Home
  By Author [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Title [ A  B  C  D  E  F  G  H  I  J  K  L  M  N  O  P  Q  R  S  T  U  V  W  X  Y  Z |  Other Symbols ]
  By Language
all Classics books content using ISYS

Download this book: [ ASCII | HTML | PDF ]

Look for this book on Amazon


We have new books nearly every day.
If you would like a news letter once a week or once a month
fill out this form and we will give you a summary of the books for that week or month by email.

Title: Geschwister Tanner
Author: Walser, Robert, 1878-1956
Language: German
As this book started as an ASCII text book there are no pictures available.


*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Geschwister Tanner" ***


  [ Anmerkungen zur Transkription:

    Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen;
    lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Eine Liste
    der vorgenommenen Änderungen findet sich am Ende des Textes.

    Im Original gesperrt gedruckter Text wurde mit = markiert.
    Im Original in Antiqua gedruckter Text wurde mit _ markiert.
  ]



  Geschwister Tanner

  Roman
  von
  Robert Walser

  Zweite Auflage

  Verlag von Bruno Cassirer
  Berlin



Erstes Kapitel.


Eines Morgens trat ein junger, knabenhafter Mann bei einem Buchhändler
ein und bat, daß man ihn dem Prinzipal vorstellen möge. Man tat, was er
wünschte. Der Buchhändler, ein alter Mann von sehr ehrwürdigem Aussehen,
sah den etwas schüchtern vor ihm Stehenden scharf an und forderte ihn
auf, zu sprechen. »Ich will Buchhändler werden,« sagte der jugendliche
Anfänger, »ich habe Sehnsucht darnach und ich weiß nicht, was mich davon
abhalten könnte, mein Vorhaben ins Werk zu setzen. Unter dem Buchhandel
stellte ich mir von jeher etwas Entzückendes vor und ich verstehe nicht,
warum ich immer noch außerhalb dieses Lieblichen und Schönen schmachten
muß. Sehen Sie, mein Herr, ich komme mir, so wie ich jetzt vor Ihnen
dastehe, außerordentlich dazu geeignet vor, Bücher aus Ihrem Laden zu
verkaufen, so viele, als Sie nur wünschen können zu verkaufen. Ich bin
der geborene Verkäufer: galant, hurtig, höflich, schnell,
kurzangebunden, raschentschlossen, rechnerisch, aufmerksam, ehrlich und
doch nicht so dumm ehrlich, wie ich vielleicht aussehe. Ich kann Preise
herabsetzen, wenn ich einen armen Teufel von Studenten vor mir habe, und
kann Preise hochschrauben, um den reichen Leuten ein Wohlgefallen zu
erweisen, von denen ich annehmen muß, daß sie manches Mal nicht wissen,
was sie mit dem Geld anfangen sollen. Ich glaube, so jung ich noch bin,
einige Menschenkenntnis zu besitzen, außerdem liebe ich die Menschen, so
verschiedenartig sie auch sein mögen; ich werde also meine Kenntnis der
Menschen nie in den Dienst der Übervorteilung stellen, aber auch
ebensowenig daran denken, durch allzu übertriebene Rücksichtnahme auf
gewisse arme Teufel Ihr wertes Geschäft zu schädigen. Mit einem Wort:
meine Liebe zu den Menschen wird angenehm balancieren auf der Wage des
Verkaufens mit der Geschäftsvernunft, die ebenso gewichtig ist und mir
ebenso notwendig erscheint für das Leben wie eine Seele voll Liebe: Ich
werde schönes Maß halten, dessen seien Sie zum voraus versichert.« --
Der Buchhändler sah den jungen Mann aufmerksam und verwundert an. Er
schien im Zweifel darüber zu sein, ob sein _Vis-à-vis_, das so hübsch
sprach, einen guten Eindruck auf ihn mache, oder nicht. Er wußte es
nicht genau zu beurteilen, es verwirrte ihn einigermaßen und aus dieser
Befangenheit heraus frug er sanft: »Kann ich mich denn, mein junger
Mann, geeigneten Ortes über Sie erkundigen?« Der Angeredete erwiderte:
»Geeigneten Ortes? Ich weiß nicht, was Sie einen geeigneten Ort nennen!
Mir würde es passend erscheinen, wenn Sie sich gar nicht erkundigen
wollten. Bei wem sollte das sein, und was für einen Zweck könnte das
haben? Man würde Ihnen allerlei über mich hersagen, aber genügte denn
das auch, Sie meinetwegen zu beruhigen? Was wüßten Sie von mir, wenn man
Ihnen zum Beispiel auch sagte, ich sei aus einer sehr guten Familie
entsprossen, mein Vater sei ein achtbarer Mann, meine Brüder tüchtige,
hoffnungsvolle Menschen und ich selber sei ganz brauchbar, ein bißchen
flatterhaft, aber zu Hoffnungen nicht unberechtigt, ein bißchen dürfe
man mir schon vertrauen, und so weiter? Sie wüßten doch nichts von mir
und hätten absolut nicht die kleinste Ursache, mich nun mit mehr Ruhe in
Ihr Geschäft als Verkäufer anzunehmen. Nein, Herr, Erkundigungen taugen
in der Regel keinen Pfifferling, ich rate Ihnen, wenn ich mir Ihnen, dem
alten Herrn gegenüber einen Ratschlag herausnehmen darf, entschieden
davon ab, weil ich weiß, daß, wenn ich geeignet und beschaffen wäre, Sie
zu hintergehen und die Hoffnungen, die Sie, gestützt auf Informationen,
auf mich setzen, zu täuschen, ich dies in um so größerem Maße täte, je
besser besagte Erkundigungen lauten würden, die dann nur gelogen hätten,
weil sie Gutes von mir sagten. Nein, verehrter Herr, wenn Sie gedenken,
mich zu verwenden, so bitte ich Sie, etwas mehr Mut zu bezeigen als die
meisten andern Prinzipale, mit denen ich zu tun hatte, und mich einfach
auf den Eindruck hin anzustellen, den ich Ihnen hier mache. Außerdem
würden einzuziehende Erkundigungen über mich nur schlecht lauten, um
offen die Wahrheit zu sagen.«

»So? Warum denn? --«

»Ich bin noch überall, wo ich gewesen bin,« fuhr der junge Mensch fort,
»bald weitergegangen, weil es mir nicht behagt hat, meine jungen Kräfte
versauern zu lassen in der Enge und Dumpfheit von Schreibstuben, wenn es
auch, nach aller Leute Meinung, die vornehmsten Schreibstuben waren, zum
Beispiel gerade Bankanstalten. Gejagt hat man mich bis jetzt noch
nirgends, ich bin immer aus freier Lust am Austreten ausgetreten, aus
Stellungen und Ämtern heraus, die zwar Karriere und weiß der Teufel was
versprachen, die mich aber getötet hätten, wenn ich darin verblieben
wäre. Man hat, wo ich auch immer gewesen bin, regelmäßig meinen Austritt
bedauert und mein Tun beklagt, mir eine schlimme Zukunft versprochen,
aber doch den Anstand besessen, mir Glück auf meine fernere Laufbahn zu
wünschen. Bei Ihnen (und des jungen Mannes Stimme wurde auf einmal
treuherzig), Herr Buchhändler, werde ich es sicherlich jahrelang
aushalten können. Jedenfalls spricht vieles dafür, Sie zu veranlassen,
einmal einen Versuch mit mir zu machen.« Der Buchhändler sagte: »Ihre
Offenherzigkeit gefällt mir, ich will Sie probeweise acht Tage in meinem
Geschäft arbeiten lassen. Taugen Sie, und machen Sie dann Miene, weiter
bei mir zu bleiben, so wollen wir weiter miteinander reden.« Mit diesen
Worten, die zugleich des jungen Stellesuchers vorläufige Entlassung
bedeuteten, klingelte der alte Herr an der elektrischen Leitung, worauf,
wie von einem Strom herbeigeweht, ein kleiner, ältlicher, bebrillter
Mann erschien.

»Geben Sie diesem jungen Herrn eine Beschäftigung!«

Die Brille nickte. Damit war nun Simon Buchhandlungsgehilfe geworden.
Simon, ja so hieß er nämlich. --

                   *       *       *       *       *

Um diese Zeit herum machte sich einer der Brüder Simons, der in einer
Residenzstadt wohnhafte und dort namhaft bekannte Doktor Klaus, Sorgen
wegen seines jungen Bruders Betragen. Es war dies ein guter, stiller,
pflichttreuer Mensch, der gar zu gern gesehen hätte, wenn seine Brüder
so wie er, der Älteste, im Leben einen festen, achtunggebietenden Boden
unter die Füße bekommen hätten. Dies war aber so sehr nicht der Fall,
wenigstens bis jetzt, ja so sehr war das Gegenteil der Fall, daß Doktor
Klaus anfing, in seinem Herzen sich Selbstvorwürfe zu machen. Er sagte
sich zum Beispiel: »ich hätte derjenige sein sollen, der schon längst
allen Grund hätte haben müssen, diese Brüder auf die rechte Bahn zu
leiten. Ich habe es bis jetzt versäumt. Wie konnte ich nur diese Pflicht
versäumen und so weiter.« Doktor Klaus kannte tausende von kleinen und
großen Pflichten, und es mochte bisweilen den Anschein tragen, als sehne
er sich nach noch mehr Pflichten. Er war einer von den Menschen, die
sich, aus Pflichterfüllungsbedürfnis, in ein ganzes, beinahe
zusammenstürzendes Gebäude von lauter sauren Pflichten stürzen, aus
Angst, es möchte vorkommen, daß ihnen eine geheime, wenig bemerkbare
Pflicht davonliefe. Sie schaffen sich viele unruhige Stunden wegen
solcher unerfüllten Pflichten, denken nicht daran, daß eine Pflicht
immer eine neue auf den Übernehmer der ersten ladet und glauben, schon
etwas wie eine Pflicht erfüllt zu haben, wenn sie sich wegen deren
dunklen Vorhandenseins ängstigen und beunruhigt fühlen. Sie mengen sich
leicht in Vieles, was sie, wenn sie weniger sorgenvoll darüber
nachdächten, in Gottes Welt gar nichts angeht, und wollen auch gern
andere so sorgenbelastet sehen. Sie pflegen mit Neid auf Unbefangene und
Pflichtenfreie zu blicken und sie dann leichtfertige Menschenbrüder zu
schelten, weil sie so schön, mit so leicht erhobenem Kopf, durch das
Leben ziehen. Doktor Klaus zwang sich des öftern zu einer gewissen
kleinen, bescheidenen Sorglosigkeit, aber immer wieder kehrte er zu den
grauen, trüben Pflichten zurück, in deren Bann er wie in einem dunklen
Gefängnis schmachtete. Er hatte vielleicht einmal die Lust zum
Abbrechen, damals als er noch jung war, aber ihm fehlte die Kraft,
etwas, das wie eine mahnende Pflicht aussah, unerledigt hinter sich zu
lassen und darüber mit einem Lächeln der Wegwerfung hinwegzuschreiten.
Wegwerfung? O, er warf nie etwas weg! Es hätte ihn, so deuchte ihn, wenn
er es einmal versuchen wollte, von unten bis oben zerschnitten; er würde
immer des Weggeworfenen mit Schmerz gedacht haben. Er warf nie etwas weg
und er verlor sein junges Leben damit, zurechtzulegen und zu
untersuchen, was nie der Untersuchung, Prüfung, Liebe und Beachtung wert
war. So war er denn älter geworden, und weil er denn doch durchaus nicht
etwa ein empfindungs- und phantasieloser Mensch war, machte er sich oft
schwere Vorwürfe darüber, daß er die Pflicht versäumte, selbst ein
bißchen glücklich zu sein. Das war nun wieder ein neues
Pflichtversäumnis und bewies nur auf das Allertreffendste, daß es eben
Pflichtmenschen nie gelingt, alle ihre Pflichten zu erfüllen, ja, daß es
solchen am leichtesten vorkommen kann, über ihre Hauptpflichten
hinwegzusehen, um erst später, wenn es vielleicht schon zu spät geworden
ist, ihrer wieder zu gedenken. Doktor Klaus war mehr als einmal traurig
über sich, wenn er des lieblichen Glücks gedachte, das ihm entschwunden
war, des Glücks, sich mit einem jungen, lieben Mädchen verbunden zu
sehen, das natürlich ein Mädchen aus tadelloser Familie hätte sein
müssen. Um diese Zeit herum, als er mit Wehmut seiner selber gedachte,
schrieb er an seinen Bruder Simon, den er aufrichtig lieb hatte und
dessen Betragen in der Welt ihn beunruhigte, einen Brief, der ungefähr
folgendermaßen lautete:

Lieber Bruder. Du scheinst gar nichts über Dich schreiben zu wollen.
Vielleicht geht es Dir nicht gut und schreibst deshalb nicht. Du bist
wieder, wie nun schon so oftmals, ohne eine feste, fixierte Tätigkeit,
ich habe es zu meinem Leidwesen erfahren müssen, und zwar von fremden
Menschen. Von Dir darf ich, wie es scheint, keine aufrichtigen Berichte
mehr erwarten. Glaube nur, dies schmerzt mich. Es sind jetzt so viele
Dinge, die mich nur unangenehm berühren, mußt auch Du, von dem ich mir
immer vieles versprach, dazu beitragen, meine Stimmung, die aus vielen
Ursachen keine rosige ist, zu verdunkeln? Ich hoffe noch, aber laß mich,
wenn Du Deinen Bruder noch ein bißchen lieb hast, nicht allzulang
vergeblich auf Dich hoffen. Mache doch einmal etwas, das einen
berechtigen könnte, an Dich, sei es in dieser oder jener Hinsicht, noch
zu glauben. Du hast Talent und besitzest, wie ich mir gerne einbilde,
einen hellen Kopf, bist auch sonst klug, und in allen Deinen Äußerungen
spiegelte sich immer der gute Kern wieder, den ich in Deiner Seele von
jeher wußte. Warum nun aber, da Du doch die Einrichtungen dieser Welt
einmal kennst, immer wieder so wenig Ausdauer, so rasch wieder der
Sprung in etwas anderes? Ängstigt Dich Dein eigenes Betragen gar nicht?
Ich muß Kraft in Dir vermuten, daß Du diesen immerwährenden
Berufswechsel, der zu nichts in der Welt taugt, ertragen kannst. Ich an
Deiner Stelle würde längst an mir verzweifelt haben. Ich verstehe Dich
wirklich nicht in diesem Punkt, aber ich gebe gerade aus diesem Grunde
keineswegs die Hoffnung auf, Dich nun einmal energisch eine Laufbahn
ergreifen zu sehen, nachdem Du sattsam genug mußtest die Erfahrung
gemacht haben, daß ohne Geduld und guten Willen auf der Welt nichts zu
erreichen ist. Und Du willst doch sicher etwas erreichen. So ganz
unehrgeizig kenne ich Dich wenigstens nicht. Mein Rat ist nun der: Harre
aus, füge Dich drei oder vier kurze Jahre unter eine strenge Arbeit,
folge Deinen Vorgesetzten, zeige, daß Du etwas leisten kannst, aber
auch, daß Du Charakter besitzest, dann wird sich Dir eine Bahn eröffnen,
die Dich durch die ganze bekannte Welt führt, wenn Du Lust zum Reisen
hast. Welt und Menschen werden sich Dir in ganz anderer Weise zu
erkennen geben, wenn Du wirklich etwas bist, wenn Du der Welt etwas
bedeuten kannst. So, scheint es mir, wirst Du vielleicht weit mehr
Genugtuung am Leben finden, als selbst der Gelehrte, der, obschon er die
Fäden, an denen alles Leben und Wirken hängt, genau erkennt, doch an die
enge Welt seines Studierzimmers gefesselt bleibt, wo ihm, wie ich aus
eigener Erfahrung sagen darf, oft nicht behaglich zumute ist. Noch ist
es Zeit, daß Du ein ganz hervorragend tüchtiger Kaufmann werden kannst,
und Du weißt gar nicht, in welchem Maße gerade der Kaufmann Gelegenheit
hat, sein Leben zu einem von Grund aus lebensvollen Leben zu gestalten.
Wie Du jetzt bist, schleichst Du nur so um die Ecken und durch die
Spalten des Lebens: das soll aufhören. Vielleicht hätte ich da früher,
viel früher eingreifen, hätte Dir mehr mit Taten als mit bloßen,
ermahnenden Worten emporhelfen sollen, aber ich weiß nicht bei Deinem
stolzen Sinn, der darauf gerichtet ist, Dir immer und überall selber zu
helfen, hätte ich Dich vielleicht eher kränken als Dich wirklich
überzeugen können. Was tust Du jetzt mit Deinen Tagen? Erzähle mir doch
davon. Ich verdiene es vielleicht, um der Sorge willen, die ich mir
Deinetwegen mache, daß Du etwas gesprächiger und mitteilsamer mir
gegenüber wirst. Ich selber, was bin ich denn für einer, daß man sich
hüten sollte, mir unbefangen und vertraulich in die Nähe zu treten? Bin
ich Dir ein Gefürchteter? Was gibt es an mir zu meiden? Etwa den
Umstand, daß ich der »Ältere« bin und vielleicht etwas mehr weiß, als
Du? Nun denn, so wisse, daß ich froh wäre, noch einmal jung zu werden,
und unvernünftig und unwissend. Ich bin nicht ganz so froh, lieber
Bruder, wie es der Mensch sein sollte. Ich bin nicht glücklich.
Vielleicht ist es zu spät für mich, noch glücklich zu werden. Ich bin
jetzt in einem Alter, wo der Mann, der noch kein eigenes Heim hat, nicht
ohne die schmerzlichste Sehnsucht der Glücklichen gedenkt, die die Wonne
genießen, über der Leitung ihres Haushaltes eine junge Frau besorgt zu
sehen. Ein Mädchen zu lieben, das ist schön, Bruder. Und es ist mir
versagt. -- Nein, Du brauchst mich gar nicht zu fürchten, ich bin es,
der Dich wieder aufsucht, der Dir schreibt, der hofft, es werde ihm
freundlich und zutraulich geantwortet. Du stehst vielleicht reicher da,
als ich, hast mehr Hoffnungen und viel mehr Recht, solche zu hegen, hast
Pläne und Aussichten, von denen ich mir nicht einmal etwas träume, ich
kenne Dich eben nicht mehr ganz, und wie wäre das auch möglich nach
Jahren der Trennung. Laß mich Dich wieder kennen lernen und zwinge Dich,
mir zu schreiben. Vielleicht erlebe ich es noch, meine Brüder alle
glücklich zu sehen; Dich möchte ich jedenfalls froh wissen. Was macht
Kaspar? Schreibt Ihr Euch? Was macht seine Kunst? Ich möchte gerne auch
von ihm etwas erfahren. Lebe wohl, Bruder. Vielleicht sprechen wir bald
einmal miteinander. Dein Klaus.

Nach Ablauf von acht Tagen trat Simon, als es Abend wurde, zu seinem
Prinzipal ins Kabinett und hielt diesem folgende Ansprache: »Sie haben
mich enttäuscht, machen Sie nur nicht solch ein verwundertes Gesicht, es
läßt sich nicht ändern, ich trete heute aus Ihrem Geschäft wieder aus
und bitte Sie, mir meinen Lohn auszubezahlen. Bitte, lassen Sie mich
ausreden. Ich weiß nur zu genau, was ich will. In den acht Tagen ist mir
der ganze Buchhandel zum Greuel geworden, wenn er darin bestehen soll,
vom frühen Morgen bis am späten Abend, während draußen die sanfteste
Wintersonne scheint, an einem Pult zu stehen, den Buckel zu krümmen,
weil das Pult viel zu klein für meine Figur ist, zu schreiben wie der
verflucht-erst-beste Schreiber und eine Beschäftigung zu erfüllen, die
sich für meinen Geist nicht ziemt. Ich kann ganz anderes leisten, mein
Herr Buchhändler, als was man hier glaubt, für mich erübrigen zu können.
Ich glaubte, ich könne bei Ihnen Bücher verkaufen, elegante Menschen
bedienen, einen Bückling machen und adieu sagen zu Käufern, wenn sie im
Begriffe sind, den Laden zu verlassen. Auch dachte ich, ich bekäme
Gelegenheit, einen Blick in das geheimnisvolle Wesen des Buchhandels zu
werfen und die Züge der Welt im Gesichte und Gang des Geschäftes zu
erhaschen. Aber nichts von alledem. Glauben Sie, es stände so schlimm
mit meiner Jugend, daß ich nötig hätte, sie in einem nichtsnutzigen
Bücherladen zu verkrümmen und zu ersticken? Sie irren sich zum Beispiel
auch, wenn Sie der Meinung sind, der Buckel eines jungen Menschen sei
dazu da, um krumm zu werden. Warum haben Sie mir nicht ein gutes,
anständiges, mir angemessenes Sitz- oder Stehpult angewiesen? Gibt es
nicht prachtvolle Schreibpulte nach amerikanischem Schnitt? Wenn man
schon einen Angestellten will, so meine ich, muß man ihn auch
unterzubringen wissen. Das wußten Sie, wie es scheint, nicht. Weiß Gott,
es wird alles mögliche von einem jungen Anfänger verlangt: Fleiß, Treue,
Pünktlichkeit, Takt, Nüchternheit, Bescheidenheit, Maß und
Zielbewußtheit und wer weiß was noch alles. Wem aber fiele es je ein,
irgend welche Tugenden von einem Herrn Prinzipal zu verlangen. Soll ich
meine Kräfte, meine Lust, tätig zu sein, meine Freude an mir selber, und
das Talent, daß ich das so glänzend imstande bin, an ein altes, mageres,
enges Buchladenpult wegwerfen? Nein, ehe ich das täte, könnte es mir
vorher einfallen, unter die Soldaten zu gehen und meine Freiheit
vollends zu verkaufen, nur um sie überhaupt nicht mehr zu besitzen. Ich
bin nicht gern, gnädiger Herr, der Besitzer von etwas Halbem, lieber
will ich zu den ganz Besitzlosen gehören, dann gehört mir meine Seele
wenigstens noch an. Sie werden denken, es zieme sich wenig, so heftig zu
reden, und dies sei auch nicht der schickliche Ort zu einer Rede:
Wohlan, ich schweige, bezahlen Sie mich, wie es mir zukommt, und Sie
werden mich nie wieder zu Gesicht bekommen.«

Der alte Buchhändler war ganz erstaunt, den jungen, stillen,
schüchternen Menschen, der während der acht Tage so zuverlässig
gearbeitet hatte, nun in solcher Weise sprechen zu hören. Aus dem
anstoßenden Arbeitsraume sahen und horchten einige fünf
zusammengedrängte Köpfe von Beamten und Handlungsdienern der Szene zu.
Der alte Herr sprach: »Wenn ich das von Ihnen vermutet hätte, Herr
Simon, würde ich mich besonnen haben, Ihnen in meinem Geschäfte Arbeit
zu geben. Sie scheinen ja ganz merkwürdig wankelmütig zu sein. Weil
Ihnen ein Schreibpult nicht paßt, will Ihnen gleich das Ganze nicht
passen. Aus welcher Gegend der Welt kommen Sie denn her und gibt es dort
lauter junge Leute von Ihrem Schlag? Sehen Sie, wie Sie nun vor mir
altem Manne dastehen. Sie wissen wohl selbst nicht, was Sie in Ihrem
unreifen Kopf eigentlich wollen. Nun, ich halte Sie nicht davon ab, von
mir wegzugehen, hier ist Ihr Geld, aber offen gestanden, es hat mir
nicht Freude gemacht.« Der Buchhändler zahlte ihm sein Geld aus, Simon
strich es ein.

Als er nach Hause kam, sah er den Brief seines Bruders auf dem Tisch
liegen, er las ihn und dachte dann bei sich: »Er ist ein guter Mensch,
aber ich werde ihm nicht schreiben. Ich verstehe es nicht, meine Lage zu
schildern, sie ist auch gar nicht des Beschreibens wert. Zu Klagen habe
ich keinen Anlaß, zu Freudesprüngen ebensowenig, zu schweigen allen
Grund. Es ist wahr, was er schreibt, aber eben deshalb will ich es bei
der Wahrheit bewenden lassen. Daß er unglücklich ist, hat er mit sich
selbst abzumachen, aber ich glaube gar nicht, daß er so sehr unglücklich
ist. Das klingt in Briefen so. Man wird während des Schreibens einfach
fortgerissen zu unvorsichtigen Äußerungen. In den Briefen will die Seele
immer zu Wort kommen und sie blamiert sich in der Regel. Ich schreibe
also lieber nicht.« -- Damit war die Sache abgetan. Simon war voller
Gedanken, schöner Gedanken. Wenn er dachte, kam er ganz unwillkürlich
auf schöne Gedanken. Am nächsten Morgen, die Sonne blendete hell,
meldete er sich beim Stellenvermittlungsbureau. Der Mann, der dort saß
und schrieb, stand auf. Der Mann kannte Simon sehr gut und pflegte mit
ihm mit einer Art spöttischer, hübscher Vertrautheit zu verkehren. »Ah,
Herr Simon! Sind Sie wieder da! In welcher Angelegenheit kommen Sie
denn?«

»Ich suche eine Stelle.«

»Sie haben schon zu wiederholten Malen Stelle gesucht bei uns, man
möchte versucht sein, zu sagen: Sie suchen mit einer unheimlichen
Schnelligkeit Stellen.« Der Mann lachte, aber leise, denn eines groben
Lachens war er doch nicht fähig. »Wo waren Sie denn zuletzt beschäftigt,
wenn man Sie fragen darf?«

Simon erwiderte: »Ich war Krankenwärter, und es stellte sich heraus, daß
ich alle Eigenschaften besitze, um die Kranken pflegen zu können. Warum
staunen Sie so sehr bei dieser Eröffnung? Ist es so fürchterlich
seltsam, wenn ein Mann in meinem Alter verschiedenen Berufsarten
nachgeht, wenn er den Versuch macht, sich den verschiedenartigsten
Menschen nützlich zu erweisen? Ich finde das hübsch an mir, weil ich
dabei etwas tue, was einen gewissen Mut erfordert. Mein Stolz wird in
keiner Weise verletzt dadurch, im Gegenteil, ich bilde mir etwas darauf
ein, allerhand Lebensaufgaben lösen zu können und nicht vor
Schwierigkeiten zu zittern, vor denen die meisten Menschen
zurückschrecken. Man kann mich brauchen, diese Gewißheit genügt mir, um
meinen Stolz zu befriedigen. Ich will nützlich sein.«

»Warum sind Sie denn nicht bei dem Krankenwärterberuf geblieben?« fragte
der Mann.

»Ich habe keine Zeit, bei einem und demselben Beruf zu verbleiben,«
erwiderte Simon, »und es fiele mir niemals ein, wie so viele andere, auf
einer Berufsart ausruhen zu wollen wie auf einem Sprungfederbett. Nein,
das bringe ich, und wenn ich tausend Jahre alt werde, nicht fertig.
Lieber gehe ich unter die Soldaten.«

»Passen Sie auf, daß es nicht mit Ihnen noch so weit kommt.«

»Es gibt auch noch andere Auswege. Das mit den Soldaten ist eine
flüchtige Redensart von mir, die ich mir angewöhnt habe, um meine Reden
zu beschließen. Was hat ein junger Mann, wie ich, nicht für Auswege. Ich
kann, wenn es Sommer ist, zu einem Bauern gehen, ihm auf dem Felde
helfen, daß die Ernte beizeiten unter Dach kommt, er wird mich
willkommen heißen und meine Kraft schätzen. Er wird mir zu essen geben,
gutes Essen, denn man kocht gut auf dem Lande, er wird mir, wenn ich von
ihm wegziehe, etwas Bargeld in die Hand drücken, und seine junge
Tochter, ein frisches, bildschönes Mädchen, wird mir zum Abschied
zulächeln, in einer Weise, daß ich lange daran denken muß, während ich
weiter wandere. Was schadet es, zu wandern, auch wenn es regnet oder gar
schneit, wenn man seine gesunden Glieder hat und sich weiter keine
Sorgen macht. Sie, in Ihrer gedrückten Enge, stellen sich nicht vor, wie
köstlich das Laufen auf Landstraßen ist. Sind sie staubig, so sind sie
es eben, wer frägt da lange darnach. Nachher sucht man sich an einem
Waldrande ein kühles Plätzchen aus, wo der Blick, wenn man so daliegt,
die herrlichste Aussicht genießt, wo die Sinne auf eine natürliche Weise
ausruhen und die Gedanken nach Lust und Geschmack denken können. Sie
werden mir entgegenhalten, das könne ein anderer, zum Beispiel Sie
selber, auch haben, während Ihrer Ferien. Aber Ferien, was ist das!
Darüber kann ich nur lachen. Ich will mit Ferien nichts zu tun haben.
Ich hasse die Ferien geradezu. Verschaffen Sie mir nur nicht einen
Posten mit Ferien. Das hat nicht den geringsten Reiz für mich, ja ich
würde sterben, wenn ich Ferien bekäme. Ich will mit dem Leben kämpfen,
bis ich meinetwegen umsinke, will weder Freiheit noch Bequemlichkeit
kosten, ich hasse die Freiheit, wenn ich sie so hingeworfen bekomme, wie
man einem Hund einen Knochen hinwirft. Da haben Sie Ihre Ferien. Wenn
Sie etwa denken, Sie hätten in mir einen Menschen vor sich, den es nach
Ferien gelüstet, so irren Sie sich, aber ich habe leider alle Ursache,
zu vermuten, Sie denken so von mir.«

»Hier ist eine Aushilfsstelle bei einem Advokaten zu besetzen, für
ungefähr einen Monat. Paßt Ihnen das?«

»Gewiß, mein Herr.«

Damit war Simon beim Advokaten. Er verdiente dort ein ganz hübsches Geld
und war ganz glücklich. Nie erschien ihm die Welt schöner, als während
dieser Advokatenzeit. Er machte angenehme Bekanntschaften, schrieb
leicht und mühelos den Tag über, rechnete Rechnungen nach, schrieb nach
dem Diktat, was er außerordentlich gut verstand, betrug sich, zu seinem
Erstaunen ganz reizend, so daß sein Vorgesetzter sich lebhaft um ihn
bekümmerte, trank jeweilen nachmittags seine Tasse Tee, und träumte,
während er schrieb, zum luftigen, hellen Fenster hinaus. Träumen, und
doch seine Pflicht nicht hintenansetzen, das verstund er prächtig. »Ich
verdiene so viel Geld, dachte er bei sich, daß ich eine junge Frau damit
haben könnte.« Der Mond schien oft, wenn er arbeitete, zum Fenster
hinein, das entzückte ihn sehr.

Seiner kleinen Freundin Rosa gegenüber äußerte sich Simon
folgendermaßen: »Mein Advokat hat eine lange, rote Nase und ist ein
Tyrann, aber ich komme sehr gut aus mit ihm. Ich empfinde sein
mürrisches, gebieterisches Wesen als Humor und wundere mich, wie gut ich
mich allen seinen, und oft ungerechten Geboten unterziehe. Ich liebe es,
wenn es ein wenig scharf zugeht, das paßt mir, das schwingt mich bis zu
einer gewissen warmen Höhe hinauf und reizt meine Arbeitslust. Er hat
eine schöne, schlanke Frau, die ich malen möchte, wenn ich ein Maler
wäre. Sie hat, glauben Sie es nur, wunderbar große Augen und herrliche
Arme. Oft macht sie sich etwas bei uns im Bureau zu schaffen; wie muß
sie da auf mich armen Schreibteufel herabsehen. Ich zittere, wenn ich
solche Frauen sehe und bin doch glücklich. Lachen Sie? Ihnen gegenüber
bin ich leider gewöhnt, ohne Schranken offen zu sein, und ich hoffe, Sie
sehen das gerne an mir.«

Rosa liebte es in der Tat, wenn man offen zu ihr war. Sie war ein
merkwürdiges Mädchen. Ihre Augen hatten einen wundervollen Glanz, und
ihre Lippen waren geradezu schön.

Simon fuhr fort: »Wenn ich morgens um acht Uhr zur Arbeit gehe, fühle
ich mich so schön verwandt mit allen denen, die ebenfalls morgens um
acht Uhr anzutreten haben. Welche große Kaserne, dieses moderne Leben!
Und doch wie schön und gedankenvoll ist gerade diese Einförmigkeit. Man
sehnt sich beständig nach etwas, das an einen herantreten sollte, das
einem begegnen müßte. Man hat ja so sehr nichts, ist so sehr armer
Teufel, kommt sich so verloren vor in all der Gebildetheit, Geordnetheit
und Exaktheit. Ich steige die vier Treppen hinauf und trete ein, sage
guten Tag und beginne mit meiner Arbeit. Du guter Gott, wie wenig muß
ich leisten, wie wenig Kenntnisse verlangt man doch von mir. Wie wenig
scheint man zu ahnen, daß ich noch ganz anderes fähig wäre. Aber mir
behagt jetzt diese reizende Anspruchslosigkeit seitens meiner
Arbeitgeber. Ich kann, während ich arbeite, denken, ich habe alle
Aussicht ein Denker zu werden. Ich denke oft an Sie!«

Rosa lachte: »Sie sind ein Schlingel! Aber fahren Sie fort, es
interessiert mich, was Sie da sagen.«

»Die Welt ist eigentlich herrlich,« sprach Simon weiter, »ich kann da
bei Ihnen sitzen, und es hindert mich niemand daran, stundenlang mit
Ihnen zu plaudern. Ich weiß, daß Sie mir gerne zuhören. Sie finden, daß
ich nicht ohne Anmut spreche, und ich muß jetzt innerlich furchtbar
lachen, weil ich das gesagt habe. Aber ich sage eben alles, was mir
gerade durch den Sinn schießt, wäre es auch zum Beispiel gerade ein
Eigenlob. Ich kann mich auch mit ebensolcher Leichtigkeit tadeln, und es
freut mich sogar, wenn ich dazu Gelegenheit habe. Sollte man denn nicht
alles aussprechen dürfen? Wie vieles geht verloren, wenn man es erst
langsam prüfen will. Ich mag nicht lange überlegen, bevor ich spreche,
und ob es sich schickt oder nicht, es muß eben heraus. Wenn ich eitel
bin, so muß eben meine Eitelkeit ans Licht treten, wäre ich geizig, der
Geiz spräche aus meinen Worten, bin ich anständig, so wird ohne Zweifel
die Honettheit aus meinem Munde tönen, und würde mich Gott zu einem
braven Menschen gemacht haben, so redete die Tüchtigkeit aus mir, was
ich auch immer spräche. Ich bin in dieser Beziehung ganz sorglos, weil
ich mich und uns ein wenig kenne und weil ich mich davor schäme, im
Gespräch Furcht zu bezeigen. Wenn ich beispielsweise mit Worten jemanden
beleidige, verletze, kränke oder ärgere, kann ich den üblen Eindruck
nicht mit den paar nächsten Worten wieder gutmachen? Ich denke über mein
Sprechen erst nach, wenn ich auf dem Gesicht meines Zuhörers unangenehme
Falten sehe, so wie jetzt auf Ihrem Gesicht, Rosa.«

»Das ist etwas anderes.« --

»Sind Sie müde?«

»Gehen Sie nach Hause, nicht wahr, Simon. Ich bin allerdings jetzt müde.
Sie sind hübsch, wenn Sie sprechen. Ich habe Sie sehr lieb.«

Rosa streckte ihrem jungen Freund ihre kleine Hand entgegen, dieser
küßte die Hand, sagte gute Nacht und ging fort. Als er weg war, weinte
die kleine Rosa lange still für sich. Sie weinte um ihren Geliebten,
einen jungen Mann mit Locken auf dem Kopf, elegantem Schritt,
edelgeschnittenem Mund, aber liederlicher Lebensart. »So liebt man die,
die es nicht wert sind,« sagte sie für sich, »und doch, liebt man etwas
deshalb, weil man einen Wert abschätzen möchte? Wie lächerlich. Was geht
mich das Wertvolle an, wo ich das Geliebte haben möchte.« Dann ging sie
zu Bett.



Zweites Kapitel.


Eines Tages klingelte Simon, es war in der Mittagsstunde, vor einem
eleganten, freigelegenen Hause, das einen Garten hatte, ziemlich
schüchtern an. Ihm war, als ob da ein Bettler geklingelt hätte, wie er
es läuten hörte. Wenn er jetzt drinnen im Hause zum Beispiel als
Hausinhaber gesessen hätte, vielleicht gerade beim Mittagstisch, würde
er, sich zu seiner Frau träge umwendend, gefragt haben: Wer klingelt
denn jetzt, gewiß ein Bettler! »Vornehme Leute,« dachte er, während er
wartete, »denkt man sich immer an der Tafel, oder in der Kutsche, oder
beim Anziehen, wo ihnen Diener und Dienerinnen behilflich sind, dagegen
Arme immer draußen in der Kälte, mit emporgezogenen Mantelkragen, wie
ich jetzt, vor einer Gartentür herzpochend wartend. Arme Leute haben in
der Regel schnelle, pochende, hitzige Herzen, Reiche kalte, weite,
geheizte, gepolsterte und vernagelte! Ach, wenn nur rasch jemand
herbeigesprungen käme, wie würde ich aufatmen. Dieses vor einer reichen
Türe Warten hat etwas Beengendes. Wie stehe ich doch, trotz meinem
bißchen Welterfahrung, auf schwachen Beinen.« -- In der Tat, er
zitterte, als ein Mädchen herbeisprang, um dem Draußenstehenden zu
öffnen. Simon mußte immer lächeln, wenn jemand ihm eine Tür öffnete und
ihn zum Eintreten ersuchte, auch jetzt ging es nicht ohne dieses Lächeln
ab, das wie eine leise Bitte im Gesicht aussah, und das vielleicht bei
vielen Menschen zu beobachten ist.

»Ich suche ein Zimmer.«

Simon nahm seinen Hut vor einer schönen Dame ab, die den Ankommenden
aufmerksam prüfte. Simon war es lieb, daß sie das tat; denn er fühlte,
daß sie ein Recht dazu hatte, und weil er sah, daß sie dabei ihre
Freundlichkeit nicht verlor.

»Wollen Sie kommen? Da! Die Treppe hinauf.«

Simon bat die Dame, voranzugehen. Er machte dabei zum ersten Male in
seinem Leben mit der Hand eine Handbewegung. Die Dame zeigte dem jungen
Mann das Zimmer, indem sie eine Tür öffnete.

»Welch ein schönes Zimmer,« rief Simon, der wirklich überrascht war,
»viel zu schön für mich, leider, viel zu fein für mich. Sie müssen
wissen, ich bin ein so wenig für ein so feines Zimmer geeigneter Mensch.
Und doch, ich würde sehr gerne darin wohnen, allzugerne, viel,
vielzugerne. Es ist eigentlich von Ihnen nicht gut getan gewesen, mir
dieses Gemach zu zeigen. Viel besser, Sie würden mich zu Ihrem Hause
hinausgewiesen haben. Wie komme ich dazu, meine Blicke in einen so
heiteren, schönen, wie als Wohnung für einen Gott geschaffenen Raum zu
werfen. Welch schöne Wohnungen bewohnen doch die Wohlhabenden, die, die
etwas besitzen. Ich habe nie etwas besessen, bin nie etwas gewesen, und
werde trotz den Hoffnungen meiner Eltern nie etwas sein. Welch schöne
Aussicht aus den Fenstern, und so hübsche, glänzende Möbel, und so
reizende Vorhänge, die dem Zimmer etwas Mädchenhaftes geben. Ich würde
hier vielleicht ein guter, zarter Mensch werden, wenn es wahr ist, wie
man sagen hört, daß Umgebungen den Menschen verändern können. Darf ich
es noch ein wenig anschauen, hier noch eine Minute stehen bleiben?«

»Gewiß dürfen Sie das.«

»Ich danke Ihnen.«

»Was sind Ihre Eltern, und, wenn ich fragen darf, inwiefern sind Sie
»nichts«, wie Sie sich vorhin ausdrückten?«

»Ich bin ohne Stelle!«

»Das würde mir ganz gleichgültig sein. Es kommt drauf an!«

»Nein, ich habe wenig Hoffnungen. Zwar, das darf ich, wenn ich ohne
Falsch sprechen soll, auch nicht sagen. Ich bin voll Hoffnung. Nie, nie
verläßt sie mich. -- Mein Vater ist ein armer, aber lebensfröhlicher
Mensch, dem es nicht einmal von ferne einfällt, seine jetzigen kargen
Tage mit den früheren glänzenden zu vergleichen. Er lebt wie ein Junger
von fünfundzwanzig Jahren und gibt sich in keiner Weise Gedanken über
seine Lage hin. Ich bewundere ihn und suche ihn nachzuahmen. Wenn er bei
seinem schneeweißen Alter noch munter sein kann, so muß es dreißig-, ja
hundertmal seines jungen Sohnes Pflicht sein, den Kopf hoch zu tragen
und die Menschen mit Augen wie der Blitz anzuschauen. Aber die Mutter
gab mir, und meinen Brüdern weit mehr als mir, Gedanken mit auf die
Welt. Die Mutter ist gestorben.«

Der Dame, die sehr lieb dastand, kam ein klagendes Ach aus dem Munde.

»Sie war eine herzlich gute Frau. Wir Kinder sprechen immer und immer
über sie, wann und wo wir auch immer zusammentreffen. Wir leben
zerstreut auf dieser runden, weiten Welt, und das ist sehr gut, denn wir
haben alle solche Köpfe, wissen Sie, die nicht lange zueinander taugen.
Wir haben alle eine etwas schwere Art, die hinderlich sein würde, wenn
wir verbunden unter den Menschen aufträten. Das tun wir gottlob nicht,
und jedes von uns weiß genau, warum wir es nicht tun wollen. Doch lieben
wir uns, wie es sich geziemt. Einer meiner Brüder ist ein nicht
unbekannter Gelehrter, ein anderer ist ein Spezialist im Börsenfach,
wieder ein anderer ist weiter nichts als mein Bruder, weil ich ihn mehr
als einen Bruder liebe, und es mir, wenn ich an ihn denke, nicht
einfiele, noch sonst etwas anderes hervorzuheben an ihm, als eben den
Umstand, daß er der meinige ist, der, der so aussieht, wie er, sonst
nichts. Mit diesem Bruder zusammen möchte ich hier bei Ihnen wohnen.
Groß genug wäre das Zimmer. Aber es geht wohl nicht gut. Wieviel kostet
es?«

»Was ist Ihr Bruder?«

»Landschaftsmaler! Wieviel würden Sie für das Zimmer verlangen? -- -- So
viel? Es ist sicherlich nicht zu viel für dieses Zimmer, aber für uns
ist es viel zu viel. Auch, wenn ich recht bedenke, und wenn ich Sie
eindringlich anschaue, sind wir zwei Menschen nicht dazu geeignet, in
diesem Hause aus- und einzugehen, als ob wir darin ansässig wären. Wir
sind noch so grob, wir würden Sie enttäuschen. Auch haben wir die
Gewohnheit, mit Bettbezügen, Möbelstücken, Wäschegegenständen,
Fenstervorhängen, Türklinken, Treppenabsätzen hart umzugehen, das würde
Sie erschrecken, Sie würden uns böse werden, oder Sie würden vielleicht
verzeihen, ein Auge bemühen zuzudrücken, was noch schmählicher wäre. Ich
möchte nicht veranlassen, daß Sie später mit uns Ärger hätten. Sicher,
sicher! Wehren Sie nur nicht ab. Ich sehe es zu deutlich. Wir haben, im
Grunde genommen, für alles feine Wesen auf die Länge wenig Hochachtung
übrig. Dergleichen Menschen, wie wir sind, müssen vor reichen
Gartengittern stehen, wo ihnen die Freiheit gelassen wird, über den
Glanz und die Sorgfalt spöttische Bemerkungen zu machen. Wir sind
Spötter! Adieu!«

Die Augen der schönen Frau hatten einen tiefen Glanz angenommen, und nun
sagte sie auf einmal: »Ich möchte doch Ihren Herrn Bruder und Sie
annehmen. Ich werde, was den Preis betrifft, mit Ihnen schon einig
werden.«

»Nein lieber nicht!«

Simon schritt schon die Treppe hinunter. Da rief ihm die Stimme der Dame
nach: »Bitte, bleiben Sie doch noch.« Und sie eilte ihm nach. Unten
holte sie ihn ein und veranlaßte ihn, stehen zu bleiben und auf sie zu
horchen: »Was fällt Ihnen ein, so schnell wegzugehen. Sehen Sie, ich
will, ich möchte Sie beide dabehalten. Und wenn Sie auch nicht bezahlen!
Was macht das? Gar nichts, gar nichts, kommen Sie doch, kommen Sie.
Treten Sie mit mir in dieses Zimmer. Marie! Wo bist du? Bringe doch
gleich den Kaffee hier ins Zimmer.«

Drinnen sagte sie zu Simon: »Ich habe den Wunsch, Sie und Ihren Bruder
näher kennen zu lernen. Wie konnten Sie nur davonrennen. Ich bin oft so
allein in diesem abgelegenen Hause, daß es mich ängstigt. Mein Mann ist
die ganze Zeit abwesend, auf weiten Reisen, er ist Forscher, segelt auf
allen Meeren, von deren bloßem Vorhandensein seine arme Frau keine
Ahnung hat. Bin ich nicht eine arme Frau? Wie heißen Sie? Wie heißt der
andere, Ihr Bruder? Ich heiße Klara. Nennen Sie mich einfach: Frau
Klara. Ich mag gern diesen einfachen Namen hören. Sind Sie nun etwas
zutraulicher geworden? Würde mich sehr, so sehr freuen. Glauben Sie
nicht, das wir miteinander leben und auskommen können? Gewiß, das wird
schon gehen. Ich halte Sie für einen zarten Menschen. Ich fürchte mich
nicht, Sie in meinem Hause zu haben. Sie haben ehrliche Augen. Ist Ihr
Bruder älter als Sie?«

»Ja, er ist älter und ein viel besserer Mensch, als ich.«

»Sie sind ein braver Mensch, daß Sie das sagen dürfen.«

»Ich heiße Simon und mein Bruder heißt Kaspar.«

»Mein Mann heißt Agappaia.«

Sie erbleichte, als sie das sagte, doch sammelte sie sich rasch und
lächelte.

Simon schrieb an seinen Bruder Kaspar: »Wir sind eigentlich seltsame
Käuze, wir zwei. Wir treiben uns auf diesem Erdboden umher, als ob nur
wir, und sonst keine anderen Menschen darauf lebten. Wir haben
eigentlich eine verrückte Freundschaft geschlossen, als ob es sonst
unter den Männern nichts ausfindig zu machen gäbe, was wert könnte
genannt werden, Freund zu heißen. Eigentlich sind wir gar keine Brüder,
sondern Freunde, wie zwei sich einmal auf der Welt zusammenfinden. Ich
bin wirklich nicht für die Freundschaft gemacht und begreife nicht, was
ich so Tolles an Dir nur finde, das mich zwingt, mich immer wieder an
Deine Seite, gleichsam an Deinen Rücken heranzudenken. Dein Kopf kommt
mir jetzt bald wie der meinige vor, so sehr bist Du schon in meinem
Kopf; ich werde vielleicht im Verlauf einiger Zeit, wenn es so weiter
geht, mit Deinen Händen greifen, mit Deinen Beinen laufen und mit Deinem
Mund essen. Unsere Freundschaft hat sicher etwas Geheimnisvolles, wenn
ich Dir sage, daß es gar nicht so unmöglich ist, daß im Grunde genommen
unsere Herzen voneinander wegstreben, daß sie nur nicht können. Ich bin
ja nun noch recht froh, daß Du noch immer nicht zu können scheinst, denn
Deine Briefe klingen sehr artig und ich wünsche vorläufig auch von mir,
daß ich im Banne dieses Geheimnisvollen sitzen bleibe. Für uns ist es ja
gut, aber, wie kann ich nur gar so trocken reden: ich finde es einfach,
um nicht zu lügen, entzückend. Warum sollten nicht einmal zwei Brüder
über das Maß hauen. Wir passen ganz gut zusammen, wir paßten auch schon
damals zusammen, als wir uns haßten und beinahe totprügelten. Weißt Du
noch? Es braucht nichts als diesen Aufruf, mit einer Portion gesunden
Lachens vermischt, um in Dir Bilder aufzurühren, zu leimen, zu malen, zu
heften, die wahrhaftig der Rückerinnerung mehr als wert sind. Wir waren,
ich weiß nicht mehr aus welcher Ursache heraus, Todfeinde geworden. O,
wir verstunden es, einander zu hassen. Unser Haß war entschieden
erfinderisch im Auffinden von Qualen und Demütigungen, die wir uns
gegenseitig bereiteten. Beim Eßtisch warfst Du mir einmal, um nur ein
einziges Beispiel dieses jammervollen und kindischen Zustandes
anzuführen, eine Platte mit Sauerkraut entgegen, weil Du mußtest, und
sagtest dazu: »Da, pack!« Ich muß Dir sagen, damals zitterte ich vor
Wut, schon deshalb, weil es für Dich eine schöne Gelegenheit war, mich
aufs grimmigste zu kränken, und ich dazu nichts sagen konnte. Ich packte
die Platte an, und war eben dumm genug, den Schmerz der Kränkung bis zur
Kehle hinauf voll auszukosten. Weißt Du noch, wie eines Mittags, es war
ein stiller, totenstiller, sommerheißer, vor Totenstille ganz toller
Sonntagnachmittag, dann einer zu Dir in die Küche herangezaudert kam und
Dich bat, mir wieder gut zu sein. Es war ein unglaubliches Werk der
Überwindung, kann ich Dir sagen, sich so durch das Gefühl der Beschämung
und des Trotzes hindurchzuwinden, bis zu Dir, der Gestalt des zur
ablehnenden Verachtung neigenden Feindes. Ich tat es, und ich bin mir
dankbar dafür. Ob Du auch mir, ist mir freudig und duftig egal. Das kann
nur ich abschätzen. Geh mir weg, da willst Du mir was dazwischenreden.
Einfach nicht möglich. Weg da! -- Wie viele köstliche Stunden habe ich
von da an mit Dir genossen. Ich fand dich auf einmal zart, liebend
rücksichtsvoll. Ich glaube, die Wonne der Freude brannte uns beiden auf
den Wangen. Wir streiften, Du als Maler, ich als Zuschauer und
Dreinreder, über die Matten auf den breiten Bergen, wateten im Duft des
Grases, in der Nässe des kühlen Morgens, in der Hitze des Mittags und im
feuchten, verliebten Untergehen der Sonne. Die Bäume sahen uns zu, was
wir da oben trieben und die Wolken ballten sich zusammen, gewiß aus
Zorn, daß sie keine Macht besaßen, unsere neugebackene Liebe zu brechen.
Abends kamen wir gräßlich zerbrochen, verstaubt, verhungert und vermüdet
nach Hause, und auf einmal gingst Du dann weg. Weiß der Teufel, ich half
Dir wegreisen, als ob ich dazu durch Handgeld verpflichtet gewesen wäre,
oder als hätte ich Eile gehabt, Dich verduften zu sehen. Gewiß war es
mir eine heilige Freude, Dich abreisen zu sehen, denn Du reistest der
großen Welt entgegen. Wie wenig groß ist die große Welt, Bruder.

Komm doch ja bald hierher. Ich kann Dich beherbergen, wie ich eine Braut
beherbergen würde, von der ich annehmen müßte, daß sie gewohnt sei, auf
Seide zu liegen und von Bedienten bedient zu werden. Ich habe zwar keine
Dienerschaft, aber doch ein Zimmer wie für einen gebornen Herrn. Ich und
Du, wir beide haben ein prachtvolles Chambre einfach geschenkt, vor die
Füße gelegt bekommen. Du kannst hier ebensogut Bilder malen, wie dort in
Deiner dicken, fernen Landschaft, Du hast ja Phantasie. Eigentlich
sollte es jetzt Sommer sein, daß ich Deinetwegen im Garten ein
Gartenfest mit chinesischen Lichtern und Bändern von lauter Blumen
veranstalten könnte, um Dich einigermaßen Deiner würdig zu empfangen.
Komm eben so, aber mach nur, daß dieses Kommen rasch vorwärtskommt,
sonst komme ich und hole Dich. Meine Herrin und Wirtin drückt Dir die
Hand. Sie ist davon überzeugt, daß sie Dich bereits aus meinen
Schilderungen von Dir kennt. Wenn sie Dich erst kennen wird, wird sie
weiter auf der Erde niemand mehr kennen lernen wollen. Hast Du einen
stattlichen Anzug? Schlottern Dir Deine Hosen nicht gar so sehr um die
Kniee herum und darf man Deine Kopfbedeckung noch Hut nennen? Sonst
darfst Du nicht vor mir erscheinen. Alles Spaß, alles Dummheiten. Laß
Dich von Deinem Simönchen umarmen. Leb wohl, Bruder. Hoffentlich kommst
Du bald.« --

                   *       *       *       *       *

Einige Wochen waren verflossen, es fing an, wieder Frühling zu werden,
die Luft war feuchter und weicher, es meldeten sich unbestimmte Düfte
und Klänge, die aus der Erde herauszukommen schienen. Die Erde war
weich, man schritt auf ihr wie auf dicken, biegsamen Teppichen. Man
glaubte, Vögel singen hören zu müssen. »Es will Frühling werden,« so
redeten sich die empfindungsvollen Menschen auf der Straße an. Selbst
die kahlen Häuser bekamen einen gewissen Duft, eine sattere Farbe. Es
ging ganz sonderbar zu, und war doch eine so alte, bekannte Erscheinung,
aber man empfand es als gänzlich neu, es regte zu einem seltsamen,
stürmischen Denken an, die Glieder, die Sinne, die Köpfe, die Gedanken,
alles regte sich, wie wenn es hätte von neuem wachsen mögen. Das Wasser
des Sees glänzte so warm und die Brücken, die sich über den Fluß
schlangen, schienen einen kühneren Bogen bekommen zu haben. Die Fahnen
flatterten im Winde, und es machte den Menschen Vergnügen, sie flattern
zu sehen. Die Sonne erst trieb die Leute in Reihen und Gruppen auf die
schöne, weiße, saubere Straße, wo sie stehen blieben und den Kuß der
Wärme begierig fühlten. Viele Mäntel von vielen Menschen wurden
abgelegt. Man konnte die Männer wieder freier sich bewegen sehen und die
Frauen machten so sonderbare Augen, als möchte ihnen etwas Seeliges zu
den Herzen herauskommen. In den Nächten hörte man wieder zum ersten Mal
den Klang der vagabondierenden Gitarren, und Männer und Frauen standen
im Gewühl der fröhlichen, spielenden Kinder. Die Lichter der Laterne
flackten wie Kerzen in stillen Stuben, und man empfand, wenn man über
nachtdunkle Wiesen hinschritt, das Blühen und Regen der Blumen. Das Gras
wird bald wieder wachsen, die Bäume werden ihr Grün bald wieder über die
niederen Hausdächer schütten und den Fenstern die Aussicht nehmen. Der
Wald wird prangen, üppig, schwer, o, der Wald. -- -- Simon arbeitete
wieder in einem großen Handelsinstitut.

Es war ein Bankhaus von weltbedeutendem Umfang, ein großes Gebäude von
palastähnlichem Aussehen, in welchem hunderte von jungen und alten,
männlichen und weiblichen Leuten beschäftigt waren. Diese Leute
schrieben alle mit emsigen Fingern, rechneten mit Rechnungsmaschinen,
auch wohl bisweilen mit ihren Gedächtnissen, dachten mit ihren Gedanken
und machten sich nützlich mit ihren Kenntnissen. Es gab da etliche
junge, elegante Korrespondenten, die vier bis sieben Sprachen schreiben
und sprechen konnten. Diese schieden sich durch ihr feineres,
ausländisches Wesen von dem übrigen Rechnervolk aus. Sie waren schon auf
Meerschiffen gefahren, kannten die Theater in Paris und New-York, hatten
in Jokohama die Teehäuser besucht und wußten, wie man sich in Kairo
vergnügte. Nun besorgten sie hier die Korrespondenz und warteten auf
Gehaltserhöhung, während sie spöttisch von der Heimat sprachen, die
ihnen ganz klein und lausig vorkam. Das Rechnervolk bestund zumeist aus
älteren Leuten, die sich an ihre Posten und Pöstlein wie an Balken und
Pflöcken festhielten. Sie hatten alle lange Nasen von dem vielen Rechnen
und gingen in zersessenen, zerschabten, zerglätteten, zerfalteten und
zerknickten Kleidern. Es gab aber etliche intelligente Leute unter
ihnen, die vielleicht im Geheimen seltsamen, kostbaren Liebhabereien
frönten und so ein wenn auch stilles und abgelegenes so doch immerhin
würdiges Leben führten. Viele von den jungen Angestellten waren dagegen
feinerer Zeitvertreibe nicht fähig, diese stammten meist von ländlichen
Grundbesitzern, Gastwirten, Bauern und Handwerkern ab, waren, da sie in
die Stadt kamen, sofort bemüht, städtisch-feines Wesen anzunehmen, was
ihnen jedoch schlecht gelang, und kamen über eine gewisse tölpische
Grobheit nicht hinaus. Indessen, es gab da auch stille Bürschchen von
zartem Betragen, die seltsam abstachen von den andern Flegeln. Der
Direktor der Bank war ein alter, stiller Mann, der überhaupt nie gesehen
wurde. In seinem Kopfe schienen die Fäden und Wurzeln des ganzen
ungeheuren Geschäftsganges ineinandergeworfen zu liegen. Wie der Maler
in Farben, der Musiker in Tönen, der Bildhauer in Stein, der Bäcker in
Mehl, der Dichter in Worten, der Bauer in Strichen Landes, so schien
dieser Mann in Geld zu denken. Ein guter Gedanke von ihm, zur guten Zeit
ausgedacht, brachte in einer halben Stunde dem Geschäft eine halbe
Million. Vielleicht! Vielleicht mehr, vielleicht weniger, vielleicht
nichts, und gewiß, manchmal verlor dieser Mann ganz im stillen, und alle
seine Untergebenen wußten nichts davon, gingen, wenn die Glocke zwölf
schlug, zum Essen, kamen um zwei Uhr wieder, arbeiteten vier Stunden,
gingen fort, schliefen, erwachten, standen zum Frühstück auf, gingen
wieder, wie am gestrigen Tag ins Gebäude, nahmen die Arbeit wieder auf
und keiner wußte, denn keiner hatte Zeit, etwas von diesem
Geheimnisvollen in Erfahrung zu bringen. Und der stille, alte, grämliche
Mann dachte im Direktionszimmer. Für die Angelegenheiten seiner
Angestellten hatte er nur ein mattes, halbes Lächeln. Es hatte etwas
Dichterisches, Erhabenes, Entwerfendes und Gesetzgeberisches. Simon
versuchte oft, sich in Gedanken an die Stelle des Direktors zu setzen.
Aber im allgemeinen verschwand ihm dieses Bild, und wenn er darüber
nachdachte, verschwand ihm überhaupt jeder Begriff: »Etwas Stolzes und
Erhabenes ist dabei, aber auch etwas Unbegreifliches und beinahe
Unmenschliches. Warum gehen nur alle diese Leute, Schreiber und Rechner,
ja sogar die Mädchen im zartesten Alter, zu demselben Tor in dasselbe
Gebäude hinein, um zu kritzeln, Federn anzuprobieren, zu rechnen und zu
fuchteln, zu büffeln und nasenschneuzen, zu bleistiftspitzen und Papier
in den Händen herumtragen. Tun sie das etwa gern, tun sie es
notgedrungen, tun sie es mit dem Bewußtsein, etwas Vernünftiges und
Fruchtbringendes zu verrichten? Sie kommen alle aus ganz verschiedenen
Richtungen, ja einige fahren sogar mit der Eisenbahn aus entfernten
Gegenden daher, sie spitzen die Ohren, ob es noch Zeit ist, vor Antritt
einen privaten Gang zu unternehmen, sie sind so geduldig dabei wie eine
Herde von Lämmern, verstreuen sich, wenn es Abend wird, wieder in ihre
speziellen Richtungen, und morgen, um dieselbe Zeit, finden sie sich
alle wieder ein. Sie sehen sich, erkennen sich am Gang, an der Stimme,
an der Manier, eine Türe zu öffnen, aber sie haben wenig miteinander zu
tun. Sie gleichen sich alle und sind sich doch alle fremd und wenn einer
unter ihnen stirbt oder eine Unterschlagung macht, so verwundern sie
sich einen Vormittag lang darüber, und dann geht es weiter. Es kommt
vor, daß einer einen Schlaganfall bekommt während des Schreibens. Was
hat er dann davon gehabt, daß er fünfzig Jahre lang im Geschäft
»arbeitete«. Er ist fünfzig Jahre lang jeden Tag zu derselben Türe ein
und ausgegangen, er hat tausend und tausendmal in seinen
Geschäftsbriefen dieselbe Redewendung geübt, hat etliche Anzüge
gewechselt und sich öfters darüber gewundert, wie wenig Stiefel er des
Jahres verbrauche. Und jetzt? Könnte man sagen, daß er gelebt hat? Und
leben nicht tausende von Menschen so? Sind vielleicht seine Kinder ihm
der Lebensinhalt, ist seine Frau die Lust seines Daseins gewesen? Ja,
das kann es sein. Ich will lieber über solche Dinge nicht klugreden,
denn mir will scheinen, als zieme es mir nicht, da ich noch jung bin.
Draußen ist jetzt Frühling und ich könnte zum Fenster hinausspringen, so
weh tut mir dieses lange, lange Glieder-Nicht-Bewegen-dürfen. Ein
Bankgebäude ist doch ein dummes Ding im Frühling. Wie nähme sich eine
Bankanstalt etwa auf einer grünen, üppigen Wiese aus? Vielleicht würde
meine Schreibfeder mir wie eine junge, eben aus der Erde gesprossene
Blume vorkommen. Ach, nein, spotten mag ich nicht. Vielleicht muß das
alles so sein, vielleicht hat alles einen Zweck. Ich erblicke nur nicht
den Zusammenhang, weil ich zu sehr den Anblick erblicke. Der Anblick ist
wenig entmutigend: vor den Fenstern dieser Himmel, im Gehör dieses süße
Singen. Die weißen Wolken gehen am Himmel und ich muß da schreiben.
Warum habe ich ein Auge für die Wolken. Wenn ich ein Schuhmacher wäre,
so machte ich doch wenigstens Schuhe für Kinder, Männer und Damen, diese
gingen im Frühlingstag in meinen Schuhen auf der Gasse spazieren. Ich
würde den Frühling empfinden, wenn ich meinen Schuh an dem fremden Fuß
erblickte. Hier kann ich den Frühling nicht empfinden, er stört mich.«

Simon ließ seinen Kopf hängen und war zornig über seine weichen Gefühle.

                   *       *       *       *       *

Eines Abends, als er nach Hause ging, fiel Simon auf der abendlich
beleuchteten Brücke ein Mensch, der vor ihm mit langen Schritten
daherging, auf. Die Gestalt in ihrer bemäntelten Schlankheit flößte ihm
einen süßen Schrecken ein. Er glaubte diesen Gang, dieses Paar Hosen,
diesen sonderbaren Kessel von Hut, die flatternden Haare erkennen zu
sollen. Der fremde Mann trug eine leichte Malmappe unter dem Arm. Simon
ging mit etwas rascheren Schritten, von zitternden Ahnungen befallen,
und plötzlich, mit dem Schrei »Bruder«, stürzte er dem Gehenden an den
Hals. Kaspar umarmte seinen Bruder. Sie gingen laut miteinander
plaudernd nach Hause, das heißt, sie hatten einen ziemlich steilen Weg
den Berg hinauf zu machen, über dessen Abhang sich die Stadt mit Gärten
und Villen hinzog. Ganz oben am Berge schauten ihnen die kleinen,
verfallenen Vorstadthäuschen entgegen. Die untergehende Sonne flammte in
den Fenstern und machte sie zu strahlenden Augen, die starr und schön in
die Ferne blickten. Unten lag die Stadt, weit und wohllüstig über die
Ebene gebreitet, wie ein flimmernder, glitzernder Teppich, die
Abendglocken, die immer anders sind als Morgenglocken, tönten herauf,
der See lag schwach gezeichnet, in seiner zarten unaussprechlichen Form
zu Füßen der Stadt, des Berges und der vielen Gärten. Noch blitzten
viele Lichter nicht, aber die, die leuchteten, brannten mit einer
herrlichen, fremdartigen Schärfe. Die Menschen gingen und liefen jetzt
da unten in all den krummen, versteckten Straßen, man sah sie nicht,
aber man wußte es. »In der eleganten Bahnhofstraße würde es jetzt
herrlich zu gehen sein,« dachte Simon. Kaspar ging schweigend. Er war
ein prachtvoller Kerl geworden. »Wie er daherschreitet,« dachte Simon.
Endlich kamen sie vor ihrem Hause an. »Wie? Am Waldesrande wohnst du?«
lachte Kaspar. Sie traten beide ins Haus.

Als Klara Agappaia den neuen Ankömmling erblickte, ging in ihren großen
müden Augen ein seltsames Flammen auf. Sie schloß ihre Augen und bog
ihren schönen Kopf auf die Seite. Es schien nicht, daß sie sehr große
Freude empfunden hätte, diesen jungen Mann zu sehen, es erschien wie
etwas ganz anderes. Sie versuchte unbefangen zu sein, zu lächeln, wie
man zu lächeln pflegt, wenn man jemanden willkommen heißt. Aber sie
vermochte es nicht. »Geht hinauf,« sagte sie, »heute bin ich so müde.
Wie sonderbar. Ich weiß wirklich nicht, was ich habe.« Die beiden
suchten ihr Zimmer auf: Der Mond beleuchtete es. »Wir zünden gar kein
Licht an,« sagte Simon, »laß uns so zu Bette gehen.« -- Da klopfte
jemand an die Türe, es war Klara, sie sagte, draußen stehend: »Habt ihr
auch alles Notwendige, fehlt euch nun nichts?« -- »Nein, wir liegen
schon im Bett, was könnte uns fehlen.« -- »Gute Nacht, Freunde,« sagte
sie, und öffnete ein wenig die Türe, schloß sie wieder und ging. »Sie
scheint eine seltsame Frau zu sein,« meinte Kaspar. Dann schliefen sie
beide.



Drittes Kapitel.


Am andern Morgen packte der Maler seine Landschaften aus der Mappe und
es fiel zuerst ein ganzer Herbst heraus, dann ein Winter, alle
Stimmungen der Natur wurden wieder lebendig. »Wie wenig das ist von
allem dem, was ich gesehen habe. So schnell das Auge eines Malers ist,
so langsam, so träge ist seine Hand. Was muß ich noch alles schaffen!
Ich meine oft, ich müßte verrückt werden.« Alle drei, Klara, Simon und
der Maler, umstanden die Bilder. Es wurde wenig, aber nur in Ausrufen
des Entzückens gesprochen. Plötzlich sprang Simon zu seinem Hut, der auf
dem Boden des Zimmers lag, setzte ihn wild und zornig auf den Kopf,
stürzte zur Türe hinaus, mit dem Ausruf: »Ich habe mich verspätet.«

»Eine Stunde zu spät! Das sollte bei einem jungen Manne nicht
vorkommen!« wurde ihm auf der Bank gesagt.

»Wenn es aber doch vorkommt?« fragte der Gescholtene trotzig.

»Wie, Sie wollen noch aufbegehren? Meinetwegen! Machen Sie, was Sie
wollen!«

Das Betragen Simons wurde dem Direktor gemeldet. Dieser beschloß, den
jungen Mann zu entlassen, er rief ihn zu sich und sagte es ihm mit ganz
leiser, sogar gütiger Stimme. Simon sprach:

»Ich bin recht froh, daß es ein Ende hat. Glaubt man vielleicht, daß man
mir damit einen Schlag versetzt, daß man meinen Mut knickt, mich
vernichtet, oder dergleichen? Im Gegenteil, man erhebt mich, man
schmeichelt mir damit, man flößt mir wieder, nach so langer Zeit, einen
Tropfen Hoffnung ein. Ich bin nicht dazu geschaffen, eine Schreib- und
Rechenmaschine zu sein. Ich schreibe ganz gern, rechne ganz gern,
betrage mich mit Vorliebe unter meinen Mitmenschen mit Anstand, bin gern
fleißig und gehorche, wo es mein Herz nicht verletzt, mit Leidenschaft.
Ich würde mich auch bestimmten Gesetzen zu unterwerfen wissen, wenn es
darauf ankäme, aber es kommt mir hier seit einiger Zeit nicht mehr
darauf an. Als ich mich heute morgen verspätete, wurde ich nur zornig
und ärgerlich, war mit gar keiner ehrlichen, gewissenhaften Besorgnis
erfüllt, machte mir keine Vorwürfe, oder höchstens den Vorwurf, daß ich
noch immer der dumme, feige Kerl sei, der, wenn es acht Uhr schlägt,
springt, in Bewegung kommt, wie eine Uhr, die man aufzieht und die eben
läuft, wenn sie aufgezogen wird. Ich danke Ihnen, daß Sie die Energie
besitzen, mich zu entlassen, und bitte Sie, von mir zu denken, was Ihnen
beliebt. Sie sind gewiß ein schätzenswerter, verdienstvoller, großer
Mann, aber, sehen Sie, ich möchte auch so einer sein, und deshalb ist es
gut, daß Sie mich fortschicken, deshalb war es eine segensreiche Tat,
daß ich mich heute, wie man sich ausdrückt, unstatthaft benommen habe.
In Ihren Bureaus, von denen man solches Aufheben macht, in denen so gern
jeder beschäftigt sein möchte, ist von einer Entwicklung eines jungen
Mannes nicht zu reden. Ich pfeife darauf, den Vorzug zu genießen, der
mit der Auszahlung eines festen monatlichen Gehaltes verbunden ist. Ich
verkomme, verdumme, verfeige, verknöchere dabei. Sie werden es
überraschend finden, mich solcher Ausdrücke bedienen zu hören, aber Sie
werden es zugeben, daß ich die völlige Wahrheit spreche. Hier kann nur
einer ein Mann sein: Sie! -- Kommt Ihnen nie der Gedanke, es möchten
sich unter Ihren armen Untergebenen Leute befinden, die den Drang haben,
auch Männer zu sein, wirkende, schaffende, achtunggebietende Männer. Ich
kann es unmöglich hübsch finden, so ganz in der Welt auf der Seite zu
stehen, nur um nicht in den Ruf zu gelangen, ein unzufriedener und wenig
anstellbarer Mensch zu sein. Wie groß ist hier die Versuchung zur Furcht
und wie klein die Verlockung, sich aus dieser jämmerlichen Furcht
loszureißen. Daß ich es heute herbeigeführt habe, dieses beinahe
Unmögliche, das schätze ich an mir, mag man dazu sagen, was man nur
immer will. Sie, Herr Direktor, verschanzen sich hier, Sie sind nie
sichtbar, man weiß nicht, wessen Befehlen man gehorcht, man gehorcht gar
nicht, sondern stumpft nur seinen eigenen schwachen Angewöhnungen nach,
die das richtige treffen. Welch eine Falle für junge, zur Bequemlichkeit
und Trägheit neigende junge Leute. Hier wird nichts verlangt von all den
Kräften, die möglicherweise den jungen Mannesgeist beseelen, nichts
erforderlich gemacht, was einen Mann und Menschen auszeichnen könnte.
Weder Mut noch Geist, weder Treue noch Fleiß, weder Schaffenslust noch
Begierde nach Anstrengungen können einem hier helfen, sich
vorwärtszubringen: ja, es ist sogar verpönt, Kraft und Fülle zu zeigen.
Natürlich, es muß ja verpönt sein, bei diesem langsamen, trägen,
trocknen, erbärmlichen Arbeitssystem. Leben Sie wohl, mein Herr, ich
gehe, um mich gesund zu arbeiten, wäre es auch, um Erde zu schaufeln
oder etliche Säcke Kohlen auf meinem Rücken zu schleppen. Ich liebe
jedwelche Arbeit, nur solche nicht, bei deren Ausübung nicht sämtliche
verfügbare Kräfte angespannt werden.«

»Soll ich Ihnen, trotzdem Sie es eigentlich nicht verdient haben, ein
Zeugnis ausstellen?«

»Ein Zeugnis? Nein, stellen Sie mir keines aus. Wenn ich kein Zeugnis,
als höchstens ein schlechtes verdient habe, will ich gar keines. Ich
selbst stelle mir von jetzt an meine Zeugnisse aus. Ich will mich von
nun an nur noch auf mich selbst berufen, wenn jemand nach meinen
Zeugnissen fragt, das wird bei vernünftigen, klarblickenden Menschen den
allerbesten Eindruck hervorrufen. Ich freue mich, zeugnislos von Ihnen
wegzugehen, denn ein Zeugnis von Ihnen würde mich nur an meine eigene
Feigheit und Furcht erinnern, an einen Zustand der Trägheit und
Kraftentäußerung, an die Zeit der nutzlos dahingelebten Tage, an die
Nachmittage voll wütender Befreiungsversuche, an die Abende der schönen,
aber zwecklosen Sehnsucht. Ich danke Ihnen, daß Sie die Absicht hatten,
mich in freundlicher Weise zu entlassen, das zeigt mir, daß ich einem
Manne gegenübergestanden bin, der vielleicht einiges von dem, was ich
sprach, begriffen hat.«

»Junger Mann, Sie sind viel zu heftig,« sprach der Direktor, »Sie
untergraben sich Ihre Zukunft!«

»Ich will keine Zukunft, ich will eine Gegenwart haben. Das erscheint
mir wertvoller. Eine Zukunft hat man nur, wenn man keine Gegenwart hat,
und hat man eine Gegenwart, so vergißt man, an eine Zukunft überhaupt
nur zu denken.«

»Leben Sie wohl. Ich fürchte, Sie werden etwas Schlimmes erleben. Sie
interessierten mich, deshalb habe ich Ihre Worte angehört. Sonst würde
ich mit Ihnen nicht so viel Zeit verloren haben. Vielleicht haben Sie
Ihren Beruf verfehlt, vielleicht wird etwas aus Ihnen. Lassen Sie es
sich immerhin gut gehen.«

Mit einer Neigung des Kopfes war Simon entlassen, und er befand sich
bald draußen auf der Straße. Vor einer Konditorei erblickte er einen
Mann auf- und abgehen, wahrscheinlich in Erwartung von irgend jemandem,
vielleicht einer Frau, was konnte er wissen. Aber der Mann erweckte sein
Interesse. Es war, auf den ersten Blick, ein abschreckend häßlicher
Mensch, mit einem ganz ungewöhnlich großen und gebogenen Schädel, einem
Vollbart im Gesicht und etwas müdem, ja tierischem Ausdruck in den
Augen. Sein Gang war geziert, aber edel, seine Kleidung fein und
geschmackvoll. In der Hand trug er einen gelben Spazierstock; er schien
ein Gelehrter zu sein, aber ein noch junger Gelehrter. Der ganze Mann,
wie er sich bewegte, hatte etwas Sanftes, Herzenbewegendes. Es schien,
daß man es wagen durfte, diesen Herrn ohne weiteres anzusprechen, und
Simon tat es.

»Verzeihen Sie, mein Herr, Sie so ohne weiteres anzureden. Ich habe eine
Vorliebe für Sie gewonnen, sowie ich Sie nur anblickte. Ich wünsche ihre
Bekanntschaft zu machen. Sollte dieser lebhafte Wunsch nicht genügender
Anlaß sein, um einen Menschen, wie Sie sind, auf offener Straße
anzusprechen? Sie sehen so aus, als ob Sie jemand suchten, als ob Sie
irgend jemanden vermuteten, der auf diesem Platze Sie erwartete. Es ist
ein solches Gewimmel von Menschen hier, daß es schwer sein wird für Sie
allein, die betreffende Person zu entdecken. Ich will Ihnen suchen
helfen, wenn Sie das Vertrauen haben, mir mit einigen Merkmalen den
Menschen zu schildern, zu dem es Sie hinzieht. Ist es eine Dame?«

»Es ist allerdings eine Dame,« erwiderte der Herr lächelnd.

»Wie sieht sie aus?«

»Schwarzgekleidet vom Kopf bis zu den Füßen. Große, schlanke
Erscheinung. Große Augen, die, wenn Sie sie erblicken, Ihnen noch
nachsehen, lange, lange, wenn es auch gar nicht der Fall ist. Um den
Hals trägt sie eine Kette von großen, weißen Perlen, an den Ohren lange,
herabhängende Ohrringe. Ihre Knöchel sind von goldenen, einfachen Reifen
umschlossen. Ich meine die Knöchel der Hände; das Gesicht hat etwas
Volles, Ovales, Üppiges. Sie werden es schon sehen. Um ihren Mund,
obgleich man sich darin täuscht, spielt etwas Verschlossenes und
Listiges, es ist ein etwas zugekniffener Mund. Übrigens trägt sie gern
einen breiten Hut mit herabhängenden Federn. Der Hut scheint dem Kopf
und dem Haar nur so angeflogen. Genügt Ihnen diese Beschreibung noch
nicht, so mache ich Sie darauf aufmerksam, daß sie ein Windspiel bei
sich an einer dünnen, schwarzen Leine führt. Sie geht nie aus ohne den
Hund. Ich werde auf diesen Posten bleiben und Sie zurückerwarten. Ich
bin Ihnen dankbar für Ihr Anerbieten, ganz abgesehen davon, daß Sie mich
schon Ihrer Anrede halber lebhaft interessieren. Das Gewirr von Menschen
wird wirklich immer größer. Es scheint hier ein Fest zu sein.«

»Ja, ich glaube, es ist so etwas. Ich pflege mich um Feste wenig zu
bekümmern.«

»Warum denn?«

»Man geht so seine eigenen Wege! Auf Wiedersehen!« Damit ging Simon
durch die dichten Menschenmassen so schnell als möglich hindurch. Von
allen Seiten wurde er gedrängt und geschoben, beinahe gehoben. Aber auch
er drängte und er fand es höchst belustigend, so das Gewühl von Leibern
und Gesichtern langsam zu durchqueren. Endlich gelangte er auf eine Art
Insel, das heißt, auf einen kleinen, leeren Platz, und wie er sich
umsah, erblickte er plötzlich Frau Klara. Sie hatte wirklich einen Hund
bei sich. Seit er bei ihr wohnte, hatte er sich nie um die Frau näher
gekümmert, wußte also auch nicht, daß sie die Gewohnheit hatte, mit
ihrem Hund auszugehen.

»Es sucht Sie ein Herr,« sagte er als sie ihn bemerkte.

