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Title: Die acht Gesichter am Biwasee - Japanische Liebesgeschichten
Author: Dauthendey, Max, 1867-1918
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Die acht Gesichter am Biwasee - Japanische Liebesgeschichten" ***


Anmerkungen zur Transkription:

Die Rechtschreibung des Originaltextes wurde beibehalten, offensichtliche
Druckfehler wurden berichtigt. Im Original-Frakturtext gesperrt gedruckte
Passagen sind hier durch _Unterstriche_ gekennzeichnet.



  [Illustration: Cover]


  Max Dauthendey

  Die acht Gesichter am Biwasee

  Japanische Liebesgeschichten


  [Illustration: Signet]

  Albert Langen / Georg Müller / München


  Auflage 110000
  Copyright 1911 by Albert Langen, München
  Printed in Germany



Die acht Gesichter am Biwasee


«Neue Brüder sind sichtbar geworden», riefen die Japaner schon vor hundert
Jahren. «Bäume, die früher nur dazu da waren, Früchte und Holz zu tragen,
Flüsse und Seen, die nur Fische und Seegras anboten, Hügel und Berge,
welche Steine und Metalle den Menschen hinhielten, haben jetzt Seele und
Gesicht.

Die Seelen der Landschaften sind uns herzliche Brüder geworden. Sie, die
bisher unsichtbar waren, zeigen uns heute leidenschaftliche Gebärden.» --

Am Biwasee, der hinter den Bergen, nahe der uralten Kaiserstadt Kioto,
liegt, haben die Japaner acht Landschaftsgesichter von unsterblicher
Leidenschaft entdeckt.

Die acht Gesichter am Biwasee heißen: Erstens: Die Segelboote von Yabase im
Abend heimkehren sehen.

Die Dichter vergleichen die Seele dieses Landschaftsgesichtes mit dem
Herannahen einer liebesseligen Schicksalswende.

Zweitens: Den Nachtregen regnen hören in Karasaki.

Dieses Gesicht beschwört die Sprache liebesseliger Vergangenheit und
liebesseliger Zukunft.

Drittens: Die Abendglocke des Miideratempels hören.

Dieses Gesicht singt das Lachen einer liebenden Frauenstimme, das weiser
macht als alle Weisheit.

Viertens: Sonnenschein und Brise von Amazu.

Dieses Gesicht spricht von Liebesberückung und Liebesbetörung.

Fünftens: Dem Flug der Wildgänse nachsehen in Katata.

Dieses Gesicht spricht von der Geheimschrift der Liebeserklärung.

Sechstens: Den Herbstmond aufgehen sehen in Ishiyama.

Beplaudert und rührt die Wunder der Liebe an.

Siebentens: Das fließende Abendrot zu Seta.

Dieses Gesicht spricht von seliger Blindheit hitziger Liebesleidenschaft.

Achtens: Den Abendschnee am Hirayama sehen.

Die Seele dieses Landschaftsgesichtes spricht vom erhabenen Wahn
unglückseliger Liebe.



Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen


Hanake hatte allen Körperschmuck, den ein japanisches Mädchen sitzend,
trippelnd und liegend zeigen muß, um zu den göttlichen Schönheiten der
Vergänglichkeit gezählt zu werden. Ihr Hals war biegsam wie eine
Reiherfeder, ihre Arme kurz wie die Flügel eines noch nicht flüggen
Sperlings. Saß sie auf der Matte und bereitete ihren Tee, so arbeitete sie
vorsichtig wie unter einer Glasglocke. Ging sie abends mit ihrer Dienerin
auf den hohen Holzschuhen zum Theater, so war sie unauffällig, als hätte
sich ihr Körper mit der Sonne zur Ruhe gelegt, und als ginge nur ihr
Schatten mit der Dienerin und der Papierlaterne den Weg zu den Schatten.
Lag sie in der Nacht hinter den geschlossenen Papierwänden ihres Hauses mit
frisiertem Kopf auf der Schlummerrolle und zog mit den Fingerspitzen den
seidenen Schlafsack ans Kinn, so war ihr feines, vom Mond beschienenes
Gesicht vornehm, als wäre es aus Jadestein geschnitten und erschien
unzerbrechlich und unvergänglich.

Hanake war das reichste Mädchen am Biwasee, nicht bloß reich an der äußeren
Schönheit, welche die Frauen ruhig und wunschlos macht, -- auch reich an
Besitz. Die Götter der Vergänglichkeit hatten sie mit ihren glänzendsten
Geschenken, mit Schönheit und Geld, verwöhnt. Aber auch die Göttin der
Unendlichkeit hatte ihr eine Seele in die Augen gegeben, so daß ihre Augen
weinen konnten, denn die Wollust der Träne ist das höchste Geschenk dieser
Göttin.

Lange, ehe der Krieg Japans mit Rußland begann, hörte Hanake in ihrem Hause
am Biwasee von Freunden und Freundinnen, die im Sommer über die Berge von
Kioto zum Besuch zu ihr an den See kamen, daß die Fremden vom Westen wie
böse Heuschreckenschwärme in Japan erwartet würden, um die Männer zu töten,
die Frauen zu verschleppen und sich in das Land zu teilen. Auf dem Biwasee
würde man dann bald Schiffe sehen, die Rauch ausstießen und die Seetiefe
mit Schrauben aufwühlten. Auf Eisen würden bald Eisenwagen, rasselnd wie
Gewitterwolken, täglich durch Japan eilen. Diese Wagen würden die Fremden
in Massen nach Kioto und an die Ufer des Biwasees bringen. Die leichten
Vogelkäfige der Bambushäuser würden verschwinden, und Steinhäuser, wie man
sie im Westen der Erde baut, würden zum Himmel wachsen, und überall würde
dann Rauch und Eisenlärm sein. Denn die Fremden lieben das Eisenrasseln und
können ohne die betäubende Stimme des Eisens nicht leben: sie lieben, das
Leben als einen ewigen Krieg anzusehen. Sie sind wie Donnergötter
ungeduldig und aufstampfend, und sie werden schlimmer als Wolkenbrüche und
schlimmer als Taifun Japan verheeren, so sagte man.

Hanake, die keine Eltern hatte und nur mit ein paar Dienerinnen und Dienern
noch das Haus ihres Vaters bewohnte, hörte gruselnd die Berichte ihrer
Freunde und erfand mit ihren Freundinnen kleine Spottlieder, welche die
Dämonen des Westens verhöhnten, Lieder, die sie abends bei den Bootfahrten
in lampenerleuchteten Booten auf dem Biwasee sangen.

Eines Abends -- die Sonne war eben untergegangen, der See war hell, als
wäre er aus Porzellan, weiß und glänzend, der Himmel war golden, als hätte
Hanake eine ihrer Truhen geöffnet, die aus Goldlack waren, und die
Geheimfächer enthielten, -- trat Hanake auf den Landungssteg, der vor ihrem
Haus in den See reichte, und den links und rechts hohes Schilf umwiegte.

In der Richtung nach Yabase erschienen drei Segelboote. Die drei Segel
glitten wie senkrechte Papierwände über das abendglatte Wasser. Man sah
keine Menschen; denn jedes Segel reichte so tief, daß es das Boot
verdeckte. Die aufgepflanzten Segel wurden größer und kamen näher: Hanake
fühlte eine Bangigkeit, als kämen mit den drei Segeln drei weiße,
unbeschriebene Blätter aus ihrem Schicksalsbuch geschwommen, und plötzlich
las sie, als eine Sekunde von Windstille die Segel schlaff werden ließ, ein
japanisches Schriftzeichen, zufällig entstanden aus den Falten jeder
Segelleinwand. Das erste Boot sagte: «Ich grüße dich.» Das zweite Boot
sagte: «Ich liebe dich.» Das dritte Boot sagte: «Ich töte dich.»

Nach der kurzen Windstille, die knappe Sekunden dauerte, wechselte der See
seine Farbe; wie vergossene schwarze Tusche über weißes Papier lief eine
Finsternis über die Seefläche, und ganz unvermittelt setzte ein
trompetender Seesturm ein, der alle drei Segel fast flach auf das Wasser
legte, als müßte die Leinwand den Seeschaum reiben; Hanake tat einen Schrei
vor Entsetzen, da sie glaubte, die Segelboote müßten unter dem plötzlichen
Wind und in den kreiselnden Wellen versinken.

Aber die drei Boote hoben sich wieder. Geschickte Hände regierten die
Segel. Doch dieses sah Hanake nicht mehr. Sie hatte zugleich mit dem
Schrei, als das aufgeregte Schilf ihr um den Nacken schlug, einen Sprung in
die Luft gemacht wie eine elektrisierte Katze und war in das Wasser
gefallen; und als sie die Augen öffnete, sah sie ein Rudel Fische und
wußte, daß sie unter dem Wasser war, als wäre sie selbst ein Fisch. Dann
verlor sie das Bewußtsein.

Als sie aufwachte, lag sie in ihrem Zimmer. Es war Nacht, eine Kerze
brannte, und ihre Lieblingsmagd, welche «Singende Seemuschel» hieß, kniete
neben ihr und weinte in beide Hände. Man hatte sie umgekleidet, aber sie
roch noch das Seewasser, von dem ihr Haar naß war, und sie besann sich
sofort wieder auf die drei Schiffe, und ihre erste Frage war: «Sind die
drei Segelboote, die aus Yabase kamen, untergegangen?»

Die Magd antwortete nicht, hörte auf zu weinen und streichelte die Hände
ihrer Herrin, entzückt, sie wieder lebend zu sehen.

«Sind die drei Segelboote untergegangen?» fragte Hanake beharrlich.

Aber die Singende Seemuschel hatte keine Segelboote gesehen. Die Magd hatte
die Herrin auf dem Kies im Schilf gefunden und geglaubt, das junge Mädchen
sei von der Landungsbrücke ins Wasser gefallen und habe sich durch einen
Zufall selbst gerettet.

«Schiebe die Seefenster auf», sagte Hanake zur Magd. Diese tat, wie ihr
befohlen. Draußen lagen der See und der Himmel wie ein einziges schwarzes
Loch: kein Stern, kein Mond, kein Licht auf dem See. Hanakes Fenster
schienen in einen Abgrund zu schauen, und dem jungen Mädchen war, als müsse
sie zum zweitenmal ertrinken, so schmerzhaft wurde ihr die Finsternis
draußen. Und in ihrer Brust war eine Leere, so unendlich wie die Nacht über
dem Biwasee, als habe sie einen großen Verlust erlitten, als wäre mit den
drei Booten ihr Herz fortgezogen; und totenstill war das kleine Bambushaus.

«Schließe die Fenster und hole mir den grauen Papagei, nicht den grünen und
nicht den gelben, -- den grauen, Singende Seemuschel, den mein Vetter mir
vor ein paar Wochen mitgebracht hat aus Nagasaki.»

Die Magd gehorchte, brachte den grauen Papagei und wurde dann von ihrer
Herrin schlafen geschickt. Aber sie hörte in der Nacht bis zum Morgen, wie
Hanake ihrem grauen Papagei drei Sätze lehrte: Ich grüße dich! Ich liebe
dich! Ich töte dich! Und sie sah an der weißen Papierwand den Schatten
ihrer Herrin aufrecht neben dem Schatten des Vogels sitzen. Und immer, wenn
der Vogel sagen sollte: Ich liebe dich!, dann lachte er so unheimlich
knarrend, daß es der Magd gruselte. Während der ganzen Nacht lachten und
sprachen Hanake und ihr Vogel zusammen. Und ganz früh rief Hanake zwei
Dienerinnen, die sie frisierten, und Seemuschel, die Lieblingsmagd, die
alle Verstecke des Hauses kannte, mußte aus dem ältesten Lackkasten zwei
winzige kostbare Satsumavasen holen, die sich in der Familie seit Hunderten
von Jahren vererbt hatten, und mußte am Seeufer zwei Schwertlilien
abschneiden, eine blaue und eine gelbe. Die Vasen mit je einer Lilie wurden
von Hanake in eine Nische gestellt und ein auf weiße Seide geschriebenes
Gedicht eigenhändig an die Wand gehängt. Das Gedicht hieß:

    Auf dem See steht ein weißes segelndes Boot.
    Mein Herz, mein leises,
    Mein Auge, mein heißes, --
    Die Menschen, die einsam sind,
    Sind wie die Boote von Yabase,
    Die blaß hintreiben im Abendwind.

Hanake hatte an diesem Tag allen ihren Freunden und Freundinnen absagen
lassen und saß drei Stunden vor Sonnenuntergang schon am Fenster, das auf
den See sah. Auf dem Seespiegel brannte die Sonne wie ein helles Herdfeuer,
und Hanake hielt einen Fächer zwischen sich und das grelle Licht. Aber von
Zeit zu Zeit strengte sie sich an, dem Licht zu trotzen, und suchte mit
aufmerksamen Augen die funkelnde Seefläche ab und wünschte die drei Segel
herbei, die gestern abend ihre Ruhe mit fortgenommen hatten. Auf Hanakes
Kleid waren Schwertlilien gewebt, blaue und gelbe auf silbrigem Grund, und
ihr Kopf sah aus der silbrigen Seide, als schaute er aus dem Kamm einer
hellen Welle.

Sie hatte seit gestern abend noch nicht geschlafen, und das Schauen auf die
sonnenfeurige Seefläche brannte ihr fast die Augen aus, so daß sie für
einen Augenblick die Augenlider schloß und, ohne es zu wissen, einschlief.

Sie hatte vielleicht eine kleine Stunde geschlafen, da weckte sie der graue
Papagei, der ihr auf die Schulter kletterte und ihr ins Ohr krächzte: «Ich
liebe dich!» und dazu schnarrend lachte.

Hanake hob das Köpfchen aus der silbrigen Seide und sah am Landungssteg
ein großes gerafftes Segel. Das war so nah an ihrem Fenster, daß sie die
Segelleinwand an die Maststange klatschen hörte. Sie bog sich vorsichtig
aus dem Fenster und sah, daß das Segelboot festgebunden war. Aber im Boot
war kein Mensch zu sehen.

Das ist eines der drei Boote, sagte atemstockend ihr heimkehrendes Herz.
Aber sie wußte nicht, war es das erste, das zweite oder das dritte Boot.

Da trat ihre Lieblingsmagd, die Singende Seemuschel, herein und brachte
einen zusammengerollten Brief.

«O Herrin, diesen Brief sollt Ihr lesen und Euch für einen hohen Besuch
bereit halten», flüsterte die Magd.

Im Brief stand: «Gestern, als wir nach Sonnenuntergang bei Deinem Hause
kreuzten, schöne Hanake, hatten wir das Unglück, Dich zu erschrecken, aber
auch das Glück, Dir das Leben zu retten. Und das allergrößte Glück, Dich zu
sehen, um Dich nie mehr zu vergessen, wurde mir zuteil. Ich sende Dir heute
meinen treuesten Freund, der Dich gestern rettete, der Dich heute zu mir
über den See bringen soll und in meine Arme, die Dich sehnsüchtig erwarten.
Ich grüße Dich, Hanake.»

Der Brief war unterschrieben mit dem Namen eines jungen Prinzen aus dem
kaiserlichen Hause. Und Hanake wußte als guterzogene Japanerin, daß es eine
ungeheure Ehre bedeutete, daß ein kaiserlicher Prinz sie seiner Liebe
würdigte, und sie ließ den Freund des Prinzen sogleich zu sich herein ins
Zimmer bitten.

Die Diele zitterte, und ein prächtiger junger Mann trat ein. Hanake fiel
vor ihm auf die Kniee und berührte mit der Stirn die Diele, wie es die
japanische Begrüßungssitte vorschreibt. Aber es war nicht, als ob ein
Mensch, sondern als ob ein stürmisches kleines Pferd ins Zimmer gekommen
sei. Sie hörte den Mann mit beiden Füßen mehrmals kräftig aufstampfen, und
aus seiner Brust drangen ein paar hohle seufzende Laute.

Hanake wartete mit gesenktem Angesicht lange Zeit auf die Anrede des
kaiserlichen Gesandten, denn sie durfte sich erst erheben, wenn der
Begrüßte sie dazu aufforderte.

Nach einer Weile, als immer noch keine Anrede erfolgte, hob Hanake leicht
ihr Gesicht von der Diele, die noch unter den stampfenden Füßen des Mannes
zitterte. Wie zwei Steine aus einer Schleuder geworfen, fielen des jungen
Mannes starke Augen in des Mädchens blinzelnden Blick. «Ich liebe dich!»
schrien ihr diese ungeduldigen Augen entgegen, und Hanake senkte von neuem
ihr Gesicht, das abwechselnd weiß und rot wurde, von Blutfülle und
Blutschwäche.

«Antworte!» sagte plötzlich der Mann laut.

«Ich liebe dich!» sagte Hanake, tief auf die Diele gebeugt, als wäre die
Diele ein Ohr, in das sie hineinflüsterte. Zugleich fiel ihr ein, daß der
Befehl «Antworte!» sich wahrscheinlich auf den Brief des Prinzen bezogen
habe. Aber es war nicht mehr zurückzunehmen. Ihre Lippen hatten deutlich
gesprochen: «Ich liebe dich!» und den zwei Männeraugen geantwortet, die sie
gefragt hatten.

Dann fühlte sich das junge Mädchen von zwei hastigen Händen um den Leib
gefaßt. Wie ein Häufchen Seide hob sie der ungeduldige Mann hoch und trug
sie aus dem Hause, den Landungssteg entlang. In demselben Augenblick hatte
sich der Abendwind erhoben, und der seidene Ärmel von Hanakes Kleid
bauschte sich und fiel wie eine Kapuze über den Kopf des Mannes, der sie
auf den Armen trug. Und als Hanake aufsah, und ehe sie noch den Ärmel
zurückziehen konnte, erblickte sie ein zweites großes Segel, das eben an
der Landungsbrücke vorbeizog. Ein Schauder, kälter als der Wind, rieselte
ihr über die Haut. Denn in dem Boot stand ein Mann, der war kein Japaner.
Er hatte keine schöne gelbe Elfenbeinhaut. Er war grau im Gesicht wie
Moder, wie ein Stein, der lange auf dem Seegrund gelegen hat, und seine
Haut war runzlig wie die Haut der Kröten. Er hatte ein erschreckend gelbes
Haar. Das war hell wie Hobelspäne, und seine Augen waren fischblau, und
eine unordentliche Seele blickte Hanake wirr an, als stürze ein surrendes
häßliches Insekt auf Hanake los und wolle sie stechen. Sie wußte: es war
der Amerikaner, der abends hier am Biwasee im Uferschilf Wildenten jagte.
Morgens und abends hatte sie oft den Knall aus seiner Jagdbüchse gehört,
und dann waren, zu Tode geängstigt, kreischend und entsetzt, Scharen von
Wildenten über Hanakes Haus fortgeflogen.

Das junge Mädchen wartete eine Sekunde; es ließ das Boot des häßlichen
Fremden vorübergleiten und zog dann erst den Ärmel vom Kopf des Geliebten.
Denn daß der Mann, der sie trug, ihr Geliebter war, sagten ihr seine Hände,
die beim Tragen Hanakes Blut anredeten und ihr von großen Zärtlichkeiten
erzählten, die sie ihr glühend versprachen.

Nach einer Weile ging das Boot vor dem Wind, und drinnen lag Hanake mit dem
Kopf zwischen den Knien des Mannes, der wie ein Feuerdrache in Hanakes Haus
gestürzt war, und der wie ein großer Zauberer den Biwasee jetzt in ein
riesiges Seidenbett verwandelt hatte, darinnen die beiden eingebettet
lagen. Und Hanake sah das Wasser ohne Grenzen, den Himmel ohne Grenzen und
die Liebe zu dem plötzlich erschienenen Mann ohne Grenzen.

Sie fragte nicht: «Wie heißt du?» Sein Name war ohne Namen. Sie fragte
nicht: «Wohin fahren wir?» Ihre Fahrt war ohne Fahrt. Das Segel stand
senkrecht zwischen Wasser und Himmel, und sie wußte, das Segel hatte ein
Spiegelbild unten im See, so wie ihr Gesicht im Schoß des Mannes das
Spiegelbild des geliebten Gesichtes geworden war.

Das Segelboot glitt nah am Schilfufer hin. Das Mädchen verstand: der Mann
vermied es, auf die Höhe des Sees zu segeln, damit nicht Boote, die von
Yabase kämen, ihnen begegneten.

Da knallte ein Schuß im Röhricht, und braune Wildenten strichen aus dem
Schilf heraus aufkreischend über die Seefläche. Ein zweiter Schuß schallt,
und Hanakes Geliebter wirft die Arme in die Luft, springt auf, wie von
einem Strick in die Höhe gerissen, und stürzt kopfüber in den abenddunkeln
See. Kein Schrei; nur das Aufklatschen des Wassers und der Hall der Schüsse
am Ufer des Biwasees entlang springt durch die Stille. Hanake greift
unwillkürlich mit beiden Händen über den Bootrand in das Wasser, wohin der
Geliebte verschwand, und als sie die Hände aus dem Wasser zieht, sind sie
blutig. Sie fällt lautlos auf den Boden des Bootes, das im Winde
weitertreibt.

Hanakes Diener sehen vom Fenster, daß das Boot, in dem die Herrin
fortfuhr, draußen nicht weit vom Ufer steuerlos im Kreise treibt und daß
ein anderes Boot aus dem Schilf heraus die Seewölbung ersteigt und hinter
dem Wasser verschwindet. Ein paar der Diener schwimmen hinaus und bringen
das Boot mit der ohnmächtigen Hanake an den Landungssteg.

Zur gleichen Stunde wie am vorhergehenden Abend liegt Hanake ohnmächtig in
dem Zimmer, das auf den See geht, bei derselben Kerze, die gestern brannte,
sitzt ihre Lieblingsmagd, die Singende Seemuschel, und wartet auf das
Erwachen ihrer Herrin.

Als diese gar nicht zu sich kommen will, kommt die Magd auf den Einfall,
den grauen Papagei zu holen, der von den drei Sätzen immer nur den einen
gelernt hat: Ich liebe dich. Als sie den Vogel neben die Kerze in das
Gemach bringt, schreit er sofort: «Ich liebe dich!» Da zuckt das Gesicht
der ohnmächtigen Hanake zusammen, als habe ihr einer einen unendlichen
Schmerz angetan. Ihre Lippen seufzen tief auf, ihr Gesicht verändert die
Farbe und wird wie Asche im Aschentopf, der neben der Kerze steht. Die Magd
beugt sich erschrocken über ihre Herrin, und wie sie noch zweifelt: Ist das
der Tod, der Hanake so entfärbt?, da schüttelt der Papagei sein Gefieder,
schlägt mit den Flügeln um sich und schreit plötzlich und unvermittelt:
«Ich töte dich!»

Die Singende Seemuschel starrt entsetzt den Vogel an, dessen großer
Schatten vor der Kerze wie der Schatten eines mächtigen, schwarzen Segels
über die Wände des Gemaches fliegt.

Die Magd greift mit beiden Händen nach dem um sich schlagenden Papagei. Der
Vogel schreit zum zweitenmal: «Ich töte dich!» Die Hände der Magd packen
das Tier und drücken dem Papagei den Hals zu, damit er nicht zum drittenmal
das schauerliche «Ich töte dich!» schreien kann. Der Vogel verdreht seine
Augen, läßt mit einem Ruck die Flügel schlaff hängen, spreizt die Krallen
und hängt als lebloser Vogelbalg in den Händen der Magd.

Hanake schlägt die Augen auf. Die Magd wirft die Vogelleiche auf die Diele
und ruft:

«O Herrin, Ihr kommt wieder! Ihr wart weit fort!»

Hanake richtet sich auf, sitzt auf der Diele und sagt in Gedanken:

«Ich glaube, ich komme von den Toten.»

Dann sprach sie lange nicht mehr. Sie sah nicht den toten Papagei. Sie
weinte nicht über den Tod ihres Geliebten. Sie ließ sich von der Magd
umkleiden, und als ihr diese ein Hauskleid bringen wollte, sagte sie, und
ihre Augen sahen durchdringend durch die geschlossenen Wände des Hauses:

«Ich sehe im Abend Boote von Yabase kommen. Ich sehe, man bringt mir ein
rotes Scharlachkleid, wie es die Hofdamen tragen. Aber die hundert Segel,
die jetzt von Yabase kommen, zeigen in den Segelfalten keine Schriftzeichen
mehr. Jedes Segel ist glatt wie eine leere Hand. Hundert leere Hände kommen
in mein Haus.

Bringe mir ein weißseidenes Unterkleid, Singende Seemuschel, damit ich das
rote Scharlachkleid, das man mitbringt, darüber ziehen kann.»

Die Magd widersprach ihrer Herrin nicht. Sie öffnete nur ein wenig die
Schiebewand nach dem See. Aber sie sah keine Lichter von Booten in der
Nacht draußen, kein Bootskiel rauschte im Wasser, nur das Schilf zischte
unten um das Haus und in der Ferne um den Landungssteg.

Hanake ist hellsehend geworden, dachte die Magd. Dann ging sie durch die
Kammern des Hauses nach den Wandschränken, wo die Kleider gefaltet in
großen Lacktruhen lagen. Sie ließ sich von zwei Mägden leuchten. Und die
eine Magd erzählte halblaut:

«Wißt ihr schon, unsere Männer, die zur Nachtzeit aus Yabase herüberkamen,
sagten, man erzählte sich in allen Teehäusern, daß der Freund eines
kaiserlichen Prinzen von einem Europäer auf dem See erschossen worden sei.
Der blutige Körper des Toten wurde in Yabase auf den Kies gespült, und
heimkehrende Boote haben gesehen, wie der fliehende Europäer, der Wildenten
im Schilf gejagt hat, durch einen Fehlschuß den Freund des Prinzen tötete.
Der Prinz selbst kam dann an das Ufer, wo die Leiche seines Freundes lag.
Der Prinz hat seinen Freund lange angesehen, aber nicht geweint, sagen die
Leute. Er hat gefragt, ob in der Nacht noch jemand über den See fährt; und
als er hörte, daß unsere Männer noch über den See fuhren, sandte er eine
kleine Kleidertruhe und ließ sie in das Boot unserer Männer stellen. Die
Truhe ist für Hanake. Morgen, ehe die Sonne im Mittag steht, wird der Prinz
selbst zu Hanake kommen, sagte ein kaiserlicher Diener heimlich zu unsern
Männern.»

«In der Truhe ist ein rotes Scharlachkleid für Hanake», sagte die Singende
Seemuschel zu den Mägden.

«Woher weißt du das?» fragten beide Mägde erstaunt. «Niemand durfte bis
jetzt in die Truhe sehen.»

«Wir wissen das bestimmt», nickte die Gefragte.

Sie nahm das weißseidene Unterkleid über den Arm und schickte die Mägde in
die Küche. --

Am nächsten Tag um die Mittagstunde kam ein Segel auf Hanakes Haus zu.

Die Singende Seemuschel sagte zu Hanake, die im Purpurkleid auf der Altane
saß und weiß und rosa geschminkt war, so dick gepudert und geschminkt, als
verbärge sie das Gesicht hinter einer rot und weißen Maske:

«Das ist nicht der Prinz, der da kommt. Denn ich sehe nur _ein_ Segel,
Herrin, und Ihr sagtet gestern nacht voraus, es würden hundert Segel
kommen. Alles, was Ihr sagtet, als Ihr von den Toten erwachtet, ist
eingetroffen. Wenn aber der Prinz nur in _einem_ Boot kommt, dann habt Ihr
Euch geirrt, weil Ihr von hundert Booten gestern redetet.»

«Schweig und empfange den Prinzen», sagte Hanake mit einer fast männlichen
Stimme, die die Magd nie an ihr gehört hatte. «Geh mit allen Mägden und
allen Dienern dem Prinzen zur Landungsbrücke entgegen, denn ich kann noch
nicht gehen, meine Füße zittern noch. Ich kann den Prinzen nur hier im
Hause empfangen.

Als ich im Tode lag unter den Toten, aber mit meinem Geliebten nicht
vereinigt war, fragte meine Seele alle Toten:

'Was habe ich getan, daß ich meinen Geliebten nicht unter den Toten finde?'

'Du hast noch dem Leben verweigerten Gehorsam zu geben,' sagten die Toten,
und ich erwachte wieder.

Ich weiß es, ich habe gefrevelt. Ich habe meinen Leib einem Prinzen, einem
Sohn des Himmels, entziehen wollen und habe einen andern Mann umarmt. Aber
der Geliebte konnte meinen Leib nicht mit in den Tod nehmen weil ich erst
lernen mußte, dem Leben zu gehorchen.»

Die Magd weinte über Hanakes Worte. Aber Hanake verbot es ihr und sagte:

«Wir wollen nicht neuen Ungehorsam auf dies Haus laden. Ich darf nicht
weinen, wenn ich auch bis an die Augen voll Trauer bin. Meine Füße aber
zittern, und ich kann dem Prinzen nicht entgegen gehen. Ich kann meine Füße
noch nicht zum Gehorsam zwingen.

Wenn der Prinz dich fragt: 'Wo ist Hanake?', sage, und laß dir nichts
merken, sage: 'Verzeihung, Sohn des Himmels, meine Herrin trauert um ihren
toten Lieblingspapagei. Aber wenn meine Herrin des Prinzen Angesicht sieht,
wird ihre Trauer zur Freude werden und doppelt glänzen, wie dein weißes
Segelboot, o Herr, im Biwasee.'» --

Und wie der Schiller auf starrem, poliertem Porzellan glänzte Hanake bis
zum Abend, so lange der Prinz in ihrem Hause war und mit ihr spielte. Und
auch als sie ihr Scharlachkleid öffnete und ihren kleinen weißgepuderten
Leib nackt in die Arme des Prinzen legte, sang sie Lieder und zwitscherte
mit den Lippen. Der Prinz sagte am Abend:

«Dein Leib ist mir lieb, weil er kühl ist wie die Schneeflocken und mich
aufweckt wie die Kälte am Wintermorgen.

Und nun singe mir noch zum Abschied das Lied vom Biwasee, das nur auf weiße
Seide geschrieben werden darf.»

Die Singende Seemuschel saß hinter der Papierwand im Nebenzimmer, wo sie
die Gitarre spielen mußte, so lange der Prinz die nackte Hanake umarmte.
Aber als die treue Magd hörte, daß der Prinz das Lied von ihrer Herrin
verlangte, das nur eine sehnsüchtig Liebende singen darf, da konnte sie
sich nicht mehr des Schluchzens erwehren. Und während die Hände der
Singenden Seemuschel auf der Gitarre spielten, wimmerte ihre schluchzende
Brust.

Hanake, die in ihr Scharlachkleid schlüpfte, raschelte mit der Seide, damit
der Prinz das Wimmern der Magd nicht höre. Dann wollte sie singen. Aber der
Prinz fragte, ehe sie begann:

«Weint jemand hinter der Wand?»

«O nein», lächelte Hanake, «das sind nur Brieftauben, die ich in einem
Käfig halte, und ihre Kröpfe glucksen, weil sie zu viel gefüttert wurden.»

«Singe jetzt!» sagte der Prinz.

Das Wimmern hinter der Papierwand verstummte, und Hanake sang das Lied:

    Auf dem See steht ein weißes segelndes Boot.
    Mein Herz, mein leises,
    Mein Auge, mein heißes, --
    Die Menschen, die einsam sind,
    Sind wie die Boote von Yabase,
    Die blaß hintreiben im Abendwind.

Hanake hatte während des Singens ihren Kopf in den Schoß des Prinzen gelegt
und mit offenen Augen zur Decke gestarrt. Ihr Körper war in derselben
Stellung wie an jenem Abend auf dem Biwasee im Boot, als sie mit dem Kopf
im Schoß ihres Geliebten gelegen.

Plötzlich fährt Hanake, wie von einem Schuß getroffen, auf. Sie wirft die
Arme in die Luft und fällt ohne Aufschrei auf die Diele, wo sie in tiefer
Ohnmacht liegen bleibt.

Der Prinz wird blaß. Auf seinen Ruf kommt die Magd hinter der Papierwand
vor. Der Prinz sieht die verweinten Augen derselben und denkt, daß Magd und
Herrin wirklich in Trauer seien über den toten Papagei. Er ist erstaunt
darüber und sagt: «Deine Herrin ist noch schwach von Trauer über ihren
toten Papagei. Pflege deine Herrin; und wenn sie aufwacht, sage ihr, ich
käme morgen abend und hundertmal wieder.»

Die Magd verneigt sich vor dem Prinzen, sie verbirgt ihre verweinten Augen
und lügt:

«Sohn des Himmels, verzeiht meiner Herrin! Aber der Tod ihres Papageis ging
ihr nicht so sehr zu Herzen wie jetzt der Abschied von Euch. Die Trauer
darüber hat sie gleich einer Ohnmacht überfallen.» --

Als Hanake wieder zu sich kommt, sieht sie fern im Abend über dem Biwasee
das verschwindende Segel des kaiserlichen Bootes, und das Kielwasser treibt
eine lange schwarzlinige Welle von der Mitte des Sees bis an Hanakes Haus.

Hanake murmelt: «Die Magd sagt: hundertmal wird er wiederkommen! Ich will
lieber _hundert_ verschiedene Männer umarmen, ihr Götter! Erlaßt es mir,
_einem_ Mann Liebe heucheln zu müssen _hundertmal_ hintereinander. Ich
schwöre euch: ich will mich lieber auf dem Liebesmarkt zu Tokio hingeben,
wo fünftausend Mädchen sich jede Nacht einem andern Mann anbieten. Aber
erlaßt mir, o Götter, die Qual und bindet mich nicht hundert Nächte an den
einen Mann, der sich einredet, daß ich ihn liebe.»

Die untergehende Sonne schminkte den Himmel wie das Gesicht eines
Freudenmädchens. Karminrosig und violett silbrig färbten sich alle Wolken
über dem Biwasee, wie die fünftausend Mädchengesichter auf dem Liebesmarkt
zu Tokio.

Dann hörte Hanake lautes Gelächter, laute Männer- und Frauenstimmen, das
Räderrasseln von kleinen Rikschawagen und das Geschrei von Kulis. Eine
Schar ihrer Freunde und Freundinnen war in Wagen und Tragsesseln von der
Landstraße hergekommen und rief jetzt von draußen ins Haus nach Hanake.
Dann drängten die Gesichter ihrer Freunde und Freundinnen in das
Nebenzimmer, und Hanakes Gesicht wurde wieder höflich und freundlich und
unbeschrieben wie eine weiße Eierschale.

Sie warf noch rasch einen Blick aus dem Fenster. Das Segel des kaiserlichen
Bootes war hinter der Seehöhe verschwunden. Der See lag gradlinig, und nur
wie eine kleine, schwarze Schnur zog sich am Horizont das Kielwasser des
verschwundenen Bootes hin. Die Kielwelle erreichte nicht mehr Hanakes Haus
und verlor sich wie ein abgerissenes Band draußen auf der Seefläche.

Hanakes Herz war leichter. Sie trat aus dem Seegemach in das
nebenanliegende Gemach, in das die Freunde hereindrängten. Das Haus war
jetzt voll von zwitschernden Frauenstimmen und gurgelnden Männerkehlen, die
den Atem auf japanische Sitte laut und achtungbezeugend einzogen.

Nachdem alle eine Weile voreinander auf den Knien gelegen hatten und sich
verbeugt hatten, rutschten alle zusammen, bildeten einen Halbkreis um
Hanake und hockten auf den Seidenkissen am Boden, und das Zimmer war laut
wie ein Baum, in dem eine Sperlingschar plaudert.

Gerüchte, daß ein kaiserlicher Prinz sich nach Hanake umsähe, hatten sich
bei den Freunden verbreitet; aber niemand wußte Genaues, und niemand wußte
vom Besuch des Prinzen. Alle waren des Mordes wegen gekommen, der sich auf
dem See in der Nähe von Hanakes Haus ereignet haben sollte. Sie wollten
wissen, ob Hanake den Schuß gehört habe? Ob der Europäer fehlgeschossen
oder auf den Japaner gezielt habe? Ob Hanake damals am Fenster gestanden
habe? Und ob nach dem Schuß das Seewasser rot von Blut gewesen sei? --

Hanakes Gesicht verlor keinen Augenblick die starre Politur. Die Magd hatte
ihr, als sie aus der Ohnmacht aufgewacht war, das Scharlachgewand
ausgezogen und ihr ein blaues Gewand gereicht, auf dem nur Seewellen und
Wolken eingewebt waren, und hatte die Schminke und den Puder erneuert und
den klingenden Haarschmuck in ihrem Haar fester gesteckt, als man das
Herannahen der Freunde hörte.

Jetzt reichten die Singende Seemuschel und die anderen Mägde den Gästen Tee
und Pfefferminzzucker herum und kleine, winzige Kuchenwürfel.

Als die Schar der Fragen sich wie eine Dornenhecke um Hanake aufbaute,
suchte die Singende Seemuschel nach einem rettenden Gedanken, um ihrer
Herrin zu helfen. Sie lief fort, holte den toten Papagei, kam wehklagend
herein und sagte:

«Ach, Herrin, seht, der Papagei liegt im Sterben!»

Aber wie war sie verblüfft, als Hanake sie abwies und lächelnd zu den
Gästen sagte:

«Ich glaube, meine Magd ist irrsinnig geworden von der Ehre, die uns heute
widerfuhr. Sie zeigt mir den Papagei, der seit gestern tot ist, und der uns
heute schon helfen mußte, einen kaiserlichen Prinzen zu belügen.»

Im Zimmer wurde es still, wie wenn alle Spatzen aus einem Baum fortgeflogen
sind.

Alle Gäste verstanden, daß der Prinz dagewesen war, alle verstanden, daß
Hanake ihn nicht liebte; und daß man einen Prinzen belügen könnte, war
ihnen auch noch verständlich. Aber welch ein Frevel, laut über den Sohn des
Himmels zu spotten und einzugestehen, daß man ihn belogen hatte!

Als wären allen Gästen die Teetassen aus den Händen gefallen, und als wäre
der Tee vergossen, so erschrocken saßen alle und starr. Keiner rührte mehr
einen Teeschluck an. Und als Hanake mit kalten, glitzernden Augen sagte:

«Der Prinz wird nicht von dieser Lüge sterben. Ich bin auch nicht an seiner
Liebe gestorben», -- da schlossen die Freundinnen vor Schreck ihre Augen.
Die Männer richteten sich auf, und wie eine Schar Krebse, die nach
rückwärts krabbelt, verließ die Freundesschar das Gemach, teils aus Furcht,
weil in diesem Haus gegen den Sohn des Himmels gefrevelt wurde, teils
erschrocken, vor Hochachtung, weil die Luft hier noch voll sein mußte von
der Leidenschaft und der Nähe des kaiserlichen Prinzen.

Unter kaum hörbar gewisperten Entschuldigungen verließen die letzten das
Haus, bestürzt und eilfertig, als wären die Zimmer des Hauses voll Feuer,
das sie alle verbrennen könnte.

Hanake aber ließ das Zimmer aufräumen, ließ sich von der Singenden
Seemuschel eine Schlummerrolle unter das Genick schieben, streckte sich auf
der Diele aus und schlief fest ein.

Am nächsten Abend erschien ein Segel auf der Seehöhe. Es kam wie ein
selbstbewußter Schwan lautlos auf Hanakes Haus zugeschwommen. Aber die
Landungsbrücke bei dem Hause blieb leer. Nur die Köpfe der Schilfblüten
bewegten sich und verneigten sich vor dem kaiserlichen Boot und vor dem
Prinzen, der ans Land stieg.

Die Papierfenster und die Bambustüren von Hanakes Haus waren geschlossen
und öffneten sich nicht, als der Prinz klopfen ließ. Wie eine Laterne ohne
Licht lag am See das gegitterte Holzhaus mit den weißen Papierscheiben. Ein
vorüberfahrender Schiffer in seinem Boot sagte den Leuten des Prinzen, daß
Hanake am Morgen alle ihre Dienstboten entlassen habe. Sie habe ihr Haus
zugeschlossen und sei nur mit einer Magd auf ihrem Segelboot in den See
hinausgefahren; aber niemand wußte, wohin die Fahrt gegangen.

