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Title: Rousseau
Author: Hensel, Paul
Language: German
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Anmerkung zur Transkription:

      Symbole für Schriftarten: _Antiqua_ : =gesperrt= : #fett#



[Illustration: Nach einem Delvauxschen Stich der Büste von Houdon.]


Aus Natur und Geisteswelt
Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher Darstellungen
180. Bändchen


ROUSSEAU

Von

PROF. DR. PAUL HENSEL
in Erlangen

Zweite Auflage

Mit einem Bildnisse
Rousseaus



Druck und Verlag von B. G. Teubner in Leipzig 1912

Copyright 1912 by B. G. Teubner in Leipzig.

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten.


Eugen Kühnemann
gewidmet



Vorwort zu ersten Auflage.


Es war meine Absicht, in diesem Buch nur eine Darstellung von Rousseaus
Gedanken zu geben, und auch hierbei nur diejenigen zu berücksichtigen,
die für die mit Rousseau einsetzende Bewegung wertvoll gewesen sind.
Eine allseitige Darstellung von Rousseaus Denkarbeit bietet das
mustergültige Werk von Brockerhoff: J. J. Rousseau, sein Leben und seine
Werke. 3 Bde. Leipzig 1863-1874, das, in einzelnen Teilen veraltet,
doch noch immer die beste Gesamtdarstellung Rousseaus ist. Von anderen
Darstellungen seien genannt: Möbius in »Ausgewählte Werke« I, Leipzig
1903; Höffding, »Rousseau und seine Philosophie«, Stuttgart 1897.
Morleys Rousseau ist in den wichtigsten Gesichtspunkten veraltet, aus
Jules Lemaîtres vielbesprochenem Buche über Rousseau vermochte ich
nichts zu lernen. Von Spezialarbeiten über Rousseau, denen ich zu Dank
verpflichtet bin, seien genannt: Fester, Rousseau und die deutsche
Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1890; Haymann, J. J. Rousseaus
Sozialphilosophie, Leipzig 1898; Liepmann: Rechtsphilosophie des J. J.
Rousseau, Berlin 1898; Gierke: Althusius; Stammler: Die Lehre vom
richtigen Recht, Berlin 1902; Erich Schmidt: Richardson, Rousseau und
Goethe, ferner die ganz vorzüglichen Arbeiten von Jansen: J. J. Rousseau
als Botaniker und J. J. Rousseau als Musiker, Berlin 1885, sowie _Texte,
J. J. Rousseau et les origines du cosmopolitisme littéraire, Paris 1895_
und die schönen Aufsätze von Ste. Beuve in den _Causeries de Lundi_.

Von einer ausführlichen Darstellung der Lebensschicksale Rousseaus
glaubte ich mich bei der Aufgabe, die ich mir gestellt, für dispensiert
halten zu können. Rousseau wie Goethe haben eine Biographie über
sich unmöglich gemacht, indem sie sie selbst schrieben. So wie sie
die Ereignisse ihres Lebens dargestellt haben, so werden sie in
der Erinnerung der Nachwelt weiter leben, gleichgültig, ob der
Bericht in Einzelheiten auf Wahrheit beruht oder nicht. Sesenheim
wird niemals »Sessenheim« werden, Wintzenried nie ein Ehrenmann.
Für diejenigen Leser, die orientiert sein wollen, habe ich eine
synchronistische Tabelle über Leben und Schriften Rousseaus beigefügt;
die eingeklammerten Zahlen beziehen sich auf die Seiten dieses Buches.

=Erlangen=, 24. Juni 1907.

  _Dr._ #Paul Hensel#.



Vorwort zu zweiten Auflage.


Ich freue mich des Zufalls, daß diese zweite Auflage im Jahre der
zweihundertsten Wiederkehr von Rousseaus Geburtstag erscheint. Gibt doch
die rege Teilnahme, die Deutschland an diesem Gedenktag nimmt, die beste
Gewähr dafür, daß wir uns der Bedeutung Rousseaus für unser Geistesleben
dauernd bewußt geblieben sind. Ich würde mich freuen, wenn diese Schrift
auch ihren Teil dazu beitragen könnte, dies Bewußtsein rege zu erhalten.
Bis auf einige kleine Nachbesserungen habe ich keine Veranlassung
gehabt, Veränderungen vorzunehmen.

=Erlangen=, 10. Juni 1912.

  _Dr._ #Paul Hensel#.



Inhaltsverzeichnis.


                                                     Seite
  Erstes  Kapitel: Der Mensch                            1

  Zweites    "     Die Geschichtsphilosophie            13

  Drittes    "     Die Rechtsphilosophie                27

  Viertes    "     Erziehungslehre                      49

  Fünftes    "     Die Nouvelle Héloïse                 69

  Sechstes   "     Religionsphilosophie                 80

  Synchronistische Tabelle                              97



Erstes Kapitel.

Der Mensch.


Kenntlich genug heben sich zwei Typen unter den großen Geistern in
Wissenschaft und Literatur voneinander ab: die großen Beginner und die
großen Vollender. Es sind die letzteren, die man im eigentlichen Sinne
des Wortes als klassisch bezeichnen kann. Ihnen ist es gegeben, jede
Regung, welche sich in der vor ihnen liegenden Epoche zur Geltung
gebracht hatte, mit vollendeter Klarheit zusammenzufassen und
auszusprechen, ihr Stil verrät die Sicherheit und Schärfe des zu sich
selbst gekommenen Bewußtseins, sie bringen das auf die einfachste,
sinnreichste Formel, sprechen das mit vollendetem Schwung aus, was die
Herzen der Besten der Mitlebenden erfüllt. Was sie geben, kann nicht
mehr überboten werden, sie sind der Zeitgeist in Menschengestalt, und
deshalb werden ihre Werke auch dauern, wenn die Menschheit schon längst
zu anderen Zielen vordringt; denn in diesen Werken spricht sich eine
lange Entwickelung bedeutsam aus. Sie stehen jenseits von wahr und
falsch, sie sind klassische Kunstwerke. So hat Voltaire geschrieben;
mit Recht galt er den Besten seiner Zeit als das unerreichte Muster
des philosophischen Denkens, der poetischen Darstellung, der treffenden
Satire. Er sagte das, was jeder seiner Leser zu sagen sich sehnte, aber
er sagte es so, wie sie es niemals vermocht hätten. In ihm kulminiert
die ganze Geistesrichtung, die wir als die Zeit der Aufklärung
bezeichnen; sie kulminiert in ihm, aber sie erschöpft sich auch in ihm.
Da erblicken wir neben Voltaire einen Mann ganz anderen Schlages, dem
es nicht darauf ankommt, die Bestrebungen seiner Zeit in klarsten und
reinlichsten Umrissen festzuhalten, einen Mann, der eine andere Welt,
eine neue Zeit, die nur er ahnt, im Busen trägt und der sich nun bemüht,
diese Fülle der Gesichte der Mitwelt zu künden, dessen Sprache, bald
pathetisch, bald ermahnend und scheltend, mitunter einen fast grotesken
Eindruck macht, der den Mitlebenden nicht als ein Heros erscheint,
sondern als eine Mischung von Narrheit, Fanatismus und Paradoxie:
dieser Mann ist Rousseau. Können wir Voltaire mit der Sonne im Zenith
vergleichen, der mit siegender Klarheit überallhin ihre Strahlen
versendet, vor deren Glanz sich die lichtscheuen Tiere in ihre Höhlen
verkriechen, so erscheint uns Rousseau wie ein Gestirn im Aufgang,
dunkleren Scheines, dessen Strahlen mit Nebeln und Schwaden zu
ringen haben, das sich zur Klarheit noch nicht durchgekämpft, nicht
durchgerungen hat. Wie Macaulay Carlyle, wie Lessing Kant, so tritt
Voltaire Rousseau gegenüber; neben der Zeit, die sich ganz selber
begriffen hat und nun froh des Erreichten zur Rüste gehen will, tritt
die junge, die kommende Zeit, unklar über sich und über ihr Schicksal,
aber von dem dunkeln Drange beseelt, ihren Weg zu wagen auf alle Gefahr.
Nach Voltaire konnte kein Größerer mehr kommen, sein Name gilt noch
heute als Feldgeschrei hüben und drüben, er ist der abschließende Geist.
Rousseau weist dauernd hinaus in die unbekannte Zukunft, hin auf die
großen Männer, denen er die Wege ebnen sollte. Daher sind auch seine
Schriften so voll von Unklarheiten, von Widersprüchen, von Halbheiten
auf der einen, von Übertreibungen auf der anderen Seite. Das ruhige
Gleichmaß, welches die Seele in Voltaires Schriften findet, vermögen
Rousseaus Gedanken nicht zu geben. Aber wir erleben bei ihm das erste
Aufdämmern des Tages, in dem unsere Arbeit wie unser Leben verläuft.
Verfolgen wir das Beste, was wir in unserem Leben finden, in die
Vergangenheit, so stoßen wir auf den Namen Rousseaus.

Um das Werk Rousseaus zu verstehen, ist es nicht notwendig, jeden
einzelnen Vorgang seines reichbewegten Lebens zu kennen, wohl aber ist
es gerade bei ihm unerläßlich, zu wissen, wie er Leben und Menschen
ansah. Seine Werke sind nichts anderes, als die Folgerungen aus seiner
Stellung zu den Lebenswerten, und daher muß man diese Stellungnahme
kennen lernen, will man die Werke nicht nur äußerlich beurteilen,
sondern verstehen. Die wichtigste Hilfe hierfür hat uns Rousseau selber
in seinen _Confessions_ gegeben. Dies merkwürdige Buch, das erst nach
dem Tode des Verfassers im Druck erschien, ist, nachdem der erste
Enthusiasmus, den es erregte, verrauscht war, in seinem biographischen
Wert vielfach angezweifelt worden, aber mit Unrecht. Immer wieder
erneute Nachprüfungen haben ergeben, daß Rousseau hier nicht nur die
objektive Wahrheit über sein Leben geben =wollte=, wie die ersten Worte
seines Buches es aussprechen, sondern, daß er sehr wohl auch subjektiv
in der Lage war, es zu =können=. Namentlich ist jedes Erlebnis, das mit
einem Gefühl in seiner Seele verbunden war, mit erstaunlicher Sicherheit
im Gedächtnis festgehalten und tritt mit der ganzen Frische des
unmittelbaren Geschehens vor den Leser hin.

Es ist kein Zufall, daß die Kindheitserinnerungen einen breiten Raum in
den _Confessions_ einnehmen. Das Leben des Kindes ist viel mehr Gefühl
als das des Erwachsenen, und Rousseau konnte daher seine Kinderzeit
sich ungleich lebhafter vergegenwärtigen, als es der Durchschnittsmensch
vermag, der die Gefühle ebenso schnell vergißt, wie er sie intensiv
durchlebt.

Vor allem tritt uns hier die Liebe zur Heimat entgegen; wir müssen uns
hüten, dies Gefühl erst als nachträglich entstanden und dann in die
Erlebnisse der Kindheit zurückprojiziert zu verstehen. Es war in dem
damaligen Genf, das eingeklemmt zwischen Frankreich und Savoyen, einen
beständigen Kampf um seine Freiheit und seinen Glauben führen mußte, ein
starker Patriotismus vorhanden, vergleichbar dem Verhältnis des antiken
Vollbürgers zu seinem Stadtstaat. Aus dem Plutarch, der dem beständig
lesenden Knaben schon früh in die Hände fiel und in der vorzüglichen
Amyotschen Übersetzung bis in seine letzten Tage sein Lieblingsbuch
blieb, lernte er, dies Gefühl zu idealisieren. Es war sein Stolz und
seine Freude, als er späterhin mit seiner Heimatstadt sich wieder
ausgesöhnt hatte, das »_citoyen de Genève_« auf das Titelblatt seines
Hauptwerks setzen zu können. Kein Ereignis hat so tiefen Eindruck auf
den reizbaren Mann gemacht, als die Verfolgung, die von der Regierung
seines geliebten Genfs gegen ihn eingeleitet wurde.

Um so erstaunlicher muß es scheinen, daß er diesen Heimatsboden, der
ihm so viel bedeutete, verließ, das kalvinistische Bekenntnis, in dem
er erzogen war, ohne jeden ernsten Kampf abschwor, und zwar, wie die
_Confessions_ zeigen, durch keine erheblichen Gründe dazu veranlaßt.
Furcht vor Strafe, weil er beim Umherschweifen in Wald und Feld die
Stunde des Schließens der Stadttore versäumt hatte, veranlaßte ihn, den
heimischen Boden zu meiden. Der Übertritt zum Katholizismus war dann die
fast notwendige Folge dieses ersten Schrittes. Die Erklärung für ein so
planloses Handeln liegt eben darin, daß die Planlosigkeit im Charakter
Rousseaus tief angelegt war. Immer wieder läßt er sich aus scheinbar
gesicherten Wegen durch irgendein zufälliges Geschehen hinausdrängen.
Alle seine Versuche, die er, der Stimme der Klugheit folgend, in seinem
Leben gemacht hat, um zu einer bürgerlich gesicherten Existenz zu
gelangen, sind gescheitert und mußten bei seinem Charakter scheitern.
Eine Tätigkeit, die den ganzen Menschen täglich in Anspruch nahm, war
für ihn unmöglich, weil eine solche Tätigkeit vielleicht den Verstand,
nie aber die Phantasie befriedigen kann. Rousseau blieb auch darin
ein Kind, daß ihm die Welt, in der er lebte, überwiegend eine Welt der
Träume geblieben ist. Es ist merkwürdig, wie lange in ihm der kindliche
Glaube fortlebte, daß das Leben morgen beginnen werde, und es ist
durchaus verständlich, daß tiefe Schatten der Verstimmung und des
Mißmuts, die sich zuletzt zum Wahnsinn verdichten, in sein Leben fallen,
als er allmählich das Trügerische dieses frohen Kinderglaubens einsieht,
als es ihm deutlich wird, daß dies Leben, so wie es ist, weitergelebt
werden muß bis zum Tode.

Zu dem verhängnisvollen Entschluß, seine Vaterstadt zu meiden, wurde
Rousseau vielleicht auch dadurch getrieben, daß er wie David Copperfield
aus früheren besseren Verhältnissen sich herabgedrückt sah in eine
niedrigere Sphäre des Lebens zu untergeordneten Genossen; in eine
Lebensstellung, die auch für die Zukunft nichts bieten konnte als eine
kleinbürgerliche Existenz, die im grellsten Kontraste zu den Bildern
stand, die seine durch Romane genährte Phantasie dem werdenden Jüngling
vorspiegelte. Aber wir können noch einen tieferen Punkt finden, der uns
die Abneigung Rousseaus vor geregelter Tätigkeit verständlich macht, und
dieser besteht in einer eigentümlichen Trägheit, die Rousseau angeboren
war, und die ihn sein ganzes Leben hindurch nicht verlassen hat. Diese
Behauptung mag paradox erscheinen bei einem Manne, der eine lange Reihe
von Bänden geschrieben, der über ein umfangreiches Wissen gebot, der
Zeit seines Lebens hart arbeiten mußte, und der es verschmähte, sich für
seinen Unterhalt auf die Börse seiner Freunde oder königliche Pensionen
zu verlassen. Wer aber die _Confessions_ und namentlich Rousseaus Briefe
aufmerksam durchliest, wird leicht ersehen, daß trotz dieser gewaltigen
Arbeitsleistung Trägheit den Grundzug seines Charakters bildete.

Soviel ich sehen kann, hat Rousseau nur an einem Werk, der _Nouvelle
Héloïse_, mit Lust und Liebe gearbeitet; bei allen seinen anderen Werken
lastete die Arbeit auf ihm wie ein Alb, den er abzuschütteln trachtete.
Er war glücklich, wenn er im Augenblick leben, im Augenblick aufgehen
konnte. Die Tätigkeit, durch die er seinen Lebensunterhalt erwarb, das
Abschreiben von Noten, hatte er deshalb gewählt, weil sie seinem Geist
die Freiheit ließ, weil er bei dieser Beschäftigung weiterträumen
konnte, weil sie keine größeren Anforderungen an ihn stellte, als der
Tag sie verlangte, und weil sie mit dem Tag erledigt werden konnte. Es
wäre ihm unmöglich gewesen, sich in den Dienst einer großen Aufgabe
zu stellen, die sein ganzes Leben in Anspruch genommen hätte. In
noch markanterem Sinne als in dem Goetheschen sind seine Arbeiten
Gelegenheitsarbeiten. Das nimmt ihnen nichts von ihrem Wert, aber
es zeigt uns, wie ich glaube, das tiefste Motiv für Rousseaus
Kulturfeindschaft. Es gibt Naturvölker, die bei Berührung mit der
europäischen Kultur alle Lebensfreude, allen Willen zum Leben verlieren,
die verwelken und aussterben, weil dieses atemlose Hasten und Treiben
sie übermannt und vernichtet. Bei vielen Kulturmenschen ist eine
ähnliche Unterströmung im Bewußtsein vorhanden, die in Zeiten der
Abspannung bedrohlich an die Oberfläche tritt. Bei Rousseau war sie
dauernd Grundstimmung seines Lebens. Er erkannte die Forderungen der
Gesellschaft nicht als berechtigt an, das ganze System, auf dem sie
basierten, das System sozialer Kultur wurde ihm verhaßt, weil ein
Leben, wie er es wünschte und ersehnte, mit zunehmender Kultur immer
unmöglicher wird. Was dem Kulturmenschen unerträglich ist, das tatenlose
und wunschlose Hindämmern des Naturmenschen, ohne Aufgaben, die das
Leben halten und ihm die Richtung geben, gerade dies war das Ziel der
Sehnsucht Rousseaus.

Allerdings tritt zu diesem negativen Begriff der Natur als Nichtkultur
auch ein positiver, auch er tief eingebettet in die Grundstimmung von
Rousseaus Seele. Wenn es ihn freute, im zwecklosen Dahinschlendern
den Menschen und ihren Anforderungen zu entgehen, so sprach doch noch
gewaltiger zu ihm die Schönheit der Landschaften, die er durchwanderte,
das unmittelbare Gefühl, Gott näher zu sein, wenn er sich von seinen
Werken und nicht denen der Menschen umgeben sah. So konnte Rousseau
Schönheiten da erkennen, wo seine kultivierten Zeitgenossen nur die
Reize der Stadt und des Ziergartens vermißten, so wurde er allmählich zu
einem Bewunderer und Liebhaber der Pflanzenwelt in ihrer anspruchslosen
und zwecklosen Schönheit, so vermochte er von allen Schmerzen und
Enttäuschungen, die ihm das Leben brachte und bringen mußte, seine Seele
immer wieder rein zu baden im wunschlosen Genuß der Wunder, die Gott den
Menschen, die reines Herzens sind, offenbart.

Die Liebe zur Musik, die Rousseau von den frühesten Zeiten seiner
Kindheit an bis zu seinem Tode durchs Leben begleitet und das Leben
verschönt hat, hängt mit seinem auf das Beschauliche gerichteten
Naturell auf das innigste zusammen. Die Musik, die von allen Künsten die
unmittelbarste Beziehung zum Gefühl hat, mußte für Rousseau der adäquate
Ausdruck seines Verhältnisses zu den Dingen werden, und so finden wir
ihn Jahre seines Lebens auf das eifrigste mit der Theorie und Praxis
dieser seiner Lieblingskunst beschäftigt. In einem eigentümlichen
Kontrast zu seinen Bestrebungen für die Einführung einer neuen auf
Zahlenverhältnisse gegründeten Notenschrift steht seine Opposition zu
dem Rationalismus der damals herrschenden französischen Musik, und doch
ist dieser Kontrast ein nur scheinbarer. Was ihn bei Rameau und Lully
abstieß, war ihr Bestreben, die Kunst zu verkünsteln, Pathos an Stelle
des Affekts, Rhetorik an Stelle der Leidenschaft zu setzen. Damit war
sehr wohl vereinbar, daß Rousseau in der Darstellung der Notenschrift
den einfachsten, übersichtlichsten Zahlenverhältnissen vor unseren
komplizierten Zeichensystemen den Vorzug gab. Der Inhalt sollte so
natürlich, die Form so einfach wie möglich sein. Was Rousseau unter
diesem natürlichen Inhalt verstand, das klingt bis zum heutigen Tage aus
den zu Herzen gehenden Liedern des »_Devin du village_« heraus.

Rousseaus Verhältnis zu den Wissenschaften läßt sich nicht auf eine
so einfache Formel bringen. Ein systematisches Studium war mit seiner
ganzen Naturanlage unvereinbar. So oft er auch den Versuch machte, sich
die für einen Gelehrten der damaligen Zeit fast unumgänglich notwendige
Beherrschung der lateinischen Grammatik anzueignen, so oft scheiterte
er in diesem heißen Bemühen. In keiner einzigen Wissenschaft, selbst
in denen nicht, die er am mächtigsten gefördert hat, kam er zu einer
wirklich fachmännischen Beherrschung des Details. Was ihn nicht von der
Gefühlsseite her zu erregen vermochte, das konnte er nie dauernd seinem
geistigen Besitzstand einverleiben. Dafür aber ermöglichte es ihm sein
scharfer Verstand, wenn er in den Dienst des Gefühlsinteresses gestellt
wurde, in überraschend kurzer Zeit aus einem weitschichtigen Material
die wesentlichen Gesichtspunkte herauszuholen, neue Fragestellungen zu
formulieren, mit blendender Logik die Argumente der Gegner zu widerlegen
und den eigenen Folgerungen siegreiche Kraft zu verleihen. Niemals
ist bei Rousseau sein Wissen totes Besitztum geworden, immer war
es Bestandteil seines Lebens, weil es nur im Zusammenhang mit dem
Lebensgefühl erworben und behauptet werden konnte.

Bringen wir einen so beanlagten Menschen in Beziehungen zu seinen
Mitmenschen, so werden wir uns ernster Besorgnisse nicht erwehren
können, und spielen sich vollends diese Beziehungen in der Kulturwelt
des 18. Jahrhunderts ab, so sind schwere Zerwürfnisse unvermeidlich.
Wohl hatte Rousseau recht, wenn er sich als zur Freundschaft geboren
bezeichnete. Das Bedürfnis, mit Freunden zu leben, hat ihn ebenso
wie die Liebe zur Musik durch sein ganzes Leben begleitet. Mit
schwärmerischer Glut schloß er sich mitunter an ganz unbedeutende
Menschen an; erst die Gegenwart des Freundes machte ihm das Leben
lebenswert und gab den Freuden der Natur wie der Musik ihre letzte
abschließende Weihe. Was Rousseau in der Freundschaft suchte, war der
vollendete Einklang gleichgestimmter Seelen, die Ergänzung und Erhöhung
beider Freunde durch ihren unauflöslichen Bund. Auch der leiseste
Mißklang konnte und mußte dies Verhältnis stören, Rousseau spielte in
der Freundschaft sozusagen _va banque_, er wollte alles besitzen oder
nichts; hier war jeder Kompromiß unerträglich. Ob diese Anforderungen
jemals von der Wirklichkeit erfüllt werden können, läßt sich bezweifeln.
In dem Frankreich des 18. Jahrhunderts wurde jedenfalls die Freundschaft
ganz anders verstanden als sie in Rousseau lebte, und so waren die
schwersten Konflikte gerade mit denen, die er eine Zeitlang seine
Freunde genannt hatte, nahezu unausbleiblich. Namentlich wird dies in
seinem vielbesprochenen Verhältnis zu Grimm und Diderot, den Führern der
Enzyklopädisten, deutlich. Wie faßten diese Männer die Freundschaft
auf? Vor allem als eine enge Bundesgenossenschaft gegen die gemeinsamen
Feinde in Staat, Kirche und Literatur. Gemeinsame Feldzüge und
literarische Unternehmungen zu verabreden, bei fröhlichem Zusammensein
die Raketen des Witzes steigen zu lassen, den eigenen Geist im
Gedankenaustausch mit dem Freunde zu stärken, den letzten Taler und die
letzte Flasche mit dem Freunde zu teilen, das war es, was ungefähr ihren
Inbegriff der Freundschaft bildete; das war sicher nicht wenig, aber
für Rousseaus glühende Seele lange nicht genug. So war er dauernd in
der Lage, sich durch seine Freunde verletzt zu fühlen, ohne daß sie eine
Ahnung davon hatten, ihn verletzt zu haben, und sie in Situationen
zu bringen, die für ihn ganz selbstverständlich, für die Freunde aber
äußerst peinlich waren. Ein Beispiel möge dies veranschaulichen:
Als Rousseau seinen in Vincennes gefangen gehaltenen Freund Diderot
besuchte, traf er ihn in Gesellschaft des Gouverneurs des Schlosses;
ohne die Anwesenheit des Fremden zu beachten, stürzte er sich weinend
in die Arme des Freundes. Dieser aber entzog sich dem allzu lebhaften
Ausbruch der Rührung Rousseaus und sagte halb entschuldigend zu dem
Gouverneur: »Sie sehen, mein Herr, wie mich meine Freunde lieben.«
Es war Diderot peinlich, in Gegenwart des Fremden Gegenstand einer
so stürmischen Zärtlichkeit zu sein; Rousseau dagegen hätte nie daran
gedacht, daß ein Freund in solchen Augenblicken an die Gegenwart eines
Fremden denken könnte. Auch David Humes maßloses Erstaunen bei dem
stürmischen Verhalten, das Rousseau zeigte, ist wohl verständlich;
die Freundschaft durfte eben niemals über das Maß hinausgehen, das
Konvenienz und gute Lebensart für das Verhältnis der Menschen zu
einander unabänderlich festgesetzt hatten. Beide Teile waren vollkommen
im Recht: die einen verstanden die Freundschaft, wie ihre Umgebung sie
verstand, Rousseau trug ein anderes Ideal der Freundschaft in seiner
Brust, das erst durch ihn die frühere Auffassung in den Herzen der
Menschen verdrängen sollte.

