Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII | HTML | PDF ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Die erste Stunde nach dem Tode - Eine Gespenstergeschichte
Author: Brod, Max
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die erste Stunde nach dem Tode - Eine Gespenstergeschichte" ***


DIE ERSTE STUNDE
NACH DEM TODE


EINE GESPENSTERGESCHICHTE
VON
MAX BROD

MIT DREI ZEICHNUNGEN VON OTTOMAR STARKE


LEIPZIG
KURT WOLFF VERLAG
1916


Gedruckt bei E. Haberland in Leipzig-R.
September 1916 als zweiunddreißigster Band
der Bücherei »Der jüngste Tag«


COPYRIGHT 1916 By KURT WOLFF VERLAG · LEIPZIG



DER kleine absonderliche Zwischenfall ereignete sich, als Staatsminister
Baron von Klumm an der Spitze einer größeren Gesellschaft hervorragender
Diplomaten das Palais des Repräsentantenhauses verließ.

Ein schmächtiger Mann drängte sich durch die Kette der Wachleute, lief,
allen sichtbar, sehr schnell oder überpurzelte sich vielmehr die breite
Prachttreppe hinauf, deren oberste Stufe der Minister eben betreten hatte,
und fiel, oben angelangt, auf die Knie nieder, indem er ausrief: »Herr
Minister, lassen Sie unseren Feinden Gerechtigkeit widerfahren, und wir
haben den Frieden!«

Baron von Klumm lächelte verbindlich und ohne jedwede Verlegenheit: »Sie
heißen --?«

»Arthur Bruchfeß.«

»Und von Beruf sind Sie?«

Der Mann warf eine blonde Haarsträhne, die ihm beim Laufen vornüber ins
Gesicht gefallen war, aus der Stirne zurück: »Schornsteinfeger.«

»Mein lieber Herr Bruchfeß, und wenn Sie Ihren Schornsteinen Gerechtigkeit
widerfahren lassen, werden sie Sie dann weniger anschwärzen?«

Da waren schon fünf, acht, fünfzehn Polizisten keuchend angelangt und
legten ihre Hand auf den sehr verdutzt dreinschauenden Bittsteller.

Inmitten der zusammengedrängten Schar der Würdenträger, die aus erleichtert
aufatmender Brust jetzt nachträglich den Ministerwitz bekicherte, war von
Klumm schon weiter hinabgeschritten.

Ein braun abgebrannter hagerer Greis trat an ihn heran, hinter ihm regten
sich geschäftige Gesichter: »Die Information für die Presse.«

Der Minister blickte auf, sah einen Augenblick lang zögernd umher.

Der Chef der Geheimpolizei erriet seine Überlegung: »O ja, man hat es
allgemein gesehn und bemerkt.«

»Wurde von einem schwachsinnigen Individuum attackiert« diktierte der
Minister gleichsam in die Luft. »Sofort Wache. Schritt ein. Attentäter ins
Irrenhaus gebracht. Ärzte konstatieren. Staatsminister erledigte wie sonst
seine Tagesgeschäfte. Meinen kleinen Scherz natürlich unterdrücken. Adieu,
Herr Geheimrat.« --

»Ich weiß nicht, was ich an Ihnen mehr bewundern soll,« sagte Herr von
Crudenius, der Militärattaché einer verbündeten Macht, der bald hierauf mit
Herrn von Klumm in dessen Wagen zur Botschaft fuhr -- die versammelte
Volksmenge brach in Hochrufe aus -- »Sie stellen Ihre Verehrer vor allzu
schwere Aufgaben, -- Ihre heutige Rede im Repräsentantenhaus, die ein
oratorisches Meisterstück war, Ihr schlagfertiges geistvolles Aperçu an den
Unbekannten oder den erstaunlich sicheren Takt, mit dem Sie die Wiedergabe
dieses Aperçus sofort unterdrücken.«

»Routine, lieber Herr von Crudenius, nichts als Routine. Natürlich Routine
nicht im schlechten Sinne des Wortes, etwa als Gewissenlosigkeit,
Herzlosigkeit. Nein, ich will mich nicht überflüssigerweise heruntermachen,
bin auch durchaus nicht der Bescheidenste im Land. Ich will nur sagen: man
lernt das, man gewöhnt sich daran, wie man sich an alles gewöhnt. Neunzehn
Zwanzigstel unseres Lebens sind blinde bewußtlose Gewohnheit.«

»Dasselbe sagten Sie eben auch im Parlament, Herr Baron. Ich staune über
Ihren Mut. Den Beifall der konservativ-nationalistischen Gruppe haben Sie
sich gleich anfangs verscherzt, als Sie gegen jede Prestigepolitik
sprachen. Und zum Schlusse forderten Sie wiederum die sogenannten
Fortschrittsparteien zum Widerspruch heraus, indem Sie das Stehenbleiben
auf Sitte und Tradition rühmten.«

»Nicht rühmten,« unterbrach der Baron, dessen kluger Kopf keine Spur von
geistiger Abgespanntheit zeigte, wie es nach der anstrengenden
fünfstündigen Sitzung eigentlich begreiflich gewesen wäre. »Ich rühmte
nicht. Ich stellte nur fest. Stellte, wenn Sie wollen, sogar mit Bedauern
fest. Ich bin nun einmal, so weit kennen Sie mich ja, ein fanatischer
Anbeter von festgestellten Tatsachen und Wahrheiten. Ich fühle mich
verantwortlich für das Wohl und Wehe des Reiches, in des Wortes schwerster
Bedeutung vor meinem Gewissen verantwortlich. Als verantwortlicher Mann muß
ich nüchternste Realpolitik treiben und bin ein abgesagter Feind aller
Ideologien, mögen sie nun von rechts oder von links kommen, mögen sie
chauvinistisch mit dem Säbel klirren oder aufgeklärt mit der Friedenspalme
rasseln. Wahrhaftig, lieber Herr von Crudenius, Ideologen, Utopisten,
unverantwortliche Phantasten halte ich für die Ärgsten, die einzigen Feinde
der Menschheit.«

Der Attaché lachte: »Und wenn man's genau nimmt, haben Sie immerfort mit
solchen Leuten zu tun, Sie Bedauernswerter. Der Mann auf der Treppe -- und
die Volksmänner drinnen, denen Sie die wahre sittliche Würde des Krieges
erklären mußten -- ist es nicht, im Grunde genommen, immer ein und derselbe
Feind. Verkehrtheit und überspannter Idealismus gegen die gesunde
Menschennatur.«

»In Ihre Hand würde ich den Auftrag, meine Biographie zu schreiben, mit
Beruhigung legen,« sagte der Minister nicht ohne leise Ironie. »Sie haben
mich sozusagen heraus. -- Mit der einen Einschränkung vielleicht: Ich bin
kein Freund Ihres Handwerks.« Er zeigte auf den troddelgeschmückten
Säbelgriff seines Nebensitzenden. »Wiewohl ich heute manches derartige
gesagt habe, weil ich es sagen muß. Ich bin überhaupt nichts weniger als
ein Freund dieses Krieges, der nun schon das zwanzigste Jahr lang
andauert.«

»Aber Sie sagten, unter dem Entrüstungssturm der Sozialdemokraten, daß man
sich an den Krieg gewöhnt hat.«

»Das sagte ich, weil es wahr ist, einfach unbestreitbare Tatsache. Bester
Beweis: ebendieselben Sozialisten bewilligen uns jedes Jahr glatt unsere
Kriegskredite. Aber zwischen Gewohnheit, und Freundschaft liegt doch wohl
noch so manches, nicht wahr? Man hat auch üble Gewohnheiten, und ich stehe
nicht an, den Dauerkrieg als eine solche üble Gewohnheit Europas zu
bezeichnen. -- Aber wer wagt es ernstlich zu bestreiten, daß wir den Krieg
restlos in die Reihe unserer sozusagen instinktiven Lebensfunktionen mit
eingereiht haben? Kein Wunder, die meisten von unserer repräsentativen
Generation waren noch schulpflichtige Kinder, als der Krieg begann. Wir
sind mit dem Krieg aufgewachsen und werden zweifellos nicht so lange leben
wie er. Die heutige Jugend weiß gar nicht, was dieser sagenhafte Zustand
»Frieden« bedeutet, den sie nie erlebt hat. Ja, wenn man es genau nimmt,
hat es eigentlich noch niemals Frieden gegeben, so wie es meiner festen
Überzeugung nach auch nie einen geben wird. Es war nur Nicht-Krieg, ein
durch geschäftsmännische Heuchelei und künstlich errechnete Verträge
überkleisterter Zustand gegenseitiger Feindschaft und übelsten
Ressentiments zwischen den Staaten. Ein Schriftsteller, der den Ausbruch
des Krieges als reifer Mann miterlebt hat, also die Zustände vorher und
nachher als Zeitgenosse wohl miteinander vergleichen konnte, ich meine Max
Scheler -- der auf meine Anordnung hin jetzt in den Schulen gelesen wird --
hat das damals sehr gut dargestellt. Der Unterschied zwischen dem
versteckten und offenen Krieg, der dann nur das vorhandene Haßverhältnis
enthüllte, ist nach diesem Autor gar nicht so bedeutend gewesen. Ich stimme
ihm in diesem Punkte vollständig bei. Anders wäre es ja auch gar nicht
erklärbar, daß wir den Krieg so gut vertragen und ihm unsere Organisation
wirklich lückenlos anpassen konnten. Es war eben immer Krieg, seit die Welt
besteht. Krieg ist der natürliche Zustand der Menschheit, nur seine äußere
Form wechselt. Schauen Sie doch um sich, lieber Herr von Crudenius. Sieht
diese belebte Straße, dieser Andrang vor dem Theater, diese
Menschenströmung um die Warenhäuser herum und in sie hinein wie etwas
Abnormales aus? Unsere Wirtschaftsmaschine arbeitet nach Überwindung
einiger anfänglicher Störungen, die uns heute kindlich anmuten, tadellos.
Der Export hat aufgehört, der innere Markt hat sich dafür erschlossen. Und
mit welchem Erfolg, das sagen Ihnen die nie dagewesenen Dividendenhöhen
unserer Aktiengesellschaften. Die Vernichtung von Werten wird durch die
angeregte Erfindertätigkeit und Nutzbarmachung neuer Rohstoffe mehr als
wettgemacht. Wir nähern uns dem Ideal des Fichteschen geschlossenen
Handelsstaates. Die Umschichtung der Berufe ist leicht und radikal vor sich
gegangen. Der Mann ist Krieger, die Frau zu jeder Art bürgerlicher Arbeit
erzogen, mit ihr das Heer der Alten und Untauglichen. Gewiß bedauert es
niemand mehr als ich, daß jährlich einige hunderttausend junge Leute an der
Grenze fallen müssen, aber ist denn im sogenannten »Frieden« niemand
gestorben? Wir haben es ja durch eine zielbewußte Bevölkerungspolitik,
durch energische Kinderversorgung im Staatswege, Aufhebung der Monogamie,
regulierte Mannschaftsurlaube zu Fortpflanzungszwecken, durch Bodenreform,
Einfamilienhaus, Kriegerheimstätte, Gartenstadt und andere vernünftige
Maßnahmen, deren Durchsetzung man früher für einen Traum hielt, dahin
gebracht, daß die Bevölkerungszahl sogar einen prozentuell höheren
Jahreszuwachs zeigt, als jemals und daß der allgemeine Gesundheitszustand
sich konstant bessert. Infolge Rückgangs der Säuglingssterblichkeit ist
sogar die jährliche absolute Sterbeziffer samt allen Kriegsverlusten um
etwas, allerdings nicht viel, kleiner, als die vor dem Kriege. Bitte, das
ist statistische Tatsache. Wir züchten heute sozusagen Volk, während der
Staat früher unbegreiflicherweise geradezu volksfeindliche Tendenzen wie
den Großgrundbesitz und unhygienische Fabrikationsmethoden begünstigte.«

