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Title: Siddhartha: eine indische Dichtung
Author: Hesse, Hermann, 1877-1962
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Siddhartha: eine indische Dichtung" ***


with the assistance of Stefan Langer, sl99@gmx.de, in
scanning the original 1922 edition and Dr. Mary Cicora,
transcription.



SIDDHARTHA

Eine indische Dichtung

von Hermann Hesse



ERSTER TEIL



Romain Rolland dem verehrten Freunde gewidmet



DER SOHN DES BRAHMANEN

Im Schatten des Hauses, in der Sonne des Flußufers bei den Booten, im Schatten
des Salwaldes, im Schatten des Feigenbaumes wuchs Siddhartha auf, der
schöne Sohn des Brahmanen, der junge Falke, zusammen mit Govinda, seinem Freunde, dem
Brahmanensohn.  Sonne bräunte seine lichten Schultern am Flußufer,
beim Bade, bei den heiligen Waschungen, bei den heiligen Opfern.
Schatten floß in seine schwarzen Augen im Mangohain, bei den
Knabenspielen, beim Gesang der Mutter, bei den heiligen Opfern, bei
den Lehren seines Vaters, des Gelehrten, beim Gespräch der Weisen.
Lange schon nahm Siddhartha am Gespräch der Weisen teil, übte sich mit
Govinda im Redekampf, übte sich mit Govinda in der Kunst der
Betrachtung, im Dienst der Versenkung.  Schon verstand er, lautlos das
Om zu sprechen, das Wort der Worte, es lautlos in sich hinein zu
sprechen mit dem Einhauch, es lautlos aus sich heraus zu sprechen mit
dem Aushauch, mit gesammelter Seele, die Stirn umgeben vom Glanz des
klardenkenden Geistes.  Schon verstand er, im Innern seines Wesens
Atman zu wissen, unzerstörbar, eins mit dem Weltall.

Freude sprang in seines Vaters Herzen über den Sohn, den Gelehrigen,
den Wissensdurstigen, einen großen Weisen und Priester sah er in ihm
heranwachsen, einen Fürsten unter den Brahmanen.

Wonne sprang in seiner Mutter Brust, wenn sie ihn sah, wenn sie ihn
schreiten, wenn sie ihn niedersitzen und aufstehen sah, Siddhartha,
den Starken, den Schönen, den auf schlanken Beinen Schreitenden, den
mit vollkommenem Anstand sie Begrüßenden.

Liebe rührte sich in den Herzen der jungen Brahmanentöchter, wenn
Siddhartha durch die Gassen der Stadt ging, mit der leuchtenden Stirn,
mit dem Königsauge, mit den schmalen Hüften.

Mehr als sie alle aber liebte ihn Govinda, sein Freund, der
Brahmanensohn.  Er liebte Siddharthas Auge und holde Stimme, er liebte
seinen Gang und den vollkommenen Anstand seiner Bewegungen, er liebte
alles, was Siddhartha tat und sagte, und am meisten liebte er seinen
Geist, seine hohen, feurigen Gedanken, seinen glühenden Willen, seine
hohe Berufung.  Govinda wußte: dieser wird kein gemeiner Brahmane
werden, kein fauler Opferbeamter, kein habgieriger Händler mit
Zaubersprüchen, kein eitler, leerer Redner, kein böser, hinterlistiger
Priester, und auch kein gutes, dummes Schaf in der Herde der Vielen.
Nein, und auch er, Govinda, wollte kein solcher werden, kein Brahmane,
wie es zehntausend gibt.  Er wollte Siddhartha folgen, dem Geliebten,
dem Herrlichen.  Und wenn Siddhartha einstmals ein Gott würde, wenn er
einstmals eingehen würde zu den Strahlenden, dann wollte Govinda ihm
folgen, als sein Freund, als sein Begleiter, als sein Diener, als sein
Speerträger, sein Schatten.

So liebten den Siddhartha alle.  Allen schuf er Freude, allen war er
zur Lust.

Er aber, Siddhartha, schuf sich nicht Freude, er war sich nicht zur
Lust.  Wandelnd auf den rosigen Wegen des Feigengartens, sitzend im
bläulichen Schatten des Hains der Betrachtung, waschend seine Glieder
im täglichen Sühnebad, opfernd im tiefschattigen Mangowald, von
vollkommenem Anstand der Gebärden, von allen geliebt, aller Freude,
trug er doch keine Freude im Herzen.  Träume kamen ihm und rastlose
Gedanken aus dem Wasser des Flusses geflossen, aus den Sternen der
Nacht gefunkelt, aus den Strahlen der Sonne geschmolzen, Träume kamen
ihm und Ruhelosigkeit der Seele, aus den Opfern geraucht, aus den
Versen der Rig-Veda gehaucht, aus den Lehren der alten Brahmanen
geträufelt.

Siddhartha hatte begonnen, Unzufriedenheit in sich zu nähren. Er hatte
begonnen zu fühlen, daß die Liebe seines Vaters, und die Liebe seiner
Mutter, und auch die Liebe seines Freundes, Govindas, nicht immer und
für alle Zeit ihn beglücken, ihn stillen, ihn sättigen, ihm genügen
werde.  Er hatte begonnen zu ahnen, daß sein ehrwürdiger Vater und
seine anderen Lehrer, daß die weisen Brahmanen ihm von ihrer Weisheit
das meiste und beste schon mitgeteilt, daß sie ihre Fülle schon in
sein wartendes Gefäß gegossen hätten, und das Gefäß war nicht voll,
der Geist war nicht begnügt, die Seele war nicht ruhig, das Herz nicht
gestillt.  Die Waschungen waren gut, aber sie waren Wasser, sie
wuschen nicht Sünde ab, sie heilten nicht Geistesdurst, sie lösten
nicht Herzensangst.  Vortrefflich waren die Opfer und die Anrufung
der Götter--aber war dies alles?  Gaben die Opfer Glück?  Und wie war
das mit den Göttern?  War es wirklich Prajapati, der die Welt
erschaffen hat?  War es nicht der Atman, Er, der Einzige, der All-Eine?
Waren nicht die Götter Gestaltungen, erschaffen wie ich und du, der
Zeit untertan, vergänglich?  War es also gut, war es richtig, war es
ein sinnvolles und höchstes Tun, den Göttern zu opfern?  Wem anders
war zu opfern, wem anders war Verehrung darzubringen als Ihm, dem
Einzigen, dem Atman?  Und wo war Atman zu finden, wo wohnte Er, wo
schlug Sein ewiges Herz, wo anders als im eigenen Ich, im Innersten,
im Unzerstörbaren, das ein jeder in sich trug?  Aber wo, wo war dies
Ich, dies Innerste, dies Letzte?  Es war nicht Fleisch und Bein, es
war nicht Denken noch Bewußtsein, so lehrten die Weisesten.  Wo, wo
also war es?  Dorthin zu dringen, zum Ich, zu mir, zum Atman,--gab es
einen andern Weg, den zu suchen sich lohnte?  Ach, und niemand zeigte
diesen Weg, niemand wußte ihn, nicht der Vater, nicht die Lehrer und
Weisen, nicht die heiligen Opfergesänge!  Alles wußten sie, die
Brahmanen und ihre heiligen Bücher, alles wußten sie, um alles hatten
sie sich gekümmert und um mehr als alles, die Erschaffung der Welt,
das Entstehen der Rede, der Speise, des Einatmens, des Ausatmens, die
Ordnungen der Sinne, die Taten der Götter--unendlich vieles wußten
sie--aber war es wertvoll, dies alles zu wissen, wenn man das Eine und
Einzige nicht wußte, das Wichtigste, das allein Wichtige?

Gewiß, viele Verse der heiligen Bücher, zumal in den Upanishaden des
Samaveda, sprachen von diesem Innersten und Letzten, herrliche Verse.
"Deine Seele ist die ganze Welt", stand da geschrieben, und
geschrieben stand, daß der Mensch im Schlafe, im Tiefschlaf, zu seinem
Innersten eingehe und im Atman wohne.  Wunderbare Weisheit stand in
diesen Versen, alles Wissen der Weisesten stand hier in magischen
Worten gesammelt, rein wie von Bienen gesammelter Honig.  Nein, nicht
gering zu achten war das Ungeheure an Erkenntnis, das hier von
unzählbaren Geschlechterfolgen weiser Brahmanen gesammelt und bewahrt
lag.--Aber wo waren die Brahmanen, wo die Priester, wo die Weisen oder
Büßer, denen es gelungen war, dieses tiefste Wissen nicht bloß zu
wissen, sondern zu leben?  Wo war der Kundige, der das Daheimsein im
Atman aus dem Schlafe herüberzauberte ins Wachsein, in das Leben, in
Schritt und Tritt, in Wort und Tat?  Viele ehrwürdige Brahmanen kannte
Siddhartha, seinen Vater vor allen, den Reinen, den Gelehrten, den
höchst Ehrwürdigen.  Zu bewundern war sein Vater, still und edel war
sein Gehaben, rein sein Leben, weise sein Wort, feine und adlige
Gedanken wohnten in seiner Stirn--aber auch er, der so viel Wissende,
lebte er denn in Seligkeit, hatte er Frieden, war er nicht auch nur
ein Suchender, ein Dürstender?  Mußte er nicht immer und immer wieder
an heiligen Quellen, ein Durstender, trinken, am Opfer, an den Büchern,
an der Wechselrede der Brahmanen?  Warum mußte er, der Untadelige,
jeden Tag Sünde abwaschen, jeden Tag sich um Reinigung mühen, jeden
Tag von neuem?  War denn nicht Atman in ihm, floß denn nicht in seinem
eigenen Herzen der Urquell?  Ihn mußte man finden, den Urquell im
eigenen Ich, ihn mußte man zu eigen haben!  Alles andre war Suchen,
war Umweg, war Verirrung.

So waren Siddharthas Gedanken, dies war sein Durst, dies sein Leiden.

Oft sprach er aus einem Chandogya-Upanishad sich die Worte vor:
"Fürwahr, der Name des Brahman ist Satyam--wahrlich, wer solches weiß,
der geht täglich ein in die himmlische Welt."  Oft schien sie nahe,
die himmlische Welt, aber niemals hatte er sie ganz erreicht, nie den
letzten Durst gelöscht.  Und von allen Weisen und Weisesten, die er
kannte und deren Belehrung er genoß, von ihnen allen war keiner, der
sie ganz erreicht hatte, die himmlische Welt, der ihn ganz gelöscht
hatte, den ewigen Durst.

"Govinda," sprach Siddhartha zu seinem Freunde, "Govinda, Lieber, komm
mit mir unter den Banyanenbaum, wir wollen der Versenkung pflegen."

Sie gingen zum Banyanenbaum, sie setzten sich nieder, hier Siddhartha,
zwanzig Schritte weiter Govinda.  Indem er sich niedersetzte, bereit,
das Om zu sprechen, wiederholte Siddhartha murmelnd den Vers:

Om ist Bogen, der Pfeil ist Seele,
Das Brahman ist des Pfeiles Ziel,
Das soll man unentwegt treffen.


Als die gewohnte Zeit der Versenkungsübung hingegangen war, erhob sich
Govinda.  Der Abend war gekommen, Zeit war es, die Waschung der
Abendstunde vorzunehmen.  Er rief Siddharthas Namen.  Siddhartha gab
nicht Antwort.  Siddhartha saß versunken, seine Augen standen starr
auf ein sehr fernes Ziel gerichtet, seine Zungenspitze stand ein wenig
zwischen den Zähnen hervor, er schien nicht zu atmen.  So saß er, in
Versenkung gehüllt, Om denkend, seine Seele als Pfeil nach dem Brahman
ausgesandt.

Einst waren Samanas durch Siddharthas Stadt gezogen, pilgernde Asketen,
drei dürre, erloschene Männer, nicht alt noch jung, mit staubigen und
blutigen Schultern, nahezu nackt von der Sonne versengt, von
Einsamkeit umgeben, fremd und feind der Welt, Fremdlinge und hagere
Schakale im Reich der Menschen.  Hinter ihnen her wehte heiß ein Duft
von stiller Leidenschaft, von zerstörendem Dienst, von mitleidloser
Entselbstung.

Am Abend, nach der Stunde der Betrachtung, sprach Siddhartha zu
Govinda: "Morgen in der Frühe, mein Freund, wird Siddhartha zu den
Samanas gehen.  Er wird ein Samana werden."

Govinda erbleichte, da er die Worte hörte und im unbewegten Gesicht
seines Freundes den Entschluß las, unablenkbar wie der vom Bogen
losgeschnellte Pfeil.  Alsbald und beim ersten Blick erkannte Govinda:
Nun beginnt es, nun geht Siddhartha seinen Weg, nun beginnt sein
Schicksal zu sprossen, und mit seinem das meine.  Und er wurde bleich
wie eine trockene Bananenschale.

"O Siddhartha," rief er, "wird das dein Vater dir erlauben?"

Siddhartha blickte herüber wie ein Erwachender.  Pfeilschnell las er
in Govindas Seele, las die Angst, las die Ergebung.

"O Govinda," sprach er leise, "wir wollen nicht Worte verschwenden.
Morgen mit Tagesanbruch werde ich das Leben der Samanas beginnen.
Rede nicht mehr davon."

Siddhartha trat in die Kammer, wo sein Vater auf einer Matte aus Bast
saß, und trat hinter seinen Vater und blieb da stehen, bis sein Vater
fühlte, daß einer hinter ihm stehe.  Sprach der Brahmane: "Bist du es,
Siddhartha?  So sage, was zu sagen du gekommen bist."

Sprach Siddhartha: "Mit deiner Erlaubnis, mein Vater.  Ich bin
gekommen, dir zu sagen, daß mich verlangt, morgen dein Haus zu
verlassen und zu den Asketen zu gehen.  Ein Samana zu werden ist mein
Verlangen.  Möge mein Vater dem nicht entgegen sein."

Der Brahmane schwieg, und schwieg so lange, daß im kleinen Fenster die
Sterne wanderten und ihre Figur veränderten, ehe das Schweigen in der
Kammer ein Ende fand.  Stumm und regungslos stand mit gekreuzten Armen
der Sohn, stumm und regungslos saß auf der Matte der Vater, und die
Sterne zogen am Himmel.  Da sprach der Vater: "Nicht ziemt es dem
Brahmanen, heftige und zornige Worte zu reden.  Aber Unwille bewegt
mein Herz.  Nicht möchte ich diese Bitte zum zweiten Male aus deinem
Munde hören."

Langsam erhob sich der Brahmane, Siddhartha stand stumm mit gekreuzten
Armen.

"Worauf wartest du?" fragte der Vater.

Sprach Siddhartha: "Du weißt es."

Unwillig ging der Vater aus der Kammer, unwillig suchte er sein Lager
auf und legte sich nieder.

Nach einer Stunde, da kein Schlaf in seine Augen kam, stand der
Brahmane auf, tat Schritte hin und her, trat aus dem Hause.  Durch das
kleine Fenster der Kammer blickte er hinein, da sah er Siddhartha
stehen, mit gekreuzten Armen, unverrückt.  Bleich schimmerte sein
helles Obergewand.  Unruhe im Herzen, kehrte der Vater zu seinem Lager
zurück.

Nach einer Stunde, da kein Schlaf in seine Augen kam, stand der
Brahmane von neuem auf, tat Schritte hin und her, trat vor das Haus,
sah den Mond aufgegangen.  Durch das Fenster der Kammer blickte er
hinein, da stand Siddhartha, unverrückt, mit gekreuzten Armen, an
seinen bloßen Schienbeinen spiegelte das Mondlicht.  Besorgnis im
Herzen, suchte der Vater sein Lager auf.

Und er kam wieder nach einer Stunde, und kam wieder nach zweien
Stunden, blickte durchs kleine Fenster, sah Siddhartha stehen, im Mond,
im Sternenschein, in der Finsternis.  Und kam wieder von Stunde zu
Stunde, schweigend, blickte in die Kammer, sah den unverrückt
Stehenden, füllte sein Herz mit Zorn, füllte sein Herz mit Unruhe,
füllte sein Herz mit Zagen, füllte es mit Leid.

Und in der letzten Nachtstunde, ehe der Tag begann, kehrte er wieder,
trat in die Kammer, sah den Jüngling stehen, der ihm groß und wie
fremd erschien.

"Siddhartha," sprach er, "worauf wartest du?"

"Du weißt es."

"Wirst du immer so stehen und warten, bis es Tag wird, Mittag wird,
Abend wird?"

"Ich werde stehen und warten."

"Du wirst müde werden, Siddhartha."

"Ich werde müde werden."

"Du wirst einschlafen, Siddhartha."

"Ich werde nicht einschlafen."

"Du wirst sterben, Siddhartha."

"Ich werde sterben."

"Und willst lieber sterben, als deinem Vater gehorchen?"

"Siddhartha hat immer seinem Vater gehorcht."

"So willst du dein Vorhaben aufgeben?"

"Siddhartha wird tun, was sein Vater ihm sagen wird."

Der erste Schein des Tages fiel in die Kammer.  Der Brahmane sah, daß
Siddhartha in den Knien leise zitterte.  In Siddharthas Gesicht sah er
kein Zittern, fernhin blickten die Augen.  Da erkannte der Vater, daß
Siddhartha schon jetzt nicht mehr bei ihm und in der Heimat weile, daß
er ihn schon jetzt verlassen habe.

Der Vater berührte Siddharthas Schulter.

"Du wirst," sprach er, "in den Wald gehen und ein Samana sein.  Hast
du Seligkeit gefunden im Walde, so komm und lehre mich Seligkeit.
Findest du Enttäuschung, dann kehre wieder und laß uns wieder
gemeinsam den Göttern opfern.  Nun gehe und küsse deine Mutter, sage
ihr, wohin du gehst.  Für mich aber ist es Zeit, an den Fluß zu gehen
und die erste Waschung vorzunehmen."

Er nahm die Hand von der Schulter seines Sohnes und ging hinaus.
Siddhartha schwankte zur Seite, als er zu gehen versuchte.  Er bezwang
seine Glieder, verneigte sich vor seinem Vater und ging zur Mutter, um
zu tun, wie der Vater gesagt hatte.

Als er im ersten Tageslicht langsam auf erstarrten Beinen die noch
stille Stadt verließ, erhob sich bei der letzten Hütte ein Schatten,
der dort gekauert war, und schloß sich an den Pilgernden an--Govinda.

"Du bist gekommen", sagte Siddhartha und lächelte.

"Ich bin gekommen," sagte Govinda.



BEI DEN SAMANAS

Am Abend dieses Tages holten sie die Asketen ein, die dürren Samanas,
und boten ihnen Begleitschaft und Gehorsam an.  Sie wurden angenommen.

Siddhartha schenkte sein Gewand einem armen Brahmanen auf der Straße.
Er trug nur noch die Schambinde und den erdfarbenen ungenähten
Überwurf.  Er aß nur einmal am Tage, und niemals Gekochtes.  Er
fastete fünfzehn Tage.  Er fastete acht und zwanzig Tage.  Das Fleisch
schwand ihm von Schenkeln und Wangen.  Heiße Träume flackerten aus
seinen vergrößerten Augen, an seinen dorrenden Fingern wuchsen lang
die Nägel und am Kinn der trockne, struppige Bart. Eisig wurde sein
Blick, wenn er Weibern begegnete; sein Mund zuckte Verachtung, wenn er
durch eine Stadt mit schön gekleideten Menschen ging.  Er sah Händler
handeln, Fürsten zur Jagd gehen, Leidtragende ihre Toten beweinen,
Huren sich anbieten, Ärzte sich um Kranke mühen, Priester den Tag für
die Aussaat bestimmen, Liebende lieben, Mütter ihre Kinder
stillen--und alles war nicht den Blick seines Auges wert, alles log,
alles stank, alles stank nach Lüge, alles täuschte Sinn und Glück und
Schönheit vor, und alles war uneingestandene Verwesung.  Bitter
schmeckte die Welt.  Qual war das Leben.

Ein Ziel stand vor Siddhartha, ein einziges: leer werden, leer von
Durst, leer von Wunsch, leer von Traum, leer von Freude und Leid.  Von
sich selbst wegsterben, nicht mehr Ich sein, entleerten Herzens Ruhe
zu finden, im entselbsteten Denken dem Wunder offen zu stehen, das war
sein Ziel.  Wenn alles Ich überwunden und gestorben war, wenn jede
Sucht und jeder Trieb im Herzen schwieg, dann mußte das Letzte
erwachen, das Innerste im Wesen, das nicht mehr Ich ist, das große
Geheimnis.

Schweigend stand Siddhartha im senkrechten Sonnenbrand, glühend vor
Schmerz, glühend vor Durst, und stand, bis er nicht Schmerz noch Durst
mehr fühlte.  Schweigend stand er in der Regenzeit, aus seinem Haare
troff das Wasser über frierende Schultern, über frierende Hüften und
Beine, und der Büßer stand, bis Schultern und Beine nicht mehr froren,
bis sie schwiegen, bis sie still waren.  Schweigend kauerte er im
Dorngerank, aus der brennenden Haut tropfte das Blut, aus Schwären der
Eiter, und Siddhartha verweilte starr, verweilte regungslos, bis kein
Blut mehr floß, bis nichts mehr stach, bis nichts mehr brannte.

Siddhartha saß aufrecht und lernte den Atem sparen, lernte mit wenig
Atem auskommen, lernte den Atem abzustellen.  Er lernte, mit dem Atem
beginnend, seinen Herzschlag beruhigen, lernte die Schläge seines
Herzens vermindern, bis es wenige und fast keine mehr waren.

Vom Ältesten der Samanas belehrt, übte Siddhartha Entselbstung, übte
Versenkung, nach neuen Samanaregeln.  Ein Reiher flog überm
Bambuswald--und Siddhartha nahm den Reiher in seine Seele auf, flog
über Wald und Gebirg, war Reiher, fraß Fische, hungerte Reiherhunger,
sprach Reihergekrächz, starb Reihertod.  Ein toter Schakal lag am
Sandufer, und Siddharthas Seele schlüpfte in den Leichnam hinein, war
toter Schakal, lag am Strande, blähte sich, stank, verweste, ward von
Hyänen zerstückt, ward von Geiern enthäutet, ward Gerippe, ward Staub,
wehte ins Gefild.  Und Siddharthas Seele kehrte zurück, war gestorben,
war verwest, war zerstäubt, hatte den trüben Rausch des Kreislaufs
geschmeckt, harrte in neuem Durst wie ein Jäger auf die Lücke, wo dem
Kreislauf zu entrinnen wäre, wo das Ende der Ursachen, wo leidlose
Ewigkeit begänne.  Er tötete seine Sinne, er tötete seine Erinnerung,
er schlüpfte aus seinem Ich in tausend fremde Gestaltungen, war Tier,
war Aas, war Stein, war Holz, war Wasser, und fand sich jedesmal
erwachend wieder, Sonne schien oder Mond, war wieder Ich, schwang im
Kreislauf, fühlte Durst, überwand den Durst, fühlte neuen Durst.

Vieles lernte Siddhartha bei den Samanas, viele Wege vom Ich hinweg
lernte er gehen.  Er ging den Weg der Entselbstung durch den Schmerz,
durch das freiwillige Erleiden und Überwinden des Schmerzes, des
Hungers, des Dursts, der Müdigkeit.  Er ging den Weg der Entselbstung
durch Meditation, durch das Leerdenken des Sinnes von allen
Vorstellungen.  Diese und andere Wege lernte er gehen, tausendmal
verließ er sein Ich, stundenlang und tagelang verharrte er im
Nicht-Ich.  Aber ob auch die Wege vom Ich hinwegführten, ihr Ende
führte doch immer zum Ich zurück.  Ob Siddhartha tausendmal dem Ich
entfloh, im Nichts verweilte, im Tier, im Stein verweilte,
unvermeidlich war die Rückkehr, unentrinnbar die Stunde, da er sich
wiederfand, im Sonnenschein oder im Mondschein, im Schatten oder im
Regen, und wieder Ich und Siddhartha war, und wieder die Qual des
auferlegten Kreislaufes empfand.

Neben ihm lebte Govinda, sein Schatten, ging dieselben Wege, unterzog
sich denselben Bemühungen.  Selten sprachen sie anderes miteinander,
als der Dienst und die Übungen erforderten.  Zuweilen gingen sie zu
zweien durch die Dörfer, um Nahrung für sich und ihre Lehrer zu
betteln.

"Wie denkst du, Govinda," sprach einst auf diesem Bettelgang
Siddhartha, "wie denkst du, sind wir weiter gekommen?  Haben wir Ziele
erreicht?"

Antwortete Govinda: "Wir haben gelernt, und wir lernen weiter.  Du
wirst ein großer Samana sein, Siddhartha.  Schnell hast du jede Übung
gelernt, oft haben die alten Samanas dich bewundert.  Du wirst einst
ein Heiliger sein, o Siddhartha."

Sprach Siddhartha: "Mir will es nicht so erscheinen, mein Freund.  Was
ich bis zu diesem Tage bei den Samanas gelernt habe, das, o Govinda,
hätte ich schneller und einfacher lernen können.  In jeder Kneipe
eines Hurenviertels, mein Freund, unter den Fuhrleuten und
Würfelspielern hätte ich es lernen können."

Sprach Govinda: "Siddhartha macht sich einen Scherz mit mir.  Wie
hättest du Versenkung, wie hättest du Anhalten des Atems, wie hättest
du Unempfindsamkeit gegen Hunger und Schmerz dort bei jenen Elenden
lernen sollen?"

Und Siddhartha sagte leise, als spräche er zu sich selber: "Was ist
Versenkung?  Was ist Verlassen des Körpers?  Was ist Fasten?  Was ist
Anhalten des Atems?  Es ist Flucht vor dem Ich, es ist ein kurzes
Entrinnen aus der Qual des Ichseins, es ist eine kurze Betäubung gegen
den Schmerz und die Unsinnigkeit des Lebens.  Dieselbe Flucht,
dieselbe kurze Betäubung findet der Ochsentreiber in der Herberge,
wenn er einige Schalen Reiswein trinkt oder gegorene Kokosmilch.  Dann
fühlt er sein Selbst nicht mehr, dann fühlt er die Schmerzen des
Lebens nicht mehr, dann findet er kurze Betäubung.  Er findet, über
seiner Schale mit Reiswein eingeschlummert, dasselbe, was Siddhartha
und Govinda finden, wenn sie in langen Übungen aus ihrem Körper
entweichen, im Nicht-Ich verweilen.  So ist es, o Govinda."

Sprach Govinda: "So sagst du, o Freund, und weißt doch, daß Siddhartha
kein Ochsentreiber ist und ein Samana kein Trunkenbold.  Wohl findet
der Trinker Betäubung, wohl findet er kurze Flucht und Rast, aber er
kehrt zurück aus dem Wahn und findet alles beim alten, ist nicht
weiser geworden, hat nicht Erkenntnis gesammelt, ist nicht um Stufen
höher gestiegen."

Und Siddhartha sprach mit Lächeln: "Ich weiß es nicht, ich bin nie ein
Trinker gewesen.  Aber daß ich, Siddhartha, in meinen Übungen und
Versenkungen nur kurze Betäubung finde und ebenso weit von der
Weisheit, von der Erlösung entfernt bin wie als Kind im Mutterleibe,
das weiß ich, o Govinda, das weiß ich."

Und wieder ein anderes Mal, da Siddhartha mit Govinda den Wald verließ,
um im Dorfe etwas Nahrung für ihre Brüder und Lehrer zu betteln,
begann Siddhartha zu sprechen und sagte: "Wie nun, o Govinda, sind
wir wohl auf dem rechten Wege?  Nähern wir uns wohl der Erkenntnis?
Nähern wir uns wohl der Erlösung?  Oder gehen wir nicht vielleicht im
Kreise--wir, die wir doch dem Kreislauf zu entrinnen dachten?"

Sprach Govinda: "Viel haben wir gelernt, Siddhartha, viel bleibt noch
zu lernen.  Wir gehen nicht im Kreise, wir gehen nach oben, der Kreis
ist eine Spirale, manche Stufe sind wir schon gestiegen."

Antwortete Siddhartha: "Wie alt wohl, meinst du, ist unser ältester
Samana, unser ehrwürdiger Lehrer?"

Sprach Govinda: "Vielleicht sechzig Jahre mag unser Ältester zählen."

Und Siddhartha: "Sechzig Jahre ist er alt geworden und hat Nirwana
nicht erreicht.  Er wird siebzig werden und achtzig, und du und ich,
wir werden ebenso alt werden und werden uns üben, und werden fasten,
und werden meditieren.  Aber Nirwana werden wir nicht erreichen, er
nicht, wir nicht.  O Govinda, ich glaube, von allen Samanas, die es
gibt, wird vielleicht nicht einer, nicht einer Nirwana erreichen.  Wir
finden Tröstungen, wir finden Betäubungen, wir lernen
Kunstfertigkeiten, mit denen wir uns täuschen.  Das Wesentliche aber,
den Weg der Wege finden wir nicht."

"Mögest du doch," sprach Govinda, "nicht so erschreckende Worte
aussprechen, Siddhartha!  Wie sollte denn unter so vielen gelehrten
Männern, unter so viel Brahmanen, unter so vielen strengen und
ehrwürdigen Samanas, unter so viel suchenden, so viel innig
beflissenen, so viel heiligen Männern keiner den Weg der Wege finden?"

Siddhartha aber sagte mit einer Stimme, welche so viel Trauer wie
Spott enthielt, mit einer leisen, einer etwas traurigen, einer etwas
spöttischen Stimme: "Bald, Govinda, wird dein Freund diesen Pfad der
Samanas verlassen, den er so lang mit dir gegangen ist.  Ich leide
Durst, o Govinda, und auf diesem langen Samanawege ist mein Durst um
nichts kleiner geworden.  Immer habe ich nach Erkenntnis gedürstet,
immer bin ich voll von Fragen gewesen.  Ich habe die Brahmanen befragt,
Jahr um Jahr, und habe die heiligen Vedas befragt, Jahr um Jahr, und
habe die frommen Samanas befragt, Jahr um Jahr.  Vielleicht, o Govinda,
wäre es ebenso gut, wäre es ebenso klug und ebenso heilsam gewesen,
wenn ich den Nashornvogel oder den Schimpansen befragt hätte.  Lange
Zeit habe ich gebraucht und bin noch nicht damit zu Ende, um dies zu
lernen, o Govinda: daß man nichts lernen kann!  Es gibt, so glaube ich,
in der Tat jenes Ding nicht, das wir 'Lernen' nennen.  Es gibt, o mein
Freund, nur ein Wissen, das ist überall, das ist Atman, das ist in mir
und in dir und in jedem Wesen.  Und so beginne ich zu glauben dies
Wissen hat keinen ärgeren Feind als das Wissenwollen, als das Lernen."

Da blieb Govinda auf dem Wege stehen, erhob die Hände und sprach:
"Mögest du, Siddhartha, deinen Freund doch nicht mit solchen Reden
beängstigen!  Wahrlich, Angst erwecken deine Worte in meinem Herzen.
Und denke doch nur: wo bliebe die Heiligkeit der Gebete, wo bliebe die
Ehrwürdigkeit des Brahmanenstandes, wo die Heiligkeit der Samanas,
wenn es so wäre wie du sagst, wenn es kein Lernen gäbe?!  Was, o
Siddhartha, was würde dann aus alledem werden, was auf Erden heilig,
was wertvoll, was ehrwürdig ist?!"

Und Govinda murmelte einen Vers vor sich hin, einen Vers aus einer
Upanishad:

Wer nachsinnend, geläuterten Geistes, in Atman sich versenkt,
Unaussprechlich durch Worte ist seines Herzens Seligkeit.

Siddhartha aber schwieg. Er dachte der Worte, welche Govinda zu ihm
gesagt hatte, und dachte die Worte bis an ihr Ende.

Ja, dachte er, gesenkten Hauptes stehend, was bliebe noch übrig von
allem, was uns heilig schien?  Was bleibt?  Was bewährt sich?  Und er
schüttelte den Kopf.

Einstmals, als die beiden Jünglinge gegen drei Jahre bei den Samanas
gelebt und ihre Übungen geteilt hatten, da erreichte sie auf
mancherlei Wegen und Umwegen eine Kunde, ein Gerücht, eine Sage: Einer
sei erschienen, Gotama genannt, der Erhabene, der Buddha, der habe in
sich das Leid der Welt überwunden und das Rad der Wiedergeburten zum
Stehen gebracht.  Lehrend ziehe er, von Jüngern umgeben, durch das
Land, besitzlos, heimatlos, weiblos, im gelben Mantel eines Asketen,
aber mit heiterer Stirn, ein Seliger, und Brahmanen und Fürsten
beugten sich vor ihm und würden seine Schüler.