Damit hängt zusammen, daß Rousseau nicht geneigt war, dem Begriff der
Freundschaft die landesübliche weite Ausdehnung zu geben. Gegenüber dem
ganzen Kreise der Finanzaristokratie, in die ihn die erste Zeit seines
Pariser Aufenthaltes eingeführt hatte, konnte er ein sehr merkbares
Mißtrauen nie überwinden, und namentlich war er diesen Männern und
Frauen gegenüber, die gewohnt waren, für Geld alles kaufen zu können,
eifersüchtig und öfters sogar taktlos darauf bedacht, seine ökonomische
Selbständigkeit zu wahren. Ein wirklich inneres Verhältnis zu ihnen
konnte er schwer gewinnen. Sehr merklich sticht dagegen der Ton
aufrichtiger Hochachtung ab, den er in seinen Beziehungen zu den
Vertretern der Geburtsaristokratie, mit denen er später in Berührung
kam, unabänderlich festzuhalten wußte. Die Briefe an den Marschall von
Luxemburg, Herrn von Malesherbes, Prinz Conti, Lord Maréchal Keith sind
vollgültige Zeugen dafür, daß Rousseaus demokratische Gesinnungen
ihn nicht verhinderten, sich dem Zauber, der von rechten Aristokraten
auszugehen pflegt, gern und willig zu überlassen.

Eine gesonderte Betrachtung fordert Rousseaus Verhältnis zu den Frauen,
die ja in seinem Leben eine große und oft verhängnisvolle Rolle gespielt
haben. Häufig ist Rousseaus Sinnlichkeit als durchaus auf Genuß beruhend
dargestellt worden. Aber diese Ansicht hält vor einer genauen Analyse
nicht stand. Seiner ganzen Anlage nach lebte er auch hier viel mehr in
einer Welt der Gefühle als der Dinge. Worauf es ihm ankam, das war die
Idealisierung der Wirklichkeit durch das Medium der Liebe, und so konnte
es denn nicht anders sein, als daß das Sehnen nach der Vereinigung mit
der Geliebten und nicht diese Vereinigung selber für Rousseau den Gipfel
des Glückes bedeutete. Dies tritt ganz deutlich in dem Verhältnis zu
seiner »Mama«, Madame de Warens, hervor. So ist es denn auch leicht
erklärlich, daß seine erotische Phantasie mitunter nicht von einer
liebenswerten Frau angeregt wurde, sondern daß sie, gewissermaßen von
selber angeregt, sich nun ihren Gegenstand suchte. Es ist nicht richtig,
daß Madame d'Houdetot Rousseau zur Schöpfung seiner Julie (in der
_Nouvelle Héloïse_) angeregt hat oder, daß diese der Ausdruck seiner
Liebe zu Madame d'Houdetot war, sondern es kann gar keinem Zweifel
unterliegen, daß Rousseau Julie liebte, und Madame d'Houdetot zu dieser
Liebe hinaufidealisierte. Auch die Erscheinung der Doppelliebe, die wir
in Rousseaus Leben mehreremal finden, und der er in der wundervollen
Schilderung des glücklichen Tages mit den Fräuleins Galley und
Graffenried ein unvergängliches Denkmal gesetzt hat, läßt sich jetzt
ohne Mühe verstehen. Es konnte eben diese allgemein erotische Stimmung
zu gleicher Zeit mehrere Frauen in ihren Lichtkreis ziehen und
idealisieren. So ist er denn auch zur gleichen Zeit und fast mit der
gleichen Stärke sowohl in die Julie als in die Claire seines Romans
verliebt, und weil sein Gefühl wahr und echt war, so hielt es Rousseau
niemals für nötig, sich hier vor ein schroffes Entweder-Oder zu
stellen. Daß auch hier wie in seinen Freundschaften Enttäuschungen
unausbleiblich waren, ist deutlich. In solchen Fällen ließ Rousseau,
wenn auch oft erst nach schweren Kämpfen, den Menschen fallen, um das
Ideal zu retten, und zeigte damit, wie mir scheint, genugsam an, daß
nicht die Frau, sondern das erotische Gefühl das Wesentliche an dieser
Beziehung bildete.

Streng von diesen Beziehungen zu sondern ist eine Reihe anderer, die
ganz sinnlicher Natur waren und über die uns Rousseau ebenfalls mit
äußerster Aufrichtigkeit unterrichtet hat. Es war verhängnisvoll für
ihn, daß die dauernden Beziehungen, in welche er zu Thérèse Levasseur
trat, dieser Kategorie angehörten. Sinnliches Bedürfnis und Mitleid
zuerst, Gewöhnung und Dankbarkeit später fesselten ihn an dieses
durchaus untergeordnete Mädchen. Alle Unbequemlichkeiten und Lasten, die
ein Ehestand mit sich bringen kann, hat Rousseau im täglichen Verkehr
mit Thérèse und ihrer zänkischen und gemeinen Mutter reichlich
ausgekostet, das Glück einer wahren Ehe nie gefühlt -- freilich durch
eigene Schuld. Die Überweisung seiner Kinder in das Findelhaus läßt
sich nicht, und am wenigsten durch die üblen Sophismen, die Rousseau
anwendet, entschuldigen; sein böses Gewissen blickt hier aus jedem
Worte kenntlich genug heraus. Die Natur seiner Beziehungen zu Thérèse
Levasseur geht vielleicht am klarsten daraus hervor, daß sie auch
während seiner Liebe zur Gräfin d'Houdetot ruhig ihren Weg gingen, und
Rousseau selbst während dieser Zeit gar nicht daran gedacht zu haben
scheint, sie abzubrechen oder auf einen anderen Fuß zu stellen.

Blicken wir nun noch auf die allgemeinen gesellschaftlichen Beziehungen
Rousseaus, die nicht unter den Gesichtspunkt der Freundschaft oder der
Liebe fallen, so finden wir hier, daß sich in seinem Leben eine sehr
bedeutsame Wandlung vollzogen hat. Daß ein Mensch wie er, mit
übervollem Herzen, nur allzu verwundbarem Selbstgefühl und einer
großen Unfähigkeit, die Goldbarren seines Geistes leicht in die
gesellschaftliche Scheidemünze witziger Konversation umzusetzen, in
der damaligen Gesellschaft eine halb traurige, halb lächerliche Rolle
spielen mußte, ist ohne weiteres deutlich. Namentlich war es seine
mangelnde geistige Schlagfertigkeit, wenn er von der Stärke seiner
Gefühle übermannt wurde, die ihn häufig in bedenkliche Situationen
verwickelte, ja, ihn sogar als Verleumder oder Undankbaren erscheinen
ließ. Wenn er einen Mann, dem er Dank schuldig war, und den ein
epileptischer Anfall auf das Straßenpflaster von Lyon niedergeworfen
hatte, ohne weitres liegen ließ und davon eilte, so war es natürlich,
daß ihm der Vorwurf roher Gefühllosigkeit nicht erspart bleiben konnte;
tatsächlich war die Ursache dieser unentschuldbaren Handlung kein
Mangel, sondern ein Übermaß von Gefühl. Rousseau war von Entsetzen
wie gelähmt und verlor die Möglichkeit, die ein weniger Teilnehmender
vielleicht gehabt hätte, sich deutlich zu machen, was für den
Unglücklichen zu geschehen habe. Das soll seinen Fehler nicht
entschuldigen, Rousseau selber hat die Reue über diese und andere
gleichartige Vorgänge in seinem Leben bis zum Tode immer rege erhalten,
aber wir sollen uns vor einer falschen psychologischen Interpretation
hüten, die uns den ganzen Charakter Rousseaus mißverstehen lassen würde.

Auch noch in seiner ersten Pariser Zeit finden wir ihn durch diese seine
geistige Unbehilflichkeit innerlich gedemütigt. Sie erzeugt trotz allen
berechtigten Selbstgefühls in ihm die Vorstellung, den Schöngeistern und
witzigen Köpfen der feinen Pariser Welt nicht gewachsen zu sein. Erst
allmählich erstarkt in ihm die Überzeugung, »daß es nicht Aufgabe des
Menschen sei, in jedem Moment etwas Witziges zu sagen«. Er beginnt, sich
den auf Esprit gegründeten Umgangsformen der Gesellschaft gegenüber
in berechtigter Eigenart entgegenzusetzen. Den Stichen des Witzes
antwortete er durch die Keulenschläge des sittlichen Pathos. Er setzte
seine erstarkte Persönlichkeit gegen den konventionellen Spott der guten
Gesellschaft, und er wußte ihr zu imponieren. Der berühmte Mann durfte
sich erlauben, was den unbekannten Genfer auf ewig lächerlich gemacht
haben würde. Schon durch seine äußere Tracht zeigte er dieser Welt der
feinen Spitzenjabots, daß er eine Ausnahmestellung in ihr beanspruche.
Während sich aber so die Beziehungen zu den feinen Kreisen, in denen er
früher verkehrt hatte, lockerten, blieb sein Verhältnis zu den einfachen
Landbewohnern, die er liebte und verstand, das alte herzliche. Überall
sehen wir ihn auf seinen Irrfahrten diese einfachsten Bande der
Nachbarschaft, der gegenseitigen Hilfeleistung, des traulichen,
herzlichen Gesprächs pflegen, und wo ihm nicht wie in Neufchâtel durch
Aufhetzung es unmöglich gemacht wurde, zu den Herzen seiner Mitmenschen
vorzudringen, gelang es ihm immer, sich ihre Liebe zu erwerben und zu
erhalten. Diese gemütlichen Beziehungen, die jeder Tag bringt, waren
für Rousseau so weit davon entfernt, ihn zu lähmen und zur Hilfeleistung
unfähig zu machen, daß sie vielmehr eine stete Quelle der Freude und
der Erhebung bildeten. Das Unglück durfte nicht plötzlich, unerwartet,
überwältigend an ihn herantreten und sein Gefühl so mächtig erregen, daß
seine Willenskraft gelähmt wurde; sonst aber war Rousseau immer bereit,
zu helfen und zu lindern, oft fast über sein Vermögen hinaus.

Es konnte nicht fehlen, daß die auffallende Weise Rousseaus, mit der
er sich der Gesellschaft gegenüber in eine Art aggressiver Defensive
stellte, schon früh das Gerücht aufkommen ließ, daß er verrückt sei,
und Rousseau selber sorgte durch allerhand Absonderlichkeiten dafür,
daß dieses Gerücht stets neue Nahrung erhielt. Ebenso ist es ganz
zweifellos, daß zuletzt wirklicher Verfolgungswahnsinn bei ihm eintrat.
Er glaubte an die Existenz einer großen Verschwörung gegen sich, wandte
die seltsamsten Mittel an, um deren System auf den Grund zu kommen und
beurteilte alle Dinge und Menschen nach ihren Beziehungen zu dieser
angeblichen Verschwörung. Es ist für uns nicht ohne Interesse, den
Zeitpunkt festzustellen, an dem die in Rousseau liegende Krankheit
ausbrach. Es scheint nun, als ob die Verfolgungen, denen er in der
Schweiz ausgesetzt war, und der an Enttäuschungen reiche Aufenthalt in
England, dessen Sprache er nicht kannte, tief auf sein reizbares
Gemüt wirken mußte, eine Wirkung, die noch verschärft wurde durch den
nichtswürdigen Streich Walpoles, der einen fingierten Brief Friedrichs
des Großen an Rousseau veröffentlichte. Die Gelegenheitsursache zum
Ausbruche der Krankheit war durch das Zusammentreffen dieser Umstände
gegeben. Wenigstens zeigt sein Verhalten hier zum erstenmal, daß
Rousseau nicht mehr Herr seiner geistigen Fähigkeiten war. Es steht dazu
nicht im Widerspruch, daß die um diese Zeit verfaßten _Confessions_
ein durchaus objektiv gehaltenes Bild seines Lebens zeigen, denn in der
ersten Zeit einer derartigen geistigen Erkrankung vermag es der Kranke
sehr wohl, frühere Ereignisse des eigenen Lebens zu betrachten, ohne
seine Wahnideen hineinzumengen. So finden wir denn auch hier bei der
Schilderung seines Verhältnisses zu den Enzyklopädisten kein Wort von
der großen Verschwörung, als deren Häupter Rousseau späterhin seine
früheren Freunde betrachtete, und deren Entlarvung das Thema der
letzten Schriften, _Rousseau juge de Jean-Jacques_ und der _Rêveries
du Promeneur solitaire_ bildete. Es ist rührend zu sehen, wie in den
letzten Jahren die Erbitterung, die er anfänglich gegen seine Feinde
fühlte, einer milden Resignation Platz macht. Die letzten Tage, die er
auf dem Lande verbringen durfte, führten ihn zur Natur zurück, die
ihn nie verraten, und an die er immer geglaubt hatte. So konnte er in
Frieden scheiden.



Zweites Kapitel.

Die Geschichtsphilosophie.


Die Schrift, die Rousseau zuerst berühmt machte, war seine Beantwortung
der von der Akademie zu Dijon im Jahre 1749 gestellten Preisfrage, ob
Künste und Wissenschaften zur Verbesserung der Sitten beigetragen haben.
Es ist also eine geschichtsphilosophische Frage, die hier gestellt
wird, und um die Antwort Rousseaus zu verstehen, ist es notwendig, die
Stellung der führenden Geister des 18. Jahrhunderts zum Wert der Kultur
sich zu vergegenwärtigen. Es hat wohl nie eine Zeit gegeben, die
so durchaus im intellektuellen und kulturellen Fortschritt der
Menschheit das sicherste Mittel für das Glück und die Tugend des
Menschengeschlechts erblickt hätte als das 18. Jahrhundert. Alles Elend,
alle Sünde wurde aus Irrtum, Aberglauben und Unkultur abgeleitet; mit
der Beseitigung dieser Widerstände schienen Glück und Sittlichkeit der
Menschheit zu gleicher Zeit garantiert zu sein. Wohl sehen Männer wie
Voltaire ein, daß die Sonne der Aufklärung und des guten Geschmacks
vorläufig nur die höchsten Höhen der Menschheit strahlend erleuchte, daß
in den dumpfen Tälern Aberglaube und Unwissenheit drückend laste, aber
nach der langen geistigen Nacht des Mittelalters war nun endlich
das Gestirn des Tages erschienen. Mit jedem Jahr stieg es höher und
verbreitete überall Gesundheit, Tugend, Glückseligkeit. Es schien keinem
Zweifel zu unterliegen, daß mit dem Siegeslauf der intellektuellen
Aufklärung, mit der zunehmenden Verfeinerung der Künste und schönen
Wissenschaften ein neues goldnes Zeitalter der Menschheit tagen müsse.
Das kaum jemals klar formulierte, sondern als ganz selbstverständlich
vorausgesetzte Prinzip dieser Geschichtsauffassung besteht darin, den
Wert der intellektuellen und ästhetischen Kultur in ihren Leistungen für
Glück und Sittlichkeit der Menschen zu suchen.

Man pflegt nun die Leistung Rousseaus darin zu erblicken, daß er das
Gegenteil dieser Überzeugung des 18. Jahrhunderts darstelle, und man hat
in gewissem Sinne damit recht. Aber dieses Gegenteil liegt durchaus auf
derselben Fläche, auf der die herrschenden Wortführer der Aufklärung
ihren Standpunkt gefunden hatten. Ebenso wie für sie, war es auch für
Rousseau selbstverständliche Voraussetzung, daß die Kultur nur nach
ihrer Leistung für Sittlichkeit und Glück der Menschen gewertet werden
dürfe, und daß Sittlichkeit und Glück als miteinander identisch zu
setzen seien. Der Unterschied zwischen Rousseau und seinen Gegnern
bestand nur darin, daß das Fazit der Rechnung entgegengesetzte
Vorzeichen trug. Die Aufklärer betrachteten Wissenschaft und Künste als
wertvoll, weil sie den moralischen Fortschritt der Menschen bedingen
und damit das Glück der Menschheit verwirklichen; Rousseau betrachtete
Künste und Wissenschaften als schädlich, weil er sich überzeugt hatte,
daß die entgegengesetzten Wirkungen von ihnen ausgingen. Prinzipiell ist
also Rousseau über die Fragestellung seiner Zeit nicht hinausgekommen,
sein großes Verdienst aber besteht darin, daß er der schon fast zur
Trivialität gewordenen Identifizierung von Kultur und Sittlichkeit die
Paradoxie ihrer Unvereinbarkeit gegenüberstellte. Erst mußte das Dogma
der Aufklärung vom Wert der Kulturentwickelung erschüttert werden, bevor
zu neuen fruchtbareren Fragestellungen fortgeschritten werden konnte.
Somit bleibt das Verdienst Rousseaus um die neue Geschichtsphilosophie,
welche im deutschen Idealismus entstehen sollte, ihm ungeschmälert.

Man hat von einer anderen Seite her versucht, ihm dies Verdienst zu
nehmen und auf Diderot zu übertragen. Bei der Wichtigkeit der Frage
wollen wir die beiden Erzählungen, Rousseaus und Diderots, miteinander
vergleichen. Nach der Darstellung in den _Confessions_ ging Rousseau an
einem heißen Tage den schattenlosen Weg nach Vincennes hinaus, um den
dort gefangen gehaltenen Diderot zu besuchen. Erschöpft unter einem
Baum der Landstraße ruhend, zog er eine Nummer des _Mercure de France_
heraus, in der er die Nachricht vom Preisausschreiben der Akademie
von Dijon fand. Sofort bildeten sich in ihm die Gedankenreihen, die er
später in seinem _Discours_ veröffentlichte. In einer unbeschreiblichen
Aufregung drängt sich alles, was bisher nur den Hintergrund seiner Seele
gebildet hatte, aus den Tiefen seines Gefühls empor, mit einer Kraft,
mit einem Reichtum des Ausdrucks, die seine späteren Ausführungen nie
wieder erreicht haben. Tränen entstürzten seinen Augen, und als er
aus diesem Zustand der Ekstase erwachte, fand er seine ganze Weste wie
durchnäßt von ihnen. In einem Zustande unbeschreiblicher Erregung traf
er bei dem Freunde ein.

Hören wir nun Diderot. Als Rousseau ihm Mitteilung von seiner Absicht
machte, sich an der Preisbewerbung zu beteiligen, habe Diderot ihn
gefragt, in welchem Sinne er die Frage der Akademie beantworten wolle.
»Natürlich werde ich die wohltätigen Folgen von Kunst und Wissenschaft
darstellen«, habe Rousseau geantwortet. »Das ist der Standpunkt der
Dummen; Sie müssen den entgegengesetzten Standpunkt einnehmen«, wies
Diderot ihn zurecht, und Rousseau folgte seinem Rat. Die Erzählung
Diderots anzuzweifeln haben wir keinen Grund. Aus seinen Schriften und
Briefen wissen wir, daß er die »heilige Liebe zum Paradoxon« in hohem
Maße besaß, und so konnte er, der ganz auf dem Standpunkt der Aufklärung
stand, Rousseau wohl den Rat geben, die Biedermänner der Provinzakademie
durch geistvolle Ausführung eines Paradoxon in Erstaunen zu setzen.
Damit ist aber noch nicht gesagt, daß Rousseaus Erzählung die Lüge ist,
als welche sie diejenigen betrachten, welche Diderot für glaubwürdig
halten. Erinnern wir uns, was wir von Rousseaus Charakter kennen gelernt
haben. Ihm, der in den tiefsten Grundfesten seines Wesens durch die
ekstatische Erregung, die er durchlebt hatte, erschüttert war, mußte
es ganz unmöglich sein, von der Fülle der Gesichte auch dem Freunde
gegenüber zu sprechen. Daher die ungeschickte Notlüge über den Plan
seiner Preisschrift. Aber ganz unmöglich ist es, daß ihn erst die Worte
Diderots auf die =Möglichkeit= einer solchen Beantwortung aufmerksam
gemacht hätten. So mannigfach auch im einzelnen Rousseau seine Ansichten
im Verlauf der späteren Diskussion verändert und modifiziert hat, die
Grundanschauung ist dieselbe geblieben, und sie steht ebenso in engster
Verbindung zu seinem ganzen Lebensgefühl wie sie für Diderot eben nur
den Wert einer eleganten Paradoxie hatte, die man einmal verteidigt,
um den eigenen Scharfsinn zu zeigen und zu üben, ohne ihr indes einen
tiefer gehenden Einfluß auf die eigene Weltanschauung einzuräumen. Wäre
Rousseaus Erzählung unwahr, so wäre seine ganze Wirksamkeit nach dem
Jahr 1750 allerdings die große Lüge, als welche sie seinen Gegnern
erscheint. Aber ich glaube nicht, daß uns der Befund der Quellen dazu
nötigt, diese Annahme zu machen, sondern daß Rousseaus und Diderots
Erzählungen sehr wohl nebeneinander bestehen können.

Es kann nicht die Aufgabe dieser kurzen Darstellung sein, den
Gedankengang jeder einzelnen der geschichtsphilosophischen Schriften
Rousseaus gesondert darzustellen und den allerdings oft sehr
interessanten Umbildungen nachzugehen, welche in einigen Punkten seine
Ansichten erfahren haben. Es ist des Gemeinsamen in ihnen immerhin so
viel, daß eine Gesamtdarstellung, wo es sich nur um die großen Züge
seiner Geschichtsphilosophie handelt, sich als möglich erweist. Außerdem
zeigt eine genaue Beobachtung, daß Rousseau im Verlauf der Diskussion
öfters Zugeständnisse und Einschränkungen macht, die er dann bei
reiflicher Überlegung wieder zurücknimmt, so daß diese Abweichungen
häufig wie Oszillationen um einen gegebenen festen Punkt erscheinen,
nicht aber eigentlich als Neubildungen und Fortführungen seiner
Grundansicht angesehen werden können.

