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Title: Klingsors letzter Sommer - Kinderseele / Klein und Wagner / Klingsors letzter Sommer
Author: Hesse, Hermann, 1877-1962
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Klingsors letzter Sommer - Kinderseele / Klein und Wagner / Klingsors letzter Sommer" ***


Klingsors
letzter Sommer


Erzählungen
von
Hermann Hesse


1920
S. Fischer / Verlag / Berlin


Von diesem Werk wurden für Hermann Hesse 100 numerierte
Exemplare auf holzfreiem Papier abgezogen, die mit
seiner Unterschrift nur vom Dichter selbst (Wohnsitz:
Montagnola, Schweiz) zu beziehen sind


Erste bis zehnte Auflage
Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten
Copyright S. Fischer, Verlag, Berlin



Kinderseele


Manchmal handeln wir, gehen aus und ein, tun dies und das, und es ist alles
leicht, unbeschwert und gleichsam unverbindlich, es könnte scheinbar alles
auch anders sein. Und manchmal, zu anderen Stunden, könnte nichts anders
sein, ist nichts unverbindlich und leicht, und jeder Atemzug, den wir tun,
ist von Gewalten bestimmt und schwer von Schicksal.

Die Taten unseres Lebens, die wir die guten nennen und von denen zu
erzählen uns leicht fällt, sind fast alle von jener ersten, »leichten« Art,
und wir vergessen sie leicht. Andere Taten, von denen zu sprechen uns Mühe
macht, vergessen wir nie mehr, sie sind gewissermaßen mehr unser als
andere, und ihre Schatten fallen lang über alle Tage unseres Lebens.

Unser Vaterhaus, das groß und hell an einer hellen Straße lag, betrat man
durch ein hohes Tor, und sogleich war man von Kühle, Dämmerung und steinern
feuchter Luft umfangen. Eine hohe, düstere Halle nahm einen schweigsam auf,
der Boden von roten Sandsteinfliesen führte leicht ansteigend gegen die
Treppe, deren Beginn zuhinterst tief im Halbdunkel lag. Viele tausend Male
bin ich durch dies hohe Tor eingegangen, und niemals hatte ich acht auf Tor
und Flur, Fliesen und Treppe; dennoch war es immer ein Übergang in eine
andere Welt, in »unsere« Welt. Die Halle roch nach Stein, sie war finster
und hoch, hinten führte die Treppe aus der dunklen Kühle empor und zu Licht
und hellem Behagen. Immer aber war erst die Halle und die ernste Dämmerung
da: etwas von Vater, etwas von Würde und Macht, etwas von Strafe und
schlechtem Gewissen. Tausendmal ging man lachend hindurch. Manchmal aber
trat man herein und war sogleich erdrückt und zerkleinert, hatte Angst,
suchte rasch die befreiende Treppe.

Als ich elf Jahre alt war, kam ich eines Tages von der Schule her nach
Hause, an einem von den Tagen, wo Schicksal in den Ecken lauert, wo leicht
etwas passiert. An diesen Tagen scheint jede Unordnung und Störung der
eigenen Seele sich in unserer Umwelt zu spiegeln und sie zu entstellen.
Unbehagen und Angst beklemmen unser Herz, und wir suchen und finden ihre
vermeintlichen Ursachen außer uns, sehen die Welt schlecht eingerichtet und
stoßen überall auf Widerstände.

Ähnlich war es an jenem Tage. Von früh an bedrückte mich -- wer weiß woher?
vielleicht aus Träumen der Nacht -- ein Gefühl wie schlechtes Gewissen,
obwohl ich nichts Besonderes begangen hatte. Meines Vaters Gesicht hatte am
Morgen einen leidenden und vorwurfsvollen Ausdruck gehabt, die
Frühstücksmilch war lau und fad gewesen. In der Schule war ich zwar nicht
in Nöte geraten, aber es hatte alles wieder einmal trostlos, tot und
entmutigend geschmeckt und hatte sich vereinigt zu jenem mir schon
bekannten Gefühl der Ohnmacht und Verzweiflung, das uns sagt, daß die Zeit
endlos sei, daß wir ewig und ewig klein und machtlos und im Zwang dieser
blöden, stinkenden Schule bleiben werden, Jahre und Jahre, und daß dies
ganze Leben sinnlos und widerwärtig sei.

Auch über meinen derzeitigen Freund hatte ich mich heute geärgert. Ich
hatte seit kurzem eine Freundschaft mit Oskar Weber, dem Sohn eines
Lokomotivführers, ohne recht zu wissen, was mich zu ihm zog. Er hatte
neulich damit geprahlt, daß sein Vater sieben Mark im Tag verdiene, und ich
hatte aufs Geratewohl erwidert, der meine verdiene vierzehn. Daß er sich
dadurch hatte imponieren lassen, ohne Einwände zu machen, war der Anfang
der Sache gewesen. Einige Tage später hatte ich mit Weber einen Bund
gegründet, indem wir eine gemeinsame Sparkasse anlegten, aus welcher später
eine Pistole gekauft werden sollte. Die Pistole lag im Schaufenster eines
Eisenhändlers, eine massive Waffe mit zwei bläulichen Stahlrohren. Und
Weber hatte mir vorgerechnet, daß man nur eine Weile richtig zu sparen
brauche, dann könne man sie kaufen. Geld gebe es ja immer, er bekomme sehr
oft einen Zehner für Ausgänge, oder sonst ein Trinkgeld, und manchmal finde
man Geld auf der Gasse, oder Sachen mit Geldeswert, wie Hufeisen,
Bleistücke und anderes, was man gut verkaufen könne. Einen Zehner hatte er
auch sofort für unsere Kasse hergegeben, und der hatte mich überzeugt und
mir unseren ganzen Plan als möglich und hoffnungsvoll erscheinen lassen.

Indem ich an jenem Mittag unsere Hausflur betrat und mir in der kellerig
kühlen Luft dunkle Mahnungen an tausend unbequeme und hassenswerte Dinge
und Weltordnungen entgegenwehten, waren meine Gedanken mit Oskar Weber
beschäftigt. Ich fühlte, daß ich ihn nicht liebte, obwohl sein gutmütiges
Gesicht, das mich an eine Waschfrau erinnerte, mir sympathisch war. Was
mich zu ihm hinzog, war nicht seine Person, sondern etwas anderes, ich
könnte sagen sein Stand -- es war etwas, das er mit fast allen Buben von
seiner Art und Herkunft teilte: eine gewisse freche Lebenskunst, ein dickes
Fell gegen Gefahr und Demütigung, eine Vertrautheit mit den kleinen
praktischen Angelegenheiten des Lebens, mit Geld, mit Kaufläden und
Werkstätten, Waren und Preisen, mit Küche und Wäsche und dergleichen.
Solche Knaben wie Weber, denen die Schläge in der Schule nicht weh zu tun
schienen und die mit Knechten, Fuhrleuten und Fabrikmädchen verwandt und
befreundet waren, die standen anders und gesicherter in der Welt, als ich;
sie waren gleichsam erwachsener, sie wußten, wieviel ihr Vater im Tag
verdiene, und wußten ohne Zweifel auch sonst noch vieles, worin ich
unerfahren war. Sie lachten über Ausdrücke und Witze, die ich nicht
verstand. Sie konnten überhaupt auf eine Weise lachen, die mir versagt war,
auf eine dreckige und rohe, aber unleugbar erwachsene und beinah
»männliche« Weise. Es half nichts, daß man klüger war als sie und in der
Schule viel mehr wußte. Es half nichts, daß man besser als sie gekleidet,
gekämmt und gewaschen war. Im Gegenteil, eben diese Unterschiede kamen
ihnen zugute. In die »Welt«, wie sie mir in Dämmerschein und
Abenteuerschein vorschwebte, schienen mir solche Knaben wie Weber ganz ohne
Schwierigkeiten eingehen zu können, während _mir_ die »Welt« so sehr
verschlossen war und jedes ihrer Tore durch unendliches Älterwerden,
Schulesitzen, durch Prüfungen und Erzogenwerden mühsam erobert werden
mußte. Natürlich fanden solche Knaben auch Hufeisen, Geld und Stücke Blei
auf der Straße, bekamen Lohn für Besorgungen, kriegten in Läden allerlei
geschenkt und gediehen auf jede Weise.

Ich fühlte dunkel, daß meine Freundschaft zu Weber und seiner Sparkasse
nichts war als wilde Sehnsucht nach jener »Welt«. An Weber war nichts für
mich liebenswert, als sein großes Geheimnis, kraft dessen er den
Erwachsenen näher stand als ich, in einer schleierlosen, nackteren,
robusteren Welt lebte, als ich mit meinen Träumen und Wünschen. Und ich
fühlte voraus, daß er mich enttäuschen würde, daß es mir nicht gelingen
werde, ihm sein Geheimnis und den magischen Schlüssel zum Leben zu
entreißen.

Eben hatte er mich verlassen, und ich wußte, er ging nun nach Hause, breit
und behäbig, pfeifend und vergnügt, von keiner Sehnsucht, von keinen
Ahnungen verdüstert. Wenn er die Dienstmägde und Fabrikler antraf und ihr
rätselhaftes, vielleicht wunderbares, vielleicht verbrecherisches Leben
führen sah, so war es ihm kein Rätsel und ungeheures Geheimnis, keine
Gefahr, nichts Wildes und Spannendes, sondern selbstverständlich, bekannt
und heimatlich wie der Ente das Wasser. So war es. Und ich hingegen, ich
würde immer nebendraußen stehen, allein und unsicher, voll von Ahnungen,
aber ohne Gewißheit.

Überhaupt, das Leben schmeckte an jenem Tage wieder einmal hoffnungslos
fade, der Tag hatte etwas von einem Montag an sich, obwohl er ein Samstag
war, er roch nach Montag, dreimal so lang und dreimal so öde als die
anderen Tage. Verdammt und widerwärtig war dies Leben, verlogen und
ekelhaft war es. Die Erwachsenen taten, als sei die Welt vollkommen und als
seien sie selber Halbgötter, wir Knaben aber nichts als Auswurf und
Abschaum. Diese Lehrer --! Man fühlte Streben und Ehrgeiz in sich, man nahm
redliche und leidenschaftliche Anläufe zum Guten, sei es nun zum Lernen der
griechischen Unregelmäßigen oder zum Reinhalten seiner Kleider, zum
Gehorsam gegen die Eltern oder zum schweigenden, heldenhaften Ertragen
aller Schmerzen und Demütigungen -- ja, immer und immer wieder erhob man
sich, glühend und fromm, um sich Gott zu widmen und den idealen, reinen,
edlen Pfad zur Höhe zu gehen, Tugend zu üben, Böses stillschweigend zu
dulden, anderen zu helfen -- ach, und immer und immer wieder blieb es ein
Anlauf, ein Versuch und kurzer Flatterflug! Immer wieder passierte schon
nach Tagen, o schon nach Stunden etwas, was nicht hätte sein dürfen, etwas
Elendes, Betrübendes und Beschämendes. Immer wieder fiel man mitten aus den
trotzigsten und adligsten Entschlüssen und Gelöbnissen plötzlich
unentrinnbar in Sünde und Lumperei, in Alltag und Gewöhnlichkeiten zurück!
Warum war es so, daß man die Schönheit und Richtigkeit guter Vorsätze so
wohl und tief erkannte und im Herzen fühlte, wenn doch beständig und
immerzu das ganze Leben (die Erwachsenen einbegriffen) nach Gewöhnlichkeit
stank und überall darauf eingerichtet war, das Schäbige und Gemeine
triumphieren zu lassen? Wie konnte es sein, daß man morgens im Bett auf den
Knien oder nachts vor angezündeten Kerzen sich mit heiligem Schwur dem
Guten und Lichten verbündete, Gott anrief und jedem Laster für immer Fehde
ansagte -- und daß man dann, vielleicht bloß ein paar Stunden später, an
diesem selben heiligen Schwur und Vorsatz den elendesten Verrat üben
konnte, sei es auch nur durch das Einstimmen in ein verführerisches
Gelächter, durch das Gehör, das man einem dummen Schulbubenwitze lieh?
Warum war das so? Ging es andern anders? Waren die Helden, die Römer und
Griechen, die Ritter, die ersten Christen -- waren diese alle andere
Menschen gewesen als ich, besser, vollkommener, ohne schlechte Triebe,
ausgestattet mit irgendeinem Organ, das mir fehlte, das sie hinderte, immer
wieder aus dem Himmel in den Alltag, aus dem Erhabenen ins Unzulängliche
und Elende zurückzufallen? War die Erbsünde jenen Helden und Heiligen
unbekannt? War das Heilige und Edle nur Wenigen, Seltenen, Auserwählten
möglich? Aber warum war mir, wenn ich nun also kein Auserwählter war,
dennoch dieser Trieb nach dem Schönen und Adligen eingeboren, diese wilde,
schluchzende Sehnsucht nach Reinheit, Güte, Tugend? War das nicht zum Hohn?
Gab es das in Gottes Welt, daß ein Mensch, ein Knabe, gleichzeitig alle
hohen und alle bösen Triebe in sich hatte und leiden und verzweifeln mußte,
nur so als eine unglückliche und komische Figur, zum Vergnügen des
zuschauenden Gottes? Gab es das? Und war dann nicht -- ja war dann nicht
die ganze Welt ein Teufelsspott, gerade wert, sie anzuspucken?! War dann
nicht Gott ein Scheusal, ein Wahnsinniger, ein dummer, widerlicher
Hanswurst? -- Ach, und während ich mit einem Beigeschmack von
Empörerwollust diese Gedanken dachte, strafte mich schon mein banges Herz
durch Zittern für die Blasphemie!

Wie deutlich sehe ich, nach dreißig Jahren, jenes Treppenhaus wieder vor
mir, mit den hohen, blinden Fenstern, die gegen die nahe Nachbarmauer
gingen und so wenig Licht gaben, mit den weißgescheuerten, tannenen Treppen
und Zwischenböden und dem glatten, harthölzernen Geländer, das durch meine
tausend sausenden Abfahrten poliert war! So fern mir die Kindheit steht,
und so unbegreiflich und märchenhaft sie mir im ganzen erscheint, so ist
mir doch alles genau erinnerlich, was schon damals, mitten im Glück, in mir
an Leid und Zwiespalt vorhanden war. Alle diese Gefühle waren damals im
Herzen des Kindes schon dieselben, wie sie es immer blieben: Zweifel am
eigenen Wert, Schwanken zwischen Selbstüberschätzung und Mutlosigkeit,
zwischen weltverachtender Idealität und gewöhnlicher Sinneslust -- und wie
damals, so sah ich auch hundertmal später noch in diesen Zügen meines
Wesens bald verächtliche Krankheit, bald Auszeichnung, habe zu Zeiten den
Glauben, daß mich Gott auf diesem qualvollen Wege zu besonderer
Vereinsamung und Vertiefung führen wolle, und finde zu andern Zeiten wieder
in alledem nichts als die Zeichen einer schäbigen Charakterschwäche, einer
Neurose, wie Tausende sie mühsam durchs Leben schleppen.

Wenn ich alle die Gefühle und ihren qualvollen Widerstreit auf ein
Grundgefühl zurückführen und mit einem einzigen Namen bezeichnen sollte, so
wüßte ich kein anderes Wort als: Angst. Angst war es, Angst und
Unsicherheit, was ich in allen jenen Stunden des gestörten Kinderglücks
empfand: Angst vor Strafe, Angst vor dem eigenen Gewissen, Angst vor
Regungen meiner Seele, die ich als verboten und verbrecherisch empfand.

Auch in jener Stunde, von der ich erzähle, kam dies Angstgefühl wieder über
mich, als ich in dem heller und heller werdenden Treppenhause mich der
Glastür näherte. Es begann mit einer Beklemmung im Unterleib, die bis zum
Halse emporstieg und dort zum Würgen oder zu Übelkeit wurde. Zugleich damit
empfand ich in diesen Momenten stets, und so auch jetzt, eine peinliche
Geniertheit, ein Mißtrauen gegen jeden Beobachter, einen Drang zu
Alleinsein und Sichverstecken.

Mit diesem üblen und verfluchten Gefühl, einem wahren Verbrechergefühl, kam
ich in den Korridor und in das Wohnzimmer. Ich spürte: es ist heut der
Teufel los, es wird etwas passieren. Ich spürte es, wie der Barometer einen
veränderten Luftdruck spürt, mit rettungsloser Passivität. Ach, nun war es
wieder da, dies Unsägliche! Der Dämon schlich durchs Haus, Erbsünde nagte
am Herzen, riesig und unsichtbar stand hinter jeder Wand ein Geist, ein
Vater und Richter.

Noch wußte ich nichts, noch war alles bloß Ahnung, Vorgefühl, nagendes
Unbehagen. In solchen Lagen war es oft das beste, wenn man krank wurde,
sich erbrach und ins Bett legte. Dann ging es manchmal ohne Schaden
vorüber, die Mutter oder Schwester kam, man bekam Tee und spürte sich von
liebender Sorge umgeben, und man konnte weinen oder schlafen, um nachher
gesund und froh in einer völlig verwandelten, erlösten und hellen Welt zu
erwachen.

Meine Mutter war nicht im Wohnzimmer, und in der Küche war nur die Magd.
Ich beschloß, zum Vater hinauf zu gehen, zu dessen Studierzimmer eine
schmale Treppe hinaufführte. Wenn ich auch Furcht vor ihm hatte, zuweilen
war es doch gut, sich an ihn zu wenden, dem man so viel abzubitten hatte.
Bei der Mutter war es einfacher und leichter, Trost zu finden; beim Vater
aber war der Trost wertvoller, er bedeutete einen Frieden mit dem
richtenden Gewissen, eine Versöhnung und ein neues Bündnis mit den guten
Mächten. Nach schlimmen Auftritten, Untersuchungen, Geständnissen und
Strafen war ich oft aus des Vaters Zimmer gut und rein hervorgegangen,
bestraft und ermahnt zwar, aber voll neuer Vorsätze, durch die
Bundesgenossenschaft des Mächtigen gestärkt gegen das feindliche Böse. Ich
beschloß, den Vater aufzusuchen und ihm zu sagen, daß mir übel sei.

Und so stieg ich die kleine Treppe hinauf, die zum Studierzimmer führte.
Diese kleine Treppe mit ihrem eigenen Tapetengeruch und dem trockenen Klang
der hohlen, leichten Holzstufen war noch unendlich viel mehr als die
Hausflur ein bedeutsamer Weg und ein Schicksalstor; über diese Stufen
hatten viele wichtige Gänge mich geführt, Angst und Gewissensqual hatte ich
hundertmal dort hinaufgeschleppt, Trotz und wilden Zorn, und nicht selten
hatte ich Erlösung und neue Sicherheit zurückgebracht. Unten in unsrer
Wohnung waren Mutter und Kind zu Hause, dort wehte harmlose Luft; hier oben
wohnten Macht und Geist, hier waren Gericht und Tempel und das »Reich des
Vaters«.

Etwas beklommen wie immer drückte ich die altmodische Klinke nieder und
öffnete die Tür halb. Der väterliche Studierzimmergeruch floß mir
wohlbekannt entgegen: Bücher- und Tintenduft verdünnt durch blaue Luft aus
halboffnen Fenstern, weiße, reine Vorhänge, ein verlorner Faden von
Kölnisch-Wasser-Duft, und auf dem Schreibtisch ein Apfel. -- Aber die Stube
war leer.

Mit einer Empfindung halb von Enttäuschung und halb von Aufatmen trat ich
ein. Ich dämpfte meinen Schritt und trat nur mit den Zehen auf, so wie wir
hier oben manchmal gehen mußten, wenn der Vater schlief oder Kopfweh hatte.
Und kaum war dies leise Gehen mir bewußt geworden, so bekam ich Herzklopfen
und spürte verstärkt den angstvollen Druck im Unterleib und in der Kehle
wieder. Ich ging schleichend und angstvoll weiter, einen Schritt und wieder
einen Schritt, und schon war ich nicht mehr ein harmloser Besucher und
Bittsteller, sondern ein Eindringling. Mehrmals schon hatte ich heimlich in
des Vaters Abwesenheit mich in seine beiden Zimmer geschlichen, hatte sein
geheimes Reich belauscht und erforscht und hatte zweimal auch etwas daraus
entwendet.

Die Erinnerung daran war alsbald da und erfüllte mich, und ich wußte
sofort: jetzt war das Unglück da, jetzt passierte etwas, jetzt tat ich
Verbotenes und Böses. Kein Gedanke an Flucht! Vielmehr, ich dachte wohl
daran, dachte sehnlich und inbrünstig daran, davonzulaufen, die Treppe
hinab und in mein Stübchen oder in den Garten -- aber ich wußte, ich werde
das doch nicht tun, nicht tun können. Innig wünschte ich, mein Vater möchte
sich im Nebenzimmer rühren und hereintreten und den ganzen grauenvollen
Bann durchbrechen, der mich dämonisch zog und fesselte. O käme er doch!
Käme er doch, scheltend meinetwegen, aber käme er nur, eh es zu spät ist!

Ich hustete, um meine Anwesenheit zu melden, und als keine Antwort kam,
rief ich leise: »Papa!« Es blieb alles still, an den Wänden schwiegen die
vielen Bücher, ein Fensterflügel bewegte sich im Winde und warf einen
hastigen Sonnenspiegel über den Boden. Niemand erlöste mich, und in mir
selber war keine Freiheit, anders zu tun, als der Dämon wollte.
Verbrechergefühl zog mir den Magen zusammen und machte mir die
Fingerspitzen kalt, mein Herz flatterte angstvoll. Noch wußte ich
keineswegs, was ich tun würde. Ich wußte nur, es würde etwas Schlechtes
sein.

Nun war ich beim Schreibtisch, nahm ein Buch in die Hand und las einen
englischen Titel, den ich nicht verstand. Englisch haßte ich -- das sprach
der Vater stets mit der Mutter, wenn wir es nicht verstehen sollten und
auch wenn sie Streit hatten. In einer Schale lagen allerlei kleine Sachen,
Zahnstocher, Stahlfedern, Stecknadeln. Ich nahm zwei von den Stahlfedern
und steckte sie in die Tasche, Gott weiß wozu, ich brauchte sie nicht und
hatte keinen Mangel an Federn. Ich tat es nur, um dem Zwang zu folgen, der
mich fast erstickt hätte, dem Zwang, Böses zu tun, mir selbst zu schaden,
mich mit Schuld zu beladen. Ich blätterte in meines Vaters Papieren, sah
einen angefangenen Brief liegen, ich las die Worte: »es geht uns und den
Kindern, Gott sei Dank, recht gut,« und die lateinischen Buchstaben seiner
Handschrift sahen mich an wie Augen.

Dann ging ich leise und schleichend in das Schlafzimmer hinüber. Da stand
Vaters eisernes Feldbett, seine braunen Hausschuhe darunter, ein
Taschentuch lag auf dem Nachttisch. Ich atmete die väterliche Luft in dem
kühlen, hellen Zimmer ein, und das Bild des Vaters stieg deutlich vor mir
auf, Ehrfurcht und Auflehnung stritten in meinem beladenen Herzen. Für
Augenblicke haßte ich ihn und erinnerte mich seiner mit Bosheit und
Schadenfreude, wie er zuweilen an Kopfwehtagen still und flach in seinem
niederen Feldbett lag, sehr lang und gestreckt, ein nasses Tuch über der
Stirn, manchmal seufzend. Ich ahnte wohl, daß auch er, der Gewaltige, kein
leichtes Leben habe, daß auch ihm, dem Ehrwürdigen, Zweifel an sich selbst
und Bangigkeit nicht unbekannt waren. Schon war mein seltsamer Haß
verflogen, Mitleid und Rührung folgten ihm. Aber inzwischen hatte ich eine
Schieblade der Kommode herausgezogen. Da lag Wäsche geschichtet und eine
Flasche Kölnisches Wasser, das er liebte; ich wollte daran riechen, aber
die Flasche war noch ungeöffnet und fest verstöpselt, ich legte sie wieder
zurück. Daneben fand ich eine kleine runde Dose mit Mundpastillen, die nach
Lakrizen schmeckten, von denen steckte ich einige in den Mund. Eine gewisse
Enttäuschung und Ernüchterung kam über mich, und zugleich war ich doch
froh, nicht mehr gefunden und genommen zu haben.

Schon im Ablassen und Verzichten zog ich noch spielend an einer andern
Lade, mit etwas erleichtertem Gefühl und mit dem Vorsatz, nachher die zwei
gestohlenen Stahlfedern drüben wieder an ihren Ort zu legen. Vielleicht
waren Rückkehr und Reue möglich, Wiedergutmachung und Erlösung. Vielleicht
war Gottes Hand über mir stärker als alle Versuchung . . .

Da sah ich mit schnellem Blick noch eilig in den Spalt der kaum
aufgezogenen Lade. Ach, wären Strümpfe oder Hemden oder alte Zeitungen
darin gewesen! Aber da war nun die Versuchung, und sekundenschnell kehrte
der kaum gelockerte Krampf und Angstbann wieder, meine Hände zitterten, und
mein Herz schlug rasend. Ich sah in einer aus Bast geflochtenen, indischen
oder sonst exotischen Schale etwas liegen, etwas Überraschendes,
Verlockendes, einen ganzen Kranz von weiß bezuckerten, getrockneten Feigen!

Ich nahm ihn in die Hand, er war wundervoll schwer. Dann zog ich zwei, drei
Feigen heraus, steckte eine in den Mund, einige in die Tasche. Nun waren
alle Angst und alles Abenteuer doch nicht umsonst gewesen. Keine Erlösung,
keinen Trost konnte ich mehr von hier fortnehmen, so wollte ich wenigstens
nicht leer ausgehen. Ich zog noch drei, vier Feigen von dem Ring, der davon
kaum leichter wurde, und noch einige, und als meine Taschen gefüllt und von
dem Kranz wohl mehr als die Hälfte verschwunden war, ordnete ich die
übriggebliebenen Feigen auf dem etwas klebrigen Ring lockerer an, so daß
weniger zu fehlen schienen. Dann stieß ich, in plötzlichem hellem
Schrecken, die Lade heftig zu und rannte davon, durch beide Zimmer, die
kleine Stiege hinab und in mein Stübchen, wo ich stehen blieb und mich auf
meinen kleinen Stehpult stützte, in den Knien wankend und nach Atem
ringend.

Bald darauf tönte unsre Tischglocke. Mit leerem Kopf und ganz von
Ernüchterung und Ekel erfüllt, stopfte ich die Feigen in mein Bücherbrett,
verbarg sie hinter Büchern und ging zu Tische. Vor der Eßzimmertür merkte
ich, daß meine Hände klebten. Ich wusch sie in der Küche. Im Eßzimmer fand
ich alle schon am Tische warten. Ich sagte schnell Gutentag, der Vater
sprach das Tischgebet, und ich beugte mich über meine Suppe. Ich hatte
keinen Hunger, jeder Schluck machte mir Mühe. Und neben mir saßen meine
Schwestern, die Eltern gegenüber, alle hell und munter und in Ehren, nur
ich Verbrecher elend dazwischen, allein und unwürdig, mich fürchtend vor
jedem freundlichen Blick, den Geschmack der Feigen noch im Munde. Hatte ich
oben die Schlafzimmertür auch zugemacht? Und die Schublade?

Nun war das Elend da. Ich hätte mir die Hand abhauen lassen, wenn dafür
meine Feigen wieder oben in der Kommode gelegen hätten. Ich beschloß, sie
fortzuwerfen, sie mit in die Schule zu nehmen und zu verschenken. Nur daß
sie wegkämen, daß ich sie nie wieder sehen müßte!

»Du siehst heut' schlecht aus,« sagte mein Vater über den Tisch weg. Ich
sah auf meinen Teller und fühlte seine Blicke auf meinem Gesicht. Nun würde
er es merken. Er merkte ja alles, immer. Warum quälte er mich vorher noch?
Mochte er mich lieber gleich abführen und meinetwegen totschlagen.

»Fehlt dir etwas?« hörte ich seine Stimme wieder. Ich log, ich sagte, ich
habe Kopfweh.

»Du mußt dich nach Tisch ein wenig hinlegen,« sagte er. »Wieviel Stunden
habt ihr heut nachmittag?«

»Bloß Turnen.«

»Nun, turnen wird dir nicht schaden. Aber iß auch, zwinge dich ein bißchen!
Es wird schon vergehen.«

Ich schielte hinüber. Die Mutter sagte nichts, aber ich wußte, daß sie mich
anschaue. Ich aß meine Suppe hinunter, kämpfte mit Fleisch und Gemüse,
schenkte mir zweimal Wasser ein. Es geschah nichts weiter. Man ließ mich in
Ruhe. Als zum Schluß mein Vater das Dankgebet sprach: »Herr, wir danken
dir, denn du bist freundlich, und deine Güte währet ewiglich,« da trennte
wieder ein ätzender Schnitt mich von den hellen, heiligen, vertrauensvollen
Worten und von allen, die am Tische saßen; mein Händefalten war Lüge, und
meine andächtige Haltung war Lästerung.

Als ich aufstand, strich mir die Mutter übers Haar und ließ ihre Hand einen
Augenblick auf meiner Stirn liegen, ob sie heiß sei. Wie bitter war das
alles!

In meinem Stübchen stand ich dann vor dem Bücherbrett. Der Morgen hatte
nicht gelogen, alle Anzeichen hatten recht gehabt. Es war ein Unglückstag
geworden, der schlimmste, den ich je erlebt hatte. Schlimmeres konnte kein
Mensch ertragen. Wenn noch Schlimmeres über einen kam, dann mußte man sich
das Leben nehmen. Man müßte Gift haben, das war das beste, oder sich
hängen. Es war überhaupt besser, tot zu sein, als zu leben. Es war ja alles
so falsch und häßlich. Ich stand und sann und griff zerstreut nach den
verborgenen Feigen und aß davon, eine und mehrere, ohne es recht zu wissen.

Unsre Sparkasse fiel mir in die Augen, sie stand im Bord unter den Büchern.
Es war eine Zigarrenkiste, die ich fest zugenagelt hatte; in den Deckel
hatte ich mit dem Taschenmesser einen ungefügen Schlitz für die Geldstücke
geschnitten. Er war schlecht und roh geschnitten, der Schlitz, Holzsplitter
standen heraus. Auch das konnte ich nicht richtig. Ich hatte Kameraden, die
konnten so etwas mühsam und geduldig und tadellos machen, daß es aussah wie
vom Schreiner gehobelt. Ich aber pfuschte immer nur, hatte es eilig und
machte nichts sauber fertig. So war es mit meinen Holzarbeiten, so mit
meiner Handschrift und meinen Zeichnungen, so war es mit meiner
Schmetterlingssammlung und mit allem. Es war nichts mit mir. Und nun stand
ich da und hatte wieder gestohlen, schlimmer als je. Auch die Stahlfedern
hatte ich noch in der Tasche. Wozu? Warum hatte ich sie genommen -- nehmen
_müssen_? Warum mußte man, was man gar nicht wollte?

In der Zigarrenkiste klapperte ein einziges Geldstück, der Zehner von Oskar
Weber. Seither war nichts dazu gekommen. Auch diese Sparkassengeschichte
war so eine meiner Unternehmungen! Alles taugte nichts, alles mißriet und
blieb im Anfang stecken, was ich begann! Mochte der Teufel diese unsinnige
Sparkasse holen! Ich mochte nichts mehr von ihr wissen.

Diese Zeit zwischen Mittagessen und Schulbeginn war an solchen Tagen wie
heute immer mißlich und schwer herumzubringen. An guten Tagen, an
friedlichen, vernünftigen, liebenswerten Tagen war es eine schöne und
erwünschte Stunde; ich las dann entweder in meinem Zimmer an einem
Indianerbuche oder lief sofort nach Tische wieder auf den Schulplatz, wo
ich immer einige unternehmungslustige Kameraden traf, und dann spielten
wir, schrien und rannten und erhitzten uns, bis der Glockenschlag uns in
die völlig vergessene »Wirklichkeit« zurückrief. Aber an Tagen wie heute --
mit wem wollte man da spielen und wie die Teufel in der Brust betäuben? Ich
sah es kommen -- noch nicht heute, aber ein nächstes Mal, vielleicht bald.
Da würde mein Schicksal vollends zum Ausbruch kommen. Es fehlte ja nur noch
eine Kleinigkeit, eine winzige Kleinigkeit mehr an Angst und Leid und
Ratlosigkeit, dann lief es über, dann mußte es ein Ende mit Schrecken
nehmen. Eines Tages, an gerade so einem Tag wie heute, würde ich vollends
im Bösen untersinken, ich würde in Trotz und Wut und wegen der sinnlosen
Unerträglichkeit dieses Lebens etwas Gräßliches und Entscheidendes tun,
etwas Gräßliches, aber Befreiendes, das der Angst und Quälerei ein Ende
machte, für immer. Ungewiß war, was es sein würde; aber Phantasien und
vorläufige Zwangsvorstellungen davon waren mir schon mehrmals verwirrend
durch den Kopf gegangen, Vorstellungen von Verbrechen, mit denen ich an der
Welt Rache nehmen und zugleich mich selbst preisgeben und vernichten würde.
Manchmal war es mir so, als würde ich unser Haus anzünden: ungeheure
Flammen schlugen mit Flügeln durch die Nacht, Häuser und Gassen wurden vom
Brand ergriffen, die ganze Stadt loderte riesig gegen den schwarzen Himmel.
Oder zu andern Zeiten war das Verbrechen meiner Träume eine Rache an meinem
Vater, ein Mord und grausiger Totschlag. Ich aber würde mich dann benehmen
wie jener Verbrecher, jener einzige, richtige Verbrecher, den ich einmal
hatte durch die Gassen unsrer Stadt führen sehen. Es war ein Einbrecher,
den man gefangen hatte und in das Amtsgericht führte, mit Handschellen
gefesselt, einen steifen Melonenhut schief auf dem Kopf, vor ihm und hinter
ihm ein Landjäger. Dieser Mann, der durch die Straßen und durch einen
riesigen Volksauflauf von Neugierigen getrieben wurde, an tausend Flüchen,
boshaften Witzen und herausgeschrienen bösen Wünschen vorbei, dieser Mann
hatte in nichts jenen armen, scheuen Teufeln geglichen, die man zuweilen
vom Polizeidiener über die Straße begleitet sah und welche meistens bloß
arme Handwerksburschen waren, die gebettelt hatten. Nein, dieser war kein
Handwerksbursche und sah nicht windig, scheu und weinerlich aus, oder
flüchtete in ein verlegen-dummes Grinsen, wie ich es auch schon gesehen
hatte -- dieser war ein echter Verbrecher und trug den etwas zerbeulten Hut
kühn auf einem trotzigen und ungebeugten Schädel, er war bleich und
lächelte still verachtungsvoll, und das Volk, das ihn beschimpfte und
anspie, wurde neben ihm zu Pack und Pöbel. Ich hatte damals selbst
mitgeschrien: »Man hat ihn, der gehört gehängt!«; aber dann sah ich seinen
aufrechten, stolzen Gang, wie er die gefesselten Hände vor sich her trug,
und wie er auf dem zähen, bösen Kopf den Melonenhut kühn wie eine
phantastische Krone trug -- und wie er lächelte! und da schwieg ich. So wie
dieser Verbrecher aber würde auch ich lächeln und den Kopf steif halten,
wenn man mich ins Gericht und auf das Schafott führte, und wenn die vielen
Leute um mich her drängten und hohnvoll aufschrien -- ich würde nicht ja
und nicht nein sagen, einfach schweigen und verachten.

Und wenn ich hingerichtet und tot war und im Himmel vor den ewigen Richter
kam, dann wollte ich mich keineswegs beugen und unterwerfen. O nein, und
wenn alle Engelscharen ihn umstanden und alle Heiligkeit und Würde aus ihm
strahlte! Mochte er mich verdammen, mochte er mich in Pech sieden lassen!
Ich wollte mich nicht entschuldigen, mich nicht demütigen, ihn nicht um
Verzeihung bitten, nichts bereuen! Wenn er mich fragte: »Hast du das und
das getan?« so würde ich rufen: »Jawohl habe ich's getan, und noch mehr,
und es war recht, daß ich's getan habe, und wenn ich kann, werde ich es
wieder und wieder tun. Ich habe totgeschlagen, ich habe Häuser angezündet,
weil es mir Spaß machte, und weil ich dich verhöhnen und ärgern wollte. Ja,
denn ich hasse dich, ich spucke dir vor die Füße, Gott. Du hast mich
gequält und geschunden, du hast Gesetze gegeben, die niemand halten kann,
du hast die Erwachsenen angestiftet, uns Jungen das Leben zu versauen.«

Wenn es mir glückte, mir dies vollkommen deutlich vorzustellen und fest
daran zu glauben, daß es mir gelingen würde, genau so zu tun und zu reden,
dann war mir für Augenblicke finster wohl. Sofort aber kehrten die Zweifel
wieder. Würde ich nicht schwach werden, würde mich einschüchtern lassen,
würde doch nachgeben? Oder, wenn ich auch alles tat, wie es mein trotziger
Wille war -- würde nicht Gott einen Ausweg finden, eine Überlegenheit,
einen Schwindel, so wie es den Erwachsenen und Mächtigen ja immer gelang,
am Ende noch mit einem Trumpf zu kommen, einen schließlich doch noch zu
beschämen, einen nicht für voll zu nehmen, einen unter der verfluchten
Maske des Wohlwollens zu demütigen? Ach, natürlich würde es so enden.

Hin und her gingen meine Phantasien, ließen bald mich, bald Gott gewinnen,
hoben mich zum unbeugsamen Verbrecher und zogen mich wieder zum Kind und
Schwächling herab.

Ich stand am Fenster und schaute auf den kleinen Hinterhof des
Nachbarhauses hinunter, wo Gerüststangen an der Mauer lehnten und in einem
kleinen winzigen Garten ein paar Gemüsebeete grünten. Plötzlich hörte ich
durch die Nachmittagsstille Glockenschläge hallen, fest und nüchtern in
meine Visionen hinein, einen klaren, strengen Stundenschlag, und noch
einen. Es war zwei Uhr, und ich schreckte aus den Traumängsten in die der
Wirklichkeit zurück. Nun begann unsre Turnstunde, und wenn ich auch auf
Zauberflügeln fort und in die Turnhalle gestürzt wäre, ich wäre doch schon
zu spät gekommen. Wieder Pech! Das gab übermorgen Aufruf, Schimpfworte und
Strafe. Lieber ging ich gar nicht mehr hin, es war doch nichts mehr
gutzumachen. Vielleicht mit einer sehr guten, sehr feinen und glaubhaften
Entschuldigung -- aber es wäre mir in diesem Augenblick keine eingefallen,
so glänzend mich auch unsre Lehrer zum Lügen erzogen hatten; ich war jetzt
nicht imstande, zu lügen, zu erfinden, zu konstruieren. Besser war es,
vollends ganz aus der Stunde wegzubleiben. Was lag daran, ob jetzt zum
großen Unglück noch ein kleines kam!

Aber der Stundenschlag hatte mich geweckt und meine Phantasiespiele
gelähmt. Ich war plötzlich sehr schwach, überwirklich sah mein Zimmer mich
an, Pult, Bilder, Bett, Bücherschaft, alles geladen mit strenger
Wirklichkeit, alles Zurufe aus der Welt, in der man leben mußte, und die
mir heut wieder einmal so feindlich und gefährlich geworden war. Wie denn?
Hatte ich nicht die Turnstunde versäumt? Und hatte ich nicht gestohlen,
jämmerlich gestohlen, und hatte die verdammten Feigen im Bücherbrett
liegen, soweit sie nicht schon aufgegessen waren? Was ging mich jetzt der
Verbrecher, der liebe Gott und das Jüngste Gericht an! Das würde alles dann
schon kommen, zu seiner Zeit -- aber jetzt, jetzt im Augenblick war es weit
weg und war dummes Zeug, nichts weiter. Ich hatte gestohlen, und jeden
Augenblick konnte das Verbrechen entdeckt werden. Vielleicht war es schon
so weit, vielleicht hatte mein Vater droben schon jene Schieblade gezogen
und stand vor meiner Schandtat, beleidigt und erzürnt, und überlegte sich,
auf welche Art mir der Prozeß zu machen sei. Ach, er war möglicherweise
schon unterwegs zu mir, und wenn ich nicht sofort entfloh, hatte ich in der
nächsten Minute schon sein ernstes Gesicht mit der Brille vor mir. Denn er
wußte natürlich sofort, daß ich der Dieb war. Es gab keine Verbrecher in
unserm Hause außer mir, meine Schwestern taten nie so etwas, Gott weiß
warum. Aber wozu brauchte mein Vater da in seiner Kommode solche
Feigenkränze verborgen zu haben?

Ich hatte mein Stübchen schon verlassen und mich durch die hintere Haustür
und den Garten davongemacht. Die Gärten und Wiesen lagen in heller Sonne,
Zitronenfalter flogen über den Weg. Alles sah jetzt schlimm und drohend
aus, viel schlimmer als heut morgen. O, ich kannte das schon, und doch
meinte ich es nie so qualvoll gespürt zu haben: wie da alles in seiner
Selbstverständlichkeit und mit seiner guten Gewissensruhe mich ansah, Stadt
und Kirchturm, Wiesen und Weg, Grasblüten und Schmetterlinge, und wie alles
Hübsche und Fröhliche, was man sonst mit Freuden sah, nun fremd und
verzaubert war! Ich kannte das, ich wußte, wie es schmeckt, wenn man in
Gewissensangst durch die gewohnte Gegend läuft! Jetzt konnte der seltenste
Schmetterling über die Wiese fliegen und sich vor meinen Füßen hinsetzen --
es war nichts, es freute nicht, reizte nicht, tröstete nicht. Jetzt konnte
der herrlichste Kirschbaum mir seinen vollsten Ast herbieten -- es hatte
keinen Wert, es war kein Glück dabei. Jetzt gab es nichts als fliehen, vor
dem Vater, vor der Strafe, vor mir selber, vor meinem Gewissen, fliehen und
rastlos sein, bis dennoch unerbittlich und unentrinnbar alles kam, was
kommen mußte.

Ich lief und war rastlos, ich lief bergan und hoch bis zum Walde, und vom
Eichenberg nach der Hofmühle hinab, über den Steg und jenseits wieder
bergauf und durch Wälder hinan. Hier hatten wir unser letztes Indianerlager
gehabt. Hier hatte letztes Jahr, als der Vater auf Reisen war, unsre Mutter
mit uns Kindern Ostern gefeiert und im Wald und Moos die Eier für uns
versteckt. Hier hatte ich einst mit meinen Vettern in den Ferien eine Burg
gebaut, sie stand noch halb. Überall Reste von einstmals, überall Spiegel,
aus denen mir ein andrer entgegensah, als der ich heute war! War ich das
alles gewesen? So lustig, so zufrieden, so dankbar, so kameradschaftlich,
so zärtlich mit der Mutter, so ohne Angst, so unbegreiflich glücklich? War
das ich gewesen? Und wie hatte ich so werden können, wie ich jetzt war, so
anders, so ganz anders, so böse, so voll Angst, so zerstört? Alles war noch
wie immer, Wald und Fluß, Farnkräuter und Blumen, Burg und Ameisenhaufen,
und doch alles wie vergiftet und verwüstet. Gab es denn gar keinen Weg
zurück, dorthin, wo das Glück und die Unschuld war? Konnte es nie mehr
werden, wie es gewesen war? Würde ich jemals wieder so lachen, so mit den
Schwestern spielen, so nach Ostereiern suchen?

Ich lief und lief, den Schweiß auf der Stirn, und hinter mir lief meine
Schuld und lief groß und ungeheuer der Schatten meines Vaters als Verfolger
mit.

An mir vorbei liefen Alleen, sanken Waldränder hinab. Auf einer Höhe machte
ich halt, abseits vom Weg, ins Gras geworfen, mit Herzklopfen, das vom
Bergaufwärtsrennen kommen konnte, das vielleicht bald besser wurde. Unten
sah ich Stadt und Fluß, sah die Turnhalle, wo jetzt die Stunde zu Ende war
und die Buben auseinanderliefen, sah das lange Dach meines Vaterhauses.
Dort war meines Vaters Schlafzimmer und die Schublade, in der die Feigen
fehlten. Dort war mein kleines Zimmer. Dort würde, wenn ich zurückkam, das
Gericht mich treffen. -- Aber wenn ich nicht zurückkam?

Ich wußte, daß ich zurückkommen werde. Man kam immer zurück, jedesmal. Es
endete immer so. Man konnte nicht fort, man konnte nicht nach Afrika
fliehen oder nach Berlin. Man war klein, man hatte kein Geld, niemand half
einem. Ja, wenn alle Kinder sich zusammentaten und einander hülfen! Sie
waren viele, es gab mehr Kinder als Eltern. Aber nicht alle Kinder waren
Diebe und Verbrecher. Wenige waren so wie ich. Vielleicht war ich der
einzige. Aber nein, ich wußte, es kamen öfters solche Sachen vor wie meine
-- ein Onkel von mir hatte als Kind auch gestohlen und viel Sachen
angestellt, das hatte ich irgendwann einmal erlauscht, heimlich aus einem
Gespräch der Eltern, heimlich, wie man alles Wissenswerte erlauschen mußte.
Doch das alles half mir nicht, und wenn jener Onkel selber da wäre, er
würde mir auch nicht helfen! Er war jetzt längst groß und erwachsen, er war
Pastor, und er würde zu den Erwachsenen halten und mich im Stich lassen. So
waren sie alle. Gegen uns Kinder waren sie alle irgendwie falsch und
verlogen, spielten eine Rolle, gaben sich anders, als sie waren. Die Mutter
vielleicht nicht, oder weniger.

Ja, wenn ich nun nicht mehr heimkehren würde? Es könnte ja etwas passieren,
ich konnte den Hals brechen oder ertrinken oder unter die Eisenbahn kommen.
Dann sah alles anders aus. Dann brachte man mich nach Hause, und alles war
still und erschrocken und weinte, und ich tat allen leid, und von den
Feigen und allem war nicht mehr die Rede.

Ich wußte sehr gut, daß man sich selber das Leben nehmen konnte. Ich dachte
auch, daß ich das wohl einmal tun würde, später, wenn es einmal ganz
schlimm kam. Gut wäre es gewesen, krank zu werden, aber nicht bloß so mit
Husten, sondern richtig todkrank, so wie damals, als ich Scharlachfieber
hatte.

Inzwischen war die Turnstunde längst vorüber, und auch die Zeit war
vorüber, wo man mich zu Hause zum Kaffee erwartete. Vielleicht riefen und
suchten sie jetzt nach mir, in meinem Zimmer, im Garten und Hof, auf dem
Estrich. Wenn aber der Vater meinen Diebstahl schon entdeckt hatte, dann
wurde nicht gesucht, dann wußte er Bescheid.

Es war mir nicht möglich, länger liegenzubleiben. Das Schicksal vergaß mich
nicht, es war hinter mir her. Ich nahm das Laufen wieder auf. Ich kam an
einer Bank in den Anlagen vorüber, an der hing wieder eine Erinnerung,
wieder eine, die einst schön und lieb gewesen war und jetzt wie Feuer
brannte. Mein Vater hatte mir ein Taschenmesser geschenkt, wir waren
zusammen spazierengegangen, froh und in gutem Frieden, und er hatte sich
auf diese Bank gesetzt, während ich im Gebüsch mir eine lange Haselrute
schneiden wollte. Und da brach ich im Eifer das neue Messer ab, die Klinge
dicht am Heft, und kam entsetzt zurück, wollte es erst verheimlichen, wurde
aber gleich danach gefragt. Ich war sehr unglücklich, wegen dem Messer und
weil ich Scheltworte erwartete. Aber da hatte mein Vater nur gelächelt, mir
leicht die Schulter berührt und gesagt: »Wie schade, du armer Kerl!« Wie
hatte ich ihn da geliebt, wieviel ihm innerlich abgebeten! Und jetzt, wenn
ich an das damalige Gesicht meines Vaters dachte, an seine Stimme, an sein
Mitleid -- was war ich für ein Ungeheuer, daß ich diesen Vater so oft
betrübt, belogen und heut bestohlen hatte!

Als ich wieder in die Stadt kam, bei der oberen Brücke und weit von unserm
Hause, hatte die Dämmerung schon begonnen. Aus einem Kaufladen, hinter
dessen Glastür schon Licht brannte, kam ein Knabe gelaufen, der blieb
plötzlich stehen und rief mich mit Namen an. Es war Oskar Weber. Niemand
konnte mir ungelegener kommen. Immerhin erfuhr ich von ihm, daß der Lehrer
mein Fehlen in der Turnstunde nicht bemerkt habe. Aber wo ich denn gewesen
sei?

»Ach nirgends,« sagte ich, »ich war nicht recht wohl.«

Ich war schweigsam und zurückweisend, und nach einer Weile, die ich
empörend lang fand, merkte er, daß er mir lästig sei. Jetzt wurde er böse.

»Laß mich in Ruh',« sagte ich kalt, »ich kann allein heimgehen.«

»So?« rief er jetzt. »Ich kann gradeso gut allein gehen wie du, dummer
Fratz! Ich bin nicht dein Pudel, daß du's weißt. Aber vorher möchte ich
doch wissen, wie das jetzt eigentlich mit unserer Sparkasse ist! Ich habe
einen Zehner hineingetan und du nichts.«

»Deinen Zehner kannst du wiederhaben, heut noch, wenn du Angst um ihn hast.
Wenn ich dich nur nimmer sehen muß. Als ob ich von dir etwas annehmen
würde!«

»Du hast ihn neulich gern genommen,« meinte er höhnisch, aber nicht, ohne
einen Türspalt zur Versöhnung offen zu lassen.

Aber ich war heiß und böse geworden, alle in mir angehäufte Angst und
Ratlosigkeit brach in hellen Zorn aus. Weber hatte mir nichts zu sagen!
Gegen ihn war ich im Recht, gegen ihn hatte ich ein gutes Gewissen. Und ich
brauchte jemand, gegen den ich mich fühlen, gegen den ich stolz und im
Recht sein konnte. Alles Ungeordnete und Finstere in mir strömte wild in
diesen Ausweg. Ich tat, was ich sonst so sorgfältig vermied, ich kehrte den
Herrensohn heraus, ich deutete an, daß es für mich keine Entbehrung sei,
auf die Freundschaft mit einem Gassenbuben zu verzichten. Ich sagte ihm,
daß für ihn jetzt das Beerenessen in unserm Garten und das Spielen mit
meinen Spielsachen ein Ende habe. Ich fühlte mich aufglühen und aufleben:
ich hatte einen Feind, einen Gegner, einen, der schuld war, den man packen
konnte. Alle Lebenstriebe sammelten sich in diese erlösende, willkommene,
befreiende Wut, in die grimmige Freude am Feind, der diesmal nicht in mir
selbst wohnte, der mir gegenüberstand, mich mit erschreckten, dann mit
bösen Augen anglotzte, dessen Stimme ich hörte, dessen Vorwürfe ich
verachten, dessen Schimpfworte ich übertrumpfen konnte.

