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Title: Das Geheimnis der Gioconda - Das Tagebuch des Diebes
Author: Schwitzky, Ernst B.
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Das Geheimnis der Gioconda - Das Tagebuch des Diebes" ***


             Sammlung abenteuerlicher Geschichten Band 3:



                Schwitzky / Das Geheimnis der Gioconda



                                 Das
                        Geheimnis der Gioconda


                        Das Tagebuch des Diebes


                          Herausgegeben von
                          Ernst B. Schwitzky



                       Delphin-Verlag / München


              Copyright 1914 by Delphin-Verlag / München



Vorwort


Die Papiere, die hier veröffentlicht werden, sind auf eine so eigentümliche
Weise in meinen Besitz gelangt, daß ich mich veranlaßt sehe, darüber
Rechenschaft abzulegen. Ich lernte zu Anfang des vergangenen Sommers, also
etwa dreiviertel Jahre nach dem Verschwinden der Gioconda aus dem Louvre,
in einem Kopenhagener Hotel einen Herrn kennen, der sich mir unter dem
japanisch klingenden Namen DACO-NOGI vorstellte. Dieser Herr, den ich, wie
die Dinge nun einmal liegen, für den Autor des hier veröffentlichten
Tagebuchs halten muß, besaß, ohne von mir irgendwie dazu aufgefordert
worden zu sein, die große Liebenswürdigkeit, während meines Aufenthalts in
Kopenhagen mein Fremdenführer zu sein und sich meiner in jeder erdenklichen
Weise anzunehmen. Er schien ein ganz besonderes Vergnügen daran zu finden,
mir die mannigfaltigen Schönheiten Kopenhagens, das er außerordentlich
liebte, zu zeigen und wenn ich in der kurzen Zeit von etwa zehn Tagen, so
ziemlich alles gesehen habe, was Kopenhagen Sehenswertes besitzt, so
verdanke ich das lediglich meinem Führer und seiner oft erstaunlichen
Ortskenntnis. Er war selbst kein Däne, sondern nach der Klangfarbe seiner
Sprache zu urteilen ein Deutscher, aus den rhein-mainischen Gegenden. Aus
den Gesprächen ging hervor, daß er seit Jahren auf Reisen war, China,
Japan, die Vereinigten Staaten, Südamerika, Indien genau kannte und sich
sowohl in den Küstenländern, wie im Innern Afrikas längere Zeit aufgehalten
hatte. Niemals jedoch konnte ich erfahren, zu welchem Zweck diese Reisen
unternommen worden waren, und obgleich Herr DACO-NOGI so gar nicht das
Aussehen eines Globetrotters hatte, sah ich mich zuletzt doch gezwungen,
anzunehmen, daß er lediglich zu seinem Vergnügen gereist war. Übrigens
sprach er außerordentlich selten von sich. Dagegen fiel es mir bald auf,
wie intensiv ihn das Leben anderer beschäftigte, gleichviel, ob es das
eines Kohlenträgers war, von dem wir im Vorübergehen zwei oder drei Worte
aufgefangen hatten, oder das eines Ministers, dessen Rede uns durch die
Zeitungen bekannt wurde. Es wird von Balzac erzählt, daß er oft in der
Lebhaftigkeit seiner Phantasie von den Gestalten seiner Einbildung wie von
lebenden Personen sprach und seine Freunde dadurch in Erstaunen setzte, daß
er ihnen von den Schicksalen der Eugenie Graudet und des Vater Goriot
erzählte, als handle es sich um Menschen, die jeden Augenblick selbst
eintreten und sprechen könnten. In ähnlicher Weise überraschte mich oft
Herr DACO-NOGI, wenn er plötzlich ohne jeden erkennbaren Anlaß aus dem
Leben von Personen erzählte, von denen er weder wußte, was sie waren, noch
wie sie hießen. Wie intensiv und außerordentlich diese Beschäftigung mit
dem Leben anderer war, davon überzeugte ich mich zuerst an mehreren
Bemerkungen, die er im Verlauf des Gesprächs über mich und meine
Verhältnisse machte. Mehrere Male überraschte er mich nämlich durch die
Kenntnis von Tatsachen aus meinem Leben, von denen ich bestimmt wußte, daß
ich sie ihm nicht mitgeteilt hatte. Das erstemal als er plötzlich von
meiner Schwester sprach, konnte ich noch glauben, es sei Zufall und ich maß
der Sache weiter keine Wichtigkeit bei. Aber noch am selben Tage gab er mir
ganz unvermutet einen Rat, der die Kenntnis höchst komplizierter
persönlicher und finanzieller Verhältnisse voraussetzte, deren Intimität
mich vor dem Eigenverdacht bewahrte, vielleicht davon gesprochen zu haben.
Zuerst stand ich vor einem Rätsel, das ich mir nicht im geringsten zu
erklären vermochte und ich betrachtete meinen neuen Bekannten mit einer
Mischung von Mißtrauen und leiser Furcht. Dann aber erhielt ich durch
einige Beispiele, die das Leben anderer Personen betrafen, den seltsamen
Beweis, daß dieser Mensch in einer geradezu ans Wunderbare grenzenden Art,
die Fähigkeit besaß, aus den unbestimmtesten Redewendungen und den
scheinbar unpersönlichsten Gesprächen auf Tatsachen und Geschehnisse
zurückzuschließen, die einem Menschen mit gewöhnlichem
Beobachtungsvermögen, schlechthin verborgen bleiben müssen. Mit dieser
ungewöhnlichen Fähigkeit erinnerte er mich an die sonderbare Gestalt des
Herrn Dupin in den Poeschen Novellen, denn Herr DACO-NOGI besaß in
Wirklichkeit das ans Fabelhafte grenzende Assoziationsvermögen jener
erdichteten Gestalt. Nur eine ungeheure Beweglichkeit der Phantasie, die
selbst die geringfügigsten Sinneseindrücke verarbeitete, kann es ihm
ermöglicht haben, zu so verblüffenden Feststellungen zu kommen, wie sie ihm
in meiner Gegenwart gelangen. Übrigens arbeitete dieses fast übernatürlich
zu nennende Assoziationsvermögen, wie die meisten ganz großen und
übernormalen Fähigkeiten im Menschen, beinahe ganz unbewußt in ihm und er
war sich in den allermeisten Fällen auch gar nicht klar darüber, irgend
etwas erraten zu haben, was zu erraten andern Menschen schlechthin
unmöglich gewesen wäre. Nach und nach nahm ich übrigens wahr, daß es
keineswegs eine einfache, übermäßig ausgebildete Assoziationsgabe war, die
meinem Bekannten so seltsame Ergebnisse lieferte. Wie sollte es auch durch
einfache Assoziationen möglich sein, Stimmungen, Gefühle und halbbewußte
Empfindungen von Menschen zu erraten, von denen er, wie gesagt, oft nicht
mehr als drei Worte gehört und die er nur ein einziges Mal gesehen hatte.
Es schien mir vielmehr eine Art künstlerischen Vermögens zu sein, das er
besaß und vielleicht gibt das Wort Einfühlung den allgemeinsten Begriff von
dem, was ich sagen will. Er vermochte sich auch durch den aller
geringfügigsten Anlaß etwa so in einen Menschen einzufühlen, wie es der
Betrachter oder Zuschauer eines Kunstwerkes tut, der damit die Absichten
und die Mittel des Künstlers errät. Und zwar war die Art der Einfühlung in
ein fremdes Leben so stark, daß sie ihn nicht nur vollkommen beherrschte,
sondern ihn auch vollkommen veränderte. Oft, während er sprach, wechselte
er seine ganze Haltung und seinen Gesichtsausdruck. Wie ein anderer Mensch
wohl seine Rede durch Gebärden mit den Händen oder bei lebhafteren
Temperamenten auch durch ein bewegliches Mienenspiel zu veranschaulichen
sucht, so zwang bei ihm der Gedanke oder das Gefühl, das er ausdrücken
wollte, den ganzen Körper in Dienst und veränderte alles an ihm. Nichts
aber stand sozusagen willenloser unter dieser Kraft der Einfühlung, wie
seine Stimme. Sie war gleichsam diejenige Saite, die die Schwankungen
seiner Empfindung am vollendetsten und differenziertesten wiedergab. Sie
war nicht nur von einer schier unglaublichen Modulationsfähigkeit, die die
leisesten, zartesten und härtesten Töne anklingen ließ, nein, sie vermochte
geradezu ihren ganzen Charakter zu verändern und oft, wenn ich, die Wirkung
dieser Stimme auf mich zu erproben, die Augen schloß, hätte ich meinen
können, plötzlich mit einem ganz anderen, fremden Menschen zu reden.

Am Tage meiner Abreise von Kopenhagen kam Herr DACO-NOGI vormittags auf
mein Zimmer, um sich von mir zu verabschieden. Er war im Mantel und Hut,
denn er stand selbst gerade im Begriff abzureisen. Unter dem Arm trug er
eine kleine Mappe aus dunkelgrünem Leder, die er bei seinem Eintritt auf
dem Garderobenständer ablegte. Wir unterhielten uns vielleicht zehn
Minuten; es lag mir mehrfach auf der Zunge zu fragen, wohin er reise, aber
aus dem Gefühl heraus, nicht neugierig erscheinen zu wollen, unterließ ich
die Frage. Einige Tage vorher hatte er übrigens davon gesprochen, demnächst
nach Canada gehen zu wollen. Nach zehn Minuten erschien der Hausdiener und
meldete das Automobil. Wir verabschiedeten uns kurz und herzlich. Dann,
nach einer Stunde etwa, bemerkte ich, daß mein Bekannter die Mappe auf dem
Garderobenständer hatte liegen lassen. Ich erkundigte mich bei dem Portier,
ob Herr DACO-NOGI eine Adresse hinterlassen habe. Es war nicht der Fall. In
der Hoffnung vielleicht aus dem Inhalt der Mappe die Adresse des Fremden
erfahren zu können, öffnete ich sie mit dem anhängenden Schlüssel. Was ich
fand, war nur eine große Anzahl dünner, zerknitterter Blätter, die mit
einer steilen kritzlichen Schrift bedeckt waren und eine Karte, die an mich
gerichtet war und nur die Worte enthielt: Bitte, betrachten Sie diese Mappe
und ihren Inhalt als Ihr Eigentum. -- Schon auf der Fahrt von Kopenhagen
nach Hamburg habe ich dieses seltsame Schriftstück, von dem ich beim
flüchtigen Durchblick bald erkannte, daß es sich auf den Diebstahl der
Gioconda bezog, zum erstenmal gelesen. Mein Entschluß, das Manuskript zu
veröffentlichen, war sofort gefaßt. Meine Arbeit dabei ist keine andere
gewesen als die einzelnen Blätter, die wirr durcheinander lagen, dem Sinne
nach zu ordnen und aneinander zu reihen. Ich habe mich nicht für berechtigt
gehalten, irgendwelche Zusätze oder auch nur irgendwelche Korrekturen in
dem Manuskript anzubringen. Dagegen schien es mir geboten, die Eigennamen
der Personen durch freigewählte zu ersetzen. Im übrigen ist das Tagebuch,
wie es hier vorliegt, ein wortgetreuer Abdruck des Originals. --

Vielleicht wird es noch interessieren zu wissen, daß der Name DACO-NOGI ein
Anagramm ist. Nur durch einen Zufall bin ich darauf geführt worden. Er
entsteht durch Buchstabenumstellung aus dem Namen: GIOCONDA.

Im Oktober 1912

   Der Herausgeber



Das Tagebuch


Den 5. August 1911. Als ich gestern auf dem Gare de l'Est den Wiener
Schnellzug verließ, passierte mir etwas recht Seltsames und wenn man will,
Rätselhaftes. Vielleicht ist es auch etwas ganz Natürliches, Einfaches und
Erklärliches. Ich war kaum aus dem Zuge gestiegen, als meine Aufmerksamkeit
auf einen Reisenden gelenkt wurde, der eben offenbar auch ausgestiegen war
und den Perron hinuntereilte. Er war etwa fünfzig Schritte von mir
entfernt. Ich glaube, er fiel mir nur durch seinen eigentümlich hellgelben
Mantel und seinen hastigen Schritt auf, der etwas Unrhythmisches und
Konfuses hatte.

Warum lief ich diesem Herrn eigentlich sofort nach?

Ich habe seit gestern darüber nachgedacht und weiß es doch nicht. Aber
eigentlich, was ist denn so Unerklärliches daran? Warum soll ein Reisender
wie ich es bin, ein Mensch, der lediglich zu seinem Vergnügen, na --
Vergnügen? -- also ein Mensch, der nur reist, um zu reisen, der nichts zu
tun hat, gehen und kommen kann, wann und wie und wo er will -- warum sollte
er nicht plötzlich auf den Einfall kommen, auf dem Gare de l'Est in Paris
hinter einem Herrn mit einem hellgelben Mantel und einem unrhythmischen
Gang herzulaufen?

Wenn ich es allerdings recht bedenke, so scheint es mir doch wieder seltsam
oder zum mindesten auffällig. Denn ich liebe das Unrhythmische keineswegs.
Ich gehe ihm sonst aus dem Wege, wo ich kann. Ich setze mich weder in ein
Familienrestaurant noch in eine Elektrische. Warum also, warum ging ich
ausgerechnet hinter diesem scheußlich konfusen und verzwickten Schritt her?
Warum quälte ich mich mit sämtlichen Taktarten, diesen Schritt einzufangen?

Ja -- vielleicht hatte dieser Schritt doch etwas Rhythmisches, und ich rede
mir nur ein, daß er verworren war. Immerhin -- er war wie zwei übereinander
gepurzelte Takte und gar nicht zum aushalten.

Ich glaube, der Herr trug eine große schottische Mütze und in der Hand eine
rote Ledertasche. Aber das weiß ich nicht bestimmt. Denn ich war wie
hypnotisiert von dem Zwickzwack der Beine unter dem hellgelben Paletot und
hatte, so lange ich ihm folgte, für nichts anderes Auge und Aufmerksamkeit.

Und nun geben Sie mal acht, was geschah. Ich gehe stracksweg hinter dem
gelben Herrn da her, immer mit den Augen auf seinen Beinen. Und als er in
eine Droschke steigt, rufe ich den nächsten Kutscher und weise ihn an,
hinterher zu fahren. Es ist das schönste Wetter, ich kann meinen Freund --
denn so nenne ich ihn schon in heimlicher Wut -- da vorne gemächlich und
bequem in der Droschke sitzen sehen. Das heißt, eigentlich sehe ich nur ein
Stück von dem gelben Mantel und darüber die große schottische Mütze. Sein
Gefährt ist immer etwa 100 Schritte voraus. Endlich hält es in der Rue
Saint Honoré 41. Die Nummer fällt mir sonderbarerweise sofort auf, denn sie
gibt mein Alter an. Er steigt aus, der Wagen fährt weiter und er tritt ins
Haus.

Und nun habe ich eben in diesem Hause, im zweiten Stock, bei Frau Witwe
Labrouquet gestern ein Zimmer gemietet! --

So -- ja so, als sei ich besonders hierher nach Paris gekommen, um bei Frau
Witwe Labrouquet und ihrem lahmen Sohn zu wohnen!

Es ist einfach lächerlich!

                   *       *       *       *       *

Den 6. August. Ich verfalle wieder auf ein altes Mittel: alle quälenden
Unruhen und zermürbenden Gedanken, die ganze Vergangenheit, die sich hinter
mir auftürmt und auf mich herabzustürzen droht, die Unrast und
Unbeständigkeit, die mich von Ort zu Ort treibt, die mir nirgends Ruhe
läßt, meine Tage und Nächte durchtobt, dadurch zu bannen, indem ich
schreibe . . .

Wenn ich mir wieder etwas aus meinem Leben erzähle, wenn ich aus meinen
grauen und grünen Erinnerungen wieder kleine, zarte Gespinste hervorsuche,
Träume, Leidenschaften, Gebete, -- Begegnungen mit anderen und mir --
geflüsterte, ungehörte, verwehte Dinge herbeirufe . . . ach, vielleicht
werde ich dann noch einmal alles zurückdrängen können. Ich werde den
Mächten, die mich und alle verfolgen, entrinnen, wie ein Dieb. Ja, wie ein
Dieb, der sich geschickt in einem Kellergewölbe zu verbergen wußte, von dem
niemand weiß, wo er geblieben ist, und an dem die hastigen Polizisten
vorbeirennen, bis sie spät ihren Irrtum gewahr werden. Aber hallo! Jetzt
hat der Dieb zwischen seinen grauen Kellerwänden neue Kräfte gesammelt und
rasender als je fliegt er die langen Straßen hinab. Hinein in ein Haustor,
durch den Korridor in den Hof, einen Blitzableiter hinauf, auf das Dach des
allerhöchsten Hauses und ratsch -- weg ist er. Weg, als hätte ihn der
Himmel verschluckt.

Weiß Gott wie heiß mir wird, wenn ich an eine solche Diebsjagd denke!

Aber schön ist das, wundervoll. Das heißt natürlich, wenn man der Dieb ist.
So alles auf den Fersen zu haben, einer gegen zwanzig, gegen hundert, und
dann mit allen Anstrengungen des Geistes und Körpers arbeiten, arbeiten,
arbeiten, daß einem der Schweiß perlt. Alles gedoppelt: Gesicht, Gehör,
Geruch; spähen, jede Kleinigkeit berechnen, ausnützen und Sieger sein
zuletzt, Sieger!

Ach ja . . . . wenn es nur leichter wäre, Diebstähle zu begehen . . . .

Ich erinnere mich noch deutlich an die furchtbare Angst, die ich in Messina
ausstand, als ich mir einmal vorgenommen hatte, eine Apfelsine zu stehlen.

Ja -- ich wollte mir die Langweile damit vertreiben, mir zu zeigen, ob ich
Mut hätte. Mut, eine Apfelsine zu stehlen.

Gott, wie deutlich steht doch alles vor mir: da ist das kleine Hotel mit
der grünlich grauen Fassade und der schmierigen Tür. Da ist der Stall
nebenan und da ist der kleine deutsche Hausknecht mit den feuerroten Haaren
und den unwahrscheinlich großen Ohren, die immer -- offenbar von
Stiefelwichse -- ein wenig schwarz waren. Ja, ja -- dieser Hausknecht. Er
hatte übrigens trotzdem zarte Beziehungen zu der Köchin, die etwas bucklig
war, und man sagte mir, sie erwarte ein Kind. Mein Gott --! Und da ist der
schmutzige kleine Speisesaal mit den abgeschabten Tapeten und dem Kellner
Luigi.

Aber das gehört nicht zur Sache.

Ich langweilte mich scheußlich in diesem verfluchten Nest und aus lauter
Langerweile kam ich, wie gesagt, zuletzt auf den Gedanken: mir meinen Mut
zu beweisen! Haha, -- ich wollte eine Apfelsine stehlen. Das sollte mir
wahrhaftig ein Beweis für Mut sein!

Es war just um die Zeit der Ernte. Was für prachtvolle goldene Früchte gab
es doch da. Wenn sie wie goldene Kugeln geschichtet in den Körben lagen,
und die Sonne darauf schien, konnte man wirklich die Augen nicht weit genug
aufreißen, um all dies kostbare Licht in den Körper einzulassen. Ja, man
hätte sich am liebsten überall Augen in den Körper geschnitten, um all
diese Fruchtbarkeit aufsaugen zu können.

Am Montag hatte man vor meinen Augen einen dieser braunen, nackten Bengel,
die da überall umherlungern, dabei erwischt, als er gerade im Begriff
stand, sich mit sechs großen roten Orangen aus dem Staube zu machen. Weiß
Gott, beinahe wäre es ihm geglückt, diesem verflixten, kleinen Teufel. Was
er für Augen hatte! Aber er hatte die Rechnung eben ohne seine Hose
gemacht.

Ja, er trug nämlich als einziges Kleidungsstück eine graugrüne Hose auf dem
Leib, aus der unten die Beine wie braune Streichhölzer herauskamen. Und in
diese Hose hatte er die sechs Orangen vor dem Stand der Verkäuferin ganz
unbemerkt hineingestopft. Er hatte sie wahrhaftig alle schon drin. Aber
zuletzt bekam die Alte hinter dem Stand doch Wind von der Sache. Sie hatte
eine kolossale braune Hakennase im Gesicht und trug eine blaue Bluse.
Plötzlich stieß sie einen gellenden Schrei aus, fuchtelte mit den Armen in
der Luft rum und kam hinter dem Stand hervorgesprungen.

Das war eine Pracht zu sehen, wie die braunen Beine der Raubkatze über die
Straße flogen! Und die Alte schreiend mit geblähtem Rock hinter ihm her!

Mein Gott, ich stand und lachte aus vollem Halse.

Sie hätte ihn nicht bekommen, den Teufel, den kleinen. Aber an der Hose lag
es, die brachte ihn an den Galgen. Denn während ihm eine der Orangen im
Lauf aus dem Gurt sprang und rot durch den Staub der Straße rollte, sackten
sich die andern immer tiefer in das rechte Hosenbein und -- bums, da lag
er. Da hatte die Alte ihn aber auch schon am Kragen.

Donnerwetter, was das Tier aber auch für Raubfinger hatte; biegsam wie
Fischbein und fest wie Stahl.

Na ja -- so kam ich selbst auf den Gedanken, eine Apfelsine zu stehlen. Und
das gab mir Beschäftigung bis zum Schluß der Woche. Beschäftigung? Es war
ein Stück Arbeit, ein Stück ganz verzweifelte Arbeit. Ich bekam in diesen
Tagen ordentlich eine gute Meinung von den Dieben. Denn wenn ich nur die
Hand ausstrecken wollte, um die Orange von dem Stand der Verkäuferin zu
nehmen -- am ersten Tage probierte ich es dreimal -- dann zitterte ich am
ganzen Leibe und fühlte kaum mehr den Boden unter den Füßen.

Ich glaube, ich habe in diesen fünf Tagen im ganzen zwanzig Pfund Orangen
gekauft, nur um mir immer am Stand der Alten zu schaffen machen zu können.
Ich konnte das Zeug ja gar nicht aufessen. Ich schenkte es im Hotel dem
rothaarigen Hausknecht oder dem Oberkellner Luigi.