Was Rousseaus Geschichtsphilosophie ihren eigentümlichen Charakter
gibt, ist der Umstand, daß sie als =Geschichtserzählung= auftritt:
Das Menschengeschlecht wird auf seinem Wege vom Naturzustand bis zur
ausgebildeten Kultur begleitet, die einzelnen Entwickelungsstufen werden
ebenso pragmatisch erzählt, wie nur irgendeine Reihe von Ereignissen,
die sich im hellen Licht des modernen Geschehens abspielt. Dieses
Ausgehen vom Naturzustand hat Rousseau viel Tadel eingetragen. Immer
wieder ist darauf aufmerksam gemacht worden, daß Rousseau gar kein Recht
habe, einen solchen Naturzustand anzunehmen, daß er nur in der Phantasie
des Dichterphilosophen existiert habe, und daß Rousseaus Bestreben, ihn
als tatsächlich vorhanden darzustellen, auf eine Täuschung des
Lesers hinauslaufe. Methodologisch ist dieser Tadel unberechtigt. Der
Historiker ist dauernd genötigt, zur Ergänzung dessen, was er in seinen
Akten findet, Schlüsse auf Vorgänge zu machen, die er hypothetisch aus
dem vorliegenden Material erschließt. Schon eine Biographie kann auf
gar keinem anderen Wege zustande kommen. Handelt es sich nun um die
Erschließung der Anfänge des Menschengeschlechts, so bleibt gar kein
Weg übrig, als die uns bekannte Linie der Kulturentwickelung in
die Vergangenheit hinein zu verlängern und die Berechtigung dieses
Verfahrens an denjenigen Gemeinschaften nachzuprüfen, die noch auf
niedrigeren Stufen dieser Entwickelung stehen geblieben sind. Wenn
Locke die Entstehung der Begriffe beim erwachsenen kultivierten Menschen
schildern will, so zieht er ausgiebig die Psychologie des Kindes und
des »Wilden« heran, und das leidenschaftliche Interesse, mit dem das 18.
Jahrhundert die Reisebeschreibungen eines Cook, Bougainvilliers und de
la Condamine verfolgte, hatte ähnliche psychologische Ursachen. Ebenso
aber kann nun dem Historiker das Recht nicht bestritten werden, die
Linien der Entwickelung noch über den Punkt hinaus, auf welchem jetzt
die niedrigsten Naturvölker stehen, in die Vergangenheit hinein zu
verlängern, denn es ist ganz zweifellos, daß auch diese tiefststehenden
Naturvölker auf eine Jahrtausende alte Entwickelung zurückblicken
können. Den kosmischen Nebel hat auch kein menschliches Auge gesehen,
und doch war Kant berechtigt, aus ihm unser Sonnensystem aufzubauen. Was
aber dem »Archäologen der Natur« recht ist, sollte dem Archäologen der
Menschheit billig sein. Eine ganz andere Frage ist es, ob Rousseaus
Zeichnung des Naturzustandes der Menschheit inhaltlich richtig ist,
d. h. ob die Linien der bisherigen Kulturentwickelung über den Zustand
der jetzigen Naturvölker hinaus verlängert zu dem Punkt wirklich führen,
den Rousseau als den Anfangspunkt der menschlichen Entwickelung annehmen
zu müssen glaubte. Methodologisch aber war er zu seinem Verfahren
durchaus berechtigt.

Der auffallendste Zug in der Schilderung des Naturmenschen bei Rousseau
ist nun der, daß er in völliger Isoliertheit erscheint. Während uns
keine Beobachtung den jetzt lebenden Menschen anders als mindestens im
Verband der Horde erblicken läßt, glaubte Rousseau durch psychologische
und ethnographische Erwägungen veranlaßt, hinter diese primitiven
sozialen Verbände zurückgehen zu müssen, zumal da er die ersten
Wohnsitze des Menschengeschlechts in die subtropischen Gegenden
verlegte, deren reichliche Vegetation das gemeinsame Aufsuchen von
Nahrung und Beute überflüssig machte. Nur die Paarungszeit führte die
Menschen zusammen, die Mutter nahm sich der Kinder an, solange sie der
Pflege bedürftig waren, aber bei dem Fehlen der Sprache und jeglicher
Tradition mußten diese Anfänge zur Familienbildung in jeder Generation
wieder aufhören, sobald die Kinder fähig waren, sich selber ihre Nahrung
zu suchen. So ist der Naturmensch ganz auf sich selber angewiesen; das
einzige seelische Motiv zur Tätigkeit, das er kennt, sind die eigenen
Bedürfnisse, die er leicht befriedigen kann. Es ist falsch, ihn deshalb
als Egoisten zu bezeichnen. Der Egoismus ist, wie wir später sehen
werden, eine Kulturerscheinung, die auf einer übertriebenen Schätzung
des eigenen Wertes im Vergleich zu dem der anderen beruht. Der
Naturmensch kann gar kein Egoist sein, weil es ihm gänzlich fern liegt,
sich mit anderen zu vergleichen. Er hat Selbstliebe (_amour de soi_),
aber keine Eigenliebe (_amour-propre_), und strebt danach ebenso naiv
wie jede Pflanze und jedes Tier, dieses sein Sein zu erhalten. Um dies
zu tun, braucht er aber die anderen Wesen seiner Art nicht zu schädigen.
Wozu ihnen die Frucht wegnehmen, die an jedem Baum einem jeden zur
Verfügung steht? Ganz ferne liegt ihm die Sorge für die Zukunft, denn
er hat keine Zukunft, ebensowenig wie er eine Vergangenheit hat. Sein
gesunder, durch keinerlei Ausschweifung geschwächter Körper kennt keine
Krankheit oder überwindet doch, wenn eine solche sich einstellen
sollte, sie rasch. Verwundungen durch wilde Tiere heilen bald
oder führen zu einem schnellen Tode; der normale Tod aber, der in
unseren Kulturverhältnissen eine Seltenheit geworden ist, der durch
Altersschwäche, läßt das Leben ohne Wunsch und ohne Furcht erlöschen.
So ist der Naturmensch ein Augenblicksmensch, seinen kultivierten
Nachkommen würde sein Leben als unendlich öde und langweilig erscheinen;
und doch, wenn man das Ganze des Lebens eines solchen Einsiedlers
mit dem eines modernen Menschen vergleicht, so steht es an Reinheit,
Gesundheit, Glück unendlich hoch über diesem. Alle Bedürfnisse, alle
Wünsche und alle Gefühle des unkultivierten Menschen sind wahr und
wirklich, der Weg der Zivilisation verwandelt diese Welt der Wahrheit in
eine Scheinwelt und im Scheine, in der Einbildung, kann niemals wahres
Glück gedeihen.

Es ist bezeichnend für die geringe Ausbildung des Familiensinns bei
Rousseau, daß er für den Übergang vom isolierten zum gesellschaftlichen
Leben auf die nächstliegende Konstruktion, nämlich der Fortbildung
des vorübergehenden Geschlechtsverkehrs und der Aufziehung der Kinder,
verzichtet hat. Andere Möglichkeiten, zwischen denen er mehr die Wahl
läßt als sich für eine derselben dogmatisch entscheidet, sind die
Notgesellschaft zum Zweck gemeinsamer Jagd auf eßbares Wild oder
zur gemeinsamen Abwehr gegen solche wilde Tiere, deren Kraft die des
einzelnen Menschen übersteigt. Vor allem aber ist es die Einführung
des Ackerbaus, von dem es nicht deutlich gesagt wird, ob er infolge
zunehmender Bevölkerung oder bei der Abwanderung der Menschen in weniger
fruchtbare Gegenden entstanden sei, welche Rousseaus volles Interesse
in Anspruch nimmt. Denn während die Notgesellschaft ähnlich wie auch
die Aufziehung der Kinder, die Notfamilie, sich auflöst, sobald ihr
vorübergehender Zweck erreicht ist, wird durch den Ackerbau der Mensch
an eine bestimmte Stelle gefesselt, und so kann es gar nicht fehlen,
daß er nunmehr in regelmäßige Beziehungen zu seinen ähnlich seßhaften
Nachbarn tritt. Vor allem aber ist mit dem Ackerbau eine Institution
gegeben oder doch ermöglicht, welche die eigentliche Triebkraft der
späteren Entwickelung abzugeben bestimmt war: =das Eigentum=. »Der
erste, der ein Stück Land einzäunte und es für sein ausschließliches
Eigentum erklärte, und der Leichtgläubige fand, die töricht genug
waren, seinem Anspruch Gehör zu geben, ist der wahre Begründer der
Gesellschaft.«[1] Es ist gar nicht zu bezweifeln, daß in diesen
berühmten Worten Rousseau seine ganze negative Schätzung der gesamten
Kulturentwickelung epigrammatisch zusammendrängen wollte: Ohne Eigentum
keine Kulturentwickelung, ohne Kulturentwickelung kein Kulturelend.
Wir werden aber später sehen, daß es ganz ungereimt ist, Rousseau
die Meinung in den Mund zu legen, als habe er unter den heutigen
Kulturzuständen eine Abschaffung des Eigentums empfohlen, oder als
habe er gar des Glaubens gelebt, es würde mit der Abschaffung des
Privateigentums der glückliche Naturzustand sich wieder einstellen.
Die angeführten Worte fordern solche Folgerungen nicht und spätere
Ausführungen Rousseaus, die wir noch zu betrachten haben, schließen sie
ausdrücklich aus.

[1] _Le premier qui ayant enclos un terrain s'avisa de dire »ceci est
à moi«, et trouva des gens assez simples pour le croire, fut le
vrai fondateur de la société civile. (Discours sur l'origine et les
fondements de l'inégalité parmi les hommes. Seconde partie. 1754.)_

Mit dem Ackerbau stellt sich ein neues Eigentum für den Menschen alsbald
ein: das Werkzeug. Auch der Naturmensch wird einen Baumast oder Stein
ergriffen haben, um sich wilder Tiere zu erwehren, aber er warf sie
wieder fort, wenn der Augenblickszweck erreicht war. Jetzt bedarf
es dauerhafter Gegenstände, um die dauernde Bearbeitung des Bodens
zweckmäßig zu gestalten. Wenn früher ein Blitzstrahl gelegentlich einen
Baum entzündet hatte, so verlosch das Feuer, das für den Naturmenschen
nutzlos war; jetzt wird die Flamme wertvoll zur Herstellung der
Werkzeuge, bald auch zur Zubereitung der Speisen, sie wird gehegt und
behütet. Bald vermag mit ihrer Hilfe der Mensch die Metalle, welche
ein gütiges Geschick vor ihm im Innern der Erde verborgen hatte, zu
schmelzen und für seine Zwecke nutzbar zu machen. Er spürt dem Eisen
nach und wird Bergmann. Nun als seßhafter Ansiedler gründet er an Stelle
der früheren flüchtigen Geschlechtsgemeinschaft die Familie. Die Sprache
stellt sich ein als Verständigungsmittel zwischen Eltern und Kindern
und im Verkehr der Nachbarn zu einander. Die benachbarten Kinder spielen
miteinander, Jünglinge und Jungfrauen begegnen einander auf gewohnten
Pfaden, bald vereinigen gemeinsame Feste die Umwohnenden, Gesang
erschallt, und in Wettspielen zeigt sich die Kraft und Gewandtheit der
Jugend. Auf den Kindheitszustand der Menschheit ist ihr Jugendalter
gefolgt, und während das erste dem Gedächtnis der Menschheit
entschwunden ist und sich nur noch dem Auge des Forschers erschließt,
verweilen bei diesem als auf dem goldenen Zeitalter des Geschlechtes die
sehnsüchtigen Erinnerungen auch des modernen Menschen.

Wo freilich viel Licht ist, da ist viel Schatten. Rousseau war durchaus
nicht gewillt, in der Darstellung des Jugendzustandes der Menschheit
nur die Lichtseiten hervortreten zu lassen, um so mehr da im weiteren
Verlauf der Entwickelung vorwiegend diese Schattenseiten sich mehr
ausbreiten, während die erfreulicheren Züge, die in dieser Zeit noch
stark hervortreten, teils stationär bleiben, teils sogar rückgebildet
werden. Vor allem ist es ein psychologischer Unterschied zum
Naturmenschen, der auf dieser Stufe der Entwickelung Rousseaus
Aufmerksamkeit auf sich zieht. Der Naturmensch hatte Selbstliebe, aber
keine Eigenliebe. Das wird anders, sowie er in soziale Beziehungen zu
seinen Mitmenschen tritt. Denn nun beginnt er, sich mit seinem Nächsten
zu vergleichen, ebenso wie er das Objekt dieser Vergleichung bei anderen
wird. Bei den Festspielen, bei den Zusammenkünften der Nachbarn, bei der
Bewerbung um die Gunst der Geliebten, bei der gemeinsamen Jagd und dem
gemeinsamen Mahl, überall gilt es, nicht nur das eigene Leben zu leben,
sondern auch den Wert dieser Eigenart anderen bemerklich zu machen,
womöglich als der Stärkste, der Schönste, der Geschickteste, der
Beredteste zu erscheinen. Es führt dieses Streben zwar auch dazu, die
eigenen Anlagen nach Kräften auszubilden, aber schon auf dieser Stufe
wird der damit verbundene Triumph über den besiegten Nebenbuhler oder
Mitstreiter zu einem unerfreulichen Charakterzuge, der den Menschen auf
dieser Stufe zu seinem Schaden vom Naturmenschen unterscheidet. Dabei
bleibt es aber nicht. Wo das Sein nicht vorhanden ist, wird zum Schein
gegriffen. Da der Schwerpunkt der eigenen Beurteilung wesentlich in der
Schätzung der anderen liegt, so kommt es wenig darauf an, durch welche
Mittel diese Schätzung errungen oder erzwungen wird, wenn sie nur dem
lieben Ich gezollt wird. Daher greift man schon früh zur List, wo
die eigene Stärke nicht hinreicht, zur Verleumdung, wo der Wert des
Nebenbuhlers nicht erreichbar ist. Ein künstliches Bild des eigenen
Wesens wird für die anderen entworfen und alles daran gesetzt, diesem
künstlichen Ansehen Geltung und Dauer zu verschaffen. An Stelle der
Selbstliebe tritt die Eigenliebe.

Hand in Hand mit dieser psychologischen Entwickelung, sie fördernd und
unterstützend, wie von ihr beeinflußt, treten soziale Erscheinungen,
die der Naturmensch nicht kannte, nicht kennen konnte. Schon in seinem
Artikel über politische Ökonomie in der Enzyklopädie hatte Rousseau
darauf hingewiesen, daß mit dem Ackerbau die von uns heute so genannte
Augenblickswirtschaft prinzipiell aufhört. Es beginnt die Möglichkeit,
Vorräte aufzuhäufen, der ertragreichere Boden, der fleißigere Arbeiter
stehen im Vorteil den minder Begünstigten gegenüber. Der Unterschied
von reich und arm fängt an, sich anzumelden, wenn er auch noch nicht
die gigantischen Proportionen annimmt, welche die heutige Gesellschaft
zeigt. Aber einmal ins Leben getreten, muß dieser Unterschied einen
weiteren mit sich führen, der verhängnisvoll für die Stellung der
Menschen zu einander werden muß. An Stelle der natürlichen Gleichheit
unter den Naturmenschen, an Stelle der nur durch Unterschiede in der
eigenen körperlichen und geistigen Tüchtigkeit bedingten Wertordnung
während des Jugendalters der Menschheit tritt nunmehr der auf Besitz
zurückgehende Unterschied zwischen Herren und Sklaven. Der Ursprung
dieser hassenswerten Einrichtung kann ein verschiedenartiger sein, das
Resultat ist immer dasselbe. Wenn der Arme, um in den Zeiten der Not
sein Leben zu fristen, sich ganz in die Gewalt des Reichen begibt und
durch seine eigene Arbeit mit jedem Tage die Kluft zwischen sich und
dem Übermächtigen noch verbreitern hilft, wenn der durch List und Gewalt
überfallene seiner Freiheit entsagt, um sein Leben zu retten, und nur
noch den Willen seines Herrn kennen darf, anstatt des eigenen --
immer ist das Resultat dasselbe: durch die Kraft und die Arbeit seiner
Sklaven, nicht durch die eigene, wird der Herr über die Masse seiner
Nachbarn emporgehoben, und bald schmeichelt es seinem Egoismus, keinen
freien Willen neben dem eigenen anerkennen zu müssen, seinen Wert erhöht
zu sehen durch die Menge der Sklaven, über die er gebieten kann.

Damit ziehen Luxus und Müßiggang in die menschliche Gesellschaft ein;
nicht mehr der Müßiggang des Naturmenschen, der nichts bedurfte und
deshalb den Wert der Arbeit nicht kannte, sondern der Müßiggang des
reichen Kulturmenschen, der es versteht, jede seiner Kaprizen durch die
Arbeit anderer befriedigen zu lassen. Denn erst in dieser Zeit beginnen
die Erscheinungen, die wir heute unter dem Namen Kultur zusammenfassen,
wogegen wir die Gesellschaften im Jugendzustand der Menschen als
Naturvölker zu bezeichnen pflegen; mit Unrecht, weil auch diese schon
sich aus dem Zustand der Natur entfernt haben, mit Recht, weil ihr
Zustand dem des Naturmenschen unendlich näher steht als dem unseren,
der Vollkultur. Die allgemeine Signatur der Vollkultur kann man darin
erblicken, daß jene Neigung zum Schein, die sich schon im Jugendalter
der Menschheit anmeldete, nunmehr ins Ungeheuerliche, ins Groteske
wächst. Handelte es sich bei dem Menschen des Jugendalters auch im
schlimmsten Fall darum, wirkliche Vorteile mit Hilfe scheinbarer Vorzüge
zu erlangen, so ist die Signatur der Kultur, daß sie wirkliche Vorteile
dahingibt, um Scheinwerte zu erlangen, daß sie scheinbare Bedürfnisse
durch Scheinmittel befriedigt. In dem Jugendzustand suchte der Mensch
Kenntnis der Dinge zu erlangen, die ihm von Nutzen oder von Nachteil
waren. Mit Scheu ehrte er das Geheimnis der übermenschlichen Mächte, er
verbot es sich und anderen, die unbefangenen auf dem Gefühl beruhenden
Grundsätze, die sein Verhalten zu dem der Nachbarn regelten, in Frage zu
stellen oder zu bekritteln. Er dachte wenig und nützlich, er fühlte tief
und stark. Jetzt beginnt die Neugierde die Wissenschaft hervorzurufen.
Dinge, die keinen erdenklichen Wert für das menschliche Leben haben,
werden mit Eifer untersucht, um den Reichen und Mächtigen eine müßige
Stunde zu vertreiben und die Eitelkeit der Gelehrten durch den
ihnen gespendeten Beifall bis ins Maßlose zu erhöhen. Die heiligsten
Überzeugungen, die wohltätigsten Gefühle der Menschen werden so lange
kritisiert, bis sie schal und alltäglich zum Spott werden und keine
Gewalt mehr haben, das menschliche Leben zu regeln. Die Stelle der
wirklichen Natur, von der sich die Menschen durch die Mauern ihrer
Städte getrennt haben, müssen nun Bilder, auf Leinwand gepinselt,
vertreten; weil wir keine Zeit mehr haben, zur wirklichen Natur
zu gehen, so muß eine Scheinnatur an den Mauern unserer Zimmer sie
ersetzen. Und ebenso, wie in nutzlosen Klügeleien inmitten einer
unwahren Natur leben wir auch in einer unwahren Welt der Gefühle.
Der Naturmensch hatte wenige aber starke Gefühle, die sein Handeln
unmittelbar auslösten. Sein natürliches Mitleid machte es ihm unmöglich,
fremde Leiden zu sehen, ohne ein starkes Gefühl, diesem Leiden
abzuhelfen, ohne hilfsbereites Handeln, das diesem Gefühl entspringt.
Aber es würde ihm nicht einfallen, Mitleid mit nur scheinbarem Leide zu
empfinden, sein wirkliches Gefühl richtet sich nur auf Wirkliches. Ganz
anders der Kulturmensch. Ihm genügt es, daß seine Gefühle erregt
werden, aber er will sie durchaus nicht in Handlungen zum Wohle des
Unglücklichen umsetzen, es schmeichelt seiner Eigenliebe vor sich
selber als fühlender Mensch dazustehen, aber es würde sie noch viel mehr
schädigen, wenn auf das erregte Gefühl nun Handlungen zu folgen hätten,
die seine Muße oder auch nur seinen Geldbeutel in Anspruch nehmen
würden. Der vollendete Ausdruck dieses Zustandes der Kulturmenschen ist
das Theater. Hier werden erdichtete Leiden vorgeführt, um ein falsches
Mitleid, eine falsche Rührung zu erwecken. Während der Naturmensch dem
Unglücklichen hilft, geht der Kulturmensch teilnahmslos an ihm vorbei
und hängt den schönen Gefühlen nach, die im Theater durch die Kunst des
Schauspielers in ihm erregt sind.

Immerhin war es keine Inkonsequenz, wenn Rousseau einerseits seinen
geliebten Genfern auf das dringendste davon abriet, das Theater bei sich
einzuführen, und anderseits die Notwendigkeit des Theaters für Paris
auf das nachdrücklichste betonte. Wo die Sitten im allgemeinen noch
ungebrochen sind, wo die Menschen noch ein wirkliches und nicht ein
Scheinleben führen, da ist das Theater zweifellos ein Mittel, den
Verfall der Sitten herbeizuführen oder zu beschleunigen, und daher
muß sich eine derartige Gemeinschaft energisch den Rat der Freunde
verbitten, welche sie, wie das d'Alembert getan hatte, im Interesse
der Kultur und der Verfeinerung der Sitten mit diesem Danaergeschenk
beglücken wollen. Wo aber die Sitten bereits so verderbt sind wie in
Paris, wo die Verfeinerung der Sitten bereits so weit gediehen ist,
daß sie überhaupt nicht mehr existieren, da würde die Abschaffung des
Theaters einen schweren Fehler bedeuten. Die Theaterbesucher würden
nicht versuchen, ihr Mitleid, das nicht mehr künstlich angeregt wird,
durch Taten wirklicher Mildtätigkeit zu befriedigen, sondern sie
würden eine Zeit, in der sie bisher zwar unnütz, aber nicht lasterhaft
unterhalten wurden, dazu verwenden, ihren sittenlosen Vergnügungen,
ehrgeizigen Plänen und verbrecherischen Handlungen mit größerer Muße als
bisher nachzugehen.

Diese Stellungnahme Rousseaus zum Theater ist nur ein Spezialfall
des allgemeinen Pessimismus, mit dem er in die Zukunft der
Menschheitsentwickelung blickt. Niemand hatte klarer die Gefahren
gesehen, mit denen die moderne Kultur die Sittlichkeit und das Glück des
Menschen bedroht, aber niemand war auch so überzeugt davon, daß diese
Entwickelung nicht auf Zufälligkeiten beruhe, sondern sich mit der
ganzen Wucht und Unentrinnbarkeit eines Fatums vollzogen habe. Daher es
denn auch Rousseau unmöglich erschien, daß die heutigen Menschen jemals
den Weg zurück zu reineren und glücklicheren Zuständen gewinnen könnten.
Es würde gar nichts helfen, die Akademien und Laboratorien, die
Ateliers der Maler und der Bildhauer, die Opern und Schauspielhäuser zu
schließen, man würde dadurch nur die Vorteile verlieren, die sie,
wenn auch in mäßigem Grade, für die Fortbildung des Intellekts, die
Verfeinerung des Geschmacks und die Vertreibung der Langeweile unleugbar
haben. Die Menschen würden roher und gemeiner, aber durchaus nicht
besser werden. Nicht in den Institutionen, in den Menschen selber ist
ihre Verderbtheit begründet und um diese zu beseitigen, müßten die
Menschen von Grund aus andere werden als sie sind. Ob dies durch
einen plötzlichen Entschluß, durch einen augenblicklichen Enthusiasmus
gelingen könne, das bezweifelt Rousseau mit Recht. Das goldene Zeitalter
liegt nicht, wie die modernen Aufklärer meinen, in der Zukunft, es
liegt wie das biblische Paradies in der Vergangenheit des menschlichen
Geschlechts, und Rousseau sieht keinen gangbaren Weg, der dorthin
zurückführt. Daher ist es auch nicht berechtigt, wenn man Rousseau
die Absicht zugemutet hat, die Menschen wieder zum Naturstand
zurückzuführen. Wenn Voltaire in jenem ironischen Ton, den er Rousseau
gegenüber überhaupt anzuschlagen liebte, ihm schrieb, er habe nach der
Lektüre seines ersten _Discours_ den Wunsch empfunden, auf allen Vieren
zu kriechen und Salat zu fressen, so war Rousseau weit davon entfernt
gewesen, seinem Mitbruder in Apoll dergleichen anstrengende Exerzitien
zuzumuten. An den vereinzelten Stellen, wo er überhaupt eine Rückkehr
zur Natur als möglich denkt, bedeutet sie ihm nur eine Wiederherstellung
des Jugend-, nicht des Kindheitsalters der Menschheit. Aber meist sieht
er mit klarem Blick die Unmöglichkeit auch dieser Zurückentwickelung
ein.