Im anschwellenden Wortwechsel, dicht nebeneinander, trieben wir die
dunkelnde Gasse hinab; da und dort sah man uns aus einer Haustüre nach. Und
alles, was ich gegen mich selber an Wut und Verachtung empfand, kehrte sich
gegen den unseligen Weber. Als er damit zu drohen begann, er werde mich dem
Turnlehrer anzeigen, war es Wollust für mich: er setzte sich ins Unrecht,
er wurde gemein, er stärkte mich.

Als wir in der Nähe der Metzgergasse handgemein wurden, blieben gleich ein
paar Leute stehen und sahen unserm Handel zu. Wir hieben einander in den
Bauch und ins Gesicht und traten mit den Schuhen gegeneinander. Nun hatte
ich für Augenblicke alles vergessen, ich war im Recht, war kein Verbrecher,
Kampfrausch beglückte mich, und wenn Weber auch stärker war als ich, so war
ich flinker, klüger, rascher, feuriger. Wir wurden heiß und schlugen uns
wütend. Als er mir mit einem verzweifelten Griff den Hemdkragen aufriß,
fühlte ich mit Inbrunst den Strom kalter Luft über meine glühende Haut
laufen.

Und im Hauen, Reißen und Treten, Ringen und Würgen hörten wir nicht auf,
uns weiter mit Worten anzufeinden, zu beleidigen und zu vernichten, mit
Worten, die immer glühender, immer törichter und böser, immer dichterischer
und phantastischer wurden. Und auch darin war ich ihm über, war böser,
dichterischer, erfinderischer. Sagte er Hund, so sagte ich Sauhund. Rief er
Schuft, so schrie ich Satan. Wir bluteten beide, ohne etwas zu fühlen, und
dabei häuften unsre Worte böse Zauber und Wünsche, wir empfahlen einander
dem Galgen, wünschten uns Messer, um sie einander in die Rippen zu jagen
und darin umzudrehen, wir beschimpften einer des andern Namen, Herkunft und
Vater.

Es war das erste und einzige Mal, daß ich einen solchen Kampf im vollen
Kriegsrausch bis zu Ende ausfocht, mit allen Hieben, allen Grausamkeiten,
allen Beschimpfungen. Zugesehen hatte ich oft und mit grausender Lust diese
vulgären, urtümlichen Flüche und Schandworte angehört; nun schrie ich sie
selber heraus, als sei ich ihrer von klein auf gewohnt und in ihrem
Gebrauch geübt. Tränen liefen mir aus den Augen und Blut über den Mund. Die
Welt aber war herrlich, sie hatte einen Sinn, es war gut zu leben, gut zu
hauen, gut zu bluten und bluten zu machen.

Niemals vermochte ich in der Erinnerung das Ende dieses Kampfes wieder zu
finden. Irgendeinmal war es aus, irgendeinmal stand ich allein in der
stillen Dunkelheit, erkannte Straßenecken und Häuser, war nahe bei unserm
Hause. Langsam floh der Rausch, langsam hörte das Flügelbrausen und Donnern
auf, und Wirklichkeit drang stückweise vor meine Sinne, zuerst nur vor die
Augen. Da der Brunnen. Die Brücke. Blut an meiner Hand, zerrissene Kleider,
herabgerutschte Strümpfe, ein Schmerz im Knie, einer im Auge, keine Mütze
mehr da -- alles kam nach und nach, wurde Wirklichkeit und sprach zu mir.
Plötzlich war ich tief ermüdet, fühlte meine Knie und Arme zittern, tastete
nach einer Hauswand.

Und da war unser Haus. Gott sei Dank! Ich wußte nichts auf der Welt mehr,
als daß dort Zuflucht war, Friede, Licht, Geborgenheit. Aufatmend schob ich
das hohe Tor zurück.

Da mit dem Duft von Stein und feuchter Kühle überströmte mich plötzlich
Erinnerung, hundertfach. O Gott! O lieber Gott! Es roch nach Strenge, nach
Gesetz, nach Verantwortung, nach Vater und Gott. Ich hatte gestohlen. Ich
war kein verwundeter Held, der vom Kampfe heimkehrte. Ich war kein armes
Kind, das nach Hause findet und von der Mutter in Wärme und Mitleid
gebettet wird. Ich war Dieb, ich war Verbrecher. Da droben war nicht
Zuflucht, Bett und Schlaf für mich, nicht Essen und Pflege, nicht Trost und
Vergessen. Auf mich wartete Schuld und Gericht.

Damals in der finstern abendlichen Flur und im Treppenhaus, dessen viele
Stufen ich unter Mühen erklomm, atmete ich, wie ich glaube, zum erstenmal
in meinem Leben für Augenblicke den kalten Äther, die Einsamkeit, das
Schicksal. Ich sah keinen Ausweg, ich hatte keine Pläne, auch keine Angst,
nichts als das kalte, rauhe Gefühl: »Es muß sein.« Am Geländer zog ich mich
die Treppe hinauf. Vor der Glastür fühlte ich Lust, noch einen Augenblick
mich auf die Treppe zu setzen, aufzuatmen, Ruhe zu haben. Ich tat es nicht,
es hatte keinen Zweck. Ich mußte hinein. Beim Öffnen der Tür fiel mir ein,
wie spät es wohl sei?

Ich trat ins Eßzimmer. Da saßen sie um den Tisch und hatten eben gegessen,
ein Teller mit Äpfeln stand noch da. Es war gegen acht Uhr. Nie war ich
ohne Erlaubnis so spät heimgekommen, nie hatte ich beim Abendessen gefehlt.

»Gott sei Dank, da bist du!« rief meine Mutter lebhaft. Ich sah, sie war in
Sorge um mich gewesen. Sie lief auf mich zu und blieb erschrocken stehen,
als sie mein Gesicht und die beschmutzten und zerrissenen Kleider sah. Ich
sagte nichts und blickte niemand an, doch spürte ich deutlich, daß Vater
und Mutter sich mit Blicken meinetwegen verständigten. Mein Vater schwieg
und beherrschte sich; ich fühlte, wie zornig er war. Die Mutter nahm sich
meiner an, Gesicht und Hände wurden mir gewaschen, Pflaster aufgeklebt,
dann bekam ich zu essen. Mitleid und Sorgfalt umgab mich, ich saß still und
tief beschämt, fühlte die Wärme und genoß sie mit schlechtem Gewissen. Dann
ward ich zu Bett geschickt. Dem Vater gab ich die Hand, ohne ihn anzusehen.

Als ich schon im Bette lag, kam die Mutter noch zu mir. Sie nahm meine
Kleider vom Stuhl und legte mir andere hin, denn morgen war Sonntag. Dann
fing sie behutsam zu fragen an, und ich mußte von meiner Rauferei erzählen.
Sie fand es zwar schlimm, schalt aber nicht und schien ein wenig
verwundert, daß ich dieser Sache wegen so sehr gedrückt und scheu war. Dann
ging sie.

Und nun, dachte ich, war sie überzeugt, daß alles gut sei. Ich hatte Händel
ausgefochten und war blutig gehauen worden, aber das würde morgen vergessen
sein. Von dem andern, dem Eigentlichen, wußte sie nichts. Sie war betrübt
gewesen, aber unbefangen und zärtlich. Auch der Vater wußte also vermutlich
noch nichts.

Und nun überkam mich ein furchtbares Gefühl von Enttäuschung. Ich merkte
jetzt, daß ich seit dem Augenblick, wo ich unser Haus betreten hatte, ganz
und gar von einem einzigen, sehnlichen, verzehrenden Wunsch erfüllt gewesen
war. Ich hatte nichts anderes gedacht, gewünscht, ersehnt, als daß das
Gewitter nun ausbrechen möge, daß das Gericht über mich ergehe, daß das
Furchtbare zur Wirklichkeit werde und die entsetzliche Angst davor aufhöre.
Ich war auf alles gefaßt, zu allem bereit gewesen. Mochte ich schwer
gestraft, geschlagen und eingesperrt werden! Mochte er mich hungern lassen!
Mochte er mich verfluchen und verstoßen! Wenn nur die Angst und Spannung
ein Ende nahm!

Statt dessen lag ich nun da, hatte noch Liebe und Pflege genossen, war
freundlich geschont und für meine Unarten nicht zur Rechenschaft gezogen
worden und konnte nun aufs neue warten und bangen. Sie hatten mir die
zerrissenen Kleider, das lange Fortbleiben, das versäumte Abendessen
vergeben, weil ich ein wenig müde war und blutete und ihnen leid tat, vor
allem aber, weil sie das andere nicht ahnten, weil sie nur von meinen
Unarten, nichts von meinem Verbrechen wußten. Es würde mir doppelt
schlimmgehen, wenn es nun ans Licht kam! Vielleicht schickte man mich, wie
man früher einmal gedroht hatte, in eine solche Besserungsanstalt, wo man
altes, hartes Brot essen und während der ganzen Freizeit Holz sägen und
Stiefel putzen mußte, wo es Schlafsäle mit Aufsehern geben sollte, die
einen mit dem Stock schlugen und morgens um vier Uhr mit kaltem Wasser
weckten. Oder man übergab mich der Polizei?

Jedenfalls aber, es komme wie es möge, lag wieder eine Wartezeit vor mir.
Noch länger mußte ich die Angst ertragen, noch länger mit meinem Geheimnis
herumgehen, vor jedem Blick und Schritt im Hause zittern und niemand ins
Gesicht sehen können.

Oder war es am Ende möglich, daß mein Diebstahl gar nicht bemerkt wurde?
Daß alles blieb, wie es war? Daß ich mir alle diese Angst und Pein
vergebens gemacht hatte? -- O, wenn das geschehen sollte, wenn dies
Unausdenkliche, Wundervolle möglich war, dann wollte ich ein ganz neues
Leben beginnen, dann wollte ich Gott danken und mich dadurch würdig zeigen,
daß ich Stunde für Stunde ganz rein und fleckenlos lebte! Was ich schon
früher versucht hatte und was mir mißglückt war, jetzt würde es gelingen,
jetzt war mein Vorsatz und Wille stark genug, jetzt nach diesem Elend,
dieser Hölle voll Qual! Mein ganzes Wesen bemächtigte sich dieses
Wunschgedankens und sog sich inbrünstig daran fest. Trost regnete vom
Himmel, Zukunft tat sich blau und sonnig auf. In diesen Phantasien schlief
ich endlich ein und schlief unbeschwert die ganze, gute Nacht hindurch.

Am Morgen war Sonntag, und noch im Bett empfand ich, wie den Geschmack
einer Frucht, das eigentümliche, sonderbar gemischte, im ganzen aber so
köstliche Sonntagsgefühl, wie ich es seit meiner Schulzeit kannte. Der
Sonntagmorgen war eine gute Sache: Ausschlafen, keine Schule, Aussicht auf
ein gutes Mittagessen, kein Geruch nach Lehrer und Tinte, eine Menge freie
Zeit. Dies war die Hauptsache. Schwächer nur klangen andere, fremdere,
fadere Töne hinein: Kirchgang oder Sonntagsschule, Familienspaziergang,
Sorge um die schönen Kleider. Damit wurde der reine, gute, köstliche
Geschmack und Duft ein wenig verfälscht und zersetzt -- so wie wenn zwei
gleichzeitig gegessene Speisen, etwa ein Pudding und der Saft dazu, nicht
ganz zusammenpaßten, oder wie zuweilen Bonbons oder Backwerk, die man in
kleinen Läden geschenkt bekam, einen fatalen leisen Beigeschmack von Käse
oder von Erdöl hatten. Man aß sie, und sie waren gut, aber es war nichts
Volles und Strahlendes, man mußte ein Auge dabei zudrücken. Nun, so ähnlich
war meistens der Sonntag, namentlich wenn ich in die Kirche oder
Sonntagsschule gehen mußte, was zum Glück nicht immer der Fall war. Der
freie Tag bekam dadurch einen Beigeschmack von Pflicht und von Langeweile.
Und bei den Spaziergängen mit der ganzen Familie, wenn sie auch oft schön
sein konnten, passierte gewöhnlich irgend etwas, es gab Streit mit den
Schwestern, man ging zu rasch oder zu langsam, man brachte Harz an die
Kleider; irgendein Haken war meistens dabei.

Nun, das mochte kommen. Mir war wohl. Seit gestern war eine Masse Zeit
vergangen. Vergessen hatte ich meine Schandtat nicht, sie fiel mir schon am
Morgen wieder ein, aber es war nun so lange her, die Schrecken waren
ferngerückt und unwirklich geworden. Ich hatte gestern meine Schuld gebüßt,
wenn auch nur durch Gewissensqualen, ich hatte einen bösen, jammervollen
Tag durchlitten. Nun war ich wieder zu Vertrauen und Harmlosigkeit geneigt
und machte mir wenig Gedanken mehr. Ganz war es ja noch nicht abgetan, es
klang noch ein wenig Drohung und Peinlichkeit nach, so wie in den schönen
Sonntag jene kleinen Pflichten und Kümmernisse mit hineinklangen.

Beim Frühstück waren wir alle vergnügt. Es wurde mir die Wahl zwischen
Kirche und Sonntagsschule gelassen. Ich zog, wie immer, die Kirche vor.
Dort wurde man wenigstens in Ruhe gelassen und konnte seine Gedanken laufen
lassen; auch war der hohe, feierliche Raum mit den bunten Fenstern oft
schön und ehrwürdig, und wenn man mit eingekniffenen Augen durch das lange
dämmernde Schiff gegen die Orgel sah, dann gab es manchmal wundervolle
Bilder; die aus dem Finstern ragenden Orgelpfeifen erschienen oft wie eine
strahlende Stadt mit hundert Türmen. Auch war es mir oft geglückt, wenn die
Kirche nicht voll war, die ganze Stunde ungestört in einem Geschichtenbuch
zu lesen.

Heut nahm ich keines mit und dachte auch nicht daran, mich um den Kirchgang
zu drücken, wie ich es auch schon getan hatte. So viel klang von gestern
abend noch in mir nach, daß ich gute und redliche Vorsätze hatte und
gesonnen war, mich mit Gott, Eltern und Welt freundlich und gefügig zu
vertragen. Auch mein Zorn gegen Oskar Weber war ganz und gar verflogen.
Wenn er gekommen wäre, ich hätte ihn aufs beste aufgenommen.

Der Gottesdienst begann, ich sang die Choralverse mit, es war das Lied
»Hirte deiner Schafe«, das wir auch in der Schule auswendig gelernt hatten.
Es fiel mir dabei wieder einmal auf, wie ein Liedervers beim Singen, und
gar bei dem schleppend langsamen Gesang in der Kirche, ein ganz anderes
Gesicht hatte als beim Lesen oder Hersagen. Beim Lesen war so ein Vers ein
Ganzes, hatte einen Sinn, bestand aus Sätzen. Beim Singen bestand er nur
noch aus Worten, Sätze kamen nicht zustande, Sinn war keiner da, aber dafür
gewannen die Worte, die einzelnen, gesungenen, langhin gedehnten Worte ein
sonderbar starkes, unabhängiges Leben, ja, oft waren es nur einzelne
Silben, etwas an sich ganz Sinnloses, die im Gesang selbständig wurden und
Gestalt annahmen. In dem Vers »Hirte deiner Schafe, der von keinem Schlafe
etwas wissen mag« war zum Beispiel heute beim Kirchengesang gar kein
Zusammenhang und Sinn, man dachte auch weder an einen Hirten noch an
Schafe, man dachte durchaus gar nichts. Aber das war keineswegs langweilig.
Einzelne Worte, namentlich das »Schla--a--fe«, wurden so seltsam voll und
schön, man wiegte sich ganz darin, und auch das »mag« tönte geheimnisvoll
und schwer, erinnerte an »Magen« und an dunkle, gefühlsreiche, halbbekannte
Dinge, die man in sich innen im Leibe hat. Dazu die Orgel!

Und dann kam der Stadtpfarrer und die Predigt, die stets so unbegreiflich
lang war, und das seltsame Zuhören, wobei man oft lange Zeit nur den Ton
der redenden Stimme glockenhaft schweben hörte, dann wieder einzelne Worte
scharf und deutlich samt ihrem Sinn vernahm und ihnen zu folgen bemüht war,
solange es ging. Wenn ich nur im Chor hätte sitzen dürfen, statt unter all
den Männern auf der Empore. Im Chor, wo ich bei Kirchenkonzerten schon
gesessen war, da saß man tief in schweren, isolierten Stühlen, deren jeder
ein kleines festes Gebäude war, und über sich hatte man ein sonderbar
reizvolles, vielfältiges, netzartiges Gewölbe, und hoch an der Wand war die
Bergpredigt in sanften Farben gemalt, und das blaue und rote Gewand des
Heilands auf dem blaßblauen Himmel war so zart und beglückend anzusehen.

Manchmal knackte das Kirchengestühl, gegen das ich eine tiefe Abneigung
hegte, weil es mit einer gelben, öden Lackfarbe gestrichen war, an der man
immer ein wenig kleben blieb. Manchmal summte eine Fliege auf und gegen
eines der Fenster, in deren Spitzbogen blaurote Blumen und grüne Sterne
gemalt waren. Und unversehens war die Predigt zu Ende, und ich streckte
mich vor, um den Pfarrer in seinen engen, dunklen Treppenschlauch
verschwinden zu sehen. Man sang wieder, aufatmend und sehr laut, und man
stand auf und strömte hinaus; ich warf den mitgebrachten Fünfer in die
Opferbüchse, deren blecherner Klang so schlecht in die Feierlichkeit paßte,
und ließ mich vom Menschenstrom mit ins Portal ziehen und ins Freie
treiben.

Jetzt kam die schönste Zeit des Sonntags, die zwei Stunden zwischen Kirche
und Mittagessen. Da hatte man seine Pflicht getan, man war im langen Sitzen
auf Bewegung, auf Spiele oder Gänge begierig geworden, oder auf ein Buch,
und war völlig frei bis zum Mittag, wo es meistens etwas Gutes gab.
Zufrieden schlenderte ich nach Hause, angefüllt mit freundlichen Gedanken
und Gesinnungen. Die Welt war in Ordnung, es ließ sich in ihr leben.
Friedfertig trabte ich durch Flur und Treppe hinauf.

In meinem Stübchen schien Sonne. Ich sah nach meinen Raupenkästen, die ich
gestern vernachlässigt hatte, fand ein paar neue Puppen, gab den Pflanzen
frisches Wasser.

Da ging die Tür.

Ich achtete nicht gleich darauf. Nach einer Minute wurde die Stille mir
sonderbar; ich drehte mich um. Da stand mein Vater. Er war blaß und sah
gequält aus. Der Gruß blieb mir im Halse stecken. Ich sah: er wußte! Er war
da. Das Gericht begann. Nichts war gut geworden, nichts abgebüßt, nichts
vergessen! Die Sonne wurde bleich, und der Sonntagmorgen sank welk dahin.

Aus allen Himmeln gerissen starrte ich dem Vater entgegen. Ich haßte ihn,
warum war er nicht gestern gekommen? Jetzt war ich auf nichts vorbereitet,
hatte nichts bereit, nicht einmal Reue und Schuldgefühl. -- Und wozu
brauchte er oben in seiner Kommode Feigen zu haben?

Er ging zu meinem Bücherschrank, griff hinter die Bücher und zog einige
Feigen hervor. Es waren wenige mehr da. Dazu sah er mich an, mit stummer,
peinlicher Frage. Ich konnte nichts sagen. Leid und Trotz würgten mich.

»Was ist denn?« brachte ich dann heraus.

»Woher hast du diese Feigen?« fragte er, mit einer beherrschten, leisen
Stimme, die mir bitter verhaßt war.

Ich begann sofort zu reden. Zu lügen. Ich erzählte, daß ich die Feigen bei
einem Konditor gekauft hätte, es sei ein ganzer Kranz gewesen. Woher das
Geld dazu kam? Das Geld kam aus einer Sparkasse, die ich gemeinsam mit
einem Freunde hatte. Da hatten wir beide alles kleine Geld hineingetan, das
wir je und je bekamen. Übrigens -- hier war die Kasse. Ich holte die
Schachtel mit dem Schlitz hervor. Jetzt war bloß noch ein Zehner darin,
eben weil wir gestern die Feigen gekauft hatten.

Mein Vater hörte zu, mit einem stillen, beherrschten Gesicht, dem ich
nichts glaubte.

»Wieviel haben denn die Feigen gekostet?« fragte er mit der zu leisen
Stimme.

»Eine Mark und sechzig.«

»Und wo hast du sie gekauft?«

»Beim Konditor.«

»Bei welchem?«

»Bei Haager.«

Es gab eine Pause. Ich hielt die Geldschachtel noch in frierenden Fingern.
Alles an mir war kalt und fror.

Und nun fragte er, mit einer Drohung in der Stimme: »Ist das wahr?«

Ich redete wieder rasch. Ja, natürlich war es wahr, und mein Freund Weber
war im Laden gewesen, ich hatte ihn nur begleitet. Das Geld hatte
hauptsächlich ihm, dem Weber, gehört, von mir war nur wenig dabei.

»Nimm deine Mütze,« sagte mein Vater, »wir wollen miteinander zum Konditor
Haager gehen. Er wird ja wissen, ob es wahr ist.«

Ich versuchte zu lächeln. Nun ging mir die Kälte bis in Herz und Magen. Ich
ging voran und nahm im Korridor meine blaue Mütze. Der Vater öffnete die
Glastür, auch er hatte seinen Hut genommen.

»Noch einen Augenblick!« sagte ich, »ich muß noch schnell hinausgehen.«

Er nickte. Ich ging auf den Abtritt, schloß zu, war allein, war noch einen
Augenblick gesichert. O, wenn ich jetzt gestorben wäre!

Ich blieb eine Minute, blieb zwei. Es half nichts. Man starb nicht. Es galt
standzuhalten. Ich schloß auf und kam. Wir gingen die Treppe hinunter.

Als wir eben durchs Haustor gingen, fiel mir etwas Gutes ein, und ich sagte
schnell: »Aber heut ist ja Sonntag, da hat der Haager gar nicht offen.«

Das war eine Hoffnung, zwei Sekunden lang. Mein Vater sagte gelassen: »Dann
gehen wir zu ihm in die Wohnung. Komm.«

Wir gingen. Ich schob meine Mütze gerade, steckte eine Hand in die Tasche
und versuchte neben ihm daher zu gehen, als sei nichts Besonderes los.
Obwohl ich wußte, daß alle Leute mir ansahen, ich sei ein abgeführter
Verbrecher, versuchte ich doch mit tausend Künsten, es zu verheimlichen.
Ich bemühte mich, einfach und harmlos zu atmen; es brauchte niemand zu
sehen, wie es mir die Brust zusammenzog. Ich war bestrebt, ein argloses
Gesicht zu machen, Selbstverständlichkeit und Sicherheit zu heucheln. Ich
zog einen Strumpf hoch, ohne daß er es nötig hatte, und lächelte, während
ich wußte, daß dies Lächeln furchtbar dumm und künstlich aussehe. In mir
innen, in Kehle und Eingeweiden, saß der Teufel und würgte mich.

Wir kamen am Gasthaus vorüber, beim Hufschmied, beim Lohnkutscher, bei der
Eisenbahnbrücke. Dort drüben hatte ich gestern abend mit Weber gekämpft.
Tat nicht der Riß beim Auge noch weh? Mein Gott! Mein Gott!

Willenlos ging ich weiter, unter Krämpfen um meine Haltung bemüht. An der
Adlerscheuer vorbei, die Bahnhofstraße hinaus. Wie war diese Straße gestern
noch gut und harmlos gewesen! Nicht denken! Weiter! Weiter!

Wir waren ganz nahe bei Haagers Haus. Ich hatte in diesen paar Minuten
einige hundertmal die Szene voraus erlebt, die mich dort erwartete. Nun
waren wir da. Nun kam es.

Aber es war mir unmöglich, das auszuhalten. Ich blieb stehen.

»Nun? Was ist?« fragte mein Vater.

»Ich gehe nicht hinein,« sagte ich leise.

Er sah zu mir herab. Er hatte es ja gewußt, von Anfang an. Warum hatte ich
ihm das alles vorgespielt und mir so viel Mühe gegeben? Es hatte ja keinen
Sinn.

»Hast du die Feigen nicht bei Haager gekauft?« fragte er.

Ich schüttelte den Kopf.

»Ach so,« sagte er mit scheinbarer Ruhe. »Dann können wir ja wieder nach
Hause gehen.«

Er benahm sich anständig, er schonte mich auf der Straße, vor den Leuten.
Es waren viele Leute unterwegs, jeden Augenblick wurde mein Vater gegrüßt.
Welches Theater! Welche dumme, unsinnige Qual! Ich konnte ihm für diese
Schonung nicht dankbar sein.

Er wußte ja alles! Und er ließ mich tanzen, ließ mich meine nutzlosen
Kapriolen vollführen, wie man eine gefangene Maus in der Drahtfalle tanzen
läßt, ehe man sie ersäuft. Ach, hätte er mir gleich zu Anfang, ohne mich
überhaupt zu fragen und zu verhören, mit dem Stock über den Kopf gehauen,
das wäre mir im Grunde lieber gewesen als diese Ruhe und Gerechtigkeit, mit
der er mich in meinem dummen Lügengespinst einkreiste und langsam
erstickte. Überhaupt, vielleicht war es besser, einen groben Vater zu
haben, als so einen feinen und gerechten. Wenn ein Vater, so wie es in
Geschichten und Traktätchen vorkam, im Zorn oder in der Betrunkenheit seine
Kinder furchtbar prügelte, so war er eben im Unrecht, und wenn die Prügel
auch weh taten, so konnte man doch innerlich die Achseln zucken und ihn
verachten. Bei meinem Vater ging das nicht, er war zu fein, zu einwandfrei,
er war nie im Unrecht! Ihm gegenüber wurde man immer klein und elend.

Mit zusammengebissenen Zähnen ging ich vor ihm her ins Haus und wieder in
mein Zimmer. Er war noch immer ruhig und kühl, vielmehr er stellte sich so,
denn in Wahrheit war er, wie ich deutlich spürte, sehr böse. Nun begann er
in seiner gewohnten Art zu sprechen.

»Ich möchte nur wissen, wozu diese Komödie dienen soll? Kannst du mir das
nicht sagen? Ich wußte ja gleich, daß deine ganze hübsche Geschichte
erlogen war. Also wozu die Faxen? Du hältst mich doch nicht im Ernst für so
dumm, daß ich sie dir glauben würde?«

Ich biß weiter auf meine Zähne und schluckte. Wenn er doch aufhören wollte!
Als ob ich selber gewußt hätte, warum ich ihm diese Geschichte vorlog! Als
ob ich selber gewußt hätte, warum ich nicht mein Verbrechen gestehen und um
Verzeihung bitten konnte! Als ob ich selber auch nur gewußt hätte, warum
ich diese unseligen Feigen stahl! Hatte ich das denn _gewollt_, hatte ich
es denn mit Überlegung und Wissen und aus Gründen getan?! Tat es mir denn
nicht leid? Litt ich denn nicht mehr darunter als er?

Er wartete und machte ein nervöses Gesicht voll mühsamer Geduld. Einen
Augenblick lang war mir selbst die Lage vollkommen klar, im Unbewußten,
doch hätte ich es nicht wie heut mit Worten sagen können. Es war so: Ich
hatte gestohlen, weil ich trostbedürftig in Vaters Zimmer gekommen war und
es zu meiner Enttäuschung leer gefunden hatte. Ich hatte nicht stehlen
wollen. Ich hatte, als der Vater nicht da war, nur spionieren wollen, mich
unter seinen Sachen umsehen, seine Geheimnisse belauschen, etwas über ihn
erfahren. So war es. Dann lagen Feigen da, und ich stahl. Und sofort
bereute ich, und den ganzen Tag gestern hatte ich Qual und Verzweiflung
gelitten, hatte zu sterben gewünscht, hatte mich verurteilt, hatte neue,
gute Vorsätze gefaßt. Heut aber -- ja, heut war es nun anders. Ich hatte
diese Reue und all das nun ausgekostet, ich war jetzt nüchterner, und ich
spürte unerklärliche, aber riesenstarke Widerstände gegen den Vater und
gegen alles, was er von mir erwartete und verlangte.

Hätte ich ihm das sagen können, so hätte er mich verstanden. Aber auch
Kinder, so sehr sie den Großen an Klugheit überlegen sind, stehen einsam
und ratlos vor dem Schicksal.

Steif vor Trotz und verbissenem Weh schwieg ich weiter, ließ ihn klugreden
und sah mit Leid und seltsamer Schadenfreude zu, wie alles schief ging und
schlimm und schlimmer wurde, wie er litt und enttäuscht war, wie er
vergeblich an alles Bessere in mir appellierte.

Als er fragte: »Also hast du die Feigen gestohlen?«, konnte ich nur nicken.
Mehr als ein schwaches Nicken brachte ich auch nicht über mich, als er
wissen wollte, ob es mir leid tue. -- Wie konnte er, der große, kluge Mann,
so unsinnig fragen! Als ob es mir etwa nicht leid getan hätte! Als ob er
nicht hätte sehen können, wie mir das Ganze weh tat und das Herz umdrehte!
Als ob es mir möglich gewesen wäre, mich etwa gar noch meiner Tat und der
elenden Feigen zu freuen!

Vielleicht zum erstenmal in meinem kindlichen Leben empfand ich fast bis
zur Schwelle der Einsicht und des Bewußtwerdens, wie namenlos zwei
verwandte, gegeneinander wohlgesinnte Menschen sich mißverstehen und quälen
und martern können, und wie dann alles Reden, alles Klugseinwollen, alle
Vernunft bloß noch Gift hinzugießt, bloß neue Qualen, neue Stiche, neue
Irrtümer schafft. Wie war das möglich? Aber es _war_ möglich, es geschah.
Es war unsinnig, es war toll, es war zum Lachen und zum Verzweifeln -- aber
es war so.

Genug nun von dieser Geschichte! Es endete damit, daß ich über den
Sonntagnachmittag in der Dachkammer eingesperrt wurde. Einen Teil ihrer
Schrecken verlor die harte Strafe durch Umstände, welche freilich mein
Geheimnis waren. In der dunkeln, unbenutzten Bodenkammer stand nämlich tief
verstaubt eine Kiste, halb voll mit alten Büchern, von denen einige
keineswegs für Kinder bestimmt waren. Das Licht zum Lesen gewann ich durch
das Beiseiteschieben eines Dachziegels.

Am Abend dieses traurigen Sonntags gelang es meinem Vater, kurz vor
Schlafengehen mich noch zu einem kurzen Gespräch zu bringen, das uns
versöhnte. Als ich im Bette lag, hatte ich die Gewißheit, daß er mir ganz
und vollkommen verziehen habe -- vollkommener als ich ihm.



Klein und Wagner


I

Im Schnellzug, nach den raschen Handlungen und Aufregungen der Flucht und
der Grenzüberschreitung, nach einem Wirbel von Spannungen und Ereignissen,
Aufregungen und Gefahren, noch tief erstaunt darüber, daß alles gut
gegangen war, sank Friedrich Klein ganz und gar in sich zusammen. Der Zug
fuhr mit seltsamer Geschäftigkeit -- nun wo doch keine Eile mehr war --
nach Süden und riß die wenigen Reisenden eilig an Seen, Bergen,
Wasserfällen und andern Naturwundern vorüber, durch betäubende Tunnels und
über sanft schwankende Brücken, alles fremdartig, schön und etwas sinnlos,
Bilder aus Schulbüchern und aus Ansichtskarten, Landschaften, die man sich
erinnert einmal gesehen zu haben, und die einen doch nichts angehen. Dieses
war nun die Fremde, und hierher gehörte er nun, nach Hause gab es keine
Rückkehr. Das mit dem Geld war in Ordnung, es war da, er hatte es bei sich,
alle die Tausenderscheine, und trug es jetzt wieder in der Brusttasche
verwahrt.

Den Gedanken, daß ihm jetzt nichts mehr geschehen könne, daß er jenseits
der Grenze und durch seinen falschen Paß vorläufig vor aller Verfolgung und
allem Verdacht gesichert sei, diesen angenehmen und beruhigenden Gedanken
zog er zwar immer wieder hervor, voll Verlangen sich an ihm zu wärmen und
zu sättigen; aber dieser hübsche Gedanke war wie ein toter Vogel, dem ein
Kind in die Flügel bläst. Er lebte nicht, er tat keine Auge auf, er fiel
einem wie Blei aus der Hand, er gab keine Lust, keinen Glanz, keine Freude
her. Es war seltsam, es war ihm dieser Tage schon mehrmals aufgefallen: er
konnte durchaus nicht denken, an was er wollte, er hatte keine Verfügung
über seine Gedanken, sie liefen wie sie wollten, und sie verweilten trotz
seinem Sträuben mit Vorliebe bei Vorstellungen, die ihn quälten. Es war,
als sei sein Gehirn ein Kaleidoskop, in dem der Wechsel der Bilder von
einer fremden Hand geleitet wurde. Vielleicht war es nur die lange
Schlaflosigkeit und Erregung, er war ja auch schon längere Zeit nervös.
Jedenfalls war es häßlich, und wenn es nicht bald gelang, wieder etwas Ruhe
und Freude zu finden, war es zum Verzweifeln.

Friedrich Klein tastete nach dem Revolver in seiner Manteltasche. Das war
auch so ein Stück, dieser Revolver, das zu seiner neuen Ausrüstung und
Rolle und Maske gehörte. Wie war es im Grunde lästig und ekelhaft, all das
mit sich zu schleppen und bis in den dünnen vergifteten Schlaf hinein bei
sich zu tragen, ein Verbrechen, gefälschte Papiere, heimlich eingenähtes
Geld, den Revolver, den falschen Namen. Es schmeckte so nach
Räubergeschichten, nach einer schlechten Romantik, und es paßte alles so
gar nicht zu ihm, zu Klein, dem guten Kerl. Es war lästig und ekelhaft, und
nichts von Aufatmen und Befreiung dabei, wie er es erhofft hatte.

Mein Gott, _warum_ hatte er eigentlich das alles auf sich genommen, er, ein
Mann von fast vierzig Jahren, als braver Beamter und stiller harmloser
Bürger mit gelehrten Neigungen bekannt, Vater von lieben Kindern? Warum? Er
fühlte: ein Trieb mußte dagewesen sein, ein Zwang und Drang von genügender
Stärke, um einen Mann wie ihn zu dem Unmöglichen zu bewegen -- und erst
wenn er das wußte, wenn er diesen Zwang und Trieb kannte, wenn er wieder
Ordnung in sich hatte, erst dann war etwas wie Aufatmen möglich.

Heftig setzte er sich aufrecht, drückte die Schläfen mit den Daumen und gab
sich Mühe zu denken. Es ging schlecht, sein Kopf war wie von Glas, und
ausgehöhlt von Aufregungen. Ermüdung und Mangel an Schlaf. Aber es half
nichts, er mußte nachdenken. Er mußte suchen, und mußte finden, er mußte
wieder einen Mittelpunkt in sich wissen und sich selber einigermaßen kennen
und verstehen. Sonst war das Leben nicht mehr zu ertragen.

Mühsam suchte er die Erinnerungen dieser Tage zusammen, wie man kleine
Porzellanscherben mit einer Pinzette zusammenpickt, um den Bruch an einer
alten Dose wieder zu kitten. Es waren lauter kleine Splitter, keiner hatte
Zusammenhang mit den andern, keiner deutete durch Struktur und Farbe aufs
ganze. Was für Erinnerungen! Er sah eine kleine blaue Schachtel, aus der er
mit zitternder Hand das Amtssiegel seines Chefs herausnahm. Er sah den
alten Mann an der Kasse, der ihm seinen Scheck mit braunen und blauen
Banknoten ausbezahlte. Er sah eine Telephonzelle, wo er sich, während er
ins Rohr sprach, mit der linken Hand gegen die Wand stemmte, um aufrecht zu
bleiben. Vielmehr er sah nicht sich, er sah einen Menschen dies alles tun,
einen fremden Menschen, der Klein hieß und nicht er war. Er sah diesen
Menschen Briefe verbrennen, Briefe schreiben. Er sah ihn in einem
Restaurant essen. Er sah ihn -- nein, das war kein Fremder, das war _er_,
das war Friedrich Klein selbst! -- nachts über das Bett eines schlafenden
Kindes gebückt. Nein, das war er selbst gewesen! Wie weh das tat, auch
jetzt wieder in der Erinnerung! Wie weh das tat, das Gesicht des
schlafenden Kindes zu sehen und seine Atemzüge zu hören, und zu wissen: nie
mehr würde man diese lieben Augen offen sehen, nie mehr diesen kleinen Mund
lachen und essen sehen, nie mehr von ihm geküßt werden. Wie weh das tat!
Warum tat jener Mensch Klein sich selber so weh?

Er gab es auf, die kleinen Scherben zusammen zu setzen. Der Zug hielt, ein
fremder großer Bahnhof lag da, Türen schlugen, Koffer schwankten am
Wagenfenster vorüber, Papierschilde blau und gelb riefen laut: Hotel Milano
-- Hotel Kontinental! Mußte er darauf achten? War es wichtig? War eine
Gefahr? Er schloß die Augen und sank eine Minute lang in Betäubung,
schreckte sofort wieder auf, riß die Augen weit auf, spielte den Wachsamen.
Wo war er? Der Bahnhof war noch da. Halt -- wie heiße ich? Zum
tausendstenmal machte er die Probe. Also: Wie heiße ich? Klein. Nein, zum
Teufel! Fort mit Klein, Klein existierte nicht mehr. Er tastete nach der
Brusttasche, wo der Paß steckte.

Wie war das alles ermüdend! Überhaupt -- wenn man wüßte, wie wahnsinnig
mühsam es ist, ein Verbrecher zu sein -- --! Er ballte die Hände vor
Anstrengung. Das alles hier ging ihn ja nichts an, Hotel Milano, Bahnhof,
Kofferträger, das alles konnte er ruhig weglassen -- nein, es handelte sich
um anderes, um Wichtiges. Um was?

Im Halbschlummer, der Zug fuhr schon wieder, kam er zu seinen Gedanken
zurück. Es war ja so wichtig, es handelte sich ja darum, ob das Leben noch
länger zu ertragen sein würde. Oder -- war es nicht einfacher, dem ganzen
ermüdenden Unsinn ein Ende zu machen? Hatte er denn nicht Gift bei sich?
Das Opium? -- Ach nein, er erinnerte sich, das Gift hatte er ja nicht
bekommen. Aber er hatte den Revolver. Ja richtig. Sehr gut. Ausgezeichnet.

»Sehr gut« und »ausgezeichnet« sagte er laut vor sich hin, und fügte mehr
solche Worte hinzu. Plötzlich hörte er sich sprechen, erschrak, sah in der
Fensterscheibe sein entstelltes Gesicht gespiegelt, fremd, fratzenhaft und
traurig. Mein Gott, schrie er in sich hinein, mein Gott! Was tun? Wozu noch
leben? Mit der Stirn in dies bleiche Fratzenbild hinein, sich in diese
trübe blöde Scheibe stürzen, sich ins Glas verbeißen, sich am Glase den
Hals abschneiden. Mit dem Kopf auf die Bahnschwelle schlagen, dumpf und
dröhnend, von den Rädern der vielen Wagen aufgewickelt werden, alles
zusammen, Därme und Hirn, Knochen und Herz, auch die Augen -- und auf den
Schienen zerrieben, zu Nichts gemacht, ausradiert. Dies war das einzige,
was noch zu wünschen war, was noch Sinn hatte.

Während er verzweifelt in sein Spiegelbild starrte, mit der Nase ans Glas
stieß, schlief er wieder ein. Vielleicht Sekunden, vielleicht Stunden. Hin
und her schlug sein Kopf, er öffnete die Augen nicht.

Er erwachte aus einem Traum, dessen letztes Stück ihm im Gedächtnis blieb.
Er saß, so träumte ihm, vorn auf einem Automobil, das fuhr rasch und
ziemlich waghalsig durch eine Stadt, bergauf und ab. Neben ihm saß jemand,
der den Wagen lenkte. Dem gab er im Traum einen Stoß in den Bauch, riß ihm
das Steuerrad aus den Händen und steuerte nun selber, wild und beklemmend
über Stock und Stein, knapp an Pferden und an Schaufenstern herbei, an
Bäume streifend, daß ihm Funken vor den Augen stoben.

Aus diesem Traum erwachte er. Sein Kopf war freier geworden. Er lächelte
über die Traumbilder. Der Stoß in den Bauch war gut, er empfand ihn freudig
nach. Nun begann er den Traum zu rekonstruieren und über ihn nachzudenken.
Wie das an den Bäumen vorbei gepfiffen hatte! Vielleicht kam es von der
Eisenbahnfahrt? Aber das Steuern war, bei aller Gefahr, doch eine Lust
gewesen, ein Glück, eine Erlösung! Ja, es war besser, selber zu steuern und
dabei in Scherben zu gehen, als immer von einem andern gefahren und gelenkt
zu werden.

Aber -- wem hatte er eigentlich im Traum diesen Stoß gegeben? Wer war der
fremde Chauffeur, wer war neben ihm am Steuer des Automobils gesessen? Er
konnte sich an kein Gesicht, an keine Figur erinnern -- nur an ein Gefühl,
eine vage dunkle Stimmung . . . Wer konnte es gewesen sein? Jemand, den er
verehrte, dem er Macht über sein Leben einräumte, den er über sich duldete,
und den er doch heimlich haßte, dem er doch schließlich den Tritt in den
Bauch gab! Vielleicht sein Vater? Oder einer seiner Vorgesetzten? Oder --
oder war es am Ende --?

Klein riß die Augen auf. Er hatte ein Ende des verlorenen Fadens gefunden.
Er wußte alles wieder. Der Traum war vergessen. Es gab Wichtigeres. Jetzt
wußte er! Jetzt begann er zu wissen, zu ahnen, zu schmecken, _warum_ er
hier im Schnellzug saß, warum er nicht mehr Klein hieß, warum er Geld
unterschlagen und Papiere gefälscht hatte. Endlich, endlich!

Ja, es war so. Es hatte keinen Sinn mehr, es vor sich zu verheimlichen. Es
war seiner Frau wegen geschehen, einzig seiner Frau wegen. Wie gut, daß er
es endlich wußte!

Vom Turme dieser Erkenntnis aus meinte er plötzlich weite Strecken seines
Lebens zu überblicken, das ihm seit langem immer in lauter kleine, wertlose
Stücke auseinandergefallen war. Er sah auf eine lange durchlaufene Strecke
zurück, auf seine ganze Ehe, und die Strecke erschien ihm wie eine lange,
müde, öde Straße, wo ein Mann allein im Staube sich mit schweren Lasten
schleppt. Irgendwo hinten, unsichtbar jenseits des Staubes, wußte er
leuchtende Höhen und grüne rauschende Wipfel der Jugend verschwunden. Ja,
er war einmal jung gewesen, und kein Jüngling wie alle, er hatte große
Träume geträumt, er hatte viel vom Leben und von sich verlangt. Seither
aber nichts als Staub und Lasten, lange Straße, Hitze und müde Knie, nur im
vertrocknenden Herzen ein verschlafenes, alt gewordnes Heimweh lauernd. Das
war sein Leben gewesen. Das war sein Leben gewesen.

Er blickte durchs Fenster und zuckte erstaunt zusammen. Ungewohnte Bilder
sahen ihn an. Er sah plötzlich aufzuckend, daß er im Süden war. Verwundert
richtete er sich auf, lehnte sich hinaus, und wieder fiel ein Schleier, und
das Rätsel seines Schicksals ward ein wenig klarer. Er war im Süden! Er sah
Reblauben auf grünen Terrassen stehn, goldbraunes Gemäuer halb in Ruinen,
wie auf alten Stichen, blühende rosenrote Bäume! Ein kleiner Bahnhof
schwand vorbei, mit einem italienischen Namen, irgend etwas auf ogno oder
ogna.

Soweit vermochte Klein jetzt die Wetterfahne seines Schicksals zu lesen. Es
ging fort von seiner Ehe, seinem Amt, von allem, was bisher sein Leben und
seine Heimat gewesen war. Und es ging nach Süden! Nun erst begriff er,
warum er, mitten in Hetze und Rausch seiner Flucht, jene Stadt mit dem
italienischen Namen zum Ziel gewählt hatte. Er hatte es nach einem
Hotelbuch getan, anscheinend wahllos und auf gut Glück, er hätte ebenso gut
Amsterdam, Zürich oder Malmö sagen können. Erst jetzt war es kein Zufall
mehr. Er war im Süden, er war durch die Alpen gefahren. Und damit hatte er
den strahlendsten Wunsch seiner Jugendzeit erfüllt, jener Jugend, deren
Erinnerungszeichen ihm auf der langen öden Straße eines sinnlosen Lebens
erloschen und verloren gegangen waren. Eine unbekannte Macht hatte es so
gefügt, daß ihm die beiden brennendsten Wünsche seines Lebens sich
erfüllten: die längst vergessene Sehnsucht nach dem Süden, und das
heimliche, niemals klar und frei gewordene Verlangen nach Flucht und
Freiheit aus dem Frohndienst und Staub seiner Ehe. Jener Streit mit seinem
Vorgesetzten, jene überraschende Gelegenheit zu der Unterschlagung des
Geldes -- all das, was ihm so wichtig erschienen war, fiel jetzt zu kleinen
Zufällen zusammen. Nicht sie hatten ihn geführt. Jene beiden großen Wünsche
in seiner Seele hatten gesiegt, alles andre war nur Weg und Mittel gewesen.

Klein erschrak vor dieser neuen Einsicht tief. Er fühlte sich wie ein Kind,
das mit Zündhölzern gespielt und ein Haus dabei angezündet hat. Nun brannte
es. Mein Gott! Und was hatte er davon? Und wenn er bis nach Sizilien oder
Konstantinopel fuhr, konnte ihn das um zwanzig Jahre jünger machen?

Indessen lief der Zug, und Dorf um Dorf lief ihm entgegen, fremdartig
schön, ein heiteres Bilderbuch, mit allen den hübschen Gegenständen, die
man vom Süden erwartet und aus Ansichtskarten kennt: steinerne schön
gewölbte Brücken über Bach und braunen Felsen, Weinbergmauern von kleinen
Farnen überwachsen, hohe schlanke Glockentürme, die Fassaden der Kirchen
bunt bemalt oder von gewölbten Hallen mit leichten, edlen Bogen beschattet,
Häuser mit rosenrotem Anstrich und dickgemauerte Arkadenhallen mit dem
kühlsten Blau gemalt, zahme Kastanien, da und dort schwarze Zypressen,
kletternde Ziegen, vor einem Herrschaftshaus im Rasen die ersten Palmen
kurz und dickstämmig. Alles merkwürdig und ziemlich unwahrscheinlich, aber
alles zusammen war doch überaus hübsch und verkündete etwas wie Trost. Es
gab diesen Süden, er war keine Fabel. Die Brücken und Zypressen waren
erfüllte Jugendträume, die Häuser und Palmen sagten: du bist nicht mehr im
Alten, es beginnt lauter Neues. Luft und Sonnenschein schienen gewürzt und
verstärkt, das Atmen leichter, das Leben möglicher, der Revolver
entbehrlicher, das Ausradiertwerden auf den Schienen minder dringlich. Ein
Versuch schien möglich, trotz allem. Das Leben konnte vielleicht ertragen
werden.

Wieder übernahm ihn die Erschlaffung, leichter gab er sich jetzt hin, und
schlief bis es Abend war und der volltönende Name der kleinen Hotelstadt
ihn weckte. Hastig stieg er aus.

Ein Diener mit dem Schild »Hotel Milano« an der Mütze redete ihn deutsch
an, er bestellte ein Zimmer und ließ sich die Adresse geben. Schlaftrunken
taumelte er aus der Glashalle und dem Rauch in den lauen Abend.

»So habe ich mir etwa Honolulu gedacht,« ging ihm durch den Kopf. Eine
phantastisch unruhige Landschaft, schon beinahe nächtlich, schwankte ihm
fremd und unbegreiflich entgegen. Vor ihm fiel der Hügel steil hinab, da
lag unten tief geschachtelt die Stadt, senkrecht blickte er auf erleuchtete
Plätze hinunter. Von allen Seiten stürzten steile spitze Zuckerhutberge jäh
herab in einen See, der am Wiederschein unzähliger Quailaternen kenntlich
wurde. Eine Seilbahn senkte sich wie ein Korb den Schacht hinunter zur
Stadt, halb gefährlich, halb spielzeughaft. Auf einigen der hohen Bergkegel
glühten erleuchtete Fenster bis zum Gipfel in launischen Reihen, Stufen und
Sternbildern geordnet. Von der Stadt wuchsen die Dächer großer Hotels
herauf, dazwischen schwarzdunkle Gärten, ein warmer sommerhafter Abendwind
voll Staub und Duft flatterte wohlgelaunt unter den grellen Laternen. Aus
der wirr durchfunkelten Finsternis am See schwoll taktfest und lächerlich
eine Blechmusik heran.

Ob das nun Honolulu, Mexiko oder Italien war, konnte ihm einerlei sein. Es
war Fremde, es war neue Welt und neue Luft, und wenn sie ihn auch verwirrte
und heimlich in Angst versetzte, sie duftete doch auch nach Rausch und
Vergessen und neuen, unerprobten Gefühlen.

Eine Straße schien ins Freie zu führen, dorthin schlenderte er, an
Lagerschuppen und leeren Lastfuhrwerken vorüber, dann bei kleinen
Vorstadthäusern vorbei, wo laute Stimmen italienisch schrien und im Hof
eines Wirtshauses eine Mandoline schrillte. Im letzten Hause klang eine
Mädchenstimme auf, ein Duft von Wohllaut beklemmte ihm das Herz, viele
Worte konnte er zu seiner Freude verstehen und den Refrain sich merken:

   Mama non vuole, papa ne meno.
   Come faremo a fare l'amor?

Es klang wie aus Träumen seiner Jugend her. Bewußtlos schritt er die Straße
weiter, floß hingerissen in die warme Nacht, in der die Grillen sangen. Ein
Weinberg kam, und bezaubert blieb er stehen: Ein Feuerwerk, ein Reigen von
kleinen, grün glühenden Lichtern erfüllte die Luft und das duftende, hohe
Gras, tausend Sternschnuppen taumelten trunken durcheinander. Es war ein
Schwarm von Leuchtkäfern, langsam und lautlos geisterten sie durch die warm
aufzuckende Nacht. Die sommerliche Luft und Erde schien sich phantastisch
in leuchtenden Figuren und tausend kleinen beweglichen Sternbildern,
auszuleben.

Lange stand der Fremde dem Zauber hingegeben und vergaß die ängstliche
Geschichte dieser Reise und die ängstliche Geschichte seines Lebens über
der schönen Seltsamkeit. Gab es noch eine Wirklichkeit? Noch Geschäfte und
Polizei? Noch Assessoren und Kursberichte? Stand zehn Minuten von hier ein
Bahnhof?