Diese Sage, dies Gerücht, dies Märchen klang auf, duftete empor, hier
und dort, in den Städten sprachen die Brahmanen davon, im Wald die
Samanas, immer wieder drang der Name Gotamas, des Buddha, zu den Ohren
der Jünglinge, im Guten und im Bösen, in Lobpreisung und in Schmähung.

Wie wenn in einem Lande die Pest herrscht, und es erhebt sich die
Kunde, da und dort sei ein Mann, ein Weiser, ein Kundiger, dessen Wort
und Anhauch genüge, um jeden von der Seuche Befallenen zu heilen, und
wie dann diese Kunde das Land durchläuft und jedermann davon spricht,
viele glauben, viele zweifeln, viele aber sich alsbald auf den Weg
machen, um den Weisen, den Helfer aufzusuchen, so durchlief das Land
jene Sage, jene duftende Sage von Gotama, dem Buddha, dem Weisen aus
dem Geschlecht der Sakya.  Ihm war, so sprachen die Gläubigen, höchste
Erkenntnis zu eigen, er erinnerte sich seiner vormaligen Leben, er
hatte Nirwana erreicht und kehrte nie mehr in den Kreislauf zurück,
tauchte nie mehr in den trüben Strom der Gestaltungen unter.  Vieles
Herrliche und Unglaubliche wurde von ihm berichtet, er hatte Wunder
getan, hatte den Teufel überwunden, hatte mit den Göttern gesprochen.
Seine Feinde und Ungläubigen aber sagten, dieser Gotama sei ein eitler
Verführer, er bringe seine Tage in Wohlleben hin, verachte die Opfer,
sei ohne Gelehrsamkeit und kenne weder Übung noch Kasteiung.

Süß klang die Sage von Buddha, Zauber duftete aus diesen Berichten.
Krank war ja die Welt, schwer zu ertragen war das Leben--und siehe,
hier schien eine Quelle zu springen, hier schien ein Botenruf zu tönen,
trostvoll, mild, edler Versprechungen voll.  Überall, wohin das
Gerücht vom Buddha erscholl, überall in den Ländern Indiens horchten
die Jünglinge auf, fühlten Sehnsucht, fühlten Hoffnung, und unter den
Brahmanensöhnen der Städte und Dörfer war jeder Pilger und Fremdling
willkommen, wenn er Kunde von ihm, dem Erhabenen, dem Sakyamuni,
brachte.

Auch zu den Samanas im Walde, auch zu Siddhartha, auch zu Govinda war
die Sage gedrungen, langsam, in Tropfen, jeder Tropfen schwer von
Hoffnung, jeder Tropfen schwer von Zweifel.  Sie sprachen wenig davon,
denn der Älteste der Samanas war kein Freund dieser Sage.  Er hatte
vernommen, daß jener angebliche Buddha vormals Asket gewesen und im
Walde gelebt, sich dann aber zu Wohlleben und Weltlust zurückgewendet
habe, und er hielt nichts von diesem Gotama.

"O Siddhartha", sprach einst Govinda zu seinem Freunde.  "Heute war
ich im Dorf, und ein Brahmane lud mich ein, in sein Haus zu treten,
und in seinem Hause war ein Brahmanensohn aus Magadha, dieser hat mit
seinen eigenen Augen den Buddha gesehen und hat ihn lehren hören.
Wahrlich, da schmerzte mich der Atem in der Brust, und ich dachte bei
mir: Möchte doch auch ich, möchten doch auch wir beide, Siddhartha und
ich, die Stunde erleben, da wir die Lehre aus dem Munde jenes
Vollendeten vernehmen!  Sprich, Freund, wollen wir nicht auch dorthin
gehen und die Lehre aus dem Munde des Buddha anhören?"

Sprach Siddhartha: "Immer, o Govinda, hatte ich gedacht, Govinda würde
bei den Samanas bleiben, immer hatte ich geglaubt, es wäre sein Ziel,
sechzig und siebzig Jahre alt zu worden und immer weiter die Künste
und Übungen zu treiben, welche den Samana zieren.  Aber sieh, ich
hatte Govinda zu wenig gekannt, wenig wußte ich von seinem Herzen.
Nun also willst du, Teuerster, einen neuen Pfad einschlagen und
dorthin gehen, wo der Buddha seine Lehre verkündet."

Sprach Govinda: "Dir beliebt es zu spotten.  Mögest du immerhin
spotten, Siddhartha!  Ist aber nicht auch in dir ein Verlangen, eine
Lust erwacht, diese Lehre zu hören?  Und hast du nicht einst zu mir
gesagt, nicht lange mehr werdest du den Weg der Samanas gehen?"

Da lachte Siddhartha, auf seine Weise, wobei der Ton seiner Stimme
einen Schatten von Trauer und einen Schatten von Spott annahm, und
sagte: "Wohl, Govinda, wohl hast du gesprochen, richtig hast du dich
erinnert.  Mögest du doch auch des andern dich erinnern, das du von
mir gehört hast, daß ich nämlich mißtrauisch und müde gegen Lehre und
Lernen geworden bin, und daß mein Glaube klein ist an Worte, die von
Lehrern zu uns kommen.  Aber wohlan, Lieber, ich bin bereit, jene
Lehre zu hören--obschon ich im Herzen glaube, daß wir die beste Frucht
jener Lehre schon gekostet haben."

Sprach Govinda: "Deine Bereitschaft erfreut mein Herz.  Aber sage, wie
sollte das möglich sein?  Wie sollte die Lehre des Gotama, noch ehe
wir sie vernommen, uns schon ihre beste Frucht erschlossen haben?"

Sprach Siddhartha: "Laß diese Frucht uns genießen und das weitere
abwarten, o Govinda!  Diese Frucht aber, die wir schon jetzt dem
Gotama verdanken, besteht darin, daß er uns von den Samanas hinwegruft!
Ob er uns noch anderes und Besseres zu geben hat, o Freund, darauf
laß uns ruhigen Herzens warten."

An diesem selben Tage gab Siddhartha dem Ältesten der Samanas seinen
Entschluß zu wissen, daß er ihn verlassen wollte.  Er gab ihn dem
Ältesten zu wissen mit der Höflichkeit und Bescheidenheit, welche dem
Jüngeren und Schüler ziemt.  Der Samana aber geriet in Zorn, daß die
beiden Jünglinge ihn verlassen wollten, und redete laut und brauchte
grobe Schimpfworte.

Govinda erschrak und kam in Verlegenheit, Siddhartha aber neigte den
Mund zu Govindas Ohr und flüsterte ihm zu: "Nun will ich dem Alten
zeigen, daß ich etwas bei ihm gelernt habe."

Indem er sich nahe vor dem Samana aufstellte, mit gesammelter Seele,
fing er den Blick des Alten mit seinen Blicken ein, bannte ihn, machte
ihn stumm, machte ihn willenlos, unterwarf ihn seinem Willen, befahl
ihm, lautlos zu tun, was er von ihm verlangte.  Der alte Mann wurde
stumm, sein Auge wurde starr, sein Wille gelähmt, seine Arme hingen
herab, machtlos war er Siddharthas Bezauberung erlegen.  Siddharthas
Gedanken aber bemächtigten sich des Samana, er mußte vollführen, was
sie befahlen.  Und so verneigte sich der Alte mehrmals, vollzog
segnende Gebärden, sprach stammelnd einen frommen Reisewunsch.  Und
die Jünglinge erwiderten dankend die Verneigungen, erwiderten den
Wunsch, zogen grüßend von dannen.

Unterwegs sagte Govinda: "O Siddhartha, du hast bei den Samanas mehr
gelernt, als ich wußte.  Es ist schwer, es ist sehr schwer, einen
alten Samana zu bezaubern.  Wahrlich, wärest du dort geblieben, du
hättest bald gelernt, auf dem Wasser zu gehen."

"Ich begehre nicht, auf dem Wasser zu gehen", sagte Siddhartha.
"Mögen alte Samanas mit solchen Künsten sich zufrieden geben!"



GOTAMA

In der Stadt Savathi kannte jedes Kind den Namen des Erhabenen Buddha,
und jedes Haus war gerüstet, den Jüngern Gotamas, den schweigend
Bittenden, die Almosenschale zu füllen.  Nahe bei der Stadt lag
Gotamas liebster Aufenthalt, der Hain Jetavana, welchen der reiche
Kaufherr Anathapindika, ein ergebener Verehrer des Erhabenen, ihm und
den Seinen zum Geschenk gemacht hatte.

Nach dieser Gegend hatten alle Erzählungen und Antworten hingewiesen,
welche den beiden jungen Asketen auf der Suche nach Gotamas Aufenthalt
zuteil wurden.  Und da sie in Savathi ankamen, ward ihnen gleich im
ersten Hause, vor dessen Tür sie bittend stehen blieben, Speise
angeboten, und sie nahmen Speise an, und Siddhartha fragte die Frau,
welche ihnen die Speise reichte:

"Gerne, du Mildtätige, gerne möchten wir erfahren, wo der Buddha
weilt, der Ehrwürdigste, denn wir sind zwei Samanas aus dem Walde, und
sind gekommen, um ihn, den Vollendeten, zu sehen und die Lehre aus
seinem Munde zu vernehmen."

Sprach die Frau: "Am richtigen Orte wahrlich seid Ihr hier abgestiegen,
Ihr Samanas aus dem Walde.  Wisset, in Jetavana, im Garten
Anathapindikas, weilt der Erhabene.  Dort möget Ihr, Pilger, die Nacht
verbringen, denn genug Raum ist daselbst für die Unzähligen, die
herbeiströmen, um aus seinem Munde die Lehre zu hören."

Da freute sich Govinda, und voll Freude rief er: "Wohl denn, so ist
unser Ziel erreicht und unser Weg zu Ende! Aber sage uns, du Mutter
der Pilgernden, kennst du ihn, den Buddha, hast du ihn mit deinen
Augen gesehen?"

Sprach die Frau: "Viele Male habe ich ihn gesehen, den Erhabenen.  An
vielen Tagen habe ich ihn gesehen, wie er durch die Gassen geht,
schweigend, im gelben Mantel, wie er schweigend an den Haustüren seine
Almosenschale darreicht, wie er die gefüllte Schale von dannen trägt."

Entzückt lauschte Govinda und wollte noch vieles fragen und hören.
Aber Siddhartha mahnte zum Weitergehen.  Sie sagten Dank und gingen
und brauchten kaum nach dem Wege zu fragen, denn nicht wenige Pilger
und auch Mönche aus Gotamas Gemeinschaft waren nach dem Jetavana
unterwegs.  Und da sie in der Nacht dort anlangten, war daselbst ein
beständiges Ankommen, Rufen und Reden von solchen, welche Herberge
heischten und bekamen.  Die beiden Samanas, des Lebens im Walde
gewohnt, fanden schnell und geräuschlos einen Unterschlupf und ruhten
da bis zum Morgen.

Beim Aufgang der Sonne sahen sie mit Erstaunen, welch große Schar,
Gläubige und Neugierige, hier genächtigt hatte.  In allen Wegen des
herrlichen Haines wandelten Mönche im gelben Gewand, unter den Bäumen
saßen sie hier und dort, in Betrachtung versenkt--oder im geistlichen
Gespräch, wie eine Stadt waren die schattigen Gärten zu sehen, voll
von Menschen, wimmelnd wie Bienen.  Die Mehrzahl der Mönche zog mit
der Almosenschale aus, um in der Stadt Nahrung für die Mittagsmahlzeit,
die einzige des Tages, zu sammeln.  Auch der Buddha selbst, der
Erleuchtete, pflegte am Morgen den Bettelgang zu tun.

Siddhartha sah ihn, und er erkannte ihn alsbald, als hätte ihm ein
Gott ihn gezeigt.  Er sah ihn, einen schlichten Mann in gelber Kutte,
die Almosenschale in der Hand tragend, still dahin gehen.

"Sieh hier!" sagte Siddhartha leise zu Govinda.  "Dieser hier ist der
Buddha."

Aufmerksam blickte Govinda den Mönch in der gelben Kutte an, der sich
in nichts von den Hunderten der Mönche zu unterscheiden schien.  Und
bald erkannte auch Govinda: Dieser ist es.  Und sie folgten ihm nach
und betrachteten ihn.

Der Buddha ging seines Weges bescheiden und in Gedanken versunken,
sein stilles Gesicht war weder fröhlich noch traurig, es schien leise
nach innen zu lächeln.  Mit einem verborgenen Lächeln, still, ruhig,
einem gesunden Kinde nicht unähnlich, wandelte der Buddha, trug das
Gewand und setzte den Fuß gleich wie alle seine Mönche, nach genauer
Vorschrift.  Aber sein Gesicht und sein Schritt, sein still gesenkter
Blick, seine still herabhängende Hand, und noch jeder Finger an seiner
still herabhängenden Hand sprach Friede, sprach Vollkommenheit, suchte
nicht, ahmte nicht nach, atmete sanft in einer unverwelklichen Ruhe,
in einem unverwelklichen Licht, einem unantastbaren Frieden.

So wandelte Gotama, der Stadt entgegen, um Almosen zu sammeln, und die
beiden Samanas erkannten ihn einzig an der Vollkommenheit seiner Ruhe,
an der Stille seiner Gestalt, in welcher kein Suchen, kein Wollen,
kein Nachahmen, kein Bemühen zu erkennen war, nur Licht und Frieden.

"Heute werden wir die Lehre aus seinem Munde vernehmen," sagte Govinda.


Siddhartha gab nicht Antwort.  Er war wenig neugierig auf die Lehre,
er glaubte nicht, daß sie ihn Neues lehren werde, hatte er doch,
ebenso wie Govinda, wieder und wieder den Inhalt dieser Buddhalehre
vernommen, wenn schon aus Berichten von zweiter und dritter Hand.
Aber er blickte aufmerksam auf Gotamas Haupt, auf seine Schultern,
auf seine Füße, auf seine still herabhängende Hand, und ihm schien,
jedes Glied an jedem Finger dieser Hand war Lehre, sprach, atmete,
duftete, glänzte Wahrheit.  Dieser Mann, dieser Buddha, war wahrhaftig
bis in die Gebärde seines letzten Fingers.  Dieser Mann war heilig.
Nie hatte Siddhartha einen Menschen so verehrt, nie hatte er einen
Menschen so geliebt wie diesen.

Die beiden folgten dem Buddha bis zur Stadt und kehrten schweigend
zurück, denn sie selbst gedachten diesen Tag sich der Speise zu
enthalten.  Sie sahen Gotama wiederkehren, sahen ihn im Kreise seiner
Jünger die Mahlzeit einnehmen--was er aß, hätte keinen Vogel satt
gemacht--und sahen ihn sich zurückziehen in den Schatten der Mangobäume.


Am Abend aber, als die Hitze sich legte und alles im Lager lebendig
ward und sich versammelte, hörten sie den Buddha lehren.  Sie hörten
seine Stimme, und auch sie war vollkommen, war von vollkommener Ruhe,
war voll von Frieden.  Gotama lehrte die Lehre vom Leiden, von der
Herkunft des Leidens, vom Weg zur Aufhebung des Leidens.  Ruhig floß
und klar seine stille Rede.  Leiden war das Leben, voll Leid war die
Welt, aber Erlösung vom Leid war gefunden: Erlösung fand, wer den Weg
des Buddha ging.  Mit sanfter, doch fester Stimme sprach der Erhabene,
lehrte die vier Hauptsätze, lehrte den achtfachen Pfad, geduldig ging
er den gewohnten Weg der Lehre, der Beispiele, der Wiederholungen,
hell und still schwebte seine Stimme über den Hörenden, wie ein Licht,
wie ein Sternhimmel.

Als der Buddha--es war schon Nacht geworden--seine Rede schloß, traten
manche Pilger hervor und baten um Aufnahme in die Gemeinschaft, nahmen
ihre Zuflucht zur Lehre.  Und Gotama nahm sie auf, indem er sprach:
"Wohl habt ihr die Lehre vernommen, wohl ist sie verkündigt.  Tretet
denn herzu und wandelt in Heiligkeit, allem Leid ein Ende zu bereiten."

Siehe, da trat auch Govinda hervor, der Schüchterne, und sprach: "Auch
ich nehme meine Zuflucht zum Erhabenen und zu seiner Lehre," und bat
um Aufnahme in die Jüngerschaft, und ward aufgenommen.

Gleich darauf, da sich der Buddha zur Nachtruhe zurückgezogen hatte,
wendete sich Govinda zu Siddhartha und sprach eifrig: "Siddhartha,
nicht steht es mir zu, dir einen Vorwurf zu machen.  Beide haben wir
den Erhabenen gehört, beide haben wir die Lehre vernommen.  Govinda
hat die Lehre gehört, er hat seine Zuflucht zu ihr genommen.  Du aber,
Verehrter, willst denn nicht auch du den Pfad der Erlösung gehen?
Willst du zögern, willst du noch warten?"

Siddhartha erwachte wie aus einem Schlafe, als er Govindas Worte
vernahm.  Lange blickte er in Govindas Gesicht.  Dann sprach er leise,
mit einer Stimme ohne Spott: "Govinda, mein Freund, nun hast du den
Schritt getan, nun hast du den Weg erwählt.  Immer, o Govinda, bist du
mein Freund gewesen, immer bist du einen Schritt hinter mir gegangen.
Oft habe ich gedacht: Wird Govinda nicht auch einmal einen Schritt
allein tun, ohne mich, aus der eigenen Seele?  Siehe, nun bist du ein
Mann geworden und wählst selber deinen Weg. Mögest du ihn zu Ende
gehen, o mein Freund!  Mögest du Erlösung finden!"

Govinda, welcher noch nicht völlig verstand, wiederholte mit einem Ton
von Ungeduld seine Frage: "Sprich doch, ich bitte dich, mein Lieber!
Sage mir, wie es ja nicht anders sein kann, daß auch du, mein
gelehrter Freund, deine Zuflucht zum erhabenen Buddha nehmen wirst!"

Siddhartha legte seine Hand auf die Schulter Govindas: "Du hast meinen
Segenswunsch überhört, o Govinda.  Ich wiederhole ihn: Mögest du
diesen Weg zu Ende gehen!  Mögest du Erlösung finden!"

In diesem Augenblick erkannte Govinda, daß sein Freund ihn verlassen
habe, und er begann zu weinen.

"Siddhartha!" rief er klagend.

Siddhartha sprach freundlich zu ihm: "Vergiß nicht, Govinda, daß du
nun zu den Samanas des Buddha gehörst!  Abgesagt hast du Heimat und
Eltern, abgesagt Herkunft und Eigentum, abgesagt deinem eigenen Willen,
abgesagt der Freundschaft.  So will es die Lehre, so will es der
Erhabene.  So hast du selbst es gewollt.  Morgen, o Govinda, werde ich
dich verlassen."

Lange noch wandelten die Freunde im Gehölz, lange lagen sie und fanden
nicht den Schlaf.  Und immer von neuem drang Govinda in seinen Freund,
er möge ihm sagen, warum er nicht seine Zuflucht zu Gotamas Lehre
nehmen wolle, welchen Fehler denn er in dieser Lehre finde.
Siddhartha aber wies ihn jedesmal zurück und sagte: "Gib dich
zufrieden, Govinda!  Sehr gut ist des Erhabenen Lehre, wie sollte ich
einen Fehler an ihr finden?"

Am frühesten Morgen ging ein Nachfolger Buddhas, einer seiner ältesten
Mönche, durch den Garten und rief alle jene zu sich, welche als
Neulinge ihre Zuflucht zur Lehre genommen hatten, um ihnen das gelbe
Gewand anzulegen und sie in den ersten Lehren und Pflichten ihres
Standes zu unterweisen.  Da riß Govinda sich los, umarmte noch einmal
den Freund seiner Jugend und schloß sich dem Zuge der Novizen an.

Siddhartha aber wandelte in Gedanken durch den Hain.

Da begegnete ihm Gotama, der Erhabene, und als er ihn mit Ehrfurcht
begrüßte und der Blick des Buddha so voll Güte und Stille war, faßte
der Jüngling Mut und bat den Ehrwürdigen um Erlaubnis, zu ihm zu
sprechen.  Schweigend nickte der Erhabene Gewährung.

Sprach Siddhartha: "Gestern, o Erhabener, war es mir vergönnt, deine
wundersame Lehre zu hören.  Zusammen mit meinem Freunde kam ich aus
der Ferne her, um die Lehre zu hören.  Und nun wird mein Freund bei
den Deinen bleiben, zu dir hat er seine Zuflucht genommen.  Ich aber
trete meine Pilgerschaft aufs neue an."

"Wie es dir beliebt", sprach der Ehrwürdige höflich.

"Allzu kühn ist meine Rede," fuhr Siddhartha fort, "aber ich möchte
den Erhabenen nicht verlassen, ohne ihm meine Gedanken in
Aufrichtigkeit mitgeteilt zu haben.  Will mir der Ehrwürdige noch
einen Augenblick Gehör schenken?"

Schweigend nickte der Buddha Gewährung.

Sprach Siddhartha: "Eines, o Ehrwürdigster, habe ich an deiner Lehre
vor allem bewundert.  Alles in deiner Lehre ist vollkommen klar, ist
bewiesen; als eine vollkommene, als eine nie und nirgends
unterbrochene Kette zeigst du die Welt als eine ewige Kette, gefügt
aus Ursachen und Wirkungen.  Niemals ist dies so klar gesehen, nie so
unwiderleglich dargestellt worden; höher wahrlich muß jedem Brahmanen
das Herz im Leibe schlagen, wenn er, durch deine Lehre hindurch, die
Welt erblickt als vollkommenen Zusammenhang, lückenlos, klar wie ein
Kristall, nicht vom Zufall abhängig, nicht von Göttern abhängig.  Ob
sie gut oder böse, ob das Leben in ihr Leid oder Freude sei, möge
dahingestellt bleiben, es mag vielleicht sein, daß dies nicht
wesentlich ist--aber die Einheit der Welt, der Zusammenhang alles
Geschehens, das Umschlossensein alles Großen und Kleinen vom selben
Strome, vom selben Gesetz der Ursachen, des Werdens und des Sterbens,
dies leuchtet hell aus deiner erhabenen Lehre, o Vollendeter.  Nun
aber ist, deiner selben Lehre nach, diese Einheit und Folgerichtigkeit
aller Dinge dennoch an einer Stelle unterbrochen, durch eine kleine
Lücke strömt in diese Welt der Einheit etwas Fremdes, etwas Neues,
etwas, das vorher nicht war, und das nicht gezeigt und nicht bewiesen
werden kann: das ist deine Lehre von der Überwindung der Welt, von der
Erlösung.  Mit dieser kleinen Lücke, mit dieser kleinen Durchbrechung
aber ist das ganze ewige und einheitliche Weltgesetz wieder zerbrochen
und aufgehoben.  Mögest du mir verzeihen, wenn ich diesen Einwand
ausspreche."

Still hatte Gotama ihm zugehört, unbewegt.  Mit seiner gütigen, mit
seiner höflichen und klaren Stimme sprach er nun, der Vollendete: "Du
hast die Lehre gehört, o Brahmanensohn, und wohl dir, daß du über sie
so tief nachgedacht hast.  Du hast eine Lücke in ihr gefunden, einen
Fehler.  Mögest du weiter darüber nachdenken.  Laß dich aber warnen,
du Wißbegieriger, vor dem Dickicht der Meinungen und vor dem Streit um
Worte.  Es ist an Meinungen nichts gelegen, sie mögen schön oder
häßlich, klug oder töricht sein, jeder kann ihnen anhängen oder sie
verwerfen.  Die Lehre aber, die du von mir gehört hast, ist nicht eine
Meinung, und ihr Ziel ist nicht, die Welt für Wißbegierige zu erklären.
Ihr Ziel ist ein anderes; ihr Ziel ist Erlösung vom Leiden.  Diese
ist es, welche Gotama lehrt, nichts anderes."

"Mögest du mir, o Erhabener, nicht zürnen", sagte der Jüngling.
"Nicht um Streit mit dir zu suchen, Streit um Worte, habe ich so zu
dir gesprochen.  Du hast wahrlich recht, wenig ist an Meinungen
gelegen.  Aber laß mich dies eine noch sagen: Nicht einen Augenblick
habe ich an dir gezweifelt.  Ich habe nicht einen Augenblick
gezweifelt, daß du Buddha bist, daß du das Ziel erreicht hast, das
höchste, nach welchem so viel tausend Brahmanen und Brahmanensöhne
unterwegs sind.  Du hast die Erlösung vom Tode gefunden.  Sie ist dir
geworden aus deinem eigenen Suchen, auf deinem eigenen Wege, durch
Gedanken, durch Versenkung, durch Erkenntnis, durch Erleuchtung.
Nicht ist sie dir geworden durch Lehre!  Und--so ist mein Gedanke, o
Erhabener--keinem wird Erlösung zu teil durch Lehre!  Keinem, o
Ehrwürdiger, wirst du in Worten und durch Lehre mitteilen und sagen
können, was dir geschehen ist in der Stunde deiner Erleuchtung! Vieles
enthält die Lehre des erleuchteten Buddha, viele lehrt sie,
rechtschaffen zu leben, Böses zu meiden.  Eines aber enthält die so
klare, die so ehrwürdige Lehre nicht: sie enthält nicht das Geheimnis
dessen, was der Erhabene selbst erlebt hat, er allein unter den
Hunderttausenden.  Dies ist es, was ich gedacht und erkannt habe, als
ich die Lehre hörte.  Dies ist es, weswegen ich meine Wanderschaft
fortsetze--nicht um eine andere, eine bessere Lehre zu suchen, denn
ich weiß, es gibt keine, sondern um alle Lehren und alle Lehrer zu
verlassen und allein mein Ziel zu erreichen oder zu sterben.  Oftmals
aber werde ich dieses Tages denken, o Erhabener, und dieser Stunde, da
meine Augen einen Heiligen sahen."

Die Augen des Buddha blickten still zu Boden, still in vollkommenem
Gleichmut strahlte sein unerforschliches Gesicht.

"Mögen deine Gedanken," sprach der Ehrwürdige langsam, "keine Irrtümer
sein!  Mögest du ans Ziel kommen!  Aber sage mir: Hast du die Schar
meiner Samanas gesehen, meiner vielen Brüder, welche ihre Zuflucht zur
Lehre genommen haben?  Und glaubst du, fremder Samana, glaubst du, daß
es diesen allen besser wäre, die Lehre zu verlassen und in das Leben
der Welt und der Lüste zurückzukehren?"

"Fern ist ein solcher Gedanke von mir", rief Siddhartha.  "Mögen sie
alle bei der Lehre bleiben, mögen sie ihr Ziel erreichen!  Nicht steht
mir zu, über eines andern Leben zu urteilen.  Einzig für mich, für
mich allein muß ich urteilen, muß ich wählen, muß ich ablehnen.
Erlösung vom Ich suchen wir Samanas, o Erhabener.  Wäre ich nun einer
deiner Jünger, o Ehrwürdiger, so fürchte ich, es möchte mir geschehen,
daß nur scheinbar, nur trügerisch mein Ich zur Ruhe käme und erlöst
würde, daß es aber in Wahrheit weiterlebte und groß würde, denn ich
hätte dann die Lehre, hätte meine Nachfolge, hätte meine Liebe zu dir,
hätte die Gemeinschaft der Mönche zu meinem Ich gemacht!"

Mit halbem Lächeln, mit einer unerschütterten Helle und Freundlichkeit
sah Gotama dem Fremdling ins Auge und verabschiedete ihn mit einer
kaum sichtbaren Gebärde.

"Klug bist du, o Samana", sprach der Ehrwürdige.

"Klug weißt du zu reden, mein Freund.  Hüte dich vor allzu großer
Klugheit!"

Hinweg wandelte der Buddha, und sein Blick und halbes Lächeln blieb
für immer in Siddharthas Gedächtnis eingegraben.

So habe ich noch keinen Menschen blicken und lächeln, sitzen und
schreiten sehen, dachte er, so wahrlich wünsche auch ich blicken und
lächeln, sitzen und schreiten zu können, so frei, so ehrwürdig, so
verborgen, so offen, so kindlich und geheimnisvoll.  So wahrlich
blickt und schreitet nur der Mensch, der ins Innerste seines Selbst
gedrungen ist.  Wohl, auch ich werde ins Innerste meines Selbst zu
dringen suchen.

Einen Menschen sah ich, dachte Siddhartha, einen einzigen, vor dem ich
meine Augen niederschlagen mußte.  Vor keinem andern mehr will ich
meine Augen niederschlagen, vor keinem mehr.  Keine Lehre mehr wird
mich verlocken, da dieses Menschen Lehre mich nicht verlockt hat.

Beraubt hat mich der Buddha, dachte Siddhartha, beraubt hat er mich,
und mehr noch hat er mich beschenkt.  Beraubt hat er mich meines
Freundes, dessen, der an mich glaubte und der nun an ihn glaubt, der
mein Schatten war und nun Gotamas Schatten ist. Geschenkt aber hat er
mir Siddhartha, mich selbst.



ERWACHEN

Als Siddhartha den Hain verließ, in welchem der Buddha, der Vollendete,
zurückblieb, in welchem Govinda zurückblieb, da fühlte er, daß in
diesem Hain auch sein bisheriges Leben hinter ihm zurückblieb und sich
von ihm trennte.  Dieser Empfindung, die ihn ganz erfüllte, sann er im
langsamen Dahingehen nach.  Tief sann er nach, wie durch ein tiefes
Wasser ließ er sich bis auf den Boden dieser Empfindung hinab, bis
dahin, wo die Ursachen ruhen, denn Ursachen erkennen, so schien ihm,
das eben ist Denken, und dadurch allein werden Empfindungen zu
Erkenntnissen und gehen nicht verloren, sondern werden wesenhaft und
beginnen auszustrahlen, was in ihnen ist.

Im langsamen Dahingehen dachte Siddhartha nach.  Er stellte fest, daß
er kein Jüngling mehr, sondern ein Mann geworden sei.  Er stellte fest,
daß eines ihn verlassen hatte, wie die Schlange von ihrer alten Haut
verlassen wird, daß eines nicht mehr in ihm vorhanden war, das durch
seine ganze Jugend ihn begleitet und zu ihm gehört hatte: der Wunsch,
Lehrer zu haben und Lehren zu hören.  Den letzten Lehrer, der an
seinem Wege ihm erschienen war, auch ihn, den höchsten und weisesten
Lehrer, den Heiligsten, Buddha, hatte er verlassen, hatte sich von ihm
trennen müssen, hatte seine Lehre nicht annehmen können.

Langsamer ging der Denkende dahin und fragte sich selbst: "Was nun ist
es aber, das du aus Lehren und von Lehrern hattest lernen wollen, und
was sie, die dich viel gelehrt haben, dich doch nicht lehren konnten?"
Und er fand: "Das Ich war es, dessen Sinn und Wesen ich lernen wollte.
Das Ich war es, von dem ich loskommen, das ich überwinden wollte.
Ich konnte es aber nicht überwinden, konnte es nur täuschen, konnte
nur vor ihm fliehen, mich nur vor ihm verstecken.  Wahrlich, kein Ding
in der Welt hat so viel meine Gedanken beschäftigt wie dieses mein Ich,
dies Rätsel, daß ich lebe, daß ich einer und von allen andern
getrennt und abgesondert bin, daß ich Siddhartha bin!  Und über kein
Ding in der Welt weiß ich weniger als über mich, über Siddhartha!"

Der im langsamen Dahingehen Denkende blieb stehen, von diesem Gedanken
erfaßt, und alsbald sprang aus diesem Gedanken ein anderer hervor, ein
neuer Gedanke, der lautete: "Daß ich nichts von mir weiß, daß
Siddhartha mir so fremd und unbekannt geblieben ist, das kommt aus
einer Ursache, einer einzigen: Ich hatte Angst vor mir, ich war auf
der Flucht vor mir!  Atman suchte ich, Brahman suchte ich, ich war
gewillt, mein Ich zu zerstücken und auseinander zu schälen, um in
seinem unbekannten Innersten den Kern aller Schalen zu finden, den
Atman, das Leben, das Göttliche, das Letzte.  Ich selbst aber ging mir
dabei verloren."

