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Title: Jenseits der Schriftkultur — Band 1
Author: Nadin, Mihai, 1938-
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Jenseits der Schriftkultur — Band 1" ***


Jenseits der Schriftkultur
(C)1999  by Mihai Nadin


Das Zeitalter des Augenblicks

Aus dem Englischen von Norbert Greiner



Inhalt

VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
EINLEITUNG: SCHRIFTKULTUR IN EINER SICH WANDELNDEN WELT
Alternativen



Jenseits der Schriftkultur


BUCH I.

KAPITEL 1: DIE KLUFT ZWISCHEN GESTERN UND MORGEN

Kontrastfiguren
Taste wählen--drücken
Das Leben ist schneller geworden
Aufgeladene Schriftkultur
Der Mensch entwirft, der Mensch verwirft.
Jenseits der Schriftkultur
Ein bewegliches Ziel
Der weise Fuchs
"Und zwischen uns der Abgrund"
Wiedersehen mit Malthus
In den Fesseln der Schriftkultur

KAPITEL 2: DIE USA--SINNBILD FÜR DIE KULTUR DER SCHRIFTLOSIGKEIT

Dem Handel zuliebe
"Das Beste von dem, was nützlich ist und schön"
Das Rückspiegelsyndrom


BUCH II.

KAPITEL 1: VON DEN ZEICHEN ZUR SPRACHE

Wiedersehen mit semeion
Erste Zeichenspuren
Skala und Schwelle
Zeichen und Werkzeuge

KAPITEL 2: VON DER MÜNDLICHKEIT ZUR SCHRIFTLICHKEIT

Individuelles und kollektives Gedächtnis
Kulturelles Gedächtnis
Existenzrahmen
Entfremdung von der Unmittelbarkeit

KAPITEL 3: MÜNDLICHKEIT UND SCHRIFT IN UNSERER ZEIT: WAS VERSTEHEN
WIR, WENN WIR SPRACHE VERSTEHEN?

Bestätigung als Feedback
Mündlichkeit und die Anfänge der Schrift
Annahmen
Wie wichtig ist Literalität?
Was ist Verstehen?
Worte über Bilder

KAPITEL 4: DIE FUNKTIONSWEISE DER SPRACHE

Ausdruck, Kommunikation, Bedeutung
Die Gedankenmaschine
Schrift und der Ausdruck von Gedanken
Zukunft und Vergangenheit
Wissen und Verstehen
Eindeutig, zweideutig, mehrdeutig
Die Visualisierung von Gedanken
Buchstabenkulturen und Aphasie

KAPITEL 5: SPRACHE UND LOGIK

Logiken hinter der Logik
Die Pluralität intellektueller Strukturen
Die Logik von Handlungen
Sampling
Memetischer Optimismus


BUCH III.

KAPITEL 1: SCHRIFTKULTUR, SPRACHE UND MARKT

Vorbemerkungen
Products "R" Us
Die Sprache des Marktes
Die Sprache der Produkte
Handel und Schriftkultur
Wessen Markt?  Wessen Freiheit?
Neue Märkte, Neue Sprachen
Alphabetismus und das Transiente
Markt, Werbung, Schriftlichkeit

KAPITEL 2: SPRACHE UND ARBEITSWELT

Innerhalb und außerhalb der Welt
Wir sind, was wir tun
Maschine und Schriftkultur
Der Wegwerfmensch
Die Skala der Arbeit und die Skala der Sprache
Angeborene Heuristik
Alternativen
Vermittlung der Vermittlung

KAPITEL 3: SCHRIFTKULTUR, BILDUNG UND AUSBILDUNG

Das Höchste und das Beste
Das Ideal und das Leben
Relevanz
Tempel des Wissens
Kohärenz und Verbindung
Viele Fragen
Eine Kompromißformel
Kindheit
Welche Alternativen?


BUCH IV.

KAPITEL 1: SPRACHE UND BILD

Wie viele Worte in einem Blick?
Das mechanische und das elektronische Auge
Wer hat Angst vor der Lokomotive?
Hier und dort gleichzeitig
Visualisierung

KAPITEL 2: DER PROFESSIONELLE SIEGER

Sport und Selbstkonstituierung
Sprache und körperliche Leistung
Der ‘illiterate’ Athlet
Ideeller und profaner Gewinn

KAPITEL 3: WISSENSCHAFT UND PHILOSOPHIE - MEHR FRAGEN ALS ANTWORTEN

Rationalität, Vernunft und die Skala der Dinge
Die verlorene Balance
Gedanken über das Denken
Quo vadis, Wissenschaft?
Raum und Zeit: befreite Geiseln
Kohärenz und Diversität
Computationale Wissenschaft
Wie wir uns selbst wegerklären
Die Effizienz der Wissenschaft
Die Erforschung des Virtuellen
Die Sprache der Weisheit
In wissenschaftlichem Gewand
Wer braucht Philosophie und wozu?

KAPITEL 4: EIN GESPÜR FÜR DESIGN

Die Zukunft zeichnen
Die Emanzipation
Konvergenz und Divergenz
Der neue Designer
Virtuelles Design

KAPITEL 5: POLITIK: SO VIEL ANFANG WAR NOCH NIE

Die Permissivität der kommerziellen Demokratie
Wie ist es dazu gekommen?
Politische Sprachen
Kann Schriftlichkeit zum Scheitern der Politik führen?
Die Krabben haben pfeifen gelernt
Von Stammeshäuptlingen, Königen und Präsidenten
Rhetorik und Politik
Die Justiz beurteilen
Das programmierte Parlament
Eine Schlacht, die wir gewinnen müssen

KAPITEL 6: GEHORSAM IST ALLES

Der erste Krieg jenseits der Schriftkultur
Krieg als praktische Erfahrung
Das Militär als Institution
Vom schriftgebundenen zum schriftlosen Krieg
Der Nintendo-Krieg
Blicke, die töten können


BUCH V.

KAPITEL 1: DIE INTERAKTIVE ZUKUNFT: DER EINZELNE, DIE GEMEINSCHAFT
UND DIE GESELLSCHAFT IM ZEIT-ALTER DES INTERNETS

Das Überwinden der Schriftkultur
Das Sein in der Sprache
Die Mauer hinter der Mauer
Die Botschaft ist das Medium
Von der Demokratie zur Medio-kratie
Selbstorganisation
Die Lösung ist das Problem.  Oder ist das Problem die Lösung?
Der Umgang mit den Wahlmöglichkeiten
Der richtige Umgang mit den Wahlmöglichkeiten
Abwägungen
Aus Schnittstellen lernen

KAPITEL 2: EINE VORSTELLUNG VON DER ZUKUNFT

Kognitive Energie
Falsche Vermutungen
Netzwerke kognitiver Energie
Unebenheiten und Schlaglöcher
Die Universität des Zweifels
Interaktives Lernen
Die Begleichung der Rechnung
Ein Weckruf
Konsum und Interaktion
Unerwartete Gelegenheiten

NACHWORT: UMBRUCH VERLANGT UMDENKEN

LITERATURHINWEISE

PERSONENREGISTER

ÜBER DEN AUTOR



Vorwort zur deutschen Ausgabe

Unsere Welt ist in Unordnung geraten.  Die Arbeitslosigkeit ist eine
große Belastung für alle.  Sozialleistungen werden weiter drastisch
gekürzt.  Das Universitätssystem befindet sich im Umbruch.  Politik,
Wirtschaft und Arbeitswelt durchlaufen Veränderungen, die sich nicht
nach dem gewohnten ordentlichen Muster des sogenannten Fortschritts
richten.  Gleichwohl verfolgen Politiker aller Couleur politische
Programme, die mit den eigentlichen Problemen und Herausforderungen
in Deutschland (und in Europa) nicht das Geringste zu tun haben.  Das
vorliegende Buch möchte sich diesen Herausforderungen widmen, aus
einer Perspektive, die die Zwangsläufigkeit dieser Entwicklung betont.

Wenn man eine Hypothese vorstellt, benötigt man ein geeignetes
Prüffeld.  In meinen Augen ist Deutschland am besten dafür geeignet.
In keinem anderen Land der Welt läßt sich die Dramatik des Umbruchs
so unmittelbar verfolgen wie hier.  In Deutschland treffen die Kräfte
und Werte, die zu den großen historischen Errungenschaften und den
katastrophalen historischen Fehlleistungen dieses Landes geführt
haben, mit den neuen Kräften und Werten, die das Gesicht der Welt
verändern, gewissermaßen in Reinform zusammen.

An Ordnung, Disziplin und Fortschritt gewöhnt, beklagen die Bürger
heute eine allgegenwärtige lähmende Bürokratie, die von Regierung und
Verwaltung ausgeht.  Früher galt das, verbunden mit dem Namen
Bismarcks, als gute deutsche Tugend, eine der vielen
Qualitätsmaschinen „Made in Germany“.  Im Verlauf der Zeit aber wurde
der Bürger abhängig von ihr und konnte sich nicht vorstellen, jemals
ohne sie auszukommen.  Die Mehrheit schreckt vor Alternativen zurück
und möchte nicht einmal über sie nachdenken.  Geprägt von Technik und
Qualitätsarbeit ist die Vorstellung, daß das Industriezeitalter
seinem Ende entgegengeht, den meisten eine Schreckensvision.  Sie
würden eher ihre Schrebergärten hergeben als die digitale Autobahn zu
akzeptieren, die doch die Staus auf ihren richtigen Autobahnen zu den
Hauptverkehrszeiten abbauen könnte--ich betone das „könnte“.  Noch
immer lebt es sich gut durch den Export eines technischen und
wissenschaftlichen Know-how, dessen Glanzzeit allerdings vorüber ist.

Als ein hochzivilisiertes Land ist Deutschland fest entschlossen, den
barbarischen Teil seiner Vergangenheit hinter sich zu lassen.  Der
Klarheit halber sei gesagt, was ich unter barbarisch verstehe:
Hitler-Deutschland verdient keinen anderen Namen, ebensowenig wie
alle anderen Äußerungen von Aggression, Antisemitismus und Rassismus,
die noch immer nicht der Vergangenheit angehören.  Aber bis heute hat
man nicht verstanden, daß eben jene pragmatische Struktur, die die
industrielle Kraft Deutschlands begründete, auch die destruktiven
Kräfte begünstigte.  (Man denke nur an die Technologieexporte, die
die wahnsinnigen Führer ölreicher Länder erst jüngst in die Hände
bekommen haben.) Das wiedervereinigte Deutschland ist bereit, in
einer Welt mit globalen Aufgaben und globalen Problemen Verantwortung
zu übernehmen.  Es setzt sich unter anderem für den Schutz des
tropischen Regenwaldes ein und zahlt für Werte--den Schutz der
Umwelt--statt für Produkte.  Aber die politischen Führer Deutschlands
und mit ihnen große Teile der Bevölkerung haben noch nicht begriffen,
daß der Osten des Landes nicht unbedingt ein Duplikat des Westens
werden muß, damit beide Teile zusammenpassen.  Differenz, d. h.
Andersartigkeit, ist eine Qualität, die sich in Deutschland keiner
großen Wertschätzung erfreut.  Verlorene Chancen sind der Preis, den
Deutschland für diese preußische Tugend der Gleichmacherei bezahlen
muß.

Die englische Originalfassung dieses Buches wurde 1997 auf der
Leipziger Buchmesse vorgestellt und in der Folge von der Kritik
wohlwollend aufgenommen.  Dank der großzügigen Unterstützung durch
die Mittelsten-Scheid Stiftung Wuppertal und die Alfred und Cläre
Pott Stiftung Essen, für die ich an dieser Stelle noch einmal Dank
sage, konnte dann Anfang 1998 die Realisierung des von Beginn an
bestehenden Plans einer deutschsprachigen Ausgabe konkret ins Auge
gefaßt werden.  Und nachdem Prof. Dr. Norbert Greiner, bei dem ich
mich hier ebenfalls herzlich bedanken möchte, für die Übersetzung
gewonnen war, konnte zügig an die Erarbeitung einer gegenüber der
englischen Ausgabe deutlich komprimierten und stärker auf den
deutschsprachigen Diskussionskontext zugeschnittenen deutschen
Ausgabe gegangen werden.  Einige Kapitel der Originalausgabe sind in
der deutschsprachigen Edition entfallen, andere wurden stark
überarbeitet.  Entfallen sind vor allem solche Kapitel, die sich in
ihren inhaltlichen Bezügen einem deutschen Leser nicht unmittelbar
erschließen würden.  Ein Nachwort, das sich ausschließlich an die
deutschen Leser wendet, wurde ergänzt.

Die deutsche Fassung ist also eigentlich ein anderes Buch.  Wer das
Thema erweitern und vertiefen möchte, ist selbstverständich
eingeladen, auf die englische Version zurückzugreifen, in die 15
Jahre intensiver Forschung, Beobachtung und Erfahrung mit der neuen
Technologie und der amerikanischen Kultur eingegangen sind.  Ein
Vorzug der kompakten deutschen Version liegt darin, daß die jüngsten
Entwicklungen--die so schnell vergessen sein werden wie alle anderen
Tagesthemen--„Fortsetzungen“ meiner Argumente darstellen und sie
gewissermaßen kommentieren.  Sie haben wenig miteinander zu tun und
sind dennoch in den folgenden Kapiteln antizipiert: Guildos Auftritt
beim Grand Prix d’Eurovision (liebt er uns eigentlich immer noch, und
warum ist das so wichtig?), die enttäuschende Leistung der deutschen
Nationalmannschaft bei der Fußballweltmeisterschaft (standen sich im
Endspiel Brasilien und Frankreich oder Nike und Adidas gegenüber?),
die Asienkrise, das Ergebnis der Bundestagswahlen, der Euro, neue
Entwicklungen in Wissenschaft und Technologie, die jüngsten
Arbeitslosenzahlen, die Ökosteuer und vieles mehr.  Wer sich der Mühe
einer gründlichen Lektüre des vorliegenden Buches unterzieht, wird
sich auf diese Entwicklungen einen eigenen Reim machen können, sehr
viel besser als die Mediengurus, die uns das Denken abnehmen wollen.
Zumindest wird er über die wortreichen Artikel halbgebildeter
Akademiker und opportunistischer Journalisten schmunzeln, die allzeit
bereit sind, anderen zu erklären, was sie selbst nicht verstehen.

Wie in der englischen Version möchte ich auch meine deutschen Leser
einladen, mit mir in Kontakt zu treten und mir ihre kritischen
Kommentare oder Fragen per e-mail zukommen zu lassen: nadin@acm.org.
Im Einklang mit dem Ziel des Buches, für die Kommunikation jenseits
der Schriftkultur das schriftkulturelle Eins-zu-Viele-Verhältnis
(Autor:Leser) zu überwinden, wird für dieses Buch im World Wide Web
ein Forum eingerichtet.  Die Zukunft gehört der Interaktion zwischen
Vielen.

Wuppertal, im November 1998

Mihai Nadin



Einleitung

Schriftkultur in einer sich wandelnden Welt

Alternativen


Wenn wir uns mit der Sprache befassen, befassen wir uns mit uns
selbst, als Person und als Gattung.  Wir sehen uns heute vielen
Bedrohungen ausgesetzt--Terrorismus, AIDS, Armut, Rassismus, große
Flüchtlingsströme--, aber eine dieser ernsthaften Bedrohungen scheint
am leichtesten zu ertragen zu sein: Schriftlosigkeit und
schriftkulturelle Unbildung.  Dieses Buch verkündet das Ende der
Schriftkultur und versucht, die unglaublichen Kräfte zu erklären, die
die beunruhigenden Veränderungen in unserer Welt vorantreiben.  Das
Ende der Schriftkultur--also die Kluft zwischen einem noch gar nicht
so weit zurückliegenden Gestern und einem aufregenden, aber auch
verwirrenden Morgen--zu verstehen, ist offensichtlich schwerer, als
mit ihm zu leben.  Die Tatsache des Umbruchs nicht anerkennen zu
wollen, erleichtert das Verstehen nicht gerade.  Wir sehen alle, daß
die schriftkulturelle Sprache nicht so funktioniert, wie sie nach
Meinung unserer Lehrer eigentlich funktionieren sollte, und wir
fragen uns, was wir dagegen tun können.  Eltern glauben, daß bessere
Schulen mit besseren Lehrern Abhilfe schaffen könnten.  Die Lehrer
schieben die Schuld auf die Familie und fordern höhere Ausgaben im
Bildungssektor.  Professoren klagen über schlechte Motivation und
Vorbildung der Studienanfänger.  Verleger suchen angesichts der neuen,
miteinander konkurrierenden Ausdrucks- und Kommunikationsformen nach
neuen Verlagsstrategien.  Juristen, Journalisten, Berufssoldaten und
Politiker zeigen sich über die Rolle und die Funktion der Sprache in
der Gesellschaft besorgt.  Vermutlich sind sie jedoch eher besorgt um
ihre eigene Rolle und die Funktion der von ihnen repräsentierten
Institutionen in der Gesellschaft und setzen alles daran, die
Strukturen einer Lebenspraxis zu festigen, die nicht nur die
Schriftkultur, sondern vor allem ihre eigene Machtposition und ihren
Einfluß stärken.  Die wenigen, die daran glauben, daß die
Schriftkultur nicht nur Fertigkeiten, sondern auch Ideale und Werte
vermittelt, sehen gar unsere Zivilisation auf dem Spiel stehen und
fürchten angesichts der abnehmenden traditionellen Bildungsstandards
das Schlimmste.  Niemand redet von Zukunftschancen und ungeahnten
Möglichkeiten.

Über das Beschreiben der Symptome kommt man dabei nicht hinaus:
Abnahme der allgemeinen Lese- und Schreibfähigkeit (in den USA
erreicht die sogenannte

functional illiteracy fast 50%); eine alarmierende Zunahme
vorgefertigter Sprachhülsen (Sprachklischees, vorgefertigte
Mitteilungen); die verbreitete Vorliebe für visuelle Medien anstelle
der Sprache (besonders Fernsehen und Video).  Neben der Forschung zu
diesen Fragen gibt es massive öffentliche Kampagnen zur Stärkung
aller möglichen schriftkulturellen Unternehmungen: Unterricht für
Analphabeten, zusätzlicher Sprachunterricht auf allen Ebenen und
Öffentlichkeitsarbeit, die für dieses Problem sensibilisieren soll.
Was immer diese Aktionen bewirken mögen, sie helfen nicht zu
verstehen, daß es sich bei alldem um eine zwangsläufige Entwicklung
handelt.  Die historischen und systematischen Aspekte der
Schriftkultur und der zurückgehenden Sprachkenntnisse bleiben
unbeachtet.

Mein Interesse an diesen Fragen ist durch zwei persönliche Umstände
geweckt worden: Zum einen bin ich in einer osteuropäischen Kultur
aufgewachsen, die trotzig an den strengen Strukturen der
Schriftkultur festhielt.  Zum andern habe ich den anderen Teil meines
bisherigen Lebens dem Bereich gewidmet, den man heute die neuen
Technologien nennt.  Ich kam schließlich in die Vereinigten Staaten,
in ein Land mit unstrukturierter und brüchiger Schriftkultur und
unglaublicher, zukunftsgerichteter Dynamik.  Ich lebte mit denen
zusammen, die unter den Folgen eines schlechten Bildungssystems zu
leiden hatten und denen gleichzeitig diese neuen Möglichkeiten
offenstanden.  Die meisten von ihnen hatten keinerlei Kontakt zu dem,
was an Schulen und Universitäten vor sich ging.  Das war der Anlaß
für mich, wie für viele andere auch, über Alternativen nachzudenken.

Alles, was die Menschen in meiner neuen Lebensumgebung
taten--Einkaufen, Arbeiten, Spiel und Sport, Reisen, Kirchgang und
selbst die Liebe--, geschah mit einem Gefühl der Unmittelbarkeit.
Als Anbeter des Augenblicks standen meine neuen Landsleute in
scharfem Kontrast zu den Menschen des europäischen Kontinents, von
denen ich kam und deren Ziel in der Dauerhaftigkeit liegt--ihrer
Familie, ihrer Arbeit, ihrer Werte, ihrer Arbeitsmittel, ihres Zu
Hauses, ihrer Heimat, ihrer Autos und ihrer Häuser.  In den USA ist
alles gegenwärtig.  An Fernsehsendungen und Werbung ist das sofort zu
erkennen.  Aber auch die Lebensdauer von Büchern wird bestimmt von
den Bestsellerlisten.  Der Markt feiert heute den Erfolg eines
Unternehmens, das es morgen nicht mehr gibt.  Alle anderen, wichtigen
und alltäglichen, Ereignisse des Lebens, alle Modetrends, die
Produkte der Popkultur, überhaupt alle Produkte sind dieser Fixierung
auf den Augenblick unterworfen.  Sprache und Schriftkultur können
sich diesem Prinzip des Wandels nicht entziehen.  Als
Universitätsprofessor stand ich an der Front, an der der Kampf um die
Schriftkultur ausgetragen wurde.  Hier begriff ich, daß bessere
Studienpläne, besser bezahlte Dozenten und bessere und billigere
Lehrbücher zwar einiges bewirken könnten, aber letztlich an der
Misere nichts ändern würden.

Der Niedergang der Schriftkultur ist ein allumfassendes Phänomen, das
sich nicht auf die Qualität des Bildungssystems, auf die
Wirtschaftskraft eines Landes, auf den Status sozialer, ethnischer
oder religiöser Gruppen, auf das politische System oder auf die
Kulturgeschichte reduzieren läßt.  Es gab menschliches Leben vor der
Schriftkultur, und es wird es jenseits von ihr geben.  Es hat im
übrigen bereits begonnen.  Wir sollten nicht vergessen, daß die
Schriftkultur eine relativ junge Errungenschaft der Menschen ist. 99%
der Menschheitsgeschichte liegen vor der Schriftkultur.  Ich
bezweifele, daß historische Kontinuität eine Voraussetzung der
Schriftkultur ist.  Wenn wir indessen begreifen, was das Ende der
Schriftkultur in seinen praktischen Auswirkungen bedeutet, können wir
die Klagen vergessen und uns aktiv auf eine Zukunft einrichten, von
der alle nur profitieren können.  Wenn wir etwas genauere
Vorstellungen von dem entwickeln würden, was sich am Horizont
abzuzeichnen beginnt, könnten wir vor allem ein besseres,
effektiveres Bildungssystem entwerfen.  Wir wüßten dann auch, was die
einzelnen Menschen brauchen, um sich in ihrer Mannigfaltigkeit in
dieser Welt erfolgreich zurechtzufinden.  Verbesserte menschliche
Interaktion, für die es mittlerweile ausreichende technologische
Möglichkeiten gibt, sollte dabei im Mittelpunkt stehen.

Es liegt natürlich eine gewisse Ironie in dem Umstand, daß jede
Veröffentlichung über die Möglichkeiten jenseits der Schriftkultur
ausgerechnet denen, um die es uns dabei besonders geht, nicht
zugänglich ist.  Von den vielen Millionen derer, die im Internet
aktiv sind, lesen die meisten höchstens einen aus drei Sätzen
bestehenden Absatz.  Die Aufmerksamkeitsspanne von Studierenden ist
nicht wesentlich kürzer als die ihrer Dozenten: eine Druckseite.
Gesetzgeber und Bürokraten verlassen sich bei längeren Texten auf die
Zusammenfassungen ihrer Mitarbeiter.  Ein halbminütiger
Fernsehbericht übt größeren Einfluß aus als ein ausführlicher
vierspaltiger Leitartikel.  Eine weitere Ironie liegt natürlich darin,
daß das vorliegende Buch Argumente vorstellt, die in ihrer logischen
Abfolge von den Konventionen des Schreibens und Lesens abhängen.  Als
Medium der Konstituierung und Interpretation von Geschichte
beeinflußt die Schrift natürlich Art und Inhalt unseres Denkens.

Ich will daher vorausschicken, gewissermaßen um mir selbst Mut zu
machen, daß das Ende der Schriftkultur nicht gleichbedeutend mit
ihrem völligen Verschwinden ist.  Die Wissenschaft von der
Schriftkultur wird eine neue Disziplin, so wie Sanskrit oder
Klassische Philologie eine sind.  Für andere wird sie ein Beruf
bleiben, wie sie es jetzt schon für Herausgeber, Korrektoren und
Schriftsteller ist.  Für die Mehrheit wird sie fortbestehen als eine
von vielen Spezialsprachen und Bildungsformen, als eine von vielen
Literalitäten, die uns den Gebrauch und die Integration der neuen
Medien und der neuen Kommunikations- und Interpretationsformen
erleichtern.  Der Utopist in mir sagt, daß wir die Schriftkultur neu
erfinden und damit retten werden, denn sie hat eine entscheidende
Rolle bei der Entwicklung zur neuen Zivilisation gespielt.  Der
Realist in mir erkennt, daß neue Zeiten und neue Herausforderungen,
um ihre Komplexität in den Griff zu bekommen, neue Mittel erfordern.
Unser Widerwillen, den Umbruch zu akzeptieren, wird ihn nicht
verhindern.  Er wird uns nur daran hindern, ihn mit zu gestalten und
das Beste daraus zu machen.