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, in eine ausführliche Kritik der
Geschichtsphilosophie Rousseaus einzutreten. Seinen Zeitgenossen
gegenüber hatte er zweifellos Recht. Die ungezählten Versuche der
Erwiderungen gegen seine beiden _Discours_, die den bisherigen
Standpunkt zu verteidigen suchten, sind einer verdienten Vergessenheit
anheimgefallen, und auch heute noch sind die Worte Rousseaus ein
warnendes Menetekel für jeden naiven Versuch, die Gleichung: Kultur
gleich Glück aufs neue herausrechnen zu wollen. Daß jeder Schritt in die
Kultur hinein nicht nur einen Schritt von der Natur fort, sondern auch
eine Erschwerung für das Ziel des naiven Glücksstrebens bedeutet, wird
heute wohl nur noch von wenigen bestritten. Aber nicht nur durch
seine Zeit, auch durch seinen Charakter war Rousseau die Fragestellung
unmöglich gemacht, ob nicht vielleicht trotzdem, ja gerade weil die
Kultur keine Rücksicht auf unser Streben nach Glück nimmt, weil sie in
ihren Schöpfungen nur überindividuelle Werte entstehen läßt, die nicht
geeignet sind, den Menschen, der sich in ihren Dienst stellt, glücklich
zu machen, dennoch diese Werte allein dem Leben Bedeutung zu geben
vermögen. Den ernsten Appell, den diese Werte an Rousseau richteten,
vermochte er nur nach dem Verzicht auf Ruhe und Glück zu würdigen,
den sie unleugbar fordern. In dem konventionellen und verkünstelten
Kulturleben seiner Zeit konnte er nur die negative Seite, das Aufhören
des Naturzustandes, erblicken, und sein Wahrheitssinn wurde durch
die falschen Theorien der Fortschrittspfaffen seiner Zeit empfindlich
berührt. Daß die Verpflichtung, die er in sich fühlte, und die er
männlich erfüllt hat: der Wahrheit die Ehre zu geben und in diesem guten
Kampf das Behagen, ja die Sicherheit seines Lebens gering anzuschlagen,
ebenfalls das Eintreten für einen Kulturwert war, welcher für seinen
Naturmenschen überhaupt noch nicht existiert hätte, daß er sich mit
seinem Handeln in Gegensatz zu seinen Lehren stellte, das blieb
Rousseau verborgen. Aber gerade dadurch, daß sein Leben im Dienst des
Wahrheitswertes im Widerspruch zu seiner Lehre stand, wurde er der
Vorkämpfer einer neuen Zeit, welche auf dem Untergrund, den er gelegt
hatte, weiter fortbauend die theoretische Berechtigung des Lebens
Rousseaus nachzuweisen vermochte. Rousseau lebte, was Fichte nach ihm
lehren sollte.



Drittes Kapitel.

Die Rechtsphilosophie.


In seiner Geschichtsphilosophie hatte Rousseau, wie wir gesehen, den Weg
gewählt, seine philosophischen Überzeugungen vom =Wert= der Geschichte
an der Hand einer pragmatischen Erzählung vom =Verlauf= der Geschichte
zu entwickeln. Der Weg vom Naturzustand bis auf unsere Verhältnisse war
seiner Ansicht nach von der Menschheit wirklich zurückgelegt worden. In
der Hervorhebung der wesentlichen Etappen dieses Weges stellte sich aber
zugleich Rousseaus Urteil über ihren Wert oder besser ihren Unwert
dar. Es läßt sich nicht leugnen, daß diese Verschränkung beider
Gesichtspunkte zu der verhängnisvollen Vermischung führen konnte,
welche Lessing einmal in die Worte zusammengefaßt hat: Zufällige
Geschichtswahrheiten können niemals notwendige Vernunftwahrheiten
begründen. In Wahrheit ist das Urteil Rousseaus über den Wert der
Kultur ganz unabhängig davon, ob sein Naturmensch jemals existiert
hat oder nicht. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß gerade diese
unmethodische Verschmelzung zweier Gesichtspunkte viel zu dem tiefen
Eindruck beigetragen hat, den die Geschichtsphilosophie Rousseaus
auf seine Zeitgenossen macht. Noch an einer anderen Stelle hat sich
diese Problemverschlingung an Rousseaus eigenem Werk gerächt.
Seine originellste Leistung auf wissenschaftlichem Gebiet, seine
Rechts=philosophie=, ist lange Zeit dahin mißverstanden worden, als habe
Rousseau hier eine Rechts=geschichte= geben wollen, als handle es
sich für ihn nicht darum, die bestehenden sozialen und rechtlichen
Einrichtungen der Menschheit daraufhin zu prüfen, ob sie »richtiges
Recht« (Stammler) seien, sondern, daß er habe pragmatisch erzählen
wollen, wie es gekommen sei, daß heute diese und keine anderen Gesetze
in Kraft seien. Erst in unserer Zeit sind durch die Arbeiten Stammlers,
Liepmanns und Haymanns diese Mißverständnisse beseitigt worden. Wir
wissen heute, daß es sich für Rousseau nicht um Rechtsgeschichte,
sondern um Rechtsphilosophie gehandelt hat.

Daß der Irrtum über die Absicht des _Contrat social_ entstehen konnte,
hat freilich seine guten Gründe. Bei allen bahnbrechenden Geistern
müssen wir nun einmal mit der Tatsache rechnen, daß sie selber Bürger
des Zeitalters sind, welches sie überwinden wollen. Die alten Gedanken
und Methoden drängen sich immer wieder hervor und stehen hart neben den
Prinzipien einer kommenden Zeit. Die Kritik der reinen Vernunft ist zum
guten Teil ein vorkritisches Buch, und wer nur auf diese Teile achtet,
hält sie noch heute in aller Unschuld und mit guten Gründen für einen
psychologischen Traktat. Ähnlich ist es mit dem _Contrat social_. Er ist
das erste rechtsphilosophische Buch, er begründet diese Wissenschaft und
gerade deshalb sind noch erhebliche rechtshistorische Bestandteile in
ihn herübergenommen worden, welche stark genug sind, es verstehen
zu lassen, wie man den eigentlichen Charakter des Buches vollkommen
verkennen konnte.

Wie Rousseau seine Arbeit angesehen wissen wollte, geht schon aus der
Kritik hervor, die er an einigen seiner Vorgänger vollzieht, Mit zwei
Männern setzt er sich zuerst auseinander: mit Hobbes und mit Filmer.
Nach Hobbes wird der ursprüngliche Krieg aller gegen alle, der aus der
vollständigen Freiheit aller Individuen hervorgeht durch einen Vertrag
beendet, in welchem alle auf ihre Freiheit verzichten, diese auf die
Regierung übertragen und von der Regierung die Gesetze empfangen,
durch welche ein friedliches Zusammenleben der Teilnehmer am Vertrage
ermöglicht wird. Da ein jeglicher Zustand erträglicher ist, als der
des Naturzustandes, da aber jede Auflehnung gegen die Regierung
eine Kündigung des Vertrages bedeutet und den Naturzustand wieder
herbeiführt, so liegt die einzige Grenze der Regierungsgewalt darin,
daß sie den Untertanen nicht befehlen kann, Selbstmord zu begehen,
denn etwas Schlimmeres als der Tod kann ihnen auch außerhalb des
Vertragsverhältnisses nicht begegnen, und so dürfen sie in diesem Fall
den Krieg aller gegen alle einem solchen Vertragsverhältnis vorziehen.
Rousseau wendet gegen diese Lehre ein, daß nach ihr gar keine
Möglichkeit ist (von jener einzigen Ausnahme abgesehen), zwischen guten
und schlechten, gerechten und ungerechten Gesetzen zu unterscheiden,
und daß sie somit, die Tatsächlichkeit eines solchen Vertrages
vorausgesetzt, zwar die Entstehung von Gesetzen erklärt, aber
nicht erlaubt, zwischen wohltätigen und nachteiligen Gesetzen zu
unterscheiden. Mit einem Wort, Rousseau vermißt bei Hobbes die Angabe
eines Kriteriums zur Beurteilung der Verfassungen und Gesetze.

Die entgegengesetzte Theorie Filmers leidet an denselben Mängeln. Nach
Filmer beruht die Gewalt des Gesetzgebers auf patriarchaler Grundlage,
diese aber geht auf göttliche Einsetzung zurück. Wie Gott dem
Familienvater mit der Sorge für seine Kinder auch die Gewalt über
dieselben gegeben hat, wie es die gottgewollte Pflicht des Vaters
ist, zu herrschen, der Kinder aber, zu gehorchen, so ist auch nach dem
Schriftwort alle Obrigkeit von Gott, ihre Gebote sind von der göttlichen
Autorität ihres Amtes getragen, eine Auflehnung der Untertanen gegen
ihre Obrigkeit ist nicht nur ein Bruch des Rechtes, sondern auch eine
Sünde wider Gott. Rousseau bezweifelt zunächst, daß der Vergleich des
Familienvaters mit dem Herrscher hier zutrifft, da das Entscheidende
bei der patriarchalen Familie, der Unterschied in Alter und Weisheit
zwischen Vater und Kindern hier wegfällt. Die Lehre, daß die Obrigkeit
von Gott sei, fügt er mit einigem Spott hinzu, sei nicht anzuzweifeln,
aber dürfe nur in demselben Sinne genommen werden, nach welchem man auch
eine Krankheit als von Gott gesandt betrachtet und sich gleichwohl
nicht besinnt, einen Arzt zu rufen. Auch nach dieser Lehre fehlt jede
Möglichkeit eine Beurteilung der Regierungsformen, Verfassungen und
Gesetze vorzunehmen, denn da alle auf die gleiche göttliche Autorität
zurückgehen und durch dieselbe gerechtfertigt werden, so sind auch alle
gleich gut.

Neben diesen beiden philosophischen Lehren kennt aber Rousseau auch eine
rein tatsächliche historische, die sich nicht auf einen hypothetischen
Vertrag oder auf die göttliche Autorität beruft, sondern rein an der
Hand der Tatsachen die Entstehung und das Wesen der Staaten begreifen
will. Da zeigt es sich denn, daß es das Recht des Stärkeren ist, welches
die Staaten begründet. Durch Eroberung wird ein Teil des Staatsgebietes
nach dem anderen erworben, nach Kriegsrecht werden die Unterworfenen
versklavt oder doch in ihrer Freiheit gemindert, durch Gewohnheit
werden im Lauf der Generationen diese Zwangsmaßregeln zu Gesetzen.
Der dahinterstehende Machtwille braucht sich nicht mehr dauernd in
Gewaltmaßregeln zu äußern, es ist genug, daß er da ist. Die Gesetze
werden so lange beobachtet und gelten so lange, wie die Macht, welche
sie ins Leben gerufen hat, weiter fortbesteht. Mit dem Aufhören oder
Erlahmen dieser Macht fällt entweder das Staatswesen auseinander oder
ein neuer stark gewordener Wille schafft eine neue Rechtsordnung. Auf
diesem Boden bewegen sich die meisten der heute gegen Rousseaus
Lehre vorgebrachten Einwürfe, daher ist die Kritik Rousseaus hier von
aktuellem Interesse. Rousseau ist weit davon entfernt, zu leugnen, daß
die Geschichte uns unzählige Beispiele zeigt, wie in der angeführten
Weise Staaten entstehen und vergehen. Ja, er würde ebensowenig erstaunt
sein, wenn ihm gezeigt würde, daß alle augenblicklich bestehenden
Staaten diesen Ursprung haben, wie es einen Geometer erstaunen würde,
sagte man ihm, daß kein einziger wirklicher Kreis der mathematischen
Definition des Kreises entspräche. Der Geometer würde einfach antworten,
daß in diesem Falle kein eigentlicher Kreis existiere und würde ruhig an
seiner Definition des Kreises festhalten. Genau dasselbe Recht hat
nun aber der Theoretiker des Rechtsstaates gegenüber einem solchen
faktischen Nachweis, der ihm zeigt, daß alle bestehenden Staaten
Gewaltstaaten sind. Daß Gewalt den Willen eines Menschen oder beliebig
vieler Menschen knebeln kann, weiß der Philosoph ebensogut wie der
Historiker oder wie jeder Mensch überhaupt. Seine Frage, die nach
diesem brillanten psychologischen Aperçu erst anhebt, ist die, ob ein
Unterschied zwischen Gewalt und Recht besteht, und diesen Unterschied
glaubt Rousseau machen zu können. Auch das erscheint ihm zweifelhaft, ob
durch Verjährung des Gewaltaktes jemals Recht entstehen kann, denn
damit könnte die Frage nach dem richtigen Recht mit der Uhr in der Hand
beantwortet werden. Vor allem aber: auch diese Theorie zeigt denselben
Fehler wie die von Hobbes und Filmer. Wenn jedes Verhältnis zwischen
Stärke auf der einen, Ohnmacht auf der anderen Seite als Recht angesehen
werden soll, so fehlt uns wiederum jede Möglichkeit, die Rechtsordnungen
unter den Menschen nach ihrem Wert zu beurteilen, denn alle haben
alsdann die gleiche Legitimation, die sich auf den gleichen Ursprung
berufen können.

Wie Rousseau seine Aufgabe auffaßt, hat er klar und präzise dahin
formuliert: »Wir sprechen von den Menschen, wie sie sind, und von den
Gesetzen, wie sie sein sollen.« Das heißt, auch die Rechtsphilosophie
muß sich immer auf die wirklichen Eigenschaften der Menschen
gründen. Sie will Normen aufstellen für die Beziehungen der Menschen
untereinander, aber sie kann dies nicht, wenn sie die Menschen als Engel
betrachtet und ihnen dann Unmögliches zumutet, sondern nur, wenn sie zu
ihrer Basis die tatsächlich bei den Menschen vorkommenden Eigenschaften
nimmt. Aber freilich ist es nicht ausgeschlossen, daß die Menschen
tatsächlich Gesetze unter sich gelten lassen, die für sie zu schlecht
sind; daher ist zwar die menschliche Natur die Grenze, über welche die
normativen Bestimmungen der Rechtsphilosophie nicht hinausgehen können;
was aber im Verlauf der historischen Entwickelung etwa aus dieser
menschlichen Natur durch Zwang, Unterdrückung, Entnervung und Luxus
geworden sein sollte, und ob also entartete Wesen überhaupt noch in der
Lage sind, eine ideale Gesetzgebung bei sich einzuführen und nach ihr zu
leben, muß beim Entwurf einer normativen Gesetzgebung unberücksichtigt
bleiben, denn alles dieses sind historische Tatsachenfragen, die das
Wesen des Menschen nicht berühren.

Wie der Mensch von Natur beschaffen ist, das wissen wir aus Rousseaus
Geschichtsphilosophie. Es war nun ein verhängnisvoller Schritt
Rousseaus, daß er, von diesem Naturzustand ausgehend, die Prinzipien
entwickelte, die den Übergang vom Naturzustand zum gesellschaftlichen
Zustand der Menschen regeln sollten. Er erregte dadurch fast
unvermeidlich den Irrtum (und scheint ihn gelegentlich selber geteilt zu
haben), als sei dieser Übergang zum Rechtsleben ein historisches Faktum,
als seien tatsächlich, wie Lotze dies einmal beißend formuliert, »die
Biedermänner der Urzeit« zu einem Vertrage zusammengetreten, weil
man gemeinsam doch so viel besser leben könne als einzeln. Hobbes'
Staatsvertrag ist eine Realität, denn alle Autorität des bestehenden
realen Rechtes geht auf ihn zurück. Rousseaus Staatsvertrag stellt
lediglich die Bedingungen dar, unter denen natürliche, nicht historisch
verbildete Menschen in eine normative gesellschaftliche Verbindung
eingehen können. Er ist kein Faktum, sondern eine Konstruktion.

Da Rousseau, wie wir im zweiten Kapitel gesehen haben, den Menschen
als isoliertes, freies, lediglich sein eigenes Wohl berücksichtigendes
Individuum auffaßte, so ist es für ihn selbstverständlich, daß es
nur der eigene Vorteil sein kann, welcher das Motiv der Rechtsordnung
bildet. Ebenso deutlich ist es aber, daß der Naturmensch gar kein
Interesse daran haben kann, sein Glück durch gesellschaftliche
Einrichtungen zu erreichen, da er zu seinem Glück der anderen Menschen
nicht bedarf. Erst nachdem =faktisch= bereits gesellige Beziehungen
zwischen den Menschen entstanden und faktisch die Einrichtung des
Eigentums vorhanden ist, kann sich das Bedürfnis herausstellen, diese
Beziehungen nun auch rechtlich zu normieren. Daher es denn auch falsch
ist, das Naturrecht Rousseaus so aufzufassen, als ob es ein Recht sei,
das im Naturzustand gegolten hatte. Im Naturzustand gilt kein Recht; der
Naturmensch braucht kein Recht, weil die Voraussetzung alles Rechtes,
ein Zusammenleben der Individuen, fehlt. Wie kann sich nun der einzelne
durch eine allgemeine Norm verpflichtet fühlen? Offenbar nicht, wenn
diese allgemeine Norm sich als eine den eigenen Willen zwingende, fremde
und äußere Gewalt darstellt. Auf diesem Wege kann es, wie wir gesehen
haben, nur zu einem Gewaltstaat, niemals zu einem Rechtsstaat kommen.
Um das Gesetz als für mich gültig, mich verpflichtend, anerkennen zu
können, muß ich in ihm meinen eigenen Willen wiedererkennen, der, da er
sich auf eine Gemeinsamkeit von Menschen und ihre Interessen richtet,
ebenso den Willen aller anderen repräsentiert, wie den meinen. Wenn
sich mein Wille auf meine individuellen Zwecke richtet, so bleibt er
individuell: richtet er sich auf Zwecke, die einer Mehrheit von Menschen
gemeinsam sind, so verschmilzt er mit dem Willen der anderen zum
Gesamtwillen. Der Gesamtwille ist also der durch den Willen zur
Gemeinsamkeit konstituierte Träger und Schöpfer der gesetzlichen Ordnung
im Gegensatz zur Gewaltordnung. Daraus ergibt sich nun aber, daß für
alle gesellschaftlichen Festsetzungen der Gesamtwille schlechthin
souverän ist, d. h. eine über ihm stehende Gewalt nicht anerkennen darf.
Täte er dies, so würde er und damit der Wille aller derjenigen, die sich
in ihm vereinigt haben, unfrei; der Rechtsstaat hörte auf, Rechtsstaat
zu sein und würde Gewaltstaat unter dem Willen dessen, der der
Souverän des Gesamtwillens geworden wäre. Es kann daher sehr wohl eine
Rechtsgemeinschaft einstimmig beschließen, sich einen oder mehrere
Souveräne zu setzen, aber dieser Beschluß ist genau dasselbe auf
sozialem Gebiet, was der Selbstmord im individuellen Leben ist. Der
Gesamtwille hört auf zu funktionieren, und die Rechtsordnung wird zur
Gewaltordnung des neuen Souveräns.

Um zu begreifen, was Rousseau unter dem Gesamtwillen (_volonté
générale_) versteht, muß man ihn sorgfältig von dem Willen aller
(_volonté de tous_) unterscheiden. Rousseau ist weit davon entfernt,
anzunehmen, daß die Einmütigkeit selbst aller Mitglieder eines sozialen
Verbandes Ausdruck des Gesamtwillens in allen Fällen ist. Das Ideal der
gesellschaftlichen Ordnung wäre dies freilich, und Rousseau ist in
der Tat der Ansicht, daß unter normalen Verhältnissen nicht erst die
Gesamtheit, sondern schon die Majorität der Beratenden Beschlüsse
fassen wird, die Ausdruck des Gesamtwillens sind. Zieht man diejenigen
Willensäußerungen ab, die infolge individueller Wünsche zu sehr nach der
einen oder nach der anderen Seite hin tendieren, so wird als Ausdruck
des Gesamtwillens, der die Interessen der Gesamtheit vertritt, die
kompakte Masse der Willensäußerungen verbleiben, welche gleichweit
von beiden individuellen Extremen entfernt das in der Mitte liegende
Gesamtinteresse darstellt. Danach könnte Rousseau als ein doktrinärer
Vertreter der Lehre von der richtigen Mitte (_juste milieu_) angesehen
werden, und wäre dies wirklich seine Ansicht gewesen, so würde es nicht
schwer sein, in allen Fällen den Gesamtwillen zur Geltung zu bringen;
man brauchte eben nur mechanisch aus den abgegebenen Willensäußerungen
einen Mittelwert herauszurechnen. So einfach denkt sich aber Rousseau
die Sache doch nicht. Er weiß sehr wohl, daß auch ein einstimmig
gefaßter Beschluß durchaus nicht Ausdruck des Gesamtwillens zu sein
braucht, und daher muß er Kriterien dafür entwickeln, in welchen Fällen
der Wille aller als Ausdruck des Gesamtwillens angesehen werden könne.

Fassen wir den Zweck des Zusammentritts der Menschen zur Rechtsordnung
(_Contrat social_) nochmals ins Auge. Er bestand darin, Leben und
Eigentum des einzelnen nicht als individuelle, sondern als allgemeine
durch einen Gesamtwillen garantierte und anerkannte Rechtsgüter
festzustellen und zu bestimmen. Damit ist gegeben, daß der Rechtswille
einer Gemeinschaft sich auch nur auf allgemeine Maßregeln richten kann,
daß also alle gesetzlichen Maßregeln, welche auf Individuen gehen und
Individuen als solche treffen wollen, dem Gesellschaftsvertrag zuwider
sind und daher, selbst wenn sie einstimmig gefaßt werden, Ausdruck des
Allgemeinwillens nicht sein können. Ein Gesetz, welches einen bestimmten
Menschen mit Namen zum Tode verurteilen oder ihm sein Eigentum
konfiszieren würde, wie es z. B. das englische Recht kennt (_bill of
attainder_), ein Verfahren, wie es uns der Ostrazismus in Athen zeigt,
welches Verbannung über ein bestimmtes Individuum verhängt, ist
also nach Rousseau in allen Fällen ungesetzlich. Selbst wenn es mit
Stimmeneinhelligkeit beschlossen sein sollte, könnte es niemals der
Ausdruck des Gesamtwillens sein. Der Gesamtwille kennt überhaupt keine
einzelnen Bürger mit Namen, er kennt nur die Gesamtheit der Bürger und
trifft Bestimmungen für diese Gesamtheit, welche alsdann freilich für
jeden einzelnen gültig sind, aber nicht deshalb, weil er dieser einzelne
ist, sondern weil er zu dieser Gesamtheit gehört.