Siddhartha schlug die Augen auf und sah um sich, ein Lächeln erfüllte
sein Gesicht, und ein tiefes Gefühl von Erwachen aus langen Träumen
durchströmte ihn bis in die Zehen.  Und alsbald lief er wieder, lief
rasch, wie ein Mann, welcher weiß, was er zu tun hat.

"O," dachte er aufatmend mit tiefem Atemzug, "nun will ich mir den
Siddhartha nicht mehr entschlüpfen lassen!  Nicht mehr will ich mein
Denken und mein Leben beginnen mit Atman und mit dem Leid der Welt.
Ich will mich nicht mehr töten und zerstücken, um hinter den Trümmern
ein Geheimnis zu finden.  Nicht Yoga-Veda mehr soll mich lehren, noch
Atharva-Veda, noch die Asketen, noch irgendwelche Lehre.  Bei mir
selbst will ich lernen, will ich Schüler sein, will ich mich kennen
lernen, das Geheimnis Siddhartha."

Er blickte um sich, als sähe er zum ersten Male die Welt.  Schön war
die Welt, bunt war die Welt, seltsam und rätselhaft war die Welt!
Hier war Blau, hier war Gelb, hier war Grün, Himmel floß und Fluß,
Wald starrte und Gebirg, alles schön, alles rätselvoll und magisch,
und inmitten er, Siddhartha, der Erwachende, auf dem Wege zu sich
selbst.  All dieses, all dies Gelb und Blau, Fluß und Wald, ging zum
erstenmal durchs Auge in Siddhartha ein, war nicht mehr Zauber Maras,
war nicht mehr der Schleier der Maya, war nicht mehr sinnlose und
zufällige Vielfalt der Erscheinungswelt, verächtlich dem tief
denkenden Brahmanen, der die Vielfalt verschmäht, der die Einheit
sucht.  Blau war Blau, Fluß war Fluß, und wenn auch im Blau und Fluß
in Siddhartha das Eine und Göttliche verborgen lebte, so war es doch
eben des Göttlichen Art und Sinn, hier Gelb, hier Blau, dort Himmel,
dort Wald und hier Siddhartha zu sein.  Sinn und Wesen war nicht
irgendwo hinter den Dingen, sie waren in ihnen, in allem.

"Wie bin ich taub und stumpf gewesen!" dachte der rasch dahin
Wandelnde.  "Wenn einer eine Schrift liest, deren Sinn er suchen will,
so verachtet er nicht die Zeichen und Buchstaben und nennt sie
Täuschung, Zufall und wertlose Schale, sondern er liest sie, er
studiert und liebt sie, Buchstabe um Buchstabe.  Ich aber, der ich das
Buch der Welt und das Buch meines eigenen Wesens lesen wollte, ich
habe, einem im voraus vermuteten Sinn zuliebe, die Zeichen und
Buchstaben verachtet, ich nannte die Welt der Erscheinungen Täuschung,
nannte mein Auge und meine Zunge zufällige und wertlose Erscheinungen.
Nein, dies ist vorüber, ich bin erwacht, ich bin in der Tat erwacht
und heute erst geboren."

Indem Siddhartha diesen Gedanken dachte, blieb er abermals stehen,
plötzlich, als läge eine Schlange vor ihm auf dem Weg.

Denn plötzlich war auch dies ihm klar geworden: Er, der in der Tat wie
ein Erwachter oder Neugeborener war, er mußte sein Leben neu und
völlig von vorn beginnen.  Als er an diesem selben Morgen den Hain
Jetavana, den Hain jenes Erhabenen, verlassen hatte, schon erwachend,
schon auf dem Wege zu sich selbst, da war es seine Absicht gewesen und
war ihm natürlich und selbstverständlich erschienen, daß er, nach den
Jahren seines Asketentums, in seine Heimat und zu seinem Vater
zurückkehre.  Jetzt aber, erst in diesem Augenblick, da er stehen
blieb, als läge eine Schlange auf seinem Wege, erwachte er auch zu
dieser Einsicht: "Ich bin ja nicht mehr, der ich war, ich bin nicht
mehr Asket, ich bin nicht mehr Priester, ich bin nicht mehr Brahmane.
Was denn soll ich zu Hause und bei meinem Vater tun?  Studieren?
Opfern?  Die Versenkung pflegen?  Dies alles ist ja vorüber, dies
alles liegt nicht mehr an meinem Wege."

Regungslos blieb Siddhartha stehen, und einen Augenblick und Atemzug
lang fror sein Herz, er fühlte es in der Brust innen frieren wie ein
kleines Tier, einen Vogel oder einen Hasen, als er sah, wie allein er
sei.  Jahrelang war er heimatlos gewesen und hatte es nicht gefühlt.
Nun fühlte er es.  Immer noch, auch in der fernsten Versenkung, war er
seines Vaters Sohn gewesen, war Brahmane gewesen, hohen Standes, ein
Geistiger.  Jetzt war er nur noch Siddhartha, der Erwachte, sonst
nichts mehr.  Tief sog er den Atem ein, und einen Augenblick fror er
und schauderte.  Niemand war so allein wie er.  Kein Adliger, der
nicht zu den Adligen, kein Handwerker, der nicht zu den Handwerkern
gehörte und Zuflucht bei ihnen fand, ihr Leben teilte, ihre Sprache
sprach.  Kein Brahmane, der nicht zu den Brahmanen zählte und mit
ihnen lebte, kein Asket, der nicht im Stande der Samanas seine
Zuflucht fand, und auch der verlorenste Einsiedler im Walde war nicht
einer und allein, auch ihn umgab Zugehörigkeit, auch er gehörte einem
Stande an, der ihm Heimat war.  Govinda war Mönch geworden, und
tausend Mönche waren seine Brüder, trugen sein Kleid, glaubten seinen
Glauben, sprachen seine Sprache.  Er aber, Siddhartha, wo War er
zugehörig?  Wessen Leben würde er teilen?  Wessen Sprache würde er
sprechen?

Aus diesem Augenblick, wo die Welt rings von ihm wegschmolz, wo er
allein stand wie ein Stern am Himmel, aus diesem Augenblick einer
Kälte und Verzagtheit tauchte Siddhartha empor, mehr Ich als zuvor,
fester geballt.  Er fühlte: Dies war der letzte Schauder des Erwachens
gewesen, der letzte Krampf der Geburt.  Und alsbald schritt er wieder
aus, begann rasch und ungeduldig zu gehen, nicht mehr nach Hause,
nicht mehr zum Vater, nicht mehr zurück.



ZWEITER TEIL--Wilhelm Gundert

meinem Vetter in Japan gewidmet



KAMALA

Siddhartha lernte Neues auf jedem Schritt seines Weges, denn die Welt
war verwandelt, und sein Herz war bezaubert.  Er sah die Sonne überm
Waldgebirge aufgehen und überm fernen Palmenstrande untergehen.  Er
sah nachts am Himmel die Sterne geordnet, und den Sichelmond wie ein
Boot im Blauen schwimmend.  Er sah Bäume, Sterne, Tiere, Wolken,
Regenbogen, Felsen, Kräuter, Blumen, Bach und Fluß, Taublitz im
morgendlichen Gesträuch, ferne hohe Berge blau und bleich, Vögel
sangen und Bienen, Wind wehte silbern im Reisfelde.  Dies alles,
tausendfalt und bunt, war immer dagewesen, immer hatten Sonne und Mond
geschienen, immer Flüsse gerauscht und Bienen gesummt, aber es war in
den früheren Zeiten für Siddhartha dies alles nichts gewesen als ein
flüchtiger und trügerischer Schleier vor seinem Auge, mit Mißtrauen
betrachtet, dazu bestimmt, vom Gedanken durchdrungen und vernichtet zu
werden, da es nicht Wesen war, da das Wesen jenseits der Sichtbarkeit
lag.  Nun aber weilte sein befreites Auge diesseits, es sah und
erkannte die Sichtbarkeit, suchte Heimat in dieser Welt, suchte nicht
das Wesen, zielte in kein Jenseits.  Schön war die Welt, wenn man sie
so betrachtete, so ohne Suchen, so einfach, so kinderhaft.  Schön war
Mond und Gestirn, schön war Bach und Ufer, Wald und Fels, Ziege und
Goldkäfer, Blume und Schmetterling.  Schön und lieblich war es, so
durch die Welt zu gehen, so kindlich, so erwacht, so dem Nahen
aufgetan, so ohne Mißtrauen.  Anders brannte die Sonne aufs Haupt,
anders kühlte der Waldschatten, anders schmeckte Bach und Zisterne,
anders Kürbis und Banane.  Kurz waren die Tage, kurz die Nächte, jede
Stunde floh schnell hinweg wie ein Segel auf dem Meere, unterm Segel
ein Schiff voll von Schätzen, voll von Freuden.  Siddhartha sah ein
Affenvolk im hohen Waldgewölbe wandern, hoch im Geäst, und hörte
seinen wilden, gierigen Gesang.  Siddhartha sah einen Schafbock ein
Schaf verfolgen und begatten.  Er sah in einem Schilfsee den Hecht im
Abendhunger jagen, vor ihm her schnellten angstvoll, flatternd und
blitzend die jungen Fische in Scharen aus dem Wasser, Kraft und
Leidenschaft duftete dringlich aus den hastigen Wasserwirbeln, die der
ungestüm Jagende zog.

All dieses war immer gewesen, und er hatte es nicht gesehen; er war
nicht dabei gewesen.  Jetzt war er dabei, er gehörte dazu.  Durch sein
Auge lief Licht und Schatten, durch sein Herz lief Stern und Mond.

Siddhartha erinnerte sich unterwegs auch alles dessen, was er im
Garten Jetavana erlebt hatte, der Lehre, die er dort gehört, des
göttlichen Buddha, des Abschiedes von Govinda, des Gespräches mit dem
Erhabenen.  Seiner eigenen Worte, die er zum Erhabenen gesprochen
hatte, erinnerte er sich wieder, jedes Wortes, und mit Erstaunen wurde
er dessen inne, daß er da Dinge gesagt hatte, die er damals noch gar
nicht eigentlich wußte.  Was er zu Gotama gesagt hatte: sein, des
Buddha, Schatz und Geheimnis sei nicht die Lehre, sondern das
Unaussprechliche und nicht Lehrbare, das er einst zur Stunde seiner
Erleuchtung erlebt habe--dies war es ja eben, was zu erleben er jetzt
auszog, was zu erleben er jetzt begann.  Sich selbst mußte er jetzt
erleben.  Wohl hatte er schon lange gewußt, daß sein Selbst Atman sei,
vom selben ewigen Wesen wie Brahman.  Aber nie hatte er dies Selbst
wirklich gefunden, weil er es mit dem Netz des Gedankens hatte fangen
wollen.  War auch gewiß der Körper nicht das Selbst, und nicht das
Spiel der Sinne, so war es doch auch das Denken nicht, nicht der
Verstand, nicht die erlernte Weisheit, nicht die erlernte Kunst,
Schlüsse zu ziehen und aus schon Gedachtem neue Gedanken zu spinnen.
Nein, auch diese Gedankenwelt war noch diesseits, und es führte zu
keinem Ziele, wenn man das zufällige Ich der Sinne tötete, dafür aber
das zufällige Ich der Gedanken und Gelehrsamkeiten mästete.  Beide,
die Gedanken wie die Sinne, waren hübsche Dinge, hinter beiden lag der
letzte Sinn verborgen, beide galt es zu hören, mit beiden zu spielen,
beide weder zu verachten noch zu überschätzen, aus beiden die geheimen
Stimmen des Innersten zu erlauschen.  Nach nichts wollte er trachten,
als wonach die Stimme ihm zu trachten beföhle, bei nichts verweilen,
als wo die Stimme es riete.  Warum war Gotama einst, in der Stunde der
Stunden, unter dem Bo-Baume niedergesessen, wo die Erleuchtung ihn
traf?  Er hatte eine Stimme gehört, eine Stimme im eigenen Herzen, die
ihm befahl, unter diesem Baume Rast zu suchen, und er hatte nicht
Kasteiung, Opfer, Bad oder Gebet, nicht Essen noch Trinken, nicht
Schlaf noch Traum vorgezogen, er hatte der Stimme gehorcht.  So zu
gehorchen, nicht äußerm Befehl, nur der Stimme, so bereit zu sein, das
war gut, das war notwendig, nichts anderes war notwendig.

In der Nacht, da er in der strohernen Hütte eines Fährmanns am Flusse
schlief, hatte Siddhartha einen Traum: Govinda stand vor ihm, in einem
gelben Asketengewand.  Traurig sah Govinda aus, traurig fragte er:
Warum hast du mich verlassen?  Da umarmte er Govinda, schlang seine
Arme um ihn, und indem er ihn an seine Brust zog und küßte, war es
nicht Govinda mehr, sondern ein Weib, und aus des Weibes Gewand quoll
eine volle Brust, an der lag Siddhartha und trank, süß und stark
schmeckte die Milch dieser Brust.  Sie schmeckte nach Weib und Mann,
nach Sonne und Wald, nach Tier und Blume, nach jeder Frucht, nach
jeder Lust.  Sie machte trunken und bewußtlos.--Als Siddhartha
erwachte, schimmerte der bleiche Fluß durch die Tür der Hütte, und im
Walde klang tief und wohllaut ein dunkler Eulenruf.

Als der Tag begann, bat Siddhartha seinen Gastgeber, den Fährmann, ihn
über den Fluß zu setzen.  Der Fährmann setzte ihn auf seinem
Bambusfloß über den Fluß, rötlich schimmerte im Morgenschein das
breite Wasser.

"Das ist ein schöner Fluß," sagte er zu seinem Begleiter.

"Ja," sagte der Fährmann, "ein sehr schöner Fluß, ich liebe ihn über
alles.  Oft habe ich ihm zugehört, oft in seine Augen gesehen, und
immer habe ich von ihm gelernt.  Man kann viel von einem Flusse lernen."

"Ich danke dir, mein Wohltäter," sprach Siddhartha, da er ans andere
Ufer stieg. "Kein Gastgeschenk habe ich dir zu geben, Lieber, und
keinen Lohn zu geben.  Ein Heimatloser bin ich, ein Brahmanensohn und
Samana."

"Ich sah es wohl," sprach der Fährmann, "und ich habe keinen Lohn vor
dir erwartet, und kein Gastgeschenk.  Du wirst mir das Geschenk ein
anderes Mal geben."

"Glaubst du?" sagte Siddhartha lustig.

"Gewiß.  Auch das habe ich vom Flusse gelernt: alles kommt wieder!
Auch du, Samana, wirst wieder kommen.  Nun lebe wohl!  Möge deine
Freundschaft mein Lohn sein.  Mögest du meiner gedenken, wenn du den
Göttern opferst."

Lächelnd schieden sie voneinander.  Lächelnd freute sich Siddhartha
über die Freundschaft und Freundlichkeit des Fährmanns.  "Wie Govinda
ist er," dachte er lächelnd, "alle, die ich auf meinem Wege antreffe,
sind wie Govinda.  Alle sind dankbar, obwohl sie selbst Anspruch auf
Dank hätten.  Alle sind unterwürfig, alle mögen gern Freund sein, gern
gehorchen, wenig denken.  Kinder sind die Menschen."

Um die Mittagszeit kam er durch ein Dorf.  Vor den Lehmhütten wälzten
sich Kinder auf der Gasse, spielten mit Kürbiskernen und Muscheln,
schrien und balgten sich, flohen aber alle scheu vor dem fremden
Samana.  Am Ende des Dorfes führte der Weg durch einen Bach, und am
Rande des Baches kniete ein junges Weib und wusch Kleider.  Als
Siddhartha sie grüßte, hob sie den Kopf, und blickte mit Lächeln zu
ihm auf, daß er das Weiße in ihrem Auge blitzen sah.  Er rief einen
Segensspruch hinüber, wie er unter Reisenden üblich ist, und fragte,
wie weit der Weg bis zur großen Stadt noch sei.  Da stand sie auf und
trat zu ihm her, schön schimmerte ihr feuchter Mund im jungen Gesicht.
Sie tauschte Scherzreden mit ihm, fragte, ob er schon gegessen habe,
und ob es wahr sei, daß die Samanas nachts allein im Walde schliefen
und keine Frauen bei sich haben dürfen.  Dabei setzte sie ihren linken
Fuß auf seinen rechten und machte eine Bewegung, wie die Frau sie
macht, wenn sie den Mann zu jener Art des Liebesgenusses auffordert,
welchen die Lehrbücher "das Baumbesteigen" nennen.  Siddhartha fühlte
sein Blut erwarmen, und da sein Traum ihm in diesem Augenblick wieder
einfiel, bückte er sich ein wenig zu dem Weibe herab und küßte mit den
Lippen die braune Spitze ihrer Brust.  Aufschauend sah er ihr Gesicht
voll Verlangen lächeln und die verkleinerten Augen in Sehnsucht flehen.


Auch Siddhartha fühlte Sehnsucht und den Quell des Geschlechts sich
bewegen; da er aber noch nie ein Weib berührt hatte, zögerte er einen
Augenblick, während seine Hände schon bereit waren, nach ihr zu
greifen.  Und in diesem Augenblick hörte er, erschauernd, die Stimme
seines Innern, und die Stimme sagte Nein.  Da wich vom lächelnden
Gesicht der jungen Frau aller Zauber, er sah nichts mehr als den
feuchten Blick eines brünstigen Tierweibchens.  Freundlich streichelte
er ihre Wange, wandte sich von ihr und verschwand vor der Enttäuschten
leichtfüßig in das Bambusgehölze.

An diesem Tage erreichte er vor Abend eine große Stadt, und freute
sich, denn er begehrte nach Menschen.  Lange hatte er in den Wäldern
gelebt, und die stroherne Hütte des Fährmanns, in welcher er diese
Nacht geschlafen hatte, war seit langer Zeit das erste Dach, das er
über sich gehabt hatte.

Vor der Stadt, bei einem schönen umzäunten Haine, begegnete dem
Wandernden ein kleiner Troß von Dienern und Dienerinnen, mit Körben
beladen.  Inmitten in einer geschmückten Sänfte, von Vieren getragen,
saß auf roten Kissen unter einem bunten Sonnendach eine Frau, die
Herrin.  Siddhartha blieb beim Eingang des Lusthaines stehen und sah
dem Aufzuge zu, sah die Diener, die Mägde, die Körbe, sah die Sänfte,
und sah in der Sänfte die Dame.  Unter hochgetürmten schwarzen Haaren
sah er ein sehr helles, sehr zartes, sehr kluges Gesicht, hellroten
Mund wie eine frisch aufgebrochene Feige, Augenbrauen gepflegt und
gemalt in hohen Bogen, dunkle Augen klug und wachsam, lichten hohen
Hals aus grün und goldenem Oberkleide steigend, ruhende helle Hände
lang und schmal mit breiten Goldreifen über den Gelenken.

Siddhartha sah, wie schön sie war, und sein Herz lachte.  Tief
verneigte er sich, als die Sänfte nahe kam, und sich wieder
aufrichtend blickte er in das helle holde Gesicht, las einen
Augenblick in den klugen hochüberwölbten Augen, atmete einen Hauch von
Duft, den er nicht kannte.  Lächelnd nickte die schöne Frau, einen
Augenblick, und verschwand im Hain, und hinter ihr die Diener.

So betrete ich diese Stadt, dachte Siddhartha, unter einem holden
Zeichen.  Es zog ihn, sogleich in den Hain zu treten, doch bedachte er
sich, und nun erst ward ihm bewußt, wie ihn die Diener und Mägde am
Eingang betrachtet hatten, wie verächtlich, wie mißtrauisch, wie
abweisend.

Noch bin ich ein Samana, dachte er, noch immer, ein Asket und Bettler.
Nicht so werde ich bleiben dürfen, nicht so in den Hain treten.  Und
er lachte.

Den nächsten Menschen, der des Weges kam, fragte er nach dem Hain und
nach dem Namen dieser Frau, und erfuhr, daß dies der Hain der Kamala
war, der berühmten Kurtisane, und daß sie außer dem Haine ein Haus in
der Stadt besaß.

Dann betrat er die Stadt.  Er hatte nun ein Ziel.

Sein Ziel verfolgend, ließ er sich von der Stadt einschlürfen, trieb
im Strom der Gassen, stand auf Plätzen still, ruhte auf Steintreppen
am Flusse aus.  Gegen den Abend befreundete er sich mit einem
Barbiergehilfen, den er im Schatten eines Gewölbes hatte arbeiten
sehen, den er betend in einem Tempel Vishnus wiederfand, dem er von
den Geschichten Vishnu's und der Lakschmi erzählte.  Bei den Booten am
Flusse schlief er die Nacht, und früh am Morgen, ehe die ersten Kunden
in seinen Laden kamen, ließ er sich von dem Barbiergehilfen den Bart
rasieren und das Haar beschneiden, das Haar kämmen und mit feinem Öle
salben.  Dann ging er im Flusse baden.

Als am Spätnachmittag die schöne Kamala in der Sänfte sich ihrem Haine
näherte, stand am Eingang Siddhartha, verbeugte sich und empfing den
Gruß der Kurtisane.  Demjenigen Diener aber, der zuletzt im Zuge ging,
winkte er und bat ihn, der Herrin zu melden, daß ein junger Brahmane
mit ihr zu sprechen begehre.  Nach einer Weile kam der Diener zurück,
forderte den Wartenden auf, ihm zu folgen, führte den ihm Folgenden
schweigend in einen Pavillon, wo Kamala auf einem Ruhebette lag, und
ließ ihn bei ihr allein.

"Bist du nicht gestern schon da draußen gestanden und hast mich
begrüßt?" fragte Kamala.

"Wohl habe ich gestern schon dich gesehen und begrüßt."

"Aber trugst du nicht gestern einen Bart, und lange Haare, und Staub
in den Haaren?"

"Wohl hast du beobachtet, alles hast du gesehen.  Du hast Siddhartha
gesehen, den Brahmanensohn, welcher seine Heimat verlassen hat, um ein
Samana zu werden, und drei Jahre lang ein Samana gewesen ist.  Nun
aber habe ich jenen Pfad verlassen, und kam in diese Stadt, und die
erste, die mir noch vor dem Betreten der Stadt begegnete, warst du.
Dies zu sagen, bin ich zu dir gekommen, o Kamala!  Du bist die erste
Frau, zu welcher Siddhartha anders als mit niedergeschlagenen Augen
redet.  Nie mehr will ich meine Augen niederschlagen, wenn eine schöne
Frau mir begegnet."

Kamala lächelte und spielte mit ihrem Fächer aus Pfauenfedern.  Und
fragte: "Und nur um mir dies zu sagen, ist Siddhartha zu mir
gekommen?"

"Um dir dies zu sagen, und um dir zu danken, daß du so schön bist.
Und wenn es dir nicht mißfällt, Kamala, möchte ich dich bitten, meine
Freundin und Lehrerin zu sein, denn ich weiß noch nichts von der Kunst,
in welcher du Meisterin bist."

Da lachte Kamala laut.

"Nie ist mir das geschehen, Freund, daß ein Samana aus dem Walde zu
mir kam und von mir lernen wollte!  Nie ist mir das geschehen, daß ein
Samana mit langen Haaren und in einem alten zerrissenen Schamtuche zu
mir kam!  Viele Jünglinge kommen zu mir, und auch Brahmanensöhne sind
darunter, aber sie kommen in schönen Kleidern, sie kommen in feinen
Schuhen, sie haben Wohlgeruch im Haar und Geld in den Beuteln.  So,
du Samana, sind die Jünglinge beschaffen, welche zu mir kommen."

Sprach Siddhartha: "Schon fange ich an, von dir zu lernen.  Auch
gestern schon habe ich gelernt.  Schon habe ich den Bart abgelegt,
habe das Haar gekämmt, habe Öl im Haare.  Weniges ist, das mir noch
fehlt, du Vortreffliche: feine Kleider, feine Schuhe, Geld im Beutel.
Wisse, Schwereres hat Siddhartha sich vorgenommen, als solche
Kleinigkeiten sind, und hat es erreicht.  Wie sollte ich nicht
erreichen, was ich gestern mir vorgenommen habe: dein Freund zu sein
und die Freuden der Liebe von dir zu lernen!  Du wirst mich gelehrig
sehen, Kamala, Schwereres habe ich gelernt, als was du mich lehren
sollst.  Und nun also: Siddhartha genügt dir nicht, so wie er ist, mit
Öl im Haar, aber ohne Kleider, ohne Schuhe, ohne Geld?"

Lachend rief Kamala: "Nein, Werter, er genügt noch nicht.  Kleider muß
er haben, hübsche Kleider, und Schuhe, hübsche Schuhe, und viel Geld
im Beutel, und Geschenke für Kamala.  Weißt du es nun, Samana aus dem
Walde?  Hast du es dir gemerkt?"

"Wohl habe ich es mir gemerkt," rief Siddhartha.  "Wie sollte ich mir
nicht merken, was aus einem solchen Munde kommt!  Dein Mund ist wie
eine frisch aufgebrochene Feige, Kamala.  Auch mein Mund ist rot und
frisch, er wird zu deinem passen, du wirst sehen.--Aber sage, schöne
Kamala, hast du gar keine Furcht vor dem Samana aus dem Walde, der
gekommen ist, um Liebe zu lernen?"

"Warum sollte ich denn Furcht vor einem Samana haben, einem dummen
Samana aus dem Walde, der von den Schakalen kommt und noch gar nicht
weiß, was Frauen sind?"

"O, er ist stark, der Samana, und er fürchtet nichts.  Er könnte dich
zwingen, schönes Mädchen.  Er könnte dich rauben.  Er könnte dir weh
tun."

"Nein, Samana, das fürchte ich nicht.  Hat je ein Samana oder ein
Brahmane gefürchtet, einer könnte kommen und ihn packen und ihm seine
Gelehrsamkeit, und seine Frömmigkeit, und seinen Tiefsinn rauben?
Nein, denn die gehören ihm zu eigen und er gibt davon nur, was er
geben will und wem er geben will.  So ist es, genau ebenso ist es auch
mit Kamala, und mit den Freuden der Liebe.  Schön und rot ist Kamalas
Mund, aber versuche, ihn gegen Kamalas Willen zu küssen, und nicht
einen Tropfen Süßigkeit wirst du von ihm haben, der so viel Süßes zu
geben versteht!  Du bist gelehrig, Siddhartha, so lerne auch dies:
Liebe kann man erbetteln, erkaufen, geschenkt bekommen, auf der Gasse
finden, aber rauben kann man sie nicht.  Da hast du dir einen falschen
Weg ausgedacht.  Nein, schade wäre es, wenn ein hübscher Jüngling wie
du es so falsch angreifen wollte."

Siddhartha verneigte sich lächelnd.  "Schade wäre es, Kamala, wie
sehr hast du recht!  Überaus schade wäre es.  Nein, von deinem Munde
soll mir kein Tropfen Süßigkeit verloren gehen, noch dir von dem
meinen!  Es bleibt also dabei: Siddhartha wird wiederkommen, wenn er
hat, was ihm noch fehlt: Kleider, Schuhe, Geld.  Aber sprich, holde
Kamala, kannst du mir nicht noch einen kleinen Rat geben?"

"Einen Rat?  Warum nicht?  Wer wollte nicht gerne einem armen,
unwissenden Samana, der von den Schakalen aus dem Walde kommt, einen
Rat geben?"

"Liebe Kamala, so rate mir wohin soll ich gehen, daß ich am raschesten
jene drei Dinge finde?"

"Freund, das möchten viele wissen.  Du mußt tun, was du gelernt hast,
und dir dafür Geld geben lassen, und Kleider, und Schuhe.  Anders
kommt ein Armer nicht zu Geld.  Was kannst du denn?"

"Ich kann denken.  Ich kann warten.  Ich kann fasten."

"Nichts sonst?"

"Nichts.  Doch, ich kann auch dichten.  Willst du mir für ein Gedicht
einen Kuß geben?"

"Das will ich tun, wenn dein Gedicht mir gefällt.  Wie heißt es denn?"

Siddhartha sprach, nachdem er sich einen Augenblick besonnen hatte,
diese Verse:

In ihren schattigen Hain trat die schöne Kamala,

An Haines Eingang stand der braune Samana.

Tief, da er die Lotusblüte erblickte,

Beugte sich jener, lächelnd dankte Kamala.

Lieblicher, dachte der Jüngling, als Göttern zu opfern,

Lieblicher ist es zu opfern der schönen Kamala.

Laut klatschte Kamala in die Hände, daß die goldenen Armringe klangen.

"Schön sind deine Verse, brauner Samana, und wahrlich, ich verliere
nichts, wenn ich dir einen Kuß für sie gebe."

Sie zog ihn mit den Augen zu sich, er beugte sein Gesicht auf ihres,
und legte seinen Mund auf den Mund, der wie eine frisch aufgebrochene
Feige war.  Lange küßte ihn Kamala, und mit tiefem Erstaunen fühlte
Siddhartha, wie sie ihn lehrte, wie sie weise war, wie sie ihn
beherrschte, ihn zurückwies, ihn lockte, und wie hinter diesem ersten
eine lange, eine wohlgeordnete, wohlerprobte Reihe von Küssen stand,
jeder vom andern verschieden, die ihn noch erwarteten.  Tief atmend
blieb er stehen, und war in diesem Augenblick wie ein Kind erstaunt
über die Fülle des Wissens und Lernenswerten, die sich vor seinen
Augen erschloß.

"Sehr schön sind deine Verse," rief Kamala, "wenn ich reich wäre, gäbe
ich dir Goldstücke dafür.  Aber schwer wird es dir werden, mit Versen
so viel Geld zu erwerben, wie du brauchst.  Denn du brauchst viel Geld,
wenn du Kamalas Freund sein willst."

"Wie kannst du küssen, Kamala!" stammelte Siddhartha.

"Ja, das kann ich schon, darum fehlt es mir auch nicht an Kleidern,
Schuhen, Armbändern und allen schönen Dingen.  Aber was wird aus dir
werden?  Kannst du nichts als denken, fasten, dichten?"

"Ich kann auch die Opferlieder," sagte Siddhartha, "aber ich will sie
nicht mehr singen.  Ich kann auch Zaubersprüche, aber ich will sie
nicht mehr sprechen.  Ich habe die Schriften gelesen--"

"Halt," unterbrach ihn Kamala.  "Du kannst lesen?  Und schreiben?"

"Gewiß kann ich das.  Manche können das."

"Die meisten können es nicht.  Auch ich kann es nicht.  Es ist sehr
gut, daß du lesen und schreiben kannst, sehr gut.  Auch die
Zaubersprüche wirst du noch brauchen können."

In diesem Augenblick kam eine Dienerin gelaufen und flüsterte der
Herrin eine Nachricht ins Ohr.

"Ich bekomme Besuch," rief Kamala.  "Eile und verschwinde, Siddhartha,
niemand darf dich hier sehen, das merke dir!  Morgen sehe ich dich
wieder."

Der Magd aber befahl sie, dem frommen Brahmanen ein weißes Obergewand
zu geben.  Ohne zu wissen, wie ihm geschah, sah sich Siddhartha von
der Magd hinweggezogen, auf Umwegen in ein Gartenhaus gebracht, mit
einem Oberkleid beschenkt, ins Gebüsch geführt und dringlich ermahnt,
sich alsbald ungesehen aus dem Hain zu verlieren.

Zufrieden tat er, wie ihm geheißen war.  Des Waldes gewohnt, brachte
er sich lautlos aus dem Hain und über die Hecke.  Zufrieden kehrte er
in die Stadt zurück, das zusammengerollte Kleid unterm Arme tragend.
In einer Herberge, wo Reisende einkehrten, stellte er sich an die Tür,
bat schweigend um Essen, nahm schweigend ein Stück Reiskuchen an.
Vielleicht schon morgen, dachte er, werde ich niemand mehr um Essen
bitten.

Stolz flammte plötzlich in ihm auf.  Er war kein Samana mehr, nicht
mehr stand es ihm an, zu betteln.  Er gab den Reiskuchen einem Hunde
und blieb ohne Speise.

"Einfach ist das Leben, das man in der Welt hier führt," dachte
Siddhartha.  "Es hat keine Schwierigkeiten.  Schwer war alles, mühsam
und am Ende hoffnungslos, als ich noch Samana war.  Nun ist alles
leicht, leicht wie der Unterricht im Küssen, den mir Kamala gibt.  Ich
brauche Kleider und Geld, sonst nichts, das sind kleine nahe Ziele,
sie stören einem nicht den Schlaf."