Das vorliegende Buch möchte keine Schöne Neue Welt verkünden, in der
die Menschen zwar weniger wissen, aber doch alles das wissen, was sie
im Bedarfsfall wissen müssen.  Es handelt auch nicht von Menschen,
die--oberflächlich, mittelmäßig und extrem
wettbewerbsorientiert--sich leicht auf Veränderung einstellen.  Es
beschäftigt sich vielmehr mit der Sprache und mit Bereichen, die von
ihr wesentlich erfaßt sind: Politik, Bildung, Markt, Krieg, Sport und
vieles mehr.  Es ist ein Buch über das Leben, das wir den Wörtern
beim Sprechen, Schreiben und Lesen verleihen.  Wir geben aber auch
Bildern, Tönen, Zeichengebilden, Multimedien und virtuellen
Realitäten Leben, wenn wir uns in neue Interaktionsformen einbinden.
Die Grenzen der Schriftkultur in praktischen Tätigkeiten zu
überschreiten, für deren Ausführung die Schriftkultur keine
ausreichenden Mittel zur Verfügung stellen kann, heißt letztlich, in
eine neue Zivilisationsphase hineinzuwachsen.  Jenseits der
Schriftkultur?  Zunächst möchte ich meinen methodischen Ansatz
darlegen.  Die Sprache erfaßt den Menschen in allen seinen Aspekten:
den biologischen Anlagen, seinem Raum- und Zeitverständnis, seinen
kognitiven und manuellen Fähigkeiten, seinem Gefühlshaushalt, seiner
Empfindungskraft, seiner Gesellschaftlichkeit und seinem Hang zur
politischen Organisation des Lebens.  Am deutlichsten aber tritt
unser Verhältnis zur Sprache in der Lebenspraxis zutage.  Unsere
beständige Selbstkonstituierung durch das, was wir tun, warum wir es
tun und wie wir es tun--unsere Lebenspraxis also--vollzieht sich
mittels der Sprache, ist aber nicht darauf zu reduzieren.  Die hier
verwendete pragmatische Perspektive greift auf Charles Sanders Peirce
zurück.  Die semiotischen Implikationen meiner Überlegungen beziehen
sich auf sein Werk.  Er verfolgt die Frage, wie Wissen zu gemeinsamem
Wissen wird: nur über die Träger unseres Wissens--alle von uns
gebildeten Zeichenträger--können wir ermitteln, wie die Ergebnisse
unseres Denkens in unsere Handlungen und Theorien eingehen.

Die Sprache und die Bildung und Formulierung von Gedanken ist allein
dem Menschen eigen.  Sie machen einen wesentlichen Teil der
kognitiven Dimension seiner Lebenspraxis aus.  Wir scheinen über die
Sprache so zu verfügen wie über unsere Sinne.  Aber hinter der
Sprache steht ein langer Prozeß der menschlichen Selbstkonstituierung,
der die Sprache erst möglich und schließlich notwendig machte.
Dieser Prozeß bot letztendlich auch die Mittel, uns in dem Maße als
schriftkulturell gebildet zu konstituieren, wie es die jeweiligen
Lebensumstände erforderten.  Es sieht nur so aus, als sei die Sprache
ein nützliches Instrument; in Wirklichkeit ergibt sie sich aus
unserem lebenspraktischen Zusammenhang.  Wir können einen Hammer oder
einen Computer benutzen, aber wir sind unsere Sprache.  Und die
Erfahrung der Sprache erstreckt sich auf die Erfahrung der ihr
eigenen Logik und der von ihr und der Schriftkultur geschaffenen
Institutionen.  Diese wiederum beeinflussen rückwirkend unser
Dasein--das, was wir denken, was wir tun und warum wir es tun; so wie
auch alle Werkzeuge, Geräte und Maschinen und alle Menschen, zu denen
wir in Beziehung treten, unser Dasein beeinflussen.  Die Interaktion
mit anderen Menschen, mit der Natur oder mit Gegenständen, die wir
geschaffen haben, beeinflussen alle auf ihre Weise die praktische
Selbstkonstituierung unserer Identität.

Die schriftkulturelle Verwendung von Sprache hat unsere kognitiven
Fähigkeiten entscheidend erweitert.  Vieles unterliegt dieser
schriftkulturellen Praxis: Tradition, Kultur, Gedanken und Gefühle,
Literatur, die Herausbildung politischer, wissenschaftlicher und
künstlerischer Projekte, Moral und Ethik, Justiz.  Ich verwende einen
weiten Begriff von Schriftkultur, der ihre vielen über die Zeit
herausgebildeten Facetten abdecken soll.  Wer daran Anstoß nimmt,
sollte sich die enormen Wirkungsbereiche der Schriftlichkeit in
unserer Kultur vor Augen halten.  Das Gegenteil dieses Begriffs ist
fast immer mit negativen Konnotationen belastet--nicht
schriftkulturell gebildet zu sein, gilt als schädlich oder peinlich.
Wir können also, ohne unsere Werte und Denkweisen genauer zu
verstehen, auch nicht nachvollziehen, wie sich der Weg in die
"Schriftkulturlosigkeit" als Fortschritt begreifen läßt.  Viele
Menschen empfinden sich als Teil einer post-schriftkulturellen
Gesellschaft, möchten sich aber nicht als ungebildet bezeichnen
lassen.  [Im übrigen ist hier mit Blick auf die deutsche Ausgabe ein
klärendes Wort zur Begrifflichkeit angezeigt.  Im Englischen ist zur
Benennung der hier verhandelten Problemstellungen das Begriffspaar
literacy und illiteracy (bzw. literate/illiterate) gebräuchlich, für
das es im Deutschen kein Äquivalent gibt. literacy/literate kann
deutsch "Schriftkultur/schriftkulturell", "Schriftlichkeit
(Schrift)/schriftlich", "Bildung/gebildet", bzw. illiteracy neben
"Unbildung" auch noch "Analphabetismus" bedeuten.  Auch
"Literalität/Illiteralität" ist keineswegs deckungsgleich.  Je nach
Kontext bezeichnet der englische Begriff einen dieser Aspekte oder
den gesamten Bedeutungsumfang.  In der deutschen Fassung mußte daher
aus Gründen der Präzisierung auf Umschreibungen oder
Wortkombinationen zurückgegriffen werden.  Ein ähnliches Problem
stellt sich bei der Übersetzung für den englischen Begriff mind, an
dessen Bedeutungsumfang man sich je nach Kontext mit "Bewußtsein"
oder "Geist" annähern kann, der nach Auffassung des Verfassers aber
als deutsch "Mind" wiedergegeben werden sollte.  Anm. d.  Übers.]

Mit der Bezeichnung Jenseits der Schriftkultur beziehe ich mich auf
ein Entwicklungsstadium, in dem die Grundstruktur unserer
Lebenspraxis nicht mehr vornehmlich durch schriftkulturelle Merkmale
gekennzeichnet ist.  Darüber hinaus bezeichne ich damit einen Zustand,
in dem nicht mehr eine einzige Sprache und Schriftkultur vorherrscht
und allen Bereichen der Lebenspraxis ihre Strukturen und Regeln
aufzwingt, so daß neue Formen der Selbstkonstituierung verhindert
werden.  Im übrigen geht es mir nicht um einen provokativen Begriff,
sondern darum, daß wir unseren Blick zukunftsorientiert auf die
gegenwärtigen Probleme richten und uns nicht aus Bequemlichkeit mit
dem Gewohnten zufrieden geben.

Das neue Stadium kennt viele Sprachen und Schriftlichkeiten mit
jeweils eigenen Merkmalen und Funktionsregeln.  Bei diesen partiellen
Sprachen kann es sich um andere Ausdrucksformen handeln, um visuelle
oder um synästhetische Kommunikationsmittel.  Andere beruhen auf
Zahlen und damit einem Notationssystem, das mit Schriftlichkeit
nichts zu tun hat.  Jenseits der Schriftkultur etablieren sich
nichtsprachliche Denk- und Arbeitsformen, die z. B. Mathematiker
verschiedener Länder und Sprachen auf der Grundlage ihrer Formeln
zusammenarbeiten lassen.  Visuelle, digital verarbeitete Mittel
erhöhen die Effizienz.  Und selbst in der heutigen eher primitiven
Ausstattung verkörpert das Internet die Richtungen und Möglichkeiten
dieser Zivilisation.  Das bringt uns zurück zur Frage, wie und warum
Schriftkultur entstand, nämlich durch pragmatische Umstände, die nach
höherer Effizienz hinsichtlich der verfolgten Ziele verlangten: bei
der Auflistung von Handelsgütern oder bei Anweisungen für bestimmte
Tätigkeiten; Beschreibungen von Orten und Wegen; Theater, Dichtung,
Philosophie; die Aufzeichnung und Verbreitung von Geschichte und
Ideen, von Mythen, Romanen, Gesetzen und Gebräuchen.  Einige dieser
Bedürfnisse haben sich erübrigt.  Aber daß die neuen digitalen
Methoden und Technologien eine leistungsfähige Alternative zur
Schriftkultur darstellen, kann nicht deutlich genug hervorgehoben
werden.

Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, war ich davon überzeugt,
daß wir für die dem Menschen eigene Tendenz zu immer höherer
Effizienz--genauer: für unseren Drang, immer mehr für immer weniger
Geld zu bekommen--einen Preis bezahlen müssen: die Aufgabe der
Schriftkultur und der an sie geknüpften Werte wie Tradition, Bücher,
Kunst, Familie, Philosophie, Ethik und vieles andere.  Wir sehen uns
schnelleren Lebensrhythmen und kürzeren Interaktionszeiten ausgesetzt.
Zahlreiche und vielfältige Vermittlungselemente beeinflussen unser
Verständnis von dem, was wir tun.  Fragmentarisierung und
gleichzeitige Vernetzung der Welt, neue Synchronisierungstechnologien
und die Dynamik von Lebensformen oder künstlich geschaffenen Gebilden
entziehen sich schriftkulturellem Zugriff und konstituieren einen
neuen Rahmen für unsere Lebenspraxis.  Besonders deutlich wird das,
wenn wir die grundlegenden Merkmale der Schriftlichkeit mit denen der
neuen Zeichensysteme vergleichen, die die Schriftlichkeit ergänzen
oder ersetzen.  Sprache ist sequentiell, zentralistisch, linear und
entspricht dem linearen Wachstumsstadium der Menschheit.  Mit den
ebenfalls linear anwachsenden Mitteln des Lebensunterhalts und der
Produktion, die für das Leben und die Fortentwicklung der Menschheit
notwendig sind, hat dieses Stadium sein Potential realisiert und
erschöpft.  Das neue Stadium ist gekennzeichnet durch verteilte,
nichtsequentielle Tätigkeit und nichtlineare Beziehungen.  Es
spiegelt das exponentielle Wachstum der Menschheit (hinsichtlich der
Bevölkerungszahlen, der Erwartungen, Bedürfnisse und Sehnsüchte) und
setzt auf andere, im wesentlichen kognitive Ressourcen.  Dieses
System weist eine andere, eine völlig neue Skala auf, die unter
anderem durch Globalität und höhere Komplexitätsebenen gekennzeichnet
ist.  Aus diesen völlig neuen Formen der Lebenspraxis erwachsen die
Alternativen, die unser Leben, unsere Arbeit und unsere sozialen
Beziehungen verändern werden.

Die neuen Mittel sind nicht mehr so universell wie die Sprache,
eröffnen aber aus den hier zunächst angedeuteten Gründen ein
exponentielles Wachstum.  Solange sich der Mensch in kleinen
Einheiten organisiert hatte (in Stämmen, kleinen
Siedlungsgemeinschaften, Städten und Grafschaften), nahm die Sprache
eine zentrale Stellung ein.  Sie erfüllte in diesen
Organisationsformen vereinheitlichende Funktionen.  Mittlerweile
haben wir eine Entwicklungsphase erreicht, die von weltweiten
Abhängigkeitsverhältnissen gekennzeichnet ist.  Daraus erwachsen
viele lokale Sprachen und Schriftlichkeiten mit nur relativer,
begrenzter Bedeutung, die aber in ihrer Gesamtheit unsere Praxis
optimieren.  Aus Bürgern, Citizens, werden vernetzte Bürger, Netizens,
und diese Identität bindet sie nicht nur an den jeweiligen Platz
ihres Lebens und ihrer Arbeit, sondern an die ganze Welt.

Das allumfassende System der Kultur brach in viele Teilsysteme auf,
und zwar keinesfalls nur in die von C. P. Snow beschriebenen zwei
Kulturen der Naturwissenschaften und der Geisteswissenschaften.  Die
Marktmechanismen befreien sich zunehmend von den Konventionen der
Schriftkultur.  Wo immer schriftkulturelle Normen und Regelungen
diese Emanzipation verhindern wollen--etwa durch Maßnahmen der
Regierung, bürokratische Vorschriften von Behörden, durch Militär und
Justiz--bezahlen wir dafür mit geringerer Effizienz.  Wie sehr Europa
auch immer vereint sein wird, wenn sich die Mitgliedsstaaten nicht
von den ihre Lebensfähigkeit beeinträchtigenden schriftkulturellen
Zwängen befreien, werden die anstehenden Konflikte nicht bewältigt,
und die möglichen Lösungen rücken in weite Ferne.

Eine letzte Bemerkung: Die Publikationsindustrie der Wissenschaft
kann noch immer nicht begreifen, daß jemand einen Gedanken findet,
der nicht auf einem Zitat beruht.  Im Einklang mit der
Autoritätsfixierung der Schriftkultur habe ich all jene Werke
angeführt, die sich in irgendeiner Weise auf den Inhalt dieses Buches
ausgewirkt haben.  Nur sehr wenige werden im Text selbst erwähnt.
Ich habe mir erlaubt, der Entwicklung meines Gedankengangs Priorität
vor den stereotypen Fußnotenverweisen einzuräumen.  Das soll mich
jedoch nicht daran hindern, neben Leibniz und Peirce den Einfluß
zahlreicher weiterer Gelehrter anzuerkennen, insbesondere von
Humberto Maturana, Terry Winograd, George Lakoff, Lotfi Zadeh, Hans
Magnus Enzensberger, George Steiner, Marshall McLuhan, Ivan Illich,
Jurij M. Lotman und sogar Jean Baudrillard, dem Essayisten des
postindustriellen Zeitalters.  Wenn ich irgend jemanden ungenau
wiedergebe, geschieht dies nicht aus Mißachtung seines Werks.  In der
Verfolgung des eigenen Erkenntnisinteresses und der eigenen
Argumentation habe ich von ihren Gedanken eingebaut, was mir ein
brauchbarer Baustein in meinem Gedankengebäude zu sein schien.  Für
Entwurf und Bauweise trage allein ich die Verantwortung und stelle
mich gern der Kritik.  Das mindert nicht im geringsten meinen Dank an
all jene, deren Fingerabdrücke auf manchen Bausteinen zu erkennen
sind.

In den fünfzehn Jahren, in denen ich an diesem Buch gearbeitet habe,
sind viele der von mir diskutierten Entwicklungen für jeden erkennbar
eingetreten.  Aber ich bin alles andere als unglücklich oder
überrascht zu sehen, daß sich die Realität verändert hat, noch bevor
dieses Buch erscheinen konnte.  Als ich die Gedanken, die schließlich
in dieses Buch eingingen, erstmals mit Studenten diskutierte, in
Vorträgen vorstellte und vor politischen, administrativen oder
wissenschaftlichen Kreisen veröffentlichte, hatte das Internet noch
nicht die Börse bestimmt, waren die Bücher über den Zukunftsschock
mit ihren schäumenden Prophezeiungen noch nicht erschienen und hatte
noch kein Unternehmen das große Geld mit den Multimedien gemacht.
Das Buch sollte indes nicht nur Vorgänge und Tendenzen beschreiben,
sondern auch ein Programm für praktisches Handeln entwickeln.
Deshalb widme ich mich nach den theoretischen Teilen angewandten
Fragestellungen.  (In der deutschen Fassung wurden die Teile, die dem
neuen Status der Familie, der Sexualität, dem Kochen und Essen sowie
der Kunst und Literatur gewidmet sind, nicht übernommen).
Abschließend versuche ich praktische Maßnahmen vorzuschlagen, die
sich als Alternativen zu den eingetretenen Pfaden verstehen.  Ich
würde es in der Tat gern sehen, wenn man meine Vorschläge prüfen und
anwenden, übernehmen und weiterentwickeln würde (ob unter Würdigung
meiner Urheberschaft oder nicht!).  Und lieber würde ich eine
kritische oder ablehnende Rezeption dieses Buches in Kauf nehmen, als
die Tatsache, daß es unbemerkt bliebe.



BUCH I.



Kapitel 1:


Die Kluft zwischen Gestern und Morgen Kontrastfiguren

Heutzutage wird an einem einzigen Tag mehr Information produziert als
in den vergangenen 300 Jahren zusammen.  Die Bedeutung dieser
trockenen Zahlen aus dem Bereich der Datenverarbeitung wollen wir an
einem Beispiel verdeutlichen.

Die Friseurin Zizi und ihre Freunde vertreten den heutigen Zeitgeist
und die lesefähige Bevölkerung mit durchschnittlicher Schulbildung.
Hans Magnus Enzensberger vergleicht sie in seinen "Gesammelten
Zerstreuungen" mit Pascal, der seine Arbeit über die Kegelschnitte
als 16jähriger veröffentlicht hatte, mit Hugo Grotius, der im Alter
von 15 Jahren seinen Hochschulabschluß erwarb, und mit Melanchthon,
der bereits mit zwölf Jahren an der berühmten Heidelberger
Universität eingeschrieben war.  Zizi weiß, wo es langgeht.  Sie ist
wie eine leibhaftige Internetadresse: mehr Verbindungen als Inhalte,
ständig im Aufbau begriffen.  Sie beschreitet viele neue Wege, keiner
wird beendet.  Öffentliche Mittel sichern ihr Wohlergehen, sie ist im
Genuß aller Formen der Sozialhilfe, die die Gesellschaft zu bieten
hat.  Zizi parliert über Steuern, über Figuren aus Groschenheften und
Fernsehserien oder über Personen aus ihrem letzten Urlaub.  Ihre Rede
besteht aus Klischees aus dem Mund der allseits bewunderten
Alltagshelden.  Ihr Freund, der 34jährige Bruno G., hat einen
Universitätsabschluß in politischer Wissenschaft, verdient sein Geld
als Taxifahrer und ist sich über seine weiteren Lebensziele völlig im
unklaren.  Er kann die deutschen Fußballmeister seit 1936 auswendig
hersagen, kennt die namentliche Aufstellung jeder Mannschaft und
jedes Spielergebnis auswendig und weiß genau, welcher Trainer wann
gefeuert wurde.  Melanchthon lernte Lesen, Schreiben, Latein,
Griechisch und Theologie.  Er kannte zahlreiche Stellen aus der Bibel
und aus den Werken antiker Schriftsteller auswendig.  Seine Welt war
klein.  Um sie zu erklären, brauchte man weder Mathematik noch Physik,
sondern nur Philosophie.  Da wir Melanchthon weder einer
Multiple-choice-Prüfung noch einem Intelligenztest unterziehen können,
wissen wir auch nicht, ob er heute eine Abitur- oder eine
universitäre Aufnahmeprüfung bestehen würde.  Damit sind wir bei der
ebenso simplen wie entscheidenden Frage: Wer ist unwissender,
Melanchthon oder Zizi?

Enzensbergers Beispiele beziehen sich auf Deutschland, aber die von
ihm beschriebenen Phänomene überschreiten Ländergrenzen.  Er
selbst--Schriftsteller, Lyriker, Verleger--ist gewiß alles andere als
ein blindwütiger Internetanhänger, obwohl er sich darin vermutlich
genauso gut auskennt wie seine Figuren.  Im Gegensatz zu vielen
anderen, die sich mit Schriftkultur und Bildung befassen, sieht
Enzensberger durchaus, daß die jenseits der Schriftkultur erreichte
Effizienz das Alter des Heranwachsens weit in jene Zeit hinein
ausdehnt, die im Leben vorausgegangener Generationen zu der
produktiven Phase zählte.  Heute genießt nahezu jeder irgendeine Form
von weiterführender Bildung--in manchen Ländern gibt es darauf einen
Rechtsanspruch.  Mehr als die Hälfte aller jungen Menschen hat eine
weiterführende Schule oder eine Hochschule besucht.  Und nach dem
Examen wissen viele von ihnen noch immer nicht, was sie eigentlich
wollen.  Schlimmer noch, sie müssen erfahren, daß ihnen ihre
Kenntnisse oder das, was sie als ihre Kenntnisse bescheinigt bekommen
haben, bei dem, was von ihnen im Leben erwartet wird, nicht
sonderlich nützlich sind.  Wie Zizi leben sie von Sozialfürsorge und
reagieren zornig, wenn irgend jemand die Frage aufwirft, ob sich die
Gesellschaft diese Art von Unterstützung überhaupt noch leisten kann.
Der in ihrer Lebenserfahrung sich festsetzende Eindruck der
Leistungsfähigkeit der Gesellschaft rechtfertigt in ihren Augen den
Anspruch, sich darüber, ob sie selbst je zu dieser Leistungsfähigkeit
beitragen werden, keine Gedanken machen zu müssen.  Von ihrer
Ausbildung erwarten sie, wohl zu recht, daß alles für ihr späteres
Leben relevant ist.  Das Problem liegt allerdings darin, daß weder
sie noch ihre Lehrer genau wissen, was das heißt.  Ihnen bietet sich
eine immer größere Auswahl an Fächern, die immer weniger
berufsrelevant sind.  Ein Buch wird kaum noch zu Ende gelesen;
Pflichtlektüre wird in kleinen Portionen vergeben, üblicherweise in
Form von Fotokopien.  Beigefügt ist ein Fragenkatalog in der Hoffnung,
daß die Schüler die zu seiner Beantwortung nötigen Seiten auch
wirklich lesen und nicht etwa die Antworten von ihren fleißigeren
Freunden abschreiben.

Zizi verfügt vermutlich über einen Wortschatz, der im Umfang etwa dem
eines Gelehrten aus dem 16. Jahrhundert entspricht.  Daß sie davon
weniger als 1000 Wörter aktiv verwendet, besagt lediglich, daß sie
nur so viele benötigt, um erfolgreich im Leben zu bestehen.
Melanchthon verwendete nahezu alle Wörter, die er kannte.  Seine
Arbeit erforderte eine Beherrschung der Schriftkultur, die ihm jeden
neuen Gedanken zu formulieren erlaubte, der sich aus den relativ
wenigen neuen Erfahrungen im Prozeß der menschlichen
Identitätsfindung ergab, derer er gewahr wurde.  Er beherrschte drei
Sprachen, zwei davon sind heute nur noch Gegenstand
wissenschaftlicher Beschäftigung in entsprechenden Fachdisziplinen.
Zizi reichen für ihren nächsten Urlaub in Griechenland oder Italien
einige Sätze aus dem Reiseführer oder vom Kassettenrecorder: Reisen
gehört zu ihrem Alltag.  Sie kennt zahllose Rockgruppen und kann alle
Lieder mitsingen, die ihre Sorgen artikulieren: Sex, Drogen,
Einsamkeit.  Ihre Erinnerung an Rockkonzerte und Filme dürfte
wesentlich umfangreicher sein als die Melanchthons, der vielleicht
die Liturgie der katholischen Kirche auswendig kannte.  Wie alle, die
ihre Identität jenseits der Schriftkultur finden, weiß Zizi, was sie
von den Steuern absetzen kann.  Ihr Lebensrhythmus ist mehr durch
wirtschaftliche als durch natürliche Zyklen bestimmt.  Vor allem hält
sie die Basis ihres praktischen Wissens stets auf dem neuesten Stand.
In einer Zeit permanenter Veränderung ist dies ihre einzige Chance,
dem System und allen davon ausgehenden Bildungsnormen und
Einschränkungen die Stirn zu bieten.