Langsam wandte sich der Flüchtling, der aus seinem Leben heraus in ein
Märchen gereist war, gegen die Stadt zurück. Laternen glühten auf. Menschen
riefen ihm Worte zu, die er nicht verstand. Unbekannte Riesenbäume standen
voll Blüten, eine steinerne Kirche hing mit schwindelnder Terrasse über dem
Absturz, helle Straßen, von Treppen unterbrochen, flossen rasch wie
Bergbäche in das Städtchen hinab.

Klein fand sein Hotel, und mit dem Eintritt in die überhellen nüchternen
Räume, Halle und Treppenhaus schwand sein Rausch dahin, und es kehrte die
ängstliche Schüchternheit zurück, sein Fluch und Kainszeichen. Betreten
drückte er sich an den wachen, tarierenden Blicken des Concierge, der
Kellner, des Liftjungen, der Hotelgäste vorbei in die ödeste Ecke eines
Restaurants. Er bat mit schwacher Stimme um die Speisekarte, und las, als
wäre er noch arm und müßte sparen, bei allen Speisen sorgfältig die Preise
mit, bestellte etwas Wohlfeiles, ermunterte sich künstlich zu einer halben
Flasche Bordeaux, der ihm nicht schmeckte, und war froh, als er endlich
hinter verschlossener Tür in seinem schäbigen kleinen Zimmer lag. Bald
schlief er ein, schlief gierig und tief, aber nur zwei, drei Stunden. Noch
mitten in der Nacht wurde er wieder wach.

Er starrte, aus den Abgründen des Unbewußten kommend, in die feindselige
Dämmerung, wußte nicht wo er war, hatte das drückende und schuldhafte
Gefühl, Wichtiges vergessen und versäumt zu haben. Wirr umhertastend
erfühlte er einen Drücker und drehte Licht an. Das kleine Zimmer sprang ins
grelle Licht, fremd, öde, sinnlos. Wo war er? Böse glotzten die
Plüschsessel. Alles blickte ihn kalt und fordernd an. Da fand er sich im
Spiegel und las das Vergessene aus seinem Gesicht. Ja, er wußte. Dies
Gesicht hatte er früher nicht gehabt, nicht diese Augen, nicht diese
Falten, nicht diese Farben. Es war ein neues Gesicht, schon einmal war es
ihm aufgefallen, im Spiegel einer Glasscheibe, irgendwann im gehetzten
Theaterstück dieser wahnsinnigen Tage. Es war nicht sein Gesicht, das gute,
stille und etwas duldende Friedrich Klein-Gesicht. Es war das Gesicht eines
Gezeichneten, vom Schicksal mit neuen Zeichen gestempelt, älter und auch
jünger als das frühere, maskenhaft und doch wunderlich durchglüht. Niemand
liebte solche Gesichter.

Da saß er im Zimmer eines Hotels im Süden mit seinem gezeichneten Gesicht.
Daheim schliefen seine Kinder, die er verlassen hatte. Nie mehr würde er
sie schlafen, nie mehr sie aufwachen sehen, nie mehr ihre Stimmen hören. Er
würde niemals mehr aus dem Wasserglas auf jenem Nachttisch trinken, auf dem
bei der Stehlampe die Abendpost und ein Buch lag, und dahinter an der Wand
überm Bett die Bilder seiner Eltern, und alles, und alles. Statt dessen
starrte er hier im ausländischen Hotel in den Spiegel, in das traurige und
angstvolle Gesicht des Verbrechers Klein, und die Plüschmöbel blickten kalt
und schlecht, und alles war anders, nichts war mehr in Ordnung. Wenn sein
Vater das noch erlebt hätte!

Niemals seit seiner Jugendzeit war Klein so unmittelbar und so einsam
seinen Gefühlen überlassen gewesen, niemals so in der Fremde, niemals so
nackt und senkrecht unter der unerbittlichen Sonne des Schicksals. Immer
war er mit irgend etwas beschäftigt gewesen, mit etwas anderm als mit sich
selbst, immer hatte er zu tun und zu sorgen gehabt, um Geld, um Beförderung
im Amt, um Frieden im Hause, um Schulgeschichten und Kinderkrankheiten;
immer waren große, heilige Pflichten des Bürgers, des Gatten, des Vaters um
ihn her gestanden, in ihrem Schutz und Schatten hatte er gelebt, ihnen
hatte er Opfer gebracht, von ihnen her war seinem Leben Rechtfertigung und
Sinn gekommen. Jetzt hing er plötzlich nackt im Weltraum, er allein Sonne
und Mond gegenüber, und fühlte die Luft um sich dünn und eisig.

Und das Wunderliche war, daß kein Erdbeben ihn in diese bange und
lebensgefährliche Lage gebracht hatte, kein Gott und kein Teufel, sondern
er allein, er selber! Seine eigene Tat hatte ihn hierher geschleudert, hier
allein mitten in die fremde Unendlichkeit gestellt. In ihm selbst war alles
gewachsen und entstanden, in seinem eigenen Herzen war das Schicksal groß
geworden, Verbrechen und Auflehnung, Wegwerfen heiliger Pflichten, Sprung
in den Weltenraum, Haß gegen sein Weib, Flucht, Vereinsamung und vielleicht
Selbstmord. Andere mochten wohl auch Schlimmes und Umstürzendes erlebt
haben, durch Brand und Krieg, durch Unfall und bösen Willen anderer -- er
jedoch, der Verbrecher Klein, konnte sich auf nichts dergleichen berufen,
auf nichts hinausreden, nichts verantwortlich machen, höchstens vielleicht
seine Frau. Ja, sie, sie allerdings konnte und mußte herangezogen und
verantwortlich gemacht werden, auf sie konnte er deuten, wenn einmal
Rechenschaft von ihm verlangt wurde!

Ein großer Zorn brannte in ihm auf, und mit einemmal fiel ihm etwas ein,
brennend und tödlich, ein Knäuel von Vorstellungen und Erlebnissen. Es
erinnerte ihn an den Traum vom Automobil, und an den Stoß, den er seinem
Feinde dort in den Bauch gegeben hatte.

Woran er sich nun erinnerte, das war ein Gefühl, oder eine Phantasie, ein
seltsamer und krankhafter Seelenzustand, eine Versuchung, ein wahnsinniges
Gelüst, oder wie immer man es bezeichnen wollte. Es war die Vorstellung
oder Vision einer furchtbaren Bluttat, die er beging, indem er sein Weib,
seine Kinder und sich selbst ums Leben brachte. Mehrmals, so besann er sich
jetzt, während noch immer der Spiegel ihm sein gestempeltes, irres
Verbrechergesicht zeigte, -- mehrmals hatte er sich diesen vierfachen Mord
vorstellen müssen, vielmehr sich verzweifelt gegen diese häßliche und
unsinnige Vision gewehrt, wie sie ihm damals erschienen war. Genau damals
hatten die Gedanken, Träume und quälenden Zustände in ihm begonnen, so
schien ihm, welche dann mit der Zeit zu der Unterschlagung und zu seiner
Flucht geführt hatten. Vielleicht -- es war möglich -- war es nicht bloß
die übergroß gewordene Abneigung gegen seine Frau und sein Eheleben
gewesen, die ihn von Hause fortgetrieben hatte, sondern noch mehr die Angst
davor, daß er eines Tages doch noch dies viel furchtbarere Verbrechen
begehen möchte: sie alle töten, sie schlachten und in ihrem Blut liegen
sehen. Und weiter: auch diese Vorstellung noch hatte eine Vorgeschichte.
Sie war zu Zeiten gekommen, wie etwa ein leichter Schwindelanfall, wo man
meint, sich fallen lassen zu müssen. Das Bild aber, die Mordtat, stammte
aus einer besonderen Quelle her! Unbegreiflich, daß er das erst jetzt sah!

Damals, als er zum erstenmal die Zwangsvorstellung vom Töten seiner Familie
hatte, und über diese teuflische Vision zu Tode erschrocken war, da hatte
ihn, gleichsam höhnisch, eine kleine Erinnerung heimgesucht. Es war diese:
Vor Jahren, als sein Leben anscheinend noch harmlos, ja beinahe glücklich
war, sprach er einmal mit Kollegen über die Schreckenstat eines
süddeutschen Schullehrers namens W. (er kam nicht gleich auf den Namen),
der seine ganze Familie auf eine furchtbar blutige Weise abgeschlachtet und
dann die Hand gegen sich selber erhoben hatte. Es war die Frage gewesen,
wie weit bei einer solchen Tat von Zurechnungsfähigkeit die Rede sein
könne, und im weiteren darüber, ob und wie man überhaupt eine solche Tat,
eine solche grausige Explosion menschlicher Scheußlichkeit verstehen und
erklären könne. Er, Klein, war damals sehr erregt gewesen und hatte gegen
einen Kollegen, welcher jenen Totschlag psychologisch zu erklären
versuchte, überaus heftig geäußert: einem so scheußlichen Verbrechen
gegenüber gebe es für einen anständigen Mann keine andere Haltung als
Entrüstung und Abscheu, eine solche Bluttat könne nur im Gehirn eines
Teufels entstehen, und für einen Verbrecher dieser Art sei überhaupt keine
Strafe, kein Gericht, keine Folter streng und schwer genug. Er erinnerte
sich noch heut genau des Tisches, an dem sie saßen, und des verwunderten
und etwas kritischen Blickes, mit dem jener ältere Kollege ihn nach diesem
Ausbruch seiner Entrüstung gestreift hatte.

Damals nun, als er sich selber zum erstenmal in einer häßlichen Phantasie
als Mörder der Seinigen sah und er vor dieser Vorstellung mit einem
Schauder zurückschreckte, da war ihm dies um Jahre zurückliegende Gespräch
über den Verwandtenmörder W. sofort wieder eingefallen. Und seltsam. Obwohl
er hätte schwören können, daß er damals völlig aufrichtig seine wahrste
Empfindung ausgesprochen habe, war jetzt in ihm innen eine häßliche Stimme
da, die ihn verhöhnte und ihm zurief: schon damals, schon damals vor Jahren
bei dem Gespräch über den Schullehrer W. habe sein Innerstes dessen Tat
verstanden, verstanden und gebilligt, und seine so heftige Entrüstung und
Erregung sei nur daraus entstanden, daß der Philister und Heuchler in ihm
die Stimme des Herzens nicht habe gelten lassen wollen. Die furchtbaren
Strafen und Foltern, die er dem Gattenmörder wünschte, und die entrüsteten
Schimpfworte, mit denen er dessen Tat bezeichnete, die hatte er eigentlich
gegen sich selber gerichtet, gegen den Keim zum Verbrechen, der gewiß
damals schon in ihm war! Seine große Erregung bei diesem ganzen Gespräch
und Anlaß war nur daher gekommen, daß in Wirklichkeit er sich selbst sitzen
sah, der Bluttat angeklagt, und daß er sein Gewissen zu retten suchte,
indem er auf sich selber jede Anklage und jedes schwere Urteil häufte. Als
ob er damit, mit diesem Wüten gegen sich selbst, das heimliche
Verbrechertum in seinem Innern bestrafen oder übertäuben könnte.

Soweit kam Klein mit seinen Gedanken, und er fühlte, daß es sich da für ihn
um Wichtiges, ja um das Leben selber handle. Aber es war unsäglich mühsam,
diese Erinnerungen und Gedanken auseinanderzufädeln und zu ordnen. Eine
aufzuckende Ahnung letzter, erlösender Erkenntnisse unterlag der Müdigkeit
und dem Widerwillen gegen seine ganze Situation. Er stand auf, wusch sich
das Gesicht, ging barfuß auf und ab, bis ihn fröstelte, und dachte nun zu
schlafen.

Aber es kam kein Schlaf. Er lag unerbittlich seinen Empfindungen
ausgeliefert, lauter häßlichen, schmerzenden und demütigenden Gefühlen: dem
Haß gegen seine Frau, dem Mitleid mit sich selber, der Ratlosigkeit, dem
Bedürfnis nach Erklärungen, Entschuldigungen, Trostgründen. Und da ihm für
jetzt keine andern Trostgründe einfielen, und da der Weg zum Verständnis so
tief und schonungslos in die heimlichsten und gefährlichsten Dickichte
seiner Erinnerungen führte, und der Schlaf nicht wieder kommen wollte, lag
er den Rest der Nacht in einem Zustande, den er in diesem häßlichen Grad
noch nicht gekannt hatte. Alle die widerlichen Gefühle, die in ihm
stritten, vereinigten sich zu einer furchtbaren, erstickenden, tödlichen
Angst, zu einem teuflischen Alpdruck auf Herz und Lunge, der sich immer von
neuem bis an die Grenze des Unerträglichen steigerte. Was Angst war, hatte
er ja längst gewußt, seit Jahren schon, und seit den letzten Wochen und
Tagen erst! Aber so hatte er sie noch nie an der Kehle gefühlt! Zwanghaft
mußte er an die wertlosesten Dinge denken, an einen vergessenen Schlüssel,
an die Hotelrechnung, und daraus Berge von Sorgen und peinlichen
Erwartungen schaffen. Die Frage, ob dies schäbige Zimmerchen für die Nacht
wohl mehr als dreieinhalb Franken kosten würde, und ob er in diesem Fall
noch länger im Hause bleiben solle, hielt ihn wohl eine Stunde lang in
Atem, Schweiß und Herzklopfen. Dabei wußte er genau, wie dumm diese
Gedanken seien, und sprach immer wieder sich selbst vernünftig und
begütigend zu, wie einem trotzigen Kind, rechnete sich an den Fingern die
völlige Haltlosigkeit seiner Sorgen vor -- vergebens, vollkommen vergebens!
Vielmehr dämmerte auch hinter diesem Trösten und Zureden etwas wie blutiger
Hohn auf, als sei auch das bloß Getue und Theater, gerade so wie damals
sein Getue wegen dem Mörder W. Daß die Todesangst, daß dies grauenhafte
Gefühl einer Umschnürung und eines Verurteiltseins zu qualvollem Ersticken
nicht von der Sorge um die paar Franken oder von ähnlichen Ursachen
herkomme, war ihm ja klar. Dahinter lauerte Schlimmeres, Ernsteres -- aber
was? Es mußten Dinge sein, die mit dem blutigen Schullehrer, mit seinen
eigenen Mordwünschen und mit allem Kranken und Ungeordneten in ihm zu tun
hatten. Aber wie daran rühren? Wie den Grund finden? Da gab es keine Stelle
in ihm innen, die nicht blutete, die nicht krank und faul und wahnsinnig
schmerzempfindlich war. Er spürte: Lange war das nicht zu ertragen. Wenn es
so weiter ging, und namentlich wenn noch manche solche Nächte kamen, dann
wurde er wahnsinnig oder nahm sich das Leben.

Angespannt setzte er sich im Bett aufrecht und suchte das Gefühl seiner
Lage auszuschöpfen, um einmal damit fertig zu werden. Aber es war immer
dasselbe: Einsam und hilflos saß er, mit fieberndem Kopf und schmerzlichem
Herzdruck, in Todesbangigkeit dem Schicksal gegenüber wie ein Vogel der
Schlange, festgebannt und von Furcht verzehrt. Schicksal, das wußte er
jetzt, kam nicht von irgendwo her, es wuchs im eigenen Innern. Wenn er kein
Mittel dagegen fand, so fraß es ihn auf -- dann war ihm beschieden, Schritt
für Schritt von der Angst, von dieser grauenhaften Angst verfolgt und aus
seiner Vernunft verdrängt zu werden, Schritt für Schritt, bis er am Rande
stand, den er schon nahe fühlte.

Verstehen können -- das wäre gut, das wäre vielleicht die Rettung! Er war
noch lange nicht am Ende mit dem Erkennen seiner Lage und dessen, was mit
ihm vorgegangen war. Er stand noch ganz im Anfang, das fühlte er wohl. Wenn
er sich jetzt zusammenraffen und alles ganz genau zusammenfassen, ordnen
und überlegen könnte, dann würde er vielleicht den Faden finden. Das Ganze
würde einen Sinn und ein Gesicht bekommen und würde dann vielleicht zu
ertragen sein. Aber diese Anstrengung, dieses letzte Sichaufraffen war ihm
zu viel, es ging über seine Kräfte, er konnte einfach nicht. Je
angespannter er zu denken versuchte, desto schlechter ging es, er fand
statt Erinnerungen und Erklärungen in sich nur leere Löcher, nichts fiel
ihm ein, und dabei verfolgte ihn schon wieder die quälende Angst, er möchte
gerade das Wichtigste vergessen haben. Er störte und suchte in sich herum
wie ein nervöser Reisender, der alle Taschen und Koffer nach seiner
Fahrkarte durchwühlt, die er vielleicht am Hut oder gar in der Hand hat.
Aber was half es, das Vielleicht?

Vorher, vor einer Stunde oder länger -- hatte er da nicht eine Erkenntnis
gehabt, einen Fund getan? Was war es gewesen, was? Es war fort, er fand es
nicht wieder. Verzweifelnd schlug er sich mit der Faust an die Stirn. Gott
im Himmel, laß mich den Schlüssel finden! Laß mich nicht so umkommen, so
jammervoll, so dumm, so traurig! In Fetzen gelöst wie Wolkentreiben im
Sturm floh seine ganze Vergangenheit an ihm vorüber, Millionen Bilder,
durcheinander und übereinander, unkenntlich und höhnend, jedes an irgend
etwas erinnernd -- an was? An was?

Plötzlich fand er den Namen »Wagner« auf seinen Lippen. Wie bewußtlos
sprach er ihn aus: »Wagner -- Wagner.« Wo kam der Name her? Aus welchem
Schacht? Was wollte er? Wer war Wagner? Wagner?

Er biß sich an den Namen fest. Er hatte eine Aufgabe, ein Problem, das war
besser als dies Hangen im Gestaltlosen. Also: Wer ist Wagner? Was geht mich
Wagner an? Warum sagen meine Lippen, die verzogenen Lippen in meinem
Verbrechergesicht, jetzt in der Nacht den Namen Wagner vor sich hin? Er
nahm sich zusammen. Allerlei fiel ihm ein. Er dachte an Lohengrin, und
damit an das etwas unklare Verhältnis, das er zu dem Musiker Wagner hatte.
Er hatte ihn, als Zwanzigjähriger, rasend geliebt. Später war er
mißtrauisch geworden, und mit der Zeit hatte er gegen ihn eine Menge von
Einwänden und Bedenken gefunden. An Wagner hatte er viel herumkritisiert,
und vielleicht galt diese Kritik weniger dem Richard Wagner selbst als
seiner eigenen, einstigen Liebe zu ihm? Haha, hatte er sich wieder
erwischt? Hatte er da wieder einen Schwindel aufgedeckt, eine kleine Lüge,
einen kleinen Unrat? Ach ja, es kam einer um den andern zum Vorschein -- in
dem tadellosen Leben des Beamten und Gatten Friedrich Klein war es gar
nicht tadellos, gar nicht sauber gewesen, in jeder Ecke lag ein Hund
begraben! Ja, richtig, also so war es auch mit Wagner. Der Komponist
Richard Wagner wurde von Friedrich Klein scharf beurteilt und gehaßt.
Warum? Weil Friedrich Klein es sich selber nicht verzeihen konnte, daß er
als junger Mensch für diesen selben Wagner geschwärmt hatte. In Wagner
verfolgte er nun seine eigne Jugendschwärmerei, seine eigne Jugend, seine
eigne Liebe. Warum? Weil Jugend und Schwärmerei und Wagner und all das ihn
peinlich an Verlorenes erinnerten, weil er sich von einer Frau hatte
heiraten lassen, die er nicht liebte, oder doch nicht richtig, nicht genug.
Ach, und so, wie er gegen Wagner verfuhr, so verfuhr der Beamte Klein noch
gegen viele und vieles. Er war ein braver Mann, der Herr Klein, und hinter
seiner Bravheit versteckte er nichts als Unflat und Schande! Ja, wenn er
ehrlich sein wollte -- wieviel heimliche Gedanken hatte er vor sich selber
verbergen müssen! Wieviel Blicke nach hübschen Mädchen auf der Gasse,
wieviel Neid gegen Liebespaare, die ihm abends begegneten, wenn er vom Amt
zu seiner Frau nach Hause ging! Und dann die Mordgedanken. Und hatte er
nicht den Haß, der ihm selber hätte gelten sollen, auch gegen jenen
Schullehrer -- -- --

Er schrak plötzlich zusammen. Wieder ein Zusammenhang! Der Schullehrer und
Mörder hatte ja -- Wagner geheißen! Also da saß der Kern! Wagner -- so hieß
jener Unheimliche, jener wahnsinnige Verbrecher, der seine ganze Familie
umgebracht hatte. War nicht mit diesem Wagner irgendwie sein ganzes Leben
seit Jahren verknüpft gewesen? Hatte nicht dieser üble Schatten ihn überall
verfolgt?

Nun, Gott sei Dank, der Faden war wieder gefunden. Ja, und über diesen
Wagner hatte er einst, in langvergangener besserer Zeit, sehr zornig und
empört gescholten und ihm die grausamsten Strafen gewünscht. Und dennoch
hatte er später selber, ohne mehr an Wagner zu denken, denselben Gedanken
gehabt und hatte mehrmals in einer Art von Vision sich selber gesehen, wie
er seine Frau und seine Kinder ums Leben brachte.

Und war denn das nicht eigentlich sehr verständlich? War es nicht richtig?
Konnte man nicht sehr leicht dahin kommen, daß die Verantwortung für das
Dasein von Kindern einem unerträglich wurde, ebenso unerträglich wie das
eigene Wesen und Dasein, das man nur als Irrtum, nur als Schuld und Qual
empfand?

Aufseufzend dachte er diesen Gedanken zu Ende. Es schien ihm jetzt ganz
gewiß, daß er schon damals, als er ihn zuerst erfuhr, im Herzen jenen
Wagnerschen Totschlag verstanden und gebilligt habe, gebilligt natürlich
nur als Möglichkeit. Schon damals, als er noch nicht sich unglücklich und
sein Leben verpfuscht fühlte, schon damals vor Jahren, als er noch meinte,
seine Frau zu lieben und an ihre Liebe glaubte, schon damals hatte sein
Innerstes den Schullehrer Wagner verstanden und seinem entsetzlichen
Schlachtopfer heimlich zugestimmt. Was er damals sagte und meinte, war
immer nur die Meinung seines Verstandes gewesen, nicht die seines Herzens.
Sein Herz -- jene innerste Wurzel in ihm, aus der das Schicksal wuchs --
hatte schon immer und immer eine andere Meinung gehabt, es hatte Verbrechen
begriffen und gebilligt. Es waren immer zwei Friedrich Klein dagewesen, ein
sichtbarer und ein heimlicher, ein Beamter und ein Verbrecher, ein
Familienvater und ein Mörder.

Damals aber war er im Leben stets auf der Seite des »bessern« Ich
gestanden, des Beamten und anständigen Menschen, des Ehemannes und
rechtlichen Bürgers. Die heimliche Meinung seines Innersten hatte er nie
gebilligt, er hatte sie nicht einmal gekannt. Und doch hatte diese innerste
Stimme ihn unvermerkt geleitet und schließlich zum Flüchtling und
Verworfenen gemacht!

Dankbar hielt er diesen Gedanken fest. Da war doch ein Stück
Folgerichtigkeit, etwas wie Vernunft. Es genügte noch nicht, es blieb alles
Wichtige noch so dunkel, aber eine gewisse Helligkeit, eine gewisse
Wahrheit war doch gewonnen. Und Wahrheit -- das war es, worauf es ankam.
Wenn ihm nur das kurze Ende des Fadens nicht wieder verlorenging!

Zwischen Wachen und Schlaf vor Erschöpfung fiebernd, immer an der Grenze
zwischen Gedanke und Traum, verlor er hundertmal den Faden wieder, fand ihn
hundertmal neu. Bis es Tag war und der Gassenlärm zum Fenster hereinscholl.


II

Den Vormittag lief Klein durch die Stadt. Er kam vor ein Hotel, dessen
Garten ihm gefiel, ging hinein, sah Zimmer an und mietete eines. Erst im
Weggehen sah er sich nach dem Namen des Hauses um und las: Hotel
Kontinental. War ihm dieser Name nicht bekannt? Nicht vorausgesagt worden?
Ebenso wie Hotel Milano? Er gab es indessen bald auf, zu suchen, und war
zufrieden in der Atmosphäre von Fremdheit, Spiel und eigentümlicher
Bedeutsamkeit, in die sein Leben geraten schien.

Der Zauber von gestern kam allmählich wieder. Es war sehr gut, daß er im
Süden war, dachte er dankbar. Er war gut geführt worden. Wäre dies nicht
gewesen, dieser liebenswerte Zauber überall, dies ruhige Schlendern und
Sichvergessenkönnen, dann wäre er Stunde um Stunde vor dem furchtbaren
Gedankenzwang gestanden und wäre verzweifelt. So aber gelang es ihm,
stundenlang in angenehmer Müdigkeit dahin zu vegetieren, ohne Zwang, ohne
Angst, ohne Gedanken. Das tat ihm wohl. Es war sehr gut, daß es diesen
Süden gab, und daß er ihn sich verordnet hatte. Der Süden erleichterte das
Leben. Er tröstete. Er betäubte.

Auch jetzt am hellen Tage sah die Landschaft unwahrscheinlich und
phantastisch aus, die Berge waren alle zu nah, zu steil, zu hoch, wie von
einem etwas verschrobenen Maler erfunden. Schön aber war alles Nahe und
Kleine: ein Baum, ein Stück Ufer, ein Haus in schönen heitern Farben, eine
Gartenmauer, ein schmales Weizenfeld unter Reben stehend, klein und
gepflegt wie ein Hausgarten. Dies alles war lieb und freundlich, heiter und
gesellig, es atmete Gesundheit und Vertrauen. Diese kleine, freundliche,
wohnliche Landschaft samt ihren stillheitern Menschen konnte man lieben.
Etwas lieben zu können -- welche Erlösung!

Mit dem leidenschaftlichen Willen, zu vergessen und sich zu verlieren,
schwamm der Leidende, auf der Flucht vor den lauernden Angstgefühlen,
hingegeben durch die fremde Welt. Er schlenderte ins Freie, in das
anmutige, fleißig bestellte Bauernland hinein. Es erinnerte ihn nicht an
das Land und Bauerntum seiner Heimat, sondern mehr an Homer und an die
Römer, er fand etwas Uraltes, Kultiviertes und doch Primitives darin, eine
Unschuld und Reife, die der Norden nicht hat. Die kleinen Kapellen und
Bildstöcke, die farbig und zum Teil zerfallend, fast alle von Kindern mit
Feldblumen geschmückt, überall an den Wegen zu Ehren von Heiligen standen,
schienen ihm denselben Sinn zu haben und vom selben Geist zu stammen wie
die vielen kleinen Tempel und Heiligtümer der Alten, die in jedem Hain,
Quell und Berg eine Gottheit verehrten und deren heitere Frömmigkeit nach
Brot und Wein und Gesundheit duftete. Er kehrte in die Stadt zurück, lief
unter hallenden Arkaden, ermüdete sich auf rauhem Steinpflaster, blickte
neugierig in offene Läden und Werkstätten, kaufte italienische Zeitungen,
ohne sie zu lesen, und geriet endlich müde in einen herrlichen Park am See.
Hier schlenderten Kurgäste und saßen lesend auf Bänken, und alte ungeheure
Bäume hingen wie in ihr Spiegelbild verliebt überm schwarzgrünen Wasser,
das sie dunkel überwölbten. Unwahrscheinliche Gewächse, Schlangenbäume und
Perückenbäume, Korkeichen und andre Seltsamkeiten standen frech oder
ängstlich oder trauernd im Rasen, der voll Blumen war, und an den fernen
jenseitigen Seeufern schwammen weiß und rosig lichte Dörfer und Landhäuser.

Als er auf einer Bank zusammengesunken saß und nah am Einnicken war, riß
ein fester elastischer Schritt ihn wach. Auf hohen rotbraunen
Schnürstiefeln, im kurzen Rock über dünnen durchbrochenen Strümpfen lief
eine Frau vorbei, ein Mädchen, kräftig und taktfest, sehr aufrecht und
herausfordernd, elegant, hochmütig, ein kühles Gesicht mit geschminkter
Lippenröte und einem hohen dichten Haarbau von hellem, metallischem Gelb.
Ihr Blick traf ihn im Vorbeigehen eine Sekunde, sicher und abschätzend wie
die Blicke der Portiers und Boys im Hotel, und lief gleichgültig weiter.

Allerdings, dachte Klein, sie hat recht, ich bin kein Mensch, den man
beachtet. Unsereinem schaut so eine nicht nach. Dennoch tat die Kürze und
Kühle ihres Blickes ihm heimlich weh, er kam sich abgeschätzt und mißachtet
vor von jemand, der nur Oberfläche und Außenseite sah, und aus den Tiefen
seiner Vergangenheit wuchsen ihm Stacheln und Waffen empor, um sich gegen
sie zu wehren. Schon war vergessen, daß ihr feiner belebter Schuh, ihr so
sehr elastischer und sicherer Gang, ihr straffes Bein im dünnen
Seidenstrumpf ihn einen Augenblick gefesselt und beglückt hatte.
Ausgelöscht war das Rauschen ihres Kleides und der dünne Wohlgeruch, der an
ihr Haar und an ihre Haut erinnerte. Weggeworfen und zerstampft war der
schöne holde Hauch von Geschlecht und Liebesmöglichkeit, der ihn von ihr
gestreift hatte. Statt dessen kamen viele Erinnerungen. Wie oft hatte er
solche Wesen gesehn, solche junge, sichere und herausfordernde Personen,
seien es nun Dirnen oder eitle Gesellschaftsweiber, wie oft hatte ihre
schamlose Herausforderung ihn geärgert, ihre Sicherheit ihn irritiert, ihr
kühles, brutales Sichzeigen ihn angewidert! Wie manchmal hatte er, auf
Ausflügen und in städtischen Restaurants, die Empörung seiner Frau über
solche unweibliche und hetärenhafte Wesen von Herzen geteilt!

Mißmutig streckte er die Beine von sich. Dieses Weib hatte ihm seine gute
Stimmung verdorben! Er fühlte sich ärgerlich, gereizt und benachteiligt, er
wußte: wenn diese mit dem gelben Haar nochmals vorüberkommen und ihn
nochmals mustern würde, dann würde er rot werden und sich in seinen
Kleidern, seinem Hut, seinen Schuhen, seinem Gesicht, Haar und Bart
unzulänglich und minderwertig vorkommen! Hole sie der Teufel! Schon dies
gelbe Haar! Es war falsch, es gab nirgends in der Welt so gelbe Haare.
Geschminkt war sie auch. Wie nur ein Mensch sich dazu hergeben konnte,
seine Lippen mit Schminke anzumalen -- negerhaft! Und solche Leute liefen
herum, als gehörte ihnen die Welt, sie besaßen das Auftreten, die
Sicherheit, die Frechheit und verdarben anständigen Leuten die Freude.

Mit den wieder aufwogenden Gefühlen von Unlust, Ärger und Befangenheit kam
abermals ein Schwall von Vergangenheit heraufgekocht, und plötzlich
dazwischen der Einfall: du berufst dich ja auf deine Frau, du gibst ihr ja
recht, du ordnest dich ihr wieder unter! Einen Augenblick lang überfloß ihn
ein Gefühl wie: ich bin ein Esel, daß ich noch immer mich unter die
»anständigen Menschen« rechne, ich bin ja keiner mehr, ich gehöre gerade so
wie diese Gelbe zu einer Welt, die nicht mehr meine frühere und nicht mehr
die anständige ist, in eine Welt, wo anständig oder unanständig nichts mehr
bedeutet, wo jeder für sich das schwere Leben zu leben sucht. Einen
Augenblick lang empfand er, daß seine Verachtung für die Gelbe ebenso
oberflächlich und unaufrichtig war wie seine einstige Empörung über den
Schullehrer und Mörder Wagner, und auch seine Abneigung gegen den andern
Wagner, dessen Musik er einst als allzu sinnenschwül empfunden hatte. Eine
Sekunde lang tat sein verschütteter Sinn, sein verlorengegangenes Ich die
Augen auf und sagte ihm mit seinem alleswissenden Blick, daß alle Empörung,
aller Ärger, alle Verachtung ein Irrtum und eine Kinderei sei und auf den
armen Kerl von Verächter zurückfalle.

Dieser gute, alleswissende Sinn sagte ihm auch, daß er hier wieder vor
einem Geheimnis stehe, dessen Deutung für sein Leben wichtig sei, daß diese
Dirne oder Weltdame, daß dieser Duft von Eleganz, Verführung und Geschlecht
ihm keineswegs zuwider und beleidigend sei, sondern daß er sich diese
Urteile nur eingebildet und eingehämmert habe, aus Angst vor seiner
wirklichen Natur, aus Angst vor Wagner, aus Angst vor dem Tier oder Teufel,
den er in sich entdecken konnte, wenn er einmal die Fesseln und
Verkleidungen seiner Sitte und Bürgerlichkeit abwürfe. Blitzhaft zuckte
etwas wie Lachen, wie Hohnlachen in ihm auf, das aber alsbald wieder
schwieg. Es siegte wieder das Mißgefühl. Es war unheimlich, wie jedes
Erwachen, jede Erregung, jeder Gedanke ihn immer wieder unfehlbar dorthin
traf, wo er schwach und nur zu Qualen fähig war. Nun saß er wieder mitten
darin und hatte es mit seinem fehlgeratenen Leben, mit seiner Frau, mit
seinem Verbrechen, mit der Hoffnungslosigkeit seiner Zukunft zu tun. Angst
kam wieder, das allwissende Ich sank unter wie ein Seufzer, den niemand
hört. O welche Qual! Nein, daran war nicht die Gelbe schuld. Und alles, was
er gegen sie empfand, tat ihr ja nicht weh, traf nur ihn selber.

Er stand auf und fing zu laufen an. Früher hatte er oft geglaubt, er führe
ein ziemlich einsames Leben, und hatte sich mit einiger Eitelkeit eine
gewisse resignierte Philosophie zugeschrieben, galt auch unter seinen
Kollegen für einen Gelehrten, Leser und heimlichen Schöngeist. Mein Gott,
er war nie einsam gewesen! Er hatte mit den Kollegen, mit seiner Frau, mit
den Kindern, mit allen möglichen Leuten geredet, und der Tag war dabei
vergangen und die Sorgen erträglich geworden. Und auch wenn er allein
gewesen war, war es keine Einsamkeit gewesen. Er hatte die Meinungen, die
Ängste, die Freuden, die Tröstungen vieler geteilt, einer ganzen Welt.
Stets war um ihn her und bis in ihn hinein Gemeinsamkeit gewesen, und auch
noch im Alleinsein, im Leid und in der Resignation hatte er stets einer
Schar und Menge angehört, einem schützenden Verband, der Welt der
Anständigen, Ordentlichen und Braven. Jetzt aber, jetzt schmeckte er
Einsamkeit. Jeder Pfeil fiel auf ihn selber, jeder Trostgrund erwies sich
als sinnlos, jede Flucht vor der Angst führte nur in jene Welt hinüber, mit
der er gebrochen hatte, die ihm zerbrochen und entglitten war. Alles, was
sein Leben lang gut und richtig gewesen war, war es jetzt nicht mehr. Alles
mußte er aus sich selber holen, niemand half ihm. Und was fand er denn in
sich selber? Ach, Unordnung und Zerrissenheit!

Ein Automobil, dem er auswich, lenkte seine Gedanken ab, warf ihnen neues
Futter zu; er fühlte im unausgeschlafenen Schädel Leere und Schwindel.
»Automobil«, dachte er, oder sagte es, und wußte nicht, was es bedeute. Da
sah er, einen Augenblick im Schwächegefühl die Augen schließend, ein Bild
wieder, das ihm bekannt schien, das ihn erinnerte und seinen Gedanken neues
Blut zuführte. Er sah sich auf einem Auto sitzen und es steuern, das war
ein Traum, den er einmal geträumt hatte. In jenem Traumgefühl, da er den
Lenker hinabgestoßen und sich selber der Steuerung bemächtigt hatte, war
etwas wie Befreiung und Triumph gewesen. Es gab da einen Trost, irgendwo,
schwer zu finden. Aber es gab einen. Es gab, und sei es auch nur in der
Phantasie oder im Traum, die wohltätige Möglichkeit, sein Fahrzeug ganz
allein zu steuern, jeden andern Führer hohnlachend vom Bock zu werfen, und
wenn das Fahrzeug dann auch Sprünge machte und über Trottoirs oder in
Häuser und Menschen hineinfuhr, so war es doch köstlich und war viel
besser, als geschützt unter fremder Führung zu fahren und ewig ein Kind zu
bleiben.

Ein Kind! Er mußte lächeln. Es fiel ihm ein, daß er als Kind und Jüngling
seinen Namen Klein manchmal verflucht und gehaßt hatte. Jetzt hieß er nicht
mehr so. War das nicht von Bedeutung -- ein Gleichnis, ein Symbol? Er hatte
aufgehört, klein und ein Kind zu sein und sich von andern führen zu lassen.

Im Hotel trank er zu seinem Essen einen guten, sanften Wein, den er auf gut
Glück bestellt hatte und dessen Namen er sich merkte. Wenige Dinge gab es,
die einem halfen, wenige, die trösteten und das Leben erleichterten; diese
wenigen Dinge zu kennen war wichtig. Dieser Wein war so ein Ding, und die
südliche Luft und Landschaft war eines. Was noch? Gab es noch andre? Ja,
das Denken war auch so ein tröstliches Ding, das einem wohltat und leben
half. Aber nicht jedes Denken! O nein, es gab ein Denken, das war Qual und
Wahnsinn. Es gab ein Denken, das wühlte schmerzvoll im Unabänderlichen und
führte zu nichts als Ekel, Angst und Lebensüberdruß. Ein anderes Denken war
es, das man suchen und lernen mußte. War es überhaupt ein Denken? Es war
ein Zustand, eine innere Verfassung, die immer nur Augenblicke dauerte und
durch angestrengtes Denkenwollen nur zerstört wurde. In diesem höchst
wünschenswerten Zustand hatte man Einfälle, Erinnerungen, Visionen,
Phantasien, Einsichten von besonderer Art. Der Gedanke (oder Traum) vom
Automobil war von dieser Art, von dieser guten und tröstlichen Art, und die
plötzlich gekommene Erinnerung an den Totschläger Wagner und an jenes
Gespräch, das er vor Jahren über ihn geführt hatte. Der seltsame Einfall
mit dem Namen Klein war auch so. Bei diesen Gedanken, diesen Einfällen wich
für Augenblicke die Angst und das scheußliche Unwohlsein einer rasch
aufleuchtenden Sicherheit -- es war dann, als sei alles gut, das Alleinsein
war stark und stolz, die Vergangenheit überwunden, die kommende Stunde ohne
Schrecken.

Er mußte das noch erfassen, es mußte sich begreifen und lernen lassen! Er
war gerettet, wenn es ihm gelang, häufig Gedanken von jener Art in sich zu
finden, in sich zu pflegen und hervorzurufen. Und er sann und sann. Er
wußte nicht, wie er den Nachmittag verbrachte, die Stunden schmolzen ihm
weg wie im Schlaf, und vielleicht schlief er auch wirklich, wer wollte das
wissen. Immerzu kreisten seine Gedanken um jenes Geheimnis. Er dachte sehr
viel und mühsam über seine Begegnung mit der Gelben nach. Was bedeutete
sie? Wie kam es, daß in ihm diese flüchtige Begegnung, das sekundenkurze
Wechseln eines Blickes mit einem fremden, schönen, aber ihm unsympathischen
Weibe für lange Stunden zur Quelle von Gedanken, von Gefühlen, von
Erregungen, Erinnerungen, Selbstpeinigungen, Anklagen wurde? Wie kam das?
Ging das andern auch so? Warum hatte die Gestalt, der Gang, das Bein, der
Schuh und Strumpf der Gelben ihn einen winzigen Moment entzückt? Warum
hatte dann ihr kühl abwägender Blick ihn so sehr ernüchtert? Warum hatte
dieser fatale Blick ihn nicht bloß ernüchtert und aus der kurzen erotischen
Bezauberung geweckt, sondern ihn auch beleidigt, empört und vor sich selbst
entwertet? Warum hatte er gegen diesen Blick lauter Worte und Erinnerungen
ins Feld geführt, welche seiner einstigen Welt angehörten, Worte die keinen
Sinn mehr hatten, Gründe an die er nicht mehr glaubte? Er hatte Urteile
seiner Frau, Worte seiner Kollegen, Gedanken und Meinungen seines einstigen
Ich, des nicht mehr vorhandenen Bürgers und Beamten Klein, gegen jene gelbe
Dame und ihren unangenehmen Blick aufgeboten, er hatte das Bedürfnis
gehabt, sich gegen diesen Blick mit allen erdenklichen Mitteln zu
rechtfertigen, und hatte einsehen müssen, daß seine Mittel lauter alte
Münzen waren, welche nicht mehr galten. Und aus allen diesen langen,
peinlichen Erwägungen war ihm nichts geworden als Beklemmung, Unruhe und
leidvolles Gefühl des eigenen Unwerts! Nur einen einzigen Moment aber hatte
er jenen andren, so sehr zu wünschenden Zustand wieder empfunden, einen
Moment lang hatte er innerlich zu all jenen peinlichen Erwägungen den Kopf
geschüttelt und es besser gewußt. Er hatte gewußt, eine Sekunde lang: Meine
Gedanken über die Gelbe sind dumm und unwürdig, Schicksal steht über ihr
wie über mir, Gott liebt sie, wie er mich liebt.

Woher war diese holde Stimme gekommen? Wo konnte man sie wiederfinden, wie
sie wieder herbeilocken, auf welchem Ast saß dieser seltne, scheue Vogel?
Diese Stimme sprach die Wahrheit, und Wahrheit war Wohltat, Heilung,
Zuflucht. Diese Stimme entstand, wenn man im Herzen mit dem Schicksal einig
war und sich selber liebte; sie war Gottes Stimme, oder war die Stimme des
eigenen, wahrsten, innersten Ich, jenseits von allen Lügen,
Entschuldigungen und Komödien.

Warum konnte er diese Stimme nicht immer hören? Warum flog die Wahrheit an
ihm immer vorbei wie ein Gespenst, das man nur mit halbem Blick im
Vorbeihuschen sehen kann und das verschwindet, wenn man den vollen Blick
darauf richtet? Warum sah er wieder und wieder diese Glückspforte
offenstehen, und wenn er hineinwollte, war sie doch geschlossen!

In seinem Zimmer aus einem Schlummer aufwachend, griff er nach einem
Bändchen Schopenhauer, das auf dem Tischchen lag und das ihn meistens auf
Reisen begleitete. Er schlug blindlings auf und las einen Satz: »Wenn wir
auf unsern zurückgelegten Lebensweg zurücksehn und zumal unsre
unglücklichen Schritte, nebst ihren Folgen, ins Auge fassen, so begreifen
wir oft nicht, wie wir haben dieses tun, oder jenes unterlassen können; so
daß es aussieht, als hätte eine fremde Macht unsre Schritte gelenkt. Goethe
sagt im Egmont: Es glaubt der Mensch sein Leben zu leiten, sich selbst zu
führen; und sein Innerstes wird unwiderstehlich nach seinem Schicksal
gezogen.« -- Stand da nicht etwas, was ihn anging? Was mit seinen heutigen
Gedanken nah und innig zusammenhing? -- Begierig las er weiter, doch es kam
nichts mehr, die folgenden Zeilen und Sätze ließen ihn unberührt. Er legte
das Buch weg, sah auf die Taschenuhr, fand sie unaufgezogen und abgelaufen,
stand auf und blickte durchs Fenster, es schien gegen Abend zu sein.

Er fühlte sich etwas angegriffen wie nach starker geistiger Anstrengung,
aber nicht unangenehm und fruchtlos erschöpft, sondern sinnvoll ermüdet wie
nach befriedigender Arbeit. Ich habe wohl eine Stunde oder mehr geschlafen,
dachte er, und trat vor den Spiegelschrank, um sein Haar zu bürsten. Es war
ihm seltsam frei und wohl zumute, und im Spiegel sah er sich lächeln! Sein
bleiches, überanstrengtes Gesicht, das er seit langem nur noch verzerrt und
starr und irr gesehen hatte, stand in einem sanften, freundlichen, guten
Lächeln. Verwundert schüttelte er den Kopf und lächelte sich selber zu.

Er ging hinab, im Restaurant wurde an einigen Tischen schon soupiert. Hatte
er nicht eben erst gegessen? Einerlei, er hatte große Lust, es sofort
wieder zu tun, und er bestellte, mit Eifer den Kellner befragend, eine gute
Mahlzeit.

»Will der Herr vielleicht heut abend nach Castiglione fahren?« fragte ihn
der Kellner beim Vorlegen. »Es geht ein Motorboot vom Hotel.«

Klein dankte mit Kopfschütteln. Nein, solche Hotelveranstaltungen waren
nichts für ihn. -- Castiglione? Davon hatte er schon sprechen hören. Es war
ein Vergnügungsort mit einer Spielbank, so etwas wie ein kleines Monte
Carlo. Lieber Gott, was sollte er dort tun?

Während der Kaffee gebracht wurde, nahm er aus dem Blumenstrauß, der in
einer Kristallvase vor ihm stand, eine kleine weiße Rose und steckte sie
an. Von einem Nebentische her streifte ihn der Rauch einer frisch
angezündeten Zigarre. Richtig, eine gute Zigarre wollte er auch haben.

Unschlüssig stieg er dann vor dem Hause hin und her. Ganz gerne wäre er
wieder in jene dörfliche Gegend gegangen, wo er gestern abend beim Gesang
der Italienerin und dem magischen Funkentanz der Leuchtkäfer zum erstenmal
die süße Wirklichkeit des Südens gespürt hatte. Aber es zog ihn auch zum
Park, an das schattig überlaubte stille Wasser, zu den seltsamen Bäumen,
und wenn er die Dame mit dem gelben Haar wieder angetroffen hätte, so würde
ihr kalter Blick ihn jetzt nicht ärgern noch beschämen. Übrigens -- wie
unausdenklich lang war es seit gestern! Wie fühlte er sich in diesem Süden
schon heimisch! Wieviel hatte er erlebt, gedacht, erfahren!

Er schlenderte eine Straße weit, umflossen von einem guten, sanften
Sommerabendwind. Nachtfalter kreisten leidenschaftlich um die eben
entzündeten Straßenlaternen, fleißige Leute schlossen spät ihre Geschäfte
zu und klappten Eisenstangen vor die Läden, viele. Kinder trieben sich noch
herum und rannten bei ihren Spielen zwischen den kleinen Tischen der
Kaffees herum, an denen mitten auf der Straße Kaffee und Limonaden
getrunken wurden. Ein Marienbild in einer Wandnische lächelte im Schein
brennender Lichter. Auch auf den Bänken am See war noch Leben, wurde
gelacht, gestritten, gesungen, und auf dem Wasser schwamm hier und dort
noch ein Boot mit hemdärmeligen Ruderern und Mädchen in weißen Blusen.

Klein fand leicht den Weg zum Park wieder, aber das hohe Tor stand
geschlossen. Hinter den hohen Eisenstangen stand die schweigende
Baumfinsternis fremd und schon voll Nacht und Schlaf. Er blickte lang
hinein. Dann lächelte er, und es wurde ihm nun erst der heimliche Wunsch
bewußt, der ihn an diese Stelle vor das verschlossene Eisentor getrieben
hatte. Nun, es war einerlei, es ging auch ohne Park.

Auf einer Bank am See saß er friedlich und sah dem vorübertreibenden Volk
zu. Er entfaltete im hellen Laternenlicht eine italienische Zeitung und
versuchte zu lesen. Er verstand nicht alles, aber jeder Satz, den er zu
übersetzen vermochte, machte ihm Spaß. Erst allmählich begann er, über die
Grammatik weg, auf den Sinn zu achten, und fand mit einem gewissen
Erstaunen, daß der Artikel eine heftige, erbitterte Schmähung seines Volkes
und Vaterlandes war. Wie seltsam, dachte er, das alles gibt es noch! Die
Italiener schrieben über sein Volk, genau so wie die heimischen Zeitungen
es immer über Italien getan hatten, genau so richtend, genau so empört,
genau so unfehlbar vom eigenen Recht und fremden Unrecht überzeugt! Auch
daß diese Zeitung mit ihrem Haß und ihrem grausamen Aburteilen ihn nicht zu
empören und zu ärgern vermochte, war ja seltsam. Oder nicht? Nein, wozu
sich empören? Das alles war ja die Art und Sprache einer Welt, zu der er
nicht mehr gehörte. Sie mochte die gute, die bessere, die richtige Welt
sein -- es war nicht mehr die seine.

Er ließ die Zeitung auf der Bank liegen und ging weiter. Aus einem Garten
strahlten über dicht blühende Rosenstämme hinweg hundert bunte Lichter.
Menschen gingen hinein, er schloß sich an, eine Kasse, Aufwärter, eine Wand
mit Plakaten. Mitten im Garten war ein Saal ohne Wände, nur ein großes
Zeltdach, von welchem alle die zahllosen vielfarbigen Lampen niederhingen.
Viele halbbesetzte Gartentische füllten den lustigen Saal; im Hintergrunde
silbern, grün und rosa in grellen Farben glitzerte überhell eine schmale
erhöhte Bühne. Unter der Rampe saßen Musikanten, ein kleines Orchester.
Beschwingt und licht atmete die Flöte in die bunte warme Nacht hinaus, die
Oboe satt und schwellend, das Cello sang dunkel, bang und warm. Auf der
Bühne darüber sang ein alter Mann komische Lieder, sein gemalter Mund
lachte starr, in seinem kahlen bekümmerten Schädel spiegelte das üppige
Licht.

Klein hatte nichts dergleichen gesucht, einen Augenblick fühlte er etwas
wie Enttäuschung und Kritik und die alte Scheu vor dem einsamen Sitzen
inmitten einer frohen und eleganten Menge; die künstliche Lustbarkeit
schien ihm schlecht in den duftenden Gartenabend zu stimmen. Doch setzte er
sich, und das aus so vielen buntfarbigen gedämpften Lampen niederrinnende
Licht versöhnte ihn alsbald, es hing wie ein Zauberschleier über dem
offenen Saal. Zart und innig glühte die kleine Musik herüber, gemischt mit
dem Duft der vielen Rosen. Die Menschen saßen heiter und geschmückt in
gedämpfter Fröhlichkeit; über Tassen, Flaschen und Eisbechern schwebten,
von dem milden farbigen Licht hold behaucht und bepudert, helle Gesichter
und schillernde Frauenhüte, und auch das gelbe und rosige Eis in den
Bechern, die Gläser mit roten, grünen, gelben Limonaden klangen in dem
Bilde festlich und juwelenhaft mit.