»Und wie erklären Sie dann trotzdem diese allgemeine Unzufriedenheit,
dieses nicht überhörbare dumpfe Grollen in der Welt, das sich zum Beispiel
in solchen peinlichen Auftritten wie heute entlädt?«

»Gewohnheit ist noch nicht Zufriedenheit. Sagte ich es nicht schon vorhin?
Der Mensch gewöhnt sich auch ohne jede Zufriedenheit an das Furchtbarste,
weil ihm keine andere Wahl bleibt. Wir haben uns ja sogar an den Tod
gewöhnt. Lachen Sie nicht. Ich meine das ganz im Ernst. Wir als Geschlecht,
als genus humanum, machen uns gar nichts mehr aus dem Tod. Und doch ist es,
wenn man so allein, als Einzelner darüber nachdenkt, ein entsetzlicher, ja
unfaßbarer Gedanke, zu sterben, von einem bestimmten Moment an nichts mehr
zu fühlen, nichts zu denken, einfach für alle Ewigkeit, nicht etwa
vorübergehend, nicht mehr zu existieren. Wie mag es eine Stunde nach dem
Tode in unserem Kopfe ausschaun? Und fünf hunderttausend Jahre nachher? Und
dabei ist dieser unendlich lange Zustand des Nichtseins doch für jeden von
uns sicher, unausweichlich, nicht etwa ein böser Zufall, dem man vielleicht
entgehen könnte, wenn man Glück hat, und diese absolute, unbedingte
Sicherheit des Sterbens eben ist das Gräßlichste an der Sache.«

Der junge Offizier errötete vor Bewegung. »Ich danke Ihnen, Herr Baron. O
wieviel Dank schulde ich Ihnen schon, seit Sie sich in der fremden Stadt
meiner angenommen haben. Sie machen mich zu einem Menschen. Ohne Sie könnte
ich nicht mehr leben.«

»Sie haben sich nur an mich gewöhnt, lieber Freund. Alles ist Gewohnheit!«

»Nein, ich liebe Sie, Sie sind meine einzige Stütze« erwiderte Crudenius
feurig. »Ich habe es schwer ertragen, schwerer als Sie ahnen, aus meiner
Heimatstadt herausgerissen zu werden, von meinen Eltern weg, die ich
verehre, aus dem Kreis lieber Kameraden, hierher an einen, sagen wir es
offen, steifen, zeremoniösen Hof, dessen Sprache ich kaum verstand. Sie
haben mich oft dieser Sentimentalität wegen ausgelacht . . .«

»Ja, das tue ich noch heute. Die Welt ist doch gleich, hier wie dort, die
moderne Welt zumindest. Überall gibt es Schlafwagen, Badezimmer,
Untergrundbahnen, Beton, Asphalt, dieselben eleganten Damenkostüme, sogar
dieselben Parfüms. Der moderne Mensch findet überall das, was seinen
Gewohnheiten entspricht. Ich sehe, von geographischer Länge und Breite
abgesehen, gar keine Unterschiede zwischen unseren heutigen Großstädten.«

»Aber doch zwischen den Völkern. Sonst gäbe es ja keinen Krieg.«

Der Minister warf sich mit humoristischem Schreck in seinem Sitz herum:
»Wehe mir! Sind das die Erfolge meines Nüchternheitskursus, den ich Ihnen
seit Monaten vordoziere? -- Auch Sie fallen also immer noch auf solche
Phrasen herein, wie die vom verschiedenen Geist der Völker, verschiedenen
Ethos der Rassen? Nein, nein, gerade gegen solche Unterstellungen zu
protestieren, das ist ja der bescheidene, aber doch vielleicht nicht ganz
unwesentliche Sinn meines Lebens. Lernen Sie doch endlich, mein Herr, daß
die Notwendigkeit dieses Krieges nicht beruht auf Völkerverschiedenheiten,
die ich ja in mikroskopischen, wirkungslosen Ausmaßen zugebe, sondern
gerade auf der unerbittlichen Gleichheit aller Völker, die mit ihren
identischen Lebensnotwendigkeiten einander immanenterweise den Raum, die
Entfaltungsmöglichkeit streitig machen müssen. Gleiche Bedürfnisse
widerstreben einander eben, solange die Erdoberfläche nicht mehrmals
übereinander, wie Orgelklaviaturen, solange sie nicht so oft, als es Völker
gibt, vorhanden ist. Weil jedes Volk in einem fernen Zeitpunkt die ganze
Erdoberfläche für sich allein brauchen wird. Und das umso schneller, je
besser und stärker es ist, je entwicklungskräftiger, je sittlicher. Und
dann kommt irgend so ein armer Teufel gesprungen und verlangt von mir
emphatisch, ich solle »den Feinden Gerechtigkeit widerfahren lassen«. Das
tue ich ja, habe ich stets getan. Meinen Sie, ich billige die abscheulich
verhetzende und unanständige Sprache, die unsere Tagespresse gegen die
Gegner führt? Höchstens als Kampfmittel, um die Energie unseres Volkes
wachzuhalten, na ja, da ist sie unentbehrlich, ebenso unentbehrlich wie
Minen und Flammenwerfer, die ja an sich auch nicht gerade sympathische
Dinge sind. Aber es ist doch naiv zu glauben, daß wir von der Regierung aus
das auch wirklich denken, was wir da über »Barbaren« und »Heuchler«
schreiben lassen. Nein, wir sind gerecht, wir erkennen den Wert und das
Recht der Feinde vollkommen an. Aber eben je gerechter wir sind, desto
klarer erkennen wir ohne jeden Haß und jede Verbitterung, daß auch wir Wert
und Recht auf unserer Seite haben, daß es eben, Gott sei es geklagt, nicht
ein Recht, sondern zwei und mehrere Rechte auf der Welt gibt, daß unsere
realen handgreiflichen Interessen (und nur auf die kommt es an, nicht auf
irgend welche Erdichtungen) mit den ebenso handgreiflichen Interessen der
Feinde kollidieren, daß die Völker kämpfen müssen, weil sie atmen müssen
und solange sie eben atmen wollen. Ebenso wie auch der gerechteste und
gutmütigste Schornstein nicht umhin kann, Ruß zu erzeugen. Ist denn
wirklich jemand so kurzsichtig, der das nicht einsieht, diese ganz reale,
unumstößliche _Tragik des menschlichen Daseins_? Ich muß sagen, wer das
nicht einsieht, der ist auch ein schlechter Christ. Der Leim, aus dem wir
gebildet sind, ist schon verdammlich, sagt Luther. Die Essenz des
Menschseins ist nun eben nichts als böse Begierde, ist Erbsünde, und mir
erscheint sehr oberflächlich, wer den traurigen Zustand der Menschheit auf
ephemere Regierungsfehler, Unehrlichkeit, Beschränktheit, Eroberungssucht
einzelner zurückführen will, statt auf diesen dunklen Urgrund alles
Menschlichen, auch des bestgemeinten und wohlwollendsten. Sehn wir doch der
Wirklichkeit ganz sachlich ins Auge! Der Kirchenmann entsagt der ganzen
Welt auf einmal. Das ist ein Weg. Der Staatsmann aber, dem dieser Weg nicht
erlaubt ist, weil er ja das Weltliche in der Welt lenken soll, und der
dabei ein ebenso guter Christ sein will, wie der weltflüchtige Asket, muß
sich ganz klar darüber sein, daß seine Maßnahmen niemals Aufhebung des
Krieges, überhaupt des menschheitlichen Leidens und Unglücks bezwecken
können, sondern nur -- wie soll ich es nennen -- eine bessere intensivere
Organisation des Unglücks. Mehr nicht.«

Sie waren am Botschaftspalast angelangt. Der Offizier verabschiedete sich.
-- »Ich muß sagen« schloß der Minister »mich hat gerade der Krieg dieses
richtige, tödlich ernste Christentum gelehrt, die erhabene Religion des
Leidens. -- A propos, Sie kommen doch heute nach zehn Uhr noch zu meiner
Bridgepartie? Die schöne Gabriele wird da sein, auch Ihr Nannerl hab ich
eingeladen.«

Im Ministerium harrte eine lange Reihe vortragender Räte. -- Baron von
Klumm, dessen Fleiß und Sorgfalt geradezu sprichwörtlich waren, pflegte
nach Parlamentsitzungen die verlorene Zeit, wie er sagte, nachzuholen und
gönnte sich dann oft bis spät in die Nacht keine Ruhe. So lösten einander
auch an diesem Abend in seinem Büro Referenten, Konzipienten, telephonische
Anrufe und Diktate ab. Eine Abordnung aus dem eroberten Gebiete wurde
empfangen, brachte Bitten und Wünsche vor. Der Baron notierte einige Bücher
und Broschüren, die hiebei mehrmals erwähnt worden waren. Noch um neun Uhr
nachts schickte er den Diener in die Ministerialbibliothek und endlich, auf
der Heimfahrt in seinem Auto, versenkte er sich noch in die Lektüre eines
der empfohlenen Werke, das die schwierigsten Geld- und Währungsfragen
behandelte.