Melanchthon hätte bei all seiner Bildung schon zwischen zwei
aufeinanderfolgenden Steuergesetzen die Orientierung verloren, ganz
zu schweigen von den rasch wechselnden Bekleidungs- und Musikmoden,
der Entwicklung der Computersoftware oder gar der Computerchips.
Sein Orientierungssystem entsprach einer stabilen Welt mit weitgehend
unveränderlichen Erwartungen.  Die Inhalte seiner Bildung behielten
für den Rest seines Lebens ihre Gültigkeit.  Zizi, Bruno und ihre
Freundin Helga--die dritte Figur bei Enzensberger--leben dagegen in
einer Welt, deren Wissensangebot heterogen und nicht festgelegt ist.
Es gründet auf ad-hoc-Methoden, die sie in Zeitschriften finden oder
im Internet, das man nur zu durchsurfen braucht, um an nützliche
Informationen zu gelangen.

Wir müssen uns indes, schon um den Eindruck einer Karikierung des
Internets zu vermeiden, den pragmatischen Kontext vergegenwärtigen,
innerhalb dessen Zizi ihre Identität findet und in dem das Internet
als weltweiter Erfahrungsfundus fungiert.  Es ist gewiß nicht ganz
fair, Melanchthon und die Friseurin Zizi zu vergleichen.  Ebenso
unfair wäre es, die Bibliothek von Alexandria mit dem Internet zu
vergleichen.  Die eine birgt eine unschätzbare Sammlung, die das
gesamte menschliche Wissen repräsentiert (auch die Illusion von
Wissen).  Das andere bietet extrem effektive Methoden, mit denen wir
die für die pragmatischen Lebenszusammenhänge benötigten
Informationen erwerben, prüfen, benutzen und verwerfen können.  Die
Welt Melanchthons blieb auf Mitteleuropa und Rom beschränkt.
Nachrichten wurden hauptsächlich mündlich übertragen.  Wie alle, die
mit Büchern aufwachsen und mit ihnen arbeiten, hatte Melanchthon viel
weniger Informationen zu verarbeiten als wir heute.  Für seine Zwecke
brauchte er weder einen Intel-inside-Computer noch eine Suchmaschine.
Er hätte auch nicht verstehen können, wie man Bedarf und Vergnügen
am browsen--am Durchblättern--einer Maschine, eben dem Browser,
überlassen kann.  Seine geistige Welt bestand aus Assoziationen,
nicht aus Suchergebnissen, so ertragreich diese auch sein mögen.
Seine Erkenntniswelt wurde durch den menschlichen Verstand, nicht
durch Maschinen aufgebaut.

Schriftlichkeit eröffnete einen Zugang zum Wissen, solange dieses
Wissen mit den pragmatischen Strukturen kompatibel war, die es
verkörperte und förderte.  Das Ozonloch der Informationsüberflutung
ließ diese Schutzhülle der Schriftlichkeit platzen.  Im neuen
pragmatischen Kontext sieht sich der datenhungrige Mensch auf Gedeih
und Verderb einer Informationsumwelt ausgeliefert, die Arbeit,
Unterhaltung und Freizeit, ja, das gesamte Leben formt.  Zu
Melanchthons ganz auf Exzellenz ausgerichteter Zeit war der Zugang
zur Bildung nur wenigen offen und entsprach nicht im entferntesten
unseren Maßstäben von Gleichheit und Fairneß.  Jegliche Form von
Wissen war sehr teuer.  Um Friseurin zu werden--sofern dies vor 500
Jahren möglich und nötig gewesen wäre--hätte Zizi wie Millionen
andere, die wie sie eine Berufsausbildung genossen haben, viel mehr
bezahlen müssen als in unserer heutigen Zeit mit ihrem unbeschränkten
Zugang zur Mittelmäßigkeit.  Wissen wurde durch unterschiedliche
Instanzen vermittelt--durch Familie, Schule und Kirche--und nur durch
wenige Bücher verbreitet, oft nur mündlich oder durch Nachahmung.

Die Erwartungen, die ein Individuum zur Zeit Melanchthons hegte, und
die von ihm verfolgten Ziele veränderten sich im Verlauf eines Lebens
nur unwesentlich, da auch der pragmatische Lebenszusammenhang
unverändert blieb.  Das führte zur dynamischen, praktischen Erfahrung
der Identitätsfindung, die schließlich den pragmatischen Kontext
unserer Zeit entstehen ließ.  Vorbei sind auch alle Formen von
Kooperation und Solidarität, die, so unvollendet sie auch gewesen
sein mögen, eine Lebensform und ein Wertesystem kennzeichneten, worin
das Überleben des Einzelnen für das Überleben und das Wohlergehen der
Gemeinschaft ausschlaggebend war.  An ihre Stelle ist eine allseits
verbreitete Konkurrenzmentalität getreten.  Nicht selten nimmt sie
den Charakter von Feindseligkeit an, die im Fall von auf die
Schriftkultur verpflichteten, gebildeten Rechtsanwälten sozial
akzeptiert, im Fall von jenseits dieser Kultiviertheit operierenden,
‘illiteraten’ Terroristen unerwünscht ist.

Unser Szenario, in dem Zizi und Melanchthon die Hauptrollen spielen,
kann die Kluft zwischen gestern und heute natürlich nur andeuten.
Eine genauere Untersuchung der heutigen Lage ergäbe jedoch, daß die
Schriftsprache nicht mehr ausschließlich, und nicht einmal
vornehmlich, unser tägliches Leben bestimmt.  Im Alltag der
wirtschaftlich fortgeschrittenen Länder ist ein wesentlicher Teil der
sprachlichen Kommunikation durch maschinelle Transaktionen ersetzt
worden.  Digitale Netzwerke verknüpfen Produktionsstätten,
Verteilungskanäle und Verkaufsstellen und erhöhen Umfang und Vielfalt
dieser Transaktionen.  Auch die alltagspraktischen Abläufe wie
Einkaufen, Transport, Banken- und Börsengeschäfte bedürfen immer
weniger der Schriftlichkeit.  Die Automatisierung hat in vielen
Tätigkeitsbereichen die schriftliche Komponente wegrationalisiert,
und weltweit machen--unabhängig vom jeweiligen wirtschaftlichen und
technologischen Entwicklungsstand--kommunikationsspezifische
Erscheinungen wie Werbung, Politkampagnen oder vielfältige Formen des
Zeremoniells (religiöse, militärische, sportliche) nur allzu deutlich,
daß die Schriftsprache der Funktion und dem Zweck untergeordnet
bleibt.

Derartige Entwicklungen haben nicht nur Auswirkungen auf
schriftsprachliche Kulturen und solche, die diese
Schriftsprachlichkeit bereits hinter sich gelassen haben, sondern
auch auf Lebensgemeinschaften, die sich noch immer in einem
Vorstadium der schriftsprachlichen Kultur befinden--auf die
nomadische, animistische Bevölkerung des Sudan, die Indianerstämme in
den Regenwäldern des Amazonas und auf die zurückgezogen lebenden
Stämme in Afrika, Asien und Australien.  Wir sollten uns klarmachen,
daß die Güter und Waren dieser Kulturen einschließlich ihrer
Arbeitskraft, aber auch ihre Bedürfnisse und Erwartungen, auf dem
globalen Markt gehandelt werden.  Im von lese- und schreibunkundigen
Indianerstämmen bevölkerten Hochland Perus wird ebenso ferngesehen
wie in der Sahara--mit Fernsehgeräten, die an Autobatterien
angeschlossen sind.  Als virtuelle Verkaufsobjekte werden die Länder
mit vorzivilisatorischen Gesellschaften auf dem Futures-Markt als
mögliche Urlaubsgebiete oder als Lieferanten für billige Arbeitskraft
gehandelt.  Auch bleibt ihre praktische Identitätserfahrung im
Kontext eines nomadischen, animistischen Stammesdaseins nicht mehr
länger auf die enge Grenze der jeweiligen Lebensgemeinschaft
beschränkt.  In der hocheffizienten Welt globaler Lebensplanung
erscheinen ihr Hunger und ihr Elend in den Entwürfen von potentiellen
Hilfs- und Kooperationsprogrammen.  Wir sollten dies nicht nur als
Gier und Zynismus auslegen, sondern auch als Ausdruck gegenseitiger
Abhängigkeit.  AIDS auf dem afrikanischen Kontinent und die
Ebola-Epidemie sind nur zwei Beispiele für Gefahren, die die ganze
Welt betreffen.  Die Pflanzen des immer kleiner werdenden Regenwaldes
des Amazonas, deren Heilwirkung wir nutzen, können auch die
gemeinsamen Chancen symbolisieren.  In einem solchen Zusammenhang,
aus solchen Anlässen und an solchen Orten treffen die pragmatischen
Lebensformen von Schriftkultur und diejenigen jenseits der
Schriftkultur zusammen und finden zu gemeinsamen Aufgaben.


Taste wählen--drücken

Texte werden durch Bilder ersetzt; Geräusche fügen Rhythmus oder
Nuancierungen hinzu; nichtsprachliche, visuelle Darstellungen
dominieren; bewegte Bilder erzeugen eine Dynamik, die vom
geschriebenen Wort nur angedeutet werden könnte.  In technologisch
fortschrittlichen Gesellschaften verbinden interaktive Multimedien
(oder Hypermedien) visuelle, akustische, dynamische und strukturale
Darstellungsformen.  Kontexte für die persönliche Auswertung,
Organisation und Bearbeitung von Informationen sprießen in
CD-ROM-Formaten geradezu aus dem Boden, als interaktive Spiele, als
Lehrprogramme.  High-fidelity-Stereoklang, umfangreiche
Videomöglichkeiten, Computergraphiken und eine Vielzahl von Mitteln
zur individuellen menschlichen Interaktion bilden die technologische
Grundlage für eine sich herausbildende allgegenwärtige
computerisierte Umwelt.

Dieser Prozeß kann vorläufig folgendermaßen zusammengefaßt werden:
Die Form von Kooperation und Interaktion, die der Komplexität unseres
heutigen Zeitalters gerecht wird, muß die Maßstäbe höchster Effizienz
erfüllen.  Die relativ stabile und gut strukturierte Kommunikation
auf der Basis der Schrift erweist sich heute als weniger effizient
als ein schneller und eher fragmentarischer Kontakt durch Mittel, die
nicht mehr auf Schriftlichkeit gründen oder durch sie gefördert
werden.  Stereotypisierte, repetitive oder klar definierte einmalige
Aufgaben und die damit verbundene Schriftsprache sind zunehmend an
Maschinen übertragen worden.  Einmalige Aufgaben setzen
Spezialisierungsstrategien voraus.  Je begrenzter die Aufgabe ist,
die dem einzelnen Kommunikationsteilnehmer zugewiesen wird, desto
effektiver sind die Wege zu ihrer Lösung.  Dies geschieht auf Kosten
der Formenvielfalt und des Ausmaßes der direkten menschlichen
Interaktion und natürlich auf Kosten der auf Schriftlichkeit
gründenden Interaktion.  Entsprechend greift die menschliche Suche
nach Identität auf Ausdrucks- und Kommunikationsmittel zurück, die
nicht mehr nur auf Schrift gründen oder auf sie zurückzuführen sind.
Die der Schriftlichkeit eigenen Merkmale beeinflussen unsere
Erkenntnisprozesse, Interaktionsformen und auch die Natur unserer
Produktionsbemühungen in immer geringerem Ausmaß.  Gleichwohl müssen
wir erkennen, daß diese Umstrukturierung unseres praktischen Handelns
weder allgemeine Zustimmung findet noch konfliktlos ist, wie wir im
folgenden darlegen wollen.

Manch einem bleibt die eingeschränktere Rolle der Schriftlichkeit und
der allgemeine Rückgang der Sprachlichkeit und Sprachfertigkeit im
heutigen Leben verborgen, andere wiederum überlassen sich der
zunehmenden Schriftlosigkeit, ohne sich dieser Tatsache überhaupt
bewußt zu werden.  Viele klagen heute über das niedrige
Bildungsniveau, stimmen aber der Einführung von Methoden und der
Einrichtung von Lebensbedürfnissen zu, die eine auf Schriftlichkeit
basierenden Bildung immer bedeutungsloser machen.  Wenn diese
Menschen sich auf Bildung berufen, gefallen sie sich in einer
Sehnsucht nach etwas, was ihr tägliches Leben längst nicht mehr
beeinflußt.  Ihre gesamte Lebensweise, ihr Denken, Fühlen, ihre
zwischenmenschlichen Beziehungen, ihre Erwartungen bezüglich Familie,
Religion, Ethik, Moral, Kunst, Essen, Kultur und Freizeit spiegeln
längst diese neue Lebensform der Schriftlosigkeit wider.  Und diese
Entwicklung ist zwangsläufig, niemand hat wirklich eine Wahl.  Viele
Politiker, Lehrer und (Schrift-) Kulturschaffende (Schriftsteller,
Verleger, Buchhändler) zeigen sich über den niedrigen Bildungsstand
derer besorgt, die eine Ausbildung genossen haben, welche bislang als
ausreichende Grundlage für durchschnittlich gebildete Erwachsene galt.
Sie befürchten, möglicherweise aus den falschen Gründen, daß die
Menschen ohne ein hohes Maß an Schreibund Lesefertigkeit nicht leben
und gedeihen können.  Worüber sie tatsächlich besorgt sind, ist nicht
die Tatsache, daß man heutzutage weniger gut oder korrekt schreibt,
weniger liest (sofern manche überhaupt noch lesen), sondern daß manch
einer trotz dieses Umstandes durchaus im Leben bestehen kann.  Die
selbsternannten Helden der Schriftkultur verwenden Kraft, Energie und
Gedanken nicht etwa auf die Frage, wie man aus diesem Umbruch Nutzen
ziehen, sondern wie man einen unvermeidlichen Prozeß anhalten kann.

Dieser Umbruch trat keinesfalls über Nacht ein.  Norbert Wieners
vorausblickende Warnung, daß wir uns zu Sklaven intelligenter
Maschinen machen, die viele unserer geistigen Fähigkeiten übernehmen,
verdient in diesem Zusammenhang mehr als nur beiläufige Erwähnung.
Andere führen das in den 60er Jahren weltweit zu verzeichnende
Aufbrechen der traditionellen Bildungssysteme ins Feld.  Diese
Vorgänge und die von Wiener bezeichneten Maschinen sind ein weiteres
Symptom, wenn auch nicht der Grund, für den Niedergang der
Schriftkultur.  Ich vertrete im Folgenden die These, daß sich
Schriftlosigkeit, soweit sie sich bislang manifestiert hat, aus der
veränderten praktischen Erfahrung des Menschen ergeben hat; das heißt
aus einem praktischen Handeln, welches einem neuen Zivilisationsstand
entspricht.  (Wenn ich von Pragmatik und praktischem Handeln spreche,
dann in der alten griechischen Bedeutung des Wortes: pragma ‘Taten’
aus prattein ‘machen’, ‘handeln’.) Welchem Beruf wir auch
nachgehen--als Angestellter einer großen Firma oder als selbständiger
Geschäftsmann, als Bauer, Künstler, Sprachlehrer, Mathematiker,
Programmierer oder auch als Mitglied des Verwaltungsrats einer
Universität--wir alle haben längst, wenn auch etwas zögerlich, die
Rationalisierung der Sprache akzeptiert.  Wir haben uns in der
unpersönlichen Welt aus stereotypisierten Diskursformen, Anwendungen,
Passwords und aus in Textverarbeitungsprogrammen gespeicherten
Standardbriefen eingerichtet.  Höchst effektiv überwindet das
Internet alle Einschränkungen, die uns die Sprache im Zusammenhang
des praktischen Handelns auferlegt hatte--als World Wide Web, als
e-mail-Medium, als Kanal für Datenaustausch oder auch nur als Forum
eines globalen Gedankenaustausches.  Zunehmend ist unsere Welt
gekennzeichnet durch Effizienz und global vernetzte Tätigkeiten, die
mit einer solchen Geschwindigkeit und auf unterschiedlichsten Ebenen
vollzogen werden, wie es der Schriftlichkeit niemals möglich war.

Gleichwohl drücken sich Abhängigkeiten aus in unserem Verhältnis zur
Sprache und in unserer Sprachverwendung.  Sprache scheint ein
Schlüssel zum Verstand zu sein--zumindest einer von vielen.  Dies ist
einer der Gründe, warum die künstliche Intelligenz so sehr an Sprache
interessiert ist.  Darüber hinaus ist sie offenkundig ein
wesentliches soziales Merkmal.  Also kommt es auch nicht überraschend,
daß sich aus dem veränderten Status der Sprache weitere
Veränderungen ergeben, die weit über das hinausgehen, was wir in
einem naiven Sprachverständnis für die Natur eines Wortes, die
Leistung eines Wortes oder einer Grammatikregel oder für einen Text
halten.  Ein Wort auf einem bedruckten Blatt Papier wie dem
vorliegenden ist etwas ganz anderes als ein Wort im Hypertext einer
multimedialen Anwendung oder im Web.  Die Buchstaben erfüllen jeweils
unterschiedliche Aufgaben.  Fehlt einer auf dieser Seite, liegt ein
Druckfehler vor.  Berührt man einen, geschieht gar nichts.  Wenn wir
aber einen Buchstaben auf einer Webpage anklicken, werden wir
unverzüglich mit anderen Zeichen, Bildern, Geräuschen und
interaktiven, multimedialen Darstellungen verbunden.  Solche
Veränderungen sind Thema des vorliegenden Buches.  Sie helfen uns zu
verstehen, warum Schriftlosigkeit sich nicht zufällig ergeben,
sondern zwangsläufig entwickelt hat.


Das Leben ist schneller geworden

Die heutige Welt ist durch Effizienz gekennzeichnet.  Und obwohl dies
zumindest auf den Computer-Bildschirmen, den Bedienungsknöpfen und
Sensoren jener Maschinen offenkundig wird, von denen wir zunehmend
abhängen, bemächtigen sich die Effizienzerwartungen des Geschäfts-
und Finanzlebens zunehmend auch unserer Privatsphäre.  Unsere
Effizienzerwartungen haben auch unsere Häuslichkeit nachhaltig
verändert--Küche, Arbeits- oder Badezimmer--und die entsprechenden
sozialen und familiären Rollen neu definiert.  Das, was uns früher
andere abgenommen haben, erledigen wir heute fast ausschließlich
selbst.  Wir kochen (sofern wir das Aufwärmen von Fertiggerichten in
der Mikrowelle noch kochen nennen dürfen), wir waschen unsere Wäsche
(sofern wir das Sortieren unserer Schmutzwäsche nach Waschprogrammen
und das Füllen der Waschmaschine waschen nennen dürfen), wir
schreiben und drucken unsere Texte selber aus, wir fahren uns selbst
und unsere Kinder.  Der Mensch ist durch die Maschine ersetzt worden,
wir haben uns zu ihrem Sklaven gemacht.  Wir müssen die Sprache ihrer
Bedienungsanleitungen lesen und die Konsequenzen aus ihrer Benutzung
tragen: erhöhten Energieverbrauch, Umweltverschmutzung und erhöhte
Müllmengen, vor allem aber Abhängigkeit.  Unsere Beziehungen werden
flüchtiger; "Wie geht es?" gibt nicht mehr unser aufrichtiges
Interesse wieder und fordert vor allem keine wirkliche Antwort ein,
sondern ist eine leere Begrüßungsformel.  Was einst tatsächlich etwas
bedeutet und ein Gespräch eingeleitet hat, ist heute eher dazu
geeignet, zwischenmenschliche Begegnungen zu beenden oder doch im
besten Falle ein Gespräch zu eröffnen, das nichts mit dieser
einleitenden Frage zu tun hat.  Solange das Modell der Sprachlichkeit
und der Sprachkultur seine Gültigkeit besaß, lebten wir in einem
homogenen Sprachraum, heute sehen wir uns einer fragmentarisierten
Wirklichkeit gegenüber, die aus Spezialsprachen und Registern,
Bildern, Geräuschen, Körpersprache und neuen Konventionen besteht.

Trotz des enormen finanziellen Aufwandes, den die Gesellschaft
jahrhundertelang in Schriftsprachlichkeit und Bildung investiert hat,
gelten diese heute nicht mehr als allseits erstrebenswertes
Bildungsziel.  Man hat sich offenbar sogar damit abgefunden, daß
nicht einmal mehr die in der üblichen Schulausbildung vermittelte
Schriftlichkeit benötigt wird.  Für einige wenige ist Schriftlichkeit
noch eine Kunst, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienen
können--Redenschreiber, Texter und Verleger, vielleicht auch noch
Romanschriftsteller und Lehrer.  Sie kennen die Regeln des korrekten
Sprachgebrauchs und wenden sie an.  Die Methoden, mit denen man die
Wirksamkeit einer Botschaft aus dem Munde von Politikern,
Fernsehschauspielern, Geschäftsleuten, Aktivisten und manch einem
anderen erhöht, der seinerseits einen Schreibkundigen (und manchmal
sogar einen Denkkundigen) benötigt, gehören zu ihrem Geschäft.
Wieder anderen ermöglichen diese Regeln, den Reichtum von Literatur
und Dichtung, Geschichte und Philosophie zu erforschen.  Für die
große Mehrheit hingegen ist Schriftlichkeit lediglich eine Fertigkeit
unter vielen, die man zwar auf weiterführenden Schulen und
Hochschulen erwerben kann, die aber längst nicht mehr als notwendiger
Bestandteil des gegenwärtigen und, wichtiger noch, zukünftigen Lebens
angesehen wird.  Die Mehrheit, vielleicht 75% der Gesamtbevölkerung,
geht davon aus, daß alles lebensnotwendige Wissen gespeichert und
allgemein zugänglich ist--Mathematik in den Kaufhauskassen oder im
Taschenrechner, Chemie im Waschpulver, Physik im Toaster, Sprache auf
den Glückwunschkarten für alle denkbaren Gelegenheiten, bzw. als
Rechtschreibprogramm oder Formulierungshilfe in den
Textverarbeitungsprogrammen.

Vier Gruppen zeichnen sich ab: diejenigen, für die Schriftlichkeit
eine Kunst ist; diejenigen, die sich mit den auf Schriftlichkeit
gründenden Werten näher beschäftigen; diejenigen, deren Leben in
einer Welt vorgefertigter Sprachwerke abläuft; und diejenigen, die
jenseits der Begrenzungen der Schriftlichkeit tätig sind, die
Erkenntnisgrenzen ausdehnen, neue Mittel und Methoden der
Kommunikation und Interaktion entwickeln und ihre Identität in einem
praktischen Handeln finden, das durch höhere Effizienz gekennzeichnet
ist.  Diese vier Gruppen haben sich aus den Veränderungen der
Lebensbedingungen in der allgemein (wohl etwas zu allgemein) als
postindustriell bezeichneten Gesellschaft ergeben.  Der für unsere
Zeit des fundamentalen Umbruchs typische Konflikt vollzieht sich im
Bereich der Schriftkultur; genauer: in der Veränderung, die auf ein
Stadium jenseits der Schriftkultur hinausläuft.

Es ist auf den ersten Blick schwer zu sagen, ob die Sprache als
Instrument von Kontinuität und Dauerhaftigkeit deshalb versagt, weil
der Rhythmus unseres Daseins sich seit der Industriellen Revolution
ständig beschleunigt hat, oder ob der Rhythmus unseres Daseins sich
beschleunigt hat, weil menschliche Interaktion nicht mehr von Sprache
abhängig war.  Es ist also nicht genau zu sagen, ob die
Beschleunigung des Lebensrhythmus auf Veränderungen der Sprache und
Sprachbenutzung zurückzuführen ist, oder ob die Veränderungen der
Sprache diese Beschleunigung einfach nur widerspiegeln.  Offenkundig
ist, daß Bilder, vor allem diejenigen der interaktiven Multimedien,
und der vernetzte Austausch umfangreicher Datenkorpora einer
schnellebigen Gesellschaft angemessener sind als Texte, deren Lektüre
mehr Zeit und Konzentration erfordert.  Weniger offenkundig ist, ob
wir Sprachen und synästhetische Ausdrucksmittel verwenden, weil wir
schneller und damit effizienter sein wollen, oder ob wir schneller
und effizienter sein können, wenn wir solche Mittel verwenden.  Die
kürzeren Zeiträume der menschlichen Interaktion und z. B. der
veränderte Status der Familie hängen zusammen: ebenso wie die neue
politische Rolle des Individuums in der modernen Gesellschaft mit
diesen Merkmalen der Interaktion zusammenhängt.  Aber auch hier
wissen wir nicht genau, ob die neue sozioökonomische Dynamik das
Ergebnis unseres bewußten Wunsches nach beschleunigter Interaktion
ist oder ob die beschleunigte Interaktion nur den Hintergrund (oder
den Nebeneffekt) einer umfassenderen Veränderung unserer
Lebensbedingungen darstellt.  Ich glaube, daß eine dramatische
Veränderung in der Skala der Menschheit und in der Beziehung zwischen
den Menschen und ihrer natürlichen und kulturellen Umwelt diese neue
sozioökonomische Dynamik erklären kann.


