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Title: Briefwechsel zwischen Abaelard und Heloise - mit der Lebensgeschichte Abaelards
Author: Heloise, Abelard, Peter, 1079-1142
Language: German
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*** Start of this LibraryBlog Digital Book "Briefwechsel zwischen Abaelard und Heloise - mit der Lebensgeschichte Abaelards" ***


                             Briefwechsel
                               zwischen
                         Abaelard und Heloise
                               mit der
                     Leidensgeschichte Abaelards


                               Aus dem
                Lateinischen übersetzt und eingeleitet
                       von Dr. _P. Baumgärtner_


               _Verlag von Philipp Reclam jun. Leipzig_



               _Druck von Philipp Reclam jun. Leipzig_
                          Printed in Germany



Inhalt.


       _Einleitung_                                                  5--17
    1. Brief: Abaelard an einen Freund (Die Leidensgeschichte)      19--73
    2. Brief: Heloise an Abaelard                                   73--83
    3. Brief: Abaelard an Heloise                                   83--91
    4. Brief: Heloise an Abaelard                                  91--102
    5. Brief: Abaelard an Heloise                                 102--125
    6. Brief: Heloise an Abaelard                                 126--149
    7. Brief: Abaelard an Heloise                                 149--203
    8. Brief: Abaelard an Heloise                                 203--303
    9. Brief: Heloise an Abaelard                                 303--305
   10. Brief: Abaelard an Heloise (mit 2 Sammlungen von
              Hymnen)                                             305--312
   11. Brief: Abaelard an Heloise (mit einer Predigtsammlung)     312--313
   12. Brief: Abaelard an Heloise (Abaelards Glaubensbekenntnis)  313--315



Einleitung.


Die Übersetzung dieser Briefe ist entstanden in einer Zeit, da körperliches
Leiden mir ein selbständiges wissenschaftliches Arbeiten unmöglich machte.
Ich las und übersetzte anfangs zu meiner eigenen Unterhaltung und Übung;
doch je mächtiger diese Urkunden der Liebe und des geistigen Verkehrs
zweier so hochherziger Menschen mich selber anzogen, desto lebhafter regte
sich der Wunsch, auch anderen sie zugänglich zu machen. Unsere
kirchengeschichtliche Litteratur enthält so manchen edlen Schatz, der in
staubiger Hülle vergessen in den Bibliotheken aufgespeichert steht -- so
manches Schriftdenkmal, das in seiner fremden Sprache nur zum Gelehrten
redet, während es ans Licht gezogen und verständlich gemacht manchem
ernstergerichteten Leser Genuß und Erbauung zu bieten vermöchte.

So sind auch die Briefe, die von Abaelard und Heloise auf uns gekommen
sind, in Deutschland wenigstens, nur wenig bekannt, obwohl die beiden zu
jenen Liebespaaren von weltgeschichtlichem Rufe gehören, deren Namen
unauflöslich miteinander verbunden sind, wie Hero und Leander, Tristan und
Isolde, Dante und Beatrice. Im Ausland dagegen und besonders in Frankreich
schenkte man diesen Briefen frühzeitig Aufmerksamkeit, und namentlich die
eigentlichen Liebesbriefe wurden mannigfach dichterisch bearbeitet und
romanhaft ausgeschmückt -- jedoch nicht zu ihrem Vorteil: man vergleiche
die Bearbeitungen, die diesem Gegenstand durch einen Pope und Colardeau --
bei uns durch eine formvollendete poetische Übersetzung Bürgers eingeführt
-- zu teil geworden sind, mit unserem Original, und man wird leicht gewahr
werden, um wie viel edler und, bei aller Leidenschaftlichkeit, keuscher
dieses letztere ist als jene pikanten Leistungen.

Eine sehr elegante, dabei meist textgemäße französische Übersetzung der
Briefe giebt _O. Gréard_ in seinem Buche: »Lettres complètes d'Abélard et
d'Héloise, Paris, Garnier Frères«. Der französischen Übersetzung ist der
lateinische Text in der Recension von _Viktor Cousin_ beigegeben, die auch
unserer Übersetzung zu Grunde liegt.

Im Jahre 1844 ist eine deutsche Übersetzung des Briefwechsels erschienen
von _Moriz Carrière_,[1] und dieses Werk würde meine Übersetzung
überflüssig machen, wenn es überhaupt noch im Buchhandel zu haben wäre. Da
es jedoch gänzlich vergriffen ist -- ich selbst habe es nur nach
langwierigen Bemühungen zu Gesicht bekommen -- und eine neue Auflage nicht
in Aussicht steht, so glaubte ich mich zu dieser neuen Veröffentlichung
berechtigt. -- Carrière schickt seiner Übersetzung eine ausführliche,
ebenso gelehrte wie geistvolle Einleitung voraus, in der er mit dem Feuer
einer edlen Begeisterung Abaelards philosophischen und theologischen
Standpunkt darstellt. Diese Einleitung bildet nahezu ein Drittel des ganzen
Buches, so daß eigentlich in ihr der geistige Schwerpunkt desselben zu
sehen ist. Ich meinerseits beschränke mich in dieser kurzen Einleitung auf
das, was dem Leser zum Verständnis der Briefe notwendig ist -- zumal uns in
den Briefen Abaelard doch mehr als Mensch, weniger als Gelehrter
entgegentritt.

[Fußnote 1: M. Carrière: »Abaelard und Heloise. Ihre Briefe und
Leidensgeschichte übersetzt und eingeleitet durch eine Darstellung von
Abaelards Philosophie und seinem Kampf mit der Kirche.« (Gießen 1844, 2.
Auflage 1853.)]

Die hier veröffentlichte Briefsammlung umfaßt im ganzen zwölf Briefe. Dabei
ist als erster Brief mitgezählt das unter dem Namen der »Leidensgeschichte«
(historia calamitatum) bekannte Schriftstück, das in Form eines Briefes,
der an einen unbekannten Freund Abaelards adressiert ist, das vielbewegte
Leben des letzteren schildert bis zu dem Zeitpunkt, wo er in den großen
Streit mit Bernhard von Clairvaux eintritt -- also ein Stück
Autobiographie, das die Einleitung zu dem folgenden Briefwechsel bildet.

Überhaupt wurde dieser Brief die Veranlassung zu der ganzen folgenden
Korrespondenz: über ein Jahrzehnt war seit der Trennung der Liebenden
vergangen, und allem Anschein nach hatte während dieser ganzen Zeit jeder
Verkehr zwischen ihnen aufgehört. Da kam durch einen Zufall jener Brief
Abaelards in die Hände Heloisens und weckte »der alten Wunde unnennbar
schmerzliches Gefühl«. Die Geschichte der Leiden des geliebten Mannes, zu
denen er auch mit vollem Recht seine Liebe zählte, facht den Funken, der
noch immer in ihrem Herzen glimmt, zur hellen Flamme an, und noch einmal
durchlebt sie in der Erinnerung alle Freuden und alle Leiden einer hohen
Liebe. Aus der Hochflut dieser neuerwachten Gefühle heraus sind die Briefe
II und IV geschrieben: eine Beichte sondergleichen, ein Herzensaufschrei in
den unmittelbarsten, leidenschaftlichsten, kühnsten Lauten, die je über
Frauenlippen gekommen sind. Im Vergleich mit diesen Ergüssen hat man von
jeher die Antwortschreiben Abaelards auffallend ruhig und kühl gefunden. In
der That gleicht er in seinen Briefen (III und V) dem starren Felsenriff,
das unbewegt und fühllos bleibt, mitten in den ewig wiederholten
Umarmungsversuchen der Wogen. Man hat ihm aus dieser Kälte schwere
moralische Vorwürfe gemacht, ja an sein Verhalten auch schon allgemeine
philosophische Betrachtungen darüber angeknüpft, wie verschiedenartig die
beiden Geschlechter lieben. So besonders Johannes Scherr in seiner
geistreich-extremen Weise (Menschliche Tragikomödie, Bd. 2, »Heloise«). Die
Art, wie Abaelard Heloisens hungriges Herz abzuspeisen sucht, wie er der
Frau gegenüber, mit der er einst so wenig geistlich verfahren war, nun ganz
die Sprache des Geistlichen, des orakelnden Heiligen und Propheten führt,
macht im ersten Augenblick einen peinlichen, unangenehmen Eindruck, und hat
sogar stellenweise etwas Empörendes. Allein der Ton, den er anschlägt, ist
keine angenommene Maske; was er an Heloise schreibt, sind nicht bloß fromme
Phrasen, sondern es ist ihm bitterer Ernst; er ist wirklich bekehrt, er
bereut und sieht von diesem Standpunkt aus sein und Heloisens äußeres
Mißgeschick für eine gnädige Fügung Gottes zur Rettung ihrer Seelen an.
Sodann ist allerdings das Gefühl, das in Heloisens Herz eben jetzt in neuen
Flammen erwachte, in ihm gänzlich erstorben. Er macht daraus kein Hehl; er
sucht die einst Geliebte darüber nicht hinwegzutäuschen. Seine
Wahrhaftigkeit ist seine Entschuldigung. Wo aber eine Liebe erloschen ist,
da wird niemand glühende Liebesbriefe erwarten.

Man wird solche aber auch nicht erwarten, wenn man die Verschiedenheit des
Lebenswegs und der weiteren Geschicke der einst in Liebe Verbundenen in
Betracht zieht. Heloise war einst wider ihren Willen und wider ihre Natur
ins Kloster gegangen, nur aus Gehorsam gegen den geliebten Mann. Sie hatte
damit ein Opfer gebracht, dem ihre Natur nicht gewachsen war. Ruhe hatte
sie jedenfalls nicht gefunden hinter den Klostermauern. Zwar brachte sie es
durch ihre geistige und sittliche Energie dahin, daß sie in den Ruf
besonderer Heiligkeit kam, aber man lese ihre erschütternden Selbstanklagen
im vierten Brief, um einen Einblick in dies ruhelose unbefriedigte Herz zu
gewinnen. Aus solchem Gemütszustand heraus sind jene leidenschaftlichen
Ergüsse begreiflich, denen gegenüber Abaelards Auslassungen und
beichtväterliche Ermahnungen freilich kalt erscheinen. Ferner ist zu
bedenken: mit dem Eintritt ins Kloster war Heloisens Leben eigentlich
abgeschlossen; neue gewaltige Eindrücke, durch die die alten verwischt
worden wären, erwarteten die Klosterfrau nicht mehr. Sie zehrte von einer
kurzen Vergangenheit. Was sie aber mitbrachte von Erinnerungen an die Welt,
von Lebenseindrücken, das alles war für sie beschlossen in dem Namen
Abaelard. Dieser Name, ihr Ein und Alles, lebte in ihrem Herzen und mit ihm
die Liebe, und so bedurfte es nur eines zündenden Funkens, um die
zusammengesunkene Glut aufs neue zu entfachen. -- Abaelard dagegen war aus
dem friedlichen Port des Klosters, wohin auch er sich geflüchtet hatte,
mehrmals wieder hinausgeschleudert worden auf die hochgehenden Wogen des
Lebens und der Händel dieser Welt. Er hatte in seinem Beruf, der zwar große
Aufregungen und gehässige Verfolgungen, aber auch glänzende Triumphe mit
sich brachte, einen gewissen innern Halt und Befriedigung gefunden.
Jedenfalls aber war sein Leben so reich an erschütternden neuen Eindrücken
und packenden Erlebnissen, daß jene eine Erinnerung an seine Liebe, jenes
Erlebnis mit Heloise notwendig davor erblassen mußte. Er fühlt sich
überhaupt zu der Zeit, da unsre Briefe geschrieben wurden, als ein
gehetztes Wild, das von allen Seiten bedroht ist. Er bittet Heloise und
ihre Nonnen um ihre besondere Fürsprache im Gebet; er ist ein wegmüder
Mann, hat Todesgedanken und will im »Paraklet«, dem Kloster, das er
Heloisen eingeräumt, begraben sein. Daß er in dieser Verfassung andere
Briefe schrieb, als Heloise, wird man begreiflich finden. Will man ihm
etwas anrechnen, so mag man ihm einen Vorwurf _daraus_ machen, daß er einst
das Opfer einer geheimen Ehe (wiewohl dies immer noch besser war als die
damals unter Klerikern ganz gewöhnlichen _wilden_ Ehen) -- und das noch
größere Opfer des Klostergelübdes von Heloise angenommen hat. --

Nicht ohne Rührung liest man, wie Heloise nun im _sechsten_ Brief die
Stimme des Herzens, die bei Abaelard kein Echo zu wecken vermocht hatte, zu
bezwingen sucht -- »wiewohl wir nichts so wenig in der Gewalt haben wie
unser Herz« -- und um dennoch den Verkehr mit Abaelard aufrecht zu
erhalten, auf das wissenschaftliche Gebiet übergeht. Sie verlangt von
Abaelard Aufschluß über die Entstehung des Mönchswesens, und bittet ihn um
Abfassung einer Klosterregel mit besonderer Rücksicht auf das weibliche
Geschlecht. -- Auf beide Anliegen bleibt Abaelard die Antwort nicht
schuldig, sondern er legt sie nieder in zwei ausführlichen Abhandlungen
(Briefe VII und VIII), von denen namentlich die zweite nach unseren
Begriffen eher ein Buch als ein Brief zu nennen wäre. Ich habe sie dennoch
beide in ihrem ganzen Umfang aufgenommen, weil sie in kultur- und
kirchenhistorischer Beziehung von allgemeinerem Interesse sind und
besonders in die Anschauungen des Mittelalters und in den Betrieb des
Klosterwesens einen lebendigen Einblick gewähren.

Bezeichnend für Abaelard ist es, daß er am Schluß seiner Klosterregel im
Geiste Benedikts den Nonnen die Beschäftigung mit der Wissenschaft aufs
nachdrücklichste anbefohlen hatte. Im _neunten_ Briefe nun schreibt Heloise
an Abaelard, daß sie in dem Bestreben dieser seiner Vorschrift Folge zu
leisten, vielfach auf Hindernisse stoßen, da es ihnen oftmals am nötigen
Verständnis fehle und sie über einzelne Fragen nicht ins reine kommen. Und
so legt sie ihm denn zweiundvierzig Fragen zur Beantwortung vor, die meist
im Zusammenhang mit der Bibellektüre, wie sie von den Nonnen betrieben
wurde, stehen. Diese Fragen sind uns samt den Antworten Abaelards
überliefert; doch habe ich sie selbstverständlich nicht in unsre
Briefsammlung aufgenommen. Denn dieses Frag- und Antwortbuch entbehrt jedes
persönlichen Charakters und ist von ausschließlich wissenschaftlichem
Interesse. -- Die Briefe X und XI sind Begleitschreiben Abaelards zu
litterarischen Sendungen an Heloise. Der zehnte Brief ist dadurch
interessant, daß er ein Schreiben Heloisens an Abaelard rekapituliert, in
dem sie über den Mißstand klagt, der in Beziehung auf die
gottesdienstlichen Gesänge in ihrem Kloster herrsche. Abaelard verfaßte
infolge dieser Anregung selbst eine größere Anzahl von Hymnen zum
gottesdienstlichen Gebrauch für die Nonnen und hängte dieser Sammlung in
seinem Begleitschreiben den üblichen gelehrten Zopf an. -- Der _elfte_
Brief ist ein kurzes Billet, das Abaelard mit einer Sammlung eigener
Predigten an Heloise sandte. -- Der _zwölfte_ Brief endlich enthält das
Glaubensbekenntnis Abaelards. Offenbar hatte er es für nötig befunden, die
Freundin über seine Rechtgläubigkeit zu beruhigen, die von seinen Gegnern
so lebhaft bestritten wurde. Der Brief ist durch eine Schrift seines treuen
und streitbaren Schülers Berengar auf uns gekommen; das darin enthaltene
Bekenntnis klingt für unsre Begriffe sehr orthodox. -- Auch an diese Briefe
hat man schon die Torturschraube der Echtheitsfrage angelegt, allein ohne
Erfolg: wenn irgend eine Urkunde aus dem Mittelalter, so tragen _sie_ den
Stempel der Echtheit an sich. --

Zum Verständnis der Briefe ist es nötig, ein kurzes Wort über _die
hauptsächlichsten Sätze und Lehren Abaelards_ zu sagen. Wir sehen aus der
Selbstbiographie, welchen Reiz litterarische Kämpfe, wissenschaftliche
Disputationen und Erörterungen für Abaelard hatten. Es scheint damals
überhaupt unter der studierenden Jugend eine wahre Disputierwut geherrscht
zu haben. Alles und nichts bewies man mittels der dialektischen Methode und
vielfach glaubte man wohl auch damals, »wenn man nur Worte hörte, es müsse
sich dabei auch etwas denken lassen.« Abaelard war ein geborenes
Disputiergenie, und schon als junger unerfahrener Schüler machte er mit
seiner Streitsucht den Lehrern zu schaffen.

Auf dem Gebiete der Philosophie war zu jener Zeit die Kardinalfrage, über
der die Gelehrten sich in zwei Lager teilten, die Frage nach dem Verhältnis
der _Allgemeinbegriffe_ zu den _Einzeldingen_ (z. B. Menschheit -- Mensch).
Der Streit ging zurück bis auf Plato und Aristoteles. Nach Plato kommt nur
dem Allgemeinen, der Idee wirkliche Existenz zu, während die Einzeldinge
nur schwache unvollkommene Abbilder, gleichsam Schatten davon sind. So hat
z. B. die Idee, das Urbild der Schönheit (in einer andern Welt), _reale_
Existenz und alles Einzelne, was wir hier in dieser Welt schön finden, ist
nur ein Abglanz dieses Ideals. Im Gegensatz zu dieser Meinung lehrte
Aristoteles: _reales_ Sein kommt nur dem _Einzelding_ zu, die
Allgemeinbegriffe existieren nur im menschlichen Denken, sind nichts als
Kombinationen des menschlichen Verstandes, eben nichts als Begriffe
(nomina).

Realismus und Nominalismus wurden nun seit dem elften Jahrhundert die
Schlagworte, die die Parteien auf ihre Fahne schrieben, je nachdem sie sich
an Plato oder an Aristoteles anschlossen. Der eigentliche wissenschaftliche
Begründer des Nominalismus ist Roscelinus; der Hauptvertreter des Realismus
Wilhelm von Champeaux. Beide waren Abaelards Lehrer, aber keiner konnte ihm
ganz Genüge thun. Mit welcher Kühnheit er Wilhelm von Champeaux nötigte,
seine Lehre zu ändern, lesen wir in Abaelards erstem Briefe. Daß diese
philosophischen Theorien, je nachdem man sie auf die Theologie anwandte, zu
bedenklichen Resultaten führen konnten, sieht man an dem Beispiel
Roscelins. Dieser leugnete als konsequenter Nominalist die wirkliche
Existenz des Allgemeinbegriffs »Gottheit« und es blieben ihm nur die drei
Einzelwesen Vater, Sohn, Geist als real existierend, während ihm die
Einheit in und trotz der Dreiheit verloren ging, so daß er der Ketzerei des
Tritheismus (der Dreigötterlehre) beschuldigt wurde. Seitdem war der
Nominalismus den Vertretern der Kirchlichkeit verdächtig und anrüchig. Aber
auch Abaelard selbst bekämpfte diesen Nominalismus seines ehemaligen
Lehrers, und in der schwebenden Frage nahm er seine Stellung in der Mitte
zwischen Roscelinus und Wilhelm von Champeaux, indem er lehrte: allerdings
sei der Begriff, das Allgemeine Grund und Wesen der Einzeldinge und dürfe
nicht bloß (wie die Nominalisten behaupteten) als bloße Abstraktion des
Verstandes und Vorstellung angesehen werden. Allein ebensowenig dürfe man
den Allgemeinbegriffen eine von den Einzeldingen gesonderte Existenz
zuschreiben (wie die Realisten), vielmehr komme das Allgemeine in der Welt
der Wirklichkeit nur in Verbindung mit dem Individuellen zur Erscheinung.

War demnach Abaelards philosophischer Standpunkt unter dem Einfluß der
Platonischen Ideenlehre eher realistisch (also nach damaligen Begriffen
korrekt) zu nennen als nominalistisch, so gingen auch auf dem Gebiete der
_Theologie_ seine wissenschaftlichen Bestrebungen nicht etwa auf Zersetzung
und Auflösung der kirchlichen Dogmen aus, sondern was die gesamte
scholastische Theologie anstrebte, die Vernünftigkeit der bestehenden
Dogmen verstandesmäßig nachzuweisen, das wollte auch er. Nur ging er dabei
mit einer Kühnheit und Konsequenz zu Werke, die ihm in kurzer Zeit eine
scharfe Gegnerschaft erwecken mußte. Schon sein _Erkenntnisprinzip_ drehte
die bisherige Anschauung geradezu um. Bis jetzt hatte in der Kirche der
Grundsatz gegolten: »credo, ut intellegam« (»ich glaube, damit ich
verstehe«), d. h. der Glaube muß dem Verständnis vorausgehen. Abaelard
dagegen lehrte, der Ausgangspunkt alles Wissens sei _der Zweifel_; etwas zu
glauben, ohne es zuvor eingesehen, mit dem Verstande durchdrungen zu haben,
sei widersinnig und unwürdig.

Am heftigsten wurde Abaelard wegen seiner _Lehre von der Trinität_
angegriffen; in seiner »Leidensgeschichte« schildert er aufs
anschaulichste, wie er das Buch, in dem diese Lehre enthalten war, auf der
Synode von Soissons (1121) verbrennen mußte; und noch zwanzig Jahre später,
auf der Synode zu Sens, wo er definitiv verurteilt wurde, hielt man ihm
diese Lehre als Ketzerei vor. Er lehrte nämlich über die Dreieinigkeit
folgendes: Die Substanz der einheitlichen Gottheit werde im einzelnen
bestimmt durch die drei Namen Vater, Sohn, Geist. Vater heiße die Gottheit
nach der ihr zukommenden Eigenschaft der Allmacht, Sohn nach ihrer
Weisheit, heiliger Geist nach ihrer Liebe und Güte. Gott ist also Vater,
Sohn und Geist, d. h. er ist allmächtig, weise und gütig. Diese Lehre
zeigte eine bedenkliche Verwandtschaft mit der von der Kirche verdammten
Trinitätslehre des Sabellius, der die drei Personen der Gottheit als
verschiedene Offenbarungsformen der einen Gottheit nahm (Modalismus).

Großen Anstoß mußten auch _seine ethischen Grundsätze_ und die daraus
resultierende _Lehre von der Sünde_ erregen. Nach Abaelard kommt für das
sittliche Urteil nicht die That als ausgeführte in Betracht, sondern _die
Gesinnung_, aus der sie entspringt. Die Kriegsknechte, die den Herrn
kreuzigten und glaubten damit etwas Gutes zu thun, haben nicht gesündigt.
Andererseits kann Sünde vorhanden sein, wo die sündige That noch gar nicht
geschehen ist. Eva hatte den Sündenfall bereits in dem Augenblick begangen,
als sie den Entschluß faßte, den Apfel zu essen. Alles kommt darauf an, daß
einer Liebe hat. »Habe nur Liebe und du magst thun was du willst.« Das Echo
dieser Lehre vernehmen wir in den Briefen wiederholt.

Während Abaelard so sehr den tiefen Ernst der Sünde verkannte, trat er auch
mit seiner _Lehre von der Erlösung_ in scharfen Gegensatz zu der
Kirchenlehre. In der Kirche war anerkannt die Satisfaktionstheorie des
Anselm von Canterbury, wonach Gott durch Hingabe seines Sohnes die erste
Sünde getilgt und die Menschheit von dem aus jener Sünde entspringenden
ewigen Verderben erlöst hat. Wie kann, ruft Abaelard aus, die
verhältnismäßig geringe Sünde durch die unendlich größere gesühnt werden,
wie sie sich in der Tötung Gottes darstellt! Vielmehr besteht die Erlösung
in einem innerlichen, rein sittlichen Prozeß. Nämlich im Leben, Leiden und
Sterben Jesu bekundet sich eine so mächtige Liebe zur Menschheit, daß
dieselbe notwendig in uns eine Gegenliebe entzündet von solcher Kraft, daß
wir dadurch von der Knechtschaft der Sünde erlöst und Kinder Gottes werden.
--

Dies waren die hauptsächlichsten Irrlehren, die man Abaelard zum Vorwurf
machte, und solcher einzelner Sätze bedurfte man freilich, wenn man ihn auf
Kirchenversammlungen der Ketzerei überführen wollte. Im Grunde aber war der
Kampf, in dem Abaelard kämpfte und schließlich fiel, ein viel
prinzipiellerer. Es war der große Gegensatz zwischen Dialektik und
kontemplativer Mystik, dem er zum Opfer fiel. Die letztere Richtung nahm
eben damals durch ihren geistesgewaltigen Vertreter, Bernhard von
Clairvaux, einen mächtigen Aufschwung. Er ist der eine der beiden Gegner,
die Abaelard am Schluß seiner »Leidensgeschichte« wie drohende Wolken an
seinem Horizont auftauchen sieht, und seinen Machinationen ist er erlegen.
Während die Dialektik durch Vermittelung des Verstandes zur
Glaubenseinsicht und Gotteserkenntnis zu gelangen strebte, wollte die
Mystik die Gottheit unmittelbar erfahren und erfassen. Als den Weg dazu
bezeichnet Bernhard _die Liebe_. »Gott wird _erkannt_, soweit er _geliebt_
wird« war sein Grundsatz. Nicht Nachdenken und logische Schlüsse führen in
die Nähe Gottes, sondern _die Heiligung_, deren höchste Blüte die _Ekstase_
ist, die freilich nur wenigen in besonders geweihten Momenten zu teil wird,
und mittelst deren sich die Seele zum unmittelbaren Anschauen und Genießen
der Gottheit emporschwingt. In diesem Zustand werden ihr Offenbarungen
kund, wie sie durch Studium und Wissenschaft niemals erreicht werden.

Dieser gewaltige Mensch, von dem selbst das Haupt der Kirche willig
Belehrung annahm, lud den Vielverfolgten zum Entscheidungskampf auf die
Synode zu Sens im Jahr 1141. Der langvorbereitete Streich fiel vernichtend
auf Abaelards Haupt. Zwar appellierte er von dem Urteil der Synode, das ihn
der Ketzerei bezichtigte, an den Papst; allein vergebens. Der päpstliche
Spruch lautete auf Exkommunikation, lebenslängliche Klosterhaft und
Verbrennung seiner Schriften. Abaelard wollte selbst seine Sache in Rom
führen und machte sich auf den Weg. Aber er kam nicht weit. Unterwegs
kehrte der müde Wanderer in der Abtei zu Clugny ein; Abt Petrus der
Ehrwürdige nahm ihn auf und bot ihm sein Kloster zum dauernden Asyl für die
kurze Zeit, die ihm noch vergönnt war, an. Abaelard machte durch die
Vermittelung des Petrus seinen Frieden mit der Kirche und mit Bernhard, und
hat wenigstens sein letztes Lebensjahr unangefochten im Frieden des
Klosters verbracht.

Über seine letzten Lebenstage haben wir einen anschaulichen Bericht von
Petrus, den dieser an Heloise schickte. Voll Befriedigung weist der
ehrwürdige Abt darauf hin, wie gläubig und kirchlich, wir möchten sagen,
wie orthodox der große Gelehrte gestorben sei. Auf uns aber macht der
Bericht den wehmütigen Eindruck, daß der einst so geistesmächtige kühne
Streiter hingeschieden ist als ein körperlich und geistig gebrochener Mann.
Die in Betracht kommende Stelle in dem Brief des Abts Petrus lautet in der
Übersetzung folgendermaßen: »Ich erinnere mich meines Wissens nicht, in
demütiger Haltung und Gebärde seinesgleichen gesehen zu haben, so daß einem
aufmerksamen Beobachter weder Germanus niedriger, noch selbst Martinus
ärmer erscheinen konnte. Wiewohl er in der großen Schar unsrer Brüder auf
meine Veranlassung eine höhere Stellung einnahm, schien er doch in seinem
vernachlässigten Gewand der letzte von allen zu sein. Oftmals, wenn er bei
Prozessionen nach der Sitte mit mir den andern voranschritt, wunderte ich
mich und mußte staunen, daß ein Mann von solch hochberühmtem Namen sich so
sehr gering achten und demütigen könne. Es giebt in unserm Orden Leute,
denen ihr geistliches Gewand nicht kostbar genug sein kann; er war in
dieser Hinsicht so bescheiden, daß er sich mit dem unscheinbarsten
begnügte. So hielt er es auch mit Speise und Trank und mit allen leiblichen
Bedürfnissen. Nicht etwa bloß das Überflüssige, sondern alles was nicht
unumgänglich notwendig war, verwarf er für sich und andere in Wort und
Beispiel. Beständig war er mit Lesen beschäftigt, häufig im Gebet vertieft;
sein Schweigen unterbrach er nur, wenn der vertrauliche Verkehr mit den
Brüdern oder ein öffentlicher Vortrag über göttliche Dinge im Konvent ihn
dazu nötigten. Die himmlischen Sakramente feierte er so oft er konnte, Gott
das Opfer des ewigen Lamms darbringend; ja nachdem er durch meine Briefe
und Verwendung die päpstliche Gnade wieder erlangt hatte, nahm er fast
beständig daran teil. Was soll ich viel Worte machen? Sein Geist, sein
Mund, seine Handlungsweise dachte, lehrte und bezeugte allezeit göttliche,
philosophische, wissenschaftliche Wahrheiten. Also lebte er mit uns noch
eine Zeitlang schlecht und recht, gottesfürchtig und meidend das Böse, und
weihte Gott die letzten Tage seines Lebens. Da er an einem starken
Hautausschlag und andern körperlichen Beschwerden litt, sandte ich ihn zur
Erholung nach Châlons. In der Nähe der Stadt, am Saônefluß, einer der
schönsten Gegenden unsres Burgunder Landes, hatte ich ihm für einen
passenden Aufenthalt gesorgt. Hier nahm er die gewohnten Studien wieder
auf, so weit die Krankheit es ihm gestattete und saß beständig über den
Büchern. Und wie man von Gregor dem Großen erzählt, so ließ auch er keinen
Augenblick verstreichen, ohne zu beten, zu lesen, zu schreiben oder zu
diktieren. In der Ausübung solch frommer Werke fand ihn bei seiner Ankunft
der Heimsucher, von dem das Evangelium spricht, und zwar nicht schlafend
wie viele, sondern wachend. Ja wachend fand er ihn und berief ihn zur
himmlischen Hochzeit, nicht als eine thörichte, sondern als eine kluge
Jungfrau. Denn er trug bei sich die Lampe, gefüllt mit Öl, das ist ein
Gewissen erfüllt vom Zeugnis heiligen Wandels. Den gemeinsamen Tribut der
Sterblichkeit zu entrichten, wurde er stärker und stärker von der Krankheit
ergriffen und gelangte in kurzer Zeit zum Ziele. Wie fromm, wie
gottergeben, wie ganz katholisch er seinen Glauben und seine Sünden
bekannte, mit welcher Inbrunst sein sehnsüchtiges Herz die letzte
Wegzehrung und das Unterpfand des ewigen Lebens, nämlich den Leib des
Herrn, unsres Erlösers, empfing, wie gläubig er Leib und Seele für Zeit und
Ewigkeit ihm empfahl, das bezeugen alle Brüder des Klosters, in dem der
Leib des heiligen Märtyrers Marcellus ruht. Also beschloß Meister Petrus
die Tage seines Lebens. Er, der durch sein Wissen und sein Lehren fast der
ganzen Welt bekannt und überall berühmt war, hat in der Schule dessen, der
gesagt hat: 'lernet von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen
demütig' -- sanftmütig und demütig ausgeharrt, und ist also, das dürfen wir
glauben, zu ihm selbst hinübergegangen.«

                   *       *       *       *       *

Ein _chronologischer Überblick_ über das Leben Abaelards und Heloisens
ergiebt nach dem heutigen Stande der Forschung folgende Daten: Abaelard ist
geboren zu Palais bei Nantes im Jahr 1079; Heloise[2] geboren zu Paris
1101. Im Jahr 1113 ist Abaelard das Haupt der Pariser Schule. Nach längerer
Abwesenheit kehrt er 1117 nach Paris zurück und lernt im Jahr 1118 die
damals siebzehnjährige Heloise kennen, ihr Verhältnis dauert während des
Jahrs 1118-19. Die Gründung des Klosters »Zum Paraklet« durch Abaelard
fällt ins Jahr 1123. Von 1125 an ist Abaelard im Kloster von St. Gildas. Im
Jahre 1129 wird Heloise mit ihren Nonnen aus St. Denis vertrieben. Vom
Jahre 1131 stammt die Bulle des Papstes Innocenz II., worin die Überweisung
des Parakleten an Heloise bestätigt wird. Aus dem Jahre 1132 ungefähr
datiert die »Leidensgeschichte« (Brief I). Im Jahre 1134 verläßt Abaelard
das Kloster St. Gildas. 1136 ist er wieder Lehrer auf dem Berge der
heiligen Genoveva. Im Jahre 1141 wird er auf dem Konzil von Sens verurteilt
und stirbt 1142 im Kloster zu St. Marcel bei Châlons-sur-Saône. Heloise
folgt ihm im Jahre 1163.

[Fußnote 2: Über sonstige Personalien Heloisens sind wir ganz im Dunkeln.
Nicht einmal ihre Abkunft steht fest. Es sind darüber schon alle mögliche
Vermutungen aufgetaucht: von der Behauptung, sie stamme aus dem Geschlecht
der Montmorency, einem der ältesten Adelsgeschlechter Frankreichs -- bis zu
der Ansicht, sie sei nicht sowohl die Nichte des Kanonikus Fulbert gewesen,
als welche sie in den Briefen figuriert, sondern dessen eigene Tochter.]

_Davos_, im März 1894.

Dr. P. Baumgärtner.



I. Brief.

Abaelard an einen Freund.

(Die Leidensgeschichte.)


Gewöhnlich sind es nicht Worte, sondern handgreifliche Vorbilder, die das
menschliche Herz am meisten erregen oder aber zur Ruhe bringen. Darum habe
ich mich entschlossen, dir zum Trost _die Geschichte meiner Leiden_
niederzuschreiben, nachdem ich schon durch mündlichen Zuspruch dich
aufzurichten versucht habe, als du das letzte Mal bei mir weiltest. Erkenne
aus diesen Zeilen, daß das, was du Leiden nennst, im Vergleich mit den
meinigen überhaupt keine sind oder doch nur geringfügige Heimsuchungen --
und lerne sie geduldig tragen.

Ich bin geboren in der Stadt Palais, an der Grenze der Bretagne, ungefähr
acht Stunden östlich von Nantes gelegen. Ein lebhaftes Temperament und ein
leichtempfänglicher Sinn für die Wissenschaft war das Erbe meines
heimatlichen Bodens oder des Blutes, das in meinen Adern rollte. Mein Vater
hatte sich etwas mit Wissenschaft befaßt, ehe er den ritterlichen
Waffenschmuck angelegt hatte, und später war er so sehr für das Studium
eingenommen, daß er darauf sah, alle seine Söhne zuerst wissenschaftlich
auszubilden, ehe sie sich im Waffenhandwerk übten. Und so geschah es auch.
Ich war der Erstgeborene, und je mehr er mich als solchen ins Herz
geschlossen hatte, desto mehr war er bei mir auf einen sorgfältigen
Unterricht bedacht. Die Fortschritte, die ich in den Wissenschaften mit so
leichter Mühe machte, spornten meinen Eifer nur an und schließlich war
meine Neigung zu ihnen so stark geworden, daß ich allen kriegerischen Glanz
samt meinem Erbe und den Vorrechten meiner Erstgeburt drangab und die
Jüngerschaft des Mars verlassend mich ganz in den Dienst Minervas stellte.
Und da ich allen Systemen der Philosophie die Rüstkammer der Dialektik
vorzog, legte ich meine bisherige Waffenrüstung ab und erkor mir statt der
Kriegstrophäen die Kämpfe des Geistes. Ich wurde eine Art Peripatetiker,
indem ich disputierend die Gegenden durchwanderte, von denen es hieß, daß
dort die Kunst der Dialektik besonders ausgebildet sei.

So kam ich denn auch nach Paris, wo von alters her diese Wissenschaft in
höchster Blüte stand. Wilhelm von Champeaux, der in diesem Fache einen
wohlverdienten Ruf genoß, wurde mein Lehrer. Ich besuchte eine Zeitlang
seine Schule und war anfangs ganz wohl bei ihm gelitten; bald aber wurde
ich ihm höchst unbequem, da ich von seinen Sätzen einige zu widerlegen
versuchte und mir wiederholt herausnahm, ihn mit Gegengründen anzugreifen,
wobei ich ihm einigemale sichtlich überlegen war. Auch die bedeutendsten
meiner Mitschüler gerieten darüber höchlich in Entrüstung, um so mehr als
ich der jüngste war und von allen die kürzeste Studienzeit hinter mir
hatte. Und so begann die lange Kette meiner Leiden, die noch immer ihr Ende
nicht erreicht haben, und je weiter mein Ruf sich verbreitete, desto
heftiger entbrannte der Neid meiner Widersacher. Es geschah, daß ich meinen
jugendlichen Kräften Übermäßiges zumutend im Vertrauen auf meine
Geistesgaben noch als ganz junger Mann danach trachtete, eine eigene Schule
zu gründen und schon faßte ich einen Schauplatz für meine künftigen Thaten
in die Augen: nämlich Melun, einen Ort, der damals als königliche Residenz
von ziemlicher Bedeutung war. Mein Lehrer merkte meine Absicht, und um
meine Schule möglichst entfernt von der seinigen zu halten, bot er, so
lange ich seine Schule noch besuchte, insgeheim alle Mittel auf, um die
Einrichtung meiner eigenen zu verhindern und mir den Ort, den ich gewählt
hatte, unmöglich zu machen. Allein er hatte sich mit einigen einflußreichen
Herren des Landes verfeindet; mit ihrer Hilfe führte ich meinen Plan zum
Ziel, und gerade seine offenkundige Mißgunst verschaffte mir das Vertrauen
der Mehrzahl. Gleich durch die ersten Versuche, die ich im Unterrichten
machte, bekam ich einen solchen Namen als Meister der Dialektik, daß der
Ruhm meiner Mitschüler ja sogar der meines Lehrers selbst zu erbleichen
anfing. So wuchs mein Selbstvertrauen immer mehr und ich ruhte nicht, bis
ich meine Schule so schnell wie möglich nach Corbeil verlegt hatte, wo
wegen der Nähe von Paris meinem Ungestüm zu dialektischen Kämpfen
reichlichere Gelegenheit geboten war.

Es dauerte jedoch nicht lange, bis ich infolge von Überanstrengung
erkrankte und in meine Heimat zurückkehren mußte. So war ich einige Jahre
aus Frankreich sozusagen verbannt und wurde von denen, die sich der
Dialektik befleißigten, lebhaft vermißt. Nach Verfluß einiger Jahre jedoch,
als ich mich längst wieder erholt hatte, änderte Wilhelm von Champeaux,
mein berühmter Lehrer und Archidiakon von Paris, plötzlich seine
Lebensweise, indem er in den Orden der regulierten Chorherrn eintrat -- man
sagte mit der Absicht, auf diese Weise den Schein größerer Frömmigkeit zu
erwecken und sich dadurch zu um so höherer Würde aufzuschwingen. Dies
gelang ihm denn auch in kürzester Zeit: er wurde Bischof von Châlons, ohne
sich jedoch durch diese Umgestaltung seines Lebens von Paris oder von der
gewohnten Beschäftigung mit der Philosophie abhalten zu lassen; vielmehr
hielt er eben in dem Kloster, in das er sich, um der Frömmigkeit zu
pflegen, zurückgezogen hatte, öffentliche Vorlesungen wie früher. Damals
kehrte ich zu ihm zurück, um Rhetorik bei ihm zu hören; abgesehen von
mancherlei sonstigen wissenschaftlichen Kämpfen, in denen wir uns
gegeneinander versuchten, brachte ich ihn durch unumstößliche Beweisgründe
dahin, daß er seine von jeher vorgetragene Lehre von den Universalien
(Allgemeinbegriffen) abänderte, ja gänzlich aufgab. Seine Lehre von der
Gemeinsamkeit der Universalien bestand darin, daß er behauptete, ein und
dieselbe Wesensbeschaffenheit liege allen Einzeldingen zu Grunde, so daß
diesen nach seiner Meinung keine _eigentliche_ Wesensverschiedenheit
zukomme, sondern nur eine Mannigfaltigkeit, die von der Menge der
hinzutretenden Accidentien herrühre. Nun änderte er seine Lehre insofern,
daß er nicht mehr die Identität der Wesensbeschaffenheit behauptete,
sondern nur ihre Indifferenz. Dieser Punkt galt aber bei den Dialektikern
von jeher als einer der wichtigsten in der Lehre von den Universalien, so
daß selbst Porphyrius in seinen Isagogen bei Gelegenheit der Besprechung
der Universalien hierüber keine Entscheidung zu treffen wagt, sondern sich
damit begnügt zu sagen: »dies ist ein sehr heikler Punkt«. Da nun Wilhelm
von Champeaux in diesem Punkt seine Lehre geändert, oder vielmehr
unfreiwillig aufgegeben hatte, kamen seine Vorlesungen dermaßen in
Mißkredit, daß man ihm kaum noch gestattete, überhaupt Dialektik zu lesen,
als ob diese ganze Wissenschaft ihren Kernpunkt in der Frage von den
Universalien hätte.

Unter diesen Umständen wuchs das Ansehen meiner eigenen Schule nur
immermehr. Die eifrigsten Anhänger Wilhelms, die meine Lehre früher am
heftigsten bekämpft hatten, kamen nunmehr zu mir; ja, der Nachfolger
Wilhelms an der Schule zu Paris bot mir seinen Lehrstuhl an, um sich mit
den andern zu meinen Füßen zu setzen, da wo einst unser gemeinsamer Lehrer
geglänzt hatte. Und so war ich denn dort nach kurzer Zeit unbeschränkter
Herrscher auf dem Gebiete der Dialektik und als solcher ein Gegenstand
unsäglichen Neides und Schmerzes für meinen früheren Lehrer. Außer stande,
das Mißgeschick, das ihn betroffen hatte, länger zu tragen, griff er zu
unlauteren Mitteln, um mich auch jetzt wieder zu verdrängen. Da er im
offenen Kampfe nichts gegen mich vermochte, setzte er auf Grund von
allerhand ehrenrührigen Beschuldigungen die Entfernung des Mannes durch,
welcher mir seinen Lehrstuhl überlassen hatte, worauf einer meiner Gegner
an seine Stelle rückte. Daraufhin kehrte ich nach Melun zurück und begann
daselbst zu lehren wie früher, und je unverhüllter sich die Mißgunst
Wilhelms gegen mich zeigte, desto mehr trug sie zum Wachstum meines Ruhmes
bei -- nach dem Dichterwort:

   »Die Größe macht der Neid zu seinem Ziel,
   Am schärfsten weht der Sturmwind auf den Höhn.«

Bald darauf merkte Wilhelm, daß die Mehrzahl seiner Schüler an der
Aufrichtigkeit seiner Frömmigkeit zu zweifeln begann und sich allerhand
über seine Bekehrung zuraunte, da er sich nicht im geringsten veranlaßt
gesehen hatte, sich aus der Hauptstadt zurückzuziehen. Nun siedelte er mit
seinem Konventikel und mit seiner Schule an einen von der Stadt Paris
ziemlich entfernten Ort über. Alsbald kehrte ich von Melun nach Paris
zurück, in der Hoffnung, nun Ruhe vor ihm zu haben. Da jedoch, wie gesagt,
mein Platz noch von meinem Gegner eingenommen war, so ließ ich mich mit
meiner Schule außerhalb der Stadt auf dem Berg der heiligen Genoveva
nieder, als wollte ich jenen Eindringling belagern. Auf die Kunde davon war
Wilhelm unverfroren genug, alsbald nach Paris zurückzukehren; was er noch
an Schülern hatte, brachte er samt seiner kleinen Bruderschaft in seinem
alten Kloster unter; es sah aus, als wollte er den Posten, den er allein im
Feld gelassen hatte, von unsrer Belagerung befreien. Allein während er ihm
nützen wollte, schadete er ihm nur. Vorher nämlich hatte der gute Mann noch
etliche Schüler gehabt, hauptsächlich wegen seiner Vorlesungen über
Priscianus, für die ihm ein gewisser Ruf zur Seite stand. Nach der Ankunft
des Meisters jedoch verlor er vollends alle und war so genötigt, sein
Lehramt aufzugeben, und es dauerte nicht lange, bis auch er, dem Ruhme
dieser Welt völlig entsagend, ins Kloster ging. Welche Schlachten auf dem
Felde der Wissenschaft meine Schüler nach der Rückkehr Wilhelms mit ihm
selbst wie mit seinen Anhängern ausgefochten haben und wie die Gunst des
Schicksals in diesen Kämpfen mit mir und den meinigen war, das hat dir
längst der weitere Verlauf der Ereignisse gezeigt. Kühnlich, wenn auch
bescheidnern Sinnes, darf ich jenes Wort des Aiax auf mich anwenden:

   »Und fragst du nach dem Ende dieses Kampfs,
   So sag ich stolz: er hat mich nicht besiegt.«

Wollte ich darüber schweigen, die Thaten würden für sich selbst sprechen
und der schließliche Erfolg würde laut genug für mich zeugen.

Während dieser Vorgänge drang meine geliebte Mutter Lucia in mich, nach
Hause zu kommen. Mein Vater Berengar war nämlich ins Kloster gegangen, und
meine Mutter hatte das Gleiche im Sinn. Nach Erledigung dieser
Angelegenheit kehrte ich nach Frankreich zurück, hauptsächlich mit der
Absicht, Theologie zu studieren. In diesem Fache genoß Wilhelm von
Champeaux innerhalb seines Bistums Châlons eines ziemlichen Rufes. Die
größte Autorität auf diesem Gebiete war jedoch seit lange sein Lehrer
Anselm von Laon.

Ich besuchte also die Schule dieses ehrwürdigen Mannes, der freilich seinen
Namen mehr einer langjährigen Thätigkeit zu danken hatte als seinem Geist
und seiner Bedeutung. Wer über irgend eine Frage im Zweifel war und an
seine Thür pochte, um sich Rats zu erholen, der wußte nachher gewiß weniger
als vorher. Der Masse der Zuhörer wußte er zu imponieren, wenn man aber
unter vier Augen mit ihm sprach, machte er einen sehr dürftigen Eindruck.
Er verfügte über eine ungewöhnliche Redegewandtheit, aber es steckte im
Grunde wenig dahinter. Das Feuer, das er entzündete, füllte sein Haus nur
mit Rauch, statt es zu erleuchten. Er glich einem Baum, der in seinem
reichen Blätterschmuck von weitem vielversprechend aussah, und doch wenn
man ihn aus der Nähe genauer betrachtete, keine Früchte aufzuweisen hatte.
Daher als ich hinzutrat, um Früchte bei ihm zu finden, fand ich in ihm
jenen Feigenbaum, den der Herr einst verfluchte, oder jene alte Eiche, mit
der der Dichter Lucanus den Pompejus vergleicht, indem er sagt:

   »Von seinem Namen lebt nur noch ein Schatten,
   Wie im fruchtbaren Feld der hohe Eichbaum steht.«

Nachdem ich dies herausgefunden hatte, blieb ich nicht lange müßig in
seinem Schatten liegen, sondern besuchte seine Vorlesungen immer seltener.
Einige seiner bedeutendsten Schüler waren nun darüber empört, daß ich einem
Lehrer von solcher Bedeutung so wenig Achtung zollte und wußten ihn durch
allerlei Ränke und Verleumdungen gegen mich einzunehmen. Eines Tags nach
Abschluß einer wissenschaftlichen Besprechung unterhielten wir uns in
zwangloser Weise. Einer meiner Mitschüler fragte mich bei dieser
Gelegenheit, um mich in Verlegenheit zu bringen, was ich vom Lesen der
heiligen Schrift halte. Ich, der ich bis jetzt nur weltliche Wissenschaft
getrieben hatte, antwortete, daß es kein ersprießlicheres Studium gebe als
das der Bibel, weil diese uns über das Heil unserer Seele unterrichte; nur
müsse ich mich darüber höchlich wundern, daß den Gelehrten zum Verständnis
der heiligen Schriftsteller nicht der einfache Text und etwa die Glossen
dazu genügen, sondern daß sie noch weitere Hilfsmittel nötig hätten.
Darüber erhob sich ein allgemeines Gelächter und man fragte mich, ob ich
mir getraue, einen solchen Versuch zu machen. Ich erwiderte, daß ich zur
Probe bereit sei, wenn sie es darauf ankommen lassen wollten. »Gewiß wollen
wir,« antworteten sie mir unter Geschrei und erneutem Gelächter; »man wird
Euch zu einem weniger bekannten Text einen Ausleger anweisen und wir werden
sehen, wie Ihr Euer Versprechen haltet.«

Sie vereinigten sich nun auf ein höchst schwieriges Kapitel des Propheten
Ezechiel; ich nahm den Ausleger an und lud sie schon auf den folgenden Tag
zu einer Vorlesung ein. Sie jedoch wollten mich gegen meinen Willen eines
Besseren belehren und meinten, eine so wichtige Sache dürfe man nicht
übereilen; da ich in diesem Fache doch noch wenig Übung habe, müsse ich
mehr Zeit auf die Ausarbeitung meiner Erklärung verwenden. Allein ich
antwortete in gereiztem Tone, daß ich gewohnt sei, mich nicht auf eine
möglichst lange Frist, sondern auf meinen Verstand zu verlassen, und ich
werde überhaupt die ganze Sache aufgeben, wenn sie sich nicht ohne Verzug
zu der Vorlesung einfinden wollten, wann ich es wünsche. Zu meiner ersten
Vorlesung fanden sich nun allerdings nur wenige ein; die meisten fanden es
lächerlich, daß ich -- bisher ganz unbewandert im Studium der heiligen
Schrift -- damit so kurzer Hand verfahren wollte. Denen aber, die meiner
Vorlesung anwohnten, gefiel sie so gut, daß sie sie nicht genug loben
konnten und mich drängten, meine Erklärung nach dieser meiner Methode
fortzusetzen. Als dies bekannt wurde, beeilten sich auch die, die bisher
ferngeblieben waren, in die zweite und dritte Vorlesung zu kommen, und
waren eifrig darauf bedacht, von dem, was ich am ersten Tag gelesen hatte,
sich eine Abschrift zu verschaffen.

Die Folge davon war, daß der alte Anselm von gewaltiger Eifersucht befallen
wurde, und da er schon vorher infolge mißgünstiger Einflüsterungen nicht
gut auf mich zu sprechen war, verfolgte er mich nun wegen meiner
theologischen Vorlesungen gerade so, wie es einst Wilhelm wegen der
philosophischen gethan hatte.

Für seine beiden bedeutendsten Schüler galten damals Alberich von Rheims
und Lotulph aus der Lombardei; jemehr diese von sich selber eingenommen
waren, destoweniger waren sie mir hold. Es hat sich nachmals
herausgestellt, daß Anselm sich durch ihre Vorstellungen bestimmen ließ,
mir die Fortsetzung meiner begonnenen Erklärung am Schauplatz seiner
Lehrthätigkeit kurzweg zu untersagen, unter dem Vorwand, es möchten, da
meine Erfahrung in diesem Fache noch mangelhaft sei, Verstöße vorkommen,
für die er dann verantwortlich gemacht werden würde. Als dies meinen
Schülern zu Ohren kam, war ihre Entrüstung über einen so unverblümten
Brotneid groß; denn deutlicher konnte sich ja die Eifersucht nicht zu
erkennen geben. Je mehr ich übrigens unter solchen Verfolgungen zu leiden
hatte, desto größer wurde dadurch mein Ansehen und mein Ruhm.

So kehrte ich denn auch bald nach Paris zurück, und hatte dort den mir
schon längst bestimmten und angebotenen Lehrstuhl, von dem ich vertrieben
worden war, einige Jahre in ungestörter Ruhe inne; gleich im Anfang meiner
Wirksamkeit ging mein Streben dahin, jene Glossen zu Ezechiel zu vollenden,
die ich in Laon begonnen hatte. Dieses Werk fand beim Publikum eine äußerst
günstige Aufnahme, und man hörte bereits das Urteil, daß meine theologische
Begabung in nichts hinter meiner philosophischen zurückbleibe. Die
Begeisterung für meine Vorlesungen in beiden Fächern vermehrte die Zahl
meiner Schüler ganz erheblich; welcher Gewinn, welcher Ruhm mir daraus
erwuchs, das ist auch dir gewiß nicht unbekannt geblieben. Allein das Glück
hat von jeher die Thoren aufgebläht; die Sicherheit dieser Welt schwächt
die Kräfte der Seele und der Geist erliegt dann nur allzu leicht den
Lockungen des Fleisches. So ging es auch mir: schon hielt ich mich für den
einzigen Philosophen in der Welt, der von keiner Seite mehr einen Angriff
zu fürchten brauche, und ich, der bis jetzt die strengste Enthaltsamkeit
geübt hatte, begann nun meinen Leidenschaften die Zügel schießen zu lassen.
Je mehr ich in Philosophie und Theologie Fortschritte machte, desto weiter
blieb ich mit meinem unreinen Lebenswandel hinter den Philosophen und den
Heiligen zurück. So viel ist sicher, daß die Philosophen und noch mehr die
Heiligen, d. h. die, die ihr Leben nach den Geboten der heiligen Schrift
einrichteten, ihr Ansehen hauptsächlich ihrer Enthaltsamkeit verdanken. Ich
nun war ganz und gar von der Krankheit des Stolzes und der Sinnlichkeit
befallen, aber Gott hat mich in seiner Gnade von beiden Übeln geheilt,
freilich gegen meinen Willen, und zwar zuerst von der Sinnlichkeit, dann
vom Stolz. Von der Sinnlichkeit, indem er mich dessen beraubte, womit ich
ihr gefrönt hatte; vom Stolz, der sich auf mein Wissen gründete -- denn
»Wissen bläht auf«, sagt der Apostel -- indem er mich die Demütigung
erleben ließ, daß mein berühmtestes Buch verbrannt wurde.

Ich möchte, daß du mit der Geschichte dieser Vorgänge nicht bloß durchs
Hörensagen bekannt würdest, sondern durch eine getreue, dem Gang der
Ereignisse folgende Darstellung. Vor dem schmutzigen Verkehr mit
Buhlerinnen hatte ich von jeher einen Abscheu, andererseits ließ mich mein
Studium, das mich ganz und gar in Anspruch nahm, nicht zum Umgang mit
edleren Frauen kommen, auch war ich in den Umgangsformen weltlichen
Verkehrs nicht bewandert. Da fand das Schicksal, mich scheinbar hätschelnd,
in Wirklichkeit aber mir feindlich gesinnt, ein bequemes Mittel, um mich
von dem Gipfel meiner Größe herabzustürzen -- ja vielmehr die göttliche
Liebe wollte mich, der ich in meinem Übermut des Dankes gegen die Gnade
Gottes vergessen hatte, durch eine tiefe Demütigung auf den rechten Weg
zurückbringen.

Es lebte in Paris eine Jungfrau Namens Heloise, die Nichte eines Kanonikus
Fulbert, der ihr zuliebe alles that, um an ihrer wissenschaftlichen
Ausbildung nichts zu verabsäumen. Gehörte sie schon ihrem Äußern nach nicht
zu den letzten, so war sie durch den Reichtum ihres Wissens weitaus die
erste. Denn je seltener man den Vorzug wissenschaftlicher Bildung bei
Frauen findet, destomehr Reiz verlieh sie diesem Mädchen, das sich dadurch
bereits im ganzen Lande einen Namen gemacht hatte. Sie, die ich mit allem
geschmückt sah, was Liebe zu wecken pflegt, gedachte ich nun durch Bande
der Liebe an mich zu fesseln, und zweifelte keinen Augenblick an meinem
Erfolg. Mein Name war damals hoch gefeiert und ich stand in der Blüte
männlicher Jugendschöne, so daß ich keine Zurückweisung fürchten zu müssen
glaubte, wenn ich eine Frau meiner Liebe würdigte, mochte sie sein, wer sie
wollte. Von Heloise aber glaubte ich, daß sie sich mir um so lieber ergeben
werde, als sie wissenschaftliche Bildung besaß und eine Vorliebe für die
Wissenschaften hatte. Ich sagte mir, daß wir infolgedessen selbst in die
Ferne schriftlich miteinander verkehren konnten, daß man dabei der Feder
manches kühne Wort vertrauen könne, das die Lippe nicht gewagt hätte, und
daß uns so allezeit Gelegenheit zum süßesten Gedankenaustausch geboten sei.

Von glühender Liebe zu diesem Mädchen erfüllt, suchte ich nach einer
Gelegenheit, um sie durch täglichen Verkehr in ihrem Hause näher kennen zu
lernen und sie meinen Wünschen gefügig zu machen. Ihres Oheims eigene
Freunde waren mir dabei behilflich; ich kam mit ihm überein, daß er mich um
eine beliebige Entschädigung in sein Haus aufnehmen sollte, das ganz in der
Nähe meiner Schule lag. Ich gebrauchte dabei den Vorwand, daß mir bei
meinem Gelehrtenberuf die Sorge für meine leibliche Notdurft hinderlich sei
und mir auch zu teuer zu stehen komme. Nun war Fulbert ein großer Geizhals,
dabei aber doch darauf bedacht, daß seine Nichte in ihrer gelehrten Bildung
möglichst große Fortschritte mache. Beides zusammen verschaffte mir ohne
Schwierigkeiten die Einwilligung zu dem, was ich wollte: einerseits war der
Alte auf das Geld aus, andererseits versprach er sich von meinem Unterricht
einen Vorteil für das Mädchen. Ja, er kam selber meinen Wünschen über alles
Erwarten entgegen und leistete unbewußt meiner Liebe Vorschub. Er überließ
mir Heloise ganz und gar zur Erziehung und bat mich obendrein dringend, ich
möchte doch ja alle freie Zeit, sei's bei Tag oder bei Nacht, auf ihren
Unterricht verwenden, ja, wenn sie sich träge und unaufmerksam zeige, solle
ich sie rücksichtslos bestrafen. Ich mußte nur staunen über eine solch
grenzenlose Einfalt, die das unschuldige Lamm dem hungrigen Wolf
anvertraute. Er gab sie mir also nicht bloß in die Lehre, sondern übertrug
mir auch das Recht der Züchtigung. War damit meinen Wünschen nicht Thür und
Thor geöffnet? Machte er es mir auf diese Weise doch möglich, ohne daß ich
es wollte, mit Drohen und Schlagen zum Ziele zu gelangen, wenn die Worte
der Verführung nichts nutzten! Aber ein Zweifaches hielt jeden Verdacht
fern von ihm: die Liebe zu seiner Nichte und die allbekannte
Unbescholtenheit meines bisherigen Lebens.

Was soll ich weiter viel sagen? Zuerst Ein Haus, dann Ein Herz und Eine
Seele. Unter dem Deckmantel der Wissenschaft gaben wir uns ganz der Liebe
hin und unsere Beschäftigung bot uns von selbst die Gelegenheit des
Alleinseins, wie Liebende sie wünschen. Da war denn freilich über dem
offenen Buche mehr von Liebe die Rede als von Wissenschaft, da gab es mehr
Küsse als weise Sprüche. Nur allzu oft verirrte sich die Hand von den
Büchern weg zu ihrem Busen, und eifriger als in den Schriften lasen wir
eins in des andern Augen; ja, um jeden Verdacht unmöglich zu machen, ging
ich einigemale soweit, daß ich sie züchtigte. Aber es war Liebe, die
schlug, nicht Grimm; Neigung, nicht Zorn, und diese Züchtigungen waren
süßer als aller Balsam der Welt. Kurz: die ganze Stufenleiter der Liebe
machte unsre Leidenschaft durch, und wo die Liebe eine neue Entzückung
erfand, da haben wir sie genossen. Der Reiz der Neuheit, den diese Freuden
für uns hatten, erhöhte nur die Ausdauer unserer Glut und unsere
Unersättlichkeit. Je mehr ich ein Sklave der Lust geworden war,
destoweniger hatte ich mehr übrig für Wissenschaft und Schule. Es war mir
im Innersten zuwider, vor meine Schüler hinzutreten und unter ihnen zu
weilen; zugleich war es ein aufreibendes Leben, das ich führte: meine
Nächte gehörten der Liebe, die Tage der geistigen Arbeit. Meine Vorträge
waren gleichgültig und matt, meine Rede sprühte nicht mehr von Funken des
Geistes, erhob sich nicht mehr über das Gewöhnliche. Ich konnte nur noch
wiederholen, was ich früher ausgedacht hatte, und wenn ich dann und wann
noch imstande war, ein Lied zu dichten, so sang ich vom Lob der Minne,
nicht von den Tiefen der Weisheit. Die meisten dieser Lieder leben noch
jetzt, wie du wohl weißt, da und dort im Munde des Volkes und werden von
denen gesungen, die Gleiches erleben.

Von der Trauer, dem Jammer, den Klagen meiner Schüler als sie entdeckten,
daß ich innerlich in dieser Weise in Anspruch genommen, ja gestört sei,
kann man sich kaum eine Vorstellung machen. Eine Sache, die so klar am Tage
lag, konnte ja unmöglich ein Geheimnis bleiben, und ich glaube fast: nur
der Mann wußte nichts davon, dessen Ehre dabei am meisten auf dem Spiele
stand, der Oheim des Mädchens selbst. Zwar wurde er mehrmals und von
verschiedenen Seiten gewarnt; allein er schenkte solchen Einflüsterungen
keinen Glauben und zwar aus den oben genannten Gründen, wegen der
unbegrenzten Liebe zu seiner Nichte und wegen der unbezweifelten Reinheit
meines Vorlebens. Denn wohl fällt es uns schwer, von denen, die wir lieben,
Schlechtes zu glauben, und wahre Liebe weiß nichts von dem schleichenden
Gifte des Argwohns. So schreibt auch der heilige Hieronymus in seinem Brief
an Sabinianus: »Gewöhnlich erfahren wir selbst es zuletzt, wenn in unserem
Hause etwas nicht in Ordnung ist, und wissen nichts von den Fehlern unserer
Kinder und Frauen, wenn die Nachbarn schon laut davon sprechen.« -- Aber
wenn auch spät, einmal wird es doch offenbar; was alle wissen, bleibt einem
einzigen auf die Dauer auch nicht verborgen.

Dies war, nachdem einige Monate verflossen waren, auch das Schicksal
unserer Liebe. Ach, wie zerriß diese Entdeckung dem Oheim das Herz! Wie
groß war der Schmerz, der die Liebenden selbst durch die nun folgende
Trennung traf! Welche Schande, welche Verlegenheit für mich! Mit welcher
Verzweiflung erfüllte mich das Unglück des Mädchens! Welche Qualen, welche
Trauer über den Verlust meines eigenen guten Leumunds stand ich aus! Jedes
von uns beklagte nicht sein eigenes Mißgeschick, sondern nur das des
andern. Allein die körperliche Trennung befestigte nur das Band unserer
Seelen und unsere Liebe wurde um so glühender, je mehr die Befriedigung ihr
fehlte. Nachdem unsre Leidenschaft einmal die Fesseln der Scham
durchbrochen hatte, wurden wir unempfindlich gegen sie, und das Schamgefühl
hatte um so weniger Einfluß auf uns, je lockender die Sünde erschien, die
wir begangen. Wir erlebten an uns dasselbe, was der Dichter von Mars und
Venus erzählt, als sie bei einander überrascht wurden.

Bald darauf fühlte Heloise sich Mutter; in der höchsten Freude
benachrichtigte sie mich davon und fragte mich um Rat, was nun zu thun sei.
Nachdem wir vorher darüber eins geworden waren, entführte ich sie ihrem
Oheim in einer Nacht, da er nicht zu Hause war. Unverzüglich geleitete ich
sie in meine Heimat zu meiner Schwester, bei der sie bis zur Geburt eines
Knäbleins verblieb, dem sie den Namen Astralabius gab. Fulbert gebärdete
sich bei seiner Heimkehr wie ein Rasender; nur wer es selbst mit ansah,
kann sich eine Vorstellung machen von der Wut seines Schmerzes und von
seiner peinlichen Verlegenheit. Er wußte nicht, was er mir anthun, welche
Rache er an mir nehmen sollte. Mir nach dem Leben zu stehen oder mir einen
leiblichen Schaden zuzufügen -- davon hielt ihn die Angst ab, seine
vielgeliebte Nichte möchte dies bei den Meinigen zu büßen bekommen. Auch
konnte er sich nicht etwa meiner Person bemächtigen und mich mit Gewalt in
irgend einen Gewahrsam bringen. Denn gerade in dem Punkt war ich sehr auf
meiner Hut; ich kannte ihn als einen Mann, der sich nicht lange besinnen
würde, wenn sich gute Gelegenheit zu einem Wagnis böte. Zuletzt aber bekam
ich selbst Mitleid mit dem ungemessenen Schmerz des Mannes, auch machte ich
mir Gewissensbisse über die Art und Weise, wie ich ihn um meiner Liebe
willen hintergangen hatte, und klagte mich des schwärzesten Verrates gegen
ihn an. So ging ich denn zu Fulbert, bat ihn um Vergebung und bot ihm jede
beliebige Entschädigung an. Ich beteuerte ihm, daß niemand über meine That
befremdet sein könne, der die Macht der Liebe einmal erfahren habe und der
wisse, wie schmählich von Anbeginn der Welt an selbst die größten Männer
durch die Weiber zu Fall gebracht worden seien. Um ihn völlig zu
besänftigen, bot ich ihm eine Genugthuung an, die er nicht erwarten konnte:
nämlich das verführte Mädchen zu meiner rechtmäßigen Frau zu machen, unter
der einen Bedingung, daß unsere Ehe geheim bleiben sollte, damit ich an
meinem Ruf keine Einbuße erleide. Fulbert ging darauf ein und er sowohl als
seine Freunde gaben mir die Hand darauf und besiegelten durch Küsse den
Friedensschluß -- nur um mich desto sicherer zu verraten.

Ich kehrte nun in meine Heimat zurück und holte die Geliebte ab, um sie zu
meiner Frau zu machen. Aber Heloise war keineswegs damit einverstanden und
riet mir aus zwei Gründen dringend von meinem Vorhaben ab: nämlich wegen
der Gefahr und wegen der Unehre, der ich mich dadurch aussetze. Sie
versicherte mich, Fulbert lasse sich durch keine Genugthuung über das, was
geschehen sei, beruhigen. Es zeigte sich später, daß sie recht hatte. Sie
fragte mich, wie sie sich meines Besitzes sollte freuen können, wenn sie
dadurch meinen Ruhm untergrabe und sich und mich zugleich erniedrige. Wie
könnte sie es vor der Welt verantworten, wenn sie ihr eine solche Leuchte
entzöge! Wie viel Verwünschungen würden diesem Ehebund nachgesandt werden,
welcher Schaden würde der Kirche daraus erwachsen, wie viel Thränen würde
die Wissenschaft darüber vergießen! Wie erbärmlich und kläglich wäre es,
wenn ein Mann wie ich, geschaffen für die ganze Welt, sich durch ein Weib
binden lassen und sich unter ein schimpfliches Joch beugen wollte! Sie
verwarf diese Ehe aufs lebhafteste, da sie mir in jeder Hinsicht nachteilig
und eine Last sei. Sie hielt mir ferner die geringe Achtung vor, in der die
Ehe stehe und die Unannehmlichkeiten, die damit verbunden seien, zu deren
Vermeidung der Apostel uns mahnt mit den Worten: »Bist du los vom Weib, so
suche kein Weib. So du aber freiest, sündigest du nicht, und so eine
Jungfrau freiet, sündiget sie nicht; doch werden solche leibliche Trübsal
haben; ich verschonete aber euer gerne.« -- Und noch einmal sagt er: »ich
wollte aber, daß ihr ohne Sorge wäret.« -- Und wenn ich weder den Rat des
Apostels noch die Warnungen der heiligen Väter vor dem Joch der Ehe
annehmen wolle: so möchte ich doch wenigstens auf die Philosophen hören und
auf das, was in dieser Hinsicht entweder durch sie oder über sie
geschrieben worden sei. Auch die Kirchenväter beziehen sich ja vielfach auf
sie, um uns zu warnen. Als Beispiel führte sie den heiligen Hieronymus an,
der im ersten Kapitel seiner Schrift »Gegen Jovinianus« von Theophrastus
erzählt, daß dieser in einer ausführlichen Besprechung der unerträglichen
Beschwerden und beständigen Aufregungen, die der Ehestand mit sich bringe,
schließlich mit den überzeugendsten Gründen zu dem Schluß komme: der Weise
sollte überhaupt nicht heiraten. Am Schluß seiner Betrachtungen über jene
Äußerungen des Philosophen sagt Hieronymus selbst: »Welcher Christ muß sich
nicht beschämt fühlen, wenn er einen Theophrastus also reden hört?« In
derselben Schrift -- fuhr Heloise fort -- führt Hieronymus das Beispiel
Ciceros an. Als dieser sich von Terentia hatte scheiden lassen, redete ihm
sein Freund Hircius zu, er solle seine Schwester heiraten; allein er lehnte
dies entschieden ab, da er sich nicht zugleich einer Frau und der
Philosophie widmen könne. Er sagt nicht einfach »sich widmen«, sondern fügt
das Wort »zugleich« hinzu. Er wollte nichts thun, was ihn verhindert hätte,
seine Aufmerksamkeit völlig auf die Philosophie zu beschränken.

Doch ich will davon nicht weiter sprechen, welches Hindernis für deinen
gelehrten Beruf eine bürgerliche Ehe wäre. Denke nur an das übrige, was sie
in ihrem Gefolge hätte. Was für ein Durcheinander! Schüler und Kammerzofen,
Schreibtisch und Kinderwagen! Bücher und Hefte beim Spinnrocken,
Schreibrohr und Griffel bei den Spindeln! Wer kann sich mit Betrachtung der
Schrift oder mit dem Studium der Philosophie abgeben und dabei das Geschrei
der kleinen Kinder, den Singsang der Amme, der sie beruhigen soll, die
geräuschvolle Schar männlicher und weiblicher Dienstboten hören? Wer mag
die beständige widerliche Unreinlichkeit der Kinder gern ertragen? Reiche
Leute wissen sich in dieser Beziehung zu helfen, das gebe ich zu, denn sie
sind in ihren fürstlichen Räumen nicht beschränkt, sie brauchen in ihrem
Überfluß nicht auf die Kosten zu sehen und die Sorge ums tägliche Brot
liegt ihnen fern. Allein die Lage der Philosophen ist eine andere als die
der Reichen und wiederum: wer nach irdischen Schätzen trachtet und in die
Sorgen dieser Welt verwickelt ist, hat keine Zeit für göttliche oder
philosophische Dinge.

Darum haben auch die großen Philosophen der alten Zeit voll Weltverachtung
das Leben in der Welt aufgegeben, ja förmlich geflohen, jeden irdischen
Genuß sich versagend, um allein in den Armen der Weisheit Ruhe zu finden.
Einer der größten von ihnen, Seneca, giebt dem Lucilius folgende Anweisung:
»Nicht bloß deine freie Zeit darfst du der Philosophie widmen: ihr zulieb
muß man alles andere hintansetzen, nie kann man auf sie zu viel Zeit
verwenden. Vernachlässigst du das Studium der Philosophie eine Zeitlang, so
ist dies fast ebenso, wie wenn du es ganz aufgeben würdest; denn durch
zeitweise Unterbrechung geht der ganze Gewinn verloren. Anderweitigen
Ansprüchen müssen wir aus dem Wege gehen und sie fern von uns halten, statt
sie zu befriedigen.« Was noch jetzt unsere Mönche, wenigstens die diesen
Namen wahrhaft verdienen, aus Liebe zu Gott thun, das thaten in der alten
Zeit aus Liebe zur Weisheit die edlen heidnischen Philosophen. Denn in
jedem Volke, sei es heidnischen, jüdischen oder christlichen Glaubens, hat
es von jeher Männer gegeben, die durch Glauben oder Sittenreinheit über den
anderen standen und durch einen besonderen Grad von Enthaltsamkeit und
Strenge von der großen Menge geschieden waren.

So gab es bei den Juden von alters her Nasiräer, die sich nach einer
besonderen Gesetzesvorschrift Gott weihten; da waren ferner die Söhne der
Propheten, die Jünger des Elia und Elisa, die uns im Alten Testament nach
dem Zeugnis des heiligen Hieronymus wie Mönche beschrieben werden. Etwas
ähnliches waren auch jene drei philosophischen Sekten, die Josephus in
seinen »Altertümern«, Kapitel XVIII, aufzählt und teils Pharisäer, teils
Sadducäer, teils Essäer nennt. Bei uns sind die Mönche an ihre Stelle
getreten, die entweder das gemeine Leben der Apostel nachahmen, oder nach
dem ältern Vorbild das Einsiedlerleben des Johannes. Die Heiden aber hatten
dafür, wie gesagt, ihre Philosophen. Denn unter dem Namen »Weisheit« oder
»Philosophie« verstanden sie weniger den Betrieb der Wissenschaft als eine
gottgeweihte Lebensführung; dies lehrt uns die ursprüngliche Bedeutung des
Wortes und außerdem auch das Zeugnis der heiligen Väter. So sagt der
heilige Augustin im achten Kapitel seines Buches »Vom Gottesstaat«, wo er
die verschiedenen Philosophenschulen aufzählt, folgendes: »Der Stifter der
Italischen Schule ist Pythagoras von Samos; man sagt, daß von ihm der Name
'Philosophie' herrühre. Früher nämlich wurden Männer, die sich durch
tadellose Lebensführung irgendwie über die andern erhoben, Weise genannt.
Pythagoras dagegen sagte, als man ihn nach seinem Beruf fragte, er sei ein
Philosoph, d. h. ein Jünger oder Liebhaber der Weisheit; sich einen Weisen
zu nennen, hielt er für eine Anmaßung.«

Nun geht aus den Worten: »die sich _durch tadellose Lebensführung_
irgendwie über die andern erhoben« -- deutlich hervor, daß die heidnischen
Weisen, d. h. die Philosophen, ihren Namen nicht dem Ruhm ihres Wissens,
sondern der Vortrefflichkeit ihres Lebenswandels verdankten. Für die
Nüchternheit und Enthaltsamkeit ihres Lebens brauche ich dir aber nicht
erst Beispiele anzuführen: das hieße Eulen nach Athen tragen. Wenn aber
Laien, und dazu Heiden, durch kein religiöses Gelübde gebunden, also gelebt
haben, was wirst dann du zu thun haben, du, ein Geistlicher und Chorherr?
Wolltest du dem Dienste Gottes niedrige Sinnenlust vorziehen und dich in
ihren Strudel hineinziehen lassen, wolltest du in diesem Schlamm versinken,
jeder Scham bar und ohne Hoffnung auf Rückkehr? Wenn dich die Rücksicht auf
deinen geistlichen Beruf nicht zurückzuhalten vermag, so wirf wenigstens
die Würde des Philosophen nicht weg. Lässest du die Gottesfurcht außer
acht, so möge doch das Ehrgefühl deine Begierde zügeln. Denke an die
unglückselige Ehe des Sokrates, und wie schwer er den Verrat an der
Philosophie büßen mußte, allen anderen zum abschreckenden Beispiel.
Hieronymus spricht davon im ersten Buch seiner Schrift »Gegen Jovinianus«,
wo er eben von Sokrates erzählt: »Xanthippe überschüttete ihn einmal vom
Fenster aus mit einer endlosen Flut von Schimpfworten. Sokrates ließ es
ruhig über sich ergehen, und als ihm seine Ehehälfte auch noch schmutziges
Wasser auf den Kopf goß, trocknete er sich ruhig ab und sagte: 'Ich wußte
wohl, daß ein solches Donnerwetter nicht ohne Regen bleiben werde.'«

Heloise stellte mir außerdem noch vor, wie gefährlich es für mich sei, sie
nach Paris zurückzuführen, und wie viel lieber sie meine Geliebte als meine
Gattin heißen wolle, abgesehen davon, daß jenes für mich ehrenvoller sei.
Einzig und allein der freien Liebe wolle sie meinen Besitz verdanken, nicht
dem Zwang des ehelichen Bandes. Und je seltener unsere Zusammenkünfte
stattfinden könnten, desto süßer werden die Freuden unserer Vereinigung
nach der zeitweiligen Trennung sein.

Da sie nun durch derartige Ratschläge und Warnungen meinen verblendeten
Sinn nicht umzustimmen vermochte und mich doch auch nicht beleidigen
wollte, brach sie ihre Vorstellungen unter Seufzen und Thränen mit den
Worten ab: dies allein bleibt uns noch zu thun übrig: so wird unser
gemeinsames Verderben besiegelt sein und ein Jammer über uns kommen, so
groß wie einst unser Liebesglück war. Und auch darin -- die ganze Welt weiß
es -- hatte ihr prophetischer Geist nur allzurichtig gesehen.

Wir ließen unser Kind in der Obhut meiner Schwester und kehrten heimlich
nach Paris zurück. Dort wurden wir bald nach unserer Ankunft eines Morgens
in aller Frühe getraut, nachdem wir die Nacht in einer Kirche mit der Feier
der Vigilien in der Stille verbracht hatten. Als Zeugen waren zugegen der
Oheim Heloisens, sowie einige Verwandte von meiner und ihrer Seite. Dann
trennten wir uns alsbald -- jedes ging still seines Wegs, und von da an
sahen wir uns nur noch selten und verstohlen, da unsere Ehe geheim bleiben
sollte.

Heloisens Oheim jedoch und seine Angehörigen, die den ihnen zugefügten
Schimpf immer noch nicht verschmerzt hatten, fingen an, unser Ehebündnis
bekannt zu machen und brachen damit das Versprechen, das sie mir gegeben
hatten. Heloise ihrerseits verschwor sich hoch und teuer, daß jene lügen,
und zog sich dadurch vielfach Mißhandlungen des erbitterten Fulbert zu. Als
ich davon hörte, brachte ich sie in das Nonnenkloster Argenteuil bei Paris,
in dem Heloise erzogen worden war. Ich ließ sie auch die Gewandung anlegen,
die das Klosterleben erfordert -- mit Ausnahme des Schleiers. Nun aber
glaubten Fulbert und seine Verwandten, ich hätte sie jetzt erst recht
hintergangen und Heloise zur Nonne gemacht, um sie los zu werden. Aufs
höchste entrüstet vereinigten sie sich zu meinem Verderben. Nachdem sie
meinen Diener durch Geld gewonnen hatten, nahmen sie eines Nachts, als ich
ruhig in meiner Kammer schlief, die denkbar grausamste und beschämendste
Rache an mir, so daß alles darüber entsetzt war: sie beraubten mich dessen,
womit ich begangen hatte, worüber sie klagten. Die Thäter ergriffen alsbald
die Flucht, zwei von ihnen wurden jedoch festgenommen, geblendet und
entmannt. Einer davon war jener Diener, der stets in meiner Umgebung
gewesen und durch seine Geldgier zum Verräter an mir geworden war.

Als es Tag wurde, strömte die ganze Stadt vor meiner Wohnung zusammen, und
es ist schwer, ja geradezu unmöglich, die Äußerungen des Entsetzens, des
Jammers, des Geschreis, der Klagen zu beschreiben, die nun laut wurden.
Hauptsächlich die Kleriker und ganz besonders meine Schüler vermehrten
meine Qual durch ihre unerträglichen Lamentationen. Ihr Mitleid war mir
schmerzlicher, als meine Wunde selber; das Gefühl meiner Schmach war
lebendiger in mir als der körperliche Schmerz, ich dachte mehr an die
Schande als an die Verletzung. Der hohe Ruhm, dessen ich mich eben noch
erfreut hatte -- wie schwer war er in einem Augenblick geschädigt worden!
Ja, vielleicht war er für immer dahin! Wie gerecht war Gottes Strafe, die
mich an dem Teil meines Körpers schlug, mit dem ich gesündigt hatte! Wie
recht hatte der, den ich zuerst verraten hatte, wenn er mir nun Gleiches
mit Gleichem vergalt! Wie werden -- so sagte ich mir -- meine Widersacher
die Gerechtigkeit preisen, die hier so offenbar waltete! In welch
untröstliche Betrübnis wird dieser Schlag meine Eltern und Freunde
versetzen! Wie wird die Kunde von dieser seltenen Schmach die ganze Welt
durchlaufen! Blieb mir überhaupt noch ein Ausweg? Wie konnte ich's noch
wagen, in der Öffentlichkeit zu erscheinen, da alles mit Fingern auf mich
deuten und hinter mir herzischeln mußte? Würde ich nicht von allen als ein
ungeheuerliches Schauspiel betrachtet werden?

Nicht zum wenigsten ängstigte mich auch die folgende Erwägung: nach dem
tötenden Buchstaben des Gesetzes sind Eunuchen vor Gott ein solcher Greuel,
daß Leute, die ihrer Mannheit beraubt sind, als anrüchig und unrein den
Tempel nicht betreten dürfen, und daß sogar Tiere, bei denen dies der Fall
ist, nicht zum Opfer zugelassen werden. Im Levitikus heißt es: »Du sollst
dem Herrn kein Zerstoßenes oder Zerriebenes oder Zerrissenes oder was
verwundet ist, opfern« -- und 5. Mos., Kap. 23: »Es soll kein Zerstoßener
noch Verschnittener in die Gemeinde des Herrn kommen.«

In dieser verzweifelten Lage trieb mich weniger ein aufrichtiges religiöses
Bedürfnis -- ich gestehe es offen -- als die Verlegenheit und die Scham in
den bergenden Schutz der Klostermauern. Heloise hatte schon vorher auf
meinen Wunsch bereitwillig den Schleier genommen. Und so trugen wir nun
beide das geistliche Gewand: ich in der Abtei von St. Denis, sie im Kloster
von Argenteuil. Noch erinnere ich mich: man hatte vielfach Mitleid mit
ihrer Jugend und stellte ihr, um sie abzuschrecken, das Joch der
Klosterregel als eine unerträgliche Last dar. Vergebens: unter Thränen
schluchzend brach sie in jene klagenden Worte der Cornelia aus:

      »O herrlicher Gatte,
   Besseren Ehbetts wert! So wuchtig durfte das Schicksal
   Treffen ein solches Haupt? Ach mußt ich darum dich freien,
   Daß dein Unstern ich würd? -- Doch nun empfange mein Opfer
   Freudig bring ich es dir --«

Mit diesen Worten trat sie vor den Altar, empfing aus der Hand des Bischofs
den geweihten Schleier und legte vor dem ganzen Konvent das Klostergelübde
ab.

Ich hatte mich kaum von meiner Verletzung erholt, als die Kleriker in Menge
herbeiströmten und sowohl meinen Abt wie mich selbst mit Bitten bestürmten:
ich solle das, was ich bisher aus Verlangen nach Geld oder Ruhm gethan
habe, jetzt aus Liebe zu Gott thun. Ich solle bedenken, daß Gott das Pfund,
das er mir anvertraut, mit Zinsen von mir zurückverlangen werde! Bisher
habe ich mich fast nur mit Reichen abgegeben, jetzt solle ich meine Kräfte
in den Dienst der Armen stellen. Ich möchte erkennen, daß die Hand des
Herrn mich vor allem deshalb geschlagen habe, damit ich desto
unbehinderter, den Lockungen des Fleisches und dem unruhigen Treiben der
Welt entrückt, der Wissenschaft leben könne, und nicht mehr die Weisheit
dieser Welt, sondern die wahre Gottesweisheit lehren möge.

In dem Kloster, in das ich eingetreten war, herrschte zu jener Zeit ein
überaus weltliches, sittenloses Leben. Je höher der Abt selbst seinem Range
nach über den andern stand, desto schlimmer und berüchtigter war sein
Lebenswandel. Da ich nun ihre empörende Sittenlosigkeit teils im vertrauten
Kreis, teils öffentlich mehrmals aufs nachdrücklichste rügte, so wurde ich
ihnen überaus unbequem und verhaßt. Mit Vergnügen sahen sie, wie meine
Schüler Tag für Tag unermüdlich mit Bitten in mich drangen; denn dieser
Umstand gab ihnen Gelegenheit, sich meiner zu entledigen. Da nun jene mir
unaufhörlich zusetzten und mir keine Ruhe ließen, auch der Abt und die
Brüder sich in den Handel mischten, gab ich endlich nach und zog mich in
eine Einsiedelei zurück, um meine gewohnte Lehrthätigkeit wieder
aufzunehmen. Hier strömte nun eine solche Menge von Schülern zusammen, daß
es ebenso an Raum, sie zu beherbergen, wie an Lebensmitteln zu ihrem
Unterhalt fehlte.

Wie es meinem jetzigen Beruf entsprach, hielt ich hauptsächlich
theologische Vorlesungen. Doch gab ich die Unterweisung in den weltlichen
Wissenschaften deshalb nicht ganz auf; in ihnen war ich einst am besten
bewandert gewesen und um ihretwillen suchte man mich hauptsächlich auf. So
benutzte ich sie gleichsam als Köder, um durch diese etwas nach Philosophie
schmeckende Lockspeise meine Zuhörer für das Studium der wahren Philosophie
zu gewinnen, wie denn die »Kirchengeschichte« dasselbe Verfahren von
Origenes berichtet, jenem größten aller geistlichen Philosophen. Da es nun
aber ersichtlich wurde, daß Gott mich mit heiliger wie mit weltlicher
Wissenschaft in gleicher Weise begabt hatte, so vermehrte sich die Zahl
meiner Zuhörer in beiden Fächern, während die andern Schulen sich
bedenklich leerten. Dadurch zog ich mir den heftigsten Neid und Haß der
Lehrer zu, die nun alles aufboten, um mir Abbruch zu thun. Hauptsächlich
zwei Vorwürfe waren es, die sie immer wieder gegen mich erhoben, während
ich fern war: daß sich mit dem Beruf eines Mönchs das Studium weltlicher
Wissenschaft nimmermehr vertrage und daß ich mir ein Lehramt in der
Theologie angemaßt habe, ohne vorher selbst in die Schule gegangen zu sein.
Sie hätten es am liebsten gesehen, wenn mir die Ausübung meiner
Lehrthätigkeit ganz untersagt worden wäre, und waren unablässig bemüht,
Bischöfe, Erzbischöfe, Äbte und sonstige einflußreiche Kirchenmänner für
ihre Absicht zu gewinnen. Ich befaßte mich nun zuerst damit, das Fundament
unseres Glaubens selbst durch menschliche Vernunftgründe faßlich zu machen.
Zu diesem Zweck schrieb ich eine theologische Abhandlung ȟber die
göttliche Einheit und Dreiheit« für den Gebrauch meiner Schüler, die nach
vernünftigen, wissenschaftlichen Gründen verlangten, und nicht bloß Worte
hören, sondern sich auch etwas dabei denken wollten. Sie meinten, es sei
vergeblich, viele Worte zu machen, bei denen sich nichts denken lasse; man
könne doch nichts glauben, was man nicht vorher begriffen habe; es sei
lächerlich, wenn einer etwas predigen wolle, was weder er selbst noch seine
Zuhörer mit dem Verstand fassen könnten; das seien »die blinden
Blindenleiter«, von denen der Herr spreche. Mein Buch gefiel allen meinen
Schülern außerordentlich, denn hier -- so schien es -- fand man auf alle
Fragen, die über diesen Gegenstand schwebten, eine befriedigende Antwort.
Und gerade diese Fragen galten damals für ganz besonders schwierig; je
größeres Gewicht man ihnen aber beilegte, desto mehr wurde die Feinheit der
Lösung geschätzt. Meine Neider jedoch gerieten dadurch in gewaltige
Aufregung und sie beriefen gegen mich ein Konzil, an ihrer Spitze meine
beiden alten Widersacher, Alberich und Lotulf. Diese maßten sich nach dem
Tode unserer gemeinsamen Lehrer Wilhelm und Anselm die Alleinherrschaft an
und wollten sich gleichsam in das Erbe der beiden berühmten Männer teilen.

Alberich und Lotulf lehrten damals beide zu Rheims und sie brachten es bei
ihrem Erzbischof Radulf durch allerhand Einflüsterungen in der That soweit,
daß man unter Beiziehung des Bischofs von Präneste, Conanus, der damals
päpstlicher Legat in Frankreich war, eine dürftige Versammlung unter dem
stolzen Namen eines Konzils in Soissons abhielt und mich einlud, mein
vielbesprochenes Buch »Über die Dreieinigkeit« dorthin mitzubringen. Und so
geschah es.

Indessen hatten mich meine beiden Hauptwidersacher bei Klerus und Volk noch
vor meiner Ankunft in ein so übles Licht gestellt, daß ich mit meinen paar
Begleitern von der Menge beinahe gesteinigt worden wäre; es hieß, ich lehre
in Wort und Schrift drei Götter -- das hatte man ihnen vorgeredet.