»Mein Mann wahrscheinlich,« erwiderte sie, »kommen Sie, wir gehen
zusammen. Er ist von der Reise plötzlich zurückgekehrt, ohne mir nur ein
Wort zu schreiben. So macht er es immer. Wie haben Sie seine
Bekanntschaft gemacht? Wie kommen Sie dazu, in seinem Auftrag Damen zu
suchen? Sie sind doch ein sonderbarer Mensch, Simon. Was? Ihre Stellung
haben Sie aufgegeben? Nun, was wollen Sie jetzt unternehmen? Kommen Sie!
Hier durch! Hier ist besser durchkommen. Ich werde Sie meinem Mann
vorstellen.«

                   *       *       *       *       *

Man beschloß, den Abend im Theater zu verbringen. Kaspar wurde davon
benachrichtigt und er fand sich zur bestimmten Stunde vor dem Theater,
das sich als ein weißes, herrliches Gebäude am Ufer des Sees erhob, ein.
Als der Vorhang aufging, sah man nur in einen grauen, leeren Raum hin.
Doch der Raum belebte sich alsobald, denn es erschien eine Tänzerin mit
nackten Beinen und Armen, die zu einer leisen Musik tanzte. Ihr Leib war
von einem durchschimmernden, flatternden, fließenden Gewand umhüllt,
das, so schien es, die Linien des Tanzes noch einmal für sich, in der
schwebenden Luft, nachzeichnete. Man empfand die völlige Unschuld und
Grazie dieses Tanzes und es würde niemandem eingefallen sein, in der
Nacktheit des Mädchens etwas Unkeusches und unrein-Beabsichtigtes zu
finden. Ihr Tanz löste sich oft in ein bloßes Schreiten auf, doch auch
dieses blieb Tanz, und ein anderes Mal wieder schien die Tanzende von
ihren eigenen Wellen in die Höhe erhoben zu werden. Wenn sie zum
Beispiel ein Bein erhob und den schönen Fuß krümmte, so geschah das in
einer so neuen, unbefangenen Weise, daß jedermann dachte: wo habe ich
das einmal gesehen, wo? Oder habe ich das nur irgend einmal geträumt?
Der Tanz dieses Mädchens hatte etwas Schweres und Naturgemäßes. Gewiß,
ihre Kunst war vielleicht, streng nach Ballettregeln genommen, nicht
allzugroß, ihr Können mochte weit zurückbleiben hinter dem Können und
Leisten anderer Tänzerinnen. Aber sie besaß die Kunst, mit ihrer bloßen,
mädchenscheuen Anmut zu entzücken. Wenn sie niederflog, so geschah es so
süß-schwer, und das Emporfliegen zu höherem Schwung berauschte alle
Seelen durch die Wildheit und Unschuld dieser Bewegung. Wenn sie sich
bewegte, war sie auch erregt von dieser ihrer flüchtigen Bewegung, und
ihre Erregung erfand zu den Tönen immer neue Schwingungen. Ihre Hände
glichen zwei schönen weißen, flatternden Tauben. Das Mädchen lächelte,
wenn es tanzte, es mußte glücklich dabei sein. Ihre Kunstlosigkeit wurde
als höchste Kunst empfunden. Einmal flog sie in großen weichen Sprüngen,
wie ein gejagter Hirsch, von einem Takt in den andern. Sie schien wie
ein Wellengesprudel zu tanzen, daß sich an einem niedern Ufer zerschlägt
und verspritzt, bald floß sie wie eine breite, sonnige, machtvolle Welle
dahin, wie eine Welle mitten im See, bald war es wieder wie ein Geriesel
von Flocken und Steinchen, immer war es anders, und immer so seelenvoll.
Die Empfindungen aller Zuschauer tanzten mit Lust und mit Schmerzen mit.
Einigen preßte der Tanz Tränen in die Augen, reine Tränen des
Mit-Entzückens, Mit-Tanzens. Wie schön war es, zu sehen, daß, da das
Mädchen seinen Tanz beendete, bejahrte, ehrfurchtgebietende Frauen sich
stürmisch erhoben, dem Mädchen mit Tüchern zuwinkten und ihr Blumen in
den Bühnen-Abgrund hinabwarfen. »Sei unsere Schwester,« schien aller
Lächeln zu bitten. »Welche Freude, dich meine Tochter, wenn du's
wolltest, zu nennen,« schienen die Damen zu jubeln. Das hundertköpfige
Zuschauerpublikum sah die Kleine auf der einsamen Bühne und vergaß die
Grenze, überhaupt alle Scheidewand. Viele Arme bogen sich, wie wenn sie
hätten liebkosen mögen, in die Luft; die Hände, die zuwinkten, bebten.
Man rief Worte hinab, die die bloße Freude erfand. Selbst die kalten,
goldenen Figuren der Dekoration schienen lebendig werden zu wollen und
den Lorbeer, den sie in den Händen trugen, einmal auf ein Haupt fallen
zu lassen. So schön hatte Simon das Theater noch nie gesehen. Klara war
sehr entzückt, wer hätte es an diesem Abend nicht sein können. Nur Herr
Agappaia blieb still und sagte kein Wort. Kaspar sagte: »Ich will eine
solche Ovation malen, das müßte ein herrliches Bild werden.« »Aber
schwer zu malen,« sagte Simon, »dieser Duft und Glanz der Freude, dieses
Schimmern des Entzückens, das Kalte und Warme, das Bestimmte und
Verschwommene, Farben und Formen in diesem Duft, das Gold und das
schwere Rot, so untergehend in allen Farben, und die Bühne, der kleine
Brennpunkt und das kleine, selige Mädchen darauf, die Kleider der Damen,
die Gesichter der Männer, die Logen und alles andere, wirklich, Kaspar,
es würde sehr schwer sein.«

Klara sagte: »Wenn man jetzt an eine stille Landschaft denkt, da draußen
liegen sie, die Wälder und Hügel und die weiten Wiesen, und man sitzt
hier in einem glitzernden Theater. Wie sonderbar. Vielleicht ist aber
alles Natur. Nicht nur das Große und Stille da draußen, sondern auch das
Bewegliche und Kleine, was die Menschen erschaffen. Ein Theater ist auch
Natur. Was die Natur uns heißt zu bauen, kann auch nur Natur, etwas
freilich wie Abart der Natur sein. Mag die Kultur so fein werden wie sie
will, sie bleibt doch Natur, denn sie ist doch nur die langsame
Erfindung durch Zeiten, und zwar von Wesen, die an der Natur immer
hangen werden. Wenn Sie ein Bild malen, Kaspar, so wird es Natur, denn
Sie malen mit Ihren Sinnen und Fingern und diese haben Sie doch von der
Natur bekommen. Nein, wir tun gut daran, sie zu lieben, immer ihrer
recht zu gedenken, sie, wenn ich so sagen darf, anzubeten, denn irgendwo
müssen die Menschen gebetet haben, sonst werden sie schlecht. Wenn wir
nun lieben, was uns am nächsten ist, so ist das ein Vorteil, der unsere
Jahrhunderte stürmischer vorwärts treibt, der uns mit der Erde
gedankenvoll rollen läßt, ein Vorteil, der uns das Leben schneller und
seliger empfinden macht, den wir also packen und ergreifen müssen,
tausendmal, in tausend Momenten, was weiß ich!« -- -- --

Sie war ganz feurig geworden im Sprechen. »Habe ich auch etwas
Vernünftiges gesprochen?« fragte sie Kaspar.

Kaspar antwortete nicht. Sie waren längst aus dem Theater heraus und
befanden sich auf dem Nachhauseweg.

Simon war mit Herrn Agappaia ein Stück vorausgegangen.

»Erzählen Sie mir etwas,« bat Klara ihren Begleiter.

»Ich habe einen Kollegen, Erwin mit Namen,« erzählte Kaspar, indem er
neben der Frau herging, »er ist wenig talentvoll, oder vielleicht war er
in seiner frühesten Jugend einmal talentvoll. Dagegen ist er noch immer,
trotzdem ihm das Malen nicht den geringsten Erfolg verspricht, wie ein
Satan in seine Kunst verliebt. Alle seine Bilder nennt er schlecht, und
sie sind es auch, aber er arbeitet jahrelang an ihnen. Er kratzt immer
wieder ab und malt von neuem. So die Natur zu lieben, wie er, muß eine
Qual sein und ist eine Schande; denn ein Mann von Vernunft läßt sich
nicht lange von einem Gegenstand, und sei es auch die Natur selber,
foppen und narren und peinigen. Natürlich ist nicht die Kunst seine
Peinigerin, sondern er selber ist sein Quäler mit seiner armseligen
Auffassung von Kunst und Welt. Dieser Erwin liebt mich. Ich malte, als
wir beide Anfänger waren, zusammen mit ihm. Wir tummelten uns auf den
Wiesen herum, unter den Bäumen, die ich immer nur in vollster
prangendster Blütenpracht vor mir sehe, wenn ich an jene »gottvolle«
Zeit denke. Dieses Wort »gottvoll« ist eines, das Erwin in seiner
blinden Überschwenglichkeit geprägt hat, wenn er vor Landschaften stand,
deren Schönheit seine Fassungskraft überstieg. »Kaspar, sieh einmal
diese gottvolle Landschaft,« das hat er, ich weiß nicht wie viel
hundertmal, zu mir gesagt. Schon damals, obgleich er ganz hübsche Bilder
zustande brachte, die mit Talent gemacht waren, kritisierte er sich
bissig und schonungslos. Er vernichtete seine gelungenen Bilder und hob
nur die mißlungenen auf, weil er nur diese als wertvoll empfand. Sein
Talent litt furchtbar unter diesem beständigen Mißtrauen, bis es
schließlich unter solcher schlechter Behandlung eintrocknete und
versiegte wie ein Quell, der von der Sonne verbrannt und ausgesogen
wird. Ich riet ihm öfters, fertige Bilder zu einem bescheidenen Preis zu
verkaufen, aber er hätte mir für diese Zumutung beinahe die Freundschaft
aufgekündet. Über mich verwunderte er sich täglich mehr, wie ich nur so
leicht und ziemlich frivol vor mich hinmalen konnte, aber er achtete
mein Talent, das er zugeben mußte. Er wünschte, ich möchte meine Kunst
mit mehr Ernst betreiben, ich antwortete, daß es bei der Kunstausübung
nur des Fleißes, des fröhlichen Eifers und der Naturbeobachtung bedürfe,
um zu etwas zu kommen, und machte ihn auf den Schaden aufmerksam, den
der übertriebene, heilige Ernst um eine Sache der Sache antun könne und
müsse. Er glaubte mir wirklich, war aber zu schwach, um sich von seinem
verbohrten Ernst, in den er festgebissen war, loszureißen. Dann reiste
ich weg, und bekam die sehnsüchtigsten Briefe von ihm, die voll Trauer
über meine Abreise klangen. Ich sei noch derjenige gewesen, der ihn noch
ein wenig munter erhalten hätte. Ich möchte doch zurückkehren, oder wenn
nicht, so bäte er mich, daß ich ihm erlaube, mir nachzureisen. Er tat es
auch. Er war immer hinter mir wie mein leibeigener Schatten, so oft ich
ihn auch kalt, spöttisch und von oben herab behandelte. Er vermied die
Frauen, ja er haßte sie, denn er befürchtete, von ihnen von der
Heiligkeit seiner Lebensaufgabe abgelenkt zu werden. Infolgedessen
lachte ich ihn aus und es kann sein, daß ich ihn ziemlich verächtlich
behandelt habe. Er malte immer schwerfälliger und war immer versessener
in die Studien. Ich riet ihm, nicht so sehr zu studieren und mehr die
Hand an den Pinsel zu gewöhnen. Er versuchte es und weinte beim Anblick
meines sorglosen In-den-Tag-hinein-Schaffens. Da unternahmen wir
zusammen eine Reise nach meiner Heimat, Sie wissen! Über die breiten
hohen Berge geht es da, in tiefe Täler steil hinunter und sogleich
wieder hinauf. Mir war es ein Spaß zum Handausstrecken, ein Genießen,
ein etwas schnelleres Atmen, eine größere Inanspruchnahme der Beine,
weiter nichts. Erwin kam kaum vorwärts: wirklich, seine Kräfte waren
bereits zerrüttet von der Ausschweifung seines Kunstsehnens. Eines Tages
erblickten wir, es war gegen Abend, auf einer hohen Bergweide stehend,
vor uns, durch Tannengeäst hindurch die drei Seen meiner Heimat. Erwin
schrie bei diesem Schauspiel auf. Es war in der Tat unvergeßlich schön.
Unten klang das Gelärm der Eisenbahnen, und Glocken tönten herauf. Die
Stadt konnte man noch nicht sehen, aber ich wies Erwin mit der
ausgestreckten Hand auf die Stelle, wo sie liegen mußte. Wie die
Gewänder von Fürstinnen lagen blitzend und sanft leuchtend die Seen
ausgebreitet, von edlen Berglinien umschlossen, mit entzückend
zierlichen Uferbildungen, und so weit in der Ferne, und doch so nah.
Noch an diesem Abend rückten wir, verstaubt und ausgehungert, zu Hause
an. Meine Schwester freute sich über den stillen Gast, den ich brachte.
Es mag jetzt etwa drei Jahre her sein. Sie schloß sich mit der Zeit an
ihn an, und ich darf glauben, daß eine stille Liebe zu Erwin in ihr
brannte. Es schmerzte sie, zu sehen, in welcher Weise ich mit ihrem
Schutzbefohlenen umging. Sie bat mich, freundlicher und achtungsvoller
von ihm zu reden, wenn ich von ihm in etwas lustigem Tone sprach. Lange
hielt es der arme Kerl auch nicht aus. Eines Tages nahm er Abschied.
Meiner Schwester hat er einen Spruch ins Tagebuch schreiben müssen. Wie
komisch das alles ist und doch wie tief. Vielleicht hatte er, da er ihr
ins Buch schrieb, die Hand gedankenvoll gestützt, und sich eine Zukunft
mit meiner Schwester ausgedacht. Was versprach ihm die Kunst? Ich hatte
einige Sorge, meine Schwester würde etwas wie eine Szene machen. Aber
sie schaute ihn bloß innig und gütig an beim Abschiednehmen. Er durfte
sie nicht anschauen, er wagte es nicht. Kam er sich vor wie ein
Erbärmlicher? Leicht möglich. Vielleicht glaubte er überhaupt nicht, daß
Mädchen ihn lieben und zum Mann begehren könnten, denn er hatte ein
Muttermal quer über das ganze Gesicht. Aber in meinen Augen hat ihn das
immer veredelt. Ich sah ihn sehr gerne an. Wir reisten, und dann frug er
mich einmal, ob er meiner Schwester schreiben dürfe. »Was geht das mich
an,« rief ich aus. »Schreibe, wenn du Lust hast!« Er ging wieder nach
Hause, in die ganz tote, düstere Umgebung seiner Akademieprofessoren.
Ich bemitleidete ihn, aber trennte mich kalt von ihm, wenigstens zeigte
ich ihm die Kälte, denn es war mir unangenehm, einem Bemitleidenswerten
gegenüber warm zu werden. Er schrieb einige Briefe, die ich nicht
beantwortete, und er schreibt auch jetzt, und auch jetzt antworte ich
nicht. Er hängt zum Verzweifeln an mir. Ist es da nötig, noch zu
antworten? Er ist verloren, er macht absolut keinen Fortschritt. Seine
gegenwärtigen Bilder sind schrecklich. Und doch hat kein Mensch ein so
inniges Bündnis mit mir gehabt wie er, und wenn ich an jene Tage denke,
wo wir zusammen an der Natur hingen! Was geht alles in der Welt vorüber.
Man muß schaffen, schaffen und nochmals schaffen, dazu ist man da, nicht
zum Bemitleiden.«

»Der arme Mensch,« sagte Klara, »ich habe Mitleid mit ihm. Ich möchte,
daß er hier wäre, und wenn er krank wäre, wie gerne möchte ich ihn
pflegen. Ein unglücklicher Künstler ist wie ein unglücklicher König. Wie
tief in der Seele muß es ihn schmerzen, sich so talentlos zu wissen. Ich
kann es mir so gut denken. Armer Kerl. Ich möchte ihm Freundin sein, da
Sie keine Zeit haben, Mitleid mit ihm zu empfinden. Ich hätte Zeit. Was
für arme Menschen gibt es doch auf der Welt!«

Kaspar sagte leise zu ihr und ergriff zum ersten Mal ihre Hand: »Wie gut
Sie sind!« --

Der Wald war tiefschwarz, alles war dunkel, das Haus war ein dunkler
Fleck im Dunkel. Simon und Agappaia warteten auf die beiden andern an
der Haustür.

»Sie kommen nicht. Kommen Sie, wir wollen hineingehen.«

»Ich möchte mich gleich schlafen legen,« sagte Simon.

Als er bereits im Bett lag und die Augen zuschließen wollte hörte er
plötzlich einen Schuß fallen. Erschreckt bis zum äußersten sprang er
auf, riß das Fenster auf und schaute hinaus. »Was ist das,« rief er
hinunter. Aber nur seine eigene Stimme widerhallte vom Walde her. Der
Wald war in eine schauerliche Totenstille gehüllt. Plötzlich vernahm er,
wie unten eine Männerstimme sprach: »Es ist nichts, schlafen Sie.
Verzeihen Sie, daß ich Sie erschreckt habe. Ich pflege des Nachts öfters
im Walde zu schießen, es macht mir Vergnügen, so den Schuß knallen und
widerhallen zu hören. Der eine pfeift gern eine Melodie, um sich, wenn
alles so still um ihn ist, zu zerstreuen. Ich schieße. Tragen Sie
Sorgfalt, daß Sie sich nicht erkälten so am offenen Fenster. Die Nächte
sind jetzt noch kühl. Gleich werden Sie wieder schießen hören und dann
werden Sie sich wohl nicht mehr ängstigen. Ich erwarte noch meine Frau.
Gute Nacht. Schlafen Sie wohl.« Simon legte sich wieder nieder. Dennoch
fand er keinen Schlaf. Die Stimme des Mannes hatte ihm so merkwürdig
geklungen, so ruhig, und das eben war das Eigentümliche. So eisig,
eigentlich ganz gewöhnlich freundlich, aber eben darin lag das Eisige.
Es mußte etwas dahinter stecken. Aber vielleicht kannte er nur dieses
Mannes Gewohnheiten nicht. »Es gibt,« dachte er für sich, »heutzutage ja
sonderbare Käuze genug. Das Leben ist ja so langweilig, das fördert das
Anwachsen der Käuze. Man wird, ehe man es recht weiß, zum seltsamen
Kauz. So mag auch dieser Agappaia gar nichts Wunderliches mehr in seinen
Wunderlichkeiten sehen. Man nennt es einfach Sport und schlägt alle
fremden Gedanken damit nieder. Immerhin, ich will jetzt versuchen, zu
schlafen.« -- aber es kamen andere Gedanken, die alle mit Nächten zu tun
hatten. Er dachte an kleine Kinder, die nicht in dunkle Zimmer zu gehen
wagen, die nicht einschlafen können im Dunkel. Die Eltern prägen den
Kindern die fürchterliche Angst vor dem Dunkel ein und schicken dann zur
Strafe die Unartigen in stille, schwarze Kammern. Da greift nun das Kind
im Dunkel, im dicken Dunkel und stößt nur auf Dunkel. Des Kindes Angst
und das Dunkel kommen ganz gut miteinander aus, aber nicht das Kind mit
der Angst. Das Kind hat soviel Talent, Angst zu haben, daß die Angst
immer größer wird. Sie bemächtigt sich des kleinen Kindes, denn sie ist
etwas so Großes, Dickes, Schweratmendes; das Kind würde zum Beispiel
gern schreien wollen, aber es wagt es nicht. Dieses Nicht-Wagen
vergrößert noch seine Angst; denn etwas Furchtbares muß da sein, wenn
man nicht einmal vor Angst Angstschreie ausstoßen darf. Das Kind glaubt,
jemand horche im Dunkel. Wie schwermütig einen das macht, sich solch ein
armes Kind vorzustellen. Wie die armen Öhrchen sich anstrengen, ein
Geräusch zu erhorchen: nur den tausendsten Teil eines Geräuschleins.
Nichts hören ist viel angstvoller als etwas hören, wenn man schon einmal
im Dunkel steht und hinhorcht. Überhaupt schon: hinhorchen und beinahe
das eigene Horchen hören. Das Kind hört nicht auf, zu hören. Manchmal
horcht es, und manchmal hört es nur, denn das Kind weiß zu unterscheiden
in seiner namenlosen Angst. Wenn man sagt: hören, so wird eigentlich
etwas gehört, aber wenn man sagt: horchen, so horcht man vergeblich, man
hört nichts, man möchte hören. Horchen ist Sache des Kindes, das in eine
dunkle Kammer eingesperrt wird, zur Strafe für Unarten. Denke man sich
jetzt, daß jemand herankäme, leise, fürchterlich leise. Nein, das lieber
nicht denken. Lieber das nicht denken. Derjenige, der das denkt, stirbt
mit dem Kinde vor Schreck. So zarte Seelen haben Kinder, und solchen
Seelen solche Schrecknisse zudenken! Eltern, Eltern, stecket nie eure
unartigen Kinder in dunkle Kammern, wenn ihr sie vorher gelehrt habt,
Angst vor dem sonst so lieben, lieben Dunkel zu empfinden. -- --

Jetzt hatte Simon keine Angst mehr, es möchte noch in dieser Nacht etwas
vorkommen. Er schlief ein, und als er am Morgen erwachte, sah er seinen
Bruder ruhig neben sich im Bett schlafen. Er hätte ihn küssen mögen. Er
zog sich, um den Schlafenden nicht zu wecken, so behutsam wie möglich
an, öffnete leise die Türe und ging die Treppe hinunter. Auf der Treppe
begegnete er Klara. Sie schien schon eine ganze Weile da gewartet zu
haben. Simon hatte jedoch kaum guten Morgen gesagt, als ihn auch schon
die Frau, die heftig bewegt schien, um den Hals faßte und an sich zog
und voll Liebe küßte. »Ich will dich auch küssen, du bist ja sein
Bruder,« sagte sie mit leiser, gepreßter, glückseliger Stimme.

»Er schläft noch,« sagte Simon. Es war seine Gewohnheit, Zärtlichkeiten,
die nicht ihm galten, sanft abzuweisen. Diese Ruhe brachte ihre Seele
erst recht in Bewegung. Sie ließ ihn nicht weitergehen, sondern schloß
ihn fester an sich, indem sie seinen Kopf in ihre beiden Hände nahm und
Küsse auf seine Stirne und auf seine Wangen drückte. »Ich habe dich so
lieb wie einen Bruder. Du bist jetzt mein Bruder. Ich habe so wenig und
so viel, siehst du! Ich habe gar nichts, ich habe alles gegeben. Wirst
du mich meiden? Nein, nicht wahr, nein! Ich besitze dein Herz, ich weiß
es. Ich bin reich mit einem solchen Vertrauten. Du liebst deinen Bruder,
wie keiner ihn liebt. Mit so viel Stärke und Willen. Erzähle mir von
dir. Wie schön kommst du mir vor. Du bist ganz anders, als er. Man kann
dich nicht beschreiben. Er sagte es auch, man könne dich kaum fassen.
Und doch, wie vertrauensvoll wirft man sich dir entgegen. Küsse mich.
Ich bin dein, in dem Sinne, wie dein Herz es will. Dein Herz ist das
Schöne an dir. Sage nur nichts. Ich verstehe, daß man dich nicht
versteht. Du verstehst alles. Du bist gut zu mir, sage, sage ja. Nein,
sage nicht ja. Es ist nicht nötig, ist gar, gar nicht nötig. Deine Augen
haben schon ja gesagt. Ich wußte es schon lange. Ich wußte schon lange,
daß es solche Menschen gäbe, zwinge dich nur nicht zur Kälte. Schläft
er? O nein, gehe noch nicht. Ich muß mich noch ein wenig zanken mit dir.
Ich bin eine dumme, dumme, dumme Frau, nicht wahr.«

In diesem Tone würde sie fortgeredet haben, aber Simon wehrte ihr ab,
ganz sanft, wie es seine Art war. Er sagte, er wolle einen Spaziergang
machen. Sie sah ihm nach, wie er davonging, aber er bekümmerte sich
nicht im geringsten um ihren Blick. »Ich diene ihr, wenn sie mich zu
einem Dienst braucht; selbstverständlich!« sagte er zu sich. »Ich würde
wahrscheinlich mein Leben hinwerfen für sie, wenn es ihr diente zu ihrem
Wohlsein, es zu fordern; sehr wahrscheinlich! Ja, es ist ziemlich
sicher, daß ich das täte, gerade für so eine. Sie hat so etwas
Derartiges. Mit einem Wort: sie beherrscht mich natürlich, aber was ist
da weiter zu grübeln. Ich habe an andere Sachen zu denken. Zum Beispiel
heute morgen bin ich glücklich, ich spüre meine Glieder wie feine,
geschmeidige Drähte. Wenn ich meine Glieder spüre, bin ich glücklich,
und da denke ich an keinen Menschen auf der Welt, weder an ein Weib,
noch an einen Mann, einfach an nichts. Ach, ist das schön hier im Wald
so am sonnigen Morgen. Ist das schön, frei zu sein. Mag jetzt eine Seele
an mich denken, mag sie, oder mag sie nicht, jedenfalls denkt die
meinige an gar nichts. Ein solcher Morgen weckt immer eine gewisse
Brutalität in mir, aber das schadet nichts, im Gegenteil, ist die
Grundlage zum selbstlosen Naturgenuß. Herrlich, herrlich. Wie das Gras
in der Sonne blitzt. Wie der weiße Himmel um die Erde brennt. Es kann ja
auch heute noch kommen, dieses Weichwerden. Wenn ich an jemand denke,
dann tu ich es heftig. Aber köstlicher ist es, so wie ich jetzt bin.
Lieblicher Morgen. Soll ich dir ein Lied singen. Ja, du bist selber ein
Lied. Viel lieber möchte ich schreien und laufen wie der Teufel, oder
Schüsse abknallen wie der dumme Teufel Agappaia.« --

Er warf sich auf die Matte nieder und träumte.



Viertes Kapitel.


An diesem Morgen fuhren Kaspar und Klara in einem kleinen, farbigen Boot
auf dem See. Der See war ganz ruhig wie ein glänzender, stiller Spiegel.
Ab und zu kreuzten sie einen kleinen Dampfer, dann gab es für eine kurze
Zeit breite, sanfte Wellen, und sie durchschnitten diese Wellen. Klara
war in ein ganz schneeweißes Kleid gehüllt, die weiten Ärmel hingen an
den schönen Armen und Händen träge herunter. Den Hut hatte sie
abgenommen: die Haare hatte sie aufgelöst, ganz unabsichtlich, mit einer
schönen Bewegung der Hand. Ihr Mund lächelte zu dem Munde des jungen
Mannes hinüber. Sie wußte nichts zu sagen, sie mochte nichts sagen. »Wie
schön das Wasser ist, es ist wie ein Himmel,« sagte sie. Ihre Stirne war
heiter wie die Umgebung von See, Ufer und wolkenlosem Himmel. Das Blau
des Himmels war von einem duftenden und schimmernden Weiß durchzogen.
Das Weiß trübte ein wenig das Blau, verfeinerte es, machte es
sehnsüchtiger und schwankender und milder. Die Sonne schien halb durch,
wie Sonne in Träumen. Es lag eine Zaghaftigkeit in allem, die Luft
fächelte ihnen um das Haar und das Gesicht, Kaspars Gesicht war ernst,
doch ohne Sorgen. Er ruderte eine Weile stark, dann jedoch ließ er die
Ruder fahren, das Schiff schaukelte ohne Führung weiter. Er bog sich
nach der versinkenden Stadt um, sah die Türme und Dächer in der halben
Sonne leicht glitzern, sah, wie die emsigen Menschen über die Brücken
liefen. Die Karren und Wagen kamen nach, die elektrische Trambahn sprang
mit ihrem eigenartigen Geräusch vorüber. Die Drähte sausten, die
Peitschen knallten, Pfeifen hörte man und große schallende Klänge von
irgend woher. Auf einmal tönten die Elfuhr-Glocken in all die Stille und
in all das ferne, zitternde Geräusch hinein. Sie empfanden beide eine
unaussprechliche Freude am Tag, am Morgen, an den Tönen und Farben. Es
wurde alles zu einem Erfassen, zu einem Ton! Liebende, wie sie waren,
hörten sie alles in einen einzigen Ton überschlagen. Ein Strauß von
einfachen Blumen lag in Klaras Schoße. Kaspar hatte seinen Rock
ausgezogen und ruderte wieder weiter. Da schlug es Mittag, und alle
diese Arbeits- und Berufsmenschen liefen wie ein Haufen von Ameisen nach
allen Straßenrichtungen auseinander. Es wimmelte auf der weißen Brücke
von schwarzen, beweglichen Punkten. Und wenn man daran dachte, daß jeder
dieser schwarzen Punkte einen Mund hatte, mit dem er jetzt das
Mittagessen essen wollte, so mußte man unwillkürlich lachen. Wie so ein
Bild des Lebens einzig sei, empfanden sie, und lachten dabei. Auch sie
kehrten jetzt um, denn schließlich waren sie auch Menschen, die Hunger
bekamen; und je näher sie dem Ufer kamen, desto größer wurden wieder die
Ameisen; und dann stiegen sie aus und waren ebenfalls Punkte, wie die
andern. Aber sie spazierten selig unter den hellgrünen Bäumen auf und
ab. Viele Neugierige schauten sich nach dem seltsamen Paare um: der Frau
in dem langen, nachschleppenden, weißen Gewande und dem Flegel von
Burschen, der nicht mal eine ordentliche Hose trug, der so seltsam frech
abstach von der Dame, die er begleitete. So pflegen sich die Menschen zu
empören und zu irren in ihren Mitmenschen. Auf einmal kam jemand auf
Kaspar lebhaft zugeschritten. Es war in der Tat einer, der Grund hatte,
ihn auf diese Weise zu begrüßen, nämlich Klaus, der seinen Bruder schon
seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Hinter ihm kam die Schwester und
ein anderer Herr, und nun begrüßte sich alles gegenseitig. Der fremde
Herr hieß Sebastian.

                   *       *       *       *       *

Simon saß unterdessen, kaum tausend Schritte weit entfernt, in einer
Speisehalle, einem kleinen Raum, vollgepfropft mit essenden Menschen.
Hier pflegte allerhand Volk zu essen, das billig und schnell essen
mußte. Simon liebte gerade diesen Ort, wo doch jede Bequemlichkeit und
Eleganz durchaus fehlte. Auch hatte er ja mit dem Gelde zu rechnen. Das
Speisehaus war von einer Gruppe von Frauen gegründet, die sich, alle
zusammen gerechnet, Verein für Mäßigkeit und Volkswohl nannten. In der
Tat, wer da hineinging, der mußte mit einem mäßigen und dünnen Essen
zufrieden sein. Meistens waren auch alle zufrieden, wenn man die
kleinen, bornierten Unzufriedenheiten abrechnet. Allen, die hier
verkehrten, schien das Essen zu behagen, das aus einem Teller Suppe,
einem Stück Brot, einer Portion Fleisch, dito Gemüse und einem winzigen
und zierlichen Dessert bestand. Die Bedienung ließ nichts zu wünschen
übrig, als ein wenig mehr Behendigkeit, aber im Grunde genommen war sie
schnell genug in Anbetracht der zahlreichen hungrigen Esser. Jeder bekam
sein Essen frühzeitig genug, auch wenn jeder eine kleine Ungeduld nach
noch frühzeitigerem Verabreichen verspürte. Es war ein immerwährendes
Essen-Austeilen, Essen-In-Empfangnehmen und Essen-Verschlingen. Mancher,
der verschlungen hatte, mochte den Wunsch empfinden, noch nicht soweit
zu sein, und sah neidisch auf solche, die zu erwarten hatten, was doch
eigentlich ganz nett war hinunterzuschlingen. Warum aßen sie so schnell.
Eine absurde Gewohnheit, so schnell sein Essen zu essen. Die Bedienung
bestand aus ganz lieblichen Mädchen aus der ländlichen Umgebung der
Stadt. Eine kurze Zeit waren diese Geschöpfe ziemlich unbeholfen, aber
sie lernten es, abzuwehren und mit dem Ablehnen Zeit zu gewinnen, ganz
dringende, brennende Wünsche zu befriedigen. Wo so viele Wünsche waren,
mußte unter den Wünschen fein unterschieden und gewählt werden. Ab und
zu kam eine der Erfinderinnen dieses Geschäftes, eine der
Wohltäterinnen, und sah sich das Volk an, wie es aß. Eine solche Dame
setzte ihre Lorgnette ans Auge und musterte das Essen und diejenigen,
die es verzehrten.

Simon empfand eine Vorliebe für diese Damen und freute sich immer, wenn
sie kamen, denn es kam ihm so vor, als besuchten diese lieben, gütigen
Frauen einen Saal voll kleiner, armer Kinder, um zu sehen, wie diese
sich an einem Festmahl ergötzten. »Ist denn das Volk nicht ein großes,
armes, kleines Kind das bevormundet und überwacht werden muß?« rief es
in ihm, »und ist es nicht besser, es wird überwacht von Frauen, die doch
vornehme Damen sind und gütige Herzen haben, als von Tyrannen im alten,
freilich heroischeren Sinn?« -- Was aß nicht alles in der Eßstube, zu
einer friedlichen Familie vereint! Studentinnen in erster Linie. Hatten
Studentinnen Zeit und Geld, um im Hotel Continental zu essen? Und dann
Dienstmänner in blauen, leichten Kitteln mit Stiefeln an den Beinen,
großen, borstigen Schnurrbärten und ziemlich eckigen Mäulern im Gesicht.
Was konnten sie dafür, daß sie eckige Mäuler hatten? Mancher im Hotel
Royal hatte gewiß auch ein eckiges Gebaren rund um den Schnurrbart
herum. Freilich war dort das Eckige übertüncht mit einer Rundung, aber
was hatte das wohl zu heißen? Auch Dienstmädchen ohne Stellung waren da,
arme Schreiber, überhaupt Weggejagte, Brotlose, Heimatlose und auch
solche, die nicht einmal eine Adresse besaßen. Ebenso verkehrten hier
Frauen von schlechtem Lebenswandel, Weiber mit seltsamen Frisuren und
blauen Gesichtern, dicken Händen und frechen aber verschämten Blicken.
Alle diese Leute, allen voran natürlich die heiligen Betbrüder, die
ebenfalls zu sehen waren, benahmen sich in der Regel schüchtern und
zuvorkommend. Alle schauten allen ins Gesicht während des Essens; kein
Wort wurde gesprochen, nur hin und wieder ein leises und höfliches. Das
war der sichtbare Segen des Volkswohles und der Mäßigkeit. Etwas
Drolliges, etwas Einfaches, etwas Gedrücktes und wiederum etwas
Befreites lag auf den armseligen Menschen, in ihren Manieren, die bunt
waren wie die Farben eines Sommervogels. Wie mancher benahm sich hier
feiner als der Feinste sonst in vornehmen Häusern. Wer konnte wissen,
wer er war, was er gewesen, vordem, ehe er ins Volksspeisezimmer
gelangte. Würfelte denn nicht das Leben die Schicksale der Menschen
heftig durcheinander wie mit einem Würfelbecher? Simon saß in einer
kleinen Ecke, einer Art Erker, und aß Butter mit Honig, auf ein Stück
Brot zusammengestrichen, und trank eine Tasse Kaffee dazu: »Was brauche
ich mehr zu essen an einem so schönen Tage. Blickt nicht der blaue
Frühsommerhimmel holdselig durch das Fenster auf mein goldnes Essen
herab. Freilich ist mein Essen ein goldenes. Man erblicke nur den Honig:
hat er nicht ein hellgelbes, süßgoldenes Aussehen? Dieses Gold fließt so
angenehm auf dem kleinen, weißen Tellerchen herum, und wenn ich mit dem
spitzen Messer davon absteche, so komme ich mir vor wie ein Goldgräber,
der einen Schatz entdeckt hat. Das Weiß der Butter liegt entzückend
daneben, dann folgt die braune Farbe des wohlschmeckenden Brotes, und
über alles schön ist das Dunkelbraun des Kaffees in der zierlichen,
sauberen Tasse. Gibt es ein Essen auf der Welt, das schöner und
appetitlicher aussehen könnte? Und ich stille meinen Hunger damit ganz
vortrefflich, und was brauche ich mehr, als meinen Hunger zu stillen, um
sagen zu können: ich habe gegessen? Es soll Menschen geben, die sich aus
dem Essen eine Kultur, eine Kunst machen; nun, kann ich das etwa nicht
auch von mir sagen? Freilich! Nur ist meine Kunst eine bescheidene und
meine Kultur eine delikatere, denn ich genieße das Wenige stürmischer
und üppiger als jene das Viele und Nicht-Aufhören-Wollende. Ich ziehe
außerdem nicht gern Mahlzeiten so sehr in die Länge, ich könnte sonst
leicht den Appetit darnach verlieren. Mir liegt daran, immer und immer
wieder Lust zum Essen zu verspüren, deshalb esse ich spärlich und fein.
Außerdem habe ich noch etwas: eine pikante Unterhaltung mit immer neuen
Menschen.«

Kaum hatte Simon dieses gemurmelt oder gedacht, als ein alter Mann in
weißen Haaren sich auf den freien Platz zu ihm hinsetzte. Des alten
Mannes Gesicht war von einer grauen, abgemagerten Blässe, die Nase
tropfte, oder vielmehr, es hing ein großer Tropfen an seiner Nase, der
nicht fallen konnte, der aber doch schwer zum Fallen war. Beständig
glaubte man ihn herunterfallen sehen zu sollen. Aber der Tropfen hing
immer noch. Der Mann bestellte sich einen Teller mit gesottenen
Kartoffeln, sonst weiter nichts, und aß dieselben, indem er mit der
Messerspitze sorgfältig Salz darauf streute, mit umständlichem Behagen.
Aber vorher hatte er die Hände zusammengefaltet, um ein Gebet an seinen
Herrgott zu verrichten. Simon erlaubte sich folgenden kleinen Spaß: er
bestellte heimlich ein Stück Braten bei dem aufwartenden Mädchen und als
das Bratenstück herankam, mußte er über des Mannes Staunen, als es ihm
und keinem andern hingereicht wurde, herzlich lachen.

»Warum beten Sie, bevor sie essen,« fragte Simon einfach.

»Ich bete, weil ich dessen bedarf,« erwiderte der alte Mann.

»Dann freut es mich, Sie beten gesehen zu haben. Ich interessierte mich
bloß, welches Gefühl Sie dazu könnte veranlaßt haben.«

»Man hat viele Gefühle dabei, mein junger Herr! Sie zum Beispiel beten
gewiß nicht. Dazu haben junge Leute von heute keine Zeit und auch kein
Verlangen mehr. Ich kann es begreifen. Wenn ich bete, so fahre ich bloß
in meiner Gewohnheit fort, denn ich habe mir das angewöhnt und es hat
mir Trost gespendet.«

»Waren Sie immer ein armer Mann?«

»Immer.« --

Indem der alte Mann das sagte, erschien in dem dumpfigen, wenngleich
sauberen, so doch armseligen Speiselokal die schöne Gestalt der Frau
Klara. Sämtliche Hände, die eine Gabel, einen Löffel oder ein Messer,
oder den Henkel einer Tasse festhielten, zögerten einen Augenblick, in
ihrem Geschäft fortzufahren. Alle Mäuler sperrten sich auf, alle Augen
hefteten sich fest auf eine Erscheinung, die so wenig geeignet schien,
etwas in diesem Raume zu suchen zu haben. Sie war eine vollendete Dame
und war es in diesem Moment noch viel mehr. Es war gerade, auch für
Simons Augen und Sinne, als wenn sich aus einem offenen, flatternden
Himmel ein Engel loslöse und nun zur Erde niederschwebe und dort irgend
ein dunkles Loch aufsuche, um die Menschen, die dort wohnen, mit seinem
bloßen seligen Anblick zu beglücken. So dachte sich Simon immer eine
Wohltäterin, die hingeht, zu den Elenden und Armen, die nichts besitzen,
als den zweideutigen Vorzug, von Moment zu Moment mit Sorgen wie mit
Ruten gepeitscht zu werden. Klara benahm sich in dem Volkshause, ganz
wie wenn es sich von selber ergäbe, als ein höheres, fernes,
zugeflogenes Wesen aus anderen Grenzen, aus einer andern Schicht und
Welt. Das war ja das Herrliche, Strahlende, das alle diese schüchternen
Menschen veranlaßte, die Augen aufzureißen, mit dem Atem zu kämpfen und
die Hände zu halten mit der andern Hand, daß das Messer nicht herausfiel
vor heftigem Erbeben. Klaras Schönheit gab den Menschen urplötzlich mit
Schmerz etwas zu denken. Es kam ihnen plötzlich allen in den Sinn, was
es noch, außer rauher Arbeit und Kummer um das tägliche Brot, auf der
Welt gäbe. Von dieser Art Gesundheit und völligen, üppigen, lächelnden
Reizes hatten sie alle beinahe keine Vorstellung mehr, so sehr zerfloß
ihnen das Leben in schwarzen, unsauberen Alltäglichkeiten, zerrieb sich
in Sorgen, klammerte sich um Niedrigkeiten. Das alles fiel ihnen jetzt,
wenn vielleicht nicht jedem so deutlich, mit Qualen ein; denn eine Qual
ist es, eine Schönheit zu erblicken, an deren bloßem Duft man sich zu
berauschen meint, die einen tötet, wenn der Gedanke sich dazu versteigt,
mit ihrem Lächeln mitzulächeln. Deshalb machten sie unwillkürlich auch
alle Grimassen, verzerrten ihre Gesichter zu der Frau hinauf, die sie
alle überragte, da alle auf niederen Stühlen, an engen Plätzen
festgeklemmt saßen, während sie, die Hohe, hoch aufrecht stand. Sie
schien jemand zu suchen. Simon hielt sich still in seiner Ecke und
lächelte die Umherblickende unverwandt an. Sie bemerkte ihn lange nicht,
obschon der Raum verhältnismäßig klein war; denn es mochte sie
anstrengen, ihre Augen an das zerwürfelte dunkle, vermischte Bild zu
gewöhnen und Gestalten zu fixieren, die ihre Augen gewohnt waren, sonst
überhaupt nicht zu beachten. Schon wollte sie sich, etwas unwillig
geworden, wieder entfernen, als sie Simon mit einem Blick streifte und
erkannte. »Also hier sitzen Sie, und noch dazu in solch eine Ecke
gedrückt?« sagte sie, und setzte sich mit der größten Freude neben ihn
nieder, auf den Platz zwischen ihrem jungen Freunde und dem alten Mann,
dessen Nase immer noch den großen glitzernden Tropfen trug. Der Greis
schlief. Es war nicht gestattet, in solchen Lokalen zu schlafen, aber es
war ein alltägliches Vorkommnis, daß alte Leute hier, nachdem sie
gegessen hatten, einschliefen, aus einfacher, nicht mehr zu bezähmender
Müdigkeit. Dieser Greis hatte vielleicht eine lange nutzlose
Fußwanderung durch alle Straßen der Stadt hinter sich. Er mochte
vielleicht um Arbeit nachgefragt haben, überall, wo ihn seine Gedanken
nur leise hinweisen konnten. Immer müder geworden, hatte er es
vielleicht trotzdem versucht, etwas an diesem Tag zu erreichen, hatte
seine äußersten Kräfte angespannt, um einen Berg zu erklimmen, denn die
Stadt liegt den Berg hinan, und war dort oben eben so schnell abgewiesen
worden, als hier unten; zog wieder abwärts, den Tod im Herzen, mit
zerbrochenen Kräften, bis hierher. Daß sich der Greis überhaupt
vielleicht, wie man vermuten durfte, noch um Arbeit umgeschaut hatte,
daß er noch den Willen hegte, zu arbeiten, er, der Greis, das nur zu
denken hatte etwas Klägliches und Erschreckendes. Aber man konnte auf
diesen Gedanken sehr wohl kommen. Dieser Greis hatte nirgends eine
Heimat, als hier in diesem Lokal, aber auch hier nur auf Stunden, denn
dann wurde das Lokal geschlossen. Deshalb vielleicht betete er, um dem
furchtbaren Ernst seiner Lage eine leise, besänftigende Melodie zu
verschaffen. Deshalb sagte er: »Ich bedarf des Gebetes.« Also nichts
weniger als Hang zur Frömmelei war es, sondern das überaus traurige
Bedürfnis, eine Hand zu spüren, die ihn liebkosen möchte, eine Kinder-
oder Tochterhand zu fühlen, die leise und trostvoll über seine arme,
zerfaltete Stirne hinstrich. Vielleicht hatte der alte Mann Töchter
gezeugt, -- und nun er selber? Mit solchen Gedanken konnte sich leicht
einer abgeben, der neben dem Alten saß und ihn so schlafen sah, den Kopf
seltsam unbeweglich, die Hände den Kopf stützend. Klara sagte: »Ihr
Bruder ist gekommen, Simon, in der Offiziersuniform, auch Ihre Schwester
und dann noch ein Herr, mit Namen Sebastian.« Darauf bezahlte Simon, was
er schuldig war, und sie gingen zusammen fort. Als sie fortgegangen
waren, bemerkte eines der bedienenden Mädchen den schlafenden Mann, sie
rüttelte und schüttelte ihn und sagte mit komischer Strenge: »Nicht
schlafen da! Sie! Hören Sie nicht? Hier dürfen Sie nicht schlafen!« Da
erwachte der alte Mann.

                   *       *       *       *       *

Es gab einen herrlichen Abend nach diesem Tag. Alle Welt lustwandelte am
schönen Seeufer entlang, unter den breiten, großblättrigen Bäumen. Wenn
man hier, unter so vielen aufgeräumten, leise plaudernden Menschen,
spazierte, fühlte man sich in ein Märchen versetzt. Die Stadt loderte im
Feuer der untergehenden Sonne und später brannte sie, schwarz und
dunkel, in der Glut und Nachglut der Untergegangenen. Die Sonne im
Sommer hat etwas Wundervolles und Hinreißendes. Der See glitzerte im
Dunkel, und die vielen Lichter schimmerten in der Tiefe des stillen
Wassers. Herrlich sahen die Brücken aus; und wenn man über die Brücken
ging, so sah man unten im Wasser die kleinen, dunklen Boote
vorbeischießen; Mädchen in hellen Kleidern saßen in den Nachen, oft auch
erklang aus einem größeren, langsam und feierlich dahinschwebenden,
flachen Boote der warme, zur Nacht stimmende Ton einer Handharfe. Der
Ton verlor sich in Schwarz und tauchte wieder tönend heraus, hell und
warm, dunkel und herzenergreifend. Wie weit klang das einfache
Instrument, von irgend einem Schiffsmann gespielt! Die Nacht schien noch
größer und tiefer dadurch zu werden. Aus der weiten Uferferne
schimmerten die Lichter der ländlichen Ansiedelungen herüber, als wären
sie blitzende, rötliche Steine im dunklen, schweren Gewand von
Königinnen. Die ganze Erde schien zu duften und still zu liegen wie ein
schlafendes Mädchen. Das große, dunkle Rund des nächtlichen Himmels
breitete sich über alle Augen aus, über die Berge und die Lichter. Der
See hatte etwas Raumloses bekommen und der Himmel etwas den See
Umspannendes, Einschließendes und Überwölbendes. Ganze Gruppen von
Menschen bildeten sich. Junge Leute schienen zu schwärmen, und auf allen
Bänken saßen dichtgedrängt ruhende, stille Menschen. Auch an
flatterhaften, stolz kokettierenden Frauen fehlte es nicht und auch
nicht an Männern, die nur diese Frauen im Auge behielten, die hinter
ihnen hergingen, immer etwas zögernd und dann wieder vorstürmend, bis
sie schließlich den Mut oder das Wort fanden, ihre Damen anzusprechen.
Manch einem wurde an diesem Abend der Kopf gewaschen, wie man sich
auszudrücken pflegt.

Simon ging neben Klaus und war glücklich, seinem Bruder, der beständig
fragte und fragte, durch treffende und einfache Antworten die
Überzeugung beizubringen, daß er ein noch durchaus nicht verlorner
Mensch sei. Er sprach mit einem gewissen Stolz und zugleich mit einem
Tone der Demut vor dem reiferen Bruder, der nach manchen Dingen doch wie
ein ungeschultes Kind fragte, aber eine liebevolle Besorgnis an den Tag
legte. Sie sprachen in schönen, langen, gewundenen Sätzen, ganz wie von
selber, und Klaus freute sich über seines Bruders Einsicht in so
manches, wo er zuerst angenommen hatte, daß Simon, seinen Verhältnissen
gemäß, darüber spotten und lachen würde. »Ich habe dich lange nicht für
so ernst gehalten, als wie du dich zeigst!« Simon antwortete: »Es ist
nicht meine Gewohnheit, zu zeigen, daß ich Ehrfurcht vor vielen Dingen
besitze. So etwas pflege ich für mich zu behalten, denn ich denke, was
nützt es, eine ernste Miene aufzusetzen, wenn man vom Schicksal dazu
bestimmt, ich meine, vielleicht dazu erwählt ist, den Narren zu spielen.
Es gibt viele, viele Schicksale, und vor ihnen will ich in allererster
Linie meinen Nacken beugen. Es bleibt nicht anderes zu tun übrig. Im
übrigen soll mir einer kommen mit der Zumutung, verdutzt und mutlos den
Kopf hängen zu lassen. Ich habe es schon Verschiedenen gesagt, wie es in
dieser Beziehung mit meinem Inneren steht.« -- Wenn Simon so sprach,
redete er in fließenden Sätzen und mit richtiger Betonung, aber völlig
ruhig und freundlich, so daß Klaus diese Aussprüche nicht als Weltgroll
empfand, sondern als ein gewisses Suchen in seines jungen Bruders Seele
nach Klarlegung seines eigenen Zustandes in Beziehung zur Welt. Er
überzeugte sich davon, daß Simon tüchtige Eigenschaften besaß, aber er
fürchtete ein bißchen, daß diese Eigenschaften nur oberflächlich,
scheinbar nur spielend und lockend und tanzend ihn umgaben, während er
wünschte, sie möchten in ihm stecken. Im Feuer der Rede redete sich
solch eine Seele ja so leicht in eine Welt der Bravheit und schönen
Tüchtigkeit hinein, um sich daran selber für Stunden zu berauschen,
namentlich in Augenblicken des Wiedersehens seit langer Zeit. Dennoch
hatte Klaus Freude an seinem Bruder und sprach mit sichtlichem Vergnügen
allerhand Schönes und Tröstendes zu ihm. Hinter ihnen, in einiger
Entfernung, gingen, eng aneinander gedrängt, Klara und Kaspar. Der Maler
war berauscht von der Schönheit und von der Musik der Nacht. Er
phantasierte von Pferden, die durch nächtliche Gärten galoppierten,
schöne, schlanke Reiterinnen tragend, deren Röcke am Boden mit den Hufen
der Pferde spielten. Dann lachte er über alles mit einem frechen,
unbändigen Lachen, über die Menschen, über die Landschaft, einfach über
alles, was ihm vor das Auge kam. Klara versuchte gar nicht, ihn zu
besänftigen, im Gegenteil, sie hatte Freude an dieser Ungebundenheit
eines schönen Geistes. Wie liebte sie das Jugendliche, das Freche, ja
sogar das Sich-Überhebende in dieser Knabennatur, die sich
hinüberarbeitete zur Mannesnatur. Er mochte das Tollste schwatzen, das
ihr wahrscheinlich aus dem Munde eines anderen würde lächerlich und
blöde geklungen haben, aber an ihm liebte sie es. Was hatte dieser
Mensch, daß sie ihn so ohne Bedingung schön finden mußte, in allen
Lagen, in jeder Gebärde, im Benehmen, Tun, Lassen, Reden und
Stillschweigen? Er schien ihr allen übrigen Menschen gewachsen, allen
andern Männern überlegen zu sein, und er war kaum ein Mann. Sein
Schritt, wie sollte sie sagen, hatte für sie etwas Läppisches und
zugleich Gebietendes. Der ganze junge Mensch nicht die Spur des
Aufgeregtseins und doch etwas Schüchternes, Dummes, Tief-Kindliches. So
gelassen und so schnell in Flammen! Sie sah, wie seine Haare im Dunkel
hell hervorleuchteten, jugendlich und wellenhaft. Dazu sein Schritt und
das Tragen des Kopfes mit solchem bescheidenen, fragenden, sinnenden
Stolz. Wie dieser Jüngling träumen mußte, wenn er an jemand dachte.
Kaspar war stiller geworden. Sie sah ihn immer an, immer! Hier, in
dieser Nacht voll umherwandelnder Menschen war es schön, zum vergehen
schön, ihn anzuschauen. Ihn anzuschauen, das fand sie schöner, als ihn
küssen. Seinen Mund sah sie schmerzvoll geöffnet; gewiß dachte er weiter
nichts, nein, gar keine Rede; es war eben nur die Stellung der Lippen,
die den Eindruck des Schmerzlichen hervorrief. Seine Augen waren kalt
und ruhig in die Ferne gerichtet, als wüßten sie dort Besseres zu sehen.
Sie schienen zu sprechen: »Wir, wir sehen Schönes; quält euch doch
nicht, ihr andern Menschenaugen, ihr werdet es ja doch nie sehen, was
wir sehen!« Seine Augenbrauen bogen sich entzückend leicht und wie
besorgt, als wenn sie Engel gewesen wären, über ihre Kinder, die Augen,
die so aussahen und in die Welt blickten, als könnten sie jeden
Augenblick verletzt werden. »Gewiß, eines jeden Menschen Auge ist leicht
verletzbar, aber wenn ich seine betrachte, so tut es mir auf einmal so
weh, so, als sähe ich sie schon von Splittern verletzt. Sie sind so
groß, treten so weit hervor, scheinen sich um nichts zu kümmern, sind so
achtlos und immer so groß geöffnet; wie leicht können sie verletzt
werden!« jammerte sie. Sie wußte nicht einmal, ob er sie liebte, aber
was machte das aus, sie, sie liebte ihn ja, das genügte, ja, das mußte
so sein, sie war dem Weinen nahe. Da kamen Simon und Klaus
zurückgegangen, um die andern aufzusuchen. Klara beherrschte sich, so
gut sie konnte, nahm Simon beim Arm und ging mit ihm voraus. »Laß mich
in deine Augen sehen, du hast so schöne Augen, Simon, Augen, in deren
Anblick man liegt wie im Bett, wenn alles beruhigt ist und man betet,«
sprach sie zu ihm.

Klaus und Kaspar gingen schweigend. Sie wollten einander nicht mehr
verstehen, seit vor ein paar Jahren ein kleiner Zwist zwischen ihnen
ausgebrochen war, und seither hatten sie sich nie mehr gesehen und auch
nie geschrieben. Klaus nahm sich das sehr zu Herzen, während Kaspar es
einfach als eine Art Notwendigkeit hingehen ließ. Er sagte sich, daß es
ganz in der Ordnung der Dinge liege, einmal auch von einem Bruder nicht
begriffen zu werden. Er mochte nicht den Kopf zurückwenden nach
vergangenen Angelegenheiten, die er übrigens, eben weil sie vorüber
waren, als für weiterer Gedanken nicht wert hielt. Seine Art war,
geradeaus zu marschieren; er hielt das Zurückblicken auf alte
Beziehungen für schädlich. Nun fing, da ihm das Schweigen Kaspar
gegenüber unerträglich wurde, Klaus an, von der Kunst des Bruders zu
sprechen und ermunterte ihn, doch einmal nach Italien zu gehen, um da
die gehörige Reife als Künstler zu erlangen.

Kaspar rief aus: »Lieber will ich gleich vom Teufel geholt werden! Nach
Italien! Warum nach Italien? Bin ich krank, und soll ich etwa gesund
werden in dem Lande der Orangen und Pinien? Was brauche ich denn nach
Italien zu gehen, wenn ich hier sein kann und es mir hier ganz gut
gefällt? Könnte ich in Italien vielleicht Besseres tun, als malen, und
kann ich etwa hier nicht malen? Du meinst, weil es so schön in Italien
ist, müsse ich dahin gehen. Ist es denn etwa hier nicht schön genug?
Kann es dort schöner sein, als hier, da, wo ich bin, wo ich schaffe, wo
ich tausend Schönheiten sehe, die fortleben, wenn ich längst vermodert
bin? Ist es möglich, nach Italien zu gehen, wenn man schaffen will? Sind
in Italien die Schönheiten schöner als hier? Sie sind vielleicht nur
anspruchsvoller, und eben deshalb will ich sie lieber gar nicht sehen.
Wenn ich in sechzig Jahren so weit bin, eine Welle oder eine Wolke,
einen Baum oder ein Feld malen zu können, so wollen wir sehen, ob es
klug getan war, nicht in Italien gewesen zu sein. Kann mir etwas
entgehen, diese Tempelsäulen, diese Allerweltsrathäuser, diese Brunnen
und Bogen, diese Pinien und Lorbeerbäume, diese italienischen Trachten
und Prachtbauten nicht gesehen zu haben? Muß man mit den Augen denn
alles auffressen wollen? Ich könnte jedesmal außer mir geraten, wenn man
mir zumutet, die Absicht zu haben, in Italien ein besserer Künstler zu
werden. Italien, das ist unsere Falle, in die wir hineinpatschen, wenn
wir turmhoch dumm sind. Kommen die Italiener zu uns, wenn sie malen oder
dichten wollen? Was nützt es mir, wenn ich mich an vergangenen Kulturen
berausche? Habe ich damit meinen Geist, wenn ich ehrlich mit mir
abrechnen will, bereichert? Nein, ich habe ihn bloß verpfuscht und feige
gemacht. Mag eine alte, untergegangene Kultur noch so herrlich gewesen
sein, mag sie immerhin die unsrige an Stärke und Pracht überragen, so
schnüffle ich deshalb noch lange nicht wie ein Maulwurf darin herum,
sondern betrachte sie eben, wenn es angeht und es mir Spaß macht, aus
Büchern, die mir zu jeder Zeit zu Diensten sind. So sehr schätzenswert
ist übrigens das Verlorene und Vergangene niemals; denn ich erblicke
rund um mich, in unserer oft als so unschön und unhold verschrieenen
Gegenwart Bilder die Menge, die mich entzücken, und Schönheiten, beide
Augen zum Überfließen voll. Ich könnte zornig werden und aus der Haut
fahren bei dieser Italienraserei, die etwas seltsam Beschämendes für uns
ist. Es kann sein, daß ich mich irre, aber keine zwanzig borstigen
Teufel, und wenn sie die Luft neben mir verpesteten und ihre
scheußlichen Gabeln schwenkten, brächten mich nach Italien.«

Klaus wurde betroffen und traurig über Kaspars Heftigkeit, die Dinge zu
messen. So war er immer gewesen, und auf diese Art konnte es nicht
vorauszusehen sein, wie man in eine ersprießliche Verbindung mit ihm
treten könnte. Er schwieg und reichte ihm die Hand; denn man war vor der
Wohnung Klausens angekommen.

In seinem einförmigen Zimmer angekommen, sagte er sich: »So habe ich ihn
nun zum zweiten Male verloren, durch eine ganz unschuldige, gutgemeinte,
aber in der Tat etwas unvorsichtige Äußerung. Ich kenne ihn zu wenig,
das ist alles, und ich werde ihn vielleicht nie kennen lernen. Unsere
Lebensläufe sind zu verschieden. Aber vielleicht führt uns ein anderes
Mal die Zukunft, die man ja nie ergründet, zusammen. Man muß warten und
es ertragen, langsam ein reiferer, besserer Mensch zu werden.« Er kam
sich so einsam vor und beschloß, bald wieder abzureisen, an seinen
Wirkungsort zurück.



Fünftes Kapitel.


Sebastian war ein junger Poet, der seine Verse von einer kleinen Bühne
herab dem Publikum vortrug. Er pflegte sich dabei durch sein Ungestüm
immer ein wenig lächerlich zu machen. Er war in jungen Jahren seinen
Eltern durchgebrannt, hatte mit sechzehn Jahren in Paris gelebt und war
mit zwanzig zurückgekommen. Sein Vater war Musikdirektor in der kleinen
Stadt, wo auch Hedwig, die Schwester der drei Brüder, zu Hause war. Dort
trieb Sebastian ein merkwürdig tagediebisches Wesen, saß oder lag
tagelang in einer hochgelegenen, verstaubten Kammer, ausgestreckt auf
einem schmalen Bett, in dem er des Nachts schlief, ohne sich die Mühe zu
nehmen, es für den Schlaf in Ordnung zu bringen. Seine Eltern hielten
ihn für verloren und ließen ihn tun, was er wollte. Geld gaben sie ihm
nicht, denn sie hielten es für unangebracht, mit Geldspenden den
Ausschweifungen ihres Sohnes entgegenzukommen, denen sie ihn ausgesetzt
wußten. Zu einem ernsthaften Studium war Sebastian nicht mehr zu
bewegen; er trieb sich, irgend ein Buch unter dem Arm oder in der
Tasche, auf den Bergen, in den Wäldern umher, kam oft mehrere Tage lang
nicht nach Hause, übernachtete, wenn das Wetter nur einigermaßen es
gestattete, in verfallenen, von keinem Menschen, nicht einmal von wilden
und rauhen Hirten benutzten Hütten, auf Weiden, die dem Himmel näher
lagen als irgend einer menschlichen Zivilisation. Er trug immer
denselben zerschossenen Anzug aus hellgelbem Tuch, ließ sich den Bart
wachsen, legte aber sonst sehr viel Wert darauf, angenehm und sauber zu
erscheinen. Seine Fingernägel pflegte er mehr als seinen Verstand, den
er einfach verwildern ließ. Er war schön, und da es bekannt war, daß er
dichtete, so verbreitete sich um seine Person ein halb lächerlicher,
halb wehmütiger Zauberschein, und es gab viele vernünftige Menschen in
der Stadt, die den jungen Mann aufrichtig bemitleideten und sich seiner,
wo sie nur konnten, aufs herzlichste annahmen. Man lud ihn, da er ein
vortrefflicher Gesellschafter war, öfters zu Abendgeselligkeiten ein,
und entschädigte ihn solchermaßen ein wenig dafür, daß ihm die Welt
weiter keine Aufgaben stellte, die seinen Drang nach Betätigung hätten
befriedigen können. Sebastian besaß in hohem Grade diesen Drang, aber er
war zu sehr aus dem Geleise des allgemein gültigen und vorgeschriebenen
Strebens hinausgekommen. Er strebte vielleicht zu wild, und nun, da er
einsah, daß sein Streben ihm nichts half, mochte er gar nicht mehr
streben. Er spielte seine eigenen Lieder, die er gedichtet hatte, auch
auf der Laute und sang mit angenehmer, weicher Stimme dazu. Das einzige
Unrecht, allerdings ein großes, das man ihm angetan hatte, bestand
darin, daß man ihn, schon als Schulknaben, verhätschelte und ihm half,
sich einzubilden, daß er so etwas wie ein genialer Bursche sei. Wie
bohrte sich solch eine stolze Einbildung in das empfängliche Knabenherz
hinein! Erwachsene Frauen bevorzugten den Umgang mit dem frühreifen,
allesverstehenden Knaben, der ihnen einen unvergleichlichen Reiz
einflößte, auf Kosten seiner eigenen menschlichen Entwicklung. Sebastian
pflegte oft zu sagen: »Meine Glanzzeit liegt längst hinter mir.« Es war
schrecklich, einen so jungen Mann so sprechen zu hören. In der Tat, was
er auch machte, bezweckte, einleitete und tat, er tat es mit müdem,
kaltem, halbem Herzen, und so tat er eben nichts, er spielte bloß noch
mit sich. Hedwig sagte einmal zu ihm: »Sebastian, hören Sie, ich glaube,
Sie weinen oft über sich selber.« Er nickte mit dem Kopf und bestätigte
es. Hedwig bemitleidete ihn und steckte ihm manchmal etwas an Geld oder
dergleichen zu, um ihm das Leben etwas freundlicher zu machen. So nahm
sie ihn auch diesmal auf die kleine Reise mit, zu ihren Brüdern. An dem
Abend, an dem Klara so selig war, Klaus traurig und einsam, Simon
glücklich, Kaspar aufgebracht und übermütig, wandelten die beiden,
Hedwig und ihr Poet, langsam und stillschweigend, ebenfalls am Ufer
entlang. Was konnte man sprechen; so schwieg man eben. Kaspar kam ihnen
entgegen:

»Wie ich höre, arbeiten Sie an einem Gedicht, das den Inhalt Ihres
Lebens widerspiegeln soll. Wie können Sie ein Leben wiedergeben wollen,
wo Sie doch kaum eines erlebt haben. Sehen Sie sich einmal an: wie stark
und jung Sie sind, und das will sich hinter den Schreibtisch verkriechen
und in Versen sein Leben besingen. Machen Sie das, wenn Sie fünfzig alt
sind. Ich finde es übrigens beschämend für einen jungen Mann, Verse zu
verfertigen. Das ist keine Arbeit, sondern nur ein Schlupfwinkel für
Müßiggänger. Ich wollte nichts sagen, wenn Ihr Leben fertig und
abgeschlossen wäre durch irgend ein großes besänftigendes Erlebnis, das
den Menschen berechtigt, Rückschau zu halten auf Fehler, Tugenden und
Verirrungen. Sie aber scheinen noch nie gefehlt zu haben und scheinen
auch noch nie eine gute Tat begangen zu haben. Dichten Sie erst, wenn
Sie als Sünder oder als Engel dastehen. Dichten Sie lieber überhaupt gar
nicht.« --

Kaspar hatte keine gute Meinung von Sebastian; deshalb machte er sich
auch über ihn lustig. Für tragische Menschen fehlte ihm überhaupt jedes
Verständnis, oder vielmehr, weil er sie zu leicht und zu gut verstand,
achtete er sie nicht. Überdies befand er sich heute abend in einer
diabolischen Laune.

Hedwig ergriff für den armen Beleidigten, der sich nicht wehren konnte,
das Wort: »Das war nichts weniger als schön gesprochen von dir, Kaspar,«
rief sie ihrem Bruder mit der Wärme, die ihr die Lust an der
Verteidigung gab, zu, »und nichts weniger als klug. Es macht dir Freude,
einen Menschen zu verletzen, den alle Menschen um seines Unglücks willen
schonen und achten sollten. Lache, so viel du willst. Du bereust doch,
was du gesagt hast. Kennte ich dich nicht so genau, so müßte ich dich
für einen rohen Burschen halten, für einen Quäler. So gut man einen
armen Menschen, einen Wehrlosen, peinigen kann, so gut kann man auch ein
armes Tier quälen. Wehrlose reizen nur zu leicht in den Starken die Lust
am Schmerzzufügen. Sei doch froh, wenn du dich stark fühlen kannst und
laß Schwächere in Frieden. Es wirft einen schlechten Schein auf deine
Stärke, wenn du sie mißbrauchst, um Schwache zu plagen. Warum genügt es
dir nicht, auf festen Füßen zu stehen, mußt du deinen Fuß noch auf den
Nacken von Schwankenden und Suchenden setzen, daß sie noch mehr irr an
sich werden und hinab, ganz hinab taumeln in die Wellen des
An-Sich-Selbst-Verzweifelns? Müssen denn Selbstvertrauen, Mut, Stärke
und Zielbewußtheit immer die Sünde begehen, roh und mitleidlos und so
taktlos gegen die andern zu verfahren, die ihnen doch gar nicht im Wege
sind, die dastehen und begierig auf die Töne des Ruhmes, der Achtung und
des Erfolges horchen, die andern gelten? Ist es edel und gut, eine sich
sehnende Seele zu beleidigen? Dichter sind so leicht verletzbar; o man
verletze nie die Dichter. Übrigens spreche ich jetzt gar nicht von dir,
Kasparchen; denn was bist du denn schon so Großes in der Welt? Auch du
bist vielleicht noch nichts und hast keine Ursache, Menschen zu
verhöhnen, die ebenfalls noch nichts sind. Wenn du mit dem Schicksal
ringst, so laß doch andere, so wie sie's eben verstehen, auch ringen.
Ihr seid beide Ringende und bekämpft euch? Das ist sehr töricht und
unklug. Es gibt für euch beide, durch allerhand Tücken und Verirrungen
und Verheißungen und Mißerfolge in eurer Kunst Schmerzen genug, müßt ihr
es da darauf abgesehen haben, euch noch mehr Schmerz zuzufügen? Ich
würde in Wahrheit Bruder zu einem Dichter sein, wenn ich ein Maler wäre.
Man blicke auch nie zu früh verächtlich auf einen Fehlenden oder
scheinbar Trägen und Tatlosen hernieder. Wie schnell kann sich aus
langen, dumpfen Träumen seine Sonne, seine Dichtung erheben! Nun dann:
wie stehen dann die voreiligen Verächter da? Sebastian ringt ehrlich mit
dem Leben, schon das sollte ein Grund zur Achtung und Liebe sein. Wie
kann man sich über sein weiches Herz lustig machen? Schäm' dich nur,
Kaspar, und gib mir nie wieder Anlaß, wenn du eine Spur von Liebe für
deine Schwester hegst, mich so über dich zu ereifern. Ich tu es nicht
gern. Ich schätze Sebastian, weil ich weiß, daß er den Mut hat, seine
vielen Fehler einzugestehen. Übrigens, das ist alles geschwatzt und
wieder geschwatzt, du kannst ja gehen, wenn es dir nicht paßt, mit uns
zu gehen. Was machst du nun für ein Gesicht, Kaspar! Weil dir ein
Mädchen, das den Vorzug genießt, deine Schwester sein zu dürfen, einen
Vortrag hält, willst du böse sein? Nein, sei es nicht. Bitte. Und du
darfst dich ja gewiß auch über den Dichter lustig machen. Warum nicht.
Ich nahm es zu ernst vorhin. Vergib mir.« --

Ein feines, schüchternes, aber zärtliches Lächeln spielte im Dunkeln um
Sebastians Lippen. Hedwig machte sich mit dem Bruder solange
schmeichelnd zu schaffen, bis er wieder heiter wurde. Er gab dann eine
komische Nachahmung ihrer schwungvollen Rede zum besten, daß alle drei
in ein schallendes Gelächter ausbrachen. Sebastian namentlich krümmte
sich vor Lachen. Allmählich war unter den Bäumen alles still und leer
geworden; die Menschen waren in ihre Häuser zurückgegangen, die Lichter
träumten, aber es waren viele Lichter gelöscht worden, die Ferne
glitzerte nicht mehr. Dort, auf dem ländlichen Boden, schien man die
Lichter früher zu löschen; die fernen Berge lagen jetzt wie tote,
schwarze Körper, aber noch gab es einzelne Menschenpaare, die nicht heim
gingen, sondern die Absicht zu haben schienen, die ganze Nacht unter dem
Himmel plaudernd und wachend zu verbringen.

                   *       *       *       *       *

Simon und Klara saßen, in stille, lange Gespräche versunken, auf einer
Bank. Sie hatten sich so viel zu sagen, hätten eigentlich endlos
plaudern mögen. Klara würde immer über Kaspar gesprochen haben und Simon
immer über die, die neben ihm saß. Er hatte eine seltsame, freie, offene
Manier, über Menschen zu reden, die gerade seine Gefährten waren, die
neben ihm saßen oder standen und ihm zuhorchten. Es kam von selber, er
fühlte immer für die am stärksten, die ihn zum Sprechen veranlaßten, und
sprach infolgedessen über sie und nicht über Abwesende. Klara dachte nur
an den Abwesenden. »Quält es dich nicht,« fragte sie, »daß wir nur über
ihn sprechen?« »Nein,« erwiderte Simon, »seine Liebe ist die meine. Ich
habe mich immer gefragt, wird nie einer von uns lieben? Ich betrachtete
es immer als etwas Wundervolles, für das wir beide zu schlecht wären.
Ich las viel in Büchern über Liebe, ich liebte immer die Liebenden.
Schon als Schulknabe lag ich über solchen Büchern stundenlang gebeugt
und bebte und zitterte und erschrak mit meinen Liebenden. Da war fast
immer eine stolze Frau und ein noch unbeugsamerer Charakter von Mann,
ein Arbeiter in der Bluse oder ein simpler Soldat. Die Frau war immer
eine vornehme Dame. Für ein Liebespaar von einfachen Leuten hätte ich
damals keinen Sinn gehabt. Meine Sinne wuchsen mit diesen Büchern auf
und gingen darin unter, wenn ich das Buch schloß. Dann kam ich ins Leben
und vergaß das alles. Ich biß mich in Freiheitsgedanken fest, aber ich
träumte davon, eine Liebe zu erleben. Was nützt es mir, böse zu sein,
daß die Liebe nun da ist und nicht mir gilt? Wie kindisch. Beinahe bin
ich sogar froh, daß sie nicht mich will, sondern einen andern, ich
möchte sie zuerst gesehen haben und sie erst dann erleben. Doch ich
erlebe sie nie. Ich glaube, das Leben will anderes von mir, hat anderes
mit mir vor. Es läßt mich alles lieben, was es nur an Erscheinungen mir
zuwirft. Ich darf dich doch lieben, Klara, auf andere, vielleicht
dümmere Weise. Ist es nicht dumm, daß ich so genau weiß, daß ich, wenn
du es willst, sterben könnte für dich, sterben wollte? Kann ich nicht
sterben für dich? Ich würde es ganz selbstverständlich finden. Ich lege
keinen Wert auf mein Leben, nur Wert auf anderer ihr Leben, und trotzdem
liebe ich das Leben, aber ich liebe es deshalb, weil ich hoffe, daß es
mir Gelegenheit verschafft, es anständigerweise wegzuwerfen. Nicht wahr,
das ist töricht gesprochen? Laß mich deine beiden Hände küssen, damit du
die Empfindung hast, daß ich dir angehöre. Natürlich bin ich nicht dein
und du wirst nie etwas von mir verlangen wollen, denn was könnte dir
einfallen, von mir zu verlangen. Aber ich liebe Frauen von deinem
Schlag, und einer Frau, die man liebt, macht man gerne ein Geschenk, und
so schenke ich dir mich, weil ich kein besseres Geschenk weiß. Ich kann
dir vielleicht nützlich sein, ich kann springen für dich mit diesen
meinen Beinen, ich kann den Mund halten, wo du wünschen solltest, daß
einer für dich schweigen möchte, ich kann lügen, wenn du in den Fall
kommst, dich eines schamlosen Lügners bedienen zu müssen. Es gibt edle
Fälle dieser Art. Ich kann dich tragen in meinen Armen, wenn du umfallen
solltest, und ich kann dich über Pfützen heben, damit du deinen Fuß
nicht beschmutzest. Sieh einmal meine Arme an. Kommen sie dir nicht vor,
als höben, als trügen sie dich schon? Was würdest du lächeln, wenn ich
dich trüge, und ich würde ebenfalls lächeln, denn ein Lächeln, wenn es
kein unzartes ist, zwingt immer das andere hervor. Dieses Geschenk, das
ich dir mache, ist ein bewegliches und ewiges; denn der Mensch, auch der
simpelste, ist ewig. Ich werde dir noch angehören, wenn du längst nichts
mehr bist, nicht einmal ein Stäubchen; denn das Geschenk überdauert
immer den Beschenkten, damit es trauern kann, das es seinen Besitzer
verloren hat. Ich bin zum Geschenk geboren, ich gehörte immer jemandem
an, es verdroß mich, wenn ich einen Tag lang umherirrte und niemanden
fand, dem ich mich anbieten konnte. Nun gehöre ich dir an, obgleich ich
weiß, daß du dir wenig machst aus mir. Du bist gezwungen, dir wenig aus
mir zu machen. Geschenke pflegt man bisweilen zu verachten. Ich zum
Beispiel, wie verächtlich denke ich in meiner Seele von Geschenken. Ich
hasse förmlich das Beschenktwerden. Deshalb will es auch das Schicksal,
daß mich niemand liebt; denn gut und allsehend ist das Schicksal. Ich
würde Liebe nicht ertragen können, denn ich kann Lieblosigkeit ertragen.
Den darf man nicht lieben, der lieben will, sonst würde man ihn nur
stören in seiner Andacht. Ich möchte nicht, daß du mich liebtest. Und
sieh, daß du den andern liebst, macht mich so glücklich; denn nun,
versteh mich, gibst du mir die Bahn frei, dich lieben zu dürfen. Ich
liebe Gesichter, die sich von mir ab, einem andern Gegenstand zu wenden.
Die Seele, die eine Malerin ist, liebt diesen Reiz. Ein Lächeln ist so
schön, wenn es über eine Lippe geht, die man ahnt, nicht sieht. So wirst
du mir gefallen. Glaubst du, daß du nicht nötig hättest, mir zu
gefallen? Doch jetzt fällt es mir ein: Du brauchst mir nicht zu
gefallen, du hast es wirklich nicht nötig; denn ich bin dir gegenüber
keines Urteils fähig, höchstens einer Bitte; doch ich weiß nicht mehr,
was ich rede.«

Klara weinte über seine Erklärung. Sie hatte ihn längst nahe zu sich
herangezogen und befühlte mit ihren schönen Händen, die von der
Nachtluft kühl geworden waren, seine brennenden Wangen. »Was du mir da
sagtest, hättest du gar nicht zu sagen brauchen, ich wußte es ja doch,
wußte es ja doch, wußte -- es -- ja -- doch.« -- Ihre Stimme nahm
diejenige Zärtlichkeit an, die man anwendet, wenn man Tieren, denen man
ein bißchen weh getan hat, wieder Liebe und Zutraulichkeit einflößen
will. Sie war glücklich, und ihre Stimme lispelte in den langgezogenen
und hohen Tönen der Freudigkeit. Ihr ganzer Körper schien mitzusprechen,
als sie sagte: »Du tust so gut daran, mich zu lieben, jetzt, da ich
lieben muß. Ich werde jetzt noch einmal so freudig lieben. Vielleicht
werde ich einmal unglücklich sein, aber mit welcher Wonne werde ich
unglücklich sein. Es macht uns Frauen nur einmal im Leben Freude,
unglücklich zu sein, aber wir verstehen es, das Unglück auszukosten.
Aber wie kann ich von Schmerzen zu dir sprechen. Sieh, es empört mich
bereits, davon nur gesprochen zu haben. Wie kann ich es wagen, dich bei
mir zu haben und nicht an mein Glück zu glauben? Du machst einen
glauben, du machst, daß man glauben darf. Bleibe immer mein Freund. Du
bist mein süßer Knabe. Deine Haare gleiten durch meine Hände, und dein
Kopf voll so unergründlicher Gedanken der Freundschaft liegt mir im
Schoße. Ich komme mir schön vor so; du machst mich das empfinden. Du
mußt mich küssen. Auf meinen Mund mußt du mich küssen. Ich will eure
Küsse vergleichen, Kaspars und deine. Ich will denken, daß er mich küßt,
wenn du mich küssest. Ein Kuß ist doch etwas Wundervolles. Wenn du mich
jetzt küssest, küßt mich eine Seele, kein Mund. Hat dir Kaspar gesagt,
wie ich ihn geküßt habe und wie ich ihn bat, daß er mich küssen solle?
Er muß anders küssen, er soll küssen lernen wie du, doch nein, warum
sollte er küssen wie du? Er küßt so, daß ich ihn gleich wieder küssen
muß, du küssest so, daß man sich noch einmal von dir küssen läßt, so,
wie du es jetzt tust. Behalte mich lieb, sei immer so lieb, und küsse
mich noch einmal, daß ich, wie du vorhin gesagt hast, die Empfindung
habe, daß du mir angehörst. Ein Kuß macht das so verständlich. Wir
Frauen wollen so belehrt werden. Du verstehst Frauen eigentlich sehr
gut, Simon. Man sollte es dir nicht anmerken. Komm nun, wir wollen
gehen!«

Sie erhoben sich, und als sie eine Weile gegangen waren, trafen sie auf
die drei andern. Hedwig nahm Abschied von ihren Brüdern und Frau Klara.
Sebastian begleitete das Mädchen. Als die beiden sich entfernt hatten,
fragte Klara Kaspar leise: »Darfst du deine Schwester der Begleitung
dieses Herrn anvertrauen?« Kaspar antwortete: »Würde ich es tun lassen,
wenn ich es nicht ruhig dürfte?«

Als sie nach Hause kamen, hörten sie im Wald einen Schuß fallen. »Er
schießt wieder,« sagte leise Klara. »Was will er mit seinem Schießen?«
fragte Kaspar, und Simon kam lachend mit der raschen Antwort zuvor: »Er
schießt, weil es ihm noch sonderbar vorkommt. Es liegt noch bis jetzt
eine Art Idee dahinter. Wann es aufgehört hat, interessant zu sein, wird
er es schon bleiben lassen.« Schon hörte man wieder einen Schuß. Klara
runzelte die Stirn und seufzte, und versuchte dann, die Ahnungen, die
sie hatte, in einem Lachen zu ersticken. Aber es war ein grelles Lachen,
und die Brüder erbebten auf einen Augenblick.

»Du benimmst dich seltsam,« sagte Agappaia, der plötzlich unter der
Haustüre erschien, eben, als sie eintreten wollten, zu seiner Frau.
Diese schwieg, als hätte sie nichts gehört. Dann legten sie sich alle
schlafen.