Die Konsequenz der Rousseauschen Gedanken führt nun freilich dahin,
daß alle, die durch ein Gesetz verpflichtet werden können, auch als
konstituierende Mitglieder des Gesamtwillens gedacht werden müssen,
denn nur unter dieser Voraussetzung können sie ja in den Aussprüchen des
Gesamtwillens den Ausdruck ihres eigenen auf das Allgemeine gerichteten
Wollens anerkennen. Danach wäre die Teilnahme der Frauen an der
gesetzgeberischen Arbeit eine logische Notwendigkeit, wenn sie durch
das Gesetz verpflichtet werden sollen, und diese Konsequenz hat in der
französischen Revolution in der Tat Théroigne de Méricourt gezogen. Daß
Rousseau diese Konsequenz nicht anerkennt, vielmehr die Frauen von der
Teilnahme am politischen Leben ausdrücklich ausschließt, hat
seinen Grund in seiner Ansicht über die natürliche Begabung beider
Geschlechter, die uns in seiner Erziehungslehre noch beschäftigen wird.
Die Voraussetzung für soziales Leben, der auf das Allgemeine gerichtete
Wille, fehlt bei der Frau. Sie ist stets an Individuen interessiert,
und daher ist es richtig, daß sie zuerst durch ihren Vater, später durch
ihren Mann im Ausdruck des Gesamtwillens vertreten wird. Da ferner die
Familie, wenn auch nicht als rechtliches, so doch als tatsächliches
Verhältnis schon vor dem Gesellschaftsvertrag vorhanden ist, so
treten die Kinder als durch ihren Vater repräsentiert mit ihm in den
Rechtsverband ein. Wachsen sie heran und erheben sie keinen Einspruch,
so kann ihre Zustimmung zur Gesellschaftsordnung vorausgesetzt werden;
eine einfache Erklärung zur Gesellschaftsordnung nicht gehören zu
wollen, genügt, um sie von allen Pflichten, die sie auferlegt, freilich
auch von allen Rechten, die sie gewährt, auszuschließen.

In die Befugnis des Gesamtwillens, allen allgemeinen Bestimmungen, die
von ihm ausgehen, bindende Kraft zu verleihen, gehört es nun freilich
auch, daß rechtliche Institutionen, die früher durch den Gesamtwillen
garantiert waren, diese Garantie auf rechtsgültige Weise durch
Beschluß des Gesamtwillens wiederum einbüßen können. So wird z. B. das
Privateigentum aus einer faktischen zur rechtlichen Institution dadurch,
daß der Gesamtwille allen Beteiligten ihr Eigentum garantiert. Es würde,
wie wir gesehen haben, kein Beschluß, der einem einzelnen sein Eigentum
konfiszieren wollte, innerhalb der Rechtsordnung möglich, er würde immer
ein Rechtsbruch sein. Ganz anders aber stellt sich das Rechtsverhältnis
gegenüber einem durch die Beteiligten gefaßten Beschluß (für den
Stimmeneinhelligkeit gar nicht notwendig ist), der ganz allgemein für
=alle= Staatsangehörigen die Abschaffung des Privateigentums und
den Übergang, sei es zur sozialistischen, sei es zur kommunistischen
Wirtschaftsform, ausspräche. Hier hat der Souverän seine Machtbefugnisse
durchaus nicht überschritten. Privateigentum im rechtlichen Sinne,
nicht als bloßes Faktum, existiert nur, solange es durch den
Gesamtwillen garantiert ist und kann mithin, wenn dieser Wille
es zu garantieren aufhört, eine rechtliche Existenz nicht mehr
beanspruchen. Das gute Recht der einzelnen Besitzenden würde es
sein, dem Zustandekommen eines solchen Gesetzes mit allen gesetzlichen
Mitteln entgegenzutreten; ihre Pflicht als Bürger aber bestünde darin,
sich dem rechtmäßig zustandegekommenen Beschluß ohne weiteres zu fügen,
denn sie sollen durch ihn nicht als Individuen getroffen werden,
sondern der Gesamtwille will eine Neuordnung der allgemeinen sozialen
Beziehungen durch seinen Beschluß vornehmen, und dies liegt zweifellos
innerhalb seiner souveränen Befugnisse. So sieht Rousseau in der
Einführung des Kommunismus wohl eine Aufhebung der bestehenden
Rechtsordnung, keineswegs aber der Rechtsordnung überhaupt. Es sind nur
Opportunitätsgründe, allerdings gewichtigster Art, die ihn dazu
veranlassen, die Einführung einer solchen Maßregel dringend zu
widerraten. Wenn man nämlich sieht, wie ganz das Herz des Menschen an
seinem Eigentum hängt, wenn man erwägt, für wie viele die Hauptfunktion
des Staates darin besteht, ihnen ihr Eigentum zu garantieren, so kann
man die Befürchtung nicht unterdrücken, daß für alle diese Bürger der
Staat, welcher sich dieser Funktion entschlüge, schlimmer als wertlos
werden würde, daß sie aus guten zu schlechten Bürgern, aus Verteidigern
des Staates seine Feinde werden würden. Zu einer solchen Stellungnahme
hätten diese Bürger kein Recht, aber um so mehr muß der Staat es
vermeiden, ohne die zwingendsten Gründe einen Teil seiner Konstituenten
in eine grundsätzliche und erbitterte Opposition hineinzuzwingen,
die psychologisch durchaus verständlich, die Grundfesten aller
gesellschaftlichen Ordnung erschüttern und schädigen müßte. Rousseau war
also keineswegs prinzipieller Kommunist oder Sozialist, ebensowenig,
wie er prinzipieller Vertreter des Privateigentums war. Aber er zögerte
nicht, aus Opportunitätsgründen dem Privateigentum den Vorzug vor einer
kommunistischen Ordnung der Gesellschaft zu geben.

Unter den Vorgängern Rousseaus hatten wir bisher absichtlich Montesquieu
nicht erwähnt, weil dieser nicht so sehr vom Recht überhaupt, als von
der Abgrenzung der einzelnen Rechtssphären untereinander handelt, und
hier allerdings eine normative Regelung der Rechtssphären erreichen
will, indem er an die Überreste der ständischen Verfassung in Frankreich
und das parlamentarische Königtum in England sich anlehnend die
Lehre von der absoluten Trennung der legislativen, exekutiven und
richterlichen Gewalten für die Gesundheit des Staatskörpers als
unerläßlich fordert. Gerade an diesem Punkte setzt nun die Kritik
Rousseaus ein. Es scheint ihm unmöglich, zu verstehen, wie neben dem
souveränen Gesamtwillen irgendeine von diesem unabhängige Sphäre
des Rechtes konstruiert werden könne. Was nicht auf den Gesamtwillen
zurückgeführt werden kann, mag zwar als Machtwille auftreten und als
solcher dem Souverän gegenüber eine Sphäre der Selbständigkeit sich
erkämpfen oder behaupten, aber gerade deshalb kann diese Sphäre eine
rechtliche Dignität nicht beanspruchen. Sie ist bloßes Faktum und kann
nur historisch begriffen, niemals aber als vernünftig eingesehen werden.
Die Konstruktion Montesquieus zeigt also denselben Fehler wie die
Hobbes' und Filmers; nur daß sie nicht wie diese es unternimmt, alles
bestehende Recht als normativ gültig nachzuweisen, sondern daß sie
eine bestimmte historische Gestaltung unter allen anderen als die sein
sollende herausgreift und auszeichnet. Für diesen Vorzug aber vermag sie
lediglich Zweckmäßigkeitsgründe, keineswegs aber Vernunftgründe ins Feld
zu führen. Warum der Wille des einzelnen sich einer Regierung,
welche die von Montesquieu gewünschte Trennung der Gewalten zeigt,
unterzuordnen habe, bleibt am Schluß des _Esprit des lois_ genau so
unverständlich wie am Anfang, und noch weniger ist es zu verstehen,
wie diese drei selbständigen Willenssphären sich nebeneinander
behaupten können, ohne daß die eine mit der anderen in Macht- und
Kompetenzkonflikte geriete. Das ist eben nur möglich, wenn es über ihnen
noch einen souveränen Willen gäbe; gerade diesen aber kennt das System
Montesquieus nicht.

Natürlich sieht auch Rousseau die Notwendigkeit mindestens einer
Zweiteilung der staatlichen Funktionen in legislative und exekutive
vollständig ein. Er weiß sehr wohl, daß, ganz abgesehen von praktischen
Gründen, die es unmöglich machen, die Versammlung der Volksgenossen auch
mit der Ausübung der Gesetze zu betrauen, eine solche Vereinigung von
Legislative und Exekutive theoretisch erhebliche Schwierigkeiten haben
würde. Der Gesamtwille kennt, wie wir gesehen haben, nur allgemeine
Gesetze. Die Anwendung dieser Gesetze betrifft aber immer Individuen.
Es muß daher der Gesamtwille sich ein Organ schaffen, das, aus
Individuen bestehend, die allgemeinen Bestimmungen der Gesetze auf den
individuellen Fall anwendet, d. h. die Gesetze ausführt. Dieses Organ
nennt Rousseau den Herrscher. Von einer selbständigen Gewalt des
Herrschers kann also gar nicht die Rede sein, seine Bedeutung, seine
Existenz verdankt er lediglich dem Gesamtwillen. Dieser hat die Sphäre
seiner Befugnisse umgrenzt, und nur solange sich der Herrscher innerhalb
dieser Sphäre mit seinen Anordnungen hält, haben diese rechtliche
Existenz. Ebenso aber wie der Gesamtwille dem Herrscher diese Gewalt
gegeben hat, ebenso kann er sie ihm wieder entziehen. In dem Augenblick,
wo die Volksgemeinde zusammentritt, erlischt das Mandat ihres Mandatars,
des Herrschers, und nur durch einen neuen Beschluß kann dem bisherigen
Herrscher diese Befugnis aufs neue übertragen werden. Ist sie von
vornherein auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt, so hört nach Ablauf
dieser Zeit das Mandat von selber auf, und alle ferneren Handlungen des
Herrschers entbehren von da ab des Merkmals der Rechtsgültigkeit.

Bei diesen grundlegenden rechtlichen Bestimmungen über die Stellung des
Herrschers ist es nun von untergeordneter Bedeutung, auf wie viele oder
wie wenige Individuen die Herrschergewalt delegiert wird. Wird sie auf
ein Individuum delegiert, so entsteht die Monarchie, auf mehrere die
Aristokratie, auf alle die Demokratie. Jede dieser Regierungsformen hat
ihre eigentümlichen Vorzüge und Nachteile, jede aber ist, diese ihre
Entstehung vorausgesetzt, als rechtlich einwandfrei zu betrachten. Eine
eigentümliche Inkonsequenz scheint nach den vorherigen Ausführungen
darin zu liegen, daß Rousseau hier auch die Demokratie als mögliche
Regierungsform konstruiert. Denn es ist schwer verständlich, wie die
Gesamtheit der Bürger es machen soll, sich selber die Ausführung ihrer
Beschlüsse zu delegieren, für die sie dann praktisch außerdem sich
als ungeeignetes Organ erweisen muß. Rousseau hilft sich hier mit
dem Hinweis auf das englische Unterhaus, das sich unter Umständen als
Komitee konstituiert, ohne zu bedenken, daß das Unterhaus auch als
Komitee weit davon entfernt ist, die Exekutive zu übernehmen, sondern
daß es sich auch in diesem Fall lediglich um Maßregeln der Legislative
handelt. Wahrscheinlich wollte Rousseau nur darauf hinweisen, daß der
Souverän nicht begrifflich an irgendeine Zahl gebunden sei, wenn er
Individuen mit der Ausübung der Administration und Exekutive betrauen
wolle.

Sehen wir uns nun die den einzelnen Regierungsformen eigentümlichen
Vorteile und Nachteile näher an, so findet es sich, daß die Vorteile der
Monarchie in der Konzentration liegen, welche durch sie die Kraft des
Souveräns notwendig erfahren muß. Alle Fäden der Administration laufen
hier in einer Hand zusammen, über die gesamte Macht des Staates hat ein
einzelner Verfügung, die Abwehr fremder Angriffe kann viel energischer
geleitet, der Angriff auf die Gegner viel plötzlicher und erfolgreicher
durchgeführt werden, als es bei irgendeiner anderen Regierungsform
der Fall ist. Wo das Gebiet des Staates groß, die Verhältnisse seiner
einzelnen Teile zueinander verwickelt, die Beziehungen zu seinen
Nachbarn mannigfach und gespannt sind, da wird die Monarchie sich als
die geeignetste Herrscherform empfehlen. Aber diesen großen Vorteilen
stehen ebenso große Nachteile gegenüber. Es liegt in der menschlichen
Natur begründet, daß der Herrscher immer ein starkes Interesse daran
haben wird, sich von seinem Souverän unabhängig zu machen und ihn
womöglich zu depossedieren. Er wird es systematisch versuchen, die
Grenzen seiner Befugnisse immer mehr zu erweitern und in den Augen des
Volkes als eigentlicher Souverän zu erscheinen. Diese Versuchung ist für
den Monarchen am allergrößten, weil sich in ihm die meisten Machtmittel
konzentrieren und er hoffen darf, durch persönliche Vorzüge, äußere
Erfolge und blendendes Schaugepränge der großen Masse gegenüber den
unpersönlichen Gesamtwillen zu verdrängen und als der eigentliche Träger
aller Macht zu erscheinen. So kann es am leichtesten in der Monarchie
dazu kommen, daß die Volkssouveränität obsolet wird und sich vielleicht
nur noch in einigen bedeutungslosen Zeremonien erhält, während der
frühere Mandatar, der Herrscher, zum Souverän, der frühere Rechtsstaat
zum Gewaltstaat geworden ist. Bessere Garantien für die Fortdauer der
Volkssouveränität bietet die Aristokratie, weil hier die Eifersucht
der einzelnen Kollegen, an welche gemeinschaftlich die Herrschergewalt
delegiert ist, die Herrschergelüste jedes einzelnen im Zaum hält.
Aber dieselbe Eifersucht macht sich auch in allen Regierungsgeschäften
bemerklich und verhindert die starken und geschlossenen Aktionen nach
außen, in denen wir einen Vorzug der Monarchie sahen, anderseits
aber bietet diese Eifersucht keine Gewähr dafür, daß unter der
Verfassungsform der Aristokratie die Volkssouveränität nicht auch Gefahr
laufe, einzurosten und zu verkümmern. Namentlich wirkt auch hier wie
in der Monarchie das Bestreben, die Zeitdauer der Mandate möglichst
auszudehnen, ja sogar sie ganz von der Beschränkung auf Zeit abzulösen,
indem man sie erblich macht. Das Patriziat, das auf diese Weise
entsteht, wird ebenso eifrig bedacht sein, den Volkswillen nicht zu
Worte kommen zu lassen, wie nur irgendein Monarch, und wird ebenso
eifersüchtig darauf sehen, als der rechtmäßige Souverän zu erscheinen,
wie irgendein erblicher König. Die Demokratie endlich gibt zwar die
beste Garantie dafür, daß der Ursprung ihrer Gewalt, der Gesamtwille,
nicht vergessen wird, zeigt aber die größte Schwerfälligkeit und
Unbehilflichkeit in ihren administrativen Maßregeln und wird am meisten
in Gefahr sein, tatkräftigen äußeren Gegnern eine hilflose Beute zu
werden. Aus Bequemlichkeit scheuen die Bürger die Zeit und Mühe, welche
die bei einer solchen Verfassung unvermeidlichen häufigen Versammlungen
mit sich bringen, und damit ist die Gefahr der Zufallsmajoritäten und
ungerechten administrativen Maßregeln gegeben.

Es hätte nun ein sehr einfaches Mittel gegeben, diese Schwierigkeit zu
beseitigen, nämlich die Einführung der Repräsentativverfassung, wie sie
damals in England bestand und heute in fast allen Verfassungsstaaten
eingeführt ist. Aber für Rousseau erwies sich dieser Ausweg als
ungangbar. Nicht nur deshalb, weil in den antiken Republiken, auf welche
die Lektüre der klassischen Autoren sein Augenmerk besonders gerichtet
hatte, die Versammlung der Vollbürger die Regel ist, sondern auch,
weil begriffliche Schwierigkeiten der Ausführung des Gedankens einer
Repräsentativverfassung entgegenstanden. Wird ein solcher Ausschuß mit
gesetzgeberischer Macht ausgestattet, so ist es klar, daß er damit an
die Stelle des Souveräns tritt und daß der Souverän sich selber abdankt,
indem er zur Wahl dieses Ausschusses schreitet. »Das englische Volk ist
frei nur im Moment der Parlamentswahlen«; sind diese geschehen, so
ist es der Sklave des von ihm gewählten Parlaments. Wenn Rousseau
hier namentlich auf die Gefahr aufmerksam macht, daß sich die
Parlamentsmitglieder vom Herrscher (der Exekutive) bestechen lassen
würden, so hatte er zu dieser Besorgnis im Hinblick auf die damals
bestehenden Zustände in England guten Grund, denn hier waren ja die
parlamentarischen Bestechungen zum kunstvollen System ausgebildet
worden. Es kann aber in diesem Einwurf ein triftiger Einwand gegen
parlamentarische Vertretungen nicht gesehen werden, weil diese
Übelstände ihre Ursache in den eigenartigen englischen Verhältnissen
hatten und auch hier nur vorübergehend aufgetreten sind. Wichtiger
ist der Hinweis darauf, daß die Einrichtung eines Parlaments
notwendigerweise die Bildung politischer Parteien erzeugt oder doch
befördert, und in der Existenz solcher Parteien sieht Rousseau die
schwerste Gefahr für seinen Rechtsstaat. Unter der Parteiherrschaft
kommt eben die Meinung der Staatsbürger nicht mehr zur Geltung; nicht
sie sind eigentlich souverän, sondern die Partei hat sich zwischen
den einzelnen Bürger und die den Bürgern zustehende souveräne Gewalt
geschoben. So sind es denn auch die in dem Staatsvertrag gar nicht
erwähnten politischen Parteien, die eigentlich regieren.

Sollte sich nun aber doch die Einsetzung einer Repräsentativverfassung
als unumgänglich erweisen, so ist es notwendig, den Gefahren, die
mit einer solchen Verfassung verbunden sind, möglichst vorzubeugen.
Selbstverständlich ist, daß die Volksvertretung nur auf Zeit gewählt
werden darf und daß nach Ablauf dieser Zeit ihr Mandat von selber
erlischt. Zu empfehlen ist die möglichste Verkürzung der Dauer der
Legislaturperioden, damit auf diese Weise die Volksvertreter in steter
Abhängigkeit vom Souverän gehalten werden. Diese durchaus notwendige
Abhängigkeit denkt nun aber Rousseau durch zwei weitere Maßregeln noch
zu verstärken. Für alle wichtigen Gesetze, die in Aussicht stehen,
soll der Volksvertreter bestimmte, ihn rechtlich bindende Weisungen von
seinen Wählern erhalten (imperative Mandate), welche ihn im voraus für
seine Abstimmung festlegen, und ebenso sollen alle wichtigen Maßregeln,
welche das Parlament beschlossen hat, bevor sie Gesetzeskraft erlangen,
nochmals der Urversammlung zur Verwerfung oder Annahme vorgelegt werden
(Referendum). Aus diesen vorsichtigen und zögernden Bestimmungen
ersieht man vielleicht am besten, mit welchen Befürchtungen Rousseau dem
Gedanken des modernen Parlamentarismus gegenüberstand.

Steht das ganze Wohl des Rechtsstaates auf einer einzigen Karte, der
richtigen Beschaffenheit der Urversammlung, in welcher alle Bürger
vertreten sind, so ist es nicht zu verwundern, daß Rousseau kein
Mittel unversucht lassen wollte, um in jedem Bürger ein taugliches und
förderliches Mitglied des Staates zu gewinnen. Er glaubte nicht, daß
das wohlverstandene Interesse des einzelnen, die Überzeugung, daß sein
Leben, sein Eigentum, seine Freiheit nur im Staate gesichert seien,
genügten, um ihn unter allen Umständen zu einem guten und zuverlässigen
Staatsbürger zu machen. Rousseau glaubte für diesen Zweck die höchste
und erhabenste Sanktion unseres Handelns, den religiösen Glauben,
nicht entbehren zu können. Doch ist der Staat nicht berechtigt, die
Zugehörigkeit zu einem bestimmten theologischen Lehrsystem von seinen
Bürgern zu verlangen, denn wie die Erfahrung zeigt, ist die Gesinnung
eines guten Bürgers mit der Zugehörigkeit zu allen nur denkbaren
historischen Religionen wohl verträglich. Aber es gibt drei fundamentale
Überzeugungen, deren Fehlen nach Rousseau auch die Zuverlässigkeit
des Menschen in seinen bürgerlichen Beziehungen in Frage stellt. Das
Bekenntnis zum Dasein Gottes, der Fortdauer der Seele nach dem Tode und
der Belohnung und Bestrafung im Jenseits muß von jedem Bürger staatlich
verlangt und gefordert werden. Denn ohne die Überzeugung, daß ein
höchstes Wesen meine Handlungen kennt und richtet, ohne die Überzeugung,
daß meine Seele auch nach dem Tode fortdauern wird und alsdann nicht
mehr von allen ungerechten Taten, durch die ich in diesem irdischen
Leben mir Macht und Ansehen errungen habe, einen Vorteil erwarten kann,
ohne endlich die Überzeugung, daß mein rechtliches oder unrechtliches
Verhalten in diesem Leben bestimmend für das Schicksal meiner Seele nach
dem Tode ist, kann auf eine dauernde bürgerliche Gesinnung gegenüber
den mannigfaltigen Versuchungen, die an die Selbstsucht des Menschen
herantreten, niemals mit Sicherheit gerechnet werden. In dem damals viel
verhandelten Streit, ob ein Atheist ein tugendhafter Mensch sein könne,
stellt sich Rousseau durchaus auf die Seite der theologischen Leugner
dieser Möglichkeit. Er geht sogar so weit, daß er gegen diejenigen,
welche in Worten oder Taten bekunden, daß sie nicht mehr auf dem Boden
dieses durch den Staat geforderten Bekenntnisses stehen, die schwersten
rechtlichen Strafen, ja den Tod verhängen will. Es schmeckt etwas nach
Jesuitismus, wenn er sich dagegen verwahrt, daß damit ein Gewissenszwang
ausgeübt werden solle, indem der Atheist oder der Materialist nicht
wegen ihrer religiösen Irrtümer, sondern wegen ihrer Eigenschaft als
schlechte Bürger bestraft würden, eine subtile Distinktion, ähnlich
der, welche es der Inquisition zwar verbietet, das Blut der Ketzer zu
vergießen, es ihr aber erlaubt, die Schuldigen der weltlichen Macht zur
gefälligen Verbrennung zu überweisen.

Rousseau war indes weit entfernt, den Beifall der theologischen Gegner
des Atheismus ohne jeden Rückhalt für sich in Anspruch nehmen zu können.
Denn mit derselben Entschiedenheit, mit der er die Atheisten bekämpft,
sucht er auch die Unmöglichkeit nachzuweisen, das Christentum zur
Staatsreligion zu erheben. Ja, von allen geoffenbarten Religionen eignet
sich hierzu das Christentum vielleicht am wenigsten. Gerade, weil das
Christentum bestimmte religiöse Grundwahrheiten am eindringlichsten
predigt, muß es in seinen Bekennern eine gewisse Gleichgültigkeit
gegen alles Irdische, besonders gegen die Rechtsordnungen des Staates
erzeugen. Der wahre Christ hat seine Augen nicht auf das Diesseits,
sondern auf das Jenseits gerichtet, er braucht keine Rechtsordnung, um
die ihm zugefügten Beleidigungen zu bestrafen, sondern er verzeiht das
ihm zugefügte Unrecht gern und vergilt es mit Wohltaten. Er kann die
Feinde der bürgerlichen Ordnung nicht hassen, seine Religion befiehlt
ihm, sie zu lieben und sie zu bemitleiden. Nicht aus Achtung vor dem
Gesamtwillen wird er sich den Gesetzen unterwerfen, sondern er wird
ihnen Folge leisten, weil der Christ dem Kaiser geben muß, was des
Kaisers ist. So wird der wahre Christ zwar kein schlechter Bürger sein,
und deshalb hat der Staat die Verpflichtung, sein Bekenntnis zu achten,
aber der wahre Bürgersinn, der den Staat liebt, wird ihm fernbleiben,
und daher ist das Christentum zur Staatsreligion ungeeignet. Wenn es
doch den Anschein hat, als ob ein christlicher Staat möglich sei, so ist
die einfache Ursache hierfür, daß es sehr wenige wahre Christen gibt.