Sogleich nach meiner Ankunft in Soissons ging ich zum Legaten und übergab
ihm mein Buch zur Prüfung und Beurteilung; zugleich erklärte ich mich
bereit, meine Lehre zu berichtigen oder zu widerrufen, falls sie mit dem
katholischen Glauben im Widerspruch stehe. Der Legat jedoch schickte mich
mit meinem Buch zum Erzbischof und zu meinen Gegnern; die Männer sollten
über mich zu Gericht sitzen, die mich angeklagt hatten, und an mir sollte
sich das Wort erfüllen: »Meine Feinde sind meine Richter«.

Sie durchstöberten nun mein Buch mehrmals von vorn bis hinten, fanden aber
nichts, das sie in der Versammlung gegen mich hätten vorbringen können und
verschoben darum die Verdammung des Buchs, nach der sie lechzten, bis auf
den Schluß des Konzils. Ich meinerseits benutzte die Zeit ehe die Sitzungen
abgehalten wurden täglich zu öffentlichen Vorträgen über den katholischen
Glauben, wie er in meinen Schriften zum Ausdruck kam, und unter meinen
Zuhörern war nur eine Stimme des Lobes und der Bewunderung für meine
Redegewandtheit wie für meinen Scharfsinn. Das Volk aber und die
Geistlichkeit fingen an zu murren: »Sehet, nun redet er frei und offen vor
aller Welt und niemand widerspricht ihm! Das Konzil, das doch seinetwegen
vor allem berufen wurde, ist nächstens zu Ende. Sind vielleicht die Richter
zu der Einsicht gekommen, daß sie selber irren, nicht er?«

Infolgedessen stieg die Wut meiner Gegner von Tag zu Tag. Eines Tags nun
kam Alberich mit einigen seiner Schüler zu mir, um mir eine Schlinge zu
legen. Nach einigen einleitenden höflichen Redensarten sagte er, eine
Stelle in meinem Buch habe ihn befremdet: nämlich, obwohl Gott Gott gezeugt
habe und nur ein Gott sei, leugne ich doch, daß Gott sich selber gezeugt
habe. Unverzüglich antwortete ich ihm: »ich bin bereit, hierüber
Rechenschaft abzulegen, wenn es euch genehm ist«. Darauf versetzte er: »In
solchen Fragen lassen wir nicht menschliche Vernunftgründe oder unsre
eigene Weisheit gelten, sondern einzig und allein die Autorität der Väter.«
-- »Schlaget nur in meinem Buche nach,« erwiderte ich, »und ihr werdet eine
solche Autorität finden.« -- Das Buch war zur Hand; er hatte es selbst
mitgebracht. Ich schlug die Stelle auf, die ich im Kopfe hatte und die dem
Alberich entgangen war, weil er nur nach solchen suchte, die mir schaden
konnten. Gott wollte es, daß ich das Gewünschte alsbald fand. Es war ein
Citat aus dem ersten Buche von Augustins Werk »Über die Dreieinigkeit« und
lautete: »Wer da glaubt, Gott habe die Macht sich selbst zu erzeugen, ist
in einem schweren Irrtum befangen, denn diese Fähigkeit kommt Gott so wenig
zu wie irgend einer anderen geistigen oder leiblichen Kreatur; es giebt
überhaupt kein Wesen, welches sich selbst erzeugen könnte.«

Diese Worte versetzten die Schüler Alberichs in peinliche Verlegenheit. Er
selbst, um nur irgend etwas zu sagen, meinte: »Das ist allerdings
deutlich.« Ich erwiderte ihm, diese Ansicht sei nicht neu, allein für den
Augenblick falle sie nicht ins Gewicht, da er ja nur nach Worten suche und
nicht den tieferen Sinn, der ihnen zu Grunde liege. Falls er aber eine
Darlegung und Begründung ihres eigentlichen Sinnes anhören wolle, so sei
ich bereit, ihm aus seinen eigenen Worten nachzuweisen, daß er in die
Ketzerei verfallen sei, die annehme, daß Gott-Vater sein eigener Sohn sei.
Daraufhin geriet Alberich in große Wut, nahm seine Zuflucht zu Drohungen
und versicherte mich, daß weder meine eigene Weisheit, noch meine Berufung
auf andere Autoritäten mir etwas helfen sollten. -- Und damit ging er.

Der letzte Tag des Konzils war herangekommen. Vor der Sitzung hatten der
Legat und der Erzbischof von Rheims mit meinen Gegnern und einigen andern
Personen eine lange Beratung darüber, was in Anbetracht meiner Person und
meines Buches zu thun sei; denn um dieser Sache willen war ja das Konzil
hauptsächlich berufen worden. In meinen Worten oder in meiner Schrift, die
vorlag, fand man nichts, was man gegen mich hätte vorbringen können. Einen
Augenblick herrschte allgemeines Schweigen und was sich hören ließ, waren
nur schüchterne Einwürfe. Da ergriff Gottfried, Bischof von Chartres, durch
den Ruf seiner Frömmigkeit und das Ansehen seines Stuhles den übrigen
Bischöfen überlegen, das Wort und sprach also: »Würdige Herren! Euch allen,
die ihr hier versammelt seid, ist es wohl bekannt, daß die Lehre dieses
Mannes, welcher Art sie auch sein mag, und der Reichtum seines Geistes,
welchem Gebiet immer er sich zugewandt hat, viel Beifall gefunden und große
Anziehungskraft ausgeübt haben, so daß dadurch selbst der Ruhm seiner und
unserer Lehrer verdunkelt worden ist und man fast sagen könnte, die Reben
seines Weinbergs seien von Meer zu Meer gerankt.

Wolltet ihr nun, was ich nicht glauben kann, einen solchen Mann ungehört
verurteilen, so würdet ihr mit einem solchen Urteil, selbst wenn es seinen
guten Grund hätte, sicherlich vielen Leuten vor den Kopf stoßen, und es
würde nicht an solchen fehlen, die für ihn Partei ergreifen würden; zumal
sich in der Schrift, die er vorgelegt hat, nichts findet, was einer offenen
Ketzerei ähnlich wäre. Denken wir an das Wort des Hieronymus: 'Stets hat
die Tüchtigkeit den Neid zum Begleiter' und daran, daß 'der Blitz die
höchsten Gipfel trifft'! Hüten wir uns davor, seinen Namen durch ein
gewaltsames Vorgehen noch mehr zum Gegenstand der allgemeinen Teilnahme zu
machen. Wir würden uns selbst dadurch, daß wir uns den Vorwurf des Neides
zuziehen, mehr schädigen, als wir dem Angeklagten durch unsern
Richterspruch schaden können. Denn 'falscher Ruhm' -- sagt der ebengenannte
Lehrer -- 'erlischt schnell und die Folgezeit richtet das Vorleben.'«

»Beliebt es euch aber, nach Recht und Brauch mit ihm zu handeln, so möge
seine Lehre oder sein Buch hier öffentlich vorgetragen werden und ihm
selbst soll gestattet sein auf die Fragen, die man ihm vorlegt, Rede und
Antwort zu geben, um dann, wenn er überwiesen und zum Widerruf bewogen
werden könnte, für immer zu schweigen. Dies war schon die Meinung des
frommen Nikodemus, als er, um dem Herrn selbst die Freiheit zu ermöglichen,
sagte: 'Richtet unser Gesetz auch einen Menschen, ehe man ihn verhöret und
erkenne was er thut?'«

Auf diese Worte hin erhoben meine Gegner einen gewaltigen Lärm: »Schöne
Weisheit«, riefen sie, »die uns zumutet, mit diesem Wortkünstler zu
streiten, dessen Schlüssen und Finten die ganze Welt nicht standhalten
kann!« -- Und doch -- es war gewiß noch viel schwerer, mit Christus selbst
zu streiten; trotzdem hat Nikodemus ihn vor seinen Richtern zum Wort kommen
lassen wollen, wie es das Gesetz gestattet.

Als nun der Bischof Gottfried die Anwesenden nicht für seine Absicht
gewinnen konnte, suchte er ihre Mißgunst durch ein anderes Mittel zu
zügeln. Er machte geltend, daß die Versammlung nicht vollzählig genug sei,
um über eine so wichtige Sache zu entscheiden, und daß diese Angelegenheit
einer gründlichen Prüfung bedürfe. Sein Rat gehe deshalb dahin, mein Abt
solle mich in das Kloster St. Denis zurückbringen, woselbst dann meine
Sache einer größeren Anzahl von gelehrten Männern zu erneuter gründlicherer
Untersuchung vorgelegt werden solle. Dieser letzte Vorschlag fand den
Beifall des Legaten und aller übrigen Anwesenden. Alsbald erhob sich der
Legat, um vor dem Beginn der Sitzung die Messe zu lesen, und ließ mir durch
den Bischof Gottfried die förmliche Erlaubnis zur Rückkehr in mein Kloster
übermitteln, wo ich dann das weitere erwarten solle.

Nun aber fiel es meinen Gegnern ein, daß für sie nichts gewonnen wäre, wenn
mein Prozeß außerhalb ihres Sprengels geführt würde, wo sie dann auf das
Urteil keinen Einfluß ausüben könnten; denn bei dem Gedanken, einfach der
Gerechtigkeit den Lauf zu lassen, konnten sie sich freilich nicht
beruhigen. Darum stellten sie dem Erzbischof vor, daß es eine große Schande
für sie wäre, diese Sache an eine andere Behörde zu verweisen und daß es
gefährlich sei, mich so davonkommen zu lassen. Sie liefen auch zum Legaten
und wußten ihn, halb gegen seinen Willen, dahin umzustimmen, daß er mein
Buch unbesehen verdammte, es vor aller Augen verbrannte und über mich
lebenslängliche Haft in einem auswärtigen Kloster verfügte. Sie sagten
nämlich, zur Verurteilung meines Buches sei schon der Umstand hinreichend,
daß ich mir erlaubt habe, es ohne die Genehmigung des Papstes oder der
Kirche öffentlich vorzutragen und daß ich es schon vielen zum abschreiben
überlassen habe; es könne nur zur Kräftigung des christlichen Glaubens
dienen, wenn einmal, um einer ähnlichen Anmaßung zuvorzukommen, an mir ein
Exempel statuiert werde. Der Legat war wissenschaftlich nicht so gebildet,
wie er hätte sein sollen, und folgte deshalb in der Hauptsache dem Rate des
Erzbischofs; dieser seinerseits ließ sich von meinen Gegnern bestimmen.

Als der Bischof von Chartres hiervon Kunde erhielt, setzte er mich alsbald
von diesen Umtrieben in Kenntnis und ermahnte mich eindringlich, ich möchte
diese Wendung geduldig tragen, um so mehr, als das Vorgehen meiner
Widersacher eine offenbare Vergewaltigung sei. Eine solche, klar am Tag
liegende, gewaltthätige Mißgunst könne jenen nur schaden, mir nur Nutzen
bringen -- davon dürfe ich überzeugt sein; auch solle ich mir wegen der
Klosterhaft keine Sorgen machen: er wisse gewiß, daß der Legat, der sich
dieses Urteil nur habe abnötigen lassen, mich nach seiner Abreise von hier
alsbald in volle Freiheit setzen werde. So suchte er mich zu trösten so gut
es ging, indem er selbst mit dem Weinenden weinte.

Ich wurde vor das Konzil berufen, und ohne Untersuchung, ohne Prüfung zwang
man mich, mein Buch mit eigener Hand ins Feuer zu werfen. Und so ging es in
Flammen auf. Während dieses Vorgangs schien jedermann absichtlich zu
schweigen. Nur einer meiner Gegner machte schüchtern die Bemerkung, er habe
in dem Buch den Satz gefunden, Gott-Vater allein sei allmächtig. Auf diese
Bemerkung antwortete der Legat höchlich erstaunt: einen solchen Irrtum
dürfe man ja nicht einmal einem Kinde zutrauen, da doch der gemeinsame
Glaube ausdrücklich dahingehe, das alle drei Personen der Gottheit
allmächtig seien. -- Daraufhin citierte ein gewisser Terricus, Vorsteher
einer Schule, höhnisch den Satz des Athanasius: »und dennoch nicht drei
allmächtig, sondern einer allmächtig«. Und als ihn sein Bischof
zurechtweisen und zum Schweigen bringen wollte, als hätte er ein
Majestätsverbrechen begangen, ließ er sich nicht im mindesten
einschüchtern, sondern sprach wie ein zweiter Daniel also: »Seid ihr von
Israel solche Narren, daß ihr einen Sohn Israels verdammt, ehe ihr die
Sache erforschet und gewiß werdet? Kehret wieder um vors Gericht und
richtet den Richter selber. Denn der Richter, den ihr eingesetzt habt zur
Unterweisung im Glauben und zur Beseitigung des Irrtums, der hat sich
selbst gerichtet durch seinen eigenen Mund, da er andere richten sollte.
Den Mann, dessen Unschuld heute Gottes Barmherzigkeit an den Tag gebracht
hat -- befreiet ihn, wie einst die Susanna, von seinen falschen Klägern.«

Nun erhob sich der Erzbischof, und indem er die Worte den Umständen gemäß
leicht abänderte, bestätigte er den Satz des Legaten mit den Worten: »In
der That, ehrwürdiger Herr, allmächtig ist der Vater, allmächtig der Sohn,
allmächtig der heilige Geist, und wer von dieser Meinung abweicht, ist in
offenbarem Irrtum befangen und nicht anzuhören. Doch vielleicht dürfte es
sich empfehlen, daß dieser unser Bruder seinen Glauben vor der ganzen
Versammlung bekenne, damit er je nach Umständen gebilligt oder beanstandet
und verbessert werde.« Als ich mich daraufhin anschickte, mein
Glaubensbekenntnis abzulegen, und meinen Gedanken einen selbständigen
Ausdruck geben wollte, da riefen meine Gegner mir zu, ich brauche nur das
Athanasianische Glaubensbekenntnis herzusagen, was jedes Kind ebensogut
hätte thun können. Und damit ich nicht etwa die Ausrede gebrauchen könnte,
ich wisse den Wortlaut nicht auswendig, gab man mir den geschriebenen Text
zum Vorlesen. Unter Seufzern und mit thränenerstickter Stimme las ich, so
gut es ging. Hierauf wurde ich wie ein seines Vergehens überwiesener
Verbrecher dem Abt von St. Medardus, der auf dem Konzil anwesend war,
übergeben und in dessen Kloster, als in mein Gefängnis, abgeführt. Das
Konzil selbst wurde alsbald aufgelöst.

Der Abt indessen und seine Mönche, die nicht anders glaubten, als daß ich
nun für immer bei ihnen bleiben werde, nahmen mich mit Freuden auf und
bemühten sich vergeblich, mich durch möglichst liebevolle Behandlung über
mein Schicksal zu trösten. O Gott, der du gerecht richtest! So sehr war
mein Herz vergiftet und verbittert, daß ich in verblendetem Wahn wider dich
selbst murrte und Klage erhob und unablässig jenen Seufzer des heiligen
Antonius wiederholte: »Guter Jesus, wo warest du?« Schmerz, Beschämung,
Verzweiflung -- damals habe ich all diese Gefühle durchgekostet, aber sie
zu beschreiben, ist mir nicht möglich. Was ich jetzt zu leiden hatte, hielt
ich zusammen mit dem früheren Unglück, das mir an meinem Körper widerfahren
war, und ich achtete mich für das elendste aller Menschenkinder. Im
Vergleich mit diesem neuen Unglück erschien mir jene ruchlose That
geringfügig, und ich beklagte weniger den Schaden meines Leibes als den
Verlust meines Ruhms. Jenen hatte ich gewissermaßen selbst verschuldet.
Dieser offenen Gewalt aber war ich zum Opfer gefallen, obwohl mich nichts
anderes als die lauterste Absicht und die Liebe zu unserem Glauben zum
Schreiben gedrängt hatte.

Wohin auch die Kunde von diesem grausamen und brutalen Verfahren gegen mich
gelangte, überall fand es lebhafte Mißbilligung; von denen, die bei der
Verhandlung gewesen waren, schob nun jeder die Schuld auf den andern. Sogar
meine Feinde leugneten jetzt, daß sie an dem Urteil der Synode schuld
seien, und der Legat bedauerte öffentlich die Mißgunst der Franzosen.
Während er für den Augenblick ihrer feindseligen Absicht gegen mich
unfreiwillig nachgegeben hatte, bereute er gleich darauf seine Maßregel und
ließ mich nach einigen Tagen schon aus dem fremden Kloster in mein eigenes
nach St. Denis zurückkehren.

Freilich waren dessen Insassen mir fast alle schon von früher her feindlich
gesinnt. Bei der Unordentlichkeit ihres Lebenswandels und dem freien Ton,
der unter ihnen herrschte, war ich ihnen ein höchst unbequemer Mahner. Es
vergingen nur wenige Monate, da bot sich ihnen eine geschickte Gelegenheit,
mich zu verderben. Eines Tages fand ich nämlich beim Lesen zufällig eine
Stelle in Bedas Auslegung der Apostelgeschichte, worin die Ansicht
ausgesprochen war, daß Dionysius Areopagita nicht Bischof von Athen,
sondern von Korinth gewesen sei. Dies mußte natürlich die sehr befremden,
die in dem Schutzpatron ihres Klosters eben jenen Dionysius Areopagita
verehren, in dessen Lebensgeschichte ausdrücklich stand, daß er Bischof von
Athen gewesen sei. Ich zeigte einigen der umherstehenden Brüder halb im
Scherz jene Stelle des Beda, die gegen uns sprach. Sie aber erklärten in
höchster Entrüstung den Beda für einen Erzlügner und beriefen sich auf
ihren Abt Hilduin, als auf einen zuverlässigeren Zeugen. Dieser habe lange
Zeit in Griechenland selbst Forschungen gemacht und dann den wahren
Sachverhalt in einer Lebensbeschreibung des Dionysius ganz unanfechtbar
dargestellt. Einer der Umstehenden drang mit der Frage in mich, wem ich in
diesem Streite recht gebe, dem Beda oder dem Hilduin. Ich sagte, das
Zeugnis des Beda, dessen Schriften in der ganzen abendländischen Kirche in
Ansehen stünden, scheine mir gewichtiger zu sein. Als die Mönche das
vernahmen, erhoben sie ein wütendes Geschrei: nun trete die feindselige
Gesinnung, die ich von jeher gegen unser Kloster gehegt habe, einmal
deutlich hervor; am ganzen Land werde ich zum Verräter, indem ich es seines
höchsten Ruhmestitels beraube, da ich leugne, daß Dionysius Areopagita ihr
Schutzpatron sei. Ich erwiderte, das leugne ich ja gar nicht, und überdies
komme wenig darauf an, ob ihr Schutzpatron wirklich der Areopagite gewesen
sei oder ein Mann von anderer Herkunft, da er doch jedenfalls von Gott so
großer Ehre würdig befunden worden sei. Sie aber liefen zum Abt und zeigten
ihm an, was sie mir zur Last legten. Dieser begrüßte die Gelegenheit, mich
einmal demütigen zu können, mit Freuden; denn da er ein sittenloseres Leben
führte als alle übrigen, so fürchtete er sich vor mir um so mehr. Vor
versammeltem Konvent erteilte er mir einen scharfen Verweis und drohte, er
wolle mich unverzüglich vor den König schicken, damit mich die Strafe
treffe, die dem gebühre, der den Ruhm und die Ehre des Königreichs antaste.
Inzwischen bis zu der Zeit, da er mich dem König vorführen wollte, ließ er
mich unter strenge Aufsicht stellen. Vergebens erklärte ich mich bereit,
die vorgeschriebene Buße auf mich zu nehmen, falls ich etwas verbrochen
hätte. Und nun ergriff mich ein förmlicher Ekel vor der Schlechtigkeit
dieser Menschen, und ich, den seit so langer Zeit das Mißgeschick
unablässig verfolgte, geriet an den Rand der Verzweiflung: die ganze Welt
-- so schien es -- war gegen mich verschworen. So entwich ich denn mit
Wissen einiger Brüder, die Mitleid mit mir hatten, und unter Beihilfe
einiger meiner Schüler heimlich bei Nacht aus dem Kloster und flüchtete in
das angrenzende Gebiet des Grafen Theobald, wo ich früher in einer
Einsiedelei gelebt hatte.

Der Graf selbst war mir nicht ganz unbekannt; auch hatte er mit großer
Teilnahme von meinem mannigfachen Unglück gehört. Ich hielt mich zunächst
bei dem Schloß Provins auf, in einer Klause der Mönche von Troyes, deren
Prior mir vorzeiten befreundet gewesen war und mich ins Herz geschlossen
hatte. Dieser nahm den Flüchtling mit Freuden auf und sorgte für mich auf
die liebenswürdigste Weise.

Eines Tags nun kam mein Abt in geschäftlichen Angelegenheiten zum Grafen
auf das Schloß. Als ich dies erfuhr, ging ich mit dem Prior ebenfalls zum
Grafen und bat ihn, er möchte sich bei meinem Abt für mich verwenden, daß
er mich absolviere und mir die Erlaubnis gebe, als Mönch zu leben, wo ich
einen passenden Ort finde. Der Abt und seine Begleiter zogen die Sache in
Erwägung und wollten den Grafen noch am gleichen Tage vor ihrer Heimkehr
darüber Bescheid sagen. Als sie nun die Sache näher überlegten, kamen sie
auf die Meinung, ich wolle in ein anderes Kloster eintreten, was nach ihrer
Ansicht eine große Schande für sie gewesen wäre. Denn sie thaten sich viel
darauf zu gut, daß ich mich gerade in ihr Kloster zurückgezogen hatte, sie
sahen darin eine Bevorzugung des ihrigen vor allen andern Klöstern, und
jetzt, fürchteten sie, würde es ihnen zu großer Unehre gereichen, wenn ich
ihr Kloster verließe und mich an ein anderes wendete. Deshalb hörten sie
weder mich noch den Grafen in dieser Sache an, sondern begnügten sich
damit, mich mit der Exkommunikation zu bedrohen, falls ich nicht
unverzüglich ins Kloster zurückkehre. Dem Prior aber, bei dem ich eine
Zuflucht gefunden hatte, untersagten sie aufs strengste, mich weiterhin bei
sich zu behalten, falls er nicht ebenfalls der Strafe der Exkommunikation
verfallen wolle. Dieser Bescheid erfüllte den Prior und mich mit großer
Besorgnis. Da starb zum Glück mein Abt wenige Tage, nachdem er mit dieser
Drohung in sein Kloster zurückgekehrt war.

Als sein Nachfolger eingesetzt war, ging ich mit dem Bischof von Meaux zu
ihm und bat ihn, er möchte mir die Bitte gewähren, die ich schon an seinen
Vorgänger gerichtet habe. Als auch er zuerst nicht recht auf die Sache
eingehen wollte, gewann ich durch Vermittlung einiger Freunde den König und
seinen Rat für mein Anliegen und erreichte so meinen Zweck. Der damalige
Seneschall des Königs, Stephanus, nahm den Abt und dessen Vertraute
beiseite und stellte ihnen vor, warum sie mich gegen meinen Willen
zurückhalten wollten; sie könnten sich dadurch leicht in ärgerliche Händel
verwickeln und hätten jedenfalls wenig Nutzen davon, da meine Lebensweise
und die ihrige nun einmal nicht zusammenpasse. Ich wußte aber, daß man im
königlichen Rat dem Kloster absichtlich manche Unregelmäßigkeit hingehen
ließ, um es dafür dem König desto gefügiger zu erhalten und es für
weltliche Zwecke ausbeuten zu können. Darum glaubte ich auch, die
Zustimmung des Königs und seiner Räte für mein Vorhaben erlangen zu können.
Und wirklich, es gelang mir.

Damit aber unser Kloster des Ruhmes, den es an meiner Person hatte, nicht
verlustig gehe, sollte ich mich zwar zurückziehen dürfen, wohin ich wollte,
aber unter der Bedingung, daß ich nicht in ein anderes Kloster eintrete.
Dies wurde in Gegenwart des Königs und seiner Räte von beiden Seiten
gutgeheißen und bekräftigt. So begab ich mich in eine einsame Gegend im
Gebiet von Troyes, die mir von früher bekannt war. Dort wurde mir von
einigen Leuten ein Stück Land zur Verfügung gestellt, und mit Genehmigung
des Bischofs erbaute ich daselbst nur aus Binsen und Stroh eine Kapelle zu
Ehren der heiligen Dreifaltigkeit. In dieser Einsamkeit, mit einem
befreundeten Kleriker lebend, konnte ich allen Ernstes dem Herrn das Lied
singen: »Siehe, ich habe mich ferne weggemacht und bin in der Wüste
geblieben.«

Bald kam die Kunde von meinem neuen Aufenthalt zu meinen Schülern. Und nun
belebte sich meine Einsamkeit. Sie verließen die Städte und festen Plätze
und ihre behaglichen Wohnungen, um sich hier elende Hütten zu bauen; ihre
ausgesuchten Mahlzeiten vertauschten sie mit der dürftigen Nahrung, die in
Kräutern und trockenem Brot bestand; statt weicher Betten gab es hier nur
ein Lager aus Binsen oder Stroh und die Tische mußten durch Rasenbänke
ersetzt werden. Man hätte wirklich glauben können, sie wollen die alten
Philosophen nachahmen, deren Lebensweise dem heiligen Hieronymus im zweiten
Buch seiner Schrift »Gegen Jovinianus« zu folgender Betrachtung Anlaß
giebt: »Durch unsere Sinne dringen die Laster wie durch eine Art Fenster
ins Herz ein. Die Stadt und Festung der Vernunft kann nicht genommen
werden, wenn das feindliche Heer nicht durch die Thore eindringt. Wenn
jemand seine Lust hat an Cirkusspielen, an Ringkämpfen, an Gauklerkünsten,
an üppigen Frauen, an prächtigem Geschmeide, an Kleiderputz und dergleichen
Dingen, dessen Seele hat ihre Freiheit durch die Fenster der Augen verloren
und von ihm gilt das Wort des Propheten: 'Der Tod ist hereingekommen durch
unsere Fenster.' Wenn nun die Anfechtungen dieser Welt wie ein feindlicher
Keil durch solche Thore in die Burg unsres Herzens eingedrungen sind -- wo
wird dann unsre Freiheit bleiben, wo unsre Tapferkeit, wo der Gedanke an
Gott? Zumal das einmal geweckte Herz auch die vergangenen Freuden mit neuen
Farben sich ausmalt, mit der Erinnerung an einstige Leidenschaften neue
Schmerzen in der Seele weckt und sie gewissermaßen etwas, was in
Wirklichkeit nicht mehr besteht, noch einmal durchzumachen nötigt. Aus
diesen Gründen haben viele Philosophen die volksbelebten Städte und die
städtischen Lustgärten verlassen, wo das bewässerte Land, das Grün der
Bäume, das Zwitschern der Vögel, die krystallklare Quelle, der murmelnde
Bach und so manches andre Aug' und Ohr bezauberte; sie wichen der Üppigkeit
und der Überfülle, die sich ihnen darbot, aus, damit die Kraft ihrer Seele
nicht erschlaffe und ihre Keuschheit nicht befleckt werde. Und in der That:
der öftere Anblick dessen, was uns berücken könnte, kann ja nur schädlich
wirken, und warum sollte man einen Genuß kennen lernen wollen, auf den man
nachher nur mit Schmerzen wieder verzichten kann?«

Auch die Schüler des Pythagoras gingen dem Treiben der Welt aus dem Wege
und wohnten in der Einsamkeit und in der Wüste. Selbst Plato, der mit den
Gütern dieser Welt gesegnet war und welchem Diogenes einmal sein Ruhebett
mit schmutzigen Schuhen bearbeitete, selbst er wählte, um ganz Philosoph
sein zu können, einen Ort auf dem Lande, fern von der Stadt, nicht bloß in
abgelegener, sondern auch in ungesunder Gegend: durch die beständige
Besorgnis vor Krankheiten sollten die Begierden erstickt werden, und seine
Schüler sollten keinen anderen Genuß kennen, als den des Studiums. Eine
ähnliche Lebensweise sollen auch die Jünger des Propheten Elisa geführt
haben. Hieronymus stellt sie als die Mönche jener Zeit dar und schreibt
über sie dem Mönche Rusticus unter anderem folgendes: »Die
Prophetenschüler, von denen das Alte Testament wie von Mönchen redet,
bauten sich an den Ufern des Jordan kleine Hütten, verließen die
Gesellschaft und die Stätten der Menschen und lebten von Mais und Kräutern
des Feldes.«

In dieser Weise bauten sich auch meine Schüler ihre Hütten am Ufer des
Flusses Arduzon, und man meinte eher Einsiedler vor sich zu haben als
Jünger der Wissenschaft. Je größer aber der Zulauf von Schülern wurde und
je härter die Lebensweise war, die sie meinem Unterricht zuliebe auf sich
nahmen, desto ängstlicher sahen meine Nebenbuhler meinen Ruhm wachsen und
ihr eigenes Ansehen sinken. Zu ihrem großen Leidwesen mußten sie es
erleben, daß alles Böse, das sie mir zugedacht, zu meinem Vorteil
ausschlug, und obwohl ich nach dem Wort des Hieronymus fern von dem Treiben
der Städte und Märkte, fern von den Händeln der Welt lebte -- dennoch fand
mich, wie Quintilian sagt, selbst in der Verborgenheit der Neid. Seufzend
und klagend sprachen jene zu sich selbst: »Siehe, die ganze Welt läuft ihm
nach; nichts haben wir ausgerichtet mit unseren Verfolgungen, ja, wir haben
seinen Ruhm nur noch größer gemacht. Wir gedachten, die Leuchte seines
Namens zu verlöschen, und wir haben sie nur heller angefacht. In den
Städten haben die Schüler alles zur Hand, was sie brauchen, aber auf alle
Genüsse menschlicher Kultur verzichtend, strömen sie hinaus in die
unwirtliche Einöde und setzen sich freiwillig dem Mangel aus.«

Zu jener Zeit nötigte mich meine drückende Armut, eine regelrechte Schule
einzurichten; denn graben mochte ich nicht und schämte mich zu betteln. An
Stelle der Handarbeit nahm ich darum, zu meiner eigentlichen Kunst
zurückkehrend, die Arbeit des Geistes wieder auf. Gern reichten mir meine
Schüler dar, was ich an Nahrung und Kleidung brauchte, sie nahmen mir auch
die Bestellung des Feldes und die Errichtung notwendiger Baulichkeiten ab,
damit ich durch keine wirtschaftliche Sorge von der Wissenschaft abgezogen
würde. Da unsere Kapelle nur den kleinsten Teil der Anwesenden fassen
konnte, so vergrößerten sie dieselbe und verwandten zu dem Umbau nunmehr
ein besseres Material, nämlich Stein und Holz. Ich hatte die Kapelle einst
im Namen der heiligen Dreifaltigkeit gegründet und sie ihr geweiht. Nun
aber gab ich ihr den Namen »Paraklet« (Tröster),[3] in dankbarer Erinnerung
an die Wohlthat, die mir einst hier zu teil geworden war: denn an diesem
Ort hatte ich, ein schon verzweifelnder Flüchtling, die Gnade des
göttlichen Trostes gefunden, hier hatte ich zuerst wieder aufatmen dürfen.
Viele Leute erstaunten nicht wenig über diesen Namen; ja einige griffen
mich deshalb heftig an und behaupteten, nach altem Herkommen könne man eine
Kirche nicht dem heiligen Geist im besonderen weihen, so wenig als Gott dem
Vater allein; sondern nur entweder dem Sohn allein oder der ganzen
Dreieinigkeit zusammen. Zu diesem Angriff ließen sie sich jedenfalls
dadurch verführen, daß sie zwischen den Begriffen »Paraklet« und »Geist
Paraklet« keinen Unterschied machten. In Wirklichkeit kann ja der Trinität
und jeder einzelnen Person der Trinität mit dem gleichen Recht, wie sie
Gott oder Helfer genannt wird, auch der Name Paraklet, d. h. Tröster,
beigelegt werden -- nach dem Wort des Apostels: »Gelobet sei Gott und der
Vater unsres Herrn Jesu Christi, der Vater der Barmherzigkeit und Gott
alles Trostes, der uns tröstet in aller unsrer Trübsal« -- und auch nach
dem Wort, das die Wahrheit spricht: »Und er soll euch einen andern Tröster
geben.« -- Da doch jede Kirche im Namen des Vaters und des Sohnes und des
heiligen Geistes geweiht wird und sie alle drei an dem Besitz gleichen
Anteil haben -- warum soll man denn nicht auch einmal ein Gotteshaus Gott
dem Vater oder dem heiligen Geist im besondern zueignen dürfen, so gut wie
dem Sohne? Wer wollte sich erlauben, den Namen dessen, dem das Haus gehört,
über dem Eingang zu tilgen? Oder wenn der Sohn sich dem Vater zum Opfer
darbringt und demgemäß bei der Messe die Gebete an Gott den Vater besonders
gerichtet werden, wie auch er es ist, dem das Opfer gebracht wird: sollte
da nicht der Altar ganz im besonderen ihm zu eigen sein, dem doch Gebet wie
Opfer gilt? Ist der Altar nicht mit größerem Rechte dem zuzusprechen,
welchem geopfert wird als dem, der geopfert wird? Oder wollte jemand
behaupten, daß dem Kreuz oder Grab des Erlösers, oder dem heiligen Michael,
Johannes, Petrus oder sonst einem Heiligen ein Altar zukomme, da doch weder
sie selbst mit einem Opfer irgend etwas zu thun haben, noch auch Gebete an
sie gerichtet werden? Auch bei den Heiden wurden nur denjenigen Wesen
Altäre oder Tempel zugeeignet, denen man Opfer und göttliche Ehren
darbringen wollte. Aber vielleicht möchte jemand glauben, es sei deshalb
nicht zulässig, Gott dem Vater Kirchen oder Altäre zu weihen, weil es kein
Fest in der Kirche gebe, das zu seiner besonderen Feier eingesetzt wäre.
Dieser Grund mag zwar gegen die Trinität angeführt werden, allein in
betreff des heiligen Geistes gilt er nicht, denn dieser hat zum Gedächtnis
an sein Herabkommen ein eigenes Fest, nämlich Pfingsten, so gut wie der
Sohn das Fest seiner Geburt hat. Denn wie einstens der Sohn in die Welt
gesandt wurde, so kam der heilige Geist auf die Jünger und hat zum Andenken
daran mit Recht sein eigenes Fest. Ja, wenn wir die Meinung der Apostel und
die Wirksamkeit des heiligen Geistes genauer ins Auge fassen, so muß es uns
natürlicher erscheinen, ihm einen Tempel zu weihen als irgend einer der
andern göttlichen Personen. Denn keiner der letzteren schreibt der Apostel
ausdrücklich einen geistigen Tempel zu, wie dem heiligen Geist. Denn er
spricht nicht von einem Tempel des Vaters oder des Sohnes, wohl aber von
einem solchen des heiligen Geistes, wenn er im ersten Korintherbrief sagt:
»Wer dem Herrn anhängt, der ist ein Geist mit ihm« und ferner: »Oder wisset
ihr nicht, daß euer Leib ein Tempel des heiligen Geistes ist, der in euch
ist, welchen ihr habt von Gott und seid nicht euer selbst.« Und wer wollte
verkennen, daß die Wohlthat der heiligen Sakramente, welche in der Kirche
verwaltet werden, ganz ausdrücklich der Wirkung der göttlichen Gnade d. h.
des heiligen Geistes zugeschrieben werden? Aus Wasser und aus Geist werden
wir ja in der Taufe wiedergeboren, und erst dadurch wird aus uns ein
eigentlicher Tempel Gottes. Und zum vollständigen Ausbau dieses Tempels
wird uns in siebenfacher Gnadengabe der heilige Geist zu teil, und so
erhält der Tempel Gottes seinen Schmuck und seine Weihe. Was hat es also
auf sich, wenn wir dem einen sichtbaren Tempel weihen, welchem der Apostel
einen geistigen zuteilt? Oder welcher Person der Dreieinigkeit könnte man
mit größerem Recht eine Kirche zueignen, als derjenigen, welcher alle
Gnadenwirkungen, die die Kirche vermittelt, vor anderen zugeschrieben
werden? -- Wenn ich übrigens meiner Kapelle den Namen »Paraklet« beilegte,
so wollte ich sie damit nicht einer der drei göttlichen Personen geweiht
haben. Ich habe schon oben gesagt, warum ich sie so genannt habe: nämlich
zur Erinnerung an den Trost, den ich hier gefunden. Im übrigen -- auch wenn
ich das Gotteshaus in jenem anderen Sinn so genannt hätte, wäre dies nicht
gegen die Vernunft, sondern nur gegen das gewöhnliche Herkommen gewesen.

[Fußnote 3: Nach Joh. XIV., 16. 17. 26.]

Dieses Asyl gewährte zwar meiner Person den Schutz der Verborgenheit, aber
Gerüchte über mich durchliefen gerade damals die ganze Welt und ließen sich
allerorten hören nach Art jenes Fabelwesens, Echo genannt, das viel Lärm
macht und doch ein wesenloses Ding ist. Meine alten Feinde, ihren eigenen
Anstrengungen keinen Erfolg mehr zutrauend, erweckten nun zwei neue Apostel
gegen mich, denen die Welt großen Glauben schenkte. Der eine von ihnen
rühmte sich, dem Leben der regulierten Chorherren, der andere, dem der
Mönche einen neuen Aufschwung gegeben zu haben. Diese Menschen liefen
predigend in der Welt herum, verketzerten mich mit der Unverfrorenheit, die
ihnen eigen war, und machten mich, wenigstens für den Augenblick, bei
weltlichen und geistlichen Obrigkeiten verächtlich. Ja, sie sprengten über
meinen Glauben und über mein Leben so abenteuerliche Gerüchte aus, daß
selbst achtungswerte Freunde sich von mir abwandten und auch diejenigen,
welche mir ihre Freundschaft bis auf einen gewissen Grad erhielten, doch
aus Furcht vor jenen nicht den Mut hatten, dieselbe irgendwie zu bekennen.
Gott ist mein Zeuge: so oft ich vernahm, daß eine Versammlung von Männern
der Kirche im Werk sei, fürchtete ich schon, es geschehe zum Zweck meiner
Verurteilung. Wie einer, der jeden Augenblick fürchten muß, vom Blitz
getroffen zu werden, so wartete ich in dumpfer Angst darauf, daß ich als
Ketzer und räudiges Schaf vor ihre Versammlungen und Schulen geschleppt
würde. Und in der That -- wenn man den Floh mit dem Löwen, die Ameise mit
dem Elefanten vergleichen darf -- ich wurde damals von meinen Gegnern mit
derselben unbarmherzigen Wut verfolgt, wie einst der heilige Athanasius von
den Ketzern. Ja oftmals -- Gott weiß es -- kam ich in meiner Verzweiflung
auf den Gedanken, das Gebiet der Christenheit überhaupt zu verlassen und
mich zu den Heiden zu wenden, um bei den Feinden Christi in Ruhe christlich
zu leben, unter welcher Bedingung es auch sei. Ich sagte mir, sie werden um
so eher geneigt sein, mich bei sich aufzunehmen, als mein Christentum ihnen
wegen der Verfolgungen, die ich von Christen erlitt, verdächtig erscheinen
mußte; vielleicht würden sie aus demselben Grund auch meinen, sie könnten
mich zu ihrer Religion bekehren.

Während ich nun unausgesetzt von solchen Seelenängsten gequält wurde, so
daß ich als letztes Mittel bereits den Gedanken gefaßt hatte, bei den
Feinden Christi eine Zuflucht zu Christus zu suchen: schien sich mir ein
Ausweg aus diesen Nöten zu eröffnen, der mich jedoch in Wirklichkeit nur in
die Hände von Christen und dazu noch Mönchen führte, die unbändiger und
schlechter waren als die Heiden.

In der Bretagne, im Bistum Vannes, lag ein Kloster des St. Gildas von Ruys.
Dieses war durch den Tod seines Abtes verwaist, und die einstimmige Wahl
der Mönche rief mich mit Genehmigung des Landesfürsten an diese Stelle,
womit auch mein Abt und sein Konvent zufrieden waren. So trieb mich die
Feindschaft der Franken nach dem Westen, wie einst den Hieronymus die der
Römer nach dem Osten. Denn niemals wäre ich, bei Gott, auf jenen Vorschlag
eingegangen, wenn ich nicht gehofft hätte, so den fortwährenden
Anfeindungen, die ich zu leiden hatte, einigermaßen aus dem Wege zu gehen.
Das Land war mir fremd, die Landessprache mir unbekannt, die Lebensweise
der dortigen Mönche wegen ihrer Unordentlichkeit und Zuchtlosigkeit weithin
berüchtigt, die übrige Bevölkerung roh und unkultiviert. Wie einer, um dem
drohenden Todesstreich zu entgehen, in seiner Angst sich in den Abgrund
stürzt und so eine Todesart mit der andern vertauscht, nur um eine Sekunde
Frist zu gewinnen: so habe ich mich aus einer Gefahr wissentlich in eine
andere begeben. Dort wo des Oceans donnernde Wogen am Ufer sich brachen, am
Ende der Erde, darüber hinaus es keine Flucht mehr gab, da hab ich, ach,
wie oft jenes Gebet wiederholt: »Von den Enden der Erde habe ich zu dir
geschrieen, da meine Seele in Ängsten war.« Ich glaube, es ist niemand
verborgen geblieben, wie mich jene zuchtlose Herde von Mönchen, über die
ich gesetzt war, Tag und Nacht quälte und ängstete und mich mit allen
Gefahren des Leibes und der Seele vertraut machte. Es stand mir zweifellos
fest, daß ich mein Leben verwirkt habe, wenn ich sie zu dem kanonischen
Leben, dem sie sich doch geweiht hatten, zu zwingen versuchen würde,
andererseits war ich zu verdammen, wenn ich in dieser Hinsicht nicht alles
that was in meinen Kräften stand. Die Abtei selber hatte der in seiner
Macht unbeschränkte Landesfürst, indem er sich die ungeordneten
Verhältnisse des Klosters zu nutze machte, so sehr unter seine Botmäßigkeit
gebracht, daß er sich die Nutzniesung des gesamten Klostergebietes
angeeignet und den Mönchen schwerere Abgaben auferlegt hatte, als selbst
die steuerpflichtigen Juden zu entrichten haben.

Die Mönche lagen mir fortwährend mit ihren täglichen Bedürfnissen in den
Ohren. Ein Gemeinschaftsbesitz, aus dem man diese Bedürfnisse hätte
befriedigen können, war nicht vorhanden, und so unterhielt jeder von seinem
beigebrachten Eigentum sich und seine Konkubine mit Söhnen und Töchtern. Es
war ihnen ein Vergnügen, mir Verlegenheiten zu bereiten, ja, sie scheuten
sich selbst nicht davor, zu stehlen und an sich zu nehmen was sie konnten,
damit ich mit der Verwaltung nicht zurechtkäme und so gezwungen wäre, bei
der Ausübung der Disciplin ein Auge zuzudrücken, oder ganz von derselben
abzusehen. Da aber das ganze Land in seiner Barbarei in der gleichen
Gesetz- und Zuchtlosigkeit steckte, so konnte ich mich an niemand um Hilfe
wenden; allen stand ich gleich fremd gegenüber. Draußen waren es der Fürst
und seine Gefolgschaft, die mich fortwährend bedrängten, drinnen wurde ich
unaufhörlich von den Brüdern angefeindet. Das Wort des Apostels: »Draußen
Streit, drinnen Furcht« schien geradezu für mich geschrieben zu sein. Oft
quälte ich mich mit dem Gedanken, wie nutzlos und elend mein Leben
dahingehe, wie weder ich noch sonst jemand etwas davon habe. Früher hatte
ich doch unter meinen Schülern eine große Wirksamkeit geübt, jetzt, nachdem
ich sie verlassen hatte und zu den Mönchen gegangen war, war ich weder für
diese noch für jene von irgend welchem Nutzen. Fruchtlos und ohne Wert war
alles, was ich jetzt begann und versuchte und man konnte mir mit Recht den
Vorwurf machen: »Dieser Mensch hob an zu bauen und kann es nicht
hinausführen.« Der Gedanke an das, was ich verlassen und was ich dafür
eingetauscht hatte, brachte mich zur Verzweiflung. Meine früheren
Mißgeschicke achtete ich für nichts im Vergleich mit der traurigen
Gegenwart, und seufzend mußte ich mir oftmals selber sagen: »Ich leide nur,
was ich verdient habe; den Parakleten, das ist den Tröster, habe ich
verlassen und habe mich der sicheren Trostlosigkeit ausgeliefert; Drohungen
fürchtete ich und in offenbare Gefahren habe ich mich hineingestürzt.« Das
aber war mein größter Schmerz, daß in der verlassenen Kapelle jede
gottesdienstliche Feier unterbleiben mußte, da die Dürftigkeit jener Gegend
kaum für die Bedürfnisse eines Menschen genügte. Allein der wahre Tröster
selbst senkte in mein trostloses Herz den echten Trost und sorgte für sein
eigenes Haus, wie es sich ziemte.

Es begab sich nämlich, daß der Abt von St. Denis auf jenes Kloster
Argenteuil Ansprüche erhob, in welchem Heloise, jetzt vielmehr meine
Schwester in Christo als meine Gattin, einst den Schleier genommen hatte.
Nachdem er es unter dem Vorwand, daß es von alters her unter die
Gerichtsbarkeit von St. Denis gehört habe, an sich gebracht hatte, vertrieb
er mit Gewalt den ganzen Konvent der Nonnen, deren Äbtissin meine Freundin
gewesen war. Während diese sich nun heimatlos in alle Winde zerstreuten,
kam mir der Gedanke, daß der Herr selbst mir hier eine Gelegenheit biete,
für mein Oratorium zu sorgen. Ich kehrte nun dorthin zurück und lud Heloise
mit den wenigen Nonnen aus ihrer Kongregation, die bei ihr geblieben waren,
ein, nach dem Paraklet zu kommen. Hierauf setzte ich sie in den Besitz des
Oratoriums mit allem, was dazu gehörte. Und diese Schenkung wurde, dank der
Zustimmung und Verwendung des Landesbischof, von Papst Innocenz II. ihnen
und ihren Nachfolgerinnen durch ein Privilegium für alle Zeiten bestätigt.

Anfangs zwar führten die Frauen dort ein dürftiges Leben und manchmal
wollten sie den Mut verlieren; allein Gott, dem sie in Frömmigkeit dienten,
sah barmherzig ihr Elend an und tröstete sie in kurzem; auch ihnen zeigte
er sich als der wahre Paraklet und wandte die Herzen der benachbarten
Bevölkerung zur Barmherzigkeit und Mildthätigkeit. Und nach Verfluß eines
Jahres -- Gott mag es bezeugen -- waren sie an irdischem Besitz reicher als
ich es geworden wäre, wenn ich hundert Jahre dort gelebt hätte. Denn eben
weil das weibliche Geschlecht das schwächere ist, regt seine hilflose Lage
das menschliche Mitgefühl an, und die Tugend der Frauen ist vor Gott und
Menschen um so angenehmer. Gott aber ließ unsere geliebte Schwester, die
den anderen vorstand, in aller Augen so viel Gnade finden, daß sie von den
Bischöfen wie eine Tochter, von den Äbten wie eine Schwester, von den Laien
wie eine Mutter geliebt wurde, und alles rühmte gleicherweise ihre
Frömmigkeit, Klugheit und unvergleichliche Sanftmut und Geduld, die sie bei
jeder Gelegenheit bewahrte. Selten ließ sie sich in der Öffentlichkeit
sehen, um bei geschlossener Thür ungestört dem Gebet und frommer
Betrachtung zu leben. Um so begieriger suchten Leute, die in der Welt
lebten, die Gelegenheit auf, sie zu sehen und ihre erbaulichen Reden zu
genießen.

Die Nachbarn des Klosters machten mir lebhafte Vorwürfe, daß ich für die
Bedürfnisse der Nonnen nicht in dem Grade besorgt sei, wie ich könnte und
müßte, da ich doch in meiner Predigt ein leichtes Mittel dazu habe; daher
besuchte ich sie öfters, um ihnen so viel wie möglich behilflich zu sein.
Allein auch so entging ich nicht mißgünstigem Gerede und dem, was die
reinste Liebe mich zu thun drängte, legte die Schlechtigkeit meiner Neider
die gemeinsten Beweggründe unter; ich sei eben noch immer im Banne
sinnlichen Verlangens und könne den Verlust der einstigen Geliebten schwer
oder überhaupt nicht verschmerzen. Oft mußte ich da an die Klage des
heiligen Hieronymus denken, die er in dem Brief an Asella über falsche
Freunde erhebt: »Nichts macht man mir zum Vorwurf als mein Geschlecht und
auch das nur, seitdem Paula mit mir nach Jerusalem gegangen ist.« Ferner
sagte er: »Ehe ich in das Haus der frommen Paula kam, war nur eine Stimme
des Lobes über mich in der ganzen Stadt; ja, ich war nach dem Urteil aller
würdig, das Amt des höchsten Priesters in der Kirche zu bekleiden. Aber ich
gedenke trotz guten und schlechten Geredes durchzudringen zum Himmelreich.«
Indem ich mir die Ungerechtigkeit und Verleumdung vorstellte, unter der
selbst ein solcher Mann zu leiden hatte, schöpfte ich daraus einen nicht
geringen Trost. Ich sagte mir: Wie würde ich schlecht gemacht werden, wenn
meine Feinde einen derartigen Verdachtsgrund bei mir ausfindig machen
könnten! Nun aber, da Gottes Barmherzigkeit mich von der Möglichkeit
solchen Verdachtes befreit hat und mir die Fähigkeit in dieser Hinsicht
mich zu vergehen geradezu benommen ist, wie kommt es, daß die Stimme der
Verleumdung trotzdem nicht schweigt? Was sollte diese neueste freche
Beschuldigung heißen? Der Zustand, in dem ich mich befinde, beseitigt ja
doch sonst insgemein jeglichen Argwohn derartiger Ausschreitungen so
gründlich, daß wer Frauen in sicherer Aufsicht wissen will, Eunuchen zu
diesem Zweck anstellt: so berichtet die heilige Geschichte von Esther und
von den anderen Frauen des Ahasverus. Wir lesen auch von jenem vornehmen
Schatzmeister der Königin von Candace, daß er ein Eunuch gewesen, zu dessen
Bekehrung und Taufe der Apostel Philippus vom Engel des Herrn angewiesen
wurde.

Solche Männer standen bei ehrbaren unbescholtenen Frauen von jeher in hohem
Ansehen und genossen ihr besonderes Vertrauen, eben weil der Verkehr mit
ihnen jeden Verdacht unmöglich machte. Von Origenes, dem größten aller
christlichen Philosophen, erzählt die »Kirchengeschichte« im sechsten Buch,
er habe selbst Hand an sich gelegt, um bei dem Unterricht der Frauen, dem
er sich widmete, von jeder Verdächtigung verschont zu bleiben. Dabei mußte
ich mir sagen, daß es die göttliche Barmherzigkeit mit mir noch besser
gemeint habe als mit jenem. Denn bei Origenes kann man der Ansicht sein,
daß er im Übereifer gehandelt und so ein schweres Verbrechen an sich selbst
verübt habe. Mich dagegen ließ Gott, um mich in ähnlicher Weise wie jenen
freizumachen, durch fremde Schuld dasselbe erleben; auch die Schmerzen
waren bei mir geringer, da mein Geschick mich so rasch und plötzlich
ereilte; wurde ich doch im Schlaf überfallen, so daß ich fast nichts von
Schmerz empfand, als man Hand an mich legte. Aber wenn damals mein
körperlicher Schmerz verhältnismäßig gering war, so leide ich jetzt um so
mehr unter der Verleumdung und der Verlust meines Ruhmes quält mich mehr
als der Schaden an meinem Körper. Denn so steht geschrieben: »Ein guter
Name ist besser als große Schätze Goldes« -- und der heilige Augustin sagt
in einer Predigt über Leben und Sitten des Geistlichen: »Wer im Vertrauen
auf sein gutes Gewissen keine Rücksicht auf seinen Ruf nimmt, der ist
grausam gegen sich selbst.« Und weiter oben: »Wir wollen nicht nur vor
Gott, sondern auch vor den Menschen rechtschaffen dastehen. Für uns genügt
das Zeugnis unseres Gewissens; aber der andern wegen darf unser guter Name
nicht befleckt werden, sondern muß fleckenlos bleiben. Gewissen und Ruf
sind zweierlei Dinge: an das eine magst du dich halten, an das andere hält
sich dein Nächster.«

Aber würden jene Leute mit ihren bösen Zungen selbst Christum oder seine
Glieder, die Propheten und Apostel oder sonst die heiligen Väter, verschont
haben, wenn sie in jener Zeit gelebt hätten? besonders wenn sie gesehen
hätten, wie diese Männer bei unversehrtem Körper gerade mit Frauen im
vertrautesten Umgang standen. Auch der heilige Augustin zeigt in seinem
Buch »Vom Werk der Mönche«, wie eben die Frauen die unzertrennlichen
Begleiterinnen Christi und der Apostel gewesen, und daß sie ihnen überall
folgten, wo sie predigend umherwanderten. »In ihrem Gefolge« -- sagte er --
»befanden sich gläubige Frauen, die mit den Gütern dieser Welt gesegnet
waren, und ihnen von ihrem Überfluß Handreichung thaten, damit sie an dem,
was zum Unterhalt des Lebens nötig ist, keinen Mangel litten.« Und wer es
etwa nicht glauben wollte, daß die Apostel sich die Begleitung von frommen
Frauen auf ihren Wanderungen haben gefallen lassen, der mag aus dem
Evangelium selbst ersehen, wie sie hierin dem Beispiel des Herrn selber
folgten. Es steht nämlich im Evangelium zu lesen: »Und es begab sich
danach, daß er reisete durch die Städte und Märkte und predigte und
verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes und die Zwölfe mit ihm. Dazu
etliche Weiber, die er gesund hatte gemacht von den bösen Geistern und
Krankheiten, nämlich Maria, die da Magdalena heißet, von welcher waren
sieben Teufel ausgefahren, und Johanna, das Weib Chusa, des Pflegers
Herodis, und Susanna und viel andere, die ihnen Handreichung thaten von
ihrer Habe.« Auch Leo IX. sagt in seiner Erwiderung auf den Brief des
Parmenianus »Über das Klosterleben«: »Wir halten durchaus daran fest, daß
kein Bischof, Presbyter, Diakon oder Subdiakon unter dem Vorwande der
Religion sich der Fürsorge für seine Ehefrau entschlagen darf; und zwar
verstehen wir dies so, daß er sie mit Nahrung und Kleidung versorgen, nicht
aber geschlechtlichen Umgang mit ihr haben soll.« So haben es auch die
heiligen Apostel gehalten, wie denn Paulus sagt: »Haben wir nicht auch
Macht, eine Schwester als Weib mit umherzuführen, wie die Brüder des Herrn
und Kephas?« Thorheit wäre es zu behaupten, er habe gesagt: »Haben wir
nicht auch Macht mit einer Schwester in der Ehe zu leben?« Vielmehr heißt
es 'sie mit herumzuführen'. Sie sollten also diese Frauen von dem Ertrag
ihrer Predigt unterhalten, ohne doch durch das Band ehelichen Verkehrs
vereinigt zu sein.

Jener Pharisäer, welcher von dem Herrn im stillen sagte: »Wenn dieser ein
Prophet wäre, so wüßte er, wer und welch ein Weib das ist, die ihn
anrühret, denn sie ist eine Sünderin« -- dieser Pharisäer konnte nach
menschlichem Urteil viel eher dazu kommen, über Jesus einen schlimmen
Verdacht zu fassen, als meine Gegner mir gegenüber Anlaß dazu hatten. Oder
wer an die Mutter des Herrn denkt, die dem Jüngling anvertraut wird, und an
die Propheten, die so vielfach bei Witwen zu Gaste waren und mit ihnen
verkehrten, könnte ja am Ende darin noch viel eher etwas Verdächtiges
sehen.

Ja, was hätten meine Neider erst gesagt, wenn sie jenen gefangenen Mönch
Malchus, von welchem Hieronymus erzählt, mit seinem Weib unter einem Dach
hätten leben sehen. Was hätten sie für ein Geschrei erhoben über eine
Sache, von welcher der große Kirchenlehrer mit großer Anerkennung spricht.
Nachdem er persönlich sich davon überzeugt hatte, läßt er sich
folgendermaßen darüber aus: »Es war da ein hochbetagter Mann, Namens
Malchus, in der dortigen Gegend selbst geboren. Eine alte Frau teilte mit
ihm seine Wohnung. Beide waren voll religiösen Eifers und wichen nicht von
der Schwelle der Kirche; man hätte sie für Zacharias und Elisabeth im
Evangelium halten können, nur daß ein Johannes fehlte.« Warum, frage ich,
verleumden jene nicht auch die heiligen Väter, von denen wir so häufig
lesen oder auch mit eigenen Augen sehen, daß sie Frauenklöster einrichten
und sich in den Dienst derselben stellen -- nach dem Beispiel jener sieben
ersten Diakonen, welche von den Aposteln an deren eigener Stelle eingesetzt
wurden, um für die leiblichen Bedürfnisse der Frauen zu sorgen. Das
schwächere Geschlecht ist auf die Hilfe des stärkeren angewiesen. Darum
verordnet auch der Apostel, daß der Mann stets des Weibes Haupt sein solle;
und des zum Zeichen sollen die Frauen ihr Haupt verhüllt tragen.

Darum bin ich auch nicht wenig erstaunt, daß in den Klöstern diese alten
Bräuche längst vergessen sind, sofern man jetzt Äbtissinnen über die Nonnen
setzt, wie man für die Mönche Äbte hat und daß beide, Nonnen wie Mönche,
auf ein und dieselbe Regel verpflichtet werden, während diese doch manches
enthält, was von Frauen niemals eingehalten werden kann, von den
Vorgesetzten so wenig wie von den Untergebenen. Vielfach kann man ja sogar
die Beobachtung machen, daß das natürliche Verhältnis sich umgekehrt hat
und Äbtissinnen und Nonnen über die Kleriker herrschen, von denen das Volk
abhängig ist. Je unumschränkter ein solches Weiberregiment ist, desto
leichter bietet sich die Gelegenheit, in den Männern unerlaubte Gelüste zu
wecken und sie unter einem drückenden Joch zu halten. Darum sagt auch ein
satirischer Dichter mit Recht: »Unerträglicher nichts, als Macht in den
Händen des Weibes.«

Nachdem ich mich mit solchen Gedanken des öftern beschäftigt hatte, war ich
zu dem Entschluß gekommen, für die Schwestern im Paraklet nach Möglichkeit
zu sorgen und mich ihrer anzunehmen; auch, da ihre Verehrung für mich groß
war, durch persönliche Anwesenheit bei ihnen aufmunternd zu wirken, und auf
diese Weise ihren Bedürfnissen mehr Rechnung zu tragen. Gerade damals hatte
ich häufiger und heftiger unter der Verfolgung meiner eigenen Söhne zu
leiden als in früheren Zeiten unter derjenigen meiner Brüder; und so
flüchtete ich mich aus der Drangsal dieses Sturmes zu den Schwestern wie in
einen stillen Hafen, um dort ein wenig Atem zu schöpfen. Bei jenen Frauen
gedachte ich einigermaßen im Segen zu wirken, der ich an den Mönchen keine
Frucht erlebt hatte. Und je notwendiger meine Wirksamkeit ihrer Schwachheit
war, desto segensreicher sollte sie für mich selber werden. Aber der Satan
hat mir nicht vergönnt, irgendwo zur Ruhe zu kommen und ein
menschenwürdiges Dasein zu führen; sondern der Fluch des Kain lastete auf
mir: unstet und flüchtig umherzuirren von Ort zu Ort. Ich bin der Mann, den
-- wie ich schon sagte -- »draußen Streit, drinnen Furcht« unablässig
quälen, ja, vielmehr beides zugleich innen und außen Streit und Furcht.

Die Angriffe, die ich von meinen Söhnen zu erleiden habe, sind viel
gefährlicher und viel zahlreicher als die meiner Feinde. Denn mit meinen
Söhnen muß ich fortwährend leben, und habe mich unausgesetzt ihrer
Nachstellungen zu erwehren. Wenn mir mein Feind mit Gewalt nach dem Leben
steht, so kann ich die Gefahr bemerken, wenn ich außerhalb des Klosters
meines Weges ziehe. Aber im Kloster selber bin ich fortwährend
gewaltthätigen wie hinterlistigen Angriffen ausgesetzt, und zwar von seiten
meiner eigenen Söhne, d. h. der Mönche, die unter meiner, ihres Abtes,
väterlicher Obhut stehen. O wie oft suchten sie mich durch Gift aus dem Weg
zu schaffen, wie man es dem heiligen Benedikt bereitet hat. Derselbe Grund,
der den heiligen Mann veranlaßt hat, seine Söhne zu verlassen, konnte auch
mich dazu treiben, seinem Beispiel zu folgen; denn andernfalls setzte ich
mich der sicheren Gefahr aus, und meine Verwegenheit konnte man mir eher
als Leichtsinn gegen mich selbst und als ein Gottversuchen auslegen, denn
als Liebe zu Gott.

Da ich vor derartigen Nachstellungen, die mir von seiten der Mönche täglich
drohten, auf der Hut war so gut ich konnte und namentlich Speise und Trank,
die ich zu mir nahm, sorgfältig überwachte, so suchten sie mich sogar
während des Hochamts am Altar zu vergiften, indem sie mir Gift in den Kelch
mischten. Als ich eines Tages nach Nantes ging, um den Grafen in seiner
Krankheit zu besuchen und bei einem meiner leiblichen Brüder zu Gaste war,
so versuchten sie, mich durch einen Diener aus meinem eigenen Gefolge
vergiften zu lassen, in der Meinung, daß ich auf einen Anschlag von dieser
Seite nicht gefaßt sein werde. Allein der Himmel fügte es so, daß ich von
der Speise, die man mir vorsetzte, nichts anrührte, während ein
Klosterbruder, den ich mitgenommen hatte, ahnungslos davon aß und auf der
Stelle tot niederfiel, worauf jener Diener, durch sein Gewissen und durch
den unleugbaren Sachverhalt erschreckt, die Flucht ergriff. Da sich die
Ruchlosigkeit meiner Mönche so schamlos breit machte, so ergriff ich von
jetzt an ganz offen meine Vorsichtsmaßregeln so gut ich konnte: ich
entfernte mich aus der Abtei und hielt mich mit wenigen Getreuen in kleinen
Zellen auf. Hatten jene in Erfahrung gebracht, daß ich irgend wohin gehen
müsse, so stellten sie gedungene Mörder auf meinen Weg, um mich auf die
Seite zu schaffen.

Während ich in solchen Gefahren schwebte, traf mich auch noch die Hand des
Herrn gar schwer: ich stürzte eines Tages vom Pferd und verletzte mich
dabei an den Halswirbeln, und dieser unglückliche Sturz machte mir mehr zu
schaffen als meine einstige Verletzung.

Von Zeit zu Zeit versuchte ich der unbändigen Zuchtlosigkeit der Mönche
durch die Strafe der Exkommunikation entgegenzutreten, und einige von
ihnen, die ich am meisten zu fürchten hatte, brachte ich dazu, daß sie mir
durch einen feierlichen Eid vor Zeugen versprachen, die Abtei für immer zu
räumen und mich in keiner Weise mehr zu beunruhigen. Allein sie brachen
ganz offen und in frechster Weise Wort und Eidschwur und erst als Papst
Innocenz selber sich der Sache annahm und einen besonderen Legaten deswegen
entsandte, brachte man sie dazu, daß sie in Gegenwart des Grafen und der
Bischöfe zu dem alten Versprechen und außerdem zu verschiedenen anderen
Bedingungen aufs neue sich eidlich verpflichteten. Aber trotz alledem gaben
sie noch immer keine Ruhe. Erst vor kurzem noch, als diese Menschen aus dem
Kloster vertrieben waren und ich dahin zurückkehrte, um mich den Brüdern
anzuvertrauen, die ich weniger fürchten zu müssen glaubte, mußte ich die
traurige Erfahrung machen, daß die Zurückgebliebenen noch schlimmer waren
als die anderen. Sie griffen allerdings nicht zum Gift, dafür aber
bedrohten sie mein Leben mit dem Schwert, so daß ich mich unter dem Schutz
eines angesehenen Herrn mit Mühe und Not rettete. Und selbst jetzt noch
schwebt diese Gefahr über mir, und Tag für Tag sehe ich das Schwert über
meinem Haupt hängen, so daß ich kaum ruhig bei Tische sitzen kann. Es ging
mir wie jenem Mann, der die Macht und die Schätze des Tyrannen Dionysius
für das höchste Glück der Erde hielt und durch den Anblick eines Schwertes,
das an einem Faden über seinem Haupt hing, darüber belehrt wurde, was es
mit dem Glück irdischer Macht für eine Bewandtnis habe. Dieselbe Erfahrung
muß ich nun tagtäglich machen, der ich vom unscheinbaren Mönch zu der Würde
des Abtes emporgestiegen bin und mit der größeren Ehre nur größere Mühsal
mir erkoren habe, auf daß ich denen zum warnenden Beispiel dienen möge, die
ihr Ehrgeiz nach hohen Dingen zu streben treibt.

Geliebter Bruder in Christo und altbewährter Freund! Was ich dir bis
hierher mitgeteilt habe von der Geschichte meiner Leiden, die mich von der
Wiege an ohne Aufhören heimgesucht haben, möge genügen, um dich über dein
Mißgeschick zu trösten. Wie ich gleich im Anfang sagte, war es meine
Absicht, dich zu der Überzeugung zu bringen, daß dein Leiden im Vergleich
zu dem meinigen überhaupt nicht nennenswert oder doch erträglich sei. Je
mehr es bei näherer Betrachtung an Schwere verliert, desto geduldiger magst
du es tragen und dich trösten mit dem Wort, das Christus seinen Gliedern
von den Gliedern des Satans vorausgesagt hat: »Haben sie mich verfolgt, so
werden sie euch auch verfolgen. So die Welt euch hasset, so wisset, daß sie
mich vor euch gehasset hat. Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt das
Ihre lieb.« An einer andern Stelle sagt der Apostel: »Alle, die gottselig
leben wollen in Christo, müssen Verfolgung leiden.« Und ferner: »Gedenke
ich Menschen zu gefallen? wenn ich den Menschen noch gefällig wäre, so wäre
ich Christi Knecht nicht.« Und der Psalmist sagt: »Die den Menschen
gefallen, sind zu Schanden geworden, weil Gott sie verworfen hat.« In
diesem Sinn sagt auch der heilige Hieronymus, der mir die Leiden der
Verleumdung als ein besonderes Erbteil hinterlassen zu haben scheint, in
seinem Brief an Nepotianus: »Der Apostel schreibt: wenn ich den Menschen
noch gefällig wäre, so wäre ich Christi Knecht nicht -- er hat aufgehört,
den Menschen zu gefallen und ist ein Knecht Christi geworden.« Derselbe
Kirchenlehrer schreibt an Asella in der Schrift über falsche Freunde: »Ich
danke meinem Gott, daß ich würdig bin, von der Welt gehaßt zu werden.« Und
an den Mönch Heliodorus: »Du bist sehr im Irrtum, lieber Bruder, wenn du
glaubst, daß ein Christ jemals der Verfolgung entgehen werde. Unser
Widersacher schleicht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er
verschlinge, und du glaubst an Frieden? Der Feind lauert im Hinterhalt mit
den Mächtigen dieser Welt.«

Aus solchen Sprüchen und Beispielen wollen wir Mut schöpfen und das was uns
zustößt tragen, je unverdienter es ist, desto mutiger. Wenn unsre Leiden
uns nicht zum Verdienst angerechnet werden, so dienen sie doch -- so viel
ist sicher -- zu unserer Läuterung. Und weil doch alles nach Gottes
Ratschluß sich vollzieht, so kann sich jeder Gläubige in aller Not
wenigstens damit trösten, daß Gottes Güte nichts Unrechtes geschehen läßt
und daß er selber alles, was der göttlichen Ordnung widerspricht, zu einem
guten Ende führt. Darum ist es gut, in jeder Lebenslage zu sprechen: »Dein
Wille geschehe.«

Welch kräftiger Trost für die, so Gott lieben, in dem Wort des Apostels:
»Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum besten dienen.«
Dies meinte auch der Weiseste der Weisen, wenn er im Buch der Sprüche sagt:
»Es wird dem Gerechten kein Leid geschehen, was ihm auch widerfahre.« Damit
sagt er deutlich, daß diejenigen vom rechten Pfad abweichen, die sich gegen
irgend eine Prüfung auflehnen, von der sie doch wissen, daß Gottes Hand sie
ihnen auferlegt. Solche Menschen richten sich nach ihrem eigenen, statt
nach Gottes Willen; sie führen wohl das Wort im Munde: »Dein Wille
geschehe,« aber die verborgenen Wünsche ihres Herzens stehen damit im
Widerspruch, da sie ihren eigenen Willen über den Willen Gottes setzen. --
Lebe wohl!



II. Brief.

Heloise an Abaelard.

(Ihrem Herrn, ja vielmehr Vater; ihrem Gatten, vielmehr Bruder -- seine
Magd, nein, seine Tochter; seine Gattin, nein seine Schwester; ihrem
Abaelard -- Heloise.)


Der Brief, den Ihr einem Freund zum Trost geschrieben, innig geliebter
Mann, ist vor kurzem durch einen Zufall in meine Hände gekommen. Gleich an
den ersten Worten erkannte ich Euch und mit wahrer Gier verschlang ich den
Brief; steht doch der Schreiber dieser Worte meinem Herzen so nahe! und
habe ich ihn selbst gleich für immer verloren, so sollten doch seine Worte,
aus denen sein teures Bild mich ansah, mein Herz erquicken.

Freilich, ich weiß, deine Worte waren voll Galle und Wermut, da du, mein
Einziger, die traurige Geschichte unserer Bekehrung und deine endlosen
Leiden erzähltest. In der That: du hast gehalten, was du dem Freund im
Anfang des Briefes versprochen: er konnte wirklich seine eigenen
Beschwerden, wenn er sie mit den deinigen verglich, für nichts oder doch
für gering ansehen. Du schilderst die Verfolgungen, die du von seiten
deiner Lehrer zu erdulden hattest und die ruchlose Schandthat, die man an
deinem Leibe verübt hat, endlich die verabscheuungswürdige Mißgunst und
Gehässigkeit deiner eigenen Mitschüler, des Alberich von Reims und Lotulfs,
des Lombarden. Du erzählst das traurige Schicksal, das infolge ihrer
Verleumdung dein ruhmvolles theologisches Werk ereilte, und wie du selbst
zur Kerkerhaft verurteilt wurdest. Alsdann kommst du an die Erzählung von
der Tücke deines Abtes und deiner falschen Brüder und von dem schweren
Schaden, den dir jene beiden Lügenapostel zufügten, aufgehetzt von den oben
genannten Nebenbuhlern, und gedenkst ferner des Ärgernisses, das viele
daran nahmen, daß du dein Oratorium gegen das gewöhnliche Herkommen dem
Parakleten weihtest. Und endlich beschließest du die Geschichte deiner
Leiden mit der Schilderung jener schrecklichen Verfolgungen, die du durch
deinen unversöhnlichen Feind und die ruchlosen Mönche, die du deine Söhne
nennst, zu erdulden hattest und vor welchen du selbst jetzt noch nicht
sicher bist.

Niemand, glaube ich, kann diese traurige Geschichte trockenen Auges lesen
oder anhören. Je lebhafter und eingehender deine Schilderungen sind, desto
lebhafter ist das Gefühl des Schmerzes, das sie aufs neue in mir weckten;
ja, meine Angst wächst noch im Gedanken daran, daß du selber von immer noch
wachsenden Gefahren sprichst. So müssen wir denn alle für dein Leben
zittern, und mit klopfendem Herzen und bebender Brust Tag für Tag der
Trauerbotschaft von deinem Tode gewärtig sein. Darum im Namen dessen, der
dich bisher aus allen Gefahren zu seiner Ehre gerettet hat, im Namen Jesu
Christi bitten wir dich, du mögest seinen und deinen Dienerinnen durch
öftere Nachricht Gewißheit verschaffen über die Stürme, von denen dein
Lebensschiff jetzt noch hin- und hergeworfen wird; so wirst du wenigstens
an uns, die wir allein dir treu geblieben, Genossinnen deiner Leiden und
deiner Freuden haben. Geteilter Schmerz, sagt man ja, ist halber Schmerz,
und jede Last wird leichter oder läßt sich ganz vergessen, wenn andere
daran mittragen. Und wenn der gegenwärtige Sturm sich ein wenig gelegt hat,
dann laß es uns um so früher wissen und solche Botschaft wird uns um so
willkommener sein. Im übrigen: was es auch sei, das du uns schreibst, immer
werden deine Briefe eine Wohlthat für uns sein schon darum, weil wir daran
sehen, daß du unsrer gedenkst. Welche Freude uns Briefe von Freunden in der
Ferne bereiten, das bestätigt Seneca aus eigener Erfahrung; in einem Brief
an seinen Freund Lucilius heißt es: »Ich bin dir sehr dankbar, daß du mir
so fleißig schreibst. Ist dies doch unter den gegebenen Umständen die
einzig mögliche Art, dich bei mir einzustellen. Jeder Brief, den ich von
dir erhalte, schlingt das Band der Gemeinschaft um uns. Wir erfreuen uns an
den Bildern der fernen Freunde, weil die Erinnerung an sie dadurch
aufgefrischt wird und weil uns der Anblick des Bildes für die mangelnde
Gegenwart derselben ein Ersatz ist, wenngleich ein trügerischer und
dürftiger. Wie viel wertvoller müssen uns erst Briefe sein, die uns
wirkliche Lebenszeichen von dem abwesenden Freunde geben!« Gott sei Dank,
daß du wenigstens auf diese Weise unter uns weilen kannst, ohne die
Verleumdung fürchten zu müssen und ohne auf Hindernisse zu stoßen: darum
beschwöre ich dich, du wollest nicht gleichgültig säumen!

Den Freund hast du in einem ausführlichen Brief getröstet und hast ihm
deine eigenen Mühsale erzählt, damit er die seinigen vergesse. Während du
aber ihn mit der ausführlichen Schilderung deiner Leiden zu trösten
suchtest, hast du uns jeder Hoffnung beraubt; während du _seine_ Wunden zu
heilen dich bestrebtest, hast du uns neue schmerzliche Wunden geschlagen
und die alten noch vertieft. Heile nun, ich bitte dich, wo du selber
verletzt hast, der du, was andre verübt haben, gut zu machen bestrebt bist.
Deinem Freund und Genossen hast du Genüge gethan und hast ihm den Zoll der
Freundschaft und Brüderlichkeit entrichtet: uns gegenüber jedoch bist du
noch mehr verpflichtet; denn wir dürfen uns nicht bloß deine Freundinnen,
sondern deine Herzensvertrauten, nicht deine Genossinnen, vielmehr deine
Töchter nennen, oder wenn es einen anderen Namen giebt, noch süßer, noch
heiliger: uns kommt er zu. Wie sehr du aber unser Schuldner bist, dafür
braucht es keine Beweise, keine Zeugen; hier ist ein Zweifel nicht möglich,
und wenn alle schweigen, die Sache selbst redet laut und deutlich. Du
allein bist, nächst Gott, der Gründer dieses Klosters, du allein der
Erbauer dieses Oratoriums, du und nur du der Stifter dieser heiligen
Gemeinschaft. Nicht auf fremden Grund hast du gebaut. Deine Schöpfung ist
alles, was hier ist. Wildnis war ringsumher, nur wilden Tieren oder Räubern
eine Zuflucht gewährend; nirgends eine menschliche Wohnung, kein Haus weit
und breit. Unter den Lagerstätten des Wildes, bei den Höhlen der Räuber, wo
selbst der Name Gottes unbekannt war, hast du das göttliche Tabernakel
aufgerichtet und einen Tempel dem heiligen Geist geweiht. Nicht hast du zum
Bau desselben Könige und Fürsten um ihre Schätze angegangen, obwohl du sie
in reicher Fülle hättest haben können; vielmehr alles was geschah, wolltest
du dir allein verdanken. Geistliche und Schüler, die um die Wette hier
zusammenströmten, um deinen Unterricht zu genießen, thaten die nötige
Handreichung. Leute, die selber auf Kosten der Kirche ihren Unterhalt
fristeten, die nicht ans Schenken denken konnten, sondern nur aufs
Empfangen angewiesen waren, und welche die Hand nicht zum Geben, sondern
nur zum Nehmen offen hatten: die waren jetzt mit Leistungen zur Hand und
waren verschwenderisch damit.

Dein also, ja wirklich dein eigen ist diese neue gottgeweihte Pflanzung und
das Wachstum ihrer zarten Sprossen erheischt reichliche Bewässerung. Schon
infolge der zarten Natur ihres Geschlechts ist es ja eine schwache
Pflanzung; sie wäre nicht stark, auch wenn sie nicht so jung wäre. Darum
hat sie sorgfältige und vielfache Pflege nötig nach jenem Wort des
Apostels: »Ich habe gepflanzt, Apollo hat begossen, aber Gott hat das
Gedeihen gegeben.« Gepflanzt hatte der Apostel und im Glauben begründet
durch Lehre und Predigt die Korinther, denen er schrieb. Begossen hatte sie
später des Apostels Schüler Apollo mit frommen Mahnungen, und also wurde
ihnen durch die göttliche Gnade Wachstum in aller Tugend geschenkt. Den
fremden Weinstock, den du nicht gepflanzt und dessen Süßigkeit sich dir in
Bitternis verwandelt hat, suchst du vergeblich mit Mahnung und frommer
Zurede zu erbauen. Denke doch an deine eigene Pflanzung, der du auf die
fremde so viel Sorgfalt verwendest. Du lehrst und mahnst die Empörer und
richtest nichts aus. Vergeblich wirfst du die Perlen des göttlichen Worts
vor die Säue. Der du für Widerspenstige also viel übrig hast, vergiß nicht,
was du denen schuldig bist, die dir gerne gehorchen. Deinen Widersachern
schenkst du so reichlich, o gedenke auch deiner Töchter! Um von den
Schwestern zu schweigen: wäge selbst die Schuld ab, die du mir gegenüber
einzulösen hast, und was du den frommen Frauen allen zusammen schuldest,
das entrichte um so gewissenhafter der einen, die ganz und gar dein ist.
Die zahlreichen, ausführlichen Schriften der heiligen Väter zur Belehrung,
Mahnung und Tröstung frommer Frauen, und die Liebe, mit welcher dieselben
geschrieben wurden, sind deinem hohen Wissen besser bekannt als meinem
geringen Gedächtnis. Darum hat es mich nicht wenig befremdet, daß du das
von dir begonnene Werk unsrer gottgeweihten Lebensgestaltung sobald wieder
vergessen konntest. Nicht Gottesfurcht, nicht Liebe zu uns, nicht das
Beispiel der heiligen Väter konnte dich bewegen, selber zu mir zu kommen,
mich zu trösten oder doch durch Briefe mein unruhiges Herz aufzurichten,
das sich in seinem alten Gram verzehrt.

Und doch, du weißt es wohl, daß du mir vor andern verpflichtet bist; ist es
doch das heilige Band der Ehe, das uns verbunden hält, und mein Schuldner
bist du um so mehr, als ich dich allezeit -- wer weiß es nicht? -- mit
grenzenloser Liebe umfaßt habe. Du weißt es, Geliebter, und die Welt weiß
es, was ich in dir verloren habe, und wie jene allgemein bekannte
verräterische Schandthat mich so vernichtend getroffen hat wie dich, und
daß mich die Art und Weise des Verlustes unendlich tiefer schmerzt als das
Unglück selbst. Aber wo viel Grund zum Schmerz vorhanden ist, da müssen
auch stärkere Trostmittel angewandt werden. Aber nicht fremden Trostes
begehr' ich, sondern du allein, der du meines Leidens Grund bist, du allein
magst mich nun auch trösten. Du allein kannst mich elend machen, du nur
mein Herz erfreuen und mich trösten. Und du allein hast auch die Pflicht es
zu thun; war ich doch allezeit deinem Willen so blind ergeben, daß ich auf
ein Wort von dir mich selbst vernichtet hätte, denn dir zuwider zu handeln,
war mir unmöglich.

Aber noch mehr widerfuhr mir, noch Seltsameres; meine Liebe selbst wurde
zum Wahnsinn, also daß sie selber auf das, was sie einzig begehrte,
verzichtete ohne Hoffnung, es je wieder zu erlangen. Dies geschah damals,
als ich deinem Willen gehorsam zugleich mit dem Gewand auch mein Herz zu
ändern unternahm, um dir zu zeigen, daß du allein Herr meines Leibes und
meiner Seele seist. Nichts habe ich je bei dir gesucht -- Gott weiß es --
als dich selbst; dich nur begehrt' ich, nicht das, was dein war. Kein
Ehebündnis, keine Morgengabe hab ich erwartet; nicht meine Lust und meinen
Willen suchte ich zu befriedigen, sondern den deinen, das weißt du wohl.
Mag dir der Name »Gattin« heiliger und ehrbarer scheinen, mir klang es
allzeit reizender, deine »Geliebte« zu heißen; oder gar -- verarg es mir
nicht -- deine »Buhle«, deine »Dirne«. Je tiefer ich mich um deinetwillen
erniedrigte, desto mehr wollte ich dadurch Gnade vor deinen Augen finden,
und um so weniger dachte ich auf diese Weise deinem glänzenden Rufe zu
schaden. Und du selbst sprichst in jenem Trostbrief an deinen Freund von
dieser meiner Gesinnung. Du hast es nicht verschmäht, einige der Gründe
anzuführen, mit denen ich versuchte, dir den unseligen Gedanken an ein
Ehebündnis auszureden; allein du hast diejenigen fast alle unerwähnt
gelassen, die mich bestimmten, die Liebe der Ehe, die Freiheit dem Zwang
vorzuziehen. Gott ist mein Zeuge: wollte mich heute der Kaiser, der Herr
der Welt, der Ehre seines Ehebetts würdigen und mich für immer über die
ganze Welt gebieten lassen: für süßer und würdiger achtete ich's, deine
Buhle zu heißen als seine Kaiserin. Denn der Wert eines Menschen richtet
sich ja nicht nach seinem Reichtum und seiner Macht, diese sind Zufall,
jener ist Verdienst. Die muß sich ja selbst für eine feile Person halten,
die einen Mann seines Goldes wegen einem Armen vorzieht und weniger den
Mann selber begehrt als das, was er hat. Gewiß, die Frau, die ein solches
Gelüste zur Ehe treibt, sollte man bezahlen, nicht lieben. Denn es liegt ja
auf der Hand, daß sie nach dem Besitz verlangt, nicht nach dem Mann, und
daß sie sich, wenn sie nur Gelegenheit hätte, einem reicheren Mann noch
lieber preisgeben würde. Diesen Sinn hat auch eine philosophische
Ausführung der berühmten Aspasia, die sie in einem Gespräch mit Xenophon
und seiner Gattin bei Äschines, einem Schüler des Sokrates, vorbrachte. Die
Philosophin wollte die beiden Gatten miteinander aussöhnen und schloß ihre
Beweisführung mit folgenden Worten: »Sobald ihr es dahin gebracht habt, daß
es in der ganzen Welt keinen Mann und kein Weib giebt, besser und
auserlesener als ihr, werdet ihr sicherlich das zu erlangen suchen, was ihr
für das beste haltet: du wirst die beste Frau haben wollen und sie wird mit
dem besten Mann verheiratet sein wollen.«

Wahrlich ein verehrungswürdiger und mehr als philosophischer Ausspruch, der
aus der Weisheit selbst, nicht bloß aus der Liebe zur Weisheit stammt!
Heiliger Irrtum, selige Täuschung, wo die eheliche Liebe so groß ist, daß
eins das andre für vollkommen hält; da wird das Band der Ehe unverletzt
erhalten bleiben nicht durch die Keuschheit des Leibs, sondern durch die
Einfalt der Seelen. Aber was bei den andern doch immer nur eine Einbildung
ist, das habe ich wirklich und wahrhaftig besessen. Denn was andere Frauen
in ihre Männer nur hineinlegen, das habe ich, das hat die ganze Welt von
dir nicht bloß geglaubt, sondern sicher gewußt, und so ist denn meine Liebe
zu dir um so wahrhaftiger, je mehr der Irrtum von ihr ausgeschlossen ist.

Denn wo ist der König oder der Weise, der dir an Ruhm gleichkäme? In
welchem Land, in welcher Stadt, in welchem Dorf war man nicht darauf
erpicht, dich zu sehen? Wer, frage ich, beeilte sich nicht, dich zu
erblicken, wenn du in der Öffentlichkeit erschienst, und zogst du dich
zurück, folgte man dir da nicht nach mit gerecktem Hals und unverwandtem
Blick? Sehnte sich nicht jede Frau, jedes Mädchen nach dem Abwesenden?
Glühten sie nicht alle für dich, wenn du zugegen warst? Welche Fürstin,
welche hohe Dame beneidete mich nicht um meine Freuden, um das Lager meiner
Liebe?

Ein Zwiefaches war es vor allem, das dir die Herzen aller Frauen unfehlbar
gewann: die Gabe der Dichtung und des Gesanges, die man sonst meines
Wissens bei Philosophen nicht findet. Bei ihr erholtest du dich wie bei
einem Spiel von den Anstrengungen deiner geistigen Arbeit, und eine ganze
Anzahl von Gedichten und Liebesweisen sind von dir noch vorhanden, die um
ihres schönen Wortlauts und um ihrer lieblichen Melodie willen oft und viel
gesungen deinen Namen in aller Munde lebendig erhielten. Schon die Anmut
deiner Weisen machte auch ungebildete Leute mit deinem Namen vertraut. Und
das vor allem war der Zauber, mit dem du den Frauen Seufzer der Liebe
entlocktest. Die große Mehrzahl dieser Gedichte feierte unsere Liebe und so
klang mein Name in kurzem weit hinaus in die Lande und weckte in mancher
Frau die Eifersucht. Denn welche Gabe des Körpers und des Geistes zierte
nicht deine Jugend? Welche Frau, die mich einst beneidete, würde nicht
jetzt, da ich solcher Wonne beraubt bin, durch mein Unglück zum Mitleid
gestimmt? Wo ist der Mann, die Frau, und wären sie mir einst noch so feind
gewesen, die sich jetzt nicht erweichen ließen durch das natürliche Gefühl
des Mitleids mit mir?

Ganz schuldig bin ich, und doch auch, du weißt es, ganz und gar schuldlos.
Denn nicht die bloße That für sich, sondern die Gemütsverfassung des
Thäters muß man in Betracht ziehen, und ein billiger Richter sieht nicht
allein darauf, was geschieht, sondern in welcher Gesinnung etwas geschieht.
Welche Gesinnung mich aber dir gegenüber allezeit beseelt, das kannst du
allein beurteilen, der du's erfahren hast. Deinem Urteil überlasse ich
ruhig alles, deiner Entscheidung füge ich mich in allen Stücken.

Nur das eine sag mir, wenn du kannst: warum du nach meinem Eintritt ins
Kloster, der doch nur auf dein Geheiß geschah, mich so ganz vernachlässigt
und vergessen hast, daß mir weder die Erquickung des mündlichen Wortes,
noch der Trost eines Briefes von deiner Seite zu teil wurde. Warum das? sag
an, wenn du kannst, oder ich spreche aus, was ich denke, ja, was jedermann
argwöhnt. Ach! Begierde mehr als Freundschaft gesellte dich zu mir,
glühende Sinnenlust mehr als Liebe. Nun dahin ist, was du begehrtest, ist
auch das Gefühl erloschen, das du einst an den Tag legtest, um dein Ziel zu
erreichen. Das, mein Geliebter, ist nicht etwa meine besondere Meinung,
sondern alle Welt denkt so.

Wäre es doch nur ein Wahn von mir! Daß es doch eine Rechtfertigung deiner
Liebe gäbe, durch die mein Schmerz einigermaßen besänftigt werden könnte!
Könnte ich doch Gründe entdecken, dich zu entschuldigen und zugleich mein
Elend zu decken!

Höre meine Bitte, ich beschwöre dich! Ihre Erfüllung ist dir ein Geringes
und Leichtes. Da ich nun einmal deiner Gegenwart beraubt bin, so laß doch
in Worten der Liebe, die dir so reichlich zu Gebote stehen, dein süßes Bild
bei mir einkehren! Wie darf ich auf deine Freigebigkeit hoffen, wenn es
sich einmal wirklich darum handelt, da du selbst mit deinen Worten geizest.
Ich hatte geglaubt, ich hätte mir ein Recht auf deinen Dank erworben, da
ich um deinetwillen alles that und bis heute unter deinem Willen stehe.
Denn nicht Frömmigkeit, sondern dein Wille allein hat mich in blühender
Jugend dem düsteren Klosterleben zugeführt; habe ich dadurch nicht deinen
Dank verdient, dann -- das mußt du selbst sagen -- war mein Opfer
vergeblich. Denn von Gott versehe ich mich keines Lohns dafür, da
nimmermehr aus Liebe zu ihm geschehen ist, was ich gethan.