Noch in derselben Nacht schrieb Klara, die keinen Schlaf fand, an
Hedwig:

»Sie, liebes Mädchen, Schwester meines Kaspars, ich muß Ihnen schreiben.
Ich kann nicht schlafen, finde keine Ruhe. Ich sitze hier, halb
ausgezogen, vor meinem Schreibtisch, und bin gezwungen, so hin und her
zu träumen. Es deucht mich, daß ich an alle Menschen Briefe schreiben
könnte, an jeden beliebigen Unbekannten, an jedes Herz; denn alle
Menschenherzen zittern für mich vor Wärme. Heute, als Sie mir die Hand
reichten, sahen Sie mich so lange an, fragend, und mit einer gewissen
Strenge, als wüßten Sie bereits, wie es mit mir steht, als fänden Sie,
daß es schlimm mit mir stehe. Sollte es in Ihren Augen schlimm mit mir
stehen? Nein, ich glaube nicht, daß Sie mich verdammen, wenn Sie alles
wissen werden. Sie sind so ein Mädchen, vor dem man keine Geheimnisse
haben mag, dem man alles sagen will, und ich will Ihnen alles sagen,
damit Sie alles wissen, damit Sie mich lieben können; denn Sie werden
mich lieb haben, wenn Sie mich kennen, und ich begehre darnach, von
Ihnen geliebt zu werden. Ich träume davon, alle schönen und klugen
Mädchen um mich geschart zu sehen, als Freundinnen und Beraterinnen und
auch als meine Schülerinnen. Sie wollen, hat mir Kaspar gesagt, Lehrerin
werden und sich der Erziehung der kleinen Kinder opfern. Ich möchte auch
Lehrerin werden, denn Frauen sind zu Erzieherinnen wie geboren. Sie
wollen etwas werden, wollen etwas sein: das paßt zu Ihnen, das
entspricht dem Bilde, das ich mir von Ihnen mache. Er entspricht auch
der Zeit, in der wir leben, und der Welt, die ein Kind dieser Zeit ist.
Das ist schön von Ihnen, und wenn ich ein Kind hätte, würde ich es zu
Ihnen in die Schule schicken, würde es ganz Ihnen überlassen, so daß es
sich daran gewöhnen müßte, Sie als eine Mutter zu verehren und zu
lieben. Wie werden die Kinder zu Ihnen emporblicken, um zu sehen, an
Ihren Augen, ob Sie strenge blicken oder gütig. Wie werden sie jammern
in ihren kleinen, blühenden Herzen, wenn sie Sie mit Sorgen im Gesicht
in die Stunde kommen sehen; denn Kindern ist Ihre Seele verständlich.
Sie werden nicht lange mit unartigen Kindern zu tun haben; denn ich
denke mir, selbst die unartigsten und verzogensten unter ihnen werden
sich in kurzer Zeit ihrer Unarten vor Ihnen schämen und es bereuen,
Ihnen Schmerz eingeflößt zu haben. Ihnen gehorchen, Hedwig, wie muß das
süß sein. Ich möchte Ihnen gehorchen, möchte ein Kind werden und die
Lust empfinden, Ihnen folgsam sein zu dürfen. Sie wollen in ein kleines,
stilles Dorf ziehen! Um so schöner. Dann werden Sie Dorfkinder zu
unterrichten haben, die noch besser zu erziehen sind als die Kinder der
Städte. Aber Sie würden auch in der Stadt Erfolge erzielen. Sie sehnen
sich nach dem Lande, nach den niederen Häusern, nach den Gärtchen vor
den Häusern, nach den Menschengesichtern, die man dort sieht, nach dem
Fluß, der vorbeirauscht, nach dem einsamen, entzückenden Seeufer, nach
den Pflanzen, die man im stillen Walde sucht und findet, nach den Tieren
auf dem Lande, nach der Welt auf dem Lande. Sie werden alles finden;
denn Sie passen dahin. Man paßt dahin, wohin man sich sehnt. Gewiß
finden Sie dort eines Tages die Antwort auf die Frage, wie man es zu
machen habe, daß man glücklich sei. Sie sind jetzt schon glücklich, und
ich fühle wohl, wie gern ich Ihre Munterkeit besitzen möchte. Wenn man
Sie sieht, möchte man glauben, daß man Sie schon längst gekannt hätte
und daß man auch wüßte, wie Ihre Mutter aussieht. Andere Mädchen findet
man hübsch, ja schön, aber von Ihnen möchte man gekannt und geliebt
sein, sowie man Sie nur ansieht. Sie haben etwas Lockendes, beinahe
Großmütterliches in Ihrem jungen, hellen Gesicht; vielleicht ist das das
Ländliche, was Sie an sich haben. Ihre Mutter war Bäuerin? Sie muß eine
schöne, liebe Bäuerin gewesen sein. Sie hat viel gelitten in der Stadt,
sagte mir einmal Kaspar; das glaube ich; denn ich meine sie vor mir
sehen zu sollen, diese Ihre Mutter. Sie soll sich stolz betragen haben
und darunter gelitten haben. Freilich; denn in der Stadt darf sich ein
Mensch nicht so stolz betragen wie auf dem Lande, wo sich eine Frau
leicht als freie Herrin vorkommt. Ich möchte Ihnen ein bißchen damit
gefallen daß ich von Ihrer Mutter spreche, die Sie, als die Arme
gebrochen und krank war, gepflegt und besorgt haben. Ich habe auch ein
Bild Ihrer Mutter gesehen und verehre und liebe sie, wenn Sie mir
erlauben, das zu tun. Mit Ihrer Erlaubnis würde ich es dann noch viel
inniger tun. Könnte ich sie sehen, könnte ich ihr zu Füßen fallen und
ihre Hand nehmen und meine Lippen darauf pressen. Wie wohl würde mir das
tun. Es gliche einem einstweiligen, teilweisen, armen Schuldenbezahlen;
denn ich bin ihre Schuldnerin und auch Ihre, Hedwig. Ihr Bruder Kaspar
wird oft lieblos und rauh zu Ihnen gewesen sein; denn junge Männer
müssen oft hart zu denen sein, von denen sie am meisten geliebt werden,
um sich eine Bahn in die offene Welt zu brechen. Ich begreife, daß ein
Künstler oft Liebe als etwas ihn Hemmendes abschütteln muß. Sie haben
ihn als ganz jung gesehen, als einen Schulknaben, der zur Schule
gegangen ist, haben ihm seine Unarten vorgehalten, haben sich mit ihm
gestritten, haben ihn bemitleidet und beneidet, beschützt und gewarnt,
ausgescholten und gelobt, haben mit ihm seine ersten, erwachenden
Empfindungen geteilt und ihm gesagt, daß es schön sei, Empfindungen zu
hegen; haben sich von ihm zurückgezogen, als Sie merkten, daß er
anderes, als Sie, im Sinne trug; haben ihn gehen und machen lassen und
gehofft, daß er gedeihen möchte und nicht fallen möchte. Sie sehnten
sich, als er fort war, nach ihm und flogen ihm an den Hals, als er eines
Tages zurückkehrte, und fingen auch schon wieder an, ihn in Ihre Obhut
zu nehmen; denn er ist solch ein Mensch, daß er der Obhut zu bedürfen,
beständig zu bedürfen scheint. Ich danke Ihnen. Ich habe nicht Atem
genug, nicht Herz genug und kein Wort, um Ihnen zu danken. Und ich weiß
nicht, ob ich Ihnen danken darf. Vielleicht wollen Sie nichts von mir
wissen. Ich bin eine Sünderin, aber vielleicht verdienen Sünderinnen,
daß man ihnen gestattet, zu lernen, was man zu tun hat, um demütig zu
erscheinen. Ich bin demütig, nicht geknickt, nicht etwa gebrochen, aber
voll flammender, bittender, flehender Demut. Ich will mit Demut gut
machen, was ich mit Liebe verbrochen habe. Wenn Sie Wert darauf legen,
eine Schwester zu haben, die froh ist, Ihre Schwester zu sein, so
gehorche ich Ihnen. Wissen Sie, was Ihr Bruder Simon mir gegeben hat?
Sich selbst hat er mir geschenkt, er hat sich weggeworfen an mich, und
ich möchte mich wegwerfen an Sie. Aber, Hedwig, wegwerfen kann man sich
an Sie nicht. Das hieße ja: Ihnen wenig geben zu wollen. Doch ich bin
viel, seit ich Kaspar umarmt habe. Ich fange an, mich zu brüsten und
stolz reden, das will ich nicht. Ich will jetzt versuchen, ob ich
schlafen kann. Der Wald schläft ja auch, warum müssen Menschen nicht
schlafen können. Doch ich weiß, daß ich jetzt schlafen kann!« -- Während
die Frau den Brief schrieb, saßen Simon und Kaspar bei der Lampe, die
sie angezündet hatten. Sie hatten noch keine Lust, sich zu Bett zu legen
und sprachen noch miteinander. Kaspar sagte: »Seit den letzten Tagen
male ich überhaupt nicht mehr, und ich werde, wenn das so weiter geht,
meine ganze Kunst an den Nagel hängen und Bauer werden. Warum nicht? Muß
es denn gerade die Kunst sein? Könnte man denn nicht anders leben?
Vielleicht ist es nur eine Angewohnheit, daß man sich einbildet, um
alles willen künstlerisch zu arbeiten. Ja, vielleicht nach zehn Jahren
wieder damit beginnen! Man würde alles anders ansehen, viel einfacher,
viel weniger phantastisch, und das könnte nicht schaden. Man müßte den
Mut und das Vertrauen besitzen. Das Leben ist kurz, wenn man mißtraut,
aber lang, wenn man vertraut. Was kann einem entgehen? Ich fühle, daß
ich von Tag zu Tag träger werde. Sollte ich mich da aufraffen und wie
ein Schulbub mich zwingen, meine Pflicht zu erfüllen? Habe ich der Kunst
gegenüber irgend eine Pflicht zu erfüllen? Das ließe sich so oder so
umwenden, man könnte es drehen, wie es einem gerade behagte. Bilder
malen! Das kommt mir jetzt so stupide vor, ist mir so gleichgültig. Man
muß sich gehen lassen. Ob ich hundert Landschaften male oder zwei, ist
das nicht ganz gleichgültig? Es kann einer immer malen und bleibt doch
ein Stümper, dem es nie einfällt, seinen Bildern einen Hauch von seinen
Erfahrungen einzugeben, weil er keine Erfahrungen gemacht hat, so lange
er lebte. Wenn ich erfahrener sein werde, werde ich auch den Pinsel
geistvoller und gedankenvoller führen, und dieses ist mir nicht
gleichgültig. Was kommt's auf die Anzahl an. Und trotzdem: irgend ein
Gefühl sagt mir, daß es nicht gut ist, auch nur einen Tag lang außer
Übung zu bleiben. Das ist die Faulheit, die verdammte Faulheit!« -- -- --

Er sprach nicht weiter; denn in diesem Augenblick tönte durch die Wände
ein langer, furchtbarer Schrei. Simon ergriff die Lampe und beide
stürzten die Treppe hinunter, in das Gemach, wo sie wußten, daß sie
schlief. Den Schrei hatte Klara ausgestoßen. Agappaia war auch
herbeigesprungen, und sie fanden die Frau ausgestreckt am Boden liegen.
Sie hatte sich, wie es schien, ausziehen wollen, um zu Bett zu gehen,
und war, von einem heftigen Anfall gepackt, umgefallen. Ihre Haare waren
aufgelöst und die herrlichen Arme zuckten fieberisch am Boden. Ihre
Brust hob und senkte sich stürmisch, während ein verwirrtes Lächeln um
ihren Mund flog, der weit geöffnet war. Alle drei Männer bogen sich zu
ihr nieder, hielten ihre Arme fest, bis die Zuckungen allmählich sich
verloren. Weh hatte sie sich beim Umfallen nicht getan, was leicht hätte
geschehen können. Man hob die Bewußtlose auf und legte sie, halb
angekleidet, wie sie war, auf ihr Bett, das säuberlich abgedeckt war.
Sie wurde ruhiger, als man ihr das Korsett öffnete. Sie atmete
erleichtert auf und schien jetzt zu schlafen. Und immer schöner lächelte
sie und fing an zu schwärmen in Lispeltönen, die wie Glocken aus weiter
Ferne daherklangen, scharf, und doch kaum vernehmbar. Man horchte
gespannt und beratschlagte, ob es einen Zweck hätte, aus der Stadt einen
Arzt heraufzuholen. »Bleiben Sie doch noch,« sagte Agappaia ruhig zu
Simon, der sogleich sich auf den Weg machen wollte, »es wird
vorübergehen. Es ist nicht das erste Mal.« Sie saßen und horchten weiter
und sahen einander bedeutend an. Aus Klaras Munde war nicht viel zu
verstehen, als etwa kurze, abgerissene, halb gesungene, halb gesprochene
Sätze: »Im Wasser, nein, sieh doch, tief, tief. Das hat lange gebraucht,
lange, lange. Und du weinst nicht. Wenn du wüßtest. Es ist so schwarz
und so schlammig um mich herum. Aber sieh doch. Ein Veilchen wächst mir
zum Munde heraus. Es singt. Hörst du? Hörst du's? Man sollte meinen ich
wäre ertrunken. So schön, so schön. Gibt es nicht ein Liedlein darauf?
Die Klara! Wo ist sie nun? Such sie, such sie doch. Aber du müßtest ins
Wasser gehen. Hu, schauert dich, nicht wahr? Schauert mich gar nicht
mehr. Ein Veilchen. Ich sehe die Fische schwimmen. Ich bin ganz still,
ich mache gar nichts mehr. Sei doch lieb, sei gut. Du blickst böse. Die
Klara liegt da, da. Siehst du, siehst du? Ich hätte dir noch etwas sagen
wollen, aber ich bin froh. Was hätte ich dir sagen wollen? Weißt es
nicht mehr. Hörst du mich klingen? Mein Veilchen ist es, das klingelt.
Ein Glöckchen. Das habe ich immer gewußt. Sage es nur nicht. Ich höre ja
nichts mehr. Bitte, bitte« -- --

»Gehen Sie nur zu Bett. Wenn es schlimmer wird, werde ich Sie wecken,«
sagte Agappaia.

Es wurde nicht schlimm. Am andern Morgen war Klara wieder munter und
wußte nichts davon, was mit ihr geschehen war. Sie hatte etwas
Kopfschmerzen, das war alles.

                   *       *       *       *       *

Klara fühlte sich himmlisch. Sie saß in einem dunkelblauen Morgengewand,
das in edlen Falten frei an ihrem Leibe herunterfloß, auf dem Balkon,
der eine Aussicht auf Tannen gewährte, die an diesem Morgen, wo ein
leiser Windzug daherwehte, sich sanft in ihren Spitzen hin und herbogen.
Der Wald ist doch herrlich, dachte sie und beugte sich, über das
zierlich gearbeitete Geländer gelehnt, mehr nach ihm zu, um seinen Duft
näher zu haben. »Wie er daliegt, der Wald, als schlummerte er schon
jetzt der Nacht entgegen. Am Tag, mitten im Sonnenschein, geht man in
einen Wald, wie in einen Abend hinein, wo die Geräusche schärfer und
leiser sind und die Düfte feuchter und empfindsamer, wo man ruhen kann
und beten. Im Wald betet man unwillkürlich, und es ist auch der einzige
Ort in der Welt, wo Gott nahe ist; Gott scheint die Wälder erschaffen zu
haben, daß man wie in heiligen Tempeln darin bete; der eine betet nun
so, der andere so, aber alle beten. Wenn man unter einer Tanne liegt und
ein Buch liest, so betet man da, wenn Beten dasselbe ist wie das
Verlorensein in Gedanken. Mag Gott immer sein, wo er sein mag, im Wald
ahnt man ihn und gibt ihm das bißchen Glauben mit stillem Entzücken hin.
Gott will nicht, daß man so sehr an ihn glaubt, er will, daß man ihn
vergißt, es freut ihn sogar, wenn er geschmäht wird; denn er ist über
alle Begriffe gütig und groß; Gott ist das Nachgiebigste was es im
Weltraum gibt. Er besteht auf nichts, will nichts, bedarf nichts. Etwas
wollen, das mag für uns Menschen sein, aber für ihn ist das nichts. Für
ihn ist nichts. Er ist froh, wenn man ihn anbetet. O dieser Gott ist
entzückt und weiß sich vor Seligkeit nicht zu fassen, wenn ich jetzt
hingehe und ihm danke, nur ein bißchen, wenn auch ganz oberflächlich,
danke. Gott ist so dankbar. Ich möchte wissen, wer dankbarer wäre. Er
hat uns alles gegeben, der Unvorsichtige, Gütige, und nun ist er so, daß
er froh sein muß, wenn seine Geschöpfe seiner ein wenig gedenken. Das
ist das Einzige an unserem Gott, daß er nur dann Gott sein will, wenn es
uns gefällt, ihn als unseren Gott zu erhöhen. Wer lehrt mehr
Bescheidenheit als Er? Wer ist ahnungsvoller und stiller? Vielleicht hat
Gott auch nur Ahnungen über uns, so wie wir über ihn, und ich spreche
zum Beispiel hier bloß meine Ahnungen aus über ihn. Ahnt er auch, daß
ich jetzt hier auf dem Balkon sitze und seinen Wald wundervoll finde?
Wüßte er doch, wie schön sein Wald ist. Aber ich glaube, Gott hat seine
Schöpfung vergessen, nicht etwa aus Gram, denn wie könnte er des Grames
fähig sein, nein, er hat einfach vergessen, oder es scheint wenigstens,
daß er uns vergessen hat. Man kann alles empfinden über Gott; denn er
läßt alle Gedanken zu. Aber man verliert ihn leicht, wenn man über ihn
denkt, deshalb betet man zu ihm. Großer Gott, führe uns nicht in
Versuchung. So habe ich als Kind gebetet, wenn ich im Bettchen lag, und
ich habe mich immer über mich gefreut, wenn ich gebetet habe. Wie bin
ich heute glücklich und froh; alles an mir ist ein Lächeln, ein seliges
Lächeln. Das ganze Herz lächelt, die Luft ist so frisch, ich glaube, es
ist Sonntag heute, da werden die Leute aus der Stadt kommen und im Wald
spazieren, und ich werde mir irgend ein Kind aussuchen, es mir von
seinen Eltern auf eine kleine Weile erbitten, und mit ihm spielen. Wie
ich so dasitzen kann und Freude empfinden kann um mein bloßes Dasein,
Dasitzen, Mich-über-das-Geländer-lehnen! Wie ich mir schön vorkomme so.
Fast könnte ich Kaspar vergessen, alles vergessen. Ich begreife jetzt
nicht, wie ich jemals über etwas weinen, wie mich jemals etwas
erschüttern konnte. Wie unerschütterlich ist der Wald und doch so
biegsam, warm, lebendig und süß. Welch ein Atmen aus den Tannen, welch
ein Rauschen! Das Rauschen der Bäume macht jede Musik überflüssig.
Überhaupt, nur in der Nacht möchte ich Musik hören, aber am Morgen nie,
denn der Morgen ist mir zu heilig dafür. Wie merkwürdig frisch ich mich
fühle. Wie geheimnisvoll das ist, sich schlafen legen, nein, zuerst müde
sein, dann sich schlafen legen, und dann erwachen und sich wie
neugeboren fühlen. Jeder Tag ist ein Geburtstag für uns. Wie wenn man in
ein Bad stiege, so steigt man aus den Schleiern der Nacht in die Wellen
des blauen Tages. Nun wird bald die Glut des Mittags kommen, bis wieder
die Sonne sehnsüchtig versinkt. Welche Sehnsucht, welches Wunder vom
Abend zum Morgen, vom Mittag zu Abend, von der Nacht zum Morgen. Alles
würde man wundervoll finden, wenn man alles empfände, denn es kann ja
nicht eines wundervoll sein und das andere nicht. Ich glaube, ich muß
gestern krank gewesen sein, und man sagt es mir nur nicht. Wie schön und
unschuldig noch immer meine Hände aussehen. Wenn sie Augen hätten, so
würde ich ihnen einen Spiegel entgegenhalten, damit sie sähen, wie schön
sie sind. Der kann glücklich sein, den ich liebkose mit meinen Händen.
Was für seltsame Gedanken ich doch habe. Wenn Kaspar jetzt käme, müßte
ich weinen, mich so sehen zu lassen. Ich habe nicht an ihn gedacht, und
er würde es fühlen, daß ich nicht an ihn gedacht habe. Wie elend mich
das auf einmal macht, zu denken, daß ich ihn vernachlässigt habe. Bin
ich denn seine Sklavin? Was geht er mich an?«

Sie weinte. Da kam Kaspar: »Was fehlt dir, Klara?«

»Nichts! Was sollte mir fehlen? Du bist ja da. Du hattest mir gefehlt.
Ich bin glücklich, aber ich leide es nicht, daß ich allein glücklich
bin, ohne dich. Deshalb weinte ich. Komm, komm,« und sie preßte ihn fest
an sich.



Sechstes Kapitel.


Simon fing an, das träge, schlenderische Leben, das er führte, als etwas
Unerträgliches zu empfinden. Er fühlte, daß er bald wieder schaffen und
tagewerken mußte: »Es hat doch etwas für sich, zu leben wie die Meisten.
Es beginnt mich zu ärgern, so müßig und absonderlich zu sein. Das Essen
schmeckt mir nicht mehr, die Spaziergänge ermüden mich, und was ist denn
Großes und Erhebendes daran, sich auf heißen Landstraßen von Fliegen und
Bremsen zerstechen zu lassen, durch Dörfer zu laufen, steile Wände
hinunter zu springen, auf erratischen Felsblöcken zu hocken, den Kopf zu
stützen, ein Buch anzufangen zu lesen und es nicht bis zu Ende lesen zu
können, dann in einem, wenn auch schönen, so doch abgelegenen See zu
baden, sich wieder anzuziehen und auf den Heimweg zu machen und dann zu
Hause den Kaspar zu finden, der ebenfalls vor Trägheit nicht mehr weiß,
auf welchem Bein er stehen und mit welcher Nase er denken soll, oder
welchen Finger er an eine seiner Nasen legen soll. Man bekommt bei
diesem Leben leicht eine Menge Nasen und möchte den ganzen Tag seine
zehn Finger an seine zehn Nasen legen und denken. Dabei lachen einen die
eigenen Nasen nur aus und machen die lange Nase. Nun, was ist das etwa
Göttliches, wenn man sieht, wie einem zehn Nasen oder mehr die lange
Nase machen. Ich illustrierte damit nur die Tatsache, daß man bei diesem
Herumlungerleben dumm wird. Nein, ich fange an, mir wieder so etwas wie
ein Gewissen zu machen, und zu denken, daß es wiederum bei dem
Gewissenmachen nicht bleiben darf, sondern daß man irgend etwas tun muß.
In der Sonne herumlaufen, kann auf die Dauer kein Tun sein, und Bücher
liest nur ein Tropf; denn das ist man, wenn man sonst weiter nichts tut.
Das Schaffen unter Menschen ist doch schließlich das allein und einzig
Bildende. Was nun tun? Vielleicht Gedichte schreiben? Wenn ich das tun
möchte bei dieser Sommerhitze, müßte ich zuerst Sebastian heißen, dann
täte ich's vielleicht. Der tut es, das bin ich überzeugt. Das ist ein
Mensch, der erst einen Ausflug macht, See, Wald, Berge, Bäche, Pfützen
und Sonnenschein genau studiert, eventuell Notizen macht, dann heimgeht
und einen Aufsatz darüber schreibt, den dann die Zeitungen drucken, die
die Welt bedeuten. Kann das ein Tun für mich sein? Wohl, wenn ich es
verstünde, aber ich bin Stümper in diesen Sachen. Also hingehen und
wieder Buchstaben kratzen, Rechnungen ausradieren und Tinte verbrauchen.
Ja, ich glaube, daß ich das tun muß, obwohl es keine Ehre für mich ist,
wieder von vorne anzufangen, was ich einst verlassen habe. Aber es muß
sein. In diesem Falle denkt man nicht an die Ehre, sondern an das
Notwendige und Unabänderliche. Ich bin jetzt zwanzig Jahre alt. Wie
komme ich dazu, schon zwanzig Jahre alt zu sein? Welche Entmutigung
müßte für einen anderen darin liegen, zwanzig Jahre alt zu sein und nun
von vorne anzufangen, da, wo man bei der Entlassung aus der Schule
stand. Aber ich will es so lustig wie nur möglich nehmen, da es doch
einmal sein muß. Ich will ja auch gar nicht vorwärtskommen im Leben, ich
will nur leben, daß es ein bißchen eine Art und Weise hat. Weiter gar
nichts. Eigentlich will ich nur leben, bis es wieder Winter wird, und
dann, wenn es schneit und Winter ist, werde ich weiter zu leben wissen,
wird es mir zum Bewußtsein kommen, wie ich am besten weiter zu leben
habe. Es macht mir viel Vergnügen, so das Leben in kleine, einfache,
leicht zu lösende Rechnungen einzuteilen, die kein Kopfzerbrechen
machen, die sich von selber lösen. Im Winter bin ich übrigens immer
klüger und unternehmender als im Sommer. Bei der Wärme, bei all dem
Blühen und Duften ist nichts anzufangen, während die Kälte und der Frost
schon von selber vorwärtstreiben. Also bis im Winter etwas Geld
zusammenscharren, und im schönen Winter dann das Geld zu irgend etwas
Nützlichem verbrauchen. Es käme mir nicht drauf an, im Winter Sprachen
zu studieren, tagelang, in ungeheizten Zimmern, bis mir die Finger
abgefrören, aber der Sommer ist für diejenigen, die Ferien erhalten, für
solche, die sich in Sommerfrischen gütlich tun, die ein Vergnügen darin
finden, barfuß, ja nackt auf heißen Wiesen herumzuspringen, höchstens
einen ledernen Schurz um die Lenden, wie Johannes der Täufer, der
außerdem Heuschrecken soll gegessen haben. So will ich mich jetzt auf
das Bett der täglichen Arbeit in Schlaf legen und erst wieder erwachen,
wenn der Schnee über die Erde fliegt und die Berge weiß werden und die
Nordstürme dahersausen, daß einem die Ohren erfrieren und in Flammen des
Frostes und Eises zergehen. Die Kälte ist mir eine Glut,
unbeschreiblich, nicht auszudrücken! So wird's gemacht, oder ich müßte
nicht Simon heißen. Klara wird im Winter eingehüllt sein in dicke,
weiche Pelze, ich werde sie durch die Straßen begleiten, es wird auf uns
herabschneien, so leise, so heimlich, so lautlos und so warm. O,
Einkäufe zu machen, wenn es schneit in den schwarzen Straßen und die
Magazine mit Lichtern erhellt sind. In einen Laden hineinzutreten mit
Klara oder hinter Klaras Gestalt her und zu sagen: die Dame wünscht dies
und das zu kaufen. Klara duftet in ihren Pelzen und ihr Gesicht, wie
wird das schön sein, wenn wir dann wieder auf die Straße hinausgehen.
Vielleicht wird sie im Winter dann irgendwo in einem feinen Geschäft
arbeiten, wie ich, und ich werde sie jede Nacht abholen können, außer
sie beföhle mir einmal, sie lieber nicht abzuholen. Agappaia jagt seine
Frau vielleicht fort, und sie wird dann gezwungen sein, irgendwo eine
Anstellung anzunehmen, was ihr leicht sein wird, da sie eine vornehme
Erscheinung ist. Weiter denke ich nicht. Weiter als so denkt vielleicht
Herr Spielhagen von der Aktiengesellschaft für elektrische Leuchtkörper,
aber ich nicht; denn ich bin nicht so gestellt und häufe mir nicht so
viele Verpflichtungen in der Welt an, daß ich gezwungen wäre, weiter als
so zu denken. Ach, der Winter! Wenn er nur bald kommt.« --

Schon am nächsten Tag arbeitete er in einer großen Maschinenfabrik, die
zur Inventuraufnahme eine ganze Anzahl von jungen Leuten brauchte. Den
Abend verbrachte er dann lesend an einem Fenster, oder er verlängerte
seinen Heimweg von der Fabrik nach Klaras Hause, indem er einen weiten
Bogen um den ganzen Berg herummachte, in dem dunklen Grün der vielen
Waldschluchten, welche den breiten Berg durchschnitten. An einer Quelle,
bei der er stets vorbeikam, löschte er jedesmal seinen großen Durst und
lag dann auf einer einsam gelegenen Waldwiese, bis ihn die Nacht daran
erinnerte, endlich nach Hause zu gehen. Er liebte das Übergehen des
Sommerabends in die Sommernacht, dieses langsame, rötliche Sinken der
Farben des Waldes in das Dunkel der gänzlichen Nacht. Er pflegte dann
ohne Worte und Gedanken zu träumen, sich keinen Vorwurf mehr zu machen
und sich der schönen Müdigkeit zu überlassen. Oft schien es ihm, als
zische neben ihm, in den dunklen Büschen, eine feurig-rote große Kugel
aus der schlafenden Erde empor, und wenn er dahin blickte, war es der
Mond, der schwebend und schwer aus dem Welt-Hintergrund hervortanzte.
Wie hing dann sein Auge an der bleichen, leichten Gestalt dieses schönen
Gestirnes. Es war ihm so sonderbar, daß diese ferne Welt gleich hinter
dem Gebüsch versteckt zu sein schien, zum befühlen und daran fassen
nahe. Alles schien ihm nahe zu sein. Was war denn dieser Begriff der
Ferne gegen solche Fernen und Nähen. Das Unendliche schien ihm plötzlich
das Nächste. Wenn er nach Hause kam, durch all das schwere, singende,
duftende Grün der Nacht hindurch, empfand er es als etwas
Geheimnisvolles und Liebes, wenn ihm Klara, was sie jeden Abend tat,
entgegentrat, um ihn zu empfangen. Ihre Augen schienen immer geweint zu
haben, wenn sie so kam oder auf diese Weise wartete. Dann saßen sie
zusammen, bis tief in die Nacht hinein, auf dem kleinen Balkon, der in
eine Art Sommerhäuschen in schwebender Höhe verwandelt war und spielten
mit winzigen Karten ein Spiel, oder die Frau sang irgend eine Melodie,
oder sie ließ sich von ihm etwas vorerzählen. Wenn sie ihm zu guter
Letzt Gute Nacht sagte, so schlief er so wohl, als wenn es ein
Zauberwort gewesen wäre, dieses ›Gute Nacht‹ von ihr, mit dem sie die
Macht besessen hätte, ihn an einen besonders tiefen und schönen Schlaf
zu fesseln. Am Morgen glitzerte der silberne Tau an den Gesträuchen, an
den Gräsern und Blättern, wenn er in sein Geschäft lief, um zu schreiben
und das Inventar der Maschinenfabrik aufnehmen zu helfen. Einmal, an
einem Sonntag, da er von einem Spaziergang zurückkehrte, fand er Klara
schlafend auf dem Diwan in seinem Zimmer. Von draußen tönte eine
Handharfe aus einem der armseligen Berg-Vorstadthäuschen, in denen arme
Arbeiter wohnten. Die Fensterläden waren zugezogen, und ein grünes,
heißes Licht befand sich im Zimmer. Er setzte sich neben die Schlafende
ans Fußende und sie berührte ihn leise mit ihren Füßen. Dieser Druck tat
ihm so wohl, und er sah unverwandt das Gesicht der Schlummernden an. Wie
schön war sie, wenn sie schlief. Sie gehörte zu den Frauen, die am
schönsten sind, wenn ihre Gesichtszüge unbeweglich ruhen. Klara atmete
in ruhigen Wellen; ihre Brust, die halb entblößt war, bewegte sich sanft
auf und ab; ihren herabhängenden Händen war ein Buch entfallen. In Simon
stieg der Gedanke auf, hinzuknieen und diese schönen Hände still zu
küssen, aber er tat es nicht. Er würde es vielleicht getan haben, wenn
sie wach dagelegen wäre, aber schlafend? Nein! Geheime, verstohlene,
erschelmte Zärtlichkeiten sind nicht meine Sachen, dachte er. Ihr Mund
lächelte, als schliefe sie nur so und wüßte, daß sie schliefe. Dieses
Lächeln der Schlafenden verbot jeden unzarten Gedanken, aber es zwang,
hinzusehen auf diesen Mund, auf dieses Gesicht, auf dieses Haar und auf
diese länglichen Wangen. Im Schlaf preßte Klara plötzlich ihre Füße
stärker an Simon, dann erwachte sie und schaute sich fragend um und
blieb lange an Simons Augen hängen, als verstände sie irgend etwas
nicht. Dann sagte sie: »Du, Simon! Höre einmal.«

»Was denn?«

»Wir werden nicht mehr lange in diesem Hause wohnen. Agappaia hat alles
verspielt und verloren. Er ist in die Hände von Schwindlern geraten. Das
Haus ist bereits verkauft und zwar an deinen Frauenverein für Volkswohl
und Mäßigkeit. Die Damen gründen hier ein Waldkurhaus für das arbeitende
Volk. Agappaia hat sich einer Gesellschaft von Asienforschern
angeschlossen und wird bald wegreisen, um dort irgendwo in Indien eine
versunkene griechische Stadt zu entdecken. An mich denkt er schon gar
nicht mehr. Wie seltsam, es kränkt mich gar nicht einmal. Mein Mann war
überhaupt nie fähig, mich zu kränken. Genug! Ich werde in einem
einfachen Zimmer wohnen, in der Stadt unten, und Kaspar und du, ihr
werdet mich besuchen. Ich werde eine Stelle bekleiden, irgend eine
Stelle, so wie du. Im Herbst ziehen wir aus, dann soll auch sogleich
dieses Haus umgebaut werden. Was sagst du dazu?«

»Mir ist das sehr lieb. Ich dachte auch schon daran, mich zu
›verändern‹. Jetzt kommt es ja von selbst. Ich freue mich sehr darauf,
dich in deinem zukünftigen Heim besuchen zu können.«

Und beide malten sich die Zukunft aus und lachten dabei.

                   *       *       *       *       *

Kaspar befand sich in einem kleinen Landstädtchen, wo er den Auftrag zu
erledigen hatte, einen Tanzsaal zu dekorieren, das heißt, dessen Wände
von oben bis unten zu bemalen. Es war inzwischen Herbst geworden und
eines Tages machte sich Simon, es war ein Sonnabend, nach Feierabend auf
den Weg, um die Nacht durch die Strecke zu Fuß zu gehen, die ihn von
Kaspar trennte. Warum sollte er nicht eine ganze Nacht lang wandern
können. Er hatte eine Landkarte zur Hand genommen und darauf mit dem
Zirkel die Zahl der Stunden, die er brauchte, um nach dem Städtchen zu
gelangen, scharf abgemessen und hatte wahrgenommen, daß er gerade in
einer Nacht, wenn er die Zeit ausnutzte, hingelangen konnte. Der Weg
führte ihn zuerst durch die Vorstadt, wo Rosa, seine alte Freundin,
wohnte, und er verschmähte nicht, ihr im Vorbeilaufen einen kurzen
Besuch abzustatten. Sie war sehr erfreut, ihn nach so langer Zeit wieder
einmal zu sehen, nannte ihn einen bösen, treulosen Menschen, daß er sie
so habe im Stich lassen können, sagte das aber mehr in einem
schmollenden als in einem gereizten Ton und ließ es sich nicht nehmen,
Simon ein Glas Rotwein zu trinken zu geben, das, wie sie sagte, ihn für
seine Nachtwanderung stärken solle. Auch briet sie ihm auf ihrem
Gasherde schnell eine Wurst, stichelte den Dastehenden, während sie
kochte, mit nicht unartigen, aber wohlgesetzten Worten, sagte, er müsse
ja sehr gut mit Frauen versehen sein und machte ihn lachend darauf
aufmerksam, daß er eigentlich die Wurst nicht verdiene, sie nun aber
doch haben solle, wenn er künftig fleißiger zu ihr käme. Das versprach,
während er sich das Essen schmecken ließ, Simon und trat bald darauf
seine Wanderung mit einigem Bangen vor der Anstrengung, die ihm
bevorstand, an. Aber jetzt noch feige zurückkehren und die Eisenbahn
benutzen, das mochte er doch nicht. So lief er denn vorwärts und fragte
immer wieder nach dem richtigen Weg, um ja sicher zu gehen. Bei den
Wegweisern zündete er ein Streichhölzchen an, hielt es in die nötige
Höhe, um zu sehen, wo der Weg weiter hinliefe. Er ging mit einer ganz
rasenden Schnelligkeit, als fürchtete er, der Weg möchte ihm unter
seinen Füßen entgehen und davonlaufen. Der Rotwein Rosas hatte ihn
befeuert und er wünschte nur, daß bald die Berge kämen, die zu
überwinden ihm eine Lust und Leichtigkeit gewesen wäre. So kam er in das
erste Dorf und hatte Mühe, sich auf den verschiedenen Dorfwegen, die
alle kreuz und quer liefen, zurechtzufinden. Er rief deshalb einen
Schmied an, der noch hämmerte, und von diesem erfuhr er, daß er richtig
ging. Nun kam eine Landschaft, die ganz verschwommen war, weil sie aus
lauter Gebüschen bestand; es ging bergaufwärts; dann kam eine Art
Hochebene, die etwas Schauerliches an sich hatte. Es war tiefdunkel,
kein Stern am ganzen Himmel, hin und wieder kam der Mond hervor, aber
die Wolken verdeckten sein Licht wieder. Nun lief Simon durch einen
finsteren Tannenwald, er fing an zu keuchen und paßte besser auf seine
Schritte auf; denn er stieß immer wieder an Steine, die im Wege lagen,
und das langweilte ihn doch ein wenig. Der Tannenwald hörte auf, Simon
atmete freier; denn in dunklen Wäldern zu gehen, so allein, ist nicht
immer ungefährlich. Ein großes Bauernhaus stand plötzlich vor ihm wie
aus der Erde emporgewachsen und engte seinen Blick ein, ein großer Hund
schoß hervor, sprang auf den Wanderer los, aber biß nicht. Simon blieb
ganz still und ruhig stehen, starrte den Hund nur an, und so wagte der
Hund nicht zu beißen. Weiter ging es! Brücken kamen, die donnerten in
der Stille unter den raschen Schritten, denn sie waren von Holz, es
waren alte Holzbrücken mit Dächern und Heiligenbildern am Ein- und
Ausgange. Simon fing an, gezierte Schritte zu machen, um sich
Unterhaltung zu verschaffen. Plötzlich, auf ganz offenem, aber düsterem
Feld stand ein starker Mann vor ihm, der ihn anschrie und ihn dabei
fürchterlich anstarrte. »Was wollen Sie?« schrie Simon seinerseits, aber
er machte eine Schwenkung rund um den Mann herum und lief fort, ohne
hören zu wollen, was der Mann wollte. Sein Herz klopfte, es war die
Plötzlichkeit der Erscheinung, nicht der Mann selber, die ihn erschreckt
hatte. Dann marschierte er durch ein schlafendes, endlos langes Dorf.
Ein weißes, langes Kloster sah ihm entgegen und verschwand wieder. Es
ging wieder bergauf. Simon dachte an gar nichts mehr, die zunehmende
Anstrengung lähmte seine Gedanken; stille Brunnen wechselten mit
einsamen Baumgruppen, Wälder mit Wolken, Steine mit Quellen, es schien
alles mit ihm zu gehen und hinter ihm zu versinken. Die Nacht war
feucht, finster und kalt, seine Wangen aber brannten und seine Haare
wurden naß vom Schweiß. Auf einmal erblickte er zu seinen Füßen etwas
gestreckt Liegendes, Weites, Schimmerndes und Glänzendes: es war ein
See; Simon blieb stehen. Von da an ging es abwärts auf einem
fürchterlich schlechten Weg. Zum ersten Mal taten ihm seine Füße weh,
aber er achtete nicht darauf, sondern ging weiter. Äpfel hörte er dumpf
auf die Wiesen fallen. Wie geheimnisvoll schön die Wiesen waren:
undurchsichtbar und dunkel. Das Dorf, das nun folgte, erweckte sein
Interesse durch die vornehmen Häuser, die es zur Schau trug. Aber hier
wußte Simon nicht mehr weiter. So sehr er suchte, den rechten Weg fand
er nicht. Da es ihn erbitterte, wählte er, ohne sich lange zu besinnen,
die Hauptstraße. Eine Stunde mochte er gegangen sein, als ihm ein
deutliches Gefühl sagte, daß er eine falsche Richtung eingeschlagen
hatte, er kehrte wieder um, weinte beinahe vor Zorn und schlug seine
Füße gegen die Straße, als hätten sie die Schuld getragen. Er kam wieder
ins Dorf zurück: zwei Stunden versäumt: welche Schmach! Er fand auch
sogleich den rechten Weg, nun, da er die Augen besser auftat, lief fort,
unter Bäumen, die ihr Laub fallen ließen, auf einem schmalen Seitenwege,
der ganz mit raschelnden Blättern bedeckt war. Er gelangte in einen
Wald, es war ein Bergwald, der schroff in die Höhe strebte, und da Simon
keinen Weg mehr vor sich sah, ging er einfach gerade aus, suchte sich,
immer höher steigend, durch das dichteste Tannengeäst seine Bahn,
zerkratzte sich sein Gesicht, zerrieb seine Hände, aber es ging
wenigstens hinauf, bis endlich der Wald aufhörte, durch den er sich
stöhnend und fluchend hindurchgerungen, und eine freie Weide vor seinen
Augen lag. Er ruhte einen Moment: »Herrgott, wenn ich zu spät komme:
welche Blamage!« Weiter! Er ging nicht mehr, er sprang, indem er
rücksichtslos seine Beine in die weiche Ackererde stampfte. Ein
bleiches, schüchternes Morgenlicht streifte von irgendwoher seine Augen.
Er sprang über Hecken, die ihn zu höhnen schienen. Auf einen Weg achtete
er schon längst nicht mehr. Eine anständige, breite Straße, das blieb in
seiner Phantasie als etwas Köstliches hängen, nach dem er sich von
Herzen sehnte. Es ging wieder bergabwärts, in schmale, kleine
Schluchten, wo die Häuser an den Halden wie Spielzeuge klebten. Er roch
die Nußbäume, unter denen er lief; unten im Tal schien so etwas wie eine
Stadt zu sein, aber das war nur eine gierige Ahnung. Endlich fand er die
Straße. Seine Beine selbst schienen mitzujubeln über den Fund und er
ging ruhiger, bis er einen Brunnen fand, zu dessen Röhre er sich wie ein
Wahnsinniger hinstürzte. Unten gelangte er in eine kleine Stadt, kam bei
einem weißglänzenden, zierlichen, anscheinend geistlichen Palais vorbei,
dessen Verfallenheit ihn tief rührte, und wieder ging es ins offene Land
hinaus. Hier fing der Tag an zu grauen. Die Nacht schien zu erbleichen;
die lange, stille Nacht machte ein Zeichen der Bewegung. Simon stürmte
jetzt den Weg nur so beiseite. Wie bequem erschien ihm das Gehen auf
einer solchen glatten Straße, die in großen Windungen zuerst aufwärts,
dann prachtvoll gedehnt bergab führte. Nebel sanken auf die Wiesen
nieder und gewisse Tagesgeräusche meldeten sich dem Ohr. Wie lang doch
eine Nacht war. Durch diese Nacht, die er auf der Erde durchgelaufen,
saß vielleicht ein Gelehrter, vielleicht gar sein Bruder Klaus, bei der
Lampe am Schreibtisch, und wachte ebenso sauer und mühsam. Ebenso
wundervoll mußte einem solchen Stillesitzenden der erwachende Tag
vorkommen, wie jetzt ihm, dem Landstraßenläufer. Schon zündete man in
kleinen Häusern die Frühmorgenlichter an. Eine zweite, größere Stadt
erschien, zuerst mit Vorhäusern, dann mit Gassen, dann mit Toren und
einer breiten Hauptstraße, in der Simon ein herrliches Haus mit Statuen
von Sandstein auffiel. Es war eine alte Stadtburg, die jetzt als
Postgebäude diente. Schon gingen Menschen auf der Straße, die er fragen
konnte nach dem Weg, wie am Abend zuvor. Es ging wieder ins flache,
freie Land hinaus. Der Nebel zerstob, Farben zeigten sich, entzückte
Farben, entzückende Farben, Morgenfarben! Es schien ein herrlicher,
blauer Herbstsonntag werden zu wollen. Nun begegnete Simon Leuten,
namentlich Frauen, sonntäglich geputzten, die vielleicht schon von weit
herkamen, um in die Stadt zur Kirche zu gehen. Immer bunter wurde der
Tag. Jetzt sah man die roten, glühenden Früchte neben der Straße in der
Wiese liegen, auch fielen beständig reife Früchte von den Bäumen. Es war
das reine Obstland, durch das Simon nun weiterschritt. Handwerksburschen
begegneten ihm, ganz bequemlich; die nahmen das Gehen nicht so ernst wie
er. Eine ganze Gesellschaft dieser Burschen lag ausgestreckt an einem
Wiesenrand in den ersten Strahlen der Sonne: welches Bild der
Behaglichkeit! Eine Kuh wurde vorbeigeführt, und die Frauen sagten so
schön ›guten Tag‹. Simon aß Äpfel auf dem Weg, auch er wanderte jetzt
ruhig durch das fremde, schöne, reiche Land. Die Häuser an der Straße
waren so einladend, aber noch schöner und zierlicher waren die Häuser,
die mitten unter den Bäumen, tiefer im Land, mitten im Grün steckten.
Die Hügel gingen anmutig und sanft in die Höhe, die Höhen lockten, alles
war blau, von einem herrlichen, feurigen Blau durchzogen, auf Wagen
fuhren ganze Gesellschaften von Leuten daher und endlich sah Simon ein
kleines Häuschen am Weg, dahinter eine Stadt, und sein Bruder steckte
den Kopf durch das Fenster des Hauses. Er war zur rechten Zeit
angekommen, kaum eine Viertelstunde nach der vereinbarten Zeit. Und er
ging mit Frohlocken in das Haus hinein.

Drinnen im Zimmer, beim Bruder, betrachtete er alles mit großen Augen,
obschon gar nicht viel zu betrachten war. In einer Ecke stand das Bett,
aber es war ein interessantes Bett; denn Kaspar schlief darin, und das
Fenster war ein wunderbares Fenster; obgleich es nur aus einfachem Holz
war und simple Vorhänge hatte, schaute doch eben erst Kaspar durch
dieses Fenster hinaus. Am Boden, auf dem Tisch, auf der Bettdecke, auf
Stühlen herum lagen Zeichnungen und Bilder. Jedes einzelne Blatt glitt
durch des Besuchers Finger, alles war schön und so vollendet. Es war
Simon beinahe unbegreiflich, was für ein Arbeiter der Maler war, es lag
so viel vor seinen Augen, er konnte kaum mit Ansehen fertig werden. »Wie
das die Natur selber ist, was du malst!« rief er aus: »Es wird mir immer
halb traurig zumute, wenn ich neue Bilder von dir betrachte. Jedes ist
so schön, glänzt von Empfindung und trifft die Natur wie in ihr Herz,
und du malst immer Neues, willst immer Besseres, vernichtest womöglich
Vieles, das in deinen Augen schlecht geworden ist. Ich kann keines von
deinen Bildern schlecht finden, alle rühren mich und bezaubern meine
Seele. Nur ein Strich von dir oder eine Farbe geben mir von deinem
schlechthin wundervollen Talent eine feste und unerschütterliche
Überzeugung. Und wenn ich deine Landschaften, die so breit und warm mit
dem Pinsel gemalt sind, ansehe, sehe ich immer dich, und ich fühle eine
Art Weh mit dir, das mir sagt, daß es nie ein Ende gibt in der Kunst.
Ich verstehe die Kunst so gut und das Drängen der Menschen, das sie
ihretwegen empfinden, und die Sehnsucht, so um die Liebe und Gnade der
Natur zu werben. Was wollen wir, wenn wir es entzückend finden, eine
Landschaft abgebildet zu sehen? Ist es nur ein Genuß? Nein, wir wollen
damit etwas erklärt finden, aber etwas, das gewiß immer unerklärlich
bleiben wird. Es schneidet so tief in uns hinein, wenn wir, an einem
Fenster liegend, träumend eine untergehende Sonne betrachten, aber das
ist noch gar nichts gegen eine Straße, in der es regnet, wo die Frauen
ihre Röcke zierlich hochheben, oder gegen den Anblick eines Gartens oder
Sees unter dem leichten Morgenhimmel oder gegen eine einfache Tanne im
Winter oder gegen eine Gondelfahrt bei Nacht oder gegen eine
Alpenansicht. Nebel und Schnee entzücken uns nicht minder als Sonne und
Farben; denn der Nebel verfeinert wieder die Farben, und der Schnee ist
doch, zum Beispiel unter dem Blau des erwärmenden Vorfrühlingshimmels,
eine tiefe, wundervolle, beinahe unverständliche Sache. Wie schön ich
das von dir finde, Kaspar, daß du malst und so schön malst. Ich möchte
ein Stück Natur sein und mich lieben lassen, so wie du jedes Stück Natur
liebst. Der Maler muß doch wohl die Natur am heftigsten und am
schmerzlichsten lieben, viel stürmischer und zitternder und aufrichtiger
als selbst der Dichter, als zum Beispiel so ein Sebastian, von dem ich
doch hörte, daß er sich eine Hütte auf den Weiden zum Wohnen
eingerichtet hat, damit er ungestört, wie ein Einsiedler in Japan, die
Natur anbeten kann. Die Dichter hangen sicher weniger treu an der Natur,
als ihr Maler; denn sie treten in der Regel mit verbildeten und
verstopften Köpfen an sie heran. Doch vielleicht irre ich mich, und ich
würde mich in diesem Fall gerne geirrt haben. Wie mußt du gearbeitet
haben, Kaspar. Du hast doch gewiß keine Ursache, dir selber Vorwürfe zu
machen. Das würde ich nicht tun. Nicht einmal ich tue es, und
wahrhaftig, ich hätte es sicher nötig. Aber ich tu es deshalb nicht,
weil es einen unruhig macht und weil die Unruhe ein häßlicher, des
Menschen unwürdiger Zustand ist.« --

»Da hast du recht,« sprach Kaspar.

Sie gingen dann beide durch die kleine Stadt, sahen alles an, was bald,
und wiederum bei der Innigkeit, womit sie es taten, doch nicht bald
geschehen war, begegneten dem Briefträger, der Kaspar einen Brief
einhändigte und eine Grimasse dazu schnitt. Der Brief war von Klara. Die
Kirche wurde bewundert und die Majestät der Stadttürme, die trotzigen
Stadtmauern, welche oft durchbrochen worden waren, die Rebhäuser und
Lusthäuser am Berge, in denen das Leben ausstarb seit so langer Zeit.
Die Tannen schauten ernst auf das alte Städtchen herab, dazu war der
Himmel so süß und die Häuser schienen zu trotzen und verdrießlich zu
sein in ihrer Dicke und Breite. Die Wiesen schimmerten, und die Hügel
mit den goldenen Buchenwäldern lockten in die Höhe und Ferne hinein. Am
Nachmittag gingen die jungen Männer in den Wald. Viel sagten sie nicht
mehr. Kaspar war still geworden, sein Bruder fühlte, an was er dachte
und wollte ihn nicht aufwecken; denn ihm schien es wichtiger, daß
gedacht werde, als wenn geredet worden wäre. Sie setzten sich auf eine
Bank. »Sie will nicht von mir lassen,« sagte Kaspar, »sie ist
unglücklich.« Simon sagte nichts, aber er empfand eine gewisse Freude
für seinen Bruder, daß die Frau unglücklich um ihn war. Er dachte: »Ich
finde es schön, daß sie unglücklich ist.« Diese Liebe entzückte ihn.
Bald wurde jedoch Abschied genommen; denn Simon mußte, und diesmal mit
der Bahn, zurückreisen.



Siebentes Kapitel.


Es wurde Winter. Simon, der sich selber überlassen war, saß in einem
kleinen Zimmer, mit einem Mantel bekleidet, am Tische und schrieb. Er
wußte nicht, was er mit der Zeit beginnen sollte, und weil er von seinem
Beruf her zu schreiben gewöhnt war, so schrieb er jetzt ganz wie
absichtslos von selber und zwar auf kleine Papierstreifen, die er sich
mit der Schere zurechtgeschnitten hatte. Draußen war nasses Wetter, und
der Mantel, mit dem Simon umhüllt war, diente dazu, einen Ofen zu
ersetzen. Ihm behagte dieses In-der-Stube-sitzen, während draußen
heftige Winde wehten, die Schnee versprachen. Es war ihm behaglich
zumute, so zu sitzen und etwas zu machen und sich der Einbildung zu
überlassen, ein vergessener Mensch zu sein. Er dachte zurück an seine
Kindheit, die noch gar nicht so weit rückwärts entfernt war, und die
doch so fern lag wie ein Traum, und schrieb:

»Ich will mich an die Kindheit zurückerinnern, da dies, in meinem
jetzigen Falle, eine spannende und belehrende Aufgabe ist. Ich war ein
Knabe, der sich gern an warme Öfen mit dem Rücken lehnte. Ich kam mir
dabei wichtig und traurig vor und machte ein zufriedenes und zugleich
wehmütiges Gesicht. Auch zog ich, wenn ich nur immer konnte, weiche
Filzschuhe für die Stube an, das heißt, das Wechseln der Schuhe, das
Tauschen der nassen mit den warmen, machte mir die größte Freude. Eine
warme Stube hatte etwas Zauberhaftes für mich. Ich war nie krank und
beneidete immer die, die krank sein konnten, die man pflegte, für die
man etwas feinere Worte hatte, wenn man zu ihnen sprach. Deshalb dachte
ich mich öfters krank und war gerührt, wenn ich in meiner Einbildung
vernahm, wie meine Eltern zärtlich zu mir redeten. Ich hatte ein
Bedürfnis darnach, zärtlich behandelt zu werden, und es geschah nie. Vor
meiner Mutter fürchtete ich mich, weil sie so selten zärtlich sprach.
Ich hatte das Renommee eines Spitzbuben, und ich glaube, nicht mit
Unrecht, aber es war doch manchmal verletzend für mich, immer daran
erinnert zu werden. Ich hätte gern verzärtelt werden mögen; als ich aber
einsah, daß es unmöglich war, daß man mir diese Aufmerksamkeit schenke,
wurde ich ein Flegel und verlegte mich darauf, diejenigen zu ärgern,
welche den Vorzug genossen, brave, geliebte Kinder zu sein. Das war
meine Schwester Hedwig und mein Bruder Klaus. Nichts machte mir größeres
Vergnügen, als Ohrfeigen von ihnen zu bekommen; denn daran sah ich, daß
ich das Geschick dazu hatte, sie zornig auf mich zu machen. Von der
Schule habe ich keine große Erinnerung mehr, aber ich weiß, daß sie mir
eine Art Entgeltung wurde für die kleine Zurücksetzung, die ich im
elterlichen Hause erfuhr: ich konnte mich auszeichnen. Es war mir eine
Genugtuung, gute Zeugnisse nach Hause zu tragen. Ich fürchtete die
Schule und verhielt mich infolgedessen dort brav; ich blieb in der
Schule überhaupt immer zurückhaltend und zaghaft. Die Schwächen der
Lehrer blieben mir indessen nicht lange verhüllt, doch kamen sie mir
mehr schrecklich als lächerlich vor. Einer der Lehrer, ein plumper,
ungeheurer Mensch, hatte ein wahres Säufergesicht; trotzdem fiel es mir
nie ein, daß er ein Säufer hätte sein können, dagegen von einem andern
ging ein rätselhaftes Gerücht in der Schulwelt umher, daß er am Trunk
untergegangen wäre. Dieses Mannes Leidensgesicht vergesse ich nie. Die
Juden hielt ich für vornehmere Menschen als die Christen; denn es gab
etliche entzückend schöne Judenfrauen, vor denen ich, wenn ich ihnen auf
der Gasse begegnete, erbebte. Öfters mußte ich, im Auftrage meines
Vaters, in eines der eleganten Judenhäuser gehen, und es roch immer wie
nach Milch in diesem Hause, und die Dame, die mir dort die Tür
aufzuschließen pflegte, hatte weiße, weite Kleider an und brachte einen
warmen, gewürzigen Duft mit sich heraus, vor dem ich anfangs einen
Abscheu hatte, den ich aber nachher lieben lernte. Ich glaube, ich trug
nicht gerade hübsche Kleider als Knabe, jedenfalls sah ich mit boshafter
Bewunderung einige andere Knaben an, die hohe schöne Schuhe trugen,
glatte Strümpfe und gutsitzende Anzüge. Ein Knabe besonders machte mir
tiefen Eindruck wegen seiner Zartheit an Gesicht und Händen, wegen der
Weichheit seiner Bewegungen und der Stimme aus seinem Munde. Er glich
völlig einem Mädchen, war immer in weiche Stoffe gekleidet und genoß bei
den Lehrern eine Achtung, die mich stutzig machte. Ich sehnte mich
krankhaft danach, von ihm eines Wortes gewürdigt zu werden und war
glücklich, als er mich eines Tages vor dem Schaufenster einer
Papierhandlung unvermittelt ansprach. Er schmeichelte mir, weil ich so
schön schrieb, und sprach das Verlangen danach aus, eine ebenso schöne
Schrift wie ich zu besitzen. Wie freute mich das, diesem jungen Gott von
Knaben in einem Stück wenigstens überlegen zu sein, und ich wehrte seine
Schmeicheleien errötend und selig von mir ab. Dieses Lächeln! Ich
erinnere mich noch, wie er lächelte. Seine Mutter war lange Zeit mein
Traum. Ich überschätzte sie zu Ungunsten meiner eigenen Mutter. Welches
Unrecht! Diesen Knaben griffen einige Spottvögel in unserer Klasse an,
indem sie die Köpfe zusammensteckten und sagten, er sei ein Mädchen und
zwar ein wirkliches, nur verkleidet in den Kleidern eines Knaben.
Natürlich war es nur Unsinn, aber mich traf das wie ein Donnerschlag und
ich glaubte lange Zeit, in diesem Knaben ein verkleidetes Mädchen
verehren zu sollen. Seine überweiche Figur gab mir allen Anlaß zu
überspannten romantischen Empfindungen. Natürlich war ich zu schüchtern
und stolz, ihm meine Vorliebe für ihn zu erklären, und so hielt er mich
für einen seiner Feinde. Wie vornehm wußte er sich abzusondern. Wie
merkwürdig, jetzt das zu denken! -- Im Religionsunterricht entzückte ich
einmal meinen Lehrer, weil ich für eine bestimmte Empfindung ein
bestimmtes treffendes Wort fand; auch das ist mir unvergeßlich
geblieben. In verschiedenen Fächern war ich überhaupt sehr gut, aber es
war immer beschämend für mich, als Muster dazustehen, und ich bemühte
mich oft förmlich, schlechte Resultate zu erzielen. Mein Instinkt sagte
mir, daß mich die Überflügelten hassen könnten, und ich war gerne
beliebt. Ich fürchtete mich davor, von den Kameraden gehaßt zu werden,
weil ich das für ein Unglück hielt. Es war in unserer Klasse Mode
geworden, die Streber zu verachten, deshalb kam es öfters vor, daß sich
intelligente und kluge Schüler aus Vorsicht einfach dumm stellten.
Dieses Verhalten, wenn es bekannt wurde, galt als musterhaftes Betragen
unter uns, und in der Tat, es hatte wohl einen Anstrich von Heroismus,
wenn auch in mißverstandenem Sinne. Von Lehrern ausgezeichnet zu werden,
war also mit der Gefahr der Mißachtung verbunden. Welch eine seltsame
Welt: die Schule. In einer der frühesten Schulklassen hatte ich einen
Schulkameraden, einen kleinen Knirps mit Flecken im spitzigen Gesicht,
dessen Vater ein herumsaufender Korbflechter war, den alle Leute
kannten. Da mußte nun der kleine Kerl immer vor der ganzen höhnenden
Klasse das Wort Schnaps aussprechen, was er nicht konnte, da er immer
Snaps statt Schnaps sagte, infolge eines armseligen Zungenfehlers. Wie
gab uns das zu lachen. Und wenn ich jetzt daran denke: wie roh war doch
das. Ein anderer, ein gewisser Bill, ein drolliger kleiner Bursche, kam
immer zu spät in die Schulstunde, weil seine Eltern ein Haus in einer
einsamen, wilden, weit von der Stadt entfernten Berggegend bewohnten.
Dieser Spätling mußte jedes Mal für sein Zuspätkommen die Hand
ausstrecken, um einen bissigen, scharf schmerzenden Schlag mit dem
Meerrohr darauf zu empfangen. Der Schmerz preßte dem Kleinen jedes Mal
Tränen zu den Augen heraus. Welche Spannung rief in uns diese Abstrafung
hervor. Ich hebe übrigens hervor, daß ich hier nicht irgend jemand,
vielleicht den betreffenden Lehrer, wie man leicht glauben könnte,
anklagen will, sondern einfach mitteile, was ich noch weiß aus jenen
Zeiten. -- Auf dem Berge, im Wald, oberhalb der Stadt, pflegte sich,
damals mehr als heutzutage, wie ich annehme, allerhand arbeitsloses,
wildes, verkommenes Volk anzusammeln, um aus Schnapsflaschen im Dickicht
zu trinken, Karten zu spielen, oder um mit den Weibern zu buhlen, denen
das Elend und der Jammer zum Gesicht herausglotzten, und die aus den
Fetzen von Kleidern, die sie trugen, erkenntlich waren. Man nannte diese
Menschen Vaganten. Eines Sonntag Abends gingen wir, Hedwig, Kaspar und
ich mit einem Mädchen, das wir Anna nannten, und das unserem Hause treu
war, auf einem schmalen Weg über diesen Berg und sahen, als wir in eine
Waldlichtung voll Felsstücken hinaustraten, wie ein Mann eben eines
dieser Felsstücke mit seiner Faust ergriff und es einem andern Mann,
seinem Gegner, ins Gesicht schleuderte, daß es einen Krach gab und das
Blut des Getroffenen, der alsobald zu Boden stürzte, herausspritzte. Der
Streit, dessen Ende, da wir sogleich flohen, wir nicht sahen, schien aus
Anlaß eines Weibes entstanden zu sein, wenigstens ist mir eine düstere,
große Weibsfigur noch immer deutlich vor Augen, die damals gelassen
dagestanden ist und dem Streit mit böser Haltung zusah. Ich trug ein
tiefes Weh und einen Schauder nach Hause, der mich am Essen verhinderte
und noch lange Zeit jene Waldstelle meiden ließ. Es lag etwas
Furchtbares, Uranfängliches in diesem Männerkampf. --

Kaspar und ich hatten einen gemeinschaftlichen Freund, Sohn eines
Großrates und angesehenen Kaufmanns, den wir wegen seiner
Bereitwilligkeit und Unterwürfigkeit gegen unsere Pläne sehr liebten. Zu
diesem gingen wir oft in das elterliche, großrätliche Haus, wo uns eine
zierliche Dame, seine Mutter, jedes Mal freundlich willkommen hieß. Wir
spielten mit unseres Freundes Baukasten und Bleisoldaten stundenlang und
unterhielten uns vortrefflich. Kaspar zeichnete sich im Bauen von
Festungen und Palästen und im Entwerfen von Schlachtenplänen aus. Unser
Freund hing sehr an uns; an Kaspar, wie es mir schien, noch mehr als an
mir; und er besuchte auch uns öfters in unserem Hause, wo es freilich
nicht ganz so fein war. Hedwig hatte ihn sehr lieb. Seine Mutter war von
der unsrigen ganz verschieden, die Zimmer waren glänzender als bei uns,
der Ton war ein anderer, ich meine: der Ton der Umgangssprache; aber bei
uns war es in allem lebhafter. Damals lebte in unserer Stadt eine reiche
Dame für sich allein in einem herrlichen Garten, natürlich in einem
Haus, aber das Haus sah man nicht vor lauter Efeu und Bäumen und
Springbrunnen, die es verdeckten. Diese Dame hatte drei Töchter, schöne,
blasse Mädchen, von denen es hieß, daß sie alle zwei Wochen ein neues
Kleid anzögen. Die Kleider behielten sie nicht im Schrank, sondern
ließen sie durch besondere Botenläufer unter den Leuten der Stadt
verkaufen. Hedwig besaß einmal ein Seidenkleid und ein paar Schuhe von
einem dieser Mädchen, und diese schon getragenen Sachen flößten mir, als
ich sie betrachtete und anrührte, einen geheimen Abscheu ein, vermischt
mit dem höchsten Interesse und einer Teilnahme, wegen der ich oft
ausgelacht wurde. Die Dame saß immer in ihrem Hause oder höchstens
einmal im Theater, wo sie erschreckend weiß aussah in ihrer dunkelroten
Loge. Das mittlere von den drei Mädchen war wohl das schönste. Ich sah
sie in meiner Phantasie immer zu Pferde; sie hatte so ein Gesicht, das
dazu geschaffen war, vom Rücken eines tanzenden Pferdes auf eine
gaffende Volksmenge herabzublicken und alle die Augen niederschlagen zu
machen. Alle drei Mädchen sind jetzt wohl längst verheiratet. -- Einmal
hatten wir eine Feuersbrunst, und zwar nicht in der Stadt selber,
sondern in einem Nachbardorfe. Der ganze Himmel in der Runde war gerötet
von den Flammen, es war eine eisige Winternacht. Die Menschen liefen auf
dem gefrorenen, knirschenden Schnee, auch ich und Kaspar; denn unsere
Mutter schickte uns weg, um zu erfahren, wo es brenne. Wir kamen zu den
Flammen, aber es langweilte uns, so lang in das brennende Gebälk zu
schauen, auch froren wir, und so liefen wir bald wieder nach Hause, wo
uns Mutter mit all der Strenge einer Geängstigten empfing. Meine Mutter
war damals schon krank. Kaspar trat ein wenig später aus der Schule aus,
in der er keinen Erfolg mehr hatte. Ich hatte noch ein Jahr vor mir,
aber eine gewisse Melancholie ergriff mich und hieß mich auf die Dinge
der Schule mit Bitterkeit herabsehen. Ich sah das nahe Ende kommen und
den nahen Anfang von etwas Neuem. Was es sein sollte, darüber konnte ich
mir nur allerhand unkluge Gedanken machen. Ich sah meinen Bruder öfters,
mit Paketen beladen, in seinem Geschäftsleben, und dachte darüber nach,
warum er so niedergeschlagen dabei aussah und sein Gesicht zur Erde
niederhing. Es mußte nicht schön sein, dieses Neue, wenn man dabei die
Augen nicht aufschlagen durfte. Aber Kaspar hatte damals sich auf seinen
Beruf zu besinnen angefangen, er schien immer zu träumen und war von
einer sonderbaren Gelassenheit, was dem Vater nichts weniger als gefiel.
Wir bewohnten jetzt ein geringeres Vorstadthaus, dessen Anblick ein
erkältender war. Die Wohnung war Mutter nicht recht. Sie hatte überhaupt
eine eigentümliche Krankheit, sich von ihrer jeweiligen Umgebung
verletzt zu fühlen. Sie mochte von vornehmen kleinen Häusern in Gärten
schwärmen. Was kann ich wissen. Sie war eine sehr unglückliche Frau.
Wenn wir zum Beispiel alle beim Essen saßen, ziemlich schweigsam, wie
wir es gewohnt waren, erfaßte sie plötzlich eine Gabel oder ein Messer
und warf es von sich weg, über den Tisch hinaus, so daß alle mit den
Köpfen zur Seite bogen; wenn man sie dann beruhigen wollte, kränkte es
sie, und wenn man ihr Vorwürfe machte, noch viel mehr. Vater hatte einen
schweren Stand mit der Kranken. Wir Kinder erinnerten uns mit Wehmut und
Schmerz der Zeiten, wo sie eine Frau war, der alles mit einem Gemisch
von Hochachtung und Zärtlichkeit begegnete, wo, wenn sie die helle
Stimme ansetzte und einen rief, man sich beglückt fühlte zu ihr
hinzueilen. Alle Damen der Stadt erwiesen ihr Artigkeiten, die sie mit
Grazie und Bescheidenheit abzulehnen wußte; diese entschwundene Zeit
erschien mir schon damals wie ein zaubervolles Märchen voll entzückender
Düfte und Bilder. Ich lernte also schon früh, mich schönen Erinnerungen
mit Leidenschaft hinzugeben. Ich sah wieder das hohe Haus, wo die Eltern
ein reizendes Galanteriewarengeschäft hatten, wo viele Menschen zu uns
hineinkamen, um zu kaufen, wo wir Kinder eine helle, große Kinderstube
besaßen, in welche die Sonne mit einer Art Vorliebe hineinzuscheinen
schien. Dicht neben unserem hohen Hause kauerte ein kleines, schräges,
zerdrücktes, uraltes Haus mit einem spitzigen Giebeldach, darin wohnte
eine Witwe. Sie hatte einen Hutladen, einen Sohn und eine Verwandte und,
ich glaube, noch einen Hund, wenn ich mich recht erinnere. Wenn man zu
ihr in den Laden trat, begrüßte sie einen so freundlich, daß man das
bloße dieser Dame Gegenüberstehen als einen Wohlgenuß empfand. Sie
preßte einem dann verschiedene Hüte auf den Kopf, führte einen vor den
Spiegel und lächelte dazu. Ihre Hüte rochen alle so wunderbar, daß man
wie gebannt dastehen mußte. Sie war eine gute Freundin meiner Mutter.
Dicht daneben, das heißt, dicht neben dem Hutladen glitzerte und lockte
eine schneeweiße Konditorei, eine Zuckerbäckerei. Die Zuckerbäckersfrau
schien uns ein Engel zu sein, nicht eine Frau. Sie hatte das zarteste,
ovalste Gesicht, das man sich denken kann; die Güte und die Reinheit
schienen diesem Gesicht die Formen gegeben zu haben. Ein Lächeln, das
einen zum frommen Kinde machte, wenn es einen traf, bezauberte und
versüßte noch ihre süßen Züge. Die ganze Frau schien wie geschaffen
dazu, Süßigkeiten zu verkaufen, Sachen und Sächelchen, die man nur mit
Nadelspitzenfingern anrühren durfte, wenn man ihnen den köstlichen
Geschmack nicht rauben wollte. Das war auch eine Freundin meiner Mutter.
Sie hatte viele Freundinnen.« --

Simon hörte auf zu schreiben. Er ging zu einer Photographie seiner
Mutter, die an der schmutzigen Wand seines Zimmers hing, und preßte,
indem er sich auf die Fußspitzen erhob, einen Kuß darauf. Dann zerriß er
das Geschriebene, weder mit Unmut noch mit vielem Besinnen, einfach
deshalb, weil es keinen Wert mehr für ihn besaß. Dann ging er zu Rosa,
in die Vorstadt hinaus und sagte zu ihr: »Ich werde nun vielleicht bald
eine Anstellung in einer kleinen Landstadt bekommen, was für mich jetzt
das Schönste wäre, was es geben könnte. Eine kleine Stadt ist doch etwas
Entzückendes. Man hat da sein altes, behagliches Zimmer, das man für
merkwürdig wenig Geld bekommt. Vom Geschäft ins Zimmer zu gelangen, wäre
mit ein paar Schritten leicht abgetan. Alle Leute grüßen einen in der
Gasse und denken sich, wer der junge Herr wohl sein könne. Diejenigen
Weiber, die Töchter haben, geben einem schon im Geiste eine ihrer
Töchter zur Frau. Das wird die jüngste Tochter sein mit den Ringellocken
und den herabhängenden, schweren Ohrringen an den kleinen Ohren. Im
Geschäft würde man sich langsam unentbehrlich machen, und der Chef wäre
glücklich, eine solche Erwerbung wie mich gemacht zu haben. Abends nach
Hause gekommen, säße man im geheizten Zimmer, und die Bilder an den
Wänden würden angesehen, von denen eines vielleicht die schöne Kaiserin
Eugenie darstellen dürfte und ein anderes eine Revolution. Die Tochter
des Hauses käme vielleicht herein und brächte mir Blumen, warum nicht?
Ist dies alles in einer Kleinstadt nicht möglich, wo die Menschen
einander so zärtlich begegnen? Eines Tages aber, in der warmen, hellen
Mittagspause, würde dasselbe Mädchen schüchtern an meiner Tür anklopfen,
einer Tür, nebenbei gesagt, die aus der Rokokozeit herstammte, würde sie
aufmachen und zu mir in das Zimmer treten und zu mir, unter einer
unendlich feinen Seitenbeugung des schönen Kopfes, sagen: »Wie sind Sie
immer so still, Simon. Sie sind so bescheiden und machen gar keine
Ansprüche. Sie sagen nicht: mir fehlt dieses oder jenes. Sie lassen
alles so gehen. Ich fürchte, Sie sind unzufrieden.« Ich würde lachen und
sie beruhigen. Dann plötzlich, wie von seltsamen Gefühlen ergriffen,
könnte es ihr einfallen zu sagen: »Wie still und schön die Blumen sind,
da auf dem Tische. Sie sehen aus, als ob sie Augen hätten und es ist
mir, als ob sie lächelten.« Ich würde überrascht sein, so etwas aus dem
Munde einer Kleinstädterin zu hören. Dann würde ich es plötzlich
natürlich finden, in langsamen Schritten zu der Dastehenden und
Zaudernden hinzugehen, meinen Arm um ihre Figur zu legen und das Mädchen
zu küssen. Sie würde es geschehen lassen, aber nicht so, daß man
versucht wäre, auf unschöne Gedanken zu verfallen. Sie würde die Augen
tief niederschlagen und ich hörte das Pochen ihres Herzens, das Wogen
ihren schönen, runden Brust. Ich würde sie bitten, mir ihre Augen zu
zeigen, und daraufhin würde sie sie aufmachen und ich würde in den
Himmel ihrer geöffneten, fragenden Augen hineinschauen. Das würde ein
langes Bitten und Schauen sein. Erst wäre es ein flehender Blick von
ihr, dann würde es mich reizen, sie ebenso anzusehen, dann würde ich
natürlich lachen müssen und sie würde mir trotzdem vertrauen. Wie
wunderbar könnte das sein, und das kann sein in einer kleinen Stadt, wo
die Menschen mit Blicken so viel sagen. Ich würde sie wieder küssen auf
ihren seltsam gebogenen und geschweiften Mund und ihr schmeicheln, so,
daß sie meinen Schmeicheleien glauben müßte und es also dann wieder
keine bloßen Schmeicheleien wären, und ihr sagen, daß ich sie als mein
Weib betrachtete, worauf sie, wieder den Kopf so wundervoll zur Seite
biegend, ja sagen würde. Denn was könnte sie mir entgegnen, wenn ich ihr
den Mund zudrückte, wie einem Kind, wenn ich sie nun mit Küssen
bedeckte, die Herrliche, die ein Lächeln des Übermutes und des
Siegesgefühles nicht zu unterdrücken vermöchte? Freilich, Siegerin wäre
sie und ich ihr Besiegter, das würde sich ja bald zeigen, denn ich würde
ihr Mann werden und ihr damit mein ganzes Leben, meine Freiheit und alle
Gelüste, die Welt zu sehen, opfern und schenken. Nun würde ich sie immer
betrachten und sie immer schöner finden. Bis zu unserer Vermählung würde
ich wie ein Schelm hinter ihren Reizen, die sie hinter sich fallen
ließe, her sein. Ich würde ihr zusehen, wenn sie auf den Zimmerboden
hinkniete, abends, um im Ofen Feuer anzufachen. Ich würde viel lachen,
wie ein Blödsinniger, nur um nicht immer allzu feine Worte des
Zärtlichseins zu gebrauchen, und vielleicht würde ich sie öfters auch
roh behandeln, um die Züge des Schmerzes aus ihrem Gesicht abzufangen.
Nach solcher Handlungsweise käme es mir nicht darauf an, heimlich, wenn
sie es nicht sähe, vor ihrem Bette hinzuknieen und die Abwesende mit
heißem Herzen anzubeten. Ich würde mich vielleicht sogar dazu
versteigen, ihren Schuh, der doch mit Wichse bedeckt wäre, an meinen
Mund zu pressen; denn der Gegenstand, in den sie ihre kleinen weißen
Füße steckte, würde für das Gefühl der Anbetung vollkommen genügen, zum
Beten braucht es ja nicht viel. Ich stiege öfters auf die nahen, hohen
Felsenberge hinauf, sorglos mich hinaufziehend an kleinen Baumstämmchen,
über Abgründe hinauf, und würde mich oben über einen Felssturz auf die
gelbliche Weide hinlegen und mich darauf besinnen, wo ich denn
eigentlich wäre, und mich fragen, ob mir ein solches Leben in der Enge
mit einer allerdings geliebten, aber doch alles heischenden Frau wohl
genügen würde. Ich schüttelte auf solche Fragen nur mit dem Kopf und
träumte mit herrlich gesunden Sinnen in die Ebene hinab, wo die kleine
Stadt ausgebreitet läge. Vielleicht würde ich eine halbe Stunde lang
weinen, warum nicht, um meine Sehnsucht zu versöhnen und würde wieder
ruhig und glücklich daliegen, bis die Sonne untersänke, dann
hinuntergehen und meinem Mädchen die Hand reichen. Es wäre alles
beschlossen und hinter mir zugeriegelt, aber ich wäre von Herzen froh
über die feste, gebietende Abgeschlossenheit. Alsdann würde ich Hochzeit
feiern und so meinem Leben ein neues Leben geben. Das alte würde wie
eine schöne Sonne untergehen, und nicht einmal einen Blick würde ich ihm
nachwerfen, weil ich das für gefährlich und schwach hielte. Die Zeit
verginge, und nun würden wir uns, um für unsere Zärtlichkeit eine
Abbildung zu haben, nicht mehr über Blumen beugen, sondern über Kinder
und uns entzücken über ihr Lächeln und Fragenstellen. Die Liebe zu
unseren Kindern und die tausend Sorgen, die sie heischen würden, machte
unsere eigene Liebe sanfter und nur größer, aber stiller. Mich zu
fragen, ob mir meine Frau noch gefalle, würde mir niemals einfallen, und
mir einzureden, daß ich ein kleines, dürftiges Leben führte, käme mir
nie in den Sinn. Ich hätte alles erfahren, was an Erfahrung das Leben
gibt und würde gern auf den Gedanken verzichten, der mir allerhand
elegante Abenteuer vorhielte und vorspiegelte, die ich versäumt hätte.
»Was ist noch ein Versäumnis zu nennen?« würde ich mich ruhig und
überlegen fragen. Ich wäre ein fester Mensch geworden, das wäre alles
und bliebe alles bis zu meiner Frau Tode, der es vielleicht bestimmt
wäre, früher als ich zu sterben. Doch weiter mag ich nicht denken; denn
das liegt doch zu fernab im Dunkel der schönen Zukunft. Was sagen Sie
dazu? Ich träume jetzt immer so viel, aber Sie müssen wenigstens
zugeben, daß ich mit einer gewissen Aufrichtigkeit und mit dem Verlangen
träume, ein besserer Mensch zu werden, als ich jetzt bin.«

Rosa lächelte. Sie schwieg eine Weile, indem sie Simon aufmerksam
betrachtete und fragte dann:

»Was macht Ihr Herr Bruder, der Maler?«

»Er will nächstens nach Paris gehen.«

Rosa erblaßte, schloß die Augen und atmete schwer. Simon dachte: Also
auch sie liebt ihn.

»Sie lieben ihn,« sagte er leise.

