daß die Schule und die Schulwissenschaft ein
unzulängliches Stückwerk war, merkte ich wohl; aber ich wartete auf später.
Hinter diesen Vorbereitungen und Schulfuchsereien vermutete ich das reine
Geistige, eine zweifellose, sichere Wissenschaft des Wahren. Dort würde ich
erfahren, was die dunkle Wirrnis der Geschichte, die Kämpfe der Völker und
die bange Frage in jeder einzelnen Seele bedeute.

Noch stärker und lebendiger war eine andere Sehnsucht in mir. Ich wollte
gern einen Freund haben.

Da war ein braunhaariger, ernsthafter Knabe, zwei Jahre älter als ich,
namens Kaspar Hauri. Er hatte eine sichere und stille Art zu gehen und
dazusein, trug den Kopf männlich fest und ernst und sprach nicht viel mit
seinen Kameraden. An ihm blickte ich monatelang mit großer Verehrung empor,
hielt mich auf der Straße hinter ihm her und hoffte sehnlich von ihm
bemerkt zu werden. Ich war auf jeden Spießbürger eifersüchtig, den er
grüßte, und auf jedes Haus, in das ich ihn eintreten oder aus dem ich ihn
kommen sah. Aber ich war zwei Klassen hinter ihm zurück und er fühlte sich
vermutlich der seinigen schon überlegen. Es ist nie ein Wort zwischen uns
gewechselt worden. Statt seiner schloß sich ohne mein Zutun ein kleiner,
kränklicher Knabe an mich an. Er war jünger als ich, schüchtern und
unbegabt, hatte aber schöne, leidende Augen und Gesichtszüge. Weil er
schwächlich und ein wenig verwachsen war, stand er in seiner Klasse viel
Unbilden aus und suchte an mir, der ich stark und angesehen war, einen
Beschützer. Bald ward er so krank, daß er die Schule nicht mehr besuchen
konnte. Er fehlte mir nicht und ich vergaß ihn rasch.

Nun war in unserer Klasse ein ausgelassener Blondkopf, ein Tausendkünstler,
Musiker, Mime und Hanswurst. Ich gewann seine Freundschaft nicht ohne Mühe
und der flotte kleine Altersgenosse benahm sich stets ein klein wenig
gönnerhaft gegen mich. Immerhin hatte ich nun einen Freund. Ich suchte ihn
in seinem Stüblein auf, las ein paar Bücher mit ihm, machte ihm die
griechischen Aufgaben und ließ mir dafür im Rechnen helfen. Auch gingen wir
manchmal miteinander spazieren und müssen dann wie Bär und Wiesel
ausgesehen haben. Er war immer der Sprecher, der Lustige, Witzige, nie
Verlegene, und ich hörte zu, lachte und war froh einen so burschikosen
Freund zu haben.

Eines Nachmittags aber kam ich unversehens dazu, wie der kleine Charlatan
im Schulhausgang einigen Kameraden eine von seinen beliebten komischen
Aufführungen zum Besten gab. Soeben hatte er einen Lehrer nachgemacht, nun
rief er: »Ratet wer das ist!« und begann laut ein paar Homerverse zu lesen.
Dabei kopierte er mich sehr getreu, meine verlegene Haltung, mein
ängstliches Lesen, meine oberländisch rauhe Aussprache, und auch meine
ständige Geberde der Aufmerksamkeit, das Blinzeln und das Schließen des
linken Auges. Es sah sich sehr komisch an und war so witzig und lieblos als
möglich gemacht.

Als er das Buch schloß und den verdienten Beifall einstrich, trat ich von
hinten an ihn her und nahm Rache. Worte fand ich nicht, aber ich brachte
meine ganze Entrüstung, Scham und Wut in einer einzigen, riesigen Ohrfeige
prägnant zum Ausdruck. Gleich darauf begann die Lektion und der Lehrer
bemerkte das Wimmern und die rotgeschwollene Backe meines ehemaligen
Freundes, welcher obendrein sein Liebling war.

»Wer hat dich so zugerichtet?«

»Der Camenzind.«

»Camenzind vortreten! Ist das wahr?«

»Jawohl.«

»Warum hast du ihn geschlagen?«

Keine Antwort.

»Hast du keinen Grund dazu gehabt?«

»Nein.«

Also wurde ich energisch bestraft und schwelgte stoisch in der Wonne des
unschuldig Gemarterten. Da ich aber kein Stoiker noch Heiliger, sondern ein
Schulbub war, streckte ich nach erlittener Strafe meinem Feind die Zunge
heraus so lang sie war. Entsetzt fuhr der Lehrer auf mich los.

»Schämst du dich nicht? Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß der dort ein gemeiner Kerl ist und daß ich ihn
verachte. Und ein Feigling ist er auch noch.«

So endete meine Freundschaft mit dem Mimen. Er fand keinen Nachfolger und
ich habe die Jahre der reifenden Knabenzeit ohne Freund verbringen müssen.
Aber ob auch meine Anschauung des Lebens und der Menschen seither sich
einige mal verändert hat, jener Ohrfeige erinnere ich mich nie ohne tiefe
Befriedigung. Hoffentlich hat auch der Blonde sie nicht vergessen.

Mit siebzehn Jahren verliebte ich mich in eine Advokatentochter. Sie war
schön und ich bin stolz darauf, daß ich mein Leben lang immer nur in sehr
schöne Frauenbilder verliebt war. Was ich um sie und um andere litt,
erzähle ich ein andermal. Sie hieß Rösi Girtanner und ist heute noch der
Liebe ganz anderer Männer, als ich bin, würdig.

Damals brauste mir die ungebrauchte Jugendkraft in allen Gliedern. Ich ließ
mich mit meinen Kameraden in tolle Raufhändel ein, fühlte mich stolz als
besten Ringer, Ballschläger, Wettläufer und Ruderer, und war nebenher
beständig schwermütig. Das hing kaum mit der Liebesgeschichte zusammen. Es
war einfach die süße Schwermut des Vorfrühlings, die mich stärker als
andere anfaßte, so daß ich Freude an traurigen Vorstellungen, an
Todesgedanken und an pessimistischen Ideen hatte. Natürlich fand sich auch
der Kamerad, der mir Heines Buch der Lieder in einer billigen Ausgabe zu
lesen gab. Es war eigentlich kein Lesen mehr, -- ich goß in die leeren
Verse mein volles Herz, ich litt mit, dichtete mit und geriet in ein
lyrisches Schwärmen hinein, das mir vermutlich zu Gesichte stand wie dem
Ferkel die Chemisette. Bis dahin hatte ich von aller »schönen Literatur«
keine Ahnung gehabt. Nun folgte Lenau, Schiller, dann Goethe und
Shakespeare, und plötzlich war mir der blasse Schemen Literatur zu einer
großen Gottheit geworden.

Mit süßem Schauder fühlte ich aus diesen Büchern mir die würzig kühle Luft
eines Lebens entgegen strömen, das nie auf Erden gewesen und doch
wahrhaftig war und nun in meinem ergriffenen Herzen seine Wellen schlagen
und seine Schicksale erleben wollte. In meinem Lesewinkel auf der
Dachbodenkammer, wohin nur das Stundenschlagen vom nahen Turmgestühl und
das trockene Klappern der daneben nistenden Störche drang, gingen die
Menschen Goethes und Shakespeares bei mir ein und aus. Das Göttliche und
Lächerliche alles Menschenwesens ging mir auf: das Rätsel unseres
zwiespältigen, unbändigen Herzens, die tiefe Wesenheit der Weltgeschichte
und das mächtige Wunder des Geistes, der unsre kurzen Tage verklärt und
durch die Kraft des Erkennens unser kleines Dasein in den Kreis des
Notwendigen und Ewigen erhebt. Wenn ich den Kopf durch die schmale
Fensterluke steckte, sah ich die Sonne auf Dächer und schmale Gassen
scheinen, hörte verwundert die kleinen Geräusche der Arbeit und
Alltäglichkeit verworren heraufrauschen und fühlte das Einsame und
Geheimnisvolle meines von großen Geistern erfüllten Dachwinkels wie ein
sonderbar schönes Märchen mich umgeben. Und allmählich, je mehr ich las und
je wunderlicher und fremder mich das Hinunterblicken auf Dächer, Gassen und
Alltag ergriff, tauchte des öfteren zaghaft und beklemmend das Gefühl in
mir auf, auch ich sei vielleicht ein Seher und die vor mir ausgebreitete
Welt warte auf mich, daß ich einen Teil ihrer Schätze höbe, den Schleier
des Zufälligen und Gemeinen davon löse und das Entdeckte durch Dichterkraft
dem Untergang entreiße und verewige.

Schamhaft fing ich an ein wenig zu dichten und es füllten sich allmählich
einige Hefte mit Versen, Entwürfen und kleinen Erzählungen an. Sie sind
untergegangen und waren vermutlich wenig wert, bereiteten mir aber
Herzklopfen und heimliche Wonne genug. Nur langsam folgte diesen Versuchen
Kritik und Selbstprüfung nach, und erst im letzten Schuljahr trat die
notwendige erste, große Enttäuschung ein. Ich hatte schon begonnen mit
meinen Erstlingsgedichten aufzuräumen und meine Schreiberei überhaupt mit
Mißtrauen zu betrachten, als mir durch Zufall ein paar Bände Gottfried
Keller in die Hände fielen, die ich sogleich zweimal und dreimal
hintereinander las. Da sah ich in plötzlicher Erkenntnis, wie fern meine
unreifen Träumereien der echten, herben, wahrhaftigen Kunst gewesen waren,
verbrannte meine Gedichte und Novellen und blickte nüchtern und traurig mit
peinlichen Katzenjammergefühlen in die Welt.



II.


Um von der Liebe zu reden, -- darin bin ich zeitlebens ein Knabe geblieben.
Für mich ist die Liebe zu Frauen immer ein reinigendes Anbeten gewesen,
eine steile Flamme meiner Trübe entlodert, Beterhände zu blauen Himmeln
emporgestreckt. Von der Mutter her und auch aus eigenem, undeutlichem
Gefühl verehrte ich die Frauen insgesamt als ein fremdes, schönes und
rätselhaftes Geschlecht, das uns durch eine angeborene Schönheit und
Einheitlichkeit des Wesens überlegen ist und das wir heilig halten müssen,
weil es gleich Sternen und blauen Berghöhen uns ferne ist und Gott näher zu
sein scheint. Da das rauhe Leben seinen reichlichen Senf dazu gab, hat die
Frauenliebe mir soviel Bitteres als Süßes eingebracht; zwar blieben die
Frauen auf dem hohen Sockel stehen, mir aber verwandelte sich die
feierliche Rolle des anbetenden Priesters allzuleicht in die
peinlich-komische des genarrten Narren.

Rösi Girtanner begegnete mir fast jeden Tag, wenn ich zu Tische ging. Eine
Jungfer von siebzehn Jahren, fest und biegsam gewachsen. Aus dem schmalen,
bräunlich frischen Gesicht sprach die stille beseelte Schönheit, welche
ihre Mutter zur Stunde noch besaß und welche vor ihr Ahne und Urahne gehabt
hatte. Aus diesem alten, vornehmen und gesegneten Haus war von Geschlecht
zu Geschlecht eine große, schmucke Reihe von Frauen ausgegangen, jede still
und vornehm, jede frisch, adlig und von fehlerloser Schönheit. Es gibt von
einem unbekannten Meister ein Mädchenbildnis aus der Familie der Fugger, im
sechzehnten Jahrhundert gemalt und eines der köstlichsten Bilder, die meine
Augen gesehen haben. So ähnlich waren die Girtannerschen Frauen und so war
auch Rösi.

Das alles wußte ich damals freilich nicht. Ich sah sie nur in ihrer
stillen, heiteren Würde schreiten und fühlte das Adelige ihres schlichten
Wesens. Dann saß ich Abends nachsinnend in der Dämmerung, bis es mir
gelang, ihre Erscheinung mir klar und gegenwärtig vorzustellen, und dann
lief ein süßes heimliches Grausen über meine knabenhafte Seele. In Bälde
kam es aber, daß diese Augenblicke der Lust sich trübten und mir bittere
Schmerzen machten. Ich empfand plötzlich, wie fremd sie mir sei, mich nicht
kenne noch mir nachfrage, und daß mein schönes Traumbild ein Diebstahl an
ihrem seligen Wesen sei. Und eben wenn ich das so scharf und peinigend
fühlte, sah ich ihr Bild immer für Augenblicke so wahr und atmend lebendig
vor Augen, daß eine dunkle, warme Woge mein Herz überflutete und mir bis in
die fernsten Pulse seltsam wehe tat.

Bei Tage geschah es mitten in einer Lehrstunde oder mitten in einem
heftigen Raufen, daß die Woge wiederkam. Dann schloß ich die Augen, ließ
die Hände sinken und fühlte mich in einen lauen Abgrund gleiten, bis mich
der Aufruf des Lehrers oder der Faustschlag eines Kameraden erweckte. Ich
entzog mich, lief ins Freie und staunte mit wunderlicher Träumerei in die
Welt. Nun sah ich plötzlich, wie schön und farbig alles war, wie Licht und
Atem durch alle Dinge floß, wie klargrün der Fluß und wie rot die Dächer
und wie blau die Berge waren. Diese mich umgebende Schönheit zerstreute
mich aber nicht, sondern ich genoß sie still und traurig. Je schöner alles
war, desto fremder schien es mir, der ich keinen Teil daran hatte und
außerhalb stand. Darüber fanden meine dumpfen Gedanken den Weg zu Rösi
zurück: Wenn ich in dieser Stunde stürbe, sie würde es nicht wissen, nicht
danach fragen, nicht darüber betrübt sein!

Dennoch verlangte mich nicht danach von ihr bemerkt zu werden. Ich hätte
gern etwas Unerhörtes für sie getan oder ihr geschenkt, ohne daß sie gewußt
hätte von wem es kam.

Und ich tat auch vieles für sie. Es kam eben eine kurze Ferienzeit und ich
ward nach Hause geschickt. Dort leistete ich täglich allerlei Kraftstücke,
alles in meiner Meinung Rösi zu Ehren. Einen schwierigen Gipfel erstieg ich
von der steilsten Seite. Auf dem See machte ich übertriebene Fahrten im
Weidling, große Entfernungen in knapper Zeit. Nach einer solchen Fahrt, da
ich ausgebrannt und verhungert zurück kam, fiel mir ein, bis zum Abend ohne
Speise und Trank zu bleiben. Alles für Rösi Girtanner. Ich trug ihren Namen
und Lobpreis auf entlegene Grate und in nie besuchte Klüfte.

Zugleich büßte dabei meine in der Schulstube verhockte Jugend ihre Lust.
Die Schultern gingen mir mächtig auseinander, Gesicht und Nacken ward braun
und überall dehnten sich und schwollen die Muskeln.

Am vorletzten Ferientag brachte ich meiner Liebe ein mühseliges
Blumenopfer. Zwar wußte ich an mehreren verlockenden Hängen auf schmalen
Erdbändern Edelweiß stehen, aber diese duft- und farblose, krankhafte
Silberblüte war mit stets seelenlos und wenig schön erschienen. Dafür
kannte ich ein paar vereinsamte Alpenrosenbüsche, in die Furche einer
kühnen Fluh verweht, spätblühend und verlockend schwer zu erreichen. Nun,
es mußte gehen. Und da denn der Jugend und Liebe nichts unmöglich ist,
gelangte ich mit zerschundenen Händen und krampfigen Schenkeln schließlich
zum Ziel. Juchezen konnte ich in meiner bangen Lage nicht, aber das Herz
jodelte und lärmte mir vor Lust, als ich vorsichtig die zähen Zweige
durchschnitt und die Beute in den Händen hielt. Zurück mußte ich, die
Blumen im Mund, rücklings klettern und Gott allein weiß, wie ich frecher
Knabe heil den Fuß der Wand erreichte. Am ganzen Berg war die Blüte der
Alpenrosen lang vorüber, ich hatte die letzten Zweige des Jahres knospend
und zarterblühend in der Hand.

Andern Tags hielt ich die Blumen während der ganzen fünfstündigen Reise in
den Händen. Anfangs schlug das Herz mir mächtig der Stadt der schönen Rösi
entgegen; je ferner aber das Hochgebirge ward, desto stärker zog die
eingeborene Liebe mich zurück. Ich erinnere mich so gut an jene
Eisenbahnfahrt! Der Sennalpstock war schon lange unsichtbar, nun sanken
aber auch die zackigen Vorberge einer um den andern hinab und jeder löste
sich mit feinem Wehgefühl von meinem Herzen. Nun waren alle heimischen
Berge versunken und eine breite, niedere, hellgrüne Landschaft drängte sich
hervor. Das hatte mich bei meiner ersten Reise gar nicht berührt. Diesmal
aber ergriff mich Unruhe, Angst und Trauer, als wäre ich verurteilt weiter
in immer flachere Länder hinein zu fahren und die Berge und das Bürgerrecht
der Heimat unwiderbringlich zu verlieren. Zugleich sah ich immer das
schöne, schmale Gesicht der Rösi vor mir stehen, so fein und fremd und kühl
und meiner unbekümmert, daß mir Erbitterung und Schmerz den Atem verhielt.
Vor den Fenstern glitten hintereinander die frohen, sauberen Ortschaften
mit schlanken Türmen und weißen Giebeln vorüber und Menschen stiegen aus
und ein, redeten, grüßten, lachten, rauchten und machten Witze, -- lauter
fröhliche Unterländer, gewandte, freimütige und polierte Leute, und ich
schwerer Bursch vom Oberland saß stumm und traurig und verbissen damitten.
Ich fühlte, daß ich nicht mehr heimisch war. Ich empfand, daß ich den
Bergen für immer entrissen war und doch nie werden würde wie ein
Unterländer, nie so froh, so gewandt, so glatt und sicher. So einer wie
diese würde sich immer über mich lustig machen, so einer würde die
Girtanner einmal heiraten und so einer würde mir immer im Weg und um einen
Schritt voraus sein.

Solche Gedanken brachte ich mit zur Stadt. Dort stieg ich nach der ersten
Begrüßung auf den Dachboden, öffnete meine Kiste und entnahm ihr einen
großen Bogen Papier. Es war nicht vom feinsten und als ich meine Alpenrosen
darein gewickelt und das Paket mit einem extra von Hause mitgebrachten
Bindfaden verschnürt hatte, sah es gar nicht wie eine Liebesgabe aus.
Ernsthaft trug ich es in die Straße, wo der Advokat Girtanner wohnte, und
im ersten günstigen Augenblick trat ich durchs offene Tor, sah mich in der
abendlich halblichten Hausflur ein wenig um und legte mein unförmliches
Bündel auf der breiten, herrschaftlichen Treppe ab.

Niemand sah mich und ich erfuhr nie, ob Rösi meinen Gruß zu sehen bekommen
habe. Aber ich war an Flühen geklettert und hatte mein Leben gewagt, um
einen Zweig Rosen auf die Treppe ihres Hauses zu legen, und darin lag etwas
Süßes, Traurigfrohes, Poetisches, das mir wohltat und das ich noch heut
empfinde. Nur in gottlosen Stunden scheint es mir zuweilen, als sei jenes
Rosenabenteuer so gut wie alle meine späteren Liebesgeschichten eine
Donquichotterie gewesen.

Diese meine erste Liebe fand nie einen Abschluß, sondern verklang fragend
und unerlöst in meine Jugendjahre und lief neben meinen späteren
Verliebtheiten wie eine stille ältere Schwester mit. Immer noch kann ich
mir nichts nobleres, reineres und schöneres vorstellen als jene junge,
wohlgeborene und stillblickende Patrizierin. Und als ich manche Jahre
später auf einer historischen Ausstellung in München jenes namenlose,
rätselhaft liebliche Bildnis der Fuggertochter sah, erschien mir, es stehe
meine ganze schwärmerische, traurige Jugend vor mir und schaue mich aus
unergründlichen Augen tief und verloren an.

Indessen häutete ich mich langsam und bedächtig und ward allmählich
vollends zum Jüngling. Meine damals angefertigte Photographie zeigt einen
knochigen, hochgewachsenen Bauernbuben in schlechten Schülerkleidern, mit
etwas matten Augen und unfertigen, lümmelhaften Gliedmaßen. Nur der Kopf
hat etwas Frühfertiges und Festes. Mit einer Art von Erstaunen sah ich mich
die Manieren der Knabenzeit ablegen und erwartete mit dunkler Vorfreude die
Studentenzeit.

Ich sollte in Zürich studieren und für den Fall besonderer Leistungen
hatten meine Gönner die Möglichkeit einer Studienreise erwähnt. All das
erschien mir wie ein schönes, klassisches Bild: Eine ernst freundliche
Laube mit den Büsten Homers und Platos, ich darin sitzend über Folianten
gebückt, und auf allen Seiten ein weiter, klarer Blick auf Stadt, See,
Berge und schöne Fernen. Mein Wesen war nüchterner und doch schwungvoller
geworden und ich freute mich des zukünftigen Glückes mit der festen
Zuversicht seiner würdig befunden zu werden.

Im letzten Schuljahr fesselte mich das Studium des Italienischen und die
erste Bekanntschaft mit den alten Novellisten, deren gründlicheres
Kennenlernen ich mir als erste Liebhaberarbeit für die Zürcher Semester
vorbehielt. Dann kam der Tag, da ich meinen Lehrern und dem Hausvater Adieu
sagte, meine kleine Kiste packte und vernagelte und mit wohliger Wehmut
abschiednehmend um das Haus der Rösi strich.

Die Ferienzeit, die nun folgte, gab mir einen bitteren Vorschmack vom Leben
und zerriß mir die schönen Traumflügel schnell und rauh. Zunächst fand ich
die Mutter krank. Sie lag zu Bett, redete fast gar nichts und machte auch
von meinem Kommen kein Aufhebens. Wehleidig war ich nicht, aber es
schmerzte mich doch, meiner Freude und meinem jungen Stolz gar kein Echo zu
finden. Alsdann erklärte mir mein Vater, daß er zwar nichts dagegen habe,
wenn ich nun studieren wolle, daß er aber nicht vermöge mir Geld dazu zu
geben. Wenn das kleine Stipendium nicht reiche, müsse ich eben sehen mir
das Nötige zu verdienen. In meinem Alter habe er schon längst eigenes Brot
gegessen u. s. w.

Auch mit Wandern, Rudern und Bergsteigen war es diesmal nicht viel, denn
ich mußte in Haus und Feld mitarbeiten und an den freien halben Tagen hatte
ich zu nichts Lust, nicht einmal zum Lesen. Es empörte und ermüdete mich zu
sehen, wie das gemeine tägliche Leben breitmäulig sein Recht forderte und
alles fraß, was ich von Überfluß und Übermut mitgebracht hatte. Übrigens
war mein Vater, als er die Geldfrage einmal vom Herzen hatte, nach seiner
Art zwar rauh und kurz, aber nicht unfreundlich gegen mich, doch hatte ich
keine Freude daran. Auch daß meine Schulbildung und meine Bücher ihm einen
stillen, halbverächtlichen Respekt einflößten, störte mich und tat mir
leid. Und dann dachte ich auch oft an Rösi und hatte wieder das böse,
rechthaberische Gefühl meines bauernhaften Unvermögens, je in der »Welt«
einen sicheren und beweglichen Mann abzugeben. Ich besann mich sogar
tagelang, ob es nicht besser sei dazubleiben und mein Latein und meine
Hoffnungen im zähen, trüben Zwang des armseligen heimischen Lebens zu
vergessen. Gequält und verdrossen ging ich umher und fand auch am Bett der
kranken Mutter nicht Trost noch Ruhe. Das Bild jener Traumlaube mit der
Homerbüste erschien höhnisch wieder und ich zerstörte es und goß allen
Grimm und alle Feindseligkeit meines zerplagten Wesens darüber. Die Wochen
wurden unausstehlich lang, als sollte ich an diese hoffnungslose Zeit des
Ärgers und Zwiespalts meine ganze Jugend verlieren.

War ich erstaunt und empört gewesen, das Leben meine glückliche Träumerei
so rasch und gründlich zerstören zu sehen, so kam ich nun in die Lage zu
erstaunen, wie plötzlich und mächtig auch der jetzigen Quälerei ein
Überwinder erwuchs. Das Leben hatte mir seine graue Werktagsseite gezeigt,
nun trat es plötzlich mit seinen ewigen Tiefen vor mein befangenes Auge und
belud meine Jugend mit einer schlichten, mächtigen Erfahrung.

Früh am Morgen eines heißen Sommertags litt ich im Bette Durst und stand
auf, um in die Küche zu gehen, wo stets eine Kufe frischen Wassers stand.
Dabei mußte ich durchs Schlafzimmer der Eltern gehen, wo mir das sonderbare
Stöhnen der Mutter auffiel. Ich trat an ihr Bett, doch sah sie mich nicht
und gab keine Antwort, sondern stöhnte trocken und angstvoll vor sich hin,
zuckte mit den Lidern und war bläulich blaß im Gesicht. Dies erschreckte
mich nicht sonderlich, obwohl mir etwas ängstlich wurde. Aber dann sah ich
ihre beiden Hände auf den Laken liegen, still und wie schlafende
Geschwister. An diesen Händen sah ich, daß meine Mutter im Sterben lag,
denn sie waren schon so seltsam todmüde und willenlos, wie sie kein
Lebender hat. Ich vergaß meinen Durst, kniete neben dem Lager nieder, legte
der Kranken die Hand auf die Stirn und suchte ihren Blick. Da er mich traf,
war er gut und ohne Qual, aber nahe am Erlöschen. Es fiel mir nicht ein,
daß ich den Vater wecken müsse, der nebenan mit hartem Atmen schlief. So
kniete ich denn nahezu zwei Stunden und sah meine Mutter den Tod erleiden.
Sie litt ihn stille, ernst und tapfer, wie es ihrer Art zukam, und hat mir
ein gutes Vorbild gegeben.

Das Stüblein war stille und füllte sich langsam mit der Helle des
heraufsteigenden Morgens; Haus und Dorf lag schlafend und ich hatte Muße,
in Gedanken die Seele eines Sterbenden zu begleiten, über Haus und Dorf und
See und Schneegipfel hinweg in die kühle Freiheit eines reinen
Frühmorgenhimmels hinein. Schmerz fühlte ich wenig, denn ich war voll
Staunen und Ehrfurcht zusehen zu dürfen, wie ein großes Rätsel sich löste
und wie der Ring eines Lebens sich mit leisem Erzittern schloß. Auch war
die klaglose Tapferkeit der Scheidenden so erhaben, daß von ihrer herben
Glorie ein kühlend klarer Strahl auch in meine Seele fiel. Daß der Vater
daneben schlief, daß kein Priester da war, daß weder Sakrament noch Gebet
die heimkehrende Seele heiligend begleitete, empfand ich nicht. Ich spürte
nur einen schauernden Hauch der Ewigkeit durch die dämmernde Stube fluten
und sich mit meinem Wesen vermischen.

Im letzten Augenblick, die Augen waren schon erloschen, küßte ich zum
ersten mal in meinem Leben meiner Mutter kühlen, welken Mund. Dann überlief
die fremde Kühle der Berührung mich mit plötzlichem Grausen, ich setzte
mich auf den Rand des Bettes und fühlte, daß mir langsam und zögernd eine
große Träne um die andere über Wangen, Kinn und Hände lief.

Bald darauf erwachte der Vater, sah mich dasitzen und rief mich
schlaftrunken an, was es gäbe. Ich wollte ihm Antwort geben, konnte aber
nichts sagen, sondern ging aus der Stube, kam wie im Traum in meine Kammer
und zog langsam und unbewußt meine Kleider an. Bald erschien der Alte bei
mir.

»Die Mutter ist tot,« sagte er. »Hast du's gewußt?«

Ich nickte.

»Warum hast du mich schlafen lassen? Und kein Priester ist dagewesen! Dich
soll doch --« er tat einen schweren Fluch.

Da tat irgend etwas in meinem Kopf mir weh, wie wenn eine Ader gesprungen
wäre. Ich trat auf ihn zu und nahm ihn fest bei beiden Händen -- er war an
Stärke ein Knabe gegen mich, und sah ihm ins Gesicht. Sagen konnte ich
nichts, aber er ward still und beklommen und als wir darauf beide zur
Mutter hinüber gingen, ergriff auch ihn die Gewalt des Todes und machte
sein Gesicht fremd und feierlich. Dann bückte er sich über die Tote und
begann ganz leise und kindlich zu klagen, fast wie ein Vogel, in hohen
schwachen Tönen. Ich ging weg und brachte den Nachbarn die Nachricht. Sie
hörten mich an, stellten keine Fragen, sondern gaben mir die Hand und boten
unsrem verwaisten Haushalt ihre Hilfe an. Einer lief den Weg ins Kloster,
um einen Pater zu holen, und da ich heimkehrte, war schon eine Nachbarin in
unsrem Stall und versorgte die Kuh.

Der Hochwürdige kam, und fast alle Frauen des Orts kamen, alles geschah
pünktlich und richtig wie von selber, sogar der Sarg ward ohne unser Zutun
besorgt und ich konnte zum erstenmal deutlich sehen, wie gut es in schweren
Lagen ist, heimisch zu sein und einer kleinen, sicheren Gemeinschaft
anzugehören. Am andern Tage hätte ich mir das vielleicht noch tiefer
überlegen sollen

Als nämlich der Sarg gesegnet und versenkt und die wunderliche Schar
wehmütig altmodischer, borstiger Cylinderhüte verschwunden war, auch der
meines Alten, jeder in seine Schachtel und seinen Schrank, da wandelte
meinen armen Vater eine Schwäche an. Er begann plötzlich sich selbst zu
bemitleiden und hielt mir in sonderbaren, großenteils biblischen
Redewendungen sein Elend vor, daß er nun, da sein Weib begraben sei, auch
noch seinen Sohn verlieren und in die Fremde fahren sehen müsse. Es nahm
kein Ende, ich hörte erschrocken zu und war beinahe bereit, ihm das
Dableiben zu versprechen.

In diesem Augenblick, ich hatte schon zur Antwort angesetzt, geschah mir
etwas Merkwürdiges. Es erschien mir plötzlich, in einer einzigen Sekunde,
alles das, was ich von klein auf gedacht und erwünscht und sehnlich erhofft
hatte, zusammengedrängt vor einem plötzlich aufgetanen innerlichen Auge.
Ich sah große, schöne Arbeiten auf mich warten, zu lesende Bücher und zu
schreibende Bücher. Ich hörte den Föhn gehen und sah ferne, selige Seeen
und Ufer in südlichen Farben erglänzend liegen. Ich sah Menschen mit
klugen, geistigen Gesichtern wandeln und schöne, feine Frauen, sah Straßen
laufen und Pässe über Alpen führen und Eisenbahnen durch Länder hasten,
alles zugleich und jedes doch für sich und deutlich, und hinter allem die
unbegrenzte Ferne eines klaren Horizontes, von treibenden Flugwolken
durchschnitten. Lernen, schaffen, schauen, wandern -- die ganze Fülle des
Lebens glänzte in flüchtigem Silberblick vor meinem Auge auf, und wieder
wie in Knabenzeiten zitterte etwas in mir mit unbewußt mächtigem Zwang der
großen Weite der Welt entgegen.

Ich schwieg und ließ den Vater reden, schüttelte nur den Kopf und wartete,
bis sein Ungestüm ermüdete. Das geschah erst am Abend. Nun erklärte ich ihm
meinen festen Entschluß zu studieren und meine künftige Heimat im Reich des
Geistes zu suchen, von ihm aber keine Unterstützungen zu begehren. Er drang
denn auch nicht weiter in mich und sah mich nur wehleidig und
kopfschüttelnd an. Denn auch er begriff, daß ich von jetzt an eigene Wege
gehen und seinem Leben schnell vollends fremd werden würde. Als ich heute
beim Schreiben mich des Tages erinnerte, sah ich meinen Vater wieder so wie
er an jenem Abend im Stuhl beim Fenster saß. Sein scharfer, kluger
Bauernkopf steht unbeweglich auf dem dünnen Hals, das kurze Haar beginnt zu
grauen und in den harten, strengen Zügen kämpft mit der zähen Männlichkeit
das Leid und das hereinbrechende Alter.

Von ihm und von meinem damaligen Aufenthalt unter seinem Dach bleibt mir
noch ein kleines, nicht unwichtiges Ereignis zu erzählen. In der letzten
Woche vor meiner Abreise setzte eines Abends mein Vater seine Mütze auf und
nahm den Türgriff in die Hand. »Wo gehst du hin?« fragte ich. »Geht's dich
was an?« sagte er. »Könntest mir's auch sagen, wenn's nichts Unrechtes
ist,« meinte ich. Da lachte er und rief: »Kannst auch mitkommen, bist ja
keiner von den Kleinsten mehr.« So ging ich denn mit. Ins Wirtshaus. Ein
paar Bauern saßen da vor einem Krug Hallauer, zwei fremde Fuhrleute tranken
Absinth, ein Tisch voll junger Burschen spielte Jaß und spektakelte
mächtig.

Ich war gewohnt zuweilen ein Glas Wein zu trinken, doch war es nun zum
ersten Mal daß ich ohne Not ein Schankhaus betrat. Daß mein Vater ein
gediegener Zecher sei, wußte ich vom Hörensagen. Er trank viel und gut und
dadurch blieb sein Hauswesen, ohne daß er es sonst ernstlich vernachlässigt
hätte, immer in einer hoffnungslosen Kümmerlichkeit stecken. Es fiel mir
auf, wie viel Achtung ihm von Wirt und Gästen gezeigt wurde. Er ließ einen
Liter Waadtländer bringen, hieß mich einschenken und belehrte mich darüber,
wie das zu machen sei. Man müsse niedrig einschenken, dann den Strahl mäßig
verlängern und zum Schluß die Flasche wieder so tief als möglich senken.
Darauf begann er von verschiedenen Weinen zu erzählen, die er kannte und
die er bei seltenen Gelegenheiten, wenn er etwa einmal zur Stadt oder ins
Welsche hinüber kam, zu genießen pflegte. Er sprach mit ernster Achtung vom
tiefroten Veltliner, von welchem er drei Arten unterschied. Hierauf kam er
mit leiserer, eindringender Stimme auf gewisse Waadtländer Flaschenweine zu
sprechen. Fast flüsternd und mit der Miene eines Märchenerzählers
berichtete er zuletzt vom Wein von Neuchâtel. Von diesem gäbe es Jahrgänge,
deren Schaum beim Einschenken im Glase einen Stern bilde. Und er zeichnete
den Stern mit angefeuchtetem Zeigefinger auf den Tisch. Dann versank er in
ungeheuerliche Mutmaßungen über das Wesen und den Geschmack des
Champagners, den er nie getrunken hatte und von welchem er glaubte, daß
eine Flasche davon zwei Mann stocksternhagelbetrunken mache.

Verstummend und nachdenklich zündete er sich eine Pfeife an. Dabei bemerkte
er, daß ich nichts zu rauchen habe, und gab mir zehn Rappen für Cigarren.
Und dann saßen wir einander gegenüber, bliesen uns den Rauch ins Gesicht
und tranken langsam schlürfend den ersten Liter leer. Der gelbe, pikante
Waadtländer schmeckte mir vorzüglich. Allmählich wagten die Bauern am
Nebentisch sich mit ins Gespräch und schließlich siedelte einer nach dem
andern räuspernd und vorsichtig zu uns über. Bald kam auch ich in den
Mittelpunkt und es zeigte sich, daß mein Ruf als Bergsteiger noch nicht
vergessen war. Allerlei verwegene Aufstiege und tolle Abstürze, in
mythische Nebel gehüllt, wurden erzählt, bestritten und verteidigt.
Mittlerweile waren wir schon fast mit dem zweiten Liter fertig und mir
sauste das Blut in den Augen. Ganz gegen meine Natur begann ich laut zu
prahlen und erzählte auch die freche Kletterei an der oberen
Sennalpstockwand, wo ich die Alpenrosen für Rösi Girtanner geholt hatte.
Man glaubte mir nicht, ich beteuerte, man lachte, ich ward zornig. Ich
forderte jeden der mir nicht glaubte, zum Ringen heraus und ließ merken,
daß ich zur Not sie alle miteinander zu zwingen denke. Da ging ein altes,
krummes Bäuerlein in die Kredenz, brachte einen großen Steingutkrug und
legte ihn der Länge nach auf den Tisch.

»Ich will dir was sagen,« lachte er. »Wenn du so stark bist, so hau den
Krug mit der Faust zusammen. Dann zahlen wir dir so viel Wein, als er faßt.
Wenn du es nicht kannst, zahlst aber du den Wein.«

Mein Vater stimmte sogleich zu. Also stand ich auf, wickelte mein
Taschentuch um die Hand und schlug. Die zwei ersten Schläge taten keine
Wirkung. Beim dritten ging der Krug in Stücke. »Zahlen!« rief mein Vater
und glänzte vor Wonne, der Alte schien einverstanden. »Gut,« sagte er, »ich
zahl' Wein, soviel in den Krug geht. Wird aber nimmer viel sein.« Freilich
faßte der Scherben keinen Schoppen mehr und ich hatte zum Schmerz im Arm
noch den Spott. Auch mein Vater lachte mich jetzt aus.