Da du bei Gott deine Zuflucht suchtest, bin ich dir gefolgt, nein,
vorangeeilt bin ich dir. Als dächtest du an Lots Weib, das sich einst
rückwärts wandte, hast du erst mich den Schleier nehmen und das Gelübde
ablegen lassen, ehe du selbst dich Gott zum Eigentum weihtest. Mit Schmerz
und Scham hat es mich erfüllt, ich sage es offen, daß du mir damals weniger
zutrautest als dir selbst. Und doch, bei Gott, ich wäre auf dein Wort ohne
Zögern dir in die Hölle vorangeeilt oder gefolgt. Mein Herz war ja nicht
mehr mein, ich hatte es an dich verloren. Und wenn es jetzt auch bei dir
keine Statt mehr findet, dann hat es überhaupt keine Heimat mehr, denn ohne
dich mag es nirgendwo sein. Ach, laß es bei dir geborgen sein, ich bitte
dich drum. Und wohlgeborgen wird es bei dir sein, wenn es dich gütig
findet, wenn du Liebe mit Liebe vergelten willst, Großes mit Kleinem, Opfer
mit Worten. Ach, wärst du, Geliebter, meiner Liebe doch nicht so sicher, du
würdest dich mehr darum sorgen! Nun, da ich dich so sicher gemacht, muß ich
deine Gleichgültigkeit tragen. Ach, denke dran, was ich für dich gethan
habe und vergiß nicht, was du mir schuldest. Als ich des Fleisches Lust in
deinen Armen genoß, da konnte man zweifeln, ob Liebe oder Lüsternheit mich
dazu treibe. Jetzt aber zeigt ja der Ausgang, was für Gefühle mich einstens
geleitet haben. Auf alle Freuden habe ich verzichtet, um deinem Willen zu
leben. Nichts habe ich mir zurückbehalten, als den Wunsch, ganz und gar nur
dir zu gehören.

Darum bedenke, wie ungerecht du an mir handelst, wenn du mir geringeren
Dank entrichtest als ich verdiene, oder wenn du überhaupt nichts für mich
übrig hast -- zumal da es ja ein Geringes und eine Kleinigkeit für dich
ist, was ich verlange. Darum, bei dem Gott, dem du dich zu eigen gegeben,
beschwöre ich dich: erfreue mich mit deiner Gegenwart, so gut es geht und
laß mir zum Trost wenigstens eine schriftliche Kunde von dir zukommen,
damit ich, also gestärkt, mit neuer Freudigkeit dem Dienste Gottes mich
weihen möge.

Ach, einstens, da du die Freuden der Welt bei mir suchtest, spartest du
deine Briefe nicht, und der Name deiner Heloise, in so manchem Liede
gefeiert, war in aller Munde; auf allen Gassen, in jedem Hause erklang er.
Wie vielmehr solltest du mich jetzt zur Gottesliebe erwecken, da du mich
einst zur Wollust verlocktest!

Bedenke, was du mir schuldest und höre auf meine Bitte. Und so laß mich den
langen Brief mit dem kurzen Worte beschließen: Lebe wohl, du mein Ein und
Alles!



III. Brief.

Abaelard an Heloise.

(An Heloise, seine geliebte Schwester in Christo -- Abaelard, ihr Bruder im
Herrn.)


Daß ich seit unserem Rückzuge aus der Welt zu Gott noch keine Worte des
Trostes und der Mahnung an dich geschrieben habe, darfst du nicht meiner
Gleichgültigkeit zuschreiben, sondern deiner eigenen Verständigkeit, auf
welche ich allezeit große Stücke gehalten habe. Ich dachte nicht, daß du es
nötig hättest, da dich die göttliche Gnade mit allem, was not thut,
überreichlich ausgestattet hat -- also, daß du selber die Irrenden durch
Wort und Beispiel belehren, die Kleinmütigen trösten, furchtsame Seelen
aufrichten kannst; und dieses zu thun, bist du ja schon seit jener Zeit
gewöhnt, da du noch einer Äbtissin untergeben warst und das Amt einer
Priorin bekleidetest. Wenn du jetzt mit derselben Liebe für deine Töchter
besorgt bist, wie ehemals für die Schwestern, so wirst du gewiß allen
Ansprüchen genügen und einer Belehrung und Mahnung von meiner Seite wird es
dann sicher nicht bedürfen. Wenn du aber in deiner Bescheidenheit anderer
Meinung bist und auch in religiösen Dingen meine schriftliche Belehrung
nötig zu haben glaubst, so teile mir mit, über welchen Gegenstand du
belehrt sein willst und ich werde dir antworten, soweit der Herr mir die
Kraft dazu schenkt.

Gott aber sei gedankt, der eurem Herzen die Sorge um die schweren und
beständigen Gefahren, denen ich ausgesetzt bin, eingeflößt und euch zu
Genossinnen meiner Anfechtungen gemacht hat. So wird Gottes Barmherzigkeit
mich um eurer Gebete willen beschützen und bald den Satan unter meine Füße
treten. Darum beeile ich mich, dir den Psalter zu schicken, den du so
dringend verlangtest, liebe Schwester, einst in der Welt mir so teuer und
noch viel teurer jetzt in Christo. Aus ihm magst du zur Sühnung meiner
vielen schweren Sünden und zur Abwehr der Gefahren, die mir täglich drohen,
dem Herrn ein beständiges Gebetsopfer entrichten.

Wie viel aber bei Gott und seinen Heiligen das Gebet der Gläubigen vermag,
insbesondere das Gebet von Frauen für solche, die ihnen lieb sind und
dasjenige der Gattinnen für ihre Männer, dafür haben wir viel Zeugnisse und
Beispiele. Dies hat auch der Apostel im Auge, wenn er uns mahnt, ohne
Unterlaß zu beten. Wir lesen, daß der Herr zu Moses sagte: »Laß mich, daß
mein Zorn über sie ergrimme.« Und zu Jeremia spricht der Herr: »Du sollst
für dies Volk nicht bitten und mir nicht widerstehen.« In diesen Worten
gesteht der Herr selbst deutlich zu, daß durch das Gebet der Gerechten
seinem Zorn gewissermaßen ein Zügel angelegt werde, damit er nicht in
seiner ganzen Schwere über die Sünder komme, wie sie es eigentlich
verdienen. Seine Gerechtigkeit treibt ihn unwillkürlich zur Rache, aber die
Fürbitte der Frommen stimmt ihn um und nötigt ihn gleichsam gegen seinen
Willen, einzuhalten. Und so wird dem, der bittet oder bitten will, gesagt:
»Laß mich und widerstehe mir nicht!« Der Herr verbietet also, daß man für
den Gottlosen bete. Allein der Fromme legt Fürbitte ein gegen den Willen
Gottes, und wirklich erlangt er von ihm, was er bittet, und hebt den Spruch
des erzürnten Richters auf. So heißt es denn weiter von Moses: »Und der
Herr ließ sich versöhnen und strafte sein Volk nicht, wie er gesagt hatte.«
An einer andern Stelle heißt es von den Werken Gottes überhaupt: »Er
spricht, so geschieht's.« Hier aber wird erzählt, Gott habe zwar gesagt,
daß sein Volk Strafe verdiene, allein durch die Kraft des Gebetes
umgestimmt, habe er seine Drohung nicht ausgeführt.

Erkenne daraus, wie groß die Wirkung des Gebets ist, wenn wir so beten, wie
wir sollen: hat doch der Prophet selbst durch ein Gebet, das Gott ihm
eigentlich verboten hatte, erreicht was er wollte, und hat den Herrn
dadurch von seinem Vorhaben abgebracht.

Ein anderer Prophet sagt zu ihm: »Und wenn du erzürnt bist, so gedenke
deiner Barmherzigkeit.« Das mögen die Fürsten dieser Welt zu Herzen nehmen
und danach thun, die so oft unter dem Vorwand der unbeugsamen Gerechtigkeit
mehr eigensinnig als gerecht erfunden werden; die nicht barmherzig sein
wollen, weil sie fürchten für schwach gehalten zu werden oder für
wortbrüchig, wenn sie einen Befehl, den sie erlassen, abändern, eine
unüberlegt getroffene Bestimmung nicht ausführen, womit sie doch nur ihre
Worte durch ihre Handlungen verbessern würden. Solche Menschen sind wie
Jephtha, der die Thorheit seines Gelübdes noch dadurch steigerte, daß er es
erfüllte und sein einziges Kind opferte. Wer aber ein Kind Gottes sein
will, der spricht mit dem Psalmisten: »Deine Barmherzigkeit und dein
Gericht will ich preisen, o Herr.« -- »Die Barmherzigkeit« -- heißt es in
der Schrift -- »rühmet sich wider das Gericht.« Aber wohlgemerkt: die
heilige Schrift enthält auch die Drohung: »Es wird ein unbarmherziges
Gericht über den gehen, der nicht Barmherzigkeit gethan hat.«

So hat auch der königliche Psalmsänger selber auf die Bitte der Gattin
Nabals, des Karmeliten, seinen Eid, den er nach dem Recht geschworen hatte,
ihren Mann und sein Haus zu vernichten, aus Mitleid rückgängig gemacht. Er
hat also das Flehen über die Gerechtigkeit gestellt, und was der Mann
verbrochen hatte, wurde durch die Fürbitte der Frau wieder gutgemacht.

Dies, liebe Schwester, möge dir ein Vorbild und eine sichere Bürgschaft
sein: wenn schon das Gebet dieses Weibes bei einem Menschen so viel
vermochte, so kannst du daraus sehen, wie viel erst deine Fürbitte für mich
bei Gott auszurichten vermag. Gott, der unser Vater ist, liebt ja seine
Kinder mehr als David jenes bittende Weib liebte. David war ja wohl fromm
und barmherzig; Gott aber ist die Liebe und Barmherzigkeit selber. Und jene
Frau, die damals ihre Bitte vorbrachte, gehörte der Welt an und weltlichem
Volk, und war nicht, wie du, Gott geweiht durch ein heiliges Gelübde. Und
sollte dein eigenes Gebet nicht zum Ziele führen, so wird die heilige Schar
der Jungfrauen und Witwen, die um dich ist, gewiß das erlangen, wozu dein
Gebet allein nicht ausreicht. Jesus sagt zu seinen Jüngern: »Wo zwei oder
drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen« und
weiter: »Wo zwei unter euch eins werden auf Erden, warum es ist, daß sie
bitten wollen, das soll ihnen widerfahren von meinem Vater im Himmel.« Ist
hieraus nicht deutlich zu sehen, wie viel das inständige Gebet einer
frommen Gemeinschaft bei Gott vermag? Der Apostel sagt: »Das Gebet des
Gerechten vermag viel, wenn es ernstlich ist« -- wie viel dürfen wir dann
erst von dem Gebet einer frommen Gemeinde erwarten?

Aus der 38. Homilie des heiligen Gregor weißt du, geliebte Schwester, wie
einem Bruder ganz gegen seinen Willen das Gebet der Mitbrüder mächtig
geholfen hat. Deiner Klugheit ist wohl bekannt, was dort erzählt wird: wie
der Mann schon in den letzten Zügen lag, wie seine arme Seele mit der
Todesangst rang, und wie er in seiner Verzweiflung im Lebensüberdruß die
Brüder vom Gebet abhalten wollte. Möge dies Beispiel dir und dem Konvent
der frommen Schwestern Mut machen, für mich zu beten, auf daß der mich euch
am Leben erhalte, durch den, nach dem Zeugnis des Paulus, »die Weiber haben
selbst ihre Toten von der Auferstehung wiedergenommen.«

Schlage die Schriften des alten und neuen Bundes nach und du wirst finden,
daß die großen Wunder der Totenerweckung allein oder vornehmlich Frauen
zulieb geschehen sind, für sie oder an ihnen bewirkt wurden. Das Alte
Testament weiß von zwei Toten, die auf die Bitte ihrer Mütter durch Elias
und durch dessen Schüler Elisäus erweckt wurden. Das Evangelium aber
erzählt von drei Totenerweckungen, welche der Herr Frauen zuliebe vollzogen
hat, und jenes Wort des Apostels, das ich oben angeführt habe, erhält
dadurch seine Bestätigung: »Die Weiber haben ihre Toten von der
Auferstehung wiedergenommen.« Den Sohn der Witwe von Nain hat Jesus vor dem
Thore der Stadt erweckt und hat ihn, von Mitleid bewegt, seiner Mutter
wiedergegeben. Auch Lazarus, seinen Freund, hat er auf die Bitten seiner
Schwestern Maria und Martha ins Leben zurückgerufen. Und wenn er dem
Töchterlein des Jairus dieselbe Gnade auch auf die Bitte ihres Vaters
erwiesen hat, so haben doch auch hier »die Weiber ihre Toten von der
Auferstehung wiedergenommen«; denn wie jene den Leichnam der Ihrigen, so
erhielt sie ihren eigenen Leib aus den Banden des Todes zurück. Und diese
Erweckungen geschahen alle auf die Bitte einer kleinen Anzahl von Leuten.
Wenn aber eure ganze fromme Gemeinschaft sich im Gebet für die Erhaltung
meines Lebens vereinigt, so wird eure Bitte gewiß erfüllt werden. Je mehr
das Gelübde der Armut und Keuschheit, das ihr Gott abgelegt habt, angenehm
vor ihm ist, desto geneigter werdet ihr ihn finden. Und vielleicht waren
die meisten von denen, welche vom Tod erweckt wurden, nicht einmal
Gläubige; wenigstens lesen wir von jener Witwe, der Jesus ihren Sohn
erweckte, ohne daß sie darum bat, nicht, daß sie gläubig gewesen sei. Uns
aber verbindet miteinander nicht allein die Gemeinschaft des unverfälschten
Glaubens, sondern auch ein und dasselbe heilige Gelübde.

Aber ich will von der heiligen Gemeinschaft eures Kollegiums schweigen, in
welchem die Schar frommer Jungfrauen und Witwen Gott beständig dient. Ich
will allein von dir reden, deren Frömmigkeit gewiß bei Gott viel vermag,
und die mir besonders jetzt ihre Hilfe nicht versagen darf, da ich mit so
viel Mißgeschick zu kämpfen habe. Gedenke in deinen Gebeten allezeit
dessen, der dein ist in ganz besonderem Sinn und wache mit um so größerem
Vertrauen im Gebet, als du ja weißt, daß es nur recht und billig ist, was
du thust, und daß du dem, zu welchem du flehst, nur um so angenehmer bist
um deines Gebetes willen.

Höre mit dem Ohr des Herzens, was du schon so oft mit dem leiblichen Ohr
gehört hast. In den Sprüchen steht geschrieben: »Ein fleißiges Weib ist
eine Krone ihres Mannes« und »Wer eine Ehefrau findet, der findet was Gutes
und bekommt Wohlgefallen vom Herrn«. Weiter heißt es; »Haus und Güter
vererben die Eltern, aber ein vernünftiges Weib kommt vom Herrn«. Der
»Prediger« aber sagt: »Selig der Mann, dem ein gutes Weib beschieden ist«,
und bald darauf: »Ein gutes Weib, ein gutes Teil.« Und die Meinung des
Apostels ist: »Der ungläubige Mann ist geheiligt durch ein gläubiges Weib«.
Diese Wahrheiten hat die göttliche Gnade gerade in unserer Heimat, im
Frankenreich, durch ein glänzendes Beispiel bestätigt. Wurde ja doch der
König Chlodwig nicht durch die Predigt der Priester, sondern durch das
Gebet seiner Gemahlin dem christlichen Glauben zugeführt; das ganze Reich
wurde infolgedessen unter das göttliche Gebot gestellt, und durch das
Beispiel der Großen wurden die Unterthanen zur Beharrlichkeit im Gebet
veranlaßt.

Zu solcher Ausdauer ladet uns gar dringend das Gleichnis des Herrn ein, in
welchem er sagt: »Und ob er nicht aufstehet und giebt ihm darum, daß er
sein Freund ist, so wird er doch um seines unverschämten Geilens willen
aufstehen und ihm geben, wieviel er bedarf.« Mit dieser -- wenn man so
sagen darf -- Aufdringlichkeit des Gebetes hat Moses, wie ich oben erwähnt,
die Strenge der göttlichen Gerechtigkeit erweicht und Gottes Spruch
aufgehoben.

Du weißt es, Geliebte, welche Liebesglut einst euer ganzer Konvent in den
Gebeten für mich an den Tag legte, da ich noch unter euch weilte. Jeden Tag
pflegtet ihr zum Abschluß der Horen ein besonderes Gebet für mich zu
verrichten und zwar so, daß, nachdem Versus und Responsum gesungen war,
Gebet und Kollekte sich anschloß in folgendem Wortlaut:

_Responsum_: »Verlaß mich nicht, o Herr, und weiche nicht von mir.«

_Versus_: »Sei allzeit zu meiner Hilfe bereit, o Herr.«

_Gebet_: »Errette deinen Knecht, o mein Gott, denn er harret auf dich.
Herr, erhöre mein Gebet, und mein Geschrei komme vor dich.«

_Kollekte_: »O Gott, der du deine Mägde gewürdigt hast, durch deinen Knecht
in deinem Namen vereinigt zu werden, wir bitten dich, laß ihn und uns in
deinem Willen beharren. Durch unsern Herrn Jesum Christum.«

Jetzt aber bin ich fern von euch und habe den Beistand eures Gebetes um so
nötiger, als die Angst und Gefahr, in der ich schwebe, größer geworden ist.
Darum bitte ich euch herzlich und dringend, daß ich gerade jetzt in der
Ferne die Wahrhaftigkeit eurer Liebe möge erfahren dürfen; wollet also dem
Schluß der Horen noch das folgende besondere Gebet für mich beifügen:

_Responsum_: »Verlaß mich nicht, o Herr, Vater und Gebieter meines Lebens,
auf daß ich nicht falle vor den Augen meiner Feinde, daß sich mein
Widersacher nicht freue.«

_Versus_: »Nimm deine Wehr und Waffen und erhebe dich zu meiner Hilfe, daß
mein Feind sich nicht freue.«

_Gebet_: »Errette deinen Knecht, o mein Gott, denn er harret auf dich.
Sende ihm Hilfe, o Herr, von deinem Heiligtum, und gewähre ihm Schutz von
Zion. Sei du ihm, o Herr, ein fester Turm, vor dem Antlitz seines Feindes.
Herr, erhöre mein Gebet und mein Geschrei komme vor dich.«

_Kollekte_: »Gott, der du deine Mägde gewürdigt hast, durch deinen Knecht
in deinem Namen vereinigt zu werden, wir bitten dich, schütze ihn vor allem
Unheil und gieb ihn wohlbehalten deinen Mägden wieder. Durch Jesum Christum
unsern Herrn.«

Sollte mich aber der Herr in die Hände meiner Feinde fallen lassen -- sei's
daß sie mich überwältigen und töten oder daß ich sonstwie ferne von euch
den Weg alles Fleisches gehe -- so beschwöre ich euch: lasset meinen
Leichnam, wo er auch begraben sei oder liege, in euren Friedhof überführen.
Da mögen dann meine Töchter, meine Schwestern in Christo, mein Grab
besuchen und dann und wann Gebete für mich zum Himmel schicken. Denn ich
wüßte für eine schmerzvolle und ob des Irrtums ihrer Sünden trauernde Seele
keinen weihevolleren heilsameren Ort als den, der dem Parakleten, das ist
dem Tröster, zum Eigentum geweiht ist und dessen Namen trägt. Auch ruht ein
Christ wohl bei keiner gläubigen Gemeinschaft so süß, wie bei gottgeweihten
Frauen. Denn Frauen waren einst besorgt um das Begräbnis unseres Herrn und
salbten ihn vor und nach seinem Tod mit köstlichen Salben, und sie weinten
an seinem Grab, wie geschrieben steht: »Frauen saßen am Grab und weinten
und klagten um den Herrn«. Dort wurden sie auch zuerst mit der Kunde von
der Auferstehung getröstet, durch die Erscheinung und Ansprache der Engel,
und gleich darauf durften sie zu ihrer Freude den Auferstandenen selber
sehen und mit Händen berühren, der ihnen zweimal erschien.

Zum Schluß über alles andere die eine Bitte: sorget dereinst mit der
gleichen Angst um das Heil meiner Seele, wie ihr jetzt um mein Leben fast
allzu ängstlich besorgt seid, und erweiset dem Toten die Liebe, die ihr dem
Lebenden nicht versagt habt, indem ihr ihm mit der besondern Hilfe eures
Gebets beistehet.

Lebe wohl, du und deine Schwestern, lebet dem Herrn und gedenket mein!



IV. Brief.

Heloise an Abaelard.

(Ihrem Ein und Alles nach Christus die Seinige ganz in Christus.)


Es befremdet mich, teuerster Freund, daß du gegen den sonstigen Gebrauch,
ja gegen die natürliche Ordnung der Dinge selbst in der Anrede deines
Briefes meine Person vor die deinige zu setzen beliebtest: die Frau vor den
Mann, die Gattin vor den Gatten, die Magd vor den Herrn, die Nonne vor den
Mönch und Priester, die Diakonisse vor den Abt. Nach gutem Recht und Brauch
setzt man den Namen des Briefempfängers vor den eigenen, wenn man an
Vorgesetzte oder Gleichstehende schreibt. Schreibt man dagegen an
Untergebene, so richtet sich die Reihenfolge der Namen nach derjenigen des
Ranges der einzelnen.

Auch das hat uns nicht wenig befremdet, daß du die Angst derjenigen noch
vermehrt hast, denen du den Balsam des Trostes hättest reichen sollen, und
daß du, statt Thränen zu stillen, Thränen geweckt hast. Denn wer von uns
kann mit trockenen Augen anhören, was am Schluß deines Briefes steht:
»Falls mich Gott in die Hände meiner Feinde fallen läßt, daß sie mich
überwältigen und töten« u. s. w. O mein Geliebter, wie konntest du so etwas
denken und aussprechen! Möge Gott niemals seine Dienerinnen so weit
vergessen, daß er sie deinen Tod erleben lasse. Möge er uns nimmermehr ein
Leben fristen lassen, das schwerer ist als alle Qualen des Todes. Dir ziemt
es, unsere Exequien zu feiern, du mußt Gott unsere Seelen empfehlen und
diejenigen zu ihm vorangehen lassen, die du zu einer Gemeinde Gottes
vereinigt hast. Von keiner Sorge um sie wirst du dann mehr beunruhigt
werden, und um so freudiger wirst du uns nachfolgen, je gewisser du über
unser Seelenheil geworden bist.

Verschone uns, ich beschwöre dich, mein Gebieter, mit solchen Worten, die
unser Unglück zur Verzweiflung steigern; nimm uns nicht vor dem Tod, was
uns das Leben noch möglich macht. Es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine
eigene Plage habe, und jener Tag, ganz in Bitterkeit gehüllt, wird jedem,
dem er anbricht, Angst genug bereiten. »Denn wozu soll man,« sagt Seneca,
»Übel heraufbeschwören und das Leben vor dem Tod verlieren?«

Du bittest darum, mein einzig Geliebter, wir sollen deinen Leichnam, falls
du dein Leben fern von uns beschließen solltest, nach unserer
Begräbnisstätte überführen lassen, auf daß dir die Gebete, in welchen wir
deiner beständig gedenken, eine reiche Frucht des Segens schaffen mögen.
Aber wie kannst du glauben, daß dein Andenken überhaupt aus unserm
Gedächtnis schwinden könne? Oder wird es _dann_ Zeit zum Gebet sein, wenn
die höchste Seelenangst uns ruhelos umtreibt? wenn der Geist die Fähigkeit
zum Denken verliert und die Zunge nicht mehr der Rede mächtig sein wird?
Wenn das Herz in seinem Wahn sich gegen Gott empört und ihn mit seinem
Murren zum Zorn reizt, statt ihn mit Gebeten zu begütigen? Dann werden wir
Armen nur noch Thränen haben und kein Wort des Gebetes finden, und wir
werden größere Eile haben, dir im Tode nachzufolgen als dich zu bestatten,
und wir werden selbst für das Grab reif sein, statt daß wir dich begraben.
Da uns mit dir unser Leben verloren geht -- wie sollen wir weiter leben,
wenn du von uns scheidest? Ach würde es uns erspart, auch nur bis dahin zu
leben! Schon der Gedanke an deinen Tod ist so gut wie Tod für uns. Möge
Gott nicht zugeben, daß wir am Leben bleiben, um an dir diese Liebespflicht
zu erfüllen und diesen letzten Dienst dir zu erweisen, den wir vielmehr von
dir erwarten. Darin wollen wir dir vorangehen, nicht folgen!

Darum schone unser, ich beschwöre dich, schone wenigstens derjenigen, die
nur in dir lebt; laß uns nicht solche Worte hören, die gleich tödlichen
Schwertern durch unsere Seele gehen, also daß was dem Tod vorangeht,
schwerer ist als der Tod selbst. Ein kummerschweres Herz findet keine Ruhe
und ein geängsteter Geist kann sich nicht wahrhaft mit Gott beschäftigen.
Ich bitte dich, mach uns den Dienst des Herrn nicht unmöglich, dem kein
anderer als du uns geweiht hat. Wenn uns eine schwere Heimsuchung droht,
die unvermeidlich ist, dann möge sie lieber schnell hereinbrechen, damit
nicht ein Geschick uns lange vorher mit unnützer Angst quält, das doch
durch keine Vorsicht abzuwenden ist. So meint es auch der Dichter, wenn er
Gott bittet:

   »Plötzlich komme, was du verhängst, und blind für die Zukunft
   Bleibe des Menschen Sinn, und Hoffnung lindre die Furcht ihm.«

Aber welche Hoffnung bleibt mir, wenn ich dich verloren habe? Oder was
könnte mich dann noch bestimmen, meine irdische Pilgerschaft fortzusetzen,
in der ich keinen andern Trost habe als dich. Ja selbst von dir bleibt mir
ja nur noch das frohe Bewußtsein, daß du lebst, da die Wonne, die ich einst
bei dir fand, dahin ist. Ja, nicht einmal deine Gegenwart ist mir vergönnt,
in deren Genuß ich doch von Zeit zu Zeit wenigstens mich wiederfinden
könnte.

Ja, wenn's kein Frevel wäre -- wollte ich's hinausrufen in alle Welt: »O du
grausamer Gott, grausam in allen Stücken! O unbarmherzige Barmherzigkeit! O
unseliges Geschick!« Alle seine bitteren Geschosse hat es an mich
verschwendet, und es bleibt ihm keines mehr übrig, um gegen andere zu
wüten. Seinen ganzen vollen Köcher hat es an mir erschöpft, so daß niemand
mehr seine Pfeile zu fürchten braucht. Ja, selbst wenn es noch ein Geschoß
übrig hätte, es wäre kein gesunder Fleck an mir, der noch verwundet werden
könnte. Nur das eine hat es bei so vielen Wunden zu fürchten, daß mein Tod
diesen Qualen ein Ende mache! und obwohl es nicht aufhört, mich zu martern,
so fürchtet es sich, daß mein Tod, an welchem es arbeitet, zu schnell
herbeikommen möchte!

O ich Elendeste der Elenden! Ich aller Unglücklichen Unglücklichste! Stand
ich nicht höher als alle Frauen der Welt, da du mich über alle stelltest?
Um so tiefer und schwerer war der Fall, den ich an dir und mir zugleich
erleben mußte. Denn je höher einer emporgestiegen, desto tiefer ist der
Sturz, wenn er fällt. Gab es unter allen edlen und hohen Frauen eine, deren
Glück das meinige überstiegen hätte oder ihm auch nur gleichgekommen wäre?
Aber giebt es auch eine, die das Geschick so in die Tiefe gestürzt hat und
so mit Leid überschütten konnte? Den höchsten Ruhm hat es mir durch dich
gebracht und hat mir das tiefste Elend in dir bereitet. Nicht im Guten,
nicht im Bösen hat es Maß gehalten, grenzenlos hat es mir beides beschert.
Nur um mich zur elendesten aller Frauen zu machen, hat es mich vorher so
glücklich gemacht, damit ich im Gedanken an das Verlorene desto lauter
klagen sollte, je schwerer ich geschädigt worden war. Der Verlust sollte
mich um so mehr schmerzen, je teurer mir der Besitz gewesen war. Und das
Ende der höchsten Lust und Wonne sollte die tiefste Trauer sein.

Ja, um uns noch mehr zu reizen, wurden alle Gebote der Gerechtigkeit an uns
in Ungerechtigkeit verwandelt. Denn so lange wir sorglos die Freuden der
Liebe genossen und, um ein stärkeres aber bezeichnenderes Wort zu
gebrauchen, der Buhlerei uns hingaben, so lange hat Gott seine Strenge
nicht gegen uns angewandt. Als wir aber an Stelle der verbotenen Liebe die
erlaubte setzten und das Anstößige unseres freien Liebesverkehrs durch ein
ehrbares Ehebündnis gedeckt hatten, da erst hat uns der Herr in seinem
Grimm seine gewaltige Hand fühlen lassen, und das reine Ehebett fand keine
Gnade vor dem, der das befleckte vorher so lange geduldet hatte.

Für Männer, die man im Ehebruch betroffen hätte, wäre die Strafe hart genug
gewesen, die dich ereilt hat. Was andere durch das Vergehen des Ehebruchs
verdienen, das hast du infolge deiner rechtmäßigen Ehe erlitten, durch
welche du alle Sünden glaubtest gebüßt zu haben. Was Buhlerinnen ihren
Mitschuldigen zuziehen sollten, das hat deine Gattin über dich gebracht.
Unser Geschick hat uns auch nicht ereilt, so lange wir in den alten
Genüssen schwelgten; vielmehr lebten wir ja gerade damals in keuscher
Trennung voneinander: du hieltest in Paris deine Schule, ich lebte auf
deinen Wunsch unter den Nonnen zu Argenteuil. So hatten wir unsere
Gemeinschaft aufgehoben, damit du desto eifriger dem Unterricht obliegen
könntest, ich um so ungestörter dem Gebet und frommer Betrachtung mich
widmete, und während wir keuscher und darum unsträflicher lebten als sonst,
hast du an deinem Leib die Schuld allein bezahlt, die wir beide gemeinsam
begangen hatten. Schuldig waren wir beide, gestraft wurdest nur du; du, der
weniger schuldig war, hast die ganze Strafe getragen. Du hattest aller
Gerechtigkeit genug gethan, da du dich um meinetwillen erniedrigtest, mich
aber und mein ganzes Geschlecht zu dir emporhobst, um so weniger durftest
du Strafe fürchten von Gott oder gar von den Verrätern, denen du zum Opfer
gefallen bist.

Ich Unselige! mußte ich geboren werden, um die Ursache eines solchen
Verbrechens zu werden? Daß doch den größten Männern allezeit von Frauen das
tiefste Verderben droht! Darum steht auch in den Sprüchen die Warnung vor
den Weibern: »Mein Sohn, höre mich und merke auf die Worte meines Mundes:
laß dein Herz nicht weichen auf ihren Weg und laß dich nicht verführen auf
ihrer Bahn. Denn sie hat viele verwundet und gefället und sind allerlei
Mächtige von ihr erwürget. Ihr Haus sind Wege zur Hölle, da man
hinunterfährt in des Todes Kammer.« Und im »Prediger« heißt es: »Ich habe
alle Dinge durchforscht in meinem Geist und fand, daß ein solches Weib,
welches Herz Netz und Strick ist und ihre Hände Bande sind, bitterer sei,
denn der Tod. Wer Gott gefällt, der wird ihr entrinnen; aber der Sünder
wird durch sie gefangen.«

Schon das erste Weib im Paradies hat den Mann verführt und während sie ihm
von Gott zur Gehilfin geschaffen war, ist sie ihm zum größten Fluch
geworden.

Der starke Simson, der durch das Nasiräergelübde dem Herrn geweiht war und
dessen Geburt seiner Mutter durch einen Engel verkündigt wurde -- Delila
allein hat ihn überwunden, sie war es, die ihn seinen Feinden in die Hände
lieferte; sie war schuld daran, daß er des Augenlichtes beraubt, endlich in
wildem Schmerz sich und seine Feinde unter den Trümmern des Tempels
begraben hat.

Salomo, aller Weisen Weisester, wurde allein durch das Weib, mit dem er
sich verbunden hatte, zum Thoren. Durch sie verlor er so gänzlich seinen
Verstand, daß er, den doch der Herr zum Erbauer seines Tempels auserlesen
hatte, während der fromme David, Salomos Vater, nicht dazu gewürdigt worden
war, bis an sein Lebensende zum Götzendienst sich verleiten ließ und von
dem wahren Gott, den er in Wort und Schrift predigte und lehrte, abfiel.

Der fromme Hiob hatte den letzten und härtesten Kampf mit seinem Weibe zu
bestehen, die ihn dazu verleiten wollte, Gott zu fluchen. Der schlaue
Versucher wußte wohl -- er hatte es zu oft erprobt -- daß die Männer am
leichtesten durch ihre Frauen zu Fall kommen.

So hat er denn seine gewohnte Teufelei auch auf uns angewandt und hat dich
durch die Ehe zu Fall gebracht, da er dich durch die verbotene Liebe nicht
verderben konnte. Das Schlechte hatte er nicht zu unserem Schaden ausnützen
dürfen, darum wirkte er aus dem Guten Schlechtes.

Gott aber sei Dank wenigstens dafür, daß mich der Versucher nicht wie die
genannten Frauen mit meiner Zustimmung schuldig werden lassen durfte, wenn
schon er meine Liebe als Werkzeug für seine Bosheit benutzt hat. Und doch,
wenn ich auch in diesem Punkt ein reines Gewissen habe und mich keine
Schuld an jenem Verbrechen trifft, so habe ich doch vorher so viele Sünden
begangen, daß ich mich auch nicht ganz von der Schuld an diesem Vergehen
freizusprechen wage.

Denn lange vorher schon hatte ich den Lockungen fleischlicher Lüste
nachgegeben; schon damals hätte ich verdient, was ich jetzt leide und das
Geschick, das mich später ereilte, ist die gerechte Strafe für meine
früheren Sünden. Hat man schlimm angefangen, so muß man sich auch auf einen
schlimmen Ausgang gefaßt machen. Ja, könnte ich nur wenigstens recht
ernstlich bereuen, was ich gethan! Könnte ich durch anhaltende Reue und
Zerknirschung die schreckliche Wunde, die man dir geschlagen hat, nur
einigermaßen gut machen. Den Schmerz, den du einen Augenblick lang an
deinem Körper aushalten mußtest -- wie gerne wollte ich ihn -- es wäre ja
nur recht und billig -- mein ganzes Leben lang in meinem trauernden Herzen
tragen und so, wenn nicht Gott, doch wenigstens dir Genugthuung leisten.

Allein, laß mich die ganze Schwachheit meines geängsteten Herzens bekennen:
ich finde in mir nicht die Kraft einer wahren Reue, mit der ich Gott
versöhnen könnte; ja, ich muß ihn vielmehr ob jener ungerechten Heimsuchung
der höchsten Grausamkeit zeihen, ich murre wider seine Fügung und reize ihn
durch meine Widerspenstigkeit zum Zorn, statt ihn durch aufrichtige
Bußfertigkeit zu begütigen. Denn mag man den Leib noch so sehr kasteien:
kann man da von wahrer Reue sprechen, wo das Herz an der Lust zur Sünde
noch festhält und nach den alten Genüssen noch immer glühend verlangt? Es
ist wohl leicht, seine Sünden zu bekennen und sich selber anzuklagen, oder
dem Leib durch äußerliche Bußübung wehe zu thun; aber schwer, unendlich
schwer ist es, das Herz loszureißen von der Sehnsucht nach den süßesten
Genüssen. Darum, wenn der fromme Hiob sagt: »Ich will meine Klage bei mir
gehen lassen!« d. h. ich will meinen Mund öffnen und mich frei und offen
meiner Sünden anklagen -- so fügt er mit Recht alsbald hinzu: »Ich will
reden von Betrübnis meiner Seele«. Der heilige Gregorius erklärt diese
Worte also: »Es giebt Leute, die mit lauter Stimme ihre Sünden bekennen;
aber ihr Sündenbekenntnis entlockt ihnen keinen Seufzer, und mit fröhlicher
Miene sprechen sie Dinge aus, über die sie weinen sollten.« So ist es denn
nicht damit gethan, daß man seine Sünden verurteilt und bekennt, sondern
man muß sie in der Betrübnis seiner Seele bekennen, und diese Betrübnis muß
eben die Strafe sein für die Sünden, welche die vom Gewissen geleitete
Zunge bekennt.

Aber wie selten dieses bittere Gefühl wahrer Reue sich finde, das spricht
der heilige Ambrosius aus in dem Satz: »Ich habe mehr Leute kennen gelernt,
die ihre Unschuld unverletzt bewahrt als solche, die Buße gethan haben«.
Ich fand in den Freuden der Liebe, die wir miteinander genossen, so viel
Wonne, daß sie noch jetzt ihren Reiz für mich haben und mich der Gedanke
daran kaum verläßt. Wohin ich mich wende, immer stehen sie mir vor Augen
und wecken sehnsüchtiges Verlangen. Bis in meinen Schlummer verfolgen mich
die lockenden Phantasien. Mitten im feierlichen Hochamt, wo das Gebet
reiner zu Gott sich erheben soll als sonst, wird mein armes Herz so ganz
von jenen wohllüstigen Gebilden eingenommen, daß ich nur für ihre
Lüsternheiten Gedanken habe, nicht für das Gebet. Ich sollte über meine
Sünden weinen und ich seufze nach dem, was ich verloren.

Und nicht allein was wir gethan steht lebendig vor meiner Seele; nein, auch
die Orte, die Stunden, in denen wir gesündigt, haben sich so fest meinem
Herzen eingeprägt, daß ich immer wieder aufs neue alles mit dir durchlebe
und auch im Schlaf keine Ruhe finden kann. Dann und wann verrät eine
unwillkürliche Bewegung des Körpers meines Herzens Gedanken oder ein Wort,
das sich mir wider Willen auf die Lippen drängt. O gewiß, mein Elend ist
groß! und ich darf wohl einstimmen in die Klage eines bangen Herzens: »Ich
unglückseliger Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?« O
könnte ich auch die darauffolgenden Worte aus vollem Herzen nachsprechen:
»Ich danke Gott durch Jesum Christum, unsern Herrn.«

Dir, mein Geliebter, ist die göttliche Gnade entgegengekommen und hat dich
auf einmal von all diesen Anfechtungen befreit, durch eine körperliche
Wunde hat sie dich aller Seelenleiden enthoben, und wo Gott es böse mit dir
zu machen schien, gerade darin hat sich seine Güte gegen dich gezeigt: nach
Art eines guten Arztes, der, um zu heilen, den Schmerz nicht erspart. Bei
mir dagegen werden die Reizungen des Fleisches, die Begierde nach Genuß
noch verschärft durch die Glut meines jungen Blutes und durch die
Erinnerung an die wonnigen Genüsse, die ich einst gekostet habe. Und je
schwächer die Natur ist, der der Angriff gilt, desto leichter erliege ich
dem Ansturm der Leidenschaften. Man nennt mich keusch, weil man nicht weiß,
daß alles nur Schein ist. Man rechnet mir die Reinheit des Fleisches als
Tugend an, aber nicht Reinheit des Leibes, sondern Keuschheit der Seele ist
Tugend! Menschen rühmen mich, vor Gott aber, der Herzen und Nieren prüft
und ins Verborgene siehet, habe ich kein Verdienst. Man nennt mich fromm zu
einer Zeit, in der nur der geringste Teil der Frömmigkeit nicht Heuchelei
ist; wo der am meisten gelobt wird, der niemand vor den Kopf stößt.

Es ist ja wohl lobenswert und vor Gott gewiß angenehm, wenn jemand, was für
eine Gesinnung er sonst habe, nicht durch seine Handlungen ein schlechtes
Beispiel giebt und der Kirche Ärgernis dadurch bereitet, oder wenn er sich
davor hütet, daß nicht um seinetwillen der Name Gottes gelästert werde
unter den Heiden oder daß er den Kindern der Welt keinen Anlaß gebe, seinen
heiligen Stand zu verunglimpfen. Aber auch das ist eigentlich nur ein
Geschenk der göttlichen Gnade; von ihr allein kommt uns die Kraft, das Gute
zu thun und das Böse zu lassen. Vergeblich aber ist es, das erstere zu
thun, wenn das andere nicht auch geschieht; denn es steht geschrieben:
»Wende dich ab vom Bösen und thue das Gute.« Und beides ist wiederum
vergeblich, wenn uns nicht die Liebe Gottes dazu treibt.

Ich aber habe -- Gott weiß es -- jederzeit mich mehr davor gescheut, dich
zu beleidigen als Gott. Du bist es, dem ich gefallen will, nicht Gott. Dein
Befehl hat mich zur Nonne gemacht, nicht die Liebe zu Gott. Ach sieh mein
Unglück an, führe ich nicht das jammerwürdigste Leben, wenn das alles, was
ich leide, umsonst ist und kein Dank in der Zukunft mich erwartet? Auch du
hast dich, gleich vielen anderen, durch den Schein betrügen lassen und hast
meine Heuchelei für Frömmigkeit gehalten. Darum empfiehlst du dich so
dringend für mein Gebet und verlangst von mir, was ich von dir erwarte. Ich
beschwöre dich, du wollest keine so hohe Meinung von mir haben und nicht
aufhören, deinerseits für mich zu beten. Halte mich nicht für gesund, damit
du mir nicht die Wohlthat deiner Arznei entziehest. Glaube nicht, ich
brauche nichts und zögere nicht, mir in meiner Not zu helfen. Denke nicht,
ich sei stark: ich möchte sonst stürzen, ehe du mich halten könntest.
Vielen hat schon falsches Lob Schaden gebracht und ihnen die Stütze
genommen, die sie brauchten. Durch den Mund des Jesaias ruft der Herr:
»Mein Volk, deine Tröster verführen dich und zerstören den Weg, den du
gehen sollst«. Und bei Ezechiel heißt es: »Wehe euch, die ihr Kissen machet
den Leuten unter die Arme und Pfühle zu den Häuptern, beides Jungen und
Alten, die Seele zu fahen«.

Dagegen finden wir bei Salomo den Spruch: »Die Worte der Weisen sind Spieße
und tief eingeschlagene Nägel, die nicht die Haut ritzen, sondern tiefe
Wunden reißen.«

Ich bitte dich, höre auf mich zu loben, damit du nicht den Vorwurf
niedriger Schmeichelei dir zuziehest oder des Vergehens der Lüge dich
schuldig machest. Oder wenn du wirklich glaubst, daß etwas Gutes an mir
sei, so gieb acht, daß nicht das, was du an mir lobst durch den giftigen
Hauch der Eitelkeit zu nichte werde. Kein erfahrener Arzt beurteilt eine
innere Krankheit bloß nach dem Befund des äußerlichen Zustandes eines
Kranken. Leistungen, welche Verworfene so gut aufweisen können wie
Auserwählte, haben vor Gottes Augen keinen Wert. Derart sind aber die
äußerlichen guten Werke und keiner der Heiligen ist so eifrig darauf
bedacht, wie die Heuchler. »Es ist das Herz ein trotziges und verzagtes
Ding, wer kann es ergründen?« Ferner: »Es gefällt manchem ein Weg wohl;
aber endlich bringt er ihn zum Tode«. -- »Der Mensch soll nicht voreilig
über Dinge urteilen, die allein dem Urteil Gottes vorbehalten sind.« Darum
steht auch geschrieben: »Man soll keinen Menschen loben, so lange er lebt«.
Das ist so viel als: lobe keinen Menschen, weil zu fürchten steht, daß du
ihn durch dein Lob weniger lobenswert machest.

Für mich selber ist ein Lob von dir um so gefährlicher, je angenehmer es
mir ist; und es klingt mir um so verführerischer und schmeichlerischer ins
Ohr, weil ich dir in allem gefallen möchte. Ich bitte dich: laß allezeit
deine Furcht um mich größer sein als das Vertrauen, das du auf mich
setzest, damit mir stets deine fürsorgende Hilfe zur Seite stehe. Und jetzt
hast du ganz besonderen Grund, für mich zu fürchten, weil mein sinnliches
Verlangen bei dir keine Befriedigung mehr finden kann. Sage mir nicht: »Die
Kraft ist in den Schwachen mächtig« oder: »Niemand wird gekrönt, er kämpfe
denn recht«. Ich verlange keine Siegeskrone; es ist mir genug, wenn ich der
Gefahr entgehe. Es ist leichter, der Gefahr aus dem Wege zu gehen als den
Kampf aufzunehmen. Welchen Winkel seines Himmels Gott mir anweisen will --
ich werde zufrieden sein. Dort wird keiner den andern beneiden, jeder wird
mit dem was er hat, sich begnügen. Um diese meine Ansicht durch das Gewicht
einer Autorität zu stützen, will ich das Wort des heiligen Hieronymus
anführen: »Ich gestehe meine Schwachheit ein, ich will nicht kämpfen in der
Hoffnung auf Sieg, damit ich des Sieges nicht verlustig gehe.« Sollten wir
sicheres aufgeben und Unsicherem nachjagen?



V. Brief.

Abaelard an Heloise.

(An die Braut Christi -- der Knecht Christi.)


Dein letzter Brief zerfällt, so viel ich mich erinnere, der Hauptsache nach
in vier Abschnitte, in welchen du deinem Schmerz Ausdruck giebst. Fürs
erste klagst du darüber, daß in der Anrede meines Briefes dein Name vor den
meinigen gesetzt sei, was in Briefen sonst nicht üblich sei und sogar der
natürlichen Ordnung der Dinge widerspreche. Zum zweiten beklagst du dich
darüber, daß ich eure Seelenangst vermehrt habe, statt euch Trost zu
bringen, daß ich, statt Thränen zu stillen, solche geweckt habe durch jenes
Wort in meinem Brief: »Falls mich Gott in die Hände meiner Feinde fallen
läßt« u. s. w. Zum dritten wiederholst du jene alte Klage gegen Gott über
die Art und Weise unserer Bekehrung und über den ruchlosen Verrat, dem ich
zum Opfer gefallen bin. Endlich erhebst du im Gegensatz zu dem Lob, das ich
dir gespendet, eine Anklage wider dich selbst und bittest mich dringend,
ich solle in Zukunft keine so hohe Meinung mehr von dir haben.

Ich will dir nun auf jeden einzelnen dieser Punkte antworten, nicht um mich
zu entschuldigen, sondern um dich zu belehren und aufzurichten, und ich
denke du wirst meinen Forderungen um so bereitwilliger Gehör schenken, je
mehr du einsehen lernst, wie berechtigt sie sind. Du wirst die Wünsche, die
ich in Beziehung auf deine Person ausspreche, um so lieber erfüllen als du
finden wirst, daß ich mit denselben nur recht habe, und du wirst um so
weniger geneigt sein, meinen Rat gering zu achten, je weniger tadelnswert
ich dir erscheine.

Was nun zunächst die, wie du meinst, verkehrte Reihenfolge der Namen in der
Anrede meines Briefes betrifft, so stimmt dieselbe, wenn du näher zusiehst,
mit deiner eigenen Ansicht überein. Sagst du doch selbst in deinem Brief --
und niemand bezweifelt dies -- daß, wenn man an Höhergestellte schreibt,
die Namen derselben vorangestellt werden. Bedenke, daß du über mir stehst
seit der Zeit, da du als die Braut Gottes meine Herrin geworden bist, wie
auch der heilige Hieronymus an Eustochium schreibt: »Darum schreibe ich:
meine Herrin. Denn Herrin muß ich nennen die Verlobte meines Herrn«.

Glücklicher Tausch des Ehebundes, der dich, einstmals die Gattin eines
armen elenden Menschen, nun in das Brautgemach des Königs aller Könige
erhebt und dich durch diese hohe Ehre nicht allein über deinen bisherigen
Gatten, sondern über alle Knechte dieses Königs setzt. Darum wundere dich
nicht, wenn ich mich für Leben und Sterben in den Schutz deines Gebetes
befehle; denn nach dem allgemeinen Recht gilt ja bei den Herren des Hauses
die Fürsprache der Ehefrau mehr als diejenige des Gesindes, die Herrin mehr
als die Knechte. Als das Urbild solcher Frauen wird uns jene Königin und
Braut des höchsten Königs beschrieben, wenn es im Psalm heißt: »Die Braut
steht zu deiner Rechten«. Weiter ausgeführt will dies besagen: »Sie steht
mit ihm in trautem Verein Seite an Seite und schreitet neben ihm einher,
während alle anderen in ehrfurchtsvoller Ferne stehen oder nachfolgen.«

Der Freude über dieses hohe Vorrecht giebt die Braut im Hohenlied, jene
Äthiopierin, in den Worten Ausdruck: »Ich bin schwarz, aber gar lieblich,
ihr Töchter Jerusalems; darum hat mich der König geliebt und in seine
Kammer geführt«. Und weiter: »Sehet mich nicht an, daß ich so schwarz bin,
denn die Sonne hat mich so verbrannt«. Diese Worte beziehen sich im
allgemeinen auf die beschauliche Seele, die im besonderen die Braut Christi
genannt wird; aber noch deutlicher bezeugt es das Gewand, das ihr traget,
daß die Worte auf euch sich beziehen. Denn die Tracht eurer schwarzen
Gewänder aus grobem Stoff, ähnlich dem Trauergewand der frommen Witwen,
welche um die Männer, die sie geliebt hatten, trauern, bezeugt, daß ihr
nach dem Wort des Apostels rechte, untröstliche Witwen in dieser Welt seid,
die von den Almosen der Kirche leben. Von der Trauer solcher Witwen um
ihren Bräutigam am Kreuz spricht die Schrift, wenn sie sagt: »Frauen saßen
am Grab und klagten und weinten um den Herrn.«

Die Äthiopierin erscheint äußerlich allerdings von schwarzer Farbe und der
oberflächlichen Betrachtung mag sie häßlicher scheinen als andere Frauen.
Aber an inneren Vorzügen steht sie ihnen nicht nach; ja einiges an ihr ist
sogar schöner und weißer als bei den andern, z. B. ihre Knochen und ihre
Zähne. Die weiße Farbe der letzteren wird ja auch von ihrem Geliebten
gefeiert, welcher sagt: »Und ihre Zähne sind weißer als Milch«. Sie ist
also äußerlich angesehen schwarz, im Innern aber lieblich und schön. Denn
die vielfachen Widerwärtigkeiten und Anfechtungen dieses Lebens haben ihren
Körper angegriffen und lassen ihn äußerlich schwarz erscheinen; sagt doch
auch der Apostel: »Alle, die gottselig leben wollen in Christo Jesu, müssen
Verfolgung leiden«. Wie nämlich durch die weiße Farbe das Glück bezeichnet
wird, ebenso passend kann man Schwarz als Symbol des Unglücks ansehen. Im
Innern aber, gleichsam an den Gebeinen, ist sie weiß, weil ihre Seele an
allen Tugenden reich ist, wie geschrieben steht, »des Königs Tochter ist
inwendig ganz herrlich«. Denn die Gebeine, welche im Innern sind und nach
außen von Fleisch umgeben werden, bilden die Kraft und Stärke eben des
Fleisches, welches sie stützen und tragen und stellen so in einem
anschaulichen Bilde _die menschliche Seele_ dar, welche den Körper, in dem
sie wohnt, belebt, aufrecht erhält, bewegt und lenkt und ihre Kraft ihm
mitteilt. Ihre Weiße und Schönheit sind die Tugenden, mit denen sie sich
schmückt. Äußerlich angesehen ist freilich auch sie von schwarzer Farbe,
denn während ihrer Pilgerfahrt hienieden in der Fremde hält sie sich
unscheinbar und gering, bis sie dereinst in jenem andern Leben, das mit
Christus in Gott verborgen ist, in ihre Herrlichkeit eingesetzt wird, wenn
sie die Heimat erreicht hat. Die Sonne der Wahrheit aber verfärbt sie, wenn
die Liebe ihres himmlischen Bräutigams sie demütigt und mit schmerzlichen
Anfechtungen heimsucht, damit sie ihres Glückes sich nicht überhebe.

Die Sonne verfärbt sie, d. h. so viel als: sie macht sie den anderen Frauen
unähnlich, die nur auf irdisches Gut bedacht sind und nach weltlichem
Ansehen geizen, so wird sie durch ihre Demut in Wahrheit die Lilie im
Thale, nicht eine Lilie der Berge wie jene thörichten Jungfrauen, welche
auf ihre fleischliche Reinheit und äußerliche Keuschheit eitel sind, in
ihrem Innern aber von glühenden Begierden verzehrt werden.

Mit gutem Recht aber redet sie die Töchter Jerusalems, d. h. die im Glauben
Schwachen -- daher sie Töchter heißen, nicht Söhne -- mit den Worten an:
»Sehet mich nicht an, daß ich so schwarz bin, denn die Sonne hat mich so
verbrannt«. Mit diesen Worten will sie sagen: »daß ich mich demütige und
alle Widerwärtigkeiten so männlich trage, ist nicht mein Verdienst, sondern
das Gnadengeschenk dessen, dem ich diene«. Ganz anders die Häretiker und
die Heuchler: vor dem Angesicht der Menschen pflegen sie sich gar demütig
zu gebärden und sich viel unnütze Lasten aufzulegen. Eine solche Demut und
Selbstpeinigung kann nur unsern Widerwillen erregen; denn diese Menschen
sind ja bedauernswerter als alle anderen, da sie weder die Güter dieses
Lebens, noch die des zukünftigen genießen. Im Hinblick darauf sagt die
Braut: »Wundert euch nicht, daß ich also thue«. Wundern muß man sich
vielmehr über diejenigen, welche vergeblich glühend von Begierde nach
irdischen Ruhm sich doch alle irdischen Güter vorenthalten, und die darum
hienieden so elend sind wie einst im Jenseits. Ihre Enthaltsamkeit ist wie
diejenige der thörichten Jungfrauen, vor denen die Thür zugeschlossen
wurde.

Mit Recht sagt sie auch, daß sie, weil schwarz und lieblich, vom König
geliebt und in seine Kammer geführt worden sei, d. h. in die geheimnisvolle
Ruhe der Betrachtung, und in jenes Bett, von welchem sie an einer andern
Stelle sagt: »Ich suchte des Nachts in meinem Bette, den meine Seele
liebt«. Denn wegen der Schwärze ihrer Farbe hält sie sich lieber im
Verborgenen auf als in der Öffentlichkeit und liebt mehr die Einsamkeit als
große Gesellschaft. Ein solches Weib wird auch die verschwiegenen Freuden,
die sie mit ihrem Mann genießt, allen öffentlichen Vergnügungen vorziehen;
sie wird sich lieber im Ehebett fühlbar machen, als bei Tische glänzen.

Vielfach ist auch die Haut dunkelfarbiger Frauen zwar weniger lockend für
das Auge, aber um so reizvoller bei der Berührung, und darum ist der
geheime Liebesgenuß, welchen sie spenden, größer und süßer als öffentliche
Freuden; und um ihn zu genießen, werden solche Frauen von ihren Männern
lieber in das Schlafgemach geführt als in die Öffentlichkeit.

Nachdem die Seelenbraut in dieser bildlichen Weise die Worte
vorausgeschickt hat: »Ich bin schwarz aber lieblich« -- fügt sie alsbald
hinzu: »Darum hat mich der König geliebt und in seine Kammer geführt«, und
setzt so die einzelnen Worte in bestimmte Beziehung zu einander: »Weil ich
schön, hat er mich geliebt -- weil schwarz, hat er mich in die Kammer
geführt«. -- »Schön« bezieht sich, wie schon gesagt, auf ihre inneren
Vorzüge, welche der Bräutigam liebt; »Schwarz« -- auf die leiblichen
Anfechtungen und Widerwärtigkeiten. Diese Schwärze, d. h. diese
körperlichen Anfechtungen, lenken das Herz der Gläubigen unwillkürlich
hinweg von der Unruhe des Weltlebens zur friedlichen Stille frommer
Betrachtung. So ging es nach dem Berichte des Hieronymus auch dem Paulus,
dem Begründer des Klosterlebens, das wir erwählt haben.

Auch die Dürftigkeit unserer Ordenstracht ist mehr für die Einsamkeit
berechnet als für den Verkehr in der Welt und paßt vortrefflich für die
Rauheit und Abgeschiedenheit des Ortes, wie sie unsere Regel verlangt. Denn
nichts verlockt so sehr dazu, in der Öffentlichkeit sich zu zeigen, als
eine kostbare Gewandung. Und daß man nach einer solchen begehre einzig und
allein, um der nichtigen Eitelkeit und Großthuerei willen, dies bestätigt
schon der heilige Gregorius mit den Worten: »Niemand schmückt sich für die
Einsamkeit, sondern um sich sehen zu lassen«.

Unter dem obengenannten Brautgemach ist die Kammer gemeint, in welche uns
der Bräutigam selbst im Evangelium zum Gebet einladet mit den Worten: »Wenn
du aber betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Thür zu und bete
zu deinem Vater«; mit andern Worten: »nicht auf den Gassen und Märkten wie
die Heuchler«. Unter der Kammer ist also verstanden ein einsamer, dem Lärm
und den Augen der Welt entrückter Ort, da man gesammelter und reiner beten
kann als anderswo. Dies trifft zu bei der Stille klösterlicher
Zurückgezogenheit; auch da sollen wir die Thüre schließen, d. h. alle
Zugänge sperren, damit die Reinheit unseres Gebetes nicht gestört werde und
unser Auge unsere arme Seele nicht verführe. Schmerzlich empfinden wir's,
daß es unter denen, die unser Gewand tragen, so viele Verächter dieses
Rates oder vielmehr dieser göttlichen Vorschrift giebt. Wenn sie das
heilige Hochamt feiern, sperren sie Thüren und Chöre auf und geben sich
ohne Scham den neugierigen Blicken der Frauen wie der Männer preis, und
besonders benutzen sie die hohen Feste als Gelegenheit, um vor den Laien im
glänzenden Schmuck ihrer Gewänder zu prahlen. Nach ihrer Meinung ist ein
Fest um so schöner, je mehr Pomp dabei entfaltet wird und je üppiger das
nachfolgende Festmahl ausfällt. Über die unselige Verblendung dieser Leute,
die zu der armen Religion Christi ganz und gar im Widerspruch steht, ist es
besser kein Wort zu verlieren, um kein Ärgernis zu erregen. Ganz in
jüdischer Weise setzen sie an Stelle der Regel ihr eigenes Herkommen und
haben Gottes Gebot zu nichte gemacht durch Menschensatzungen; sie fragen
nicht danach, was Pflicht, sondern was Gewohnheit ist. Und doch -- der
heilige Augustin erinnert daran -- der Herr hat gesagt: »Ich bin die
Wahrheit«, nicht: »Ich bin die Gewohnheit«.

Ihrem Gebet, das bei offener Thür verrichtet wird, mag sich anbefehlen, wer
da will. Ihr aber, liebe Schwestern, die ihr, eingeführt in das Gemach des
himmlischen Königs und in seinen Armen ruhend, bei allezeit verschlossener
Thür ganz euch ihm hingebet: je inniger ihr euch mit ihm vereiniget -- nach
dem Wort des Apostels: »Wer dem Herrn anhanget, ist ein Geist mit ihm« --
desto reiner und wirksamer, das glaube ich fest, wird euer Gebet sein, und
darum bitten wir auch so dringend um seine Beihilfe, und ich meine: ihr
müsset es um so andächtiger verrichten, je größer die Liebe ist, die uns
verbindet.

Ich habe euch ferner durch die Erwähnung der Gefahr, in welcher ich schwebe
und durch meine Todesfurcht in Aufregung versetzt; allein das ist auf deine
eigene Aufforderung, ja, auf deine dringende Bitte hin geschehen. In dem
ersten Brief, den du an mich geschrieben, heißt es folgendermaßen: »Darum
im Namen dessen, der dich bisher aus allen Gefahren zu seiner Ehre errettet
hat, im Namen Jesu Christi bitten wir dich, du mögest seinen und deinen
Dienerinnen durch öftere Nachricht Gewißheit verschaffen über die Stürme,
von denen dein Lebensschiff jetzt noch hin- und hergeworfen wird; so wirst
du wenigstens an uns, die wir allein dir getreu geblieben, Genossinnen
deiner Leiden und deiner Freuden haben. Geteilter Schmerz, sagt man ja, ist
halber Schmerz und jede Last wird leichter oder läßt sich ganz vergessen,
wenn andere daran mittragen«. Warum also wirfst du mir vor, daß ich euch in
meine Angst eingeweiht habe, da du mich doch selbst so dringend dazu
aufgefordert hast? Wolltet ihr euch freuen, während ich unter Ängsten und
Nöten mein Leben friste? Wollet ihr nur Genossinnen meiner Freude, nicht
auch meines Leides sein, wollet ihr euch nur mit den Freuenden freuen,
nicht auch weinen mit den Weinenden? Darin eben unterscheiden sich wahre
Freunde von falschen, daß jene im Unglück, diese nur im Glück uns treu
sind. Ich bitte dich, höre auf mit solchen Vorwürfen und halte an dich mit
derartigen Klagen, die dem Wesen der Liebe so fremd sind. Wenn aber dein
Herz noch immer verwundet ist durch die Beschreibung meiner Leiden, so
bedenke, daß es bei der drohenden Gefahr, in der ich schwebe und bei der
Hoffnungslosigkeit, die mich jeden Tag am Leben verzweifeln läßt, meine
Pflicht ist, mich ängstlich um das Heil meiner Seele zu kümmern, und so
lange es Zeit ist, für dasselbe zu sorgen. Und du wirst mir diese Besorgnis
gewiß nicht übel nehmen, wenn du mich wirklich liebst. Ja, wenn du dir von
der göttlichen Barmherzigkeit irgend etwas für mich versprechen könntest,
dann solltest du mir die Erlösung von den Mühsalen dieses Lebens um so
lebhafter wünschen, als du weißt, wie unerträglich sie für mich geworden
sind. Du weißt ja, daß jeder, der mich vom Leben befreit, den größten
Qualen mich entreißt. Was mir die Zukunft noch bringen wird, ist ungewiß;
aber was ich hinter mir lasse, wenn ich befreit werde, das weiß ich. Dem
Unglücklichen ist das Ende des Lebens stets willkommen, und wer wirklich
aufrichtiges Mitleid mit dem Gequälten hat, der kann ihm nur das Ende
wünschen; selbst in dem Fall, daß jemand den Leidenden wahrhaft liebt und
sein Tod ihn schmerzt, soll er doch nicht sein eigenes Bestes wünschen,
sondern das des anderen. So wird selbst eine Mutter ihrem langsam
hinsiechenden Kind den Tod und damit das Ende des Siechtums wünschen, das
sie nicht mehr mit ansehen kann; lieber erträgt sie den Verlust ihres
Kindes als daß sie es leidend behalten möchte. Und wenn jemand noch so gern
der Gegenwart eines Freundes sich erfreuen möchte, so wird er ihn doch
lieber in der Ferne glücklich wissen als ihn zu seinem eigenen Nachteil in
der Nähe haben wollen; denn wenn wir die Leiden anderer nicht mildern
können, dann mögen wir sie lieber gar nicht leiden sehen. Dir ist der Genuß
meiner Gegenwart, selbst einer unbefriedigenden, versagt. Ich sehe deshalb
nicht ein, warum du mir nicht lieber ein seliges Ende als ein elendes Leben
wünschen solltest, besonders da du ja gar nichts von mir hast. Wünschest du
aber nur in Rücksicht auf dein eigenes Wohlbehagen eine Verlängerung meiner
Leiden, dann würdest du als Feindin, nicht als Freundin an mir handeln.
Willst du diesen schlimmen Schein meiden, dann, ich beschwöre dich noch
einmal, höre auf mit diesen Klagen.

Daß du mein Lob ablehnst, billige ich; denn du zeigst dich dadurch
desselben nur um so würdiger. Es steht ja geschrieben: »Der Gerechte klagt
sich selber zuerst an« und: »Wer sich selbst erniedrigt, der soll erhöhet
werden«. Nur daß es auch in deinem Herzen wirklich so aussieht, wie du
schreibst! Ist dem wirklich so, dann ist deine Demut echt und kann durch
meine Worte nicht geschädigt werden. Aber sieh doch ja zu, daß du nicht
eben, indem du das Lob vermeiden zu wollen scheinst, vielmehr nach Lob
trachtest, und das, was du mit dem Munde zurückweisest, im Herzen begehrst.
Der heilige Hieronymus schreibt darüber unter anderem an die Jungfrau
Eustochium folgendes: »Wir lassen uns durch unsere böse Naturanlage
verleiten. Denen, die uns schmeicheln, schenken wir nur zu gerne Gehör; wir
beteuern wohl unsere Unwürdigkeit und eine gemachte Schamröte bedeckt unser
Gesicht, aber dennoch freuen wir uns im innersten Herzen des uns
gespendeten Lobes«. Ähnlich beschreibt Virgil die Schlauheit der lüsternen
Galathea, die das was sie wollte durch die Flucht zu erlangen suchte und
den Geliebten durch scheinbare Zurückweisung nur begieriger nach ihrem
Besitz machte. »Flüchtet sich ins Gebüsch mit dem Wunsch, er möchte sie
sehen.« Ehe sie sich versteckt, möchte sie noch von ihm gesehen werden; die
Flucht selber, durch welche sie der Umarmung des Jünglings scheinbar sich
entziehen will, muß ihr zum Zwecke behilflich sein. So fliehen auch wir
oftmals scheinbar das Lob der Menschen und lenken es eben dadurch nur noch
mehr auf uns, und während wir so thun, als wollten wir unbemerkt bleiben,
damit niemand etwas an uns zu loben finde, täuschen wir dadurch thörichte
Menschen und veranlassen sie nur noch mehr dazu, uns zu loben, weil wir
durch unsere scheinbare Bescheidenheit in ihren Augen des Lobes um so
würdiger werden. Dies sage ich nur, weil es gar häufig in der Welt so
zugeht, nicht etwa weil ich dir so etwas zutrauen würde, denn an der
Echtheit deiner Demut zweifle ich nicht. Ich möchte dich nur davor warnen,
Äußerungen zu thun, die dir Leute, welche dich nicht näher kennen, so
auslegen könnten, als wolltest du, um mit Hieronymus zu reden, »Ruhm
suchen, indem du vor ihm fliehst«. Ein Lob von meiner Seite wird dich gewiß
nicht eitel machen, sondern es wird dich nur zum Guten antreiben und du
wirst in den Stücken, die ich an dir lobenswert finde, immer mehr dich zu
vervollkommnen trachten, wenn es anders wirklich dein Wunsch ist, mir zu
gefallen. Wenn ich dich lobe, so bist du darum deiner Tugendhaftigkeit noch
lange nicht sicher und darfst dir nichts darauf zu gute thun. Die
Anerkennung der Freunde darf man nicht allzuhoch anschlagen, so wenig wie
Verunglimpfungen der Feinde.

Ich komme nun noch auf deine alte und ewig sich wiederholende Klage über
die Art und Weise unserer Bekehrung zu sprechen, durch welche du dir
erlaubst, Gott zu beschuldigen, statt wie es sich ziemte, ihn zu preisen.
Ich hätte gedacht, deine Verbitterung sei längst gewichen vor dem Gedanken
an die sichtlich so barmherzige Fügung Gottes. Dieser Gemütszustand, in
welchem du dich an Leib und Seele verzehrst, ist für dich selbst eine große
Gefahr und ein Unglück, und für mich eine Pein. Wenn es wirklich wahr ist,
daß du in allen Stücken mir zu Gefallen leben willst, so höre wenigstens
auf, mich zu quälen, und wenn du mir einen Gefallen thun willst, stehe ab
von dieser Gesinnung, mit der du meinen Beifall nicht gewinnen kannst und
mit welcher du nicht mit mir die ewige Seligkeit erlangen wirst. Könntest
du's ertragen, wenn ich ohne dich dorthin ginge, du, die mir selbst in die
Hölle nachfolgen wollte? Thu was du kannst, um durch deine Frömmigkeit das
zu erlangen, daß du nicht von mir getrennt werdest, wenn ich, wie du
glaubst, zu Gott eile; und der Gedanke an das selige Ziel, dem wir
entgegengehen, wird dich in deinem Eifer bestärken. Dann wird unsere
Gemeinschaft erst recht glücklich und selig sein.

Erinnere dich dessen, was du über die Umstände gesagt und geschrieben hast,
durch welche unser Leben ein anderes wurde. Gott, den man wegen jener
Fügung vielfach der Härte gegen mich beschuldigt, habe sich mir vielmehr,
wie es ja offenbar ist, gnädig erwiesen in seinem Thun. Laß dir seinen
Ratschluß wenigstens im Gedanken daran gefallen, daß er zu meinem Heil
gedient hat; ja, nicht bloß zu meinem, sondern gleicherweise auch zu deinem
Heil: das wirst du einsehen, wenn dein Schmerz dir erst wieder den Gebrauch
des klaren Verstandes verstattet. Bedauere nicht, die Ursache einer so
großen Wohlthat zu sein und glaube, daß du eben damit den Zweck erfüllt
hast, zu welchem du von Gott erschaffen bist. Klage nicht über das, was ich
zu leiden hatte, weine vielmehr über die Leiden der Märtyrer und über den
Tod des Herrn, der zu unserem Heil gestorben ist. Wenn ich mein Unglück
verdient hätte, würdest du es dann geduldiger tragen, würde es dich weniger
empören? Wahrhaftig, wäre es so, dann müßte dein Schmerz noch viel größer
sein; denn dann wäre mein Unglück für mich wirklich eine Schande und meinen
Feinden ein Triumph; sie stünden gerechtfertigt da und auf mir läge die
ganze Schmach der Schuld: niemand würde fürder mehr bedauern, was mir
zugestoßen ist, oder mich bemitleiden.

Um indes deinen bittern Schmerz noch weiter zu besänftigen, will ich
zeigen, daß das, was uns zugestoßen ist, ebenso gerecht wie heilsam für uns
war, und daß Gott uns mit vollem Recht strafte, als wir in rechtmäßiger Ehe
lebten und nicht während wir verbotener Liebe huldigten. Du erinnerst dich:
als du nach unserer Verheiratung bei den Nonnen im Kloster Argentueil
lebtest, kam ich einmal zu heimlichem Besuche zu dir und du weißt wohl
noch, wie weit ich mich in meiner unbändigen Leidenschaft mit dir vergaß,
und zwar in einem Winkel des Refektoriums selber, da wir sonst keinen Ort
hatten, wohin wir uns hätten zurückziehen können. Du weißt, daß wir damals
durch unser Thun den ehrwürdigen, der heiligen Jungfrau geweihten Ort
geschändet haben. Dies allein hätte schon eine viel schwerere Strafe
verdient, abgesehen von allen unseren früheren Sünden. Soll ich von dem
unkeuschen Leben, das wir führten und von dem Schmutz reden, mit welchem
wir uns ohne Scham befleckten, ehe wir den Ehebund geschlossen hatten? Soll
ich erinnern an den empörenden Verrat, dessen ich mich um deinetwillen
deinem Oheim gegenüber schuldig machte, mit dem ich so lange unter einem
Dache gelebt hatte? Muß nicht jedermann zugeben, daß ich mit vollem Recht
von dem Manne betrogen wurde, den ich vorher selbst so schändlich betrogen
hatte? Glaubst du, der kurze Schmerz meiner damaligen Verwundung sei eine
genügende Strafe für solche Vergehen gewesen? Vielmehr: habe ich mit
solchen Schulden so viel Gnade verdient? Welcher Schlag, glaubst du, konnte
der göttlichen Gerechtigkeit Genüge thun für die Schändung des der Mutter
Gottes geweihten Ortes. Ja, wenn mich nicht alles täuscht, so büße ich
diese Sünden nicht durch jenen Schlag, der ja nur heilsam für mich war,
sondern durch die Qualen, die ich jetzt noch täglich ohne Ende erdulde.

Du erinnerst dich auch wohl noch daran, wie ich dich damals, als du
schwanger warst, in meine Heimat gebracht habe, und zwar, um den Schein zu
erwecken, als seist du eine Nonne, angethan mit dem heiligen Gewand; durch
diese Vermummung habe ich damals den heiligen Stand verhöhnt, dem du jetzt
angehörst. Wie richtig war es, wenn dich die göttliche Gerechtigkeit, ja,
vielmehr die göttliche Gnade gegen deinen Willen in den Stand versetzt hat,
welchen zu verhöhnen du dich nicht gescheut hast: so mußtest du in eben dem
Gewand büßen, gegen welches du dich vergangen hattest, und der wirkliche
Verlauf der Dinge mußte die Lüge wieder gut machen und den Betrug
verbessern.

Wenn du, abgesehen von der Gerechtigkeit Gottes, noch das in Betracht
ziehen willst, was zu unserem Besten geschehen ist, so kann man das, was
Gott damals an uns gethan, schon nicht mehr Gerechtigkeit, sondern nur
Gnade nennen. Denke doch daran, Geliebte, wie uns der Herr mit Netzen
seiner Barmherzigkeit aus dem tiefen Meere des Verderbens gezogen hat; ja,
aus dem Strudel der Charybdis, in dem wir Schiffbruch gelitten, hat er uns
gegen unsern Willen errettet, und wir beide können ausrufen: »Der Herr hat
sich Sorge gemacht um meinetwillen«. Erinnere dich wieder und wieder daran,
in welche Gefahren wir uns hineinbegeben hatten und wie der Herr uns ihnen
entrissen hat; erzähle es allezeit mit innigem Dank, wie Großes der Herr an
uns gethan und tröste mit unserm Beispiel alle Sünder, welche an Gottes
Güte verzweifeln wollen, auf daß alle inne werden, was denen zu teil wird,
die demütig bitten, da schon an Sündern und Undankbaren so Großes
geschieht. Erwäge den hohen Ratschluß der göttlichen Liebe über uns, die
Barmherzigkeit, mit welcher der Herr sein Gericht uns zur Besserung werden
ließ und die Weisheit, der selbst das Böse zum Guten dienen mußte, die aus
gottlos gottselig zu machen verstand, die, indem sie einen Teil meines
Leibes verletzte, wie es mir gehörte, zwei Seelen geheilt hat. Vergleiche
miteinander die Gefahr und die Art der Befreiung. Vergleiche die Krankheit
und das Heilmittel. Sieh an, was wir verdient und bewundere die liebevolle
Barmherzigkeit.

Du weißt, mit welchen Schamlosigkeiten unser Leib durch meine zügellose
Begierde vertraut geworden war. Selbst in den Tagen der Passion unseres
Herrn und an den höchsten Festen wälzte ich mich im Schmutz der
Lüsternheit, ohne mich durch Schamgefühl oder Gottesfurcht abhalten zu
lassen. Ja, mehr als einmal habe ich dich, selbst wenn du nicht wolltest,
obwohl du ja von Natur schwächer warst, mit Drohungen und Schlägen
gezwungen, mir zu Willen zu sein, trotz deines Sträubens und deiner
Widerrede. Denn so widerstandslos kettete mich die Glut meiner Begierde an
dich, daß ich über jenen elenden Genüssen, deren Namen uns schon erröten
macht, Gott und mich selber vergaß; es war soweit gekommen, daß die
göttliche Gnade mich offenbar nicht anders mehr retten konnte, als dadurch,
daß sie mir jede Aussicht auf ferneren sinnlichen Genuß von Grund aus
benahm. So hat die göttliche Gerechtigkeit und Milde den schmählichen
Verrat deines Oheims als Werkzeug benutzt und hat mich, auf daß ich in
vielen anderen Stücken wüchse, um denjenigen Teil meines Körpers verkürzt,
welcher der Sitz der sündlichen Lust war und die Ursache meines unreinen
Begehrens. Es entsprach ganz der göttlichen Gerechtigkeit, daß das Glied
getroffen wurde, welches mich zur Sünde verleitet hatte, und daß es durch
sein Leiden für die sträflichen Freuden büßen mußte, die es gewährt hatte.
So wurde ich nach Leib und Seele von aller Unreinigkeit befreit, in die ich
versunken war wie in einen Sumpf; und für den heiligen Dienst des Altars
wurde ich um so tauglicher, als mich nun kein fleischliches Gelüste mehr
störte. Wie milde ist Gottes Fügung auch darin gewesen, daß er mich nur an
dem Gliede strafte, dessen Verlust meiner Seele zum Heil diente und
zugleich den Körper nicht entstellte; auch an der Ausübung meines Amtes
mich in keiner Weise hinderte, sondern mich im Gegenteil zu jeglichem
ehrbaren Thun nur tüchtiger machte, in dem Maße, als er mich von dem
schweren Joch der Sinnenlust befreite. Wenn mich also die göttliche Gnade
von diesen verächtlichen Gliedern, die wegen ihrer niedrigen Verrichtungen
nur Schamglieder heißen und nicht einmal mit ihrem eigentlichen Namen
genannt werden können -- wenn mich die göttliche Gnade davon befreit hat --
eine Beraubung war es ja nicht --: hat sie damit nicht bloß den Schmutz und
das Laster entfernt und die Reinheit und Tugend gerettet?

Im heftigen Verlangen nach solcher Reinheit und Keuschheit haben einige
weise Männer, so wird uns berichtet, selbst Hand an sich gelegt, um die
Sünde der Wollust mit der Wurzel in sich auszurotten. Man glaubt ja sogar
von dem Apostel Paulus, er habe den Herrn um Befreiung von diesem Pfahl im
Fleisch gebeten, ohne jedoch Erhörung zu finden. Ein anderes Beispiel dafür
ist jener große christliche Philosoph Origenes, der sich nicht scheute,
selbst Hand an sich zu legen, um die Flamme in seinem Innern für immer zu
ersticken. Nach dem strengen Buchstaben der Schrift hielt er wohl nur
diejenigen für wahrhaft selig, die sich selbst verschneiden um des
Himmelreichs willen, und scheint der Meinung gewesen zu sein, daß nur
solche Leute das Gebot wirklich erfüllen, welches der Herr in betreff der
Glieder, die uns ärgern, ausgesprochen hat: nämlich, daß man sie abhauen
und von sich werfen solle. Auch hat er offenbar jenes prophetische Wort des
Jesaias wörtlich statt mystisch aufgefaßt, nach welchem der Herr die
Eunuchen den übrigen Gläubigen vorzieht. Dasselbe lautet: »Den
Verschnittenen, welche meine Sabbathe halten, und erwählen was mir
wohlgefällt und meinen Bund fest fassen: ich will ihnen in meinem Hause und
in meinen Mauern einen Ort geben und einen bessern Namen, denn den Söhnen
und Töchtern; einen ewigen Namen will ich ihnen geben, der nicht vergehen
soll«. Dennoch hat Origenes eine schwere Schuld auf sich geladen, da er, um
der Sünde zu entgehen, seinen Leib verstümmelte. Er eiferte um Gott, gewiß;
aber es war ein blinder Eifer, und so hat er die Schuld des Mordes auf sich
geladen, indem er gegen sich selbst wütete. Entweder war es teuflische
Eingebung oder ein höchst bedauerlicher Wahn, was ihn trieb, das an sich zu
vollstrecken, was die Barmherzigkeit Gottes an mir durch einen andern
Menschen hat verüben lassen. Ich entgehe der Schuld, ohne anderweitig
Gefahr zu laufen. Ich verdiene den Tod und erlange das Leben. Gott ruft
mir, und ich widerstrebe. Ich beharre in meinen Sünden, und die Verzeihung
wird mir aufgenötigt. Der Apostel bittet und wird nicht erhört; er hält an
mit Flehen und erlangt nichts. Wahrlich: »Gott hat sich Sorge gemacht um
meinetwillen«. Darum will ich hingehen und verkünden, »wie große Dinge der
Herr an mir gethan hat«.

Tritt auch du herzu, meine treuverbundene Gefährtin und vereinige dein
Dankgebet mit dem meinigen, die du Sünde und Gnade mit mir geteilt hast.
Denn auch deines Heils vergißt der Herr nicht; vielmehr gedenkt er deiner
vor anderen; ja, indem er dich nach seinem eigenen Namen, der Heloim
lautet, Heloissa genannt hat, wollte er schon durch deinen Namen wie durch
eine Art Prophezeiung andeuten, daß du in ganz besonderem Sinne sein
Eigentum sein sollest. Er hat in seinem milden Rat beschlossen, durch das
eine von uns alle beide zu retten, während der Teufel uns miteinander zu
vernichten trachtete.

Denn ganz kurz, bevor das Ereignis eintrat, hatte er uns durch das
unlösliche Band der heiligen Ehe miteinander verbunden. Wohl war es mein
Wunsch, dich, die ich über alles liebte, auf diese Weise für immer an
meiner Seite festzuhalten; aber eigentlich war es doch Gott selber, der
diese Wendung der Dinge dazu benutzte, uns beide zu sich zu ziehen. Denn
hätte dich nicht schon das Band der Ehe an mich gefesselt, als ich mich aus
der Welt zurückzog, du hättest dich vielleicht durch das Zureden deiner
Angehörigen oder durch die lockende Aussicht auf des Fleisches Lust
bestimmen lassen, an der Welt hängen zu bleiben. Darum siehe, wie Gott sich
um uns bemüht hat, als hätte er uns noch zu großen Dingen bestimmt, als
wäre er unwillig und bekümmert darüber, daß die reiche Gabe der
Gelehrsamkeit und Wissenschaft, die er uns beiden verliehen, nicht zur Ehre
seines Namens verwendet werde; oder als fürchte er, es möchte bei der
Unenthaltsamkeit seines schwachen Knechtes auch auf ihn das Wort der
Schrift seine Anwendung finden: »Die Weiber machen auch Weise abtrünnig«,
wofür der weise Salomo ein treffendes Beispiel ist.

Welch reichliche Zinsen trägt das Pfund deiner Weisheit Tag für Tag dem
Herrn! Wie viel geistliche Töchter hast du ihm schon geboren, während ich
gänzlich unfruchtbar bleibe und mich vergeblich abmühe mit den Kindern des
Verderbens! Welch unheilvoller Verlust, welch beklagenswerter Schaden, wenn
du dich den schmutzigen Lüsten des Fleisches hingegeben, mit Schmerzen
wenige Kinder zur Welt gebracht hättest, die du jetzt mit Freuden eine
zahlreiche Schar für das Himmelreich gebierst. Ein Weib wärest du geblieben
wie alle anderen, die du jetzt hoch selbst über den Männern stehst, die du
Evas Fluch in den Segen der Maria gewandelt hast! Wie wären diese heiligen
Hände, die jetzt nur in Berührung kommen mit den Blättern der heiligen
Bücher, entweiht worden durch die Beschäftigung mit der Kleinlichkeit
weiblicher Sorgen!

Gott selbst hat geruht, uns der Berührung mit dem Gemeinen und diesen
schmutzigen Freuden zu entreißen und uns zu sich zu ziehen mit jener
Gewalt, durch die einst Paulus erschüttert und bekehrt worden ist;
vielleicht wollte er durch unser Beispiel auch andere, die in den
Wissenschaften bewandert sind, von ähnlicher Überhebung abschrecken.

Darum, liebe Schwester, laß dich unser Geschick nicht anfechten und werde
dem Vater, der uns so väterlich zurechtgewiesen, durch deine Klagen nicht
lästig. Denke an den Spruch: »Welchen der Herr lieb hat, den züchtiget er;
er stäupet aber einen jeglichen Sohn, den er annimmt« und an den anderen:
»Wer der Rute schonet, der hasset seinen Sohn«. Unsere Strafe ist eine
zeitliche, nicht eine ewige; wir werden geläutert, nicht verurteilt. Richte
dich auf an dem Wort des Propheten: »Der Herr geht nicht zweimal ins
Gericht mit Einer Sünde; es wird das Unglück nicht zweimal kommen«. Nimm zu
Herzen jene hohe und wichtige Mahnung dessen, der die Wahrheit selbst war:
»So ihr geduldig seid, werdet ihr eure Seelen erretten«. Daher auch Salomo
spricht: »Ein Geduldiger ist besser denn ein Starker und der seines Mutes
Herr ist, denn der Städte gewinnet«.

Rührt dich nicht das Bild des eingeborenen Gottessohnes zu Thränen und
Trauer? Er, um deinet- und aller Welt willen von den Sündern ergriffen, vor
den Richter geschleppt, gegeißelt, verhöhnt, ins Angesicht geschlagen,
verspeit, mit Dornen gekrönt und zuletzt am Schandpfahl des Kreuzes unter
Mördern aufgehenkt und erwürgt durch den martervollsten fluchwürdigsten
Tod? Ihn, liebe Schwester, deinen und der ganzen Kirche wahrhaftigen
Bräutigam, habe stets vor Augen und im Herzen. Sieh auf ihn, wie er
hinausgeht, um für dich sich kreuzigen zu lassen und wie er selber sein
Kreuz trägt. Mische dich unter das Volk und die Frauen, die um ihn weinten
und klagten, wie Lukas erzählt: »Es folget ihm aber nach ein großer Haufe
Volks und Weiber, die klageten und beweineten ihn«. Und er, in milder Güte
zu ihnen gewandt, kündet ihnen das Verderben, das zur Strafe für seinen Tod
hereinbrechen werde, vor dem sie sich aber retten können, wenn sie klug
seien und seinen Worten folgen: »Ihr Töchter Jerusalems, sprach er, weinet
nicht über mich, sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder. Denn
siehe, es wird die Zeit kommen, in welcher man sagen wird: 'Selig sind die
Unfruchtbaren und die Leiber, die nicht geboren haben und die Brüste, die
nicht gesäuget haben. Dann werden sie anfahen zu sagen zu den Bergen:
Fallet über uns! und zu den Hügeln: Decket uns! Denn so man das thut am
grünen Holz, was will am dürren werden?'«

Leide mit dem, der, dich zu erlösen, freiwillig leidet! und traure um ihn,
der um deinetwillen ans Kreuz geschlagen ist. Steh im Geist allezeit an
seinem Grabe und weine und klage mit den gläubigen Frauen. Von ihnen heißt
es, wie ich schon oben gesagt habe, in der Schrift: »Frauen saßen am Grab,
klagten und weinten um den Herrn«. Bereite mit ihnen Spezereien zu seinem
Begräbnis, aber nicht stoffliche, sondern bessere, geistige: denn nur wer
diese nicht kennt, verlangt nach jenen. Von solchen Gedanken laß dein Herz
bis ins Innerste erschüttern.

Der Herr selbst ermahnt die Gläubigen durch den Mund des Propheten Jeremia
zur herzlichen Teilnahme an seinem Leiden also: »Ihr alle, die ihr
vorübergeht, schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei wie mein
Schmerz«; d. h. ob irgend ein Leidender so sehr Mitleid verdient wie ich,
der ich allein schuldlos die Sünden anderer büße. Er selbst aber ist der
Weg, durch den die Gläubigen aus der Fremde eingehen zum Vaterland. Darum
hat er sein Kreuz, von dem herab er uns also zuruft, für uns aufgerichtet
als eine Leiter des Heils. Er ist für dich getötet, der Eingeborene Gottes
ist geopfert worden, also war es sein Wille. Er allein verdient dein
schmerzvolles Mitleid und deinen mitleidigen Schmerz. Mache wahr, was der
Prophet Zacharias von den frommen Seelen weissagt: »Sie werden ihn klagen,
wie man klaget ein einiges Kind und werden sich um ihn betrüben, wie man
sich betrübet um ein erstes Kind«.

Sieh zu, meine Schwester, welche Klage unter den Freunden eines Königs sich
erhebt, wenn sein erstgeborener und einziger Sohn stirbt. Betrachte, in
welchen Jammer, in welche Trauer die Königsfamilie und der ganze Hof
versetzt wird, und das Wehgeschrei, das die Braut des Toten erhebt, wirst
du gar nicht mit anhören können. Also, meine Schwester, soll deine Trauer
und deine Klage beschaffen sein, denn du hast mit jenem herrlichen
Bräutigam den seligen Ehebund geschlossen. Er hat dich erworben nicht mit
seinen Schätzen, sondern mit sich selber. Mit seinem eigenen Blut hat er
dich erkauft und hat dich erlöset. Darum bedenke, welches Recht er auf dich
hat und vergiß nicht, wie teuer du erkauft bist. Im Gedanken an diesen
Kaufpreis und in Erwägung der Frage, was der in Wirklichkeit wert sei, für
den ein solcher Preis bezahlt wurde und was für einen Dank er für diese
hohe Gnade erstatten könne, sagt der Apostel: »Es sei aber ferne von mir,
rühmen, denn allein von dem Kreuz unseres Herrn Jesu Christi, durch welchen
mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt«.