                   *       *       *       *       *

Am nächsten Morgen trat Simon in einem kurzen, dunkelblauen Mantel, mit
einem zierlichen, unbehülflichen Stöckchen in der Hand, aus dem Hause
heraus. Ein dicker, schwerer Nebel empfing ihn und es war noch
vollständige Nacht. Nach einer Stunde aber erhellte es sich, als er auf
einer Anhöhe stand und auf die große Stadt zu seinen Füßen
zurückblickte. Es war kalt, aber die Sonne, die eben jetzt feurig und
hellrot über den verschneiten Büschen und Feldern emporstieg, versprach
einen wundervollen Tag. Er blieb in den Anblick des immer höher
fliegenden roten Balles gebannt und sagte sich, daß die Sonne im Winter
noch drei Mal so schön sei, wie eine Sonne mitten im Sommer. Der Schnee
brannte bald in dieser eigentümlich hellroten, warmen Farbe, und dieser
wärmende Anblick und die wirkliche Kälte dazwischen wirkten belebend und
anspornend auf den Wanderer, der sich auch nicht allzu lange mehr
aufhalten ließ, sondern tüchtig weiterschritt. Der Weg war derselbe, den
Simon damals in der Herbstnacht gegangen war, er hätte ihn jetzt beinahe
schlafend gefunden. So lief er den ganzen Tag. Im Mittag spendete die
Sonne schöne Wärme auf die Gegend herab, der Schnee wollte schon wieder
zerrinnen, und das Grün blickte an einigen Stellen naß hervor. Die
rieselnden Quellen verstärkten den Eindruck der Wärme, aber gegen Abend,
als der Himmel in dunkelblauer Farbe prangte und der rote Schein der
Sonne sich über dem Bergrücken verlor, wurde es auch gleich wieder
grimmig kalt. Simon stieg wieder den Berg hinauf, den er schon einmal,
aber in wilderer Hast, in der Nacht erklommen hatte; der Schnee
knirschte unter seinen Schritten. Die Tannen waren so voll mit Schnee
beladen, daß sie ihre starken Äste herrlich zur Erde niederhängen
ließen. Ungefähr in der Mitte des Aufstieges sah Simon plötzlich einen
jungen Mann mitten im Wege im Schnee daliegen. Es war noch so viel
letzte Helle im Wald, daß er den schlafenden Mann ins Auge fassen
konnte. Was veranlaßte diesen Menschen, sich hier in der bitteren Kälte
und an einer so einsamen Stelle im Tannenwald niederzulegen? Des Mannes
breiter Hut lag quer über dessen Gesicht, wie es oft im heißen,
schattenlosen Sommer vorkommt, daß ein Liegender und Ausruhender sich
auf diese Weise gegen die Sonnenstrahlen schützt, um einschlafen zu
können. Das hatte etwas Unheimliches an sich, dieses Gesichtverdecken
mitten im Winter, zu einer Zeit, wo es wahrhaftig keine Lust konnte
genannt werden, es sich hier im Schnee bequem zu machen. Der Mann lag
unbeweglich und schon fing es an, immer dunkler im Walde zu werden.
Simon studierte des Mannes Beine, Schuhe, Kleider. Die Kleider waren
hellgelb, es war ein Sommeranzug, ein ganz dünner und fadenscheiniger.
Simon zog den Hut von des Mannes Gesicht, es war erstarrt und sah
schrecklich aus, und jetzt erkannte er auf einmal das Gesicht, es war
Sebastians Gesicht, kein Zweifel, das waren Sebastians Züge, das war
sein Mund, sein Bart, seine etwas breite, gedrückte Nase, seine
Augenbildungen, seine Stirn und seine Haare. Und er war hier erfroren,
ohne Zweifel, und er mußte schon etliche Zeit liegen, hier am Wege. Der
Schnee zeigte hier keine Fußspuren, es war also denkbar, daß er schon
lange liege. Gesicht und Hände waren längst erstarrt, und die Kleider
klebten an dem erfrorenen Leib. Sebastian mochte hier, durch große,
nicht mehr zu ertragende Müdigkeit, hingesunken sein. Allzukräftig war
er nie gewesen. Er ging immer in gebückter Haltung, als ertrüge er die
aufrechte nicht, als täte es ihm weh, seinen Rücken und seinen Kopf
stramm zu halten. Wenn man ihn ansah, empfand man, daß er dem Leben und
seinen kalten Anforderungen nicht gewachsen war. Simon schnitt
Tannenäste von einer Tanne und bedeckte den Körper damit, doch zog er
vorher noch ein kleines dünnes Heft aus der Rocktasche des Toten, das
dort hervorgeschaut hatte. Es schien Gedichte zu enthalten, Simon
unterschied die Schriftzeichen nicht mehr. Es war mittlerweile völlige
Nacht geworden. Die Sterne funkelten durch die Lücken der Tannen und der
Mond schaute in einem schmalen, zierlichen Reifen der Szene zu. »Ich
habe keine Zeit,« sagte Simon still vor sich, »ich muß mich beeilen, daß
ich die nächste Stadt noch erreiche, ich würde sonst keine Bangigkeit
verspüren, noch etwas längere Zeit bei diesem armen Kerl von Toten zu
verweilen, der ein Dichter und Schwärmer war. Wie nobel er sich sein
Grab ausgesucht hat. Mitten unter herrlichen, grünen, mit Schnee
bedeckten Tannen liegt er. Ich will niemanden davon Anzeige erstatten.
Die Natur sieht herab auf ihren Toten, die Sterne singen leise ihm zu
Häupten, und die Nachtvögel schnarren, das ist die beste Musik für
einen, der kein Gehör und kein Gefühl mehr hat. Deine Gedichte, lieber
Sebastian, will ich in die Redaktion tragen, wo man sie vielleicht lesen
und dem Abdruck übergeben wird, damit von dir wenigstens dein armer,
funkelnder, schönklingender Name der Welt erhalten bleibt. Eine
prachtvolle Ruhe, dieses Liegen und Erstarren unter den Tannenästen, im
Schnee. Das ist das beste, was du tun konntest. Die Menschen sind immer
geneigt, derartigen Käuzen, wie =du= einer warst, weh zu tun und ihre
Schmerzen zu verlachen. Grüße die lieben, stillen Toten unter der Erde
und brenne nicht zu sehr in den ewigen Flammen des Nichtmehrseins. Du
bist anderswo. Du bist sicher an einem herrlichen Ort, du bist jetzt ein
reicher Kerl, und es verlohnt sich, die Gedichte eines reichen,
vornehmen Kerls herauszugeben. Lebe wohl. Wenn ich Blumen hätte, ich
schüttete sie über dich aus. Für einen Dichter hat man nie Blumen genug.
Du hattest zu wenig. Du erwartetest welche, aber du hörtest sie nicht
über deinem Nacken schwirren, und sie fielen nicht auf dich nieder, wie
du geträumt hast. Siehst du, ich träume auch viel, und viele, viele
Menschen, denen man es nicht zutrauen würde, träumen, aber du glaubtest,
ein Recht zu haben auf das Träumen, während wir anderen nur träumen,
wenn wir uns recht elend vorkommen, aber froh sind, es einstellen zu
können. Du verachtetest deine Mitmenschen, Sebastian! Aber, Lieber, das
darf sich nur ein Starker erlauben, und du warst schwach! Doch ich will
nicht dein heiliges Grab gefunden haben, um es zu beschmähen. Was weiß
ich, was du gelitten hast. Dein Tod unter den offenen Sternen ist schön,
ich werde das lange nicht vergessen können. Ich will Hedwig dein Grab
unter diesen edlen Tannen schildern, und ich werde sie damit weinen
machen. Die Menschen werden wenigstens noch deine Gedichte lesen, wenn
sie mit dir doch einmal nichts anzufangen wußten.« -- Simon schritt von
dem Toten weg, warf einen letzten Blick auf das Häufchen Tannenäste,
unter denen jetzt der Dichter schlief, wandte sich mit einer schnellen
Drehung seines schmiegsamen Körpers von dem Bilde ab und lief, was er
konnte, im Schnee weiter, den Berg hinauf. Er mußte also zum zweiten Mal
den Berg bei Nacht ersteigen, aber dieses Mal schauerten Leben und Tod
heiß durch seinen ganzen Körper. Er hätte jubeln mögen in dieser
eisigen, sternengeschmückten Nacht. Das Feuer des Lebens trug ihn vom
sanften, blassen Bild des Todes stürmisch hinweg. Er spürte keine Beine
mehr, nur noch Adern und Sehnen, und diese gehorchten biegsam seinem
vorwärtseilenden Willen. Droben auf der freien Bergmatte genoß er den
erhabenen Anblick der herrlichen Nacht erst ganz, und er lachte laut
auf, wie ein Knabe, der noch nie einen Toten gesehen hat. Was war denn
ein Toter? Ei, eine Mahnung ans Leben. Weiter gar nichts. Eine köstliche
zurückrufende Erinnerung und zugleich ein Treiben in die ungewisse,
schöne Zukunft. Simon spürte, daß seine Zukunft noch recht weit und
offen vor ihm liegen mußte, wenn er so ruhig mit Toten umgehen konnte.
Es machte ihm eine tiefe Freude, diesen armen, unglücklichen Menschen
noch einmal gesehen zu haben und so geheimnisvoll angetroffen zu haben,
so schweigend, so beredt, so dunkel und ruhig und so vornehm fertig.
Jetzt gab es gottlob über diesen Dichter nichts mehr zu lächeln und zu
naserümpfen, bloß noch zu fühlen. -- Simon schlief herrlich in einem
Gasthausbett, nämlich in demselben Gasthaus, dessen Tanzsaal sein Bruder
bemalt hatte. Den andern Tag benutzte er zu frischem Laufen auf
beschwerlichen Straßen voll Schnee. Er sah immer einen blauen Himmel
über sich, Häuser zu beiden Seiten der Straßen, schöne große Häuser die
auf eine wohlhabende und stolze Landbevölkerung schließen ließen, Hügel
mit schwarzen, zerzausten Bäumen besetzt, in die der blaue Himmel
hineinkroch, und Menschen, die an ihm vorübergingen und solche, die mit
ihm die gleiche Richtung liefen, die er aber überholte; denn er lief,
während die andern gemächlich gingen. Als es Nacht wurde, ging er durch
ein stilles, enges, sonderbares Tal, ganz von Wäldern umschlossen und
voll Windungen und seltsamer Ausblicke in erhöhte Dörfer, wo die
Nachtlichter brannten und die Menschen spärlich umherliefen. Da ihn nun
doch eine ernstliche Müdigkeit zu plagen anfing, kehrte er im nächsten
Gasthaus wieder ein. Die Wirtsstube war mit Menschen angefüllt, und die
Wirtin sah eher wie eine vornehme Frau aus feinem Haus aus als wie eine
Wirtin, die Gäste bediente. Er verlangte schüchtern, was er begehrte,
worauf ihn die schöne Frau mit seltsamen Blicken maß. Er aber war so
müde, so zerschlagen, daß er nur froh war, als er bald darauf in sein
Zimmer geführt wurde, wo er sich mit Wonne in ein eiskaltes Bett legte,
um sogleich einzuschlafen. Der dritte Tag brachte ihn in eine schöne,
mächtige Stadt, wo er nur ein Geschäft hatte: einen Redakteur ausfindig
zu machen, um Sebastians Gedichte abzugeben. Vor dem ihm bezeichneten
Hause angekommen, fiel ihm ein, daß es nicht klug wäre, selber
hineinzugehen und Gedichte eines Totaufgefundenen abzugeben. Er schrieb
daher auf den Umschlag des blauen Heftes den Titel: »Gedichte eines im
Tannenwald erfroren aufgefundenen jungen Mannes zur Veröffentlichung,
wenn es möglich ist«, und warf das Heft in den großen, plumpen
Briefkasten, in den es hinunterprallte. Dieses getan machte sich Simon
neuerdings auf den Weg. Das Wetter war milder geworden, Schnee wirbelte
in großen, nassen Flocken auf die Straßen, zu denen hinaus es ihn
drängte. Die unbekannten Menschen dieser Stadt sahen ihn so sonderbar
groß an, daß er beinahe glauben mußte, sie kennten ihn, den völlig
Fremden. Bald kam er zur eigentlichen Stadt hinaus in die vornehme
Villenvorstadt, und zu dieser auch wieder hinaus, in einen Wald, auf ein
Feld, auf ein anderes, wieder in einen kleineren Wald, dann in ein Dorf,
in ein zweites und drittes, bis es Nacht wurde.



Achtes Kapitel.


In dem kleinen Dorfe schneite es am Morgen. Die Schulkinder kamen alle
mit nassen, verschneiten Schuhen, Hosen, Röcken und Köpfen und Kappen in
die Schule. Sie brachten Schneeduft in die Schulstube und allerhand
Geröll von den schmutzigen, aufgeweichten Wegen. Die Schar der Kleinen
war infolge des Schneefalles zerstreut und angenehm aufgeregt, zu
Aufmerksamsein wenig geneigt, worüber die Lehrerin ein wenig unmutig
wurde. Sie wollte eben mit Religion beginnen, als sie einen dunklen,
schlanken, beweglichen, gehenden Fleck vor dem Fenster gewahrte, einen
Fleck, den kein Bauer hätte machen können, denn er war zu zierlich und
beweglich. Es flog nur so an der Fensterreihe vorüber, und auf einmal
sahen die Kinder ihre Lehrerin, alles vergessend, zur Stube hinauseilen.
Hedwig trat nur zur Schulstubentür hinaus, um ihrem Bruder, der dicht
davor stand, in die Arme zu fliegen. Sie weinte und küßte Simon und
führte ihn in eines von den zwei Zimmern, die ihr zur Verfügung standen.
»Du kommst unerwartet, aber es ist gut, daß du kommst,« sagte sie, »lege
deine Sachen hier ab. Ich muß noch Schule halten, aber ich will die
Kinder heute eine Stunde früher nach Hause schicken. Das wird nichts
ausmachen. Sie sind heute doch sonst so unaufmerksam, daß ich einen
Grund habe, böse zu sein und sie früher abzufertigen.« -- Sie ordnete
sich ihr Haar, das bei der heftigen Begrüßung ziemlich aus den Fugen
geraten war, sagte Auf Wiedersehen zu ihrem Bruder und ging wieder
zurück an ihr Geschäft.

                   *       *       *       *       *

Simon fing an, sich auf dem Lande einzurichten. Seine Koffer kamen mit
der Post nach, worauf er alle seine Sachen auspackte. Vieles besaß er
nicht mehr, ein paar alte Bücher, die er nicht hatte veräußern oder
weggeben mögen, Wäsche, einen schwarzen Anzug und einen Knäuel von
Kleinigkeiten wie Bindfaden, Seidenreste, Krawatten, Schuhbändel,
Kerzenstümpchen, Knöpfe und Fadenteile. Man lieh sich bei der
Nachbarsschullehrerin eine alte eiserne Bettlade, dazu eine
Strohmatratze, das genügte, um auf dem Lande schlafen zu können. Diese
Bettstelle wurde auf einem breiten Schlitten in der Nacht vom nächsten
Dorf herbeigeführt. Hedwig und Simon setzten sich auf das sonderbare
Fahrzeug; der Sohn der befreundeten Lehrerin, ein strammer Bursche, der
eben den Militärdienst verlassen hatte, leitete den Schlitten bergab in
die Einsenkung, in der sich das Schulhaus befand. Man lachte viel. Das
Bett wurde im zweiten Zimmer aufgeschlagen und mit dem nötigen Bettzeug
versehen und so für einen Menschen hergerichtet, der keine zu
überspannten Ansprüche an ein Bett machte, was auch Simon keineswegs
tat. Hedwig dachte im Anfang eine Weile: »Da kommt er nun zu mir, weil
er sonst nirgendswo anders zu leben hat in der weiten Welt. Dafür bin
ich ihm gut. Wenn er wüßte, wo schlafen und essen, er würde sich sicher
seiner Schwester nicht erinnert haben.« Aber sie verscheuchte diesen
Gedanken bald, der nur in einem Anflug von Trotz entstand, der
ausgedacht wurde, weil er so kam, nicht, weil man ihn gerne dachte.
Simon seinerseits schämte sich ein wenig, die Güte seiner Schwester in
solcher Weise zu beanspruchen, aber auch nicht sehr lange; denn die
Gewohnheit schluckte diese Empfindung bald auf, er gewöhnte sich daran,
ganz einfach! Geld hatte er wirklich keines mehr, aber er ließ sofort,
in den ersten Tagen schon, ein Schreiben an alle umliegenden Notare
ergehen, mit der Bitte, ihm, einem gewandten Schönschreiber, Arbeiten
zuzuweisen. Und was brauchte man auf dem Lande Geld! Viel jedenfalls
nicht. Nach und nach sank jede empfindliche Scheidewand zwischen den
beiden Bewohnern des Schulhauses, sie lebten, als wenn sie immer
miteinander gelebt hätten, und teilten Entbehrung sowie Lustbarkeiten
fröhlich miteinander.

Es war Vorfrühling. Man durfte schon mit weniger Zagheit die Fenster
offen stehen lassen und brauchte den Ofen nur noch leichter zu heizen.
Die Kinder brachten Hedwig ganze Sträuße von Schneeglöckchen mit in die
Schule, so daß man in Verlegenheit geriet, wohin sie alle setzen, da
nicht genug kleine Gefäße vorhanden waren. Die Ahnung des Frühlings
duftete beklemmend in der Dorfluft. In der Sonne gingen schon Menschen
spazieren. Simon war den einfachen Leuten bekannt geworden, ganz
spurlos, so ganz nebenher, man fragte nicht viel, wer er sei, es hieß,
es sei einer der Brüder der Lehrerin, das genügte, um ihm hier Achtung
zu verschaffen. Er wird einige Zeit zu Besuch bleiben, dachte man. Simon
ging ziemlich abgerissen umher, aber mit einer gewissen leichten,
kleidsamen Eleganz, die die Ärmlichkeit der Stoffe, die er trug, hübsch
verdeckte. Seine zerrissenen Schuhe machten nicht viel Aufsehen. Simon
fand es reizend, auf dem Lande in defekten Schuhen zu gehen; denn darin
spürte er eine der hervorragenden Annehmlichkeiten des ländlichen
Lebens. Wenn er Geld bekäme, würde er leise daran denken, das Schuhwerk
aufbessern zu lassen, nur ganz gemach und leise! Vielleicht würde er
vierzehn Tage lang hinzaudern damit; denn was kommt es auf dem Lande auf
vierzehn Tage an! In der Stadt mußte man alles schnell tun, aber hier
hatte man die schöne Verpflichtung, alles von einem Tag auf den anderen
zu verschieben, ja, es verschob sich ganz von selber; denn die Tage
kamen so still und ehe man es denken konnte, war der Abend schon wieder
da, dem eine innige Nacht folgte, ein wahrer Schlaf von einer Nacht, den
der Tag leise wieder aufweckte, sorgsam und zärtlich. Simon liebte auch
die meist schmutzigen Dorfwege, die kleinen, die über Geröll führten,
und die großen, in denen man im Kot versank, wenn man nicht aufpaßte.
Aber das war es ja eben! Man hatte Gelegenheit, aufzupassen, man konnte
den Städter herauszeigen, der daran gewöhnt war, mit Sorgfalt und etwas
posiertem Schrecken vor dem Schmutz eine Straße zu passieren. Die
älteren Dorfweiber konnten denken, das sei ein reinlicher und achtsamer
junger Mann und die Mädchen konnten lachen über die weiten Sprünge, mit
denen Simon über Gräben und Pfützen hinübersetzte. Der Himmel war
vielmals dunkel umwölkt, mit Wolken besetzt, die dick aufgeblasen waren,
und köstliche Stürme wehten oft und schüttelten den Wald und rasten über
das Moos, wo die Leute arbeiteten, die Erde stachen und die Pferde
geduldig daneben standen. Oft auch lächelte der Himmel, daß alle
Menschen, die es sahen, augenblicklich mitlächeln mußten. Hedwigs
Gesicht nahm einen frohlockenden Ausdruck an, der Lehrer, der im oberen
Stock wohnte, steckte seine Brille neugierig zum Fenster hinaus und
genoß auf seine Weise das Entzücken eines freundlichen Himmels. Simon
hatte sich in einem kleinen Laden eine billige Pfeife und dazu Tabak
gekauft. Es erschien ihm schön und angemessen, auf dem Lande nur Pfeife
zu rauchen, denn eine Pfeife konnte man stopfen, und dieses Stopfen war
eine Bewegung, die zum offenen Feld, zum Wald paßte, wo er beinahe den
ganzen hellen Tag verbrachte. Am warmen Mittag lag er im hellgelben Gras
unter dem herrlichen sanften Himmel, am Flußufer hingestreckt und durfte
nicht nur, sondern mußte sogar träumen. Aber er träumte von nichts
Weitem, Entfernterem und Schönerem, sondern er sann und träumte
glücklich in seine Umgebung hinein; denn er wußte von nichts Schönerem.
Hedwig, die Nahe, war der Gegenstand seiner Träume. Er hatte die ganze
übrige Welt vergessen und der Pfeifentabak, den er rauchte, führte ihn
nur wieder ins Dorf, zu dem Schulhause, zu Hedwig. Er dachte von ihr:
»Sie fährt mit einem in einem Nachen, der sie entführt hat. Der See ist
klein wie ein Parkteich. Sie sieht immer in die großen, schwarzen,
düsteren Augen des Mannes, der unbeweglich im Nachen sitzt, und denkt:
»Wie doch seine Augen ins Wasser blicken. Mich sieht er nicht an. Aber
das ganze, weite Wasser blickt mich mit seinen Augen an!« Der Mann hat
einen struppigen Bart, wie die Räuber Bärte zu tragen pflegen. Dieser
Mann kann galant sein, wie keiner. Er kann die Galanterie bis zum
Verlust seines Lebens treiben, ohne mit einer Wimper zu zucken und gewiß
ohne die Hand aufs Herz zu legen und sich mit seiner Tat zu brüsten.
Dieser Mann würde sich nie brüsten. Er hat eine warme, wundervolle
Männerstimme, aber er gebraucht sie nie, um eine Artigkeit zu sagen. Nie
kommt eine Schmeichelei über seine stolzen Lippen und seine Stimme
verdirbt er mit Absicht, daß sie rauh und herzlos töne. Aber das Mädchen
weiß, daß er ein grenzenlos gutes Herz hat, und wagt es dennoch nicht,
an sein Herz mit einer Bitte anzuschlagen. Eine Saite tönt über das
Wasser mit langen Tonwellen. Hedwig meint sterben zu sollen in dieser
tönenden Luft. Der Himmel über dem Wasser ist so, wie dieser leichte,
wasserfarbene Himmel ist, der jetzt über mir schwebt. Ein schwebender,
hängender See da oben, das paßt gut. Die Parkbäume im Bilde entsprechen
den hohen, schwankenden Bäumen in dieser Gegend. Sie haben etwas
Parkartiges, Herrschaftliches. Im Bilde jedoch ist alles gedrängter und
zusammengesetzter, und ich schweife jetzt wieder darein hinüber, ohne
den stillen Zusammenhang mit mir und dieser Gegend weiter zu würdigen.
Der Mann erfaßt nun das Ruder und gibt damit dem Nachen einen
rücksichtslosen Stoß. Hedwig fühlt, daß er seiner eigenen Wärme und
Liebe in solcher Weise entgegenhandeln könnte. Wenn er Liebe und
Zärtlichkeit in sich spürt, ist er beleidigt und er straft sich
unbarmherzig, daß er sich erlaubt hat, ein weiches Gefühl in der Brust
gehegt zu haben. So unnatürlich stolz ist er. Kein Mann, sondern eine
Mischung von Knabe und Riese. Einen Mann verletzt es nicht, sich von
Empfindungen überwältigt zu finden, aber einen Knaben, der mehr sein
will als ein aufrichtig fühlender Mann, der ein Riese sein will, der nur
stark sein will und nicht auch zuweilen schwach. Ein Knabe besitzt
Tugenden der Ritterlichkeit, die der vernünftig und reif denkende Mann
immer zur Seite wirft als unnütze Beigaben zum Feste der Liebe. Ein
Knabe ist weniger feige als ein Mann, weil er weniger reif ist, denn die
Reife macht leicht niederträchtig und selbstisch. Man muß nur die
harten, bösen Lippen eines Knaben betrachten: der ausgesprochene Trotz
und das bildliche Versteifen auf ein einmal sich selber im stillen
gegebenes Wort. Ein Knabe hält Wort, ein Mann findet es passender, es zu
brechen. Der Knabe findet Schönheit an der Härte des Worthaltens
(Mittelalter) und der Mann findet Schönheit darin, ein gegebenes
Versprechen in ein neues aufzulösen, das er männlich verspricht zu
halten. Er ist der Versprecher, jener ist der Vollstrecker des Wortes.
Locken um die jugendliche Stirne und einen Todestrotz auf den
geschwungenen Lippen. Augen wie Dolche. Hedwig zittert. Die Parkbäume
sind so weich, sie verschwimmen in der hellblauen Luft. Dort unter den
Bäumen sitzt der Mann, den sie verachtet. Den, der bei ihr ist und der
lieblos ist, muß sie lieben, trotzdem er nichts verspricht. Er hat noch
den Mund zu keinem Versprechen aufgetan, hat sich erlaubt, sie zu
entführen, ohne ihr zum Ersatz auch nur eine Zärtlichkeit ins Ohr
hineinzuflüstern. Flüstern, das ist des andern Sache, der da versteht es
nicht. Und wenn er es auch verstünde, so würde er es doch nie tun, oder
zu einer Gelegenheit tun, wo andere nicht mehr daran denken, noch etwas
zu äußern. Aber sie gibt sich ihm, ohne zu wissen, warum. Sie hat nichts
davon, darf sich keine Hoffnungen machen, wie Weiber sie sich gerne
machen, sie darf nur auf schonungslose Behandlung gefaßt sein, auf die
wilden Launen, womit ein Herrscher mit seinem Besitztum umzugehen
pflegt. Aber sie fühlt sich beglückt, wenn er mit einer Stimme zu ihr
spricht, barsch und achtlos, als ob sie schon die Seinige wäre. Sie ist
es ja, und das weiß dieser Mann. Er achtet nicht mehr, was schon sein
ist. Ihre Haare sind ihr aufgegangen, es sind wundervolle Haare, die an
ihren schmalen, rötlichen Wangen wie flüssige Stoffe niederstürzen.
»Binde sie,« befiehlt er, und sie bemüht sich, seinem Befehl zu
gehorchen. Sie gehorcht mit Entzücken, und er sieht es natürlich, auch
wenn er die Augen schlösse; denn dann würde er einen Seufzer von ihr
hören wie ihn nur Glückliche ausstoßen können, und solche, die dabei
hastig eine Arbeit verrichten, die ihren Händen vielleicht beschwerlich
fällt, aber ihren Herzen schmeichelt. Sie steigen aus dem Nachen hinaus
und treten ans Land. Das Land ist weich und senkt sich leicht unter den
Tritten, wie ein Teppich, oder wie mehrere aufeinandergelegte Teppiche.
Das Gras ist das gelbliche, dürre vom Vorjahre, wie es hier, wo ich
meine Pfeife rauche, zu sehen ist. Da erscheint plötzlich ein Mädchen,
ein ganz kleines, blasses, düster blickendes Mädchen auf der Szene. Es
scheint eine Prinzessin zu sein; denn ihre Kleider sind prachtvoll und
in die Breite gebauscht in einem schweren Bogen, aus dem die Brust wie
eine kleine, prangende Knospe herausspringt. Die Kleider sind dunkelrot,
sie haben das getrocknete Rot des Blutes. Ihr Gesicht ist von einer
durchsichtigen Blässe, es hat die Farbe des Winterabendhimmels in den
Gebirgen. »Du kennst mich!« Mit diesen Worten wendet sie sich an den
betroffenen Mann, der starr dasteht. »Du wagst es, mich noch
anzublicken? Geh, töte dich. Ich befehle es dir!« So spricht sie zu ihm.
Der Mann macht Miene zu gehorchen. Was für eine Miene? Ja, eine solche
Miene, die man macht, wenn etwas Unabänderliches getan werden soll. Man
pflegt dabei eine Grimasse zu schneiden. Das Gesicht zuckt und man muß
es zerbeißen und einkneten mit der ganzen Willenskraft. Es will
auseinanderreißen. Ein Stück Nase will abfallen. Ähnliches geschieht
jedenfalls bei solchen Gelegenheiten. Aber weiter mag ich mit dem tollen
Mann nicht Miene machen, mich zu töten; denn es müßte mit einem langen
Messer geschehen, und ich glaube, ich habe nur eine Tabakspfeife und
kein Messer. Mein Traum hat mir im Anfang gefallen, aber jetzt, merke
ich, will er ausarten und das paßt nicht zu Hedwig; denn Hedwig ist
sanft und wenn sie leidet, leidet sie auf schönere und stillere Weise.
Meinen Mann da im struppigen Bart würde sie schön auslachen, wenn er ihr
so frech käme. Die Landschaft, die ich da gemalt habe, war indessen sehr
nett, aber auch nur deshalb, weil ich sie in den großen Zügen dieser
natürlichen Gegend hier herum entnommen habe. Man darf beim Träumen nie
den Boden des Natürlichen aufgeben, auch bei Menschen nicht, denn sonst
gelangt man sehr leicht zu dem Punkt, wo man eine der Figuren sprechen
läßt: »Geh, töte dich.« Und dann muß einer Miene machen, und das Machen
einer Miene ist lächerlich und ist geeignet, den schönsten Traum zu
verderben!« --

Simon ging nach Hause. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, jeden
Tag gegen Abend zu einer bestimmten Zeit nach Hause zu schlendern, den
Blick meist zu der braunen, schwärzlichen Erde gesenkt, um zu Hause den
Tee zu kochen, und hatte im Teekochen eine Handfertigkeit bekommen, die
stets das richtige Maß traf, denn es kam darauf an, nicht zu wenig und
nicht zu viel von der feinen, wohlriechenden Pflanze für einmal zu
gebrauchen, das Geschirr stets ziemlich sauber zu halten und es in
appetitlicher und anmutiger Art auf den Tisch zu stellen, das Wasser auf
der Weingeistflamme nicht zerkochen zu lassen und es mit dem Tee in
vorgeschriebener Weise zu vermischen. Für Hedwig war das eine kleine
Erleichterung, da sie jetzt nur schnell aus der Schulstube hinaus zum
Tee zu eilen brauchte, um wieder zur Arbeit zu gehen. Am Morgen, nach
dem Aufstehen, brachte Simon sein Bett in Ordnung, ging dann in die
Küche und bereitete den Kakao, und zwar zu Hedwigs Vergnügen sehr
schmackhaft; denn er lauerte auch bei dieser Arbeit auf den richtigen
Kniff, der immer einer Verrichtung, und wäre sie noch so geringfügig,
die nötige Vollendung gibt. Auch übernahm er es, und zwar ganz wie von
selbst, ohne jede Vorstudien oder Anstrengungen, den Ofen zu feuern und
das Feuer zu unterhalten, Hedwigs Zimmer zu reinigen, wobei ihm die
Gewandtheit, mit der er einen langen Besen zu handhaben wußte, sehr
zustatten kam. Die Fenster öffnete er, um frische Luft in die Stube
hineinzulassen, aber er schloß sie, wenn es ihm Zeit schien, auch
gehörig wieder zu, damit er eine warme und zugleich angenehm duftende
Stube bekäme. Überall im Zimmer, in kleinen Töpfen, blühten die Blumen
weiter, die der Natur draußen entrissen wurden, und verbreiteten Duft in
die Enge der vier Wände. Die Fenster hatten einfache aber zierliche
Gardinen die zu der Helligkeit und Freundlichkeit im Zimmer vieles
beitrugen. Am Boden lagen warme Teppiche, die Hedwig aus
zusammengerafften Stoffresten von armen Zuchthäuslern hatte verfertigen
lassen, die dergleichen Arbeiten vortrefflich ausführten. Ein Bett stand
in einer Ecke und in der andern ein Piano, dazwischen ein altes Sofa mit
geblümtem Tuchüberzug, ein genügend großer Tisch davor, Stühle daneben;
und dann befand sich im Zimmer noch ein Waschtisch, ein kleiner
Schreibtisch mit Schreibunterlage und Büchergestell, das vollbesetzt mit
Büchern war, eine kleine umgestürzte Kiste am Boden, mit weichem Tuch
überzogen zum Sitzen und Lesen, da manchmal beim Lesen das Bedürfnis
entstand, nahe am Boden zu sein und sich orientalisch vorzukommen,
weiter ein Nähtischchen mit Nähkörbchen, in denen sich all das
wunderliche Zeug befand, das einem Mädchen mit häuslichen Sitten
unentbehrlich ist, ein runder merkwürdiger Stein mit Poststempel und
Marke versehen, ein Vogel, ein Haufen Briefe und Ansichtskarten und an
der Wand ein Horn zum Blasen, ein Becher zum Trinken, ein Stock mit
einem großen Hacken, ein Rucksack mit Feldflasche und eine Schwanzfeder
von einem Falken. An den Wänden hingen außerdem noch Bilder, die Kaspar
gemalt hatte, darunter eine Abendlandschaft mit Wald, ein Dach, von
einem Fenster aus gesehen, eine neblige, graue Stadt (besonders schön
für Hedwig), eine Flußpartie in üppigen Abendfarben, ein Feld im Sommer,
ein Ritter Don Quichote und ein Haus, das so an einen Hügel gedrückt
war, daß man wohl mit einem Dichter sprechen konnte: »Da hinten liegt
ein Haus.« Auf dem Piano, dessen Deckel mit einem Seidentuch überdeckt
war, befand sich eine Büste von Beethoven in grünlichem Bronceton,
einige Photographieen und ein kleines, feines Schmuckkästchen ohne
Inhalt, eine Erinnerung an die Mutter. Ein Vorhang, der wie ein
Bühnenvorhang aussah, trennte beide Zimmer voneinander und beide
Schlafenden. Am Abend sah das Zimmer der Lehrerin besonders traulich
aus, wenn die Lampe angezündet wurde und die Läden zugedrückt wurden;
und am Morgen weckte die Sonne dort eine Schläferin, die nicht gern aus
dem Bett herauswollte und doch am Ende mußte.

Die Notare ließen Simon im Stich, keiner ließ etwas von sich hören.
Infolgedessen sah er sich gedrängt, auf andere Weise etwas Geld zu
verdienen, womit er hoffte, seiner Schwester den guten Willen zu zeigen,
auch etwas zum Haushalte mitzusteuern. Er nahm ein Blatt Papier zur Hand
und schrieb darauf:

    =Landleben.=

Ich bin hier mit dem Schnee in ein Haus auf dem Lande gekommen, und
obschon ich nicht der Herr dieses Hauses bin, noch die Absicht hege, es
zu werden, kann ich mich doch als solcher fühlen und bin vielleicht
glücklicher als der Besitzer einer Staatswohnung. Nicht einmal das
Zimmer, in dem ich wohne, gehört mir, sondern einer sanften, lieben
Lehrerin, die mich beherbergt und mir, wenn ich hungrig bin, zu essen
gibt. Ich bin gerne ein solcher Kerl, der von anderer Menschen
freundlicher Gnade abhängt, weil ich überhaupt gerne von jemandem
abhängig bin, um den Jemand lieb zu haben und aufzuhorchen, ob ich seine
Güte noch nicht verscherzt habe. Man muß ein eigenes Betragen für diesen
Zustand der holdesten aller Unfreiheiten annehmen, ein Benehmen zwischen
Frechheit und zarter, leiser, natürlicher Aufmerksamkeit, und ich
verstehe das vortrefflich. Man darf vor allen Dingen den Gastgeber nie
fühlen lassen, daß man ihm dankbar ist; damit zeigte man eine
Schüchternheit und Feigheit, die den Gebenden beleidigen müßte. Im
Herzen betet man den Gütigen an, der einen unter das Dach ruft, aber es
spräche von wenig Empfindung, wollte man ihm so vorlaut den Dank zeigen,
den er gar nicht empfangen will, da er nicht gegeben hat und noch gibt,
um irgend etwas Bettelhaftes dafür einzuheimsen. Dank unter gewissen
Umständen ist einfach Bettel. Weiter nichts. Und dann noch eines: Auf
dem Lande ist der Dank mehr schweigend und still als geschwätzig. Der
zum Dank Verpflichtete hat seine Art Betragen, weil er sieht, daß sein
Gegenstück ebenfalls so eine Art hat. Feine Geber sind beinahe noch
schüchterner als der Nehmer, und sie sind froh, wenn die Nehmer
unbefangen hinnehmen, damit sie, die Geber, mit Anstand und ohne viel
Federlesens geben können. Meine Lehrerin ist übrigens meine Schwester,
aber dieser Umstand hinderte sie nicht daran, mich Tagedieb fortzujagen,
wenn sie den Wunsch dazu in sich verspürte. Sie ist tapfer und
aufrichtig. Sie hat mich mit einem Gemisch von Liebe und Mißtrauen
empfangen, freilich, denn sie mußte denken, daß der Lump von Bruder nur
daher gesegelt und gewackelt komme, zu ihr, der seßhaften Schwester,
weil er in Gottes Welt nicht mehr wußte, wohin! Das mußte etwas
Störendes und Verletzendes für sie haben, der ich, wenn es darauf ankam,
monate-, ja jahrelang keinen Brief geschrieben habe. Sie mußte ja
denken, daß ich nur komme, um meinen eigenen Leib zu pflegen, für den es
wahrhaftig zeitweise nicht schade wäre, wenn er geprügelt würde, und
nicht deshalb, um mit Sorgen eine Schwester aufzusuchen. Das hat sich
indessen geändert, die Empfindlichkeiten sind gestorben und wir leben
jetzt nicht mehr wie Blutsverwandte, sondern wie Kameraden zusammen, die
trefflich miteinander auskommen. Ach, auf dem Lande ist es zwei Menschen
leicht, gut miteinander auszukommen. Es gibt da eine Art, schneller alle
Heimlichkeiten und alles Mißtrauen abzuwerfen und eine Art, sich heller
und lustiger zu lieben, als in der gedrängten Stadt voll drängender
Menschen und Tagessorgen. Auf dem Lande kennt selbst der Ärmste weniger
Sorgen, als der viel weniger Arme in der Stadt; denn dort wird alles am
Gerede und Tun der Menschen gemessen, während hier die Sorge ruhig
weitersorgt und der Schmerz in Schmerzen seinen natürlichen Untergang
findet. In der Stadt geht alles darauf los, reich zu werden, deshalb
sind so viele, die sich bitter arm vorkommen, aber auf dem Lande wird,
wenigstens zum großen Teil, der Arme nicht durch den immerwährenden
Vergleich mit dem Reichtum verletzt. Er kann ruhig mit seiner Armut
weiteratmen; denn er hat einen Himmel, zu dem er aufatmen kann. Was ist
in der Stadt der Himmel! -- Ich selbst besitze nur noch ein kleines
Silberstück an Geld, und das muß für die Wäsche reichen. Auch meine
Schwester, die vor mir keinerlei Geheimnisse, als ganz unsagbare, hat,
gesteht mir, daß ihr Geld ausgegangen sei. Nun, wir sind ganz ruhig. Wir
bekommen saftiges Brot und frische Eier und duftenden Kuchen, soviel wir
nur wollen. Die Kinder bringen uns das alles, denen es die Eltern für
die Lehrerin mitgeben. Auf dem Lande weiß man noch zu geben, daß es
denjenigen ehrt, der nimmt. In der Stadt muß man sich nachgerade vor dem
Geben fürchten, weil es den Nehmer zu schänden angefangen hat, ich weiß
wahrhaftig nicht aus welchen Gründen, vielleicht, weil man in der Stadt
unverschämt wird dem gütigen Geber gegenüber. Man hütet sich da, ein
edles Mitempfinden für den Darbenden an den Tag zu legen und gibt nur
verstohlen, oder unter unschönen Reklamen. Welch eine heillose Schwäche,
sich vor den Armen zu fürchten und seinen Reichtum so selbst zu
verzehren, statt ihm den Glanz zu verleihen, den eine Königin bekommt,
wenn sie ihre Hand einer schlechten Bettlerin entgegenstreckt. Ich halte
es für ein Unglück, in der Stadt arm zu sein, weil man nicht bitten
darf, da man fühlt, daß das Geben voll Güte nicht an der Tagesordnung
ist. Eines bleibt wenigstens wahr: Lieber nicht geben und gar kein
Mitleiden mehr fühlen, als es unwillig tun, mit dem Bewußtsein, sich
einer Schwäche hingegeben zu haben. Auf dem Lande ist man nicht schwach,
wenn man gibt, sondern man will geben und gibt sich manchmal geradezu
eine Ehre, geben zu dürfen. Wer sich vor dem Geben hütet, wird
sicherlich einmal, wenn der Fall eintritt, daß er niedergeworfen von
Schicksalen aller Art wird, und bitten muß, schlecht bitten und
ungraziös und verlegen, also wirklich bettelhaft in Empfang nehmen. Wie
abscheulich von den mit Gütern Gesegneten, die Armen ignorieren zu
wollen. Besser, man peinige sie, zwinge sie zu Fronen, lasse sie Druck
und Schläge fühlen, so entsteht doch ein Zusammenhang, eine Wut, ein
Herzklopfen und das ist auch eine Art Verbindung. Aber sich in eleganten
Häusern, hinter goldenen Gartengittern verkrochen zu halten und sich zu
fürchten, den Hauch warmer Menschen zu spüren, keinen Aufwand mehr
treiben zu dürfen, aus Furcht, er könnte von den erbitterten Gedrückten
wahrgenommen werden, drücken und doch den Mut nicht besitzen, zu zeigen,
daß man ein Unterdrücker ist, seine Unterdrückten noch zu fürchten, sich
in seinem Reichtum weder wohl zu fühlen, noch andere wohl sein zu
lassen, unschöne Waffen zu gebrauchen, die keinen echten Trotz und
Mannesmut voraussetzen, Geld zu haben, nur Geld, und doch damit keine
Pracht: Das ist gegenwärtig das Bild der Städte, und es scheint mir ein
unschönes, der Verbesserung bedürftiges Bild zu sein. Auf dem Lande ist
es noch nicht so. Hier weiß der arme Teufel besser, woran er ist; er
darf mit einem gesunden Neid zu den Reichen und Wohlhabenden
emporblicken und man gestattet ihm das, denn das vermehrt die Würde
desjenigen, der von solchen Blicken betroffen wird. Die Sehnsucht, ein
eigenes Heim zu besitzen, ist auf dem Lande eine tiefbegründete und
reicht bis zu Gott hinauf. Denn hier, unter dem geöffneten weiten
Himmel, ist es eine Wonne, ein schönes geräumiges Haus zu besitzen. Das
ist in der Stadt nicht so. Dort kann der Emporkömmling neben dem Grafen
aus uraltem Geschlecht wohnen, ja, das Geld kann Wohnungen und heilige
alte Gebäude wegreißen, wie es will. Wer möchte in der Stadt Besitzer
eines Hauses sein? Das ist dort bloß ein Geschäft, nicht ein Stolz und
eine Freude. Die Häuser sind bis oben hinauf von den verschiedenartigsten
Menschen bewohnt, die alle aneinander vorübergehen, ohne
sich zu kennen, ohne den Wunsch zu äußern, sich kennen lernen zu
dürfen. Ist das ein Haus? Und lange, lange Straßen sind dort voll
solcher Häuser, denen man, um sie richtig zu bezeichnen, einen
merkwürdigen neuen Namen geben müßte. Auf dem Lande geschieht im Grunde
genommen auch mehr, als in der Stadt; denn dort liest man die
Geschehnisse kalt und gelangweilt aus der Zeitung, während sie hier von
Mund zu Mund fieberisch und atemlos erzählt werden. Vielleicht kommt auf
dem Lande jedes Jahr einmal etwas vor, aber dann war es ein Miterlebnis
für alle. Ein Dorf in allen seinen versteckten Winkeln ist überhaupt
fast immer belebter und mit Intelligenz gefüllter, als der Städter meist
anzunehmen beliebt. Wie manche alte Frau mit Gesichtszügen, die für
eines jeden Menschen Großmutter vielleicht passen würden, sitzt nicht
hinter der weißen Gardine eines Fensters und könnte Dinge von innigem
Zauber erzählen, und manches Dorfkind ist viel weiter vorgeschritten in
der Bildung des Gemütes und Verstandes als man gerne voraussetzen
möchte. Schon oft ist es vorgekommen, daß ein solches Dorfkind, wenn es
in die Stadtschule versetzt wurde, seine neuen Kameradinnen in Erstaunen
ob seines gut entwickelten Geistes gesetzt hat. Aber ich will die Stadt
nicht schmähen und das Land nicht über Gebühr preisen. Hier sind die
Tage nur so schön, daß man leicht die Stadt vergessen lernt. Sie wecken
eine stille Sehnsucht in die Weite, aber man möchte doch nicht
weitergehen. Es ist ein Gehen in allem und ein Kommen in allem. Wenn die
Tage Abschied nehmen, so geben sie die wundervollen Abende dafür, an
denen man spazieren geht, auf Wegen, die der Abend scheint entdeckt zu
haben, und die man entdeckt für den Abend. Die Häuser treten weiter
hervor, und die Fenster glänzen. Selbst wenn es regnet, bleibt es schön;
denn da denkt man, es ist gut, daß es regnet. Seit ich hierher gekommen
bin, ist es beinahe Frühling geworden und es wird immer mehr Frühling,
die Türen und Fenster dürfen offen gelassen werden, wir fangen an, den
Garten umzustechen, die andern haben es alle schon getan. Wir sind die
Spätesten, und das schickt sich auch für uns. Ein ganzes Fuder
schwarzer, feuchter, teurer Erde hat man bei uns abgeladen, diese Erde
muß mit der bereits vorhandenen Gartenerde vermengt werden. Das wird
eine Arbeit für mich geben, auf die ich mich, so unwahrscheinlich es
klingt, wenn ich es sage, freue. Ich bin kein geborner Faulenzer, nein,
ich bin nur ein Tagedieb, weil mich verschiedene Amtstuben und Notare
nicht beschäftigen wollen, weil sie keine Ahnung davon haben, was ich
ihnen nützen könnte. Ich klopfe alle Sonnabende die Teppiche aus, auch
eine Arbeit, und bin befleißigt, das Kochen zu lernen, auch ein Streben.
Nach dem Essen trockne ich das Geschirr ab und plaudere mit der
Lehrerin; denn es gibt vieles zu sagen und zu erörtern zwischen uns und
ich plaudere gern mit einer Schwester. Am Morgen kehre ich die Stube aus
und trage Pakete auf die Post, komme heim und sinne darüber nach, was
weiter zu tun ist. Gewöhnlich ist nichts zu tun und so gehe ich in den
Wald hinunter und sitze dort solange unter den Buchen, bis es Zeit ist,
oder bis ich glaube, daß es Zeit ist, wieder nach Hause zu gehen. Wenn
ich die Menschen arbeiten sehe, so schäme ich mich unwillkürlich, keine
Beschäftigung zu haben, aber ich finde, daß ich nicht mehr tun kann, als
das eben empfinden. Der Tag kommt mir vor wie mir zugeworfen von einem
gütigen Gott, der gern einem Taugenichts etwas hinwirft. Mehr als
arbeiten wollen und eine Arbeit ergreifen, sobald ich eine vor mir sehe,
verlange ich nicht von mir, da ich sehe, daß es so ganz gut geht. Das
paßt nämlich wundervoll zum Leben auf dem Lande. Man darf hier nicht
allzuviel tun, sonst verlöre man den Überblick über das schöne Ganze,
verlöre den Anstand des Zuschauenden, der nun einmal auch in der Welt
sein muß. Der einzige Schmerz wird mir von meiner Schwester bereitet,
der ich die Schuld nicht abzahlen kann und die ich mühsam ihre saure
Pflicht erfüllen sehe, während ich träume. Die spätesten Zeiten werden
mich strafen für diese Schlenderei, wenn es die früheren nicht tun, aber
ich glaube, ich bin meinem Gott angenehm so; Gott liebt die Glücklichen,
er haßt die Traurigen. Meine Schwester ist niemals lange traurig; denn
ich heitere sie fortwährend auf und gebe ihr zu lachen, indem ich mich
vor ihr lächerlich mache, worin ich Talent habe. Aber es ist auch nur
meine Schwester, die über mich lacht, in deren Augen ich eine
freundliche Komik besitze, den andern gegenüber benehme ich mich mit
Würde, wenn auch nicht steif. Man hat die Pflicht, nach außen hin sein
Dasein durch ein ernsthaftes Betragen zu rechtfertigen, wenn man nicht
als Gauner gelten will. Das Landvolk ist sehr empfindlich für das
Benehmen junger Leute, die es gerne gesetzt, zuvorkommend und bescheiden
sehen will. Ich schließe ab und hoffe, mit diesem Aufsatz einiges Geld
verdient zu haben, wenn nicht, so hat es mich doch lebhaft interessiert,
ihn zu schreiben, und einige Stunden sind mir über dem Schreiben
dahingeflossen. Einige Stunden? Jawohl! Denn auf dem Lande schreibt man
langsam, man wird öfters unterbrochen, die Finger sind ungelenkiger
geworden und die Gedanken wollen auch in ländlicher Weise denken. Lebt
wohl Städter!



Neuntes Kapitel.


Simon trug den Brief zur Post. Am nächsten Sonntag erschien Klaus, der
ältere Bruder, zu Besuch. Es war ein regnerischer Tag, es fror einen, zu
sehen, wie die kalten Regentropfen die schon erwachten Blüten
peitschten. Klaus machte ein ziemlich erstauntes Gesicht, als er bei
seiner Schwester den Simon eingerichtet sah, den er irgendwo im Ausland
vermutet hatte, doch blieb er so freundlich, als er nur vermochte; denn
er mochte den Sonntag nicht verderben. Sie blieben alle drei ziemlich
still, standen sich oft gegenüber, ohne zu sprechen, und schienen nach
Worten zu suchen. Mit Klaus kam eine gewisse nachdenkliche Befremdung in
die Wohnung Hedwigs hinein. Man drehte und fand allerlei, das allerdings
nicht am Platze war. Der Gegenstand war natürlich Simons Hiersein. Klaus
wollte heute keine Vorwürfe machen, obgleich es ihn wahrlich lebhaft
genug dazu antrieb, aber er vermied die entzweiende Bemerkung. Er sah
seinen Bruder fragend und bedeutsam an, als wolle er sagen: »Ich bin
erstaunt über dein Betragen. Sollte man glauben, daß du ein erwachsener
Mensch bist. Ist es ehrenhaft für dich, die Lage deiner Schwester dazu
zu benutzen, um den Müßiggänger zu spielen? Wahrlich, keine Ehre, das!
Ich würde es dir auch offen heraussagen, aber ich schone Hedwig, die ich
dadurch verletzte. Ich will nicht den Sonntag verderben!« Simon verstand
ihn schon. Er wußte ganz genau, was dieser Blick, diese steife,
unnatürliche Wärme beim Wiedersehen, dieses Schweigen und Verlegensein
bedeuteten. Er war nur froh, daß Klaus schwieg; denn er hätte antworten
müssen, was ihm längst zuwider war, als Rechtfertigung vorzubringen.
Freilich, freilich! Verdammenswert war seine Lage für einen jungen Mann,
wie er war, und sein Betragen gewiß nicht zu entschuldigen. Aber schön
war es auch, hier zu sein, schön, schön. Plötzlich von Weichheit
ergriffen, sagte er zu Klaus: »Ich weiß wohl, was und wie du denkst über
mich, aber ich schwöre dir, daß es bald aufhört. Ich glaube, du kennst
mich ein wenig. Glaubst du mir?« Klaus reichte ihm die Hand und der
Sonntag war gerettet. Es wurde bald zu Mittag gegessen, und Hedwig
merkte wohl, heimlich lächelnd, die veränderte Lage zwischen den
Brüdern. »Er ist doch gut, Klaus! Klaus ist gut,« dachte sie und sie
trug das wohlschmeckende Essen mit größerem Vergnügen auf. Es gab eine
herrliche Suppe, auf deren feine Zubereitung sich Hedwig trefflich
verstand, dann Schweinefleisch mit Sauerkohl und zuletzt einen mit Speck
gespickten Braten. Simon plauderte unbefangen über Welt und Menschen,
zog seinen Bruder in Gespräche von der verschiedensten Art und lobte mit
komischer Begeisterung wieder das herrliche Essen, was Hedwig jedes Mal,
wenn er es tat, so zum Lachen brachte, daß sie ganz fröhlich wurde und
alles vergaß, was etwa noch hätte eine Sorge genannt werden können. Am
Nachmittag, trotz des trüben Wetters, wurde ein kleinerer Spaziergang
gemacht. Das Feld, durch das man langsam ging, war naß, so daß man bald
wieder zurückkehrte. Alle waren wieder still am Abend. Simon versuchte
eine Zeitung zu lesen, Klaus sprach wie absichtlich von den
nebensächlichsten Dingen, worauf Hedwig zerstreut antwortete. Vor dem
Abschiednehmen sagte Klaus zu dem Mädchen, das er in die Küche rief, ein
paar Worte, auf die der Drinnenstehende nicht horchen mochte. Was mochte
es denn sein. Mochte es sein, was es wollte. Dann ging Klaus. Als die
beiden, nachdem sie ein Stück Weges den zu Gast Dagewesenen auf den
Heimweg begleitet hatten, wieder allein zu Hause saßen, war ihnen
unwillkürlich wieder froher ums Herz, wie Schülern, die den gestrengen
Inspektor wieder fort wissen. Sie atmeten freier und fühlten sich wieder
als die Alten. Hedwig sprach, und eine Besorgnis um dessen, was sie
jetzt sprechen wollte, machte ihre Stimme inniger und höher klingen:
»Klaus ist doch immer derselbe. Man hat immer eine kleine Angst
auszustehen, wenn er da ist. Seine Gegenwart macht einen unwillkürlich
zur schuldbewußten Schülerin, die eine Strafrede erwartet, weil sie
leichtsinnig gewesen ist. Man ist immer leichtsinnig gewesen in seinen
Augen, wenn man noch so ernsthaft meint gehandelt zu haben. Seine Augen
sehen ganz anders, sehen die Welt so seltsam besorgniserregend an, als
müßte man sich beständig vor irgend etwas fürchten. Er schafft sich
selber und andern immer Sorgen. Aus seinem Munde kommt solch ein Ton
heraus, der aus tausend rücksichtsvollen Bedenken zusammengesetzt ist,
so wenig vertrauensvoll ist er zur Welt und zu den Fäden, die einen an
die Welt spannen, ganz von selber. Er sieht aus, als ob er schulmeistern
möchte, und sieht doch wieder so genau ein, daß er schulmeistert, ohne
es zu wissen: er möchte nicht schulmeistern und tut's doch, wider seinen
Willen, aus seiner Natur heraus, wofür man ihn nicht schuldig machen
darf. Er ist so über alle Bedenken gut und zart, aber er bedenkt immer,
ob es wohl angebracht sei, gut und milde zu sein. Die Strenge steht ihm
absolut nicht, und doch glaubt er, mit der Strenge etwas erreichen zu
sollen, was er glaubt, mit Güte verfehlt zu haben. Er meint: Güte sei
unvorsichtig, und ist doch so gütig. Er verbietet sich, harmlos und
gütig zu sein, was er doch am liebsten sein möchte, weil er immer
fürchtet, dadurch etwas zu verderben, dadurch in den Augen der Welt als
leichtsinnig dazustehen. Er sieht nur Augen, die ihn betrachten, und
nicht Augen, die ruhig in seine sehen möchten. Man kann nicht ruhig in
seine Augen blicken, weil man fühlt, daß ihn das beunruhigt. Er denkt
immer, man denke etwas über ihn, und er möchte heraus haben, was man
denkt. Wenn er nicht irgend einen Fehler an einem bemerkt, den er tadeln
kann, scheint ihm nicht wohl zu sein. Und er ist doch so gut! Er ist
nicht glücklich. Wenn er das wäre, würde er anders reden, im Nu, ich
weiß es. Er neidet anderer Glück nicht gerade, aber es reizt ihn doch
beständig, das Glück und die Unbefangenheit anderer zu bekritteln, was
ihm doch sicher nur weh tut. Er mag nicht von Glück reden hören, ich
begreife, warum nicht. Das liegt auf der Hand, und jedes Kind kann es
verstehen: Selbst nicht froh, haßt man die Fröhlichkeit anderer. Wie muß
ihn das oft schmerzen, ihn, der edel genug ist, um zu fühlen, daß er
damit ein Unrecht begeht. Er ist durchaus edel, aber, wie soll ich
sagen, ein bißchen verdorben in seinem Innern, ein ganz klein wenig,
durch das Zurückgesetztsein und durch das Bemühen, sich nichts aus
diesem Zurückgesetztsein zu machen. Ach, freilich ist er zurückgesetzt
vom Schicksal, für dessen Launen und Kälten er viel zu wertvoll ist. So
möchte ich es sagen; denn er tut mir weh! Zum Beispiel du, Simon! Ach
Gott. Für dich empfindet man ganz anders, du ewig lustiger Bruder! Weißt
du, über dich denkt man immer: Er sollte Prügel bekommen, so recht
scharfe Prügel, das verdiente er! Man erstaunt über dich und begreift
nicht, daß du noch nicht in einen Abgrund gefahren bist. Mitleid für
dich empfinden, käme einem nie in den Sinn. Man hält dich allgemein für
einen sorglosen, frechen, glücklichen Burschen. Ist das wahr?« --

Simon lachte laut auf, und damit war ein Ton angeschlagen, der eine
Stunde lang anhielt. Da klopfte es draußen an der Türe. Die beiden
erhoben sich, Simon ging, um zu sehen, wer draußen sei. Es war die
Nachbarslehrerin. Sie kam verweint dahergelaufen. Ihr Mann, ein roher,
rücksichtsloser Mensch, hatte die Frau wieder einmal geprügelt. Man
suchte sie zu trösten, und es gelang.

                   *       *       *       *       *

Das Wetter wurde nun immer wärmer und die Erde üppiger, sie war mit
einem dicken, blühenden Teppich von Wiesen überzogen, die Felder und
Äcker dampften, die Wälder boten in ihrem schönen, frischen, reichen
Grün einen entzückenden Anblick dar. Die ganze Natur bot sich dar, zog
sich hin, dehnte, krümmte, bäumte sich, sauste und summte und rauschte,
duftete und lag still wie ein schöner, farbiger Traum. Das Land war ganz
dick, fett, undurchsichtig und satt geworden. Es streckte sich
gewissermaßen aus in seiner üppigen Sattheit. Es war grünlich,
dunkelbraun, schwarz gefleckt, weiß, gelb und rot und blühte mit einem
heißen Atem, kam fast um vor Blühen. Es lag wie eine verschleierte
Faulenzerin da, unbeweglich und zuckend mit seinen Gliedern und duftend
mit seinen Düften. Die Gärten dufteten in die Straßen und hinaus ins
Feld, wo Männer und Frauen arbeiteten; die Fruchtbäume waren ein helles,
zwitscherndes Singen, und der nahe, runde, gewölbte Wald war ein
Chorgesang von jungen Männern; die hellen Wege kamen kaum durch das Grün
hindurch. In Waldlichtungen betrachtete man den weißen, verträumten,
trägen Himmel, den man meinte herabsinken zu sehen und jubilieren zu
hören, wie Vögel jubilieren, kleine Vögel, die man nie sah und die so
natürlich paßten in die Natur. Man bekam Erinnerungen und man mochte sie
doch nicht zergliedern und ausdenken, man vermochte es nicht, es tat
einem süß weh, aber man war zu träge, um einen Schmerz ganz zu
durchfühlen. Man ging so und blieb wieder so stehen und drehte sich so
nach allen Seiten um, schaute in die Ferne, hinauf, hinweg, hinab,
hinüber und zu Boden und fühlte sich betroffen von all der Mattigkeit
dieses Blühens. Das Summen im Wald war nicht das Summen in der nackteren
Lichtung, es war anders und erforderte wieder neue Stellungnahme zu
neuen Träumereien. Man hatte immer zu kämpfen damit, zu trotzen, leise
abzulehnen, zu sinnen und zu schwanken. Denn ein Schwanken war alles,
ein Bemühen, und Sich-schwach-Finden. Aber es war süß so, nur süß, ein
bißchen schwer, und dann wieder ein bißchen knauserig, dann
scheinheilig, dann listig, dann nichts mehr, dann ganz dumm; zuletzt
wurde es ganz schwer, noch irgend etwas schön zu finden, man konnte sich
gar nicht mehr dazu veranlaßt finden, man saß, ging, schlenderte, trieb,
lief und säumte so, man war ein Stück Frühling geworden. Konnte das
Summen über sein Summen und Girren und Singen entzückt sein? War es dem
Gras gegeben, seine eigenen schönen Schwankungen zu betrachten? Wäre es
der Buche möglich gewesen, sich in ihren eigenen Anblick zu vergaffen?
Man wurde nicht müde und stumpf, aber man ließ es so sein, so gehen, so
hin und her schwanken. Die ganze Natur, so wie sie aussah, war eine
Säumerin, ein Harren und Hangen! Die Düfte hingen und die ganze Erde
harrte und wartete. Die Farben waren der selige Ausdruck davon. Man
konnte etwas Frühmüdes und Ahnungsvolles im blühenden Strauch finden. Es
war eine Art Nicht-mehr-weiter-Wollen, ein einziges Lächeln. Die blauen,
verhauchten Waldberge klangen wie ferne, ferne Hörner, man fühlte die
Landschaft ein wenig englisch, es war wie ein üppiger, englischer
Garten, die Üppigkeit und das Weben und das Wogen der Stimmen führte die
Sinne auf diese Verwandtschaft. Man dachte, so könnte es nun da und da
auch aussehen, wie jetzt hier, die Gegend rief alle andern Gegenden
einem ins Herz herbei. Es war komisch und weithintragend, forttragend
und herbeibringend: Ein Bringen, wie junge Knaben bringen, ein Darbieten
wie Kinder darbieten, ein Gehorchen und Aufhorchen. Man konnte sagen und
denken, was man wollte, es blieb immer dasselbe Unausgesprochene,
Unausgedachte! Es war leicht und schwer, wonnig und schmerzhaft,
dichterisch und natürlich. Man begriff die Dichter, nein, eigentlich
begriff man sie nicht, denn man wäre doch, indem man so ging, viel zu
träge gewesen, um zu denken, daß man sie begriffe. Man hatte nicht
nötig, irgend etwas zu begreifen, es begriff sich nie, und wieder
begriff es sich ganz von selbst, indem es sich in das Horchen nach einem
Klang auflöste, oder in das Sehen in die Ferne hinein, oder in die
Erinnerung, daß es jetzt eigentlich Zeit sei, nach Hause zu gehen und
eine, wenn auch ganz geringfügige Pflicht zu erfüllen, denn Pflichten
wollen auch im Frühling erfüllt sein.

Die Nächte wurden herrlich. Der Mond verliebte sich in das Weiß der
blühenden Gebüsche und Bäume und in die langen Windungen der Straßen,
die er blenden machte. In den Brunnen spiegelte er sich und im
fließenden Flußwasser. Den Kirchhof mit den stillen Gräbern machte er zu
einem weißen Feenort, so daß man die Toten vergaß, die dort begraben
lagen. Er drängte sich zwischen das Gewirr der herabfallenden, schmalen,
haarähnlichen Äste und machte, daß man auf den Denksteinen die
Inschriften lesen konnte. Simon ging um den Kirchhof herum, einige Male,
dann schlug er einen weiteren Weg ins erhöhte, flache Feld hinein, drang
durch niedriges, erleuchtetes Buschwerk, kam auf eine kleine abstürzende
Wiese mitten in den Büschen und setzte sich da auf einen Stein, um
darüber nachzudenken, wie lange er wohl dieses Leben des bloßen
Beschauens und Sinnens noch weitertreiben werde. Bald mußte es gewiß ein
Ende nehmen, denn es konnte nicht weitergehen. Er war ein Mann und
gehörte einer strengen Pflichterfüllung an. Es mußte bald wieder
gehandelt werden, das wurde ihm klar. Als er nach Hause kam, sagte er
das in passenden Worten seiner Schwester. Er solle doch gar nicht an das
denken, wenigstens jetzt noch nicht, sagte sie. Gut, erwiderte er, ich
will noch nicht daran denken. Es war auch zu verlockend, noch ferner
hier zu bleiben. Was wollte er denn eigentlich, und wonach trieb es ihn?
Er würde kaum Reisegeld haben, irgendwohin zu reisen, und dort, wohin er
gehen sollte, was erwartete ihn dort? Nein, er blieb gerne noch auf eine
unbestimmte kleine Zeit da. Wahrscheinlich würde er sich toll
zurücksehnen, wenn er fort wäre, und was wäre dann das? Nein, mit dem
Sehnen müßte dann natürlich aufgeräumt werden; denn das würde sich ihm
nicht ziemen. Aber machte man denn nicht oft Unziemliches? Übrigens, er
blieb ja, und weiter wollte er sich den Gedanken die ihn belästigten,
nicht hingeben.

So kamen wieder ein paar Tage und schwanden wieder. Die Zeit kam so
geräuschlos und entfernte sich, ohne daß man es merkte. Auf diese Art
verging sie eigentlich schnell, obgleich sie lange zauderte, ehe sie
ging. Die beiden, Simon und Hedwig, schlossen sich jetzt noch lebhafter
aneinander. Sie verbrachten plaudernd die Abende bei der Lampe und
wurden nie des Redens müde. Sie sprachen während des Essens über das
Essen, dessen Einfachheit und Delikatesse sie mit gesuchten Worten
priesen, und während der Arbeit über die Arbeit, die sie mit Worten
begleiteten, und während des Spazierens über die Freude und den Genuß
des Spazierens. Sie vergaßen längst, daß sie nur Geschwister waren, sie
kamen sich mehr durch das Schicksal als durch das gleiche Blut verbunden
vor und verkehrten miteinander ungefähr wie zwei angeschlossene
Gefangene, die sich bemühen, das Leben über der Freundschaft zu
vergessen. Sie vertändelten viel Zeit, aber sie wollten sie so
vertändelt wissen, weil jedes fühlte, daß der Ernst nur dahinter sich
verborgen hielt, und daß jedes sehr wohl ernsthaft zu handeln und zu
reden verstände, wenn es nur wollte. Hedwig empfand, daß sie sich ihrem
Bruder immer mehr zu erkennen gab, und verhehlte sich den Trost nicht,
den diese Empfindung ihr bereitete. Es schmeichelte ihr, daß er es nicht
nur für klug und seiner Lage angemessen hielt, mit ihr zusammenzuleben,
sondern auch für interessant, und sie dankte ihm dafür, indem sie ihn
inniger, als früher, in das Herz schloß. Beide kamen sich so vor, als ob
sie jedes für das andere bedeutend genug wären, um mit Stolz miteinander
ein Stück Leben zu verbringen. Sie sprachen und dachten viel in
Erinnerungen und versprachen sich, alles aufzutischen, was ihnen aus der
frühen, entschwundenen Zeit, wo sie beide noch klein waren, noch
einfiel. Weißt du noch! So fingen öfters ihre Gespräche an. So versanken
sie in die köstlichen Bilder der Vergangenheit und waren immer bemüht,
was es auch sein mochte, ihr Gefühl und ihren Verstand daran zu
belehren, auch ihr Lachen daran zu wetzen und bei traurigen Anlässen
heiter zu bleiben, wie es sich auch ziemte. Die Vergangenheit selbst
machte ihnen wiederum die Gegenwart deutlicher und empfindlicher, und
diese empfundene Gegenwart war, wie von einem Spiegel verdoppelt und
verdreifacht, inhaltsreicher und lebhafter und zeigte auch gerader und
sichtbarer den Weg in die Zukunft, die sie sich oft ausmalten, um sich
daran auf eine leichte Art zu berauschen. Eine erträumte Zukunft war
immer eine schöne, und die Gedanken, die sie dachten, heitere und
leichte.



Zehntes Kapitel.


Hedwig sagte eines Abends: »Ich möchte bald meinen, daß ich wie durch
eine leichte, aber undurchsichtbare Scheidewand vom Leben getrennt bin.
Aber ich kann nicht traurig darüber sein, sondern ich kann nur darüber
nachdenken. Andern Mädchen geht es vielleicht ebenso, ich weiß es nicht.
Vielleicht habe ich meinen Lebensberuf verfehlt, als ich meinte, einen
Beruf für das Leben lernen zu sollen. Wir Mädchen lernen ja doch nur
halb, es ist uns nicht um das Lernen zu tun. Wie sonderbar mir das jetzt
vorkommt, daß ich Lehrerin geworden bin. Warum bin ich nicht Modistin
geworden oder sonst etwas? Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen,
welche Gefühle mich dazu getrieben haben, einen solchen Beruf zu
ergreifen, wie diesen. Was war es denn so Wunderbares, so
Verheißungsvolles, das mich damals erfaßte? Glaubte ich gar, eine
Wohltäterin zu werden, und glaubte ich, es werden zu müssen, die
Verpflichtung, die Sendung spüren zu müssen, es zu werden? Man glaubt so
Vieles, wenn man unerfahren ist, und die Erfahrungen machen einen wieder
an anderes glauben. Wie merkwürdig. Es liegt eine Härte gegen sich
selbst darin, das Leben so ernst aufzufassen, wie ich es aufgefaßt habe.
Ich muß es dir sagen, Simon: ich habe es zu ernst und zu heilig
aufgefaßt; ich habe nicht daran gedacht, daß ich ein Mädchen bin, als
ich unternahm, was nur Männer unternehmen sollten. Niemand hat mir
gesagt, daß ich ein Mädchen bin. Niemand hat mir geschmeichelt mit einer
solchen Bemerkung. Es hat niemand meiner so gedankenvoll gedacht, als es
wäre nötig gewesen, mir eine solche einfache Bemerkung zu machen, auf
die ich gehorcht hätte, wenn ich im ersten Augenblick auch die Empörte
gespielt hätte. Ich würde darauf gehorcht haben, wenn der Ton aus einem
Herzen gekommen wäre. Aber ich hörte nur Worte, oberflächliche und
leicht hingesprochene: »Tu das, tu das. Das ist gut, daß du einen Beruf
ergreifen willst. Macht dir alle Ehre.« Und so weiter. Eine sonderbare
Ehre, ein unglückliches, innerlich armes und sehnsüchtiges Mädchen zu
sein, wie jetzt ich mit dieser Ehre von Beruf. Ein Beruf ist eine Last
durchs Leben für einen Mann mit starken Schultern und vorwärtsstrebendem
Willen, ein Mädchen wie mich erdrückt er. Habe ich Freude an meinem
Beruf? Gar keine Spur, und ich bitte dich, erschrick nur nicht über
dieses Geständnis, das ich dir mache, weil du einer bist, dem man mit
einer Art Lust Geständnisse macht. Du verstehst mich, ich weiß es.
Andere würden mich vielleicht ebensogut verstehen, aber nicht gern, aus
diesem oder jenem Grunde. Du verstehst gern, weil du keine Gründe hast,
über einfache und offene Geständnisse zu erschrecken. Du lebst mein
ganzes Leben in dir mit, mit mir, deiner Schwester. Du bist eigentlich
zu gut dazu, nur mein Bruder zu sein. Es ist schade, daß du mir nicht
mehr sein kannst: Auch das würdest du gerne sein; denn du nickst mit
deinem Kopfe. Laß mich weiter erzählen. Wenn man dich als Zuhörer hat,
erzählt man gerne. So höre denn weiter, daß ich entschlossen bin, meine
Schulkarriere aufzugeben, und zwar bald; denn meine Kräfte halten dies
Leben nicht lange mehr aus. Ich glaubte, es wäre ein schönes Leben,
Kinder in die Welt hineinzuführen, sie zu unterrichten, ihnen die Seelen
für die Tugenden zu öffnen, sie zu überwachen und zu belehren. Es ist ja
auch eine ganz schöne Aufgabe, aber sie ist viel zu schwer für mich
Schwache; ich bin ihr nicht gewachsen, lange nicht. Ich glaubte, ich
wäre es, aber ich sehe das Gegenteil ein: mich zusammensinken sehe ich
unter meiner Aufgabe, die mir eine tägliche Erholung sein sollte und die
mir nur eine Last ist, die ich als ungebührlich und ungerecht empfinde.
Das, was einen niederdrückt, empfindet man als ungerecht. Unrecht,
dieses zu empfinden, sollte ich haben? Liegt nicht in meiner Empfindung
das Maß für mir zugefügtes Unrecht? Und was kann ich denn dafür, daß das
Unrecht in seiner Art unschuldig und süß ist: die Kinder? Die Kinder!
Ich kann sie nicht mehr ertragen. Ich freute mich in der ersten Zeit
über alle ihre Gesichter, über ihre kleinen Bewegungen, über ihren Eifer
und selbst über ihre Fehler. Ich freute mich über den Gedanken, mich
dieser jungen, schüchternen und hilflosen Menschenschar gewidmet zu
haben. Aber kann ein solcher einziger Gedanke über ein Leben
hinwegtäuschen, kann man ein ganzes Leben mit einer Idee hinwegdenken?
Wehe, wenn diese Idee und dieses Opfer einem eines Tages gleichgültig
werden, wenn man den Gedanken, der einem alles ersetzen soll, nicht mehr
mit so inniger Leidenschaft zu denken vermag, als es nötig ist, um den
Tausch in der Seele zu rechtfertigen. Wehe, wenn man überhaupt einen
Tausch merkt. Dann fängt man an zu grübeln, zu unterscheiden,
abzuschätzen, mit Wehmut und Zorn zu vergleichen, und ist unglücklich,
so wankelmütig und untreu geworden zu sein, und ist froh, wenn nur immer
ein Tag zu Ende ist, um in der Stille weinen zu können. Einmal nur mit
einem Hauch treulos, will man mit dem Lebensgedanken, der nur auf
vollkommener Hingabe beruht, nichts mehr zu tun haben und sagt sich: Ich
tu meine Pflicht, weiter denke ich an nichts mehr! Die Kinder blieben
mir immer lieb, sie sind mir immer lieb geblieben. Wem könnten Kinder
nicht lieb sein? Aber wenn ich unterrichte, denke ich an anderes, an
ferneres und weiteres, als ihre kleinen Seelen sind, und das ist der
Verrat, den ich an ihnen begehe, den ich nicht mehr mit ansehen will.
Eine Schullehrerin muß in den kleinen Dingen mit ihrer ganzen Liebe
untergehen, sonst vermag sie nicht Gewalt auszuüben, und ohne Gewalt
bleibt sie wertlos. Vielleicht ist das übertrieben gesprochen, und ich
bin auch fest davon überzeugt, daß alle, oder die meisten Menschen, zu
denen ich so spräche, diese Sprache übertrieben finden würden. Diese
Sprache aber entspricht meiner Auffassung vom Leben; da ist es wohl
unmöglich, daß ich anders sprechen könnte. Ich habe es noch nicht
gelernt, eine Zufriedenheit, eine Genugtuung, ein Wohlbefinden zu lügen,
das ich nicht empfinde, und ich glaube, man irrt sich, wenn man annimmt,
daß ich das je lernen werde. Ich bin zu schwach, um täuschen und
heucheln zu können, und ich erblicke, so scharf ich auch nachdenke,
keine Gründe, die das Vorlügen rechtfertigten. Wenn ich mit dir jetzt so
rede, so ist das nur die Ausnutzung eines Augenblickes, nach dem ich
mich schon lange gesehnt habe, um meine ganze Schwäche einmal entladen
zu können. Es tut einem so wohl, seine Schwäche eingestehen zu dürfen,
nach den Monaten der peinigenden Zurückhaltung, die eine Stärke
verlangte, deren ich nicht fähig bin. Ich bin der Pflichterfüllung, die
mir nicht schmeichelt, auf die Dauer nicht fähig, und ich suche jetzt
nach einer Arbeit, die meinem Stolz und meiner Schwäche zusagen wird. Ob
es mir gelingen wird? Ich weiß es wahrhaftig nicht, aber ich weiß nur,
und das bestimmt, daß ich suchen muß, bis ich die Überzeugung gefunden
habe, daß es ein Glück und eine Pflicht gibt, beides eines! Ich will
Erzieherin werden und habe bereits einer reichen, italienischen Dame
brieflich meine Dienste angeboten, in einem vielleicht zu langen Briefe,
in welchem ich ihr geschrieben habe, daß ich imstande sei, zwei Kinder,
ein Mädchen und einen Knaben, in allem Wünschenswerten zu unterrichten.
Ich habe in dem Briefe, ich weiß nicht, was alles, gesagt, daß ich die
Schulstube gerne mit der Kinderstube vertauschen möchte, daß ich die
Kinder liebe und achte, daß ich Klavier spielen und schöne Sachen
sticken könne und daß ich ein Mädchen sei, dem man nur mit Strenge zu
begegnen brauche, um ihm eine Wohltat zu erweisen. Ich habe mich sehr
stolz in dem Schreiben ausgedrückt, habe der Dame gesagt, daß ich zu
lieben, zu gehorchen verstände, aber nicht zu schmeicheln, daß ich wohl
schmeicheln könnte, aber nur dann, wenn ich es selber mir beföhle; daß
ich mir meine zukünftige Herrin lieber stolz und streng, als nachgiebig
vorstelle, daß es mir Schmerz und Enttäuschung bereiten würde, wenn ich
sie so fände, daß man sie, wenn man die Absicht hätte, leicht und frech
hintergehen könnte; daß ich nicht die Absicht hätte, zu ihr zu kommen,
um bei ihr auszuruhen, sondern daß ich hoffe, Arbeit für mein Herz und
auch für meine Hände zu bekommen. Ich habe ihr das Geständnis gemacht,
daß ich schon jetzt, in der Vorausahnung, ihre beiden Kinder innig
liebe, daß es mir an der nötigen Achtung vor Kindern nicht fehle, um
dieselben streng und zugleich hingebungsvoll zu erziehen, daß ich
erwarte, daß man mich gewähren lasse, ihr, der Dame, in diesem Sinn zu
dienen, daß ich eine zugleich heftige und gelassene Auffassung vom
Dienen hätte und daß ich nicht dazu zu bewegen wäre, von meiner
Auffassung abzuweichen. Zu glattem und speichelleckerischem Dienst sei
ich nicht zu gebrauchen, ebensowenig hätte ich das Talent, auf eine
unzarte, unstolze Weise zuvorkommend zu sein. Daß ich aber auf eine
milde Behandlung zu Gunsten einer kalten und strengen, wenn es nur
zugleich keine beleidigende sei, gern verzichtete, daß ich meinen Stand
sehr wohl und zu jeder Zeit von dem ihrigen abzumessen verstände, daß
ich keine Gerechtigkeit aber Stolz verlange, der ihr verbieten würde,
mir ungerecht zu begegnen und daß ich in meiner Seele entzückt wäre,
wenn sie mir, wenn auch nur einmal im Jahr, ein Zeichen gütiger
Zufriedenheit gäbe, das ich mehr zu schätzen wüßte als Vertraulichkeit,
die für mich erniedrigend und keine Gnade wäre, daß ich hoffe, eine Dame
zu finden, an der ich emporblicken könne, um zu lernen, wie man sich in
allen Fällen zu benehmen habe und daß sie nicht zu fürchten brauche, in
mir eine Schwätzerin in ihren Dienst zu nehmen, der es ein Vergnügen
wäre, ihre Geheimnisse auszuplaudern. Ich sagte ihr, daß ich nicht
imstande sei, zu sagen, wie gern ich sie bewundern und ihr gehorchen
möchte und ihr zeigen möchte, in welcher Weise ich es verstünde, ihr
niemals lästig zu fallen. Ich sprach dann die Befürchtung und zugleich
die Hoffnung aus, daß ich die Sprache ihres Landes, obwohl ich sie noch
gar nicht kenne, doch sicher bald lernen würde, wenn man mir nur zeigte,
wie ich mich dabei zu verhalten habe. Sonst wisse ich nichts, was mich
nicht dazu berechtige, in ihr Haus zu treten, sagte ich zum Schluß, als
vielleicht die Schüchternheit, die meinem Auftreten noch anklebe, die
ich aber zu überwinden hoffe; das Linkische und Unbeholfene sei sonst
nicht meine Natur -- --«

»Hast du den Brief schon abgeschickt?« fragte Simon.

»Ja,« fuhr Hedwig fort »was hätte mich daran sollen verhindern können.
Ich werde vielleicht bald von hier fortgehen, und die Abreise macht mir
Kummer; denn ich verlasse viel und werde vielleicht nichts dafür
bekommen, das mich das Weggeworfene und im Stich Gelassene vergessen
ließe. Trotzdem bin ich fest entschlossen wegzugehen; denn ich mag nicht
mehr allein sein mit meinen Träumen. Auch du gehst ja bald fort, und was
sollte ich dann noch hier? Du lassest mich wie einen Brocken, wie einen
schlecht gewordenen Gegenstand zurück, oder vielmehr so: der ganze Ort,
das Dorf, alles hier ist dann der Brocken, der verlassene, unbeachtete
und weggeworfene Gegenstand, und ich dann noch mitten drin? Nein, ich
habe mich zu sehr daran gewöhnt, das Leben, das wir hier führen, mit
Hilfe deiner Augen anzusehen, es schön zu finden, so lange du es schön
fandest; und du fandest es schön, und so fand ich es auch noch schön.
Aber weiter würde ich es nicht mehr schön und groß genug für mich
finden, ich würde es verachten, weil es eng und stumpf wäre, und es wäre
auch eng und stumpf durch meine gleichgültige Verachtung. Ich kann nicht
leben und mein Leben verachten. Ich muß mir ein Leben suchen, ein neues,
und wenn das ganze Leben auch nur in einem einzigen Suchen nach Leben
bestehen sollte. Was ist das: geachtet zu sein, gegen das andere:
glücklich zu sein und den Stolz des Herzens befriedigt zu haben. Auch
unglücklich zu sein ist noch schöner als geachtet zu sein. Ich bin
unglücklich, trotz der Achtung, die ich genieße; ich verdiene vor mir
diese Achtung also nicht; denn in meinen Augen ist nur das Glück
achtenswert. Infolgedessen muß ich versuchen, ob es möglich ist,
glücklich zu sein, ohne Achtung zu beanspruchen. Vielleicht gibt es ein
Glück dieser Art für mich und eine Achtung, die man der Liebe und der
Sehnsucht zollt, nicht der Klugheit. Ich will nicht deshalb unglücklich
sein, weil mir der Mut fehlte, mir einzugestehen, daß man unglücklich
werden kann, weil man versuchte, glücklich zu werden. Solches Unglück
ist achtenswert, das andere nicht; denn Mangel an Mut kann man nicht
achten. Wie kann ich länger zusehn, daß ich mich zu einem solchen Leben
verdamme, das nur Achtung einbringt und nur Achtung von Andern, die
einen immer so haben wollen, wie es ihnen am besten paßt! Warum soll es
das? Und warum muß man die Erfahrung machen, daß das, was es einem
eingebracht hat, zum Schluß nichts wert ist? Da hat man dann gesorgt und
gehütet und gewartet und ist nur genarrt worden. Es ist bitter unklug,
auf etwas warten zu wollen; es kommt nicht zu uns, wenn wir nicht
hingehen und es uns holen. Freilich, es wird einem so viel Furcht
eingejagt von Fürchtlingen, die um einen besorgt scheinen. Ich hasse sie
jetzt beinahe, die den Kopf schütteln, sobald man nur etwas Mutiges
sagt. Wie würden die sich erst betragen, wenn sie hörten, daß man das
Mutheischende zur Ausführung gebracht hat. Wie diese vielen Ratgeber
schwinden vor der Herzensgewalt einer frei vollbrachten Tat! Und wie sie
einen knechten mit ihrer süßlichen Liebe, wenn man diesen Mut nicht
findet und sich ihnen ausliefert. Man wird mich hier mit vielem Bedauern
wegziehen sehen und es nicht verstehen wollen, warum ich einen so
angenehmen und ersprießlichen Platz verlasse; und auch ich verlasse das
Land mit einem Gefühl, das mich noch immer überreden möchte, hier zu
bleiben. Ich habe geträumt, Bäuerin zu werden, einem Mann anzugehören,
einem einfachen und zarten Menschen, ein Heim zu besitzen mit einem
Stück Land und Stück Garten, wozu ein Stück Himmel gehört hätte, zu
bauen und zu pflanzen, keine weitere Liebe als Achtung zu verlangen und
das Entzücken zu haben, meine Kinder aufwachsen zu sehen, womit ich mich
für allen Verlust einer tieferen Liebe entschädigt gefunden hätte. Der
Himmel würde die Erde berührt haben, ein Tag hätte den andern in die
Zeiten hinuntergerollt, und ich wäre unter Sorgen eine alte Frau
geworden, die an sonnigen Sonntagen unter der Haustüre gestanden und die
Vorübergehenden beinahe schon verständnislos angeblickt hätte. Ich würde
dann nie wieder nach Glück gestrebt und heißere Empfindungen vergessen
haben, hätte meinem Manne und seinen Geboten und dem gehorcht, was mir
als Pflicht würde vorgeschwebt haben. Und ich hätte gewußt, was einer
Bäuerin Pflicht wäre. Meine Träume wären mit den Tagen wie Abende
eingeschlafen und würden nie mehr wieder etwas gefordert haben. Ich
würde zufrieden und heiter gewesen sein, zufrieden, weil ich nichts
anderes gewußt, und heiter, weil es sich nicht geziemt hätte, meinem
Manne eine unmutige Stirne mit dunklen Sorgen zu zeigen. Mein Mann würde
vielleicht den Takt besessen haben, in der ersten Zeit, da noch vieles
heißer gedrängt und gepocht hätte, mich zu schonen und mich sanft für
meine kommende Aufgabe zu erziehen, was ich dankbar würde haben
geschehen lassen mit mir; dann wäre es auch gegangen, und eines Tages
würde ich verwundert an mir die Beobachtung gemacht haben, daß ich
innerlich Frauen von heftiger und sehnsüchtiger Gemütsart, das heißt,
solche von meinem eigenen früheren Schlag, nicht mehr dulden mochte,
weil ich sie für gefährlich und schädlich hielte. Mit einem Wort: ich
würde geworden sein wie die andern und würde das Leben verstanden haben,
wie die andern es verstehen. Doch das alles blieb nur ein Traum. Einem
andern als dir würde ich mich hüten, so etwas zu sagen. Vor dir werden
Träumende nicht lächerlich, auch verachtest du niemanden, weil er
träumt, denn du verachtest überhaupt niemanden. Ich bin auch sonst gar
nicht ein so überspanntes Mädchen. Wie käme ich dazu! Ich habe jetzt nur
ein wenig zu viel gesprochen, und wenn ich so spreche, spreche ich
leicht etwas zu viel. Man möchte alle seine Gefühle erläutern und kann
es doch nie, man redet sich nur in eine Heftigkeit hinein. Komm, gehen
wir zu Bett.« --

Sie sagte sanft und ruhig Gute Nacht.