Gabriele, erste Tänzerin der Hofoper, wartete bereits mit den übrigen
Gästen in der Privatvilla des Barons und entzückte die Tafelrunde durch die
lustige Unbefangenheit, mit der sie sich die Rolle der Hausfrau angemaßt
hatte. Die Gesellschaft war reichlich gemischt: Schauspieler, die
unaufgefordert für Unterhaltung sorgten, indem sie mehr oder minder
gewürzte Anekdoten zum besten gaben, ein paar Landräte, in ewige
Jagdgeschichten vertieft, zwei bis drei ironische Causeure aus der
Diplomatie, ein jüdischer Schriftsteller, der zu allererst betrunken war
und sich dann in revolutionären Reden gefiel, worüber man sich sehr
belustigte. Nannerl, eine offensichtlich aus dem untern Volke stammende,
noch gar nicht entdeckte Chansonette, entzückte den Militärattaché durch
ihren feschen Dialekt, den er bezaubernd natürlich fand, obwohl ihm jede
Redewendung erst in die Schriftsprache übersetzt werden mußte, worauf er
sie, von niemandem angehört, nur für sich, in die Sprache seiner Heimat
übertrug und in Erinnerungen an die Felder und Bäuerinnen zu Hause
schwelgte. Seiner bei diesem schleppenden Umweg des Gefühls erklärlichen
Schüchternheit half der Minister durch eine geschäftsmäßige Feststellung
ab. Schließlich glich der Kartentisch alle Leidenschaften aus. Gabriele,
für die stets einige Zimmer in der Villa vorbereitet waren, hatte sich
schon längst zu Bett begeben, als die letzten Gäste über knisternde
Scherben der Champagnergläser hinweg, von schlaftrunkenen Lakaien
unterstützt, sich zur Türe hinaustasteten. --

Baron von Klumm ließ sich von seinem Leibdiener eine kalte Kompresse um die
Stirn winden. Er wollte, ehe er sich zu Gabriele begab, noch ein wenig
arbeiten. Die von dem ökonomischen Buche angeregten Gedanken hatten ihn
während des ganzen Soupers nicht verlassen, wie es überhaupt eine seiner
Haupteigenheiten war, stets vollständig von gewichtigen Dingen bis zum
Rande ausgefüllt zu sein, auch mitten in seichter Unterhaltung.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch. Das Arbeitszimmer war, wie eben in
einem rechten Junggesellenheim, sehr weiträumig und zentral gelegen. Es
füllte mit seiner Front von vier Fenstern den größten Teil des ersten
Stockwerkes, eigentlich mehr ein Saal als ein Zimmer zu nennen. Drei hohe
Wände, bis zur Decke mit Bücher- und Aktenrücken austapeziert, verloren
sich im Dunkel, vor den Fenstern breitete sich im sausenden Nachtwind die
mondbeschienene Schneekette des nahen Hochgebirges aus.

»Du hast hereinschneien lassen, Peter.« Der Baron wies auf einen hellen
weißen hügeligen Fleck auf dem Parkettboden.

Der Diener zuckte verständnislos die Achseln, griff an die Fensterklinken,
um zu zeigen, daß alle geschlossen waren, strich aber dann trotzdem mit
einem rasch herbeigeholten Wischfetzen über den Fußboden an der vom Baron
immer noch mit ausgestrecktem Finger bezeichneten Stelle hin, allerdings
mit der gekränkten Miene eines Mannes, dem ein schrullenhaft umständlicher
Auftrag erteilt wird und der ihn nur aus Gutmütigkeit ausführt.

Dann ging er.

Der Baron begann zu lesen, bald aber störte ihn ein leises Knistern. Trat
er immerfort noch auf Scherben? Er sah auf. -- Zu seinem größten Erstaunen
war der weiße Fleck im Zimmer, der übrigens ganz jenseits des
Mondlichtstreifens im Schatten eines Kastens lag, nun zu einem richtigen
Hügel emporgewachsen, ja er rückte wie ein unnatürlich aufschießender Pilz
sichtlich weiter in die Höhe. -- Nein, das war allerdings kein
Schneehaufen, das bewegte sich ja. -- Plötzlich kam die Erkenntnis. Das ist
ein menschlicher Kopf.

Im Augenblick hatte sich der Baron gefaßt, den Revolver ergriffen, den er
immer bei sich trug, und auf den Kopf abgefeuert. »Ich wußte gar nicht, daß
es Falltüren in meiner Villa gibt.« Er repetierte. Sechs Schüsse, dann war
der Revolver leer.

Die Schüsse hatten offenbar nicht getroffen, sondern brachten eine andere
ganz unerwartete Wirkung hervor.

»Ja, jetzt gehts« rief eine wie aus dem Schlaf gesprochene, ungelenke,
verschleimte Stimme, und sofort schwebte mit einem Ruck wie ein straff
gefüllter Gasballon die ganze, sehr lange Gestalt der Erscheinung empor,
merkwürdigerweise ohne den Fußboden dabei merklich weiter aufzureißen. Es
war ein stattlicher weißhaariger alter Herr, der mit geschlossenen Augen,
die Arme fest an die Seiten des Körpers gepreßt, emporstieg. Der befreiende
Auftrieb schien aber plötzlich nachzulassen, so daß die Füße und
Unterschenkel des seltsamen Wesens unter dem Fußboden stecken blieben, ohne
daß dies auf den Beschauer oder auf das Wesen selbst eine besonders
befremdende Nebenwirkung ausgeübt hätte.

Dem Baron sträubten sich die Haare unter der Kompresse. Er fiel in seinen
Lehnsessel zurück, aus seinen Beinen war jede Kraft, ja jedes Gefühl
entwichen, so daß er sich wie mit eisernen Reifen um die Hüften in eine Art
sitzender oder halbliegender Stellung festgeklammert fühlte, ohne ein Glied
rühren zu können. Er war aber nicht der Mann, sich ohne Widerstand durch
ein Gespenst oder vielmehr durch irgendeinen übermütigen Bubenstreich aus
der Fassung bringen zu lassen. Gewohnheitsmäßig rang er nach einem
einleitenden Gesprächsthema, doch über seine Lippen kam nur etwas Speichel,
dann ein Gurgeln und Labern wie es Säuglinge ihren ersten
Artikulationsversuchen vorausschicken. Endlich konnte er sich verständlich
machen: »Ihr Name ist . . .?«

Die Erscheinung hatte jetzt ihre Augen geöffnet, große schöne braune, gar
nicht unheimliche Augen, mit denen sie freundlich und still ungefähr in der
Richtung auf den sich abquälenden Minister herabsah. Der Minister
erwiderte, wie er es stets zu tun pflegte, diesen Blick mit Strenge und
Festigkeit, trotz seiner kraftlos ausgestreckten Lage im Sessel, zwischen
dessen Lehnen seine obere Körperhälfte wie auseinandergeworfen, ungeordnet,
gleichsam auf den Misthaufen hingeschmissen herumlag. »Ihr Name ist . . .«
sagte er nun schon sicherer und machte den Versuch, durch heftiges
Augenzwinkern die Herrschaft über seine erstarrten Glieder
wiederzuerlangen. Schließlich aber sah er die Aussichtslosigkeit dieses
Versuches ein und wurde ganz still, da er fürchtete, sich vor dem Geist
lächerlich zu machen. Daß er es mit einem wirklichen und nicht bloß
gespielten Geiste zu tun hatte, war inzwischen seinem rastlos arbeitenden
Gehirn klar geworden. -- Schon die Dimensionen der Erscheinung sprachen
dafür. Sie war nämlich mehr als zweimal so groß wie ein irdischer Mensch,
überragte also sogar die üblichen Panoptikumriesen, dabei gaben ihre
Proportionen den gewohnten an Ausgeglichenheit nicht nach, hatten also
durchaus nicht das Gewaltsame, Rohe, das uns jene Monstren auf dem
Jahrmarkt so unheimlich macht. Unheimlich war hier nur, daß die seltsame
Gestalt, wie zum Ausgleich für ihre Größe, aus einer merkwürdig lockeren
Materie zu bestehen schien, durch welche man das hinter ihr liegende
Fenster und sogar den das Mondlicht widerspiegelnden Gebirgskamm in der
Ferne ganz matt durchschimmern sah. Ein erstaunlicher Anblick, der, wie
sich von Klumm mit wissenschaftlicher Präzision eingestand, durch keinerlei
Hokuspokus hervorgebracht sein konnte. Das Unerklärlichste aber blieb
dabei, daß die Figur langsam und ganz allmählich einzuschrumpfen, in sich
zusammenzusinken schien, wobei sie auch immer festeren Inhalt bekam, ohne
übrigens ihre Umrisse oder Gesichtszüge im mindesten zu verzerren. Es wurde
nur alles zierlicher, vertraulicher, gleichsam menschlicher an ihr.
Überhaupt schien es dem Phantom, wie man jetzt deutlich merkte, durchaus
nicht darum zu tun, Schrecken einzujagen. Es machte vielmehr (vielleicht
war dies Sinnestäuschung, vielleicht aber eine richtige Beobachtung des
immer mehr zur Besinnung kommenden Staatsmannes) ganz im Gegenteil den
Eindruck, als wolle es Vertrauen gewinnen, ja binnen kurzem bot es den ganz
unglaublichen Anblick eines Gespenstes, das sich selbst am meisten
fürchtet, das bescheiden und ängstlich in die Ecke treten möchte, um nicht
zu stören, und nur leider nicht von der Stelle kann, wodurch es in eine
recht verlegene und verwirrte Stimmung gerät.

Der Minister raffte sich nun zusammen und setzte sich gewaltsam gerade auf.
Seine erste Bewegung war, die Kompresse abzunehmen, die für sein Gefühl den
guten Ton einer Privataudienz gröblich verletzte. Dann sagte er, schon ganz
kaltblütig geworden: »Sie müssen mir aber Ihren Namen nennen, Ihren Namen.«

»Namen«, wiederholte das Gespenst, als suche es mit aller Anstrengung sich
etwas klarzumachen. »Namen . . . Namen . . . Was ist das nur; Namen?« Die
Stimme klang jetzt nicht mehr verschlafen, sondern rein und hoch, nur etwas
zu vibrierend, um menschlichen Stimmbändern anzugehören. Ein Unterton von
großer Schüchternheit und Demut war in ihr unverkennbar.