Mehr als der Himmel bist du, mehr als die Welt, du, für welche sich der
Schöpfer der Welt selbst zum Preis gegeben hat. Sprich, was hat er an dir
gefunden, er, der keines Menschen bedarf, daß er, um dich zu gewinnen, die
Qualen des schrecklichsten, schimpflichsten Todes durchgekämpft hat? Was
sucht er an dir, ich frage noch einmal, wenn nicht dich selbst? Der ist
dein wahrer Freund, der nicht das deine begehrt, sondern dich selber. Das
ist der wahre Freund, der für dich in den Tod gehend sprach: »Niemand hat
größere Liebe denn die, daß er sein Leben lässet für seine Freunde«. Er hat
dich wahrhaft geliebt, nicht ich. Meine Liebe, die uns beide in Sünden
verstrickte, verdient den Namen Begierde, nicht den der Liebe. Befriedigung
meiner sündlichen Lüste suchte ich bei dir, das war meine ganze Liebe. Für
dich habe ich gelitten, sagst du, und vielleicht ist etwas Wahres daran;
aber noch mehr durch dich und auch das wider meinen Willen; nicht aus Liebe
zu dir geschah es, sondern weil ich der Gewaltthat erlag, und nicht zu
deinem Heil, sondern zu deinem Schmerz. Er aber hat um deines Heiles
willen, er hat aus eigenem Trieb für dich gelitten. Er heilt durch sein
Leiden alle Krankheit, er stillt alles Leid. Ihm, ich bitte dich, nicht mir
weihe deine ganze Liebe, dein ganzes Mitleid, deinen ganzen Schmerz. Weine
über die Grausamkeit und Ungerechtigkeit, die sich so an der Unschuld
vergreifen durfte, nicht über die gerechte Strafe, die mich betroffen und
die für uns beide, ich wiederhole es, die größte Wohlthat war. Denn die
Gerechtigkeit nicht lieben, heißt ungerecht sein, und ganz ungerecht bist
du, wenn du mit Wissen dem Willen oder vielmehr der hohen Gnade Gottes
widerstrebst.

Klage um deinen Retter, nicht um deinen Verführer; um deinen Erlöser, nicht
um deinen Buhlen; um den Herrn, der für dich gestorben, nicht um den
Knecht, der noch lebt, ja, der erst jetzt wirklich vom Tode befreit ist.
Gieb acht, ich beschwöre dich, daß man nicht zu deiner Schande das Wort auf
dich anwenden könne, das einst Pompejus zu der trauernden Cornelia gesagt
hat:

   »Noch lebt nach dem Kampfe die Größe;
   Aber das Glück ist tot: _das_ hast du geliebt, das beweinst du.«

Daran denke und halte dein Schamgefühl wach: du möchtest sonst die
begangenen Frevel durch noch Frevelhafteres verstärken. Und so nimm denn
geduldig hin, meine liebe Schwester, ich bitte dich drum, was die göttliche
Barmherzigkeit über uns geschickt hat. Das ist die Rute des Vaters, nicht
das Schwert des Verfolgers. Der Vater züchtigt, um zu bessern, damit nicht
der Feind schlage, um zu töten. Durch die Wunde führt er nicht den Tod
herbei, sondern rettet vor ihm; er wendet das Messer an, um abzuschneiden,
was krank ist. Er verwundet den Leib und heilt die Seele. Er hätte töten
sollen und macht lebendig. Er entfernt die Unreinigkeit, bis alles rein
ist. Er straft einmal, um nicht ewig strafen zu müssen. Einer muß die
Verletzung erleiden, damit zwei mit dem Tode verschont werden. Zwei in der
Schuld, einer in der Strafe. Die göttliche Barmherzigkeit hat Nachsicht
gehabt mit der Unkraft deiner Natur, und das gewiß mit Recht. Schon durch
dein Geschlecht warst du von Natur schwächer und dennoch stärker in der
Enthaltsamkeit, und darum weniger strafwürdig. Auch dafür sage ich dem
Herrn Dank, daß er dir die Strafe erlassen und dir die Ehrenkrone
aufbehalten hat. In mir hat er, um mich zu retten, durch einen einmaligen
körperlichen Schmerz für immer alle Glut der Begierde erstickt, in der mich
meine unbändige Leidenschaft gefangen hielt. Dein junges Herz hat er durch
die beständige Lockung des Fleisches vielen noch größeren Leiden
anheimgegeben, um dich der Märtyrerkrone teilhaftig werden zu lassen. Es
mag dich vielleicht verdrießen, dies zu hören; du möchtest mir vielleicht
das Wort verbieten, aber es ist die offenkundige Wahrheit selber, die hier
redet. Wer beständig zu kämpfen hat, dem wird zuletzt auch die Krone zu
teil; denn »keiner wird gekrönt, er kämpfe denn recht«. Mir aber winkt
keine Krone, weil ich keinen Anlaß zum Kampfe mehr habe. Wem der Stachel
der Begierde genommen ist, dem fehlt der Grund zum Kämpfen.

Doch wenn ich schon hienieden keine Krone erlange, so ist es doch gewiß
immer schon etwas, daß ich keine Strafe mehr zu fürchten habe und daß mir
um den schmerzhaften Augenblick meiner Bestrafung auf Erden vielleicht
viele Strafen in der Ewigkeit erlassen werden. Denn von den Menschen, die
an dieses elende Leben sich hängen, gilt das Wort der Schrift, das von den
Tieren geschrieben steht: »Das Vieh ist verfault in seinem Mist«.

Ich will mich nicht darüber beklagen, daß ich mein Verdienst schwinden
sehe, weil ich dessen sicher bin, daß das deinige zunimmt. Denn in Christus
sind wir beide eins, ein Fleisch durch das Band der Ehe. Alles was dein
ist, achte ich auch mir nicht fremd. Dein aber ist Christus, denn du bist
seine Braut geworden. Darum bin ich jetzt, wie ich schon oben sagte, dein
Knecht, ich, den du einst deinen Herrn nanntest: doch bin ich dir mehr in
geistiger Liebe verbunden, als in Furcht unterthan. Darum verspreche ich
mir auch so viel von deiner Verwendung für mich bei Jesus Christus und
hoffe durch deine Fürsprache zu erlangen, was mein eigen Gebet nicht
erwirken kann; vornehmlich in dieser bedrängten Zeit, wo tägliche Gefahr
und Anfechtung mir kaum Zeit zum Leben, geschweige zum Beten läßt. Auch
kann ich nicht dem Beispiel jenes frommen Eunuchen folgen, jenes vornehmen
Mannes am Hofe der Äthiopenkönigin Candace, der über alle ihre Schätze
gesetzt war und die weite Reise gemacht hatte, um in Jerusalem anzubeten.
Zu ihm wurde auf dem Heimweg vom Engel des Herrn der Apostel Philippus
gesandt, daß er ihn zum rechten Glauben bekehre: denn der Mann hatte es
verdient durch sein Gebet und durch fleißiges Lesen der heiligen Schrift.
Nicht einmal unterwegs ließ er davon ab; darum fügte es Gott in seiner
gnädigen Nachsicht, wiewohl jener ein reicher Mann und Heide war, also, daß
er auf eine Stelle der heiligen Schrift stieß, die dem Apostel eine
treffliche Gelegenheit zur Anknüpfung bot.

Damit aber meiner Bitte nichts im Wege stehe und die Erfüllung derselben
hinausschiebe, so beeile ich mich, den Wortlaut des Gebetes, welches ihr
für mich in Demut vor den Herrn bringen möget, hier aufzusetzen und dir zu
übersenden:

»O Gott, der du von Anbeginn der Schöpfung, da du aus der Rippe des Mannes
das Weib gebildet, das heilige Sakrament der Ehe eingesetzt und es zu
unendlicher Ehre erhoben hast, indem du selbst durch ein Weib Mensch
geworden bist und dein erstes Wunder auf einer Hochzeit gethan hast; der du
auch meiner Unenthaltsamkeit und Schwachheit die Ehe als Heilmittel nach
deinem Wohlgefallen gewährt hast: verschmähe nicht die Bitten deiner Magd,
die ich für meine und meines Geliebten Vergehen in Demut vor dein heiliges
Angesicht bringe. Vergieb, o Allgütiger, der du die Güte selber bist,
vergieb uns unsere Sünden, so groß und viel sie sind, und laß an der Menge
unserer Schulden den Reichtum deiner unaussprechlichen Barmherzigkeit
offenbar werden. Ich flehe dich an: strafe die Schuldigen hienieden, damit
du sie drüben schonen könnest. Strafe sie in der Zeit, daß du nicht in der
Ewigkeit strafen müssest. Nimm die Rute der Zucht für deine Knechte zur
Hand, nicht das Schwert deines Grimms. Schlage das Fleisch, daß die Seelen
erhalten bleiben. Läutere uns, aber vergilt uns nicht nach unserer
Missethat: laß deine Güte walten mehr als Gerechtigkeit; sei uns ein
barmherziger Vater, nicht ein strenger Herr.«

»Prüfe und versuche uns so, wie der Prophet es für sich selber von dir
erfleht mit Worten, die so viel sagen wollen als: siehe zuerst auf meine
Kräfte und bemiß nach ihnen die Last der Prüfung. Auch der heilige Paulus
giebt ja seinen Gläubigen den Trost: 'Denn Gott ist getreu, der euch nicht
lässet versuchen über euer Vermögen, sondern macht, daß die Versuchung so
ein Ende gewinne, daß ihr es könnet ertragen'.«

»Du hast uns vereint, o Herr, und wiederum getrennt, wie und wann es dir
gefallen hat. Nun Herr, vollende in deiner großen Barmherzigkeit, was du so
gnädig begonnen; die du in der Welt für kurze Zeit auseinander gerissen,
vereinige sie mit dir im Himmel für alle Ewigkeit. Denn du bist unsere
Hoffnung, unser Erbteil, unsere Sehnsucht, unser Trost, o Herr, gepriesen
in Ewigkeit. Amen.«

Lebe wohl in Christo, du Braut Christi, in Christo lebewohl, und lebe
Christo! Amen.



VI. Brief.

Heloise an Abaelard.

(Ihrem unumschränkten Herrn seine ergebene Dienerin.)


Damit du mich nicht in irgend einem Stück des Ungehorsams zeihen könnest,
so habe ich nach deinem Befehl den Äußerungen meines Schmerzes, so groß er
ist, Zügel angelegt und will mich wenigstens beim Schreiben davor hüten,
Worte zu gebrauchen, die ich bei der mündlichen Rede schwerlich, ja
unmöglich würde zurückhalten können. Denn nichts haben wir so wenig in der
Gewalt als unser Herz und statt ihm gebieten zu können, müssen wir ihm
folgen. Darum, wenn wir den Stachel seiner Leidenschaften fühlen, ist
niemand imstande, seine ungestümen Triebe so zu dämpfen, daß sie nicht
leicht zu Thaten werden und noch leichter durch Worte sich Luft machen,
welche stets die bereitwilligen Dolmetscher leidenschaftlicher Herzen sind,
nach dem Worte der Schrift: »Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund
über«. Darum will ich wenigstens beim Schreiben meiner Hand Halt gebieten,
wenn ich schon meiner Zunge das Wort nicht verbieten könnte. Wäre doch mein
trauerndes Herz so bereit zu gehorchen, wie die schreibende Hand!

Etwas kannst du doch zur Milderung unseres Schmerzes beitragen, wenn du ihn
auch nicht ganz zu stillen vermagst. Wie nämlich ein Nagel durch den andern
ausgetrieben wird, so verdrängt ein Gedanke den andern, und der Geist, in
anderer Richtung in Anspruch genommen, muß die Erinnerung an Früheres
schwinden oder doch in Hintergrund treten lassen. Ein Gedanke beschäftigt
aber den Geist um so lebhafter und ausschließlicher, je edler sein Inhalt
ist und je notwendiger die Angelegenheit erscheint, auf welche wir unser
Sinnen und Denken richten. Wir alle nun, Dienerinnen Christi und in
Christus deine Töchter, bringen in Demut zwei Bitten vor dich als unsern
Vater, deren Erfüllung für uns von der höchsten Wichtigkeit ist. Die erste
Bitte ist die: du möchtest uns über den Ursprung des Standes der Nonnen und
über das Wesen unseres Berufes aufklären. Die zweite: du möchtest uns eine
Regel aufstellen und zusenden, in welcher den besonderen Bedürfnissen des
weiblichen Geschlechts Rechnung getragen und die Einrichtung und Gestaltung
unseres Ordenslebens von Grund aus festgesetzt würde: denn wir haben uns
überzeugt, daß dies von den heiligen Vätern bis jetzt unterlassen worden
ist. Diese Versäumnis hat die unangenehme Folge, daß jetzt bei der Aufnahme
ins Kloster Männer und Frauen gleicherweise auf ein und dieselbe Regel
verpflichtet werden, und daß das schwache Geschlecht unter dieselbe
Klosterordnung sich beugen muß wie das starke. Zu der Regel des heiligen
Benediktus bekennen sich in der abendländischen Kirche die Frauen genau so
wie die Männer. Es ist aber klar, daß sie ausschließlich für Männer
aufgestellt worden ist und darum auch nur von Männern eingehalten werden
kann, von Untergebenen wie von Vorgesetzten. Um von anderen Bestimmungen
der Regel zu schweigen: was sollen wir Frauen anfangen mit den Vorschriften
über Kutten, Beinkleider, Skapulire? Wie können sich Frauen die Bestimmung
über Unterkleider oder wollene Hemden zu eigen machen, da sie doch solche
wegen ihrer monatlichen Reinigung gerade gar nicht brauchen können? Was
soll ihnen ferner die Vorschrift, daß der Abt das Evangelium selbst
verlesen und danach den Hymnus anstimmen solle? Und daß der Abt mit den
Pilgern und Gästen abseits an einem besonderen Tische sitzen solle? Was
schickt sich für unsern Stand? Sollen wir überhaupt keine Männer gastlich
aufnehmen oder soll die Äbtissin mit den Männern, die zu Gaste sind, an
Einem Tisch essen? O wie schnell ist es um ein Herz geschehen, wo Männer
und Frauen unter Einem Dach zusammenwohnen! Vollends aber bei Tische, wo so
oft Völlerei und Trunkenheit herrscht und wo im süßbethörenden Wein die
Lüsternheit lauert. Davor warnt auch der heilige Hieronymus in seinem Brief
an eine Mutter und ihre Tochter: »Schwer ist's, bei Schmausereien die
Keuschheit zu wahren«. Auch Ovid, aller lüsternen Üppigkeit Sänger und
Meister, beschreibt es in seinem Buch von der »Kunst zu lieben« des langen
und breiten, wie bei festlichen Gelagen die Buhlerei ihre Rechnung finde:

   »Sind vom Wein erst benetzt die durstigen Flügel Cupidos,
   Dann verweilt er und weicht nimmer von selbigem Ort.
   Frohes Lachen ertönt, der Traurige hebet das Haupt nun
   Sorg' entweichet und Schmerz, glatt wird die faltige Stirn.
   Manchem Knaben ging so das Herz an die Mädchen verloren;
   Lieb' durchströmet den Leib, Glut sich entzündet an Glut.«

Ja, selbst wenn man nur Frauen Herberge und Tischgemeinschaft gewährt:
lauert nicht auch hier schon die Gefahr? Wahrhaftig, das wirksamste Mittel,
ein Weib zu verführen, sind die Schmeicheleien durch ein anderes Weib. Auch
vertraut am liebsten eine Frau der andern ihr verdorbenes Herz an. Darum
warnt auch Hieronymus Frauen, die sich einem heiligen Beruf geweiht haben,
nachdrücklich vor dem Verkehr mit weltlichen Frauen.

Wenn wir nun aber die Männer von unserer Gastfreundschaft ausschließen und
nur Frauen unsere Pforte öffnen, so werden wir -- das sieht jeder ein --
durch solche Unfreundlichkeit den Männern, auf deren Unterstützung die
Klöster des schwächeren Geschlechts angewiesen sind, vor den Kopf stoßen,
da es dann den Anschein hat, als wollten wir denen wenig oder nichts geben,
von denen wir das meiste empfangen.

Können wir aber nicht den ganzen Inhalt der Regel befolgen, so fürchte ich,
es möchte in jenem Worte des Apostels Jakobus auch unsere Verurteilung
ausgesprochen sein: »So jemand das ganze Gesetz hält und sündiget an einem,
der ist's ganz schuldig«. Das heißt: Einer, der viel thut, wird gerade
dadurch schuldig, daß er nicht alles erfüllt. Zum Übertreter des Gesetzes
wird er schon durch eine Versäumnis; erfüllt hat er das Gesetz erst dann,
wenn er alle Gebote desselben befolgt hat. Dies meint auch der Apostel,
wenn er sagt: »Der gesagt hat: du sollst nicht ehebrechen, der hat auch
gesagt: du sollst nicht töten. So du nun nicht ehebrichst, tötest aber,
bist du ein Übertreter des Gesetzes«. Deutlicher ausgedrückt soll dies
heißen: Weil der Herr selbst das eine Gebot so gut wie das andere
aufgestellt hat, darum macht sich der Übertretung des Ganzen schuldig, wer
auch nur Eines nicht hält, gleichviel was für eines es sei. Und die
Übertretung jedes einzelnen Gebotes ist eine Mißachtung gegen den
Gesetzgeber, der sein Gesetz nicht etwa auf Ein Gebot gestellt hat, sondern
gleichmäßig auf alle zusammen.

Doch ich will nicht reden von den Bestimmungen der Regel, die wir überhaupt
nicht, oder doch nicht ohne Gefahr einzuhalten vermögen. Ich möchte nur
fragen: wo in aller Welt ist es Sitte, daß Nonnen aufs Feld gehen, um die
Ernte einzuheimsen und den Acker zu bestellen? Ferner: ist ein einziges
Probejahr genügend für die Frauen, die in den Orden aufgenommen sein
wollen, und sind sie hinreichend unterrichtet, wenn man ihnen die Regel
dreimal vorgelesen hat, wie dies die Regel selber verlangt? Was ist
thörichter, als einen unbekannten und noch nicht deutlich gezeichneten Weg
zu beschreiten? Was ist voreiliger, als ein Leben zu erwählen und zu seinem
Beruf zu machen, das man noch gar nicht kennt, oder ein Gelübde zu thun,
das man doch nicht halten kann? Wenn die Klugheit die Mutter aller Tugenden
ist und die Vernunft die Vermittlerin aller Güter -- wer wird dann etwas,
das mit ihnen in Widerspruch steht, für ein Gut oder für eine Tugend
halten? Selbst die Tugenden, sagt Hieronymus, können zum Laster werden,
wenn sie Maß und Ziel überschreiten. Das ist aber ganz gewiß ein unkluges
vernunftwidriges Verfahren, wenn man jemand eine Last auflegen will, ohne
vorher die Kräfte dessen, der sie tragen soll, zu untersuchen, so daß die
zugemutete Leistung im richtigen Verhältnis zur natürlichen Fähigkeit
steht. Wer wird einem Esel die gleiche Last zumuten wie einem Elefanten?
Wer wird Kindern und Greisen dieselbe Bürde aufladen wie Männern? Schwachen
so viel wie Starken, Kranken so viel wie Gesunden, Frauen so viel wie
Männern? Dem schwächeren Geschlecht so viel wie dem starken?

Mit Rücksicht darauf hat der Papst Gregorius im 24. Kapitel seines
»Pastoralis« in Beziehung auf Ermahnungen und Vorschriften folgenden
Unterschied gemacht: »Anders sind Männer zu ermahnen, anders Frauen; jenen
kann man Schwereres zumuten, diesen nur Leichtes. Männer mögen sich in
harter Übung bewähren, Frauen werden am besten durch Sanftmut und Milde
gewonnen«. Diejenigen aber, welche Klosterregeln aufgestellt haben, haben
nicht nur die Frauen mit gänzlichem Stillschweigen übergangen, sondern sie
haben auch Bestimmungen getroffen, von denen sie wissen mußten, daß sie für
Frauen keineswegs passen: wußten sie ja doch auch sehr wohl, daß man nicht
Stier und Kuh unter das gleiche Joch spannen darf, weil man denen, die von
Natur verschieden sind, nicht die gleiche Arbeit zumuten kann.

Diesen Unterschied hat der heilige Benediktus keineswegs vergessen, und
gleichsam vom Geiste aller Gerechten erfüllt, trägt er in allem der
Verschiedenheit der Menschen wie der Zeiten Rechnung, damit alles, wie er
dies selbst in seiner Regel festsetzt, im richtigen Maße geschehe. Beim Abt
beginnend, verlangt er von demselben, er solle in der Weise das Regiment
führen, daß er dem Charakter und der Einsicht eines jeden seiner
Untergebenen Rechnung trage und sich so mit allen in ein gutes Einvernehmen
setze; so werde er es nicht erleben müssen, daß die ihm anvertraute Herde
Schaden nehme, im Gegenteil werde er sich ihres Wachstums freuen dürfen ...
Seine eigene Gebrechlichkeit solle er niemals vergessen und daran denken,
daß man das geknickte Rohr nicht zertreten dürfe. Er soll auch mit den
besonderen Zeitumständen rechnen und sich die Klugheit des frommen Jakob
zum Beispiel nehmen, welcher sagte: »Wenn sie einen Tag übertrieben würden,
würde mir die ganze Herde sterben.« Solche und ähnliche Beispiele von
kluger Erwägung, die aller Tugenden Mutter ist, soll er vor Augen haben und
in allem so maßvoll handeln, daß die Starken genug zu thun haben und die
Schwachen nicht zurückschrecken.

Diesem Bestreben, allen gerecht zu werden und überall das richtige Maß zu
halten, verdanken ihren Ursprung die Ausnahmebestimmungen für Kinder,
Greise und überhaupt gebrechliche Leute, ferner die Verordnung, daß der
Vorleser, der, welcher den Wochendienst hat und der Koch vor den übrigen
ihr Essen bekommen sollen, endlich die Fürsorge dafür, daß beim gemeinsamen
Mahl Speise und Trank nach Güte und Menge mit Rücksicht auf die Art der
einzelnen Leute verteilt werden -- worüber genaue Einzelvorschrift
vorhanden sind. Auch für die festgesetzten Fastenzeiten sind in der
Ordensregel in Rücksicht auf die Jahreszeit oder ausnahmsweise Arbeitslast
mildernde Bestimmungen enthalten, wie die Schwachheit der menschlichen
Natur sie erfordert.

Der Mann, der in solcher Weise in allen Stücken der besonderen
Beschaffenheit der Menschen und der Zeiten Rechnung getragen hat, so daß
seine Verordnungen von allen ohne Murren erfüllt werden können: wie hätte
der die besonderen Bedürfnisse der Frauen berücksichtigt, wenn er seine
Ordensregel, die ursprünglich nur für Männer bestimmt war, auch auf das
weibliche Geschlecht hätte ausdehnen wollen! Sieht er sich schon in
Rücksicht auf Knaben, Greise und Kranke wegen der Hinfälligkeit und
Schwachheit der menschlichen Natur genötigt, in einigen Stücken von der
Strenge der Regel etwas nachzulassen: wie viel mehr hätte er Sorge getragen
für das zarte Geschlecht, das von Natur -- wie jeder weiß -- schwach und
kraftlos ist. Darum so erwäge, wie es jedem vernünftigen Denken
widersprechen würde, wollte man Frauen und Männer auf ein und dieselbe
Regel verpflichten und die gleiche Last Schwachen wie Starken auflegen. Ich
glaube, daß es in Anbetracht unserer Schwachheit genug ist, wenn wir in der
Tugend des Gehorsams und der Keuschheit den Leitern der Kirche und den
Geistlichen, die in frommen Gemeinschaften leben, gleichstehen; auch der
Mund der Wahrheit spricht ja: »Es ist dem Jünger genug, daß er sei wie sein
Meister«. Schon das müßte uns als Leistung angerechnet werden, wenn wir es
nur frommen Laien gleichthun könnten. Denn an Starken schätzt man manches
nicht sonderlich, was man am Schwachen bewundert, und nach dem Wort des
Apostels »ist die Kraft in den Schwachen mächtig«.

Wir wollen nur die Frömmigkeit von Laien, wie Abraham, David, Hiob, wiewohl
sie im Stand der Ehe lebten, nicht geringschätzen! Es fällt mir da eine
Stelle aus der siebenten Predigt des Chrysostomus über den Hebräerbrief
ein: »Es giebt mancherlei Mittel, womit man das wilde Tier im Innern
einschläfern kann. Was für Mittel sind das? Der Hände Arbeit, Lesen,
Nachtwachen. Aber was geht das uns an, die wir keine Mönche sind? Das
entgegnest du mir? Sag es doch dem Paulus, bei dem es heißt: 'Haltet an mit
Wachen und Beten in aller Geduld'; oder: 'Wartet des Leibes nicht also, daß
er geil werde'. Diese Worte sind nicht bloß für Mönche geschrieben, sondern
für alle, die zu einem bürgerlichen Gemeinwesen gehören. Denn ein Laie soll
vor einem Mönch nichts weiter voraushaben, als daß er mit seiner Frau
zusammenleben darf. Das ist sein Vorrecht, ein anderes giebt es nicht für
ihn, vielmehr soll er in allem anderen leben wie ein Mönch. Denn auch die
Seligpreisungen, die Christus ausgesprochen hat, sind nicht bloß den
Mönchen verheißen. Die ganze Welt müßte ja zu Grunde gehen, wenn alles, was
Tugend heißt, in den engen Raum eines Klosters eingeschlossen wäre. Und wie
könnte der Stand der Ehe ehrlich sein, wenn sie ein so großes Hindernis für
unser Seelenheit wäre?«

Daraus geht deutlich hervor: Wer zu den Geboten des Evangeliums noch die
Tugend der Enthaltsamkeit hinzufügt, der erreicht die sittliche
Vollkommenheit des Mönchs. Möchten wir es in unserm Stande doch nur dahin
bringen, daß wir das Evangelium erfüllten, ohne es überbieten zu wollen;
daß wir doch nicht mehr sein wollten als gute Christen!

Von diesem Gedanken geleitet, haben, wenn ich mich nicht täusche, die
frommen Väter darauf verzichtet, auch für uns Frauen, wie für die Männer,
eine besondere Regel, gleichsam als ein neues Gesetz aufzustellen und durch
schwere Gelübde unsere Schwachheit zu belasten. Sie dachten dabei wohl an
das Wort des Apostels: »Das Gesetz richtet nur Zorn an; denn wo das Gesetz
nicht ist, da ist auch keine Übertretung« und ferner: »Das Gesetz aber ist
neben einkommen, auf daß die Sünde mächtiger würde«. Derselbe strenge
Prediger der Enthaltsamkeit nötigt aber doch gewissermaßen im Gedanken an
unsere Schwachheit die jungen Witwen zur zweiten Ehe, indem er sagt: »So
will ich nun, daß die jungen Witwen freien, Kinder zeugen, Haus halten, dem
Widersacher keine Ursach' zu schelten geben«. Auch der heilige Hieronymus
hält diese Verordnung für ganz heilsam und giebt der Jungfrau Eustochium
mit Rücksicht auf unbedachte Gelübde von Frauen folgenden Rat: »Wenn sogar
diejenigen, die ihre Jungfräulichkeit bewahrt haben, wegen ihrer sonstigen
Sünden nicht vorwurfsfrei sind: was wird erst denen geschehen, die die
Glieder Christi preisgegeben und den Tempel des heiligen Geistes in ein
Freudenhaus verwandelt haben? Es ist dem Menschen besser, das Joch der Ehe
auf sich zu nehmen und auf der ebenen Erde zu bleiben als hoch hinaus zu
wollen und schließlich in den Rachen der Hölle hinabzustürzen«. Auch der
heilige Augustin schreibt in seinem Buch Ȇber die Enthaltsamkeit der
Witwen« an Julian folgendes zur Warnung vor unbesonnenem Ablegen eines
Gelübdes: »Die, welche sich noch nicht gebunden hat, soll es sich wohl
überlegen, hat sie aber einmal den Schritt gethan, dann soll sie auch dabei
bleiben. Man soll dem Widersacher keine Gelegenheit geben und Christus kein
Opfer entziehen.« Darum steht auch in den Kanones mit Rücksicht auf unsere
Schwachheit die Bestimmung, daß Diakonissen nicht vor dem vierzigsten Jahr
ordiniert werden dürfen und auch dann nur, wenn sie ein gutes Zeugnis
haben; während man zum Diakon schon vom zwanzigsten Jahr an befördert
werden kann.

In klösterlichen Vereinigungen leben aber auch die sogenannten regulierten
Chorherren, die sich, wie man sagt, zu einer Regel des heiligen Augustin
bekennen und sich in keinem Stück geringer achten als die Mönche, obwohl
sie, wie bekannt, Fleisch zu essen und linnene Gewänder zu tragen sich
erlauben. Wenn unsere Schwachheit wenigstens diese Stufe der Vollkommenheit
erreichen könnte, wäre das für nichts zu achten?

Man könnte uns, was die Nahrung anbelangt, schon deshalb ohne Gefahr alle
Speisen erlauben, weil die Natur selbst uns vor Ausschreitungen behütet,
indem sie unserem Geschlecht an der Tugend der Nüchternheit einen
schützenden Halt gegeben hat. Man weiß, daß Frauen zu ihrem leiblichen
Unterhalt weniger bedürfen als die Männer und die Physik lehrt uns, daß das
weibliche Geschlecht auch weniger leicht der Trunkenheit anheimfällt.
Macrobius Theodosius macht im 7. Kapitel seiner Saturnalia folgende
Bemerkung: »Aristoteles sagt, die Weiber werden selten berauscht, die
Greise oft. Der Körper des Weibes hat einen sehr großen
Feuchtigkeitsgehalt. Ein Beweis dafür ist die Glätte und der Glanz ihrer
Haut, und ganz besonders sprechen dafür die regelmäßigen Reinigungen, durch
welche ihr Körper von überflüssiger Feuchtigkeit entlastet wird. Der Wein
verliert seine Stärke, wenn er mit so überreichem flüssigem Stoff sich
mischt und steigt nicht so leicht zu Kopfe, da seine Wirkung auf diese
Weise gelähmt wird«. Ferner heißt es dort: »Der weibliche Körper unterliegt
häufigen Reinigungen und hat an seiner Oberfläche zahlreiche Öffnungen und
Poren, durch welche die Feuchtigkeit ihren Ausgang sucht und findet. Durch
diese Poren entweicht auch der Dunst des Weines gar schnell. Alte Männer
dagegen haben einen ausgetrockneten Körper, was man schon an der Rauheit
und der dunklen Farbe ihrer Haut sehen kann«.

Du magst hieraus ersehen, wie durchaus ungefährlich, ja, wie billig es ist,
uns in Anbetracht unserer schwachen Natur in Speise und Trank volle
Freiheit zu gewähren, da wir ja der Schwelgerei und der Trunkenheit nicht
leicht zum Opfer fallen können; vor jener bewahrt uns unsere
Bedürfnislosigkeit, vor dieser die Beschaffenheit des weiblichen Körpers,
wie oben ausgeführt worden ist. Für unsere schwachen Kräfte muß es genug
sein und alles, was man verlangen kann, wenn wir enthaltsam und besitzlos
leben, mit dem Dienst Gottes unsere Zeit ausfüllen und im Essen und Trinken
es halten, wie die Leiter der Kirche selbst oder wie fromme Laien oder
endlich wie die regulierten Chorherren, die vor andern ein apostolisches
Leben zu führen behaupten.

Es ist ein Beweis von großer Klugheit, wenn die, welche sich Gott durch ein
Gelübde verpflichten, weniger versprechen und mehr halten, so daß sie
allezeit einen Überschuß haben, den sie aus freien Stücken zu der
pflichtmäßigen Leistung hinzufügen können. Die Wahrheit selber spricht:
»Wenn ihr alles gethan habt, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte, wir
haben gethan, was wir schuldig waren«. Deutlicher ausgedrückt soll dies
heißen: Darum sind wir für unnütz und unwert zu achten und ohne Verdienst,
weil wir, zufrieden mit der Erfüllung des Notwendigen, nicht aus freien
Stücken mehr gethan haben. Über solche freiwillige Leistungen sagt der Herr
selbst an einer andern Stelle gleichnisweise: »So du was mehr wirst
darthun, so will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme«.

Möchten dies doch in unserer Zeit alle diejenigen zu Herzen nehmen, die
leichtsinnig das Klostergelübde ablegen; wollten sie sich's doch klar
machen, was es mit diesem Gelübde für ein Bewandtnis hat und vorher die
Regel nach ihrem ganzen Inhalt genau durchforschen: dann kämen weniger
Verstöße gegen dieselbe und weniger Fahrlässigkeitssünden vor. Jetzt aber
drängt sich alles ohne Wahl zum Klosterleben; so oberflächlich die Aufnahme
solcher Leute vor sich geht, ebenso ist nachher das Leben, das sie führen.
Leichtsinnig verpflichten sie sich auf eine Regel, die sie gar nicht
kennen, ebenso leichtsinnig lassen sie dieselbe nachher unbeachtet und
setzen an die Stelle des Gebotes das was ihnen beliebt. Darum wollen wir
Frauen uns hüten, eine Last auf uns zu nehmen, unter der wir die Männer
fast alle wanken, ja erliegen sehen. Es scheint, als wäre die Welt alt
geworden, als hätten die Menschen samt den anderen Kreaturen ihre
ursprüngliche Jugendfrische verloren, als wäre, nach dem Worte der
Wahrheit, die Liebe nicht bloß in vielen, sondern in allen erkaltet. Da
sich die Menschen geändert haben, sollte man auch die sittlichen Gebote,
die für sie aufgestellt sind, ändern oder ihre Strenge mäßigen.

Diesen Unterschied hat der heilige Benediktus wohl beachtet; er giebt von
seiner Regel zu, die Strenge der mönchischen Askese sei durch dieselbe so
ermäßigt worden, daß seine Regel im Vergleich zu den früheren Bräuchen nur
eine Art Anleitung zur Rechtschaffenheit und eine Einführung ins
Klosterleben genannt werden könne. »Diese Regel, sagt er, haben wir
verfaßt, damit sie uns, wenn wir nach ihr leben, ein Wegweiser zur
Rechtschaffenheit oder die Grundlage unserer Lebensweise werde. Im übrigen,
wer nach Vollkommenheit strebt, dem stehen die Lehren der heiligen Väter zu
Gebote, deren Befolgung den Menschen zur Höhe der Vollendung emporführt«.
Weiter sagt er: »Wer du auch seist, der du der himmlischen Heimat
zustrebst: erfülle zuerst mit Christi Hilfe zur Vorübung das Geringe, das
unsere Regel verlangt, alsdann erst wirst du unter Gottes Schutz zu den
erhabenen Gipfeln der Weisheit und Tugend gelangen.« Während wir von den
heiligen Vätern lesen, daß sie an Einem Tag den ganzen Psalter gebetet
haben, sagt Benedikt selber, er habe in Anbetracht der lauen Gemüter die
Übung des Psalmodierens dahin ermäßigt, daß die Psalmen über die ganze
Woche verteilt wurden, so daß jetzt die Mönche sogar weniger zu thun haben
als die Kleriker.

Was ist dem frommen Stand und der Ruhe des Klosterlebens mehr zuwider als
das, was der Üppigkeit Nahrung zuführt und Streit und Zank erregt, ja, das
Ebenbild Gottes in uns, das uns von den andern Kreaturen scheidet, das
heißt die Vernunft, zerstört? Dies aber thut der Wein; darum versichert uns
die Schrift, daß er von allem, was dem Menschen zur Nahrung dient, am
schädlichsten sei und warnt uns vor ihm. Der größte aller Weisen sagt im
Buch der Sprüche von ihm: »Der Wein macht lose Leute und starkes Getränke
macht wild; wer dazu Lust hat, wird nimmer weise ... Wo ist Weh, wo ist
Leid? Wo ist Zank? Wo ist Klagen? Wo sind Wunden ohne Ursach'? Wo sind rote
Augen? Nämlich wo man beim Wein liegt und kommt auszusaufen, was
eingeschenket ist. Siehe den Wein nicht an, daß er so rot ist und im Glase
so schön stehet. Er gehet glatt ein, aber danach beißt er wie eine Schlange
und sticht wie eine Otter. So werden deine Augen nach andern Weibern sehen
und dein Herz wird verkehrte Dinge reden. Und du wirst sein wie einer, der
mitten im Meer schläft, wie ein Steuermann, der eingeschlafen ist und das
Ruder verloren hat. Und du wirst sprechen: Sie schlagen mich, aber es thut
mir nicht wehe, sie zerren mich hin und her, aber ich fühle es nicht. Wann
will ich aufwachen, daß ich wiederum Wein finde?« Und weiter heißt es: »O
nicht den Königen, Lamuel, gieb den Königen nicht Wein zu trinken, denn
nichts bleibt geheim, wo die Trunkenheit herrscht. Sie möchten trinken und
der Rechte vergessen und verändern die Sache irgend der armen Leute«. Im
Buch Sirach steht geschrieben: »Wein und die Weiber bethören die Weisen«.

Auch Hieronymus, in seinem Brief an Nepotianus »vom Leben der Kleriker«,
hält sich darüber auf, daß die Priester des alten Bundes in der
Enthaltsamkeit von allen berauschenden Getränken strenger waren als die
heutigen. Er sagt: »Rieche nicht an den Wein, damit du dir nicht das Wort
des Philosophen sagen lassen mußt: hoc non est osculum porrigere, sed vinum
propinare (das heißt nicht küssen, sondern die Schale zum Munde führen)«.

Auch der Apostel verurteilt weinselige Priester, und das Gesetz Mosis
verbietet ihnen den Weingenuß: »Die den Dienst des Altars besorgen, sollen
nicht Wein und Gegorenes trinken«. -- »Sicera« heißt im Hebräischen jedes
berauschende Getränk, gleichviel, ob es bereitet wird aus dem gegorenen
Saft von Früchten oder aus eingekochtem Honig und Kräutern oder aus der
gepreßten Frucht der Palme oder aus Früchten, die man zu Sirup zerkocht.
»Alles was berauscht und dich um den Verstand bringt, das fliehe wie den
Wein.«

Der Wein also, vor dessen Genuß die Könige gewarnt werden, der den
Priestern gänzlich verboten wird, ist sicherlich von allen Nahrungsmitteln
das gefährlichste. Gleichwohl sieht sich ein so geistbegnadeter Mann wie
der heilige Benedikt genötigt, den Bedürfnissen seiner Zeit Rechnung zu
tragen und für die Mönche eine Ermäßigung eintreten zu lassen. »Wir lesen
zwar,« sagt er, »daß der Wein für die Mönche überhaupt nichts sei, allein
weil man in unserer Zeit die Mönche davon doch nicht überzeugen kann u. s.
w.«

Er hatte wahrscheinlich auch gelesen, was in dem »Leben der Altväter«
berichtet wird: »Man hatte einem Vater von einem Mönche gesagt, daß er
keinen Wein trinke, worauf dieser erwiderte: der Wein ist überhaupt nichts
für Mönche«. Ferner ist dort zu lesen: »Eines Tages feierte man die Messe
auf dem Berge des Vaters Antonius, und fand daselbst ein Gefäß mit Wein.
Einer der Alten hob es auf und brachte einen Becher voll dem Vater Sisoi.
Der trank ihn aus, nahm zum zweitenmal und leerte ihn wieder. Als ihm aber
zum drittenmal angeboten wurde, wies er's zurück und sagte: 'Laß genug
sein, Bruder, vergissest du, daß der Teufel darin steckt?'« Und weiter wird
von dem Vater Sisoi berichtet: »Abraham sagte zu seinen Schülern: 'Wenn man
an einem Feiertag oder Sonntag zur Kirche geht und trinkt drei Kelche Wein,
ist das nicht zu viel?' Und es antwortete der Alte: 'Es wäre nicht zu viel,
wenn der Satan nicht wäre'«.

Wo in aller Welt, ich bitte dich, ist der Fleischgenuß von Gott mißbilligt
und den Mönchen verboten worden? Beachte wohl, wie Benedikt sich genötigt
sah, die Strenge seiner Regel zu ermäßigen, sogar in einem Stück, das für
die Mönche noch viel gefährlicher ist und wovon er wußte, daß es überhaupt
nichts für sie sei; er that es, weil er die Mönche zu seiner Zeit schon
nicht mehr von der Notwendigkeit, in diesem Stück enthaltsam zu sein,
überzeugen konnte. Möchte man doch auch in unserer Zeit mit derselben
Schonung verfahren, und wenigstens die Dinge, welche in der Mitte zwischen
Gut und Böse liegen und darum Indifferentien heißen, mit derselben
Unbefangenheit behandeln. Etwas, das jetzt niemand mehr einleuchtet, sollte
das Gelübde nicht verlangen; man sollte sich damit begnügen, alles, was in
der Mitte liegt, zu erlauben, ohne Anstoß daran zu nehmen und nur das
wirklich Sündhafte zu verbieten. Auch in Beziehung auf Nahrung und Kleidung
sollte man die Forderungen dahin ermäßigen, daß man sich dessen bedienen
dürfte, was billig zu haben ist; in allem sollte man auf das Notwendige
sehen und alles Überflüssige meiden. Denn was uns nicht tüchtig macht für
das Reich Gottes oder was uns vor Gott nicht besser macht, das ist auch
unserer Sorge nicht wert. Dazu gehören alle äußerlichen Verrichtungen, an
denen Verworfene und Auserwählte, Heuchler und Fromme in gleicher Weise
teilnehmen. In nichts unterscheiden sich Christen und Juden so sehr als in
den äußeren und inneren Werken; denn die Liebe allein, die der Apostel des
Gesetzes Erfüllung und Ende nennt, scheidet die Söhne Gottes von denen des
Teufels. Darum setzt der Apostel auch den Ruhm der Werke so sehr herunter,
um dafür die Gerechtigkeit durch den Glauben zu erheben und ruft den Juden
zu: »Wo bleibt nun der Ruhm? Er ist aus. Durch welch Gesetz? Durch der
Werke Gesetz? Nicht also, sondern durch des Glaubens Gesetz. So halten wir
es nun, daß der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke allein durch
den Glauben«. Weiter heißt es: »Ist Abraham durch die Werke gerecht, so hat
er wohl Ruhm, aber nicht vor Gott. Was saget aber die Schrift? Abraham hat
Gott geglaubt und das ward ihm zur Gerechtigkeit gerechnet«. Und wiederum
sagt er: »Dem, der nicht mit Werken umgehet, glaubet aber an den, der die
Gottlosen gerecht macht, dem wird sein Glaube gerechnet zur Gerechtigkeit,
nach dem Vorsatz der Gnade Gottes«.

Derselbe Apostel giebt auch den Christen volle Freiheit, alle Speisen zu
essen und unterscheidet davon das, was wirklich gerecht macht: »Das Reich
Gottes, sagt er, ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und
Friede und Freude im heiligen Geist. Es ist zwar alles rein, aber es ist
nicht gut dem, der es isset mit einem Anstoß seines Gewissens. Es ist viel
besser du essest kein Fleisch und trinkest keinen Wein oder das, daran sich
dein Bruder stößt oder ärgert oder schwach wird«.

An dieser Stelle wird nicht der Genuß einer Speise überhaupt verboten,
sondern das Ärgernis, das daraus entstehen könnte; wie denn wirklich einige
der bekehrten Juden Ärgernis daran genommen hatten, als sie sahen, wie die
anderen auch solche Speisen aßen, die im Gesetz verboten waren. Diesen
Anstoß wollte auch der Apostel Petrus vermeiden und wurde darum von Paulus
nach dessen eigenem Bericht im Galaterbrief schwer getadelt und heilsam
zurechtgewiesen. Dasselbe schreibt er den Korinthern: »Die Speise macht uns
nicht besser vor Gott« und wiederum: »Alles was feil ist auf dem
Fleischmarkt, das esset ... denn die Erde ist des Herrn und was drinnen
ist«. Und an die Kolosser schreibt der Apostel: »So lasset nun niemand euch
Gewissen machen über Speise oder über Trank« und gleich darauf: »So ihr
denn nun abgestorben seid mit Christus den Satzungen der Welt, was lasset
ihr euch dann fangen mit Satzungen, als lebetet ihr noch in der Welt, die
da sagen: du sollst das nicht angreifen, du sollst das nicht kosten, du
sollst das nicht anrühren, welches sich doch alles unter Händen verzehret,
und ist Menschengebot und Lehre«.

Satzungen dieser Welt nennt er die Anfangsstufen des Gesetzes, welche sich
auf die äußerlichen Regeln des Fleisches beziehen, in deren Befolgung die
Welt, das heißt ein bislang noch fleischliches Volk, sich anfangs übte, wie
an einem Alphabet. Diesen Anfangsstufen, d. h. diesen Regeln des Fleisches
sind die abgestorben, die Christo angehören. Sie bedürfen ihrer nicht mehr,
da sie nicht mehr in dieser Welt leben, d. h. nicht mehr im Fleisch nach
dem Sichtbaren trachten und Unterschiede machen in den Speisen und in
anderen Dingen, indem sie sagen: rühret dieses und jenes nicht an. Solche
Dinge können durch die Art und Weise, wie man sie gebraucht, der Seele zum
Verderben werden, wenn man sie, um mit dem Apostel zu reden, angreift,
kostet, anrührt; aber man kann sich ihrer auch in demütiger Gesinnung
bedienen; »Menschengebot und Lehre« soll heißen: Gebot und Lehre
fleischlich gesinnter, das Gesetz nur in äußerlichem Sinn verstehender
Menschen, nicht Lehre Christi und der Seinigen. Denn er hat seinen Jüngern,
als er sie aussandte zu predigen, in Beziehung auf Essen und Trinken volle
Freiheit gelassen, obwohl es gerade für sie besonders wichtig war, jeden
Anstoß zu vermeiden. Wo sie gastlich aufgenommen wurden, da sollten sie
leben wie ihre Gastgeber, und essen und trinken, was man ihnen vorsetzte.
Paulus scheint indessen schon im Geiste vorausgesehen zu haben, daß man von
dieser Vorschrift des Herrn, die zugleich seine eigene war, abkommen werde.
Denn an Timotheus schreibt er: »Der Geist aber saget deutlich, daß in den
letzten Zeiten werden etliche von dem Glauben abtreten und anhangen den
verführerischen Geistern und Lehren der Teufel durch die, so in Gleißnerei
Lügenredner sind, und verbieten, ehelich zu werden und zu meiden die
Speise, die Gott geschaffen hat, zu nehmen mit Danksagung, den Gläubigen
und denen die die Wahrheit erkennen. Denn alle Kreatur Gottes ist gut und
nichts verwerflich, das mit Danksagung empfangen wird. Denn es wird
geheiliget durch das Wort Gottes und Gebet. Wenn du den Brüdern solches
vorhältst, so wirst du ein guter Diener Jesu Christi sein, auferzogen in
den Worten des Glaubens und der guten Lehre, bei welcher du immerdar
gewesen bist«.

Wenn man allein das äußere Werk der Enthaltsamkeit mit dem leiblichen Auge
ansehen wollte, müßte man da nicht den Johannes und seine Jünger, die sich
mit übertriebener Kasteiung quälten, über Jesus und seine Jünger stellen?
Haben doch eben die Jünger Johannes, weil sie noch in der äußerlichen
Werkheiligkeit der Juden steckten, Christum und die Seinigen getadelt und
den Herrn selbst gefragt: »Warum fasten wir und die Pharisäer so viel und
deine Jünger fasten nicht?«

In Erwägung dieses Gedankens macht der heilige Augustin einen Unterschied
zwischen echter und äußerlicher Tugend und urteilt, daß durch rein
äußerliche Werke kein besonderes Verdienst erworben werden könne. So sagt
er in seiner Schrift »Über das Gut der Ehe«: »Keuschheit ist nicht eine
Tugend des Leibes, sondern der Seele. Tugenden der Seele aber zeigen sich
bisweilen am Körper, bisweilen bethätigen sie sich in der Gesinnung: so
wird die Tugend der Märtyrer offenbar, wenn sie körperliche Leiden
erdulden«. Weiter sagt er: »Hiob besaß schon vorher die Geduld, dem Herrn
war sie bekannt und er legte Zeugnis davon ab, aber die Menschen lernten
sie erst durch die Prüfungen und Heimsuchungen kennen, die er durchzumachen
hatte«. Ferner: »Um aber ganz deutlich zu machen, daß die Tugend in der
Gesinnung bestehen könne, auch ohne äußerlich sichtbares Werk, so will ich
ein Beispiel anführen, das jeden Gläubigen überzeugen wird. Daß der Herr
Jesus in Wirklichkeit gehungert und gedürstet, gegessen und getrunken habe,
daran zweifelt keiner, der an das Evangelium glaubt. Stand er darum in der
Tugend der Enthaltsamkeit von Speise und Trank vielleicht Johannes dem
Täufer nach? Denn: 'Johannes ist kommen, aß nicht Brot und trank keinen
Wein, so sagten sie: er hat den Teufel. Des Menschen Sohn ist kommen, isset
und trinket, so sagen sie: Siehe der Mensch ist ein Fresser und Weinsäufer,
der Zöllner und Sünder Freund'. Und nachdem er von Johannes und von sich
selber dies ausgesagt, fügte er noch bei: 'Die Weisheit ist gerechtfertigt
worden durch ihre Kinder, welche sehen, daß es bei der Tugend der
Enthaltsamkeit allezeit in erster Linie auf die Beschaffenheit des Herzens
ankomme, daß sie sich aber je nach Zeit und Gelegenheit auch äußerlich
bethätige, wie die Tugend der heiligen Märtyrer durch ihre Geduld im
Leiden.' Darum ist das Verdienst des Petrus, der den Märtyrertod erlitten,
nicht größer als das des Johannes, der nicht gelitten hat; auch hat sich
Johannes, der nie verehelicht war, durch seine Enthaltsamkeit kein größeres
Verdienst erworben als Abraham, der Kinder gezeugt hat: beide haben an
ihrem Teil und zu ihrer Zeit Christo gedient, der eine im ehelosen Stand,
der andere in der Ehe. Aber Johannes hat die Enthaltsamkeit auch äußerlich
bethätigt, Abraham übte sie nur in der Gesinnung. Auf die Tage der
Patriarchen folgte eine Zeit, in welcher durch das Gesetz jeder verdammt
wurde, der in Israel keine Nachkommenschaft erzeugte; dennoch traf
denjenigen nicht der Fluch des Gesetzes, der unfähig war, Kinder zu
erzeugen. Nun aber ist die Fülle der Zeiten erschienen, wo es heißt: 'Wer
es fassen kann, der fasse es; wer da hat, der wirke Werke; wer aber nicht
Werke wirken will, der sage nicht, daß er etwas in sich habe'«. Aus diesen
Worten geht klar hervor, daß vor Gott die tugendhafte Gesinnung allein ein
Verdienst hat und daß alle, die an solcher Gesinnung einander gleich sind,
und wären sie in Ansehung der Werke noch so verschieden, von Christus
gleich belohnt werden. Darum sind alle wahren Christen so ganz mit ihrem
inneren Menschen beschäftigt, ihn mit Tugenden zu zieren und von Fehlern zu
reinigen, daß sie sich um das Außenwerk nicht oder wenig kümmern. So lesen
wir auch von den Aposteln, daß ihr äußeres Gebaren, selbst als sie dem
Herrn nachfolgten, so bäurisch und fast unanständig gewesen sei, daß es
aussah, als hätten sie Ehrfurcht und Anstandsgefühl gänzlich vergessen.
Scheuten sie sich doch nicht, beim Gang durch die Felder Ähren zu raufen,
mit den Händen zu zerreiben und zu essen, wie Kinder, und auch mit dem
Waschen der Hände vor dem Essen nahmen sie es nicht genau. Als sie aber
deswegen von den Leuten der Unreinlichkeit gezeiht wurden, entschuldigte
sie der Herr mit den Worten: »Mit ungewaschenen Händen essen verunreinigt
den Menschen nicht.« Und er fügt gleich den allgemeinen Satz hinzu, daß
überhaupt durch Äußerlichkeiten die Seele nicht befleckt werden könne,
sondern nur durch das, was aus dem Herzen hervorkomme, nämlich arge
Gedanken, Ehebruch, Mord u. s. w. Denn wenn nicht durch den bösen Willen
die Seele vorher verderbt würde, so könnte das, was äußerlich mit dem Leibe
geschieht, nicht Sünde sein. Darum heißt es ganz richtig, daß auch der
Ehebruch und der Mord aus dem Herzen komme. Denn keine körperliche
Berührung ist dazu nötig -- nach dem Spruch: »Wer ein Weib ansiehet, ihrer
zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen« und
nach dem andern: »Wer seinen Bruder hasset, der ist ein Totschläger«.
Andererseits bewirkt die bloße äußere körperliche Berührung oder Verletzung
noch keineswegs das Verbrechen: ein Weib, das der Gewalt erliegt, wird
niemand des Ehebruchs zeihen, so wenig wie einen Richter, der nach Recht
und Gerechtigkeit einen Verbrecher zum Tode verurteilt, des Mordes. »Denn
kein Mörder -- steht geschrieben -- hat teil am Reiche Gottes«.

Wir müssen also weniger darauf sehen, was geschieht, als darauf, aus
welcher Gesinnung eine Handlung entspringt, wenn wir dem gefallen wollen,
der Herzen und Nieren prüft und im Verborgenen siehet, der, wie Paulus
sagt, »richten wird das Verborgene der Menschen laut meines Evangeliums«,
d. h. nach der Lehre meiner Predigt. Darum ist auch die bescheidene Gabe
der Witwe, die zwei Scherflein einlegte, die machen einen Heller, allen
prunkenden Gaben der Reichen von dem vorgezogen worden, zu welchem wir
sprechen: »Du bedarfst nicht meiner Güter«, und der die Gabe nach dem Geber
beurteilt, nicht den Geber nach der Gabe, wie geschrieben steht: »Der Herr
sah gnädig an Abel und sein Opfer«; das will sagen: er sah vorher an die
Frömmigkeit des Opfernden und um deswillen, der es gab, war ihm das Opfer
angenehm.

Wahre Herzensfrömmigkeit hat vor Gott um so höheren Wert, je weniger wir
unser Vertrauen auf äußere Werke setzen. Darum schreibt auch der Apostel
dem Timotheus, nachdem er in der oben geschilderten Weise den Genuß aller
Speisen freigegeben, über leibliche Übung und Kasteiung folgendes: »Übe
dich selbst in der Gottseligkeit; denn die leibliche Übung ist wenig nutz,
aber die Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung
dieses und des zukünftigen Lebens«. Denn die fromme Ergebung in Gott erhält
von ihm die Notdurft dieses Lebens und dereinst die Güter der Ewigkeit.

Aus diesen Zeugnissen sollen wir nichts anderes lernen als die christliche
Weisheit; wir sollen, gleich Jakob, von den Tieren des Hauses unserem Vater
eine Labung bereiten, nicht wie Esau draußen nach Wildbret fahnden und in
jüdischer Art am Außenwerk hängen bleiben. So ist auch jenes Wort des
Psalmisten gemeint: »Vor mir sind, o mein Gott, die Gelübde, die ich dir
gethan, und ich will sie lösen, indem ich dich preise«. Nimm dazu noch das
Wort des Dichters: »Suche dein Wesen nicht außer dir selbst«.

Viele, ja unzählige Aussprüche weltlicher und geistlicher Lehrer legen
Zeugnis dafür ab, daß man sich um äußerliche und gleichgültige Dinge nicht
gar sehr kümmern solle. Wo nicht, so müßten ja die Werke des Gesetzes und
das nach dem Ausspruch des Petrus unerträgliche Joch seiner Knechtschaft
der Freiheit des Evangeliums vorzuziehen sein, und dem sanften Joch Christi
und seiner leichten Last. Christus selbst ladet uns ein zu diesem sanften
Joch, zu dieser leichten Last: »Kommet her zu mir, ruft er, alle die ihr
mühselig und beladen seid«. Darum hat auch der Apostel einige zum
Christentum bekehrte Juden scharf getadelt, als sie dafür hielten, man
müsse die Werke des Gesetzes noch beibehalten. Nach dem Bericht der
Apostelgeschichte sagte er: »Ihr Männer, lieben Brüder, was versucht ihr
denn nun Gott mit Auflegen des Jochs auf der Jünger Hälse, welches weder
unsere Väter noch wir haben mögen tragen. Sondern wir glauben durch die
Gnade des Herrn Jesu Christi selig zu werden, gleicherweise wie auch sie«.

Dich selbst aber, der du nicht bloß Christi Vorbild nachlebst, sondern auch
seinem Apostel durch deine Klugheit wie durch deinen Namen gleichst,
beschwöre ich: halte in den Forderungen äußerer Werke das Maß, welches
durch die Rücksicht auf unsere schwache Natur geboten ist, damit wir uns um
so mehr dem Dienste und Preise Gottes widmen können. Denn nachdem der Herr
alle äußerlichen Opfer abgelehnt hat, empfiehlt er dieses ausdrücklich mit
den Worten: »Wo mich hungerte, wollte ich dir nicht davon sagen; denn der
Erdboden ist mein und alles was darinnen ist. Meinest du, daß ich
Ochsenfleisch essen wollte oder Bocksblut trinken? Opfere Gott Dank und
bezahle dem Höchsten deine Gelübde. Und rufe mich an in der Not, so will
ich dich erretten, so sollst du mich preisen«.

Wir reden nicht davon als wollten wir überhaupt die Anstrengung äußerlicher
Arbeit verwerfen, soweit dieselbe notwendig ist; nur wollen wir das, was
der leiblichen Notdurft dient und uns in der Verrichtung des Gottesdienstes
hinderlich ist, nicht gar zu hoch schätzen; besonders da durch apostolische
Autorität frommen Frauen gerade das zugestanden wird, daß sie mehr durch
fremde Handreichung ihren Lebensunterhalt bestreiten als durch eigene
Arbeit. Darum schreibt auch Paulus an den Timotheus: »So aber ein Gläubiger
Witwen hat, der versorge dieselbigen und lasse die Gemeine nicht beschweret
werden; auf daß die, so rechte Witwen sind, genug haben«. Unter rechten
Witwen versteht er nämlich diejenigen, welche sich Christo geweiht haben,
denen nicht nur ihr Mann gestorben, sondern denen auch die Welt gekreuzigt
ist und sie der Welt. Diese haben ein gutes Recht darauf aus den Mitteln
der Kirche, die gleichsam das Eigentum ihres himmlischen Bräutigams sind,
unterhalten zu werden. Darum hat auch der Herr seine Mutter unter den
Schutz des Apostels gestellt, nicht unter den ihres Mannes, und die Apostel
haben sieben Diakonen, d. h. Diener der Kirche, eingesetzt, die den
gläubigen Frauen Handreichung thun sollten.

Wir wissen zwar wohl, daß der Apostel in seinem Brief an die Thessalonicher
einen Teil der Gemeinde, der sich einem müßigen, träumerischen Leben ergab,
scharf verurteilt hat und auch die Regel aufstellte: »Wer nicht arbeiten
will, der soll auch nicht essen«; auch ist uns bekannt, daß der heilige
Benedikt, um dem Müßiggang zu steuern, Handarbeit vorgeschrieben hat.
Allein saß nicht auch Maria einst müßig zu den Füßen des Herrn, um ihm
zuzuhören, während Martha ihr und dem Herrn diente und mit einem gewissen
Neid über die Saumseligkeit der Schwester murrte, welche sie allein des
Tages Last und die Hitze tragen lasse? So sehen wir noch heute oftmals
diejenigen, die mit äußerlichen Geschäften sich abmühen, murren, wenn sie
denen mit der irdischen Notdurft dienen sollen, welche sich dem Dienste
Gottes geweiht haben. Und oftmals beklagen sie sich über einen Verlust, den
sie durch eine Gewaltthat erleiden, nicht so sehr, wie über das, was sie
solchen müßigen Faulenzern, wie sie sagen, entrichten müssen. Und doch
sehen sie, daß solche Leute nicht allein damit beschäftigt sind, die Worte
Christi zu hören, sondern daß ihre Zeit auch mit dem Lesen und Singen
derselben ausgefüllt ist. Sie vergessen, daß es, wie der Apostel sagt,
nichts besonderes ist, wenn sie diejenigen mit dem Leiblichen versorgen,
von denen sie geistliche Gaben erwarten, und daß es nicht mehr als billig
ist, wenn die, deren Streben auf das Irdische gerichtet ist, denen dienen,
welche sich mit dem Geistlichen beschäftigen. Darum ist diese heilsame Muße
und Freiheit auch vom Gesetz selber den Dienern der Kirche eingeräumt
worden: der Stamm Levi sollte keinen Teil an dem erblichen Landbesitz
haben, um desto ungestörter dem Herrn dienen zu können; dafür sollten ihm
Zehnten und Abgaben von der Arbeit der anderen zufallen.

Was Fasten und Enthaltsamkeit betrifft, die der Christ mehr den Lastern
gegenüber üben soll als in Beziehung auf Essen und Trinken, so wird es sich
fragen, ob es sich empfiehlt, hierin zu der kirchlichen Vorschrift noch
weitere Forderungen hinzuzufügen, und dann soll man diejenige Verordnung
geben, die für uns am besten paßt. Ganz besonders richte dein Augenmerk auf
die gottesdienstlichen Verrichtungen und auf die Verteilung der Psalmen,
und trage wenigstens in diesem Stück, wenn irgend möglich, unserer
Schwachheit Rechnung. Wir wollen nicht jede Woche den ganzen Psalter
durchmachen und so immer dieselben Psalmen wiederholen müssen. Auch der
heilige Benedikt, der die Woche so einteilte, wie er's für angemessen
hielt, hat doch seinen Nachfolgern in diesem Punkt freie Hand gelassen,
indem er sie ermahnt, eine andere Ordnung einzuführen, wenn sie sich mehr
empfehlen sollte. Er war sich dessen bewußt, daß im Laufe der Zeit die
Herrlichkeit der Kirche immer schöner sich entfalten werde und daß sie,
anfangs gegründet auf ein unscheinbares Fundament, dereinst zum herrlichen
Bauwerk sich erheben werde.

Das aber bitten wir dich vor allem festzusetzen, wie wir uns zu verhalten
haben in Beziehung auf die Verlesung des Evangeliums und auf die
nächtlichen Vigilien. Denn um diese Zeit Priester oder Diakonen zu solcher
Verrichtung bei uns einzulassen, scheint mir gefährlich, da wir doch die
Nähe und den Anblick von Männern peinlich meiden sollen, um uns desto
aufrichtiger Gott widmen zu können und vor Versuchungen desto sicherer zu
sein.

Dir, mein Geliebter fällt die Aufgabe zu, so lange du noch lebst, uns eine
Regel zu geben, die für alle Zeiten bei uns in Geltung bleiben soll. Du
bist ja doch nächst Gott der Gründer dieses Heiligtums, du warst durch
Gottes Hand der Schöpfer unserer Gemeinschaft, du sollst jetzt mit Gottes
Hilfe der Gesetzgeber unseres Ordens sein. Vielleicht bekommen wir einst
nach dir einen andern Lehrer, der einen andern Grund legen und darauf bauen
möchte. Wir fürchten, ein solcher möchte weniger für uns besorgt sein oder
es möchte uns schwerer fallen, ihm zu gehorchen; auch könnte er vielleicht
wohl den guten Willen, aber nicht die Kraft zum Vollbringen haben. Rede du
zu uns und wir werden hören. Lebe wohl!



VII. Brief.

Abaelard an Heloise.


Geliebte Schwester! Deine Liebe verlangt in deinem und in deiner geistigen
Töchter Namen Aufschluß über den Orden, welchem ihr angehöret und über den
Ursprung des Standes der Nonnen: ich will dir so kurz und knapp als möglich
darüber Auskunft geben.

Die erste Grundlage seiner Lebensordnung hat der Stand der Mönche und
Nonnen von unserem Herrn Jesus Christus selber überkommen. Gleichwohl gab
es auch schon vor der Menschwerdung des Herrn unter Männer und Frauen
gewisse Anfänge dieser Lebensform. So schreibt Hieronymus an Eustochium:
»Die Söhne der Propheten, von denen wir im Alten Testament lesen als von
Mönchen«. Auch erzählt der Evangelist von jener Hanna, die beständig im
Tempel und beim Gottesdienst war und die zugleich mit Simeon den Herrn im
Tempel begrüßen durfte und dabei vom prophetischen Geiste erfüllt wurde.
Dann, als die Zeit erfüllet war, kam Christus, das Ende des Gesetzes und
alles Guten Vollendung, um das angefangene Gute hinauszuführen und das, was
noch unbekannt war, auszurichten. Wie er gekommen war, um beide
Geschlechter zu sich zu rufen und zu erlösen, so hat es ihm auch gefallen,
beide Geschlechter in dem wahren Mönchtum seiner Gemeinschaft zu
vereinigen. Dadurch sollte dieser Beruf für Männer wie für Frauen seine
weihevolle Bedeutung erhalten, und allen wurde durch Christus die
Vollkommenheit des Lebens vor Augen gestellt, der sie nachstreben sollten.
Und so lesen wir denn von einer Gemeinschaft frommer Frauen, die mit den
Aposteln und übrigen Jüngern und mit der Mutter des Herrn in Verbindung
standen. Diese Frauen entsagten der Welt und verzichteten auf jeden eigenen
Besitz, um Christum allein zu gewinnen, wie geschrieben steht: »Der Herr
ist mein Erbteil«. Sie erfüllten in frommem Eifer die Bedingung, welche
nach der vom Herrn aufgestellten Regel alle erfüllen müssen, die der Welt
den Abschied geben und in die Gemeinschaft dieses frommen Lebens eintreten
wollen. »Wer nicht verleugnet alles was er hat, der kann nicht mein Jünger
sein.«

Mit welcher Ergebenheit diese heiligen Frauen und wahren Nonnen dem Herrn
nachgefolgt sind, und wie ihre Frömmigkeit von Christus selbst und nachher
von den Aposteln anerkannt und in Ehren gehalten worden ist, das steht
ausführlich in der heiligen Geschichte zu lesen. Wir lesen im Evangelium,
wie der murrende Pharisäer, bei dem der Herr zu Gaste war, von diesem
getadelt und der Liebesdienst des sündigen Weibes weit über die genossene
Gastfreundschaft gestellt wurde. Wir lesen weiter, wie Lazarus nach seiner
Auferweckung mit den andern bei Tische saß und seine Schwester Martha
allein die Bedienung übernahm, wie Maria ein Pfund köstlicher Salbe auf die
Füße des Herrn goß und mit ihren eigenen Haaren sie abtrocknete, und wie
vom Duft dieser köstlichen Salbe das ganze Haus erfüllt wurde, und wie im
Gedanken an ihre Kostbarkeit und weil hier eine unnötige Verschwendung
getrieben zu werden schien, der Geiz des Judas und der Unwille der übrigen
Jünger geweckt wurde. Während also Martha sich um die Bewirtung bemüht,
bereitet Maria Wohlgerüche, die eine erquickt den Müden innerlich, die
andere läßt ihm äußerliche Pflege angedeihen.

Nur von Frauen erzählen die Evangelien, daß sie dem Herrn gedient haben.
Sie gaben ihr Eigentum für seinen täglichen Unterhalt hin und versorgten
ihn besonders mit der Notdurft dieses Lebens. Er selbst hat sich seinen
Jüngern gegenüber bei Tisch, bei der Fußwaschung zum Diener erniedrigt. Es
ist uns aber nichts davon bekannt, daß ihm von einem seiner Jünger oder
überhaupt von einem Manne ein ähnlicher Dienst erwiesen worden sei: die
Frauen allein stellten ihm, wie schon gesagt, in solchen und allen anderen
Fällen der Bedürftigkeit ihre Dienste zur Verfügung. Das Gegenstück zu der
dienenden Demut des Herrn bei Tische sehen wir in dem Walten der Martha,
und im Liebesdienst der Maria das Gegenstück zur Fußwaschung. Maria zeigt
dabei um so mehr frommen Eifer, je schuldvoller ihre Vergangenheit gewesen
war. Der Herr goß Wasser in eine Schale, um die Fußwaschung zu verrichten:
sie aber netzte seine Füße mit Thränen tiefinnerster Reue, nicht mit
äußerlichem Wasser. Jesus trocknete mit einem Linnen den Jüngern die Füße,
ihr mußten die Haare statt des Tuches dienen. Maria fügte noch
wohlriechende Salben hinzu, während uns nicht bekannt ist, daß der Herr
etwas Ähnliches gethan habe. Ferner weiß ja jedermann, daß sie im Vertrauen
auf seine Güte und Nachsicht sich nicht scheute, ihre Salbe über sein Haupt
auszugießen. Und zwar wird berichtet, daß sie die Salbe nicht aus dem Gefäß
habe träufeln lassen, sondern sie habe das Gefäß zerbrochen und so dessen
Inhalt über den Herrn ausgegossen. Sie wollte damit der Glut ihres frommen
Eifers Ausdruck geben; denn ein Gegenstand, der so hohen Dienstes gewürdigt
war, sollte hinfort zu nichts anderem mehr benutzt werden. Durch diese That
stellte sie jenen Verbrauch der Salbe dar, von dem der Prophet Daniel
geweissagt hatte: wann der Heilige der Heiligen werde gesalbt werden.

Siehe da, ein Weib salbt den Heiligen der Heiligen und legt durch ihre That
Zeugnis ab, daß er zugleich derjenige ist, an den sie glaubt und der,
welchen der Prophet im voraus angekündigt hatte. Welch unbegreifliche Güte
des Herrn, oder was für ein besonderes Verdienst kommt den Frauen zu, daß
er nur ihnen sein Haupt wie seine Füße anvertraut, sie zu salben? Wie kommt
das schwächere Geschlecht zu dem hohen Vorrechte, daß ein Weib den Herrn
der Herrlichkeit salben durfte, der doch von seiner Empfängnis an mit dem
heiligen Geist gesalbt und geweiht war. Mit sichtbaren Weihemitteln durfte
sie ihn zum König und Priester weihen und ihn so auch äußerlich zum
Christus, d. h. zum Gesalbten machen.

Wir wissen, daß zuerst der Erzvater Jakob einen Stein gesalbt hat, in
prophetischem Hinweis auf den Herrn. Und auch später war es nur den Männern
gestattet, die Salbung von Königen oder Priestern vorzunehmen oder
überhaupt die Sakramente zu verwalten, nur das Recht zu taufen wurde den
Frauen unter Umständen eingeräumt. Der Erzvater hatte einst den Stein zum
Tempel geweiht, und noch jetzt weiht der Priester den Altar mit Öl ein.
Also die Männer geben nur den Abbildern die Weihe, das Weib dagegen hat am
Urbild selbst ihre Wirkung ausgeübt, wie denn die Wahrheit selbst bezeugt:
»Sie hat ein gutes Werk an mir gethan«. Christus selbst wird von einem
Weibe gesalbt, die Christen von Männern, das Haupt von einer Frau, die
Glieder von Männern.

Mit vollem Recht wird von ihr erzählt, sie habe die Salbe auf sein Haupt
nicht geträufelt, sondern darüber ausgegossen, nach jenem Wort, das die
Braut im Hohenlied von dem Herrn sagt: »Dein Name ist eine ausgegossene
Salbe«. Auf die überströmende Fülle dieser Salbe deutet auch der Psalmist
vorbildlich hin, wenn er von einer Salbe spricht, die vom Haupt bis zum
Saum des Kleides hinabfloß: »Wie der köstliche Balsam ist, der herabfließt
vom Haupt Aarons in seinen ganzen Bart, der herabfließt in sein Kleid«.

Von David lesen wir, daß er eine dreifache Salbung erhalten habe, und auch
Hieronymus erwähnt dies zu Psalm XXVI. Eine dreifache erhalten auch
Christus und die Christen: an den Füßen und am Haupt ist der Herr von einem
Weibe gesalbt worden, seinen Leichnam haben, nach dem Bericht des Johannes,
Joseph von Arimathia und Nikodemus mit Spezereien bestattet. Und auch die
Christen werden durch dreifache Salbung geweiht: die erste geschieht durch
die Taufe, die zweite durch die Konfirmation, die dritte durch die letzte
Ölung.

Erkenne nun, wie die Frau hier bevorzugt wird: Zweimal wird der lebendige
Christus von ihr gesalbt, an Füßen und Haupt, und erhält von ihr die Weihe
des Königs und des Priesters. Die Salbe aus Myrrhen und Aloe, die zur
Einbalsamierung der Leichen dient, deutet im voraus hin auf die
Unverweslichkeit des Leibes des Herrn, welche auch die Auserwählten in der
Auferstehung erlangen. Die vorausgehende Salbung durch das Weib aber deutet
an die einzigartige Würde seines Königtums wie seiner Priesterwürde; und
zwar die Salbung des Hauptes bedeutet die höhere, die der Füße die
niedrigere Würde. Siehe da! selbst die Weihe des Königs empfängt er von
einem Weibe, der doch die von Männern ihm gebotene Krone ausschlug und
ihnen entfloh, als sie ihn mit Gewalt zum König machen wollten.
Himmlischen, nicht irdischen Königtums Weihe vollzieht das Weib an ihm, der
selbst später von sich gesagt hat: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.«

Bischöfe rühmen sich, wenn sie unter dem Beifallsruf der Menge irdische
Könige salben, wenn sie, angethan mit ihren prächtigen goldglänzenden
Gewändern, sterbliche Priester weihen und dabei oftmals diejenigen segnen,
die Gott verflucht. Hier das einfache Weib in ihrem gewöhnlichen Kleid,
ohne Pomp und Prunk; trotz des Unwillens der Apostel vollzieht sie an
Christus die Weihe; nicht hoher Rang giebt ihr das Recht dazu, sondern
allein ihre hingebende Frömmigkeit. O starke Glaubensbeharrlichkeit, o
unsagbare Liebesglut, die alles glaubet, alles hoffet, alles träget! Der
Pharisäer murrt, daß des Herrn Füße von einer Sünderin sollen gesalbt
werden; die Apostel mißbilligen es laut, daß das Weib selbst sein Haupt zu
berühren wagt. Aber ihr Glaube bleibt allenthalben unerschüttert, sie traut
auf die Güte des Herrn, und der Herr läßt sie nicht ohne Schutz und Hilfe.
Wie lieblich und angenehm ihm diese Salbung gewesen, gesteht er ja selbst,
indem er verlangt, man solle sie gewähren lassen, und zu dem entrüsteten
Judas sagt: »Laß sie mit Frieden, sie mag's so halten zum Tag meiner
Begräbnis«. Als wollte er sagen: mißgönne nicht diesen Liebesdienst dem
Lebendigen, damit du nicht dadurch zugleich dem Toten das letzte fromme
Zeichen der Verehrung entziehest. Bekannt ist ja, daß auch für die
Bestattung des Herrn fromme Frauen Spezereien bereitet haben. Maria hätte
dabei vielleicht nicht mitgewirkt, wenn sie bei jener ersten Gelegenheit
durch eine Zurückweisung in Verlegenheit versetzt worden wäre. Ja, als die
Jünger über die große Kühnheit des Weibes unwillig wurden und nach dem
Bericht des Markus sie anfuhren, besänftigte er ihren Zorn durch milden
Zuspruch und erhob dann des Weibes That also hoch, daß er sie ins
Evangelium aufgenommen wünschte und voraussagte, daß wo in aller Welt von
ihm gepredigt werden werde, man auch das sagen werde zu Lob und Gedächtnis
dieser Frau, die damals ihrer Kühnheit wegen sich tadeln lassen mußte. Wir
wissen von keiner andern That der Liebe, die in solcher Weise vom Herrn
selber gelobt und anerkannt worden wäre. Auch an dem Beispiel der armen
Witwe, deren Almosen er allen reichen Kirchenstiftungen vorzog, hat er
deutlich gezeigt, wie angenehm vor ihm die Frömmigkeit der Frauen sei.

Petrus hat sich nicht gescheut, es laut auszusprechen, daß er und seine
Mitjünger alles um Christi willen verlassen haben. Zachäus, voll Sehnsucht
die Ankunft des Herrn erwartend, schenkt die Hälfte seiner Güter den Armen
und ist bereit, so er jemand betrogen hat, es vierfältig wiederzugeben.
Viele andere haben es sich im Namen Christi oder für Christum noch viel
mehr kosten lassen und haben viel größere Herrlichkeiten in seinen Dienst
gestellt oder um seinetwillen verlassen. Und doch haben sie alle nicht das
hohe Lob des Herrn geerntet wie die Frauen.

Wie groß ihre fromme Hingabe für ihn war, das lehren uns am deutlichsten
die Vorgänge beim Tode des Herrn. Sie, die Frauen, harren unerschrocken
aus, während das Haupt der Apostel seinen Herrn verleugnet, während der
Jünger, den der Herr lieb hatte, entflieht und die übrigen sich zerstreuen.
Keine Furcht, keine Verzweiflung konnte die Frauen während seines Leidens
und in der Stunde des Todes von Christus trennen. Auf sie ganz besonders
scheint das Wort des Apostels zu passen: »Wer will uns scheiden von der
Liebe Gottes? Trübsal oder Angst?« Darum hat auch Matthäus, nachdem er von
sich selber und von den andern Jüngern gleicherweise berichtet hatte: »Da
verließen ihn alle Jünger und flohen von ihm« -- im weiteren Verlauf seiner
Erzählung das treue Ausharren der Frauen hervorgehoben, die selbst dem
Gekreuzigten noch zur Seite standen, soweit es ihnen verstattet wurde: »Und
es waren viel Weiber da, die von ferne zusahen, die da Jesu waren
nachgefolget aus Galiläa und hatten ihm gedienet«. Auch erzählt derselbe
Evangelist getreulich, wie sie sich selbst vom Grabe des Herrn nicht
trennen konnten: »Es waren aber Maria Magdalena und die andere Maria, die
setzten sich gegen das Grab«. Von diesen Frauen berichtet auch Markus: »Es
waren auch Weiber da, die von ferne solches schaueten, unter welchen war
Maria Magdalena und Maria des kleinen Jakobs und Joses Mutter, und Salome,
die ihm auch nachgefolget, da er in Galiläa war und gedienet hatten, und
viele andere, die mit ihm hinauf gen Jerusalem gegangen waren«.

Johannes erzählt, sie seien unter dem Kreuze gestanden, und auch er selbst,
der vorher geflohen war, sei bei dem Gekreuzigten gestanden; aber von dem
Ausharren der Frauen spricht er zuerst, wie wenn er durch ihr Beispiel
ermutigt und zurückgerufen worden wäre. »Es stund aber bei dem Kreuze Jesu
seine Mutter, und seiner Mutter Schwester, Maria, Kleophas Weib, und Maria
Magdalena. Da nun Jesus seine Mutter sahe und den Jünger dabei stehen« u.
s. w.

Diese Ausdauer der heiligen Frauen und die Schwachheit der Jünger hat lange
vor dieser Zeit der fromme Hiob für die Person Christi angedeutet in
prophetischen Worten: »All mein Fleisch ist geschwunden und an meiner Haut
hängt das Gebein, und nur die Lippen an meinen Zähnen sind übrig
geblieben«. Auf den Gebeinen nämlich beruht die Rüstigkeit des Körpers,
weil sie dem Fleisch und der Haut zur Stütze dienen. In dem Leib Christi
nun, d. h. in der Kirche, ist unter dem Gebein der feste Grund des
christlichen Glaubens gemeint oder jene glühende Liebe, von welcher es im
Lied der Lieder heißt, daß auch viel Wasserströme die Liebe nicht mögen
verlöschen; von welcher auch der Apostel sagt: »Sie träget alles, sie
glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles«. Das Fleisch aber bildet
am Körper das Innere, die Haut das Äußere. Die Apostel, die durch ihre
Predigt für die Nahrung der Seele sorgen und die Frauen, die sich um die
Bedürfnisse des Körpers bemühen, werden mit dem Fleisch und mit der Haut
(am Leibe Christi) verglichen. Da nun das Fleisch dahinschwand, hing das
Gebein Christi unmittelbar an der Haut; das heißt: als die Jünger am Leiden
ihres Herrn Anstoß nahmen und über seinen Tod in Verzweiflung gerieten,
blieb die fromme Ergebenheit der Frauen unerschüttert und wich keinen Zoll
breit von dem Gebein Christi. Denn die Beharrlichkeit des Glaubens, der
Hoffnung, der Liebe hielt sie so fest bei ihm zurück, daß sie selbst von
dem Toten sich nicht trennen konnten, weder in Gedanken noch körperlich.
Die Männer sind ja von Natur an Geist und Körper den Frauen überlegen.
Darum wird mit Recht die männliche Natur unter dem Bilde des Fleisches
dargestellt, welches dem Gebein näher ist, die schwache Natur des Weibes
dagegen unter dem Bilde der Haut. Ferner: die Aufgabe der Apostel ist es,
die sündigen Menschen durch ihre Rüge gleichsam zu beißen, darum stellen
sie die Zähne des Herrn dar. Ihnen sind nur noch die Lippen übrig
geblieben, das heißt Worte statt Thaten; denn in ihrer Hoffnungslosigkeit
redeten sie wohl von Christus, thaten aber nichts für ihn. In dieser
Verfassung waren auch die beiden Jünger, die nach Emmaus gingen und
miteinander redeten von allem, was in diesen Tagen geschehen war; denen
dann der Herr erschien und ihrer Mutlosigkeit aufhalf. Endlich: was hatten
Petrus und die übrigen Jünger anderes als Worte, als der Herr seinen
Leidensweg betreten mußte und der Herr selbst ihnen vorausgesagt hatte, daß
sie sich an seinem Leiden ärgern werden? »Wenn sie auch alle, sprach
Petrus, sich an dir ärgerten, so will ich doch mich nimmermehr ärgern.« Und
noch mehr: »Und wenn ich mit dir sterben müßte, so will ich dich nicht
verleugnen. Desgleichen sagten auch alle Jünger«. Freilich: sie sagten mehr
als sie thaten. Jener erste und größte Apostel, der mit dem Munde so
standhaft war, daß er zum Herrn sagte: »Ich bin bereit, mit dir ins
Gefängnis und in den Tod zu gehen«; dem der Herr seine Kirche im besonderen
anvertraut hatte mit den Worten: »Wenn du dich dermaleins bekehrst, so
stärke deine Brüder« -- er schämt sich nicht, auf das Wort einer Magd hin
seinen Herrn zu verleugnen. Und nicht bloß einmal thut er das, sondern
dreimal hintereinander; während sein Meister noch lebt, verleugnet er ihn,
und ebenso fliehen alle übrigen Jünger von ihm in alle Winde; die Frauen
dagegen lassen sich von ihm, auch nach seinem Tode, nicht trennen, weder
geistig noch körperlich. Eine von ihnen, jene fromme Sünderin, spricht,
indem sie den Toten noch sucht und ihn ihren Herrn nennt: »Sie haben meinen
Herrn weggenommen«, und weiter: »Hast du ihn weggetragen, so sage mir, wo
hast du ihn hingeleget, so will ich ihn holen«. Die Widder, ja vielmehr die
Hirten, der Herde des Herrn, sie fliehen: die Schafe harren mutig aus.
Seine Jünger mußte der Herr ihrer fleischlichen Schwäche wegen tadeln, denn
sie vermochten selbst in seiner höchsten Leidensnot nicht eine Stunde mit
ihm zu wachen. Die Frauen brachten an seinem Grab eine schlaflose Nacht
unter Thränen zu und wurden gewürdigt, die Herrlichkeit des Auferstandenen
zuerst zu sehen. Dem sie so treu waren bis in den Tod, sie haben ihm ihre
Liebe, während er lebte, nicht mit Worten, sondern mit Thaten bewiesen. Und
von der Angst, die sie um sein Leiden und Sterben erlitten hatten, wurden
sie zuerst befreit durch die frohe Kunde, daß er auferstanden sei und lebe.

Während, nach Johannes, Joseph von Arimathia und Nikodemus den Leichnam des
Herrn in Leinwand wickelten und mit Spezereien bestatteten, sahen, nach dem
Berichte des Markus, Maria Magdalena und Maria, die Mutter Joses, mit Eifer
zu, wohin er gelegt wurde. Auch Lukas erzählt von ihnen; »Es folgten aber
die Weiber nach, die mit ihm kommen waren aus Galiläa und beschaueten das
Grab und wie sein Leib gelegt ward; sie kehreten aber um und bereiteten
Spezereien«. Sie begnügten sich nicht mit den Spezereien des Nikodemus, sie
wollten auch die ihrigen noch dazu thun. Und den Sabbath über waren sie
stille nach dem Gesetz; nach Markus aber kamen, als der Sabbath um war, in
aller Frühe am Tage der Auferstehung selbst Maria Magdalena und Maria
Jakobi und Salome zum Grab.

Nachdem wir nun ihren frommen Eifer gezeigt haben, wollen wir weiter sehen,
welcher Ehre sie gewürdigt wurden. Fürs erste wurden sie durch die
Erscheinung des Engels getröstet mit der Kunde, daß der Herr schon
auferstanden sei; sodann durften sie zuerst den Herrn sehen und berühren.
Und zwar vor allen andern Maria Magdalena, deren Liebesglut die lebendigste
war; dann die andern mit ihr, von welchen es heißt, daß sie nach der
Engelserscheinung »zum Grabe hinausgingen und liefen, daß sie es seinen
Jüngern verkündigeten, und siehe da begegnet ihnen Jesus und sprach: Seid
gegrüßet. Und sie traten zu ihm und griffen an seine Füße und fielen vor
ihm nieder. Da sprach Jesus: Gehet hin und verkündiget es meinen Brüdern,
daß sie gehen nach Galiläa: daselbst werden sie mich sehen«. Auch Lukas
berichtet darüber in ähnlicher Weise: »Es waren aber Maria Magdalena und
Johanna und Maria Jakobi, und andere mit ihnen, die solches den Aposteln
sagten«. Auch Markus verschweigt es nicht, daß die Frauen zuerst von dem
Engel zu den Aposteln geschickt worden seien, um es ihnen zu verkündigen;
er läßt den Engel zu den Weibern sagen: »Er ist auferstanden, er ist nicht
hier. Gehet aber hin und saget es seinen Jüngern und Petrus, daß er vor
euch hingehen wird in Galiläa«. Auch der Herr selbst, da er zuerst der
Maria Magdalena erscheint, sagt zu ihr: »Gehe hin zu meinen Brüdern und sag
ihnen, ich fahre auf zu meinem Vater.«

Wir sehen aus diesen Berichten, daß jene frommen Frauen gleichsam als
Apostelinnen über die Apostel gesetzt wurden, da sie entweder vom Herrn
oder von den Engeln zu ihnen gesandt werden, um ihnen die Freudenbotschaft
der Auferstehung zu bringen, auf die alle warteten, so daß die Apostel von
den Frauen zuerst erfuhren, was sie nachher aller Welt predigten.

Der Evangelist hat, wie wir oben sahen, erzählt, daß der Herr die Frauen
grüßte, als er ihnen nach seiner Auferstehung begegnete: durch seine
Begegnung wie durch seinen Gruß wollte er ihnen zeigen, wie sehr sie
Gegenstand seiner fürsorgenden Liebe seien. Wir erfahren nirgends, daß er
anderen gegenüber das ausdrückliche Begrüßungswort: »seid gegrüßet«
gebraucht habe: im Gegenteil hat er ja früher seinen Jüngern das Grüßen
untersagt mit den Worten: »Und grüßet niemand auf dem Wege«. Es ist, als
hätte er dieses Vorrecht bis jetzt den frommen Frauen aufbehalten und
selbst an ihnen ausüben wollen, nachdem er schon die Glorie der
Unsterblichkeit erlangt hatte.

Auch in der Apostelgeschichte, welche berichtet, daß die Apostel alsbald
nach der Himmelfahrt des Herrn vom Ölberg nach Jerusalem zurückgekehrt
seien, und die Frömmigkeit jener heiligen Gemeinschaft ausführlich
schildert, wird der fromme Eifer und die Standhaftigkeit der Frauen im
Glauben nicht mit Stillschweigen übergangen, sondern es heißt von ihnen:
»diese alle waren stets bei einander einmütig mit Bitten und Flehen samt
den Weibern und Maria, der Mutter Jesu«.