Aufgeladene Schriftkultur

Sprachen sind wie alle anderen Ausdrucks- und Kommunikationsformen
nur bedeutungsvoll in dem Maß, in dem sie Teil unseres Daseins sind.
Wenn man nicht weiß, wie die Wörter geschrieben werden, die sich auf
unser Dasein beziehen, nehmen wir an, daß beim Schreibenlernen irgend
etwas nicht mehr richtig funktioniert, normalerweise der Schüler.
Natürlich ist Schriftlichkeit mehr als Rechtschreibung.  Also sucht
man nach Gründen: die Schule, die Familie, neue Lebensgewohnheiten
wie ausgiebiger Fernsehgenuß, die Lektüre von Comics, die manische
Besessenheit bei Computerspielen, das Surfen im Internet, um nur
einige der offenkundigen Schuldzuweisungen zu nennen.  Unsere Kultur,
Vorurteile oder auch die Furcht vor dem Unbekannten lassen uns vor
der Frage, ob Rechtschreibung wirklich noch notwendig ist,
zurückschrecken.  Und eine geradezu feige Konformität hält uns davon
ab, die möglichen Defekte einer Sprache oder schriftsprachlicher
Erwartungen zu hinterfragen, die wir hinter allen bekannten
politischen Programmen festmachen können, die uns vor jeder Wahl ins
Gesicht geschleudert werden.  Wo Schreibweise und Aussprache z. B.
so wenig zueinander im Einklang stehen wie etwa im Englischen, hat
das dazu geführt, daß das Alphabet überprüft und alternative
Alphabete bzw. alternative Kunstsprachen entwickelt wurden.  Aber
auch in Sprachen, die konsequentere Beziehungen zwischen Aussprache
und Schriftsprache aufweisen, ist Rechtschreibung heute ein Problem.

Unsere ererbte Ehrfurcht vor der Sprache läßt aus stillschweigenden
Vermutungen über und aus Erwartungen an die Leistung der
Schriftkultur unveränderliche Wahrheiten werden.  So setzen wir z. B.
als selbstverständlich voraus, daß eine gute Sprachbeherrschung die
Erkenntnisfähigkeit fördert, obwohl wir wissen, daß kognitive Abläufe
nicht direkt auf Sprachlichkeit zurückzuführen sind.  Auch geht man
allgemein davon aus, daß gebildete Menschen eines jeden Landes besser
miteinander kommunizieren und fremde Sprachen leichter erlernen
können.  Das ist keineswegs immer der Fall.  In Wahrheit sind
Sprachen aufgeladene Systeme von Konventionen, in denen in
erheblichem Maße nationale Vorlieben und Vorurteile aufgehoben sind
und durch Sprache, Schrift und Lektüre verbreitet werden.  Solche an
die Sprache herangetragenen Erwartungen führen zu wohlwollenden,
wiewohl strittigen Feststellungen der Art "Man kann eine Sprache nur
dann verstehen, wenn man wenigstens zwei versteht" (John Searle).

Des weiteren wird vorausgesetzt, daß schriftsprachlich gebildete
Menschen leichter einen Zugang zu den Künsten und Wissenschaften
finden.  Der Grund dafür liegt darin, daß die Sprache als
universelles Kommunikationsmittel folgerichtig das einzige Mittel ist,
das wissenschaftliche Theorien erklärt.  Ebenso ließen sich
Kunstwerke, so eine weitere These, auf sprachliche Beschreibung
reduzieren oder könnten doch besser verstanden werden mittels der
Sprache, die sie durch Bezeichnungen, Klassifizierungen und
Kategorien in den Kulturbestand einlagert.  Und schließlich gilt
allenthalben die Annahme (und das Vorurteil), daß das Niveau der
sprachlichen und außersprachlichen Leistungsfähigkeit in direktem
Verhältnis zu der in der Schriftkultur erreichten Kompetenz steht.
Dieses Vorurteil wollen wir neben vielen anderen einer genaueren
Prüfung unterziehen; denn es zeigt sich, daß bei allem Niedergang der
Schriftkultur diejenige Sprachverwendung, die von der normierten
Schriftlichkeit abweicht, erstaunliche Formen annimmt.


Der Mensch entwirft, der Mensch verwirft.

Um die Verlagerung von einer schriftsprachlich begründeten Kultur zu
einer Kultur, die auf vielfältige Ausdrucks- und Kommunikationsformen
zurückgreift, besser verstehen zu können, müssen wir uns das
Verhältnis zwischen Sprachen--scheinbar Einheiten mit einem
Eigenleben--und den Menschen, die diese konstituieren--und zwar mit
scheinbar unbegrenzter Kontrolle über ihre Sprache--etwas genauer vor
Augen führen.  Wir könnten die vielfältigen Ausdrucks- und
Kommunikationsmittel Sprachen nennen, wenn es eine angemessene
Definition solcher Sprachen (und den dazugehörigen
Schriftlichkeitsformen) gäbe.  Wir haben gesagt, daß der praktische
Handlungsrahmen unseres Daseins den allgemeinen Zusammenhang
darstellt, innerhalb dessen sich der Status der Schriftkultur
verändert hat.  Das heißt nicht nur, daß die Sprachverwendung
quantitativ oder qualitativ abnimmt.  Das heißt auch, daß wir eine
sehr komplexe Wirklichkeit anerkennen, innerhalb derer ein biologisch
und kulturell modifiziertes menschliches Wesen die Wahl zwischen
Entscheidungsmöglichkeiten hat, welche nur schwer, wenn überhaupt,
miteinander in Einklang zu bringen sind.  Das Leben ist nicht deshalb
schneller geworden, weil sich unser biologischer Rhythmus abrupt
verändert hat, sondern weil neue Rahmenbedingungen für unser
praktisches Handeln, eine erhöhte Effizienz, möglich wurden.

Der Interaktionsradius geht heute weit über den unmittelbaren Kreis
unserer Bekannten und der Familie hinaus.  Gleichzeitig ist die
Interaktion jedoch oberflächlicher geworden und in stärkerem Maße
durch andere vermittelt.  Unser Dasein scheint sich in einem
Universum entfalten zu können, das so weit ist wie der Raum, den wir
erforschen können.  Gleichzeitig aber nimmt der Druck der uns
unmittelbar umgebenden Wirklichkeit zu, der Druck einer zunehmend
spezialisierten Arbeit, durch deren Ergebnisse sich individuelle und
soziale Identifikation und Wertung vollzieht.  Und auf einer anderen
Ebene hat sich für den Einzelnen die hergebrachte Vermessung seines
sozialen Lebensraumes (Familie, Freunde, Gemeinschaft) drastisch
verändert.  Im globalen Zusammenhang erweitert sich der zu
vermessende gesellschaftliche Lebensraum auf die unbegrenzte Zahl
derer, die an ihm teilhaben.

Charakteristisch für den Zusammenhang, in dem sich Status und
Funktion von Schriftlichkeit (vor allem der Kommunikation) verändern,
ist die Fragmentierung von allem, was wir in Angriff nehmen, und die
daraus resultierende Notwendigkeit zur Koordination.  Die Vielfalt
der auf uns einströmenden Reize hat sich vermehrt, und die geläufigen
Erklärungen ihres Ursprungs und ihrer möglichen Bedeutung erweisen
sich als nicht mehr zufriedenstellend.  Ein weiteres Merkmal für die
Dynamik der Veränderung ist die Dezentralisierung von nahezu allen
Aspekten unseres Daseins, die von starken integrativen Kräften
begleitet wird.  Die Gesellschaft wird nicht nur, wie manche glauben,
durch Kommunikation geformt.  Die sozialen Beziehungen werden von
umfassenderen Wirkkräften bestimmt, die von Wörtern, Bildern,
Geräuschen, Texturen und Gerüchen relativ unabhängig sind und
beständig aus jeder Richtung und zu jedem denkbaren Zweck auf die
Mitglieder der Gesellschaft einwirken.  Auch die Ziele und Mittel der
Kommunikation werden von ihnen bestimmt.  Symptomatisch für die
widersprüchliche Situation des zeitgenössischen Menschen ist die
Kluft zwischen der Leistungsstärke der Kommunikationstechnologie und
der tatsächlichen Effektivität der Kommunikation.  Oft sieht es so
aus, als hätten Botschaften ein Eigenleben und als würde die
Kommunikation in dem Maße, in dem sie zunimmt, ihre Adressaten
verfehlen.  Weniger als 2% aller Informationen, die in die
Kommunikationsmittel der Massenmedien eingegeben werden, erreichen
ihr Publikum.  Bei diesem Effizienzgrad würde kein Auto starten und
kein Flugzeug abheben!  Die Bindung der Kommunikation an die
Schriftlichkeit war ihre Stärke.  Sie garantiert ein potentielles
Publikum.  Sie erwies sich jedoch zugleich als ihre Schwäche.  Die
Annahme nämlich, daß zwischen gebildeten Menschen Kommunikation nicht
nur stattfindet, sondern daß sie immer erfolgreich ist, erwies sich
wiederholt als falsch.  Kriege, Konflikte zwischen Nationen,
Gemeinschaften und Berufsgruppen (der akademische Bereich als eine
besonders hochgebildete soziale Gruppe stellt hier keinen
Ausnahmefall dar, ganz im Gegenteil), Familien und Generationen
erinnern uns nachdrücklich daran.  Und dennoch interpretieren wir
diesen Umstand falsch.  Ein Beispiel hierfür ist die Sorge der
Geschäftswelt über die mangelnden Kommunikationsfertigkeiten ihrer
jüngeren Angestellten.  Es bleibt offenbar unbemerkt, daß bei der
massiven Umgestaltung der Unternehmen der Geschäftsbereich
wegrationalisiert wird, der am stärksten auf Schriftkultur und
schriftkultureller Bildung beruht.

Gern würden wir glauben, daß die Geschäftswelt um die grundlegenden
Werte besorgt ist, wenn ihre Vertreter auf die Schwierigkeiten
hinweisen, mit denen das mittlere Management die Geschäftsziele und
die damit verbundenen Strategien in Wort und Schrift zu artikulieren
hat.  Die in der heutigen Wirtschaft erkennbaren Strukturen beweisen,
daß Geschäftsleute ebenso wie Politiker und manch ein anderer, der
sich öffentlich über den gegenwärtigen Stand der Bildung Gedanken
macht, mit doppelter Zunge reden.  Sie hätten gern beides: mehr
Effizienz, die Bildung und Schriftkultur weder erfordert noch fordert,
da diese den neuen sozioökonomischen Zusammenhängen nicht angemessen
ist, und die Vorteile von Bildung und Schriftkultur, ohne allerdings
dafür bezahlen zu müssen.  In Wirklichkeit haben sie alle nur
Wirtschaftszyklen, Produktivität, Effizienz und Profit im Kopf, wenn
sie sich über den Bedarf einer globalen Wirtschaft Gedanken machen.
Diese Umgestaltung, von vielen Unternehmen auch Umstrukturierung oder
Verschlankung genannt, führt zu Effizienzerwartungen innerhalb einer
extrem kompetitiven globalen Wirtschaft.  Auf jeden Fall hat diese
Umstrukturierung den Wasserkopf an Schriftlichkeit im Geschäftsleben
getilgt.  Die auf Bildung und Schriftkultur basierenden praktischen
Abläufe von Management und Produktion sind durch automatisierte
Verfahren der Datenverarbeitung und der computerunterstützten
Produktion ersetzt worden.  Und dieser Prozeß ist keineswegs beendet.
Er hat gerade die ansonsten eher gelassene Arbeitswelt Japans
erreicht, und er könnte in Europa die Bemühungen um eine verbesserte
Konkurrenzfähigkeit unterstützen trotz aller hier gültigen
Sozialverträge, die aus einer Vergangenheit stammen, welche niemals
wiederkehren wird.  Das alles verändert den Status der Sprache: Auch
sie wird zu einem Wirtschaftsinstrument, einem Produktionsmittel,
einer Technologie.  Die Loslösung der Sprache von der
Verschriftlichung und der sich daraus ergebende Qualitätsverlust ist
nur ein Teil des allgemeinen Entwicklungsprozesses.  Aber diejenigen,
die sich diesem Prozeß widersetzen, sollten sich vergegenwärtigen,
daß die Schriftkultur alles andere als perfekt war.

Die Pragmatik der Schriftkultur bildete einen Bezugsrahmen für
Besitzverhältnisse, Handel, nationale Identität und politische Macht.
Nun ist zwar Besitzverteilung kein völlig neues Phänomen, aber die
Gründe und Modalitäten beruhen heute nicht mehr nur auf Vererbung,
sondern eher auf Kreativität und einer sehr selbstsüchtigen Auslegung
von geschäftlicher Loyalität.  Man möge bloß nicht glauben, daß die
vielen MicrosoftProgrammierer ihre Chancen, dem Club ihrer
Millionärskollegen beizutreten, verstreichen lassen.  Aber was sie
tun, tun sie nicht für den Besitzer einer Firma, nicht für einen
legendären und umstrittenen Unternehmer, und gewiß nicht aus
Idealismus.  Die vielen jungen und weniger jungen Leute, die ihre
Chance in diesem relativ hierarchiefreien Umfeld nutzen, tun dies
ausschließlich für sich selbst.  Sie werden vorangetrieben vom
Konkurrenzstreben, nicht von dem Glauben an die Nation, an eine
politische Ideologie oder von Familienstolz.  Solche und andere
Strukturaspekte, die sich aus der Loslösung von den strukturalen
Merkmalen eines durch Schriftlichkeit definierten
Handlungszusammenhangs ergeben, machen die Gesellschaft nicht
automatisch besser oder gerechter.  Dennoch verzeichnen wir eine
Umverteilung von Reichtum und Macht, und eine Neudefinition jener
Ziele und Methoden, innerhalb derer wir unsere Demokratie ausüben.

Wir wissen auch, daß wir denen, die wir Minoritäten nennen, unsere
Schriftkultur aufgezwungen haben.  Da aber das Schreiben weniger
natürlich als das Sprechen ist und vor allem kulturspezifische Werte
vermittelt, hat es die Individualität verfremdet.  Schriftlichkeit
bedeutet für viele Minderheiten eine Form der Integration, die ihre
Tätigkeit und ihre Kultur kurzerhand vereinnahmt und deren
kulturelles Erbe durch die herrschende Schriftlichkeit ersetzt.
"Wenn die Schrift auch vielleicht nicht ausreichte, um das Wissen zu
verfestigen," bemerkte Claude Lévi-Strauss, "dann war sie
möglicherweise zumindest nötig, um Herrschaft zu verfestigen."  Der
Kampf gegen Unbildung und Schriftlosigkeit ist daher gleichbedeutend
mit der Verstärkung der Kontrolle, die die Autorität über den Bürger
ausübt.  Ich will nicht behaupten, die gegenwärtigen Versuche,
Multiplizität zu würdigen und die unüberbrückbaren Unterschiede
zwischen Rassen, Kulturen und praktischen Erfahrungen anzuerkennen,
seien nicht auch das Ergebnis der traditionellen Bildung und
Schriftkultur.  Dennoch besteht für mich kein Zweifel, daß bestimmte
Entwicklungen jenseits der Schriftkultur das Phänomen der
Multiplizität in den Vordergrund gerückt haben: Denn erst dieses neue
Stadium liefert den Hintergrund für heterogene menschliche
Erfahrungen und konfligierende Wertsysteme und gründet auf dem
Potential, das in dieser Multiplizität liegt.


Jenseits der Schriftkultur

Unser Gegenstand mit seinen vielfältigen Implikationen verdient eine
genauere Untersuchung außerhalb, aber nicht ungeachtet der
politischen Kontroverse, die er bereits hervorgerufen hat.  Schreiben
verkörpert eingegangene Verpflichtungen, die von den Handelsabkommen
der Phönizier über die historischen Aufzeichnungen der Ägypter,
religiöse und Gesetzestexte in Ton und Stein, die mittelalterlichen
Eidformeln bis zu den späteren Verträgen reichen.  Die geschriebene
Sprache spiegelt auf vielen Ebenen (dem Alphabet, der Satzstruktur,
ihrer Semantik usw.) die Natur der Beziehungen zwischen denen, an die
sie sich richtet, wider.  Eine Worttafel der Ägypter zur
Identifikation von Handelsgütern richtete sich an nur wenige Leser.
Ein begrenzter Bereich des Daseins, aus Arbeit und Handel, wurde in
direkter Notierung wiedergegeben.  Im gegebenen Kontext ermöglichten
diese Tafeln die erwartete Effizienz.  Im Rahmen des Römischen
Imperiums erforderte die Bezeichnung von Baumaterialien--Dachziegel,
Entwässerungsrohre, die innerhalb und außerhalb des Imperiums
vertrieben wurden--differenziertere Notationselemente.  Die
Materialien erhielten im Verlauf der Produktion Stempelprägungen und
ermöglichten es den Verwendern, nach ihrem Bedarf auszuwählen.  Die
Adressaten wurden zahlreicher, ihr Hintergrund vielfältiger:
Verschiedene Sprachen und verschiedene kulturelle Zusammenhänge waren
im Spiel.  Die praktischen Erfahrungen der Baumeister waren komplexer
als die der ägyptischen Getreidehändler mit ihrem vergleichsweise
kleinen Aktionsradius.  Die Bezeichnung des Baumaterials entsprach
dem Bedürfnis und den Erwartungen der historischen Situation.  Im
Verlauf der Zeit wurden solche Bezeichnungsmaßnahmen immer
vollkommener und lösten sich allmählich vom unmittelbaren Gegenstand.
Mit dem Entstehen der Schrift entwickelten sie sich zu
formalisierten Verträgen und deckten unterschiedliche pragmatische
Kontexte ab.  Sie alle tragen die Kennzeichen der Schriftlichkeit.
Sie repräsentieren zugleich den Konflikt zwischen schriftkulturellen
Möglichkeiten und solchen Mitteln, die den Effizienzerwartungen
jenseits der Schriftkultur angemessener sind.

Ein Blick auf heutige Verträge verrät bereits, daß sie in einer
eigenen Sprache abgefaßt sind, die selbst für eine durchschnittlich
gebildete Person schwer zu verstehen ist.  In ihnen werden
wirtschaftliche Erwartungen, rechtliche Bedingungen und steuerliche
Folgen quantifiziert.  In englischer Sprache sind sie nach
allgemeiner Auffassung auf der gesamten Welt verständlich.  In der
Europäischen Union erwartet jedes Mitgliedsland, daß ein Vertrag
zusätzlich in seiner eigenen Sprache abgefaßt ist.  Verzögerungen und
zusätzliche Kosten können manch ein Geschäft bedeutungslos machen.
Tatsächlich könnte der Vertrag, nicht nur die Verpackung, in der
universellen Sprache einer maschinenlesbaren Strichkodierung abgefaßt
werden.  Unser heutiger pragmatischer Rahmen der Schriftlosigkeit
bietet eine Palette von Sprachen an, die bestimmten Funktionen
entsprechen und den sich rasch verändernden Umständen angemessen sind.
In einer Welt, die durch starke Konkurrenz, schnellen Austausch und
rasch wechselnde Erwartungen gekennzeichnet ist, müssen Vertrag und
Ausführungsmechanismen effizient sein.

Die spezifischen Verhältnisse zur Macht, zum Besitz und zur
nationalen Identität, die in der Sprache zum Ausdruck gebracht und
durch die Mittel der Schriftlichkeit stabilisiert werden, sind in
Mythen, Religionen, in Dichtung und Literatur festgeschrieben.  Von
den Epen der älteren Kulturen über die Balladen der Troubadoure und
dem Minnesang bis zur Dichtung und Literatur der Neuzeit finden wir
Besitz, Gefühle, auf Leben und Tod thematisiert.  Die Ereignisse des
Lebens wurden aufgezeichnet, Verpflichtungen und Bindungen immer
wieder bestätigt.  Heute fürchten viele Literati, daß diese
Manifestationen durch eine leblose Lyrik oder Prosa aus dem Computer
ersetzt werden könnten.  Zweifellos hat die Speicherung von und der
Zugang zu Informationen das Ausmaß unserer Verpflichtungen und das
Ausmaß historischer Aufzeichnungen, ja sogar das Gedächtnis neu
definiert.

Wie auch immer wir zum Problem der Sprache und der Schriftlichkeit
stehen, entscheidend sind letztlich die Menschen, die sich in der
Praxis ihrer Selbstkonstituierung artikulieren.  Das Verhältnis der
Menschen zur Sprache drückt ihre allgemeine Situation aus; und wenn
wir verstehen, wie und warum sich dieses Verhältnis verändert, dann
verstehen wir, wie und warum sich Menschen ändern.  Mit dem Ideal der
Schriftlichkeit haben wir zugleich die Illusion übernommen, daß ein
Verständnis des Menschen auch zu einem Verständnis der menschlichen
Sprache führt.  Tatsächlich ist es aber genau
umgekehrt--vorausgesetzt wir verstehen Sprache als eine dynamische,
praktische Erfahrung eigenen Rechts.  In diesem Zusammenhang müssen
wir uns noch einer anderen Ebene zuwenden--der menschlichen Tätigkeit
nämlich, durch die der Mensch sein Sein in die tatsächliche
Wirklichkeit projiziert, es sinnvoll und für andere verstehbar macht.
Das, was wir sind, werden wir dadurch, daß wir uns durch unsere
Arbeit, durch unser Denken, durch unsere Freude und durch unsere
Neugier ausdrücken.  Unter den pragmatischen Umständen, die für die
historische Entwicklung der Menschheit bis heute charakteristisch
waren, war die Sprache hierfür eine notwendige Voraussetzung, woraus
sich wiederum die Notwendigkeit der Schriftlichkeit ergab.  So
erweist sich Schriftlichkeit als eine Form der Verpflichtung, eine
von vielen aufeinander folgenden Verpflichtungen, die das Individuum
eingeht und auf die die Menschheit als Ganzes sich einläßt.  Vor mehr
als 2500 Jahren schien es, als seien diese Umstände ewig; sie
bestimmten unsere Existenz.  In dem Maße aber, in dem die Menschheit
aus dem praktischen Lebenszusammenhang herauswächst, der auf der
zugrundeliegenden Struktur der Schriftlichkeit gründet, werden Mittel
erforderlich, die sich von der Sprache unterscheiden.


Ein bewegliches Ziel

Zum Thema der Veränderung gehört auch die mit ihm verbundene
Terminologie.  Die an die Begriffe Schriftkultur / Bildung und
Schriftlosigkeit / Unbildung gebundenen Bedeutungen und
Bedeutungsveränderungen kennzeichnen die verschiedenen Perspektiven,
aus denen sie jeweils betrachtet wurden.  Schriftlichkeit, bzw.
literacy, wie es im angelsächsischen Bereich genannt wird, ist schon
immer ein bewegliches Ziel gewesen.  Die verschiedenen Bedeutungen
dieses Wortes spiegeln die sich ändernden Kriterien für die
Wertschätzung des Schreibens und der Schreibfähigkeit in den
verschiedenen pragmatischen Handlungsrahmen des Menschen wider.  Die
Schrift ist vermutlich über 5000 Jahre alt.  Die Herausbildung des
Schreibens und Lesens war die Voraussetzung für Bildung und
Schriftkultur; doch von einer allgemeinen Schriftlichkeit, bzw.
Alphabetisierung kann wohl erst seit der Erfindung der beweglichen
Druckschriften gesprochen werden (während des 11. Jahrhunderts in
China, zu Beginn des 16. Jahrhunderts in Europa), bzw. seit der
Erfindung der Rotationsdruckmaschine im 19. Jahrhundert.