Das kaiserliche Boot kreuzte die ganze Nacht auf der Seefläche in der Nähe
von Hanakes Haus. Aber die Papierfenster des Hauses blieben dunkel, und das
lautlose kaiserliche Boot verschwand gegen Morgen hinter der Seehöhe.

Am nächsten Abend kamen hundert kaiserliche Segelboote von Yabase. Sie
kamen an wie hundert weiße Fächer, die sich über den See spannten. Sie
kreuzten über den ganzen Biwasee, während der ganzen Nacht, von Ozu bis
Yabase, von Karasaki bis Katata, von Seta bis Amazu. Und als leuchteten sie
in die Unterwelt des Sees, so zogen sie die hellen Scheinbilder der
hundert weißen Segel durch die Seetiefe nach sich.

Die nächsten Abende wiederholte sich das Schauspiel der hundert Segelboote,
die Hanake suchen sollten, und die sich durch den Seenebel verteilten wie
hundert weiße Seidenspinnerschmetterlinge, die in einem grauen, riesigen
Spinnenwebnetz hängen geblieben wären. --

Jede kleine japanische Stadt eröffnet abends einen Liebesmarkt, der sich
Yoshiwara nennt. Der Yoshiwara in Tokio ist einer der größten Liebesmärkte
in Japan, wo die schönsten Mädchen vom Inland und aus allen Provinzen
zusammenkommen, wo sich verwaiste Mädchen vom Ertrag der Liebe zu ernähren
suchen, wo verarmte Mädchen mit dem Erlös der Liebe ihre alten Eltern zu
erhalten suchen. Auf diesen Liebesmärkten verkauft sich die Liebe natürlich
und schandlos.

Unschuldig und feurig, wie die Sterne der Milchstraße nachts am Himmel,
beleuchten sich nach Sonnenuntergang die schöngepflegten, sauberen und
breiten Straßen des Liebesmarktes. Das große eiserne Gitter, das den
Stadtteil des Liebesmarktes von der Stadt trennt, steht, von Polizisten
bewacht, weit offen. Hinter dem offenen Tor, in der Mitte der
Eingangsstraße, zieht sich im Frühlingsabend eine rosige Wolke hin durch
die Luft: die rosigen Blüten blühender Kirschbäume, welche in der Mitte der
Straßenlinie eingehegt stehen.

Links und rechts von der Straße beleuchten die kleinen, einstöckigen Häuser
mit milden, weißen, langen Lampionketten ihre Balkone.

Lautlos und feierlich und ruhig beleuchtet, liegt hier der Weg offen zu den
fünftausend Mädchenschönheiten. In den weiten Seitenstraßen, welche die
Eingangsstraße kreuzen, beginnt der Liebesmarkt. Hier stehen saubere,
ebenfalls mit weißen Lampenketten erleuchtete Häuser. Die Erdgeschosse
aller dieser Häuser zu beiden Seiten der Straße zeigen große, offene,
vergoldete Gemächer. Die sind durch hölzerne Gitterstäbe wie goldene Käfige
von der Straße getrennt und innen beleuchtet von elektrischen Glühbirnen.

In jedem langen Gemach sitzen in einer Reihe der Straße entlang dreißig bis
fünfzig junge, schmalschultrige Mädchen, in blumige kostbare Seidengewänder
gehüllt. Jede sitzt auf einem kleinen Seidenkissen, wie ein Schaustück in
einem Schaufenster.

Die langen Reihen der weißgepuderten und rosageschminkten Gesichter, unter
schwarzen, hohen Frisuren, die mit goldenen Nadeln bedeckt sind, enden
nicht. Und Viertelstunde um Viertelstunde kannst du durch die Straßen
gehen, vorüber an den Heeren der Tausende von jungen Mädchen.

Die Wände jedes Gittergemaches sind schwer geschnitzt. Aus Goldlack und
rotem Lack stehen lebensgroße Bäume darin, springen lebensgroße Tiger und
Drachen an den Lackwänden entlang, fliegen lebensgroße Kraniche und
Paradiesvögel, größer als die kleinen Mädchen, an den Wänden der Gemächer
hin.

Wie dreißig weiße Perlen, in einer Reihe aufbewahrt in einer goldenen oder
roten Truhe, leuchten perlenweiß die eirunden gepuderten Mädchengesichter
in jedem Gemach. Mal sitzen da dreißig in eisvogelblauen Gewändern, mit
scharlachnen Blumen bestickt, mal dreißig in smaragdgrünen Gewändern, mit
karmoisinroten Blumen bestickt, mal fünfzig in weißen Gewändern, mit
regenbogenfarbigen Schmetterlingen bestickt, mal fünfzig in schwarzen
Gewändern, darunter die Schleppen von rosa-, grün- und blauseidenen
Gewändern abgestuft vorschauen.

Jedes Mädchen hat neben sich einen großen Porzellantopf, darin Holzasche um
Kohlenglut liegt. Sie rauchen kleine silberne Pfeifen, in die nur eine
Prise Tabak geht, nicht mehr, als Daumen und Zeigefinger zu einer kleinen
Tabakkugel drehen können, und zünden diese mit einem Stückchen Kohle in
feiner, silberner Zange an. Die eine frisiert sich vor ihrem kleinen
Spiegel; die andere schreibt mit einem Tuschepinsel auf ihrem Schoß auf
einem langen Reispapierstreifen einen Brief; die nächste trinkt Tee aus
einer fingerhutgroßen Tasse; und wieder eine fächelt sich, und wieder eine
andere liest in einem kleinen Büchlein einen Roman. Eine zupft eine
Mandoline, und eine andere wispert ein Lied dazu. Eine kommt an das Gitter
getrippelt, hebt vorsichtig ihre drei Schleppen, winkt vorsichtig ein paar
Fremden; eine andere kommt an das Gitter und plaudert mit Mutter und
Geschwistern, die zum Besuch auf der Straße stehen, freundlich und
bescheiden.

Eine vielhundertköpfige Menschenmenge, Männer, Soldaten, Frauen und Kinder,
ziehen gesittet, flüsternd und lächelnd, mit hell beschienenen Gesichtern,
durch die erleuchteten Straßen, vorüber an den vergitterten Gemächern der
Erdgeschosse. Und stundenlang bis nach Mitternacht wandern die Volksmengen
jeden Abend vor den fünftausend Mädchen auf und ab, stehen als Besucher an
den Gittern, treten als Besucher in die Häuser, kaufen sich Gesang, Musik,
Tanz und Liebe, nachdem jeder Mann auf der Straße unter den Dreißig eines
Gemaches seine Wahl getroffen hat.

Hier in eines der Häuser des Tokioyoshiwara trat Hanake mit ihrer Magd ein
und blieb hundert Nächte, um hundertmal ihren Leib zu verkaufen, wie sie es
den Göttern versprochen hatte, um sich dadurch frei zu kaufen von dem
Gehorsam gegen den Sohn des Himmels.

Sie verkaufte sich jungen Männern, welche die Liebe kennen lernen wollten,
und alten, von der Lebenssorge abgetöteten einsamen Männern, welche die
Liebe noch einmal erleben wollten, ehe sie starben; sie verkaufte sich den
in den Krieg gehenden Soldaten und den aus Schlachten heimgeschickten
Invaliden; sie verkaufte sich Studenten, Handwerkern, Adeligen und Kulis.
Nur den Ausländern, den Europäern und Amerikanern, verweigerte Hanake ihren
Leib.

Aber eines Abends kam ein junger Amerikaner, ein hübscher Marineoffizier,
in das Haus und forderte für sein gutes Geld vom Hausbesitzer Hanake. Es
war in den Tagen, da die amerikanische Flotte im Hafen von Yokohama lag und
die Amerikaner der japanischen Nation einen Ehrenbesuch machten. Vom
Stadtgouverneur war der Befehl ergangen und an den Straßenecken
angeschlagen: «Japaner! Ihr dürft nicht vor den Europäern ausspucken! Ihr
dürft ihnen auch keine Stöcke in den Weg werfen, daß sie stolpern. Auf den
Straßen sollt ihr nicht zu dicht neben den Europäern gehen, immer drei
Schritte von ihnen weg. Ihr sollt alle europäischen Barbaren überhaupt
höflich behandeln, als wenn sie gesittete Asiaten wären. In den
Besuchstagen der amerikanischen Flotte soll kein Mädchen in den Yoshiwaras
sich einem Ausländer verweigern dürfen.»

Hanake verweigerte sich trotzdem. Und da es gerade die hundertste Nacht
war, in der sie den Göttern abgedient hatte, floh sie mitten in der Nacht
samt ihrer Magd durch eine Hintertür aus dem Yoshiwarahause, ließ ihre
Kleidung und ihren Schmuck zurück und eilte in ihren Alltagskleidern aus
dem Yoshiwara. Verhüllt und unbemerkt, entkam sie im Gedränge der
vielhundertköpfigen Menge. Sie trug nichts bei sich als einen kleinen Vogel
in einem winzigen Käfig.

Eines der Mädchen in dem Yoshiwara hatte ihr eine Stunde vor der Flucht den
Vogel verkauft, eben als der amerikanische Offizier in das Haus trat. Im
Schreck der Flucht hatte Hanake den Vogelkäfig krampfhaft in der Hand
behalten, ohne ihn loszulassen.

Der Vogel war ein Nachtigallenmännchen und saß verblüfft in dem kleinen
Käfig, denn er war eben erst von seinem Weibchen, mit dem er einen andern
Käfig geteilt hatte, getrennt worden.

Die beiden Frauen wollten den Vogel unterwegs füttern, aber er fraß nicht.
Sie reisten beide mit dem wunderlichen Vogel in der Nacht mit dem nächsten
Zug nach dem Biwasee und kamen am nächsten Mittag wieder in Hanakes Haus am
See an.

Die Magd öffnete die Fenster und ließ frische Luft durch die Kammern
streichen. Es war Herbst geworden, und mit jedem Luftzug flogen welke
Blätter von den Uferbäumen herein.

Das Seewasser zeigte nicht mehr die blaue Sommerfarbe, es war tiefgrün. Die
Sonne stand schräg und warf gespenstige Schatten. Das lebhafte Schilf war
abgemäht, und die Stoppeln standen lautlos und tot.

Aber Hanake wurde von der Herbstwelt nicht traurig gestimmt. Das Leben im
Yoshiwara ging noch in lauten Bildern durch ihr Blut. Sie war täglich
hundertmal bewundert worden, hatte hundertmal gefallen, hatte
hunderttausendmal lachen müssen, ohne lachen zu wollen, war hundertmal
umarmt worden, ohne eine Umarmung zu ersehnen. Die Bewunderung war ihrem
Körper zur Gewohnheit geworden. Hanake wußte jetzt fast nicht mehr, warum
sie einst aus diesem Hause hier am See fortgegangen war. Sie hatte den Tag
mit dem Prinzen beinah ganz vergessen, sie hatte kaum noch den Abend mit
dem Geliebten in Erinnerung. Sie hörte nur noch den Schuß im Ohr und sah
sich noch im Boot auf dem Schoße ihres Geliebten liegen, wenn sie wollte.
Aber sie konnte sich nicht mehr des Gesichts ihres toten Geliebten
erinnern, nicht mehr seine Stimme erinnernd zurückrufen. Die Hunderte von
Gesichtern und Stimmen, die im Yoshiwara Hanake bewunderten, hatten das
Gesicht und die Stimme des Geliebten aus ihrer Erinnerung verdrängt. Hanake
war auch darüber nicht traurig, nur verwundert.

Es wurde Abend. Die Magd hatte das Haus bestellt. Da bemerkte Hanake das
kleine halbtote Nachtigallenmännchen im Käfig und dachte: «Ich will dich
fliegen lassen, kleiner Vogelmann. Vielleicht fliegst du zurück ins
Yoshiwara nach Tokio zu deinem Weibchen.»

Sie öffnete den Käfig. Da schoß der kleine Vogel heraus. Aber anstatt aus
dem offenen Fenster zu fliegen, warf er sich wie ein Wütender in Hanakes
Frisur und riß wie wahnsinnig geworden mit den beiden kleinen Krallenfüßen
in den Haaren des erschrockenen Mädchens und fiel dann wie tot an Hanake
herunter auf die Diele.

Hanake zitterte vor Schreck und sank in die Knie. Sie verstand, daß das
Vogelmännchen, das sie von dem Weibchen getrennt hatte, sich an ihr rächen
wollte und vor wütender Aufregung gestorben war.

Hanake hielt die Finger an ihr schmerzendes Haar. Aber es war, als sei der
Liebesschmerz des Vogels in ihr Herz gedrungen und habe auch in ihrer Seele
wieder alle Liebeserinnerungen geweckt.

In der Ferne auf dem See tauchten drei Segel auf. Sie zogen der Seelinie
entlang, langsam, und verschwanden. Hanake erkannte, als sie vom See weg
auf die weiße Wand ihres Zimmers sah, plötzlich wieder in der Erinnerung
das Gesicht ihres Geliebten. Sie schauderte vor Entzücken.

Sie wollte das Gesicht des Geliebten mit ihren Augen auf der weißen Wand
festhalten. Aber die Gesichtszüge verschwanden, und die Erinnerung erlahmte
wieder, und Hanake wurde verstört und tief traurig.

«Kleiner Vogel», seufzte Hanake, «zeige mir den Weg zu meinem Geliebten!»

Der kleine Vogelkörper zuckte plötzlich auf der Diele zusammen und
flatterte taumelnd an die Papierwand. Dort stand in einer Nische neben
einer Blumenvase ein winziger Lackkasten. Der um sich schlagende Vogel warf
das Lackkästchen aus der Nische. Die winzige perlmutterbeschlagene
Schublade des Kästchens fiel heraus, und der Vogel stürzte dann tot zur
Diele. Aus der offenen Schublade aber flatterten im Windzug ein paar
Seidenpapiere zu Hanake hin.

Zwischen den Seidenpapieren lagen kleine Stückchen des platten
Schaumgoldes, womit die Japaner ihr Briefpapier schmücken. Aber Hanake
verstand auch den tödlichen Wert, den das Schaumgold für den Lebensmüden
hat. Rasch entschlossen, legte sie sich ein paar Blättchen des
dünngefalzten Rauschgoldes auf die Lippen, tat ein paar Atemzüge und hüllte
ihr Gesicht in die Ärmel ihres Kleides. Dann sank sie erstickt auf die
Diele am offenen Fenster hin.



Den Nachtregen regnen hören in Karasaki


Kiri war der einzige Sohn der «Wolke vor dem Mond», -- so hieß seine
Mutter. Sein Vater war Fischer, und außer einem Kahn und den
Fischfanggeräten und einer kleinen, struppigen Strandhütte besaßen Kiris
Eltern nichts.

«Doch wir sind reicher», sagte Kiri immer, «reicher als die
Reisfelderbesitzer in den Bergen am Biwasee, reicher als die Kaufleute von
Ozu. Unser Besitz ist größer als die Hauptstadt Kioto. Denn uns
Fischersleuten gehört der ganze Biwasee und alles was darin ist; der
Biwasee ist unser Königreich.»

In Karasaki verspotteten die Mädchen den Kiri, der stets den Biwasee als
sein Eigentum aufzählte, wenn man von Geld und Vermögen sprach; und sie
nannten ihn den Fischkönig von Karasaki.

Aber immer am ersten April, wenn alle Häuser eine Bambusstange aufs Dach
oder vor die Tür stellten und der Hausvater meterlange Papierfische an der
Stangenspitze befestigte, so viel Fische, wie ihm seine Frau in der Ehe
Knaben geboren hatte, dann war immer Kiris trostlosester Tag gewesen. Auf
ihrer Strandhütte zappelte nur ein einziger Fisch, während drinnen über den
Dächern von Karasaki Hunderte von Fischen wie Fahnen die Luft füllten. Kiri
fand sein Vaterhaus dann sehr traurig; und das Wort Fischkönig, das ihn
sonst gar nicht ärgerte, schien am ersten April gar nicht auf Kiri zu
passen. So lange er Knabe war, hatte er sich an diesem Tag versteckt und
sich fern von Kindern gehalten, weil er sich für seinen Vater und seine
Mutter schämte, die ihn als einziges Kind im Hause hatten und am großen
Fischfesttage nur einen einzigen Fisch auf der Bambusstange vor der Haustür
waagrecht im Winde flattern ließen.

Kiri war jetzt siebzehn Jahre und dachte ans Heiraten. Zwei Mädchen kamen
für ihn in Betracht: eine kleine Teehaustänzerin, die nicht mehr jung war,
aber etwas Geld beiseite gelegt hatte, da sie einmal sehr schön gewesen und
gewisse Liebesumarmungen besser verstanden hatte als andere Teehausmädchen.
Sie hieß «Perlmutterfüßchen» und war Kiri besonders von seiner Mutter und
von seinem Vater dringend zur Ehe empfohlen.

Die andere war eine Traumerscheinung, ein Mädchen, von dem er immer
träumte, wenn er den Nachtregen über Karasaki regnen hörte.

Diese Auserwählte war sein persönliches Geheimnis. Kein Bewohner von
Karasaki hatte sie je gesehen. Keiner der Menschen, die rings um den
Biwasee wohnen, war ihr je begegnet. Nur Kiri allein wußte, wie sie aussah;
aber weder seinem Vater noch seiner Mutter, «der Wolke vor dem Mond»,
erzählte er jemals von diesem Mädchen. Jetzt im März, im Vorfrühling, lag
Kiri in einer Nacht allein draußen auf dem See, hatte eine Kienfackel am
Kiel des Bootes befestigt, das große Netz ausgeworfen und ruderte langsam,
vom rötlichen Feuerschein umgeben, über das Wasser, das schwarz wie
Nachtluft war, und das ihm vertraut war wie die Diele seiner Elternhütte.
In dieser Nacht rauschte der See nicht, und soviel Kiri auch horchte, kein
Fisch rührte sich und schnellte auf. Es war, als sei der See drunten
fischleer wie der Himmel droben. Trotzdem kein Nebel war, verwunderte sich
der junge Fischer allmählich, daß ihm nicht ein einziges Fischerboot
begegnete, und daß auffallenderweise nicht ein einziges Fackellicht von
anderen fischenden Booten in der dunkeln Runde zu bemerken war. Nur Kiris
Kienspan knisterte und paffte. Aber keine Welle funkelte, und zum ersten
Male wurde es Kiri unheimlich auf dem altbekannten, treuen, guten See. Die
Ruder ruderten widerstandslos, als zerteilten sie gar kein Wasser. Kiri zog
zuletzt die Ruder ein und getraute sich nicht mehr, den See zu berühren. So
oft er auch das Fischnetz hob, -- es war leer, und nicht die kleinste
Seemuschel und nicht der kleinste Fisch, -- nichts hing in den nassen
Maschen.

Wie Kiri noch lag und nach allen Richtungen horchte, um Geräusche von
fernen Ufern aufzufangen, da er nicht mehr wußte, ob sein Boot auf der
Seehöhe oder in Landnähe sei, da tauchte im roten Schein seiner Kienfackel
am Kiel ein ovaler Fleck auf, ähnlich dem aufgehenden Mond über der
Seelinie. Kiri griff erleichtert zu den Rudern und wollte dem blassen Fleck
entgegenfahren. Aber sein Boot schien sich nicht mehr vom Fleck zu rühren,
soviel er auch ruderte.

Nun wußte Kiri, daß eine der Seeverzauberungen über ihn und sein Boot
gekommen war, daß der Seebann, vor dem sich alle Bewohner von Karasaki
fürchten, sein Boot festhielt, und daß das blasse Licht, das durch den
rotbraunen Fackelschein ihm entgegensah, das Gesicht eines Seedämons war,
dem er nicht mehr ausweichen konnte.

Die Kienfackel hörte auf zu paffen, brannte eine Weile lautlos; dann
schrumpfte ihr Licht ein, als wäre die Fackel ins Wasser gefallen. Und das
alte vertraute Boot, in dem Kiri von Kindheit an geatmet, gearbeitet,
gegessen und geschlafen hatte, war schwarz geworden wie die Nachtluft und
wie das Seewasser. Kiri fühlte nicht mehr den Bootrand. Vielleicht war auch
sein Körper jetzt Luft, bezaubert von dem fahlen Gesicht des Dämons, der
nun erscheinen sollte. Kiri erwartete eine Schreckensgestalt, einen
Seedrachen mit zackigen Flügeln, einen Riesen, der den Kopf nicht auf den
Schultern trüge, sondern dem er aus dem Bauch wüchse, dort, wo sonst bei
den Menschen der Nabel ist.

«Guten Abend, Kiri», sagte ganz einfach eine Stimme im Dunkel. «Warum hast
du kein Licht an deinem Boot?» sagte die Stimme eines Mädchens. «Kannst du
nicht etwas Licht anzünden? Ich habe meinen Feuerstein ins Wasser fallen
lassen und bin auf dein Boot zugerudert, ehe deine Fackel auslöschte. Kiri,
schläfst du? Höre doch und mache Licht!»

«Wer bist du?» getraute sich Kiri erleichtert zu fragen.

«Mach Licht, dann wirst du mich sehen. Du kennst mich gut, Kiri. Verstell
dich nicht und erkenne mich! Erinnerst du dich nicht mehr», sagte die
Stimme im Dunkel, «weißt du nicht mehr, wo wir uns zum letzten Mal
verließen?»

«Nein, ich kenne dich noch nicht», gab Kiri zurück. Und sein Herz suchte in
allen seinen Erinnerungen. Und wie er grübelte, wurde es seltsamerweise
Tag, und Kiri sah keinen See, keine Ufer, -- er lag auf der Altane eines
Hauses, das er gut kannte, aber in dem er lange nicht gewesen war; neben
ihm auf einem flachen Seidenkissen saß ein schönes junges Mädchen und
sagte: «Samurai, kennst du mich jetzt?» Und er sah sie an und grübelte
wieder in seinen Erinnerungen und sah über das Altanengeländer einen
Zwerggarten mit kleinen Brücken und kleinen Felsen. Und unter einer der
kleinsten Brücken ging eben das letzte Stückchen der Abendsonne unter. Und
Kiri grübelte, und der erste Stern erschien über dem lautlosen Zwerggarten.
Aber der junge Mann erkannte das Mädchen nicht, und er erkannte auch das
Haus noch nicht, trotzdem er wußte, daß es sein Haus war. Doch es lag nicht
am See, und es war kein Fischerhaus. Es war das Haus eines Samurai, eines
reichen Adeligen aus der Kriegerkaste.

Kiri betrachtete seine rechte Hand und sah, daß sie nicht mehr die grobe
Hand eines Fischers war. Und Kiri grübelte und hörte plötzlich einen Laut,
wie wenn aus vielen Tempeln viele Gongs andröhnen. Er fragte das Mädchen
neben sich auf der Altane: «Welches Fest ist heute, weil alle Tempel
rufen?»

«Es ist kein Fest», sagte das Mädchen und war rot und leuchtete wie eine
Fackel, trotzdem kein Licht auf dem Altan brannte.

Und Kiri grübelte wieder. Aber die Tempelgongs schwiegen nicht, und auch
die Erde unter ihm dröhnte wie ein Tempelgong und schien Kiri zu wecken und
zu rufen.

«Es ist kein Fest, es ist ein Krieg», sagte Kiri plötzlich. «Was ist das
für ein Krieg um die Tempel und auf der Erde?» fragte er von neuem das
Mädchen.

Dieses wurde blaß und leuchtete weiß wie ein Metallspiegel und sagte: «Es
ist kein Krieg, Kiri. Kein Krieg um die Tempel und kein Krieg auf der
Erde.» Dabei bog sie sich über ihn, legte ihre Wange an Kiris Ohr und ihre
Hand auf sein Herz.

Da wurde es still draußen um die Tempel, und auch die Erde schwieg. Die
Sterne über dem Garten verschwanden, und Kiri hörte, wie ein leiser Regen
begann. Es regnete ein Nachtregen. Und er sah mit offenen Augen, daß das
Mädchen neben ihm aufstand, Diener hereinwinkte, ihn in eine Sänfte legen
ließ und sich selbst zu ihm hinein in die Sänfte kauerte. Und der Regen
regnete leise auf das Dach der Sänfte, wie das Getrippel einer tanzenden
Frau. Dann standen die Diener, nach Stunden, schien es ihm, still. Man hob
Kiri aus der Sänfte heraus. Er ließ alles geschehen und sah nur mit offenen
Augen zu, daß man ihn in ein Boot legte. Es war ein vornehmes, großes Boot,
ein Samuraiboot. Ein Goldlackhaus stand inmitten des Bootes. Eine große
rote Laterne brannte am Kiel, und die Diener legten ihn auf die Diele des
Goldlackhauses. Und Kiri hörte wieder den Regen auf das Dach trippeln, wie
die Füße von hundert Tänzerinnen. Neben ihm saß das junge Mädchen, dessen
Arme ließen seinen Nacken nicht los. Nur durch die offene Tür des
Bootshauses sah Kiri an der roten Laterne, die ausgelöscht wurde und wieder
angezündet, daß es Tag und Nacht wurde. Aber wie viele Tage und Nächte
vergingen, das wußte er nicht.

Immer regnete der Regen, dieser seltsame Regen, der auch regnete, wenn die
Sonne am Tage hereinschien, und auch nachts, wenn die Sterne an der Tür des
Goldlackhauses standen, und der nur dann aufhörte, wenn das Mädchen neben
ihm für einen Augenblick die Wange an seine Wange legte, die Lippen an
seine Lippen und die Zungenspitze an seine Zungenspitze.

Allmählich aber wurde Kiri den Regen gewohnt, und eines Tages übte er
keinen Bann mehr auf seine Glieder. Aber er sah an dem erschrockenen
Gesicht des jungen Mädchens: es gefiel ihr nicht, daß er den Regen
vergessen, daß er sich aufrichten und sich umsehen konnte.

Da fragte Kiri sie: «Wo sind wir?»

«In Japan, Samurai», sagte das Mädchen ausweichend.

Achtmal wurde die Laterne draußen ausgelöscht und achtmal wieder
angezündet, und Kiri hatte wieder zählen gelernt. Am neunten Tag fragte er
abermals das Mädchen: «Wo sind wir in Japan?»

«Auf dem Biwasee, Samurai», sagte das Mädchen.

«Sind viele Menschen auf dem See?» fragte Kiri.

«Samurai, nur ich und du und die Ruderer und ein paar Diener deines
Hauses.»

«Aber ich höre viele Menschen auf dem See.»

«O Herr, es sind nicht Menschen, die du hörst. Das sind die vielen Füße des
Regens.»

Kiri schwieg noch einmal eine Nacht lang. Aber als die rote Laterne am
Morgen ausgelöscht wurde und der letzte Stern aus der offenen Tür ging,
richtete er sich auf und fragte: «Wo sind wir auf dem Biwasee?»

«Wir sind auf der Höhe von Karasaki, Herr», antwortete das Mädchen. Aber
ihre Stimme war vor Schreck nicht mehr ihre Stimme, und das Rascheln der
Seide ihrer Ärmel war lauter als ihre Sprache. Kiri mußte noch einmal
fragen, um sie zu verstehen, und er richtete sich auf und befahl mit
seinen Augen dem Mädchen, zu bleiben und ihn nicht mehr anzurühren. Aber er
hatte ihr nicht befohlen zu schweigen.

«Bleib doch bei mir, Samurai», sagte sie lauter und flehend. «Sieh, es wird
bald wieder Nacht draußen!» Und sie hob ihre weißen Händchen aus den Ärmeln
und langte nach den Zipfeln von Kiris Ärmeln und hielt sie mit ihren
kleinen Händen fester als ein Dornbusch.

Da lachte Kiri über die Kraft der kleinen Finger, blieb aufrecht sitzen und
hörte für eine Weile wieder den Regen.

Das Mädchen schmeichelte ihm und legte die Wange an seine Wange und sagte:
«Was willst du draußen, Samurai, wo es immer regnet?»

Und ihre Hände und ihre Stimme brachten es noch einmal fertig, daß Kiri
nicht aufstand und bei dem Mädchen sitzen blieb und sich schmeicheln ließ
und sie liebkoste.

Aber in derselben Nacht noch, gegen Mitternacht, als die rote Laterne vom
Kiel die Diele des Goldlackhauses rot beleuchtete, sah Kiri eine zweite
Laterne, eine gelbe, neben dem Kiel aufsteigen, und er erkannte, daß es der
gelbe Vollmond war.

«Wie kann es regnen», sagte Kiri zu dem Mädchen, «wenn der Vollmond draußen
neben der roten Laterne scheint?»

«Es regnet immer nachts über Karasaki», sagte das Mädchen und war zwiefach
von der Laterne und dem Mond beschienen.

«Du hast zwei Farben im Gesicht, als ob du lögest. Ich höre keinen Regen
mehr.»

«O, hörst du nicht mehr den Nachtregen über Karasaki?» sagte das Mädchen,
öffnete den großen Fächer und hielt ihn gegen den Mond und gegen die
Laterne, so daß ihr Gesicht dunkel war.

«Ich höre keinen Regen mehr. Laß uns aufstehen, ich will den See und die
Ufer im Vollmond sehen.»

«O, höre doch den Regen!» flehte das Mädchen. «Bleib!» Und sie hob wieder
ihre kleinen Hände, um ihn zu halten.

Da befahl Kiri ihr, die Hände in die Ärmel zu verstecken, und sagte:
«Schweig!»

Zum erstenmal seit vielen, vielen Tagen und Nächten stand Kiri auf und
fühlte wieder, daß er Füße, Knie, Schultern, Ellenbogen und eine atmende
Brust hatte. Und aus dem schwülen Räucherwerk, das in dem Lackhaus brannte,
trat er durch die offene Tür hinaus in das Boot, das sich bei Kiris
aufstampfendem Gang tiefer ins Wasser drückte.

«Ich will nach Karasaki fahren!» rief er den Ruderern zu. Und als er sich
gegen das Goldlackhaus umwandte, sah er oben auf der kleinen Altane des
Daches sechs Frauen sitzen. Drei hatten kleine Holztrommeln, und drei
hatten Mandolinen im Arm. Ihre Finger bewegten sich im Mondschein. Sie
schienen zu musizieren. Aber seltsamerweise hörte Kiri keinen Ton mehr im
Ohr, weder von den Trommeln, noch von den Mandolinen.

Kiri beachtete die Musikantinnen nicht lange, denn das Boot schoß jetzt auf
Karasaki zu. Und ganz Karasaki schien ihn zu erwarten.

Auf vielen Masten am Ufer waren Laternen aufgezogen, und lange Ketten von
farbigen Papierlaternen schillerten in der Luft und glitzerten im Wasser.
Je näher sie kamen, desto festlicher hob sich das erleuchtete Karasaki aus
der Nacht.

Kiri staunte eine Weile. Dann winkte er dem Mädchen, das drinnen noch immer
auf der Diele des Boothauses hockte und sich nicht rührte.

«Komm und sieh, wie Karasaki uns empfängt!»

Ganz schwach hörte Kiri des Mädchens Stimme zurück:

«O, komm wieder herein, Geliebtester! Komm herein zu mir! Das ist der
Nachtregen von Karasaki, der draußen im Mondschein glänzt. Es sind die
Ketten der Regentropfen, die im Vollmond glitzern. Hörst und siehst du
nicht den Nachtregen?»

Da stampfte Kiri ungeduldig, daß das Boot sich unter seinen Füßen noch
tiefer ins Wasser senkte, und rief:

«Stehe ich nicht auf meinen zwei Füßen? Sehe ich nicht mit meinen zwei
Augen? Fühle ich nicht mit meinen zwei Händen, daß die Luft trocken ist!?»

Da kam das Mädchen aus dem Boothaus und rief rasch zu den Musikantinnen auf
das Dach hinauf:

«Spielt lauter! Bei allen Göttinnen bitte ich euch: spielt lauter!»

«Spielen die dort oben, oder spielen sie nicht?» fragte plötzlich Kiri.

«Zwei von ihnen spielten immer, Herr. Jetzt spielen aber alle sechs. Hörst
du nicht, Geliebter? Höre doch! Komm in das Haus! Du hörst vor dem
Ruderrauschen hier draußen nichts. Komm in das Haus!»

«Nein, ich höre nichts. Aber welches Lied spielen sie?»

«O Herr, sie spielen das Regenlied. Verzeiht! Sie spielen das Lied schon
seit Wochen, um dich einzuschläfern, Herr. Ich habe gelogen, Herr.» Das
Mädchen warf sich vor Kiri nieder. «O Geliebter, ich habe dich nicht von
mir lassen wollen. Das ganze Land war voll Krieg. Die Samurais aus dem
ganzen Land zogen in den Krieg. Seit Wochen tobt der Krieg. Als die Tempel
den Krieg verkündeten, habe ich dein Schwert verstecken lassen und habe
dich einschläfern lassen mit dem Regenlied und habe dich im Arm gehalten
und habe dich in eine Sänfte bringen lassen. Und die Musikanten, die das
Regenlied spielten, haben dich begleitet bis an den Biwasee, und ich habe
ihnen befohlen, sich auf das Dach zu setzen, und zwei von ihnen mußten
immer spielen, Tag und Nacht. Und ich habe dich nicht von meiner Seite
lassen können Tag und Nacht, vor Furcht, daß dich der Krieg töte, wenn du
ans Land gingest, und vor Furcht, daß der Tod dann mein Geliebter würde.

Jetzt aber sehe ich, daß Friede am Land ist. Deshalb glänzt Karasaki
festlich beleuchtet in der Nacht. Und ich bin froh, daß Friede wurde, denn
dein Ohr wollte nicht mehr auf die Musik des Regenliedes hören, und ich
fühlte seit Tagen, daß ich dich nicht mehr aufhalten könnte, wenn du die
Musik nicht mehr hörtest und an den Regen nicht mehr glaubtest.

Sieh, Geliebter, jetzt kann ich dich nicht mehr verlieren. Jetzt können wir
in unser Haus zurückkehren. Ich habe dein und mein Leben gerettet. Denn die
Toten können sich nicht küssen, nur die Lebenden.

Was hast du, Geliebter? Blendet dich das Mondlicht? O, bei den Göttern, ich
hatte doch kein Gift auf meinen Lippen, als ich dich küßte! Warum wirfst du
dich auf deine Knie? Warum schüttelst du die Fäuste in die Luft? Warum
wird dein Haar lebendig und sträubt sich wie bei einer Katze?

O Götter! Deine Augen quellen dir aus dem Kopf! Samurai, bist du vergiftet?
Suchen deine Hände dein Schwert an den Hüften? Ich will dir's bringen.
Verzeih, wenn ich dein Eigentum versteckte. Dein Schwert ist hier im
Lackhaus, im Wandschrank.»

Während das junge Mädchen noch flehte, hatte sich der Mond bedeckt. Aber
Kiris Gesicht leuchtete, als wäre es aus Phosphor. Seine Armmuskeln wölbten
sich, seine Fäuste schlugen in die Luft, seine Brust keuchte:

«Mein Schwert!»

Dann stürzte er an dem Mädchen vorüber in das Lackhaus und zerbrach die
Wandschranktür, die sich nicht sofort öffnete. Aber kaum berührten seine
Finger das Schwert, das dort in seidenem Futteral lag, da fiel der Mann
weich wie Schaum zusammen und warf sich schluchzend und weinend auf die
Diele und preßte sein Schwert an seine Brust, als wäre es seine
wiedergefundene Geliebte.

Eine Weile noch tobte sein Stöhnen, sein Schluchzen. Dann hob er sein
tränenüberströmtes Gesicht, setzte sich mit gekreuzten Beinen ruhig auf den
Boden, löste den Seidengürtel seines Obergewandes, zog das kurze Schwert
aus der dicken geschnitzten Elfenbeinscheide, strich mit der äußerst feinen
Schneide des Schwertes über den Haarbüschel an seiner nackten Brust,
schnitt ihn glatt ab und lächelte eine Sekunde zufrieden über die gute,
treue Schärfe des Stahls. Dann sagte er ruhig, beherrscht zu dem Mädchen,
mit einem Tonfall und einer Stimme, als wäre nichts geschehen:

«Mach dich bereit! Wir müssen jetzt sterben!»

Das Mädchen, das ihm in das Haus gefolgt war, kauerte neben ihm, willenlos
und bleich wie eine hingewehte weiße Feder. Sie antwortete ihm nur mit dem
einen Wort:

«Geliebter!»

Aber diese Antwort brachte wieder den alten Sturm in Kiri herauf. Alle
Muskeln an seinem Leibe zuckten, als würden sie von Zangen zerrissen. Darf
je ein Samurai sein Schwert verlassen? Hatten nicht die Gongs der Tempel
und selbst der große Kriegsgong, der tief in der Erde begraben ist, Kiri
und sein Schwert vor Wochen gerufen? Die Erde hätte ihn mit ihrem Feuer
verschlungen, wenn er nicht in den Krieg gegangen wäre; denn jeder Samurai
ist der Sohn der Erde und der Sohn des Feuers. Beide Gewalten haben ihn
geboren. Nur das Wasser hat nichts mit seiner Geburt zu schaffen. Dem
Wasser ist er fremd, und es erkennt den Samurai nicht an, nicht den
Krieger, denn das Wasser ist sanft und ausweichend. Und das Wasser ist der
Tod des kriegerischen Feuers.

Nur auf dem Wasser konnte ein japanischer Samurai einen Krieg versäumen.
Nur eingelullt vom Regen und fern von allen Ufern, konnten die Ohren eines
Samurai den Kriegsgesang der japanischen Erde nicht mehr hören.

Aber hat ein Krieger einen Kampf ausweichend versäumt, so ist seine adlige
Seele erniedrigt, seine Unsterblichkeit, die ihm als Held angeboren ist,
wird ihm dann für immer genommen, und sein nächstes Leben ist das eines
gemeinen Mannes aus dem Volke.

Doch das Schicksal gewährt dem Entehrten noch eine Gunst, wenn es der
Zufall geben will und sein Mut, daß er im nächsten Leben als gemeiner Mann
einen Heldentod stirbt, -- dann erlangt seine Seele wieder die alte
Unsterblichkeit und den alten Adel seiner Vergangenheit zurück. Bis dahin
aber muß er niedrig denken, niedrig handeln und ist nicht zu unterscheiden
von den niedersten des Volkes.

Kiri sprach: «Weib, deine Liebe zu mir wurde der Tod meines Adels und aller
meiner vergangenen adligen Leben. Aber du hast aus Liebe gehandelt, und
Liebe ist vor den Göttern unstrafbar. Darum hoffe ich, daß mich die Götter
begünstigen und dich und mich im nächsten Leben aus der Erniedrigung wieder
zum alten Adel erheben.

Ich hasse dich nicht. Ich muß dich lieben trotz des Todes, den du uns
antust.

Ich will zwei Fragen an das Schicksal stellen, ehe wir beide sterben:

Ihr Götter, könnt ihr durch einen Zufall drüben in Karasaki alle Lampen des
Friedensfestes auslöschen, dann will ich euch glauben, daß ihr mir im
nächsten Leben eine Gelegenheit gebt, durch Krieg ein Held zu werden.
Trotzdem ich heute noch nicht verstehen kann, wie ihr dazu helfen wollt, da
ich als niedriger Mann wieder geboren werde und dann nicht zum Kriegerstand
gehöre und kein Schwert besitzen darf. Aber ihr Götter, euch ist nichts
unmöglich. Gebt mir das Zeichen!» --

Die rote Laterne draußen am Kiel hob und senkte sich jetzt auf den
Strandwellen von Karasaki. Bei jeder Senkung tauchten die Lichterketten des
festlichen Ufers wie feurige Girlanden über die rote Laterne des Kiels und
senkten sich wieder und verschwanden hinter den Bootrand.

Nach einer Weile tauchten die Lichter von Karasaki plötzlich nicht mehr
auf.