Aber wir wollen nicht weiter sprechen von den jüdischen Frauen, die gleich
im Anfang, während der Herr selbst noch lebte und das Evangelium
verkündigte, zum Glauben kamen und den Grund legten zu der Lebensweise, die
ihr erwählt habt. Sondern wir wollen auch der griechischen Witwen gedenken,
welche später von den Aposteln in die Gemeinde aufgenommen worden sind; wir
werden da sehen, mit welcher Liebe und Sorgfalt die Apostel ihnen
entgegenkamen und wie jener ruhmreiche Bannerträger des christlichen
Häufleins, Stephanus, der erste der Märtyrer, mit einigen anderen
geistbegabten Männern von den Aposteln zu ihrem Dienste aufgestellt wurde.
Auch hierüber berichtet die Apostelgeschichte: »In den Tagen aber, da der
Jünger viel wurden, erhub sich ein Murmeln unter den Griechen wider die
Hebräer, darum daß ihre Witwen übersehen wurden in der täglichen
Handreichung. Da riefen die Zwölfe die Menge der Jünger zusammen und
sprachen: 'Es taugt nicht, daß wir das Wort Gottes unterlassen und zu
Tische dienen. Darum, ihr lieben Brüder, sehet unter euch nach sieben
Männern, die ein gut Gerücht haben und voll heiligen Geists und Weisheit
sind, welche wir bestellen mögen zu dieser Notdurft. Wir aber wollen
anhalten am Gebet und am Amt des Wortes.' Und die Rede gefiel der ganzen
Menge wohl und erwähleten Stephanum, einen Mann voll Glauben und heiligen
Geistes und Philippum und Prochorum und Nikanor und Timon und Parmenam und
Nikolaum, den Judengenossen von Antiochia. Diese stellten sie vor die
Apostel und beteten und legten die Hände auf sie«. Es spricht gar sehr für
die Enthaltsamkeit des Stephanus, daß er zum Dienst und zur Fürsorge für
die frommen Frauen bestellt wurde. Was für ein hohes Ehrenamt die
Verwaltung dieses Dienstes war und wie verdienstlich vor Gott und in den
Augen der Apostel, das haben sie selber bezeugt durch das Gebet, mit dem
sie die Handlung weihten, und durch Auflegung der Hände, als wollten sie
diejenigen, die damit betraut wurden, beschwören, Treue zu halten, und
durch ihren Segen und ihr Gebet ihnen die Kraft dazu verleihen.

Auch der Apostel Paulus nimmt diesen Dienst als ein Recht seines
Apostelamtes in Anspruch: »Haben wir nicht Macht, sagt er, eine Schwester
zum Weibe mit umherzuführen, wie die andern Apostel?« Als wollte er sagen:
Ist es uns nicht erlaubt, ein Gefolge von frommen Frauen zu haben und sie
auf unsern Missionsreisen mit uns zu führen, wie die andern Apostel, damit
sie, während wir das Wort Gottes predigen, von dem Ihrigen unsere äußeren
Bedürfnisse befriedigen? Darum sagt auch der heilige Augustin in seinem
Buch »Vom Werk der Mönche«: »Darum gingen gläubige Weiber mit ihnen, die
mit den Gütern dieser Welt gesegnet waren, und thaten ihnen von dem Ihrigen
Handreichung, damit sie an dem, was zum Unterhalt des Lebens dient, nicht
Mangel litten«. Ferner: »Wer nicht glauben will, daß die Apostel frommen
Frauen gestatteten, sie überall hin zu begleiten, wo sie das Evangelium
verkündigten, der möge das Evangelium selbst nachlesen und daraus ersehen,
daß sie hierin dem Beispiel des Herrn selber folgten. Denn im Evangelium
heißt es: 'Und es begab sich danach, daß er reisete durch Städte und Märkte
und predigte und verkündigte das Evangelium vom Reich Gottes, und die
Zwölfe mit ihm; dazu etliche Weiber, die er gesund hatte gemacht von den
bösen Geistern und Krankheiten, nämlich Maria, die da Magdalena heißet, und
Johanna, das Weib Chusa, des Pflegers Herodis, und Susanna und viel andere,
die ihnen Handreichung thaten von ihrer Habe'. Hieraus geht also deutlich
hervor, daß der Herr, während er predigend umherzog, von dienenden Frauen
mit den Bedürfnissen des äußerlichen Lebens versorgt wurde und daß diese
Frauen gleichwie die Apostel seine unzertrennliche Begleitung bildeten.«

Als dann der Drang zu einem gottgeweihten Leben unter Männern und Frauen
sich häufiger einstellte, hatten schon in den Anfangszeiten der Kirche
Frauen wie Männer besondere klösterliche Behausungen. So erwähnt die
»Kirchengeschichte« das Lob, welches der beredte Jude Philo über die
alexandrinische Kirche unter der Leitung des Markus nicht nur
ausgesprochen, sondern auch schriftlich in hohen Ausdrücken niedergelegt
hat; es heißt dort Buch II, Kapitel XVI unter anderem: »In vielen Gegenden
der Erde leben solche Menschen«. Und bald darauf: »An jedem dieser Orte
befindet sich ein der Andacht geweihtes Haus, welches 'senivor' oder
'Monasterium' genannt wird«. Ferner heißt es weiter unten: »Sie kennen
nicht bloß die besten frommen Lieder der Alten, sondern dichten auch selbst
neue zur Ehre Gottes, welche sie nach verschiedenen Rhythmen und Tonarten
gar lieblich singen«. Es wird dann verschiedenes von ihrer Enthaltsamkeit
und von der Art ihres Gottesdienstes berichtet, worauf es weiter heißt:
»Bei den Männern, von denen wir sprechen, befinden sich auch Frauen,
darunter mehrere schon hochbetagte Jungfrauen, welche ihren Leib unberührt
und keusch bewahren, nicht aus irgend welchem Zwang, sondern aus
Frömmigkeit; die, während sie mit Eifer dem Studium der Weisheit obliegen,
nicht allein ihre Seele, sondern auch den Leib heiligen und es für unwürdig
halten, daß das zur Aufnahme der Weisheit bestimmte Gefäß der Lust diene,
oder daß diejenigen sterbliche Kinder gebären, die nach der geheiligten
unsterblichen Frucht des göttlichen Wortes streben und die eine
Nachkommenschaft hinterlassen sollen, die nimmermehr dem Tod und der
Vernichtung anheimfällt«. Weiter heißt es von Philo: »Er schreibt auch von
ihren Gemeinschaften, daß Männer und Weiber getrennt in besonderen
Vereinigungen leben, und daß sie Vigilien halten, wie es bei uns jetzt noch
Sitte ist«.

Hierher gehört auch, was die »Dreiteilige Geschichte« zum Lobe der
christlichen Philosophie, d. h. des Mönchslebens sagt, dem Frauen wie
Männer sich ergeben. Es heißt da Buch I, Kapitel XI: »Die Begründer dieser
tiefsinnigen Philosophie waren, wie einige behaupten, der Prophet Elias und
Johannes der Täufer.« Der Pythagoräer Philo aber erzählt, daß zu seiner
Zeit fromme Hebräer aus verschiedenen Gegenden sich in einem Landhaus bei
einem Sumpf Maria, auf einem Hügel gelegen, vereinigt und dort der
Philosophie gelebt haben. Ihre Wohnung aber und die Art, sich zu ernähren
und ihre ganze Lebensweise schildert er so, wie wir sie bei den ägyptischen
Mönchen jetzt noch beobachten. Er schreibt, daß sie vor Sonnenuntergang
keine Speise zu sich nehmen, des Weines und des Fleisches sich gänzlich
enthalten, als Speise diene ihnen Brot, Salz und Ysop, als Trank Wasser.
Mit ihnen zusammen wohnen hochbetagte Weiber, die aus Liebe zur Philosophie
Jungfrauen geblieben waren und freiwillig auf die Ehe verzichtet hatten.

Ähnlich lautet, was Hieronymus im 8. Kapitel seines Buches »Berühmte
Männer« zum Lobe des Markus und seiner Kirche schreibt: »Er zuerst predigte
in Alexandria von Christus und gründete daselbst eine Kirche, durch Lehre
und Sittenstrenge so ausgezeichnet, daß sich alle Christen an ihr ein
Beispiel nehmen mußten«. Endlich hat Philo, der gewandteste Schriftsteller
der Juden, welcher die erste damals noch judenchristliche Kirche zu
Alexandria erlebte, zur Verherrlichung seines Volkes ein Buch über dessen
Bekehrung geschrieben, und wie Lukas erzählt, daß die Gläubigen in
Jerusalem alles gemeinsam besessen haben, so hat auch Philo die Vorgänge in
der unter der Leitung des Markus stehenden alexandrinischen Kirche dem
Gedächtnis überliefert.

Ebenso sagt Hieronymus des weiteren im 11. Kapitel: »Der Jude Philo, von
Geburt ein Alexandriner und einer Priesterfamilie angehörend, wird von uns
darum unter die Kirchenschriftsteller gezählt, weil er in seinem Buch über
die erste, vom Evangelisten Markus gegründete Kirche von Alexandria sich in
Lobsprüchen über die Unsrigen ergeht und erwähnt, daß dieselben nicht bloß
hier, sondern auch in vielen anderen Provinzen sich aufhalten, und ihre
Wohnungen Klöster nennt«.

Daraus geht doch hervor, daß im Anfang die Gemeinschaft der Christen von
der Art gewesen ist, wie sie jetzt die Mönche nachahmen und erstreben: da
besaß keiner etwas für sich, da gab es weder arm noch reich; was man hatte,
wurde unter die Bedürftigen verteilt, im übrigen füllte man die Zeit aus
mit Gebet und Singen, mit Predigt und Übung in der Enthaltsamkeit, wie dies
Lukas in ähnlicher Weise von der ersten Christengemeinde in Jerusalem
berichtet.

Lesen wir die Geschichten des Alten Testamentes nach, so finden wir da, daß
in allen Angelegenheiten, welche Gott oder besondere religiöse Leistungen
betreffen, die Frauen nicht hinter den Männern zurückgeblieben sind. Die
heiligen Urkunden berichten, daß sie ebenso wie die Männer Lieder zur Ehre
Gottes nicht bloß gesungen, sondern auch selbst gedichtet haben. Das erste
Lied von der Befreiung Israels haben nicht die Männer allein, sondern mit
ihnen die Frauen dem Herrn zum Preise gesungen, und sie haben sich dadurch
das Recht erworben, beim Gottesdienst im Tempel mitzuwirken. Denn also
steht geschrieben: »Und Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, nahm eine
Pauke in ihre Hand, und alle Weiber folgten ihr nach, hinaus mit Pauken am
Reigen und sie sang ihnen vor: 'lasset uns dem Herrn singen, denn er hat
eine herrliche That gethan'«. Dort wird Moses nicht genannt und von ihm
wird nicht gesagt, daß er wie Mirjam vorgesungen habe, überhaupt wird von
den Männern nicht berichtet, daß sie gleich den Weibern mit Pauken am
Reigen gegangen seien. Wenn nun Mirjam die vorsingende Prophetin genannt
wird, so scheint sie jenen Gesang nicht bloß vorgetragen und abgesungen,
sondern in prophetischer Begeisterung gedichtet zu haben. Wenn es ferner
heißt, sie habe den übrigen vorgesungen, so ist das ein Beweis für die
strenge Ordnung und Harmonie ihres Spiels. Und daß sie nicht bloß einfach
sangen, sondern ihren Gesang mit Pauken begleiteten und besondere Singchöre
bildeten, zeugt nicht allein für ihren großen Eifer, sondern deutet auch
vorbildlich hin auf den geistlichen Gesang in den klösterlichen
Gemeinschaften. Auch der Psalmist ermuntert uns dazu mit den Worten: »Lobet
ihn mit Pauken und Reigen«, d. h. so viel als: durch Abtötung des Fleisches
und durch jene einträchtige Liebe, von der geschrieben steht: »Die Menge
der Gläubigen war Ein Herz und Eine Seele«.

Auch das, womit die Frauen ihren Gesang nach dem Berichte begleitet haben,
ist nicht ohne sinnbildliche Bedeutung: es wird dadurch dargestellt der
Jubel der in Gott versunkenen Seele, welche, indem sie sich zu den
himmlischen Regionen emporschwingt, gleichsam die Hütte ihrer irdischen
Behausung verläßt und aus der tiefen Wonne ihrer Gottversunkenheit heraus
frohlockend dem Herrn ein Loblied singt.

Wir haben im Alten Testament auch noch Lieder von Debora, Hanna und von der
Witwe Judith, sowie im Evangelium eines von der Mutter des Herrn. Indem
Hanna ihren Knaben Samuel dem Tempel des Herrn geweiht hat, hat sie damit
den Klöstern das Recht zur Aufnahme von Kindern gegeben. Daher schreibt
Isidorus in seinem Brief an die im Kloster des Honorianus lebenden Brüder,
Kapitel V: »Wer von seinen Eltern dem Kloster geweiht worden ist, der soll
wissen, daß er daselbst für immer zu bleiben hat. Denn auch Hanna hat ihren
Sohn Samuel dem Herrn dargebracht, und er blieb beim Dienste des Tempels,
zu welchem er von seiner Mutter bestimmt worden war, und diente an dem
Platze, auf den man ihn gestellt hatte«. Es ist auch sicher, daß die
Töchter Aarons am Dienste des Heiligtums und am Erbe Levis denselben Anteil
hatten wie ihre Brüder; Gott wies ihnen ebenso ihren Unterhalt an, wie im
Buche Numeri geschrieben steht, wo der Herr selbst zu Aaron spricht: »Alle
Hebopfer, welche die Kinder Israel heiligen dem Herrn, habe ich dir gegeben
und deinen Söhnen und Töchtern samt dir zum ewigen Recht«. Es scheint
demnach, als habe man auch für den Stand der Kleriker keinen Unterschied
gemacht zwischen Mann und Weib. Sicher ist vielmehr, daß die Frauen mit den
Männern durch Gleichheit der Benennung verbunden sind, denn man redet ja
von Diakonissen so gut wie von Diakonen, als sollten wir in diesen beiden
Namen Gegenstücke finden zu den Leviten und Levitinnen.

In demselben Buch finden wir auch, daß jenes strenge Gelübde und die Weihe
der Nasiräer ebenso für Frauen wie für Männer seine Geltung hatte, denn der
Herr selbst spricht zu Mose: »Sage den Kindern Israel und sprich zu ihnen:
Wenn ein Mann oder Weib ein Gelübde thut, dem Herrn sich zu enthalten, der
soll sich Weins und starken Getränks enthalten. Weinessig oder starken
Getränks Essig soll er auch nicht trinken, auch nichts, das aus Weinbeeren
gemacht wird. Er soll weder frische noch dürre Weinbeeren essen, so lange
solches sein Gelübde währet; auch soll er nichts essen, das man vom
Weinstock machet, weder Weinkern noch Hülsen, so lange die Zeit solches
seines Gelübdes währet«. Dieses Gelübde, glaube ich, hatten jene Weiber auf
sich genommen, die an der Thüre des Heiligtums Wache hielten, aus deren
Spiegeln Moses ein Gefäß verfertigte, in welchem sich Aaron und seine Söhne
waschen sollten, wie geschrieben steht: »Moses stellte ein ehernes Becken
auf, daß Aaron und seine Söhne sich daraus wüschen; das er verfertigt hatte
aus den Spiegeln der Weiber, die an der Thüre des Heiligtums wachten«.
Ausdrücklich wird hervorgehoben die Glut ihres frommen Eifers, mit welcher
sie selbst bei geschlossenem Heiligtum nicht von dessen Schwelle wichen,
sondern wachend die heiligen Vigilien einhielten, auch die Nacht im Gebete
verbringend und von dem Dienste Gottes nicht lassend, während die Männer
schliefen. Durch die Erwähnung, daß das Heiligtum ihnen verschlossen war,
wird treffend hingedeutet auf das Leben der Büßenden, welche sich von den
übrigen Menschen absondern, um sich in reuevoller Buße desto härter
anzugreifen. Dieses Leben ist ein besonders deutliches Abbild der
mönchischen Lebensweise, in welcher man im großen Ganzen eine mildere Form
der Buße sehen kann. Das Heiligtum aber, an dessen Thüre die Frauen
wachten, ist das mystische Abbild dessen, wovon der Apostel im Brief an die
Hebräer spricht: »Wir haben einen Altar, davon nicht Macht haben zu essen,
die der Hütte pflegen«, d. h. an welchem teilzunehmen diejenigen nicht
würdig sind, die ihrem Körper, in welchem sie hienieden, als gleichsam in
einem Lager, dienen, zur Lüsternheit verhelfen. Die Thür des Heiligtums
aber bedeutet das Ende dieses Lebens, wann die Seele vom Körper ausgeht und
die Schwelle des ewigen Lebens betritt. Die an dieser Thüre wachen, sind
die, welche über den Ausgang aus diesem Leben und über den Eintritt ins
zukünftige sich Sorge machen und durch Buße diesen Ausgang also gestalten,
daß sie dereinst jenes Eingangs gewürdigt werden. Auf diesen täglichen
Eingang und Ausgang der heiligen Gemeinde bezieht sich das Gebet des
Psalmisten: »Der Herr behüte deinen Eingang und Ausgang«. Denn unsern
Eingang und Ausgang behütet er dann, wenn er uns, die wir von hier
ausziehen und vorher durch die Buße uns gereinigt haben, alsbald dort
einläßt. Mit Recht aber nennt David den Eingang vor dem Ausgang, nicht
sowohl mit Rücksicht auf die Reihenfolge, als vielmehr auf das geringere
oder höhere Ansehen der beiden Begriffe. Denn dieser Ausgang des
sterblichen Lebens vollzieht sich nur unter Schmerzen, während jener
Eintritt ins ewige Leben mit der höchsten Wonne verbunden ist. Die Spiegel
der Frauen sind die äußeren Werke, nach denen man die Häßlichkeit oder
Schönheit der Seele beurteilen kann, wie man in einem wirklichen Spiegel
die Beschaffenheit des menschlichen Angesichtes erkennt. Aus diesen ihren
Spiegeln wird ein Gefäß verfertigt, in dem sich Aaron und seine Söhne
waschen sollen; dies soll heißen: die guten Werke der frommen Frauen und
die Treue des schwachen Geschlechts gegen Gott verurteilen aufs schärfste
die Lässigkeit der Priester und Ältesten und veranlassen sie zu Thränen der
Reue, und so erwirken die Frauen durch ihre Werke jenen die Gnade, durch
welche sie von ihren Sünden reingewaschen werden. Aus solchen Spiegeln hat
gewiß der heilige Gregorius sich ein Gefäß der Buße bereitet, als er die
Mannhaftigkeit frommer Frauen und das siegreiche Martyrium des schwachen
Geschlechts bewundernd mit einem Seufzer fragte: »Was werden die rauhen
Männer sagen, wenn sie zarte Jungfrauen solche Leiden um Christi willen
ertragen und das gebrechliche Geschlecht aus dem schwersten Kampfe
siegreich hervorgehen sehen, so daß man ihm oft die doppelte Krone der
Jungfräulichkeit und des Martyriums zuerkennen muß?«

Ich zweifle nicht daran, daß zu den oben erwähnten Frauen, die an der Thüre
der Stiftshütte wachen und die als eine Art Nasiräerinnen ihre Witwenschaft
dem Herrn geweiht haben, auch jene fromme Hanna gehört, die zugleich mit
dem heiligen Simeon gewürdigt wurde, den vornehmsten Nasiräer, unsern Herrn
Jesum Christum, im Tempel zu begrüßen und die, was keinem Propheten
vergönnt war, zur selben Stunde wie Simeon den Heiland durch Mitteilung des
Geistes erkennen, sein Erscheinen anzeigen und öffentlich verkündigen
durfte. Ihr zum Lobe erzählt der Evangelist: »Und es war eine Prophetin
Hanna, eine Tochter Phanuel, vom Geschlecht Aser. Die war wohlbetagt und
hatte gelebt sieben Jahr mit ihrem Mann nach ihrer Jungfrauschaft. Und war
nun eine Witwe bei vierundachtzig Jahren; die kam nimmer vom Tempel, diente
Gott mit Fasten und Beten Tag und Nacht. Dieselbige trat auch hinzu zu
derselbigen Stunde und preisete den Herrn und redete von ihm zu allen, die
da auf die Erlösung zu Jerusalem warteten«.

Merke jedes einzelne Wort und sieh, wie der Evangelist sich Mühe giebt mit
dem Lob dieser Witwe, und in welch hohen Ausdrücken er ihre
Vortrefflichkeit erhebt. Alles ist hier sorgfältig aufgezählt: die Gabe der
Prophetin, die ihr verliehen war, ihr Vater, ihr Geschlecht, die lange Zeit
ihres gottgeweihten Witwenstandes, welche auf die sieben Jahre folgte, die
sie mit ihrem Manne gelebt hatte, ihre Anhänglichkeit an den Tempel, ihr
anhaltendes Fasten und Beten, das Lob, das sie dem Herrn spendete, der
Dank, den sie ihm darbrachte und ihr öffentliches Reden von dem verheißenen
und nunmehr geborenen Heiland.

Auch den Simeon lobt der Evangelist, aber nicht wegen der Gabe der
Prophetin, sondern wegen seiner Gerechtigkeit; auch erwähnt er nicht von
ihm, daß er in der Tugend der Enthaltsamkeit so stark und im Dienste des
Herrn so eifrig gewesen sei, weiß auch nichts davon, daß er andern
gegenüber vom Messias geredet habe.

Diesem Stand und Lebensberuf gehören auch jene rechten Witwen an, über
welche der Apostel dem Timotheus folgendes schreibt: »Ehre die Witwen,
welche rechte Witwen sind.« Ferner: »Das ist aber eine rechte Witwe, die
einsam ist, die ihre Hoffnung auf Gott stellet und bleibet am Gebet und
Flehen Tag und Nacht. Solches gebeut, auf daß sie untadelig seien.« Und
weiter: »So aber ein Gläubiger Witwen hat, der versorge dieselbigen und
lasse die Gemeine nicht beschweret werden, auf daß die so rechte Witwen
sind, mögen genug haben«. Rechte Witwen nennt der Apostel diejenigen,
welche ihren Witwenstand nicht durch eine zweite Heirat entweiht haben,
oder solche, die aus Frömmigkeit, nicht aus Zwang, in diesem Stande
verharrend, sich dem Herrn geweiht haben. Einsam nennt er sie, weil sie
allem entsagen und von irdischem Trost nichts mehr erwarten oder weil sie
niemand haben, der für sie Sorge trägt. Solche Witwen sollen, nach der
Vorschrift des Apostels, geehrt und aus den Mitteln der Kirche unterhalten
werden, als aus dem Eigentum ihres himmlischen Bräutigams.

Er bestimmt auch genau, welche von den Witwen zum Diakonissenamte zu wählen
seien: »Laß keine Witwe erwählet werden unter sechzig Jahren, und die da
gewesen sei Eines Mannes Weib und die ein Zeugnis habe guter Werke, so sie
Kinder aufgezogen hat, so sie gastfrei gewesen ist, so sie der Heiligen
Füße gewaschen hat, so sie den Trübseligen Handreichung gethan hat, so sie
allem guten Werk nachgekommen ist. Der jungen Witwen aber entschlage dich«.

Diesen letzteren Punkt führt der heilige Hieronymus noch weiterhin also
aus: »Vermeide es, sie mit dem Diakonissenamte zu betrauen, damit nicht ein
böses statt ein gutes Beispiel gegeben werde, wenn Jüngere zu diesem Amt
gewählt werden, die der Versuchung leichter zugänglich und von Natur noch
schwächer sind: sie möchten sonst, da sie noch nicht ein langes, an
Erfahrungen reiches Leben hinter sich haben, denen ein übles Beispiel
geben, welchen sie ein Vorbild im Guten sein sollten«. Von dem üblen
Beispiel, das durch junge Witwen gegeben werden könne, redet der Apostel so
offen, weil er in dieser Beziehung seine Erfahrungen gemacht hatte, und
diesem Übelstand will er durch seinen Rat vorbeugen. Nachdem er gesagt hat:
»Der jungen Witwen entschlage dich«, fügt er alsbald den Grund und das
Mittel zur Abhilfe hinzu, indem er weiter sagt: »Denn wenn sie geil worden
sind wider Christum (d. h. trotz Christus), so wollen sie freien und haben
ihr Urteil, daß sie die erste Treue gebrochen haben; daneben sind sie faul
und lernen umlaufen durch die Häuser; nicht allein aber sind sie faul,
sondern auch schwätzig und vorwitzig und reden, das nicht sein soll. So
will ich nun, daß die jungen Witwen freien, Kinder zeugen, Haus halten, dem
Widersacher keine Ursache geben zu schelten. Denn es sind schon etliche
umgewandt dem Satan nach«.

Diese Vorsicht des Apostels in Beziehung auf die Wahl der Diakonissen teilt
der heilige Gregorius in seinem Brief an Maximus, den Bischof von Syrakus,
in welchem er sagt: »Junge Äbtissinnen wollen wir durchaus nicht; deine
brüderliche Liebe möge daher den Bischöfen gebieten, nur Jungfrauen, die
das sechzigste Lebensjahr erreicht haben und deren Leben und Sitten erprobt
sind, den Schleier zu geben«. Was wir jetzt Äbtissin nennen, nannte man
früher Diakonisse, da man sie mehr als Dienerinnen ansah denn als Mutter.
Diakon heißt Diener und man hielt dafür, daß die Diakonissen nach ihrem
dienenden Amt, nicht nach ihrer bevorzugten Stellung zu benennen seien, wie
uns dies der Herr durch sein Beispiel und Wort gelehrt hat, der da spricht:
»Wer unter euch der Größeste ist, der soll aller Diener sein«. Und
wiederum: »Welcher ist der Größeste, der zu Tische sitzt oder der da
dienet? Ich aber bin unter euch wie ein Diener«. Und an einer andern
Stelle: »Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er ihm dienen lasse,
sondern daß er diene.« Darum hat auch Hieronymus sich nicht gescheut, kraft
göttlicher Autorität den Titel »Abt«, den damals schon viele mit Stolz
führten, zu verwerfen. In seiner Auslegung der Stelle des Galaterbriefs:
»Der schreiet: Abba, lieber Vater«, sagt er: »Abba bedeutet im Hebräischen
'Vater'. Da nun Abba im Hebräischen und Syrischen 'Vater' heißt und der
Herr im Evangelium gebietet, man solle niemand Vater nennen, als Gott, so
weiß ich nicht, mit welchem Recht wir in den Klöstern entweder andere bei
diesem Namen nennen oder uns selber so nennen lassen. Gewiß ist derjenige,
welcher dieses Gebot ausgesprochen hat, doch derselbe, der auch gesagt hat:
du sollst nicht schwören. Wenn wir nicht schwören, so dürfen wir auch
niemand Vater nennen. Wenn wir aber das Wort 'Vater' anders auslegen, so
müssen wir notwendig auch über das Gebot vom Schwören anders denken«.

Eine solche Diakonisse war jene Phöbe, welche der Apostel Paulus der
römischen Gemeinde so angelegentlich empfahl und für die er folgendes gute
Wort einlegte: »Ich befehle euch aber unsere Schwester Phöbe, welche ist am
Dienst der Gemeine zu Kenchreä, daß ihr sie aufnehmet in dem Herrn, wie
sich's ziemet den Heiligen, und thut ihr Beistand in allem Geschäft,
darinnen sie eurer bedarf. Denn sie hat auch vielen Beistand gethan, auch
mir selbst«. Cassiodorius und Claudius, die diese Stelle erklären, sagen
ebenfalls aus, daß sie in jener Gemeinde Diakonisse gewesen sei. Bei
Cassiodorius heißt es: »Der Apostel deutet an, daß sie Diakonisse der
Muttergemeinde gewesen sei. Dieses Amt wird in der griechischen Kirche noch
heutzutage von Frauen gleichsam als ein Kriegsdienst des Herrn ausgeübt;
auch das Recht zu taufen wird ihnen in dieser Kirche zuerkannt«. Claudius
sagt darüber: »Diese Stelle beweist, daß nach apostolischer Verordnung auch
Frauen im Dienste der Kirche verwendet wurden. Ein solches Amt bekleidete
in der Gemeinde von Kenchreä Phöbe, welche der Apostel so sehr lobt und
warm empfiehlt«.

In seinem Brief an Timotheus rechnet er solche Frauen unter die Diakonen
selbst und giebt ihnen ganz ähnliche sittliche Verhaltungsmaßregeln. Er
sagt dort an einer Stelle, bei der Besprechung der verschiedenen
Abstufungen kirchlicher Ämter, indem er vom Bischof auf die Diakonen zu
sprechen kommt: »Desselbigen gleichen die Diener sollen ehrbar sein, nicht
zweizüngig, nicht Weinsäufer, nicht unehrliche Handtierung treiben, die das
Geheimnis des Glaubens in reinem Gewissen haben«. Ferner: »Und dieselbigen
lasse man zuvor versuchen, danach lasse man sie dienen, wenn sie
unsträflich sind. Desselbigen gleichen ihre Weiber sollen ehrbar sein,
nicht Lästerinnen, nüchtern, treu in allen Dingen. Die Diener laß einen
jeglichen sein Eines Weibes Mann, die ihren Kindern wohl vorstehen und
ihren eigenen Häusern. Welche aber wohl dienen, die erwerben ihnen selbst
eine gute Stufe und eine große Freudigkeit im Glauben in Christo Jesu«.

Also, was er dort von den Diakonen sagt: »Sie seien nicht zweizüngig!« das
gilt hier von den Diakonissen: »nicht Lästerinnen«; wie er dort sagt:
»nicht Weinsäufer«, so hier: »nüchtern«, und was dort sonst noch näher
ausgeführt wird, das faßt er hier zusammen in den Worten: »Treu in allen
Dingen«. Wie er den Bischöfen und Diakonen verbietet, mehr als eine Frau zu
haben, so gebietet er den Diakonissen, wie wir gesehen haben, Eines Mannes
Weib zu sein. »Laß keine Witwe erwählet werden, sagt er, unter sechzig
Jahren, und die da gewesen sei Eines Mannes Weib, und die ein Zeugnis habe
guter Werke, so sie Kinder aufgezogen hat, so sie gastfrei gewesen ist, so
sie der Heiligen Füße gewaschen hat, so sie den Trübseligen Handreichung
gethan hat, so sie allem guten Werk nachgekommen ist. Der jungen Witwen
aber entschlage dich.«

Wie sorgfältig der Apostel in der Schilderung und Instruktion der
Diakonissen gewesen ist, kann man am besten beurteilen, wenn man die
vorangehenden Vorschriften für Bischöfe und Diakonen damit vergleicht. Von
dem »ein Zeugnis haben guter Werke« oder von »gastfrei sein« wird bei den
Diakonen nichts erwähnt. Oder wenn er bei den Diakonissen beifügt: »so sie
der Heiligen Füße gewaschen hat, so sie den Trübseligen« u. s. w., so
findet man bei den Bischöfen und Diakonen von diesen Forderungen nichts.
Zwar verlangt er von Bischöfen und Diakonen, daß sie »unsträflich« seien.
Von den Diakonissen aber verlangt er nicht bloß, daß sie untadelig seien,
sondern auch, daß sie »allem guten Werk nachgekommen seien«. Sehr
vorsichtig ist er auch in der Bestimmung ihrer Altersgrenze, damit ihr
Ansehen in allen Stücken um so größer sei: »nicht unter sechzig Jahren«;
nicht bloß vor ihrer Lebensführung, sondern auch vor ihrem hohen, an
Erfahrungen reichen Alter sollte man Respekt haben. So hat auch der Herr
wohl den Johannes am meisten geliebt und doch den Petrus, weil er älter
war, über ihn und die anderen Jünger gesetzt. Denn jedermann erträgt
leichter einen Älteren als Vorgesetzten, denn einen Jüngeren, und lieber
gehorchen wir einem älteren Mann, welchen nicht bloß zufällige
Lebensumstände, sondern die Natur und die Zeitverhältnisse über uns
gestellt haben.

So sagt auch Hieronymus im ersten Buch seiner Schrift »Gegen Jovinianus«,
indem er von der Bevorzugung des Petrus spricht: »Einer wird erwählt, damit
ein Oberhaupt da sei und so der Anlaß zu einer Spaltung beseitigt werde.
Aber warum ist nicht Johannes dazu erwählt worden? Jesus hat dem Alter den
Vorzug gegeben. Petrus war der Ältere, und es sollte nicht der Jüngling,
der fast noch ein Knabe war, Männern von vorgerückterem Alter vorgezogen
werden. Der gute Meister, der seinen Jüngern jeden Anlaß zum Streit
benehmen mußte, wäre ja sonst gewissermaßen selbst schuld gewesen, wenn man
seinen Lieblingsjünger mit Mißgunst angesehen hätte.«

Von dieser Erwägung ließ sich auch jener Abt leiten, der, wie in dem »Leben
der Altväter« erzählt wird, dem jüngeren von zwei Brüdern, obwohl er früher
in den Orden eingetreten war, die höhere Stelle verweigerte und sie dem
älteren gab, aus dem einzigen Grunde, weil dieser vorgerückteren Alters war
als jener. Er fürchtete, daß selbst der leibliche Bruder durch die
Bevorzugung des Jüngeren sich verletzt fühlen möchte. Er erinnerte sich,
daß auch die Apostel über die beiden Brüder aus ihrer Mitte unwillig
wurden, die durch die Vermittlung ihrer Mutter von Christus eine
Bevorzugung erlangen wollten, wobei obendrein noch der eine von den beiden,
nämlich der obengenannte Johannes, jünger war, als die übrigen Apostel.

Aber nicht bloß bei der Einsetzung der Diakonissen verfuhr der Apostel mit
der größten Sorgfalt, sondern er war überhaupt bestrebt, den Witwen, die
ein gottgeweihtes Leben führen wollten, jeden Anlaß zu einer Versuchung aus
dem Weg zu räumen. Denn seinen Worten: »Ehre die Witwen, welche rechte
Witwen sind« -- fügt er sogleich bei: »So aber eine Witwe Kinder oder
Neffen hat, solche laß zuvor lernen ihre eigenen Häuser göttlich regieren
und den Eltern gleiches vergelten«. Und einige Zeilen weiter unten heißt
es: »So aber jemand die Seinen, sonderlich seine Hausgenossen, nicht
versorget, der hat den Glauben verleugnet und ist ärger denn ein Heide«.

Mit dieser Verordnung trägt der Apostel zugleich den Pflichten der
Menschlichkeit und denen der Religion Rechnung. Er will verhüten, daß unter
dem Vorwand der Frömmigkeit hilflose Kinder verlassen werden, und daß die
Stimme des Blutes in einer Witwe das Mitleid für die Hilfsbedürftigen
wecke, sie dadurch in ihrem frommen Vorsatz irre mache und rückwärts zu
sehen nötige, ja, daß sie unter Umständen gar zum Verbrechen am Heiligtum
verleitet werde und, um den Ihrigen etwas zuzuwenden, die Gemeinde betrüge.
Daher erscheint durchaus notwendig sein Rat, daß solche, die noch mit
häuslichen Sorgen zu thun haben, ehe sie mit ihrem Witwenstand wirklich
Ernst machen und sich ganz in den Dienst Gottes stellen, vorher »ihren
Eltern gleiches vergelten sollen«, d. h. daß sie ihren Kindern vorher die
gleiche Fürsorge zu teil werden lassen, mit der sie einst selbst von ihren
Eltern aufgezogen worden sind.

Um den Stand der Witwen zu vervollkommnen, verlangt er von ihnen, daß sie
anhalten mit Gebet und Flehen Tag und Nacht. In der aufrichtigen Sorge um
ihre Bedürfnisse sagt der Apostel: »So aber ein Gläubiger Witwen hat, der
versorge dieselbigen und lasse die Gemeine nicht beschweret werden, auf daß
die, so rechte Witwen sind, mögen genug haben«. Dies soll so viel heißen
als: wenn irgendwo eine Witwe ist, welche solche Angehörige hat, die sie
von ihrer Habe unterstützen können, so sollen diese für sie sorgen, damit
für den Unterhalt der übrigen die Gemeindekasse ausreiche. Daraus geht
deutlich hervor, daß diejenigen, welche sich weigern, ihre Witwen zu
unterstützen, auf Grund apostolischer Autorität zu ihrer Verpflichtung
angehalten werden sollen.

Aber nicht allein auf ihre äußeren Bedürfnisse, sondern auch auf ihre Ehre
ist der Apostel bedacht, wenn er sagt: »Ehre die Witwen, welche rechte
Witwen sind«. Solche waren gewiß jene Frauen, deren eine der Apostel selbst
seine Mutter, deren andere der Evangelist Johannes seine Herrin nennt, aus
Ehrfurcht vor ihrem heiligen Berufe. »Grüßet Rufum, schreibt Paulus an die
Römer, den Auserwählten in dem Herrn, und seine und meine Mutter« -- und
Johannes beginnt seinen zweiten Brief: »Der Älteste der auserwählten Herrin
und ihren Kindern«. Er fügt auch weiter unten die Aufforderung bei, sie
möge ihn lieben: »Und nun bitte ich dich, Herrin, daß wir uns untereinander
lieben«.

Im Vertrauen auf dieses Vorbild hat auch Hieronymus in seinem Brief an die
Jungfrau Eustochium, die sich demselben Lebensberuf gewidmet hatte, wie
ihr, sich nicht geschämt, sie seine Herrin zu nennen; ja, er fügt noch
sogleich hinzu, warum dies sogar seine Pflicht sei: »darum nenne ich
Eustochium meine Herrin, weil ich die Verlobte meines Herrn also nennen
muß«. Auch sagt er weiter unten in demselben Brief, indem er das Vorrecht
dieses heiligen Berufes über alle Herrlichkeit irdischen Glückes stellt:
»Ich will nicht haben, daß du viel mit Damen verkehrst und in den Häusern
vornehmer Frauen aus und ein gehst; ich will nicht, daß du dasjenige häufig
siehst, was du gering geachtet, um im jungfräulichen Stande zu bleiben. Mag
die Schar ehrgeiziger Schmeichlerinnen sich um des Kaisers Gemahl drängen
-- solltest du darum deinem Manne sein Recht verkürzen? Du, Gottes Braut,
wolltest dienstfertig zu eines Menschen Gattin eilen? Lerne in diesem Stück
heiligen Stolz; wisse, daß du mehr bist denn jene«.

Derselbe Hieronymus schreibt an eine Jungfrau, die sich Gott geweiht hatte,
über die himmlische Seligkeit und über das hohe Ansehen, das gottgeweihten
Jungfrauen schon auf Erden zu teil werde, unter anderem folgendes: »Welche
Seligkeit dem heiligen Stande der Jungfrauen im Himmel zu teil wird, das
sehen wir nicht bloß aus den Zeugnissen der Heiligen Schrift, sondern auch
aus dem Brauch der Kirche, welcher uns zeigt, daß die Jungfrauen, welche
die geistliche Weihe empfangen, ein ganz besonderes Verdienst dadurch
erwerben. Denn während von der großen Menge der Gläubigen alle die gleichen
Gnadengaben empfangen und alle der gleichen Segnungen der Sakramente sich
erfreuen, so haben jene etwas vor den übrigen voraus, denn aus der heiligen
und unbefleckten Herde der Kirche werden sie zum Lohn für ihren heiligen
Entschluß vom heiligen Geist auserlesen als besonders heilige und reine
Opfer und werden als solche durch den höchsten Priester Gott vor seinem
Altar dargebracht«. Und weiter heißt es: »Es besitzt also der jungfräuliche
Stand etwas, das die andern nicht haben, da eine besondere Gnadengabe mit
ihm verbunden ist und er sich auch, sozusagen, bei seiner Weihe eines
besonderen Vorrechtes erfreut. Denn die Weihe der Jungfrauen darf ja -- es
sei denn bei drohender Todesgefahr -- zu keiner andern Zeit vollzogen
werden als an Epiphanias und an den Weißen Ostern, oder an den Feiertagen
der Apostel. Auch dürfen die Jungfrauen selbst wie die Schleier, die ihr
gottgeweihtes Haupt bedecken sollen, nur vom obersten Priester, d. h. vom
Bischof geweiht werden«. Die Mönche dagegen, obwohl sie demselben Stande
und dem bevorzugten Geschlecht angehören können, auch wenn sie rein
geblieben sind wie Jungfrauen, an jedem beliebigen Tag vom Abt die
Einsegnung für sich selbst und für ihr Gewand, d. h. für ihre Kutte,
erhalten. Priester und niedere Kleriker können während der Quatemberfasten,
Bischöfe an jedem Sonntag die Weihe erhalten. Die Weihe der Jungfrauen ist
je köstlicher, je seltener und ist besonders hohen Fest- und Freudentagen
vorbehalten. Ob ihrer wunderbaren Tugend freut sich die ganze Kirche mit,
sowie der Psalmist prophetisch davon redet in den Worten: »Jungfrauen
führet man zum Könige«, und weiter: »Man führet sie mit Freuden und Wonne
und gehen in des Königs Palast«. Man glaubt auch, daß der Apostel und
Evangelist Matthäus selber die Liturgie zu dieser Weihe niedergeschrieben
oder im mündlichen Gebrauch gehabt habe; wenigstens lesen wir dies in
seiner Leidensgeschichte, wo auch erzählt wird, der Apostel sei für die
Weihe und die Heiligkeit des jungfräulichen Standes den Märtyrertod
gestorben. Für Kleriker und Mönche aber haben uns die Apostel keine
Weiheformel hinterlassen.

Der heilige Stand der Frauen wird schon durch den ihnen eigentümlichen
Namen angedeutet; heißen sie doch Sanktimonialen, und dieses Wort kommt her
von sanctimonia oder sanctitas, d. h. so viel als Heiligkeit. Denn je
schwächer das weibliche Geschlecht, desto angenehmer ist es vor Gott, desto
vollkommener ihre Tugend -- nach dem Zeugnis des Herrn selbst, der den
mutlosen Apostel ermahnt, auszuharren im Kampf bis zum Sieg, indem er
spricht: »Laß dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den
Schwachen mächtig«. Er ist es auch, der durch den Mund des Apostels in
demselben zweiten Brief an die Korinther über die Glieder seines Leibes, d.
h. der Kirche, so redet, als wollte er den Wert der schwachen Glieder
besonders hervorheben; es heißt dort: »Sondern vielmehr die Glieder des
Leibes, die uns dünken die schwächsten zu sein, sind die nötigsten, und die
uns dünken die unehrlichsten zu sein, denselbigen legen wir am meisten Ehre
an, und die uns übel anstehen, die schmücket man am meisten. Denn die uns
wohlanstehen, die bedürfens nicht. Aber Gott hat den Leib also vermenget
und dem dürftigen Glied am meisten Ehre gegeben, auf daß nicht eine
Spaltung im Leibe sei, sondern die Glieder füreinander gleich sorgen«.

Wer möchte behaupten, daß die Fülle der göttlichen Gnade und Nachsicht
irgendwo anders so reichlich sich ergossen habe wie über das schwache
Geschlecht der Frauen, welches durch seine Schuld wie durch seine Natur
sich verächtlich gemacht hatte? Sieh die verschiedenen Stände dieses
Geschlechts an und du wirst finden, daß der Reichtum der Gnade Christi sich
erweist nicht bloß an Jungfrauen, Witwen oder Ehefrauen, sondern selbst an
den verworfensten Dirnen, dem Abschaum ihres Geschlechts. Da geht es nach
dem Wort des Herrn und des Apostels: »Die letzten werden die ersten und die
ersten werden die letzten sein« -- »wo aber die Sünde mächtig ist, da ist
die Gnade noch viel mächtiger«. Wenn wir uns die Gnadengaben und
Auszeichnungen vergegenwärtigen, die von Anbeginn der Welt Gott dem
weiblichen Geschlecht hat zukommen lassen, so finden wir, daß schon bei der
Schöpfung die höhere Würde des Weibes sich zu erkennen giebt, sofern sie im
Paradiese selbst, der Mann dagegen außerhalb desselben erschaffen wurde.
Daraus sollten die Frauen lernen, daß das Paradies ihre angestammte Heimat
sei und daß es ihnen wohl anstehe, die Unschuld paradiesischen Lebens zu
pflegen. Ambrosius sagt in seinem Buch »Vom Paradies«: »Und Gott nahm den
Menschen, welchen er gemacht hatte, und setzte ihn ins Paradies«. Also der,
der schon war, wird ergriffen und ins Paradies gesetzt; demnach ist der
Mann außerhalb des Paradieses erschaffen worden, die Frau dagegen im
Paradies. Der Mann, der am geringeren Ort entstand, erweist sich als der
bessere, und die Frau, die am bevorzugten Ort geschaffen wurde, als die
geringere. Auch hat der Herr zuerst das, was Eva, die Urheberin aller
Sünde, gesündigt hatte, durch Maria wieder gutgemacht, dann erst die Sünde
Adams durch Christus. Und wie die Schuld von einer Frau herkam, so hat auch
die Gnade ihren Ursprung aus der Frau genommen, und das Ansehen der
Jungfräulichkeit ist aufs neue erblüht. Zuerst ist die Form einer
gottgeweihten Lebensweise durch Anna und Maria den Witwen und den
Jungfrauen vorgebildet worden, dann erst haben Johannes und die Apostel den
Männern das Beispiel mönchischen Lebens gegeben.

Sehen wir, nach Eva, auf die Tugend einer Debora, Judith, Esther, so werden
wir finden, daß das starke Geschlecht allen Grund hat, darüber zu erröten.
Debora, die Richterin des auserwählten Volkes, hat Schlachten geschlagen,
als es an Männern gebrach, und nach dem Sieg über den Feind und der
Befreiung ihres Volkes Triumphe gefeiert. Die wehrlose Judith hat mit ihrer
Dienerin Abra ein schreckliches Heer angegriffen und den Holofernes mit
seinem eigenen Schwert enthauptet; sie allein hat die ganze Feindesschar
geschlagen und ihr verzweifelndes Volk errettet. Esther, obwohl im
Widerspruch zum Gesetz mit einem heidnischen Fürsten vermählt, hat mittels
der geheimnisvollen Einwirkung des heiligen Geistes den Rat des gottlosen
Haman und das grausame Gebot des Königs zunichte gemacht und hat in einem
Augenblick das Gegenteil von dem bewirkt, was bei dem König beschlossene
Sache gewesen war.

Man macht so viel Aufhebens davon, daß David mit Schleuder und Stein den
Goliath angegriffen und besiegt hat. Judith, die Witwe, zog gegen das
feindliche Heer, ohne Schleuder und ohne Wurfgeschoß, ohne irgend ein
Waffenstück. Esther befreite ihr Volk durch ihr bloßes Wort und wandte das
Verdammungsurteil auf ihre Feinde zurück, so daß sie selbst in die Grube
fielen, welche sie gegraben hatten. Mit Recht ist bei den Juden zum
Andenken an diese Heldenthat ein jährlich wiederkehrendes Freudenfest
eingesetzt worden, eine Verherrlichung, welche selbst den glänzendsten
Mannesthaten nicht zu teil geworden ist. Wer denkt nicht mit Bewunderung an
den Mut der Mutter jener sieben Söhne, die nach dem Berichte des Buchs der
Makkabäer zusammen mit ihrer Mutter gefangen genommen wurden, und welche
der grausame König Antiochus vergeblich zwingen wollte, Schweinefleisch zu
essen, was im Gesetz verboten ist. Diese Mutter, ihre eigene Natur
verleugnend und alles menschliche Gefühl vergessend, hatte nichts als nur
Gott vor Augen; so viel Söhne sie unter frommen Ermahnungen den Todesweg
vorangehen ließ, so viel Märtyrerkronen hat sie selber sich errungen, und
zuletzt wurde sie vollendet durch ihren eigenen Märtyrertod.

Wenn wir das ganze Alte Testament durchblättern -- wo findet sich etwas,
das dem beharrlichen Mute dieses Weibes gleichkäme? Jener unerbittliche
Versucher, der dem frommen Hiob bis aufs äußerste zusetzte, sagt im
Hinblick auf die menschliche Schwachheit dem Tode gegenüber: »Haut für Haut
und alles wird der Mensch für sein Leben geben«. Denn uns alle erfüllt der
Gedanke an die Schrecken des Todes unwillkürlich mit solcher Angst, daß
wir, um das eine Glied zu schützen, oft das andere preisgeben und keine
Mühsal scheuen, wenn wir nur unser Leben retten können. Diese Frau aber hat
nicht bloß ihre Habe geopfert, sondern ihr und ihrer Kinder Leben mutig
drangegeben, nur um sich auch nicht gegen Eine Satzung zu verfehlen. Was
war es eigentlich, wozu man sie zwingen wollte? Sollte sie Gott verleugnen
oder den Götzen Weihrauch streuen? O nein, nichts anderes verlangte man von
ihnen als daß sie das Fleisch essen sollten, das ihnen im Gesetz verboten
war. O meine Brüder, durch Ein Gelübde mit mir verbunden, die ihr ohne
Scheu tagtäglich nach Fleisch seufzet, im Widerspruch gegen die Regel und
gegen unser Ordensgelübde: was saget ihr zur Standhaftigkeit dieses Weibes?
Oder hättet ihr euch so ganz jeden Schamgefühls entäußert, daß ihr dies
anhören könntet ohne zu erröten? Denket daran, meine Brüder, wie der Herr
die Ungläubigen drohend auf die Königin von Mittag hinweist: »Die Königin
von Mittag wird auftreten am jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und
wird es verdammen«. Bedenket, daß ihr euch die Standhaftigkeit dieser Frau
um so mehr zur Aufmunterung dienen lassen müsset, als ihre Leistung viel
größer war als die eurigen, und ihr durch euer Ordensgelübde viel enger an
euren heiligen Beruf gebunden seid.

Die Kirche hat der Tugend dieser Frau, die in so schwerem Kampfe sich
bewährt hat, ein besonderes Vorrecht eingeräumt, nämlich daß ihr Martyrium
durch feierliche Schriftlektion und eigene Messe gefeiert wird, eine
Auszeichnung, die keinem der Frommen des alten Bundes zu teil geworden,
welche vor der Ankunft des Herrn gestorben sind: wiewohl eben in der
Geschichte der Makkabäer berichtet wird, daß der ehrwürdige Greis Eleazar,
einer der vornehmsten Schriftgelehrten, um derselben Ursache willen schon
vorher die Krone des Martyriums erlangt habe. Allein weil die Tugend des
schwächeren weiblichen Geschlechts, wie ich schon sagte, vor Gott um so
angenehmer ist und größerer Auszeichnung würdig erscheint, so wurde dieses
Martyrium, bei welchem keine Frau beteiligt war, einer besonderen Feier
nicht gewürdigt, da man es für nichts besonderes achtete, wenn das stärkere
Geschlecht sich auch im Leiden stärker zeigte. Darum verkündet auch die
Schrift das Lob jener Frau mit hohen Worten, indem sie sagt: »Es war aber
ein großes Wunder an der Mutter, und ist ein Beispiel, das wohl wert ist,
daß man's von ihr schreibe. Denn sie sah ihre Söhne alle sieben auf Einen
Tag nacheinander martern, und litt es mit großer Geduld um der Hoffnung
willen, die sie zu Gott hatte. Dadurch ward sie so mutig, daß sie einen
Sohn um den andern auf ihre Sprache tröstete und faßte ein männlich Herz«.

Wer könnte, wo es den Preis der Jungfrauen gilt, die Tochter Jephthas
vergessen? Um den Vater nicht wortbrüchig werden zu lassen an seinem
unüberlegten Gelübde, und damit die Gottheit, die sich so gnädig gezeigt
hatte, nicht um das versprochene Opfer käme, redet sie selber dem
siegreichen Vater zu, das Messer gegen sie zu zücken. Was glaubet ihr, daß
sie als Christin für ihren Glauben gethan hätte, wenn sie von den
Ungläubigen zur Gottesverleugnung und zum Abfall genötigt worden wäre?
Hätte sie wohl, über Christus befragt, mit dem Haupt der Apostel
gesprochen: »Ich kenne den Menschen nicht«? Zwei Monate wurden ihr noch von
ihrem Vater freigegeben, und wie die Frist um ist, stellt sie sich bei ihm
ein, um zu sterben. Freiwillig geht sie in den Tod; statt ihn zu fürchten,
verlangt sie danach. Sie büßt mit ihrem Leben das thörichte Gelübde des
Vaters und löst sein Versprechen ein, aus lauterster Liebe zur Wahrheit.
Sie, die den Vater nicht wortbrüchig sehen kann, wie ferne muß sie selbst
davon gewesen sein! Welch eine Liebesglut in diesem Mädchen für den
irdischen wie für den himmlischen Vater! durch ihren Tod will sie jenem die
Lüge ersparen und diesem halten, was ihm gelobt war. Wohl hat dieses
hochherzige Mädchen die hohe Auszeichnung verdient, daß alljährlich die
Töchter Israels sich versammeln und mit feierlichen Liedern das Gedächtnis
an den Tod der Jungfrau feiern und in frommen Klagen der Trauer um ihr
leidvolles Schicksal Ausdruck geben.

Um aber von allem andern zu schweigen: Was war für unsere Erlösung und für
das Heil der ganzen Welt so notwendig als das weibliche Geschlecht, das uns
den Erlöser selber gebracht hat? Diesen einzigartigen Ruhmestitel hat jenes
Weib, das zuerst mit ihrem Anliegen den heiligen Hilarion zu bestürmen
wagte, diesem zu seiner hohen Überraschung entgegengehalten, indem sie ihm
zurief: »Was wendest du dich ab? Was weichst du zurück vor meinem Flehen?
Sieh in mir nicht das Weib, sieh die Unglückliche in mir. Mein Geschlecht
hat den Heiland geboren«.

Was ist dem Ruhme zu vergleichen, den dies Geschlecht in der Mutter des
Herrn sich erworben hat? Unser Erlöser hätte ja wohl, wenn er gewollt
hätte, von einem Manne seine Körperlichkeit annehmen können, so gut als es
ihm beliebt hat, die erste Frau aus dem Körper des Mannes zu bilden. Allein
er hat durch die sonderliche Gnade seiner Erniedrigung das schwächere
Geschlecht geehrt. Auch hätte er sich durch einen andern edleren Teil des
weiblichen Körpers gebären lassen können als derjenige ist, durch welchen
die übrigen Menschen zugleich empfangen und zur Welt gebracht werden.
Allein um dem schwächeren Körper eine unvergleichliche Ehre zu erweisen,
hat er durch seine Geburt dem weiblichen Zeugungsorgan eine weit höhere
Weihe gegeben als dies dem männlichen durch die Beschneidung geschehen war.

Aber ich will nicht weiter reden von der einzigartigen Auszeichnung, die in
Sonderheit den Jungfrauen zukommt, sondern auch zu den andern Frauen mich
wenden, wie ich mir vorgenommen habe. So merke denn darauf, welche große
Gnade alsbald mit der Ankunft Christi für Elisabeth, die Ehefrau, und für
Hanna, die Witwe, verbunden war. Dem Manne der Elisabeth, Zacharias, dem
Hohenpriester des Herrn, war zur Strafe für seine Ungläubigkeit die Zunge
noch gelähmt, als Elisabeth, voll heiligen Geistes, bei der Ankunft und
Begrüßung der Maria das Kind in ihrem Leibe hüpfen fühlte und, indem sie
zuerst die erfolgte Empfängnis der Maria prophetischen Geistes verkündete,
mehr als Prophetin war. Ja, die bereits geschehene Empfängnis der Jungfrau
zeigte sie an und veranlaßte dadurch die Mutter des Herrn selbst, den Herrn
dafür zu lobpreisen. Die Gabe der Prophetin erscheint bei Elisabeth noch
vollkommener als bei Johannes, da sie imstande war, alsbald den erst
empfangenen Gottessohn zu erkennen, während er nur auf den längst Geborenen
hinzuweisen brauchte. Wie wir also die Maria Magdalena gewissermaßen einen
weiblichen Apostel nennen können, so tragen wir auch kein Bedenken, die
Elisabeth oder jene fromme Witwe Hanna, von der wir oben ausführlich
gesprochen haben, als Prophetin den Propheten an die Seite zu stellen.

Wollen wir unsere Beobachtungen über die Gabe der Prophetie bis zu den
Heiden ausdehnen, dann mag vor allen die Seherin Sibylle hervortreten und
uns vernehmen lassen, was ihr über Christus geoffenbart worden ist.
Vergleichen wir mit ihr sämtliche Propheten, selbst den Jesaias, von dem
Hieronymus versichert, er sei mehr ein Evangelist als ein Prophet zu
nennen, so werden wir finden, daß auch mit dieser Gnadengabe die Frauen
weit reichlicher bedacht worden sind als die Männer. Augustinus beruft sich
auf sie gegen die Ketzer und sagt von ihr: »Vernehmen wir auch, was die
Sibylle, ihre Prophetin, über ihn sagt: Einen andern hat der Herr den
gläubigen Menschen gegeben, daß sie ihn anbeten. Ferner: Erkenne du selbst,
daß dein Herr Gottes Sohn sei. An einer andern Stelle nennt sie den Sohn
Gottes Symbolum, d. h. Berater. Und der Prophet sagt: Sein Name ist:
Wunderbar -- Rat. Wiederum sagt derselbe Kirchenvater im 18. Kapitel seines
Buches vom 'Gottesstaat' folgendes über sie aus: In jener Zeit soll nach
verschiedenen Berichten die Erythräische Sibylle -- manche behaupten auch,
es sei diejenige von Cumä gewesen -- geweissagt haben.« Man hat von ihr
siebenundzwanzig Verse, deren Inhalt er in lateinischen Versen angiebt, wie
folgt:

   »Erde mit Schweiß bedeckt, verkündet die Nähe des Richters
   Und vom Himmel herab naht, ewig zu herrschen, ein König,
   In leibhaftigem Fleisch erscheint er, zu richten den Erdkreis.«

Fügt man die griechischen Anfangsbuchstaben dieser Verse aneinander, so
kommt heraus: »Jesus Christus. Sohn Gottes, Heiland«.

Auch Lactantius führt einige messianische Weissagungen der Sibylle an: »Er
wird nachmals in die Hände der Ungläubigen fallen. Sie werden mit ihren
sündigen Händen dem Gotte Backenstreiche geben und giftigen Speichel werden
sie ausspeien aus unreinem Munde. Er aber wird demütig seinen heiligen
Rücken darbieten und schweigend wird er sich ins Angesicht schlagen lassen,
damit keiner das Wort erkenne und niemand den Geistern der Hölle sage,
woher er gekommen, und mit einer Dornenkrone wird er gekrönt werden. Für
den Hunger geben sie ihm Galle, und Essig zum trinken; also werden sie ihn
bewirten. O du verblendetes Volk, deinen Gott, den aller Sterblichen Geist
preisen sollte, hast du nicht erkannt; mit Dornen hast du ihn gekrönt,
Galle hast du ihm gemischt. Der Vorhang im Tempel wird zerreißen, mitten am
Tag wird es finster sein drei Stunden lang und er wird sterben, drei Tage
wird ihn der Schlummer befangen, alsdann wird er aus der Unterwelt ans
Licht kommen, als Erstling der Auferstehung«.

Diese sibyllinische Weissagung hat wohl, wenn ich nicht irre, der größte
unserer Dichter, Virgilius, gehört und bei sich bewegt; denn in seiner
vierten Ekloge verkündigt er für die nächste Zeit der Regierung des Kaisers
Augustus und für das Konsulat des Pollio die wunderbare Geburt eines
Knaben, der vom Himmel auf die Erde gesandt werden solle, der auch der Welt
Sünden tragen und ein neues Zeitalter wunderbar über die Welt heraufführen
werde. Der Dichter selbst sagt, die Prophezeiung des Cumäischen Gedichtes,
d. h. der Sibylle, welche die Cumäische genannt wird, habe ihn zu dieser
Äußerung angeregt. Seine Worte klingen so, als wollte er alle Menschen
auffordern, sich mit ihm zu freuen, mit ihm zu singen und zu schreiben von
der Geburt dieses Kindes; alle andern Gegenstände scheinen ihm im Vergleich
mit diesem unwichtig und gemein, und so sagt er:

   »Laßt mich ein höheres Lied anstimmen, Sicilische Musen;
   Denn nicht jeden erfreut Gestrüpp und niedriges Buschwerk. --
   Schon bricht an des Cumäischen Liedes äußerstes Alter,
   Und von neuem beginnt gewaltiger Umschwung der Zeiten.
   Nun kehrt die Jungfrau zurück, Saturn beginnt wieder zu herrschen,
   Und ein neues Geschlecht wird aus himmlischen Höhen entsendet.«

Betrachte die einzelnen Aussprüche der Sibylle: wie vollständig und wie
deutlich umfassen sie die Summe des christlichen Glaubens! Weder seine
Gottheit noch seine Menschheit, weder sein zweifaches Kommen noch das
zweifache Gericht hat sie in Weissagung und Schrift übergangen, nämlich das
erste Gericht, durch das er ungerecht verurteilt wurde in seiner Passion,
und das zweite, in dem er gerecht die Welt richten wird in seiner
Herrlichkeit. Ja, indem sie weder die Niederfahrt zur Hölle noch die
Herrlichkeit der Auferstehung übergeht, scheint sie nicht bloß die
Propheten, sondern die Evangelisten selbst zu übertreffen, die von Christi
Höllenfahrt nichts berichtet haben.

Müssen wir ferner uns nicht alle höchlich wundern über das vertrauliche,
lange Gespräch, in welchem Jesus die Heidin, die Samariterin, mit so viel
Liebe unter vier Augen zu belehren geruht hat, also, daß darob selbst die
Apostel staunten? Von der Ungläubigen, die noch dazu wegen ihrer vielen
Männer anrüchig war, hat er zu trinken verlangt, da uns doch sonst nicht
bekannt ist, daß er von irgend jemand Speise erbeten hätte. Die Apostel
kommen dazu, bieten ihm die eingekauften Speisen an und sprechen: »Rabbi,
iß« -- er aber nimmt das Dargebotene nicht an und gleichsam zu seiner
Entschuldigung sagt er: »Ich habe eine Speise zu essen, da wisset ihr nicht
von«. Von dem Weibe aber verlangt er selber zu trinken. Und sie will sich
dieser Dienstleistung entziehen mit den Worten: »Wie bittest du von mir zu
trinken, so du ein Jude bist und ich ein samaritisches Weib? Denn die Juden
haben keine Gemeinschaft mit den Samaritern«. Und weiter: »Hast du doch
nichts, damit du schöpfest und der Brunnen ist tief«. So verlangt er also
von der Heidin, die's ihm verweigert, zu trinken, der doch die Speisen,
welche die Apostel ihm anbieten, nicht berührt. Ist das nicht eine gnädige
Bevorzugung des schwachen Geschlechts, wenn der, der allen das Leben
gebracht hat, ein Weib um Wasser bittet? Warum, frage ich, that er dies,
wenn nicht mit der Absicht, deutlich zu zeigen, daß ihm die Tugend der
Frauen um so angenehmer sei, je schwächer sie eingestandenermaßen von Natur
sind, und daß er um so mehr nach ihrem Heil verlange und dürste, je
bewundernswerter ihre Tugend sei. Daher, indem er von einer Frau zu trinken
verlangt, giebt er zu verstehen, daß er diesen seinen Durst vorzüglich
durch die Rettung weiblicher Seelen gestillt wissen wolle. Diesen Trank
nennt er auch Speise, indem er sagt: »Ich habe eine Speise zu essen, da
wisset ihr nicht von«. Und was er unter dieser Speise verstehe, setzt er im
folgenden auseinander: »Meine Speise ist, daß ich thue den Willen meines
Vaters« -- und deutet damit an, daß der Wille seines Vaters in Sonderheit
da geschehe, wo es sich um das Seelenheil der Frauen handelt.

Es ist uns berichtet, daß Jesus auch mit Nikodemus, jenem Obersten der
Juden, ein vertrautes Zwiegespräch gehalten habe, in welchem er auch
diesen, der im geheimen zu ihm gekommen war, über das Heil seiner Seele
belehrte; aber es wird zugleich erzählt, daß dieses Gespräch keinen ebenso
guten Erfolg gehabt habe. Die Samariterin, das ist sicher, wurde damals von
prophetischem Geist erfüllt, der ihr eingab, daß Christus bereits zu den
Juden gekommen sei und daß er auch zu den Heiden kommen werde; und so
sprach sie: »Ich weiß, daß Messias kommt, der da Christus heißt. Wenn
derselbe kommen wird, so wird er es uns alles verkündigen«. Und viele Leute
aus jener Stadt, heißt es, seien auf das Wort des Weibes hin zu Christus
hinausgelaufen und haben an ihn geglaubt und ihn zwei Tage bei sich
behalten, der doch selbst an einer andern Stelle zu seinen Jüngern sagt:
»Gehet nicht auf der Heiden Straße und ziehet nicht in der Samariter
Städte«.

Derselbe Johannes erzählt ein andermal, einige Heiden, die nach Jerusalem
gekommen seien, um das Fest mitzufeiern, haben durch Philippus und Andreas
dem Herrn sagen lassen, sie möchten ihn gerne sehen. Er sagt aber nichts
davon, daß sie wirklich zugelassen wurden und daß ihnen, die doch darum
baten, so reiche Gelegenheit gegeben wurde, Christus zu sprechen, wie der
Samariterin, die gar nicht danach verlangte. Mit ihr scheint er seine
Wirksamkeit unter den Heiden angefangen zu haben, und er hat nicht bloß sie
allein bekehrt, sondern hat durch sie -- so wird berichtet -- viele andere
gewonnen. Die Magier, durch den Stern erleuchtet und zu Christus geführt,
haben, so heißt es, viele andere durch ihre Aufmunterung und Belehrung zu
ihm gezogen: aber selbst zu ihm gekommen sind nur sie. Auch daraus geht
hervor, in welch hoher Gunst das heidnische Weib bei Christus stand, das
nach Hause eilend und in der Stadt seine Ankunft und was er ihr gesagt
hatte verkündigend, so schnell eine ganze Menge ihrer Landsleute für ihn
gewonnen hat.

Wenn wir die Schriften des Alten Testaments oder die Evangelien
nachschlagen, so finden wir, daß die göttliche Gnade, jene höchste Wohlthat
der Auferweckung eines Toten, insbesondere Frauen erwiesen wurde, und daß
nur ihnen zulieb oder an ihnen solche Wunder verrichtet worden sind. So
lesen wir zunächst, daß auf die Bitte der Mütter von Elia und Elisäus ihre
Söhne auferweckt und ihnen wiedergegeben wurden. Und der Herr selbst läßt
die Wohlthat dieses unerhörten Wunders mit Vorliebe Frauen zu gute kommen,
wenn er den Sohn einer Witwe, die Tochter des Synagogenvorstehers, und den
Lazarus auf die Bitten seiner Schwestern auferweckt. Darum sagt der Apostel
in seinem Brief an die Hebräer: »Die Weiber haben ihre Toten aus der
Auferstehung wiedergenommen«. Denn das auferweckte Mädchen hat seinen toten
Körper wieder zurückbekommen so gut wie die übrigen Frauen durch die
Auferweckung und Rückgabe ihrer Toten, die sie beweinten, getröstet wurden.
Es geht daraus hervor, wie sehr der Herr stets die Frauen bevorzugte, indem
er sie zunächst durch ihre eigene und durch der Ihrigen Wiederbelebung
erfreute und zuletzt sie bei seiner eigenen Auferstehung dadurch ganz
besonders auszeichnete, daß er ihnen, wie schon erwähnt wurde, zuerst
erschien. Diesen Vorzug hat dieses Geschlecht vielleicht verdient durch das
natürliche Gefühl des Mitleids, das es dem Herrn inmitten eines
feindseligen Volkes zollte. Denn nach dem Berichte des Lukas, während die
Männer ihn zur Kreuzigung führten, folgten die Frauen nach und klagten und
weinten um den Herrn. Und er wendet sich nach ihnen um und wie zum Dank für
ihre Liebe verkündigt er ihnen in der drohenden Leidensgefahr selbst aus
Mitleid, damit sie ihm entrinnen möchten, den bevorstehenden Untergang:
»Ihr Töchter von Jerusalem, ruft er ihnen zu, weinet nicht über mich,
sondern weinet über euch selbst und über eure Kinder. Denn siehe, es wird
die Zeit kommen, in welcher man sagen wird: Selig sind die Unfruchtbaren
und die Leiber, die nicht geboren haben.«

Ferner erzählt Matthäus, daß die Frau des ungerechten Richters treulich an
der Befreiung des Herrn gearbeitet habe; er sagt von ihr: »Und da er auf
dem Richtstuhl saß, schickte sein Weib zu ihm und ließ ihm sagen: Habe du
nichts zu schaffen mit diesem Gerechten; ich habe heute viel erlitten im
Traum von seinetwegen«. Und wiederum war es von der ganzen Schar, die der
Predigt Jesu zuhörte, eine Frau, die ihre Stimme zu dem hohen Lobe erhob,
daß sie ausrief: »Selig der Leib, der dich getragen hat und die Brüste, die
dich gesäuget haben«. Und alsbald mußte sie sich für ihr Bekenntnis, so
richtig es war, eine Zurechtweisung vom Herrn gefallen lassen, der ihre
Worte also verbesserte: »Ja, selig sind, die Gottes Wort hören und
bewahren«!

Unter den Aposteln genoß allein Johannes das Vorrecht der besonderen Liebe
des Meisters, so daß er der Lieblingsjünger des Herrn genannt wurde. Von
Martha aber und Maria schreibt Johannes selber: »Denn Jesus hatte Martha
lieb und ihre Schwester Maria und Lazarus«. Derselbe Apostel, der infolge
besonderer Bevorzugung, die er genoß, sich als den Lieblingsjünger des
Herrn bezeichnet, schreibt den Frauen dasselbe Vorrecht zu, das er doch
keinem der andern Apostel zugesteht. Und wenn er auch den Bruder derselben
an der gleichen Ehre teilnehmen läßt, so nennt er doch die Frauen vor ihm,
als wollte er damit andeuten, daß sie dem Herzen Jesu näher standen.

Endlich will ich auf die Frauen zurückkommen, die der christlichen Kirche
bereits angehörten, und die Barmherzigkeit Gottes, die sich bis zur
Verworfenheit öffentlicher Dirnen herabläßt, staunend verkünden und sie
verkündigend anstaunen. Hatten nicht Maria Magdalena oder Maria Ägyptiaca,
die nachmals durch die göttliche Gnade zu Ehren und Würden erhoben wurden,
ein Vorleben der verworfensten Art geführt? Jene lebte später, wie schon
erwähnt, beständig in der Gemeinschaft der Apostel; von der andern wird
berichtet, sie habe als Einsiedlerin einen übermenschlich harten Bußkampf
durchgekämpft, so daß der Tugend der heiligen Frauen die erste Stelle
gebührt, wenn man die Mönche beiderlei Geschlechts ins Auge faßt, ja daß
das Wort, welches der Herr an die Ungläubigen richtete: »Die Huren werden
eher ins Reich Gottes kommen als ihr« -- seine Anwendung selbst auf
gläubige Männer zu finden scheint, und daß die, welche ihrem Geschlecht und
ihrem Leben nach die letzten waren, die ersten werden und die ersten -- die
letzten. Endlich, wer weiß es nicht, mit welch heiligem Eifer die Frauen
die Mahnung Christi und den Rat des Apostels zur Keuschheit befolgt haben,
so daß sie, um Leib und Seele unverletzt zu erhalten, sich im Märtyrertod
Gott zum Opfer dargebracht haben und im Schmuck der zweifachen Krone dem
Lamm, das den Jungfrauen verlobt ist, zu folgen begehrten, wohin es ging.
Solche Vollkommenheit finden wir selten bei Männern, häufig dagegen bei
Frauen. Ja, einige von ihnen, so wird uns erzählt, hielten mit solchem
Eifer an dieser höheren Würde ihres keuschen Leibes fest, daß sie nicht
zögerten, selbst Hand an sich zu legen, um nicht ihre Jungfräulichkeit, die
sie Gott geweiht hatten, zu verlieren, sondern als Jungfrauen zu ihrem
jungfräulichen Bräutigam zu kommen.

Und er hat zu erkennen gegeben, wie angenehm vor ihm die Frömmigkeit
heiliger Jungfrauen sei. Als bei einem Ausbruch des Ätna die Menge des
heidnischen Volkes hilfesuchend zur heiligen Agathe eilte, wurden sie durch
den Schleier der Heiligen, den diese dem furchtbaren Feuer entgegenhielt,
vom Verderben des Leibes und der Seele gerettet. Wir wissen nichts davon,
daß dem Gewand irgend eines Mönches solche Segenskräfte verliehen worden
wären. Zwar lesen wir, daß durch Elias' Mantel der Jordan geteilt wurde, so
daß er und Elisäus trockenen Fußes hindurchgingen: dort aber wird durch den
Schleier einer Jungfrau die gewaltige Menge eines bisher ungläubigen Volkes
an Leib und Seele gerettet und den dadurch Bekehrten der Weg zum Himmel
eröffnet.

Auch das ist bezeichnend für die hohe Würde heiliger Frauen, daß sie bei
ihrer Weihe die Worte aussprechen: »Durch seinen Ring hat er mich erworben,
seine Braut bin ich«. Es sind dies Worte der heiligen Agnes, durch welche
die Jungfrauen, die ihr Gelübde ablegen, sich mit Christus vermählen.

Will man bis auf die heidnischen Zeiten zurückgehen, um zu erfahren, welche
Gestalt und welches Ansehen euer Stand damals gehabt habe, und zu eurer
Ermunterung einige Beispiele aus jener Zeit anführen, so ist die
Beobachtung leicht zu machen, daß es schon damals einige Einrichtungen gab,
die diesem Beruf ähnlich waren, abgesehen davon, daß der richtige Glaube
noch fehlte, und daß unter Heiden und Juden manches bestand, was die Kirche
von ihnen herübergenommen und in verbesserter Form beibehalten hat. So ist
allgemein bekannt, daß die Kirche die ganze Stufenleiter des geistlichen
Standes vom Thürhüter bis zum Bischof, den Gebrauch der Tonsur, dem sich
die Geistlichen unterwerfen müssen, die Quatemberfasten, das Fest der süßen
Brote, ja sogar die Verzierungen an den priesterlichen Gewändern und manche
heiligen Gebräuche bei Weihungen und anderen Gelegenheiten -- von der
Synagoge übernommen hat. Ebenso bekannt ist, daß die Kirche mit weiser
Mäßigung nicht bloß die Stufenleiter der weltlichen Würden, wie die der
Könige und Fürsten, ferner manche Gesetzesbestimmungen und moralische
Anschauungen und Vorschriften unter den bekehrten Völkern weiter bestehen
ließ: sondern sie hat sogar einige kirchliche Würden, die Art und Weise der
Ausübung der Enthaltsamkeit und Vorschriften in Beziehung auf körperliche
Reinigungen von ihnen angenommen. Es ist sicher, daß jetzt Bischöfe und
Erzbischöfe im Amt sind, wo damals die Flamines und Archiflamines waren,
und daß die Tempel, welche damals den Dämonen gehörten, später dem Herrn
geheiligt und dem Gedächtnis der Heiligen geweiht wurden.

Man weiß auch, daß bei den Heiden der jungfräuliche Stand besonderes
Ansehen genoß, während die Juden durch ihr Gesetz zur Ehe angehalten
wurden; ja, bei den Heiden wurde diese Tugend fleischlicher Unbeflecktheit
so hoch gehalten, daß in ihren Tempeln große Gemeinschaften von Frauen sich
aufhielten, die dem ehelosen Leben sich ergeben hatten. Daher Hieronymus im
dritten Buch seines Kommentars zum Galaterbrief sagt: »Was werden wir zu
thun haben, wenn uns zur Beschämung Juno ihre geweihten Frauen, Vesta ihre
Jungfrauen, und andere Götzen ihre Enthaltsamkeit übenden Verehrer haben?«
Wenn er Frauen und Jungfrauen nennt, so versteht er unter den ersteren
solche, die einst mit Männern verkehrt hatten, nun aber für sich leben,
unter den letzteren solche, die von jeher als Jungfrauen für sich gelebt
hatten. Denn die Worte monos und monachos, welch letzteres vom ersten
abgeleitet ist und soviel wie Einsiedler bedeutet, haben ein und denselben
Sinn.

Derselbe Schriftsteller sagt im ersten Buche seiner Schrift »gegen
Jovinianus«, nachdem er viele Beispiele von der Keuschheit und
Enthaltsamkeit heidnischer Frauen angeführt hatte: »Ich bin bei der
Aufzählung dieser Frauen absichtlich so ausführlich gewesen, damit
diejenigen, welche die christliche Schamhaftigkeit gering achten,
wenigstens von den Heiden Keuschheit lernen«. Weiter oben in derselben
Schrift erhebt er die Tugend der Enthaltsamkeit so hoch, daß es scheinen
könnte, als hätte Gott an der Reinheit des Fleisches bei allen Völkern ein
ganz besonderes Wohlgefallen, und als habe er diese Tugend durch besondere
Belohnung ihres Verdienstes oder gar durch Wunderthaten in ihrem ganzen
Wert anerkannt. »Was soll ich reden, sagt er, von der Erythräischen und
Kumäischen Sibylle und von den anderen acht? Denn Varro behauptet, es seien
zehn gewesen. Was sie von andern unterscheidet, ist ihre Jungfräulichkeit
und die Sehergabe, die ihnen zum Lohn dafür verliehen ist.« Weiter heißt es
da: »Als die Vestalin Claudia des Vergehens der Unzucht verdächtigt wurde,
soll sie an ihrem Gürtel ein Floß fortgezogen haben, das Tausende von
Menschen nicht hatten von der Stelle bringen können«. Und Sidonius, Bischof
von Clermont, sagt im Vorwort zu seinem Buch folgendes:

   »So war Tanaquil nicht, noch auch die Jungfrau,
   Deren Vater du warst, o Tricipitinus;
   So nicht war die Geweihte der phrygischen Vesta,
   Die durch der Albula hochaufschwellende Fluten
   Mit jungfräulichem Haar das Floß gezogen.«

Augustinus sagt im 22. Buch seiner Schrift »vom Gottesstaat«: »Kommen wir
nunmehr zu ihren Wundern, welche sie als von ihren Göttern verrichtet
unsern Märtyrern entgegenstellen -- werden wir da nicht finden, daß auch
sie nur unsern Zwecken dienen und unserer Sache förderlich sind? Unter den
großen Wunderthaten ihrer Götter ist gewiß eine der größten die, welche
Varro erzählt: eine vestalische Jungfrau habe, als sie fälschlicherweise
der Unkeuschheit verdächtigt wurde, ein Sieb mit Wasser aus dem Tiber
angefüllt und vor ihre Richter getragen, ohne daß ein Tropfen verloren
gegangen sei. Wer hat das schwere Wasser aufgehalten, trotz der vielen
Öffnungen, durch die es hätte abfließen können? Sollte nicht der
allmächtige Gott einem irdischen Körper sein Schwergewicht nehmen und
dasselbe Element mit Leben erfüllen können, in welchem nach seinem Willen
der lebenschaffende Geist seinen Sitz hat?«

Wundern wir uns nicht, daß Gott durch solche und andere Wunder auch unter
den Heiden die Tugend der Keuschheit zu Ehren gebracht hat oder vielmehr
sie durch die Wirksamkeit der Dämonen zu Ehren hat bringen lassen. Es ist
geschehen, um die jetzt Gläubigen destomehr für sie zu begeistern, wenn sie
sehen, daß diese Tugend selbst unter den Heiden schon so hochgehalten
wurde. Wir wissen ja, daß auch dem Kaiphas die Gabe der Prophetie nicht um
seiner Person, sondern um seines Amtes willen verliehen worden, ja, daß
selbst Lügenapostel bisweilen mit Wunderthaten prunken durften, und dies
wiederum nicht ihrer Person verstattet war, sondern dem Amt, das sie
führten. Was ist es also besonderes, wenn der Herr ein solch wunderbares
Ereignis verstattet hat nicht etwa der Person der ungläubigen Frauen,
sondern ihrer tugendsamen Enthaltsamkeit, um eine unschuldige Jungfrau zu
retten und die Schlechtigkeit der falschen Ankläger zunichte zu machen?

Es steht fest, daß die Enthaltsamkeit auch unter den Heiden als ein hohes
Gut angesehen wird, wie auch das Verlangen nach strenger Bewahrung des
ehelichen Bundes allen Völkern gleichmäßig von Gott als ein Geschenk
verliehen worden ist. Darum kann es niemand befremden, wenn Gott seine
eigenen wohltätigen Einrichtungen, nicht etwa den Irrtum des Unglaubens,
durch Wunderzeichen zu Ehren bringt, die in der Heidenwelt, nicht unter den
Gläubigen, geschehen -- vollends wenn dadurch, wie gesagt, die Unschuld
gerettet und die Bosheit schlechter Menschen vereitelt wird, oder wenn
durch die Verherrlichung einer solchen Tugend die Menschen zu ihrer
Ausübung angefeuert werden; denn auch unter den Heiden kommen um so weniger
Verfehlungen in dieser Hinsicht vor, je mehr man bei ihnen die Lüste des
Fleisches meidet.

So hat Hieronymus in Übereinstimmung mit den meisten andern Kirchenlehrern
die Zügellosigkeit des obengenannten Häretikers (Jovinian) sehr passend
bekämpft, indem er ihm zurief, er möge unter die Heiden gehen, um bei ihnen
mit Erröten die Tugenden zu finden, welche er an den Christen gering achte.
Wer wollte verkennen, daß auch die Majestät ungläubiger Fürsten, selbst
wenn sie dieselbe mißbrauchen, ihre Gerechtigkeitsliebe und Milde, die sie,
dem natürlichen Gesetze folgend, an den Tag legen und alles andere, was den
Fürsten ziert, ein Geschenk Gottes sei? Wer wollte das Gute als solches
verkennen, weil es mit Schlechtem vermischt ist? -- besonders da doch, wie
der heilige Augustin bemerkt und der gesunde Menschenverstand es bezeugt,
Übel nur in einer sonst guten Natur sein können? Wer stimmt nicht dem Worte
des Dichters bei: »Gute fliehen das Laster aus Liebe zur Tugend?« Wer
wollte nicht, statt es zu leugnen, vielmehr Zeugnis ablegen für das Wunder,
welches nach dem Berichte des Suetonius Vespasian vor seiner
Thronbesteigung an einem Blinden und an einem Lahmen verrichtet hat oder
für das, was der heilige Gregorius an der Seele Trajans gethan haben soll
-- die andern Fürsten mögen sich dadurch zur Nachahmung solcher Tugenden
bewegen lassen!

Die Menschen verstehen es, im Schmutz die Perle zu finden und die Körner
aus dem Stroh zu lesen: so kann auch Gott die Gnadengaben, die er dem
Unglauben verliehen, nicht vergessen und nichts von dem, was er gemacht
hat, hassen. Je mehr die Welt in Wundern strahlt, desto deutlicher giebt er
sie dadurch als sein Werk zu erkennen, das durch die Schlechtigkeit der
Menschen nicht verderbt werden kann, und die Gläubigen sollen daran
erkennen, was das für ein Gott sei, der also selbst den Ungläubigen sich
erweist.

Ein Beweis für das hohe Ansehen, in welchem die dem Dienste des Herrn
geweihte Keuschheit bei den Heiden stand, ist die strenge Strafe, die auf
die Verletzung des Gelübdes gesetzt war. Worin dieselbe bestand, das sagt
Juvenalis in seiner vierten Satire, die gegen Crispinus gerichtet ist, mit
folgenden Worten: »Mit dem sie noch neulich gebuhlt hat, wird die
Priesterin nun lebendigen Leibes begraben«. So auch Augustin im dritten
Buche des »Gottesstaates«: »Die alten Römer begruben lebendig die über dem
Vergehen der Unzucht betroffenen Vestalinnen. Ehebrecherische Frauen
dagegen bestraften sie zwar, aber nicht mit dem Tode«. So sühnten sie
strenger als die Befleckung des menschlichen Ehebettes die Verletzung
dessen, was in ihren Augen eine geheimnisvolle Verbindung mit der Gottheit
war. Bei uns aber lassen sich christliche Fürsten den Schutz der Keuschheit
angelegen sein, um so mehr, als sie auf einem noch viel heiligeren Gelübde
beruht. Darum hat der Kaiser Justinianus folgende Bestimmung getroffen:
»Wenn jemand sich untersteht, eine gottgeweihte Jungfrau, ich sage nicht
bloß: zu entführen, sondern nur zur Ehe zu verlocken, so soll er dies mit
dem Leben büßen«. Daß auch die kirchliche Zucht, die doch den Sünder zur
Buße leiten und nicht seinen Tod will, mit großer Strenge gegen
Verfehlungen von eurer Seite einschreitet, ist bekannt. Daher die
Verordnung des Papstes Innocenz an den Bischof Victricius von Rouen,
Kapitel XIII: »Frauen, die sich geistig mit Christus vermählt und den
Schleier genommen haben, dürfen, wenn sie sich später öffentlich
verheiratet haben oder im geheimen verführt worden sind, zur Buße nicht
zugelassen werden, außer wenn der, mit dem sie die Verbindung eingegangen
hatten, nicht mehr am Leben ist«. Diejenigen aber, welche zwar noch nicht
eingekleidet waren, aber doch den Vorsatz gefaßt hatten, im jungfräulichen
Stande zu verbleiben, sollen, wenn schon sie den Schleier noch nicht
genommen haben, dennoch eine bestimmte Zeit lang Buße thun, weil Gott ihr
Gelübde angenommen hatte. Denn wenn man schon unter Menschen einen
abgeschlossenen Vertrag unter keinem Vorwand brechen soll, wie viel weniger
kann man ein Versprechen, das man Gott gegeben hat, straflos brechen? Wenn
der Apostel Paulus von den Frauen, die den Witwenstand aufgegeben, sagt,
sie seien verwerflich, weil sie die erste Treue nicht gehalten haben: wie
viel mehr gilt dies von den Jungfrauen, welche ihr zuerst gegebenes Wort
brechen? Daher schreibt auch der berühmte Pelagius an die Tochter des
Mauritius: »Die an Christus zur Ehebrecherin wird, ist verwerflicher als
die, welche ihrem Mann die Treue bricht. Darum hat die römische Kirche erst
vor kurzem mit Recht bestimmt, daß diejenigen Frauen, welche ihren
gottgeweihten Leib durch Unkeuschheit beflecken, kaum der Buße mehr würdig
zu achten seien«.

Wollen wir untersuchen, welche Sorgfalt, Freundschaft und Liebe die
heiligen Lehrer der Kirche nach dem Vorbilde des Herrn selbst und der
Apostel stets den gottgeweihten Frauen gewidmet haben, so finden wir, daß
sie mit dem liebevollsten Eifer ihre frommen Neigungen gehegt und gepflegt
und mit reichlicher Mahnung und Belehrung sie in ihrem göttlichen Berufe
unterrichtet und gefördert haben. Um von den übrigen zu schweigen, will ich
nur die bedeutendsten Kirchenlehrer anführen: Origenes, Ambrosius und
Hieronymus.

Der erste derselben, jener größte christliche Philosoph, hat sich mit
solchem Eifer dem Stande der gottgeweihten Frauen gewidmet, daß er sich
nach dem Bericht der »Kirchengeschichte« selbst entmannte, um nicht durch
irgendwelche Verdächtigung im Unterricht der Frauen behindert zu werden.
Wem wäre es ferner nicht bekannt, welch reichliche Ernte von heiligen
Schriften Hieronymus auf die Veranlassung der Frauen Paula und Eustochium
der Kirche hinterlassen hat? Er selbst gesteht dies in seiner Abhandlung
über die Himmelfahrt der Mutter des Herrn, welche er auf die Bitte der
Frauen schrieb, zu in den Worten: »Weil ich aber, durch meine große Liebe
zu euch, überwunden, nichts abschlagen kann, was ihr wünscht, so will ich
den Versuch machen, euer Verlangen zu stillen«. Dagegen wissen wir, daß
manchmal hochbedeutende, durch ihre Stellung und würdige Lebensführung
ausgezeichnete Lehrer ausführlich an ihn geschrieben und nicht einmal eine
kurze Antwort, um die sie ihn gebeten, von ihm erhalten haben. Daher jene
Äußerung des heiligen Augustinus im 2. Buch der Retraktationen: »Ich habe
an den Presbyter Hieronymus, während er in Bethlehem sich aufhielt, zwei
Schriften geschickt: eine 'über den Ursprung der Seele' und eine zweite
über den Satz des Apostels Jakobus: 'So jemand das Gesetz hält und sündiget
an Einem, der ist's ganz schuldig.' Über beide Schriften bat ich ihn um
sein Urteil. In der ersten habe ich die Frage, die ich aufgeworfen, selbst
ungelöst gelassen; in der zweiten habe ich meine Ansicht nicht
verschwiegen, fragte aber bei ihm an, ob er dieselbe billige. Er
antwortete, daß er sich über meine Frage gefreut habe, daß er aber keine
Zeit habe, sie zu beantworten. Ich aber wollte die Bücher nicht herausgeben
so lange er lebte in der Erwartung, daß er mir doch irgend einmal antworten
würde und ich sie dann zusammen mit dieser Antwort herausgeben könnte.
Allein er starb darüber, und erst dann habe ich sie veröffentlicht«. Man
sieht also, daß der große Mann so lange Zeit vergeblich auf eine, wenn auch
nur kurze Antwort des Hieronymus gewartet hat. Und doch wissen wir, daß
derselbe Mann jenen Frauen zulieb viele umfangreiche Bücher im Schweiß
seines Angesichts übersetzt oder geschrieben und ihnen demnach größere
Rücksicht erwiesen hat als dem Bischof. Vielleicht hat er ihre Tugend darum
so eifrig gepflegt und alles vermieden, was sie betrüben konnte, weil er
die Empfindlichkeit der weiblichen Natur kannte. Die Lebendigkeit seiner
Liebe gegen solche Frauen erscheint manchmal so groß, daß er bei seinen
Lobeserhebungen bisweilen fast die Grenze des Wahren überschreitet, und als
sei er sich dessen selber bewußt, sagt er irgendwo; »Die Liebe kennt keine
Grenze«. In der Vorrede zum Leben der heiligen Paula sagt er, um die
Aufmerksamkeit des Lesers anzuspannen: »Wenn alle meine Glieder sich in
Zungen verwandelten und alle meine Gelenke reden könnten, ich könnte doch
keine Worte finden, die Tugenden der heiligen, verehrungswürdigen Paula
würdig zu preisen«.