Am zweiten Tag lächelte mich die Alte schon immer von weitem an. Hole der
Teufel ihr Lachen, ich werde meine Apfelsine schon bekommen, dachte ich.
Aber ich ging wieder und trug nur das gekaufte Pfund nach Hause.

Dann wurde die Geschichte interessant, das Weib hatte offenbar meine
Absicht erraten, sie lächelte jetzt jedesmal recht spöttisch, wenn sie mich
kommen sah.

Ich nahm allen meinen Mut zusammen und versuchte eine günstige Gelegenheit
abzupassen. Aber wenn sich die Alte einmal wegkehrte, dann war es mir
beinahe, als seien mir die Hände mit einem unsichtbaren Strick an den Leib
gebunden.

Ich wurde wütend, zu Hause in meinem Zimmer nannte ich mich einen
erbärmlichen Feigling und schlug mit der Faust auf den Tisch, daß er
umstürzte und die Platte zerbrach. Ich sagte mir, so kann es nicht
weitergehn. Ich setzte also den Freitag als Ruhetag an und schwor mir, die
Tat am Sonnabend zu vollbringen.

Ich hielt mein Wort. Allerdings das tat ich. Aber wie erbärmlich benahm ich
mich doch. Es war in der Mittagsstunde und die Alte hatte eben ihre Bude
verlassen, um an einem hundert Meter entfernten Brunnen Wasser zu holen.
Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Und da also -- in diesem
Augenblick fand ich wirklich den Mut, meine Apfelsine zu stehlen. Pfui! Was
war ich für ein feiger Dieb. Und ich lief wahrhaftig noch davon als hätte
ich schon den Polizisten im Nacken. Pfui Teufel!

Übrigens hatte die Alte natürlich gar nichts bemerkt. Später sagte ich ihr
einmal, daß ich lange die Absicht gehabt hätte, ihr eine Orange zu stehlen.
Aber da lachte sie und wollte es nicht glauben; obgleich ich es beschwor,
bei Gott.

                   *       *       *       *       *

Den 7. August. Nun da wäre ich denn hier bei Frau Witwe Labrouquet,
geschiedenen Blissot und ihrem lahmen Sohn. Ob sich der Herr mit dem gelben
Mantel, der schottischen Mütze und den Zwickzwackbeinen noch einmal sehen
lassen wird?

Was dies übrigens für eine Wohnung ist. Drei Zimmer und Küche. Drei graue
Schachteln mit Löchern, die man Fenster nennt. Über die langweiligen gelben
Gardinen habe ich ein Paar alte Priestergewänder aus Tokio gehängt. Sie
sind aus Seide und ich mag es gern, wenn Licht durch Seide fällt. Es fühlt
sich dann ganz anders an.

Überhaupt habe ich heute den größten Teil des Tages damit zugebracht, das
Zimmer umzuräumen. Ich konnte schon in der letzten Nacht nicht schlafen und
hatte immer das Gefühl, es sei jemand im Zimmer. Der Schrank, das Bett, der
Spiegel, die Stühle, alles tat noch den Willen des Menschen, der hier vor
drei oder vier Tagen ausgezogen sein muß.

Ich kann noch ganz deutlich sehen wie er zum Beispiel da hinter dem Tisch
auf dem roten Plüschsofa gesessen hat. So -- die Hand so ans Kinn gestützt
und guckt da hinaus nach dem Schornstein auf dem gegenüberliegenden Dach.
Und immer rauchend. Mittelsorte. Es muß ein Kunstschriftsteller oder
Theaterkritiker gewesen sein; ein ganz gewöhnlicher, oberflächlicher und
uninteressanter Mensch. Aber trotzdem eine »anerkannte Feder« und ein
»gemütvoller Plauderer«. Auf alle Fälle ein Mensch, der sich zum Platzen
ernst nimmt. »Wie schrieb ich doch damals, als Ibsen mich besuchte . . .«

Ja, weiß Gott, man konnte es an den Möbeln sehen, wie langweilig und
bürgerlich und ernst dieser Mensch war. Ich mußte ja die ganze Bude auf den
Kopf stellen, um den Geist dieser »anerkannten Feder« los zu werden. Ja,
außer dem alten eisernen Ofen in der Ecke und dem Bild dahinter -- übrigens
ein eigentümliches Frauenporträt --, ist auch kein Ding mehr an derselben
Stelle geblieben.

Frau Witwe Labrouquet wird Augen machen!

Augen, wie die geschiedene Blissot an dem Tage, als es herauskam, daß es
mit dem Sparkassenbuch von 2500 Frank, im Vertrauen, auf welches Herr
Labrouquet ihr die Hand vor dem Altar gereicht hatte, nichts war.

Der arme Herr Labrouquet!

Er wußte ja nicht, daß bei einer Frau _immer_ etwas herauskommt. Es braucht
nicht gerade ein falscher Busen zu sein, aber vielleicht eine irrsinnige
Schwester; oder der Vater hat einmal im Zuchthaus gesessen oder sie hat
einmal binnen vier Wochen zwei Verlobungen aufgelöst. Bekommen. Ach, es ist
nicht immer etwas Wichtiges. Vielleicht verschweigt sie dem Bräutigam ja
nur einen hohlen Zahn oder daß sie einmal ein Kind hatte . . . aber heraus
kommt immer etwas. Und es ist wahrhaftig eine Herzensfreude, so einem
jungen, freundlichen Ehemann zu begegnen am Tage, da etwas raus gekommen
ist.

Männer können ja viel dümmere Gesichter machen als Frauen. Unfreiwillig
natürlich. Denn wenn eine Frau dumm sein will, ist sie auch darin Meister.

Nein, nein, ich habe diesmal kein Glück gehabt mit meiner Wohnung. Warum um
alles in der Welt mußte ich auch diesem gelben Mantel und dieser
schottischen Mütze nachlaufen? Trotzdem ich den ganzen Bau sozusagen auf
den Kopf gestellt habe, und kein Stück mehr am Platze ist, begegne ich noch
immer dem Gedankengerümpel dieser »anerkannten Feder« und dieses
»gemütvollen Plauderers«. Was für ein schales Zeug in so einem
Schreibergehirn nebeneinander liegt. Ein Anblick wie ein Trödelladen.

An diesem Tisch zu sitzen ist mir ganz unmöglich. Da muß er täglich
geschrieben haben, und wenn ich mich dorthin setze, fallen mir Dinge ein,
die direkt reif sind für den . . . . er-Anzeiger. Unterm Strich.

Ich sitze also am Boden und schreibe auf meinem Koffer. Auf meinem
kosmopolitischen Koffer . . . .

. . . Wenn ich noch an den kleinen verlassenen Palast der kleinen Soubrette
denke, den ich in Wien im Alser Bezirk bewohnte. Zufällig habe ich später
erfahren, daß sie wirklich in einem Tingeltangel in Hernals auftrat. Gerade
an dem Tage als ich einzog, war sie zum erstenmal aufgetreten. Vorher war
sie eine kleine Putzmacherin gewesen . . .

Nein, was lebte doch in diesem Zimmer -- es war nur zwei oder drei Meter
breit und vier lang -- für ein kunterbuntlustiger Soubrettengeist. Gleich
als ich unter der Tür stand und den Fuß noch nicht über die Schwelle
gesetzt hatte, mußte ich ganz laut diese närrische Strophe deklamieren:

   »Ich liebe dich, mein Hunderl,
   Ich bin verrückt nach dir . . . .«

Die Wirtin sah mich ganz verdutzt an. Aber ich sagte, ich sei eben im
Variété gewesen, habe die Strophe gehört und ob sie ihr nicht auch gefiele.

Und wo ich ging und lag und saß und stand, immer arbeitete der Geist dieser
kleinen, verrückten Person in mir fort.

Ich saß auf dem Stuhl und sagte: »Da kam ein kleines Mädchen auf ihn zu,
das hatte einen Hut auf, der war ziegelrot mit funkelnagelneu . .«

Ja, man beging die unglaublichsten Dinge in diesem Zimmer. Einmal erwischte
ich mich dabei, wie ich der Köchin gegenüber im Hause die Zunge
herausstreckte und ihr eine Nase schnitt. Oder ich tanzte plötzlich vor dem
Spiegel eine Kakewalk und hatte mir dazu den Kimono aus Yoshiwara
umgehängt. Und welche Träume hatte man in diesem Palast! Nun eben die
Träume einer ganz kleinen, verrückten Soubrette. Ein Graf sprach einen auf
der Straße an. Es war im Volksgarten, gerade vor dem Denkmal der Kaiserin.
Welch ein Duft von Beeten und Blumen. Und welch ein Sommerabend . . . Ach
. . . Einem solchen Grafen mußte man sich ja gleich in den Arm hängen. Da
war wirklich nichts dabei. Er hatte auch bei den Husaren gedient und war
Leutnant. Und Rosen hatte er in den Händen, rote Rosen. Er sagte, sie seien
für eine andere bestimmt, aber nun wolle er sie mir schenken. Denke nur.
Gleich am andern Tag wollte er einen Ausflug mit mir machen. Ich wollte
nicht, aber sein Wille war stärker. Auf der Sophienalpe küßte er mich zum
erstenmal. Ich hatte ein neues rosa Kleid an, das ausgeschnitten war
. . . . Ach und dann wurden wir so namenlos glücklich . . . Gott, wie lieb
ich ihn hatte, und wie gut er war. Er nannte mich immer Dodo, das gefiel
mir so gut, wenn er's sagte, und ich hatte es mir auch gewünscht. Aber dann
kam das Duell. Wegen mir. Ein Leutnant von den Deutschmeistern hatte
nämlich etwas über mich gesagt. . . Ach, wie ging es doch aus? Wurde mein
Graf getötet? Nein, ich weiß nicht . . . aber die Sonne ging so blutrot
über der Donau unter und die Nebel stiegen herauf. »Die weißen Abendfrauen
kamen über das Meer« . . . Das klingt hübsch, nicht wahr? Ich habe es von
einem wundervollen Dichter gehört. Er konnte überhaupt so schön schreiben,
daß man ganz traurig wurde und weinen mußte . . .

Ja, ich konnte sie ganz deutlich vor mir sehen, diese verrückte, kleine
Person. Schlank und biegsam war sie wie eine Gerte. Sie hatte nußbraune
Haare, einen rosigen Teint und die Nase war ein wenig eingedrückt. Das gab
ihrem Gesicht sozusagen etwas Bedenklich-Komisches. So oft man sie ansah,
mußte man leise den Mund verziehen. Aber dann platzte sie heraus und
glaubte, sie habe einen glänzenden Witz gemacht.

Nein, nein, wie deutlich ich dieses Kind doch vor mir sah!

Da war ein Läufer mit roten Streifen, der lief längelang durch das Zimmer.
Wenn sie sich an ihrem Grafen satt geträumt hatte und nicht mehr weiter
wußte, ging sie an den Schrank und holte ihr bestes Kleid, es war rosa, und
Lackschuhe heraus, mit breiten Seidenschleifen.

Es dauerte nicht lange, bis sie es an hatte. Sie guckte auch nur zweimal in
den Spiegel. Was man doch für ein Mädel war! Es war wirklich schad um
einen. Ja, ein bißchen schad war's schon.

Aber dann stellte sie sich ganz an das Ende des einen Streifens, raffte an
beiden Seiten den Rock hoch, daß die Füße in den schwarzen Strümpfen bis
zum Knöchel sichtbar waren und dann . . . dann balancierte sie auf dem
schmalen roten Streifen ganz vorsichtig durchs Zimmer . . . eins . . . zwei
. . . eins . . . zwei. Ganz vorsichtig und immer einen Fuß vor den andern
. . . . Um keinen Preis wollte sie von dem roten Strich abweichen, und sie
hielt den Atem an und sah ganz gespannt auf die schwarzen Schleifenschuhe.
Es war ihr bitter Ernst sozusagen. Denn wenn sie heftig ins Schwanken
geriet, dann mußte sie auflachen, als würde sie von jemandem -- wie
wahnsinnig gekitzelt. Fiel sie aber um, dann stieß sie sogar einen
richtigen Schrei aus, so daß Frau Vrany, die Wirtin, ganz erschrocken
hereingestürzt kam und sagte: »Aber Fräul'n, was hab'n S' denn? Möcht mer
doch grad mein'n, S'täten's schon am Spieß stecken. I hab mi ja am Tod
d'erschrocken.« Aber dann saß sie irgendwo am Boden, lachte als würde ein
Schlittengeschell wie rasend geschüttelt, wurde dann ganz ernsthaft und
sagte mit einer Miene, von der nur der liebe Gott wissen konnte, ob sie
echt oder falsch war: »I bin halt wieder runterg'fall'n, Frau Vrany; denken
S', nur drei Schritt noch von der Tür.« Und während sie das sagte, fuhr sie
einmal mit der Hand ganz schnell an ihrer stumpfen Nase vorbei, als gäbe es
da etwas abzuwischen. Aber das war natürlich gar nicht der Fall, denn als
Putzmacherin verkehrte sie ja schon seit einem halben Jahre mit den Damen
der besten Gesellschaft.

Daß es so ein tragisches Ende mit der Kleinen nehmen mußte! Ach, weiß Gott,
wenn sie auch eine Soubrette war, so war sie doch unschuldig wie eine
Apfelblüte. Da war Herr Werder, ein dicker rötlicher Clown an dem
Tingeltangel. Was denken Sie, was er eines Tages zu der Kleinen sagt?

»Nun, Fräulein,« sagt er eines Tages, »Sie werden ja jeden Tag dicker.
Jetzt können Sie schon bald die komische Alte spielen.«

Und was tut die Kleine? Sie geht nach Hause und stellt sich vor den Spiegel
und weint und weint und weint . . .

Zwei Tage später zogen sie sie aus der Donau.

Hole doch der Teufel diesen roten Clown.

                   *       *       *       *       *

. . . Ja, es war wirklich ein Erlebnis, in dem kleinen verlassenen Palast
dieser Soubrette zu wohnen! Ich habe mich selten so köstlich amüsiert,
obgleich ich doch häufig solchen Überbleibseln, oder soll ich sagen,
solchen Schatten begegnete. Diplomaten, Gelehrte, Bettler und Könige,
Diebe, Tapezierer und Fabrikanten, Bürgerfrauen, Dirnen, Heilige,
Marktweiber und Kupplerinnen, Trunkenbolde, Asketen, Schiffer, Matrosen,
Soldaten und amerikanische Milliardäre haben genau wie diese kleine
Soubrette Dodo mir ihren Schatten vermacht, und ich habe auf mancherlei
Weise nach ihrer Pfeife tanzen müssen, wenn es auch nicht immer so lustig
war und mit einem Kimono um die Schultern wie in dem kleinen Zimmer in der
Alserstraße.

Nein, weiß Gott, so lustig war es nicht immer. Was glaubt man denn, was
sich in der Brust vieler Menschen begibt?

Und doch, wenn ich es so recht bedenke, so war ich noch immer froh, wenn
sich auf diese Weise etwas in meinem Leben ereignete. Hatte ich dann nicht
wenigstens etwas, was mich ausfüllte, beschäftigte, was mich hinderte, die
ungeheure Leere zu entdecken, als die ich mir zuweilen selbst vorkam? Gibt
es denn etwas Entsetzlicheres als nichts zu sein? Lieber verkriecht man
sich noch hinter die Gebärden und Masken eines anderen. Und ist es nicht
besser, wenigstens noch etwas zu scheinen als ganz nichts zu sein, ein
wesenloser Schatten, ein Gespenst . . .?

Ja, ich war diesen Überbleibseln im Grunde genommen doch immer sehr dankbar
. . .

Na ja, ich sprach einmal mit einem Mediziner darüber: Es war ein berühmter
Arzt und ich lernte ihn auf dem Bahnhof einer kleinen russischen Stadt
kennen. Ich war gerade ganz ausgezeichneter Stimmung, denn ich war zwei
Stunden durch den Schnee über Land gegangen und der Himmel war so klar und
hell gewesen. Besonders ein Stern gerade vor mir, ach wie hatte der blau
gefunkelt. So rätselhaft zwinkernd kühl und blau, wie ja, . . . . seltsam
. . . . jetzt möchte ich fast glauben, er habe gelächelt wie das Frauenbild
da hinter dem eisernen Ofen an der Wand. Oder besser noch wie ihre Hände
da, hatte er gelächelt . . . Aber gleichviel; ich war in einer vorzüglichen
Stimmung und so erzählte ich denn dem Arzt die Geschichte von der
Soubrette. Aber ich erzählte es so, als sei es einem Freunde von mir
passiert, und ob das nicht sonderbar wäre.

Nein, das wäre nicht sonderbar, sagte der berühmte Arzt. Und dabei zog er
seine goldene Uhr heraus, klappte den Deckel auf und machte ein Gesicht,
als wolle er zu einem Patienten sagen: Ja, Sie haben noch zwölf Minuten zu
leben.

Nein, sonderbar sei das keineswegs; und dann nannte er auch irgendeinen
griechischen Namen, den ich nicht verstand. Das Wort erinnerte mich nur von
fern an Hippopotamos, und da erzählte ich ihm schnell die Geschichte von
einer Mumie, die ich mal in der Nähe von Gizeh gefunden hätte und die eine
auffallende Ähnlichkeit mit dem gegenwärtigen preußischen
Ministerpräsidenten gehabt habe.

Das sei allerdings sonderbar, sehr sonderbar, sagte der berühmte Arzt. Und
interessant sei es, ja außerordentlich interessant!

Wir schüttelten uns ganz herzlich die Hand, als wir uns trennten; wie gute
alte Freunde.

Die alte Mumie hatte uns entschieden einander erheblich näher gebracht.

                   *       *       *       *       *

Den 9. August. Nun bin ich wieder seit fünf Tagen in diesem alten Paris.
Hätte ich glauben sollen, daß diese Stadt noch einmal solchen Eindruck auf
mich machen würde? In spätestens vierzehn Tagen wollte ich nach dem Süden
gehen, in die Provence; aber wenn Paris fortfährt, mich mit seinem
berauschenden Zauber zu erfüllen, werde ich den ganzen Herbst und Winter
hindurch hier bleiben. Bis in den Frühling. Und wenn alles kommt, wie ich
es mir denke, wird nach all dem im Mai ein Landaufenthalt an den einsamen,
stillen masurischen Seen für mich das Richtige sein . . .

Aber Paris . . . Ist es ein Strom, eine Sonne, eine Nacht, Sturm,
Glockenbrausen . . .? Ach, alles ist es; Höchstes und Tiefstes. Auf dem
Lande trifft man keine zarteren Farben in den frühsten Tagen des Frühlings
. . . Und von welcher Mannigfaltigkeit diese Nächte.

Wie soll ich doch dieses seltsam berauschende Gefühl beschreiben, das mich
ergriffen hat, seit ich meinen Fuß auf das Pflaster dieser Stadt gesetzt
habe und in die Menge eingetaucht bin; das nun beständig und wie eine
unwiderstehliche Macht in mir aufwächst und fast meiner Herr wird. Ist es
mir nicht als wäre ich tief im Meer versunken? Fühle ich nicht das Lasten
ungeheurer weicher und starker Massen auf mir, ein Lasten wie von Seide und
dunklem Samt? Blaugrüne Wogen heben mich, wiegen mich. Ein Lichtstrom
rauscht beständig an meinen Augen vorüber, bald blendend in leuchtenden
Farben, bald gedämpft, in sterbenden Tönen; Nacht umfängt mich, und wieder
reißt es mich ins Gold des glühenden Gestirns. Ein ungeheures Brausen
umgibt mich; darin ein Auf und Ab von Tönen, hämmernde Akkorde, die von Not
aufschreien, dumpfe, die sich klagend ergeben. Aber hinter dem allen singt
und summt eine Melodie, die sich jetzt nähert, jetzt fern zurückweicht, die
niemals stirbt, aber die sterben möchte, die sich besinnt, sich
aufjauchzend zusammenrafft, wie mit Fäusten zupackt, Blöcke abwehrt,
beiseite wirft, und wie mit beständigem Schritt gefaßt ins Leben schreitet
. . . und wieder fern wird, sich senkt und verklingt und an schluchzenden
Gewässern sich hinwindet und fast verstummt.

Ja, das ist Paris . . . für mich. Ach, viel mehr ist es, -- es ist meine
Seele, meine Liebe, meine Leidenschaft . . . Ach, ich könnte ja glauben,
ich selbst bin es, ich selbst bin diese dunkle unergründliche Stadt . . .

                   *       *       *       *       *

Den 10. August. Ich will es nur gestehen: Das kleine Frauenporträt mit den
übereinander gelegten Händen und dem seltsamen Lächeln hinter dem eisernen
Ofen macht mir zu schaffen. Es erinnert mich an irgendwen, und ich quäle
mich, es herauszubekommen. Ich sehe es oft minutenlang an, oder drehe mich
ganz plötzlich weg, schließe die Augen und frage mich, wo ich dieses
Gesicht gesehen habe oder an wen es mich erinnert. Aber das Bild hält sein
Geheimnis fest. Ja, es ist mir zuweilen, als mache sich die Dame in dem
bräunlichen Rahmen noch obendrein lustig über mich.

Heute morgen kommt mir plötzlich der Gedanke, ich könnte ja Frau Labrouquet
fragen. Und wirklich, ich bin auch schon auf dem Weg zur Tür, als mir erst
einfällt, daß sie es ja gar nicht wissen kann. Wie soll um alles in der
Welt Frau Labrouquet wissen, an wen mich diese kleine Dame mit den
übereinandergelegten Händen erinnert? Werde ich es doch selbst kaum
herausbekommen. Schließlich ist es ja auch ganz gleichgültig. Vielleicht
erinnert sie mich an irgendeine Dame, die ich auf Trafalgar Square so und
so habe in den Omnibus steigen sehen, oder an die Bewegung einer jungen
Frau, die heimlich auf einem Mississippidampfer nach dem rotbraunen Hals
des Kapitäns blickte. Vielleicht bin ich ja auch nur einmal in einer Stadt
gewesen, die so aussah. Was liegt daran. Aber ich will gewiß nicht selig
sein, wenn es mir nicht einen Augenblick so war, als könnte Frau Labrouquet
meine Erinnerung auffrischen . . .

Da habe ich heute übrigens den Herrn in dem gelben Mantel und der
schottischen Mütze wieder getroffen.