Der Baron sah wieder an der Gestalt empor, musterte sie von Kopf bis zu
Fuß, vielmehr bis zum Knie -- denn sie stak immer noch teilweise unter dem
Parkett. Wiederum trat eine Pause ein, in welcher nicht nur der Baron sich
bequemer zurechtsetzte, sondern auch die Erscheinung zum erstenmal zu
erkennen schien, daß sie Arme habe, -- zumindest sah sie jetzt mit
erstauntem Blick an ihren Seiten herab und löste, ungläubig und zögernd,
die Gliedmaßen von den Hüften, hob sie ein wenig und ließ sie wieder
sinken. Dabei schien sie auch über die Bewegung ihres Kopfes, die sie jetzt
zum erstenmal machte, in Staunen, sogar in Schrecken geraten zu sein, denn
ihr Gesichtsausdruck wurde von Minute zu Minute ängstlicher, und die
Starrheit der Kontur verfestigte sich nach diesen Bewegungsversuchen für
die nächste Weile nur noch mehr.

Der Baron konnte, wie es seine engeren Parteifreunde nannten, unter
Umständen »ganz ekelhaft madig« werden. Ein solcher Moment der Offensität
war auch jetzt gekommen. Als wolle er sich für die knapp überwundene
Kleinmütigkeit schadlos halten, fuhr er den Gast mit voller Stimme an:
»Nun, zum Teufel, Sie müssen doch wissen, wie Sie heißen, wer Sie sind, was
Sie hier wollen und wie Sie eigentlich hergekommen sind.«

Bei dem rauhen Klang dieser Worte schien sich die Erscheinung nun energisch
zusammenzunehmen. Ein alter Mann, der sich auf etwas besinnen will, der
ängstlich die weißen Augenbrauen zusammenzieht -- nicht viel anders sah das
Gespenst jetzt aus. Doch brachte es nicht mehr hervor als die
gezwitscherten Worte: »Ich glaube, ich bin eben hier hereingestorben.«

»Hereingestorben, -- was ist denn das?«

Wieder eine Pause.

»Sie -- was das ist, frage ich.«

»Ja, wenn ich das selbst wüßte, mein Herr« erwiderte der Greis. »Haben Sie
Mitleid mit mir. Ich bin erst soeben gestorben, vor einem kleinen Weilchen,
und ich habe so viele Sünden begangen. Wie soll ich mich da schon
auskennen. Ich bin ja noch ganz benommen. Glauben Sie mir, eine Kleinigkeit
ist es nicht.« Und nach diesen ersten wenigen zusammenhängenden Sätzen
schloß er wieder die Augen, gleichsam ganz erschöpft von so viel
Anstrengung.

»Merkwürdig« sagte der Baron »ganz eigentümlich . . . hm, hm. Das ist mir
ganz neu.« Wie hilfesuchend griff er um sich und packte den Schirm seiner
Schreibtischlampe. Diese Berührung schien ihn auf einen Einfall zu bringen.
Den Schirm wie einen Stützpunkt festhaltend, drehte er sich im Sitzen
herum, in den grellen Lichtkreis der Stehlampe und entzog damit zum
erstenmal wieder das Gespenst seinem Blick. Plötzlich begann er krampfhaft
zwischen den aufgehäuften Papieren und Büchern zu wühlen. Das waren doch
seine ganz normalen Arbeiten, seine gewohnten Gedanken und Vorstellungen.
Er suchte sich an einzelnen Worten und Ziffern, die er las, anzukrallen,
festzusaugen, -- doch sie verschwammen vor seinem aufgeregten Blick, nichts
konnte er entziffern. Immerhin dachte er nach einer Weile sich so weit zur
Vernunft gebracht zu haben, daß er sich wieder ins Zimmer hinter sich
umschauen zu dürfen glaubte. Langsam wagte er es und wandte sich wieder in
die vorige Richtung. Da lag der dunkle, ins Unendliche verschwimmende Saal,
in dem die elektrische Lampe nur den nächsten Umkreis, nahezu nur bis zu
seinen Füßen, erhellte. Und knapp vor ihm schon wieder dieser
langaufgeschossene Patron, der übrigens, was wirklich grauenhaft aussah,
die Zwischenpause nicht dazu benützt hatte, um sich in eine bequeme
Stellung zu arrangieren, sondern statt dessen starr und mit tiefem Ernst,
wie in völliger Selbstvergessenheit eine Antwort des Ministers abzuwarten
schien.

»Nun, Sie sagen also . . . Sie sind also gestorben . . . Und doch leben Sie
. . . Was bedeutet das? Ich meine, können Sie sich nicht vernünftiger
ausdrücken? Sind Sie also eigentlich gestorben oder sind Sie hier?«

»Ich bin hierhergestorben . . . wegen meiner Sünden.«

Der Baron schüttelte den Kopf. »Wegen Ihrer Sünden, das sagten Sie schon.
Was für Sünden? Sie sind ein Mörder, nicht wahr?«

Eine heftige Bewegung des Abscheus ging durch den Leib des Gespenstes, es
schüttelte sich von oben bis unten und, immer noch etwas unbeholfen, aber
mit unbewußter Energie, hob es jetzt die Arme hoch empor und schlug sogar
die Hände über dem Kopf zusammen, indem es jammervoll rief: »Ein Mörder!
Ich, ein Mörder! -- Nein, Gott sei Dank, davon habe ich mich zeitlebens
weit entfernt gehalten. Mordgedanken kann ich auch bei peinlichstem
Nachforschen in meinem Gemüt, wie es damals war und wie es jetzt ist, nicht
entdecken.«

»Also haben Sie gestohlen, betrogen, Schiebungen gemacht, Gaunereien --
oder sind unehrlich gewesen, nicht?«

»Unehrlich -- ja das vielleicht. Ich habe nicht immer und nicht bei jedem
Schritt an die ewige Wahrheit der Dinge gedacht, obwohl ich immer und immer
wieder diesen festen Vorsatz hatte.«

»Und das war Ihre ganze Unehrlichkeit?« lachte der Baron auf.

»O eine Sünde -- die allerärgste Sünde! Deshalb erlebe ich ja zur Strafe
diese furchtbare Versetzung in eine andere Welt, deshalb ist ja meinem
Sterben nicht ein Aufstieg in die höhere Sphäre gefolgt, sondern das
entsetzliche Ausgestoßensein in eine beigeordnete, wo nicht tiefere
Entwicklungsstufe.«

»Unfaßbar. -- Sie beharren also wirklich darauf, daß Sie gestorben sind?«

»Natürlich, das ist es ja, ich erlebe soeben das, wovor man sich am meisten
fürchten soll, oder besser gesagt, was man als Zeichen der göttlichen
Gerechtigkeit am meisten ehrfürchten soll, -- ich erlebe die erste Stunde
nach meinem Tode.«

»Das muß wirklich interessant sein«, fuhr es unbedacht aus dem Mund des
Barons heraus. »Das heißt . . . ich wollte sagen . . . Bitte, möchten Sie
nicht Platz nehmen? Davon müssen Sie mir mehr erzählen. Wie ist denn das,
in der ersten Stunde nach dem Tode? Sie müssen wissen, mit diesem Gedanken,
das heißt damit, mir diesen Zustand auszumalen, habe ich mich schon oft in
müßigen Stunden beschäftigt. Ich habe ja immer viel zu tun, leider, leider.
Aber manchmal, sehn Sie, zwischen den wichtigen Staatsgeschäften fällt
einem doch etwas so Abstruses ein, ja ich muß es abstrus nennen, denn wie
kann ein lebender Mensch wissen oder sich richtig vorstellen, wie es nach
seinem Tode in ihm zugehen mag. Das ist ja schlechterdings eine
Unmöglichkeit, eine Absurdität. Nun, item, ich habe ein gewisses Maß von
Vorliebe für diese Sache, ich behalte ständig diese Angelegenheit im Auge
. . .« Unwillkürlich geriet er, je mehr er in Eifer kam, in die
feingedrechselten Redensarten, mit denen er seit Jahren Petenten und
Deputationen mechanisch abzufertigen pflegte. So sehr hatte dieses Gespräch
schon den Charakter des Absonderlichen und Geisterhaften für ihn verloren,
so sehr betrachtete er es als eine gar nicht mehr gruslige Konversation.
»Kurz und gut, ich denke mir in dieser ersten Stunde . . . hehe, wenn ich
so sagen darf, alles recht finster und leer und öde um einen herum. Das
Nichts, verstehen Sie, das Nichts in des Wortes allerschärfster Bedeutung.
So stelle ich mir es vor. Natürlich fällt es mir gar nicht ein, meine
Erfahrungen mit den Ihrigen zu messen oder gar in eine Reihe stellen zu
wollen. Verzeihen Sie meine Schwatzhaftigkeit. Ich werde mit weit größerem
Vergnügen Ihren Ausführungen lauschen, als ich gesprochen habe. So, ich bin
schon ganz Ohr. Bitte, setzen Sie sich, hier . . .«

Das Gespenst hatte ziemlich ratlos seine Augen umherwandern lassen, jetzt
hefteten sie sich auf den Klubfauteuil, den der Minister heranrückte. Die
Worte schienen von ihm verstanden worden zu sein, denn nun setzte es sich
gehorsam und so schnell, als es seine immer noch festgeklammerten Füße
zuließen, wobei es allerdings eine gewisse Unvertrautheit mit dem Gebrauch
einer Sitzgelegenheit verriet, denn es ließ sich über beide Armlehnen
zugleich nieder. Allerdings hätte es seine immer noch riesenhaften
Körperformen nur schwer in den breiten Fauteuilgrund einzwängen können.

»Reden Sie also, erzählen Sie mir etwas von diesem Paradies, das unsere
Pfaffen so gut zu kennen vorgeben.«

»Vom Paradies!« erwiderte das Gespenst mit einem Seufzer. »Wie sollte ich
niedriges Wesen Ihnen etwas vom Paradies erzählen können, in das ich
vielleicht nach Billionen Jahren, vielleicht niemals Zutritt erlangen
werde.«

»Also erzählen Sie meinetwegen von der Hölle«, warf der Minister mit einer
verbindlichen Handbewegung wie einen kleinen Konversationsscherz hin.