Er hat auch einige Lebensbilder von heiligen Vätern geschrieben -- der
höchsten Verehrung würdig und im Glanz von Wunderthaten strahlend -- und
was hier berichtet wird, ist noch viel wunderbarer. Dennoch hat er, so viel
ich sehe, keinen derselben mit so hohen Ruhmesworten gefeiert, wie diese
Witwe. Auch seinen Brief an die Jungfrau Demetrias eröffnet er sofort mit
einer so starken Lobeserhebung, daß sie uns fast als eine übertriebene
Schmeichelei erscheinen muß. »Von allen Gegenständen, sagt er, über welche
ich von meiner frühesten Jugend an bis zu meinem jetzigen Alter geschrieben
habe oder habe schreiben lassen, ist keiner schwieriger als das
gegenwärtige Werk. Denn ich schicke mich an, an Demetrias zu schreiben, die
Jungfrau Christi, die an Edelmut und an Reichtum die erste in Rom ist. Wenn
ich ihre Tugenden preise, wie sie's verdienen, wird man von mir sagen, ich
sei ein Schmeichler«. Es war für den heiligen Mann ein süßes Amt, durch die
Kunst seiner Worte das schwache Geschlecht zur schweren Übung der Tugend
anzuleiten. Weil aber Thaten sprechendere Beweise sind als Worte, hat er
sich seiner weiblichen Schutzbefohlenen mit solcher Liebe angenommen, daß
sein eigener guter Ruf, trotz seiner ungemessenen Heiligkeit, darunter zu
leiden hatte. Er spricht selber davon in seinem Brief an Asella, wo er von
falschen Freunden handelt, die ihn verleumden: »Mögen sie mich, heißt es
da, immerhin für einen Verbrecher halten, bedeckt mit allen Schandtaten; du
aber thust wohl daran, wenn du deinem Herzen folgend auch die Schlechten
für gut hältst. Denn es ist gefährlich, über den Knecht eines andern zu
richten, und wer Gutes schlecht macht, dem wird nur schwer verziehen. Sie
haben mir die Hände geküßt und mich mit ihrer giftigen Zunge verleumdet.
Mit den Lippen bedauerten sie mich, im Herzen lachten sie. Sie mögen selbst
sagen, ob sie jemals etwas anderes an mir gefunden, als was einem Christen
sich ziemte. Was man mir zum Vorwurf macht, ist einzig und allein mein
Geschlecht, und auch das würde man mir nicht vorwerfen, wenn Paula nicht
nach Jerusalem gekommen wäre.« Weiter heißt es: »Ehe ich in das Haus der
frommen Paula kam, war nur Eine Stimme des Lobes über mich in der ganzen
Stadt; ja, ich war nach dem Urteil aller würdig, das Amt des höchsten
Priesters in der Kirche zu bekleiden. Aber seitdem ich anfing, sie nach dem
Verdienst ihrer Frömmigkeit zu verehren und zu lieben, war ich auf einmal
aller Tugenden bar.« Und etwas weiter unten sagt er: »Grüße Paula und
Eustochium, die mein sind in Christo, man sage was man wolle«.

Lesen wir doch von dem Herrn selbst, er habe die fromme Sünderin mit solch
vertraulicher Güte behandelt, daß der Pharisäer, welcher ihn eingeladen
hatte, darob irre an ihm wurde und bei sich sagte: »Wenn dieser ein Prophet
wäre, wüßte er, wer und welch ein Weib das ist, die ihn anrühret«. Was
Wunder also, wenn, um solche Seelen zu gewinnen, auch die Glieder Christi,
durch sein Beispiel angetrieben, die Verunglimpfung ihres guten Namens
nicht achten? Origenes, um dem zu entgehen, ist, wie schon erwähnt, nicht
davor zurückgeschreckt, an seinem Leib schweren Schaden zu nehmen.

Aber nicht bloß in Belehrung und Unterweisung der Frauen haben die heiligen
Väter eine wunderbare Liebe an den Tag gelegt: auch wenn es galt, sie zu
trösten, ist dieser Liebeseifer zuweilen so heftig zum Ausbruch gekommen,
daß es fast scheint, als hätten sie sich durch ihr unbegrenztes Mitleid,
nur um den Schmerz der Frauen zu lindern, zu Versprechungen verleiten
lassen, die mit dem christlichen Glauben im Widerspruch standen. Derart ist
der Trost, welchen der heilige Ambrosius nach dem Tode des Kaisers
Valentinian dessen Schwestern zu schreiben wagte, indem er sie versicherte,
daß ihr Bruder, der doch als Katechumen gestorben ist, der Seligkeit
teilhaftig geworden sei -- eine Behauptung, die mit dem katholischen
Glauben und mit der evangelischen Lehre durchaus nicht übereinstimmt. Sie
wußten wohl, wie angenehm vor Gott allezeit die Tugend des schwächeren
Geschlechtes gewesen sei.

So kommt es, daß wir zwar eine unzählige Schar von Jungfrauen dem Beispiel
der Mutter des Herrn folgen und den sittlich vollkommeneren Stand erwählen
sehen, daß wir aber nur wenige Männer kennen, welche die Gnadengabe dieser
Tugend erlangt haben, vermöge deren sie dem Lamme selbst überall hin folgen
konnten. Im Eifer um diese Tugend haben mehrere Frauen sogar Hand an sich
selber gelegt, damit sie die Keuschheit auch des Leibes, welche sie Gott
gelobt hatten, sich erhielten, und man hat sie darob nicht nur nicht
getadelt, sondern bei den meisten wurde ihr freiwilliger Opfertod Anlaß zu
ihrer kirchlichen Verehrung. Ja, sogar bereits verlobte Jungfrauen, wenn
sie sich vor der fleischlichen Vereinigung mit ihren Männern für die Wahl
des Klosterlebens entschließen, ihren Mann aufgeben und sich Gott verloben
wollen, haben darin freie Hand, während wir von einer solchen
Rechtsbestimmung für die Männer nichts wissen.

Einige Frauen waren von solchem Eifer für ihre Keuschheit erfüllt, daß sie
nicht allein unerlaubterweise, um ihre Keuschheit zu wahren, sich für
Männer ausgaben, sondern dann auch, unter den Mönchen lebend, sich durch
ihre Tugenden also auszeichneten, daß sie des Abtstuhls für würdig befunden
wurden, wie wir dies von der heiligen Eugenia lesen, welche mit Wissen, ja,
auf Zureden des frommen Bischofs Helenus Männerkleider anlegte, von ihm
getauft und in ein Mönchskloster aufgenommen wurde.

Die erste deiner Fragen, geliebte Schwester in Christo, das Ansehen eures
Standes und die Hoheit seiner ihm eigenen Würde betreffend, glaube ich
hiemit genügend beantwortet zu haben. Je mehr ihr die Herrlichkeit eures
Berufes nun erkannt habt, mit desto größerem Eifer werdet ihr ihn erfassen.
Möchten eure Verdienste und Gebete bewirken, daß ich weiterhin mit Gottes
Zustimmung auch deine zweite Frage beantworten kann. -- Lebe wohl!



VIII. Brief.

Abaelard an Heloise.


Zu einem Teil habe ich deine Bitte erfüllt, so gut ich's vermochte. Es
bleibt mir noch übrig, mit Gottes Beistand zu erledigen, was noch im
Rückstand ist und so deine und deiner geistigen Töchter Wünsche zu
befriedigen. Der weitere Inhalt eurer Forderung geht dahin: ich soll euch
eine bestimmte Vorschrift, die euch als Regel für euren Orden dienen
könnte, aufsetzen und zusenden, damit ihr an dem geschriebenen Buchstaben
einen sicherern Anhaltspunkt für euer Thun und Lassen habet als an dem
bloßen Herkommen. So habe ich mir denn vorgenommen, teils altbewährte
Gebräuche, teils die Zeugnisse der heiligen Schrift und der Vernunft zu
Grunde zu legen und daraus ein Ganzes zu bilden. Den geistigen Tempel
Gottes, welcher ihr seid, möchte ich damit ausschmücken wie mit schönen
Malereien und aus verschiedenen Bruchstücken ein einheitliches Werk
aufbauen. Dabei will ich mir den Maler Zeuxis zum Vorbild nehmen und bei
der Ausschmückung meines geistigen Tempels so verfahren, wie er es einst
bei einem sichtbaren gemacht hat. Cicero erzählt nämlich in seinem Buch
»Rhetorica« folgendes: »Die Bürger von Kroton beriefen den Zeuxis, um einen
Tempel, der ihnen besonders heilig war, von ihm mit prächtigen Gemälden
ausschmücken zu lassen. Zu diesem Zweck wählte er sich aus der Bevölkerung
die fünf schönsten Mädchen, die bei seiner Arbeit vor ihm standen und deren
Schönheit ihm zum Muster diente. Dies ist aus zwei Gründen ganz wohl
glaublich: einmal, weil dieser Maler nach der Mitteilung des genannten
Schriftstellers eine besondere Geschicklichkeit darin hatte, Frauen zu
malen; sodann auch, weil weibliche Formen selbstverständlich einen
feineren, lieblicheren Eindruck machen als männliche. Mehrere Mädchen aber,
sagt der erwähnte Philosoph, habe er ausgewählt, weil er nicht glaubte, daß
er eine finden werde, bei der alle Glieder gleich formvollendet wären, und
daß die Natur eine einzige mit so reicher Schönheit ausgestattet habe, daß
sie lauter gleich schöne Körperteile aufzuweisen hätte. Die Natur, das war
seine Meinung, bilde in der Körperwelt nichts durchaus und gleichmäßig
Vollendetes, als fürchtete sie, wenn sie alle Vorzüge auf einen Gegenstand
vereinige, für die anderen nichts mehr übrig zu haben.«

So will auch ich verfahren, indem ich mich anschicke, die Schönheit der
Seele zu malen und die Vollkommenheit der Braut Christi zu beschreiben.
Möget ihr mein Werk als einen Spiegel der rechten gottgeweihten Jungfrau
allezeit vor Augen haben und daraus eure Schönheit oder Häßlichkeit
erkennen. Ich will zu dem Zweck aus den zahlreichen Schriften der heiligen
Väter und aus den bewährtesten Klostergebräuchen eine Regel für euch
zusammenstellen. Von allem, was mir ins Gedächtnis kommt, will ich das
Beste nehmen und alles gleichsam in Ein Bündel sammeln, was mit eurem
heiligen Berufe sich berührt. Und zwar werde ich dabei nicht bloß die
Bestimmungen für Nonnen berücksichtigen, sondern auch diejenigen für
Mönche; denn wie euch Ein Name und dasselbe Gelübde der Enthaltsamkeit mit
uns verbindet, so gelten auch fast alle unsere Bestimmungen ebenso für
euch. Aus diesem Vorrat, wie gesagt, will ich dieses und jenes auswählen,
gleichsam eine Blumenlese, mit der ich die Lilien eurer Keuschheit
schmücken will, und zu dem Zweck werde ich auf die Beschreibung der Braut
Christi mehr Fleiß verwenden müssen als Zeuxis auf sein Götzenbild. Er
glaubte es sei genug, wenn er fünf Jungfrauen habe, um ihre Schönheit
nachzubilden. Uns aber steht der ganze Reichtum von Schriften der Väter zu
Gebote und so hoffen wir im Vertrauen auf die göttliche Hilfe, euch ein
vollkommeneres Werk zu hinterlassen, das euch tüchtig macht zu dem Los und
zu den Tugenden jener fünf klugen Jungfrauen, die uns der Herr im
Evangelium zeigt als Vorbilder christlicher Jungfräulichkeit. Mögen eure
Gebete mir dazu helfen, daß dem Wollen das Vollbringen nicht mangle. Seid
in Christo gegrüßt, ihr Bräute Christi!

Ich habe beschlossen, die Schrift, welche ich zu eurer Belehrung verfassen
will und in welcher ich euren frommen Stand beschreiben und fest umgrenzen,
sowie über die würdige Begehung des Gottesdienstes reden werde, in drei
Abschnitte einzuteilen. Denn drei Stücke sind, so glaube ich, der
Hauptsache nach wesentlich für das klösterliche Leben: Keuschheit,
Besitzlosigkeit und Schweigen; das heißt nach der Vorschrift, welche der
Herr im Evangelium giebt: die Lenden umgürten, allem entsagen, müßige Worte
vermeiden. Unter Keuschheit aber ist diejenige Enthaltsamkeit zu verstehen,
welche der Apostel empfiehlt mit den Worten: »Welche nicht freiet, die
sorget was dem Herrn angehöret, daß sie heilig sei, beide an Leib und auch
am Geist«. Am Leib, sagt er, und meint damit den ganzen, nicht bloß ein
einzelnes Glied, damit nicht irgend eines in Worten oder Handlungen zur
Unreinigkeit abirre. Heilig an der Seele ist sie dann, wenn weder in ihrem
Herzen ein unreiner Gedanke aufsteigen darf noch auch der Stolz sie
aufbläht, wie die fünf thörichten Jungfrauen, die, während sie
zurückliefen, um Öl zu kaufen, hinausgeschlossen wurden. Und als sie nun
vergebens an die geschlossene Thür pochten und riefen: »Herr, Herr, thue
uns auf!« -- da wird ihnen von diesem selbst die furchtbare Antwort zu
teil: »Wahrlich, ich sage euch, ich kenne euch nicht«.

Sodann aber verlassen wir alles und folgen nackt dem nackten Christus nach,
wie es die heiligen Apostel gemacht haben. Dazu gehört, daß wir um
seinetwillen nicht bloß irdischen Besitz oder Bande des Blutes, sondern
auch unsern eigenen Willen hintansetzen, so daß wir nicht nach eigenem
Gutdünken leben, sondern durch den Willen unseres Vorgesetzten uns lenken
lassen und uns dem, der an Christi Statt unser Oberhaupt ist, völlig
unterwerfen wie Christo selbst. Er sagt selbst von solchen: »Wer euch
höret, der höret mich, und wer euch verachtet, der verachtet mich«. Selbst
wenn jener, was Gott verhüte, einen üblen Lebenswandel führen sollte --
wenn er nur gute Vorschriften giebt; denn um der schlechten Menschen willen
darf man Gottes gute Absicht nicht verachten. In dieser Beziehung sagt der
Herr selbst: »Was sie euch sagen, das haltet und thut, aber nach ihren
Werken sollt ihr nicht thun«. Worin aber diese Bekehrung von der Welt zu
Gott bestehe, darüber äußert er sich deutlich also: »Wer nicht entsagt
allem, das er hat, der kann nicht mein Jünger sein«. Ferner: »So jemand zu
mir kommt und hasset nicht seinen Vater, Mutter, Weib, Kind, Brüder,
Schwestern, auch dazu sein eigen Leben, der kann nicht mein Jünger sein«.
Seinen Vater oder seine Mutter hassen heißt aber so viel als: sich nicht
durch die Rücksicht auf Bande des Blutes halten lassen; gleichwie sein
Leben hassen so viel ist als: auf seinen eigenen Willen verzichten. Dieses
Verlangen stellt der Herr selbst ein anderes Mal an uns mit den Worten:
»Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz
auf sich und folge mir«. Denn also gehen wir hinter ihm drein auf seiner
Spur, wir folgen ihm nach, indem wir mit Eifer sein Beispiel nachahmen, der
gesagt hat: »Ich suche nicht meinen Willen, sondern des Vaters Willen, der
mich gesandt hat«. Als wollte er sagen: wir sollen alles im Gehorsam thun.
Denn was heißt »sich selbst verleugnen« anderes als: das Behagen des
Fleisches und den eigenen Willen hintansetzen und sich von fremdem, nicht
vom eigenen Gutdünken leiten lassen? Und so empfängt der Mensch sein Kreuz
nicht aus eines anderen Hand, sondern er nimmt es selbst auf sich, und
durch dasselbe ist ihm die Welt gekreuzigt und er der Welt, wenn er durch
ein freiwilliges Gelübde allen weltlichen und irdischen Wünschen entsagt,
d. h. auf seinen eigenen Willen verzichtet. Denn was wollen die, die vom
Fleische sind, anderes als _ihren_ Willen durchsetzen? Und giebt es eine
höhere irdische Lust, als die Befriedigung des eigenen Willens, wenn
dieselbe gleich mit höchster Mühe und Gefahr erkauft werden muß? Dagegen
das Kreuz tragen, d. h. eine Qual aushalten -- was ist es anderes, als
etwas geschehen lassen, was unserem Willen zuwider ist, wiewohl die
Durchsetzung desselben uns leicht und angenehm wäre? Darum spricht ein
anderer Jesus, der freilich an den wahren nicht hinanreicht, im Buch Sirach
die Warnung aus: »Folge nicht deinen bösen Lüsten, sondern brich deinen
Willen, denn wo du deinen bösen Lüsten folgest, so wirst du dich deinen
Feinden selbst zum Spott machen«. Wenn wir aber so unsern Wünschen wie uns
selber ganz und gar entsagen, dann geben wir in Wirklichkeit jeden
Eigenbesitz auf und führen jenes apostolische Leben, dem alles gemeinsam
ist, wie geschrieben steht: »Die Menge aber der Gläubigen war Ein Herz und
Eine Seele; auch keiner sagete von seinen Gütern, daß sie sein wären,
sondern es war ihnen alles gemein, und es wurde jedem zugeteilt nach dem
ihm not war«. Nicht alle hatten ja die gleichen Bedürfnisse, darum teilte
man nicht allen das gleiche Maß zu, sondern jedem, nachdem ihm not war.
»Ein Herz« -- im Glauben, denn mit dem Herzen glaubt man. »Eine Seele« --
denn aus Liebe kamen sie einander mit ihren Wünschen entgegen; jeder
wünschte dem andern das, was er selbst wollte, und niemand war mehr auf den
eigenen Vorteil bedacht als auf den des Nächsten, sondern alles wurde dem
allgemeinen Wohl dienstbar gemacht. Niemand suchte und erstrebte das Seine,
sondern das, was Jesu Christi ist. Denn anders wäre ein Leben ohne
persönliches Eigentum nicht denkbar, das mehr im Ehrgeiz als im
eigentlichen Besitz seinen Grund hat.

Jedes überflüssige, müßige Wort ist ebensogut wie Schwatzhaftigkeit. Der
heilige Augustin sagt im ersten Buch seiner Retraktationen: »Es sei ferne
von mir, den Vorwurf der Schwatzhaftigkeit zu erheben, wo Notwendiges
geredet wird, sei es auch mit großer Wortfülle und Ausführlichkeit«. Und
Salomo seinerseits sagt: »Wer viel redet, der wird leicht in Sünden fallen;
wer aber seine Zunge im Zaum hält, der ist klug«. Wir dürfen uns also wohl
hüten vor einem Ding, das so leicht zur Sünde führt; je gefährlicher die
Krankheit ist und je schwieriger zu vermeiden, desto ängstlicher müssen wir
vor ihr auf der Hut sein. Im Hinblick darauf sagt der heilige Benedikt:
»Die Mönche sollen sich allezeit des Schweigens befleißigen«. Aus dem
Schweigen eine förmliche Übung zu machen, ist sicherlich mehr als einfach
Schweigen beobachten. Denn zum Begriff der Übung gehört es, daß man den
Willen streng dazu anhält, irgend etwas zu thun. Denn vieles thun wir
nachlässig oder unwillkürlich; soll aber etwas herauskommen, so muß unser
Wille und unsere Aufmerksamkeit dabei sein.

Wie schwer, aber auch wie nützlich es ist, seine Zunge im Zaume zu halten,
das weiß der Apostel Jakobus wohl und sagt deshalb: »Wir fehlen alle
manchfältiglich; wer aber auch in keinem Wort fehlet, der ist ein
vollkommener Mann«. Und weiter sagt er: »Alle Natur der Tiere und der Vögel
und der Schlangen und der Meerwunder werden gezähmet und sind gezähmet von
der menschlichen Natur«. Indem er sich aber deutlich macht, wie die Zunge
eine Urheberin von so viel Bösem und alles Guten Zerstörerin ist, sagt der
Apostel weiter oben und weiter unten in seinem Brief: »Die Zunge ist ein
klein Glied, aber welch ein Feuer! Welch einen Wald zündet's an!... eine
Welt voll Ungerechtigkeit, ein unruhiges Übel, voll tödlichen Giftes«. Was
aber ist gefährlicher und mehr zu fürchten als Gift? Wie also durchs Gift
das Leben vernichtet wird, so zerstört die Geschwätzigkeit alle
Frömmigkeit. Darum heißt es im gleichen Briefe weiter vorn: »So aber sich
jemand unter euch lässet dünken, er diene Gott und hält seine Zunge nicht
im Zaum, sondern verführet sein Herz, des Gottesdienst ist eitel«. So heißt
es auch in den Sprüchen: »Ein Mann, der seinen Geist nicht halten kann, ist
wie eine Stadt ohne Mauern«. So meinte es auch jener Greis, als ihm
Antonius in Beziehung auf einige vielredende Brüder, welche sich zu ihm
gesellt hatten, sagte: »Du hast rechtschaffene Brüder angetroffen, mein
Vater.« Jener antwortete: »Rechtschaffene wohl, aber ihr Haus hat keine
Thüre. Wer nur will, kann in ihren Stall eintreten und den Esel losbinden«.
Denn unsere Seele ist gleichsam angebunden an die Krippe des Herrn, und
nährt und erquickt sich da mit frommen Betrachtungen. Von dieser Krippe
wird sie gelöst und schweift mit ihren Gedanken in der ganzen Welt herum,
wenn das Gebot des Schweigens sie nicht zurückhält. Durch Worte wird die
vernunftbegabte Seele veranlaßt, auf das, was sie hört, aufzumerken und
darüber nachzudenken. Mit Gott aber reden wir in Gedanken, wie mit den
Menschen in Worten. Während wir nun hier auf die Worte der Menschen hören,
muß unsere Aufmerksamkeit notwendig von dort abgezogen werden, denn wir
können nicht Gott und den Menschen zugleich unsere Aufmerksamkeit schenken.

Und nicht bloß müßige Worte sollen wir vermeiden, sondern auch solche, mit
denen vielleicht einiger Nutzen verbunden sein könnte; denn allzuleicht
kommt man vom Notwendigen aufs Unnütze und vom Unnützen aufs Schädliche.
Denn »die Zunge, sagt Jakobus, ist ein unruhiges Übel«. Je kleiner und
feiner sie ist als die übrigen Glieder, desto beweglicher, und während die
andern durch Bewegung müde werden, ermattet sie, wenn sie nicht in Bewegung
gesetzt wird, und gerade die Ruhe ist ihr unerträglich. Je feiner und
biegsamer sie aber infolge der Weichheit unseres Körpers ist, desto
lebhafter ist ihre Neigung, sich zu bewegen und zu sprechen, und so kann
sie zur Pflanzstätte alles Bösen werden.

Der Apostel wußte, daß die Zunge hauptsächlich euch viel zu schaffen mache
und untersagt deshalb den Frauen das Sprechen in der gottesdienstlichen
Versammlung, selbst das Reden über religiöse Fragen; sie sollen zu Hause
ihre Männer fragen, und auch wenn sie über solche Dinge belehrt werden,
sollen sie, wie überhaupt bei all ihrem Thun, demütiges Schweigen
beobachten. Dem Timotheus schreibt er hierüber: »Ein Weib lerne in der
Stille mit aller Unterthänigkeit; einem Weib aber gestatte ich nicht, daß
sie lehre, auch nicht daß sie des Mannes Herr sei, sondern stille sei«.
Wenn nun der Apostel Laien und verheirateten Frauen solche Vorschriften in
Betreff des Schweigens giebt -- was werdet dann ihr zu thun haben? Indem er
dem Timotheus solche Vorschriften giebt, will er damit sagen, daß die
Frauen wortreich seien und gern reden, wo es nicht nötig ist.

Um diesem Übel nun einigermaßen zu steuern, soll die Zunge im Zaum gehalten
und vollständiges Schweigen beobachtet werden an folgenden Orten und zu
folgenden Zeiten: beim Gottesdienst, im Kloster, im Schlafsaal, im
Refektorium, beim Essen, in der Küche und ganz besonders nach dem
Kompletorium. Wenn es notwendig ist, kann man an den genannten Orten und zu
den vorgeschriebenen Zeiten statt der Worte Zeichen anwenden. Man hat dafür
Sorge zu tragen, daß jedermann diese Zeichen erlerne. Durch dieselben kann
man einander, wenn man notwendig etwas zu sagen hat, auch an einen
geeigneten, dazu bestimmten Ort bestellen. Und nachdem man sich mit
möglichst wenig Worten verständigt hat, gehe man an seinen vorigen Platz
zurück oder thue, was zu thun ist. Auch soll man den Mißbrauch von Worten
oder Zeichen schonungslos tadeln, besonders aber das Übermaß von Worten,
weil hier die größte Gefahr droht.

In dem lebhaften Wunsche, dieser vielfachen und großen Gefahr zu steuern,
giebt uns der heilige Gregorius im achten Buch seiner »Moralia« folgende
Vorschrift: »Wenn wir uns nicht vor überflüssigen Worten hüten, so kommen
wir bald bei den wirklich schädlichen an. Daraus entstehen dann Reibereien
und Streitigkeiten, der Zündstoff des Hasses gerät in Flammen und mit dem
Frieden des Herzens ist es vorbei«. Daher sagt Salomo mit Recht: »Wer
Wasser verschüttet, der ruft Streit hervor«. Wasser verschütten, das heißt:
seiner Zunge den Lauf lassen. Dagegen sagt er in lobendem Sinn: »Tiefes
Wasser kommt aus dem Munde des Mannes«. Also wer Wasser verschüttet, der
ruft Streit hervor: denn wer seine Zunge nicht im Zaum hat, der sät
Zwietracht. Darum heißt es in der Schrift: »Wer einem Narren Schweigen
gebietet, der lindert den Zorn«.

Das ist eine deutliche Mahnung für uns, gegen diesen Fehler die größte
Strenge walten zu lassen und ja keine Nachsicht ihm gegenüber zu üben,
wodurch die Frömmigkeit schwer gefährdet würde. Denn aus dieser Quelle
entspringen Verleumdung, Streit, Verunglimpfung, ja manchmal
Zusammenrottungen und Verschwörungen, welche das Gebäude der Religion
erschüttern, ja über den Haufen werfen. Ist dieses Laster ausgerottet, so
werden damit freilich nicht auch zugleich die bösen Gedanken unterdrückt,
doch werden wenigstens andere vor Ansteckung bewahrt.

Der Abt Macarius warnte vor diesem Laster so nachdrücklich, als glaubte er,
daß die Vermeidung desselben allein schon zur Frömmigkeit genüge. Es wird
von ihm erzählt: »Der Abt Macarius in Skythien gab seinen Mönchen die
Weisung: 'Nach der Messe meidet einander, meine Brüder'. Da sagte einer der
Mönche: 'Vater, wohin sollen wir, um eine größere Einsamkeit zu finden als
diese?' Da legte er den Finger an die Lippen und sagte: 'Das ist es, was
ihr fliehen sollt'. Damit trat er in seine Zelle, schloß die Thür hinter
sich zu und blieb allein«. Diese Tugend des Schweigens, die nach Jakobus
den Menschen vollkommen macht und von der Jesaias sagt: »Schweigen ist
Pflege der Gerechtigkeit« -- sie wurde von den heiligen Vätern mit so
glühendem Eifer geübt, daß z. B. der Vater Agatho drei Jahre lang einen
Stein im Munde trug, bis er schweigen lernte.

Wiewohl die Seligkeit nicht am Ort hängt, so kann er doch unter Umständen
zur Bewahrung und Festigung der Frömmigkeit förderlich sein, und je nachdem
trägt er zur Förderung oder zur Beeinträchtigung derselben bei. Darum zogen
sich auch die Schüler der Propheten, von denen Hieronymus sagt, sie seien
die Mönche des alten Bundes, in die Einsamkeit zurück und bauten sich an
den Ufern des Jordans ihre Hütten. Auch Johannes und seine Schüler, die
Begründer unserer Lebensweise, ferner Paulus, Antonius, Macarius und alle
hervorragenden Vertreter unseres Standes haben dem Lärm der an Versuchungen
so reichen Welt den Rücken gekehrt und haben sich in der Einsamkeit eine
Stätte frommer Betrachtung errichtet, um ganz ungestört des Umgangs mit
Gott zu pflegen.

Selbst unser Herr, der doch für keine Versuchung zugänglich war, giebt uns
in dieser Hinsicht ein Beispiel, indem er, wenn er etwas Großes vorhatte,
mit Vorliebe die Einsamkeit aufsuchte und dem Lärm des Volks aus dem Wege
ging. So hat der Herr selbst durch sein vierzigtägiges Fasten die Wüste für
uns geheiligt, in der Wüste hat er die Menge gespeist, und um von seinem
Gebet jede Störung fernzuhalten, hat er sich nicht bloß von der Menge,
sondern auch von seinen Jüngern zurückgezogen. Auch die Jünger hat er
abseits auf einem Berg unterrichtet und erwählt, die Einöde war es, die vom
Glanze seiner Verklärung wiederstrahlte, auf einem Berge teilte er den
versammelten Jüngern die freudige Gewißheit seiner Auferstehung mit, und
vom Berge fuhr er gen Himmel, und außerdem verrichtete er noch viele
mächtige Thaten in der Wüste oder an einsamen Örtern.

Auch dem Moses und den alten Vätern ist Gott in der Wüste erschienen; durch
die Wüste hat er sein Volk ins gelobte Land geführt, in der Wüste hat er es
festgehalten, ihm sein Gesetz gegeben, Manna regnen lassen, Wasser aus dem
Fels gespendet, durch häufige Erscheinungen sein Volk getröstet und viel
Wunder gethan. Durch all das hat das einzigartige Wesen uns deutlich
gezeigt, wie sehr es die Einsamkeit für uns liebe, weil wir in derselben
reineren Umgangs mit ihm pflegen können.

Ja, unter dem mystischen Bilde des Waldesels, der die Wildnis liebt, die
Freiheit beschreibend und preisend, spricht Gott zu dem frommen Hiob: »Wer
hat den Waldesel so frei lassen gehen, wer hat die Bande des Wildes
aufgelöst? Dem ich das Feld zum Hause gegeben und die Wüste zur Wohnung. Er
verlacht das Getümmel der Stadt, das Pochen des Treibers hört er nicht. Er
schauet nach den Bergen, da seine Weide ist und suchet, wo es grün ist«.

Es ist als wollte er sagen: Wer hat das gemacht? Bin Ich es nicht? Unter
dem, was wir Waldesel nennen, ist der Mönch zu verstehen, der ledig aller
weltlichen Bande die ruhevolle Freiheit des einsamen Lebens aufgesucht hat
und der Welt entflohen ist. Er wohnt in der Wüste, denn seine Glieder sind
ausgetrocknet und abgemagert vom Fasten. Das Pochen des Treibers hört er
nicht, wohl aber seine Stimme, weil er seinen Magen nicht überladet,
sondern ihm nur das Notwendige zukommen läßt. Denn wer ist tagtäglich ein
ungestümerer Treiber als der Magen? Er erhebt ein Geschrei, d. h. er
verlangt mit Ungeduld nach überflüssigen und leckeren Speisen, und darauf
darf man durchaus nicht hören. Die Berge, da seine Weide ist, das sind die
Lebensbilder und Lehren der ehrwürdigen Väter, die wir zu unserer Stärkung
lesen und betrachten. Unter dem Grünen sind zu verstehen alle die
Schriften, die uns den Weg zum himmlischen, unverwelklichen Leben zeigen.

Eine Mahnung zur Einsamkeit enthält auch das Wort, welches Hieronymus an
den Mönch Heliodorus schreibt: »Besinne dich auf die Bedeutung des Wortes
'Mönch', d. h. des Namens, den du trägst. Was thust du unter der Menge, der
du der Einsamkeit gehörst?« Derselbe Schriftsteller unterscheidet unsere
Lebensweise von derjenigen der Kleriker in einem Brief an den Presbyter
Paulus folgendermaßen: »Wenn du das Amt eines Presbyters verwalten willst,
wenn dir die Würde oder vielmehr die Bürde eines Bischofs gefällt, dann
wohne in Städten und festen Plätzen und suche dein Glück im Seelenheil
anderer. Willst du aber sein, was du heißest, nämlich ein Mönch, d. h. ein
Einsamer, was thust du dann in den Städten, die doch nicht Aufenthaltsorte
für Einsame sind, sondern für die Menge? Jeder Stand hat seine obersten
Vertreter ... um nun auf den unsrigen zu kommen: Bischöfe und Presbyter
mögen sich die Apostel und apostolischen Männer zum Vorbild nehmen und sich
bestreben, ihnen nicht bloß an Rang, sondern auch an Tugend gleichzukommen.
Wir aber sollen als unsere Vorbilder betrachten Männer wie Paulus,
Antonius, Hilarion, Macarius. Und um wieder auf das zu kommen, was die
Schrift uns sagt: unsere Oberhäupter sind Elias, Elisäus, auch die
Prophetenschüler sind unsere Führer, welche wohnten im wüsten Gefilde und
sich Hütten bauten an den Ufern des Jordans. Zu ihnen gehören auch jene
Söhne des Rechab, die keinen Wein und kein gegorenes Getränke tranken, die
in Zelten wohnten und welche durch die aus Jeremias ertönende Stimme Gottes
gelobt wurden: es solle in ihrem Stamme nie an Männern fehlen, die in
Gottes Dienst stehen«.

So sollen also auch wir unsere Wohnung in der Einsamkeit aufschlagen, damit
wir fähig sind, vor Gott zu stehen und seinem Dienste uns widmen können. Da
wird kein Zudrang von Menschen unsere Ruhestätte erschüttern, unser
Stillleben stören, uns mit Versuchungen nahen und die Gedanken von unserem
heiligen Beruf abziehen.

Uns allen mag der heilige Arsenius ein deutliches Vorbild sein, den der
Herr zur Freiheit eines beschaulichen Lebens geführt hat. Von ihm wird
erzählt: »Der Vater Arsenius, als er noch in seinem Palast lebte, betete zu
Gott: 'Herr, führe mich auf den Weg des Heils'. Da ertönte eine Stimme, die
sprach: 'Arsenius, fliehe die Menschen und du wirst gesund werden'. Er
ergab sich nun dem Mönchsleben und betete wieder einmal mit denselben
Worten: 'Herr, führe mich auf den Weg des Heils'. Und er vernahm eine
Stimme, die sprach: 'Arsenius, fliehe, schweig, halte Ruh', das sind die
Wurzeln der Sündlosigkeit'«. Diese göttliche Vorschrift machte er sich zu
seiner Regel und floh nicht bloß selber die Menschen, sondern sorgte auch
dafür, daß sie vor ihm flohen. Als einmal der Erzbischof in Begleitung
einer Magistratsperson ihn besuchen und ein erbauliches Gespräch mit ihm
führen wollte, sagte Arsenius: »Und wenn ich euch etwas sagen werde, werdet
ihr euch danach richten?« Als sie dies bejahten, sagte er: »Überall, wo ihr
hören werdet: Arsenius ist da -- da bleibet ferne«. Als ihn der Erzbischof
ein zweites Mal besuchen wollte, schickte er zuvor zu ihm, um zu sehen, ob
er ihn empfangen werde. Arsenius ließ ihm sagen: »Wenn du kommst, so werde
ich dir zwar meine Thür öffnen; habe ich aber dir geöffnet, so muß ich auch
allen andern öffnen, und dann wird meines Bleibens hier nicht länger sein«.
Darauf sagte der Bischof: »Wenn ihn mein Besuch nur vertreibt, so will ich
nie mehr zu dem heiligen Manne gehen«. Einer römischen Dame, die gekommen
war, um seiner Heiligkeit zu huldigen, sagte er: »Was ist dir eingefallen,
eine so weite Reise zu machen? Weißt du nicht, daß du ein Weib bist und
nicht in der Welt herumfahren sollst? Oder willst du den andern Frauen in
Rom erzählen: ich habe den Arsenius gesehen -- so daß das Meer bald von
Weibern wimmeln wird, die mich besuchen wollen?« Die Frau antwortete: »Wenn
Gott mir die Rückkehr nach Rom verstattet, so will ich dafür sorgen, daß
niemand hierher kommt. Aber bitte für mich und gedenke allezeit meiner.«
Darauf Arsenius: »Ja, ich will Gott bitten, daß er die Erinnerung an dich
aus meinem Herzen verwische«. Als die Dame dies vernahm, entfernte sie sich
ganz betroffen.

Es wird weiter von ihm erzählt: als der Vater Markus ihn fragte, warum er
den Menschen so sehr aus dem Wege gehe, habe er geantwortet: »Weiß Gott,
ich liebe die Menschen, aber ich kann nicht mit Gott und mit den Menschen
zugleich verkehren«.

Die heiligen Väter scheuten den Verkehr und die Bekanntschaft mit den
Leuten so sehr, daß einige von ihnen, nur um die Menschen ganz fern von
sich zu halten, sich wahnsinnig stellten, ja, was fast unglaublich ist,
sich selbst für Ketzer ausgaben. In dem »Leben der Altväter« kann man es
lesen, was der Vater Simeon für Anstalten machte, als der Statthalter der
Provinz ihn besuchen wollte: er bedeckte sich mit einem Sack, nahm ein
Stück Brot und Käse in die Hand, setzte sich unter die Thür seiner Zelle
und fing an zu essen. Man lese auch die Geschichte von jenem Einsiedler,
der, als er erfuhr, daß Leute mit Fackeln zu ihm kommen, seine Kleider
auszog, sie in den Fluß warf und alsdann ganz nackt sich anschickte, sie zu
waschen. Sein Diener errötete bei diesem Anblick und bat die Leute: »Kehret
um, der Alte hat den Verstand verloren«. Als er wieder zu ihm kam, fragte
er ihn: »Was hast du denn gemacht, Vater? Alle, die dich sahen, sagten: der
Alte ist besessen«. Da antwortete der Greis: »Das eben wollte ich hören«.

Von dem Vater Moses ist ferner zu lesen, daß er, um dem Besuch des
Statthalters zu entgehen, sich in einen Sumpf flüchtete. Unterwegs
begegnete ihm der Statthalter mit seinen Leuten und fragte ihn: »Sag uns,
Alter, wo ist die Zelle des Moses?« Dieser antwortete: »Was wollt ihr von
ihm? Er ist ein Narr und ein Ketzer«. Was soll man dazu sagen, daß der
Vater Pastor sich nicht von dem Statthalter besuchen ließ, obgleich er
dadurch den Sohn seiner Schwester, die ihn flehentlich darum bat, aus dem
Gefängnis hätte befreien können? Wie seltsam! Die Mächtigen dieser Welt
kommen voll Verehrung und Demut, die Heiligen zu besuchen, und diese sind
bestrebt, sie gänzlich von sich fernzuhalten, selbst auf Kosten ihres guten
Rufes.

Damit ihr aber auch euer eigenes Geschlecht in der Ausübung dieser Tugend
kennen lernet: wer vermöchte jene Jungfrau würdig zu preisen, welche selbst
den Besuch des heiligen Martinus zurückwies, um in ihrer Andacht nicht
gestört zu werden? Hieronymus schreibt darüber an den Mönch Oceanus: »Im
Leben des heiligen Martinus erzählt Sulpitius: der heilige Martinus wollte,
da sein Weg ihn vorbeiführte, eine durch ihre Sittenstrenge berühmte
Jungfrau besuchen. Allein diese wollte nicht, sondern schickte ihm ein
Geschenk und rief dem frommen Mann vom Fenster aus zu: bete dort, mein
Vater, denn noch niemals hat mich ein Mann besucht. Martinus, dies
vernehmend, dankte Gott, daß sie, von solchem sittlichen Ernst erfüllt,
ihrem keuschen Vorsatz treu geblieben war. Er segnete sie und ging fröhlich
von dannen«. Diese Jungfrau verschmähte es oder scheute sich, von dem Lager
ihrer frommen Betrachtung aufzustehen und war bereit, dem Freunde, der an
ihre Thür pochte, zu antworten: »Ich habe meine Füße gewaschen, wie soll
ich sie wieder besudeln?« Wie würden sich Bischöfe und Prälaten in unserer
Zeit gekränkt fühlen, wenn sie eine solche Zurückweisung von Arsenius oder
von dieser Jungfrau erfahren hätten! Möchten sich durch diese Beispiele die
Mönche beschämen lassen, die jetzt in der Einsamkeit leben und sich so sehr
über den Besuch von Bischöfen freuen, daß sie zu ihrer Aufnahme eigene
Häuser bauen. Statt die Herren dieser Welt, die gewöhnlich großes Gefolge
mitbringen, zu meiden, laden sie dieselben ein, und unter dem Vorwand der
Gastfreundschaft vergrößern sie ihre Niederlassungen und machen die
Einsamkeit, die sie aufgesucht haben, zur belebten Stadt. Gewiß ist es das
Werk des alten listigen Versuchers, daß fast alle heutigen Klöster, während
sie in alter Zeit, um den Menschen zu entgehen, in der Abgeschiedenheit
gegründet worden waren, später, als die Glut der Frömmigkeit erkaltete,
Leute herbeigezogen, Knechte und Mägde in Menge angestellt und große
Baulichkeiten an den der Einsamkeit geweihten Orten errichtet haben; so
sind sie selber in die Welt zurückgekehrt oder haben vielmehr die Welt bei
sich eingeschleppt. In die größten Erbärmlichkeiten verwickelt und von
weltlicher wie von geistlicher Gewalt geknechtet, haben sie zugleich Namen
und Wesen des Mönchs, d. h. des Einsiedlers, verloren, während sie müßig
und von der Arbeit anderer leben wollten. Ihre Lage ist oftmals eine so
bedrängte, daß sie, mit der Verteidigung ihrer Schutzbefohlenen und ihres
Eigentums beschäftigt, oft ihr eigenes Besitztum einbüßen, und daß bei dem
häufigen Brande der benachbarten Häuser auch die Klöster selbst vom Feuer
ergriffen werden. Und dennoch legen sie ihrem Übermut keine Zügel an.

Solche Menschen halten es innerhalb des Klosterbezirks nicht aus, sondern
selbzweit und selbdritt, manchmal auch allein, durchstreifen sie Dörfer,
Schlösser und Städte, ohne um eine Ordensregel sich zu kümmern. Sie sind
viel schlechter als die Weltmenschen, weil sie an ihrem Gelübde zu
Verrätern werden. Die Häuser, in welchen sie wohnen, nennen sie
mißbräuchlich »Obedientien«, und doch wird hier keine Regel eingehalten und
nur dem Bauch und dem Fleische wird Gehorsam geleistet. Hier hausen sie mit
ihren Verwandten und guten Freunden und leben ungestört nach ihres Herzens
Gelüste, da sie von ihrem Gewissen nichts zu fürchten haben. Solchen
frechen Verrätern werden gewiß auch solche Ausschweifungen zum Verbrechen,
die bei anderen Menschen verzeihlich sind.

Mit derartigen Menschen dürfet ihr nicht bloß nicht in Berührung kommen --
ihr solltet nicht einmal von ihnen hören. Für eure Schwachheit aber ist die
Einsamkeit darum so notwendig, weil wir hier den Angriffen fleischlicher
Versuchungen weniger ausgesetzt sind und unsern Sinnen weniger Gelegenheit
geboten ist, uns zum Stofflichen hinabzuziehen. Darum sagt auch der heilige
Antonius: »Wer in der Einsamkeit wohnt und ein beschauliches Leben führt,
dem bleiben dreierlei Kämpfe erspart, der mit dem Gehör, der mit der Zunge
und der mit den Augen, und nur Ein Kampf bleibt ihm zu bestehen: der mit
dem Herzen«. Diese Vorzüge der Einsamkeit hat auch der große Kirchenlehrer
Hieronymus gar wohl erkannt, und dem Mönche Heliodorus sie vorhaltend, ruft
er aus: »O Einsamkeit, die du dich des vertrauten Umgangs mit Gott
erfreust! Mein Bruder, was machst du dir in der Welt zu schaffen, der du
über der Welt stehst!«

Nachdem ich nun im allgemeinen darüber gesprochen habe, wo ein Kloster
passend anzulegen sei, will ich noch zeigen, wie die Lage des Ortes selbst
des näheren beschaffen sein soll. Bei der Wahl des Ortes für ein Kloster
ist, soweit dies irgend geschehen kann, der Rat des heiligen Benediktus zu
befolgen: innerhalb des klösterlichen Bezirkes soll womöglich alles das
beschlossen sein, was für ein Kloster unumgänglich notwendig ist: nämlich
Garten, Brunnen, Mühle, Bäckerei mit Backofen und Räumlichkeiten, wo die
Schwestern ihre täglichen Geschäfte verrichten können, so daß kein Anlaß
vorhanden ist, draußen herumzuschweifen.

Wie im Kriegslager eines weltlichen Heeres, so muß auch in den Lagern des
Herrn, d. h. in den klösterlichen Gemeinschaften, ein Oberhaupt sein, das
den andern zu gebieten hat. Dort steht Ein Befehlshaber, dessen Wink in
allem befolgt wird, an der Spitze des Ganzen. Wegen der Größe des Heeres
und seiner zahlreichen Amtspflichten überträgt er einen Teil seiner Last
auf andere und setzt zu diesem Zweck mehrere Unterbefehlshaber ein, welche
die einzelnen Abteilungen beaufsichtigen und den Dienst überwachen. So soll
es auch in den Klöstern gehalten werden: eine würdige Schwester soll die
Oberaufsicht über die andern haben; nach ihrer Meinung und nach ihrem
Gutdünken sollen sich die andern richten, keine soll sich unterstehen, ihr
Schwierigkeiten zu machen oder gegen ihren Befehl zu murren. Denn keine
menschliche Gemeinschaft, nicht einmal die kleine Genossenschaft auch nur
Einer Familie kann bestehen, wenn man nicht streng auf Einigkeit hält und
nicht das Regiment in der Hand eines Einzigen liegt. Darum schloß auch die
Arche, das Abbild der Kirche, mit Einer Elle ab, obwohl sie deren in die
Länge und Breite viele hatte. Und in den Sprüchen steht geschrieben: »Um
ihrer Sünden willen hat die Erde viele Herren«. Auch nach dem Tod
Alexanders vermehrte sich mit den Königen zugleich das Unheil, und in Rom
hatte die Eintracht keinen Bestand, als mehrere sich in die Herrschaft
teilten; daher sagt Lukanus im ersten Buch seiner Gedichte:

      »Den Grund deiner Leiden
   Schufst du dir selbst, o Rom, da du drei Herren gehorchtest:
   Nie noch ward ein Vertrag, der die Herrschaft teilte, zum Segen.«

-- -- -- Und einige Verse weiter unten heißt es:

   »Ja, so lange die Erde das Meer, der Äther den Erdball
   Trägt, und die Sonne den Lauf in weiten Bahnen vollendet,
   Und den Tag ablösend die Nacht mit denselben Zeichen heraufzieht:
   _So lang_ traut von mehreren Herrn nicht einer dem andern,
   Und kein Herrscher trägt mit Geduld den Genossen der Herrschaft.«

So ging es gewiß auch mit den Jüngern des frommen Abtes Frontonius. Er
hatte deren in seinem Geburtsort gegen siebzig um sich versammelt und große
Gnade bei Gott und den Menschen erlangt. Auf einmal verließ er das Kloster
in der Stadt und alles, was er an Gütern besaß, und nahm seine Jünger, von
allem entblößt, mit sich in die Wüste. Nach kurzer Zeit murrten sie, wie
einst das Volk Israel gegen Moses, weil er sie von den Fleischtöpfen
Ägyptens und dem Überfluß des Landes in die Wüste geführt habe, und
sprachen: »Ist die Keuschheit nur in der Wüste zu Hause, nicht auch in den
Städten? Warum kehren wir nicht zurück in die Stadt, die wir nur auf kurze
Zeit verlassen wollten? Oder erhört Gott nur in der Wüste Gebete? Wer kann
von der Speise der Engel leben? Wer macht sich gern zum Genossen der wilden
Tiere? Was nötigt uns, hier zu bleiben? Warum kehren wir nicht zurück in
die Heimat, um dort Gott zu preisen?«

Daher mahnt auch der Apostel Jakobus: »Liebe Brüder, unterwinde sich nicht
jedermann Lehrer zu sein und wisset, daß wir desto mehr Urteil empfahen
werden«. Und Hieronymus schreibt in der Lebensregel, die er dem Mönch
Rusticus gab: »Keine Kunst lernt sich ohne Lehrer. Selbst die
unvernünftigen Geschöpfe und die Rudel wilder Tiere haben ihre Führer,
denen sie folgen. Bei den Bienen geht Eine voran und die andern folgen. Die
Kraniche folgen ihrem Führer in geschlossener Ordnung. Ein Herrscher, Ein
Richter der Provinz. Als Rom gegründet wurde, konnte es die beiden Brüder
nicht zugleich als Herrscher ertragen, und es kam darob zum Brudermord. Im
Leib der Rebekka haben Esau und Jakob einander bekämpft. Jeder Bischof,
jeder Oberpriester, jeder Archidiakon und überhaupt der ganze hierarchische
Stand hat seinen Vorgesetzten. Im Schiff Ein Steuermann, im Haus Ein Herr.
Im größten Heere sieht alles auf den Wink eines Einzigen. Durch all dies
will ich nur soviel klar machen, daß man im Kloster nicht nach seinem
eigenen Willen lebt, sondern unter der Zucht eines einzigen Vorgesetzten
und in der Gemeinschaft mit vielen«.

Um aber die Einigkeit aufrecht zu erhalten, ist es notwendig, daß Eine
Schwester allen andern vorstehe, und daß ihr alle übrigen gehorchen. Unter
ihr sollen dann wieder andere gleichsam als Hilfsbeamte stehen, welche sie
nach eigenem Ermessen wählen mag. Diese sollen ihres Amtes warten in dem
Umfang, wie es ihnen von der Oberin übertragen worden ist, und gleichsam
die Anführer und Berater im Heere des Herrn sein. Die Gesamtheit der
übrigen aber soll als der Truppenkörper unter ihrer Leitung gegen den Bösen
und seine Trabanten tapfer ankämpfen.

Ich bin der Meinung, daß für die gesamte Verwaltung des Klosters nicht mehr
und nicht weniger als sieben Schwestern notwendig sind: nämlich eine
Pförtnerin, eine Kellermeisterin, eine Kleiderbewahrerin, eine
Krankenpflegerin, eine Vorsängerin, eine Sakristane, endlich eine
Diakonisse, oder, wie man sie jetzt nennt, eine Äbtissin. Diese Diakonisse
bekleidet gleichsam die Stelle des Feldherrn, dem alles gehorcht, in diesem
geistlichen Lager, in diesem Kriegsdienst des Herrn; steht ja doch
geschrieben: »Des Menschen Leben auf der Erde ist ein Kriegsdienst« -- und
anderswo: »Schrecklich wie Heeresspitzen«. Die sechs andern Schwestern, die
wir Offizialen nennen, stehen unter dem Befehl der ersten und nehmen den
Platz der Führer und Konsuln ein. Alle übrigen Nonnen aber, die wir
Klausnerinnen nennen, verrichten nach Art von Kriegern den göttlichen
Dienst, in welchem sie stehen. Solche Schwestern aber, die sich bekehrt
und, ebenfalls der Welt entsagend, sich den Nonnen angeschlossen haben und
ein frommes, wenngleich nicht klösterliches Leben führen, nehmen eine mehr
untergeordnete Stellung ein, wie der Troß bei einem weltlichen Heer.

Nun aber bleibt noch übrig, unter der Leitung des göttlichen Geistes die
einzelnen Rangstufen in diesem Heerwesen genau festzusetzen, damit sie den
Angriffen der bösen Geister gegenüber wirkliche »Heeresspitzen« seien.

Bei der Aufstellung unserer Regel wollen wir mit dem Oberhaupte, nämlich
mit der Diakonisse, beginnen und unsere Anordnungen über diejenige Person
feststellen, die dann wiederum alles andere anzuordnen hat. Ich habe schon
in meinem letzten Brief erwähnt, wie der Apostel Paulus dem Timotheus ihre
Frömmigkeit als eine solche beschreibt, die ganz besonders hervorragend und
erprobt sein müsse; nämlich also: »Laß keine Witwe erwählt werden unter
sechzig Jahren, und die da gewesen sei Eines Mannes Weib und die ein
Zeugnis habe guter Werke, so sie Kinder aufgezogen hat, so sie gastfrei
gewesen ist, so sie der Heiligen Füße gewaschen hat, so sie den Trübseligen
Handreichung gethan hat, so sie allem guten Werk nachgekommen ist. Der
jungen Witwen aber entschlage dich«. Derselbe Apostel sagt in seiner
Unterweisung für Diakonen über die Diakonissen: »Desselbengleichen ihre
Weiber sollen ehrbar sein, nicht Lästerinnen, nüchtern, treu in allen
Dingen«. Den Zweck und die Absicht, welche der Apostel mit diesen
Bestimmungen verfolgt, glaube ich in meinem letzten Brief genügend
besprochen zu haben, besonders auch die Frage, warum die Diakonisse nach
dem Willen des Apostels Eines Mannes Weib und vorgerückten Alters sein
soll. Darum können wir uns auch nicht genug wundern, daß in die Kirche der
verderbliche Brauch sich eingeschlichen hat, lieber Jungfrauen als gewesene
Ehefrauen mit diesem Amte zu betrauen und öfters Jüngere den Älteren
vorzuziehen, da doch der Prediger sagt: »Wehe dir, Land, des König ein Kind
ist« -- und da wir doch alle gewiß dem Worte des frommen Hiob recht geben:
»Bei den Großvätern ist Weisheit und Verstand bei den Alten«. Darum heißt
es auch in den Sprüchen: »Graue Haare sind eine Krone der Ehren, die auf
den Wegen der Gerechtigkeit gefunden werden«. Und im Buche Sirach: »O wie
fein steht's, wenn die grauen Häupter weise und die Alten klug und die
Herren vernünftig und vorsichtig sind! Das ist der Alten Krone, wenn sie
viel erfahren haben; und ihre Ehre ist, wenn sie Gott fürchten.« Weiter
heißt es da: »Der Älteste soll reden, denn es gebühret ihm, als der
erfahren ist ... Ein Jüngling mag auch wohl reden einmal oder zwei, wenn's
not ist; und wenn man ihn fragt, soll er's kurz machen, und sich halten als
der nicht viel wisse und lieber schweige. Und soll sich nicht den Herrn
gleich achten und wenn ein Alter redet, nicht drein waschen«.

Darum nennt man auch die Priester, welche in der Kirche über dem Volk
stehen, Älteste; schon ihr Name will ausdrücken, was sie sein sollen. Und
in den Lebensbeschreibungen der Heiligen heißen diejenigen, die wir jetzt
Väter nennen, Alte.

Mit allem Ernst also hat man darauf zu sehen, daß bei der Wahl und Weihe
der Diakonisse vor allem der Rat des Apostels befolgt und eine Schwester
gewählt werde, welche durch ihre Lebensführung und durch ihr Wissen den
andern überlegen ist; ihr reifes Alter soll eine Bürgschaft sein auch für
die Zuverlässigkeit ihrer Sitten; durch Gehorsam soll sie sich das Recht
zum Befehlen erworben haben; die Regel soll sie nicht bloß vom Hörensagen,
sondern vom Ausüben kennen gelernt und sich fest eingeprägt haben. Wenn sie
nicht durch Gelehrsamkeit glänzt, so mag sie sich darüber trösten: sie ist
ja nicht zu philosophischen Verhandlungen und dialektischen Übungen da,
sondern sie soll sich mit der Kunst des regelrechten Lebens und mit der
Ausübung guter Werke befassen. So heißt es vom Herrn: er fing an zu thun
und zu lehren -- also zuerst thun, dann erst lehren. Denn die Kunst des
Handelns ist besser und vollkommener als die des Redens, die That ist mehr
wert als das Wort. Wir wollen uns das Wort merken, das vom Vater Ipitius
überliefert ist: »Der ist der rechte Weise, der nicht durch Worte, sondern
durch Thaten andere belehrt«. Diese Äußerung ist dazu angethan, uns in
dieser Hinsicht Kraft und Vertrauen mitzuteilen.

Wir wollen uns auch den Ausspruch des heiligen Antonius merken, mit dem er
phrasenreiche Philosophen abwies, die über seine Art zu lehren spotteten,
als sei er ein einfältiger, ungebildeter Mensch. »Antwortet mir« -- sagte
er zu ihnen -- »was ist älter: der gesunde Menschenverstand oder die
Gelehrsamkeit? Und welches von beiden ist aus dem andern entstanden, der
Verstand aus der Gelehrsamkeit oder die Gelehrsamkeit aus dem gesunden
Menschenverstand?« Auf ihre Antwort, daß der Verstand Urheber und Erfinder
der Gelehrsamkeit sei, erwiderte Antonius: »Also braucht sich, wer gesunden
Menschenverstand besitzt, um Gelehrsamkeit nicht zu kümmern«.

Man vernehme auch das Wort des Apostels, das uns Stärke verleiht im Herrn:
»Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Thorheit gemacht?« Und
wiederum; »Was thöricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählet, daß er die
Weisen zu schanden mache, und was schwach ist vor der Welt, das hat Gott
erwählet, daß er zu schanden mache, was stark ist, und das Unedle vor der
Welt und das Verachtete hat Gott erwählet, und das da nichts ist, daß er zu
nichte mache, was etwas ist, auf daß sich vor ihm kein Fleisch rühme«. Denn
das Reich Gottes besteht, wie er selbst sagt, nicht in Worten, sondern in
Kraft.

Hält es die Äbtissin jedoch für nötig, zu gründlicherer Erkenntnis dieses
oder jenes Gegenstandes sich an die Schrift zu wenden, so mag sie, ohne zu
erröten, sachverständige, gelehrte Leute darüber befragen, etwas Neues
lernen und hierbei die Aufschlüsse, welche die Wissenschaft giebt, nicht
gering achten, sondern sich dieselben bescheiden und sorgfältig aneignen;
hat doch auch das Haupt der Apostel sogar die Rüge seines Mitapostels
Paulus geduldig hingenommen. Auch der heilige Benedikt bestätigt es, daß
der Herr oft gerade den Geringsten sich am herrlichsten offenbart.

Um aber dem göttlichen Willen, so wie der Apostel ihn oben gekennzeichnet
hat, noch weiter zu willfahren; so soll man bei der Wahl der Äbtissin, wenn
nicht die gebieterische Not und triftige Gründe eine andere Maßregel
erheischen, von vornehmen, in der Welt einflußreichen Personen absehen.
Denn solche könnten im Vertrauen auf ihre Abkunft leicht hochfahrend,
anspruchsvoll und stolz werden; die Wahl solcher Frauen würde dem Kloster
zum Verderben ausschlagen, besonders dann, wenn dieselben Landeskinder
sind. Denn es steht zu befürchten, daß die Nähe ihrer Angehörigen sie in
ihrer Anmaßung bestärke, daß das Kloster durch den häufigen Besuch ihrer
Verwandten belastet und in seiner Ruhe gestört werde, daß sie selbst durch
die Ihrigen die Klosterordnung antasten lasse oder die Mißbilligung anderer
sich zuziehe nach dem Worte der Wahrheit; »Der Prophet gilt nirgends
weniger als in seinem Vaterlande«.

Dies hat auch der heilige Hieronymus im Auge, wenn er nach Aufzählung alles
dessen, was einem Mönche, der in seiner Heimat bleibe, zum Schaden
gereichen könne, in seinem Brief an Heliodorus sagt: »Aus diesen Erwägungen
geht hervor, daß ein Mönch in seinem Vaterlande nicht zur Vollkommenheit
gelangen kann. Nicht vollkommen werden wollen ist aber so viel wie Sünde
begehen«. Wie großen Schaden aber werden die anvertrauten Seelen nehmen,
wenn es diejenige mit den Pflichten der Religion nicht genau nimmt, die
dazu bestellt ist, über die Erfüllung derselben zu wachen? Für die Menge
der untergeordneten Schwestern genügt es, wenn sie die eine oder andere
Tugend aufzuweisen haben. Die Äbtissin muß alle Tugenden mustergültig in
sich vereinigen, so daß sie in allem, was sie von den andern verlangt,
selbst mit gutem Beispiel vorangehen kann, und nicht etwa ihre Sitten mit
ihren eigenen Geboten im Widerspruch stehen, oder daß sie nicht mit Worten
aufbaut und mit Thaten selbst wieder einreißt und so das Wort der
Zurechtweisung aus ihrem Munde verloren gehe, daß sie erröten müßte andere
zu tadeln über Fehler, deren sie sich selber schuldig macht.

Diesem Fehler zu entgehen, bittet der Psalmist den Herrn: »Laß die Wahrheit
nimmer ferne sein von meinem Munde«; denn er gedenkt der schweren Drohung
des Herrn, die er an anderer Stelle erwähnt, wenn er sagt: »Zu dem Sünder
aber hat Gott gesprochen: Was verkündigest du meine Rechte und nimmst
meinen Bund in deinen Mund, so du doch Zucht hassest und wirfst meine Worte
hinter dich?« Und der Apostel Paulus, diesem Vorwurf zu entgehen, sagt:
»Ich betäube meinen Leib und zähme ihn, daß ich nicht den andern predige
und selbst verwerflich werde«. Denn wessen Leben verächtlich ist, der darf
sich nicht wundern, wenn auch seine Predigt und Lehre mißachtet wird. Und
wenn der, der einen andern heilen sollte, an der nämlichen Krankheit selbst
leidet, so kann ihm der Kranke mit Recht zurufen: »Arzt, hilf dir selber!«

Möchte sich doch jeder, der in der Kirche eine gebietende Stellung
einnimmt, klar machen, welch große Zerstörung sein eigener Fall verursacht,
da er seine Untergebenen mit hinunterreißt in den Abgrund des Verderbens.
Die Wahrheit spricht: »Wer eines von diesen kleinsten Geboten auflöset und
lehret die Leute also, der wird der Kleinste heißen im Himmelreich«. Es
löst aber das Gebot auf, wer das Gegenteil davon thut, und ein solcher
Mann, der durch sein schlimmes Beispiel auch andere verdirbt, sitzt auf
seinem Stuhl als ein Lehrer der Pestilenz. Wenn nun einer, der sich also
verschuldet, der Kleinste heißen soll im Himmelreich: wofür soll dann ein
schlechter Vorgesetzter gelten, von dessen Pflichtvergessenheit der Herr
nicht bloß das Blut seiner eigenen Seele, sondern auch aller ihm
untergebenen Seelen Blut verlangen wird?

Darum spricht die »Weisheit« folgende Drohung aus: »Denn euch ist die
Obrigkeit gegeben vom Herrn und die Gewalt vom Höchsten, welcher wird
fragen, wie ihr handelt, und forschen, was ihr ordnet. Denn ihr seid seines
Reiches Amtleute; aber ihr führet euer Amt nicht fein, und haltet kein
Recht, und thut nicht nach dem, das der Herr geordnet hat. Er wird gar
greulich und kurz über euch kommen, und es wird ein gar scharf Gericht
gehen über die Oberherrn. Denn den Geringen widerfähret Gnade; aber die
Gewaltigen werden gewaltiglich gestraft werden, und über die Mächtigen wird
ein stark Gericht gehalten werden«.

Der Untergebene hat genug gethan, wenn er seine eigene Seele vor Sünde
bewahrt. Den Vorgesetzten droht der Tod auch für fremde Vergehungen. Denn
mit der Größe der anvertrauten Gabe wächst auch die Verantwortung, und wem
viel gegeben ist, von dem wird auch viel gefordert werden. Das Buch der
»Sprüche« warnt uns vor dieser großen Gefahr eindringlich mit den Worten:
»Mein Kind, wirst du Bürge für deinen Nächsten und hast deine Hand bei
einem Fremden verhaftet, so bist du verknüpft mit der Rede deines Mundes
und gefangen mit den Reden deines Mundes. So thue doch, mein Kind, also und
errette dich, denn du bist deinem Nächsten in die Hände gekommen. Eile,
dränge und treibe deinen Nächsten. Laß deine Augen nicht schlafen noch
deine Augenlider schlummern«.

Bürge für einen Freund werden wir, indem unsere Liebe irgend jemand in
unsere Lebensgemeinschaft aufnimmt. Wir sagen ihm unsere liebevolle
Fürsorge zu, wie er seinerseits uns Gehorsam verspricht. Und unsere Hand
»verhaften« wir insofern bei ihm, als wir infolge des Gelübdes ihn zum
Gegenstand unserer thätigen Fürsorge machen. Endlich sind wir ihm auch »in
die Hände gekommen«, denn, wenn wir uns nicht vor ihm vorsehen, so kann er
zum Mörder unserer Seele werden. Um dieser Gefahr zu entgehen, ist der Rat
zu befolgen: »Eile, dränge und treibe« u. s. w.

So soll denn die Äbtissin gleich einem umsichtigen, unermüdlichen Feldherrn
bald hier bald dort sein und ihr Lager in Ordnung halten und mustern, damit
nicht durch Nachlässigkeit dem ein Zugang sich öffne, der umhergeht wie ein
brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge. Alle Schäden des Hauses soll
sie zuerst bemerken, damit sie von ihr gutgemacht werden können, ehe sie
von andern bemerkt werden und böses Beispiel geben. Möge es ihr nicht so
gehen, wie den thörichten oder nachlässigen Leuten, denen der heilige
Hieronymus den Vorwurf macht: »Gewöhnlich erfahren wir selbst es zuletzt,
wenn in unserem Hause etwas nicht in Ordnung ist und wissen nichts von den
Fehlern unserer Kinder und Frauen, wenn die Nachbarn schon laut davon
sprechen«.

Die Schwester, die den andern vorsteht, mag allezeit bedenken, daß sie die
Verantwortung für Leib und Seele der Ihrigen übernommen hat. Für die Obhut
des Leibes findet sich eine Mahnung im Jesus Sirach: »Hast du Töchter, so
bewahre ihren Leib und zeige ihnen kein allzu heiteres Angesicht«. Und
weiter: »Eine Tochter macht dem Vater viel Wachens, davon niemand weiß, und
das Sorgen für sie nimmt ihm viel Schlaf, da sie möchte geschändet werden«.
Wir schänden aber unsern Körper nicht bloß durch Unzucht, sondern durch
jede unreine That, geschehe sie nun mit der Zunge oder mit irgend einem
andern Glied, indem wir es zu irgend einem flüchtigen sinnlichen Genuß
mißbrauchen. Es steht geschrieben: »Der Tod dringt ein durch unsere
Fenster«, d. h. die Sünde gelangt ins Herz auf dem Weg unserer fünf Sinne.
Giebt es einen schrecklicheren Tod als den Tod der Seele, und ist irgend
etwas schwerer zu behüten als sie? »Die Wahrheit« spricht: »Fürchtet euch
nicht vor denen, die den Leib töten und die Seele nicht mögen töten«. Von
allen, die diesen Rat vernehmen: wer fürchtet nicht mehr den leiblichen Tod
als den der Seele? Wer flieht nicht ängstlicher das Schwert als die Lüge?
Und doch steht geschrieben: »Der Mund, der da lüget, tötet die Seele«. Was
ist so leicht zu töten wie die Seele? Welcher Pfeil ist so schnell fertig
wie die Sünde? Wer ist auch nur über seine Gedanken Herr? Wer ist fähig,
sich selbst vor Sünde zu bewahren, geschweige denn andere? Welcher
menschliche Hirte ist imstande, seine geistlichen Schafe vor den
geistlichen Wölfen, eine unsichtbare Schar vor dem unsichtbaren Feinde zu
bewahren? Wer hätte nicht Angst vor dem Räuber, der nicht aufhört uns
anzugreifen, den kein Wall auszuschließen, kein Schwert zu töten oder zu
verwunden vermag? der ohn' Unterlaß uns nachstellt und besonders die
Frommen verfolgt nach dem Wort des Propheten Habakuk: »Seine Lockspeisen
sind auserlesen«. Der Apostel Petrus warnt uns vor ihm mit den Worten:
»Euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und
suchet, welchen er verschlinge«. Und wie sicher er in der Hoffnung ist, uns
zu verschlingen, das sagt der Herr in dem Wort an Hiob: »Siehe, er schluckt
in sich den Strom und achtet es nicht groß; läßt sich dünken, er wolle den
Jordan mit seinem Munde ausschöpfen«. Denn was sollte der nicht anzugreifen
wagen, der den Herrn selbst zu versuchen sich nicht gescheut hat? Der schon
die ersten Menschen im Paradies überlistet und aus der Schar der Apostel
dem Herrn einen Jünger geraubt hat? Welcher Ort wäre sicher vor ihm?
Welches Schloß vermöchte er nicht zu sprengen? Wer vermag sich zu schützen
gegen seine Nachstellungen, wer seinen Anläufen zu widerstehen?

Er ist es, der durch Einen Stoß die vier Wände des frommen Hiob zu Fall
gebracht und seine unschuldigen Söhne und Töchter gewaltsam umgebracht hat.
Was wird vollends das schwache Geschlecht gegen ihn vermögen? Wer hat seine
Verführungskünste mehr zu fürchten als die Frau? Denn bei ihr hat er mit
der Verführung angefangen und hat durch sie den Mann und die ganze
Nachkommenschaft überlistet. Die Begierde nach dem Besitz eines noch
höheren Gutes hat das Weib auch um den des geringeren gebracht.

Diese Verführungskunst wird er auch jetzt noch beim Weib mit Erfolg
anwenden, da sie lieber herrschen als gehorchen will und sich durch das
Verlangen nach Besitz und Ehre bestimmen läßt. Das was nachfolgt, wirft ein
Licht auf das, was vorangegangen ist. Wenn die Vorgesetzte ein
genußreicheres Leben führt als die Untergebene oder wenn sie sich etwas
erlaubt, was über das eigentliche Bedürfnis hinausgeht, so ist doch außer
Zweifel, daß sie danach Verlangen getragen hat. Wenn sie jetzt nach
kostbarerem Schmuck trachtet als sie früher hatte, so muß ihr Herz doch
gewiß von eitlem Wahn erfüllt sein. Ihr Vorleben wird durch ihr späteres
Verhalten gerichtet. Ob das, was sie früher gethan hat, echte Tugend oder
nur Heuchelei war, das kommt nach ihrer Erhöhung an den Tag. Sie soll sich
auf ihren hohen Ehrenplatz eher mit Gewalt ziehen lassen als von selber
kommen -- nach dem Worte des Herrn; »Alle, die kommen, sind Diebe und
Räuber«. -- »Es sind gekommen,« sagt Hieronymus, »die nicht gesandt waren.«
Man soll sich eine Ehre lieber aufzwingen lassen als sie erzwingen. »Denn
niemand,« sagt der Apostel, »nimmt sich selbst die Ehre, sondern der auch
berufen sei von Gott, gleichwie Aaron.« Wirst du berufen, so traure wie
eine, die zum Tode geführt wird, wirst du verschmäht, so freue dich, als
wärest du dem Tode entgangen.

Wir erröten über Worte, durch welche wir uns anderen überlegen zeigen; wenn
wir aber zu einem Ehrenamt erwählt werden, und durch die Verhältnisse
selbst unsere Tüchtigkeit dargelegt wird, dann sind wir ohne Schüchternheit
und Scham. Und doch weiß jedermann, daß es die Besseren sind, die den
anderen vorgezogen werden. Darum heißt es in den Moralia, Kapitel XXIV:
»Wer die Menschen nicht gut zu vermahnen und zurechtzuweisen versteht, der
soll auch nicht die Leitung derselben übernehmen. Wer dazu erwählt wird,
daß er die Fehler anderer verbessere, der darf nicht selber begehen, was er
ausrotten soll«.

Wenn wir aber bei einer solchen Wahl einen oberflächlichen Widerstand
leisten mit angenommener Bescheidenheit und uns der angebotenen Ehre für
unwürdig erklären, so klagen wir uns gewiß nur darum an, weil wir dadurch
den Schein um so größerer Gerechtigkeit und Würdigkeit erwecken wollen. Wie
viele habe ich bei ihrer Wahl mit den Augen weinen und mit dem Herzen
lachen sehen! Des Unwertes zeihen sie sich, um dadurch nur noch mehr
Beifall und Gunst bei den Menschen zu erjagen. Sie wissen, daß geschrieben
steht: »Der Gerechte klagt sich selber zuerst an«. Und wenn sich später
einmal wirklich eine Anklage gegen solche Leute erhebt und ihnen
Gelegenheit geboten wäre zu weichen, dann halten sie aufs unpassendste und
unverschämteste an der Ehrenstelle fest, und doch haben sie einst mit
falschen Thränen und wahren Anklagen gegen sich selbst bewiesen, daß sie
ihnen aufgenötigt worden sei.

Wie oft habe ich es mit angesehen, daß Kanoniker ihren Bischöfen, die ihnen
die heiligen Weihen aufnötigen wollten, widerstrebt und erklärt haben, sie
seien eines solchen Amtes unwürdig und könnten es nicht mit gutem Gewissen
annehmen. Wenn sie dann der Klerus später zum Bischofsamt erwählte, fand er
geringen oder gar keinen Widerstand. Und solche, die gestern noch das
Diakonat ausschlugen, um, wie sie sagten, nicht für ihre Seele Gefahr zu
laufen, fürchteten sich schon am andern Tage nicht mehr vor dem Sturz von
viel höherer Stufe, als wären sie über Nacht tüchtig geworden. Von ihnen
gilt das Wort, das in den »Sprüchen« geschrieben steht: »Ein Thor klatscht
in die Hände, wenn er für seinen Freund Bürge geworden ist«. Denn der
Unglückliche freut sich da, wo er viel eher Ursache zur Trauer hätte:
nämlich wenn er den Oberbefehl über andere erhält und sich selbst
verpflichtet, für seine Untergebenen zu sorgen, von denen er mehr geliebt
als gefürchtet werden soll.

Um solchem Verderben nach Möglichkeit zu steuern, verbieten wir durchaus,
daß die Äbtissin ein besseres und gemächlicheres Leben führe als ihre
Untergebenen. Weder beim Essen noch beim Schlafen soll sie sich von den
übrigen absondern, sondern sie soll alles in Gemeinschaft der ihr
anvertrauten Herde thun und dadurch, daß sie immer zugegen ist, Gelegenheit
haben, um so besser für sie zu sorgen. Es ist uns zwar wohl bekannt, daß
der heilige Benedikt, in seiner Fürsorge für Pilger und Gäste, dem Abt
gestattete, mit diesen an einem besonderen Tische zu sitzen. Diese
Bestimmung ist damals in gutem Glauben getroffen worden, später aber ist
sie zum Besten der Klöster dahin geändert worden, daß der Abt den Konvent
nicht verlassen, sondern daß ein zuverlässiger Hausmeister die Sorge für
die Pilger übernehmen solle. Denn während der Mahlzeit kann gar leicht ein
Verstoß vorkommen, und gerade bei dieser Gelegenheit muß besonders streng
auf Ordnung gehalten werden. Es kommt auch vor, daß man unter dem Vorwand
der Gastfreundschaft mehr sich selber etwas Gutes gönnt als den Gästen.
Dadurch setzt man sich bei denen, die nicht dabei sind, dem schlimmsten
Verdacht aus und erregt ihre Unzufriedenheit. Je weniger die Lebensführung
des Abtes den Seinigen bekannt ist, desto geringer ist sein Ansehen. Jede
Art von Entbehrung erscheint dagegen allen dann erträglicher, wenn alles
gleicherweise daran trägt, und in erster Linie die Vorgesetzten. Dies lehrt
uns das Beispiel Catos. Denn von ihm wird berichtet: sein Heer mußte mit
ihm Durst leiden; als man ihm nun ein wenig Wasser anbot, verschmähte er
die Gabe und goß es zur allgemeinen Befriedigung aus.

Da also den Vorgesetzten vor allen Dingen Nüchternheit not thut, so müssen
sie selber um so genügsamer leben, da sie ja auch noch für andere zu sorgen
haben. Um die Gabe Gottes, d. h. das ihnen verliehene Ehrenamt, nicht in
Übermut zu verkehren und dadurch besonders bei ihren Untergebenen Anstoß zu
erregen, mögen sie sich zu Herzen nehmen, was geschrieben steht: »Sei nicht
ein Löwe in deinem Hause und nicht ein Wüterich gegen dein Gesinde, denn
Hochmut ist bei Gott und Menschen verhaßt. Gott hat die hoffärtigen Fürsten
vom Stuhl heruntergeworfen und demütige darauf gesetzt. Man hat dich zum
Lenker gemacht: wolle dich darum nicht überheben, sondern sei wie einer von
den andern«. Auch der Apostel, indem er dem Timotheus Verhaltungsmaßregeln
gegen Untergebene giebt, sagt: »Einen Alten schelte nicht, sondern ermahne
ihn als einen Vater, die Jungen als die Brüder, die alten Weiber als die
Mütter, die jungen als die Schwestern«. -- »Nicht ihr habt mich erwählt« --
spricht der Herr -- »sondern ich habe euch erwählt«. Alle andern
Vorgesetzten werden von den Untergebenen gewählt und eingesetzt, denn man
nimmt sie weniger zum Herrschen als zum Dienen. Gott allein ist der wahre
Herr und kann sich seine Unterthanen auswählen zu seinem Dienst. Und doch
hat er sich weniger als Herrn denn als Diener gezeigt, und die Seinigen,
welche nach der höchsten Ehre trachten, weist er zurecht durch sein eigenes
Vorbild und indem er sagt: »Die weltlichen Könige herrschen und die
Gewaltigen heißet man gnädige Herrn. Ihr aber nicht also«.

Die weltlichen Könige ahmt also nach, wer über seine Untergebenen nur
herrschen will, statt ihnen zu dienen, und wer lieber gefürchtet als
geliebt sein will; wer, aufgebläht durch sein hohes Amt, bei Tische gern
oben sitzt und in der Synagoge auf dem vordersten Platz; wer sich gern
grüßen läßt auf dem Markt und sich gern Rabbi nennen läßt von den Leuten.
Diesen Ehrentitel verbietet der Herr anzunehmen, damit wir auch unserer
Namen uns nicht rühmen und in allen Stücken auf Demut gehalten werde. Darum
sagt er: »Ihr aber sollt euch nicht Rabbi nennen lassen und niemand Vater
heißen auf Erden«. Und endlich, um allem Rühmen ein Ende zu machen, sagt
er: »Wer sich selbst erhöhet, der wird erniedriget werden«.

Auch das muß vermieden werden, daß die Herde durch Abwesenheit der Hirten
Gefahr laufe, und daß, während die Vorgesetzten draußen herumschweifen, im
Kloster die Regel beiseite gesetzt werde. Wir bestimmen daher, daß die
Äbtissin mehr für die geistlichen als für die leiblichen Bedürfnisse ihrer
Schwestern sorgen und das Kloster nicht um äußerlicher Angelegenheiten
willen verlassen soll. Vielmehr möge sie ihre ganze Sorgfalt mit allem
Eifer auf die ihr anvertrauten Seelen wenden; auch wird sie unter den
Menschen ein um so größeres Ansehen genießen, je seltener sie sich unter
ihnen sehen läßt -- wie geschrieben steht: »Wenn du von einem Mächtigen
gerufen wirst, so halte dich ferne; denn er wird dich nur um so dringender
rufen«. Wenn aber das Kloster eine Sendung zu verrichten hat, so mögen dies
Mönche oder deren Laienbrüder besorgen. Denn allezeit sollen die Männer für
die Bedürfnisse der Frauen Sorge tragen. Und je frömmer die letzteren sind,
desto mehr Zeit verwenden sie auf den Dienst des Herrn, und desto mehr sind
sie auf die Hilfe der Männer angewiesen. Darum wird auch dem Joseph die
Sorge für die Mutter des Herrn vom Engel übertragen, wiewohl er ihr nicht
beiwohnen durfte. Und der Herr selbst hat seiner Mutter sterbend gleichsam
einen zweiten Sohn bestellt, der für ihr zeitliches Wohl Sorge tragen
sollte. Wie sehr auch die Apostel für die frommen Frauen besorgt waren, ist
allgemein bekannt, wir haben davon schon anderswo gesprochen. Zu ihrer
Unterstützung haben sie ja auch die sieben Diakonen eingesetzt. Ihrer
Autorität folgend, und da die Verhältnisse es gebieterisch verlangen,
bestimmen wir, daß Mönche und Laienbrüder nach der Weise der Apostel und
Diakonen in den Frauenklöstern diejenigen Besorgungen auf sich nehmen, die
zum äußeren Leben notwendig sind. Und zwar braucht man die Mönche
hauptsächlich für die Messen, die Laienbrüder für die sonstigen Arbeiten.

Es ist also notwendig, daß den Frauenklöstern Mönchsklöster zur Seite
stehen, und daß die äußeren Angelegenheiten der Frauen von Männern besorgt
werden, welche durch das gleiche Gelübde gebunden sind. Dieser Brauch
bestand schon in den Anfangszeiten der Kirche zu Alexandria unter der
Leitung des Evangelisten Markus. Und ich glaube, daß in den Nonnenklöstern
die Ordensregel strenger gehalten wird, wenn dieselben der Sorgfalt und
Leitung geistlicher Männer unterstellt sind und für Schafe und Widder ein
und derselbe Hirte eingesetzt wird, so daß derjenige, der über die Männer
gebietet, auch über die Frauen die Aufsicht führe und die apostolische
Verordnung bestehen bleibe: »Der Mann ist des Weibes Haupt, wie Christus
des Mannes Haupt ist, Gott aber ist Christi Haupt«.

So wurde auch das Kloster der heiligen Scholastica, das auf dem Grund und
Boden eines Mönchsklosters lag, durch ihren Bruder geleitet, und seine oder
der anderen Brüder häufige Besuche dienten den Frauen zur Belehrung und zum
Trost. Die Regel des heiligen Basilius giebt an irgend einer Stelle über
eine derartige Oberleitung folgende Verhaltensmaßregeln: »Frage: Darf außer
der Äbtissin auch der Abt eines benachbarten Mönchsklosters mit den Nonnen
seelsorgerliche Gespräche führen? Antwort: Ja, wenn dabei die Vorschrift
des Apostels bewahrt wird: 'lasset alles ehrlich und ordentlich bei euch
zugehen'«. Ebenso im folgenden Kapitel: »Frage: Darf ein Abt mit einer
Äbtissin häufig reden, besonders wenn einige von den Brüdern daran Ärgernis
nehmen? Antwort: Der Apostel sagt zwar: 'Warum sollte ich meine Freiheit
lassen urteilen von eines andern Gewissen' -- aber es ist gut, sich nach
seinen folgenden Worten zu richten: 'Wir haben solcher Macht nicht
gebraucht, damit wir nicht dem Evangelium Christi eine Hindernis machten'.
Man soll die Frauen so selten wie möglich besuchen und die Unterredung
möglichst kurz machen.«

Daher auch der Beschluß des Konzils von Hispalis: »Einstimmig haben wir
beschlossen, daß die Frauenklöster in der Provinz Bätica von Mönchen
bedient und verwaltet werden sollen. Denn wir glauben für das Wohl der
Christo geweihten Jungfrauen zu sorgen, wenn wir geistliche Väter für sie
erwählen, nicht bloß um ihnen durch eine solche Oberleitung einen Schutz zu
verschaffen, sondern auch damit sie von ihnen belehrt und erbaut werden.
Doch soll in Betreff der Mönche die Einschränkung gelten, daß sie in kein
näheres Verhältnis zu den Nonnen treten, auch keinen Zutritt in den Vorraum
des Kloster haben sollen. Auch soll der Abt, oder wer sonst die
Oberaufsicht hat, nicht mit Umgehung der Äbtissin den Nonnen Anweisung über
ihr sittliches Verhalten geben. Auch mit der Äbtissin selbst soll er nicht
zu oft und nicht unter vier Augen reden, sondern in Gegenwart von zwei oder
drei Schwestern; sein Besuch soll selten sein, und die Unterredung kurz«.

Ferne sei es von uns, zu wollen, was auch nur auszusprechen schon eine
Sünde wäre, daß die Mönche mit den Jungfrauen Christi in vertrauten Umgang
kämen, sondern sie sollen gemäß den Bestimmungen der Regeln und
Vorschriften in strenger Geschiedenheit von ihnen leben. Wir stellen die
Frauenklöster nur unter die Oberleitung von Mönchen und bestimmen, daß aus
den Mönchen ein besonders erprobter Mann erwählt werde, dessen Sorge es
sein soll, ihre Güter auf dem Lande oder in der Stadt zu überwachen, die
nötigen Bauten auszuführen und für die sonstigen Bedürfnisse des Klosters
zu sorgen, damit die Dienerinnen Christi allein mit dem Heil ihrer Seele
beschäftigt ausschließlich dem Dienste des Herrn leben und frommen Werken
obliegen können. Auch soll, wer von seinem Abte zu solchem Amte
vorgeschlagen wird, die Bestätigung des Bischofs einholen.

Die Nonnen aber sollen den Mönchen, deren Schutz sie erwarten, die nötigen
Kleider anfertigen, wofür sie dann wiederum die Früchte ihrer Arbeit und
die helfende Fürsorge derselben zu genießen haben sollen.

Dieser weisen Einrichtung folgend wollen wir, daß die Frauenklöster
allezeit Männerklöstern unterstellt werden, damit die Brüder für die
Schwestern sorgen und beide Ein gemeinsames väterliches Oberhaupt haben,
auf dessen Fürsorge beide Klöster angewiesen sind: so wird dann Eine Herde
und Ein Hirte im Herrn sein. Eine solche brüderliche geistige
Genossenschaft ist darum vor Gott und Menschen so angenehm, weil sie den
Bedürfnissen beider Geschlechter, soweit sie sich dem Klosterleben weihen,
entgegenkommt. Die Mönche sollen Männer, die Nonnen Frauen aufnehmen, und
so wird jede Seele, die um ihr Heil bekümmert ist, finden, was ihr not
thut. Und wenn einer zugleich mit seiner Mutter oder Schwester oder Tochter
oder einer Pflegebefohlenen sich dem Klosterleben weihen will, so wird er
hier vollen Trost finden. Solche Mönchs- und Nonnenklöster werden um so
liebevoller miteinander verbunden und füreinander besorgt sein, je mehr
unter den Insassen derselben Freunde und Verwandte sich befinden, welche
nun dieses neue Band noch enger umschlingt.

Wir wollen aber, daß der Vorgesetzte der Mönche, den man Abt nennt, die
Aufsicht über die Nonnen in der Weise führe, daß er in ihnen, die Gottes
Bräute sind -- und er ist Gottes Diener -- seine Herrinnen erblicke, über
die er nicht gebieten, sondern denen er nur nützen soll. Er soll sein wie
der Kämmerer im königlichen Palaste, der auch nicht durch sein Regiment die
Fürstin belästigt, sondern nur auf ihr Wohl bedacht ist. Was sie braucht,
wird er ihr ohne Widerrede beschaffen; für das, was ihr nachteilig sein
könnte, wird er kein Ohr haben; alle äußeren Angelegenheiten wird er so
erledigen, daß er niemals das Innere ihrer Gemächer betritt, außer wenn er
befohlen wird.

In dieser Weise soll -- das ist unser Wille -- der Knecht Christi Sorgen
tragen für die Bräute Christi und ihnen an des Herrn Statt ein treuer
Haushalter sein. Alle ihre Bedürfnisse soll er mit der Diakonisse
besprechen und ohne sie zu Rat gezogen zu haben, soll er über die
Dienerinnen Christi und ihre Angelegenheiten keine Bestimmung treffen, auch
soll er keiner von ihnen etwas vorschreiben und mit keiner reden ohne die
Vermittlung der Äbtissin. So oft ihn die letztere ruft, soll er
bereitwillig kommen und soll das, was die Äbtissin selbst oder ihre
Untergebenen nötig haben, unverzüglich und so gut wie möglich erledigen.
Wird er von der Äbtissin gerufen, so soll er stets nur öffentlich und in
Gegenwart erprobter Personen mit ihr reden, nicht allzu nahe zu ihr
hintreten und sie nicht mit langer Rede hinhalten.

Alles, was an Mundvorräten, Kleidern, auch an Geld vorhanden ist, soll bei
den Dienerinnen Christi niedergelegt und aufbewahrt werden, und von dem,
was den Schwestern übrig bleibt, soll den Brüdern mitgeteilt werden. Das,
was draußen zu holen ist, sollen die Brüder beschaffen, und die Schwestern
sollen nur das thun, was im Innern des Klosters passenderweise von Frauen
besorgt werden kann: den Brüdern Kleider anfertigen oder reinigen, Brot
bereiten, zum Backen einliefern und das Gebackene wieder in Empfang nehmen.
Ihnen liegt auch die Milchwirtschaft, sowie die Hühner- oder Gänsezucht ob,
überhaupt alle Verrichtungen, die besser für Frauen passen als für Männer.