Im Verlauf der Zeit haben sich sehr unterschiedliche Auffassungen von
Bildung und Schriftkultur ergeben.  Für diejenigen, die die Welt
durch die Autorität eines einzigen Buches betrachten (Thora, Bibel,
Koran, Upanischaden, Wu Ching), bedeutet Bildung die Fähigkeit, das
Buch, und damit die Welt, zu lesen und zu verstehen.  Die in diesem
Buch formulierten Verhaltensregeln schufen den Rahmen, der entweder
in Form von Schriftlichkeit oder durch die mündliche Tradition
zugänglich gemacht wurde.  Im Mittelalter war Bildung gleichbedeutend
mit der Kenntnis der lateinischen Sprache, die als Sprache der
göttlichen Offenbarung angesehen wurde.  Aber zu den religiösen bzw.
religiös orientierten Auffassungen von Bildung kamen andere hinzu:
die soziale--Schreiben und Lesen als Rahmen für soziale Interaktion;
die wirtschaftliche--Lesen, Schreiben und andere Fertigkeiten zur
Entzifferung von Landkarten, Tabellen und Symbolen, die die Teilhabe
am ökonomischen Leben ermöglichen; die pädagogische--die Verbreitung
von Bildung; die juristische--die schriftliche Festlegung von
Gesetzen und Normen zur Regelung des gesellschaftlichen
Zusammenlebens.  Die Wissenschaft hat sich den Fragen der
Schriftkultur unter allen diesen Perspektiven gewidmet.  Dies
wiederum hat so viele Interpretationen und Theorien hervorgebracht,
daß mehr Verwirrung als Ordnung herrscht.  Dabei verdient eine
Bemerkung von Will Rogers--"Wir sind alle ungebildet, nur in
unterschiedlichen Gebieten"--unsere besondere Aufmerksamkeit, weil
sie auf ein weiteres Merkmal hinweist, das uns die relative Unbildung
unserer heutigen Zeit zu verstehen hilft.  Das Maß an Unbildung ist
nur schwer quantifizierbar, wiewohl das Ergebnis leicht erkennbar ist.
Alles, was zur Selbstsetzung des Individuums führt--als Krieger,
Liebhaber, Sportler, Familienmitglied, Lehrer oder Schüler--, ist
allmählich aus einem auf Schriftkultur basierenden
Handlungszusammenhang herausgelöst und durch Mittel der
Schriftlosigkeit ersetzt worden.  Sex Champions, Innovatoren in den
neuen Technologien oder Olympiasieger sind in ihren jeweiligen
Bereichen außerordentlich leistungsstark.  Spitzenleistung nimmt
heute in dem Maße zu, in dem der Durchschnittliche auf das Mittelmaß
oder unterhalb des Mittelmaßes zurückfällt.  Ich werde im Folgenden
viele Aspekte der Schriftkultur untersuchen, und zwar sowohl mit
Blick auf in unseren Augen typische Bereiche--Buchveröffentlichungen,
individuelle und gesellschaftliche Kommunikation--als auch auf
Bereiche, die wir nicht so ohne weiteres mit Schriftlichkeit
verbinden--das Militär, den Sport, das Design--, die sich aber
dennoch aus dem pragmatischen Handlungszusammenhang ergeben haben,
der die Schriftkultur--zwangsläufig--hervorgebracht hat.

Als die Philosophie nicht mehr länger als Dachwissenschaft anerkannt
war, begann die Fragmentarisierung des Wissens.  Der Zweifel, daß es
ein gemeinsames Instrument für den Zugang zu und die Verbreitung von
Wissen geben könnte, ist ersetzt durch die Sicherheit, daß es dies
nicht gibt.  Eine sogenannte dritte Kultur--jedenfalls nach Ansicht
dessen, der die öffentliche Aufmerksamkeit darauf lenkte--, "besteht
darin, die tiefere Bedeutung unseres Lebens sichtbar zu machen", und
zwar nicht so, wie dies literarisch gebildete Intellektuelle tun
würden.  Hierbei handelt es sich nicht um C. P. Snows Third Culture
aus Wissenschaftlern, die sich mit nicht wissenschaftlich tätigen
Intellektuellen verständigen, sondern um den
populärwissenschaftlichen Diskurs, der faszinierende Themen ins
Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit rückt.  Daher werden wir auch
die Beziehung zwischen Schriftkultur einerseits und Wissenschaft und
Philosophie andererseits untersuchen und auf diese Weise den Ort von
Philosophie und Wissenschaft jenseits der Schriftkultur näher zu
umreißen versuchen.

Wie aber können wir diese weitreichende Veränderung untersuchen und
angemessen evaluieren?  Sind wir nicht in den Fesseln der Sprache und
Bildung und damit den auf ihnen gründenden philosophischen und
wissenschaftlichen Erklärungen gefangen?  Natürlich ist das System,
das sich in unserer Kultur festgesetzt hat, das Ergebnis einer
logokratischen Sichtweise.  Wenn wir Fertigkeiten und Leistungen mit
Zensuren belegen, so beziehen sich diese meist auf eine Form des
Verstehens, die für die Schriftkultur charakteristisch ist.  Doch der
neue pragmatische Handlungsrahmen erfordert Fertigkeiten, die sich
nicht nur auf Sprache und Schriftlichkeit beziehen, sondern auf
Bilder, Geräusche, Texturen, Bewegung, virtuellen Raum und Zeit.  Wir
müssen also die Beziehung zwischen einem relativ statischen Medium
und dynamischen Medien genauer untersuchen und fragen, wie sich
Schriftlichkeit zum Visuellen im allgemeinen verhält und im
besonderen zur kontrovers bewerteten Wirklichkeit des Fernsehens, der
interaktiven Multimedien, künstlicher Bilder, elektronischer
Netzwerke und virtueller Wirklichkeiten.  Diese wichtige Aufgabe
erfordert einen breiten Ansatz und einen unvoreingenommenen
Standpunkt.

Zunächst müssen wir die strukturalen Implikationen von
Schriftlichkeit und Schriftkultur verstehen.  Wenn wir uns die
Rahmenbedingungen vergegenwärtigen, die zur Schriftkultur geführt
haben, und die Folgen, die sich aus den neuen pragmatischen
Rahmenbedingungen für alle Aspekte unseres Lebens ergeben, können wir
verstehen, wie die Schriftkultur sie beeinflußt hat.  Hier denke ich
besonders an Religion, Familie, Staat und Ausbildung.  In einer Welt,
in der die Kategorie der Dauerhaftigkeit ihre Gültigkeit verloren hat,
ist auch für eine große Zahl der Menschen jegliche Gottesvorstellung
verloren gegangen.  Dennoch gibt es heute mehr Kirchen,
Glaubensgemeinschaften, Sekten oder andere religiöse Gruppierungen
(atheistische und neoheidnische eingeschlossen) als zu jeder anderen
Zeit unserer Geschichte.  In den USA wechselt man durchschnittlich 2,
8 Mal im Leben seinen Lebensgefährten (sofern man je eine Familie
gründet) und kalkuliert die finanziellen Aspekte der Familiengründung
mit der gleichen Präzision, mit der man erwartete Investitionserträge
kalkuliert.  Der Staat ist zu einem Wirtschaftsunternehmen geworden,
das die Geschäfte der Nation reguliert, und wird dementsprechend an
seinen wirtschaftlichen Erfolgen gemessen.  Staatspräsidenten sind
zunehmend die Handlanger großer Industrieunternehmen, von deren
Erfolg die Arbeitsplätze abhängen.  Diese Staatsoberhäupter geben im
Zweifelsfall die im gebildeten Diskurs der Schriftlichkeit
verankerten Ideale preis (z. B. die Menschenrechte).  Aber sie
machen viel Lärm, wenn es um Fragen wie Einschränkung des Copyrights
geht, besonders bei der Software.  Ironischerweise ist gerade das
Copyright bei digitalen Originalen nur schwer zu definieren.  In dem
von der Schriftkultur geschaffenen Modell hat sich der Staat zu einer
bürokratischen Selbsterhaltungsmaschine entwickelt, die den
vielfältigen Optionen kaum noch gerecht wird.  Viel mehr Menschen,
als die vorliegenden Berichte es ausweisen, werden oder bleiben nach
Beendigung ihrer Schulausbildung und selbst nach einer
weiterführenden Ausbildung ungebildet.  Obwohl sie in der Regel lesen
und schreiben gelernt haben, ziehen sie Fernsehen, Spiele,
Sportveranstaltungen oder das Internet vor.  Somit ist das Gegenteil
von Schriftkultur nicht nur Unbildung, sondern bewußte Distanz zu
Bildung und Schriftkultur.  Die Entscheidung, auf Lesen und Schreiben
zu verzichten, ist eine Entscheidung zugunsten anderer Ausdrucks- und
Kommunikationsmittel.  Die heutige Generation geht mit Videospielen
sicherer um als mit der Rechtschreibung.  Sie erwirbt auf diese Weise
praktische Erfahrungen von allerhöchster Effizienz, die in ihrer
Struktur dem interaktiven Spielzeug ähneln und von Rechtschreibung
und Schreibfertigkeit weit entfernt sind.  Wenn es darum geht, was
die heutige Generation wissen will, wie, wann und zu welchem Zweck
sie das Wissen erwerben will, hat das Internet Zeitungen, Bücher,
Zeitschriften und selbst Radio und Fernsehen ersetzt.  Und
mittlerweile sogar die Schulen und weiterführenden Ausbildungsstätten.
Mit seinen enormen und ausbaufähigen Mitteln und Angeboten
verknüpft das Internet den Einzelnen mit dem Rest der Welt, statt nur
über Globalität zu reden.  Networking, das Arbeiten im Internet auf
allen Ebenen und in vielerlei Formen, ist eines der wesentlichen
Merkmale unseres neuen pragmatischen Handlungsrahmens.  So rudimentär
diese Arbeitsform auch noch ausgebildet ist, Schnelligkeit und
Präzision sind ihre wesentlichen Kennzeichen.

Müssen wir in diesen Entwicklungen den Grund für den Niedergang der
Schriftkultur sehen?  Können wir also sagen, daß die Menschen in dem
Maße, in dem sie über geringere Lese- und Schreibfertigkeiten
verfügen oder sich gegen das Lesen und Schreiben entscheiden, auch
weniger an Gott glauben und für eine gottlose Existenz optieren?  Daß
mit Zunahme der Scheidungsrate die Zahl der geschlossenen Ehen oder
der Kinder sinkt?  Daß die Überantwortung ihrer Probleme an eine
bürokratische Maschine zu höherem Fernsehkonsum, mehr elektronischen
Spielen und vermehrtem Surfen in der unbegrenzten Welt des Networks
führt?  Gewiß nicht, jedenfalls nicht in dieser eindimensionalen,
linearen, vereinfachten Kausalität.  Viele Faktoren und viele
unterschiedliche Betrachtungsebenen gilt es zu berücksichtigen.  Sie
wurzeln allesamt im pragmatischen Rahmen unserer nichtendenden
Selbstsetzung.  Diese findet ihren Ausdruck in der Dynamik immer
kürzerer und schnellerer Interaktionsformen.  Sie sieht sich vor
ständig neuen Wahlmöglichkeiten, die unsere Identität bestätigen.
Verfügbarkeiten, Fragmentation, globale Integration und erhöhte
Vermittlung sind ihre Kennzeichen.  Die hier beschriebene Dynamik
entspricht der höheren Effizienz, beides Voraussetzungen für die
erweiterte Skala menschlicher Aktivität.  Wir wollen in einem ersten
Schritt die Aufmerksamkeit auf die Multidimensionalität dieses
Vorgangs und auf die vielen Interdependenzen lenken, die wir mit
Hilfe der neuen Technologien schließlich offenlegen können.  Ein
weiterer Schritt in meiner Argumentation wird es sein, ihre
Nicht-Linearität darzulegen, die das Ineinandergreifen von
deterministischen und vermutlich eher nicht-deterministischen
Faktoren erhellt.

Wir müssen unsere Diskussion dabei auf das praktische menschliche
Handeln richten.  Anders wäre es nicht möglich zu erklären, warum
trotz aller Bemühungen und trotz aller finanziellen Mittel, die die
Gesellschaft in die Ausbildung investiert hat, und trotz aller
Erforschung der auf Schriftkultur basierenden Erkenntnisprozesse der
Mensch am Ende weniger gebildet, aber überraschenderweise keineswegs
weniger leistungsfähig geworden ist.  Manch einer wird dagegenhalten,
daß der Mensch ohne Schriftkultur und Bildung als Mensch weniger
leistungsfähig sein wird--wie es Alan Bloom in seinem Kreuzzug für
Kultur und Bildung mit seinem brillanten Epilog auf die menschliche
Kultur bereits getan hat.  Eine unvoreingenommene Debatte über solche
Fragen setzt allerdings voraus, daß wir die Veränderbarkeit und
Veränderung im Status des Menschen und menschlicher Gesellschaften
akzeptieren und daß wir verstehen, was solche Veränderungen
unvermeidbar macht.


Der weise Fuchs

Die heutige Welt, besonders ihr industrialisierter Teil, ist
fundamental anders als alles, was ihr vorausgegangen ist--vor einem
Jahrzehnt, vor einem Jahrhundert, gar nicht zu reden von jener Zeit,
die mehr in den Bereich von Geschichten und weniger in den Bereich
der Geschichte gehört.  Alan Bloom und mit ihm viele andere
Intellektuelle gehen von dem tief verwurzelten Glauben aus, daß der
Mensch nicht effektiv sein kann, wenn er sein Handeln nicht auf die
Grundlage historisch gewachsener und erprobter Werte stellt.  Aber
der Weg unserer Entwicklung hat eine Gabelung erreicht, an der es
keine bevorzugten Richtungen, sondern nur zahllose Optionen gibt.
Wir leben nicht in einer Krisenzeit, obwohl manche das gern so
darstellen und auch gleich mit Lösungsmodellen aufwarten: zurück zu
irgend etwas (Autorität, Bücher, irgendein primitives Stadium des
Non-Ego oder der Bewußtseinserweiterung durch Drogen, zurück zur
Natur); oder Hals über Kopf in die technokratische Utopie, das
Informationszeitalter, die Dienstleistungsgesellschaft, vielleicht
sogar die virtuelle Wirklichkeit oder ein künstliches Leben.

Menschen sind heuristische Lebewesen.  Unsere Gesellschaft zeichnet
sich aus durch Kreativität und Vielfalt und hat zum Wirkungsbereich
eine enorme Bandbreite menschlicher Interaktion, welcher wir
beständig neue Bereiche hinzufügen: den Weltraum, dessen Dimensionen
nur noch in Lichtjahren gemessen werden und dessen Beobachtung sich
über mehrere Lebensperioden erstreckt; den Mikrokosmos, der diese
Bandbreite in der entgegengesetzten Richtung der infinitesimalen
Differenzierung widerspiegelt; die völlig neuen Bereiche der von
Menschen erzeugten Materialien, neue Formen der Energie, genetisch
manipulierte Pflanzen und Tiere, neue genetische Codes oder virtuelle
Wirklichkeiten, die uns neue Räume, neue Zeiten und neue Formen der
Vermittlung erfahren lassen.  Networking, das uns in seinem
gegenwärtigen Entwicklungsstand nur andeutet, was noch auf uns
zukommt, kann in seinen Auswirkungen vermutlich nur mit der
allgemeinen Verfügbarkeit der Elektrizität verglichen werden.  Vor
uns liegt eine kognitive Energie, die durch Netzwerke ausgetauscht
und auf gemeinschaftliche Unternehmen gerichtet ist; all dies steht
im Zusammenhang mit dem exponentiellen Wachstum digitaler Netzwerke
und schnell steigender Lernkurven beim effizienten Umgang mit diesem
Potential.

Der Vergangenheit entspricht ein pragmatischer Handlungsrahmen, der
dem Überleben und der Fortentwicklung der Menschheit in einer
begrenzten Welt angemessen ist, einer Welt, die aus unmittelbarer
Begegnung und Zusammenarbeit und begrenzter Vermittlung bestand.
Gemessen an den Maßstäben einer Kultur, die auf Schriftlichkeit und
der entsprechenden Form von Bildung und Schriftkultur gründet,
erweisen sich der abnehmende Bildungsstand und die geringere
Bedeutung der Schriftkultur als Zeichen einer Krise, vielleicht sogar
eines Zusammenbruchs.  Der neue pragmatische Handlungszusammenhang
ist jedoch gekennzeichnet durch die Verlagerung von diesem auf die
Schriftkultur bezogenen Modell hin zu von der Schriftkultur
abweichenden vielfältigen Formen von Bildung und Kultur, die
miteinander verbunden, aufeinander bezogen und voneinander abhängig
sind.  Ein Teil der heutigen Menschheit stellt sich dieser
Herausforderung, ohne sich um die damit verbundenen Implikationen zu
sorgen.  Man verzichtet darauf, die gegenwärtigen Vorgänge und
Implikationen in vollem Umfang zu verstehen, solange man ausreichend
Aufregung und Genugtuung aus ihnen beziehen kann.  Hollywood lebt
recht gut davon, ebenso die digitalen Illusionsindustrien.  Die
Adressen im Internet verschwinden ebenso schnell wieder, wie sie
gekommen sind.  Eine vielversprechende Verbindung von gestern kann
schon heute nur noch mit einem "sorry" antworten, wie wichtig und
bedeutungsvoll sie auch gewesen sein mag.  Es ist noch niemals
sinnvoll gewesen, sich dem Erfolg entgegenzustellen.  Der Erfolg
verdient es, in seinen authentischen Erscheinungsformen gepriesen zu
werden, und diese bringen nachhaltige Veränderungen für den Menschen
mit sich.

Das Bild der Zukunft, das sich hinter solchen Bezeichnungen wie
Technokratie, Informationszeitalter und Dienstleistungsgesellschaft
verbirgt, mag einige Charakteristika der heutigen Welt erfassen, aber
es ist begrenzt und begrenzend.  Es trägt der neuen Skala der
menschlichen Handlungsmöglichkeiten nicht genügend Rechnung.  Es
behält als zugrundeliegende Struktur die gegenwärtige Form von
Abhängigkeiten der an der menschlichen Aktivität teilhabenden vielen
Teile bei, einschließlich der dazugehörigen vereinfachten
deterministischen Perspektive.  Eine gedankenlose Befürwortung der
Technokratie muß mit der gleichen Zurückhaltung beurteilt werden wie
deren Verteufelung.  Die Rolle, die die Technologie derzeit für die
menschliche Tätigkeit spielt, ist in der Tat beeindruckend.  Gleiches
gilt für das Ausmaß von Informationsvermittlung und für das
Verhältnis von produktiven Leistungen und Dienstleistungen.  Eine
wichtige zukünftige Aufgabe wird darin liegen, die Unmenge von Daten
sinnvoll zusammenzuführen und aus ihnen neue produktive Impulse zu
entwickeln.  Parallel hierzu hat die Wissenschaft neue provokative
Theorien und entsprechend modifizierte Weltmodelle bereitgestellt.

Letztlich sind dies alles aber nur Einzelheiten einer sehr viel
umfassenderen Entwicklung, an deren Ende ein völlig neuer
pragmatischer Handlungsrahmen steht.  Er ist gekennzeichnet durch
extrem vermittelte Arbeit, verteilte Aufgaben, parallel verlaufende
Arbeitsabläufe und eine allgemeine Vernetzung von ansonsten eher nur
lose koordinierten individuellen Erfahrungen.  In diesem Rahmen ist
auch das Verhältnis von Input (der Arbeit) und Output (deren
Ergebnis) quantitativ und qualitativ völlig neu zu definieren.  Es
ist nicht mehr zu vergleichen mit dem mechanischen Verhältnis
zwischen aufgewendeter Energie (z. B. Druck auf einen Hebel) zu
Resultat (Maschinelle Leistung).  Der Unterschied zwischen Input und
Output als solcher wird verschwommener.  Der tragbare Computer
ermöglicht neue und stets effektivere Formen der Koordinierung von
Arbeitsabläufen und der gemeinsamen Vernetzung--der Anstieg der
Taktfrequenz kann als Ergebnis einer erhöhten körperlichen Aktivität
gedeutet werden oder aber auch zum Anlaß genommen werden, mit einer
Arztpraxis oder einer Polizeistation (im Falle eines Unfalls) in
Verbindung zu treten.  Es ist durchaus denkbar, daß unser genetischer
Kode Bestandteil zukünftiger Interaktion sein wird, nachdem heute
schon Gedanken den Computer steuern können.

Unsere Sprachfähigkeit und die Fähigkeit, ihre verschiedenen
Implikationen zu verstehen, sind nur bedingt voneinander abhängig und
daher auch nur bedingt erforschbar und verstehbar.  In dieser
Feststellung liegt keine Resignation, eher Ungewißheit: Sie ist indes
für die Integrität des vorliegenden Unternehmens von entscheidender
Bedeutung.  Solange wir uns innerhalb einer Sprache bewegen,
betrachten wir die Welt aus ihrer Perspektive; sie ist das Medium
unserer Selbstkonstituierung, Identitätsfindung und Evaluierung.  Sie
beeinflußt unsere Sichtweise und unsere Darstellungen.  Sie
beeinflußt darüber hinaus auch das, was wir nicht mehr selbst
erkennen, was sich unserer Erkenntnis entzieht, mehr noch, sie
filtert es bis zu einem Maße, daß man nur noch die eigenen Gedanken
wahrnimmt.  Diese doppelte Identität--als Beobachter und als
integraler Bestandteil der beobachteten Phänomene--bringt kaum
lösbare ethische, axiologische und epistemologische Probleme mit sich.
Jede Sprache ist eine Projektion der Menschen, die sie sprechen,
daher sehen wir weniger die Welt als uns selbst in Beziehung zu ihr,
als diejenigen, die die Kultur hervorbringen, als diejenigen, die die
uns umgebende Welt unterwerfen und uns anpassen.  Der Fuchs in
Saint-Exupérys Der Kleine Prinz kann dies viel besser ausdrücken:
"Man versteht nur die Dinge, die man zähmt."


"Und zwischen uns der Abgrund"

Unser Bild von der Industriegesellschaft besteht aus riesigen
Industriekomplexen, in denen eine große Schar von Arbeitern Güter
produziert, und aus dichten Ballungszentren, die um diese
Produktionsstätten herum angesiedelt wurden.  Die neue Wirklichkeit,
die aus nicht nur per Telecommuting miteinander verbundenen, aber
dezentralisierten individuellen Handlungen besteht, bietet ein anders
Bild.  Verschiedene Vermittlungselemente tragen zu den zunehmend
effizienteren Erfahrungen der menschlichen Selbstkonstituierung bei.
Der Computer ist dabei nur einer von vielen Vermittlungsmechanismen.
Seine Funktionen des Rechnens, der Wort-, Bild- und
Informationsverarbeitung sowie der Produktionskontrolle schieben
zahlreiche Vermittlungsebenen zwischen den Menschen und das, worauf
er sein Handeln richtet.  Die Vernetzungstechnologie ermöglicht neue
Strategien der Arbeitsaufteilung und erleichtert parallel ablaufende
Produktionstätigkeiten.  Diese elektronisch vernetzte Welt ist durch
zunehmende Dezentralisierung und neue interoperative Möglichkeiten
gekennzeichnet.  In ihr werden mancherlei Maschinen zu unseren
direkten Adressaten, denen wir alle denkbaren Aufgaben vom Design bis
zur computerunterstützten Produktion übertragen.  Solche
Arbeitsformen und die dafür notwendigen kognitiven Funktionen
befördern eine Praxis, die sich von den mechanischen Arbeitsabläufen
der industriellen Produktionsweise qualitativ unterscheidet.  Diese
Beschreibung paßt nicht in allen Einzelheiten auf große Teile von
Afrika, Asien und Lateinamerika und auf einige Bereiche von Europa
und Nordamerika.  Weltweit ist die industrielle Produktionsweise noch
vorherrschend.  Und obwohl heute selbst die entlegensten Stämme
Bestandteil unserer integrierten Welt sind, hat die industrielle
Revolution noch längst nicht alle von ihnen erreicht.  Manche von
ihnen haben noch nicht einmal die Vorstufen der Landwirtschaft
erreicht.  Doch gerade mit Blick auf die globale Natur unserer
heutigen Praxis halte ich es für denkbar, daß trotz der enormen
ökonomischen und sozialen Unterschiede zwischen verschiedenen Teilen
dieser Welt die für die industrialisierten Wirtschaften typische
zentralistische Produktionsweise nicht für alle ein notwendiges
Entwicklungsstadium sein muß.  Die aus der globalen Skala heraus
entstandenen Effizienzerwartungen können nur durch
Entwicklungsstrategien verwirklicht werden, die sich von der
industriellen Praxis unterscheiden.  Daher ist es durchaus denkbar,
daß Länder und Subkontinente im Vorstadium der industriellen
Revolution diese nicht unbedingt durchlaufen müssen.  In einem
anderen Zusammenhang haben Ökologen und Politiker (H. Schmidt) im
übrigen empfohlen, daß Entwicklungsländer gezielt eine andere
Entwicklung einschlagen sollten: Die Industrielle Revolution hat zwar
den Lebensstandard der Industrienationen gehoben, aber nur auf Kosten
der Umwelt und der natürlichen Ressourcen.  (Ein deutsches Manifest,
1992).