»Nun, so hast du gewonnen,« schrie ich, schenkte den Scherben aus unsrer
Flasche voll und goß ihn dem Alten über den Kopf. Nun waren wir wieder die
Sieger und hatten den Beifall der Gäste.

Derlei starke Scherze wurden noch mehr getrieben. Dann schleppte mein Vater
mich nach Hause und wir polterten aufgeregt und unwirsch durch die Stube,
in welcher vor noch nicht drei Wochen der Sarg der Mutter gestanden hatte.
Ich schlief wie ein Toter und war am Morgen ganz verwüstet und zerbrochen.
Der Vater spottete, war munter und heiter und freute sich sichtlich seiner
Überlegenheit. Ich aber schwor im stillen, nie mehr zu zechen, und wartete
sehnlichst auf den Tag der Abreise.

Der Tag kam und ich reiste ab, den Schwur aber habe ich nicht gehalten. Der
gelbe Waadtländer, der tiefrote Veltliner, der Neuenburger Sternwein und
viele andere Weine sind mir seither bekannt und gute Freunde geworden.



III.


Aus der nüchternen und drückenden Luft der Heimat herausgekommen, tat ich
große Flügelschläge der Wonne und Freiheit. Wenn ich sonst im Leben je und
je zu kurz gekommen bin, so habe ich doch die absonderliche, schwärmerische
Lust der Jugendzeit reich und rein genossen. Gleich einem jungen Krieger,
der am blühenden Waldrand rastet, lebte ich in seliger Unruhe zwischen
Kampf und Getändel; und wie ein ahnungsvoller Seher stand ich an dunkeln
Abgründen, dem Brausen großer Ströme und Stürme lauschend und die Seele
gerüstet den Zusammenklang der Dinge und die Harmonie alles Lebens zu
vernehmen. Tief und beglückt trank ich aus den vollen Bechern der Jugend,
litt in der Stille süße Leiden um schöne, scheu verehrte Frauen und kostete
das edelste Jugendglück einer männlich frohen, reinen Freundschaft bis zum
Grunde.

In einem neuen Bukskinanzug und mit einer kleinen Kiste voll Bücher und
sonstiger Habe kam ich angefahren, bereit mir ein Stück Welt zu erobern und
so bald als möglich den Rauhbeinen daheim zu beweisen, daß ich aus einem
anderen Holze als die übrigen Camenzinde geschnitten sei. Drei wundervolle
Jahre wohnte ich in derselben weithinblickenden, windigen Mansarde, lernte,
dichtete, sehnte mich und fühlte alle Schönheit der Erde mich mit warmer
Nähe umgeben. Nicht jeden Tag hatte ich etwas Warmes zu essen, aber jeden
Tag und jede Nacht und jede Stunde sang und lachte und weinte mir das Herz,
einer starken Freude voll, und hielt das liebe Leben heiß und sehnlich an
sich gedrückt.

Zürich war die erste große Stadt, die ich grüner Peter zu sehen bekam, und
ein paar Wochen lang machte ich beständig große Augen. Das städtische Leben
aufrichtig zu bewundern oder zu beneiden, fiel mir zwar nicht ein -- darin
war ich eben ein Bauer; aber ich hatte Freude an dem Vielerlei der Straßen,
Häuser und Menschen. Ich beschaute die von Wagen belebten Gassen, die
Schifflände, Plätze, Gärten, Prunkbauten und Kirchen; ich sah fleißige
Leute in Scharen zur Arbeit laufen, sah Studenten bummeln, Vornehme
ausfahren, Gecken sich brüsten, Fremde umherschlendern. Die modisch
eleganten, hoffärtigen Weiber der Reichen kamen mir wie Pfauen im
Hühnerhofe vor, hübsch, stolz und ein wenig lächerlich. Schüchtern war ich
eigentlich nicht, nur steif und trotzig, und ich zweifelte nicht, daß ich
ganz der Kerl dazu sei, dies rege Leben der Städte gründlich kennen zu
lernen und später selber einmal meinen sicheren Platz darin zu finden.

Die Jugend traf mich an in der Gestalt eines schönen, jungen Menschen, der
in derselben Stadt studierte und im ersten Stockwerk meines Hauses zwei
hübsche Zimmer gemietet hatte. Jeden Tag hörte ich ihn unten Klavier
spielen und spürte dabei zum erstenmal etwas vom Zauber der Musik, der
weiblichsten und süßesten Kunst. Dann sah ich den hübschen Jungen das Haus
verlassen, ein Buch oder Notenheft in der Linken, in der Rechten die
Cigarette, deren Rauch hinter seinem biegsam schlanken Gang verwirbelte.
Mich zog eine scheue Liebe zu ihm hin, doch blieb ich abgesondert und
fürchtete mich mit einem Menschen Umgang zu haben, neben dessen leichtem,
freiem und wohlhabendem Wesen meine Armut und mein Mangel an Lebensart mich
nur demütigen würde. Da kam er selber zu mir. Eines Abends klopfte es an
meiner Tür und ich erschrak ein wenig; denn ich hatte noch nie Besuch bei
mir gesehen. Der schöne Student trat ein, gab mir die Hand, nannte seinen
Namen und tat so frei und fröhlich, als wären wir alte Bekannte.

»Ich wollte fragen ob Sie nicht Lust hätten ein wenig mit mir zu
musizieren,« sagte er freundlich. Aber ich hatte in meinem Leben nie ein
Instrument berührt. Ich sagte ihm das und fügte hinzu, daß ich außer Jodeln
keinerlei Künste verstehe, doch habe mir sein Klavierspiel oft schön und
verlockend heraufgeklungen.

»Wie man sich täuschen kann!« rief er lustig. »Ihrem Äußeren nach hätte ich
geschworen, Sie seien Musiker. Merkwürdig! Aber Sie können jodeln? O bitte,
jodeln Sie doch einmal! Ich höre es ums Leben gern.«

Ich war ganz bestürzt und erklärte ihm, daß ich so auf Verlangen und in der
Stube drin durchaus nicht jodeln könne. Das müsse auf einem Berge oder
mindestens im Freien und ganz aus eigener Lust geschehen.

»Dann jodeln Sie also auf einem Berge! Vielleicht morgen? Ich bitte Sie
sehr darum. Wir könnten etwa gegen Abend miteinander ausfliegen. Wir
bummeln und plaudern ein wenig, droben jodeln Sie dann, und nachher essen
wir in irgend einem Dorf zu Nacht. Sie haben doch Zeit?«

O ja, Zeit genug. Ich sagte eilig zu. Und dann bat ich ihn, mir etwas
vorzuspielen, und stieg mit ihm in seine schöne, große Wohnung hinunter.
Ein paar modern eingerahmte Bilder, das Klavier, eine gewisse zierliche
Unordnung und ein feiner Cigarettenduft erzeugten in dem hübschen Raum eine
Art von freier und behaglicher Eleganz und wohnlicher Stimmung, die mir
ganz neu war. Richard setzte sich ans Klavier und spielte ein paar Takte.

»Sie kennen das, nicht wahr?« nickte er herüber und sah prachtvoll aus, wie
er so vom Spielen weg den hübschen Kopf herüberbog und mich glänzend ansah.

»Nein,« sagte ich, »ich kenne nichts.«

»Es ist Wagner,« rief er zurück, »aus den Meistersingern,« und spielte
weiter. Es klang leicht und kräftig, sehnsüchtig und heiter, und umfloß
mich wie ein laues, erregendes Bad. Zugleich betrachtete ich mit heimlicher
Lust den schlanken Nacken und Rücken des Spielers und seine weißen
Musikerhände, und dabei überlief mich dasselbe scheue und bewundernde
Gefühl von Zärtlichkeit und Achtung, mit dem ich früher jenen
dunkelhaarigen Schüler betrachtet hatte, zusammen mit der schüchternen
Ahnung, dieser schöne vornehme Mensch würde vielleicht wirklich mein Freund
werden und meine alten, nicht vergessenen Wünsche nach einer solchen
Freundschaft wahr machen.

Tags darauf holte ich ihn ab. Langsam und plaudernd erstiegen wir einen
mäßigen Hügel, überschauten Stadt, See und Gärten und genossen die satte
Schönheit des Vorabends.

»Und nun jodeln Sie!« rief Richard. »Wenn Sie sich immer noch genieren, so
drehen Sie mir den Rücken zu. Aber bitte, laut!«

Er konnte zufrieden sein. Ich jodelte wütend und frohlockend in die rosige
Abendweite hinein, in allen Tonarten und Brechungen. Als ich aufhörte,
wollte er etwas sagen, hielt aber sogleich wieder inne und deutete horchend
gegen die Berge. Von einer fernen Höhe her kam Antwort, leise, langgezogen
und schwellend, der Gruß eines Hirten oder Wanderers, und wir hörten still
und freudig zu. Während dieses gemeinsamen Stehens und Lauschens überrann
mich mit köstlichem Schauer die Empfindung, zum erstenmal neben einem
Freunde zu stehen und so zu zweien in schöne, rosig verwölkte Lebensweiten
zu blicken. Der abendliche See begann sein weiches Farbenspiel und kurz vor
Sonnenuntergang sah ich aus zerfließendem Gedünste ein paar trotzige, frech
gezackte Alpengipfel hervortreten.

»Dort ist meine Heimat,« sagte ich. »Die mittlere Schroffe ist die rote
Fluh, rechts das Geishorn, links und weiter entfernt der runde
Sennalpstock. Ich war zehn Jahr und drei Wochen alt, als ich zum erstenmal
auf dieser breiten Kuppe stand.«

Ich strengte die Augen an, um etwa noch einen der südlicheren Gipfel zu
erspähen. Nach einer Weile sagte Richard etwas, das ich nicht verstand.

»Was sagten Sie?« fragte ich.

»Ich sage, daß ich nun weiß, welche Kunst Sie treiben.«

»Welche denn?«

»Sie sind Dichter.«

Da wurde ich rot und ärgerlich und war zugleich erstaunt, wie er das
erraten habe.

»Nein,« rief ich, »ein Dichter bin ich nicht. Ich habe zwar auf der Schule
Verse gemacht, aber nun schon lang keine mehr.«

»Darf ich die einmal sehen?«

»Sie sind verbrannt. Aber Sie dürften sie doch nicht sehen, auch wenn ich
sie noch hätte.«

»Es waren gewiß sehr moderne Sachen, mit viel Nietzsche drin?«

»Was ist das?«

»Nietzsche? Ja großer Gott, kennen Sie den nicht?«

»Nein. Woher soll ich ihn kennen?«

Nun war er entzückt, daß ich Nietzsche nicht kannte. Ich aber wurde
ärgerlich und fragte, über wieviel Gletscher er schon gegangen sei. Als er
sagte über keinen, tat ich darüber ebenso spöttisch erstaunt wie er vorher
über mich. Da legte er mir die Hand auf den Arm und sagte ganz ernst: »Sie
sind empfindlich. Aber Sie wissen ja selber gar nicht, was für ein
beneidenswert unverdorbener Mensch Sie sind und wie wenig solche es gibt.
Sehen Sie, in einem Jahr oder zwei werden Sie Nietzsche und all den Kram ja
auch kennen, viel besser als ich, da Sie gründlicher und gescheiter sind.
Aber gerade so, wie Sie jetzt sind, hab ich Sie gern. Sie kennen Nietzsche
nicht und Wagner nicht, aber Sie sind viel auf Schneebergen gewesen und
haben so ein tüchtiges Oberländergesicht. Und ganz gewiß sind Sie auch ein
Dichter. Ich kann das am Blick und an der Stirn sehen.«

Auch das, daß er so freimütig und ungeniert mich betrachtete und seine
Meinung herausplauderte, erstaunte mich und kam mir ungewöhnlich vor.

Noch viel erstaunter und glücklicher war ich aber, als er acht Tage später
in einem vielbesuchten Biergarten Brüderschaft mit mir schloß, vor allen
Leuten aufsprang, mich küßte und umfaßte und mit mir wie verrückt um den
Tisch herum tanzte.

»Was werden die Leute denken!« warnte ich ihn schüchtern.

»Sie werden denken: die zwei sind außerordentlich glücklich oder ganz
außerordentlich besoffen; die meisten aber werden gar nichts denken.«

Überhaupt schien Richard mir oft, obwohl er älter, klüger, besser erzogen
und in allem beschlagener und raffinierter war als ich, doch im Vergleich
mit mir das reine Kind zu sein. Auf der Straße machte er halbwüchsigen
Schulmädchen feierlich-spöttisch den Hof, die ernsthaftesten Klavierstücke
unterbrach er unerwartet mit völlig kindischen Witzen, und als wir einmal
Spaßes halber in eine Kirche gegangen waren, sagte er plötzlich mitten
während der Predigt nachdenklich und wichtig zu mir: »Du, findest du nicht,
der Pfarrer sieht aus wie ein Kaninchengreis?« Der Vergleich traf zu, ich
fand aber, er hätte mir das auch nachher mitteilen können, und sagte ihm
das.

»Wenn es doch richtig war!« schmollte er. »Bis nachher hätte ich es
wahrscheinlich wieder vergessen.«

Daß seine Witze keineswegs immer geistreich waren, häufig sogar nur auf das
Citieren eines Buschverses hinausliefen, störte weder mich noch andere,
denn was wir an ihm liebten und bewunderten, war nicht Witz und Geist,
sondern die unbezwingliche Heiterkeit seines lichten, kindlichen Wesens,
welche jeden Augenblick hervorbrach und ihn mit einer leichten, fröhlichen
Atmosphäre umgab. Sie konnte sich in einer Geberde, in einem leisen Lachen,
in einem fidelen Blicke äußern, aber lange sich verbergen konnte sie nicht.
Ich bin überzeugt, daß er auch im Schlaf zuweilen lachen oder eine Geste
der Heiterkeit machen mußte.

Richard brachte mich häufig mit andern jungen Leuten zusammen, Studenten,
Musikanten, Malern, Literaten, allerlei Ausländern, denn was an
interessanten, kunstliebenden und aparten Personen in der Stadt herumlief,
geriet in seinen Umgang. Es waren manche ernste und heftig ringende Geister
dabei, Philosophen, Ästhetiker und Sozialisten, und von vielen konnte ich
ein gutes Stück lernen. Kenntnisse aus den verschiedensten Gebieten flogen
mir stückweise an, ich ergänzte und las viel nebenher, und so gewann ich
allmählich eine gewisse Vorstellung von dem, was die regsamsten Köpfe der
Zeit plagte und bannte, und bekam einen wohltätig anspornenden Einblick in
die geistige Internationale. Ihre Wünsche, Ahnungen, Arbeiten und Ideale
waren mir anziehend und verständlich, ohne daß ein starker eigener Trieb
mich genötigt hätte, für oder wider mitzustreiten. Bei den meisten fand ich
alle Energie des Gedankens und der Leidenschaft auf Zustände und
Einrichtungen der Gesellschaft, des Staates, der Wissenschaften, der
Künste, der Lehrmethoden gerichtet, die wenigsten aber schienen mir das
Bedürfnis zu kennen, ohne äußeren Zweck an sich selber zu bauen und ihr
persönliches Verhältnis zur Zeit und Ewigkeit zu klären. Auch in mir selber
lag dieser Trieb noch zumeist im Halbschlummer.

Freundschaften schloß ich keine mehr, da ich Richard ausschließlich und mit
Eifersucht liebte. Auch den Frauen, mit denen er viel und vertraut umging,
suchte ich ihn zu entziehen. Die kleinsten mit ihm getroffenen
Verabredungen hielt ich peinlich genau und war empfindlich, wenn er mich
warten ließ. Einmal bat er mich, ihn zu einer bestimmten Stunde zum Rudern
abzuholen. Ich kam, fand ihn aber nicht zuhause und wartete drei Stunden
vergebens auf sein Kommen. Tags darauf warf ich ihm seine Nachlässigkeit
heftig vor.

»Warum bist du denn nicht einfach allein rudern gegangen?« lachte er
verwundert. »Ich hatte die Sache ganz vergessen; das ist doch schließlich
kein Unglück.«

»Ich bin gewohnt mein Wort pünktlich zu halten,« antwortete ich heftig.
»Aber freilich bin ich auch daran gewöhnt, daß du dir wenig daraus machst,
mich irgendwo auf dich warten zu wissen. Wenn man so viele Freunde hat wie
du!«

Er sah mich mit maßlosem Erstaunen an.

»Ja, so ernst nimmst du jede Bagatelle?«

»Meine Freundschaft ist mir keine Bagatelle.«

   »Dies Wort drang ihm in die Natur,
   So daß er schleunigst Bessrung schwur,«

zitierte Richard feierlich, faßte mich um den Kopf, rieb nach
orientalischem Liebesbrauch seine Nasenspitze an der meinen und liebkoste
mich, bis ich ärgerlich lachend mich ihm entzog; die Freundschaft aber war
wieder heil.

In meiner Mansarde lagen in entlehnten, oft kostbaren Bänden die modernen
Philosophen, Dichter und Kritiker, literarische Revuen aus Deutschland und
Frankreich, neue Theaterstücke, Pariser Feuilletons und Wiener
Modeästheten. Ernster und liebevoller als mit diesen rasch gelesenen Sachen
beschäftigte ich mich mit meinen altitalienischen Novellisten und mit
historischen Studien. Mein Wunsch war, baldmöglichst die Philologie
beiseite zu legen und einzig Geschichte zu studieren. Neben Werken über
Gesamtgeschichte und historische Methode las ich namentlich Quellen und
Monographieen über die Zeit des Spätmittelalters in Italien und Frankreich.
Dabei lernte ich zum erstenmal meinen Liebling unter den Menschen, Franz
von Assisi, den seligsten und göttlichsten aller Heiligen, genauer kennen.
Und so ward mein Traum, in dem ich die Fülle des Lebens und Geistes vor mir
eröffnet gesehen hatte, täglich wahr und erwärmte mir das Herz mit Ehrgeiz,
Freude und Jugendeitelkeit. Im Hörsaal nahm mich die ernste, etwas herbe
und gelegentlich etwas langweilige Wissenschaft in Anspruch. Zuhause kehrte
ich bei den heimelig frommen oder schauerlichen Geschichten des
Mittelalters oder bei den behaglichen alten Novellisten ein, deren schöne
und wohlige Welt mich wie ein schattiger, dämmernder Märchenwinkel
umschloß, oder ich fühlte die wilde Woge moderner Ideale und Leidenschaften
über mich weg rollen. Dazwischen hörte ich Musik, lachte mit Richard, nahm
an den Zusammenkünften seiner Freunde Teil, verkehrte mit Franzosen,
Deutschen, Russen, hörte sonderbare moderne Bücher vorlesen, trat da und
dort in die Ateliers der Maler oder wohnte Abendgesellschaften bei, in
denen eine Menge aufgeregter und unklarer junger Geister erschien und mich
wie ein phantastischer Karneval umgab.

Eines Sonntags besuchte Richard mit mir eine kleine Ausstellung neuer
Gemälde. Mein Freund blieb vor einem Bilde stehen, das eine Alp mit ein
paar Ziegen vorstellte. Es war fleißig und nett gemalt, aber ein wenig
altmodisch und eigentlich ohne rechten künstlerischen Kern. Man sieht in
jedem beliebigen Salon genug solche hübsche, wenig bedeutende Bildchen.
Immerhin erfreute es mich als eine ziemlich treue Darstellung der
heimatlichen Almen. Ich fragte Richard, was ihn denn an dem Bildchen
anziehe.

»Das hier,« sagte er und deutete auf den Malernamen in der Ecke. Ich konnte
die rotbraunen Buchstaben nicht entziffern. »Das Bild,« sagte Richard, »ist
keine große Leistung. Es gibt schönere. Aber es gibt keine schönere Malerin
als die, die das gemacht hat. Sie heißt Erminia Aglietti und wenn du
willst, können wir morgen zu ihr gehen und ihr sagen, sie sei eine große
Malerin.«

»Kennst du sie?«

»Jawohl. Wenn ihre Bilder so schön wären wie sie selber, dann wäre sie
schon lange reich und würde keine mehr malen. Sie tut es nämlich ohne Lust
und nur, weil sie zufällig nichts anderes gelernt hat, wovon sie leben
könnte.«

Richard vergaß die Sache wieder und kam erst ein paar Wochen später darauf
zurück.

»Ich bin gestern der Aglietti begegnet. Wir wollten sie ja eigentlich
neulich schon besuchen. Also komm! Du hast doch einen reinen Kragen? Sie
sieht nämlich darauf.«

Der Kragen war rein und wir gingen zusammen zur Aglietti, ich mit einigem
inneren Widerstreben, denn der freie, etwas burschikose Verkehr Richards
und seiner Kameraden mit Malweibern und Studentinnen hatte mir nie
gefallen. Die Männer waren dabei ziemlich rücksichtslos, bald grob, bald
ironisch; die Mädchen aber waren praktisch, klug und gerissen und nirgends
war etwas von dem verklärenden Duft zu merken, in welchem ich die Frauen
gerne sah und verehrte.

Etwas befangen trat ich in das Atelier. Mit der Luft der Malerwerkstätten
war ich zwar wohl vertraut, doch betrat ich jetzt zum erstenmal ein
Frauenatelier. Es sah recht nüchtern und sehr ordentlich aus. Drei oder
vier fertige Bilder hingen in Rahmen, eines stand noch kaum ganz untermalt
auf der Staffelei. Den Rest der Wände bedeckten sehr saubere, appetitlich
aussehende Bleistiftskizzen und ein halbleerer Bücherschrank. Die Malerin
nahm unsre Begrüßung kühl entgegen. Sie legte den Pinsel weg und lehnte
sich im Malschurz gegen den Schrank und es sah aus, als verlöre sie nicht
gerne viel Zeit an uns.

Richard machte ihr ungeheuerliche Komplimente über das ausgestellte Bild.
Sie lachte ihn aus und verbat es sich.

»Aber Fräulein, ich konnte ja im Sinn haben das Bild zu kaufen! Übrigens
sind die Kühe darauf von einer Wahrheit --«

»Es sind ja Ziegen,« sagte sie ruhig.

»Ziegen? Natürlich Ziegen! Von einem Studium, wollte ich sagen, das mich
verblüfft hat. Es sind Ziegen, wie sie leben, so recht ziegenmäßig. Fragen
Sie meinen Freund Camenzind, der selbst ein Sohn der Berge ist; er wird mir
Recht geben.«

Hier fühlte ich, während ich verlegen und belustigt dem Geschwätz zuhörte,
mich vom Blick der Malerin überflogen und gemustert. Sie sah mich lange und
unbefangen an.

»Sie sind Oberländer?«

»Ja, Fräulein.«

»Man sieht es. Nun, und was halten Sie von meinen Ziegen?«

»O, sie sind gewiß sehr gut. Wenigstens hab' ich sie nicht für Kühe
gehalten wie Richard.«

»Sehr gütig. Sie sind Musiker?«

»Nein, Student.«

Weiter sprach sie kein Wort mit mir und ich fand nun Ruhe, sie zu
betrachten. Die Gestalt war durch den langen Schurz verdeckt und entstellt,
und das Gesicht erschien mir nicht schön. Der Schnitt war scharf und knapp,
die Augen ein wenig streng, das Haar reich, schwarz und weich; was mich
störte und fast abstieß, war die Farbe des Gesichts. Sie erinnerte mich
schlechterdings an Gorgonzola und ich wäre nicht erstaunt gewesen, grüne
Ritzen darin zu finden. Ich hatte noch nie diese welsche Blässe gesehen und
jetzt, im ungünstigen morgendlichen Atelierlicht, sah sie erschreckend
steinern aus -- nicht wie Marmor, sondern wie ein verwitternder, sehr
gebleichter Stein. Ich war auch nicht gewohnt, ein Frauengesicht auf seine
Formen zu prüfen, sondern pflegte in solchen noch in etwas knabenhafter
Weise mehr nach Schmelz, nach Rosigem, nach Liebreiz zu suchen.

Auch Richard war vom heutigen Besuch verstimmt. Desto mehr war ich erstaunt
oder eigentlich erschrocken, als er mir nach einiger Zeit mitteilte, die
Aglietti wäre froh mich zeichnen zu dürfen. Es handle sich nur um ein paar
Skizzen, das Gesicht brauche sie nicht, aber meine breite Figur habe etwas
Typisches.

Ehe weiter hiervon die Rede war, kam ein anderes kleines Ereignis, das mein
ganzes Leben geändert und für Jahre meine Zukunft bestimmt hat. Eines
Morgens, da ich erwachte, war ich Schriftsteller geworden.

Auf das Drängen Richards hatte ich, rein als Stilübungen, gelegentlich
Typen aus unsrem Kreis, kleine Erlebnisse, Gespräche und anderes
skizzenhaft und möglichst treu dargestellt, auch einige Essays über
Literarisches und Historisches geschrieben.

Eines Morgens nun, ich lag noch im Bette, trat Richard bei mir ein und
legte fünfunddreißig Franken auf meine Bettdecke. »Das gehört dir,« sagte
er im Geschäftston. Endlich, als ich im Fragen alle Vermutungen erschöpft
hatte, zog er ein Zeitungsblatt aus der Tasche und zeigte mir darin eine
meiner kleinen Novellen abgedruckt. Er hatte mehrere meiner Manuskripte
abgeschrieben, einem ihm befreundeten Redakteur gebracht und in aller
Stille für mich verkauft. Das erste, was gedruckt war, samt dem Honorar
dafür hielt ich nun in Händen.

Mir war nie so sonderbar zu mut. Eigentlich ärgerte ich mich über Richards
Vorsehungspielen, aber der süße erste Schreiberstolz und das schöne Geld
und der Gedanke an einen etwaigen kleinen Literatenruhm war doch stärker
und überwog schließlich.

In einem Café brachte mich mein Freund mit dem Redakteur zusammen. Er bat,
die ihm von Richard gezeigten anderen Arbeiten behalten zu dürfen und lud
mich ein, ihm je und je neue zu schicken. Es sei ein eigener Ton in meinen
Sachen, besonders in den historischen, deren er gerne mehr bekomme und die
er mir ordentlich bezahlen wolle. Nun sah ich erst die Wichtigkeit der
Sache. Ich würde nicht nur täglich ordentlich essen und meine kleinen
Schulden bezahlen, sondern auch das Zwangsstudium wegwerfen und vielleicht
in Bälde, auf meinem Lieblingsfelde arbeitend, ganz vom eigenen Erwerbe
leben können.

Einstweilen bekam ich von jenem Redakteur einen Stoß neuer Bücher zum
Rezensieren ins Haus geschickt. Ich fraß mich durch und hatte wochenlang
damit zu tun; da aber die Honorare erst zu Ende des Quartals fällig waren
und ich in Aussicht auf dieselben besser als sonst gelebt hatte, sah ich
mich eines Tages der letzten Rappen ledig und konnte wieder einmal eine
Hungerkur antreten. Ein paar Tage hielt ich bei Brot und Kaffee in meiner
Bude aus, dann trieb mich der Hunger in eine Speisehalle. Ich nahm drei von
den Rezensionsbänden mit, um sie als Pfand für die Zeche dortzulassen. Beim
Antiquar hatte ich sie schon vergeblich anzubringen versucht. Das Essen war
vorzüglich, beim schwarzen Kaffee aber ward mir etwas ängstlich ums Herz.
Zaghaft gestand ich der Kellnerin, ich hätte kein Geld, wolle aber die
Bücher als Pfand dalassen. Sie nahm eines davon, einen Band Gedichte, in
die Hand, blätterte neugierig darin herum und fragte, ob sie das lesen
dürfe. Sie lese so gern, könne aber nie zu Büchern kommen. Ich fühlte, daß
ich gerettet sei und schlug ihr vor, die drei Bändchen an Zahlungsstatt für
das Essen zu behalten. Sie ging darauf ein und hat mir nach und nach für
siebzehn Franken Bücher auf diese Weise abgenommen. Für kleinere
Gedichtbände beanspruchte ich etwa einen Käse mit Brot, für Romane dasselbe
mit Wein, einzelne Novellen galten nur eine Tasse Kaffee mit Brot. Soweit
ich mich erinnere, waren es meist geringe Sachen in krampfhaft neumodischem
Stil und das gutmütige Mädchen mag von der modernen deutschen Literatur
einen sonderbaren Eindruck erhalten haben. Ich erinnere mich mit Vergnügen
an jene Vormittage, da ich im Schweiß meines Angesichts schnell noch einen
Band im Galopp zu Ende las und ein paar Zeilen darüber schrieb, um ihn zur
Mittagszeit fertig zu haben und etwas Eßbares dafür erhalten zu können. Vor
Richard suchte ich meine Geldnöte sorgfältig zu verbergen, da ich mich
unnötiger Weise ihrer schämte und seine Hilfe nur ungern und stets nur für
ganz kurze Fristen annehmen mochte.

Für einen Dichter hielt ich mich nicht. Was ich gelegentlich schrieb, war
Feuilleton, nicht Dichtung. Im stillen trug ich aber die geheimgehaltene
Hoffnung, es werde mir eines Tages gegeben werden eine Dichtung zu
schaffen, ein großes, kühnes Lied der Sehnsucht und des Lebens.

Der fröhlich klare Spiegel meiner Seele wurde zuweilen von einer Art von
Schwermut verschattet, doch einstweilen nicht ernstlich gestört. Sie kam
zuweilen für einen Tag oder eine Nacht, als eine träumende, einsiedlerische
Trauer, verschwand wieder spurlos und kehrte nach Wochen oder Monaten
zurück. Ich ward an sie allmählich wie an eine vertraute Freundin gewöhnt
und empfand sie nicht quälend, sondern nur als ein unruhiges Müdesein, das
seine eigene Süßigkeit hatte. Wenn sie mich nachts befiel, lag ich statt zu
schlafen stundenlang im Fenster, sah den schwarzen See, die auf den
bleichen Himmel gezeichneten Silhouetten der Berge und darüber die schönen
Sterne. Dann ergriff mich oft ein ängstlich süßes, starkes Gefühl, als sähe
all diese nächtige Schönheit mich mit einem gerechten Vorwurf an. Als
sehnten sich Sterne, Berge und See nach Einem, der ihre Schönheit und das
Leiden ihres stummen Daseins verstünde und ausspräche, und als wäre ich
dieser Eine und als wäre dies mein wahrer Beruf, der stummen Natur in
Dichtungen Ausdruck zu gewähren. Auf welche Weise das möglich wäre darüber
dachte ich niemals nach, sondern fühlte nur die schöne, ernste Nacht
ungeduldig in stummem Verlangen auf mich warten. Auch schrieb ich nie etwas
in solcher Stimmung. Doch spürte ich gegen diese dunkeln Stimmen ein Gefühl
der Verantwortung und trat gewöhnlich nach solchen Nächten mehrtägige
einsame Fußwanderungen an. Es schien mir, ich könnte damit der Erde, die
sich in stummem Flehen mir anbot, ein wenig Liebe erweisen, über welche
Vorstellung ich dann selbst wieder lachte. Diese Wanderungen wurden eine
Grundlage meines späteren Lebens; einen großen Teil der seitherigen Jahre
habe ich als Wanderer verbracht, auf wochen- und monatelangen Touren durch
mehrere Länder. Ich gewöhnte mich daran, mit wenig Geld und einem Stück
Brot in der Tasche weit zu marschieren, tagelang einsam unterwegs zu sein
und häufig im Freien zu nächtigen.

Die Malerin hatte ich über der Schriftstellerei ganz vergessen. Da kam ein
Zettel von ihr: »Ein paar Freunde und Freundinnen werden am Donnerstag zum
Tee bei mir sein. Bitte kommen Sie auch und bringen Sie Ihren Freund mit.«

Wir gingen hin und fanden eine kleine Künstlerkolonie beisammen. Es waren
fast lauter Unberühmte, Vergessene, Erfolglose, was für mich etwas
Rührendes hatte, obwohl alle ganz zufrieden und fidel schienen. Man bekam
Tee, Butterbrot, Schinken und Salat. Da ich keine Bekannten dort fand und
ohnehin nicht gesprächig war, gab ich meinem Hunger nach und aß etwa eine
halbe Stunde lang still und ausdauernd, während die andern nur erst Tee
nippten und schwatzten. Als diese nun, einer um den andern, auch ein wenig
zugreifen wollten, zeigte es sich, daß ich fast den ganzen Schinkenvorrat
allein verzehrt hatte. Ich war des trüglichen Glaubens gewesen, es stehe
mindestens noch eine zweite Platte in Reserve. Da man nun leise lachte und
ich einige ironische Blicke einheimste, wurde ich wütend und verwünschte
die Italienerin samt ihrem Schinken. Ich stand auf und entschuldigte mich
kurz bei ihr, erklärte ein andermal mein Abendessen selber mitbringen zu
wollen, und griff nach meinem Hütlein.

Da nahm die Aglietti mir den Hut aus der Hand, sah mich erstaunt und ruhig
an und bat mich ernstlich, dazubleiben. Auf ihr Gesicht fiel das Licht
einer Stehlampe, durch den Florschirm gemäßigt, und da sah ich mitten in
meinem Ärger mit plötzlich begreifendem Auge die wunderbare, reife
Schönheit dieser Frau. Ich erschien mir auf einmal sehr unartig und dumm
und nahm wie ein gemaßregelter Schuljunge in einer abseitigen Ecke Platz.
Dort blieb ich sitzen und blätterte in einem Album vom Comersee. Die andern
tranken Tee, gingen hin und her, lachten und redeten durcheinander, und
irgendwo im Hintergrund hörte man Geigen und ein Cello stimmen. Ein Vorhang
wurde zurückgeschlagen und man sah vier junge Leute vor improvisierten
Pulten sitzen, bereit ein Streichquartett aufzuführen. In diesem
Augenblicke trat die Malerin zu mir, stellte eine Tasse Tee vor mir aufs
Tischchen, nickte mir gütig zu und nahm neben mir Platz. Das Quartett
begann und dauerte lang, aber ich hörte nichts davon, sondern staunte mit
runden Augen die schlanke, feine, schöngekleidete Dame an, an deren
Schönheit ich gezweifelt und deren Vorräte ich aufgegessen hatte. Mit
Freude und Angst erinnerte ich mich daran, daß sie mich hatte zeichnen
wollen. Dann dachte ich an Rösi Girtanner, an die Besteigung der
Alpenrosenwand, an die Geschichte der Schneekönigin, die mir jetzt alle nur
wie eine Vorbereitung auf diesen heutigen Augenblick erschienen.

Als die Musik zu Ende war, ging die Malerin nicht, wie ich gefürchtet
hatte, wieder weg, sondern blieb ruhig sitzen und fing mit mir zu plaudern
an. Sie gratulierte mir zu einer Novelle, die sie in der Zeitung gesehen
hatte. Sie scherzte über Richard, um den sich ein paar junge Mädchen
drängten und dessen sorgloses Gelächter zuweilen alle anderen Stimmen
überklang. Dann bat sie wieder, mich zeichnen zu dürfen. Da hatte ich einen
Einfall. Unvermittelt führte ich das Gespräch italienisch fort und erntete
dafür nicht nur einen fröhlich überraschten Blick ihrer lebhaften
Südländeraugen, sondern hatte den köstlichen Genuß sie ihre Sprache reden
zu hören, die Sprache, die ihrem Mund und ihren Augen und ihrer Gestalt
entsprach, die wohllaute, elegante, raschfließende lingua Toscana mit einem
entzückenden leichten Anflug von Tessinerwelsch. Ich selbst sprach weder
schön noch fließend, doch störte es mich nicht. Andern Tags sollte ich
kommen, um von ihr gezeichnet zu werden.

»A rivederla,« sagte ich beim Abschied und verbeugte mich so tief ich
konnte.

»A rivederci domani,« lächelte sie und nickte.

Von ihrem Hause weg schritt ich immerzu weiter, bis die Straße einen
Hügelkamm erreichte und plötzlich das dunkle Land schön und nächtig vor mit
ruhte. Ein einzelnes Boot mit roter Laterne strich über den See und warf
ein paar flackernde Scharlachstreifen auf das schwarze Wasser, aus welchem
sonst nur da und dort ein vereinzelter schmaler Wellenkamm mit dünnem,
silberfahlem Umriß hervortrat. In einem nahen Garten war Mandolinenspiel
und Gelächter. Der Himmel war fast zur Hälfte verhangen und über die Hügel
lief ein starker, warmer Wind.

Und wie der Wind die Äste der Obstbäume und die schwarzen Kronen der
Kastanien liebkoste, bestürmte und beugte, daß sie stöhnten und lachten und
zitterten, so spielte mit mir die Leidenschaft. Auf dem Kamm des Hügels
kniete ich, legte mich auf die Erde, sprang auf und stöhnte, stampfte den
Boden, warf den Hut von mir, wühlte mit dem Gesicht im Gras, rüttelte an
den Baumstämmen, weinte, lachte, schluchzte, tobte, schämte mich, war selig
und todbeklommen. Nach einer Stunde war alles in mir abgespannt und in
einer trüben Schwüle erstickt. Ich dachte nichts, beschloß nichts, fühlte
nichts; traumwandelnd stieg ich den Hügel hinab, schweifte durch die halbe
Stadt, sah in einer abgelegenen Straße noch eine späte kleine Schenke
offen, trat willenlos ein, trank zwei Liter Waadtländer und kam gegen
Morgen schauderhaft betrunken nach Hause.