Der Abt selbst soll nach seiner Einsetzung in Gegenwart des Bischofs und
der Schwestern schwören, daß er ihnen ein treuer Haushalter im Herrn sein
und sie vor aller Befleckung des Fleisches sorglich behüten wolle. Und wenn
er, was ferne sei, vom Bischof über der Vernachlässigung der übernommenen
Pflichten betroffen werden sollte, so soll er alsbald als ein Meineidiger
abgesetzt werden. Auch alle Brüder sollen bei Ablegung ihres Gelübdes sich
den Schwestern gegenüber eidlich verpflichten, daß sie dieselben in keiner
Weise werden belästigen lassen und daß sie zur Erhaltung ihrer Keuschheit
ihr möglichstes beitragen werden.

Keinem Mann soll der Zutritt zu den Schwestern verstattet sein ohne die
ausdrückliche Erlaubnis des Oberen, und alles, was ihnen von den Schwestern
zugeschickt wird, muß durch die Hand des Oberen gehen. Nie soll eine
Schwester die Umfriedigung des Klosters überschreiten, sondern alle äußeren
Angelegenheiten sollen, wie gesagt, von den Brüdern besorgt werden -- die
Starken mögen im Schweiß ihres Angesichtes die schwere Arbeit verrichten.
Auch soll keiner der Brüder den Bereich des Klosters betreten, er habe denn
die ausdrückliche Erlaubnis dazu vom Abt und von der Diakonisse im Fall
einer dringlichen, ehrbaren Angelegenheit. Wenn jemand sich untersteht,
diesem Gebote zuwiderzuhandeln, soll er ohne Verzug aus dem Kloster
ausgewiesen werden.

Damit aber die Männer ihre überlegene Stärke nicht zu irgend welchen
Bedrückungen der Frauen mißbrauchen, so bestimmen wir, daß sie nichts gegen
den Willen der Äbtissin unternehmen dürfen, sondern auch sie sollen in
allem ihres Winkes gewärtig sein. Alle, Männer wie Frauen, sollen vor der
Äbtissin das Gelöbnis des Gehorsams ablegen! Friede und Eintracht werden um
so fester gewahrt werden, je weniger man dem starken Geschlecht erlaubt.
Und die Starken werden um so williger den Schwachen Folge leisten, je
weniger sie von den letzteren etwas zu fürchten haben, und je gewisser es
ist, daß der erhöht wird, der sich hienieden vor Gott erniedrigt. Die
Bestimmungen, betreffend die Äbtissin, mögen damit erledigt sein, und ich
will mich nunmehr zu den verschiedenen Klosterämtern wenden.

Die _Meßnerin_, die zugleich auch Schatzmeisterin ist, hat die Aufsicht
über das Gotteshaus; sie bewahrt die Schlüssel dazu und alles was zum
Gottesdienst notwendig ist. Gaben, welche dem Kloster dargebracht werden,
hat sie in Empfang zu nehmen und für alles, was im Gotteshaus zu machen
oder wiederherzustellen ist, sowie für die gesamte Ausschmückung desselben
Sorge zu tragen. Außerdem fällt ihr die Sorge zu für die Hostien, für die
Gefäße und Becher, die auf den Altar gehören und überhaupt für dessen
Ausschmückung; ferner für die Reliquien, für den Weihrauch, für die Kerzen,
für den Stundenzeiger und für die verschiedenen Glockenzeichen. Die Hostien
sollen womöglich die Jungfrauen selbst bereiten und das Mehl dazu reinigen,
auch sollen sie die Altargefäße reinhalten. Doch soll weder die Meßnerin
noch sonst eine der Nonnen die Reliquien oder die Altargefäße oder
Altardecken berühren, wenn sie ihnen nicht zum Zweck der Reinigung
übergeben werden. Zu diesem Behuf soll man Mönche oder Laienbrüder
herbeirufen und auf ihre Ankunft warten. Wenn nötig, sollen unter Aufsicht
der Meßnerin aus ihrer Zahl etliche zu diesem Geschäft bestellt werden, die
würdig sind, die Gefäße zu berühren. Die Schwester soll die Schränke
öffnen, und die Mönche sollen die Gefäße daraus nehmen und wieder
hineinstellen. Diejenige Schwester, welche diese Aufsicht über das
Sanktuarium hat, muß sich durch Reinheit ihres Lebenswandels besonders
auszeichnen. An Leib und Seele soll sie, soweit möglich, tadellos und von
erprobter Enthaltsamkeit und Keuschheit sein. Auch muß sie in der
Berechnung der kirchlichen Festtage nach dem Lauf des Mondes bewandert
sein, damit die Festzeiten im Gottesdienst genau eingehalten werden.

Die _Vorsängerin_ hat die Aufsicht über den ganzen Chor; sie hat für die
Musik beim Gottesdienst zu sorgen und lehrt die anderen singen, Noten
lesen, schreiben und diktieren. Sie führt auch die Aufsicht über die
Bücherschränke, giebt Bücher daraus ab und reiht solche ein und sorgt für
das Abschreiben und Ausschmücken der Bücher. Sie ordnet an, wie man im Chor
zu sitzen hat, und verteilt die Plätze; sie bestimmt diejenigen, welche
vorzulesen oder zu singen haben, und hat ein Verzeichnis der Abschnitte,
die wöchentlich im Kapitel gelesen werden sollen, anzulegen. Darum muß sie
im Schriftwesen wohl bewandert sein und vor allem Kenntnisse in der Musik
haben. Auch soll sie nächst der Äbtissin für die Aufrechterhaltung der
Klosterzucht überhaupt sorgen, und wenn diese anderweitig in Anspruch
genommen ist, soll sie ihre Stelle vertreten.

Die _Krankenwärterin_ hat den Dienst der Kranken unter sich und soll
dieselben vor Sündenschuld wie vor leiblicher Not bewahren. Was Kranke
nötig haben an Speise, an Bädern oder sonstigen Dingen, das soll ihr ohne
weiteres zur Verfügung gestellt werden. Denn hier gilt das bekannte
Sprichwort: »Für Kranke giebt es kein Gesetz«. Fleisch soll ihnen nicht
vorenthalten werden, es sei denn am Freitag, an den Hauptfestvigilien, an
den Quatember- und an den Osterfasten. Vor Sünde sollen die Kranken um so
mehr bewahrt werden, je näher es jedem liegt, an sein Ende zu denken. Vor
allem wird hier Schweigen zu beobachten sein, denn in diesem Punkt vergeht
man sich gar so leicht, und anhalten soll man am Gebet, wie geschrieben
steht: »Mein Sohn, in deiner Krankheit verzweifle nicht an dir selbst,
sondern bitte Gott, und er selbst wird dich heilen. Wende dich ab von der
Sünde und strecke die Hand nach ihm aus und reinige dein Herz von aller
Sünde«. Es ist notwendig, daß eine Krankenwache eingerichtet werde, die
jederzeit zur Hilfeleistung für die Kranken bereit ist, und das Haus muß
mit allem, was für Kranke notwendig ist, versehen sein. Auch für die
Beschaffung von Arzneimitteln soll man Sorge tragen, so gut es die
örtlichen Verhältnisse erlauben. Zu dem Zweck wird es sehr gut sein, wenn
die Krankenwärterin etwas von der Heilkunde versteht. Auch das Verfahren
der Blutentziehung ist ihre Sache. Sie muß zur Ader lassen können, damit
man nicht zu einer solchen Verrichtung einem Mann den Eintritt zu den
Frauen verstatten muß. Die Krankenwärterin hat auch für die Einhaltung der
kanonischen Stunden und für die Kommunion bei den Kranken zu sorgen; am
Sonntag wenigstens sollten sie kommunizieren nach jedesmal vorangegangener
Beichte und Buße, soweit dies möglich ist.

Die letzte Ölung der Kranken soll genau nach der Vorschrift des heiligen
Apostels Jakobus vollzogen werden. Wenn der Zustand einer Kranken
hoffnungslos geworden ist, soll man aus dem Mönchskloster zwei Priester von
gesetztem Alter und einen Diakonen holen. Die sollen das geweihte Öl
mitbringen und in Gegenwart der versammelten Schwestern, aber durch eine
besondere Wand von ihnen getrennt, die heilige Handlung vollziehen. Ähnlich
soll man es auch mit der Kommunion halten, wenn sie nötig geworden ist.

Das Krankenhaus muß daher so angelegt sein, daß die Mönche zu diesen
Verrichtungen bequem ab und zu gehen können, ohne den Konvent der
Schwestern zu sehen und von diesem gesehen zu werden.

Zum mindesten einmal jeden Tag soll die Äbtissin mit der Kellermeisterin
die Kranken, und in ihnen Christum, besuchen, um für ihre Bedürfnisse zu
sorgen, sowohl in geistlicher als in leiblicher Hinsicht, damit das Wort
des Herrn von ihnen gelte: »Ich bin krank gewesen und ihr habt mich
besucht«. Geht es mit einer Kranken zu Ende, und tritt der Todeskampf ein,
so soll alsbald die dienende Schwester mit der Klapper in den Konvent
eilen, und durch das Geräusch, das sie mit derselben macht, den Tod der
Schwester ankündigen, und der ganze Konvent, zu welcher Stunde des Tages
oder der Nacht es auch sei, soll zu der Sterbenden eilen, außer wenn
kirchliche Pflichten davon abhalten. Ist das letztere der Fall, so genügt
es auch -- denn nichts geht über den Dienst des Herrn -- daß die Äbtissin
mit einigen auserlesenen Schwestern herbeieile, und der übrige Konvent
später nachfolge. Alle aber, die auf den Ton der Klapper herbeikommen,
sollen alsbald die Litanei anstimmen und bei ihrer Anrufung die ganze Zahl
aller männlichen und weiblichen Heiligen durchmachen. Darauf mögen die
Psalmen folgen und die übrigen Gesänge, die bei Leichenbegängnissen üblich
sind.

Wie segensreich es sei, zu Kranken und Toten zu gehen, das spricht der
Prediger deutlich aus: »Es ist besser in das Klagehaus gehen, denn in das
Trinkhaus; in jenem ist das Ende aller Menschen, und der Lebendige nimmt's
zu Herzen«. Ferner: »Das Herz der Weisen ist im Klaghause«. Der Leichnam
der Verstorbenen soll alsbald von den Schwestern gewaschen, mit einem
einfachen aber reinen Hemd bekleidet und mit Schuhen angethan werden. Dann
soll man ihn auf eine Bahre legen und das Haupt mit einem Schleier
verhüllen. Die Kleider sollen fest zusammengenäht und dem Körper so
angefügt sein, daß kein Spielraum übrig bleibt. Der Leichnam soll von den
Schwestern in die Kirche getragen und, wenn es Zeit ist, von den Mönchen
bestattet werden. Während dessen sollen die Schwestern im Oratorium Psalmen
singen und beten. Die Äbtissin soll bei ihrem Begräbnis nur das vor den
übrigen voraushaben, daß ihr Körper in ein härenes Hemd gehüllt und sie
darin eingenäht werden soll wie in einen Sack.

Die _Kleiderverwalterin_ hat die Sorge für die gesamten Kleidungsstücke auf
sich zu nehmen, sowohl was das Schuhwerk als was die andern Sachen
betrifft. Sie hat die Schafschur zu veranlassen und nimmt das Leder für das
Schuhzeug in Empfang. Sie versieht alle Schwestern mit Faden, Nadel und
Schere. Sie hat den Schlafsaal zu beaufsichtigen und für die Betten zu
sorgen. Ferner liegt ihr ob die Sorge für Tischdecken, Handtücher und für
die gesamte übrige Wäsche, sowie für das Zuschneiden, Nähen, Waschen
derselben. Auf sie bezieht sich im besonderen das Schriftwort: »Sie gehet
mit Wolle und Flachs um und arbeitet gern mit ihren Händen. Sie streckt
ihre Hand nach dem Rocken, und ihre Finger fassen die Spindel. Sie fürchtet
ihres Hauses nicht vor dem Schnee, denn ihr ganzes Haus hat zwiefache
Kleider, und sie lacht am letzten Tage. Sie schauet, wie es in ihrem Haus
zugehet, und isset ihr Brot nicht mit Faulheit. Ihre Söhne kommen auf und
preisen sie selig«. Die Werkzeuge, die sie zu ihren Arbeiten nötig hat,
sollen ihr zur Verfügung stehen, und sie soll jede der Schwestern mit der
für sie passenden Arbeit versehen. Denn auch der Novizen soll sie sich
annehmen, bis zu ihrer Aufnahme in den Orden.

Die _Kellermeisterin_ hat Sorge zu tragen für alles was ins Gebiet des
Lebensunterhaltes gehört: sie hat die Aufsicht über den Keller, das
Refektorium, die Küche, die Mühle, die Bäckerei mit dem Backofen, über den
Baum- und den Gemüsegarten und über den gesamten Feldbau, auch über die
Bienenzucht, über das Groß- und Kleinvieh und über das Geflügel. Von ihr
wird geholt, was man zum Essen braucht. Sie darf vor allem nicht knauserig
sein, sondern freigebig und gern bereit, zu liefern was man braucht. Denn
»einen fröhlichen Geber hat Gott lieb«. Überhaupt warnen wir sie davor, daß
sie nicht ihr Amt in eigennütziger Weise mißbrauche, daß sie nicht sich
selber eine bessere Schüssel gönne oder etwas für sich behalte auf Kosten
der anderen. »Der beste Haushalter -- sagt Hieronymus -- ist der, der
nichts für sich zurückbehält«. Judas, der sein Amt dazu mißbrauchte, sich
selber zu bereichern, ging aus der Zahl der Jünger verloren. Auch Ananias
und Sapphira mußten's mit dem Tode büßen, als sie unrecht Gut
zurückbehielten.

Zum Amt der _Thürhüterin_ oder _Pförtnerin_ gehört die Aufnahme der Gäste.
Sie muß alle Ankömmlinge anmelden und dahin führen, wohin sie begehren; ihr
liegt die Fürsorge für die Bewirtung ob. Sie muß reif an Alter und Verstand
sein, damit sie Red' und Antwort zu geben vermag und beurteilen kann, wie
und wer überhaupt aufzunehmen ist und wer nicht. Sie soll gleichsam der
Vorhof des Herrn sein, von dem aus ein lichter Schimmer aufs ganze Kloster
fällt, denn bei ihr empfängt der Ankömmling den ersten Eindruck vom
Kloster. Demgemäß sei sie freundlich in ihren Worten, mild in der Anrede.
Auch diejenigen, die sie abweisen muß, sollen durch die Art, wie sie ihre
Gründe darlegt, in der Liebe erbaut werden. Denn es steht geschrieben:
»Eine linde Antwort stillet den Zorn, aber ein hart Wort richtet Grimm an«.
Und anderswo: »Ein gütiges Wort mehrt die Freunde und besänftigt die
Feinde«. Sie soll auch öfters nach den Armen sehen und je nachdem sie ihre
Bedürfnisse kennen gelernt hat, sie mit Speise oder Kleidern unterstützen.
Bedarf sie oder eine der andern Schwestern in ihrer Amtsführung eine Hilfe
oder Erleichterung, so sollen ihnen von der Äbtissin Gehilfinnen zugewiesen
werden. Diese soll man womöglich aus den Laienschwestern nehmen, damit
keine der Nonnen vom Gottesdienst abgehalten werde oder im Kapitel und
Refektorium fehle.

Die Pförtnerin soll ihre Zelle neben der Eingangsthür haben, woselbst sie
oder ihre Stellvertreterin allezeit der Ankommenden gewärtig sein soll.
Doch sollen sie während dem nicht müßig sein und sich des Schweigens um so
mehr befleißigen, je weniger ihre Geschwätzigkeit denen, die draußen sind,
verborgen bleibt. Die Aufgabe der Pförtnerin ist es, nicht allein den
Männern unbefugten Eintritt zu versagen, sondern überhaupt jeden Lärm
fernzuhalten, damit er nicht die Stille des Klosters störe, und sie trägt
für alle Ausschreitungen in dieser Hinsicht die Verantwortung. Hört sie
etwas, was zu wissen wichtig ist, so hat sie es in aller Stille der
Äbtissin zu hinterbringen, und diese mag dann, wenn es ihr der Mühe wert
scheint, darüber beraten.

Sobald ans Thor geklopft oder draußen gerufen wird, soll die Schwester,
welche an der Pforte ist, die Ankömmlinge nach ihrem Namen und Begehren
fragen, und wenn es nötig ist, die Pforte öffnen und die Fremden
hereinlassen. Nur Frauen dürfen im Innern des Klosters beherbergt werden;
die Männer sind zu den Mönchen zu weisen; keiner darf unter irgend einem
Vorwand eingelassen werden, es sei denn, daß die Äbtissin vorher befragt
worden sei und es befohlen habe. Frauen dagegen sollen ohne weiteres
Zutritt haben. Die aufgenommenen Frauen und die Männer, die wegen irgend
welcher besonderen Sache eingelassen worden sind, soll die Pförtnerin
zunächst in ihre Zelle führen, bis sie von der Äbtissin oder von den
Schwestern, wenn dies nötig und ratsam ist, empfangen werden. Armen aber,
welche der Fußwaschung bedürfen, soll dieser Dienst der Gastfreundschaft
von der Äbtissin selbst oder von den Schwestern mit Sorgfalt geleistet
werden. Denn auch der Apostel hat sich gerade durch diesen Liebesdienst den
Namen des Diakonen verdient. So sagt auch im »Leben der Altväter« einer von
ihnen: »Um deinetwillen ist der Erlöser Knecht geworden. Er hat sich mit
einer Schürze umgürtet und seinen Jüngern die Füße gewaschen, und hat ihnen
geboten, den Brüdern die Füße zu waschen«. Und der Herr selbst spricht:
»Ich bin ein Gast gewesen und ihr habt mich beherberget«. So sagt auch der
Apostel von der Diakonisse: »So sie gastfrei gewesen ist, so sie der
Heiligen Füße gewaschen hat«. Alle mit Ämtern beauftragten Schwestern, die
sich mit den Wissenschaften nicht befassen, sollen mit diesen Pflichten
bekannt gemacht werden mit Ausnahme der Vorsängerin und derjenigen
Schwestern, die für das Studium sich tauglich erweisen. Diesen soll man
freie Zeit für die Wissenschaften lassen.

Der Schmuck des Gotteshauses soll sich auf das Notwendige beschränken; es
ist mehr auf Sauberkeit als auf Prunk zu sehen. Nichts in demselben soll
aus Gold oder Silber gefertigt sein, außer ein silberner Kelch oder auch
mehrere, wenn es nötig ist. Verzierungen aus Seide sollen nur an den Stolen
und Armbinden angebracht sein. Keine Bildhauerarbeiten sollen im Gotteshaus
sein. Nur ein hölzernes Kreuz soll am Altar errichtet werden, worauf das
Bild des Erlösers gemalt werden kann, wenn man will. Aber andere Bildwerke
sollen den Altären fremd bleiben. Das Kloster soll sich mit zwei Glocken
begnügen. Ein Gefäß mit Weihwasser soll außen am Eingang zum Oratorium
angebracht werden, damit sich die in der Frühe Eintretenden, und wer nach
dem Gottesdienst hinausgeht, damit weihen. Keine der Nonnen soll bei den
Horen fehlen; vielmehr sobald das Zeichen mit der Glocke gegeben wird,
sollen sie alles andere beiseite legen und zum Gottesdienst eilen, doch
bescheidenen Ganges. Beim Eintritt ins Oratorium sollen die, die es können,
für sich sprechen: »Ich gehe ein in dein Haus und bete an in deinem
heiligen Tempel« u. s. w. Im Chor darf kein anderes Buch geduldet werden
als das, welches zum jedesmaligen Gottesdienst gerade nötig ist. Die
Psalmen sollen laut und deutlich gesprochen werden, die Psalmodie oder der
Gesang soll so gemäßigt sein, daß auch die, welche eine schwache Stimme
haben, aufkommen können. In der Kirche soll nichts gelesen oder gesungen
werden, was nicht der Heiligen Schrift selbst entnommen ist, also dem Neuen
oder Alten Testament, welche beide so in Leseabschnitte einzuteilen sind,
daß sie jedes Jahr in der Kirche einmal zur Verlesung kommen. Abhandlungen
oder Predigten der Kirchenlehrer oder sonst erbauliche Schriften werden bei
Tisch oder im Kapitel vorgelesen; doch soll das Lesen auch sonst überall
gestattet werden. Doch soll keine Schwester sich etwas vorzulesen oder zu
singen erlauben, wovon sie nicht vorher Kenntnis genommen hat. Wenn eine im
Oratorium etwas Unpassendes vor die Versammlung bringt, so soll sie in
Gegenwart aller Schwestern um Verzeihung bitten, indem sie für sich die
Worte spricht: »Verzeihe mir, Herr, auch dieses Mal meine Nachlässigkeit«.

Um Mitternacht erhebt man sich nach der Anweisung des Propheten zu den
nächtlichen Vigilien. Es ist darum notwendig so frühe schlafen zu gehen,
daß die zarte Natur der Schwestern diese Nachtwachen ertragen und das
Tagewerk mit Sonnenaufgang begonnen werden kann, wie dies auch der heilige
Benediktus vorschreibt. Nach den Vigilien soll man sich wieder zur Ruhe
begeben, bis das Zeichen zur Matutine ertönt. Während des übrigen Teils der
Nacht soll die Natur zu ihrem Recht kommen. Denn der Schlaf vor allem
erquickt den müden Körper, macht ihn wieder arbeitsfähig und erhält ihn
gesund und munter. Wer aber das Bedürfnis hat, über die Psalmen oder irgend
welche Lektionen zu meditieren, wie dies auch der heilige Benediktus
erwähnt, der soll dies so thun, daß die Ruhenden nicht im Schlafe gestört
werden. Benedikt hat für diesen Ort weniger das Lesen als das Meditieren
empfohlen, damit nicht durch das Lesen die Ruhe der anderen gestört werde.
Übrigens hat er auch zu dieser Meditation die Mönche nicht gezwungen; er
sagt nur: »Wer von den Brüdern das Bedürfnis hat«. Auch beim Einüben von
Gesängen soll man diese Rücksichten walten lassen. Die Matutine soll beim
ersten Tageslicht gefeiert werden, und das Zeichen dazu beim Sonnenaufgang
selbst, wenn man ihn sehen kann, ertönen. Im Sommer, wo die Nacht kurz und
die Morgenzeit lang ist, verbieten wir den Schwestern nicht, vor der Prima
noch etwas zu schlafen, bis das Zeichen dazu ertönt. Von dieser Ruhe nach
den Matutinen spricht auch der heilige Gregorius im zweiten Kapitel seiner
Dialoge, wo er von dem ehrwürdigen Libertinus folgendes sagt: »Auf den
folgenden Tag war eine für das Kloster wichtige Maßnahme beschlossen
worden. Nach Vollendung der feierlichen Matutinen ging Libertinus an das
Bett des Abtes und erbat sich von ihm demütig den Segen«. Diese Morgenruhe
soll also verstattet sein von Ostern bis zur Herbst-Tag- und Nachtgleiche,
von wo an die Tage wieder kürzer werden.

Nach dem Verlassen des Schlafsaals sollen sich die Schwestern waschen, ihre
Bücher in Empfang nehmen und lesend oder singend im Kreuzgang sitzen, bis
es zur Prima läutet. Nach der Prima begiebt man sich in den Kapitelsaal;
dort setzt sich alles nieder und nach Verkündigung des Datums wird ein
Abschnitt aus der Märtyrergeschichte vorgelesen. Darauf kann eine
erbauliche Besprechung folgen oder ein Abschnitt der Regel vorgelesen und
erklärt werden. Endlich soll hier erledigt werden, was etwa zu tadeln oder
neu anzuordnen ist.

Man darf übrigens nicht vergessen, daß weder ein Kloster noch sonst
überhaupt ein Haus ohne weiteres ungeordnet genannt werden darf, wenn
irgend etwas Ordnungswidriges darin geschieht, sondern nur dann, wenn
derartige Vorkommnisse nicht sorgfältig wieder gut gemacht werden. Denn
welcher Ort bleibt völlig rein von Sünde? Dessen war auch der heilige
Augustinus wohl bewußt, wenn er in einer Unterweisung an seinen Klerus
sagt: »Mag ich die Ordnung in meinem Haus noch so streng aufrecht erhalten:
ich bin ein Mensch und muß mit Menschen leben. Ich wage auch nicht mir
anzumaßen, daß mein Haus reiner sein soll als die Arche Noah, da doch unter
den acht Menschen, die darin waren, sich ein Schlechter fand; oder besser
als Abrahams Haus, wo es auch einst hieß: 'treibe aus die Magd mit ihrem
Kinde'; oder besser als Isaaks Haus, wo der Herr sprach: 'Den Jakob habe
ich geliebt und den Esau habe ich gehaßt'. Oder besser als das Haus Jakobs,
in dem der Sohn des Vaters Ehebett schändete; oder besser als das Haus
Davids, dessen einer Sohn sich mit seiner eigenen Schwester vergangen, und
der andere sich gegen seinen Vater empört hat; oder besser als die
Gesellschaft des Paulus, der, wenn er mit guten Menschen zusammengelebt
hätte, wohl kaum gesagt hätte, er habe 'auswendig Streit, inwendig Furcht';
oder: 'niemand ist, der so herzlich für euch sorget; denn sie suchen alle
das ihre'; oder besser als die Gesellschaft Christi selbst, in welcher die
elf Guten den Verräter und Dieb Judas ertragen mußten; oder endlich gar
besser als der Himmel, von dem die Engel gefallen sind«.

Derselbe Kirchenvater, der uns so eindringlich zur Befolgung der
klösterlichen Regel ermahnt, fügt die Worte bei: »Ich bekenne vor Gott,
seitdem ich Gott zu dienen angefangen habe, habe ich selten vollkommenere
Menschen gesehen als die, welche in Klöstern sich gut gehalten haben;
andererseits aber habe ich auch keine schlechteren gesehen, als Mönche, die
gefallen waren«. So ist auch das Wort der Offenbarung zu verstehen; »Wer
heilig ist, der sei immerhin heilig und wer unrein ist, der sei immerhin
unrein«.

In der Bestrafung soll insofern ein Unterschied gemacht werden, als
diejenige, welche bei einer andern einen Fehler gesehen hat und ihn
verheimlicht, strenger bestraft werden soll als die eigentlich Schuldige.
Darum soll niemand säumen, seine eigenen Vergehen wie diejenigen der
anderen anzugeben. Diejenige Schwester, die der Anklage durch andere
zuvorkommt, indem sie sich selbst angiebt -- nach dem Worte der Schrift:
»Der Gerechte klagt sich selber zuerst an« -- soll mit einer milderen
Strafe wegkommen, wenn sie von ihrem Fehler abläßt. Keine soll die andere
zu entschuldigen versuchen, wenn nicht die Äbtissin, falls ihr der wahre
Sachverhalt unbekannt ist, danach fragt. Keine soll sich unterstehen, eine
Schwester wegen irgend einer Verschuldung zu schlagen, außer wer von der
Äbtissin dazu beauftragt wird. Von der Strafe der Züchtigung aber steht
geschrieben: »Mein Sohn, achte nicht gering die Züchtigung des Herrn und
verzage nicht, wenn du von ihm gestraft wirst. Denn welchen der Herr lieb
hat, den züchtiget er und hat Wohlgefallen an ihm wie ein Vater am Sohn«;
ferner: »Wer seiner Rute schonet, der hasset seinen Sohn; wer ihn aber lieb
hat, der züchtiget ihn bald. Schläget man den Spötter, so wird der Alberne
witzig; straft man den Spötter, so wird der Geringe verständig. Dem Roß
eine Geißel und dem Esel einen Zaum und dem Narren eine Rute auf den
Rücken. Wer einen Menschen züchtiget, der findet hernach mehr Dank bei ihm,
als der ihn mit Schmeichelworten täuscht. Alle Züchtigung aber, wenn sie da
ist, dünkt sie uns nicht Freude, sondern Traurigkeit zu sein; aber danach
wird sie geben eine friedsame Frucht der Gerechtigkeit denen, die dadurch
geübet sind. Ein närrischer Sohn ist seines Vaters Betrübnis, und eine
thörichte Tochter gereicht ihm zur Schande. Wer sein Kind lieb hat, der
hält es stets unter der Rute, daß er hernach Freude an ihm erlebe. Wer sein
Kind in der Zucht hält, der wird sich seiner freuen und darf sich seiner
bei den Bekannten nicht schämen. Ein verwöhnt Kind wird mutwillig wie ein
wild Pferd. Zärtle mit deinem Kinde, so mußt du dich hernach vor ihm
fürchten; spiele mit ihm, so wird es dich hernach betrüben«.

Bei gemeinsamer Beratung steht es jeder Schwester frei, ihre Meinung zu
äußern, aber der Beschluß der Äbtissin soll unumstößlich sein, sollte sie
selbst, was ferne sei, in Irrtum verfallen und das weniger Zweckmäßige
beschließen. Daher das Wort des heiligen Augustinus in seinen Konfessionen:
»Schwer versündigt sich, wer seinen Vorgesetzten in irgend einem Stück
ungehorsam ist, selbst wenn das, was er selber zu thun erwählt, besser sein
sollte, als das, was ihm befohlen worden ist«. Es ist uns besser, recht zu
thun als das Rechte zu thun, und nicht darauf kommt es an, was geschieht,
sondern wie und in welcher Gesinnung etwas gethan wird. Alles was im
Gehorsam geschieht, ist gut, wenn es auch keineswegs so aussieht. In allen
Stücken muß darum den Vorgesetzten Gehorsam geleistet werden, selbst wenn
dies zum größten Schaden ausschlüge, wenn nur die Seele nicht dadurch
gefährdet wird.

Der Vorgesetzte soll darauf sehen, seine Befehle vernünftig einzurichten,
weil die Untergebenen einfach zu gehorchen haben und ihrem Gelübde gemäß
nicht nach ihrem eigenen Willen handeln, sondern nach dem ihrer
Vorgesetzten. Wir sind durchaus dagegen, daß jemals die Gewohnheit den
Vorzug vor der Vernunft erhalte und daß etwas damit entschuldigt werde, daß
es Gewohnheit sei. Nicht weil etwas Herkommen ist, soll es festgehalten
werden, sondern weil es gut ist, und je besser eine Anordnung ist, desto
bereitwilliger soll sie aufgenommen werden. Sonst müßten wir ja nach
jüdischer Art dem alten Gesetzeswesen vor dem Evangelium den Vorzug geben.
So sagt auch der heilige Augustinus, indem er sich mehrfach auf das Zeugnis
des Cyprianus beruft: »Wer die Wahrheit außer acht läßt und blindlings der
Gewohnheit folgt, der handelt neidisch oder boshaft an den Brüdern, denen
die Wahrheit geoffenbart ist, oder aber ist er undankbar gegen Gott, durch
dessen Eingebung die Kirche erleuchtet wird«. Ferner sagt er: »Im
Evangelium sagt der Herr: 'Ich bin die Wahrheit', nicht aber: 'Ich bin die
Gewohnheit'. Darum soll die Gewohnheit der offenbaren Wahrheit weichen«.
Weiter: »Ist die Wahrheit offenbar geworden, so soll der Irrtum der
Wahrheit weichen, wie auch Petrus, der zuerst für die Beschneidung war, dem
Paulus, der die Wahrheit predigte, gewichen ist«.

Derselbe Kirchenvater sagt in seinem Buch »über die Taufe« Kapitel IV:
»Vergebens halten uns diejenigen, die durch die Vernunft besiegt werden,
das Recht der Gewohnheit vor, als wäre die Gewohnheit mehr als die
Wahrheit, und als müßte man nicht in geistlichen Dingen dasjenige thun, was
uns vom heiligen Geist als das Bessere geoffenbart worden ist«.

Das ist sicher wahr, daß Vernunft und Wahrheit über das Herkommen zu
stellen sind. Gregor VII. schreibt an den Bischof Vimund: »Sicherlich, um
des heiligen Cyprianus' Meinung zu folgen, ist jede Gewohnheit, sei sie
auch noch so alt und noch so verbreitet, der Wahrheit ohne weiteres zu
unterwerfen, und ein Brauch, der mit der Wahrheit im Widerspruch steht,
abzuschaffen«. Mit welcher Liebe wir an der Wahrheit auch in Worten
festhalten sollen, sagt uns Jesus Sirach: »Schäme dich nicht, für deine
Seele das Recht zu bekennen«; weiter: »Rede nicht wider die Wahrheit«; und
wiederum: »Laß all deinem Werk das Wort der Wahrheit vorausgehen und all
deinem Thun einen festen Ratschluß«. Man soll auch nicht darauf sehen, ob
viele etwas thun, sondern ob etwas den Beifall der Weisen und Guten hat.
»Der Narren Zahl, sagt Salomo, ist unendlich.« Und die Wahrheit versichert:
»Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt«. Alles was kostbar ist,
ist selten, und was in Überfluß vorhanden ist, verliert an Wert. Niemand
soll in der Ratsversammlung der größeren Partei folgen, sondern der
besseren. Nicht auf das Alter eines Menschen soll man sehen, sondern auf
seine Weisheit; nicht gutes Einvernehmen, sondern Wahrheit soll man suchen.
Daher das Wort des Dichters: »Auch vom Feind sollst du dich lassen
belehren«.

So oft eine Beratung nötig ist, soll sie ohne Verzug abgehalten werden. Bei
dringenden Angelegenheiten soll der Konvent zusammenberufen werden; bei
weniger wichtigen Dingen genügt es, wenn die Äbtissin einige ältere
Schwestern zu sich beruft. Vom Rat steht auch geschrieben: »Wo nicht Rat
ist, da gehet das Volk unter; wo aber viel Ratgeber sind, da gehet es wohl
zu. Der Weg des Narren ist recht in seinen Augen; aber ein vernünftiger
Mann verachtet nicht guten Rat. Mein Sohn, thue nichts ohne Rat, so
gereut's dich nicht nach der That«. Wenn auch dann und wann eine
Angelegenheit ohne Beratung glücklich erledigt wird, so entbindet die
Wohlthat des Geschickes den Menschen doch nicht von seiner Aufgabe. Und
wenn umgekehrt auch nach gepflogener Beratung falsche Maßregeln ergriffen
werden, so soll man den, der den Rat eingeholt hat, nicht der
Fahrlässigkeit beschuldigen. Denn ihn, der in gutem Glauben gehandelt hat,
trifft weniger Schuld als diejenigen, auf die er sich irrtümlicherweise
verlassen hat.

Haben die Schwestern den Kapitelsaal verlassen, so sollen sie die
vorgeschriebenen Arbeiten vornehmen und sich mit Lesen oder Singen oder mit
Handarbeit beschäftigen bis zur Terz. Nach der Terz soll die Messe gelesen
werden, wozu ein Mönchspriester den Wochendienst hat. Dieser soll, wenn
Leute genug vorhanden sind, einen Diakon und Subdiakon mitbringen, welche
ihm administrieren und ihres Amtes walten. Sie sollen in der Weise kommen
und gehen, daß sie mit den Schwestern nicht zusammentreffen. Sind mehrere
nötig, so ist auch dafür zu sorgen, und zwar soll man dabei darauf sehen,
daß die Mönche niemals wegen der Messen im Nonnenkloster ihrem eigenen
Konvent beim Gottesdienst entzogen werden.

Wenn die Schwestern kommunizieren wollen, so soll dazu ein älterer Priester
ausgewählt werden, der ihnen nach der Messe das Abendmahl giebt; vorher
aber sollen sich der Diakon und Subdiakon entfernen, um jeden Anlaß einer
Anfechtung zu entfernen. Mindestens dreimal im Jahr sollen alle Nonnen
kommunizieren, an Ostern, an Pfingsten und an Weihnachten, wie dies von den
Vätern auch für die Laien angeordnet ist. Zu diesen Kommunionen sollen sie
sich so vorbereiten, daß alle sich drei Tage vorher der Beichte und
entsprechenden Buße unterziehen, und in aller Demut und Furcht drei Tage
mit Fasten bei Wasser und Brot und unter anhaltendem Gebet verbringen,
immer wieder den furchtbaren Spruch des Apostels sich ins Gedächtnis
zurückrufend: »Welcher nun unwürdig von diesem Brot isset und von dem Kelch
des Herrn trinket, der ist schuldig an dem Leib und Blut des Herrn. Der
Mensch prüfe aber sich selbst, und also esse er von diesem Brot und trinke
von diesem Kelch. Denn welcher unwürdig isset und trinket, der isset und
trinket ihm selber das Gericht damit, daß er nicht unterscheidet den Leib
des Herrn. Darum sind auch so viele Schwache und Kranke unter euch, und ein
gut Teil schlafen. Denn so wir uns selber richteten, so würden wir nicht
gerichtet«.

Auch nach der Messe sollen die Schwestern wieder zur Arbeit zurückkehren
bis zur Sext; überhaupt sollen sie nie müßig sein, sondern jede soll
arbeiten, was sie kann und muß. Nach der Sext soll man zum Essen gehen,
falls nicht ein Fasttag ist. In diesem Fall soll man mit dem Essen warten
bis zur None, in der großen Fastenzeit bis zur Vesper.

Zu keiner Zeit soll im Konvent das Vorlesen unterbleiben. Will die Äbtissin
aufhören, so sage sie: es ist genug. Und alsbald sollen sich alle zum
Dankgebet erheben. Im Sommer soll man nach dem Essen bis zur None im
Dormitorium ruhen, nach der None wieder an die Arbeit gehen bis zur Vesper.
Unmittelbar nach der Vesper wird das Abendessen eingenommen oder das
Fastenmahl, je nach den Zeitumständen. Samstags findet vor dem Abendimbiß
eine Reinigung statt, bestehend im Waschen der Füße und Hände. Bei dieser
Verrichtung soll die Äbtissin thätig sein im Verein mit den Schwestern,
welche den Wochendienst in der Küche haben. Nach dem Abendessen geht man
alsbald zur Komplett; hierauf begiebt man sich zur Ruhe.

In Nahrung und Kleidung halte man sich an das Wort des Apostels: »Wenn wir
aber Nahrung und Kleider haben, so lasset uns begnügen«. Man begnüge sich
mit dem Notwendigen und suche nicht den Überfluß. Was billig beschafft
werden kann und sich leicht trägt, ohne Anstoß zu erregen, das wird sich
empfehlen. Nur die Verletzung des eigenen oder eines fremden Gewissens mit
den Speisen verbietet der Apostel, da er wohl weiß, daß nicht das Essen an
sich Sünde ist, sondern die Begierde. »Welcher isset, sagt er, der verachte
den nicht, der da nicht isset; und welcher nicht isset, der richte den
nicht, der da isset. Wer bist du, daß du einen fremden Knecht richtest?
Welcher isset, der isset dem Herrn, denn er danket Gott; welcher nicht
isset, der isset dem Herrn nicht, und danket Gott. Darum lasset uns nicht
mehr einer den andern richten, sondern das richtet vielmehr, daß niemand
seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis darstelle. Ich weiß und bin's
gewiß in dem Herrn Jesu, daß nichts gemein ist an ihm selbst; ohne der es
rechnet für gemein, demselbigen ist es gemein. Das Reich Gottes ist nicht
Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen
Geiste. Es ist zwar alles rein, aber es ist nicht gut dem, der es isset mit
einem Anstoß seines Gewissens. Es ist viel besser, du essest kein Fleisch
und trinkest keinen Wein oder das, daran sich dein Bruder stößet oder
ärgert oder schwach wird«. Nach dem Ärgernis, das der Bruder nimmt, redet
der Apostel von dem Anstoß, den sich derjenige selber bereitet, der gegen
sein Gewissen ißt: »Selig ist, der ihm selbst kein Gewissen machet in dem,
das er annimmt. Wer aber darüber zweifelt und isset doch, der ist verdammt;
denn es gehet nicht aus dem Glauben: was aber nicht aus dem Glauben gehet,
das ist Sünde«.

Zur Sünde wird uns alles, was wir gegen unser Gewissen und gegen das, was
wir glauben, thun. Und durch das, was wir billigen, d. h. durch das Gesetz,
welches wir annehmen, richten und verurteilen wir uns selbst: wenn wir z.
B. solche Speisen essen, bei denen wir zweifeln, d. h. die wir durch das
Gesetz verbieten und als unrein ausschließen. Denn das Zeugnis unseres
Gewissens ist so geartet, daß es uns bei Gott anklagt oder entschuldigt.
Daher sagt auch Johannes in seinem ersten Brief: »Ihr Lieben, so uns unser
Herz nicht verdammt, so haben wir eine Freudigkeit zu Gott. Und was wir
bitten, werden wir von ihm nehmen; denn wir halten seine Gebote und thun,
was vor ihm gefällig ist«. Darum sagt auch Paulus an der obigen Stelle ganz
richtig, nichts sei gemein in Christus, nur für den sei es so, der es
rechne für gemein, d. h. der glaube, daß etwas für ihn unrein und verboten
sei.

Gemein nennen wir diejenigen Speisen, welche nach dem Gesetz unrein heißen,
die das Gesetz seinen Gläubigen verbietet und denen freigiebt, die außer
dem Gesetze leben. Daher sind auch die öffentlichen Frauen unrein, und
alles Gemeinsame und Öffentliche ist gering und weniger kostbar. Der
Apostel versichert mit Berufung auf Christus, keine Speise sei gemein, d.
h. unrein, weil das Gesetz Christi keine verbietet, es sei denn, wie
gesagt, um den Anstoß des eigenen oder des fremden Gewissens zu vermeiden.
In dieser Beziehung sagt er an anderer Stelle: »Darum, so die Speise meinen
Bruder ärgert, wollte ich nimmermehr Fleisch essen, auf daß ich meinen
Bruder nicht ärgerte. Bin ich nicht frei? Bin ich nicht ein Apostel?« Das
heißt soviel als: habe ich nicht die Freiheit, die der Herr seinen Aposteln
verliehen hat, alles Beliebige zu essen oder Unterstützung von anderen
anzunehmen? Denn als der Herr seine Jünger aussandte, sagte er: »Esset und
trinket, was ihr bei ihnen findet«, und er hat dabei nicht eine Speise von
der anderen unterschieden. Nach diesem Vorbild giebt der Apostel den
Christen alle Arten von Speisen frei, auch wenn sie von Ungläubigen und vom
Götzenopfer herrühren; nur will er, wie oben gesagt, das Ärgernis vermieden
wissen: »Ich habe es zwar alles Macht,« sagt er, »aber es frommt nicht
alles; ich habe es alles Macht, aber es bessert nicht alles. Niemand suche,
was sein ist, sondern ein jeglicher, was des andern ist. Alles was feil ist
auf dem Fleischmarkt, das esset, und forschet nichts, auf daß ihr des
Gewissens verschonet. Denn die Erde ist des Herrn und was darinnen ist. So
aber jemand von den Ungläubigen euch ladet, und ihr wollt hingehen, so
esset alles, was euch vorgetragen wird, und forschet nicht, auf daß ihr des
Gewissens verschonet. Wo aber jemand zu euch würde sagen: das ist
Götzenopfer -- so esset nicht um deswillen, der es anzeigte, auf daß ihr
des Gewissens verschonet. Ich sage aber vom Gewissen nicht deiner selbst,
sondern des andern. Seid nicht ärgerlich weder den Juden noch den Griechen
noch der Gemeine Gottes«.

Aus diesen Worten des Apostels geht deutlich hervor, daß uns nicht verboten
ist, was wir ohne Verletzung des eigenen oder eines fremden Gewissens essen
können. Ohne Verletzung des eigenen Gewissens handeln wir dann, wenn wir
bei unserem Thun unserem Lebensberuf, der uns zum Heil führen soll, treu
bleiben können. Ohne Verletzung eines fremden Gewissens dann, wenn wir so
leben, daß man von uns glaubt, daß wir selig werden. Und so können wir
leben, wenn wir bei aller Nachsicht gegen die unumgänglichen Forderungen
der Natur die Sünde meiden, und nicht im Vertrauen auf unsere Tugend unser
Leben durch ein Gelübde unter ein Joch beugen, das uns zu schwer ist, und
unter dem wir deshalb erliegen, wobei dann der Fall um so tiefer ist, je
höher die Stufe war, auf die das Gelübde uns hätte heben sollen.

Diesem Fall und der Ablegung eines unbedachten Gelübdes zuvorzukommen, sagt
der Prediger: »Wenn du Gott ein Gelübde thust, so verziehe nicht, es zu
halten. Denn er hat keinen Gefallen an den Narren. Was du gelobest, das
halte. Es ist besser, du gelobest nichts, denn daß du nicht hältst, was du
gelobest«. Dieser Gefahr will auch jener Rat des Apostels begegnen: »So
will ich nun, daß die jungen Witwen freien, Kinder zeugen, haushalten, dem
Widersacher keine Ursach' geben, zu schelten. Denn es sind schon etliche
umgewandt dem Satan nach«. Die Natur des schwachen Geschlechtes bedenkend,
empfiehlt er als Mittel gegen die Gefahr, die ein sittlich höheres Leben
mit sich bringt, eine weniger strenge Lebensweise. Er giebt den Rat, unten
zu bleiben, damit nicht ein jäher Sturz aus der Höhe erfolge. Dieser
Ansicht folgt auch der heilige Hieronymus, wenn er in seiner Unterweisung
an die Jungfrau Eustochium sagt: »Wenn aber die, die wirklich Jungfrauen
sind, um anderer Sünden willen nicht selig werden, was wird aus denen
werden, die die Glieder Christi zur Unzucht preisgegeben und den Tempel des
heiligen Geistes in ein Freudenhaus verwandelt haben? Besser wäre es dem
Menschen, das Joch der Ehe auf sich zu nehmen und in der Ebene zu wandeln,
als in die Höhe zu streben und in den Abgrund der Hölle zu stürzen«.

Wenn wir sämtliche Aussprüche des Apostels nachschlagen, so werden wir
finden, daß er eine zweite Ehe immer nur den Frauen gestattet hat. Die
Männer dagegen ermahnt er zur Enthaltsamkeit und ruft ihnen zu: »Ist jemand
beschnitten berufen, der zeuge keine Vorhaut«, und: »Bist du los vom Weibe,
so suche kein Weib«. Moses dagegen räumt den Männern mehr Freiheit ein als
den Frauen und gestattet einem Mann mehrere Frauen, nicht aber einer Frau
mehrere Männer. Auch bestraft er den Ehebruch bei Frauen strenger als bei
Männern. »Ein Weib,« sagt der Apostel, »ist frei vom Gesetz, so der Mann
stirbet, daß sie nicht eine Ehebrecherin ist, wo sie eines andern Mannes
wird.« Und an anderer Stelle: »Ich sage aber den Ledigen und Witwen: es ist
ihnen gut, wenn sie auch bleiben wie ich. So sie aber sich nicht enthalten,
so laß sie freien; es ist besser freien denn Brunst leiden.« Und wiederum
heißt es: »Ein Weib, so ihr Mann entschläft, ist sie frei, sich zu
verheiraten, welchem sie will; allein, daß es in dem Herrn geschehe.
Seliger ist sie aber, wo sie also bleibet, nach meiner Meinung«.

Nicht bloß eine zweite Ehe gestattet der Apostel dem schwachen Geschlecht,
sondern er beschränkt die Zahl der Eheschließungen nicht einmal auf ein
bestimmtes Maß; vielmehr, wenn ihre Männer entschlafen sind, gestattet er
ihnen, sich wieder zu verheiraten. Er schreibt für die Eheschließung keine
bestimmte Zahl vor, wenn die Frauen nur dadurch der Sünde der Hurerei
entgehen. Lieber sollen sie mehrmals heiraten als einmal in Unkeuschheit
verfallen. Denn haben sie sich erst Einem preisgegeben, so werden sie bald
mit vielen anderen dem Verlangen nach geschlechtlichem Verkehr nachgeben.
Zwar ist auch die rechtmäßige Befriedigung dieses Verlangens nicht ganz
frei von Sünde, allein man übt Nachsicht mit der kleineren Sünde, um die
größere zu vermeiden. Was ist also dabei, wenn man ihnen, um anderweitige
Sünde zu verhüten, etwas verstattet, wobei gar keine Sünde ist, nämlich die
notwendigen Speisen, nur nicht im Überfluß? Denn nicht die Speise wird uns
zur Sünde, sondern die Begierde, die da will, was nicht erlaubt ist, die
begehrt, was verboten ist, die oftmals sich übernimmt und so viel Ärgernis
verursacht.

Welches von allen Nahrungsmitteln der Menschen ist aber so gefährlich, so
schädlich und unserem Beruf und der frommen Beschaulichkeit so unzuträglich
wie der Wein? Der größte der Weisen warnt uns gar eindringlich vor ihm:
»Der Wein macht lose Leute, und stark Getränke macht wilde; wer dazu Lust
hat, wird nimmer weise. Wo ist Weh, wo ist Leid? Wo ist Zank? Wo ist
Klagen? Wo sind Wunden ohne Ursach'? Wo sind rote Augen? Nämlich, wo man
beim Wein liegt und kommt auszusaufen, was eingeschenkt ist. Siehe den Wein
nicht an, daß er so rot ist und im Glase so schön stehet. Er geht glatt
ein, aber danach beißt er wie eine Schlange und sticht wie eine Otter. So
werden deine Augen nach andern Weibern sehen und dein Herz wird verkehrte
Dinge reden. Und wirst sein wie einer, der mitten im Meer schläft, und wie
einer schläft oben auf dem Mastbaum, und wirst sagen: sie schlagen mich,
aber es thut mir nicht wehe; sie klopfen mich, aber ich fühle es nicht.
Wann will ich aufwachen, daß ich's mehr treibe?« Weiter: »O nicht den
Königen, Lamuel, gieb den Königen nicht Wein zu trinken, denn wo
Trunkenheit herrscht, wird kein Geheimnis bewahrt; sie möchten trinken und
der Rechte vergessen und verändern die Sache der elenden Leute«. Und im
Buch Sirach heißt es: »Ein Arbeiter, der sich gern vollsäuft, der wird
nicht reich, und wer ein Geringes nicht zu Rat hält, der nimmt für und für
ab. Wein und Weiber bethören die Weisen«.

Auch der Prophet Jesaias, der sonst von keiner Speise redet, erwähnt doch
des Weines als einer Ursache zur Gefangenschaft seines Volkes: »Wehe denen,
die des Morgens frühe auf sind, des Saufens sich zu fleißigen, und sitzen
bis in die Nacht, daß sie der Wein erhitzt. Und haben Harfen, Psalter,
Pauken, Pfeifen und Wein in ihrem Wohlleben, und sehen nicht auf das Werk
des Herrn. Darum wird mein Volk müssen weggeführt werden, weil es nicht
Vernunft angenommen hat. Weh denen, so Helden sind Wein zu saufen und
Krieger in Völlerei!« Vom Volk bis zu den Priestern und Propheten dehnt er
seine Klage aus: »Dazu sind diese auch vom Wein toll worden und taumeln von
starkem Getränk. Denn beide, Priester und Propheten, sind toll von starkem
Getränk, sind im Wein ersoffen und taumeln von starkem Getränk; sie sind
toll im Weissagen und speien die Urteile heraus. Denn alle Tische sind voll
Speiens und Unrats an allen Orten. Wen soll er denn lehren das Erkenntnis?
Wem soll er zu verstehen geben die Predigt?« Der Herr spricht durch den
Mund Joëls: »Wachet auf, ihr Trunkenen, und heulet alle Weinsäufer!«

In notwendigen Fällen wird ja der Weingenuß nicht verboten; so rät der
Apostel dem Timotheus: »Um deines Magens willen, und weil du oft krank
bist« -- nicht bloß 'krank', sondern 'oft krank'. Noah hat zuerst den
Weinstock gepflanzt, ohne noch das Laster der Trunkenheit zu ahnen, und im
Rausch hat er seine Scham entblößt; denn mit dem Wein verbündet sich
schändliche Üppigkeit. Vom eigenen Sohn verspottet, hat er ihn verflucht
und ihm das Joch der Knechtschaft auferlegt, was vorher niemals, soviel wir
wissen, geschehen ist. Die Töchter Lots wußten wohl, daß sie den frommen
Mann nur in der Trunkenheit zur Blutschande verleiten konnten. Und Judith,
die selige Witwe, hat im Vertrauen auf dieses trügerische Mittel allein den
stolzen Holofernes zu Fall gebracht. Von den Engeln, welche den Erzvätern
erschienen und von diesen bewirtet wurden, lesen wir, daß sie Fleisch zu
sich genommen haben, nicht aber Wein. Und dem Elias, unserem großen
Vorbild, haben die Raben, als er in der Wüste sich verbarg, des Morgens und
des Abends Brot und Fleisch zur Speise gebracht, nicht Wein. Auch vom Volk
Israel lesen wir, daß es in der Wüste mit der köstlichen Speise der
Wachteln genährt worden sei, aber keinen Wein gehabt und dessen auch nicht
begehrt habe. Und bei jenen Speisungen mit Brot und Fisch, womit in der
Wüste das Volk gesättigt wurde, wird auch nichts von Wein berichtet. Nur
auf einer Hochzeit, wo man sich des Weines, der die Quelle der Wollust ist,
allerdings nicht enthält, ist dem Wein zulieb ein Wunder geschehen. Aber
die Wüste, die eigentliche Wohnung der Mönche, kennt mehr die Wohlthat des
Fleisches als die des Weins. Eine Hauptbestimmung im Gelübde der Nasiräer,
womit sie sich Gott weihten, war die, Wein und geistige Getränke zu meiden.

Denn was bleibt an einem Trunkenen noch tugendhaft und gut? Darum lesen
wir, daß in der alten Zeit den Priestern nicht bloß der Wein, sondern alle
geistigen Getränke verboten waren. Hieronymus in seinem Buch »vom Leben der
Kleriker«, das an Nepotianus gerichtet ist, ereifert sich sehr darüber, daß
die Priester des alten Bundes darin, daß sie sich aller geistigen Getränke
enthielten, vollkommener waren, als die unsrigen. Er sagt: »Rieche nicht an
den Wein, damit du dir nicht das Wort des Philosophen sagen lassen mußt:
'Das heißt nicht küssen, sondern die Schale zum Munde führen'«.

Auch der Apostel verurteilt weinselige Priester, und das Gesetz Mosis
verbietet den Weingenuß. »Die den Dienst des Altars besorgen, sollen nicht
Wein und Gegorenes trinken.« -- »Sicera« heißt im Hebräischen jedes
berauschende Getränke, gleichviel, ob es bereitet wird aus dem gegorenen
Saft von Früchten oder aus eingekochtem Honig und Kräutern oder aus der
gepreßten Frucht der Palme oder aus Früchten, die man zu Sirup zerkocht.
»Alles was berauscht und dich um den Verstand bringt, das fliehe wie den
Wein.«

Nach der Regel des heiligen Pachomius soll niemand, mit Ausnahme der
Kranken, Wein oder sonst geistige Getränke berühren. Und wem von euch
sollte unbekannt sein, daß der Wein für Mönche überhaupt nichts sei und daß
die Mönche ihn einst so verabscheut haben, daß sie ihn, um von ihm
abzuschrecken, den Satan selber nannten? So lesen wir im »Leben der
Altväter«: »Es erzählten einige Leute dem Vater Pastor von einem Mönch, der
keinen Wein trank, worauf dieser sagte: 'Der Wein ist überhaupt nichts für
Mönche'. Ferner ist dort zu lesen: 'Man feierte eines Tags die Messe auf
dem Berg des Vaters Antonius, und fand daselbst ein Gefäß mit Wein. Einer
der Alten hob es auf und brachte einen Becher voll dem Vater Sisoi. Der
trank ihn aus, nahm zum zweitenmal und leerte ihn wieder. Als ihm aber zum
drittenmal angeboten wurde, wies er's zurück und sagte: Laß genug sein,
Bruder, vergissest du, daß der Teufel darin steckt?'« Und weiter wird von
dem Vater Sisoi berichtet: »Abraham sagte zu seinen Schülern: 'Wenn man an
einem Feiertag oder Sonntag zur Kirche geht und drei Kelche Wein trinkt,
ist das nicht zu viel?' Und es antwortete der Alte: 'Es wäre nicht zu viel,
wenn der Satan nicht wäre.'« Daran denkt auch der heilige Benediktus, wenn
er für gewisse Fälle seinen Mönchen den Weingenuß gestattet. Er sagt: »Wohl
lesen wir, daß der Wein für die Mönche überhaupt nichts sei; allein man
wird in unserer Zeit die Mönche nicht völlig davon überzeugen können«.

Es wäre nichts besonderes, wenn den Mönchen durchaus versagt würde, was
auch den Frauen, die von Natur schwächer sind, wenn auch widerstandsfähiger
gegen den Wein, vom heiligen Hieronymus gänzlich verboten wird. Er schreibt
nämlich an die christliche Jungfrau Eustochium, indem er sie über die
Bewahrung der Jungfräulichkeit belehrt, folgende dringende Mahnung: »Wenn
mein Rat irgend etwas gelten soll und du meiner Erfahrung Glauben schenken
willst, so ist meine erste Mahnung und Bitte, daß eine Braut Christi den
Wein fliehen möge wie Gift. Denn das ist die schärfste Waffe der Dämonen
gegen die Jugend. So sehr knechtet nicht der Geiz, so bläht der Stolz nicht
auf, so viel Reize besitzt nicht der Ehrgeiz. Anderen Lastern entfliehen
wir leicht; diesen Feind tragen wir im Innern; wohin wir uns wenden, wir
tragen ihn bei uns. Wein und Jugend eine zwiefache Nahrung des Feuers der
Wollust. Sollen wir noch Öl in die Flamme gießen? Sollen wir dem brennenden
Leib noch neuen Zündstoff zuführen?«

Übrigens belehren uns die Schriften der Naturforscher, daß der Wein den
Frauen weit weniger anhaben könne als den Männern. Macrobius Theodosius
führt dafür im siebenten Buch seiner Saturnalia folgenden Grund an:
»Aristoteles sagt, die Weiber werden selten berauscht, Greise oft. Der
Körper des Weibes hat einen sehr großen Feuchtigkeitsgehalt. Ein Beweis
dafür ist die Glätte und der Glanz ihrer Haut, und besonders sprechen dafür
die regelmäßigen Reinigungen, durch welche ihr Körper von überflüssiger
Feuchtigkeit entlastet wird. Der Wein verliert seine Stärke, wenn er mit so
überreichem flüssigem Stoffe sich mischt, und steigt nicht mehr so leicht
zu Kopfe, da seine Wirkung auf diese Weise gelähmt wird«. Ferner heißt es
dort: »Der weibliche Körper unterliegt häufigen Reinigungen und hat an
seiner Oberfläche zahlreiche Öffnungen und Poren, durch welche die
Feuchtigkeit ihren Ausgang sucht und findet. Durch diese Poren entweicht
auch der Dunst des Weines gar schnell«.

Warum also sollte man den Mönchen gestatten, was dem schwächeren Geschlecht
versagt wird? Wie unvernünftig, es denen zu gestatten, die den größeren
Schaden davon haben, und den andern es zu verbieten! Was wäre thörichter
als wenn man unterließe, die Mönche von dem abzuschrecken, was ihrem
frommen Beruf am meisten zuwider ist und zum Abfall von Gott verführt? Ist
es nicht ein Frevel, wenn Christen in dem Stück, in dem die Könige und
Priester des alten Bundes Enthaltsamkeit übten, sich nicht nur nicht
kasteien, sondern sich sogar bis zur Schwelgerei vergessen? Denn man weiß
ja, wie eifrig Kleriker und Mönche in unserer Zeit sich um den Weinkeller
bemühen, ihn mit den verschiedenen Sorten anzufüllen; wie sie den Wein mit
Kräutern, Honig und Würzwerk zu mischen verstehen, um desto besser sich
berauschen zu können, und wie sie je mehr das Feuer der Sinnlichkeit
schüren, je mehr sie beim Wein sich erhitzen. Welche Verirrung, nein,
welcher Wahnsinn, daß die, welche durch ihr Gelübde sich zur Enthaltsamkeit
verpflichten, nicht nur nichts dazu thun, es zu halten, sondern
geflissentlich zum Bruch desselben beitragen! Zwar ihr Leib ist hinter
Klostermauern festgebannt, aber ihr Herz ist voll unreiner Lust und brennt
vor Verlangen nach Unzucht.

Zwar der Apostel schreibt an Timotheus: »Trinke nicht mehr Wasser, sondern
brauche ein wenig Wein um deines Magens willen, und weil du so oft krank
bist«. Also wegen seiner Kränklichkeit wird ihm mäßiger Weingenuß
verstattet; es versteht sich aber von selbst, daß er keinen getrunken
hätte, wäre er gesund gewesen. Wenn wir uns das apostolische Leben zum
Vorbild nehmen, wenn wir ein Leben der Buße führen und der Welt entsagen
wollen: warum hat gerade das den großen Reiz für uns und erscheint uns
köstlicher als alle andern Nahrungsmittel, was doch unserem Beruf offenbar
am meisten hinderlich ist?

Der heilige Ambrosius, der das Wesen der Buße so trefflich beschreibt, hat
an der Lebensweise der Büßenden nichts auszusetzen als den Weingenuß. »Oder
glaubt jemand«, sagt er, »daß da wahre Buße ist, wo der Ehrgeiz herrscht,
wo der Wein in Strömen fließt, wo man in ehelicher Gemeinschaft lebt? Man
muß der Welt gänzlich absagen. Leichter habe ich solche gefunden, die ihre
Unschuld bewahrt, als solche, die recht Buße gethan haben.« Und in dem
Buche »von der Weltflucht« heißt es: »In Wahrheit fliehst du die Welt, wenn
dein Auge Becher und Trinkschalen meidet, daß es nicht lüstern werde, wenn
es beim Wein verweilt«. Von allen Nahrungsmitteln erwähnt »die Weltflucht«
nur den Wein, und versichert uns, wenn wir ihn meiden, können wir der Welt
entfliehen, als wenn alle Reize der Welt im Wein beschlossen wären. Und er
sagt nicht: wenn euer Gaumen sich des Geschmackes enthält, sondern: wenn
das Auge nicht danach sieht, damit es nicht von Lust und Verlangen sich
fangen lasse, wenn es öfter hinsieht. Daher auch der Spruch Salomos, den
wir oben angeführt haben: »Siehe den Wein nicht an, daß er so rot ist und
im Glase so schön steht«. Aber was sagen wir dazu, die wir uns am Geschmack
wie am Anblick des Weines ergötzen, ihn mit Honig, Kräutern und allen
möglichen Würzen mischen und ihn aus großen Schalen trinken wollen?

Genötigt, dem Wein ein Zugeständnis zu machen, sagt der heilige Benediktus:
»Wenigstens wollen wir das festhalten, daß man nicht bis zur Sättigung
trinken soll, sondern weniger; denn der Wein macht auch die Weisen zu
Thoren«. Wenn wir uns nur damit begnügen könnten, bis zur Stillung des
Durstes zu trinken und uns nicht so leicht zur Überschreitung des rechten
Maßes verleiten ließen. Auch der heilige Augustinus sagt in der Regel für
die Mönchsklöster, welche er eingerichtet hatte: »Nur Samstags und
Sonntags, wie es der Brauch ist, sollen die, die es wollen, Wein bekommen«;
dies geschah zur Feier des Sonntags und der betreffenden Vigilie, welche
Samstags gehalten wird, und sodann, weil an diesem Tag die in ihren Klausen
zerstreut lebenden Brüder sich versammelten. So sagt auch der heilige
Hieronymus, indem er von einem Ort redet, den er Cella nennt: »Jeder lebt
für sich in seiner Klause. Doch am Sonnabend und Sonntag kommen sie in der
gemeinsamen Kirche zusammen, und sehen hier einander wie im Himmel
Vereinigte«. Diese Ausnahme war gewiß berechtigt: die Brüder sollten bei
ihrer Zusammenkunft durch eine Erfrischung erfreut werden, und wenn sie es
auch nicht aussprachen, doch das Gefühl haben: »Siehe wie fein und lieblich
ist es, wenn Brüder einträchtig bei einander wohnen«.

Wir enthalten uns des Fleisches; aber was haben wir für ein Verdienst
dabei, wenn wir uns an andern Speisen bis zum Übermaß sättigen? Wenn wir
mit vielen Kosten mancherlei Gerichte von Fischen bereiten, wenn wir
Pfeffer und andere starke Gewürze dreinmischen, wenn wir, trunken vom
gewöhnlichen Wein, unsern Bechern und Schalen noch den Reiz besonderer
Würzen verleihen, so muß für all dies die Fleischenthaltung uns vor der
Welt entschuldigen: als ob es auf die Art und nicht vielmehr auf das Maß
der Speisen ankäme, während uns doch der Herr nur Völlerei und Trunkenheit
verbietet, d. h. jedes Übermaß in Speise und Trank, nicht aber eine
bestimmte Art von beiden.

Von dieser Einsicht geleitet sieht auch der heilige Augustin in keinem
andern Nahrungsmittel eine Gefahr, außer im Wein: er macht keinen
Unterschied zwischen den verschiedenen Arten von Speisen, und glaubt, daß
für die Abstinenz folgende kurze Vorschrift genüge: »Kasteiet euer Fleisch
mit Fasten und mit Enthaltsamkeit von Speise und Trank, soweit eure
Gesundheit es gestattet«. Er hatte wohl den Satz des heiligen Athanasius in
dessen Mahnwort an die Mönche gelesen: »Für das Fasten soll dem freien
Willen keine bestimmte Grenze gesetzt werden; jeder mag fasten, soviel es
ihm mit Rücksicht auf seine Gesundheit möglich ist; alle Tage, außer am
Sonntag, kann man Fasten halten, aber sie sollen nicht Gegenstand eines
Gelübdes sein«. Das heißt so viel als: wenn die Fasten infolge eines
Gelübdes übernommen werden, können sie jederzeit mit Ausnahme der Festtage
gehalten werden. Hier werden also keine bestimmten Fasten vorgeschrieben,
man soll sich damit nach dem Stand der Gesundheit richten. Denn es heißt:
»Er sieht allein auf die Fähigkeit, die jeder von Natur hat, und es ist
jedem freigestellt, sich selbst sein Maß zu bestimmen; denn wo das rechte
Maß eingehalten wird, kommen keine Verfehlungen vor«. Wir sollen uns nicht
allzusehr durch Genüsse verweichlichen lassen, wie jenes Volk, das mit
Weizen und mit gutem Traubenblut genährt war und von dem geschrieben steht:
»Es ist fett und dick und stark geworden und hat Gott fahren lassen«. Wir
sollen uns auch nicht über das Maß mit Kasteiung quälen, damit wir nicht
entweder ganz erliegen oder aber durch Murren unseres Lohns verlustig gehen
oder uns unserer Trefflichkeit rühmen. Der »Prediger« warnt davor mit den
Worten: »Ein Gerechter gehet unter in seiner Gerechtigkeit; sei nicht allzu
gerecht und nicht allzu weise, daß du dich nicht verderbest«, d. h. daß du
nicht aus Bewunderung für deine Vortrefflichkeit hochmütig werdest.

Aller Eifer in dieser Hinsicht soll geleitet werden von weiser Erwägung,
der Mutter aller Tugenden. Sie soll jedem die Last zuweisen, die er tragen
kann, die Natur nicht vergewaltigen, sondern sich nach ihr richten, nicht
die Notdurft verbieten, aber Schwelgerei und Überfluß fernhalten. So wird
das Laster ausgerottet, und die Natur doch nicht verletzt. Es ist für die
Schwachen genug, wenn sie die Sünde meiden, auch wenn sie nicht bis zum
Gipfel der Vollkommenheit emporsteigen. Wenn du nicht bei den Märtyrern
Platz findest, laß dir an einem Winkel im Paradiese genügen. Es ist
sicherer, ein bescheidenes Gelübde abzulegen, damit man aus freien Stücken
noch etwas Überverdienstliches hinzuthun kann. Darum steht geschrieben:
»Wenn ihr alles gethan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: wir sind
unnütze Knechte, wir haben gethan, was wir zu thun schuldig waren«. -- »Das
Gesetz,« sagt der Apostel, »richtet nur Zorn an; denn wo das Gesetz nicht
ist, da ist auch keine Übertretung«. Und weiter: »Denn ohne das Gesetz war
die Sünde tot. Ich aber lebte weiland ohne Gesetz. Da aber das Gebot kam,
ward die Sünde wieder lebendig. Ich aber starb; und es befand sich, daß das
Gebot mir zum Tode gereichte, das mir doch zum Leben gegeben war. Denn die
Sünde nahm Ursache am Gebot und betrog mich und tötete mich durch
dasselbige Gebot; auf daß die Sünde würde überaus sündig durch das Gebot«.
Augustinus an Simplicianus sagt: »Durch das Verbot ist das Verlangen
gemehrt worden und verlockender erschienen, und so sind wir verführt
worden«. Derselbe Augustinus sagt in seinem Buch »Quästiones« in der 67.
Frage: »Wir lassen uns durch unser Gelüste leichter zur Sünde verführen,
wenn ein Verbot da ist«. -- »Was versagt ist, begehren wir stets, das
Verbotene reizt uns«.

Höre mit Furcht und Zittern jeder diese Worte, der das Joch irgend einer
Ordensregel auf sich nehmen und sich durch ein neues Gesetz binden lassen
will. Er wähle, was er durchzuführen vermag, und meide, was über seine
Kräfte geht. Niemand wird schuldig des Gesetzes, der nicht vorher sich zu
ihm bekannt hat. Ehe du dich bindest, besinne dich; hast du's gethan, dann
bleibe fest. Jetzt ist Freiheit, was nachher Zwang ist. »In meines Vaters
Hause,« sagt die Wahrheit, »sind viele Wohnungen.« Darum giebt es auch
vielerlei Wege, die dorthin führen. Nicht werden die Ehegatten verdammt,
aber leichter werden selig, die sich enthalten. Nicht damit wir überhaupt
erst selig würden, sind uns die Regeln der heiligen Väter gegeben, sondern
damit wir leichter den Weg zur Seligkeit finden und reineren Verkehr mit
Gott pflegen können. »Und so eine Jungfrau freiet,« sagt der Apostel,
»sündiget sie nicht; doch werden solche leibliche Trübsal haben. Ich
verschonete aber euer gerne.« Ferner: »Welche nicht freiet, die sorget, was
dem Herrn angehöret, daß sie heilig sei, beide am Leib und auch am Geist;
die aber freiet, die sorget, was der Welt angehört, wie sie dem Manne
gefalle. Solches aber sage ich zu eurem Nutzen, nicht daß ich euch einen
Strick an den Hals werfe, sondern dazu, daß es fein ist, und ihr stets und
unverändert dem Herrn dienen könnet«.

Dies aber erreichen wir dann am leichtesten, wenn wir auch körperlich uns
von der Welt zurückziehen und uns hinter Klostermauern bergen, daß nicht
der Lärm der Welt unsere Ruhe störe. Aber nicht nur, wer das Gesetz auf
sich nimmt, sondern auch der, der es auflegt, sehe sich vor, daß er nicht
durch Häufung der Gebote auch die Übertretungen mehre. Das Wort Gottes, das
im Fleisch erschienen ist, hat das Wort des Gesetzes abgekürzt. Moses hat
vieles geredet und doch, wie der Apostel sagt: »Das Gesetz konnte nichts
vollkommen machen«. Es hatte viele und so schwere Gebote, daß der Apostel
Petrus sagte, niemand könne sie halten. »Ihr Männer, liebe Brüder,« sprach
er, »was versuchet ihr Gott mit Auflegen des Jochs auf der Jünger Hälse,
welches weder unsere Väter noch wir haben mögen tragen. Sondern wir glauben
durch die Gnade des Herrn Jesu Christi selig zu werden, gleicherweise wie
auch sie.« Mit wenig Worten hat Christus seine Jünger über die sittliche
Haltung und heilige Lebensführung belehrt und ihnen den Weg zur
Vollkommenheit gewiesen. Das Strenge und Ernste beiseite lassend hat er
ihnen seine Vorschriften, in denen seine ganze Lehre beschlossen war,
lieblich und leicht gemacht: »Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und
beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmet auf euch mein Joch und lernet
von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig -- so werdet ihr
Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Last ist
leicht«.

Denn bei den Werken der Frömmigkeit geht es oft wie bei weltlichen
Geschäften. Mancher arbeitet sich müde in seinem Geschäft und hat doch
wenig Gewinn davon, und mancher hat viel äußere Anfechtung und doch wenig
Verdienst vor Gott, denn er sieht das Herz an, nicht das Werk. Solche
Leute, je mehr sie mit Äußerlichem sich beschäftigen, desto weniger haben
sie Zeit für innerliche Dinge; je mehr sie bei Leuten, deren Urteil in
Außendingen etwas gilt, bekannt werden, desto größer wird ihr Ruhm und
desto leichter lassen sie sich zum Hochmut verführen. Diesem Irrtum zu
begegnen, setzt der Apostel die äußeren Werke tief herunter und erhebt
dagegen die Rechtfertigung durch den Glauben. »Ist Abraham durch die Werke
gerecht, so hat er wohl Ruhm, aber nicht vor Gott. Was saget denn die
Schrift? Abraham hat Gott geglaubt, und das ist ihm zur Gerechtigkeit
gerechnet.« Und weiter: »Was wollen wir nun hie sagen? Das wollen wir
sagen: die Heiden, die nicht haben nach der Gerechtigkeit gestanden, haben
die Gerechtigkeit erlangt; ich sage aber von der Gerechtigkeit, die aus dem
Glauben kommt. Israel aber hat dem Gesetz der Gerechtigkeit nachgestanden
und hat das Gesetz der Gerechtigkeit nicht überkommen. Warum das? Darum,
daß sie es nicht aus dem Glauben, sondern als aus den Werken des Gesetzes
suchen«.

Sie gleichen den Leuten, die ihre Gefäße und Geschirre nur von außen
reinigen und sie innen schmutzig lassen, und mehr für das Fleisch besorgt
als für den Geist, sind sie fleischliche Leute, nicht geistliche. Wir aber,
die wir danach trachten, daß Christus durch den Glauben in unserem inneren
Menschen Wohnung mache, achten das Äußere gering, an dem der Schlechte wie
der Gute teilhaben kann, und denken an das Wort: »In meinem Herzen sind die
Gelübde und die Lobpreisungen, die ich dir, mein Gott, darbringen werde«.

Und so ahmen wir auch jene äußerliche gesetzliche Enthaltsamkeit nicht
nach, die zur wahren Gerechtigkeit sicherlich nichts beiträgt. Denn auch
der Herr giebt uns kein Speiseverbot; nur Völlerei und Trunkenheit, d. h.
den Überfluß, verbietet er. Darum sagte er von sich selber: »Johannes ist
kommen, aß nicht und trank nicht, so sagen sie: er hat den Teufel. Des
Menschen Sohn ist kommen, isset und trinket, so sagen sie: siehe, wie ist
der Mensch ein Fresser und ein Weinsäufer«. Er entschuldigt auch seine
Jünger, weil sie nicht, wie die Jünger Johannes, fasteten und mit
ungewaschenen Händen zu Tische saßen: »Wie können die Hochzeitleute Leid
tragen, so lange der Bräutigam bei ihnen ist?« Und ein andermal: »Was zum
Munde eingehet, das verunreiniget den Menschen nicht, sondern was zum Munde
ausgehet, das verunreiniget den Menschen. Was aber zum Munde herausgehet,
das kommt aus dem Herzen, und das verunreiniget den Menschen. Aber mit
ungewaschenen Händen essen verunreiniget den Menschen nicht«.

Keine Speise also verunreinigt die Seele, dies geschieht durch die Begierde
nach verbotener Speise. Denn wie der Leib nur durch leiblichen Schmutz
verunreinigt werden kann, so die Seele nur durch geistigen. Und nichts ist
zu fürchten bei allem was der Leib verrichtet, wenn nur der Geist nicht
seine Einwilligung dazu giebt. Auf die Reinheit des Fleisches dürfen wir
nicht pochen, wenn die Seele durch bösen Willen verderbt wird. Im Herzen
also liegt Tod und Leben der Seele beschlossen. Daher Salomo in den
Sprüchen sagt: »Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus gehet das
Leben«. Und nach dem Worte der »Wahrheit«, das wir oben gehört, kommt aus
dem Herzen, was den Menschen verunreiniget: denn nach ihren guten oder
bösen Gelüsten wird die Seele gerettet oder verdammt. Weil aber die
Verbindung zwischen Seele und Leib so gar eng ist, müssen wir uns vorsehen,
daß nicht die Seele von der Fleischeslust sich mit fortreißen lasse, und
daß nicht das Fleisch, wenn man ihm allzusehr nachgiebt, im Übermut dem
Geist widerstrebe, und so das, was unterthan sein sollte, Herr werde. Dies
werden wir vermeiden, wenn wir alles Notwendige gestatten, allen Überfluß
aber, wie schon öfters gesagt, fernhalten, und dem schwachen Geschlecht
erlauben, alle Speisen mit Maß, keine aber unmäßig zu gebrauchen.

Mögen sie alles gebrauchen, nichts aber mißbrauchen. »Denn,« sagt der
Apostel, »alle Kreatur Gottes ist gut, und nichts verwerflich, das mit
Danksagung empfangen wird. Denn es wird geheiliget durch das Wort Gottes
und Gebet. Wenn du den Brüdern solches vorhältst, so wirst du ein guter
Diener Jesu Christi sein, auferzogen in den Worten des Glaubens und der
guten Lehre, bei welcher du immerdar gewesen bist.« Auch wir wollen mit
Timotheus diese Lehre des Apostels befolgen und nach der Vorschrift des
Herrn uns nur hüten vor Völlerei und Trunkenheit; in allem wollen wir so
Maß halten, daß der leiblichen Schwäche aufgeholfen, nicht aber das Laster
großgezogen werde. Und besonders bei den Dingen, die, im Überfluß genossen,
Gefahren mit sich bringen, soll ein strenges Maß angelegt werden. Es ist
ein größeres Verdienst und löblicher, mit Maß zu essen, als ganz sich zu
enthalten. Daher auch der heilige Augustinus in seinem Buch Ȇber das Gut
der Ehe«, wo es von den Nahrungsmitteln handelt, sagt: »Nur derjenige macht
einen richtigen Gebrauch von den Dingen, der sie so braucht, daß er sie
auch entbehren kann. Vielen fällt es leichter, sich eines Genusses ganz zu
enthalten als denselben durch das richtige Maß zu regeln. Niemand aber
macht einen weisen Gebrauch von den Gütern dieser Welt, der nicht auch
imstande ist, sich ihrer zu enthalten«. In dieser Gesinnung hat auch Paulus
das Wort gesagt: »Ich kann beides: übrig haben und Mangel leiden«. Mangel
leiden, das kann jeden treffen, aber den Mangel recht ertragen können, das
ist Sache großer Menschen. So kann auch wohl jeder beliebige Mensch »übrig
haben«; aber in der rechten Weise übrig haben können nur die, die sich vom
Überfluß nicht verderben lassen.

Des Weines also, der, wie gesagt, lose Leute macht, und darum der guten
Zucht und der Schweigsamkeit feind ist, sollen sich die Frauen um Gottes
willen entweder ganz enthalten, wie sich heidnische Frauen desselben
enthalten aus Furcht vor dem Ehebruch; oder aber sollen sie ihn mit Wasser
mischen, was für den Durst wie für die Gesundheit zuträglich ist, und
wodurch er seine schädliche Wirkung verliert. Dies wird, glaube ich,
erreicht, wenn zu drei Teilen Wein ein Teil Wasser gemischt wird. Sehr
schwierig aber ist es, sich zu hüten, daß man von dem vorgesetzten Wein
nicht bis zur Sättigung trinke, wie dies der heilige Benediktus verlangt.
Darum achten wir es für sicherer, wenn wir auch den Genuß bis zur Sättigung
nicht verbieten, damit uns aus dem Verbot nicht eine neue Gefahr erwachse.
Denn, wie wir schon wiederholt gesagt haben, nicht die Sättigung ist Sünde,
sondern die Unmäßigkeit. Auch ist nichts dagegen einzuwenden, daß für
Kranke gewürzte Weine bereitet werden, und daß sie ungemischten Wein
bekommen. Doch im Konvent soll solcher nie getrunken werden, sondern allein
von den Kranken.

Daß Brot aus reinem Weizenmehl gemacht werde, verbieten wir streng,
vielmehr soll stets mindestens ein Dritteil gröberen Mehles darunter
gemengt werden. Auch soll man das Brot nicht essen, solang es noch warm
ist, sondern nur solches, das mindestens einen Tag alt ist. Die Fürsorge
für die übrigen Nahrungsmittel soll die Äbtissin in der Weise treffen, daß
sie mit dem, was billig und leicht zu haben ist, den Bedürfnissen des
schwachen Geschlechts entgegenkommt. Denn wie thöricht wäre es, wenn wir
bei andern Leuten kaufen wollten, was wir selber haben, und wenn wir
draußen im Überfluß suchen wollten, was wir zu Hause zur Genüge haben! Wenn
uns zu Gebote steht, was wir brauchen, warum sollten wir uns dann um das
Überflüssige bemühen?

Zu dieser weisen Mäßigung werden wir nicht bloß durch menschliches Vorbild
angehalten, sondern sogar durch dasjenige der Engel und des Herrn selbst,
und wir sehen daraus, daß wir zur Befriedigung der Notdurft dieses Lebens
nicht lange wählerisch sein sollen, was die Speisen anbelangt, sondern
zufrieden sein mit dem, das da ist. So hat Abraham Fleisch zubereitet, und
die Engel haben es gegessen, und als in der Wüste sich Fische vorfanden,
hat Jesus damit das hungernde Volk gespeist. Daraus sehen wir deutlich, daß
zwischen Fleisch und Fisch kein Unterschied zu machen und beides nicht zu
verachten ist, und daß man das nehmen soll, woran keine Sünde hängt, was
sich leicht und ohne große Umstände darbietet und am wenigsten kostet.
Daher sagt auch Seneca, dieser große Freund der Armut und Enthaltsamkeit
und unter allen Philosophen der größte Sittenlehrer: »Es ist unsere
Aufgabe, der Natur gemäß zu leben. Der Natur zuwider ist es, seinen Körper
zu quälen, kostenlose Reinlichkeit zu scheuen, den Schmutz aufzusuchen und
Speisen zu sich zu nehmen, die nicht bloß einfach, sondern schlecht und
ekelhaft sind. Wie es einerseits eine Üppigkeit ist, ausgesucht feine Dinge
zu begehren, so ist es auch thöricht, sich bescheidene und leicht zu
verschaffende Genüsse zu versagen. Mäßigkeit verlangt die Philosophie,
nicht Kasteiung. Man kann auch eine geordnete Mäßigung walten lassen. Das
ist die Art, die mir gefällt«. Daher auch Gregorius im 30. Buch seiner
»Moralia« lehrt, daß es für die Sitten der Menschen weniger auf die
Beschaffenheit ihrer Nahrung als ihrer Gesinnung ankomme, und wo er die
verschiedenen Gelüste des Gaumens unterscheidet, folgendes sagt: »Einmal
verlangt man nach den ausgesuchtesten Speisen, ein andermal begehrt man das
nächste Beste, aber gut zubereitet. Manchmal aber ist es etwas ganz
Gewöhnliches, das man sich wünscht, und doch versündigt man sich dabei
durch die unmäßige Gier, womit man danach trachtet«.

Das Volk, das aus Ägypten ausgeführt wurde, ist in der Wüste erlegen, weil
es das Manna verschmähte und nach Fleisch verlangte, weil ihm dies
schmackhafter erschien. Und Esau hat sein Erstgeburtsrecht verloren, weil
er mit heißer Gier eine ganz gewöhnliche Speise, nämlich ein Linsengericht,
begehrte; indem er sein Erstgeburtsrecht dafür drangab, hat er deutlich
gezeigt, welch heftiges Verlangen er nach jener Speise hatte. Denn nicht an
der Speise, sondern am Verlangen hängt die Sünde. Wir können die
gewähltesten Speisen zu uns nehmen, ohne uns zu verschulden, und vielleicht
die geringsten nicht ohne Gewissensbisse essen. Der eben erwähnte Esau hat
durch ein elendes Linsengericht sein Erstgeburtsrecht verloren, Elias in
der Wüste hat seine Tugend bewahrt, obwohl er Fleisch aß. Darum hat auch
der alte Feind, wohl wissend, daß nicht die Speise selbst, sondern die
Begierde danach die Ursache des Verderbens ist, den ersten Menschen nicht
durch Fleisch, sondern durch einen Apfel in seine Gewalt gebracht, und den
zweiten nicht mit Fleisch, sondern mit Brot versucht. Und so begehen wir
oftmals die Sünde Adams, auch wenn wir geringe und gewöhnliche Kost zu uns
nehmen.

Wir sollen also das zu unserer Nahrung wählen, was dem natürlichen
Bedürfnis entspricht, nicht das, was unser Gelüste uns eingiebt. Unser
Verlangen ist aber nach solchen Dingen weniger stark, von denen wir sehen,
daß sie weniger kostbar und im Überfluß vorhanden sind und darum billig
gekauft werden: wie dies bei der gewöhnlichen Fleischspeise der Fall ist,
welche viel kräftiger ist als das Fleisch von Fischen, weniger kostet und
leichter zuzubereiten ist.

Der Genuß von Fleisch und Wein liegt, wie die Ehe, in der Mitte zwischen
gut und böse, d. h. diese Dinge werden für indifferent geachtet, wiewohl
der eheliche Verkehr nicht ganz der Sünde bar ist, und der Wein mehr
Gefahren in sich birgt als alle übrigen Nahrungsmittel. Aber wenn selbst
der Wein, im rechten Maße genossen, dem gottgeweihten Stande nicht verboten
wird, was brauchen wir dann von den anderen Nahrungsmitteln zu fürchten,
wenn nur das richtige Maß auch bei ihrem Genuß nicht überschritten wird?
Der heilige Benediktus sieht sich genötigt, bei einem Gegenstand, von dem
er selbst sagt, daß er eigentlich für Mönche überhaupt nichts sei, in
Rücksicht auf unsere Zeit, da die erste Liebe schon erkaltet ist,
Zugeständnisse zu machen. Sollten wir also den Frauen nicht auch Freiheit
lassen in Dingen, die ihnen bis jetzt überhaupt in keiner Regel verboten
werden? Wenn die Bischöfe und Leiter der heiligen Kirche, wenn die Kleriker
in ihren religiösen Gemeinschaften ohne Anstoß Fleisch essen dürfen, weil
keine Regel sie bindet: wer wollte uns dann einen Vorwurf daraus machen,
daß wir gegen die Frauen die gleiche Nachsicht üben, besonders da sie im
übrigen größere Strenge bewahren? Es ist dem Jünger genug, daß er sei wie
sein Meister, und es wäre eine große Thorheit, wenn man den Frauenklöstern
versagen wollte, was den Mönchsklöstern erlaubt ist. Es ist schon genug,
wenn die Frauen bei der sonstigen Strenge ihrer Regel, auch wenn sie in dem
Einen Punkte des Fleischessens Freiheit haben, im übrigen nicht hinter der
Frömmigkeit gläubiger Laien zurückbleiben, besonders da nach dem Zeugnis
des Chrysostomus den Weltleuten nicht mehr erlaubt sein soll als den
Mönchen, nur daß jene mit einer Frau leben dürfen. Auch der heilige
Hieronymus, der den Stand der Weltgeistlichen nicht geringer achtet als den
der Mönche, sagt: »Als ob nicht alles, was für die Mönche gilt, auch für
die Weltgeistlichen zuträfe, die die Väter der Mönche sind«.

Wer wüßte auch nicht, daß es aller Vernunft widerstreitet, wenn man dem
Schwachen die gleiche Last aufbürdet wie dem Starken, wenn man von Frauen
dieselbe Abstinenz verlangt wie von Männern? Verlangt jemand hierüber außer
dem Beweis, den die Natur selbst giebt, noch eine besondere Autorität, so
möge er den heiligen Gregorius darüber hören. Dieser große Lenker und
Lehrer der Kirche hat auch über diesen Gegenstand die übrigen Lehrer der
Kirche genau unterwiesen und sagt im 24. Kapitel seines »Liber Pastoralis«
folgendes: »Anders sind die Männer zu ermahnen, anders die Frauen; jenen
kann man Schweres zumuten, diesen nur Leichtes. Jene sollen sich in harter
Übung bewähren, diese werden am besten durch leichte Lasten und durch
sanften Zuspruch gewonnen. Denn was dem Starken eine leichte Sache ist, das
dünkt dem Schwachen ein groß Ding«.