Kiri wartete und wartete und sagte mit gedämpfter und bewundernder Stimme
zu dem Mädchen:

«Geh und frage die Bootsleute, warum sie die Richtung geändert haben und
nicht mehr auf Karasaki zufahren, wie ich befohlen habe. Denn du siehst:
die hellen Ufer sind verschwunden, und der Kiel fährt in die Dunkelheit.»

Das Mädchen wollte gehorchen und zu den Bootsleuten gehen und fragen. Aber
sie blieb unter der Türe stehen und sagte:

«Herr, ich sehe: es regnet. Der Regen hat die Festlichter von Karasaki
ausgelöscht.»

Da fragte Kiri lachend:

«Ist es ein lauter Regen?»

Das Mädchen beteuerte:

«O, Samurai, es regnet wirklich dieses Mal. Es regnet laut.»

«Das ist der Regen der Götter. Aber ich höre ihn nicht», sagte Kiri
feierlich und hielt den Atem an.

Das Mädchen setzte sich wieder zu Kiri, und beide lauschten. Von Zeit zu
Zeit fragte der Mann das Mädchen:

«Wird der Regen lauter? Ich höre ihn nicht.»

Dann hüllte das Weib sein Gesicht in die seidenen Ärmel und schluchzte.

Kiri fragte:

«Fürchtest du dich vor dem Tode?»

«O Herr, mit dir zu sterben, ist kein Tod. Aber ich fürchte mich vor der
Ungewißheit, ob die Götter mich im nächsten Leben mit dir leben lassen.
Wenn du wenigstens den Nachtregen über Karasaki wieder hören würdest, dann
würde ich das als Zeichen nehmen, daß die Götter mir verzeihen und mich im
nächsten Leben wieder mit dir leben lassen.»

Und das Mädchen legte seine Wange an Kiris Wange. Da war es dem Samurai,
als ob ihm die Ohren auftauten, und er sagte:

«Ich höre den Nachtregen über Karasaki. Und ich höre, daß wir uns wieder
sehen und wieder lieben werden.»

«O, Dank allen Göttern, und Dank auch dir, daß du mir verziehen hast,
Samurai. O, könnte ich dir im nächsten Leben den Weg zum Krieg zeigen und
dir dein Schwert wieder schenken.»

«Auch dieses werden die Götter erfüllen», antwortete Kiri, «denn wenn sie
zwei Lebenden zwei Wünsche erfüllt haben, so legen sie die Erfüllung des
dritten Wunsches als Göttergabe dazu.» --

Die beiden umarmten sich nicht mehr. Und der Samurai nahm sein Schwert,
stellte es senkrecht gegen seinen eigenen Leib, drückte es an seine
Eingeweide und zog den Harakirischnitt waagrecht durch seine Gedärme ...

Das Mädchen war leise aufgestanden und hatte sich hinter den Mann gestellt;
als er umsank, fiel sein Kopf an ihre Knie und glitt sanft auf den Boden.
Sie nahm das vom Blut verdunkelte Schwert dem Toten aus der Hand, stemmte
es an ihr Herz und stürzte sich in die Schwertspitze.

Draußen tönte der Nachtregen auf das Dach des Bootgemaches, und der Kahn
fuhr schurrend auf den Kiesstrand von Karasaki. Und die rote Kiellaterne
stand still wie angemauert im Regen.

                  *       *       *       *       *

Dieses alles erlebte Kiri, der junge Fischer, jetzt, als er das Mädchen,
das ihn auf dem See anredete, gefragt hatte: «Wer bist du?»

«Kennst du mich nun?» fragte die Stimme wieder aus dem Dunkel.

«Ich kenne dich wieder. Aber zeige dich nicht. Gib mir mein Schwert! Gib
mir den Krieg! Ich bin ein armer Fischer jetzt.»

«Wirf dein Netz aus!» sagte des Mädchens Stimme.

«Es sind keine Fische heute nacht im See, und ich will nicht länger ein
Fischer sein, seit ich weiß, daß ich einst ein Samurai war.»

«Wirf dein Netz aus!» sagte die Stimme wieder.

«Ich kann im Dunkeln nicht sehen», sagte der junge Fischer, «und ich habe
keinen Feuerstein da, meine Fackel anzuzünden. Wie soll ich im Dunkeln
wissen, wohin ich mein Netz werfe!»

«Wirf dein Netz aus und vertraue mir!» sagte noch einmal die Stimme.

Unwillig griff der junge Bursche nach dem Netz. Aber er warf es nicht mit
gewohntem Griff über den Bootrand, sondern er schleuderte es in die Luft
und sagte zu dem Netz:

«Geh zu den Göttern! Ich will kein Fischer mehr sein, seit ich weiß, daß
ich ein Samurai war.»

Plötzlich begannen alle Netzmaschen wie ein Sternschnuppenfall in der Luft
zu leuchten. Das fortgeschleuderte Netz wurde zu vielen elektrischen
Blitzen und fiel wie ein blaues Maschengewebe aus elektrischem Feuer in den
See.

«Gut, du bist ein gutes Netz und hast gehorcht», sagte Kiri stolz in die
Luft. «Du hast Feuer gefangen, so wie ich Feuer gefangen habe, seit ich
weiß, wer ich bin.»

«Greife ins Wasser und ziehe dein Netz wieder über den Bootrand! Dann will
ich dir zeigen, was deine Arbeit sein wird, Samurai.»

Kiri griff aufs Geratewohl ins Wasser und zog einen blauglühenden Strick
aus der Tiefe. Aber er fühlte, daß er keine Kraft besaß, den Strick nur um
das kleinste höher zu ziehen. Es war, als lägen steinerne Berge in seinem
Netz: der Strick rückte nicht von der Stelle.

«Deine Kraft wird über dich kommen zu deiner Stunde», sagte das Mädchen.

Aber Kiri war unwillig und schüttelte den Strick, verzweifelt über seine
Ohnmacht.

«Binde den Strick am Bug des Schiffes fest und nimm deine Ruder und
rudere!» befahl ihm die Stimme, und der junge Fischer tat so.

Und wie er ruderte, schien es ihm, als würde der See in der Tiefe hell.

«Sieh jetzt um, über deine Schulter in dein Netz; und alles, was darin ist,
wird deine Samuraiarbeit sein.»

Kiri sah hinter sich den ganzen weiten See von den Maschen eines riesigen
feurigen Netzes leuchten. Drinnen in dem Netz lagen die zerstückelten
Leichen von abendländischen Offizieren, Arme, Beine, Köpfe, Kanonenrohre,
Bajonette, blutig, zerschossen, zerfetzt und zertrümmert. Es war, als
schleife das feurige Netz den ganzen See wie ein zuckendes Schlachtfeld
hinter sich her.

Es schauderte Kiri. Entsetzt ließ er die Ruder ins Wasser fallen. Das
niedrige Gemüt des Fischersohnes überwältigte ihn. Er griff nach einem
Fischbottich, der auf dem Grunde des Bootes stand, und stülpte ihn über
seinen Kopf, um nichts mehr zu sehen. Er klapperte mit den Zähnen, daß der
Bottich dröhnte, und getraute sich mit seinem Kopf nicht mehr aus seinem
Versteck heraus. Er wollte nichts mehr sehen, nichts mehr hören, bis ein
paar Fäuste von außen an den Bottich trommelten und ihn die Stimme seines
Vaters anrief:

«Kiri, bei allen Göttern, was treibst du, Junge? Wo hast du dein Netz
gelassen? Wo sind deine Ruder?»

Kiri zog vorsichtig seinen Kopf aus dem Versteck. Er sah im Morgendampf den
Vater im Strohmantel vor sich in einem andern Boot, und viele Boote waren
um ihn versammelt. Aber keiner der andern Fischer lachte ihn aus. Es
schien, als hätten sie alle dasselbe erlebt, denn alle waren bleich, und
alle waren ernst. Alle Boote drängten nach den Ufern; Boote, die sonst
wochenlang draußen zu liegen pflegten, -- alle kamen in Scharen
herbeigeströmt, und die Frauen der Fischer trippelten am Ufer, jede mit
einem Kind auf dem Rücken bepackt, und jede umgeben von einem Kinderkreis.
Aber der Uferlinie entlang standen im Morgennebel die rauchenden
Scheiterhaufen von großen Signalfeuern, die man angezündet hatte, um die
Fischer von draußen ans Land zu rufen.

Und nun sah Kiri, wenn der Morgenwind die Rauchwolken zur Seite rückte,
Gruppen von kleinen japanischen Offizieren und Soldaten in europäischen
Uniformen. Bajonette blitzten im Morgennebel, und hie und da leuchteten rot
und gelb und golden im Morgengrau die Borten und Uniformaufschläge an den
Soldaten.

«Kiri, du mußt in den Krieg», sagte der Vater. «Heute hat Japan den Krieg
mit Rußland angefangen, drüben über dem chinesischen Meer in der
Mandschurei.»

«Ich bin kein Samurai! Ich will nicht in den Krieg», sagte Kiri. «Ich habe
schreckliche Träume heute nacht gehabt. Ich habe Netz und Ruder dabei
verloren. Ich will nicht in den Krieg und auch noch den Kopf verlieren.»

«Du wirst nicht gefragt, ob du willst. Du mußt in den Krieg! Heutzutage
sind alle Männer, die einen rechten Arm und einen linken Arm, ein rechtes
Bein und ein linkes gesundes Bein am gesunden Leib haben, Samurais. Du bist
glücklicher als ich, mein Sohn. Zu meiner Zeit war das nicht so, und wir
armen Fischer bekamen kein Schwert vom Kaiser von Japan zugeschickt. Drüben
am Ufer stehen die Soldaten, die dir vom Kaiser einen neuen Anzug und
kaiserliche Waffen bringen. Geh in den Krieg, mein Sohn! Dort bekommst du
auch das Brot des Kaisers zu essen. Das ist ein Brot, das jeden Japaner
mutig und unsterblich macht.»

Aber jetzt kam Kiris Mutter an das landende Boot gelaufen. Sie schüttelte
ihre Hände in die Luft und wehrte Kiri, er solle nicht landen, und rief:

«Kiri, flieh, fliehe! Die Soldaten wollen dich uns holen! Schwimm in den
See hinaus! Der Biwasee wird dich verstecken! Eine alte Frau hat mir
prophezeit, daß du unsterblich bist vom Tage an, wo du den See betrittst,
aber daß du sterben wirst, wenn ein Krieg ausbricht und du ans Land
kommst.»

«Mach deinen Sohn nicht feig, Wolke vor dem Mond», sagte der Vater zu Kiris
Mutter. Und er zog sein eigenes Boot mit beiden Händen ans Land, erwartend,
daß sein Sohn ihm folgen würde.

Aber Kiri, bleich und grau vor kleinlicher Furcht, schlotterte vor Angst
und Kälte in seiner dünnen, blauen Leinwandjacke. Er tat, als wolle er
aussteigen, aber als sein Vater fortsah, griff er nach den Rudern in dem
Boote seines Vaters, stemmte ein Ruder auf den Kies und stieß sein Boot
zwischen den andern Booten durch in den See hinaus und rief seinem Vater
zu:

«Ich will mein Netz noch suchen, das draußen bei meinen Rudern schwimmt.»

In allen Kähnen, wo man die Unterhaltung des Alten mit dem Jungen gehört
hatte, lachten die ernstesten Leute hell auf über Kiris feigen Rückzug.

«Er tritt den Krebsgang an», lachten einige Fischerburschen, die am Ufer
standen und Uniformen anprobierten.

«Er wird wiederkommen», sagte der Vater dumpf.

«Er ist unser einziges Kind. Er braucht nicht in den Krieg», jammerte die
Mutter. «Wir sind keine Samurais, die sich für andere töten lassen. Wir
sind arme Fischersleute. Er soll nur sein Netz holen! Kiri soll nur draußen
auf dem See bleiben, bis die Soldaten fortgezogen sind. Der See kann ihn
ernähren.»

Kiri kam nicht am Abend und nicht am nächsten Tag und auch in den nächsten
Wochen nicht mehr nach Hause.

Nach Monaten fanden Leute aus Karasaki Kiris Boot im Uferschilf versteckt,
und man sagte, er müsse wahrscheinlich im Schilf verborgen von Krebsen,
Wildenteneiern und Fischen leben.

Aber als es dann Winter wurde, der See zufror, das Schilf abgemäht war und
die weiße Schneekruste an allen Ufern lag, und Kiri kam immer noch nicht zu
seinen Eltern heim, meinten einige, Kiri müsse ertrunken sein. Doch sein
Vater behauptete unerschütterlich:

«Kiri ist in den Krieg gezogen.»

Nur die Mutter wünschte, daß er noch auf dem See sei, wenn auch das Wasser
zugefroren war. Denn draußen auf dem See war Kiri unsterblich, wenn er auch
nichts aß, nichts trank. Er konnte nicht erfrieren, er konnte auf der
Eisfläche irgendwo liegen und schlafen, und im Frühling, wenn der Krieg aus
war, konnte er heimschwimmen. Alles dieses konnte möglich sein, dachte die
alte Frau, da die Prophezeiung Kiri für unsterblich erklärt hatte, so lange
er auf dem See bleiben würde.

Aber der Frühling kam, und der Krieg dauerte, und Port Arthur hatte sich
noch nicht ergeben. Und das Schilf wuchs, und der See rauschte. Zwar waren
alle Männer im Krieg und keine Fischerboote auf dem Wasser. Aber so lange
Kiri nicht vom See heimkehrte, war er für seine Mutter unsterblich.

Endlich war der Krieg zu Ende. Viele Fischer kehrten heim. Fast zwei Jahre
dauerte der Heimzug, bis die letzten angekommen waren. Dann baute man in
den kleinsten Dörfern aus Kiefernzweigen Triumphbogen.

«Es sind noch ein paar Regimenter in der Mandschurei», sagte Kiris Vater zu
den Fischern; «Kiri kann noch immer heimkehren.»

Aber die Leute verlachten den Alten wegen seines feigen Sohnes. Und auch
die Mutter sah nicht mehr auf den See hinaus, weil der Sohn nicht
heimkehrte und sie nicht mehr an seine Unsterblichkeit glaubte.

Eines Tages hat sie ihren Zweifel laut ausgesprochen und zu ihrem Manne
gesagt: «Unser Sohn ist tot. Wir haben keinen Sohn mehr. Ich will heute
nacht eine kleine Kerze zu seinem Gedächtnis vor dem Gott des Biwasees in
einer Zimmerecke anzünden.»

«Tu das!» sagte der Vater. «Ich will vor dem bronzenen Kriegsgott in
Karasaki eine Räucherstange für die Nacht anzünden lassen. Die Götter
werden uns vielleicht antworten und uns sagen, ob unser Sohn im Himmel bei
den Helden oder im See bei den Krebsen ist.»

Die beiden Alten taten, was sie sich vorgenommen hatten. Und der Vater
kniete in dieser Nacht, das Gesicht auf der Erde, vor der bronzenen Statue
des Kriegsgottes von Karasaki. Die Mutter kniete zu Hause in der Zimmerecke
vor dem vergoldeten Gotte des Biwasees.

Als es Mitternacht war, begann ein feiner Regen über Karasaki zu fallen.
Der Vater im Tempel konnte nicht beten. Er mußte immer dem Regen zuhören,
der auf die Ziegelhäuser der Tempeldächer pochte. Der Mutter zu Hause ging
es ebenso. Sie lauschte dem Regen, der auf die Altanen draußen fiel und an
die ölgetränkten Papierscheiben trommelte. Und sie mußte bei dem unruhigen
Regen die Schritte von zwei Fremden überhört haben, denn ein vornehm
gekleideter Samurai in schwarzer Zeremonientracht, eine vornehm gekleidete,
schwarze Samuraifrau in Schleppgewändern, die schoben gegen Mitternacht die
Türen zum Gemach der Alten auf und fragten sie, ob sie sich einen
Augenblick bei ihr ausruhen dürften. Sie seien auf dem Weg nach Tokio, wo
übermorgen das große Siegesfest sei, mit dem der Kaiser und die Minister
das Gedächtnis der großen Helden von Port Arthur feiern würden.

«Mutter, laßt Euch im Beten nicht stören», sagte der junge Samurai. «Wir
sitzen nur einen Augenblick hier hinter Eurem Rücken und horchen auf den
Nachtregen von Karasaki.»

Es regnete. Und Gebet und Regen schläferten die alte Frau ein. Ihr Mann,
der morgens vom Tempel heimkam, weckte sie, und sie hatte den Samuraibesuch
ganz vergessen. Das Zimmer war längst leer, und die beiden Nachtwanderer
waren verschwunden.

«Liebe Wolke vor dem Mond», sagte der alte Fischer, «zieh deine besten
Kleider an! Nimm die Wandersandalen vom Nagel! Wir müssen eine Reise
machen. Der Kriegsgott hat es mir heute nacht befohlen.»

«Wie kann ich auf meine alten Tage noch reisen?» sagte die Frau. «Wenn ich
wüßte, wo mein Sohn wäre, ja, dann würde ich hinreisen.»

«Unser Sohn ist in Tokio», sagte der Alte. «Als ich heute nacht im Tempel
betete, kamen zwei Fremde herein und knieten an meiner Seite nieder. Es
waren ein junger Samurai und seine Frau. Da konnte ich nicht mehr beten und
ging auf die überdachte Tempelaltane und horchte auf den Nachtregen, der
über Karasaki fiel. Und, denke dir, wie ich dort sitze, kommt derselbe
Samurai, den ich eben noch drinnen neben mir knien sah, heraus. Aber er war
nicht mehr im schwarzen Zeremonienkleid. Er hatte Panzer, Schwert, Speer
und Helm des Kriegsgottes auf, und er deutete mit dem Speer nach der
Sternenrichtung von Tokio und er sagte:

'Vater, du suchst deinen Sohn! Du wirst ihn in Tokio wiederfinden!'

Für einen Augenblick war es mir, als wäre es Kiri selbst, der in der
altmodischen Rüstung vor mir stand. Wie ich aber genau hinsehen wollte, war
nichts als die Nachtluft um mich; und der große Hanfstrick, der über dem
Tempeltore hängt und die Geister vertreibt, schaukelte im Windzug, indessen
alle Tempeldächer im Regen wie Trommeln redeten.»

«Hier bei mir war auch ein Samurai mit seiner Frau», sagte die 'Wolke vor
dem Mond'. «Ich habe ihn aber nicht als meinen Sohn erkannt. Er redete
fremd und feierlich und vornehm, wie ich Kiri nie sonst reden hörte. Er
blieb nicht lange hier mit seiner Frau. Er wollte nur etwas am Wege
ausruhen und dem Nachtregen von Karasaki lauschen. Wahrscheinlich hatte er
seine Tragsessel und die Träger vorausgeschickt, der Samurai. Denn ich
hörte keinen Laut ums Haus, nicht da sie kamen, und nicht da sie gingen.

Aber wenn du sagst, daß dein Samurai im Tempel aussah wie unser Sohn, dann
erinnere ich mich, daß auch mein Samurai hier Ähnlichkeit mit Kiri hatte.
Aber wie hätte ich ihn erkennen können! Dieses Samuraigesicht war sehr
zerschlagen von Kriegswunden, und die Narben entstellten die Gesichtszüge.
Und die Narben waren so dicht über seinen Händen und über seinem Gesicht,
wie die Maschen in einem Fischernetz. Da war kaum ein fingerbreites
Stückchen Fleisch an seinem Gesicht, das nicht durch eine Narbe zertrennt
gewesen wäre. Ich habe meinen Sohn nicht erkannt.»

«Du hast deinen Sohn niemals erkannt, 'Wolke vor dem Mond', aber du wirst
ihn in Tokio gleich erkennen», sagte der alte Fischer.

Am nächsten Morgen reisten die beiden Alten nach Tokio. Erst mußten sie
wandern, und dann konnten sie die Eisenbahn nach Tokio benützen. Sie kamen
am Morgen dort an und nahmen sich nicht die Zeit, in ein Gasthaus zu gehen.

Die Stadt war überfüllt von Japanern aus allen Landesteilen. Aber als die
beiden Leute vor den Menschenmassen in den Straßen standen, wurde ihnen
sehr bang, und sie fragten sich im Herzen: Wie sollen wir Kiri hier finden?
Eher findet man ein verlorengegangenes Ruder auf dem großen Biwasee, als
einen verlorengegangenen Menschen in dieser großen Stadt.

Wie sie noch beratschlagten, kam ein Rikschawagen auf sie zugefahren, und
drinnen saß einer der angesehensten Männer aus Karasaki. Er war so hoch an
Rang, daß er die armen Fischerleute auf den Straßen von Karasaki niemals
angeredet hatte. Aber jetzt hielt er seine Rikscha an, winkte zehn
Rikschas, welche ihm folgten und in welchen dem Range nach lauter
angesehene Männer von Karasaki saßen, Männer, die im Krieg gewesen waren,
und Familienoberhäupter, die im Krieg Söhne verloren hatten.

«O Herr», sagte der hohe Beamte und verbeugte sich aufs tiefste vor dem
alten Fischer, «welch ein Glück, daß ihr schon hier seid! Haben euch die
Kuriere des Kaisers geholt? Habt ihr die Telegramme erhalten, die man heute
nacht aus Tokio an euch schickte? Habt ihr den Sonderzug erhalten, mit dem
man euch heute hierher holen wollte?»

Und alle andern Männer aus den zehn Rikschas standen mit tief gebeugten
Rücken vor dem alten Fischerpaar und getrauten sich nicht mehr, sich
aufzurichten, als verbeugten sie sich vor dem Kaiser selbst.

Und nun schienen die Menschen auf den Straßen von Tokio und die Gesichter
auf den Straßen keinen Rücken und keine Rückseite mehr zu haben. Nur Wangen
und Augen und Augen und Wangen strahlten den beiden Fischersleuten
entgegen, ihnen, die die Eltern des großen Helden Kiri waren, von dem man
sagte, daß er vor dem Tor von Port Arthur eines dreihunderttausendfachen
Todes gestorben sei. Dreihunderttausendmal hatte er sich in den
Kriegsjahren dem Tod ausgesetzt. Immer dort, wo die Gefechte am schlimmsten
waren, sah man ihn auftauchen. Einmal schleppte er Arme voll Dynamit vor
das eiserne Tor eines Forts. Um den japanischen Truppen den Eingang in das
Fort zu verschaffen, lief er seinem Regiment voraus und warf am Eisentor
das Dynamit sich selbst vor die Füße und stampfte darauf, so daß das
massive Tor sich wie der Deckel einer Sardinenbüchse auftat; aber Kiri
blieb mitten in der Dynamitexplosion unversehrt wie ein Ei auf Stroh.

In den Wolfsgräben, auf deren Grund die Russen Bajonette senkrecht
eingerammt hatten, warf Kiri sich hunderte Male steif wie ein Balken quer
über die Bajonette und ließ seine Kameraden über seinen Rücken laufen. Und
er blieb steif gestreckt, und sein Leib widerstand den Spitzen der
Bajonette, so hart machte der Mut seinen Körper, so hart, daß die Bajonette
nicht einmal seine Augäpfel zerschnitten hatten, bis der letzte seines
Regiments über ihn weggeschritten war. Dann stand er heil und unversehrt
auf.

Zum letzten Male, als man von Kiri hörte, verdingte er sich verkleidet als
russischer Lotse, gelangte an das russische Admiralsschiff und führt es in
einem Morgennebel vor die Kanonen der im Nebel verborgenen japanischen
Flotte. Mit diesem Schiff war Kiri untergegangen, und niemand hatte ihn
seitdem wiedergesehen.

Waffen, die er getragen, Uniformstücke, die seine Kameraden von ihm
aufgehoben hatten, alles lag jetzt auf dem Ehrenplatz im Kriegsmuseum,
dicht neben dem eroberten zerschossenen Feldbett des russischen Generals
Kuropatkin.

Nun hatte es sich von Mund zu Mund auf den Straßen von Tokio
weitergesprochen, daß die Eltern des großen Kriegshelden Kiri, die Mutter,
die ihn im Schoß getragen, der Vater, der ihn gezeugt hatte, auf das
Paradefeld kämen. Dort stand ein mächtiger stacheliger Triumphbogen,
aufgebaut aus erbeuteten russischen Bajonetten. Weit über das morgensonnige
Feld blendeten die langen Reihen von erbeuteten russischen Kanonen,
aufgestapelten Stahlgranaten und eroberten Torpedogeschossen. Und über der
Holzhalle des Kriegsmuseums wimmelte ein Wald von erbeuteten Fahnen, die
den Himmel bunt belebten, ähnlich den bunten Scharen von Papierfischen, die
am ersten April über den Dächern flattern.

Der Älteste der angesehenen Männer aus Karasaki sagte: «Alle diese Fahnen
hat euer Kiri erbeutet! Für jede seiner Heldentaten hängt eine Fahne dort
über dem Dach des Kriegsmuseums, in dem euer Sohn jetzt als ewiger Name
wohnt, angebetet vom japanischen Volk wie ein Kriegsgott.» --

Geehrt von Kaiser und Reich, kehrten die Fischersleute nach den
Friedensfeierlichkeiten wieder heim nach Karasaki. Und als man ihnen in der
Stadt Karasaki eine neue Hütte bauen wollte und dem Vater einen neuen Kahn
geben wollte, sträubten sich die beiden Alten und sagten: «Das Holz des
Kahnes und die Bambuswände der Hütte und die Papierscheiben, die mit uns
alt und grau geworden sind, und die mit Kiri so oft den Nachtregen fallen
hörten, -- alle diese Dinge sind wohltönend geworden vom Alter und den
Erinnerungen und wohltönend von dem Nachtregen, der melodisch auf sie
gefallen ist; wir leben im Alten wohler als im Neuen, wir alten Leute.»

Den Regen von Karasaki hören bedeutet am Biwasee heute noch, daß dich dann
nie ein Mißlaut beirren wird; denn Kiris Heldenseele lauscht mit dir, und
dieser Nachtregen singt von Liebe und Unsterblichkeit.



Die Abendglocke vom Miideratempel hören


Der älteste Baum Japans steht am Biwasee, nicht weit von der Stadt Ozu,
nicht weit von den Tempelterrassen des Miideratempels, der auf grünem Hügel
über einem Kryptomerienwalde liegt.

Als dieser viel tausend Jahre alte Baum nicht höher als ein Grashalm war,
leuchtete der harfenförmige Biwasee dicht bei dem Baumschößling ebenso wie
heute noch unverändert bei der alten, zerklüfteten Baumruine.

Dieser älteste Baum Japans stützt sich jetzt wie ein gealterter Gott, der
Hunderte von Armen vom Himmel über die Erde ausbreitet, auf Hunderte von
Stangen, die gleich Hunderten von Krücken und Stelzen sein morsches Dasein
tragen.

Damals, als der Baum jung wie ein Halm war, war aber der Miideratempel noch
nicht gebaut, und niemand hörte noch den wunderbaren Klang der
Miideraglocke, die abends beruhigend wie eine singende Frau ihre Stimme von
den Tempelterrassen an dem alten Uferbaum vorüber zur Harfe des Biwasees
schickt.

Dieser Baum wurde in ferner Vorzeit aus China nach Japan herüber gebracht,
als winziges Würzelein zuerst; und in Japan erfuhr man erst sehr spät seine
chinesische Geschichte.

Als der Baum so groß wie ein Menschenkind wurde, hatte er noch nicht mal
einen Japaner gesehen. Und als die ersten japanischen Menschen zu ihm
kamen, war er schon in den kräftigsten Mannesjahren und fast so hoch wie
die Kryptomerienbäume des nahen Bergwaldes.

So ein Baum, der nie von der Stelle rückt, und dessen Umgebung gleichfalls
nie fortreist, und der nur die Bewegungen der Jahreszeiten kennt, hat ein
vorzügliches Gedächtnis. Dieses drückt sich aber nicht darin aus, daß sich
sein Mark Gedanken macht über das, was gewesen ist oder was kommen wird,
sondern das Gedächtnis eines Baumes liegt immer offen an seiner Außenseite.
Die Furchen und Rinden haben sich jeden Tag mit Linien, Eingrabungen,
Knorpeln, Schürfungen die kleinsten Erlebnisse wie mit einer
stenographischen Schrift in Zeichenschrift notiert. Wie der Baum sich
dehnte, wenn ihm in der Welt wohl war, und sich verborkte und sich
verpanzerte, wenn ihn die Welt bedrohte, vergrübelte sich seine Rinde und
faltete sich zu einer Zeichenschrift.

Die Schriftgelehrten der Bäume sind die Ameisen, die Libellen, die Bienen,
die Vögel. Die Borkenkäfer und Borkenwürmer sind untergeordnetere
Schriftsetzer, die an der Schicksalssprache des Baumes, an der
Rindenschrift, mitarbeiten.

Diese Sprache der Bäume entdeckte eines Tages, als die Japaner noch
vorzeitliche Bastkleider, Blättergewänder und verwildertes Kopfhaar trugen,
nicht in Japan, sondern in China, ein weiser Einsiedler. Der hieß Ata-Mono.

Die Geschichte Ata-Monos liegt weit zurück; sie fällt vor die Entdeckung
des alten Baumes am Biwasee.

Als Ata-Mono die ersten Schriftzeichen in einem chinesischen Weidenbaum
entdeckte, las er auch in der Baumrinde das Mittel, seinen Leib
unsterblich zu erhalten. In dem Bast jenes Weidenbaumes in China stand
geschrieben, daß jeder Mensch, ob groß oder niedrig, ob klug oder
beschränkt, ob schwach oder stark, alt oder jung, sich die Unsterblichkeit
des Lebensfadens und auch des Leibes erhalten könne, wenn er einmal im
Leben beim Laut einer bestimmten Harfe einschlafe. Diese Harfe, sagte der
chinesische Weidenbaum, sei nicht in China, aber nicht weit über dem Meer
in einem kleinen Inselland, das damals in China noch keinen Namen hatte und
nur von einigen «das Land des ewigen Feuers» genannt wurde, weil der
Feuerkrater Fushiyama dort immer rauchte.

Ata-Mono suchte den Weg dorthin und las von Baum zu Baum die Rindensprache,
bis er ans Meer kam; aber niemand konnte ihn hinüberführen, denn nur
Schiffe, die durch Zufall nach dem Inselland verschlagen wurden, alle
hundert Jahre einmal, hatten Kunde von dem Feuerland gebracht, in dem
Ata-Monos Harfe liegen sollte.

Ata-Mono saß jetzt jahraus, jahrein am Meer und schmachtete nach der
Unsterblichkeit, kehrte seinem Vaterlande den Rücken und sah mit seinem
Angesicht Tag für Tag nach Osten, wo hinter den Wellenbergen das kleine
Land des ewigen Feuers war, darin die fremde Harfe liegen sollte.

Eines Tages kam ein Oststurm. Ata-Mono zog sich etwas weiter vom Strand
zurück. Da sah er in der Ferne über dem aufgerüttelten Meer ein vielarmiges
Wesen. Das kam mit senkrechtem Leib und dunkeln Krallen wie ein mächtiger,
belaubter Baum über das Meer geschossen.

Ata-Mono hielt die Erscheinung zuerst für ein Gespenst, dann für einen
Drachen, und dann erkannte er, daß der vielarmige, riesige, aufgerichtete
Körper wirklich ein Baum war, ein grüner, frischer Kryptomerienbaum mit
feuerrotem Stamm; denn die Rinden der Kryptomerienbäume leuchten rot, wenn
sie naß werden. Dieser Baum troff von Seewasser, schoß an den kiesigen
Strand; und als wandere er leibhaftig auf seinen Wurzeln, eilte er, vom
Wind getrieben, eine Viertelstunde tiefer in das Land hinein, bis er andere
Bäume fand, in deren Nähe er windgeschützt stehen blieb und sich mit seinen
Wurzeln, wie mit riesigen Adlerkrallen, feststellte.

Ata-Mono kannte keine Furcht; und als der wunderbare Baum wie eine rote
Fackel über das Wellengewühl des Meeres aufrecht daherkam und seine
finsteren Zweige wie schwarzen Rauch in die Luft streckte, da wich der
sehnsüchtige Träumer nicht zurück, denn er war ja der erste Vertraute, den
die Bäume sich unter den Menschen auserwählt und dem sie ihre Rindenschrift
in einer guten Stunde zu erkennen gegeben hatten; und er kannte keine
Furcht vor den Bäumen, auch nicht vor diesem seltsamen übers Meer
gewanderten Baumriesen.

Ata-Mono legte sich in dieser Nacht unter den neuangekommenen Baum, nachdem
er Wurzeln und Rinde von Tang, Seeschlamm und Seemuscheln gereinigt hatte;
und er schlief ein mit dem Bewußtsein, daß dieser Baum zu ihm allein nach
China und sonst zu keinem andern gesendet war. Und er freute sich, am
nächsten Morgen aus der Rinde dieses Baumes Schicksale und Gedanken und
Wünsche dieser Kryptomerie zu lesen und vielleicht zu erfahren, wie er nach
dem kleinen Land des ewigen Feuers zu jener Harfe gelangen könne.

Der Morgen kam, und Ata-Mono studierte bis zur untergehenden Sonne, ohne
zu essen, ohne zu trinken, ohne aufzuschauen, die Gruben, Windungen und
Furchen in der Rinde seines Baumkameraden. Aber es war ihm unmöglich, die
Zeichen der Rinde zu entziffern, er verstand nichts von der Sprache dieses
Baumes. Die Zeichensprache aller chinesischen Bäume konnte er lesen, an
diesem Baum aber blieb sie für ihn unleserlich. Und Ata-Mono weinte, als
die Sonne untergegangen war und er unter dem unbegreiflichen Baum saß,
unwissend und einsam.

«Wenn ich dich nicht lesen kann, so sprich!» schrie er den Baum ungeduldig
an, als die Sonne zum letzten Male aufleuchtete und den Stamm rot bestrich.

«Herrlicher, herrlicher Baum!» schrie Ata-Mono voll Entzücken, weil der
Baum von der Wurzel bis zur Krone wie eine feurige Kohle leuchtete.

Der Baum schwieg. Die Sonne ging unter.

Ata-Mono schrie: «Ich schwöre, daß ich nichts mehr essen und nichts mehr
trinken werde, bis du mich deine Rindenschrift lesen läßt, oder bis du mir
jemanden sendest, der mich deine Schrift lehrt.»

Und Ata-Mono lief zum Strand und stopfte sich den Mund mit Kieseln voll,
weil er nicht mehr essen, nicht mehr reden, nicht mehr schreien und nicht
mehr atmen wollte.

Halb erstickt lag er am Strande und haßte den neuen Baum und haßte China
und haßte seine Sehnsucht nach der Unsterblichkeit.

«Ich will die Harfe vergessen», dachte er und lag in den letzten Atemzügen.
Dann wurde ihm wohler. Wie beruhigend ist es doch, wenn man einen wilden
Wunsch aufgibt! Man steigt herab, wie von einem wilden Pferd, und hat
wieder festen Boden unter den Füßen.

Nach dieser beruhigenden Betrachtung richtete er sich gedankenlos auf, nahm
die Steine gedankenlos aus dem Munde und schöpfte frischen Atem. Dann
sprang er auf seine beiden Beine, streckte die Arme aus und lachte wieder
zum ersten Male seit vielen Jahren. Und seine Stirn, die immer gegrübelt
hatte, wurde blank und jung wie die aufgehende Mondscheibe.

«Ach, Mond, lebst du noch? Ich habe dich lange nicht gesehen.» Und Ata-Mono
bewunderte die kleinste Muschel im Mondschein, die Grübchen im Sand und die
Wölklein, die mit dem Mond zogen, denn er hatte seit Jahren nur Bäume und
Baumrinden gesehen und alles andere vergessen. Und nun ließ er auch sein
Gehör wieder zu sich kommen. Er, der nur mit den Augen an den Baumrinden
gelebt hatte, horchte, wie das Dünengras raschelte, wie die Dünenmäuse
miteinander wisperten, wie die Füchse hinter den Baumwurzeln bellten, wie
die Eulen sich zuriefen und wie die Fische im Mondschein plätscherten. Und
nachdem er sein Gehör befriedigt hatte, sagten seine Zunge und sein Gaumen
zu ihm, seine Zähne und sein Magen und sein gekühltes Blut: «Weißt du, es
gibt ganz andere Dinge zu essen, als Baumsaft und Baumrinde, wovon du dich
jahrelang genährt hast. Hörst du nicht? In der Ferne gackern Truthühner im
Schlaf. Und Schweine grunzen im Schlaf, weil ihnen der Mond auf die Rüssel
scheint. Und Bauernhöfe sind in der Nähe, wo du Eier, Schweinespeck,
gebackene Fische und Reis essen kannst. Und sehnst du dich nicht nach Wärme
am ganzen Leib? Und hast du nicht dort, wo den andern Menschen ein
verliebtes Herz sitzt, einen bitterkalten Fleck in der Brust?»

Ata-Mono seufzte tief auf, weil alles ihm wahr schien, was seine Sinne zu
ihm sagten. Er stand auf und erinnerte sich, daß die Menschen Kleider
trugen. Und er flocht sich noch in der Nacht ein langes Hemd aus gedörrtem
Tang, und er war eitel genug und flocht sich Ketten aus Muscheln daran und
Ketten aus Muscheln ins Haar, weil er den Dirnen, denen er begegnen sollte,
zu gefallen wünschte.

Ata-Mono ging dann, als es kaum Tag war, unter den letzten Sternen fort vom
Meere, wieder mit dem Gesicht in das chinesische Land hinein.

Bei dem ersten Bauernhaus standen drei Weiber an einem Brunnen. Die sagten
freundlich: «Guten Morgen, Ata-Mono.» Und Ata-Mono dankte und war
verwundert, daß man seinen Namen kannte, und er bat um etwas süßes Wasser.

Und während er noch wartete, bis der Eimer aus dem Brunnen stiege, ging
eines der drei Weiber grüßend fort.

Der erste Becher süßen Wassers, den er seit Jahren trank, schien ihm so
nahrhaft und so wohltuend, daß er glaubte, es würde ihn nie mehr dürsten.
Und er sagte zu den Frauen:

«Ich werde euch später danken, wenn ich einmal reich werde.»

Die Frauen verneigten sich vor Ata-Mono wie vor einem adligen Herrn und
sagten: «Du bist der Reichste im Lande!» Und ihr Gruß und ihre Ehrerbietung
machten, daß er sein Herz sich wieder erwärmen fühlte, als schiene ihm die
Sonne in den offenen Mund.

Ata-Mono ging, gesättigt durch den Wassertrunk, von dem Bauernhof fort,
tiefer in das Land, bewunderte die Reisfelder und die Maulbeerbäume und kam
zu einer Ortschaft. Die bestand nur aus zehn Häusern. Aber nahezu dreißig
Frauen standen am Eingang des Ortes. Und alle dreißig verneigten sich vor
Ata-Mono. Er erkannte unter den Frauen jene, welche die dritte gewesen an
dem Brunnen, an dem er vorher getrunken hatte, und die fortgegangen war und
hier seine Ankunft angesagt hatte. Er staunte darüber, daß das geschehen
war, und er wußte nicht, warum die Leute so viel Wesens aus ihm, dem
Unbekannten, machten.

Eine Frau wurde rot und trat vor und sagte: «Unsere Männer sind bei der
Feldarbeit und wissen nicht, daß du kommst. Nur wir haben es eben erst
durch eine Frau erfahren, daß du nach China zurückkehrst.»

Er konnte vor Staunen nicht antworten und kaum danken, -- so tief verfiel
er in Betrachtungen und erriet nicht, warum alle die Frauen Zeit und Lust
hätten, sich um ihn zu kümmern.

Ata-Mono hatte noch nicht den Ort mit den zehn Häusern verlassen, da kamen
ihm auf der Landstraße über den nächsten Hügel und über den zweiten Hügel
und über den dritten und vierten Hügel schon neue Frauen und Mädchen
entgegen. Immer empfing er dieselben Grüße, und immer wieder mußte er
hören, daß die Männer bei der Arbeit seien.