Am folgenden Nachmittag war Fräulein Aglietti ganz erschrocken, als ich zu
ihr kam.

»Was ist mit Ihnen? Sind Sie krank? Sie sehen ja ganz zerstört aus.«

»Nichts von Belang,« sagte ich. »Mir scheint, ich war heute Nacht sehr
betrunken, das ist alles. Bitte beginnen Sie nur!«

Ich ward auf einen Stuhl gesetzt und gebeten, mich ruhig zu halten. Das tat
ich auch, denn ich schlummerte in Bälde ein und habe jenen ganzen
Nachmittag im Atelier verschlafen. Es kam vermutlich vom Terpentingeruch
der Malerwerkstätte, daß ich träumte, unser Nachen zuhaus werde
frischgestrichen. Ich lag im Kies daneben und sah meinen Vater mit Topf und
Pinsel hantieren; auch die Mutter war da und als ich sie fragte, ob sie
denn nicht gestorben sei, sagte sie leise: »Nein, denn wenn ich nicht
dawäre, würdest du am Ende der gleiche Lump werden wie dein Papa.«

Als ich erwachte, fiel ich vom Stuhl und fand mich mit Erstaunen in die
Werkstatt der Erminia Aglietti versetzt. Sie selbst sah ich nicht, hörte
sie aber im Nebenstüblein mit Tassen und Besteck klappern und schloß
daraus, daß es Abendessenszeit sein müsse.

»Sind Sie wach?« rief sie herüber.

»Jawohl. Hab' ich lang geschlafen?«

»Vier Stunden. Schämen Sie sich nicht?«

»O doch. Aber ich hatte einen so schönen Traum.«

»Erzählen Sie!«

»Ja, wenn Sie herauskommen und mir verzeihen.«

Sie kam heraus, doch wollte sie mit der Verzeihung noch warten, bis ich
meinen Traum erzählt hätte. Also erzählte ich, und über dem Traumerzählen
geriet ich tief in die vergessene Kinderzeit hinein, und als ich schwieg
und es schon völlig dunkel geworden war, hatte ich ihr und mir selber meine
ganze Kindheitsgeschichte erzählt. Sie gab mir die Hand, strich mir den
zerknitterten Rock zurecht, lud mich ein morgen wieder zum Zeichnen zu
kommen und ich fühlte, daß sie auch meine heutige Unart begriffen und
verziehen habe.

In den nächsten Tagen saß ich ihr Stunde um Stunde. Es wurde dabei fast gar
nichts gesprochen, ich saß oder stand ruhig und wie verzaubert da, hörte
den weichen Strich der Zeichenkohle, sog den leichten Ölfarbegeruch ein und
hatte keine andere Empfindung als daß ich in der Nähe der von mir geliebten
Frau war und ihren Blick beständig auf mir ruhen wußte. Das weiße
Atelierlicht floß an den Wänden hin, ein paar schläfrige Fliegen sumsten an
den Scheiben und nebenan im Stübchen sang die Spiritusflamme, denn ich
bekam nach jeder Sitzung eine Tasse Kaffee serviert.

Zuhause dachte ich oft über Erminia nach. Es berührte oder verminderte
meine Leidenschaft gar nicht, daß ich ihre Kunst nicht verehren konnte. Sie
selbst war so schön, gütig, klar und sicher; was gingen mich ihre Bilder
an? Ich fand vielmehr in ihrer fleißigen Arbeit etwas Heroisches. Die Frau
im Kampf ums Leben, eine stille, duldende und tapfere Heldin. Übrigens gibt
es nichts Erfolgloseres als das Nachdenken über jemand, den man liebt.
Solche Gedankengänge sind wie gewisse Volks- und Soldatenlieder, worin
tausenderlei Dinge vorkommen, der Refrain aber hartnäckig wiederkehrt, auch
wo er durchaus nicht paßt.

So ist denn auch das Bild der schönen Italienerin, das ich im Gedächtnis
trage, zwar nicht unklar, aber doch ohne die vielen kleinen Linien und
Züge, die man an Fremden oft viel besser sieht als an Nahestehenden. Ich
weiß nicht mehr, welche Frisur sie trug, wie sie sich kleidete u. s. w.,
nicht einmal ob sie eigentlich groß oder klein von Gestalt war. Wenn ich an
sie denke, sehe ich einen dunkelhaarigen, edel geformten Frauenkopf, ein
paar scharfblickende, nicht sehr große Augen in einem bleichen, lebendigen
Gesicht und einen vollendet schön geschwungenen, schmalen Mund von herber
Reife. Wenn ich an sie denke und an jene ganze verliebte Zeit, dann
erinnere ich mich stets nur jenes Abends auf dem Hügel, wo der warme Wind
seeüber wogte und wo ich weinte, jubelte und berserkerte. Und eines anderen
Abends, von dem ich nun erzählen will.

Mir war klar geworden, daß ich der Malerin irgendwie Geständnisse machen
und um sie werben müsse. Wäre sie mir fern gestanden, so hätte ich sie
ruhig weiterhin verehrt und verschwiegene Schmerzen um sie gelitten. Aber
sie fast täglich zu sehen, mit ihr zu reden, ihr die Hand zu geben und ihr
Haus zu betreten, stets mit dem Stachel im Herzen, hielt ich nicht lange
aus.

Es ward ein kleines Sommerfest von Künstlern und ihren Freunden
veranstaltet. Es war am See, in einem hübschen Garten, ein reifer,
weichlich lauer Hochsommerabend. Wir tranken Wein und Eiswasser, hörten der
Musik zu und betrachteten die roten Papierlampen, die in langen Guirlanden
zwischen den Bäumen hingen. Es wurde geplaudert, gespottet, gelacht und
schließlich gesungen. Irgend ein lausiger Malerjüngling spielte den
Romantischen, trug ein kühnes Barett, lag rücklings am Geländer
hingestreckt und tändelte mit einer langhalsigen Guitarre. Die paar
bedeutenderen Künstler fehlten entweder oder saßen ungesehen im Kreis der
Älteren beiseite. Von den Frauenzimmern waren ein paar jüngere in lichten
Sommerkleidern erschienen, die andern trieben sich in den gewohnten
saloppen Kostümen herum. Namentlich fiel mir eine ältere, häßliche
Studentin widerlich auf, sie trug einen Männerstrohhut auf den
verschnittenen Haaren, rauchte Cigarren, trank tüchtig Wein und sprach laut
und viel. Richard war wie gewöhnlich bei den jungen Mädchen. Ich war trotz
aller Erregung kühl, trank wenig und wartete auf die Aglietti, die mir
versprochen hatte sich heute von mir rudern zu lassen. Sie kam denn auch,
schenkte mir ein paar Blumen und stieg mit mir in den kleinen Nachen.

Der See war glatt wie Öl und nächtig farblos. Ich trieb den leichten Nachen
rasch in die stille Seebreite weit hinaus, und sah immerfort mir gegenüber
die schlanke Frau bequem und zufrieden im Steuersitz lehnen. Der hohe
Himmel war noch blau und trieb langsam einen matten Stern um den andern
hervor, am Ufer war da und dort Musik und Gartenlustbarkeit. Mit leisem
Gurgeln nahm das träge Wasser die Ruder auf, andere Boote schwammen da und
dort dunkel und kaum mehr sichtbar auf der stillen Fläche, ich achtete aber
wenig darauf, sondern hing mit unverwandten Blicken an der Steurerin und
trug meine geplante Liebeserklärung wie einen schweren Eisenring um's bange
Herz. Das Schöne und Poetische der ganzen abendlichen Szenerie, das Sitzen
im Kahn, die Sterne, der laue ruhige See und alles das beängstigte mich,
denn es kam mir vor wie eine schöne Theaterdekoration, in deren Mitte ich
eine sentimentale Szene agieren müsse. In meiner Angst und beklemmt durch
die tiefe Stille, denn wir schwiegen beide, ruderte ich mit Macht drauf
los.

»Wie stark Sie sind!« sagte die Malerin nachdenklich.

»Meinen Sie dick?« fragte ich.

»Nein, ich meine die Muskeln,« lachte sie.

»Ja, stark bin ich schon.«

Dies war kein geeigneter Anfang. Traurig und ärgerlich ruderte ich weiter.
Nach einer Weile bat ich sie, mir etwas aus ihrem Leben zu erzählen.

»Was möchten Sie denn hören?«

»Alles,« sagte ich. »Am liebsten eine Liebesgeschichte. Dann erzähle ich
Ihnen nachher auch eine von mir, meine einzige. Sie ist sehr kurz und schön
und wird Sie amüsieren.«

»Was Sie sagen! Erzählen Sie doch!«

»Nein, erst Sie! Sie wissen ohnehin schon viel mehr von mir als ich von
Ihnen. Ich möchte wissen, ob Sie jemals richtig verliebt waren oder ob Sie,
wie ich fürchte, dafür viel zu klug und hochmütig sind.«

Erminia besann sich eine Weile.

»Das ist wieder eine von Ihren romantischen Ideen,« sagte sie, »sich hier
in der Nacht auf dem schwarzen Wasser von einer Frau Geschichten erzählen
zu lassen. Ich kann das aber leider nicht. Ihr Dichter seid gewöhnt, für
alles hübsche Worte zu haben und denen, die weniger von ihren Empfindungen
reden, gleich gar kein Herz zuzutrauen. In mir haben Sie sich getäuscht,
denn ich glaube nicht, daß man heftiger und stärker lieben kann als ich es
tue. Ich liebe einen Mann, der an eine andere Frau gebunden ist, und er
liebt mich nicht weniger; doch wissen wir beide nicht, ob es je möglich
sein wird, daß wir zusammenkommen. Wir schreiben uns und wir treffen uns
auch zuweilen . . . .«

»Darf ich Sie fragen, ob diese Liebe Sie glücklich macht, oder elend, oder
beides?«

»Ach, die Liebe ist nicht da um uns glücklich zu machen. Ich glaube sie ist
da, um uns zu zeigen, wie stark wir im Leiden und Tragen sein können.«

Das verstand ich und konnte nicht hindern, daß mir etwas wie ein leises
Stöhnen statt der Antwort vom Munde kam.

Sie hörte es.

»Ah,« sagte sie, »kennen Sie das auch schon? Sie sind noch so jung! Wollen
Sie mir nun auch beichten? Aber nur wenn Sie wirklich wollen --.«

»Ein andermal vielleicht, Fräulein Aglietti. Mir ist heute ohnehin windig
zu mut, und es tut mir leid, daß ich vielleicht auch Ihnen die Stimmung
getrübt habe. Wollen wir umkehren?«

»Wie Sie wollen. Wie weit sind wir eigentlich?«

Ich gab keine Antwort mehr, sondern stemmte die Ruder rauschend gegen das
Wasser, wendete und zog an, als wäre die Bise im Anzug. Das Boot strich
eilig über die Fläche und mitten in dem Wirbel von Jammer und Scham, der in
mir kochte, fühlte ich wie mir der Schweiß in großen Tropfen übers Gesicht
lief, und fror zugleich. Wenn ich vollends daran dachte, wie nahe ich daran
gewesen war den knieenden Bittsteller und mütterlich-freundlich
abgewiesenen Liebhaber zu spielen, lief mir ein Schaudern durchs Mark. Das
wenigstens war mir erspart geblieben, mit dem übrigen Jammer galt es nun
sich abzufinden. Ich ruderte wie besessen heimwärts.

Das schöne Fräulein war einigermaßen befremdet, als ich am Ufer kurzen
Abschied nahm und sie allein ließ.

Der See war so glatt, die Musik so fröhlich und die Papierlaternen so
festlich rot wie zuvor, mir aber schien das alles jetzt dumm und
lächerlich. Namentlich die Musik. Den Sammetrock, der noch immer seine
Guitarre prahlerisch am breiten Seidenbande trug, hätte ich am liebsten zu
Brei geschlagen. Und Feuerwerk stand auch noch bevor. Es war so kindisch!

Ich entlehnte von Richard ein paar Franken, setzte den Hut ins Genick und
begann zu marschieren, vor die Stadt hinaus und weiter, eine Stunde um die
andere, bis mich schläferte. Ich legte mich in eine Wiese, wachte aber nach
einer Stunde taunaß, steif und fröstelnd wieder auf und ging ins nächste
Dorf. Es war früh am Morgen. Kleeschnitter zogen durch die staubige Gasse,
verschlafene Knechte glotzten aus den Stalltüren, bäuerliche
Sommerarbeitsamkeit gab sich allerorten kund. Du hättest Bauer bleiben
sollen, sagte ich mir, strich beschämt durchs Dorf und lief ermüdet weiter,
bis die erste Sonnenwärme mir eine Rast erlaubte. Am Rand eines jungen
Buchenstandes warf ich mich ins dürre Raingras und schlief in der warmen
Sonne bis tief in den Spätnachmittag hinein. Als ich erwachte, den Kopf
voll Wiesenduft und die Glieder so wohlig schwer wie sie nur nach langem
Liegen auf Gottes lieber Erde sind, da kam mir das Fest und die Bootfahrt
und alles das fern, traurig und halbverklungen vor wie ein vor Monaten
gelesener Roman.

Ich blieb drei Tage fort, ließ mir die Sonne auf den Pelz brennen und
überlegte mir, ob ich nicht in einem Strich heimwärts wandern und meinem
Vater beim Öhmden helfen sollte.

Freilich war damit der Schmerz noch lange nicht abgetan. Nach meiner
Rückkehr in die Stadt floh ich anfangs den Anblick der Malerin wie die
Pest, doch ging das nicht lange an, und so oft sie mich später ansah und
anredete, stieg mir das Elend in die Kehle.



IV.


Was meinem Vater seinerzeit nicht gelungen war, das gelang nun diesem
Liebeselend. Es erzog mich zum Zecher.

Für mein Leben und Wesen war das wichtiger als irgend etwas von dem, was
ich bisher erzählte. Der starke, süße Gott ward mir ein treuer Freund und
ist es heute noch. Wer ist so mächtig wie er? Wer ist so schön, so
phantastisch, schwärmerisch, fröhlich und schwermütig? Er ist ein Held und
Zauberer. Er ist ein Verführer und Bruder des Eros. Er vermag Unmögliches;
arme Menschenherzen füllt er mit schönen und wunderlichen Dichtungen. Er
hat mich Einsiedler und Bauern zum König, Dichter und Weisen gemacht. Leer
gewordene Lebenskähne belastet er mit neuen Schicksalen und treibt
Gestrandete in die eilige Strömung des großen Lebens zurück.

So ist der Wein. Doch ist es mit ihm wie mit allen köstlichen Gaben und
Künsten. Er will geliebt, gesucht, verstanden und mit Mühen gewonnen sein.
Das können nicht Viele, und er bringt tausend und tausend um. Er macht sie
alt, er tötet sie oder löscht die Flamme des Geistes in ihnen aus. Seine
Lieblinge aber lädt er zu Festen ein und baut ihnen Regenbogenbrücken zu
seligen Inseln. Er legt, wenn sie müde sind, Kissen unter ihr Haupt und
umfaßt sie, wenn sie der Traurigkeit zur Beute fallen, mit leiser und
gütiger Umarmung wie ein Freund und wie eine tröstende Mutter. Er
verwandelt die Wirrnis des Lebens in große Mythen und spielt auf mächtiger
Harfe das Lied der Schöpfung.

Und wieder ist er ein Kind, hat lange seidige Locken und schmale Schultern
und feine Glieder. Er lehnt sich dir ans Herz und reckt das schmale Gesicht
zu deinem empor und sieht dich erstaunt und traumhaft aus lieben großen
Augen an, in deren Tiefe Paradieserinnerung und unverlorene
Gotteskindschaft feucht und glänzend wogt wie eine neugeborene Quelle im
Wald.

Und der süße Gott gleicht auch einem Strom, der tief und rauschend eine
Frühlingsnacht durchwandert. Und gleicht einem Meere, welches Sonne und
Sturm auf kühler Woge wiegt.

Wenn er mit seinen Lieblingen redet, dann überrauscht sie schauernd und
flutend die stürmende See der Geheimnisse, der Erinnerung, der Dichtung,
der Ahnungen. Die bekannte Welt wird klein und geht verloren und in banger
Freude wirft sich die Seele in die straßenlose Weite des Unbekannten, wo
alles fremd und alles vertraut ist und wo die Sprache der Musik, der
Dichter und des Traumes gesprochen wird.

Nun, ich muß erst erzählen.

Es geschah, daß ich stundenlang selbstvergessen heiter sein konnte,
studierte, schrieb und Richards Musik anhörte. Aber kein Tag ging ganz ohne
Leid vorbei. Manchmal überfiel es mich erst nachts im Bette, daß ich
stöhnte und mich bäumte und spät in Tränen entschlief. Oder erwachte es,
wenn ich der Aglietti begegnet war. Meistens aber kam es am Spätnachmittag,
wenn die schönen, lauen, müdemachenden Sommerabende begannen. Dann ging ich
an den See, nahm ein Boot, ruderte mich heiß und müde und fand es dann
unmöglich, nach hause zu gehen. Also in eine Kneipe oder in einen
Wirtsgarten. Da probierte ich verschiedene Weine, trank und brütete und war
manchmal am andern Tage halbkrank Dutzendemal überfiel mich dabei ein so
schauderhaftes Elend und Ekelgefühl, daß ich beschloß nie mehr zu trinken.
Und dann ging ich wieder und trank. Allmählich unterschied ich die Weine
und ihre Wirkung und genoß sie mit einer Art von Bewußtsein, im ganzen
freilich noch naiv und roh genug. Schließlich fand ich am dunkelroten
Veltliner einen Halt. Er schmeckte mir beim ersten Glas herb und erregend,
dann verschleierte er mir die Gedanken bis zu einer stillen, stetigen
Träumerei, und dann begann er zu zaubern, zu schaffen, selber zu dichten.
Dann sah ich alle Landschaften, die mir je gefallen hatten, in köstlichen
Beleuchtungen mich umgeben und ich selbst wanderte darin, sang, träumte und
fühlte ein erhöhtes, warmes Leben in mir kreisen. Und es endete mit einer
überaus angenehmen Traurigkeit, als hörte ich Volkslieder geigen und als
wüßte ich irgendwo ein großes Glück, dem ich vorbeigewandert wäre und das
ich versäumt hätte.

Es kam von selbst so, daß ich allmählich selten mehr allein kneipte,
sondern allerlei Gesellschaft fand. Sobald ich von Menschen umgeben war,
wirkte der Wein anders auf mich. Dann wurde ich gesprächig, aber nicht
erregt, sondern fühlte ein kühles sonderbares Fieber. Eine mir selbst
bisher kaum bekannte Seite meines Wesens blühte über Nacht empor, doch
gehörte sie weniger zu den Garten- und Zierblumen, als in die Gattung der
Disteln und Nesseln. Zugleich nämlich mit der Beredtsamkeit kam ein
scharfer, kühler Geist über mich, machte mich sicher, überlegen, kritisch
und witzig. Waren Leute da, deren Gegenwart mich störte, so wurden sie bald
fein und listig, bald grob und hartnäckig so lange aufgezogen und geärgert,
bis sie gingen. Die Menschen überhaupt waren mir ja von Kind auf weder
sonderlich lieb noch notwendig gewesen, nun begann ich sie kritisch und
ironisch zu betrachten. Mit Vorliebe erfand und erzählte ich kleine
Geschichten, in welchen die Verhältnisse der Menschen untereinander lieblos
und mit scheinbarer Sachlichkeit satirisch dargestellt und bitter verhöhnt
wurden. Woher dieser verächtliche Ton mir kam, wußte ich selber nicht, er
brach wie eine reifende Schwäre aus meinem Wesen hervor, die ich lange
Jahre nicht wieder los ward.

Saß ich dazwischen einmal einen Abend allein, dann träumte ich wieder von
Bergen, Sternen und trauriger Musik.

In diesen Wochen schrieb ich eine Folge von Betrachtungen über
Gesellschaft, Kultur und Kunst unserer Zeit, ein kleines giftiges Büchlein,
dessen Wiege meine Wirtshausgespräche waren. Aus meinen ziemlich fleißig
weiterbetriebenen historischen Studien kam mancherlei geschichtliches
Material hinzu, welches meinen Satiren eine Art von solidem Hintergrunde
gab.

Auf Grund dieser Arbeit erhielt ich bei einer größeren Zeitung den Rang
eines ständigen Mitarbeiters, wovon ich nahezu leben konnte. Gleich darauf
erschienen jene Skizzen auch als selbständiges Büchlein und hatten einigen
Erfolg. Nun warf ich die Philologie vollends über Bord. Ich war nun schon
in höheren Semestern, Beziehungen zu deutschen Zeitschriften knüpften sich
an und hoben mich aus der bisherigen Verborgenheit und Armseligkeit in den
Kreis der Anerkannten empor. Ich verdiente mein Brot, verzichtete auf das
lästige Stipendium und trieb mit vollen Segeln dem verächtlichen Leben
eines kleinen Berufsliteraten entgegen.

Und trotz des Erfolgs und meiner Eitelkeit, und trotz der Satiren und trotz
meiner Liebesleiden lag über mir in Fröhlichkeit und Schwermut der warme
Glanz der Jugend. Trotz aller Ironie und einer kleinen, harmlosen
Blasiertheit sah ich in Träumen doch stets ein Ziel, ein Glück, eine
Vollendung vor mir. Was es sein sollte, wußte ich nicht. Ich fühlte nur,
das Leben müsse mir irgend einmal ein besonders lachendes Glück vor die
Füße spülen, einen Ruhm, eine Liebe vielleicht, eine Befriedigung meiner
Sehnsucht und eine Erhöhung meines Wesens. Ich war noch der Page, der von
Edeldamen und Ritterschlag und großen Ehren träumt.

Ich glaubte im Beginn einer emporstrebenden Bahn zu stehen. Ich wußte
nicht, daß alles bis jetzt Erlebte nur Zufälle waren und daß meinem Wesen
und Leben noch der tiefe, eigene Grundton fehle. Ich wußte noch nicht, daß
ich an einer Sehnsucht litt, welcher nicht Liebe noch Ruhm Grenze und
Erfüllung sind.

Und so genoß ich meinen kleinen, etwas herben Ruhm mit aller Jugendlust. Es
tat mir wohl, bei gutem Wein unter klugen und geistigen Menschen zu sitzen
und, wenn ich zu reden begann, ihre Gesichter begierig und aufmerksam mir
zugewendet zu sehen.

Zuweilen fiel mir auf, eine wie große Sehnsucht in allen diesen Seelen von
heute nach Erlösung schrie und was für wunderliche Wege sie sie führte. An
Gott zu glauben, galt für dumm und fast für unanständig, sonst aber wurde
an vielerlei Lehren und Namen geglaubt, an Schopenhauer, an Buddha, an
Zarathustra und viele andere. Es gab junge, namenlose Dichter, welche in
stilvollen Wohnungen feierliche Andachten vor Statuen und Gemälden
begingen. Sie hätten sich geschämt sich vor Gott zu beugen, aber sie lagen
auf Knieen vor dem Zeus von Otrikoli. Es gab Asketen, die sich mit
Enthaltsamkeit quälten und deren Toilette zum Himmel schrie. Ihr Gott hieß
Tolstoi oder Buddha. Es gab Künstler, die sich durch wohlerwogene und
abgestimmte Tapeten, Musik, Speisen, Weine, Parfüme oder Cigarren zu
aparten Stimmungen anregten. Sie sprachen geläufig und mit erkünstelter
Selbstverständlichkeit von musikalischen Linien, Farbenakkorden und
ähnlichem und waren überall auf der Lauer nach der »persönlichen Note,«
welche meist in irgend einer kleinen, harmlosen Selbsttäuschung oder
Verrücktheit bestand. Im Grunde war mir die ganze krampfhafte Komödie
amüsant und lächerlich, doch fühlte ich oft mit sonderbarem Schauder, wie
viel ernste Sehnsucht und echte Seelenkraft darin flammte und verloderte.

Von all den phantastisch einherschreitenden neumodischen Dichtern,
Künstlern und Philosophen, die ich damals mit Erstaunen und Ergötzen kennen
lernte, weiß ich keinen, aus dem etwas Notables geworden wäre. Es war unter
ihnen ein mir gleichaltriger Norddeutscher, ein gefälliges Figürchen und
ein zarter, lieber Mensch, delikat und sensibel in allem, was irgend
künstlerische Dinge betraf. Er galt für einen der zukünftigen großen
Dichter und ich hörte ein paar mal Gedichte von ihm vorlesen, die meiner
Erinnerung noch immer als etwas ungemein Duftiges, seelenvoll Schönes
vorschweben. Vielleicht war er der einzige von uns allen, aus dem ein
wirklicher Dichter hätte werden können. Zufällig erfuhr ich später einmal
seine kurze Geschichte. Durch einen literarischen Mißerfolg scheu geworden,
entzog sich der Überempfindliche aller Öffentlichkeit und fiel einem Lumpen
von Mäcen in die Hände, der ihn, statt ihn anzuspornen und zur Vernunft zu
bringen, schnell vollends zu Grunde richtete. Auf den Villen des reichen
Herrn trieb er mit dessen nervösen Damen ein fades Aesthetengeflunker,
stieg in seiner Einbildung zum verkannten Heros und brachte sich,
jämmerlich mißleitet, durch lauter Chopinmusik und präraphaelitische
Ekstasen systematisch um den Verstand.

An dies halbflügge Volk seltsam gekleideter und frisierter Dichter und
schöner Seelen kann ich mich nur mit Grauen und Mitleid erinnern, da ich
erst nachträglich das Gefährliche dieses Umganges einsah. Nun, mich
bewahrte mein Oberländer Bauerntum davor, an dem Tummel teilzunehmen.

Edler und beglückender aber als der Ruhm und der Wein und die Liebe und die
Weisheit war meine Freundschaft. Sie war's schließlich allein, die meiner
angebotenen Schwerlebigkeit aufhalf und meine Jugendjahre unverdorben
frisch und morgenrot erhielt. Ich weiß auch heute in der Welt nichts
Köstlicheres als eine ehrliche und tüchtige Freundschaft zwischen Männern
und wenn mich einmal an nachdenklichen Tagen etwas wie ein Jugendheimweh
befällt, so ist es allein um meine Studentenfreundschaft.

Seit meiner Verliebtheit in Erminia hatte ich Richard ein wenig
vernachlässigt. Es geschah im Anfang unbewußt, nach einigen Wochen aber
schlug mir das Gewissen. Ich beichtete ihm, er entdeckte mir daß er das
ganze Unglück mit Bedauern habe kommen und wachsen sehen, und ich schloß
mich ihm aufs neue herzlich und eifersüchtig an. Was ich damals etwa an
heiteren und freien kleinen Lebenskünsten mir erwarb, kam alles von ihm. Er
war schön und heiter an Leib und Seele und das Leben schien für ihn keine
Schatten zu haben. Die Leidenschaften und Irrungen der Zeit kannte er als
kluger und beweglicher Mensch wohl, aber sie glitten ohne Schaden an ihm
ab. Sein Gang und seine Sprache und sein ganzes Wesen war geschmeidig,
wohllaut und liebenswert. O wie er lachen konnte!

Für meine Weinstudien hatte er wenig Verständnis. Er ging gelegentlich mit,
hatte jedoch nach zwei Gläsern genug und betrachtete meinen wesentlich
größeren Konsum mit naivem Erstaunen. Aber wenn er sah, daß ich litt und
hilflos meiner Schwermut unterlag, musizierte er mir, las mir vor oder
führte mich spazieren. Auf unsern kleinen Ausflügen waren wir oft
ausgelassen wie zwei kleine Knaben. Einmal lagen wir auf warmer Mittagsrast
in einem waldigen Tal, warfen uns mit Tannenzapfen und sangen Verse aus der
frommen Helene auf gefühlvolle Melodieen. Der rasche klare Bach plätscherte
uns so lange kühl verlockend ins Ohr, bis wir uns entkleideten und uns ins
kalte Wasser legten. Da kam er auf die Idee Komödie zu spielen. Er setzte
sich auf einen moosigen Felsen und war die Lorelei, und ich segelte unten
als Schiffer im kleinen Schiffe vorüber. Dabei sah er so jungferlich
schamhaft aus und schnitt solche Grimassen, daß ich, der ich das wilde Weh
hätte markieren sollen, mich vor Lachen kaum halten konnte. Plötzlich
wurden Stimmen laut, eine Touristengesellschaft erschien auf dem Fußweg und
wir mußten uns in unsrer Blöße eiligst unter dem ausgewaschenen,
überhängenden Ufer verbergen. Als die ahnungslose Gesellschaft an uns
vorüberschritt, stieß Richard allerlei seltsame Töne aus, grunzte,
quietschte und fauchte. Die Leute stutzten, schauten um sich, stierten ins
Wasser und waren nahe daran uns zu entdecken. Da tauchte mein Freund mit
halbem Leibe aus seinem Schlupfwinkel auf, blickte die indignierte
Gesellschaft an und sprach mit tiefer Stimme und priesterlicher Geberde:
»Ziehet hin in Frieden!« Sogleich verschwand er wieder, zwickte mich in den
Arm und sagte: »Auch das war eine Charade.«

»Was für eine?« fragte ich.

»Pan erschreckt einige Hirten,« lachte er. »Es waren aber leider auch
Frauenzimmer dabei.«

Von meinen geschichtlichen Studien nahm er wenig Notiz. Meine fast
verliebte Vorliebe für den heiligen Franz von Assisi aber teilte er bald,
obschon er gelegentlich auch über ihn Witze machen konnte, die mich
entrüsteten. Wir sahen den seligen Dulder freundlich begeistert und heiter
wie ein liebes großes Kind durch die umbrische Landschaft wandern, seines
Gottes froh und voll demütiger Liebe zu allen Menschen. Wir lasen zusammen
seinen Unsterblichen Sonnengesang und kannten ihn fast auswendig. Einst, da
wir im Dampfboot über den See von einer Spazierfahrt zurückkehrten und der
abendliche Wind das goldige Wasser bewegte, fragte er leise: »Du, wie sagt
hier der Heilige?« Und ich zitierte:

Laudato si, mi Signore, per frate vento e per aere e nubilo et sereno et
onne tempo!

Wenn wir Streit bekamen und uns Schnödigkeiten sagten, warf er mir, immer
halb im Scherz, nach Art der Schuljungen eine solche Menge von drolligen
Übernamen an den Kopf, daß ich bald lachen mußte und dem Ärgernis der
Stachel genommen war. Verhältnismäßig ernst war mein lieber Freund nur,
wenn er seine Lieblingsmusiker hörte oder spielte. Auch dann konnte er sich
unterbrechen, um irgend einen Spaß zu machen. Dennoch war seine Liebe zur
Kunst voll reiner, herzlicher Hingabe und sein Gefühl für das Echte und
Bedeutende schien mir untrüglich.

Wunderbar verstand er die feine, zarte Kunst des Tröstens, des
teilnehmenden Dabeiseins oder des Erheiterns, wenn einer seiner Freunde in
Nöten war. Er konnte mir, wenn er mich übellaunig fand, ganze Mengen
kleiner anekdotischer Geschichten von grotesker Nettigkeit erzählen und
hatte dann etwas Beruhigendes und Erheiterndes im Ton, dem ich selten
widerstand.

Vor mir hatte er ein wenig Respekt, weil ich ernster war als er; noch mehr
imponierte ihm meine Körperkraft. Vor andern renommierte er damit und war
stolz einen Freund zu haben, der ihn einhändig hätte erdrücken können. Er
gab viel auf körperliche Fähigkeiten und Gewandtheit, er lehrte mich
Tennis, ruderte und schwamm mit mir, nahm mich zum Reiten mit und ruhte
nicht, bis ich fast eben so gut Billard spielte wie er selbst. Es war sein
Lieblingsspiel und er betrieb es nicht nur künstlerisch und meisterhaft,
sondern pflegte am Billard auch immer besonders lebhaft, witzig und
fröhlich zu sein. Häufig gab er den drei Bällen die Namen von Leuten unsrer
Bekanntschaft und konstruierte bei jedem Stoß aus Stellung, Annäherung und
Entfernung der Bälle ganze Romane voll von Witzen, Anzüglichkeiten und
karikierenden Vergleichen. Dabei spielte er ruhig, leicht und überaus
elegant und es war eine Lust ihn dabei zu betrachten.

Meine Schriftstellerei schätzte er nicht höher als ich selbst. Einmal sagte
er mir: »Sieh, ich hielt dich immer für einen Dichter und halte dich noch
dafür, aber nicht deiner Feuilletons wegen, sondern weil ich fühle daß du
etwas Schönes und Tiefes in dir leben hast, das früher oder später einmal
hervorbrechen wird. Und das wird dann eine wirkliche Dichtung sein.«

Indessen glitten uns die Semester wie kleine Münze durch die Finger und die
Zeit kam unverhofft, da Richard an die Rückkehr nach seiner Heimat denken
mußte. Mit einer etwas künstlichen Ausgelassenheit genossen wir die
schwindenden Wochen und kamen am Ende überein, daß vor dem bitteren
Abschied noch irgend eine glänzende und festliche Unternehmung diese
schönen Jahre heiter und verheißungsvoll beschließen sollte. Ich schlug
eine Ferientour in die Berner Alpen vor, doch war es freilich noch
Vorfrühling und für die Berge eigentlich viel zu früh. Während ich mir den
Kopf nach anderen Vorschlägen zerbrach, schrieb Richard seinem Vater und
bereitete mir in der Stille eine große und freudige Überraschung vor. Eines
Tages kam er mit einem stattlichen Wechsel angerückt und lud mich ein, ihn
als Führer nach Oberitalien zu begleiten.

Mir schlug bang und frohlockend das Herz. Ein seit Knabenzeiten gehegter,
tausendmal durchgeträumter, sehnlicher Lieblingswunsch sollte sich mir
erfüllen. Wie im Fieber besorgte ich meine kleinen Vorbereitungen, brachte
meinem Freund noch ein paar Worte Italienisch bei und fürchtete bis zum
letzten Tag, es möchte doch nichts daraus werden.

Unser Gepäck war vorausgeschickt, wir saßen im Wagen, die grünen Felder und
Hügel flirrten vorüber, der Urnersee und der Gotthard kam, dann die
Bergnester und Bäche und Geröllhalden und Schneegipfel des Tessin, und dann
die ersten schwärzlichen Steinhäuser in ebenen Weinbergen und die
erwartungsvolle Fahrt an den Seen hin und durch die fruchtbare Lombardei
dem lärmend lebhaften, sonderbar anziehenden und abstoßenden Mailand
entgegen.

Richard hatte sich vom Milaneser Dom nie eine Vorstellung gemacht, sondern
von ihm nur als von einem berühmten großen Bauwerk gewußt. Es war
ergötzlich, seine entrüstete Enttäuschung zu sehen. Als er den ersten
Schreck überwunden und seinen Humor wiedergefunden hatte, schlug er selber
vor, das Dach zu besteigen und sich in dem tollen Wirrsal von Steinfiguren
dort oben umherzutreiben. Wir stellten mit einiger Befriedigung fest, daß
es um die Hunderte von unseligen Heiligenstatuen auf den Fialen nicht so
sehr schade sei, denn sie erwiesen sich zumeist, wenigstens sämtliche
neuern, als Fabrikarbeit gewöhnlicher Art. Wir lagen fast zwei Stunden auf
den breiten, schrägen Marmorplatten, die ein sonniger Apriltag leise
durchglüht hatte. Behaglich gestand mir Richard: »Weißt du, im Grunde hab'
ich nichts dagegen, noch mehr solche Enttäuschungen zu erleben wie mit dem
verrückten Dom da. Auf der ganzen Reise hatte ich eine kleine Angst vor
alle den Großartigkeiten, die wir sehen und die uns erdrücken würden. Und
nun fängt die Sache so freundlich und menschlich-lächerlich an!« Dann
reizte ihn das wirre steinerne Figurenvolk, in dessen Mitte wir lagerten,
zu allerlei barocken Phantasieen.

»Vermutlich,« sagte er, »wird dort auf dem Chorturm, als der höchsten
Spitze, wohl auch der höchste und vornehmste Heilige stehen. Da es nun
keineswegs ein Vergnügen sein muß, ewig als steinerner Seiltänzer auf
diesen spitzen Türmchen zu balancieren, ist es billig, daß von Zeit zu Zeit
der oberste Heilige erlöst und in den Himmel entrückt wird. Nun denke dir,
was das jedesmal für ein Spektakel absetzt! Denn natürlich rücken nun
sämtliche übrige Heilige genau nach der Rangordnung je um einen Platz vor
und jeder muß mit einem großen Satz auf die Fiale des Vorgängers hüpfen,
jeder in großer Eile und jeder jaloux auf alle, die noch vor ihm kommen.«

So oft ich seither durch Mailand kam, fiel jener Nachmittag mir wieder ein
und ich sah mit wehmütigem Lachen die hunderte von Marmorheiligen ihre
kühnen Sprünge tun.

