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Title: Die drei Nüsse
Author: Brentano, Clemens, 1778-1842
Language: German
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Die drei Nüsse

Clemens Brentano



Daniel Wilhelm Möller, Professor und Bibliothekar zu Altorf, lebte im
Jahr 1665 in Kolmar als Hofmeister der drei Söhne des Bürgermeisters
Maggi.  Im Oktober dieses Jahres hatte der Bürgermeister einen
reisenden Alchimisten zum Gaste, und als bei dem Nachtische der
Abendmahlzeit unter anderm Obste auch welsche Nüsse auf die Tafel
gesetzt wurden, sprach die Gesellschaft mancherlei von den
Eigenschaften dieser Frucht.  Da aber die drei Zöglinge Möllers etwas
unmäßig zu den Nüssen griffen und sie lustig nacheinander aufknackten,
verwies Möller es ihnen freundlich und gab ihnen folgenden Vers aus
der Schola Salernitana zu verdeutschen auf: "Unica nux prodest, nocet
altera, tertia mors est."--Da übersetzten sie: "Eine Nuß nützt, die
zweite schadet, der Tod ist die dritte."  Möller aber sagte zu ihnen,
diese Übersetzung könne unmöglich die rechte sein, da sie die dritte
Nuß längst genossen und doch noch frisch und gesund seien; sie
möchten sich eines Bessern besinnen.  Kaum waren diese Worte
gesprochen, als der Alchimist mit Bestürzung plötzlich vom Tische
aufsprang und sich in der ihm angewiesenen Stube verschloß, worüber
alle Anwesende in nicht geringer Verwunderung waren.  Der jüngste
Sohn des Bürgermeisters folgte dem Fremden, um ihn auf Befehl seines
Vaters zu fragen, ob ihm etwas zugestoßen sei; da er aber die Türe
verschlossen fand, sah er durch das Schlüsselloch den Fremden auf den
Knien liegen und unter Tränen und Händeringen mehrere Male ausrufen:
"Ah, mon Dieu, mon Dieu!"

Kaum hatte der Knabe seinem Vater dies hinterbracht, als der Fremde
sich von dem Diener zu einer einsamen Unterredung melden ließ.  Alle
entfernten sich.  Da trat der Alchimist herein, fiel auf die Knie,
umfaßte die Füße des Bürgermeisters und flehte ihn unter heftigen
Tränen an: er möge ihn nicht vor Gericht bringen, er möge ihn vor
einem schmählichen Tode erretten.

Der Bürgermeister, heftig über seine Rede erschrocken, fürchtete, der
Mensch möge den Verstand verloren haben, hob ihn von der Erde auf und
bat ihn freundlich: er möge ihm sagen, wie er auf so schreckliche
Reden komme.  Da erwiderte der Fremde: "Herr, verstellen Sie sich
nicht, Sie und der Magister Möller kennen mein Verbrechen; der Vers
von den drei Nüssen beweist es: tertia mors est, die dritte ist der
Tod; ja, ja, eine bleierne Kugel war es, ein Druck des Fingers, und
er schlug nieder.  Sie haben sich verabredet, mich zu peinigen, Sie
werden mich ausliefern, ich werde durch Sie unter das Schwert kommen."

Der Bürgermeister glaubte nun die Verrücktheit des Alchimisten gewiß
und suchte ihn durch freundliches Zureden zu beruhigen.  Er aber ließ
sich nicht beruhigen und sprach: "Wenn Sie es auch nicht wissen, so
weiß es doch Ihr Hofmeister gewiß, denn er sah mich durchdringend an,
als er sagte: ›tertia mors est‹."  Nun konnte der Bürgermeister
nichts anders tun, als ihn bitten, ruhig zu Bette zu gehen, und ihm
sein Ehrenwort zu geben, daß weder er noch Möller ihn verraten würden,
wenn irgend etwas Wahres an seinem Unglücke sein sollte.  Der
Unglückliche aber wollte ihn nicht eher verlassen, bis Möller gerufen
war und ihm auch heilig beteuerte, daß er ihn nicht verraten wolle;
denn daß auch er nicht das mindeste von seinem Unglücke wisse, wollte
er sich auf keine Weise überreden lassen.