Längst hatte er das Stadthaus Kamalas erkundet, dort fand er sich am
andern Tage ein.

"Es geht gut," rief sie ihm entgegen.  "Du wirst bei Kamaswami
erwartet, er ist der reichste Kaufmann dieser Stadt.  Wenn du ihm
gefällst, wird er dich in Dienst nehmen.  Sei klug, brauner Samana.
Ich habe ihm durch andre von dir erzählen lassen.  Sei freundlich
gegen ihn, er ist sehr mächtig.  Aber sei nicht zu bescheiden!  Ich
will nicht, daß du sein Diener wirst, du sollst seinesgleichen werden,
sonst bin ich nicht mit dir zufrieden.  Kamaswami fängt an, alt und
bequem zu werden.  Gefällst du ihm, so wird er dir viel anvertrauen."

Siddhartha dankte ihr und lachte, und da sie erfuhr, er habe gestern
und heute nichts gegessen, ließ sie Brot und Früchte bringen und
bewirtete ihn.

"Du hast Glück gehabt," sagte sie beim Abschied, "eine Tür um die
andre tut sich dir auf.  Wie kommt das wohl?  Hast du einen Zauber?"

Siddhartha sagte: "Gestern erzählte ich dir, ich verstünde zu denken,
zu warten und zu fasten, du aber fandest, das sei zu nichts nütze.  Es
ist aber zu vielem nütze, Kamala, du wirst es sehen.  Du wirst sehen,
daß die dummen Samanas im Walde viel Hübsches lernen und können, das
Ihr nicht könnet.  Vorgestern war ich noch ein struppiger Bettler,
gestern habe ich schon Kamala geküßt, und bald werde ich ein Kaufmann
sein und Geld haben und all diese Dinge, auf die du Wert legst."

"Nun ja," gab sie zu.  "Aber wie stünde es mit dir ohne mich?  Was
wärest du, wenn Kamala dir nicht hülfe?"

"Liebe Kamala," sagte Siddhartha und richtete sich hoch auf, "als ich
zu dir in deinen Hain kam, tat ich den ersten Schritt.  Es war mein
Vorsatz, bei dieser schönsten Frau die Liebe zu lernen.  Von jenem
Augenblick an, da ich den Vorsatz faßte, wußte ich auch, daß ich ihn
ausführen werde.  Ich wußte, daß du mir helfen würdest, bei deinem
ersten Blick am Eingang des Haines wußte ich es schon."

"Wenn ich aber nicht gewollt hätte?"

"Du hast gewollt.  Sieh, Kamala: Wenn du einen Stein ins Wasser wirfst,
so eilt er auf dem schnellsten Wege zum Grunde des Wassers.  So ist
es, wenn Siddhartha ein Ziel, einen Vorsatz hat.  Siddhartha tut
nichts, er wartet, er denkt, er fastet, aber er geht durch die Dinge
der Welt hindurch wie der Stein durchs Wasser, ohne etwas zu tun, ohne
sich zu rühren; er wird gezogen, er läßt sich fallen.  Sein Ziel zieht
ihn an sich, denn er läßt nichts in seine Seele ein, was dem Ziel
widerstreben könnte.  Das ist es, was Siddhartha bei den Samanas
gelernt hat.  Es ist das, was die Toren Zauber nennen und wovon sie
meinen, es werde durch die Dämonen bewirkt.  Nichts wird von Dämonen
bewirkt, es gibt keine Dämonen.  Jeder kann zaubern, jeder kann seine
Ziele erreichen, wenn er denken kann, wenn er warten kann, wenn er
fasten kann."

Kamala hörte ihm zu.  Sie liebte seine Stimme, sie liebte den Blick
seiner Augen.

"Vielleicht ist es so," sagte sie leise, "wie du spriehst, Freund.
Vielleicht ist es aber auch so, daß Siddhartha ein hübscher Mann ist,
daß sein Blick den Frauen gefällt, daß darum das Glück ihm
entgegenkommt."

Mit einem Kuß nahm Siddhartha Abschied.  "Möge es so sein, meine
Lehrerin.  Möge immer mein Blick dir gefallen, möge immer von dir mir
Glück entgegenkommen!"



BEI DEN KINDERMENSCHEN

Siddhartha ging zum Kaufmann Kamaswami, in ein reiches Haus ward er
gewiesen, Diener führten ihn zwischen kostbaren Teppichen in ein
Gemach, wo er den Hausherrn erwartete.

Kamaswami trat ein, ein rascher, geschmeidiger Mann mit stark
ergrauendem Haar, mit sehr klugen, vorsichtigen Augen, mit einem
begehrlichen Mund.  Freundlich begrüßten sich Herr und Gast.

"Man hat mir gesagt," begann der Kaufmann, "daß du ein Brahmane bist,
ein Gelehrter, daß du aber Dienste bei einem Kaufmann suchst.  Bist du
denn in Not geraten, Brahmane, daß du Dienste suchst?"

"Nein," sagte Siddhartha, "ich bin nicht in Not geraten und bin nie in
Not gewesen.  Wisse, daß ich von den Samanas komme, bei welchen ich
lange Zeit gelebt habe."

"Wenn du von den Samanas kommst, wie solltest du da nicht in Not sein?
Sind nicht die Samanas völlig besitzlos?",

"Besitzlos bin ich," sagte Siddhartha, "wenn es das ist, was du meinst.
Gewiß bin ich besitzlos.  Doch bin ich es freiwillig, bin also nicht
in Not."

"Wovon aber willst du leben, wenn du besitzlos bist?"

"Ich habe daran noch nie gedacht, Herr.  Ich bin mehr als drei Jahre
besitzlos gewesen, und habe niemals daran gedacht, wovon ich leben
solle."

"So hast du vom Besitz anderer gelebt."

"Vermutlich ist es so.  Auch der Kaufmann lebt ja von der Habe anderer."

"Wohl gesprochen.  Doch nimmt er von den andern das Ihre nicht umsonst;
er gibt ihnen seine Waren dafür."

"So scheint es sich in der Tat zu verhalten.  Jeder nimmt, jeder gibt,
so ist das Leben."

"Aber erlaube: wenn du besitzlos bist, was willst du da geben?"

"Jeder gibt, was er hat.  Der Krieger gibt Kraft, der Kaufmann gibt
Ware, der Lehrer Lehre, der Bauer Reis, der Fischer Fische."

"Sehr wohl.  Und was ist es nun, was du zu geben hast?  Was ist es,
das du gelernt hast, das du kannst?"

"Ich kann denken.  Ich kann warten.  Ich kann fasten."

"Das ist alles?"

"Ich glaube, es ist alles!"

"Und wozu nützt es?  Zum Beispiel das Fasten--wozu ist es gut?"

"Es ist sehr gut, Herr.  Wenn ein Mensch nichts zu essen hat, so ist
Fasten das Allerklügste, was er tun kann.  Wenn, zum Beispiel,
Siddhartha nicht fasten gelernt hätte, so müßte er heute noch
irgendeinen Dienst annehmen, sei es bei dir oder wo immer, denn der
Hunger würde ihn dazu zwingen.  So aber kann Siddhartha ruhig warten,
er kennt keine Ungeduld, er kennt keine Notlage, lange kann er sich
vom Hunger belagern lassen und kann dazu lachen.  Dazu, Herr, ist
Fasten gut."

"Du hast Recht, Samana.  Warte einen Augenblick."

Kamaswami ging hinaus und kehrte mit einer Rolle wieder, die er seinem
Gaste hinreichte, indem er fragte: "Kannst du dies lesen?"

Siddhartha betrachtete die Rolle, in welcher ein Kaufvertrag
niedergeschrieben war, und begann ihren Inhalt vorzulesen.

"Vortrefflich", sagte Kamaswami.  "Und willst du mir etwas auf dieses
Blatt schreiben?"

Er gab ihm ein Blatt und einen Griffel, und Siddhartha schrieb und gab
das Blatt zurück.

Kamaswami las: "Schreiben ist gut, Denken ist besser.  Klugheit ist
gut, Geduld ist besser."

"Vorzüglich verstehst du zu schreiben," lobte der Kaufmann.  "Manches
werden wir noch miteinander zu sprechen haben.  Für heute bitte ich
dich, sei mein Gast und nimm in diesem Hause Wohnung."

Siddhartha dankte und nahm an, und wohnte nun im Hause des Händlers.
Kleider wurden ihm gebracht, und Schuhe, und ein Diener bereitete ihm
täglich das Bad.  Zweimal am Tage wurde eine reichliche Mahlzeit
aufgetragen, Siddhartha aber aß nur einmal am Tage, und aß weder
Fleisch noch trank er Wein.  Kamaswami erzählte ihm von seinem Handel,
zeigte ihm Waren und Magazine, zeigte ihm Berechnungen.  Vieles Neue
lernte Siddhartha kennen, er hörte viel und sprach wenig.  Und der
Worte Kamalas eingedenk, ordnete er sich niemals dem Kaufmanne unter,
zwang ihn, daß er ihn als seinesgleichen, ja als mehr denn
seinesgleichen behandle.  Kamaswami betrieb seine Geschäfte mit
Sorglichkeit und oft mit Leidenschaft, Siddhartha aber betrachtete
dies alles wie ein Spiel, dessen Regeln genau zu lernen er bemüht war,
dessen Inhalt aber sein Herz nicht berührte.

Nicht lange war er in Kamaswamis Hause, da nahm er schon an seines
Hausherrn Handel teil.  Täglich aber zu der Stunde, die sie ihm nannte,
besuchte er die schöne Kamala, in hübschen Kleidern, in feinen
Schuhen, und bald brachte er ihr auch Geschenke mit.  Vieles lehrte
ihn ihr roter, kluger Mund.  Vieles lehrte ihn ihre zarte,
geschmeidige Hand.  Ihm, der in der Liebe noch ein Knabe war und dazu
neigte, sich blindlings und unersättlich in die Lust zu stürzen wie
ins Bodenlose, lehrte sie von Grund auf die Lehre, daß man Lust nicht
nehmen kann, ohne Lust zu geben, und daß jede Gebärde, jedes
Streicheln, jede Berührung, jeder Anblick, jede kleinste Stelle des
Körpers ihr Geheimnis hat, das zu wecken dem Wissenden Glück bereitet.
Sie lehrte ihn, daß Liebende nach einer Liebesfeier nicht voneinander
gehen dürfen, ohne eins das andere zu bewundern, ohne ebenso besiegt
zu sein, wie gesiegt zu haben, so daß bei keinem von beiden
Übersättigung und Öde entstehe und das böse Gefühl, mißbraucht zu
haben oder mißbraucht worden zu sein.  Wunderbare Stunden brachte er
bei der schönen und klugen Künstlerin zu, wurde ihr Schüler, ihr
Liebhaber, ihr Freund.  Hier bei Kamala lag der Wert und Sinn seines
jetzigen Lebens, nicht im Handel des Kamaswami.

Der Kaufmann übertrug ihm das Schreiben wichtiger Briefe und Verträge,
und gewöhnte sich daran, alle wichtigen Angelegenheiten mit ihm zu
beraten.  Er sah bald, daß Siddhartha von Reis und Wolle, von
Schiffahrt und Handel wenig verstand, daß aber seine Hand eine
glückliche war, und daß Siddhartha ihn, den Kaufmann, übertraf an Ruhe
und Gleichmut, und in der Kunst des Zuhörenkönnens und Eindringens in
fremde Menschen.  "Dieser Brahmane," sagte er zu einem Freunde, "ist
kein richtiger Kaufmann und wird nie einer werden, nie ist seine Seele
mit Leidenschaft bei den Geschäften.  Aber er hat das Geheimnis jener
Menschen, zu welchen der Erfolg von selber kommt, sei das nun ein
angeborener guter Stern, sei es Zauber, sei es etwas, das er bei den
Samanas gelernt hat.  Immer scheint er mit den Geschäften nur
zu spielen, nie gehen sie ganz in ihn ein, nie beherrschen sie ihn, nie
fürchtet er Mißerfolg, nie bekümmert ihn ein Verlust."

Der Freund riet dem Händler: "Gib ihm von den Geschäften, die er für
dich treibt, einen Drittel vom Gewinn, laß ihn aber auch denselben
Anteil des Verlustes treffen, wenn Verlust entsteht.  So wird er
eifriger werden."

Kamaswami folgte dem Rat.  Siddhartha aber kümmerte sich wenig darum.
Traf ihn Gewinn, so nahm er ihn gleichmütig hin; traf ihn Verlust, so
lachte er und sagte: "Ei sieh, dies ist also schlecht gegangen!"

Es schien in der Tat, als seien die Geschäfte ihm gleichgültig.
Einmal reiste er in ein Dorf, um dort eine große Reisernte aufzukaufen.
Als er ankam, war aber der Reis schon an einen andern Händler
verkauft.  Dennoch blieb Siddhartha manche Tage in jenem Dorf,
bewirtete die Bauern, schenkte ihren Kindern Kupfermünzen, feierte
eine Hochzeit mit und kam überaus zufrieden von der Reise zurück.
Kamaswami machte ihm Vorwürfe, daß er nicht sogleich umgekehrt sei,
daß er Zeit und Geld vergeudet habe.  Siddhartha antwortete: "Laß das
Schelten, lieber Freund!  Noch nie ist mit Schelten etwas erreicht
worden.  Ist Verlust entstanden, so laß mich den Verlust tragen.  Ich
bin sehr zufrieden mit dieser Reise.  Ich habe vielerlei Menschen
kennengelernt, ein Brahmane ist mein Freund geworden, Kinder sind auf
meinen Knien geritten, Bauern haben mir ihre Felder gezeigt, niemand
hat mich für einen Händler gehalten."

"Sehr hübsch ist dies alles," rief Kamaswami unwillig, "aber
tatsächlich bist du doch ein Händler, sollte ich meinen!  Oder bist du
denn nur zu deinem Vergnügen gereist?"

"Gewiß," lachte Siddhartha, "gewiß bin ich zu meinem Vergnügen gereist.
Wozu denn sonst?  Ich habe Menschen und Gegenden kennengelernt, ich
habe Freundlichkeit und Vertrauen genossen, ich habe Freundschaft
gefunden.  Sieh, Lieber, wenn ich Kamaswami gewesen wäre, so wäre ich
sofort, als ich meinen Kauf vereitelt sah, voll Ärger und in Eile
wieder zurückgereist, und Zeit und Geld wäre in der Tat verloren
gewesen.  So aber habe ich gute Tage gehabt, habe gelernt, habe Freude
genossen, habe weder mich noch andre durch Ärger und durch
Eilfertigkeit geschädigt.  Und wenn ich jemals wieder dorthin komme,
vielleicht um eine spätere Ernte zu kaufen, oder zu welchem Zwecke es
sei, so werden freundliche Menschen mich freundlich und heiter
empfangen, und ich werde mich dafür loben, daß ich damals nicht Eile
und Unmut gezeigt habe.  Also laß gut sein, Freund, und schade dir
nicht durch Schelten!  Wenn der Tag kommt, an dem du sehen wirst:
Schaden bringt mir dieser Siddhartha, dann sprich ein Wort, und
Siddhartha wird seiner Wege gehen.  Bis dahin aber laß uns einer mit
dem andern zufrieden sein."

Vergeblich waren auch die Versuche des Kaufmanns, Siddhartha zu
überzeugen, daß er sein, Kamaswamis, Brot esse.  Siddhartha aß sein
eignes Brot, vielmehr sie beide aßen das Brot anderer, das Brot aller.
Niemals hatte Siddhartha ein Ohr für Kamaswamis Sorgen, und Kamaswami
machte sich viele Sorgen.  War ein Geschäft im Gange, welchem
Mißerfolg drohte, schien eine Warensendung verloren, schien ein
Schuldner nicht zahlen zu können, nie konnte Kamaswami seinen
Mitarbeiter überzeugen, daß es nützlich sei, Worte des Kummers oder
des Zornes zu verlieren, Falten auf der Stirn zu haben, schlecht zu
schlafen.  Als ihm Kamaswami einstmals vorhielt, er habe alles, was er
verstehe, von ihm gelernt, gab er zur Antwort: "Wolle mich doch nicht
mit solchen Späßen zum Besten haben!  Von dir habe ich gelernt,
wieviel ein Korb voll Fische kostet, und wieviel Zins man für
geliehenes Geld fordern kann.  Das sind deine Wissenschaften.  Denken
habe ich nicht bei dir gelernt, teurer Kamaswami, suche lieber du es
von mir zu lernen."

In der Tat war seine Seele nicht beim Handel.  Die Geschäfte waren gut,
um ihm Geld für Kamala einzubringen, und sie brachten weit mehr ein,
als er brauchte.  Im übrigen war Siddharthas Teilnahme und Neugierde
nur bei den Menschen, deren Geschäfte, Handwerke, Sorgen,
Lustbarkeiten und Torheiten ihm früher fremd und fern gewesen waren
wie der Mond.  So leicht es ihm gelang, mit allen zu sprechen, mit
allen zu leben, von allen zu lernen, so sehr ward ihm dennoch bewußt,
daß etwas sei, was ihn von ihnen trenne, und dies Trennende war sein
Samanatum.  Er sah die Menschen auf eine kindliche oder tierhafte Art
dahinleben, welche er zugleich liebte und auch verachtete.  Er sah sie
sich mühen, sah sie leiden und grau werden um Dinge, die ihm dieses
Preises ganz unwert schienen, um Geld, um kleine Lust, um kleine Ehren,
er sah sie einander schelten und beleidigen, er sah sie um Schmerzen
wehklagen, über die der Samana lächelt, und unter Entbehrungen leiden,
die ein Samana nicht fühlt.

Allem stand er offen, was diese Menschen ihm zubrachten.  Willkommen
war ihm der Händler, der ihm Leinwand zum Kauf anbot, willkommen der
Verschuldete, der ein Darlehen suchte, willkommen der Bettler, der ihm
eine Stunde lang die Geschichte seiner Armut erzählte, und welcher
nicht halb so arm war als ein jeder Samana.  Den reichen ausländischen
Händler behandelte er nicht anders als den Diener, der ihn rasierte,
und den Straßenverkäufer, von dem er sich beim Bananenkauf um kleine
Münze betrügen ließ.  Wenn Kamaswami zu ihm kam, um über seine Sorgen
zu klagen oder ihm wegen eines Geschäftes Vorwürfe zu machen, so hörte
er neugierig und heiter zu, wunderte sich über ihn, suchte ihn zu
verstehen, ließ ihn ein wenig Recht haben, eben soviel als ihm
unentbehrlich schien, und wandte sich von ihm ab, dem Nächsten zu, der
ihn begehrte.  Und es kamen viele zu ihm, viele um mit ihm zu handeln,
viele um ihn zu betrügen, viele um ihn auszuhorchen, viele um sein
Mitleid anzurufen, viele um seinen Rat zu hören.  Er gab Rat, er
bemitleidete, er schenkte, er ließ sich ein wenig betrügen, und dieses
ganze Spiel und die Leidenschaft, mit welcher alle Menschen dies Spiel
betrieben, beschäftigte seine Gedanken ebensosehr, wie einst die
Götter und das Brahman sie beschäftigt hatten.

Zuzeiten spürte er, tief in der Brust, eine sterbende, leise Stimme,
die mahnte leise, klagte leise, kaum daß er sie vernahm.  Alsdann kam
ihm für eine Stunde zum Bewußtsein, daß er ein seltsames Leben führe,
daß er da lauter Dinge tue, die bloß ein Spiel waren, daß er wohl
heiter sei und zuweilen Freude fühle, daß aber das eigentliche Leben
dennoch an ihm vorbeifließe und ihn nicht berühre.  Wie ein
Ballspieler mit seinen Bällen spielt, so spielte er mit seinen
Geschäften, mit den Menschen seiner Umgebung, sah ihnen zu, fand
seinen Spaß an ihnen; mit dem Herzen, mit der Quelle seines Wesens war
er nicht dabei.  Die Quelle lief irgendwo, wie fern von ihm, lief und
lief unsichtbar, hatte nichts mehr mit seinem Leben zu tun.  Und
einigemal erschrak er ob solchen Gedanken und wünschte sich, es möge
doch auch ihm gegeben sein, bei all dem kindlichen Tun des Tages mit
Leidenschaft und mit dem Herzen beteiligt zu sein, wirklich zu leben,
wirklich zu tun, wirklich zu genießen und zu leben, statt nur so als
ein Zuschauer daneben zu stehen.  Immer aber kam er wieder zur schönen
Kamala, lernte Liebeskunst, übte den Kult der Lust, bei welchem mehr
als irgendwo geben und nehmen zu einem wird, plauderte mit ihr, lernte
von ihr, gab ihr Rat, empfing Rat.  Sie verstand ihn besser, als
Govinda ihn einst verstanden hatte, sie war ihm ähnlicher.

Einmal sagte er zu ihr: "Du bist wie ich, du bist anders als die
meisten Menschen.  Du bist Kamala, nichts andres, und in dir innen ist
eine Stille und Zuflucht, in welche du zu jeder Stunde eingehen und
bei dir daheim sein kannst, so wie auch ich es kann.  Wenige Menschen
haben das, und doch könnten alle es haben."

"Nicht alle Menschen sind klug," sagte Kamala.

"Nein," sagte Siddhartha, "nicht daran liegt es.  Kamaswami ist ebenso
klug wie ich, und hat doch keine Zuflucht in sich.  Andre haben sie,
die an Verstand kleine Kinder sind.  Die meisten Menschen, Kamala,
sind wie ein fallendes Blatt, das weht und dreht sich durch die Luft,
und schwankt, und taumelt zu Boden.  Andre aber, wenige, sind wie
Sterne, die gehen eine feste Bahn, kein Wind erreicht sie, in sich
selber haben sie ihr Gesetz und ihre Bahn.  Unter allen Gelehrten und
Samanas, deren ich viele kannte, war einer von dieser Art, ein
Vollkommener, nie kann ich ihn vergessen.  Es ist jener Gotama, der
Erhabene, der Verkündiger jener Lehre.  Tausend Jünger hören jeden Tag
seine Lehre, folgen jede Stunde seiner Vorschrift, aber sie alle
sind fallendes Laub, nicht in sich selbst haben sie Lehre und Gesetz."

Kamala betrachtete ihn mit Lächeln.  "Wieder redest du von ihm," sagte
sie, "wieder hast du Samana-Gedanken."

Siddhartha schwieg, und sie spielten das Spiel der Liebe, eines von
den dreißig oder vierzig verschiedenen Spielen, welche Kamala wußte.
Ihr Leib war biegsam wie der eines Jaguars, und wie der Bogen eines
Jägers; wer von ihr die Liebe gelernt hatte, war vieler Lüste, vieler
Geheimnisse kundig.  Lange spielte sie mit Siddhartha, lockte ihn, wies
ihn zurück, zwang ihn, umspannte ihn: freute sich seiner Meisterschaft,
bis er besiegt war und erschöpft an ihrer Seite ruhte.

Die Hetäre beugte sich über ihn, sah lang in sein Gesicht, in seine
müdgewordenen Augen.

"Du bist der beste Liebende," sagte sie nachdenklich, "den ich gesehen
habe.  Du bist stärker als andre, biegsamer, williger.  Gut hast du
meine Kunst gelernt, Siddhartha.  Einst, wenn ich älter bin, will ich
von dir ein Kind haben.  Und dennoch, Lieber, bist du ein Samana
geblieben, dennoch liebst du mich nicht, du liebst keinen Menschen.
Ist es nicht so?"

"Es mag wohl so sein", sagte Siddhartha müde.  "Ich bin wie du.  Auch
du liebst nicht--wie könntest du sonst die Liebe als eine Kunst
betreiben?  Die Menschen von unserer Art können vielleicht nicht
lieben.  Die Kindermenschen können es; das ist ihr Geheimnis."



SANSARA

Lange Zeit hatte Siddhartha das Leben der Welt und der Lüste gelebt,
ohne ihm doch anzugehören.  Seine Sinne, die er in heißen
Samana-Jahren ertötet hatte, waren wieder erwacht, er hatte Reichtum
gekostet, hatte Wollust gekostet, hatte Macht gekostet; dennoch war er
lange Zeit im Herzen noch ein Samana geblieben, dies hatte Kamala, die
Kluge, richtig erkannt.  Immer noch war es die Kunst des Denkens, des
Wartens, des Fastens, von welcher sein Leben gelenkt wurde, immer noch
waren die Menschen der Welt, die Kindermenschen, ihm fremd geblieben,
wie er ihnen fremd war.

Die Jahre liefen dahin, in Wohlergehen eingehüllt fühlte Siddhartha
ihr Schwinden kaum.  Er war reich geworden, er besaß längst ein
eigenes Haus und eigene Dienerschaft, und einen Garten vor der Stadt
am Flusse.  Die Menschen hatten ihn gerne, sie kamen zu ihm, wenn sie
Geld oder Rat brauchten, niemand aber stand ihm nahe, außer Kamala.

Jenes hohe, helle Wachsein, welches er einst, auf der Höhe seiner
Jugend, erlebt hatte, in den Tagen nach Gotamas Predigt, nach der
Trennung von Govinda, jene gespannte Erwartung, jenes stolze
Alleinstehen ohne Lehren und ohne Lehrer, jene geschmeidige
Bereitschaft, die göttliche Stimme im eigenen Herzen zu hören, war
allmählich Erinnerung geworden, war vergänglich gewesen; fern und
leise rauschte die heilige Quelle, die einst nahe gewesen war, die
einst in ihm selber gerauscht hatte.  Vieles zwar, das er von den
Samanas gelernt, das er von Gotama gelernt, das er von seinem Vater,
dem Brahmanen, gelernt hatte, war noch lange Zeit in ihm geblieben:
mäßiges Leben, Freude am Denken, Stunden der Versenkung, heimliches
Wissen vom Selbst, vom ewigen Ich, das nicht Körper noch Bewußtsein
ist.  Manches davon war in ihm geblieben, eines ums andre aber war
untergesunken und hatte sich mit Staub bedeckt.  Wie die Scheibe des
Töpfers, einmal angetrieben, sich noch lange dreht und nur langsam
ermüdet und ausschwingt, so hatte in Siddharthas Seele das Rad der
Askese, das Rad des Denkens, das Rad der Unterscheidung lange weiter
geschwungen, schwang immer noch, aber es schwang langsam und zögernd
und war dem Stillstand nahe.  Langsam, wie Feuchtigkeit in den
absterbenden Baumstrunk dringt, ihn langsam füllt und faulen macht,
war Welt und Trägheit in Siddharthas Seele gedrungen, langsam füllte
sie seine Seele, machte sie schwer, machte sie müde, schläferte sie
ein.  Dafür waren seine Sinne lebendig geworden, viel hatten sie
gelernt, viel erfahren.

Siddhartha hatte gelernt, Handel zu treiben, Macht über Menschen
auszuüben, sich mit dem Weibe zu vergnügen, er hatte gelernt, schöne
Kleider zu tragen, Dienern zu befehlen, sich in wohlriechenden Wassern
zu baden.  Er hatte gelernt, zart und sorgfältig bereitete Speisen zu
essen, auch den Fisch, auch Fleisch und Vogel, Gewürze und Süßigkeiten,
und den Wein zu trinken, der träge und vergessen macht.  Er hatte
gelernt, mit Würfeln und auf dem Schachbrette zu spielen, Tänzerinnen
zuzusehen, sich in der Sänfte tragen zu lassen, auf einem weichen Bett
zu schlafen.  Aber immer noch hatte er sich von den andern verschieden
und ihnen überlegen gefühlt, immer hatte er ihnen mit ein wenig Spott
zugesehen, mit ein wenig spöttischer Verachtung, mit eben jener
Verachtung, wie sie ein Samana stets für Weltleute fühlt.  Wenn
Kamaswami kränklich war, wenn er ärgerlich war, wenn er sich beleidigt
fühlte, wenn er von seinen Kaufmannssorgen geplagt wurde, immer hatte
Siddhartha es mit Spott angesehen.  Langsam und unmerklich nur, mit
den dahingehenden Erntezeiten und Regenzeiten, war sein Spott müder
geworden, war seine Überlegenheit stiller geworden.  Langsam nur,
zwischen seinen wachsenden Reichtümern, hatte Siddhartha selbst etwas
von der Art der Kindermenschen angenommen, etwas von ihrer
Kindlichkeit und von ihrer Ängstlichkeit.  Und doch beneidete er sie,
beneidete sie desto mehr, je ähnlicher er ihnen wurde.  Er beneidete
sie um das Eine, was ihm fehlte und was sie hatten, um die Wichtigkeit,
welche sie ihrem Leben beizulegen vermochten, um die
Leidenschaftlichkeit ihrer Freuden und Ängste, um das bange aber süße
Glück ihrer ewigen Verliebtheit.  In sich selbst, in Frauen, in ihre
Kinder, in Ehre oder Geld, in Pläne oder Hoffnungen verliebt waren
diese Menschen immerzu.  Er aber lernte dies nicht von ihnen, gerade
dies nicht, diese Kinderfreude und Kindertorheit; er lernte von ihnen
gerade das Unangenehme, was er selbst verachtete.  Es geschah immer
öfter, daß er am Morgen nach einem geselligen Abend lange liegen blieb
und sich dumpf und müde fühlte.  Es geschah, daß er ärgerlich und
ungeduldig wurde, wenn Kamaswami ihn mit seinen Sorgen lang weilte.
Es geschah, daß er allzu laut lachte, wenn er im Würfelspiel verlor.
Sein Gesicht war noch immer klüger und geistiger als andre, aber es
lachte selten, und nahm einen um den andern jene Züge an, die man im
Gesicht reicher Leute so häufig findet, jene Züge der Unzufriedenheit,
der Kränklichkeit, des Mißmutes, der Trägheit, der Lieblosigkeit.
Langsam ergriff ihn die Seelenkrankheit der Reichen.

Wie ein Schleier, wie ein dünner Nebel senkte sich Müdigkeit über
Siddhartha, langsam, jeden Tag ein wenig dichter, jeden Monat ein
wenig trüber, jedes Jahr ein wenig schwerer.  Wie ein neues Kleid mit
der Zeit alt wird, mit der Zeit seine schöne Farbe verliert, Flecken
bekommt, Falten bekommt, an den Säumen abgestoßen wird und hier und
dort blöde, fädige Stellen zu zeigen beginnt, so war Siddharthas neues
Leben, das er nach seiner Trennung von Govinda begonnen hatte, alt
geworden, so verlor es mit den hinrinnenden Jahren Farbe und Glanz, so
sammelten sich Falten und Flecken auf ihm, und im Grunde verborgen,
hier und dort schon häßlich hervorblickend, wartete Enttäuschung und
Ekel.  Siddhartha merkte es nicht.  Er merkte nur, das jene helle und
sichere Stimme seines Innern, die einst in ihm erwacht war und ihn in
seinen glänzenden Zeiten je und je geleitet hatte, schweigsam
geworden war.

Die Welt hatte ihn eingefangen, die Lust, die Begehrlichkeit, die
Trägheit, und zuletzt auch noch jenes Laster, das er als das
törichteste stets am meisten verachtet und gehöhnt hatte: die Habgier.
Auch das Eigentum, der Besitz und Reichtum hatte ihn schließlich
eingefangen, war ihm kein Spiel und Tand mehr, war Kette und Last
geworden.  Auf einem seltsamen und listigen Wege war Siddhartha in
diese letzte und schnödeste Abhängigkeit geraten, durch das
Würfelspiel.  Seit der Zeit nämlich, da er im Herzen aufgehört hatte,
ein Samana zu sein, begann Siddhartha das Spiel um Geld und
Kostbarkeiten, das er sonst lächelnd und lässig als eine Sitte der
Kindermenschen mitgemacht hatte, mit einer zunehmenden Wut und
Leidenschaft zu treiben.  Er war ein gefürchteter Spieler, wenige
wagten es mit ihm, so hoch und frech waren seine Einsätze.  Er trieb
das Spiel aus der Not seines Herzens, das Verspielen und Verschleudern
des elenden Geldes schuf ihm eine zornige Freude, auf keine andre
Weise konnte er seine Verachtung des Reichtums, des Götzen der
Kaufleute, deutlicher und höhnischer zeigen.  So spielte er hoch und
schonungslos, sich selbst hassend, sich selbst verhöhnend, strich
Tausende ein, warf Tausende weg, verspielte Geld, verspielte Schmuck,
verspielte ein Landhaus, gewann wieder, verspielte wieder.  Jene Angst,
jene furchtbare und beklemmende Angst, welche er während des Würfelns,
während des Bangens um hohe Einsätze empfand, jene Angst liebte er
und suchte sie immer zu erneuern, immer zu steigern, immer höher zu
kitzeln, denn in diesem Gefühl allein noch fühlte er etwas wie Glück,
etwas wie Rausch, etwas wie erhöhtes Leben inmitten seines gesättigten,
lauen, faden Lebens.