In Genua ward ich um eine große Liebe reicher. Es war ein heller, windiger
Tag, kurz nach der Mittagsstunde. Ich hatte die Arme auf eine breite
Mauerbrüstung gestützt, hinter mir lag das farbige Genua, und unter mir
schwoll und lebte die große blaue Flut. Das Meer. Mit dunklem Tosen und
unverstandenem Verlangen warf sich mir das Ewige und Unwandelbare entgegen
und ich fühlte, daß etwas in mir sich mit dieser blauen, schäumigen Flut
für Leben und Tod befreundete.

Ebenso mächtig ergriff mich der weite Meerhorizont. Wieder sah ich wie in
Kinderzeiten die duftblaue Ferne wie ein geöffnetes Tor auf mich warten.
Und wieder faßte mich das Gefühl, ich sei nicht zum stetig heimischen Leben
unter Menschen und in Städten und Wohnungen, sondern zum Schweifen durch
fremde Gebiete und zu Irrfahrten auf Meeren geboren. Mit dunklem Trieb
stieg das alte, traurigmachende Verlangen in mir empor, mich an Gottes
Brust zu werfen und mein kleines Leben mit dem Unendlichen und Zeitlosen zu
verbrüdern.

Bei Rapallo rang ich schwimmend zum erstenmal mit der Flut, schmeckte das
herbe Salzwasser und fühlte die Gewalt der Wogen. Ringsum blaue, klare
Wellen, braungelbe Strandfelsen, tiefer stiller Himmel und das ewige, große
Rauschen. Stets von neuem ergriff mich der Anblick der ferne gleitenden
Schiffe, schwarzer Masten und blanker Segel oder die kleine Rauchfahne
eines entfernt dahinfahrenden Dampfers. Nächst meinen Lieblingen, den
rastlosen Wolken, weiß ich kein schöneres und ernsteres Bild der Sehnsucht
und des Wanderns als solch ein Schiff, das in großer Ferne fährt, kleiner
wird und in den geöffneten Horizont hinein verschwindet.

Und wir kamen nach Florenz. Die Stadt lag da wie ich sie aus hundert
Bildern und tausend Träumen kannte -- licht, geräumig, gastlich, vom
grünen, überbrückten Strom durchzogen und von klaren Hügeln umgürtet. Der
kecke Turm des palazzo vecchio stach kühn in den lichten Himmel, in seiner
Höhe lag weiß und warmsonnig das schöne Fiesole und alle Hügel standen weiß
und rosenrot im Flor der Obstblüte. Das beweglich freudige, harmlose
toskanische Leben ging mir wie ein Wunder auf und ich war bald heimischer
als ich je zu Hause gewesen war. Die Tage wurden in Kirchen, auf Plätzen,
in Gassen, Loggien und Märkten verbummelt, die Abende in Hügelgärten
verträumt, wo schon die Limonen reiften, oder in kleinen naiven
Chiantischenken vertrunken und verplaudert. Dazwischen die beglückend
reichen Stunden in den Bildersälen und im Bargello, in Klöstern,
Bibliotheken und Sakristeien, die Nachmittage in Fiesole, San Miniato,
Settignano, Prato.

Nach einer schon zu Hause getroffenen Verabredung ließ ich nun Richard für
eine Woche allein und genoß die edelste und köstlichste Wanderung meiner
Jugendzeit, durch das reiche, grüne umbrische Hügelland. Ich ging die
Straßen des heiligen Franz und fühlte ihn in manchen Stunden neben mir
wandern, das Gemüt voll unergründlicher Liebe, jeden Vogel und jede Quelle
und jeden Hagrosenstrauch mit Dankbarkeit und Freude begrüßend. Ich
pflückte und verzehrte Limonen an sonnig glänzenden Hängen, nächtigte in
kleinen Dörfern, sang und dichtete in mich hinein und feierte die Ostern in
Assisi, in der Kirche meines Heiligen.

Mir ist immer, als seien diese acht Wandertage in Umbrien die Krone und das
schöne Abendrot meiner Jugendzeit gewesen. Jeden Tag sprangen Quellen in
mir auf und ich sah in die lichte, festliche Frühlingslandschaft wie in
Gottes gütige Augen.

In Umbrien war ich Franz, dem »Spielmann Gottes«, verehrend nachgegangen;
in Florenz genoß ich die beständige Vorstellung vom Leben des Quattrocento.
Ich hatte ja schon zu Hause Satiren auf die Formen unsres heutigen Lebens
geschrieben. In Florenz aber fühlte ich zum erstenmal die ganze schäbige
Lächerlichkeit der modernen Kultur. Dort überfiel mich zuerst die Ahnung,
daß ich in unsrer Gesellschaft ewig ein Fremdling sein würde, und dort
erwachte zuerst der Wunsch in mir, mein Leben außerhalb dieser Gesellschaft
und womöglich im Süden weiter zu führen. Hier konnte ich mit den Menschen
verkehren, hier erfreute mich auf Schritt und Tritt eine freimütige
Natürlichkeit des Lebens, über welcher adelnd und verfeinernd die Tradition
einer klassischen Kultur und Geschichte lag.

Glänzend und beglückend rannen uns die schönen Wochen hin; auch Richard
hatte ich nie so schwärmerisch entzückt gesehen. Übermütig und freudig
leerten wir die Becher der Schönheit und des Genusses. Wir erwanderten
abseitige, heiß gelegene Hügeldörfer, befreundeten uns mit Gastwirten,
Mönchen, Landmädchen und kleinen zufriedenen Dorfpfarrern, belauschten
naive Ständchen, fütterten bräunliche, hübsche Kinder mit Brot und Obst und
sahen von sonnigen Berghöhen Toskana im Glanz des Frühlings und fern das
schimmernde ligurische Meer liegen. Und wir hatten beide das kräftige
Gefühl, unseres Glückes würdig einem reichen, neuen Leben entgegen zu
gehen. Arbeit, Kampf, Genuß und Ruhm lagen so nah und glänzend und sicher
vor uns, daß wir ohne Hast uns der glücklichen Tagen freuten. Auch die nahe
Trennung schien leicht und vorübergehend, denn wir wußten fester als je,
daß wir einer dem andern notwendig und einer des andern für's Leben sicher
waren.

                   *       *       *       *       *

Das war die Geschichte meiner Jugend. Es scheint mir, wenn ich es
überdenke, als sei sie kurz wie eine Sommernacht gewesen. Ein wenig Musik,
ein wenig Geist, ein wenig Liebe, ein wenig Eitelkeit -- aber es war schön,
reich und farbig wie ein eleusisches Fest.

Und erlosch schnell und armselig wie ein Licht im Wind.

In Zürich nahm Richard Abschied. Zweimal stieg er wieder aus dem
Eisenbahnwagen, um mich zu küssen, und nickte mir noch, so lange es ging,
vom Fenster aus zärtlich zu.

Zwei Wochen später ertrank er beim Baden in einem lächerlich kleinen
süddeutschen Flüßchen. Ich sah ihn nicht mehr, ich war nicht dabei als er
begraben wurde, ich hörte alles erst ein paar Tage später, als er schon im
Sarge und in der Erde lag. Da lag ich in meinem Stüblein auf den Boden
hingestreckt, fluchte Gott und dem Leben in gemeinen und scheußlichen
Lästerworten, weinte und tobte. Ich hatte bis dahin nie bedacht, daß mein
einziger sicherer Besitz in diesen Jahren meine Freundschaft gewesen war.
Das war nun vorüber.

Es litt mich nicht länger in der Stadt, wo täglich eine Menge von
Erinnerungen sich an mich hängte und mir die Lust raubte. Was nun käme, war
mir einerlei; ich war im Kern der Seele krank und hatte ein Grauen vor
allem Lebendigen. Einstweilen schien die Aussicht gering, daß mein
zerstörtes Wesen sich wieder aufrichte und mit neu gespannten Segeln dem
herberen Glück der Mannesjahre entgegen treibe. Gott hatte gewollt, daß ich
das Beste meines Wesens einer reinen und fröhlichen Freundschaft hingäbe.
Wie zwei rasche Nachen waren wir miteinander vorangestürmt, und Richards
Nachen war der bunte, leichte, glückliche, geliebte, an dem mein Auge hing
und dem ich vertraute, er würde mich zu schönen Zielen mitreißen. Nun war
er mit kurzem Schrei versunken und ich trieb steuerlos auf plötzlich
verdunkelten Wassern umher.

Es wäre an mir gewesen, die harte Probe zu bestehen, mich nach den Sternen
zu richten und auf neuer Fahrt um den Kranz des Lebens zu kämpfen und zu
irren. Ich hatte an die Freundschaft, an die Frauenliebe, an die Jugend
geglaubt. Nun sie eine um die andere mich verlassen hatten, warum glaubte
ich nicht an Gott und gab mich in seine stärkere Hand? Aber ich war
zeitlebens zag und trotzig wie ein Kind und wartete immer auf das
eigentliche Leben, daß es im Sturme über mich käme, mich verständig und
reich machte und auf großen Flügeln einem reifen Glück entgegen trüge.

Das weise und sparsame Leben aber schwieg und ließ mich treiben. Es
schickte mir weder Stürme noch Sterne, sondern wartete, bis ich wieder
klein und geduldig und mein Trotz gebrochen wäre. Es ließ mich meine
Komödie des Stolzes und Besserwissens spielen, sah daran vorbei und
wartete, bis das verlaufene Kind die Mutter wieder finden würde.



V.


Es kommt nun diejenige Zeit meines Lebens, welche scheinbar bewegter und
bunter war als das bisherige und allenfalls einen kleinen Moderoman abgäbe.
Ich müßte erzählen, wie ich von einer deutschen Zeitung zum Redakteur
berufen wurde. Wie ich meiner Feder und meinem bösen Maul zu viel Freiheit
gönnte und dafür schikaniert und geschulmeistert wurde. Wie ich darauf den
Ruf eines Säufers errang und schließlich, nach giftigen Händeln, das Amt
niederlegte und mich als Korrespondenten nach Paris schicken ließ. Wie ich
in diesem verfluchten Nest zigeunerte, verbummelte und auf verschiedenen
Gebieten einen starken Tobak rauchte.

Es ist nicht Feigheit, wenn ich den etwaigen Schweinigeln unter meinen
Lesern hier eine Nase drehe und diese kurze Zeit übergehe. Ich bekenne, daß
ich einen Irrweg um den andern ging, allerlei Schmutz gesehen habe und
darin gesteckt bin. Der Sinn für die Romantik der Bohème ist mir seither
abhanden gekommen und ihr müßt mir erlauben, daß ich mich an das Reinliche
und Gute halte, das doch auch in meinem Leben war, und jene verlorene Zeit
verloren und abgetan sein lasse.

Namentlich Paris war schauderhaft: Nichts als Kunst, Politik, Literatur und
Dirnengewäsch, nichts als Künstler, Literaten, Politiker und gemeine
Weiber. Die Künstler waren so eitel und aufdringlich wie die Politiker, die
Literaten noch eitler und aufdringlicher, und am eitelsten und
aufdringlichsten waren die Weiber.

Eines Abends saß ich allein im Bois und überlegte mir, ob ich nur Paris
oder lieber gleich das Leben überhaupt verlassen sollte. Darüber ging ich,
seit langer Zeit zum erstenmal, in Gedanken mein Leben durch und
berechnete, daß ich nicht viel daran zu verlieren habe.

Aber da sah ich plötzlich in scharfer Erinnerung einen längst vergangenen
und vergessenen Tag -- einen frühen Sommermorgen, daheim in den Bergen, und
sah mich an einem Bette knieen und darauf lag meine Mutter und litt den
Tod.

Ich erschrak und schämte mich, daß ich so lange jenes Morgens nicht mehr
hatte denken können. Die dummen Mordgedanken waren vorbei. Denn ich glaube,
daß kein ernster und nicht völlig entgleister Mensch fähig ist, sich das
Leben zu nehmen, wenn er je einmal das Erlöschen eines gesunden und guten
Lebens angesehen hat. Ich sah meine Mutter wieder sterben. Ich sah wieder
auf ihrem Gesicht die stille, ernste Arbeit des Todes, der es adelte. Er
sah herb aus, der Tod, aber so mächtig und auch gütig wie ein behutsamer
Vater, der ein irregegangenes Kind heimholt.

Ich wußte plötzlich wieder, daß der Tod unser kluger und guter Bruder ist,
der die rechte Stunde weiß und dessen wir mit Zuversicht gewärtig sein
dürfen. Und ich begann auch zu verstehen, daß das Leid und die
Enttäuschungen und die Schwermut nicht da sind, um uns verdrossen und
wertlos und würdelos zu machen, sondern um uns zu reifen und zu verklären.

Acht Tage später waren meine Kisten nach Basel abgeschickt und ich wanderte
zu Fuß durch ein schönes Stück Südfrankreich und fühlte von Tag zu Tag die
unseligen Pariser Zeiten, deren Erinnerung mich wie ein Gestank verfolgte,
verblassen und zu Nebel werden. Ich wohnte einer cour d'amour bei. Ich
übernachtete in Schlössern, in Mühlen, in Scheunen, und trank mit den
dunkeln, gesprächigen Burschen ihren warmen, sonnigen Wein.

Abgerissen, mager, braungebrannt und im Innern verändert kam ich nach zwei
Monaten in Basel an. Es war meine erste so große Wanderung, die erste von
vielen. Zwischen Locarno und Verona, zwischen Basel und Brieg, zwischen
Florenz und Perugia sind wenig Orte, durch die ich nicht zwei und dreimal
mit staubigen Stiefeln gepilgert bin -- hinter Träumen her, von denen noch
keiner sich erfüllt hat.

                   *       *       *       *       *

In Basel mietete ich eine Vorstadtbude, packte meine Habe aus und begann zu
arbeiten; es freute mich in einer stillen Stadt zu leben, wo kein Mensch
mich kannte. Die Beziehungen zu einigen Zeitungen und Revuen waren noch im
Gang und ich hatte zu arbeiten und zu leben. Die ersten Wochen waren gut
und ruhig, dann kam allmählich die alte Traurigkeit wieder, blieb tagelang,
wochenlang, und verging auch bei der Arbeit nicht. Wer nicht an sich selber
gespürt hat, was Schwermut ist, versteht das nicht. Wie soll ich es
beschreiben? Ich hatte das Gefühl einer schauerlichen Einsamkeit. Zwischen
mir und den Menschen und dem Leben der Stadt, der Plätze, Häuser und
Straßen war fortwährend eine breite Kluft. Es geschah ein großes Unglück,
es standen wichtige Dinge in den Zeitungen -- mich ging es nichts an. Es
wurden Feste gefeiert, Tote begraben, Märkte abgehalten, Konzerte gegeben
-- wozu? wofür? Ich lief hinaus, ich trieb mich in Wäldern, auf Hügeln und
Landstraßen herum, und um mich her schwiegen Wiesen, Bäume, Äcker in
klagloser Trauer, sahen mich stumm und flehentlich an und hatten das
Verlangen mir etwas zu sagen, mir entgegen zu kommen, mich zu begrüßen.
Aber sie lagen da und konnten nichts sagen, und ich begriff ihr Leiden und
litt es mit, denn ich konnte sie nicht erlösen.

Ich ging zu einem Arzt, brachte ihm ausführliche Aufzeichnungen, versuchte
ihm mein Leiden zu beschreiben. Er las, fragte, untersuchte mich.

»Sie sind beneidenswert gesund,« lobte er dann, »körperlich fehlt Ihnen
nichts. Suchen Sie sich durch Lektüre oder Musik zu erheitern.«

»Ich lese von Berufs wegen tagtäglich eine Menge neue Sachen.«

»Jedenfalls sollten Sie sich auch einige Bewegung im Freien gönnen.«

»Ich laufe täglich drei bis vier Stunden, in Ferienzeiten mindestens das
doppelte.«

»Dann müssen Sie sich zwingen, unter Menschen zu gehen. Sie sind ja in
Gefahr ernstlich menschenscheu zu werden.«

»Was liegt daran?«

»Es liegt viel daran. Je größer zur Zeit Ihre Unlust am Umgang ist, desto
mehr müssen Sie sich zwingen Menschen zu sehen. Ihr Zustand ist noch kein
Kranksein und scheint mir nicht bedenklich; wenn Sie aber nicht aufhören so
passiv zu bummeln, könnten Sie schließlich doch einmal die Balance
verlieren.«

Der Arzt war ein verständiger und wohlwollender Mann. Ich tat ihm leid. Er
empfahl mich einem Gelehrten, in dessen Hause viel Verkehr und ein gewisses
geistiges und literarisches Leben war. Ich ging hin. Man kannte meinen
Namen, war liebenswürdig, fast herzlich, und ich kam öfters wieder.

Einmal kam ich an einem kalten Spätherbstabend hin. Ich fand einen jungen
Historiker und ein sehr schlankes, dunkles Mädchen; sonst keine Gäste. Das
Mädchen besorgte die Teemaschine, sprach viel und war spitzig gegen den
Historiker. Nachher spielte sie ein wenig Klavier. Dann sagte sie mir, sie
habe meine Satiren gelesen, aber gar nicht goutiert. Sie kam mir gescheit,
aber ein wenig allzu gescheit vor, und ich ging bald nach Hause.

Inzwischen hatte man allmählich herausgebracht, ich säße viel in Kneipen
herum und sei eigentlich ein heimlicher Säufer. Es wunderte mich kaum, denn
der Klatsch blühte gerade in der akademischen Gesellschaft unter Männern
und Frauen aufs üppigste. Meinem Verkehr schadete die beschämende
Entdeckung gar nicht, machte mich vielmehr begehrt, denn man war gerade für
die Temperenz begeistert, Herren und Damen gehörten den Komitees der
Mäßigkeitsvereine an und freuten sich jedes Sünders, der ihnen in die Hände
fiel. Eines Tages erfolgte der erste höfliche Angriff. Es ward mir die
Schmach des Wirtshauslebens, der Fluch des Alkoholismus und all das vom
sanitären, ethischen und sozialen Standpunkt zu betrachten nahe gelegt und
ich wurde eingeladen einer Vereinsfeierlichkeit beizuwohnen. Ich war maßlos
erstaunt, denn von allen solchen Vereinen und Bestrebungen hatte ich bisher
kaum eine Ahnung gehabt. Die Vereinssitzung, mit Musik und religiösem
Anstrich, war peinlich komisch und ich verhehlte diesen Eindruck nicht.
Wochenlang wurde mir mit aufdringlicher Liebenswürdigkeit zugesetzt, die
Sache wurde mir äußerst langweilig und eines Abends, da man mir wieder
dasselbe Lied vorsang und sehnlich auf meine Bekehrung hoffte, ward ich
desperat und bat mir energisch aus, man möge mich nun mit dem Geplärre
verschonen. Das junge Mädchen war wieder da. Sie hörte mir aufmerksam zu
und sagte dann ganz herzlich: »Bravo!« Ich war aber zu verstimmt, um darauf
zu achten.

Mit desto größerem Vergnügen sah ich ein kleines drolliges Mißgeschick mit
an, das bei einer gewaltigen Abstinentenfestlichkeit passierte. Der große
Verein samt zahllosen Gästen tafelte und tagte in seinem Hause, Reden
wurden gehalten, Freundschaften geschlossen und Chöre gesungen und der
Fortschritt der guten Sache mit großem Hosianna gefeiert. Einem als
Fahnenträger angestellten Dienstmann dauerten die alkoholfreien Reden zu
lange, er drückte sich in eine nahe Schenke, und als der feierliche Fest-
und Demonstrationszug durch die Straßen seinen Anfang nahm, genossen
schadenfrohe Sünder das ergötzliche Schauspiel, an der Spitze der
begeisterten Scharen einen fröhlich betrunkenen Anführer und in seinen
Armen die Fahne des blauen Kreuzes gleich einem schiffbrüchigen Mastbaum
schwanken zu sehen.

Der besoffene Dienstmann wurde entfernt; nicht entfernt aber wurde das
Gewimmel menschlichster Eitelkeiten, Eifersüchteleien und Intriguen, das
sich innerhalb der einzelnen Konkurrenzvereine und Komissionen erhoben
hatte und zu immer freudigerer Blüte gedieh. Die Bewegung spaltete sich,
ein paar Ehrgeizige wollten allen Ruhm für sich haben und schimpften über
jeden nicht in ihrem Namen bekehrten Säufer; edle und selbstlose
Mitarbeiter, an denen es nicht fehlte, wurden schnöde mißbraucht und in
Bälde hatten Näherstehende Gelegenheit zu sehen, wie auch hier unter
idealer Etikette allerlei unsaubere Menschlichkeiten zum Himmel stanken.
Alle diese Komödien erfuhr ich so nebenher durch dritte Leute, hatte mein
stilles Wohlgefallen daran und dachte mir auf mancher nächtlichen Heimkehr
von Trinkereien: Seht, wir Wilde sind doch bessere Menschen.

In meiner kleinen, hoch und frei gelegenen Stube über dem Rhein studierte
und grübelte ich viel. Ich war trostlos, daß das Leben so an mir ablief,
daß kein starker Strom mich mitriß, keine heftige Leidenschaft oder
Teilnahme mich erhitzte und dem dumpfen Traum entzog. Zwar arbeitete ich,
neben dem täglich Notwendigen, an den Vorbereitungen zu einem Werk, welches
das Leben der ersten Minoriten darstellen sollte; doch war dies kein
Schaffen, nur ein stetes bescheidenes Sammeln und genügte dem Trieb meiner
Sehnsucht nicht. Ich begann, indem ich mich an Zürich, Berlin und Paris
erinnerte, mir die wesentlichen Wünsche, Leidenschaften und Ideale der
Zeitgenossen klar zu machen. Einer arbeitete daran, die bisherigen Möbel,
Tapeten und Kostüme abzuschaffen und die Menschen an freiere, schönere
Umgebungen zu gewöhnen. Ein anderer war bemüht, den Häckelschen Monismus in
populären Schriften und Vorträgen zu verbreiten. Andere hielten es für
erstrebenswert, den ewigen Weltfrieden herbeizuführen. Und wieder einer
kämpfte für die darbenden unteren Stände, oder sammelte und redete dafür,
daß Theater und Museen für's Volk gebaut und geöffnet würden. Und hier in
Basel wurde der Alkohol bekämpft.

In all diesen Bestrebungen war Leben, Trieb und Bewegung; aber keine davon
war mir wichtig und notwendig und es hätte mich und mein Leben nicht
berührt, wenn alle jene Ziele heute erreicht worden wären. Hoffnungslos
sank ich in den Stuhl zurück, schob Bücher und Blätter von mir und sann,
und sann. Dann hörte ich vor den Fenstern den Rhein ziehen und den Wind
sausen und lauschte ergriffen auf diese Sprache einer großen, überall auf
der Lauer liegenden Schwermut und Sehnsucht. Ich sah die blassen
Nachtwolken in großen Stößen wie erschreckte Vögel durch den Himmel
flattern, hörte den Rhein wandern und dachte an meiner Mutter Tod, an den
heiligen Franz, an meine Heimat in den Schneebergen und an den ertrunkenen
Richard. Ich sah mich an den Felswänden klettern, um Alpenrosen für die
Rösi Girtanner zu brechen, ich sah mich in Zürich von Büchern und Musik und
Gesprächen erregt, sah mich mit der Aglietti auf dem nächtlichen Wasser
fahren, sah mich über Richards Tod verzweifeln, reisen und wiederkommen,
genesen und wieder elend werden. Wozu? Wofür? O Gott, war alles das denn
nur ein Spiel, ein Zufall, ein gemaltes Bild gewesen? Hatte ich nicht
gerungen und Qualen der Begierde gelitten nach Geist, nach Freundschaft,
nach Schönheit, Wahrheit und Liebe? Quoll nicht noch immer in mir die
schwüle Woge der Sehnsucht und der Liebe? Und alles für nichts, mir zur
Qual, niemand zur Lust!

Dann war ich reif für die Kneipe. Ich blies die Lampe aus, tastete mich die
steile alte Wendeltreppe hinab und erschien in einer Veltlinerhalle oder
Waadtländer Weinstube. Dort empfing man mich als guten Gast mit Respekt,
während ich gewöhnlich trutzig und gelegentlich sackgrob war. Ich las den
Simplizissimus, der mich jedesmal ärgerte, trank meinen Wein und wartete,
bis er mich trösten würde. Und der süße Gott berührte mich mit seiner
weiblich weichen Hand, machte meine Glieder wohlig müde und führte meine
verirrte Seele in das Land der schönen Träume zu Gast.

Gelegentlich wunderte ich mich selber darüber, daß ich die Leute so borstig
behandelte und eine Art von Spaß daran hatte sie anzuschnauzen. In
Gasthäusern, die ich öfter besuchte, fürchteten und verwünschten mich die
Kellnerinnen als einen Grobian und Nörgler, der ewig zu reklamieren hatte.
Geriet ich in ein Gespräch mit anderen Gästen, so war ich höhnisch und
grob, freilich waren auch die Leute danach. Trotzdem fanden sich ein paar
wenige Wirtshausbrüder, sämtlich schon alternde und unheilbare Sünder, mit
denen ich zuweilen einen Abend versaß und ein leidliches Verhältnis fand.
Es war namentlich ein ältlicher Rauhbein unter ihnen, seines Zeichens
Dessinateur, ein Weiberfeind, Schweinigel und geaichter Zecher erster
Klasse. Wenn ich ihn abends in irgend einer Schenke allein antraf, setzte
es jedesmal ein scharfes Zechen ab. Erst wurde geplaudert, gewitzelt und
nebenher ein Fläschchen Roter gebechert, dann trat allmählich das Trinken
in den Vordergrund, das Gespräch schlief ein und wir hockten einander
schweigsam gegenüber, sogen jeder an seiner Brissago und leerten jeder für
sich seine Flaschen. Dabei war einer dem andern ebenbürtig, wir ließen
stets gleichzeitig die Flaschen wieder füllen und beobachteten einer den
andern halb mit Achtung und halb mit Schadenfreude. Zur Zeit des Neuen, im
Spätherbst, zogen wir einst gemeinsam durch einige Markgräfler Weindörfer
und im Hirschen zu Kirchen erzählte mir der alte Knopf seine
Lebensgeschichte. Ich glaube, sie war interessant und absonderlich, doch
vergaß ich sie leider vollständig. Geblieben ist mir nur seine Schilderung
einer Trinkerei, schon aus seinen späteren Jahren. Es war irgendwo auf dem
Lande bei einer dörflichen Festlichkeit. Als Gast am Honoratiorentisch
verleitete er sowohl den Pfarrer wie den Schultheiß vorzeitig zu tüchtigen
Räuschen. Der Pfarrer hatte aber noch eine Rede zu halten. Nachdem man ihn
mit Mühe aufs Podium geschleppt, tat er dort ungeheuerliche Sprüche und
mußte abgeführt werden, worauf der Schultheiß in die Lücke sprang. Er
begann gewaltig aus dem Stegreif zu reden, wurde jedoch durch die heftige
Bewegung plötzlich unwohl und endete seine Ansprache auf eine ungewöhnliche
und unfeine Weise.

Später hätte ich diese und andere Geschichten mir gerne nochmals erzählen
lassen. Es hatte aber bei einem Schützenfestabend unversöhnliche Händel
zwischen uns gegeben, wir hatten einander die Bärte gerupft und waren im
Zorn auseinander gegangen. Von da an kam es einige mal vor, daß wir als
Feinde gleichzeitig in einer Wirtsstube saßen, jeder natürlich an einem
anderen Tisch; aber aus alter Gewohnheit beobachteten wir einander
schweigend, tranken im gleichen Tempo und blieben sitzen, bis wir längst
die letzten Gäste waren und schließlich ersucht wurden abzuziehen. Zu einer
Versöhnung ist es nie gekommen.

Fruchtlos und ermüdend war das ewige Nachdenken über die Ursachen meiner
Trauer und Lebensunfähigkeit. Ich hatte durchaus nicht das Gefühl, fertig
und verbraucht zu sein, sondern war voll von dunklen Trieben und glaubte
daran, daß es zur rechten Stunde mir noch gelingen würde, etwas Tiefes und
Gutes zu schaffen und dem spröden Leben wenigstens eine Handvoll Glück zu
entreißen. Aber würde die rechte Stunde jemals kommen? Mit Bitterkeit
dachte ich an jene modernen, nervösen Herren, die sich durch tausend
künstliche Anregungen zur künstlerischen Arbeit stachelten, während in mir
starke Kräfte unverbraucht lagen und liegen blieben. Und ich grübelte
wieder, was für ein Hemmnis oder Dämon mir in meinem strotzend starken
Leibe die Seele stocken und immer schwerer werden lasse. Dabei hatte ich
auch noch den sonderbaren Gedanken, mich für einen aparten, irgendwie zu
kurz gekommenen Menschen zu halten, dessen Leiden niemand kenne, verstehe
oder teile. Es ist das Teuflische an der Schwermut, daß sie einen nicht nur
krank, sondern auch eingebildet und kurzsichtig, ja fast hochmütig macht.
Man kommt sich vor wie der geschmacklose Heinesche Atlas, der allein alle
Schmerzen und Rätsel der Welt auf den Schultern liegen hat, als ob nicht
tausend andere dieselben Leiden duldeten und im selben Labyrinth
herumirrten. Auch daß die Mehrzahl meiner Eigenschaften und Eigenheiten
nicht so sehr mir gehörte als Familiengut oder Übel der Camenzinde war, kam
mir in meiner Isolierung und Heimatferne ganz abhanden.

Alle paar Wochen ging ich einmal wieder in das gastliche Gelehrtenhaus.
Allmählich kannte ich ziemlich alle dort verkehrenden Leute. Es waren meist
jüngere Akademiker, viele Deutsche darunter, von allen Fakultäten, außerdem
ein paar Maler, einige Musiker, sowie ein paar Bürgersleute mit ihren
Frauen und Mädchen. Ich sah oft mit Erstaunen diese Leute an, die mich als
seltenen Gast begrüßten und von denen ich wußte, daß sie sich untereinander
wöchentlich so und so viele mal sahen. Was sprachen und trieben sie nur
immer miteinander? Die meisten hatten dieselbe stereotype Form des homo
socialis und sie schienen mir alle ein wenig mit einander verwandt, kraft
eines geselligen und nivellierenden Geistes, den ich allein nicht besaß. Es
waren manche feine und bedeutende Menschen dabei, welchen die ewige
Geselligkeit offenbar nichts oder nicht viel von ihrer Frische und
persönlichen Kraft raubte. Mit einzelnen von ihnen konnte ich lang und mit
Interesse sprechen. Aber von einem zum andern gehen, bei jedem eine Minute
stehen bleiben, den Weibern auf gut Glück Artigkeiten sagen, meine
Aufmerksamkeit auf eine Tasse Tee, zwei Gespräche und ein Klavierstück zu
gleicher Zeit richten, dabei angeregt und vergnügt aussehen, das konnte ich
nicht. Schrecklich war es mir, von Literatur oder Kunst reden zu müssen.
Ich sah, daß auf diesen Gebieten sehr wenig gedacht, sehr viel gelogen und
jedenfalls unsäglich viel geschwatzt wurde. Ich log also mit, hatte aber
keine Freude daran und fand das viele nutzlose Gewäsche langweilig und
entwürdigend. Viel lieber hörte ich etwa eine Frau von ihren Kindern
sprechen oder erzählte selbst von Reisen, von kleinen Tageserlebnissen und
anderen realen Dingen. Dabei konnte ich gelegentlich vertraulich und fast
vergnügt werden. Meistens suchte ich aber am Schluß solcher Abende noch ein
Weinhaus auf und schwemmte die Trockenheit im Halse und die faule
Langeweile mit Veltliner weg.

Bei einer von diesen Gesellschaften sah ich das schwarze junge Mädchen
wieder. Es war eine Menge Leute da, sie musizierten und verführten ihr
gewohntes Getöse, und ich saß mit einer Bildermappe in einem abseitigen
Lampenwinkel. Es waren Ansichten von Toskana, nicht die gewöhnlichen,
tausendmal gesehenen Effektbildchen, sondern intimere, privatim skizzierte
Veduten, meist Geschenke von Reisegenossen und Freunden des Hausherrn. Eben
hatte ich die Zeichnung eines steinernen, schmalfenstrigen Häuschens in dem
einsamen Tal von San Clemente gefunden, das ich erkannte, denn ich hatte
dort manche Spaziergänge gemacht. Das Tal liegt ganz nah bei Fiesole, aber
die Menge der Reisenden besucht es nie, weil keine Altertümer dort sind. Es
ist ein Tal von herber und merkwürdiger Schönheit, trocken und kaum
bewohnt, zwischen hohe, kahle und strenge Berge geklemmt, weltferne,
melancholisch und unbetreten.

Das Mädchen trat heran und sah mir über die Schulter.

»Warum sitzen Sie immer so allein, Herr Camenzind?«

Es ärgerte mich. Sie fühlt sich von den Herren vernachlässigt, dachte ich,
und nun kommt sie zu mir.

»Nun, bekomme ich keine Antwort?«

»Verzeihung, Fräulein; aber was soll ich denn antworten? Ich sitze allein,
weil es mir Spaß macht!«

»Dann störe ich Sie also?«

»Sie sind komisch.«

»Danke; ist aber ganz gegenseitig.«

Und sie setzte sich. Ich hielt beharrlich mein Blatt in den Fingern.

»Sie sind doch vom Oberland,« sagte sie. »Ich möchte Sie gern einmal von
dort erzählen hören. Mein Bruder sagt, in Ihrem Dorf gebe es bloß einen
Familiennamen, lauter Camenzinds. Ist das wahr?«

»Beinah,« knurrte ich. »Es gibt aber auch einen Bäcker, der Füßli heißt.
Und einen Gastwirt namens Nydegger.«

»Und sonst nichts als Camenzind! Und die sind alle miteinander verwandt'?«

»Mehr oder weniger.«

Ich reichte ihr die Zeichnung hin. Sie hielt das Blatt fest und ich
bemerkte, daß sie es verstand so etwas richtig anzufassen. Das sagte ich
ihr.

»Sie loben mich,« lachte sie, »aber wie ein Schullehrer.«

»Wollen Sie das Blatt nicht auch ansehen?« fragte ich grob. »Sonst kann ich
es zurücklegen.«

»Was stellt es denn vor?«

»San Clemente.«

»Wo?«

»Bei Fiesole.«

»Sie sind dort gewesen?«

»Ja, mehrmals.«

»Wie sieht das Tal aus? Das hier ist ja nur ein Ausschnitt.«

Ich dachte nach. Die ernste, herbschöne Landschaft trat vor meinen Blick
und ich schloß die Augen halb, um sie festzuhalten. Es dauerte eine Weile,
ehe ich zu sprechen begann und es tat mir wohl, daß sie still blieb und
wartete. Sie begriff, daß ich nachdachte.

Und ich schilderte San Clemente, wie es schweigend, dürr und großartig im
Brand des Sommernachmittags liegt. Nebenan in Fiesole treibt man Industrie,
flicht Strohhüte und Körbe, verkauft Souvenirs und Orangen, betrügt die
Reisenden oder bettelt sie an. Weiter unten liegt Florenz und umfaßt eine
Flut alten und neuen Lebens. Aber beide sieht man von Clemente aus nicht.
Dort haben keine Maler gearbeitet, dort ist kein Römerbau gewesen, die
Geschichte vergaß das arme Tal. Aber dort kämpft die Sonne und der Regen
mit der Erde, dort erhalten sich schiefe Pinien mühsam am Leben und die
paar Cypressen fühlen mit hageren Wipfeln in die Luft, ob nicht der
feindliche Sturm nahe sei, der ihnen das karge Leben verkürzt, an dem sie
mit dürstenden Wurzeln hängen. Es fährt zuweilen ein Ochsenwagen von den
nahe liegenden großen Meierhöfen vorbei oder eine Bauernfamilie pilgert
Fiesole entgegen, aber sie sind nur zufällige Gäste und die roten Röcke der
Bauernweiber, die sonst so flott und lustig aussehen, stören hier und man
vermißt sie gern.

Und ich erzählte, wie ich als junger Mensch mit einem Freunde dort
wanderte, zu Füßen der Cypressen lag und mich an ihre hageren Stämme
lehnte; und wie der traurig schöne Einsamkeitszauber des seltsamen Tales
mich an die heimatlichen Schluchten erinnerte.

Wir schwiegen eine Weile.

»Sie sind ein Dichter,« sagte das Mädchen.

Ich schnitt eine Grimasse.

»Ich meine es anders,« fuhr sie fort. »Nicht weil Sie Novellen und
dergleichen schreiben. Sondern weil Sie die Natur verstehen und lieb haben.
Was ist es anderen Leuten, wenn ein Baum rauscht oder ein Berg in der Sonne
glüht? Aber für Sie ist ein Leben darin, das Sie mitleben können.«

Ich antwortete, daß niemand »die Natur verstehe« und daß man mit allem
Suchen und Begreifenwollen nur Rätsel findet und traurig wird. Ein in der
Sonne stehender Baum, ein verwitternder Stein, ein Tier, ein Berg -- sie
haben ein Leben, sie haben eine Geschichte, sie leben, leiden, trotzen,
genießen, sterben, aber wir begreifen es nicht.