Freilich hat der Genuß von gewöhnlichem Fleisch weniger Reiz als das
Fleisch von Fischen und Vögeln, die doch der heilige Benediktus auch nicht
verbietet. Auch der Apostel unterscheidet mehrere Gattungen von Fleisch:
»Nicht ist alles Fleisch einerlei Fleisch, sondern ein anderes Fleisch ist
der Menschen, ein anderes des Viehes, ein anderes der Fische, ein anderes
der Vögel«. Und das Gesetz schreibt für das Opfer zwar das Fleisch vom Vieh
und Vogel vor, nicht aber das von Fischen, damit niemand glaube, es sei vor
Gott reiner, Fische zu essen als Fleisch. Fische sind auch für die Armen
schwieriger zu beschaffen und teurer, denn es giebt weniger, und ihr
Fleisch ist nicht so kräftig; also auf der einen Seite ist es teurer, auf
der andern erfüllt es seinen Zweck weniger gut.

Indem wir also zugleich die Auslagen und die Natur der Menschen
berücksichtigen, verbieten wir von Nahrungsmitteln überhaupt nichts, nur in
allem das Übermaß. Wir setzen den Genuß von Fleisch und anderen
Nahrungsmitteln aber auf ein solches Maß herab, daß die Enthaltsamkeit der
Nonnen, trotzdem ihnen alles erlaubt ist, dennoch sich mehr bewährt als die
der Mönche, denen einiges verboten ist. Und so wollen wir den Genuß des
Fleisches in der Weise beschränkt wissen, daß im Tag nicht mehr als einmal
davon gegessen werden soll; auch darf nicht ein und dieselbe Person mehrere
Fleischgerichte erhalten, Gemüse sollen nicht hinzugefügt werden und nicht
öfters als dreimal in der Woche soll Fleisch erlaubt sein, nämlich am
ersten, dritten und fünften Wochentage, wenn auch hohe Feste auf die andern
Tage fallen. Denn je höher ein Fest ist, desto mehr soll es durch fromme
Enthaltsamkeit gefeiert werden. Der berühmte Lehrer Gregorius von Nazianz
ermahnt eindringlich dazu in seinem Buch: »Von der Lichtmesse oder den
zweiten Epiphanien«, Kapitel III: »Den Festtag sollen wir feiern, nicht
indem wir dem Bauche dienen, sondern indem wir uns freuen im Geist«.
Derselbe sagt im 4. Kapitel des Buches Ȇber Pfingsten und den heiligen
Geist«: »Und das ist unser Festtag: in die Schatzkammer der Seele etwas
Dauerndes und Bleibendes sammeln, nicht was vorübergeht und verweht. Der
Leib ist schon so sündhaft genug, er braucht keine reichlichere Nahrung;
das wilde Tier würde durch üppigere Nahrung nur noch wilder und würde uns
härter bedrängen«. Darum soll man ein Fest in geistlicher Weise feiern.
Dieser Meinung ist auch der heilige Hieronymus, der Schüler des Gregor; er
sagt in seinem Brief »Über die Annahme von Geschenken«: »Darum müssen wir
uns sorgfältig davor hüten, daß wir den Festtag nicht durch reichliche
Mahlzeit feiern, sondern durch freudige Erhebung des Geistes, denn es wäre
gewiß verkehrt, durch Übersättigung einen Märtyrer ehren zu wollen, von dem
wir wissen, daß er durch Fasten Gott wohlgefällig war«. Augustinus in
seiner Schrift: »Über das Heilmittel der Buße« sagt: »Siehe die Tausende
von Märtyrern an! Warum feiert man ihren Todestag so gern mit schnöden
Gelagen, die reinen Sitten ihres Lebens aber will man nicht nachahmen?«

Wenn es kein Fleisch giebt, so gestatten wir zwei Gerichte von
irgendwelchem Gemüse, und auch Fische können dazu gegeben werden. Kostbare
Gewürze sollen nicht zugesetzt werden, sondern die Schwestern sollen mit
den Erzeugnissen des Landes zufrieden sein. Früchte soll es nur abends zu
essen geben. Für die, deren Gesundheit es verlangt, können jederzeit
Kräuter oder Wurzeln oder Früchte oder sonstige Heilmittel aufgetragen
werden.

Ist eine fremde Nonne als Gast zugegen, so soll ihr aus gastfreundlicher
Liebe eine Schüssel mehr verabreicht werden. Wenn sie will, kann sie davon
auch den andern mitteilen. Die Gäste sollen an dem größeren Tisch Platz
nehmen, und die Äbtissin soll sie bedienen und dann nachher mit den
Schwestern, die bei Tische bedient haben, essen.

Will eine der Schwestern durch spärlichere Kost ihren Leib kasteien, so
soll sie dazu die ausdrückliche Erlaubnis einholen, und diese darf ihr
nicht versagt werden, wenn ihr Vorsatz nicht aus Leichtsinn, sondern aus
wirklichem Ernst entsprungen zu sein scheint, und ihre Gesundheit
voraussichtlich dabei keine Gefahr leidet. Keiner aber soll es gestattet
sein, über diesem Zweck die Pflichten gegen den Konvent zu verabsäumen oder
einen Tag ganz ohne Speise zu verbringen. Freitags sollen die Schwestern
nie Fleischkost genießen, sondern sich mit der Fastenspeise begnügen, und
auf diese Weise durch Enthaltsamkeit gewissermaßen an dem Leiden ihres
Bräutigams teilnehmen, der an diesem Tag gelitten hat. Eine Unsitte, die in
vielen Klöstern herrscht, ist mit aller Strenge zu bekämpfen: daß man
nämlich an den übriggebliebenen Stückchen Brot, die den Armen zugehören,
Hände und Messer reinigt und abwischt und, um die Tischtücher zu schonen,
das Brot der Armen besudelt oder vielmehr das Brot desjenigen, der sich
selber zu den Armen rechnend gesagt hat: »Was ihr gethan habt Einem unter
diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir gethan«.

Was die Fasten betrifft, so mag für die Schwestern die allgemeine
kirchliche Ordnung genügen; wir wollen sie in diesem Stück nicht schwerer
belasten als die gläubigen Laien auch belastet sind, und wir nehmen es
nicht auf uns, von ihrer Schwäche mehr zu verlangen als von dem starken
Geschlecht. Doch glauben wir, daß von der Herbst-Tagundnachtgleiche bis
Ostern wegen der Kürze der Tage Eine Mahlzeit täglich genügen wird. Wir
verordnen dies wegen der kurzen Dauer des Tages, nicht um zum Fasten zu
veranlassen, und machen dabei in den verschiedenen Arten der Speisen keinen
Unterschied.

Das Prunken mit Kleidern, das die Schrift überall verwirft, soll durchaus
vermieden werden. Der Herr warnt uns ausdrücklich davor, indem er den
reichen Mann derhalben tadelt und dagegen die Einfachheit des Johannes
lobt. Daher der heilige Gregorius in seiner vierten Homilie über die
Evangelien sagt: »Was will jenes Wort: 'Die da reiche Kleider tragen, sind
in der Könige Häusern', anders, als klar und deutlich zeigen, daß für das
irdische, nicht für das himmlische Reich kämpft, wer, statt um Gottes
willen zu leiden, allen Härten aus dem Wege geht und nur den Außendingen
ergeben die Weichlichkeit und den Genuß dieses Lebens sucht?« Ebenso in der
elften Homilie: »Es giebt Leute, welche das Tragen von feinen kostbaren
Kleidern nicht für Sünde halten. Und doch, wenn keine Schuld damit
verbunden wäre, so würde der Herr in seinem Gleichnis nicht so ausdrücklich
davon reden, daß der Reiche, der zur Hölle verdammt wurde, mit Purpur und
Seide angethan war. Denn niemand schafft sich kostbare Gewänder an, wenn er
nicht eitlen Prunk entfalten und vornehmer scheinen will als andere Leute.
Nur um eitlen Prunkes willen ist man auf kostbare Gewänder aus. Der beste
Beweis dafür ist der Umstand, daß niemand sich kostbar kleidet, wenn er
sich nicht vor anderen sehen lassen kann«.

Auch Petrus in seinem ersten Brief warnt weltliche verheiratete Frauen vor
dieser Untugend: »Desselbigengleichen sollen die Weiber ihren Männern
unterthan sein, auf daß auch die, so nicht glauben an das Wort, durch der
Weiber Wandel ohne Wort gewonnen werden, wenn sie ansehen euren keuschen
Wandel in der Furcht. Welcher Geschmuck soll nicht auswendig sein mit
Haarflechten und Goldumhängen oder Kleider anlegen, sondern der verborgene
Mensch des Herzens unverrückt mit sanftem und stillem Geiste, das ist
köstlich vor Gott«.

Mit Recht glaubte der Apostel, mehr die Frauen als die Männer vor dieser
Eitelkeit warnen zu müssen, denn der ersteren unsteter Sinn begehrt
lebhafter nach Dingen, die ihrer Üppigkeit Nahrung zuführen. Wenn aber
schon weltlichen Frauen in diesem Hang Einhalt gethan wird, was wird dann
denen ziemen, die sich Christo geweiht haben, deren Schmuck eben darin
besteht, daß sie schmucklos sind? Darum, wer von ihnen nach solchem Schmuck
trachtet und ihn nicht zurückweist, wenn er ihr angeboten wird: die
verliert den Ehrentitel der Keuschheit. Von einer solchen mag man denken,
sie rüste sich nicht zum Gebet, sondern zur Unzucht, sie ist nicht einer
Nonne, sondern einer Dirne gleich zu achten, der ihr Schmuck zum Herold für
ihre Unkeuschheit dient und ihr buhlerisches Herz verrät, wie geschrieben
steht: »Denn seine Kleidung, Lachen und Gang zeigen ihn an«.

Wir lesen, daß der Herr an Johannes, wie schon erwähnt, die Dürftigkeit und
Rauheit seiner Kleidung mehr lobte als die seiner Nahrung: »Was seid ihr
hinausgegangen zu sehen«, sagt er, »wolltet ihr einen Menschen in reichen
Kleidern sehen?« Denn der Genuß ausgesuchter Speisen hat manchmal einen
nützlichen Zweck und ist darum zu entschuldigen, was bei den Kleidern nicht
der Fall ist. Je kostbarer sie sind, desto mehr muß man acht auf sie geben,
desto weniger sind sie etwas nütze, desto teurer kommen sie zu stehen; je
feiner der Stoff, desto empfindlicher sind sie und desto weniger Schutz
gewähren sie dem Körper.

Für die ernste Tracht der Buße ist kein Stoff geeigneter als der schwarze,
und kein Pelzwerk kleidet die Bräute Christi besser als das der Lämmer: so
zeigen sie schon durch ihr Gewand, daß sie das Lamm, das den Jungfrauen
verlobt ist, angezogen haben oder anziehen sollen.

Die Schleier sollen nicht aus Seide, sondern aus einem gefärbten
Linnenstoff sein. Zwei Arten von Schleiern sind zu unterscheiden: die einen
für die Jungfrauen, welche ihr Gelübde schon abgelegt, die andern für
solche, die dies noch nicht gethan haben. Die Schleier der geweihten
Jungfrauen sollen mit dem Kreuz gezeichnet sein. Dies Zeichen soll
bedeuten, daß sie mit der Unberührtheit auch ihres Leibes ganz und gar
Christo angehören, und wie sie durch ihre Weihe von den übrigen sich
unterscheiden, so soll auch ihr Gewand ein besonderes Zeichen tragen, das
die Gläubigen abschrecken soll, ein irdisches Verlangen nach ihnen zu
tragen. Dieses Zeichen jungfräulicher Reinheit, aus weißem Faden genäht,
soll die Jungfrau auf dem Haupte tragen, aber nicht eher als bis sie vom
Bischof die Weihe empfangen hat: kein anderer Schleier soll dieses Zeichen
tragen.

Auf dem bloßen Leib sollen die Schwestern reine Hemden tragen, und auch in
denselben schlafen. Auch wollen wir in Anbetracht ihrer schwachen Natur den
Gebrauch von Matratzen und Betttüchern nicht verbieten. Jede aber soll für
sich schlafen und essen. Keine soll sich beschweren, wenn Kleider oder
sonstige Dinge, die ihr von andern überlassen wurden, einer Schwester
zugewiesen werden, die sie mehr nötig hat. Vielmehr soll sie sich darüber
freuen, daß ihr die Bedürftigkeit ihrer Schwester eine Gelegenheit zum
Almosen gegeben hat, und soll daran denken, daß sie nicht für sich, sondern
für andere lebt. Wo nicht, so gehört sie auch nicht zu der heiligen
Genossenschaft und ist schuldig des Frevels, eigenen Besitz zu haben.

Zur Bekleidung des Körpers scheint uns zu genügen ein Hemd, ein Pelz, ein
Gewand, und wenn es sehr kalt ist, darüber ein Mantel. Diesen können die
Schwestern beim Schlafen auch als Decke benutzen. Wegen des Ungeziefers und
wegen notwendiger Reinigung sollen alle diese Kleidungsstücke doppelt
gehalten werden, so wie Salomo in seinem Lob der wackeren und sorgsamen
Hausfrau sagt: »Sie fürchtet ihres Hauses nicht vor dem Schnee, denn ihr
ganzes Haus hat zwiefache Kleider«. Die Kleider sollen der Länge nach nicht
weiter als bis zum Absatz reichen, damit kein Staub aufgewirbelt wird. Die
Ärmel sollen nicht länger sein als Arm und Hand zusammen. Die Beine und
Füße sollen mit Schuhen und Strümpfen bekleidet sein, und nie sollen die
Schwestern barfuß gehen, auch nicht unter dem Vorwand der Frömmigkeit. Für
die Betten genügt eine Matratze, ein Polster, ein Kissen, eine Decke und
ein Leintuch. Auf dem Kopf sollen die Schwestern eine weiße Binde tragen,
darüber einen schwarzen Schleier, und wo es nötig ist, auf der Tonsur eine
Mütze aus Lammfell.

Aber nicht allein bei Nahrung und Kleidung soll alles Überflüssige gemieden
werden, sondern auch an den Gebäuden und sonstigen Besitzungen. An den
Gebäuden zeigt es sich deutlich, ob sie größer oder schöner angelegt sind
als ihr Zweck es erfordert, oder ob wir, mit Werken der Bildhauerkunst und
der Malerei sie schmückend, Königspaläste bauen, statt Hütten der Armut.
»Des Menschen Sohn,« sagt Hieronymus, »hat nicht, da er sein Haupt hinlege,
und du baust weite Hallen und deckst gewaltige Häuser ein?« Wenn wir uns
teure und schöne Pferde halten, so ist das nicht bloß Überfluß, sondern
eitler Übermut. Mit unsern Herden und unserm Landbesitz wächst unser Hunger
nach äußerem Gut, und je mehr wir auf dieser Erde besitzen, desto mehr
müssen sich unsere Gedanken damit beschäftigen und werden von der
Betrachtung der himmlischen Dinge abgezogen. Und ob wir auch den Leib
hinter Klostermauern verschließen, die Seele muß doch dem nachgehen, was
draußen ist und was sie liebt, und zerstreut sich dahin und dorthin. Je
mehr Besitztum wir verlieren können, desto größer die Furcht, die uns
quält; je kostbarer der Besitz, desto mehr hängt man an ihm, desto mehr
fesselt er das arme Herz an sich.

Darum ist dafür zu sorgen, daß wir unserem Haus und unserem Vermögen eine
bestimmte Grenze setzen und nichts, was nicht notwendig ist, begehren,
annehmen oder zurückbehalten. Denn alles was über das eigentliche Bedürfnis
hinausgeht, besitzen wir nur wie einen Raub und machen uns schuldig am Tode
so vieler Armen als wir mit unserem Überfluß hätten erhalten können. Jedes
Jahr also, nachdem die Früchte eingeerntet sind, ist der Bedarf des Jahres
zu überschlagen; was übrig bleibt, das soll den Armen geschenkt oder
vielmehr zurückgegeben werden.

Es giebt Leute, die, der weisen Mäßigung vergessend, sich ihrer zahlreichen
Familie freuen, während sie doch nur wenig Einkünfte haben. Fällt ihnen nun
die Unterhaltung derselben schwer, so fangen sie an, in unverschämter Weise
zu betteln oder andern mit Gewalt zu nehmen, was sie brauchen. Wir haben
mit den Vätern mancher Klöster ähnliche Erfahrungen gemacht: sie rühmen
sich ihres zahlreichen Konventes, sehen nur darauf, viele, nicht aber gute
Söhne zu haben und halten sich für etwas Besonderes, wenn sie unter vielen
die größten sind. Sie ziehen die Leute in ihre Behausungen, versprechen
ihnen gute Tage, da sie ihnen doch ein hartes Leben ankündigen sollten, und
weil sie ungeprüft und ohne Unterschied jeden aufnehmen, so verlieren sie
ihre Leute wieder durch Abfall. Gegen solche, wenn ich recht sehe, richtet
sich die »Wahrheit« in dem Wort: »Wehe euch, die ihr Land und Wasser
umziehet, daß ihr einen Judengenossen machet; und wenn er's worden ist,
machet ihr aus ihm ein Kind der Hölle, zwiefältig mehr, denn ihr seid«.
Gewiß würden sie ihren Ruhm weniger in einer großen Menge suchen, wenn sie
statt der Zahl mehr das Heil der Seelen im Auge hätten und wenn sie sich
nicht mehr Kraft zur Leitung einer Gemeinschaft zutrauten, als sie haben.
Der Herr hat nur wenige Jünger erwählt, und doch ist auch von diesen
wenigen einer abgefallen, so daß der Herr selbst sagte: »Habe ich nicht
euch Zwölfe erwählt und eurer Einer ist ein Teufel?« Und wie Judas aus der
Zahl der Apostel, so ging von den sieben Diakonen Nikolaus verloren. Und
als die Apostel erst wenige um sich gesammelt hatten, haben Ananias und
Sapphira sich die Todesstrafe zugezogen. Auch beim Herrn selbst blieb nur
eine kleine Schar zurück, während viele seiner Jünger hinter sich gingen.
Denn der Weg ist schmal, der zum Leben führt, und wenig ist ihrer, die
darauf wandeln. Dagegen ist der breit und geräumig, der zum Tode führt, und
viele sind, die sich nach ihm drängen. Darum bezeugt der Herr selbst ein
andermal: »Viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt«. Und Salomo
sagt: »Der Narren Zahl hat kein Ende«.

Darum hüte sich jeder, der sich der Menge der Untergebenen freut, daß nicht
unter ihnen nach dem Worte des Herrn wenig Auserwählte seien, und daß ihm
nicht, während er seine Herde maßlos vermehrt, die Kräfte zu ihrer
Überwachung fehlen; sonst möchten ihm geistlich Gesinnte das Wort des
Propheten vorhalten: »Du hast dein Volk gemehrt, aber seine Freude hast du
nicht erhöht«. Solche Leute müssen, um ihre und der Ihrigen Angelegenheiten
zu besorgen, oftmals auswärts gehen, in die Welt zurückkehren und sie
bettelnd durchstreifen. Sie verwickeln sich in zeitliche Sorgen und
vergessen das Ewige und holen sich oft mehr Schande als Ruhm. Dies wäre für
die Frauen eine um so größere Schande, als es für sie mit Gefahren
verbunden ist, wenn sie in der Welt herumziehen.

Darum, wer in Ruhe und Ehrbarkeit leben, für den Dienst des Herrn Zeit
behalten und vor Gott und den Menschen wohlgefällig sein will, der scheue
sich zu sammeln, was er nicht unterhalten kann und rechne bei seinen
Ausgaben nicht auf den Geldbeutel anderer Leute; er trachte danach, Almosen
auszuteilen, nicht einzusammeln. Paulus, der gewaltige Prediger des
Evangeliums, obwohl er Macht hat, von seiner Predigt zu leben, lebt von
seiner Hände Arbeit, um niemand lästig zu fallen und seines Ruhmes nicht
verlustig zu gehen. Sollten also wir, die wir nicht predigen, sondern über
die Sünde trauern, die Kühnheit oder Schamlosigkeit haben, zu betteln, um
die, die wir gedankenlos aufgenommen haben, zu unterhalten? Gehen wir doch
schon so weit in wahnsinniger Verblendung, daß wir, weil wir nicht selbst
predigen können, andere Prediger für Geld werben, und diese Lügenapostel
führen wir mit uns herum und tragen unsere Kreuze und Reliquien bei uns und
verkaufen dies samt dem Worte Gottes, ja selbst des Teufels Blendwerk, an
die einfältigen bornierten Christenleute und versprechen ihnen um Geld
alles, was sie wollen.

Jedermann weiß, wie sehr bereits unser Stand und die Predigt des göttlichen
Wortes in Mißachtung gefallen ist um dieser schamlosen Habgier willen, die
nur das Ihre sucht, nicht das was Jesu Christi ist. Ja, auch die Äbte und
Obersten der Klöster machen sich in aufdringlicher Weise an die weltlichen
Fürsten und ihre Höfe und finden sich bereits im fleischlichen Leben besser
zurecht als im klösterlichen. Nach Menschengunst mit allen Künsten jagend
verstehen sie sich besser darauf, mit den Menschen zu verhandeln, als mit
Gott zu reden. Jene Warnung des heiligen Antonius lesen sie -- wie oft! --
vergebens und schlagen sie in den Wind, oder hören sie zwar, befolgen sie
aber nicht. Er sagt: »Wie der Fisch auf trockenem Lande stirbt, so wird der
Mönch, der außer seiner Zelle verzieht und mit Weltleuten verkehrt, seinem
beschaulichen Lebensberuf entfremdet«. Darum: wie der Fisch zum Meer, so
müssen wir zu unserer Zelle zurückeilen, damit wir nicht über dem Draußen
vergessen, unser Inneres zu hüten.

Auch der Urheber der Klosterregel selbst, der heilige Benediktus, hat durch
Wort und That deutlich gezeigt, wie es sein Wunsch sei, daß die Äbte
dauernd in ihrem Kloster anwesend seien und sorglich über ihre Herde
wachen. Als er nämlich einmal das Kloster verlassen hatte, um seine fromme
Schwester zu besuchen, und diese ihn nur Eine Nacht zu erbaulichem Gespräch
zurückhalten wollte, sagte er offen, er dürfe durchaus nicht außerhalb des
Klosters bleiben. Er sagt nicht: »wir dürfen nicht«, sondern: »ich darf
nicht«; denn die Brüder durften es mit seiner Erlaubnis, er selbst aber
nicht, es sei denn, daß ihm hierüber, wie dies später geschah, von Gott
eine besondere Offenbarung zu teil wurde. Darum steht auch in seiner Regel
nirgends etwas vom Ausgehen des Abtes, sondern nur von dem der Brüder. Für
die ständige Anwesenheit des Abtes sorgt er so vorsichtig, daß er eine
Vorschrift hat, wonach an den Vigilien der Sonn- und Feiertage die
Verlesung des Evangeliums und was damit zusammenhängt, nur vom Abt
verrichtet werden darf. Er bestimmt auch, daß der Abt stets mit den Pilgern
und Gästen zu Tische sitzen solle, und wenn keine Gäste da sind, soll er
von den Brüdern an seine Seite rufen, wen er will, und die andern unter der
Aufsicht eines oder zweier Ältesten lassen. Daraus geht deutlich sein Wille
hervor, daß der Abt zur Essenszeit stets im Kloster sein soll und nicht, an
die leckeren Schüsseln der Großen gewöhnt, die Klosterbrüder beim trockenen
Brot zurücklasse. Von solchen Menschen sagt die »Wahrheit«: »Sie binden
schwere und unerträgliche Bürden und legen sie den Menschen auf den Hals;
aber sie wollen dieselben nicht mit einem Finger regen«. Und ein andermal
von den falschen Predigern: »Hütet euch vor den falschen Propheten, die zu
euch kommen. Sie kommen von sich aus, nicht von Gott gesandt und haben
keinen Auftrag von ihm«.

Johannes der Täufer, unser Oberhaupt, hatte durch seine Geburt ein Recht
auf das Hohepriestertum; aber er entwich aus der Stadt in die Wüste und gab
das hohepriesterliche Amt für das Mönchsleben, die Stadt für die Wüste
dran. Und das Volk ging zu ihm hinaus, nicht er kam zum Volke. Obwohl er so
groß war, daß man glaubte, er sei Christus, und er in den Städten viel
Gutes hätte wirken können: er lag schon in jenem Bettlein, von dem aus er
für den klopfenden Freund die Antwort bereit hatte: »Ich habe meinen Rock
ausgezogen, wie soll ich ihn wieder anziehen? Ich habe meine Füße
gewaschen, wie soll ich sie wieder besudeln?«

Darum jeder, der sich nach der Abgeschiedenheit klösterlicher Ruhe sehnt,
der freue sich seines Bettes, vielmehr seines Bettlein. Denn von Einem
Bett, sagt die »Wahrheit«, wird der eine angenommen, der andere wird
verlassen werden. Ein Bettlein aber hat die Braut, d. h. die beschauliche
Seele, die mit Christus aufs engste verbunden ist und mit höchstem
Verlangen an ihm hängt. Von niemand, der da hineinging, lesen wir, daß er
verlassen worden sei. Die Braut selber sagt davon: »Ich suchte des Nachts
in meinem Bettlein, den meine Seele liebet«. Dieses Bettlein ist es auch,
von welchem aufzustehen sie sich weigert oder sich scheut, und von wo aus
sie dem klopfenden Freund die oben angeführten Worte zuruft. Denn außer
ihrem Bett, glaubt sie, sei der Schmutz, mit dem sie die Füße zu besudeln
fürchtet. Dina ist hinausgegangen, um die Fremden zu sehen, und hat ihre
Ehre dabei verloren. Und jener gefangene Mönch Malchus hat nachher an sich
selbst erfahren, was sein Abt ihm vorausgesagt hatte: ein Schaf, das den
Schafstall verläßt, fällt leicht dem Wolf zum Opfer.

Darum wollen wir keine zu große Gemeinschaft sammeln, deren Bedürfnisse uns
Gelegenheit geben, ja uns nötigen, auswärts zu gehen: wir würden sonst
andere gewinnen und selber dabei Schaden nehmen nach Art des Bleis, das
sich verzehren lassen muß, damit das Silber im Tiegel erhalten bleibe.
Fürchten wir uns vielmehr davor, daß nicht Blei und Silber zugleich vom
heftigen Feuer der Anfechtungen verzehrt werde. Die »Wahrheit«, wird man
uns entgegnen, hat gesagt: »Wer zu mir kommt, den will ich nicht
hinauswerfen«. Auch wir wollen nicht hinauswerfen, wen wir einmal
aufgenommen haben, aber wir wollen bei der Aufnahme vorsichtig sein: nicht
daß wir uns selber hinauswerfen, während wir sie hereinnehmen. Denn auch
der Herr selbst, so lesen wir, hat nicht einen bereits Aufgenommenen
hinausgeworfen, sondern er hat einen, der sich ihm antrug, zurückgewiesen.
Als der ihm sagte: »Meister, ich will dir folgen, wohin du gehst,« hat er
ihm geantwortet: »Die Füchse haben Gruben« u. s. w. Er ermahnt uns auch
dringend, wenn wir etwas auszuführen gedenken, vorher die Kosten, die zur
Unternehmung notwendig sind, zu überschlagen, indem er sagt: »Wer ist aber
unter euch, der einen Turm bauen will, und sitzt nicht zuvor, und
überschlägt die Kosten, ob er's habe hinauszuführen? Auf daß nicht, wo er
den Grund gelegt hat und kann's nicht hinausführen, alle, die es sehen,
fahen an, seiner zu spotten. Und sagen: 'dieser Mensch hub an zu bauen, und
kann es nicht hinausführen'«. Es ist schon viel, wenn einer für sein eigen
Heil zu sorgen weiß, und gefährlich ist's, wenn einer für viele sorgen
soll, der kaum sich selber zu behüten fertig wird. Im Bewahren aber ist nur
der gewissenhaft, der beim Aufnehmen ängstlich war, und niemand bleibt so
fest bei dem, was er einmal angefangen, wie der, der langsam und vorsichtig
drangegangen ist. Frauen aber sollten in diesem Stück um so vorsichtiger
sein, als sie in ihrer Schwachheit weniger schwere Lasten zu tragen
vermögen und ihnen Ruhe ganz besonders notthut.

Die Heilige Schrift ist ein Spiegel der Seele. Ja gewiß: wer in ihr lesend
lebt und ihr Verständnis sich zu Nutzen macht, der erkennt aus ihr die
Schönheit seiner Sitten oder wird ihrer Häßlichkeit gewahr, so daß er jene
mehren, diese beseitigen kann. An diesen Spiegel erinnert uns der heilige
Gregorius im zweiten Kapitel seiner »Moralia«: »Die Heilige Schrift wird
unserem geistigen Auge vorgehalten wie ein Spiegel, daß wir darin unser
inneres Gesicht wahrnehmen können. Hier erkennen wir unsere häßlichen wie
unsere schönen Züge. Hier merken wir, was für Fortschritte wir gemacht
haben und wie weit wir vom Fortschritt entfernt sind«. Wer aber die Heilige
Schrift ansieht, ohne sie zu verstehen, dem geht es wie dem Blinden, der
sich einen Spiegel vor die Augen hält, ohne daß er sich darin sehen kann;
ein solcher sucht nicht Belehrung aus der Schrift, wiewohl sie doch eben
dazu da ist. Er sitzt müßig vor der Schrift, wie der Esel vor der Leier. Er
gleicht dem Hungernden, der ein Brot vor sich hat und sich doch nicht damit
sättigen kann. Ihm ist das Wort Gottes eine unnütze Speise, mit der er
nichts anzufangen weiß, weil er weder selbst mit dem Verstand in sie
eindringen kann, noch auch ein anderer sie ihm mundgerecht macht, indem er
ihn belehrt.

Darum sagt auch der Apostel, indem er uns zum Studium der Schrift im
allgemeinen ermahnt: »Was aber geschrieben ist, das ist uns zur Lehre
geschrieben, auf daß wir durch Geduld und Trost der Schrift Hoffnung
haben«. Und an anderer Stelle: »Werdet voll heiligen Geistes und redet
untereinander in Psalmen und Lobgesängen und geistlichen Liedern«. Mit sich
selber nämlich redet, wer versteht, was er vorbringt und aus seinen Worten
Nutzen zu ziehen weiß. Derselbe Apostel schreibt an Timotheus: »Halt an mit
Lesen, mit Ermahnen, mit Lehren, bis ich komme«. Und wiederum: »Du aber
bleibe in dem, das du gelernet hast und dir vertrauet ist, sintemal du
weißest, von wem du gelernet hast. Und weil du von Kind auf die Heilige
Schrift weißest, kann dich dieselbige unterweisen zur Seligkeit durch den
Glauben an Christum Jesum. Denn alle Schrift, von Gott eingegeben, ist
nütze zur Lehre, zur Strafe, zur Besserung, zur Züchtigung in der
Gerechtigkeit, daß ein Mensch Gottes sei vollkommen, zu allem guten Werk
geschickt«. Auch die Korinther ermahnt der Apostel zum Studium der Schrift,
damit sie, was andere über die Schrift sagen, auslegen können: »Strebet
nach der Liebe. Fleißiget euch der geistlichen Gaben, am meisten aber, daß
ihr weissagen möget. Denn der mit Zungen redet, der redet nicht den
Menschen, sondern Gott; wer aber weissaget, der bessert die Gemeinde.
Darum, wer mit Zungen redet, der bete also, daß er's auch auslege. Ich will
beten mit dem Geist und will beten auch im Sinn; ich will Psalmen singen im
Geist und will auch Psalmen singen mit dem Sinn. Wenn du aber segnest im
Geist, wie soll der, so an Statt des Laien stehet, Amen sagen auf deine
Danksagung, sintemal er nicht weiß, was du sagest? Du danksagest wohl fein,
aber der andere wird nicht davon gebessert. Ich danke meinem Gott, daß ich
mehr mit Zungen rede denn ihr alle. Aber ich will in der Gemeine lieber
fünf Worte reden mit meinem Sinn, auf daß ich auch andere unterweise, denn
sonst zehntausend Worte mit Zungen. Liebe Brüder, werdet nicht Kinder an
dem Verständnis, sondern an der Bosheit seid Kinder, an dem Verständnis
aber seid vollkommen«.

Zungen reden heißt: bloße Worte ausstoßen, ohne sie durch Auslegung
verständlich zu machen. Weissagen oder auslegen heißt: nach Art der
Propheten, welche Seher, d. h. Einsehende genannt werden, verstehen was man
sagt, so daß man es auch anderen auslegen kann. Im Geiste betet oder singt
Psalmen, wer nur hörbare Laute von sich giebt, ohne einen verständigen Sinn
damit zu verbinden. Wenn aber unser Geist betet, d. h. wenn wir nur
zusammenhangslose Laute hervorbringen, ohne mit dem Herzen zu fassen, was
die Lippen sprechen, so bleibt unsere Seele ohne die Frucht, die sie doch
vom Gebet haben sollte: nämlich, daß sie durch den Sinn der ausgesprochenen
Worte zur Sehnsucht und zum Verlangen nach Gott entflammt würde.

Darum ermahnt uns der Apostel, wir sollen unsere Reden so gestalten, daß
wir nicht, wie so viele andere, nur Laute hervorbringen, sondern auch einen
Sinn damit verbinden, und er will nicht, daß wir anders beten oder Psalmen
singen, weil dies ohne Frucht bleibe. Darin folgt ihm auch der heilige
Benedikt, wenn er sagt: »Wir sollen in solcher Verfassung Psalmen singen,
daß unser Geist mit dem, was wir singen, übereinstimmt«. Dies verlangt auch
der Psalmist mit dem Wort: »Lobsinget mit Verstand«. Den Worten und Lauten
soll die Würze des vernünftigen Sinnes nicht fehlen, damit wir in Wahrheit
zum Herrn sprechen können: »Wie lieblich sind deine Worte in meinem Munde«.
Und an anderer Stelle: »Nicht mit Flöten wird der Mann sich angenehm machen
vor Gott«. Nämlich die Flöte ertönt zu Lustbarkeit und Vergnügen, nicht zu
ernstem Nachdenken. Daher man von denen, die von ihrer eigenen Musik so
entzückt sind, daß sie die Erbauung des Verstandes darüber vergessen, mit
Recht sagen kann: sie spielen die Flöte, ohne damit Gott zu gefallen. Wie
soll man, sagt der Apostel, zu den Gebeten in der Kirche Amen sagen, wenn
man nicht versteht, was gebetet wird, und nicht weiß, ob es etwas Gutes
oder etwas Schlimmes ist, um was man betet. So erleben wir's ja oft, daß
Laien, die den Sinn der Worte nicht verstehen, in der Kirche aus Irrtum
sich selbst Böses erflehen, statt Gutes: wenn es z. B. heißt: »Laß uns so
durch das Zeitliche gehen, ut _non_ amittamus aeterna«[4] -- werden manche
durch den ähnlich klingenden Laut irregeführt und sagen: »ut _nos_
amittamus aeterna«[5] oder: »ut non admittamus aeterna«.[6] Dieser Gefahr
will der Apostel vorbeugen mit den Worten: »Wenn du aber segnest im Geist«,
d. h. wenn du beim Segnen nur unverständliche Laute von dir giebst, »wie
soll der, so an Statt des Laien stehet, Amen sagen?«, d. h. wer von den
Assistierenden, deren Aufgabe es ist, an Stelle der Laien zu antworten,
wird dann antworten können? »Wie soll er Amen sagen?«, weiß er doch nicht,
ob er es zu einem Segen oder zu einem Fluch sagt. Endlich, wer die Schrift
nicht versteht, wie kann sich der am Wort erbauen, wie soll er die Regel
auslegen und verstehen, oder verbessern, was unrichtig ist?

[Fußnote 4: Daß wir das Ewige _nicht_ verlieren.]

[Fußnote 5: Daß _wir_ das Ewige verlieren.]

[Fußnote 6: Daß wir das Ewige nicht _zulassen_.]

Darum sind wir auch nicht wenig erstaunt, daß man in den Klöstern, einer
Eingebung des Teufels folgend, keine Studien zum Verständnis der Schrift
treibt, sondern nur zum Gesang und zum Aussprechen der Wörter, nicht aber
zum Verstehen derselben Anleitung giebt: als ob das Blöken der Schafe
wichtiger wäre als das Weiden. Denn das Verständnis der Heiligen Schrift
ist die Speise und geistliche Erquickung der Seele. Darum läßt der Herr den
Ezechiel, ehe er ihn zum Predigen bestimmt, ein Buch verschlingen, das
alsbald in seinem Munde ward wie süßer Honig. Von dieser Speise redet auch
Jeremia: »Die jungen Kinder heischen Brot und ist niemand, der es ihnen
breche«. Den Kindern nämlich bricht Brot, wer den Sinn der Schrift den
Einfältigen eröffnet. Und diese Kinder, die verlangen, daß man ihnen das
Brot breche, das sind die, die ihr Herz sättigen wollen am Verständnis der
Schrift, wie der Herr an einer andern Stelle bezeugt: »Ich werde einen
Hunger ins Land schicken, nicht einen Hunger nach Brot oder Durst nach
Wasser, sondern nach dem Worte des Herrn, zu hören«. Dagegen aber hat der
alte Feind einen Hunger und Durst, zu hören Menschenworte und das Geräusch
der Welt, in die Mauern der Klöster geschickt, also daß über eitlem
Geschwätz das Wort Gottes uns entleidet, zumal es uns ohne die Süßigkeit
und Würze des Verständnisses ungenießbar erscheint. Daher sagt der
Psalmist, wie oben erwähnt: »Wie lieblich sind deine Worte in meinem Munde.
Dein Wort ist meinem Munde süßer denn Honig«. Worin diese Süßigkeit
bestehe, fügt er sogleich hinzu: »Dein Wort macht mich klug«. Das heißt:
aus deinem Wort, nicht aus Menschenworten, habe ich Klugheit gelernt, dein
Wort hat mich unterrichtet und belehrt. Auch was die Frucht dieses
Verständnisses betrifft, fügt er hinzu: »Darum hasse ich alle falschen
Wege«. Viele bösen Wege sind an sich schon so deutlich als solche zu
erkennen, daß alle sie von selbst hassen und verabscheuen; aber alle bösen
Wege können wir mit Hilfe des göttlichen Wortes erkennen und meiden. Daher
auch das Wort: »Deine Worte sind in meinem Herzen geborgen, daß ich mich
nicht an dir versündige«. In unserem Herzen sind sie geborgen und tönen
nicht von unsern Lippen, wenn wir durch stilles Nachdenken zu ihrem
Verständnis gekommen sind. Je weniger wir nach diesem Verständnis trachten,
desto weniger vermögen wir die bösen Wege zu erkennen und zu meiden und uns
vor der Sünde zu hüten.

Eine Versäumnis in dieser Hinsicht ist namentlich Mönchen, die nach
Vollkommenheit streben sollen, schwer anzurechnen, denn sie können die
Belehrung leichter haben, da ihnen eine Menge heiliger Bücher zu Gebote
steht und sie Zeit und Ruhe genug dazu haben. Jener Alte in dem Buch »Leben
der Altväter« tadelt mit Recht diejenigen, welche die Menge der
Schriftsteller rühmen, aber zum Lesen derselben keine Zeit finden. »Die
Propheten,« sagt er, »haben Bücher geschrieben, und nach ihnen sind unsere
Väter gekommen und haben über diesen Büchern gearbeitet. Ihre Nachfolger
haben sie dem Gedächtnis der Nachwelt empfohlen. Dann ist das heutige
Geschlecht gekommen und hat die Bücher abgeschrieben auf Papier und
Pergament und hat sie unbenutzt in den Fächern liegen lassen.« Auch der
Vater Palladius mahnt uns dringend zum Lernen wie zum Lehren: »Eine Seele,
die nach dem Willen Christi beschaffen sein will, muß fleißig lernen, was
sie nicht weiß und frei lehren, was sie erkannt hat«. Wenn sie aber beides,
obwohl sie könnte, nicht will, dann leidet sie an Wahnsinn. Denn der Anfang
des Abfalls von Gott ist der Ekel an der Wissenschaft, und wie kann man
Gott lieben, wenn man nicht begehrt, wonach die Seele allezeit hungert?

Auch dem heiligen Anastasius ist das Lernen und Studieren so wichtig, daß
er in seiner Mahnung an die Mönche den Rat giebt, die religiösen Übungen
damit zu unterbrechen. »Ich will den Weg unserer Lebensweise vorzeichnen,«
sagt er; »das erste ist die Sorge für die Abstinenz, Geduld im Fasten,
Anhalten am Gebet und Fleiß im Lesen, oder wenn einer der Schrift noch
nicht mächtig ist, im Zuhören, gefördert durch das Verlangen, zu lernen.
Das ist gleichsam das erste Kinderspielzeug in die Wiege derer, die noch
Säuglinge sind in der Gotteserkenntnis.« Nach einigen weiteren Sätzen sagt
er dann zuerst: »am Gebet soll man also anhalten, daß dasselbe fast keine
Unterbrechung erleidet«; dann aber fügt er hinzu: »Wenn möglich, sollen die
Gebete nur durch Lesen unterbrochen werden«. Auch der Apostel Petrus sagt
dasselbe in seiner Mahnung: »Seid allezeit bereit zur Verantwortung
jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in euch ist«. Und der
Apostel Paulus sagt: »Wir hören nicht auf zu beten, daß ihr erfüllet werdet
mit Erkenntnis seines Willens in allerlei geistlicher Weisheit und
Verstand«; und weiter: »Lasset das Wort Christi unter euch reichlich wohnen
in aller Weisheit«.

Auch im Alten Testament wird den Menschen in ähnlicher Weise eingeschärft,
sich mit den heiligen Geboten vertraut zu machen. Denn so spricht David:
»Wohl dem, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen, noch tritt auf den Weg
der Sünder, noch sitzet, da die Spötter sitzen; sondern hat Lust zum Gesetz
des Herrn«. Und zu Josua, dem Sohne Nuns, sagt der Herr: »Laß das Buch
dieses Gesetzes nicht aus deinen Händen kommen, sondern betrachte es Tag
und Nacht«.

Freilich drängen sich oft auch in diese fromme Beschäftigung unheilige
verführerische Gedanken ein, und ob wir auch unsern Geist mit allem Eifer
auf Gott gerichtet haben, so macht uns doch die Sorge dieser Welt zu
schaffen. Und wenn derjenige solchen Anfechtungen ausgesetzt ist, der in
Erfüllung seines heiligen Berufes begriffen ist, dann wird jedenfalls der
Müßige ihnen auch nicht entgehen. Der heilige Papst Gregorius sagt im 19.
Kapitel seiner »Moralia«: »Mit Seufzen sehen wir jetzt Zeiten anbrechen, da
viele, die einen kirchlichen Beruf haben, entweder ihr Thun nicht nach dem,
was sie wissen, einrichten wollen, oder aber überhaupt verschmähen, das
Wort Gottes kennen zu lernen und zu verstehen. Sie verschließen ihr Ohr vor
der Wahrheit und wenden sich den Fabeleien zu; denn sie suchen alle das
Ihre, nicht was Jesu Christi ist. Überall tritt uns das Wort Gottes vor die
Augen, aber die Menschen mögen es nicht kennen lernen. Fast keiner begehrt
zu wissen, was er glaubt«.

Und doch ermahnen uns dazu die Klosterregeln, wie die Vorbilder der
heiligen Väter. Der heilige Benediktus giebt über das Lehren und Lernen des
Gesangs keine bestimmte Vorschrift, wohl aber hat er genaue Bestimmungen
über das Lesen. Er setzt für das Lesen wie für die Arbeit eine bestimmte
Zeit genau fest und ist für die Übung im Lesen und Schreiben so besorgt,
daß er unter den notwendigen Gegenständen, die der Mönch von seinem Abt
anzusprechen hat, auch Feder und Papier nicht vergißt. Er hat unter anderem
die Bestimmung, daß bei Beginn der Fasten jeder Mönch aus der Bibliothek
ein Buch empfangen soll, das er ganz durchzulesen hat; was aber wäre
lächerlicher als seine Zeit mit Lesen zu verbringen, ohne darauf zu achten,
ob man den Inhalt versteht oder nicht? Bekannt ist das Wort jenes Weisen:
»Lesen ohne zu verstehen ist mißverstehen«. Auf einen solchen Leser paßt
das Wort des Philosophen vom Esel vor der Leier. Denn ein Leser, der ein
Buch in der Hand hält, ohne daß er etwas damit anfangen kann, ist wie ein
Esel, der vor einer Leier sitzt. Und viel vernünftiger wäre es, wenn solche
Menschen sich sonstwie nützlich beschäftigen würden, statt müßig
dazusitzen, die Buchstaben anzusehen und die Blätter umzudrehen. An solchen
Lesern sehen wir das Wort des Jesaia sich erfüllen: »Daß euch aller
Propheten Gesichte sein werden wie die Worte eines versiegelten Buchs,
welches, so man's gäbe einem, der lesen kann, und spräche: 'Lieber, lies
das', und er spräche: 'Ich kann nicht, denn es ist versiegelt'. Oder gleich
als wenn man's gäbe dem, der nicht lesen kann, und spräche: 'Lieber, lies
das,' und er spräche: 'Ich kann nicht lesen'. Und der Herr spricht 'Darum,
daß dies Volk zu mir nahet mit seinem Munde, und mit seinen Lippen mich
ehret, aber ihr Herz ferne von mir ist, und mich fürchten nach
Menschengebot, das sie lehren: so will ich auch mit diesem Volk wunderlich
umgehen, aufs wunderlichste und seltsamste, daß die Weisheit seiner Weisen
untergehe und der Verstand seiner Klugen verblendet werde'«.

Man sagt im Kloster, daß die sich auf die Schrift verstehen, die sie lesen
können. Allein wenn sie hinsichtlich des Verständnisses der Schrift
gestehen müssen, daß sie davon nichts wissen, so ist ihnen ihr Buch
versiegelt, so gut wie denen, die da sagen, sie können nicht lesen. Gott
aber bezichtigt sie, daß sie ihm mit Mund und Lippen nahen, nicht aber mit
dem Herzen, weil sie das, was sie allenfalls lesen können, nicht im
mindesten verstehen. Solche Menschen, indem sie des Verständnisses der
Schrift entbehren, machen nur eine äußerliche Gewohnheit mit, haben aber
keinen Nutzen von der Schrift. Darum droht der Herr, daß er auch ihre
sogenannten Weisen und Gelehrten mit Blindheit schlagen wolle.

Hieronymus, der größte Lehrer der Kirche und die schönste Zierde des
Mönchsstandes, ermahnt uns zur Liebe der Wissenschaften, indem er sagt:
»Liebe die Wissenschaft und du wirst die schnöde Lust des Fleisches nicht
lieben«; und er legt selbst Zeugnis davon ab, wie viel Zeit und Mühe er
darauf verwandt habe. Neben dem, was er, um uns durch sein Beispiel zu
lehren, über sein eigenes Studium schreibt, sagt er in einem Brief an
Pammachius und Oceanus folgendes: »In meiner Jugend war ich von einer
brennenden Lernbegierde erfüllt. Und ich war nicht, wie andere sich heraus
nehmen, mein eigener Lehrer, sondern ich habe zu Antiochia fleißig den
Apollinaris gehört und bin mit ihm verkehrt, während er mich in den
heiligen Schriften unterrichtete. Schon färbte mein Haar sich grau, und ich
hätte demnach eher Lehrer sein sollen als noch Schüler. Dennoch ging ich
nach Alexandria. Ich hörte da den Didymus; viel verdanke ich ihm, viel
Neues hat er mich gelehrt. Die Leute meinten, nun hätte ich endlich
ausgelernt. Da lernte ich noch in Jerusalem und in Bethlehem mit Mühe und
um teures Geld nächtlicherweile Hebräisch bei Barannias. Denn er fürchtete
sich vor den Juden und ward mir ein zweiter Nikodemus«. Wahrlich, er hatte
sich treulich gemerkt, was im Buch Sirach zu lesen ist: »Liebes Kind, laß
dich die Weisheit ziehen von Jugend auf, so wird ein weiser Mann aus dir«.
Nicht allein aus den Worten der Schrift, sondern auch aus dem Vorbild der
heiligen Väter hat er sich belehrt, und unter den Lobsprüchen, die er dem
dortigen musterhaften Kloster spendet, findet sich folgende Bemerkung über
die ausgezeichnete Pflege des Schriftstudiums in demselben: »Nirgends habe
ich ein so tiefes Studium und Verständnis der Heiligen Schrift und eine so
eifrige Pflege der Gottesgelehrtheit gefunden, wie hier. Man hätte jeden
der Mönche für einen Lehrer der göttlichen Weisheit halten können«.

Auch der heilige Beda, der schon als Knabe ins Kloster aufgenommen wurde,
wie er in der »Geschichte der Angelsachsen« berichtet, sagt: »Seitdem
brachte ich mein ganzes Leben in ein und demselben Kloster zu und habe mich
ganz dem Studium der Heiligen Schrift hingegeben; neben der Beobachtung der
Klosterregel und der täglichen Pflicht des Singens in der Kirche war es
allezeit mein höchstes Vergnügen, zu lernen oder zu schreiben«.

Jetzt aber bleiben die, die in Klöstern erzogen werden, so einfältig, daß
sie, zufrieden mit dem leeren Schall der Worte, sich um das Verständnis der
Schrift nicht kümmern, und nicht fürs Herz etwas lernen, sondern nur die
Zunge üben wollen. Sie trifft der Spruch Salomos: »Das Herz des Weisen
sucht Weisheit, aber des Narren Mund weidet sich an der Thorheit«, nämlich
wenn er sich an Worten erfreut, die er nicht versteht. Solche Leute können
ja Gott nicht lieben und in Liebe zu ihm entbrennen, da sie vom Verständnis
der Schrift, die uns über Gott belehrt, so weit entfernt sind.

Diese Zustände in den Klöstern sind hauptsächlich auf zwei Ursachen
zurückzuführen: einmal auf die Eifersucht der Laien und Laienbrüder, ja
auch der Vorgesetzten selbst, sodann auf das leere Geschwätz und die
Müßiggängerei, die in den heutigen Klöstern vielfach zu Hause sind. Jene
wollen mit uns nur in irdischem Handel und Wandel zu thun haben, nicht aber
in geistlichem Verkehr mit uns stehen und gleichen den Philistern, die den
Isaak verfolgten, als er einen Brunnen graben wollte, und ihm das Wasser
wehrten, indem sie Erde hineinwarfen. Gregorius legt diese Geschichte in
seinen »Moralia«, Kapitel XVI, also aus: »Oft, wenn wir uns mit der
Heiligen Schrift beschäftigen, haben wir unter den Angriffen der bösen
Geister schwer zu leiden: sie streuen uns den Staub irdischer Gedanken in
den Sinn, um das Auge unserer Betrachtung für das Licht der inneren
Beschauung blind zu machen«. Dies hatte der Psalmist nur allzusehr
erfahren, als er sagte: »Weichet von mir, ihr Übelthäter, ich will
erforschen die Gebote meines Gottes«. Er erklärt damit deutlich, daß er die
Gebote Gottes nicht erforschen konnte, weil sein Geist zu kämpfen hatte
gegen die Anläufe der Dämonen. Sie sind dasselbe, was die bösen. Philister
bei Isaaks Brunnen waren, als sie ihn mit Erde füllten. Denn solche Brunnen
graben wir in der That, wenn wir in die verborgenen Tiefen der Schrift
eindringen. Es ist, als deckten die Philister uns den Brunnen zu, wenn
unreine Geister, während wir zum Himmel streben, uns irdische Gedanken
eingeben, und uns gleichsam das Wasser der göttlichen Erkenntnis, das wir
gefunden haben, entziehen. Aber weil niemand diese Feinde aus eigener Kraft
zu überwinden vermag, sagt Eliphas uns das Wort: »Und der Allmächtige wird
gegen deine Feinde sein, und Silber wird dir zugehäuft werden«. Das soll
heißen: wenn der Herr mit seiner Stärke die bösen Geister von dir treibt,
dann wird der Schatz des göttlichen Wortes leuchtend in dir sich vermehren.

Gregorius hatte wohl gelesen die Homilien des großen Christenphilosophen
Origenes über die Genesis und hat aus dessen Brunnen geschöpft, was er uns
über diese Brunnen sagt. Denn dieser eifrige geistliche Brunnengräber
ermahnt uns nicht nur eindringlich, aus diesen Brunnen zu schöpfen, sondern
auch sie zu graben. So sagt er in der zwölften der genannten Homilien:
»Lasset uns thun, wozu die Weisheit uns ermahnt: 'Trinke Wasser aus deiner
Grube und Flüsse aus deinem Brunnen; habe du sie aber alleine'. Trachte
also auch du, mein lieber Zuhörer, danach, einen eigenen Brunnquell zu
haben, daß, wenn du ein Buch der Heiligen Schrift vornimmst, du auch durch
eigenes Nachdenken einen Sinn herausbringest, und nach dem, was du in der
Kirche gelernt hast, trachte auch du zu trinken aus dem Brunnen deines
Geistes. Es sprudelt in dir ein Quell lebendigen Wassers, Geist und
Vernunft durchströmen dich in unversieglichen Adern und reichlichen Fluten,
nur dürfen sie nicht mit Erde und Schmutz angefüllt werden. Darum gieb dir
Mühe, dein Land umzugraben und den Unrat auszufegen, d. h. den Geist zu
bilden, die Trägheit auszurotten und des Herzens Härtigkeit zu erweichen.
Höre, was die Schrift sagt: 'Wenn man das Auge drückt, so gehen Thränen
heraus, und wenn man einem das Herz trifft, so läßt er sich merken'.
Reinige auch du deinen Geist, damit du dereinst aus deinem eigenen Brunnen
trinkest und aus deinen Quellen lebendiges Wasser schöpfest. Denn hast du
in dir aufgenommen das Wort Gottes, hast du von Jesus Lebenswasser
empfangen, im Glauben empfangen, so wird es in dir ein Brunnen des Wassers
werden, das in das ewige Leben quillt«.

Derselbe Origenes sagt in der folgenden Homilie über den obenerwähnten
Isaaksbrunnen: »Unter den Philistern, die den Brunnen mit Erde bedeckten,
sind ohne Zweifel die Leute zu verstehen, welche den Weg zur geistlichen
Erkenntnis verschließen, so daß sie selbst nicht trinken können und auch
andere daran verhindert werden«. Höre, was der Herr spricht: »Wehe euch
Schriftgelehrten und Pharisäern, die ihr den Schlüssel der Erkenntnis
weggenommen habt. Ihr kommt nicht hinein, und wehret denen, die hinein
wollen«. Wir aber wollen nicht aufhören, Brunnen lebendigen Wassers zu
graben, und bald mit Altem, bald mit Neuem uns beschäftigend wollen wir
jenem Schriftgelehrten im Evangelium ähnlich werden, von dem der Herr sagt:
»Der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorträgt«.

Ebenso heißt es dort: »Lasset uns zu Isaak gehen und mit ihm graben einen
Brunnen lebendigen Wassers; auch wenn die Philister uns widerstehen und
Streit anfangen, wollen wir doch mit ihm ausharren beim Brunnen, damit man
auch zu uns sagen könne: 'Trinke Wasser aus deinen Gefäßen und aus deinem
Brunnen'. Und also wollen wir graben, daß unsere Gefäße überströmen vom
Wasser des Brunnens, daß wir nicht genug haben, wenn wir für uns allein die
Schrift verstehen, sondern auch andere lehren und anweisen, zu trinken.
Mensch und Vieh sollen trinken, wie der Prophet sagt: 'Tier und Menschen
machst du gesund, Herr'«.

Und weiter unten heißt es: »Wer ein Philister ist und nach Irdischem
trachtet, der weiß auf der ganzen Erde kein Wasser zu finden, noch auch
verständigen Sinn«.

Was nützt es dich, Wissenschaft zu haben, wenn du sie nicht zu gebrauchen
weißt? Was nützt dich das Wort, wenn du es nicht anwenden kannst? Das ist
die Art der Knechte Isaaks, die in irgend einem beliebigen Land nach
lebendigem Wasser graben. Ihr aber nicht also: lasset ferne von euch sein
alles leere Geschwätz, und diejenigen unter euch, denen die Gabe des
Lernens verliehen ist, sollen sich mit Eifer in den göttlichen Dingen
unterrichten lassen, wie es von dem frommen Manne heißt: »Sondern er hat
Lust zum Gesetz des Herrn und redet von seinem Gesetz Tag und Nacht«. Und
welchen Nutzen das unermüdliche Studium im Gesetz des Herrn bringe, das
besagen gleich die folgenden Worte: »Der ist wie ein Baum, gepflanzet an
den Wasserbächen«. Denn wer von den Wassern des göttlichen Wortes nicht
benetzt wird, der ist wie ein dürrer, unfruchtbarer Baum. Dieses Wort ist
gemeint, wenn es heißt: »Von des Leibe werden Ströme des lebendigen Wassers
fließen«. Das sind jene Fluten, von welchen die Braut im Hohenlied zum Lobe
ihres Bräutigams singt: »Seine Augen sind wie Taubenaugen an den
Wasserbächen, mit Milch gewaschen, und stehen in der Fülle«.

Auch ihr also setzet euch, mit Milch gewaschen, d. h. im reinen Glanze
eurer Keuschheit strahlend, wie Tauben an diese Wasserbäche, und schöpfet
Weisheit daraus, auf daß ihr nicht bloß lernet, sondern auch lehren und
andern den Weg zeigen könnet; daß ihr den Bräutigam nicht bloß selber
sehen, sondern auch andern beschreiben möget!

Wir wissen: von der Einen Braut, die den Bräutigam durch das Ohr des
Herzens zu empfangen gewürdigt worden ist, steht geschrieben: »Maria
behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen«. Also die Mutter
des höchsten Wortes nahm seine Worte mehr zu Herzen als in den Mund und
bewegte sie im Herzen; sie überlegte jedes einzelne mit Fleiß und verglich
sie miteinander, ob sie genau übereinstimmen.

Aus dem Gesetz wußte sie, daß alles Tier unrein genannt wird, das nicht
wiederkäuet und die Klauen spaltet. So ist auch keine Seele rein, die nicht
die göttlichen Gebote wiederkäuet, indem sie darüber nachdenkt, so viel sie
vermag, und ihren Verstand anwendet, um sie zu befolgen, so daß sie nicht
bloß äußerlich Gutes thut, sondern wirklich gut, d. h. mit der richtigen
Gesinnung, handelt. Die gespaltenen Klauen aber bedeuten das
Unterscheidungsvermögen der Seele, worüber geschrieben steht: »Wenn du
recht anbietest, aber nicht recht teilest, so sündigst du«.

»Wer mich liebt,« sagt die 'Wahrheit', »der hält meine Worte.« Wer aber
wird die Worte und Gebote seines Herrn gehorsam halten können, wenn er sie
nicht vorher verstanden hat? Niemand wird eifrig im Thun sein, der nicht
vorher ein aufmerksamer Hörer war. So, wie wir von dem frommen Weib lesen,
das, alles andere vergessend, zu Jesu Füßen saß und auf seine Worte hörte,
gewiß mit jener verständnisvollen Aufmerksamkeit, die der Herr selbst von
uns verlangt, wenn er sagt: »Wer Ohren hat zu hören, der höre«. Könnet ihr
euch aber nicht zu solch hingebender Glut entflammen, dann ahmet im Eifer
und in der Begeisterung für die heiligen Wissenschaften wenigstens jene
frommen Schülerinnen des heiligen Hieronymus nach: Paula und Eustochium,
auf deren Antrieb dieser große Lehrer die Kirche durch so manche Schrift
erleuchtet hat.



IX. Brief.

Heloise an Abaelard.

(Mit 42 biblisch-theologischen Fragen.)


Deiner Weisheit ist es besser bekannt als meiner Einfalt, wie der selige
Hieronymus der frommen Marcella das Studium der Heiligen Schrift und der
damit zusammenhängenden Fragen, für welches sie glühend begeistert war, gar
sehr empfohlen und sie nachdrücklich darin bestärkt hat, und wie er ihr
weithintönendes Lob dafür gespendet hat. In seinem Kommentar zum Brief des
Paulus an die Galater thut er ihrer im ersten Buch in folgender Weise
Erwähnung: »Ich kenne ihren Eifer, ich kenne ihren Glauben und das glühende
Verlangen, das sie in der Brust trägt: ihr Geschlecht zu überwinden, die
Menschen zu vergessen, den Paukenschall des göttlichen Wortes ertönen zu
lassen und das Rote Meer dieser Welt zu durchschreiten. In der That, so oft
ich in Rom war, hat sie mich nie auch nur einen Augenblick gesehen, ohne
mir irgend eine Frage über die heiligen Schriften vorzulegen. Dabei war sie
nicht nach Pythagoräer Weise mit jeder beliebigen Antwort zufrieden; auch
beugte sie sich nicht unter die bloße Autorität, wenn triftige Gründe
fehlten; vielmehr prüfte sie alles und mit scharfem Verstand wog sie alles
ab, so daß ich oft das Gefühl hatte, ich habe nicht eine Schülerin, sondern
eine Richterin vor mir«.

Hieronymus sah sie infolge dieses Eifers bald solche Fortschritte machen,
daß er sie den anderen Frauen, die sich um das gleiche Studium bemühten,
zur Lehrerin setzte. Daher schreibt er an die Jungfrau Principia unter
anderem folgendes: »Du hast dort zur Leitung im Studium der Schrift und in
der Heiligung des Leibes und der Seele Marcella und Asella; die eine mag
dich durch die grünenden Wiesen und durch den bunten Blumenflor der
heiligen Schriften zu dem führen, der im Lied der Lieder sagt: 'Ich bin
eine Blume zu Saron, und eine Rose im Thal'; die andere, selbst eine Blume
des Herrn, ist würdig, zugleich mit dir das Wort zu vernehmen: 'Wie eine
Rose unter den Dornen, so ist meine Freundin unter den Töchtern'«.

Wozu aber sage ich dies, du von vielen Geliebter, uns aber Geliebtester?
Ich will dir ja nichts erzählen, ich will dich mahnen: meine Worte sollen
dich an deine Schuld erinnern und dich nicht länger säumen lassen mit der
Einlösung. Die Mägde Christi, deine geistlichen Töchter, hast du in eigenem
Oratorium vereinigt und sie mit dem Dienste Gottes betraut; stets pflegtest
du uns das Studium des göttlichen Wortes und das Lesen heiliger Schriften
besonders ans Herz zu legen. Ja, so nachdrücklich hast du uns die Kenntnis
der Heiligen Schrift empfohlen, daß du sie einen Seelenspiegel nanntest, in
dem man seiner Schönheit oder Häßlichkeit gewahr werde, und du verlangtest,
daß keine Braut Christi dieser Spiegel fehlen dürfe, wenn sie dem Herrn
gefallen wolle, dem sie sich angelobt. Du sagtest noch weiter zu unserer
Aufmunterung, das Lesen der Heiligen Schrift, wenn man sie nicht verstehe,
nütze so viel, wie dem Blinden ein Spiegel.

Durch diese Mahnungen sind wir, ich sowohl wie die Schwestern, zu mächtigem
Eifer angeregt worden, indem wir auch in diesem Stück nach Kräften dir zu
gehorchen bestrebt sind. Allein während wir uns alle Mühe geben und von
derjenigen Liebe zu den Wissenschaften ergriffen sind, über die der
obengenannte Lehrer einmal sagt: »Liebe die Wissenschaften, und du wirst
die Laster des Fleisches nicht lieben«, -- wird unser Eifer durch die
vielen Fragen, die uns verwirren, lahmgelegt. Und was wir in den heiligen
Schriften weniger verstehen, das müssen wir notwendig auch weniger lieben,
da wir fühlen, daß es eine fruchtlose Arbeit ist, die wir thun.

Darum stellen die Schülerinnen ihrem Lehrer, die Töchter ihrem Vater einige
Fragen, und bitten demütigst, du möchtest es nicht unter deiner Würde
achten, dieselben für sie zu lösen. Denn auf dein mahnendes Wort, ja auf
deinen Befehl hin haben wir dies Studium in Angriff genommen. Wir haben bei
der Aufstellung der Fragen nicht die Reihenfolge der heiligen Schriften
eingehalten, sondern wie sie uns täglich aufgestoßen sind, so haben wir sie
aufgezeichnet und übersenden sie nun dir zur Lösung.



X. Brief.

Abaelard an Heloise.

(Begleitschreiben zu einer Sammlung geistlicher Lieder, von Abaelard
gedichtet für die Nonnen des Paraklet.)


I.

Meine liebe Schwester Heloise, einst in der Welt mir teuer und nun erst
recht teuer in Christus, auf deine dringende Bitte habe ich Lieder
gedichtet, auf griechisch Hymnen, auf hebräisch Tehillim geheißen. Da du
und deine frommen Frauen mich wiederholt zu der Abfassung solcher Lieder
drängtet, so habe ich nach dem Grund eures Wunsches geforscht. Denn ich
sagte mir, es sei unnötig, neue Lieder zu dichten, während ihr alte in
reicher Fülle habt, ja, es wollte mir wie ein Verbrechen erscheinen, den
alten Gesängen heiliger Dichter neue von sündigen Menschen vorzuziehen oder
an die Seite zu stellen.

Während ich nun von verschiedenen Seiten verschiedene Meinungen zu hören
bekam, führtest du, soviel ich mich erinnere, unter anderem folgenden Grund
an. »Wir wissen,« sagtest du, »daß die römische und besonders die
gallicanische Kirche in betreff der Psalmen und Hymnen sich mehr nach ihrer
Gewohnheit richten als nach einer Autorität. Wir wissen ja heute noch
nicht, von wem die Übersetzung des Psalters herrührt, welche in unserer, d.
h. in der gallicanischen Kirche, im Gebrauch ist, und nach den Äußerungen
derjenigen zu urteilen, die uns über die Verschiedenheit der Übersetzungen
belehrt haben, weicht die unsrige von allen übrigen weit ab und kann, wie
ich glaube, auf ein höheres Ansehen keinen Anspruch machen. Allein ihr
Gebrauch hat sich durch langjährige Gewohnheit so sehr eingebürgert, daß
wir gerade beim Psalter, den wir doch am häufigsten brauchen, einer
apokryphen Übersetzung folgen, während wir die andern biblischen Bücher in
der korrekten Übersetzung des seligen Hieronymus lesen. Was aber die Hymnen
betrifft, die wir jetzt gebrauchen, so herrscht hierin eine solche
Unordnung, daß fast nie eine Überschrift ihre Art oder ihre Verfasser
bezeichnet. Und wenn man doch bei einigen mit Wahrscheinlichkeit auf
bestimmte Verfasser schließen kann, als deren älteste man Hilarius und
Ambrosius, dann Prudentius und viele andere annimmt, so ist häufig das
Silbenmaß so wenig entsprechend, daß man den Liedern kaum eine Melodie
unterlegen kann, ohne die doch ein Hymnus keinen Zweck hat, der ja ein
wohltönendes Lob Gottes sein soll.«

Auch fügtest du noch bei, daß es für die meisten Feste an eigentümlichen
Liedern fehle, so auch für die Feier der unschuldigen Kindlein, der
Evangelisten oder derjenigen weiblichen Heiligen, die weder Jungfrauen noch
Märtyrerinnen waren. Es fehle auch nicht an solchen, versichertest du, bei
denen die Singenden eine Unwahrheit aussprechen müssen, sei's wegen der
Zeitumstände, die nicht zum Liede passen, oder wegen des falschen Inhaltes.
Manche der Gläubigen halten aus irgend einem zufälligen Grund oder infolge
besonderer Erlaubnis die bestimmte vorgeschriebene Stunde nicht ein und
kommen nun entweder zu früh oder zu spät, so daß sie genötigt sind,
wenigstens in Beziehung auf die Zeit zu lügen, wenn sie die für die Nacht
bestimmten Lieder bei Tag, die für den Tag bestimmten bei Nacht singen.
Nach der Vorschrift des Propheten und der Satzung der Kirche soll ja auch
während der Nacht das Lob Gottes nicht verstummen, wie geschrieben steht:
»Des Nachts gedenke ich an deinen Namen, o Herr« und: »Mitten in der Nacht
erhebe ich mich, mit dir zu reden«, d. h. dich zu lobpreisen. Dagegen darf
der siebenfache Lobgesang, dessen der Prophet Erwähnung thut mit den
Worten: »Siebenmal des Tages lobe ich dich« -- nur bei Tage dargebracht
werden. Der erste derselben, der Morgenlobgesang genannt, und von demselben
Propheten bezeichnet mit den Worten: »Des Morgens gedenke ich dein, o Herr«
-- soll angestimmt werden in der ersten Frühe des Tages, wenn die
Morgenröte oder der Morgenstern erscheint.

Bei den meisten Hymnen giebt sich diese Unterscheidung von selber. So
kennzeichnen sich gewisse Lieder selbst deutlich als solche, die bei Nacht
zu singen sind, wenn es z. B. heißt: »Wohl auf zur Nacht und laßt uns alle
wachen« -- oder: »Gesang durchtönt die stille Nacht«; ferner: »Die lange
Nachtzeit kürzen wir, erstehen zum Bekenntnis dir«. Oder ein andermal: »Die
schwarze Nacht hält nun bedeckt, was auf der Erd' in Farben strahlt« --
oder: »Wir stehn von unsrem Lager auf zur Zeit der ruhig stillen Nacht«,
und ferner: »Wie wir die Stunden stiller Nacht nun unterbrechen mit Gesang«
u. s. w.

So geben auch manche Morgenhymnen die Zeit, zu welcher sie zu singen sind,
selber an. Zum Beispiel, wenn es heißt: »Der nächt'ge Schatten weichet
schon« -- oder: »Golden erstrahlt des Tages Licht«; ferner: »Am Himmel
steht das Morgenrot« -- »Das Morgenrot im Rosenlicht« oder »Der Vogel ist
des Tags Herold; er kündet uns des Lichtes Nahn« -- und: »Wie schön
leuchtet der Morgenstern«. Solche Lieder belehren uns selbst darüber, zu
welcher Zeit sie gesungen sein wollen, und wollten wir diese ihre Zeiten
nicht einhalten, so würden wir bei ihrem Vortrag als Lügner erfunden.
Allein in den meisten Fällen ist es weniger die Nachlässigkeit, die solche
Abweichungen verursacht, als der Zwang der Verhältnisse oder die förmliche
Befreiung davon; dazu nötigt namentlich in den kleineren Parochialkirchen
schon die Beschäftigung der Bevölkerung fast jeden Tag, so daß hier aller
Gottesdienst fast das ganze Jahr hindurch bei Tag abgehalten werden muß.

Aber nicht bloß das Nichteinhalten der Zeit bringt uns in die Lage, lügen
zu müssen, sondern bei gewissen Liedern sind es die Verfasser selbst, die
uns dazu veranlassen. Diese nämlich, sei es, daß sie von ihrer eigenen
Zerknirschung auf den Seelenzustand anderer schlossen, oder daß sie ihre
Heiligen durch übertrieben frommen Eifer erheben wollten -- haben manchmal
so sehr das Maß überschritten, daß wir in manchen Liedern oft gegen unsere
eigene Überzeugung etwas aussprechen, von dem wir das Gefühl haben, daß es
der Wahrheit nicht entspreche. Die wenigsten werden so vom Feuer der
heiligen Andacht glühen oder in der Zerknirschung über ihre Sünden so in
Thränen und Seufzer aufgelöst sein, daß sie mit Recht singen können: »Wir
nahen weinend zum Gebet; erlaß uns unsere Sünden«, oder: »Hör unsere
Seufzer, unsern Sang in Gnaden an«. So giebt es noch manches, was nur für
Auserwählte, und darum für wenige, paßt. Auch mag deine Einsicht
entscheiden, ob es nicht eine Anmaßung ist, vor der wir uns scheuen
sollten, wenn wir alljährlich singen: »Martinus, den Aposteln gleich«, oder
wenn wir diesen oder jenen Bekenner seiner Wunder wegen in übertriebener
Weise rühmen, indem wir z. B. sagen: »An dessen heil'gem Grab so mancher
Heilung fand«.

Diese und ähnliche Gründe, die ihr anführtet, haben mich bewogen, aus
Ehrfurcht vor eurer Frömmigkeit, Hymnen zu dichten für den ganzen Lauf des
Jahres. Da ihr also dies von mir erbeten habt, ihr Bräute und Mägde
Christi, so bitte ich hinwiederum euch: daß ihr die Last, die ihr auf meine
Schultern gelegt habt, durch die Handreichung eures Gebetes erleichtern
möget, auf daß, wer da säet und wer da erntet, zusammen arbeite und
zusammen sich freue.


II.

Die Feier des Gottesdienstes besteht aus drei Teilen. Der Apostel der
Heiden hat es so verordnet im Brief an die Ephesier, wo es heißt: »Und
saufet euch nicht voll Weins, daraus ein unordentlich Wesen folget, sondern
werdet voll Geistes, und redet untereinander von Psalmen und Lobgesängen
und geistlichen Liedern, singet und spielet dem Herrn in eurem Herzen«. Und
weiter an die Colosser schreibt er: »Lasset das Wort Christi unter euch
reichlich wohnen in aller Weisheit, lehret und ermahnet euch selbst mit
Psalmen und Lobgesängen und geistlichen lieblichen Liedern und singet dem
Herrn in eurem Herzen«. Die Psalmen und Lieder sind ja seit alter Zeit aus
den kanonischen Schriften entnommen, und es bedarf nicht erst unserer Mühe,
sie zu dichten. Über die Hymnen aber findet sich in den heiligen Schriften
kein bestimmendes Merkmal, wiewohl einige Psalmen auch die Bezeichnung
»Hymne« oder »heiliges Lied« als Aufschrift tragen -- und so ist über sie
von verschiedenen Schriftstellern da und dort nachträglich geschrieben
worden; auch wurden für die verschiedenen Zeiten, Stunden und Feste
besondere Hymnen bestimmt. Diese nennen wir jetzt »Hymnen« im eigentlichen
Sinn, wiewohl in der alten Zeit einige Schriftsteller alle in einem
bestimmten Versmaß gedichteten Lieder, die zum Lobe Gottes dienten, sowohl
Hymnen als auch Psalmen nannten. Daher sagt Eusebius von Cäsarea im 19.
Kapitel seiner Kirchengeschichte, wo er die Lobsprüche erwähnt, die der
beredte Jude Philo der alexandrinischen Kirche unter der Leitung des Markus
spendet, unter anderem folgendes: »Dann kommt er darauf zu sprechen, daß
sie selbst neue Psalmen dichten, und sagt: 'Sie kennen nicht allein die
Lieder der geistvollen Alten, sondern dichten selbst neue Lieder zum Preis
Gottes und singen dieselben in allen möglichen Weisen und Melodien mit
guter und lieblicher Harmonie.'«

Es ist vielleicht nicht unangezeigt, alle Psalmen, die in hebräischem
Versmaß und Rhythmus gedichtet und mit einer lieblichen Melodie versehen
sind, ebenfalls Hymnen zu nennen -- unbeschadet unserer Erklärung im ersten
Vorwort. Allein da die Psalmen, wenn sie in eine andere Sprache übersetzt
werden, vom Gesetz des Versmaßes und des Rhythmus entbunden sind, so hat
der Apostel in seinem Brief an die Ephesier, die ja Griechen sind, mit
Recht die Hymnen wie auch die Lieder von den Psalmen unterschieden.

So habe ich denn in diesem Punkt eurer Bitte zum Teil wenigstens, soweit
Gott es mir gestattete, Genüge gethan, geliebte Schwestern in Christo, da
ihr meinen schwachen Geist mit vielem Flehen gar sehr bedrängt und auch
noch die Gründe angegeben habt, warum dies euch nötig erscheine. Das erste
Büchlein enthält die Hymnen zum täglichen Gottesdienst. Ihr werdet
erkennen, daß sie nach zweierlei Melodien und Rhythmen gehen, und daß
jedesmal alle Tageslieder und alle Nachtlieder beides gemeinsam haben. Auch
den Dankhymnus, der nach dem Essen zu sprechen ist, habe ich nicht
vergessen -- nach dem Wort des Evangeliums: »Und da sie den Lobgesang
gesprochen hatten, gingen sie hinaus«.

Die vorstehenden Hymnen sind in der Weise abgefaßt, daß der Inhalt der
nächtlichen Lieder sich deckt mit dem, was sie feiern, und daß die
Tageslieder die allegorische oder moralische Auslegung dieses Inhaltes
darbieten. So kommt es, daß das Dunkel der Geschichte der Nacht aufbehalten
wird, während der helle Tag das Licht der Erklärung bringt. Nun bleibt mir
nur noch übrig, die Hilfe eures Gebets anzurufen, damit ich euch die
gewünschte bescheidene Gabe zukommen lassen kann.


III.

In den beiden vorstehenden Büchlein habe ich Hymnen für den täglichen
Gottesdienst und eigene für die hohen Feste zusammengestellt. Nun bleibt
mir noch übrig, zur Verherrlichung des himmlischen Königs und zur
gemeinsamen Erbauung der Gläubigen den Sitz der himmlischen Residenz mit
würdigen Lobeshymnen nach Kräften zu erheben. Mögen mich bei diesem Werke
die Verdienste derjenigen unterstützen, deren ruhmreiches Andenken ich
durch den bescheidenen Zoll meiner Lobpreisungen erhöhen möchte -- nach dem
Wort der Schrift: »Das Gedächtnis des Gerechten ermangelt nicht des Lobes«,
und wiederum: »Lasset uns preisen die Ruhmvollen« u. s. w.

Auch euch bitte ich, teure, Christo geweihte Schwestern, auf deren Flehen
hauptsächlich ich dies Werk in Angriff genommen habe: unterstützet mich
durch die Andacht eures Gebetes, denket an jenen frommen Gesetzgeber, der
mit seinem Gebet mehr ausrichtete, als das Volk mit dem Schwert. Und eure
Liebe wird sich reich erweisen in der Fülle des Gebetes, wenn ihr daran
denket, wie freigebig ich in Erfüllung eures Wunsches gewesen bin. Während
ich mich nach den schwachen Kräften meines Geistes mühte, das Lob der
göttlichen Gnade würdig zu singen, habe ich durch die Menge der Lieder zu
ersetzen gesucht, was ihnen an Schönheit des Ausdrucks abging, und so habe
ich für die nächtliche Feier jedes einzelnen Festes eigene Hymnen
gedichtet, während bisher nur Ein bestimmter Hymnus bei der Nachtfeier von
Festen und Feiertagen gesungen wurde.

Vier Hymnen also habe ich für jedes Fest so bestimmt, daß bei jeder der
drei nächtlichen Vigilien ein besonderer Hymnus gesungen werden kann, und
außerdem noch die Matutine ihren eigenen hat. Ferner habe ich die
Bestimmung getroffen, daß von diesen vier Hymnen bei der Vigilie zwei zu
einem Hymnus verbunden werden und die beiden andern in ähnlicher Weise bei
der Vesper am Festtage selbst gesungen werden können; oder daß sie je zwei
und zwei auf jede Vesper verteilt, und so der eine Hymnus mit den beiden
ersten Psalmen, der andere mit den beiden übrigen gesungen werden.

Dem Kreuz habe ich fünf Hymnen gewidmet, von denen der erste die
jedesmaligen Horen einleiten mag, indem er den Diakon auffordert, das Kreuz
vom Altar zu heben, es in die Mitte des Chors zu tragen und dort zur
Anbetung und Verehrung aufzustellen, so daß es über die ganze Zeit der
gottesdienstlichen Feier anwesend ist.



XI. Brief.

Abaelard an Heloise.

(Mit einer Sammlung von Predigten.)


In Christo verehrungswürdige und liebenswerte Schwester Heloise! Nachdem
ich kürzlich auf deine Bitten ein Buch mit Hymnen und Sequenzen vollendet,
so habe ich jetzt deinem Wunsche gemäß für dich und deine geistlichen
Töchter, die in unserem Oratorium vereint sind, eine Reihe von Predigten
verfaßt -- eiliger als ich es sonst gewohnt bin. Da ich mehr der
Wissenschaft als der Predigt ergeben bin, so sehe ich hauptsächlich auf
Klarheit der Darlegung, weniger auf kunstvolle Beredsamkeit; ich suche mehr
den Wortsinn zu ergründen, als die Rede künstlich auszuschmücken. Und
vielleicht wird eine reine, nicht ausgeschmückte Redeweise infolge ihrer
größeren Klarheit einem einfachen Gemüt faßlicher sein, und eine gewisse
Art von Zuhörern wird vielleicht gerade in der Einfachheit einer
schmucklosen Rede die Schönheit und Feinheit sehen, und eine Würze darin
finden, die einer einfachen Fassungsgabe wohlthut.

Die Predigten sind nach der Reihenfolge der Feiertage niedergeschrieben und
geordnet; begonnen habe ich mit dem Anfang unserer Erlösung. Lebe wohl im
Herrn, du, seine Magd, einst in der Welt mir teuer, nun erst ganz teuer in
Christus: damals meine Gattin im Fleisch, jetzt meine Schwester im Geist
und Genossin im Bekenntnis des heiligen Gelübdes!



XII. Brief.

Abaelard an Heloise.

(Abaelards Glaubensbekenntnis.)


Liebe Schwester Heloise, einst mir teuer in der Welt, nun erst ganz teuer
in Christus: um der Logik willen bin ich der Welt verhaßt. Die blinden
Blindenleiter, deren Weisheit Verderben ist, behaupten nämlich, in der
Logik sei ich zwar wohlbewandert, aber im Paulus -- da hinke ich stark. Und
während sie meinen Scharfsinn preisen, verdächtigen sie die Reinheit meines
christlichen Glaubens. Denn, wie mir scheint, folgen sie nur ihrem
Vorurteil, statt durch die Erfahrung sich leiten zu lassen.

Ich will nicht in der Weise Philosoph sein, daß ich den Paulus
zurückstieße, nicht so Aristoteles, daß ich von Christus getrennt würde.
Denn es ist kein anderer Name unter dem Himmel, in dem ich selig werden
könnte. Ich bete an Christum, der zur Rechten des Vaters regieret. Ich
umfasse ihn mit den Armen des Glaubens, der im jungfräulichen Fleisch, das
er vom heiligen Geist empfangen, Herrliches wirkt in der Kraft Gottes. Und
daß die unruhige Sorge und jeglicher Zweifel aus deinem Herzen weiche, so
halte das fest, daß ich mein Gewissen auf jenen Felsen gegründet habe, auf
dem Christus seine Kirche erbaut hat. Und des Felsens Aufschrift will ich
dir in kurzen Worten mitteilen.

Ich glaube an den Vater, Sohn und Heiligen Geist, an den von Natur Einen
und wahren Gott, der in seinen Personen die Dreieinigkeit also darstellt,
daß er in seiner Wesenheit stets die Einheit bewahrt. Ich glaube, daß der
Sohn in allem dem Vater gleich ist, an Ewigkeit, Macht, Willen und Werk.
Ich folge nicht dem Arius, der verblendeten Sinns, ja, von teuflischem
Geiste verführt, Stufen in der Dreieinigkeit annimmt, indem er lehrt, daß
der Vater größer, der Sohn kleiner sei und das Gebot vergißt: »Du sollst
nicht auf Stufen zu meinem Altar heraufsteigen«. Denn auf Stufen steigt zum
Altar Gottes empor, wer ein Früher und Später in der Dreieinigkeit setzt.
Auch den Heiligen Geist bekenne ich als wesensgleich und eins mit dem Vater
und dem Sohne, wie denn meine Schriften vielfach erklären, daß ihm der Name
der Liebe zukomme. Ich verdamme den Sabellius, der behauptet, daß Vater und
Sohn ein und dieselbe Person seien und daß der Vater gelitten habe, woher
seine Anhänger Patripassianer heißen.

Ich glaube auch, daß der Gottessohn zum Menschensohn geworden, daß er,
obwohl Eine Person, aus und in zwei Naturen besteht. Der, nachdem er seine
Aufgabe in der angenommenen Menschennatur erfüllt hatte, gelitten hat,
gestorben und auferstanden ist, aufgefahren gen Himmel, von dannen er
wieder kommen wird, zu richten die Lebendigen und die Toten.

Ich behaupte auch, daß in der Taufe alle Sünden vergeben werden; daß wir
der Gnade bedürfen, um das Gute anzufangen und zu vollenden, und daß die
Gefallenen durch Buße wiederhergestellt werden. Über die Auferstehung des
Fleisches aber -- was brauche ich darüber zu sagen, da ich mich des
Christennamens vergeblich rühmen würde, wenn ich nicht glaubte, daß ich
auferstehen werde?

Dies also ist der Glaube, auf welchem ich ruhe, aus dem ich meine feste
Hoffnung schöpfe. Auf ihn ist mein Heil gegründet, und so fürchte ich nicht
das Geheul der Scylla, ich spotte der strudelnden Charybdis, und der
totbringende Sang der Sirenen schreckt mich nicht. Mag der Sturm
hereinbrechen, ich wanke nicht; mögen die Winde blasen, ich stehe fest.
Denn auf einen starken Felsen bin ich gegründet.



Anmerkungen zur Transkription


Falsch gesetzte Anführungszeichen wurden stillschweigend korrigiert. Alle
anderen offensichtlichen Druckfehler wurden korrigiert wie hier aufgeführt
(vorher/nachher):

   ... Unbescholtenheit meines bisherigens Lebens. ...
   ... Unbescholtenheit meines bisherigen Lebens. ...

   ... jetzt Abtissinnen über die Nonnen setzt, wie man für die ...
   ... jetzt Äbtissinnen über die Nonnen setzt, wie man für die ...

   ... Mönche Abte hat und daß beide, Nonnen wie Mönche, auf ...
   ... Mönche Äbte hat und daß beide, Nonnen wie Mönche, auf ...

   ... Täuschung, wo die eheliche Liebe so groß ist, das eins das ...
   ... Täuschung, wo die eheliche Liebe so groß ist, daß eins das ...

   ... da du noch einer Abtissin untergeben warst und das Amt ...
   ... da du noch einer Äbtissin untergeben warst und das Amt ...

   ... Glaubst du, der kurze Schmerz meiner damaligen Verwundrung ...
   ... Glaubst du, der kurze Schmerz meiner damaligen Verwundung ...

   ... Wort des Philosophen sagen lassen mußt: hoc no nest osculum ...
   ... Wort des Philosophen sagen lassen mußt: hoc non est osculum ...

   ... er nämlich diejenigen, welche sich Christo geweiht haben ...
   ... er nämlich diejenigen, welche sich Christo geweiht haben, ...

   ... über das, was sie solchen müßigen Faullenzern, wie sie sagen, ...
   ... über das, was sie solchen müßigen Faulenzern, wie sie sagen, ...

   ... mußte der Herr ihrer fleichlichen Schwäche wegen tadeln, ...
   ... mußte der Herr ihrer fleischlichen Schwäche wegen tadeln, ...

   ... Hatten nicht Maria Magdalena oder Maria Agyptiaca, die ...
   ... Hatten nicht Maria Magdalena oder Maria Ägyptiaca, die ...

   ... Daher mahnt auch der Apostel Jakobus: »Lieben Brüder, ...
   ... Daher mahnt auch der Apostel Jakobus: »Liebe Brüder, ...

   ... Die Abtissin muß alle Tugenden mustergültig in sich vereinigen, ...
   ... Die Äbtissin muß alle Tugenden mustergültig in sich vereinigen, ...

   ... Abtissin für die Aufrechterhaltung der Klosterzucht überhaupt ...
   ... Äbtissin für die Aufrechterhaltung der Klosterzucht überhaupt ...

   ... denn, daß die Abtissin vorher befragt worden sei und es befohlen ...
   ... denn, daß die Äbtissin vorher befragt worden sei und es befohlen ...

   ... oder schwach wird«. Nach dem Argernis, das der Bruder ...
   ... oder schwach wird«. Nach dem Ärgernis, das der Bruder ...

   ... das Argernis vermieden wissen: »Ich habe es zwar alles ...
   ... das Ärgernis vermieden wissen: »Ich habe es zwar alles ...

   ... Das Volk, das aus Agypten ausgeführt wurde, ist in ...
   ... Das Volk, das aus Ägypten ausgeführt wurde, ist in ...

   ... wohlgefällig war«. Augustinus in seiner Schrift: »Uber ...
   ... wohlgefällig war«. Augustinus in seiner Schrift: »Über ...

   ... aufgewirbelt wird. Die Armel sollen nicht länger sein als ...
   ... aufgewirbelt wird. Die Ärmel sollen nicht länger sein als ...

   ... habe ich einso tiefes Studium und Verständnis der Heiligen ...
   ... habe ich ein so tiefes Studium und Verständnis der Heiligen ...

   ... allzusehr erfahren, als er sagte: »Weichet von mir, ihr
       Ubelthäter, ...
   ... allzusehr erfahren, als er sagte: »Weichet von mir, ihr
       Übelthäter, ...

   ... Ubersetzungen belehrt haben, weicht die unsrige von allen ...
   ... Übersetzungen belehrt haben, weicht die unsrige von allen ...

   ... einer apokryphen Ubersetzung folgen, während wir die ...
   ... einer apokryphen Übersetzung folgen, während wir die ...





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