Ich war wohl noch zehn Schritte vom Haus, als ich plötzlich seinen
verzwickten Schritt in die Türe hineinpurzeln sehe. War das nicht der Herr
in dem gelben Mantel? Richtig. Da sehe ich ihn vor mir die Treppe
hinaufgehen. Und was das Beste ist, wir sind Nachbarn. Als ich auf den
letzten Treppenabsatz komme, schließt er eben bei Frau Labrouquet die Tür
auf und tritt ein. Ich kann gerade sehen, wie das Zwickzwack seiner Beine
noch einmal übereinanderpurzelt und es gibt mir einen förmlichen Ruck, daß
ich fast über meine eigenen Beine stolpere.

                   *       *       *       *       *

Den 11. August. Na, ich wußte doch, daß es mit diesem Zimmer noch
irgendeine Bewandtnis haben würde . . . Ich hatte es doch von oben bis
unten umgekrempelt, daß kein Stück auf dem Platz geblieben war und die gute
Frau Labrouquet, Witwe, Augen gemacht hatte . . . nun, wie gesagt, Augen,
wie die geschiedene Blissot, als das mit dem Sparkassenbuch herauskam. Ja,
sie hatte schon selbst ganz fest an das Sparkassenbuch geglaubt und war
jetzt ganz empört und überrascht, daß es plötzlich nicht da sein sollte.

Ja so. Es hatte trotz alledem nicht seine Richtigkeit mit dieser Kabine von
einem Zimmer. Da brauchte man, weiß Gott, keine feine Nase zu haben. Der
Herr Kunstkritiker mit der ewigen Zigarre und der »anerkannten Feder« war
allerdings erledigt. Nein, für die Presse brauchte man jetzt nicht mehr zu
schreiben, und von Linienführung und Flächenwirkung und mimosenhafter
Zartheit und wie all diese Ausdrücke heißen, war auch keine Rede mehr.
Aber, aber . . . da war doch jemand, mit dem ich das Zimmer teilte, das war
doch so klar. Ich hatte doch immer so ein leises Gefühl an den Schultern,
ähnlich dem, wenn man ein wenig friert. Es konnte nicht lange dauern, bis
es herauskam. Nein, Gott sei Dank, heute nachmittag geschah es. Die
Gewißheit ist mir doch immer lieber als dieses ungeduldige Ist-es,
Ist-es-nicht.

Da hatte ich mich eben fertig zum Ausgehen gemacht. Ich halte die Mütze
noch in der Hand und lege gerade die Hand auf das kalte Metall des
Türdrückers. Plötzlich fühle ich ihn. Er steht da drüben vor dem Spiegel
und dreht mir den Rücken zu. Er beugt sich ein wenig seitwärts und fährt
mit dem hoch erhobenen rechten Arm in den Ärmel seines Überziehers hinein.

Und während ich lausche, höre ich ganz deutlich wie er ganz erschreckt
sagt: »Ob sie noch da ist? Mein Gott, wenn sie mich eines Tages verlassen
hätte . . .«

Aha, denke ich, jetzt soll ich eine Liebesgeschichte zu hören bekommen. Ein
kleines Drama wird sich abspielen. Immer sind es doch die Weiber . . .

Und während ich durch die schon abendlichen Straßen gehe, denke ich an die
Liebe. An die Liebe mit sechzehn, mit zwanzig, mit fünfundzwanzig, mit
dreißig und mit vierzig Jahren. Aber der mit sechzehn gebe ich den Vorzug.

Liebe mit sechzehn Jahren! Woher kamst du? Da ist plötzlich ein mattgrauer
Schimmer zwischen den abendlichen Straßen, ein weiches Zerfließen der
milchweißen Wolken um die frühe Sichel des Mondes und unser Auge steht voll
Tränen. Irgendein Schmerzlich-Süßes-Wehes zieht in unser Herz ein und füllt
es mit der Erinnerung alter Tage. Alle unsere Glieder sind von einer
wohligen Müdigkeit befallen, in der alle Gedanken hinrinnen und in der
jenes unruhig-ruhevolle Glück in uns einzieht, nach dem wir uns nach Jahren
noch sehnen, sehnen.

Liebe mit sechzehn Jahren liegt nachts auf frischen Wiesen unter Sternen
und läßt das Auge auf dem Mondlicht über jungen Buchen träumen.

Liebe mit sechzehn Jahren blickt den mondhellen Fluß hinunter und hört im
Rauschen der Wellen süßere Stimmen als Violinen und Harfen. Ein dunkler
Kahn zieht über silberne Fluten und der Glaube zieht ihm entgegen, und
hofft ein Glück, so weit und so unermeßlich wie ein Königreich in den
Märchen.

Ist es nicht schade, daß Liebe mit sechzehn Jahren so bald stirbt, daß mit
den Jahren diese Träume verschwinden und uns nicht mehr besuchen? Sieh
diesen blauen Blick, mit dem jene Sechzehnjährige dem Versinken der Sonne
im Meere folgt. Sie hat die Hände übereinandergelegt, kleine schmale
Kinderhände, wie zu einem Gebet an einen über den Wolken, sie hat das Haupt
ein wenig zurückgelehnt und zwei blonde Haarsträhnen weht ihr der Abendwind
leicht in die Stirn. Sieht nicht so das Glück aus?

Ja, was mich betrifft, ich gäbe alle Weisheit und alle gescheiten Einfälle,
ich gäbe Ansehen, Stellung, Amt, und besonders alles, was Bildung heißt,
alles, alles gäbe ich jetzt dahin für einen einzigen, dieser unsagbar süßen
Träume der Jugend. Ich weiß, wenn die Leute alt werden, lächeln sie über
diese schwärmerischen Ekstasen. Sie begreifen nicht, daß man stundenlang
auf einer taufeuchten Wiese unter Sternen liegen mag, um an ein Paar blaue
Augen und einen blonden Kopf zu denken und an nichts als dies. An Augen,
die vielleicht einer kleinen und sehr dummen Musikschülerin gehören, die
einen nie gesehen hat, und die für einen Lehrer mit einem schwarzen
Schnurrbart und seidenen Taschentüchern schwärmt.

Warum glauben wir Erwachsenen doch immer, es zeuge von Vernunft und
Reifsein, wenn man keine platonischen Fensterpromenaden mehr macht,
sondern, mit Verlaub zu sagen, sich recht bald, nachdem man die
Bekanntschaft einer jungen Dame gemacht hat, nach einer passenden
»Gelegenheit« umblickt?

Was mich betrifft, so bedaure ich wirklich sehr, nicht mehr so dumm sein zu
können, wie mit 16 Jahren; denn mit dieser Dummheit begann auch jenes
unnennbar grenzenlose Hoffen, jenes unermeßliche Ahnen von etwas Kommendem
zu entschwinden, das die Jugend so reich, so reich macht, daß selbst der
ungeheure Besitz eines Petroleum- oder Eisenbahnkönigs dagegen nur ein
totes, wertloses Nichts ist.

                   *       *       *       *       *

Den 12. August. Also, mein scheinbar so verrückter Einfall mir bei Frau
Labrouquet, geschiedenen Blissot, Rat zu holen über das verteufelte
Frauenzimmer da hinter dem eisernen Ofen war gar nicht so absurd! Wer weiß,
vielleicht hat man das kleine Fräulein Foujeu, spätere Blissot und noch
spätere Labrouquet, Witwe, als sie noch in die 57. Gemeindeschule ging,
doch einmal mit der Gioconda bekannt gemacht. Oder wer kann wissen, warum
es eines Tages dem kleinen Laufmädel Mimi Foujeu wünschenswert erschienen
ist, etwas von Raffael di Urbino und Lionardo da Vinci zu wissen.
Vielleicht ist sie zu diesem Zwecke doch zwei oder dreimal im Louvre
gewesen, obgleich sie die »alten Heiligen« immer recht schrecklich fand und
nachts von ihnen träumte.

Nein, das ist nun wahr; wenn sie etwas erreichen wollte und es sich in den
Kopf gesetzt hatte, dann war Fräulein Foujeu eine genau so energische
Person wie noch heute die gute Frau Labrouquet, Witwe, die doch nun bereits
seit zwei Stunden am Schlüsselloch steht, um endlich einmal festzustellen,
was es denn mit ihrem neuen Mieter für eine Bewandtnis habe. Ich muß mir,
weiß Gott, irgend etwas für sie ausdenken. Stellen Sie sich doch nur vor,
zwei Stunden mit gekrümmten Rücken dastehen und dabei noch beständig den
kühlen Luftzug, der durch das Schlüsselloch auf das Auge strömt . . . Das
beste ist, ich schieße meinen Revolver ab. Oder nein. Vielleicht küsse ich
einmal das Bild da hinter dem Ofen; das könnte sie ausgezeichnet durchs
Schlüsselloch beobachten. Ja, ja, das werde ich tun. Ich werde die Gioconda
küssen, als wäre sie meine Angebetete . . .

So . . . jetzt ist das kleine Fräulein Foujeu doch noch auf seine Kosten
gekommen . . .

Ja, man hätte mir die sieben Foltern androhen können, und ich wäre hier
nicht auf die Gioconda gekommen. Zufällig entdeckte ich heute das Bild im
Louvre.

Aber es ist mir auch gar nicht so unerklärlich, daß ich das Bild hier nicht
erkannt habe, trotzdem es eine recht gute Reproduktion ist. Wie um alles in
der Welt denkt man hier an eine Gioconda? In so einem Zimmer, das doch auch
schon zu galanten Zwecken benutzt wurde -- ja, weshalb eigentlich
»galanten«? Nein, das verstehe wer will. -- Wie ist man hier auf eine
Gioconda vorbereitet! Hier wünscht man eine »Susanne« zu sehen, oder die
nackten Göttinnen vor Herrn Paris oder wenn etwas Gemüt dabei sein soll,
ein »Allein«, ein »Endlich-Allein« oder noch besser ein »junges Glück« in
einem vergoldeten Rahmen.

Ja, »junges Glück«, das würde hierher passen, viel besser zum mindesten als
die Gioconda, auf die man, wie gesagt, nicht vorbereitet ist und deshalb
nicht erkennt. So ist es doch. Wenn ich, sagen wir, Herrn Roosevelt, ohne
davon in den Zeitungen gelesen zu haben, urplötzlich auf dem Rücken eines
Elefanten oder mit einem erbeuteten Gorilla auf der Schulter am Kongo
getroffen hätte, wie um alles in der Welt, hätte ich da den großen
Staatsmann, der er doch zu Hause sicherlich ist, erkennen sollen? Selbst
wenn ich, wie es ja leider nicht der Fall ist, sein bester Freund wäre?

Madonna Gioconda in ihrem bräunlichen Rahmen, der mich an alte Kontore
erinnert, lächelt unergründlich. Ich glaube, wenn man das Bild und die Frau
lange ansehen könnte, würde sie zu leben beginnen. Ich kann es so deutlich
fühlen, wie die Konturen ganz leise im Bilde erzittern würden. Und könnte
sie nicht die übereinandergeschlagenen Hände aufheben, um einen mit einer
Geste zu berühren, unter der man schaudern würde, wie unter dem Gedanken
einer mütterlichen Blutschande?

Es ist so seltsam mit diesen furchtbaren Händen. Man weiß nicht, werden sie
Himmlisches tun oder Tierisches. Und wenn Tierisches, werden sie nicht,
indem sie es tun, es auch heilig sprechen? Und müßte man nicht den Wunsch
haben, sie zu küssen, auch wenn sie Lasterhaftes getan hätten? Ich meine
das so, wenn sie an einem lebenden Weibe wären.

Eigentlich ist es ein furchtbares Bild. Ich werde es von jetzt ab nicht
mehr ansehen.

Aber was rede ich mir denn ein? Haben meine Bedenklichkeiten vor diesem
Bilde mit der Entdeckung, daß es die Gioconda des Lionardo ist, auch nur um
einen Deut abgenommen? Diese Ähnlichkeit war es also nicht? Also eine
andere? Aber welche, welche? Es ist mir doch als erinnerten mich diese Züge
. . .

Ach, an alle erinnern sie mich, an alle . . .

Mögen sie mich doch erinnern, an was und an wen sie wollen und meinethalben
an Frau Labrouquet, die geschiedene Blissot.

                   *       *       *       *       *

Den 13. August. Der gute Herr, da hinten vor dem Spiegel, der sich ein
wenig links beugt und mit erhobenem rechten Arm in das Ärmelloch fährt, ist
der vollendetste Narr, den ich je gesehen oder erlebt habe. Wann mag er nur
hier gewohnt haben? Ob es lange her ist?

Die Liebe hatte ihm in ganz erheblichem Maße den Kopf verdreht. O ja, in
sehr erheblichem Maße kann man sagen. Liebte er etwa ein Weib aus Fleisch
und Blut? Oder liebte er ein Weib aus Holz und Öl? Allewetter, dieser junge
Mann hatte Talent. Wissen Sie, in wen er verliebt war? So gehen Sie in die
Salle carée im Louvre und betrachten Sie dort das Frauenporträt von
Lionardo da Vinci! Ach, Sie müssen nicht glauben, daß es ein schlechter
Witz von mir ist. Wenn dieser Mensch nicht von dem glühendsten und
wahnsinnigen Wunsch gepeinigt wurde, Madonna Gioconda an sich zu reißen,
wie nur je eine Dame in einer verschwiegenen Ecke, so will ich nicht selig
sein. Aber ich möchte auch elf gegen zwei wetten, daß es keine Dame aus
Holz und Öl war, die dem armen Tropf so traurig das Oberste zu unterst
kehrte.

                   *       *       *       *       *

Den 14. August. Was sich doch in so einem kleinen Zimmer, sogar bei einer
Witwe wie Frau Labrouquet zuweilen für Tragödien abspielen.

Da sollte man nun glauben, die großen Ereignisse fänden alle vor einem
Parkett von Zuschauern und unter dem Mikroskop der öffentlichen Meinung
statt. Aber nein. Hier hinter einem Tisch mit einer roten Decke, hinter
zwei verstaubten Gardinen und sozusagen hinter einem eisernen Ofen, ist der
Schauplatz der ernstesten Vorgänge. Die Kopie nach der Gioconda ist
offenbar ein Erbstück des armseligen Schattens, der mir seine Aufwartung
macht. Er hatte sich nichts Geringeres in den Kopf gesetzt als das Original
aus dem Louvre zu stehlen.

Der arme Tropf! Wahrscheinlich verwechselte er es mit seiner Angebeteten.
Er stellte sich eine heimliche Entführung im Automobil vor, und dann wollte
er es -- -- ja, wie war es gleich? Ich habe es wieder vergessen. Ich
glaube, er wollte es hinter einen Spiegel nageln, oder als Rücken in einen
Schrank einlassen. Ich weiß es nicht mehr genau.

                   *       *       *       *       *

Den 15. August. Bei allen approbierten Heiligen! Jetzt ist es heraus. Ich
habe mich gröblich getäuscht. Der Gelbe ist es! Der Gelbe hat den sauberen
Plan aus der Westentasche seines Gemüts geboren. Die Sache wird also ernst,
haha! Er wird die Gioconda stehlen! . . .

Ja, aber wie -- wie weiß ich es denn? Was kümmern mich auf einmal meine
Nachbarn, bis jetzt waren es doch immer nur meine Vorgänger? Unsinn. Was
zerbreche ich mir darüber den Kopf. Als ob mich die Sache aufregte. Die
Gioconda stehlen! Nun, ebenso gut könnte er sich ja in den Kopf setzen, den
Eiffelturm vom Champs de Mars wegzuschleppen oder das Ministerium mit Herrn
Delcassé.

Sich auszumalen, daß es eines Tages in den Zeitungen hieße: Die Gioconda
gestohlen! Man braucht sich doch nur das vorzustellen, um einzusehen wie
verrückt dieser Plan ist.

Die Gioconda gestohlen! Das wäre wahrhaftig ein Spaß. Das käme mir beinahe
vor als wollte einer alle Frauen auf einmal aus der Welt schleppen.

Ja, so käme es mir wahrhaftig vor. Er soll es nur versuchen, er soll es nur
versuchen . . .

Ich schäme mich fast, es mir selbst zu gestehen, aber wahr ist es: ich kann
ihn begreifen, in seinem seltsamen Wahnsinn und ich glaube, daß es vielen
so geht. Ich habe mich schon beobachtet, daß ich vor dem Bilde stehe und zu
mir selbst sage: Ich liebe dich, Gioconda. Ich könnte es wahrhaftig
flüstern wie man ein lange zurückgehaltenes Liebesbekenntnis für sich
flüstert. Aber ich habe ja meine gute Vernunft, die mir sagt, es ist ein
Bild. Gott sei gepriesen für diese Vernunft!

Der arme Kerl tut mir leid; was wird er sich alles anrichten. Pfui Teufel
. . . und dabei ist er ein Grundehrlicher . . . Man muß wirklich Gott
danken, daß man nicht so von Sinnen ist wie er.

Denn das ist er. Was hat er sich nun obendrein für einen Unsinn in den Kopf
gesetzt. Jetzt will er wissen, daß der Kunsthändler Duval in der Rue de
Rome einen Dolch aus rötlichem Stahl besitzt.

Nun, ich weiß nicht, ob es rötlichen Stahl gibt, und vielleicht besitzt
Herr Duval ja auch einen solchen Dolch. Aber wie um alles in der Welt kann
es ein Dolch aus rötlichem Stahl sein mit der Aufschrift: Tibi Gioconda?
Und nicht genug, er kapriziert sich darauf, daß der Dolch aus den
toledanischen Werkstätten und eine Arbeit aus dem 14. Jahrhundert sei.

Nun, wir werden ja sehen. Dieser Mensch ist ein vollkommen Irrsinniger oder
ich will nicht selig sein.

                   *       *       *       *       *

Den 16. August. Wie der Mensch sich selbst belügen kann! Ich glaube, es
gibt sogar Menschen, die lügen sich ihre ganze Existenz vor. Also da
versuche ich mir nun einzureden, daß mich die Sache mit dem Diebstahl
nichts angeht, daß sie mich nicht im mindesten aufregt und daß ich ihr so
gleichgültig zuschaue wie ein langjähriger Abonnent dem 21. Tode der Maria
Stuart. Und dabei hat mich doch sofort eine unerklärliche, heiße Angst
befallen, die mir fast die Kehle schnürte und mich die ganze Nacht durch
Paris trieb.

Und wie ich es auch anstellte, welchen Weg ich einschlug, nach Norden,
Osten, Westen, Süden, immer stand ich zuletzt vor dem Portal des
Louvre-Museums, gerade als müßte ich achtgeben, daß niemand die Gioconda
fortschleppt. Nun, aber ebensogut könnte ja auch einer mit der Venus von
Milo am Arm die Rue de Rivoli hinuntergehen.

Jetzt denke ich doch schon erheblich ruhiger über den Fall. Wie töricht ist
es doch auch, sich über das Unmögliche aufzuregen.

Ich sollte mir lieber Gedanken darüber machen, wie die Liebe ihm so den
Kopf zerstücken und zerflicken konnte.

Daß es aber auch kaum einen Mann gibt, dem nicht der Knüppel Weib zwischen
die Beine fällt. So oder so. Der eine bleibt an einem Dienstmädchen hängen
oder an einer Gouvernante und der andere stolpert sozusagen über die
Idealität des Weibes.

Ja, was dies betrifft, so sind schon mehr Männer als man glaubt daran
zugrunde gegangen.

Aber, wer zum Teufel, heißt sie denn auch beim Weibe die Erfüllung der zehn
Gebote suchen. »Du sollst nicht lügen.« Nun, bei allen Aufrechten, ich habe
weder jemals ein Weib gesehen, das nicht lügt, noch wünsche ich es je zu
sehen. Ein Weib, das nicht lügt, ist uninteressant, und ein Weib, das die
Wahrheit sagt, langweilig. »Du sollst nicht lügen.« Das ist wie alle
Du-sollst eine Bequemlichkeitsvorschrift. Die Faulheit hat sie gemacht.
Diejenigen haben sie aufgestellt, die zu dumm waren und fühlten, daß sie
echt und unecht nicht von sich aus unterscheiden konnten. Da gaben sie
jedem Ding erst seinen umständlichen Stempel: Dies ist Gummiarabikum und
dies ist Nitroglyzerin. Wer nun einem Nitroglyzerin unter die Nase hält und
sagt, es sei Gummiarabikum, der ist »unsittlich«. Wie lächerlich ist das
doch.

Mögen die Männer immerhin sittlich sein. Die Frauen sind mir zu gut dazu.
Wer will denn einen abgerichteten Star im Käfig haben? Und ist es -- ja bei
Gott -- gibt es eine größere Freude, als einer Frau hinter etwas zu kommen!
Hinter ihre Schliche oder womöglich hinter ihr -- Bewußtsein!

Wenn man von den Frauen die Erfüllung der zehn Gebote verlangt, nimmt man
ihnen dann nicht alle Hintergründe? Sehen Sie nur diese Gioconda! Haha, der
alte da Vinci ist mein Freund! Er glaubte und liebte wie kein anderer die
Hintergründe des Weibes, diese unergründlichen Hinter- und Abgründe, durch
die man hinauf- und hinabstürzt ins Herz der Natur und zuweilen in das
Grauen der Welt. Kann man es etwa ansehen dieses Bild, bis zu Ende ansehen?
Nun, den will ich sehen, dem dabei nicht schwindlig wird. Es ist wahrhaftig
kein besonderes Vergnügen ins Nichts, ins Ewig-Leere, ins Unbegrenzte
hinunterzugondeln. Einen Halt muß der Mensch doch haben, einen Glauben; und
sei es auch nur Halt und Glauben an einem Laternenpfahl.

Mich wundert es nicht, wenn es auch größeren Geistern vor dem Rätsel Weib
schwindlig wird. Nun, natürlich größeren Geistern. Kleine werden ja nie
schwindlig, sie gehen immer sicher und schwindelfrei auf dem Bürgersteig
der öffentlichen Sittlichkeit. Mit einem »du sollst« rechts und einem »du
sollst nicht« links, legen sie ihren Lebensweg anständig und honett zurück
und legen sich sogar gut abgebürstet ins Grab, wo sie mitsamt ihrer
Sittlichkeit verwesen.