Und nach jedem großen Verluste sann er auf neuen Reichtum, ging
eifriger dem Handel nach, zwang strenger seine Schuldner zum Zahlen,
denn er wollte weiter spielen, er wollte weiter vergeuden, weiter dem
Reichtum seine Verachtung zeigen.  Siddhartha verlor die Gelassenheit
bei Verlusten, er verlor die Geduld gegen säumige Zahler, verlor die
Gutmütigkeit gegen Bettler, verlor die Lust am Verschenken und
Wegleihen des Geldes an Bittende.  Er, der zehntausend auf einen Wurf
verspielte und dazu lachte, wurde im Handel strenger und kleinlicher,
träumte nachts zuweilen von Geld!  Und so oft er aus dieser häßlichen
Bezauberung erwachte, so oft er sein Gesicht im Spiegel an der
Schlafzimmerwand gealtert und häßlicher geworden sah, so oft Scham und
Ekel ihn überfiel, floh er weiter, floh in neues Glücksspiel, floh in
Betäubungen der Wollust, des Weines, und von da zurück in den Trieb
des Häufens und Erwerbens.  In diesem sinnlosen Kreislauf lief er sich
müde, lief er sich alt, lief sich krank.

Da mahnte ihn einst ein Traum.  Er war die Abendstunden bei Kamala
gewesen, in ihrem schönen Lustgarten.  Sie waren unter den Bäumen
gesessen, im Gespräch, und Kamala hatte nachdenkliche Worte gesagt,
Worte, hinter welchen sich eine Trauer und Müdigkeit verbarg.  Von
Gotama hatte sie ihn gebeten zu erzählen, und konnte nicht genug von
ihm hören, wie rein sein Auge, wie still und schön sein Mund, wie
gütig sein Lächeln, wie friedevoll sein Gang gewesen.  Lange hatte er
ihr vom erhabenen Buddha erzählen müssen, und Kamala hatte geseufzt,
und hatte gesagt: "Einst, vielleicht bald, werde auch ich diesem Buddha
folgen.  Ich werde ihm meinen Lustgarten schenken, und werde meine
Zuflucht zu seiner Lehre nehmen."  Darauf aber hatte sie ihn gereizt,
und ihn im Liebesspiel mit schmerzlicher Inbrunst an sich gefesselt,
unter Bissen und unter Tränen, als wolle sie noch einmal aus dieser
eiteln, vergänglichen Lust den letzten süßen Tropfen pressen.  Nie war
es Siddhartha so seltsam klar geworden, wie nahe die Wollust dem Tode
verwandt ist.  Dann war er an ihrer Seite gelegen, und Kamalas Antlitz
war ihm nahe gewesen, und unter ihren Augen und neben ihren
Mundwinkeln hatte er, deutlich wie noch niemals, eine bange Schrift
gelesen, eine Schrift von feinen Linien, von leisen Furchen, eine
Schrift, die an den Herbst und an das Alter erinnerte, wie denn auch
Siddhartha selbst, der erst in den Vierzigen stand, schon hier und
dort ergraute Haare zwischen seinen schwarzen bemerkt hatte.
Müdigkeit stand auf Kamalas schönem Gesicht geschrieben, Müdigkeit vom
Gehen eines langen Weges, der kein frohes Ziel hat, Müdigkeit und
beginnende Welke, und verheimlichte, noch nicht gesagte, vielleicht
noch nicht einmal gewußte Bangigkeit: Furcht vor dem Alter, Furcht vor
dem Herbste, Furcht vor dem Sterbenmüssen.  Seufzend hatte er von ihr
Abschied genommen, die Seele voll Unlust, und voll verheimlichter
Bangigkeit.

Dann hatte Siddhartha die Nacht in seinem Hause mit Tänzerinnen beim
Weine zugebracht, hatte gegen seine Standesgenossen den überlegenen
gespielt, welcher er nicht mehr war, hatte viel Wein getrunken und
spät nach Mitternacht sein Lager aufgesucht, müde und dennoch erregt,
dem Weinen und der Verzweiflung nahe, und hatte lang vergeblich den
Schlaf gesucht, das Herz voll eines Elendes, das er nicht mehr
ertragen zu können meinte, voll eines Ekels, von dem er sich
durchdrungen fühlte wie vom lauen, widerlichen Geschmack des Weines,
der allzu süßen, öden Musik, dem allzu weichen Lächeln der Tänzerinnen,
dem allzu süßen Duft ihrer Haare und Brüste.  Mehr aber als vor allem
anderen ekelte ihm vor sich selbst, vor seinen duftenden Haaren, vor
dem Weingeruch seines Mundes, vor der schlaffen Müdigkeit und Unlust
seiner Haut.  Wie wenn einer, der allzuviel gegessen oder getrunken
hat, es unter Qualen wieder erbricht und doch der Erleichterung froh
ist, so wünschte sich der Schlaflose, in einem ungeheuren Schwall von
Ekel sich dieser Genüsse, dieser Gewohnheiten, dieses ganzen sinnlosen
Lebens und seiner selbst zu entledigen.  Erst beim Schein des Morgens
und dem Erwachen der ersten Geschäftigkeit auf der Straße vor seinem
Stadthause war er eingeschlummert, hatte für wenige Augenblicke eine
halbe Betäubung, eine Ahnung von Schlaf gefunden.  In diesen
Augenblicken hatte er einen Traum:

Kamala besaß in einem goldenen Käfig einen kleinen seltenen Singvogel.
Von diesem Vogel träumte er.  Er träumte: dieser Vogel war stumm
geworden, der sonst stets in der Morgenstunde sang, und da dies ihm
auffiel, trat er vor den Käfig und blickte hinein, da war der kleine
Vogel tot und lag steif am Boden.  Er nahm ihn heraus, wog ihn einen
Augenblick in der Hand und warf ihn dann weg, auf die Gasse hinaus,
und im gleichen Augenblick erschrak er furchtbar, und das Herz tat ihm
weh, so, als habe er mit diesem toten Vogel allen Wert und alles Gute
von sich geworfen.

Aus diesem Traum auffahrend, fühlte er sich von tiefer Traurigkeit
umfangen.  Wertlos, so schien ihm, wertlos und sinnlos hatte er sein
Leben dahingeführt; nichts Lebendiges, nichts irgendwie Köstliches
oder Behaltenswertes war ihm in Händen geblieben.  Allein stand er
und leer, wie ein Schiffbrüchiger am Ufer.

Finster begab sich Siddhartha in einen Lustgarten, der ihm gehörte,
verschloß die Pforte, setzte sich unter einem Mangobaum nieder, fühlte
den Tod im Herzen und das Grauen in der Brust, saß und spürte, wie es
in ihm starb, in ihm welkte, in ihm zu Ende ging.  Allmählich sammelte
er seine Gedanken, und ging im Geiste nochmals den ganzen Weg seines
Lebens, von den ersten Tagen an, auf welche er sich besinnen konnte.
Wann denn hatte er ein Glück erlebt, eine wahre Wonne gefühlt?  O ja,
mehrere Male hatte er solches erlebt.  In den Knabenjahren hatte er es
gekostet, wenn er von den Brahmanen Lob errungen hatte er es in seinem
Herzen gefühlt: "Ein Weg liegt vor dem Hersagen der heiligen Verse, im
Disput mit den Gelehrten, als Gehilfe beim Opfer ausgezeichnet hatte."
Da hatte er es in seinem Herzen gefühlt: "Ein Weg liegt vor dir, zu
dem du berufen bist, auf dich warten die Götter."  Und wieder als
Jüngling, da ihn das immer höher emporfliehende Ziel alles Nachdenkens
aus der Schar Gleichstrebender heraus- und hinangerissen hatte, da er
in Schmerzen um den Sinn des Brahman rang, da jedes erreichte Wissen
nur neuen Durst in ihm entfachte, da wieder hatte er, mitten im Durst,
mitten im Schmerze dieses selbe gefühlt: "Weiter!  Weiter!  Du bist
berufen!"  Diese Stimme hatte er vernommen, als er seine Heimat
verlassen und das Leben des Samana gewählt hatte, und wieder, als er
von den Samanas hinweg zu jenem Vollendeten, und auch von ihm hinweg
ins Ungewisse gegangen war.  Wie lange hatte er diese Stimme nicht
mehr gehört, wie lange keine Höhe mehr erreicht, wie eben und öde war
sein Weg dahingegangen, viele lange Jahre, ohne hohes Ziel, ohne Durst,
ohne Erhebung, mit kleinen Lüsten zufrieden und dennoch nie begnügt!
Alle diese Jahre hatte er, ohne es selbst zu wissen, sich bemüht und
danach gesehnt, ein Mensch wie diese vielen zu werden, wie diese
Kinder, und dabei war sein Leben viel elender und ärmer gewesen als
das ihre, denn ihre Ziele waren nicht die seinen, noch ihre Sorgen,
diese ganze Welt der Kamaswami-Menschen war ihm ja nur ein Spiel
gewesen, ein Tanz, dem man zusieht, eine Komödie.  Einzig Kamala war
ihm lieb, war ihm wertvoll gewesen--aber war sie es noch?  Brauchte er
sie noch, oder sie ihn?  Spielten sie nicht ein Spiel ohne Ende?  War
es notwendig, dafür zu leben?  Nein, es war nicht notwendig!  Dieses
Spiel hieß Sansara, ein Spiel für Kinder, ein Spiel, vielleicht hold
zu spielen, einmal, zweimal, zehnmal--aber immer und immer wieder?

Da wußte Siddhartha, daß das Spiel zu Ende war, daß er es nicht mehr
spielen könne.  Ein Schauder lief ihm über den Leib, in seinem Innern,
so fühlte er, war etwas gestorben.

Jenen ganzen Tag saß er unter dem Mangobaume, seines Vaters gedenkend,
Govindas gedenkend, Gotamas gedenkend.  Hatte er diese verlassen
müssen, um ein Kamaswami zu werden?  Er saß noch, als die Nacht
angebrochen war.  Als er aufschauend die Sterne erblickte, dachte er:
"Hier sitze ich unter meinem Mangobaume, in meinem Lustgarten."  Er
lächelte ein wenig--war es denn notwendig, war es richtig, war es
nicht ein törichtes Spiel, daß er einen Mangobaum, daß er einen Garten
besaß?

Auch damit schloß er ab, auch das starb in ihm.  Er erhob sich, nahm
Abschied vom Mangobaum, Abschied vom Lustgarten.  Da er den Tag ohne
Speise geblieben war, fühlte er heftigen Hunger, und gedachte an sein
Haus in der Stadt, an sein Gemach und Bett, an den Tisch mit den
Speisen.  Er lächelte müde, schüttelte sich und nahm Abschied von
diesen Dingen.

In derselben Nachtstunde verließ Siddhartha seinen Garten, verließ die
Stadt und kam niemals wieder.  Lange ließ Kamaswami nach ihm suchen,
der ihn in Räuberhand gefallen glaubte.  Kamala ließ nicht nach ihm
suchen.  Als sie erfuhr, daß Siddhartha verschwunden sei, wunderte sie
sich nicht.  Hatte sie es nicht immer erwartet?  War er nicht ein
Samana, ein Heimloser, ein Pilger?  Und am meisten hatte sie dies beim
letzten Zusammensein gefühlt, und sie freute sich mitten im Schmerz
des Verlustes, daß sie ihn dieses letzte Mal noch so innig an ihr Herz
gezogen sich noch einmal so ganz von ihm besessen und durchdrungen
gefühlt hatte.

Als sie die erste Nachricht von Siddharthas Verschwinden bekam, trat
sie ans Fenster, wo sie in einem goldenen Käfig einen seltenen
Singvogel gefangen hielt.  Sie öffnete die Tür des Käfigs, nahm den
Vogel heraus und ließ ihn fliegen.  Lange sah sie ihm nach, dem
fliegenden Vogel.  Sie empfing von diesem Tage an keine Besucher mehr,
und hielt ihr Haus verschlossen.  Nach einiger Zeit aber ward sie inne,
daß sie von dem letzten Zusammensein mit Siddhartha schwanger sei.



AM FLUSSE

Siddhartha wanderte im Walde, schon fern von der Stadt, und wußte
nichts als das eine, daß er nicht mehr zurück konnte, daß dies Leben,
wie er es nun viele Jahre lang geführt, vorüber und dahin und bis zum
Ekel ausgekostet und ausgesogen war.  Tot war der Singvogel, von dem
er geträumt.  Tot war der Vogel in seinem Herzen.  Tief war er in
Sansara verstrickt, Ekel und Tod hatte er von allen Seiten in sich
eingesogen, wie ein Schwamm Wasser einsaugt, bis er voll ist.  Voll
war er von Überdruß, voll von Elend, voll von Tod, nichts mehr gab es
in der Welt, das ihn locken, das ihn freuen, das ihn trösten konnte.

Sehnlich wünschte er, nichts mehr von sich zu wissen, Ruhe zu haben,
tot zu sein.  Käme doch ein Blitz und erschlüge ihn!  Käme doch ein
Tiger und fräße ihn!  Gäbe es doch einen Wein, ein Gift, das ihm
Betäubung brächte, Vergessen und Schlaf, und kein Erwachen mehr!  Gab
es denn noch irgendeinen Schmutz, mit dem er sich nicht beschmutzt
hatte, eine Sünde und Torheit, die er nicht begangen, eine Seelenöde,
die er nicht auf sich geladen hatte?  War es denn noch möglich, zu
leben?  War es möglich, nochmals und nochmals wieder Atem zu ziehen,
Atem auszustoßen, Hunger zu fühlen, wieder zu essen, wieder zu
schlafen, wieder beim Weibe zu liegen?  War dieser Kreislauf nicht für
ihn erschöpft und abgeschlossen?

Siddhartha gelangte an den großen Fluß im Walde, an denselben Fluß,
über welchen ihn einst, als er noch ein junger Mann war und von der
Stadt des Gotama kam, ein Fährmann geführt hatte.  An diesem Flusse
machte er Halt, blieb zögernd beim Ufer stehen.  Müdigkeit und Hunger
hatten ihn geschwächt, und wozu auch sollte er weitergehen, wohin denn,
zu welchem Ziel?  Nein, es gab keine Ziele mehr, es gab nichts mehr
als die tiefe, leidvolle Sehnsucht, diesen ganzen wüsten Traum von
sich zu schütteln, diesen schalen Wein von sich zu speien, diesem
jämmerlichen und schmachvollen Leben ein Ende zu machen.

Über das Flußufer hing ein Baum gebeugt, ein Kokosbaum, an dessen
Stamm lehnte sich Siddhartha mit der Schulter, legte den Arm um den
Stamm und blickte in das grüne Wasser hinab, das unter ihm zog und zog,
blickte hinab und fand sich ganz und gar von dem Wunsche erfüllt,
sich loszulassen und in diesem Wasser unterzugehen.  Eine schauerliche
Leere spiegelte ihm aus dem Wasser entgegen, welcher die furchtbare
Leere in seiner Seele Antwort gab.  Ja, er war am Ende.  Nichts mehr
gab es für ihn, als sich auszulöschen, als das mißlungene Gebilde
seines Lebens zu zerschlagen, es wegzuwerfen, hohnlachenden Göttern
vor die Füße.  Dies war das große Erbrechen, nach dem er sich gesehnt
hatte: der Tod, das Zerschlagen der Form, die er haßte!  Mochten ihn
die Fische fressen, diesen Hund von Siddhartha, diesen Irrsinnigen,
diesen verdorbenen und verfaulten Leib, diese erschlaffte und
mißbrauchte Seele! Mochten die Fische und Krokodile ihn fressen,
mochten die Dämonen ihn zerstücken!

Mit verzerrtem Gesichte starrte er ins Wasser, sah sein Gesicht
gespiegelt und spie danach.  In tiefer Müdigkeit löste er den Arm vom
Baumstamme und drehte sich ein wenig, um sich senkrecht hinabfallen zu
lassen, um endlich unterzugehen.  Er sank, mit geschlossenen Augen,
dem Tod entgegen.

Da zuckte aus entlegenen Bezirken seiner Seele, aus Vergangenheiten
seines ermüdeten Lebens her ein Klang.  Es war ein Wort, eine Silbe,
die er ohne Gedanken mit lallender Stimme vor sich hinsprach, das alte
Anfangswort und Schlußwort aller brahmanischen Gebete, das heilige
"OM", das so viel bedeutet wie "das Vollkommene" oder "die Vollendung".
Und im Augenblick, da der Klang "Om" Siddharthas Ohr berührte,
erwachte sein entschlummerter Geist plötzlich, und erkannte die
Torheit seines Tuns.

Siddhartha erschrak tief.  So also stand es um ihn, so verloren war er,
so verirrt und von allem Wissen verlassen, daß er den Tod hatte
suchen können, daß dieser Wunsch, dieser Kinderwunsch in ihm hatte
groß werden können: Ruhe zu finden, indem er seinen Leib auslöschte!
Was alle Qual dieser letzten Zeiten, alle Ernüchterung, alle
Verzweiflung nicht bewirkt hatte, das bewirkte dieser Augenblick, da
das Om in sein Bewußtsein drang: daß er sich in seinem Elend und in
seiner Irrsal erkannte.

Om! sprach er vor sich hin: Om!  Und wußte um Brahman, wußte um die
Unzerstörbarkeit des Lebens, wußte um alles Göttliche wieder, das er
vergessen hatte.

Doch war dies nur ein Augenblick, ein Blitz.  Am Fuß des Kokosbaumes
sank Siddhartha nieder, von der Ermüdung hingestreckt, Om murmelnd,
legte sein Haupt auf die Wurzel des Baumes und sank in tiefen Schlaf.

Tief war sein Schlaf und frei von Träumen, seit langer Zeit hatte er
einen solchen Schlaf nicht mehr gekannt.  Als er nach manchen Stunden
erwachte, war ihm, als seien zehn Jahre vergangen, er hörte das leise
Strömen des Wassers, wußte nicht, wo er sei und wer ihn hierher
gebracht habe, schlug die Augen auf, sah mit Verwunderung Bäume und
Himmel über sich, und erinnerte sich, wo er wäre und wie er hierher
gekommen sei.  Doch bedurfte er hierzu einer langen Weile, und das
Vergangene erschien ihm wie von einem Schleier überzogen, unendlich
fern, unendlich weit weg gelegen, unendlich gleichgültig.  Er wußte
nur, daß er sein früheres Leben (im ersten Augenblick der Besinnung
erschien ihm dies frühere Leben wie eine weit zurückliegende, einstige
Verkörperung, wie eine frühe Vorgeburt seines jetzigen Ich)--daß er
sein früheres Leben verlassen habe, daß er voll Ekel und Elend sogar
sein Leben habe wegwerfen wollen, daß er aber an einem Flusse, unter
einem Kokosbaume, zu sich gekommen sei, das heilige Wort Om auf den
Lippen, dann entschlummert sei, und nun erwacht als ein neuer Mensch
in die Welt blicke.  Leise sprach er das Wort Om vor sich hin, über
welchem er eingeschlafen war, und ihm schien sein ganzer langer Schlaf
sei nichts als ein langes, versunkenes Om-Sprechen gewesen, ein
Om-Denken, ein Untertauchen und völliges Eingehen in Om, in das
Namenlose, Vollendete.

Was für ein wunderbarer Schlaf war dies doch gewesen!  Niemals hatte
ein Schlaf ihn so erfrischt, so erneut, so verjüngt!  Vielleicht war
er wirklich gestorben, war untergegangen und in einer neuen Gestalt
wiedergeboren?  Aber nein, er kannte sich, er kannte seine Hand und
seine Füße, kannte den Ort, an dem er lag, kannte dies Ich in seiner
Brust, diesen Siddhartha, den Eigenwilligen, den Seltsamen, aber
dieser Siddhartha war dennoch verwandelt, war erneut, war merkwürdig
ausgeschlafen, merkwürdig wach, freudig und neugierig.

Siddhartha richtete sich empor, da sah er sich gegenüber einen
Menschen sitzen, einen fremden Mann, einen Mönch in gelbem Gewande mit
rasiertem Kopfe, in der Stellung des Nachdenkens.  Er betrachtete den
Mann, der weder Haupthaar noch Bart an sich hatte, und nicht lange
hatte er ihn betrachtet, da erkannte er in diesem Mönche Govinda, den
Freund seiner Jugend, Govinda, der seine Zuflucht zum erhabenen Buddha
genommen hatte.  Govinda war gealtert, auch er, aber noch immer trug
sein Gesicht die alten Züge, sprach von Eifer, von Treue, von Suchen,
von Ängstlichkeit.  Als nun aber Govinda, seinen Blick fühlend, das
Auge aufschlug und ihn anschaute, sah Siddhartha, daß Govinda ihn
nicht erkenne.  Govinda freute sich, ihn wach zu finden, offenbar
hatte er lange hier gesessen und auf sein Erwachen gewartet, obwohl er
ihn nicht kannte.

"Ich habe geschlafen," sagte Siddhartha.  "Wie bist denn du hierher
gekommen?"

"Du hast geschlafen," antwortete Govinda.  "Es ist nicht gut, an
solchen Orten zu schlafen, wo häufig Schlangen sind und die Tiere des
Waldes ihre Wege haben.  Ich, o Herr, bin ein Jünger des erhabenen
Gotama, des Buddha, des Sakyamuni, und bin mit einer Zahl der Unsrigen
diesen Weg gepilgert, da sah ich dich liegen und schlafen an einem
Orte, wo es gefährlich ist zu schlafen.  Darum suchte ich dich zu
wecken, o Herr, und da ich sah, daß dein Schlaf sehr tief war, blieb
ich hinter den Meinigen zurück und saß bei dir.  Und dann, so scheint
es, bin ich selbst eingeschlafen, der ich deinen Schlaf bewachen
wollte.  Schlecht habe ich meinen Dienst versehen, Müdigkeit hat mich
übermannt.  Aber nun, da du ja wach bist, laß mich gehen, damit ich
meine Brüder einhole."

"Ich danke dir, Samana, daß du meinen Schlaf behütet hast," sprach
Siddhartha.  "Freundlich seid Ihr Jünger des Erhabenen.  Nun magst du
denn gehen."

"Ich gehe, Herr.  Möge der Herr sich immer wohl befinden."

"Ich danke dir, Samana."

Govinda machte das Zeichen des Grußes und sagte: "Lebe wohl."

"Lebe wohl, Govinda," sagte Siddhartha.

Der Mönch blieb stehen.

"Erlaube, Herr, woher kennst du meinen Namen?"

Da lächelte Siddhartha.

"Ich kenne dich, o Govinda, aus der Hütte deines Vaters, und aus der
Brahmanenschule, und von den Opfern, und von unsrem Gang zu den
Samanas, und von jener Stunde, da du im Hain Jetavana deine Zuflucht
zum Erhabenen nahmest."

"Du bist Siddhartha!" rief Govinda laut.  "Jetzt erkenne ich dich, und
begreife nicht mehr, wie ich dich nicht sogleich erkennen konnte.  Sei
willkommen, Siddhartha, groß ist meine Freude, dich wiederzusehen."

"Auch mich erfreut es, dich wiederzusehen.  Du bist der Wächter meines
Schlafes gewesen, nochmals danke ich dir dafür, obwohl ich keines
Wächters bedurft hätte.  Wohin gehst du, o Freund?"

"Nirgendshin gehe ich.  Immer sind wir Mönche unterwegs, solange nicht
Regenzeit ist, immer ziehen wir von Ort zu Ort, leben nach der Regel,
verkündigen die Lehre, nehmen Almosen, ziehen weiter.  Immer ist es so.
Du aber, Siddhartha, wo gehst du hin?"

Sprach Siddhartha: "Auch mit mir steht es so, Freund, wie mit dir.
Ich gehe nirgendhin.  Ich bin nur unterwegs.  Ich pilgere."

Govinda sprach: "Du sagst: du pilgerst, und ich glaube dir.  Doch
verzeih, o Siddhartha, nicht wie ein Pilger siehst du aus.  Du trägst
das Kleid eines Reichen, du trägst die Schuhe eines Vornehmen, und
dein Haar, das nach wohlriechendem Wasser duftet, ist nicht das Haar
eines Pilgers, nicht das Haar eines Samanas."

"Wohl, Lieber, gut hast du beobachtet, alles sieht dein scharfes Auge.
Doch habe ich nicht zu dir gesagt, daß ich ein Samana sei.  Ich sagte:
ich pilgere.  Und so ist es: ich pilgere."

"Du pilgerst," sagte Govinda.  "Aber wenige pilgern in solchem Kleide,
wenige in solchen Schuhen, wenige mit solchen Haaren.  Nie habe ich,
der ich schon viele Jahre pilgere, solch einen Pilger angetroffen."

"Ich glaube es dir, mein Govinda.  Aber nun, heute, hast du eben einen
solchen Pilger angetroffen, in solchen Schuhen, mit solchem Gewande.
Erinnere dich, Lieber: Vergänglich ist die Welt der Gestaltungen,
vergänglich, höchst vergänglich sind unsere Gewänder, und die Tracht
unserer Haare, und unsere Haare und Körper selbst.  Ich trage die
Kleider eines Reichen, da hast du recht gesehen.  Ich trage sie, denn
ich bin ein Reicher gewesen, und trage das Haar wie die Weltleute und
Lüstlinge, denn einer von ihnen bin ich gewesen."

"Und jetzt, Siddhartha, was bist du jetzt?"

"Ich weiß es nicht, ich weiß es so wenig wie du.  Ich bin unterwegs.
Ich war ein Reicher, und bin es nicht mehr; und was ich morgen sein
werde, weiß ich nicht."

"Du hast deinen Reichtum verloren?"

"Ich habe ihn verloren, oder er mich.  Er ist mir abhanden gekommen.
Schnell dreht sich das Rad der Gestaltungen, Govinda.  Wo ist der
Brahmane Siddhartha?  Wo ist der Samana Siddhartha?  Wo ist der Reiche
Siddhartha?  Schnell wechselt das Vergängliche, Govinda, du weißt es."

Govinda blickte den Freund seiner Jugend lange an, Zweifel im Auge.
Darauf grüßte er ihn, wie man Vornehme grüßt, und ging seines Weges.

Mit lächelndem Gesicht schaute Siddhartha ihm nach, er liebte ihn noch
immer, diesen Treuen, diesen Ängstlichen.  Und wie hätte er, in diesem
Augenblick, in dieser herrlichen Stunde nach seinem wunderbaren
Schlafe, durchdrungen von Om, irgend jemand und irgend etwas nicht
lieben sollen!  Eben darin bestand die Verzauberung, welche im Schlafe
und durch das Om in ihm geschehen war, daß er alles liebte, daß er
voll froher Liebe war zu allem, was er sah.  Und eben daran, so schien
es ihm jetzt, war er vorher so sehr krank gewesen, daß er nichts und
niemand hatte lieben können.

Mit lächelndem Gesichte schaute Siddhartha dem hinweggehenden Mönche
nach.  Der Schlaf hatte ihn sehr gestärkt, sehr aber quälte ihn der
Hunger, denn er hatte nun zwei Tage nichts gegessen, und lange war die
Zeit vorüber, da er hart gegen den Hunger gewesen war.  Mit Kummer,
und doch auch mit Lachen, gedachte er jener Zeit.  Damals, so
erinnerte er sich, hatte er sich vor Kamala dreier Dinge gerühmt,
hatte drei edle und unüberwindliche Künste gekonnt:
Fasten--Warten--Denken.  Dies war sein Besitz gewesen, seine Macht und
Kraft, sein fester Stab, in den fleißigen, mühseligen Jahren seiner
Jugend hatte er diese drei Künste gelernt, nichts anderes.  Und nun
hatten sie ihn verlassen, keine von ihnen war mehr sein, nicht Fasten,
nicht Warten, nicht Denken.  Um das Elendeste hatte er sie hingegeben,
um das Vergänglichste, um Sinnenlust, um Wohlleben, um Reichtum!
Seltsam war es ihm in der Tat ergangen.  Und jetzt, so schien es,
jetzt war er wirklich ein Kindermensch geworden.

Siddhartha dachte über seine Lage nach.  Schwer fiel ihm das Denken,
er hatte im Grunde keine Lust dazu, doch zwang er sich.

Nun, dachte er, da alle diese vergänglichsten Dinge mir wieder
entglitten sind, nun stehe ich wieder unter der Sonne, wie ich einst
als kleines Kind gestanden bin, nichts ist mein, nichts kann ich,
nichts vermag ich, nichts habe ich gelernt.  Wie ist dies wunderlich!
Jetzt, wo ich nicht mehr jung bin, wo meine Haare schon halb grau sind,
wo die Kräfte nachlassen, jetzt fange ich wieder von vorn und beim
Kinde an!  Wieder mußte er lächeln.  Ja, seltsam war sein Geschick!
Es ging abwärts mit ihm, und nun stand er wieder leer und nackt und
dumm in der Welt.  Aber Kummer darüber konnte er nicht empfinden, nein,
er fühlte sogar großen Anreiz zum Lachen, zum Lachen über sich, zum
Lachen über diese seltsame, törichte Welt.

"Abwärts geht es mit dir!" sagte er zu sich selber, und lachte dazu,
und wie er es sagte, fiel sein Blick auf den Fluß, und auch den Fluß
sah er abwärts gehen, immer abwärts wandern, und dabei singen und
fröhlich sein.  Das gefiel ihm wohl, freundlich lächelte er dem Flusse
zu.  War dies nicht der Fluß, in welchem er sich hatte ertränken
wollen, einst, vor hundert Jahren, oder hatte er das geträumt?

Wunderlich in der Tat war mein Leben, so dachte er, wunderliche Umwege
hat es genommen.  Als Knabe habe ich nur mit Göttern und Opfern zu tun
gehabt.  Als Jüngling habe ich nur mit Askese, mit Denken und
Versenkung zu tun gehabt, war auf der Suche nach Brahman, verehrte das
Ewige im Atman.  Als junger Mann aber zog ich den Büßern nach, lebte
im Walde, litt Hitze und Frost, lernte hungern, lehrte meinen Leib
absterben.  Wunderbar kam mir alsdann in der Lehre des großen Buddha
Erkenntnis entgegen, ich fühlte Wissen um die Einheit der Welt in mir
kreisen wie mein eigenes Blut.  Aber auch von Buddha und von dem
großen Wissen mußte ich wieder fort.  Ich ging und lernte bei Kamala
die Liebeslust, lernte bei Kamaswami den Handel, häufte Geld, vertat
Geld, lernte meinen Magen lieben, lernte meinen Sinnen schmeicheln.
Viele Jahre mußte ich damit hinbringen, den Geist zu verlieren, das
Denken wieder zu verlernen, die Einheit zu vergessen.  Ist es nicht so,
als sei ich langsam und auf großen Umwegen aus einem Mann ein Kind
geworden, aus einem Denker ein Kindermensch?  Und doch ist dieser Weg
sehr gut gewesen, und doch ist der Vogel in meiner Brust nicht
gestorben.  Aber welch ein Weg war das!  Ich habe durch so viel
Dummheit, durch so viel Laster, durch so viel Irrtum, durch so viel
Ekel und Enttäuschung und Jammer hindurchgehen müssen, bloß um wieder
ein Kind zu werden und neu anfangen zu können.  Aber es war richtig so,
mein Herz sagt Ja dazu, meine Augen lachen dazu.  Ich habe
Verzweiflung erleben müssen, ich habe hinabsinken müssen bis zum
törichtesten aller Gedanken, zum Gedanken des Selbstmordes, um Gnade
erleben zu können, um wieder Om zu vernehmen, um wieder richtig
schlafen und richtig erwachen zu können.  Ich habe ein Tor werden
müssen, um Atman wieder in mir zu finden.  Ich habe sündigen müssen,
um wieder leben zu können.  Wohin noch mag mein Weg mich führen?
Närrisch ist er, dieser Weg, er geht in Schleifen, er geht vielleicht
im Kreise.  Mag er gehen, wie er will, ich will ihn gehen.

Wunderbar fühlte er in seiner Brust die Freude wallen.