Am folgenden Morgen entschloß sich der Unglückliche, von Kolmar nach
Basel zu gehen, und bat den Magister Möller um eine Empfehlung an
einen Professor der Medizin.  Möller schrieb ihm einen Brief an den
Doktor Bauhinus und reichte ihm denselben offen, damit er keine Art
von Verdacht schöpfen könne.  Er verließ das Haus mit Tränen und
nochmaligem Flehen, ihn nicht zu verraten.

Im folgenden Jahre um dieselbe Zeit, etwa drei Wochen später, als der
Bürgermeister mit den Seinigen wieder Nüsse aß und sie sich dabei
alle lebhaft an den unglücklichen Alchimisten erinnerten, ließ sich
eine Frau bei ihm melden.  Er hieß sie hereintreten; sie war eine
Reisende in anständiger Tracht, sie trauerte und schien vom Kummer
ganz zerstört, doch hatte sie noch Spuren von großer Schönheit.  Der
Bürgermeister bot ihr einen Stuhl an, stellte ihr ein Glas Wein und
einige Nüsse vor; aber sie geriet bei dem Anblick dieser Frucht in
eine heftige Erschütterung, die Tränen liefen ihr die Wangen herab:
"Keine Nüsse, keine Nüsse!" sagte sie und schob den Teller zurück.

Diese ihre Weigerung, mit der Erinnerung an den Alchimisten, brachte
unter den Tischgenossen eine eigene Spannung hervor.  Der
Bürgermeister befahl dem Diener, die Nüsse sogleich wegzubringen, und
bat die Frau, nach einer Entschuldigung, daß er ihren Abscheu vor den
Nüssen nicht gekannt, um die Angabe des Geschäftes, das sie zu ihm
geführt.

"Ich bin die Witwe eines Apothekers aus Lyon", sagte sie, "und
wünsche mich hier in Kolmar niederzulassen.  Die traurigsten
Schicksale nötigen mich, meine Vaterstadt zu verlassen."--Der
Bürgermeister fragte sie um ihre Pässe, auf daß er versichert sein
könne, daß sie ihr Vaterland frei von allen gerichtlichen Ansprüchen
auf sie verlassen habe.  Sie übergab ihre Papiere, die in der besten
Ordnung waren und ihr den Namen der Witwe des Apothekers Pierre du
Pont oder Petrus Pontanus gaben.  Auch zeigte sie dem Bürgermeister
mancherlei Atteste der medizinischen Fakultät von Montpellier, daß
sie im Besitz der Fabrikationsrezepte vieler trefflicher Arzeneien
sei.

Der Bürgermeister versprach ihr alle mögliche Unterstützung bei ihrer
Niederlassung und bat sie, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen, wo er
ihr Empfehlungen an einige Ärzte und Apotheker der Stadt schreiben
wollte.  Als er nun die Frau die Treppe hinauf führte und oben über
den Flur weg, kam dieselbe bei dem Anblick eines kindischen Gemäldes
in eine solche Bestürzung, daß der Bürgermeister fürchtete, sie
möchte an seinem Arme ohnmächtig werden; er brachte sie schnell auf
seine Stube, und sie ließ sich unter bittern Tränen auf einen Stuhl
nieder.

Der Bürgermeister wußte die Veranlassung ihrer Gemütsbewegung nicht
und fragte sie, was ihr fehle.  Sie sagte ihm: "Mein Herr, woher
kennen Sie mein Elend, wer hat das Bild an die Stubentüre geheftet,
an welcher wir vorübergingen?"  Da erinnerte sich der Bürgermeister
an das Bild und sagte ihr, daß es die Spielerei seines jüngsten
Sohnes sei, welcher eine Neigung habe, alle Ereignisse, die ihn näher
interessierten, in solchen Malereien auf seine Art zu verewigen.  Das
Bild aber bestand darin, daß der Knabe, welcher das Jahr vorher den
Alchimisten kniend und die Hände ringend in dieser Stube: "Ah, mon
Dieu, mon Dieu!" hatte ausrufen hören, diesen in derselben Stellung
und über ihn drei Nüsse mit dem Spruche: "Unica nux prodest, nocet
altera, tertia mors est!" auf eine Pappe gemalt und an die Stubentüre,
wo der Alchimist gewohnt, befestigt hatte.