Aber die andern! Ja, ich sah manchen auf dem Weg nach seiner Heimat selbst
in diesem elektrisch beleuchteten Jahrhundert Irrfahrten machen, die hinter
denen des Odysseus nicht zurückstanden, und ein neuer Homer, mein' ich,
brauchte nicht unter die Arbeitslosen zu gehen. Aber Odysseus hatte doch
schließlich und endlich zu Hause eine Penelope, die treu war. Oder? Oder
sollte das nur -- ein Märchen sein? Ein Märchen, mit dem der große Dichter
sein großes griechisches Kind einwiegte und in Schlummer sang? Wollte er
auch zum Glauben an Treue verführen? Mußte er auch einmal hinter alle
Hintergründe eine letzte Kulisse schieben, weil ihm sonst schwindelte?

Nein, nein, ich halte es lieber mit meinem alten Lionardo!

O du Prophet des Unglaubens! . . .

Aber ganz leicht muß es doch nicht sein, so ganz ohne die Rechenmaschine
»Gut und Böse« auszukommen. Ich selbst darf mich allerdings nicht beklagen.
Ich habe einen so wetterfesten Humor mitbekommen, daß ich gegen alle
regnerischen Überraschungen der Frauen gefeit bin. Ich habe noch ein
Gelächter im Zwerchfell, wo andere schon nach Mord und Selbstmord schielen.

Einmal bekam ich einen Brief, indem sie mir schrieb, sie wolle mir bis ans
Ende der Welt folgen. Und das war keine Lüge. Hätte ich geschrieben:
»Komm«, sie wäre gekommen. Aber trotzdem stand in einem Nachsatz: »P. S.
Ich habe hier übrigens einen Rechtsanwalt wieder getroffen, den ich im
letzten Winter auf einem Ball kennen lernte.«

Na -- es war so klar; sie betrog mich. Aber ich war ganz begeistert über
diese Mitteilung. Ich hätte gar nicht hinfahren brauchen, um mich zu
überzeugen. Es war mir geradezu, als ob in dem Brief stünde: Liebster, ich
betrüge Dich, herzlichen Gruß Deine Dich treu und ewig liebende Margarethe.

Ach, ich kann ja gar nicht sagen, wie begeistert ich war!

Aber ich fuhr natürlich doch hin, ging auf den Herrn Rechtsanwalt, als er
an ihrer Seite daher kam, zu und schlug ihm eins, zwei den Hut vom Kopf.
Trotz meiner Begeisterung.

Ja, so ist man.

Und die Sache nahm noch ein viel fröhlicheres Ende. Denn trotzdem sie mich
brutal genannt hatte, kam sie doch am Abend zu mir ins Hotel und hatte ihr
bestes Kleid angezogen. Nun, da wußte ich ja Bescheid. Aber in dem Hotel
konnte ich nicht bleiben. Wir mußten umziehen. Denn dort hätte uns ja
niemand geglaubt, daß wir ein legitimes Recht auf ein Zimmer mit zwei
Betten hätten. Das wollte sie nämlich diesen Abend unbedingt.

Wenn man sagt: Selbst in der vornehmsten Dame steckt eine kleine Göre, die
noch gern einmal eine Nase schneidet und die Zunge herausstreckt, -- so
glaubt alle Welt, man wolle sich über die Frauen lustig machen.

Eine Dame sagte einmal ganz empört darauf zu mir: »Vielleicht auch in der
Königin von England?« »Warum nicht?« sagte ich, »ich will nicht hoffen, daß
die Engländer von einer Gouvernante regiert werden.« Darauf drehte sie mir
den Rücken zu und ging stracks davon. Das tat sie aber nur, weil sie so
prachtvolle Schultern hatte. Ja, prachtvolle Schultern und einen
geschmeidigen, freien Gang. Ich mußte ihr ganz berauscht nachblicken. Und
sie fühlte auch wohl, daß sie Eindruck auf mich gemacht hatte, denn sie
blickte sich nicht ein einziges Mal um.

Später wurden wir übrigens noch gute Freunde und sie war furchtbar verliebt
in mich. Und dann sagte sie mir auch einmal, daß ich ganz recht hätte mit
der kleinen Göre, die noch eine Nase schneidet, aber damals hätte sie es
furchtbar geärgert. Es sei auch arrogant, so etwas zu sagen, aber jetzt, wo
sie mich hätte, wäre ihr auch das egal. Ach, sie war ein reizendes
Geschöpf, so klug und falsch wie kaum eine.

Ich verlor sie übrigens zuletzt durch eine Dummheit. Ich küßte nämlich
eines Tages halb aus Langerweile, halb aus Torheit in ihrer Gegenwart eine
Kopie der Venus von Giorgone, die bei mir an der Wand hing. Das sei die
größte Beleidigung, die man einer Frau antun könne! Und das sagte sie mit
dem erbittertsten Gesicht von der Welt. Als ich ihr aber vom Fenster
nachsehe, bemerke ich, daß drüben ein Wagen für sie hält, in dem bereits
ein Herr sitzt, der auf sie wartet.

Zwei Tage marterte ich mich mit dem Gedanken, was sie wohl gemacht hätte,
wenn ich nicht auf den dummen Einfall gekommen wäre, das Bild zu küssen!
Denn da hatte sie nun recht: schlimmer kann man eine Frau ja gar nicht
beleidigen.

Ja, aus ganzem Herzen unterschreibe ich, was Herr Tackeray sagt:
»Unparteiische, logische und streng gerechte Frauen! Gott bewahre uns
davor! Wenn die Frauen diese Eigenschaften hätten, würde die Menschheit
vergehen, und die Erde würde zu einer Wüste.«

Penelope ist doch weiß Gott kein Ideal! Odysseus wird es noch oft beklagt
haben, nicht bei der rätselhaften Zauberin Circe geblieben zu sein. Aber
wahrscheinlich wollte es die Weltanschauung der Griechen so, daß der Mann
bei dem treuen Weibe enden muß, daß er nach allen Irrfahrten die Treue in
der Heimat und die Heimat in der Treue findet.

Ja, ja die Griechen . . . .

                   *       *       *       *       *

(Anmerkung des Herausgebers: Es dürfte den Leser interessieren zu wissen,
daß das folgende Stück im Manuskript mit wesentlich veränderten
Schriftzügen geschrieben ist. Der Zusammenhang dieses Absatzes mit dem
Voranstehenden ist zwar nicht recht deutlich, aber ich glaubte, ihn
trotzdem mitabdrucken zu müssen. Vielleicht findet dieser oder jener doch
einen inneren Faden, der von dem übrigen Inhalt zu diesen Sätzen
hinüberleitet.)

                   *       *       *       *       *

. . . Und dann eines Tages litt es mich nicht mehr. Ich wollte gehen und es
ihr sagen.

Ich war stundenlang durch die Wälder gegangen und hatte an jedem Baum
gesagt: Ich liebe dich. Sie war ganz in meinen Gedanken. Es war, als flösse
ihr Wesen mit meinem Blut schimmernd in meinen Adern. Auch nicht die
geringste Regung eines Gefühls gehörte nicht ihr, war nicht sie.

Ach, ihr Menschen von heute, könnt euch solche Liebe nicht denken, ihr
glaubt ja nur an Liebe, die nachläuft, die sich erklärt, die heiratet. Für
den Florentiner und seine Liebe zur Simonetta habt ihr doch nur ein
Lächeln.

Aber als er dort an der Brücke stand und Beatrice unter den Frauen
vorüberging, da war es, als sei alles Glück, aller Rausch und Seligkeit
dieser Welt in dieses eine gewaltige, glühende Herz gegossen. Der Schein,
der aus jenen Augen brach, schuf an ihr die Schönheit der Frauen kommender
Jahrhunderte . . .

Wenn sie durch die Straßen schreitet oder ihre Schönheit in Sälen zeigt,
wenn die Menschen sich nach ihr umwenden, ist mir, als bewunderten alle
mein Werk. Ich habe sie gelehrt, sich so zu tragen mit diesem königlichen
Anstand, ich habe sie ihren stolzen Gang, das Neigen ihres Hauptes, das
Heben ihrer Hände gelehrt . . . .

Ich liebe dich!

Du bist mir wie ein Gebet in der Kirche. Seit ich dich kenne, bin ich
wieder fromm wie ein Knabe. Es gibt einen Gott, es gibt eine
Unsterblichkeit, es gibt Ewigkeit. Es gibt wieder alles, was es als Kind
gab: Geborgensein, Ruhe, Stille. Meine Liebe hüllt mich wie in eine
duftende goldene Wolke. Ich bin wie verwandelt.

Ich liebe dich.

Ich will nicht vor dir niederknien und dir keinen Thron errichten. Für den
Himmel bist du mir zu gut. Ich will dich wie du bist, mit allen deinen
Menschentugenden und Menschenfehlern, mit deinen rätselhaften Schönheiten
und deinen schönen Rätseln.

Ich liebe dich.

                   *       *       *       *       *

Den 18. August. Dieser vertrackte Kerl! Er macht mir weiß Gott zu schaffen.
Sie werden sehen, daß er mit der Gioconda ernst macht. Er bestimmt sich
obendrein Zeit und Ort und Stunde und führt den Diebstahl aus, wie es ihm
paßt.

Ich habe es doch heute gesehen. Kam nicht alles, wie er es vorausgesagt
hatte? Wort für Wort? Von dem rötlichen Stahl angefangen bis zu dieser
mysteriösen Inschrift: Tibi Gioconda?

Von halb fünf ab hielt ich mich bereit. Ich wollte doch sehen, was es denn
mit dem Dolch für eine Bewandtnis hätte. Genau zur festgesetzten Zeit --
meine Uhr zeigte 13 Minuten bis fünf -- stand er auf, nahm seine Mütze und
ging. Ich ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen und folgte ihm
unbemerkt. Immer sah ich seinen gelben Mantel auf der Straße zwischen den
Passanten auftauchen. Es war leicht, ihn im Auge zu behalten. Übrigens
konnte man am Schritt sehen, wie sicher er seiner Sache war. Er ging gar
nicht aufgeregt, sondern ganz ruhig und zielstracks geradaus.

Fünf Minuten nach fünf legt er die Hand auf den Drücker der Ladentüre und
tritt ein. Herr Duval steht sechs Schritte von ihm entfernt und betrachtet
eben eine Wedgewood-Schüssel. Er grüßt, geht auf den Kunsthändler zu und
sagt: »Sie besitzen einen Toledaner Dolch. Aus rötlichem Stahl. Eine Arbeit
aus dem 14. Jahrhundert. Nicht wahr?«

Der kleine graue Mann rückt an seiner goldenen Brille, sieht ihn etwas
verdutzt an und sagt: »Nein, mein Herr, einen solchen Dolch habe ich nicht;
aber vielleicht ist Ihnen mit einer anderen, einer italienischen Arbeit
gedient? Ich habe . . .«

»Nun, erinnern Sie sich nur. Der Dolch trägt die Aufschrift: Tibi
Gioconda.«

»Aber, wenn ich Ihnen doch sage . . .«

»Ich versichere Sie, Herr Duval . . .«

»Ha, ha, Sie versichern mich! Sehr gut, sehr gut. Nein ich versichere
Ihnen, mein Herr, ich versichere Ihnen . . .«

»Herr Duval, Herr Duval«, schreit plötzlich aus der hintersten Ladenecke
eine Stimme: »Wir haben sie . . . Wir haben sie . . .«

Herr Duval entschuldigt sich plötzlich und rennt zwischen all seinen
Möbeln, Leuchtern und Spiegeln nach dem hinteren Ende des Ladens: »Wen
denn? Wen habt ihr denn?« ruft er.

»Die Truhe, Herr Duval . . . Sehen Sie nur, da stand sie, hinter dem
Louis-seize. Mein Gott, ist sie dreckig, voller Staub!«

Herr Duval ist keiner von jenen modernen Verkäufern, die immer nur Geschäft
sind und wie Automaten aussehen. Sein Geschäft ist sozusagen ein
Appartement seiner Wohnung, ein Teil seiner Familie. Wer in sein Geschäft
kommt, der kommt in seine Familie und nimmt an deren Leiden und Freuden
teil.

Herr Duval kommt also mit einer halbgroßen, ganz verstaubten Truhe, die ihm
ein Lehrling mit schwarzen Haaren und einem Sommersprossen besäten Gesicht
tragen hilft, wieder nach vorne und beginnt gleich zu erklären:

»Endlich also, endlich haben wir ihn, den Ausreißer. Denken Sie nur, mein
Herr, vier volle Wochen versteckt sie sich hinter einem
Louis-seize-Spiegel. Ich dachte schon, jemand hätte sie gestohlen. Diesen
Bengel da hatte ich weiß Gott in Verdacht. Ich hatte mich schon an die
Polizei gewendet. Wo sollte sie denn geblieben sein? Nun, jetzt haben wir
sie! Ja, ja. Interessieren Sie sich für Renaissancestickereien? Geben Sie
acht; hier haben wir nämlich einen der kostbarsten Erzbischofsmäntel, die
je angefertigt wurden. Ach, Sie werden staunen, mein Herr, welch eine
kostbare Arbeit, welch' eine Arbeit!«

Und während er das sagt, hat Herr Duval die Truhe sorgfältig von allem
Staub gereinigt und entnimmt ihr jetzt vorsichtig und fast mit einer
gewissen Andacht einen großen kostbar gestickten Erzbischofsmantel aus
schwerem Goldbrokat.

»Sehen Sie, das ist eine Arbeit! Und wie erhalten, was? Als käme er eben
aus den zarten Fingern der Goldstickerinnen. Sehen Sie nur, sehen Sie. Die
Farben sind ein wenig geblaßt. Aber das gibt dem Golde einen intimen, ich
möchte sagen, herbstlichen Reiz, nicht wahr? Ja, einen herbstlichen Reiz,
das kann man wohl sagen. Oder erinnert es Sie mehr an unseren Pariser
Frühling?

Ach, Sie können ihn ja so nicht sehen. Georges, stelle dich einmal
hierher.«

Und er hängt dem sommersprossigen Jungen den Erzbischofsmantel so über
seinen kurz geschorenen Kopf, daß von dem Bengel überhaupt nichts mehr zu
sehen ist. Aber der Mantel schleift noch am Boden.

»Oder haben Sie Lust, sich einmal selbst als Erzbischof zu sehen? Haha, Sie
werden sich gut darin ausnehmen mit Ihrer Habichtsnase. Entschuldigen Sie.
Sehen Sie so -- so. Und nun betrachten Sie sich einmal im Spiegel. Ich sage
es ja, nur die Mütze fehlt. Sie sind ein geborener Erzbischof, mein Herr.
Schnell, Georges, unsere Mütze und den Bischofsstab . . .«

Plötzlich aber schlägt der als Erzbischof Verkleidete den Mantel, der innen
mit brennend roter Seide gefüttert ist, zurück und hält dem Kunsthändler
einen langen Dolch aus rötlichem Stahl entgegen.

»Sehen Sie, Sie besitzen ihn doch, Herr Duval.«

»Mein Gott, mein Gott, was ist das, was ist das! Wie kommen Sie zu dem
Dolch? Wie . . .?«

»Ich fand ihn eben hier in der Innentasche des Mantels.«

Der kleine Kunsthändler tritt unwillkürlich um einen Schritt zurück, sieht
den als Erzbischof vor ihm Stehenden befremdet an und sagt ganz kleinlaut
und erschreckt:

»Aber mein Herr, ich versichere Sie, ich wußte nichts, ich wußte in der Tat
nicht das geringste von diesem Dolch. Ich kann es beschwören. Ich sehe ihn
zum erstenmal in meinem Leben. Lassen Sie einmal sehen, lassen Sie sehen.
Bei der Jungfrau, es ist eine toledanische Arbeit. Eine wundervolle
toledanische Arbeit aus dem 14. Jahrhundert. Genau wie Sie es sagten. Aber
das ist doch das Seltsamste, was ich erlebt habe. Wie wußten Sie, mein
Herr? Ach, Sie haben ihn selbst mitgebracht? Aber nein, wie werden Sie denn
Ihren eigenen Dolch kaufen wollen. Und hier ist ja auch die Aufschrift:
Tibi Gioconda. Ganz deutlich. Mein Gott, genau wie Sie es sagten!«

»Ich biete Ihnen 150 Frcs. für den Dolch«, sagt der unheimliche Mensch, der
noch immer im Ornat vor dem erschreckten Kunsthändler steht. »Wollen Sie
ihn dafür geben?«

Sie werden einig und gleich darauf verläßt der Gelbe den Laden. Herr Duval
aber steht noch in der Türe, sieht ihm nach und sagt immer wie zu sich
selbst und in seinen grauen Bart hinein: Das verstehe ich nicht, nein, das
ist seltsam, das verstehe ich nicht . . .

Um 5 Uhr 17 Minuten waren wir wieder zu Hause, gerade eine halbe Stunde
waren wir fort gewesen.

                   *       *       *       *       *

Den 19. August. Was soll nun noch unmöglich sein. Er wird die Gioconda und
mit ihr alle Rätselhaftigkeit in seinen Besitz bringen, genau zu der
Stunde, zu der er es bestimmt hat. Und trotz allen Einwendungen der
Vernunft wird es in allen Zeitungen und auf den Straßen ausgerufen werden:
die Gioconda gestohlen!

Eine unerklärliche, heiße Angst hat mich befallen. Er aber ist ruhig wie
ein Stein. Und mit welch bewunderungswürdigem Instinkt er den Zeitpunkt des
Diebstahls ausgesucht hat. Es ist als hätte er den Blick in die Zukunft.
Woher weiß er, daß bei der Ablösung der Wachen diesmal ein Irrtum
vorkommen, daß der eine Wächter abgerufen wird, und so der Saal sechs
Minuten lang ohne Aufsicht bleibt?

Ich frage mich ja vergeblich, woher ich dies alles weiß!

Oft fühle ich mich mit ihm verwandt, so als flösse dasselbe Blut in unseren
Adern. Und doch wieder bin ich ihm fremd. Nicht so fremd und auf jene Art
wie einem irgendein beliebiger Mensch fremd ist, dem man irgendwo begegnet,
der einen um Auskunft bittet oder nach einer Straße frägt, sondern wie
einem der Bruder fremd ist. Oder wohl gar wie die Mutter, so unheimlich
fremd. Das läßt sich nicht beschreiben. Aber alle diejenigen kennen es, die
vielleicht als Kind gesehen haben, wie ein Mann einen begehrenden Blick
über die Gestalt der Mutter gehen ließ, und wie die Mutter diesen Blick
leise und ohne es zu wissen, zurückgab. Ach, wie kann da ein Knabenherz in
seiner Einsamkeit erschrecken und auffahren. Und wie fremd kann da eine
Mutter werden. Fremder als Gott, den man noch nie gesehen hat, der aber
doch immer so ist, wie man ihn glaubt. Eine begehrte Mutter aber ist so
fremd und schaudervoll rätselhaft wie die dunklen Augen eines Hundes, der
sich herrenlos auf den Straßen herumtreibt und der einen des Abends
plötzlich aus der Dämmerung anstarrt wie das Nichts, so niederschmetternd
und überwältigend.

Ich selber bin bei guten Sinnen und weiß, daß die Rätselhaftigkeit, das
Grauen, das mich aus diesem schrecklichen Bilde anblickt, Geburt meines
Hirns, meiner Augen ist. Ich weiß, daß sie ohne mich tot ist, tot in ihrem
Rahmen und Holz und Farbe. Aber er, der armselige Unsinnige! Ist er blind?
Er glaubt, sie lebt. Er glaubt, daß er all ihre Rätselhaftigkeit an sich
bringen muß zu ewigem Besitz oder vielleicht sogar zu ewiger Zerstörung. Er
fühlt ein Leben in diesen verräterischen Augen, diesen furchtbaren Lippen,
diesen entsetzlichen, grauenhaften Händen. Und das Leben dieses Bildes
peitscht und zerfleischt ihn, bringt ihn außer sich und treibt ihn umher.
Es bleibt ihm nur das eine: sich selbst zerfleischen oder -- sie besitzen.
Besitzen wie ein Weib aus Fleisch und Blut, das man Brust an Brust an sich
reißen, pressen und umschlingen kann.

                   *       *       *       *       *

Den 20. August. Gott sei uns gnädig! Diese Nacht noch und alles ist
vorüber. Er wird alle Rätselhaftigkeit der Gioconda an sich bringen und
alles wird seine toten, sicheren, gleichgültigen Gleise gehen.

O, warum sitze ich hier und lege die Hände in den Schoß und stelle mich
nicht vor die Tat und ihn? Warum halte ich dem Mörder den Arm nicht fest,
ehe er zustößt? Denn Mord ist dies doch, nicht wahr? Ach viel mehr! Ist es
nicht, als reckte jemand die Hand aus, das Heiligtum der Welt zu schänden?
Als risse jemand die Sonne vom strahlenden Tag, um einen unförmigen
Lehmklumpen dafür aufzuhängen? O Gott . . .

Und doch; lebt nicht in uns allen diese furchtbare Begierde, Tempel zu
schänden und Götter zu verhöhnen? . . .

                   *       *       *       *       *

(Zwei Stunden später) O, wie soll ich doch das ertragen! Welchen Anteil
habe ich denn an diesem Diebstahl? Welche Gewalt besitzt er über mich?
Warum bleibe ich denn? Warum sehe ich dem allen so zu, obgleich ich es
verabscheue, ihn verabscheue . . .

Ach, ich will es nur gestehen, so erbärmlich es ist, aber helfe mir Gott,
nicht ich bin es, den man dafür verantwortlich machen muß: ich _will den
Diebstahl_. Ja, ich will ihn, auch ich, das ist mir nun klar.

Und doch ist es mir auch wieder furchtbar, dem allen so zusehen zu müssen.
Ja, es ist mir trotzdem, als sollte ich der Hinrichtung meiner eignen
Kinder zusehen und könnte auch nicht einen Finger heben, dem Henker Einhalt
zu tun.

O, dürfte ich doch aufwachen, und alles wäre ein Traum. Es muß ja ein Traum
sein: ganz so wehrlos, so machtlos fühlt man sich ja nur im Traum, wenn man
eingeschnürt liegt wie in einem Schraubstock, gefoltert von furchtbarer
Angst und die Gefahr nun immer näher und näher kommt und einen jeden
Augenblick schon erreichen muß. O ja es muß, es kann nur ein Traum sein,
aus dem es ein Erwachen gibt, in dem alles nicht war . . .