Ata-Mono ging über den fünften Hügel. Dort standen schon Reihen von Frauen
zu beiden Seiten des Weges. Die hatten sich gelagert und standen auf und
verneigten sich. Ihre Reihen waren dicht gedrängt. Aber kurz vor
Sonnenuntergang, am sechsten Hügel, dahinter die Hauptstadt der Provinz
lag, standen die Frauen nicht nur am Wege, sondern saßen auch in den
Zweigen der Bäume, und ihre Gesichter waren glänzend wie Lampen am Abend.
Die oben in den Bäumen klatschten Beifall, und die, die unten standen,
verneigten sich und murmelten Beifall.

Hundert Schritte vor dem Tor und den vier Türmen der Provinzhauptstadt, wo
das Frauengedränge am Wege am dichtesten war, hörte Ata-Mono plötzlich
einen allgemeinen Schrei des Entsetzens. Ein surrender Laut traf sein Ohr,
und ein langer, schwirrender Pfeil sauste vor ihm in den Boden und stand
senkrecht und zitternd fest vor seinem Fuß.

Er staunte, aber er ließ sich nicht in seinem Weg stören und tat drei
Schritte weiter. Da stürzten schnell drei Speere vor ihm nieder. Der eine
zerschellte an einem Baum, der zweite durchbohrte ein Weib am Wegrand, der
dritte fuhr durch Ata-Monos Haar und riß die Muschelkette aus seinem Haar
mit sich.

Gleich darauf sah Ata-Mono, daß die Frauen auf den vier Türmen des
Stadttores in Aufruhr gerieten und von jedem Turm einen Mann
hinunterstürzten.

«Was bedeutet das?» fragte Ata-Mono die zwei Frauen, die ihm zunächst
standen.

«O, Herr, ein paar eifersüchtige Männer wollen Euch töten», sagte die eine
der beiden Frauen eifrig; die andere lachte.

«Warum sehe ich nur Frauen und keinen Mann, der mich begrüßt?» fragte er
weiter.

«O, Herr, der Regent hat befohlen: am Tage, wo Ihr vom Meere wieder nach
China zurückkehren würdet, dürfe kein Mann sein Haus verlassen und kein
Mann die Straße betreten, da die Eifersucht der Männer grenzenlos ist, und
weil dich alle Männer hier hassen.»

Ata-Mono sagte verwundert: «Ich habe seit Jahren keine Männer gesprochen.
Warum hassen sie mich, und warum sind sie eifersüchtig auf mich?»

«Herr, Ihr wißt nicht, daß der Regent tief betrübt war, weil Ihr, der Ihr
der Erste seid, der die Sprache der Bäume verstand, -- weil Ihr China den
Rücken kehren wolltet.»

Ata-Mono staunte:

«Ich habe es niemand erzählt. Woher weiß der Regent, daß ich die Schrift
der Baumrinden lesen kann?»

«Herr, man sah Euch ja täglich in Eurem Heimatort an allen Wegen, in allen
Wäldern, wie Ihr laut die Sprache der Bäume entziffert habt. Die Menschen
standen in Scharen um Euch und lernten von Euch das Lesen der Rinden. Und
jetzt lesen alle unsere Männer und verstehen die Sprache der Bäume wie
Ihr.»

«Sind sie deswegen eifersüchtig, eure Männer, weil ich der Erste war, der
die Sprache der Bäume verstand?»

«O nein, Herr, sie sind eifersüchtig, weil der Regent am Tag, da Ihr China
den Rücken wendetet und ans Meer gingt, geschworen hat, daß Ihr an dem Tag,
an dem Ihr umkehren würdet und unter sein Volk zurückkehren, -- daß Ihr
dann die Wahl haben würdet unter allen Frauen, ob verheiratet oder
unverheiratet, ob hoch oder niedrig; ja, die Regentin selbst dürft Ihr als
Frau Euch erwählen. Aber Ihr müßt Euch entscheiden, ehe die Sonne dieses
Tages untergeht. Habt Ihr dann nicht gewählt, wird man Euch morgen töten.
Der Regent will, daß Ihr, tot oder lebendig, jetzt im Lande bleibt, und daß
Ihr nicht den Ruhm des Landes gefährdet, daß Ihr nicht auswandert oder eine
Frau aus einem andern Volke wählt als aus dem unsern.

Die Männer, die vorhin von den Türmen gestürzt wurden, waren die Männer von
den vier schönen Töchtern des Regenten; diese vier Männer wollten Euch
töten, ehe Ihr die Stadt betreten hättet, weil sie bei Eurer Brautschau für
ihre Frauen fürchteten.»

Ata-Mono sagte: «Alle hunderttausend Frauen des Landes sind mir willkommen.
So wenig, wie ich jetzt mehr den Willen zur Unsterblichkeit habe, so wenig
Willen habe ich zur Liebeswahl. Ich werde also morgen sterben. Warum bin
ich nicht schon vorhin gestorben, als der Pfeil zielte und die Speere eine
Frau töteten, statt mich zu töten?»

«Komm!» sagte das Weib, das ihm geantwortet hatte. «Lege deinen Arm um mich
und verkündige mich als deine Frau. Dann wirst du nicht sterben müssen. Und
ich will dir helfen, dir die Unsterblichkeit zu sichern, die du am Meer
vergeblich erwartet hast.»

Ata-Mono fragte rasch:

«Kennst du die Rindensprache der roten Kryptomerienbäume?»

«Natürlich», sagte die Frau ebenso rasch. «Ich habe zwar nie einen solchen
Baum gesehen, ich kenne aber seine Rindenschrift wie die Linien meiner
Hand.»

Ata-Mono fragte noch rascher:

«Weißt du, wo die Harfe liegt, die ich suche?»

«Natürlich», antwortete ebenso rasch die Frau. «Alle Bäume erzählen es,
daß die Harfe im kleinen, ewigen Feuerland liegt.»

«Weib, weißt du den Weg dorthin?»

«Natürlich. Ich werde ihn dir schon zeigen. Wenn du mich zu deiner Frau
gemacht hast, werde ich ihn in Erfahrung bringen. Alles wird mir gelingen,
wenn du mich liebst.»

«Wirst du mir treu bleiben, wenn ich dich heirate, und willst du die
Unsterblichkeit mit mir teilen?»

«Treu bleiben?» fragte das Weib und schmollte. «Das ist das Natürlichste
von der Welt. Das verspreche ich dir gar nicht. Aber die Unsterblichkeit
werde ich natürlich mit dir teilen.» -- --

Ata-Mono betrat die Stadt nicht. Siebenundneunzig Schritte vor der Stadt,
heißt es in den chinesischen und japanischen Chroniken, legte er seinen Arm
um ein Weib. Aber nicht um das Weib, das er ausgefragt hatte, und welches
immer so geläufig «natürlich» geantwortet hatte, sondern um eines, das
daneben gestanden und zu allem gelacht hatte, melodisch und freundlich wie
eine singende Glocke.

Diese Frau hatte Ata-Mono nichts versprochen, und die Länder ehren heute
noch ihr Andenken und ihr singendes Lachen.

Als der große chinesische Weise und Wissende und sein lieblich lachendes
Weib nach glücklichster Ehe hochbetagt starben, begrub man beide am
Meeresstrande unter dem rätselhaften Baum, dessen Rinde Ata-Mono niemals
entziffert hat. --

Hunderte Jahre nachher, als die Chinesen Japan entdeckten und den
harfenförmigen Biwasee, als die große Harfe, im Lande des ewigen Feuers
liegen fanden, brachte man dorthin ein Reis jenes unerklärlichen Baumes, zu
einer Zeit, wo die Japaner noch in Blätterkleidern und mit ungekämmten
Haaren das kleine Feuereiland bewohnten und die Chinesen dort die ersten
Apostel höherer Bildung und Gesittung wurden.

Und wieder einige Jahrhunderte später, als die ersten chinesischen
Buddhisten-Mönche die Religion des Pflanzen-, des Tierreiches und des
Menschenreiches den Japanern gaben und sie die Verbrüderung aller
Weltallwesen lehrten und Mönche den Miideratempel mit seinen Terrassen am
Biwasee bauten, da erinnerte man sich wieder des rätselhaften Baumes, der
nun durch die Jahrhunderte stark und mächtig geworden war. Und jeder, der
zu dem Baum am Biwasee kam, sprach von Ata-Monos Geschichte, bis eines
Tages ein japanischer Mönch geboren wurde. Dieser war der Erste, der die
Rinde des alten, rätselhaften Baumes am Biwasee entziffern lernte, die bis
dahin unleserlich geblieben war. Und er las zu seinem Erstaunen von der
Baumrinde den Satz:

«O wisse, Mensch, und höre mich, der ich alt werde wie die Erdrinde! Mir
und allen, welche so alt werden auf der Erde, steht die Liebe höher als die
Unsterblichkeit.»

Und diesen Spruch las der japanische Mönch milliarden- und milliardenmal in
die Kronenäste, in den Stamm und in die Wurzelrinden gegraben; bis zur
tiefsten Wurzel drunten in der Erde sprach der Baum keinen andern Satz.

Nun erinnerte man sich auch, daß Ata-Mono, seitdem er glücklich mit dem
lachenden Weibe lebte, nie mehr von der Unsterblichkeit gesprochen, daß er
sein Weib niemals nach dem Wege zur Unsterblichkeit gefragt hatte. Und aus
der Vergangenheit stieg das Lachen jenes Weibes, wie aus einem Grab, als
Mönche eine Glocke gegossen hatten, die noch heute abends im Miideratempel
geläutet wird, und deren Stimme wie die sanftgewordene Stimme von
Jahrtausenden klingt, und die den singenden Ton eines glücklichen Weibes
hat.

Der alte Baum ist heute nur noch ein Stummel, von Stelzen und Krücken
gestützt. Zu dem Platze, wo er am See steht, führt ein hölzernes Tempeltor.
Seine Zweige sind mit Tausenden von weißen Gebetszetteln behangen. Tausende
von Pilgern aus Japan und China besuchen ihn, den Unsterblichen, der
verkündet: «Die Liebe ist größer als die Unsterblichkeit», und nennen ihn
«den Glücklichen», weil er Abend um Abend die kostbare Frauenstimme der
Abendglocke des Miideratempels belauschen darf, die jenem weiblichen Lachen
gleicht, bei welchem einst Ata-Mono den Wunsch nach Unsterblichkeit vergaß.



Sonniger Himmel und Brise von Amazu


Im brütenden Hochsommer ist der Biwasee wie eine gute, erquickende,
milchreiche Amme, die Tausende von Japanern an ihrer Brust einwiegt.

Die leichten Buchten des ovalen Sees und seine geschwungene Harfenlinie
sind von farbig gekleideten Menschenkindern umvölkert, gleichwie von roten,
grünen, blauen und weißen Käfern. Gruppen von Badenden spielen im Schilf,
unschuldig nackt wie Neugeborene. Die Stimme der Wellen, die sonst Tag und
Nacht raschelt, und die zischelnden Schilfstimmen sind alle überstimmt von
dem Gekicher und Gerufe der Menschen in Ruderbooten und Segelbooten und von
spielenden Menschengruppen am Kiesstrand. Bis in den Abend schallen die
Rufe, und bis in den Mondschein der Sommernächte antworten sich die
Menschenstimmen über dem Wasser, -- Mädchen-, Frauen-, Männer- und
Kinderstimmen. Die große Harfe des Biwasees hat unter dem sonnigen Himmel
ihre Wasserstimme eingetauscht gegen die Skala der Menschenstimme.

Nur am schläfrigen Hochsommermittag, wenn das Seewasser faltenlos mit dem
sonnigen Himmel eins geworden ist und kaum noch eine dünne Haarlinie die
Seehöhe von der Himmelshöhe trennt, dann ist da eine Sekunde, die jedem
ewig im Gedächtnis bleibt, der einmal den Seesommer am Uferrand dort
eingeatmet hat, -- eine Sekunde, die in die Einheit des sonnenglatten Sees
eine Teilung bringt, als ob in einem lautlosen Zimmer, in dem zwei
Glückliche umarmt Gesicht an Gesicht liegen, ein einziger Glückseufzer die
Stille unterbräche und an ein fernes und künftiges glückliches Leben sich
anschlösse. Das ist die Brise von Amazu, die wie ein großer Glückseufzer
über den Hochmittagsee durch die Sommerstille kommt.

Die Brise von Amazu bringt eine Seespiegelung mit sich. Aus rosigen und
bläulichen Perlmutterfarben steigt eine Gespensterlandschaft über der
Seefläche auf. Mitten im hellen Mittaglicht verwandelt sich der See
gleichsam in eine grünliche Wiese, überhangen von den Gliedern rosiger
Kirschbäume, die sich im Hitzegezitter zu bewegen scheinen, und ferne
Schilfspitzen verwandeln sich in die Silhouetten von Tänzerinnen, welche
die zerbrechlichen Linien von japanischen Mädchen zeigen. Die Erscheinungen
der blühenden Kirschbäume gleichen irisierenden Reflexen von aufsteigenden
Wolkenrändern. Der Kirschengarten, in den sich der See verwandelt, ähnelt
einer japanischen Perlmutterlandschaft auf bläulichem Silberlack. Dieses
Seegesicht, das nur bei sonnigem Himmel und nur bei der Brise von Amazu und
nur im Hochsommer erscheint, übt eine Zauberkraft auf Menschen aus, sagen
die Japaner, so daß man über den Bootrand wie von der Schwelle eines Hauses
hinaustreten und zu Fuß über die Perlmutterfläche gehen kann, ohne zu
versinken, getragen von der Begeisterung, vom sonnigen Himmel und von der
Brise von Amazu. In diesen höchsten Sekunden der See-Ekstase sollen
Menschen von Boot zu Boot gegangen sein, Viertelstunden weit über das
Wasser, ohne unterzusinken, ohne den Fuß mit einem Wassertropfen zu
benetzen. Aber wehe denen, die nicht Schritt halten mit der Begeisterung
des Sees, nicht Schritt halten mit den Glücksaugenblicken und der
Glücksstärke des sonnigen Himmels und der Brise von Amazu.

Nur so lange die Brise währt, währt der Enthusiasmus des sonnigen Himmels,
der den Menschen stehenden Fußes über das Wasser trägt. Legt sich die
Brise, so läßt der sonnige Himmel die Wasserwanderer los, und sie werden
vom See tiefer verschluckt als sonst Ertrinkende.

Vermessene, die sich stärker glauben als das Glücksgefühl des sonnigen
Himmels und der Brise von Amazu, und die auch nur eine halbe Sekunde das
Glücksgefühl nicht aufgeben wollen, nachdem die Brise sich schon gelegt
hat, schießen senkrecht zum Seeboden, von der Gegenkraft des einsetzenden
Unglücks gepackt und versteinert. Man sagte, vom Unglück wie zu Eisen
verhärtet und schwarz wie Meteorsteine stünden ihre Körper wie Statuen
unten auf dem Seegrund.

Aber die größte Strafe dieser Vermessenen ist, daß solche jählings
Versunkenen nie mehr geboren werden können, daß ihre Seelenwanderung
abschloß, ehe ihre Seele sich zum Nirwana hob, und daß sie die dumpfesten
Weltüberreste sein werden, wenn das ganze Menschengeschlecht zum Nirwana
eingegangen ist.

«Die Brise von Amazu hat ihn verlassen» oder «der Brise von Amazu trotzen
wollen», sagen die Japaner sprichwörtlich von Menschen, die das Glück, das
sie verläßt, mit den unmöglichsten Mitteln festhalten wollen. Und sie
schenken einem solchen Menschen, um ihn zu warnen, ein kleines, schwarzes
Bronzeamulett, das nichts ist als eine schwarze, eiserne Träne. Dieser
Eisentropfen sieht aus wie der Haarschopf eines Menschen, der senkrecht ins
Wasser schießt. Hört ein Freund auf diese Warnung nicht, so sendet man ihm
einen Fächer, darauf ein Mensch gezeichnet ist, der über Wellen wandert.
Und ist ihm diese Warnung noch nicht genug, so singt man ihm folgendes Lied
abends unter den Fenstern:

    Gab dir heute der sonnige Tag,
    Als der See im Mittagsschlaf lag,
    Freude und einen glücklichen Sinn
    Und Götterkraft deinem Fuß im Schuh, --
    Dann sieh jetzt vorsichtig vor dich hin.
    Glück währt nie lang,
    Wir sind um dich bang,
    Glück und Tod bringt die Brise von Amazu. --

Omiya und Amagata waren zwei Turnlehrer in Ozu und zogen mit ihren beiden
Knabenschulen an einem Sommertage in Kähnen auf den Biwasee hinaus, den
ganzen Tag an den Ufern entlang. Die Schulknaben konnten nicht schwimmen,
aber nur wenigen fiel es ein, sich vor der schwindelnden Tiefe des Biwasees
zu grauen, und sie füllten die Luft mit Gelächter.

Die Schulklasse eines jeden Lehrers war nicht groß und saß in je einem
Kahn. Nun wird in Ozu erzählt: Die heiße Mittagsstunde kam, und die Kähne
befanden sich auf der Höhe des Sees, wo man fast keine Ufer sieht, nur den
bläulichen Hitzedunst in der Ferne. Die beiden Kähne schienen zwischen
Himmel und Erde wie zwei abgeschossene Pfeile durch die Luft zu gleiten.
Blau verschmolzen lagen der glatte Himmel und das glatte Wasser
beieinander.

Da verwandelte sich vor den Augen der Kinder der See in jene unwirklichen
Wiesen, wie sie sonst auf Bildern glatt gemalt und grünspanfarbig zu sehen
sind. Kirschbäume stiegen auf, als käme der rosigste Frühling noch einmal
in den Hochsommer herein, und kleine Mädchen in taubenblauen Gewändern
klatschten rhythmisch in die Hände und umwandelten die dunkeln Silhouetten
der Kirschbaumstämme. Bald gaben sie sich die Hände, bald breiteten sie die
Arme. Einige knieten, andere glitten im Kreis um die Knieenden.

Die Lehrer und die Knaben konnten glauben, sie seien mit den Kähnen unter
Kirschbäumen gelandet, in einer Seegegend, wo die Kirsche erst im
Hochsommer blüht, und wo die Mädchen den Frühlingsgottheiten eine
Tanzzeremonie ausdenken, um der lächelnden Kirschblüte zu huldigen.

Kein Knabe war zu halten. Alle verließen die Boote, liefen auf die Wiesen,
kauerten im Kreis unter den Kirschbäumen und begleiteten mit rhythmischem
Händeklatschen die Mädchenfüße.

Aber Kinder, die nichts vom Glückswechsel und von Beherrschung der
Glücksekunden verstehen, können auch nicht auf den Augenblick der
Windstille nach der Brise von Amazu achten.

Die lebhafte Brise, die mit den Kleidern der Kinder spielte, mit den
äußersten Spitzen der Kirschbäume, mit den glitzernden Grashalmen der
grünspanfarbigen Wiesen, legte sich plötzlich, und tiefe Lautlosigkeit trat
ein. Vergeblich schrien die beiden Lehrer aus jedem Boot den übers Wasser
wandernden Kindern zu: Kinder sind taub, wenn sie spielen. Kein Knabe
kehrte zurück, als die Brise von Amazu sich legte.

Wie wenn ein Spiegel einbricht und die Glassplitter trübes Glasmehl werden
und kein Gesicht mehr hergeben, das hineingeschaut hat, so blieben alle
Schulkinder im See verschwunden.

Die beiden Schullehrer kamen drei Tage später, nachdem sie den ganzen See
abgesucht hatten, ohne Kinder zurück nach Ozu, wo der Jammer um die
verschwundenen Schulklassen so groß war, daß viele Väter noch in derselben
Nacht Selbstmord begingen und viele Mütter hinaus zum See stürzten und sich
ertränkten.

Auch der eine Lehrer, sein Name war Amagata, wurde am nächsten Morgen tot
in seiner Wohnung gefunden, erwürgt von Nachtgeistern, sagten die Leute.
Der andere aber mußte seine Schulstellung aufgeben und wurde Polizist.

Eines Tages beurlaubte sich dieser Mann, welcher Omiya hieß, und sagte, er
wolle sich ein Mädchen zur Frau aus Amazu holen. Und als man ihn fragte,
warum gerade aus Amazu, von wo doch das Unglück über ihn und Amagata
gekommen sei, da schüttelte er nur den Kopf und sagte finster: «Auf Glück
folgt Unglück und auf Unglück Glück. Darum muß das Mädchen, das ich liebe,
aus Amazu sein und mir Glück bringen, weil ich dort mein größtes Unglück
hatte.»

Wenige Tage später brachte Omiya auch wirklich auf seinem Kahn eine Frau
aus Amazu nach Ozu, schloß sein Weib in sein Haus ein und zeigte es
niemand.

Die Frau gebar einen Knaben. Der sah, als er größer wurde, dem ermordeten
Lehrer Amagata auffallend ähnlich.

Nach der Geburt des Knaben trat eine Veränderung mit Omiya ein. Er
vernachlässigte seine Frau, er vernachlässigte sein Haus, er vertrank sein
Geld, er vermied es, sein Kind zu sehen, und trug immer in seinem Mund eine
kleine, kalte Pfeife, die er nie anzündete, die er aber alle Augenblicke
ausklopfte, als habe er sie ausgeraucht.

Dieses Klopfen der Pfeife des Polizisten Omiya war in ganz Ozu als Signal
bekannt. Die Kinder flüchteten in die Häuser und versteckten sich hinter
die langen Ärmel der Mütter, wenn am Ende der Straße das Klopfen der
Tabakpfeife des Polizisten Omiya ertönte. Nachts schrien Knaben und Mädchen
im Schlafe auf, wenn unter den Fenstern der Polizist vorüberging und seine
Pfeife an die Hausecke pochte.

Ältere Leute, die nachts noch bei der Kerze lasen, löschten das Licht aus,
wenn sie das Klopfen der Pfeife hörten. Junge Männer, die eben aus dem
Teehaus heimgehen wollten, gingen bei dem unheimlichen Klopfen wieder in
das Teehaus und bestellten sich eine neue Tänzerin und Reiswein, um nicht
an das verrufene Klopfen denken zu müssen. Denn niemand in ganz Ozu wollte
mit dem verrufenen Klopfen im Ohr einschlafen.

Aber mit dem feinen Takt der Japaner erzählte keiner dem andern in ganz
Ozu, welche Plage ihm das Pfeifengeräusch des Polizisten verursachte. Jeder
vermied, von etwas so Unangenehmem, wie die Vergangenheit und das Schicksal
des Omiya gewesen, von neuem zu sprechen. Bis eines Tages ganz Ozu von
Omiya erlöst wurde.

Es war in den achtziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, als der
damalige Kronprinz von Rußland Japan bereiste und, gefolgt von
verschiedenen japanischen Würdenträgern und begleitet von abendländischen
russischen Offizieren, kam und den Biwasee von den Terrassen des
Miideratempels bewunderte.

Es war am frühesten Morgen nach sechs Uhr, zu der Stunde, da die Japaner
ihre vornehmsten Visiten machen. Der See lag wie ein großes silbernes Ei in
der Sonne, -- ein großes Silberei, das sich funkelnd um seine Längsachse
drehte. Über die Häuser Ozus rieselte der Silberglanz und blendete die
Augen der Menschenmengen, die in der Seestraße Kopf an Kopf standen und den
ausländischen Prinzen sehen wollten, wie er in der Rikscha vom
Miideratempel zurückkam, -- den zukünftigen Kaiser jenes Landes, das so nah
an Japan grenzte, und dessen Bewohner meistens hohe juchtene Stiefel
tragen, so daß man hätte glauben können, alle die schwerbestiefelten Russen
würden eines Tages dem kleinen Japan einen Fußtritt geben, daß es
zerstampft sein würde wie eine Fliege auf der Diele.

Auch die Bewohner von Ozu, die in den Morgenstraßen aufgereiht standen,
lächelten sauersüß, als dem russischen Kronprinzen vorauf in einigen
Rikschas ein paar riesige, schwerbestiefelte russische Generäle fuhren, die
während des Fahrens nichts von der Morgenschönheit des Biwasees zu bemerken
schienen, sondern mit noch übernächtigen Köpfen wie feiste Dämonen in den
kleinen Wagen saßen und halb eingeschlafen waren.

An einer Straßenecke war der Polizist Omiya in dunkler, europäischer
Uniform postiert. Zum erstenmal hatte er seine Pfeife nicht in der Hand.
Ein kleiner, kurzer Säbel hing an seinem Gürtel. Seine Mütze war tief in
die Stirn gezogen, so daß ihn der glänzende Biwasee nicht blendete.

Nun kam der Kronprinz um die Ecke gefahren, und Omiya sollte die Hand an
den Mützenschild führen und den russischen Zarensohn grüßen. Aber die Leute
auf der Straße sahen plötzlich den russischen Prinzen im heftigsten
Handgemenge mit Omiya; Omiyas kurzer Säbel blitzte und zerbrach dann wie
ein Stück Glas und flog im Bogen in zwei Stücken über die Köpfe der
Zuschauer in eine Seitenstraße.

Russische Uniformen und abendländische Fäuste sah man im Gewühl einen
Augenblick danach um Omiya toben. Dann verbreitete sich die Nachricht von
Mund zu Mund, von Haus zu Haus, von Ufer zu Ufer rund um den Biwasee, über
ganz Japan, über Rußland und über Europa, -- die Schreckensnachricht, daß
der Kronprinz Nikolaus von einem japanischen Polizisten in Ozu am Biwasee
angefallen und durch einen leichten Dolchstich am Arm verwundet worden sei.
Man erklärte diesen seltsamen Fall damit, daß der japanische Polizist in
plötzlichem Irrsinn und unter dem Einfluß der Tobsucht gehandelt habe.

Der Irrsinnige sei dann nach der Tat aus seinem Haftlokal ausgebrochen und
habe sich in einem Kahn auf den Biwasee geflüchtet. Und da alle
Nachforschungen vergeblich blieben, und da es ein heißer, glühender Tag
war, sagten die Leute, die Brise von Amazu habe den Attentäter in den See
gelockt.

Omiyas kleiner Sohn wurde an diesem Tage gerade fünfzehn Jahre alt. Das ist
das Alter, in dem die japanischen Kinder ihren Kinderrufnamen ablegen und
einen Namen für ihre Mannesjahre erhalten. Aber Omiyas Frau verschob wegen
des schrecklichen Ereignisses an diesem Tage das Namensfest ihres Knaben,
bis sie Kunde haben würde von dem Verbleib ihres irrsinnig gewordenen
Mannes.

Einige Tage später, eines Mittags, als die Frau den Reis am Herd rührte,
flog ein Kieselstein von der Straße her in den Reistopf.

Die Frau streckte den Kopf über die Altane des Hauses und sah einen in
Lappen und Lumpen gewickelten Mann, der ein großes Bündel gemähtes Schilf
auf dem Kopfe trug. Die Schilfhalme hingen so dicht vor seinem Gesicht und
um seinen Kopf, bis auf die Schultern, daß Omiyas Frau nur ein riesiges
Schilfbündel auf zwei Beinen wandelnd die Straße hinabgehen sah.

Sie schüttelte verwundert den Kopf. Die Seestraße war zur Mittagsstunde
leer, und die Frau konnte nicht begreifen, wer den Stein durchs Fenster
geschleudert hätte. Plötzlich durchzuckte sie ein Gedanke. Sie fährt noch
einmal mit dem Kopf über den Altanenrand und betrachtet nochmals den Gang
der Männerbeine, die unter dem gelben Schilfbündel die staubweiße Straße
entlangschleichen. Sie nickt und murmelt: «Das war Omiya.»

Den Stein, den sie schon vorher aus dem Reistopf herausgenommen hatte,
wäscht sie jetzt rasch im Wasserbottich rein und betrachtet den Biwakiesel
von allen Seiten. Sie erkennt darauf, als sie den Stein über dem Herdfeuer
getrocknet hat, eingeritzte winzige Schriftzeichen und liest:

«Tue mit deinem Sohn, der nicht mein Sohn, sondern Amagatas Kind ist,
dasselbe, was ich mit Amagata getan habe: töte ihn. Dann halte dich heute
um Mitternacht bereit. Du mußt mit mir auswandern. Hätte ich den
ausländischen Prinzen getötet und nicht bloß verwundet, so hätte ich Japan
einen so großen Dienst getan, daß meine Vergangenheit reingewaschen wäre,
reiner als dieser Kiesel des Biwasees. Das Attentat ist mir mißlungen, und
ich bin der Mörder Amagatas geblieben und der Mörder der Schulkinder von
Ozu. Ich bin aus Eifersucht um deinen Besitz mit Amagata vor Jahren auf der
Seehöhe in Streit geraten, und er schlug seinen Kahn und ich meinen Kahn im
Kampf um, und alle Schulkinder ertranken. Das hast du bis heute nicht
gewußt. Du wußtest nur, daß ich dich zu deinem und meinem Verderben lieben
muß. Ich habe dir vorgelogen, daß Amagatas letzter Wunsch war, daß du mich
heiraten solltest, wenn er tot wäre. Er hatte mir zwar gesagt, daß er dich
in Amazu besucht und verführt habe. Aber ich hatte doch nie geglaubt, daß
ich den Anblick seines Kindes nicht vertragen könnte. Tötest du das Kind
nicht, so werde ich es töten. -- Gehorche jetzt und rotte Amagata
vollständig aus unserm Leben aus, indem du sein Kind beseitigst. Der Kampf
zwischen mir und Amagata brach aus, als er mir in den Booten auf dem See
erzählte, daß er dich besitze, wann er wolle, und dich bald aus Amazu holen
und zu seiner Frau machen werde. Nachdem wir uns im Wasser müde gekämpft
hatten, er und ich, und ich sah, daß alle Kinder ertrunken waren und mich
selbst beinahe die Kräfte verließen, veranlaßte ich ihn, mich vom Ertrinken
zu retten, indem ich sagte, der Verlust der Schulkinder sei mir größer als
dein Verlust, und indem ich eine Gleichgültigkeit heuchelte, die ich
niemals fühlte, und dabei erklärte, daß ich auf dich verzichten wollte.
Amagata, der kräftiger war als ich, nahm mich dann auf seinen Rücken und
schwamm mit mir stundenlang viele Seemeilen, bis ans Ufer.

In Ozu verbreiteten wir das Märchen von der Brise von Amazu, das aber
trotzdem kein Märchen ist, denn ich habe wirklich einen Augenblick mitten
in der Mittaghitze die Erscheinung der Kirschbäume und der tanzenden
Mädchen draußen zwischen Wasser und Himmel gehabt. Du kamst mir über das
Wasser entgegen, und ich hielt dich glücklich in meinem Arm und verlebte in
dieser Vision die unschuldig seligsten Augenblicke meines Lebens, bis
plötzlich Amagata neben mir, eingeschlafen und traumredend, das Geheimnis
deiner Verführung verriet. Ich versuchte ihn damals zu erwürgen, so wie ich
ihn, trotzdem er mich gerettet hatte, noch in derselben Nacht in Ozu wegen
der Liebe zu dir erwürgt habe.

Ich gestehe dir dieses alles heute ein, weil du mir hundertmal
versichertest, daß du mich mehr als Amagata liebtest.

Mein Kampf gegen Amagata ist aber erst ausgekämpft, wenn sein Sohn nicht
mehr am Leben ist. Ich liebe dich. Darum töte Amagatas Sohn, wie ich für
dich getötet habe.»

So sprach die Schrift des Kieselsteines zu der Frau.

Der Reis verbrannte am Feuer, das Zimmer füllte sich mit Qualm. Aber der
Rauch verzog sich bald wieder, denn das Herdfeuer ging aus, weil die Frau
es nicht mehr schürte und den großen, flachen Stein in ihrer Hand hin und
her drehte und die Schrift, die winzig gekritzelte, entzifferte.

Es wurde Nachmittag. Die Frau las immer noch. Wohl wunderte sie sich
manchmal, daß ihr Junge, der draußen auf dem See lag und angelte, nicht
heimkam und Essen verlangte. Aber der Stein in ihrer Hand, der die tiefsten
Geheimnisse zweier Menschenleben zu ihr redete, machte, daß sie bald wieder
Zeit, Ort und Wirklichkeit vergaß.

Plötzlich weckte sie ein Gerede auf der Straße, Stimmen sprachen unter dem
Fenster den Namen ihres Sohnes und ihren eigenen Namen. Die Stimmen rannten
fort und kamen wieder. Füße und Stimmen drängten an ihr Haus. Die
Schiebetüre teilte sich, und die Stimmen drängten herein und umsummten sie,
und die vielen Füße traten zu ihr heran, und ebenso das Gemurmel. Und sie
dachte einen Augenblick: Ist der Reis wieder übergekocht, weil es so laut
wird? Da kamen Hände zu ihr, die ihre Hände streichelten. Vor ihr legte man
ein nasses, in graue Segeltücher gewickeltes Paket hin. Das roch nach dem
Grundwasser vom Biwasee.

Und die Frau mußte an den Wasserkampf zwischen Amagata und Omiya denken und
an das Gemurmel und Geseufze und Gegurgel und Geschluchze der ertrinkenden
Schulkinder rings um die beiden kämpfenden Männer, und an Omiya, der
schwächer war und auch am Ertrinken war, und an Amagata, der sie zur Mutter
gemacht hatte, gleichfalls an einem heißen Tag, draußen im Boot auf der
Seehöhe, und der dann aus ihrem Schoß zu ihren Füßen hinrutschte und nach
dem Liebeskampf auf einem Haufen Segeltuch sanft einschlief, und den sie
dann zudeckte mit ihrem Gewand. Der See war ihr Hochzeitsgemach gewesen.
Der See konnte ihr nichts Böses tun. Was der Biwasee tat, war wohlgetan.

War das Amagata oder Amagatas Sohn, der jetzt starr vor ihr lag in dem
nassen Segeltuch?

Die Frau lüftete mit ihrer kleinen, abgearbeiteten Hand ein wenig das Tuch
des nassen Paketes. Da sah sie ein Endchen von dem Kleidersaum eines
Knabenrockes, den sie selbst genäht hatte.

Sie sah tränenlos hin, ohne Erstaunen, und sagte zu dem Gemurmel und zu den
vielen Füßen, die rund um sie waren:

«Es ist Amagatas Sohn. Der See hat mir Amagata damals geschenkt. Warum soll
ich nicht heute ihm meinen Sohn schenken!»

Und das Gemurmel um sie verging allmählich, und die vielen Füße um sie
gingen aus dem Zimmer. Und es wurde still, als wäre das Feuer zum
zweitenmal im Herd ausgegangen.

«Mein lieber Sohn», sagte die Frau, die neben dem ertrunkenen Knaben
kniete, «siehst du, hier ist ein Kopfkissen aus dem Biwasee.»

Und sie schob dem Toten den großen, flachen Kieselstein, den sie immer noch
in der Hand hielt, unter den Kopf.

«Ich sollte mich jetzt neben dich legen und für immer mit dir einschlafen,
Kind. Der Biwasee war mein Hochzeitsbett. Er könnte auch mein Sterbebett
werden, wie er deines geworden ist, Kind. Aber ich habe noch eine Rechnung
zu machen. Dein Vater Amagata würde mich nicht als deine Mutter im
Totenreich empfangen, wenn ich fortgegangen wäre von der Erde, ohne Omiya
zu zeigen, daß ich immer Amagatas Willen tat. Auch wenn ich Omiya
hundertmal sagte, daß ich ihn mehr liebte als Amagata, tat ich das, damit
er Amagatas Kind nicht schlüge und Amagatas Kind nicht verhungern ließe.»

Dunkle Wasserflecken liefen von der nassen Segelleinwand über die
Strohdiele der Stube. Und die untergehende Sonne leuchtete rot über den See
draußen und rot über die Wasserflecken im Zimmer.

Die Frau nickte und saß weiß in dem abendroten Gemach, als könne ihr auch
die Sonne kein Blut zum Weiterleben mehr geben.

Die Frau nickte und sprach: «Vergossenes Blut braucht nicht mit vergossenem
Blut gerächt zu werden. Aber ich will Omiyas Seele in alle Winde
ausschütten, daß sie nie mehr in seinen Körper zurückkehren kann. Ich will
Omiyas Seele ausblasen, daß er hohl herumgeht und die Welt so leer sieht,
als wäre der Biwasee ausgetrocknet. Und ein unendlich großes Loch ohne
Glanz und ohne Welle soll den Platz von Omiyas Seele einnehmen.»

Die Nachtzikaden begannen vor den Fenstern zu singen, und die Seelandschaft
draußen verflüchtigte sich in Dämmerung. Das kleine Zimmer mit der Leiche,
mit der toten Asche auf dem Herde, mit den dunkeln Wasserflecken auf der
Diele und mit dem regungslosen, blaßleuchtenden Frauengesicht neben der
Leiche war etwas so Stilles im Weltraum, daß im Fensterrahmen die
funkelnden Sterne am Nachthimmel dagegen wie gestikulierende, laute
Menschengesichter waren, wie ein Volksgetümmel, das Kopf an Kopf mit
glänzenden Augen vor den Fenstern ein Schauspiel erwartete.

«Nur warten, nur warten!» nickte die Frau den Sternbildern zu, die sie für
Menschengesichter hielt.

Dann knackte die Diele der Altane. Ein Gewand raschelte. In der Hand eine
kleine Blendlaterne, trat der ehemalige Polizist Omiya ein und ließ den
Laternenstrahl im Halbkreis durch das Zimmer leuchten.

«Du hast ihn getötet! Gut. Komm!» sagte stoßweise seine Stimme. Und die
Blendlaterne, als wäre sie Omiyas drittes Auge, schoß abwechselnd einen
Strahl an die Decke und einen Strahl auf die eingewickelte Leiche am Boden.

«Komm! Wir haben nichts mehr hier zu suchen in Ozu. Wir müssen am Ende des
Sees sein, ehe es Tag wird. Steh auf und nimm dein Kleid über den Kopf, daß
dich niemand erkennt.»

«Setz dich hierher, ich habe zu reden!» antwortete Omiya eine Stimme, die
er nie gehört hatte. Und er fragte unwillkürlich erschrocken zurück: «Ist
Amagata hier?»

«Amagatas Sohn war hier», antwortete die Stimme, welche Omiya nicht von der
Erde und nicht vom Himmel zu sein schien, -- eine Stimme, die war, als
spräche einer der bronzenen Versunkenen, die wie Statuen auf dem Grunde des
Biwasees stehen, einer von jenen, welche die Brise von Amazu überrascht
hatte, und die verschlungen wurden vom Unglück.

«Wer bist du?» fragte Omiya. «Du bist nicht mein Weib, du, die da spricht.»

«Du hast recht. Es ist Amagatas Weib, das zu dir spricht.»

«Sagtest du nicht immer, daß du mich mehr liebst als Amagata?» sagte Omiya
rasch.

«Du sagtest mir, Amagata hätte sterbend gewünscht, daß ich dich, Omiya,
lieben sollte; darum heiratete ich dich, seinen Freund. Aber niemals habe
ich dir gesagt und niemals dir gestanden, daß ich nur deshalb auf der Erde
blieb, nachdem Amagata tot war, um sein Kind zu gebären, damit dieses so
glücklich würde, wie ich glücklich war an meinem Hochzeitsmittag mit
Amagata auf dem See. Das Glück, das ich in Amagatas Armen auf dem See
draußen zum ersten Male genoß, wollte ich verlängern, wollte seinen Sohn
gebären und nicht sterben, bis Amagatas Fleisch und Blut die Liebe kennen
lernen würde und die glücklichsten Liebessekunden, wie ich sie gekannt
habe. Amagata, mein toter Geliebter, sollte in seinem Sohn für mich
weiteratmen.»

«Verflucht!» brüllte Omiya. Und seine Kehle gurgelte wilde Laute, wie die
Kehle eines, der im dunkeln Wasser um sich schlägt und Wasser schluckt und
schreien will und um sich speit und nicht Luft zum Schreien findet.