Die industrielle Produktion und die damit verbundenen
Sozialstrukturen beruhen auf Schriftkultur.  Edmund Carpenter hat das
treffend formuliert: "In Gänge und Hebel übersetzt wurde das Buch zur
Maschine.  In Menschen übersetzt wurde es zur Armee, zur Befehlskette,
zum Fließband...".  Zu Beginn der industriellen Revolution waren
Frauen und Kinder Teil des Arbeitsmarktes.  Für ihre sehr begrenzten
Arbeitsprozesse war eine Schriftkultur nicht unbedingt nötig.
Dennoch konnte sich die weitere Entwicklung der Industriegesellschaft
nur durch die allgemeine Verbreitung schriftkultureller Fertigkeiten
vollziehen.  Erst die Erfindung der Stahlfeder 1830 ermöglichte die
Einführung der allgemeinen Grundschulpflicht.  Die Stahlnadel
veränderte zunächst scheinbar nur die häuslichen Tätigkeiten, in
Wirklichkeit aber wurde sie zu den harten Bedingungen industrieller
Massenproduktion.  Gas und Elektrizität verlängerten die Zeiträume,
in denen die Fertigkeiten der Schriftkultur vermittelt und verbreitet
werden konnten.  Die Verbesserung der Wohnbedingungen ermöglichte die
Errichtung von Privatbibliotheken.  Für George Steiner war dies ein
entscheidender Schritt zur privaten Buchlektüre.

Die für die Industrielle Revolution charakteristischen Phänomene
stehen im Zusammenhang mit der Herausbildung von Nationalstaaten.
Die Erfahrung und Bestätigung der nationalen Identität ist
unmittelbar an die Werte und Funktionen der Schriftkultur geknüpft.
Die Produktionsprozesse des industriellen Zeitalters mit ihren
mechanischen Maschinen und der Stromkraft setzten anstelle der
Muskelkraft qualifizierte Kraft voraus.  Verwaltungs- und
Managementfunktionen erforderten mehr Schriftlichkeit als die Arbeit
am Fließband.  Aber die Charakteristika der Schriftlichkeit wirkten
sich auf den gesamten Handlungszusammenhang aus und ließen eine
allgemeingebildete Arbeiterschaft wünschenswert erscheinen.  Der in
dieser Entwicklung entstandene Markt projizierte die Bedingungen der
Industrie auf die Strukturen des Marktes.  Der Bedarf an
qualifizierter Arbeit führte zu einem Bedarf an qualifiziertem
Marktverhalten und schließlich zu den heutigen Formen von Marketing
und Werbung.  Der Markt war in der Regel definiert durch nationale
Grenzen; diese Grenzen der Effizienz, der Autarkie und des
zukünftigen Wachstums ermöglichten Märkte von einer Größe und
Komplexität, die dem industriellen Output entsprachen.  Die
Nationalstaaten hoben in gewisser Weise die Fragmentarisierung der
Welt auf.  Nationalstaaten waren nicht mehr länger die theoretische
Verkleidung von Stammesstrukturen, sondern ein politischer Raum für
die allmähliche Einrichtung der Demokratie.

Dem Fortschritt von miteinander um das Überleben konkurrierenden
Individuen in einem Umfeld, in dem nur der Stärkste überleben konnte,
hin zu einem gemeinschaftlichen Leben in den Grenzen eines Stammes,
einer Gemeinde, einer Region, einer Konföderation oder Nation
entspricht die Weiterentwicklung menschlicher Integrationsformen und
-methoden.  Die globale Skala unserer heutigen Lebenspraxis ist nicht
nur eine einfache Erweiterung der linearen deterministischen
Beziehungen zwischen den Menschen und seinem lebenserhaltenden System,
der Umwelt.  Tiefe und Ausmaß der Veränderung zeigen sich in der
Diskontinuität der Menge (an Menschen, Ressourcen, Erwartungen usw.),
in der Natur der Beziehungen zwischen den Menschen untereinander und
in den für die heutige Lebenspraxis symptomatischen
Vermittlungsformen.  Das Ende des Nationalstaats, vielleicht sogar
der Demokratie, mag noch in weiter Zukunft liegen, aber es steht uns
bevor.  Die Vereinten Nationen, denen noch nicht die gesamte Welt
beigetreten ist, bestehen derzeit aus mehr als 197 Nationen, die Zahl
steigt.  Einige davon sind kleine Inselstaaten oder solche, die erst
vor kurzem durch soziale oder politische Bewegungen ihre
Unabhängigkeit erreicht haben.  Von den über 240 verschiedenen
Territorialgebieten, Ländern und Protektoraten sind nur wenige
wirklich autarke Einheiten (sofern es sie überhaupt gibt).  Und trotz
einer bislang unübertroffenen Integration ist die Welt heute weniger
ein Haus der Nationen und diskreten Allianzen als vielmehr eine
Zivilisation, in der eine Spezies eine starke Kontrolle (nach Meinung
vieler eine zu starke) über andere Spezies ausübt.

In dieser Welt gibt es noch immer Bevölkerungsgruppen mit
Lebensformen, die auf Jagd, Beutezug, Fischfang und einfachen Formen
der Landwirtschaft basieren.  Tauschhandel und eine rudimentär
ausgebildete Sprache des Überlebens stellen an solchen Orten den
einzigen Marktprozeß dar; und dennoch ist die gesamte Welt in die
globalen Transaktionen eingebunden.  Märkte in ihrer Ganzheit stehen
zur Disposition, oft genug ohne das Wissen derer, aus denen dieser
Markt besteht.  Die Charta der Zukunft wird weniger die seit jeher
leidenschaftlich verfochtene nationale Unabhängigkeit sein als das
(authentische oder eingebildete) kulturelle Gedächtnis.  Kaufen oder
Verkaufen überträgt sich auf die gesamte Wirtschaft, welche, obwohl
bis heute nicht in ihrem Gesamtzusammenhang vollkommen verstanden und
erklärt, sich in einem Rhythmus verändern wird, dem diejenigen, die
sie eigentlich kontrollieren sollen, nur schwer standhalten werden.
Gleichwohl ist diese Entwicklung im Zusammenhang eines globalen
Marktes unausweichlich.  Es kann nicht überraschen, daß Bildung,
Schriftkultur und nationale Identität von dieser Entwicklung
ebenfalls erfaßt werden.


Wiedersehen mit Malthus

Das malthusianische Prinzip von 1798 setzte das Bevölkerungswachstum
(geometrisch) in Beziehung zu einem erhöhten Nahrungsangebot
(arithmetisch).  Die Schwäche dieses Prinzips liegt vermutlich darin,
daß die Gleichung für das Schicksal der Menschheit aus mehr als nur
zwei Variablen, der Bevölkerung und dem Nahrungsangebot, besteht.
Der ausgiebige Rückgriff auf natürliche Ressourcen besonders in der
Landwirtschaft ist nur eine unter vielen Erfahrungen.  Die
Wirklichkeit des Menschen besteht nicht nur aus biologischen
Bedürfnissen, sondern auch aus kulturellen Erwartungen, wachsender
Nachfrage und Kreativität.  Und diese wirken sich auf die sogenannten
Primärbedürfnisse und Instinkte aus.  Zahlreiche bislang bekannte
Proteinquellen sind erschöpft.  Aber gleichzeitig haben wir unzählige
neue Ernährungsquellen erschlossen, nicht zuletzt die künstlich
geschaffenen.  Jagd und Sammlertätigkeit, auch die daraus
weiterentwickelten Formen der Landwirtschaft und Viehzucht erwiesen
sich als angemessen, solange das menschliche Verhalten durch lineare,
sequentielle Lebensstrategien bestimmt war.

In Verbindung mit dieser linearen Lebenspraxis wurde die Sprache
entwickelt und in der menschlichen Lebenspraxis etabliert.
Linearität heißt hier nichts anderes, als daß ein Mensch weniger
effektiv ist als zwei, und umgekehrt, daß die Bedürfnisse eines
Menschen geringer sind als diejenigen von mehreren Menschen.  Die
Selbstkonstituierung des Menschen durch Sprache bewahrt diese Form
der Linearität.  Sie bewahrte und entwickelte ihre Funktion, solange
Umfang, Bedürfnisse und Sehnsüchte der menschlichen
Lebensgemeinschaft proportionale Formen der Interaktion zwischen den
Individuen untereinander und den Individuen und ihrer Lebensumwelt
möglich machte.  Mit der Industriegesellschaft hat die Menschheit
vermutlich den Höhepunkt ihrer Optimierungsbemühungen erreicht.

Heute geht es darum, geometrisch anwachsende Bevölkerungen und
exponentiell (d. h. nicht-linear) auseinanderstrebende Erwartungen zu
vereinbaren.  Diese Erwartungen betreffen Menschen, die ein höheres
Durchschnittsalter erreichen und deren aktives Berufsleben länger ist
als früher.  Auch anatomisch verändern wir uns, nicht zwangsläufig
zum Guten: Insgesamt sehen und hören wir schlechter und verfügen über
geringere physische Kräfte.  Ebenso verändern sich unsere
Denkfähigkeiten und Denkgewohnheiten und die Strukturen des sozialen
Zusammenlebens.  Letzere spiegeln u. a. den Übergang von
unmittelbaren Formen der Interaktion und des Miteinanders zu
indirekten, vermittelten Formen der menschlichen Selbstkonstituierung
in der Lebenspraxis.

Der sequentielle Charakter der Sprache, wie er sich besonders in der
Schriftlichkeit niederschlägt, dient nicht mehr länger als allgemein
gültiger Maßstab dieser Lebenspraxis.  Strategien der Linearisierung
werden zunehmend ersetzt durch effizientere und im wesentlichen
nicht-lineare Strategien, die durch solche Schriftlichkeiten
ermöglicht wurden, die sich strukturell von denen der sogenannten
natürlichen Sprachen unterscheiden.  Demgemäß verliert
Schriftlichkeit ihren ursprünglichen Rang.  Neue Formen der
Schriftlichkeit, neue Sprachen, entstehen.  Und anstelle eines
einzigen stabilen Zentrums und einer begrenzten Zahl von Optionen
sehen wir uns einer aufgefächerten und variablen Konfiguration vieler
Zentren und umfangreicher Optionsmöglichkeiten gegenüber, die
gemeinsame oder unvereinbare Interessen verknüpfen oder auflösen.
Noch immer gibt es nationalstaatliche Ambitionen, noch immer werden
riesige Fabriken gebaut, Städte errichtet, Verkehrsnetze und
Flughäfen erweitert, um den Verkehr zwischen den Ballungszentren zu
optimieren.  Und dennoch zeichnet sich schon heute eine integrierte
und gleichzeitig dezentralisierte Arbeits- und Lebenswelt ab.  Die
durch die digitale Technologie ermöglichte allumfassende Verbindung
und Vernetzung öffnet ungeahnte Möglichkeiten, unser soziales Leben,
unsere politischen Institutionen und die Gestaltung und Produktion
von Gütern neu zu strukturieren.  Unsere aus der fortgeschrittenen
Spezialisierung gewonnene Fähigkeit zur Vermittlung und zur
Integration von Teilen und Dienstleistungen wird heute von Maschinen
unterstützt, welche unsere kognitiven Eigenschaften erweitern.


In den Fesseln der Schriftkultur

Zu den beunruhigendsten Erfahrungen gehört vermutlich, in der
Konfrontation mit neuen Erfahrungen unser schriftkulturell geprägtes
Gedächtnis abschütteln und uns den in struktureller Hinsicht
amnesischen Zeichensystemen überlassen zu müssen, die auf unsere
Sinneserfahrung abzielen.  Neuere Theorien der Welt, des Gehirns und
des Denkens sowie unsere biogenetischen Grundlagen haben uns zu neuen
Erfahrungen der Selbstkonstituierung verholfen, die sich von allem
unterscheiden, was vorausgegangen ist.  Die Erkenntnis der
Relativität, der Lichtgeschwindigkeit, von Mikro- und Makrostrukturen,
von dynamischen Kräften und Nichtlinearität hat sich bereits in neue
Strukturen der Interaktion umgesetzt.  Unsere heutigen
Verbindungssysteme--durch elektrische Energie, Telefon, Radio,
Fernsehen, Kommunikationstechnologien aller Art,
Computernetzwerke--arbeiten mit einer dem Licht vergleichbaren
Geschwindigkeit.  Sie verknüpfen dynamische Mechanismen, die von
Genetik, Physik, Molekularbiologie und von unserer Kenntnis der
Mikro- und Makrostruktur angeregt werden.

Unser Lebenszyklus kann sich offenbar auf zwei unterschiedliche
Synchronisationsmechanismen einstellen: Der eine entspricht unserer
natürlichen Umwelt (Tage, Nächte, Jahreszeiten), der andere unseren
Effizienzbestrebungen und den sich dafür öffnenden Möglichkeiten.
Beide werden immer weniger voneinander abhängig, und es sieht so aus,
als hätte die Effizienz Vorrang vor der Natur.  Ehedem erforderte die
Entdeckung immer weiterer geographischer Dimensionen der Erde Schiffe
und Flugzeuge.  Sie erforderte auch biologische Anstrengungen der
Anpassung und intellektuelle Bemühungen, die auf diese Weise
erfahrenen Unterschiede zu verstehen und zu verarbeiten.  Im Weltraum
erweist sich die nötige Anpassung als besonders schwierig.  Daher
haben in unserer Welt der permanenten Veränderung immer häufiger sich
einstellende Differenzierungen die Menschen veranlaßt, an die Stelle
der einen permanenten und allumfassenden Schriftlichkeit verschiedene
Formen der Schriftlichkeit zu setzen, von denen keine den Status
immerwährender Gültigkeit beanspruchen kann.  Die Ausdifferenzierung
und Vielfalt der menschlichen Erfahrung geht heute so weit, daß sie
sich nicht mehr auf eine einzige Form der Schriftkultur reduzieren
läßt.

In der Einrichtung eines gesicherten Wissenskanons, der überprüft und
praktisch angewendet werden kann, und in der Entwicklung rationaler
Interpretationsmethoden wurde oft verworfen, was nicht in die
entwickelten Theorien passen wollte, was nicht den Gesetzen gehorchte,
die diese Theorien formulierten.  Dieses methodische Vorgehen war
notwendig, es ermöglichte letztlich den Fortschritt, dessen Früchte
wir heute genießen.  Zugleich war es aber trügerisch, denn es mußte
verwerfen, was nicht erklärt werden konnte.  So wurden z. B. überall
dort, wo sich die Schriftkultur durchsetzte, die nichtsprachlichen
Aspekte--die auf nichts weiter zurückzuführende Welt der Magie, des
Mysteriums, des Esoterischen (um nur einige zu nennen)--verworfen.
Nun sind aber gerade in vielen Ländern die Folklore, wohl auch der
Aberglaube und alle denkbaren Formen des Mysteriums, soweit sie zur
Selbstkonstituierung des Menschen beitragen, wichtige Bereiche, aus
denen wir Rückschlüsse über zurückliegende, gegenwärtige und
zukünftige Lebensformen ziehen können.  Sie sind Teil des gesamten
Zusammenhangs und sollten nicht einfach abgetan werden, selbst wenn
sie einer Entwicklungsphase zugehören, die der Schriftkultur
vorausging.  Gleichwohl war und ist die Sprache das umfassendste
Zeugnis für unsere Erfahrungen als menschliche Wesen (und zugleich
ein Teilhaber an dieser Erfahrung), so daß wir schon aus diesem
Grunde untersuchen sollten, ob die Krise, in der sie sich befindet,
etwas aussagt über unsere eigene Dauerhaftigkeit und über unsere
Vorurteile, die wir über unsere eigene Spezies entwickelt haben.  Und
unabhängig davon stellt sich die Frage, warum und aufgrund welcher
Argumente wir uns eigentlich als das einzige Phänomen von
Dauerhaftigkeit im Universum und als das höchstmögliche
Entwicklungsstadium der Evolution betrachten.  Die Schriftkultur hat
uns in mancherlei Hinsicht unsere Freiheit gegeben.  Doch sie hielt
uns gleichzeitig in einer ganzen Reihe von Vorurteilen gefangen,
nicht zuletzt in einem Bewußtsein von uns selbst, das in direktem
Widerspruch steht zu unserer Erfahrung der permanenten Veränderung in
der Welt.



Kapitel 2:


Die USA--Sinnbild für die Kultur der Schriftlosigkeit

Amerika (unter diesem Namen schlägt man den Vereinigten Staaten
gemeinhin den Rest der beiden Subkontinente zu) versinnbildlicht in
den Augen von Freund und Feind vieles von dem, was die heutige Welt
kennzeichnet: Marktorientierung, Technologiewahn, Leben auf Kredit
(Kapital und natürliche Ressourcen), Konkurrenzkampf bis hin zur
Propagierung offener Gegnerschaft und eine Einlassung auf Mittelmaß,
Demagogie und Opportunismus im Namen von Demokratie und Toleranz.
Vielen gelten die Amerikaner als prahlerisch, flegelhaft,
unrealistisch, naiv, primitiv, heuchlerisch und geldbesessen.  Und
selbst in den Augen manch eines Patrioten gehören Opportunismus,
Korruption und Bigotterie zu den Hauptantriebskräften dieses Landes.
Anderen erscheint es anfällig für Militarismus und für das
verführerische moralische Gift, das sich aus der selbsterklärten
Vormachtstellung in der Welt ergibt.  Und oft sieht es so aus, als
erwarte es gerade dann Dankbarkeit und Lob, wenn seine Politik
versagt hat.

Andererseits spricht man den Amerikanern außergewöhnliche
Errungenschaften in Technologie, Wissenschaft, Medizin, in den
Künsten, der Literatur, im Sport und in der Unterhaltung zu.  Sie
gelten auch als freundlich, offen und tolerant.  Für andere Nationen
geradezu beispielhaft ist ihre Bereitschaft, sich für altruistische
Projekte zu engagieren (Programme gegen Armut und Unterstützung
bedürftiger Kinder auf der ganzen Welt) und ihre Distanz zu jeglicher
Form der Diskriminierung.  Fast überall sieht man in Amerika das
Modell einer funktionierenden liberalen Demokratie auf der Grundlage
einer Staatenföderation, in dem sich lokale, staatliche und föderale
Funktionen die Waage halten.

Und dennoch ist in vielen Teilen der Welt die Angst vor einer
allgemeinen Amerikanisierung verbreitet.  Disneyland vor den Toren
von Paris, MacDonald’s-Fast-food-Ketten, Coca Cola, Blue Jeans,
Popmusik und Fernsehserien, Kaugummi und amerikanischer Sport
symbolisieren allenthalben den Siegeszug der amerikanischen Popkultur
und des amerikanischen Lebensstils.  Doch dieser Eindruck könnte
trügen.

Außerhalb ihres heimischen Kontextes sind diese Erscheinungen
vielerorts noch exotische Phänomene, denen man leicht entgegenwirken
kann und tatsächlich auch nationale Charakteristika entgegensetzt, ob
in Italien, Rußland, Deutschland oder Japan.  Auch mit Antworten ist
man leicht zur Hand.  Als es in Deutschland darum ging,
Wirtschaftsprobleme unter Kürzung von Sozialleistungen für
Arbeitnehmer zu lösen, drohte man umgehend, den sogenannten
amerikanischen Lösungen mit einer französischen Antwort zu begegnen:
Gemeint war ein Generalstreik, der das ganze Land lahmlegen sollte.

Bei näherer Betrachtung steht hinter der Amerikanisierung mehr als
nur eine Übernahme von Gegenständen, Werten und Verhaltensweisen.
Sie erfaßt in der globalen Gemeinschaft unserer heutigen Zeit alle
Bereiche der Lebenspraxis.  Es ist nachvollziehbar, warum Amerika
jene Formen der Effizienz repräsentiert, die scheinbar auf Kosten
vieler verlorener Werte gehen: der Achtung vor Autorität, vor der
Umwelt, vor natürlichen oder sogar menschlichen Ressourcen,
schließlich vor Menschenrechten.  Amerikanische Identität ist genährt
durch unbegrenzte Erwartungen bezüglich des gesellschaftlichen und
materiellen Lebensstandards, des politischen und wirtschaftlichen
Erfolges, auch der Religionsfreiheit.  Freiheit, zumindest der
Anschein von Freiheit, ist die allgemeine Richtschnur jeglichen
Handelns.  Was immer die Lebenspraxis als möglich und machbar
erscheinen läßt, wird zu einer neuen Erwartung und alsbald zum
allgemeinen Bedürfnis erhoben.  Ein Recht auf Wohlstand und Überfluß,
so relativ er in der amerikanischen Gesellschaft auch ausfällt, wird
als selbstverständlich vorausgesetzt, nirgends wird dieser Anspruch
überschattet von einer Ahnung davon, daß der eigene Reichtum auf
Kosten der Lebenschancen eines anderen gehen könnte.  Allenthalben
dominiert ein Konkurrenzdenken.  Und manch eine moralisch
zweifelhafte Praxis des politischen und des Rechtssystems macht
dieses Prinzip offenkundig.  "To the victor go the spoils"--"Der
Gewinner bekommt die Beute"--keine andere Formulierung könnte das
amerikanische Lebensgefühl knapper und passender definieren.

Der "American Way of Life" hat bei vielen Menschen auf der Welt
Hoffnungen und Erwartungen geweckt, trotz der gemischten Gefühle, mit
denen man Amerika ansonsten begegnet.  Mehr als von dem Zwang, den
amerikanischen Lebensstil nachzuahmen (in Konsum, Lebensweise,
Politik und Verhalten), ist der Rest der Welt vermutlich von dem
Verlangen getrieben, jene Effizienz zu erreichen, die eben diesen
Lebensstandard ermöglicht.  Jedes Land sieht sich dem Konflikt
zwischen Effizienz und Kultur ausgesetzt.  Manch ein Land kann dabei
auf eine Kultur zurückblicken, die mehrere tausend Jahre alt ist, im
Gegensatz zu den USA, wo sich Kultur stets in einem status nascendi
befunden hat.  Wenn sich heute in den USA gelegentlich Sorge
bezüglich des Niedergangs von Bildung und Schriftkultur einstellt, so
ist sie offenkundig von einer Nostalgie für Tradition gespeist, die
in den USA niemals wirklich wirksam war, und zugleich aus einer
Furcht vor der Zukunft, die man niemals wirklich durchdacht hat.
Insofern ist die Frage, inwiefern die USA eine Kultur
versinnbildlichen, in der die Schriftkultur überflüssig geworden ist,
von mehr als nur dokumentarischem Interesse.


Dem Handel zuliebe

Man könnte Amerika, jahrhundertelang von nicht enden wollenden
Einwanderungswellen überrollt, etwas oberflächlich als eine Kultur
mit mehreren nebeneinander existierenden Schriftkulturen bezeichnen.
Noch heute gehören in sich geschlossene ethnisch definierte
Wohngebiete zum Lebensalltag.  Hier gibt es Geschäfte, in denen nur
die Sprache dieser ethnischen Gemeinschaft gesprochen wird, und
Zeitungen in dieser Sprache; das Kabelfernsehen versorgt diese
Gruppen mit eigenen Programmen, und ein entsprechendes Warenangebot
erinnert an authentische Küche und an Produkte, "die ewig halten".
Natürlich sind alle diese mitgebrachten Schriftkulturen Mittel der
Selbstkonstituierung, dienen dem Brückenschlag zwischen den Kulturen,
die es in der dritten Generation nicht mehr geben wird.  Indem sich
die Menschen der Schriftkultur ihres Herkunftlandes verpflichtet
fühlen, erfahren sie sich als gespaltene Persönlichkeiten zwischen
zwei unterschiedlichen pragmatischen Kontexten.  Der eine verkörpert
die Erwartungen, die sich aus dem auf Schriftkultur gründenden
Kontext ergaben--Homogenität, Hierarchie, Zentralismus, Tradition.
Der neue Kontext der auserwählten neuen Heimat rückt indes
Bedürfnisse in den Mittelpunkt, die den Übergang zu einer Kultur der
Schriftlosigkeit kennzeichnen--Heterogenität, Horizontalität,
Dezentralismus, Tradition als Option, nicht aber als Lebensstil.