»Der Hölle scheine ich ja allerdings, wenn mich nicht alles trügt,
entronnen zu sein«, erwiderte die Erscheinung mit einem nicht gerade
zuversichtlichen Blick rundum, doch schien ihr schon dieser Blick eine
Vermessenheit zu bedeuten, denn sie verbesserte sich sofort mit stiller
Bescheidenheit. »Sie dürfen übrigens nicht glauben, daß das etwas
Besonderes ist. Die Extreme, volle Erlösung und volle Verdammnis sind
wahrscheinlich, so vermute ich mindestens, im ewigen Sein ebenso seltene
Ausnahmen wie im sterblichen Leben. Die Mittelstufen mit ihren
tausendfältigen Abschattierungen überwiegen weitaus. So eine Mittelstufe
scheint auch, obwohl ich mir darüber durchaus nicht klar bin, mein Los zu
werden.«

»Nun, ich danke, für meinen Geschmack würde das Nichts, das absolute Nichts
nach dem Tode schon Hölle genug bedeuten.«

»Das Nichts?«

»Nun, das Nichts, von dem ich vorhin sprach, der Wegfall aller sinnlichen
Empfindungen, aller Wünsche und Freuden und Leiden.«

»Verzeihen Sie, da habe ich Sie wohl schon vorher nicht ganz richtig
verstanden. Sie müssen mit mir Nachsicht haben, ich gebe mir die
allergrößte Mühe, aber ich bin von all dem Neuen, das ich erlebe, so aus
der Fassung gebracht, so betäubt, daß ich Ihnen trotz Ihrer Freundlichkeit
nur schwer folgen kann. -- Ein Nichts nach dem Tode, sagten Sie? Da hätte
ich eigentlich sofort widersprechen müssen. Gerade das Gegenteil davon
trifft ja zu. Eine solche Fülle frischer ungeahnter Eindrücke fällt nach
dem Tode über einen her. Es kostet die größte Anstrengung, sich dieses
Ansturms zu erwehren . . .«

»Neue Eindrücke . . . im Momente des Todes?«

»Nicht gerade im Momente des Todes. Da gibt es allerdings einen kleinen
Augenblick von gemindertem Bewußtsein, in dem man nichts fühlt als einen
heftigen Riß, eine vorher ganz unbekannte starke, aber ganz kurze
Empfindung, mit der sich die Seele vom Körper löst, ein Zucken, von dem ich
nicht sagen könnte, ob es der Lust oder dem Schmerz verwandter ist. Aber
wie gesagt, das dauert nur den Bruchteil einer Sekunde lang. Dann ist die
Seele von Materie frei, ganz rein und losgebunden. Das aber ist gerade das
Anstrengende. Wie soll ich es nur beschreiben? Unser ganzes Leben lang
hatten wir damit zu tun, unsere Materie, die ja, seien wir aufrichtig, den
Schwerpunkt unseres Daseins bildete, mit Geistigem und Gefühltem, mit
seelischem Leben vollzusaugen, das wir aus den wogenden Lebensströmen rings
um uns für unseren Gebrauch entnahmen. Plötzlich ist unsere Seele frei,
bildet gleichsam einen materielosen Hohlraum, eine luftleere Blase mitten
in der Materie. Die Materie aber, die gewohnt ist, sich am Seelischen zu
nähren, gleichsam vollzusaufen, stürzt natürlich von allen Seiten mit
rasender Begierde auf diesen Hohlraum zu und versucht sich einzudrängen.
Alle Arten von Stofflichkeiten, auch solche der tiefsten Lebensformen,
möchten von der eben freigewordenen Seele Besitz ergreifen, möchten sich an
ihr nähren und emporpäppeln. Diese ersten Minuten sind schrecklich. Ich
kann ja sagen, mir ist es dabei noch ganz gut gegangen, ich hielt mein
kleines Bündel Seelensubstanz tüchtig beisammen. Viele Seelen aber werden
schon in diesen ersten Augenblicken ihres neuen Daseins in Stücke gerissen,
einfach zerfetzt, und es graut mir geradezu, wenn ich mir ausmale, was eine
solche in Atome zerbrochene Seele zu leiden hat, die ja doch noch bei all
dem ihr einheitliches Ichbewußtsein behält und nun zu gleicher Zeit in
einem Regenwurm, einem Baumblatt und vielleicht in ein paar Bazillen
darauf, die einander gegenseitig vertilgen, weitervegetieren muß. Ich nehme
an, daß gerade das der Zustand ist, den man Hölle nennt.«

»Nicht ausgeschlossen«, unterbrach der Baron mit dem Lächeln, das er für
ertappte Gegner zu verwenden pflegte. »Nur möchte ich wissen, woher Sie
nicht nur über Ihr eigenes Schicksal, sondern auch noch zum Überfluß über
das anderer Seelen so genau Auskunft zu geben wissen. Ohne Ihnen nahetreten
zu wollen, -- sind Sie sich klar darüber, daß Sie sich hier auf ein Gebiet
begeben haben, auf dem allen Phantasien und Täuschungen, insbesondere
Selbsttäuschungen, Türe und Tor geöffnet ist? Haben Sie sich in dieser
Hinsicht ernstlich genug geprüft? Sind Sie Ihrer so vollständig sicher, daß
eine kleine . . . ich will nicht Lüge sagen . . . eine kleine Übertreibung
oder Entstellung der Wahrheit ganz ausgeschlossen erscheint?«

Der Greis war gar nicht beleidigt, im Gegenteil, er schien für jede
Ermahnung dankbar und verfiel sofort, nachdem er das Vorige in
gewissermaßen ruhigem Ton geäußert hatte, in seine anfängliche reuige
Zerknirschung: »O, Sie haben recht. O, wie recht Sie haben. Offenbar sind
Sie mir als Richter bestimmt, vor dem ich mich zu verantworten, nein, nicht
verantworten, vor dem ich meine Verfehlungen zu beichten habe. -- Ja, es
ist wahr, ich habe mich durchaus nicht genügend geprüft und habe mich,
obwohl es mein ernstlicher Wille war, auch vor eitlen Selbsttäuschungen
nicht hinreichend gehütet. Meine Einsieht, wenn ich die erbärmlichen
Resultate meines Lebens so nennen darf, reichte gerade noch aus, um mich
die erste Prüfung nach dem Tode, die Attacke der Materie, bestehen zu
lassen. Ich verstand in diesem Moment mit wirklich merkwürdiger
Hellsichtigkeit nicht nur alles, was mit mir, sondern auch was mit anderen
eben Gestorbenen rings um mich vorging. Schreckliches habe ich da in
wenigen Minuten gesehen, noch Schrecklicheres ist mir wie in Ahnungen klar
geworden. Ganz rein konnte ich mich übrigens trotz meiner verzweifelten
Gegenwehr doch nicht erhalten. Ich sehe, daß da schon wieder allerlei
Fremdes an mir herumhängt, was mit unsterblicher Substanz nichts gemein
haben dürfte.« Bei diesen Worten betastete er traurig seine Rockknöpfe und
zog das Jackett, das er trug, mit einer Bewegung über dem Magen zusammen,
der man anmerkte, daß ihm dieses Kleidungsstück etwas ganz Unerklärliches
war, daß er es vielleicht für einen Körperteil hielt.

»Trösten Sie sich, alle Kleidungen haben etwas Groteskes« beruhigte ihn der
Minister mit Herablassung.

»Kleidung nennen Sie das . . . Ach so, nun verstehe ich. Unsere Kleidung
sah allerdings ganz anders aus. In der sylphischen Sphäre, aus der ich
stamme, besteht die Kleidung in einer gewissen, sehr hohen Geschwindigkeit,
mit der sich die Individuen beständig kreiselförmig um sich selbst drehen.«

»Eine Sylphe sind Sie also, eine Sylphide.« Eine ganz schwache Erinnerung
an die schöne Gabriele und ihren Sylphentanz im letzten Ballett schwebte am
Baron vorbei, »Sylphen stellen wir uns allerdings ganz anders als in Ihrer
Figur vor.«

»Sie sind auch ganz anders, wahrhaftig, und leben auch ganz anders als ich
es jetzt tue. Ich bin schon auf dem Übergang in Ihre Welt begriffen, lebe
schon halb und halb, so gut ich es kann, als Mensch. Das ist ja eben die
zweite schwerere Prüfung, die ich durchzumachen habe: man wird plötzlich in
eine ganz andere Welt unter ganz neue Bedingungen versetzt, alle Gewohnheit
des Alltags, alle Routine fällt infolgedessen von einem ab, und gerade das
ist der Prüfstein, an dem sich zeigt, wieviel wirkliche, für alle nur
irgend möglichen Welten geltende Realität man in dem einen Leben zu
erwerben gewußt hat . . .«

»Sie sind also gar kein toter Mensch, sondern aus einer andern Welt?«
fragte der Baron und lehnte sich, wiederum etwas fassungslos geworden,
zurück.

»Ich bin aus einer andern Welt hier hereingestorben«, wiederholte das
Gespenst geduldig.