Niemand hörte dem Komiker zu. Der dürftige Alte stand gleichgültig und
vereinsamt auf seiner Bühne und sang, was er gelernt hatte, das köstliche
Licht floß an seiner armen Gestalt herab. Er endete sein Lied und schien
zufrieden, daß er gehen konnte. An den vordersten Tischen klatschten zwei,
drei Menschen mit den Händen. Der Sänger trat ab und erschien bald darauf
durch den Garten im Saale, an einem der ersten Tische beim Orchester nahm
er Platz. Eine junge Dame schenkte ihm Sodawasser in ein Glas, sie erhob
sich dabei halb, und Klein blickte hin. Es war die mit den gelben Haaren.

Jetzt tönte von irgendwo her eine schrille Klingel lang und dringlich, es
entstand Bewegung in der Halle. Viele gingen ohne Hut und Mantel hinaus.
Auch der Tisch beim Orchester leerte sich, die Gelbe lief mit den andern
hinaus, ihr Haar glänzte hell noch draußen in der Gartendämmerung. An ihrem
Tisch blieb nur der alte Sänger sitzen.

Klein gab sich einen Stoß und ging hinüber. Er grüßte den Alten höflich,
der nickte nur.

»Können Sie mir sagen, was dies Klingeln bedeutet?« fragte Klein.

»Pause,« sagte der Komiker.

»Und wohin sind all die Leute gegangen?«

»Spielen. Jetzt ist eine halbe Stunde Pause, und so lange kann man im
Kursaal drüben spielen.«

»Danke. -- Ich wußte nicht, daß auch hier eine Spielbank ist.«

»Nicht der Rede wert. Nur für Kinder, höchster Einsatz fünf Franken.«

»Danke sehr.«

Er hatte schon wieder den Hut gezogen und sich umgedreht. Da fiel ihm ein,
er könnte den Alten nach der Gelben fragen. Der kannte sie.

Er zögerte, den Hut noch in der Hand. Dann ging er weg. Was wollte er
eigentlich? Was ging sie ihn an? Doch spürte er, sie ging ihn trotzdem an.
Es war nur Schüchternheit, irgendein Wahn, eine Hemmung. Eine leise Welle
von Unmut stieg in ihm auf, eine dünne Wolke. Schwere war wieder im Anzug,
jetzt war er wieder befangen, unfrei, und über sich selbst ärgerlich. Es
war besser, er ging nach Hause. Was tat er hier, unter den vergnügten
Leuten? Er gehörte nicht zu ihnen.

Ein Kellner, der Zahlung verlangte, störte ihn. Er war ungehalten.

»Können Sie nicht warten, bis ich rufe?«

»Entschuldigen, ich dachte, der Herr wolle gehen. Mir ersetzt es niemand,
wenn einer drausläuft.«

Er gab mehr Trinkgeld, als nötig war.

Als er die Halle verließ, sah er aus dem Garten her die Gelbe zurückkommen.
Er wartete und ließ sie an sich vorübergehen. Sie schritt aufrecht, stark
und leicht wie auf Federn. Ihr Blick traf ihn, kühl, ohne Erkennen. Er sah
ihr Gesicht hell beleuchtet, ein ruhiges und kluges Gesicht, fest und blaß,
ein wenig blasiert, der geschminkte Mund blutrot, graue Augen voll
Wachsamkeit, ein schönes, reich ausgeformtes Ohr, an dem ein grüner
länglicher Stein blitzte. Sie ging in weißer Seide, der schlanke Hals sank
in Opalschatten hinab, von einer dünnen Kette mit grünen Steinen umspannt.

Er sah sie an, heimlich erregt, und wieder mit zwiespältigem Eindruck.
Etwas an ihr lockte, erzählte von Glück und Innigkeit, duftete nach Fleisch
und Haar und gepflegter Schönheit, und etwas anderes stieß ab, schien
unecht, ließ Enttäuschung fürchten. Es war die alte, anerzogene und ein
Leben lang gepflegte Scheu vor dem, was er als dirnenhaft empfand, vor dem
bewußten Sichzeigen des Schönen, vor dem offenen Erinnern an Geschlecht und
Liebeskampf. Er spürte wohl, daß der Zwiespalt in ihm selbst lag. Da war
wieder Wagner, da war wieder die Welt des Schönen, aber ohne Zucht, des
Reizenden, aber ohne Verstecktheit, ohne Scheu, ohne schlechtes Gewissen.
Da steckte ein Feind in ihm, der ihm das Paradies verbot.

Die Tische in der Halle wurden jetzt von Dienern umgestellt und ein freier
Raum in der Mitte geschaffen. Ein Teil der Gäste war nicht wiedergekommen.

»Dableiben,« rief ein Wunsch in dem einsamen Mann. Er spürte voraus, was
für eine Nacht ihm bevorstand, wenn er jetzt fortging. Eine Nacht wie die
vorige, wahrscheinlich eine noch schlimmere. Wenig Schlaf, mit bösen
Träumen, Hoffnungslosigkeit und Selbstquälerei, dazu das Geheul der Sinne,
der Gedanke an die Kette von grünen Steinen auf der weißen und perlfarbigen
Frauenbrust. Vielleicht war schon bald, bald der Punkt erreicht, wo das
Leben nicht mehr auszuhalten war. Und er hing doch am Leben, sonderbar
genug. Ja, tat er das? Wäre er denn sonst hier? Hätte er seine Frau
verlassen, hätte er die Schiffe hinter sich verbrannt, hätte er diesen
ganzen bösartigen Apparat in Anspruch genommen, alle diese Schnitte ins
eigene Fleisch, und wäre er schließlich in diesen Süden hergereist, wenn er
nicht am Leben hinge, wenn nicht Wunsch und Zukunft in ihm waren? Hatte er
es nicht heut gefühlt, klar und wunderschön, bei dem guten Wein, vor dem
geschlossenen Parktor, auf der Bank am Kai?

Er blieb und fand Platz am Tisch neben jenem, wo der Sänger und die Gelbe
saßen. Dort waren sechs, sieben Menschen beisammen, welche sichtlich hier
zu Hause waren, gewissermaßen ein Teil dieser Veranstaltung und Lustbarkeit
waren. Er blickte beständig zu ihnen hinüber. Zwischen ihnen und den
Stammgästen dieses Gartens bestand Vertraulichkeit, auch die Leute vom
Orchester kannten sie und gingen an ihrem Tische ab und zu oder riefen
Witze herüber, sie nannten die Kellner du und mit den Vornamen. Es wurde
deutsch, italienisch und französisch durcheinander gesprochen.

Klein betrachtete die Gelbe. Sie blieb ernst und kühl, er hatte sie noch
nicht lächeln sehen, ihr beherrschtes Gesicht schien unveränderlich. Er
konnte sehen, daß sie an ihrem Tische etwas galt, Männer und Mädchen hatten
gegen sie einen Ton von kameradschaftlicher Achtung. Er hörte nun auch
ihren Namen nennen: Teresina. Er besann sich, ob sie schön sei, ob sie ihm
eigentlich gefalle. Er konnte es nicht sagen. Schön war ohne Zweifel ihr
Wuchs und ihr Gang, sogar ungewöhnlich schön, ihre Haltung beim Sitzen und
die Bewegungen ihrer sehr gepflegten Hände. An ihrem Gesicht und Blick aber
beschäftigte und irritierte ihn die stille Kühle, die Sicherheit und Ruhe
der Miene, das fast maskenhaft Starre. Sie sah aus wie ein Mensch, der
seinen eigenen Himmel und seine eigene Hölle hat, welche niemand mit ihm
teilen kann. Auch in dieser Seele, welche durchaus hart, spröde und
vielleicht stolz, ja böse schien, auch in dieser Seele mußte Wunsch und
Leidenschaft brennen. Welcherlei Gefühle suchte und liebte sie, welche floh
sie? Wo waren ihre Schwächen, ihre Ängste, ihr Verborgenes? Wie sah sie
aus, wenn sie lachte, wenn sie schlief, wenn sie weinte, wenn sie küßte?

Und wie kam es, daß sie nun seit einem halben Tage seine Gedanken
beschäftigte, daß er sie beobachten, sie studieren, sie fürchten, sich über
sie ärgern mußte, während er noch nicht einmal wußte, ob sie ihm gefalle
oder nicht?

War sie vielleicht ein Ziel und Schicksal für ihn? Zog eine heimliche Macht
ihn zu ihr, wie sie ihn nach dem Süden gezogen hatte? Ein eingeborener
Trieb, eine Schicksalslinie, ein lebenslanger unbewußter Drang? War die
Begegnung mit ihr ihm vorbestimmt? Über ihn verhängt?

Er hörte ein Bruchstück ihres Gesprächs mit angestrengtem Lauschen aus dem
vielstimmigen Geplauder heraus. Zu einem hübschen, geschmeidigen, eleganten
Jüngling mit gewelltem schwarzen Haar und glattem Gesicht hörte er sie
sagen: »Ich möchte noch einmal richtig spielen, nicht hier, nicht um
Pralinés, drüben in Castiglione oder in Monte Carlo.« Und dann, auf seine
Antwort hin, nochmals: »Nein, Sie wissen ja gar nicht, wie das ist! Es ist
vielleicht häßlich, es ist vielleicht nicht klug, aber es ist hinreißend.«

Nun wußte er etwas von ihr. Es machte ihm großes Vergnügen, sie beschlichen
und belauscht zu haben. Durch ein erleuchtetes kleines Fenster hatte er,
der Fremde, von außen her, auf Posten stehend, einen kurzen Späherblick in
ihre Seele werfen können. Sie hatte Wünsche. Sie wurde von Verlangen
gequält nach etwas, was erregend und gefährlich war, nach etwas, an das man
sich verlieren konnte. Es war ihm lieb, das zu wissen. -- Und wie war das
mit Castiglione? Hatte er davon nicht heut schon einmal reden hören! Wann?
Wo?

Einerlei, er konnte jetzt nicht denken. Aber er hatte jetzt wieder, wie
schon mehrmals in diesen seltsamen Tagen, die Empfindung, daß alles, was er
tat, hörte, sah und dachte, voll von Beziehung und Notwendigkeit war, daß
ein Führer ihn leite, daß lange, ferne Ursachenreihen ihre Früchte trugen.
Nun, mochten sie ihre Früchte tragen. Es war gut so.

Wieder überflog ihn ein Glücksgefühl, ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit
des Herzens, wunderbar entzückend für den, der die Angst und das Grauen
kennt. Er erinnerte sich eines Wortes aus seiner Knabenzeit. Sie hatten,
Schulknaben, miteinander darüber gesprochen, wie es wohl die Seiltänzer
machen, daß sie so sicher und angstlos auf dem Seil gehen konnten. Und
einer hatte gesagt: »Wenn du auf dem Stubenboden einen Kreidestrich ziehst,
ist es grade so schwer, genau auf diesem Kreidestrich vorwärtszugehen, wie
auf dem dünnsten Seil. Und doch tut man es ruhig, weil keine Gefahr dabei
ist. Wenn du dir vorstellst, es sei bloß ein Kreidestrich, und die Luft
daneben sei Fußboden, dann kannst du auf jedem Seil sicher gehen.« Das fiel
ihm ein. Wie schön war das! War es bei ihm nicht vielleicht umgekehrt? Ging
es ihm nicht so, daß er auch auf keinem ebenen Boden mehr ruhig und sicher
gehen konnte, weil er ihn für ein Seil hielt?

Er war innig froh darüber, daß solche tröstliche Sachen ihm einfallen
konnten, daß sie in ihm schlummerten und je und je zum Vorschein kamen. In
sich innen trug man alles, worauf es ankam, von außen konnte niemand einem
helfen. Mit sich selbst nicht im Krieg liegen, mit sich selbst in Liebe und
Vertrauen leben -- dann konnte man alles. Dann konnte man nicht nur
seiltanzen, dann konnte man fliegen.

Eine Weile hing er, alles um sich her vergessend, diesen Gefühlen auf
weichen, schlüpfrigen Pfaden der Seele in sich nachtastend wie ein Jäger
und Pfadfinder, mit auf die Hand gestütztem Kopfe wie entrückt über seinem
Tisch. In diesem Augenblick sah die Gelbe herüber und sah ihn an. Ihr Blick
verweilte nicht lang, aber er las aufmerksam in seinem Gesicht, und als er
es fühlte und ihr entgegenblickte, spürte er etwas wie Achtung, etwas wie
Teilnahme und auch etwas wie Verwandtschaft. Diesmal tat ihr Blick ihm
nicht weh, tat ihm nicht Unrecht. Diesmal, so fühlte er, sah sie ihn, ihn
selbst, nicht seine Kleider und Manieren, seine Frisur und seine Hände,
sondern das Echte, Unwandelbare, Geheimnisvolle an ihm, das Einmalige,
Göttliche, das Schicksal.

Er bat ihr ab, was er heut Bittres und Häßliches über sie gedacht hatte.
Aber nein, da war nichts abzubitten. Was er Böses und Törichtes über sie
gedacht, gegen sie gefühlt hatte, das waren Schläge gegen ihn selbst
gewesen, nicht gegen sie. Nein, es war gut so.

Plötzlich erschreckte ihn der Wiederbeginn der Musik. Das Orchester stimmte
einen Tanz an. Aber die Bühne blieb leer und dunkel, statt auf sie waren
die Blicke der Gäste nach dem leeren Viereck zwischen den Tischen
gerichtet. Er erriet, es würde getanzt werden.

Aufblickend sah er am Nebentisch die Gelbe und den jungen bartlosen Elegant
sich erheben. Er lächelte über sich, als er bemerkte, wie er auch gegen
diesen Jüngling Widerstände fühlte, wie er mit Widerwillen seine Eleganz,
seine sehr netten Manieren, sein hübsches Haar und Gesicht anerkannte. Der
Jüngling bot ihr die Hand, führte sie in den freien Raum, ein zweites Paar
trat an, und nun tanzten die beiden Paare elegant, sicher und hübsch einen
Tango. Er verstand nicht viel davon, aber er sah bald, daß Teresina
wunderbar tanze. Er sah: sie tat etwas, was sie verstand und bemeisterte,
was in ihr lag und natürlich aus ihr herauskam. Auch der Jüngling mit dem
gewellten schwarzen Haar tanzte gut, sie paßten zusammen. Ihr Tanz erzählte
den Zuschauern lauter angenehme, lichte, einfache und freundliche Dinge.
Leicht und zart lagen ihre Hände ineinander, willig und froh taten ihre
Knie, ihre Arme, ihre Füße und Leiber die zartkräftige Arbeit. Ihr Tanz
drückte Glück und Freude aus, Schönheit, Luxus, gute Lebensart und
Lebenskunst. Er drückte auch Liebe und Geschlechtlichkeit aus, aber nicht
wild und glühend, sondern eine Liebe voll Selbstverständlichkeit, Naivität
und Anmut. Sie tanzten den reichen Leuten, den Kurgästen das Schöne vor,
das in deren Leben lag und das diese selber nicht ausdrücken und ohne eine
solche Hilfe nicht einmal empfinden konnten. Diese bezahlten, geschulten
Tänzer dienten der guten Gesellschaft zu einem Ersatz. Sie, die selber
nicht so gut und geschmeidig tanzten, die angenehme Spielerei ihres Lebens
nicht recht genießen konnten, ließen sich von diesen Leuten vortanzen, wie
gut sie es hatten. Aber das war es nicht allein. Sie ließen sich nicht nur
eine Schwerelosigkeit und heitere Selbstherrlichkeit des Lebens vorspielen,
sie wurden auch an Natur und Unschuld der Gefühle und Sinne gemahnt. Aus
ihrem überhasteten und überarbeiteten oder auch faulen und übersättigten
Leben, das zwischen wilder Arbeit, wildem Vergnügen und erzwungener
Sanatoriumspönitenz pendelte, blickten sie lächelnd, dumm und heimlich
gerührt auf den schönen Tanz dieser hübschen und gewandten jungen Menschen
wie auf einen holden Lebensfrühling hin, wie auf ein fernes Paradies, das
man verloren hat und von dem man nur noch an Feiertagen den Kindern
erzählt, an das man kaum mehr glaubt, von dem man aber nachts mit
brennendem Begehren träumt.

Und nun ging während des Tanzes mit dem Gesicht der Gelbhaarigen eine
Veränderung vor, welcher Friedrich Klein mit reinem Entzücken zuschaute.
Ganz allmählich und unmerklich, wie das Rosenrot über einen Morgenhimmel,
kam über ihr ernstes, kühles Gesicht ein langsam wachsendes, langsam sich
erwärmendes Lächeln. Gradaus vor sich hinblickend, lächelte sie wie
erwachend, so als sei sie, die Kühle, erst nun durch den Tanz zum vollen
Leben erwärmt worden. Auch der Tänzer lächelte, und auch das zweite Paar
lächelte, und auf allen vier Gesichtern war es wunderhübsch, obwohl es wie
maskenhaft und unpersönlich erschien -- aber bei Teresina war es am
schönsten und geheimnisvollsten, niemand lächelte so wie sie, so unberührt
von außen, so im eigenen Wohlgefühl von innen her aufblühend. Er sah es mit
tiefer Rührung, es ergriff ihn wie die Entdeckung eines heimlichen
Schatzes.

»Was für wundervolles Haar sie hat!« hörte er in der Nähe jemand leise
rufen. Er dachte daran, daß er dies wundervolle blondgelbe Haar geschmäht
und bezweifelt hatte.

Der Tango war zu Ende, Klein sah Teresina einen Augenblick neben ihrem
Tänzer stehen, der ihre linke Hand mit den Fingern noch in Schulterhöhe
hielt, und sah den Zauber auf ihrem Gesicht nachleuchten und langsam
schwinden. Es wurde halblaut geklatscht, und jedermann blickte den beiden
nach, als sie mit schwebendem Schritt an ihren Tisch zurückkehrten.

Der nächste Tanz, der nach einer kurzen Pause begann, wurde nur von einem
einzigen Paar ausgeführt, von Teresina und ihrem hübschen Partner. Es war
ein freier Phantasietanz, eine kleine komplizierte Dichtung, beinahe schon
eine Pantomime, die jeder Tänzer für sich allein spielte und die nur in
einigen aufleuchtenden Höhepunkten und im galoppierend raschen Schlußsatz
zum Paartanz wurde.

Hier schwebte Teresina, die Augen voll von Glück, so aufgelöst und innig
dahin, folgte mit schwerelosen Gliedern so selig den Werbungen der Musik,
daß es still in der Halle wurde und alle hingegeben auf sie schauten. Der
Tanz endete mit einem heftigen Wirbel, wobei Tänzer und Tänzerin sich nur
mit Händen und Fußspitzen berührten und sich, weit hintenüber hängend,
bacchantisch im Kreise drehten.

Bei diesem Tanz hatte jedermann das Gefühl, daß die beiden Tanzenden in
ihren Gebärden und Schritten, in Trennung und Wiedervereinigung, in immer
erneutem Wegwerfen und Wiedergreifen des Gleichgewichtes Empfindungen
darstellten, die allen Menschen vertraut und zutiefst erwünscht sind, die
aber nur von wenigen Glücklichen so einfach, stark und unverbogen erlebt
werden: die Freude des gesunden Menschen an sich selber, die Steigerung
dieser Freude in der Liebe zum andern, das gläubige Einverstandensein mit
der eigenen Natur, die vertrauensvolle Hingabe an die Wünsche, Träume und
Spiele des Herzens. Viele empfanden für einen Augenblick nachdenkliche
Trauer darüber, daß zwischen ihrem Leben und ihren Trieben so viel
Zwiespalt und Streit bestand, daß ihr Leben kein Tanz, sondern ein mühsames
Keuchen unter Lasten war -- Lasten, die schließlich nur sie selber sich
aufgebürdet hatten.

Friedrich Klein blickte, während er dem Tanz folgte, durch viele vergangene
Jahre seines Lebens hindurch wie durch einen finstern Tunnel, und jenseits
lag in Sonne und Wind grün und strahlend das Verlorene, die Jugend, das
starke einfache Fühlen, die gläubige Bereitschaft zum Glück -- und all dies
lag wieder seltsam nah, nur einen Schritt weit, durch Zauber herangezogen
und gespiegelt.

Das innige Lächeln des Tanzes noch auf dem Gesicht, kam Teresina jetzt an
ihm vorüber. Ihn durchfloß Freude und entzückte Hingabe. Und als habe er
sie gerufen, blickte sie ihn plötzlich innig an, noch nicht erwacht, die
Seele noch voll Glück, das süße Lächeln noch auf den Lippen. Und auch er
lächelte ihr zu, dem nahen Glücksschimmer, durch den finstern Schacht so
vieler verlorener Jahre.

Zugleich stand er auf, und gab ihr die Hand, wie ein alter Freund, ohne ein
Wort zu sagen. Die Tänzerin nahm sie und hielt sie einen Augenblick fest,
ohne stehenzubleiben. Er folgte ihr. Am Tisch der Künstler wurde ihm Platz
gemacht, nun saß er neben Teresina und sah die länglichen grünen Steine auf
der hellen Haut ihres Halses schimmern.

Er nahm nicht an den Gesprächen teil, von denen er das wenigste verstand.
Hinter Teresinas Kopf sah er, im grelleren Licht der Gartenlaternen, die
blühenden Rosenstämme, dunkle volle Kugeln, abgezeichnet, hier und da von
Leuchtkäfern überflogen. Seine Gedanken ruhten, es gab nichts zu denken.
Die Rosenkugeln schaukelten leicht im Nachtwind, Teresina saß neben ihm, an
ihrem Ohr hing glitzernd der grüne Stein. Die Welt war in Ordnung.

Jetzt legte Teresina die Hand auf seinen Arm.

»Wir werden miteinander sprechen. Nicht hier. Ich erinnere mich jetzt, Sie
im Park gesehen zu haben. Ich bin morgen dort, um die gleiche Zeit. Ich bin
jetzt müde und muß bald schlafen. Gehen Sie lieber vorher, sonst pumpen
meine Kollegen Sie an.«

Da ein Kellner vorüberlief, hielt sie ihn an:

»Eugenio, der Herr will zahlen.«

Er zahlte, gab ihr die Hand, zog den Hut, und ging davon, dem See nach, er
wußte nicht wohin. Unmöglich, jetzt sich in sein Hotelzimmer zu legen. Er
lief die Seestraße weiter, zum Städtchen und den Vororten hinaus, bis die
Bänke am Ufer und die Anlagen ein Ende nahmen. Da setzte er sich auf die
Ufermauer und sang vor sich hin, ohne Stimme, verschollene
Liederbruchstücke aus Jugendjahren. Bis es kalt wurde und die steilen Berge
eine feindselige Fremdheit annahmen. Da ging er zurück, den Hut in der
Hand.

Ein verschlafener Nachtportier öffnete ihm die Tür.

»Ja, ich bin etwas spät,« sagte Klein, und gab ihm einen Franken.

»O, wir sind das gewohnt. Sie sind noch nicht der Letzte. Das Motorboot von
Castiglione ist auch noch nicht zurück.«


III

Die Tänzerin war schon da, als Klein sich im Park einfand. Sie ging mit
ihrem federnden Schritt im Innern des Gartens um die Rasenstücke und stand
plötzlich am schattigen Eingang eines Gehölzes vor ihm.

Teresina musterte ihn aufmerksam mit den hellgrauen Augen, ihr Gesicht war
ernst und etwas ungeduldig. Sofort im Gehen fing sie zu sprechen an.

»Können Sie mir sagen, was das gestern war? Wie kommt das, daß wir uns so
in den Weg liefen? Ich habe darüber nachgedacht. Ich sah Sie gestern im
Kursaalgarten zweimal. Das erstemal standen Sie am Ausgang und sahen mich
an, Sie sahen gelangweilt oder geärgert aus, und als ich Sie sah, fiel mir
ein: Dem bin ich schon einmal im Park begegnet. Es war kein guter Eindruck,
und ich gab mir Mühe, Sie gleich wieder zu vergessen. Dann sah ich Sie
wieder, kaum eine Viertelstunde später. Sie saßen am Nebentisch und sahen
plötzlich ganz anders aus, ich merkte nicht gleich, daß Sie derselbe seien,
der mir vorher begegnet war. Und dann, nach meinem Tanz, standen Sie auf
einmal vor mir und hielten mich an der Hand, oder ich Sie, ich weiß nicht
recht. Wie ging das zu? Sie müssen doch etwas wissen. Aber ich hoffe, Sie
sind nicht etwa gekommen, um mir Liebeserklärungen zu machen?«

Sie sah ihn befehlend an.

»Ich weiß nicht,« sagte Klein. »Ich bin nicht mit bestimmten Absichten
gekommen. Ich liebe Sie, seit gestern, aber wir brauchen ja nicht davon zu
sprechen.«

»Ja, sprechen wir von anderm. Es war gestern einen Augenblick etwas
zwischen uns da, was mich beschäftigt und auch erschreckt hat, als hätten
wir irgend etwas Ähnliches oder Gemeinsames. Was ist das? Und, die
Hauptsache: Was war das für eine Verwandlung mit Ihnen? Wie war es möglich,
daß Sie innerhalb einer Stunde zwei so ganz verschiedene Gesichter haben
konnten? Sie sahen aus wie ein Mensch, der sehr Wichtiges erlebt hat.«

»Wie sah ich aus?« fragte er kindlich.

»O, zuerst sahen Sie aus wie ein älterer, etwas vergrämter, unangenehmer
Herr. Sie sahen aus wie ein Philister, wie ein Mann, der gewohnt ist, den
Zorn über seine eigene Unfähigkeit an andern auszulassen.«

Er hörte mit gespannter Teilnahme zu und nickte lebhaft. Sie fuhr fort:

»Und dann, nachher, das läßt sich nicht gut beschreiben. Sie saßen etwas
vorgebückt; als Sie mir zufällig in die Augen fielen, dachte ich in der
ersten Sekunde noch: Herrgott, haben diese Philister traurige Haltungen!
Sie hatten den Kopf auf die Hand gestützt, und das sah nun plötzlich so
seltsam aus: es sah aus, als wären Sie der einzige Mensch in der Welt, und
als sei es Ihnen ganz und gar einerlei, was mit Ihnen und mit der ganzen
Welt geschähe. Ihr Gesicht war wie eine Maske, schauderhaft traurig oder
auch schauderhaft gleichgültig --«

Sie brach ab, schien nach Worten zu suchen, sagte aber nichts.

»Sie haben recht,« sagte Klein bescheiden. »Sie haben so richtig gesehen,
daß ich erstaunt sein müßte. Sie haben mich gelesen wie einen Brief. Aber
eigentlich ist es ja nur natürlich und richtig, daß Sie das alles sahen.«

»Warum natürlich?«

»Weil Sie, auf eine etwas andere Art, beim Tanzen ganz das gleiche
ausdrücken. Wenn Sie tanzen, Teresina, und auch sonst in manchen
Augenblicken, sind Sie wie ein Baum oder ein Berg oder Tier, oder ein
Stern, ganz für sich, ganz allein, Sie wollen nichts anders sein, als was
Sie sind, einerlei ob gut oder böse. Ist es nicht das gleiche, was Sie bei
mir sahen?«

Sie betrachtete ihn prüfend, ohne Antwort zu geben.

»Sie sind ein wunderlicher Mensch,« sagte sie dann zögernd. »Und wie ist
das nun: sind Sie wirklich so, wie Sie da aussahen? Ist Ihnen wirklich
alles einerlei, was mit Ihnen geschieht?«

»Ja. Nur nicht immer. Ich habe oft auch Angst. Aber dann kommt es wieder,
und die Angst ist fort, und dann ist alles einerlei. Dann ist man stark.
Oder vielmehr: einerlei ist nicht das Richtige: alles ist köstlich und
willkommen, es sei, was es sei.«

»Einen Augenblick hielt ich es sogar für möglich, daß Sie ein Verbrecher
wären.«

»Auch das ist möglich. Es ist sogar wahrscheinlich. Sehen Sie, ein
>Verbrecher<, das sagt man so, und man meint damit, daß einer etwas tut,
was andre ihm verboten haben. Er selber aber, der Verbrecher, tut ja nur,
was in ihm ist. -- Sehen Sie, das ist die Ähnlichkeit, die wir beide haben:
wir beide tun hier und da, in seltnen Augenblicken, das, was in uns ist.
Nichts ist seltener, die meisten Menschen kennen das überhaupt nicht. Auch
ich kannte es nicht, ich sagte, dachte, tat, lebte nur Fremdes, nur
Gelerntes, nur Gutes und Richtiges, bis es eines Tages damit zu Ende war.
Ich konnte nicht mehr, ich mußte fort, das Gute war nimmer gut, das
Richtige war nimmer richtig, das Leben war nicht mehr zu ertragen. Aber ich
möchte es dennoch ertragen, ich liebe es sogar, obwohl es soviel Qualen
bringt.«

»Wollen Sie mir sagen, wie Sie heißen und wer Sie sind?«

»Ich bin der, den Sie vor sich sehen, sonst nichts. Ich habe keinen Namen
und keinen Titel und auch keinen Beruf. Ich mußte das alles aufgeben. Mit
mir steht es so, daß ich nach einem langen braven und fleißigen Leben eines
Tages aus dem Nest gefallen bin, es ist noch nicht lange her, und jetzt muß
ich untergehen oder fliegen lernen. Die Welt geht mich nichts mehr an, ich
bin jetzt ganz allein.«

Etwas verlegen fragte sie: »Waren Sie in einer Anstalt?«

»Verrückt, meinen Sie? Nein. Obwohl auch das ja möglich wäre.« Er wurde
zerstreut, Gedanken packten ihn von innen. Mit beginnender Unruhe sprach er
fort: »Wenn man darüber _redet_, wird auch das Einfachste gleich
kompliziert und unverständlich. Wir sollten gar nicht davon sprechen! --
Man tut das ja auch nur, man spricht nur dann darüber, wenn man es nicht
verstehen _will_.«

»Wie meinen Sie das? Ich will wirklich verstehen. Glauben Sie mir! Es
interessiert mich sehr.«

Er lächelte lebhaft.

»Ja, ja. Sie wollen sich darüber unterhalten. Sie haben etwas erlebt und
wollen jetzt darüber reden. Ach, es hilft nichts. Reden ist der sichere Weg
dazu, alles mißzuverstehen, alles seicht und öde zu machen. -- Sie wollen
mich ja nicht verstehen und auch sich selber nicht! Sie wollen bloß Ruhe
haben vor der Mahnung, die Sie gespürt haben. Sie wollen mich und die
Mahnung damit abtun, daß Sie die Etikette finden, unter der Sie mich
einreihen können. Sie versuchen es mit dem Verbrecher und mit dem
Geisteskranken, Sie wollen meinen Stand und Namen wissen. Das alles führt
aber nur weg vom Verstehen, das alles ist Schwindel, liebes Fräulein, ist
schlechter Ersatz für Verstehen, ist vielmehr Flucht vor dem
Verstehenwollen, vor dem Verstehenmüssen.«

Er unterbrach sich, strich gequält mit der Hand über die Augen, dann schien
ihm etwas Freundliches einzufallen, er lächelte wieder. »Ach sehen Sie, als
Sie und ich gestern einen Augenblick lang genau das gleiche fühlten, da
sagten wir nichts und fragten nichts und dachten auch nichts -- auf einmal
gaben wir einander die Hand, und es war gut. Jetzt aber -- jetzt reden wir
und denken und erklären -- und alles ist seltsam und unverständlich
geworden, was so einfach war. Und doch wäre es ganz leicht für Sie, mich
ebenso gut zu verstehen wie ich Sie.«

»Sie glauben mich so gut zu verstehen?«

»Ja, natürlich. Wie Sie leben, weiß ich nicht. Aber Sie leben, wie ich es
auch getan habe und wie alle es tun, meistens im Dunkeln und an sich selber
vorbei, irgendeinem Zweck, einer Pflicht, einer Absicht nach. Das tun fast
alle Menschen, daran ist die ganze Welt krank, daran wird sie auch
untergehen. Manchmal aber, beim Tanzen zum Beispiel, geht die Absicht oder
Pflicht Ihnen verloren, und Sie leben auf einmal ganz anders. Sie fühlen
auf einmal so, als wären Sie allein auf der Welt, oder als könnten Sie
morgen tot sein, und da kommt alles heraus, was Sie wirklich sind. Wenn Sie
tanzen, stecken Sie damit sogar andere an. Das ist Ihr Geheimnis.«

Sie ging eine Strecke weit rascher. Zu äußerst auf einem Vorsprung überm
See blieb sie stehen.

»Sie sind sonderbar,« sagte sie. »Manches kann ich verstehen. Aber -- was
wollen Sie eigentlich von mir?«

Er senkte den Kopf und sah einen Augenblick traurig aus.

»Sie sind es so gewohnt, daß man immer etwas von Ihnen haben will.
Teresina, ich will von Ihnen nichts, was nicht Sie selber wollen und gerne
tun. Daß ich Sie liebe, kann Ihnen gleichgültig sein. Es ist kein Glück,
geliebt zu werden. Jeder Mensch liebt sich selber, und doch quälen sich
Tausende ihr Leben lang. Nein, geliebt werden ist kein Glück. Aber lieben,
das ist Glück!«

»Ich würde Ihnen gern irgendeine Freude machen, wenn ich könnte,« sagte
Teresina langsam, wie mitleidig.

»Das können Sie, wenn Sie mir erlauben, Ihnen irgendeinen Wunsch zu
erfüllen.«

»Ach, was wissen Sie von meinen Wünschen!«

»Allerdings, Sie sollten keine haben. Sie haben ja den Schlüssel zum
Paradies, das ist Ihr Tanz. Aber ich weiß, daß Sie doch Wünsche haben, und
das ist mir lieb. Und nun wissen Sie: da ist einer, dem macht es Spaß,
Ihnen jeden Wunsch zu erfüllen.«

Teresina besann sich. Ihre wachsamen Augen wurden wieder scharf und kühl.
Was konnte er von ihr wissen? Da sie nichts fand, begann sie vorsichtig:

»Meine erste Bitte an Sie wäre die, daß Sie aufrichtig sind. Sagen Sie mir,
wer Ihnen etwas von mir erzählt hat.«

»Niemand. Ich habe niemals mit einem Menschen über Sie gesprochen. Was ich
weiß -- es ist sehr wenig -- weiß ich von Ihnen selbst. Ich hörte Sie
gestern sagen, daß Sie sich wünschen, einmal in Castiglione zu spielen.«

Ihr Gesicht zuckte.

»Ach so, Sie haben mich belauscht.«

»Ja, natürlich. Ich habe Ihren Wunsch verstanden. Weil Sie nicht immer
einig mit sich sind, suchen Sie nach Erregung und Betäubung.«

»O nein, ich bin nicht so romantisch, wie Sie meinen. Ich suche beim Spiel
nicht Betäubung, sondern einfach Geld. Ich möchte einmal reich sein oder
doch sorgenfrei, ohne mich dafür verkaufen zu müssen. Das ist alles.«

»Das klingt so richtig, und doch glaube ich es nicht. Aber wie Sie wollen!
Sie wissen ja im Grunde ganz gut, daß Sie sich nie zu verkaufen brauchen.
Reden wir nicht davon! Aber wenn Sie Geld haben wollen, sei es nun zum
Spielen oder sonst, so nehmen Sie es doch von mir! Ich habe mehr, als ich
brauche, glaube ich, und lege keinen Wert darauf.«

Teresina zog sich wieder zurück.

»Ich kenne Sie ja kaum. Wie soll ich Geld von Ihnen nehmen?«

Er zog plötzlich den Hut, wie von einem Schmerz befallen, und brach ab.

»Was haben Sie?« rief Teresina.

»Nichts, nichts. -- Erlauben Sie, daß ich gehe! Wir haben zuviel
gesprochen, viel zuviel. Man sollte nie soviel sprechen.«

Und da lief er schon, ohne Abschied genommen zu haben, rasch und wie von
Verzweiflung hingeweht durch den Baumgang fort. Die Tänzerin sah ihm mit
gestauten, uneinigen Empfindungen nach, aufrichtig verwundert über ihn und
über sich.

Er aber lief nicht aus Verzweiflung, sondern nur aus unerträglicher
Spannung und Gefülltheit. Es war ihm plötzlich unmöglich geworden, noch ein
Wort zu sagen, noch ein Wort zu hören, er mußte allein sein, mußte
notwendig allein sein, denken, horchen, sich selber zuhören. Das ganze
Gespräch mit Teresina hatte ihn selbst in Erstaunen gesetzt und überrascht,
die Worte waren ohne seinen Willen so gekommen, es hatte ihn wie ein Würgen
das heftige Bedürfnis befallen, seine Erlebnisse und Gedanken mitzuteilen,
zu formen, auszusprechen, sie sich selber zuzurufen. Er war erstaunt über
jedes Wort, das er sich sagen hörte, aber mehr und mehr fühlte er, wie er
sich in etwas hineinredete, was nicht mehr einfach und richtig war, wie er
unnützerweise das Unbegreifliche zu erklären versuchte -- und mit einemmal
war es ihm unerträglich geworden, er hatte abbrechen müssen.

Jetzt aber, wo er sich der vergangenen Viertelstunde wieder zu erinnern
suchte, empfand er dies Erlebnis freudig und dankbar. Es war ein
Fortschritt, eine Erlösung, eine Bestätigung.

Die Zweifelhaftigkeit, in welche die ganze gewohnte Welt für ihn gefallen
war, hatte ihn furchtbar ermüdet und gepeinigt. Er hatte das Wunder erlebt,
daß das Leben am sinnvollsten wird in den Augenblicken, wo alle Sinne und
Bedeutungen uns verloren gehen. Immer wieder aber war ihm der peinliche
Zweifel gekommen, ob diese Erlebnisse wirklich wesentlich seien, ob sie
mehr seien als kleine zufällige Kräuselungen an der Oberfläche eines
ermüdeten und erkrankten Gemütes, Launen im Grunde, kleine
Nervenschwankungen. Jetzt hatte er gesehen, gestern abend und heute, daß
sein Erlebnis wirklich war. Es hatte aus ihm gestrahlt und ihn verändert,
es hatte einen andern Menschen zu ihm hergezogen. Seine Vereinsamung war
durchbrochen, er liebte wieder, es gab jemand, dem er dienen und Freude
machen wollte, er konnte wieder lächeln, wieder lachen!

Die Welle ging durch ihn hin wie Schmerz und wie Wollust, er zuckte vor
Gefühl, Leben klang in ihm auf wie eine Brandung, unbegreiflich war alles.
Er riß die Augen auf und sah: Bäume an einer Straße, Silberflocken im See,
ein rennender Hund, Radfahrer -- und alles war sonderbar, märchenhaft und
beinahe allzu schön, alles wie nagelneu aus Gottes Spielzeugschachtel
genommen, alles nur für ihn da, für Friedrich Klein, und er selbst nur dazu
da, diesen Strom von Wunder und Schmerz und Freude durch sich hinzucken zu
fühlen. Überall war Schönheit, in jedem Dreckhaufen am Weg, überall war
tiefes Leiden, überall war Gott. Ja, das war Gott, und so hatte er ihn, vor
unausdenklichen Zeiten, als Knabe einst empfunden und mit dem Herzen
gesucht, wenn er »Gott« und »Allgegenwart« dachte. Herz, brich nicht vor
Fülle!

Wieder schossen aus allen vergessenen Schächten seines Lebens frei
gewordene Erinnerungen zu ihm empor, unzählbare: an Gespräche, an seine
Verlobungszeit, an Kleider, die er als Kind getragen, an Ferienmorgen der
Studentenzeit, und ordneten sich in Kreisen um einige feste Mittelpunkte:
um die Gestalt seiner Frau, um seine Mutter, um den Mörder Wagner, um
Teresina. Stellen aus klassischen Schriftstellern fielen ihm ein und
lateinische Sprichwörter, die ihn als Schüler einst ergriffen hatten, und
törichte sentimentale Verse aus Volksliedern. Der Schatten seines Vaters
stand hinter ihm, er erlebte wieder den Tod seiner Schwiegermutter. Alles,
was je durch Auge und Ohr, durch Menschen und Bücher, mit Wonne oder Leid
in ihn eingegangen und in ihm untergesunken war, alles schien wieder da zu
sein, alles zugleich, aufgerührt und durcheinander gewirbelt, ohne Ordnung,
doch voller Sinn, alles wichtig, alles bedeutungsvoll, alles unverloren.

Der Andrang wurde zur Qual, zu einer Qual, die von höchster Wollust nicht
zu unterscheiden war. Sein Herz schlug rasch, Tränen standen ihm in den
Augen. Er begriff, daß er nahe am Wahnsinn stehe, und wußte doch, daß er
nicht wahnsinnig werden würde, und blickte zugleich in dies neue Seelenland
des Irrsinns mit demselben Erstaunen und Entzücken wie in die
Vergangenheit, wie in den See, wie in den Himmel: auch hier war alles
zauberhaft, wohllaut und voll Bedeutung. Er begriff, warum im Glauben edler
Völker der Wahnsinn für heilig galt. Er begriff alles, alles sprach zu ihm,
alles war ihm erschlossen. Es gab keine Worte dafür, es war falsch und
hoffnungslos, irgend etwas in Worten ausdenken und verstehen zu wollen! Man
mußte nur offenstehen, nur bereit sein: dann konnte jedes Ding, dann konnte
in unendlichem Zug wie in eine Arche Noahs die ganze Welt in einen
hineingehen, und man besaß sie, verstand sie und war eins mit ihr.

Trauer ergriff ihn. O, wenn alle Menschen dies wüßten, dies erlebten! Wie
wurde drauflos gelebt, drauflos gesündigt, wie blind und maßlos wurde
gelitten! Hatte er nicht gestern noch sich über Teresina geärgert? Hatte er
nicht gestern noch seine Frau gehaßt, sie angeklagt und für alles Leid
seines Lebens verantwortlich machen wollen? Wie traurig, wie dumm, wie
hoffnungslos! Alles war doch so einfach, so gut, so sinnvoll, sobald man es
von innen sah, sobald man hinter jedem Ding das Wesen stehen sah, ihn,
Gott.

Hier bog ein Weg zu neuen Vorstellungsgärten und Bilderwäldern ein. Wendete
er sein heutiges Gefühl der Zukunft zu, sprühten hundert Glücksträume auf,
für ihn und für alle. Sein vergangenes, dumpfes, verdorbenes Leben sollte
nicht beklagt, nicht angeklagt, nicht gerichtet werden, sondern erneut und
ins Gegenteil verwandelt, voll Sinn, voll Freude, voll Güte, voll Liebe.
Die Gnade, die er erlebt, mußte widerstrahlen und weiter wirken.
Bibelsprüche kamen ihm in den Sinn, und alles, was er von begnadeten
Frommen und Heiligen wußte. So hatte es immer begonnen, bei allen. Sie
waren denselben harten und finstern Weg geführt worden wie er, feig und
voll Angst, bis zur Stunde der Umkehr und Erleuchtung. »In der Welt habet
ihr Angst,« hatte Jesus zu seinen Jüngern gesagt. Wer aber die Angst
überwunden hatte, der lebte nicht mehr in der Welt, sondern in Gott, im
tausendjährigen Reich.

So hatten alle gelehrt, alle Weisen der ganzen Welt, Buddha und
Schopenhauer, Jesus, die Griechen. Es gab nur _eine_ Weisheit, nur _einen_
Glauben, nur ein Denken: das Wissen von Gott in uns. Wie wurde das in den
Schulen, Kirchen, Büchern und Wissenschaften verdreht und falsch gelehrt!

Mit weiten Flügelschlägen flog Kleins Geist durch die Bezirke seiner innern
Welt, seines Wissens, seiner Bildung. Auch hier, wie in seinem äußern
Leben, lag Gut um Gut, Schatz um Schatz, Quelle um Quelle, aber jedes für
sich, abgesondert, tot und wertlos. Nun aber, mit dem Strahl des Wissens,
mit der Erleuchtung, zuckte auch hier plötzlich Ordnung, Sinn und Formung
durch das Chaos, Schöpfung begann, Leben und Beziehung sprang von Pol zu
Pol. Sprüche entlegenster Kontemplation wurden selbstverständlich, Dunkles
wurde hell, und das Einmaleins wurde zum mystischen Bekenntnis. Beseelt und
liebeglühend ward auch diese Welt. Die Kunstwerke, die er in jüngeren
Jahren geliebt hatte, klangen mit neuem Zauber herauf. Er sah: die
rätselhafte Magie der Kunst öffnete sich demselben Schlüssel. Kunst war
nichts andres als Betrachtung der Welt im Zustand der Gnade, der
Erleuchtung. Kunst war: hinter jedem Ding Gott zeigen.

Flammend schritt der Beseligte durch die Welt, jeder Zweig an jedem Baume
hatte teil an einer Ekstase, strebte edler empor, hing inniger herab, war
Sinnbild und Offenbarung. Dünne violette Wolkenschatten liefen über den
Seespiegel, schaudernd in zärtlicher Süße. Jeder Stein lag bedeutungsvoll
neben seinem Schatten. So schön, so tief und heilig liebenswert war die
Welt noch nie gewesen, oder nie mehr seit den geheimnisvollen, sagenhaften
Jahren der ersten Kindheit. »So ihr nicht werdet wie die Kinder,« fiel ihm
ein, und er fühlte: ich bin wieder Kind geworden, ich bin ins Himmelreich
eingegangen.

Als er Müdigkeit und Hunger zu spüren begann, fand er sich weit von der
Stadt. Nun erinnerte er sich, woher er kam, was gewesen war, und daß er
ohne Abschied von Teresina weggelaufen war. Im nächsten Dorf suchte er ein
Wirtshaus. Ein kleiner ländlicher Weinschank, mit einem eingepflockten
Holztisch im Gärtchen unterm Kirschlorbeer, zog ihn an. Er verlangte Essen,
man hatte aber nichts als Wein und Brot. Eine Suppe, bat er, oder Eier,
oder Schinken. Nein, es gab solche Sachen hier nicht. Niemand aß hier
dergleichen bei der teuren Zeit. Er hatte erst mit der Wirtin, dann mit
einer Großmutter verhandelt, die auf der Steinschwelle der Haustür saß und
Wäsche flickte. Nun setzte er sich in den Garten untern tiefschattenden
Baum, mit Brot und herbem Rotwein. Im Nachbargarten, unsichtbar hinter
Reblaub und aufgehängter Wäsche, hörte er zwei Mädchenstimmen singen.
Plötzlich fuhr ein Wort des Liedes ihm ins Herz, ohne daß er es doch
festhalten konnte. Es kam im nächsten Vers wieder, es war der Name
Teresina. Das Lied, ein Couplet von halb komischer Art, handelte von einer
Teresina. Er verstand:

   La sua mama a la finestra
   Con una voce serpentina:
   Vieni a casa, o Teresina,
   Lasc' andare quel traditor!

Teresina! Wie liebte er sie! Wie herrlich war es, zu lieben!

Er legte den Kopf auf den Tisch und dämmerte, schlummerte, ein und erwachte
wieder, mehrmals, oftmals. Es war Abend. Die Wirtin kam und stellte sich
vor den Tisch, über den Gast verwundert. Er legte Geld hin, erbat noch ein
Glas Wein, fragte sie nach jenem Liede. Sie wurde freundlich, brachte den
Wein und blieb bei ihm stehen. Er ließ sich das ganze Teresina-Lied
vorsagen, und hatte große Freude an dem Vers:

   Jo non sono traditore
   E ne meno lusinghero,
   Jo son' figlio d'un ricco Signore,
   Son' venuto per fare l'amor.

Die Wirtin meinte, jetzt könnte er eine Suppe haben, sie koche ohnehin für
ihren Mann, den sie erwarte.

Er aß Gemüsesuppe und Brot, der Wirt kam heim, an den grauen Steindächern
des Dorfes verglühte die späte Sonne. Er fragte nach einem Zimmer, es wurde
ihm eines angeboten, eine Kammer mit dicken nackten Steinwänden. Er nahm
es. Noch nie hatte er in einer solchen Kammer geschlafen, sie kam ihm vor
wie das Gelaß aus einem Räuberdrama. Nun ging er durch das abendliche Dorf,
fand einen kleinen Kramladen noch offen, bekam Schokolade zu kaufen und
verteilte sie an Kinder, die in Mengen durch die Gasse schwärmten. Sie
liefen ihm nach, Eltern grüßten ihn, jedermann wünschte ihm gute Nacht, und
er gab es zurück, nickte allen den alten und jungen Menschen zu, die auf
den Schwellen und Vortreppen der Häuser saßen.

Mit Freude dachte er an seine Kammer im Wirtshaus, an diese primitive,
höhlenhafte Unterkunft, wo der alte Kalk von den grauen Mauern blätterte
und nichts Unnützes an den nackten Wänden hing, nicht Bild noch Spiegel,
nicht Tapete noch Vorhang. Er lief durch das abendliche Dorf wie durch ein
Abenteuer, alles war beglänzt, alles voll geheimer Versprechung.

In die Osteria zurückkehrend, sah er vom leeren und dunkeln Gastzimmer aus
Licht in einem Türspalt, ging ihm nach und kam in die Küche. Der Raum
erschien ihm wie eine Märchenhöhle, das wenige dünne Licht floß über einen
roten steinernen Boden und verlief sich, ehe es die Wände und Decke
erreichte, in dichte warme Dämmerung, und von dem ungeheuer und tiefschwarz
herabhängenden Rauchfang schien eine unerschöpfliche Quelle von Finsternis
auszufließen.

Die Frau saß da mit der Großmutter, sie saßen beide gebückt, klein und
schwach auf niederen demütigen Schemeln, die Hände auf den Knien ausruhend.
Die Wirtsfrau weinte, niemand kümmerte sich um den Eintretenden. Er setzte
sich auf den Rand eines Tisches neben Gemüseresten, ein stumpfes Messer
blinkte bleiern auf, im Lichtschein glühte blankes Kupfergeschirr rot an
den Wänden. Die Frau weinte, die alte Graue stand ihr bei und murmelte mit
ihr in der Mundart, er verstand allmählich, daß Hader im Hause und der Mann
nach einem Streit wieder fortgegangen war. Er fragte, ob er sie geschlagen
habe, bekam aber keine Antwort. Allmählich fing er an zu trösten. Er sagte,
der Mann werde gewiß schon bald wiederkommen. Die Frau sagte scharf: »Heut
nicht und vielleicht auch morgen nicht.« Er gab es auf, die Frau setzte
sich aufrechter, man saß schweigend, das Weinen war verstummt. Die
Einfachheit des Vorgangs, zu dem keine Worte gemacht wurden, schien ihm
wundervoll. Man hatte Streit gehabt, man hatte Schmerz empfangen, man hatte
geweint. Jetzt war es vorbei, jetzt saß man still und wartete. Das Leben
würde schon weiter gehen. Wie bei Kindern. Wie bei Tieren. Nur nicht reden,
nur nicht das Einfache kompliziert machen, nur nicht die Seele nach außen
drehen.