Dann verlosch die Blendlaterne. Es geschah scheinbar nichts im Dunkeln.
Kein Seufzen, kein Schrei mehr. Doch fanden am Morgen die Leute von Ozu die
kleine, blasse Frau des Omiya erwürgt neben der Leiche ihres ertrunkenen
Sohnes.

Omiya aber blieb unauffindbar und ungestraft, was gleich ist mit der
größten Strafe der Götter.



Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen


In der alten Hauptstadt Kioto, in der ältesten Künstler-, Tempel- und
Kaiserstadt Japans, hatten im Mittelalter viele Maler den Auftrag erhalten,
die Gemächer eines Bergtempels zu bemalen. In diesen Tempel zog sich die
kaiserliche Familie in den Sommertagen zurück und pflegte dort einige
Wochen unter der Obhut der reichen Mönche zu wohnen.

Die Maler begannen ihr Werk. Einer malte einen Saal, wo Sperlinge in
Scharen über die Wände flogen und sich in Reisfeldern und Bambushainen auf
Halmen und Rohren schaukelten. Ein anderer Maler malte auf
Silberpapiergrund einen Saal, wo große Meereswellen aufrauschten und die
vier Wände umschäumten. Wieder ein anderer Maler malte einen Saal voll von
Katzenmüttern und jungen Katzen, die in Blumenkörben spielten und die
Blütenköpfe großer Päonien zerzupften.

Der erste Saal wurde der Sperlingssaal genannt, der zweite der Saal der
schäumenden Wellen, der dritte der Saal der spielenden Katzen.

Der Kaiser und die Kaiserin, die an der Ausschmückung viel Anteil nahmen,
ließen sich jedesmal, wenn ein Saal beendet war, in Sänften und mit großem
Pomp zu dem Bergtempel tragen und verbrachten eine Teestunde in dem neuen
Saal. Und sie nahmen öfters ihre jungen Prinzessinnen mit, drei an der
Zahl. Und der Kaiser sagte zur ältesten eines Tages, als sie den Tempel
wieder besichtigten:

«Wünsche dir einen gemalten Saal, mein Kind! Vielleicht haben die Maler die
Freundlichkeit und werden von glücklichen Augenblicken begünstigt, dir
einen Saal zu malen nach deinem Einfall.»

Die älteste Prinzessin, die einen kleinen japanischen Seidenpinscher auf
ihrem Arm trug, mit dem sie spielte, wünschte sich einen Saal voll
Schoßhündchen, die um sie spielen sollten. Und die Maler malten ihr diesen
Saal.

«Nun wünsche du, mein Kind, was du gemalt haben willst!» sagte der Kaiser
zur zweitältesten Prinzessin.

Diese wünschte sich etwas ganz Unmögliches: einen Saal, wo der Mondschein
käme und ginge, und in welchem keine Farben sein sollten.

Die Maler brachten auch diesen Saal zustande. Sie teilten einen Saal in
zwei Teile. Die eine Hälfte sah nach Osten, die andere nach Westen, und
jeder Saalteil hatte einen Altan. Von dem einen Altan sah man den Mond
aufgehen, von dem andern Altan den Mond untergehen. Und weil das Auge der
Prinzessin und das Auge des Mondes keine der sieben Regenbogenfarben dulden
wollten, hatten die Maler Pflanzen und Bäume in jeden Saal mit brauner
Sepia gemalt.

Nun wurde die dritte Prinzessin von dem Kaiser und der Kaiserin gefragt,
was sie sich in ihrem Saal von den Malern gemalt wünschte.

O, sagte sie, sie wünsche sich nicht viel, nur einen Zug Wildgänse, die
durch die Luft flögen, graue und weiße Wildgänse, im Zickzackflug, rund um
den Saal. Aber jede Gans müsse so hinter der anderen fliegen, daß sie alle
zusammen ein japanisches Schriftzeichen in ihrem Flug bildeten. Dieses
Zeichen würde von einem bestimmten Baum und einer bestimmten Hügellinie und
der Fluglinie der Gänse gebildet. Nur in Katata am Biwasee könnten die
Maler den Gänseflug, den Baum und den Hügel zusammen treffen. Nur einmal,
an einem Frühlingsabend, habe die Prinzessin bei einem Ausflug in Katata
die Wildgänse so fliegen sehen, daß sich das wunderbare Schriftzeichen
zwischen Himmel und Erde aus der Fluglinie der Gänseschar, aus der
Silhouette eines Hügels und aus einer Baumlinie bildete.

«Und das nennst du ganz einfach?» sagte der Kaiser.

«Es war ganz einfach, als ich es sah», antwortete die Prinzessin.

«Es wird nicht zu malen sein», sagte die Kaiserin.

«Dann wünsche ich keinen gemalten Saal», sagte die Prinzessin.

«Und wie hieß das Schriftzeichen?» fragte der Maler Oizo, als der Kaiser
und die Kaiserin ihm den Wunsch der Prinzessin erklärten.

«Das hat die Prinzessin vergessen», wurde ihm zur Antwort.

Die Maler zogen mit Reispapier und Tusche, mit Silberpapier und Goldpapier
beladen nach Katata, um den Flug der Wildgänse zu studieren. Aber da es
Juli war und keine Wildgänse um diese Zeit vorüberziehen, mußten sie warten
bis Oktober. Und Oizo suchte inzwischen die Hügellinie und die Baumlinie.
Aber da es Sommer war und die Bäume belaubt, und da die Hügel voll hoher
Gräser wehten, fand er nirgends die Linie freiliegend.

Die Maler und der Maler Oizo studierten inzwischen die Fische, die in
Rudeln im klaren Wasser stehen, und Bäume am Ufer, welche wie
Schriftzeichen ins Wasser tauchen und sich in der Wasserspiegelung krümmen,
und Wachteln, die in den Reisfeldern brüten, und Wachtelmütter, die mit
ihren Jungen unter den Reishalmen picken. Sie brachten diese Bilder nach
Kioto in den Bergtempel und dachten: Vielleicht gibt sich die Prinzessin
zufrieden mit einem Wachtelsaal oder mit einem Saal voller Uferbäume und
Fische.

Aber die Prinzessin schwieg und gab keinen Beifall, und auch der Kaiser und
die Kaiserin schwiegen.

Da wurde der große Maler Oizo traurig und kehrte wieder nach Katata zurück.
Dort wohnte er in dem Hause eines Töpfers auf einem Hügel. Der formte aus
dem Ton der Katataerde Vasen, einfache weiße Vasen, die er mit grüner und
blauer Glasur überzog, so daß sie spiegelten wie das grüne und blaue
Uferwasser des Biwasees in den Frühlingstagen.

Der Töpfer hatte eine Tochter. Die war so jung und lebendig wie ein
Aprilwind. Sie saß am Töpferofen, darinnen die Vasen und Tonschalen ihres
Vaters gebrannt wurden. Sie hatte die Glut zu schüren und die Holzkohlen
aufzufüllen, und davon war sie stets schwarz im Gesicht und schwarz an den
Händen, daß der Maler Oizo sie eigentlich noch niemals gesehen hatte.

Oft saß er am Ofen bei ihr, wenn sie die Flammen schürte, und er zeichnete
nachher die roten Korallenäste des Feuerflackerns. Natürlich wußte ganz
Katata, daß die kaiserlichen Maler auf den Herbst warteten, bis die
Wildgänse in den Oktoberabenden fortflögen. Und auch «Graswürzelein», wie
die Tochter des Töpfers hieß, wußte, daß Oizo jetzt traurig war, weil er
den Wunsch der Prinzessin noch nicht befriedigen konnte.

Eines Abends, als der Mond aufging und der Altan des Töpfers zwischen dem
Mondschein und dem roten Schein, der aus dem Ofen fiel, zweifarbig
beleuchtet, rot und blau wurde und Graswürzelein mondblau und feuerrot,
zweifarbig beschienen, vor dem Ofen im Hof bei dem Altan saß, seufzte der
Maler in seiner Altanecke ärgerlich und trotzig darüber, daß der Prinzessin
nicht der Wachtelsaal und nicht der Saal der Fische gefallen hatte und auch
der Kaiser und die Kaiserin darüber geschwiegen hatten.

Da kam die blau und rot beschienene Tochter des Töpfers und sagte:

«Seufze nicht, Oizo! Ich will dir sagen, was die kaiserliche Prinzessin
denkt, und was sie will, und will dir auch das Schriftzeichen des Fluges
der Wildgänse zeigen.»

Und Graswürzelein nahm eine Holzkohle, die neben dem Ofen lag, und
zeichnete auf einen weißen ungebrannten Tonkrug ein paar Linien.

«Sieh her, Meister!» sagte sie. «Was heißt das auf japanisch, was ich hier
schrieb?»

«Das heißt», sagte Oizo und betrachtete flüchtig den Krug mit dem
Schriftzeichen, «ich liebe dich, wenn ich dir nachsehe. Aber du liebst mich
nicht, weil du fortsiehst.»

«Sieh, Oizo», sagte Graswürzelein, «dies denkt die Prinzessin, denn sie ist
wahrscheinlich in einen Mann verliebt, der sie nicht ansieht. Und sie will
das Schriftzeichen durch den Gänseflug in ihren Saal gemalt haben und will
den Mann dann in den Saal führen und ihn von den Wänden ihren Willen lesen
lassen. Denn sieh: das Schriftzeichen besteht aus drei Teilen. Sieh hier
die Gabel eines vielfach gewundenen Baumes. Waagrecht durch die Gabel
hindurch siehst du die Brustlinie eines ansteigenden Hügels und darüber die
vielfach zackige Fluglinie einer unendlich langen Reihe von grauen und
weißen Wildgänsen. Aber zugleich siehst du: die grauen Gänse verschwinden
in der Dämmerung und unterbrechen die Linie, wogegen die weißen sich als
Schriftzeichen vom Abendhimmel abheben.»

Oizo fragte erstaunt und mit ganzem Herzen zuhörend:

«Und woher weißt du, daß die Prinzessin gerade diesen Schriftzug meint: ich
liebe dich, wenn ich dir nachsehe, aber du liebst mich nicht, weil du
fortsiehst?»

«Das ist ganz einfach», lachte Graswürzelein. «Mein Vater machte einmal
eine Vase. Ich hatte aber den Ofen schlecht geheizt, so daß die Glasuren
nicht gleichmäßig trockneten und sich seltsamerweise dieses Schriftzeichen
bildete, indem der weiße Grund der Vase in Zickzacklinien durch die
blaugrüne Glasur schimmerte. Flüchtig hingesehen, erschienen die weißen
Linien wie ein Flug Wildgänse, die in einer Landschaft über Baum und Hügel
hinflogen.

Die Vase gefiel einem Mönch, der sie sah und ausnehmend schön fand, da sie
zugleich Bild und Schriftzeichen deuten ließ. Die Prinzessin hat
wahrscheinlich diese Vase in einem Tempel gesehen, und man hat ihr gesagt,
daß das Bild darauf den Flug der Wildgänse in Katata darstellt. Aber ich
denke mir, daß das Schriftzeichen ihr mehr wert ist, als der Flug der
Wildgänse», lachte Graswürzelein.

Oizo schlug sich mit der Hand vor die Stirn und lachte:

«Also dieser Baum und dieser Hügel sind gar nicht in Katata? Und nur die
Wildgänse fliegen hier vorüber im Frühling und im Herbst?»

«O ja», sagte Graswürzelein nachdenklich. «Der Baum lebt wohl hier irgendwo
und der Hügel auch irgendwo, denn nichts ist Zufall auf der Welt. Es war
auch kein Zufall, daß ich das Feuer damals schlecht schürte, und daß die
Vase schlecht trocknete. Nichts ist Zufall, sagen die Götter hier bei uns
in Katata.»

Und während Graswürzelein das sagte, öffnete sie die Feuerluke, zerschlug
den Krug am Boden, auf den sie das Schriftzeichen gemalt hatte, sammelte
die Scherben und warf sie ins Feuer.

«Was machst du da?» sagte Oizo verblüfft.

«Ich habe zuviel geredet, und das ärgert mich», sagte Graswürzelein.
«Deshalb zerbrach ich den Krug.»

Der Maler verstand sie nicht, reichte ihr ein Geldstück hin und sagte:

«Nimm dies einstweilen als Dank für deine Aufklärung. Ich gebe dir später
mehr, wenn mir der Kaiser den Wildgänsesaal bezahlt hat.»

Und Oizo ging und packte seine Zeichnungen ein, um am nächsten Morgen nach
Kioto zu reisen.

Aber Graswürzelein warf, als er sich abwandte, das Geldstück in das Feuer
des Ofens, geradeso, als wäre es eine Tonscherbe. Und als ihr Oizo Lebewohl
sagte und ihr nochmals dankte, sagte sie:

«Warum soll ich dir Lebewohl sagen! Ich weiß ja doch, daß du wiederkommen
mußt.»

«Das wäre nur ein Zufall, wenn ich wiederkäme», sagte Oizo.

«Die Götter von Katata kennen keinen Zufall», murmelte Graswürzelein und
blies in das Feuer. --

Der Maler ging nach Kioto und malte den Saal nach dem Gedankengang des
Schriftzeichens auf silbergrauen Grund: den dämmernden Baum im Abend, die
Hügellinie und grau und weiß die große Zackenschleife in der Luft, welche
die fliegenden Wildgänse beschreiben.

Wie Oizo noch am Malen war, kam einer seiner Kameraden, ein anderer Maler,
der auch draußen in Katata gewohnt hatte, und lachte ihn aus, weil er sich
immer so geheimnisvoll in den Saal einschloß, den er malte, und die andern
nicht wissen lassen wollte, wie der Schriftzug des Gänsefluges hieße.

«Du machst dich lächerlich, daß du dich hier einschließt und nichts von der
Welt wissen willst als nur deine Malerei. Komm heute abend mit mir in die
Theaterstraße von Kioto. Ich verspreche dir, daß ein Besuch in der
Theaterstraße deiner Malerei mehr nützen wird, als du glaubst.»

Oizo, der die Aufrichtigkeit seines Freundes kannte, gab diesem nach und
ging mit ihm schweigend in der Nacht vom Bergtempel hinab über die Brücke
in die Stadt zur Theaterstraße, wo erleuchtete Budenreihen und farbige
Lampen waren und große Leinwandmalereien in der Nachtluft wie Fahnen
flatterten und Szenen aus den Theaterstücken schilderten.

Verblüfft blieb Oizo am Eingang der Straße stehen. Da war ein
Papierlaternenverkäufer. Der hatte Lampen aus ölgetränktem Pflanzenpapier,
und auf jeder Lampe war das Schriftzeichen des geheimnisvollen Gänsefluges
gemalt, das er aus Katata mitgebracht hatte, das Schriftzeichen der
Wildgänse, des Hügels und des Baumes, von dem er geglaubt hatte, daß es nur
allein ihm, der Tochter des Töpfers und der Prinzessin bekannt sei.

Oizo schwieg und verbiß sich sein Erstaunen und dachte an irgendeinen
spitzbübischen Verrat.

Nun kamen sie weiter, sein Freund und er, zu dem größten Theater in der
Mitte der Straße. Da zeigten auch die Theaterbilder außen an der Zeltbude
rund um die Zeltwand den Flug der Wildgänse. Zugleich kam ein
Straßenverkäufer zu den beiden Malern und bot ihnen ein Spielzeug an: aus
Seidenwatte gearbeitete kleine Wildgänse, die an einer Seidenschnur hingen
und, durch die Luft geschleudert, in Schleifenform dahinflatterten. Ein
Perlmutterarbeiter zeigte ihm Lackkästchen, darauf der Flug der Wildgänse
über Baum und Hügel ging, und alle diese Dinge prägten das Schriftzeichen
aus, das wie eine Liebeserklärung jene Worte sagte:

Ich liebe dich, wenn ich dir nachsehe. Aber du liebst mich nicht, weil du
fortsiehst.

Ganz verstört, schwieg Oizo immer noch. Seine Stirn verfinsterte sich, und
er blieb im Menschengedränge stehen und wollte seinem Freund entlaufen.
Dieser hielt ihn am Ärmel fest und rief ihm zu:

«Laß dir doch erklären, woher ganz Kioto den Flug der Wildgänse und das
Bild, das du malen willst, kennt.

Du weißt, ich wohnte in Katata bei einem Fruchthändler. Dessen Tochter
brachte mir eines Tages in einer Porzellanschale einen kleinen Zwerggarten
in mein Zimmer. Darin blühte ein ganz winziger Kirschbaum. Der Baum war
nicht höher, als mein halber Arm. Hinter dem Baum war ein künstlicher Hügel
aus Erde. Diesen kleinen Garten stellte sie am Abend hinter einen weißen
Papierschirm, auf welchem mit schwarzer Tusche kleine Wildgänse im
Schleifenflug gemalt waren. Sie zündete eine Lampe hinter dem Schirm an, so
daß der Schatten des Zwerggartens, des Baumes und des Hügels, auf den
weißen Schirm fiel und sich darauf abzeichnete und Garten und Gänse ein
einziges Schattenbild zu sein schienen. Aber zugleich konnte man das Ganze
auch für ein Schriftzeichen halten.

Ich verstand sofort, daß sie mich liebte, und daß dieses Bild eine
Liebeserklärung sein sollte.

Ich kümmerte mich nicht um ihre Erklärung, nachdem ich den gesuchten
Wildgänseflug von Katata, der eine Liebeserklärung darstellt, so deutlich
gesehen hatte, daß ich ihn malen konnte.

Ich wollte am nächsten Tag abreisen, ging aber am Abend noch ins Teehaus,
wo ich fünf von unseren Malern traf. Dem einen hatte eine Tänzerin den
Wildgänseflug von Katata bereits erklärt, dem andern ein Fischermädchen,
bei dessen Vater er wohnte, dem dritten und vierten und fünften andere
Mädchen von Katata, so daß wir alle merkten: das Schriftzeichen des
Gänsefluges war ein öffentliches Geheimnis der jungen Mädchen in Katata und
wurde immer angewendet, als Zeichnung auf einer Vase, als Wandschirmbild
und so weiter, wenn ein Mädchen von Katata einem Manne eine Liebeserklärung
machen wollte.

Wir hatten das bis damals in Kioto nicht gewußt. Aber jetzt kennen das
Schriftzeichen des Wildgänsefluges von Katata alle Kinder von Kioto, weil
alle Maler das Geheimnis hier verbreitet haben, alle, die in Katata waren.
Auch der kaiserliche Hof weiß es längst, und die junge Prinzessin ist
bereits von dem ganzen Hof als lächerlich erklärt. Der Kaiser und die
Kaiserin sollen sehr ärgerlich sein, und du selbst wirst deinen Kopf
verlieren, wenn du den Saal fertig gemalt hast und dir einbildest, von der
Prinzessin geliebt zu sein.»

Oizo dachte einen Augenblick nach, dann lachte er und sagte:

«Da ich die Prinzessin nicht liebe, wird mir der Hof doch nicht böse sein,
weil ich den Wildgänseflug mit Lust an meiner Malerei malen wollte, und
nicht mit Lust an der Liebeserklärung des Schriftzeichens.»

«Doch, doch», sagte sein Freund. «Du mußt fliehen, du mußt dich verstecken,
bis der Tempel eingeweiht ist. Man wird den Saal der Prinzessin
verschlossen halten und garnicht zeigen. Aber du mußt fortbleiben, bis man
die Liebeserklärung der Prinzessin vergessen hat.

Ich rate dir, nimm ein Segelboot und halte dich einen Monat lang auf dem
Biwasee versteckt. Auf dem weiten Wasser draußen wird dich niemand suchen,
und du kannst den Booten ausweichen.»

«Ich trenne mich nur schwer von meiner Malerei», sagte der Maler Oizo.
«Aber du hast recht. Ich will fliehen und will mich verstecken, bis der
Saal der Prinzessin vergessen ist.»

Oizo verließ Kioto noch in derselben Nacht, kaufte sich ein Boot, das er
mit Nahrungsmitteln versah, und zog dann hinaus auf den See.

Aber die Tage waren unfreundlich: es war Vorfrühling. Viele Tage lang
lagen die Nebel wie Binden vor Oizos Augen, und er sah nichts und hörte
nichts im Nebel als das Knirschen seines Bootes.

Eines Tages ließ er sein Boot treiben und sagte zu sich: «Ich will
aussteigen, wo das Boot landet. Wenn ich nicht malen kann, tötet mich die
Langeweile. Ich will wenigstens wieder einmal malen dürfen. Und wo jetzt
das Boot landet, weiß ich auch, werde ich ein Bild finden, das mir längst
in der Seele vorgeschwebt hat.»

Das Boot des Malers trieb im Abend an den Strand von Katata.

«O, unglücklicher Ort», sagte Oizo. «Soll ich also wirklich das Bild vom
Flug der Wildgänse noch einmal malen? Ich will noch abwarten und sehen, was
mit mir geschieht, wenn ich ans Land steige. Die Götter haben das Boot
gelenkt, die Götter werden auch meine Schritte lenken.»

Der Maler stieg ans Land und ging über den leeren Strand, auf dem kein
Schilf wuchs, sondern nur die gelben Schilfstoppeln vom Vorjahr standen.

«Hier sang das Schilf im Vorjahr, als ich fleißig war und Fische malte.
Jetzt ist der Strand faul und tot, vom Winter verdammt, so wie man mich zur
Faulheit verdammt hat.»

Plötzlich bückte sich der Maler und hob eine unscheinbare Seemuschel auf,
die blau irisierend und rot irisierend mit weißer Innenschale und schwarzer
Außenschale wie eine Blume hier zwischen den leeren Kieselsteinen am Strand
leuchtete. Oizo wendete die Muschel in der Hand hin und her, schüttelte den
Kopf, hielt die Hand an die Stirn und dachte nach und meinte zu sich:

«Wo habe ich nur diesen blau irisierenden Schein neben dem rot
irisierenden Feuerschein hier in Katata schon einmal gesehen? Ich weiß
gewiß, daß es in Katata war, wo ich diese beiden Farben unvergeßlich
nebeneinander sah.»

Wie er noch dachte und seinem Gedächtnis noch nicht auf den Grund kommen
konnte, kam ein japanisches Mädchen hügelabwärts zum Seewasser hin. Sie
trug auf dem Kopf einen flachen Korb und schüttete den Inhalt des Korbes,
der wie Erde aussah, ungefähr zwanzig Schritte von Oizo entfernt in den
See.

«Was machst du da?» rief der Maler ihr zu.

Das Mädchen sah sich nach ihm um, streckte plötzlich die Arme von sich,
stieß einen zischenden Schreckenslaut aus, als ob sie einem Geist oder
einem Gott ins Gesicht sähe, hüllte ihr Gesicht in ihre Ärmel, kniete am
Seerand nieder und steckte ihren Kopf ins Wasser.

Oizo rief: «Haben denn die Götter dir deinen Verstand genommen, weil du
dich ertränken willst, Mädchen?»

Oizo sprang hin, und als er näher kam, sah er, daß das Mädchen sich eifrig
das Gesicht wusch, und er erkannte an der einen Gesichtshälfte, die noch
voll Ruß war, die Tochter des Töpfers, Graswürzelein, die aus dem Brennofen
ihres Vaters die Asche in einem Korb an den See getragen hatte.

«Was machst du da?» fragte Oizo noch einmal. «Ich hätte dich beinah nicht
erkannt, Graswürzelein, weil du zur Hälfte schwarz und zur Hälfte weiß
bist.»

Graswürzelein prustete das Wasser aus ihrer Nase, wusch sich die andere
Gesichtshälfte rein, und während sie sich mit dem Innenfutter ihres Ärmels
Gesicht und Hände trocknete, fuhr sie den Maler ärgerlich an:

«Ich wollte gar nicht, daß du mich erkennen solltest. Als ich dich hier so
plötzlich am Strand stehen sah, nachdem ich die Ofenasche in den See
geworfen hatte, und ich dir nicht ausweichen konnte, wollte ich mir den Ruß
vom Gesicht waschen, damit ich dir unkenntlich bliebe. Denn du hast mich ja
nur ein einziges Mal gewaschen gesehen.»

Und wirklich, Oizo konnte das weiß gewaschene Mädchen kaum erkennen.

«Du sagst, ich hätte dich einmal gewaschen gesehen? Ich habe dich immer nur
schwarz gekannt.»

«Doch, doch», nickte Graswürzelein. «Erinnerst du dich nicht, Meister, da
ich dir auf einer Tonvase den Flug der Wildgänse von Katata beschrieb?
Erinnerst du dich nicht? Es war im Mondschein. Du saßt auf dem Altan und
ich am Ofen im Hof.»

«Du warst rot und blau beschienen», sagte Oizo, «wie die Muschel hier, die
mondblau und feuerrot in meiner Hand irisiert und leuchtet. Das ist das
Bild, das ich hier malen will. Ich will dein Gesicht malen, blau vom Mond
und rot vom Feuer beleuchtet. Und darum bin ich nach Katata gekommen.»

Graswürzelein lachte einen Augenblick. Dann aber wurde sie sehr ernst.

«Nein», sagte sie und schüttelte den Kopf. «Du darfst nicht mehr in unser
Haus kommen. Ich habe das Feuer zu schlecht geschürt, so lange du da warst,
und ich habe meinem Vater zu viele Tonvasen verbrannt.»

«Du hast noch einen Grund, den du nicht sagst», meinte Oizo. «Die Tonvasen
will ich deinem Vater alle bezahlen, während ich dich male. Rede und sage
deinen Grund, warum ich nicht mehr in dein Haus kommen soll?»

Graswürzeleins Wangen erröteten, und sie hielt rasch ihre Hände an die
Wangen, um die Wangenröte mit den Händen zu verbergen.

Oizo sah staunend, wie schön das Mädchen war, und hörte, wie ihre Stimme
wisperte und rhythmisch sang, während sie sprach, als ob das Schilf vom
Vorjahr wieder um ihn sänge.

«Willst du nicht eine Bootfahrt mit mir machen, Graswürzelein? Es kommt
eine lauwarme Luft über den See, und die Abende sind schon lang und hell.
Ich glaube, die Wildgänse müssen bald wiederkommen.»

«Ja, bei den Göttern, das ist wahr», seufzte das kleine Mädchen. «Die
Wildgänse möchte ich dir auf dem See zeigen, Meister.» Und ein Lachen
blitzte in ihren Augen, so wie die nassen schwarzen Seekiesel blitzten.
«Das ist die Luft der Wildgänse heute abend. Du hast sie nie vom See aus
kommen sehen, Meister?»

«Nein, ich sah den Wildgänseflug nur vom Land, über Hügel und Baum.»

«Dann will ich ihn dir vom See aus zeigen», nickte das Mädchen eifrig; und
ihr blasses Gesicht und ihre zitternden Hände redeten schnelle Sätze, die
sie nicht aussprach.

Sie kletterte vor Oizo ins Boot, ergriff die Ruder und ruderte, ohne ein
Wort mehr zu sprechen, lenkte das Boot, ohne den Maler zu fragen, wohin er
wolle. Oizo fühlte und verstand natürlich an der Röte und Blässe des
Mädchens, daß sie eine Herzensregung verbarg. Er blieb lautlos sitzen und
horchte auf sein eigenes Herz, das ihm bis an den Hals schlug. Denn das
Mädchen wurde in seinen Augen immer schöner, und er hätte es gern umarmt.

Der Biwasee lag wie Öl so glatt, und auch die Luft war wie Öl. Als legte
man zwei Spiegel aufeinander, so lag der Spiegel des abendlichen
Vorfrühlingshimmels auf dem Spiegel des Sees.

Graswürzelein legte plötzlich die Ruder ins Boot und sagte: «Still! Sie
kommen!» Und gleich darauf wiederholte sie:

«Still! Sie kommen!»

Oizo wunderte sich, warum er denn still sein solle, da er nicht sprach. Er
wußte nicht, daß seine Stimme fortwährend in den Ohren des Mädchens summte
und ihr Blut unausgesetzt mit ihm redete.

Ihm selbst geschah jetzt das gleiche. Er fuhr auf und sagte:

«Still! Sie kommen!» Denn auch er hörte das Mädchen in seinem Blut reden,
-- sie, die kein Wort sprach.

Dann war es, als wenn Ruderkähne hoch in der Luft mit großen Ruderschlägen
herbeiführen, und als ob Mühlen sich drehten mit unsichtbaren Rädern. Und
Laute, die nicht Musik, nicht Menschenstimmen und nicht Tierstimmen
glichen, die aber feierliche Akkorde in die Stille über den See schufen,
klangen irgendwo im unermessenen Abendraum, kreiselten, waren da, wurden im
Abendgrau zu weißen fliegenden Erscheinungen, bildeten dann eine Kette über
den Köpfen des Mädchens und des Mannes, zogen ein Spiegelbild im Wasser
nach, wie eine Reihe weißer winkender Tücher. Die weiße Geisterkette
beschrieb eine weiße Schleife am Himmel und eine weiße Schleife im
Wasserspiegel und verrauschte wie ein musikalischer Windton und hinterließ
Atemzüge von Befremdung, von Sehnsucht, als wäre die Luft mit unerfüllten
Wünschen noch lange nach dem Vorbeizug der Wildgänse von Katata angefüllt.

Es war jetzt so dunkel auf dem See, als wäre die Dunkelheit wie ein zweites
Wasser aus der Tiefe gestiegen und stünde über den Köpfen der beiden
Menschen im Kahn. Es war nur noch ein Rest von der Tageshelle, klein wie
ein durchsichtiges Ei, im Westen über dem Strand.

Oizo konnte nicht Graswürzeleins Gesicht sehen. Er tastete nach der Bank im
Schiff, suchte ihre Hände, die er streicheln wollte. Aber sie hatte ihre
beiden Hände in die weiten Ärmel ihres Kleides gewickelt, als hätte man ihr
die Hände abgeschlagen.

«Gib mir deine Hände! Ich will sie dir wärmen, wenn du frierst. Oder
fürchtest du dich vor bösen Seegeistern, daß sie dich an der Hand nehmen
könnten? Hab keine Furcht, Graswürzelein! Du bist zu schön. Alle Götter
müssen dich beschützen. Auch die bösen Götter werden gute Götter, wenn du
sie ansiehst.»

«Was willst du von mir?» sagte das Mädchen. «Habe ich dir nicht den Flug
der Wildgänse über den See gezeigt? Hast du nicht ihr Schriftzeichen lesen
können, ihre Schrift aus Himmel und Wasserlinie?»

«Die Liebeserklärung?» fragte Oizo.

«Die Liebesabsage», flüsterte erregt und hastig die Tochter des Töpfers.

Und nun verstand Oizo, der Schriftzug hatte sich durch die Spiegelung, die
im Seewasser dazu kam, in ein anderes Schriftzeichen verwandelt; und wenn
die Mädchen von Katata dieses einem Liebhaber zeigten, so war er
abgewiesen. Die Fluglinie der Wildgänse im Wasser und am Himmel, vom See
aus gesehen, bedeutete in Sprachzüge übersetzt:

«Ich liebe nicht, daß du dich nach mir umwendest. Ich wende mich auch nicht
nach dir um.»

Welch sonderbarer Zufall, daß der Wildgänseflug sich doppelt deuten ließ,
je nachdem die Wasserspiegelungslinie sich einfügte oder nicht. Daß
Graswürzelein ihn liebte und ihn nur necken wollte, als sie ihm die Absage
gab und ihn vielleicht zur Annäherung reizen wollte, begriff Oizo sofort,
denn die Luft um sie und ihn war wunderbar geschwängert von Verlangen und
schweigender Zuneigung.

Ohne sich zu besinnen, legte er seinen Arm um das kleine Weib und fand
keine Abwehr. Graswürzelein versteckte nur beschämt ihr Gesicht in des
Malers Brustgewand.

Oizo erzählte ihr rasch:

«Du weißt nicht, Graswürzelein, daß ich wie ein totes Holz draußen auf dem
See seit Tagen herumtreiben mußte, daß ich es endlich nicht aushalten
konnte, daß mir das Land verboten war, weil ich vor der Liebeserklärung der
Prinzessin fliehen mußte. Aber jetzt, seit ich die Doppeldeutung des Fluges
der Wildgänse weiß, kann ich den Saal der Prinzessin fertig malen, wenn ich
die Spiegellinie im Wasser hinzufüge. Und niemand im Land wird mehr sagen
können, daß die Prinzessin sich lächerlich gemacht hätte, sondern daß sie
sich unnahbar machen wollte, wie es einer Prinzessin geziemt. Alle sollen
dann im Saal das Schriftzeichen lesen:

Ich liebe nicht, daß du dich nach mir umsiehst. Ich sehe mich auch nicht
nach dir um.

Dann komme ich wieder und baue in Katata mein Haus. Und du sollst nicht
mehr den Ofen deines Vaters schüren. Du sollst neben mir sitzen bei meinem
eignen Feuer. Und ich will dich malen, immer wieder malen, in dem Kleide
des Vorfrühlings, am Strand, im Haus, im Mond, im Wasser, am Feuer. Und
alle sollen sagen: das ist das glücklichste Mädchen von Katata. Sie ist auf
allen Bildern im Vorfrühling gemalt, zur warmen Abendstunde, in der man den
Flug der Wildgänse erwartet und verliebt sagt, auch wenn niemand redet:
_Still! Sie kommen!_»

Da wickelte Graswürzelein ihre Hände aus den Ärmeln und umschlang Oizo.



Von Ishiyama den Herbstmond aufgehen sehen


Unter den zehn Teehausmädchen im Teehaus von Ishiyama war «Hasenauge» eines
der unscheinbarsten. Sie war nicht feurig, sie tanzte auch nicht sehr
lebendig, sie schminkte sich unordentlich und trug die vier Schleppen ihrer
vier Seidenkleider nicht in der richtigen Abstufung übereinander. Aber sie
konnte Geschichten erzählen, kleine winzige Geschichten, die nur fünf
Minuten dauerten, aber fünf Tage zum Nachdenken gaben. Deshalb war sie in
aller Unscheinbarkeit eine Kostbarkeit für das Teehaus in Ishiyama.

«Hasenauge» kannte dreitausend Geschichten allein über den aufgehenden
Herbstmond, der, von Ishiyama gesehen, als eines der herrlichsten
Schauspiele über den Biwasee gilt.

Ich will drei dieser nachdenklichen Geschichten hier wiedererzählen, die
alle den Herbstmond von Ishiyama teils als Hauptperson, teils als
Hintergrund haben.

Stellt euch vor, wir hätten eben in einem der kleinen Gemächer, im ersten
Stock des Teehauses, auf den geglätteten Strohmatten des Fußbodens, auf
dünnen, nur fingerdicken seidenen Kissen an der Diele Platz genommen. Die
Schiebefenster zum See sind weit offen. Hinter dem roten Lackgeländer der
kleinen Veranda liegt die Seeflut, wie ein Wasser, das bis ans Ende der
Welt reicht. Zu beiden Seiten der Fenster zischeln Wassereschen. Ihre
Blätter sind in der Abenddämmerung lang und schmal und flirren wie
Libellenschwärme vor dem perlmutterfarbigen Seeglanz.

Es liegen auch ein paar Hügellinien hinter den Bäumen, die sind im Abend
wie grünliche Glasglocken. Der Himmel ist spinnwebgrau und scheint hinter
einem Zipfel des Sees leicht zu brennen, wie wenn man ein
Streichholzflämmchen an einen Schleier hält. Die Helle kommt vom
aufgehenden Mond, den deine und viele Augen jetzt auf den Altanen der
Häuser von Ishiyama erwarten.

Vor dir auf der Diele stehen offene Lackschachteln. In diesen sind
gebackene Fische, Reis, Makronen, Wurzelgemüse und Geflügelstücke soeben
heiß vor uns aufgetischt. Elfenbeinerne Eßstäbe liegen, wie lange
Damenhutnadeln, daneben; und Hasenauge, welche dir Gesellschaft leisten
soll, verpflichtet sich, dir eine ihrer Geschichten vom aufgehenden Mond zu
erzählen, ehe das Essen kalt ist, ehe sich der Essensdampf verflüchtigt hat
und ehe die große goldene Mondscheibe so hoch über den Seerand gestiegen
ist, daß sie die Seelinie losläßt. Dabei sollst du dazwischen von den zwei
Eßstäbchen, die sie ergreift, und aus der dünnen Porzellanschale, die sie
mit Reis und anderen Speisen füllt, von Hasenauge selbst wie ein Kind immer
mit ein paar Bissen gefüttert werden, und du bekommst aus einer
Fingerhuttasse Tee und aus einer Fingerhuttasse Reisschnaps oder aus einem
europäischen Glas japanisches Bier aus einer Flasche eingegossen, von
bayerischen Brauern in Tokio gebraut. Vom Fenster kommt die Abendluft und
der Fischgeruch des Sees herein, aber der parfümierte Puder von Hasenauges
weißgetünchtem Gesicht ist stärker als der Seegeruch.

Hasenauge erzählt:

Der König hatte einst in Hakatate im Norden Japans einem Fischzug
beigewohnt, bei dem man unter anderen großen Fischen auch ein Meerweib
fing. Aber nicht eines jener guten Meerfräulein, die am Strand mit den
Fröschen und Unken singen, sondern ein Tiefseeweib, das noch nie an der
Wasseroberfläche gewesen war, das nie Land, nie Sonne, Mond und Wolken
gesehen hatte.

Das gefangene Meerweib hatte einen mächtigen Goldfischschweif statt der
Füße, ihr Haar war schwarz wie Schreibtusche und ihre Augen rot wie
Kaninchenaugen. Es war dem König geweissagt worden, daß er drei Nächte ein
Weib lieben müßte, das weder Sonne noch Mond gesehen hätte. Deshalb war er
zum Fischzug mit seinen Leuten nach Hakatate ausgezogen, hatte besonders
große Netze auswerfen lassen, um ein Meerweib der Tiefsee zu fangen. Der
König wird sein Reich verlieren, wenn er ein solches Weib nicht drei Tage
lieben will, lautete eine alte Prophezeiung.

Aber damit, daß man das Weib gefangen hatte, war nicht die größte Sorge vom
König genommen. Jenes Weib, das ihn mit den roten Augen scheinbar blind
ansah, das mit dem roten Schweif um sich schlug und ein paar Kähne des
Königs zertrümmerte, jenes Weib, das nicht sprechen, nicht lachen und nicht
seufzen konnte, drei Tage zu lieben, -- dies war eine so heroische Aufgabe,
daß sich alle, die um den König waren, entsetzten.

Nur der König war ruhig, stellte sich am Ufer vor die Weisen seines Landes
hin und fragte:

«Wie weit reicht meine Macht?»

«Deine Macht, o Herr, reicht über Himmel, Erde und Wasser.»

«Über alles, was darinnen ist?» fragte der König.

«Über alles Männliche, was im Himmel, auf der Erde und im Wasser ist»,
sagten die Weisen. «Nur das Weibliche läßt sich nicht regieren.»

«Gut, dann soll der Mond, der dort aufgeht, untergehen», rief der König.
«Wenn ich allen gebieten kann, dann soll der Mond nie mehr in meinem Reich
erscheinen, ehe er mir geholfen hat, dieses Fischweib hier in ein
Menschenweib zu verwandeln.»

Der König ließ das Fischweib binden und in sein Zelt legen, ließ Essen und
Trinken in das Zelt stellen und ließ die Zeltvorhänge fest hinter sich
zuschließen, so daß es finster im Zelt war wie in der Meerestiefe.

Die Weisen des Königs aber setzten sich mit des Königs Mannschaften rings
um das Zelt draußen und waren sicher, daß der Mond nicht in dieser und in
keiner Nacht mehr aufgehen werde. Aber der Mond kam wie immer und teilte
sanfte Schatten und gelben Feuerschimmer über die Weisen und über das Zelt
aus.

Der Mond kam auch in der zweiten Nacht und in der dritten Nacht. Am Anfang
der vierten Nacht rief der König drinnen im Zelt, man solle die Zelttüren
öffnen. Und der König trat heraus, und neben ihm an seiner Hand ging ein
gesittetes schönes Weib. Das hatte Augen, so dunkel wie die mondleere
Nacht, und hatte keinen Fischschweif, sondern zierliche Füße und war
frisiert und in seidene Schleppenkleider gehüllt, wie es einer Königin
geziemt.