»Vom Mond etwa oder vom Sirius?«

»Nein, aus einem ganz andern Weltsystem, wie ich schon sagte.«

»Aus der Milchstraße also oder dem Orionnebel?«

»Wenn Sie in Ihrer Körperwelt noch so weit gehen, unendlich weit, so können
Sie meine Heimat trotz allem nicht finden. Meine Heimat ist ein Reich
anderer Sinne oder war es vielmehr bis heute, ich zähle mich aber noch ein
wenig zu ihr. Wir Sylphen sehen nicht, wir hören und riechen nicht und
werden nicht gehört und gesehen. Wir haben dafür andere Organe, eine andere
Schwere und andere Naturgesetze. Dem Raume nach aber leben wir unter euch
Menschen, mitten unter euch. Es gibt eben unendlich viel Welten, die sind
aber ineinandergeschoben, nicht nebeneinander laufend, und trotz ihres
unmittelbaren Beisammenseins wissen sie nichts von einander. -- Auch mir
war bisher eure Welt samt Sternenhimmel und Milchstraße und allem, was eure
Sinne fassen, vollständig verborgen. Ich bin völlig überrascht, daß ich,
ohne mich von der Stelle gerührt zu haben, nur gleichsam durch eine innere
Umschaltung der Organe in eine so völlig ungeahnte neuartige Umgebung
versetzt bin.«

»Warten Sie, nicht so schnell! -- Ich muß das erst fassen«, rief von Klumm
und preßte die Hand an die von pochenden Adern schmerzhaft durchpulste
Stirn. »Es ist Ihnen also alles ganz neu? . . . Nun immerhin, das muß ich
sagen . . . vorausgesetzt, daß das alles wahr ist, was Sie da erzählen,
. . . immerhin benehmen Sie sich, wenn Ihnen wirklich alles neu ist,
anerkennenswert korrekt und sicher. Es ist mancher so vor mir gesessen, wie
Sie jetzt hier sitzen, und hat vor Verlegenheit nicht ein noch aus gekonnt.
Sie müssen wissen, ich bin -- das darf ich ohne Selbstüberhebung sagen --
ein ziemlich einflußreicher Mann, und seltsamerweise sagt man mir nach (ich
weiß selbst nicht, wie ich zu diesem Ruf komme), daß mein Auftreten etwas
Imponierendes an sich hat und daß es auch für den Mutigsten und Frechsten
schwer ist, die Contenance zu bewahren, wenn er mir gegenübersteht.«

Hier gab das Gespenst, das bisher die Unterredung mit ebenderselben
Spannung geführt hatte wie der Baron, zum erstenmal ein Zeichen von
Interesselosigkeit von sich, ein recht deutliches Zeichen sogar, indem es
seinen Blick auf eines der Fenster heftete und die Landschaft draußen mit
sichtlichem Vergnügen zu betrachten begann, wobei es den Kopf reckte und
sich sogar halb von seinem Sitz erhob.

Der Minister war Weltmann genug, dies nicht zu bemerken.

»Die schönen Berge«, sagte das Gespenst, und ein sehnsuchtsvolles Aufatmen
hob seine Brust.

»Auch unsere irdischen Berge erkennen Sie also sofort«, sagte der Minister
im Ton einer gewissen kühlhöflichen Galanterie. »Ich mache Ihnen mein
Kompliment über Ihr schnelles Orientierungsvermögen. -- Gibt es denn auch
in Ihrer Welt so etwas wie Berge?«

»Nein. Bei uns drückt sich alles (oder vielmehr: drückte sich alles) in
elektrischen Wellen, rotierenden Lufttrichtern und Wirbeln aus.«

»Und dennoch . . .«

»Aber natürlich gibt es auch in dieser Materie Naturschönheiten, erhabene
Erscheinungsformen der ewigen Kräfte, des Wachsens und Vergehens. -- Da ich
nun mein ganzes Leben lang, so oft ich in die freie Natur hinaus kam (es
geschah bei meinem abscheulichen Berufe selten genug) . . ., da ich
vielleicht gerade deshalb, weil es mir so ungewohnt war, die Herrlichkeiten
der Natur mit einem wahren Durst und Entzücken in mich aufnahm und jedesmal
dabei in mir ohne weiteres das Gefühl wach wurde, daß ich in diesem Genuß
irgendwie an ein Ewiges, Allgemeingiltiges, ganz unerschütterlich
Wirkliches rührte, eben deshalb bin ich möglicherweise jetzt befähigt, in
allem, was Naturschönheit betrifft, auch in der neuen Welt mich schnell
auszukennen und sofort zu fühlen, wo ich auch hier auf ein Wesentliches in
dieser Beziehung stoße.«

»Höchst sonderbar. Mache ich Ihnen nicht nach, wahrhaftig . . . Wenn ich
aus einem Alpenpanorama von lauter Luftwirbeln käme . . . pardon, so sagten
Sie doch . . . aus lauter Seifenblasen, nicht wahr, also ohne Steine, ohne
Schnee, ohne Pflanzen, ohne Farbe . . . natürlich auch ohne Farbe . . . das
muß ich sagen, dann wäre ich beim Anblick der wirklichen Berge so
verblüfft, so verblüfft . . .« Der Baron versank in Brüten, endlich fuhr er
auf. »Mit einem Worte, ich wäre verblüfft.«

»Sie wollen mich verspotten«, klagte das Gespenst. »Bin ich am Ende noch zu
wenig verblüfft und verwirrt? Nur gerade der freien Gottesnatur gegenüber
fühle ich etwas mehr Vertrauen.«

»O nein, auch in anderem kennen Sie sich ganz erstaunlich aus. Ja, es
scheint mir sogar, in den Hauptsachen. Sie wissen genau, ich muß direkt
sagen, unnatürlich genau Bescheid darüber, woher Sie kommen und wohin Sie
gehen.«

»O ich weiß es nicht, mein Herr, ich weiß es nicht.«

Der Baron fuhr unbeirrt fort: »Sie sind sich sogar dessen bewußt, daß Sie
sich in einem Übergangsstadium befinden. Sie haben einen Begriff von den
Prüfungen, denen Sie entgegengehen, von einem gewissen Gerichtsverfahren
und von den Verdiensten, die Sie vor diesem Gericht geltend machen können.
Dabei macht Ihnen unsere Sprache, unsere Begriffsbildung in diesem doch
recht schwierigen Thema merkwürdigerweise gar keine Schwierigkeiten. Sie
reden wie gedruckt und Sie reden dabei von der ewigen Gerechtigkeit, wie
wenn Sie mit ihr verwandt wären, Sie reden ebenso von Gott und Tod und
Hölle und Teufel und ich weiß nicht, wovon noch . . .« Der Baron war
geradezu wütend geworden und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und
ab.

»Ja, glücklicherweise habe ich mich gerade mit diesen Dingen auch in meinem
sterblichen Leben einigermaßen befaßt«, sagte das Phantom mit äußerster
Zaghaftigkeit, »wenn auch lange nicht genug. Und nicht, daß ich sie
verstanden hätte. Aber eine gewisse Sehnsucht zog mich immer wieder zu
ihnen hin, und auch da hatte ich das Gefühl, daß es um ewige unumstößliche
Wirklichkeiten gehe, die überall gelten müssen . . . Ach, leider habe ich
dafür anderes vernachlässigt, und das rächt sich jetzt bitter an mir
. . .«

»Sie schweigen?« rief der Baron unwillig, da eine kleine Pause eintrat.
»Gerade auf das wäre ich besonders neugierig. Was ist es nun eigentlich,
was sich an Ihnen rächt? Worin haben Sie gesündigt? . . .«

»Ich war«, kam es stockend, beschämt hervor, ». . . ich war, wie soll ich
es sagen, in Kleinigkeiten sehr ungeschickt. Das heißt: ich hielt sie für
Kleinigkeiten. Jetzt aber sehe ich, daß auch sie bedeutungsvoll sind und
daß auch sie, wenn man sie mit der richtigen Sorgfalt anpackt, einen
verehrungswürdigen Kern von Realität enthalten. Denn jetzt fehlen sie mir.
Das ist eben das besondere Gesetz, unter dem wir Gestorbenen in der ersten
Stunde nach dem Tode stehen. Aktion und Reaktion sind vollständig
vertauscht. Das, was wir im sterblichen Leben ehrfürchtig, mit Schauder und
Staunen bewundert haben, das ist uns jetzt vertraut. Was wir aber dort
wegwerfend behandelt und zu einer seelenlosen gewohnheitsmäßigen Hantierung
herabgewürdigt haben, das mutet uns hier fremd und unverständlich an. So
geht es mir hier . . .,« er stockte wieder, »mit der Kleidung. Ich habe
sie, offen gesagt, sehr vernachlässigt. Überhaupt, Etikettefragen verstand
ich nie. Mit einem gewissen Hochmut setzte ich mich über sie hinweg und
glaubte, infolge meiner sonstigen höheren Neigungen sogar ein Recht auf
diesen Hochmut zu haben. Für ihn werde ich jetzt bestraft. Denn gewiß liegt
auch in der Etikette, überhaupt im geregelten gesetzlichen Verkehr zwischen
den Geschöpfen, im Maßhalten und Distanzgefühl etwas Allgemeingültiges und
von Gott Gewolltes. Mag sein, daß dieses Distanzhalten übertrieben wird,
daß nur ein Körnlein Wahrheit und sehr viel Lüge in ihm liegt. Aber eben
auch dieses Körnlein Wahrheit zu finden war ich verpflichtet, und noch so
arge Lüge, die es verhüllte, ist keine genügende Entschuldigung dafür, daß
ich mich von dieser Hülle abschrecken ließ . . . Zur Strafe bin ich jetzt
in allem derartigen ganz ratlos. Bedenken Sie nur, wie peinlich es für mich
ist, daß ich immer noch nicht herausbringen konnte, in welcher Gestalt Sie
vor mir stehen. Ich sehe Sie gar nicht. Ich glaube zwar, daß Ihre Stimme
aus diesem schönen leuchtenden Körper kommt,« dabei zeigte er auf die
Schreibtischlampe weit hinter dem Baron, der bei diesen Worten (vielleicht
zum erstenmal in seinem Leben) ein eigentümliches Gefühl von Kleinheit und
Unbedeutendheit empfand, was jedoch seine Erbitterung nur steigerte, »und
ich, halte irgendwie dieses Licht für das Zentrum, der Persönlichkeit, mit
der ich mich unterhalte. Im übrigen aber hebt sich für mich leider keine
deutliche Gestaltung aus der Umgebung hervor. Und auch mit meiner eigenen
Figur kann ich nicht ins Reine kommen, so sehr ich mich meiner neuen Welt
anpassen möchte. Bald zuckt es in mir zusammen, bald fließt es auseinander.
In allen Poren fühle ich ein Unbehagen. Glauben Sie mir, mir fehlt jedes
Raumgefühl, alles torkelt mir schwindlig durch den Kopf. Ich kann die
richtige Ebene nicht finden, in der ich mich zu bewegen hätte. Alles sehe
ich schief.«

»Das merke ich nun wirklich«, fuhr von Klumm mit höhnischem Lachen auf.