Fünf Uhr morgens. Wie gräßlich, wie entsetzlich war dies! O, keine Nacht
mehr wie diese. Lieber den Tod. Nun steht das Bild hier dicht hinter der
Wand und ich bin von allem Zeuge gewesen und weiß, wie alles sich
zugetragen hat. Und mir ist, als wäre ich selbst der Dieb; die Furcht vor
Entdeckung hat mich gefaßt und ich zittre wie ein Mörder, der angstvoll die
Spuren seiner Tat zu verwischen sucht, der ermüdet und erschöpft in
Halbschlaf fällt und sich plötzlich blutbesudelt und blutbefleckt im Traum
erblickt.

Ach, nichts ist mir erspart geblieben. Ich wachte hier in meinem Zimmer die
ganze Nacht. Ich sah, wie er die Mütze nahm und ging, ich sah ihn in den
Straßen, vor den hellen Scheiben der Restaurants und den dunklen Nischen
der Hauseingänge. Er war wie ein Schlafwandler, still und ruhig. Und wie er
eindrang! Er fand wie ein Blinder den Weg und tappte im Dunkeln. Jeden
seiner Schritte hörte ich, wie die Schläge meines pochenden Herzens. Ich
wollte schreien, aber die Zunge klebte mir dorrend am Gaumen.

Es legte sich wie eine knöcherne Hand um meine Kehle. Ich konnte keinen
Laut hervorbringen. Aber mein Gehör wurde scharf wie das eines Wächters. O,
wie furchtbar scharf wurde es doch! Ich hörte den bröckelnden Gips auf den
Boden fallen und die dumpfen Schläge mit dem Hammer, ich hörte sogar das
Knirschen des Meißels an den eisernen Klammern und ich sah die raschen
gewandten Griffe, die das Bild von der Wand rissen; hastige, knochige
Hände, unter denen die Mauer aufbrach. O, ich bebte und zitterte; ich
fieberte wohl vor Furcht. Ich legte das Gesicht auf den Tisch und weinte
wie ein Kind.

Auf einmal wurde mir ganz leicht und frei zu Mute. Ich erinnerte mich an
vieles, was mich einmal entzückt hatte. Ach, an tausend Dinge, an Blumen
und Vögel, an ein Paar kleine Mädchenhände und an ein Liebeslied nachts
über einem Fluß. Aber das dauerte nicht lange. Denn plötzlich klang ein
dumpfer Laut an mein Ohr und ich erschrak zu Tode. Es war sein tappender
Schritt auf der dunkeln Treppe! Ich hielt den Atem an und lauschte, wie die
Schritte immer näher und näher kamen. Und dann konnte ich auch bald einen
anderen eigentümlichen Ton hören, es war das Scharren des gestohlenen
Bildes, das bei jedem Absatz an den stumpfen Stufen der Treppe aufschlug.

                   *       *       *       *       *

Den 23. August. Wann werde ich endlich lernen, mich nur um meine eigenen
Sachen zu kümmern und mich nicht in die Angelegenheiten anderer
einzumischen!

Da habe ich mich nun über Dinge aufgeregt, die mich weiß Gott nichts
angehen. Bin ich denn der Präsident der Schönen Künste oder wer sonst
seinen Posten verlieren wird, weil da ein leerer Platz an der Wand ist?
Weil da ein Stück Holz so hoch, so breit und so lang und mit Ölfarbe
bestrichen, weggekommen ist? Denn mehr ist es doch nicht, auch wenn es von
Leonardi da Vinci angestrichen wurde.

Aber stellte ich mich nicht an, als würde ein lebendes Wesen ermordet, als
habe es weiß Gott welche Bewandtnis mit dem Bilde! Kann ich denn nicht bei
dem bleiben, was die Dinge sind, Holz und Farbe und ein bißchen Firnis, und
muß ich immer etwas dahinter suchen?

Und welche Dummheit von mir, mich obendrein Hals über Kopf in diese Reise
auf diesem alles eher als komfortablen Dampfer zu stürzen! Was geht es mich
an, wo er mit seinem grauen Paket unter dem Arm hin will. Mag er doch mit
seiner Angebeteten anfangen, was er will; mag er sie ins Meer werfen. Habe
ich mich darum zu kümmern?

Das alles hätte ich mir vor fünf Tagen sagen sollen, als es noch Zeit war.
Als ich die Geschichte kommen sah, hätte ich abreisen sollen. Aber jetzt
ist es zu spät. Jetzt bleibt mir nichts als die Schiffsgefangenschaft in
Gesellschaft mit unseren liebenswürdigen Damen und unseren
unliebenswürdigen Herren Passagieren abzusitzen.

Jetzt ist es sogar noch ein Glück, daß er mit an Bord ist. Denn sobald
dieser verwegene Mensch unter uns erscheint, gibt es Unterhaltung,
Geschichten, Anekdoten die Hülle und Fülle. Der Zufall hat gewollt, daß wir
die Kajüte teilen, und wir schlafen übereinander, er unten, ich oben.

Wir verstehen uns übrigens ausgezeichnet, trotzdem ich eigentlich ihm
gegenüber immer ein wenig befangen bin wegen des Bildes. Aber er gibt sich,
als wäre nichts in der Welt geschehen, was ihn beträfe und als gäbe es das
graue Paket, das er ganz ruhig an die Wand gestellt hat, gar nicht.

Zuweilen sehe ich ihn vor dem Paket stehen, und dann hat sein Gesicht
geradezu etwas besonders Ruhiges, Zielbewußtes. So, als dächte er bei sich:
ich weiß ganz genau, was ich mit dir mache, sobald wir ganz draußen auf dem
Meere sind, nehme ich dich und werfe dich über Bord.

Sonst ist er ein über und über humorvoller Bursche; zuweilen ist seine
Lustigkeit vielleicht ein wenig gezwungen, aber dann kann er so befreiend
lachen, daß selbst der Geheimagent sich angesteckt fühlt und einmal seine
Wichtigkeitsmiene verzieht.

Nein, ich habe doch nie einen Menschen mit einer so ausgelassenen und
bizarren Phantasie gesehen.

Weil ich über ihm schlafe, nennt er mich nur den »Ober«. Und von sich
selbst spricht er nicht anders als von dem »Unter«.

»Herr Ober,« sagt er, »bringen Sie mir etwas Erfrischung, es ist eine
gottsjämmerliche Hitze. Sind wir schon am Äquator oder macht mir der
höllische Seelenwurm zu schaffen? Sorgen Sie für Zerstreuung, hören Sie,
oder lassen Sie uns zu den Oberflächlern gehen. Ja, kommen Sie, lassen Sie
uns auf Deck gehen, die Damen ein wenig zu unterhalten und die Herren zu
ärgern. Besonders diese kleine deutsche Spitzmaus, die sich so verdient um
die Erforschung der Diphthonglaute im Altpersischen gemacht hat.«

Und es kommt wohl vor, daß er sofort seinen Entschluß ausführt, hinaufgeht
und mit dem Erforscher der Diphthonglaute im Altpersischen eine
Unterhaltung beginnt.

Na, die Sache nimmt etwa folgenden Verlauf:

Der Erforscher der Diphthonglaute steht eben an der Reling, blickt auf die
See hinaus und hat die Hände über den Rücken gelegt. Von Zeit zu Zeit macht
er mit dem Kopf eine kleine ruckartige Bewegung nach hinten, bei der man
sonderbarerweise jedesmal auf seine spitze Nase aufmerksam wird. Und das
Ganze sieht so aus, als bekäme er plötzlich Achtung vor sich selbst, fühlte
viele Augen auf sich gerichtet und würfe sich nun ein wenig in Positur, um
der Welt einen würdigen Gelehrten zu zeigen. Es sieht sehr komisch aus, ein
bißchen muß man sich aber auch darüber ärgern.

Wir treten von hinten an ihn heran und sprechen ihn an. »Guten Tag, Herr
Doktor.« Der Erforscher der Diphthonglaute dreht sich um, legt den Kopf mit
der spitzen Nase ein wenig auf die Seite und streckt uns die Hand mit einem
Ausdruck hin, als wolle er sagen: Ich kondoliere Ihnen, meine Herren; seien
Sie meiner Teilnahme sicher. Sie haben das Unglück, mit einem verkannten,
edlen Menschen zu sprechen, der es nicht verdient, daß man ihn in der
Abgeschiedenheit seiner Größe, die nur ihm selbst bewußt ist, verkommen
läßt.

Der Gelbe tut, als merke er nicht, daß es dem Erforscher der Diphthonglaute
heute an Selbstachtung fehlt, und daß er Mitleid betteln geht.

»Denken Sie, prächtig habe ich geschlafen,« fährt er ganz unvermittelt los.
»Wissen Sie, ich fühle mich jetzt so kräftig, daß ich Sie ins Meer werfen
und wieder herausholen könnte. Was? Ich wachte auf wie eine Sprungfeder.
Augen auf und raus. Und Leben vom Scheitel bis zur Sohle. Ich nahm den
Eichenschrank an der Kapitänstüre und setzte ihn mit einem Ruck auf die
andere Seite. Und dabei war ich doch gestern abend verdrießlich wie ein
Kakadu. Ich hatte mich wohl über etwas geärgert. Aber als ich einschlief,
merkte ich schon, daß heute alles besser sein würde. Ich fuhr nämlich, ehe
ich einschlief, eine Zeitlang mit der Chaiselongue in der Eßkajüte herum.«

»Na, na, Sie,« sagt der Diphthongforscher dazwischen und lächelt ein wenig
vorwurfsvoll.

»Ach, Sie sind besorgt, daß die Beine dabei abbrechen könnten. Nein, das
ist nicht der Fall. Wissen Sie, ich fuhr ja gar nicht.« Und jetzt dämpft er
seine Stimme ein wenig, sieht dem Doktor scharf in die Augen, als wolle er
da etwas herbeiholen und sagt mit immer leiser werdender Stimme: »Nein, ich
hatte ja nur so ein Gefühl. Wissen Sie, ein Gefühl, als führe ich mit der
Chaiselongue ganz langsam -- es gab nur einen ganz unmerklichen Ruck, wie
es anfing -- ganz langsam zuerst und dann immer schneller und schneller im
Zimmer herum, über die Treppe aufs Deck hinauf, hier vorbei, zurück, die
Treppe wieder hinunter, quer durchs Zimmer und plötzlich durch das letzte
Kajütenfenster hinaus . . . gerade aufs Meer . . .«

»Und dann . . .?«

»Und dann . . .?«

»Ach so, ja. Aber sagen Sie nur: Wie konnten Sie denn mit der Chaiselongue
durch das Kajütenfenster, das ist doch viel zu eng?«

Auf diese Weise macht er sich beständig über die Herren, lustig, und ich
stehe dabei und ersticke fast an meinem Gelächter. Den Geheimagenten fragt
er immer wieder, ob noch keine Nachricht von der Gioconda da ist, und den
deutschen Doktor Berger hat er schon dreimal die Geschichte von seinem
Besuch beim Ohrenarzt und seinem äußerst feinen Gehör erzählen lassen.

»Hörten Sie nicht eben einen Schuß, Herr Doktor?«

»Einen Schuß?«

»Ja, einen Schuß. Ganz scharf und in der Ferne, aber doch sehr deutlich
hörbar. Schon wieder! Hörten Sie diesmal?« Nein, er habe nicht gehört, sagt
Herr Doktor Berger, neigt den Kopf ein wenig seitwärts und lauscht
angestrengt.

»Ich habe heute wieder meinen Tag, an dem ich schlecht höre.«

»So, Sie hören schlecht?«

»Nein, eigentlich nicht. Ich höre sogar sehr gut. Erzählte ich Ihnen nicht
schon, was mir der Ohrenarzt sagte . . .«

Nein, er habe nichts erzählt.

»Das ist nämlich sehr interessant; ich ließ mich einmal von dem bekannten,
Sie wissen, dem bekannten Professor Hegenbarth in London, einer unserer
ersten Ohrenärzte überhaupt, -- er hat seinerzeit auch die Prinzessin
Klotilde von Anhalt-Bernburg behandelt, die später den Leutnant Bohlen von
den 13. Husaren in Mainz heiratete . . .«

Und nun erzählt er weitschweifig und umständlich mit allen Einzelheiten von
seinem Besuch bei dem berühmten Ohrenarzt, der ihm gesagt haben soll, daß
sein Gehör durchaus normal, ja mehr als das, sogar äußerst scharf und
schärfer sei, als ihm je eines in seiner Praxis vorgekommen sei.

»Hörten Sie den Schuß?« schreit ihm der Gelbe plötzlich ganz laut ins Ohr.

»Einen Schuß?«

»Ja.«

»Nein, den hörte ich nun nicht . . . Aber Sie können sich denken, was das
heißen will: das schärfste in seiner ganzen Praxis! Der Mann übte
fünfundzwanzig Jahre seine Praxis aus. Also da können Sie schon sehen. Ja,
mein Gehör ist ganz vorzüglich, ganz vorzüglich.«

Das sei ja sehr interessant. Übrigens habe er schon mal von einem ähnlichen
Fall gehört, sagt der Gelbe. »Und dann« -- fährt er unvermittelt fort --
»kannte ich in Königsberg einmal einen Herrn, aber das wird Sie gewiß
interessieren -- da war ein Herr, der konnte im Theater, gleichviel welchen
Platz er hatte, ganz deutlich verstehen, was irgendwo im Parkett oder in
den Logen gesprochen wurde. Ein ganz unheimlicher Mensch! Wissen Sie, er
hörte ganz deutlich, was sich die Leute zuflüsterten, und wenn es auf der
letzten Galeriereihe war. Na, Sie können sich denken, was der für Sachen
erzählen konnte . . . .«

»Ach nein . . .«

Doch, da sei z. B. mal ein Stück gegeben worden, in dem ein brutaler
Genußmensch geschildert wurde. Ein ausgezeichnetes Stück übrigens und eine
famose Charakteristik. Im zweiten Akt sei eine Szene gekommen, in der sich
ein junges leidenschaftliches Mädchen dem Genußmenschen an den Hals
geworfen habe. Plötzlich habe der Herr gehört, wie die Frau des
Polizeipräsidenten zu ihrem Mann in der Loge gesagt habe, so ein
gräßlicher, unsympathischer Mensch sei ihr wahrhaftig noch nicht
vorgekommen; das sei ja geradezu abscheulich. »Am anderen Tage -- denken
Sie nur -- am andern Tage wurde das Stück verboten. Wegen unsittlicher
Tendenz. So was, nicht wahr?« Na, und was sich so die Liebesleute im
Theater erzählten . . .

Das müsse doch sehr interessant sein, meinte Herr Dr. Berger.

»Na, ich sage Ihnen. Da konnte der Herr nun Sachen erzählen. Besonders,
wissen Sie, aus der guten Gesellschaft. Was die sich alles zu sagen hatten;
das kann man beinah gar nicht wiedererzählen. Ich möchte Ihr Ohr wahrhaftig
nicht verletzen . . .«

»Aber bitte, bitte, das ist ja sicher sehr interessant«

»Interessant ist es schon. Ja, denken Sie nur, da war zum Beispiel einmal
ein Paar, eine junge, elegante Witwe und ein Offizier von der Garde. Eine
chike Sache sozusagen. Viele dachten sich ja wohl, daß die beiden ein
bißchen toll wären. Aber denken Sie nur. Da wurde Hamlet gegeben; plötzlich
sagt doch die junge Witwe mitten in der Totengräberszene dem Offizier ins
Ohr, sie wolle einmal auf einem Friedhof . . . im Mondschein . . . Ach, das
kann ich Ihnen ja gar nicht erzählen. Wie? Adieu, Herr Doktor, Adieu.«

Der Erforscher der Diphthonglaute macht noch ein paar hastige Schritte,
hinter uns her, geniert sich aber und bleibt ganz verwirrt stehen.

Huh, wie heiß es ihm doch geworden ist.

Na, den übrigen geht es ja nicht viel besser. Heute wollte er sogar eine
Wette mit mir abschließen, daß es ihm gelingen werde dem Schauspieler
Grunwald binnen einer Stunde siebzehn Zitate aus Shakespeare und Oskar
Blumenthal aus der Nase zu ziehen. Ich bin überzeugt, er tut es, trotzdem
ich ihm die Wette verweigert habe.

Und ohne daß der gute Herr Grunwald etwas ahnt, wird er sich von ihm
Komödie ohne Honorar und ohne Lorbeerkränze vorspielen lassen.

Gestern, während er in der Kajüte schlief, erzählte ich die Sache übrigens
den Damen.

Ich sagte, ich habe einmal einen Menschen gekannt, der sei so und so
gewesen und habe die Leute aufgezogen wie die Uhren. Ein englischer
Geistlicher in der Nähe von Liverpool.

Alle waren empört über so einen Menschen. Das sei ja furchtbar gemein. Ja,
gemein, sagten sie. Da müßte man ja immer fürchten, zum besten gehabt zu
werden. Ein Mensch sei doch keine Marionette, die man am Seil tanzen lassen
könne wie man wolle.

Ja, die Damen waren alle außerordentlich erregt über so etwas. Besonders,
da ich dummerweise den Versuch machte, den englischen Geistlichen zu
entschuldigen, indem ich sagte, vielleicht sei es ein Mensch gewesen, der
unter den Mechanischen im Leben sehr gelitten und sich auf diese Weise
hätte Luft machen wollen.

Das wollten die Damen aber nicht verstehen.

Am meisten griff das Gespräch wohl Frau Sturi an; sie bekam sogar ganz
hektische, rote Flecken auf den Backen und fiebrische, feuchtglänzende
Augen. Sie sah so sehr häßlich aus, aber irgend etwas zwang sie wohl zu
bleiben; denn obgleich sie mehrmals sagte, das könne man gar nicht mit
anhören, blieb sie doch, gerade als warte sie darauf, daß noch mehr kommen
solle.

Wenn ich übrigens die Augen recht im Kopfe habe, so ist da etwas zwischen
ihm und Frau Rosenborg, der dänischen Schauspielerin. Sobald sie ihn sieht,
wird sie geradezu schön, während sie sonst leicht ein bißchen alt und krank
aussieht. Aber dann hat sie plötzlich den Zauber einer jungen Frau, die
schön ist und es weiß, und beim Lachen zeigt sie die ganze Reihe ihrer
wundervollen, weißen Zähne. Dann blühen ihre Wangen. Sie hat rötliches
glänzendes Haar und einen geschmeidigen, leichten, graziösen Körper. Weiß
oder lila kleidet sie am besten, ein Lila, das nach dem Rosaroten hin geht.

Sie ist immer elegant gekleidet. Gestern aber, weil es regnet, hat sie ein
graues Lodenkape umgehängt und kommt damit auf Deck. Ich sitze gerade da
und denke, was nun aus der Gioconda werden soll. Dabei sehe ich, wie er
Frau Rosenborg eben bemerkt hat und auf sie zugeht. Und wirklich, sie
lächelt ihm auch schon entgegen und will gerade die Hand unter dem Kape
freimachen, um sie ihm entgegenzustrecken. Aber als er herangekommen ist,
sieht er sie nur wie flüchtig an und geht, die Hände auf dem Rücken, an ihr
vorüber.

Da bleibt sie ganz erstaunt stehen und ruft: »Nanu -- Sie kennen mich wohl
gar nicht, wie . . .?«

Und was sagt er? Indem er höflich die Mütze abzieht und sich verbeugt und
ihr die Hand küßt, sagt er: »Verzeihen Sie mir gnädige Frau -- ich dachte
gerade an Sie.«

Da geht es wie ein Leuchten über ihre Züge und sie sieht ihn mit einem
jener Blicke an, die uns Männer verrückt machen können. Ach, wie heiß es
doch sei; und sie wirft mit einem Ruck das Kape von den Schultern und nimmt
den Arm, den er ihr anbietet.

In Wahrheit ist es aber gar nicht heiß, sondern es ist kühl und regnet, und
sie hat ein leichtes Spitzenkleid an, das der Regen verdirbt.

                   *       *       *       *       *

Den 24. August. Es ist nicht zu begreifen, wie dieser Mensch so ruhig sein
kann. Weiß Gott, ich zittere mehr wie er. Ich komme an unsrer Kabine
vorbei, sehe die Tür offen und das Bild in dem grauen Packpapier ruhig an
die Wand gelehnt. Der Geheimagent braucht nur hineinzugehen und einen
Streifen abzureißen, dann kann er ihn auf der Stelle verhaften lassen. Aber
dabei sitzt er oben auf Deck bei den Damen, plaudert als ob nicht das
geringste geschehen wäre, als ob es weder Geheimagenten noch was an Bord
gebe. Nun, es braucht nicht jeder ein Feigling zu sein wie ich, der ich
beinah aufgeschrien hätte, als ich endlich die Apfelsine in der Hand hielt.
Aber seine Gelassenheit regt mich doch auf. Bis hierher kann man die Damen
zuweilen über seine verdammten Späße lachen hören. Es ist ja, als könne er
überhaupt kein ernstes Wort mehr sagen und sei jeder weicheren Empfindung
bar. Manchmal glaube ich, dieser Mensch spielt überhaupt mit uns allen, er
hält uns alle halbwegs für komische Figuren. Und sich selbst wohl gar auch.

Dabei haben die Damen ihn doch alle miteinander gern. Ernsthaft verlieben
würde sich wohl so leicht keine in ihn. Ihr Instinkt sagt ihnen, daß hier
nichts zu holen ist. Höchstens könnte Frau Rosenborg ihre wundervolle
Neugierde ein wenig gefährlich werden. Einige fürchten ihn ein bißchen,
denn es zeigt sich, daß er hinter ihren geheimsten Gedanken her ist. Sogar
Frau Rosenborg, die sicherlich die Überlegenste in dem ganzen Kreise ist,
hat, wenn sie darüber nachdenkt, oft ein Gefühl, als hätte er immer auf das
geantwortet, was sie gedacht hat, aber nicht auf das, was sie gesagt hat.
Arrogant, ein wenig arrogant finden ihn alle. Besonders Frau Sturi. Na, wie
er die aber auch hat abblitzen lassen. Das war schon vor zwei Tagen:

Er steht wie immer in dem gelben Paletot und der schottischen Mütze auf
Deck, hat die Arme auf dem Rücken gekreuzt und blickt ganz starr weit auf
das Meer hinaus. Auf einmal kommt Frau Sturi die Treppe herauf, sieht ihn
stehen und geht auf ihn zu.