»Ich bin doch froh,« sagte sie am andern Morgen, »daß ich noch hier bin.
Wie kann man sich nur so stürmisch von einer Stelle wegwünschen. Als ob
es hierauf ankäme! Ich muß beinahe lachen und schäme mich ein wenig,
gestern so mitteilsam gewesen zu sein. Und doch bin ich froh; denn
einmal muß man sich aussprechen. Wie du gestern mir nur so geduldig
zuhören konntest, Simon! So beinahe andächtig! Und doch bin ich auch
darüber froh. Am Abend ist man nicht wie am Morgen, nein, so ganz
anders, so verschieden im Ausdruck und im Empfinden. Eine einzige Nacht
ruhig geschlafen zu haben, das kann, habe ich gehört, einen Menschen
ganz verändern. Ich glaube es wohl. Gestern so gesprochen zu haben,
kommt mir heute am hellen Morgen wie ein ängstlicher, übertriebener,
trauriger Traum vor. Was war es denn nur! Soll man denn die Dinge so
reizbar schwernehmen? Denke gar nicht mehr daran! Ich muß gestern müde
gewesen sein, so wie ich immer des Abends müde bin, aber jetzt bin ich
so leicht, so gesund, so frisch, wie neu geboren. Ich habe ein so
gelenkiges Gefühl, als hebe mich jemand empor, als trüge mich etwas, wie
man jemand trägt in einer Sänfte. Mach die Fenster auf, indes ich noch
im Bett liege. Es ist so schön, im Bett zu liegen, wenn die Fenster
aufgemacht werden, so wie du es jetzt tust. Wo nehme ich nur all die
Fröhlichkeit her, die mich jetzt ganz einhüllt. Draußen scheint mir die
schöne Gegend zu tanzen, die Luft dringt zu mir hinein. Ist es heute
Sonntag? Wenn nicht, so ist es ein Tag wie geschaffen zum Sonntag.
Siehst du die Geranien? Sie stehen so schön vor dem Fenster. Was wollte
ich gestern? Glück? Habe ich es denn nicht schon jetzt? Soll man erst
suchen müssen in der unbekannten Ferne, unter den Menschen, die gewiß
gar keine Zeit haben, an das Glück zu denken? Es ist gut, wenn man für
Vieles nicht Zeit hat, recht gut, denn, hätte man Zeit, so würde man ja
sterben vor lauter Anmaßung. Wie hell ist mir jetzt im Kopf. Nicht ein
einziger Gedanke mehr, der nicht, wie seine Herrin, nämlich ich, froh
und leicht daläge, ganz ebenso wie ich. Willst du mir das Frühstück ans
Bett bringen, Simon? Es würde mir Spaß machen, mich von dir bedienen zu
lassen, wie wenn ich eine portugiesische Noblesse wäre und du ein
Mohrenkind, das meinen leisesten Wink verstände. Natürlich bringst du
mir das Verlangte. Warum solltest du dich weigern, mir eine
Aufmerksamkeit zu erweisen? Seit wie lange bist du jetzt bei mir? Warte
einmal, es war Winter, als du ankamst, der Schnee fiel, ich weiß es noch
so gut, und seitdem, wie viele schöne und regnerische Tage sind schon
vorbeigegangen. Jetzt wirst du bald gehen; aber mir das Vergnügen
stehlen, dich noch ein paar weitere Tage bei mir zu haben, das darfst du
nicht. Nach drei Tagen werde ich zu dir sagen: »Bleib noch drei«, und du
wirst dich ebensowenig widersetzen können, als jetzt, da du mir das
Frühstück an mein Bett bringst. Du bist ein merkwürdig widerstandsloser
und skrupelloser Mensch. Was man von dir verlangt, das tust du. Du
willst alles, was man will. Ich glaube, man könnte von dir viel
Ungebührliches verlangen, ehe du es einem übel nähmest. Man kann sich
eines gewissen verächtlichen Gefühles dir gegenüber nicht enthalten. Ein
ganz klein wenig verachte ich dich, Simon! Aber ich weiß, es macht dir
nichts wenn man so zu dir spricht. Ich halte dich übrigens für einer
Heldentat fähig, wenn es dir darauf ankommt. Sieh, ich denke doch ganz
gut von dir. Dir gegenüber erlaubt man sich alles. Dein Betragen erlöst
anderer Betragen von jeder Art Unfreiheit. Ich habe dir früher Ohrfeigen
gegeben, ich habe dich stets der Mutter zur Bestrafung angezeigt, wenn
du Übeltaten verrichtetest, jetzt bitte ich dich, mir einen Kuß zu
geben, oder so: laß mich dir lieber einen geben. Auf die Stirn, ganz
behutsam! So! Ich bin wie eine Heilige heute am Tag gegen gestern am
Abend. Ich habe ein Gefühl für kommende Zeiten und lasse nun alles
kommen. Lache nur nicht! Es würde mich übrigens freuen, wenn du
lachtest; denn das ist für den frühen, blauen Morgen der passendste
Laut. Nun bitte ich dich, aus dem Zimmer zu gehen und mir die Freiheit
zu lassen, mich anzukleiden.« --

Simon ließ sie allein.

»Ich bin immer daran gewöhnt gewesen,« sagte Hedwig im Laufe des Tages
zu Simon, »dich als etwas mir Unterlegenes zu behandeln. Vielleicht
halten es andere Menschen mit dir auch so. Du machst wenig den Eindruck
der Klugheit, viel mehr den der Liebe, und du weißt, wie man diese
Empfindung ungefähr einschätzt. Ich glaube nicht, daß du je mit deinem
Tun und Trachten Erfolg haben wirst unter den Menschen, aber du wirst
dir sicher auch nie deswegen einen kummervollen Gedanken machen, was
dir, so wie ich dich kenne, wenigstens nicht ähnlich sähe. Nur die dich
kennen, werden dich tieferer Empfindung und kühner Gedanken für fähig
erachten, die andern nicht. Das ist der Schwerpunkt und die Ursache,
weshalb du sehr wahrscheinlich im Leben erfolglos bleibst: Man muß dich
immer erst kennen lernen, ehe man dir glaubt, und das nimmt Zeit in
Anspruch. Der erste Eindruck, der den Erfolg macht, wird dir immer
versagen, aber du wirst deswegen deine Ruhe keineswegs verlieren. Dich
werden nicht viele Menschen lieben, aber es wird etliche unter ihnen
geben, die sich alles von dir versprechen. Das werden einfache und gute
Menschen sein, denen du gefallen wirst; denn deine Blödigkeit kann sehr
weit gehen. Du hast etwas Blödes an dir, etwas Unzurechnungsfähiges,
etwas, wie soll ich sagen, Unbekümmert-Läppisches. Das wird Viele
beleidigen, man wird dich frech nennen, und du wirst viele unfeine, früh
mit ihrem Urteil über dich fertige Feinde haben, die dir zu schwitzen
geben können; doch wird dir das nie Angst einjagen. Andere werden dir
immer unzart und du wirst andern immer unverschämt vorkommen; das wird
Reibereien geben, sieh dich vor! In einer größeren Gesellschaft von
Menschen, wo es doch darauf ankommt, daß man sich zeigt und beliebt
macht durch hervorragendes Sprechen, wirst du immer stumm bleiben, weil
es dich nicht reizt, den Mund noch aufzutun, wo schon so viele
durcheinanderschwatzen. Man wird dich infolgedessen übersehen: du wirst
dann trotzig und benimmst dich unschicklich. Dagegen werden es manche
Menschen, die dich kennen gelernt haben, für einen Vorzug halten, mit
dir allein ein herzliches Gespräch zu führen; denn du verstehst es,
zuzuhorchen, und das ist im Gespräch vielleicht wichtiger, als selbst
das Sprechen. Man wird gern einem verschwiegenen Menschen, wie dir,
Geheimnisse und Seelenangelegenheiten anvertrauen, und du wirst dich im
diskreten Verschweigen und Aussprechen meist als Meister erweisen,
unbewußt, meine ich, nicht als ob du dir irgendwelche Mühe dabei gäbest.
Du sprichst ein bißchen schwerfällig, hast einen etwas plumpen Mund, der
sich zuerst öffnet und offen bleibt, ehe du zu sprechen anfängst, als
erwartetest du die Worte von außen aus irgend einer Richtung her, daß
sie dir in den Mund hineinflögen. Du wirst den meisten Menschen eine
uninteressante Erscheinung sein, fade für die Mädchen, unbedeutend für
Frauen, absolut unvertrauensvoll und unenergisch für Männer. Ändere dich
doch da ein wenig, wenn es in deiner Macht steht! Gib etwas mehr acht
auf dich und sei eitler; denn ganz und gar nicht eitel sein, das wirst
du bald selbst für einen Fehler halten müssen. Zum Beispiel, Simon, sieh
dir doch einmal wieder deine Hosen an: Unten zerfetzt! Allerdings, und
ich weiß schon: es sind nur Hosen, aber Hosen sollen ebensogut in Stand
gesetzt sein wie Seelen, denn es zeugt doch von Nachlässigkeit,
zerrissene und zerfetzte Hosen zu tragen, und die Nachlässigkeit kommt
aus der Seele. Du mußt also auch eine zerfetzte Seele haben. Was ich dir
noch sagen wollte: Du glaubst doch nicht etwa, daß ich dies im Scherz
gesagt habe? Da lacht er. Hältst du mich nicht für ein bißchen
erfahrener als dich? Doch nein! Du bist erfahrener, aber indem ich sage,
daß dir noch vieles zu erfahren bevorsteht, beweise ich doch sicher auch
wiederum Erfahrung. Oder etwa nicht?« --

Sie dachte eine Weile nach, und fuhr dann fort:

»Wenn du nun, was ja bald geschehen muß, von mir fort bist, so schreibe
mir nicht. Ich will es nicht. Du sollst nicht meinen, du müßtest
verpflichtet sein, mir von deinem ferneren Treiben eine Nachricht
zukommen zu lassen. Vernachlässige mich, wie du es früher auch getan
hast. Was sollte uns beiden das Schreiben nützen? Ich werde hier weiter
leben und es als einen Genuß empfinden, öfters daran zu denken, daß du
drei Monate lang da warst. Die Gegend wird mich emportragen und mir dein
Bild zeigen. Ich werde alle die Orte aufsuchen, die wir zusammen schön
gefunden haben, und ich werde sie noch schöner finden; denn ein Fehler,
ein Verlust macht die Dinge noch schöner. Mir und der ganzen Gegend wird
etwas fehlen, aber diese Lücke und selbst dieser Fehler werden meinem
Leben noch innigere Empfindungen aufdrücken. Ich bin nicht aufgelegt,
einen Mangel als einen Druck zu empfinden. Wie käme ich dazu! Im
Gegenteil: etwas Befreiendes, Erleichterndes liegt darin. Und dann:
Lücken sind dazu da, um mit etwas Neuem gefüllt zu werden. Am Morgen
werde ich, wenn ich im Begriffe bin aufzustehen, glauben, deinen Schritt
und deinen Kopf und deine Stimme zu vernehmen, und lächeln über die
Täuschung. Weißt du was: ich habe die Täuschungen lieb, und du mußt sie
ebenfalls lieb haben, ich weiß es. Merkwürdig, wie viel ich zusammenrede
in diesen Tagen. Diese Tage! Ich meine, die Tage müßten jetzt selber
fühlen, wie kostbar sie mir sind und müssen, aus Rücksicht auf mich,
langsamer, gedehnter, träger und verweilerischer auftreten, auch leiser!
Sie tun es auch. Ich spüre ihr Nahen wie einen Kuß und ihr dunkles sich
Entfernen wie einen Händedruck, wie ein Winken mit einer lieben,
bekannten Hand. Die Nächte! Wie viele Nächte hast du bei mir geschlafen,
schön geschlafen; denn du verstehst zu schlafen, da drüben in der
Kammer, im Strohbett, das bald nun herrenlos und schlaflos sein wird.
Die Nächte, die jetzt noch kommen, werden nur schüchtern herankommen zu
mir, wie kleine, schuldbewußte Kinder mit gesenkten Augen zum Vater oder
zur Mutter kommen. Die Nächte werden weniger still sein, Simon, wenn du
fort bist und ich will dir sagen warum: du warst so still in der Nacht,
du vermehrtest mit deinem Schlaf die Stille. Wir waren zwei stille,
ruhige Menschen während allen diesen Nächten; nun werde ich allein still
sein müssen, etwas gezwungen, und es wird weniger still sein; denn ich
werde mich öfters im Dunkel im Bett aufrichten und auf irgend etwas
aufhorchen. Dann werde ich fühlen, daß es viel weniger still mehr ist.
Vielleicht werde ich dann weinen, gar nicht etwa wegen dir, und ich
bitte dich, dir nichts darauf einzubilden. Seh einer doch, da will er
sich gleich etwas vormachen. Nein, nein, Simon, wegen dir wird niemand
weinen. Wenn du fort bist, bist du fort. Das ist alles. Glaubst du, um
dich könnte man weinen? Keine Rede. Das darf dir nie in den Sinn kommen.
Man spürt, daß du fort bist, man merkt es sich, aber weiter? Etwa
Sehnsucht, oder dergleichen? Nach einem Menschen von deinem Schlag
empfindet niemand Sehnsucht. Du weckst keine. Kein Herz wird dir je
nachzittern! Dir einen Gedanken weihen? I, was! Ja, nachlässig, so wie
man eine Nadel aus der Hand fallen läßt, wird man gelegentlich deiner
gedenken. Mehr verdienst du auch nicht, und wenn du hundert Jahre alt
würdest. Du hast nicht das mindeste Talent, Andenken zu hinterlassen. Du
hinterlässest auch gar nichts. Ich wüßte nicht, was du hinterlassen
könntest; denn du besitzest ja gar nichts. Du hast keine Ursache, so
frech zu lachen, ich spreche im Ernst. Geh mir aus den Augen!
Marsch!« --

                   *       *       *       *       *

Während der folgenden Tage war schlechtes, regnerisches Wetter, auch das
war wiederum ein Anlaß zum Dableiben. Simon konnte doch nicht bei diesem
Wetter seine Reise antreten. Er hätte gekonnt, ja, aber mußte es denn
gerade bei schlechtem Wetter sein? So blieb er noch. Einen oder zwei
Tage, mehr nicht, dachte er. Er saß beinahe den ganzen Tag in dem
leeren, großen Schulzimmer und las in einem Roman, den er noch fertig zu
lesen wünschte, ehe er ging. Manchmal lief er zwischen den Reihen von
Bänken auf und ab, immer das Buch in der Hand, dessen Inhalt ihn so sehr
fesselte, daß er mit seinen Gedanken nicht davon wegkam. Er kam nicht
vorwärts mit seinem Lesen; denn immer blieb er stecken in Gedanken. Ich
lese noch so lange, als es noch regnet, dachte er; wenn es schönes
Wetter wird, muß ich fortfahren, aber nicht mit Lesen, sondern
fortfahren, und zwar wirklich.

Hedwig sagte am letzten Tag zu ihm:

»Nun gehst du wohl, nun ist es wohl abgemacht. Leb wohl. Komm ganz in
meine Nähe und gib mir die Hand. Ich werde mich vielleicht in kurzer
Zeit einem Mann hinwerfen, der mich nicht verdient. Ich werde das Leben
verspielt haben. Ich werde viel Achtung genießen. Man wird sagen: das
ist eine tüchtige Frau. Eigentlich habe ich nicht den Wunsch, jemals
wieder etwas von dir zu hören. Versuche ein braver Mann zu werden.
Mische dich in öffentliche Angelegenheiten, mach von dir reden, es würde
mir Vergnügen machen, aus der Leute Mund von dir zu hören. Oder lebe
dahin, wie du es kannst und verstehst, bleibe im Dunkel, kämpfe im
Dunkel mit den vielen Tagen, die noch kommen werden. Ich mute dir nie
Schwächlichkeiten zu. Was soll ich noch sagen, um dir Glück mit auf
deine Reise zu wünschen? Bedanke dich doch. Ja, du! Denkst du nicht
daran, mir zu danken für das Hiersein, das ich dir gewährt habe? Nein,
laß es, denn es stünde dir nicht gut an. Du verstehst nicht, eine
Verbeugung zu machen und zu sagen, daß du gar nicht wüßtest, wie du
danken solltest. Dein Betragen war deine Dankbarkeit. Ich habe mit dir
die Zeit gejagt und getrieben, daß es ihr heiß wurde vor uns. Hast du
wirklich nicht mehr Sachen, als da in diesen kleinen Koffer hineingehen?
Du bist wirklich arm. Ein Reisekoffer ist das ganze Haus, das du in der
Welt bewohnst. Das hat etwas Hinreißendes aber auch etwas Erbärmliches.
Geh jetzt. Ich werde dir aus dem Fenster nachschaue. Wenn du oben auf
dem Hügelrand bist, wende dich um und blicke noch einmal nach mir. Was
sollten wir noch mehr Zärtlichkeiten tauschen? Du Bruder zu mir
Schwester? Was hat es zu sagen, wenn eine Schwester ihren Bruder auch
nie mehr wiedersieht? Ich entlasse dich ziemlich kalt, weil ich dich
kenne und weiß, daß du die Wärme beim Abschied hassest. Zwischen uns
bedeutet das nichts. So sage mir denn adieu und geh denn.« --



Elftes Kapitel.


Es war ungefähr zwei Uhr am Nachmittag, als Simon in der großen Stadt,
die er vor ungefähr drei Monaten verlassen hatte, mit der Eisenbahn
wieder ankam. Der Bahnhof war voll Menschen und ganz schwarz, mit jenem
Geruch angefüllt, der nur in kleinen, ländlichen Bahnhöfen nicht
anzutreffen ist. Simon zitterte, als er aus dem Wagen ausstieg, er war
hungrig, steif, matt, traurig und mutlos und konnte eine gewisse
Beklemmung nicht los werden, obschon er sich sagte, daß es eine dumme
Beklemmung sei, die er da empfand. Er gab, wie es die meisten Reisenden
tun, sein Gepäck am Gepäckschalter ab und verlor sich unter die
Menschen. So wie er freie Bewegung bekam, fühlte er sich auch sofort
besser und wurde wieder auf seine leichte Gesundheit aufmerksam, die vom
Landaufenthalt her in vollkommen gutem Zustand war. Er aß etwas in einem
jener seltsamen Volkslokale. Da aß er nun wieder, ohne vielen Appetit;
denn das Essen war mager und schlecht, ganz gut für einen armen Städter,
aber nicht für einen verwöhnten Landbewohner. Die Menschen betrachteten
ihn aufmerksam, als ahnten sie, daß er vom Lande herkomme. Simon dachte:
»Diese Menschen müssen sicher fühlen, daß ich gewöhnt bin, besser zu
speisen; denn es liegt so etwas in der Art, wie ich mit diesem Essen
umgehe.« In der Tat, er ließ die Hälfte davon stehen, bezahlte und
konnte nicht umhin, der Kellnerin leichthin zu bemerken, wie wenig es
ihm gemundet habe. Diese schaute den Spötter nur so verächtlich an,
freundlich verächtlich, ganz leicht, als hätte sie es nicht nötig,
deswegen empört zu sein, da es doch so einer gesagt hatte und nicht ein
anderer. Eines andern wegen, ja, dann schon, aber eines solchen! --
Simon trat hinaus. Er war doch glücklich, trotz dem minderwertigen Essen
und der beleidigenden Miene des Mädchens. Der Himmel war leicht blau.
Simon schaute ihn an: ja, er hatte hier doch auch einen Himmel. In
dieser Beziehung war es doch dumm, so sehr zu Ungunsten der Städte für
das Land eingenommen zu sein. Er nahm sich vor, jetzt nicht mehr an das
Land zurückzudenken, sondern sich an die neue Welt zu gewöhnen. Er sah,
wie die Menschen vor ihm her gingen, viel schneller als er; denn er
hatte sich auf dem Lande einen schlenderischen, bedächtigen Schritt
angewöhnt, als fürchtete er, zu rasch vorwärts zu kommen. Nun, für heute
wollte er es sich noch gestatten, bäuerisch zu gehen, von morgen ab
sollte es dann anders vorwärts gehen. Aber er betrachtete die Menschen
mit Liebe, ganz ohne jede Scheu, sah ihnen in die Augen, an die Beine,
um zu sehen, wie sie die Beine bewegten, an die Hüte, um den Fortschritt
der Mode zu beobachten, an die Kleider, um die seinen immer noch gut
genug zu finden im Vergleich mit den vielen unschönen, die er emsig
studierte. Wie sie eilig gingen, diese Menschen. Er hätte Lust gehabt,
einen von ihnen aufzuhalten und ihn mit den Worten anzureden: Wohin so
schnell? Aber er hatte doch nicht den Mut zu einer so törichten
Handlung. Er fühlte sich wohl, sonst aber ein wenig matt und gespannt.
Eine kleine, nicht zu verhehlende Trauer hielt ihn gefangen, aber sie
harmonierte mit dem leichten, glücklichen, etwas getrübten Himmel. Sie
harmonierte auch mit der Stadt, wo es beinahe unschicklich ist, ein
allzusonniges Gesicht zu machen. Simon mußte sich gestehen, daß er da
ginge und absolut nichts suche, aber er hielt es für angebracht, wie
alle andern solch eine Sucher- und Vorwärtsdrängermiene zu machen, um
nicht den eben angekommenen, beschäftigungslosen Menschen darstellen zu
müssen. Er mochte nicht auffallen und es tat ihm wohl, zu bemerken, daß
er weiter keinem Menschen durch sein Betragen auffiel. Er schloß daraus,
daß er noch immer befähigt sei, in der Stadt zu leben, trug sich ein
wenig strammer noch, als zuvor, und tat, als trüge er eine kleine,
elegante Absicht mit sich, die er gleichmütig verfolge, die ihm keine
Sorgen, nur Interesse entlocke, die seine Schuhe nicht beschmutzen und
seine Hände nicht anstrengen würde. Eben ging er jetzt durch eine
schöne, reiche Straße, die auf beiden Seiten mit blühenden Bäumen
besetzt war, in der man, da sie breit war, den Himmel freier vor Augen
hatte. Es war wirklich eine herrliche, lichte Straße, die einem das
angenehmste Leben vorgaukeln konnte und jeden Traum gestatten durfte.
Simon vergaß jetzt sein Vorhaben, durch diese Straße mit gesetzten,
gezierten Bewegungen zu gehen, völlig. Er ließ sich gehen und tragen,
schaute bald zu Boden, bald hinauf, bald zur Seite in eines der vielen
Schaufenster, vor deren einem er endlich stehen blieb, ohne eigentlich
etwas zu betrachten. Er fand es angenehm, den Lärm der schönen,
lebhaften Straße hinter seinem Rücken und doch in seinen Ohren zu haben.
Er unterschied in seinen Sinnen die Schritte der einzelnen Passanten,
die wohl alle denken mußten, er stehe da, um etwas so recht ins Auge zu
fassen, das im Schaufenster liege. Plötzlich hörte er sich von jemand
angesprochen. Er drehte sich um und erblickte eine Dame, die ihn
aufforderte, ein Paket, das sie ihm hinstreckte, bis in ihr Haus zu
tragen. Es war keine besonders schöne Dame, aber in diesem Augenblick
hatte Simon sich nicht lange zu besinnen, ob sie schön war oder nicht,
sondern hatte, wie ihm eine innere Stimme zurief, ihrer Aufforderung
lebhaft nachzukommen. Er ergriff das Paket, das gar nicht schwer war,
und trug es der Dame nach, die quer über die Straße mit kleinen,
gemessenen Schritten ging, ohne sich nur einmal nach dem jungen Manne
umzudrehen. Vor einem, wie es schien, prachtvollen Hause angekommen,
befahl ihm die Frau, mit hinauf zu kommen, und er tat es. Er sah keinen
Grund, warum er nicht hätte gehorchen sollen. Mit dieser Dame in deren
Haus zu gehen, das war etwas ganz Natürliches, und der Stimme der Dame
zu gehorchen war seiner Lage, die ihm nichts vorschrieb, durchaus
angemessen. Er würde vielleicht jetzt noch vor dem Schaufenster stehen
und gaffen, dachte er, indem er die Treppen hinaufstieg. Oben
angekommen, hieß ihn die Frau eintreten. Sie ging voran und ließ ihn
nachkommen und in ein Zimmer hineingehen, dessen Türe sie öffnete. Simon
schien es ein prächtiges Zimmer zu sein. Die Frau kam wieder hinein,
setzte sich in einen der Stühle, räusperte sich ein wenig, sah den vor
ihr Stehenden an und fragte ihn dann, ob er sich entschließen könne, bei
ihr in Dienste zu treten. Er mache ihr, fuhr sie fort, den Eindruck
eines müßig in der Welt stehenden Menschen, dem man eine Wohltat
erweise, wenn man ihm Arbeit gebe. Im übrigen gefalle er ihr soweit und
er möchte ihr sagen, ob er gewillt sei, das Anerbieten, das sie ihm
mache, anzunehmen.

»Warum nicht,« antwortete Simon.

Sie sagte: »Ich scheine mich also nicht geirrt zu haben, wenn ich von
Ihnen gleich im ersten Augenblick angenommen habe, daß Sie ein junger
Mensch sind, der froh ist, irgendwo unterzukommen. Sagen Sie mir einmal,
wie heißen Sie, und was haben Sie bis jetzt getan in der Welt?«

»Ich heiße Simon, und ich habe bis jetzt nichts getan!«

»Wie kommt das?«

Simon sagte: »Ich habe von meinen Eltern ein kleines Vermögen bekommen,
das ich soeben bis auf den letzten Heller verzehrt habe. Ich habe es
nicht für nötig gefunden, zu arbeiten. Etwas zu lernen hatte ich keine
Lust. Ich habe den Tag als zu schön empfunden, als daß ich den Übermut
hätte besitzen können, ihn durch Arbeit zu entweihen. Sie wissen, wie
viel durch tägliche Arbeit verloren geht. Ich war nicht imstande, mir
eine Wissenschaft anzueignen und dafür den Anblick der Sonne und des
abendlichen Mondes zu entbehren. Ich brauchte Stunden, um eine
Abendlandschaft zu betrachten, und habe Nächte durch, statt am
Schreibtisch oder im Laboratorium, im Grase gesessen, während zu meinen
Füßen ein Fluß vorüberfloß und der Mond durch die Äste der Bäume
blickte. Sie werden befremdend auf eine solche Aussage herabblicken,
aber, sollte ich Ihnen eine Unwahrheit berichten? Ich habe auf dem Lande
und in der Stadt gelebt, aber ich habe bis jetzt noch keinem Menschen
auf der Welt einen einigermaßen bemerkenswerten Dienst erwiesen. Ich
habe Lust, das zu tun, jetzt, wo es scheinen will, daß ich Gelegenheit
dazu habe.«

»Wie konnten Sie so liederlich leben?«

»Ich habe das Geld nie geachtet, gnädige Frau! Dagegen könnte es mir,
wenn ich dazu veranlaßt würde, einfallen, ja, sogar am Herzen liegen,
anderer Menschen Geld für wertvoll zu erachten. Es will den Anschein
haben, daß Sie den Wunsch hegen, mich in Ihre Dienste zu nehmen: Nun, in
diesem Fall würde ich Ihre Interessen natürlich streng beobachten; denn
in einem solchen Falle hätte ich dann keine andern Interessen mehr, als
die Ihrigen, die die meinen wären. Meine eigenen Interessen! Wo wäre ich
je dazu gekommen, eigene Interessen zu haben! Wann hätte ich je eigene
ernstliche Angelegenheiten gehabt. Ich habe mein Leben bis jetzt
vertändelt, weil ich es so wollte, da es mir immer ganz als wertlos
erschien. In fremden Interessen würde ich aufgehen, es versteht sich von
selber; denn wer keine eigenen Ziele hat, lebt eben für die Zwecke,
Interessen und Absichten Anderer.« --

»Sie müssen doch irgend eine Zukunft vor Augen haben wollen!« --

»Habe noch keinen Augenblick daran gedacht! Sie sehen mich etwas besorgt
und ziemlich unfreundlich an. Sie mißtrauen mir und trauen mir keine
ernstliche Absicht zu. Ich muß gestehen, ich habe bis zum heutigen Tage
auch noch nie irgend welche Absicht mit mir herumgetragen, weil mich bis
jetzt noch niemand zu der Pflege einer Absicht aufgefordert hat. Ich
trete zum ersten Mal einem Menschen gegenüber, der meine Dienste in
Anspruch nehmen will; das schmeichelt mir und veranlaßt mich, Ihnen kühn
die Wahrheit zu sagen. Was schadet es, daß ich bis dahin ein
liederlicher Mensch gewesen bin, wenn ich nun ein besserer werden will?
Können Sie glauben, ich möchte nicht den Wunsch haben, mich Ihnen
dankbar dafür zu erweisen, daß Sie mich von der offenen Straße weg in
Ihr Zimmer ziehen, um mir ein Menschenlos zu geben? Ich habe nicht eine
Zukunft vor Augen, nur die Absicht, Ihnen zu gefallen. Ich weiß auch,
daß man gefällt, wenn man seine Pflicht erfüllt. Nun, diese Zukunft habe
ich vor Augen: meine Pflicht, die Sie mir aufgeben werden, zu erfüllen.
Ich mag nicht gern in eine viel weitere, als in die ganz nächste Zukunft
hineindenken. Meine Laufbahn interessiert mich nicht, die mag ausfallen,
wie sie will, wenn ich nur den Menschen gefalle.« --

Die Dame sagte hierauf: »Obschon es eigentlich eine Unvorsichtigkeit
ist, einen Menschen, der nichts ist und nichts kann, in Dienst zu
nehmen, will ich es doch tun; denn ich glaube, Sie haben den Wunsch, zu
arbeiten. Sie werden mein Diener sein und tun, was ich Ihnen auftragen
werde. Sie können es als ein besonderes Glück betrachten, Gnade gefunden
zu haben, und ich will hoffen, daß Sie sich Mühe geben werden, sie zu
verdienen. Sie haben ja keinerlei Zeugnisse bei sich, sonst stände es
mir an, Sie nach Ihren Zeugnissen zu fragen. Wie alt sind Sie?« --

»Zwanzig Jahre und etwas darüber!«

Die Dame nickte mit dem Kopf: »Das ist ein Alter, wo der Mensch daran
denken muß, sich für das Leben eine Aufgabe zu stellen. Nun, ich will
vieles, das mir an Ihrem Wesen nicht recht paßt, vorläufig übersehen und
Ihnen Gelegenheit geben, ein zuverlässiger Mann zu werden. Wir werden
sehen!« --

Damit war diese Unterredung beendigt.

Die Dame führte Simon durch eine Flucht eleganter Zimmer, bemerkte,
indem sie ihrem jungen Begleiter voranschritt, daß es eine seiner
Aufgaben sei, die Zimmer zu reinigen, fragte, ob er imstande sei, einen
Zimmerboden mit Stahlspänen aufzureiben, ohne jedoch seine Antwort
abzuwarten, als wüßte sie schon, daß er das könne, als ob sie das nur
gefragt hätte, um irgend eine Frage an ihn zu richten, daß es ein
bißchen ausforscherisch und hochmütig um seine Ohren herum sause,
öffnete eine Türe, ließ ihn in ein kleineres, warm mit Teppichen aller
Art ausgefüttertes Zimmer treten, wo sie ihn einem Knaben, der im Bett
lag, mit kurzen Worten vorstellte: Diesen kleinen Herrn, der krank sei,
werde er bedienen, wie, das werde ihm noch gesagt werden. Es war ein
blasser, hübscher, wenngleich von der Krankheit entstellter Knabe, der
seine Augen kalt auf diejenigen Simons richtete, ohne etwas zu sprechen.
Man ahnte, daß er nicht sprechen, vielleicht etwa nur lallen konnte,
wenn man seinen Mund ansah, der unbehilflich in dem Gesicht lag, als
gehörte er gar nicht dazu, als klebe er dort nur an und sei nicht immer
dagewesen. Die Hände des Knaben indessen waren sehr schön, sahen so aus,
als trügen sie den ganzen Schmerz und die ganze Schmach der Krankheit,
als hätten sie es übernommen, den ganzen Umfang, die ganze schöne Last
weinender Trauer zu tragen. Simon konnte nicht umhin, diese Hände einen
Moment länger, als ihm gestattet war, liebend zu betrachten; denn schon
wurde er aufgefordert, der Dame zu folgen, die ihn durch einen Korridor
in die Küche führte, wo sie sagte, daß er der Köchin, wenn keine
wichtigere Arbeit für ihn vorliege, behülflich zu sein hätte. Das tue er
sehr gern, entgegnete Simon, wobei er das Mädchen anblickte, das die
Herrin in der Küche zu sein schien. Darauf, am nächsten Morgen nämlich,
trat er seinen Dienst an, das heißt, der Dienst trat an ihn heran und
verlangte von ihm dieses und jenes und ließ ihm keine Zeit mehr übrig,
zu denken, ob es ein netter Dienst sei oder nicht. Die Nacht hatte er
bei dem Knaben, seinem jungen Herrn, zugebracht, schlafend und immer
wieder aufwachend; denn es war ihm befohlen worden, nur ganz leicht,
leise und oberflächlich, also absichtlich schlecht zu schlafen, damit er
sich daran gewöhne, schnell, bei jedem nur geflüsterten Ruf des Kranken,
aus dem Bett zu springen und nach des Knaben Befehle zu fragen. Simon
glaubte der Mann zu einem solchen Schlaf zu sein; denn wenn er gelinde
nachdachte, verachtete er den Schlaf und nahm gerne die Gelegenheit
wahr, die ihn nötigte, sich aus einem dichten und tiefen Schlaf nichts
zu machen. Am nächsten Morgen sodann spürte er nicht im geringsten, daß
er schlecht geschlafen habe, konnte aber auch nicht nachzählen, wie
oftmals er aus dem Bett aufgesprungen sei, und ging munter an die
Arbeit. Vorerst hatte er mit einem weißen, dicken Topf in der Hand auf
die Straße zu springen, um denselben dort von einer Frau mit frischer
Milch füllen zu lassen. Bei dieser Gelegenheit konnte er einen
Augenblick lang den erwachenden, feuchtglänzenden Tag betrachten, seine
beiden Augen damit trunken und feurig machen und wiederum die Treppe
hinaufspringen. Er machte die Beobachtung, daß ihm seine Glieder gut und
geschmeidig gehorchten, wenn er hinauf und hinunter eilte. Alsdann hatte
er, bevor die Frau noch aus ihrem Schlafe erwachte, mit dem Mädchen
gemeinschaftlich diejenigen Zimmer aufzuräumen, die ihm vorgeschrieben
waren: das Eßzimmer, den Salon und das Schreibzimmer. Der Boden mußte
mit einem Besen abgekehrt, die Teppiche abgebürstet, Tisch und Stühle
abgewischt, Fenster angehaucht und abgeputzt und alle im Zimmer
befindlichen Gegenstände angerührt, in die Hand genommen, gesäubert und
wieder an Ort und Stelle gelegt werden. Das alles mußte blitzschnell vor
sich gehen, aber Simon dachte, wenn er das dreimal gemacht habe, würde
er es mit geschlossenen Augen tun können. Nachdem diese Arbeit getan
war, bedeutete ihm das Mädchen, daß er jetzt ein Paar Schuhe reinigen
könne. Simon nahm die Schuhe in die Hand, wahrhaftig, es waren der Dame
ihre Schuhe. Schöne Schuhe waren es, zierliche Schuhe mit Pelzbesatz und
von so zartem Leder wie Seide. Simon hatte immer für Schuhe geschwärmt,
nicht für alle, nicht für grobe, aber für so seine immer, und nun hielt
er solch einen Schuh in der Hand und hatte die Pflicht, ihn zu säubern,
obgleich er eigentlich nichts daran zu säubern bemerkte. Immer schienen
ihm Füße von Frauen etwas Heiliges zu sein, und Schuhe glichen in seinen
Augen und Sinnen Kindern, glücklichen, bevorzugten Kindern, die das
Glück hatten, den feinbeweglichen, empfindlichen Fuß zu bekleiden und zu
umschließen. Welch eine schöne Erfindung der Menschen, solch ein Schuh,
dachte er, indem er daran mit einem Tuch herumwischte, um so zu tun, als
ob er putzte. Da wurde er von der Frau selber überrascht, die in die
Küche kam und ihn mit einem strengen Blick maß; Simon beeilte sich, ihr
Guten Tag zu sagen, worauf sie nur mit ihrem Kopf nickte. Simon fand das
allerliebst, ja entzückend, sich Guten Morgen sagen zu lassen und nur so
mit dem Kopf zu nicken als Erwiderung, als wolle man sagen: ja, lieber
Bursche, ja, ich danke dir, ich habe es gehört, es war sehr nett gesagt,
es hat mir gefallen!

»Sie müssen meine Schuhe besser putzen, Simon,« sagte die Frau.

Simon war sehr glücklich über ihren Tadel. Wie oft, wenn er durch heiße,
verbrannte, menschenleere Gassen geschlendert, absichtslos
herumgewandert war, empfand er in seinem Herzen Sehnsucht nach einem
bösen, bissigen Tadel, nach einem Schimpfwort, nach einem Fluch und
beleidigenden Ausruf, nur um die Gewißheit zu haben, nicht ganz allein,
nicht ganz ohne Teilnahme zu sein, und wenn die Teilnahme auch eine rohe
und verneinende gewesen wäre. »Wie lieb klingt dieser Tadel aus ihrem
Frauenmund,« dachte er, »wie bindet mich das an sie, wie sehr verbindet
und verknüpft und fesselt es, man fühlt solch einen Tadel wie eine
kleine, gar nicht sehr schmerzende Ohrfeige, eines Fehlers wegen, den
man begangen hat«; und Simon nahm sich im stillen vor, nur noch Fehler
zu begehen, nein, nicht gerade ausschließlich, denn das würde ihn zum
Tölpel gestempelt haben, aber regelmäßig kleinere Versehen, schön
beabsichtigt, um den Genuß zu haben, eine empfindliche und an Ordnung
gewöhnte Dame entrüstet zu sehen. Entrüstung, nein, nicht gerade
Entrüstung, sondern mehr ein Fragen, ein Staunen über seine, Simons
Ungeschicklichkeit. Dann hätte man Gelegenheit, in andern Punkten zu
glänzen, und so durfte man das Vergnügen haben, zu beobachten, wie sich
ein strenges und ärgerliches Gesicht in ein freundlicheres und
befriedigtes verwandelte. Welche Freude, sich einen Menschen zur
Zufriedenheit innig umzustimmen, wenn man ihn vorher gekränkt gesehen
hat. »Heute morgen bereits einen lieben Tadel geerntet,« dachte Simon,
und weiter: »wie angenehm ist es, der Getadelte zu sein, es ist
gewissermaßen ein reiferer, überlegener Zustand. Ich bin wie geschaffen
dazu, getadelt zu werden; denn ich empfinde den Tadel dankbar, und nur
solche verdienen freundschaftlich getadelt zu werden, die dafür durch
entsprechende Körperhaltung, die sie anzunehmen haben, zu danken
wissen.«

Simon stand wirklich entsprechend da, und er fühlte: »Nun erst bin ich
der Diener dieser Frau; denn sie tadelt mich, weil sie ein Recht in sich
fühlt, mich ohne viel Überlegen zurechtzuweisen, und dabei von mir ein
korrektes Schweigen erwartet. Wenn man einen untergebenen Beamten
tadelt, so schmerzt man ihn, und man trägt immer die geheime Absicht,
ihm auch wirklich weh zu tun durch das Merkenlassen der höheren Stufe,
die man einnimmt. Einen Diener tadelt man nur in der Absicht, ihn zu
belehren und zu erziehen, so wie man ihn haben will; denn ein Diener
gehört einem, während man mit einem untergebenen Beamten, wenn die
Feierabendstunde schlägt, menschlich weiter nichts mehr zu tun hat. Ich
zum Beispiel jetzt bin mit der Wärme des Herzens getadelt worden, dazu
kommt noch, daß der Tadel von einer Frau kommt, die zu den Frauen
gehört, die immer lieblich sind, wenn sie sich so etwas herausnehmen. In
der Tat, Damen muß man einen Tadel aussprechen hören, um zu der
Überzeugung zu gelangen, daß sie es besser verstehen als die Männer,
ohne kleinliche Kränkung einen Fehler zu rügen. Vielleicht ist das aber
falsch, und ich sehe, was, wenn es von einem Mann kommt, mich verletzt,
von Damen herkommend, nicht für beleidigend, sondern für aufmunternd an.
Einem Mann gegenüber empfinde ich immer die stolze Gleichstellung, einer
Dame gegenüber niemals, weil ich ein Mann bin, oder weil ich mich darauf
vorbereite, einer zu werden. Vor Frauen muß man sich entweder überlegen
oder unterlegen fühlen! -- Einem Kinde zu gehorchen, wenn es reizend
befiehlt, ist mir etwas Leichtes, dagegen einem Mann: Pfui! Nur Feigheit
und geschäftliche Interessen mögen einen Mann dazu veranlassen, vor
einem andern Mann zu kriechen: Niedrige Gründe, das! Aus diesem Grunde
bin ich froh, daß ich einer Frau zu gehorchen habe; denn das ist
natürlich, weil es niemals ehrverletzend sein kann. Eine Frau kann die
Ehre eines Mannes niemals verletzen, es sei denn beim Ehebruch, aber da
benimmt sich der in Frage kommende Mann meist als ein schwacher Tölpel,
den es gar nicht entehrt, wenn er betrogen wird, da ihn schon die
Möglichkeit des Betruges längst vorher in den Augen derer entehrt hat,
die ihn kannten. Unglücklich können Frauen machen, aber entehren können
sie niemals; denn das wirkliche Unglück ist keine Schande und kann nur
auf rohe Gemüter und Sinnesarten komisch wirken, auf solche Menschen,
die sich allerdings ihrerseits dann eine Unehre antun, es zu verlachen.«

»Kommen Sie!«

Mit diesem Wort riß die Dame ihren Diener aus seiner anmaßlichen
Gedankenreihe und befahl ihm, nun den kranken Knaben ankleiden zu gehen.
Er gehorchte und tat, was sie verlangte. Er trug ein Becken voll
frischen Wassers an das Bett und wusch mit einem Waschschwamm sorgsam
das Gesicht des Knaben, reichte ihm ein Glas, halbgefüllt mit klarem
Wasser, und ließ ihn den Mund damit wässern, was der Knabe mit seinen
schönen Händen sehr hübsch tat, nahm dann eine Bürste und einen Kamm zur
Hand, brachte das Haar des im Bett Liegenden in Ordnung und reichte ihm
zum Schluß das Frühstück auf einem silbernen Tablett dar, schaute zu,
wie es bedächtig, mit vielem Absetzen, verzehrt wurde, ohne müde oder
gar ungeduldig zu werden; denn wie häßlich und unpassend würde Ungeduld
hier gewesen sein; trug das Geschirr wieder hinaus und kam wieder, um
nun den Kranken, der sich nicht selbst anziehen konnte, anzukleiden. Er
hob den leichten, dünnen Körper mit einiger Scheu zum Bette heraus,
nachdem er schon vorher den Füßen und Beinen die Strümpfe übergezogen
hatte, steckte an die Füße kleine Hausschuhe, nahm die Beinkleider zur
Hand, um sie anzuziehen, schnallte den Gurt der Hose zu, warf die
Hosenträger, wie es sich schickte, von hinten über, alles schnell, alles
geräuschlos, und so, daß jede Bewegung auch wirklich gleich etwas tat,
legte dem Hals des Knaben jetzt den Kragen um, einen breiten, umgelegten
Knabenkragen, befestigte mit gutem Geschick eine Krawatte an den
Hemdknopf; das Hemd war natürlich längst übergeworfen worden; reichte
jetzt die Weste, ließ die Arme hineinschlüpfen, ebenso den Rock und die
paar Gegenstände, die der Knabe bei sich zu tragen pflegte, als Uhr,
Uhrgehänge, Messer, Taschentuch und Notizbuch, und das Werk war fertig.
Nun mußte Simon des kleinen Herrn Bett in Ordnung bringen, sowie das
ganze Schlafzimmer in der Weise, wie es ihm die Dame zeigte, aufräumen,
die Fenster öffnen, die Kissen, Bettdecke und das Laken ans Fenster
legen und alles so machen, wie es getan wird und wie er merkte, daß es
getan werden mußte. Die Dame verfolgte alle seine Bewegungen, wie ein
Fechtmeister den Bewegungen seines Schülers folgt, und fand, daß er sich
mit Talent in die Arbeit schickte. Sie sagte nicht etwa ein Wort der
Anerkennung. Würde ihr nicht von ferne eingefallen sein. Außerdem mochte
ihr Diener an ihrem Schweigen merken, daß sie seine Art und Weise
billige. Es freute sie, wie zart er mit ihrem Sohn umgegangen war, da
sie bemerkt hatte, wie jede Bewegung Simons beim Ankleiden dessen
Achtung für den Kranken aussprach. Sie mußte lächeln, als sie gewahrt
hatte, mit welcher Scheu er zuerst angefaßt, und wie er dann später die
Scheu überwunden hatte und mit seinem Tun kräftiger, ruhiger und
gleichmäßiger geworden war. Dieser junge Mann gefiel ihr vorläufig,
mußte sie sich sagen. »Wenn er fortfährt, wie er angefangen hat, so will
ich ihn dafür lieb haben, daß er mich nicht in meinem Gefühl, das ich
mir gleich von Anfang an von ihm machte, betrogen hat,« dachte sie. »Er
ist sehr still und anständig und scheint das Talent zu besitzen, sich
mit jeder Lage gleich vertraut machen zu können. Und da er, wie ich
glaube aus seinen Manieren schließen zu dürfen, aus gutem Hause
herstammt, will ich ihn, um seiner Mutter willen, die vielleicht noch
lebt, und um seiner Geschwister willen, die vielleicht geachtete
Stellungen einnehmen und besorgt sind um sein Schicksal, zu einem klugen
und schönen Betragen anhalten und will Freude haben, wenn ich sehe, daß
er einschlägt und sich so benimmt, wie man es von ihm erwartet.
Vielleicht darf ich ihn in kurzem etwas zutraulicher behandeln, als man
gezwungen ist, mit seinen Dienstboten zu verkehren. Aber ich will acht
geben und ihm keinen Anlaß geben, durch zu frühes freundliches
Entgegenkommen, mir unverschämt zu begegnen. In seinem Charakter sitzt
eine leise Beigabe von Unverschämtheit und Trotz, und diese darf nicht
geweckt werden. Ich werde immer mein Gefallen, das ich an ihm habe,
unterdrücken müssen, wenn ich will, daß er immer die Lust hat, mir zu
gefallen. Ich glaube, er liebt mein strenges Gesicht, ich erriet so
etwas, als er vorhin lächelte, wo ich ihn doch ziemlich unfreundlich
getadelt habe. Die Menschen muß man erraten, wenn man sie von ihrer
schönen Seite haben will. Er hat Seele, dieser junge Mann, man muß ihm
deshalb auch seelenvoll und seelenbewußt entgegentreten, um etwas bei
ihm zu erreichen. Man nimmt Rücksicht, und tut doch so, als ob man keine
nähme, wie man ja auch wirklich keine zu nehmen nötig hätte. Aber es ist
besser und klüger, man nimmt, wenn man mit Ruhe kann.« -- Sie beschloß,
den Simon ein bißchen abenteuerlich zu nehmen, und schickte ihn jetzt
aus, um Einkäufe zu machen.

Das war nun wieder etwas ganz Neues für Simon, durch die Straßen zu
eilen, mit einem Korb oder mit einer ledernen Tragtasche in der Hand,
Fleisch und Gemüse zu kaufen, in die Läden zu treten und dann wieder
nach Hause zu springen. In den Straßen sah er die Menschen ihren
verschiedenartigen Geschäften nachgehen, jeder trug sich mit einer
Absicht und er selber auch. Es schien ihm, daß die Leute sich über seine
Gestalt verwunderten. Sollte sein Gang etwa nicht zu dem gefüllten
Korbe, den er leicht trug, passen? Waren seine Bewegungen zu frei, als
daß sie zu seinem Auftrage, nämlich zum Botenlaufen, gestimmt hätten?
Aber es waren freundliche Blicke, die er bekam; denn man sah ihn eilig
und geschäftig, und er mußte den Eindruck eines pflichteifrigen Mannes
machen. »Wie schön ist es doch,« dachte Simon, »so mit einer Pflicht im
Kopf durch die Straßen neben den wimmelnden Menschen her zu laufen, von
einigen überholt zu werden, die längere Beine haben, und andere wieder
zu überflügeln, die träger gehen, als wenn sie Blei in ihren Schuhen
hätten. Wie hübsch ist es, von den sauberen Mägden für ihresgleichen
angeblickt zu werden, zu beobachten, welchen Scharfblick diese einfachen
Wesen haben, zu sehen, daß sie beinahe Lust hätten, bei einem schnell
stehen zu bleiben, um zehn Minuten lang plaudern zu können. Wie die
Hunde auf der Straße laufen, als wären sie hinter dem Wind her, wie
Greise noch geschäftig sind mit ihren gebeugten Nacken und Rücken! Und
da möchte man noch schlendern! Wie entzückend sind die einzelnen Frauen,
an denen man, ohne beachtet zu werden, vorüberrennen darf. Was sollte
man von ihnen beachtet werden. Wäre noch schöner! Es genügt doch, selber
Beobachteraugen zu haben. Hat man etwa die Sinne nur, daß sie gestachelt
werden, und nicht, damit man sie selber stachle? Die Augen der Frauen an
einem solchen Straßenmorgen, wie dieser, wenn sie so in die Ferne
blicken, sind etwas Herrliches. Augen, die an einem vorbeisehen, sind
schöner, als solche, die einen ansehen. Es ist, als verlören sie
dadurch. Wie man rasch denkt und fühlt, wenn man so rasch läuft. Nur den
Himmel nicht betrachten! Nein, lieber nur empfinden, daß da oben, über
dem Kopf und über den Häusern etwas Schönes und Weites schwebt, etwas
Schwebendes, vielleicht Blaues, ganz gewiß Duftiges. Man hat Pflichten,
und das ist auch etwas Schwebendes, Fliegendes, Hinreißendes. Man trägt
etwas mit sich, das man nachzählen und abliefern muß, um als
zuverlässiger Mensch dastehen zu können, und ich bin gegenwärtig so, daß
es mir mein einziges Vergnügen ist, als zuverlässiger Mensch dazustehen.
Die Natur? Mag sie sich einstweilen verstecken. Ja, es ist mir, als ob
sie sich verborgen hielte, da, hinter den langen Häuserreihen. Der Wald,
er reizt mich vorläufig nicht mehr, soll mich nicht reizen. Immerhin, es
hat etwas Schönes, zu denken, daß alles doch noch da ist, während ich
flüchtig und geschäftig durch die blendende Straße eile, mich um nichts
bekümmere, als um das, was ich mit meiner Nase denken könnte, so einfach
ist es.« -- Er zählte das Geld in der Westentasche mit fühlenden Fingern
nach, ohne es heraus zu nehmen, und ging nach Hause.

Nun hatte er den Tisch zu decken.

Er mußte ein sauberes, weißes Tischtuch über den Tisch breiten, daß die
Falten nach oben zu liegen kamen, dann die Teller hinlegen, so, daß der
Tellerrand nicht über den Tischrand hinausragte, dann Gabel, Messer und
Löffel hinlegen, Gläser aufstellen und eine Karaffe mit frischem Wasser,
Servietten auf die Teller legen und das Salzgefäß auf den Tisch stellen.
Stellen und legen, hinlegen und anfassen und hinstellen, zart anfassen,
dann wieder gröber, Tücher mit Fingerspitzen anfassen und Teller nur mit
Vorsicht berühren, ausbreiten und ausrichten, nämlich die Bestecke,
keinen Lärm dabei verursachen, schnell sein und doch wiederum behutsam,
vorsichtig und kühn, steif und glatt, ruhig und doch energisch, Gläser
nicht aneinanderklirren, und Teller nicht klappern lassen, aber über ein
vorkommendes Klappern und Klirren auch nicht erstaunt sein, sondern es
begreiflich finden, dann der Herrschaft melden, daß der Tisch gedeckt
sei, und dann die Speisen auftragen und dann zur Tür hinausgehen, um
wieder hineinzugehen, wenn geklingelt wurde, zusehen, wie gegessen wurde
und Freude dabei empfinden, sich zu sagen, daß es hübscher sei, zu
sehen, wie gegessen werde, als selber zu essen, dann den Tisch wieder
abräumen, das Geschirr hinaustragen, einen Rest Braten in den Mund
stecken und dabei eine frohlockende Miene machen, als wäre es etwas, um
dabei eine frohlockende Miene machen zu müssen, dann selber essen und
finden, daß man jetzt wirklich verdiene, selber etwas zu essen: das
alles mußte Simon. Er mußte nicht alles, zum Beispiel mußte er nicht
gefrohlockt haben, wenn er stahl, aber es war sein erster, zarter
Diebstahl, und deswegen mußte er frohlocken; denn es erinnerte ihn
lebhaft an die Kindheit, wo man stiehlt, irgend etwas aus dem
Speiseschrank, und dabei frohlockt.

Nach dem Essen hatte er dem Mädchen zu helfen, das Geschirr zu säubern,
abzuwaschen und abzutrocknen, und das Mädchen war nicht wenig erstaunt,
zu sehen, wie behend er das machte. Wo er das gelernt hätte? »Ich war
doch auf dem Lande,« antwortete Simon, »und auf dem Lande tut man
dergleichen. Ich habe dort eine Schwester, die Lehrerin ist, der habe
ich beim Geschirrtrocknen immer geholfen.«

»Das war hübsch von Ihnen.«



Zwölftes Kapitel.


Simon kam es ganz wunderbar vor, in dieser stillen Küche, mitten in
einer großen Stadt, zu handwerken. Wer hätte das je gedacht. Nein, der
Mensch kam doch nie dazu, sich eine Zukunft zu malen. Er, der früher
frei über die Bergweiden streifte, wie ein Jäger unter dem offenen
Himmel schlief und die Luft zu eng fand, wenn er Ausblicke genoß, die
die vor ihm liegende Erde auseinanderbreiteten und dehnten, der die
Sonne heißer, den Wind stürmischer, die Nacht dunkler und die Kälte
grimmiger wünschte, wenn er draußen, zu jeder Jahreszeit und bei jeder
Witterung, suchend, händereibend und atempustend herumlief, er steckte
jetzt in einer kleinen Küche und trocknete einen tropfenden Teller warm
ab. Er war froh. »Ich bin froh, so gehemmt, so eingesteckt, so eingeengt
zu sein,« sagte er zu sich, »was will der Mensch nur immer die Weite
haben, und dazu doch Sehnsucht, die doch so was Beengendes ist! Hier bin
ich eng eingeklemmt zwischen vier Küchenwände, aber mein Herz ist weit
und erfüllt von der Lust an meiner bescheidenen Pflicht.«

Es war ein wenig erniedrigend für ihn, sich in einer Küche zu wissen,
mit einer Arbeit beschäftigt, die sonst nur Mädchen verrichten. Ein
wenig erniedrigend und ein wenig lächerlich war es, aber es war
entschieden geheimnisvoll und absonderlich. Kein Mensch konnte sich
jetzt diese Lage von ihm austräumen. Dieser Gedanke hatte wiederum etwas
Genugtuerisches und Stolzes. Man konnte bei diesem Gedanken lächeln. Das
Mädchen fragte ihn, was er denn früher in seinem Leben gewesen sei, und
er antwortete: »Schreiber!« Sie konnte nicht begreifen, wie man so wenig
Ehrgeiz besitzen könne, das Schreibpult aufzugeben, um in eine
Haushaltung hineinzukriechen. Simon sagte darauf, es gäbe in diesem
Falle erstens nichts zu kriechen, wie sie sich da so lieblich ausdrücke,
und zweitens sei es noch eine Frage, was besser wäre: ein Sitz hinter
einem Pult oder der Zustand eines Geschirrabwischers. Er zöge bei weitem
die freie, luftige, heiße, dampfige, interessante Küche dem öden Bureau
vor, in dem die Luft meist schlecht und die Laune eine verbitterte sei.
Hier sei kein Anlaß, bitter zu sein, hier, wo der Braten in der Pfanne
schmore, das Gemüse koche, die Suppe dampfe, das Kupfer so lieblich
herabblinke vom Gestell und die Teller so freundlich klängen, wenn man
sie aneinanderschlüge. Aber Diener sein, das sei doch nicht viel, das
bedeute doch gar nichts, meinte das muntere Mädchen. Er wolle nichts
bedeuten, erwiderte Simon sanft. Sie ließ es dabei bewenden, doch fand
sie, daß er ein kurioser, schwer begreiflicher Mensch sei. Aber sie
dachte: »er ist anständig,« und fühlte, »er dürfte sich viel erlauben!«
Simon war eben fertig geworden mit seiner Arbeit, als die Dame in die
Küche trat und zu ihm sagte, er möge hineinkommen, sie habe eine
Beschäftigung für ihn. »Was für eine schöne Beschäftigung hat sie wohl
für mich,« dachte Simon, und er folgte der Voranschreitenden. »Sie haben
jetzt, während des Nachmittages, weiter nichts zu tun, da können Sie
meinem Knaben und mir aus einem Buche vorlesen. Verstehen Sie
vorzulesen?«

Simon bejahte.

Und dann las er eine volle Stunde lang vor, mit etwas gepreßtem Atem,
aber mit richtiger, scharfer, schöner Aussprache und mit einer warmen
Stimme, die anzeigte, daß der Leser miterlebte, was er las. Der Dame
schien es zu gefallen, und der Knabe war ganz nur Ohr bis zum Schluß, wo
er sich anmutig für den Genuß bedankte. Simon, dessen Wangen hochrot vor
Bewegung glühten, fand es schön, daß man ihm dankte. Er verfügte sich,
da er weiter vorläufig nichts zu treiben wußte, in das Domestikenzimmer,
das die Abendsonne rötlich beleuchtete, und fing an, zum Fenster hinaus
zu rauchen.

»Ich sehe es unlieb, wenn Sie hier rauchen,« sprach die hereintretende
Frau.

Er rauchte aber weiter, und sie ging wieder, etwas ärgerlich, hinaus.
»Ich begreife allerdings, daß es ihr nicht lieb ist, aber, muß ihr denn
alles lieb an mir sein? Das Rauchen gebe ich nicht auf. Nein! Zum
Teufel, nein! Und wenn zwanzig Damen kämen und eine nach der andern es
mir verböten.« Er war wütend, aber er wurde sofort wieder sanft und
sprach zu sich: »Ich hätte die Zigarette wegwerfen sollen; das war
unverschämt!«

In diesem Augenblick, den er dazu benutzen wollte, ein Selbstgespräch zu
führen, tönte im Korridor ein Schrei und unmittelbar darauf ein heftiger
Knall von einem zu Boden stürzenden Geschirr. Simon öffnete die Tür und
erblickte die Frau, wie sie mit wehklagendem, stummem und betrübtem
Gesicht zu Boden sah, wo die Scherben einer ihr gewiß teuer gewesenen
Porzellanplatte herumlagen. Sie hatte die Platte mit einem Stück Torte
drauf vom Eisschrank weg in ihr Zimmer tragen wollen und dieselbe fallen
lassen, sie konnte selber nicht sagen, wie. Es brauchte ja nur eine
kleine Täuschung der Sinne gewesen zu sein, oder sonst etwas, und das
Unglück war eben geschehen. Als die Frau den Simon bemerkte, der hinter
ihrem Rücken stand, verwandelte sich sogleich ihr betrübtes Gesicht in
ein zürnendes und anklagendes, und sie sagte zu ihm, in einem Tone, der
genug sagte, was sie empfand: »Lesen Sie zusammen!« Simon bückte sich zu
Boden und las die Scherben zusammen. Während er es tat, streifte seine
Wange das Kleid seiner Herrin und er dachte: »Verzeih mir, daß ich
gerade dastehen mußte, um zu sehen, daß du dich ungeschickt benommen
hast. Ich begreife deinen Zorn. Ich bekenne mich schuldig, die Platte,
die du hast fallen lassen, zerbrochen zu haben. Ich habe sie zerbrochen.
Wie muß es dir doch weh tun. Eine so schöne Platte. Gewiß war sie dir
lieb. Du tust mir leid. Meine Wangen streifen dein Kleid. Jede Scherbe,
die ich zusammenlese, sagt mir: »Elender,« und der Saum von deinem Rock
sagt mir: »Glücklicher!« Ich lese absichtlich langsam zusammen. Versetzt
es dich nicht in neuen Zorn, dies bemerken zu müssen? Es macht mir Spaß,
der Übeltäter gewesen zu sein. Du gefällst mir, wenn du mir zürnst.
Weißt du, warum mir dein Zorn gefällt? Weil er so zart ist, dein Zorn!
Nur weil ich dich sah, wie du dich ungeschickt benahmst, zürnst du mir.
Du mußt einige Achtung vor mir haben, da es dich kränken kann, wenn du
dich vor mir blamierst. Du Hohe, vor mir Niedrigem. Wie entzückend
zornig befahlst du mir, die Scherben zusammenzulesen. Und ich beeile
mich damit gar nicht; denn ich möchte, daß du recht ärgerlich und böse
würdest, weil ich so lange bei den Scherben verweile, die mir doch sagen
müssen, wie ungeschickt du warst, die es dir auch sagen müssen. Du
stehst immer noch da? Es muß jetzt eine Mischung von seltsamen
Empfindungen in dir sein: Scham, Schmerz, Zorn, Ärger, Gleichmut,
Gereiztheit, Gelassenheit, Überraschung und Hoheit und so viel kleines,
nebenherschleichendes Unsagbares, das der Moment wegnimmt, ehe man es
nur recht hat empfinden können, das da war wie ein Nadelstich oder wie
ein Duft oder wie ein Blinzeln von einem Augenpaar. -- Dein seidenes
Kleid ist schön, wenn man denkt, daß es einen Frauenleib einhüllt, der
vor Aufregung und vor Schwäche zittern kann. Deine Hände sind schön, die
so lang zu mir herabhängen. Ich hoffe, daß du mir einmal eine Ohrfeige
damit gibst. Jetzt gehst du schon weg, ohne mich gescholten zu haben.
Wenn du gehst, kichert und flüstert dein Kleid auf dem Boden. Vorhin
verbotest du mir zu rauchen. Aber ich werde die Frechheit besitzen, zu
rauchen, wenn ich hinter dir auf den Markt gehe, um mit dir Einkäufe zu
machen. Da sollst du mich rauchen sehen, weiße, blendende Zigaretten,
und ich will hoffen, daß du alsdann die Geistesgegenwart besitzest, sie
mir aus dem Mund zu schlagen. Jetzt eben mußte ich dich mit allen meinen
mir zu Gebote stehenden Gebärden dafür um Verzeihung bitten, daß du eine
Platte zerschlagen hast. Ich wollte, ich könnte Gelegenheit haben, etwas
zu verüben, das dich veranlassen würde, mich zum Teufel zu jagen. O
nein, nein! Was denke ich da. Ich bin schon verrückt. Wahrhaftig, diese
Scherbenangelegenheit hat mich verrückt gemacht. Jetzt wird es Abend
sein draußen auf der Straße. Die Laternen werden hellgelb brennen in den
verlöschenden Tag hinein. Jetzt möchte ich auf die Straße. Es geht nicht
anders, ich muß auf die Straße hinunter.« --

»Ich möchte einen kleinen Ausgang machen,« sagte er, in ihr Zimmer
tretend, »darf ich?«

»Ja! Aber daß Sie mir nicht zu lange bleiben!«

Simon stürzte hinaus, die Treppe hinunter, wo ihm eine verschleierte
Frauengestalt staunend nachblickte, zum Haus hinaus, auf die Straße, an
die Luft, in die bewegliche, feuchte, glitzernde, abendliche Freiheit.
Seltsam sei doch, dachte er, dieses Gehören an ein Haus, wo man recht
wie ein Gefangener lebe. Seltsam sei es, ein erwachsener Mensch zu sein
und als ein erwachsener Mensch hingehen zu müssen, zu einer Dame, in ein
dunkles Zimmer, wo man die Frau nur halb im Dunkel sähe, und sie um
Erlaubnis zu fragen, ausgehen zu dürfen. Als ob man ein Möbel von ihr
wäre, ein Gegenstand, ein gekauftes Stück, ein Etwas, ein irgend Etwas,
und als ob dieses Etwas nichts wäre, oder nur insofern etwas, als es
sich dazu eigne, so ein Etwas zu sein, ihres zu sein! Seltsam sei es
auch, daß man trotzdem diesen Zustand als eine Art Heimat und
Zuhausesein fühle. Man liefe jetzt eigentlich zehnmal gehobener auf der
Straße umher, weil jemand, den man darum bitten mußte, es einem erlaubt
habe. Ein Erlaubnisbekommen, das sei allerdings etwas Schülerhaftes,
aber es müßten, dachte er, selbst Greise oft noch, und unter
kränkenderen Umständen, um eine Erlaubnis fragen. So sei alles wunderbar
im Leben, und man müsse sich in das Wunderbare schicken, wenn es oft
auch seltsam aussähe.

Er ging die Straße hinunter und verliebte sich in das süße Straßenbild
mit den aufgehenden Sternen, mit den dichten Bäumen, die in langer,
gerader Reihe davonliefen, mit den ruhiger gehenden Menschen, mit der
Pracht des Abends, mit der tiefen, beweglichen Ahnung der Nacht. Auch er
ging ruhig, beinahe träumerisch. Am Abend war es keine Schande, ein
träumerisches Aussehen zu machen, wo unwillkürlich alle träumen mußten
in dieser Atmosphäre voll von dem Duft des Frühsommerabends. Viele
Frauen spazierten umher, mit kleinen, eleganten Täschchen in der
behandschuhten Hand, mit Augen, in denen das Licht des Abends
fortleuchtete, in engen Kleidern von englischem Schnitt oder in
faltigen, schleppenden Röcken und Roben, die sich wundervoll breit in
der Straße bewegten. Die Frau, dachte Simon, wie verherrlicht sie das
Bild der städtischen Straße. Sie ist wie geschaffen zum promenieren. Man
fühlt, sie promeniert, sie genießt ihr eigenes, wiegendes, schönes
Gehen. Am Abend geben die Frauen den Ton des Abends an, dazu passen ihre
Figuren mit diesen Armen voll Wehmut und Fülle und diesen Brüsten voll
atmender Beweglichkeit. Ihre Hände in Handschuhen sehen wie Kinder in
Masken aus, mit denen sie winken, in denen sie immer etwas halten. Ihre
ganze Haltung setzt die abendliche Welt in tönende Musik um. Wenn man
jetzt, so wie ich es tue, hinter ihnen hergeht, so gehört man schon zu
ihnen, in Gedanken, in fühlenden Schwankungen, in schlagenden Wellen,
die an das Herz schlagen. Sie winken nicht, und doch winken sie einem.
Obschon sie keine Fächer tragen, sieht man in einer ihrer Hände einen
Fächer und er blitzt und blendet wie getriebenes Silber in dem
verlorenen, verschwommenen Abendlicht. Die reifen, üppigen Frauen passen
besonders schön zum Abend, so wie Greisinnen in den Winter und blühende
Mädchen in den eben erwachten Tag hineinpassen, wie Kinder in den
dämmernden Morgen und junge Ehegattinnen in den heißen Mittag, wo die
Sonne der Welt am glühendsten scheint.

Es war neun Uhr, als Simon wieder nach Hause kam. Er hatte sich
verspätet und mußte Vorwürfe anhören, wie dieser: wenn das noch einmal,
noch ein einziges Mal vorkomme, so -- -- dann --. Er hörte eigentlich
nicht, sondern vernahm nur den Klang des Vorwurfes, innerlich lachte er,
äußerlich schien er betrübt, das heißt, er setzte ein dummes Gesicht auf
und fand es nicht für notwendig, den Mund aufzutun, um etwas zu
erwidern. Er zog den Knaben aus, legte ihn in das Bett und zündete ein
kleines Nachtlicht an.

»Dürfte ich um ein Licht für mich bitten,« fragte er die Dame.

»Was wollen Sie mit dem Licht?«

»Einen Brief schreiben.«

»Kommen Sie zu mir herein, da können Sie schreiben!« sagte die Dame.

Und er durfte sich an ihren Schreibtisch setzen. Sie gab ihm einen
Briefbogen, einen Briefumschlag für die Adresse, eine Marke, eine Feder
und erlaubte ihm, ihre Briefmappe als Unterlage zu benutzen. Sie saß
dicht daneben, in einem Sessel, eine Zeitung lesend, während er schrieb:

Lieber Kaspar. Ich bin wieder in der dir bekannten Stadt und sitze an
einem schönen, dunkelgefärbten Schreibtisch in einem hellerleuchteten
Zimmer, während unten in der Straße, in der Sommernacht, unter den
Bäumen voll herunterhängender Blätter die Menschen lustwandeln. Ich kann
leider nicht mitpromenieren, denn ich bin an ein Haus gefesselt, nicht
gerade mit Händen und Füßen, aber mit dem Pflichtbewußtsein, das ich
nach und nach ausbilde, und das auch schließlich einmal da sein will.
Ich bin der Diener einer Frau geworden, die einen kranken, kleinen
Knaben hat, den ich pflegen muß, nicht viel anders, als wie eine Mutter
ihren Sohn pflegt, denn seine Mutter, meine Herrin, wacht über jeder
meiner Bewegungen, als wäre ihr Auge der Leiter meines Tuns und als
flöße sie mir ihre eigene Sorgfalt ein, wenn ich mit dem Knaben
beschäftigt bin. Sie sitzt jetzt, während ich an dich schreibe, neben
mir, in einem Sessel, denn es ist ihr eigenes Kabinett, in dem ich sitze
durch ihre Erlaubnis. Die Dinge liegen jetzt so, daß ich jedesmal, wenn
mich eine persönliche Sache hinaustreibt, zuerst fragen muß, darf ich
ausgehen?, wie ein Lehrjunge, der seinen Meister fragen muß. Immerhin,
es ist doch wenigstens eine Dame, die ich um so etwas bitten muß, und
das versüßt ein wenig die Sache. Unter Dienen versteht man das Aufpassen
auf Befehle, die Vorausahnung der Wünsche, die fertige Fixheit und fixe
Fertigkeit im Tafeldecken und Teppichabbürsten, mußt du wissen, wenn du
es noch nicht weißt. Ich habe bereits eine gewisse Vollkommenheit darin
erlangt, meiner Frau, die ich schlechthin meine Frau heiße, die Schuhe
zu putzen. Es ist nur ein kleines, geringes Geschäft, und doch verlangt
es auch Streben nach Vollendung, wie das Größte. Mit dem kleinen, jungen
Herrn werde ich, wenn es schönes Wetter ist, in Zukunft spazieren gehen
müssen. Dazu ist ein braunes Wägelchen da, in dem ich den Knaben
ausfahren kann, worauf ich mich, wenn ich recht nachdenke, eigentlich
wenig freue, da es langweilig sein wird. Du lieber Gott, ich werde es
tun müssen. Meine Herrin gehört zu der Sorte von Weibern, an denen das
Hervorstechende und Markante das Bürgerliche ist. Sie ist durch und
durch Hausfrau, aber in so strengem und schlichtem Sinn, daß man sagen
kann: es ist vornehm. Zu zürnen versteht sie meisterlich und ich
wiederum bin Meister darin, ihr dazu Anlaß zu geben. Zum Beispiel heute
zerschlug sie einen reichen Porzellannapf aus Gedankenlosigkeit und ward
böse auf mich, daß ich es nicht war, der ihn zerschlug. Sie zürnte mich
an, weil ich der unangenehme Zeuge ihrer Ungeschicktheit war und sie
machte ein Gesicht, wie es die Fliegenden Blätter öfters in ihren
Darstellungen bringen. Ein reines Fliegende-Blätter-Gesicht. Ich habe
die Scherben recht zärtlich-langsam aufgehoben, um die Frau zu ärgern,
denn ich muß sagen, ich ärgere sie gern. Sie ist reizend im Ärger. Schön
ist sie nicht, aber solche strenge Frauen atmen, wenn sie in lebhafte
Bewegung kommen, einen tiefen Zauber aus. Die ganze sittsame
Vergangenheit solcher Frauen zittert in ihren Erregungen, die deshalb
köstlich anzuschauen sind, weil sie aus so zarten Ursachen entflammen.
Für mich ist das nun einmal so, ich muß solche Weiber lieb haben, denn
ich bewundere und bemitleide sie zu gleicher Zeit. Hochmütig können
solche Frauen sein in Sprache und Gebaren, daß die Wangen beinahe
platzen und sich der Mund zu schmerzendstem Hohn zuspitzt. Ich liebe
solchen Hohn, denn er macht mich zittern, und ich bin gern voll Scham
und Wut: das treibt zu Höherem, das reizt zu Taten. Aber meine Frau da,
die höhnische, ist doch nur ein gutes, sanftes Weib, ich weiß es, und
das ist die Schurkerei an der Sache: daß ich es weiß. Wenn ich ihr, auf
ihren befehlenden Ton hin, gehorche, so muß ich dabei lachen, denn ich
bemerke, es freut sie, zu sehen, wie gern und schnell ich gehorche. Wenn
ich sie nun um etwas bitte, so schnauzt sie mich an und gewährt doch
gütig, vielleicht mit ein wenig Ärger darüber, daß ich in solch einer
Art und Weise bitte, der man gewähren muß. Ich tu ihr immer ein bißchen
weh, und denke: ganz recht! Tu das! Tu ihr immer ein bißchen weh. Das
ist amüsant für sie. Das will sie. Das erwartet sie nicht anders! Frauen
sind so leicht erkennbar, und doch haben sie so viel Unerkennbares.
Nicht wahr, das ist seltsam, lieber Bruder! Sie sind jedenfalls das
Belehrendste, was es auf der Welt für einen Mann gibt. -- Wenn die
wüßte, die neben mir sitzt, was ich schreibe! Einer meiner brennendsten
Wünsche ist, so bald wie möglich von ihr eine Ohrfeige zu erhalten, aber
ich muß leider zu meinem Schmerz daran zweifeln, daß sie dazu imstande
ist. Eine klatschende Ohrfeige ins Gesicht: ich möchte alle Küsse, die
ich noch erwarten darf, dafür weggeben. Dieses mit der Ohrfeige ist nun
eigentlich eine abscheuliche, aber dafür eine echt bourgeoise
Empfindung: sie lenkt in die Kindheit zurück, und wann hätte man nicht
öfters Sehnsucht nach dem Weit-zurückliegenden? Meine Frau hat so etwas
Zurückliegendes, etwas, bei dessen Anschauen man weit, weit zurückdenkt,
an eine vielleicht noch frühere Zeit als die Kindheit ist. Ich werde ihr
wahrscheinlich einmal die Hand küssen und dann wird sie mich zum Kuckuck
jagen, zum Tempel hinaus, wie man sagt. Mag ich's und mag sie's dann.
Was wird daran liegen. -- O ich verteufle hier, kann ich dir nur sagen,
ich merke es schon jetzt. Mein Geist gibt sich mit Serviettenfalten und
Messerputzen ab und das Schiefe ist, es gefällt mir. Kannst du dir eine
größere Versimplung denken! Wie geht es dir? Ich war drei Monate lang
auf dem Land, aber es ist mir, als sei diese Zeit schon weit hinter mir
zurück. Ich habe alle Aussicht, ein Mensch zu werden, der sich völlig
dem Tag hingibt, ohne seiner Verwandtschaft mit schwebenderen Dingen
mehr zu gedenken. Manchmal bin ich sogar zu faul, an dich zu denken, und
das scheint mir schon eine große Trägheit zu sein. Klara hoffe ich bald
einmal wieder zu sehen. Vielleicht hast du sie bereits vergessen, und
dann habe ich nicht an diesen Gegenstand zu rühren. Ich tue es auch
nicht. Adieu, mein Bruder.

»An wen haben Sie geschrieben,« fragte die Frau, ermüdet vom
Zeitungslesen, als sie sah, daß Simon den Brief beendet hatte.

»An einen Freund von mir, der jetzt in Paris lebt.«

»Was ist er?«

»Er war zuerst Buchbinder, da er aber mit diesem Beruf nicht reüssierte,
ist er Restaurationskellner geworden. Ich liebe ihn sehr, er ist mit mir
in die Schule gegangen, und dort habe ich mich ihm angeschlossen, weil
er unglücklich war schon als Knabe. Ich habe eines Tages gesehen, wie er
von seinen Klassengenossen verhöhnt, und dann eine steinerne Treppe
hinuntergeworfen wurde, wobei ich gerade in seine schönen, erschreckten,
gramvollen Augen sehen mußte. Seit diesem Tage bin ich sein innigster
Freund geworden, und wenn das Mitleid wirklich bindet, so muß ich mich
ihm verbunden fühlen, auch ohne darüber nachzudenken, für immer! Er ist
ein Jahr älter als ich, aber mir um Jahre vorgeschritten in Sitte und
Lebensart, denn er hat immer in Weltstädten gelebt, wo der Mensch
schneller reif wird. Früher hat er viel von der Malerei geschwärmt, hat
oft auch, während der Ausübung seines Buchbindergewerbes, versucht,
Bilder zu malen, ist aber damit zu seinem Schmerz nicht
vorwärtsgekommen, und hat mir eines Tages schamhaft zugestanden, daß er
sich entschlossen habe, sich ganz in den Strudel der Welt zu werfen, die
Kunst, seine Träumerei, zu vergessen, und ist Kellner geworden. Welch
ein Absturz, und zugleich: welch ein bewundernswerter Aufschwung! Ich
habe ihm gesagt, daß ich ihn dafür liebe und bewundere, um ihn zu
trösten, wenn er in stillen, einsamen Stunden sich dem Weh der
Erinnerung verfallen sehen mußte. Das ist klar, daß er oft Sehnsucht
nach jenem Besseren empfinden muß, während um ihn das Leben lärmt. Aber
sehen Sie, gnädige Frau, dieser Mensch ist stolz und gut. Zu stolz, um
einem verpaßten Leben nachzutrauern, und zu gut, um es ganz beiseite
lassen zu können. Ich kenne jede seiner Empfindungen. Einmal hat er mir
geschrieben, er sterbe wohl bald vor Öde und Langeweile. Das war seine
Seele. Und ein anderes Mal schrieb er mir: »Die dumme Träumerei! Das
Leben ist das Süße. Ich trinke Absinth und bin selig!« Das war sein
Mannesstolz. Sie müssen wissen: Die Frauen schwärmen für ihn, denn er
hat etwas Herzenherausforderndes an sich und wieder etwas Eisig-Kaltes.
Seine ganze Erscheinung, trotz des Kellnerfrackes, atmet Liebe und
Takt.«

»Wie heißt er, dieser verunglückte Mensch,« fragte die Frau.