Klein lud die Großmutter ein, Kaffee zu kochen, für sie alle drei. Die
Frauen leuchteten auf, die Alte legte sofort Reisig in den Kamin, es
knisterte von brechenden Zweigen, von Papier, von aufprasselnder Flamme. Im
jäh aufflammenden Feuerschein sah er das Gesicht der Wirtin, von unten her
beleuchtet, etwas vergrämt und doch beruhigt. Sie schaute ins Feuer,
zwischenein lächelte sie, plötzlich stand sie auf, ging langsam zum
Wasserhahn und wusch sich die Hände.

Dann saßen sie alle drei am Küchentisch und tranken den heißen schwarzen
Kaffee, und einen alten Wacholderlikör dazu. Die Weiber wurden lebendiger,
sie erzählten und fragten, lachten über Kleins mühsame und fehlerhafte
Sprache. Ihm schien, er sei schon sehr lange hier. Wunderlich, was in
diesen Tagen alles Platz hatte! Ganze Zeiträume und Lebensabschnitte fanden
Raum in einem Nachmittag, jede Stunde schien mit Lebensfracht überladen.
Sekundenlang zuckte Furcht in ihm wetterleuchtend auf, es könnte plötzlich
Müdigkeit und Verbrauch der Lebenskraft ihn verhundertfacht überfallen und
ihn aussaugen, wie Sonne einen Tropfen vom Felsen leckt. In diesen sehr
flüchtigen, doch zuweilen wiederkehrenden Augenblicken, in diesem fremden
Wetterleuchten sah er sich selbst leben, fühlte und sah in sein Gehirn und
sah dort in beschleunigten Schwingungen einen unsäglich komplizierten,
zarten, kostbaren Apparat vor tausendfacher Arbeit vibrieren, wie hinter
Glas ein höchst sensibles Uhrwerk, das zu stören ein Stäubchen genügt.

Es wurde ihm erzählt, daß der Wirt sein Geld in unsichere Geschäfte stecke,
viel außer Hause sei und da und dort Verhältnisse mit Frauen unterhalte.
Kinder waren nicht da. Während Klein sich Mühe gab, die italienischen Worte
für einfache Fragen und Auskünfte zu finden, arbeitete hinterm Glas das
zarte Uhrwerk rastlos in seinem Fieber fort, jeden gelebten Moment sofort
in seine Abrechnungen und Abwägungen einbeziehend.

Zeitig erhob er sich, um schlafen zu gehen. Er gab den beiden Frauen die
Hand, der alten und der jungen, die ihn durchdringend ansah, während die
Großmutter mit dem Gähnen kämpfte. Dann tastete er sich die dunkle
Steintreppe hinauf, erstaunlich hohe Riesenstufen, in seine Kammer. Dort
fand er Wasser in einem Tonkrug bereit, wusch sich das Gesicht, vermißte
einen Augenblick Seife, Hausschuhe, Nachthemd, lag noch eine Viertelstunde
im Fenster, auf das granitne Gesimse gestützt, zog sich dann vollends aus
und legte sich in das harte Bett, dessen grobe Leinwand ihn entzückte und
einen Schwall von holden ländlichen Vorstellungen weckte. War es nicht das
einzig Richtige, stets so zu leben, in einem Raum aus vier Steinwänden,
ohne den lächerlichen Kram der Tapeten, des Schmucks, der vielen Möbel,
ohne all das übertriebene und im Grund barbarische Zubehör? Ein Dach überm
Kopf, gegen den Regen, eine einfache Decke um sich, gegen die Kälte, etwas
Brot und Wein oder Milch, gegen den Hunger, morgens die Sonne zum Wecken,
abends die Dämmerung zum Einschlafen -- brauchte der Mensch mehr?

Aber kaum hatte er das Licht gelöscht, so war Haus und Kammer und Dorf in
ihm versunken. Er stand wieder am See bei Teresina und sprach mit ihr,
konnte sich des heutigen Gespräches nur mit Mühe erinnern und wurde
zweifelhaft, was er ihr eigentlich gesagt habe, ja ob nicht das ganze
Gespräch nur ein Traum und Phantom von ihm gewesen sei. Die Dunkelheit tat
ihm wohl -- weiß Gott, wo er morgen aufwachen würde?

Ein Geräusch an der Tür weckte ihn. Leise wurde die Klinke gedreht, ein
Faden dünnen Lichtes sank herein und zögerte im Spalt. Verwundert und doch
im Augenblick wissend, blickte er hinüber, noch nicht in der Gegenwart. Da
ging die Türe auf, mit einem Licht in der Hand stand die Wirtsfrau, barfuß,
lautlos. Sie blickte zu ihm her, durchdringend, und er lächelte und
streckte die Arme aus, tief erstaunt, gedankenlos. Da war sie schon bei
ihm, und ihr dunkles Haar lag neben ihm auf dem rauhen Kissen.

Sie sprachen kein Wort. Von ihrem Kuß entzündet, zog er sie an sich. Die
plötzliche Nähe und Wärme eines Menschen an seiner Brust, der fremde starke
Arm um seinen Nacken erschütterte ihn seltsam -- wie war diese Wärme ihm
unbekannt, wie fremd, wie schmerzlich neu war ihm diese Wärme und Nähe --
wie war er allein gewesen, wie sehr allein, wie lang allein! Abgründe und
Flammenhöllen hatten zwischen ihm und aller Welt geklafft -- und nun war da
ein fremder Mensch gekommen, in wortlosem Vertrauen und Trostbedürfnis,
eine arme, vernachlässigte Frau, so wie er selbst jahrelang ein
vernachlässigter und verschüchterter Mann gewesen war, und hing an seinem
Hals und gab und nahm und sog mit Gier den Tropfen Wonne aus dem kargen
Leben, suchte trunken und doch schüchtern seinen Mund, spielte mit traurig
zärtlichen Fingern in den seinen, rieb ihre Wange an seiner. Er richtete
sich über ihrem blassen Gesichte auf und küßte sie auf beide geschlossene
Augen, und dachte: Sie glaubt zu nehmen und weiß nicht, daß sie gibt, sie
flüchtet ihre Vereinsamung zu mir und ahnt die meine nicht! Erst jetzt sah
er sie, neben der er den ganzen Abend blind gesessen hatte, sah, daß sie
lange, schlanke Hände und Finger hatte, hübsche Schultern und ein Gesicht
voll von Schicksalsangst und blindem Kinderdurst, und ein halb ängstliches
Wissen um kleine, holde Wege und Übungen der Zärtlichkeit.

Er sah auch und wurde traurig darüber, daß er selbst in der Liebe ein Knabe
und Anfänger geblieben war, in langer, lauer Ehe resigniert, schüchtern und
doch ohne Unschuld, begehrlich und doch voll von schlechtem Gewissen. Noch
während er mit durstigen Küssen an Mund und Brust des Weibes hing, noch
während er ihre Hand zärtlich und fast mütterlich auf seinen Haaren fühlte,
empfand er im voraus Enttäuschung und Druck im Herzen, er fühlte das
Schlimme wiederkommen: die Angst, und es durchfloß ihn schneidend kalt die
Ahnung und Furcht, daß er tief in seinem Wesen nicht zur Liebe fähig sei,
daß Liebe ihm nur Qual und bösen Zauber bringen könne. Noch ehe der kurze
Sturm der Wollust vertobt war, schlug in seiner Seele Bangigkeit und
Mißtrauen das böse Auge auf, Widerwille dagegen, daß er genommen worden sei
statt selbst zu nehmen und zu erobern, und Vorgefühl von Ekel.

Lautlos war die Frau wieder davongeschlüpft, samt ihrem Kerzenlicht. Im
Dunkeln lag Klein, und es kam mitten in der Sättigung der Augenblick, den
er schon vorher, schon vor Stunden in so viel ahnenden wetterleuchtenden
Sekunden gefürchtet, der schlimme Augenblick, wo die überreiche Musik
seines neuen Lebens in ihm nur noch müde und verstimmte Saiten fand und
tausend Lustgefühle plötzlich mit Müdigkeit und Angst bezahlt werden
mußten. Mit Herzklopfen fühlte er alle Feinde auf der Lauer liegen,
Schlaflosigkeit, Depression und Alpdruck. Das rauhe Linnen brannte an
seiner Haut, bleich sah die Nacht durchs Fenster. Unmöglich, hier zu
bleiben und wehrlos den kommenden Qualen standzuhalten! Ach, es kam wieder,
die Schuld und Angst kam wieder und die Traurigkeit und die Verzweiflung!
Alles Überwundene, alles Vergangene kam wieder. Es gab keine Erlösung.

Hastig kleidete er sich an, ohne Licht, suchte vor der Tür seine staubigen
Stiefel, schlich hinab und aus dem Hause und lief, auf müden, einsinkenden
Beinen, verzweifelt durch Dorf und Nacht davon, von sich selbst verhöhnt,
von sich selbst verfolgt, von sich selbst gehaßt.


IV

Ringend und verzweifelnd schlug sich Klein mit seinem Dämon. Was ihm seine
Schicksalstage an Neuem, an Erkenntnis und Erlösung gebracht hatten, war in
der trunkenen Gedankenhast und Hellsichtigkeit des vergangenen Tages zu
einer Welle gestiegen, deren Höhe ihm unverlierbar erschienen war, während
er schon wieder aus ihr zu sinken begann. Jetzt lag er wieder im Tal und
Schatten, noch kämpfend, noch heimlich hoffend, aber tief verwundet. Einen
Tag lang, einen kurzen, glänzenden Tag lang war es ihm gelungen, die
einfache Kunst zu üben, die jeder Grashalm kann. Einen armen Tag lang hatte
er sich selbst geliebt, sich selbst als Eines und Ganzes gefühlt, nicht in
feindliche Teile zerspalten, er hatte sich geliebt, und in sich die Welt
und Gott, und nichts als Liebe, Bestätigung und Freude war ihm von überall
her entgegengekommen. Hätte gestern ein Räuber ihn überfallen, ein Polizist
ihn verhaftet, es wäre Bestätigung, Lächeln, Harmonie gewesen! Und nun,
mitten im Glück war er wieder umgefallen und klein geworden. Er ging mit
sich ins Gericht, während sein Innerstes wußte, daß jedes Gericht falsch
und töricht sei. Die Welt, welche einen herrlichen Tag lang durchsichtig
und ganz von Gott erfüllt gewesen war, lag wieder hart und schwer, und
jedes Ding hatte seinen eigenen Sinn, und jeder Sinn widersprach jedem
andern. Die Begeisterung dieses Tages hatte wieder weichen, hatte sterben
können! Sie, die heilige, war eine Laune gewesen, und die Sache mit
Teresina eine Einbildung, und das Abenteuer im Wirtshaus eine zweifelhafte
und anrüchige Geschichte.

Er wußte bereits, daß das würgende Angstgefühl nur dann verging, wenn er
nicht an sich schulmeisterte und Kritik übte, nicht in den Wunden
stocherte, in den alten Wunden. Er wußte: alles Schmerzende, alles Dumme,
alles Böse wurde zum Gegenteil, wenn man es als Gott erkennen konnte, wenn
man ihm in seine tiefsten Wurzeln nachging, die weit über das Weh und Wohl
und Gut und Böse hinauf reichten. Er wußte es. Aber es war nichts dagegen
zu tun, der böse Geist war in ihm, Gott war wieder ein Wort, schön und
fern. Er haßte und verachtete sich, und dieser Haß kam, wenn es Zeit war,
ebenso ungewollt und unabwendbar über ihn wie zu andern Zeiten die Liebe
und das Vertrauen. Und so mußte es immer wieder gehen! Immer und immer
wieder würde er die Gnade und das Selige erleben, und immer wieder das
verfluchte Gegenteil, und nie würde sein Leben die Straße gehen, die sein
eigener Wille ihm vorschrieb. Spielball und schwimmender Kork, würde er
ewig hin und wider geschlagen werden. Bis es zu Ende war, bis einmal eine
Welle sich überschlug und Tod oder Wahnsinn ihn aufnahm. O, möchte es bald
sein!

Zwangsweise kehrten die ihm längst so bitter vertrauten Gedanken wieder,
unnütze Sorgen, unnütze Ängste, unnütze Selbstanklagen, deren Unsinn
einzusehen nur eine Qual mehr war. Eine Vorstellung kehrte wieder, die er
kürzlich (ihm schien, es seien Monate dazwischen) auf der Reise gehabt
hatte: Wie gut es wäre, sich auf die Schienen unter einen Bahnzug zu
stürzen, den Kopf voran! Diesem Bilde ging er begierig nach, atmete es wie
Äther ein: den Kopf voran, alles in Splitter und Fetzen gehauen und
gemahlen, alles auf die Räder gewickelt und auf den Schienen zu nichts
zerrieben! Tief fraß sein Leid sich in diese Visionen ein, mit Beifall und
Wollust hörte, sah und schmeckte er die gründliche Zerstörung des Friedrich
Klein, fühlte sein Herz und Gehirn zerrissen, verspritzt, zerstampft, den
schmerzenden Kopf zerkracht, die schmerzenden Augen ausgelaufen, die Leber
zerknetet, die Nieren zerrieben, das Haar wegrasiert, die Knochen, Knie und
Kinn zerpulvert. Das war es, was der Totschläger Wagner hatte fühlen
wollen, als er seine Frau, seine Kinder und sich selbst im Blut ersäufte.
Genau dies war es. O, er verstand ihn so gut! Er selbst war Wagner, war ein
Mensch von guten Gaben, fähig das Göttliche zu fühlen, fähig zu lieben,
aber allzu beladen, allzu nachdenklich, allzu leicht zu ermüden, allzu wohl
unterrichtet über seine Mängel und Krankheiten. Was in aller Welt hatte
solch ein Mensch, solch ein Wagner, solch ein Klein denn zu tun? Immer die
Kluft vor Augen, die ihn von Gott trennte, immer den Riß der Welt durch
sein eignes Herz gehen fühlend, ermüdet, aufgerieben vom ewigen Aufschwung
zu Gott, der ewig mit Rückfall endete -- was sollte solch ein Wagner, solch
ein Klein anderes tun als sich auslöschen, sich und alles was an ihn
erinnern konnte, und sich zurückwerfen in den dunkeln Schoß, aus dem der
Unausdenkliche immer und ewig wieder die vergängliche Welt der Gestaltungen
ausstieß? Nein, es war nichts anderes möglich! Wagner mußte gehen, Wagner
mußte sterben, Wagner mußte sich aus dem Buch des Lebens ausstreichen. Es
mochte vielleicht nutzlos sein, sich umzubringen, es mochte vielleicht
lächerlich sein. Vielleicht war alles das ganz richtig, was die Bürger, in
jener anderen Welt drüben, über den Selbstmord sagten. Aber gab es irgend
etwas für den Menschen in diesem Zustande, das nicht nutzlos, das nicht
lächerlich war? Nein, nichts. Immer noch besser, den Schädel unter den
Eisenrädern zu haben, ihn krachen zu fühlen und mit Willen in den Abgrund
zu tauchen.

Auf schwankenden Knien hielt er sich Stunde um Stunde rastlos unterwegs.
Auf den Schienen einer Bahnlinie, an die der Weg ihn geführt hatte, lag er
einige Zeit, schlummerte sogar ein, den Kopf auf dem Eisen, erwachte wieder
und hatte vergessen, was er wollte, stand auf, wehte taumelnd weiter,
Schmerzen an den Sohlen, Qualen im Kopf, zuweilen fallend, von einem Dorn
verletzt, zuweilen leicht und wie schwebend, zuweilen Schritt um Schritt
mühsam bezwingend.

»Jetzt reitet mich der Teufel reif!« sang er heiser vor sich hin. Reif
werden! Unter Qualen fertig gebraten, zu Ende geröstet werden, wie der Kern
im Pfirsich, um reif zu sein, um sterben zu können!

Ein Funke schwamm hier in seiner Finsternis, an den hing er alsbald alle
Inbrunst seiner zerrissenen Seele. Ein Gedanke: es war nutzlos, sich zu
töten, sich jetzt zu töten, es hatte keinen Wert, sich Glied für Glied
auszurotten und zu zerschlagen, es war nutzlos! Gut aber und erlösend war
es, zu leiden, unter Qualen und Tränen reif gegoren, unter Schlägen und
Schmerzen fertig geschmiedet zu werden. Dann durfte man sterben, und dann
war es ein gutes Sterben, schön und sinnvoll, das Seligste der Welt,
seliger als jede Liebesnacht: ausgeglüht und völlig hingegeben in den Schoß
zurückzufallen, zum Erlöschen, zum Erlösen, zur Neugeburt. Solch ein Tod,
solch ein reifer und guter, edler Tod allein hatte Sinn, nur er war
Erlösung, nur er war Heimkehr. Sehnsucht weinte in seinem Herzen auf. O, wo
war der schmale, schwere Weg, wo war die Pforte? Er war bereit, er sehnte
sich mit jeder Zuckung seines von Ermattung zitternden Leibes, seiner von
Todespein geschüttelten Seele.

Als der Morgen am Himmel aufgraute und der bleierne See im ersten kühlen
Silberblitz erwachte, stand der Gejagte in einem kleinen Kastanienwalde,
hoch über See und Stadt, zwischen Farnkraut und hohen, blühenden Spiräen,
feucht vom Tau. Mit erloschenen Augen, doch lächelnd, starrte er in die
wunderliche Welt. Er hatte den Zweck seiner triebhaften Irrfahrt erreicht:
er war so totmüde, daß die geängstigte Seele schwieg. Und, vor allem, die
Nacht war vorbei! Der Kampf war gekämpft, eine Gefahr war überstanden. Von
der Erschöpfung gefällt, sank er wie ein Toter zwischen Farn und Wurzeln
auf den Waldboden, den Kopf ins Heidelbeerkraut, vor seinen versagenden
Sinnen schmolz die Welt hinweg. Die Hände ins Gekräut geballt, Brust und
Gesicht an der Erde, gab er sich hungernd dem Schlafe hin, als sei es der
ersehnte letzte.

In einem Traume, von dem nur wenige Bruchstücke ihm nachher erinnerlich
waren, sah er folgendes: An einem Tor, das wie der Eingang zu einem Theater
aussah, hing ein großer Schild mit einer riesigen Aufschrift: sie hieß (das
war unentschieden) entweder »Lohengrin« oder »Wagner«. Zu diesem Tore ging
er hinein. Drinnen war eine Frau, die glich der Wirtsfrau von heute nacht,
aber auch seiner eigenen Frau. Ihr Kopf war entstellt, er war zu groß, und
das Gesicht zu einer fratzenhaften Maske verändert. Widerwille gegen diese
Frau ergriff ihn mächtig, er stieß ihr ein Messer in den Leib. Aber eine
andere Frau, wie ein Spiegelbild der ersten, kam von hinten über ihn,
rächend, schlug ihm scharfe, starke Krallen in den Hals und wollte ihn
erwürgen.

Beim Aufwachen aus diesem tiefen Schlaf sah er verwundert Wald über sich
und war steif vom harten Liegen, doch erfrischt. Mit leiser Beängstigung
klang der Traum in ihm nach. Was für seltsame, naive und negerhafte Spiele
der Phantasie! dachte er, einen Augenblick lächelnd, als ihm die Pforte mit
der Aufforderung zum Eintritt in das Theater »Wagner« wieder einfiel.
Welche Idee, sein Verhältnis zu Wagner so darzustellen! Dieser Traumgeist
war roh, aber genial. Er traf den Nagel auf den Kopf. Und er schien alles
zu wissen! Das Theater mit der Aufschrift »Wagner« war das nicht er selbst,
war es nicht die Aufforderung, in sich selbst einzutreten, in das fremde
Land seines wahren Innern? Denn Wagner war er selber -- Wagner war der
Mörder und Gejagte in ihm, aber Wagner war auch der Komponist, der
Künstler, das Genie, der Verführer, die Neigung zu Lebenslust, Sinnenlust,
Luxus -- Wagner war der Sammelname für alles Unterdrückte, Untergesunkene,
zu kurz Gekommene in dem ehemaligen Beamten Friedrich Klein. Und
»Lohengrin« -- war nicht auch das er selbst, Lohengrin, der irrende Ritter
mit dem geheimnisvollen Ziel, den man nicht nach seinem Namen fragen darf?
Das weitere war unklar, die Frau mit dem furchtbaren Maskenkopf und die
andere mit den Krallen -- der Messerstoß in ihren Bauch erinnerte ihn auch
noch an irgend etwas, er hoffte es noch zu finden -- die Stimmung von Mord
und Todesgefahr war seltsam und grell vermischt mit der von Theater, Masken
und Spiel.

Beim Gedanken an die Frau und das Messer sah er einen Augenblick deutlich
sein eheliches Schlafzimmer vor sich. Da mußte er an die Kinder denken --
wie hatte er die vergessen können! Er dachte an sie, wie sie morgens in
ihren Nachthemdchen aus den kleinen Betten kletterten. Er mußte an ihre
Namen denken, besonders an Elly. O, die Kinder! Langsam liefen ihm Tränen
aus den Augen über das übernächtige Gesicht. Er schüttelte den Kopf, erhob
sich mit einiger Mühe und begann Laub und Erdkrumen von seinen zerdrückten
Kleidern zu lesen. Nun erst erinnerte er sich klar dieser Nacht, der kahlen
Steinkammer in der Dorfschenke, der fremden Frau an seiner Brust, seiner
Flucht, seiner gehetzten Wanderung. Er sah dies kleine, entstellte Stück
Leben an wie ein Kranker die abgezehrte Hand, den Ausschlag an seinem Bein
anschaut.

In gefaßter Trauer, noch mit Tränen in den Augen, sagte er leise vor sich
hin: »Gott, was hast du noch mit mir im Sinn?« Aus den Gedanken der Nacht
klang nur die eine Stimme voll Sehnsucht in ihm fort: nach Reifsein, nach
Heimkehr, nach Sterbendürfen. War denn sein Weg noch weit? War die Heimat
noch fern? War noch viel, viel Schweres, war noch Unausdenkliches zu
leiden? Er war bereit dazu, er bot sich hin, sein Herz stand offen:
Schicksal, stoß zu!

Langsam kam er durch Bergwiesen und Weinberge gegen die Stadt
hinabgeschritten. Er suchte sein Zimmer auf, wusch und kämmte sich,
wechselte die Kleider. Er ging speisen, trank etwas von dem guten Wein, und
spürte die Ermüdung in den steifen Gliedern sich lösen und wohlig werden.
Er erkundigte sich, wenn im Kursaal getanzt werde, und ging zur Teestunde
hin.

Teresina tanzte eben, als er eintrat. Er sah das eigentümlich glänzende
Tanzlächeln auf ihrem Gesicht wieder und freute sich. Er begrüßte sie, als
sie zu ihrem Tisch zurückging, und nahm dort Platz.

»Ich möchte Sie einladen, heute abend mit mir nach Castiglione zu fahren,«
sagte er leise.

Sie besann sich.

»Gleich heut?« fragte sie. »Eilt es so sehr?«

»Ich kann auch warten. Aber es wäre hübsch. Wo darf ich Sie erwarten?«

Sie widerstand der Einladung nicht und nicht dem kindlichen Lachen, das für
Augenblicke seltsam hübsch in seinem zerfurchten, einsamen Gesicht hing,
wie an der letzten Wand eines abgebrannten und eingerissenen Hauses noch
eine frohe bunte Tapete hängt.

»Wo waren Sie denn?« fragte sie neugierig. »Sie waren gestern so plötzlich
verschwunden. Und jedesmal haben Sie ein anderes Gesicht, auch heute
wieder. -- Sie sind doch nicht Morphinist?«

Er lachte nur, mit dem seltsam hübschen und etwas fremdartigen Lachen, bei
dem sein Mund und Kinn ganz knabenhaft aussah, während über Stirn und Augen
unverändert der Dornenreif lag.

»Bitte holen Sie mich gegen neun Uhr ab, im Restaurant des Hotel Esplanade.
Ich glaube, um neun geht ein Boot. Aber sagen Sie, was haben Sie seit
gestern gemacht?«

»Ich glaube, ich war spazieren, den ganzen Tag, und auch die ganze Nacht.
Ich habe eine Frau in einem Dorf trösten müssen, weil ihr Mann fortgelaufen
war. Und dann habe ich mir viel Mühe mit einem italienischen Lied gegeben,
das ich lernen wollte, weil es von einer Teresina handelt.«

»Was ist das für ein Lied?«

»Es fängt an: Su in cima di quel boschetto.«

»Um Gottes willen, diesen Gassenhauer kennen Sie auch schon? Ja, der ist
jetzt in Mode bei den Ladenmädchen.«

»O, ich finde das Lied sehr hübsch.«

»Und eine Frau haben Sie getröstet?«

»Ja, sie war traurig, ihr Mann war weggelaufen und war ihr untreu.«

»So? Und wie haben Sie sie getröstet?«

»Sie kam zu mir, um nicht mehr allein zu sein. Ich habe sie geküßt und bei
mir liegen gehabt.«

»War sie denn hübsch?«

»Ich weiß nicht, ich sah sie nicht genau. -- Nein, lachen Sie nicht, nicht
hierüber! Es war so traurig.«

Sie lachte dennoch. »Wie sind Sie komisch! Nun, und geschlafen haben Sie
überhaupt nicht? Sie sehen danach aus.«

»Doch, ich habe mehrere Stunden geschlafen, in einem Wald dort oben.«

Sie blickte seinem Finger nach, der in die Saaldecke deutete, und lachte
laut.

»In einem Wirtshaus?«

»Nein, im Wald. In den Heidelbeeren. Sie sind schon beinahe reif.«

»Sie sind ein Phantast. -- Aber ich muß tanzen, der Direktor klopft schon.
-- Wo sind Sie, Claudio?«

Der schöne, dunkle Tänzer stand schon hinter ihrem Stuhl, die Musik begann.
Am Schluß des Tanzes ging er.

Abends holte er sie pünktlich ab und war froh, den Smoking angezogen zu
haben, denn Teresina hatte sich überaus festlich gekleidet, violett mit
vielen Spitzen, und sah wie eine Fürstin aus.

Am Strande führte er Teresina nicht zum Kursschiff, sondern in ein hübsches
Motorboot, das er für den Abend gemietet hatte. Sie stiegen ein, in der
halboffenen Kajüte lagen Decken für Teresina bereit und Blumen. Mit
scharfer Kurve schnob das rasche Boot zum Hafen hinaus in den See.

Draußen in der Nacht und Stille sagte Klein: »Teresina, ist es nicht
eigentlich schade, jetzt dort hinüber unter die vielen Menschen zu gehen?
Wenn Sie Lust haben, fahren wir weiter, ohne Ziel, solang es uns gefällt,
oder wir fahren in irgendein hübsches stilles Dorf, trinken einen Landwein
und hören zu, wie die Mädchen singen. Was meinen Sie?«

Sie schwieg, und er sah alsbald Enttäuschung auf ihrem Gesicht. Er lachte.

»Nun, es war ein Einfall von mir, verzeihen Sie. Sie sollen vergnügt sein
und haben, was Ihnen Spaß macht, ein andres Programm haben wir nicht. In
zehn Minuten sind wir drüben.«

»Interessiert Sie denn das Spiel gar nicht?« fragte sie.

»Ich werde ja sehen, ich muß es erst probieren. Der Sinn davon ist mir noch
etwas dunkel. Man kann Geld gewinnen und Geld verlieren. Ich glaube, es
gibt stärkere Sensationen.«

»Das Geld, um das gespielt wird, braucht ja nicht bloß Geld zu sein. Es ist
für jeden ein Sinnbild, jeder gewinnt oder verliert nicht Geld, sondern all
die Wünsche und Träume, die es für ihn bedeutet. Für mich bedeutet es
Freiheit. Wenn ich Geld habe, kann niemand mir mehr befehlen. Ich lebe, wie
ich will. Ich tanze, wann und wo und für wen ich will. Ich reise, wohin ich
will.«

Er unterbrach sie.

»Was sind Sie für ein Kind, liebes Fräulein! Es gibt keine solche Freiheit,
außer in Ihren Wünschen. Werden Sie morgen reich und frei und unabhängig --
übermorgen verlieben Sie sich in einen Kerl, der Ihnen das Geld wieder
abnimmt, oder der Ihnen bei Nacht den Hals abschneidet.«

»Reden Sie nicht so scheußlich! Also: wenn ich reich wäre, würde ich
vielleicht einfacher leben als jetzt, aber ich täte es, weil es mir Spaß
machte, freiwillig und nicht aus Zwang. Ich hasse Zwang! Und sehen Sie,
wenn ich nun mein Geld im Spiel einsetze, dann sind bei jedem Verlust und
Gewinn alle meine Wünsche beteiligt, es geht um alles, was mir wertvoll und
begehrenswert ist, und das gibt ein Gefühl, das man sonst nicht leicht
findet.«

Klein sah sie an, während sie sprach, ohne sehr auf ihre Worte zu achten.
Ohne es zu wissen, verglich er Teresinas Gesicht mit dem Gesicht jener
Frau, von der er im Walde geträumt hatte.

Erst als das Boot in die Bucht von Castiglione einfuhr, wurde es ihm
bewußt, denn jetzt erinnerte ihn der Anblick des beleuchteten Blechschildes
mit dem Stationsnamen heftig an den Schild im Traum, auf welchem
»Lohengrin« oder »Wagner« gestanden hatte. Genau so hatte jenes Schild
ausgesehen, genau so groß, so grau und weiß, so grell beleuchetet. War dies
hier die Bühne, die auf ihn wartete? Kam er hier zu Wagner? Nun fand er
auch, daß Teresina der Traumfrau glich, vielmehr den beiden Traumfrauen,
deren eine er mit dem Messer totgestochen, deren andre ihn tödlich mit den
Krallen gewürgt hatte. Ein Schrecken lief ihm über die Haut. Hing denn das
alles zusammen? Wurde er wieder von unbekannten Geistern geführt? Und
wohin? Zu Wagner? Zu Mord? Zu Tod?

Beim Aussteigen nahm Teresina seinen Arm, und so Arm in Arm gingen sie
durch den kleinen bunten Lärm der Schifflände, durchs Dorf und in das
Kasino. Hier gewann alles jenen halb reizenden, halb ermüdenden Schimmer
von Unwahrscheinlichkeit, den die Veranstaltungen gieriger Menschen stets
da bekommen, wo sie fern den Städten in stille Landschaften verirrt stehen.
Die Häuser waren zu groß und zu neu, das Licht zu reichlich, die Säle zu
prächtig, die Menschen zu lebhaft. Zwischen den großen, finsteren Bergzügen
und dem weiten, sanften See hing der kleine dichte Bienenschwarm
begehrlicher und übersättigter Menschen so ängstlich gedrängt, als sei er
keine Stunde seiner Dauer gewiß, als könne jeden Augenblick etwas
geschehen, das ihn wegwischte. Aus Sälen, wo gespeist und Champagner
getrunken wurde, quoll süße überhitzte Geigenmusik heraus, auf Treppen
zwischen Palmen und laufenden Brunnen glühten Blumengruppen und
Frauenkleider durcheinander, bleiche Männergesichter über offnen
Abendröcken, blaue Diener mit Goldknöpfen geschäftig, dienstbar und
vielwissend, duftende Weiber mit südlichen Gesichtern bleich und glühend,
schön und krank, und nordische derbe Frauen drall, befehlend und
selbstbewußt, alte Herren wie aus Illustrationen zu Turgenjew und Fontane.

Klein fühlte sich unwohl und müde, sobald sie die Säle betraten. Im großen
Spielsaal zog er zwei Tausenderscheine aus der Tasche.

»Wie nun?« fragte er. »Wollen wir gemeinsam spielen?«

»Nein, nein, das ist nichts. Jeder für sich.«

Er gab ihr einen Schein und bat sie, ihn zu führen. Sie standen bald an
einem Spieltisch. Klein legte seine Banknote auf eine Nummer, das Rad wurde
gedreht, er verstand nichts davon, sah nur seinen Einsatz weggewischt und
verschwunden. Das geht schnell, dachte er befriedigt, und wollte Teresina
zulachen. Sie war nicht mehr neben ihm. Er sah sie bei einem andern Tisch
stehen und ihr Geld wechseln. Er ging hinüber. Sie sah nachdenklich,
besorgt und sehr beschäftigt aus wie eine Hausfrau.

Er folgte ihr an einen Spieltisch und sah ihr zu. Sie kannte das Spiel und
folgte ihm mit scharfer Aufmerksamkeit. Sie setzte kleine Summen, nie mehr
als fünfzig Franken, bald hier bald dort, gewann einige Male, steckte
Scheine in ihre perlengestickte Handtasche, zog wieder Scheine heraus.

»Wie geht's?« fragte er zwischenein.

Sie war empfindlich über die Störung.

»O, lassen Sie mich spielen! Ich werde es schon gut machen.« Bald wechselte
sie den Tisch, er folgte ihr, ohne daß sie ihn sah. Da sie so sehr
beschäftigt war und seine Dienste nie in Anspruch nahm, zog er sich auf
eine Lederbank an der Wand zurück. Einsamkeit schlug über ihm zusammen. Er
versank wieder in Nachdenken über seinen Traum. Es war sehr wichtig, ihn zu
verstehen. Vielleicht würde er nicht oft mehr solche Träume haben,
vielleicht waren sie wie im Märchen die Winke der guten Geister: zweimal,
auch dreimal wurde man gelockt, oder wurde gewarnt, war man dann immer noch
blind, so nahm das Schicksal seinen Lauf und keine befreundete Macht griff
mehr ins Rad. Von Zeit zu Zeit blickte er nach Teresina aus, sah sie an
einem der Tische bald sitzen, bald stehen, hell schimmerte ihr gelbes Haar
zwischen den Fräcken.

Wie lang sie mit den tausend Franken ausreicht! dachte er gelangweilt, bei
mir ging das schneller.

Einmal nickte sie ihm zu. Einmal, nach einer Stunde, kam sie herüber, fand
ihn in sich versunken und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Was machen Sie? Spielen Sie denn nicht?«

»Ich habe schon gespielt.«

»Verloren?«

»Ja. O, es war nicht viel.«

»Ich habe etwas gewonnen. Nehmen Sie von meinem Geld.«

»Danke, heut nicht mehr. -- Sind Sie zufrieden?«

»Ja, es ist schön. Nun, ich gehe wieder. Oder wollen Sie schon nach Hause?«

Sie spielte weiter, da und dort sah er ihr Haar zwischen den Schultern der
Spieler aufglänzen. Er brachte ihr ein Glas Champagner hinüber, und trank
selbst ein Glas. Dann setzte er sich wieder auf die Lederbank an der Wand.

Wie war das mit den beiden Frauen im Traum? Sie hatten seiner eigenen Frau
geglichen und auch der Frau im Dorfwirtshaus und auch Teresina. Von andern
Frauen wußte er nicht, seit Jahren nicht. Die eine Frau hatte er erstochen,
voll Abscheu über ihr verzerrtes geschwollenes Gesicht. Die andre hatte ihn
überfallen, von hinten, und erwürgen wollen. Was war nun richtig? Was war
bedeutsam? Hatte er seine Frau verwundet, oder sie ihn? Würde er an
Teresina zugrunde gehen, oder sie an ihm? Konnte er eine Frau nicht lieben,
ohne ihr Wunden zu schlagen, und ohne von ihr verwundet zu werden? War das
sein Fluch? Oder war das allgemein? Ging es allen so? War alle Liebe so?

Und was verband ihn mit dieser Tänzerin? Daß er sie liebte? Er hatte viele
Frauen geliebt, die nie davon erfahren hatten. Was band ihn an sie, die
drüben stand und das Glücksspiel wie ein ernstes Geschäft betrieb? Wie war
sie kindlich in ihrem Eifer, in ihrer Hoffnung, wie war sie gesund, naiv
und lebenshungrig! Was würde sie davon verstehen, wenn sie seine tiefste
Sehnsucht kannte, das Verlangen nach Tod, das Heimweh nach Erlöschen, nach
Rückkehr in Gottes Schoß! Vielleicht würde sie ihn lieben, schon bald,
vielleicht würde sie mit ihm leben -- aber würde es anders sein, als es mit
seiner Frau gewesen war? Würde er nicht, immer und immer, mit seinen
innigsten Gefühlen allein sein?

Teresina unterbrach ihn. Sie blieb bei ihm stehen und gab ihm ein Bündel
Banknoten in die Hand.

»Bewahren Sie mir das auf, bis nachher.«

Nach einer Zeit, er wußte nicht, war es lang oder kurz, kam sie wieder und
erbat das Geld zurück.

Sie verliert, dachte er, Gott sei Dank! Hoffentlich ist sie bald fertig.

Kurz nach Mitternacht kam sie, vergnügt und etwas erhitzt. »So, ich höre
auf. Sie Armer sind gewiß müde. Wollen wir nicht noch einen Bissen essen,
eh' wir heimfahren?«

In einem Speisesaal aßen sie Schinkeneier und Früchte und tranken
Champagner. Klein erwachte und wurde munter. Die Tänzerin war verändert,
froh und in einem leichten süßen Rausch. Sie sah und wußte wieder, daß sie
schön war und schöne Kleider trug, sie spürte die Blicke der Männer, die
von benachbarten Tischen herüber warben, und auch Klein fühlte die
Verwandlung, sah sie wieder von Reiz und holder Verlockung umgeben, hörte
wieder den Klang von Herausforderung und Geschlecht in ihrer Stimme, sah
wieder ihre Hände weiß und ihren Hals perlfarben aus den Spitzen steigen.

»Haben Sie auch tüchtig gewonnen?« fragte er lachend.

»Es geht, noch nicht das große Los. Es sind etwa fünftausend.«

»Nun, das ist ja ein hübscher Anfang.«

»Ja, ich werde natürlich fortfahren, das nächstemal. Aber das richtige ist
es noch nicht. Es muß auf einmal kommen, nicht tropfenweise.«

Er wollte sagen: »Dann müßten Sie auch nicht tropfenweise setzen, sondern
alles auf einmal« -- aber er stieß statt dessen mit ihr an, auf das große
Glück, und lachte und plauderte weiter.

Wie war das Mädchen hübsch, gesund und einfach in seiner Freude! Vor einer
Stunde noch hatte sie an den Spieltischen gestanden, streng, besorgt,
faltig, böse, rechnend. Jetzt sah sie aus, als habe nie eine Sorge sie
berührt, als wisse sie nichts von Geld, Spiel, Geschäften, als kenne sie
nur Freude, Luxus und müheloses Schwimmen an der schillernden Oberfläche
des Lebens. War das alles wahr, alles echt? Er selbst lachte ja auch, war
ja auch vergnügt, warb ja auch um Freude und Liebe aus heitern Augen -- und
doch saß zugleich einer in ihm, der an das alles nicht glaubte, der dem
allem mit Mißtrauen und mit Hohn zusah. War das bei andern Menschen anders?
Ach, man wußte so wenig, so verzweifelt wenig von den Menschen! Hundert
Jahreszahlen von lächerlichen Schlachten und Namen von lächerlichen alten
Königen hatte man in den Schulen gelernt, und man las täglich Artikel über
Steuern oder über den Balkan, aber vom Menschen wußte man nichts! Wenn eine
Glocke nicht schellte, wenn ein Ofen rauchte, wenn ein Rad in einer
Maschine stockte, so wußte man sogleich, wo zu suchen sei, und tat es mit
Eifer, und fand den Schaden und wußte, wie er zu heilen war. Aber das Ding
in uns, die geheime Feder, die allein dem Leben den Sinn gibt, das Ding in
uns, das allein lebt, das allein fähig ist, Lust und Weh zu fühlen, Glück
zu begehren, Glück zu erleben -- das war unbekannt, von dem wußte man
nichts, gar nichts, und wenn es krank wurde, so gab es keine Heilung. War
es nicht wahnsinnig?

Während er mit Teresina trank und lachte, stiegen in andern Bezirken seiner
Seele solche Fragen auf und nieder, dem Bewußtsein bald näher bald ferner.
Alles war zweifelhaft, alles schwamm im Ungewissen. Wenn er nur das Eine
gewußt hätte: ob diese Unsicherheit, diese Not, diese Verzweiflung mitten
in der Freude, dieses Denkenmüssen und Fragenmüssen auch in andern Menschen
so war, oder nur in ihm allein, in dem Sonderling Klein?

Eines fand er, darin unterschied er sich von Teresina, darin war sie anders
als er, war kindlich und primitiv gesund. Dies Mädchen rechnete, wie alle
Menschen, und wie auch er selbst es früher getan hatte, immerzu instinktiv
mit Zukunft, mit Morgen und Übermorgen, mit Fortdauer. Hätte sie sonst
spielen und das Geld so ernst nehmen können? Und da, das fühlte er tief, da
stand es bei ihm anders. Für ihn stand hinter jedem Gefühl und Gedanken das
Tor offen, das ins Nichts führte. Wohl litt er an Angst, an Angst vor sehr
vielem, vor dem Wahnsinn, vor der Polizei, der Schlaflosigkeit, auch an
Angst vor dem Tod. Aber alles, wovor er Angst empfand, das begehrte und
ersehnte er dennoch zugleich -- er war voll brennender Sehnsucht und
Neugierde nach Leid, nach Untergang, nach Verfolgung, nach Wahnsinn und
Tod.

»Komische Welt,« sagte er vor sich hin, und meinte damit nicht die Welt um
ihn her, sondern dies innere Wesen. Plaudernd verließen sie den Saal und
das Haus, kamen im blassen Laternenlicht an das schlafende Seeufer, wo sie
ihren Bootsmann wecken mußten. Es dauerte eine Weile, bis das Boot abfahren
konnte, und die beiden standen nebeneinander, plötzlich aus der Lichtfülle
und farbigen Geselligkeit des Kasinos in die dunkle Stille des verlassenen
nächtlichen Ufers verzaubert, das Lachen von drüben noch auf erhitzten
Lippen und schon kühl berührt von Nacht, Schlafnähe und Furcht vor
Einsamkeit. Sie fühlten beide dasselbe. Unversehens hielten sie sich bei
den Händen, lächelten irr und verlegen in die Dunkelheit, spielten mit
zuckenden Fingern einer auf Hand und Arm des andern. Der Bootsmann rief,
sie stiegen ein, setzten sich in die Kabine, und mit heftigem Griff zog er
den blonden schweren Kopf zu sich her und in die ausbrechende Glut seiner
Küsse.

Zwischenein sich erwehrend, setzte sie sich aufrecht und fragte: »Werden
wir wohl bald wieder hier herüber fahren?«

Mitten in der Liebeserregung mußte er heimlich lachen. Sie dachte bei allem
noch ans Spiel, sie wollte wiederkommen und ihr Geschäft fortsetzen.

»Wann du willst,« sagte er werbend, »morgen und übermorgen und jeden Tag,
den du willst.«

Als er ihre Finger in seinem Nacken spielen fühlte, durchzuckte ihn
Erinnerung an das furchtbare Gefühl im Traum, als das rächende Weib ihm die
Nägel in den Hals krallte.

»Jetzt sollte sie mich plötzlich töten, das wäre das richtige,« dachte er
glühend -- »oder ich sie.«

Ihre Brust mit tastender Hand umspannend lachte er leise vor sich hin.
Unmöglich wäre es ihm gewesen, noch Lust und Weh zu unterscheiden. Auch
seine Lust, seine hungrige Sehnsucht nach der Umarmung mit diesem schönen
starken Weibe, war von Angst kaum zu unterscheiden, er ersehnte sie wie der
Verurteilte das Beil. Beides war da, flammende Lust und trostlose Trauer,
beides brannte, beides zuckte in fiebernden Sternen auf, beides wärmte,
beides tötete.

Teresina entzog sich geschmeidig einer zu kühnen Liebkosung, hielt seine
beiden Hände fest, brachte ihre Augen nah an seine und flüsterte wie
abwesend: »Was bist du für ein Mensch, du? Warum liebe ich dich? Warum
zieht mich etwas zu dir? Du bist schon alt und bist nicht schön -- wie ist
das? Höre, ich glaube doch, daß du ein Verbrecher bist. Bist du nicht
einer? Ist dein Geld nicht gestohlen?«

Er suchte sich loszumachen: »Rede nicht, Teresina! Alles Geld ist
gestohlen, alle Habe ist ungerecht. Ist denn das wichtig? Wir sind alle
Sünder, wir sind alle Verbrecher, nur schon weil wir leben. Ist denn das
wichtig?«

»Ach, was ist wichtig?« zuckte sie auf.

»Wichtig ist, daß wir diesen Becher austrinken,« sagte Klein langsam,
»nichts anderes ist wichtig. Vielleicht kommt er nicht wieder. Willst du
mit mir schlafen kommen, oder darf ich mit zu dir gehen?«

»Komm zu mir,« sagte sie leise. »Ich habe Angst vor dir, und doch muß ich
bei dir sein. Sage mir dein Geheimnis nicht! Ich will nichts wissen!«

Das Abklingen des Motors weckte sie, sie riß sich los, strich sich klärend
über Haar und Kleider. Das Boot lief leise an den Steg, Laternenlichter
spiegelten splitternd im schwarzen Wasser. Sie stiegen aus.

»Halt, meine Tasche!« rief Teresina nach zehn Schritten. Sie lief zum Steg
zurück, sprang ins Boot, fand auf dem Polster die Tasche mit ihrem Geld
liegen, warf dem mißtrauisch blickenden Fährmann einen der Scheine hin und
lief Klein in die Arme, der sie am Kai erwartete.


V

Der Sommer hatte plötzlich begonnen, in zwei heißen Tagen hatte er die Welt
verändert, die Wälder vertieft, die Nächte verzaubert. Heiß drängte sich
Stunde an Stunde, schnell lief die Sonne ihren glühenden Halbkreis ab,
schnell und hastig folgten ihr die Sterne, Lebensfieber glühte hoch, eine
lautlose gierige Eile jagte die Welt.

Ein Abend kam, da wurde Teresinas Tanz im Kursaal durch ein rasend
hertobendes Gewitter unterbrochen. Lampen erloschen, irre Gesichter
grinsten sich im weißen Flackern der Blitze an, Weiber schrien, Kellner
brüllten, Fenster zerklirrten im Sturm.

Klein hatte Teresina sofort zu sich an den Tisch gezogen, wo er neben dem
alten Komiker saß.

»Herrlich!« sagte er. »Wir gehen. Du hast doch keine Angst?«

»Nein, nicht Angst. Aber du darfst heut nicht mit mir kommen. Du hast drei
Nächte nicht geschlafen, und du siehst scheußlich aus. Bring mich nach
Haus, und dann geh schlafen in dein Hotel! Nimm Veronal, wenn du es
brauchst. Du lebst wie ein Selbstmörder.«

Sie gingen, Teresina im geborgten Mantel eines Kellners, mitten durch Sturm
und Blitze und aufheulende Staubwirbel durch die leer gefegten Straßen,
hell und frohlockend knallten die prallen Donnerschläge durch die
aufgewühlte Nacht, plötzlich brauste Regen los, auf dem Pflaster
zerspritzend, voll und voller mit dem erlösenden Schluchzen wilder Güsse im
dicken Sommerlaub.

Naß und durchschüttelt kamen sie in die Wohnung der Tänzerin, Klein ging
nicht nach Hause, es wurde nicht mehr davon gesprochen. Aufatmend traten
sie ins Schlafzimmer, taten lachend die durchnäßten Kleider ab, durchs
Fenster schrillte grell das Licht der Blitze, in den Akazien wühlte Sturm
und Regen sich müde.

»Wir waren noch nicht wieder in Castiglione,« spottete Klein. »Wann gehen
wir?«

»Wir werden wieder gehen, verlaß dich drauf. Hast du Langeweile?«

Er zog sie an sich, beide fieberten, und Nachglanz des Gewitters loderte in
ihrer Liebkosung. In Stößen kam durchs Fenster die gekühlte feuchte Luft,
mit bittrem Geruch von Laub und stumpfem Geruch von Erde. Aus dem
Liebeskampf fielen sie beide schnell in Schlummer. Auf dem Kissen lag sein
ausgehöhltes Gesicht neben ihrem frischen, sein dünnes trocknes Haar neben
ihrem vollen blühenden. Vor dem Fenster glühte das Nachtgewitter in letzten
Flammen auf, wurde müde und erlosch, der Sturm schlief ein, beruhigt rann
ein stiller Regen in die Bäume.

Bald nach ein Uhr erwachte Klein, der keinen längern Schlaf mehr kannte,
aus einem schweren schwülen Traumgewirre, mit wüstem Kopf und schmerzenden
Augen. Regungslos lag er eine Weile, die Augen aufgerissen, sich besinnend,
wo er sei. Es war Nacht, jemand atmete neben ihm, er war bei Teresina.

Langsam richtete er sich auf. Nun kamen die Qualen wieder, nun war ihm
wieder beschieden, Stunde um Stunde zu liegen, Weh und Angst im Herzen,
allein, nutzlose Leiden leiden, nutzlose Gedanken denken, nutzlose Sorgen
sorgen. Aus dem Alpdrücken, das ihn geweckt hatte, krochen schwere fette
Gefühle ihm nach, Ekel und Grauen, Übersättigung, Selbstverachtung.

Er tastete nach dem Licht und drehte an. Die kühle Helligkeit floß übers
weiße Kissen, über die Stühle voll Kleider, schwarz hing das Fensterloch in
der schmalen Wand. Über Teresinas abgewandtes Gesicht fiel Schatten, ihr
Nacken und Haar glänzte hell.

So hatte er einst auch seine Frau zuweilen liegen sehen, auch neben ihr war
er zu Zeiten schlaflos gelegen, ihren Schlummer beneidend, von ihrem satten
zufriedenen Atemholen wie verhöhnt. Nie, niemals war man von seinem
Nächsten so ganz und gar, so vollkommen verlassen, als wenn er schlief! Und
wieder, wie schon oft, fiel ihm das Bild des leidenden Jesus ein, im Garten
Gethsemane, wo die Todesangst ihn ersticken will, seine Jünger aber
schlafen, schlafen.

Leise zog er das Kissen mehr zu sich herüber, samt dem schlafenden Kopf
Teresinas. Nun sah er ihr Gesicht, im Schlaf so fremd, so ganz bei sich
selbst, so ganz von ihm abgewandt. Eine Schulter und Brust lag bloß, unter
dem Leintuch wölbte sich sanft ihr Leib bei jedem Atemzug. Komisch, fiel
ihm ein, wie man in Liebesworten, in Gedichten, in Liebesbriefen immer und
immer von den süßen Lippen und Wangen sprach, und nie von Bauch und Bein!
Schwindel! Schwindel! Er betrachtete Teresina lang. Mit diesem schönen
Leib, mit dieser Brust und diesen weißen, gesunden, starken, gepflegten
Atmen und Beinen würde sie ihn noch oft verlocken und ihn umschlingen und
Lust von ihm nehmen und dann ruhen und schlafen, satt und tief, ohne
Schmerzen, ohne Angst, ohne Ahnung, schön und stumpf und dumm wie ein
gesundes schlafendes Tier. Und er würde neben ihr liegen, schlaflos, mit
flackernden Nerven, das Herz voll Pein. Noch oft? Noch oft? Ach nein, nicht
oft mehr, nicht viele Male mehr, vielleicht keinmal mehr! Er zuckte
zusammen. Nein, er wußte es: keinmal mehr!