"Wie kann Ihr Sohn das schreckliche Unglück meines Mannes wissen?"
sagte die Frau; "wie kann er wissen, was ich ewig verbergen möchte,
und weswegen ich mein Vaterland verlassen habe?"

"Ihres Mannes?" erwiderte der verwunderte Bürgermeister; "ist der
Chemiker Todénus Ihr Mann?  Ich glaubte nach Ihrem Passe, daß Sie die
Witwe des Apothekers Pierre du Pont aus Lyon seien."

"Die bin ich", entgegnete die Fremde, "und der Abgebildete ist mein
Mann, du Pont; mir zeigt es die Stellung, in welcher ich ihn zuletzt
gesehen, mir zeigt es der fatale Spruch und die Nüsse über ihm."

Nun erzählte ihr der Bürgermeister den ganzen Vorfall mit dem
Alchimisten in seinem Hause und fragte sie, wie er sich befinde, wenn
er wirklich ihr Mann sei, der vielleicht unter fremdem Namen bei ihm
gewesen wäre.

"Mein Herr", erwiderte die Frau, "ich sehe wohl, das Schicksal selbst
will, daß meine Schmach nicht soll verborgen bleiben; ich erwarte von
Ihrer Rechtschaffenheit, daß Sie mein Unglück nicht zu meinem
Nachteil bekanntmachen werden.  Hören Sie mich an.  Mein Mann, der
Apotheker Pierre du Pont, war wohlhabend; er würde reich gewesen sein,
wenn er nicht durch seine Neigung zur Alchimie vieles Geld
verschwendet hätte.  Ich war jung und hatte das große Unglück, sehr
schön zu sein.  Ach, mein Herr, es gibt schier kein größeres Unglück
als dieses, weil keine Ruhe, kein Friede möglich ist, weil alles nach
einem verlangt und verzweifelt und man in solche Bedrängnisse und
Belagerungen kömmt, daß man sich manchmal gar, nur um des ekelhaften
Götzendienstes los zu werden, dem Verderben hingeben könnte.  Eitel
war ich nicht, nur unglücklich; denn ich mochte mich auch absichtlich
schlecht und entstellend kleiden, so wurde doch immer eine neue Mode
daraus, und man fand es allerliebst.  Wo ich ging und stand, war ich
von Verehrern umgeben, ich konnte vor Serenaden nicht schlafen, mußte
einen Diener halten, die Geschenke und Liebesbriefe abzuweisen, und
alle Augenblick mein Gesinde abschaffen, weil es bestochen war, mich
zu verführen.  Zwei Diener in der Apotheke meines Mannes vergifteten
einander, weil ein jeder von ihnen entdeckt hatte, daß der andere ein
Edelmann sei, der aus Leidenschaft zu mir unter fremdem Namen in
unsre Dienste gegangen war.  Alle Leute, die in unsrer Offizin Arznei
holten, waren dadurch schon im Verdacht, liebeskrank zu sein.  Ich
hatte von allem diesem nichts als Unruhe und Elend, und nur die
Freude meines Mannes an meiner Gestalt hielt mich ab, mich an meiner
Larve zu vergreifen und mich auf irgendeine Weise zu entstellen.  Oft
fragte ich ihn, ob er denn an meinem Herzen und guten Willen nicht
genug habe; er möchte mir doch erlauben, mein Gesicht, das so vieles
Unheil stifte, durch irgendein beizendes Mittel zu verderben.  Aber
er erwiderte mir immer: ›Schöne Amelie!  Ich würde verzweifeln, wenn
ich dich nicht mehr ansehen könnte; ich würde der unglücklichste
Mensch sein, wenn ich den ganzen Tag in meinem rußigen Laboratorium
vergebens geschwitzt habe und meine Augen abends nicht mehr an deinem
Anblick erquicken könnte.  Du bist der einzige klare Punkt in meiner
finstern Bestimmung, und wenn ich alle meine Hoffnung habe nach
schwerem Tagewerk zum Rauchfang hinausfliegen sehen, tritt mir alle
meine Hoffnung am Abend in deiner Schönheit wieder entgegen.‹ Er
liebte mich zärtlich, aber Gott segnete unsre Liebe nicht, wir hatten
keine Kinder.  Als ich ihm meine Trauer hierüber einst sehr lebhaft
mitteilte, ward er finster und sprach: ›So Gott will und mir nicht
alles mißlingt, wird uns auch diese Freude werden.‹ An einem Abend
kam er spät nach Hause, er war ungewöhnlich froh und gestand mir, daß
er heute mit einem sehr tief eingeweihten Adepten sich unterhalten
habe, der einen lebhaften Anteil an ihm und mir zu nehmen scheinen
und unsre Wünsche würden bald erfüllt werden.  Ich verstand ihn nicht.