Woher denn, fragte er sein Herz, woher hast du diese Fröhlichkeit?
Kommt sie wohl aus diesem langen, guten Schlafe her, der mir so sehr
wohlgetan hat?  Oder von dem Worte Om, das ich aussprach?  Oder davon,
daß ich entronnen bin, daß meine Flucht vollzogen ist, daß ich endlich
wieder frei bin und wie ein Kind unter dem Himmel stehe?  O wie gut
ist dies Geflohensein, dies Freigewordensein!  Wie rein und schön ist
hier die Luft, wie gut zu atmen!  Dort, von wo ich entlief, dort roch
alles nach Salbe, nach Gewürzen, nach Wein, nach Überfluß, nach
Trägheit.  Wie haßte ich diese Welt der Reichen, der Schlemmer, der
Spieler!  Wie habe ich mich selbst gehaßt, daß ich so lang in dieser
schrecklichen Welt geblieben bin!  Wie habe ich mich gehaßt, habe mich
beraubt, vergiftet, gepeinigt, habe mich alt und böse gemacht!  Nein,
nie mehr werde ich, wie ich es einst so gerne tat, mir einbilden, daß
Siddhartha weise sei! Dies aber habe ich gut gemacht, dies gefällt mir,
dies muß ich loben, daß es nun ein Ende hat mit jenem Haß gegen mich
selber, mit jenem törichten und öden Leben!  Ich lobe dich, Siddharta,
nach soviel Jahren der Torheit hast du wieder einmal einen Einfall
gehabt, hast etwas getan, hast den Vogel in deiner Brust singen hören
und bist ihm gefolgt!

So lobte er sich, hatte Freude an sich, hörte neugierig seinem Magen
zu, der vor Hunger knurrte.  Ein Stück Leid, ein Stück Elend hatte er
nun, so fühlte er, in diesen letzten Zeiten und Tagen ganz und gar
durchgekostet und ausgespien, bis zur Verzweiflung und bis zum Tode
ausgefressen.  So war es gut.  Lange noch hätte er bei Kamaswami
bleiben können, Geld erwerben, Geld vergeuden, seinen Bauch mästen und
seine Seele verdursten lassen, lange noch hätte er in dieser sanften,
wohlgepolsterten Hölle wohnen können, wäre dies nicht gekommen: der
Augenblick der vollkommenen Trostlosigkeit und Verzweiflung, jener
äußerste Augenblick, da er über dem strömenden Wasser hing und bereit
war, sich zu vernichten.  Daß er diese Verzweiflung, diesen tiefsten
Ekel gefühlt hatte, und daß er ihm nicht erlegen war, daß der Vogel,
die frohe Quelle und Stimme in ihm doch noch lebendig war, darüber
fühlte er diese Freude, darüber lachte er, darüber strahlte sein
Gesicht unter den ergrauten Haaren.

"Es ist gut," dachte er, "alles selber zu kosten, was man zu wissen
nötig hat.  Daß Weltlust und Reichtum nicht vom Guten sind, habe ich
schon als Kind gelernt.  Gewußt habe ich es lange, erlebt habe ich es
erst jetzt.  Und nun weiß ich es, weiß es nicht nur mit dem Gedächtnis,
sondern mit meinen Augen, mit meinem Herzen, mit meinem Magen.  Wohl
mir, daß ich es weiß!"

Lange sann er nach über seine Verwandlung, lauschte dem Vogel, wie er
vor Freude sang.  War nicht dieser Vogel in ihm gestorben, hatte er
nicht seinen Tod gefühlt?  Nein, etwas anderes in ihm war gestorben,
etwas, das schon, lange sich nach Sterben gesehnt hatte.  War es nicht
das, was er einst in seinen glühenden Büßerjahren hatte abtöten
wollen?  War es nicht sein Ich, sein kleines, banges und stolzes Ich,
mit dem er so viele Jahre gekämpft hatte, das ihn immer wieder besiegt
hatte, das nach jeder Abtötung wieder da war, Freude verbot, Furcht
empfand?  War es nicht dies, was heute endlich seinen Tod gefunden
hatte, hier im Walde an diesem lieblichen Flusse?  War es nicht dieses
Todes wegen, daß er jetzt wie ein Kind war, so voll Vertrauen, so ohne
Furcht, so voll Freude?

Nun auch ahnte Siddhartha, warum er als Brahmane, als Büßer vergeblich
mit diesem Ich gekämpft hatte.  Zu viel Wissen hatte ihn gehindert, zu
viel heilige Verse, zu viel Opferregeln, zu viel Kasteiung, zu viel
Tun und Streben!  Voll Hochmut war er gewesen, immer der Klügste,
immer der Eifrigste, immer allen um einen Schritt voran, immer der
Wissende und Geistige, immer der Priester oder Weise.  In dies
Priestertum, in diesen Hochmut, in diese Geistigkeit hinein hatte sein
Ich sich verkrochen, dort saß es fest und wuchs, während er es mit
Fasten und Buße zu töten meinte.  Nun sah er es, und sah, daß die
heimliche Stimme Recht gehabt hatte, daß kein Lehrer ihn je hätte
erlösen können.  Darum hatte er in die Welt gehen müssen, sich an Lust
und Macht, an Weib und Geld verlieren müssen, hatte ein Händler, ein
Würfelspieler, Trinker und Habgieriger werden müssen, bis der Priester
und Samana in ihm tot war.  Darum hatte er weiter diese häßlichen
Jahre ertragen müssen, den Ekel ertragen, die Leere, die Sinnlosigkeit
eines öden und verlorenen Lebens, bis zum Ende, bis zur bittern
Verzweiflung, bis auch der Lüstling Siddhartha, der Habgierige
Siddhartha sterben konnte.  Er war gestorben, ein neuer Siddhartha war
aus dem Schlaf erwacht.  Auch er würde alt werden, auch er würde einst
sterben müssen, vergänglich war Siddhartha, vergänglich war jede
Gestaltung.  Heute aber war er jung, war ein Kind, der neue Siddhartha,
und war voll Freude.

Diese Gedanken dachte er, lauschte lächelnd auf seinen Magen, hörte
dankbar einer summenden Biene zu.  Heiter blickte er in den strömenden
Fluß, nie hatte ihm ein Wasser so wohl gefallen wie dieses, nie hatte
er Stimme und Gleichnis des ziehenden Wassers so stark und schön
vernommen.  Ihm schien, es habe der Fluß ihm etwas Besonderes zu sagen,
etwas, das er noch nicht wisse, das noch auf ihn warte.  In diesem
Fluß hatte sich Siddhartha ertränken wollen, in ihm war der alte, müde,
verzweifelte Siddhartha heute ertrunken.  Der neue Siddhartha aber
fühlte eine tiefe Liebe zu diesem strömenden Wasser, und beschloß bei
sich, es nicht so bald wieder zu verlassen.



DER FÄHRMANN

An diesem Fluß will ich bleiben, dachte Siddhartha, es ist der selbe,
über den ich einstmals auf dem Wege zu den Kindermenschen gekommen bin,
ein freundlicher Fährmann hat mich damals geführt, zu ihm will ich
gehen, von seiner Hütte aus führte mich einst mein Weg in ein neues
Leben, das nun alt geworden und tot ist--möge auch mein jetziger Weg,
mein jetziges neues Leben dort seinen Ausgang nehmen!

Zärtlich blickte er in das strömende Wasser, in das durchsichtige Grün,
in die kristallenen Linien seiner geheimnisreichen Zeichnung.  Lichte
Perlen sah er aus der Tiefe steigen, stille Luftblasen auf dem Spiegel
schwimmen, Himmelsbläue darin abgebildet.  Mit tausend Augen blickte
der Fluß ihn an, mit grünen, mit weißen, mit kristallnen, mit
himmelblauen.  Wie liebte er dies Wasser, wie entzückte es ihn, wie
war er ihm dankbar!  Im Herzen hörte er die Stimme sprechen, die neu
erwachte, und sie sagte ihm: Liebe dies Wasser!  Bleibe bei ihm!
Lerne von ihm!  O ja, er wollte von ihm lernen, er wollte ihm zuhören.
Wer dies Wasser und seine Geheimnisse verstünde, so schien ihm, der
würde auch viel anderes verstehen, viele Geheimnisse, alle Geheimnisse.

Von den Geheimnissen des Flusses aber sah er heute nur eines, das
ergriff seine Seele.  Er sah: dies Wasser lief und lief, immerzu lief
es, und war doch immer da, war immer und allezeit dasselbe und doch
jeden Augenblick neu!  O wer dies faßte, dies verstünde!  Er verstand
und faßte es nicht, fühlte nur Ahnung sich regen, ferne Erinnerung,
göttliche Stimmen.

Siddhartha erhob sich, unerträglich wurde das Treiben des Hungers in
seinem Leibe.  Hingenommen wanderte er weiter, den Uferpfad hinan, dem
Strom entgegen, lauschte auf die Strömung, lauschte auf den knurrenden
Hunger in seinem Leibe.

Als er die Fähre erreichte, lag eben das Boot bereit, und derselbe
Fährmann, welcher einst den jungen Samana über den Fluß gesetzt hatte,
stand im Boot, Siddhartha erkannte ihn wieder, auch er war stark
gealtert.

"Willst du mich übersetzen?" fragte er.

Der Fährmann, erstaunt, einen so vornehmen Mann allein und zu Fuße
wandern zu sehen, nahm ihn ins Boot und stieß ab.

"Ein schönes Leben hast du dir erwählt," sprach der Gast.  "Schön muß
es sein, jeden Tag an diesem Wasser zu leben und auf ihm zu fahren."

Lächelnd wiegte sich der Ruderer: "Es ist schön, Herr, es ist, wie du
sagst.  Aber ist nicht jedes Leben, ist nicht jede Arbeit schön?"

"Es mag wohl sein.  Dich aber beneide ich um die Deine."

"Ach, du möchtest bald die Lust an ihr verlieren.  Das ist nichts für
Leute in feinen Kleidern."

Siddhartha lachte.  "Schon einmal bin ich heute um meiner Kleider
willen betrachtet worden, mit Mißtrauen betrachtet.  Willst du nicht,
Fährmann, diese Kleider, die mir lästig sind, von mir annehmen?  Denn
du mußt wissen, ich habe kein Geld, dir einen Fährlohn zu zahlen."

"Der Herr scherzt," lachte der Fährmann.

"Ich scherze nicht, Freund.  Sieh, schon einmal hast du mich in deinem
Boot über dies Wasser gefahren, um Gotteslohn.  So tue es auch heute,
und nimm meine Kleider dafür an."

"Und will der Herr ohne Kleider weiterreisen?"

"Ach, am liebsten wollte ich gar nicht weiterreisen.  Am liebsten wäre
es mir, Fährmann, wenn du mir eine alte Schürze gäbest und behieltest
mich als deinen Gehilfen bei dir, vielmehr als deinen Lehrling, denn
erst muß ich lernen, mit dem Boot umzugehen."

Lange blickte der Fährmann den Fremden an, suchend.

"Jetzt erkenne ich dich," sagte er endlich.  "Einst hast du in meiner
Hütte geschlafen, lange ist es her, wohl mehr als zwanzig Jahre mag
das her sein, und bist von mir über den Fluß gebracht worden, und wir
nahmen Abschied voneinander wie gute Freunde.  Warst du nicht ein
Samana?  Deines Namens kann ich mich nicht mehr entsinnen."

"Ich heiße Siddhartha, und ich war ein Samana, als du mich zuletzt
gesehen hast."

"So sei willkommen, Siddhartha.  Ich heiße Vasudeva.  Du wirst, so
hoffe ich, auch heute mein Gast sein und in meiner Hütte schlafen, und
mir erzählen, woher du kommst, und warum deine schönen Kleider dir so
lästig sind."

Sie waren in die Mitte des Flusses gelangt, und Vasudeva legte sich
stärker ins Ruder, um gegen die Strömung anzukommen.  Ruhig arbeitete
er, den Blick auf der Bootspitze, mit kräftigen Armen.  Siddhartha saß
und sah ihm zu, und erinnerte sich, wie schon einstmals, an jenem
letzten Tage seiner Samana-Zeit, Liebe zu diesem Manne sich in seinem
Herzen geregt hatte.  Dankbar nahm er Vasudevas Einladung an.  Als sie
am Ufer anlegten, half er ihm das Boot an den Pflöcken festbinden,
darauf bat ihn der Fährmann, in die Hütte zu treten, bot ihm Brot und
Wasser, und Siddhartha aß mit Lust, und aß mit Lust auch von den
Mangofrüchten, die ihm Vasudeva anbot.

Danach setzten sie sich, es ging gegen Sonnenuntergang, auf einem
Baumstamm am Ufer, und Siddhartha erzählte dem Fährmann seine Herkunft
und sein Leben, wie er es heute, in jener Stunde der Verzweiflung, vor
seinen Augen gesehen hatte.  Bis tief in die Nacht währte sein
Erzählen.

Vasudeva hörte mit großer Aufmerksamkeit zu.  Alles nahm er lauschend
in sich auf, Herkunft und Kindheit, all das Lernen, all das Suchen,
alle Freude, alle Not.  Dies war unter des Fährmanns Tugenden eine der
größten: er verstand wie wenige das Zuhören.  Ohne daß er ein Wort
gesprochen hätte, empfand der Sprechende, wie Vasudeva seine Worte in
sich einließ, still, offen, wartend, wie er keines verlor, keines mit
Ungeduld erwartete, nicht Lob noch Tadel daneben stellte, nur zuhörte.
Siddhartha empfand, welches Glück es ist, einem solchen Zuhörer sich
zu bekennen, in sein Herz das eigene Leben zu versenken, das eigene
Suchen, das eigene Leiden.

Gegen das Ende von Siddharthas Erzählung aber, als er von dem Baum am
Flusse sprach, und von seinem tiefen Fall, vom heiligen Om, und wie er
nach seinem Schlummer eine solche Liebe zu dem Flusse gefühlt hatte,
da lauschte der Fährmann mit verdoppelter Aufmerksamkeit, ganz und
völlig hingegeben, mit geschloßnem Auge.

Als aber Siddhartha schwieg, und eine lange Stille gewesen war, da
sagte Vasudeva: "Es ist so, wie ich dachte.  Der Fluß hat zu dir
gesprochen.  Auch dir ist er Freund, auch zu dir spricht er.  Das ist
gut, das ist sehr gut.  Bleibe bei mir, Siddhartha, mein Freund.  Ich
hatte einst eine Frau, ihr Lager war neben dem meinen, doch ist sie
schon lange gestorben, lange habe ich allein gelebt.  Lebe nun du mit
mir, es ist Raum und Essen für beide vorhanden."

"Ich danke dir," sagte Siddhartha, "ich danke dir und nehme an.  Und
auch dafür danke ich dir, Vasudeva, daß du mir so gut zugehört hast!
Selten sind die Menschen, welche das Zuhören verstehen.  Und keinen
traf ich, der es verstand wie du.  Auch hierin werde ich von dir
lernen."

"Du wirst es lernen," sprach Vasudeva, "aber nicht von mir.  Das
Zuhören hat mich der Fluß gelehrt, von ihm wirst auch du es lernen.
Er weiß alles, der Fluß, alles kann man von ihm lernen.  Sieh, auch
das hast du schon vom Wasser gelernt, daß es gut ist, nach unten zu
streben, zu sinken, die Tiefe zu suchen.  Der reiche und vornehme
Siddhartha wird ein Ruderknecht, der gelehrte Brahmane Siddhartha wird
ein Fährmann: auch dies ist dir vom Fluß gesagt worden.  Du wirst auch
das andere von ihm lernen."

Sprach Siddhartha, nach einer langen Pause: "Welches andere,
Vasudeva?"

Vasudeva erhob sich.  "Spät ist es geworden," sagte er, "laß uns
schlafen gehen.  Ich kann dir das andere nicht sagen, o Freund.  Du
wirst es lernen, vielleicht auch weißt du es schon.  Sieh, ich bin
kein Gelehrter, ich verstehe nicht zu sprechen, ich verstehe auch
nicht zu denken.  Ich verstehe nur zuzuhören und fromm zu sein, sonst
habe ich nichts gelernt.  Könnte ich es sagen und lehren, so wäre ich
vielleicht ein Weiser, so aber bin ich nur ein Fährmann, und meine
Aufgabe ist es, Menschen über diesen Fluß zu setzen.  Viele habe ich
übergesetzt, Tausende, und ihnen allen ist mein Fluß nichts anderes
gewesen als ein Hindernis auf ihren Reisen.  Sie reisten nach Geld und
Geschäften, und zu Hochzeiten, und zu Wallfahrten, und der Fluß war
ihnen im Wege, und der Fährmann war dazu da, sie schnell über das
Hindernis hinweg zubringen.  Einige unter den Tausenden aber, einige
wenige, vier oder fünf, denen hat der Fluß aufgehört, ein Hindernis zu
sein, sie haben seine Stimme gehört, sie haben ihm zugehört, und der
Fluß ist ihnen heilig geworden, wie er es mir geworden ist.  Laß uns
nun zur Ruhe gehen, Siddhartha."

Siddhartha blieb bei dem Fährmann und lernte das Boot bedienen, und
wenn nichts an der Fähre zu tun war, arbeitete er mit Vasudeva im
Reisfelde, sammelte Holz, pflückte die Früchte der Pisangbäume.  Er
lernte ein Ruder zimmern, und lernte das Boot ausbessern, und Körbe
flechten, und war fröhlich über alles, was er lernte, und die Tage und
Monate liefen schnell hinweg. Mehr aber, als Vasudeva ihn lehren
konnte, lehrte ihn der Fluß.  Von ihm lernte er unaufhörlich.  Vor
allem lernte er von ihm das Zuhören, das Lauschen mit stillem Herzen,
mit wartender, geöffneter Seele, ohne Leidenschaft, ohne Wunsch, ohne
Urteil, ohne Meinung.

Freundlich lebte er neben Vasudeva, und zuweilen tauschten sie Worte
miteinander, wenige und lang bedachte Worte.  Vasudeva war kein Freund
der Worte, selten gelang es Siddhartha, ihn zum Sprechen zu bewegen.

"Hast du," so fragte er ihn einst, "hast auch du vom Flusse jenes
Geheime gelernt: daß es keine Zeit gibt?"

Vasudevas Gesicht überzog sich mit hellem Lächeln.

"Ja, Siddhartha," sprach er.  "Es ist doch dieses, was du meinst: daß
der Fluß überall zugleich ist, am Ursprung und an der Mündung, am
Wasserfall, an der Fähre, an der Stromschnelle, im Meer, im Gebirge,
überall, zugleich, und daß es für ihn nur Gegenwart gibt, nicht den
Schatten Vergangenheit, nicht den Schatten Zukunft?"

"Dies ist es," sagte Siddhartha.  "Und als ich es gelernt hatte, da
sah ich mein Leben an, und es war auch ein Fluß, und es war der Knabe
Siddhartha vom Manne Siddhartha und vom Greis Siddhartha nur durch
Schatten getrennt, nicht durch Wirkliches.  Es waren auch Siddharthas
frühere Geburten keine Vergangenheit, und sein Tod und seine Rückkehr
zu Brahma keine Zukunft.  Nichts war, nichts wird sein; alles ist,
alles hat Wesen und Gegenwart."

Siddhartha sprach mit Entzücken, tief hatte diese Erleuchtung ihn
beglückt. O, war denn nicht alles Leiden Zeit, war nicht alles
Sichquälen und Sichfürchten Zeit, war nicht alles Schwere, alles
Feindliche in der Welt weg und überwunden, sobald man die Zeit
überwunden hatte, sobald man die Zeit wegdenken konnte?  Entzückt
hatte er gesprochen, Vasudeva aber lächelte ihn strahlend an und
nickte Bestätigung, schweigend nickte er, strich mit der Hand über
Siddharthas Schulter, wandte sich zu seiner Arbeit zurück.

Und wieder einmal, als eben der Fluß in der Regenzeit geschwollen war
und mächtig rauschte, da sagte Siddhartha: "Nicht wahr, o Freund, der
Fluß hat viele Stimmen, sehr viele Stimmen?  Hat er nicht die Stimme
eines Königs, und eines Kriegers, und eines Stieres, und eines
Nachtvogels, und einer Gebärenden, und eines Seufzenden, und noch
tausend andere Stimmen?"

"Es ist so," nickte Vasudeva, "alle Stimmen der Geschöpfe sind in
seiner Stimme."

"Und weißt du," fuhr Siddhartha fort, "welches Wort er spricht, wenn
es dir gelingt, alle seine zehntausend Stimmen zugleich zu hören?"

Glücklich lachte Vasudevas Gesicht, er neigte sich gegen Siddhartha
und sprach ihm das heilige Om ins Ohr.  Und eben dies war es, was auch
Siddhartha gehört hatte.

Und von Mal zu Mal ward sein Lächeln dem des Fährmanns ähnlicher, ward
beinahe ebenso strahlend, beinahe ebenso von Glück durchglänzt, ebenso
aus tausend kleinen Falten leuchtend, ebenso kindlich, ebenso
greisenhaft.  Viele Reisende, wenn sie die beiden Fährmänner sahen,
hielten sie für Brüder.  Oft saßen sie am Abend gemeinsam beim Ufer
auf dem Baumstamm, schwiegen und hörten beide dem Wasser zu, welches
für sie kein Wasser war, sondern die Stimme des Lebens, die Stimme des
Seienden, des ewig Werdenden.  Und es geschah zuweilen, daß beide beim
Anhören des Flusses an dieselben Dinge dachten, an ein Gespräch von
vorgestern, an einen ihrer Reisenden, dessen Gesicht und Schicksal sie
beschäftigte, an den Tod, an ihre Kindheit, und daß sie beide im
selben Augenblick, wenn der Fluß ihnen etwas Gutes gesagt hatte,
einander anblickten, beide genau dasselbe denkend, beide beglückt über
dieselbe Antwort auf dieselbe Frage.

Es ging von der Fähre und von den beiden Fährleuten etwas aus, das
manche von den Reisenden spürten.  Es geschah zuweilen, daß ein
Reisender, nachdem er in das Gesicht eines der Fährmänner geblickt
hatte, sein Leben zu erzählen begann, Leid erzählte, Böses bekannte,
Trost und Rat erbat.  Es geschah zuweilen, daß einer um Erlaubnis bat,
einen Abend bei ihnen zu verweilen, um dem Flusse zuzuhören.  Es
geschah auch, daß Neugierige kamen, welchen erzählt worden war, an
dieser Fähre lebten zwei Weise, oder Zauberer, oder Heilige.  Die
Neugierigen stellten viele Fragen, aber sie bekamen keine Antworten,
und sie fanden weder Zauberer noch Weise, sie fanden nur zwei alte
freundliche Männlein, welche stumm zu sein und etwas sonderbar und
verblödet' schienen.  Und die Neugierigen lachten, und unterhielten
sich darüber, wie töricht und leichtgläubig doch das Volk solche leere
Gerüchte verbreite.

Die Jahre gingen hin und keiner zählte sie.  Da kamen einst Mönche
gepilgert, Anhänger des Gotama, des Buddha, welche baten, sie über den
Fluß zu setzen, und von ihnen erfuhren die Fährmänner, daß sie eiligst
zu ihrem großen Lehrer zurück wanderten, denn es habe sich die
Nachricht verbreitet, der Erhabene sei todkrank und werde bald seinen
letzten Menschentod sterben, um zur Erlösung einzugehen.  Nicht lange,
so kam eine neue Schar Mönche gepilgert, und wieder eine, und sowohl
die Mönche wie die meisten der übrigen Reisenden und Wanderer sprachen
von nichts anderem als von Gotama und seinem nahen Tode.  Und wie zu
einem Kriegszug oder zur Krönung eines Königs von überall und allen
Seiten her die Menschen strömen und sich gleich Ameisen in Scharen
sammeln, so strömten sie, wie von einem Zauber gezogen, dahin, wo der
große Buddha seinen Tod erwartete, wo das Ungeheure geschehen und der
große Vollendete eines Weltalters zur Herrlichkeit eingehen sollte.

Viel gedachte Siddhartha in dieser Zeit des sterbenden Weisen, des
großen Lehrers, dessen Stimme Völker ermahnt und Hunderttausende
erweckt hatte, dessen Stimme auch er einst vernommen, dessen heiliges
Antlitz auch er einst mit Ehrfurcht geschaut hatte.  Freundlich
gedachte er seiner, sah seinen Weg der Vollendung vor Augen, und
erinnerte sich mit Lächeln der Worte, welche er einst als junger Mann
an ihn, den Erhabenen, gerichtet hatte.  Es waren, so schien ihm,
stolze und altkluge Worte gewesen, lächelnd erinnerte er sich ihrer.
Längst wußte er sich nicht mehr von Gotama getrennt, dessen Lehre er
doch nicht hatte annehmen können.  Nein, keine Lehre konnte ein
wahrhaft Suchender annehmen, einer, der wahrhaft finden wollte.  Der
aber, der gefunden hat, der konnte jede, jede Lehre gutheißen, jeden
Weg, jedes Ziel, ihn trennte nichts mehr von all den tausend anderen,
welche im Ewigen lebten, welche das Göttliche atmeten.

An einem dieser Tage, da so viele zum sterbenden Buddha pilgerten,
pilgerte zu ihm auch Kamala, einst die schönste der Kurtisanen.
Längst hatte sie sich aus ihrem vorigen Leben zurückgezogen, hatte
ihren Garten den Mönchen Gotamas geschenkt, hatte ihre Zuflucht zur
Lehre genommen, gehörte zu den Freundinnen und Wohltäterinnen der
Pilgernden.  Zusammen mit dem Knaben Siddhartha, ihrem Sohne, hatte
sie auf die Nachricht vom nahen Tode Gotamas hin sich auf den Weg
gemacht, in einfachem Kleide, zu Fuß.  Mit ihrem Söhnlein war sie am
Flusse unterwegs; der Knabe aber war bald ermüdet, begehrte nach Hause
zurück, begehrte zu rasten, begehrte zu essen, wurde trotzig und
weinerlich.

Kamala mußte häufig mit ihm rasten, er war gewohnt, seinen Willen
gegen sie zu behaupten, sie mußte ihn füttern, mußte ihn trösten,
mußte ihn schelten.  Er begriff nicht, warum er mit seiner Mutter
diese mühsame und traurige Pilgerschaft habe antreten müssen, an einen
unbekannten Ort, zu einem fremden Manne, welcher heilig war und
welcher im Sterben lag.  Mochte er sterben, was ging dies den Knaben
an?

Die Pilgernden waren nicht mehr ferne von Vasudevas Fähre, als der
kleine Siddhartha abermals seine Mutter zu einer Rast nötigte.  Auch
sie selbst, Kamala, war ermüdet, und während der Knabe an einer Banane
kaute, kauerte sie sich am Boden nieder, schloß ein wenig die Augen
und ruhte.  Plötzlich aber stieß sie einen klagenden Schrei aus, der
Knabe sah sie erschrocken an und sah ihr Gesicht von Entsetzen
gebleicht, und unter ihrem Kleide hervor entwich eine kleine schwarze
Schlange, von welcher Kamala gebissen war.

Eilig liefen sie nun beide des Weges, um zu Menschen zu kommen, und
kamen bis in die Nähe der Fähre, dort sank Kamala zusammen, und
vermochte nicht weiter zu gehen.  Der Knabe aber erhob ein klägliches
Geschrei, dazwischen küßte und umhalste er seine Mutter, und auch sie
stimmte in seine lauten Hilferufe ein, bis die Töne Vasudevas Ohr
erreichten, der bei der Fähre stand.  Schnell kam er gegangen, nahm
die Frau auf die Arme, trug sie ins Boot, der Knabe lief mit, und bald
kamen sie alle in der Hütte an, wo Siddhartha am Herde stand und eben
Feuer machte.  Er blickte auf und sah zuerst das Gesicht des Knaben,
das ihn wunderlich erinnerte, an Vergessenes mahnte.  Dann sah er
Kamala, die er alsbald erkannte, obwohl sie besinnungslos im Arm des
Fährmanns lag, und nun wußte er, daß es sein eigner Sohn sei, dessen
Gesicht ihn so sehr gemahnt hatte, und das Herz bewegte sich in seiner
Brust.

Kamalas Wunde wurde gewaschen, war aber schon schwarz und ihr Leib
angeschwollen, ein Heiltrank wurde ihr eingeflößt.  Ihr Bewußtsein
kehrte zurück, sie lag auf Siddharthas Lager in der Hütte, Und über
sie gebeugt stand Siddhartha, der sie einst so sehr geliebt hatte.  Es
schien ihr ein Traum zu sein, lächelnd blickte sie in ihres Freundes
Gesicht, nur langsam erkannte sie ihre Lage, erinnerte sich des Bisses,
rief ängstlich nach dem Knaben.

"Er ist bei dir, sei ohne Sorge," sagte Siddhartha.

Kamala blickte in seine Augen.  Sie sprach mit schwerer Zunge, vom
Gift gelähmt.  "Du bist alt geworden, Lieber," sagte sie, "grau bist
du geworden.  Aber du gleichst dem jungen Samana, der einst ohne
Kleider mit staubigen Füßen zu mir in den Garten kam.  Du gleichst ihm
viel mehr, als du ihm damals glichest, da du mich und Kamaswami
verlassen hast.  In den Augen gleichst du ihm, Siddhartha.  Ach, auch
ich bin alt geworden, alt--kanntest du mich denn noch?"

Siddhartha lächelte: "Sogleich kannte ich dich, Kamala, Liebe."

Kamala deutete auf ihren Knaben und sagte: "Kanntest du auch ihn?  Er
ist dein Sohn."

Ihre Augen wurden irr und fielen zu.  Der Knabe weinte, Siddhartha
nahm ihn auf seine Knie, ließ ihn weinen, streichelte sein Haar, und
beim Anblick des Kindergesichtes fiel ein brahmanisches Gebet ihm ein,
das er einst gelernt hatte, als er selbst ein kleiner Knabe war.
Langsam, mit singender Stimme, begann er es zu sprechen, aus der
Vergangenheit und Kindheit her kamen ihm die Worte geflossen.  Und
unter seinem Singsang wurde der Knabe ruhig, schluchzte noch hin und
wieder auf und schlief ein.  Siddhartha legte ihn auf Vasudevas Lager.
Vasudeva stand am Herd und kochte Reis.  Siddhartha warf ihm einen
Blick zu, den er lächelnd erwiderte.

"Sie wird sterben," sagte Siddhartha leise.

Vasudeva nickte, über sein freundliches Gesicht lief der Feuerschein
vom Herde.

Nochmals erwachte Kamala zum Bewußtsein.  Schmerz verzog ihr Gesicht,
Siddharthas Auge las das Leiden auf ihrem Munde, auf ihren erblaßten
Wangen.  Stille las er es, aufmerksam, wartend, in ihr Leiden versenkt.
Kamala fühlte es, ihr Blick suchte sein Auge.

Ihn anblickend, sagte sie: "Nun sehe ich, daß auch deine Augen sich
verändert haben.  Ganz anders sind sie geworden.  Woran doch erkenne
ich noch, daß du Siddhartha bist?  Du bist es, und bist es nicht."

Siddhartha sprach nicht, still blickten seine Augen in die ihren.

"Du hast es erreicht?" fragte sie.  "Du hast Friede gefunden?"

Er lächelte, und legte seine Hand auf ihre.

"Ich sehe es," sagte sie, "ich sehe es.  Auch ich werde Friede finden."

"Du hast ihn gefunden," sprach Siddhartha flüsternd.

Kamala blickte ihm unverwandt in die Augen.  Sie dachte daran, daß sie
zu Gotama hatte pilgern wollen, um das Gesicht eines Vollendeten zu
sehen, um seinen Frieden zu atmen, und daß sie statt seiner nun ihn
gefunden, und daß es gut war, ebenso gut, als wenn sie jenen gesehen
hätte.  Sie wollte es ihm sagen, aber die Zunge gehorchte ihrem Willen
nicht mehr.  Schweigend sah sie ihn an, und er sah in ihren Augen das
Leben erlöschen.  Als der letzte Schmerz ihr Auge erfüllte und brach,
als der letzte Schauder über ihre Glieder lief, schloß sein Finger
ihre Lider.