Indeß ich sprach und mich ihres geduldig stillen Aufmerkens freute, begann
ich sie zu betrachten. Ihr Blick war auf mein Gesicht gerichtet und wich
dem meinen nicht aus. Ihr Gesicht war ganz ruhig, hingegeben und von der
Aufmerksamkeit ein wenig gespannt. Wie wenn ein Kind mir zuhörte. Nein,
sondern wie wenn ein Erwachsener im Zuhören sich vergißt und, ohne es zu
wissen, Kinderaugen bekommt. Und während des Betrachtens entdeckte ich
allmählich mit naiver Finderfreude, daß sie sehr schön war.

Als ich nicht mehr sprach, blieb auch das Mädchen still. Dann schreckte sie
auf und blinzelte ins Lampenlicht.

»Wie heißen Sie eigentlich, Fräulein?« fragte ich und dachte nicht viel
dabei.

»Elisabeth.«

Sie ging weg und wurde bald darauf genötigt Klavier zu spielen. Sie spielte
gut. Aber da ich hinzutrat sah ich, daß sie nicht mehr so schön war.

Als ich die behaglich altmodische Treppe hinabstieg, um nach Hause zu
gehen, hörte ich ein paar Worte vom Gespräch zweier Maler, welche in der
Hausflur ihre Mäntel anlegten.

»Na ja, er hat sich den ganzen Abend mit der hübschen Lisbeth beschäftigt,«
sagte einer und lachte.

»Stille Wasser!« meinte der andere. »Er hat sich nicht das Schlechteste
ausgesucht.«

Also die Affen sprachen schon darüber. Es fiel mir plötzlich ein, daß ich,
fast wider Willen, diesem fremden jungen Mädchen intime Erinnerungen und
ein ganzes Stück meines inneren Lebens preisgegeben hatte. Wie kam ich
dazu? Und nun schon die bösen Mäuler! -- Bande!

Ich ging weg und betrat monatelang das Haus nicht mehr. Zufällig war eben
einer von jenen zwei Malern der Erste, der mich auf der Straße darüber zur
Rede stellte.

»Warum gehen Sie denn nicht mehr hin?«

»Weil ich das verdammte Klatschen nicht leiden kann,« sagte ich.

»Ja, unsere Damen!« lachte der Kerl.

»Nein,« antwortete ich, »ich meine die Männer, und speziell die Herren
Maler.«

Elisabeth sah ich in diesen Monaten nur ganz wenige Mal auf der Straße,
einmal in einem Kaufladen und einmal in der Kunsthalle. Gewöhnlich war sie
hübsch, doch nicht schön. Die Bewegungen ihrer überschlanken Gestalt hatten
etwas Apartes, das sie meistens schmückte und auszeichnete, manchmal aber
auch etwas übertrieben und unecht aussehen konnte. Schön, überaus schön war
sie damals in der Kunsthalle. Sie sah mich nicht. Ich saß ausruhend
beiseite und blätterte im Katalog. Sie stand in meiner Nähe vor einem
großen Segantini und war ganz in das Bild versunken. Es stellte ein paar
auf mageren Matten arbeitende Bauernmädchen dar, hinten die zackig jähen
Berge, etwa an die Stockhorngruppe erinnernd, und darüber in einem kühlen,
lichten Himmel eine unsäglich genial gemalte, elfenbeinfarbene Wolke. Sie
frappierte auf den ersten Blick durch ihre seltsam geknäuelte,
ineinandergedrehte Masse; man sah, sie war eben erst vom Winde geballt und
geknetet und schickte sich nun an zu steigen und langsam fortzufliegen.
Offenbar verstand Elisabeth diese Wolke, denn sie war ganz dem Anschauen
hingegeben. Und wieder war ihre sonst verborgene Seele in ihr Gesicht
getreten, lachte leise aus den vergrößerten Augen, machte den zu schmalen
Mund kindlich weich und hatte die überkluge herbe Stirnfalte zwischen den
Brauen geebnet. Die Schönheit und Wahrhaftigkeit eines großen Kunstwerkes
zwang ihre Seele, selbst schön und wahrhaftig und unverhüllt sich
darzustellen.

Ich saß still daneben, betrachtete die schöne Segantiniwolke und das schöne
von ihr entzückte Mädchen. Dann fürchtete ich, sie möchte sich umwenden,
mich sehen und anreden und ihre Schönheit wieder verlieren, und ich verließ
den Saal schnell und leise.

Um jene Zeit begann meine Freude an der stummen Natur und mein Verhältnis
zu ihr sich zu verändern. Immer wieder streifte ich durch die wundervolle
Umgebung der Stadt, am liebsten in den Jura hinein. Ich sah immer wieder
die Wälder und Berge, Matten, Obstbäume und Gebüsche stehen und auf irgend
etwas warten. Vielleicht auf mich, jedenfalls aber auf Liebe.

Und so begann ich diese Dinge zu lieben. Es kam ein starkes, dürstendes
Verlangen in mir ihrer stillen Schönheit entgegen. Auch in mir drängte ein
tiefes Leben und Sehnen dunkel empor und suchte nach Bewußtsein, nach
Verstandenwerden, nach Liebe.

Viele sagen, sie »lieben die Natur«. Das heißt, sie sind nicht abgeneigt je
und je ihre dargebotenen Reize sich gefallen zu lassen. Sie gehen hinaus
und freuen sich über die Schönheit der Erde, zertreten die Wiesen und
reißen schließlich eine Menge Blumen und Zweige ab, um sie bald wieder
wegzuwerfen oder daheim verwelken zu sehen. So lieben sie die Natur. Sie
erinnern sich dieser Liebe am Sonntag, wenn schönes Wetter ist, und sind
dann gerührt über ihr gutes Herz. Sie hätten es ja nicht nötig, denn »der
Mensch ist die Krone der Natur«. Ach ja, die Krone!

Also ich blickte immer begieriger in den Abgrund der Dinge. Ich hörte den
Wind vieltönig in den Kronen der Bäume klingen, hörte Bäche durch
Schluchten brausen und leise stille Ströme durch die Ebene ziehen, und ich
wußte, daß diese Töne Gottes Sprache waren und daß es ein Wiederfinden des
Paradieses wäre, diese dunkle, urschöne Sprache zu verstehen. Die Bücher
wissen davon wenig, nur in der Bibel steht das wunderbare Wort vom
»unaussprechlichen Seufzen« der Kreatur. Doch ahnte ich, daß zu allen
Zeiten Menschen, gleich mir von diesem Unverstandenen ergriffen, ihr
Tagewerk verlassen und die Stille aufgesucht hatten, um dem Liede der
Schöpfung zu lauschen, das Ziehen der Wolken zu betrachten und in rastloser
Sehnsucht dem Ewigen anbetende Arme entgegenzustrecken, Einsiedler, Büßer
und Heilige.

Bist du nie in Pisa gewesen, im Camposanto? Dort sind die Wände mit
blaßgewordenen Bildern vergangener Jahrhunderte geschmückt, und eines davon
zeigt das Leben der Einsiedler in der thebaischen Wüste. Das naive Bild
strömt noch heute mit seinen verblaßten Farben den Zauber eines so seligen
Friedens aus, daß du ein plötzliches Leid empfindest und daß es dich
verlangt, deine Sünden und deine Unreinheit irgendwo in heiliger Weltferne
von dir zu weinen und nicht wiederzukommen. Unzählige Künstler haben so
versucht, ihr Heimweh in seligen Bildern auszusagen, und irgend ein kleines
liebes Kinderbildchen von Ludwig Richter singt dir dasselbe Lied wie die
Fresken von Pisa. Warum hat Tizian, der Freund des Gegenwärtigen und
Körperlichen, seinen klaren und gegenständlichen Bildern manchmal jenen
Hintergrund vom süßesten Ferneblau gegeben? Es ist nur ein Strich
tiefblauer, warmer Farbe, man sieht nicht ob er ferne Gebirge oder nur den
unbegrenzten Raum bedeuten will. Tizian, der Realist, wußte es selbst
nicht. Er tat es nicht, wie die Kunsthistoriker wissen wollen, aus Gründen
der Farbenharmonik, sondern es war sein Tribut an das Unstillbare, das
verborgen auch in der Seele dieses Frohen und Glücklichen lebte. So, schien
mir, war die Kunst zu allen Zeiten bemüht gewesen, dem stummen Verlangen
des Göttlichen in uns eine Sprache zu schenken.

Reifer, schöner und doch viel kindlicher sprach der heilige Franz das aus.
Ihn verstand ich erst damals völlig. Indem er die ganze Erde, die Pflanzen,
Gestirne, Tiere, Winde und Wasser in seine Liebe zu Gott inbegriff,
übereilte er das Mittelalter und selbst Dante und fand die Sprache des
zeitlos Menschlichen. Er nennt alle Mächte und Erscheinungen der Natur
seine lieben Brüder und Schwestern. Als er in seinen spätern Jahren von den
Ärzten dazu verurteilt ward, sich die Stirn mit glühendem Eisen brennen zu
lassen, begrüßte er mitten in der Angst des gefolterten Schwerkranken in
diesem schrecklichen Eisen »seinen lieben Bruder, das Feuer.«

Indem ich nun anfing die Natur persönlich zu lieben, ihr zu lauschen wie
einem Kameraden und Reisegefährten, der eine fremde Sprache redet, ward
meine Schwermut zwar nicht geheilt, aber veredelt und gereinigt. Mein Ohr
und Auge schärfte sich, ich lernte feine Tönungen und Unterschiede erfassen
und sehnte mich, den Herzschlag alles Lebens immer näher und klarer zu
hören und vielleicht einmal zu verstehen und vielleicht einmal der Gabe
teilhaftig zu werden, ihm in Dichterworten Ausdruck zu gönnen, damit auch
andere ihm näher kämen und mit besserem Verständnis die Quellen aller
Erfrischung, Reinigung und Kindlichkeit besuchten. Einstweilen war das ein
Wunsch, ein Traum -- --, ich wußte nicht ob er sich je erfüllen könne und
hielt mich ans nächste, indem ich allem Sichtbaren Liebe entgegenbrachte
und mich gewöhnte, kein Ding mehr gleichgültig oder verächtlich zu
betrachten.

Ich kann nicht sagen, wie erneuend und tröstend dies auf mein verdunkeltes
Leben wirkte! Es ist nichts Adligeres und nichts Beglückenderes in der Welt
als eine wortelose, stetige, leidenschaftslose Liebe und ich wünsche nichts
herzlicher als daß von denen, die meine Worte lesen, einige oder auch nur
zwei oder einer diese reine und selige Kunst durch meinen Antrieb zu lernen
beginnen möchte. Manche haben sie von Natur und üben sie ihr Leben lang
unbewußt, das sind Gottes Lieblinge, die Guten und Kinder unter den
Menschen. Manche haben sie in schweren Leiden gelernt -- habt ihr nie unter
Krüppeln und Elenden solche mit überlegenen, stillen, glänzenden Augen
gesehen? Wenn ihr nicht auf mich und meine armen Worte hören möget, so
gehet zu ihnen, in denen eine begierdelose Liebe das Leiden überwand und
verklärte.

Dieser Vollendung, die ich an manchen armen Duldern verehrt habe, stehe ich
noch heute kläglich fern. Aber diese Jahre hindurch entbehrte ich nur
selten des tröstenden Glaubens, den rechten Weg zu ihr zu wissen.

Daß ich ihn auch immer gegangen wäre, darf ich nicht sagen, vielmehr blieb
ich unterwegs auf allen Bänken sitzen und sparte auch manchen bösen Umweg
nicht. Zwei selbstsüchtige und mächtige Neigungen stritten in mir wider die
echte Liebe. Ich war Trinker und ich war menschenscheu. Zwar beschnitt ich
mein Quantum Wein erheblich, aber alle paar Wochen überredete mich der
schmeichlerische Gott, daß ich mich ihm in die Arme warf. Daß ich etwa auf
der Straße liegen blieb oder ähnliche Nachtstücke verübte, ist allerdings
kaum jemals vorgekommen, denn der Wein liebt mich, und lockt mich nur bis
dahin, wo seine Geister mit meinem eigenen in freundschaftlichem
Zwiegespräch verkehren. Immerhin verfolgte mich lange Zeit nach jeder
Trinkerei das böse Gewissen. Aber schließlich konnte ich meine Liebe doch
nicht gerade dem Wein entziehen, zu dem ich eine starke Neigung vom Vater
ererbt hatte. Jahrelang hatte ich diese Erbschaft sorgsam und pietätvoll
gehegt und mir gründlich zu eigen gemacht, also half ich mir nun und schloß
zwischen Trieb und Gewissen einen halb ernsten, halb scherzhaften Vertrag.
Ich nahm in den Lobgesang des Heiligen von Assisi »meinen lieben Bruder,
den Wein« mit auf.



VI.


Viel schlimmer war mein anderes Laster. Ich hatte wenig Freude an den
Menschen, lebte als Einsiedler und war gegen menschliche Dinge stets mit
Spott und Verachtung zur Hand.

Im Beginn meines neuen Lebens dachte ich daran noch gar nicht. Ich fand es
richtig, die Menschen einander zu überlassen und meine Zärtlichkeit,
Hingabe und Teilnahme allein dem stummen Leben der Natur zu schenken. Auch
erfüllte diese mich im Anfang ganz.

Nachts, wenn ich zu Bett gehen wollte, fiel mir etwa plötzlich ein Hügel,
ein Waldrand, ein einzelner Lieblingsbaum ein, den ich lange nicht mehr
besucht hatte. Nun stand er in der Nacht im Wind, träumte, schlummerte
vielleicht, stöhnte und regte die Zweige. Wie mochte er aussehen? Und ich
verließ das Haus, suchte ihn auf und sah seine undeutliche Gestalt im
Finstern stehen, betrachtete ihn mit erstaunter Zärtlichkeit und trug sein
dämmerndes Bild in mir davon.

Ihr lacht darüber. Vielleicht war diese Liebe verirrt, doch nicht
vergeudet. Aber wie sollte ich von hier den Weg finden, der zur
Menschenliebe führte?

Nun, wo ein Anfang gemacht ist, kommt immer das Beste von selber nach.
Immer näher und möglicher schwebte mir die Idee meiner großen Dichtung vor.
Und wenn mein Liebhaben mich dahin bringen würde, einmal als Dichter die
Sprache der Wälder und Ströme zu reden, für wen geschähe das dann? Nicht
nur für meine Lieblinge, sondern doch vor allem für die Menschen, denen ich
ein Führer und ein Lehrer der Liebe sein wollte. Und gegen diese Menschen
war ich rauh, spöttisch und lieblos. Ich empfand den Zwiespalt und die
Nötigung, das herbe Fremdsein zu bekämpfen und auch den Menschen
Brüderlichkeit zu zeigen. Und das war schwer, denn Vereinsamung und
Schicksale hatten mich gerade auf diesem Punkt hart und böse gemacht. Es
genügte nicht, daß ich daheim und im Wirtshaus mich mühte weniger herb zu
sein und daß ich etwa unterwegs einem Begegnenden freundlich zunickte.
Übrigens sah ich schon hierbei, wie gründlich ich mir das Verhältnis zu den
Leuten versalzen hatte, denn man kam meinen Freundlichkeitsversuchen
mißtrauisch und kühl entgegen oder nahm sie für Hohn auf. Das Schlimmste
war, daß ich das Haus jenes Gelehrten, das einzige meiner Bekanntschaft,
fast ein Jahr lang gemieden hatte, und ich sah ein, daß ich vor allem dort
wieder anklopfen und mir irgend einen Weg in die hiesige Art von
Geselligkeit suchen müsse.

Nun, hier half mir meine eigene verhöhnte Menschlichkeit erklecklich. Kaum
hatte ich wieder an jenes Haus gedacht, so sah ich auch im Geist Elisabeth,
schön wie sie vor Segantinis Wolke gewesen war, und merkte plötzlich, wie
sehr sie an meiner Sehnsucht und Schwermut teil hatte. Und es geschah, daß
ich zum erstenmal ernstlich daran dachte, ein Weib zu freien. Bisher war
ich von meiner völligen Unfähigkeit zur Ehe so überzeugt gewesen, daß ich
mich darein mit bissiger Ironie ergeben hatte. Ich war Dichter, Wanderer,
Trinker, Einspänner! Jetzt glaubte ich mein Schicksal zu erkennen, das mir
in der Möglichkeit einer Liebesehe die Brücke zur Menschenwelt schlagen
wollte. Alles sah so verlockend und sicher aus! Daß Elisabeth mir Teilnahme
schenkte, hatte ich gespürt und gesehen; auch daß sie ein empfängliches und
edles Wesen besaß. Ich dachte daran, wie bei der Plauderei über San
Clemente und dann vor dem Segantini ihre Schönheit lebendig geworden war.
Ich aber hatte seit Jahren aus Kunst und Natur einen reichen inneren Besitz
gesammelt; sie würde von mir das überall schlummernde Schöne sehen lernen
und ich würde sie so mit Schönem und Wahrem umgeben, daß ihr Gesicht und
ihre Seele alle Trübungen vergäße und sich zur Blüte ihrer Fähigkeiten
entfalten könnte. Seltsamer Weise empfand ich das Komische meiner
plötzlichen Verwandlung gar nicht. Ich Einsamer und Sonderling war über
Nacht ein verliebter Fant geworden, der von Eheglück und von der
Einrichtung eines eigenen Hauswesens träumt.

Eiligst suchte ich denn das gastliche Haus auf und ward mit freundlichen
Vorwürfen empfangen. Ich ging mehrmals hin und nach einigen Besuchen traf
ich Elisabeth dort wieder. O, sie war schön! Sie sah aus wie ich sie mir
als meine Geliebte vorgestellt hatte: schön und glücklich. Und ich genoß
eine Stunde lang die frohe Schönheit ihrer Gegenwart. Sie begrüßte mich
gütig, sogar herzlich und mit einer vertrauten Freundschaftlichkeit, die
mich glücklich machte.

                   *       *       *       *       *

Erinnert ihr euch noch des Abends auf dem See, im Boot, des Abends mit den
roten Papierlampen, mit der Musik, mit meiner im Keim erstickten
Liebeserklärung? Es war die traurige und lächerliche Geschichte eines
verliebten Knaben.

Lächerlicher -- und trauriger ist die Geschichte des verliebten Mannes
Peter Camenzind.

Ich erfuhr so beiläufig, Elisabeth sei seit kurzem Braut. Ich gratulierte
ihr, ich machte die Bekanntschaft ihres Verlobten, der sie abzuholen kam,
und ich gratulierte auch ihm. Den ganzen Abend lag ein wohlwollendes
Gönnerlächeln auf meinem Gesicht, mir selber lästig, wie eine Maske.
Nachher lief ich weder in den Wald noch ins Wirtshaus, sondern saß auf
meinem Bett, sah der Lampe zu, bis sie stank und erlosch, erstaunt und
verdonnert, bis endlich mein Bewußtsein wieder erwachte. Da breiteten noch
einmal der Schmerz und Verzweiflung ihre schwarzen Flügel über mich, daß
ich klein und schwach und zerbrochen lag und daß ich schluchzte wie ein
Knabe.

Darauf packte ich meinen Rucksack, ging morgens zur Bahn und reiste nach
Haus. Ich hatte Sehnsucht wieder am Sennalpstock zu klettern, an meine
Kinderzeit zu denken und nachzusehen, ob mein Vater noch lebe.

Wir waren uns fremd geworden. Der Vater sah völlig grau, ein wenig gebückt
und ein wenig unscheinbar aus. Er behandelte mich sanft und mit Scheu,
fragte nach nichts, wollte mir sein Bett abtreten und schien durch meinen
Besuch nicht weniger in Verlegenheit gebracht als überrascht zu sein. Er
hatte das Häuschen noch, die Matten und das Vieh aber verkauft, bezog einen
kleinen Zins und tat hier und dort ein wenig leichte Arbeit.

Als er mich allein ließ, trat ich an die Stelle, wo früher meiner Mutter
Bett gestanden hatte, und das Vergangene lief wie ein breiter, ruhiger
Strom an mir vorbei. Ich war kein Jüngling mehr und dachte daran, wie
schnell die Jahre weitergehen würden, dann wäre auch ich ein gebücktes und
graues Männlein und legte mich zum bittern Sterben hin. In der fast
unveränderten, ärmlichen alten Stube, wo ich klein gewesen war, wo ich
Latein gelernt und den Tod der Mutter gesehen hatte, hatten diese Gedanken
eine ruhebringende Natürlichkeit. Mit Dank erinnerte ich mich an allen
Reichtum meiner Jugend, dabei fiel der Vers des Lorenzo Medici mir ein, den
ich in Florenz gelernt hatte:

   Quant' è bella giovinezza,
   Ma si fugge tuttavia.
   Chi vuol esser lieto, sia:
   Di doman non c'è certezza.

und zugleich wunderte ich mich, Erinnerungen aus Italien und aus der
Geschichte und aus dem weiten Reich des Geistes in diese alte heimatliche
Stube zu tragen.

Darauf gab ich meinem Vater etwas Geld. Am Abend gingen wir ins Wirtshaus
und dort war alles wie damals, nur daß jetzt ich den Wein bezahlte und daß
der Vater, als er vom Sternwein und Champagner sprach, sich auf mich
berief, und daß ich jetzt mehr als der Alte vertragen konnte. Ich fragte
nach dem greisen Bäuerlein, dem ich damals den Wein über seinen Kahlkopf
gegossen hatte. Er war ein Witzbold und Kniffgenie gewesen, aber nun war er
längst tot und über seine Schnurren begann Gras zu wachsen. Ich trank
Waadtländer, hörte den Gesprächen zu, erzählte ein wenig, und da ich mit
dem Vater durch den Mondschein nach Hause ging und er im Rausche weiter
redete und gestikulierte, war mir so sonderbar verzaubert zu Mute wie noch
nie. Fortwährend umgaben mich die Bilder der früheren Zeit, Onkel Konrad,
Rösi Girtanner, die Mutter, Richard und die Aglietti und ich sah sie an wie
ein schönes Bilderbuch, bei dem man sich wundert, wie schön und
wohlbeschaffen alle Dinge darin aussehen, die in der Wirklichkeit nicht
halb so köstlich sind. Wie war das alles an mir vorbeigerauscht, vergangen,
fast vergessen und stand nun doch klar und reinlich in mir ausgezeichnet:
ein halbes Leben, ohne meinen Willen vom Gedächtnis aufbewahrt.

Erst als wir nach Hause kamen und als mein Vater spät verstummte und
entschlief, dachte ich wieder an Elisabeth. Noch gestern hatte sie mich
begrüßt, hatte ich sie bewundert und hatte ihrem Bräutigam Glück gewünscht.
Es schien mir eine lange Zeit seither vergangen zu sein. Aber der Schmerz
erwachte, vermischte sich mit der Flut der aufgestörten Erinnerungen und
rüttelte an meinem selbstsüchtigen und schlecht verwahrten Herzen wie der
Föhn an einer zitternden und baufälligen Almhütte. Ich hielt es nicht im
Hause aus. Ich stieg durchs niedere Fenster, ging durchs Gärtchen an den
See, machte den verwahrlosten Weidling los und ruderte leise in die blasse
Seenacht. Feierlich schwiegen umher die silbrig umdünsteten Berge, der fast
völlige Mond hing in der bläulichen Nacht und ward beinahe von der Spitze
des Schwarzenstocks erreicht. Es war so still, daß ich den fernen
Sennalpstock-Wasserfall leise brausen hören konnte. Die Geister der Heimat
und die Geister meiner Jugendzeit berührten mich mit ihren bleichen
Flügeln, erfüllten meinen kleinen Nachen und deuteten flehentlich mit
ausgestreckten Händen und schmerzlichen, unverständlichen Geberden.

Was hatte nun mein Leben bedeutet und wozu waren so viele Freuden und
Schmerzen über mich hinweggegangen? Warum hatte ich Durst nach dem Wahren
und Schönen gehabt, da ich heute noch ein Dürstender war? Warum hatte ich
in Trotz und Tränen um jene begehrenswerten Frauen Liebe und Schmerzen
gelitten -- ich, der ich heute wieder das Haupt in Scham und Tränen um eine
traurige Liebe neigte? Und warum hatte der unbegreifliche Gott mir das
brennende Heimweh nach Liebe ins Herz getan, da er mir doch das Leben eines
Einsamen und wenig Geliebten bestimmt hatte?

Das Wasser gurgelte dumpf am Bug und tröpfelte silbern von den Rudern, die
Berge standen ringsum nahe und schweigend, über die Nebel der Schluchten
wandelte das kühle Mondlicht. Und die Geister meiner Jugendzeit standen
schweigsam um mich her und blickten mich aus tiefen Augen still und fragend
an. Mir war, ich sähe unter ihnen auch die schöne Elisabeth, und sie hätte
mich geliebt und sie wäre mein geworden, wenn ich zur rechten Zeit gekommen
wäre.

Auch war mir als wäre es am besten, ich sänke still in den bleichen See und
es würde mir von niemand nachgefragt. Aber dennoch ruderte ich schneller,
als ich merkte, daß der schlechte alte Nachen Wasser zog. Mich fror
plötzlich und ich eilte, nach Haus und zu Bett zu kommen. Dort lag ich müd
und wach und sann über mein Leben nach und suchte zu finden, was mir fehle
und was mir nötig wäre, um glücklicher und echter zu leben und näher an das
Herz des Daseins zu kommen.

Wohl wußte ich, daß aller Güte und Freude Kern die Liebe sei und daß ich
beginnen müsse, trotz meines frischen Schmerzes um Elisabeth die Menschen
ernstlich liebzuhaben. Aber wie? Und wen?

Da fiel mir mein alter Vater ein und ich merkte zum erstenmal, daß ich ihn
nie in der rechten Weise lieb gehabt hatte. Als Knabe hatte ich ihm das
Leben sauer gemacht, dann war ich fortgegangen, hatte ihn auch nach der
Mutter Tod allein gelassen, mich oft seiner geärgert und ihn schließlich
fast ganz vergessen. Ich mußte mir vorstellen, er läge auf dem Totenbett
und ich stünde allein und verwaist daneben und sähe seine Seele entrinnen,
die mir fremd geblieben war und um deren Liebe ich mich nie bemüht hatte.

So begann ich denn die schwere und süße Kunst, statt an einer schönen und
bewunderten Geliebten, an einem greisen, ruppigen Trinker zu lernen. Ich
gab ihm keine groben Antworten mehr, beschäftigte mich nach Möglichkeit mit
ihm, las ihm Kalendergeschichten vor und erzählte ihm von den Weinen, die
in Frankreich und Italien wachsen und getrunken werden. Sein bischen Arbeit
konnte ich ihm nicht abnehmen, da er ohne das verwahrlost wäre. Auch gelang
es mir nicht ihn daran zu gewöhnen, daß er seinen Abendschoppen mit mir zu
Hause statt in der Kneipe trank. Ein paar Abende versuchten wir es. Ich
holte Wein und Cigarren, und gab mir Mühe dem alten Mann die Zeit zu
vertreiben. Am vierten oder fünften Abend war er still und trotzig und
klagte endlich, als ich ihn fragte was ihm fehle: »Ich glaube, du willst
deinen Vater nimmer ins Wirtshaus lassen.«

»Keine Rede,« sagte ich, »du bist der Vater und ich der Bub und wie's
gehalten werden soll, ist deine Sache.«

Er blinzelte mich prüfend an, dann nahm er vergnügt seine Mütze und wir
marschierten selbander zum Wirtshaus.

Es war deutlich zu sehen, daß meinem Vater ein längeres Zusammenbleiben
zuwider gewesen wäre, obwohl er nichts darüber sagte. Auch trieb es mich,
irgendwo in der Fremde die Beruhigung meines zwiespältigen Zustandes
abzuwarten. »Was meinst du, wenn ich dieser Tage wieder abreiste?« fragte
ich den Alten. Er kratzte sich den Schädel, zuckte die schmalgewordenen
Achseln und lächelte schlau und abwartend: »Je, wie du willst!« Ehe ich
reiste, suchte ich einige Nachbarn sowie die Klosterleute auf und bat sie,
ein Auge auf ihn zu haben. Auch benützte ich noch einen schönen Tag zur
Besteigung des Sennalpstocks. Von seiner halbrunden, breiten Kuppe
überschaute ich Gebirg und grüne Tale, blanke Wasser und den Dunst
entfernter Städte. All dies hatte mich als Knaben mit mächtigem Verlangen
erfüllt, ich war ausgezogen mir die schöne weite Welt zu erobern, und nun
lag sie wieder vor mir ausgebreitet, so schön und so fremd wie je, und ich
war bereit aufs neue hinüberzugehen und noch einmal das Land des Glückes zu
suchen.

Meinen Studien zuliebe hatte ich längst beschlossen, einmal für längere
Zeit nach Assisi zu gehen. Ich fuhr nun zunächst nach Basel zurück,
besorgte das Nötigste, packte meine paar Sachen ein und schickte sie nach
Perugia voraus. Ich selber fuhr nur bis Florenz und pilgerte von dort
langsam und behaglich zu Fuße südwärts. Dort unten braucht man zum
freundschaftlichen Verkehr mit dem Volke keinerlei Künste zu verstehen; das
Leben dieser Leute liegt stets an der Oberfläche und ist so simpel, frei
und naiv, daß man von Städtchen zu Städtchen sich mit einer Menge von
Leuten harmlos befreundet. Ich fühlte mich wieder geborgen und heimisch und
beschloß, auch später in Basel die wärmende Nähe menschlichen Lebens nicht
wieder in der Gesellschaft, sondern unter dem schlichten Volke zu suchen.

In Perugia und Assisi bekam meine historische Arbeit wieder Interesse und
Leben. Da auch das tägliche Dasein dort eine Lust war, begann mein
schadhaft gewordenes Wesen bald wieder zu gesunden und neue Notbrücken zum
Leben zu schlagen. Meine Hauswirtin in Assisi, eine redselige und fromme
Gemüsehändlerin, schloß auf Grund einiger Gespräche über den Santo eine
innige Freundschaft mit mir und brachte mich in den Geruch eines strammen
Katholiken. So unverdient diese Ehre war, brachte sie mir doch den Vorteil,
mit den Leuten intimer umgehen zu können, da ich frei vom Verdacht des
Heidentums war, der sonst jedem Fremden anhaftet. Die Frau hieß Annunziata
Nardini, war vierunddreißig Jahr alt und Witwe, von kolossalem Körperumfang
und sehr guten Manieren. Sonntags sah sie in einem geblümten, fröhlich
farbigen Kleid wie der leibhaftige Festtag aus, dann trug sie außer den
Ohrringen auch noch eine goldene Kette auf der Brust, an welcher eine Reihe
von Medaillen aus Goldblech läutete und leuchtete. Auch schleppte sie dann
ein silberbeschlagenes, schweres Brevier mit sich herum, dessen Gebrauch
ihr jedenfalls schwer gefallen wäre, und einen schönen schwarzweißen
Rosenkranz mit Silberkettchen, den sie desto gewandter handhaben konnte.
Wenn sie dann zwischen zwei Kirchgängen in der Loggetta saß und den
bewundernden Nachbarinnen die Sünden abwesender Freundinnen aufzählte, lag
auf ihrem runden, frommen Gesicht der rührende Ausdruck einer mit Gott
versöhnten Seele.

Ich hieß, da mein Name den Leuten unmöglich auszusprechen war, einfach
Signor Pietro. An den schönen, goldigen Abenden saßen wir beisammen in der
winzigen Loggetta, Nachbarn, Kinder und Katzen dabei, oder im Laden
zwischen den Früchten, Gemüsekörben, Samenschachteln und aufgehängten
Rauchwürsten, erzählten einander unsre Erlebnisse, besprachen die
Ernteaussichten, rauchten eine Cigarre oder sogen jeder an einem
Melonenschnitz. Ich berichtete vom heiligen Franz, von der Geschichte der
Portiunkula und der Kirche des Santo, von der heiligen Klara und von den
ersten Brüdern. Ernsthaft hörte man zu, stellte tausend kleine Fragen,
lobte den Heiligen und ging zur Erzählung und Erörterung neuerer und
sensationeller Ereignisse über, unter welchen Räubergeschichten und
politische Fehden besonders beliebt waren. Zwischen uns spielten und
balgten sich die Katzen, Kinder und Hündlein. Aus eigener Lust und um
meinen guten Ruf aufrecht zu erhalten, durchstöberte ich die Legende nach
erbaulichen und rührenden Geschichten und freute mich, neben wenigen andern
Bücher auch Arnolds »Leben der Altväter und anderer gottseliger Personen«
mitgebracht zu haben, dessen treuherzige Anekdoten ich mit kleinen
Variationen in ein vulgäres Italienisch übertrug. Vorübergehende blieben
ein Weilchen stehen, hörten zu, plauderten mit, und oft wechselte so die
Gesellschaft an einem Abend drei, vier mal, nur Frau Nardini und ich waren
seßhaft und fehlten nie. Ich hatte meinen Rotwein im Fiasko neben mit
stehen und imponierte dem armen und mäßig lebenden Völklein durch meinen
stattlichen Weinverbrauch. Allmählich wurden auch die scheuen Mädchen der
Nachbarschaft zutraulicher und beteiligten sich am Gespräch von der
Türschwelle aus, ließen sich Bildchen schenken und begannen an meine
Heiligkeit zu glauben, da ich weder zudringliche Scherze machte noch
überhaupt mich um ihre Vertraulichkeit zu bemühen schien. Unter ihnen waren
einige großäugige, träumerische Schönheiten, welche aus Bildern des
Perugino zu stammen schienen. Ich hatte sie alle gern und freute mich ihrer
gutmütig schalkhaften Gegenwart, doch war ich nie in eine von ihnen
verliebt, denn die hübschen unter ihnen glichen einander so sehr, daß ihre
Schönheit mir stets nur als Rasse und nie als persönlicher Vorzug erschien.
Öfter stellte sich auch Mattheo Spinelli ein, ein junges Bürschchen, Sohn
des Bäckermeisters, ein geriebener und witziger Kerl. Er konnte eine Menge
Tiere nachahmen, wußte über jeden Skandal Bescheid und stak zum Bersten
voll von frechen und schlauen Unternehmungen. Wenn ich Legenden erzählte,
hörte er mit einer Frömmigkeit und Demut ohne gleichen zu, machte sich
nachher aber über die heiligen Väter in naiv vorgebrachten boshaften
Fragen, Vergleichen und Vermutungen lustig, zum Entsetzen der Obstfrau und
unverhohlenen Entzücken der meisten Zuhörer.

Häufig saß ich auch allein bei Frau Nardini, hörte ihre erbaulichen Reden
an und hatte meine unheilige Freude an ihren zahlreichen Menschlichkeiten.
Ihr entging kein Fehler und Laster an ihren Nächsten, sie wies ihnen im
voraus peinlich abschätzend ihre Plätze im Fegefeuer an. Mich aber hatte
sie ins Herz geschlossen und vertraute mir die kleinsten Erlebnisse und
Beobachtungen offen und umständlich an. Sie fragte mich nach jedem kleinen
Einkauf, wieviel ich bezahlt habe, und wachte darüber, daß ich nicht
übervorteilt würde. Sie ließ sich die Lebensläufe der Heiligen erzählen und
machte mich dafür mit den Geheimnissen des Obstkaufs, des Gemüsehandels und
der Küche bekannt. Eines Abends saßen wir in der gebrechlichen Halle. Ich
hatte zum rasenden Entzücken der Kinder und Mädchen ein Schweizerlied
gesungen und einen Jodler losgelassen. Sie wanden sich vor Lust, imitierten
den Klang der fremden Sprache und zeigten mir, wie komisch mein Kehlkopf
beim Jodeln auf und nieder gestiegen sei. Da begann jemand von der Liebe zu
sprechen. Die Mädchen kicherten, Frau Nardini verdrehte die Augen und
seufzte sentimental, und schließlich ward ich bestürmt, meine eigenen
Liebesgeschichten zu erzählen. Ich schwieg über Elisabeth, erzählte aber
meine Kahnfahrt mit der Aglietti und meine verunglückte Liebeserklärung. Es
war mir sonderbar, diese Geschichte, von der ich außer Richard niemandem je
ein Wort anvertraut hatte, nun meiner neugierigen umbrischen Gesellschaft
zu erzählen, angesichts der südlich schmalen steinernen Gassen und der
Hügel, über welchen der rotgoldene Abend duftete. Ich erzählte ohne viel
Reflexion, nach Art der alten Novellen, und doch war mein Herz dabei und
ich hatte heimlich Furcht, die Zuhörer würden lachen und mich necken.

Aber als ich zu Ende war, hingen aller Augen teilnehmend traurig an mir.

»Ein so schöner Mann!« rief eines der Mädchen lebhaft aus. »Ein so schöner
Mann, und er hat eine unglückliche Liebe!«

Frau Nardini aber fuhr mir mit ihrer weichen, runden Hand vorsichtig übers
Haar und sagte: »Poverino!«

Ein anderes Mädchen schenkte mir eine große Birne und da ich sie bat, den
ersten Biß darein zu tun, tat sie es und sah mich dabei ernsthaft an. Als
ich aber auch die anderen beißen lassen wollte, litt sie es nicht. »Nein,
essen Sie selbst! Ich habe sie Ihnen geschenkt, weil Sie uns Ihr Unglück
erzählt haben.«

»Aber Sie werden nun gewiß eine andere lieben,« sagte ein brauner
Weinbauer.