Nach Mitternacht erwachte ich durch ein Geräusch; ich sah meine ganze
Stube voll fliegender, leuchtender Johanniskäfer; ich konnte nicht
begreifen, wie die Menge dieser Insekten in meine Stube gekommen sei;
ich erweckte meinen Mann und fragte ihn, was das nur zu bedeuten habe.
Zugleich sah ich auf meinem Nachttische ein prächtiges
venetianisches Glas voll der schönsten Blumen stehen und daneben neue
seidene Strümpfe, Pariser Schuhe, wohlriechende Handschuhe, Bänder
und dergleichen liegen.  Mir fiel ein, daß morgen mein Geburtstag sei,
und glaubte, mein Mann habe mir diese Galanterie gemacht, wofür ich
ihm herzlich dankte.  Er aber versicherte mir mit den heiligsten
Schwüren, daß diese Geschenke nicht von ihm herrührten, und die
heftigste Eifersucht faßte zum erstenmal in ihm Wurzel.  Er drang
bald auf die rührendste und dann wieder heftigste Weise in mich, ihm
zu erklären, wer diese Dinge hierher gebracht; ich weinte und konnte
es ihm nicht sagen.  Aber er glaubte mir nicht, befahl mir
aufzustehen, und ich mußte mit ihm das ganze Haus durchsuchen, aber
wir fanden niemand.  Er begehrte die Schlüssel meines Schreibepultes,
er durchsuchte alle meine Papiere und Briefschaften, er entdeckte
nichts.  Der Tag brach an, ich verzweifelte in Tränen.  Mein Mann
verließ mich sehr unmutig und begab sich nach seinem Laboratorium.
Ermüdet legte ich mich wieder zu Bett und dachte unter bittern Tränen
über den nächtlichen Vorfall nach; ich konnte mir auch gar nicht
einbilden, wer den Handel könne angestellt haben, und verwünschte,
indem ich mich selbst in einem Spiegel sah, der meinem Bette
gegenüberstand, meine unglückliche Schönheit; ja, ich streckte gegen
mich selbst, vor innerem Ekel, die Zunge heraus; aber leider blieb
ich schön, ich mochte Gesichter schneiden, wie ich wollte.  Da sah
ich in dem Spiegel, aus einem der neuen Schuhe, die auf dem
Nachttische standen, ein Papier hervorsehen.  Ich griff hastig
darnach und las unter heftiger Bestürzung folgendes Billett:



Geliebte Amelie!  Mein Unglück ist größer als je; Dich mußte ich
meiden bis jetzt, und nun muß ich auch das Land fliehen, in dem Du
lebst; ich habe in meiner Garnison einen Offizier im Duelle erstochen,
der sich Deiner Begünstigung rühmte; man verfolgt mich, ich bin hier
in verstellter Kleidung.  Morgen ist Dein Geburtstag; ich muß Dich
sehen, zum letzten Male sehen.  Heute abend vor dem Tore findest Du
mich in dem kleinen Wäldchen, unter den Nußbäumen, etwa hundert
Schritte vom Wege, bei der kleinen Kapelle rechts.  Wenn Du mir
einiges Geld zu meiner Hülfe mitbringen kannst, so wird Dir es Gott
vergelten.  Ich Tor habe es nicht unterlassen können, die letzten
wenigen Louisdore meines Vermögens an das kleine Geburtstagsgeschenk
zu verwenden, das Du vor Dir siehst.  Wie Du es erhalten, und was ich
dabei gelitten, sollst Du selbst von mir hören.  Schweigen mußt Du,
kommen mußt Du, oder meine Leiche wird morgen in Deine Wohnung
gebracht.

Dein unglücklicher Ludewig.



Ich las diese Zeilen mit der heftigsten Trauer; ich mußte ihn sehen,
ich mußte ihn trösten, ich mußte ihm alles bringen, was ich hatte,
denn ich liebte ihn unaussprechlich und sollte ihn auf ewig verlieren."

Hier schüttelte der Bürgermeister lächelnd den Kopf und sprach: "So
haben Sie also doch, meine Dame, für einen fremden Mann Zärtlichkeit
empfunden?"

Die Fremde erwiderte mit einem ruhigen Selbstgefühl: "Ja, mein Herr;
aber verdammen Sie mich nicht zu früh, und hören Sie meine Erzählung
ruhig aus.  Ich raffte den ganzen Tag alles, was ich an Geld und
Geschmeide hatte, zusammen und packte es in einen Bündel, den ich mir
gegen Abend von unserer Magd nach einem Badehaus in der Gegend jenes
Tores, vor welchem Ludewig mich erwarten sollte, tragen ließ.  Dieser
Weg hatte nichts Auffallendes, ich war ihn oft gegangen.  Als wir
dort angekommen waren, sendete ich meine Magd mit dem Auftrage zurück,
mir um neun Uhr einen Wagen an das Badehaus zu senden, der mich nach
Hause bringen solle.  Sie verließ mich, ich aber ging nicht in das
Badehaus, sondern begab mich mit meinem Bündelchen unter dem Arm vor
das Tor nach dem Walde, wo ich erwartet wurde.  Ich eilte nach dem
bestimmten Orte, ich trat in die Kapelle, er flog in meine Arme, wir
bedeckten uns mit Küssen, wir zerflossen in Tränen; auf den Stufen
des Altares der kleinen Kapelle, die von Nußbäumen beschattet waren,
saßen wir mit verschlungenen Armen und erzählten uns unter den
zärtlichsten Liebkosungen unsre bisherigen Schicksale.  Er
verzweifelte schier, daß er mich nun nie, nie wiedersehen sollte.
Der Abschied nahte; es war halb neun Uhr geworden, der bestellte
Wagen erwartete mich.  Ich gab ihm das Geld und die Juwelen, und er
sagte zu mir: ›Amelie, hätte ich mich nur heute nacht vor deinem
Bette erschossen, aber der Anblick deiner Schönheit im Schlafe
entwaffnete mich.  An dem Rebengeländer deines offenen Fensters bin
ich in deine Stube geklettert und habe die Johanniskäfer fliegen
lassen, an denen ich auf meiner ganzen Reise gesammelt, weil ich mich
erinnerte, daß du sie liebtest; dann legte ich dir die neuen Schuhe
und Strümpfe hin und nahm mir die mit, welche du am Abend abgelegt
hattest; dein trocknet, ehrlicher Mann schien mir über seinen tollen
Gedanken zu träumen, ich habe ihn gestern schon gesprochen, er
begegnete mir hier im Walde botanisierend; es war schon düster, und
da ich selbst Waldblumen dir zum Strauße suchte, hielt er mich für
seinesgleichen, und wir gerieten in ein langes alchimisches Gespräch.
Ich teilte ihm die Anweisung eines Mönches mit, der mich auf meiner
letzten Reise in der Provence, als ich in einem Kloster übernachtete,
lange von dem Geheimnis unterhielt, einen lebendigen Menschen auf
chemischem Wege in einem Glase heraus zu destillieren.  Dein guter
Mann nahm alles für bare Münze, umarmte mich herzlich und bat mich,
ihn bald zu besuchen, worauf er mich verließ; ach, er wußte nicht,
daß ich ihn in derselben Nacht wirklich auf halsbrechendem Wege
besuchen sollte.  Wie muß ich dich bedauern, daß du kinderlos und
eines solchen Toren Gattin bist!‹