Wir sollten indes Probleme der Immigration (wie überhaupt die der
Migration) nicht unter der Perspektive von nebeneinander
existierenden Schriftkulturen ansehen, sondern eher als Variationen
innerhalb eines verbindenden pragmatischen Handlungsrahmens.  Die
Loslösung der Einwanderer von ihrer Heimatkultur gehört vielleicht zu
den einmaligen Kennzeichen Amerikas.  Sie ist bis heute eine Quelle
für Vitalität und Kreativität, allerdings auch für Konflikte und
Spannungen.  Die Einwanderer kommen als in ihren Schriftkulturen
gebildete an und müssen erfahren, daß ihre Schriftkultur relativ
nutzlos ist.  Dies war keineswegs immer so.  Neil Postman hat gezeigt,
daß die Siedler des 17. Jahrhunderts gemessen an den Maßstäben ihrer
Zeit relativ gebildet waren. 95% der männlichen Einwanderer konnten
die Bibel lesen; bei den weiblichen Einwanderern waren es immerhin
62%.  Man las auch andere Texte, einige wurden aus England importiert.
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich eine
Druckindustrie mit erheblichem Einfluß auf das kulturelle Leben
Amerikas.

Mit ihren Schriftkulturen brachten die englischen, französischen und
holländischen Einwanderer alle Merkmale der Schriftkultur mit, welche
schließlich die Grundlage des amerikanischen Regierungssystems
bildeten.  Die nachfolgenden Einwanderungswellen brachten gelernte
und ungelernte Arbeiter, Intellektuelle und Bauern.  Sie alle mußten
sich der fremden Kultur anpassen, die sich zunächst am britischen
Modell orientierte, später aber seine eigenen Merkmale herausbildete.
Die unterschiedlichen nationalen und ethnischen Gruppierungen mit
ihren jeweils unterschiedlichen Erfahrungen der Lebenspraxis ohne
einen gemeinsamen Nenner mußten sich aufeinander und miteinander
einrichten.  Das Land wuchs schnell und mit ihm seine Industrie, das
Verkehrssystem, die Landwirtschaft, ein Bankensystem und die vielen
anderen Dienstleistungen, die durch die wirtschaftliche Entwicklung
ermöglicht und für deren Weiterentwicklung notwendig wurden.  Bis zu
einem gewissen Ausmaß war die Schriftkultur ein Teil dieser
Errungenschaften.  Das junge Land entwickelte recht bald eine eigene
Literatur, in der sich die eigenen neuen Erfahrungen widerspiegelten.
Diese Literatur orientierte sich aber weiterhin an der Schriftkultur
des alten Mutterlandes.  Wenn ich betone, daß dies nur zu einem
gewissen Maß der Fall war, dann deshalb, weil die Geschichte einer
jeden einzelnen Errungenschaft zeigt, daß die dieser Schriftkultur
inhärenten Merkmale unter dem Banner von Völkerrecht, Demokratie,
Individualität und Fortschritt zunehmend in Frage gestellt wurden.

Allerdings erklärt dieser Hintergrund, warum die Amerikaner sich
nicht gern als eine kulturlose Nation bezeichnen lassen.
Verständlich ist ebenfalls, daß sie sich aus diesem Grunde auch
weiterhin der Schriftkultur verpflichtet fühlen und daß viele in ihr
ein Allheilmittel für die heutigen Probleme sehen, die sich aus den
schnellen technologischen Veränderungszyklen, aus den neuen Formen
menschlicher Interaktion und aus der neuen Lebenspraxis ergeben.  Ihr
ererbtes Verhältnis zur Geschichte läßt sie keine Mühen und kein Geld
in dem Versuch scheuen, die Entwicklung umzukehren und Amerika zu
seiner alten Größe oder doch zumindest zu einer gewissen Form der
Stabilität zurückzuführen.  Möglicherweise unterliegt man dabei einem
Irrtum oder einem Phantom; denn wenn wir uns die Errungenschaften der
Vereinigten Staaten genauer betrachten, zeigt sich, daß es nicht sehr
viel gibt, was dieses Land zu den kulturellen Riesen vergangener oder
gegenwärtiger Kulturen zählen lassen könnte.

Amerika hat im Verlauf seiner Geschichte in einem gewissen Maß immer
den Bruch mit den Werten der Alten Welt verkörpert.  Die neuen
Siedler der holländischen, französischen und englischen Kolonien
hatten zumindest eines gemeinsam: Sie waren der Hierarchie der
zentralen politischen und religiösen Herrschaft und den starren
Regeln des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens entflohen, die
gemeinsam eine Ordnung repräsentierten, die sie an ihrem Platz hielt.
Die Maxime eines John Smith, daß die, die nicht arbeiten, auch
nichts zu essen haben, stellte vielleicht die erste Erschütterung des
europäischen Wertesystems dar, in dem Sprache und Kultur eng an
Sozialstatus und Privileg geknüpft waren.

Mit ziemlicher Sicherheit kamen die Einwanderer gleich welchen
Standes nicht mit dem Vorsatz, den damals vorherrschenden
Sinnzusammenhang und die vorherrschenden Moralvorstellungen zu
stürzen.  Jede neue Entwicklung ist zunächst einmal durch eine Phase
der Nachahmung des Alten gekennzeichnet, von den religiösen Bräuchen
bis hin zu den Arbeits- und Unterhaltungsformen, zu Erziehung,
Kleidung und dem Verhältnis zu Randgruppen (Eingeborenen, Sklaven,
religiösen Sekten).  In dieser Phase der Nachahmung etablierte sich
im Süden der Vereinigten Staaten eine Art von Aristokratie, die dem
englischen Modell nacheiferte.  Als die neuen Kolonialherren der
Oberschicht gegen die ihnen von König George III. auferlegten Steuern
und Strafgesetze protestierten, forderten sie ihre Rechte als
Engländer ein, mit allem, was diese Bezeichnung beinhaltete.
Jeffersons Modell für die freien Vereinigten Staaten bedeutete nichts
anderes, als daß der Agrarstaat die klassischen Ideale, die ihn
motivierten, am besten verkörperte.  Jefferson selbst, ein Landjunker,
der in der Logik der griechischen und römischen Kultur ausgebildet
war und Sklaven hielt, versinnbildlichte diese auf Schriftkultur
gründende Lebenspraxis.  Sein Wissen hat er aus Büchern bezogen.
Seine unterschiedlichen Interessen für Architektur, Politik,
Planungsaufgaben und Verwaltung konnte er nur in einem pragmatischen
Handlungsrahmen zusammenführen, für den die Schriftkultur angemessen
war.  Und obwohl er selbst die von seinen Mitbürgern favorisierte
Monarchie ablehnte, konnte er selbst eine königliche Macht ausüben,
die im exekutiven Teil der Regierung angelegt war.  Sein Lebenslauf
zeigt, wie man monarchistisches Zentralitäts- und Hierarchiedenken in
die neuen politischen Formen der sich herausbildenden Demokratien
umsetzte.  An dieser frühen Phase Amerikas können wir ablesen, wie
die Schriftkultur das nicht-egalitäre Modell in ein neues Modell
überführt und die neuen Ideale der Menschenrechte und der Gleichheit
der Menschen vor dem Gesetz sowie eine neue Vorstellung von Autorität
entwickelt hat, die sich aus der Religion ableitet, im politischen
Leben praktiziert wird und auf die Erwartungen der Mitmenschen
ausgerichtet ist.

Neue Paradigmen entwickeln sich wie Schößlinge aus den alten heraus.
Unter dem Zwang, für ihre neue Identität einen neuen Handlungsrahmen
zu finden, entwickelten die Einwanderer einen alternativen Kontext
für die Entfaltung der industriellen Revolution.  In diesem
Entwicklungsprozeß veränderten sie sich mehr, als sie es hatten
voraussehen können.  Politisch schufen sie die neuen Bedingungen, die
ihnen letztlich die Emanzipation von den Zwängen des von ihnen
zurückgelassenen politischen Systems brachten.  Damit änderten sich
ihr Lebensrhythmus, ihre Sprach-, Denk- und sozialen Gewohnheiten.
Als de Toqueville in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts Amerika
bereiste, waren einige Merkmale dieses neuen Paradigmas bereits zu
erkennen.  Spezielle Aufmerksamkeit widmete er dabei den sich
abzeichnenden neuen Werten, die er aus der Tatsache heraus erklärte,
daß dieses Land frei war von historischen Zwängen und den Fesseln
gesellschaftlicher und kultureller Überlieferungen.  Besonders die
auf beruflichen und privaten Nutzen ausgerichtete Haltung gegenüber
Bildung und Ausbildung konnten ihn beeindrucken sowie die Tatsache,
daß Bildung und Kultur nicht Privilegien einer bestimmten Klasse
waren.  Seine Sichtweise war trotz seiner Gelehrsamkeit und seines
Ansehens zwangsläufig begrenzt.  Die französische Regierung hatte ihn
nach Amerika geschickt, um die Gefängnisse und Strafanstalten der
Neuen Welt zu untersuchen; für uns heute wurde die Untersuchung ein
Dokument dafür, wie ein hochgebildeter Europäer die sozialen und
politischen Institutionen jener Zeit aufnahm.  Dabei zeichneten sich
zur Zeit seines Aufenthaltes zahlreiche Merkmale einer Kultur
jenseits der Schriftlichkeit bereits ab.  Er hob die Kürze der
Regierungszyklen hervor, den weitgehend mündlichen Charakter der
öffentlichen Verwaltung, die Flüchtigkeit der eingegangenen
Verpflichtungen.  Er sah, daß Amerika in Ermangelung einer eigenen
Geschichte würde "Rückgriff nehmen müssen auf die Geschichte anderer."
In seiner Beschreibung drückt sich die Überraschung aus, die die
in Amerika erfahrene Diskontinuität, der Wandel und eine in anderen
Teilen der Welt weniger offenkundige Dynamik bei ihm hervorriefen.

Zweifellos formulierte die Neue Welt neue Themen, die von Amerikanern
und Europäern unterschiedlich angegangen und interpretiert wurden.
Die eher europäisch orientierten Städte des amerikanischen
Nordostens--Boston, New York, Philadelphia--hielten über
Universitäten und Wissenschaften, Dichtung, Essayismus und Künste
ihre kulturelle Bindung an die Alte Welt aufrecht.  Trotzdem klagte
Washington Irving darüber, daß man in den Vereinigten Staaten nicht
wie in Europa seinen Lebensunterhalt als Schriftsteller verdienen
könnte.  Tatsächlich arbeiteten viele Schriftsteller als Journalisten
(was eine Form von Schriftstellerei ist) oder als Beamte.  Doch das
wirkliche Amerika gewann westlich des Hudson und jenseits der
Appalachen Gestalt.  Dort spielte die Vergangenheit tatsächlich so
gut wie keine Rolle.

Als Teilergebnis des Bürgerkrieges wurde in Amerika die Sklaverei
abgeschafft.  Zur selben Zeit deutete sich aber auch eine Veränderung
der Grundstrukturen der amerikanischen Gesellschaft an, die aus der
Schriftkultur hervorgegangen war.  Die industrielle Revolution
vollzog sich in Amerika vor einem Hintergrund, der sich von dem in
Europa ganz wesentlich unterschied--hier hatten wir eine riesengroße
Insel, die für eine kurze Zeit lang relativ autark war.  Und aus der
Lebenspraxis des postindustriellen Zeitalters entwickelten sich neue
Antriebskräfte mit dem Ziel, Amerika für die Welt und soviel wie
möglich von der Welt für Amerika zu öffnen--ohne Rücksicht darauf,
wie so etwas zu bewerkstelligen war.  Dieser Entwicklungsprozeß wirkt
sich unvermindert auf die wirtschaftliche Entwicklung, auf die
Finanzmärkte, auf die kulturellen Beziehungen und auf das
Bildungswesen aus.


"Das Beste von dem, was nützlich ist und schön"

Man könnte dem entgegenhalten, daß nunmehr weitere 150 Jahre
verstrichen sind und daß die amerikanische Mentalität nicht nur durch
den Geschäftsgeist geformt wurde.  Man kann auf das literarische Erbe
verweisen, das von Washington Irving, Mark Twain, Henry Wadsworth
Longfellow, Ralph Waldo Emerson, Nathanael Hawthorne, Henry James
geformt wurde.  Die amerikanischen Schriftsteller des 20.
Jahrhunderts fanden weltweite Wertschätzung und Nachahmung.  Faulkner
und Hemingway sind die bekanntesten Beispiele.  Heute werden selbst
weniger bedeutende amerikanische Schriftsteller in viele europäische
Sprachen übersetzt, und zwar aus denselben Gründen, aus denen man
Disneyland nach Frankreich holte.  Die Amerikaner ihrerseits werden
auf die Theater (mit europäischem Spielplan) und Opernhäuser
hinweisen, dabei aber vergessen, daß diese erst relativ spät
eingerichtet worden sind.  Aber darin liegt kein Widerspruch: solche
Einflüsse haben die Entwicklung in Amerika nur beschleunigt.

Das Bildungswesen ist hierfür ein gutes Beispiel.  Die amerikanischen
Colleges und Universitäten aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert
waren ganz am traditionellen Modell der Bildung um der Bildung willen
ausgerichtet, und das heißt an moralischer und geistiger Bildung
durch das Studium der Klassiker.  Dieses Prinzip konnte sich so lange
halten, bis verschiedene Interessengruppen, vor allem Geschäftsleute,
die Validität eines Bildungsprogramms in Frage stellten, das nur
geringen oder gar keinen pragmatischen Wert besaß.  Diese
Institutionen lagen allesamt im Osten--Harvard, Brown, Yale, Columbia,
William and Mary--die Curricula waren identisch mit jenen in der
Alten Welt.  Besucht wurden sie von der Elite Amerikas.  Die
Universitäten jüngeren Datums, die sogenannten Land Grant Colleges,
die sich später zu den State Universities (wie Ohio State University,
Texas A&M) weiterentwickelten, wurden im letzten Viertel des 19.
Jahrhunderts westlich des Alleghenys gegründet und verfolgten
pragmatischere Bildungsziele--etwa Landwirtschaft und Maschinenbau,
je nach regionalem, nicht nach nationalem Bedarf.

Mit Blick auf diesen Nutzen haben sich die amerikanischen
Universitäten zunehmend zu Einrichtungen der Berufsausbildung auf
(mehr oder weniger) hohem Niveau entwickelt, die das anbieten, was
die weiterführenden Schulen in der Ausbildung versäumt haben.  Das
auf den alten Bildungsidealen beruhende Ausbildungsmodell kollidierte
mit den pragmatischen Anforderungen der Berufswelt und mit
antielitären politischen Erwartungen; daraus ergab sich eine
merkwürdig hybride Situation.  Die allmähliche Veränderung der
Curricula zeigt, daß Logik, Rhetorik, Kultur, Ehrfurcht vor dem Wort
und den Regeln der Grammatik und Syntax--allesamt Werte, die sich aus
den alten Bildungsvorstellungen und einer allein vorherrschenden
Schriftkultur ergaben--längst abgelöst worden sind durch
spezialisierte Studien in Philosophie, Literatur und schriftlicher
Kommunikation, genauer: durch ein verwirrendes Angebot an frei zu
wählenden Spezialkursen.  Seitdem die Literatur ihren romantischen
Anspruch auf Dauerhaftigkeit und Allgemeingültigkeit aufgegeben hat,
öffnet sie sich beständig wechselnden Betrachtungsweisen, die mit
zunehmendem Opportunismus und zunehmender Geschwindigkeit auf die
jeweils modifizierten Fragestellungen Rücksicht nehmen: Feminismus,
Multikulturalität, Pazifismus.  Wahrheit in der Form von
literarischer Fiktion oder auch nur Hoffnung haben der Ungewißheit
Platz gemacht.  In diesem Zusammenhang verlieren Sprachwissenschaft
und Philologie ihre Bedeutung oder verschwinden vollends aus den
Curricula der Universitäten.  Ebenso hat die Wirtschaftswissenschaft
ihr philosophisches Rückgrat verloren und versteht sich zunehmend als
Übung in Statistik und Mathematik.

Mit Blick auf die heutigen Studienpläne fragen die Studenten
zunehmend nach dem Zweck des Lehrangebots.  Diese Frage stellt sich
vor allem bei Literatur, Mathematik, Philosophie und fast allem, was
im Rahmen der herkömmlichen Bildung und Schriftkultur als
Grundlagenfach angesehen wurde.  Die Schuld dafür trifft nicht die
jungen Leute, die das Universitätssystem durchlaufen.  Sie versuchen
lediglich, sich auf die Erwartungen einzustellen, die an sie
herangetragen werden: erst der Erwerb des Führerscheins, dann ein
Universitätsdiplom, schließlich Steuern zahlen.  In Amerika braucht
man ein Universitätsdiplom nicht, weil der spätere Beruf eine
akademische Bildung voraussetzt, sondern weil es das
Gleichheitsprinzip erfordert.  In einem Land, das sich historisch aus
dem Widerspruch zu Hierarchie und zu Ungleichheit entwickelt hat,
wird nicht einmal der Anschein von individueller Überlegenheit
toleriert.  Das Privileg einer Universitätsausbildung, wie Amerika
sie zunächst von Europa übernommen hat, gilt als Ungerechtigkeit.
Daher ähneln die heutigen Universitäten eher einem Einkaufszentrum.
Universitätsabschlüsse, vom B. A. bis zum Doktorgrad, gelten als
Testat für den Besuch einer Universität, als Voraussetzung für eine
berufliche Karriere, nicht notwendigerweise als Beleg für
anstrengende geistige Tätigkeit und entsprechende wissenschaftliche
Leistungsfähigkeit.  Wer heute eine Universität besucht, erwartet
danach einen besseren (d. h. höher bezahlten) Job.

Zunehmend bieten die Universitäten daher auch Studiengänge an, die
nicht eigentlich auf Bildung, sondern auf Ausbildung abzielen.  Im
gleichen Maß ist der Wert eines Universitätsabschlusses (nicht der
Preis, den man dafür bezahlen muß) gesunken.  Manche meinen sogar,
daß bald auch ein Straßenfeger (Hygienetechniker) einen
Universitätsabschluß benötigt.  Tatsächlich wird man wohl einen
Universitätsabschluß so selbstverständlich haben wie heute einen
Schulabschluß.  Und der Lohn eines solchen Hygienearbeiters wird so
hoch sein (dank der Inflation, die mit der Demagogie stets Schritt
gehalten hat), daß ein Universitätsabsolvent seinen Anspruch
gegenüber einem Bewerber ohne Gymnasialabschluß durchsetzen wird.

Amerika hat sich selten oder nie für Gedanken um der Gedanken selbst
willen interessiert.  Allgemeine schöngeistige Fähigkeiten oder
intellektuelle Überhöhung sind Importe aus der Alten Welt.  Gewiß
haben in der Frühgeschichte der USA die Transzendentalisten eine
starke geistige Rolle gespielt, aber auch sie haben lediglich die aus
Europa eingeführte Saat sprießen lassen.  Sie und andere--etwa die
philosophische Schule, die wir mit Peirce, Dewey, James und Royce
identifizieren--haben im amerikanischen Leben nie wirklich Wurzeln
geschlagen und Blüten getrieben, die man mehr schätzte als die
importierten.  Amerikas Stolz liegt in seinen Produkten und in seiner
Pragmatik, nicht in seinem Denken und in seinen Visionen.

Dennoch fordern die führenden Vertreter von Industrie und Wirtschaft
immer noch Bildung ein und sagen Schulen und Universitäten ihre
Unterstützung zu.  Bei näherer Betrachtung erweist sich ihre Haltung
jedoch als doppelzüngig.  Die amerikanische Wirtschaft brauchte
natürlich Menschen wie Cooper, Edison und Bell; auf ihren
Entdeckungen und Erfindungen wurde die amerikanische Industrie
aufgebaut.  Als sie in Gang gekommen war, benötigte man Konsumenten
mit ausreichend Geld, um die Produkte dieser Industrie zu kaufen.
Wirtschaft förderte Bildung als ein allgemeines Recht und verwendete
alle Steuersubventionen darauf, diese Bildung gemäß den Interessen
von Wirtschaft und Industrie auszurichten.  Als Folge zählen in der
amerikanischen Gesellschaft Ideen und Gedanken nur auf einer
materiellen Ebene, nur insofern als sie Nützlichkeit, Bequemlichkeit,
Luxus und Unterhaltung fördern, bzw. den Profit erhöhen.  "Je eher,
desto besser" ist eine Maxime, die diesen Effizienzanspruch gut
ausdrückt, eine Maxime, die sich für die Nebenwirkungen von
Produktion und Handlungen nicht interessiert, solange der Hauptzweck
der Profitmaximierung erfüllt ist.  Als "smart fellow" gilt nicht der
gebildete Bürger, sondern der, der reich geworden ist, ganz gleich
mit welchen Mitteln.  Eine derartige Wertschätzung des materiellen
Erfolges ungeachtet der dafür aufgewendeten Mittel ist Teil der
amerikanischen Teleologie (die sich bisweilen in trauter Eintracht
mit der amerikanischen Theologie befindet).


Das Rückspiegelsyndrom

Warum also wenden sich die Amerikaner überhaupt noch einer Zeit zu,
in der die Menschen "lesen und schreiben konnten", einer Zeit, in der
"jede Stadt fünf verschiedene Zeitungen hatte"?  Es liegt vermutlich
daran, daß die großen Unternehmen, die allesamt ihre Marktposition
vor der Einführung der neuen Kommunikations- und Mediationsmittel
aufgebaut hatten, in diese Schriftkultur investiert haben: in
Zeitungen, Verlagshäuser und vor allem in Universitäten.  Aber für
Universitätsabsolventen, die in ihren Studiengebieten keine
Berufsanstellung finden, klingt das Versprechen auf Bildung und den
daraus zu ziehenden Nutzen merkwürdig hohl.

Was aber hat der neue pragmatische Handlungsrahmen der Neuen Welt den
Bildungsgrundlagen der Schriftkultur an Errungenschaften
entgegenzusetzen?  Zunächst einmal den wesentlichen Umstand, daß dem
einen beherrschenden, auf Schriftlichkeit und Bildung gründenden
Handlungsmodus neue Formen des Ausdrucks, der Mitteilung und der
Kommunikation gleichgestellt wurden.  Peter Cooper, der Gründer einer
einflußreichen Stiftung zur Förderung der Wissenschaft und Kunst in
New York, war im wahrsten Sinne des Wortes Analphabet.  Er konnte
nicht lesen.  Er machte ein Vermögen in der Eisenbahn-, Klebstoff-
und Gelatineindustrie.  Ganz zweifellos war er nicht ohne Intelligenz.
Das gilt für viele Pioniere, die ihre Werkzeuge besser beherrschten
als ihre Füllfederhalter.  Sie lasen in der Natur mit mehr
Weltverständnis, als manche Universitätsstudenten in ihren Büchern
lesen.  Es gibt andere spektakuläre Beispiele für Erfolg jenseits von
Bildung.  Etwa der kalifornische Geschäftsmann, der als Analphabet 18
Jahre lang Mathematik und Sozialwissenschaften an einer Highschool
unterrichtete und aus nicht ganz nachvollziehbaren Gründen als
Musterbeispiel für die Vorzüge von Bildung zur Fernsehzelebrität
avancierte.  Menschen wie er greifen auf ein Erinnerungsvermögen oder
auf Intelligenzformen zurück, die nicht an die Konventionen der
Schriftlichkeit gebunden sind.  Pädagogen, die heute noch immer
bedingungslos an den Konventionen der Schriftkultur und der
Schriftlichkeit festhalten, als wären sie die einzigen, die die
Lebensfähigkeit und das Verständnis der Mitmenschen garantieren,
ignorieren Howard Gardners Theorie der multiplen Intelligenzen
(früher nannten wir sie Fähigkeiten).  Nur wenige widersetzen sich
der Alleinherrschaft der Schriftkultur.  William Burroughs, der die
"Sprache als einen Virus aus dem Weltraum" bezeichnet hat, ist einer
von ihnen.  Eine solche Bezeichnung erscheint nicht ganz grundlos,
wenn wir uns die vielfältigen Formen des Sprachmißbrauchs vor Augen
halten.