»Sie warten wohl auf jemand,« sagt sie, denn es ist 12 Uhr und alle sitzen
schon beim Lunch.

Ja, er warte auf jemand. Aber dabei bleibt er, ohne sich umzublicken, die
Hände auf dem Rücken, stehen und fährt fort auf das Meer hinauszusehen.

Auf wen er denn warte, alle seien doch schon unten?

Da aber dreht er den Kopf zur Seite, sieht sie fast träumerisch und
lächelnd zugleich an und sagt: »Auf mich. Ich warte auf mich. Frau Sturi.
Auf mich!«

Frau Sturi erzählte die Sache nachmittags in dem kleinen grünen Teezimmer.
Sie war noch ganz empört. Ob das nicht eine maßlose Frechheit sei, eine
ganz maßlose Einbildung und Arroganz!

Ja, das fanden sie nun allerdings alle, wenn sie ihm auch nicht gerade so
böse sein konnten deswegen.

Nach einer Weile aber, während der alle schwiegen, sagte Fräulein Gabler
mit ein wenig schüchterner Stimme: eigentlich brauche das gar nicht
arrogant zu sein. Man könne sich doch auch etwas anderes dabei denken. Und
dabei sah sie sich etwas scheu unter den Damen um, ob jemand sie vielleicht
verstände.

Aber die Damen verstanden sie nicht und fanden, daß es eben nur arrogant
sei und nichts darüber.

»Nun, was man sich denn noch anderes dabei denken könne?« frug schließlich
Frau Sturi. Aber da wurde Fräulein Gabler verlegen. Sie versuchte sich zu
erklären, aber die Worte fehlten ihr und sie wurde sogar ein wenig rot.

Zum Glück nahm Frau Rosenborg sich ihrer an und gab dem Gespräch eine
andere Wendung.

                   *       *       *       *       *

Den 25. August. Zum Teufel auch, wie sehr sind unsere jungen Damen zu
beneiden! Eine Verbrechergeschichte an Bord, eine Seereise mit dem Diebe
der Gioconda! Es flüstert hier und es flüstert dort. Ich sehe ja, daß alle
es wissen.

Ha, das ist eine Situation für mich!

Da wird von den gleichgültigsten Dingen gesprochen; alle machen so
unschuldige Gesichterchen wie Liebende, die sich eben hinter einem Zaun
geküßt und geküßt haben, und denen nun noch die ganze hübsche Geschichte
der letzten fünf Minuten auf Haupt und Haar geschrieben steht. Haha, und
wenn sie an einem vorbei sind, da geht ein Getuschel, ein Getuschel los und
die junge Dame wird sogar noch ein bißchen rot, wenn sie eine gute
Kinderstube gehabt hat. Aber gar der junge Mann wie armselig-köstlich sieht
er aus mit seinem mutig-schlechten Gewissen und seiner geküßten kleinen
Sünde da an der Seite.

Ja, genau so ist es jetzt bei uns. Überall, in jedem Eckchen und jedem
Winkel sieht man so ein Pärchen stehen, das leise und ach, mit so
neugierig-klugen Augen miteinander tuschelt und flüstert und fragt, bis
irgendein Dritter vorbei kommt, von dem man »noch nicht weiß«, und der dann
nichts weiter zu hören bekommt, als ein unmerklich lauteres: »Ja, es soll
mich mal wundern, was daraus wird!« Oder das Meer hat plötzlich »eine so
prachtvolle Farbe, wie Smaragd, ja _wie_ Smaragd«. Und man sieht hinaus
aufs Meer mit Augen, die sich gar nicht satt sehen können, während die
Ohren doch nur dem abnehmenden Schall der vorübergehenden Schritte
lauschen. Schon dreimal habe ich heute gehört, daß das Meer »_wie_ Smaragd«
sei. Na, kann etwa nicht jeder an einem Gespräche darüber teilnehmen daß
das Meer wie Smaragd sei? Nur das »wie« müßte nicht so stark betont werden,
da merkt man ja wohl, daß es gar nicht so sehr auf das Meer ankommt.

Es ist wirklich famos, daß wir so viele junge Frauen an Bord haben. Was
bekommt man doch überall für ein prachtvoll verheucheltes Lächeln zu sehen,
wenn man irgendwo hinzutritt. Frau Rosenborg muß man sehen; wie prachtvoll
lügt sie; was sage ich, vom Kopf bis zu Fuß ist sie plötzlich eine einzige
glänzende Lüge. Hände, Haltung, die Lippen, die Mienen, alles an ihr lügt
plötzlich, verschweigt, vertuscht, lenkt ab, spielt die große Komödie der
Unbefangenheit! Sogar die Augen machen eine ganze Weile diese Komödie mit,
bis sie auf einmal aus der Rolle fallen und sagen: Gauner, du alter Schurk,
du -- weißt du es nun oder weißt du es nicht?

Ha, und wie famos frech lachen einem diese glänzenden Augen ins Gesicht!

Aber um Gottes willen nicht davon sprechen; kein Sterbenswörtchen . . .
Nein, das würde ja den ganzen Spaß auf einmal verderben!

Wie ein Lauffeuer hat sich die Geschichte über das ganze Schiff verbreitet.
Überall brennt und flackert die rote Neuigkeit; aber niemand weiß natürlich
von etwas! Gott bewahre!

Wem verdanken wir diese Neuigkeit? Fräulein Holm, dem reizenden Fräulein
Holm. Der Agent war ja gleich verschossen in sie über beide Ohren. Das will
nun ein Agent sein!

Fräulein Holm hätte das Geheimnis zu gern für sich behalten. Aber so nah
wie sie mit Frau Rosenborg seit drei Tagen befreundet war. Nein, das ging
nicht. Aber gleich nachdem sie es gesagt hatte, tat es ihr wieder leid.

Eigentlich wußte man doch gar nicht, ob man sich schon so nahe stand!

Bei Frau Rosenborg war die Sache natürlich ganz anders. Sie sagte kein
Sterbenswörtchen -- aber wer mit ihr gesprochen hatte, der wußte genug.
Frau Rosenborg sagte es nämlich gewissermaßen zwischen den Zeilen und »wenn
man wüßte« . . . und »ich weiß nichts«. Und bei »ich« zog sie die Schultern
hoch und lachte komisch. Den Rest sagten die Augen. Verteufelt freche
Augen, ganz verteufelt freche Augen . . .

Aber die Sache ist jetzt die, daß eigentlich niemand recht weiß, wer zu den
Eingeweihten gehört und wer nicht. Alle betrachten sich ein wenig
mißtrauisch und sehen einander beim Sprechen auf die Lippen, als könnten
sie es da erfahren.

Aber welch' ein Leben herrscht doch auf unserem Schiff, seitdem dieses
öffentliche Geheimnis die Segel der Neugierde schwellt.

Nur die älteren Damen mit ihren Handarbeitstäschchen und ihren Fußbänkchen,
sie unterhalten sich nach wie vor von ihren Siebensachen, von ihren
erwachsenen Söhnen und ihren verheirateten Töchtern, und entdecken bei
dieser Gelegenheit wohl gar, daß sie miteinander verwandt sind. Oder zu
mindesten haben sie gemeinsame Bekannte, die ihnen womöglich bei einer
solchen Entdeckung in einem ganz neuen Licht erscheinen.

Aber die Augen auf, meine Damen, die Augen auf! So alt sind Sie denn doch
noch nicht, daß es Ihnen nicht später ein ernstlicher Verdruß sein wird,
wenn Sie dabei gesessen, dabei gesessen und nichts gemerkt haben!

Sie, gnädige Frau, zum Beispiel, die Sie in Ermangelung eines Besseren eben
davon leben, Ihren armen gedemütigten Ehemann es jeden Augenblick empfinden
zu lassen, wie sehr Sie ihn wegen des kleinen Seitensprunges mit der
ehemaligen Gouvernante ihrer Kinder verachten. Wenn Sie nicht so viel Mühe
hätten, ein empfindliches und verachtendes Gesicht zur Schau zu tragen,
hätten Sie es doch, weiß Gott, schon merken müssen. Sie sind doch nach der
Passagierliste erst 36 Jahre!

Und dann Fräulein Sivers . . . Warum sagen Sie immer, das Leben sei lange
nicht so interessant, wie das Theater? Nun, wetten wir, daß später einmal
diese Reise das Glanzstück in Ihren glaubwürdigen Memoiren bilden wird?
Vergessen Sie ja nicht zu bemerken, daß Sie »gleichsam« -- ja gleichsam ist
das passende Wort -- die erste waren, die alles gemerkt hatte, die sich
aber _wohlweislich_ nichts merken ließ und ihre Rolle bis zu Ende glücklich
durchführte. Vergessen Sie das nicht!

Also die Augen auf, meine Damen! Noch ist es Zeit, den anderen
Schiffsgästen Vorwürfe zu ersparen. Wenn Sie nicht mehr so viel Phantasie
aufbringen können, wie Fräulein Sivers, die es »gleichsam zuerst bemerkte«,
dann wird Ihnen das nach Jahren noch zu schaffen machen! Glauben Sie mir,
ich kenne das. Es wurmt einen noch sehr lange, wenn man nichts gemerkt hat
-- ja, ja!

Ich treffe Frau Rosenborg, die mit Fräulein Holm flüstert.

»Diese prachtvolle Farbe, dieses tiefe Blaugrün« sind die Worte, die für
meine Ohren bestimmt sind.

»Sie schwärmen ja ordentlich, Fräulein Holm. Aber Sie haben recht,
köstlich, ganz köstlich! . . .«

Einen Augenblick schweige ich und sehe die Damen, die echt verzückt aufs
Meer hinaussehen, an. Während ich dann selbst hinausblicke und mich nicht
im geringsten daran kehre, wie die Damen verdutzt dreinschauen, sage ich:
»ja, diese grünbläuliche Farbe erinnert mich ein wenig an eine gewisse
Partie auf dem Bilde von Lionardo -- der Gioconda, das Bild wurde doch
kürzlich gestohlen.«

Die Damen waren baff.

»Es war ein sehr eigentümliches Bild,« fahre ich fort -- die Damen erholten
sich nicht von ihrem Staunen -- »ich muß schon sagen, es ist mir wohl
verständlich, daß jemand auf den Gedanken kommen konnte es zu stehlen.
Wissen Sie, es _reizte_ einen ordentlich dazu. Ich meine dieses Weib, es
war doch wie aus Fleisch und Blut. Nicht wahr? Und dieses Lächeln,
nächtelang hat es mich verfolgt. Ich sah überhaupt zuletzt nur noch dieses
Lächeln. Ich sehe es überall; es kam mir weiß Gott vor, als lächelten alle
Frauen so, und das machte mich förmlich rasend. Wenn ich das Bild gestohlen
hätte -- sehen Sie, jetzt kann ich es Ihnen ja sagen -- ich hatte nämlich
auch einmal die Absicht, ja, weiß Gott, ich hatte die Absicht, aber ich bin
ja viel zu feige dazu -- ja, was wollte ich sagen -- richtig, ich meine,
wenn ich es gestohlen hätte, so hätte ich das Bild getötet -- vernichtet,
meine ich, erstochen hätte ich es oder verbrannt. Ja!«

All das sog ich mir im Handumdrehen aus den Fingern und das versteinerte
Erstaunen der Damen -- ich sah, daß beiden der Mund aufstand und sie dabei
sehr häßlich aussahen -- kam mir dabei vortrefflich zustatten. Es wäre ein
leichtes gewesen, sie noch mehr in Erstaunen zu setzen. Einen Augenblick
kam mir sogar der Gedanke ihnen zu sagen, daß ich der Dieb wäre. Aber das
hätte mir vielleicht den Spaß verdorben.

Ich brach plötzlich ab und wendete mich zu Fräulein Holm, die etwas
verlegen lächelte: »Glauben Sie, daß der Dieb Paris verlassen hat?«

»Wieso?« Ihr hilfloses Lächeln wiederholte sich.

»Sehen Sie, das ist ganz ausgeschlossen. Wie gesagt, wenn ich das Bild
gestohlen hätte, -- ich meine nur so --, so würde ich doch Paris nicht
verlassen! Sagen Sie selbst, wo ist man besser aufgehoben als in Paris?
Ach, glauben Sie mir, der Dieb hat Paris nicht verlassen. Wegen des schönen
Wetters und weil Sie so ein erstauntes Gesicht machen -- Fräulein Holm
machte rasch mit der Hand eine Bewegung über ihr Gesicht hin -- möchte ich
geradezu eine Wette darauf eingehen. Wollen Sie?«

»Ich wette dagegen,« sagte Fräulein Holm mit einem Blick nach Frau
Rosenborg und streckte die Hand aus.

»Nun, und was behaupten Sie? Daß er Paris verlassen hat?«

»Ja -- und --«

»Und daß er auf ein Schiff geflüchtet ist?«

Fräulein Holm sah mir fest in die Augen und hielt die Hand noch immer
hingestreckt.

»Ha -- diese Wette nehme ich an. Ich wette, -- nun gut, ich wette 1000
Franken,« sagte ich.

»Da wette ich auch,« rief plötzlich Frau Rosenborg dazwischen und streckte
auch ihrerseits die Hand aus. Der Daumen war etwas nach außen gebogen.

»Auf 1000 Frank?«

»Auf 5000 Frank,« sagte sie.

»Auf 5000 Frank? Ich wette auch auf 5000 Frank, aber unter einer
Bedingung!«

Ich sah jetzt die Damen gespannt an; dann platzte ich damit heraus: »Unter
der Bedingung, -- daß das Bild nicht hier auf dem Schiff gefunden wird!
Vielleicht haben Sie es ja selbst gestohlen!«

Ich lachte, als wollte ich dadurch anzeigen, für wie unsinnig ich selbst
meinen Einfall hielte.

»Na, das ist doch klar,« -- wieder lächelte ich so, als ob ich etwas ganz
Unsinniges sagte, -- »wenn Sie das Bild selbst gestohlen hätten, dann
wüßten Sie ja, wo es ist und dann . . . dann wäre es doch gewinnsüchtig von
Ihnen, die Wette abzuschließen!«

Ich weidete mich an der Verlegenheit der Damen, die sich gegenseitig
hilflos anlächelten.

»Also 5000 Franken.« Ich streckte nun meinerseits die Hand aus. Aber die
Damen zögerten.

»Bitte -- schließlich können Sie es doch annehmen. Auch wenn Sie es
gestohlen haben. Sie riskieren doch nichts!«

»Wieso?« Die Damen sahen noch nicht klar.

»Dann bekommt doch niemand etwas. Sie nichts und ich nichts.«

»Ja, das ist ja auch wahr,« sagte Fräulein Holm und sah dabei Frau
Rosenborg mit einer Miene an, die sagte, na, dann können wir es ja
eigentlich ganz gut riskieren:

»Also. Top.« Wir schlugen zweimal die Hände zusammen und alle lachten wir
herzlich.

»Die Wette ist so gut wie gewonnen,« rief ich. »Aber ein bißchen verdächtig
sind Sie mir jetzt doch. Entschuldigen Sie mich. Ich muß endlich einmal
mein Paket auspacken, das ich aus Paris mitgebracht habe. Auf Wiedersehen.
Und 5000 Franken! Auf Wiedersehen!«

Hinter meinem Rücken fühlte ich, wie die Damen sich mit sprachlosem
Erstaunen ansahen. Erst jetzt kam es ihnen eigentlich recht zum Bewußtsein,
was sie getan hatten. Außerdem hielten sie mich jetzt selbst für den Dieb;
denn wer es eigentlich sei, darüber war, so viel ich sehen konnte, noch gar
nichts bekannt.

                   *       *       *       *       *

Den 26. August. O, ich bereue es keinen Augenblick, mich auf diese Seefahrt
eingelassen zu haben! Wir leben ja wie auf einem Vulkan, wie auf einem
Pulverfäßchen, das jeden Augenblick losgehen soll.

Welch' ein unterirdisches, heimliches Leben spielt sich doch hier unter uns
ab. Fast mit jedem Augenblick wird die Situation gespannter. Einige Damen
sind, weiß Gott, schon so ermüdet von diesem beständigen so auf der Lauer
liegen, daß sie sich ganz unvorsichtig benehmen. Wenn mein Freund nur
halbwegs meine Augen im Kopf hat, so muß er es längst bemerkt haben, daß es
ihm an den Kragen gehen soll.

Dieses Hin und Her auf dem Schiff. Diese Nervosität in allen Liege- und
Lehnstühlen. Nie waren die Garnröllchen so boshaft, nie die kleinen
Nähfutterale so heimtückisch. Überall bleiben sie liegen, fallen hin,
rutschen durch, springen aus den Fingern heraus oder verstecken sich
irgendwo in allen möglichen bunten Lappen- und Fadenwirrnissen. Und diese
unbarmherzige Bearbeitung all der kleinen Fußbänkchen. Was ist denn mit
ihnen? Bald stehen sie zu weit vorne, bald zu weit hinten, bald sind sie
»überhaupt zu unbequem«, fliegen mit einem Schupps zur Seite und gleich
werden sie wieder in einer Anwandlung von Reue zurückgeholt und
gestreichelt! Haha -- wenn man an den Liegestühlen vorbeikommt, wird man
ordentlich in Versuchung geführt, die Sprache all dieser wippenden,
schaukelnden, schlenkernden Füßchen einmal rund heraus ins Deutsche zu
übersetzen! Na, dann würde wohl endlich in die griesgrämigen,
stirngerunzelten, großen Stiefel der alten Damen auch ein bißchen Leben
kommen. --

Eine famose Entdeckung, eine ganz famose Entdeckung habe ich da im Gespräch
mit einer großen brünetten Dame gemacht -- ich habe den Namen vergessen.

Sie kommt die Treppe herauf: Ach! Ihre Nähtasche fiel auf die Stufen. Eine
kleine Nickelschere und ein Garnröllchen fielen heraus und polterten die
Treppe hinunter.

»Mir kommt vor, all unsere Damen sind in den letzten Tagen so nervös
geworden« sage ich und reiche ihr die Sachen zurück.

»Ach, es ist ja aber auch nicht auszuhalten!« Sie schaute ängstlich
neugierig nach den Stuhlreihen. »Ist denn schon etwas passiert?«

»Aber was sollte denn passiert sein?«

»Ach, ich weiß ja nicht. Ewig will mein Mann mit mir über unsere
geschäftlichen Angelegenheiten sprechen.« »Geschäftliche Angelegenheiten«
sagte sie sozusagen in Gänsefüßchen, wie um schon jetzt anzudeuten, daß das
etwas wäre, was sie nichts anginge. »Ich verstehe ja davon nichts, gar
nichts. Ich halte es nicht aus da unten. Ich muß hier oben sein . . . in
der freien Luft.« Auf ihrem hübschen Gesichtchen war jetzt ein Zug ähnlich
dem eines kleinen Schulmädchens, das eine Rechenaufgabe nicht lösen kann
und dem die Tränen nahe sind.

»Ja, die freie Luft ist Ihnen auch sicher bekömmlicher als >geschäftliche
Angelegenheiten<«.

Sie lächelte mich freundlich an. Offenbar freute sie sich darüber, daß ich
an dieses schnell erfundene Märchen von der »freien Luft« glaubte. Gleich
darauf aber, während sie sich wohl wieder ihren Mann bei den
»geschäftlichen Angelegenheiten« vorstellte, kam wieder dieser halb
erbitterte, halb leidvolle Ausdruck in ihr Gesicht und sie sagte: »Ja, ich
glaube alles mögliche könnte passieren, alles mögliche; mein Gott es ist zu
schrecklich mit diesen Männern!« Wieder standen ihr beinahe die Tränen in
den Augen.

»Kommen Sie, lassen Sie uns von etwas anderem sprechen. Darf ich Ihnen
etwas von Ihren Sachen tragen?«

Haha, ich werde nicht den fragwürdigen Blick vergessen, mit dem sie ihre
bunten Siebensachen plötzlich an sich hielt. Ganz leise und
vorsichtig-ängstlich sagte sie: »Nein, ich danke . . . ich danke.«

Ich ging einige Schritte neben ihr her. Ganz plötzlich sagte ich: »Die
Gioconda ist jetzt auf einem Schiff gefunden worden!«

»Bei uns?« rief sie schnell und preßte ihre Siebensachen an die Brust.

Ich tat als bemerkte ich nichts von ihrem auffallenden Erschrecken, blies
den Rauch meiner Zigarre vor mich her und sagte, so wie man eine ganz
belanglose Sache sagt, nur um überhaupt etwas zu sagen: »Nein, auf einem
Dampfer der White Star Line.«

Sie war unwillkürlich stehengeblieben und blickte mich jetzt sonderbar an.
»Aber es hieß doch -- Sie wären (sie verbesserte sich rasch) -- ich meine,
es hieß doch, das Bild wäre hier bei uns auf dem Schiff?«

»So? Davon habe ich gar nichts gehört.«

»Nein? Aber es hieß doch ganz bestimmt, es wäre hier an Bord. Es sollte
doch bei jemandem in der Kabine gesehen worden sein. Wir haben doch einen
Geheimagenten an Bord. Der hier mit den vielen Ringen. Und dann sind Sie ja
wohl gar nicht der Dieb?«

»Wie? Was sagen Sie? Ich, der Dieb? Zum Teufel auch, wer hat das gesagt?«

»Alle haben es gesagt.«

»Alle haben es gesagt? So? dann entschuldigen Sie mich einen Augenblick!
Mein Gott, das versetzt mich in eine begreifliche Begeisterung.« Ich ließ
Frau . . . Gott, wie hieß sie doch . . . richtig, Frau Sanden stehen, lief
in meine Kabine, trommelte mit den Fäusten an die Wand und sang dazu: »Ha,
sie halten mich für den Dieb, hallo. Das ist famos. Gut, ich werde meine
Rolle spielen. Das ist etwas für mich, einen Dieb zu _spielen_, haha, das
werde ich können, wenn ich auch selber nicht imstande bin, auf anständige
Art und Weise eine Apfelsine zu stehlen. Ein Dieb, -- famos, ich bin ein
Dieb; der Dieb der Gioconda . . . ich werde meine Rolle schon durchführen
. . . sie steht mir ja famos diese Rolle . . .«

                   *       *       *       *       *

Mein Gott, mein Gott, was ist mit mir geschehen, ist das der Anfang des
Wahnsinns, bin ich irrsinnig geworden? Was geht mit mir vor? Habe ich mich
in einen anderen Menschen verwandelt? Bin ich der Dieb des Bildes? Was ist
mit meiner Hand, meinen Augen, meinem Körper? Bin ich das noch, der ich
hier aus dieser Türe vor einigen Stunden herausgetreten bin? Sind das noch
meine Füße, die mich bis an die Treppe geführt haben, wo ich plötzlich ihm
begegnete und wo plötzlich diese furchtbare Veränderung mit mir vorging?