Ich war noch unwillig auf meinen Mann wegen seiner nächtlichen
Eifersucht und sagte:›Ja, ich habe ihn als einen Toren kennengelernt.
‹ Aber da die Zeit der Trennung fast verflossen war und ich meine
Arme um ihn schlang und ausrief: ›Lebe wohl, lieber, lieber Ludewig!
Sieh, wie diese heilige Stunde des Wiedersehens verflossen ist, so
geht auch bald das ganze elende Leben dahin, habe ein wenig Geduld,
alles ist bald zu Ende‹, da brach er drei Nüsse von einem Baume bei
der Kapelle und sprach. ›Diese Nüsse wollen wir zu ewigem Angedenken
noch zusammen essen, und sooft wir Nüsse sehen, wollen wir aneinander
gedenken.‹ Er biß die erste Nuß auf, teilte sie mit mir und küßte
mich zärtlich; ›ach‹, sagte er, ›da fällt mir ein alter Reim von den
Nüssen ein, er fängt an: Unica nux prodest, eine einzige Nuß ist
nützlich; aber es ist nicht wahr, denn wir müssen bald scheiden.  Die
folgenden Worte sind wahrer: Nocet altera, die zweite schadet; jawohl,
jawohl, denn wir müssen bald scheiden!‹ Da umarmte er mich unter
heftigen Tränen und teilte die dritte Nuß mit mir und sagte: ›Bei
dieser sagt der Spruch wahr; o Amelie, vergiß mich nicht, bete für
mich!  Tertia mors est, die dritte Nuß ist der Tod!‹--Da fiel ein
Schuß, Ludewig stürzte zu meinen Füßen; ›tertia mors est!‹ schrie
eine Stimme durch das Fenster der Kapelle; ich schrie: ›O Jesus, mein
Bruder, mein armer Bruder Ludewig erschossen!‹"

"Allmächtiger Gott!  Ihr Bruder war es?" rief der Bürgermeister aus.

"Ja, es war mein Bruder", erwiderte sie ernst; "und nun erwägen Sie
mein Leid, da mein Mann, als der Mörder, mit einer Pistole vor mich
trat; er hatte noch einen Schuß in dem Gewehr, er wollte sich selbst
töten; ich aber entriß ihm die Waffe und warf sie in das Gebüsch.
›Flieh, flieh!‹ rief ich aus, ›die Gerechtigkeit verfolgt dich, du
bist ein Mörder geworden!‹ Er war in Schmerzen versteinert, er wollte
nicht von der Stelle; wir hörten Leute, die sich auf den Schuß von
der Landstraße nahten, ich gab ihm das Geld und die Geschmeide, die
ich meinem Bruder bestimmt hatte, und stieß ihn aus der Kapelle
hinaus.