Lange saß er und blickte auf ihr entschlafenes Gesicht.  Lange
betrachtete er ihren Mund, ihren alten, müden Mund mit den schmal
gewordenen Lippen, und erinnerte sich, daß er einst, im Frühling
seiner Jahre, diesen Mund einer frisch aufgebrochenen Feige verglichen
hatte.  Lange saß er, las in dem bleichen Gesicht, in den müden Falten,
füllte sich mit dem Anblick, sah sein eigenes Gesicht ebenso liegen,
ebenso weiß, ebenso erloschen, und sah zugleich sein Gesicht und das
ihre jung, mit den roten Lippen, mit dem brennenden Auge, und das
Gefühl der Gegenwart und Gleichzeitigkeit durchdrang ihn völlig, das
Gefühl der Ewigkeit.  Tief empfand er, tiefer als jemals, in dieser
Stunde die Unzerstörbarkeit jedes Lebens, die Ewigkeit jedes
Augenblicks.

Da er sich erhob, hatte Vasudeva Reis für ihn bereitet.  Doch aß
Siddhartha nicht.  Im Stall, wo ihre Ziege stand, machten sich die
beiden Alten eine Streu zurecht, und Vasudeva legte sich schlafen.
Siddhartha aber ging hinaus und saß die Nacht vor der Hütte, dem
Flusse lauschend, von Vergangenheit umspült, von allen Zeiten seines
Lebens zugleich berührt und umfangen.  Zuweilen aber erhob er sich,
trat an die Hüttentür und lauschte, ob der Knabe schlafe.

Früh am Morgen, noch ehe die Sonne sichtbar ward, kam Vasudeva aus dem
Stalle und trat zu seinem Freunde.

"Du hast nicht geschlafen," sagte er.

"Nein, Vasudeva.  Ich saß hier, ich hörte dem Flusse zu.  Viel hat er
mir gesagt, tief hat er mich mit dem heilsamen Gedanken erfüllt, mit
dem Gedanken der Einheit."

"Du hast Leid erfahren, Siddhartha, doch ich sehe, es ist keine
Traurigkeit in dein Herz gekommen."

"Nein, Lieber, wie sollte ich denn traurig sein?  Ich, der ich reich
und glücklich war, bin jetzt noch reicher und glücklicher geworden.
Mein Sohn ist mir geschenkt worden."

"Willkommen sei dein Sohn auch mir.  Nun aber, Siddhartha, laß uns an
die Arbeit gehen, viel ist zu tun.  Auf demselben Lager ist Kamala
gestorben, auf welchem einst mein Weib gestorben ist.  Auf demselben
Hügel auch wollen wir Kamalas Scheiterhaufen bauen, auf welchem ich
einst meines Weibes Scheiterhaufen gebaut habe."

Während der Knabe noch schlief, bauten sie den Scheiterhaufen.



DER SOHN

Scheu und weinend hatte der Knabe der Bestattung seiner Mutter
beigewohnt, finster und scheu hatte er Siddhartha angehört, der ihn
als seinen Sohn begrüßte und ihn bei sich in Vasudevas Hütte
willkommen hieß.  Bleich saß er tagelang am Hügel der Toten, mochte
nicht essen, verschloß seinen Blick, verschloß sein Herz, wehrte und
sträubte sich gegen das Schicksal.

Siddhartha schonte ihn und ließ ihn gewähren, er ehrte seine Trauer.
Siddhartha verstand, daß sein Sohn ihn nicht kenne, daß er ihn nicht
lieben könne wie einen Vater.  Langsam sah und verstand er auch, daß
der Elfjährige ein verwöhnter Knabe war, ein Mutterkind, und in
Gewohnheiten des Reichtums aufgewachsen, gewohnt an feinere Speisen,
an ein weiches Bett, gewohnt, Dienern zu befehlen.  Siddhartha
verstand, daß der Trauernde und Verwöhnte nicht plötzlich und
gutwillig in der Fremde und Armut sich zufrieden geben könne.  Er
zwang ihn nicht, er tat manche Arbeit für ihn, suchte stets den besten
Bissen für ihn aus.  Langsam hoffte er ihn zu gewinnen, durch
freundliche Geduld.

Reich und glücklich hatte er sich genannt, als der Knabe zu ihm
gekommen war.  Da indessen die Zeit hinfloß, und der Knabe fremd und
finster blieb, da er ein stolzes und trotziges Herz zeigte, keine
Arbeit tun wollte, den Alten keine Ehrfurcht erwies, Vasudevas
Fruchtbäume beraubte, da begann Siddhartha zu verstehen, daß mit
seinem Sohne nicht Glück und Friede zu ihm gekommen war, sondern Leid
und Sorge.  Aber er liebte ihn, und lieber war ihm Leid und Sorge der
Liebe, als ihm Glück und Freude ohne den Knaben gewesen war.  Seit der
junge Siddhartha in der Hütte war, hatten die Alten sich in die Arbeit
geteilt.  Vasudeva hatte das Amt des Fährmanns wieder allein
übernommen, und Siddhartha, um bei dem Sohne zu sein, die Arbeit in
Hütte und Feld.

Lange Zeit, lange Monate wartete Siddhartha darauf, daß sein Sohn ihn
verstehe, daß er seine Liebe annehme, daß er sie vielleicht erwidere.
Lange Monate wartete Vasudeva, zusehend, wartete und schwieg. Eines
Tages, als Siddhartha der Junge seinen Vater wieder sehr mit Trotz und
Launen gequält und ihm beide Reisschüsseln zerbrochen hatte, nahm
Vasudeva seinen Freund am Abend beiseite und sprach mit ihm.

"Entschuldige mich," sagte er, "aus freundlichem Herzen rede ich zu
dir.  Ich sehe, daß du dich quälst, ich sehe, daß du Kummer hast.
Dein Sohn, Lieber, macht dir Sorge, und auch mir macht er Sorge.  An
ein anderes Leben, an ein anderes Nest ist der junge Vogel gewöhnt.
Nicht wie du ist er dem Reichtum und der Stadt entlaufen aus Ekel und
Überdruß, er hat wider seinen Willen dies alles dahinten lassen müssen.
Ich fragte den Fluß, o Freund, vielemale habe ich ihn gefragt.  Der
Fluß aber lacht, er lacht mich aus, mich und dich lacht er aus, und
schüttelt sich über unsre Torheit.  Wasser will zu Wasser, Jugend will
zu Jugend, dein Sohn ist nicht an dem Orte, wo er gedeihen kann.
Frage auch du den Fluß, höre auch du auf ihn!"

Bekümmert blickte Siddhartha ihm in das freundliche Gesicht, in dessen
vielen Runzeln beständige Heiterkeit wohnte.

"Kann ich mich denn von ihm trennen?" sagte er leise, beschämt.  "Laß
mir noch Zeit, Lieber!  Sieh, ich kämpfe um ihn, ich werbe um sein
Herz, mit Liebe und mit freundlicher Geduld will ich es fangen.  Auch
zu ihm soll einst der Fluß reden, auch er ist berufen."

Vasudevas Lächeln blühte wärmer.  "O ja, auch er ist berufen, auch er
ist vom ewigen Leben.  Aber wissen wir denn, du und ich, wozu er
berufen ist, zu welchem Wege, zu welchen Taten, zu welchen Leiden?
Nicht klein wird sein Leiden sein, stolz und hart ist ja sein Herz,
viel müssen solche leiden, viel irren, viel Unrecht tun, sich viel
Sünde aufladen.  Sage mir, mein Lieber: du erziehst deinen Sohn nicht?
Du zwingst ihn nicht?  Schlägst ihn nicht?  Strafst ihn nicht?"

"Nein, Vasudeva, das tue ich alles nicht."

"Ich wußte es.  Du zwingst ihn nicht, schlägst ihn nicht, befiehlst
ihm nicht, weil du weißt, daß Weich stärker ist als Hart, Wasser
stärker als Fels, Liebe stärker als Gewalt.  Sehr gut, ich lobe dich.
Aber ist es nicht ein Irrtum von dir, zu meinen, daß du ihn nicht
zwingest, nicht strafest?  Bindest du ihn nicht in Bande mit deiner
Liebe?  Beschämst du ihn nicht täglich, und machst es ihm noch
schwerer, mit deiner Güte und Geduld?  Zwingst du ihn nicht, den
hochmütigen und verwöhnten Knaben, in einer Hütte bei zwei alten
Bananenessern zu leben, welchen schon Reis ein Leckerbissen ist, deren
Gedanken nicht seine sein können, deren Herz alt und still ist und
anderen Gang hat als das seine?  Ist er mit alledem nicht gezwungen,
nicht gestraft?"

Betroffen blickte Siddhartha zur Erde.  Leise fragte er: "Was, meinst
du, soll ich tun?"

Sprach Vasudeva: "Bring ihn zur Stadt, bringe ihn in seiner Mutter
Haus, es werden noch Diener dort sein, denen gib ihn.  Und wenn keine
mehr da sind, so bringe ihn einem Lehrer, nicht der Lehre wegen, aber
daß er zu anderen Knaben komme, und zu Mädchen, und in die Welt,
welche die seine ist.  Hast du daran nie gedacht?"

"Du siehst in mein Herz," sprach Siddhartha traurig.  "Oft habe ich
daran gedacht.  Aber sieh, wie soll ich ihn, der ohnehin kein sanftes
Herz hat, in diese Welt geben?  Wird er nicht üppig werden, wird er
nicht sich an Lust und Macht verlieren, wird er nicht alle Irrtümer
seines Vaters wiederholen, wird er nicht vielleicht ganz und gar in
Sansara verloren gehen?"

Hell strahlte des Fährmanns Lächeln auf; er berührte zart Siddharthas
Arm und sagte: "Frage den Fluß darüber, Freund!  Höre ihn darüber
lachen!  Glaubst du denn wirklich, daß du deine Torheiten begangen
habest, um sie dem Sohn zu ersparen?  Und kannst du denn deinen Sohn
vor Sansara schützen?  Wie denn?  Durch Lehre, durch Gebet, durch
Ermahnung?  Lieber, hast du jene Geschichte denn ganz vergessen, jene
lehrreiche Geschichte vom Brahmanensohn Siddhartha, die du mir einst
hier an dieser Stelle erzählt hast?  Wer hat den Samana Siddhartha vor
Sansara bewahrt, vor Sünde, vor Habsucht, vor Torheit?  Hat seines
Vaters Frömmigkeit, seiner Lehrer Ermahnung, hat sein eigenes Wissen,
sein eigenes Suchen ihn bewahren können?  Welcher Vater, welcher Lehrer
hat ihn davor schützen können, selbst das Leben zu leben, selbst
sich mit dem Leben zu beschmutzen, selbst Schuld auf sich zu laden,
selbst den bitteren Trank zu trinken, selber seinen Weg zu finden?

Glaubst du denn, Lieber, dieser Weg bleibe irgend jemandem vielleicht
erspart?  Vielleicht deinem Söhnchen, weil du es liebst, weil du ihm
gern Leid und Schmerz und Enttäuschung ersparen möchtest?  Aber auch
wenn du zehnmal für ihn stürbest, würdest du ihm nicht den kleinsten
Teil seines Schicksals damit abnehmen können."

Noch niemals hatte Vasudeva so viele Worte gesprochen.  Freundlich
dankte ihm Siddhartha, ging bekümmert in die Hütte, fand lange keinen
Schlaf.  Vasudeva hatte ihm nichts gesagt, das er nicht selbst schon
gedacht und gewußt hätte.  Aber es war ein Wissen, das er nicht tun
konnte, stärker als das Wissen war seine Liebe zu dem Knaben, stärker
seine Zärtlichkeit, seine Angst, ihn zu verlieren.  Hatte er denn
jemals an irgend etwas so sehr sein Herz verloren, hatte er je
irgendeinen Menschen so geliebt, so blind, so leidend, so erfolglos,
und doch so glücklich?

Siddhartha konnte seines Freundes Rat nicht befolgen, er konnte den
Sohn nicht hergeben.  Er ließ sich von dem Knaben befehlen, er ließ
sich von ihm mißachten.  Er schwieg und wartete, begann täglich den
stummen Kampf der Freundlichkeit, den lautlosen Krieg der Geduld.
Auch Vasudeva schwieg und wartete, freundlich, wissend, langmütig.  In
der Geduld waren sie beide Meister.

Einst, als des Knaben Gesicht ihn sehr an Kamala erinnerte, mußte
Siddhartha plötzlich eines Wortes gedenken, das Kamala vor Zeiten, in
den Tagen der Jugend, einmal zu ihm gesagt hatte.  "Du kannst nicht
lieben," hatte sie ihm gesagt, und er hatte ihr Recht gegeben und
hatte sich mit einem Stern, die Kindermenschen aber mit fallendem Laub
verglichen, und dennoch hatte er in jenem Wort auch einen Vorwurf
gespürt.  In der Tat hatte er niemals sich an einen anderen Menschen
ganz verlieren und hingeben können, sich selbst vergessen, Torheiten
der Liebe eines anderen wegen begehen; nie hatte er das gekonnt, und
dies war, wie ihm damals schien, der große Unterschied gewesen, der
ihn von den Kindermenschen trennte.  Nun aber, seit sein Sohn da war,
nun war auch er, Siddhartha, vollends ein Kindermensch geworden, eines
Menschen wegen leidend, einen Menschen liebend, an eine Liebe verloren,
einer Liebe wegen ein Tor geworden.  Nun fühlte auch er, spät, einmal
im Leben diese stärkste und seltsamste Leidenschaft, litt an ihr, litt
kläglich, und war doch beseligt, war doch um etwas erneuert, um etwas
reicher.

Wohl spürte er, daß diese Liebe, diese blinde Liebe zu seinem Sohn
eine Leidenschaft, etwas sehr Menschliches, daß sie Sansara sei, eine
trübe Quelle, ein dunkles Wasser.  Dennoch, so fühlte er gleichzeitig,
war sie nicht wertlos, war sie notwendig, kam aus seinem eigenen Wesen.
Auch diese Lust wollte gebüßt, auch diese Schmerzen wollten gekostet
sein, auch diese Torheiten begangen.

Der Sohn indessen ließ ihn seine Torheiten begehen, ließ ihn werben,
ließ ihn täglich sich vor seinen Launen demütigen.  Dieser Vater hatte
nichts, was ihn entzückt, und nichts, was er gefürchtet hätte.  Er war
ein guter Mann, dieser Vater, ein guter, gütiger, sanfter Mann,
vielleicht ein sehr frommer Mann, vielleicht ein Heiliger--dies alles
waren nicht Eigenschaften, welche den Knaben gewinnen konnten.
Langweilig war ihm dieser Vater, der ihn da in seiner elenden Hütte
gefangen hielt, langweilig war er ihm, und daß er jede Unart mit
Lächeln, jeden Schimpf mit Freundlichkeit, jede Bosheit mit Güte
beantwortete, das eben war die verhaßteste List dieses alten
Schleichers.  Viel lieber wäre der Knabe von ihm bedroht, von ihm
mißhandelt worden.

Es kam ein Tag, an welchem des jungen Siddhartha Sinn zum Ausbruch kam
und sich offen gegen seinen Vater wandte.  Der hatte ihm einen Auftrag
erteilt, er hatte ihn Reisig sammeln geheißen.  Der Knabe ging aber
nicht aus der Hütte, er blieb trotzig und wütend stehen, stampfte den
Boden, ballte die Fäuste, und schrie in gewaltigem Ausbruch seinem
Vater Haß und Verachtung ins Gesicht.

"Hole du selber dein Reisig!" rief er schäumend, "ich bin nicht dein
Knecht.  Ich weiß ja, daß du mich nicht schlägst, du wagst es ja nicht;
ich weiß ja, daß du mich mit deiner Frömmigkeit und deiner Nachsicht
beständig strafen und klein machen willst.  Du willst, daß ich werden
soll wie du, auch so fromm, auch so sanft, auch so weise!  Ich aber,
höre, ich will, dir zu Leide, lieber ein Straßenräuber und Mörder
werden und zur Hölle fahren, als so werden wie du!  Ich hasse dich, du
bist nicht mein Vater, und wenn du zehnmal meiner Mutter Buhle gewesen
bist!"

Zorn und Gram liefen in ihm über, schäumten in hundert wüsten und
bösen Worten dem Vater entgegen.  Dann lief der Knabe davon und kam
erst spät am Abend wieder.

Am andern Morgen aber war er verschwunden.  Verschwunden war auch ein
kleiner, aus zweifarbigem Bast geflochtener Korb, in welchem die
Fährleute jene Kupfer- und Silbermünzen aufbewahrten, welche sie als
Fährlohn erhielten.  Verschwunden war auch das Boot, Siddhartha sah es
am jenseitigen Ufer liegen.  Der Knabe war entlaufen.

"Ich muß ihm folgen," sagte Siddhartha, der seit jenen gestrigen
Schimpfreden des Knaben vor Jammer zitterte.  "Ein Kind kann nicht
allein durch den Wald gehen.  Er wird umkommen.  Wir müssen ein Floß
bauen, Vasudeva, um übers Wasser zu kommen."

"Wir werden ein Floß bauen," sagte Vasudeva, "um unser Boot wieder zu
holen, das der Junge entführt hat.  Ihn aber solltest du laufen lassen,
Freund, er ist kein Kind mehr, er weiß sich zu helfen.  Er sucht den
Weg nach der Stadt, und er hat Recht, vergiß das nicht.  Er tut das,
was du selbst zu tun versäumt hast.  Er sorgt für sich, er geht seine
Bahn.  Ach, Siddhartha, ich sehe dich leiden, aber du leidest
Schmerzen, über die man lachen möchte, über die du selbst bald lachen
wirst."

Siddhartha antwortete nicht.  Er hielt schon das Beil in Händen, und
begann ein Floß aus Bambus zu machen, und Vasudeva half ihm, die
Stämme mit Grasseilen zuzammen zu binden.  Dann fuhren sie hinüber,
wurden weit abgetrieben, zogen das Floß am jenseitigen Ufer flußauf.

"Warum hast du das Beil mitgenommen?" fragte Siddhartha.

Vasudeva sagte: "Es könnte sein, daß das Ruder unsres Bootes verloren
gegangen wäre."

Siddhartha aber wußte, was sein Freund dachte.  Er dachte, der Knabe
werde das Ruder weggeworfen oder zerbrochen haben, um sich zu rächen
und um sie an der Verfolgung zu hindern.  Und wirklich war kein Ruder
mehr im Boote.  Vasudeva wies auf den Boden des Bootes, und sah den
Freund mit Lächeln an, als wollte er sagen; "Siehst du nicht, was dein
Sohn dir sagen will?  Siehst du nicht, daß er nicht verfolgt sein
will?"  Doch sagte er dies nicht mit Worten.  Er machte sich daran,
ein neues Ruder zu zimmern.  Siddhartha aber nahm Abschied, um nach
dem Entflohenen zu suchen.  Vasudeva hinderte ihn nicht.

Als Siddhartha schon lange im Walde unterwegs war, kam ihm der Gedanke,
daß sein Suchen nutzlos sei.  Entweder, so dachte er, war der Knabe
längst voraus und schon in der Stadt angelangt, oder, wenn er noch
unterwegs sein sollte, würde er vor ihm, dem Verfolgenden, sich
verborgen halten.  Da er weiter dachte, fand er auch, daß er selbst
nicht in Sorge um seinen Sohn war, daß er im Innersten wußte, er sei
weder umgekommen, noch drohe ihm im Walde Gefahr.  Dennoch lief er
ohne Rast, nicht mehr, um ihn zu retten, nur aus Verlangen, nur um ihn
vielleicht nochmals zu sehen.  Und er lief bis vor die Stadt.

Als er nahe bei der Stadt auf die breite Straße gelangte, blieb er
stehen, am Eingang des schönen Lustgartens, der einst Kamala gehört
hatte, wo er sie einst, in der Sänfte, zum erstenmal gesehen hatte.
Das Damalige stand in seiner Seele auf, wieder sah er sich dort stehen,
jung, ein bärtiger nackter Samana, das Haar voll Staub.  Lange stand
Siddhartha und blickte durch das offne Tor in den Garten, Mönche in
gelben Kutten sah er unter den schönen Bäumen gehen.

Lange stand er, nachdenkend, Bilder sehend, der Geschichte seines
Lebens lauschend.  Lange stand er, blickte nach den Mönchen, sah statt
ihrer den jungen Siddhartha, sah die junge Kamala unter den hohen
Bäumen gehen.  Deutlich sah er sich, wie er von Kamala bewirtet ward,
wie er ihren ersten Kuß empfing, wie er stolz und verächtlich auf sein
Brahmanentum zurückblickte, stolz und verlangend sein Weltleben begann.
Er sah Kamaswami, sah die Diener, die Gelage, die Würfelspieler, die
Musikanten, sah Kamalas Singvogel im Käfig, lebte dies alles nochmals,
atmete Sansara, war nochmals alt und müde, fühlte nochmals den Ekel,
fühlte nochmals den Wunsch, sich auszulöschen, genas nochmals am
heiligen Om.

Nachdem er lange beim Tor des Gartens gestanden war, sah Siddhartha
ein, daß das Verlangen töricht war, das ihn bis zu dieser Stätte
getrieben hatte, daß er seinem Sohne nicht helfen konnte, daß er sich
nicht an ihn hängen durfte.  Tief fühlte er die Liebe zu dem
Entflohenen im Herzen, wie eine Wunde, und fühlte zugleich, daß ihm
die Wunde nicht gegeben war, um in ihr zu wühlen, daß sie zur Blüte
werden und strahlen müsse.

Daß die Wunde zu dieser Stunde noch nicht blühte, noch nicht strahlte,
machte ihn traurig.  An der Stelle des Wunschzieles, das ihn hierher
und dem entflohenen Sohne nachgezogen hatte, stand nun Leere.  Traurig
setzte er sich nieder, fühlte etwas in seinem Herzen sterben, empfand
Leere, sah keine Freude mehr, kein Ziel.  Er saß versunken, und
wartete.  Dies hatte er am Flusse gelernt, dies eine: warten, Geduld
haben, lauschen.  Und er saß und lauschte, im Staub der Straße,
lauschte seinem Herzen, wie es müd und traurig ging, wartete auf eine
Stimme.  Manche Stunde kauerte er lauschend, sah keine Bilder mehr,
sank in die Leere, ließ sich sinken, ohne einen Weg zu sehen.  Und
wenn er die Wunde brennen fühlte, sprach er lautlos das Om, füllte
sich mit Om.  Die Mönche im Garten sahen ihn, und da er viele Stunden
kauerte, und auf seinen grauen Haaren der Staub sich sammelte, kam
einer gegangen und legte zwei Pisangfrüchte vor ihm nieder.  Der Alte
sah ihn nicht.

Aus dieser Erstarrung weckte ihn eine Hand, welche seine Schulter
berührte.  Alsbald erkannte er diese Berührung, die zarte, schamhafte,
und kam zu sich.  Er erhob sich und begrüßte Vasudeva, welcher ihm
nachgegangen war.  Und da er in Vasudevas freundliches Gesicht schaute,
in die kleinen, wie mit lauter Lächeln ausgefüllten Falten, in die
heiteren Augen, da lächelte auch er.  Er sah nun die Pisangfrüchte vor
sich liegen, hob sie auf, gab eine dem Fährmann, aß selbst die andere.
Darauf ging er schweigend mit Vasudeva in den Wald zurück, kehrte zur
Fähre heim.  Keiner sprach von dem, was heute geschehen war, keiner
nannte den Namen des Knaben, keiner sprach von seiner Flucht, keiner
sprach von der Wunde.  In der Hütte legte sich Siddhartha auf sein
Lager, und da nach einer Weile Vasudeva zu Ihm trat, um ihm eine
Schale Kokosmilch anzubieten, fand er ihn schon schlafend.



OM

Lange noch brannte die Wunde.  Manchen Reisenden mußte Siddhartha über
den Fluß setzen, der einen Sohn oder eine Tochter bei sich hatte, und
keinen von ihnen sah er, ohne daß er ihn beneidete, ohne daß er dachte:
"So viele, so viel Tausende besitzen dies holdeste Glück--warum ich
nicht?  Auch böse Menschen, auch Diebe, und Räuber haben Kinder, und
lieben sie, und werden von ihnen geliebt, nur ich nicht."  So einfach,
so ohne Verstand dachte er nun, so ähnlich war er den Kindermenschen
geworden.

Anders sah er jetzt die Menschen an als früher, weniger klug, weniger
stolz, dafür wärmer, dafür neugieriger, beteiligter.  Wenn er Reisende
der gewöhnlichen Art übersetzte, Kindermenschen, Geschäftsleute,
Krieger, Weibervolk, so erschienen diese Leute ihm nicht fremd wie
einst: er verstand sie, er verstand und teilte ihr nicht von Gedanken
und Einsichten, sondern einzig von Trieben und Wünschen geleitetes
Leben, er fühlte sich wie sie.  Obwohl er nahe der Vollendung war, und
an seiner letzten Wunde trug, schien ihm doch, diese Kindermenschen
seien seine Brüder, ihre Eitelkeiten, Begehrlichkeiten und
Lächerlichkeiten verloren das Lächerliche für ihn, wurden begreiflich,
wurden liebenswert, wurden ihm sogar verehrungswürdig.  Die blinde
Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, den dummen, blinden Stolz eines
eingebildeten Vaters auf sein einziges Söhnlein, das blinde, wilde
Streben nach Schmuck und nach bewundernden Männeraugen bei einem
jungen, eitlen Weibe, alle diese Triebe, alle diese Kindereien, alle
diese einfachen, törichten, aber ungeheuer starken, stark lebenden,
stark sich durchsetzenden Triebe und Begehrlichkeiten waren für
Siddhartha jetzt keine Kindereien mehr, er sah um ihretwillen die
Menschen leben, sah sie um ihretwillen Unendliches leisten, Reisen tun,
Kriege führen, Unendliches leiden, Unendliches ertragen, und er
konnte sie dafür lieben, er sah das Leben, das Lebendige, das
Unzerstörbare, das Brahman in jeder ihrer Leidenschaften, jeder ihrer
Taten.  Liebenswert und bewundernswert waren diese Menschen in ihrer
blinden Treue, ihrer blinden Stärke und Zähigkeit.  Nichts fehlte
ihnen, nichts hatte der Wissende und Denker vor ihnen voraus als eine
einzige Kleinigkeit, eine einzige winzig kleine Sache: das Bewußtsein,
den bewußten Gedanken der Einheit alles Lebens.  Und Siddhartha
zweifelte sogar zu mancher Stunde, ob dies Wissen, dieser Gedanke so
sehr hoch zu werten, ob nicht auch er vielleicht eine Kinderei der
Denkmenschen, der Denk-Kindermenschen sein möchte.  In allem andern
waren die Weltmenschen dem Weisen ebenbürtig, waren ihm oft weit
überlegen, wie ja auch Tiere in ihrem zähen, unbeirrten Tun des
Notwendigen in manchen Augenblicken den Menschen überlegen scheinen
können.

Langsam blühte, langsam reifte in Siddhartha die Erkenntnis, das
Wissen darum, was eigentlich Weisheit sei, was seines langen Suchens
Ziel sei.  Es war nichts als eine Bereitschaft der Seele, eine
Fähigkeit, eine geheime Kunst, jeden Augenblick, mitten im Leben, den
Gedanken der Einheit denken, die Einheit fühlen und einatmen zu können.
Langsam blühte dies in ihm auf, strahlte ihm aus Vasudevas altem
Kindergesicht wider: Harmonie, Wissen um die ewige Vollkommenheit der
Welt, Lächeln, Einheit.

Die Wunde aber brannte noch, sehnlich und bitter gedachte Siddhartha
seines Sohnes, pflegte seine Liebe und Zärtlichkeit im Herzen, ließ
den Schmerz an sich fressen, beging alle Torheiten der Liebe.  Nicht
von selbst erlosch diese Flamme.

Und eines Tages, als die Wunde heftig brannte, fuhr Siddhartha über
den Fluß, gejagt von Sehnsucht, stieg aus und war Willens, nach der
Stadt zu gehen und seinen Sohn zu suchen.  Der Fluß floß sanft und
leise, es war in der trockenen Jahreszeit, aber seine Stimme klang
sonderbar: sie lachte!  Sie lachte deutlich.  Der Fluß lachte, er
lachte hell und klar den alten Fährmann aus.  Siddhartha blieb stehen,
er beugte sich übers Wasser, um noch besser zu hören, und im still
ziehenden Wasser sah er sein Gesicht gespiegelt, und in diesem
gespiegelten Gesicht war etwas, das ihn erinnerte, etwas Vergessenes,
und da er sich besann, fand er es: dies Gesicht glich einem andern,
das er einst gekannt und geliebt und auch gefürchtet hatte.  Es glich
dem Gesicht seines Vaters, des Brahmanen.  Und er erinnerte sich, wie
er vor Zeiten, ein Jüngling, seinen Vater gezwungen hatte, ihn zu den
Büßern gehen zu lassen, wie er Abschied von ihm genommen hatte, wie er
gegangen und nie mehr wiedergekommen war.  Hatte nicht auch sein Vater
um ihn dasselbe Leid gelitten, wie er es nun um seinen Sohn litt?  War
nicht sein Vater längst gestorben, allein, ohne seinen Sohn
wiedergesehen zu haben?  Mußte er selbst nicht dies selbe Schicksal
erwarten?  War es nicht eine Komödie, eine seltsame und dumme Sache,
diese Wiederholung, dieses Laufen in einem verhängnisvollen Kreise?

Der Fluß lachte.  Ja, es war so, es kam alles wieder, was nicht bis zu
Ende gelitten und gelöst ward, es wurden immer wieder dieselben Leiden
gelitten.  Siddhartha aber stieg wieder in das Boot und fuhr zu der
Hütte zurück, seines Vaters gedenkend, seines Sohnes gedenkend, vom
Flusse verlacht, mit sich selbst im Streit, geneigt zur Verzweiflung,
und nicht minder geneigt, über sich und die ganze Welt laut
mitzulachen.  Ach, noch blühte die Wunde nicht, noch wehrte sein Herz
sich wider das Schicksal, noch strahlte nicht Heiterkeit und Sieg aus
seinem Leide.  Doch fühlte er Hoffnung, und da er zur Hütte
zurückgekehrt war, spürte er ein unbesiegbares Verlangen, sich vor
Vasudeva zu öffnen, ihm alles zu zeigen, ihm, dem Meister des Zuhörens,
alles zu sagen.

Vasudeva saß in der Hütte und flocht an einem Korbe.  Er fuhr nicht
mehr mit dem Fährboot, seine Augen begannen schwach zu werden, und
nicht nur seine Augen; auch seine Arme und Hände.  Unverändert und
blühend war nur die Freude und das heitere Wohlwollen seines Gesichtes.

Siddhartha setzte sich zu dem Greise, langsam begann er zu sprechen.
Worüber sie niemals gesprochen hatten, davon erzählte er jetzt, von
seinem Gange zur Stadt, damals, von der brennenden Wunde, von seinem
Neid beim Anblick glücklicher Väter, von seinem Wissen um die Torheit
solcher Wünsche, von seinem vergeblichen Kampf wider sie.  Alles
berichtete er, alles konnte er sagen, auch das Peinlichste, alles ließ
sich sagen, alles sich zeigen, alles konnte er erzählen.  Er zeigte
seine Wunde dar, erzählte auch seine heutige Flucht, wie er übers
Wasser gefahren sei, kindischer Flüchtling, willens nach der Stadt zu
wandern, wie der Fluß gelacht habe.

Während er sprach, lange sprach, während Vasudeva mit stillem Gesicht
lauschte, empfand Siddhartha dies Zuhören Vasudevas stärker, als er es
jemals gefühlt hatte, er spürte, wie seine Schmerzen, seine
Beängstigungen hinüberflossen, wie seine heimliche Hoffnung
hinüberfloß, ihm von drüben wieder entgegenkam.  Diesem Zuhörer seine
Wunde zu zeigen, war dasselbe, wie sie im Flusse baden, bis sie kühl
und mit dem Flusse eins wurde.  Während er immer noch sprach, immer
noch bekannte und beichtete, fühlte Siddhartha mehr und mehr, daß dies
nicht mehr Vasudeva, nicht mehr ein Mensch war, der ihm zuhörte, daß
dieser regungslos Lauschende seine Beichte in sich einsog wie ein Baum
den Regen, daß dieser Regungslose der Fluß selbst, daß er Gott selbst,
daß er das Ewige selbst war.  Und während Siddhartha aufhörte, an sich
und an seine Wunde zu denken, nahm diese Erkenntnis vom veränderten
Wesen des Vasudeva von ihm Besitz, und je mehr er es empfand und
darein eindrang, desto weniger wunderlich wurde es, desto mehr sah er
ein, daß alles in Ordnung und natürlich war, daß Vasudeva schon lange,
beinahe schon immer so gewesen sei, daß nur er selbst es nicht ganz
erkannt hatte, ja daß er selbst von jenem kaum noch verschieden sei.
Er empfand, daß er den alten Vasudeva nun so sehe, wie das Volk die
Götter sieht, und daß dies nicht von Dauer sein könne; er begann im
Herzen von Vasudeva Abschied zu nehmen.  Dabei sprach er immer fort.