»Kaspar Tanner.«

»Wie? Tanner? So heißen ja Sie auch. Er ist also Ihr Bruder und Sie
sagten vorhin, er sei Ihr Freund.«

»Freilich, mein Bruder, aber viel mehr mein Freund! Solch einen Bruder
muß man Freund nennen, wenn man die richtige Bezeichnung haben will. Wir
sind nur zufällig Brüder, aber Freunde sind wir mit Bewußtsein, und das
ist viel wertvoller. Was ist Bruderliebe? Als wir noch Brüder waren,
packten wir uns eines Tages am Halse, beidseitig, und wollten uns den
Garaus machen. Hübsche Liebe! Unter Brüdern ist der Neid und der Haß
nichts Außerordentliches. Wenn Freunde sich hassen, gehen sie
auseinander, wenn Brüder sich hassen, denen das Geschick das
Zusammenleben unter einem Dache vorschreibt, geht es nicht so gelinde
zu. Aber das ist eine alte und unschöne Geschichte.«

»Warum schließen Sie Ihren Brief nicht zu?«

»Ich möchte Sie bitten, von dem, was ich geschrieben habe, Kenntnis zu
nehmen.«

Die Frau lächelte:

»Nein, das tu ich nicht.«

»Ich habe unziemlich von Ihnen gesprochen in dem Brief.«

»Es wird nicht so schlimm sein,« bemerkte sie und stand auf: »Gehen Sie
zu Bett.«

Simon tat, was sie befahl, und dachte, indem er hinausging:

»Ich werde immer frecher. Bald jagt sie mich noch zum Haus hinaus!« --



Dreizehntes Kapitel.


Nach Verlauf von drei Wochen befand sich Simon, frei aller
Verpflichtungen, in einer engen, steilen, heißen Gasse und überlegte, ob
er in ein Haus treten solle, oder nicht. Die Mittagssonne brannte
hinunter und preßte alle üblen Dünste aus den Mauern heraus. Kein
Lüftchen wehte. Wo hätte ein Lüftchen in diese Gasse eindringen können.
Draußen in den modernen Straßen mochte es wehen, aber hier schien schon
seit Jahrhunderten kein Windzug mehr getrieben und gefegt zu haben.
Simon hatte eine kleine Summe Geld in der Tasche. Sollte er in die
Eisenbahn steigen und in die Berge reisen? Es reiste jetzt alles in die
Berge. Seltsame, fremde Menschen, Männer und Frauen, zogen einzeln,
paar- oder gruppenweise durch die weißen, hellen Straßen. Von den Hüten
der Damen flatterten lustige Schleier herab und die Männer gingen in
Kniehosen, und gelben Sommerschuhen. Sollte sich nicht Simon dazu
entschließen, diesen Fremden in die Berge nachzureisen? Kühl wäre es
sicher dort oben, und in einem hochgelegenen Hotel würde er sicher
Arbeit finden. Er konnte ja den Führer spielen, stark war er genug dazu,
und auch klug genug, um bei Gelegenheit sagen zu können: »Sehen Sie,
meine Damen und Herren, diesen Wasserfall, oder diesen Bergsturz, oder
dieses Dorf, oder diese Felswand, oder diesen blauen, schimmernden
Fluß.« Er würde das Zeugs dazu haben, um den reisenden Herrschaften mit
Worten eine Landschaft zu schildern. Auch könnte er ja, wenn der Fall
einträte, eine ermüdete und ängstliche Engländerin in seinen Armen
tragen, wenn es gälte, einen Paß von drei Schuh Breite zu überschreiten.
Lust dazu hätte er ja. Überhaupt, die Amerikanerinnen und die
Engländerinnen: er würde englisch sprechen lernen, und das war nach
seinen Begriffen eine süße Sprache, die so gelispelt und gehaucht klang,
so schroff und weich zugleich.

Aber er ging nicht in die Berge, sondern in das alte, hohe, dicke,
finstere Haus in der Gasse, klopfte an eine Türe, und fragte eine Frau,
die herauskam, um zu sehen, wer klopfe, ob hier ein Zimmer zu vergeben
sei.

»Ja, es sei eines.«

»Ob er es wohl ansehen könne, und ob es wohl ein Zimmer sei, nicht zu
groß, nicht zu teuer, für einen ärmeren Menschen?«

Nachdem sie ihm das Zimmer gezeigt hatte, fragte die Frau:

»Was sind Sie?«

»O, ich bin nichts. Stellenlos bin ich. Aber ich werde mir eine Stelle
suchen. Seien sie unbesorgt. Ich bezahle Ihnen diese Summe hier zum
voraus, damit Sie einigermaßen ruhig sein können. Hier, bitte!«

Und er gab ihr ein größeres Geldstück als Vorausbezahlung in die Hand.
Es war eine fette Frauenhand, und die Frau, die zufrieden war, sagte:

»Leider ist das Zimmer nicht sonnig, es geht auf die Gasse.«

»Das ist mir sehr lieb,« erwiderte Simon, »ich liebe den Schatten. Ich
würde jetzt die Sonne im Zimmer nur hassen, bei dieser warmen
Jahreszeit. Das Zimmer ist sehr hübsch, und ich muß sagen, sehr billig.
Es ist für mich wie geschaffen. Das Bett scheint gut zu sein. O ja.
Bitte. Untersuchen wir es nicht erst lange. Hier ist auch ein
Kleiderschrank, der mehr Kleider fassen könnte, als ich besitze, und
hier bemerke ich zu meinem freudigen Erstaunen einen Lehnsessel zum
bequemen Sitzen. In der Tat, wenn das Zimmer solch einen Sessel
aufweist, so ist es in meinen Augen überreich ausgestattet. Dort hängt
sogar ein Bild an der Wand: ich liebe das, wenn nur ein einziges Bild im
Zimmer hängt, man kann es um so inniger betrachten. Einen Spiegel sehe
ich auch, um mein Gesicht darin zu betrachten. Es ist ein gutes Glas und
gibt die Züge deutlich wieder. Es gibt viele Spiegelgläser, die die Züge
verzerrt wiedergeben, wenn man hineinschaut. Dieser Spiegel ist ganz
vortrefflich. Hier an diesem Tisch werde ich meine Offertschreiben
abfassen, die ich an verschiedene Geschäftshäuser absenden will, um eine
Anstellung zu erlangen. Ich hoffe, es wird mir glücken. Ich sehe gar
nicht ein, warum es mir nicht glücken sollte, da es mir schon so oft
geglückt ist. Sie müssen wissen, ich habe öfters die Stellen gewechselt.
Das ist ein Fehler, den ich hoffe beiseite legen zu können. Sie lächeln!
Ja, das ist aber sehr ernst. Mit dem Zimmer haben Sie mir sozusagen eine
Gnade erwiesen, denn es ist ein Zimmer, worin sich ein Mensch, wie ich
bin, glücklich fühlen kann. Ich werde mich immer bemühen, meinen
Verpflichtungen Ihnen gegenüber prompt nachzukommen.«

»Ich glaube es auch,« sagte die Frau.

»Ich wollte,« fuhr Simon fort, »zuerst in die Berge gehen. Aber dieses
schattige Zimmer ist schöner als selbst die weißesten Berge. Ich fühle
mich ein bißchen matt und möchte mich eine Stunde hinlegen, darf ich
das?«

»Ei, freilich! Es ist doch jetzt Ihr Zimmer!«

»Nicht doch!«

Und dann legte er sich schlafen.

Er hatte einen sonderbaren Traum, der ihn noch lange nachher
beschäftigte:

Es war in Paris, aber warum es in Paris war, das wußte er nicht mehr.
Zuerst ging er durch eine Straße, die war ganz mit grünem, saftigem Laub
bedeckt, so daß die Schleppen der Damen das Laub rauschend hinter sich
nachzogen. Immer fiel ein leiser grüner Regen von kleinen, flüsternden
Blättern, und ein unaussprechlich sanfter Wind wehte daher, wie ein
Hauch von Wolken. Die Häuser waren wunderbar hoch, bald grau, bald
gelblich, bald schneeweiß. Die Männer, die auf der Straße dahergingen,
trugen die Locken lang herunter, wo sie über die Schultern fielen, auch
Zwerge mit schwarzen Fräcken und roten Hüten liefen, sie konnten den
anderen zwischen den gekreuzten Beinen durchschlüpfen. Die Damen in
ihren Schleppen waren herrliche Figuren, groß, viel größer als die
Männer, die doch auch schlank erschienen. An den schlanken Büsten der
Damen hingen Lorgnetten bis zum Leib hinunter und ein Bogen von
schweren, üppigen Haaren überspannte ihre lieblichen Köpfe. Obenauf
saßen winzige Hütchen mit noch winzigeren Federchen, aber einzelne
trugen große, weit und herrlich herunterfallende Federn, die den ganzen
Kopf zurückzubiegen schienen. Etwas Wundervolles waren die Hände und die
Arme der Frauen, die mit langen, schwarzen Handschuhen bis über die
zierlichen Ellbogen hinaus bedeckt waren. Es schien überhaupt, so weit
man blickte, alles wundervoll. Die großen Häuser wollten sich immer auf
und nieder bewegen wie seltsame natürliche Kulissen in einem Theater.
Das Licht gehörte halb dem Tag und halb wieder der vorgerückten Nacht.
Jetzt gelangte man zu einem Haus, das ganz mit wildem Grün überdeckt
war. »Dort wohnen die schönsten Frauen von Paris«, wurde einem gesagt,
wenn man frug. Auf einmal bog sich eine duftige, weiße Wolke in die
Straße herunter. Wenn man erstaunt fragte: »Was ist das?« wurde
geantwortet: »Sie sehen, es ist eine Wolke. Eine Wolke ist in den
Pariserstraßen keine seltene Erscheinung. Sie aber sind wohl Ausländer,
daß Sie sich noch darüber verwundern können.« Die Wolke blieb als ein
weißer Schaum, ähnlich einem großen Schwane, auf der Straße liegen.
Viele Damen liefen zu ihr hin und rupften kleine Stücke davon ab und
setzten sie sich, unter wundervollen Armbewegungen, auf die Hüte oder
warfen sie einander scherzend zu, daß sie an den Kleidern hängen
blieben. Man dachte: »Seht doch, diese Pariser! Da lächeln sie leicht
über den Ausländer, der sich wundert. Aber wundern sich die Pariser
nicht selber jeden neuen Tag über die Schönheiten ihrer Stadt!« Dann
kamen die bösen Pariser-Gassenjungen und kitzelten die Wolke mit
brennenden Streichhölzchen, da flog die Wolke wieder auf, leicht und
majestätisch in die Höhe, bis sie über den Häusern verschwand. Wieder
beobachtete man die Straße. In den schönen, vorspringenden Restaurants
servierten die Kellner in hellgrauen Fräcken und die Damen tranken
Kaffee und plauderten mit ihren entzückenden Stimmen. Poeten standen auf
erhöhten Brettern und sangen die Lieder, die sie zu Hause gedichtet
hatten. Sie waren in braunen, edlen Samt gekleidet. Es waren keine
lächerlichen Erscheinungen, nichts weniger als das. Man amüsierte sich
mit dem, was sie zum besten gaben, ohne ihnen besondere Aufmerksamkeit
zu schenken, was in Paris unmöglich wäre. Schöne, schlanke Hunde liefen
hinter den Menschen her und betrugen sich so, als wüßten sie, daß man
sich in Paris gut aufführen muß. Jegliche Figur und Erscheinung schien
mehr zu schweben, als zu gehen, mehr zu tanzen, als zu schreiten, mehr
zu fliegen als zu laufen. Und doch lief, ging, sprang, schritt und
marschierte alles ganz natürlich. Die Natur schien sich in dieser Straße
niedergesetzt zu haben. Ganze Schafherden durchzogen mit Geläute, das
immer bim-bim machte, die Straße wie ein abendliches Tal, den
dunkelgekleideten Hirten voran. Dann kamen Kühe mit großen Glocken:
bim-bam und: bum-bum! Und doch war es eine Straße und gar keine
Bergweide, mitten in Paris war es, im Herzen der europäischen Eleganz.
Allerdings, die Straße war breit wie ein großer, breiter Strom. Jetzt
auf einmal wurden die Lichter angezündet, von kleinen, behenden Jungen,
die lange Anzünderstäbe trugen. Mit diesen machten sie die Hähne oben an
den Laternen auf, daß das Gas herausströmte aus den Leitungen und
zündeten dann an. So sprangen sie von einer Laterne zur andern, bis alle
angezündet waren. Nun schimmerten die Lichter überall hervor und
schienen zu wandern mit den beweglichen Menschen. Was war das für ein
zauberhaftes, weißes Licht, und diese Teufelsjungen, die es entzündeten,
wo sprangen sie her, wo hin, wo weg, wo hinaus? Wo waren sie zu Hause,
hatten sie auch Eltern, Brüder, Schwestern, gingen sie auch zur Schule,
konnten sie auch groß werden, Frauen heiraten, Kinder erzeugen, alt
werden und sterben? Sie waren alle in blaue kurze Röcke gekleidet
gewesen und schienen Gummischuhe getragen zu haben, denn man hörte sie
nur huschen, nicht gehen. Weg waren sie. Nun sah man, so wie es Abend
wurde, wunderbar-merkwürdige Frauengestalten auf der wandelnden Straße.
Sie trugen übergroße Haarfüllen, mit hellgelben und tiefschwarzen
Haaren. Ihre Augen glänzten und schimmerten, daß es einem weh tat. Das
Herrlichste an ihnen waren die Beine, die nicht von Schleppen oder
Röcken bedeckt waren, sondern sich zeigten bis zur Kniehöhe, von wo an
eine spitzenrauschende Hose sie umhüllte. Die Füße, bis hinauf beinahe
zu den biegsamen Knieen, waren mit hohen, aus feinstem Leder
geschaffenen Schuhen bekleidet. Die Schuhe selbst waren das Zarteste,
was sich dazu eignen konnte, einen bewegsamen Frauenfuß zu umschließen.
Man mußte nur sehen und aus dem Herzen heraus lachen. Der Gang dieser
Frauen hatte etwas zum Jubeln Schwebendes, wieder Schweres und wieder
Tanzendes. Wie die gingen, das war zum Nachzeichnen und Mitfühlen, das
hob einen mit, und zog einen nach, machte einen mit den Augen das Süße
anträumen, machte die Seele erwachen und nachdenken darüber, wie es
komme, daß Gott die Frauen so schön erschaffen. Man fühlte lebhaft:
»Wenn die Götter irgendwo heimisch sein könnten auf der Erde, was zwar
nicht denkbar, so müßte dieser Ort Paris sein.« Auf einmal, ohne daß er
es sich versah, befand sich Simon auf einer aus dunklem Holz gezimmerten
und geschnitzten Treppe, die ihn in ein Zimmer hinaufführte, wo auf
einem Diwan ein schlafendes Mädchen lag. Wie er näher zusah, war es
Klara. Ein Kätzchen schlummerte neben ihr, und die Schlafende hielt es
mit dem Arm umschlungen. Ein Diener, ein Neger, trug ein Abendessen
herein, und Simon setzte sich an den Tisch, während aus der Zimmerdecke
hernieder, wie das Geplätscher eines kostbaren, erfinderischen Brunnens,
eine leise, gedämpfte Musik rauschte, die bald in der Ferne und bald
neben seinem Ohr erklang. »In Paris wird seltsam serviert,« dachte
Simon, indem er es sich, wie in einem Märchen von Gebrüder Grimm,
wohlschmecken ließ. Da erwachte die Schlafende. »Komm, ich will dir
etwas zeigen,« lispelte sie ihm zu. Er erhob sich, und sie öffnete mit
einem Zauberstab, wie es schien, eine Flügeltüre, wenigstens sah man
nicht, daß sie eine ihrer Hände dazu gebrauchte. »Ich bin jetzt eine
Zauberin geworden,« lächelte sie den erstaunten Simon an, »zweifle nicht
daran, aber laß es dich auch keineswegs erschrecken. Ich zeige dir
nichts Abstoßendes.« Er ging mit ihr in das andere Zimmer, sie hauchte
ihn mit ihrem duftenden, warmen Atem an, und auf einmal erblickte er
seinen Bruder Klaus, wie er dasaß und an seinem Schreibtische schrieb.
»Er ist fleißig und schreibt an seinem Lebenswerke,« sprach Klara mit
leiser, hindeutender Stimme. »Siehst du, wie er ein gedankenvolles
Gesicht macht. Er geht in seinen Betrachtungen über den Lauf der Flüsse,
die Geschichte und das Alter der Berge, die Windungen der Täler und der
Erdschichten unter. Aber dazwischen denkt er jetzt seines Bruders, er
denkt an dich! Sieh, wie seine Stirne sich faltet. Du scheinst ihm
Sorgen zu machen, du Böser! Er kann leider nicht sprechen, sonst würden
wir beide hören, wie er denkt über dich und was er zu deinem Tun meint,
das ihn bekümmert. Er liebt dich, sieh ihn nur an! Ein solcher Mensch
liebt seinen Bruder und möchte ihn in der Welt als braven, geachteten
Mann wissen. Aber das Bild löst sich, wie ich sehe, schon auf. Komm. Ich
zeige dir jetzt etwas anderes.« -- Indem sie das sagte, öffnete sie
zugleich eine zweite, etwas kleinere Türe mit ihrem Stäbchen, das sie
wirklich in der Hand trug, und Simon erblickte seine Schwester Hedwig
ausgestreckt auf einem mit weißen Linnen bedeckten Lager. Es duftete
wundervoll nach Kräutern und Blumen in diesem Gemach. »Sieh sie an,«
sagte Klara, und ein Zittern ließ ihre klare, leise Stimme erbeben, »sie
ist gestorben. Das Leben tat ihr zu weh. Weißt du, was es heißt, Mädchen
sein und leiden? Ich habe ihr einen Brief geschrieben, einen langen,
heißen, sehnsuchtsvollen Brief, damals, du weißt, und sie hebt nie mehr
die Hand, um mir zu antworten. Sie geht, ohne auf die Frage der Welt:
»Warum kommst du nicht?« geantwortet zu haben. Wie sie wortlos scheidet:
so mädchen- und blumenhaft! Wie lieb sie war. Du als Bruder empfindest
das lange nicht so, wie ich als Freundin. Siehst du, wie sie lächelt!
Wenn sie noch reden könnte, würde sie sicher freundlich reden. Sie
redete streng. Sie hat sich jammernd auf die Lippen gebissen. Das siehst
du aber ihrem Mund nicht an. Der Tod muß sie geküßt haben, daß sie immer
noch lächeln kann, im Tode! Es war ein tapferes Mädchen. Wie eine Blume
ist sie gestorben, die stirbt, wenn sie welkt. Laß uns weiter gehen. In
meinem Zauberreich darf man nicht gaffen. Habe ich dir weh getan, sag
mal? Nein doch: was ist Schmerzendes an einem so schönen Tod? Ihr ließt
sie leiden, das, das war schmerzhaft. Ich will dir nicht weh tun. Komm,
jetzt wirst du noch etwas anderes sehen.« Und mit diesen Worten ließ sie
eine dritte Tür aufspringen, und Simon schaute in ein geräumiges
Maleratelier. Er spürte den Geruch von Ölfarben, und an den Wänden sah
er seines Bruders Bilder herumhängen, er selber, Kaspar, arbeitete, den
Rücken zeigend, an einer Staffelei, ganz versunken, wie es schien, in
die Arbeit. »Still, störe ihn nicht, er arbeitet,« sagte Klara, »man
darf Schaffende nicht stören. Ich wußte immer, daß er nur für die Kunst
lebte, schon damals, als ich noch glaubte, ihm zu folgen, ihm folgen zu
können. Nein, es ist besser so. Ich würde ihn nur aufgehalten und
gehindert haben. Er muß alles um sich her vergessen, selbst das Liebste,
wenn er will, daß er schaffen kann. Solch ein Schaffen verlangt Abtötung
alles Lieben und Innigen, um eine Liebe und eine Innigkeit ganz auf das
Schaffen zu übertragen. Das verstehst du nicht, das versteht nur er.
Wenn du mich ihn so sehen siehst, glaubst du da nicht, daß es mich
drängt, mich ihm in die Arme zu werfen? Zu hören, was er mir sagt, wenn
ich ihn flüsternd und voll Bangen frage: »Liebst du mich, Kaspar?« Er
würde mich dann sicher streicheln, aber ich würde voll Ahnung einen Zug
des Mißmutes auf seiner schönen Stirne entdecken. Und diese Entdeckung
würde mich, wie eine für immer Verdammte, tausend Höhen vor ihm in einen
unwürdigen, schmutzigen Abgrund hinunterwerfen. Nein, das macht Klara
nicht. Sie ist mir zu gut zu so etwas, und er ist mir zu gut und zu
lieb, so, wie er ist. So stehe ich hinter seinem Rücken, und darf ruhig
ahnen, wie er schafft, wie er die große, feurige, dampfende Kugel, die
Kunst, vorwärtswälzt, einem herrlichen Ringer gleich, der seinen letzten
Atemzug hergibt, um zum Siege über den Gegner zu gelangen. Siehst du,
wie es ihn hinreißt, den Pinsel zu führen, womit er an der
tausendtönigen Glocke seiner Farben läutet, jede Linie linienhafter,
jede Farbe farbiger, jeden Druck bestimmter, und jede Sehnsucht
sehnsuchtsvoller hinzumalen. Sein Blick, den ich so liebte, war von
jeher in den Formen, und er bedarf hier in Paris nur einer einfachen
Stube, um die Welt in Bildern zu erfassen. Die Natur hat er wie eine
üppige Geliebte in seine Arme gefaßt und drückt nun Küsse um Küsse auf
ihren Mund, daß beiden der Atem vergeht, ihm und der Natur. Es will mir
beinahe scheinen, als sei die Natur, echten Künstlern gegenüber,
machtlos und ohnmächtig vor Hingebung, wie eine solche Geliebte, von der
man alles verlangt, was man will. Auf jeden Fall, und du siehst es, hat
Kaspar zu tun, mit Kopf, Gefühl und mit beiden Händen; wie ein wildes,
ungebändigtes Pferd zerrt und arbeitet er, und wenn er nachts schläft,
so arbeitet er in wilden Träumen noch immer fort; denn die Kunst ist
hart und scheint mir die schwerste Aufgabe, die sich ein ehrenhafter und
aufrichtiger Mensch stellen kann. Störe ihn nie an seiner heiligen
Aufgabe; denn er schafft für die Lust späterer Geschlechter. Wenn ich
ihm nun so meine schwache, arme Liebe aufdrängen wollte, was wäre das
für eine unschöne, verdammenswerte Sache. Eine Frau mag auch nicht gerne
da küssen, wo sie fühlen muß, daß verletzte Gedanken zwischen den Küssen
zucken, die sterben, die von den Küssen erwürgt werden. Welch eine
unüberlegte Mörderin wäre man! So aber ist alles schön; ein bißchen weh
tut es einem, hinter einem Rücken und hinter Schultern und Locken stehen
zu sollen, aber man hört in seiner Seele dafür Glocken läuten und
empfindet die süße Berechtigung und Makellosigkeit seiner Stellung in
der Welt. Irgendwo müssen die Gefühle gedämpft und geordnet werden und
Stellung behaupten. Selbst eine schwache Frau wird genau wissen, was sie
in einem solchen Fall zu tun hat. Einem Künstler zuzuschauen, jeder
seiner Bewegungen gedankenvoll zu folgen, ist schöner, als ihn
beeinflussen zu wollen, als ob man gierig wollte, daß man auch etwas
abbekäme, etwas bedeutete für ihn und die Welt. Jede Stellung hat ihre
Bedeutung, aber das unbefugte Dreinreden und Einmischen niemals! Vieles
müßte ich dir noch sagen. Aber komm jetzt.« -- Wieder tönte eine
wundersame, unbegreifliche Musik, aus allen Zimmern, zu allen Decken und
Wänden heraus, wie ein fernes, aus einem kleinen Wäldchen kommendes,
tausendstimmiges Vogelgezwitscher, als Simon von Klara weggeführt wurde.
Sie traten wieder in das erste Gemach und sahen das schwarze Kätzchen
mit seiner Pfote in einen dünnhalsigen Milchkrug hineingreifen. Als es
aber die beiden Menschen sah, sprang es fort und kauerte sich hinter
einen Stuhl, wo es mit seinen brennend-gelben Augen aufmerksam
hervorguckte. Klara öffnete ein Fenster, und: wunderbarer Anblick! Es
schneite in der sommerlichen, grünen Straße, und zwar so dicht, so sehr
Flocke an Flocke, daß ein Hindurchschauen unmöglich war. »Das ist hier
in Paris keine Seltenheit,« sagte Klara, »es schneit hier mitten im
heißen Jahr, es gibt hier keine bestimmten Jahreszeiten, so wie es auch
keine bestimmten Redensarten gibt. In Paris muß man auf alles schnell
gefaßt sein. Wenn du längere Zeit hier wohnst, wirst du es auch lernen
und wirst dir das Staunen, das nicht am Platz ist, abgewöhnen. Hier ist
alles ein schnelles, graziöses, bescheidenes Erfassen. Achtung vor der
Welt: das gilt hier als das Höchste und Feinste. Du wirst es schon
lernen. Zum Beispiel, dieser Schnee: Was glaubst du wohl; wirst du dir
denken können, daß er bis über die hohen Häuser hinaufkommen wird? Es
ist so, und aller Wahrscheinlichkeit nach liegen wir jetzt einen Monat
lang im Schnee begraben. Was tut es viel: wir haben Beleuchtung und eine
warme Stube. Ich werde meistens schlafen; denn eine Zauberin muß eben
viel schlafen; du wirst mit dem Kätzchen spielen oder ein Buch lesen,
ich habe die schönsten Pariserromane hier in meiner Bibliothek. Die
Pariserdichter schreiben entzückend, du wirst sehen. Und dann nach einem
Monat, apropos: wir haben ja auch Musik, nicht wahr, und dann, wie
gesagt, nach einem Monat ist Frühling in den Pariserstraßen. Da wirst du
sehen, wie nach der langen Eingeschlossenheit sich die Menschen auf
offener Straße umhalsen und Tränen der Wiedersehensfreude weinen werden.
Es wird alles ein Umschlingen sein. Die Lust, die lange zurückgehaltene,
wird zu den glänzenden Augen, zu den Lippen und Stimmen herausbrechen,
und geküßt wird werden im Mai, aber du wirst es an dir selber erfahren.
Stelle dir vor, die Luft wird ganz blau und warmfeucht in die Straßen
hinuntersinken, der Himmel geht dann in Paris spazieren und mischt sich
unter die entzückten Menschen. Die Bäume blühen an einem Tag empor und
duften wunderbar, Vögel werden singen, Wolken werden tanzen und Blumen
durch die Luft schwirren wie ein Regen. Und das Geld wird sich in den
Taschen, selbst in den ärmsten und zerrissensten vorfinden. Aber ich
will jetzt schlafen. Siehst du, wie ich schon schläfrig werde. Benutze
du indessen die Zeit und studiere eines der Werke, das du finden wirst
und das geeignet ist, dich einen ganzen Monat lang zu fesseln. Es gibt
solche Bücher. Gute Nacht!« -- Und damit schlief sie ein. Die Katze aber
wollte sich zu ihr hinauf legen, Simon sprang ihr nach, sie entfloh, er
ihr nach, und immer entwischte sie ihm aus den Händen, wenn er sie schon
erfaßt hatte. Er sprang sich in eine furchtbare Atembeklemmung hinein,
aus der er schließlich erwachte.

»Ich habe da einen wehmütigen Traum gehabt,« dachte er, als er sich vom
Bette erhob.

                   *       *       *       *       *

Es war inzwischen Abend geworden. Er ging an das Fenster und schaute zum
ersten Mal in die Gasse hinunter, die tief unter ihm lag. Zwei Männer
gingen dort unten, sie hatten gerade Platz zwischen den hohen Mauern, um
bequem nebeneinander herzugehen. Sie sprachen, und der Klang ihrer Worte
drang seltsam deutlich zu seinen Ohren hinauf, die Mauern entlang die
den Klang weitertrugen. Der Himmel war von einem goldenen, tief-satten
Blau, das eine unbestimmte Sehnsucht erweckte. Simon gerade gegenüber
tauchten jetzt im Fenster des andern Hauses zwei Weibergestalten auf und
berührten ihn mit ihren ziemlich frechen, lachenden Blicken. Es war ihm,
als würde er mit unsauberen Händen angerührt. Die eine der Gestalten
sagte zu ihm hinüber, mit ganz gewöhnlich-lauter Stimme, -- denn es war,
als säße man zusammen zu Dritt in einem Zimmer, in dem sich nur zufällig
ein schmales Band freier Himmelsluft befände: »Sie sind wohl sehr
einsam!«

»O ja! Aber es ist hübsch, einsam zu sein!«

Und er schloß das Fenster, während die beiden Weiber in ein Gelächter
ausbrachen. Was konnte er mit ihnen reden, was nicht unflätig gewesen
wäre. Heute war er nicht aufgelegt. Die Veränderung, die wieder in sein
Leben eingerissen war, hatte ihn ernst gestimmt. Er zog die weißen
Vorhänge vor, zündete die Lampe an, und las in dem Roman von Stendhal
weiter, den er auf dem Land, bei Hedwig, nicht hatte fertig lesen
können.



Vierzehntes Kapitel.


Nachdem er eine Stunde gelesen hatte, löschte er die Lampe aus, öffnete
das Fenster, ging zum Zimmer hinaus, zu der Haustüre hinaus, auf die
steile Straße. Eine schwere, warme Dunkelheit empfing ihn. Das alte
Stadtviertel war voll von kleinen Wirtschaften, so daß einem beim Gehen
die Wahl schwer werden konnte. Er ging noch einige Schritte in der
lebhaft von Menschen erfüllten Straße und trat dann in eine Kneipe ein.
Um einen runden Tisch herum war eine kleine, fröhliche Gesellschaft
versammelt, deren Mittelpunkt ein kleiner Spaßmacher sein mußte; denn
alles lachte, sowie er nun den Mund auftat. Es mußte einer jener
Menschen sein, die, was sie auch sagen mochten, stets komisch und
lachmuskelerregend wirkten. Simon setzte sich zu zwei noch jungen
Männern an den gleichen Tisch und horchte unwillkürlich auf das, was sie
sprachen. Sie sprachen ernsthaft und in ziemlich klugen Ausdrücken
miteinander. Der Gegenstand ihrer Auseinandersetzung schien ein junger,
unglücklicher Mann zu sein, den sie beide mochten näher gekannt haben.
Jetzt aber ließ der eine von ihnen den andern, ohne ihn zu unterbrechen,
erzählen, und Simon hörte folgendes:

»Ja, er war ein prachtvoller Kerl! Schon als Knabe, als er noch langes
Haar und kurze Hosen trug und an der Hand eines Kindermädchens durch die
Straßen der kleinen Stadt spazieren ging. Die Leute sagten, indem sie
sich nach ihm umsahen: »Welch ein bildhübscher, kleiner Kerl!« Seine
Aufgaben hat er mit viel Talent gemacht, ich meine seine
Schüleraufgaben. Seine Lehrer haben ihn geliebt; denn er war sanft und
gut zu erziehen. Seine Klugheit machte es ihm spielend leicht, seine
Pflichten in der Schule zu erfüllen. Er hat prachtvoll geturnt,
gezeichnet und gerechnet. Wenigstens weiß ich, daß ihn die Lehrer den
später nachkommenden Schülergenerationen und sogar den weiter
vorgeschrittenen Klassen als ein Muster gepriesen haben. Seine weichen
Gesichtszüge mit den wundervollen Augen voll männlicher Ahnung
bestrickten alle, die mit dem Knaben zu tun hatten. Er genoß eine
gewisse Berühmtheit, als ihn seine Eltern auf die höhere Schule
schickten. Von der Mutter verzärtelt, was jedermann begriff, und von
allen bewundert, mußte sein Geist frühzeitig jene Weichheit der
Bevorzugten und Anerkannten erhalten, jenes Gehenlassen, jene schöne
Sorglosigkeit, die dem jungen Menschen gestattet, sich der Genüsse des
Lebens spielend zu bemeistern. In die Ferien brachte er glänzende
Zeugnisse und eine Schar junger Kameraden mit nach Hause und berauschte
das Ohr seiner Mutter mit Erzählungen von seinen mannigfachen Erfolgen.
Natürlich verschwieg er seiner Mutter die Erfolge, die er schon damals
begann, bei den leichtfertigen Mädchen zu machen, die ihn schön und
liebenswürdig fanden. Die Ferien benutzte er zu Wanderungen im Tiefland;
auf den ausgedehnten, hohen Bergen, die ihn lockten, weil sie so hoch
hinauf und so weit in die unbestimmteste Ferne sich hineindehnten,
verbrachte er Tage, nicht nur Stunden, mit der ausgelassenen
Gesellschaft von gleich schwärmerisch Gesinnten wie er selber. Er bannte
und bezauberte sie alle. -- Er glich in seiner Gesundheit und
Schmiegsamkeit, sowohl seelisch wie körperlich, einem Gott, der nur zum
Vergnügen eine Zeitlang auf dem Gymnasium zu studieren schien. Wenn er
ging, sahen ihm die Mädchen nach, als würden sie von seinen
zurückgeworfenen Blicken an ihn herangezogen. Auf seinem blonden,
schönen Kopf trug er kokett die blaue Studentenmütze. Er war entzückend
leichtsinnig. Einmal, es war gerade Jahrmarkt, und der große Platz, wo
sonst das Vieh zusammengetrieben wird, stand voller Buden, Hütten,
Karussells, Rutschbahnen und Reitbahnen, schoß er mit einem scharf
geladenen Vogelgewehr, statt mit einer der üblichen, unschädlichen
Flinten, in eine Schießbude hinein, vor der er immer zu sehen war, da
ihn das Mädchen, das dort die Gewehre darreichte, entzückte. Die kleine
Kugel drang durch die Leinewand der Bude hindurch, in den Wagen hinein,
der dicht dahinter stand, und soll dort um ein Haar ein in einer Wiege
schlafendes, kleines Kind verletzt haben. Es war der Wagen, den diese
herumziehenden Leute als Familienwohnung benutzten. Der Streich kam
natürlich aus, mehrere andere Streiche kamen zu dem einen, und das
nächste Mal, als wieder Ferien waren, stand in dem Zeugnis des jungen
Studenten eine bissige Bemerkung des Rektors, der gleichzeitig den
Eltern einen Brief, großzügig und voll Feierlichkeit, schrieb, worin er
ihnen ans Herz legte, ihren Sohn freiwillig aus der Schule zu nehmen, da
sonst die Notwendigkeit bevorstünde, denselben auszuweisen. Gründe:
sinnloses Betragen, Ansteckung, böse Einwirkung, Unverantwortlichkeit,
hohe Verantwortung, Pflichten und doch Rücksichten und alles jenes, was
eben für einen solchen Fall immer Gründe sind: die Sittlichkeit in
Gefahr und: Schutz der noch Unverdorbenen, und so weiter.« --

Der erzählende Mann schwieg eine Weile.

Diese Gelegenheit benutzte Simon, um sich bemerkbar zu machen und sagte:

»Ihre Erzählung interessiert mich aus manchem Standpunkt. Bitte,
gestatten Sie mir, daß ich Ihnen ferner zuhören darf. Ich bin ein
junger, eben aus seiner Lebensstellung herausgetretener Mann und lerne
vielleicht einiges aus Ihrer Erzählung; denn mir scheint, daß man immer
gewinnt beim Anhören einer wahrhaften Geschichte.« --

Die beiden Männer sahen sich Simon aufmerksam an, doch schien er ihnen
keinen unguten Eindruck zu machen, vielmehr bat ihn der, der erzählt
hatte, nur zuzuhören, wenn es ihm Spaß machen könne, und jener erzählte
weiter:

»Die Eltern des Jünglings gerieten natürlich ob dieser Ausweisung in
große Bestürzung und in noch größeren Kummer; denn wo gäbe es Eltern,
die so gleichgültig wären, daß sie sich in einem so betrübenden Fall,
wie dieser war, in alltäglicher Weise benehmen könnten. Sie meinten
zuerst, daß es am besten sei, den Schlingel ganz aus der gelehrten
Laufbahn fortzunehmen, und ihn einen harten Beruf, wie Mechaniker oder
Schlosser, lernen zu lassen. Das Wort und Land Amerika kam ihnen schon
in den Sinn, es mußte ihnen angesichts der Lage ihres Sohnes beinahe von
selbst zufliegen. Aber es kam anders. Wiederum siegte die Zärtlichkeit
der Mutter, wie schon so oft, wenn der Vater energisch einzuschreiten
gesonnen war, so auch bei dieser Gelegenheit. Der junge Mann wurde in
ein entlegenes, einsames Seminar geschickt, wo er sich auf den
Lehrerberuf vorzubereiten hatte. Es war ein französisches Seminar, wo
der Junge gar nicht anders konnte, als sich, wie es sich geziemte,
aufzuführen. Wenigstens ging er von da aus, nach Ablauf seiner Zeit, als
praktischer, jugendlicher Lehrer in die Welt. In der Nähe seiner
Heimatstadt bekam er eine vorläufige Stelle als Lehrer. Er unterrichtete
die Kinder so gut, als er nur vermochte, las, wenn es ihm die Zeit
erlaubte, zu Hause die französischen und englischen Klassiker in ihrer
Sprache; denn er hatte für Sprachen ein wahrhaft wunderbares Talent,
dachte heimlich an eine andere Karriere, schrieb Briefe nach Amerika
zwecks einer Anstellung als Hauslehrer, die indessen erfolglos blieben,
und trieb ein Leben zwischen Pflicht und scheuer Ungebundenheit. Da es
Sommer war, ging er mit seinen Schülern öfters im tiefen, reißenden
Kanal baden. Er badete dann selber mit, um seinen Schülern zu zeigen,
wie man es anzustellen hatte, wenn man schwimmen lernen wollte. Eines
Tages aber riß ihn der Wasserstrudel derart fort, daß es aussah, wie
wenn er jetzt ertrinken mußte. Die Schüler rannten schon in das
Städtchen zurück, wo sie schrieen: »Unser Lehrer ist ertrunken.« Aber
der junge, kräftige Mann arbeitete sich aus den Wirbeln des tückischen
Wassers heraus und kam wieder nach Hause. Nach einiger Zeit befand er
sich indessen an einem anderen Ort, und zwar mitten in den Bergen, in
einem kleinen, aber doch reichen Dorf, wo er angenehme Menschen fand,
die ihn weniger als Lehrer wie vielmehr als Menschen respektierten. Er
war ein vorzüglicher Klavierspieler und flotter Geselle überhaupt, der
in einer Gesellschaft von einigen Menschen den Zauberfaden der
Unterhaltung ganz nur um sich herum zu drehen verstand. Ein sehr liebes,
aber schon nicht mehr junges Fräulein verliebte sich in den Lehrer,
derart, daß sie ihm alles nur Mögliche an Bequemlichkeit und Komfort
zukommen ließ und ihn mit den ersten Leuten im Dorf bekannt machte. Sie
stammte aus einer alten Offiziersfamilie, deren Vorfahren einst in
fremden Ländern Kriegsdienste verrichtet hatten. So schenkte sie ihm
denn eines Tages zum Andenken einen zierlichen Galanterie-Degen, der
immerhin eine nicht ungefährliche Waffe gewesen sein mochte und der
vielleicht gar zu seiner Zeit einmal in Blut getaucht worden war. Es war
ein feines Stück, und das gute, liebe Fräulein überreichte ihm den
Zierrat mit niedergeschlagenen Augen, wobei sie vielleicht einen tiefen
Seufzer unterdrückte. Sie hörte ihm zu, wenn er, in romantisch edler
Haltung, am Klavier saß und darauf spielte, und konnte kein Auge von
seiner Gestalt abwenden. Oft fuhr sie mit ihm zusammen, da es Winter
war, auf dem hochgelegenen, kleinen Bergsee Schlittschuh, und beide
freuten sich dieses schönen Vergnügens. Aber der junge Mann wünschte
bald wieder abzureisen, um so mehr, da er nur zu lebhaft die warmen,
verlockenden Bande fühlte, die ihn so gern für immer an das Dorf
gefesselt hätten, denen er aber entfliehen mußte, wenn er irgendwie noch
den Wunsch besaß, nach etwas Großem in der Welt zu streben. Er reiste,
und zwar mit dem Gelde des Fräuleins, die reich war, und die sich eine
wehmütige und kummervolle Freude daraus machte, es ihm ohne jeden
Vorbehalt zu geben. So ging er nach München, wo er ein ziemlich flottes
Leben führte, nach Art der dortigen Studenten, kam wieder heim, sah sich
nach einer Stelle um, und erhielt eine solche in einem Privatinstitut,
das am Fuße einer tannenwaldgeschmückten Bergkette lag. Dort mußte er
junge Bürschlein aus allen Erdteilen, reicher Leute Kinder,
unterrichten, tat es eine Zeitlang mit großer Liebe und viel Interesse,
bekam Händel mit seinem Vorgesetzten, dem Inhaber des Institutes, und
reiste wieder weg. Dann kam Italien an die Reihe, wohin er sich als
Hauslehrer begab, und dann England, wo er auf einem Gutsitze zwei
aufwachsende Mädchen unterrichtete, mit denen er indessen nur Tollheiten
trieb. Er kam wieder heim, wilde Ideen spukten in seinem Kopf, und in
seinem leer gewordenen Herzen brannten nur noch hilflose Phantasieen,
die keine Rechte auf die Wirklichkeit besaßen. Seine Mutter, in deren
Schoß sich zu werfen es ihn verlangte, starb zu dieser Zeit. Er war leer
und trostlos. Er bildete sich ein, sich jetzt auf die Politik werfen zu
sollen, aber er besaß für dieses Fach weder die genügende Übersicht und
Ruhe, noch auch nur den nötigen Schliff und Takt mehr. Er schrieb auch
Börsenberichte, aber ohne Sinn; denn er dichtete sie, und zwar aus einem
bereits zerstörten Geiste heraus. Er verfaßte Gedichte, Dramen und
musikalische Kompositionen, malte, zeichnete, aber dilettantisch und
kindlich. Inzwischen hatte er wiederum Stellung genommen, freilich nur
für kurze Zeit, und dann wieder Stellung, und dann wieder! An einem
halben Dutzend Orten trieb er sich herum, glaubte und sah sich überall
betrogen und verletzt, verlor den Anstand vor den Schülern, lieh Geld
von ihnen; denn er besaß nie Geld. Noch war er ein schlanker, schöner
Mensch, sanft und vornehm von Ansehen und immer noch edel in seinem
Betragen, solange er mit seinem Kopf oben war. Aber das war nur noch
selten der Fall. Nirgends in der Welt konnte man ihn lange gebrauchen,
man schickte ihn fort, sowie man hinter sein Wesen kam, oder er ging von
selber aus ganz absonderlichen, selbst zusammengedichteten Ursachen. Das
mattete und lähmte ihn natürlich vollends herunter. Aus Italien hatte er
noch begeisterungsfrohe, ideale Briefe an seinen Bruder geschrieben. In
London, wo er Not litt, war er einmal in das Kontor eines sehr reichen
Seidenhändlers, eines Onkels von ihm, mit der Bitte getreten, man möchte
ihm in seiner elenden Lage beistehen, und bat um Geld, vielleicht nicht
gerade mit Worten, aber man merkte, was er wollte, und schickte ihn
achselzuckend fort, ohne ihm etwas zu geben. Wie mußte sein schöner,
sanfter Menschenstolz schon gelitten haben, wenn er den Mut fand,
Unwürdige anbetteln zu gehen. Doch was mußte er nicht tun, da er Not
litt! Man kann von Stolz sprechen, man muß aber auch all der Zufälle des
Lebens gedenken, wo es unmenschlich ist, von einem Menschen noch Stolz
zu verlangen. Und der, der gebeten hatte, war weich! Er hatte von jeher
ein kindlich weiches Herz, und dem Schmerz und der Reue über ein
verlornes Leben war es ein Leichtes, dieses Herz zu zerstören. Eines
Tages, nach all den Umherwanderungen, erschien er wieder zu Hause, blaß,
matt, müde und in seinen Kleidern heruntergerissen. Sein Vater empfing
ihn wahrscheinlich herzlos, seine Schwester so gut, als sie durfte vor
des entrüsteten Vaters Augen. Er gedachte, einen kleinen Redakteurposten
zu erhalten, und trieb sich inzwischen in der Stadt herum, wo er allen
Mädchen Ringe schenkte und zu ihnen sagte, er wolle sie heiraten. Er war
ganz offenbar schon kindisch. Man munkelte natürlich und lachte. Dann
ging er noch einmal fort, in eine Lehrerstelle, aber dort erwies es
sich, daß er für die Welt unmöglich geworden war. Er kam eines Tages mit
einem nackten Fuß in die Schulstunde, Schuh und Strumpf fehlten an dem
einen seiner Füße. Er wußte nicht mehr, was er tat, oder er tat eben
das, was sein anderer, irrer Geist ihm zu tun befahl. Zu derselben Zeit
radierte er in seinem militärischen Dienstbuch die dort notierte
Degradation aus, die ihm eines begangenen, schweren Fehlers wegen schon
früher zudiktiert worden war. Infolgedessen wurde er, da dieses kühne
Vergehen ans Licht kam, ins Gefängnis gesperrt. Von dort wurde er, da
man über seinen Geisteszustand zur Klarheit gelangte, in ein Irrenhaus
gebracht, wo er heute noch ist. Ich weiß das alles, da ich oft mit ihm
zusammen gewesen bin, in vielen Jahren, im Zivil sowohl wie beim
Militär, und auch geholfen habe, ihn dahin abzuführen, wo er sich jetzt
befindet und wohin er leider gebracht werden mußte.«

»Traurig!« sprach der andere der beiden Männer.

»Wir wollen austrinken und gehen,« sagte der Erzähler und fügte noch
hinzu: »Manche wollen behaupten, daß die leichtfertigen Weiber, zu denen
er Beziehungen hatte, ihn zugrunde gerichtet hätten, aber ich glaube es
nicht, da ich überzeugt bin, daß man den schlimmen Einfluß, den diese
Weiber auf einen Mann ausüben, meistens überschätzt. So schlimm ist das
alles nicht, aber vielleicht liegt es in der Familie.«

Simon sprang auf, lebhaft angeregt und mit der Röte des Unwillens auf
den Wangen:

»Was da? In der Familie? Da irren Sie sich, mein edler Herr Erzähler.
Sehen Sie mich, bitte, einmal gründlich an. Entdecken Sie an mir
vielleicht auch so etwas, das in der Familie liegen könnte? Muß ich auch
ins Irrenhaus kommen? Das müßte ich ohne Zweifel, wenn es in der Familie
läge, denn ich bin auch aus der Familie. Der junge Mann ist mein Bruder.
Ich schäme mich durchaus nicht, einen nur unglücklichen und keineswegs
verderblichen Menschen offen meinen Bruder zu nennen. Heißt er nicht
Emil, Emil Tanner? Könnte ich das wissen, wenn er nicht mein leiblicher
lieber Bruder wäre? Ist sein Vater, der auch der meinige ist, etwa nicht
Mehlhändler, der auch in Burgunderweinen und Provencer-Öl einen ganz
stattlichen Handel treibt?«

»In der Tat, das stimmt alles,« sagte der Mann, der vorhin erzählt
hatte.

Simon fuhr fort: »Nein, in der Familie kann es nicht liegen. Ich leugne
das, solange ich lebe. Es ist einfach das Unglück. Die Weiber können es
nicht sein. Da haben Sie recht, wenn Sie sagen, die Weiber seien es
nicht. Müssen daran die armen Weiber immer schuld sein, wenn die Männer
ins Unglück geraten? Warum denken wir darüber nicht etwas einfacher?
Kann es nicht im Charakter, in einem Stäubchen der Seele liegen? So und
immer so: und deshalb so? Schauen Sie, bitte, was ich jetzt für eine Art
von Handbewegung mache: So, so! Darin liegt es. Der Mensch fühlt so, und
dann handelt er so, und alsdann stößt er an mancherlei Mauern und
Unebenheiten so an. Die Menschen denken immer gleich an grausige
Vererbung und so weiter. Mir erscheint das lächerlich. Und welche
Feigheit und welche Unehrerbietung, den Eltern und Voreltern an seinem
Unglück Schuld geben zu wollen. Mangel an Anstand und Mut und noch
etwas: unziemliche Weichherzigkeit ist das! Wenn das Unglück über einen
herbricht, so bringt man eben die erforderliche Manier mit, die es dem
Schicksal bequem macht, daraus ein Unglück zu formen. Wissen Sie, was
mein Bruder mir war, mir und Kaspar, dem andern Bruder, uns Jüngeren?
Gelehrt hat er uns auf gemeinschaftlichen Spaziergängen Schönes und
Hohes zu empfinden, zu einer Zeit, da wir noch die wüstesten Schlingel
waren, die nur auf schlechte Streiche ausgingen. Aus seinen Augen
tranken wir das Feuer der Begeisterung für die Kunst. Können Sie sich
denken, was für eine herrliche, verständnissuchende, streberische, im
schönsten und kühnsten Sinn streberische Zeit das war? Wir wollen noch
eine Flasche Wein trinken, ich will sie bezahlen, ja, ich, obschon ich
ein lumpiger Stellenloser bin. Heda! Herr Wirt, ein Flasche Wadtländer.
Und zwar vom besten, den Sie haben. -- Ich bin ein ganz mitleidloser
Mensch. Meinen armen Bruder Emil habe ich schon längst vergessen. Ich
komme auch gar nicht dazu, an ihn zu denken, denn sehen Sie, ich bin
einer, der so in der Welt steht, daß er sich mit Händen und Füßen wehren
muß, um aufrecht zu stehen. Umfallen mag ich nur dann, wenn ich nicht
mehr den Gedanken ans Aufstehen habe. Ja, dann habe ich vielleicht Zeit,
an die Unglücklichen zu denken, und Mitleid zu haben, wenn ich selber
des Mitleids würdig geworden bin. Noch bin ich es aber nicht, und ich
gedenke noch zu lachen und Scherz zu treiben angesichts meines Todes.
Sie sehen in mir einen ziemlich unverwüstlichen Menschen, der allerhand
Mißgeschick zu ertragen versteht. Das Leben, es braucht mir gar nicht so
sehr zu glänzen, so glänzt es doch schon in meinen Augen. Es ist mir
meistens schön und ich verstehe die Menschen nicht, die es unschön
nennen und es damit beschimpfen. Jetzt kommt der Wein. Ich komme mir
immer ganz vornehm vor, wenn ich Wein trinke. Mein armer Bruder lebt
noch! Ich danke Ihnen, mein Herr, daß Sie mein Gedächtnis heute auf
einen Unglücklichen gestoßen haben. Und nun: ganz ohne jede
Weichherzigkeit: stoßen Sie an, meine Herren: Es lebe das Unglück! --«

»Warum, wenn ich fragen darf?«

»Sie übertreiben!«

»Das Unglück bildet, deshalb bitte ich Sie, es mit diesem funkelnden
Glase Wein hochleben zu lassen. Noch einmal! So. Ich danke Ihnen. Lassen
Sie mich Ihnen sagen, daß ich ein Freund des Unglücks bin, und zwar ein
sehr inniger Freund, denn es verdient die Gefühle der Vertrautheit und
Freundschaft. Es macht uns besser, und das ist ein großer Dienst, den es
uns da erweist. Es ist ein echter Freundschaftsdienst, der erwidert
werden muß, will man anständig heißen. Das Unglück ist der etwas
mürrische, aber desto ehrlichere Freund unseres Lebens. Es wäre ziemlich
frech und ehrlos von uns, das zu übersehen. Im ersten Augenblick
verstehen wir das Unglück nie, deshalb hassen wir es im Moment seines
Kommens. Es ist ein so feiner, leiser, unangemeldeter Geselle, der uns
immer überrascht, wie wenn wir nur Tölpel wären, die man immer
überraschen kann. Wer das Talent hat, zu überraschen, der muß schon, was
er auch sei und woher er auch komme, etwas ganz außerordentlich Feines
sein. Nichts von sich ahnen lassen, und auf einmal da sein, nicht den
leisesten neugierigen, vorauseilenden Geschmack und Duft an sich haben,
und dann einem so plötzlich vertraulich auf die Achsel klopfen, »Du« zu
einem sagen und dazu lächeln und einem in ein blasses, mildes,
alleswissendes, schönes Gesicht blicken lassen: dazu gehört mehr als
Brotessen, dazu gehören andere Apparate als nur Flugapparate, mit deren
halber Erfindung wir Menschen schon zum voraus in großtönenden,
schicksalumwerfenden Worten prahlen. Ja, das Schicksal, das Unglück ist
schön. Es ist gut; denn es enthält auch das Glück, sein Gegenteil. Es
erscheint mit beiderlei Waffen bewaffnet. Es hat eine zornige und
vernichtende, aber auch eine sanfte und liebliche Stimme. Es weckt neues
Leben, wenn es altes erschlagen hat, das ihm nicht gefallen hat. Es
reizt zum Besser-Leben. Alle Schönheit, wenn wir noch hoffen, Schönes zu
erleben, verdanken wir ihm. Es läßt uns Schönheiten überdrüssig werden
und zeigt uns mit seinen ausgestreckten Fingern neue! Ist eine
unglückliche Liebe nicht die gefühlvollste und deshalb zarteste, feinste
und schönste? Tönt nicht noch das Verlassensein in weichen,
schmeichelnden und wohltuenden Tönen? Ist das alles neu, was ich Ihnen
da sage, meine Herren? Freilich ist es neu, wenn man es sagt; denn es
sagt es selten einer. Den meisten mangelt der Mut, das Unglück zu
begrüßen, als etwas, worin man die Seele baden kann, wie Glieder im
Wasser. Man sehe sich doch nur einmal an, wenn man sich nackt ausgezogen
hat und jetzt nackt dasteht: Welch eine Pracht: ein nackter, gesunder
Mensch! Welch ein Glück: das mit nichts mehr bekleidet-Sein, das
nackt-Dastehn! Ein Glück ist es schon, auf die Welt zu kommen, und kein
weiteres Glück zu haben, als gesund zu sein, ist ein Glück, das die
edelsten Steine, alle schönen Teppiche und Blumen, die Paläste und die
Wunder überglitzert und überstrahlt. Das Wundervollste ist die
Gesundheit, es ist ein Glück, zu dem kein weiteres, ähnliches
hinzugefügt werden kann, es sei denn, daß der Mensch im Laufe der Zeiten
roh genug geworden ist, um zu wünschen, daß er doch nur krank sein
möchte und dafür einen Geldbeutel voll Geld besitzen. Zu dieser Fülle
von Pracht und Glück, wenn man wirklich geneigt ist, das nackte,
straffe, bewegliche, warme, mit auf das Erdenleben gekommene Glied als
eine solche Fülle zu betrachten, muß eine Art Gegengewicht treten: das
Unglück! Es kann uns hindern überzuschäumen, es schenkt uns die Seele.
Es bildet unsere Ohren dafür aus, den schönen Klang zu vernehmen, der
tönt, wenn Seele und Körper, ineinandervermischt, ineinanderübergetreten,
zusammen atmen. Es macht aus unserem Körper etwas Körperlich-Seelenvolles
und die Seele bringt es zu einem festen Dasein mitten in
uns, daß wir, wenn wir wollen, unseren ganzen Körper als
eine Seele empfinden, das Bein als eine springende, den Arm als eine
tragende, das Ohr als eine horchende, die Füße als eine edel gehende,
das Auge als die sehende und den Mund als die küssende Seele. Es macht
uns erst lieben, denn wo liebte man, mit nicht auch ein wenig Unglück?
In den Träumen ist es noch schöner als in der Wirklichkeit, denn wenn
wir träumen, verstehn wir auf einmal die Wollust und entzückende Güte
des Unglücks. Sonst ist es uns meist hinderlich, namentlich, wenn es in
Form eines Geldverlustes zu uns kommt. Aber kann das ein Unglück sein?
Wenn wir auch einen Kassenschein verlieren, was verlieren wir? Recht
unangenehm freilich ist das, aber es ist kein Grund zu längerer
Trostlosigkeit, als es braucht, um einzusehen, daß es kein wirkliches
Unglück ist. Und so weiter! Man könnte viel reden darüber. Zuletzt wird
man es doch müde. --«

»Sie sprechen wie ein Dichter, mein Herr,« bemerkte lächelnd einer der
Männer.

»Das kann sein. Der Wein macht mich immer dichterisch reden,« entgegnete
Simon, »so wenig ich sonst Dichter bin. Ich pflege mir Vorschriften zu
machen und bin im allgemeinen wenig geneigt, mich von Phantasieen und
Idealen hinreißen zu lassen, da ich das für äußerst unklug und für
anmaßend halte. Glauben Sie mir nur, ich kann ein sehr trockener Mensch
sein. Es ist auch keineswegs statthaft, jeden Menschen, den man einmal
von Schönheit reden hört, gleich für einen schwärmenden Dichter zu
halten, wie Sie es zu tun scheinen; denn ich denke, daß es sogar einmal
einem sonst ganz kalt überlegenden Pfandleihhändler oder Bankkassier
einfallen kann, über anderes nachzudenken, als über Sachen seines
geldzusammenkratzenden Berufes. Man nimmt in der Regel zu wenig
gefühlsinnige und der Nachdenklichkeit fähige Menschen an, weil man sie
nicht anders beobachten gelernt hat. Ich mache es mir zur Aufgabe, mit
einem jeden Menschen ein kühnes, herzliches Gespräch zu führen, damit
ich am schnellsten sehe, mit wem ich es zu tun habe. Man blamiert sich
mit einer solchen Lebensregel des öftern, und manchmal kriegt man dafür
sogar, beispielsweise von einer zarten Dame, eine Ohrfeige, aber was
schadet das! Mir macht es Vergnügen, mich bloßzustellen, und ich darf
immer überzeugt sein, daß die Achtung von solchen, bei denen man sich
mit dem ersten freien Wort etwas vergibt, nicht gar so sehr viel wert
ist, als daß man deshalb Ursache zum Betrübtsein hätte. Menschenachtung
muß immer leiden unter der Menschenliebe. Das wollte ich Ihnen auf Ihre
etwas spöttische Bemerkung sagen, womit Sie mich zu treffen meinten.«

»Ich wollte Sie keineswegs verletzen.«

»So war es hübsch von Ihnen,« sagte Simon und lachte dazu. Dann sagte er
plötzlich nach einigem Stillschweigen: »Was übrigens Ihre Erzählung von
meinem Bruder betrifft, so hat diese mich allerdings getroffen. Er lebt
noch, mein Bruder, und kaum ein Mensch denkt jetzt an ihn; denn wer sich
wegstiehlt, namentlich an einen so düsteren Ort, wie er, der wird
gestrichen aus den Gedächtnissen. Armer Kerl! Sehen Sie, ich könnte
sagen, daß es nur einer kleinen Änderung in seinem Herzen, vielleicht
eines Pünktchens mehr in seiner Seele bedurft hätte, um ihn zum
schaffenden Künstler zu machen, dessen Werke die Menschen entzückt
hätten. So wenig braucht es, um stark zu werden, und so wenig wiederum,
um sein Unglück zu vollenden. Was will man reden. Er ist krank und steht
auf der Seite, wo keine Sonne mehr ist. Ich werde jetzt mehr an ihn
denken, denn sein Unglück ist doch ein zu grausames. Es ist ein Elend,
das zehn Verbrecher nicht einmal verdienen, geschweige denn er, der
solch ein Herz hatte. Ja, das Unglück ist manchmal nicht schön, jetzt
bekenne ich es gerne. Sie müssen wissen, mein Herr, ich bin trotzig und
behaupte gern etwas wild in die Welt hinein, was gar keine Art hat. Mein
Herz ist zuweilen ganz hart, besonders hart ist es, wenn ich andere
Menschen voll Mitleid sehe. Da möchte ich immer so hineinwettern,
hineinlachen in das warme Mitleid. Sehr schlecht von mir, sehr, sehr
schlecht! Ich bin überhaupt noch lange kein guter Mensch, aber ich hoffe
es noch zu werden. Es hat mich sehr gefreut, mit Ihnen haben reden zu
dürfen. Das Zufällige ist immer das Wertvollste. Ich scheine etwas viel
getrunken zu haben, und es ist hier so heiß im Lokale, mich verlangt
hinaus. Leben Sie wohl, meine Herren. Nein! Nicht auf Wiedersehen.
Durchaus nicht. Das habe ich nicht im Sinne. Mich verlangt durchaus
nicht darnach. Viele Menschen habe ich noch kennen zu lernen, da darf
ich nicht so frivol sagen: auf Wiedersehen. Das hieße nur lügen; denn
ich begehre Sie nicht wiederzusehen, außer zufällig, und dann wird es
mir eine Freude sein, wenn auch eine maßvolle. Ich mache nicht gern
Umstände, und bin gern wahr, und das zeichnet mich vielleicht aus. Ich
hoffe, daß es mich auch in Ihren Augen auszeichnet, wiewohl Sie mich
jetzt ziemlich erstaunt und dumm ansehen, als wären Sie beleidigt. Gut,
seien Sie es. Zum Teufel noch einmal, womit habe ich Sie beleidigt.
Sie?«

Der Wirt trat herzu und mahnte Simon zur Ruhe:

»Gehen Sie lieber, es ist Zeit mit Ihnen.«

Und er ließ sich sanft in die dunkle Gasse hinausbefördern.

Es war eine tiefe, schwarze, schwüle Nacht. Es war, als schleiche sie
als etwas Schleichendes die Wände entlang. Bisweilen stand ein hohes
Haus ganz dunkel da, und dann war wieder eines, das gelblich und
weißlich leuchtete, als besäße es den besonderen Zauber, in einer so
dunklen Nacht zu leuchten. Die Mauern der Häuser rochen so seltsam. Es
war etwas Feuchtes und Dumpfiges, das ihnen entströmte. Einzelne Lichter
erhellten zuweilen einen Fleck der Gasse. Oben ragten die kühnen Dächer
über die glatte, hohe Wand der Häuser hinaus. Die ganze weite Nacht
schien sich in dieses kleine Gassengewirr gelegt zu haben, um hier zu
schlafen, oder um hier zu träumen. Es gingen noch einzelne späte
Menschen umher. Hier taumelte einer und sang dabei, ein anderer fluchte,
daß es den Himmel zerreißen mochte, ein dritter lag schon am Boden,
während der Tschako eines Polizisten hinter einer Hausecke
hervorblitzte. Wenn man schritt, tönten einem die Schritte unter den
Füßen. Simon begegnete einem alten, betrunkenen Mann, der in der ganzen
Breite der Gasse hin und her schwankte. Es war ein elendes und zugleich
fröhliches Bild: wie die dunkle, plumpe Gestalt so hin und her
geschleudert wurde, als bekäme sie Stöße von einer geschmeidigen,
unsichtbaren Hand. Da ließ der alte, weißbärtige Mann seinen Stock
fallen, wollte denselben vom Boden wieder aufheben, was ja für den
Betrunkenen eine schreckliche Aufgabe sein mußte, und schien
infolgedessen selber zu Boden stürzen zu wollen. Aber Simon, von einem
lächelnden Erbarmen ergriffen, eilte auf den Mann und auf den Stock zu,
hob diesen auf und drückte ihn dem Mann in die Hand, der einen Dank in
der merkwürdigen Sprache der Betrunkenen murmelte, in einem Ton, als
hätte er Grund, noch beleidigt zu sein. Dieser Anblick wirkte sofort
ernüchternd auf Simon, und er bog aus dem alten Stadtviertel ab in die
neuere, elegantere Gegend. Als er über eine Brücke, die beide Stadtteile
voneinander trennte, hinüberging, sog er den seltsamen Duft des
fließenden Flußwassers ein. Er schritt die Straße hinunter, in der er
vor drei Wochen von jener Dame vor dem Schaufenster angesprochen wurde,
sah in dem Haus seiner früheren Herrin noch Licht brennen, dachte daran,
daß sie noch gestern seine Herrin gewesen war, schritt weiter unter den
Bäumen, bis er zu dem breit und dunkel liegenden See kam, der zu
schlafen schien in seiner ganzen, herrlichen Ausdehnung. Ein solcher
Schlaf! Wenn so ein ganzer See schlief mit all seinen Abgründen, das
machte Eindruck. Ja, das war doch etwas Seltsames, kaum zu Verstehendes.
Simon schaute noch eine Zeitlang hinaus, bis er Sehnsucht bekam, selber
zu schlafen. O, er würde jetzt herrlich schlafen. So ruhig würde es über
ihn kommen, und morgen würde er lang im Bett bleiben, morgen war ja
Sonntag. Simon ging heim.



Fünfzehntes Kapitel.


Am nächsten Morgen erwachte er erst, als die Glocken klangen. Er
bemerkte von seinem Bette aus, daß ein herrlicher, blauer Tag draußen
sein mußte. In den Fensterscheiben blitzte so ein Licht, das auf einen
wunderbaren Morgenhimmel hoch über der Gasse schließen ließ. Etwas
Hellgoldenes ließ sich ahnen, wenn man die gegenüberliegende Hausmauer
länger ansah. Man mußte bedenken, wie schwarz und düster diese fleckige
Wand bei beflecktem Himmel aussehen mußte. Man sah lange dahin und
stellte sich vor, wie jetzt der See, mit den Segeln darauf, sich
ausnähme, in dem goldenen, blauen Morgenwetter. Gewisse Waldwiesen,
gewisse Aussichten und gewisse Bänke unter den grünen, üppigen Bäumen,
der Wald, die Straßen, die Promenaden, die Wiesen auf dem Rücken des
breiten Berges, vollbesetzt mit Bäumen, die Abhänge und Waldschluchten,
in denen das Grün nur so wucherte, die Quelle und der Waldbach mit den
großen Steinen und dem leise singenden Wasser, wenn man daran saß und
sich davon einschläfern ließ. Das alles war zu sehen, deutlich, wenn
Simon auf die Wand hinüberblickte, die doch nur eine Wand war, aber die
heute das ganze Bild eines seligen Menschensonntages widerspiegelte, nur
weil etwas wie ein Hauch von blauem Himmel darauf auf und ab schwebte.
Dazu klangen ja die Glocken in den bekannten Tönen, und Glocken, ja, die
verstanden es, Bilder aufzuwecken.

Er nahm sich, immer noch im Bett liegend, vor, von jetzt ab fleißiger zu
sein, etwas zu studieren, zum Beispiel eine Sprache, und überhaupt
geregelter zu leben. Wie viel hatte er versäumt! Das Lernen mußte einem
doch viel Freude machen. Es war so schön, sich das vorzustellen, recht
innig und lebhaft, wie das wäre, wenn man emsig lernte und lernte, und
gar nicht aus dem Lernen herauskäme. Er fühlte eine gewisse menschliche
Reife in sich: nun wohl, um so schöner müßte das Lernen werden, wenn mit
der ganzen, bereits erworbenen Reife gelernt würde. Ja, das wollte er
nun tun: lernen, sich Aufgaben stellen, und einen Reiz darin finden,
Lehrer und Schüler in eigener Person zu sein. Zum Beispiel, wie würde es
mit einer fremden, wohlklingenden Sprache sein, etwa mit der
französischen? »Ich würde Wörter lernen und sie meinem Gedächtnisse fest
einprägen. Wie käme mir da meine allezeit lebhafte Einbildungskraft zu
Hilfe. Der Baum: _l'arbre_. Ich würde in meinem ganzen Gefühl den Baum
sehen. Klara käme mir in den Sinn. Ich würde sie in einem weißen,
weitgefalteten Kleid unter einem breiten, schattigen, dunkelgrünen Baum
sehen. So käme mir wieder vieles, beinahe schon ganz vergessenes in den
Sinn. Der Sinn würde stärker und lebhafter im Erfassen. So, wenn man
nichts lernt, stumpft man zusammen. Wie süß ist gerade die Kleinheit,
das Anfängerische! Ich erblicke jetzt einen hohen Reiz darin und
begreife nicht, wie ich so lange, so lange trotzig und träge sein
konnte. O, die ganze Trägheit liegt nur im Trotz des Mehrwissen-wollens
und des vermeintlichen Besser-wissens. Wenn man nur recht weiß, wie
wenig man weiß, kann es noch gut kommen. Ich würde mir bei dem Klang des
fremden Wortes das deutsche inniger denken und mir seinen Sinn weiter
ausbreiten in Gedanken, so würde mir auch die eigene Sprache ein neuer,
reicherer Laut voll ungekannter Bilder werden. _Le jardin_: der Garten.
Hier würde ich an den ländlichen Garten Hedwigs denken, den ich doch
mitgeholfen habe, anzupflanzen, als es Frühling wurde. Hedwig! Alles
würde mir wieder einfallen, blitzschnell, was sie gesagt, getan,
gelitten und gedacht hat, während all der Tage, die ich bei ihr
verbracht habe. Ich habe keine Ursache, so schnell Menschen und Dinge zu
vergessen und meine Schwester erst recht nicht. Damals, als wir den
Garten schon bepflanzt hatten, schneite es nachts wieder, und wir hatten
großen Kummer, es würde uns nichts wachsen in unserem Garten. Für uns
bedeutete das viel; denn wir versprachen uns aus dem Garten recht viel
schönes Gemüse. Wie schön ist es doch, mit einem Menschen den gleichen
Kummer teilen zu können. Wie müßte es erst sein, wenn man die Schmerzen
und das Ringen eines ganzen Volkes mitlitte und mitkämpfte. Ja, das
alles würde mir einfallen beim Lernen einer Sprache, und noch so viel
mehr, so vieles, das ich mir jetzt noch gar nicht ausdenken kann. Nur
lernen, nur lernen, gleichviel, was! Ich will mich auch in die
Naturgeschichte versenken, ich ganz allein, ohne Lehrer, an Hand eines
billigen Buches, das ich gleich morgen kaufen werde, denn heute ist
Sonntag, da sind freilich alle Läden geschlossen. Das geht alles, ganz
gewiß. Wozu ist man auf der Welt. Bin ich mir etwa seit einiger Zeit gar
nichts mehr schuldig? Aufraffen muß ich mich endlich, es ist wahrlich
die höchste Zeit.«

Und er sprang aus dem Bett, als wenn es ihm ein Bedürfnis wäre, gleich
jetzt mit den neuen Plänen anzufangen. Rasch kleidete er sich an. Der
Spiegel sagte ihm, daß er wirklich ganz nett aussähe, das befriedigte
ihn.

Wie er eben die Treppe hinuntergehen wollte, begegnete ihm Frau Weiß,
seine Wirtin und Zimmervermieterin. Sie war ganz in Schwarz gekleidet
und trug ein kleines Gebetbuch in der Hand, sie kam soeben aus der
Kirche. Sie lachte, als sie den Simon erblickte, recht munter, und
fragte ihn, ob er denn nicht auch zur Kirche hätte gehen mögen.

Er sei schon seit Jahren in keiner Kirche mehr gewesen, erwiderte er.

Die Frau erschrak über ihr ganzes, gutes Gesicht hinweg, als sie solche
Worte vernahm, die ihr ungebührlich erschienen zum Munde eines jungen
Mannes heraus. Sie wurde nicht böse; denn sie war durchaus keine
unduldsame Frömmlerin, aber sie mußte doch zu Simon sagen, da täte er
doch nicht ganz recht. Sie glaube es übrigens gar nicht. Er sähe ihr
durchaus nicht so aus. Aber wenn es wahr wäre, so möchte er bedenken,
daß er nicht gut handle, niemals in die Kirche zu gehen.

Simon versprach ihr, um sie bei guter Laune zu erhalten, nächstens in
die Kirche zu gehen, worauf sie ihn ganz freundlich anschaute. Er
indessen ging die Treppe hinunter, ohne sich weiter bei ihr aufzuhalten.
»Ein liebes Weib,« dachte er, »und ich gefalle ihr, ich merke es immer,
wenn ich einer Frau gefalle. Wie lustig sie mit mir wegen der Kirche
geschmollt hat. So übers ganze Gesicht ein Schmollen: das kleidet eine
Frau immer. Das sehe ich sehr gern. Sie hat außerdem Respekt vor mir.
Ich werde mir den ferner zu erhalten wissen bei ihr. Aber ich werde
nicht viel und nicht oft zu ihr reden. Sie wird dann wünschen, ein
Gespräch mit mir anzufangen, und wird froh über jedes Wort sein, das ich
mit ihr spreche. Ich mag gern solche Frauen, wie sie eine ist. Das
Schwarz steht ihr herrlich. Wie lieb das kleine Gebetbuch aussah, das
sie in ihrer üppigen Hand trug. Eine Frau, die betet, erhält eigentlich
einen sinnlichen Reiz mehr. Wie schön diese blasse Hand aus dem Schwarz
des Ärmels heraustrat. Und ihr Gesicht! Nun, schon gut! Es ist
jedenfalls sehr angenehm, etwas Liebes für die Reserve zu haben, so
gleichsam im Hinterhalt. Man besitzt dann eine Art Heim, ein Zuhausesein
bei jemandem, einen Rückhalt, einen Zauber, da ich doch einmal ohne
einen gewissen vorhandenen Zauber nicht leben kann. Sie hatte noch den
Wunsch, vorhin, auf der Treppe, weiter mit mir zu sprechen. Ich habe
aber abgebrochen; denn ich hinterlasse bei Frauen gern unerfüllt
gebliebene Wünsche. So setzt man seinen Wert nicht herab, sondern
schraubt ihn in die Höhe. Die Frauen wollen das übrigens selber, daß man
so handelt.«

Die Straße wimmelte von sonntäglich geputzten Menschen. Die Frauen
gingen alle in hellen, weißen Kleidern, die Mädchen trugen an ihren
weißen Röcken farbige, breite Schleifen, die Männer waren einfach
gekleidet in hellere Sommerstoffe, Knaben trugen Matrosenkleider, Hunde
liefen hinter ein paar Menschen her; im Wasser, in ein Drahtgitter
eingeschlossen, schwammen Schwäne herum, etliche junge Leute beugten
sich über das Geländer der Brücke und sahen ihnen aufmerksam zu, wieder
andere Männer gingen ziemlich feierlich zur Urne und gaben dort ihre
Stimmzettel zu den Wahlen ab, die Glocken läuteten zum zweiten oder zum
dritten Mal, der See schimmerte blau und die Schwalben flogen hoch oben
in der Luft, über die Dächer hinweg, die in der Sonne strahlten; die
Sonne war zuerst eine Sonntag-Vormittagsonne, dann eine Sonne
schlechthin und dann noch eine Extrasonne für ein paar Künstleraugen,
die wohl mit unter der Menge sein mochten; dazwischen grünten und
breiteten sich die Bäume der städtischen Parkanlagen aus; unter der
dunkleren Baumschattenwelt spazierten wieder andere Frauen und andere
Männer; Segelschiffe flogen im Wind auf dem blauen, fernen Wasser, und
träge, an Fässer angebundene Boote schaukelten am Ufer; hier flogen
wieder andere Vögel und Menschen standen hier still, die die blaue,
weißliche Ferne und die Berggipfel betrachteten, die am fernen Himmel
wie köstliche, weiße, beinahe unsichtbare Spitzen herunterhingen, als ob
der ganze Himmel eine hellblaue Morgenmantille gewesen wäre. Alles hatte
etwas zu betrachten, zu plaudern, zu empfinden, zu zeigen, hinzuweisen,
zu bemerken und zu lächeln. Aus einem Pavillon klangen jetzt die Töne
einer Musikkapelle wie flatternde, zwitschernde Vögel aus dem Grün
heraus. Dort im Grün spazierte auch Simon. Die Sonne warf durch das
Blätterwerk helle Flecken auf den Weg, auf den Rasen, auf die Bank, wo
Kindermädchen Kinderwägelchen hin und her rollten, auf die Hüte der
Damen und auf die Achseln der Männer. Alles plauderte, schaute, blickte,
grüßte und promenierte durcheinander. Die vornehmen Karossen rollten auf
der Straße, die elektrische Straßenbahn sauste ab und zu vorbei, und die
Dampfschiffe pfiffen und man sah durch die Bäume ihren Rauch dick und
schwer davonfliegen. Draußen im See badeten junge Menschen. Die sah man
allerdings, unter dem Grün auf und ab spazierend, nicht, aber man wußte
es, daß dort nackte Leiber im flüssigen Blau herumschwammen und
herausleuchteten. Was leuchtete eigentlich heute nicht? Was flimmerte
nicht? Alles flimmerte, blitzte, leuchtete, schwamm in Farben und
verschwamm zu Tönen vor den Augen. Simon sagte mehrere Male
hintereinander zu sich: »Wie schön ist ein Sonntag!« Er sah den Kindern
und allen Menschen in die Augen, er sah alles selig und verwirrt an,
bald erhaschte er eine schöne, einzelne Bewegung, und bald trat ihm das
Ganze vor die Augen. Er setzte sich zu einem anscheinend noch jungen
Manne auf eine Bank und blickte dem Mann in die Augen. Es entspann sich
ein Gespräch zwischen ihnen, denn es war so leicht, mit reden
anzufangen, wo alles so glücklich war.