»Nein,« sagte ich.

»O, Sie lieben immer noch diese böse Erminia?«

»Ich liebe jetzt den heiligen Franz und er hat mich gelehrt, alle Menschen
liebzuhaben, euch und die Leute von Perugia und auch alle diese Kinder
hier, und sogar den Geliebten der Erminia.«

Eine gewisse Verwicklung und Gefahr kam in dies idyllische Dasein, als ich
entdeckte, daß die gute Signora Nardini von dem sehnlichen Wunsch beseelt
war, ich möchte endgültig dableiben und sie heiraten. Die kleine Affäre
bildete mich zum listigen Diplomaten aus, denn es war keineswegs leicht,
diese Träume zu zerstören, ohne die Harmonie zu verderben und die
behagliche Freundschaft zu verscherzen. Auch mußte ich an die Rückreise
denken. Wäre nicht der Traum meiner zukünftigen Dichtung und die drohende
Ebbe meiner Kasse gewesen, so wäre ich dortgeblieben. Ich hätte vielleicht
auch, gerade der Ebbe wegen, die Nardini geheiratet. Doch nein, was mich
abhielt, war mein noch nicht vernarbter Schmerz um Elisabeth und das
Verlangen sie wiederzusehen.

Die runde Witwe fügte sich wider Erwarten leidlich ins Unabänderliche und
ließ mich ihre Enttäuschung nicht entgelten. Als ich abreiste, fiel mir
vielleicht der Abschied viel schwerer als ihr. Ich verließ viel mehr als
ich je in der Heimat verlassen hatte, und nie war mir bei einer Abreise die
Hand so herzlich und von so vielen lieben Menschen gedrückt worden. Die
Leute gaben mir Früchte, Wein, süßen Schnaps, Brot und eine Wurst mit in
den Wagen und ich hatte das ungewohnte Gefühl von Freunden zu scheiden,
denen es nicht einerlei war, ob ich ging oder blieb. Frau Annunziata
Nardini aber gab mir beim Scheiden einen Kuß auf beide Wangen und hatte
Tränen in den Augen.

Früher hatte ich geglaubt, es müsse ein besonderer Genuß sein geliebt zu
werden, ohne selbst zu lieben. Ich hatte jetzt erfahren, wie peinlich eine
solche sich darbietende Liebe ist, die man nicht erwidern kann. Und doch
war ich ein wenig stolz darauf, daß eine fremde Frau mich liebte und zum
Manne wünschte.

Schon diese kleine Eitelkeit bedeutete ein Stück Genesung für mich. Frau
Nardini tat mir leid und doch wünschte ich die Sache nicht ungeschehen.
Auch sah ich allmählich immer mehr ein, daß das Glück mit der Erfüllung
äußerer Wünsche wenig zu tun habe und daß die Leiden verliebter Jünglinge,
so peinlich sie seien, aller Tragik entbehren. Es tat ja weh, daß ich
Elisabeth nicht haben konnte. Aber mein Leben, meine Freiheit, Arbeit und
Denkweise blieb mir unverkürzt, und aus der Ferne liebhaben konnte ich sie
ja nach wie vor, so viel ich wollte. Diese Gedankengänge und noch mehr die
naive Heiterkeit meines Daseins in den umbrischen Monaten waren mir überaus
heilsam gewesen. Von jeher hatte ich ein Auge für alles Lächerliche und
Schnurrige gehabt und mir nur die Freude daran selber durch Ironie
verdorben. Nun ging mir allmählich der Blick für den Humor des Lebens auf
und es schien mir immer möglicher und leichter, mich mit meinen Sternen zu
versöhnen und mir von der Tafel des Lebens noch den einen oder anderen
schönen Bissen zu gönnen.

Freilich, wenn man von Italien heimreist, ist es immer so. Man pfeift auf
Prinzipien und Vorurteile, lächelt nachsichtig, trägt die Hände in den
Hosentaschen und kommt sich als durchtriebener Lebenskünstler vor. Man ist
eine Weile im wohlig warmen Volksleben des Südens mitgeschwommen und denkt
nun, das müsse zu Hause so weitergehen. Auch mir war es bei jeder Rückkehr
aus Italien so gegangen und damals am meisten. Als ich nach Basel kam und
dort das alte steife Leben unverjüngt und unveränderlich antraf, stieg ich
von der Höhe meiner Heiterkeit eine Stufe um die andere kleinlaut und
ärgerlich herab. Aber etwas von dem Erworbenen keimte doch weiter und
seither trieb mein Schifflein durch klare und trübe Wasser nie mehr ohne
wenigstens einen kleinen farbigen Wimpel frech und zutraulich flattern zu
lassen.

Auch sonst hatten sich meine Anschauungen langsam verändert. Ich fühlte
mich ohne großes Bedauern den Jugendjahren entwachsen und den Zeiten
entgegenreifen, da man das eigene Leben als eine kurze Wegstrecke
betrachten lernt und sich selbst als Wanderer, dessen Gänge und
schließliches Verschwinden die Welt nicht groß erregen und beschäftigen.
Man behält ein Lebensziel, einen Lieblingstraum im Auge, aber man kommt
sich nimmer unentbehrlich vor und gönnt sich unterwegs des öfteren Muße, um
ohne Gewissensbisse eine Tagesstrecke zu versäumen, sich ins Gras zu legen,
einen Vers zu pfeifen und der lieben Gegenwart ohne Hintergedanken froh zu
werden. Bisher war ich, ohne daß ich jemals zu Zarathustra gebetet hatte,
doch eigentlich ein Herrenmensch gewesen und hatte es weder an
Selbstverehrung noch an der Mißachtung geringerer Leute fehlen lassen. Nun
sah ich allmählich immer besser, daß es keine festen Grenzen gibt und daß
im Kreise der Kleinen, Bedrückten und Armen das Dasein nicht nur ebenso
mannigfalt, sondern zumeist auch wärmer, wahrhaftiger und vorbildlicher ist
als das der Begünstigten und Glänzenden.

Übrigens kam ich gerade rechtzeitig nach Basel zurück, um an der ersten
Abendgesellschaft im Hause der inzwischen verheirateten Elisabeth
teilzunehmen. Ich war vergnügt, noch frisch und braun von der Reise, und
brachte eine Menge lustiger kleiner Erinnerungen mit. Die schöne Frau
beliebte mich durch eine feine Vertraulichkeit auszuzeichnen und ich freute
mich den ganzen Abend meines Glückes, das mir seinerzeit die Blamage einer
verspäteten Werbung erspart hatte. Denn trotz meiner italienischen
Erfahrung hatte ich immer noch ein leises Mißtrauen gegen die Frauen, als
müßten sie an den hoffnungslosen Qualen der in sie verliebten Männer ihre
grausame Freude haben. Zur lebhaftesten Veranschaulichung eines solchen
entehrenden und peinlichen Zustandes diente mir eine kleine Erzählung aus
dem Kinderschulleben, die ich einst aus dem Mund eines fünfjährigen Knaben
vernommen hatte. In der Kinderschule, die er besuchte, herrschte folgender
merkwürdige und symbolische Brauch. Hatte ein Knabe sich einer allzu
starken Unart schuldig gemacht und es sollten ihm dafür die Höslein
gespannt werden, so wurden sechs kleine Mädchen beordert, den
Widerstrebenden in der zu jener Züchtigung erforderlichen peinlichen Lage
auf der Bank festzuhalten. Da dies Festhaltendürfen als Hochgenuß und große
Ehre galt, wurden nur jeweils die sechs artigsten Mädchen, die zeitweiligen
Tugendausbünde, der grausamen Wonne teilhaftig. Die spaßige
Kindergeschichte gab mir zu denken und hat sich sogar ein paar mal in meine
Träume geschlichen, so daß ich wenigstens aus Traumerfahrung weiß, wie
elend einem in solcher Lage ums Herz ist.



VII.


Vor meiner Schriftstellerei hatte ich nach wie vor selber keinen Respekt.
Ich konnte von meiner Arbeit leben, kleine Ersparnisse zurücklegen und
gelegentlich auch meinem Vater etwas Geld senden. Er trug es freudig ins
Wirtshaus, sang dort mein Lob in allen Tonarten und dachte sogar daran, mir
einen Gegendienst zu leisten. Ich hatte ihm nämlich einmal gesagt, daß ich
mein Brot zumeist durch Zeitungsartikel verdiene. Er hielt mich für einen
Redakteur oder Berichterstatter wie die ländlichen Bezirksblätter sie
haben, und nun diktierte er dreimal väterliche Briefe an mich, in welchen
er mir Ereignisse mitteilte, die ihm wichtig schienen und von denen er
glaubte, sie würden mir Stoff geben und Geld einbringen. Einmal war es ein
Scheunenbrand, dann der Absturz zweier Bergtouristen und das dritte mal das
Ergebnis einer Schulzenwahl. Diese Mitteilungen waren schon in einen
grotesk tönenden Zeitungsstil gebracht und machten mir wirkliche Freude,
denn es waren doch Zeichen einer freundlichen Verbindung zwischen ihm und
mir und seit Jahren die ersten Briefe, die ich aus der Heimat erhielt. Sie
erquickten mich auch als ungewollte Verhöhnung meiner Schreiberei; denn ich
besprach Monat für Monat manches Buch, dessen Erscheinen hinter jenen
ländlichen Ereignissen an Wichtigkeit und Folgen weit zurückstand.

Es erschienen damals gerade zwei Bücher von Verfassern, die ich als
extravagante lyrische Jünglinge seinerzeit in Zürich gekannt hatte. Der
eine lebte nun in Berlin und wußte viel Schmutziges aus Cafés und Bordellen
der Großstadt zu schildern. Der zweite hatte sich in der Umgebung von
München eine luxuriöse Einsiedelei erbaut und taumelte zwischen
neurasthenischen Selbstbetrachtungen und spiritistischen Anregungen
verächtlich und hoffnungslos hin und her. Ich mußte die Bücher besprechen
und machte mich natürlich über beide harmlos lustig. Vom Neurastheniker kam
nur ein verachtungsvoller Brief in wahrhaft fürstlichem Stil. Der Berliner
aber machte in einer Zeitschrift Skandal, fand sich in seinem ernsten
Wollen verkannt, stützte sich auf Zola und machte aus meiner
verständnislosen Kritik nicht nur mir, sondern dem eingebildeten und
prosaischen Geist der Schweizer überhaupt einen Vorwurf. Der Mann hatte
damals in Zürich vielleicht die einzige einigermaßen gesunde und würdige
Zeit seines Literatenlebens gehabt.

Nun war ich nie ein sonderlicher Patriot gewesen, aber das war mir doch
etwas zu stark berlinert, und ich erwiderte dem Unzufriedenen mit einer
langen Epistel, in der ich mit meiner Geringschätzung der aufgeblasenen
Großstadtmoderne nicht gerade hinterm Berge hielt.

Diese Zänkerei tat mir wohl und nötigte mich, wieder einmal über meine
Auffassung des modernen Kulturlebens nachzudenken. Die Arbeit war mühsam
und langwierig und förderte wenig erquickliche Resultate zu Tag. Mein
Büchlein verliert nichts, wenn ich darüber schweige.

Zugleich aber zwangen mich diese Betrachtungen, über mich selbst und mein
lang geplantes Lebenswerk eindringlicher nachzudenken.

Ich hatte, wie man weiß, den Wunsch, in einer größeren Dichtung den
heutigen Menschen das großzügige, stumme Leben der Natur nahe zu bringen
und lieb zu machen. Ich wollte sie lehren, auf den Herzschlag der Erde zu
hören, am Leben des Ganzen teilzunehmen und im Drang ihrer kleinen
Geschicke nicht zu vergessen, daß wir nicht Götter und von uns selbst
geschaffen, sondern Kinder und Teile der Erde und des kosmischen Ganzen
sind. Ich wollte daran erinnern, daß gleich den Liedern der Dichter und
gleich den Träumen unsrer Nächte auch Ströme, Meere, ziehende Wolken und
Stürme Symbole und Träger der Sehnsucht sind, welche zwischen Himmel und
Erde ihre Flügel ausspannt und deren Ziel die zweifellose Gewißheit vom
Bürgerrecht und von der Unsterblichkeit alles Lebenden ist. Der innerste
Kern jedes Wesens ist dieser Rechte sicher, ist Gottes Kind und ruht ohne
Angst im Schoß der Ewigkeit. Alles Schlechte, Kranke, Verdorbene aber, das
wir in uns tragen, widerspricht und glaubt an den Tod.

Ich wollte aber auch die Menschen lehren, in der brüderlichen Liebe zur
Natur Quellen der Freude und Ströme des Lebens zu finden; ich wollte die
Kunst des Schauens, des Wanderns und Genießens, die Lust am Gegenwärtigen
predigen. Gebirge, Meere und grüne Inseln wollte ich in einer verlockend
mächtigen Sprache zu euch reden lassen und wollte euch zwingen zu sehen,
was für ein maßlos vielfältiges, treibendes Leben außerhalb eurer Häuser
und Städte täglich blüht und überquillt. Ich wollte erreichen, daß ihr euch
schämet von ausländischen Kriegen, von Mode, Klatsch, Literatur und Künsten
mehr zu wissen als vom Frühling, der vor euren Städten sein unbändiges
Treiben entfaltet und als vom Strom, der unter euren Brücken hinfließt und
von den Wäldern und herrlichen Wiesen, durch welche eure Eisenbahn rennt.
Ich wollte euch erzählen, welche goldene Kette unvergeßlicher Genüsse ich
Einsamer und Schwerlebiger in dieser Welt gefunden hatte und wollte, daß
ihr, die ihr vielleicht glücklicher und froher seid als ich, mit noch
größeren Freuden diese Welt entdecket.

Und ich wollte vor allem das schöne Geheimnis der Liebe in eure Herzen
legen. Ich hoffte euch zu lehren, allem Lebendigen rechte Brüder zu sein
und so voll Liebe zu werden, daß ihr auch das Leid und auch den Tod nicht
mehr fürchten, sondern als ernste Geschwister ernst und geschwisterlich
empfangen würdet, wenn sie zu euch kämen.

Das alles hoffte ich nicht in Hymnen und hohen Liedern, sondern schlicht,
wahrhaftig und gegenständlich darzustellen, ernsthaft und scherzhaft, wie
ein heimgekehrter Reisender seinen Kameraden von draußen erzählt.

Ich wollte -- ich wünschte -- ich hoffte --, das klingt nun freilich
komisch. Auf den Tag, an welchem dies viele Wollen einen Plan und Umriß
bekäme, wartete ich noch immer. Aber ich hatte wenigstens viel gesammelt.
Nicht nur im Kopf, sondern auch in einer Menge von schmalen Büchlein, die
ich auf Reisen und Märschen in der Tasche trug und von denen alle paar
Wochen eines voll wurde. Da hatte ich knapp und kurz Notizen über alles
Sichtbare in der Welt aufgeschrieben, ohne Reflexionen und ohne
Verbindungen. Es waren Skizzenhefte wie die eines Zeichners und sie
enthielten in kurzen Worten lauter reale Dinge: Bilder aus Gassen und
Landstraßen, Silhouetten von Gebirgen und Städten, erlauschte Gespräche von
Bauern, Handwerksburschen, Marktweibern, ferner Wetterregeln, Notizen über
Beleuchtungen, Winde, Regen, Gestein, Pflanzen, Tiere, Vogelflug,
Wellenbildungen, Meerfarbenspiel und Wolkenformen. Gelegentlich hatte ich
auch kurze Geschichten daraus bearbeitet und veröffentlicht, als Natur- und
Wanderstudien, doch alles ohne Beziehungen zum Menschlichen. Mir war die
Geschichte eines Baumes, ein Tierleben oder die Reise einer Wolke auch ohne
menschliche Staffage interessant genug gewesen.

Daß eine größere Dichtung, in welcher überhaupt keine Menschengestalten
auftreten, ein Unding sei, war mir schon öfters durch den Kopf gegangen,
doch hing ich jahrelang an diesem Ideal und hegte die dunkle Hoffnung, es
möchte vielleicht einmal eine große Inspiration dies Unmögliche überwinden.
Nun sah ich endgültig ein, daß ich meine schönen Landschaften mit Menschen
bevölkern müsse und daß diese gar nicht natürlich und treu genug
dargestellt werden könnten. Da war unendlich viel nachzuholen, und ich hole
heute noch daran nach. Bis dahin waren die Menschen insgesamt ein Ganzes
und im Grunde Fremdes für mich gewesen. Neuerdings lernte ich, wie lohnend
es ist, statt einer abstrakten Menschheit Einzelne zu kennen und zu
studieren, und meine Notizbüchlein und mein Gedächtnis füllte sich mit ganz
neuen Bildern.

Der Anfang dieser Studien war ganz erfreulich. Ich trat aus meiner naiven
Gleichgültigkeit heraus und gewann Interesse an mancherlei Leuten. Ich sah,
wie viel Selbstverständliches mir fremd geblieben war, aber ich sah auch,
wie das viele Wandern und Schauen mir die Augen geöffnet und geschärft
habe. Und da von jeher eine Vorliebe mich zu ihnen gezogen hatte, gab ich
mich besonders gerne und häufig mit Kindern ab.

Immerhin war das Beobachten der Wolken und Wellen erfreulicher gewesen als
das Menschenstudieren. Mit Erstaunen nahm ich wahr, daß der Mensch von der
übrigen Natur sich vor allem durch eine schlüpfrige Gallert von Lüge
unterscheidet, die ihn umgibt und schützt. In Kürze beobachtete ich an
allen meinen Bekannten dieselbe Erscheinung -- das Ergebnis des Umstandes,
daß jeder eine Person, eine klare Figur vorzustellen genötigt wird, während
doch keiner sein eigenstes Wesen kennt. Mit sonderbaren Gefühlen stellte
ich an mir selber dasselbe fest und gab es nun auf, den Personen auf den
Kern dringen zu wollen. Bei den meisten war die Gallert viel wichtiger. Ich
fand sie überall auch schon an den Kindern, welche stets, bewußt oder
unbewußt, lieber eine Rolle mimen als sich ganz unverhüllt und instinktiv
kundgeben.

Nach einiger Zeit kam es mir vor, ich mache keine Fortschritte mehr und
verliere mich an spielerische Einzelheiten. Zunächst suchte ich den Fehler
bei mir selbst, doch konnte ich mir bald nicht mehr verhehlen, daß ich
enttäuscht war und daß meine Umgebung mir die Menschen nicht gab, die ich
suchte. Ich brauchte nicht Interessantheiten, sondern Typen. Das bot mir
weder das Volk der Akademiker noch der Kreis der Gesellschaftsmenschen. Mit
Sehnsucht dachte ich an Italien, und mit Sehnsucht an die einzigen Freunde
und Begleiter meiner vielen Fußreisen, die Handwerksburschen. Mit solchen
war ich viel gewandert und hatte unter ihnen viele prachtvolle Burschen
gefunden.

Es war vergeblich, die Herberge zur Heimat und einige wilde Pennen
aufzusuchen. Die Menge der unständigen Durchwanderer diente mir nicht. So
stand ich denn wieder eine Weile ratlos, hielt mich an die Kinder und
studierte viel in Kneipen herum, wo natürlich auch nichts zu holen war. Es
kamen ein paar traurige Wochen, da ich mir mißtraute, meine Hoffnungen und
Wünsche lächerlich übertrieben fand, mich viel im Freien umhertrieb und
wieder halbe Nächte beim Wein verbrütete.

Auf meinen Tischen hatten sich damals wieder ein paar Stöße von Büchern
angesammelt, die ich gern behalten hätte, statt sie dem Antiquar zu geben;
doch war kein Raum in meinen Schränken mehr. Um endlich abzuhelfen, suchte
ich eine kleine Schreinerei auf und bat den Meister, zum Ausmessen eines
Bücherschafts in meine Wohnung zu kommen.

Er kam, ein kleiner langsamer Mann mit bedächtigen Manieren, er maß den
Raum aus, kniete am Boden, streckte den Meterstab zur Decke, stank ein
wenig nach Leim und notierte eine Zahl um die andere behutsam mit
zollgroßen Ziffern in sein Notizbuch. Zufällig geschah es, daß er bei
seinem Hantieren an einen mit Büchern beladenen Sessel stieß. Ein paar
Bände fielen herunter und er bückte sich, sie aufzuheben. Unter den Büchern
war ein kleines Handlexikon der Handwerksburschensprache. Man findet den
kleinen Kartonband fast in allen deutschen Handwerksburschenherbergen, ein
gut gemachtes und ergötzliches Büchlein.

Der Schreiner, als er das ihm wohlbekannte Bändchen sah, blickte kurios zu
mir herüber, halb belustigt und halb mißtrauisch.

»Was gibt's?« frage ich.

»Mit Verlaub, ich sehe da ein Buch, das ich auch kenne. Haben Sie das
wirklich studiert?«

»Studiert hab' ich die Kundensprache auf der Landstraße,« erwiderte ich,
»aber man schlägt schon gern einmal einen Ausdruck nach.«

»Wahrhaftig!« rief er. »Ja sind Sie denn selber einmal auf der Walze
gewesen?«

»Nicht ganz so wie Sie meinen. Aber gewandert bin ich genug und habe in
mancher Penne übernachtet.«

Er hatte unterdeß die Bücher wieder aufgeschichtet und wollte gehen.

»Wo haben Sie sich denn seinerzeit herumgeschlagen?« fragte ich ihn.

»Von hier bis Koblenz, und später noch auf Genf hinunter. Es war nicht
meine schlechteste Zeit.«

»Haben Sie auch ein paarmal gebrummt?«

»Bloß einmal, in Durlach!«

»Sie müssen mir noch erzählen, wenn Sie wollen. Sehen wir uns einmal bei
einem Schoppen?«

»Nicht gern, Herr. Aber wenn Sie einmal nach Feierabend zu mir hereinkommen
und fragen: wie gehts? wie stehts? ist mirs schon recht. Wenn Sie nicht
bloß Schindluder mit mir treiben wollen.«

Einige Tage später, es war bei Elisabeth offener Abend, blieb ich auf der
Straße stehen und besann mich, ob ich nicht lieber zu meinem Schreiner
gehen sollte. Und ich kehrte um, ließ den Gehrock zu Haus und besuchte den
Schreiner. Die Werkstatt war schon geschlossen und dunkel, ich stolperte
durch eine finstere Hausflur und einen engen Hof, kletterte im Hinterhaus
die Treppe auf und ab und fand schließlich an einer Türe einen
geschriebenen Schild mit des Meisters Namen. Eintretend gelangte ich direkt
in eine sehr kleine Küche, wo ein mageres Weib das Abendessen rüstete und
zugleich über drei Kinder zu wachen hatte, welche den engen Raum mit Leben
und erheblichem Getöse erfüllten. Befremdet führte mich die Frau in die
nächste Stube, wo der Schreiner mit der Zeitung am dämmerigen Fenster saß.
Er knurrte bedenklich, da er mich im Finstern für einen zudringlichen
Kunden hielt, dann erkannte er mich und gab mir die Hand.

Da er überrascht und verlegen war, wandte ich mich den Kindern zu; sie
flohen vor mir in die Küche zurück und ich folgte nach. Da ich dort die
Hausfrau eine Reisspeise bereiten sah, erwachten in mir die Erinnerungen an
die Küche meiner umbrischen Padrona und ich beteiligte mich an der
Kocherei. Bei uns wird meistens der schöne Reis gewissenlos zu einer Art
Kleister verkocht, welcher nach gar nichts schmeckt und widerlich klebrig
zu essen ist. Auch hier war das Unglück schon im Gang und ich konnte eben
noch die Speise retten, indem ich nach Topf und Schaumlöffel langte und
mich eiligst der Zubereitung selber annahm. Die Frau fügte sich und war
erstaunt, der Reis gelang leidlich, wir trugen ihn auf, zündeten die Lampe
an und auch ich erhielt meinen Teller.

Die Schreinersfrau verwickelte mich an diesem Abend in so eingehende
Gespräche über Küchenfragen, daß der Mann fast gar nicht zu Worte kam und
wir die Erzählung seiner Wanderabenteuer auf ein andermal verschieben
mußten. Übrigens spürten die Leutlein bald, daß ich nur äußerlich ein Herr,
eigentlich aber ein Bauernsohn und Kind des armen Volkes war, und so wurden
wir schon am ersten Abend befreundet und vertraulich miteinander. Denn wie
sie in mir den Gleichbürtigen erkannten, so witterte auch ich in dem
ärmlichen Hauswesen die Heimatlust der kleinen Leute. Die Menschen hatten
hier keine Zeit zu Feinheiten, zu Posen, zu Komödien, ihnen war das herbe
arme Leben auch ohne das Mäntelein der Bildung und höheren Interessen lieb
und viel zu gut, um es mit schönen Reden zu tapezieren.

Immer öfter kam ich wieder und vergaß bei dem Schreiner nicht nur den
lumpigen Gesellschaftskram, sondern auch meine Traurigkeit und Nöte. Mir
war, ich fände hier ein Stück Kindheit für mich aufbewahrt und setze hier
das Leben fort, welches seinerzeit die Patres abgebrochen hatten, als sie
mich auf Schulen schickten.

Über eine rissige und schweißgelbe Landkarte veralteten Stils gebückt
verfolgte der Schreiner mit mir seine und meine Fahrten und wir freuten uns
über jedes Stadttor und jede Gasse, die wir beide kannten, wir frischten
Handwerksburschenwitze auf und sangen sogar einmal mehrere von den
ewigjungen Straubingerliedern. Wir sprachen von den Sorgen des Handwerks,
vom Haushalt, von den Kindern, von städtischen Dingen und ganz allmählich
geschah es, daß der Meister und ich sachte die Rollen vertauschten und ich
der Dankbare, er der Gebende und Lehrende war. Ich fühlte aufatmend, daß
mich hier statt der Salontöne Realitäten umgaben.

Unter seinen Kindern fiel ein fünfjähriges Mädchen durch seine zarte
Besonderheit auf. Sie hieß Agnes, doch rief man ihr Agi, war blond, blaß
und von schmächtigen Gliedern, hatte schüchterne, weite Augen und eine
sanfte Scheu im Wesen. Eines Sonntags, als ich die Familie zu einem
Spaziergang abholen wollte, war Agi krank. Die Mutter blieb bei ihr, wir
andere pilgerten langsam zur Stadt hinaus. Hinter Sankt Margreten setzten
wir uns auf eine Bank, die Kinder liefen Steinen, Blumen und Käfern nach
und wir Männer überschauten die sommerlichen Wiesen, den Binninger Friedhof
und den schönen bläulichen Zug des Jura. Der Schreiner war müde, bedrückt
und still und schien Sorgen zu haben.

»Wo fehlt's, Meister?« fragte ich, als die Kinder weit genug weg waren. Er
sah mir verloren und traurig ins Gesicht.

»Sehen Sie's denn nicht?« fing er an. »Die Agi will mir sterben. Ich weiß
es schon lang und hab mich gewundert, daß sie nur so alt geworden ist, sie
hat ja immer den Tod in den Augen gehabt. Aber jetzt müssen wir daran
glauben.«

Ich fing zu trösten an, doch hörte ich bald von selber auf.

»Sehen Sie,« lachte er traurig, »Sie glauben ja auch nicht dran, daß das
Kind durchkommt. Ich bin kein Stündler, wissen Sie, und geh auch nur alle
Jubeljahr einmal in die Kirche, aber das spür ich wohl, daß jetzt der
Herrgott ein Wörtlein mit mir reden will. 's ist ja nur ein Kind, und
gesund ist sie nie gewesen, aber weiß Gott, sie war mir lieber als die
andern zusammen.«

Mit Gejodel und tausend kleinen Fragen kamen die Kinder dahergerannt,
umdrängten mich, ließen sich die Namen der Blumen und Gräser von mir sagen
und wollten schließlich Geschichten erzählt haben. Da erzählte ich ihnen
von den Blumen, Bäumen und Büschen, daß sie gleich den Kindern jedes eine
Seele und jedes seinen Engel haben. Auch der Vater hörte zu, lächelte und
gab je und je seine leise Bekräftigung. Wir sahen die Berge blauer werden,
hörten Abendgeläute und gingen heim. Auf den Wiesen lag ein rötlicher
Abendhauch, die fernen Münstertürme ragten klein und dünn in die warme
Luft, am Himmel ging das Sommerblau in schöne grünliche und goldige Farben
über, die Bäume hatten lange Schatten. Die Kleinen waren müd und still
geworden. Sie dachten an die Engel der Mohnblüten, Nelken und
Glockenblumen, indeß wir Alten an die kleine Agi dachten, deren Seele schon
bereit war Flügel zu empfangen und uns kleine bange Schar zu verlassen.

In den zwei nächsten Wochen ging es gut. Das Mädchen schien zu genesen,
konnte für Stunden das Bett verlassen und sah in ihren kühlen Kissen
hübscher und vergnügter aus als je. Dann kamen ein paar fieberige Nächte
und nun sahen wir, ohne mehr davon zu reden, daß das Kind nur noch für
Wochen oder Tage unser Gast sein würde. Nur einmal kam ihr Vater darauf zu
sprechen. Es war in der Werkstatt. Ich sah ihn im Brettervorrat stöbern und
wußte von selber, daß er daran ging die Stücke für einen Kindersarg
zusammenzusuchen.

»Es muß doch nächstens geschehen,« sagte er, »und da mach ich es lieber
nach Feierabend für mich allein.«

Ich saß auf einer Hobelbank, während er an der anderen arbeitete. Als die
Bretter sauber behobelt waren, zeigte er sie mir mit einer Art von Stolz.
Es war ein schönes, gesund gewachsenes, fehlerloses Tannenholz.

»Ich will auch keinen Nagel hineinschlagen, sondern die Teile schon
ineinanderpassen, daß es ein gutes und dauerhaftes Stück gibt. Aber für
heute ist's genug, wir wollen zur Frau hinauf gehen.«

Die Tage vergingen, heiße, wundervolle Hochsommertage, und ich saß jeden
Tag eine Stunde oder zwei bei der kleinen Agi, erzählte ihr von den schönen
Wiesen und Wäldern, hielt ihr leichtes schmales Kinderhändlein in meiner
breiten Hand und sog mit ganzer Seele die liebe, lichte Anmut ein, die bis
zum letzten Tage um sie her war.

Alsdann standen wir ängstlich und traurig dabei und sahen, wie der kleine
magere Körper noch einmal Kräfte sammelte, um mit dem starken Tode zu
kämpfen, der sie schnell und leicht bezwang. Die Mutter war still und
stark; der Vater lag über der Bettstatt und nahm hundertmal Abschied,
streichelte das Blondhaar und liebkoste seinen toten Liebling.

Es kam die schlichte, kurze Feier der Beerdigung, und die beklommenen
Abende, da die Kinder nebenan in ihren Betten weinten. Es kamen die schönen
Gänge auf den Friedhof, wo wir das frische Grab bepflanzten und ohne zu
sprechen beieinander auf der Bank in den kühlen Anlagen saßen und an die
Agi dachten und mit anderen Augen als sonst die Erde betrachteten, in der
unser Liebling lag, und die Bäume und den Rasen, die darüber wuchsen, und
die Vögel, deren Spiel ungehemmt und fröhlich durch den stillen Friedhof
klang.

Daneben ging der strenge Werktag seinen Lauf, die Kinder sangen wieder,
balgten sich, lachten und wollten Geschichten hören, und wir alle gewöhnten
uns unvermerkt daran, unsre Agi nimmer zu sehen und einen schönen, kleinen
Engel im Himmel zu haben.

Über alle dem hatte ich die Gesellschaften des Professors gar nicht mehr
und das Haus Elisabeths nur wenige mal besucht, und dann war mir im lauen
Strom der Gespräche sonderbar ratlos und beklommen zu Mut gewesen. Jetzt
suchte ich beide Häuser auf und fand an beiden geschlossene Türen, da alles
längst auf dem Lande war. Erst jetzt bemerkte ich mit Erstaunen, daß ich
die heiße Jahreszeit und das Ferienmachen über der Freundschaft mit dem
Schreinershaus und über der Krankheit des Kindes ganz vergessen hatte.
Früher wäre es mir ganz unmöglich gewesen, den Juli und August in der Stadt
zu bleiben.

Ich nahm für kurze Zeit Abschied und unternahm eine Fußreise durch den
Schwarzwald, die Bergstraße und den Odenwald. Unterwegs war es mir ein
ungewohntes Vergnügen, den Basler Schreinerskindern aus schönen Orten
Ansichtskarten zu senden und überall mir vorzustellen, wie ich ihnen und
ihrem Vater später von der Reise erzählen würde.

In Frankfurt beschloß ich, mir noch ein paar Reisetage zu gönnen. In
Aschaffenburg, Nürnberg, München und Ulm genoß ich mit neuer Lust die Werke
der alten Kunst und schließlich machte ich noch ganz harmlos einen Halt in
Zürich. Bisher, in all den Jahren, hatte ich diese Stadt wie ein Grab
gemieden, nun schlenderte ich durch die bekannten Straßen, suchte die alten
Kneipen und Gärten wieder auf und konnte ohne Schmerz der vergangenen
schönen Jahre denken. Die Malerin Aglietti hatte geheiratet und man sagte
mir ihre Adresse. Gegen Abend ging ich hin, las an der Haustür ihres Mannes
Namen, sah an den Fenstern hinauf und zögerte einzutreten. Da begannen die
alten Zeiten mir lebendig zu werden und meine Jugendliebe erwachte halb aus
ihrem Schlaf mit leisem Schmerz. Ich kehrte um und habe mir das schöne Bild
der geliebten welschen Frau durch kein unnützes Wiedersehen verdorben.
Weiterschlendernd besuchte ich den Seegarten, wo die Künstler damals ihr
Sommernachtfest begangen hatten, schaute auch an dem Häuschen hinauf, in
dessen Mansarde ich drei kurze, gute Jahre gehaust hatte, und über alle den
Erinnerungen trat mir unversehens der Name Elisabeth auf die Lippen. Die
neue Liebe war doch stärker als ihre älteren Schwestern. Sie war auch
stiller, bescheidener und dankbarer.

Um mir die gute Stimmung zu bewahren, nahm ich ein Boot und ruderte
behaglich langsam in den warmen, lichten See. Es wollte Abend werden und am
Himmel hing eine einzige schöne, schneeweiße Wolke. Ich hatte sie
fortwährend im Auge und nickte ihr zu, an die Wolkenliebe meiner Kinderzeit
denkend, und an Elisabeth, und auch an jene gemalte Wolke Segantinis, vor
welcher ich Elisabeth einmal so schön und hingegeben hatte stehen sehen.
Die durch kein Wort und unreines Begehren getrübte Liebe zu ihr hatte ich
nie so beglückend und reinigend empfunden wie jetzt, da ich beim Anblick
der Wolke ruhig und dankbar alles Gute meines Lebens übersah und statt der
frühern Wirren und Leidenschaften nur die alte Sehnsucht der Knabenzeit in
mir fühlte -- auch sie reifer und stiller geworden.

Von jeher war ich gewohnt, zum ruhigen Takt der Ruderschläge irgend etwas
zu summen oder zu singen. Ich sang auch jetzt leise vor mich hin und merkte
erst im Singen, daß es Verse waren. Sie blieben mir im Gedächtnis und ich
schrieb sie zuhause auf, als Andenken an den schönen Züricher Seeabend.

   Wie eine weiße Wolke
   Am hohen Himmel steht,
   So licht und schön und ferne
   Bist du, Elisabeth.

   Die Wolke geht und wandert,
   Kaum hast du ihrer Acht,
   Und doch durch deine Träume
   Geht sie bei dunkler Nacht.

   Geht und erglänzt so selig,
   Daß fortan ohne Rast
   Du nach der weißen Wolke
   Ein süßes Heimweh hast.

In Basel fand ich einen Brief aus Assisi für mich daliegen. Er war von Frau
Annunziata Nardini, und voll erfreulicher Nachrichten. Sie hatte nun doch
einen zweiten Mann gefunden! Übrigens tue ich besser, ihn unverändert
mitzuteilen.

Hochgeehrter und sehr lieber Herr Peter!

Erlauben Sie Ihrer treuen Freundin die Freiheit, Ihnen einen Brief zu
schreiben. Es hat Gott gefallen mir ein großes Glück zu bescheren, und ich
möchte Sie auf den zwölften Oktober zu meiner Hochzeit einladen. Er heißt
Menotti und hat zwar wenig Geld, doch liebt er mich sehr und hat schon
früher mit Früchten gehandelt. Er ist hübsch, aber nicht so groß und schön
wie Sie, Herr Peter. Er wird auf der Piazza Obst verkaufen, während ich im
Laden bleibe. Auch die schöne Marietta vom Nachbar wird heiraten, jedoch
nur einen Maurer aus der Fremde.