Mein Gott, mein Gott, was ist mit mir geschehen? Habe ich mich nicht hier
noch vor kurzem vorbereitet, die Rolle des Diebes zu spielen und jetzt, und
jetzt -- o, mein Gott -- mir wird elend und angst, wenn ich daran denke --
jetzt bin ich womöglich der Dieb selbst? . . .

Ich will alle meine Kraft -- o ich fühle, mir bleibt kaum mehr so viel
übrig, überhaupt das Leben zu ertragen -- ich bin ja irrsinnig oder ich
beginne es zu werden -- mein Körper gehört nicht mehr mir, meine Stimme,
welch' eine Stimme kommt aus meiner Kehle -- sind das noch meine Hände --
ist das meine Haut, dieses dünne eidechsenartige Gewebe auf meinen Fingern?
O der Ekel befällt mich, ich muß -- hilf mir mein Gott, nein, nein, ich bin
nicht der Dieb, nein, ich habe nicht gestohlen, so wahr ich lebe, ich
. . .

                   *       *       *       *       *

(Zwei Stunden später.) Ich will alle Kraft zusammennehmen und das
Entsetzliche aufschreiben, vielleicht findet man es nach meinem Tode. Dann
wird man sehen können, wie unschuldig ich bin; daß ich nicht das geringste
begangen habe, was unrecht ist. Ja, ich will versuchen, mich selbst zu
verteidigen, _mich gegen mich selbst_ zu verteidigen. --

Als ich von dem Gespräch mit Frau Sanden in meine Kabine kam, überlegte ich
mir, wie ich den Agenten und die Damen und alle Schiffsgäste zum besten
halten könnte. Ich wollte mich recht auffallend betragen; wenn noch irgend
etwas an ihrer Überzeugung fehlte, daß ich der Dieb sei, so wollte ich es
hinzutun. Ich wurde ganz warm bei diesem Gedanken. Ich sah, ich fühlte alle
Blicke auf mir; alle sah ich umherstehen und flüstern und überall, wo ich
in Gedanken vorbeiging, ließ ich eine Äußerung fallen, machte ich eine
eigentümliche Geste, die mich als den Dieb verraten und charakterisieren
sollte. Fast ohne daß ich es wußte, verließ ich meine Kabine, ging den Gang
hinunter und wollte eben die Treppe emporsteigen, als der Gelbe mir
entgegenkam. Er trug etwas Schimmerndes in der Hand, was ich gleich
erkannte.

»Ha, da sind Sie?« Zufällig gebrauchten wir genau dieselben Worte und
sprachen sie auf die Sekunde gleichzeitig aus.

»Was haben Sie denn da? Ein altes Schlachtschwert. Wollen Sie jemanden
hinrichten?« Er hatte in der Tat ein großes, mittelalterliches Schwert in
der Hand, an dem einige Goldketten herabhingen. Er drängte mir das Schwert
in die Hand und indem ich es wog, fühlte ich, daß es sehr schwer war.

»Ich wollte eben zu Ihnen kommen, um es Ihnen zu zeigen. Sie verstehen doch
offenbar etwas von Waffen?«

Die Frage kam mir so eigentümlich vor, daß ich unwillkürlich in seine Augen
blickte, und zum ersten Mal fielen mir diese Augen auf, die seltsam
grünlich waren, wie die einer schwarzen Katze. Ich wunderte mich im
stillen, daß ich dieses auffallende Merkmal sonst noch nie an ihm
wahrgenommen, ja daß ich eigentlich seine Augen überhaupt noch nicht
gesehen hatte.

Als ich ihm jetzt antwortete, fiel es mir auf, wie eigentümlich schüchtern
und zitternd meine Stimme klang, ähnlich fast wie die eines Menschen, der
ein schlechtes Gewissen hat und fürchtet, daß sein Lügen durchschaut wird.

»Ich soll etwas von Waffen verstehen? Wer hat das gesagt?«

»Aber nun verstellen Sie sich doch nicht.«

»Ich verstelle mich doch gar nicht . . .«

»Aber, aber! . . . Jedermann weiß, daß Sie einer unserer besten Kenner
mittelalterlicher Waffen sind . . .«

Wieder antwortete ich mit derselben leisen schüchternen Stimme: »Ich ein
Kenner? . . .« Fragend sah ich in seine eigentümlich grünschillernden
Augen. »Für wen halten Sie mich denn? Ich bin . . .«

Aber er ließ mich nicht ausreden, sondern fiel mir ins Wort und sagte,
während mein Erstaunen ins Maßlose wuchs und es mir fast unheimlich wurde:

»Ich halte Sie für den Herrn, der vor kurzem so glücklich war, in Paris bei
dem Kunsthändler Duval den berühmten Dolch aus rötlichem toledanischen
Stahl zu kaufen. Sind Sie dieser Herr oder sind Sie es nicht?«

Und jetzt geschah etwas, was ich nie für möglich gehalten hätte und was mir
bis zu meinem Tode rätselhaft bleiben wird. Man hätte doch glauben sollen,
daß ich diesem Ansinnen, den Dolch bei Herrn Duval gekauft zu haben, aufs
lebhafteste widersprochen hätte. Aber jetzt war es mir plötzlich, als ob
sich in meinem Inneren etwas umwandte -- ganz deutlich hatte ich dies
Gefühl, als kehre sich etwas Dunkles plötzlich in mir ins Licht -- und laut
und vernehmlich hörte ich wie meine Stimme sagte: »_Ja, der bin ich_.« Und
in demselben Moment als ich dieses zugab, da wußte ich auch, daß es sich
bei dieser so unscheinbar klingenden Frage eigentlich gar nicht um den
Dolch, sondern um das Bild, um das Bild der Gioconda handelte, daß die
Frage: Haben sie den Dolch bei Herrn Duval gekauft? nicht mehr und nicht
weniger bedeutete als: Haben Sie die Gioconda aus dem Louvre geraubt?

Und irgendeine fremde, unsichtbare Macht zwang mich, ohne daß ich selbst
begriff wie, es zuzugeben, ja dazu zu sagen, als sei es das
Selbstverständlichste von der Welt.

Ich hatte doch mit meinen eigenen Augen gesehen, wie er selbst in den Laden
getreten war und die Hand auf den Drücker gelegt hatte. Ich hatte doch
gesehen, wie er als Erzbischof verkleidet vor Herrn Duval gestanden hatte
und plötzlich den Mantel, der mit brennend roter Seide gefüttert war,
zurückschlug und den Dolch in der Hand hielt. Ich hätte es also mit dem
besten Gewissen beschwören können, daß er selbst es war, der den Dolch
gekauft hatte.

In seinen Augen aber, diesen, wie mir jetzt immer mehr schien, irisierend
grünen Augen einer schwarzen Katze, sah ich ganz deutlich im selben
Augenblick den Triumpf höhnischer Befriedigung darüber aufleuchten, die
ganze Last und die Verantwortung für diesen frechen unerhörten Diebstahl
auf mich abgewälzt zu haben.

All das war nur die Empfindung eines Augenblicks, und ein Vorübergehender
hätte nichts gesehen als eine Gestalt in einem auffallend gelben Mantel und
einer großen Reisemütze, und einen andern Herrn, der sich fachkundig über
ein altes Schwert beugte. Nichts war sonst zu sehen. Aber was spielte sich
unterdessen und während der nächsten Augenblicke in meinem Innern ab! Alles
an mir kam mir plötzlich fremd vor. Ich betrachtete mit Entsetzen meine
eigenen Hände, wie sie mit nie gesehenen Bewegungen über das Metall hin und
her fuhren und es befühlten. Waren dies noch meine Hände, sind dies meine
Hände, diese langen dünnen gelblichen Finger, die wie mit einer feinen
Eidechsenhaut überzogen sind? Während ich gebeugt über das Schwert stand,
ließ ich meinen Blick über meinen Körper, meine Beine, meine Füße laufen.
Das Blut pochte mir in den Schläfen -- auch mein Körper kam mir plötzlich
fremd und unbekannt vor, nicht wie ein Teil meiner selbst, sondern wie ein
Tisch, ein Stuhl, wie eine Sache, die man angreifen kann und die hart und
gefühllos ist. Wie aber erschrak ich erst, als ich plötzlich meine Zunge in
meinem Gaumen sich wie den Klöppel einer Glocke bewegen fühlte, als sich
meine Lippen feuchtkalt aufeinanderlegten und als eine fremde Stimme, eine
nie gehörte, grauenhafte Stimme aus meinem Munde erscholl und Dinge sagte,
von denen meine Seele nicht das geringste wußte oder auch nur ahnte.

Entsetzt hörte ich diesen Erklärungen zu, während ich die Worte wie
würfelartige Holzklötze auf meiner Zunge fühlte: »Es dürfte eine
augsburgische Arbeit sein. Im germanischen Museum in der fränkischen
Waffensammlung befindet sich wohl ein Geschwisterstück zu dem Ihrigen,
einfacher, nicht so reich ziseliert an der Schneide, aber von derselben
Art. Hier hat das Metall übrigens einen Sprung.« Ich sah wie mein eigener
Finger auf eine Stelle des Griffs deutete, wo in der Tat ein ganz feiner,
haardünner Sprung im Metall zu sehen war.

Und während ich jetzt meinem deutenden Finger über dem Metall folgte,
während ich noch diese mir Grauen erregende Stimme aus mir hervordringen
hörte, hatte ich plötzlich jenes seltsame Gefühl, das vielleicht jeder
Mensch in seinem Leben empfunden hat -- ich hatte eine Art traumhaften,
aber doch klaren Gefühls, als hätte ich eben dieselbe Szene, genau wie sie
sich jetzt abspielte, schon vor vielen Jahren einmal erlebt.

                   *       *       *       *       *

Ich erwachte wie von einer Betäubung. Noch immer stand ich an der Treppe.
Ich hielt das Schwert in den Händen. Alle meine Sinne waren gespannt und
lauschten auf die Schritte und Stimmen, die über mir hörbar waren. Mir war
als hätte sich die Schärfe meines Gehörs verdoppelt, deutlich unterschied
ich jeden einzelnen Laut, jede einzelne Stimme, deutlich verstand ich was
sie sagten und worüber sie lachten. Frau Rosenborgs Gelächter erhob sich
wie eine Rakete flackernd über das Gewirr dunkler und hellerer Stimmen. Im
Tonfall einer sonoren Stimme, die in Begleitung einer scharfen, eckigen
erklang und mit ihr wechselte, vernahm ich mehrmals das Wort Gioconda. Bei
dem Wort Louvre erreichte die sonore Stimme jedesmal ihren tiefsten Ton.

Plötzlich aber hatte ich ein Gefühl ganz ähnlich dem, wenn man aus einem
sonderbar fesselnden Traum erwacht. Wie man wohl von dem Wunsch beseelt
ist, die Erscheinung eines Traumes noch zurückzuhalten, zurückzurufen, wenn
man zu einer quälenden sorgenvollen Wirklichkeit, der man entfliehen
möchte, erwacht ist, -- so hatte auch ich den Wunsch, etwas Entfliehendes
zurückzuhalten und unwillkürlich machte ich mit der Hand eine greifende
Bewegung vorwärts, wie um etwas festzuhalten. Im selben Augenblick aber
fühlte ich wieder, daß dieses nicht meine Hand war und wie mit einem
elektrischen Schlage durchzuckte mich ein unnennbares Gefühl des Grauens
und Entsetzens. Ich stürzte in meine Kabine. Ich lief; und doch war es mir
nicht als liefe ich, sondern als liefe ein anderer an meiner Stelle, mit
einem mir fremden, unregelmäßigen Gang. Dann befühlte ich mich, befühlte
mit meinen eidechsenhäutigen Händen meinen Körper, meinen Kopf, meine
Haare. Und ich fühlte nicht mich, -- ich fühlte einen andern. Nur die, die
wissen, was sich hinter Worten verbergen kann, können mich vielleicht
verstehen, wenn ich sage: ich fühlte meinen Bruder. Ich fühlte ein kurzes,
trockenes, struppiges Haar, ein flaches, knöchernes Ohr, schmale, dünne,
runzlige Lippen. Und die Bewegungen von diesem mir fremden Körper, von dem
mir meine Augen zwar sagten, daß es der meinige sei, empfand ich nur so wie
man die Bewegung eines unter einer Decke verborgenen Tieres bei aufgelegter
Hand wahrnimmt.

O mein Gott, mein Gott, was ist mir geschehen! Was ist das? Alle meine
Gebärden gehören nicht mir, ich habe eine fremde Stimme, ich lache ein
fremdes Lachen, ich gehe einen fremden Gang, welche Bewegungen mache ich?
. . . ich bin hilflos wie ein Kind . . . ein Körper umgibt mich, ein
fremder Körper, fremde Hände, fremde Arme, fremde Augen . . . o mein Gott,
mein Gott, _ich lebe noch, aber ich bin nicht mehr!_

                   *       *       *       *       *

Kann sich jemand eine Vorstellung machen von dem, was ich empfinde! Wer ist
je in einer so furchtbaren Lage gewesen! Früher habe ich zuweilen etwas
ganz entfernt Ähnliches empfunden, wenn ich plötzlich für den Bruchteil
einer Sekunde, vielleicht in meiner Bewegung, im Tonfall meiner Stimme, in
meinen Augen eine Ähnlichkeit, eine Gleichheit mit einer mir bekannten
Person bemerkte. Und das Unbehagen, das sich bei diesem flüchtigen Bemerken
einstellte, war stets um so größer, je näher ich mit jenem Menschen
verwandt war, dessen Miene oder Haltung ich plötzlich an mir wahrzunehmen
glaubte. So erinnere ich mich deutlich, wie grauenhaft mir eines Tages
meine Schwester erschien, als ich plötzlich ihre Blicke in meinen Augen
fühlte, und ein ausgesprochenes Ekelgefühl hatte ich auch als ich --
deutlich steht mir noch der Ort vor Augen -- beim Heraustreten aus einem
Hamburger Hotel die Ganghaltung und Bewegung meines vor Jahren verstorbenen
Bruders an mit wahrnahm. Nur Menschen, die je etwas Ähnliches empfunden --
aber mir kommt vor, alle müßten es gefühlt haben -- werden sich in meine
Lage versetzen, werden mir dieses entsetzliche bittere Unlustgefühl, diesen
physischen und zugleich körperlichen Ekel vor mir selbst von ferne
nachfühlen können.

                   *       *       *       *       *

Ich fühlte oftmals, wie ich daran war, das Bewußtsein zu verlieren. Es
kamen Augenblicke der Erleichterung, sogar des Vergessens. Aber immer
wieder und jedesmal furchtbarer kehrte mir das Bewußtsein meines
entsetzlichen Zustandes zurück.

Ich hätte schreien wollen, aber die Angst vor der entsetzlich grauenvollen
Stimme, die ich aus meinem Munde hatte kommen hören, drückte mir die Kehle
zu. Ich preßte die Hände vor meinen Mund und stieß klagende, winselnde Töne
aus. Ich lag auf dem Boden, denn ich hatte ein Gefühl, als müßte ich mich
tief im Innersten der Erde verstecken und begraben. Der physische Abscheu
vor diesem fremden, schwitzenden, behaarten Körper, der mich umgab wie eine
klebrige, widerliche Masse, nahm eher zu, als daß er nachließ. Und zu
diesem unbeschreiblichen Gefühl des Abscheus gesellte sich nach einiger
Zeit noch ein psychischer Schmerz, der mich fast durchbohrte und an die
Grenze des Wahnsinns trieb. Ganz plötzlich empfand ich es nämlich mit aller
Deutlichkeit, oder es war mir wenigstens so, -- als hätte ich es selbst in
der Hand gehabt, diesem furchtbaren Schicksal zu entgehen. Hätte ich die
Kraft gehabt, jene einfältige Frage nach der Herkunft jenes Schwertes, das
ich doch weiß Gott nie gesehen hatte, zurückzuweisen -- nichts hätte mir
geschehen können. Ich habe mich selbst ins Unglück gestürzt. Jetzt machte
mein Inneres jene furchtbar schmerzvollen Anstrengungen, etwas Geschehenes
wieder ungeschehen zu machen. Ich bog mich weit zurück, nach hinten, gerade
als hätte ich dadurch ein Stück Zeit, das schon vergangen war, noch einmal
einbringen, noch einmal durchleben können. Das so furchtbar
niederschmetternde Gefühl des Unwiederbringlichen warf mich gänzlich
darnieder. Aber immer wieder, mit immer erneuter Hoffnungsangst, stellte
ich mir wohl hundertmal jene Szene vor: wie er jetzt die Treppe herabkam,
jetzt sprach er mich an, hielt mir das Schwert entgegen, jetzt frug er und
jetzt -- -- so sehr ich mich auch innerlich sträubte und wehrte, tierische
wilde Verzweiflungslaute entrangen sich meiner Kehle, -- ich konnte und
konnte nicht Herr dieser fremden Gewalt werden, die mich nur durch den
Tonfall ihrer Stimme mir selbst entriß und mir mit einem fremden Willen
einen fremden Körper aufdrang. Trotz meiner Angst, meiner Verzweiflung, die
mir die ganze Erinnerung an die furchtbare Szene wieder erregte, trotz
alledem fühlte ich doch, daß ich im gleichen Falle genau wieder so handeln
würde, und daß, was geschehen war, hatte geschehen müssen.

Von dieser Einsicht ging zunächst eine -- o, welch ein Hohn steckt in
diesem Worte -- Erleichterung für mich aus. Aber als sich dann meine
Gedanken wieder zu ordnen begannen, als jene Anfälle des
Sichwiedererinnerns aufhörten, da empfand ich mit ungeahnter Heftigkeit die
ganze Hohlheit, die ganze entsetzliche Leere meines Daseins und dieses
Gefühl gepaart mit dem noch viel entsetzlicheren Abscheu und Ekel vor mir
selbst gab mir den Wunsch ein, mich von der schmutzigen Hülle dieses
Körpers und dem Grauen dieses Daseins zu befreien. Ein Gefühl des Hasses,
ganz wie das gegen einen fremden Menschen, ergriff mich.

Ich fühlte eine tiefe Befriedigung bei dem Gedanken, daß ich diesen Körper
gewaltsam vernichten und mich auf diese Weise auf ewig von ihm befreien
konnte. Ich riegelte die Türe und riß förmlich in Wut den Revolver mit den
Patronen aus der Handtasche. Es hätte mir Freude gemacht, diesen Körper
Stück für Stück zu vernichten. Mit dem ersten Schuß durchschoß ich meine
Hand; ich lachte laut auf vor innerster Befriedigung, als ich das rote Blut
aus dem winzig kleinen Loch des Handtellers hervorfließen sah. Dann legte
ich die kühle, kreisrunde Öffnung des Revolvers an meine heiße Schläfe und
drückte ab. Ich verspürte einen leichten Stoß, aber da ich noch Kraft in
meinem Arm fühlte, schoß ich noch ein zweites Mal, wieder die
Revolvermündung dicht an der Schläfe. Ich erwartete, daß ich taumeln, daß
ich umstürzen werde -- aber nichts dergleichen geschah. Ich befühlte mit
der Hand meine Schläfe -- sie war blutüberströmt und das rote Blut rann
über die Backe, über den Anzug an mir herunter. Aber ich hatte mich nicht
getötet . . . Und nach einigen qualvollen Augenblicken hatte ich die
Gewißheit: Ich _vermochte_ nicht, mich zu töten . . . .

                   *       *       *       *       *

Ich erwachte und lag auf meinem Bett. An der Dämmerung, die in der Kabine
herrschte, sah ich, daß es Abend war. Ich suchte mich zu erinnern und
richtete mich auf. Hatte ich geträumt? Die schwache Regung der Hoffnung,
die in mir aufstieg, wurde sofort durch die deutlich erkannte Gewißheit,
daß es kein Traum, daß es Wirklichkeit war, zerstört. Fühlte ich denn nicht
wieder diesen klebrigen, schleimigen Körper um mich, fühlte ich nicht meine
wahren Bewegungen, meine Augen, meine Mienen, wie hinter einer dumpfen
heißen Maske, die mir den Atem benahm?

Plötzlich bemerkte ich, daß ich nicht allein in der Kabine war.

In der Dunkelheit neben dem helleren Fenster, durch das der Abend
hereinsah, erblickte ich den Kopf und die Schultern einer seltsam fremden
Gestalt. Sie wandte mir jetzt ihr Profil zu und schien unverwandt auf einen
Punkt zu starren. Nur verschwommen und undeutlich konnte ich die Züge und
den Ausdruck des Gesichts wahrnehmen.

»Ist jemand da?« fragte ich halblaut und langsam.

Keine Antwort. Die Gestalt beharrte unbeweglich in ihrer Stellung; nur war
es mir einen Augenblick, als sähe ich sie deutlich die Lippen bewegen,
öffnen und wieder schließen. Aber kein Laut war hörbar.