Der andere Mann sprach zu Simon:

»Ich bin Krankenwärter, aber gegenwärtig bin ich nichts als Bummler. Ich
komme aus Neapel, wo ich im Fremdenhospital die Kranken pflegte.
Vielleicht werde ich schon in zehn Tagen irgendwo in Inner-Amerika sein,
oder in Rußland; denn man schickt uns überall da hin, wo ein Wärter
verlangt wird, sei es auch auf den Südseeinseln. Man sieht auf diese
Weise die Welt, das ist wahr, aber die Heimat wird einem so fremd, ich
kann mich da nicht genügend ausdrücken. Sie zum Beispiel leben
wahrscheinlich immer in Ihrer Heimat, sie umgibt Sie immerwährend, Sie
fühlen sich von den Bekannten umschlossen, Sie schaffen hier, Sie sind
hier glücklich und erleben sicher hier auch Ihr Mißgeschick, gleichviel,
Sie dürfen wenigstens an einen Boden, an ein Land, an einen Himmel, wenn
ich es so sagen darf, gebunden sein. Es ist schön, an etwas gefesselt zu
sein. Man fühlt sich wohl, hat ein Recht, sich wohl zu fühlen und darf
auf das Verständnis und die Liebe seiner Mitmenschen hoffen. Aber ich?
Nein! Sehen Sie, ich bin zu schlecht geworden für meine engere Heimat,
vielleicht auch zu gut, zu alles verstehend. Ich kann nicht mehr
mitempfinden mit meinen Landsleuten. Ihre Vorliebe verstehe ich
ebensowenig mehr wie ihren Zorn und ihre Abneigung. Jedenfalls bin ich
fremd. Und ich fühle, es wird einem übel genommen, daß man fremd
geworden ist. Und gewiß hat man recht, das zu tun; denn ich habe unrecht
getan, mich zu entfremden. Was nützt es mir, wenn auch meine Ansichten
über Vieles weltmännischer und klüger sind, wenn ich mit meinen
Ansichten nur verletze? Dann sind es schlechte Ansichten, wenn sie
verletzen. Eines Landes Sitten und Anschauungen sind etwas, das man
heilig halten muß, wenn man nicht eines Tages ein Fremdling darin werden
will, wie es mit mir geschehen ist. Nun, ich reise ja sehr bald wieder
weg, zu meinen Kranken.«

Er lächelte und fragte Simon: »Was sind Sie?«

»Ich bin in meinem eigenen Lande ein sonderbarer Geselle,« antwortete
Simon, »ich bin eigentlich Schreiber, und Sie können sich leicht denken,
was ich da für eine Rolle in meinem Vaterlande spiele, wo der Schreiber
so ziemlich der letzte Mensch ist, den es in der Rangordnung der Klassen
gibt. Andere junge Handelsbeflissene reisen, um sich auszubilden, in das
ferne Ausland, und kommen dann mit einem ganzen Sack voller Kenntnisse
wieder heim, wo ihnen ehrenvolle Stellen offen gehalten werden. Ich nun,
müssen Sie wissen, bleibe immer im Lande. Es ist gerade so, als fürchte
ich, daß in anderen Ländern keine oder nur eine minderwertige Sonne
scheine. Ich bin wie festgebunden und sehe immer Neues im Alten, deshalb
vielleicht gehe ich so ungern fort. Ich verkomme hier, ich sehe es wohl,
und trotzdem, ich muß, so scheint es, unter dem Himmel meiner Heimat
atmen, um überhaupt leben zu können. Ich genieße natürlich wenig
Achtung, man hält mich für liederlich, aber das macht mir so nichts, so
gar nichts aus. Ich bleibe und werde wohl bleiben. Es ist so süß, zu
bleiben. Geht denn die Natur etwa ins Ausland? Wandern Bäume, um sich
anderswo grünere Blätter anzuschaffen und dann heimzukommen und sich
prahlend zu zeigen? Die Flüsse und die Wolken gehen, aber das ist ein
anderes, tieferes Davongehen, das kommt nie mehr wieder. Es ist auch
kein Gehen sondern nur ein fliegendes und fließendes Ruhen. Ein solches
Gehen, das ist schön, meine ich! Ich blicke immer die Bäume an, und sage
mir, die gehen ja auch nicht, warum sollte ich nicht bleiben dürfen?
Wenn ich im Winter in einer Stadt bin, so reizt es mich, sie auch im
Frühling zu sehen, einen Baum im Winter, ihn auch im Frühling prangen
und seine ersten, entzückenden Blätter ausbreiten zu sehen. Nach dem
Frühling kommt immer der Sommer, unerklärlich schön und leise, wie eine
glühende, große, grüne Welle aus dem Abgrund der Welt herauf, und den
Sommer will ich doch hier genießen, verstehen Sie mich, mein Herr, hier,
wo ich den Frühling habe blühen sehen. Da ist zum Beispiel dieses kleine
Wiesen- oder Rasenbord. Wie süß ist das im Vorfrühling anzusehen, wenn
der Schnee eben unter der Sonne darauf zerronnen ist. Aber um diesen
Baum und um dieses Bord und um diese Welt handelt es sich: ich glaube,
ich würde an anderen Orten den Sommer nicht bemerken. Die Sache ist die:
ich habe eine recht verteufelte Lust, hier am Fleck zu bleiben und eine
ganze Menge unlustiger Gründe, die mir das Reisen ins Ausland verbieten.
Zum Beispiel: hätte ich etwa Reisegeld? Sie werden wissen, man braucht
Geld, um mit der Eisenbahn oder mit dem Schiff zu fahren. Ich habe noch
Geld für etwa zwanzig Mahlzeiten; aber ich habe kein Reisegeld. Und ich
bin froh, daß ich keines habe. Mögen andere reisen und klüger
heimkommen. Ich bin klug genug, eines Tages hier im Lande mit Anstand zu
sterben.«

Nach einem kurzen Stillschweigen, während dessen der Krankenwärter ihn
unverwandt anblickte, fuhr er fort:

»Und dann habe ich auch gar kein Verlangen darnach, Karriere zu machen.
Was andern das meiste ist, ist mir das mindeste. Ich kann das
Karrieremachen in Gottes Namen nicht achten. Ich mag leben, aber ich mag
nicht in eine Laufbahn hineinlaufen, was so etwas Großartiges sein soll.
Was ist Großartiges dabei: frühzeitig krumme Rücken vom Stehen an zu
kleinen Pulten, faltige Hände, blasse Gesichter, zerschundene
Werktagshosen, zittrige Beine, dicke Bäuche, verdorbene Mägen, kahle
Platten auf den Schädeln, grimmige, anschnauzige, lederne, verblaßte,
glutlose Augen, abgemergelte Stirnen und das Bewußtsein, ein
pflichtgetreuer Narr gewesen zu sein. Ich danke! Ich bleibe lieber arm
aber gesund, verzichte auf eine Staatswohnung, zugunsten eines billigen
Zimmers, wenn es auch auf die dunkelste Gasse hinausgeht, lebe lieber in
Geldverlegenheiten als in der Verlegenheit, wo ich sommers hinreisen
soll, um meine verdorbene Gesundheit aufzuputzen, bin allerdings nur von
einem einzigen Menschen geachtet, nämlich von mir selber, aber das ist
einer, an dessen Achtung mir am meisten liegt, bin frei und kann
jedesmal, wenn es die Notwendigkeit verlangt, meine Freiheit für einige
Zeitlang verkaufen, um nachher wieder frei zu sein. Es lohnt sich, um
der Freiheit willen arm zu bleiben. Ich habe zu essen; denn ich besitze
das Talent, mit ganz Wenigem satt zu werden. Ich werde rasend, wenn man
mir mit dem Wort und mit der Zumutung kommt, die in dem Worte
»Lebensstellung« liegt. Ich will Mensch bleiben. Mit einem Wort: ich
liebe das Gefährliche, das Abgründige, Schwebende und das
Nicht-Kontrollierbare!«

»Sie gefallen mir,« sagte der Krankenwärter.

»Ich wollte durchaus nicht Ihr Gefallen erwecken, aber es freut mich
trotzdem, wenn ich Ihnen gefalle, da ich einigermaßen von der Leber
wegrede. Übrigens hätte ich nicht nötig gehabt, heftig auf andere zu
werden. Das ist immer dumm, und man hat kein Recht, Verhältnisse zu
beschimpfen, weil sie einem nicht behagen. Man kann ja fortgehen, ich
kann ja fortgehen! Aber nein, es behagt mir eben. Meine Lage gefällt
mir. Die Menschen gefallen mir, so wie sie sind. Ich meinesteils suche
auch mit allen Mitteln meinen Mitmenschen zu gefallen. Ich bin fleißig
und arbeitsam, wenn ich einen Auftrag zu erfüllen habe, aber meine Lust
an der Welt opfere ich niemandem zu Gefallen, höchstens würde ich sie
dem heiligen Vaterlande hinopfern, wozu bis jetzt die Gelegenheit noch
immer ausgeblieben ist und wohl auch ausbleiben wird. Mögen sie immerzu
Karriere machen, ich begreife sie, sie wollen bequem leben, sie wollen
sorgen, daß ihre Kinder auch etwas haben, sie sind vorsehende Väter,
deren Tun nur achtenswert ist, mich mögen sie eben auch machen lassen,
sie mögen mich auf meine Weise dem Leben seinen Reiz abzureißen
versuchen lassen, das versuchen alle, alle, nur nicht alle auf die
gleiche Art. Es ist ja so wundervoll, reif genug zu sein, um alle machen
zu lassen in ihrer Art, so wie es jeder versteht. Nein, wenn einer
dreißig Jahre lang sein Amt treu verwaltet hat, ist er am Ende seiner
Lebensbahn durchaus kein Narr gewesen, wie ich vorhin in der Heftigkeit
sagte, sondern ein Ehrenmann, der verdient, daß man ihm Kränze aufs Grab
legt. Sehen Sie, ich will keine Kränze auf mein Grab bekommen, das ist
der ganze Unterschied. Mein Ende ist mir gleichgültig. Sie sagen mir
immer, jene andern, ich werde meinen Übermut noch schwer büßen müssen.
Nun wohl, dann büße ich und erfahre dann doch, was büßen heißt. Ich
erfahre gern alles und deshalb fürchte ich nicht so viel, wie die, die
um eine glatte Zukunft besorgt sind. Ich habe immer Angst, es möchte mir
eine einzige Lebenserfahrung entgehen. Darauf bin ich ehrgeizig wie zehn
Napoleone. Doch jetzt bin ich hungrig, ich möchte essen gehen, kommen
Sie mit? Es würde mich freuen.«

Und sie gingen zusammen.

Nach dem etwas wilden Gerede war Simon plötzlich weich und sanft
geworden. Er sah mit entzückten Augen die schöne Welt an, die runden,
üppigen Kronen der hohen Bäume und die Straßen, wo die Menschen gingen.
»Die lieben, geheimnisvollen Menschen!« dachte er bei sich und
gestattete es, daß sein neuer Freund ihm die Schulter mit der Hand
berührte. Er sah es gerne, daß der andere so vertraulich wurde, es
paßte, es verband und löste auf. Er sah alles mit lachenden, glücklichen
Augen an, wobei er wieder dachte: »Wie sind doch Augen schön!« Ein Kind
hatte zu ihm den Blick erhoben. Mit so einem Kameraden zu gehen, wie der
Krankenwärter war, erschien ihm als etwas ganz Neues, noch nie Erlebtes,
als etwas jedenfalls Angenehmes. Auf dem Wege kaufte derselbe bei einem
Gemüsehändler ein Gericht frischer Bohnen und in einer Metzgerei Speck
und lud Simon zu sich zum Mittagessen ein. Gerne wurde das Angebot
angenommen.

»Ich koche immer selbst,« sagte der Krankenwärter, als sie beide in
dessen Wohnung anlangten, »ich habe mir das angewöhnt. Es macht Spaß,
glauben Sie es mir nur. Passen Sie auf, wie vortrefflich Ihnen die
Bohnen mit dem schönen Speck schmecken werden. Ich stricke mir zum
Beispiel auch selber meine Strümpfe und wasche meine Wäsche selber. So
erspart man viel Geld. Ich habe das alles gelernt, und warum sollten
sich solche Arbeiten nicht auch ausnahmsweise einmal für einen Mann
schicken, wenn er ausgesprochenen Sinn dafür hat. Ich sehe nicht ein,
was in einer solchen Beschäftigung Beschämendes liegen sollte. Ich
fertige mir auch selber Hausschuhe, wie diese hier sind, an. Einige
Aufmerksamkeit erfordert schon solch eine Arbeit. Pulswärmer für den
Winter zu stricken oder Westen zu machen, bietet mir keine besonderen
Schwierigkeiten. Wenn man immer so allein ist, und auf Reisen, wie ich,
kommt man auf wunderliche Sachen. Machen Sie es sich, oder, mach es dir
bequem, Simon! Sollte ich mir nicht gestatten dürfen, dir das »Du«
anzutragen?« --

»Warum nicht? Gern!« Und Simon errötete auf ihm ganz unbegreifliche
Weise.

»Ich habe dich sehr lieb vom ersten Augenblick an gewonnen,« sprach der
Wärter, der sich Heinrich nannte, weiter, »man braucht dich nur
anzusehen, um überzeugt zu sein, daß du ein lieber Kerl bist. Ich hätte
Lust, dich zu küssen, Simon.« --

Simon wurde es schwül in dem Zimmer. Er stand vom Stuhle auf. Er ahnte,
was es für einer sei, der ihn so merkwürdig zärtlich ansah. Aber was
schadete das. »Ich will es gehen lassen,« dachte er. »Ich mag dem
Heinrich, der sonst nett ist, deswegen nicht grob kommen!« Und er gab
seinen Mund her und ließ sich darauf küssen.

Was war es denn weiter!

Übrigens fand er es hübsch und dem Zustand von Weichheit, in dem er sich
befand, angemessen, sich so zärtlich behandeln zu lassen. Wenn es auch
diesmal nur ein Mann war! Er fühlte deutlich, daß dessen seltsame
Neigung zu ihm der schonenden und vorläufig dahin gehen lassenden
Rücksicht bedurfte, und er hätte es nie vermocht, die Hoffnungen des
Mannes zu zerstören, wenn es nun einmal auch unwürdige Hoffnungen waren.
Mußte er denn deswegen empört tun? »Keine Rede,« dachte sich Simon, »ich
lasse ihn einstweilen gewähren, es paßt zu allem, was jetzt um mich
herum vorgeht!«

Den Abend verbrachten beide mit einer Wanderung von Kneipe zu Kneipe;
denn der Wärter war ein ziemlich leidenschaftlicher Trinker, weil er mit
seiner freien Zeit nicht viel anderes anzufangen wußte. Simon fand es
für passend, in jeder Beziehung mitzumachen. Er lernte dort in den
kleinen, dumpfigen Wirtschaften Menschen kennen, die mit unglaublicher
Ausdauer Karten spielten. Das Kartenspiel schien solchen eine ganz
eigene Welt zu sein, in der sie sich nicht gern stören ließen. Andere
saßen den ganzen Abend da und klemmten einen spitzen, langen
Zigarrenstengel zwischen den Zähnen herum, ohne sich weiter bemerkbar zu
machen, als etwa dadurch, daß sie den Zigarrenrest, wenn er zu kurz
geworden war, um zwischen den Lippen noch weiter gepreßt zu werden, an
die Spitze ihres Sackmessers steckten, um ihn bis zu der kleinsten Kürze
herunterrauchen zu können. Eine abgemagerte, wüste Klavierspielerin
erzählte ihm, daß ihre Schwester eine schlechte Schwester aber eine
berühmte Konzertsängerin sei, mit der sie längst aufgehört habe,
familiär zu verkehren. Simon fand es begreiflich, aber er benahm sich
zart und sagte ihr nicht, daß er es begreiflich fände. Er hielt die
Person mehr für unglücklich als verdorben, und das Unglück ehrte er
immer, während er die Verdorbenheit für die Folge des Unglückes hielt,
das wenigstens Anstand erforderte. Er sah dicke, kleine, furchtbar
lebhafte Wirtinnen, die sich den Gästen unter allerhand Zutraulichkeiten
nahten, während ihre Männer auf Sofas und in Lehnstühlen schliefen. Oft
wurde ein gutes, altes Volkslied gesungen, von einem, der im Singen
solcher alter Lieder, was die Tonart und den Wechsel der Stimme betraf,
Meister war. Diese Lieder klangen schön und wehmütig, man spürte
unwillkürlich, wie manche rauhe und helle Kehle sie schon, einstmals und
viel früher, gesungen haben mußte. Einer riß beständig Witze, es war ein
kleiner, junger Mensch in einem alten, großen, breiten, hohen, tiefen
Hut, den er irgendwo beim Trödler erstanden haben mußte. Sein Mund war
schmierig und seine Witze nicht minder, aber sie zwangen zum Lachen, ob
man wollte oder nicht. Einer sagte ihm: »Ich bewundere Ihren Witz, Sie!«
Aber der Witzige lehnte die dumme Bewunderung mit gut gespielter
Verwunderung ab, und das war ein wirklicher Witz, der jeden Gebildeten
hätte freuen können. Der Wärter erzählte allen Menschen, die neben ihn
zu sitzen kamen, er sei im Grunde genommen zu schlecht und wieder, wenn
er es recht bedenke, zu gut für seine Heimat. Simon dachte: »Wie dumm!«
Aber von Neapel stattete der Krankenpfleger weit hübscheren Bericht ab,
so sagte er zum Beispiel, daß dort in den Museen wundervolle Überreste
von antiken Menschen zu sehen seien, und man könne daran sehen, daß die
früheren Menschen uns an Größe, Breite und Dicke weit übertroffen
hätten. Arme hätten diese Menschen gehabt wie wir Beine etwa! Das müsse
ein Geschlecht von Weibern und Männern gewesen sein, das! Was wir
dagegen seien? Einfach eine heruntergekommene, verkrüppelte,
verkümmerte, zugespitzte, in die Länge und Dünne gesprungene und
zerrissene und zerfetzte und abgemagerte Generation. Auch den Golf von
Neapel wußte er in anmutigen Worten zu schildern. Viele hörten ihm
aufmerksam zu, aber viele schliefen und weil sie schliefen, konnten sie
nichts hören.

Simon kam sehr spät nach Hause, fand die Haustüre verschlossen, hatte
aber keinen Schlüssel bei sich und klingelte an der Hausglocke ziemlich
unverschämt; denn er war in einem Zustand, in welchem man stets
rücksichtslos zu sein pflegt. Ein Fenster öffnete sich sogleich auf den
heftigen Schall, den die Glocke verursachte, und eine weiße Gestalt,
ohne Zweifel die Frau in ihrer Nachtjacke, warf den in dickes Papier
gewickelten Schlüssel hinunter.

Am nächsten Morgen lächelte sie ihm, statt erzürnt über ihn zu sein, in
der freundlichsten Weise »Guten Morgen« entgegen, und erwähnte mit
keinem Wort die Störung in der Nacht. Simon fand es deshalb auch nicht
am Platz, ein Wort darüber zu sagen und entschuldigte sich, halb aus
Zartheit und halb aus Bequemlichkeit, nicht.

Er ging weg und suchte den Wärter auf. Der Montagmorgen war wiederum
prachtvoll. Die Menschen waren alle an ihrer Arbeit, die Gassen waren
infolgedessen leer und hell, er trat in das Zimmer, wo der Wärter noch
schläfrig im Bette lag. Simon bemerkte an den Wänden des Zimmers heute,
was er gestern nicht beobachtet hatte, eine Menge ziemlich süßlicher,
christlicher Wanddekorationen: Engelchen mit rötlichen Köpfchen aus
Papier geschnitten und Tafeln mit Sprüchen, die in geheimnisvolle,
trockene Blumen gerahmt waren. Er las sämtliche Sprüche, es waren tiefe
darunter, die zum Nachdenken reizten, Sprüche, die vielleicht älter
waren als acht alte Menschen miteinander, aber auch glättliche, neue
Sprüche, die sich so lasen, als ob sie zu Tausenden in einer Fabrik
fabriziert worden wären. Er dachte: »Wie seltsam ist das! Überall, in
vielen einzelnen Zimmern und Zimmerchen, wohin man auch kommen mag, und
was man auch gerade verüben mag, sieht man solche Stücke alter
Religionen an Wänden hängen, die teils viel sagen, und teils wieder
weniger, teils auch gar nichts mehr. Was glaubt der Wärter? Sicher
nichts! Vielleicht ist die Religion bei vielen, heutigen Menschen nur
noch so halbe, oberflächliche und unbewußte Geschmackssache, eine Art
Interesse und Gewohnheit, wenigstens bei den Männern. Vielleicht hat
eine Schwester des Wärters dieses Zimmer auf diese Weise ausgeschmückt.
Ich glaube es; denn die Mädchen haben innigeren Grund zur Frömmigkeit
und zum religiösen Nachsinnen als die Männer, deren Leben immer mit der
Religion gestritten hat, von jeher, wenn es nicht gerade Mönche waren.
Aber ein protestantischer Pfarrer in schneeweißen Haaren, mit mildem,
geduldigem Lächeln und edlem Gang, wenn er durch einsame Waldlichtungen
schreitet, ist und bleibt etwas Schönes. In der Stadt ist die Religion
weniger schön als auf dem Land, wo Bauern leben, deren Lebensart schon
an und für sich etwas Tiefreligiöses hat. In der Stadt gleicht die
Religion einer Maschine, was etwas Unschönes ist, auf dem Lande dagegen
empfindet man den Gottesglauben als dasselbe wie ein blühendes Kornfeld,
oder wie eine ausgedehnte, üppige Wiese, oder wie das entzückende
Anschwellen leicht gebogener Hügel, auf deren Höhe ein verstecktes Haus
steht, mit stillen Menschen, denen das Nachsinnen wie ein Freund ist.
Ich weiß nicht, mir kommt vor, als ob in der Stadt der Pfarrer zu dicht
neben dem Börsenspekulanten und dem glaubenslosen Künstler wohne. Es
mangelt in der Stadt dem Gottesglauben an der gehörigen Entfernung. Die
Religion hat hier zu wenig Himmel und zu wenig Geruch von Erde. Ich kann
es nicht so gut sagen, und was kümmert es mich überhaupt. Religion ist
nach meiner Erfahrung Liebe zum Leben, inniges Hangen an der Erde,
Freude am Moment, Vertrauen in die Schönheit, Glauben an die Menschen,
Sorglosigkeit beim Gelage mit Freunden, Lust zum Sinnen und das Gefühl
der Verantwortungslosigkeit in Unglücksfällen, Lächeln beim Tode und Mut
in jeder Art Unternehmungen, die das Leben bietet. Zuletzt ist tiefer,
menschlicher Anstand unsere Religion geworden. Wenn die Menschen
voreinander den Anstand bewahren, bewahren sie ihn auch vor Gott. Was
will Gott mehr wollen? Das Herz und die feinere Empfindung können
zusammen einen Anstand hervorbringen, der Gott wohlgefälliger sein
dürfte, als finsterer, fanatischer Glaube, der den Himmlischen selbst
beirren muß, so daß er am Ende noch wünschen wird, keine Gebete mehr zu
seinen Wolken hinaufdonnern zu hören. Was kann ihm unser Gebet sein,
wenn es derart anmaßlich und plump zu ihm hinaufdringt, als ob er
schwerhörig wäre? Muß man ihn sich nicht mit den allerfeinsten Ohren
vorstellen, wenn man ihn überhaupt denken kann? Ob ihm die Predigten und
die Orgeltöne recht angenehm sind, ihm, dem Unaussprechlichen? Nun, er
wird eben lächeln zu unsern immer noch so finsteren Bemühungen und er
wird hoffen, daß es uns eines Tages einfällt, ihn ein wenig mehr in Ruhe
zu lassen.«

»Sie sind ja so nachdenklich, Simon,« sagte der Wärter.

»Gehen wir?« fragte Simon.

Der Krankenwärter war fertig geworden, und beide gingen zusammen die
steilen Wege den Berg hinauf. Die Sonne schien glühend heiß. Sie traten
in einen kleinen, üppig verwachsenen Biergarten hinein und ließen sich
einen Frühschoppen reichen. Als sie indessen gehen wollten, ermunterte
sie die Wirtin, eine hübsche Frau, zum Dableiben, und sie blieben, bis
es Abend wurde. »So vertrinkt man, ehe man es denkt, den hellen
Sommertag,« dachte Simon mit einem Gefühl, das mit taumelnder Lust und
mit einem sanften, schönen, melodiösen Weh gemischt war. Die Farben des
Abends im Grün machten ihn trunken. Sein Freund schaute ihm tief und
verlangend in die Augen und schlang den Arm um seinen Hals. »Eigentlich
ist das häßlich,« dachte Simon. Auf dem Wege wurden alle Weiber und
Mädchen in der auffallendsten Weise von den beiden angesprochen. Die
Arbeiter kamen von der Arbeit heim, Menschen, die noch rüstig gingen,
die Schultern seltsam wiegten, als atmeten sie jetzt befreit auf. Simon
entdeckte prachtvolle Gestalten unter ihnen. Als sie in den heißen, aber
schon dunkel gefärbten Wald kamen, der den Berg krönte, sank unten in
der fernen Welt die Sonne unter. Sie lagerten sich in grüne Blätter und
Gesträuch hinein und schwiegen und atmeten nur so. Dann kam, was Simon
jetzt erwartete, die Annäherung seines Kameraden, die ihn aber durchaus
erkältete.

»Es hat keinen Sinn,« sagte er, »hören Sie auf oder so: höre doch auf.«

Der Wärter ließ sich beschwichtigen, aber er war unmutig geworden, Leute
kamen vorbei, sie mußten aufstehen und den Platz verlassen. Simon
dachte: »Warum verbringe ich den Tag mit einem solchen Menschen?« Aber
er gestand sich gleich darauf, daß er eine gewisse Freude an ihm habe,
trotz seiner seltsamen, unschönen Neigungen. »Ein anderer würde den
Wärter verachten,« dachte er weiter, indem sie den Rückweg einschlugen,
»aber ich bin so einer, der einen jeden Menschen in seiner Art und Unart
interessant und liebenswert findet. Ich komme nicht bis zur
Menschenverachtung, oder ich verachte eigentlich nur die Feigheit und
Leblosigkeit, aber ich finde an der Verdorbenheit sehr leicht etwas
Interessantes. Und in der Tat, sie klärt über vieles auf, läßt tiefer in
die Welt blicken und macht einen erfahrener und macht milder und
treffender urteilen. Man muß mit allem bekannt werden, und man lernt es
nur kennen, wenn man es tapfer berührt. Irgend jemandem ausweichen, aus
Furcht, das würde ich meiner für unwürdig halten. Überdies: einen Freund
haben, ist unschätzbar! Was schadet es, wenn es ein etwas merkwürdiger
Freund ist.« --

Simon fragte:

»Bist du mir böse, Heinrich?«

Der aber sprach nichts mehr. Sein Gesicht hatte einen finsteren Ausdruck
angenommen. Wieder langten sie an dem Biergarten an, der jetzt in seinen
zierlichen Umrissen dunkel war. Farbige, schimmernde Lampions
erleuchteten das dunkle Grün an einigen Stellen, Geräusch und Gelächter
drang heraus, und die beiden, angelockt von dem lustigen, feurigen
Leben, gingen wieder hinein, wo sie von der Wirtin freundschaftlich
begrüßt wurden.

Der rote, dunkle Wein funkelte in den hellen Gläsern, die Lichtschimmer
vermengten sich mit den erhitzten Gesichtern, die Blätter von dem
Gebüsch berührten die Kleider der Frauen, es schien so selbstverständlich,
daß man die heiße Sommernacht in einem lispelnden Garten
mit Trinken, Singen und Lachen verbrachte. Aus dem tief gelegenen
Bahnhof drang das Gelärm der Eisenbahnen herauf an die Ohren der
Schwärmenden. Ein reicher, langer, rotbäckiger Weinhändlerssohn machte
sich mit Simon in einem kühnen, philosophierenden Gespräch zu schaffen.
Der Wärter widersprach in allem, weil er unmutig und ärgerlich war. Die
Kellnerin, ein schlankes, brünettes Mädchen, setzte sich zu Simon und
ließ es sich gefallen, daß er sie eng an sich heranzog, um sie zu
küssen. Sie ertrug den Kuß gern, mit stolzen, geschwungenen Lippen, die
wie dazu geschaffen schienen, Wein zu schlürfen, zu lachen und zu
küssen. Der Wärter wurde noch böser und wollte aufbrechen, woran man ihn
aber verhindern konnte. Da sang einer, ein junger, braungefärbter,
dunkler Bursche mit grünem Jägerhut ein Lied, während sein Mädchen, das
sich, an seine Brust angeschmiegt, eng an ihn lehnte, in leisen,
glücklichen Tönen mitsang. Das klang so berauschend, dunkel und südlich.
Simon dachte: »Lieder sind doch immer wehmütig, wenigstens die schönen.
Sie mahnen ans Aufbrechen!« Aber er blieb noch lange in dem nächtlichen
Garten.



Sechzehntes Kapitel.


Noch die ganze Woche lang verkehrte Simon in dieser müßiggängerischen
Weise mit dem Krankenwärter, mit dem er sich bald stritt und dann wieder
versöhnte. Er spielte Karten, wie einer, der es schon jahrelang trieb
und rollte die Billardkugeln, mitten am heißen Tag, während alles, was
Hände hatte, arbeitete. Er sah die sonnenbeschienenen Straßen und die
Gassen im Regenwetter, aber durch ein Fenster und mit einem Glas Bier in
der Hand, führte lange, nutzlose, wilde Reden nachts, mittags und abends
mit allerhand unbekannten Menschen, bis er sah, daß er nichts mehr zum
Leben besaß. Und eines Morgens ging er nicht mehr zu Heinrich, sondern
trat in eine Stube hinein, wo verschiedene junge und alte Männer an
Pulten saßen und schrieben. Es war die Schreibstube für Stellenlose, wo
diejenigen hinkamen, die durch irgend einen Umstand in die Lage geraten
waren, wo es ein Ding der Undenkbarkeit geworden ist, noch in einem
Geschäfte Anstellung zu erhalten. Diese Sorte von Menschen schrieb dort
im kargen Tagelohn mit hastigen Fingern, unter der strengen Aufsicht
eines Aufsehers oder Sekretärs, Adressen, meist geschäftliche Adressen
zu Tausenden, die von großen Firmen in dieser Schreibstube bestellt
wurden. Schriftsteller gaben dort ihre hingesudelten Manuskripte und
Studentinnen ihre beinahe unleserlichen Doktorarbeiten ab, um sie
entweder mit der Schreibmaschine abtypen, oder mit der geläufigen,
sauberen Feder abschreiben zu lassen. Des Schreibens unkundige Leute,
die irgend etwas zu schreiben hatten, brachten ihre Schreibereien
dorthin, wo sie in Kürze befriedigt wurden. Büffetdamen, Kellnerinnen,
Plätterinnen und Kammerzofen ließen sich ihre Zeugnisse dort ins Reine
schreiben, um sie präsentieren zu können. Wohltätigkeitsvereine gaben
tausende von Jahresberichten ab, die adressiert und in die umliegende
Welt versandt werden mußten. Der Naturheilverein ließ dort die
Einladungen zu volkstümlichen Vorträgen ins Mehrfache schreiben, und
Professoren hatten Arbeit genug für die Schreiber, die wiederum froh
waren, wenn sie Arbeit hatten. Das ganze Schreibergeschäft wurde von der
Gemeinde mit jährlichen Beiträgen unterstützt und von einem Verwalter
geleitet, einem ehemals ebenfalls Stellenlosen, für den man diese Stelle
schuf, um dem Mann in seinen alten Tagen eine passende Beschäftigung zu
geben. Er stammte gewissermaßen aus einer alten, patrizischen Familie,
hatte reiche Verwandte im Stadtrat, die nicht gern mitansehen mochten,
wie eines ihrer Familienglieder auf schmachvolle Weise verdarb. So ward
der Mann der König und Beschützer aller Vagabunden, verlorenen Menschen
und traurigen Existenzen, und er versah dieses Amt mit lässiger Würde,
als ob er niemals in seinem wilden Leben, das ihn auch eine Zeitlang in
Amerika herumschweifen ließ, die Bitternisse der Not geschmeckt hätte.

Simon machte eine Verbeugung vor dem Verwalter der Schreibstube.

»Was wollen Sie?«

»Arbeit!«

»Heute ist nichts los. Kommen Sie morgen früh wieder, da wird sich
vielleicht etwas für Sie Passendes finden. Schreiben Sie vorläufig heute
Ihren Namen, Wohnort, Heimatort, Beruf und Ihr Alter sowie Ihre Adresse
auf dieses Blatt Papier, und kommen Sie morgen pünktlich um acht Uhr,
sonst wird keine Arbeit mehr da sein,« sagte der Verwalter.

Er pflegte immer zu lächeln und zu näseln, wenn er sprach. Gegenüber
Stellenlosen nahm er außerdem immer einen sanftmütig-höhnischen Ton an,
ganz ohne jegliche Absicht, es kam einfach so und nicht anders aus des
Mannes Mund heraus. Sein Gesicht war eingefallen und vermergelt, hatte
die Farbe des kalten, weißen Kalkes und endete in einem zerzausten
grauen Spitzbart, als ob der Bart der herunterhängende und spitzige
Gesichtsfetzen gewesen wäre. Seine Augen lagen in tiefen Höhlen und des
Mannes Hände zeugten von Krankheit und leiblicher Verwüstung.

Simon arbeitete schon am nächsten Tag, frühmorgens um acht Uhr, in der
Schreibstube, und nach ein paar Tagen hatte er sich an die Gesellen, die
dort arbeiteten, gewöhnt. Es waren Menschen, die sich im Leben einmal
irgend eine Liederlichkeit zuschulden kommen ließen und den Boden dann
unter ihren schwankenden Füßen verloren hatten. Es waren Menschen da,
die um eines begangenen, schweren Vergehens willen früher einmal im
Gefängnis gesessen hatten. Von einem alten, sehr gut aussehenden Manne
wußte man, daß er jahrelang im Zuchthaus gesessen hatte, eines schweren
sittlichen Verbrechens wegen, das er an seiner eigenen, leiblichen
Tochter verübte, die ihn dem Richter verklagte. Er verzog, so lange
Simon ihn sah, nie eine Miene seines stillen, sonderbaren Gesichtes, als
ob das Schweigen und Horchen dort in dem Gesicht einheimisch und zur
Notwendigkeit geworden wäre. Er arbeitete ruhig, friedlich und langsam,
sah gut aus, blickte einen ruhig an, wenn man ihn anschaute, und schien
sich einer quälenden Erinnerung nicht im leisesten bewußt zu sein. Sein
Herz schien so still zu schlagen, wie seine alte Hand arbeitete. Nichts
von Verzerrung eines einzigen Zuges war in seinem Gesicht zu bemerken.
Alles schien er gebüßt, alles abgewaschen zu haben, was ihn je
verunzierte und beschmutzt hatte. Seine Kleider waren ordentlicher als
die des Verwalters, obschon er arm sein mußte. Merkwürdig gepflegt waren
seine Zähne und seine Hände, seine Schuhe und seine Kleider. Seine Seele
schien ruhig und außerordentlich rein zu sein. Simon dachte über ihn:
»Warum nicht? Ist denn eine Sünde nicht abzuwaschen und soll eine Strafe
das ganze Leben vernichten? Nein, diesem Manne sieht man weder eine
begangene Sünde noch eine erduldete Strafe an. Er scheint beides völlig
vergessen zu haben. Es mußte Güte und Liebe in dem Mann stecken, und
viel, sehr viel Kraft. Aber immerhin: wie sonderbar!« --

Unterschlagung, Diebstahl, Hochstapel und Landstreichertum hatten in der
Schreibstube ihre Vertreter. Daneben gab es nur Unglückliche,
Ungeschickte, die das Leben übertölpelte, und Fremde aus dem Ausland,
die einfach brotlos dastanden, weil sie sich in ihren Hoffnungen
betrogen sahen. Notorische Faulenzer und ewig Unzufriedene waren gewiß
auch da. Jede Mischung von Selbstschuld und Pech war vorhanden, nicht
minder die Frivolität, die sich ein Vergnügen daraus machte, so
heruntergekommen zu sein. Simon konnte hier den Mann in seinen
verschiedenen Charakteren kennen lernen, doch dachte er selber nicht so
sehr ans Beobachten, weil er auch einer der anderen war, der eben auch
ausfüllte und in dem Leben und Treiben der Schreibstube, in deren
Sorgen, Mühen und kleinen Fragen und Vorkommnissen wie in einem Strom
untersank. Als ein selber in die Sache Versunkener dachte er nicht so
sehr an die Sache, als an das leibliche Bedürfnis, wie alle andern. Alle
verdienten hier mit Schreiben, was sie auch sogleich wieder vertrinken
und veressen mußten, wenn sie leben wollten. Der Verdienst floß in die
Kehlen hinunter, von der Hand in den Mund. Simon kam dazu, sich außerdem
noch einen Strohhut und ein Paar billige Schuhe zu kaufen. Aber wenn er
an die Zimmermiete dachte, so mußte er sich gestehn, daß er nicht
imstande sein würde, auch das Geld für diese noch flüssig zu machen.
Jeweilen abends, wenn er fertig geschrieben hatte, war er müde und
glücklich. Er ging dann, in Gesellschaft eines seiner Schreibgesellen,
mit hocherhobenem Kopf durch die Straßen und lächelte mit
Gedankenlosigkeit die vorübergehenden Menschen an. Er brauchte sich gar
nicht einer schönen und stolzen Haltung zu befleißigen, es kam von
selber, die Brust dehnte sich und reckte sich ihm wie ein gespannter
Bogen, wenn er zur Schreibstubentür hinaus an die Luft trat. Über seine
Glieder fühlte er sich auf einmal als geborner Herr und Meister und er
achtete auf seine Schritte mit Bewußtheit. Die Hände hielt er jetzt
nicht mehr in der Hosentasche, das würde ihm würdelos vorgekommen sein.
Überhaupt schlenderte er sich nicht mehr, sondern spazierte mit
gemessenem Bewußtsein, als übe er erst jetzt, in seinem
einundzwanzigsten Lebensjahre, die Glieder an einem schönen, festen
Gange. Man sollte ihm keinerlei Armut anmerken, aber man sollte spüren,
daß er ein junger Mann sei, der eben von der Arbeit herkomme und nun
sich einen Abendspaziergang gönne. An der emsigen, beweglichen
Straßenwelt hing sein Auge mit Entzücken. Wenn eine Karosse mit einem
Paar tanzender, zierlicher Pferde vorbeikam, so musterte er mit scharfem
Blick nur den Gang der trabenden Tiere und verschmähte es, den
Herrschaften im Wagen einen Blick zuzuwerfen, so, als hätte er nur
Interesse für die Pferde, weil er ein Kenner sei. »Das ist angenehm,«
dachte er, »und man muß lernen, seine Blicke zu beherrschen und sie
dahin zu führen, wo es anständig und männlich ist, sie hinzulenken.«
Viele Damen streifte er mit Seitenblicken und mußte innerlich lachen, zu
bemerken, welchen Eindruck das machte. Und er träumte dabei, wie immer!
Nur daß er jetzt auf die Zähne biß beim Träumen und sich keine träge,
müde Haltung mehr gestattete: »Wenn ich auch einer der ärmsten Teufel
bin, so fällt es mir doch nicht ein, mir das merken zu lassen, im
Gegenteil, die Geldverlegenheit verpflichtet gewissermaßen zu einem
stolzen Benehmen. Wäre ich reich, so dürfte ich mir vielleicht den
Schlendrian noch erlauben. So aber nicht, weil der Mensch auf ein
Gleichgewicht bedacht sein muß. Ich bin hundemüde: aber ich muß immer
denken: andere haben auch Ursache, müde zu sein. Man lebt nicht für sich
allein, sondern für alle. Man hat die Verpflichtung, eine musterhafte,
stramme Erscheinung zu sein, so lange man beobachtet wird, so daß sich
weniger Mutige ein Beispiel daran nehmen können. Man soll den Eindruck
der sorglosen Festigkeit machen, wenn einem auch die Kniee dabei zittern
und der Magen einem in die Kehle hinauf singt vor Leere. Solches kann
einem heranwachsenden Manne Vergnügen machen! Die Glocke hat noch nicht
zwölfe geschlagen, für keinen; denn jeder hat jedesmal, wenn er arm
daniederliegt, die Aussicht, hoch zu kommen. Eine Ahnung sagt mir, daß
eine freie, stolze Haltung schon allein das Lebensglück an sich zieht
wie ein elektrischer Strom, und in der Tat, man fühlt sich gehobener und
reicher, wenn man anständig einhergeht. Ist man in Begleitung eines
andern schlecht gekleideten, armen Teufels, wie es hier der Fall ist, so
hat man umsomehr Veranlassung, kopfhoch zu gehen, indem man damit
gewissermaßen des anderen schlechte Frisur und Haltung sanft und
energisch entschuldigt, vor Menschen, die darüber verwundert sind, zwei
so ungleich sich betragende Gesellen miteinander innig verbunden, auf Du
und Du, in der eleganten Straße spazieren zu sehen. So etwas bringt
Achtung ein, wenn auch nur flüchtige. Reizend ist es ja, zu denken, daß
man angenehm absticht von einem Begleiter, der das Zeug noch nicht so
los hat oder nie los haben wird. Übrigens ist mein Geselle ein älterer,
unglücklicher Mann, ehemaliger Korbflechtereibesitzer, heruntergekommen
durch allerlei Mißgeschick und jetzt Schreiber im Taglohn, wie ich, nur
daß ich nicht ganz wie ein Schreiber und Taglöhner aussehe, sondern eher
wie ein toller Engländer, während mein Kamerad aussieht wie einer, der
sich schmerzlich zurücksehnt nach einstigen besseren Tagen. Sein Gang
und sein immerwährendes, liebes, rührendes Kopfnicken erzählen sein
Unglück mit ganz schamloser Sprache. Er ist ein älterer Mann und will
nicht mehr imponieren, nur noch sich ein bißchen aufrecht halten. Mir
imponiert er; denn ich kenne seinen Schmerz und weiß, welche drückende
Last er mit sich trägt. Ich bin stolz darauf, mit ihm so durch ein
schönes Straßenviertel zu gehen und drücke mich ganz unverschämt nahe an
ihn an, um meine ungenierte Vorliebe für seinen geringen Anzug zu
demonstrieren. Ich erhalte viele erstaunte Blicke, manches wundervolle
Auge sieht mich seltsam fragend an, das muß mir Spaß machen, der und
jener soll's holen! Ich spreche laut und mit Nachdruck. Der Abend ist so
schön geeignet zum Sprechen. Ich habe gearbeitet den Tag über. Etwas
Herrliches ist es, den Tag über gearbeitet zu haben und dann am Abend so
schön müde und ausgesöhnt mit allem zu sein. So gar keine Sorgen, kaum
einen Gedanken zu haben. So leichtfertig spazieren zu dürfen, mit dem
Gefühl, keinem Menschen weh getan zu haben. Sich umzusehen, ob man
vielleicht jemandem gefalle. Zu fühlen, daß man jetzt ein bißchen
liebenswerter und achtenswerter sei, als früher, da man ein Tagedieb
war, dessen Tage wie in einen Abgrund dahinsanken und verrauchten wie
Rauch vertrieben wird. Viel zu fühlen, viel, an so einem geschenkten
Abend! Den Abend wie ein Geschenk zu empfinden, denn das ist er denen,
die den Tag für die Arbeit hergeben. So schenkt man und wird
beschenkt.« --

                   *       *       *       *       *

Simon machte immer mehr die Beobachtung, daß die Schreibstube eine
kleine Welt für sich war, in der großen. Neid und Streberei, Haß und
Liebe, Übervorteilung und Ehrlichkeit, heftiges und bescheidenes Wesen
machten sich hier im Kleinen, um ganz lumpiger Vorteile willen,
ebensogut und scharf bemerkbar, wie überall, wo es dem Kampf um das
tägliche Auskommen galt. Jede Empfindung und jeder Drang konnte hier
seine Betätigung finden, wenn auch in geringfügigem Maßstab. Glänzende
Kenntnisse nützten allerdings in der Schreibstube nicht viel. Ein Träger
von solchen konnte sie hier höchstens improvisatorisch zum besten geben,
es half ihm zum Ansehen, aber es half ihm nicht dazu, sich dafür einen
besseren Anzug anschaffen zu können. Es gab etliche unter den
Schreibstubenburschen, die drei Sprachen perfekt sprachen und schrieben.
Diese wurden zum Übersetzen verwendet, aber sie verdienten damit nicht
mehr als die plumpen Adressenschreiber und die Abschreiber von
Manuskripten; denn die Schreibstube ließ keinen einzigen hochkommen,
sonst würde sie ja ihre Zwecke und ihren ganzen Sinn verfehlt haben.
Bestand sie doch immer nur, um Stellenlosen ein kümmerliches Leben zu
gestatten, und nicht deshalb, um hohe, unverschämte Löhne auszubezahlen.
Wenn einer überhaupt des Morgens um acht Uhr nur Arbeit fand, so mußte
er froh sein. Oft kam es vor, daß der Verwalter zu einer Gruppe von
Wartenden die Worte sprach: »Tut mir sehr leid. Heute leider nichts da.
Kommen Sie um zehn Uhr wieder. Möglich, daß dann Aufträge eingelaufen
sind!« und um zehn Uhr: »Es ist besser, Sie fragen morgen früh wieder
nach. Heute wird wohl kaum noch etwas einlaufen!« Diese Abgewiesenen,
unter denen sich auch Simon mehr als einmal befand, gingen dann langsam,
Mann für Mann, trübselig die Treppe hinunter, wieder auf die Straße, wo
sie einstweilen, als ob sie sich erst besinnen müßten, in einer runden,
hübschen Gruppe stehen blieben und sich dann, einer nach dem andern, in
alle Richtungen zerstreuten. Es war kein Vergnügen, ohne Geld in den
Straßen der Stadt zu bummeln, jeder wußte das, und ein jeder dachte:
»Wie wird das erst im Winter werden?«

Manchmal kamen ganz fein gekleidete Leute von eleganten Manieren in die
Schreibstube, um nach Arbeit zu fragen. Denen pflegte der Verwalter zu
sagen: »Wie es mir den Anschein macht, passen Sie besser in das Getriebe
des Weltlebens als in die Schreibstube. Hier muß einer den ganzen Tag
still sitzen, den Rücken krümmen und fleißig arbeiten, wenn er eine
Kleinigkeit verdienen will. Ich spreche so offen zu Ihnen, weil ich die
Empfindung habe, daß Ihnen das doch nicht passen würde. Und dann machen
Sie mir auch nicht den Eindruck der trübseligen, notdürftigen Armut. Ich
aber bin verpflichtet, zu allererst die Armen zu beschäftigen, das heißt
solche, an denen man die Kleider womöglich in Fetzen herunterhängen
sieht als Beweis ihrer Verkommenheit. Sie dagegen sehen mir zu stattlich
aus, so daß es eine Sünde wäre, Ihnen hier Arbeit geben zu wollen.
Mischen Sie sich unter die feine Welt, rate ich Ihnen. Es scheint, daß
Sie die Düsterkeit der Schreibstuben verkennen, wenn Sie mit so munterem
Gesicht hierherkommen, um nach Arbeit zu fragen, als wollten Sie auf den
Tanzboden gehen. Hier pflegt man linkische, trotzige Verbeugungen zu
machen, meistens aber gar keine, Sie aber verbeugten sich vorhin vor mir
wie ein vollendeter Weltmann. Das geht nicht, ich kann Sie nicht
gebrauchen, ich habe weder eine Arbeit, die Ihnen genügen könnte, noch
eine Welt, in die Sie hineinpassen, für Sie. Sie werden als Verkäufer
oder als Hotelsekretär jede Stunde Anstellung finden, wenn Sie es nicht
nur darauf abgesehen haben, in dieser Stadt nach Abenteuern zu suchen,
wie es mir beinahe den Anschein hat. Hier erlebt ein junger Mann nur
Entmutigung, aber sonst weiter kein Abenteuer. Wer hierherkommt, der
weiß, warum er gekommen ist. Sie scheinen es sicherlich nicht gewußt zu
haben. Ihre ganze Erscheinung ist beleidigend für meine Arbeiter, das
müssen Sie zugeben, wenn Sie nur einen Blick in die Stube werfen. Sehen
Sie mich an: ich habe auch die Welt gesehen, kenne alle Großstädte der
Welt, ich würde auch nicht hier sitzen, wenn ich nicht müßte. Wer
hierher kommt, hat schon Unglück und mannigfaches Mißgeschick erlitten.
Hierher kommen die Taugenichtse, Bettler, Schelme und Schiffbrüchigen:
mit einem Wort, die Unglücklichen. Nun frage ich Sie: sind Sie ein
solcher? Nein, und deshalb verlassen Sie jetzt, bitte, dieses Lokal, das
keine Luft enthält, die Sie imstande wären, auf die Länge einzuatmen.
Ich kenne die Figuren, die hierher gehören! Und zur Genüge! Leben Sie
wohl!«

Und mit einer Handbewegung pflegte er solche für die Schreibstube nicht
passende Menschen lächelnd zu entlassen. Der Verwalter besaß Schliff und
Bildung, und er zeigte beides gelegentlich gerne vor solchen
hereingeschneiten und hergewehten Besuchern, die mehr der Neugierde, als
der Not wegen hierherkamen.

An der Schreibstube vorüber floß ein stiller, grüner, tiefer und alter
Kanal, ehemaliger Festungsgraben und Bindemittel zwischen dem See und
dem fließenden Fluß, dem man das Seewasser auf solche Weise auf die
Reise in die fernen Meere mitgab. Es war überhaupt die stillste
Stadtgegend, die etwas Zurückgezogenes und Dörfliches an sich hatte.
Wenn nun die Abgewiesenen die Treppe hinuntertrampelten, so setzten sie
sich gerne noch eine Weile auf das Geländer am Bord dieses Kanals, was
dann aussah, als wenn eine Reihe von großen, seltsamen, ausländischen
Vögeln darauf säße. Etwas Philosophisches hatte das, und in der Tat,
manch einer schaute hinab in die grüne, tote Wasserwelt und grübelte
ebenso vergeblich über die Unerbittlichkeit des Schicksals nach, wie ein
Philosoph in seinem Studierzimmer zu tun pflegt. Der Kanal hatte etwas,
das zum Träumen und Nachsinnen aufforderte, und dazu hatten die
Stellenlosen reichlich Gelegenheit.

Die Schreibstube war zugleich ein Arbeitsmarkt für Kaufleute. Es kam zum
Beispiel ein Herr oder eine Dame in die Stube, trat zu dem Verwalter ins
Kabinett und wünschte auf einen oder auf ein paar Tage einen Mann, das
heißt, eine Kraft zur Aushilfe ins Haus hinein. Dann kam der Verwalter
in die Türeinrahmung, musterte seine Gesellen, und rief nach einiger
Überlegung einen Mann beim Namen: dieser hatte dann eine kleine, acht-,
ein-, zwei- oder vierzehntägige Anstellung gefunden. Das war immer ein
neiderweckendes Ereignis, wenn einer beim Namen aufgerufen wurde, denn
auswärts arbeitete ein jeder gern, weil der Verdienst größer und die
Arbeit kurzweiliger war. Außerdem bekam solch ein Mann bei gutherzigen
Leuten vormittags und nachmittags einen schönen Imbiß zum Frühstück und
zur Vesper, was unter keinen Umständen zu verachten war. Da bestand nun
immer ein Streben nach solchen Stellen und ein Liebäugeln mit dem
Aufgerufenwerden. Viele glaubten sich stets ungerechterweise
zurückgesetzt, und andere glaubten wieder, dem Verwalter und seinem
Unterbeamten recht hofieren und schmeicheln zu sollen, um das Ersehnte
zu erlangen. Es war ungefähr dasselbe, wie wenn ein Rudel abgerichteter
Hunde nach einer an einem Bindfaden immer wieder hochgezogenen Wurst
springt, wo auch einer immer glaubt, der andere hätte nicht das Recht,
nach der Wurst zu schnappen, ohne indessen Gründe dafür angeben zu
können. So knurrte auch hier einer den andern um des erschnappten
Vorteiles willen an, ganz wie in der großen Handels-, Gelehrten-,
Künstler- und Diplomatenwelt, wo es auch nicht viel anders, nur etwas
geriebener, hochfahrender und kultivierter zugeht.

Simon arbeitete auch einige Male auswärts, wie es in der abgekürzten
Schreibstubensprache hieß, aber er hatte kein Glück damit. Das eine Mal
wurde er von seinem Prinzipal, einem pfiffigen und ziemlich brutalen
Liegenschafts- und Rechtsagenten, der sich beinahe als der liebe Gott
selber vorkam, zum Teufel gejagt, weil er in einer Zeitung las, statt
mit der Feder zu arbeiten, und das andere Mal warf er selber seinem
Chef, einem Frucht- und Gemüsehändler _en gros_ die Feder vor die Nase
und sagte ihm nur die Worte: »Machen Sie's selber!« Die Frau des
Fruchthändlers wollte Simon allerhand Vorschriften machen; da brach er
einfach ab; denn, nach seinem Gefühl, wollte ihn das Weib nur verletzen
und demütigen, was er aber schließlich doch nicht nötig hatte sich
bieten zu lassen; so empfand er wenigstens.



Siebzehntes Kapitel.


So vergingen einige Wochen in dem wundervollen Sommer. Simon hatte den
Sommer noch nie so sehr als Wunder empfunden, wie dieses Jahr, wo er
vielfach auf der Straße arbeitsuchend lebte. Es kam nichts dabei heraus,
trotz den Bemühungen, aber es war wenigstens schön. Wenn er abends durch
die modernen, blätterzitternden, schattenhaften, lichterzuckenden
Straßen lief, war er immer daran, Menschen ohne weiteres mit törichten
Worten anzusprechen, nur um zu erfahren, wie es ihm dabei erginge. Aber
die Menschen zeigten alle nur ein verblüfftes Gesicht, weiter sagten sie
nichts. Warum sprachen sie den Gehenden und Herumstehenden nicht an,
forderten ihn nicht auf, mit dunkler Stimme, mitzukommen, in ein
seltsames Haus hineinzutreten, und dort etwas zu tun, was nur müßige
Menschen tun, Menschen, die keinen weiteren Lebenszweck im Sinne haben,
so wie er, als den Tag vorübergehen und es Abend werden zu sehen, um am
Abend Wunderdinge voll Taten zu erwarten? »Ich wäre zu jeder Tat bereit,
wenn es nur eine kühne Tat wäre, die eines Unerschrockenen bedürfte,«
sagte er zu sich. Stundenlang saß er auf einer Bank und hörte der Musik
zu, die aus irgend einem vornehmen Hotelgarten herausrauschte, als ob
die Nacht zu leisen Tönen sich umgewandelt hätte. Die nächtlichen
Weibsbilder gingen an dem Einsamen vorüber, aber sie brauchten ihn nur
schärfer zu beobachten, um sogleich zu wissen, wie es mit des jungen
Mannes Kasse stand. »Wenn ich nur einen einzigen Menschen wüßte, den ich
um eine Geldsumme angehen könnte,« dachte er. »Meinen Bruder Klaus? Das
wäre nicht ehrenhaft; denn ich bekäme das Geld, aber zugleich einen
leisen, traurigen Verweis. Es gibt Menschen, die man nicht anbetteln
kann, weil sie zu schön denken. Wenn ich nur einen wüßte, an dessen
Achtung mir nicht gar so sehr viel läge. Nein, ich kenne keinen. Es
liegt mir an der Achtung aller. Ich muß warten. Eigentlich braucht man
ja im Sommer nicht viel, aber es wird Winter! Ich habe ein wenig Furcht
vor dem Winter. Ich zweifle nicht daran, daß es mir im kommenden Winter
schlecht gehen wird. Nun, dann laufe ich im Schnee herum, wenn auch mit
nackten Füßen. Was kann daran liegen. Ich laufe solange, bis mir die
Füße brennen. Im Sommer ist das Ruhen so schön, das Liegen auf einer
Bank unter den Bäumen. Der ganze Sommer ist wie eine erwärmte, duftende
Stube. Der Winter ist ein Fensteraufreißen, der Wind und der Sturm
blasen und sausen hinein, das macht einen dann sich bewegen. Da wird mir
das Faulenzen vergehen. Es soll mir recht sein, was auch immer kommen
mag! Wie der Sommer mir lang vorkommt. Erst einige Wochen lebe ich jetzt
doch im Sommer, und schon so lang scheint er mir. Ich glaube, die Zeit
schläft und dehnt sich im Schlafe aus, wenn man immer denken muß, was
machen, um einen Tag lang mit seinem bißchen Geld auszukommen. Auch
glaube ich, die Zeit schläft und träumt im Sommer. Die Blätter an den
hohen Bäumen werden immer größer, in der Nacht lispeln sie, und am Tage
schlafen sie unter dem heißen Sonnenschein. Ich zum Beispiel, was tue
ich? Ich liege ganze Tage, wenn ich keine Arbeit habe, bei geschlossenen
Läden im Bett, in meinem Zimmer, und lese beim Schein einer Kerze.
Kerzen riechen so entzückend, und wenn man sie ausbläst, fließt ein
feiner, feuchter Rauch durch das dunkle Zimmer, und es ist einem dann so
ruhig zumute, so neu, wie einem Auferstandenen. Wie komme ich dazu,
meine Miete zu bezahlen? Morgen müßte ich es tun. Die Nächte sind so
lang im Sommer, weil man den Tag verbummelt und verschläft, und, sobald
es Nacht wird, aus allerlei Sumsum und Wirrwarr aufwacht und zu leben
anfängt. Es würde mir jetzt wie eine Sünde vorkommen, wenn ich nur eine
einzige Sommernacht verschliefe. Überdies ist es zu schwül zum Schlafen.
Im Sommer sind die Hände feucht und blaß, als spürten sie die
Kostbarkeit der duftenden Welt, im Winter sind sie rot und dick, als
wären sie über die Kälte zornig. Ja, es ist so. Der Winter macht einen
zornig umherstampfen, im Sommer wüßte man nicht, worüber man zornig sein
sollte, als vielleicht über den Umstand, daß man seine Miete nicht zu
bezahlen imstande ist. Aber das hat mit dem schönen Sommer nichts zu
tun. Ich bin auch nicht mehr zornig, ich glaube, ich habe das Talent
verloren, mich zu erzürnen. Es ist Nacht, und der Zorn, das ist etwas so
Taghelles, Rotes, Feuriges, wie nur irgend etwas sein kann. Morgen werde
ich mit meiner Wirtin reden.« --

Am nächsten Morgen schob er seinen Kopf in die Türe des Zimmers, wo
seine Wirtin wohnte und fragte sie in absichtlich scharfer Betonung, ob
er ein Wort mit ihr reden dürfe, ob sie dazu Zeit habe.

»Freilich! Was es denn sei?«

Simon sprach: »Ich kann Ihnen den Mietzins für diesen Monat nicht
bezahlen. Ich versuche gar nicht, Ihnen begreiflich machen zu wollen,
wie peinlich mir das ist. Das kann ein jeder sagen in einem derartigen
Fall. Dagegen setze ich voraus, daß Sie mir das Bestreben zutrauen,
Mittel und Wege zu ersinnen, um zu einer ansehnlichen Summe Geldes zu
gelangen, damit ich meine Schuld so bald wie möglich tilgen kann. Ich
wüßte Menschen, von denen ich Geld bekäme, wenn ich nur wollte, aber
mein Stolz verbietet mir, von Menschen, die ich mir verbunden wissen
will, Geld auf Darlehn anzunehmen. Von einer Frau nähme ich es indessen
an, sehr gerne sogar; denn Frauen gegenüber habe ich ganz besondere,
nach einer anderen Ehre abzumessende Empfindungen. Wollen Sie mir, Sie,
Frau Weiß meine ich, das Geld vorstrecken, erstens das Geld für die
Miete, und dann noch eine kleine Zugabe zum Weiterexistieren? -- Haben
Sie nun das Gefühl, daß ich Ihnen unverschämt komme? Sie schütteln den
Kopf. Ich glaube, daß Sie Zutrauen zu mir haben. Sie sehen, wie ich bei
einer solchen Zumutung erröte, Sie erblicken mich nicht ohne
Verlegenheit in diesem Moment. Aber ich pflege etwas rasch Entschlüsse
zu fassen und sie prompt auszuführen, müßten sich mir dabei auch die
Lungen zusammenschnüren. Von einer Frau nehme ich gern auf Vorschuß an,
weil ich einer Frau gegenüber keiner Betrügereien fähig bin. Männer kann
ich, wenn es die Lage erfordert, belügen, ohne Erbarmen, glauben Sie mir
das. Frauen niemals. Wollen Sie mir wirklich so viel Zuschuß geben?
Damit lebe ich einen halben Monat lang. Bis dahin wird sich Vieles
verbessern in meiner jetzigen Lage. Ich danke Ihnen noch gar nicht
einmal. Sehen Sie, so einer bin ich. Ich habe noch selten einmal im
Leben einem Menschen die Gefühle meiner Dankbarkeit ausgedrückt. Ich bin
Stümper im Danken. Nun, ich muß da allerdings sagen, Wohltaten habe ich
auch, wo nur möglich, immer verschmäht. Eine Wohltat! Ich empfinde es
wahrhaftig in diesem Moment, was eine Wohltat ist. Ich sollte eigentlich
das Geld nicht annehmen.«

»Sie sind einer, Sie!«

»Nun, ich behalte es auch. Besorgen Sie nur nicht, daß es Ihnen nicht
zurückgegeben wird. Ich bin vorläufig ganz glücklich durch das Geld.
Geld ist doch eine Sache, die nur Strohköpfe verachten können.«

»Wollen Sie schon wieder gehen?«

Simon war bereits wieder zur Türe hinausgegangen und hatte sich in sein
Zimmer zurückgezogen. Es war ihm unangenehm, oder er tat so, als ob es
ihm unangenehm wäre, weiter über diesen Gegenstand zu reden. Übrigens
hatte er ja erreicht, was er wollte, und er liebte es nicht, sich lange
zu entschuldigen, oder Versprechungen zu geben, wenn er jemand um einen
Dienst gebeten hatte, der ihm erwiesen wurde. Er würde, falls er einmal
der Geber wäre, auch keine Exküsen und Beteuerungen verlangen; fiele ihm
niemals ein. Entweder habe man Vertrauen und Sympathie und gebe, oder
man drehe dem Bittenden einfach kalt den Rücken, weil er einem widerlich
sei. »Ich bin ihr keineswegs widerlich gewesen, denn ich habe bemerkt,
daß sie mir mit einer Art schneller Freude das Geld gegeben hat. Es
kommt alles auf das Benehmen an, wenn man seine Zwecke erreichen will.
Es machte dieser Frau Vergnügen, mich ihr zu verpflichten, weil ich
wahrscheinlich in ihren Augen ein passabler Mensch bin. Unangenehmen
Menschen will man nichts geben, weil man sie sich nicht gern verbindet;
denn eine Verpflichtung, wie das Abbezahlen einer Schuld ist, verbindet,
bringt in Berührung, nähert, traut sich heran, muß nahe sein und ist
beständig nahe. Wie wenig beneidenswert ist es, widerliche Schuldner zu
haben. Solche Menschen sitzen förmlich auf dem Nacken der Gläubiger, man
möchte ihnen die Schuld erlassen, nur um sie von sich abzuschütteln. Es
ist ganz reizend, zu sehen, wie unbedenklich und behende einem gegeben
wird; denn das ist das beste Zeugnis dafür, daß man noch Menschen um
sich hat, denen man angenehm ist.« --

Er trat, indem er das erhaltene Geld in die Westentasche gleiten ließ,
an das Fenster und bemerkte unten in der engen Gasse eine
schwarzgekleidete Dame, die irgend etwas zu suchen schien; denn sie bog
öfters ihren Kopf gegen die Höhe hinauf, wobei einmal ihre Augen
diejenigen Simons trafen. Es waren große, dunkle Augen, echte
Frauenaugen, und Simon mußte unwillkürlich an Klara denken, die er schon
so lang nicht mehr gesehen, ja beinahe schon vergessen hatte. Aber es
war Klara nicht. Die schöne Erscheinung in der tiefen Gasse mit ihrem
vornehmen, üppigen Kleid bildete einen sonderbaren Gegensatz zu den
finstern und schmutzigen Mauern, zwischen denen sie langsam
dahinschritt. Simon hätte ihr zurufen mögen: »Bist du's, Klara?« Aber
schon verschwand die Gestalt um eine Ecke herum, und nichts blieb von
ihr in der Gasse zurück als ein Duft von Wehmut, den Schönes an
finsteren Orten immer hinterläßt. »Wie schön wäre es gewesen, und wie
passend in dem Moment, als sie hinaufschaute, ihr eine große, dunkelrote
Rose hinabzuwerfen, daß sie sich darnach gebückt und sie aufgehoben
hätte. Sie würde dazu gelächelt haben und würde sehr erstaunt gewesen
sein, in einer so armseligen Gasse einem so freundlichen Gruß zu
begegnen. Eine Rose würde zu ihr gepaßt haben, wie ein bittendes und
weinendes Kind zu seiner Mutter. Aber woher teure Rosen nehmen, wenn man
eben erst die Güte Anderer hat in Anspruch nehmen müssen, und wie
vorausmerken, daß gerade um neun Uhr vormittags eine schöne
Frauengestalt durch die Gasse kommt, die doch die dunkelste aller Gassen
ist, während diese Frau das Vornehmste zu sein scheint, was ich je an
Frauen erblickt habe?«

Er träumte noch lange Zeit der Dame nach, die ihn so seltsam an die
vergessene und verschwundene Klara erinnert hatte, und verließ dann das
Zimmer, eilte die Treppen hinunter, lief die Straßen entlang, verbrachte
den Tag mit Nichtstun und befand sich gegen Abend in einem äußersten
Viertel der weit sich erstreckenden Stadt. Hier wohnten die Arbeiter in
verhältnismäßig schönen, hohen Häusern; wenn man aber die Häuser
schärfer betrachtete, so fiel einem eine gewisse kahle Verwahrlostheit
auf, die die Wände hinauflief, zu den eintönigen, kalten
Fenstervierecken hinausschaute und auch auf den Dächern saß. Die hier
beginnende Wald- und Wiesenlandschaft bildete einen sonderbaren
Gegensatz zu den hohen und doch armseligen Baukästen, die diese Gegend
eher verunzierten als schmückten. Daneben bemerkte man noch etliche,
liebenswürdig gebaute, niedere, alte Landhäuser, die in der Gegend lagen
wie Kinder im warmen Mutterschoß. Hier bildete das Land einen
waldbedeckten Hügel, unter dem die Eisenbahn durch einen Tunnel
durchfuhr, nachdem sie eben das Häusergewirr verlassen hatte. Der Abend
beleuchtete die Wiesen, man fühlte sich hier schon auf dem Lande, die
Stadt mit ihrem Geräusche lag hinten. Simon empfand die Unschönheit der
Arbeiterhäuser nicht, denn er empfand das ganze Gemisch von Stadt und
Land, das hier ein sonderbares, anmutvolles Bild darbot, als schön. Wenn
er durch eine kahle, steinerne Straße ging und dicht daneben die warme
Wiese spürte, so war ihm das eigenartig, und wenn er gleich darauf einen
schmalen, erdigen Weg durch Wiesen hindurchschritt, was schadete es
dann, zu wissen, daß es eigentlich Stadtboden, nicht Landboden war. »Die
Arbeiter wohnen hier sehr schön,« dachte er, »sie haben durch jedes
ihrer Fenster waldige, grüne Aussicht und wenn sie auf ihren kleinen
Balkonen sitzen, so genießen sie eine gute, starke, würzige Luft und
eine unterhaltende Rundsicht über Hügel und Rebberge. Wenn die neuen,
hohen Häuser auch die alten erdrücken und schließlich vom Boden
verjagen, so muß man bedenken, daß die Erde nie still steht, und daß
sich die Menschen immer regen müssen, sei es auch in einer für den
Moment nicht gerade lieblichen Form. Eine Gegend ist immer schön, weil
sie immer von der Lebendigkeit der Natur und der Baukunst Zeugnis
ablegt. So in eine hübsche Wiesen- und Waldgegend hineinzubauen, scheint
zuerst etwas barbarisch, aber jedes Auge findet sich am Ende mit der
Vereinigung von Haus und Welt ab, findet allerhand reizvolle
Durchsichten an Hauswänden vorbei und vergißt das ärgerlich-kritische
Urteil, das doch nie Besseres stiftet. Man braucht die alten Häuser
nicht wie ein Baugelehrter mit den neuen zu vergleichen und kann an
beiden Arten seine Freude haben, an dem Demutvollen und am Hochmütigen.
Wenn ich ein Haus stehen sehe, so muß ich nicht meinen, es, weil es mir
nicht schön genug vorkommt, umblasen zu können; denn es steht doch
ziemlich fest da, beherbergt viele fühlende Menschen und ist deshalb
immerhin eine respektable Erscheinung, an deren Erstehen zahlreiche
fleißige Hände gearbeitet haben. Die Schönheitssucher müssen vielfach
empfinden, daß es allein mit dem Suchen nach Schönheit in der Welt noch
lange nicht getan ist, daß da noch anderes zu finden ist, als das Glück,
vor einer reizenden Antiquität stehen zu bleiben. Das Ringen der armen
Leute nach ein bißchen Frieden, ich meine die sogenannte Arbeiterfrage,
ist doch sozusagen auch etwas Interessantes und muß einen wackeren Geist
mehr beleben als die Frage, ob ein Haus schlecht oder gut in der
Landschaft steht. Was gibt es nur für müßige, schönredende Köpfe auf der
Welt. Gewiß: jeder denkende Kopf ist wichtig und jede Frage kostbar,
aber es dürfte anständiger und für die Köpfe ehrender sein, zuerst
Lebensfragen zu erledigen, bevor die zierlichen Kunstfragen erledigt
werden. Nun sind aber allerdings Kunstfragen bisweilen auch
Lebensfragen, aber Lebensfragen sind in noch weit höherem und edlerem
Sinne Kunstfragen. Ich denke jetzt natürlich so, weil für mich das
Weiterexistieren zu allererst in Frage kommt, weil ich Adressen schreibe
im kargen Tagelohn, und ich kann mit der hochnäsigen Kunst nicht
sympathisieren, weil sie mir im Augenblick als das Nebensächlichste in
der Welt vorkommt; und in der Tat, man denke einmal, was ist sie gegen
die sterbende und immer wieder erwachende Natur. Was hat die Kunst für
Mittel, wenn sie einen blühenden, duftenden Baum darstellen will, oder
das Gesicht eines Menschen? Gut, ich denke jetzt ein bißchen frech, von
oben herab, nein, eher ein wenig wütend von unten herauf, aus der Tiefe,
wo einem das Geld fehlt. Das ganze ist, ich bin kritisch und zugleich
wehmütig, weil ich kein Geld habe. Ich muß zu Geld gelangen, das ist
ganz einfach. Geliehenes Geld ist kein Geld, man muß es verdienen oder
stehlen oder geschenkt bekommen. -- Und dann ist noch eines: der Abend!
Am Abend bin ich meist müde und mutlos.«

Während er auf diese Weise dachte, war er eine ziemlich ansteigende,
kurze Straße hinaufgegangen, und blieb jetzt vor einem Hause stehen, aus
dem ihn, zu einem geöffneten Fenster hinaus, ein Frauenkopf anschaute.
Simon meinte in die Augen der Frau wie in eine ferne, versunkene Welt zu
blicken, als ihm schon eine wunderbar bekannte Stimme zurief: »Ach,
Simon, du bist es! Komm doch herauf!«

Es war Klara Agappaia.

Er erblickte sie, als er hinaufgesprungen war, in einem schweren,
dunkelroten Kleid am Fenster sitzen. Die Arme und die Brust waren nur
halb von dem herrlichen Stoff bedeckt. Das Gesicht war blasser geworden,
seit der Zeit, da er sie zum letzten Mal gesehen. In ihren Augen brannte
ein tieferes Feuer, aber der Mund war zugekniffen. Sie lächelte und gab
ihm die Hand. In ihrem Schoße lag ein geöffnetes Buch, offenbar ein
Roman, den sie zu lesen angefangen hatte. Zuerst vermochte sie nicht zu
reden. Es schien ihr Scham und Mühe zu bereiten, zu fragen, zu erzählen.
Sie schien bemüht zu sein, eine Fremdheit abzuschütteln, die sie in sich
fühlen mochte vor ihrem jungen, einstigen Freund. Ihr Mund schien zu
weinen, sobald er sich öffnen und weicher werden wollte. Ihre schönen,
langen, üppigen Hände schienen die Sprache übernommen zu haben,
wenigstens so lange, bis ihr Mund sich aus der Befangenheit löste. Sie
musterte Simon absolut nicht, so wie man lange nicht Gesehene zu
beobachten pflegt, sondern sah nur in seine Augen, deren ruhiger
Ausdruck ihr wohltat. Sie ergriff wieder seine Hand und sagte endlich:

»Gib mir die Hand, laß mich zu dir sein, wie zu meinem Knaben, der mich
schon versteht, so wie er nur das Rauschen meines Gewandes aus dem
Nebenzimmer nahen hört, der mich mit dem Blick seiner Augen erfaßt, dem
ich nichts zu sagen, nicht einmal etwas in die Ohren zu flüstern
brauche, um ihm Geheimnisse zu verstehen zu geben; dessen Dasitzen,
Kommen, Gehen, Stehen und Liegen mir sagt, daß er sein ganzes Gefühl nur
hat, um seine Mutter zu verstehen; zu dem man sich herabneigt, zur Erde,
vor seine Füße, um ihm die Schuhe besser zu binden, wenn die Bändel sich
gelockert haben; dem man einen Kuß gibt, wenn er mutig und brav gewesen
ist; für den man alles Geheime offen hat; vor dem man nicht wüßte irgend
noch Geheimes zu haben; dem man alles gibt, auch wenn er ein kleiner
Verräter ist und seine Mutter lange, lange hat vernachlässigen können,
so wie du, auch wenn er sie hat vergessen können, wie du. Nein, du
konntest mich nie vergessen. Du hast mich wohl öfters im Trotz
abschütteln wollen, aber wenn dir eine Frau begegnete, die mir nur in
einem kleinen Härchen ähnlich sah, so glaubtest du mich zu sehen und
gefunden zu haben. Hast du da nicht gezittert, ist dir nicht gewesen,
bei solch einem täuschenden Begegnen, als wenn sich dir plötzlich über
einer hellen, in Stein gehauenen, herrlichen Treppe Flügeltüren geöffnet
hätten, um dich in ein Gemach voll Wiedersehenslust einzulassen? Was ist
Wiedersehen für eine Freude! Wenn man sich verloren hat, auf der Straße
oder auf dem Lande, und nach einem Jahr sich dann, so ohne weiteres, so
still wiederfindet, an einem solchen Abend, wo schon die Glocken die
Ahnung des Wiedersehens in die Welt hinausläuten, so gibt man sich die
Hände und denkt nicht mehr an die Trennung und an die Ursache der langen
Abschweifung. Laß mir deine Hände! Deine Augen sind noch eben so gut und
schön. Du bleibst dir gleich. Jetzt kann ich dir erzählen:

Als wir alle, Kaspar, ich und du, im letzten Sommer aus dem Waldhaus,
weißt du noch, herausgehen mußten, und ihr Brüder dann verschwandet,
wohin, wußte ich nicht, mietete ich mir unten in der Stadt ein elegantes
Zimmer, sehnte mich nach euch und blieb eine Zeitlang trostlos. Gegen
den Winter schien alles um mich herum in ein rotes Licht getaucht zu
sein, ich vergaß alles, und warf mich in das Gewirr der Vergnügungen;
denn ich besaß noch einen kleinen, aber für die hiesigen Verhältnisse
ziemlich großen Rest meines Vermögens. Ich verbrauchte ihn und bekam
dafür die Erkenntnis, daß man oft des Rausches bedarf, um sich über den
Wellen des Lebens einigermaßen hoch zu halten. Ich hatte eine Loge im
Theater, aber das Theater interessierte mich weit weniger, als die
Bälle, wo ich zeigen konnte, daß ich schön und voll Laune war. Die
jungen Männer schwärmten um mich herum, und ich erblickte nichts, das
mir hätte verbieten können, sie alle zu verachten und sie meine Launen
fühlen zu lassen. Ich dachte an euch beide und wünschte oft mitten unter
all den Anschwärmungen, die so sehr aller Männlichkeit entbehrten, eure
ruhigen Gesichter und offenen Manieren herbei. Da kam ein dunkler,
schwarzer Mann auf mich zu, Student am Polytechnikum, schwer und
täppisch von Ansehen, Türke, große, bezwingende Augen, und tanzte mit
mir. Nach dem Tanze besaß er mich mit Seele und Leib, ich war sein. Es
gibt für uns Frauen, wenn wir in Vergnügungen dahinrauschen, eine Art
Männer, die uns nur im Tanzsaal bezwingen können. Wäre er mir an einem
andern Ort begegnet, ich hätte ihn vielleicht ausgelacht. Er benahm sich
vom ersten Augenblick an mir gegenüber als mein Herr und ich wußte nur
zu erstaunen über seine Frechheit, nicht, mich zu wehren. Er befahl mir:
so: und jetzt so! Und ich gehorchte. Im Gehorchen können wir Frauen,
wenn es uns danach hinzieht, Außerordentliches leisten. Wir nehmen dann
alles hin und wünschen uns, vielleicht aus Scham und Zorn, den Geliebten
noch brutaler, als er ist. Er kann uns dann nicht grausam genug
entgegentreten. Dieser Mann sah mein letztes Geld absolut als das seine
an, ich auch, und ich gab es ihm, ich gab ihm alles. Als er mich genug
gedrückt, tyrannisiert, ausgesogen und ausgebeutet hatte, ging er eines
Tages fort, in sein Heimatland, nach Armenien zurück. Seine Knechtin,
ich, versuchte nicht, ihn daran zu verhindern. Ich fand alles, was er
tat, in der Ordnung. Auch wenn ich ihn weniger geliebt hätte, als wie es
der Fall war, so hätte ich ihn ziehen lassen; denn dann würde mein Stolz
es mir verboten haben, ihn aufzuhalten. So hatte ich ihm einfach zu
gehorchen, als er mir befahl, ihm zur Abreise behülflich zu sein: meine
Liebe gehorchte gern. Es erniedrigte mich nicht, ihn zum Abschied zu
küssen, ihn, der mich kaum noch eines Blickes würdigte. Er sprach die
Hoffnung aus, mich später, wenn seine Verhältnisse es ihm erlauben
würden, mit in seine Heimat zu nehmen, um mich zu seiner Ehefrau zu
machen. Ich empfand, daß es eine Lüge war, aber ich fühlte keine
Bitterkeit. Gegen diesen Mann war jede unschöne Empfindung in mir ein
Ding der Unmöglichkeit. Ich habe von ihm ein Kind, ein Mädchen, es
schläft dort im Nebenzimmer.«

Klara hielt einen Augenblick inne, lächelte Simon an, und fuhr dann
fort:

»Ich war gezwungen, eine Stelle zu suchen, und fand sie bei einem
Photographen als Empfangsdame. Die Bewerbungen und Heiratsanträge, die
man mir vielfach entgegenbrachte, da ich mit einem großen Publikum zu
tun bekam, schlug ich alle lächelnd ab. Alle Männer dachten von mir:
»Sie hat etwas so Zartes, Hausmütterliches, das wäre eine!« Aber ich
wurde für keinen eine! Meine Stellung gestattete mir noch einen
ziemlichen Aufwand, wenigstens konnte ich die schönen Kleider alle
behalten, was mir jetzt noch zustatten kommt. Mein Prinzipal war ein
Mann, den ich achten durfte, das erleichterte mir um vieles meine
Arbeit, die ich, wie in einem leisen, angenehmen Traum befangen,
verrichtete. Ich hatte mir für das Publikum ein ganz bestimmtes,
zuckendes Lächeln angewöhnt, ich machte mich damit beliebt, allen
erschien ich liebenswürdig und ich lockte Kunden heran, was meinen Chef
zu einer Salär-Erhöhung veranlaßte. Damals war ich beinahe glücklich.
Alles schwand mir in schöne, süße Erinnerungen dahin. Ich fühlte
das Herannahen des Mutterschmerzes, und das trug zu einer
wehmutvoll-glücklichen Stimmung bei. Es schneite, daß die Straße ganz
in Flocken eingehüllt wurde. Und wenn ich abends durch die verschneiten
Straßen hinging, dachte ich an euch Brüder, an dich und an Kaspar und
viel, sehr viel an Hedwig, der ich in Gedanken und Gefühlen dankbare
Huldigungen darbrachte. »Ich hab ihr doch ein einziges Mal schreiben
dürfen. Sie hat nicht geantwortet. Aber es ist doch schön so,« dachte
ich. Dann kam ich mir selber so schön vor, wenn ich so dachte. Ich wurde
immer mehr erfüllt von allem, und ging immer in ganz langsamen
Schritten, jeden Schritt fühlte ich als Menschenwohltat. Ich gab
indessen das elegante Zimmer im Zentrum der Stadt auf und mietete mich
hier ein, da, wo du mich jetzt siehst. Ich fuhr morgens und abends mit
der »Elektrischen« hin und zurück und lenkte immer die Blicke aller
Mitfahrenden auf mich. Es war etwas Seltsames an mir, ich fühlte es
selber. Viele fingen unbewußt mit mir zu sprechen an, einige, nur um ein
Wort mit mir zu wechseln, andere, um meine Bekanntschaft zu machen. Aber
das letztere hatte wenig Reiz mehr für mich. Ich glaubte alles von
vornherein kennen zu sollen, ich hatte ein so bestimmtes, ablehnendes,
aber zugleich sanftes, mir selber wohltuendes Gefühl dabei. Die Männer!
Wie oft wurde ich von ihnen angesprochen. Sie glichen neugierigen
Kindern, die wissen wollten, was ich machte, wo ich wohnte, wen ich
kannte, wo ich zu Mittag aß und was ich abends zu treiben pflegte. Sie
erschienen mir wie unschuldige, etwas vorwitzige Kinder; so war ich
damals. Nie begegnete ich einem einzigen grob, ich hatte es nicht nötig;
denn es wurde mir gegenüber kein einziger unverschämt: ich war ihnen
eine Dame, die zugleich verlockte und erkältete. Einmal sprach mich ein
kleines, geistreich aussehendes Mädchen an, es war Rosa, du kennst sie
ja. Sie enthüllte mir ihr ganzes Leiden und Leben, wir wurden
Freundinnen, und jetzt hat sie sich verheiratet, obschon ich ihr davon
abgeraten hatte. Sie besucht mich öfters, mich, die Königin der
Armen!« --

Wieder schwieg Klara einen Augenblick, während sie Simon kindlich-lustig
anblickte, und sprach dann weiter:

»Die Königin der Armen! Ja, das bin ich. Siehst du nicht, wie deine
Klara fürstlich angezogen ist? Das ist noch ein Stück aus meiner
Ballgarderobe: hinten ausgeschnitten! Ich bin meinem Stand als Fürstin
schon etwas Aufwand schuldig. Das sehen meine Angehörigen gerne, sie
haben Sinn für Hoheit, die Pracht eines Ballkleides nimmt sich in dieser
Gegend der fleckigen, grauen Frauengewänder einzig aus. Man muß
abstechen, lieber Simon, wenn man beeinflussen will, doch höre der Reihe
nach ruhig weiter. Was bist du für ein flotter, angenehmer Zuhörer. Das
verstehst du, einem zuzuhören, wie keiner! Das ist einer deiner Vorzüge!
Es erzählt sich dir so natürlich, so schön: Ich lernte, als ich hier in
dieses entlegene Viertel hinauszog, langsam aber immer wachsend, die
Armen lieben, die auf die andere, dunkle Seite der Welt Gedrängten, das
Pack, wie der Titel lautet, mit dem man eine Welt voll Sehnen und Mühsal
tituliert. Ich sah, daß ich hier nötig sein konnte, und ich richtete
mich, ganz ohne Zwang und Aufsehen, so ein, daß ich nötig geworden bin.
Wenn ich sie heute verlasse, so jammern diese Leute, diese Weiber,
Kinder und Männer. Im Anfang hatte ich Abscheu und Ekel vor ihrem
Schmutz, aber ich sah, daß dieser Schmutz gar nicht so garstig in der
Nähe war, als wie er aus der steifen, hochtrabenden Entfernung aussieht.
Ich lehrte meine Hände, ja, meinen Mund sogar, wie man diese Kinder zu
berühren hatte, deren Gesichter nicht die saubersten waren. Ich gewöhnte
mich daran, die rauhen Hände der Arbeiter und Taglöhner zu drücken, und
bemerkte rasch die Zartheit, womit diese Leute einem die Hand reichen.
Ich fand vieles in dieser Welt, was mich an euch, an dich und Kaspar,
erinnerte. Es war jedenfalls viel Feinheit und viel Verborgenes, das
mich lockte, mich zur Herrin und Bevormundin dieser Menschen zu machen.
Es war leicht und schwer zugleich zu machen. Da waren die Weiber! Wie
viel Mühe brauchte es, sie von ihren Gebrechen und abscheulichen Fehlern
so zu überzeugen, daß sie allmählich Lust bekamen, sich von ihrer
Schmach zu befreien. Ich gewöhnte sie an den Segen und an die Lust der
Reinlichkeit, und ich sah, daß sie nach langem, mißtrauischem Zaudern
endlich Freude dabei empfanden. Die Männer erwiesen sich als lenksamer;
denn ich war schön: so gehorchten sie mir besser, waren talentvoller im
Erfassen meiner so einfachen Lehren. Simon! Wenn du wüßtest, wie es mich
glücklich macht, diesen Armen eine innige Erzieherin zu werden! Wie
wenig braucht man zu wissen, um an Kenntnissen noch Ärmere zu finden,
die man leiten kann. Nein, die Wissenschaft macht es nicht allein aus.
Hier bedarf es des Mutes und der Lust, energisch Stellung zu nehmen,
sich die Stellung durch Stolz und Milde zu sichern und leidenschaftlich
aufzutreten. Ich gewöhnte mir eine Sprache an, die alle Bildung, die ich
besaß und die ich schenken konnte, leicht faßlich erklärte, in
Ausdrücken, wie das niedrige, erniedrigte Volk sie liebt. So wurde ich
ihre Herrscherin, indem ich mich ihren Gedanken und Gefühlen, oft gegen
meinen Geschmack, anpaßte. Aber nach und nach wurde es mein Geschmack.
Wenn ein Mensch beeinflußt, hat er zugleich auch die Gabe, sich
unmerklich ebenfalls von den Beeinflußten beeinflussen zu lassen. Das
Herz und die Gewohnheit besorgen das leicht. Als ich dann eines Tages im
Bett lag, um mit Schmerzen das Kind zu erwarten, das dort nebenan
schläft, kamen sie zu mir, die Frauen und Mädchen, besorgten und
pflegten mich und taten mir Gutes, bis ich wieder aufstehen konnte. Ihre
Männer fragten voll Kummer nach mir, während der Zeit, und als sie mich
wieder sahen, schienen sie beglückt zu sein, mich noch schöner als
früher zu finden. So ehrten sie ihre Fürstin. Das war im Frühling. Ich
saß, noch etwas schwach von der Geburt, in meinem Zimmer wie unter
Blumen; denn sie brachten mir alle Blumen, soviel sie nur bringen
konnten. Ein junger reicher Mann aus der Nachbarschaft besuchte mich oft
und ich litt es, wenn er mir zu Füßen saß; denn ich empfand darin eine
Ehrung, und von ihm war es zart. Eines Tages flehte er mich an, ich möge
seine Frau werden, ich wies auf das Kind, doch das ermunterte ihn nur,
seine Anträge, die mich auf einmal seltsam berührten, an den folgenden
Tagen zu wiederholen. Er erzählte mir sein ganzes, leeres, umhergejagtes
Leben, ich fühlte Mitleid mit ihm und habe ihm versprochen, seine Frau
zu werden. Er ist mit einem Wink, einem Blick von mir zufrieden und
liebt mich so, daß ich es jeden Augenblick fühlen muß. Wenn ich ihm
sage: »Artur, es ist unmöglich,« so erbleicht er, und ich muß ein
Unglück erwarten. Er steht unvergleichbar hilflos vor mir in der Welt
da. Ich habe nicht die Kraft, ihn unglücklich zu machen. Außerdem ist er
reich, und ich brauche Geld für mein Volk, er wird es dazu hergeben. Er
tut alles, was ich will. Er erlaubt mir nicht, zu bitten, er bittet
mich, ihm zu gebieten. So steht es mit ihm. Er wird jetzt gleich kommen,
dann werde ich dich ihm vorstellen. Oder willst du gehen? Du machst
Miene dich zu entfernen. Dann geh! Es ist vielleicht besser. Ja, es ist
besser. Er würde mißtrauisch werden. Er ist schrecklich in dieser
Hinsicht. Er ist imstande und schlägt sich den Kopf an der Wand blutig,
wenn er einen jungen Mann bei mir sieht. Außerdem will ich niemanden bei
mir sehen, wenn du da bist. Und wenn andere da sind, sollst du nicht da
sein. Ich will dich allein, ganz allein für mich haben. Ich muß dir noch
vieles sagen, wie alles kam. Die Menschen sagen so viel, aber das
richtige? -- Geh jetzt. Ich weiß, daß du bald wiederkommst. Übrigens
werde ich dir schreiben. Hinterlasse mir deine Adresse. So, leb wohl!«

Auf der Treppe, als er hinunterstieg, begegnete Simon einer dunklen,
fliegenden Gestalt: »Das wird wohl dieser Artur sein,« dachte er und
ging seines Weges weiter. Es war Nacht geworden. Er schlug einen
kleinen, schmalen Feldweg ein und drehte sich, nachdem er ein paar
Schritte gegangen war, zurück, das Fenster war jetzt geschlossen,
dunkelrote Vorhänge hinter demselben waren vorgezogen, die seltsam
düster leuchteten im Lichte einer Lampe, die wohl eben angezündet wurde.
Ein Schatten bewegte sich hinter der Gardine, es war Klaras Schatten.
Simon ging weiter, langsam, in tiefen Gedanken. Er hatte es durchaus
nicht eilig, in die Stadt zu gelangen. Dort wartete niemand auf ihn.
Morgen würde er wieder in der Schreibstube schreiben. Es war höchste
Zeit, nun endlich stramm ins Zeug zu gehen, zu arbeiten, etwas Geld zu
verdienen. Vielleicht bekäme er auch endlich wieder einmal einen Posten.
Er lachte, als er das Wort »Posten« ausdachte. Als er in der Stadt
ankam, war es bereits sehr spät geworden. Er trat in eine noch offene
Singspielhalle ein, um sich zu zerstreuen, bekam aber nicht viel Gutes
zu sehen. Ein Komiker trat auf, den er wünschte, als ganz gewöhnlichen
Menschen unter dem zuschauenden Publikum verschwinden zu sehen, der
eigentlich für das, was er darbot, verdient hätte, geohrfeigt zu werden.
Doch nein! Simon empfand bald das lebhafteste Mitleid mit diesem armen
Schlucker, der die Beine, die Arme, die Nase, den Mund, die Augen und
sogar die armseligen, knochigen Wangen verrenken mußte, um nicht einmal,
nach solchen Qualen, zu erzielen, was sein Ziel war: Komik! Er hätte
»Pfui« ausrufen mögen und doch wieder nur »Ach«! Man sah dem Manne
deutlich an, daß er ein ehrlicher, braver und nicht besonders geriebener
Mann sein mußte: um so abscheulicher wirkte sein Tun auf der Bühne, das
nur für Menschen paßt, die eben so geschmeidig wie liederlich sein
müssen, wenn sie ein abgerundetes, wohltuendes Bild darbieten wollen.
Eine Ahnung sagte Simon, daß dieser Komiker vor kurzem vielleicht noch
einen stillen, festen Beruf ausgeübt hatte, von dem er wohl wegen irgend
eines Versehens oder Vergehens verdrängt worden war. Ihm war der ganze
Mann tief beschämend und widerlich. Dann trat eine kleine, junge
Sängerin auf, in der knappen, anschließenden Tracht eines
Husarenoffiziers. Das war besser; denn es streifte an Kunst, was das
Mädchen darbot. Alsdann zeigte sich ein Jongleur, der aber besser daran
würde getan haben, Korke aus Flaschen zu ziehen, als Flaschen auf seiner
Nasenspitze balancieren zu lassen, was er überaus kindisch und
geschmacklos verrichtete. Er stellte eine brennende Lampe auf seinen
flachen Kopf und stellte an die Zuschauer die Zumutung, das als ein
Kunstwerk aufzufassen. Simon hörte noch einen Knaben ein Lied singen,
das gefiel ihm, und er verließ alsogleich das Lokal mit diesem guten
Eindruck. Er trat wieder auf die Straße.