Die Weisen waren erstaunt, daß der König ohne Hilfe des Mondes das Seeweib
in ein Menschenweib verwandelt hatte. Denn während der Mond drei Nächte
lang auf- und untergegangen war und sich nicht um den Befehl des Königs
gekümmert hatte, hatten die Weisen drei Nächte lang für ihr Leben
gezittert, weil sie des Königs Macht übertrieben hatten und in dem König
den Glauben an eine Allmacht erweckt hatten, die er nicht besaß.

Jetzt aber waren die königlichen Weisen zufrieden, übertrieben des Königs
Macht noch mehr und sagten zungenfertig:

«O König, Eure Macht ist noch größer, als wir dachten. Ihr habt ohne Hilfe
des Mondes das Meerweib in ein Menschenweib verwandelt.»

Der König antwortete ihnen nicht, führte das Weib zu seinem Boot und
befahl, daß man die Segel lichte, um von Hakatate heim nach Süden zur
Königstadt zu ziehen und dort den Einzug der Königin zu feiern.

Auf dem roten Lackaltan des goldenen Boothauses saß die neue Königin
schweigend neben dem König, sie, die noch keine Sonne und keinen Mond hatte
aufgehen sehen, sie, die von ihrem Menschenleben nur die Liebesumarmungen
des Königs kannte, sie, die drei Nächte und drei Tage an des Königs Brust
gelegen hatte und, von des Königs Wunsch und Sehnsucht durchdrungen, aus
einem Meerweib in ein Menschenweib verwandelt worden war.

Ihre Haare hatten sich von selbst geflochten, um dem König zu gefallen; in
der Finsternis hatten sich Kleider um sie gewebt, damit sie für den König
geschmückt erscheine. Sie hatte sich aus ihrem Fischleib Füße gebildet, um
dem König folgen zu können, denn das starke Herz des Königs hatte drei
Nächte über ihr gelegen und hatte sechzigmal in der Minute das Wort «Liebe»
zu ihr gesagt.

Von der Liebe jetzt verwandelt, sah die Königin noch nicht das schaukelnde
Schiff und noch nicht des Königs Gefolge und noch nicht sich selbst. Sie
ahnte noch nichts von ihrer Verwandlung und saß noch in liebestrunkenem
Zustande unbewußt neben dem König.

Da tauchte, rot wie ein großer Berg aus rotem Lack, die Mondkugel aus der
Meerestiefe und zog im Wasser einen feuerroten Widerglanz hinter sich her
wie einen feuerroten Schweif.

Die Weisen des Königs, welche unter dem Altanrand des Boothauses in der
Bootstiefe saßen, hätten sich längst gerne bei der Königin
eingeschmeichelt, fanden aber noch keine passende Anrede. Jetzt aber warf
sich einer der Weisen vor dem König nieder und rief:

«Seht, Herr, der Mond trägt die Farbe der Scham, weil er zu schwach war,
Euch zu helfen.»

Nun hob die Königin die Augen, und der Mond warf seinen Schein wie eine
Umarmung über sie. Und der König wurde fast eifersüchtig, daß jemand im
Weltraum wagte, sein Weib anzurühren, das er sich selbst geschaffen hatte.

Aber ein anderer Weiser, der den ersten überbieten wollte, warf sich vor
der Königin nieder und rief:

«Seht, der Mond, o Königin, hat, um Euch zu gefallen, den Fischleib
angezogen, den Ihr abgelegt habt. Er hat Euern roten Schweif und Eure roten
Augen angenommen, die der König in die Meerestiefe schickte.»

Da ging über der Königin Gesicht ein zuckender Schreck; sie sah an sich
herab und wußte nicht, wer sie verwandelt hätte, und sie erkannte sich als
Menschenweib und schauderte über ihre Verwandlung.

Der König wurde über die Rede des Weisen vor Zorn rot wie die Mondscheibe.

Da warf sich rasch ein dritter Weiser vor ihm nieder, ihn und die verwirrte
Königin zu beschwichtigen:

«Nein, hoher Herr, hohe Herrin, das ist nicht der Mond, den Ihr dort
aufgehen seht. Das ist des Königs Herz, das nicht in des Königs Brust,
sondern in des Königs Reich wohnt, des Königs Nachtherz, das abends rot aus
dem Meere steigt, und das nur Euch gehört, o Königin. Aber der König hat
auch ein Tagherz. Das werdet Ihr morgen früh sehen, o Königin. Das gehört
uns, uns Weisen, denn es ist hell wie die Weisheit selbst und teilt
Klarheit aus und nennt sich die Sonne.»

Als dieser Weise so gesprochen hatte, daß ihn keiner mehr überbieten
konnte, zog er sich selbstzufrieden mit den andern in die Bootstiefe
zurück. Dort saßen sie in langer Reihe, jeder mit dem Kopf auf der Schulter
des andern und schliefen ein.

Der König aber legte seine Brust an die Brust der Königin, und während das
Schiff mit gespannten Segeln durch die Nacht strich, nach Süden, umarmte
der König die Königin wie ein brünstiger Adler.

Das Meer aber zischte und raschelte, als wären die Wellen bis an den
Weltrand des Königs Flügel, und als schlügen sie laut an den Himmel,
während der König die Königin umschlungen hielt.

Gegen Morgen wurde das Meer still. Der König schlummerte ein, und seine
Arme ließen im Schlaf die Königin los. Diese richtete sich auf, als eben
der Mond gelblich-grau vom Himmelsbogen herabstieg und im Meer verschwinden
wollte.

Da des Königs Augen geschlossen waren und er schlief, erkannte ihn die
Königin nicht mehr, denn sie hatte nie einen schlafenden Menschen gesehen.
Weil auch die Weisen unten im Schiff sich nicht rührten und die Bootswachen
lautlos unter dem Mast kauerten, glaubte sich die Königin ganz allein und
verlassen. Und sie sprach zum Monde, der schon zur Hälfte im Meer versunken
war, und den sie für des Königs Herz hielt:

«O, Nachtherz, das mir gehört, ich will nicht des Königs zweites Herz
erwarten, das den andern gehört. Ich will bei dir bleiben und mit dir
gehen, wohin du gehst.»

Die Königin stand auf, trat an den Bootrand und ließ sich ins Meer fallen
und verschwand in der Flut. Als der König die Königin am Morgen nicht fand,
versuchten ihn die Weisen mit ihrer Weisheit zu trösten und sagten:

«Die Prophezeiung lautete, o König, du solltest ein Meerweib drei Tage und
drei Nächte lieben, aber nicht eine vierte Nacht dazu.»

Doch der König war erschüttert von Trauer und wild und aufgebracht von
Verzweiflung über die Torheit der Weisen, die ihn nicht einen König hatten
sein lassen, sondern ihn zu einem Gott hatten machen wollen. Denn ihm war
klar: es hatte der Königin vor dem Tageslicht gegraut, das sie einsam
machen sollte, weil die Weisen gesagt hatten, das Tagesherz des Königs
gehöre nur der Weisheit und nicht der Liebe.

Eine furchtbare Wut überfiel den verlassenen Mann. Er riß mit einer Faust
die Segel von den Tauen und wollte mit der andern Faust den Mastbaum
ausreißen, um alle Weisen damit zu erschlagen.

Diese aber, erschrocken, heuchelten Demut und riefen:

«O Herr, die Königin wird wiederkommen, wenn Ihr es befehlt, sobald der
Mond heute abend aufsteigt. Ehe Ihr uns jetzt ungerecht umbringt, wartet
wenigstens mit Eurem Urteil über uns bis zum Abend. Kommt die Königin nicht
mit dem aufgehenden Mond, so könnt Ihr uns immer noch töten.»

Mit solchen Worten schläferten sie des Königs Wut ein, denn sein Schmerz
war größer als sein Zorn. Und als er hörte, daß die Königin vielleicht am
Abend wiederkommen könnte, glaubte er daran, wie jeder Liebende gern an
Wunder glaubt. Und er hoffte, die Königin würde vielleicht als Fischweib am
Abend wiederkommen und sich von ihm wieder in ein Menschenweib verwandeln
lassen, wenn der Mond aufginge.

In der Mittaghitze, als die Sonne aus dem Meer und aus dem Himmel zugleich
brannte und der König auf einem Haufen Segeltuch am Bootrand einschlief,
schlichen sich die schlauen Weisen seines Landes an den Schlafenden heran
und stießen den Haufen Segeltuch samt dem schlafenden König ins Meer. Denn
alle hatten beratschlagt, daß sie den wütenden König noch vor Abend töten
müßten, um nicht selbst getötet zu werden.

Als die Sonne den König nicht mehr auf dem Deck sah, stieg sie früher als
sonst von der Mastspitze herunter, und verwundert sahen die Weisen, daß der
Tag schneller zu Ende war als je. In dieser Nacht warteten sie vergeblich
auf den Mond. Es war kein Mondaufgang, und es schien eine endlose Nacht
angebrochen zu sein; denn die Sonne ging auch nicht mehr auf zu der Zeit,
da sie erwartet wurde.

Danach verwirrte sich die Weisheit in allen ihren Hirnen; die Weisen des
Landes hatten die Liebe im Reich umgebracht, und mit der Liebe blieben
Sonne und Mond aus dem Reich verschwunden. Denn die Liebe ist allmächtiger
als die Weisheit. Alle, die im Boot waren, wurden wahnsinnig und stürzten
sich ins Meer, dem toten König nach. --

So erzählte Hasenauge. Und bei den letzten Worten deutete sie mit den
Eßstäbchen, mit denen sie dich bei der Unterhaltung gefüttert hatte, hinaus
auf den Biwasee. Umgeben von einem gelben Dunstkreis, als hätte er einen
gelben Ährenkranz auf dem Kopf, stand der Vollmondgott draußen am Fenster
und trat seinen Rundgang an.

Wenn du dann aus dem Teehaus heimgehst, kann es einem Neuling, der
Hasenauge zum erstenmal erzählen hörte, vorkommen, daß er mit dem Mond in
Streit gerät. Der Mond stellt sich quer über den Weg und fragt ihn:

«Nun, hat dir wirklich Hasenauge während meines Aufgangs zwölf Geschichten
erzählt?»

Zuerst sagst du ja. Du besinnst dich nicht, rechnest nicht nach und sagst:
Ja, zwölf.

Der Mond lacht stolz über Ishiyama und freut sich.

Nach einer Weile rufst du den Mond, hinter einer Hausecke, an den Weg
hervor und sagst:

«Es war nur _eine_ Geschichte, aber es klang wie zwölf.»

Da lächelt der Mond noch stolzer und freut sich noch mehr über Ishiyama.

Und wieder nach einer Weile, ehe du in dein Haus trittst, fragst du den
Mond an der Türschwelle:

«Sag mal, wie kommt das, daß Fräulein Hasenauge dreitausend Geschichten
allein vom Mondaufgang über Ishiyama erzählen kann? Kommt es daher, daß du
nirgends so schön wie am Biwasee aufgehst? Ich glaube, du bist Fräulein
Hasenauges Geliebter.»

Da rascheln alle Eschenbäume im Mond, und sie fragen dich:

«Hat dir Fräulein Hasenauge heute ihre dreitausend Geschichten erzählt?»

«Ja, ungefähr dreitausend», antwortest du, ohne dich zu besinnen.

Und am nächsten Abend geht der Mond über dem Biwasee bei Ishiyama noch
geschichtenreicher auf als sonst. --

«Liebe und der aufgehende Mond machen das Haar wachsen. Darüber will ich
dir gleich eine Geschichte erzählen», sagte Hasenauge zu mir und reichte
mir ein Schälchen frischen Tee und einen großen Brocken Pfefferminzzucker
dazu und drückte mir eine kleine Prise frischen Tabak in die kleine
silberne Tabakpfeife. --

Als einer der schönsten Tempel in Kioto gebaut werden sollte, erwiesen sich
alle Stricke, die den bronzenen Dachfirst auf die Gerüste hinaufwinden
sollten, als zu schwach. Darum entschlossen sich alle die Tausende von
Frauen in Kioto, dem Tempel ein Opfer zu bringen und ihr Haar dicht am Kopf
abschneiden zu lassen, damit daraus Stricke für den Tempelbau gedreht
würden. Es wurde auch wirklich ein dreihundert Meter langer Haarstrick aus
den geopferten Haaren gedreht, und dieser schwarze Strick, der die Dicke
eines Männerarms hat, wird noch heute in einer Lacktonne im Tempel von
Kioto aufbewahrt.

Die Frau eines japanischen Adligen, die auch ihr Haar zum Tempelopfer
abgeschnitten hatte, und die in jener Zeit schwanger war und nahe vor der
Stunde des Gebärens stand, erschrak so sehr, als sie sich im Handspiegel
sah und ihr Kopf ihr kahlrasiert entgegenglänzte, daß sie sich der Tränen
nicht erwehren konnte.

Die Tempelgötter nahmen die Schwachheit dieser Frau übel und straften sie
an dem Kinde, das sie gebar. Sie schenkten ihr ein kleines Mädchen, aber
diesem wuchs nicht ein einziges Haar auf dem Kopf; und wie eine
Elfenbeinkugel so glatt, weiß und haarlos blieb die Schädelschale des
Kindes.

Die Frauen von Kioto, denen allen daran gelegen war, daß ihr Haar bald
wieder wüchse, und die wußten, daß der zunehmende Vollmond den Haarwuchs
beschleunigt, taten sich zu Vollmondprozessionen zusammen und wallfahrteten
in langen Zügen im Mondschein zu den verschiedenen Kiototempeln.

Jene adelige Dame nahm zu jenen Nachtprozessionen ihr kleines Mädchen mit,
in der Hoffnung, der Mond würde dem Kind Haare wachsen lassen. Aber die
Prozessionen nützten nichts, und die Mutter war gezwungen, dem Kind
Perücken machen zu lassen. Das Mädchen wurde damals von allen Leuten in
Kioto «Mondköpfchen» genannt, weil es so kahl war wie der Vollmond.

Als Mondköpfchen verheiratet wurde, wußte der junge Mann, der sie zur Frau
nahm, daß er eine kahlköpfige Frau heiratete. Aber es lag ihm nichts
daran, denn er hatte Mondköpfchen immer in schöner gutsitzender Perücke
gesehen. Und er hatte sich keine Gedanken darüber gemacht, wie eine
kahlköpfige Frau ohne Perücke aussehen kann.

Die Hochzeitsnacht verlief, wie die meisten Hochzeitsnächte, für die beiden
Neuvermählten mit geschlossenen Augen, und das Liebesglück ward nicht
gestört.

Aber schon in der zweiten Nacht verschob der junge Ehemann erst zufällig,
dann scherzend Mondköpfchens schwarze Perücke. Er spaßte und schob sie ihr
bald auf das linke Ohr, bald auf das rechte, bald auf die Nase, bald auf
den Nacken zurück, und er kollerte sich neben seiner jungen Frau vor
Lachen. Immer, wenn die Frau ernst und liebend ihre Arme ausbreitete,
juckte den Mann ein Kobold an den Fingern, so daß er der Perücke erst
jedesmal einen kleinen Puff gab, ehe er seine Frau in die Arme schloß.

Dieses geschah in der zweiten Nacht. Aber in der dritten war es überhaupt
nicht mehr zum Aushalten. Der junge Mann setzte sich selbst die Perücke
auf, so daß die Frau böse wurde, nicht mehr im Zimmer bleiben wollte und
sich auf den Altan setzte. Es war dunkel draußen, und er lief ihr mit einem
Licht nach. Als er sie perückenlos mit helleuchtendem Schädel am Altanrand
sitzen sah, prustete er vor Lachen, kollerte ins Zimmer zurück und rief:

«Ich habe den Vollmond geheiratet.»

Bisher hatte Mondköpfchen ihren Namen immer harmlos hingenommen und sich
nie darüber erschreckt. Aber nun brach sie in Weinen aus.

Am dritten Tage nach der Hochzeit ist es in Japan Sitte, daß die Frau ihre
Eltern besucht. Mondköpfchen ließ sich am nächsten Morgen in einer Sänfte
in ihr Vaterhaus tragen, weinte sich bei ihrem Vater und ihrer Mutter aus
und wollte nicht mehr zu dem Mann zurückkehren, der mit ihrer Perücke
spielte und statt der Liebe Gelächter über sie ausschüttete.

Aber Vater und Mutter überredeten Mondköpfchen, wieder zu ihrem Mann
zurückzukehren, und versprachen, alles daran zu setzen, ein Mittel
ausfindig zu machen, damit ihre Haare wüchsen. Sie sollte sich nur noch
eine kurze Wartezeit auferlegen.

Mondköpfchens Eltern hatten diesen Rat nur aus Verzweiflung gegeben und
mußten jetzt selbst weinen, als ihr Kind zu seinem Mann zurückgekehrt war;
sie waren ratlos.

Plötzlich sagte die alte Frau zu ihrem Mann:

«Ich weiß, womit ich die Götter jetzt versöhnen kann. Ich will mein Haar
zum zweitenmal abschneiden und es den Tempelgöttern opfern. Die Götter sind
gut und geben mir dann sicher einen Rat für unser Kind.»

Die Frau tat so und trug ihr ergrautes abgeschnittenes Haar, zu einer
kleinen Schnur geflochten, in den Tempel der tausendhändigen Kwannon und
band dort die Haarschnur um das goldene Handgelenk der tausendfach
segenspendenden Göttin.

Die Götter versöhnten sich danach mit ihr und gaben ihr in der Nacht einen
Rat. Die Frau hörte im Traum eine Stimme, die sagte:

«Liebe und Vollmond lassen die Haare wachsen. Schicke dein Kind nach
Ishiyama. Wenn es dort den Herbstmond aufgehen sieht, werden Liebe und Mond
deinem Kind ein schönes Haar schenken.»

Die Mutter erzählte den Traum ihrer Tochter, und Mondköpfchen glaubte
begeistert an die Weissagung. Und Mondköpfchens Mann, der immer noch
lachte, sagte wenig rücksichtsvoll zu seiner jungen Frau:

«Reise nur nach dem Biwasee und laß dir dort Haare wachsen. Ich muß mich
hier inzwischen von dem Nachtgelächter erholen.»

Mondköpfchen reiste an den Biwasee.

Im aufgehenden Mondschein sahen die Bewohner von Ishiyama die kahlköpfige
junge Frau auf dem Balkon des Rasthauses sitzen, wo Mondköpfchen Wohnung
genommen hatte. Die frommen Bewohner des Seeortes nannten sie nur die
elfenbeinerne Heilige, weil ihr haarloser Kopf wie vergilbtes altes
Elfenbein in der Abenddämmerung leuchtete. Viele lenkten abends vom See her
ihre Kähne am Rasthaus vorbei, um die bleiche, stille Frau auf dem Altan
unter den Sykomorenbäumen sitzen zu sehen, und jeder, der sie sah, dachte
sich eine Geschichte über sie aus.

Ein junger Adliger, der ein Landhaus in der Nähe von Ishiyama hatte, hörte
durch seine Leute von der fremden Frau, die Abend für Abend den aufgehenden
Herbstmond von Ishiyama erwartete. Und er richtete es so ein, daß er am
Spätnachmittag in einen der Sykomorenbäume am Ufer stieg, wo er, hinter den
Ästen verborgen, Mondköpfchen beobachten konnte, die wie ein Götterbild
regungslos im Mondschein saß und sich Liebe und Haare wünschte.

Bald danach erhielt die junge Frau von dem jungen Adligen ein Gedicht
gesandt, das war mit Goldtusche auf Purpurpapier geschrieben. Das Gedicht
erzählte von einem Sykomorenbaum, der ein Mensch werden wollte, um zu ihr
zu kommen und neben ihr auf dem Altan zu sitzen.

Mondköpfchen freute sich aufrichtig über das schwärmerische Gedicht. Und
als sie wieder im Mondschein saß und mit der Hand über ihren Kopf strich,
fühlte sie zu ihrem Entzücken die ersten Haarspuren, denn sie sehnte sich
in dieser Nacht sehr nach ihrem Mann zurück.

Am nächsten Tag erhielt sie einen Brief, der sagte ihr:

«Ich bin ein Mann, der Dich liebt, und möchte Dich bald vom Altan holen.
Laß Dich entführen, schöne Frau.»

In dieser Nacht sehnte sich Mondköpfchen noch mehr nach ihrem Manne, und
ihre Haare wuchsen einen Arm lang, und am Morgen reichten sie ihr bis zum
Gürtel. In der nächsten Nacht wuchsen sie ihr beim aufgehenden Mond bis zu
den Knieen.

Mondköpfchen empfing in dieser Nacht einen dritten Brief, der sprach:

«Ich weiß, daß Du einen Mann in Tokio hast. Liebe mich, so werde ich ihn
töten.»

Da erschrak Mondköpfchen, ließ sich noch in derselben Nacht in einem Kahn
über den Biwasee fahren und reiste nach Kioto und zeigte sich und die
Briefe ihrem Mann.

Als der Mann seine Frau im prächtigen Haar vor sich sah, wurde er still,
und seine Augen wurden dunkel vor Bewunderung. Und als er die drei Briefe
gelesen hatte, wurden seine Augen finster, seine Arme breiteten sich aus,
und sein Mund, der nicht mehr lachte, sagte:

«Komm in meine Arme, wenn du mir jetzt noch treu sein willst, seit du so
schön bist, und wenn du mir verzeihen kannst, daß ich gelacht habe, als du
noch nicht so schön warst. Willst du mir aber eines Tages die Treue
brechen, dann tue es lieber jetzt und gehe zu dem Mann, der die Briefe
geschrieben hat, damit er mich tötet. Denn wenn du mich jetzt verläßt, hat
mich schon mein Leben verlassen, und der Tod ist dann nur eine Zeremonie,
die ich nicht spüren werde.»

Mondköpfchen setzte sich auf die Diele vor ihren Mann nieder und begann den
Tee zu bereiten. Das bedeutete, daß sie ihn für immer lieben und ihm treu
bleiben würde und ihm verziehen hätte. --

Und Fräulein Hasenauge lächelte ungläubig und erzählt eine neue Geschichte.

Ein Spielzeugverkäufer, ein Schilfmattenflechter und ein Holzkohlenhändler
saßen eines Abends, ehe der Vollmond über Ishiyama aufging, am Rande der
Landstraße nach Ishiyama. Der Spielzeugverkäufer hatte an einer langen
Stange ein Bündel Spielsachen hängen, meist aus Watte gearbeitete große
Insekten, ungeheure graue und silberne Riesenspinnen, grüne und braune
Grashüpfer und Heuschrecken, riesige Libellen mit farbigen Flügeln aus
Gelatinepapier.

Der Schilfmattenflechter trug ein großes Bündel zusammengerollter,
feingeflochtener Schilfmatten auf dem Rücken. Das sah in der Abenddämmerung
aus, als trüge er lange Kanonenrohre.

Der Kohlenhändler trug einen Korb auf dem Kopf, den er im Gehen
balancierte. Drinnen im Korb unter einem Tuch war die feinste Holzkohle,
die er selbst zubereitet hatte.

Im Straßengraben sitzend, an welchen das Schilf vom See her heranreichte,
erzählten sich die drei Kriegsgeschichten. Der eine, der
Spielwarenhändler, behauptete, er wäre bei der Einnahme von Peking dabei
gewesen. Der Rohrmattenflechter behauptete, er hätte mit vor Port Arthur
gelegen. Der Kohlenhändler behauptete, er wäre auf einem Schlachtschiff im
Chinesischen Meer Heizer gewesen. Aber alle drei verstanden vom
Kriegshandwerk so wenig wie eine Katze vom Neujahrsfest. Und ihre
Erzählungen waren so drollig, daß ganz Japan sie lachend immer noch weiter
erzählt.

Der Spielwarenhändler sagte: «Als wir die Stadtmauern von Peking sahen,
liefen unsere Augen wie Spinnen über die Ebene von Peking, unsere Füße
hüpften wie Heuschreckenbeine über die Mauerwälle, unsere Bajonette, Säbel
und Kugeln flogen wie surrende Libellen über die Chinesen her. Aber das war
alles umsonst. Ihr wißt: wenn man den Chinesen sticht, haut oder vierteilt,
ist dies geradeso unnütz, als wenn man gegen den aufgehenden Vollmond
streitet. Die Chinesen stehen immer wieder gesund und unverwundbar vor dir,
denn jeder hat Tausende von Körpern ineinander geschachtelt, so wie es
Spielzeugschachteln gibt, von denen Hunderte ineinander passen.»

«Womit habt ihr denn die Chinesen umgebracht, wenn sie nicht zu erschießen
und nicht zu erschlagen sind?» fragte der Schilfmattenflechter.

Der Spielzeughändler blähte sich auf wie eine Schweinsblase, die ein
Kinderluftballon werden will.

«O, wir haben ihnen allen den Rücken gewendet, so daß die Chinesen keines
unserer Gesichter sahen und nicht sahen, wie wir lachten und haben unsere
Gewehre in die Luft abgeschossen, in die Wolken und in den blauen Himmel
und haben mit den Bajonetten und den Säbeln in die Luft gestochen und haben
nicht gegen die Chinesen, sondern gegen den Himmel gekämpft.

Da hat die Chinesen, die Söhne des Himmels, ein großer Schreck erfaßt, als
sie sahen, daß wir ihren Himmel angriffen. Tausende starben vor Erstaunen,
Tausende vor Entsetzen, und Tausende kamen auf den Knien zu uns gekrochen
und hatten die Tore zur himmlischen Stadt Peking geöffnet, damit wir ihre
Väter und Götter im Himmel nicht bekriegten.»

«Das ist drollig», sagte der Schilfmattenhändler. «Aber gegen die Russen
hättet ihr nicht so kämpfen dürfen. Die Russen haben von den Knien abwärts
Kanonenrohre statt der Füße, und immer, wenn sie ein Bein heben, können sie
mit dem Bein auf dich schießen. Sie heben ihre Beine in die Luft, geradeso
wie meine zusammengerollten Matten lang in die Luft gucken. Und sie
brauchen nicht zu zielen, denn ihre Füße haben Augen, die sie Hühneraugen
nennen, und diese zielen für sie. Und während ihre Beine gehen und
schießen, haben die meisten Essen und Trinkflasche in den Händen und
füttern und tränken jeder sein Maul. So bleiben sie immer stark und kommen
nie von Kräften und sind unbesiegbar.»

«Ja, wie habt ihr sie denn besiegt, die Russen?» fragte der Kohlenhändler.

«O, das war ganz einfach. Das sagt einem jeden doch der helle Verstand, wie
man einen Russen besiegt. Nur ein Kohlenhändler wie du kann so dumm fragen,
als ob du Kohlenstaub in deinen Augen hättest und nicht wüßtest, daß wir
die Russen besiegt haben.

Der Russe läßt doch immer nur seine Beine gradaus marschieren und
schießen, aber seine Augen im Gesicht sehen nichts als das Essen und
Trinken vor dem Maul. Darum, wenn die Russen aus Port Arthur auf uns
losmarschierten mit ihren schießenden Beinen, stellten wir uns ruhig zu
beiden Seiten des Weges auf und ließen sie ruhig an uns vorbei. Dann gingen
wir hinter ihnen her, jeder faßte einen Russen am Gürtel und drehte ihn
einfach wieder gegen Port Arthur um, in der Richtung auf das Meer zu. Da
sie einmal im Gehen waren und sich im Fressen und Saufen nicht stören
lassen wollten, marschierten sie auf Port Arthur zurück und liefen dort
über die Kaimauern ins Meer, wo sie ertranken. Die Armeen aus der
Mandschurei aber, die aus dem Norden kamen, drehten wir nach Norden um, so
daß sie ruhig zur sibirischen Eisenbahn zurückmarschierten. Und die
Eisenbahnbeamten, im Glauben, der Krieg sei beendet und die Russen seien
Sieger, fuhren die fressenden und saufenden Armeen nach Petersburg zurück,
wo sie dann einzogen, immer noch in dem Glauben, daß sie die Sieger wären.
In der Zeit besetzten wir die ganze Mandschurei, und das soldatenleere Port
Arthur war unser.»

«So einfach war es aber doch nicht», sagte der Kohlenhändler, «denn erst
mußten wir die russische Flotte zerstören, wobei ich einer der Haupthelden
war.»

«Erzähle!» sagten die beiden anderen Helden.

«Da ist nichts zu erzählen. Das war die allereinfachste Sache von der Welt,
die russische Flotte zu vernichten», wisperte der Kohlenhändler bescheiden
wie eine Feldmaus.

«Eines Morgens dachte ich mir: heute zerstöre ich die russische Flotte,
denn ich hatte Sehnsucht nach meiner Frau, und nichts als die russische
Flotte hinderte mich, zu meiner Frau zu reisen.

Ich steckte mir eine Schachtel Streichhölzer ein, ein paar japanische
Zeitungen und ein paar Stückchen Holzkohle. Ich schwamm von meinem Schiff
an die Hafenmauer von Port Arthur heran, zündete mir ein Pfeifchen an,
setzte mich auf einen Klippenstein und fabrizierte aus meinen japanischen
Zeitungen kleine Papierschiffe, wie sie die Schulkinder am Biwasee machen.
In jedes Schiffchen steckte ich ein Stückchen Kohle, das war der
Schornstein des Schiffes; manche hatten auch zwei und vier Schornsteine.
Die Kohlenstücke zündete ich an, und dann ließ ich meine Schiffe mit dem
Südostwind auf Port Arthur los, und sie zogen an der Hafenmauer entlang.
Meine kleine Papierflotte wurde augenblicklich von allen Leuchttürmen und
Fernrohren auf den Leuchttürmen dem Admiral der russischen Flotte
signalisiert. Die russische Flotte verließ sofort in Schlachtreihen den
Hafen und umzingelte meine Zeitungspapierflotte. Tausend Schüsse hallten
aus den russischen Schiffsbäuchen, und als sich der Rauch verzog, war
natürlich meine Papierflotte untergegangen. Auf allen Rahen und auf allen
Masten stellten sich nun die russischen Marinesoldaten in Parade auf, um
dem sieghaften russischen Admiral ein dreifaches Hurra für seinen Sieg
auszubringen.

Auf diesen Augenblick hatte ich nur gewartet. Denn ich wußte, die Russen
hatten ihren Mut mit Schnaps angefeuert, und es mußte beim Siegesgeschrei
der Tausende und Tausende von Soldaten eine Wolke von Alkoholgasen in der
Luft entstehen, und diese Wolke konnte ich mit einem einzigen Streichholz
in Brand setzen.

So war es auch. Das erste Hurra ließ ich sie zum Vergnügen schreien. Aber
bei dem zweiten Hurra wäre ich beinahe selbst erstickt, -- so sehr stank
die Luft nach Alkohol.

Kaum flackte das Streichholz auf, so entzündete sich über dem Meer die
Alkoholwolke, und eine Flamme pflanzte sich fort von Schiff zu Schiff;
Mannschaften und Schiffe, vom Alkoholdunst erfüllt, explodierten unter
Gekrach. Später sagten die Russen uns nach, wir hätten mit Stinkbomben
geschossen und mit griechischem Feuer. Und es war doch nur ihr Alkoholatem,
der die ganze Flotte verbrannt hat, als ich mein Streichholz anzündete.»

«Ja, sag mir aber», fragte mißtrauisch und kleinlich der Spielzeughändler,
«sag mir, Kriegskamerad, wie konntest du die Streichholzschachtel trocken
erhalten, als du von deinem Schiff nach Port Arthur geschwommen bist?»

Auch der Schilfmattenhändler nickte heftig und ungläubig und bezweifelte
gleichfalls, daß eine Streichholzschachtel beim Schwimmen trocken bleiben
könnte.

«Habe ich euch denn nicht gesagt», fuhr der Kohlenhändler sie grob an, «daß
ich an diesem Morgen Sehnsucht nach meinem Weib hatte? Wißt ihr nicht, was
Sehnsucht bedeutet? Sehnsucht haben heißt so heißes Blut kriegen, daß alles
ringsum verdorrt.»

«Ja, dann verstehen wir, daß deine Streichholzschachtel im Gürtel nicht naß
wurde, wenn du Sehnsucht nach deinem Weib hattest, Kriegskamerad», nickten
der Spielzeughändler und der Schilfmattenverkäufer dem Holzkohlenhändler
zu.

Der Vollmond war inzwischen langsam aus dem Schilf gerollt, betrachtete
sich breit lachend die drei Überhelden und erzählte die Geschichte in ganz
Japan weiter.



Das Abendrot zu Seta


Ein japanischer Winter am Biwasee ist nicht so kalt und nicht so
schneereich wie die meisten deutschen Winter, aber doch liegt oft fußhoch
eine weiße Schneerinde am Seerand, auf den Hausdächern und in den Gabeln
der Bäume. See und Himmel sind dann vom Winterdunst eingewickelt. Der See
liegt wie ein dunkles Zelt im Nebelrauch, und wie weiße Insektenschwärme
kommen die Schneeflocken an. Ihr kreiselnder Tanz im Wind ist im Wintertag
das einzige Leben am See, dessen Spiegel blind ist, auf dem sich kein Segel
zeigt, dessen Schilffelder abgemäht sind, und der einer Wüste aus grauem
Basalt ähnelt.

Die Japaner tragen in der weißen Jahreszeit drei bis vier wattierte graue
und bräunliche Seidenkleider übereinander. Sie kennen keine Öfen. Nur eine
kleine Kohlenglut in einem Messingbecken wärmt die hingehaltenen
Fingerspitzen. Aber die Japaner haben viel Eigenwärme in sich. Sie sind
gewöhnt an den Verkehr mit offener Luft in luftreichen, leichten
Bambusholzhäuschen, hinter dünnen Papierwänden und Papierscheiben,
gekleidet in den drei anderen Jahreszeiten in luftige Seiden und
Kreppstoffe und eingehüllt in das bequeme Schlafrockkostüm, das den
Gliedern Spielraum zu Eigenbewegung läßt. So sind sie ein gesundes
warmblütiges Volk geblieben. Die Seele der Japaner ist ebenso warmblütig
wie ihre reinlichen, gutgelüfteten und leeren Papierzimmer. Keine
Möbelstücke sind in ihren Zimmern, der saubere Strohmattenboden des
Gemaches muß alle Möbel ersetzen. Er stellt Tisch, Stuhl, Sofa und Sessel
dar, ist handdick, aus dünnstem, feinstem Rohrmattengeflecht, ist
nachgiebig, leicht elastisch, und du darfst ihn nur mit Strümpfen, nie mit
Schuhen betreten. In diesen leeren Gemächern, deren Wände leicht getönte
Bambusstrohfarbe, mehlweißes Papier oder gelbliche Naturhölzer zeigen, hebt
sich das Menschenantlitz ab wie ein Porträt auf ungestörtem Hintergrund;
und die Gesten der Menschen, in diesen leeren Gemächern, werden in den
kleinsten Bewegungen wichtig und bleiben deiner Erinnerung eingeprägt, wie
die Schriftzüge auf weißem Papier.

Als farbiger natürlicher Zimmerschmuck stehen in den offenen Schiebetüren
die Ausblicke auf die maigrünen, sommergelben, herbstbraunen und
winterblauen Landschaftsbilder, der Flug vorüberziehender Vögel, wandernde
Wolken und Menschen. Unwillkürlich befürworten die leeren, farblosen
Gemächer die Liebe zur farbigen Außenwelt. Die Welt, die immer im Türrahmen
erscheint, wenn eine Schiebetür sich öffnet, wirkt im leeren Zimmer doppelt
lebhaft als Landschaft oder als Mensch, der zu Besuch kommt; jeder Mensch
wird zum lebenden Bild, wenn er sich zu dir auf die Leere der Diele
zwischen die leeren Wände setzt. Man kann sich leicht denken, daß sich dann
alle Landschaftsreize steigern und den Hausbewohnern so wichtig werden wie
einer europäischen Hausfrau die Möbelstücke.

In den leeren Gemächern von Seta am Biwasee ist das Abendrot vor den Türen
zu Seta eine Berühmtheit geworden, und das Abendrot von Seta gesehen haben,
ist wie Bienenhonig dem Ärmsten und verspricht dir noch nach langen Jahren
einen sanften Tod. --

In Seta lebte die Frau eines verarmten Adligen. Ihr Mann war im Krieg gegen
die Europäer gefallen, ebenso ihre zwei Söhne. Diese Frau reiste öfters im
Sommer oder im Frühling zur Kirschblütenzeit nach Kioto oder nach dem
Wallfahrtsort Nara oder nach den heiligen Tempeln von Nikko, um dort im
Gebet, in den Tempeln, an heiligen Orten ihrem Mann und ihren zwei Söhnen
näher zu sein.

In Kioto, im Tempel der fünftausend Kriegsgenien, stehen in den zehn langen
Reihen je fünfhundert aufrechte goldene Götter. Jeder Gott hat zwanzig bis
dreißig Arme, schwingt Speere und Schwerter; und man sagt: sollte Kioto
einmal von Feinden angegriffen werden und in höchster Not sein, dann ziehen
die fünftausend Götter aus der langen hölzernen Tempelhalle aus und werden
die alte Kaiserstadt verteidigen.

In diesen Tempel ging die verwitwete Frau am liebsten, denn dort traf sie
im Gebet ihren Mann. Wenn sie vor den fünftausend Götterbildern
niederkniete, sprach er in ihr Ohr wie ein Lebender.

Die feuerrote düstere und fensterlose Lackhalle, darinnen die fünftausend
goldenen Götter nur von den riesigen offenen Türen beleuchtet wurden, gab
der Witwe ein aufregend wohliges Gefühl. Wenn sie über die hunderttausend
goldenen Speere und Schwertspitzen schaute, glaubte sie ein Kriegsgetümmel
vor sich zu sehen. Von den zehn Reihen der Götter steht immer eine Reihe
höher hinter der andern, so daß man sich vor einem Berg von Lanzen,
Schwertspitzen, goldenen Armen und goldenen Heiligenscheinen befindet, als
strömten dir goldene Götterscharen bergab entgegen.

Als die Frau eines Tages wieder im Gebetstaumel die Halle verließ, sah sie
draußen auf dem Bretterweg, der an der hundert Fuß langen Halle
entlangführt, einen Mann stehen, der sich, wie das die Japaner öfters tun,
hier im Bogenschießen übte. Der Mann glich auffallend ihrem toten Gatten.
Am einen Ende des Bretterwegs stand der Schütze mit dem altmodischen,
mannsgroßen Bogen, am andern Ende des Bretterwegs war die weiße Scheibe
angebracht, und an der ganzen Tempellänge entlang surrte der Pfeil des
Schießenden. Trotzdem jetzt allgemein das Gewehr in Japan eingeführt ist,
üben sich einige Japaner noch zum Vergnügen im Bogenschießen, und besonders
ist der Bretterweg am Tempel der fünftausend Kriegsgenien ein beliebter
Übungsplatz in Kioto.

Die Frau zitterte vor Erregung, als sie den Schützen sah, der das getreue
Abbild ihres gestorbenen Mannes war. Ihr Auge hatte einen
unwiderstehlichen, leidenschaftlichen Ausdruck, und ihr ganzer kleiner
Körper wurde wie ein Stück Magneteisen und zog den Mann nach sich, den sie
anschaute.

Sie blickte den Schützen an, trat rückwärts wieder in die Tempelhalle
zurück und ging an der untersten Reihe der Genien entlang, genau wissend,
daß der Schütze Bogen und Pfeile wegstellen und ihr nachfolgen müßte. Sie
kam in das dunkle Ende der Halle, wo Holztreppen ähnlich Leitern,
verstaubt, uralt und düster, zu einer dunkeln Holzgalerie führen, die sich
hoch unter dem Dach des Tempels über den fünftausend Genien hinzieht. Der
Mann, der ihr gefolgt war, kam leise die dunkle Stiege herauf. Sie kauerte
auf der obersten Stufe nieder und wollte ihn an sich vorübergehen lassen.

«Deine Augen können surren wie Pfeile», sagte der Mann und blieb neben ihr
stehen.