Das Ideal einer staatlichen Gemeinschaft ist für Rousseau die
kleine Bauernrepublik, die durch Sitte und religiöse Überzeugung
zusammengehalten, die gemeinsamen Angelegenheiten in regelmäßigen
Tagsatzungen ordnet. Eine annähernde Verwirklichung dieses Ideals
boten ihm die kleinen Urkantone der Schweiz mit ihrem Fehlen einer
hauptstädtischen Bevölkerung und ihrem zähen Festhalten an den
überkommenen Rechten und Freiheiten. Gern nahm er den großen Vorteilen
gegenüber, welche solch ein kleines Staatswesen für die Teilnahme jedes
einzelnen am staatlichen Leben eröffnet, die Nachteile in den Kauf,
welche mit der Kleinheit solcher Verbände gegeben waren, und er
suchte diesen Nachteilen dadurch zu begegnen, daß er die Möglichkeit
föderativer Verbände zwischen diesen kleinen Republiken ins Auge faßte.
Es ist zu bedauern, daß er diese Gedanken, die er im _Contrat social_
nur andeutet, nicht weiter ausgeführt hat, die spätere Bearbeitung, auf
die er verweist, ist unterblieben. In der Eidgenossenschaft, sowie in
den antiken Symmachien konnte er Vorbilder für die Gestaltung
dieses Gedankens finden. Überhaupt sind selbstverständlich die
rechtsphilosophischen Gedanken Rousseaus nicht ohne Beobachtung und
reichhaltige Benutzung historischer Staatenbildungen entstanden. Seine
Schilderung der Aristokratie und ihrer Entartung weist zum großen
Teil auf die Zustände Venedigs hin, die Rousseau aus eigener
Anschauung kennen gelernt hatte. Seine Bewunderung für Sparta und das
republikanische Rom tritt an vielen Stellen des _Contrat social_
deutlich genug hervor, und wenn auch seine Kenntnis Spartas mehr auf
den rhetorischen Schilderungen Plutarchs, denn auf Kenntnis der
tatsächlichen Verhältnisse beruht, so haben sie deshalb nicht weniger
auf das Gefühl Rousseaus für bürgerliche Freiheit und Gleichheit
gewirkt. Den größten Einfluß aber hat auf Rousseau das Beispiel
seiner geliebten Vaterstadt Genf gehabt. Die Verfassung dieser
seiner Heimatstadt hat er gründlich studiert, sein Eingreifen in den
Verfassungskonflikt, der in seiner Heimatstadt ausbrach, verdient
als eine Anwendung seiner Theorien auf den konkreten Fall unsere
Aufmerksamkeit.

Hier in Genf war ja, wie es Rousseau schien, gerade der Fall
eingetreten, den er in seinem _Contrat social_ konstruiert hatte. Eine
Aristokratie, die ursprünglich ihre Amtsbefugnisse von der Gesamtheit
der Bürgerschaft empfangen hatte, war mit kluger Vorsicht bemüht
gewesen, sich allmählich in den Vollbesitz der Macht zu setzen, und die
Bürgerschaft auf die Stufe von Untertanen herabzudrücken. Der Zufall
wollte es, daß ein besonders eklatanter Fall des eigenmächtigen
Vorgehens der Regierung die Verfolgung bildete, welche sie aus Anlaß des
Emile über Rousseau verhängte. Es unterliegt wohl heute keinem Zweifel,
daß die Regierung in keiner Weise berechtigt war, ohne Rousseau zu
hören, die Verbrennung seiner Schrift anzuordnen und ihm den Aufenthalt
in seiner Heimatstadt zu verbieten. Da Rousseau in der Bürgerschaft
einen, wenn auch nicht großen, so doch eifrigen Anhang hatte, so wurde
die Rechtmäßigkeit des Verfahrens der Regierung in Frage gezogen, und
der Streit entwickelte sich bald zu einem Verfassungskonflikt, der
leicht durch die Einmischung Savoyens und Frankreichs die Existenz der
kleinen Republik hätte gefährden können. Es war nicht der ihn persönlich
betreffende Ausgangspunkt des Streites, der Rousseau veranlaßte,
mit seinen berühmten _Lettres de la Montagne_ auf dem Kampfplatz zu
erscheinen. Freilich lag es ihm daran, das gegen ihn beliebte Verfahren
der Regierung als ungesetzlich zu kennzeichnen, aber von vornherein kam
es ihm nicht auf eine Genugtuung an, die sein privates Unrecht gutmachen
sollte, sondern das öffentliche Interesse war es, das ihn bewegte. Das
gute Recht der Gesamtbürgerschaft gegenüber der Aristokratie wollte
er hergestellt wissen, und mit einer staunenswerten Beherrschung des
historischen Details suchte er die Souveränität der Gesamtbürgerschaft
nicht nur als Forderung der Vernunft, sondern auch als verfassungsmäßig
zu Recht bestehend nachzuweisen. Ebensowenig aber, wie er in bezug auf
seine eigene Unbill auf dem doktrinären Standpunkt des _fiat justitia et
pereat mundus_ stand, wollte er auch in bezug auf die Verfassungsfrage
die Dinge auf die Spitze treiben, und immer wieder rät er seinen
Anhängern angesichts der verzweifelten Lage des Staates, jeden
nur möglichen Kompromiß mit der Gegenpartei einem offenen Kampfe
vorzuziehen. Wahrscheinlich ist es diesem klugen und selbstlosen
Verhalten Rousseaus zuzuschreiben, daß durch einen Ausgleich zwischen
Volk und Regierung, welcher übrigens die prinzipielle Souveränität
des Volkes ausdrücklich anerkannte, der Streit beendet und dem kleinen
Staatswesen seine Existenz erhalten wurde. Interessant ist es, zu sehen,
wie Rousseau, den man sicher zum Teil mit Recht als den geistigen
Vater der Schreckensherrschaft während der Revolution betrachtet, sich
anläßlich dieses Streites über eine gewaltsame Umwälzung zugunsten der
Wiederherstellung der Volkssouveränität ausspricht. So klar für ihn die
Rechtslage auch ist, so überzeugt er davon ist, daß die Gewalt, welche
sich die jetzige Regierung anmaßt, eine ungesetzliche ist, so ist er
doch weit davon entfernt, selbst von einer glücklichen Revolution das
Heil für den Staat zu erhoffen. Auch das Blut eines einzigen Bürgers
würde ein zu hoher Preis für den Sieg des Rechtes sein. Wenn der
Staatskörper noch im wesentlichen gesund ist, wenn der feste bürgerliche
Sinn für Freiheit noch nicht erloschen ist, so genügen die Mittel
gesetzlicher Opposition vollständig, um die ungerechten Machthaber
zum Verzicht auf ihre angemaßte Gewalt zu bringen. Wo aber diese
Voraussetzungen nicht mehr vorhanden sind, da nützt auch die gewaltsame
Wiederherstellung des früheren Zustandes nichts, denn dieser war
berechnet auf den Bürgersinn der Vertragsgenossen und kann ohne ihn nur
ein Scheindasein führen. So ist es zuletzt doch die innere Freiheit des
einzelnen, welche die Freiheit des staatlichen Lebens stützt, trägt und
erhält.

Noch bei zwei weiteren Gelegenheiten wurde Rousseau zur Teilnahme an
praktischen politischen Fragen aufgefordert, und wenn es ihm auch nicht
vergönnt war, mit seinen Vorschlägen zu einer Verfassung für Korsika
und Polen, die er auf den Wunsch patriotischer Männer dieser Länder
unternahm, denselben Erfolg zu erzielen wie bei seinem Eingreifen in
die Genfer Wirren, so zeigen doch beide Entwürfe so interessante
Einzelheiten, daß sie hier noch kurz erwähnt werden mögen. Der
Heldenkampf der Korsen gegen ihre genuesischen Bedrücker hatte Rousseaus
ganzes Interesse erregt. Die Aufforderung, die an ihn erging, für das
befreite Land eine Verfassung zu entwerfen, war ihm höchst willkommen.
Denn ihre Liebe zur Freiheit, die wesentliche Voraussetzung eines
Rechtsstaates, hatten die Korsen ja zur Genüge bewiesen, und ihre
kräftigen Bauern und Hirten, das Fehlen aller großen Städte, die
Einfachheit der Lebenshaltung ließen erhoffen, daß freiheitliche
Institutionen, einmal eingeführt, sich auch erhalten würden. Ganz
charakteristisch ist nun in Rousseaus Entwurf sein stetes Bemühen, das
Entstehen größerer Städte und Hafenplätze und namentlich das Aufkommen
einer Hauptstadt des Landes zu verhüten. Er geht hierin sogar so weit,
daß er den Sitz der Regierung nicht an einen bestimmten Ort festlegen,
sondern nach einem festen Turnus in die verschiedenen Distrikte verlegt
wissen will. Wie abschreckend für ihn das Beispiel von Paris gewesen
war, das damals wie heute alle geistigen und materiellen Kräfte des
Landes in sich zu zentralisieren und seine augenblicklichen Stimmungen
für das ganze Land maßgebend zu machen wußte, das sehen wir zur Genüge
aus dem Eifer, mit dem Rousseau die Korsen vor einem ähnlichen Schicksal
zu bewahren suchte.

Höchst merkwürdig ist nun auch der Entwurf einer Verfassung für
die Adelsrepublik Polen, welche den Versuch machen sollte, die dort
herrschende verfassungsmäßige Anarchie des _liberum veto_, welche Polen
an den Rand des Abgrundes geführt hatte, durch geordnete Zustände zu
ersetzen. Uns interessiert hier namentlich die leidenschaftliche Weise,
in der Rousseau für die Stärkung und rücksichtslose Entfaltung des
polnischen Nationalgefühls, ja des nationalen Hochmuts eintritt. Von
früh auf soll der Knabe durch Eltern und Erzieher darauf hingewiesen
werden, daß es eine Ehre und ein Glück ist, als Pole geboren zu sein,
und daß er sich dieses Glückes als würdig zu erweisen habe. Kunde von
fremden Ländern und Völkern soll er nur haben, um daraus zu lernen,
wieviel besser und herrlicher das eigene Vaterland ist. Schon durch
seine Tracht soll er sich so kenntlich wie möglich von den übrigen
Völkern absondern. Vor allem aber schärft Rousseau den Polen die Liebe
zu ihrer Muttersprache ein. Diese sich zu erhalten, ist die erste
Pflicht eines jeden Polen; solange die nationale Sprache lebt, ist die
nationale Existenz nicht zerstört. Auf diese Ausführungen hinzuweisen,
hat schon deshalb Interesse, weil man häufig Rousseau als reinen
Kosmopoliten darzustellen liebt. Daran ist so viel richtig, daß Rousseau
in jedem Menschen die Anlage zur Freiheit geachtet wissen wollte, daß
er keine geborenen Sklaven kannte und alles, was Menschenantlitz trägt,
auch mit denselben unveräußerlichen Rechten ausgestattet sich dachte.
Aber es war ihm unmöglich, ein Gemeinwesen sich anders vorzustellen,
denn auf nationaler Grundlage. Durch Sprache, durch Sitte, durch
Anhänglichkeit an die heimische Scholle, durch gemeinsame Hoffnungen
auf ein Jenseits sollten seine Bürger geeint sein, um in den gemeinsamen
Gesetzen den Ausdruck des eigenen Wollens wiederfinden zu können. Die
Bauernrepublik, die sich frei von den Verführungen großer Städte, dem
Sirenengesang der Kultur, hält, das ist der Boden, auf welchem Rousseau
wie einst der greise Plato allein für die Verwirklichung seines Ideals
eine irdische Stätte finden zu können glaubt.

Wir haben zu zeigen versucht, daß Rousseau in seinem _Contrat social_
den Begriff einer neuen Wissenschaft, der Rechtsphilosophie aufgestellt
hat. Die Grundsätze des natürlichen Rechtes, die er aufstellt, sind
nicht der rekonstruierte Rechtskodex, der in einem Naturzustand einmal
gegolten hat, sie sind die Normen, an denen jedes geltende Recht
gemessen werden soll, um seinen Anspruch, auch richtiges Recht zu sein,
nach dem Erfolg dieser Prüfung bestimmen zu können. Es ist ganz richtig
und hängt mit dem geschichtsphilosophischen Pessimismus Rousseaus
zusammen, daß er glaubte, der Weg der Kultur mache die Menschen
immer unfähiger dazu, diese Normen zu den wirklichen Grundlagen ihrer
staatlichen Gemeinschaft zu machen. Aber für die Rechtsphilosophie
ist diese Privatmeinung Rousseaus gänzlich irrelevant. Mag sich
das Menschengeschlecht dauernd in der Richtung auf das Schlechtere
entwickeln, oder mag es sich zeigen, daß die Kurve seiner Entwickelung
eine aufsteigende ist: die Normen der Beurteilung für das geltende Recht
bleiben davon ganz unberührt. Mit Recht hat Fester darauf hingewiesen,
wie doch erst durch die Arbeit Rousseaus der entwickelungstheoretische
Optimismus der deutschen Geschichtsphilosophie möglich wurde, und durch
diese Umbildung konnte nun auch dies Naturrecht Rousseaus in eine
neue Beleuchtung treten. Es wurden die Grundsätze des Naturrechts aus
Beurteilungsnormen für das bestehende Recht zu idealen Vorbildern für
neu zu schaffendes Recht. Auch hierfür waren die Ansätze schon bei
Rousseau vorhanden; namentlich in seinen Verfassungsentwürfen hatte
er Beispiele davon gegeben, wie man einen bestehenden historischen
Gesellschaftsverband zur möglichsten Annäherung an das Vernunftideal des
Rechtes führen könne. Danach stellt sich jede gesetzgeberische Tätigkeit
als ein Kompromiß zwischen der augenblicklichen historischen Lage und
den sich ewig gleichbleibenden Forderungen der Vernunft dar. Aber
eine Norm zur Beurteilung des historischen Rechtes braucht auch
jeder Rechtshistoriker, der sich nicht bloß darauf beschränkt, zu
registrieren, daß diese oder jene Bestimmung zu dieser oder jener
Zeit geltendes Recht gewesen sei; geht er dazu über, die Entwickelung
des Rechtes zu schildern, so braucht er die Beziehung auf Werte,
um die Kurve dieser Entwickelung zeichnen zu können. Ja, es muß
ihm, wenn er auf die Rechtsphilosophie Verzicht leistet, überhaupt
unverständlich sein, wie eine solche Entwickelung stattfinden konnte.
Savigny, der seiner Zeit den Beruf zur Rechtsbildung absprach, hätte
konsequenterweise noch viel weiter gehen müssen. Er hätte es
unverständlich finden müssen, wie zu irgendeiner Zeit aus schlechterem
Recht besseres sich bilden konnte. Daß er diese Konsequenz nicht zog,
hatte seine Ursache darin, daß er nicht nur Rechtshistoriker,
sondern auch Rechtsphilosoph war. Für ihn war eine einzelne unter den
verschiedenen historischen Rechtsgestaltungen, das römische Recht, zu
gleicher Zeit auch das absolute und vernünftige Recht. Nach der Gestalt,
welche die Begriffsbildung in diesem System erhalten hatte, maß er --
bewußt oder unbewußt -- die Rechtssysteme der anderen Zeiten und Völker.
Beurteilungen dieser Art kommen in jeder rechtshistorischen Untersuchung
vor, und sie bleiben Beurteilungen, auch wenn sie naiv vollzogen werden.
Das Verdienst Rousseaus ist es aber, hier eine echt philosophische Tat
vollbracht zu haben, indem er das bisher Selbstverständliche zum Problem
machte, diese naiven Beurteilungen vor die Existenzfrage stellte und sie
als berechtigt nur dann anerkennen wollte, wenn sie ihren Zusammenhang
mit den letzten allgemeinsten Wertgesichtspunkten für die Beurteilung
des Rechtes überhaupt nachzuweisen in der Lage waren.



Viertes Kapitel.

Erziehungslehre.


Fast gleichzeitig mit dem _Contrat social_ erschien Rousseaus
Erziehungsroman Emile. Verschieden wie das Thema der beiden Bücher war
auch ihr äußerer Erfolg und die Rückwirkung, die sie auf die Gestaltung
der Lebensschicksale Rousseaus hatten. Der Erfolg des _Contrat social_
blieb weit hinter dem leidenschaftlichen Interesse zurück, das die
Geschichtsphilosophie erregt hatte. Er hätte kein anderes Schicksal
gehabt, auch wenn Rousseau den methodologischen Fehler der Vermengung
historischer und normativer Gesichtspunkte vermieden hätte. Die
eigentliche Bedeutung des _Contrat social_ trat erst nach dem Tode des
Autors hervor, als eine neue Generation heranwuchs, die gelernt hatte,
die Dinge nach Rousseauschen Prinzipien zu beurteilen. Vielleicht läßt
es sich aus der für den Augenblick relativ geringen Wirkung des
Buches erklären, daß die Verfolgung, die sich von seiten der
kirchlichen und staatlichen Behörden auf Rousseau richtete, das
eigentlich »revolutionäre« Buch, den _Contrat social_ nur in zweiter
Linie traf. Auch war es nicht der ganze Inhalt des Emile, welcher
dieses Einschreiten der Autoritäten gegen Rousseau veranlaßte,
sondern hauptsächlich war das Glaubensbekenntnis des savoyischen
Vikars, das die Religionsphilosophie Rousseaus enthält, die Ursache
dieser Stellungnahme, in welche dann der _Contrat social_ mehr der
Vollständigkeit halber mit hineingezogen wurde. Dem Erfolg des Emile
aber konnten diese Angriffe nicht schaden. In Frankreich und fast noch
mehr in Deutschland wurde es mit Enthusiasmus aufgenommen. Wie mächtig
es hier auf die Gemüter wirkte, mag die Tatsache zeigen, daß im fernen
Königsberg der pünktliche Magister Kant, in die Lektüre des Buches
vertieft, es vergaß, seinen gewohnten Nachmittagsspaziergang zu machen.

Man hat es lächerlich finden wollen, daß Rousseau, der als Hauslehrer
keinen nennenswerten Erfolg gehabt hatte, der seine Kinder dem
Findelhaus überließ, ein Buch über Erziehung zu schreiben unternahm. Daß
solchen Ausstellungen eine Verwechslung von Theorie und Praxis zugrunde
liegt, ist deutlich. Rousseau wußte selber sehr wohl, daß er zum
praktischen Pädagogen nicht geboren sei, und er hat in der Schilderung
der Eigenschaften, die ein wahrer Erzieher haben müsse, kenntlich
genug auch diejenigen hervorgehoben, von denen er wußte, daß sie ihm
mangelten. Namentlich war es ihm sehr deutlich, daß er niemals die
gleichmäßige Ruhe und das Freisein von aller Empfindlichkeit erreichen
würde, welche er mit Recht für eine unerläßliche Eigenschaft des
Pädagogen ansah. Ernster zu nehmen ist ein anderer Einwurf, der sich auf
die Stellung der Gesellschaftslehre Rousseaus zu seiner Erziehungslehre
bezieht. Wir haben gesehen, wie Rousseau von Anfang an die Erziehung
als vom Staate geleitet und als das sicherste Mittel betrachtet, um die
Zöglinge zum Patriotismus zu führen. Öffentliche gemeinsame Erziehung
ist die Grundvoraussetzung dafür, daß aus den Knaben tüchtige Bürger
werden. Rousseau lobt es, daß in Sparta die Kinder von früh auf der
privaten Erziehung und ihren Gefahren entzogen wurden. Doch im Emile
sehen wir davon nichts. Emile besucht keine Schule, er wird allein
erzogen; wie stimmt das zusammen? Die Antwort ist einfach die, daß die
lakedämonische Erziehung für Knaben, welche in einem freien und relativ
sittenreinen Gemeinwesen aufwachsen, die beste ist. Hier aber handelt
es sich nicht um Lakedämon, sondern um das Frankreich des achtzehnten
Jahrhunderts. Hier soll gezeigt werden, ob und inwieweit es überhaupt
möglich ist, eine junge Menschenblüte, die unter so verzweifelten
Bedingungen heranwächst, vor dem Verderben zu schützen. Daher ist es
ganz selbstverständlich, daß damit an Stelle der größten Publizität,
welche die Erziehung da haben muß, wo überwiegend günstige Einflüsse von
seiten der menschlichen Umgebung die Kinder treffen werden, hier, wo die
ganze gesellschaftliche Sphäre voll von sittlichem und intellektuellem
Peststoff ist, eine strenge Isolierung des Kindes Vorbedingung für das
Gelingen des Erziehungswerkes ist.

Somit ist nicht nur die private Erziehung durchaus durch den Plan
des Buches gefordert, sondern es ist damit auch gegeben, daß
das Erziehungswerk nicht in der Stadt sich vollziehen darf. Die
Städtefeindschaft Rousseaus tritt hier wieder einmal charakteristisch
hervor. Will man einen Menschen, wie ihn Gott gewollt hat, sich bilden
lassen, so darf er nicht in den schnöden Steinkästen heranwachsen,
mit welchen die Menschen unter dem Namen der Städte sich von der Natur
ausschließen, wo den Kindern Luft, Licht und Freiheit der Bewegung
grausam verkümmert werden, wo ihre Anlagen oft im Keim vergiftet werden,
noch ehe sie sich zur Blüte entfaltet haben. So muß denn Emile, der als
Kind vornehmer Eltern gedacht ist, auf das Land hinaus und damit ist
es zugleich gegeben, daß er der Obhut seiner Eltern entzogen und der
Aufsicht eines Erziehers anvertraut wird, denn Rousseau findet es
unmöglich, einem vornehmen Ehepaar seiner Zeit zuzumuten, daß es sich
dauernd zugunsten der Erziehung der Kinder auf das Land exiliere und
allen Freuden der Großstadt entsage. Um es verständlich zu finden, daß
dies in der Tat für den Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts eine
Verbannung bedeutet haben würde, erinnere man sich an das ungläubige
Entsetzen aller Pariser Freunde Rousseaus, als dieser tatsächlich den
ganzen Winter in seiner Eremitage in Montmorency zubringen wollte.
Dieser Entschluß erschien ihnen beinahe pervers und nur durch einen
schlechten Charakter oder durch Geisteszerrüttung zu erklären.

So sind denn also die Eltern eliminiert und der Erzieher tritt an ihre
Stelle. Was die Eltern zu tun nicht in der Lage waren, von dem Erzieher
darf es verlangt werden. Seine ganze Zeit, sein ganzes Leben gehört
dem Zögling, das Erziehungswerk ist sein Lebenswerk. Daß er nicht um
materieller Vorteile willen dies Werk übernimmt, ist selbstverständlich.
Seine Aufgabe muß ihm Selbstzweck sein, es muß ihm stets vor Augen
stehen, daß ihm etwas unendlich Wertvolles und Kostbares, ein Mensch,
anvertraut ist, und daß dieses Vertrauens sich würdig zu erweisen, die
übernommene Pflicht treulich zu erfüllen, sein größter Stolz sein werde.
Vor allem aber muß er die seltene Gabe haben, sich selber auszuschalten
und immer das Gefühl in sich rege zu erhalten, daß es einen Erzieher
gibt, der selbst den liebevollsten und sorgfältigsten menschlichen
Erzieher übertrifft: die Natur.