Nun ließ ich meinem Wehgeschrei vollen Lauf, und die Ankommenden,
unter welchen Männer waren, die mich kannten, brachten mich, wie eine
halb Wahnsinnige, nach Hause.  Der Leichnam meines Bruders ward auf
das Rathaus gebracht; es begann eine gräßliche Untersuchung.
Glücklicherweise fiel ich in ein hitziges Fieber und war lange genug
ohne den Gebrauch meiner Sinne, um meinen Gemahl nicht eher verraten
zu können, als bis er bereits in völliger Sicherheit über der Grenze
war.  Kein Mensch zweifelte, daß er der Mörder sei, weil er an
demselben Abend verschwunden war.  Die Verleumdung fiel nun mit ihren
greulichsten Zungen über mich her.--Alles, was andre Frauen von mir
sagten, die mich meines Elends, meiner Schönheit wegen beneideten,
alle Schandreden der Männer, welche nichts an mir ärgern konnte als
meine Tugend, will ich hier nicht wiederholen; genug, wenn ich sage,
daß man mir den Beweis, der Ermordete sei mein Bruder, durch den
schändlichsten Verdacht zu erschweren suchte.  Alles wollte mich in
den Staub treten, um über meine gehässige Tugend zu triumphieren.
Dabei genoß ich der ekelhaftesten Teilnahme aller jungen Advokaten
und war im Begriffe, vor Bedrängnis und Jammer wirklich den Verstand
zu verlieren.  Auf ein Testament meines Mannes, zugunsten meiner,
ließ ich die Apotheke unter Administration setzen und zog mich auf
mehrere Jahre in ein Kloster zurück.  So verstummte endlich das
Gespräch, und ich beschäftigte mich während dieser Zeit mit der
Zubereitung der Arzneien für die Armen, welche die Klosterfrauen
verpflegten."

"Ihr Unglück rührt mich ungemein", entgegnete der Bürgermeister,
"aber die Art, wie Sie von dem Betragen ihres Bruders sprachen,
machte auch mir eher den Eindruck eines Geliebten als eines Bruders."

"O mein Herr", erwiderte die Fremde, "dies eben war eine Hauptursache
meines Leides; er liebte mich mit größerer Leidenschaft, als er
sollte, und mit der kräftigsten Seele arbeitete er dieser bösen
Gewalt meiner Schönheit entgegen.  Er sah mich manchmal in mehreren
Jahren nicht, ja, er durfte mir selbst nicht mehr schreiben; nur die
Not hatte ihn bei dem letzten Vorfalle zu mir getrieben, und so
konnte ich ihm meinen Anblick doch nicht versagen.  Mein Mann kannte
ihn nicht, und ich hatte ihn allein geheiratet, um die Leidenschaft
meines Bruders entschieden zu brechen.  Ach, er hat sie selbst
gebrochen mit seinem Leben!  Mein Mann, von seiner Eifersucht
beunruhigt, hatte sein Laboratorium früh verlassen; die Magd sagte
ihm, daß ich nach dem Badehause sei; es fuhr ihm der Gedanke an
Verrat durch die Seele, er steckte eine doppelte Pistole zu sich und
suchte mich in dem Badehause auf.  Er fand mich nicht, aber hörte die
Aussage der Bademeisterin, sie habe mich zum nahgelegenen Tore
hinausgehen sehen.  Da erinnerte er sich des Fremden, der gestern mit
ihm in dem Wäldchen geredet und ihn auch nach seiner Frau gefragt
hatte; er erinnerte sich, daß derselbe Johanniswürmer gefangen, sein
Verdacht erhielt Gewißheit; er eilte nach dem Wäldchen, nahte der
Kapelle, hörte das Ende unsrer Unterredung: tertia mors est--er
beging die schreckliche Tat."

"O, der unglückliche, arme Mann!" rief der Bürgermeister aus; "aber
wo ist er, was macht er, was führt Sie hieher, konnten Sie ihm
verzeihen, werden wir ihn hier wiedersehen?"