Stöhnend bohrte er den Daumen in seine Augenhöhle, wo zwischen Auge und
Stirn diese teuflischen Schmerzen saßen. Gewiß, auch Wagner hatte diese
Schmerzen gehabt, der Lehrer Wagner. Er hatte sie gehabt, diese
wahnsinnigen Schmerzen, gewiß jahrelang, und hatte sie getragen und
erlitten, und sich dabei reifen und Gott näher kommen gemeint in seinen
Qualen, seinen nutzlosen Qualen. Bis er eines Tages es nicht mehr ertragen
konnte -- so wie auch er, Klein, es nicht mehr ertragen konnte. Die
Schmerzen waren ja das wenigste, aber die Gedanken, die Träume, das
Alpdrücken! Da war Wagner eines Nachts aufgestanden und hatte gesehen, daß
es keinen Sinn habe, noch mehr, noch viele solche Nächte voll Qual
aneinander zu reihen, daß man dadurch nicht zu Gott komme, und hatte das
Messer geholt. Es war vielleicht unnütz, es war vielleicht töricht und
lächerlich von Wagner, daß er gemordet hatte. Wer seine Qualen nicht
kannte, wer seine Pein nicht gelitten hatte, der konnte es ja nicht
verstehen.

Er selbst hatte vor kurzem, in einem Traum, eine Frau mit dem Messer
erstochen, weil ihr entstelltes Gesicht ihm unerträglich gewesen war.
Entstellt war freilich jedes Gesicht, das man liebte, entstellt und grausam
aufreizend, wenn es nicht mehr log, wenn es schwieg, wenn es schlief. Da
sah man ihm auf den Grund und sah nichts von Liebe darin, wie man auch im
eigenen Herzen nichts von Liebe fand, wenn man auf den Grund sah. Da war
nur Lebensgier und Angst, und aus Angst, aus dummer Kinderangst vor der
Kälte, vor dem Alleinsein, vor dem Tode floh man zueinander, küßte sich,
umarmte sich, rieb Wange an Wange, legte Bein zu Bein, warf neue Menschen
in die Welt. So war es. So war er einst zu seiner Frau gekommen. So war die
Frau des Wirtes in einem Dorf zu ihm gekommen, einst, am Anfang seines
jetzigen Weges, in einer kahlen steinernen Kammer, barfuß und schweigend,
getrieben von Angst, von Lebensgier, von Trostbedürfnis. So war auch er zu
Teresina gekommen, und sie zu ihm. Es war stets derselbe Trieb, dasselbe
Begehren, dasselbe Mißverständnis. Es war auch stets dieselbe Enttäuschung,
dasselbe grimme Leid. Man glaubte, Gott nah zu sein, und hielt ein Weib in
den Armen. Man glaubte, Harmonie erreicht zu haben, und hatte nur seine
Schuld und seinen Jammer weggewälzt, auf ein fernes zukünftiges Wesen! Ein
Weib hielt man in den Armen, küßte ihren Mund, streichelte ihre Brust und
zeugte mit ihr ein Kind, und einst würde das Kind, vom selben Schicksal
ereilt, in einer Nacht ebenso neben einem Weibe liegen und ebenso aus dem
Rausch erwachen und mit schmerzenden Augen in den Abgrund sehen, und das
Ganze verfluchen. Unerträglich, das zu Ende zu denken!

Sehr aufmerksam betrachtete er das Gesicht der Schlafenden, die Schulter
und Brust, das gelbe Haar. Das alles hatte ihn entzückt, hatte ihn
getäuscht, hatte ihn verlockt, das alles hatte ihm Lust und Glück
vorgelogen. Nun war es aus, nun wurde abgerechnet. Er war in das Theater
Wagner eingetreten, er hatte erkannt, warum jedes Gesicht, sobald die
Täuschung dahinfiel, so entstellt und unausstehlich war.

Klein stand vom Bett auf und ging auf die Suche nach einem Messer. Im
Vorbeischleichen streifte er Teresinas lange hellbraune Strümpfe vom Stuhl
-- dabei fiel ihm blitzschnell ein, wie er sie das erstemal gesehen, im
Park, und wie von ihrem Gang und von ihrem Schuh und straffen Strumpf der
erste Reiz ihm zugeflogen war. Er lachte leise, wie schadenfroh, und nahm
Teresinas Kleider, Stück um Stück, in die Hand, befühlte sie und ließ sie
zu Boden fallen. Dann suchte er weiter, dazwischen für Momente alles
vergessend. Sein Hut lag auf dem Tisch, er nahm ihn gedankenlos in die
Hände, drehte ihn, fühlte, daß er naß war, und setzte ihn auf. Beim Fenster
blieb er stehen, sah in die Schwärze hinaus, hörte Regen singen, es klang
wie aus verschollenen anderen Zeiten her. Was wollte das alles von ihm,
Fenster, Nacht, Regen -- was ging es ihn an, das alte Bilderbuch aus der
Kinderzeit?

Plötzlich blieb er stehen. Er hatte ein Ding in die Hand genommen, das auf
einem Tische lag, und sah es an. Es war ein silberner ovaler Handspiegel,
und aus dem Spiegel schien ihm sein Gesicht entgegen, das Gesicht Wagners,
ein irres verzogenes Gesicht mit tiefen schattigen Höhlen und zerstörten,
zersprungenen Zügen. Das geschah ihm jetzt so merkwürdig oft, daß er sich
unversehens in einem Spiegel sah, ihm schien, er habe früher jahrzehntelang
nie in einen geblickt. Auch das, schien es, gehörte zum Theater Wagner.

Er blieb stehen und blickte lang in das Glas. Dies Gesicht des ehemaligen
Friedrich Klein war fertig und verbraucht, es hatte ausgedient, Untergang
schrie aus jeder Falte. Dies Gesicht mußte verschwinden, es mußte
ausgelöscht werden. Es war sehr alt, dies Gesicht, viel hatte sich in ihm
gespiegelt, allzu viel, viel Lug und Trug, viel Staub und Regen war darüber
gegangen. Es war einmal glatt und hübsch gewesen, er hatte es einst geliebt
und gepflegt und Freude daran gehabt, und hatte es oft auch gehaßt. Warum?
Beides war nicht mehr zu begreifen.

Und warum stand er jetzt da, nachts in diesem kleinen fremden Zimmer, mit
einem Glas in der Hand und einem nassen Hut auf dem Kopf, ein seltsamer
Hanswurst -- was war mit ihm? Was wollte er? Er setzte sich auf den
Tischrand. Was hatte er gewollt? Was suchte er? Er hatte doch etwas
gesucht, etwas sehr Wichtiges gesucht?

Ja, ein Messer.

Plötzlich ungeheuer erschüttert sprang er empor und lief zum Bett. Er
beugte sich über das Kissen, sah das schlafende Mädchen im gelben Haare
liegen. Sie lebte noch! Er hatte es noch nicht getan! Grauen überfloß ihn
eisig. Mein Gott, nun war es da! Nun war es so weit, und es geschah, was er
schon immer und immer in seinen furchtbarsten Stunden hatte kommen sehen.
Nun war es da. Nun stand er, Wagner, am Bett einer Schlafenden, und suchte
das Messer! -- Nein, er wollte nicht. Nein, er war nicht wahnsinnig. Gott
sei Dank, er war nicht wahnsinnig! Nun war es gut.

Es kam Friede über ihn. Langsam zog er seine Kleider an, die Hosen, den
Rock, die Schuhe. Nun war es gut.

Als er nochmals zum Bett treten wollte, fühlte er Weiches unter seinem Fuß.
Da lagen Teresinas Kleider am Boden, die Strümpfe, das hellgraue Kleid.
Sorgfältig hob er sie auf und legte sie über den Stuhl.

Er löschte das Licht und ging aus dem Zimmer. Vor dem Hause troff Regen
still und kühl, nirgends Licht, nirgends ein Mensch, nirgends ein Laut, nur
der Regen. Er wandte das Gesicht nach oben und ließ sich den Regen über
Stirn und Wangen laufen. Kein Himmel zu finden. Wie dunkel es war! Gern,
gern hätte er einen Stern gesehen.

Ruhig ging er durch die Straßen, vom Regen durchweicht. Kein Mensch, kein
Hund begegnete ihm, die Welt war ausgestorben. Am Seeufer ging er von Boot
zu Boot, sie waren alle hoch ans Land gezogen und stramm mit Ketten
befestigt. Erst ganz in der Vorstadt außen fand er eins, das locker am
Strick hing und sich lösen ließ. Das machte er los und hängte die Ruder
ein. Schnell war das Ufer vergangen, es floß ins Grau hinweg wie nie
gewesen, nur Grau und Schwarz und Regen war noch auf der Welt, grauer See,
nasser See, grauer See, nasser Himmel, alles ohne Ende.

Draußen, weit im See, zog er die Ruder ein. Es war nun so weit, und er war
zufrieden. Früher hatte er, in den Augenblicken, wo Sterben ihm
unvermeidlich schien, doch immer gern noch ein wenig gezögert, die Sache
auf morgen verschoben, es erst noch einmal mit dem Weiterleben probiert.
Davon war nichts mehr da. Sein kleines Boot, das war er, das war sein
kleines, umgrenztes, künstlich versichertes Leben -- rundum aber das weite
Grau, das war die Welt, das war All und Gott, dahinein sich fallen zu
lassen war nicht schwer, das war leicht, das war froh.

Er setzte sich auf den Rand des Bootes nach außen, die Füße hingen ins
Wasser. Er neigte sich langsam vor, neigte sich vor, bis hinter ihm das
Boot elastisch entglitt. Er war im All.

In die kleine Zahl von Augenblicken, welche er von da an noch lebte, war
viel mehr Erlebnis gedrängt als in den vierzig Jahren, die er zuvor bis zu
diesem Ziel unterwegs gewesen war.

Es begann damit: Im Moment, wo er fiel, wo er einen Blitz lang zwischen
Bootsrand und Wasser schwebte, stellte sich ihm dar, daß er einen
Selbstmord begehe, eine Kinderei, etwas zwar nicht Schlimmes, aber
Komisches und ziemlich Törichtes. Das Pathos des Sterbenwollens und das
Pathos des Sterbens selbst fiel in sich zusammen, es war nichts damit. Sein
Sterben war nicht mehr notwendig, jetzt nicht mehr. Es war erwünscht, es
war schön und willkommen, aber notwendig war es nicht mehr. Seit dem
Moment, seit dem aufblitzenden Sekundenteil, wo er sich mit ganzem Wollen,
mit ganzem Verzicht auf jedes Wollen, mit ganzer Hingabe hatte vom
Bootsrand fallen lassen, in den Schoß der Mutter, in den Arm Gottes -- seit
diesem Augenblick hatte das Sterben keine Bedeutung mehr. Es war ja alles
so einfach, es war ja alles so wunderbar leicht, es gab ja keine Abgründe,
keine Schwierigkeiten mehr. Die ganze Kunst war: sich fallen lassen! Das
leuchtete als Ergebnis seines Lebens hell durch sein ganzes Wesen: sich
fallen lassen! Hatte man das einmal getan, hatte man einmal sich
dahingegeben, sich anheimgestellt, sich ergeben, hatte man einmal auf alle
Stützen und jeden festen Boden unter sich verzichtet, hörte man ganz und
gar nur noch auf den Führer im eigenen Herzen, dann war alles gewonnen,
dann war alles gut, keine Angst mehr, keine Gefahr mehr.

Dies war erreicht, dies Große, Einzige: er hatte sich fallen lassen! Daß er
sich ins Wasser und in den Tod fallen ließ, wäre nicht notwendig gewesen,
ebensogut hätte er sich ins Leben fallen lassen können. Aber daran lag
nicht viel, wichtig war dies nicht. Er würde leben, er würde wieder kommen.
Dann aber würde er keinen Selbstmord mehr brauchen und keinen von all
diesen seltsamen Umwegen, keine von all diesen mühsamen und schmerzlichen
Torheiten mehr, denn er würde die Angst überwunden haben.

Wunderbarer Gedanke: ein Leben ohne Angst! Die Angst überwinden, das war
die Seligkeit, das war die Erlösung. Wie hatte er sein Leben lang Angst
gelitten, und nun, wo der Tod ihn schon am Halse würgte, fühlte er nichts
mehr davon, keine Angst, kein Grauen, nur Lächeln, nur Erlösung, nur
Einverstandensein. Er wußte nun plötzlich, was Angst ist, und daß sie nur
von dem überwunden werden kann, der sie erkannt hat. Man hatte vor tausend
Dingen Angst, vor Schmerzen, vor Richtern, vor dem eigenen Herzen, man
hatte Angst vor dem Schlaf, Angst vor dem Erwachen, vor dem Alleinsein, vor
der Kälte, vor dem Wahnsinn, vor dem Tode -- namentlich vor ihm, vor dem
Tode. Aber all das waren nur Masken und Verkleidungen. In Wirklichkeit gab
es nur eines, vor dem man Angst hatte: das Sichfallenlassen, den Schritt in
das Ungewisse hinaus, den kleinen Schritt hinweg über all die
Versicherungen, die es gab. Und wer sich einmal, ein einziges Mal
hingegeben hatte, wer einmal das große Vertrauen geübt und sich dem
Schicksal anvertraut hatte, der war befreit. Er gehorchte nicht mehr den
Erdgesetzen, er war in den Weltraum gefallen und schwang im Reigen der
Gestirne mit. So war das. Es war so einfach, jedes Kind konnte das
verstehen, konnte das wissen.

Er dachte dies nicht, wie man Gedanken denkt, er lebte, fühlte, tastete,
roch und schmeckte es. Er schmeckte, roch, sah und verstand, was Leben war.
Er sah die Erschaffung der Welt, er sah den Untergang der Welt, beide wie
zwei Heerzüge beständig gegeneinander in Bewegung, nie vollendet, ewig
unterwegs. Die Welt wurde immerfort geboren, sie starb immerfort. Jedes
Leben war ein Atemzug, von Gott ausgestoßen. Jedes Sterben war ein Atemzug,
von Gott eingesogen. Wer gelernt hatte, nicht zu widerstreben, sich fallen
zu lassen, der starb leicht, der wurde leicht geboren. Wer widerstrebte,
der litt Angst, der starb schwer, der wurde ungern geboren.

Im grauen Regendunkel über dem Nachtsee sah der Untersinkende das Spiel der
Welt gespiegelt und dargestellt: Sonnen und Sterne rollten herauf, rollten
hinab, Chöre von Menschen und Tieren, Geistern und Engeln standen
gegeneinander, sangen, schwiegen, schrien, Züge von Wesen zogen
gegeneinander, jedes sich selbst mißkennend, sich selbst hassend, und sich
in jedem andern Wesen hassend und verfolgend. Ihrer aller Sehnsucht war
nach Tod, war nach Ruhe, ihr Ziel war Gott, war die Wiederkehr zu Gott und
das Bleiben in Gott. Dies Ziel schuf Angst, denn es war ein Irrtum. Es gab
kein Bleiben in Gott! Es gab keine Ruhe! Es gab nur das ewige, ewige,
ewige, herrliche, heilige Ausgeatmetwerden und Eingeatmetwerden, Gestaltung
und Auflösung, Geburt und Tod, Auszug und Wiederkehr, ohne Pause, ohne
Ende. Und darum gab es nur eine Kunst, nur eine Lehre, nur ein Geheimnis:
sich fallen lassen, sich nicht gegen Gottes Willen sträuben, sich an nichts
klammern, nicht an Gut noch Böse. Dann war man erlöst, dann war man frei
von Leid, frei von Angst, nur dann.

Sein Leben lag vor ihm wie ein Land mit Wäldern, Talschaften und Dörfern,
das man vom Kamm eines hohen Gebirges übersieht. Alles war gut gewesen,
einfach und gut gewesen, und alles war durch seine Angst, durch sein
Sträuben zu Qual und Verwicklung, zu schauerlichen Knäueln und Krämpfen von
Jammer und Elend geworden! Es gab keine Frau, ohne die man nicht leben
konnte -- und es gab auch keine Frau, mit der man nicht hätte leben können.
Es gab kein Ding in der Welt, das nicht ebenso schön, ebenso begehrenswert,
ebenso beglückend war wie sein Gegenteil! Es war selig zu leben, es war
selig zu sterben, sobald man allein im Weltraum hing. Ruhe von außen gab es
nicht, keine Ruhe im Friedhof, keine Ruhe in Gott, kein Zauber unterbrach
je die ewige Kette der Geburten, die unendliche Reihe der Atemzüge Gottes.
Aber es gab eine andere Ruhe, im eigenen Innern zu finden. Sie hieß: Laß
dich fallen! Wehre dich nicht! Stirb gern! Lebe gern!

Alle Gestalten seines Lebens waren bei ihm, alle Gesichter seiner Liebe,
alle Wechsel seines Leidens. Seine Frau war rein und ohne Schuld wie er
selbst, Teresina lächelte kindlich her. Der Mörder Wagner, dessen Schatten
so breit über Kleins Leben gefallen war, lächelte ihm ernst ins Gesicht,
und sein Lächeln erzählte, daß auch Wagners Tat ein Weg zur Erlösung
gewesen war, auch sie ein Atemzug, auch sie ein Symbol, und daß auch Mord
und Blut und Scheußlichkeit nicht Dinge sind, welche wahrhaft existieren,
sondern nur Wertungen unsrer eigenen, selbstquälerischen Seele. Mit dem
Morde Wagners hatte er, Klein, Jahre seines Lebens hingebracht, in
Verwerfen und Billigen, Verurteilen und Bewundern, Verabscheuen und
Nachahmen hatte er sich aus diesem Morde unendliche Ketten von Qualen, von
Ängsten, von Elend geschaffen. Er hatte hundertmal voll Angst seinem
eigenen Tode beigewohnt, er hatte sich auf dem Schafott sterben sehen, er
hatte den Schnitt des Rasiermessers durch seinen Hals gefühlt und die Kugel
in seiner Schläfe -- und nun, da er den gefürchteten Tod wirklich starb,
war es so leicht, war es so einfach, war es Freude und Triumph! Nichts in
der Welt war zu fürchten, nichts war schrecklich -- nur im Wahn machten wir
uns all diese Furcht, all dies Leid, nur in unsrer eignen, geängsteten
Seele entstand Gut und Böse, Wert und Unwert, Begehren und Furcht.

Die Gestalt Wagners versank weit in der Ferne. Er war nicht Wagner, nicht
mehr, es gab keinen Wagner, das alles war Täuschung gewesen. Nun, mochte
Wagner sterben! Er, Klein, würde leben.

Wasser floß ihm in den Mund, und er trank. Von allen Seiten, durch alle
Sinne floß Wasser herein, alles löste sich auf. Er wurde angesogen, er
wurde eingeatmet. Neben ihm, an ihn gedrängt, so eng beisammen wie die
Tropfen im Wasser, schwammen andere Menschen, schwamm Teresina, schwamm der
alte Sänger, schwamm seine einstige Frau, sein Vater, seine Mutter und
Schwester, und tausend, tausend, tausend andre Menschen, und auch Bilder
und Häuser, Tizians Venus und der Münster von Straßburg, alles schwamm, eng
aneinander, in einem ungeheuren Strom dahin, von Notwendigkeit getrieben,
rasch und rascher, rasend -- und diesem ungeheuern, rasenden Riesenstrom
der Gestaltungen kam ein anderer Strom entgegen, ungeheuer, rasend, ein
Strom von Gesichtern, Beinen, Bäuchen, von Tieren, Blumen, Gedanken,
Morden, Selbstmorden, geschriebenen Büchern, geweinten Tränen, dicht,
dicht, voll, voll, Kinderaugen und schwarze Locken und Fischköpfe, ein Weib
mit langem starren Messer im blutigen Bauch, ein junger Mensch, ihm selbst
ähnlich, das Gesicht voll heiliger Leidenschaft, das war er selbst,
zwanzigjährig, jener verschollene Klein von damals! Wie gut, daß auch diese
Erkenntnis nun zu ihm kam: daß es keine Zeit gab! Das einzige, was zwischen
Alter und Jugend, zwischen Babylon und Berlin, zwischen Gut und Böse, Geben
und Nehmen stand, das einzige, was die Welt mit Unterschieden, Wertungen,
Leid, Streit, Krieg erfüllte, war der Menschengeist, der junge ungestüme
und grausame Menschengeist im Zustand der tobenden Jugend, noch fern vom
Wissen, noch weit von Gott. Er erfand Gegensätze, er erfand Namen. Dinge
nannte er schön, Dinge häßlich, diese gut, diese schlecht. Ein Stück Leben
wurde Liebe genannt, ein andres Mord. So war dieser Geist, jung, töricht,
komisch. Eine seiner Erfindungen war die Zeit. Eine feine Erfindung, ein
raffiniertes Instrument, sich noch inniger zu quälen und die Welt vielfach
und schwierig zu machen! Von allem, was der Mensch begehrte, war er immer
nur durch Zeit getrennt, nur durch diese Zeit, diese tolle Erfindung! Sie
war eine der Stützen, eine der Krücken, die man vor allem fahren lassen
mußte, wenn man frei werden wollte.

Weiter quoll der Weltstrom der Gestaltungen, der von Gott eingesogene, und
der andere, ihm entgegen, der ausgeatmete. Klein sah Wesen, die sich dem
Strom widersetzten, die sich unter furchtbaren Krämpfen aufbäumten und sich
grauenhafte Qualen schufen: Helden, Verbrecher, Wahnsinnige, Denker,
Liebende, Religiöse. Andre sah er, gleich ihm selbst, rasch und leicht in
inniger Wollust der Hingabe, des Einverstandenseins dahingetrieben, Selige
wie er. Aus dem Gesang der Seligen und aus dem endlosen Qualschrei der
Unseligen baute sich über den beiden Weltströmen eine durchsichtige Kugel
oder Kuppel aus Tönen, ein Dom von Musik, in dessen Mitte saß Gott, saß ein
heller, vor Helle unsichtbarer Glanzstern, ein Inbegriff von Licht,
umbraust von der Musik der Weltchöre, in ewiger Brandung.

Helden und Denker traten aus dem Weltstrom, Propheten, Verkünder. »Siehe,
das ist Gott der Herr, und sein Weg führt zum Frieden«, rief einer, und
viele folgten ihm. Ein andrer verkündete, daß Gottes Bahn zum Kampf und
Kriege führe. Einer nannte ihn Licht, einer nannte ihn Nacht, einer Vater,
einer Mutter. Einer pries ihn als Ruhe, einer als Bewegung, als Feuer, als
Kühle, als Richter, als Tröster, als Schöpfer, als Vernichter, als
Verzeiher, als Rächer. Gott selbst nannte sich nicht. Er wollte genannt, er
wollte geliebt, er wollte gepriesen, verflucht, gehaßt, angebetet sein,
denn die Musik der Weltchöre war sein Gotteshaus und war sein Leben -- aber
es galt ihm gleich, mit welchen Namen man ihn pries, ob man ihn liebte oder
haßte, ob man bei ihm Ruhe und Schlaf, oder Tanz und Raserei suchte. Jeder
konnte suchen. Jeder konnte finden.

Jetzt vernahm Klein seine eigene Stimme. Er sang. Mit einer neuen,
gewaltigen, hellen, hallenden Stimme sang er laut, sang er laut und hallend
Gottes Lob, Gottes Preis. Er sang im rasenden Dahinschwimmen, inmitten der
Millionen Geschöpfe, ein Prophet und Verkünder. Laut schallte sein Lied,
hoch stieg das Gewölbe der Töne auf, strahlend saß Gott im Innern.
Ungeheuer brausten die Ströme hin.



Klingsors letzter Sommer


Vorbemerkung

Den letzten Sommer seines Lebens brachte der Maler Klingsor, im Alter von
zweiundvierzig Jahren, in jenen südlichen Gegenden in der Nähe von
Pampambio, Kareno und Laguno hin, die er schon in frühern Jahren geliebt
und oft besucht hatte. Dort entstanden seine letzten Bilder, jene freien
Paraphrasen zu den Formen der Erscheinungswelt, jene seltsamen, leuchtenden
und doch stillen, traumstillen Bilder mit den gebogenen Bäumen und
pflanzenhaften Häusern, welche von den Kennern denen seiner »klassischen«
Zeit vorgezogen werden. Seine Palette zeigte damals nur noch wenige, sehr
leuchtende Farben: Kadmium gelb und rot, Veronesergrün, Emerald, Kobalt,
Kobaltviolett, französischer Zinnober, Geraniumlack und helles Eilidorot.

Die Nachricht von Klingsors Tode erschreckte seine Freunde im Spätherbst.
Manche seiner Briefe hatten Vorahnungen oder Todeswünsche enthalten.
Hieraus mag das Gerücht entstanden sein, er habe sich selbst das Leben
genommen. Andre Gerüchte, wie sie eben einem umstrittenen Namen anfliegen,
sind kaum weniger haltlos als jenes. Viele behaupten, Klingsor sei schon
seit Monaten geisteskrank gewesen, und ein wenig einsichtiger
Kunstschriftsteller hat versucht, das Verblüffende und Ekstatische in
seinen letzten Bildern aus diesem angeblichen Wahnsinn zu erklären! Mehr
Grund als diese Redereien hat die anekdotenreiche Sage von Klingsors
Neigung zum Trunk. Diese Neigung war bei ihm vorhanden, und niemand nannte
sie offenherziger mit Namen als er selbst. Er hat zu gewissen Zeiten, und
so auch in den letzten Monaten seines Lebens, nicht nur Freude am häufigen
Pokulieren gehabt, sondern auch den Weinrausch bewußt als Betäubung seiner
Schmerzen und einer oft schwer erträglichen Schwermut gesucht. Li Tai Pe,
der Dichter der tiefsten Trinklieder, war sein Liebling, und im Rausche
nannte er oft sich selbst Li Tai Pe und einen seiner Freunde Thu Fu.

Seine Werke leben fort, und nicht minder lebt, im kleinen Kreis seiner
Nächsten, die Legende seines Lebens und jenes letzten Sommers weiter.


Klingsor

Ein leidenschaftlicher und raschlebiger Sommer war angebrochen. Die heißen
Tage, so lang sie waren, loderten weg wie brennende Fahnen, den kurzen
schwülen Mondnächten folgten kurze schwüle Regennächte, wie Träume schnell
und mit Bildern überfüllt fieberten die glänzenden Wochen dahin.

Klingsor stand nach Mitternacht, von einem Nachtgang heimgekehrt, auf dem
schmalen Steinbalkon seines Arbeitszimmers. Unter ihm sank tief und
schwindelnd der alte Terrassengarten hinab, ein tief durchschattetes Gewühl
dichter Baumwipfel, Palmen, Zedern, Kastanien, Judasbaum, Blutbuche,
Eukalyptus, durchklettert von Schlingpflanzen, Lianen, Glyzinen. Über der
Baumschwärze schimmerten blaßspiegelnd die großen blechernen Blätter der
Sommermagnolien, riesige schneeweiße Blüten dazwischen halbgeschlossen,
groß wie Menschenköpfe, bleich wie Mond und Elfenbein, von denen
durchdringend und beschwingt ein inniger Zitronengeruch herüberkam. Aus
unbestimmter Ferne her mit müden Schwingen kam Musik geflogen, vielleicht
eine Gitarre, vielleicht ein Klavier, nicht zu unterscheiden. In den
Geflügelhöfen schrie plötzlich ein Pfau auf, zwei- und dreimal, und
durchriß die waldige Nacht mit dem kurzen, bösen und hölzernen Ton seiner
gepeinigten Stimme, wie wenn das Leid aller Tierwelt ungeschlacht und
schrill aus der Tiefe schellte. Sternlicht floß durch das Waldtal, hoch und
verlassen blickte eine weiße Kapelle aus dem endlosen Walde, verzaubert und
alt. See, Berge und Himmel flossen in der Ferne ineinander.

Klingsor stand auf dem Balkon, im Hemde, die nackten Arme auf die
Eisenbrüstung gestützt, und las halb unmutig, mit heißen Augen, die Schrift
der Sterne auf dem bleichen Himmel und der milden Lichter auf dem schwarzen
klumpigen Gewölk der Bäume. Der Pfau erinnerte ihn. Ja, es war wieder
Nacht, spät, und man hätte nun schlafen sollen, unbedingt und um jeden
Preis. Vielleicht, wenn man eine Reihe von Nächten wirklich schlafen würde,
sechs oder acht Stunden richtig schlafen, so würde man sich erholen können,
so würden die Augen wieder gehorsam und geduldig sein, und das Herz
ruhiger, und die Schläfen ohne Schmerzen. Aber dann war dieser Sommer
vorüber, dieser tolle flackernde Sommertraum, und mit ihm tausend
ungetrunkene Becher verschüttet, tausend ungesehene Liebesblicke gebrochen,
tausend unwiederbringliche Bilder ungesehen erloschen!

Er legte die Stirn und die schmerzenden Augen auf die kühle Eisenbrüstung,
das erfrischte für einen Augenblick. In einem Jahr vielleicht, oder früher,
waren diese Augen blind, und das Feuer in seinem Herzen gelöscht. Nein,
kein Mensch konnte dies flammende Leben lang ertragen, auch nicht er, auch
nicht Klingsor, der zehn Leben hatte. Niemand konnte eine lange Zeit
hindurch Tag und Nacht alle seine Lichter, alle seine Vulkane brennen
haben, niemand konnte mehr als eine kurze Zeit lang Tag und Nacht in
Flammen stehen, jeden Tag viele Stunden glühender Arbeit, jede Nacht viele
Stunden glühender Gedanken, immerzu genießend, immerzu schaffend, immerzu
in allen Sinnen und Nerven hell und überwach wie ein Schloß, hinter dessen
sämtlichen Fenstern Tag für Tag Musik erschallt, Nacht für Nacht tausend
Kerzen funkeln. Es wird zu Ende gehen, schon ist viel Kraft vertan, viel
Augenlicht verbrannt, viel Leben hingeblutet.

Plötzlich lachte er und reckte sich auf. Ihm fiel ein: oft schon hatte er
so empfunden, oft schon so gedacht, so gefürchtet. In allen guten,
fruchtbaren, glühenden Zeiten seines Lebens, auch in der Jugend schon,
hatte er so gelebt, hatte seine Kerze an beiden Enden brennen gehabt, mit
einem bald jubelnden, bald schluchzenden Gefühl von rasender Verschwendung,
von Verbrennen, mit einer verzweifelten Gier, den Becher ganz zu leeren,
und mit einer tiefen, verheimlichten Angst vor dem Ende. Oft schon hatte er
so gelebt, oft schon den Becher geleert, oft schon lichterloh gebrannt.
Zuweilen war das Ende sanft gewesen, wie ein tiefer bewußtloser
Winterschlaf. Zuweilen auch war es schrecklich gewesen, unsinnige
Verwüstung, unleidliche Schmerzen, Ärzte, trauriger Verzicht, Triumph der
Schwäche. Und allerdings war von Mal zu Mal das Ende einer Glutzeit
schlimmer geworden, trauriger, vernichtender. Aber immer war auch das
überlebt worden, und nach Wochen oder Monaten, nach Qual oder Betäubung war
die Auferstehung gekommen, neuer Brand, neuer Ausbruch der unterirdischen
Feuer, neue glühendere Werke, neuer glänzender Lebensrausch. So war es
gewesen, und die Zeiten der Qual und des Versagens, die elenden
Zwischenzeiten waren vergessen worden und untergesunken. Es war gut so. Es
würde gehen, wie es oft gegangen war.

Lächelnd dachte er an Gina, die er heut abend gesehen hatte, mit der auf
dem ganzen nächtlichen Heimweg seine zärtlichen Gedanken gespielt hatten.
Wie war dies Mädchen schön und warm in seiner noch unerfahrenen und
ängstlichen Glut! Spielend und zärtlich sagte er vor sich hin, als flüstere
er ihr wieder ins Ohr: »Gina! Gina! Cara Gina! Carina Gina! Bella Gina!«

Er trat ins Zimmer zurück und drehte das Licht wieder an. Aus einem kleinen
wirren Bücherhaufen zog er einen roten Band Gedichte; ein Vers war ihm
eingefallen, ein Stück eines Verses, der ihm unsäglich schön und liebevoll
schien. Er suchte lange, bis er ihn fand:

   Laß mich nicht so der Nacht, dem Schmerze,
   Du Allerliebstes, du mein Mondgesicht!
   O, du mein Phosphor, meine Kerze,
   Du meine Sonne, du mein Licht!

Tief genießend schlürfte er den dunklen Wein dieser Worte. Wie schön, wie
innig und zauberhaft war das: O, du mein Phosphor! Und: Du mein
Mondgesicht!

Lächelnd ging er vor den hohen Fenstern auf und ab, sprach die Verse, rief
sie der fernen Gina zu: »O, du mein Mondgesicht!« und seine Stimme wurde
dunkel vor Zärtlichkeit.

Dann schloß er die Mappe auf, die er nach dem langen Arbeitstage noch den
ganzen Abend mit sich getragen hatte. Er öffnete das Skizzenbuch, das
kleine, sein liebstes, und suchte die letzten Blätter, die von gestern und
heut, auf. Da war der Bergkegel mit den tiefen Felsenschatten; er hatte ihn
ganz nahe an ein Fratzengesicht heran modelliert, er schien zu schreien,
der Berg, vor Schmerz zu klaffen. Da war der kleine Steinbrunnen, halbrund
im Berghang, der gemauerte Bogen schwarz mit Schatten gefüllt, ein
blühender Granatbaum drüber blutig glühend. Alles nur für ihn zu lesen, nur
Geheimschrift für ihn selbst, eilige gierige Notiz des Augenblicks, rasch
herangerissene Erinnerung an jeden Augenblick, in dem Natur und Herz neu
und laut zusammenklangen. Und jetzt die größern Farbskizzen, weiße Blätter
mit leuchtenden Farbflächen in Wasserfarben: die rote Villa im Gehölz,
feurig glühend wie ein Rubin auf grünem Sammet, und die eiserne Brücke bei
Castiglia, rot auf blaugrünem Berg, der violette Damm daneben, die rosige
Straße. Weiter: der Schlot der Ziegelei, rote Rakete vor kühlhellem
Baumgrün, blauer Wegweiser, hellvioletter Himmel mit der dicken wie
gewalzten Wolke. Dies Blatt war gut, das konnte bleiben. Um die
Stalleinfahrt war es schade, das Rotbraun vor dem stählernen Himmel war
richtig, das sprach und klang; aber es war nur halb fertig, die Sonne hatte
ihm aufs Blatt geschienen und wahnsinnige Augenschmerzen gemacht. Er hatte
nachher lange das Gesicht in einem Bach gebadet. Nun, das Braunrot vor dem
bösen metallenen Blau war da, das war gut, das war um keine kleine Tönung,
um keine kleinste Schwingung gefälscht oder mißglückt. Ohne caput mortuum
hätte man das nicht herausbekommen. Hier, auf diesem Gebiet lagen die
Geheimnisse. Die Formen der Natur, ihr Oben und Unten, ihr Dick und Dünn
konnte verschoben werden, man konnte auf alle die biederen Mittel
verzichten, mit denen die Natur nachgeahmt wird. Auch die Farben konnte man
fälschen, gewiß, man konnte sie steigern, dämpfen, übersetzen, auf hundert
Arten. Aber wenn man mit Farbe ein Stück Natur umdichten wollte, so kam es
darauf an, daß die paar Farben genau, haargenau in gleichem Verhältnis, in
der gleichen Spannung zueinander standen wie in der Natur. Hier blieb man
abhängig, hier blieb man Naturalist, einstweilen, auch wenn man statt grau
Orange und statt schwarz Krapplack nahm.

Also, ein Tag war wieder vertan, und der Ertrag spärlich. Das Blatt mit dem
Fabrikschlot und der rotblaue Klang auf dem andern Blatt und vielleicht die
Skizze mit dem Brunnen. Wenn morgen bedeckter Himmel war, ging er nach
Carabbina; dort war die Halle mit den Wäscherinnen. Vielleicht regnete es
auch wieder einmal, dann blieb er zu Haus und fing das Bachbild in Öl an.
Und jetzt zu Bett! Es war wieder ein Uhr vorbei.

Im Schlafzimmer riß er das Hemd ab, goß sich Wasser über die Schultern, daß
es auf dem roten Steinboden klatschte, sprang ins hohe Bett und löschte das
Licht. Durchs Fenster sah der blasse Monte Salute herein, tausendmal hatte
Klingsor vom Bett aus seine Formen abgelesen. Ein Eulenruf aus der
Waldschlucht tief und hohl, wie Schlaf, wie Vergessen.

Er schloß die Augen und dachte an Gina, und an die Halle mit den
Wäscherinnen. Gott im Himmel, so viel tausend Dinge warteten, so viel
tausend Becher standen eingeschenkt! Kein Ding auf der Erde, das man nicht
hätte malen müssen! Keine Frau in der Welt, die man nicht hätte lieben
müssen! Warum gab es Zeit! Warum immer nur dies idiotische Nacheinander,
und kein brausendes, sättigendes Zugleich? Warum lag er jetzt wieder allein
im Bett, wie ein Witwer, wie ein Greis? Das ganze kurze Leben hindurch
konnte man genießen, konnte man schaffen, aber man sang immer nur Lied um
Lied, nie klang die ganze volle Symphonie mit allen hundert Stimmen und
Instrumenten zugleich.

Vor langer Zeit, im Alter von zwölf Jahren, war er Klingsor mit den zehn
Leben gewesen. Es gab da bei den Knaben ein Räuberspiel, und jeder von den
Räubern hatte zehn Leben, von denen er jedesmal eines verlor, wenn er vom
Verfolger mit der Hand oder mit dem Wurfspeer berührt wurde. Mit sechs, mit
drei, mit einem einzigen Leben konnte man noch davonkommen und sich
befreien, erst mit dem zehnten war alles verloren. Er aber, Klingsor, hatte
seinen Stolz darein gesetzt, sich mit allen, allen seinen zehn Leben
durchzuschlagen, und es für eine Schande erklärt, wenn er mit neun, mit
sieben davonkam. So war er als Knabe gewesen, in jener unglaublichen Zeit,
wo nichts auf der Welt unmöglich, nichts auf der Welt schwierig war, wo
alle Klingsor liebten, wo Klingsor allen befahl, wo alles Klingsor gehörte.
Und so hatte er es weiter getrieben und immer mit zehn Leben gelebt. Und
wenn auch nie die Sättigung, niemals die volle brausende Symphonie zu
erreichen war -- einstimmig und arm war sein Lied doch nicht gewesen, immer
doch hatte er ein paar Saiten mehr auf seinem Spiel gehabt als andere, ein
paar Eisen mehr im Feuer, ein paar Taler mehr im Sack, ein paar Rosse mehr
am Wagen! Gott sei Dank!

Wie klang die dunkle Gartenstille voll und durchpulst herein, wie Atem
einer schlafenden Frau! Wie schrie der Pfau! Wie brannte das Feuer in der
Brust, wie schlug das Herz und schrie und litt und jubelte und blutete. Es
war doch ein guter Sommer hier oben in Castagnetta, herrlich wohnte er in
seiner alten noblen Ruine, herrlich blickte er auf die raupigen Rücken der
hundert Kastanienwälder hinab, schön war es, je und je aus dieser edlen
alten Wald- und Schloßwelt gierig hinabzusteigen und das farbige frohe
Spielzeug drunten anzuschauen und in seiner guten frohen Grellheit zu
malen: die Fabrik, die Eisenbahn, den blauen Tramwagen, die Plakatsäule am
Kai, die stolzierenden Pfauen, Weiber, Priester, Automobile. Und wie schön
und peinigend und unbegreiflich war dies Gefühl in seiner Brust, diese
Liebe und flackernde Gier nach jedem bunten Band und Fetzen des Lebens,
dieser süße wilde Zwang zu schauen und zu gestalten, und doch zugleich
heimlich, unter dünnen Decken, das innige Wissen von der Kindlichkeit und
Vergeblichkeit all seines Tuns!

Fiebernd schmolz die kurze Sommernacht hinweg, Dampf stieg aus der grünen
Taltiefe, in hunderttausend Bäumen kochte der Saft, hunderttausend Träume
quollen in Klingsors leichtem Schlummer auf, seine Seele schritt durch den
Spiegelsaal seines Lebens, wo alle Bilder vervielfacht und jedesmal mit
neuem Gesicht und neuer Bedeutung sich begegneten und neue Verbindungen
eingingen, als würde ein Sternhimmel im Würfelbecher durcheinander
geschüttelt.

Ein Traumbild unter den vielen entzückte und erschütterte ihn: Er lag in
einem Walde und hatte ein Weib mit rotem Haar auf seinem Schoß, und eine
Schwarze lag an seiner Schulter, und eine andere kniete neben ihm, hielt
seine Hand und küßte seine Finger, und überall und rundum waren Frauen und
Mädchen, manche noch Kinder, mit dünnen hohen Beinen, manche in voller
Blüte, manche reif und mit den Zeichen des Wissens und der Ermüdung in den
zuckenden Gesichtern, und alle liebten ihn, und alle wollten von ihm
geliebt sein. Da brach Krieg und Flamme zwischen den Weibern aus, da griff
die Rote mit rasender Hand in das Haar der Schwarzen und riß sie daran zu
Boden und ward selber hinabgerissen, und alle stürzten sich aufeinander,
jede schrie, jede riß, jede biß, jede tat Weh, jede litt Weh, Gelächter,
Wutschrei und Schmerzgeheul klang ineinander verwickelt und verknotet, Blut
floß überall, Krallen schlugen blutig in feistes Fleisch.

Mit einem Gefühl von Weh und Beklemmung erwachte Klingsor für Minuten, weit
offen starrten seine Augen nach dem lichten Loch in der Wand. Noch standen
die Gesichter der rasenden Weiber vor seinem Blick, und viele von ihnen
kannte und nannte er mit Namen: Nina, Hermine, Elisabeth, Gina, Edith,
Bertha und sagte mit heiserer Stimme noch aus dem Traum heraus: »Kinder,
hört auf! Ihr lügt ja, ihr lügt mich ja an; nicht euch müsset ihr
zerreißen, sondern mich, mich!«


Louis

Louis der Grausame war vom Himmel gefallen, plötzlich war er da, Klingsors
alter Freund, der Reisende, der Unberechenbare, der in der Eisenbahn wohnte
und dessen Atelier sein Rucksack war. Gute Stunden tropften vom Himmel
dieser Tage, gute Winde wehten. Sie malten gemeinsam, auf dem Ölberg und in
Cartago.

»Ob diese ganze Malerei eigentlich einen Wert hat?« sagte Louis auf dem
Ölberg, nackt im Grase liegend, den Rücken rot von der Sonne. »Man malt
doch bloß faute de mieux, mein Lieber. Hättest du immer das Mädchen auf dem
Schoß, das dir gerade gefällt, und die Suppe im Teller, nach der heute dein
Sinn steht, du würdest dich nicht mit dem wahnsinnigen Kinderspiel plagen.
Die Natur hat zehntausend Farben, und wir haben uns in den Kopf gesetzt,
die Skala auf zwanzig zu reduzieren. Das ist die Malerei. Zufrieden ist man
nie, und muß noch die Kritiker ernähren helfen. Hingegen eine gute
Marseiller Fischsuppe, caro mio, und ein kleiner lauer Burgunder dazu, und
nachher ein Mailänder Schnitzel, zum Dessert Birnen und einen Gorgonzola,
und ein türkischer Kaffee -- das sind Realitäten, mein Herr, das sind
Werte! Wie ißt man schlecht in eurem Palästina hier! Ach Gott, ich wollte,
ich wär' in einem Kirschbaum, und die Kirschen wüchsen mir ins Maul, und
grade über mir auf der Leiter stünde das braune heftige Mädchen, dem wir
heut früh begegnet sind. Klingsor, gib das Malen auf! Ich lade dich zu
einem guten Essen in Laguno ein, es wird bald Zeit.«

»Gilt es?« fragte Klingsor blinzelnd.

»Es gilt. Ich muß nur vorher noch schnell an den Bahnhof. Nämlich, offen
gestanden, ich habe einer Freundin telegraphiert, daß ich am Sterben sei,
sie kann um elf Uhr da sein.«

Lachend riß Klingsor die begonnene Studie vom Brett.

»Recht hast du, Junge. Gehen wir nach Laguno! Zieh dein Hemd an, Luigi. Die
Sitten hier sind von großer Unschuld, aber nackt kannst du leider nicht in
die Stadt gehen.«

Sie gingen ins Städtchen, sie gingen zum Bahnhof, eine schöne Frau kam an,
sie aßen schön und gut in einem Restaurant, und Klingsor, der dies in
seinen ländlichen Monaten ganz vergessen hatte, war erstaunt, daß es alle
diese Dinge noch gab, diese lieben heiteren Dinge: Forellen, Lachsschinken,
Spargeln, Chablis, Waliser Dôle, Benediktiner.

Nach dem Essen fuhren sie, alle drei, in der Seilbahn durch die steile
Stadt hinauf, quer durch die Häuser, an Fenstern und hängenden Gärten
vorüber, es war sehr hübsch, sie blieben sitzen und fuhren wieder hinab,
und noch einmal hinauf und hinab. Sonderbar schön und seltsam war die Welt,
sehr farbig, etwas fragwürdig, etwas unwahrscheinlich, jedoch wunderschön.
Klingsor nur war ein wenig befangen, er trug Kaltblütigkeit zur Schau,
wollte sich nicht in Luigis schöne Freundin verlieben. Sie gingen nochmals
in ein Kaffee, sie gingen in den leeren mittäglichen Park, legten sich am
Wasser unter die Riesenbäume. Vieles sahen sie, was hätte gemalt werden
müssen: rote edelsteinerne Häuser in tiefem Grün, Schlangenbäume und
Perückenbäume, blau und braun berostet.

»Du hast sehr liebe und lustige Sachen gemalt, Luigi,« sagte Klingsor, »die
ich alle sehr liebe: Fahnenstangen, Clowns, Zirkusse. Aber das Liebste von
allem ist mir ein Fleck auf deinem nächtlichen Karussellbild. Weißt du, da
weht über dem violetten Gezelt und fern von all den Lichtern hoch oben in
der Nacht eine kühle kleine Fahne, hellrosa, so schön, so kühl, so einsam,
so scheußlich einsam! Das ist wie ein Gedicht von Li Tai Pe oder von Paul
Verlaine. In dieser kleinen, dummen Rosafahne ist alles Weh und alle
Resignation der Welt, und auch noch alles gute Lachen über Weh und
Resignation. Daß du dieses Fähnchen gemalt hast, damit ist dein Leben
gerechtfertigt, ich rechne es dir hoch an, das Fähnchen.«

»Ja, ich weiß, daß du es gern hast.«

»Du selber hast es auch gern. Schau, wenn du nicht einige solche Sachen
gemalt hättest, dann würden alle guten Essen und Weine und Weiber und
Kaffees dir nichts helfen, du wärest ein armer Teufel. So aber bist du ein
reicher Teufel, und bist ein Kerl, den man lieb hat. Sieh, Luigi, ich denke
oft wie du: unsre ganze Kunst ist bloß ein Ersatz, ein mühsamer und zehnmal
zu teuer bezahlter Ersatz für versäumtes Leben, versäumte Tierheit,
versäumte Liebe. Aber es ist doch nicht so. Es ist ganz anders. Man
überschätzt das Sinnliche, wenn man das Geistige nur als einen Notersatz
für fehlendes Sinnliches ansieht. Das Sinnliche ist um kein Haar mehr wert
als der Geist, so wenig wie umgekehrt. Es ist alles eins, es ist alles
gleich gut. Ob du ein Weib umarmst oder ein Gedicht machst, ist dasselbe.
Wenn nur die Hauptsache da ist, die Liebe, das Brennen, das Ergriffensein,
dann ist es einerlei, ob du Mönch auf dem Berge Athos bist oder Lebemann in
Paris.«

Louis blickte langsam aus den spöttischen Augen herüber. »Junge, brich dir
man keene Verzierungen ab!«

Mit der schönen Frau durchstreiften sie die Gegend. Im Sehen waren sie
beide stark, das konnten sie. Im Umkreis der paar Städtchen und Dörfer
sahen sie Rom, sahen Japan, sahen die Südsee und zerstörten die Illusionen
wieder mit spielendem Finger; ihre Laune zündete Sterne am Himmel an und
löschte sie wieder aus. Durch die üppigen Nächte ließen sie ihre
Leuchtkugeln steigen; die Welt war Seifenblase, war Oper, war froher
Unsinn.

Louis, der Vogel, schwebte auf seinem Fahrrad durch die Hügelgegend, war da
und dort, während Klingsor malte. Manche Tage opferte Klingsor, dann saß er
wieder verbissen draußen und arbeitete. Louis wollte nicht arbeiten. Louis
war plötzlich abgereist, samt der Freundin, schrieb eine Karte aus weiter
Ferne. Plötzlich war er wieder da, als Klingsor ihn schon verloren gegeben
hatte, stand im Strohhut und offnen Hemde vor der Tür, als wäre er nie
weggewesen. Noch einmal sog Klingsor aus dem süßesten Becher seiner
Jugendzeit den Trank der Freundschaft. Viele Freunde hatte er, viele
liebten ihn, vielen hatte er gegeben, vielen sein rasches Herz geöffnet,
aber nur zwei von den Freunden hörten auch in diesem Sommer noch den alten
Herzensruf von seinen Lippen: Louis der Maler, und der Dichter Hermann,
genannt Thu Fu.

An manchen Tagen saß Louis im Feld auf seinem Malstuhl, im
Birnbaumschatten, im Pflaumenbaumschatten, und malte nicht. Er saß und
dachte und hielt Papier auf das Malbrett geheftet und schrieb, schrieb
viel, schrieb viele Briefe. Sind Menschen glücklich, die so viele Briefe
schreiben? Er schrieb angestrengt, Louis, der Sorglose, sein Blick hing
eine Stunde lang peinlich am Papier. Viel Verschwiegenes trieb ihn um.
Klingsor liebte ihn dafür.

Anders tat Klingsor. Er konnte nicht schweigen. Er konnte sein Herz nicht
verbergen. Von den heimlichen Leiden seines Lebens, von denen wenige
wußten, ließ er doch die Nächsten wissen. Oft litt er an Angst, an
Schwermut, oft lag er im Schacht der Finsternis gefangen, Schatten aus
seinem frühern Leben fielen zu Zeiten übergroß in seine Tage und machten
sie schwarz. Dann tat es ihm wohl, Luigis Gesicht zu sehen. Dann klagte er
ihm zuweilen.

Louis aber sah diese Schwächen nicht gerne. Sie quälten ihn, sie forderten
Mitleid. Klingsor gewöhnte sich daran, dem Freund sein Herz zu zeigen, und
begriff zu spät, daß er ihn damit verliere.