Ich habe jeden Tag an Sie gedacht und vielen Leuten von Ihnen erzählt. Ich
habe Sie sehr lieb und auch den Heiligen, welchem ich vier Kerzen zu Ihrem
Andenken gestiftet habe. Auch Menotti wird sehr froh sein, wenn Sie zur
Hochzeit kommen. Wenn er unfreundlich gegen Sie sein sollte, werde ich es
ihm verbieten. Leider hat sich gezeigt, daß der kleine Mattheo Spinelli
wirklich, wie ich stets gesagt habe, ein Bösewicht ist. Er hat mir oft
Citronen gestohlen. Jetzt ist er hinweggebracht worden, weil er seinem
Vater, dem Bäcker, zwölf Lire stahl und weil er den Hund des Bettlers
Giangiacomo vergiftet hat.

Ich wünsche Ihnen den Segen Gottes und des Heiligen. Ich habe große
Sehnsucht nach Ihnen.

Ihre untertänige und treue Freundin
Annunziata Nardini

Nachschrift.

Unsere Ernte war mäßig. Die Trauben standen sehr schlecht, auch Birnen gab
es nicht genug, aber die Limonen waren sehr reichlich, nur mußten wir sie
zu billig verkaufen. In Spello geschah ein schreckliches Unglück. Ein
junger Mensch hat seinen Bruder mit einer Harke erschlagen, man weiß nicht
weshalb, aber gewiß ist er eifersüchtig auf ihn gewesen, obwohl es sein
eigener Bruder war.

                   *       *       *       *       *

Leider konnte ich der verlockenden Einladung nicht folgen. Ich schrieb
meinen Glückwunsch und stellte meinen Besuch aufs nächste Frühjahr in
Aussicht. Dann ging ich mit dem Brief und mit einem mitgebrachten
Nürnberger Geschenk für die Kinder zu meinem Schreinermeister.

Dort fand ich eine unerwartete große Veränderung. Abseits vom Tisch, gegen
das Fenster hin, hockte eine groteske, schiefe Menschengestalt in einem
Stuhl, der wie ein Kindersessel mit einer Brustwehr versehen war. Es war
Boppi, der Bruder der Meistersfrau, ein armer halb gelähmter Verwachsener,
für welchen nach dem kürzlich erfolgten Tod seiner alten Mutter nirgends
sich ein Plätzchen gefunden hatte. Widerstrebend hatte ihn der Schreiner
einstweilen zu sich genommen und die beständige Gegenwart des kranken
Krüppels lag wie ein Schrecken auf dem gestörten Hauswesen. Man hatte sich
noch nicht an ihn gewöhnt; den Kindern graute vor ihm, die Mutter war
mitleidig, verlegen und gedrückt, der Vater offenbar verstimmt.

Boppi hatte auf einem häßlichen Doppelhöcker ohne Hals einen großen,
starkzügigen Kopf mit breiter Stirn, starker Nase und schönem leidendem
Munde sitzen, die Augen waren klar, aber still und etwas verängstigt, und
die merkwürdig kleinen und hübschen Hände lagen fortwährend weiß und ruhig
auf der schmalen Brustwehr. Auch ich war befangen und verstimmt über den
armen Eindringling, und zugleich war es mir peinlich, den Schreiner die
kurze Geschichte des Kranken erzählen zu hören, während dieser daneben saß
und auf seine Hände schaute, ohne von jemand angeredet zu werden. Krüppel
war er von Geburt, doch hatte er die Volksschule durchgemacht und konnte
jahrelang durch Strohflechten sich ein wenig nützlich machen, bis ihn
wiederholte Gichtanfälle teilweise lähmten. Seit Jahren lag er nun entweder
zu Bett oder saß in seinem sonderbaren Stuhl zwischen Kissen geklemmt. Die
Frau wollte wissen, er habe früher viel und schön für sich gesungen, doch
hatte sie ihn jahrelang nicht mehr gehört und hier im Hause hatte er noch
nie gesungen. Und während all dies erzählt und besprochen wurde, saß er da
und blickte vor sich hin. Mir ward nicht wohl dabei und ich ging bald
wieder weg und blieb die nächsten Tage dem Hause fern.

Mein Leben lang war ich stark und gesund gewesen, hatte nie eine ernste
Krankheit gehabt und die Leidenden, namentlich Krüppel, mit Mitleid, aber
auch ein wenig verächtlich betrachtet; nun paßte es mir durchaus nicht,
mein behaglich heiteres Leben in der Handwerkerfamilie durch die
unerquickliche Last dieser elenden Existenz gestört zu finden. Ich verschob
darum einen zweiten Besuch von Tag zu Tag und sann vergeblich nach, wie ich
uns den lahmen Boppi vom Halse schaffen könnte. Es mußte sich irgend eine
Möglichkeit finden, ihn mit geringen Kosten in einem Spital oder Pfründhaus
unterzubringen. Mehrmals wollte ich den Schreiner aufsuchen, um mit ihm
darüber zu beraten, doch scheute ich mich, ungefragt davon anzufangen, und
vor der Begegnung mit dem Kranken hatte ich ein kindisches Grauen. Es war
mir widerlich, ihn immer zu sehen, ihm die Hand geben zu müssen.

So ließ ich einen Sonntag verstreichen. Am zweiten Sonntag war ich schon im
Begriff, mit einem Frühzug in den Jura auszufliegen, schämte mich dann aber
doch meiner Feigheit, blieb da und ging nach Tisch zu dem Schreiner.

Mit Widerstreben gab ich Boppi die Hand. Der Schreiner war ärgerlich und
schlug einen Spaziergang vor; er war, wie er mir mitteilte, des ewigen
Elends überdrüssig und ich freute mich, ihn meinen Vorschlägen zugänglich
zu wissen. Die Frau wollte dableiben, da bat sie der Krüppel, sie möchte
mitgehen, da er gut allein bleiben könne. Wenn er nur ein Buch und ein Glas
Wasser neben sich habe, könne man ihn einschließen und unbesorgt
zurücklassen.

Und wir, die wir uns doch sämtlich für ganz leidliche und gutherzige Leute
hielten, schlossen ihn ein und gingen spazieren! Und wir waren vergnügt,
hatten unsern Spaß mit den Kindern, freuten uns der schönen goldigen
Herbstsonne, und keiner von uns schämte sich und keinem schlug das Herz,
daß wir den Lahmen allein im Hause hatten liegen lassen! Wir waren vielmehr
froh, seiner für eine Weile ledig zu sein, atmeten erleichtert die klare,
sonnenwarme Luft und boten den Anblick einer dankbaren und biederen
Familie, die Gottes Sonntag mit Verstand und Dank genießt.

Erst als wir am Grenzacher Hörnli zu einem Glas Wein eingekehrt waren und
im Wirtsgarten um den Tisch saßen, kam der Vater auf Boppi zu sprechen. Er
klagte über den lästigen Gast, seufzte über die Beengung und Verteuerung
seines Haushalts und schloß lachend mit der Bemerkung: »Na, hier draußen
kann man wenigstens noch eine Stunde vergnügt sein, ohne daß er einen
stört!«

Bei diesem unbedachten Wort sah ich plötzlich den armen Lahmen vor mir,
flehend und leidend, ihn, den wir nicht liebten, den wir loszuwerden
trachteten und der jetzt von uns verlassen und eingeschlossen einsam und
traurig in der dämmernden Stube saß. Es fiel mir ein, daß es nun bald zu
dunkeln beginnen müsse und daß er nicht im stande sein würde, Licht zu
machen oder dem Fenster näher zu rücken. Also würde er das Buch weglegen
und im Halbdunkel allein sitzen müssen, ohne Gespräch oder Zeitvertreib,
indes wir hier Wein tranken, lachten und uns vergnügten. Und es fiel mir
ein, wie ich den Nachbarn in Assisi vom heiligen Franz erzählt hatte und
wie ich geflunkert hatte, er hätte mich gelehrt alle Menschen liebzuhaben.
Wozu hatte ich das Leben des Heiligen studiert und seinen herrlichen Gesang
der Liebe auswendig gelernt und seine Spuren auf den umbrischen Hügeln
gesucht, wenn nun ein armer und hülfloser Mensch dalag und leiden mußte,
während ich davon wußte und ihn trösten konnte?

Die Hand eines mächtigen Unsichtbaren legte sich auf mein Herz, drückte es
nieder und füllte es mit so viel Scham und Schmerz, daß ich zitterte und
unterlag. Ich wußte, daß Gott jetzt mit mir ein Wort reden wollte.

»Du Dichter!« sagte er, »du Schüler des Umbriers, du Prophet, der die
Menschen Liebe lehren und beglücken will! Du Träumer, der in Winden und
Wassern meine Stimme hören möchte!«

»Du liebst ein Haus,« sagte er, »wo man freundlich zu dir ist, wo du
angenehme Stunden hast! Und am selben Tag, da ich dies Haus meiner Einkehr
würdige, läufst du davon und sinnst darauf mich zu vertreiben! Du Heiliger!
Du Prophet! Du Dichter!«

Mir war genau so zu Mute, als würde ich vor einen reinen, untrüglichen
Spiegel gestellt und ich erblickte mich darin als einen Lügner, als einen
Maulhelden, als einen Feigling und Wortbrüchigen. Das tut weh, das ist
bitter, peinigend und schrecklich; aber was in diesem Augenblick in mir
zerbrach und Qualen litt und sich verwundet bäumte, das war des Zerbrechens
und Untergehens wert.

Gewaltsam und eilig nahm ich Abschied, ließ den Wein im Glase stehen und
das angebrochene Brot auf dem Tische liegen und ging in die Stadt zurück.
In meiner Erregung wurde ich von unausstehlicher Angst gepeinigt, es möchte
ein Unglück geschehen sein. Es konnte Feuer ausbrechen, der hilflose Boppi
konnte aus dem Stuhl gefallen sein und leidend oder tot am Boden liegen.
Ich sah ihn daliegen, ich glaubte dabei zu stehen und den stillen Vorwurf
im Blick des Krüppels sehen zu müssen.

Atemlos erreichte ich die Stadt und das Haus, stürmte die Treppe hinan und
erst jetzt fiel mir ein, daß ich ja vor verschlossener Türe stehe und
keinen Schlüssel besaß. Doch legte sich sogleich meine Angst. Denn ehe ich
noch die Tür der Küche erreicht hatte, hörte ich drinnen Gesang. Es war ein
sonderbarer Augenblick. Mit Herzklopfen und ganz außer Atem stand ich auf
dem dunklen Absatz der Treppe und horchte, indem ich langsam wieder ruhig
ward, auf das Singen des eingeschlossenen Krüppels. Er sang leise, weich
und ein wenig klagend ein volkstümliches Liebeslied, vom »Blüemli wiß und
rot.« Ich wußte, daß er lang nicht mehr gesungen hatte, nun rührte es mich
ihn zu belauschen, wie er die stille Stunde benützte um in seiner Weise ein
wenig froh zu sein.

Es ist nun einmal so: Das Leben liebt es neben ernste Ereignisse und tiefe
Gemütsbewegungen das Komische zu stellen. So empfand ich denn auch sogleich
das Lächerliche und Beschämende meiner Lage. In meiner plötzlichen Angst
war ich eine Stunde weit über Feld herbeigerannt, um nun ohne Schlüssel vor
der Küchenpforte zu stehen. Entweder mußte ich wieder abziehen oder dem
Lahmen meine guten Absichten durch zwei geschlossene Türen hindurch
zuschreien. Auf der Treppe stand ich mit meinem Vorsatz, den Armen zu
trösten, ihm Teilnahme zu zeigen und die Stunden zu verkürzen, und er saß
ahnungslos drinnen, sang und wäre ohne Zweifel nur erschrocken, wenn ich
mich durch Schreien oder Klopfen bemerklich gemacht hätte.

Es blieb mir nichts übrig als wieder fortzugehen. Ich bummelte eine Stunde
durch die sonntäglich belebten Gassen, dann fand ich die Familie
heimgekehrt. Es kostete mich diesmal keine Überwindung, Boppi die Hand zu
drücken. Ich setzte mich neben ihn, knüpfte ein Gespräch an und fragte, was
er gelesen habe. Es lag nahe, ihm Lektüre anzubieten, und er war dankbar
dafür. Als ich ihm Jeremias Gotthelf empfahl, zeigte es sich, daß er dessen
Schriften fast alle kannte. Doch war ihm Gottfried Keller noch fremd und
ich versprach ihm dessen Bücher zu leihen.

Am nächsten Tag, als ich die Bücher brachte, fand ich Gelegenheit mit ihm
allein zu sein, da die Frau eben ausgehen wollte und der Mann in der
Werkstätte war. Da bekannte ich ihm, wie sehr ich mich schäme ihn gestern
allein gelassen zu haben und daß ich froh wäre, manchmal bei ihm sitzen und
sein Freund sein zu dürfen.

Der kleine Krüppel wendete seinen großen Kopf ein wenig zu mir herüber, sah
mich an und sagte »Danke schön.« Das war alles. Aber dies Wenden des Kopfes
hatte ihm Mühe gemacht und war so viel wert als zehn Umarmungen eines
Gesunden, und sein Blick war so hell und kindlich schön, daß mir vor
Beschämung das Blut ins Gesicht stieg.

Nun war noch das Schwerere übrig, mit dem Schreiner zu reden. Es schien mir
am besten, ihm meine gestrige Angst und Scham geradeheraus zu beichten.
Leider verstand er mich nicht, doch ließ er mit sich darüber reden. Er nahm
es an, den Kranken als gemeinsamen Gast mit mir zu behalten, so daß wir die
geringen Kosten seiner Erhaltung teilten und mir die Erlaubnis blieb, nach
Belieben bei Boppi ein und aus zu gehen und ihn wie einen eigenen Bruder
anzusehen.

Der Herbst blieb ungewöhnlich lange schön und warm. Darum war das erste,
was ich für Boppi tat, ihm einen Fahrstuhl zu besorgen und ihn täglich,
meist in Begleitung der Kinder, ins Freie zu führen.



VIII.


Es war immer mein Schicksal, daß ich vom Leben und von meinen Freunden viel
mehr empfing als ich geben konnte. Mit Richard, mit Elisabeth, mit Frau
Nardini und mit dem Schreiner war es mir so gegangen, und nun erlebte ich
es, daß ich in reifen Jahren und bei hinlänglicher Selbstschätzung der
erstaunte und dankbare Schüler eines elenden Krummen werden sollte. Wenn es
wirklich einmal dahin kommt, daß ich meine längst begonnene Dichtung
vollende und weggebe, so wird wenig Gutes darin stehen, das ich nicht von
Boppi gelernt hätte. Es begann eine gute, erfreuliche Zeit für mich, an der
ich zeitlebens reichlich zu zehren haben werde. Es ward mir gegönnt, klar
und tief in eine prachtvolle Menschenseele zu schauen, über welche
Krankheit, Einsamkeit, Armut und Mißhandlung nur wie leichte lose Wolken
hinweggeflogen waren.

Alle die kleinen Laster, mit denen wir uns das schöne, kurze Leben
versalzen und verderben, der Zorn, die Ungeduld, das Mißtrauen, die Lüge --
all diese leidigen schmierigen Schwären, die uns entstellen, hatte ein
langes und gründliches Leiden in diesem Menschen unter Schmerzen
ausgebrannt. Er war kein Weiser und kein Engel, aber er war ein Mensch voll
Verständnis und Hingabe, der über großen und schrecklichen Leiden und
Entbehrungen gelernt hatte, sich ohne Scham schwach zu fühlen und in Gottes
Hand zu geben.

Einmal fragte ich ihn, wie es ihm gelänge sich immer mit seinem
schmerzenden und kraftlosen Leibe abzufinden.

»Das ist sehr einfach,« lachte er freundlich. »Es ist eben ein ewiger Krieg
zwischen mir und der Krankheit. Bald gewinne ich eine Schlacht, bald
verliere ich eine, so balgen wir uns weiter, und zuweilen halten wir uns
auch beide still, schließen einen Waffenstillstand, passen einander auf und
liegen auf der Lauer, bis einer von uns wieder frech wird und der Krieg
aufs neue losgeht.«

Bis dahin hatte ich stets geglaubt, ein sicheres Auge zu haben und ein
guter Beobachter zu sein. Boppi wurde aber auch darin mein bewunderter
Lehrmeister. Da er an der Natur und namentlich an Tieren eine große Freude
hatte, führte ich ihn häufig in den zoologischen Garten. Dort hatten wir
ganz köstliche Stunden. Boppi kannte nach kurzer Zeit jedes einzelne Tier
und da wir stets Brot und Zucker mitbrachten, kannten manche Tiere auch uns
und wir schlossen allerlei Freundschaften. Eine besondere Vorliebe hatten
wir für den Tapir, dessen einzige Tugend eine seiner Gattung sonst nicht
eigene Reinlichkeit ist. Im übrigen fanden wir ihn eingebildet, wenig
intelligent, unfreundlich, undankbar und höchst gefräßig. Andere Tiere,
namentlich der Elefant, die Rehe und Gemsen, sogar der ruppige Bison,
zeigten für den empfangenen Zucker stets eine gewisse Dankbarkeit, indem
sie uns entweder vertraulich anblickten oder es gerne duldeten, sich von
mir streicheln zu lassen. Beim Tapir war keine Spur davon. Sobald wir in
seine Nähe kamen, erschien er prompt am Gitter, fraß langsam und gründlich
was er von uns erhielt und zog sich, wenn er sah daß nichts mehr für ihn
abfiel, ohne Sang und Klang wieder zurück. Wir fanden darin ein Zeichen von
Stolz und Charakter und da er das ihm Zugedachte weder erbettelte noch
dafür dankte, sondern wie einen selbstverständlichen Tribut leutseligst
entgegennahm, nannten wir ihn den Zolleinnehmer. Zuweilen erhob sich, da
Boppi die Tiere meist nicht selber füttern konnte, ein Streit darüber, ob
der Tapir nun genug habe oder ob ihm noch ein weiteres Stückchen zukäme.
Wir erwogen das mit einer Sachlichkeit und eingehenden Prüfung, als wäre es
eine Staatsaktion. Einst waren wir schon am Tapir vorüber, als Boppi
meinte, wir hätten ihm doch noch ein Stück Zucker mehr geben sollen. Also
kehrten wir wieder um, der inzwischen aufs Strohlager zurückgekehrte Tapir
aber blinzelte hochmütig herüber und kam nicht ans Gitter. »Entschuldigen
Sie gütigst, Herr Einnehmer,« rief Boppi ihm zu, »aber ich glaubte wir
hätten uns um einen Zucker geirrt.« Und weiter gings zum Elefanten, der
schon voll Erwartung hin und her watschelte und uns seinen warmen,
beweglichen Rüssel entgegen streckte. Ihn konnte Boppi selbst füttern, und
er sah mit kindlicher Wonne zu, wie der Riese den geschmeidigen Rüssel zu
ihm herüber bog, das Brot aus seiner flachen Hand aufnahm und uns aus den
fidelen, winzigen Äuglein schlau und wohlwollend anblinzelte.

Mit einem Wärter kam ich überein, daß ich Boppi in seinem Fahrstuhl im
Garten stehen lassen durfte, wenn ich nicht Zeit hatte bei ihm zu bleiben,
so daß er auch an solchen Tagen in der Sonne sein und die Tiere sehen
konnte. Nachher erzählte er mir von allem, was er gesehen hatte. Besonders
imponierte es ihm zu sehen, wie höflich der Löwe seine Gattin behandelte.
Sobald sie sich niederlegte um zu ruhen, gab er seinem rastlosen
Hinundhergehen eine solche Richtung, daß er sie dabei weder berührte noch
störte noch über sie hinweg schritt. Am meisten Unterhaltung fand Boppi
beim Fischotter. Er wurde nicht müde, die biegsamen Schwimm- und Turnkünste
des beweglichen Tieres zu betrachten und seine helle Freude daran zu haben,
während er selbst unbeweglich in seinem Stuhle lag und zu jeder Bewegung
des Kopfs und der Arme Mühe aufwenden mußte.

Es war einer der schönsten Tage jenes Herbstes, als ich Boppi meine beiden
Liebesgeschichten erzählte. Wir waren miteinander so vertraut geworden, daß
ich ihm auch diese weder erfreulichen noch rühmlichen Erlebnisse nicht mehr
verschweigen konnte. Er hörte freundlich und ernsthaft zu, ohne etwas zu
sagen. Später aber gestand er mir sein Verlangen, Elisabeth, die weiße
Wolke, einmal zu sehen und bat mich gewiß daran zu denken, falls wir ihr
einmal auf der Straße begegneten.

Da das sich nie ereignen wollte und die Tage kühl zu werden begannen, ging
ich zu Elisabeth und bat sie, dem armen Buckligen diese Freude zu machen.
Sie war gütig und tat mir den Willen und am bestimmten Tage ließ sie sich
von mir abholen und in den Tiergarten begleiten, wo Boppi im Fahrstuhl
wartete. Als die schöne, wohlgekleidete und feine Dame dem Krüppel die Hand
gab und sich ein wenig zu ihm hinabbückte, und als der arme Boppi aus dem
vor Freude glänzenden Gesicht die großen, guten Augen dankbar und fast
zärtlich zu ihr aufschlug, hätte ich nicht entscheiden mögen, wer von den
beiden in diesem Augenblick schöner war und meinem Herzen näher stand. Die
Dame sprach ein paar freundliche Worte, der Krüppel wandte den glänzenden
Blick nicht von ihr, und ich stand daneben und wunderte mich, die beiden
Menschen, die ich am liebsten hatte und welche das Leben durch eine weite
Kluft von einander trennte, einen Augenblick Hand in Hand vor mir zu sehen.
Boppi sprach den ganzen Nachmittag von nichts mehr als von Elisabeth,
rühmte ihre Schönheit, ihre Vornehmheit, ihre Güte, ihre Kleider, gelbe
Handschuhe und grüne Schuhe, ihren Gang und Blick, ihre Stimme und ihren
schönen Hut, während es mir schmerzlich und komisch erschien zugesehen zu
haben, wie meine Geliebte meinem Herzensfreund ein Almosen gab.

Inzwischen hatte Boppi den »grünen Heinrich« und die Seldwyler gelesen und
war in der Welt dieser einzigen Bücher so heimisch geworden, daß wir am
Schmoller Pankraz, am Albertus Zwiehan und an den gerechten Kammmachern
gemeinsame liebe Freunde besaßen. Eine Weile schwankte ich, ob ich ihm auch
etwas von C. F. Meyers Büchern geben solle, doch schien es mir
wahrscheinlich, daß er die fast lateinische Prägnanz seiner allzu gepreßten
Sprache nicht schätzen würde, auch trug ich Bedenken, den Abgrund der
Geschichte vor diesem heiter stillen Auge zu öffnen. Statt dessen erzählte
ich ihm vom heiligen Franz und gab ihm Mörikes Erzählungen zu lesen.
Merkwürdig war mir sein Geständnis, daß er die Geschichte von der schönen
Lau großenteils nicht hätte genießen können, wenn er nicht so oft am Bassin
des Fischotters gestanden wäre und sich dabei allerlei fabelhaften
Wasserphantasieen hingegeben hätte.

Lustig war es, wie wir so allmählich in die Duzbrüderschaft hinein
gerieten. Ich hatte sie ihm nie angeboten, er hätte sie auch nicht
angenommen; so aber kam es ganz von selber, daß wir einander immer häufiger
duzten, und als wir es eines Tages merkten, mußten wir lachen und ließen es
nun für immer dabei.

Als der anbrechende Vorwinter unsre Ausfahrten unmöglich machte und ich nun
wieder Abende lang in der Wohnstube von Boppis Schwager saß, merkte ich
nachträglich, daß mir meine neue Freundschaft doch nicht so ganz ohne Opfer
in den Schoß gefallen war. Der Schreiner nämlich war fortwährend mürrisch,
unfreundlich und wortkarg. Auf die Dauer verdroß ihn nicht nur die lästige
Gegenwart des unnützen Mitessers, sondern ebenso sehr mein Verhältnis zu
Boppi. Es kam vor, daß ich einen ganzen Abend vergnüglich mit dem Lahmen
schwatzte, indes der Hausherr ärgerlich mit der Zeitung daneben saß. Auch
mit der sonst ungemein geduldigen Frau kam er auseinander, da sie diesmal
fest auf ihrem Willen bestand und durchaus nicht dulden wollte, daß Boppi
anderwärts untergebracht werde. Mehrmals versuchte ich ihn versöhnlicher zu
stimmen oder ihm neue Vorschläge zu machen, doch war nichts mit ihm
anzufangen. Er begann sogar bissig zu werden, meine Freundschaft mit dem
Krüppel zu verhöhnen und diesem selbst das Leben sauer zu machen. Freilich
war der Kranke samt mir, der ich täglich viel bei ihm saß, dem ohnehin
engen Haushalt eine lästige Bürde, aber ich hoffte noch immer, der
Schreiner möchte sich uns anschließen und den Kranken lieb gewinnen. Mir
war es schließlich unmöglich, irgend etwas zu tun oder zu lassen, womit ich
nicht entweder den Schreiner verletzt oder Boppi benachteiligt hätte. Da
ich alle raschen und zwingenden Entschlüsse hasse -- schon in der Züricher
Zeit hatte Richard mich Petrus Cunctator getauft, -- wartete ich wochenlang
zu und litt beständig an der Furcht, die Freundschaft des einen oder
vielleicht beider zu verlieren.

Die wachsende Unbehaglichkeit dieser unklaren Verhältnisse trieb mich
wieder häufiger in die Kneipen. Eines Abends, nachdem die leidige
Geschichte mich wieder besonders geärgert hatte, verfügte ich mich in eine
kleine Waadtländer Weinschenke und rückte dem Übel mit mehreren Litern zu
Leibe. Zum erstenmal seit zwei Jahren hatte ich wieder einmal Mühe,
aufrecht nach Hause zu gehen. Tags darauf war ich, wie stets nach einer
starken Zeche, bei wohlig kühler Laune, faßte Mut und suchte den Schreiner
auf, um die Komödie endlich zum Abschluß zu bringen. Ich schlug ihm vor, er
möge mir Boppi ganz überlassen, und er zeigte sich nicht abgeneigt, sagte
auch nach mehrtägiger Bedenkzeit wirklich zu.

Bald darauf bezog ich mit meinem armen Buckligen eine neugemietete Wohnung.
Ich kam mir vor als hätte ich geheiratet, da ich nun statt der gewohnten
Junggesellenbude einen ordentlichen kleinen Haushalt zu Zweien beginnen
sollte. Aber es ging, wenn ich auch im Anfang manche unglückliche
Wirtschaftsexperimente anstellte. Zum Ordnungmachen und Waschen kam ein
Laufmädchen, das Essen ließen wir uns ins Haus tragen, und bald war uns
beiden ganz warm und wohl bei diesem Zusammenleben. Die Nötigung, auf meine
sorglosen kleinen und größern Wanderungen künftig zu verzichten,
erschreckte mich einstweilen nicht. Beim Arbeiten empfand ich sogar das
stille Nahesein des Freundes beruhigend und förderlich. Die kleinen
Krankendienste waren mir neu und im Anfang wenig erquicklich, namentlich
das Aus- und Ankleiden: aber mein Freund war so geduldig und dankbar, daß
ich mich schämte und mir Mühe gab, ihn sorgfältig zu bedienen.

                   *       *       *       *       *

Zu meinem Professor war ich wenig mehr gekommen, öfters zu Elisabeth, deren
Haus mich trotz allem mit stetigem Zauber anzog. Dort saß ich dann, trank
Tee oder ein Glas Wein, sah sie die Wirtin spielen und hatte zuweilen
sentimentale Anwandlungen dabei, obwohl ich gegen alle etwaigen
Wertherischen Gefühle in mir mit beständigem Spott zu Felde lag. Der
weichliche, jugendliche Liebesegoismus war allerdings endgültig von mir
gewichen. So war ein zierlicher, vertraulicher Kriegszustand zwischen uns
das richtige Verhältnis, und wir kamen wirklich selten zusammen, ohne uns
freundschaftlichst zu zanken. Der bewegliche und nach Frauenart etwas
verzogene Verstand der klugen Frau traf mit meinem zugleich verliebten und
ruppigen Wesen nicht übel zusammen und da wir im Grunde beide einander
hochachteten, konnten wir desto energischer über jede lausige Kleinigkeit
in Kampf geraten. Mir war es namentlich komisch, das Junggesellentum gegen
sie zu verteidigen -- gegen die Frau, die ich noch vor kurzem ums Leben
gern geheiratet hätte. Ich durfte sie sogar mit ihrem Mann necken, der ein
guter Bursche und stolz auf seine geistreiche Frau war.

In der Stille brannte die alte Liebe in mir fort, nur war es nicht mehr das
frühere anspruchsvolle Feuerwerk, sondern eine gute und dauerhafte Glut,
die das Herz jung hält und an der sich ein hoffnungsloser Hagestolz
gelegentlich an Winterabenden die Finger wärmen darf. Seit vollends Boppi
mir nahe stand und mich mit dem wundervollen Wissen um ein beständiges,
ehrliches Geliebtsein umgab, konnte ich meine Liebe ohne Gefahr als ein
Stück Jugend und Poesie in mir leben lassen.

Übrigens gab mir Elisabeth je und je durch ihre recht frauenhaften Malicen
Gelegenheit, mich abzukühlen und mich meines Junggesellentums herzlich zu
freuen.

Seit der arme Boppi meine Wohnung teilte, vernachlässigte ich auch
Elisabeths Haus mehr und mehr. Mit Boppi las ich Bücher, blätterte
Reisealbums und Tagebücher durch, spielte Domino; wir schafften zu unsrer
Erheiterung einen Pudel an, beobachteten den Winterbeginn vom Fenster aus
und führten täglich eine Menge kluger und dummer Gespräche. Der Kranke
hatte sich eine überlegene Weltanschauung erworben, eine von gütigem Humor
erwärmte sachliche Betrachtung des Lebens, von der ich täglich zu lernen
hatte. Als starke Schneefälle eintraten und der Winter vor den Fenstern
seine reinliche Schönheit entfaltete, spannen wir uns mit knabenhafter
Wollust beim Ofen in ein heimeliges Stubenidyll ein. Die Kunst der
Menschenkenntnis, nach der ich mir so lang umsonst die Sohlen abgelaufen
hatte, lernte ich bei dieser Gelegenheit so nebenher mit. Boppi stak
nämlich, als stiller und scharfer Zuschauer, voll von Bildern aus dem Leben
seiner früheren Umgebungen und konnte, wenn er einmal angesetzt hatte,
wundervoll erzählen. Der Krüppel hatte in seinem Leben kaum mehr als drei
Dutzend Menschen kennen gelernt und war nie im großen Strome
mitgeschwommen, trotzdem kannte er das Leben viel besser als ich, denn er
war gewohnt auch das Kleinste zu sehen und in jedem Menschen eine Quelle
von Erlebnissen, Freude und Erkenntnis zu finden.

Unser Lieblingsvergnügen war nach wie vor die Freude an der Tierwelt. Über
die Tiere des zoologischen Gartens, die wir nicht mehr besuchen konnten,
erfanden wir nun Geschichten und Fabeln aller Art. Die meisten davon
erzählten wir nicht, sondern trugen sie aus dem Stegreif als Dialoge vor.
Zum Beispiel eine Liebeserklärung zwischen zwei Papageien,
Familienzerwürfnisse unter den Bisons, Abendunterhaltungen der
Wildschweine.

»Wie gehts Ihnen denn, Herr Marder?«

»Danke schön, Herr Fuchs, so leidlich. Sie wissen ja, als ich gefangen
ward, verlor ich meine liebe Gattin. Sie hieß Pinselschwanz, wie ich schon
die Ehre hatte Ihnen zu sagen. Eine Perle, versichere ich Ihnen, eine --.«

»Ach lassen Sie doch die alten Geschichten, Herr Nachbar, Sie haben mir das
von der Perle, wenn ich nicht irre, schon öfters erzählt. Lieber Gott, man
lebt schließlich nur einmal und darf sich das bißchen Vergnügen nicht noch
verderben.«

»Bitte sehr, Herr Fuchs, wenn Sie meine Gemahlin gekannt hätten, würden Sie
mich besser verstehen.«

»Aber gewiß, gewiß. Also sie hieß Pinselschwanz, nicht wahr? Ein schöner
Name, so was zum Streicheln! Aber was ich eigentlich sagen wollte -- Sie
haben doch bemerkt, wie sehr die leidige Sperlingsplage wieder zunimmt? Ich
habe da so einen kleinen Plan?«

»Wegen der Sperlinge?«

»Wegen der Sperlinge. Sehen Sie, ich dachte mir das so: Wir legen etwas
Brot vors Gitter, legen uns ruhig hin und warten die Kerls ab. Es müßte des
Teufels sein, wenn wir nicht so ein Vieh erwischen könnten. Was meinen
Sie?«

»Vortrefflich, Herr Nachbar!«

»Also haben Sie die Güte etwas Brot hinzulegen. -- So, schön! Aber
vielleicht schieben Sie es etwas mehr nach rechts herüber, dann kommt es
uns beiden zu gut. Ich bin nämlich im Augenblick leider ohne alle Mittel.
So ist's gut. Also aufgepaßt! Wir legen uns jetzt nieder, schließen die
Augen -- pst, da kommt schon einer geflogen!« (Pause.)

»Nun, Herr Fuchs, noch nichts?«

»Wie ungeduldig Sie sind! Als ob Sie zum erstenmal auf der Jagd wären! Ein
Jäger muß warten können, warten und wieder warten. Also noch einmal!«

»Ja wo ist denn das Brot hingekommen?«

»Pardon?«

»Das Brot ist ja gar nimmer da.«

»Nicht möglich! Das Brot? Wahrhaftig -- verschwunden! Da soll doch das
Donnerwetter! Natürlich wieder der verdammte Wind.«

»Na, ich habe so meine Gedanken. Mir war doch vorher, ich hörte Sie was
essen.«

»Was? Ich etwas gegessen? Was denn?«

»Das Brot vermutlich.«

»Sie sind beleidigend deutlich in Ihren Vermutungen, Herr Marder. Man muß
ja von Nachbarsleuten ein Wort vertragen können, aber das ist zu viel. Das
ist zu viel, sage ich. Haben Sie mich verstanden? -- Nun soll ich das Brot
gegessen haben! Was glauben Sie eigentlich? Erst soll ich die fade
Geschichte von Ihrer Perle zum tausendstenmal anhören, dann habe ich eine
gute Idee, wir legen das Brot hinaus --«

»Das war ich! Ich habe das Brot hergegeben.«

»-- wir legen das Brot hinaus, ich lege mich hin und passe auf, alles geht
gut, da kommen Sie mit Ihrem Geschwätz dazwischen -- die Spatzen natürlich
auf und davon, die Jagd verhunzt, und nun soll ich auch noch das Brot
gefressen haben! Na Sie können warten, bis ich wieder mit Ihnen verkehre.«

Dabei gingen Nachmittage und Abende leicht und schnell vorüber. Ich war
bester Laune, arbeitete gern und rasch und wunderte mich, daß ich früher so
träg und verdrossen und schwerlebig gewesen war. Die besten Zeiten mit
Richard waren nicht schöner gewesen als diese stillen, heiteren Tage, da
draußen die Flocken tanzten und am Ofen wir zwei samt dem Pudel es uns wohl
sein ließen.

Und da mußte mein lieber Boppi seine erste und letzte Dummheit begehen! Ich
in meiner Zufriedenheit war natürlich blind und sah nicht, daß er mehr litt
als sonst. Aber er, aus lauter Bescheidenheit und Liebe, tat vergnügter als
je, klagte nicht, verbot mir nicht einmal das Rauchen, und dann lag er
nachts und litt und hustete und stöhnte leis. Ganz zufällig, als ich einmal
in der Stube neben ihm in die Nacht hinein schrieb und er mich längst zu
Bett glaubte, hörte ich, wie er stöhnte. Der arme Kerl war ganz erschrocken
und verdonnert, als ich plötzlich mit der Lampe in seine Schlafkammer trat.
Ich stellte das Licht beiseite, setzte mich zu ihm aufs Bett und stellte
ein Verhör an. Lange versuchte er auszukneifen, dann kam es endlich doch
heraus.

»Es ist ja nicht so schlimm,« sagte er schüchtern. »Nur bei manchen
Bewegungen das krampfhafte Gefühl im Herzen, und manchmal auch beim Atmen.«

Er entschuldigte sich geradezu, als wäre sein Kränkerwerden ein Verbrechen!

Morgens ging ich zu einem Arzt. Es war ein schöner, frostklarer Tag,
unterwegs ließ meine Beklemmung und Sorge nach, ich dachte sogar an
Weihnachten und besann mich, mit was ich Boppi eine Freude machen könnte.
Der Arzt war noch zu Hause und kam auf mein dringendes Bitten mit. Wir
fuhren in seinem bequemen Wagen, wir stiegen die Treppe hinauf, wir kamen
in die Kammer zu Boppi, es begann ein Betasten und Klopfen und Horchen, und
während der Arzt nur ein wenig ernsthafter und seine Stimme ein bißchen
gütiger wurde, ging in mir alle Fröhlichkeit unter.

Gicht, Herzschwäche, ernster Fall -- ich hörte zu und schrieb mir auch
alles auf und war über mich selber erstaunt, daß ich mich gar nicht wehrte,
als der Arzt die Überführung ins Spital gebot.

Nachmittags kam der Krankenwagen und als ich vom Spital zurückkam, war mir
in der Wohnung schrecklich zu mut, wo der Pudel sich an mich drängte und
der große Stuhl des Kranken beiseite gestellt und nebenan die leergewordene
Kammer war.