«Du siehst meinem verstorbenen Mann ähnlich», sagte die Frau. «Deswegen
habe ich dich angesehen.»

Der Mann atmete schwer. Er senkte den Nacken und flüsterte rasch:

«Wenn dich dein Mann so gern umarmt hat, wie ich dich jetzt hier umarmen
möchte ...»

Er sprach den Satz nicht fertig, faßte die Frau flink, wie ein Affe eine
Äffin, und die harte Tempeldiele wurde ihr Liebeslager.

Danach sagte die Frau leise:

«Was haben wir getan? Wir sind im Tempel der fünftausend Genien!»

«Wollust schändet keinen Tempel», antwortete der Mann. «Fünftausendmal will
ich dich hier umarmen. Fünftausendmal wollen wir uns hier treffen.»

Die Frau schauderte vor Glück. In die geheimnisvolle Tempelluft und
Tempeldunkelheit schienen außer den fünftausend Kriegsgöttern fünftausend
Liebesgötter eingedrungen zu sein. Und sie sagte zu dem Mann:

«Wir wollen nicht wissen, wie wir heißen, wir wollen nicht wissen, wo wir
wohnen. Wir wollen nicht verabreden, wann wir uns treffen. Wir wollen es
den fünftausend Genien überlassen, daß sie unsere Wege zusammenführen. Und
immer, wenn wir uns zusammenfinden, wollen wir nichts besprechen und nichts
fragen und uns nur umarmen, wie wir uns hier umarmt haben.

Ich will nicht wissen, ob du ein wirklicher Mensch bist, oder nur eine
Erscheinung, ähnlich meinem Mann. Ich will dich genießen wie die Abendröte,
die jetzt über die Türschwelle dort tritt, und die wirklich und unwirklich
ist zugleich.»

Die beiden hielten ihre Verabredung. Die Frau änderte nicht ihre Reisen und
ihre Wallfahrten nach den andern Wallfahrtsorten. Und nachdem sie
monatelang in Kioto täglich zu den verschiedensten Stunden den Tempel der
fünftausend Genien besucht und täglich den Schützen dort getroffen, umarmt
und geliebt hatte, reiste sie nach dem Wallfahrtsort Nara, ohne ihrem
Geliebten bei ihrer Abreise ein Wort zu sagen.

In Nara war es Hochsommer. Die Wiese vor dem großen Zedernwald, darauf die
feuerrote sechseckige Pagode steht, war umwimmelt von weißen, blauen und
gelben Schmetterlingen. Im Wald bei den rotbraunen senkrechten
Zedernstämmen stehen, dichtgedrängt wie Grabdenkmäler in einem Kirchhof,
Steinlaternen in Gruppen und Gassen und begleiten alle Waldwege,
dichtgedrängt wie versteinerte Völker. Schwarzbronzene Hirsche, von
Künstlern als Statuen gegossen, ruhen auf Steinsockeln. Aber auch Hunderte
von lebenden Rehen und Hirschen gehen in großen Rudeln zahm auf allen
Wegen, zahmer als Hühner in einem Hühnerhof.

Als jene Frau mit dem Bahnzug nach Nara kam, stand ein großes Gewitter über
dem Wald. Aber sie fürchtete sich nicht, nahm am Bahnhof einen
Rikschawagen, fuhr bis zum Eingang des Waldes und schickte den Wagen
zurück.

Hier in Nara betete die Frau meist zu ihrem ältesten Sohn und kniete viele
Stunden in der Halle des großen Daibutsu, welches eines der riesenhaftesten
Buddhabilder Japans ist.

In einem roten mächtigen Holzbalkenhaus sitzt der haushohe Buddha, alt und
schwerfällig geschnitzt, bräunlich vergoldet auf einer ungeheuern
Lotosblume. Sein runder Kopf reicht bis unter das Dach des Tempels. Drei
haushohe Flügeltüren stehen offen. Aber das Licht von den Wiesen draußen
kann den mächtigen Kopf, der bis in die Dämmerung des Dachstuhles reicht,
kaum erhellen.

Die Frau war in den Tempel getreten, kniete auf den Strohmatten nieder und
vertiefte sich in ein stilles Gespräch mit ihrem verstorbenen ältesten
Sohn. Da rollte der ferne Donner und war wie die näherkommende Stimme eines
Gottes über ihr. Die schwüle Gewitterluft machte die große, dunkle
Tempelholzhalle noch dumpfer, und der Geruch des Räucherwerkes und der
Geruch der alten sonnengewärmten Holzbalken wurden der knienden Frau wie
eine Last, als ob sich der schwere mächtige Buddha über sie böge. Und sie
mußte an den Mann denken, der sie Tag für Tag in Kioto im Tempel der
fünftausend Genien umarmt hatte.

Der Regen prasselte jetzt draußen auf das Tempeldach und auf die ungeheure
Holzgalerie vor dem Tempel. Ein Blitz flog herein, und der große goldene
Buddha erschien für den tausendsten Teil einer Sekunde hell bis unter das
Dach.

«Ist es wahr, Gott», dachte die Frau, «daß die Wollust den Tempel nicht
schändet, so laß den Mann aus Kioto eintreten und mich in Nara hier bei
dir wiederfinden.»

Über die Holzgalerien draußen kamen jetzt Hunderte von Schritten, Schritte
über die Wiesenwege, Menschenstimmen aus den Wäldern, Männer, Frauen und
Kinder, lachend und kreischend, die, vor dem Gewitter flüchtend, in die
Halle des großen Daibutsubildes eindrangen.

Die kniende Frau wollte wieder zu ihrem Sohn beten. Aber der Lärm des
Regens, der vielen humpelnden Füße von Wallfahrern und der Menschenstimmen
zerstreute sie, so daß sie unter die Gruppen der Leute an eine der offenen
Türen trat und dem Sturzregen zusah, der die Landschaft in einen weißen
Nebel hüllte.

Blitz um Blitz blendete sie, daß sie sich von der Türe weg gegen die
Gesichter der Menschen wenden mußte, von denen einzelne Gruppen, weiß im
finstern Tempel, bei jedem Blitz aufleuchteten.

Neben einer kleinen Frau und umgeben von einer Schar von Kindern, entdeckte
sie plötzlich einen Mann, der ihrem Sohn, zu dem sie eben gebetet hatte,
ähnlich sah. So müßte ihr Sohn jetzt aussehen, so seine Frau und seine
Kinder, wenn er jetzt lebte und glücklich wäre.

Bei dem zweiten Blitz aber erschrak sie. Es war nicht mehr das Gesicht
ihres Sohnes. Es war jener Mann aus Kioto mit seiner Familie, die hier vor
dem Gewitter in den Tempel geflüchtet waren. Bei dem dritten und vierten
Blitz erkannte sie ihn deutlich und sah weg.

Sie schlug rasch ihren kleinen Fächer auf, versteckte ihr Gesicht dahinter,
drängte sich aus dem Tempel hinaus und eilte mitten in den prasselnden
Regen den Hügelweg hinunter in die graue, dampfende Sommerlandschaft. Weit
weg stellte sie sich unter einen Zedernbaum, versteckt hinter einer
Steinlaterne. Ihr Haar war vom Regen aufgelöst, ihr Fächer aufgeweicht. Sie
hatte ihre Schmucknadeln aus dem Haar verloren, ihr seidenes Festkleid
klebte an ihr wie eine Fischhaut. Sie weinte und weinte. Sie hatte doch
nicht wissen wollen, ob der geliebte Mann verheiratet wäre, ob er eine
Familie hätte. Sie hatte diesen Geliebten zu einem Gott, zu einer
Erscheinung machen wollen, zu einer wollüstig gruseligen Tempelvision. Sie
hätte sich gern blind geweint, um das Bild aus ihren Augen auszulöschen und
den Schützen aus dem Tempel der fünftausend Genien nicht als Gatten und
Familienvater sehen zu müssen.

Der Platzregen ließ nach, und die Spitze der roten sechseckigen Pagode,
über den noch regendampfenden Wiesen, schien im Abendrot Feuer zu fangen.
Das Abendrot ging durch die Wiesendämpfe, färbte die Zedernstämme rot, die
Scharen der grauen, moosigen Steinlaternen braun wie Kupfer.

Das Abendrot beruhigte die Frau und gab ihr wieder den Glauben an
inbrünstige Ungeheuerlichkeiten. Sie lächelte und fühlte sich rot
durchtränkt von dem abenteuerlichen Licht und sagte ganz einfach:

«Die Blitze haben gelogen. Der Mann im Daibutsutempel eben war nicht der
Mann aus dem Tempel der fünftausend Genien, den ich wie die Abendröte mit
Inbrunst liebe. Er kann nicht zugleich hier und in Kioto sein, wo ich ihn
gestern verließ, ohne ihm etwas von meiner Reise nach Nara zu sagen.» Aber
sie getraute sich doch nicht, noch einmal zum Daibutsutempel zurückzugehen;
und sich zu überzeugen, fehlte ihr der Mut.

Die Frau warf ihren zerknitterten Fächer fort, strich ihre Frisur glatt,
schob ihren Gürtel zurecht und machte sich gesittet auf den Heimweg zum
Bahnhof von Nara.

Sie reiste durch Kioto, ohne den Tempel der fünftausend Genien aufzusuchen,
und ging nach Seta in ihr Haus zurück, tagsüber gepeinigt von dem Gedanken,
daß der Mann, den sie in Kioto liebte, Frau und Kinder hätte. Sie wurde nur
am Abend erlöst von dem fantastischen Abendrot, das sich über Seta in den
wunderbarsten Blutlinienwellen hinzieht, so daß alles Unwahrscheinliche
wahrscheinlich wird, so daß die Bäume blutrot wie Korallenwälder werden und
die Hügel wie die Brüste und Körperlinien hingelagerter Männer und Frauen,
als sei die Erde hier am Abend zu Menschenfleisch und Menschenblut geworden
und kenne nichts als umarmende Wollust und Liebe. Die untergehende Sonne am
Himmel ist dann in ihrer Röte nur wie eine kleine Kerze in einem roten
Gemach, in dem sich zwei umarmt halten, wo das Licht keinen Sinn hat und
keinen Wert, weil die zwei, von Leidenschaft entbrannt, sich mit
geschlossenen Augen ohne Licht sehen.

Im Abendrot wurde der Biwasee rotgoldig glitzernd und wie von fünftausend
goldenen Lanzenspitzen und goldenen Heiligenscheinen bewegt. Die Diele und
die Wände im Hause jener Frau wurden düsterrot, als wären sie die uralten,
düsterroten Balken des Genientempels in Kioto, als wäre in dem Hause der
Frau irgendwo die geheimnisvolle, rote Balkentreppe, wo sie in der roten
Tempeldunkelheit, auf der obersten Stufe, hinter dem hohen Geländer, Tag
für Tag den Mann treffen könnte, der sie wie das Feuer der Abendröte
schnell umarmte und nach der Umarmung wie die Abendröte in das Unbekannte
wieder versänke.

In den kältesten Wintertagen konnten die Bewohner von Seta jene Frau zur
Spätnachmittagstunde an dem geöffneten Fenster sehen, das auf das flüchtige
Winterabendrot hinaussah, -- die Frau, die einen kleinen Fächer schwang,
als wäre es ihr heiß im Abendrot, trotzdem der Schnee auf dem Geländer des
Altans lag und auf den Dächern der Holzhäuser von Seta.

Auch wenn die Abendsonne im Winternebel keine Kraft zum Röten des Himmels
hatte und nur wie ein kleiner Tropfen roter Kirschsaft das weiße Laken des
Himmels betupfte, saß die Frau zwischen den zurückgeschobenen Papierwänden
ihres Teezimmers und fächelte sich, als müßte sie das Abendrot mit jedem
Fächerschlag anschüren.

Der Frühling kam, und die Frau fürchtete sich immer noch vor einer
Begegnung mit dem geliebten Mann und vor einer Enttäuschung. Sie beschloß
eine große Reise zu den Tempeln von Nikko zu machen, im Norden Japans, um
dort zu ihrem zweiten Sohn zu beten.

Die kurzweilige Bahnfahrt dorthin zerstreute sie, und sie lachte sich
unterwegs wegen aller ihrer Zweifel aus und war schon, ehe sie nach Nikko
kam, ganz im klaren, daß der Mann in Nara niemals der Mann von Kioto sein
könnte, daß sie sich einfach in der Ähnlichkeit getäuscht hätte. Und sie
nahm sich vor, so bald sie von ihrer Wallfahrt nach Nikko wieder
zurückkäme, wollte sie den Tempel der fünftausend Genien wieder aufsuchen
und versuchen, den Schützen zu treffen, der ihr versprochen hatte, sie
fünftausendmal zu umarmen.

Das Rasseln der Eisenbahnräder, das Vorüberfliegen großer Plakatfiguren:
gemalter Männer und Frauen, die an den Bahngeleisen amerikanische
Fahrräder, deutsches Bier, englische Grammophone anpriesen, das eilige
Leben in den eisernen Bahnhofhallen, alle die vorüberhastenden Eindrücke
gaben der entmutigten Frau neuen Wirklichkeitsmut, und sie begann sich
innerlich zu verspotten und bedauerte den langen Winter, der damit
vergangen war, daß sie sich nur vom Abendrot in Seta, aber nicht von ihrem
Geliebten hatte umarmen lassen.

Die schieferblaue Bergwelt von Nikko mit einer Silbersonne über den
silbernen Kiesbächen, mit blausteinigen Schluchten, deren Ränder von
schwarzen zerzausten Kryptomerien umstanden sind, tauchte auf. Das
liebliche Japan war verschwunden, und ein heroisches Japan lag hier, mit
nasser Felsenschlucht, mit senkrechten weißen Wasserfällen unter einer
Sonne, die einem weißen Metallspiegel glich. Wie kupferrote Wimpel hing das
rotblättrige Frühlingslaub der Ahornbäume über den Gebirgswegen. Hie und da
blühten auch ein paar rosige wilde Kirschbäume und an der Sonnenseite der
Abhänge ganze Wälder von rosigen Kamelienbäumen.

Das Bergwasser der Nikkoschlucht aber glitzerte, als wäre es die eherne
Kette eines Rosenkranzes, daran Tausende von Gebeten gebetet werden.

Die Frau suchte die Tempel auf, die auf grünen, dunkeln Waldterrassen mit
blaubronzenen Dächern und rotem Gebälk wie verwunschene Waldschlösser unter
bärtigen, tausendjährigen Kryptomerienbäumen liegen.

Viele Tempelwände sind mit kopfgroßen Chrysanthemumblumen aus erhabener
Perlmutterarbeit geschmückt und leuchten in sieben Regenbogenfarben. Auf
andern Wänden sind aus goldenem Lack in Relief erhabene goldene Löwen und
goldene Tiger in springenden Stellungen gearbeitet. Auf andern aus rotem
Lack rote Fasanen, aus grünem und blauem Perlmutter Pfauen, aus Elfenbein
weiße Kaninchen und weiße Rehe und ganze Elfenbeinwände voll von weißen und
bläulichen Päonien, umgeben von Schmetterlingsscharen aus Perlmutter.

Diese kostbaren Tempelwände unter grünen Waldbäumen, unter blau und weißem
Wolkenhimmel und umwandert von gelbem Sonnenschein, scheinen mit ihrem
irisierenden Perlmutter eine lebende Welt von immerblühenden hochzeitlichen
Blumen und eine unvergängliche Welt von sich tummelnden wilden und zahmen
Tieren zu sein.

Die Frau kam auf die erste Terrasse, wo die drei berühmten Affen auf einem
Tempeltor dargestellt sind, geschnitzt und bemalt. Der erste Affe hält sich
die Augen zu, der zweite Affe die Ohren, der dritte Affe hält sich den Mund
zu. Und ihre Bedeutung ist: Du sollst nichts Böses sehen, du sollst nichts
Böses hören, du sollst nichts Böses reden.

«Wie leicht ist das getan für den, der geliebt wird, und wie schwer für
den, der an der Liebe zweifeln muß», dachte die Frau und ging an den drei
Affen vorüber. Und sie kam zu dem schönsten aller Tempeltore. Dessen weiße
Säulen sind mit erhabenen Schnitzereien, mit Bäumen, Schilf, Kranichen,
Drachen und Wolken geschmückt. An den Friesen der Säulen entlang wandern
Scharen von winzigen kleinen Göttern. Dieses Tor ist so vollkommen
gearbeitet, daß es, als es fertig war, den Neid der Götter erweckt hätte,
wenn man nicht an einer der Säulen absichtlich einen ungeschickten Fehler
angebracht hätte, um die neidischen Götter zu versöhnen.

«So vollkommen wie dieses Tor wäre die Liebe zweier Menschen auf Erden, und
die Götter würden die Menschen beneiden müssen, wenn sich nicht glücklich
Liebende immer einen künstlichen Liebeszweifel erfänden», dachte die Frau
und ging durch das kostbare Tor in den Tempelhof der zweiten Terrasse.

Hier ist zur rechten Hand über einer Tempeltür von einem Maler eine
lebensgroße weiße Katze gemalt. Die scheint zu schlafen und schläft schon
Jahrhunderte. Aber wer sie lange ansieht und sich einen Herzenswunsch dabei
denkt, dem kann es, wenn sein Wunsch in Erfüllung gehen darf, begegnen, daß
die schlafende Katze ihre Augen öffnet und ihn anblinzelt.

«O, ihr Götter», wünschte die Frau, die Katze über dem Tor betrachtend,
«laßt eure Tempelkatze die Augen öffnen und mich ansehen, wenn mein
Geliebter in Kioto und jener Mann, den ich in Nara sah, zwei verschiedene
Männer sind.»

Die Frau starrte die schlafende Katze an, aber die gemalte Katze hielt die
Augen geschlossen und blinzelte nicht.

«Ist es möglich, daß ich recht gehabt haben sollte? Die beiden Männer sind
einer und derselbe gewesen! Und mein Geliebter hat eine Familie und macht
eine andere Frau außer mir glücklich? O, weiße Katze, schlage doch die
Augen auf und sage damit Nein! O, ich will dich ansehen, bis ich blind
werde!»

Die Katze hielt die Augen geschlossen, und die Frau verzweifelte, und ihr
Herz schmerzte, als würde es ihr ausgerenkt.

«Gut, o Götter, wenn ihr diesen Wunsch nicht erfüllt», sprach sie plötzlich
entschlossen, «dann laßt mich dem Mann noch einmal begegnen, um mich zu
überzeugen; und zweifle ich dann nicht mehr, daß es derselbe ist, dann laßt
mich blind werden mein Leben lang. Schlafende Katze, öffne jetzt deine
Augen und sage Ja!»

Die Frau zitterte und hielt sich mit den Fingerspitzen an einer roten
Lackwand des Tempelhofes. Die großen Kryptomerienbäume über den
Tempeldächern bewegten sich schaukelnd für ein paar Sekunden und warfen
Licht- und Schattennetze über die Tempeldächer, über die Lackwände und über
die gemalte weiße Katze. Und im Licht- und Schattenspiel schien sich die
weiße Katze zu bewegen, sie blinzelte und zeigte für eine hundertstel
Sekunde ihre senkrechten Pupillen.

«Sie hat mich angesehen», seufzte die Frau, und klapperte humpelnd auf
ihren Holzschuhen, demütig mit gesenktem Kopf, als wäre sie um viele Jahre
gealtert, durch die schmale Vorkammer in den Seitentempel.

Da drinnen war ein langes Gemach, und hinter langen Glaswänden lagen in
seidenen Futteralen die Schwerter verstorbener japanischer Helden und
Könige, ihre Rüstungen und ihre Helme aus Lack, Kork und Holz geschnitzt
und mit Bronze beschlagen. Auch große Bogen und Köcher mit Pfeilen standen
da.

Die Frau blieb unwillkürlich vor einem großen schwarzen Bogen stehen und
legte ihre warme Stirn an die kühle Glasscheibe des Glasschrankes. Es war
ganz menschenleer hier, nur vorher hie und da waren ihr Pilger begegnet
auf den Treppen und den Terrassen der Tempel -- Männer und Frauen aus allen
Teilen Japans, welche Nikko besuchen.

Wie sie jetzt an der Glasscheibe lehnt, sieht sie in dem spiegelnden Glas
durch dieselbe Tür, durch die sie in die lange Kammer eingetreten ist,
einen Mann kommen, der eine weißhaarige, gebeugte alte Frau begleitet. Die
kleine Alte stützt sich auf einen Stock und auf den Arm des Mannes und sagt
zu ihm: «Mein Sohn.»

Die Frau wendete ihren Kopf betroffen von der Glasscheibe und warf nur
einen Blick über ihre Schulter. Dann sah sie rasch wieder in den
Glasschrank zurück, als wollte sie ihr Gesicht im Glas verbergen. Sie hielt
den Atem an und ließ den Mann und die alte Frau an ihrem Rücken
vorübergehen.

Die Götter hatten ihr ihren Wunsch erfüllt! Sie hatte ihren Geliebten noch
einmal gesehen, und sie wußte nun auch, daß er eine Mutter hatte wie andere
Menschen, und daß er ein Menschensohn war, daß er nicht bloß Vater und
Gatte war, so wie sie ihn in Nara gesehen hatte, daß er auch
Kindespflichten kannte, seine alte Mutter an seinem Arm stützte, und daß er
ihr nun nie mehr der Gott der Abendröte sein könnte, der Gott des
Unbekannten, des Abenteuerlichen, der Gott der Inbrunst ohne Pflichten und
ohne Schranken.

Und nun wollte sie blind werden und nicht mehr in der Gegenwart und
Wirklichkeit leben, sondern im Dunkeln sitzen, wie ein Herz in der Brust,
ohne Licht, nur vom dunkeln Blut umgeben.

Gealtert und bekümmert kehrte die Frau von ihrer Wallfahrt nach Seta an
den Biwasee zurück, ohne den Tempel der fünftausend Genien in Kioto zu
besuchen, wie sie sich vorgenommen hatte.

Ein brennender, feuriger Sonnensommer verwandelte den Biwasee täglich in
eine weißglühende Masse. Zwischen dem flammigen Spiegel des Sees und dem
flammigen Spiegel des Sonnenhimmels saß die Frau auf dem Altan ihres Hauses
oder in einem schaukelnden Boot und ließ sich die tausend funkelnden
Sonnenscheiben, die sich in den Wellen brachen, wie tausend Brenngläser in
ihre Augen stechen. Wenn sie vor Schmerzen die Augen schloß, saß sie in
einer feuerrot durchflammten Dunkelheit, als wäre sie mitten im Abendrot
von Seta, als wäre sie die rote untergehende Sonne selbst.

Sie wurde blind, wie sie gewollt hatte. Aber auch erblindet sahen sie die
Leute von Seta Sommer und Winter, Abend für Abend, mit dem Fächer auf dem
Altan sitzen, zu der Stunde, wo das Abendrot in Seta die irdischen
Landschaften zu roten Götterlandschaften verwandeln kann und die irdischen
gesetzmäßigen Menschengesichter in berauschte unirdische Göttergesichter.

An einem Winternachmittag, als der Nebel des Sees so dick lag, daß die
Sonne schon am Mittag im Winterrauch wie eine papierne Scheibe blaß
verschwand und ein Hauch von Abendröte erschien, saß die Blinde wieder mit
begeistertem Ausdruck auf dem Altan und beschrieb der Dienerin, die ihr den
Tee brachte, daß sie rote Wolken sähe, rot wie das Tempelgebälk eines
Kiototempels, und daß fünftausend goldene Genien mit hunderttausend
goldenen Armen über die roten Wolken geschritten kämen, und daß ein
Bogenschütze an der Spitze der Fünftausend ginge. Er winke ihr auf der
obersten Stufe einer roten Treppe.

«So schön wie heute sah ich das Abendrot von Seta noch nie», sagte die
Blinde und lehnte den Kopf an das Altangeländer, von dem der kalte Schnee
abbröckelte. Ihre kleine Teetasse klirrte. Sie setzte sie mit zitternden
Fingern auf den Boden. Sie fächelte sich noch mit dem Fächer, indes ihr
Gesicht die Helle des Schnees annahm. Dann starb sie lächelnd.



Den Abendschnee am Hirayama sehen


An großen Masten ragen ein Dutzend weiße elektrische Bogenlampen in die
Nacht. Sie beleuchten einen Landungskai im Hafen von Marseille. Wie ein
langer weißer Kreideblock liegt dort ein weißer eiserner Orientdampfer mit
Hunderten von runden, gelbleuchtenden Kabinenfenstern. Rot, gelb und weiß
beschienene Gesichter und viele beleuchtete Hände und Arme hantieren in der
Nacht auf der Plankenbrücke und um die klirrenden Ketten der
Verladungskähne, wo Haufen von Koffern, Reisekörben und Reisekisten
verstaut werden.

Durch die langen, schneeweißen Korridore drinnen im Dampfer eilen
schneeweiß gekleidete Inder mit schwarzen Gesichtern und schwarzen Händen,
aus prächtigen Küchen, in denen üppiges Kupfer leuchtet, in die prächtigen
Speisesäle, die von rotem Mahagoniholz und blanken Messingsäulen, von Prunk
und Gediegenheit strotzen, darinnen alles seltsam stille steht, indessen
die bittere, bewegliche Seeluft durch die glühlampenhellen Räume und durch
die Korridortüren wie ein unruhiges Fluidum streicht. Diese Seeluft, die in
dem Schiffspalast, auch wenn er am Kai still steht, immer noch allen Räumen
quecksilberhafte Ungeduld gibt, wie der Saft einer Pflanze, die man vom
Wald ins Zimmer geholt hat. Ein ruhiges Schiff ist kein stillstehender
Gegenstand, denn die Wanderluft, die auch im Hafen noch um seine Räume
streicht, läßt es nicht schlafend und nicht tot erscheinen. Die Offiziere,
Matrosen und Bedienungsmannschaften behalten auf dem ruhigen Schiff immer
noch das bittere Fieber der Seeluft in der Brust, und allen erscheint Ruhe
als ein Unglück und Wandern als das alleinige Glück.

Das Schiff legt nachts in Marseille an und soll morgen um neun Uhr früh
seine Weiterfahrt nach Asien und Japan antreten. Die meisten Passagiere
haben für ein paar Nachtstunden das Schiff, das schon aus London kommt, zu
einem kurzen Aufenthalt in Marseille verlassen, um wieder einmal Abendbrot
an Land zu essen, denn das Schiff ist schon seit mehreren Tagen unterwegs
und hat seit London keinen Hafen angelaufen.

Jetzt neigt sich die Nacht ihrem Ende zu. Die elektrischen Lampen brennen
noch, aber der Himmel wird schon blau, und Scharen von lachenden und etwas
kindisch heiteren Passagieren kehren aus den Nachttheatern und Nachtcafés
der Stadt zurück. Junge Leute haben rote und blaue Kinderluftballons an
ihre Hüte gebunden. Damen haben sich Arme voll Blumen gekauft,
Winterveilchen von der Riviera; und alle Gesichter sehen belustigt aus, als
kehrten diese Menschen von einem Volksfest heim. Alle haben sie nur für ein
paar Stunden mit ihren Füßen die Erde besucht, die schöne, ruhige,
stillstehende Erde mit ihrem irdischen Staubgeruch, und die hat die
Passagiere im Herzen so überschwenglich und warm gestimmt.

Jetzt müssen alle wieder auf die schwankenden Schiffsbretter, zurück auf
das buckelige Meer, in die staublose, unirdische Seeluft, in der ihnen die
Sonne noch treu bleibt, wo aber die Erde meilentief in das Wasser sinkt.

Ein blauer, lauer Januarmorgen brach an. Die Lampen am Kai und im
Schiffsinnern verloschen. Dafür zündete die Morgensonne tausend Lampen in
den tausend Wellenspiegeln an, und die Messinggeländer des schneeweißen
Schiffes, seine roten Schornsteine und zinnoberroten Ventilatoren
leuchteten wie die künstliche Kulissenwelt eines Theaters, aufgebaut unter
dem indigoblauen Mittelmeerhimmel.

Am Kai standen Verkäufer von Bergen von hölzernen Segeltuchstühlen, die sie
an die Passagiere für die weite Seereise nach Asien verkauften. An der
Abfahrtshalle vor der Telegraphenoffice drängten sich die Reisenden,
schrieben auf umgestülpten Koffern, Tonnen und Kisten Telegramme, -- die
letzten Abschiedsgrüße aus dem letzten europäischen Hafen nach den
Heimatorten.

An den langen Geländern des Promenadendecks standen Kopf bei Kopf,
Ellenbogen bei Ellenbogen. Viele kleine Kodaks knipsten und fingen das
Hafenbild.

Auf der nassen Kaimauer vor der Reihe der Packträger und Verlader hatte ein
Athlet einen braunen Teppichfetzen ausgebreitet. An dem einen Ende des
Teppichs tanzte in gelbem Trikot und rosa Tüllröckchen seine zehnjährige
Tochter und klapperte mit Kastagnetten, armselig und ungeschickt.

Auf der andern Ecke des Teppichs stand der Sohn des Athleten in blauem
Trikot und spielte auf einer dünnen Violine. Auf der dritten Ecke lagen
Gewichtsteine und Kugeln, und auf der vierten Ecke des Teppichs stand der
Athlet selbst in schmutzig weißem Trikot und stemmte die Gewichtkugeln,
Kanonenrohre und eisernen Wagenräder.

Die Schiffssirene hat bereits mehrmals ihre gellenden Abfahrtssignale
gegeben. Der Athlet, die kleine Tänzerin und der kleine Geiger rauften sich
mit den Packträgern um die Kupfersousstücke, die wie ein brauner Hagel vom
Schiff auf den Kai regneten. Scharen englischer Clerks, die nach Indien
reisen wollten und rote, whiskytrunkene Gesichter aus dem Nachtleben von
Marseille mitgebracht hatten, brüllten im Chor hundert «Cheers for Old
England».

Dann bewegte sich wie eine Drehbühne das mächtige Schiff vom Ufer weg. Die
sich balgenden Leute am Ufer, die Landungshallen verkleinerten sich, als
schrumpften sie in irgendeine Tasche hinein. Erdbilder, Felsenufer, weiße
Kalksteingebirge, graue Dächerreihen drehten sich wie Bilder, gemalt auf
einen Riesenkreisel, vorüber. Das Schiff schien still zu stehen, aber die
Erde wurde zu einer ungeheuren Kugel, die sich unter dem Schiff drehte.

Allmählich liefen die Bilder immer kleiner, ferner und farbloser wie
Nebelwische vorüber, und nun nahm der gewaltige Rausch der Seeluft das
Schiff in sich auf, und das Ungeheuer, der endlose Himmel, machte die
lauten Passagiere still, löste nicht nur die Erde unter den Füßen, sondern
nahm auch den Gedanken jede Festigkeit und Sicherheit, machte das Blut
argwöhnisch, die Füße schwankend, die Gehirne ohnmächtig.

Hunderte von Deckstühlen wurden an die Geländer gebunden, daß sie nicht von
dem Seegang hin und her rutschten. Unter riesigen Reisekappen, in ungeheure
Reisemäntel und in vielfarbige und karierte Schals gewickelt, lagen die
Passagiere, ausgestreckt in endlosen Reihen, auf dem weißen Promenadendeck.
Die weißgetünchten Eisenwände, die sachlichen Eisengeländer, die alle
gerade und senkrechte Linien zeigten, flößten Sicherheit, aber auch
Nüchternheit ein, als wäre das Schiff ein riesiger, physikalischer Apparat
in einem Laboratorium, als wären die Menschen Präparate, die da künstlich
aufbewahrt würden, bis zur Landung an einem andern Kontinent.

Unter den Schiffspassagieren, die da in Reih und Glied in Liegestühlen auf
den langen Decks lagen, als wären die Deckpromenaden Lazarette, fielen zwei
Japaner auf, die von zwei deutschen Damen, einer jungen rotblonden und
einer alten weißhaarigen, begleitet waren. Es waren die beiden Schauspieler
Kutsuma und Okuro, die mit der Sada-Yakko-Truppe eine Europa-Tournee
unternommen hatten und jetzt, getrennt von der Truppe, nach Japan
zurückkehrten.

Okuro hatte sich eben erst mit einer deutschen Dame verheiratet, und diese,
welche immer mit ihrer Großmutter zusammengelebt hatte, wollte sich auch
nicht in der Ehe von ihr trennen. Darum begleitete die achtzigjährige
weißhaarige Alte das junge Ehepaar nach Japan.

Die beiden Japaner waren europäisch gekleidet; nur ihre gelben Gesichter
und ihre kleinen Figuren fielen unter den langen, rosahäutigen Engländern
auf.

Ilse, Okuros junge und schöne Frau, hatte Goldglanzhaare, goldrot, wie der
rote Metallglanz der Goldfische.

Sie trug ein smaragdgrünes Reisekleid und war unter allen den braunen,
grauen und schwarzkarierten Engländerinnen und Engländern wie ein
Sonnenprisma. Ihre gute Laune gab ihrem Wesen die Fülle eines freigebigen
Sommers.

Die Großmutter neben ihr mit dem weißen Haar, das wie ein alter
Silberschmuck den Kopf umgab, lachte ebenso wie ihre Enkelin immer mit
blauen Augen, und ihr Gesicht war wie ein sonniger Wintertag, frisch und
lautlos.

Nie sind zwei Menschen fröhlicher und sorgloser in die Zukunft gereist als
diese beiden Damen. Okuro hatte sich ein Vermögen durch seine Tournee
verdient. Ilse wußte nicht, was sie mehr an ihrem Mann schätzen sollte: die
ausgesuchte Fürsorge, mit der er sie umgab, die große Anspruchslosigkeit,
mit der er auftrat, oder die große Leichtigkeit, mit der er alle
Schwierigkeiten lächelnd aufnahm.

Nur eines machte ihr Unruhe: sie verstand allmählich, daß ein Asiate nicht
ist: wie fünf und fünf ist zehn, sondern daß bei ihm fünf und fünf einmal
Tausend und einmal Null sein kann. Sie ahnte, daß sie noch nicht den
hundertsten Teil von dem Gehirn ihres Mannes kannte, und manchmal merkte
sie, daß seine kleinen asiatischen Augen, die eben noch rosinensüß und
lächelnd ausgesehen hatten, plötzlich schwarz und bitter wie Gallapfelsaft
werden, oder sogar tödlich, vernichtend wirken konnten wie schwarze,
funkelnde Tollkirschen.

Aber gerade, daß sie seiner nicht sicher war, daß sie seine Weltallruhe und
sein göttliches Aufgehen im Verstehen des Kleinsten bewundern und dann
wieder plötzlich erschrecken mußte vor tierischen Kehllauten, die er
ausstoßen konnte, und die bestialische Leidenschaftlichkeiten vermuten
ließen, -- dieses machte Ilses Seele sanft wie ein Kaninchen, das man mit
einer Klapperschlange zusammengesperrt hat. Und sie war ihm in die Ehe
gefolgt, weil sie sich nach einer Welt von Abenteuern sehnte, nach
exotischen Geheimnissen.

Als der rauchende und erhitzte Dampfer zwischen dem blauen Äther des
Mittelmeerhimmels und dem gasblauen Wasser des Mittelmeeres sich jetzt von
Europa trennte, um Afrika und Asien zu erreichen, erschien Ilse das weiße,
blendende Schiffsgerüst in der Bläue ringsum wie der weiße Silberkörper
eines Riesenfisches, der viele Meilen in die Bläue untergetaucht wäre und
unter den Meeren mit ihr fortschwämme. Nur das gelbe Stück Sonne oben war
wie ein Stück Land, das in die Bläue herabschiene. Und sie hoffte, so
verzaubernd wie das Meer, so von Grund aus sollte sich jetzt ihr Leben in
der Zukunft verändern, daß alle Begriffe sich umstülpten.

Aber als in der zweiten Nacht die elektrischen Kailampen von Messina, das
damals noch nicht untergegangen war, in langer Reihe vorüberzogen, nahm
Ilse ihrem Mann Okuro, der neben ihr im Deckstuhl saß und in der Dunkelheit
nur am roten Punkt seiner Zigarette ihr erkenntlich war, die Zigarette aus
dem Mund, warf sie über Bord und sagte, schmollend in ihrer
Flitterwochenstimmung:

«Geliebter, wie kannst du rauchen und dich mit deiner Zigarette lautlos
unterhalten? Ich bin eifersüchtig auf deine Zigarette und deine Ruhe bei
ihr. Ich bin noch keine so alte, ruhige Frau wie meine Großmutter, welche
einschläft, wenn du stundenlang schweigend rauchst. Ich möchte lieber, daß
du mich erwürgst, ins Meer wirfst, oder irgend etwas Böses mit mir tust,
aber ich mag nicht, daß du so ruhig und gleichgültig neben mir rauchst. Wir
kennen uns noch nicht auswendig. Nur ist das, als wärest du mir untreu,
wenn du die Zigarette mehr liebst als mich.»

Darauf antwortete der junge asiatische Ehemann:

«Wenn ich Diener brauche, die dich und mich bedienen, so bin ich deshalb
nicht ein schwacher Mann, der sich nicht selbst bedienen könnte. Wenn ich
eine Zigarette brauche, die mir Ruhe gibt, so habe ich deshalb dich nicht
aus meinem Herzen verstoßen, denn dich brauche ich natürlich erst recht zu
meiner Ruhe. Die Zigarette allein würde mich nicht genügend mit Ruhe
bedienen.»

Ilse fuhr schnell und heftig auf:

«Wenn du vielleicht statt der Zigarette eines Tages eine andere Frau
brauchst, die dich mit Ruhe bedienen müßte, dann dürfte ich auch nicht
unruhig werden, Okuro?»

Dieser lächelte und sagte noch ruhiger:

«In Japan liebt ein Mann seine Frau immer, so lange er sie nicht
fortschickt. Und Frauen fragen bei uns nicht nach den Wegen, die ein Mann
gehen muß, und die ihn zum Manne machen.»

Ilse wurde noch heftiger:

«Du darfst also viele Frauen lieben, wenn es dich zum Manne macht? Und ich
soll keinen Schmerz empfinden, wenn du deine Nächte mit anderen Frauen
teilst und deine Umarmungen, deinen Leib und dein Herz anderen Frauen
gibst, wo ich doch dachte, daß der Tag der Hochzeit dich mir ganz und gar
geschenkt hätte?»

«Nicht _ich_ bin _dein_, sondern _du_ bist _mein_ geworden», antwortete
ruhig der Japaner. «_Ich_ bin _ich_ geblieben und bin nur durch dich mehr
geworden. Aber du bist seit dem Tag unserer Hochzeit nach unseren
asiatischen Begriffen verschwunden und bist nicht mehr.»

«Ich bin also schon», lachte Ilse, «an dem Tag unserer Hochzeit ins
Nirwana eingegangen und gehöre jetzt zu den Toten?»

«Ja, Ilse, größtes Glück ist Nirwana. Und die Frau, die sich nicht um das
wirkliche Leben zu kümmern braucht, um Geldverdienen und Staatsgeschäfte,
kann deshalb schon am Tag ihrer Hochzeit ins Nirwana eingehen, der Mann
erst am Tage seines Todes.»

«Aber ich will gar nicht im Nirwana sein, wenn du nicht darin bist», rief
die junge Frau eigensinnig. «Und so lange du im gewöhnlichen Leben bist,
will ich auch eine gewöhnliche Lebende sein.»

Okuro sagte ruhig: «Die Götter haben euch Frauen keine Knochen gegeben, um
im gewöhnlichen Leben so fest zu stehen wie der Mann.»

Dieses war das erste von hundert ähnlichen Gesprächen, welche Ilse und
Okuro, in ihren Deckstühlen liegend oder um die Schiffsschornsteine
promenierend, morgens, mittags und abends führten. Seit Europa verschwunden
war und das nach Asien schweifende Meer vor ihnen lag, bauten sich die
Gedankenwelten der beiden Neuvermählten in der Leere des Meeres wie die
Ufer von zwei einander gegenüberliegenden Ländern voreinander auf.