Wieder begann Louis von Abreise zu sprechen. Klingsor wußte, nun würde er
ihn noch für Tage halten können, für drei, für fünf; plötzlich aber würde
er ihm den gepackten Koffer zeigen und abreisen, um lange Zeit nicht wieder
zu kommen. Wie war das Leben kurz, wie unwiederbringlich war alles! Den
einzigen seiner Freunde, der seine Kunst ganz verstand, dessen eigene Kunst
der seinen nah und ebenbürtig war, diesen einzigen hatte er nun erschreckt
und belästigt, ihn verstimmt und abgekühlt, bloß aus dummer Schwäche und
Bequemlichkeit, bloß aus dem kindlichen und unanständigen Bedürfnis, einem
Freund gegenüber sich keine Mühe geben zu müssen, keine Geheimnisse vor ihm
zu hüten, keine Haltung vor ihm zu bewahren. Wie dumm, wie knabenhaft war
das gewesen! So strafte sich Klingsor, zu spät.

Den letzten Tag wanderten sie zusammen durch die goldenen Täler, Louis war
sehr guter Laune, Abreise war Lebenslust für sein Vogelherz. Klingsor
machte mit, sie hatten wieder den alten, leichten, spielenden und
spöttischen Ton gefunden, und ließen ihn nimmer los. Abends saßen sie im
Garten des Wirtshauses. Fische ließen sie sich backen, Reis mit Pilzen
kochen, und gossen Maraschino über Pfirsiche.

»Wohin reisest du morgen?« fragte Klingsor.

»Ich weiß nicht.«

»Fährst du zu der schönen Frau?«

»Ja. Vielleicht. Wer kann das wissen? Frage nicht so viel. Wir wollen
jetzt, zum Schluß, noch einen guten Weißwein trinken. Ich bin für
Neuenburger.«

Sie tranken; plötzlich rief Louis: »Es ist schon gut, daß ich abreise,
alter Seehund. Manchmal, wenn ich so neben dir sitze, zum Beispiel jetzt,
fällt mir plötzlich etwas Dummes ein. Es fällt mir ein, daß jetzt da die
zwei Maler sitzen, die unser gutes Vaterland hat, und dann habe ich ein
scheußliches Gefühl in den Knien, wie wenn wir beide aus Bronze wären und
Hand in Hand auf einem Denkmal stehen müßten, weißt du, so wie der Goethe
und der Schiller. Die können schließlich auch nichts dafür, daß sie ewig
dastehen und einander an der Bronzehand halten müssen, und daß sie uns
allmählich so fatal und verhaßt geworden sind. Vielleicht waren sie ganz
feine Kerle und reizende Burschen, vom Schiller habe ich früher einmal ein
Stück gelesen, das war direkt hübsch. Und doch ist jetzt das aus ihm
geworden, daß er ein berühmtes Vieh ist, und neben seinem siamesischen
Zwilling stehen muß, Gipskopf neben Gipskopf, und daß man ihre gesammelten
Werke herumstehen sieht und sie in den Schulen erklärt. Es ist
schauderhaft. Denke dir, ein Professor in hundert Jahren, wie er den
Gymnasiasten predigt: Klingsor, geboren 1877, und sein Zeitgenosse Louis,
genannt der Vielfraß, Erneuerer der Malerei, Befreiung vom Naturalismus der
Farbe, bei näherer Betrachtung zerfällt dies Künstlerpaar in drei deutlich
unterscheidbare Perioden! Lieber komme ich noch heut unter eine
Lokomotive.«

»Gescheiter wäre es, es kämen alle Professoren darunter.«

»So große Lokomotiven gibt es nicht. Du weißt, wie kleinlich unsre Technik
ist.«

Schon kamen Sterne herauf. Plötzlich stieß Louis sein Glas an das des
Freundes.

»So, wir wollen anstoßen und austrinken. Dann setze ich mich auf mein Rad
und adieu. Nur keinen langen Abschied! Der Wirt ist bezahlt. Prosit,
Klingsor!«

Sie stießen an, sie tranken aus, im Garten stieg Louis aufs Zweirad,
schwang den Hut, war fort. Nacht, Sterne. Louis war in China. Louis war
eine Legende.

Klingsor lächelte traurig. Wie liebte er diesen Zugvogel! Lange stand er im
Kies des Wirtsgartens, sah die leere Straße hinab.


Der Kareno-Tag

Zusammen mit den Freunden aus Barengo und mit Agosto und Ersilia unternahm
Klingsor die Fußreise nach Kareno. Sie sanken in der Morgenstunde, zwischen
den stark duftenden Spiräen und umzittert von den noch betauten
Spinngeweben der Waldränder, durch den steilen warmen Wald hinab in das Tal
von Pampambio, wo vom Sommertag betäubt an der gelben Straße grelle gelbe
Häuser schliefen, vornübergeneigt und halbtot, und am versiegten Bach die
weißen metallenen Weiden hingen mit schweren Flügeln über den goldenen
Wiesen. Farbig schwamm die Karawane der Freunde auf der rosigen Straße
durch das dampfende Talgrün: die Männer weiß und gelb in Leinen und Seide,
die Frauen weiß und rosa, der herrliche veronesergrüne Sonnenschirm
Ersilias funkelte wie ein Kleinod im Zauberring.

Melancholisch klagte der Doktor, mit der menschenfreundlichen Stimme: »Es
ist ein Jammer, Klingsor, Ihre wunderbaren Aquarelle werden in zehn Jahren
alle weiß sein; diese Farben, die Sie bevorzugen, halten alle nicht.«

Klingsor: »Ja, und was noch schlimmer ist: Ihre schönen braunen Haare,
Doktor, werden in zehn Jahren alle grau sein, und eine kleine Weile später
liegen unsere hübschen frohen Knochen irgendwo in einem Loch in der Erde,
leider auch Ihre so schönen und gesunden Knochen, Ersilia. Kinder, wir
wollen nicht so spät im Leben noch anfangen vernünftig zu werden. Hermann,
wie spricht Li Tai Pe?«

Hermann der Dichter blieb stehen und sprach:

   Das Leben vergeht wie ein Blitzstrahl,
   Dessen Glanz kaum so lange währt, daß man ihn sehen kann.
   Wenn die Erde und der Himmel ewig unbeweglich stehen,
   Wie rasch fliegt die wechselnde Zeit über das Antlitz der Menschen.
   O du, der du beim vollen Becher sitzest und nicht trinkst,
   O sage mir, auf wen wartest du noch?

»Nein,« sagte Klingsor, »ich meine den andern Vers, mit Reimen, von den
Haaren, die am Morgen noch dunkel waren --«

Hermann sagte alsbald den Vers:

   Noch am Morgen glänzten deine Haare wie schwarze Seide,
   Abend hat schon Schnee auf sie getan,
   Wer nicht will, daß er lebendigen Leibes sterbend leide,
   Schwinge den Becher und fordre den Mond als Kumpan!

Klingsor lachte laut, mit seiner etwas heiseren Stimme.

»Braver Li Tai Pe! Er hatte Ahnungen, er wußte allerlei. Auch wir wissen
allerlei, er ist unser alter kluger Bruder. Dieser trunkene Tag würde ihm
gefallen, es ist gerade so ein Tag, an dessen Abend es schön wäre, den Tod
Li Tai Pes zu sterben, im Boot auf dem stillen Fluß. Ihr werdet sehen,
alles wird heut wunderbar sein.«

»Was war das für ein Tod, den Li Tai Pe auf dem Fluß gestorben ist?« fragte
die Malerin.

Aber Ersilia unterbrach, mit ihrer guten tiefen Stimme: »Nein, jetzt höret
auf! Wer noch ein Wort von Tod und Sterben sagt, den habe ich nicht mehr
lieb. Finisca adesso, brutto Klingsor!«

Klingsor kam lachend zu ihr herüber: »Wie haben Sie recht, bambina! Wenn
ich noch ein Wort vom Sterben sage, dürfen Sie mir mit dem Sonnenschirm in
beide Augen stoßen. Aber im Ernst, es ist heut wunderbar, liebe Menschen!
Ein Vogel singt heut, der ist ein Märchenvogel, ich hab' ihn schon am
Morgen gehört. Ein Wind geht heut, der ist ein Märchenwind, das himmlische
Kind, der weckt die schlafenden Prinzessinnen auf und schüttelt den
Verstand aus den Köpfen. Heut blüht eine Blume, die ist eine Märchenblume,
die ist blau und blüht nur einmal im Leben, und wer sie pflückt, der hat
die Seligkeit.«

»Meint er etwas damit?« fragte Ersilia den Doktor. Klingsor hörte es.

»Ich meine damit: Dieser Tag kommt niemals wieder, und wer ihn nicht ißt
und trinkt und schmeckt und riecht, dem wird er in aller Ewigkeit kein
zweites Mal angeboten. Niemals wird die Sonne so scheinen wie heut, sie hat
eine Konstellation am Himmel, eine Verbindung mit Jupiter, mit mir, mit
Agosto und Ersilia und uns allen, die kommt nie, niemals wieder, nicht in
tausend Jahren. Darum möchte ich jetzt, weil das Glück bringt, ein wenig an
Ihrer linken Seite gehen und Ihren smaragdenen Sonnenschirm tragen, in
seinem Licht wird mein Schädel aussehen wie ein Opal. Sie aber müssen auch
mittun und müssen ein Lied singen, eines von Ihren schönsten.«

Er nahm Ersilias Arm, sein scharfes Gesicht tauchte weich in den blaugrünen
Schatten des Schirmes, in den er verliebt war und dessen grellsüße Farbe
ihn entzückte.

Ersilia fing zu singen an:

   Il mio papa non vuole,
   Ch' io spos' un bersaglier --

Stimmen schlossen sich an, man schritt singend bis zum Walde und in den
Wald hinein, bis die Steigung zu groß wurde, der Weg führte wie eine Leiter
steil bergan durch die Farnkräuter den großen Berg empor.

»Wie wundervoll gradlinig ist dieses Lied!« lobte Klingsor. »Der Papa ist
gegen die Liebenden, wie er es immer ist. Sie nehmen ein Messer, das gut
schneidet, und machen den Papa tot. Weg ist er. Sie machen es in der Nacht,
niemand sieht sie als der Mond, der verrät sie nicht, und die Sterne, die
sind stumm, und der liebe Gott, der wird ihnen schon verzeihen. Wie schön
und aufrichtig ist das! Ein heutiger Dichter würde dafür gesteinigt
werden.«

Man klomm im durchsonnten spielenden Kastanienschatten den engen Bergweg
hinan. Wenn Klingsor aufblickte, sah er vor seinem Gesicht die dünnen Waden
der Malerin rosig aus durchsichtigen Strümpfen scheinen. Sah er zurück, so
wölbte sich über dem schwarzen Negerkopf Ersilias der Türkis des
Sonnenschirmes. Darunter war sie violett in Seide, die einzige Dunkle unter
allen Figuren.

Bei einem Bauernhaus blau und orange lagen gefallene grüne Sommeräpfel in
der Wiese, kühl und sauer, von denen probierten sie. Die Malerin erzählte
schwärmend von einem Ausflug auf der Seine, in Paris, einst, vor dem
Kriege. Ja, Paris, und das selige Damals!

»Das kommt nicht wieder. Nie mehr.«

»Es soll auch nicht,« rief der Maler heftig und schüttelte grimmig den
scharfen Sperberkopf. »Nichts soll wiederkommen! Wozu denn? Was sind das
für Kinderwünsche! Der Krieg hat alles, was vorher war, zu einem Paradies
umgemalt, auch das Dümmste, auch das Entbehrlichste. Gut so, es war schön
in Paris und schön in Rom und schön in Arles. Aber ist es heut und hier
weniger schön? Das Paradies ist nicht Paris und nicht die Friedenszeit, das
Paradies ist hier, da oben liegt es auf dem Berg, und in einer Stunde sind
wir mitten drin und sind die Schächer, zu denen gesagt wird: Heut wirst du
mit mir im Paradiese sein.«

Sie brachen aus dem durchsprenkelten Schatten des Waldpfades auf die offene
breite Fahrstraße hinaus, die führte licht und heiß in großen Spiralen zur
Höhe. Klingsor, die Augen mit der dunkelgrünen Brille geschützt, ging als
letzter und blieb oft zurück, um die Figuren sich bewegen und ihre farbigen
Konstellationen zu sehen. Er hatte nichts zum Arbeiten mitgenommen,
absichtlich, nicht einmal das kleine Notizbuch, und stand doch hundertmal
still, bewegt von Bildern. Einsam stand seine hagere Gestalt, weiß auf der
rötlichen Straße, am Rand des Akaziengehölzes. Sommer hauchte heiß über den
Berg, Licht floß senkrecht herab, Farbe dampfte hundertfältig aus der Tiefe
herauf. Über die nächsten Berge, die grün und rot mit weißen Dörfern
aufklangen, schauten bläuliche Bergzüge, und lichter und blauer dahinter
neue und neue Züge und ganz fern und unwirklich die kristallnen Spitzen von
Schneebergen. Über dem Wald von Akazien und Kastanien trat freier und
mächtiger der Felsrücken und höckrige Gipfel des Salute hervor, lila und
hellviolett. Schöner als alles waren die Menschen, wie Blumen standen sie
im Licht unterm Grün, wie ein riesiger Skarabäus leuchtete der smaragdne
Sonnenschirm, Ersilias schwarzes Haar darunter, die weiße schlanke Malerin,
mit rosigem Gesicht, und alle andern. Klingsor trank sie mit durstigem
Auge, seine Gedanken aber waren bei Gina. Erst in einer Woche konnte er sie
wieder sehen, sie saß in einem Büro in der Stadt und schrieb auf der
Maschine, selten nur glückte es, daß er sie sah, und nie allein. Und sie
liebte er, gerade sie, die nichts von ihm wußte, die ihn nicht kannte,
nicht verstand, für die er nur ein seltner seltsamer Vogel, ein fremder
berühmter Maler war. Wie seltsam war das, daß gerade an ihr sein Verlangen
hängen blieb, daß kein anderer Liebesbecher ihm genügte. Er war es nicht
gewohnt, lange Wege um eine Frau zu gehen. Um Gina ging er sie, um eine
Stunde neben ihr zu sein, ihre schlanken kleinen Finger zu halten, seinen
Schuh unter ihren zu schieben, einen schnellen Kuß auf ihren Nacken zu
drücken. Er sann darüber nach, sich selbst ein drolliges Rätsel. War dies
schon die Wende? Schon das Alter? War es nur das, nur der Johannistrieb des
Vierzigjährigen zur Zwanzigjährigen?

Der Bergrücken war erreicht, und jenseits brach eine neue Welt dem Blick
entgegen: hoch und unwirklich der Monte Gennaro, aufgebaut aus lauter
steilen spitzen Pyramiden und Kegeln, die Sonne schräg dahinter, jedes
Plateau emailglänzend auf tief violetten Schatten schwimmend. Zwischen dort
und hier die flimmernde Luft, und unendlich tief verloren der schmale blaue
Seearm, kühl hinter grünen Waldflammen ruhend.

Ein winziges Dorf auf dem Berggrat: ein Herrschaftsgut mit kleinem
Wohnhaus, vier, fünf andere Häuser, steinern, blau und rosig bemalt, eine
Kapelle, ein Brunnen, Kirschbäume. Die Gesellschaft hielt in der Sonne am
Brunnen, Klingsor ging weiter, durch einen Torbogen in ein schattiges
Gehöft, drei bläuliche Häuser standen hoch, mit wenig kleinen Fenstern,
Gras und Geröll dazwischen, eine Ziege, Brennesseln. Ein Kind lief vor ihm
fort, er lockte es, zog Schokolade aus der Tasche. Es hielt, er fing es
ein, streichelte und fütterte es, es war scheu und schön, ein kleines
schwarzes Mädchen, erschrockene schwarze Tieraugen, schlanke nackte Beine
braun und glänzend. »Wo wohnt ihr?« fragte er, sie lief zur nächsten Tür,
die in dem Häusergeklüft sich öffnete. Aus einem finstern Steinraum wie aus
Höhlen der Urzeit trat ein Weib, die Mutter, auch sie nahm Schokolade. Aus
schmutzigen Kleidern stieg der braune Hals, ein festes breites Gesicht,
sonnverbrannt und schön, breiter voller Mund, großes Auge, roher süßer
Liebreiz, Geschlecht und Mutterschaft sprach breit und still aus großen
asiatischen Zügen. Er neigte sich verführend zu ihr, sie wich lächelnd aus,
schob das Kind zwischen sich und ihn. Er ging weiter, zu einer Wiederkehr
entschlossen. Diese Frau wollte er malen, oder ihr Geliebter sein, sei es
nur eine Stunde lang. Sie war alles: Mutter, Kind, Geliebte, Tier, Madonna.

Langsam kehrte er zur Gesellschaft zurück, das Herz voll von Träumen. Auf
der Mauer des Gutes, dessen Wohnhaus leer und geschlossen schien, waren
alte rauhe Kanonenkugeln befestigt, eine launische Treppe führte durch
Gebüsch zu einem Hain und Hügel, zu oberst ein Denkmal, da stand barock und
einsam eine Büste, Kostüm Wallenstein, Locken, gewellter Spitzbart. Spuk
und Phantastik umglühte den Berg, im gleißenden Mittagslicht, Wunderliches
lag auf der Lauer, auf eine andere, ferne Tonart war die Welt gestimmt.
Klingsor trank am Brunnen, ein Segelfalter flog her und sog an den
verspritzten Tropfen auf dem kalksteinernen Brunnenrand.

Dem Grat nach führte die Bergstraße weiter, unter Kastanien, unter
Nußbäumen, sonnig, schattig. An einer Biegung, eine Wegkapelle, alt und
gelb, in der Nische verblichene alte Bilder, ein Heiligenkopf engelsüß und
kindlich, ein Stück Gewand rot und braun, der Rest verbröckelt. Klingsor
liebte alte Bilder sehr, wenn sie ihm ungesucht entgegenkamen, er liebte
solche Fresken, er liebte die Wiederkehr dieser schönen Werke zum Staub und
zur Erde.

Wieder Bäume, Reben, heiße Straße blendend, wieder eine Biegung: da war das
Ziel, plötzlich, unverhofft: ein dunkler Torgang, eine große hohe Kirche
aus rotem Stein, froh und selbstbewußt in den Himmel hinan geschmettert,
ein Platz voll Sonne, Staub und Frieden, rot verbrannter Rasen, der unterm
Fuße brach, Mittagslicht von grellen Wänden zurückgeworfen, eine Säule,
eine Figur darauf, unsichtbar vor Sonnenschwall, eine Steinbrüstung um
weiten Platz über blaue Unendlichkeit. Dahinter das Dorf, Kareno, uralt,
eng, finster, sarazenisch, düstere Steinhöhlen unter verblichen braunem
Ziegelstein, Gassen bedrückend traumschmal und voll Finsternis, kleine
Plätze plötzlich in weißer Sonne aufschreiend, Afrika und Nagasaki, darüber
der Wald, darunter der blaue Absturz, weiße, fette, satte Wolken oben.

»Es ist komisch,« sagte Klingsor, »wie lange man braucht, bis man sich in
der Welt ein bißchen auskennt! Als ich einmal nach Asien fuhr, vor Jahren,
kam ich im Schnellzug in der Nacht sechs Kilometer von hier vorbeigefahren,
oder zehn, und wußte nichts. Ich fuhr nach Asien, und es war damals sehr
notwendig, daß ich es tat. Aber alles, was ich dort fand, das finde ich
heut auch hier: Urwald, Hitze, schöne fremde Menschen ohne Nerven, Sonne,
Heiligtümer. Man braucht so lang, bis man lernt, an einem einzigen Tage
drei Erdteile zu besuchen. Hier sind sie. Willkommen, Indien! Willkommen,
Afrika! Willkommen, Japan!«

Die Freunde kannten eine junge Dame, die hier oben hauste, und Klingsor
freute sich auf den Besuch bei der Unbekannten sehr. Er nannte sie die
Königin der Gebirge, so hatte eine geheimnisvolle morgenländische Erzählung
in den Büchern seiner Knabenjahre geheißen.

Erwartungsvoll brach die Karawane durch die blaue Schattenschlucht der
Gassen, kein Mensch, kein Laut, kein Huhn, kein Hund. Aber im Halbschatten
eines Fensterbogens sah Klingsor lautlos eine Gestalt stehen, ein schönes
Mädchen, schwarzäugig, rotes Kopftuch um schwarzes Haar. Ihr Blick, still
nach den Fremden lauernd, traf den seinen, einen langen Atemzug lang
schauten sie, Mann und Mädchen, sich in die Augen, voll und ernst, zwei
fremde Welten einen Augenblick lang einander nah. Dann lächelten sich beide
kurz und innig den ewigen Gruß der Geschlechter zu, die alte, süße, gierige
Feindschaft, und mit einem Schritt um die Kante des Hauses war der fremde
Mann hinweggeflossen, und lag in des Mädchens Truhe, Bild bei vielen
Bildern, Traum bei vielen Träumen. In Klingsors nie ersättigtem Herzen
stach der kleine Stachel, einen Augenblick zögerte er und dachte
umzukehren, Agosto rief ihn, Ersilia fing zu singen an, eine Schattenmauer
schwand hinweg, und ein kleiner greller Platz mit zwei gelben Palästen lag
still und blendend im verzauberten Mittag, schmale steinerne Balkone,
geschlossene Läden, herrliche Bühne für den ersten Akt einer Oper.

»Ankunft in Damaskus,« rief der Doktor. »Wo wohnt Fatme, die Perle unter
den Frauen?«

Antwort kam überraschend aus dem kleineren Palast. Aus der kühlen Schwärze
hinter der halbgeschlossenen Balkontür sprang ein seltsamer Ton, noch einer
und zehnmal der gleiche, dann die Oktave dazu, zehnmal -- ein Flügel, der
gestimmt wurde, ein singender Flügel voller Töne mitten in Damaskus.

Hier mußte es sein, hier wohnte sie. Das Haus schien aber ohne Tor zu sein,
nur rosig gelbe Mauer mit zwei Balkonen, darüber am Verputz des Giebels
eine alte Malerei: Blumen blau und rot und ein Papagei. Eine gemalte Tür
hätte hier sein müssen, und wenn man dreimal an sie pochte und den
Schlüssel Salomonis dazu sprach, ging die gemalte Pforte auf, und den
Wanderer empfing der Duft von persischen Ölen, hinter Schleiern thronte
hoch die Königin der Gebirge. Sklavinnen kauerten auf den Stufen zu ihren
Füßen, der gemalte Papagei flog kreischend auf die Schulter der Herrin.

Sie fanden eine winzige Tür in einer Nebengasse, eine heftige Glocke,
teuflischer Mechanismus, schrillte böse auf, eng wie eine Leiter führte
eine steile Treppe empor. Unausdenklich, wie der Flügel in dies Haus
gekommen war. Durchs Fenster? Durchs Dach?

Ein großer schwarzer Hund kam gestürzt, ein kleiner blonder Löwe ihm nach,
großer Lärm, die Stiege klapperte, hinten sang der Flügel elfmal den
gleichen Ton. Aus einem rosig getünchten Raum quoll sanftsüßes Licht, Türen
schlugen. War da ein Papagei?

Plötzlich stand die Königin der Gebirge da, schlanke elastische Blüte,
straff und federnd, ganz in Rot, brennende Flamme, Bildnis der Jugend. Vor
Klingsors Auge stoben hundert geliebte Bilder hinweg, und das neue sprang
strahlend auf. Er wußte sofort, daß er sie malen würde, nicht nach der
Natur, sondern den Strahl in ihr, den er empfangen hatte, das Gedicht, den
holden herben Klang: Jugend, Rot, Blond, Amazone. Er würde sie ansehen,
eine Stunde lang, vielleicht mehrere Stunden lang. Er würde sie gehen
sehen, sitzen sehen, lachen sehen, vielleicht tanzen sehen, vielleicht
singen hören. Der Tag war gekrönt, der Tag hatte seinen Sinn gefunden. Was
weiter dazu kommen mochte, war Geschenk, war Überfluß. Immer war es so: das
Erlebnis kam nie allein, immer flogen ihm Vögel voraus, immer gingen ihm
Boten und Vorzeichen voran, der mütterlich asiatische Tierblick unter jener
Tür, die schwarze Dorfschöne im Fenster, dies und das.

Eine Sekunde lang empfand er aufzuckend: »Wäre ich zehn Jahre jünger, zehn
kurze Jahre, so könnte diese mich haben, mich fangen, mich um den Finger
wickeln! Nein, du bist zu jung, du kleine rote Königin, du bist zu jung für
den alten Zauberer Klingsor! Er wird dich bewundern, er wird dich auswendig
lernen, er wird dich malen, er wird das Lied deiner Jugend für immer
aufzeichnen; aber er wird keine Wallfahrt um dich tun, keine Leiter nach
dir steigen, keinen Mord um dich begehen und kein Ständchen vor deinem
hübschen Balkon bringen. Nein, leider wird er dies alles nicht tun, der
alte Maler Klingsor, das alte Schaf. Er wird dich nicht lieben, er wird
nicht den Blick nach dir werfen, den er nach der Asiatin, den er nach der
Schwarzen im Fenster warf, die vielleicht keinen Tag jünger ist als du. Für
sie ist er nicht zu alt, nur für dich, Königin der Gebirge, rote Blume am
Berg. Für dich, Steinnelke, ist er zu alt. Für dich genügt die Liebe nicht,
die Klingsor zwischen einem Tag voll Arbeit und einem Abend voll Rotwein zu
verschenken hat. Desto besser wird mein Auge dich trinken, schlanke Rakete,
und von dir wissen, wenn du mir lang erloschen bist.«

Durch Räume mit Steinböden und offenen Bogen kam man in einen Saal, wo
barocke wilde Stuckfiguren über hohen Türen emporflackerten und rundum auf
dunklem gemalten Fries Delphine, weiße Rosse und rosenrote Amoretten durch
ein dicht bevölkertes Sagenmeer schwammen. Ein paar Stühle und am Boden die
Teile des zerlegten Flügels, sonst war nichts in dem großen Raum, aber zwei
verlockende Türen führten auf die zwei kleinen Balkone über dem strahlenden
Opernplatz hinaus, und gegenüber über Eck brüsteten sich die Balkone des
Nachbarpalastes, auch sie mit Bildern bemalt, dort schwamm ein roter
feister Kardinal wie ein Goldfisch in der Sonne.

Man ging nicht wieder fort. Im Saale wurden Vorräte ausgepackt und ein
Tisch gedeckt, Wein kam, seltener Weißwein aus dem Norden, Schlüssel für
Heere von Erinnerungen. Der Klavierstimmer hatte die Flucht ergriffen, der
zerstückte Flügel schwieg. Nachdenklich starrte Klingsor in das entblößte
Saitengedärme, dann tat er leise den Deckel zu. Seine Augen schmerzten,
aber in seinem Herzen sang der Sommertag, sang die sarazenische Mutter,
sang blau und schwellend der Traum von Kareno. Er aß und stieß mit seinem
Glase an Gläser, er sprach hell und froh, und hinter all dem arbeitete der
Apparat in seiner Werkstatt, sein Blick war um die Steinnelke, um die
Feuerblume ringsum wie das Wasser um den Fisch, ein fleißiger Chronist saß
in seinem Gehirn und schrieb Formen, Rhythmen, Bewegungen genau wie in
ehernen Zahlensäulen auf.

Gespräch und Gelächter füllten den leeren Saal. Klug und gütig lachte der
Doktor, tief und freundlich Ersilia, stark und unterirdisch Agosto,
vogelleicht die Malerin, klug sprach der Dichter, spaßhaft sprach Klingsor,
beobachtend und ein wenig scheu ging die rote Königin unter ihren Gästen,
Delphinen und Rossen umher, war hier und dort, stand am Flügel, kauerte auf
einem Kissen, schnitt Brot, schenkte Wein mit unerfahrener Mädchenhand.
Freude scholl im kühlen Saal, Augen glänzten schwarz und blau, vor den
lichten hohen Balkontüren lag starr der blendende Mittag auf Wache.

Hell floß der edle Wein in die Gläser, holder Gegensatz zum einfachen
kalten Mahl. Hell floß der rote Schein vom Kleid der Königin durch den
hohen Saal, hell und wachsam folgten ihm die Blicke aller Männer. Sie
verschwand, kam wieder und hatte ein grünes Brusttuch umgebunden. Sie
verschwand, kam wieder und hatte ein blaues Kopftuch umgebunden.

Nach Tische ermüdet und gesättigt brach man fröhlich auf, in den Wald,
legte sich in Gras und Moos, Sonnenschirme leuchteten, unter Strohhüten
glühten Gesichter, gleißend brannte der Sonnenhimmel. Die Königin der
Gebirge lag rot im grünen Gras, hell stieg ihr feiner Hals aus der Flamme,
satt und belebt saß ihr hoher Schuh am schlanken Fuß. Klingsor, ihr nahe,
las sie, studierte sie, füllte sich mit ihr, wie er als Knabe die
Zaubergeschichte von der Königin der Gebirge gelesen und sich mit ihr
erfüllt hatte. Man ruhte, man schlummerte, man plauderte, man kämpfte mit
Ameisen, glaubte Schlangen zu hören, stachliche Kastanienschalen blieben in
Frauenhaaren hängen. Man dachte an abwesende Freunde, die in diese Stunde
gepaßt hätten, es waren nicht viele. Louis der Grausame wurde
herbeigesehnt, Klingsors Freund, der Maler der Karusselle und Zirkusse,
sein phantastischer Geist schwebte nah über der Runde.

Der Nachmittag ging hin, wie ein Jahr im Paradiese. Beim Abschied wurde
viel gelacht, Klingsor nahm alles in seinem Herzen mit: die Königin, den
Wald, den Palast und Delphinensaal, die beiden Hunde, den Papagei.

Im Bergabwandern zwischen den Freunden überkam ihn allmählich die frohe und
hingerissene Laune, die er nur an den seltenen Tagen kannte, an denen er
freiwillig die Arbeit hatte ruhen lassen. Hand in Hand mit Ersilia, mit
Hermann, mit der Malerin tanzte er die besonnte Straße hinab, stimmte
Lieder an, ergötzte sich kindlich an Witzen und Wortspielen, lachte
hingegeben. Er rannte den andern voraus und versteckte sich in einen
Hinterhalt, um sie zu erschrecken.

So rasch man ging, die Sonne ging rascher, schon bei Palazzetto sank sie
hinter den Berg, und unten im Tale war es schon Abend. Sie hatten den Weg
verfehlt und waren zu tief gestiegen, man war hungrig und müde und mußte
die Pläne aufgeben, die man für den Abend gesponnen hatte: Spaziergang
durchs Korn nach Barengo, Fischessen im Wirtshaus des Seedorfes.

»Liebe Leute,« sagte Klingsor, der sich auf eine Mauer am Wege gesetzt
hatte, »unsre Pläne waren ja sehr schön, und ein gutes Abendessen bei den
Fischern oder im Monte d'oro würde gewiß mich dankbar finden. Aber wir
kommen nicht mehr so weit, ich wenigstens nicht. Ich bin müde, und ich habe
Hunger. Ich gehe von hier aus keinen Schritt mehr weiter als bis zum
nächsten Grotto, der gewiß nicht weit ist. Dort gibt es Wein und Brot, das
genügt. Wer kommt mit?«

Sie kamen alle. Der Grotto wurde gefunden, im steilen Bergwald auf schmaler
Terrasse standen Steinbänke und Tische im Baumdunkel, aus dem Felsenkeller
brachte der Wirt den kühlen Wein, Brot war da. Nun saß man schweigend und
essend, froh, endlich zu sitzen. Hinter den hohen Baumstämmen erlosch der
Tag, der blaue Berg wurde schwarz, die rote Straße wurde weiß, man hörte
unten auf der nächtlichen Straße einen Wagen fahren und einen Hund bellen,
da und dort gingen am Himmel Sterne und an der Erde Lichter auf, nicht
voneinander zu unterscheiden.

Glücklich saß Klingsor, ruhte, sah in die Nacht, füllte sich langsam mit
Schwarzbrot, leerte still die bläulichen Tassen mit Wein. Gesättigt fing er
wieder zu plaudern und zu singen an, schaukelte sich im Takt der Lieder,
spielte mit den Frauen, witterte im Duft ihrer Haare. Der Wein schien ihm
gut. Alter Verführer, redete er leicht die Vorschläge zum Weitergehen
nieder, trank Wein, schenkte Wein ein, stieß zärtlich an, ließ neuen Wein
kommen. Langsam stiegen aus den irdenen bläulichen Tassen, Sinnbild der
Vergänglichkeit, die bunten Zauber, wandelten die Welt, färbten Stern und
Licht.

Hoch saßen sie in schwebender Schaukel überm Abgrund der Welt und Nacht,
Vögel in goldenem Käfig, ohne Heimat, ohne Schwere, den Sternen gegenüber.
Sie sangen, die Vögel, sangen exotische Lieder, sie phantasierten aus
berauschten Herzen in die Nacht, in den Himmel, in den Wald, in das
fragwürdige, bezauberte Weltall hinein. Antwort kam von Stern und Mond, von
Baum und Gebirg, Goethe saß da und Hafis, heiß duftete Ägypten und innig
Griechenland herauf, Mozart lächelte, Hugo Wolf spielte den Flügel in der
irren Nacht.

Lärm krachte erschreckend auf, Licht blitzte knallend: unter ihnen mitten
durch das Herz der Erde flog mit hundert blendenden Lichtfenstern ein
Eisenbahnzug in den Berg und in die Nacht hinein, oben vom Himmel her
läuteten Glocken einer unsichtbaren Kirche. Lauernd stieg der halbe Mond
über den Tisch, blickte spiegelnd in den dunkeln Wein, riß Mund und Auge
einer Frau aus der Finsternis, lächelte, stieg weiter, sang den Sternen zu.
Der Geist Louis des Grausamen hockte auf einer Bank, einsam, schrieb
Briefe.

Klingsor, König der Nacht, hohe Krone im Haar, rückgelehnt auf steinernem
Sitz, dirigierte den Tanz der Welt, gab den Takt an, rief den Mond hervor,
ließ die Eisenbahn verschwinden. Fort war sie, wie ein Sternbild übern Rand
des Himmels fällt. Wo war die Königin der Gebirge? Klang nicht ein Flügel
im Wald, bellte nicht fern der kleine mißtrauische Löwe? Hatte sie nicht
eben noch ein blaues Kopftuch getragen? Halloh, alte Welt, trage Sorge, daß
du nicht zusammenfällst! Hierher, Wald! Dorthin, schwarzes Gebirg! Im Takt
bleiben! Sterne, wie seid ihr blau und rot, wie im Volkslied: »Deine roten
Augen und dein blauer Mund!«

Malen war schön, Malen war ein schönes, ein liebes Spiel für brave Kinder.
Anders war es, größer und wuchtiger, die Sterne zu dirigieren, Takt des
eigenen Blutes, Farbenkreise der eigenen Netzhaut in die Welt hinein
fortzusetzen, Schwebungen der eigenen Seele ausschwingen zu lassen im Wind
der Nacht. Weg mit dir, schwarzer Berg! Sei Wolke, fliege nach Persien,
regne über Uganda! Her mit dir, Geist Shakespeares, sing uns dein
besoffenes Narrenlied vom Regen, der regnet jeglichen Tag!

Klingsor küßte eine kleine Frauenhand, er lehnte sich an eine wohlig
atmende Frauenbrust. Ein Fuß unterm Tische spielte mit seinem. Er wußte
nicht, wessen Hand oder wessen Fuß, er spürte Zärtlichkeit um sich, fühlte
alten Zauber neu und dankbar: er war noch jung, es war noch weit vom Ende,
noch ging Strahlung und Verlockung von ihm aus, noch liebten sie ihn, die
guten ängstlichen Weibchen, noch zählten sie auf ihn.

Er blühte höher auf. Mit leiser, singender Stimme begann er zu erzählen,
ein ungeheures Epos, die Geschichte einer Liebe, oder eigentlich einer
Reise nach der Südsee, wo er in Begleitung von Gauguin und Robinson die
Papageieninsel entdeckt und den Freistaat der glückseligen Inseln begründet
hatte. Wie hatten die tausend Papageien im Abendlicht gefunkelt, wie hatten
ihre blauen Schwänze sich in der grünen Bucht gespiegelt! Ihr Geschrei, und
das hundertstimmige Geschrei der großen Affen hatte ihn wie ein Donner
begrüßt, ihn, Klingsor, als er seinen Freistaat ausrief. Dem weißen Kakadu
hatte er die Bildung eines Kabinetts aufgetragen, und mit dem mürrischen
Nashornvogel hatte er Palmwein aus schweren Kokosbechern getrunken. O, Mond
von damals, Mond der seligen Nächte, Mond über der Pfahlhütte im Schilf!
Sie hieß Kül Kalüa, die braune scheue Prinzessin, schlank und langgliedrig
schritt sie im Pisanggehölz, honigglänzend unterm saftigen Dach der
Riesenblätter, Rehauge im sanften Gesicht, Katzenglut im starken biegsamen
Rücken, Katzensprung im federnden Knöchel und sehnigen Bein. Kül Kalüa,
Kind, Urglut und Kinderunschuld des heiligen Südostens, tausend Nächte
lagst du an Klingsors Brust, und jede war neu, jede war inniger, war holder
als alle gewesenen. O, Fest des Erdgeistes, wo die Jungfern der
Papageieninsel vor dem Gotte tanzten!

Über Insel, Robinson und Klingsor, über Geschichte und Zuhörer wölbte sich
die weiß gestirnte Nacht, zärtlich schwoll der Berg wie ein sanfter
atmender Bauch und Busen unter den Bäumen und Häusern und Füßen der
Menschen, im Eilschritt tanzte fiebernd der feuchte Mond über die
Himmelshalbkugel, von den Sternen im wilden schweigenden Tanz verfolgt.
Ketten von Sternen waren aufgereiht, gleißende Schnur der Drahtseilbahn zum
Paradiese. Urwald dunkelte mütterlich, Schlamm der Urwelt duftete Verfall
und Zeugung, Schlange kroch und Krokodil, ohne Ufer ergoß sich der Strom
der Gestaltungen.

»Ich werde doch wieder malen,« sagte Klingsor, »schon morgen. Aber nicht
mehr diese Häuser und Leute und Bäume. Ich male Krokodile und Seesterne,
Drachen und Purpurschlangen, und alles im Werden, alles in der Wandlung,
voll Sehnsucht, Mensch zu werden, voll Sehnsucht, Stern zu werden, voll
Geburt, voll Verwesung, voll Gott und Tod.«

Mitten durch seine leisen Worte und durch die aufgewühlte trunkne Stunde
klang tief und klar Ersilias Stimme, still sang sie das Lied vom bel mazzo
di fiori vor sich hin, Friede strömte von ihrem Liede aus, Klingsor hörte
es wie von einer fernen schwimmenden Insel über Meere von Zeit und
Einsamkeit herüber. Er drehte seine leere Weintasse um, er schenkte nimmer
ein. Er hörte zu. Ein Kind sang. Eine Mutter sang. War man nun ein
verirrter und verruchter Kerl, im Schlamm der Welt gebadet, ein Strolch und
Luder, oder war man ein kleines dummes Kind?

»Sora Ersilia,« sagte er mit Ehrerbietung, »du bist unser guter Stern.«

Durch steilen finstern Wald bergan, an Zweig und Wurzel geklammert, quoll
man hinweg, den Heimweg suchend. Lichter Waldrand ward erreicht, Feld
geentert, schmaler Weg im Maisfeld atmete Nacht und Heimkehr, Mondblick im
spiegelnden Blatt des Maises, Rebenreihen schräg entfliehend. Nun sang
Klingsor, leise, mit der etwas heiseren Stimme, sang leise und viel,
deutsch und malayisch, mit Worten und ohne Worte. Im leisen Gesang strömte
er gestaute Fülle aus, wie eine braune Mauer am Abend gesammeltes
Tageslicht ausstrahlt.

Hier nahm einer der Freunde Abschied, und dort einer, schwand im
Rebenschatten auf kleinem Pfad dahin. Jeder ging, jeder war für sich,
suchte Heimkehr, war allein unterm Himmel. Eine Frau küßte Klingsor zur
guten Nacht, brennend sog ihr Mund an seinem. Weg rollten sie, weg
schmolzen sie, alle. Als Klingsor allein die Treppe zu seiner Wohnung
erstieg, sang er noch immer. Er besang und lobte Gott und sich selbst, er
pries Li Tai Pe und pries den guten Wein von Pampambio. Wie ein Götze ruhte
er auf Wolken der Bejahung.

»Inwendig,« sang er, »bin ich wie eine Kugel von Gold, wie die Kuppel eines
Domes, man kniet darin, man betet, Gold strahlt von der Wand, auf altem
Bilde blutet der Heiland, blutet das Herz der Maria. Wir bluten auch, wir
Anderen, wir Irrgegangenen, wir Sterne und Kometen, sieben und vierzehn
Schwerter gehn durch unsre selige Brust. Ich liebe dich, blonde und
schwarze Frau, ich liebe alle, auch die Philister; ihr seid arme Teufel wie
ich, ihr seid arme Kinder und fehlgeratene Halbgötter wie der betrunkne
Klingsor. Sei mir gegrüßt, geliebtes Leben! Sei mir gegrüßt, geliebter
Tod!«


Klingsor an Edith

Lieber Stern am Sommerhimmel!

Wie hast Du mir gut und wahr geschrieben, und wie ruft Deine Liebe mir
schmerzlich zu, wie ewiges Leid, wie ewiger Vorwurf. Aber Du bist auf gutem
Wege, wenn Du mir, wenn Du Dir selbst jede Empfindung des Herzens
eingestehst. Nur nenne keine Empfindung klein, keine Empfindung unwürdig!
Gut, sehr gut ist jede, auch der Haß, auch der Neid, auch die Eifersucht,
auch die Grausamkeit. Von nichts andrem leben wir als von unsern armen,
schönen, herrlichen Gefühlen, und jedes, dem wir unrecht tun, ist ein
Stern, den wir auslöschen.

Ob ich Gina liebe, weiß ich nicht. Ich zweifle sehr daran. Ich würde kein
Opfer für sie bringen. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt lieben kann. Ich
kann begehren, und kann mich in andern Menschen suchen, nach Echo
aushorchen, nach einem Spiegel verlangen, kann Lust suchen, und alles das
kann wie Liebe aussehen.

Wir gehen beide, Du und ich, im selben Irrgarten, im Garten unsrer Gefühle,
die in dieser üblen Welt zu kurz gekommen sind, und wir nehmen dafür, jeder
nach seiner Art, Rache an dieser bösen Welt. Wir wollen aber einer des
andern Träume bestehen lassen, weil wir wissen, wie rot und süß der Wein
der Träume schmeckt.

Klarheit über ihre Gefühle und über die »Tragweite« und Folgen ihrer
Handlungen haben nur die guten, gesicherten Menschen, die an das Leben
glauben und keinen Schritt tun, den sie nicht auch morgen und übermorgen
werden billigen können. Ich habe nicht das Glück, zu ihnen zu zählen, und
ich fühle und handle so, wie einer, der nicht an morgen glaubt und jeden
Tag für den letzten ansieht.

Liebe schlanke Frau, ich versuche ohne Glück meine Gedanken auszudrücken.
Ausgedrückte Gedanken sind immer so tot! Lassen wir sie leben! Ich fühle
tief und dankbar, wie Du mich verstehst, wie etwas in Dir mir verwandt ist.
Wie das im Buch des Lebens zu buchen sei, ob unsre Gefühle Liebe, Wollust,
Dankbarkeit, Mitleid, ob sie mütterlich oder kindlich sind, das weiß ich
nicht. Oft sehe ich jede Frau an wie ein alter gewiegter Wüstling und oft
wie ein kleiner Knabe. Oft hat die keuscheste Frau für mich die größte
Verlockung, oft die üppigste. Alles ist schön, alles ist heilig, alles ist
unendlich gut, was ich lieben darf. Warum, wie lange, in welchem Grad, das
ist nicht zu messen.

Ich liebe nicht Dich allein, das weißt Du, ich liebe auch nicht Gina
allein, ich werde morgen und übermorgen andre Bilder lieben, andre Bilder
malen. Bereuen aber werde ich keine Liebe, die ich je gefühlt, und keine
Weisheit oder Dummheit, die ich ihretwegen begangen. Dich liebe ich
vielleicht, weil Du mir ähnlich bist. Andre liebe ich, weil sie so anders
sind als ich.

Es ist spät in der Nacht, der Mond steht überm Salute. Wie lacht das Leben,
wie lacht der Tod!

Wirf den dummen Brief ins Feuer, und wirf ins Feuer

Deinen Klingsor.


Die Musik des Untergangs

Der letzte Tag des Juli war gekommen, Klingsors Lieblingsmonat, die hohe
Festzeit Li Tai Pes, war verblüht, kam nimmer wieder, Sonnenblumen schrien
im Garten golden ins Blau empor. Zusammen mit dem treuen Thu Fu pilgerte
Klingsor an diesem Tage durch eine Gegend, die er liebte: verbrannte
Vorstädte, staubige Straßen unter hoher Allee, rot und orange bemalte
Hütten am sandigen Ufer, Lastwagen und Ladeplätze der Schiffe, lange
violette Mauern, farbiges armes Volk. Am Abend dieses Tages saß er am Rand
einer Vorstadt im Staube und malte die farbigen Zelte und Wagen eines
Karussells, am Straßenbord auf kahlem, versengtem Anger saß er hingekauert,
angesogen von den starken Farben der Zelte. Tief biß er sich fest im
verschossenen Lila einer Zeltborte, im freudigen Grün und Rot der
schwerfälligen Wohnwagen, in den blau-weiß gestrichnen Gerüststangen.
Grimmig wühlte er im Kadmium, wild im süßkühlen Kobalt, zog die
verfließenden Striche Krapplack durch den gelb und grünen Himmel. Noch eine
Stunde, o, weniger, dann war Schluß, die Nacht kam, und morgen begann schon
der August, der brennende Fiebermonat, der so viel Todesfurcht und Bangnis
in seine glühenden Becher mischt. Die Sense war geschärft, die Tage neigten
sich, der Tod lachte versteckt im bräunenden Laub. Klinge hell und
schmettre, Kadmium! Prahle laut, üppiger Krapplack! Lache grell,
Zitrongelb! Her mit dir, tiefblauer Berg der Ferne! An mein Herz ihr,
staubgrüne matte Bäume! Wie seid ihr müd, wie laßt ihr ergebene fromme Äste
sinken! Ich trinke euch, ich schlucke, ich fresse euch, holde
Erscheinungen! Ich täusche euch Dauer und Unsterblichkeit vor, ich, der
Vergänglichste, der Ungläubigste, der Traurigste, der mehr als ihr alle an
der Angst vor dem Tode leidet. Juli ist verbrannt, August wird schnell
verbrannt sein, plötzlich fröstelt uns aus gelbem Laub am betauten Morgen
das große Gespenst entgegen. Plötzlich fegt November über den Wald.
Plötzlich lacht das große Gespenst, plötzlich friert uns das Herz,
plötzlich fällt uns das liebe rosige Fleisch von den Knochen, in der Wüste
heult der Schakal, heiser singt sein verfluchtes Lied der Aasgeier. Ein
verfluchtes Blatt der Großstadt bringt mein Bild und darunter steht:
»Vortrefflicher Maler, Expressionist, großer Kolorist, starb am 16. dieses
Monats.«

Voll Haß riß er eine Furche Pariserblau unter den grünen Zigeunerwagen.
Voll Erbitterung schlug er die Kante Chromgelb auf die Prellsteine. Voll
tiefer Verzweiflung setzte er Zinnober in einen ausgesparten Fleck,
vertilgte das fordernde Weiß, kämpfte blutend um Fortdauer, schrie hellgrün
und neapelgelb zum unerbittlichen Gott. Stöhnend warf er mehr Blau in das
fade Staubgrün, flehend zündete er innigere Lichter im Abendhimmel an. Die
kleine Palette voll reiner, unvermischter Farben von hellster Leuchtkraft,
sie war sein Trost, sein Turm, sein Arsenal, sein Gebetbuch, seine Kanone,
aus der er nach dem bösen Tode schoß. Purpur war Leugnung des Todes,
Zinnober war Verhöhnen der Verwesung. Gut war sein Arsenal, glänzend stand
seine kleine tapfere Truppe, strahlend läuteten die raschen Schüsse seiner
Kanonen auf. Es half ja nichts, alles Schießen war ja vergebens, aber
Schießen war doch gut, war Glück und Trost, war noch Leben, war noch
Triumphieren.

Thu Fu war gegangen, einen Freund zu besuchen, der dort zwischen Fabrik und
Ladeplatz seine Zauberburg bewohnte. Nun kam er und brachte ihn mit, den
armenischen Sterndeuter.

Klingsor, mit dem Bilde fertig, atmete tief auf, als er die beiden
Gesichter bei sich sah, das blonde gute Haar Thu Fus, den schwarzen Bart
und den mit weißen Zähnen lächelnden Mund des Magiers. Und da kam mit ihnen
auch der Schatten, der lange, dunkle, mit den weit zurückgeflohenen Augen
in den tiefen Höhlen. Willkommen auch du, Schatten, lieber Kerl!

»Weißt du, was für ein Tag heut ist?« fragte Klingsor seinen Freund.

»Der letzte Juli, ich weiß.«

»Ich stellte heut ein Horoskop,« sagte der Armenier, »und da sah ich, daß
dieser Abend mir etwas bringen wird. Saturn steht unheimlich, Mars neutral,
Jupiter dominiert. Li Tai Pe, sind Sie nicht ein Julikind?«

»Ich bin am zweiten Juli geboren.«

»Ich dachte es. Ihre Sterne stehen verwirrt, Freund, nur Sie selbst könnten
sie deuten. Fruchtbarkeit umgibt Sie wie eine Wolke, die nahe am Bersten
ist. Seltsam stehen Ihre Sterne, Klingsor, Sie müssen es fühlen.«

Li packte sein Gerät zusammen. Erloschen war die Welt, die er gemalt hatte,
erloschen der gelb und grüne Himmel, ertrunken die blaue helle Fahne,
ermordet und verwelkt das schöne Gelb. Er war hungrig und durstig, die
Kehle hing ihm voll Staub.

»Freunde,« sagte er herzlich, »wir wollen diesen Abend beisammen bleiben.
Wir werden nicht mehr zusammen sein, wir alle vier, ich lese das nicht aus
den Sternen, es steht mir im Herzen geschrieben. Mein Julimond ist vorüber,
dunkel glühn seine letzten Stunden, in der Tiefe ruft die große Mutter. Nie
war die Welt so schön, nie war ein Bild von mir so schön, Wetterleuchten
zuckt, Musik des Untergangs ist angestimmt. Wir wollen sie mitsingen, die
süße bange Musik, wir wollen hier beisammen bleiben und Wein trinken und
Brot essen.«

Neben dem Karussell, dessen Zelt eben abgedeckt und für den Abend gerüstet
wurde, standen einige Tische unter Bäumen, eine hinkende Magd ging ab und
zu, ein kleines Wirtshaus lag im Schatten. Hier blieben sie und saßen am
Brettertisch, Brot wurde gebracht und Wein in die irdenen Schalen
geschenkt, unter den Bäumen glommen Lichter auf, drüben begann die Orgel
des Karussells zu erdröhnen, heftig warf sie ihre bröckelnde gelle Musik in
den Abend.