Dieser Begriff der negativen Erziehung scheidet vielleicht am
deutlichsten die Lehre Rousseaus von der im achtzehnten Jahrhundert
allgemein befolgten Praxis, die sich namentlich in den damals
einflußreichen und beliebten Jesuitenschulen zu einer planmäßigen und
andauernden Beeinflussung der Zöglinge durch die Lehrer ausgebildet
hatte. Hier war alle Tätigkeit in den Erzieher verlegt, die Zöglinge
sollten in seinen Händen wie bildsames Wachs werden, welches mit
Leichtigkeit die gewünschte Form annimmt und behält. Es ist dies
vielleicht das beste Mittel, die jungen Seelen zur Aufnahme eines
herrischen und komplizierten Kultursystems fähig zu machen. Daß auch
unter dieser Methode große Erfolge erzielt werden können, das zeigen
die Beispiele Descartes und Voltaires, welche beide ihren Lehrern ein
dankbares Andenken bewahrt haben. Aber dies waren nicht die Erfolge, die
Rousseau für seinen Zögling wünschte. Nicht zu einem Kulturheros
wollte er seinen Emile gebildet sehen, sondern die volle Frische und
Ursprünglichkeit des Naturmenschen sollte ihm nach Möglichkeit gewahrt
bleiben. Daher konnte es nicht die Aufgabe des Erziehers sein, das
ganze Schwergewicht einer ausgebildeten Kultur auf den Zögling wirken
zu lassen, sondern vielmehr, soweit dies irgend möglich war,
die Einwirkungen dieser Kultur und damit seine eigenen von Emile
fernzuhalten, ihn so heranwachsen zu lassen, als ob die Menschheit
den verhängnisvollen Schritt zur Kultur nicht gemacht hätte. Daß dies
mitunter zu künstlichen Veranstaltungen und ausgeklügelten Situationen
führen muß, daß Rousseau hier gelegentlich den Fehler selber begeht, den
er gerade vermeiden wollte, an Stelle gegebener Situationen künstlich
herbeigeführte zu setzen und mit Emile eine Komödie zu spielen, das ist
ohne weiteres zuzugeben, beweist aber nur, wie schwierig die Anwendung
eines richtigen Grundsatzes in der Praxis sich gelegentlich gestaltet.

Eng mit der Forderung, das Kind nicht zu früh in den Bannkreis der
Kultur eintreten zu lassen, hängt eine andere zusammen, mit der
Rousseau gleichfalls in einen bewußten Gegensatz zu den herrschenden
Ansichten sich stellte. Denn dieses frühe Heranbringen komplizierter
Kulturverhältnisse an die kaum erwachte Seele des Kindes konnte
nur durch den Hinweis gerechtfertigt werden, daß später einmal der
erwachsene Mensch doch mit diesen Verhältnissen zu rechnen, sich in
ihnen zu bewegen haben würde. Daher müsse das Kind schon möglichst früh
für diese seine spätere Bestimmung herangebildet werden und es sei
daher unumgänglich, daß es schon als Kind die Fähigkeiten und Kenntnisse
erwerbe, welche unsere Verhältnisse von Erwachsenen fordern. Diese Lehre
sah also in dem Knaben nur den zukünftigen Mann; das Kind als solches
hatte keinen Eigenwert, es war nicht Selbstzweck. Deshalb scheute sie
sich nicht, dem Knaben Entbehrungen und Verzichte zuzumuten, deren
Frucht erst der zum Mann Herangereifte genießen konnte. Nichts konnte
Rousseau verhaßter sein, als diese Ansicht. Das warme Gefühl, das er für
die Anmut und Eigenart des Kindes besaß, die tiefe Überzeugung von dem
Wert einer jeden menschlichen Seele, seine Gewohnheit, im Augenblick zu
leben und den Augenblick zum Selbstzweck zu gestalten, hinderten ihn in
gleicher Weise, diese verhängnisvollen Gesichtspunkte der herrschenden
Erziehungslehre zu den seinigen zu machen. Es ist nicht richtig, daß das
Kind nur der kommende Mann ist. Es ist zuerst und vor allen Dingen
Kind, und es hat das Recht auf eine Erziehung, welche diese Gegenwart
berücksichtigt und sie nicht bloß einer fernen, vielleicht nie
erreichten Zukunft opfern will. Die Jahre, die ein Kind seiner späteren
Bestimmung als Mann geopfert hat, bleiben ein Opfer unter allen
Umständen, auch wenn das Kind zum Mann heranwächst; es ist sicher
niemals im eigentlichen Sinne Kind gewesen, es ist sicher um einen
Teil seines Lebensglücks betrogen worden. Wie aber, wenn es dieses
Ziel überhaupt nicht erreicht? Was sollen Eltern und Erzieher gegen die
Anklagen ihres früh dahingeschiedenen Lieblings sagen, den sie um das
Glück seiner Kindheit betrogen haben zugunsten einer Zukunft, die
ihm nie beschieden war? Aber die ganze Voraussetzung überhaupt ist in
Rousseaus Augen grundfalsch. Wer nie ein richtiges Kind gewesen ist,
hat auch wenig Aussicht dafür, ein richtiger Mann zu werden. Es ist
klügelnde Voraussicht, das Kindesalter dem Mannesalter zu opfern und,
was schlimmer, gerade durch dies Opfer wird der Zweck, um dessentwillen
es dargebracht war, vereitelt.

Diese Forderung, als Selbstzweck betrachtet zu werden, diesen Anspruch
auf eine naturgemäße Behandlung erhebt das Kind bereits bei seinem
Erscheinen in der Welt. Es ist die Pflicht der Mutter, das Kind, das
sie geboren hat, nun auch mit der Milch, welche die Natur ihr zu diesem
Zweck gab, zu ernähren. Der flammende Protest Rousseaus gegen die
Ammenwirtschaft, welche damals und auch heute noch die Mütter ihrer
natürlichen Pflichten zugunsten künstlicher, gesellschaftlicher
Verpflichtungen entledigte, hatte einen großen Erfolg, aber dieser
Erfolg zeigt deutlich, wie berechtigt das Mißtrauen Rousseaus gegen
die Verwirklichung seiner Reformgedanken innerhalb der jetzigen
Kulturbedingungen war. Wenn die jungen Mütter nach dem Erscheinen des
Emile ihren Stolz darein setzten, ihre Kinder selber zu stillen, so
war dies nur löblich; wenn sie aber diese heilige Pflicht in der Pause
zwischen zwei Tänzen, selber erhitzt, und in staubigen und heißen Sälen
erfüllten, so war Rousseau berechtigt, eine solche Handlungsweise nicht
als eine adäquate Verwirklichung seiner Pläne zu betrachten. Einen
erfolgreicheren Kampf hat Rousseau gegen die Gewohnheit geführt,
die Kinder in Steckkissen einzuschnüren und ihnen dadurch den freien
Gebrauch ihrer Glieder nach Möglichkeit zu erschweren; die Bewegung
zur Abschaffung dieser häßlichen, schmutzigen und unhygienischen Sitte
knüpft direkt an das Erscheinen von Rousseaus Emile an.

Bei dem Wort »Erziehung« denkt man leicht nur an die Entfaltung und
Ausbildung der seelischen Anlagen des Kindes. Zwar geben wir auch die
Notwendigkeit einer Erziehung des Körpers bereitwillig zu, und
hierin liegt gegenüber dem achtzehnten Jahrhundert ein quantitativer
Fortschritt, aber noch lange nicht ist in dieser Hinsicht alles
erreicht, was Rousseau für die Erziehung des Kindes gefordert hat. Ja,
diese ganze Trennung in eine Erziehung des Körpers und der Seele ist
nicht nach Rousseaus Geschmack. Mögen wir aus wissenschaftlichen Gründen
noch so sehr berechtigt sein, beide Gebiete voneinander zu sondern, so
dürfen wir darüber doch niemals vergessen, daß beim wirklichen Menschen
Körper und Seele eine Einheit bilden, und daß es ganz unmöglich ist, die
Seele zu bilden, ohne daß die körperliche Erziehung damit Hand in
Hand ginge. Ja, in der ersten Zeit wird sich das Verhältnis geradezu
umkehren. Hier muß viel von körperlicher Pflege und Ausbildung der
körperlichen Anlagen gesprochen werden, denn in dieser Zeit handelt es
sich darum, daß der gesunde Körper, die Vorbedingung für die gesunde
Seele, sich bilde, daß die Anlagen, welche die Natur dem Menschen ins
Leben mitgegeben, nicht durch törichte Verbildung verkümmern, oder durch
ebenso törichte Überhastung zur Unzeit und krankhaft entwickelt werden.
So lasse man denn das Kind kriechen, solange es kriechen mag. Man
mute seinen schwachen Beinen nicht zu, die Last des Körpers zu tragen,
sondern man warte ruhig ab, bis das Kind von selber sich aufrichtet
und geht. Auch behüte man es nicht allzu ängstlich vor dem Fallen. Die
Erfahrung zeigt, daß die Kinder hierbei äußerst selten Schaden erleiden,
und wenn sich das Kind selber daran gewöhnt hat, nicht zu fallen, so ist
dies wertvoller, als wenn ihm eine vorsorgliche Kinderfrau jeden Fall
erspart hätte. Vor allem aber trete man der natürlichen Neigung des
Kindes zum Spielen nicht entgegen. Alles, was das Kind in dieser Zeit zu
lernen hat, ist, daß es spielen lerne, und der beste Lehrmeister hierfür
ist wieder das Kind selber. Da dem Kinde alles Spielzeug ist, da seine
noch ungeschwächte Phantasie aus allem alles zu machen versteht, so ist
es töricht, durch teure Spielsachen diese Phantasietätigkeit des Kindes
eindämmen zu wollen. Das Kind hat durchaus recht, wenn ihm nach kurzer
Zeit solche Dinge lästig und langweilig werden. Soviel als möglich lasse
man das Kind in der freien Natur herumtoben, im Laufen, Springen bildet
sich seine Kraft und sein Augenmaß, es bedarf keines Bilderbuches, in
dem es stillesitzend herumblättern müßte, sein Bilderbuch ist die Natur
und sie zeigt Emile täglich tausend neue Gegenstände. Aber sie nimmt
auch immer aufs neue die Neugierde des Knaben in Anspruch, er will die
Gegenstände nicht nur sehen, er will sie auch kennen, sie benennen.
Diesem Wunsch hat der Lehrer entgegenzukommen, denn er ist berechtigt
und liegt in der Natur des Menschen. Durch die Sprache knüpft sich das
erste geistige Band zwischen dem Erzieher und Emile, aber gerade hier
wird weise Vorsicht jeden Schritt des Lehrers leiten müssen. Emile darf
kein Wort hören, mit dem er keine Vorstellungen verbinden kann. Wenn der
Lehrer von dieser Regel abgeht, wenn er ihn daran gewöhnt, unverstandene
Worte zu hören und sie nachzuplappern, so wird er zum schlimmsten Feinde
der jungen Seele, deren Wohl er zu fördern unternommen hatte. Nach
Möglichkeit sollen alle Fragen beantwortet werden, die das Kind über
Gesehenes und Gehörtes zu stellen für gut findet. Nichts ist hier übler
angebracht als Bequemlichkeit des Lehrers, unter dem heuchlerischen
Vorgeben, die Neugierde oder den Fürwitz des Kindes in Schranken halten
zu wollen. Daraus folgt freilich, daß niemals mit dem Kinde Gespräche
geführt werden dürfen, die seine auf dieser Stufe noch ganz an
das Sinnliche gebundene Auffassungsgabe prinzipiell übersteigen.
Selbstverständlich ist damit gegeben, daß jede Unterweisung im Lesen
und Schreiben für diese erste Periode abgelehnt wird. Um sich in der
Außenwelt zu orientieren, um ein Verhältnis zu den Dingen zu bekommen
und sie kennen zu lernen, bedarf das Kind, das naturgemäß in der Natur
aufwächst, keiner Bücher. Das Schreiben muß ihm vollends als eine ganz
sinn- und zwecklose Tätigkeit erscheinen; wenn Emile sich äußern will,
so hat er dazu die Sprache. Ist der Mensch, mit dem er sprechen
will, entfernt, so läuft er zu ihm hin oder ruft ihn. Endlich um sein
Gedächtnis zu stärken, braucht er keine Schriftzeichen, weil sein
geistiges Eigentum erlebt und angeeignet ist, und daher nicht durch
künstliche Mittel erhalten zu werden braucht.

Eine wichtige Rolle spielt in der herkömmlichen Pädagogik die Erziehung
des Kindes zur Liebe und zum Gehorsam gegen den Erzieher. Rousseau hält
Versuche dieser Art für nutzlos und gefährlich. Allerdings soll
schon der Knabe sich einer Gewalt gegenüber fühlen, die er einfach
anzuerkennen und zu respektieren hat; aber diese Gewalt soll nicht der
Wille des Erziehers, sondern die Natur der Dinge sein. Denn an diese
bleibt der Mensch sein ganzes Leben hindurch gebunden, es ist daher
sowohl in Hinsicht auf die Gegenwart wie auf die Zukunft für Emile von
der höchsten Wichtigkeit, daß er diese Grenze seines Willens so früh
als möglich anerkennen lerne. Aber was für einen Vorteil brächte es
ihm, wenn er lernen würde, den für ihn unverständlichen Geboten seines
Erziehers blind zu gehorchen? So muß denn auch hier der Erzieher alles
daransetzen, eine negative Erziehung walten zu lassen. Er muß selbst
nach Möglichkeit aus dem Spiel bleiben und den natürlichen Verlauf der
Dinge die Rolle des Erziehers übernehmen lassen. Es nützt gar nichts,
dem Kinde Näschereien zu verbieten; man wird es dadurch sicher nur
gierig, vielleicht zum Diebe machen. Aber wenn die durch Unmäßigkeit
verursachten Folgen eintreten, welche bei einem gesunden Kinde niemals
lebensgefährlich sein werden, so lasse man dem kleinen Patienten keinen
Zweifel darüber, daß es seine eigenen Handlungen gewesen sind, welche
sein Übelbefinden, die bittere Medizin, die Langeweile des Krankenlagers
mit Notwendigkeit hervorgebracht haben. Und so sorge der Erzieher dafür,
daß möglichst immer die Natur und nicht er als der strafende Lehrmeister
auftrete.

Ebenso sinnlos ist es, das Kind zur Liebe und zur Verehrung erziehen zu
wollen. Wir haben gesehen, wie Rousseau den Selbsterhaltungstrieb
als das einzige seelische Motiv für die Handlungen des Naturmenschen
ansieht, und die sozialen Gefühle erst auf einer späteren Stufe der
Entwickelung hervortreten läßt. Der moderne Gedanke der Wiederholung
der Phylogenese in der Ontogenese ist, obwohl mehr angedeutet als
formuliert, für Rousseaus Ansicht von der Entwickelung der geistigen
Fähigkeiten im Kinde bestimmend gewesen. Es unterliegt für ihn keinem
Zweifel, daß die Eigenliebe auch beim Kinde das einzige Motiv des
Handelns sein kann, und daß alle die Regungen der Sympathie und der
Liebe, die man bei Kindern dieses Alters antrifft, Kunstprodukte sind,
welche der natürlichen Entwickelung voraneilend das Seelenleben des
Kindes nur fälschen und verderben können. Im besten Falle wird es sich
hier um unverstandene Nachahmung dessen handeln, was die Erzieher von
dem Kinde gefordert haben; im schlimmeren, aber weitaus häufigeren,
ist das zärtliche Kind ein bewußter kleiner Heuchler, der durch die
Äußerungen seiner Zuneigung Vergünstigungen von seiten der Erzieher, die
nicht zu ertrotzen sind, zu erschmeicheln versucht. Hiergegen muß vor
allem der Erzieher auf der Hut sein. Wir haben gesehen, daß er mit
Befehlen und Verboten sparsam sein soll. Hat er aber einmal seinen
Willen ausgesprochen, so muß Emile wissen, daß es sich um eine
unabänderliche Sache handelt; wenn irgend möglich, wird allerdings der
Erzieher ihm die Gründe, auf die sich sein Gebot stützt, einleuchtend
machen, aber sollte dies einmal wegen der natürlichen Grenzen der
kindlichen Fassungskraft nicht möglich sein, so wird Emile sich auch bei
diesen seltenen Ausnahmen nicht auf Schmeicheln oder Bitten legen;
er wird sich nicht sagen: »dies darf ich nicht«, sondern: »dies ist
unmöglich«.

Vollends aber soll sich der Erzieher davor hüten, die göttliche
Autorität zur Verstärkung der eigenen herbeizurufen. Denn auf dieser
Stufe darf das Kind überhaupt noch nichts von Gott und von heiligen
Dingen erfahren; es darf nicht dazu angehalten werden, Gebete an Gott zu
richten; es darf dem öffentlichen Gottesdienst nicht beiwohnen. Wenn
es nämlich notwendig ist, daß das Kind keine Worte braucht, für die
es Vorstellungen nicht besitzt, so ist damit gesagt, daß auf dieser
sinnlichen Stufe seiner Entwickelung das Wort Gott schlechterdings keine
Bedeutung für das Kind zu haben vermag. Ein Gebet, das es in diesem
Alter lernt, wird im günstigen Fall mechanisch hingeplappert, woraus
dann dem Kinde die üble Gewohnheit entsteht, unverstandene Worte
auszustoßen; im schlimmeren Falle bildet das Kind sich Vorstellungen,
die den Worten entsprechen sollen, und die natürlich gemäß der
geistigen Unreife in diesem Stadium der Entwickelung durchaus sinnlich,
unangemessen und grotesk sind. Diese Vorstellungen aber prägen sich der
weichen Seele des Kindes fast unauslöschlich ein, und sie verhindern die
Bildung wahrer und würdiger Begriffe von Gott und seinen Eigenschaften,
die im natürlichen Verlauf der Entwickelung sich wie von selbst
einstellen würden, mitunter so erfolgreich, daß viele Menschen ihr
ganzes Leben hindurch bei dem törichten Kinderaberglauben stehen
bleiben, zu welchem liebende Eltern und Erzieher sie durch ihren frommen
Eifer fast mit Notwendigkeit geführt haben.

So werden sich in dieser Zeit die Beziehungen Emiles zu seinen
Nebenmenschen ganz auf dem Boden der Interessengemeinschaft bewegen. Der
Erzieher wird ihm gegenüber keine unverstandene oder gar auf göttlicher
Einsetzung beruhende Autorität beanspruchen, sondern Emile wird in ihm
den stärkeren und geschickteren Gefährten seiner Spiele, den weisen
Erklärer und Deuter der Dinge der Natur erblicken und wird sich daran
gewöhnen, seinem Rat zu folgen, weil ihm die Erfahrung gezeigt hat,
daß er im anderen Fall durch den Lauf der Dinge Schmerzen und
Unannehmlichkeiten zu erwarten hat. Für den Verkehr mit den Dienstboten
wird der Erzieher darauf sehen müssen, daß alle Unterwürfigkeit von der
einen, Hochmut und Herrenbewußtsein von der anderen Seite fortfällt.
Emile muß dazu gebracht werden, die Leistungen der Dienstboten als
Gunstbezeigungen anzusehen, die er seinerseits durch Gewährung kleiner
Gegendienste hervorzurufen oder zu vergelten hat. Die Dienstboten müssen
dazu angewiesen werden, die Leistungen, die in einem herrischen oder
unfreundlichen Ton von Emile verlangt werden, zu verweigern und ihn
gelegentlich zu kleinen Hilfeleistungen für ihr eigenes Wohlsein
heranzuziehen, und wenn er diese versagt, ihre eigenen Dienstleistungen
einzustellen. Dadurch wird schon früh in dem Knaben eine lebendige
Vorstellung von der Gegenseitigkeit der menschlichen Beziehungen
erweckt; es wird ihm als selbstverständlich erscheinen, die Hilfe
anderer in Anspruch zu nehmen, aber als ebenso selbstverständlich, seine
eigenen Dienste ihnen zur Verfügung zu stellen, um sich dadurch für
künftige Fälle ihres Wohlwollens zu versichern.

So finden wir denn Emile am Schlusse dieser Epoche im Vollbesitz seiner
körperlichen Fähigkeiten. Ist er vielleicht auch nicht so stark, wie
mancher seiner bäuerlichen Spielgefährten, so übertrifft er sie
an körperlicher Gewandtheit. Im Laufen, Springen, Schwimmen ist
er unermüdlich, sein Auge ist scharf und sicher, sein Gehör gut
ausgebildet, seine Gesundheit vortrefflich und befähigt, Entbehrungen
ohne Schaden zu ertragen. Er weiß in der lebendigen und toten Natur
Bescheid, kennt die Stimmen der Vögel und findet die Standorte der
Pflanzen. Den Menschen gegenüber gibt er sich frisch und unbefangen,
ohne Unterwürfigkeit und ohne Stolz, Höflichkeit ist ihm fremd, aber
ebenso fern ist ihm geziertes Wesen. Wenn er viele Dinge nicht weiß, die
Kinder höherer Stände in seinem Alter bereits zu kennen und zu wissen
vorgeben, so ist er ihnen doch weitaus an Selbständigkeit des
Urteils, gründlicher Beherrschung des ihm zugänglichen Wissens und
Anschaulichkeit im Sprechen und Denken überlegen. Das, was ihm fehlt,
wird er mit leichter Mühe nachholen können; das, was er vor seinen
Alters- und Standesgenossen voraus hat, wird ihn auf immer zu seinem
Vorteil von ihnen unterscheiden; sein größter Vorzug aber besteht darin,
daß er das gewesen ist und ist, was alle Kinder sein sollten, und was
die Unnatur unserer Verhältnisse nur ganz wenigen zu sein gestattet: ein
wirkliches Kind.