"Wir werden ihn nicht wiedersehen, ich habe ihm verziehen, Gott hat
ihm verziehen!" versetzte die Fremde; "aber Blut will Blut, er konnte
sich nicht selbst verzeihen!  Acht Jahre lebte er in Kopenhagen an
dem Hofe des Königs von Dänemark, Christian des Vierten, als
Hoflaborant; denn dieser Fürst war den geheimen Künsten sehr zugetan.
Nach dem Tode desselben zog er an manchen norddeutschen Höfen herum.
Er war immer unstet und von seinem Gewissen gepeinigt, und wenn er
Nüsse sah und von Nüssen hörte, fiel er oft plötzlich in die
heftigste Trauer.  So kam er endlich zu Ihnen, und als er hier den
unglücklichen Vers hörte, floh er nach Basel.  Dort lebte er, bis die
Nüsse wieder reiften; da ward seine Unruhe unaufhaltsam; seine Zeit
war abgelaufen; er reiste ab nach Lyon und lieferte sich selbst den
Gerichten aus.  Er hatte vor drei Wochen ein rührendes Gespräch mit
mir, er war gut wie ein Kind, er bat mich um Vergebung--ach, ich
hatte ihm längst vergeben.  Er sagte mir, ich solle nach seiner
schimpflichen Todesstrafe Frankreich verlassen und nach Kolmar reisen,
dort sei der Bürgermeister ein sehr redlicher Mann.  Zwei Tage
hierauf ward er unter unzähligem Volkszulauf, bei der Kapelle, wo der
Mord geschehen, enthauptet.  Er kniete nieder in dem Kreise, brach
drei Nüsse desselbigen Baums, welcher meinem Bruder die Todesnuß
getragen hatte, teilte sie alle drei mit mir und umarmte mich
nochmals zärtlich; dann brachte man mich in die Kapelle, wo ich
betend an den Altar niedersank.  Er aber sprach draußen: ›Unica nux
prodest, altera nocet, tertia mors est‹, und bei diesem letzten Worte
machte der Schwertstreich seinem elenden Leben ein Ende.--Dieses ist
meine Geschichte, Herr Bürgermeister."

Mit diesen Worten endete die Dame ihre Erzählung, der Bürgermeister
reichte ihr gerührt die Hand und sagte: "Unglückliche Frau, nehmen
Sie die Versicherung, daß ich von Ihrem Unglücke tief gerührt bin und
das Vertrauen Ihres armen Mannes auf meine Redlichkeit auf alle Weise
zu Ihrer Beruhigung wahr machen will."

Indem er dies sprach und, seine Tränen unterdrückend, auf ihre Hand
niedersah, bemerkte er einen Siegelring an ihrem Finger, der einen
lebhaften Eindruck auf ihn machte; er erkannte auf ihm ein Wappen,
das ihn ungemein interessierte.  Die Dame sagte ihm, es sei der
Siegelring ihres Bruders.--"Und sein Familienname heißt?" fragte der
Bürgermeister lebhaft.--"Piautaz", erwiderte die Fremde; "unser Vater
war ein Savoyarde und hatte einen Kram in Montpellier."

Da wurde der Bürgermeister sehr unruhig, er lief nach seinem Pulte,
er holte mehrere Papiere hervor, er las, er fragte sie um das Alter
ihres Bruders, und da sie zu ihm sagte: "Heute würde er
sechsundvierzig Jahre alt sein, wenn er noch lebte", sagte er mit
freudigem Ungestüme: "Recht, ganz recht!  Heute ist er so alt, denn
er lebt noch.  Amelie, ich bin dein Bruder!  Ich bin von der Amme
deiner Mutter gegen das Söhnlein des Mechanikus Maggi ausgewechselt
worden; dein Bruder hat dich nicht geliebt, es war Maggis Sohn, der
deines Bruders Namen trug und eines so unglücklichen Todes starb.
Wohl mir, daß ich dich fand!"

Die gute Dame konnte sich in diese Rede gar nicht finden; aber der
Bürgermeister überzeugte sie durch ein über diesen Austausch von der
Amme auf ihrem Todesbett aufgenommenes Protokoll, und sie sank ihrem
neugefundenen Bruder in die Arme.

Sie soll nachher dem Bürgermeister drei Jahre die Haushaltung geführt
haben und, als er gestorben, in das Kloster zu St. Klara in Kolmar
gegangen sein und demselben ihr ganzes Vermögen vermacht haben.





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