Als er zu Ende gesprochen hatte, richtete Vasudeva seinen freundlichen,
etwas schwach gewordenen Blick auf ihn, sprach nicht, strahlte ihm
schweigend Liebe und Heiterkeit entgegen, Verständnis und Wissen.  Er
nahm Siddharthas Hand, führte ihn zum Sitz am Ufer, setzte sich mit
ihm nieder, lächelte dem Flusse zu.

"Du hast ihn lachen hören," sagte er.  "Aber du hast nicht alles
gehört.  Laß uns lauschen, du wirst mehr hören."

Sie lauschten.  Sanft klang der vielstimmige Gesang des Flusses.
Siddhartha schaute ins Wasser, und im ziehenden Wasser erschienen ihm
Bilder: sein Vater erschien, einsam, um den Sohn trauernd; er selbst
erschien, einsam, auch er mit den Banden der Sehnsucht an den fernen
Sohn gebunden; es erschien sein Sohn, einsam auch er, der Knabe,
begehrlich auf der brennenden Bahn seiner jungen Wünsche stürmend,
jeder auf sein Ziel gerichtet, jeder vom Ziel besessen, jeder leidend.
Der Fluß sang mit einer Stimme des Leidens, sehnlich sang er,
sehnlich floß er seinem Ziele zu, klagend klang seine Stimme.

"Hörst du?" fragte Vasudevas stummer Blick.  Siddhartha nickte.

"Höre besser!" flüsterte Vasudeva.

Siddhartha bemühte sich, besser zu hören.  Das Bild des Vaters, sein
eigenes Bild, das Bild des Sohnes flossen ineinander, auch Kamalas
Bild erschien und zerfloß, und das Bild Govindas, und andre Bilder,
und flossen ineinander über, wurden alle zum Fluß, strebten alle als
Fluß dem Ziele zu, sehnlich, begehrend, leidend, und des Flusses
Stimme klang voll Sehnsucht, voll von brennendem Weh, voll von
unstillbarem Verlangen.  Zum Ziele strebte der Fluß, Siddhartha sah
ihn eilen, den Fluß, der aus ihm und den Seinen und aus allen Menschen
bestand, die er je gesehen hatte, alle die Wellen und Wasser eilten,
leidend, Zielen zu, vielen Zielen, dem Wasserfall, dem See, der
Stromschnelle, dem Meere, und alle Ziele wurden erreicht, und jedem
folgte ein neues, und aus dem Wasser ward Dampf und stieg in den
Himmel, ward Regen und stürzte aus dem Himmel herab, ward Quelle, ward
Bach, ward Fluß, strebte aufs Neue, floß aufs Neue.  Aber die
sehnliche Stimme hatte sich verändert.  Noch tönte sie, leidvoll,
suchend, aber andre Stimmen gesellten sich zu ihr, Stimmen der Freude
und des Leides, gute und böse Stimmen, lachende und trauernde, hundert
Stimmen, tausend Stimmen.

Siddhartha lauschte.  Er war nun ganz Lauscher, ganz ins Zuhören
vertieft, ganz leer, ganz einsaugend, er fühlte, daß er nun das
Lauschen zu Ende gelernt habe.  Oft schon hatte er all dies gehört,
diese vielen Stimmen im Fluß, heute klang es neu.  Schon konnte er die
vielen Stimmen nicht mehr unterscheiden, nicht frohe von weinenden,
nicht kindliche von männlichen, sie gehörten alle zusammen, Klage der
Sehnsucht und Lachen des Wissenden, Schrei des Zorns und Stöhnen der
Sterbenden, alles war eins, alles war ineinander verwoben und
verknüpft, tausendfach verschlungen.  Und alles zusammen, alle Stimmen,
alle Ziele, alles Sehnen, alle Leiden, alle Lust, alles Gute und Böse,
alles zusammen war die Welt.  Alles zusammen war der Fluß des
Geschehens, war die Musik des Lebens.  Und wenn Siddhartha aufmerksam
diesem Fluß, diesem tausendstimmigen Liede lauschte, wenn er nicht auf
das Leid noch auf das Lachen hörte, wenn er seine Seele nicht an
irgendeine Stimme band und mit seinem Ich in sie einging, sondern alle
hörte, das Ganze, die Einheit vernahm, dann bestand das große Lied der
tausend Stimmen aus einem einzigen Worte, das hieß Om: die Vollendung.

"Hörst du," fragte wieder Vasudevas Blick.

Hell glänzte Vasudevas Lächeln, über all den Runzeln seines alten
Antlitzes schwebte es leuchtend, wie über all den Stimmen des Flusses
das Om schwebte.  Hell glänzte sein Lächeln, als er den Freund
anblickte, und hell glänzte nun auch auf Siddharthas Gesicht dasselbe
Lächeln auf.  Seine Wunde blühte, sein Leid strahlte, sein Ich war in
die Einheit geflossen.

In dieser Stunde hörte Siddhartha auf, mit dem Schicksal zu kämpfen,
hörte auf zu leiden.  Auf seinem Gesicht blühte die Heiterkeit des
Wissens, dem kein Wille mehr entgegensteht, das die Vollendung kennt,
das einverstanden ist mit dem Fluß des Geschehens, mit dem Strom des
Lebens, voll Mitleid, voll Mitlust, dem Strömen hingegeben, der
Einheit zugehörig.

Als Vasudeva sich von dem Sitz am Ufer erhob, als er in Siddharthas
Augen blickte und die Heiterkeit des Wissens darin strahlen sah,
berührte er dessen Schulter leise mit der Hand, in seiner behutsamen
und zarten Weise, und sagte: "Ich habe auf diese Stunde gewartet,
Lieber.  Nun sie gekommen ist, laß mich gehen.  Lange habe ich auf
diese Stunde gewartet, lange bin ich der Fährmann Vasudeva gewesen.
Nun ist es genug.  Lebe wohl, Hütte, lebe wohl, Fluß, lebe wohl,
Siddhartha!"

Siddhartha verneigte sich tief vor dem Abschiednehmenden.

"Ich habe es gewußt," sagte er leise.  "Du wirst in die Wälder gehen?"

"Ich gehe in die Wälder, ich gehe in die Einheit," sprach Vasudeva
strahlend.

Strahlend ging er hinweg; Siddhartha blickte ihm nach.  Mit tiefer
Freude, mit tiefem Ernst blickte er ihm nach, sah seine Schritte voll
Frieden, sah sein Haupt voll Glanz, sah seine Gestalt voll Licht.



GOVINDA

Mit anderen Mönchen weilte Govinda einst während einer Rastzeit in dem
Lusthain, welchen die Kurtisane Kamala den Jüngern des Gotama
geschenkt hatte.  Er hörte von einem alten Fährmanne sprechen, welcher
eine Tagereise entfernt vom Hain am Flusse wohne, und der von vielen für
einen Weisen gehalten werde.  Als Govinda des Weges weiterzog, wählte er
den Weg zur Fähre, begierig diesen Fährmann zu sehen.  Denn ob er wohl
sein Leben lang nach der Regel gelebt hatte, auch von den Jungeren
Mönchen seines Alters und seiner Bescheidenheit wegen mit Ehrfurcht
angesehen wurde, war doch in seinem Herzen die Unruhe und das Suchen
nicht erloschen.

Er kam zum Flüsse, er bat den Alten um überfahrt, und da sie drüben
aus dem Boot stiegen, sagte er zum Alten: "Viel Gutes erweisest du uns
Mönchen und Pilgern, viele von uns hast du schon übergesetzt.  Bist
nicht auch du, Fährmann, ein Sucher nach dem rechten Pfade?"

Sprach Siddhartha, aus den alten Augen lächelnd: "Nennst du dich einen
Sucher, o Ehrwürdiger, und bist doch schon hoch in den Jahren, und
trägst das Gewand der Mönche Gotamas?"

"Wohl bin ich alt," sprach Govinda, "zu suchen aber habe ich nicht
aufgehört.  Nie werde ich aufhören zu suchen, dies scheint meine
Bestimmung.  Auch du, so scheint es mir, hast gesucht.  Willst du mir
ein Wort sagen, Verehrter?"

Sprach Siddhartha: "Was sollte ich dir, Ehrwürdiger, wohl zu sagen
haben?  Vielleicht das, daß du allzu viel suchst?  Daß du vor Suchen
nicht zum Finden kommst?"

"Wie denn?" fragte Govinda.

"Wenn jemand sucht," sagte Siddhartha, "dann geschieht es leicht, daß
sein Auge nur noch das Ding sieht, das er sucht, daß er nichts zu
finden, nichts in sich einzulassen vermag, weil er nur immer an das
Gesuchte denkt, weil er ein Ziel hat, weil er vom Ziel besessen ist.
Suchen heißt: ein Ziel haben.  Finden aber heißt: frei sein, offen
stehen, kein Ziel haben.  Du, Ehrwürdiger, bist vielleicht in der Tat
ein Sucher, denn, deinem Ziel nachstrebend, siehst du manches nicht,
was nah vor deinen Augen steht."

"Noch verstehe ich nicht ganz," bat Govinda, "wie meinst du das?"

Sprach Siddhartha: "Einst, o Ehrwürdiger, vor manchen Jahren, bist du
schon einmal an diesem Flusse gewesen, und hast am Fluß einen
Schlafenden gefunden, und hast dich zu ihm gesetzt, um seinen Schlaf
zu behüten.  Erkannt aber, o Govinda, hast du den Schlafenden nicht."

Staunend, wie ein Bezauberter, blickte der Mönch in des Fährmanns
Augen.

"Bist du Siddhartha?" fragte er mit scheuer Stimme.  "Ich hätte dich
auch diesesmal nicht erkannt!  Herzlich grüße ich dich, Siddhartha,
herzlich freue ich mich, dich nochmals zu sehen!  Du hast dich sehr
verändert, Freund.--Und nun bist du also ein Fährmann geworden?"

Freundlich lachte Siddhartha.  "Ein Fährmann, ja.  Manche, Govinda,
müssen sich viel verändern, müssen allerlei Gewand tragen, ihrer einer
bin ich, Lieber.  Sei willkommen, Govinda, und bleibe die Nacht in
meiner Hütte."

Govinda blieb die Nacht in der Hütte und schlief auf dem Lager, das
einst Vasudevas Lager gewesen war.  Viele Fragen richtete er an den
Freund seiner Jugend, vieles mußte ihm Siddhartha aus seinem Leben
erzählen.

Als es am andern Morgen Zeit war, die Tageswanderung anzutreten, da
sagte Govinda, nicht ohne Zögern, die Worte: "Ehe ich meinen Weg
fortsetze, Siddhartha, erlaube mir noch eine Frage.  Hast du eine
Lehre?  Hast du einen Glauben, oder ein Wissen, dem du folgst, das dir
leben und rechttun hilft?"

Sprach Siddhartha: "Du weißt, Lieber, daß ich schon als junger Mann,
damals, als wir bei den Büßern im Walde lebten, dazu kam, den Lehren
und Lehrern zu mißtrauen und ihnen den Rücken zu wenden.  Ich bin
dabei geblieben.  Dennoch habe ich seither viele Lehrer gehabt.  Eine
schöne Kurtisane ist lange Zeit meine Lehrerin gewesen, und ein
reicher Kaufmann war mein Lehrer, und einige Würfelspieler.  Einmal
ist auch ein wandernder Jünger Buddhas mein Lehrer gewesen; er saß bei
mir, als ich im Walde eingeschlafen war, auf der Pilgerschaft.  Auch
von ihm habe ich gelernt, auch ihm bin ich dankbar, sehr dankbar.  Am
meisten aber habe ich hier von diesem Flusse gelernt, und von meinem
Vorgänger, dem Fährmann Vasudeva.  Es war ein sehr einfacher Mensch,
Vasudeva, er war kein Denker, aber er wußte das Notwendige so gut wie
Gotama, er war ein Vollkommener, ein Heiliger."

Govinda sagte: "Noch immer, o Siddhartha, liebst du ein wenig den
Spott, wie mir scheint.  Ich glaube dir und weiß es, daß du nicht
einem Lehrer gefolgt bist.  Aber hast nicht du selbst, wenn auch nicht
eine Lehre, so doch gewisse Gedanken, gewisse Erkenntnisse gefunden,
welche dein eigen sind und die dir leben helfen?  Wenn du mir von
diesen etwas sagen möchtest, würdest du mir das Herz erfreuen."

Sprach Siddhartha: "Ich habe Gedanken gehabt, ja, und Erkenntnisse, je
und je.  Ich habe manchmal, für eine Stunde oder für einen Tag, Wissen
in mir gefühlt, so wie man Leben in seinem Herzen fühlt.  Manche
Gedanken waren es, aber schwer wäre es für mich, sie dir mitzuteilen.
Sieh, mein Govinda, dies ist einer meiner Gedanken, die ich gefunden
habe: Weisheit ist nicht mitteilbar.  Weisheit, welche ein Weiser
mitzuteilen versucht, klingt immer wie Narrheit."

"Scherzest du?" fragte Govinda.

"Ich scherze nicht.  Ich sage, was ich gefunden habe.  Wissen kann man
mitteilen, Weisheit aber nicht.  Man kann sie finden, man kann sie
leben, man kann von ihr getragen werden, man kann mit ihr Wunder tun,
aber sagen und lehren kann man sie nicht.  Dies war es, was ich schon
als Jüngling manchmal ahnte, was mich von den Lehrern fortgetrieben
hat.  Ich habe einen Gedanken gefunden, Govinda, den du wieder für
Scherz oder für Narrheit halten wirst, der aber mein bester Gedanke
ist.  Er heißt: Von jeder Wahrheit ist das Gegenteil ebenso wahr!
Nämlich so: eine Wahrheit läßt sich immer nur aussprechen und in Worte
hüllen, wenn sie einseitig ist.  Einseitig ist alles, was mit Gedanken
gedacht und mit Worten gesagt werden kann, alles einseitig, alles halb,
alles entbehrt der Ganzheit, des Runden, der Einheit.  Wenn der
erhabene Gotama lehrend von der Welt sprach, so mußte er sie teilen in
Sansara und Nirvana, in Täuschung und Wahrheit, in Leid und Erlösung.
Man kann nicht anders, es gibt keinen andern Weg für den, der lehren
will.  Die Welt selbst aber, das Seiende um uns her und in uns innen,
ist nie einseitig.  Nie ist ein Mensch, oder eine Tat, ganz Sansara
oder ganz Nirvana, nie ist ein Mensch ganz heilig oder ganz sündig.
Es scheint ja so, weil wir der Täuschung unterworfen sind, daß Zeit
etwas Wirkliches sei.  Zeit ist nicht wirklich, Govinda, ich habe dies
oft und oft erfahren.  Und wenn Zeit nicht wirklich ist, so ist die
Spanne, die zwischen Welt und Ewigkeit, zwischen Leid und Seligkeit,
zwischen Böse und Gut zu liegen scheint, auch eine Täuschung."

"Wie das?" fragte Govinda ängstlich.

"Höre gut, Lieber, höre gut!  Der Sünder, der ich bin und der du bist,
der ist Sünder, aber er wird einst wieder Brahma sein, er wird einst
Nirvana erreichen, wird Buddha sein--und nun siehe: dies 'Einst' ist
Täuschung, ist nur Gleichnis!  Der Sünder ist nicht auf dem Weg zur
Buddhaschaft unterwegs, er ist nicht in einer Entwickelung begriffen,
obwohl unser Denken sich die Dinge nicht anders vorzustellen weiß.
Nein, in dem Sünder ist, ist jetzt und heute schon der künftige Buddha,
seine Zukunft ist alle schon da, du hast in ihm, in dir, in jedem den
werdenden, den möglichen, den verborgenen Buddha zu verehren.  Die
Welt, Freund Govinda, ist nicht unvollkommen, oder auf einem langsamen
Wege zur Vollkommenheit begriffen: nein, sie ist in jedem Augenblick
vollkommen, alle Sünde trägt schon die Gnade in sich, alle kleinen
Kinder haben schon den Greis in sich, alle Säuglinge den Tod, alle
Sterbenden das ewige Leben.  Es ist keinem Menschen möglich, vom
anderen zu sehen, wie weit er auf seinem Wege sei, im Räuber und
Würfelspieler wartet Buddha, im Brahmanen wartet der Räuber.  Es gibt,
in der tiefen Meditation, die Möglichkeit, die Zeit aufzuheben, alles
gewesene, seiende und sein werdende Leben als gleichzeitig zu sehen,
und da ist alles gut, alles vollkommen, alles ist Brahman.  Darum
scheint mir das, was ist, gut, es scheint mir Tod wie Leben, Sünde wie
Heiligkeit, Klugheit wie Torheit, alles muß so sein, alles bedarf nur
meiner Zustimmung, nur meiner Willigkeit, meines liebenden
Einverständnisses, so ist es für mich gut, kann mich nur fördern, kann
mir nie schaden.  Ich habe an meinem Leibe und an meiner Seele
erfahren, daß ich der Sünde sehr bedurfte, ich bedurfte der Wollust,
des Strebens nach Gütern, der Eitelkeit, und bedurfte der
schmählichsten Verzweiflung, um das Widerstreben aufgeben zu lernen,
um die Welt lieben zu lernen, um sie nicht mehr mit irgendeiner von
mir gewünschten, von mir eingebildeten Welt zu vergleichen, einer von
mir ausgedachten Art der Vollkommenheit, sondern sie zu lassen, wie
sie ist, und sie zu lieben, und ihr gerne anzugehören.--Dies, o
Govinda, sind einige, von den Gedanken, die mir in den Sinn gekommen
sind."

Siddhartha bückte sich, hob einen Stein vom Erdbodene auf und wog ihn
in der Hand.

"Dies hier," sagte er spielend, "ist ein Stein, und er wird in einer
bestimmten Zeit vielleicht Erde sein, und wird aus Erde Pflanze werden,
oder Tier oder Mensch.  Früher nun hätte ich gesagt: Dieser Stein ist
bloß ein Stein, er ist wertlos, er gehört der Welt der Maja an; aber
weil er vielleicht im Kreislauf der Verwandlungen auch Mensch und
Geist werden kann, darum schenke ich auch ihm Geltung.  So hätte ich
früher vielleicht gedacht.  Heute aber denke ich: dieser Stein ist
Stein, er ist auch Tier, er ist auch Gott, er ist auch Buddha, ich
verehre und liebe ihn nicht, weil er einstmals dies oder jenes werden
könnte, sondern weil er alles längst und immer ist--und gerade dies,
daß er Stein ist, daß er mir jetzt und heute als Stein erscheint,
gerade darum liebe ich ihn, und sehe Wert und Sinn in jeder von seinen
Adern und Höhlungen, in dem Gelb, in dem Grau, in der Härte, im Klang,
den er von sich gibt, wenn ich ihn beklopfe, in der Trockenheit oder
Feuchtigkeit seiner Oberfläche.  Es gibt Steine, die fühlen sich wie
Öl oder wie Seife an, und andre wie Blätter, andre wie Sand, und jeder
ist besonders und betet das Om auf seine Weise, jeder ist Brahman,
zugleich aber und ebensosehr ist er Stein, ist ölig oder saftig, und
gerade das gefällt mir und scheint mir wunderbar und der Anbetung
würdig.--Aber mehr laß mich davon nicht sagen.  Die Worte tun dem
geheimen Sinn nicht gut, es wird immer alles gleich ein wenig anders,
wenn man es ausspricht, ein wenig verfälscht, ein wenig närrisch--ja,
und auch das ist sehr gut und gefällt mir sehr, auch damit bin ich
sehr einverstanden, daß das, was eines Menschen Schatz und Weisheit
ist, dem andern immer wie Narrheit klingt."

Schweigend lauschte Govinda.

"Warum hast du mir das von dem Steine gesagt?" fragte er nach einer
Pause zögernd.

"Es geschah ohne Absicht.  Oder vielleicht war es so gemeint, daß ich
eben den Stein, und den Fluß, und alle diese Dinge, die wir betrachten
und von denen wir lernen können, liebe.  Einen Stein kann ich lieben,
Govinda, und auch einen Baum oder ein Stück Rinde.  Das sind Dinge,
und Dinge kann man lieben.  Worte aber kann ich nicht lieben.  Darum
sind Lehren nichts für mich, sie haben keine Härte, keine Weiche,
keine Farben, keine Kanten, keinen Geruch, keinen Geschmack, sie haben
nichts als Worte.  Vielleicht ist es dies, was dich hindert, den
Frieden zu finden, vielleicht sind es die vielen Worte.  Denn auch
Erlösung und Tugend, auch Sansara und Nirvana sind bloße Worte,
Govinda.  Es gibt kein Ding, das Nirvana wäre; es gibt nur das Wort
Nirvana."

Sprach Govinda: "Nicht nur ein Wort, Freund, ist Nirvana.  Es ist ein
Gedanke."

Siddhartha fuhr fort: "Ein Gedanke, es mag so sein.  Ich muß dir
gestehen, Lieber: ich unterscheide zwischen Gedanken und Worten nicht
sehr.  Offen gesagt, halte ich auch von Gedanken nicht viel.  Ich
halte von Dingen mehr.  Hier auf diesem Fährboot zum Beispiel war ein
Mann mein Vorgänger und Lehrer, ein heiliger Mann, der hat manche
Jahre lang einfach an den Fluß geglaubt, sonst an nichts.  Er hatte
gemerkt, daß des Flusses Stimme zu ihm sprach, von ihr lernte er, sie
erzog und lehrte ihn, der Fluß schien ihm ein Gott, viele Jahre lang
wußte er nicht, daß jeder Wind, jede Wolke, jeder Vogel, jeder Käfer
genau so göttlich ist und ebensoviel weiß und lehren kann wie der
verehrte Fluß.  Als dieser Heilige aber in die Wälder ging, da wußte
er alles, wußte mehr als du und ich, ohne Lehrer, ohne Bücher, nur
weil er an den Fluß geglaubt hatte."

Govinda sagte: "Aber ist das, was du 'Dinge' nennst, denn etwas
Wirkliches, etwas Wesenhaftes?  Ist das nicht nur Trug der Maja, nur
Bild und Schein?  Dein Stein, dein Baum, dein Fluß--sind sie denn
Wirklichkeiten?"

"Auch dies," sprach Siddhartha, "bekümmert mich nicht sehr.  Mögen die
Dinge Schein sein oder nicht, auch ich bin alsdann ja Schein, und so
sind sie stets meinesgleichen.  Das ist es, was sie mir so lieb und
verehrenswert macht: sie sind meinesgleichen.  Darum kann ich sie
lieben.  Und dies ist nun eine Lehre, über welche du lachen wirst: die
Liebe, o Govinda, scheint mir von allem die Hauptsache zu sein.  Die
Welt zu durchschauen, sie zu erklären, sie zu verachten, mag großer
Denker Sache sein.  Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu
können, sie nicht zu verachten, sie und mich nicht zu hassen, sie und
mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten
zu können."

"Dies verstehe ich," sprach Govinda.  "Aber eben dies hat er, der
Erhabene, als Trug erkannt.  Er gebietet Wohlwollen, Schonung, Mitleid,
Duldung, nicht aber Liebe; er verbot uns, unser Herz in Liebe an
Irdisches zu fesseln."

"Ich weiß es", sagte Siddhartha; sein Lächeln strahlte golden.  "Ich
weiß es, Govinda.  Und siehe, da sind wir mitten im Dickicht der
Meinungen drin, im Streit um Worte.  Denn ich kann nicht leugnen,
meine Worte von der Liebe stehen im Widerspruch, im scheinbaren
Widerspruch zu Gotamas Worten.  Eben darum mißtraue ich den Worten so
sehr, denn ich weiß, dieser Widerspruch ist Täuschung.  Ich weiß, daß
ich mit Gotama einig bin.  Wie sollte denn auch Er die Liebe nicht
kennen, Er, der alles Menschensein in seiner Vergänglichkeit, in seiner
Nichtigkeit erkannt hat, und dennoch die Menschen so sehr liebte, daß
er ein langes, mühevolles Leben einzig darauf verwendet hat, ihnen zu
helfen, sie zu lehren!  Auch bei ihm, auch bei deinem großen Lehrer,
ist mir das Ding lieber als die Worte, sein Tun und Leben wichtiger
als sein Reden, die Gebärde seiner Hand wichtiger als seine Meinungen.
Nicht im Reden, nicht im Denken sehe ich seine Größe, nur im Tun, im
Leben."

Lange schwiegen die beiden alten Männer.  Dann sprach Govinda, indem
er sich zum Abschied verneigte: "Ich danke dir, Siddhartha, daß du mir
etwas von deinen Gedanken gesagt hast.  Es sind zum Teil seltsame
Gedanken, nicht alle sind mir sofort verständlich geworden.  Dies möge
sein, wie es wolle, ich danke dir, und ich wünsche dir ruhige Tage."

(Heimlich bei sich aber dachte er: Dieser Siddhartha ist ein
wunderlicher Mensch, wunderliche Gedanken spricht er aus, närrisch
klingt seine Lehre.  Anders klingt des Erhabenen reine Lehre, klarer,
reiner, verständlicher, nichts Seltsames, Närrisches oder Lächerliches
ist in ihr enthalten.  Aber anders als seine Gedanken scheinen mir
Siddharthas Hände und Füße, seine Augen, seine Stirn, sein Atmen, sein
Lächeln, sein Gruß, sein Gang.  Nie mehr, seit unser erhabener Gotama
in Nirvana einging, nie mehr habe ich einen Menschen angetroffen, von
dem ich fühlte: dies ist ein Heiliger. Einzig ihn, diesen Siddhartha,
habe ich so gefunden.  Mag seine Lehre seltsam sein, mögen seine Worte
närrisch klingen, sein Blick und seine Hand, seine Haut und sein Haar,
alles an ihm strahlt eine Reinheit, strahlt eine Ruhe, strahlt eine
Heiterkeit und Milde und Heiligkeit aus, welche ich an keinem anderen
Menschen seit dem letzten Tode unseres erhabenen Lehrers gesehen habe.)

Indem Govinda also dachte, und ein Widerstreit in seinem Herzen war,
neigte er sich nochmals zu Siddhartha, von Liebe gezogen.  Tief
verneigte er sich vor dem ruhig Sitzenden.

"Siddhartha", sprach er, "wir sind alte Männer geworden.  Schwerlich
wird einer von uns den andern in dieser Gestalt wiedersehen.  Ich sehe,
Geliebter, daß du den Frieden gefunden hast.  Ich bekenne, ihn nicht
gefunden zu haben.  Sage mir, Verehrter, noch ein Wort, gib mir etwas
mit, das ich fassen, das ich verstehen kann!  Gib mir etwas mit auf
meinen Weg. Er ist oft beschwerlich, mein Weg, oft finster, Siddhartha."

Siddhartha schwieg und blickte ihn mit dem immer gleichen, stillen
Lächeln an.  Starr blickte ihm Govinda ins Gesicht, mit Angst, mit
Sehnsucht, Leid und ewiges Suchen stand in seinem Blick geschrieben,
ewiges Nichtfinden.

Siddhartha sah es, und lächelte.

"Neige dich zu mir!" flüsterte er leise in Govindas Ohr.  "Neige dich
zu mir her!  So, noch näher!  Ganz nahe!  Küsse mich auf die Stirn,
Govinda!"

Während aber Govinda verwundert, und dennoch von großer Liebe und
Ahnung gezogen, seinen Worten gehorchte, sich nahe zu ihm neigte und
seine Stirn mit den Lippen berührte, geschah ihm etwas Wunderbares.
Während seine Gedanken noch bei Siddharthas wunderlichen Worten
verweilten, während er sich noch vergeblich und mit Widerstreben
bemühte, sich die Zeit hinwegzudenken, sich Nirvana und Sansara als
Eines vorzustellen, während sogar eine gewisse Verachtung für die
Worte des Freundes in ihm mit einer ungeheuren Liebe und Ehrfurcht
stritt, geschah ihm dieses:

Er sah seines Freundes Siddhartha Gesicht nicht mehr, er sah statt
dessen andre Gesichter, viele, eine lange Reihe, einen strömenden Fluß
von Gesichtern, von hunderten, von tausenden, welche alle kamen und
vergingen, und doch alle zugleich dazusein schienen, welche alle sich
beständig veränderten und erneuerten, und welche doch alle Siddhartha
waren.  Er sah das Gesicht eines Fisches, eines Karpfens, mit
unendlich schmerzvoll geöffnetem Maule, eines sterbenden Fisches, mit
brechenden Augen--er sah das Gesicht eines neugeborenen Kindes, rot
und voll Falten, zum Weinen verzogen--er sah das Gesicht eines Mörders,
sah ihn ein Messer in den Leib eines Menschen stechen--er sah, zur
selben Sekunde, diesen Verbrecher gefesselt knien und sein Haupt vom
Henker mit einem Schwertschlag abgeschlagen werden--er sah die Körper
von Männern und Frauen nackt in Stellungen und Kämpfen rasender
Liebe--er sah Leichen ausgestreckt, still, kalt, leer--er sah
Tierköpfe, von Ebern, von Krokodilen, von Elefanten, von Stieren, von
Vögeln--er sah Götter, sah Krischna, sah Agni--er sah alle diese
Gestalten und Gesichter in tausend Beziehungen zueinander, jede der
andern helfend, sie liebend, sie hassend, sie vernichtend, sie neu
gebärend, jede war ein Sterbenwollen, ein leidenschaftlich
schmerzliches Bekenntnis der Vergänglichkeit, und keine starb doch,
jede verwandelte sich nur, wurde stets neu geboren, bekam stets ein
neues Gesicht, ohne daß doch zwischen einem und dem anderen Gesicht
Zeit gelegen wäre--und alle diese Gestalten und Gesichter ruhten,
flossen, erzeugten sich, schwammen dahin und strömten ineinander, und
über alle war beständig etwas Dünnes, Wesenloses, dennoch Seiendes,
wie ein dünnes Glas oder Eis gezogen, wie eine durchsichtige Haut,
eine Schale oder Form oder Maske von Wasser, und diese Maske lächelte,
und diese Maske war Siddharthas lächelndes Gesicht, das er, Govinda,
in eben diesem selben Augenblick mit den Lippen berührte.  Und, so sah
Govinda, dies Lächeln der Maske, dies Lächeln der Einheit über den
strömenden Gestaltungen, dies Lächeln der Gleichzeitigkeit über den
tausend Geburten und Toten, dies Lächeln Siddharthas war genau
dasselbe, war genau das gleiche, stille, feine, undurchdringliche,
vielleicht gütige, vielleicht spöttische, weise, tausendfältige
Lächeln Gotamas, des Buddha, wie er selbst es hundertmal mit Ehrfurcht
gesehen hatte.  So, das wußte Govinda, lächelten die Vollendeten.

Nicht mehr wissend ob es Zeit gebe, ob diese Schauung eine Sekunde
oder hundert Jahre gewährt habe, nicht mehr wissend, ob es einen
Siddhartha, ob es einen Gotama, ob es Ich und Du gebe, im Innersten
wie von einem göttlichen Pfeile verwundet, dessen Verwundung süß
schmeckt, im Innersten verzaubert und aufgelöst, stand Govinda noch
eine kleine Weile, über Siddharthas stilles Gesicht gebeugt, das er
soeben geküßt hatte, das soeben Schauplatz aller Gestaltungen, alles
Werdens, alles Seins gewesen war.  Das Antlitz war unverändert,
nachdem unter seiner Oberfläche die Tiefe der Tausendfältigkeit sich
wieder geschlossen hatte, er lächelte still, lächelte leise und sanft,
vielleicht sehr gütig, vielleicht sehr spöttisch, genau, wie er
gelächelt hatte, der Erhabene.

Tief verneigte sich Govinda, Tränen liefen, von welchen er nichts
wußte, über sein altes Gesicht, wie ein Feuer brannte das Gefühl der
innigsten Liebe, der demütigsten Verehrung in seinem Herzen.  Tief
verneigte er sich, bis zur Erde, vor dem regungslos Sitzenden, dessen
Lächeln ihn an alles erinnerte, was er in seinem Leben jemals geliebt
hatte, was jemals in seinem Leben ihm wert und heilig gewesen war.





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Siddhartha: eine indische Dichtung" ***

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