Die amerikanische Erfahrung lehrt, welche sozialen, wirtschaftlichen
und kulturellen Folgen die Propagierung eines einzigen, auf
Schriftlichkeit gründenden Modells der weiterführenden Bildung mit
sich bringt.  Sie ist sehr kostenaufwendig.  Sie überdeckt
Unterschiede, statt sich mit ihnen auseinanderzusetzen oder sie zu
fördern.  Sie weckt Erwartungen einer kulturellen Homogenität in
einem Umfeld, dessen Stärke die Heterogenität ist.  Damit aber
negiert dieses Bildungsmodell, das von seiner Attraktivität noch
immer nichts verloren zu haben scheint, eine der wesentlichen Quellen
der amerikanischen Dynamik und Vitalität--die Offenheit für
Alternativen, die sich historisch aus der Opposition zu Zentralismus
und Hierarchie als treibende Kraft der amerikanischen Geschichte
erwiesen hat.  Eine auf praktische Zwecke ausgerichtete Bildung und
die Vielfalt zahlreicher unterschiedlicher Bildungsformen, welche der
Vielfalt der menschlichen Erfahrung entsprechen, ist eine
amerikanische Entdeckung.  Der Unterschied zwischen einer Bildung um
der Bildung willen und einer Bildung, die sich an den pragmatischen
Erfordernissen der Wirklichkeit orientiert, markiert den Punkt, an
dem sich die Wege scheiden.

Auf der Suche nach neuen Werten oder in der Konfrontation mit
unvereinbaren Antworten auf drängende Fragen orientiert man sich gern
an einer im Rückblick oft problemlos erscheinenden Vergangenheit.
Sodann fragt man sich, durch welche Merkmale diese scheinbar heile
Vergangenheit gekennzeichnet war.  So erklärt sich wohl auch heute
die Nostalgie, die sich zur Schriftkultur und den Bildungsidealen
einer vergangenen Zeit zurücksehnt.  Und man schließt die Augen vor
der Tatsache, daß Amerika diesem romantischen Bild von der
Vergangenheit nie entsprochen hat.  Im Süden war diese Art von
Bildung niemals allgemein verbindlich.  Sklaven und arme Weiße waren
stets ausgeschlossen, Frauen zu dieser Art von Bildung nicht gerade
ermuntert.  Insgesamt hatte ein protestantisch geprägtes
Weltverständnis die Bildungsthemen bestimmt.

Und während man insgesamt dazu neigt, die Leistungen und
Errungenschaften jenseits von Bildung und Schriftkultur und die
dynamische Lebenskraft eines nicht-gebildeten Amerikas unbeachtet zu
lassen, verehrt man nach wie vor die vermeintlich wirklichen
Kulturnationen, ohne zur Kenntnis zu nehmen, daß in vielen von ihnen
die alten Werte und die als Vermittler dieser Werte fungierenden
Bildungstraditionen in Frage gestellt werden.  Der allgemeine
Pragmatismus, der bei der Geburt Amerikas Pate stand und Amerikas
Entwicklung seit jeher begleitet hat, galt indes immer als Wert, für
den zu kämpfen sich lohnt.  In Europa hingegen, wo die überwiegenden
Länder weiterführende und universitäre Bildung nahezu kostenlos
ermöglichen, ist die Zahl derer, die einen Universitätsabschluß
vorweisen, ständig gestiegen.  In der Folge überfluten nun
Universitätsabsolventen den Arbeitsmarkt und müssen entdecken, daß
sie auf dessen Erfordernisse nicht genügend vorbereitet sind, schon
gar nicht auf die neuen Formen des Informationsaustausches, der sich
überall auf der Welt durchsetzt.  In Europa herrscht noch immer eine
weitgehende Trennung zwischen Universitätsbildung und
Berufsausbildung.  Hier ist ein Universitätsabschluß noch immer
Ausweis einer allgemeinen intellektuellen Fähigkeit, nicht einer
hochqualifizierten Berufsausbildung.  Damit setzen sich die
Universitäten dem Vorwurf aus, Elfenbeintürme zu sein, in denen die
Studenten auf das praktische Leben unzureichend vorbereitet werden.
Nicht zufällig bezeichnet man in Deutschland die "klassischen
Bildungsfächer" wie Literaturwissenschaft, Philosophie,
Musikwissenschaft und Religion als brotlose Kunst.

Beim Vergleich mit anderen Kulturen haben die Amerikaner gern zum
Konkurrenten Japan geblickt und die Forderung erhoben, das
amerikanische Bildungssystem dem japanischen anzugleichen.  Die
Kritiker übersehen dabei, daß die hohe Produktionsrate in Japan
weniger etwas mit dem Bildungsstand zu tun hat, sondern vielmehr auf
die rigiden Erziehungsmethoden der dortigen Bildungseinrichtungen
zurückzuführen ist.  Grundlegende Verhaltensweisen wie Konformität,
Teamgeist, Hierarchiebewußtsein und ein fast schon heiliges
Traditionsbewußtsein sind wichtige Bestandteile dieser Bildung.  Um
unterschiedliche Arbeitsprozesse am Fließband miteinander zu
verbinden oder bestimmte, von hochentwickelten Maschinen
vorfabrizierte Modulkomponenten zusammenzufügen, bedarf es keiner
vertieften Bildung.  Viel wichtigere Voraussetzungen hierfür sind ein
ausgeprägtes Pflichtbewußtsein und der Stolz auf eine gut verrichtete
Arbeit--Denkweisen, die in einem Klima sozialer Sicherheit und
Dauerhaftigkeit gedeihen.  Das japanische Wirtschafts- und
Bildungssystem hat keinen großen Spielraum für Abweichungen oder die
Entwicklung neuer Modelle.  In dem prekären Versuch, ihre Identität
zu wahren und zugleich ihre wirtschaftliche Expansion voranzutreiben,
betrieben die Japaner die Doppelstrategie von Abschottung und
gleichzeitiger Öffnung.  Diese Strategie zeigt sich vor allem darin,
daß sie sich die in anderen Ländern ertragreichen Wirtschaftszweige
aneignen und dann in einen Wettbewerb eintreten, der die spezifisch
japanischen Eigenschaften (Qualitätsarbeit, Durchhaltevermögen,
Kollusion) um die angemessenen fremden Komponenten ergänzt.  Fast die
gesamte Infrastruktur des Fernsehens, jedenfalls in der analogen Form,
ist japanisch.  Würde aus irgendeinem Grunde die Programmkomponente,
d. h. die Inhalte der ausgestrahlten Programme, wegfallen, wäre die
gesamte wundervolle Ausrüstung der Fernsehtechnologie mit einem
Schlage unbrauchbar.  Aus diesem Grunde ist Japan auch überhaupt
nicht an einem Paradigmenwechsel in der Fernsehtechnik, etwa dem
revolutionären Digitalfernsehen, interessiert, weil sich ein riesiger
Industriezweig, dessen Produkte in fast jedem Haushalt dieser Welt
präsent sind, völlig neu erfinden müßte.  Die das gebildete Japan
durchziehende Erwartung der Beständigkeit greift mithin von der
Tradition der Schriftkultur auf ein Medium der Schriftlosigkeit über.
Im amerikanischen Zusammenhang hingegen, in dem stabile
Verbindlichkeiten eine sehr viel geringere Rolle spielen, stellt das
Digitalfernsehen wie alle anderen Innovationen im Computerbereich
eine Herausforderung, nicht etwa eine Bedrohung der wirtschaftlichen
Infrastruktur dar.  Das ist kein zufälliges Beispiel.  In ihm
zeichnet sich nämlich beispielhaft die Dynamik ab, die im Übergang
von einer auf Schriftkultur und Bildung beruhenden Kultur zu einer
Kultur mit mehreren miteinander konkurrierenden Formen der
Schriftlichkeit und Bildung liegt.  Diese ergeben sich vornehmlich
aus den Veränderungen, die aus relativ kleinen autarken und homogenen
Gemeinschaften eine einzige, global ausgerichtete, durch Fernsehen
und andere digitale Medien effizient verbundene Welt machen.  Als
Illiterati haben die Amerikaner immerhin die Medizin, die
Genforschung, die Entwicklung internationaler Netzwerke, interaktiver
Multimedien und virtueller Realitäten revolutioniert und damit ihre
Innovations- und Erfindungskraft bewiesen.

Natürlich ist es einfacher, Bildungspläne zu entwerfen, die
unabhängig von den pragmatischen Erfordernissen der Lebenswelt auf
Dauerhaftigkeit angelegt sind.  Eine optimale, auf die pragmatischen
Bedürfnisse der in hohem Maße vermittelten und durch Arbeitsteilung
und weltweite Verknüpfung gekennzeichneten Arbeitswelt ausgerichtete
Erziehung muß vor allem das Erlernen neuer kognitiver Fähigkeiten in
den Mittelpunkt stellen.  Die zentralisierte, nicht sequentielle,
nicht deterministische Erfahrung erfordert kognitive Fähigkeiten, die
sich von den Merkmalen einer allgemeinen Bildung und Schriftkultur
unterscheiden.  Früher hatte man aufgrund seiner Schulausbildung noch
vor dem Schulabschluß einen Platz in der Arbeitswelt gefunden.  Heute
produzieren Schulen die merkwürdige Version des allgemein gebildeten
Schülers, der dann noch das College besuchen muß, das dadurch immer
mehr zu einer Berufsschule (wenn auch längst nicht im erforderlichen
Ausmaß) wird.  Die Universitäten ihrerseits haben unter dem Alibi der
Chancengleichheit und in der ausschließlichen Beschäftigung mit sich
selbst der allgemeinen Erziehung und Bildung mehr Schaden zugefügt
als Nutzen, indem sie den Bürgern ihre Bildungsvorstellungen als die
einzig denkbaren zur Erreichung eines besseren Lebens aufoktroyiert
haben.  Das Ergebnis sind überfüllte Kurse, in denen passive
Studenten wie am Fließband durch die Kurse geschleust werden.  Allein
das Wort Universität bezeichnet eine universelle Bildungsauffassung,
die sich im Mittelalter entwickelt hat und in den USA schon vor über
einem Jahrhundert ihre Gültigkeit verlor.  Im Zeitalter einer
globalen Wirklichkeit und vieler nebeneinander gültiger Paradigmen
ist die Universität keineswegs mehr universell, sondern in hohem Maße
spezialisiert.

Bei all diesen Veränderungen hat Amerika, dessen Identität auf
Innovation und Selbstverantwortung gründet, seine ureigene
Philosophie der Dezentralisierung und Hierarchiefreiheit offenbar
vergessen.  Bei der Dezentralisierung und Vernetzung der
Arbeitsplätze, bei der Neustrukturierung von Unternehmen waren Firmen
aus der Computertechnologiebranche führend.  Die meisten
Wirtschaftsvertreter, besonders jene in den etablierten großen Firmen,
zeigen sich noch immer zurückhaltend, wenn es darum geht, Methoden
des Matrixmanagements oder dezentralisierte Organisation und
Betriebsstrukturen einzuführen.  Nach einer Welle der
Umstrukturierung und Verschlankung sehen sich die Präsidenten und
Vorstandsvorsitzenden (im übrigen ganz ähnlich wie
Universitätspräsidenten und Schuldirektoren) unverändert als Könige,
während sich die Arbeiter, sofern sie nicht durch Maschinen ersetzt
wurden, in einem sklavenähnlichen Zustand befinden.  Formen der
Dezentralisierung wie Heimarbeit oder andere Arbeits- und
Verantwortungsteilung, allesamt effizienzerhöhend, setzen sich nur
mühsam durch.  Doch die Verhältnisse ändern sich!  Wo immer es
Mechanismen gibt, die die Welt von ihren auf klassischer Bildung und
Schriftkultur basierenden Handlungsprinzipien hinführen in eine
Zukunft erhöhter Effizienz und völlig neuer Tätigkeiten, tragen sie
den Stempel der USA. Und ohne Zweifel sind alle diese Mechanismen
digitaler Natur.

Die Abwendung von den ursprünglichen pluralistischen Grundlagen der
amerikanischen Geschichte wirkt sich auch im politischen Bereich aus.
Ehedem hatte Amerika eine ansehnliche Zahl von politischen Parteien
aufzuweisen.  Heute ist das politische System mehr oder weniger auf
ein dualistisches Modell zweier miteinander wetteifernder Parteien
reduziert, in dem sich das politische System jenes Weltreichs
widerspiegelt, dem es ursprünglich angehörte.  Andere europäische und
zahlreiche afrikanische und asiatische Länder haben ein
Vielparteiensystem, in dem sich die Vielfalt der Meinungen
widerspiegelt und das entsprechend den Vorteil der Vielfalt nutzen
kann.  Solche Systeme bringen einen größeren Prozentsatz der Bürger
zur Wahl als das Zweiparteiensystem in den Vereinigten Staaten.  Alle
vier Jahre fordern die Amerikaner bei den Wahlen ein breiteres
Parteienangebot, aber nur ein einziger Staat, Alaska, kann mit mehr
als zwei Parteien aufwarten; interessanterweise gehört der Gouverneur
von Alaska weder der Republikanischen noch der Demokratischen Partei
an.

Die USA haben einen derartigen Bildungskomplex entwickelt, daß nahezu
alles als Bildung durchgeht--kulturelle Bildung, Computerbildung,
visuelle Bildung usw. unabhängig davon, ob Bildung wirklich gefragt
ist oder nicht.  Bildung hat sich gewissermaßen selbst spezialisiert.
Hinzu treten neue Bildungsformen, die sich von den Idealen und
Erwartungen der klassischen Bildung deutlich unterscheiden und sich
in solchen Bereichen der Lebenspraxis herausgebildet haben, in denen
Schreiben und Lesen nicht mehr erforderlich sind.  Die sich darin
abzeichnende Ausdrucksvielfalt und Bandbreite der
Kommunikationsmöglichkeiten lassen die neuen Errungenschaften des
Menschen erkennen und öffnen neue Wege für Kreativität und
Wirtschaftskraft.  Der Zustand der Sprache, besonders der Niedergang
der Schriftkultur, ist zugleich ein Symptom für diesen neuen
Entwicklungsprozeß.  In ihm spiegelt sich keineswegs ein Versagen der
Landespolitik oder des politischen Willens.  Dieses
Entwicklungsstadium verrät lediglich einen neuen, sich ständig
weiterentwickelnden Geist, der sich nicht einer einzigen Bildungsform
unterwerfen läßt, welche zudem in mancherlei Hinsicht ihre
Nützlichkeit verloren hat.  Möglicherweise hat Amerika erst mit
diesem neuen Stadium seine eigentliche Reife gefunden.  Nicht wenige
sehen in der Krise der Sprache die Krise des weißen Mannes (siehe
Gottfried Benn) oder doch zumindest der westlichen Kultur.

Ist also die USA das Sinnbild einer Kultur der Schriftlosigkeit, der
‘Illiteralität’?  Sie ist es zumindest in dem Maße, in dem sie eine
Alternative zu einer Welt darstellt, die ausschließlich durch
traditionelle Bildung und Schriftkultur gekennzeichnet ist.  Als
Verkörperung einer Kultur jenseits der Schriftkultur hat Amerika
gezeigt, wie verschiedene Bildungsformen nebeneinander bestehen und
sich gegenseitig ergänzen können.  Wo immer die Grundprinzipien der
Anpassung, der Offenheit, der Erprobung und Überprüfung neuer Modelle
und neuer pragmatisch ausgerichteter Institutionen verfolgt werden,
ist das Ergebnis eine erhöhte Effizienz.  Der Preis, den die Menschen
für diese erhöhte Effizienz bezahlen müssen, ist nicht gering:
Personalabbau, Arbeitsplatzwechsel und Entwurzelung, Arbeitslosigkeit,
ein Verlust des Gefühls der Beständigkeit, nach dem sich letztlich
ein jeder sehnt.  Ebenso aufgegeben werden muß die Fähigkeit oder der
Anspruch, alle in einer bestimmten Situation relevanten Aspekte
überblicken und bedenken zu können--die politischen, ökologischen,
sozialen, legalen und religiösen.  Solche Aspekte gehen über das
unmittelbar Erfahrbare hinaus und setzen an Stelle des
spezialisierten, auf die eigentliche Aufgabe konzentrierten,
bisweilen aber auch kurzsichtigen und engstirnigen Blicks einen
breiten Blickwinkel voraus, den die alten Bildungs- und
Ausbildungsformen ermöglichten.  Andererseits sieht es ganz so aus,
als hätten wir gar keine Alternative mehr.  Und im großen und ganzen
wird sich vermutlich niemand zurücksehnen nach einem Zustand, wie er
vor 2000 Jahren herrschte.



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Personenregister


Aristoteles Buch II, Kapitel 5
Barnard, F. R. Buch IV, Kapitel 1
Barthes, R. Buch II, Kapitel 4; Buch IV, Kapitel 6
Barzun, J. Buch III, Kapitel 3
Baudrillard, J. EINLEITUNG
Bayer, H. Buch III, Kapitel 1
Beethoven, L. van Buch V, Kapitel 1
Bell, A. G. Buch I, Kapitel 2; Buch IV, Kapitel 5; NACHWORT
Benn, G. Buch I, Kapitel 2
Berlin, I. Buch IV, Kapitel 5
Bloom, A. Buch I, Kapitel 1
Brown, J. C. Buch I, Kapitel 2
Burgess, A. Buch II, Kapitel 4
Carpenter, E. Buch I, Kapitel 1
Childe, G. V. Buch II, Kapitel 4
Chomsky, N. Buch II, Kapitel 3; Buch III, Kapitel 2; Buch V, Kapitel
1
Chruschtschow, N. Buch IV, Kapitel 5
Clausewitz, Carl von Buch IV, Kapitel 6
Conway, J. H. Buch V, Kapitel 2
Cooper, P. Buch I, Kapitel 2
Darius Buch IV, Kapitel 6
Dawkins, R. Buch II, Kapitel 5
Descartes, R. Buch IV, Kapitel 3
Dewey, J. Buch I, Kapitel 2
Dijkstra, E. Buch III, Kapitel 2
Durkheim, E. Buch IV, Kapitel 3
Edison, T. A. Buch I, Kapitel 2; Buch IV, Kapitel 5
Einstein, A. Buch IV, Kapitel 3; Buch V, Kapitel 2
Emerson, R. W. Buch I, Kapitel 2
Engels, F. Buch IV, Kapitel 5
Enzensberger, H. M. EINLEITUNG; Buch I, Kapitel 1
Epaminondas von Theben Buch IV, Kapitel 6
Fabergé, P. C. Buch IV, Kapitel 4
Faulkner, W. Buch I, Kapitel 2
Feyerabend, P. K. Buch IV, Kapitel 3
Galileo Galilei Buch IV, Kapitel 3
George III. (König v.  England) Buch I, Kapitel 2
George, H. Buch III, Kapitel 2
Gestetner, S. Buch IV, Kapitel 4
Grotius, H. Buch I, Kapitel 1
Gutenberg, J. Buch II, Kapitel 4
Guttman, A. Buch IV, Kapitel 2
Hasan, B. Buch IV, Kapitel 2
Hauben, M. Buch V, Kapitel 1
Hausdorf, F. Buch III, Kapitel 1
Hawthorne, N. Buch I, Kapitel 2
Hegel, G. W. F. Buch IV, Kapitel 3
Heidegger, M. Buch II, Kapitel 4
Hemingway, E. Buch I, Kapitel 2
Heuss, T. Buch IV, Kapitel 6
Hildegard von Bingen Buch II, Kapitel 4
Homer Buch V, Kapitel 2
Huxley, A. Buch IV, Kapitel 5
Illich, I. EINLEITUNG
Irving, W. Buch I, Kapitel 2
James, H. Buch I, Kapitel 2
Jefferson, T. Buch I, Kapitel 2
Jewtuschenkos, J. A. Buch IV, Kapitel 5
Kant, I. Buch IV, Kapitel 3
Kerkhove, D. de Buch II, Kapitel 4
Kluge, J. NACHWORT
Korzybski, A. Buch II, Kapitel 3
Krause, K. NACHWORT
Lakatos, I. Buch IV, Kapitel 3
Lakoff, G. EINLEITUNG
Lanier, J. Buch IV, Kapitel 1
Le Corbusier Buch IV, Kapitel 4
Leibniz, G. W. EINLEITUNG; Buch II, Kapitel 5; Buch IV, Kapitel 1;
Buch IV, Kapitel 3
Lenin, V. I. Buch IV, Kapitel 5
Leo der Weise Buch IV, Kapitel 6
Leonardo da Vinci Buch IV, Kapitel 1
Leonidas Buch IV, Kapitel 6
Lindendorf, E. Buch IV, Kapitel 6
Llul, R. Buch II, Kapitel 4
Locke, J. Buch II, Kapitel 5
Longfellow, H. W. Buch I, Kapitel 2
Lotman, J. M. EINLEITUNG
Lukrez Buch IV, Kapitel 3
Malthus, T. R. Buch I, Kapitel 1; Buch III, Kapitel 2
Marx, K. Buch IV, Kapitel 3; Buch IV, Kapitel 5
Maturana, H. R. EINLEITUNG; Buch V, Kapitel 1
Maurice (byzant.  Herrscher) Buch IV, Kapitel 6
McLuhan, M. EINLEITUNG; Buch II, Kapitel 4
Moltke, H. von Buch IV, Kapitel 6
Neumann, J. von Buch IV, Kapitel 6
Newton, I. Buch IV, Kapitel 3
Octavian Buch IV, Kapitel 6
Orwell, G. Buch V, Kapitel 2
Otto, N. O. Buch IV, Kapitel 5
Peirce, C. S. EINLEITUNG; Buch I, Kapitel 2; Buch II, Kapitel 5;
Buch IV, Kapitel 3
Platon Buch II, Kapitel 2; Buch II, Kapitel 4; Buch IV, Kapitel 3
Postman, N. Buch I, Kapitel 2
Proust, M. Buch V, Kapitel 2
Pythagoras Buch III, Kapitel 3
Ramses II Buch IV, Kapitel 6
Reich, R. B. Buch III, Kapitel 1
Remington, F. Buch IV, Kapitel 4
Remond, N. de Buch IV, Kapitel 1
Rogers, W. Buch I, Kapitel 1
Royce, J. Buch I, Kapitel 2
Sanders, B. EINLEITUNG; Buch II, Kapitel 5
Schwartzkopf, N. Buch IV, Kapitel 6
Searle, J. Buch I, Kapitel 1
Shakespeare, W. Buch IV, Kapitel 4; Buch V, Kapitel 2
Smith, J. Buch I, Kapitel 2
Snow, C. P. EINLEITUNG
Sokrates Buch I, Kapitel 2; Buch II, Kapitel 4; Buch IV, Kapitel 3
Spencer, H. Buch IV, Kapitel 3
Steiner, G. EINLEITUNG; Buch I, Kapitel 1; Buch V, Kapitel 2
Sterne, L. Buch IV, Kapitel 3
Tesla, N. Buch IV, Kapitel 5
Tiffany, L. C. Buch IV, Kapitel 4
Toqueville, A. de Buch I, Kapitel 2
Toulouse-Lautrec, H. Buch III, Kapitel 1
Turing, A. M. Buch IV, Kapitel 6
Twain, M. Buch I, Kapitel 1
Tzu, S. Buch IV, Kapitel 6
Van Gogh, V. Buch V, Kapitel 2
Vitruvius Buch IV, Kapitel 4; Buch V, Kapitel 2
Wiener, N. Buch I, Kapitel 1
Winograd, T. EINLEITUNG
Wittgenstein, L. Buch II, Kapitel 3; Buch II, Kapitel 5; Buch IV,
Kapitel 3
Zadeh, L. EINLEITUNG



Über den Autor

MIHAI NADIN, geboren 1938 in Brasov (Kronstadt), doppelt
promoviert--in Ästhetik und Computerwissenschaften--und zweifach
habilitiert--für Ästhetik in Bukarest, für Philosophie, Logik und
Wissenschaftstheorie an der Universität München mit einer Arbeit über
die Grundlagen der Semiotik--, lehrte seit 1977 u. a. in Braunschweig,
München, Essen, Providence (RI), Rochester (NY), Columbus (OH) und
New York.  Seit 1994 ist er Inhaber des Lehrstuhls für Computational
Design an der Universität-Gesamthochschule Wuppertal.  Seine 18
Buchveröffentlichungen und mehr als 140 Aufsätze, CD-ROM- und
Internet-Publikationen weisen ihn als einen der weltweit führenden
Autoren aus, die die gegenwärtige wissenschaftlich-technologische
Revolution und die damit eröffneten Möglichkeiten von Kommunikation
und Wissensproduktion sowohl theoretisch reflektieren als auch in der
Praxis vorantreiben.



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(C)1999 by Mihai Nadin





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