Es gingen nur noch spärlich Menschen umher. In einer Seitengasse schien
Streit zu sein, und in der Tat, als Simon näher heranging, sah er eine
wüste Szene: zwei Mädchen schlugen, die eine mit der Faust, die andere
mit dem roten Sonnenschirmchen, aufeinander los. Den Kampf beleuchtete
eine einsame, melancholische Laterne, die die Gesichter teilweise
erhellte. Die Kleider und Hüte der Mädchen waren nur noch Fetzen, und
dabei schrieen sie beide, nicht so sehr aus Wut, als aus Schmerz und
zwar auch nicht wegen der Hiebe, sondern aus einem Rest von Schamgefühl
heraus, sich so tierisch elend benehmen zu sehen. Es war ein
schrecklicher aber nur kurzer Kampf, dem ein erscheinender Schutzmann
ein Ende machte. Er führte beide Mädchen ab, sowie einen elegant
gekleideten Herrn ebenfalls, der die Ursache des Streites zu sein
schien. Ein Briefbote hatte den Anzeiger gespielt und bildete sich jetzt
viel darauf ein. Die Mädchen kehrten ihre ganze Wut nun dem Briefträger
zu, der sich infolgedessen aus dem Staube machte.

Simon ging nach Hause. Als er aber in seiner Gasse ankam, bemerkte er
einen Trupp Menschen, die lachten und schrieen, und zwar war es ein
Weib, das die Aufmerksamkeit der nächtlichen Käuze auf sich lenkte. Sie
hieb nämlich mit einer Gerte auf einen betrunkenen Mann los, der wohl
ihr eigener sein mochte und den sie aus irgend einer kleinen Kneipe
herausgeschleppt hatte. Dabei schrie sie in einem fort, und als Simon in
die Nähe kam, klagte sie diesem in lauten, schreienden Worten vor, was
sie für einen Lump von Mann hätte. Mit einem Male schoß aus der Höhe des
Hauses, unter welchem die Gruppe stand, ein Strahl Wasser herunter und
netzte die Köpfe und Kleider der Untenstehenden auf eine boshafte Weise.
Es war Sitte in diesem Viertel der Altstadt, auf Nachtschwärmer, die
Lärm verübten, Wasser hinunterzuleeren. Die Sitte mochte schon ein
ehrwürdiges geheiligtes Alter besitzen, aber es war doch jedesmal für
die Betroffenen eine empörend neue und überraschende Sache. Alles
fluchte gegen die Weibsperson hinauf, die in weißer Nachtjacke oben im
Fensterrahmen stand und wie ein übelwollender, böser Geist
hinunterschaute. Simon vor allen andern schrie hinauf: »Was fällt Ihnen
ein da oben, Sie Weib oder Mann im Fensterrahmen? Wenn Sie zu viel
Wasser haben, so gießen Sie's doch auf Ihren eigenen Kopf, statt auf die
Köpfe anderer. Ihr Kopf dürfte es vielleicht nötiger haben. Was ist das
für eine Manier, in der Nachmitternacht die Straße zu bespritzen und
Leute hinterrücks in ein Bad, samt den Kleidern, zu stürzen. Wären Sie
nicht so hoch oben und ich nicht so tief unten, ich wollte in Ihren
Apfel von Kopf beißen, daß es Ihnen um den Mund herum wässern sollte.
Bei Gott, wenn es eine Gerechtigkeit gäbe, Sie müßten mir für jeden
Tropfen, der meine Schulter bespritzt hat, einen Taler geben, da ich
vermute, daß Ihnen dann der Spaß verleiden müßte. Ziehen Sie sich nur
zurück, Gespenst da oben, oder Sie machen mich noch die Hauswände
hinaufklettern, um zu untersuchen, ob Sie Weibs- oder Mannshaare haben.
Gleich könnte man zum Teufel werden vor Wut über eine solche
Spritzerei.«

Simon berauschte sich selber an seinem schlechten Gerede. Es tat ihm
wohl, schreien und wettern zu können. Einen Augenblick später würde er
doch im Bett liegen und schlafen. Wie langweilig war das, immer dasselbe
zu tun. Von morgen ab müßte er entschieden ein anderer Mensch werden. Am
nächsten Tag, in der Schreibstube, erfüllt und zerstreut von Gedanken an
Klara, machte er viele Flüchtigkeitsfehler, so daß der Sekretär der
Schreibstube, ein ehemaliger Hauptmann des Stabes, sich veranlaßt
fühlte, ihm Vorwürfe zu machen und ihm zu drohen, daß er keine Arbeit
mehr erhalte, wenn er sie nicht gewissenhafter, als nur so, erledigen
wolle.



Achtzehntes Kapitel.


Der Herbst kam. Simon war noch oft durch die nächtliche heiße Gasse
gegangen, und er ging auch jetzt noch, aber die Jahreszeit war rauher
geworden. Man wußte, daß draußen in den Wiesen die Bäume sich
entblättern mußten, wenn man auch nicht selber hinging und zusah, wie
die Blätter fielen. In der Gasse spürte man es auch. An einem sonnigen
Herbsttag war Klaus angekommen, eine wissenschaftliche Arbeit und
Absicht hatte ihn für einen Tag in diese Gegend geführt. Sie waren
zusammen hinaus auf das erhöhte, hügelige Feld gegangen, angelockt von
der schönen Sonne, ziemlich schweigsam und allzu intime Gespräche
vorsichtig vermeidend. Der Weg führte sie durch Wald und wieder über
langgestreckte Wiesen, deren spätes, saftiges Gras Klaus bewunderte,
ebenso die braungefleckten Kühe, die hier weideten. Es war hübsch
gewesen für Simon, ein wenig gedankenvoll, aber doch sehr hübsch, so mit
Klaus ohne viel Gerede und viel Wesens, durch die herbstliche Niederung
zu wandern, die Glocken der Kuhherden läuten zu hören, ein paar Worte zu
sagen, aber doch mehr in die Ferne zu schauen, als zu sprechen. Alsdann
waren sie einen waldigen Hügel emporgegangen, sachte und wohlig; denn
Klaus wollte alles, jeden Zweig und jede Beere, liebevoll betrachtet
wissen, und waren dann zu der Höhe gekommen, an einen schönen Waldrand,
wo eine unsäglich milde und liebkosende abendliche Herbstsonne sie
empfing, und wo ihnen die Freiheit des Blickes wiedergegeben war, eine
Aussicht in ein Tal hinunter, in welchem ein weißlich schimmernder Fluß
sich dahinschlängelte, zwischen gelben Baumkronen und vorspringenden
Waldungen hindurch, wo ein anmutiges, rotdächiges Dorf inmitten der
braunen Rebhügel lag, das anzuschauen eine Herzenslust sein mußte. Hier
hatten sie sich auf die Matte geworfen, waren lange still, ohne ein Wort
zu sprechen, geblieben, hatten mit den Augen an der weit sich
ausbreitenden Gegend und mit den Ohren an den Tönen der Glocken gehangen
und hatten beide gefunden, daß immer irgendwie und wo Töne in allen
Landschaften zu vernehmen seien, ohne gerade Glocken zu hören, und
hatten dann eines jener stillen, mehr empfundenen als geradezu
gesprochenen Gespräche miteinander geführt, die nicht aufgeschrieben
werden können, die keinen weiteren Zweck als das Wohlwollen haben, die
nichts sagen wollen, deren Duft nur und Ton und Absicht unvergeßlich
bleiben. Klaus hatte gesagt: »Gewiß, wenn ich mir denken darf, daß noch
alles mit dir gut kommen kann, so darf ich auch wieder mehr frohen Mut
haben. Zu denken, daß du ein nützlicher, zweckerfüllter Mensch würdest,
das hat immer in meinem Herzen ein besonders schönes Getön verursacht.
Du bist so sehr darauf angelegt, die Achtung der Menschen zu genießen,
wie nur irgend einer, und mehr noch, da du Eigenschaften hast, nur
eigentlich zu viel wollende und zu flammende, die andere nicht besitzen.
Du mußt nur nicht zu vieles wollen und mußt nicht allzu reizbar sein im
Forderungen an dich stellen. Das schadet und reibt ab und macht
schließlich kalt, glaube es mir nur. Weil du nicht alles, jede kleine
Sache in der Welt, so vorfindest, wie du es wünschest, so darfst du
deswegen noch lange nicht grollen. Anderer Meinungen und Neigungen
herrschen eben auch, und zu gute Vorsätze vergiften viel eher das Herz
eines Mannes als das Gegenteil, was freilich ein Übel ist. Du hast, wie
mir scheint, zu sehr Springlust. Dich nach einem Ziele außer Atem zu
laufen, macht dir Vergnügen. Das taugt nicht. Laß doch jeden Tag in
seiner ruhigen, natürlichen Abrundung nur bestehen und sei ein bißchen
mehr stolz darauf, es dir bequem, wie schließlich einem Menschen auch
ziemt, gemacht zu haben. Wir haben die Pflicht, uns vor den Mitmenschen
das Leben mit Anstand und einiger Würde leicht zu machen; denn wir leben
in einer Fülle von stillen, gedankenvollen Kultursorgen, die mit dem
grollenden, heißen Atem der Raufer nichts zu tun haben. Du hast, ich muß
es dir sagen, etwas zu Wildes an dir, und dann, im Handumkehren,
springst du in eine Zartheit über, die wieder viel zu viel Zartheit von
den Menschen fordert, um bestehen zu können. Vieles, das dich verletzen
sollte, kränkt dich in keiner Weise, und verletzen läßt du dich von ganz
selbstverständlichen, aus Welt und Leben herausgewachsenen Dingen. Du
mußt versuchen, Mensch unter Menschen zu werden, dann wird es dir sicher
gut gehen; denn im Erfüllen von allerhand Anforderungen kennst du keine
Ermattung, und einmal die Liebe der Menschen gewonnen, wird es dich dann
reizen, ihnen zu zeigen, daß du sie verdient hast. So, wie du jetzt
bist, drückst du dich um die Ecken herum und gehst in Sehnsuchten unter,
die eines Bürgers, Menschen und vor allem eines Mannes nicht recht
würdig sind. Wie viel habe ich schon gedacht, das du tun und unternehmen
könntest, um dich zu befestigen, aber ich muß dir doch am Ende die
Arbeit an dem Herausformen deines Lebens selbst überlassen; denn
Ratschläge taugen selten etwas.« -- Simon sagte dann: »Warum bist du
sorgenvoll an einem so schönen Tage, wo das Hinschauen in die Ferne
einen in Glück zerfließen macht?« --

Dann hatten sie über die Natur geplaudert und das Schwere vergessen.

Am andern Tag war Klaus wieder abgereist.

                   *       *       *       *       *

Es wurde Winter. Merkwürdig: die Zeit ging über alle guten Vorsätze
ebenso sicher hinweg wie über die schlechten Eigenschaften, deren man
nicht Herr werden konnte. Es lag etwas Schönes, Hinwegnehmendes und
Verzeihendes in diesem Gehen der Zeit. Sie ging über den Bettler wie
über den Präsidenten der Republik hinweg, über die Sünderin und über die
Anstandsdame. Sie ließ vieles als klein und unbedeutend empfinden; denn
sie allein stellte das Erhabene und Große dar. Was war denn das ganze
Treiben und Leben, was all das Sich-Rühren, was das Vorwärtsstreben
gegen die Höhe, die sich keineswegs darum bekümmerte, ob einer ein Mann
wurde oder ein Simpel, der es gleichgültig war, ob man das Rechte und
Gute wünschte oder nicht? Simon liebte dieses Rauschen der Jahreszeiten
über seinem Kopf, und als eines Tages Schnee in die dunkle, schwärzliche
Gasse hinabflog, freute er sich des Fortschrittes der ewigen,
erwärmenden Natur. »Sie schneit, das ist der Winter, und ich Törichter
habe geglaubt, den Winter nicht mehr erleben zu sollen,« dachte er. Es
kam ihm wie ein Märchen vor: »Es waren einmal Schneeflocken, die flogen,
weil sie nichts Besseres zu tun wußten, auf die Erde nieder. Viele
flogen aufs Feld und blieben dort liegen, andere fielen auf die Dächer
und blieben dort liegen, wieder etliche und andere fielen auf Hüte und
Kapuzen von schnell vorwärtseilenden Menschen und blieben dort liegen,
bis sie abgeschüttelt wurden, einige und wenige flogen einem Pferd, das
vor einem Karren angebunden stand, ins treue, liebe Antlitz und blieben
auf den langen Wimpern der Pferdsaugen liegen, ein Schneeflocken flog in
ein Fenster hinein, aber was er dort machte, ist nicht erzählt worden,
jedenfalls blieb er dort liegen. In der Gasse schneit's, im Wald oben,
o, wie schön muß es jetzt im Wald sein. Da könnte man hingehen.
Hoffentlich schneit es noch bis in den Abend, wenn die Laternen
angezündet werden. Es war einmal ein Mann, der war ganz schwarz, da
wollte er sich waschen, aber er hatte kein Seifenwasser. Als er nun sah,
daß es schneite, ging er auf die Straße und wusch sich mit Schneewasser
und davon wurde sein Gesicht weiß wie Schnee. Da konnte er prahlen
damit, und das tat er. Aber er bekam den Husten, und nun hustete er
immer, ein ganzes Jahr lang mußte der arme Mann husten, bis zum nächsten
Winter. Da lief er den Berg hinauf, bis er schwitzte, und noch immer
hustete er. Das Husten wollte gar nicht mehr aufhören. Da kam ein
kleines Kind zu ihm, es war ein Bettelkind, das hatte einen
Schneeflocken in der Hand, der Flocken sah aus wie eine kleine zarte
Blume. »Iß den Schneeflocken,« sprach das Kind. Und nun aß der große
Mann den Schneeflocken, und weg war der Husten. Da ging die Sonne unter,
und alles war dunkel. Das Bettelkind saß im Schnee und fror doch nicht.
Es hatte zu Hause Schläge bekommen, warum, das wußte es selber nicht. Es
war eben ein klein Kind und wußte noch nichts. Seine Füßchen froren ihm
auch nicht, und doch waren sie nackt. In des Kindes Auge glänzte eine
Träne, aber es war noch nicht gescheit genug, um zu wissen, daß es
weinte. Vielleicht erfror das Kind in der Nacht, aber es spürte nichts,
spürte gar nichts, es war zu klein, um etwas zu spüren. Gott sah das
Kind, aber es rührte ihn nicht, er war zu groß, um etwas zu spüren.« --

Simon spornte sich in dieser Zeit an, trotz der Winterkälte, die in
seinem Zimmer herrschte, früh aus dem Bett zu springen, wenn er auch
weiter nichts zu tun hatte. Er würde dann einfach dastehen, sich auf die
Zähne beißen, und das Anspannende würde schon kommen müssen. Irgend
etwas gäbe es immer zu tun. Er könnte sich ja zum Zeitvertreib die Hände
oder den Rücken reiben, oder versuchen, auf den Händen am Boden zu
gehen. Irgend eine Willensübung, sei es auch die allerlächerlichste,
müßte er stets treiben, das vertriebe die Gedanken und stählte und
ermunterte den Körper. Er wusch sich alle Morgen mit kaltem Wasser ab,
von oben bis unten, bis ihm heiß wurde, und verschmähte es, den Mantel
anzuziehen, wenn er ausging. Er wollte sich jetzt lehren, zu parieren in
dieser Jahreszeit! Den Mantel benutzte er als Fußumhüllung, wenn er am
Tische saß und las. Ein Paar breite, grobe Schuhe, wie sie die Rekruten
beim Militär tragen, schaffte er sich an, um zu jeder Zeit über den Berg
im tiefen Schnee zu waten. Das sollte ihn lehren, jetzt noch auf
elegante Schuhe zu sehen. Mit so einem derben Schuhpaar mochte man um
eins noch so fest in der Welt dastehen. Es kam jetzt darauf an, oberhalb
zu bleiben und festen Fuß zu fassen. Wenn er nur den Nacken nicht
beugte, mußte sich sicher, ja, von selbst, etwas für ihn zeigen, das er
ergreifen konnte. Wieder anfangen, von vorne, seinetwegen fünfzig Mal,
was schadete das jetzt. Er mußte nur gespannten Blicks und gespannten
Sinnes bleiben, dann würde es schon kommen, was er haben mußte.

Er glich in dieser Zeit einem Menschen, der Geld verloren hat und der
seinen ganzen Willen einsetzt, es wieder zu gewinnen, der aber zur
Wiedergewinnung weiter nichts tut, als nur eben den Willen einsetzen,
und sonst nichts macht.

Um die Weihnachtszeit herum ging er den breiten Berg hinauf. Es war
gegen Abend und furchtbar kalt. Ein beißender Wind pfiff den Menschen um
die Nasen und Ohren, die gerötet und von der Kälte entzündet wurden.
Simon schlug unwillkürlich den Weg ein, der einstmals zu Klaras Waldhaus
hinaufführte und der jetzt gangbarer gemacht worden war. Überall zeigte
sich eine Spur von umwandelnden Menschenhänden. Er sah ein großes, doch
nicht unzierliches Haus vor sich stehen, an der Stelle, an der früher
das Chalet aus Holz stand, in das er so oft hineingegangen war, als noch
Kaspar hier malte, zu der lieben merkwürdigen Frau, die es bewohnte.
Jetzt war hier ein Kurhaus für das Volk errichtet worden, und es wurde,
wie es den Anschein hatte, fleißig besucht; denn etliche wohlgekleidete
Menschen gingen aus und ein. Simon besann sich eine Weile, ob er
ebenfalls hineingehen sollte, aber schon die grimmige Kälte machte ihm
den Gedanken an einen erwärmten, menschenerfüllten Saal angenehm. So
trat er hinein. Ein warmer, scharfer Duft von Tannenzweigen schlug ihm
entgegen, das ganze große, helle Zimmer, eigentlich ein Saal, war mit
Tannengrün geziert und ausgefüttert, gleichsam tapeziert. Nur die
Sprüche, die an die weißen Wände gemalt waren, befanden sich frei, und
man konnte sie lesen. An allen Tischen saßen heitere und ernste
Menschen, viele Frauen, aber auch Männer und Kinder, einzeln an einem
runden Tischchen sitzend oder zu Gesellschaften um einen länglichen
Tisch herum vereinigt. Der Duft von Getränken und Speisen vermischte
sich mit dem weihnachtlichen Tannenduft. Hübsch gekleidete Mädchen
gingen umher, und bedienten die Gäste auf eine freundliche und zugleich
überaus gelassene Weise, die nichts Kellnerinnenhaftes an sich hatte. Es
sah aus, als ob diese zierlichen Mädchen nur, um ein lächelndes Spiel
aufzuführen, hier bedienten, oder so, als ob sie nur ihren Eltern,
Verwandten, Brüdern, Schwestern oder ihren Kindern diesen Dienst
erwiesen: so elterlich und kindlich zugleich sah es aus. Eine kleine,
ebenfalls dicht mit Tannenzweigen umrahmte Bühne befand sich an einem
anderen Ende des Saales, vielleicht zur Aufführung irgend eines
Weihnachtsstückes oder eines Stückes mit sonst irgend einem lieblichen
Inhalt. Auf jeden Fall war es ein warmer, freundlicher, gastlich
aussehender Raum, und Simon setzte sich, als einzelner, an ein rundes
Tischchen nieder, wartend, ob eines der Mädchen zu ihm herankäme, um zu
fragen, was er wünsche. Aber es kam vorläufig keines. So blieb er denn
eine geraume Zeit still, das Kinn in die Hand gestützt, wie es junge
Männer zu machen pflegen, an dem Tischchen sitzen, als mit einem Mal
eine schlankgewachsene Dame auf ihn zukam, ihm freundlich entgegennickte
und dann, zu einem der Mädchen gewendet, ausrief und frug, wie man nur
den jungen Herrn so lange ohne Bedienung lassen könne. Dieser Vorwurf
war eher lachend und liebenswürdig geschehen, als ernsthaft, aber
jedenfalls war diese Dame hier im Hause eine Art Direktorin oder
Leiterin oder wie man das nennen konnte.

»Entschuldigen Sie, daß man Sie sitzen läßt,« wandte sie sich wieder zu
Simon.

»O, ich wüßte nicht, was da zu entschuldigen wäre. Vielmehr ich habe
mich zu entschuldigen, daß ich der Anlaß bin, daß Sie einem von Ihren
Mädchen einen Vorwurf machen müssen. Ich sitze hier übrigens ganz gern,
ohne daß man sich um mich bekümmert; denn offen gestanden: was ich an
Bestellungen für das bedienende Mädchen aufzuwenden habe, ist
blutwenig.« --

»Essen und trinken Sie nur so viel, als Sie wollen. Sie brauchen nichts
zu bezahlen,« sagte die Dame.

»Gilt das für mich allein oder gilt das hier für alle?«

»Natürlich nur für Sie allein, und nur deshalb, weil ich die bezügliche
Ordre erteilen werde, daß man Ihnen nichts abfordern soll.«

Sie setzte sich zu ihm an den kleinen, braunen Tisch:

»Ich habe einen Augenblick Zeit, mit Ihnen zu plaudern, und sehe nicht
ein, warum ich es nicht tun sollte. Sie scheinen ein vereinsamter junger
Mann zu sein, das sagen mir Ihre Augen, und sie sagen mir auch, und das
deutlich genug, daß der, dem sie gehören, den Wunsch fühlt, mit Menschen
in Berührung zu kommen. Ich weiß nicht, wie es kommt, daß ich Sie für
einen wohlgebildeten Menschen halten muß. Als ich Sie sah, reizte es
mich schon, mit Ihnen zu sprechen. Wenn ich Sie mit der scharfen
Lorgnette hätte betrachten wollen, würde ich vielleicht entdeckt haben,
daß Sie ziemlich verwahrlost aussehen, aber wer wollte Menschen erkennen
lernen und sich dazu des Augenglases bedienen? Als Vorsteherin dieses
Hauses habe ich ein Interesse daran, möglichst genau zu erfahren, wer
alles meine Gäste sind. Ich habe mich daran gewöhnt, die Menschen nicht
nach einem schäbigen Filzhut, sondern nach ihren Bewegungen, die ihr
Wesen besser erklären, als gute oder schlechte Kleidungsstücke, zu
beurteilen, und habe im Laufe der Zeit gefunden, daß ich den richtigen
Weg nehme. Gott soll mich doch, wenn er es je gut mit mir meint, daran
verhindern, hochnäsig und hochmütig zu werden. Eine Geschäftsfrau, die
nicht Menschenkennerin ist, macht mit der Zeit schlechte Geschäfte, und
was lehrt denn die zunehmende Menschenkenntnis? Das Einfachste von der
Welt: Alle mit Freundlichkeit zu behandeln! Sind wir nicht alle
zusammen, wir Menschen auf diesem einsamen, verlorenen Planeten,
Geschwister? Brüder und Schwestern? Brüder zu Schwestern, Schwestern zu
Schwestern und wieder Schwestern zu Brüdern? Ganz zart kann ja das sein
und muß es wohl auch immer sein: in Gedanken vor allem! Aber dann muß es
auch anschwellen und getan werden. Kommt mir ein roher Mann vor oder ein
einfältiges Weib, was kann ich da tun? Muß ich mich sogleich
abgeschreckt und unsympathisch berührt fühlen? O, noch lange nicht. Ich
denke dann: nein, ganz angenehm ist mir dieser Mensch nicht, er stößt
mich ab, er ist ungebildet und anmaßend, aber ich muß ihn und mich das
nicht in so allzudeutlicher Weise merken lassen. Ich muß mich ein wenig
verstellen, er verstellt sich dann vielleicht auch ein wenig, wenn auch
nur aus Trägheit oder Dummheit. Wie lieb ist es, Rücksichten zu nehmen.
Ich bin innerlich heilig und mit Flammen davon überzeugt, daß es lieb
ist, weiter weiß ich über diesen Punkt nichts zu sagen. Oder dieses
noch: ein Bruder muß ja nicht gerade zu den feinsten und erlesensten
Menschen gehören und kann doch, vielleicht aus, sagen wir, etwas
abgemessener Entfernung, Bruder sein. So mache ich es mir zum Gesetz,
und ich stehe ordentlich gut dabei. Viele Menschen gewinnen mich lieb,
die vordem die Schultern gezuckt und mir ihr Gesicht verzogen haben.
Warum sollte ich nicht, was eine so reizende Lehre, wie das Üben der
liebenden und beobachtenden Geduld ist, betrifft, ein klein wenig
Christin sein? Wir alle haben das Christentum jetzt vielleicht wieder
nötiger als je zuvor; aber das ist dumm gesprochen. Sie lächelten, und
ich weiß ganz gut, warum Sie lächeln. Sie haben recht, weshalb habe ich
mit Christentum zu kommen, wo nur einfache, kluge Freundlichkeit in
Frage kommt. Wissen Sie was? Ich denke mir so manchmal: Christenpflicht,
das geht jetzt in unseren Tagen leise und kaum spürbar in
Menschenpflicht über, und das ist viel einfacher und ist besser
auszuführen. Doch ich muß gehen. Man ruft mich. Bleiben Sie sitzen, ich
komme wieder.« --

Damit ging sie fort.

Nach einigen Minuten kam sie wieder und fing schon aus der Entfernung
von ein paar Schritten das Gespräch von neuem an, indem sie ausrief:
»Wie doch hier alles von Neuheit umspannt ist. Sehen Sie sich doch um:
alles ist neu, frisch und erst eben geboren. Keine einzige Erinnerung an
Altes! Sonst befindet sich in jedem Hause und in jeder Familie wohl
irgend ein altes Möbel, ein Hauch und Stück aus alten Zeiten, das man
noch immer liebt und ehrt, weil man es schön findet, wie man eine
Abschiedsszene oder einen wehmutvollen Sonnenuntergang schön findet.
Erblicken Sie hier etwas Ähnliches, auch nur eine Andeutung davon? Es
kommt mir wie eine schwindelnde, gebogene, leichte Brücke in die noch
unerklärliche Zukunft vor. O, in die Zukunft zu blicken, ist schöner,
als der Vergangenheit nachzuträumen. Man träumt auch, wenn man in eine
Zukunft hineindenkt. Hat das nicht etwas Wunderbares? Sollte es nicht
klüger von den feindenkenden Menschen sein, ihre Wärme und ihre Ahnungen
den noch kommenden, als den vergangenen Tagen zu schenken? Kommende
Zeiten sind uns wie Kinder, die eher der Aufmerksamkeit bedürfen als die
Gräber der Gestorbenen, die wir vielleicht nur mit etwas zu
übertriebener Liebe schmücken: die vergangenen Zeiten! Der Maler wird
jetzt gut daran tun, Kostüme für ferne Menschen zu entwerfen, die die
Grazie besitzen werden, sie mit Anstand und Freiheit zu tragen, der
Dichter träumt Tugenden aus für starke, von keiner Sehnsucht
angefressene Menschen, der Baumeister erfindet, so gut es geht, Formen,
die dem Stein und dem Bauen einen entzückenderen Schwung verleihen, er
geht in den Wald und merkt sich da, wie hoch und edel die Tannen aus dem
Boden herauswachsen, um sie als Muster für künftige Bauten zu nehmen,
und der Mann im allgemeinen wirft, in der Vorausahnung des Kommenden,
viel Gemeines, Unedles und Undienliches ab und flüstert seiner Gattin,
wenn sie ihm den Mund zum Kuß darreicht, seine Gedanken ins Ohr, so gut
er es versteht, und die Frau lächelt. Wir verstehen es, euch Männer mit
einem Lächeln zu Taten anzuspornen, und wir bilden uns ein, unsere
Aufgabe getan zu haben, wenn wir es dahin gebracht haben, euch die
eurige ganz lebhaft und reizvoll vor die Sinne zu lächeln. Wir sind
froher über das, was ihr gemacht habt, als über Selbst-Vollbrachtes. Wir
lesen die Bücher, die ihr schreibt, und denken: wenn sie doch nur etwas
mehr tun und etwas weniger schreiben wollten. Im allgemeinen wissen wir
nicht viel Ersprießlicheres, als uns euch zu unterwerfen. Was können wir
anderes! Und wie gern tun wir es. Aber von der Zukunft zu reden, habe
ich natürlich vergessen, von diesem kühnen Bogen über einem dunklen
Gewässer, von diesem Wald voller Bäume, von diesem Kind mit den
strahlenden Augen, von diesem Unsagbaren, das einen immer reizt, es in
Worte wie in ein Netz zu fangen. Nein ich glaube, die Gegenwart ist die
Zukunft. Finden Sie nicht, daß hier herum alles nur Gegenwart atmet?«

»Ja,« sagte Simon.

»Und draußen ist jetzt furchtbar strenger Winter, und hier drinnen ist
es so warm, so eben recht, daß man Gespräche führen kann, und ich sitze
hier bei Ihnen, einem ganz jungen, scheinbar etwas verkommenen Menschen,
und versäume am Ende noch meine Pflichten. Ihr Benehmen hat etwas
Fesselndes, wissen Sie das? Man möchte Ihnen gleich eine Ohrfeige geben,
aus heimlicher Wut darüber, daß sie so dumm dasitzen, und einen in so
sonderbarer Weise verführen können, die kostbare Zeit mit Ihnen
Hereingeschneitem zu verlieren. Wissen Sie was: Sie könnten trotzdem
noch eine Weile dasitzen. Es kommt Ihnen gewiß nicht drauf an. Ich werde
dann noch einmal einen Anlauf nehmen auf Ihre Ohren. Jetzt hab' ich
Pflichten.« --

Und fort war sie.

Simon betrachtete seine Umgebung, während die Dame fortblieb. Die Lampen
gaben ein helles und warmes Licht. Die Menschen plauderten unbefangen
miteinander. Einzelne, da es schon Nacht war, gingen jetzt fort, weil
sie noch den Berg hinuntergehen mußten, um in die Stadt zu kommen. Zwei
alte Männer, die gemütlich an einem Tische saßen, fielen ihm durch ihre
Ruhe auf. Sie hatten beide weiße Bärte und ziemlich frische Gesichter
und rauchten aus ihren Pfeifen, was ihnen etwas Altväterisches verlieh.
Sie sprachen nicht miteinander, sie schienen das für überflüssig zu
halten. Ab und zu trafen sich ihre gegenseitigen Augenpaare und dann
zuckten sie so mit ihren Pfeifen und Mundwinkeln, aber ganz ruhig und
wahrscheinlich ganz gewohnheitsmäßig. Es schienen Müßiggänger zu sein,
aber berechnende, ausgedachte und überlegene Müßiggänger, aus dem
Wohlstand heraus müßig. Gewiß hatten sie sich beide angeschlossen, nur
deshalb, weil sie dieselben Gewohnheiten betrieben: Pfeife rauchen,
Spaziergängchen machen, Vorliebe für Wind, Wetter und Natur, das
Gesundsein, das gerne lieber Schweigen als Plaudern und endlich das
Alter und die mit demselben verbundenen Spezialsächelchen. Simon
erschienen die beiden nicht ohne Würde. Man mußte ein wenig lächeln bei
ihrem abgezirkelten, hübschen Anblick, aber dieser Anblick schloß die
Ehrfurcht nicht aus, die schon das Alter allein für sich herausfordert.
Etwas Zielbewußtes sprach aus ihren ruhigen Mienen, etwas Fertiges und
in keiner Weise mehr Anzufechtendes. Beirren ließen sich diese Alten
gewiß nicht mehr in ihrer Sache, die vielleicht ein Irrtum war. Aber was
war denn eigentlich Irrtum? Wenn man sich mit sechzig und siebzig Jahren
noch einen Irrtum als Leitstern anschaffte, so war das eine unantastbare
Sache, die dem Jüngling Achtung abringen mußte. Diese beiden Käuze, denn
etwas Kauzartiges hatten sie immerhin an sich, mußten irgend ein
Verfahren, ein System haben, nach welchem sie sich schworen zu leben bis
ans Lebensende; so sahen sie aus, so wie zwei, die für sich etwas
gefunden hatten, das ihnen diente und das sie veranlaßte, ruhig ihrem
Ende entgegenzusehen. »Wir zwei haben's herausgefunden, euer Geheimnis,«
so drückten sich ihre Mienen und Haltungen aus. Es war lustig und
rührend und des Nachdenkens wohl wert, ihnen zuzuschauen und sich zu
bestreben, ihre Gedanken zu erraten. So erriet man unter anderem
sogleich, so wie man sie eine Weile betrachtet hatte, daß diese zwei
immer würden zusammen gesehen werden können, nie anders, nie einzeln,
sondern zu zweien! Immer! Das war der Hauptgedanke, den man ihnen aus
ihren weißen Köpfen ablauschte. Zu zweien durchs Leben, womöglich zu
zweien hinunter in den Abgrund des Todes: das schien ihr Prinzip zu
sein. In der Tat, sie sahen auch aus wie zwei lebendige, alt gewordene,
aber immer noch lustige und muntere Prinzipien. Wenn es wieder Sommer
würde, so würde man sie draußen auf der schattigen Terrasse sitzen
sehen, aber eben so geheimnisvoll Pfeifen stopfend und das Schweigen dem
Reden bevorzugend. Wenn sie fortgingen, gingen immer zweie fort, nicht
erst einer und dann der andere: das schien undenkbar. Ja, gemütlich
sahen sie aus, das mußte Simon ihnen lassen: gemütlich und eigensinnig,
dachte er, indem er von ihnen weg, wo andershin, blickte.

Er ließ über verschiedene Menschen seine Blicke streifen, entdeckte eine
englische Familie mit sonderbaren Gesichtern, Männer, die Gelehrte zu
sein schienen und andere, denen man nur schwer ein Amt oder eine
Berufsart zudichten konnte, sah Frauen mit weißen Haaren und Mädchen mit
ihrem Bräutigam, bemerkte Leute, denen man ansah, daß sie sich hier
nicht recht wohlfühlten, und wieder andere, die wie zu Hause im
Familienkreis hier saßen. Aber der Saal leerte sich zusehends. Draußen
pfiff der Winter, und man konnte die Tannen aneinanderächzen hören. Der
Wald lag nur zehn Schritte weg vom Hause entfernt, das wußte Simon aus
alten Tagen genau.

Indem er sich so seinen Gedanken überließ, erschien die Vorsteherin
wieder.

Sie setzte sich zu ihm.

Es schien eine stille Veränderung mit ihr vorgegangen zu sein. Sie
erfaßte Simons Hand: das war etwas Unerwartetes. -- Darauf sprach sie
leise, von niemandem gehört und von niemandem beobachtet:

»Jetzt wird man mich wohl kaum noch stören, bei Ihnen zu sitzen, die
Leute entfernen sich allmählich. Sagen Sie mir, wer sind Sie, wie heißen
Sie, woher kommen Sie? Sie sehen so aus, als ob man das fragen müßte.
Ein Fragen und ein Verwundern geht von Ihnen aus, nicht ein Verwundern,
das Sie selbst haben, sondern der, der Ihnen gegenübersitzt, und über
Sie. Man fragt sich und verwundert sich über Sie, und dann bekommt man
eine Sehnsucht darnach, Sie reden zu hören, und stellt sich vor, daß es
etwas sein müßte, was da aus Ihnen herausspräche. Man macht sich
unwillkürlich Kummer wegen Ihnen. Man geht von Ihnen fort, macht seine
Arbeit, und plötzlich erbarmt man sich Ihrer, indem man an Sie denkt.
Mitleid ist es nicht, denn das fordern Sie absolut nicht heraus, und
Erbarmen schlechtweg ebenfalls nicht. Ich weiß nicht, was es sein kann:
Neugierde vielleicht? Lassen Sie mich einen Moment nachdenken.
Neugierde? Ein Begehren, etwas über Sie zu wissen, nur etwas, nur einen
Ton oder einen Laut. Man glaubt Sie bereits zu kennen, findet Sie nicht
sehr interessant und lauscht und lauscht doch, ob Sie da etwas gesagt
haben, was vielleicht wert gewesen wäre, noch einmal zu Ihrem Mund
heraus vernommen zu werden. Wenn man Sie anblickt, bedauert man Sie
unwillkürlich leichthin, obenhin, von oben herab. Sie müssen etwas
Tiefes an sich haben, und das scheint niemand zu bemerken, weil Sie sich
keinerlei Mühe geben, es hervortreten und leuchten zu lassen. Ich möchte
Sie erzählen hören. Haben Sie noch Eltern, und haben Sie Geschwister?
Von Ihnen vermutet man, wenn man Sie bloß erblickt, daß Sie bedeutende
Menschen zu Geschwistern haben müssen. Sie selbst aber hält man und muß
man für unbedeutend halten. Wie kommt das? Man fühlt sich Ihnen
gegenüber leicht als Überlegener. Und doch, wenn man sich mit Ihnen
eingelassen hat, sieht man, daß man einen jener Fehler begangen hat, der
deshalb vorkam, weil man es mit einem durchaus gelassenen Menschen zu
tun gehabt hat, der es nur verschmähte, sich in Position zu werfen, und
nicht wollte besser und gefährlicher aussehen, als er ist. Sie sehen
wenig interessant und noch weniger gefährlich aus, und die Frauen, das
ist so ein Gemengsel von Zartheitsbedürfnis und Lust an der rohen
Gefahr, die sie beständig bedrohen soll. Sie nehmen natürlich nicht
übel, was ich Ihnen soeben gesagt habe, denn Sie nehmen nichts übel. Man
weiß nicht, wie man mit Ihnen dran ist. Möchten Sie mir erzählen, ich
bin so gespannt darauf! Wissen Sie, ich möchte gerne Ihre Vertraute
sein, wenn auch nur für eine Stunde, meinetwegen in der Einbildung bloß.
Als ich oben war, eben vorhin, hatte ich einen solchen Drang darnach, zu
Ihnen hinunterzueilen, als wären Sie gar eine Persönlichkeit von Belang,
die man unter keinen Umständen warten lassen darf, vor der man froh sein
muß, in Gnade und in einiger herablassender Achtung zu stehen. Und sitzt
da einer, dessen Wangen höher glühen, wenn ich daher zu springen komme!
Welch eine Verwechslung, aber ist es nicht seltsam? So, jetzt will ich
still sitzen und Ihnen zuhören.« --

Simon erzählte:

»Ich heiße Tanner, Simon Tanner, und habe vier Geschwister, von denen
ich der Jüngste bin und derjenige, der zu den wenigsten Hoffnungen
berechtigt. Ein Bruder ist Maler, der lebt in Paris, und er lebt dort
stiller und zurückgezogener als in einem Dorf; denn er malt. Jetzt muß
er sich schon ein wenig verändert haben, es ist über ein Jahr her, daß
ich ihn zuletzt gesehen habe, aber ich denke, wenn Sie ihm begegnen
würden, bekämen Sie den Eindruck von einem bedeutenden und in sich
abgeschlossenen Menschen. Es ist nicht ohne Gefahr, mit ihm zu tun zu
haben, er bestrickt, und das in einer Weise, daß man um seinetwillen
Torheiten begehen kann. Er ist ganz und gar Künstler, und wenn ich, sein
Bruder, etwas von der Kunst verstehe, so ist er daran schuld, nicht mein
Verständnis, das sich nur, angezogen von ihm, einigermaßen entfalten
konnte. Ich glaube, er trägt jetzt lange Locken, aber die Locken stehen
ihm so natürlich, wie einem Offizier der kurzgeschorene Kopf, man findet
es nicht auffällig. Unter den Menschen verschwindet er, und er begehrt
auch, unter ihnen zu verschwinden, um ruhig arbeiten zu können. Früher
einmal hat er mir in einem Briefe etwas von einem Adler geschrieben, der
seine Schwingen breite über Felsenkanten und der sich über Abgründen am
wohlsten fühle, und ein anderes Mal schrieb er mir, der Mensch und
Künstler müsse arbeiten, wie ein Pferd, umsinken sei noch gar nichts,
umsinken müsse er und sogleich wieder aufstehen und frisch ans Werk
gehen. Er war damals noch ein Knabe, und jetzt malt er Bilder. Wenn er
nicht mehr wird malen können, wird er auch kaum noch leben. Er heißt
Kaspar und ist als Schulknabe in der Schule und im elterlichen Hause
fortwährend für einen faulen Bengel angesehen worden, glauben Sie das
nur, und nur deshalb, weil sein ganzes Wesen ein gelassenes und mildes
war. Er wurde früh aus der Schule genommen, weil er darin nicht
reüssierte, und mußte Schachteln und Kisten herumschleppen, und dann kam
er aus der Heimat fort und lernte dort draußen, den Menschen die
Achtung, die er verdiente, abzunötigen. Das ist einer meiner Brüder, ein
anderer heißt Klaus. Dieser ist der Älteste, und ich halte ihn für den
besten und bedachtsamsten Menschen auf der Welt. Die Nachsicht, das
Bedenkentragen und das Nachdenken schauen ihm zu den Augen heraus. Er
ist ein tüchtiger Mensch, so tüchtig, daß niemand jemals hinter seine
bescheidene, verborgene Tüchtigkeit kommen wird. Er hat uns Jüngere
aufwachsen und uns unsern Begierden und Leidenschaften nachhängen sehen,
er hat geschwiegen dazu und gewartet, bisweilen ein Wort der Sorge und
des Rates gesprochen, aber er hat immerfort eingesehen, daß jeder seinen
eigenen Weg gehen muß, er hat nur Schlimmes zu verhüten gesucht, und das
Gute an einem hat er stets mit sonderbarem Scharfblick herausgefunden.
Dieser Bruder macht sich wegen mir stille Sorgen, ich weiß das ganz
genau; denn er liebt mich, er liebt überhaupt die Menschen und hat eine
sonderbar schüchterne Achtung vor ihnen, die wir Jüngere nicht besitzen.
Obschon er eine bedeutende Stellung in der Gelehrtenwelt einnimmt,
bin ich doch überzeugt, daß nur seine Gewissenhaftigkeit, die immer
mit Schüchternheit verbunden ist, daran schuld ist, daß er eine
nicht noch höhere bekleidet; denn er verdiente die höchste und
verantwortungsreichste. Nun habe ich noch einen dritten Bruder, der nur
unglücklich ist, weiter nichts, und der nur noch das ist, was die
Erinnerung von ihm an seine früheren Tage einem erzählen kann. Er ist
im Irrenhaus. -- Sollte ich das vielleicht vor Ihnen nicht offen haben
heraussagen dürfen? Sie haben sicher ein Interesse daran, wenn Sie nun
schon dasitzen und mir mit so aufmerksam lauschendem Ohr zuhören, alles
der Wahrheit gemäß zu erfahren, sonst lieber gar nichts, nicht wahr! Sie
nicken und sagen mir damit, daß ich Sie schon ziemlich kenne, wenn ich
den Mut habe, von Ihnen anzunehmen, daß Sie eine tapfere und zugleich
herzensgütige Frau sind. Hören Sie weiter. Dieser unglückliche Bruder
war wohl, ich darf es ruhig sagen, das Ideal eines jungen schönen
Mannes, und Talente besaß er, die eher in das galante, zierliche
achtzehnte Jahrhundert hineingepaßt haben würden, als in unsere Zeit mit
den viel härteren und trockneren Anforderungen. Lassen Sie mich über
sein Unglück schweigen; denn erstens würde ich Sie damit verstimmen, und
zweitens und drittens und meinetwegen auch sechstens schickt es sich
nicht, die Falten des Unglücks auseinander zu ziehen, alle Feierlichkeit
wegzunehmen, alle schöne, verschleierte Trauer, die nur dann ist, wenn
man schweigt über solches. Ich habe Ihnen nun leise und skizzenhaft
meine Brüder gezeigt, es tritt jetzt ein Mädchen auf, eine einsame, in
einem Dörfchen mit Strohdächern vergrabene Schullehrerin, meine
Schwester Hedwig. Möchten Sie sie kennen lernen? Sie würden mit Ihrer
ganzen Empfindung Freude an dem Mädchen haben. Es gibt kein stolzeres
Geschöpf als sie auf der Erde. Ich lebte drei volle Monate lang als
Müßiggänger bei ihr auf dem Lande, sie hat geweint, als ich ankam und
mich ausgelacht, als ich, mit dem Reisekoffer in der Hand, zärtlich
Abschied nehmen wollte. Fortgejagt hat sie mich und mir zugleich einen
Kuß gegeben. Sie hat mir gesagt, daß sie für mich nur eine leise, nicht
abzuwehrende Verachtung hege, aber sie hat es so schön gesagt, daß ich
mich wie geliebkost geglaubt habe. Denken Sie, sie hat mich bei ihr
geduldet, als ich zu ihr kam, bettelhafter und frecher als ein
aufdringlicher Landstreicher, der sich nur seiner Schwester einmal
erinnerte, weil er dachte: »da kannst du hingehen, bis du wieder auf
zwei Füßen stehst«. -- Aber wir haben die drei Monate hindurch wie in
einem heiteren Lustgarten voll Laubengänge zusammen gelebt. So etwas
kann man niemals vergessen. Wenn ich ausging und im Walde spazierte und
nicht wußte vor Trägheit, ob ich mich am Kinn oder hinter den Ohren
kratzen sollte, träumte ich von ihr, nur von ihr, als von dem Nächsten
und dem Fernsten zugleich. Sie war mir fern aus Ehrfurcht und nahe aus
Liebe. Sie war so stolz, wissen Sie, daß sie mich niemals fühlen ließ,
wie lumpig ich ihr vorkommen mußte. Sie hat sich nur gefreut, als ich
mich bei ihr wohlgefühlt und eingenistet hatte. Das dauerte bis zu der
letzten Stunde, den Abschied schnitt sie mir einfach vom Munde weg, in
dem Vorausgefühl, daß ich nur Kränkendes und Dummes sagen würde. Als
ich, schon weggegangen, hinter mich den Hügel herabblickte, sah ich sie
mir mit der Hand nachwinken, so freundlich und einfach, als ginge ich
nur bis zum nächsten Dorfschuhmacher und käme nach einer Stunde wieder
zurück. Und doch wußte sie, daß sie allein in der Verlassenheit
zurückbleiben und die Aufgabe vorfinden würde, sich eines
Gesellschafters zu entwöhnen, was immerhin eine Aufgabe und ein Stück
innerlicher Arbeit war. Wir haben uns, wenn wir abends zusammensaßen,
das Leben erzählt und haben die Flügel der Kindheit wieder rauschen
hören, wie das Kleid unserer Mutter auf dem Zimmerboden rauschte, wenn
sie den Kindern entgegenkam. Meine Mutter und meine Schwester Hedwig
ergeben in meinem Kopf immer ein innig verbundenes und zusammengewobenes
Bild. Hedwig hat die Mutter, als diese krank wurde, besorgt und
gepflegt, wie man ein kleines Kind pflegen muß. Denken Sie: ein Kind
sieht seine Mutter zum Kinde werden und wird Mutter an der Mutter.
Welche seltsame Verschiebung der Gefühle. Meine Mutter war eine
hochgeachtete Frau, und die Hochachtung, die man ihr allgemein
entgegenbrachte, war rein und kam aus dem Herzen heraus. Sie hat immer
den Eindruck des Ländlichen und zugleich Vornehmen gemacht. Demutvoll
und zugleich abweisend, wußte sie jeden Ungehorsam und jede
Lieblosigkeit zu dämpfen. Der Ausdruck ihres Gesichts bat und gebot zu
gleicher Zeit. Wie scharten sich die Damen in unserer Stadt um sie, und
wenn sie spazieren ging, wie viele Herrenhüte wurden vor ihr gelüftet.
Dann, als sie krank wurde, fiel sie in Vergessenheit und wurde der
Gegenstand der Sorge und der Scham. Man schämt sich eben kranker
Familienglieder wegen und ist beinahe zornig, wenn man der Tage gedenkt,
wo man die Gesunde und ringsumher Achtunggebietende gesehen hat. Kurz
vor ihrem Tode, ich war damals vierzehn Jahre alt, schrieb sie eines
Mittags einen Brief: »Mein lieber Sohn!« Aber glauben Sie, sie wäre mit
ihrer wunderlich-schlanken Handschrift weiter gekommen als über die
Anrede hinaus? Nein, sie lächelte müde und irr, murmelte etwas und war
gezwungen, die Feder wieder wegzulegen. Da saß sie, da lag der
angefangene Sohnesbrief, da die Feder, die Sonne schien draußen, und ich
beobachtete das alles. Eines Nachts dann klopfte Hedwig an meiner
Kammertüre: ich solle aufstehen, Mutter sei gestorben! Ein dünner
Lichtstrahl fiel durch die Türritze zu mir hinein, während ich zum Bett
hinaussprang. Meine Mutter war als Mädchen unglücklich und schlecht
bestellt gewesen. Sie kam aus dem abgelegenen Gebirge zu ihrer
Schwester, meiner Tante, in die Stadt, wo sie beinahe Magdsdienste
verrichten mußte. Als Kind ging sie einen weiten, tief mit Schnee
bedeckten Weg in die Schule, und ihre Schulaufgaben machte sie in einer
kleinen Stube, bei einem armseligen Lichtstümpfchen, daß ihr die Augen
weh taten, weil sie die Buchstaben im Buch kaum lesen konnte. Ihre
Eltern waren nicht gut zu ihr, so lernte sie früh die Schwermut kennen
und stand, als sie Mädchen war, eines Tages an ein Brückengeländer
angelehnt und dachte darüber nach, ob es nicht besser wäre, in den Fluß
hinab zu springen. Man muß sie vernachlässigt, hin und her geschoben und
auf diese Art mißhandelt haben. Als ich als Knabe einmal von ihrer bösen
Jugend hörte, schoß mir der Zorn ins Gesicht, ich bebte vor Empörung und
haßte von nun an die unbekannten Gestalten meiner Großeltern. Für uns
Kinder hatte die Mutter, als sie noch gesund war, etwas beinahe
Majestätisches, vor dem wir uns fürchteten und zurückscheuten; als sie
krank im Geist wurde, bemitleideten wir sie. Es war ein toller Sprung,
so von der ängstlichen, geheimnisvollen Ehrfurcht ins Mitleid
überspringen zu müssen. Was dazwischen lag: die Zärtlichkeit und
Vertraulichkeit zu ihr, war uns unbekannt geblieben. So kam es, daß
unser Mitleid mit einem unsäglichen Bedauern über das Nie-Empfundene
stark gemischt wurde, was uns dann eigentlich sie um so inniger
bemitleiden ließ. Alle Flegeleien fielen mir wieder ein und alles
unehrerbietige Betragen, und dann die Stimme der Mutter, mit der sie
einen schon aus der Entfernung strafte, so daß die nachher erfolgende,
handliche und wirkliche Abstrafung nur noch süßes, lächerliches
Zuckerzeug dagegen war. Sie hat solch eine Stimme anzuschlagen gewußt,
die einen im Nu den begangenen Fehler bereuen und einen wünschen ließ,
die heftig Gekränkte so schnell wie nur möglich wieder besänftigt zu
sehen. Ihre Sanftheit hatte etwas wunderbar Sanftes für uns, es war ein
Geschenk; denn wir sahen es selten. Gereizt und allzu empfindlich war
meine Mutter immer. Unsern Vater fürchteten wir alle lange nicht so, wie
die Mutter, wir fürchteten nur immer, daß er etwas gesagt oder getan
haben mochte, worüber Mutter in Zorn geraten konnte. Er war ihr
gegenüber machtlos, eine Natur, die das Energische nicht so sehr liebte
wie das Sich-wohl-sein-lassen. Als munterer Gesellschafter war er gerne
gesehen, aber zu schweren Geschäften war er nicht der Mann. Jetzt ist er
achtzig Jahre alt, und wenn er sterben wird, so stirbt ein Stück
Stadtgeschichte mit ihm; die alten Leute werden ihren Kopf bedenklicher
und müder schütteln, wenn sie den alten Mann nicht mehr sehen seinen
Geschäften nachgehen, was er immer noch, und mit ziemlich rüstigen
Beinen, tut. In seiner Jugend war er ein ziemlich wilder Geselle
gewesen, den das Stadtleben allmählich abschliff, aber auch zum
Wohlleben verführte. Beide Eltern, Mutter sowohl wie Vater, kamen aus
rauhen, stillen Gebirgsgegenden her, in eine Stadt, die schon damals
ihrer Großzügigkeit und Lebensfreude wegen im ganzen Lande einen
gemischten Ruhm genoß. Die Industrie blühte damals wie eine feurige
Pflanze auf und gestattete ein leichtes, gedankenloses Leben, viel Geld
wurde verdient, viel ausgegeben. Wenn in der Woche fünf bis sechs Tage
gearbeitet wurde, so galt das als fleißiges Wesen. Der Arbeiter lag
tagelang am sonnigen Flußufer und angelte Fische, wenn er nichts
Schlimmeres trieb. Sobald er Geld nötig hatte, zum Weiterleben,
arbeitete er ein paar Tage und verdiente soviel, daß er wieder müßig
gehen konnte. Der Handwerker verdiente vom Arbeiter, denn wenn die armen
Leute Geld haben, so kann es den Wohlhabenden um so weniger fehlen. Die
Stadt schien in einer Nacht zehntausend Einwohner mehr bekommen zu
haben, alles strömte aus dem umliegenden Lande herbei, in die Häuser,
die schon besetzt und bewohnt wurden, sobald sie nur äußerlich das
fertige Aussehen hatten, mochten sie innen feucht und schmutzig sein, so
viel sie wollten. Die Bauunternehmer hatten eine prachtvolle Zeit, sie
brauchten nur immer bauen zu lassen, und sie taten es so liederlich, als
es nur anging. Die Fabrikanten ritten zu Pferd und ihre Damen fuhren in
Kaleschen, während der alte Stadtadel die Nase dazu rümpfte. An
Festtagen tat sich die Stadt, wie keine andere, hervor und entfaltete
bei solcher Gelegenheit alles, was ihr zu Gebote stand, um sich überall
als die beste Feststadt rühmen zu lassen. Die Kaufleute konnten unter
solchen Umständen nicht klagen, die Schulkinder ebensowenig, nur einige
Einsichtsvolle, die nicht den Mut fanden, sich auf dem schwankenden,
rosenbestreuten Boden der Lust und Oberflächlichkeit mit fortzubewegen.
In solche Verhältnisse hinein kamen meine Eltern, Mutter mit ihrer
empfindlichen Reizbarkeit und mit ihrem Sinn für das Einfach-Vornehme,
und Vater mit seinem Anpassungstalent an alles Bestehende. Für Kinder
ist eine jede Gegend lieblich und reizvoll, aber diese, die uns empfing,
war ihrer Lage nach für Kinder, die gerne Schlupfwinkel, wie Felsen,
Höhlen, Flüsseufer, Weiden, Niederungen, Schluchten und Waldstürze zu
ihren Spielen haben, wie geschaffen. So genoß man die ganze Gegend
spielend und Spiele erfindend, bis man aus der Schule kam. Ich wurde,
als die Mutter starb, in eine Bank als Lehrling gegeben. Im ersten Jahr
hielt ich mich vortrefflich; denn das Neue, das mir begegnete in dieser
Welt, jagte mir Furcht und Scheu ein. Das zweite Jahr sah mich als
Muster-Lehrling, aber im dritten Lehrjahr jagte mich der Direktor in
Forma zum Teufel und behielt mich nur gnadenshalber aus Rücksicht auf
meinen Vater, dem er seit vielen Jahren ein guter Bekannter war. Ich war
unlustig geworden zu jeder Arbeit und frech zu den Vorgesetzten, die ich
nicht für würdig befand, mir Befehle zu erteilen. Es war etwas mir jetzt
Unbegreifliches in mir. Ich besinne mich, daß mir alles, jedes Möbel,
jeder Gegenstand, jedes Wort weh tat. Ich war so scheu geworden, daß es
Zeit war, mich fortzuschicken, und man tat es. Man suchte mir eine
Stelle in einer entfernten Stadt, nur um mich loszuwerden, mit dem doch
nichts anzufangen war. So kam ich fort. -- Aber jetzt will ich nicht
mehr an all das Frühere denken, auch nicht mehr sprechen davon. Es ist
etwas Wunderbares, der frühen Jugend entronnen zu sein; denn sie ist
nicht das gar nur Schöne, Liebliche und Leichte, sondern oft schwerer
und gedankenvoller als manches alten Mannes Leben. Je mehr man gelebt
hat, desto sanfter lebt man. Wer heftig in der Jugend gelebt hat, der
mag sich später nur noch selten, am liebsten nie mehr wieder heftig
gebärden. Wenn ich so denke, wie wir Kinder, immer eines dem andern
nach, so durch mußten, durch den Irrtum und durch die jähe, schnelle
Empfindung hindurch, und daß das alle Kinder der Erde müssen, mit so
viel jugendlicher Gefahr, so möchte ich die Kindheit nicht so voreilig
als etwas Süßes preisen, und doch preisen; denn sie ist doch eine
kostbare Erinnerung. Wie schwer wird es oft Eltern gemacht, gute und
behütende Eltern zu sein; und ein artiges, folgsames Kind zu sein, das
ist für die meisten Kinder nur eine billige, oberflächliche Phrase. Sie
wissen das übrigens besser; denn Sie sind eine Frau. Was mich betrifft,
so bin ich bis jetzt noch der untüchtigste aller Menschen geblieben. Ich
besitze nicht einmal einen Anzug am Leibe, der von mir aussagen könnte,
daß ich einigermaßen mein Leben geordnet hätte. Sie erblicken nichts an
mir, das auf eine bestimmte Wahl im Leben hindeutete. Ich stehe noch
immer vor der Türe des Lebens, klopfe und klopfe, allerdings mit wenig
Ungestüm, und horche nur gespannt, ob jemand komme, der mir den Riegel
zurückschieben möchte. So ein Riegel ist etwas schwer, und es kommt
nicht gern jemand, wenn er die Empfindung hat, daß es ein Bettler ist,
der draußen steht und anklopft. Ich bin nichts als ein Horchender und
Wartender, als solcher allerdings vollendet, denn ich habe es gelernt,
zu träumen, während ich warte. Das geht Hand in Hand, und tut wohl, und
man bleibt dabei anständig. Ob ich meinen Beruf etwa verfehlt habe,
darnach frage ich mich nicht mehr, das fragt sich der Jüngling, aber der
Mann nicht. Ich wäre mit jedem Beruf so weit gekommen, wie ich jetzt
bin. Was kümmert mich das! Ich bin mir meiner Tugenden und Schwächen
bewußt und verhüte es, mit der Tugend sowohl, als mit der Schwäche zu
prahlen. Ich biete einem jeden mein Wissen, meine Kraft, meine Gedanken,
meine Leistungen und meine Liebe an, wenn er einen Gebrauch davon machen
kann. Streckt er den Finger aus und winkt mir, so ist einer, der
vielleicht in einem solchen Falle heranhumpeln würde, ich aber springe,
sehen Sie, so wie der Wind pfeift, und überschlage und trete achtlos auf
alle Erinnerungen, nur um noch ungehinderter laufen zu können. Die ganze
Welt saust mit, das ganze Leben! So ist es schön. Nur so! Nichts in der
Welt ist mein, aber ich sehne mich auch nach nichts mehr. Ich kenne
keine Sehnsucht mehr. Als ich noch eine bestimmte Sehnsucht trug, waren
mir die Menschen gleichgültig und hinderlich, und ich verabscheute sie
bisweilen, jetzt liebe ich sie, weil ich sie brauche und weil ich mich
zum Verbrauchen ihnen anbiete. Dazu ist man da. Es kommt einer und sagt
zu mir: »Du da! Komm! Ich brauche dich. Ich kann dir Arbeit geben!« Der
macht mich glücklich. Dann weiß ich, was Glück ist! Glück und Schmerz
sind vollständig verändert, sie sind mir deutlicher und ersichtlicher
geworden, sie erklären sich mir, sie gestatten mir, in Liebe und Weh mit
ihnen zu buhlen, um sie zu werben. Wenn ich jemandem eine Dienst-Offerte
einzureichen habe, so weise ich immer auf meine Brüder und deute an,
daß, wenn diese sich als nützliche und schaffensfreudige Menschen
erwiesen haben, ich vielleicht auch noch zu gebrauchen sei, worüber ich
jedesmal lachen muß. Es ist mir keineswegs bange, daß aus mir nicht auch
noch eine Form wird, aber mich endgültig formen möchte ich so spät als
nur möglich. Und dann sollte das besser von selber, ohne, daß man es
gerade beabsichtigte, kommen. Nun habe ich mir vorläufig ein paar grobe,
breite Schuhe anmessen lassen, um fester aufzutreten und den Menschen
schon mit meinen Schritten zeigen zu können, daß ich einer bin, der
etwas will und wahrscheinlich auch etwas kann. Erprobt zu werden, das
ist mir eine Lust! Kaum eine höhere kenne ich. Daß ich augenblicklich
arm bin, was heißt das? Das will gar nichts heißen, das ist nur eine
kleine Verzeichnung in der äußeren Komposition, der mit ein paar
energischen Strichen abgeholfen werden kann. Es setzt höchstens einen
gesunden Menschen in Verlegenheit, in einigen Kummer vielleicht, aber in
keine Aufregung. Sie lachen. Nein? Sie wollen nicht gelacht haben? Dann
wäre es schade; denn Ihr Lachen ist etwas Schönes. Eine Zeitlang war es
immer mein Gedanke, unter die Soldaten zu gehen, aber ich traue diesem
romantischen Gedanken nicht mehr recht. Warum nicht bleiben, wo man ist!
Kann sich mir hier im Lande etwa keine Gelegenheit bieten, wenn ich
Gelegenheit haben will, unterzugehen? Ich kann hier einen würdigeren
Anlaß finden, meine Gesundheit, Kraft und Lebenslust aufs Spiel zu
setzen. Zunächst bin ich meiner Gesundheit froh, der Lust, meine Beine
und Arme nach Belieben zu gebrauchen, dann meines Geistes, der mir immer
noch sehr munter erscheint, dann endlich des aufreizenden Bewußtseins,
daß ich der Welt gegenüber als tief belasteter Schuldner dastehe, der
alle Ursache hat, den Atem endlich anzuspannen, um sich in der Liebe der
Welt hinaufzuarbeiten. Ich bin gern Schuldner! Wenn ich mir sagen müßte,
daß mich die Menschen gekränkt hätten, das wäre trostlos für mich. Da
müßte ich mich ja in Stumpfheit und Abneigung und Bitternis versteifen.
Nein, die Sache steht anders, sie steht glänzend, wie sie glänzender für
einen angehenden Mann nicht stehen kann: ich, ich bin es, der die Welt
gekränkt hat. Sie steht mir gegenüber wie eine erzürnte, beleidigte
Mutter: wundervolles Antlitz, in das ich vernarrt bin: das Antlitz der
Sühne fordernden, mütterlichen Erde! Ich zahle ab, was ich
vernachlässigt, verspielt, verträumt, versäumt und verbrochen habe. Ich
werde die Beleidigte zufriedenstellen und meinen Geschwistern dann
einmal, einer schönen, traulichen Abendstunde erzählen, wie ich es
gemacht habe, daß es gekommen ist, daß ich den Kopf so hoch trage. Es
kann Jahre dauern, aber eine Arbeit ist mir nur um so viel entzückender,
je längere und je schwerere Anspannung der Kräfte sie fordert. Jetzt
kennen Sie mich einigermaßen.«

Die Dame küßte ihn.

»Nein,« sagte sie, »Sie werden nicht untersinken. Sonst, wenn das
geschähe, wäre es schade, schade für Sie. Sie dürfen niemals wieder so
verbrecherisch, so sündhaft über Sie selber aburteilen. Sie achten sich
zu wenig und andere zu hoch. Ich will Sie davor behüten, gegen sich
selber so allzustreng vorzugehen. Wissen Sie, was Ihnen fehlt? Sie
müssen es eine Zeitlang ein bißchen wieder gut haben. Sie müssen in ein
Ohr hineinflüstern und Zärtlichkeiten erwidern lernen. Sie werden sonst
zu zart. Ich will Sie lehren; das alles, was Ihnen fehlt, will ich Sie
lehren. Kommen Sie. Wir gehen hinaus in die Winternacht. In den
brausenden Wald. Ich muß Ihnen so viel sagen. Wissen Sie, daß ich Ihre
arme, glückliche Gefangene bin? Kein Wort mehr, kein Wort mehr. Kommen
Sie nur.« --


  Buchdruckerei Roitzsch, G. m. b. H., Roitzsch.



  [ Im folgenden werden alle geänderten Textzeilen angeführt, wobei
    jeweils zuerst die Zeile wie im Original, danach die geänderte Zeile
    steht.

  sprach einen guten Eindruck auf ihn mache, oder nicht. Er wußte es
  sprach, einen guten Eindruck auf ihn mache, oder nicht. Er wußte es

  weil sie Gutes von mir sagten. Nein, verehrter Herr, wenn sie gedenken,
  weil sie Gutes von mir sagten. Nein, verehrter Herr, wenn Sie gedenken,

  Gewiß, mein Herr.«
  »Gewiß, mein Herr.«

  es?
  es?«

  erblickte. Hier kann ich den Frühling nicht empfinden, er stört mich.
  erblickte. Hier kann ich den Frühling nicht empfinden, er stört mich.«

  gehe, um mich gesund zu arbeiten, wäre, es auch, um Erde zu schaufeln
  gehe, um mich gesund zu arbeiten, wäre es auch, um Erde zu schaufeln

  den Lorber, den sie in den Händen trugen, einmal auf ein Haupt fallen
  den Lorbeer, den sie in den Händen trugen, einmal auf ein Haupt fallen

  im Dunkel steht und hinhorcht. Überhaupt schon: hinhorchen uud beinahe
  im Dunkel steht und hinhorcht. Überhaupt schon: hinhorchen und beinahe

  meine Kulter eine delikatere, denn ich genieße das Wenige stürmischer
  meine Kultur eine delikatere, denn ich genieße das Wenige stürmischer

  »Indem der alte Mann das sagte, erschien in dem dumpfigen, wenngleich
  Indem der alte Mann das sagte, erschien in dem dumpfigen, wenngleich

  gedrückt?« sagte sie, und setzte sich mit der größen Freude neben ihn
  gedrückt?« sagte sie, und setzte sich mit der größten Freude neben ihn

  wünschte, sie möchten in ihm stecken. Im Feuer der Rede redetete sich
  wünschte, sie möchten in ihm stecken. Im Feuer der Rede redete sich

  namentlich in Augenblicken des Wiedersehens seit langer Zeit. Dennnoch
  namentlich in Augenblicken des Wiedersehens seit langer Zeit. Dennoch

  Sie, liebes Mädchen, Schwester meines Kaspars, ich muß Ihnen schreiben.
  »Sie, liebes Mädchen, Schwester meines Kaspars, ich muß Ihnen schreiben.

  ihr nieder, hielten ihre Arme fest, bis die Zukungen allmählich sich
  ihr nieder, hielten ihre Arme fest, bis die Zuckungen allmählich sich

  mehr. Ein Veilchen. Ich sehe die Fische schwimmmen. Ich bin ganz still,
  mehr. Ein Veilchen. Ich sehe die Fische schwimmen. Ich bin ganz still,

  Schritte auf; dem er stieß immer wieder an Steine, die im Wege lagen,
  Schritte auf; denn er stieß immer wieder an Steine, die im Wege lagen,

  sie, und wenn man ihre Vorwürfe machte, noch viel mehr. Vater hatte
  sie, und wenn man ihr Vorwürfe machte, noch viel mehr. Vater hatte

  nie in den Sinn. Ich hätte alles erfahrene was an Erfahrung das Leben
  nie in den Sinn. Ich hätte alles erfahren, was an Erfahrung das Leben

  Bettstelle wurde auf einem breitem Schlitten in der Nacht vom nächsten
  Bettstelle wurde auf einem breiten Schlitten in der Nacht vom nächsten

  fröhlich miteiander.
  fröhlich miteinander.

  umgehe.« In der Tat, er ließ die Häfte davon stehen, bezahlte und
  umgehe.« In der Tat, er ließ die Hälfte davon stehen, bezahlte und

  »Sie müssen meine Schuhe besser putzen, Simon,« sagte die Fau.
  »Sie müssen meine Schuhe besser putzen, Simon,« sagte die Frau.

  man begangen hat; und Simon nahm sich im stillen vor, nur noch Fehler
  man begangen hat«; und Simon nahm sich im stillen vor, nur noch Fehler

  offener Straße umhalsen und Tränen der Widersehensfreude weinen werden.
  offener Straße umhalsen und Tränen der Wiedersehensfreude weinen werden.

  aus der er schließlich erwachte.«
  aus der er schließlich erwachte.

  herumziehendie Leute als Familienwohnung benutzten. Der Streich kam
  herumziehenden Leute als Familienwohnung benutzten. Der Streich kam

  grüßte und promenierte durcheinander. Die vornehmen Karrossen rollten
  grüßte und promenierte durcheinander. Die vornehmen Karossen rollten

  viel früher, gesungen haben muße. Einer riß beständig Witze, es war ein
  viel früher, gesungen haben mußte. Einer riß beständig Witze, es war ein

  ein-, zwei- oder vierzehntätige Anstellung gefunden. Das war immer ein
  ein-, zwei- oder vierzehntägige Anstellung gefunden. Das war immer ein

  will, Geld auf Dahrlehn anzunehmen. Von einer Frau nähme ich es indessen
  will, Geld auf Darlehn anzunehmen. Von einer Frau nähme ich es indessen

  das gefiel im, und er verließ alsogleich das Lokal mit diesem guten
  das gefiel ihm, und er verließ alsogleich das Lokal mit diesem guten

  vermute, daß Ihnen dann der Spaß verleien müßte. Ziehen Sie sich nur
  vermute, daß Ihnen dann der Spaß verleiden müßte. Ziehen Sie sich nur

  fragen, was er wünsche Aber es kam vorläufig keines. So blieb er denn
  fragen, was er wünsche. Aber es kam vorläufig keines. So blieb er denn

  Entschuldigen Sie, daß man Sie sitzen läßt,« wandte sie sich wieder zu
  »Entschuldigen Sie, daß man Sie sitzen läßt,« wandte sie sich wieder zu

  hier bei Ihnen, einem ganz jungen, scheinbar etwas vorkommenen Menschen,
  hier bei Ihnen, einem ganz jungen, scheinbar etwas verkommenen Menschen,

  sondern zu zweien! Immer! Das war der Hauptgedanke den man ihnen aus
  sondern zu zweien! Immer! Das war der Hauptgedanke, den man ihnen aus

  der Wahrheit gemäß zu erfahren, sonst lieber gar nichts, nicht war! Sie
  der Wahrheit gemäß zu erfahren, sonst lieber gar nichts, nicht wahr! Sie

  Kaleschen, während der alte Stadtadel die Nase dazu rümpfte. Am
  Kaleschen, während der alte Stadtadel die Nase dazu rümpfte. An

  kann Streckt er den Finger aus und winkt mir, so ist einer, der
  kann. Streckt er den Finger aus und winkt mir, so ist einer, der

  ]





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Geschwister Tanner" ***

Copyright 2023 LibraryBlog. All rights reserved.



Home