»Jetzt erst merke ich, zu spät, wie recht ein Freund hatte, der mir immer
von seinem Heimweh erzählte. Er war nur aus einer andern Stadt, nicht etwa
aus einer ganz andern Welt zu uns gekommen, und immer wieder klagte er, wie
unheimlich, ja geradezu wie bestraft er sich fühle. Was sich nämlich zu
Hause unter einer Hülle lieber Gewohnheiten, in der Wärme des
Körper-an-Körper-Sitzens im Familienkreis verborgen hatte, das trat jetzt
nackt zu Tage: eine gewisse innere Leerheit und Sinnlosigkeit seines
Lebens.«

»Dasselbe hat heute der Militärattaché gesagt«, murmelte der Baron, mit
gespanntem Mißtrauen.

»Wenn man«, fuhr die Erscheinung ruhig fort, »in einem trügerischem Schein
von ewigem Beschäftigtsein sein Leben hinbringt, immerfort fleißig und
strebsam ist, immerfort sogenannte »ernste« Dinge treibt, die meist nur der
banalen Notdurft des Tages dienen, seine Muße wiederum mit einem »Unernst«
vergeudet, der jenem Ernst an Irrealität gleichwertig ist, -- kurz, wenn
man nirgends die befreiende absolute Wahrheit sieht, sondern überall nur
eine trübselige Notwendigkeit und Gewohnheit . . .«

»Das ist zuviel,« schrie der Baron, und ging mit geballten Fäusten auf das
Phantom los, »jetzt reden Sie gar von mir!«

»Nein, von meinem Freund«, schrie die Erscheinung und wich mit dem Oberleib
zurück.

»Haha, -- der sah also nirgends absolute Wahrheiten? Hören Sie, da laß ich
ihn schön grüßen und ihm sagen, daß er ein ausgezeichneter Kerl ist, dieser
Freund, und mein Mann. Genau so bin ich nämlich auch. Die nüchternen
Tatsachen des Lebens erkenne ich an, relative Vernünftigkeiten,
Zweckmäßigkeiten. Aber was Sie davon allgemein giltiger Realität faseln
. . . Donnerwetter, gerade gegen solche törichte Ideologien anzukämpfen,
darin sehe ich den bescheidenen, aber vielleicht doch nicht ganz
unwesentlichen Sinn meines Daseins. Zum Teufel, ist denn jemand so
kurzsichtig, der das nicht einsieht? Es gibt kein Recht für alle und keine
Gerechtigkeit, weil jeder recht hat, jeder einzelne. Deshalb muß es ewig
Krieg geben, Zwietracht von Mann zu Mann und Krieg der Völker untereinander
. . .«

Kaum hatte der Minister diese Worte ausgesprochen, als das Gespenst sich
mit einem Male wie umgewandelt gebärdete. War es bisher eines von der
weinerlichen Sorte, sogar nahezu temperamentlos gewesen, so geriet es jetzt
in einen zornigen Eifer, der dem des Barons in nichts nachstand. »Halloh,
das ist ja Unsinn«, rief es und schien alle Zimperlichkeit mit einem
Schlage vergessen zu haben: »Es gibt kein Muß und es gibt keine bloß
relative Vernünftigkeit! Mit solchen Ansichten stecken Sie ja in einer ganz
gewaltigen Verblendung.«

»Ich -- Verblendung? Ich, der anerkannt sachlichste Realpolitiker der
Gegenwart? Selbst von den Gegnern als sachlich anerkannt? Und solch ein
Phantast, solch ein Utopist wie Sie will das behaupten? Wissen Sie, daß ich
Leute Ihres Schlages für die ärgsten, ja die einzigen Feinde der Menschheit
halte?« Der Baron hatte die Erscheinung beim Arm ergriffen und zerrte sie
hin und her, die Empörung hatte ihn vollständig übermannt. Doch auch die
Erscheinung war wild geworden. Erregt tappte sie um sich, allerdings sehr
ungeschickt, so daß sie den Baron verfehlte. »Ja, für einen solchen Feind«
schrie dieser, indem er zur Seite sprang, »daß ich mir gar kein Gewissen
daraus mache, Sie selbst samt Ihren läppischen Erfindungen jetzt auf der
Stelle über den Haufen zu schießen.« Er war an den Schreibtisch geeilt,
öffnete eine Kassette und begann mit zitternder Hand, den Revolver von
neuem zu laden. Dabei aber schrie und zankte er ununterbrochen weiter und
seine Stimme klang vor Wut und Aufregung immer heiserer: »Mit Ihrem
albernen Gerede von ewiger Gerechtigkeit . . ., begreifen Sie gar nicht,
daß Sie sich an dem heiligsten Gute der Menschheit versündigen? Wenn es nur
_ein_ Recht und _eine_ Wahrheit gäbe, wo bliebe dann . . . die immanente
Mißlungenheit, die Sinnlosigkeit alles Irdischen, die doch gerade darin
besteht, daß alle, die aufeinander gegenseitig loshauen, alle, alle
zugleich im Rechte sind, wo bliebe das Christentum, die Religion des
Leidens, wo bliebe die ganze metaphysische Tragik des Erdenwallens?«

»Sie erbärmlicher Wicht«, schrie nun auch der Geist aus voller Kehle und in
seine Stimme rollte etwas wie unterirdischer Donner, ja auch aus den Wänden
und Fenstern schien es dunkel mitzusprechen, der Wind draußen setzte mit
stärkerer Wucht ein und brachte vom Hochgebirg ein eigentümliches leises
Pfeifen und Knistern mit, als lösten sich irgendwo in der Ferne die Fugen
des uralten Gesteins und bereiteten sich vor, in feinen Staubbächen
herabzurieseln. »Sie erbärmlicher Wicht«, schrie gleichsam die ganze
sichtbare Natur in ihrer Empörung auf. »Ist es Ihre Sache, Gott ins
Handwerk zu pfuschen, und die Tragik seines Werkes gönnerhaft besorgt zu
protegieren, für die vielleicht genug und mehr als genug geschehen ist,
wenn er solch schädliche Würmer wie Sie in seiner unendlichen Güte
überhaupt nur weiterexistieren läßt, statt sie zu vertilgen?« -- Bei diesen
Worten bog sich das Gespenst ganz zurück, als wolle es einen Anlauf nehmen,
um das Menschlein einfach mit der Wucht seines Leibes niederzustoßen und
dann zu erdrücken. Durch diese heftige Bewegung aber hatte es sich
unversehens aus dem Parkett, in dem es noch immer bis zum Knie gefangen
stand, frei gemacht. Es stieg nun vollends wie aus einer Versenkung empor,
erstaunlicherweise jedoch hielt es mit dem Aufstieg nicht ein, als es die
Ebene des Fußbodens unter den Sohlen hatte, sondern wie im Schwunge seines
Ausholens erhob es sich weiter und fuhr nun frei in die Luft empor, doch
nicht geradeaus, sondern schräg, als schwebe es eine unsichtbare Treppe
hinauf. In dieser Bewegung kam es wie in einem eisigen Luftzug dicht am
Baron vorbei, so daß es ihn also wieder verfehlt hatte. »Wehe mir«, schrie
es jetzt mit kläglich-schneidendem Laut, indem es plötzlich etwa in halber
Höhe des Zimmers einhielt und fast unbeweglich, nur mit leichtem
Pendelschlag schwingend blieb. »Meine Sünde! Meine Sünde!«

Der Baron war zitternd in die Knie gestürzt, in weitem Bogen entfiel die
Waffe seiner Hand und klirrte zu Boden. Nicht so sehr die Rede des Geistes
als der furchtbare Anblick des in der Luft wie an einem imaginären Galgen
hängenden Leibes, der an Gespenstigkeit all das Merkwürdige, was er an
diesem denkwürdigen Abend bereits erlebt hatte, weit überbot, warf ihn aus
seiner mühsam erkünstelten Fassung. Nun rührten die bebenden Worte von
oben, die wie unmittelbar aus einem gequälten Herzen hervorgestoßen
schienen, an einen Nerv seiner Seele, der schon lange nicht, vielleicht
seit seinen ersten Kinderjahren nicht geschwungen hatte. »Meine Sünde!
Meine Sünde!« wimmerte nun auch er und verdrehte die Augen. Denn weinen
konnte er nicht mehr. Das hatte er in all den vielen Jahren ganz verlernt.

Eine Weile schrien nun beide jammervoll durch das Zimmer und erweckten den
schaurigen Widerhall der leise knarrenden Möbel. Der Mond war
untergegangen, völliges Dunkel herrschte außerhalb des Lampenscheines.
Jetzt erst bemerkte man, daß ein ganz zartes, flimmernd bläulich-weißes
Licht von den Konturen des Phantoms ausging, wie von einem Kamm, der
knisternd durch Haare streicht. Es machte wirklich den Eindruck, als sei
jedes Fäserchen im Kleide des Geistes bis zur Wurzel hinab schmerzlich
aufgeregt und erschauere in dem fremden widerspenstigen Medium des
irdischen Luftraumes, der sich bei der geringsten Bewegung als unangenehm
krankhafte Reibung bemerkbar machte.

»Was ist Ihnen denn? Herr des Himmels, was ist Ihnen?« rief der Minister,
dessen Wut völlig verraucht war und der nur noch Mitleid fühlte, Mitleid
mit der armen verirrten Spukgestalt, noch mehr Mitleid aber mit sich
selbst, denn er begann zu ahnen, daß sein Schicksal in jener unausweichlich
gewissen Stunde nach dem Tode dem des Geistes verwandt, aber noch viel,
viel entsetzlicher sich gestalten müsse.

»Sehn Sie denn nicht«, erklang es jämmerlich von oben. »Ich habe keinen
Raumsinn, das ist es. Ich erkenne zwar, daß es hier Zimmer und Stockwerke,
eine gewisse gesetzmäßige Anordnung von Oben und Unten, von Rechts und
Links gibt. Aber ich kann diese merkwürdige Anordnung nicht in mein Gefühl
aufnehmen, ich kann sie nicht von innen heraus empfinden . . . Und jetzt
weiß ich auch schon, für welchen besonderen Vorfall meines Lebens diese
Heimsuchung mich treffen soll.«

»O, es ist schrecklich«, wehklagte der Minister. »Was war es denn, was Sie
verbrochen haben? Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Wenn es in meiner Macht
liegt, seien Sie überzeugt, daß ich nichts unversucht lassen werde . . .«
Die gewohnten Diplomatenphrasen kamen tonlos, nur so kopfüber aus seinem
blassen Munde gestürzt.