»Dreihundert Becher will ich heute leeren,« rief Li Tai Pe und stieß mit
dem Schatten an. »Sei gegrüßt, Schatten, standhafter Zinnsoldat! Seid
gegrüßt, Freunde! Seid gegrüßt, elektrische Lichter, Bogenlampen und
funkelnde Pailletten am Karussell! O, daß Louis da wäre, der flüchtige
Vogel! Vielleicht ist er uns schon vorausgeflogen in den Himmel. Vielleicht
auch kommt er morgen wieder, der alte Schakal, und findet uns nicht mehr
und lacht und pflanzt Bogenlampen und Fahnenstangen auf unser Grab.«

Still ging der Magier und holte neuen Wein, froh lächelten seine weißen
Zähne aus dem roten Mund.

»Schwermut,« sagte er mit einem Blick zu Klingsor hinüber, »ist eine Sache,
die man nicht mit sich tragen sollte. Es ist so leicht -- es ist das Werk
einer Stunde, einer kurzen intensiven Stunde mit zusammengebissenen Zähnen,
dann ist man mit der Schwermut für immer fertig.«

Klingsor sah aufmerksam auf seinen Mund, auf die hellen klaren Zähne,
welche einst in einer glühenden Stunde die Schwermut erwürgt und
totgebissen hatten. War auch ihm möglich, was dem Sterndeuter möglich
gewesen war? O, kurzer süßer Blick in ferne Gärten: Leben ohne Angst, Leben
ohne Schwermut! Er wußte, diese Gärten waren ihm unerreichbar. Er wußte,
ihm war andres bestimmt, anders blickte zu ihm Saturn herüber, andre Lieder
wollte Gott auf seinen Saiten spielen.

»Jeder hat seine Sterne,« sagte Klingsor langsam, »jeder hat seinen
Glauben. Ich glaube nur an Eines: an den Untergang. Wir fahren in einem
Wagen überm Abgrund, und die Pferde sind scheu geworden. Wir stehen im
Untergang, wir alle, wir müssen sterben, wir müssen wieder geboren werden,
die große Wende ist für uns gekommen. Es ist überall das Gleiche: der große
Krieg, die große Wandlung in der Kunst, der große Zusammenbruch der Staaten
des Westens. Bei uns im alten Europa ist alles das gestorben, was bei uns
gut und unser eigen war; unsre schöne Vernunft ist Irrsinn geworden, unser
Geld ist Papier, unsre Maschinen können bloß noch schießen und explodieren,
unsre Kunst ist Selbstmord. Wir gehen unter, Freunde, so ist es uns
bestimmt, die Tonart Tsing Tse ist angestimmt.«

Der Armenier schenkte Wein ein.

»Wie Sie wollen,« sagte er. »Man kann ja sagen, und man kann nein sagen,
das ist nur Kinderspiel. Untergang ist etwas, das nicht existiert. Damit
Untergang oder Aufgang wäre, müßte es unten und oben geben. Unten und oben
aber gibt es nicht, das lebt nur im Gehirn des Menschen, in der Heimat der
Täuschungen. Alle Gegensätze sind Täuschungen: weiß und schwarz ist
Täuschung, Tod und Leben ist Täuschung, gut und böse ist Täuschung. Es ist
das Werk einer Stunde, einer glühenden Stunde mit zusammengebissenen
Zähnen, dann hat man das Reich der Täuschungen überwunden.«

Klingsor hörte seiner guten Stimme zu.

»Ich spreche von uns,« gab er Antwort, »ich spreche von Europa, von unsrem
alten Europa, das zweitausend Jahre lang das Gehirn der Welt zu sein
glaubte. Dies geht unter. Meinst du, Magier, ich kenne dich nicht? Du bist
ein Bote aus dem Osten, ein Bote auch an mich, vielleicht ein Spion,
vielleicht ein verkleideter Feldherr. Du bist hier, weil hier das Ende
beginnt, weil du hier Untergang witterst. Aber wir gehen gerne unter, du,
wir sterben gerne, wir wehren uns nicht.«

»Du kannst auch sagen: gerne werden wir geboren,« lachte der Asiate. »Dir
scheint es Untergang, mir scheint es vielleicht Geburt. Beides ist
Täuschung. Der Mensch, der an die Erde glaubt als an die feststehende
Scheibe unterm Himmel, der sieht und glaubt Aufgang und Untergang -- und
alle, fast alle Menschen glauben an diese feste Scheibe! Die Sterne selbst
wissen kein Auf und Unter.«

»Sind nicht Sterne untergegangen?« rief Thu Fu.

»Für uns, für unsre Augen.«

Er schenkte die Tassen voll, immer machte er den Schenken, immer war er
dienstfertig und lächelte dazu. Er ging mit dem leeren Kruge weg, neuen
Wein zu holen. Schmetternd schrie die Karussellmusik.

»Gehen wir hinüber, es ist so schön,« bat Thu Fu, und sie gingen hin,
standen an der bemalten Barriere, sahen im stechenden Glanz der Pailletten
und Spiegel das Karussell im Kreise wüten, hundert Kinder mit den Augen
gierig am Glanze hängen. Einen Augenblick fühlte Klingsor tief und lachend
das Urtümliche und Negerhafte dieser kreiselnden Maschine, dieser
mechanischen Musik, dieser grellen wilden Bilder und Farben, Spiegel und
irrsinnigen Schmucksäulen, alles trug Züge von Medizinmann und Schamane,
von Zauber und uralter Rattenfängerei, und der ganze wilde wüste Glanz war
im Grund nichts andres als der zuckende Glanz des Blechlöffels, den der
Hecht für ein Fischlein hält und an dem man ihn herauszieht.

Alle Kinder mußten Karussell fahren. Allen Kindern gab Thu Fu Geld, alle
Kinder lud der Schatten ein. In Knäueln umgaben sie die Schenkenden, hingen
sich an, flehten, dankten. Ein schönes blondes Mädchen, zwölfjährig, dem
gaben sie alle, sie fuhr jede Runde. Im Lichterglanz wehte hold der kurze
Rock um ihre schönen Knabenbeine. Ein Knabe weinte. Knaben schlugen sich.
Peitschend knallten zur Orgel die Tschinellen, gossen Feuer in den Takt,
Opium in den Wein. Lange standen die Vier im Getümmel.

Wieder saßen sie dann unterm Baume, in die Tassen goß der Armenier den
Wein, schürte Untergang, lächelte hell.

»Dreihundert Becher wollen wir heute leeren,« sang Klingsor; sein
verbrannter Schädel glühte gelb, laut schallte sein Gelächter hin;
Schwermut kniete, ein Riese, auf seinem zuckenden Herzen. Er stieß an, er
pries den Untergang, das Sterbenwollen, die Tonart Tsing Tse. Brausend
erscholl die Karussellmusik. Aber innen im Herzen saß Angst, das Herz
wollte nicht sterben, das Herz haßte den Tod.

Plötzlich klirrte eine zweite Musik wütend in die Nacht, schrill, hitzig,
aus dem Hause her. Im Erdgeschoß, neben dem Kamin, dessen Gesimse voll
schön geordneter Weinflaschen stand, knallte ein Maschinenklavier los,
Maschinengewehr, wild, scheltend, überstürzt. Leid schrie aus verstimmten
Tönen, Rhythmus bog mit schwerer Dampfwalze stöhnende Dissonanzen nieder.
Volk war da, Licht, Lärm, Burschen tanzten und Mädchen, auch die hinkende
Magd, auch Thu Fu. Er tanzte mit dem blonden kleinen Mädchen, Klingsor sah
zu, leicht und hold wehte ihr kurzes Sommerkleid um die dünnen schönen
Beine, freundlich lächelte Thu Fus Gesicht, voll Liebe. An der Kaminecke
saßen die andern, vom Garten hereingekommen, nah bei der Musik, mitten im
Lärm. Klingsor sah Töne, hörte Farben. Der Magier nahm Flaschen vom Kamin,
öffnete, schenkte ein. Hell stand sein Lächeln auf dem braunen klugen
Gesicht. Furchtbar donnerte die Musik im niedern Saal. In die Reihe der
alten Flaschen überm Kamin brach der Armenier langsam eine Bresche, wie ein
Tempelräuber Kelch um Kelch die Geräte eines Altars wegnimmt.

»Du bist ein großer Künstler,« flüsterte der Sterndeuter Klingsor zu, indem
er seine Tasse füllte. »Du bist einer der größten Künstler dieser Zeit. Du
hast das Recht, dich Li Tai Pe zu nennen. Aber du bist, Li Tai, du bist ein
gehetzter, armer, ein gepeinigter und angstvoller Mensch. Du hast die Musik
des Untergangs angestimmt, du sitzest singend in deinem brennenden Haus,
das du selber angezündet hast, und es ist dir nicht wohl dabei, Li Tai Pe,
auch wenn du jeden Tag dreihundert Becher leerst und mit dem Monde anstößt.
Es ist dir nicht wohl dabei, es ist dir sehr weh dabei, Sänger des
Untergangs, willst du nicht innehalten? Willst du nicht leben? Willst du
nicht fortdauern?«

Klingsor trank und flüsterte mit seiner etwas heisern Stimme zurück: »Kann
man denn Schicksal wenden? Gibt es denn Freiheit des Wollens? Kannst denn
du, Sterndeuter, meine Sterne anders lenken?«

»Nicht lenken, nur deuten kann ich sie. Lenken kannst nur du dich selbst.
Es gibt Freiheit des Wollens. Sie heißt Magie.«

»Warum soll ich Magie treiben, wenn ich Kunst treiben kann? Ist Kunst nicht
ebenso gut?«

»Alles ist gut. Nichts ist gut. Magie hebt Täuschungen auf. Magie hebt jene
schlimmste Täuschung auf, die wir >Zeit< heißen.«

»Tut das Kunst nicht auch?«

»Sie versucht es. Ist dein gemalter Juli, den du in deinen Mappen hast, dir
genug? Hast du Zeit aufgehoben? Bist du ohne Angst vor dem Herbst, vor dem
Winter?«

Klingsor seufzte und schwieg, schweigend trank er, schweigend füllte der
Magier seine Tasse. Irrsinnig tobte die entfesselte Klaviermaschine,
zwischen den Tanzenden schwebte engelhaft Thu Fus Gesicht. Der Juli war zu
Ende.

Klingsor spielte mit den leeren Flaschen auf dem Tische, ordnete sie im
Kreise.

»Dies sind unsre Kanonen,« rief er, »mit diesen Kanonen schießen wir die
Zeit kaputt, den Tod kaputt, das Elend kaputt. Auch mit Farben habe ich auf
den Tod geschossen, mit dem feurigen Grün, mit dem knallenden Zinnober, mit
dem süßen Geraniumlack. Oft habe ich ihn auf den Schädel getroffen, Weiß
und Blau habe ich ihm ins Auge gejagt. Oft habe ich ihn in die Flucht
geschlagen. Noch oft werde ich ihn treffen, ihn besiegen, ihn überlisten.
Seht den Armenier, wieder öffnet er eine alte Flasche, und die
eingeschlossene Sonne vergangener Sommer schießt uns ins Blut. Auch der
Armenier hilft uns, auf den Tod zu schießen, auch der Armenier weiß keine
andre Waffe gegen den Tod.«

Der Magier brach Brot und aß.

»Gegen den Tod brauche ich keine Waffe, weil es keinen Tod gibt. Es gibt
aber eines: Angst vor dem Tode. Die kann man heilen, gegen die gibt es eine
Waffe. Es ist die Sache einer Stunde, die Angst zu überwinden. Aber Li Tai
Pe will nicht. Li liebt ja den Tod, er liebt ja seine Angst vor dem Tode,
seine Schwermut, sein Elend, nur die Angst hat ihn ja all das gelehrt, was
er kann und wofür wir ihn lieben.«

Spöttisch stieß er an, seine Zähne blitzten, immer heiterer ward sein
Gesicht, Leid schien ihm fremd. Niemand gab Antwort. Klingsor schoß mit der
Weinkanone gegen den Tod. Groß stand der Tod vor den offenen Türen des
Saales, der von Menschen, Wein und Tanzmusik geschwollen war. Groß stand
der Tod vor den Türen, leise rüttelte er am schwarzen Akazienbaum, finster
stand er im Garten auf der Lauer. Alles war draußen voll Tod, voll von Tod,
nur hier im engen schallenden Saal ward noch gekämpft, ward noch herrlich
und tapfer gekämpft gegen den schwarzen Belagerer, der nah durch die
Fenster greinte.

Spöttisch blickte der Magier über den Tisch, spöttisch schenkte er die
Schalen voll. Viele Schalen schon hatte Klingsor zerbrochen, neue hatte er
ihm gegeben. Viel hatte auch der Armenier getrunken, aber aufrecht saß er
wie Klingsor.

»Laß uns trinken, Li,« höhnte er leise. »Du liebst ja den Tod, gerne willst
du ja untergehen, gerne den Tod sterben. Sagtest du nicht so, oder habe ich
mich getäuscht -- oder hast du mich und dich selber am Ende getäuscht? Laß
uns trinken, Li, laß uns untergehen!«

Zorn quoll in Klingsor empor. Auf stand er, stand aufrecht und hoch, der
alte Sperber mit dem scharfen Kopf, spie in den Wein, zerschmiß seine volle
Tasse am Boden. Weithin spritzte der rote Wein in den Saal, die Freunde
wurden bleich, fremde Menschen lachten.

Aber schweigend und lächelnd holte der Magier eine neue Tasse, schenkte sie
lächelnd voll, bot sie lächelnd Li Tai an. Da lächelte Li, da lächelte auch
er. Über sein verzerrtes Gesicht lief das Lächeln wie Mondlicht.

»Kinder,« rief er, »laßt diesen Fremdling reden! Er weiß viel, der alte
Fuchs, er kommt aus einem versteckten und tiefen Bau. Er weiß viel, aber er
versteht uns nicht. Er ist zu alt, um Kinder zu verstehen. Er ist zu weise,
um Narren zu verstehen. Wir, wir Sterbenden, wissen mehr vom Tode als er.
Wir sind Menschen, nicht Sterne. Seht da meine Hand, die eine kleine blaue
Schale voll Wein hält! Sie kann viel, diese Hand, diese braune Hand. Sie
hat mit vielen Pinseln gemalt, sie hat neue Stücke der Welt aus dem
Finstern gerissen und vor die Augen der Menschen gestellt. Diese braune
Hand hat viele Frauen unterm Kinn gestreichelt, und hat viele Mädchen
verführt, viel ist sie geküßt worden, Tränen sind auf sie gefallen, ein
Gedicht hat Thu Fu auf sie gedichtet. Diese liebe Hand, Freunde, wird bald
voll Erde und voll Maden sein, keiner von euch würde sie mehr anrühren.
Wohl, eben darum liebe ich sie. Ich liebe meine Hand, ich liebe meine
Augen, ich liebe meinen weißen, zärtlichen Bauch, ich liebe sie mit
Bedauern und mit Spott und mit großer Zärtlichkeit, weil sie alle so bald
verwelken und verfaulen müssen. Schatten du, dunkler Freund, alter
Zinnsoldat auf dem Grabe Andersens, auch dir ergeht es so, lieber Kerl!
Stoß mit mir an, unsre lieben Glieder und Eingeweide sollen leben!«

Sie stießen an, dunkel lächelte der Schatten aus seinen tiefen Höhlenaugen
-- und plötzlich ging etwas durch den Saal, wie ein Wind, wie ein Geist.
Verstummt war unversehens die Musik, plötzlich, wie erloschen, weggeflossen
waren die Tänzer, von der Nacht verschlungen, und die Hälfte der Lichter
war verlöscht. Klingsor blickte nach den schwarzen Türen. Draußen stand der
Tod. Er sah ihn stehen. Er roch ihn. Wie Regentropfen in Landstraßenstaub,
so roch der Tod.

Da rückte Li die Schale von sich weg, stieß den Stuhl von sich und ging
langsam aus dem Saal, in den dunkeln Garten hinaus und fort, im Finstern,
Wetterleuchten überm Haupt, allein. Schwer lag ihm das Herz in der Brust,
wie der Stein auf einem Grab.


Abend im August

Im sinkenden Abend kam Klingsor -- er hatte den Nachmittag in Sonne und
Wind bei Manuzzo und Veglia gemalt -- sehr müde im Wald über Veglia zu
einem kleinen, schlafenden Canvetto. Es gelang ihm, eine greise Wirtsfrau
herbeizurufen, sie brachte ihm eine irdene Tasse voll Wein, er setzte sich
auf einen Nußbaumstumpf vor der Tür und packte den Rucksack aus, fand noch
ein Stück Käse und einige Pflaumen darin, und hielt sein Nachtmahl. Die
alte Frau saß dabei, weiß, gebückt und zahnlos, und erzählte mit faltig
arbeitendem Halse und stillgewordenen alten Augen vom Leben ihres Weilers
und ihrer Familie, vom Krieg und der Teuerung und vom Stand der Felder, von
Wein und Milch und was sie kosten, von gestorbenen Enkeln und
ausgewanderten Söhnen; alle Lebenszeiten und Sternbilder dieses kleinen
Bauernlebens lagen klar und freundlich ausgebreitet, rauh in dürftiger
Schönheit, voll Freude und Sorge, voll Angst und Leben. Klingsor aß, trank,
ruhte, hörte zu, fragte nach Kindern und Vieh, Pfarrer und Bischof, lobte
freundlich den ärmlichen Wein, bot eine letzte Pflaume an, gab die Hand,
wünschte eine glückliche Nacht und stieg, am Stock und mit dem Sack
beschwert, langsam in den lichten Wald bergaufwärts, dem Nachtlager
entgegen.

Es war die spätgoldene Stunde, noch glühte Licht des Tages überall, doch
gewann der Mond schon Schimmer, und erste Fledermäuse schwammen in der
grünen Flimmerluft. Ein Waldrand stand sanft im letzten Licht, helle
Kastanienstämme vor schwarzem Schatten, eine gelbe Hütte strahlte leise das
eingesogene Tageslicht von sich, sanftglühend wie ein gelber Topas,
rosenrot und violett führten die kleinen Wege durch Wiesen, Reben und Wald,
da und dort schon ein gelber Akazienzweig, der Westhimmel golden und grün
über sammetblauen Bergen.

O, jetzt noch arbeiten zu können, in der letzten, verzauberten
Viertelstunde des reifen Sommertages, der nie wieder kam! Wie namenlos
schön war alles jetzt, wie ruhig, gut und spendend, wie voll von Gott!

Klingsor setzte sich ins kühle Gras, griff mechanisch nach dem Bleistift
und ließ die Hand lächelnd wieder sinken. Er war todmüde. Seine Finger
betasteten das trockene Gras, die trockene mürbe Erde. Wie lange noch, dann
war dies liebe erregende Spiel vorbei! Wie lange noch, dann hatte man Hand
und Mund und Augen voll Erde! Thu Fu hatte ihm dieser Tage ein Gedicht
gesandt, dessen erinnerte er sich und sagte es langsam vor sich hin:

   Vom Baum des Lebens fällt
   Mir Blatt um Blatt.
   O taumelbunte Welt,
   Wie machst du satt,
   Wie machst du satt und müd,
   Wie machst du trunken!
   Was heut noch glüht,
   Ist bald versunken.
   Bald klirrt der Wind
   Über mein braunes Grab,
   Über das kleine Kind
   Beugt sich die Mutter herab.
   Ihre Augen will ich wiedersehn,
   Ihr Blick ist mein Stern,
   Alles andre mag gehn und verwehn,
   Alles stirbt, alles stirbt gern;
   Nur die ewige Mutter bleibt,
   Von der wir kamen.
   Ihr spielender Finger schreibt
   In die flüchtige Luft unsre Namen.

Nun, es war gut so. Wie viele hatte Klingsor noch von seinen zehn Leben?
Drei? Zwei? Mehr als eines war es immer noch, immer noch mehr als ein
braves, gewöhnliches Allerwelts- und Bürgerleben. Und viel hatte er getan,
viel gesehen, viel Papier und Leinwand bemalt, viele Herzen in Liebe und
Haß erregt, in Kunst und Leben viel Ärgernis und frischen Wind in die Welt
gebracht. Viel Frauen hatte er geliebt, viele Traditionen und Heiligtümer
zerstört, viel neue Dinge gewagt. Viele volle Becher hatte er leergesogen,
viel Tage und Sternennächte geatmet, unter vielen Sonnen gebrannt, in
vielen Wassern geschwommen. Nun saß er hier, in Italien oder Indien oder
China, der Sommerwind stieß launisch in die Kastanienkronen, gut und
vollkommen war die Welt. Es war gleichgültig, ob er noch hundert Bilder
malte oder zehn, ob er noch zwanzig Sommer lebte oder einen. Müde war er
geworden, müde. Alles stirbt, alles stirbt gern. Braver Thu Fu!

Es war Zeit, nach Hause zu kommen. Er würde ins Zimmer wanken, vom Wind
durch die Balkontür empfangen. Er würde Licht machen und seine Skizzen
auspacken. Das Waldinnere mit dem vielen Chromgelb und Chinesischblau war
vielleicht gut, es würde einmal ein Bild geben. Auf denn, es war Zeit.

Er blieb dennoch sitzen, den Wind im Haar, in der wehenden, beschmierten
Leinenjacke, Lächeln und Weh im abendlichen Herzen. Weich und schlaff wehte
der Wind, weich und lautlos taumelten die Fledermäuse im erlöschenden
Himmel. Alles stirbt, alles stirbt gern. Nur die ewige Mutter bleibt.

Er konnte auch hier schlafen, wenigstens eine Stunde, es war ja warm. Er
legte den Kopf auf den Rucksack und sah in den Himmel. Wie ist die Welt
schön, wie macht sie satt und müd!

Schritte kamen den Berg herab, kräftig auf losen hölzernen Sohlen. Zwischen
den Farren und Ginstern erschien eine Gestalt, eine Frau, schon waren die
Farben ihrer Kleider nicht mehr zu erkennen. Sie kam näher, in gesundem,
gleichmäßigem Tritt. Klingsor sprang auf und rief guten Abend. Sie erschrak
ein wenig und blieb einen Augenblick stehen. Er sah ihr ins Gesicht. Er
kannte sie, er wußte nicht, woher. Sie war hübsch und dunkel, hell blitzten
ihre schönen, festen Zähne.

»Sieh da!« rief er und gab ihr die Hand. Er spürte, daß ihn etwas mit
dieser Frau verband, irgendeine kleine Erinnerung. »Kennt man sich noch?«

»Madonna! Ihr seid ja der Maler von Castagnetta! Habt Ihr mich noch
gekannt?«

Ja, jetzt wußte er. Sie war eine Bauernfrau vom Taverne-Tal, bei ihrem
Hause hatte er einst, in der schon so schattentiefen und verwirrten
Vergangenheit dieses Sommers, einige Stunden gemalt, hatte Wasser an ihrem
Brunnen geschöpft, eine Stunde im Schatten des Feigenbaumes geschlummert,
und zum Schluß einen Becher Wein und einen Kuß von ihr bekommen.

»Ihr seid nie mehr wiedergekommen,« klagte sie. »Ihr hattet es mir doch so
sehr versprochen.«

Mutwille und Herausforderung klang in ihrer tiefen Stimme. Klingsor wurde
lebendig.

»Ecco, desto besser, daß du nun zu mir gekommen bist! Was für ein Glück ich
habe, grade jetzt, wo ich so allein und traurig war!«

»Traurig? Machet mir nichts vor, Herr, Ihr seid ein Spaßmacher, kein Wort
darf man Euch glauben. Na, ich muß aber weiter.«

»O, dann begleite ich dich.«

»Es ist nicht Euer Weg und ist auch nicht nötig. Was soll mir passieren?«

»Dir nichts, aber mir. Wie leicht könnte einer kommen und dir gefallen und
ginge mit dir und küßte deinen lieben Mund und deinen Hals und deine schöne
Brust, ein andrer statt meiner. Nein, das darf nicht sein.«

Er hatte die Hand um ihren Nacken gelegt und ließ sie nicht mehr los.

»Stern, mein kleiner! Schatz! Meine kleine süße Pflaume! Beiß mich, sonst
esse ich dich.«

Er küßte sie, die sich lachend zurückbog, auf den offnen, starken Mund,
zwischen Sträuben und Widerreden gab sie nach, küßte wieder, schüttelte den
Kopf, lachte, suchte sich freizumachen. Er hielt sie an sich gezogen,
seinen Mund auf ihrem, seine Hand auf ihrer Brust, ihr Haar roch wie
Sommer, nach Heu, Ginster, Farnkraut, Brombeeren. Einen Augenblick tief
Atem schöpfend, bog er den Kopf zurück, da sah er am verglühten Himmel
klein und weiß den ersten Stern aufgegangen. Die Frau schwieg, ihr Gesicht
war ernst geworden, sie seufzte, sie legte ihre Hand auf seine und drückte
sie fester um ihre Brust. Er bückte sich sanft, drückte ihr den Arm in die
Kniekehlen, die nicht widerstrebten, und bettete sie ins Gras.

»Hast du mich lieb?« fragte sie wie ein kleines Mädchen. »Povera me!«

Sie tranken den Becher, Wind strich über ihr Haar und nahm ihren Atem mit.

Ehe sie Abschied nahmen, suchte er im Rucksack, in seinen Rocktaschen, ob
er ihr nichts zu schenken habe, fand eine kleine silberne Taschendose, noch
halb voll von Zigarettentabak, die leerte er aus und gab sie ihr.

»Nein, kein Geschenk, gewiß nicht!« versicherte er. »Nur ein Andenken, daß
du mich nicht vergißt.«

»Ich vergesse dich nicht,« sagte sie. Und: »Kommst du wieder?«

Er wurde traurig. Langsam küßte er sie auf beide Augen.

»Ich komme wieder,« sagte er.

Noch eine Weile hörte er, regungslos stehend, ihre Schritte auf den
Holzsohlen bergabwärts klingen, über den Wiesengrund, durch den Wald, auf
Erde, auf Fels, auf Laub, auf Wurzeln. Nun war sie fort. Schwarz stand der
Wald in der Nacht, lau strich der Wind über die erloschene Erde. Irgend
etwas, vielleicht ein Pilz, vielleicht ein welkes Farnkraut, roch scharf
und bitter nach Herbst.

Klingsor konnte sich nicht zur Heimkehr entschließen. Wozu jetzt den Berg
hinaufsteigen, wozu in seine Zimmer zu all den Bildern gehen? Er streckte
sich ins Gras und lag und sah die Sterne an, schlief endlich ein und
schlief, bis spät in der Nacht ein Tierschrei oder ein Windstoß oder die
Kühle des Taus ihn erweckte. Dann stieg er nach Castagnetta hinauf, fand
sein Haus, seine Tür, seine Zimmer. Briefe lagen da und Blumen, es war
Freundesbesuch dagewesen.

So müde er war, er packte doch, nach der alten zähen Gewöhnung, in aller
Nacht noch seine Sachen aus und sah beim Lampenlicht die Skizzenblätter des
Tages an. Das Waldinnere war schön, Gekräut und Gestein im
lichtdurchzuckten Schatten glänzte kühl und köstlich wie eine Schatzkammer.
Es war richtig gewesen, daß er nur mit Chromgelb, Orange und Blau
gearbeitet und das Zinnobergrün weggelassen hatte. Lange sah er das Blatt
an.

Aber wozu? Wozu alle die Blätter voll Farbe? Wozu all die Mühe, all der
Schweiß, all die kurze, trunkene Schaffenslust? Gab es Erlösung? Gab es
Ruhe? Gab es Frieden?

Erschöpft sank er, kaum entkleidet, ins Bett, löschte das Licht, suchte
nach Schlaf und summte leise die Verse Thu Fus vor sich hin:

   Bald klirrt der Wind
   Über mein braunes Grab.


Klingsor schreibt an Louis den Grausamen

Caro Luigi! Lange hat man Deine Stimme nicht mehr gehört. Lebst Du noch am
Lichte? Nagt schon der Geier Dein Gebein?

Hast Du einmal mit einer Stricknadel in einer stehengebliebenen Wanduhr
gestochert? Ich tat es einmal, und habe es erlebt, daß plötzlich der Teufel
in das Werk fuhr und die ganze vorhandene Zeit abrasselte, die Zeiger
machten Wettrennen ums Zifferblatt, mit einem unheimlichen Geräusch drehten
sie sich wahnsinnig fort, prestissimo, bis ebenso plötzlich alles
abschnappte und die Uhr den Geist aufgab. Genau so ist es zurzeit hier bei
uns: Sonne und Mond rennen gehetzt wie Amokläufer über den Himmel, die Tage
jagen sich, die Zeit läuft einem davon, wie durch ein Loch im Sack.
Hoffentlich wird auch das Ende dann ein plötzliches sein und diese
betrunkene Welt untergehen, statt wieder in ein bürgerliches Tempo zu
fallen.

Die Tage über bin ich zu sehr beschäftigt, als daß ich etwas denken könnte
(wie wahnsinnig komisch das übrigens klingt, wenn man einen solchen
sogenannten »Satz« einmal laut vor sich hin sagt: »als daß ich etwas denken
könnte«)! Aber am Abend fehlst Du mir oft. Ich sitze dann meistens irgendwo
im Wald in einem der vielen Keller und trinke den beliebten Rotwein, der
zwar meistens nicht gut ist, aber doch auch das Leben tragen hilft und den
Schlaf befördert. Einige Male bin ich sogar am Tisch im Grotto
eingeschlafen und habe unter dem Grinsen der Eingeborenen bewiesen, daß es
mit meiner Neurasthenie doch nicht so schlimm stehen kann. Manchmal sind
Freunde und Mädchen dabei, und man übt seine Finger am Plastizin weiblicher
Glieder und spricht über Hüte und Absätze und die Kunst. Manchmal glückt
es, daß eine gute Temperatur erreicht wird, dann schreien und lachen wir
die ganze Nacht, und die Leute freuen sich, daß Klingsor so ein lustiger
Bruder ist. Es gibt hier eine sehr hübsche Frau, die jedesmal, wenn ich sie
sehe, heftig nach Dir fragt.

Die Kunst, die wir beide treiben, hängt, wie ein Professor sagen würde,
noch immer zu eng am Gegenstand (wäre fein als Bilderrätsel darzustellen).
Wir malen immer noch, wenn auch mit etwas freier Handschrift und für den
Bourgeois aufregend genug, die Dinge der »Wirklichkeit«: Menschen, Bäume,
Jahrmärkte, Eisenbahnen, Landschaften. Darin fügen wir uns noch einer
Konvention. »Wirklich« nennt ja der Bürger die Dinge, die von allen oder
doch vielen ähnlich wahrgenommen und beschrieben werden. Ich habe im Sinn,
sobald dieser Sommer herum ist, eine Zeitlang nur noch Phantasien zu malen,
namentlich Träume. Es wird darin zum Teil auch nach Deinem Sinn zugehen,
nämlich wahnsinnig lustig und überraschend, etwa so wie in den Geschichten
Collofinos des Hasenjägers vom Kölner Dom. Wenn ich auch fühle, daß der
Boden unter mir etwas dünn geworden ist, und wenn ich auch im ganzen mich
wenig nach weitern Jahren und Taten sehne, ich möchte doch immerhin noch
einige heftige Raketen dieser Welt in den Rachen jagen. Ein Bilderkäufer
schrieb mir kürzlich, er sehe mit Bewunderung, wie ich in meinen neuesten
Arbeiten eine zweite Jugend erlebe. Etwas daran ist ja richtig. Zu malen
habe ich eigentlich erst dies Jahr recht angefangen, scheint mir. Aber es
ist weniger ein Frühling, was ich da erlebe, als eine Explosion.
Erstaunlich, wie viel Dynamit in mir noch steckt; aber Dynamit läßt sich
schlecht im Sparherd brennen.

Lieber Louis, schon oft habe ich mich im stillen darüber gefreut, daß wir
zwei alten Wüstlinge im Grunde so rührend schamhaft sind und einander
lieber die Gläser an den Kopf schmeißen, als etwas von unsern Gefühlen
gegeneinander merken zu lassen. Möge es so bleiben, alter Igel!

Wir haben dieser Tage in jenem Grotto bei Barengo ein Fest mit Brot und
Wein gefeiert, herrlich klang unser Gesang im hohen Wald in der
Mitternacht, die alten römischen Lieder. Man braucht so wenig zum Glück,
wenn man älter wird und an den Füßen zu frieren beginnt: acht bis zehn
Stunden Arbeit im Tag, einen Liter Piemonteser, ein halbes Pfund Brot, eine
Virginia, ein paar Freundinnen, und allerdings Wärme und gutes Wetter. Die
haben wir, die Sonne funktioniert prachtvoll, mein Schädel ist verbrannt
wie der einer Mumie.

An manchen Tagen habe ich das Gefühl, mein Leben und Arbeiten beginne eben
erst, manchmal aber kommt es mir vor, ich habe achtzig Jahre schwer
gearbeitet und habe bald einen Anspruch auf Ruhe und Feierabend. Jeder
kommt einmal an ein Ende, mein Louis, auch ich, auch Du. Weiß Gott, was ich
Dir da schreibe, man sieht, daß ich etwas unwohl bin. Es sind wohl
Hypochondrien, ich habe viel Augenschmerzen, und manchmal verfolgt mich die
Erinnerung an eine Abhandlung über Netzhautablösung, die ich vor Jahren
gelesen habe.

Wenn ich durch meine Balkontür hinuntersehe, die Du kennst, dann wird mir
klar, daß wir noch eine gute Weile fleißig sein müssen. Die Welt ist
unsäglich schön und mannigfaltig, durch diese grüne hohe Tür läutet sie Tag
und Nacht zu mir herauf und schreit und fordert, und immer wieder renne ich
hinaus und reiße ein Stück davon an mich, ein winziges Stück. Die grüne
Gegend hier ist durch den trocknen Sommer jetzt wunderbar licht und rötlich
geworden, ich hätte nie gedacht, daß ich wieder zu Englischrot und Siena
greifen würde. Dann steht der ganze Herbst bevor, Stoppelfelder, Weinlese,
Maisernte, rote Wälder. Ich werde das alles noch einmal mitmachen, Tag für
Tag, und noch einige hundert Studien malen. Dann aber, das fühle ich, werde
ich den Weg nach Innen gehen und noch einmal, wie ich es als junger Kerl
eine Weile tat, ganz aus der Erinnerung und Phantasie malen, Gedichte
machen und Träume spinnen. Auch das muß sein.

Ein großer Pariser Maler, den ein junger Künstler um Ratschläge bat, hat
ihm gesagt: »Junger Mann, wenn Sie ein Maler werden wollen, so vergessen
Sie nicht, daß man vor allem gut essen muß. Zweitens ist die Verdauung
wichtig, sorgen Sie für einen regelmäßigen Stuhlgang! Und drittens: halten
Sie sich stets eine hübsche kleine Freundin!« Ja, man sollte meinen, diese
Anfänge der Kunst habe ich gelernt, und es könne mir hierin eigentlich kaum
fehlen. Aber dies Jahr, es ist verflucht, stimmt es bei mir auch in diesen
einfachen Dingen nicht mehr recht. Ich esse wenig und schlecht, oft ganze
Tage nur Brot, ich habe zu Zeiten mit dem Magen zu tun (ich sage Dir: das
Unnützeste, was man zu tun haben kann!), und ich habe auch keine richtige
kleine Freundin, sondern habe mit vier, fünf Frauen zu tun und bin
ebensooft erschöpft wie hungrig. Es fehlt etwas am Uhrwerk, und seit ich
mit der Nadel hineingestochen habe, läuft es zwar wieder, aber rasch wie
der Satan, und rasselt so unvertraut dabei. Wie einfach ist das Leben, wenn
man gesund ist! Du hast noch nie einen so langen Brief von mir bekommen,
außer vielleicht damals in der Zeit, wo wir über die Palette disputierten.
Ich will aufhören, es geht gegen fünf Uhr, das schöne Licht fängt an. Sei
gegrüßt von Deinem Klingsor.

Nachschrift:

Ich erinnere mich, daß Du ein kleines Bild von mir gern hattest, das am
meisten chinesische, das ich gemacht habe, mit der Hütte, dem roten Weg,
den veronesergrünen Zackenbäumen und der fernen Spielzeugstadt im
Hintergrund. Ich kann es jetzt nicht schicken, weiß auch nicht, wo Du bist.
Aber es gehört Dir, das möchte ich Dir für alle Fälle sagen.


Klingsor schickt seinem Freunde Thu Fu ein Gedicht

(Aus den Tagen, in welchen er an seinem Selbstbildnis malte)

   Trunken sitz ich des Nachts im durchwehten Gehölz,
   An den klagenden Zweigen hat Herbst genagt,
   Murmelnd läuft in den Keller,
   Meine leere Flasche zu füllen, der Wirt.

   Morgen, morgen haut mir der bleiche Tod
   Seine klirrende Sense ins rote Fleisch,
   Lange schon auf der Lauer
   Weiß ich ihn liegen, den falschen Hund.

   Ihn zu höhnen, sing ich die halbe Nacht,
   Lalle mein trunkenes Lied in den müden Wald;
   Seiner Drohung zu spotten
   Ist meines Liedes und meines Trinkens Sinn.

   Vieles tat und erlitt ich, Wandrer auf langem Weg,
   Nun am Abend sitz ich, trinke und warte bang,
   Bis die blitzende Sichel
   Mir das Haupt vom zuckenden Herzen trennt.


Das Selbstbildnis

In den ersten Septembertagen, nach vielen Wochen einer ungewöhnlichen
trocknen Sonnenglut, gab es einige Regentage. In diesen Tagen malte
Klingsor, in dem hochfenstrigen Saal seines Palazzos in Castagnetta, sein
Selbstporträt, das jetzt in Frankfurt hängt.

Dies furchtbare und doch so zauberhaft schöne Bild, sein letztes ganz zu
Ende geführtes Werk, steht am Ende der Arbeit jenes Sommers, am Ende einer
unerhört glühenden, rasenden Arbeitszeit, als deren Gipfel und Krönung.
Vielen ist es aufgefallen, daß jeder, der Klingsor kannte, ihn auf diesem
Bilde sofort und unfehlbar wiedererkannte, obwohl niemals ein Bildnis sich
so weit von jeder naturalistischen Ähnlichkeit entfernte.

Wie alle späteren Werke Klingsors, so kann man auch dies Selbstbildnis aus
den verschiedensten Standpunkten betrachten. Für manche, zumal solche, die
den Maler nicht kannten, ist das Bild vor allem ein Farbenkonzert, ein
wunderbar gestimmter, trotz aller heftigen Buntheit still und edel
wirkender Teppich. Andre sehen darin einen letzten kühnen, ja verzweifelten
Versuch zur Befreiung vom Gegenständlichen: ein Antlitz wie eine Landschaft
gemalt, Haare an Laub und Baumrinde erinnernd, Augenhöhlen wie Felsspalten
-- sie sagen, dies Bild erinnere an die Natur nur so wie mancher Bergrücken
an ein Menschengesicht, mancher Baumast an Hände und Beine erinnert, nur
von ferne her, nur gleichnishaft. Viele aber sehen im Gegenteil gerade in
diesem Werk nur den Gegenstand, das Gesicht Klingsors, von ihm selbst mit
unerbittlicher Psychologie zerlegt und gedeutet, eine riesige Konfession,
ein rücksichtsloses, schreiendes, rührendes, erschreckendes Bekenntnis.
Noch andere, und darunter einige seiner erbittertsten Gegner, sehen in
diesem Bildnis lediglich ein Produkt und Zeichen von Klingsors angeblichem
Wahnsinn. Sie vergleichen den Kopf des Bildes mit dem naturalistisch
gesehenen Original, mit Photographien, und finden in den Deformationen und
Übertreibungen der Formen negerhafte, entartete, atavistische, tierische
Züge. Manche von diesen halten sich auch über das Götzenhafte und
Phantastische dieses Bildes auf, sehen eine Art von monomanischer
Selbstanbetung darin, eine Blasphemie und Selbstverherrlichung, eine Art
von religiösem Größenwahn. Alle diese Arten der Betrachtung sind möglich
und noch viele andere.

Während der Tage, die er an diesem Bilde malte, ging Klingsor nicht aus,
außer des Nachts zum Wein, aß nur Brot und Obst, das ihm die Hauswirtin
brachte, blieb unrasiert und sah mit den unter der verbrannten Stirn tief
eingesunkenen Augen in dieser Verwahrlosung in der Tat erschreckend aus. Er
malte sitzend und auswendig, nur von Zeit zu Zeit, fast nur in den
Arbeitspausen, ging er zu dem großen, altmodischen, mit Rosenranken
bemalten Spiegel an der Nordwand, streckte den Kopf vor, riß die Augen auf,
schnitt Gesichter.

Viele, viele Gesichter sah er hinter dem Klingsor-Gesicht im großen Spiegel
zwischen den dummen Rosenranken, viele Gesichter malte er in sein Bild
hinein: Kindergesichter süß und erstaunt, Jünglingsschläfen voll Traum und
Glut, spöttische Trinkeraugen, Lippen eines Dürstenden, eines Verfolgten,
eines Leidenden, eines Suchenden, eines Wüstlings, eines enfant perdu. Den
Kopf aber baute er majestätisch und brutal, einen Urwaldgötzen, einen in
sich verliebten, eifersüchtigen Jehova, einen Popanz, vor dem man Erstlinge
und Jungfrauen opfert. Dies waren einige seiner Gesichter. Ein andres war
das des Verfallenden, des Untergehenden, des mit seinem Untergang
Einverstandenen: Moos wuchs auf seinem Schädel, schief standen die alten
Zähne, Risse durchzogen die welke Haut, und in den Rissen stand Schorf und
Schimmel. Das ist es, was einige Freunde an dem Bilde besonders lieben. Sie
sagen: es ist der Mensch, ecce homo, der müde, gierige, wilde, kindliche
und raffinierte Mensch unsrer späten Zeit, der sterbende, sterbenwollende
Europamensch: von jeder Sehnsucht verfeinert, von jedem Laster krank, vom
Wissen um seinen Untergang enthusiastisch beseelt, zu jedem Fortschritt
bereit, zu jedem Rückschritt reif, ganz Glut und auch ganz Müdigkeit, dem
Schicksal und dem Schmerz ergeben wie der Morphinist dem Gift, vereinsamt,
ausgehöhlt, uralt, Faust zugleich und Karamasow, Tier und Weiser, ganz
entblößt, ganz ohne Ehrgeiz, ganz nackt, voll von Kinderangst vor dem Tode
und voll von müder Bereitschaft, ihn zu sterben.

Und noch weiter, noch tiefer hinter all diesen Gesichtern schliefen
fernere, tiefere, ältere Gesichter, vormenschliche, tierische, pflanzliche,
steinerne, so als erinnere sich der letzte Mensch auf Erden im Augenblick
vor dem Tode nochmals traumschnell an alle Gestaltungen seiner Vorzeit und
Weltenjugend.

In diesen rasend gespannten Tagen lebte Klingsor wie ein Ekstatiker. Nachts
füllte er sich schwer mit Wein und stand dann, die Kerze in der Hand, vor
dem alten Spiegel, betrachtete das Gesicht im Glas, das schwermütig
grinsende Gesicht des Säufers. Den einen Abend hatte er eine Geliebte bei
sich, auf dem Diwan im Studio, und während er sie nackt an sich gedrückt
hielt, starrte er über ihre Schulter weg in den Spiegel, sah neben ihrem
aufgelösten Haar sein verzerrtes Gesicht, voll Wollust und voll Ekel vor
der Wollust, mit geröteten Augen. Er hieß sie morgen wiederkommen, aber
Grauen hatte sie gefaßt, sie kam nicht wieder.

Nachts schlief er wenig. Oft erwachte er aus angstvollen Träumen, Schweiß
im Gesicht, wild und lebensmüde, und sprang doch alsbald auf, starrte in
den Schrankspiegel, las die wüste Landschaft dieser verstörten Züge ab,
düster, haßvoll, oder lächelnd, wie schadenfroh. Er hatte einen Traum, in
dem sah er sich selbst, wie er gefoltert wurde, in die Augen wurden Nägel
geschlagen, die Nase mit Haken aufgerissen; und er zeichnete dies
gefolterte Gesicht, mit den Nägeln in den Augen, mit Kohle auf einen
Buchdeckel, der ihm zur Hand lag; wir fanden das seltsame Blatt nach seinem
Tode. Von einem Anfall von Gesichtsneuralgien befallen, hing er krumm über
die Lehne eines Stuhles, lachte und schrie vor Pein, und hielt sein
entstelltes Gesicht vor das Glas des Spiegels, betrachtete die Zuckungen,
verhöhnte die Tränen.

Und nicht sein Gesicht allein, oder seine tausend Gesichter, malte er auf
dies Bild, nicht bloß seine Augen und Lippen, die leidvolle Talschlucht des
Mundes, den gespaltenen Felsen der Stirn, die wurzelhaften Hände, die
zuckenden Finger, den Hohn des Verstandes, den Tod im Auge. Er malte, in
seiner eigenwilligen, überfüllten, gedrängten und zuckenden Pinselschrift
sein Leben dazu, seine Liebe, seinen Glauben, seine Verzweiflung. Scharen
nackter Frauen malte er mit, im Sturm vorbeigetrieben wie Vögel,
Schlachtopfer vor dem Götzen Klingsor, und einen Jüngling mit dem Gesicht
des Selbstmörders, ferne Tempel und Wälder, einen alten bärtigen Gott
mächtig und dumm, eine Frauenbrust vom Dolch gespalten, Schmetterlinge mit
Gesichtern auf den Flügeln, und zuhinterst im Bilde, am Rande des Chaos den
Tod, ein graues Gespenst, der mit einem Speer, klein wie eine Nadel, in das
Gehirn des gemalten Klingsor stach.

Wenn er stundenlang gemalt hatte, trieb Unruhe ihn auf, rastlos lief er und
flackernd durch seine Zimmer, die Türen wehten hinter ihm, riß Flaschen aus
dem Schrank, riß Bücher aus den Schäften, Teppiche von den Tischen, lag
lesend am Boden, lehnte sich tief atmend aus den Fenstern, suchte alte
Zeichnungen und Photographien und füllte Böden und Tische und Betten und
Stühle aller Zimmer mit Papieren, Bildern, Büchern, Briefen an. Alles wehte
wirr und traurig durcheinander, wenn der Regenwind durch die Fenster kam.
Er fand sein Kinderbildnis unter alten Sachen, Lichtbild aus seinem vierten
Jahr, in einem weißen Sommeranzug, unterm weißlich hellblonden Haar ein
süßtrotziges Knabengesicht. Er fand die Bilder seiner Eltern, Photographien
von Jugendgeliebten. Alles beschäftigte, reizte, spannte, quälte ihn, riß
ihn hin und her, alles riß er an sich, warf es wieder hin, bis er wieder
davon zuckte, über seiner Holztafel hing und weiter malte. Tiefer zog er
die Furchen durch das Geklüft seines Bildnisses, breiter baute er den
Tempel seines Lebens auf, mächtiger sprach er die Ewigkeit jedes Daseins
aus, schluchzender seine Vergänglichkeit, holder sein lächelndes Gleichnis,
höhnischer seine Verurteilung zur Verwesung. Dann sprang er wieder auf,
gejagter Hirsch, und lief den Trab des Gefangenen durch seine Zimmer.
Freude durchzuckte ihn und tiefe Schöpfungswonne wie ein feuchtes
frohlockendes Gewitter, bis Schmerz ihn wieder zu Boden warf und ihm die
Scherben seines Lebens und seiner Kunst ins Gesicht schmiß. Er betete vor
seinem Bild, und er spie es an. Er war irrsinnig, wie jeder Schöpfer
irrsinnig ist. Aber er tat im Irrsinn des Schaffens unfehlbar klug wie ein
Nachtwandler alles, was sein Werk förderte. Er fühlte gläubig, daß in
diesem grausamen Kampf um sein Bildnis nicht nur Geschick und Rechenschaft
eines Einzelnen sich vollziehe, sondern Menschliches, sondern Allgemeines,
Notwendiges. Er fühlte, nun stand er wieder vor einer Aufgabe, vor einem
Schicksal, und alle vorhergegangene Angst und Flucht und aller Rausch und
Taumel war nur Angst und Flucht vor dieser seiner Aufgabe gewesen. Nun gab
es nicht Angst noch Flucht mehr, nur noch Vorwärts, nur noch Hieb und
Stich, Sieg und Untergang. Er siegte, und er ging unter und litt und lachte
und biß sich durch, tötete und starb, gebar und wurde geboren.

Ein französischer Maler wollte ihn besuchen, die Wirtin führte ihn ins
Vorzimmer, Unordnung und Schmutz grinste im überfüllten Raum. Klingsor kam,
Farbe an den Ärmeln, Farbe im Gesicht, grau, unrasiert, mit langen
Schritten rannte er durch den Raum. Der Fremde brachte Grüße aus Paris und
Genf, sprach seine Verehrung aus. Klingsor ging auf und ab, schien nicht zu
hören. Verlegen schwieg der Gast und begann sich zurückzuziehen, da trat
Klingsor zu ihm, legte ihm die farbenbedeckte Hand auf die Schulter, sah
ihm nah ins Auge. »Danke,« sagte er langsam, mühsam, »danke, lieber Freund.
Ich arbeite, ich kann nicht sprechen. Man spricht zu viel, immer. Seien Sie
mir nicht böse, und grüßen Sie mir meine Freunde, sagen Sie ihnen, daß ich
sie liebe.« Und verschwand wieder ins andre Zimmer.

Das fertige Bild stellte er, am Ende dieser gepeitschten Tage, in die
unbenützte leere Küche und schloß ab. Er hat es nie gezeigt. Dann nahm er
Veronal und schlief einen Tag und eine Nacht hindurch. Dann wusch er sich,
rasierte sich, legte neue Wäsche und Kleider an, fuhr zur Stadt und kaufte
Obst und Zigaretten, um sie Gina zu schenken.



Werke von Hermann Hesse


   Peter Camenzind.
   Roman. 98. Auflage.

   Diesseits.
   Erzählungen. 23. Auflage.

   Nachbarn.
   Erzählungen. 13. Auflage

   Umwege.
   Erzählungen. 13. Auflage.

   Aus Indien.
   Aufzeichnungen von einer indischen Reise. 9. Auflage.

   Roßhalde.
   Roman. 42. Auflage.

   Märchen.
   21. Auflage.

   Unterm Rad.
   Roman.

   Knulp.
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   Schön ist die Jugend.

   Wanderung.
   Mit 14 farbigen Bildern vom Verfasser.

Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig



Anmerkungen zur Transkription


Offensichtliche Druckfehler wurden unter Verwendung späterer Ausgaben korrigiert.





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