Wenn ich jetzt an jenen Augenblick zurückdenke, frage ich mich, warum mich
gleich bei der Entdeckung dieses Fremden ein neuer Schrecken befiel, ein
Schreck, der nichts gemein hatte etwa mit der Furcht vor einem
Eindringling. Nein, sobald ich das schattenhafte Wesen neben dem Fenster
erblickte, wußte ich auch in meinem innersten Innern, mit einer Sicherheit,
die nicht den geringsten Zweifel zuließ, daß dieser Mensch, er sei, wer er
sei, in irgend einem Zusammenhange mit meiner schrecklichen Lage stand. Die
Furcht vor einer neuen grauenhaften Entdeckung ließ mich erbeben,
durchrüttelte mich kalt wie ein Fiebersturm. Meine Phantasie war so bis zum
Äußersten gereizt, daß sie nichts mehr für unmöglich hielt. Ich hätte mich
nicht gewundert, wenn ich den Mond, der schon einen schwachen gelblichen
Streifen auf den Boden meiner Kabine legte, krachend vom Firmament hätte
herabstürzen und sich in den grau verdampfenden Fluten des Weltmeeres wie
in einem ungeheuren dunklen Wolfsrachen hätte begraben sehen. Nichts,
nichts hätte mich jetzt gewundert! Ich hätte den Riegel von meiner Tür
springen, ich hätte sie von unsichtbaren Händen sich öffnen und schließen
sehen können und das wäre mir nicht unnatürlich, nicht rätselhaft
erschienen, denn ich selbst hatte Rätselhafteres erlebt, _wußte_ ja auch,
daß ich noch viel Unerhörteres in den nächsten Augenblicken erleben würde
. . .

Als ich die fremde Gestalt im Dunkel zum zweiten Male anrief, geschah es
mit kaum hörbarer, flüsternder Stimme, nicht lauter wie das Knistern von
Seide. Und wieder war es mir, als sähe ich die Lippen sich stumm bewegen;
aber nichts war zu hören.

Ich wagte meine Frage nicht zum dritten Mal zu wiederholen. Starr, bald von
Glut geschüttelt, bald von kaltem Schauer überkrochen, blieb ich
bewegungslos und halb aufgerichtet auf meinem Arm gestützt und starrte die
Erscheinung an.

Plötzlich fühlte ich eine Helligkeit über mein Gesicht gleiten. Es war der
Mond, der bei einer Wendung des Schiffes jetzt in den Ausschnitt des
Fensters trat. Im selben Augenblick erkannte ich aber auch deutlich das
Antlitz der fremden Gestalt, die neben dem Fenster stand. Der Mond
beleuchtete auch sie. Ich sprang von dem Bett auf und drehte hastig das
elektrische Licht an. Der Raum war taghell erleuchtet -- niemand war zu
sehen.

Mit heimlichem Grauen sah ich nach der Stelle, wo ich noch vor Sekunden die
Gestalt erblickt hatte. Auf der graugelben Tapete kroch eine Fliege. Es war
totenstill und nichts rührte sich. Ich hörte nur wie mein Atem ging und wie
meine Brust sich hob und senkte, sich hob und senkte. Ich stand da und
starrte nach dem goldgerahmten Spiegel in der Ecke, an dem wie immer meine
Mütze hing.

Aber einen Augenblick später durchzuckte mich ein furchtbarer Gedanke! Mit
einem Sprung stand ich vor dem Spiegel -- die gräßlichste Ahnung der
letzten Sekunde sah ich erfüllt. In der Scheibe des Spiegels gewahrte ich
eben dieselbe Gestalt, dasselbe Antlitz, dieselben seltsamen Augen, die
mich eben noch als die eines Fremden mit Grauen und Schreck erfüllt hatten.
Das bräunliche Antlitz eines fremden Mannes starrte mich mit irisierend
grünlichen Augen als mein eigenes Antlitz an. Und während ich mich mit
beiden Händen an dem Spiegel festhielt, um nicht zu fallen, war es mir, als
hätte ich dieses Antlitz schon gekannt seit langen Jahren . . . seit langen
Jahren . . . .

                   *       *       *       *       *

Man hat es oft beobachtet, daß eine plötzlich den Menschen befallende
Furcht oder ein Schrecken ihn für einige Zeit des Verstandes beraubt. Der
menschliche Geist hat, wie jeder Körper, nur eine ganz bestimmte
Elastizität; er ist nicht fähig, die allergewaltsamsten Veränderungen
augenblicklich zu begreifen, und nach dem Gesetz der psychischen Reaktion
tritt sehr oft nach dem ersten furchtbaren Erschrecken eine völlige
Blindheit des Geistes ein, ein völliges Vergessen. So hat man Mütter, deren
Kinder in einem Brande umgekommen und vor ihren Augen verbrannt waren,
wenige Augenblicke nachher, ihre eben unterbrochene Tätigkeit wieder
aufnehmen sehen, ja sogar heiter und sorglos lachen hören.

Auch an mir konnte ich jetzt einen ähnlichen Zustand feststellen. Nachdem
das erste unheimliche Grauen meinen Verstand bis an die Grenze des
Wahnsinns gebracht hatte, betrachtete ich das Gesicht im Spiegel mit einer
Art einfältig-kindischer Neugier. Ich sah es hilflos grinsen -- und ich
grinste wieder. Eine Hand streckte sich gegen mich aus -- auch ich hob
meine Hand. Und plötzlich, ganz auf die Stufe des Säuglings zurückgedrängt,
versuchte ich mit meinem ausgestreckten Finger das Bild zu berühren. Mein
Geist mußte wohl eben daran sein, sich von dem ersten furchtbaren Schrecken
zu erholen; denn jetzt packte mich ein neues Entsetzen, als ich sah wie der
Spiegel sich unter dem Druck meiner fremden Hand in eine gallertartige,
schlammig-graue Masse verwandelte, und ich in dem eingebildeten Raum hinter
dem Spiegel einen harten Körper berührte, -- mein eigenes Antlitz!

Und obgleich dieses Antlitz zu leben schien, obgleich ich die belebten
Lippen, den feuchten Augapfel, die atmende Haut mit meinen Augen wahrnahm,
so fühlte meine Hand an der Spitze ihres langen, dünnen gelblichen Fingers
nur einen kühlen, metallisch-harten Körper und im gleichen Augenblick
verspürte ich auf meiner Zunge den scharfen, intensiven Geschmack von
bitterem Messing . . .

                   *       *       *       *       *

Ich vernahm plötzlich ein ungeheures Brausen wie von rollenden Rädern und
öffnete die Tür. Draußen erblickte ich eine große Menge hin und her
laufender Menschen, ohne daß ich irgend ein Gesicht deutlich hätte erkennen
und sehen können. Mir war als könne ich den Kopf nicht bewegen und nicht in
die Höhe heben. Ich eilte auf den dunklen Gang hinaus und bemerkte dort vor
mir einen Herrn mit einem ungewöhnlich verzwickten Gang. Ich folgte ihm.
Wir gingen bald links in einen Seitengang, bald rechts, bald stiegen wir
eine enge Treppe hinauf, bald durchschritten wir einen Saal, in dem lauter
Frauenbildnisse hingen, bald kamen wir wieder durch einen Gang, der immer
enger und enger wurde, daß wir uns kaum mehr durchzwängen konnten. Endlich
gelangten wir in eine ungeheuer große Halle, in der ein trübes violettes
Licht herrschte, das irgendwo von oben hereinfiel. Mitten durch die Halle
führte ein endlos langer Gang, der mit schwarzgelben quadratischen Platten
belegt war. Es war eine ungeheure Einsamkeit und Öde um uns, wie auf einem
winterlichen Feld, fern von allem Leben. In weiter Ferne sah man etwas
Schwarzes sich nähern und bewegen. Obgleich es kaum größer war wie ein
dunkler Punkt, so hatte man doch deutlich die Vorstellung von jemandem, der
in einem flatternden Mantel heftig gegen den Wind kämpft. Stunden und
Stunden schienen zu verrinnen, immer sahen wir den Mantel auf dem Wege
flattern und wehen, aber nur ganz langsam und unmerklich schien sich die
Gestalt uns zu nähern. Ganz plötzlich sah ich dann, was mir vorher
entgangen war, daß die Halle von ungeheuer hohen, grauen Säulen getragen
wurde, die wie mächtige Schäfte aus dem Boden herauswuchsen. Kaum hatte ich
das bemerkt, als hinter der nächsten breiten Säule, kaum zehn Schritte von
mir, unhörbar eine Frauengestalt hervor trat, in einem fließend
dunkelgrünen Sammetkleid, das den Hals frei ließ und von einem silbernen
Gürtel umspannt war. Die Frau lächelte eigentümlich und schritt langsam auf
mich zu. Mit jedem Schritt aber schien sie zu wachsen und ihr Antlitz wurde
größer und größer. Sie hatte die Hände leicht übereinandergelegt; ihre
Augen und Lippen lächelten; das offene Haar fiel über die Schultern und den
freien Hals mit dem Brustansatz. Plötzlich wurde es mir klar, daß es keine
Frau war, sondern nur ein Bild gewöhnlicher Größe in einem dunklen Rahmen,
der gegen eine der grauen Säulen gelehnt stand. Gleich darauf hörte ich
hinter mir Schritte von vielen Menschen erklingen. Ich sah, daß ich mich in
einer Kirche befand. Als ich mich umdrehte, gewahrte ich in einer seltsam
in dunkle, traurige Trachten gekleideten Menschenmenge, die sich vollkommen
stumm verhielt, den Mann mit dem flatternden Mantel. Er trug einen
altertümlich spitzen schwarzen holländischen Hut, wie er im siebzehnten
Jahrhundert Mode war. Er ging an der Seite einer großen schlanken Dame, die
mir den Rücken zuwandte und nach dem Ausgang zuschritt. Plötzlich aber sah
sie an dem spitzen schwarzen Hut ihres Begleiters zu mir herüber, lächelte
mir zu und winkte mit der Hand. Ich warf einen Blick nach der Säule -- das
Bild war verschwunden . . .

                   *       *       *       *       *

Als ich erwachte, fand ich mich stehend, die halbgeöffnete Tür der Kabine
in der Hand. Ich konnte den Gang übersehen, auf dem ein seltsames Licht
herrschte, obgleich es dunkel war. Auf einmal sah ich einen schwachen,
phantastisch aussehenden Schatten über die Dielen fallen und gleich darauf
bemerkte ich den Gelben, der mit seinem hastigen, verzwickten Gang, ohne
mich zu bemerken, ein großes, graues Paket unter dem Arm, an mir
vorübereilte.

Lautlos schlich ich ihm nach.

                   *       *       *       *       *

Wir kamen auf Deck.

Der Mond war spät aufgegangen und übergoß das grünliche Meer mit einem
seltsam fahlen, frühen Licht.

Das Schiff lag ganz still und man hörte nur die tiefen Atemzüge der
Schlafenden.

Er lehnte das Bild gegen den Reling und mit heftigen Griffen riß er das
graue Papier ab.

Das Licht des Mondes bestrahlte voll das Antlitz der Gioconda.

Er umwand das Bild mit einem der am Boden liegenden Taue, beschwerte es mit
einem Eisengewicht, hob es über die Reling empor und ließ es hinab.

Die Wasser kamen und nahmen es auf.

Er beugte sich weit über das Geländer, hielt das Tau fest und sah dem
versinkenden Bilde nach . . .

Da -- im letzten Augenblicke -- geschah etwas höchst Wunderbares und
Rätselhaftes.

Das Bild wandte sich eben noch einmal empor und durch das blaugrüne Wasser
sah man deutlich das lächelnde Antlitz. Plötzlich war es, als begännen die
Konturen des Bildes leise zu zittern, als zuckte es lebendig um diese
lächelnden Lippen und jetzt erhoben sich diese schrecklichen Hände und
streckten sich empor, empor, uns zu berühren.

Mit einem Ruck warf er das Tau hinaus. Im selben Augenblick aber sprang aus
seiner Brusttasche ein langer rötlicher Dolch, klirrte auf, zischte wie ein
Pfeil ins Wasser und heftete wie ein Kreuzesnagel die sich erhebenden Hände
auf der Tafel wieder fest . . .

Wie ein Schatten verschwand das Bild in der Tiefe.

Zwischen den blaugrünen Wellen stieg ein dünner Blutstrahl empor . . .

Sammlung abenteuerlicher Geschichten Bd. 4:

Paul Leppin

Severins Gang in die Finsternis

Ein Prager Gespensterroman

Mit Umschlagzeichnung von Richard Teschner Geheftet 2 Mark. In
Halbleinenband 3 Mark

Dieses Buch, das von der Wirrsal und Verderbnis einer von innern
Geschehnissen grausam geängstigten Knabenseele erzählt, rechtfertigt in
mehr als einer Beziehung den Titel »Gespensterroman«.

Seine Kapitel sind mit einem ungeheuern, unfaßbaren Schrecken angestellt,
der die Geburt, die Reise und die Vollendung eines Schicksals einkreist,
das aus dunklen und schlimmen Verstecken quillt. Aus den Gesichten einer
verirrten und gestörten Kindheit lösen sich rätselhafte Gefahren los,
abgefeimte Gedanken wachsen im Zwielichte, und der Tod wird zum grotesken,
verführerischen Spiel eines an der eigenen Unrast verzweifelnden Mörders.
Es ist ein guter und klug psychologischer Zug, daß der Autor seinen Helden
nicht an der Wirklichkeit seiner neurasthenischen Träume, sondern an einer
würdelosen Leidenschaft zugrunde gehen läßt, die seine von ratloser
Sehnsucht verheerten Sinnen mit allen Qualen der Hölle gepeinigt.

Dieser Roman, der eine bunte Folge wunderlicher Ereignisse und phantastisch
beleuchtender Figuren vor uns abrollt, ist ein Kulturdokument von
originellem Reiz. Das alte Prag mit der barocken Romantik seiner Fassaden
steigt darin auf, das seinen Mystizismus auch in der veränderten Landschaft
moderner Straßen und Plätze und in der einförmigen Physiognomie der
Vorstädte bewahrt. Die bewegliche Mischung deutscher, indischer und
slavischer Elemente findet sich hier unter einem gemeinsamen Firnis zu
einem Gärungsstoffe zusammen, der absonderlichen Prozessen unterworfen ist.
Es ist eine merkwürdige Gesellschaft, in die uns der Dichter einführt.
Entwurzelte, die sich vom Leben treiben lassen. Philosophen, die es mit
einem Lächeln abtun. Abenteurer, die aus Passion auf den Seelenfang
ausgehen, sentimentale Zyniker mit dem Habitus der Hasardspieler. Und
mitten unter diesen Männern und Weibern die rührende Gestalt Zdenkas, des
Tschechenmädchens, die neben dem kupplerischen Schatten böser Dinge mit
reinem Herzen in hilfloser Demut steht. »Severins Gang in die Finsternis«
ist auch der Roman ihrer Liebe. Diese Liebe, mit Süßigkeit und Tränen
beschwert, geht über alle irdischen Grenzen hinaus und gibt dem Buche
Leppins einen wunderbaren, ekstatisch vergoldeten Hintergrund.

Delphin-Verlag / München

Sammlung abenteuerlicher Geschichten Bd. 2:

A. M. Frey

Dunkle Gänge

Zwölf Geschichten aus Nacht und Schatten

Mit Umschlagzeichnung von L. Durm Geheftet 2 M. 50 Pf. In Halbleinenband 3
M. 50 Pf.

_Paul Zech im »Berliner Tageblatt«:_ »Zu den wenigen jüngeren
Schriftstellern, die das Erbe Edgar Poes mit dem richtigen Instinkt
aufnahmen und damit wucherten, gehört A. M. Frey. Er stellt sich mit seinem
Erstling gleich in die vorderste Reihe der Erzähler dieser exponierten
Gattung von Belletristik. Er holt seine Stoffe nicht aus unkontrollierbaren
Bezirken. Der Alltag, der in seiner bunten Vielgestaltigkeit auch diese
Abseitigkeit trägt, ist für Frey eine unerschöpfliche Fundgrube. Man wird
in unerklärliche Situationen befördert, ohne die Fahrt zu spüren. Man ist
plötzlich in einem unentrinnbaren Labyrinth und wie von Polypenarmen
umstrickt. Fast jede der zwölf Geschichten bohrt ein Extrem an, das die
festen Enden der Nerven berührt und aufpeitscht zu unerhörten Sensationen,
das Märchenhafte ins Grausige, Exzentrische, phantastisch Verstiegene und
übermenschlich Visionäre umwandelt. Man wird das Buch nicht mit einem
einmaligen Lesen abgetan haben. Es kribbelt in den Nerven weiter und setzt
Blutkreise in Bewegung, die in der Schalheit vieler Stofflichkeiten, die
den Augenblick bewegen, nur selten zirkulieren.«

_Eugen Reinbold in d. »Württemberger Zeitung«:_ »Neben der großenteils
originellen Erfindung bewundern wir die sichere Gestaltung, die geradezu
fesselnde Sprachkunst, die die Dinge mit persönlichem Leben zu erfüllen
weiß und sie philosophierend in Zusammenhang mit allgemein Menschlichem zu
bringen sucht. So möge, wer eine wirklich interessante und doch nicht rein
oberflächlich unterhaltende Lektüre liebt, nach diesem Werkchen greifen.«

_L. E. Kemmer in der »Badischen Landeszeitung«:_ »Mit einer knappen
Anschaulichkeit, die oft den Eindruck einer wohlgetroffenen Farbenskizze
macht, verbindet er eine Geschlossenheit der Form, wie wir sie nur bei den
bedeutendsten Novellisten finden, und die jede einzelne der zwölf
Erzählungen zu einem kunstvoll geschliffenen Edelstein gestaltet hat.«

Delphin-Verlag / München

Sammlung abenteuerlicher Geschichten Bd. 1:

Hermann Eßwein

Megander

Der Mann mit den zween Köpfen und andere Geschichten

Mit Umschlagzeichnung von A. Kubin Geheftet 3 Mark, in Halblederband 4 Mark
50 Pf.

_J. Robert im »Berliner Lokal-Anzeiger«:_ »Das Geschichtenbuch von Hermann
Eßwein: >Megander< enthält Tragikomödien, erzählt in einer Sprache, die
zuweilen an Gottfried Keller, öfter an Jean Paul erinnert. In der Mehrzahl
der acht Erzählungen klingt ein Motiv immer wieder an. Das Motiv vom
Rausch, vom göttlichen Rausch, der uns Vergessen bringt, aber auch
fortreißt zur schöpferischen Tat. Und diese Begeisterung, dieser Taumel,
diese starken phantastischen Kräfte zersplittern an der braven Gemeinheit
des Alltags. Und ein zweites Motiv klingt an: von wirren Träumen und vom
Wahnsinn.«

_Otto Pick im »Pester Lloyd«:_ »Eßwein gelingt es, den Leser durch rein
menschliches Interesse über Gespenstiges und Unerklärliches
hinwegzugeleiten. Dies scheint die Novellen zu den beliebten, kühl
erklügelten Geschichten vom Grauen in wohltuenden Gegensatz zu stellen: daß
sie nie von außen geformt, sondern von innen heraus mit künstlerischer
Notwendigkeit erstanden sind.«

_Dr. M. Schumann i. d. »Augsburger Neueste Nachrichten«:_ »Die Sprache
Eßweins ist meisterlich, und sein Standpunkt über den Dingen kennzeichnet
sich in der Art, wie er das Spießbürgerliche, Nüchterne mit seinem Spott
abtut. In dieser Sprache offenbart sich die ganze hervorragende
stilistische Begabung des Autors. Leicht beweglich, ungezwungen und doch so
wohlgeschliffen in jedem Ausdruck, gewinnt das Erzählte bei jedem Wort an
Selbstverständlichkeit. In dieser Sprache allein ist schon die ganze
Stimmung, die den Geschichten selbst zugrunde liegt, und all das gibt dem
Buch Eßweins einen hervorragenden Wert in der Literatur der sonderbaren
Geschichten; es ist eine der wenigen Erscheinungen auf diesem Gebiete, die
eine selbständige Bedeutung haben.«

Delphin-Verlag / München

Im gleichen Verlag sind ferner erschienen:

Päbstin Johanna / Roman

von Ludwig Gorm

In Pappband 3 Mark. In Halblederband 4.50 Mark

_Univ.-Prof. Dr. Fr. Muncker in den Münchener Neuesten Nachrichten:_ »In
dem Rahmen der kulturgeschichtlichen Novelle, deren künstlerische
Geschlossenheit und straffer Aufbau imponieren, behandelt der Dichter das
Problem von dem tragischen Schicksal der Frau, die zugrunde geht, weil sie
über die Grenzen ihrer Weiblichkeit hinaus wollte. Kein Leser wird diese
historische Novelle ohne tiefe Ergriffenheit lesen«.

Jung Schuk

»Ein moderner Werther-Roman« von Reinhard Goering

Geheftet 3 Mark. In Leinenband 4.50 Mark

_E. Dauthendey in der »Bayrischen Zeitung«:_ »In unserer Zeit der Fläche
und Oberfläche ein Buch in die Hand bekommen, das ganz und nur Tiefe ist,
berührt wie ein Ereignis. -- Jung Schuk ist die Geschichte eines Werdenden.
Der tief ergreifende Werdegang eines Mannes, der ganz nur auf das
Innerliche gestellt, zwischen den Abgründen der Idealität des Wollens und
der Realität des Müssens seinen bittren schmerzvollen Weg wandelt, auf dem
wir ihn mit tiefstem Interesse, das aus Weh und Freude seltsam gemischt,
bis zum Ende begleiten.«

Johann Peter Hebel

Das Schatzkästlein

des Rheinländischen Hausfreundes

Herausgegeben von Prof. Karl Voll, München Vollständige Ausgabe mit 30
Abbildungen In Pappband 10 Mark. In Halblederband 14 Mark

_Vilmar in seiner deutschen Literaturgeschichte:_ »Die Erzählungen des
Schatzkästleins sind an Laune, an tiefem und wahrem Gefühl, an
Lebhaftigkeit der Darstellung vollkommen unübertroffen. Sie sind die Freude
der Jugend und die Unterhaltung des Alters und wie alle echten Natur- und
Volksdichtungen eigentlich niemals durchzulesen und auszuschöpfen.« --
_Hermann Hesse im »März«:_ »Eine famose Überraschung sind die Holzschnitte;
sie atmen den Duft der Kaiserzeit und geben dem Buch wirklich einen neuen
Reiz und Klang, wie ein glücklich gefundener Rahmen ein altes wohlbekanntes
Bild noch heben und steigern kann.«

Delphin-Verlag / München

   Buchdruckerei Hesse & Becker, Leipzig



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