Der Geist antwortete auf sein Anerbieten gar nicht, er schien ganz in
Erinnerung zu versinken und nur zu sich selbst zu sprechen: »Ein vornehmer
Mann, ich glaube, er war Staatsminister, besuchte mich einmal, vielleicht
in der besten Absicht, von lauterstem Wohlwollen erfüllt, in meiner
armseligen Dachkammer. Er wollte von mir lernen, sagte er, wollte meine
originelle Lebensweise, meinen Eigenbau in Weltanschauungen, so nannte er
es wörtlich, mit eigenen Sinnen nachprüfen. Da ritt mich der Satan der
Aufgeblasenheit, der richtige Proletarierstolz, und ich warf ihn
eigenhändig die Treppe hinunter, wobei ich triumphierend ausrief: >Damit
Sie wirklich sehen und am eigenen Leib fühlen, daß es bei mir kein Hoch und
Niedrig, kein Oben und Unten gibt.<«

»Kein Oben und Unten. -- Und deshalb hängen Sie Unglückseliger jetzt in der
Luft? -- Nun, aber es war damals wirklich nicht schön von Ihnen.«

»Ja, das schrie ich ihm damals nach, mit vollem Brustton und in der
Überzeugung, etwas Großartiges ausgeführt zu haben. Leider bin ich ja so
jähzornig, Sie haben vorhin eine Probe davon erlebt. Und es kam mir damals
so naheliegend vor, so selbstverständlich, den Mann einfach am Kragen zu
packen und hinunterzuwerfen. Nachher noch freute ich mich lange darüber,
daß ich diesen glänzenden Einfall gehabt hatte, er schien mir aus meinem
Innersten gekommen zu sein, ich konnte mir gar nicht vorstellen, daß die
Sache anders hätte ausfallen sollen und dürfen. -- Jetzt aber fühle ich
ganz genau, eben diese scheinbare Selbstverständlichkeit und
Insichgeschlossenheit, diese handgreifliche Massivität und Sicherheit der
Dinge ist die ärgste Gefahr, die ärgste Versuchung für die Sterblichen. Es
kann gar nicht anders sein, denkt man, oder denkt gar nichts, beruhigt sich
einfach dabei, daß es so ist, daß es Elend und Heuchelei und Massenmord und
Verkümmerung gibt. Es ist nichts zu ändern und zu bessern, denkt man, und
vergißt ganz, daß man bei sich selbst den Anfang machen könnte . . .«

Der Baron unterbrach ihn, zähneklappernd, mit dem Ausbruch seiner höchsten
Angst: »Aber bedenken Sie, Liebster, wie wird es erst mir ergehen, wenn Sie
schon wegen einer einmaligen geringfügigen Verfehlung oder vielmehr nur
Vierschrötigkeit soviel auszustehen haben? In Etikette und Distanzfragen
zwar werde ich mich auskennen. Aber in den vielen anderen und, wie es
scheint, wichtigeren Dingen, die ich alle nur als Gewohnheiten gelten ließ
und die sich infolgedessen alle gegen mich empören werden? Sogar an den
Tod, pflegte ich zu sagen, haben wir uns gewöhnt. Also wird mir alles in
der verdrehten Welt . . ., im Jenseits, wollte ich sagen, ganz überraschend
neu und unerklärlich erscheinen, nicht wahr?«

»Ja, jetzt ergreift es mich«, rief das Gespenst in diesem Augenblick
frohlockend aus, ohne sich um den von Entsetzen geschüttelten Staatsmann zu
kümmern, »jetzt, jetzt weicht das Verhängnis von mir. Jetzt fühle ich, daß
mir verziehen wird. Eine unvergleichliche Harmonie ergreift mich, erfüllt
meine Glieder . . .« Freudetränen glänzten in den Augen des Greises, der
verstummt war und mit einem sanften Lächeln auf seinen Zügen langsam zum
Fußboden niederschwebte. Er hatte jetzt auch schon nicht mehr als die Größe
und Gestalt eines normalen Menschen, das spitzige Nadelglitzern rings um
seinen Körper war verschwunden. Nun hatte er das Parkett berührt. Sofort
lösten sich auch seine Füße aus der unnatürlichen marionettenhaften
Gebundenheit, und frei schritt er jetzt auf den Baron zu, den er auch schon
richtig von seiner Umgebung zu unterscheiden schien. Er bemerkte jetzt, daß
dieser auf der Erde kniete. »Stehn Sie auf«, sagte er freundlich und half
ihm nach, indem er den Ächzenden emporhob. »Niemand ist unrettbar verloren
. . . Mich aber reißt es jetzt mit Macht anderswohin. Welche andere
Prüfungen sind mir noch beschieden? Oder stehe ich schon am Ende und bin
für die höchste Ebene geläutert? Ich weiß es nicht. Ich fühle nur, daß
meine Zeit in dieser terrestrischen Welt um ist, daß ich wieder in eine
neue Sphäre auftauche, vielleicht -- o die Ahnung schon beseligt -- in eine
reinere, als diese hier und als die meine es waren. Leben Sie wohl!«

»Nein, bleiben Sie«, rief der Baron verzweifelt, »Bleiben Sie bei mir.
Sprechen Sie noch. Sie tun mir so wohl. Und damit will ich nicht sagen, daß
ich mich nur an Sie gewöhnt habe. Nein, es ist etwas Wesenhaftes,
Wirkliches, wenn Sie bleiben.«

Die Erscheinung schüttelte ernst den Kopf: »Ich darf es nicht.«

»Und wenn ich Sie kniefällig bitte. Wenn ich Ihnen sage, daß Ihre Worte von
unendlicher, ausschlaggebender Bedeutung für mein Seelenheil sein können,
daß meine unsterbliche Erlösung in Ihrer Hand liegt.«

»Ein höheres Gesetz zwingt mich, zu gehen.«

In einer Demut, die er nie vorher gekannt hatte, neigte der Minister das
Haupt. Die Erscheinung reichte ihm sanft die Hand.

»Dann sagen Sie mir wenigstens noch das eine: Welche erschütternden
Erfahrungen, hohen Studien, welche Gelehrsamkeit und großartige
Unterweisung haben Sie in Ihrer Sylphenwelt durchgemacht, um sich zu einer
so hohen Erkenntnisstufe emporzuringen, daß Ihnen nach dem Tode wenig mehr
als eine kleine Peinlichkeit beschieden war? Gewiß waren Sie
Philosophenschüler und selbst Philosoph, waren ein großer verkannter
Künstler, oder gar ein Apostel, ein Prophet, ein Religionsstifter?«

»Nein«, erwiderte die Erscheinung mit eigentümlich verhaltenem Lächeln.
»Ich habe gelebt wie jeder andere. Ein Unrecht habe ich niemals geduldet,
das ist wahr, aber zum Studieren hatte ich nur wenig Zeit. Mein Beruf
freilich war sozusagen ein philosophischer. Oft mußte ich nämlich allein
sein, in einer ganz engen finstern Kammer, fern von allen Menschen und nur
auf mich angewiesen. Soetwas lädt zum Nachdenken ein. Ich war
Schornsteinfeger.«

Der Minister zuckte zusammen. »Schornsteinfeger -- Schornsteinfeger« --
wiederholte er lallend.

Als er aufsah, war die Erscheinung spurlos verschwunden. -- -- --

Plötzlich schrie er auf und stürzte ans Telephon: »Hallo -- Irrenanstalt,
Irrenanstalt.«

Der Nachtinspektor meldete sich.

»Ist Arthur Bruchfeß dort? Der Schornsteinfeger, der heute das Attentat auf
mich verübt hat? Ist er nicht gerade vor einer halben Stunde gestorben?«
Der Minister glaubte nichts anderes, als daß er die eben beendete
Unterredung mit dem Spirit dieses Mannes gehabt hatte.

»Ich werde sofort selbst nachsehn, Exzellenz.«

Nach einer Weile, deren Spannung sich ins Unerträgliche ausdehnte: »Nein,
Inhaftat Bruchfeß lebt, ist sogar auffallend ruhig und heiter. Er hat sich
nicht zur Ruhe gelegt, sondern geht, ein Liedchen trällernd, in seiner
Zelle auf und ab. Die Ärzte haben nicht die geringste Spur von geistiger
Umnachtung feststellen können, nicht einmal eine besondere Erregung des
Nervensystems.«

»Lassen Sie den Mann laufen, sofort« keuchte der Minister »die ganze Affäre
wird niedergeschlagen. Man muß das alles anders machen, die ganze Justiz,
die ganze Welt, alles . . . Haben Sie verstanden? Sofort in Freiheit
setzen.«

»Zu Befehl, Eure Exzellenz.«

Schwer atmend fiel der Minister in seinen Sessel nieder, ununterbrochen
versetzte er seinem Kopf leichte Schläge, wie um sich aufzurütteln und das
Unsagbare zu fassen.

Da raschelte es in der Türe.

Die schöne Gabriele war eingetreten. Das laute Gespräch vorhin hatte sie
nicht geweckt, wohl aber jetzt das Klingeln des Telephons. »Wann kommst Du
endlich?« rief sie und spitzte schmollend ihre Lippen. So blieb sie, leicht
erschauernd, stehn, denn sie trug nichts als ihr dünnes halbdurchsichtiges
Nachthemdchen, das nur zwei hellblaue Seidenbänder über den glänzenden
Schultern festhielten. Man sah ihr einfaches junges Gesicht, die zarten
runden Arme und jene leichte apfelglatte Wölbung des kleinen Busens, die
mehr als alles in der Welt selbstverständlich ist und zu
vertraulichheimischem Vergessen, zur süßen Gewohnheit eines bewußtlosen
Ausruhens verleitet. Auch ein Stärkerer als der Baron hätte diesem mit
sanfter Gewalt berauschenden Anblick nicht widerstanden. Im nächsten
Augenblick war er bei ihr. »Wie lang soll ich noch allein warten?« hauchte
sie zärtlich, während er sie schon umfangen hielt und sich, mit stürmischer
Freude, aus tiefster Brust aufatmend, der süßen mütterlichen Schlaflauheit,
die von ihrem Körper ausging, und dem sachten Schlag überließ, mit dem ihn
eine ihrer losgelösten Haarsträhne wie eine unendlich feine, melodisch
aufklingende Zaubergerte an der Wange berührte.

ENDE



Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Die erste Stunde nach dem Tode - Eine Gespenstergeschichte" ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home