So ist es mit dem Liebhaben. Es bringt Schmerzen, und ich habe deren in der
folgenden Zeit viel erlitten. Aber es liegt so wenig daran, ob man
Schmerzen leidet oder keine! Wenn nur ein starkes Mitleben da ist und wenn
man nur das enge, lebendige Band verspürt, mit dem alles Lebende an uns
hängt, und wenn nur die Liebe nicht kühl wird! Ich gäbe alle heiteren Tage,
die ich je gehabt, samt allen Verliebtheiten und samt meinen Dichterplänen,
wenn ich dafür noch einmal so ins Allerheiligste hineinsehen dürfte, wie in
jener Zeit. Es tut den Augen und dem Herzen bitter weh, und auch der schöne
Stolz und Eigendünkel bekommt seine bösen Stiche ab, aber nachher ist man
so still, so bescheiden, so viel reifer und im Innersten lebendiger!

Schon mit der kleinen, blonden Agi war damals ein Stück von meinem alten
Wesen gestorben. Jetzt sah ich meinen Buckligen, dem ich meine ganze Liebe
geschenkt und mit dem ich mein ganzes Leben geteilt hatte, leiden und
langsam, langsam sterben, und litt an jedem Tage mit und hatte meinen
Anteil an allem Schrecklichen und Heiligen des Sterbens. Ich war noch ein
Anfänger in der ars amandi und sollte gleich mit einem ernsten Kapitel der
ars moriendi beginnen. Von dieser Zeit schweige ich nicht, wie ich von
Paris geschwiegen habe. Von ihr will ich laut reden wie eine Frau von ihrer
Brautzeit und wie ein alter Mann von seinen Knabenjahren.

Ich sah einen Menschen sterben, dessen Leben nur Leiden und Liebe gewesen
war. Ich hörte ihn scherzen wie ein Kind, während er die Arbeit des Todes
in sich spürte. Ich sah, wie aus schweren Schmerzen heraus sein Blick mich
suchte, nicht um bei mir zu betteln, sondern um mich aufzurichten und um
mir zu zeigen, daß diese Krämpfe und Leiden das Beste in ihm unversehrt
gelassen hatten. Dann waren seine Augen groß und man sah sein verwelkendes
Gesicht nicht mehr, nur den Glanz seiner großen Augen.

»Kann ich dir etwas tun, Boppi?«

»Erzähl mit was. Vielleicht vom Tapir.«

Ich erzählte vom Tapir, er schloß die Augen und ich hatte meine Mühe, zu
sprechen wie sonst, denn das Weinen stand mir fortwährend nahe. Und wenn
ich glaubte, er höre mich nicht mehr oder schlafe, dann verstummte ich
sogleich. Da machte er wieder die Augen auf.

»-- Und dann?«

Und ich erzählte weiter, vom Tapir, vom Pudel, von meinem Vater, vom
kleinen bösen Mattheo Spinelli, von Elisabeth.

»Ja, sie hat einen dummen Kerl geheiratet. So geht's, Peter!«

Oft fing er plötzlich an vom Sterben zu sprechen.

»Es ist kein Spaß, Peter. Die allerschwerste Arbeit ist nicht so schwer wie
Sterben. Aber man macht's doch durch.«

Oder: »Wenn die Quälerei überstanden ist, kann ich schon lachen. Bei mir
lohnt sich das Sterben doch, ich werde einen Schnitzbuckel, einen kurzen
Fuß und eine lahme Hüfte los. Bei dir wird's einmal schad sein, mit deinen
breiten Schultern und schönen gesunden Beinen.«

Und einmal, in den letzten Tagen, wachte er aus einem kurzen Schlummer auf
und sagte ganz laut:

»Es gibt gar keinen solchen Himmel, wie der Pfarrer meint. Der Himmel ist
viel schöner. Viel schöner.«

Die Schreinersfrau kam oft und zeigte sich in kluger Weise teilnehmend und
hülfsbereit. Der Schreiner blieb zu meinem großen Bedauern ganz aus.

»Was meinst du,« fragte ich Boppi gelegentlich, »wird im Himmel auch ein
Tapir sein?«

»O ja,« sagte er und nickte noch dazu. »Es sind alle Arten Tiere dort, auch
Gemsen.«

Die Weihnachtszeit kam und wir hatten eine kleine Feier an seinem Bett. Es
trat starker Frost ein, es taute wieder, und Neuschnee fiel auf das
Glatteis, aber ich merkte nichts von allem. Ich hörte, Elisabeth habe einen
Knaben geboren, und ich vergaß es wieder. Es kam ein drolliger Brief von
Frau Nardini; ich las ihn flüchtig durch und legte ihn beiseite. Meine
Arbeiten erledigte ich im Galopp mit dem steten Bewußtsein, jede Stunde mir
und dem Kranken zu stehlen. Dann lief ich gehetzt und ungeduldig ins
Krankenhaus, und dort war eine heitere Stille und ich saß halbe Tage an
Boppis Bett, von einem traumhaft tiefen Frieden umgeben.

Er hatte kurz vor dem Ende noch einige bessere Tage. Da war es merkwürdig,
wie die kaum verflossene Zeit in seiner Erinnerung erloschen schien und er
ganz in den früheren Jahren lebte. Zwei Tage lang sprach er von nichts als
von seiner Mutter. Er konnte ja nicht lang reden, aber man sah auch in den
stundenlangen Pausen, daß er an sie dachte.

»Ich habe dir viel zu wenig von ihr erzählt,« klagte er, »du mußt nichts
von dem vergessen, was sie betrifft, sonst gibt es bald niemand mehr, der
von ihr weiß und ihr dankbar ist. Es wäre gut, Peter, wenn alle Leute so
eine Mutter hätten. Sie hat mich nicht ins Armenhaus getan, als ich nimmer
arbeiten konnte.«

Er lag und atmete mühselig. Eine Stunde verging, da fing er wieder an:

»Sie hat mich am liebsten gehabt von allen ihren Kindern und hat mich bei
sich behalten, bis sie gestorben ist. Die Brüder sind ausgewandert und die
Schwester hat den Schreiner geheiratet, aber ich bin zu Haus gesessen und
so arm sie war, hat sie mich's nie entgelten lassen. Du darfst meine Mutter
nicht vergessen, Peter. Sie war ganz klein, vielleicht noch kleiner als
ich. Wenn sie mir die Hand gab, war es gerade so, wie wenn sich ein winzig
kleiner Vogel draufgesetzt hätte. Es langt ein Kindersarg für sie, hat der
Nachbar Rütimann gesagt, wie sie gestorben ist.«

Auch für ihn hätte schier ein Kindersarg hingereicht. Er lag so
verschwunden und klein in seinem sauberen Spitalbett, und seine Hände sahen
nun wie kranke Frauenhände aus, lang, schmal, weiß und ein wenig gekrümmt.
Als er aufhörte, von seiner Mutter zu träumen, kam ich an die Reihe. Er
sprach von mir, als säße ich nicht dabei.

»Er ist ein Pechvogel, nun freilich, aber es hat ihm nichts geschadet.
Seine Mutter ist zu früh gestorben.«

»Kennst du mich noch, Boppi?« fragte ich.

»Jawohl, Herr Camenzind,« sagte er scherzhaft und lachte ganz leise.

»Wenn ich nur singen könnte,« meinte er gleich darauf.

Am letzten Tage fragte er noch: »Du, kostet es viel hier im Spital? Es
könnte zu teuer werden.«

Doch erwartete er keine Antwort. Eine feine Röte stieg ihm in das weiße
Gesicht, er schloß die Augen und sah eine Weile aus wie ein überaus
glücklicher Mensch.

»Es geht zu Ende,« sagte die Schwester.

Aber er öffnete die Augen noch einmal, sah mich schelmisch an und bewegte
die Brauen so, als wollte er mir zunicken. Ich stand auf, legte die Hand
unter seine linke Schulter und hob ihn sachte ein klein wenig, was ihm
jedesmal wohltat. So auf meiner Hand liegend verzog er noch einmal in
kurzem Schmerz die Lippen, dann drehte er den Kopf ein wenig und
schauderte, als fröre ihn plötzlich. Das war die Erlösung.

»Ist's gut, Boppi?« fragte ich noch. Er war aber schon seiner Leiden ledig
und erkaltete mir in der Hand. Es war am siebenten Januar, eine Stunde nach
Mittag. Gegen Abend machten wir alles fertig und der kleine, verwachsene
Körper lag friedlich und sauber ohne weitere Entstellungen da bis es Zeit
war ihn wegzubringen und zu begraben. Während dieser zwei Tage war ich
beständig darüber verwundert, daß ich weder besonders traurig noch ratlos
war und nicht einmal weinen mußte. Ich hatte die Trennung und den Abschied
so gründlich während der Krankheit durchempfunden, daß nun wenig mehr davon
überblieb und die schwankende Schale meines Schmerzes langsam und
erleichtert wieder in die Höhe stieg.

Trotzdem schien es mir jetzt an der Zeit, die Stadt in aller Stille zu
verlassen und mich irgendwo, womöglich im Süden, auszuruhen und das nur
erst grob angelegte Gefäde meiner Dichtung einmal ernstlich auf den
Webstuhl zu spannen. Ein wenig Geld hatte ich übrig, also hing ich meine
literarischen Verpflichtungen an den Nagel und richtete mich ein, beim
ersten Frühlingsbeginn zu packen und abzureisen. Zunächst nach Assisi, wo
die Gemüsehändlerin meinen Besuch erwartete, dann zu tüchtiger Arbeit in
ein möglichst stilles Bergnest. Mir schien ich habe nun ein hinreichendes
Stück Leben und Tod gesehen, um etwa andern Leuten zumuten zu dürfen, mich
darüber ein wenig räsonnieren zu hören. In wohliger Ungeduld wartete ich
auf den März und hatte vorempfindend schon das Ohr voll italienischer
Kraftworte und in der Nase einen kitzelnd würzigen Duft von Risotto,
Orangen und Chiantiwein.

Der Plan war tadellos und befriedigte mich, je länger ich ihn überlegte,
desto mehr. Indessen tat ich wohl daran, mich des Chianti im voraus zu
freuen, denn es kam alles ganz anders.

Ein beweglicher, phantastisch stilisierter Brief des Gastwirts Nydegger
verkündigte mir im Februar, es liege sehr viel Schnee und im Dorfe sei bei
Vieh und Menschen nicht alles in Ordnung, namentlich stehe es mit meinem
Herrn Vater bedenklich und alles in allem wäre es gut, wenn ich Geld
schicken oder selber kommen würde. Da das Geldschicken mir nicht paßte und
der Alte mir wirklich Sorge machte, mußte ich eben reisen. An einem
unwirschen Tage kam ich an, vor Schneefall und Wind waren weder Berge noch
Häuser sichtbar und es kam mir zu gut, daß ich den Weg auch blindlings
kannte. Der alte Camenzind lag wider meine Vermutung nicht zu Bett, sondern
saß dürftig und kleinlaut in der Ofenecke und war von einer Nachbarin
belagert, die ihm Milch gebracht hatte und ihm soeben über seinen schlimmen
Lebenswandel gründlich und ausdauernd den Text las, worin auch mein
Eintritt sie nicht störte.

»Lueg', der Peter isch cho,« sagte der graue Sünder und zwinkerte mir mit
dem linken Auge zu.

Aber sie fuhr unbeirrt in ihrer Predigt fort. Ich setzte mich auf einen
Stuhl, wartete das Versiegen ihrer Nächstenliebe ab und fand in ihrer Rede
einige Kapitel, die auch mir nicht schadeten. Nebenher schaute ich zu, wie
mir der Schnee von Mantel und Stiefeln schmolz und rings um meinen Stuhl
zuerst einen feuchten Flecken und dann einen stillen Weiher bildete. Erst
als die Frau ein Ende gefunden hatte, konnte das offizielle Wiedersehen
stattfinden, an welchem sie ganz freundlich teilnahm.

Der Vater hatte sehr an Kräften abgenommen. Mir fiel mein früherer kurzer
Versuch, ihn zu pflegen, wieder ein. Das Abreisen damals hatte also nichts
geholfen und ich konnte nun, da es freilich nötiger war, doch noch die
Suppe ausfressen.

Schließlich kann man von einem knorrigen alten Bauern, der auch in seinen
besseren Zeiten kein Tugendspiegel war, nicht verlangen, daß er in den
Tagen der Greisenkrankheiten milde werde und dem Schauspiel der Sohnesliebe
mit Rührung beiwohne. Das tat mein Vater denn auch durchaus nicht, sondern
war je kränker desto widerwärtiger und zahlte mir alles, womit ich ihn
früher je gequält hatte, wenn nicht mit Zinsen so doch glatt und
wohlgemessen heim. Mit Worten allerdings war er sparsam und vorsichtig
gegen mich, aber er verfügte über eine Menge von drastischen Mitteln, ohne
Worte unzufrieden, bitter und ruppig zu sein. Mich wunderte zuweilen, ob
wohl auch aus mir einmal im Alter ein so fataler und heikler Kauz werden
möchte. Mit dem Trinken war es für ihn so gut wie vorbei und das Glas guten
Südweins, das ich ihm täglich zweimal einschenkte, genoß er nur mit böser
Miene, weil ich die Flasche stets sogleich wieder in den leeren Keller
zurückbrachte, dessen Schlüssel ich ihm nie überließ.

Erst gegen Ende Februars kamen jene hellen Wochen, die den
Hochgebirgswinter so herrlich machen. Die hohen, beschneiten Bergschroffen
standen klar gegen den kornblumenblauen Himmel und sahen in der
durchsichtigen Luft unwahrscheinlich nahe aus. Matten und Halden lagen
schneebedeckt -- mit dem Schnee des Bergwinters, den man so weiß und
kristallen und herbduftend in den Talländern niemals findet. Auf kleinen
Erdschwellungen feiert in der Mittagszeit das Sonnenlicht glänzende Feste,
in Mulden und an Abhängen liegen satte blaue Schatten und die Luft ist nach
wochenlangem Schneefall so ganz gereinigt, daß in der Sonne jeder Atemzug
ein Genuß ist. An den kleineren Halden fröhnt die Jugend der Gimmelfahrt
und in der Stunde nach Mittag sieht man alte Leutchen auf den Gassen stehen
und sich an der Sonne gütlich tun, während nachts die Dachsparren im Froste
krachen. Inmitten der weißen Schneefelder liegt still und blau der niemals
gefrierende See, schöner als er je im Sommer sein kann. Jeden Tag vor dem
Mittagessen half ich dem Vater vor die Tür und schaute zu, wie er seine
braunen und knotig verbogenen Finger in die schöne Sonnenwärme streckte.
Nach einer Weile begann er alsdann zu husten und über die Kühle zu klagen.
Das war einer seiner harmlosen Kniffe, um einen Schnaps von mir zu
erlangen; denn weder der Husten noch die Kühle waren ernst zu nehmen. Also
bekam er ein Gläschen Enzian oder einen kleinen Absinth, hörte in
kunstreicher Abstufung zu husten auf und freute sich hinterrücks, mich
überlistet zu haben. Nach Tisch ließ ich ihn allein, band die Gamaschen um
und lief ein paar Stunden bergan, soweit es gehen wollte, und legte den
Heimweg, auf einem mitgenommenen Fruchtsack sitzend, als Rutschpartie über
die schrägen Schneefelder zurück.

Als die Zeit herankam, in der ich etwa nach Assisi hatte reisen wollen, lag
noch metertiefer Schnee. Erst im April begann das Frühjahr sich zu regen
und es kam eine bösartig rasche Schneeschmelze über unser Dorf wie seit
Jahren keine mehr gewesen war. Tag und Nacht hörte man den Föhn heulen, das
Krachen entfernter Lauen und das erbitterte Brausen der Sturzbäche, welche
große Felsstücke und zersplitterte Bäume mitbrachten und auf unsre armen,
schmalen Grundstücke und Obstwiesen warfen. Das Föhnfieber ließ mich nicht
schlafen, Nacht für Nacht hörte ich ergriffen und angstvoll den Sturm
klagen, die Lauen donnern und den wütenden See an die Ufer branden. In
dieser fiebernden Zeit der schrecklichen Frühlingskämpfe überfiel mich noch
einmal die überwundene Liebeskrankheit so ungestüm, daß ich mich nachts
erhob, mich ins Türfenster legte und unter bitteren Schmerzen Liebesworte
an Elisabeth in das Getöse hinaus rief. Seit der lauen Züricher Nacht, in
der ich auf dem Hügel über dem Hause der welschen Malerin vor Liebe gerast
hatte, war die Leidenschaft nie mehr so schrecklich und unwiderstehlich
über mich Herr geworden. Es war mir oft so, als stünde die schöne Frau ganz
nahe vor mir und lächle mich an und wiche doch bei jedem Schritt, den ich
ihr näher träte, zurück. Meine Gedanken, mochten sie herkommen von wo sie
wollten, kehrten unabänderlich zu diesem Bilde zurück und ich konnte gleich
einem Verwundeten es nicht lassen, immer wieder an der jückenden Schwäre zu
kratzen. Ich schämte mich vor mir selber, was ebenso quälend wie nutzlos
war, verwünschte den Föhn und hatte heimlich neben allen Qualen doch ein
verschwiegenes, warmes Lustgefühl, ganz wie in Knabenzeiten, wenn ich an
die hübsche Rösi dachte und die laue, dunkle Woge mich überlief.

Ich begriff, daß gegen diese Krankheit kein Kraut gewachsen war, und
versuchte wenigstens ein bißchen zu arbeiten. Ich begann den Aufbau meines
Werkes in Angriff zu nehmen, entwarf einige Studien und sah bald ein, daß
dafür jetzt nicht die Zeit sei. Indessen liefen von überall her die bösen
Föhnberichte ein und im Dorfe selbst nahm die Not überhand. Die Bachdämme
waren halb zerstört, manche Häuser, Scheunen und Ställe hatten starken
Schaden gelitten, von der Außengemeinde trafen mehrere Obdachlose ein,
überall war Klage und Not und nirgends Geld. In diesen Tagen war's, daß zu
meinem Glück der Schulze mich auf sein Ratsstübchen holen ließ und mich
fragte, ob ich willens sei, einem Ausschuß zur Abhülfe der allgemeinen Not
beizutreten. Man traue mir zu, die Sache der Gemeinde beim Kanton zu
vertreten und namentlich durch die Zeitungen das Land zur Teilnahme und
Beisteuer zu bewegen. Mir kam es gelegen, gerade jetzt meine nutzlosen
eigenen Leiden über einer ernsteren und würdigeren Sache vergessen zu
können, und ich ging verzweifelt ins Zeug. In Basel gewann ich durch Briefe
rasch einige Sammler. Der Kanton hatte, wie wir voraus wußten, kein Geld
und konnte nur ein paar Hülfsarbeiter senden. Nun wandte ich mich an die
Zeitungen mit Aufrufen und Berichten; Briefe, Beiträge und Anfragen liefen
ein und ich hatte neben der Schreiberei noch die Gemeinderatshändel mit den
harten Bauernschädeln durchzufechten.

Die paar Wochen strenger, unentrinnbarer Arbeit taten mir gut. Als die
Sache allmählich in eine geregelte Bahn gebracht und ich dabei minder
notwendig geworden war, grünten ringsum die Matten und blaute der See
harmlos und sonnig zu den vom Schnee befreiten Halden hinauf. Mein Vater
hatte erträgliche Tage und meine Liebesnöte waren gleich den schmutzigen
Lawinenresten verschwunden und zerlaufen. In diesen Zeiten hatte früher
mein Vater seinen Nachen gefirnißt, die Mutter hatte vom Garten her
zugesehen und ich hatte mein Auge auf des Alten Hantierung, auf die Wolken
seiner Pfeife und auf die gelben Schmetterlinge gehabt. Diesmal war kein
Nachen zum Anstreichen mehr da, die Mutter war lange tot und der Vater
bockte verdrossen in dem verwahrlosten Hause herum. An die alten Zeiten
erinnerte mich auch Onkel Konrad. Häufig nahm ich ihn, vom Vater ungesehen,
zu einem Gläschen Wein mit und hörte zu, wie er erzählte und seiner vielen
Projekte mit gutmütigem Lachen und doch nicht ohne Stolz gedachte. Neue
machte er zur Zeit nicht mehr und das Alter hatte ihn auch sonst stark
gezeichnet, trotzdem war in seinen Mienen und zumal in seinem Lachen etwas
Knaben- oder Jünglinghaftes, das mir wohltat. Er war oft mein Trost und
Zeitvertreib, wenn ich es zuhaus beim Alten nimmer aushielt. Nahm ich ihn
zum Wein mit, so trottete er hastig neben mir her und bestrebte sich
ängstlich, seine krummgewordenen, mageren Beine im gleichen Schritt mit
meinen zu halten.

»Mußt Segel nehmen, Onkel Konrad,« munterte ich ihn auf, und über dem Segel
kamen wir dann jedesmal auf unsern alten Nachen zu sprechen, welcher nimmer
da war und den er wie einen lieben Toten beklagte. Da auch mir das alte
Stück lieb gewesen war und nun fehlte, gedachten wir seiner und aller mit
ihm passierten Geschichten bis ins kleinste.

Der See war so blau wie ehemals, die Sonne nicht minder feiertäglich und
warm, und ich alter Bursche schaute oft den gelben Faltern zu und hatte ein
Gefühl, als wäre seit damals im Grunde wenig anders geworden und als könnte
ich ebensowohl mich wieder in die Matten legen und Bubenträume aushecken.
Daß dem nicht so war und daß ich ein gutes Teil meiner Jahre auf
Nimmerwiedersehen schon verbraucht hatte, konnte ich jeden Tag beim Waschen
sehen, wenn aus der rostigen Blechschüssel mein Kopf mit der starken Nase
und dem säuerlichen Mund mich anglänzte. Noch besser sorgte Camenzind
senior dafür, daß ich nicht am Wandel der Zeiten irre ward, und wenn ich
ganz in die Gegenwart gerückt sein wollte, brauchte ich nur die klamme
Tischlade in meiner Stube zu öffnen, worin mein künftiges Werk lag und
schlief, aus einem Paket verjährter Skizzen und aus sechs oder sieben
Entwürfen auf Quartbogen bestehend. Ich öffnete die Lade aber selten.

Neben der Pflege des Alten gab mir das Instandhalten unsres verlotterten
Hauswesens reichlich zu tun. In den Dielen klafften Abgründe, Ofen und Herd
waren defekt, rauchten und stänkerten, die Türen schlossen nicht und die
Leitertreppe auf den Boden, den ehemaligen Schauplatz der väterlichen
Züchtigungen, war lebensgefährlich. Ehe hieran etwas getan werden konnte,
mußte das Beil geschliffen, die Säge geflickt, ein Hammer entlehnt und
Nägel zusammengesucht werden, dann galt es, aus dem faulenden Rest des
ehemaligen Holzvorrates brauchbare Stücke herzurichten. Beim Reparieren der
Werkzeuge und des alten Schleifsteins ging mir Onkel Konrad ein wenig an
die Hand, doch war er zu alt und krumm geworden um viel zu nützen. Also
zerschliß ich mir meine weichen Schreiberhände am widerspenstigen Holz,
trat den wackligen Schleifstein, kletterte auf dem allenthalben undicht
gewordenen Dach umher, nagelte, hämmerte, schindelte und schnitzte, wobei
mein etwas ins Feiste gediehener Adam manchen Tropfen Schweiß vergoß.
Zuweilen hielt ich denn auch, namentlich bei der leidigen Dachflickerei,
mitten im Hammerschlag inne, setzte mich zurecht, sog die halberloschene
Cigarre wieder an, schaute in die tiefe Himmelsbläue und genoß meine
Trägheit im frohen Bewußtsein, daß jetzt der Vater mich nimmer antreiben
und schelten konnte. Kamen dann Nachbarsleute vorübergewandelt, Weiber,
alte Männer und Schulkinder, so knüpfte ich zur Beschönigung meines
Nichtstuns freundnachbarliche Gespräche mit ihnen an und kam allmählich in
den Geruch eines Mannes, mit dem sich ein vernünftiges Wort reden lasse.

»Macht's warm heut, Lisbeth?«

»Allweg, Peter. Was schaffst?«

»'s Dach flicken.«

»Kann nit schaden, 's hat's allweg schon länger nötig gehabt.«

»Wohl, wohl.«

»Was macht denn der Alte? Er wird leicht seine siebenzig alt sein.«

»Achtzig, Lisbeth, achtzig. Was meinst, wenn wir einmal so alt sind? 's ist
kein Spaß.«

»Wohl Peter, aber jetzt muß ich weiter, der Mann will's Essen haben. Mach's
gut unterdes!«

»Adie, Lisbeth.«

Und während sie mit dem Napf im Tüchlein weiter pilgerte, blies ich Wolken
in die Luft, sah ihr nach und besann mich, wie es nur käme, daß alle Leute
so fleißig ihren Geschäften nachgingen, indes ich schon zwei volle Tage an
der gleichen Latte herumnagelte. Schließlich aber war das Dach doch
geflickt. Der Vater interessierte sich ausnahmsweise dafür und da ich ihn
unmöglich aufs Dach schleppen konnte, mußte ich ihm ausführlich beschreiben
und über jede halbe Latte Rechenschaft ablegen, wobei es mir auf einige
Prahlereien nicht ankam.

»'s ist gut,« gab er zu, »'s ist gut, aber ich hätt' nicht geglaubt, daß du
dies Jahr noch fertig wirst.«

                   *       *       *       *       *

Wenn ich nun meine Fahrten und Lebensversuche beschaue und überdenke, freut
und ärgert es mich, die alte Erfahrung auch an mir erlebt zu haben, daß die
Fische ins Wasser und die Bauern aufs Land gehören und daß aus einem
Nimikoner Camenzind trotz aller Künste kein Stadt- und Weltmensch zu machen
ist. Ich gewöhne mich daran, das in der Ordnung zu finden und bin froh, daß
meine ungeschickte Jagd um das Glück der Welt mich wider Willen in den
alten Winkel zwischen See und Bergen zurückgeführt hat, wo ich hingehöre
und wo meine Tugenden und Laster, namentlich aber die Laster, etwas
ordinäres und hergebrachtes sind. Da draußen hatte ich die Heimat vergessen
und war nahe daran gewesen, mir selbst als eine seltene und merkwürdige
Pflanze vorzukommen; nun sehe ich wieder, daß es nur der Nimikoner Geist
war, der in mir spukte und sich dem Brauch der übrigen Welt nicht fügen
konnte. Hier fällt es niemand ein, einen Sonderling in mir zu sehen, und
wenn ich meinen alten Papa oder den Onkel Konrad betrachte, komme ich mir
wie ein ordentlich geratener Sohn und Neffe vor. Meine paar Zickzackflüge
im Reich des Geistes und der sogenannten Bildung lassen sich füglich der
berühmten Segelfahrt des Oheims vergleichen, nur daß sie an Geld und Mühe
und schönen Jahren mich teurer zu stehen kamen. Auch äußerlich bin ich,
seit mein Vetter Kuoni mir den Bart stutzt und seit ich wieder Gürtelhosen
trage und in Hemdärmeln herumlaufe, wieder ganz ein Hiesiger geworden und
werde, wenn ich einmal grau und alt bin, unvermerkt meines Vaters Platz und
seine kleine Rolle im Dorfleben übernehmen. Die Leute wissen bloß, ich sei
Jahre lang in der Fremde gewesen und ich hüte mich wohl, ihnen zu sagen,
was für ein lausiges Metier ich dort betrieben und in wieviel Pfützen ich
gesteckt habe; sonst hätte ich bald meinen Spott und Übernamen weg. So oft
ich von Deutschland, Italien oder Paris erzähle, blase ich mich ein bißchen
auf und komme selbst bei den ehrlichsten Stellen zuweilen in einige Zweifel
an meiner eigenen Wahrhaftigkeit.

Und was ist denn nun bei so viel Irrfahrten und verbrauchten Jahren
herausgekommen? Die Frau, die ich liebte und immer noch liebe, erzieht in
Basel ihre zwei hübschen Kinder. Die andere, die mich lieb hatte, hat sich
getröstet und handelt weiterhin mit Obst, Gemüse und Sämereien. Der Vater,
wegen dessen ich ins Nest heimgekehrt bin, ist weder gestorben noch
genesen, sondern sitzt mir gegenüber auf seinem Faulbettlein, sieht mich an
und beneidet mich um den Besitz des Kellerschlüssels.

Aber das ist ja nicht alles. Ich habe, außer der Mutter und dem ertrunkenen
Jugendfreund, die blonde Agi und meinen kleinen, krummen Boppi als Engel im
Himmel wohnen. Und ich habe erlebt, daß im Dorf die Häuser wieder geflickt
und beide Steindämme wieder aufgerichtet sind. Wenn ich wollte, säße ich
auch im Gemeinderat. Es sind aber dort der Camenzinde schon genug.

Nun hat sich mir neuestens eine andere Aussicht eröffnet. Der Gastwirt
Nydegger, in dessen Stube mein Vater und ich so manchen Liter Veltliner,
Walliser oder Waadtländer getrunken haben, fängt an steil bergab zu gehen
und hat keine Freude mehr an seinem Geschäft. Er klagte mir dieser Tage
sein Elend. Das schlimmste dabei ist, daß wenn kein Einheimischer sich dazu
findet, eine auswärtige Brauerei das Anwesen kauft und dann ist es
verdorben und wir haben in Nimikon keinen behaglichen Wirtstisch mehr. Es
wird irgend ein fremder Pächter hineingesetzt werden, der natürlich lieber
Bier als Wein verzapft und unter welchem der gute Nydeggersche Keller
verpfuscht und vergiftet wird. Seit ich das weiß, läßt es mir keine Ruhe;
in Basel liegt mir noch ein wenig Geld auf der Bank und der alte Nydegger
fände an mir nicht den schlechtesten Nachfolger. Der Haken dran ist nur,
daß ich zu Vaters Lebzeiten nicht mehr Gastwirt werden möchte. Denn einmal
könnte ich den alten Mann dann nimmer vom Spunden fernhalten und außerdem
würde er seinen Triumph darüber haben, daß ich mit allem Latein und
Studieren es zum Nimikoner Weinwirt und nicht weiter gebracht habe. Das
geht nicht an, und so beginne ich auf das Ableben des Alten allmählich ein
wenig zu warten, nicht mit Ungeduld, sondern nur der guten Sache zulieb.

Onkel Konrad ist seit kurzem wieder in einen aufgeregten Tatendurst
hineingeraten, nach langen still verdöselten Jahren, und das gefällt mir
nicht. Er hat beständig den Zeigefinger im Mund und eine Denkrunzel auf der
Stirn, tut hastige kleine Schritte in seiner Stube herum und schaut bei
hellem Wetter viel über's Wasser. »Ich mein' alleweil, er will wieder
Schiffli bauen,« sagt seine alte Cenzine, und er sieht wirklich so lebendig
und kühn aus wie seit Jahren nicht und hat so einen schlauen, überlegenen
Zug im Gesicht, als wisse er jetzt genau wie er es diesmal anfangen müsse.
Ich glaube aber, es ist nichts damit und es ist nur seine müdgewordene
Seele, welche jetzt nach Flügeln verlangt, um bald daheim zu sein. Mußt
Segel nehmen, alter Onkel! Wenn es aber so weit mit ihm sein wird, dann
sollen die Herren Nimikoner etwas Unerhörtes erleben. Denn ich habe bei mir
beschlossen, an seinem Grabe hinter dem Pater her einige Worte zu reden,
was hierorts noch nie passiert ist. Ich werde des Oheims als eines Seligen
und Lieblings Gottes gedenken, und diesem erbaulichen Teil wird eine mäßige
Handvoll Salz und Pfeffer für die geliebten Leidtragenden folgen, die sie
mir nicht so bald vergessen und verzeihen sollen. Hoffentlich erlebt es
auch mein Vater noch.

Und in der Lade liegen die Anfänge meiner großen Dichtung. »Mein
Lebenswerk«, könnte ich sagen. Es klingt aber zu pathetisch und ich sage es
lieber nicht, denn ich muß bekennen, daß Fortgang und Vollendung desselben
auf schwachen Beinen stehen. Vielleicht kommt noch einmal die Zeit, daß ich
von neuem beginne, fortfahre und vollende; dann hat meine Jugendsehnsucht
Recht gehabt und ich bin doch ein Dichter gewesen.

Das wäre mir soviel oder mehr als der Gemeinderat und als die Steindämme
wert. Das Vergangene und doch Unverlorene meines Lebens aber, samt allen
den lieben Menschenbildern, von der schlanken Rösi Girtanner bis auf den
armen Boppi, wöge es mir nicht auf.

Ende



Werke
von
Hermann Hesse


Unterm Rad

Roman. 18. Auflage. Geh. M. 3.50, geb. M. 4.50

Hier ist etwas Freies, Unkünstliches, Naturgewachsenes. Immer, wenn ich ein
Buch von Hesse lese, habe ich die Empfindung, daß sich über mir der blaue
Himmel wölbt, daß Bäume ringsum grünen und frische Luft weht.

(Die Zeit, Wien)

Es ist dieser Roman ein gutes, tiefes, starkes Buch, geläuterter noch als
der »Camenzind«, von einer tüchtigen Männlichkeit durchweht, eine Wohltat
für den, der ihn liest, treuherzig, überzeugend, von lebhaftem, heißem
Natursinn kündend, frei von ästhetischer Kränkelei -- ein klares
Schwabenbuch, ein durch und durch deutscher Roman.

(Münchener Neueste Nachrichten)

Es ist die einfache Geschichte von einem Jungen, der stolz und mit der
Anwartschaft auf Ruhm und Glück ins Leben eintritt und unters Rad kommt und
überfahren wird; ein Buch voll Schwermut und heimlicher, leiser Klage und
auch ein Buch voll Anklage. Schwer und gewichtig in seiner Einfachheit, die
um so tiefer wirkt, als sie das Resultat einer unnachahmlichen sprachlichen
Meisterschaft und stilistischen Adels ist.

(Münchener Zeitung)

Man wird vielleicht fragen, ob der neue Roman einen Fortschritt gegenüber
dem »Peter Camenzind« bedeutet. Die Frage geht verloren, bei beiden Büchern
steht Hesse auf einem Gipfel, den mit ihm von jüngeren deutschen
Romanschriftstellern nur noch Thomas Mann, Emil Strauß und die wunderbarste
der Frauen, Ricarda Huch, bewohnen.

(Neue Badische Landeszeitung, Mannheim)


Diesseits

Erzählungen. 16. Auflage. Geh. M. 3.50, geb. M. 4.50

Wie lange habe ich mich darauf gefreut, dieses Buch anzuzeigen! Eine
erlesene Schar der Novellen Hesses, die verstreut in Zeitschriften lagen,
in einem Bande gesammelt in Händen zu halten, zu eigen zu haben wie
Hausschwalben, die ihr Nest an unserem Dache sich bauen. Es ist ein
stilles, vornehmes und unsäglich schönes Buch geworden, das man ehrfürchtig
in die Hand nimmt, ehrfürchtig aus der Hand legt, stillergriffen,
nachdenklich, voll einer Liebe zu dem Menschen, der ein so starkes, reines
Herz hat und es so lauter schenkt. Hermann Hesse bedeutet einen Gipfelpunkt
deutscher Erzählerkunst.

(Münchener Zeitung)

Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an einem stillen,
schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit und jeder Alltäglichkeit weit
entrückt, ruhevoll nur sich und dem Weben der leise schaffenden Natur
lauschend, in solcher Sonntagsstimmung sollte man Hermann Hesses neuen
Novellenband »Diesseits« lesen.

(Neue Zürcher Zeitung)


Nachbarn

Erzählungen. 12. Auflage. Geh. M. 3.50, geb. M. 4.50

Was uns das neueste Buch Hermann Hesses besonders liebwert macht, ist die
ruhig verträumte Art seines Verfassers, zu sehen und zu schildern . . . Die
lichtwonnige, diogenetische Eigenart des Dichters, der wahr und warm, allen
kokettierenden Beiwerkes entratend, Menschen aus kleinen Verhältnissen,
doch darum nicht kleine Menschen, einfach verklärt. Ungeheuchelte
Herzlichkeit, ohne den leisesten Anflug krankhafter Sentimentalität, werden
den »Nachbarn« Eingang weniger in die Köpfe der geschworenen
Literaturmenschen, als in die Herzen aller Schönheitsfrohen sichern.

(Berner Tagwacht)

Es ist eigentlich eine einzige Geschichte, die wir da in den fünf
Erzählungen des neuen Hessebandes erleben; so harmonisch zusammengeschweißt
erscheinen sie . . . Ruhig, über allen Dingen schwebend, ohne Leidenschaft
und vollkommen abgeklärt werden uns diese Geschichten erzählt. Aber in
einer Sprache, die ihresgleichen sucht und die den Stolz in uns aufleben
läßt: sehet, das ist Deutsch. Gott sei Dank, daß es eine deutsche Sprache
gibt. Und Dichter, die sie adeln.

(Württemberger Zeitung, Stuttgart)

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig



Anmerkungen zur Transkription


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