Nie hatten die beiden in den lebendigen Alltagstunden des zerstückelten
Tageslebens von Berlin, wo sie sich kennen gelernt hatten, Muße gefunden,
mehr voneinander zu sehen als nur leichte Beleuchtungen, unterhaltende
Augenblicksbilder ihres Herzens. Jetzt aber, unter der unendlichen Weite,
auf der Reise über die halbe Erdkugel, die vor ihnen lag, unter der
Riesenruhe des körperlosen Himmels und des unbegrenzten Wassers und in der
Ruhe der unendlichen Einförmigkeit des kasernenhaften Schiffslebens,
wuchsen die Betrachtungen der beiden wie meilenlange Seeschlangen, die
unterirdisch dem Schiff folgten und hie und da in großen Wellenlinien an
die Oberfläche kämen.

Bei dem ersten Gespräch von dieser Art, das bei Nacht in der Meeresenge von
Messina geführt wurde, sahen sich die beiden nicht. Ihre Deckstühle standen
im Schatten von großen Rettungsbooten, und es war zu der späten Stunde, da
die Deckbeleuchtung der gelben Glühbirnen halb gelöscht ist. Es fehlte
diesem Gespräch das Echo der Gesichtsmienen und Bewegungen, und da es als
erstes Gespräch nicht zu Ende geführt wurde, und da sie danach nur immer
ihre Stimmen im Ohr und nicht ihre Gesichter gesehen hatten, so blieb
dieses Gespräch wie ein ewig dunkler verborgener Keim, der auf dem
beweglichen Schiff und auf der Bodenlosigkeit der Meerestiefe keine Wurzel
fassen und nicht ausgerissen werden konnte, sondern mit ihnen schwamm und
anwuchs wie ein millionenfingriges Seegewächs.

Als Ilse und Okuro die erste Landstation, die lange, weiße Molenmauer von
Port Said, unter dem grünlichblauen Afrikahimmel sahen, da hingen die
Gespräche über die verschiedene Denk- und Empfindungsweise der beiden wie
der Schaum des Fahrwassers hinter ihrem Schiff. Ihre Gedankenwelt
schrumpfte aber sofort ein und verflüchtigte sich zu einer angenehmen
Gedankenlosigkeit, als die beiden mit Kutsuma und der Großmutter für ein
paar Stunden in den langen Bazarstraßen von Port Said unter Ägyptern,
Arabern, Abessiniern in den Straßencafés saßen und den Millionärstöchtern
der Amerikaner zusahen, die, mit den üppigsten Pelzen bekleidet, hier in
dem nächtlich kühlen Ägypten landeten und den kleinen Port Saider Bahnhof
belagerten, um den Schnellzug nach Kairo und in das Wüstenland nach Heluan
zu besteigen.

Sowie sich Ilse von schwarzhäutigen Afrikanegern in langen weißen und
blauen Leinwandhemdkleidern umgeben sah, von schwarzen Schultern und
Gesichtern, die wie eine Schar lebendiggewordener riesiger Kaffeebohnen
hier am Kai durcheinanderliefen, fühlte sie sich magdhaft, fraulich und
sehnte sich schutzsuchend neben ihrer Großmutter nach ihrem Mann. Wenn sie
sich dann umsah und hinter ihr Okuro und Kutsuma gingen, fühlte sie keine
Sicherheit, keine Ruhe, denn die zierlichen gelbhäutigen Japaner waren hier
in Afrika noch weniger zu Hause als in Europa; und Okuros gelbe
Gesichtsfarbe erschien ihr lächerlich und leichenhaft neben der schönen
Pulverfarbe der Afrikaner.

Hier am Land waren es jetzt nicht nur die Gedanken der Europäerin, die
gegen die Gedanken des Asiaten Wortgefechte führten. Es war noch schlimmer:
es war der Körper selbst, der dem Herzen abtrünnig zu werden schien.

Als sie am Abend zum Schiff zurückkehren mußten, ging die junge Frau früher
als sonst zu Bett. Sie schloß ihre Augen hartnäckig und stellte sich
schlafend, als Okuro ihr Haar streichelte und ihr ein paar zärtliche Worte
zuflüsterte.

Ilse hütete sich wohl, der Großmutter am nächsten Tag von ihren wankenden
Gedanken und Gefühlen zu erzählen. Auf dem Weg über das Mittelmeer nach
Afrika hatte sie geglaubt, es sei der schwankende Schiffsboden, der sie
selbstquälerisch und heimatlos stimme, und auf dem sie sich behaupten
müsse. Aber der Spaziergang in Port Said hatte sie noch mehr erschreckt,
und sie konnte sich nicht der Überlegung erwehren, ob sie von jetzt an
schweigen und asiatisch dulden oder sich auflehnen und europäisch behaupten
müßte.

Trotzdem lachte sie äußerlich. Ihr rotgoldenes Haar strahlte schon allein
ein reiches sommerliches Lächeln; Ilse war im Grunde viel zu genußsüchtig,
als daß sie unter Gedanken lange hätte leiden mögen, und es schien, als
ließe sie ihr rotes Haar immer gern wie zu einem täglichen Lebensfest
leuchten.

Die Deckbevölkerung hatte sich vermehrt und verändert. Reiche indische
Kaufleute in europäischer Kleidung, aber mit sehr viel Ringen und goldenen
Uhrketten geschmückt, standen wie die Schatten der weißen Leute auf den
langen Schiffspromenaden herum, hatten die Augen von guten Waldtieren oder
von eiteln Tropenvögeln. Die schmalen Messingstiegen, die vom
Promenadendeck der ersten Klasse in das tiefere Zwischendeck
hinunterführten, waren drunten belagert wie von einer Maskerade.
Mekkapilger mit smaragdgrünen Turbanen, buddhistische Mönche in senfgelben
Mänteln, türkische Hausierer in dunkelblauen und violetten Kaftanen, nackte
Fakire, in dicke Stricke und Muschelketten gekleidet, indische Handwerker
in weißen Schleierhosen, roten Sammetwesten und goldgestickten Kappen und
die braune indische Schiffsbemannung des englischen Dampfers in blauen
Hosen und roten Schärpengürteln mit tigerartig geschmeidigen nackten
Oberkörpern, und die alle barfuß wie die Tiere auf dem Feld
durcheinanderliefen, vervollständigten das Papageienbild des Zwischendecks.

Das Schiff wanderte und wanderte, beladen und belastet mit den hundert
verschiedenen Ideenwelten von hundert verschiedenen Rassen. Es hatte die
lange Sandwüstengasse des Suezkanals passiert, wo der Sand auf Meilen wie
gelber Goldstaub lag, und wo weiße Salzlakenmoore gleich weißen Eisflächen
glänzen. Auf die Öde und den Stillstand dieses Landes folgte die höllische
Glutbrunst des Roten Meeres, wo das Meer nicht rot vor Korallen ist,
sondern rot wird von der Hitze, mit der es deine Augen brennt, wo die Sonne
wie ein Feuereimer das Tageslicht gleich rotem, flüssigem Metall ausgießt,
wo violette Steingebirge in Nubien dastehen und gegenüber in Arabien
solche, die silbernen Aschenhaufen gleichen, wo der Berg Sinai als
Silhouette am Himmel vor Hitze zittert.

Die Arbeit der indischen Matrosen auf dem Schiff besteht jetzt den ganzen
Tag darin, die Segeldächer über den langen Schiffspromenaden über den in
Reihen hingestreckten und vor Hitze aufgelösten Passagieren zuzuziehen und
je nach dem Stand der Sonne anders zu stellen. Mit Strohhüten und weißen
Sommerkleidern liegen Herren und Damen wie am Rand einer Strandpromenade,
vor Hitze aufgedunsen, als wäre das Blut von der Hitze in den
Menschenkörpern zu Rotwein geworden, als wären die Reisenden vom Alkohol
betäubt und blau gedunsen, -- so liegen die Scharen der Reisenden wie in
einer betrunkenen Schlafwelt auf der dreitägigen Fahrt durch das Rote Meer.

In den Schiffssälen bewegen sich an der Decke lange weiße Leinwandfächer,
die gleich den Stoffen eines Bühnenhimmels quer durch die Räume gezogen
sind und sich wie ein weißer Wellengang über die Köpfe der Speisenden
bewegen, aber keine Kühlung geben und nur die brühwarme Meeresluft von
einem Gesicht zum andern schicken.

Das große geheizte Schiff wandert und wandert. Die Fernrohre entdecken
täglich wieder Afrika auf der einen Seite, Arabien auf der andern. Das
glühende Schiff schleppt am Tage die Sonne wie einen Riesenballast mit. Am
Abend scheint der Himmel zur Wüste ausgetrocknet zu sein und wird goldgelb
wie Wüstensand. Dann stehen über Afrika lange schilfgrüne Wolken, gleich
spukhaften Erscheinungen unwirklicher grüner Felder. Jetzt nach
Sonnenuntergang werden die Segeldächer gerafft. Die Reisenden, die vor
Hitze nicht hatten sprechen können, und jeder Mund, der geglaubt hatte, es
würden ihm Flammen aus der Lunge fahren, beginnen den Abend zu bewundern,
der aber immer noch heißer bleibt als ein europäischer Julitag.

In diesen Hitzetagen, die alle Hirngespinste wegbrannten, war Ilse nicht
Europäerin, nicht werdende Asiatin, sie war wie der Klumpen Sonne selbst,
der oben über dem Schiffsmast hing und mit dem Schiff weiterzog. Sie
brauchte keine Nachsicht zu üben, sie brauchte keine Behauptungen, um sich
sicher zu stellen. Es war, als impfe die Sonne mit ihrer Glut Liebe ein.
Und jeder Menschenkörper war heißes Metall geworden und begriff kaum mehr
die Unterschiede von Tag und Nacht, von Jugend und Alter, von Zeit und
Vergänglichkeit, von Gegenwart und Zukunft.

Die Hitze, die alles verschmolz, brachte in den Tagen des Roten Meeres Ilse
und Okuro so eng und sinnlich zusammen wie nie vorher, wie nicht einmal
die erste Hochzeitsnacht. Wenn sie auch den Tag in der Reihe der Hunderte
von Deckstühlen Seite an Seite, wie in einem Lazarett aufgebahrt liegend,
zubrachten, so war es, als schliefen sie in der Hitze einen gemeinsamen
Schlaf. Die Hitze legte ihren Arm sicher um beide. Ohne daß sie ihre Arme
ausstreckten und sich berührten, ohne daß ihre Lippen sich fanden, lagen
sie mit dem Gefühl großer Innigkeit und Friedlichkeit unter der langen
Reihe von Reisenden wie allein in ihrem eigenen Schlafzimmer und eng
vereinigt.

Niemals fiel es Ilse und Okuro ein, nach Sonnenuntergang, wenn sie vom
Tagesschlaf erwachten, sich andere Dinge als Herzlichkeiten zu sagen. Ilse
lehnte in ihrem langen weißen Abendkleid am Schiffsgeländer, Okuro neben
ihr im schwarzen Abendanzug. Er sagte ihr, ihr Hals sei schmal wie der
afrikanische junge Mond. Und sie sagte, daß sie seine Hände so liebe, die
nie einen Ring trügen, die Knöchel hätten, fein und stark wie die kräftigen
Federposen elastischer Vogelflügel. Und sie sahen beide den in weißen
elektrischen Kreisen leuchtenden Meertierchen zu, die gleich metallischen
Kinderkreiseln auf den Wellen entlang tanzten.

Dann erschien das Spiegelbild des Mondes unten im Wasser; das bergauf und
bergab wogende Schiff, das Champagnerzischen der Kielwellen und das
Geknister des elektrischen Wassers voll tagheller Schaumwolken stellte den
beiden, je länger sie sich über das Geländer lehnten, die Welt auf den
Kopf. Und sie fanden sich beide erst wieder in dem krausen Weltallgetriebe
und in dem spiegelfechtenden Meeresnachtleben auf ihren zwei Füßen zurecht,
wenn sie, versteckt hinter einem Rettungsboot oder hinter einer
Kabinentür, die Arme umeinander legten und, Wange an Wange, ihr Blut
aneinander pochen ließen.

Dann rückte am vierten Tag am Ende des Roten Meeres ein mächtiger,
dunkelbrauner, ausgedörrter Berg heran, zu seinen Füßen lange, rote
Kasernendächer: die Festung Aden. Dieser Berg war wie der Pfosten der Tür
in den Indischen Ozean; und im grüngelben Abendhimmel blieb das Meer
zurück, und die Boote mit nackten schmalen Somalinegern, die das
Dampfschiff draußen vor Aden wie eine Affenherde umwimmelt hatten, blieben
zurück, und zurück blieben die Länder, wo der Halbmond regierte, und die
graue arabische Felsenküste, auf der weiße Minaretts am Nachmittag gleich
weißen Fahnenstangen gestanden hatten, und dahinter man sich das Land voll
Harems und Frauen träumte. Alles das ging im Westen in dem friedlich
ölgelben Himmel unter, und auf der straffgespannten Meeresfläche im Osten
lag vor Ilse und Okuro das noch unsichtbare, aber sich stündlich nähernde
Indische Reich, an dem sie jetzt vorbeiziehen sollten.

Mit der Weite des Indischen Ozeans kam auch wieder die Weite der Gedanken
über Ilse und Okuro. Die Hitze, die mit ihren Flammen im Roten Meer alle
Menschenkörper zu ihren Medien gemacht hatte, verlor an Kraft, und die
Menschen wurden wieder selbständig und dachten wieder ihren eigenen
Gedanken nach.

Eines Abends saß Ilses Großmutter allein am Ende des Promenadendecks. Große
Sternbilder der fremden Südzone stiegen aus der Meerestiefe auf und
wanderten über die Masten des Schiffes fort.

In der Nähe der Dame saß nur Kutsuma und las. Das Schiff war wie eine
große indische Trommel, daran die Meereswellen ihre Märsche trommelten, und
sein Gang war immer ein Wechsel von Begeisterung, wenn es sich in die
Sterne hob, von Enttäuschung, wenn es wieder in die Leere sank.

«Wie viele Gedanken mögen an den Sternen hängen», dachte die alte Dame.
«Wie viele Tausende von Seereisenden haben nachts mit offenen Augen hier
unter den Sternen auf wandernden Schiffen gesessen. Jeder Stern ist wie
eine eingepuppte Seidenraupe, von der man Gedanken wie Seidenfäden
abspinnt.»

«Sehen Sie, Herr Kutsuma», sagte die alte Dame, «Sie sagen immer, mein Haar
sei so weiß wie der Abendschnee auf dem Hirayama am Biwasee in Ihrer Heimat
Japan. Und so wahr mein Haar nie mehr dunkel wird, so wahr glaube ich, daß
Ilse für ihr Herz keinen besseren Mann finden konnte als Okuro. Aber damit
ist nicht gesagt, daß Okuro in Japan nicht eine bessere Frau als Ilse
finden und ohne Ilse sehr glücklich werden könnte.»

Kutsuma hatte eine Landkarte auf seinem Schoß, sah auf und sagte:

«Ich bewundere immer, wie großartig die Europäer die Welt einteilen können,
die Länder in flache Figuren, die Erdkugel in Breitengrade und Längengrade;
in alles Irdische bringen die Europäer Zahlen und Ordnung. Aber sie
erfinden kein System für ihre Gefühle, wollen kein System anerkennen für
das kleine, kurze Menschenleben, das doch aus nichts anderem besteht als
aus Jugend, Reife und Alter, das also Grenzen hat und nicht als etwas
Unbegrenztes, Unordentliches angesehen werden kann.»

«Aber, mein Herr», unterbrach die weißhaarige Dame ungeduldig Kutsuma,
«Gefühle lassen sich doch nicht in Systeme bringen. Gefühle sind doch das
Unbegrenzte am Leben! Liebesgefühl kann Unordnung und Ordnung zugleich
geben: Liebesgefühl ist eine Hasardnummer, man setzt auf Rouge oder Noir.
Aber es gibt kein sicheres System, in dem man beim Liebesgefühl in Ordnung
mit sich selbst kommen könnte. Wer liebt, wünscht glücklich zu machen, aber
das Leben muß erst beweisen, ob er einen Gewinn oder eine Niete gezogen
hat.»

«Wo Liebe ist, ist ewiges Glück», sagte der Asiate. «Wo ein Wechsel
eintreten kann, war die Liebe nicht vollständig. Ihr Europäer wünscht, daß
der Mann sein Leben lang die Frau bediene und sie höher halte als sich
selbst. Wir Asiaten verlangen von der Frau, daß sie den Mann bediene und
sich ihm unterordne. Und wir finden: dieses bringt Ordnung in die Liebe
zwischen Mann und Frau.»

«Sehr weise gesprochen», sagte die alte Dame. «Aber lassen Sie jetzt auch
den Abendschnee auf dem Hirayama zu Ihnen sprechen; das heißt: vertrauen
Sie den Gedanken, die unter meinen weißen Haaren entstanden.

Das Kostbare an der Liebe ist, daß sie ein ewiges Abenteuer bleibt, und daß
weder die Sicherheit der madonnenhaften Unterordnung einer asiatischen
Frau, noch die olympische Selbstherrlichkeit einer europäischen Liebe in
ein System bringen kann. Die Liebe wird immer etwas verschwenderisch sein,
immer ein Zuviel in das Blut der Menschen bringen, das Zuviel, das die
Endlichkeit des seligen Augenblickes in eine Unendlichkeit des Genusses
verwandeln kann. Wo das Zuviel zwischen zwei Menschen fehlt, die sich
vorstellen, daß sie sich liebten, wird die Liebe immer nur ein erbärmlicher
chemischer Prozeß bleiben, der Kinder hervorbringt und sich ruhig in ein
System fassen läßt.»

Der Asiate schwieg lange und ließ die Sternbilder wandern. Dann sagte er
und faltete seine Landkarte zusammen:

«Die Götter in Europa haben euch Europäer nicht umsonst Mikroskope für eure
Augen konstruieren lassen. Ihr könnt auch eure Liebesaufregung unter ein
Mikroskop legen. Wie die Eisblumen an euren Fenstern, so seht ihr die
Linien eurer Liebesleidenschaft. Und ihr Europäer könnt über Dinge
sprechen, die uns Asiaten ewig unsichtbar bleiben.»

Die alte Dame antwortete:

«Ihr Asiaten könnt das auch, wenn ihr wollt. Nur seid ihr liebenswürdige
und bescheidene Kinder eurer Götter, und wir sind vorwitzig. Wir müssen
unsere Freuden belauschen und unsere Schmerzen. So wie unsere Anatomen den
Blutkreislauf fanden, so suchen wir nach dem Kreislauf unserer Schmerzen
und Freuden.»

Kutsuma spricht eifriger:

«Wir haben nur immer von den Indern den Kreislauf der Seele zu beobachten
gelernt. Aber die Liebesleidenschaft haben wir nicht als Lebenswert
untersucht und haben die Liebe nicht auf die Höhe gestellt wie ihr in
Europa. Aber seit ich bei euch war, begreife ich, daß die Zukunftswelt die
Liebesleidenschaft als Weltmittelpunkt erkennen wird. Nicht die Weltruhe,
nicht das Nirwana, wie wir in Asien immer glaubten, und nicht den
Weltschmerz und das Weltmitleid, wie euer vergehendes Christentum immer
glaubte; die Liebesleidenschaft ist für jeden, der sein Leben ernst nimmt,
sein Gott, der ihm Leben und Tod gibt. So sagte auch gestern Okuro zu mir,
als wir bei Aden das Rote Meer verließen, er sagte mir, er würde nie mehr
mit Ilse über die Meinung streiten, die sie als Europäerin von der Ehe hat.
Sie macht ihn mit jeder Meinung glücklich. Sein Blut ist so zufrieden von
ihrem Blut, daß er nicht mehr nach Lebensgebräuchen und Lebenssitten fragt,
daß er ihr zuliebe ein Europäer werden will auch in seiner Heimat. Seine
Liebe ist jetzt so groß, daß er meinungslos geworden ist.»

Kutsuma wartete auf einen Freudenausbruch der Dame. Und als der junge Mann
keinen Laut als Antwort erhielt, empfand er mit einemmal das Schweigen
zwischen sich und der alten Dame wie einen Abgrund, als wäre sie über einen
Ozean vor ihm und seinen Worten zurückgewichen.

Lächelnd suchte Kutsuma eine Verbindung herzustellen und sagte:

«Warum schweigt der Abendschnee am Hirayama? Er, der mir vorhin so schöne
weite Gedanken gab?»

Da seufzte die alte Dame:

«O, wie unglücklich sind die gütigen Liebenden! Güte in der Liebe bringt
Unglück. Liebe ist nie gütig, Liebe fordert, mißhandelt, vergewaltigt. Von
zwei Liebenden muß einer der Stärkere werden. Der Mann muß die Frau
unterjochen, er kann ihr ja den Wahn ihrer Selbstherrlichkeit lassen, wenn
sie es noch nötig hat. Aber er darf nicht gütig meinungslos werden.

Sagen Sie das zu Okuro! Das sei die Ansicht dieser weißen Haare. Und
immer, wenn er meine weißen Haare sieht, die ihr Japaner mit dem
Abendschnee von Hirayama vergleichet, soll er stark werden, soll nicht vor
Ilse meinungslos werden. So wie der Schnee am Hirayama nie zu schmelzen
ist, so soll sein Wille von keinem Frauenwillen zu schmelzen sein. Nur dann
macht er Ilse glücklich.»

Kutsuma betrachtete andächtig den weißen Kopf der alten Dame, so andächtig,
wie nur ein Japaner im Abend am Biwasee den Schnee von Hirayama betrachten
kann. --

Ceylon mit seinen wolkenblauen, glänzenden Bergen, die voll Amethysten und
Mondsteinen liegen, wurde von dem wandernden Schiff für einen Tag berührt.
Dann zog die magnetische Ferne das Schiff weiter nach Osten. Und Ilse
träumte sich Palmenwälder aufs Meer, denn sie wußte: rings waren Küsten mit
heiligen indischen Wäldern und heiligen indischen Tempeln. Und ringsum an
den Küsten lebten Völker, die so gut waren, daß sie den Schlaf eines Tieres
heilig hielten, -- den Schlaf des geringsten Straßenhundes, dem es einfiel,
mitten in den verkehrsreichsten Städten sich in die Sonne zu legen und zu
träumen. Kein Fußtritt verjagt den Träumenden, denn jeder Traum, auch der
Traum eines Hundes, ist ein Paradies, das sich für Augenblicke auf die Erde
senkt. Darum wird auch der Schlaf der Tiere mit Ehrfurcht behandelt. Keine
Peitschen knallen, nur Silberglocken am Kutschbock treiben die Pferde an.
Über alles das dachte sie oft mit Scheu nach.

«Wie seltsam», meinten die beiden Japaner und die beiden Europäerinnen,
«daß Europa und Asien nebeneinander auf derselben Erde liegen, sie, die
weniger zusammengehören als Erde und Mond. Europa gibt seinem Leben das
Sprichwort: Zeit ist Geld. Und Asien beachtet weder die Zeit noch das Geld.
Es ist erstaunlich, daß die einfache Schiffsschraube, die nichts tut, als
sich drehen, uns aus der Welt der Begriffe von Zeit und Geld in die Welt
der entgegengesetzten Begriffe befördern kann, ohne daß wir dabei daran
zugrunde gehen oder erst sterben müssen.»

«Am seltsamsten», sagte die alte Dame, «ist es für mich, die ich schneeweiß
aus Europa komme. Ich glaubte mich schon am Ende meines Lebens; und ohne
daß ich eine neue Inkarnation eingehen muß, verjüngen und erwärmen sich
hier in Asien meine Gedanken. Wenn ich morgens in den Spiegel sehe, wundere
ich mich, daß ich immer noch den Schnee auf meinem Kopf trage.» --

Das Schiff hatte Hinterindien, Penang und Singapore passiert und drang in
das Chinesische Meer.

In Singapore aber war Ilse aus ihren indischen Träumen gerissen worden.
Dort, wo die Chinesen wie der Sand am Meere sind, wo die gelbe Rasse die
braune Rasse verdrängt, wo Ilse noch gelbere Menschen als die gelben
Japaner sah, während ihr das Reisen schon wie das Wandern des Blutes in
ihrem Körper zur Gewohnheit geworden war, -- überfiel sie ein Schrecken und
eine Angst vor der Zukunft. Die schlitzäugigen Menschen entsetzten sie. Die
geschlitzten Augen, die hervorstehenden Backenknochen schienen ihr die
Gesichter zu verkrüppeln.

Am Abend, als sie mit ihrer Großmutter aus Singapore an Bord des Schiffes
zurückkam und der Himmel voll gelber Abendwolken gleich tausend gelben
Chinesengesichtern war, ging sie nicht in ihre Kabine zu ihrem Mann. Sie
eilte in die Kabine ihrer Großmutter, drückte ihr Gesicht in die Hände der
alten Dame und schluchzte.

«Kind, Kind, ich weiß es», sagte die alte Dame. «Ich habe dasselbe gedacht
wie du heute. Aber laß die Zeit verstreichen. Die Zeit bringt Gewohnheit,
und Gewohnheit kann dich wieder glücklich machen. Wenn die Erde hier auch
fremder ist als ein fremder Planet, wir stehen doch noch mit den Füßen auf
derselben Erde, und wir werden auch mit der gelben Rasse gut Freund
werden.»

«Ich nicht», sagte Ilse. «Sieh mein rotes Haar an, sieh meine weiße Haut
an. Ich habe nicht daran gedacht, daß ich unter eine ganze Welt von gelben
Menschen komme. Okuro war mir lieber, als er, allein, eine Kuriosität in
Europa war. Aber jetzt ging er heute vor mir unter in der Flut der gelben
Gesichter, als wäre er im Chinesischen Meer ertrunken. Ich will heute nacht
nicht in seiner Kabine schlafen. Ich werde bei dir bleiben, Großmutter, und
im nächsten Hafen fliehen wir und kehren um nach Europa. Es ist mir, als
ginge ich bis zum Hals im gelben Lehm und erstickte, wenn ich unter den
gelben Menschen bleiben muß.»

«Kehre nicht um, Kind! Die Gewohnheit wird dich glücklich machen»,
wiederholte die alte Dame.

«Großer Gott, welch ödes Glück dann! Gewohnheit ist das Glück der
Dienstboten, nicht das der Herrschaft, hast du immer weise gesagt,
Großmutter. Und jetzt gibst du deine Weisheit auf, nur um mich zu trösten!
Neulich sagtest du noch, daß das Liebesglück ein Zuviel im Blut haben
müsse, einen Überschwang. Dieses Zuviel wird unter diesen gelben Menschen
nie mehr zu mir zurückkommen.»

Die beiden Frauen umarmten sich leidvoll und saßen miteinander auf dem
Rand des Kabinenbettes in dem kleinen weißlackierten Raum, und saßen eine
Stunde still, ohne sich zu rühren, und waren beide weit fort aus dem
Schiff. Beide gingen durch die Straßen von Europa, beide verstummt vor
Sehnsucht nach der Heimat und beide von neuem aufschluchzend, als sie sich
ansahen und sich vom Schiff weitergeschleppt fühlten. Sie wunderten sich im
stillen, daß das im Wasserdruck knisternde Schiff vom Heimweh zweier
Menschen nicht zum Sinken gebracht würde.

Die Nacht kam, und Ilse blieb in der Kabine ihrer Großmutter und ließ sich
durch die alte Dame bei Okuro entschuldigen.

Was dann in dieser Nacht geschah, weiß kaum ein einziger, der sich im
Schiff befand, mit Genauigkeit zu erzählen.

Die alte Dame fühlte sich plötzlich durch einen Stoß mitten im Schlaf aus
dem Bett geschleudert. Sie schrie nach Ilse. Alle Leute im Schiff schienen
mit ihr zu schreien. Alle Lampen waren erloschen. Das Schiff schien mitten
im Meer still zu liegen. Statt der taktmäßig arbeitenden Maschinenschraube
herrschte Todesstille. Und als die alte Dame sich von einem Koffer
aufrichtete, auf den sie gefallen war, faßten sie zwei Männerhände, zogen
sie wie eine Maschine durch die Dunkelheit, wo kniehohes Wasser ihr
entgegenschoß, schäumendes und gurgelndes Wasser, schreiendes und sich
windendes Wasser, das mit Menschenleibern angefüllt zu sein schien.

Statt der Schiffstreppen fühlte sie Menschenkörper unter ihren nackten
Füßen. Die Männerhände und das sich türmende Wasser hoben sie wie mit
Hebeln über tausend Hindernisse, bis sie auf ein Schiffsdeck hinfiel, auf
einen andern Dampfer, der wie ein dunkler Berg in der mondhellen Nacht
neben dem taumelnden und untergehenden Schiffsdeck stand, von dem sie kam.
Sie erkannte jetzt Okuros Gesicht im Getümmel der sich Rettenden, Okuro,
der ihre Hände hielt und sie fortschleifte und sie auf den roten Teppich
eines erleuchteten Schiffssaales niederlegte. Dann schrien beide zugleich:
«Ilse!», und Okuro verschwand.

Die alte Dame sah sich unter halb bekleideten Frauen und Männern, die wie
in einem Tollhaus weinten, lachten, gleich Menschen, die zu Hunden und
Affen geworden wären, sich stießen, übereinandersprangen, in dem
Schiffssaal unter die langen Speisetische krochen, sich hinter Stühle
verbarrikadierten, sich die Augen zuhielten, fortgesetzt «Hilfe!» riefen,
trotzdem sie gerettet waren, und fortgesetzt die Namen von Angehörigen
schrien, trotzdem sie diese gerettet im Arm hielten.

«Ilse, Ilse!» rief die alte Dame immer wieder, als könnte sie mit dem
gerufenen Namen einen Menschen erschaffen.

Das vom Meerwasser durchtränkte Nachtkleid hing ihr wie eine schleppende
schwere Haut um den zitternden Körper. Aber sie rutschte noch mit den
letzten Kräften von den Knäueln der Menschen fort, die mit den Armen um
sich schlugen, fort von diesen Skelett-Menschen, welchen die Sekunden des
Todesschreckens den jungen Leib in den Leib von Greisen verwandelt hatten.

Ein paar wahnsinnig gewordene Männer wurden neben ihr von Matrosen
gefesselt. Ein paar andere strengten sich an, einen der
Glühlichtkronenleuchter von der Decke zu reißen, und zerschlugen mit den
Fäusten die gläsernen Birnen und schrien: «Wir wollen kein Licht! Wir
wollen nichts sehen.»

Ein Mann biß sich in den Arm einer Frau fest. Die Augen quollen ihm aus dem
Kopf, und die Frau lachte und schrie: «Mein Lieber! Mein Lieber!» Das Blut
rann ihr vom Arm auf die Diele, und die Augen quollen ihr vor Verzückung
aus den Höhlen.

Die alte Dame kroch zu einer Kabinentür, die weit offen stand. Da sprang
ein wahnsinnig gewordener Malaye mit zwei Messern in den Händen über sie
weg, hinein in den Saal, stach nach den Weibern, die unter den Tischen
schrien, stach nach den Männern, die unter dem Kronleuchter hingen, und
kniete sich dann auf den Rücken des Mannes, der sich in den Arm der Frau
hineingebissen hatte. Die Frau lachte noch verzückter als der wahnsinnige
gelbe Malaye, der den weißen Rücken ihres Mannes mit den blutigen Messern
bearbeitete.

Neue Matrosen stürzten herein und rissen die Leute auseinander. Und unter
der Türe sah die alte gerettete Dame die Flügel einer riesigen silbernen
Windmühle; es waren die elektrischen Scheinwerfer des Dampfers, die mit
ihren steilen weißen Strahlen die Nachtluft zertrennten.

Am Schiffsgeländer neben ihr erkannte sie im weißblauen Licht des
Scheinwerfers zwei Männer, wie aus Schnee geformt, die miteinander rangen.
Die Dame schrie mit ihren letzten Kräften: «Okuro! Kutsuma! Ilse! Ilse!»
Dann sah sie, wie der eine Mann den andern mit dem Kopf an das
Messinggeländer schlug und dann den niedergeschlagenen zärtlich aufhob und
auf den Ruf: «Ilse, Ilse», sich nach der alten Dame umsah, den Ohnmächtigen
aus dem weißen Lichtschein forttrug, hin zu der alten Dame. Als der
Schleppende und der Geschleppte im gelben Lichtschein des Schiffssaales
erschienen, fielen beide Männer wie tot an der Türschwelle nieder. Es waren
Okuro und Kutsuma.

«Ilse», keuchte die alte Frau noch einmal und fiel neben den beiden
Japanern ohnmächtig hin. --

Die Geretteten hörten am nächsten Tag, daß im Mondnebel ein Zusammenstoß
zwischen ihrem und dem Schiff, auf welchem sie sich jetzt befanden,
stattgefunden und ihren Dampfer zum Sinken gebracht hatte. Unter den
Ertrunkenen, die ringsum aus der glatten See gefischt wurden, wurde auch
Ilses Leiche an Bord gebracht.

Kutsuma aber hielt Okuro in der Kabine zurück und belog ihn und sagte ihm,
Ilse wäre mit ihrer Großmutter gerettet. Denn er fürchtete, daß sein Freund
sich nochmals ins Wasser stürzen würde, wie er es beim Untergang des
Schiffes versucht hatte, als er Ilse nicht fand.

Aber Okuro war bei der Lüge seines Freundes ungläubig, schüttelte den Kopf
und sagte:

«Ich weiß, daß Ilse ertrunken ist. Ihre Seele war für mich schon nach
Europa zurückgekehrt, und sie war für mich schon tot, ehe das
Schiffsunglück eintrat. Ilse lebt nicht mehr, sonst würde sie vor mir
stehen. Sonst wäre sie in der letzten Nacht in meiner Kabine geblieben.
Ilse kehrt nicht wieder.»

Nach den wahnwitzigen Kämpfen und Aufregungen der Unglücksnacht blieb Okuro
von nun an bis zur Landung in Japan teilnahmlos. Er betrachtete nur
stundenlang seine Hände, welche Ilse immer geliebt hatte. -- Er, die
weißhaarige Großmutter und sein Freund Kutsuma saßen wie Wandbilder
schweigend nebeneinander auf den Deckstühlen des nach Japan wandernden
Schiffes, und Ilses Name wurde nicht mehr ausgesprochen.

Aber Kutsuma war immer bereit aufzuspringen, um die alte Dame und Okuro vom
Schiffsgeländer zurückzuhalten, denn das Wasser unten schien magnetische
Kraft zu haben für alle die Schiffbrüchigen, welche Angehörige in der
Unglücksnacht verloren hatten. Einige sprangen auf der Fahrt plötzlich ins
Wasser, Männer, welche ihre Kinder suchten, Frauen, die zu ihren Männern
wollten.

Dann erschienen eines Morgens die stillen, zwerghaften Inseln Japans im
Frühnebel, die Silhouetten der vielfach gekrümmten uralten Bäume, die
zierlichen Hügel mit den winzigen Terrassen winziger Reisfelder.

Die beiden Japaner erwachten aus der Totenstille, und nur die weißhaarige
Dame blieb stumm, und ihre Augen sagten müde: Seit Ilse tot ist, ist die
Erde für mich ein Sargdeckel geworden. Ich möchte mich auch in den Sarg
legen.

Als die Schiffsbrücke in Nagasaki herabgelassen wurde und unten Motorboote
voll von Angehörigen der japanischen Reisenden beim Schiff anlegten, sahen
die Leute, welche Okuro und seine junge Frau erwarteten, zu ihrem Erstaunen
den berühmten Schauspieler die Schiffstreppe herabsteigen, mit seinem Arm
eine alte, weißhaarige Dame stützend.

«Ist Okuro deswegen nach Deutschland gereist, um sich eine alte Dame, die
weiß ist wie der Abendschnee am Hirayama, zur Frau zu holen?» fragten sich
seine Freunde verwundert. Aber niemand lachte. --

Unter Okuros Freunden war ein japanischer Schriftsteller, welcher den
Eindruck nicht vergessen konnte, welchen die weiße alte deutsche Dame auf
ihn gemacht hatte, die als vermeintliche Frau des Okuro am Arm des jungen
Japaners ans japanische Land gestiegen war. Dieser Schriftsteller schrieb
ein Drama; und nachdem Monate vergangen waren und die alte Großmutter von
deutschen Freunden nach Europa zurückgebracht worden war, las er sein Drama
Kutsuma und Okuro vor.

Kutsuma, welcher in Japan Frauenrollen spielte, war sehr begeistert von der
Rolle der Ilse, und Okuro sollte die Rolle der weißhaarigen Großmutter
spielen. Der Schriftsteller hatte das Stück den «Abendschnee auf dem
Hirayama» genannt.

Der Abend der Vorstellung kam, und Okuro trug eine Perücke aus weißer
Seidenwatte. Nie hatten die Zuschauer eines japanischen Theaters ein
lebhafteres und atemloseres Spiel gesehen. Nur einige murmelten und
wunderten sich, daß der junge Ehemann das Drama spielen wollte, das sich
erst vor Monaten ereignet hatte. Und viele nannten ihn herzlos und
gefühllos, weil er den Tod seiner jungen Frau nicht ernster nahm als ein
Drama.

Der letzte Akt kam und die Szene, wo die gerettete Großmutter aus der
Kabinentür kriecht und während des Schiffsunglücks nach Ilse schreit. Sie
tastet sich vorwärts. Aber statt dessen richtet sich der die Großmutter
spielende Okuro auf und springt an die Theaterrampe vor, streckt die Arme
ins Publikum, und statt in Wehklagen über die Ertrunkene auszubrechen, ruft
er:

«Seht mich aus dem Schrecken neugeboren und weise und kühl geworden, wie
der Abendschnee am Hirayama! Klatscht in die Hände, klatscht Beifall dem
Größten, dem Gott des Unglücks, der die Herzen erlöst, der männlicher ist
als das Glück, der einen Willen hat, wenn das Glück keinen mehr hat.
Gedankenvoller, als der Schnee am Hirayama über dem Biwasee im Abend
scheint, ist der Blick des Unglücks, wenn er sich auf uns richtet,
feierlicher und gigantischer ist die Weisheit des Unglücks und ragt über
alles Wissen. Ich beweine sie, die Ertrunkene, nicht, und ihr sollt auch
mich nicht beweinen, der ich die Gunst des größten Gottes genoß, die Gunst
des Unglücks, das heiliger ist als der Augenblick des Glückes.»

«Klatscht Beifall!» rief Okuro noch einmal; und dann kam Kutsuma, der, als
Ilse verkleidet, jetzt ertrunken sein sollte und nicht mehr zu erscheinen
hatte, und fing den wahnsinnig gewordenen Freund in seinen Armen auf.

Die Zuschauer sahen noch, wie Kutsuma dem Okuro die weiße Perücke vom Kopfe
riß, um ihm Luft zu machen und sein Gehirn zu kühlen. Da -- mit einem
einzigen Ausruf des Schreckens erhob sich das ganze Theaterpublikum; denn
Okuros Haar war unter dem Spiel vor Schmerz so weiß geworden wie die Watte
der weißen Perücke. Einer im Theater wies es dem andern und wurde
ehrfürchtig vor der Seele des Liebenden, die hier größer als die Kunst des
Schauspielers gespielt hatte.

Alle im Theater weinten; und keiner, der je zum Biwasee kommt und den
Abendschnee am Hirayama bewundert, vergißt der Geschichte des Liebenden zu
gedenken, den das Unglück weiß wie Schnee machte.



Inhalt


  Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen      7
  Den Nachtregen regnen hören in Karasaki                 36
  Die Abendglocke vom Miideratempel hören                 65
  Sonniger Himmel und Brise von Amazu                     79
  Der Wildgänse Flug in Katata nachschauen                96
  Von Ishiyama den Herbstmond aufgehen sehen             115
  Das Abendrot zu Seta                                   137
  Den Abendschnee am Hirayama sehen                      155





*** End of this LibraryBlog Digital Book "Die acht Gesichter am Biwasee - Japanische Liebesgeschichten" ***

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