Während in der ersten Zeit die Beziehung des Knaben zur Natur die
Aufmerksamkeit des Lehrers vor allen Dingen in Anspruch nehmen
mußte, treten nunmehr ungefähr mit dem Eintritt in das 12. Jahr die
menschlichen Verhältnisse in den Vordergrund; sie soll jetzt Emile
kennen und verstehen lernen. Zwar mit dem Gärtner, dem Bedienten und dem
Erzieher selber hatte ihn ja bereits früher jeder Tag zusammengeführt;
er hatte ein festes Verhältnis zu ihnen gewonnen, aber seine
eigentlichen Interessen waren, wie wir gesehen, ganz auf die Natur
gerichtet gewesen. Jetzt gilt es, ihm Verständnis für die mannigfachen
Hantierungen der Menschen beizubringen; ihn einsehen zu lehren, welch
einen Zweck und welche Bedeutung für das Zusammenleben der Menschen
diese Verrichtungen haben, und vor allen Dingen den geschickten
Knaben daran zu gewöhnen, die im Verkehr mit der Natur ausgebildeten
körperlichen Fertigkeiten in den Dienst einer nützlichen Tätigkeit zu
stellen. Die Entscheidung über den Wert der einzelnen Handwerke soll
der Knabe ganz selbständig und nach eigenem Ermessen treffen. Was der
Maurer, der Schreiner, der Glaser bedeuten, wird ihm ohne weiteres
einleuchten, und wenn er von seinem kindlichen Standpunkt aus den
Pastetenbäcker für einen äußerst wichtigen und verehrungswürdigen Mann
hält, so wird das weiter nichts schaden; ebensowenig auch, wenn er den
Nutzen und damit die Existenzberechtigung des Perückenmachers gering
anschlägt und auch für die Tätigkeit des Goldschmieds wenig Verständnis
zeigt. Bei den Besuchen, welche den einzelnen Handwerkern gemacht
werden, indem er sie bei der Arbeit beobachtet, gewinnt Emile eine auf
Anschauung beruhende Kenntnis ihrer Tätigkeit, und was das wichtigste
ist, er lernt selber mit angreifen, er bekommt das Verhältnis zum
Material, das den meisten Gebildeten völlig abgeht, und aus dessen
Mangel all die schiefen und unklaren Vorstellungen über die Tätigkeit
des Handwerkers, die dumme Verachtung der Handarbeit, welche in diesen
Kreisen so häufig ist, sich genugsam erklärt. Ja, Rousseau geht noch
einen Schritt weiter; sein Zögling soll nicht nur gesehen haben, wie
gearbeitet wird, er soll nicht nur eine Kenntnis der Handfertigkeiten
haben, welche dabei nötig sind, sondern es ist unumgänglich nötig, daß
er =ein= Handwerk von Grund aus erlernt und es so ausüben kann, daß
jeder Meister sich freuen würde, ihn als Arbeiter beschäftigen zu
können. Nur das Bewußtsein, im Besitz eines erlernten Handwerkes
zu sein, gibt dem Menschen allen Wechselfällen des Lebens gegenüber
Sicherheit und Ruhe. Der Reichtum kann verschwinden, die bevorrechtete
Stellung abgeschafft werden, der Grundbesitz von dem Gutsherrn an die
Bauern zurückgefordert werden, tüchtige Handwerker wird die menschliche
Gesellschaft immer brauchen. Es ist leicht erklärlich, weshalb Emile
sich für das Handwerk des Tischlers entscheidet. Den Anforderungen an
körperliche Kraft, die hier verlangt werden, sind seine elastischen
Glieder gewachsen, sie werden geübt ohne erschlafft zu werden; das
gute und sichere Augenmaß, das er sich erworben hat, findet hier seine
Verwendung; die Exaktheit der Arbeit, die Nettigkeit und Nützlichkeit
der Gegenstände, welche sie hervorbringt, entzücken ihn, und so zählt er
bald zu den besten und fleißigsten Gehilfen seines Meisters.

Natürlich liegt es aber nicht im Plan der Erziehung, Emile zum Tischler
zu machen, nur eine bestimmte Zeit in der Woche ist diesem Teil seiner
Ausbildung vorbehalten. Er soll sich weiter in Wald und Feld tummeln,
im Garten arbeiten, aber er soll jetzt auch, wo er Kenntnis von dem
gesellschaftlichen Getriebe erhalten hat, mit den wichtigsten Mitteln
für den sozialen Zusammenhang bekannt gemacht werden: Lesen- und
Schreibenlernen wird ihm nunmehr als ein notwendiger Vorzug erscheinen,
nicht mehr als die unverständliche Quälerei, zu welcher die gewöhnliche
Erziehung sie den Kindern macht. Charakteristisch für Rousseaus Stellung
zu Büchern und Büchergelehrsamkeit sind die pathetischen Worte, mit
denen er nochmals darauf aufmerksam macht, daß die Fertigkeit des Lesens
leicht zu einem Danaergeschenk für Emile werden kann, wenn nicht hier
mit aller erdenklichen Vorsicht vorgegangen wird. Auf lange Zeit hinaus
soll nur =ein= Buch die ganze Bibliothek des Knaben bilden, und auf dies
Buch an dieser bedeutsamen Stelle nachdrücklichst aufmerksam gemacht zu
haben, ist eins der größten Verdienste, die sich selbst ein Rousseau
für das Wohl der heranwachsenden Jugend erwerben konnte, es ist der
unsterbliche Robinson Crusoe Defoes, der bis zum heutigen Tage das
Entzücken eines jeden richtigen Kindes bildet.

Der Robinson und Gullivers Reisen bieten vielleicht die besten Beispiele
dafür, daß die besten Kinderbücher die sind, die ursprünglich nicht für
die Kinder geschrieben sind. Das pädagogisch Gefährliche, das in der
affektierten Naivität und Kindlichkeit so vieler Kinderbücher liegt, und
das in der damaligen Kinderliteratur noch viel schreckhafter hervortrat,
als in der unsrigen, die doch schon durch Robinson viel gelernt hat, das
alles hatte Rousseau richtig herausgefühlt. Aber es waren noch andere
Vorzüge, die ihm den Robinson teuer und wert machen mußten. Hier war
ja das geschildert, wonach er sich stets gesehnt, hier war der Mensch
zurückversetzt in seine ursprüngliche Einsamkeit, nur von den Wundern
der Natur umgeben, und hier sehen wir den Menschen aus eigener Kraft
durch seiner klugen Hände Arbeit ein Leben gestalten, das unendlich
viel reiner und gesünder ist, als das Leben des Kulturmenschen. Rousseau
empfand, daß gerade in der Jugend eine Neigung, zu solchen einfachen und
ungekünstelten Verhältnissen zurückzukehren, noch lebendig ist. Es war
ihm darum zu tun, durch die Lektüre des Robinson diese Stimmung der
Seele, die bei den meisten Kulturmenschen bald übertäubt und getötet zu
werden pflegt, zu einem dauernden Grundgefühl des Lebens zu gestalten,
welches auch den zum Mann Herangereiften gegen alle Versuchung, in den
verschlungenen Pfaden der Kultur sich zu verirren, feit und schirmt.
Denn daran ist allerdings kein Zweifel, daß gerade, weil der Robinson
auf lange Zeit hinaus die einzige Lektüre des Knaben bleiben soll,
eine Wirkung von ihm ausgehen muß, welche alle weiteren Bücher, die der
Heranwachsende später kennen lernen wird, niemals erreicht werden.

Emile tritt nun in die dritte Phase seiner Entwickelung ein, die
wichtigste, die für sein ganzes späteres Leben entscheidend wird, und
die seinen Erzieher vor die schwierigsten Aufgaben stellt, es ist die
Zeit der beginnenden Geschlechtsreife. Während die Aufgabe des Erziehers
in den früheren Stadien darin bestand, mit bewußten Eingriffen in
die Entwickelung seines Zöglings möglichst sparsam zu sein, und
im wesentlichen die Natur frei gewähren zu lassen, muß er hier zum
erstenmal eine natürliche Entwickelung nicht befördern, sondern sie in
klugen Grenzen verlangsamen und verzögern. Aber auch hierzu hat ihm
die Natur selber die Hilfsmittel an die Hand gegeben. Der beginnende
Jüngling weiß ja noch gar nicht, was das unbestimmte Sehnen und Drängen,
das ihn erfüllt, eigentlich bedeutet. Es gilt, ihn seinen unbestimmten
Träumereien nicht zu überlassen. Die Gewohnheit, in dem Erzieher
zugleich den Freund zu sehen, wird ihn die Gesellschaft des Lehrers noch
häufiger aufsuchen heißen als bisher; durch starke körperliche
Arbeit und Tätigkeit, die in dieser Periode ohne Schaden bis fast
zur Erschöpfung gehen kann, wird die körperliche Energie in Anspruch
genommen und in gesunder Weise befriedigt. Aber unendlich viel wichtiger
als die körperlichen Veränderungen ist die geistige Revolution, die sich
in Emile vollzieht. Sieht man die Seele als die Kraft an, die sich den
Körper bildet, so wird man nicht umhin können, die Geschlechtsliebe
aus einer ursprünglich in der Seele angelegten allgemeinen Sympathie
abzuleiten. Wir haben gesehen, daß Rousseau diese Lehre für falsch
hält. Jeder Fortschritt auf seelischem Gebiet hat bestimmte körperliche
Voraussetzungen. Ihn herbeiführen zu wollen, bevor diese körperlichen
Voraussetzungen vorhanden sind, heißt die normale Entwickelung
verkünsteln und unmöglich machen. So hatte denn auch Rousseau darauf
verzichtet, dem Kind eine Scheinsympathie und Scheinliebe zu den
Menschen seiner Umgebung anzuzüchten, für welche die körperliche
Entwickelung keinerlei Grundlagen bot. Diese Grundlage nun glaubt
Rousseau in dem unbestimmt erwachenden Geschlechtstrieb gegeben. Er ist
es, der den werdenden Jüngling über sich selber hinausweist, der ihn
ergänzungsbedürftig und sehnsüchtig nach der Liebe anderer macht; die
leiseste Liebkosung, deren Wert er früher gar nicht verstanden hätte,
macht nun sein ganzes Wesen erzittern; sein Herz ist weit geöffnet, daß
die Liebe zur Menschheit darin einziehen kann. Jetzt gilt es, ihn auf
die tausend Bande aufmerksam zu machen, welche die Menschen aneinander
schließen, jetzt kann er den Schritt von der Natur zur Geschichte
hinüber wagen, nun wird die Lektüre nicht mehr das sein, was sie für die
meisten Menschen ist: ein törichter Zeitvertreib, eine Ausfüllung
leerer Stunden, sondern die großen Männer, von denen ihm die Bücher der
Geschichte Kunde geben, werden zu gleicher Zeit seine Freunde und
seine Vorbilder; nun weiß er, was es heißt, für die heilige Sache der
Menschheit kämpfen und leiden, und die Brust schwellt sich ihm bei dem
Gedanken, daß diese Männer auch für ihn gelebt, auch für ihn gelitten
haben.

Aber nicht nur sein Gefühl bildet sich aus; auch das Denken erhält
in dieser Zeit seinen krönenden Abschluß. Das unbestimmte Sehnen und
Drängen, das die Seele erfüllt, reißt sie in mächtigem Zuge über alles
Gegebene hinweg; ernst und feierlich tritt die Frage nach dem letzten
Grunde der sinnlich gegebenen Wirklichkeit vor die Seele des Jünglings;
seine Sehnsucht nach Güte und Liebe kann sich nur beruhigen in dem
Gedanken einer allgütigen und liebenden letzten Ursache für die
vertraute Welt, die ihm einst so weit erschien und nun so eng geworden
ist. Jetzt mögen die Worte: Gott, Gebet, Religion, die vor dieser Zeit
für ihn eben nur Worte hatten sein können, und die deshalb vor ihm
nicht ausgesprochen werden durften, an sein Ohr klingen, an seine Seele
pochen; sie werden Einlaß finden, denn sie sind nur der Ausdruck dessen,
wonach die Seele selber sich sehnte. Wie die Geschichte, wenn Emile
sie in dieser Zeit kennen lernt, nicht der tote Inbegriff von Namen und
Zahlen ist, welcher sie mit Notwendigkeit sein muß, wenn sie in einem
früheren Alter dem unreifen Verstande des Kindes aufgepfropft wird, so
wird er jetzt seine Vorstellungen von Gott und göttlichen Dingen
frei von dem mechanischen Nachplappern, frei von den kindischen
Anthropomorphismen halten können, in die er früher fast unvermeidlich
verfallen wäre. So gilt es auch hier, die körperlichen Vorbedingungen
abzuwarten und aus ihnen dann die geistigen Werte zu entwickeln, für
die sie die gesunde Grundlage abgeben sollen. Aber wo es sich um den
höchsten Gewinn handelt, ist auch die höchste Gefahr vorhanden. Gibt
der Jüngling ohne feste Leitung den in ihm gärenden Trieben nach, so
ist trotz aller Mühe, die früher auf seine Erziehung verwendet sein mag,
sein Leben verloren. Alle edlen Anlagen, zu welchen der Naturtrieb die
Vorbedingung hätte werden können, verdorren in der Glut des Genusses,
und trotz aller reichen Hoffnungen, zu denen er früher Anlaß gab, wird
der Jüngling der Sklave seiner Sinne bleiben, zu dem ihn die eigene
Leidenschaftlichkeit und die Unachtsamkeit oder Ruchlosigkeit seiner
Umgebung gemacht haben.

Emile ist nun reif, das Getriebe der Welt kennen zu lernen, um später
selber handelnd und tätig darin eingreifen zu können. Ihn, den
Freund der Natur und der großen Männer der Geschichte werden die
Versuchungen der Welt nicht mit sich fortreißen oder ihn zum zynischen
Menschenverächter machen können. Aber es fehlt noch der wichtigste
Talisman, ohne welchen kein Jüngling aus der reinen Natur in die
vergiftete Luft der Städte treten sollte, die tiefe und starke Liebe zu
einem guten Mädchen, welche ihn gegen alle Versuchungen der Sinnlichkeit
unempfänglich macht. Es handelt sich um die Wahl einer Lebensgefährtin
für Emile, eine Wahl, die er aus eigener freier Neigung treffen muß,
und die doch allen Ansprüchen genügt, die ein kluger, einsichtsvoller
Berater stellen könnte. Rousseau hat auch hierfür Sorge getragen. In
einiger Entfernung von dem ländlichen Aufenthalt Emiles wächst unter der
Obhut liebender Eltern ein Mädchen heran, das geistig und körperlich die
beste Lebensgefährtin zu werden verspricht. Lehrer und Zögling brechen
nunmehr zu einer Fußwanderung auf, deren Endziel der Landsitz dieser
»prästabilierten Sophie«, wie sie Hettner boshaft nennt, bilden
soll, und deren Zweck es ist, die füreinander bestimmten jungen Leute
miteinander bekannt zu machen, und das, was die Vernunft gewünscht,
durch die Liebe zu vollenden.

Die Beschreibung dieser Fußwanderung, das Zusammentreffen Emiles mit
Sophie, das Erwachen der Liebe in beiden, das ist alles so einfach
und so schön geschildert, daß jeder Versuch der Wiedererzählung daran
scheitern muß; das muß man bei Rousseau selbst nachlesen. Besonders
möchte ich auf die Szene aufmerksam machen, wo Sophie ihren Geliebten in
der Schreinerwerkstätte aufsucht, um ihn sich für den Tag zu erbitten,
und Emile trauernd sich den eigenen und den Wunsch der Geliebten mit
Rücksicht auf die übernommene Arbeit versagt. Die festliche Verlobung
beendet das Idyll und auch das Zusammensein der Liebenden, denn der
Erziehungsplan fordert für Emile noch einen längeren Aufenthalt auf
Reisen, die er nunmehr unternehmen kann, ohne die Gefahren fürchten zu
müssen, welche die »große Tour« für Jünglinge seines Standes mit sich
zu bringen pflegt. Eine Anzahl feiner Bemerkungen Rousseaus über die
richtige Art zu reisen, können wir hier billig übergehen. Zum Mann
entwickelt, fähig nun selber Vorstand eines Hauswesens zu sein, als
Gestaltender einzugreifen in das Triebwerk des Lebens, kehrt Emile zu
seiner Sophie zurück. In einer ernsten, an alles Gute in Emile sich
wendenden Rede über die Pflichten, die ihm das neue Leben bringen wird,
schließt sein Erzieher das Werk ab, dem er so viele Jahre des eigenen
Lebens gewidmet hat.

Mit einigen Worten muß noch Rousseaus Ansicht über die Erziehung
des weiblichen Geschlechts berührt werden, weil er hier zum Teil im
Vergleich mit der Knabenerziehung ganz entgegengesetzte Ratschläge gibt.
Sie alle aber lassen sich von einem Punkte aus leicht übersehen und sind
von hier aus verständlich und vernünftig. Der Knabe soll zum Menschen
erzogen Werden, das Mädchen zur Gattin und Mutter. Auch glaubt Rousseau
nicht damit seinen Grundsatz zu verletzen, nach welchem jedes Lebensjahr
des Kindes als Selbstzweck betrachtet werden muß und nicht nur in
Beziehung auf das spätere Leben gewertet werden darf. Denn die Natur
selber hat, wie er glaubt, in dem Mädchen schon von früh an diese
spätere Bestimmung psychisch angelegt und sie selbst strebt danach,
sie zu verwirklichen. Man würde wider die Natur handeln, wenn man das
Mädchen in eine Erziehung hineinpressen wollte, die für den Knaben
die naturgemäße ist. So sehen wir denn bei dem Mädchen vom frühen
Kindesalter an einen Trieb, sich zu schmücken und zu gefallen, der dem
naturgemäß sich entwickelnden Knaben vollständig fremd ist, der aber
von vornherein darauf deutet, daß das Mädchen nicht dazu bestimmt ist,
dereinst den Mittelpunkt seines Lebens in sich selber zu finden,
sondern ihn in dem Verhältnis zu anderen Menschen zu suchen haben wird.
Zärtlichkeit ist ebenso der Grundzug der Seele beim Mädchen, wie die
Selbstliebe beim Knaben; und der Erzieher hat hier nur ebenso darauf zu
achten, daß diese Zärtlichkeit nicht zur unterschiedslosen Selbsthingabe
führe, wie bei dem Knaben die Ausartung der Selbstliebe in Egoismus
verhütet werden mußte. Daraus folgt nun aber, daß auch die ganze Art der
Erziehung bis in die kleinsten Einzelheiten hinein nach dem Geschlecht
des Kindes eine verschiedene sein muß. Freilich die Pflege und
Abhärtung des Körpers ist ein gemeinsamer Zweck der Mädchen- wie der
Knabenerziehung, und Sophie kann, wenn auch erfolglos, den Geliebten
zum Wettlauf herausfordern. Aber schon in den Spielen wird sich ein
merklicher Unterschied zeigen: der Knabe durchstreift Garten und Wald,
das Mädchen bleibt im Zimmer und ist die Mutter ihrer Puppe. Wir haben
gesehen, mit welchem Eifer Rousseau darauf dringt, daß für Emile niemals
der bloße Wille des Erziehers bestimmend für sein Tun und Lassen sei;
bei dem Mädchen liegt die Sache anders. Das ganze Glück des Weibes wird
dereinst von dem Willen eines anderen Menschen, ihres Gatten, abhängig
sein, und so ist es gut, daß schon das Kind sich gewöhne, dem
Willen eines geliebten Menschen sich unterzuordnen, auch wo es die
Bestimmungsgründe dieses Willens nicht kennt oder nicht zu begreifen
vermag. Wenn ferner die erste Regel für den Erzieher Emiles war, von
einem einmal gegebenen Befehl sich nichts abschmeicheln zu lassen, so
kann bei der Erziehung des Mädchens läßlicher verfahren werden. Ist
doch die Waffe der Frau dem Herrenwillen des Mannes gegenüber immer
Schmeichelei und weibliche Anmut gewesen; sie erreicht durch ihre Bitten
und ihre Tränen mehr, als der Mann durch seine Stärke und sein Recht
für sich durchsetzen kann. Ein flehender Mann ist ebenso naturwidrig wie
eine streitbare Frau. Daher wäre es verfehlt, wenn man dem Mädchen den
Gebrauch dieser natürlichen Waffen ganz entziehen würde. Man lasse
sich gelegentlich etwas abschmeicheln, man erbarme sich der Tränen der
kleinen Sünderin und verzeihe ihr; man wird belohnt werden durch die
Freude des Kindes über seinen echt weiblichen Erfolg.

Daß bei so verschiedener Erziehung das Verhältnis beider Gatten in
der Ehe nicht das der Kameradschaftlichkeit sein kann, ist ganz
selbstverständlich. Unselbständig wie nach Rousseau das Mädchen von
Natur ist, ist es auch in der naturgemäßen Erziehung, die ihm Rousseau
zudenkt, geblieben. Aus der Hand der Eltern geht die Jungfrau, ein
reizendes, liebliches Wesen, zum Glück bestimmt und beglückend, in die
des Gatten über. Und ebenso wie der Wille der Eltern für sie höchstes
Gesetz war, soll es nunmehr der Wille des Gatten sein. Ihre Bestimmung
ist, =ihm= eine treue, liebende Gattin, =seinem= Hause eine umsichtige
Vorsteherin, =seinen= Kindern eine liebende Mutter zu sein. Rousseau
dachte hoch von der Heiligkeit der Ehe; in nichts sah er deutlicher
die Entartung menschlicher Verhältnisse durch die Kultur, als in der
Herabwürdigung und Zersetzung der ehelichen Verhältnisse in der »guten«
französischen Gesellschaft. Aber als wesentlich für den Bestand
einer guten Ehe galt ihm immer das Bestimmungsrecht des Mannes, die
Unterordnung der Frau. Und wenn ihm auch gelegentlich, wie wir
sehen werden, ein Zweifel aufsteigen mochte, ob dieses »naturgemäße«
Verhältnis innerhalb der heutigen Gesellschaftsordnung noch das wahre
Glück beider Gatten verbürgen könne, so haben solche gelegentlichen
Anwandlungen ihn nie zu einer Revision seiner Sätze über das natürliche
Verhältnis beider Geschlechter geführt.

Das stärkste Zeugnis für die Wirkung, die vom Emile ausgegangen ist,
liegt in der Tatsache, daß sehr viele der Ansichten, die hier mit
großer Emphase vorgetragen werden, für uns heute ganz selbstverständlich
erscheinen. Rousseau scheint uns hier dauernd offene Türen einzurennen.
Es gehört einige Kenntnis der Geschichte der Pädagogik dazu, um sich
darüber klar zu werden, daß diese Türen zu Rousseaus Zeiten eben nicht
offen waren, sondern durch seine Arbeit erst geöffnet oder besser durch
die Mauern einer verkünstelten Pädagogik gebrochen werden mußten. Die
bahnbrechende Kraft Rousseaus erscheint vielleicht nirgends größer,
als wenn wir die Wirkung abschätzen, welche der Emile auf die Folgezeit
ausgeübt hat. Die ganze gewaltige Bewegung, die alsbald namentlich in
Deutschland einsetzt, kann man als eine Reihe von Versuchen bezeichnen,
wie weit die Vorschläge Rousseaus in die Praxis übersetzt werden können,
und namentlich, inwieweit es möglich sei, von der Einzelerziehung, wie
sie Rousseau schildert, zur gemeinsamen Erziehung, wie sie die Praxis
fordert, überzugehen, ohne den wesentlichen Gehalt der Lehren Rousseaus
aufzugeben. Von den ersten unvollkommenen und häufig bizarren Versuchen,
die auf einem prinzipienlosen Nachbeten Rousseauscher Lehrsätze
beruhten, bis zu den durchdachten und von genauester Sachkenntnis
geleiteten Arbeiten eines Salzmann, Pestalozzi und Fröbel, immer
finden wir als fast selbstverständlichen Ausgangspunkt den Emile;
seine Ansichten werden unausgesetzt bekämpft oder angenommen, die
ganze Diskussion ist an ihm orientiert. Und wenn wir bedenken, wieviel
glücklicher und naturgemäßer sich die Kinderjahre von Tausenden und
Abertausenden heranwachsender junger Menschenkinder unter dem Einfluß
dieses einen Buches gestaltet haben, so muß man sagen, daß das schwere
Unrecht, das Rousseau durch sein pflichtwidriges Verhalten gegenüber
seinen eigenen Kindern auf sich geladen hat, soweit dies überhaupt
möglich, gesühnt worden ist durch die Wohltaten, die er Generationen
auf Generationen fremder Kinder erwiesen hat und bis zum heutigen Tage
erweist.



Fünftes Kapitel.

Die _Nouvelle Héloïse_.


Rousseau hat einmal daran gedacht, seinem Emile eine Fortsetzung zu
geben, in welcher das eheliche Leben Emiles und Sophiens geschildert
werden sollte. Es ist ein Glück, daß er diesen Plan nicht ausgeführt
hat, denn die uns erhaltenen Bruchstücke zeigen deutlich genug, daß uns
hier der Bankerott all der schönen Hoffnungen gezeigt worden wäre, mit
denen der Erzieher Emile entläßt und der Leser das Buch aus den Händen
legt. Namentlich wären aber die eigenen Lehren Rousseaus über Erziehung
des weiblichen Geschlechts glänzend _ad absurdum_ geführt worden. Nach
einem kurzen glücklichen Aufenthalt auf dem Lande begibt sich das
junge Paar nach der Stadt; mannigfache neue Anregungen machen es Emile
unmöglich, sich so wie früher Sophien zu widmen. Sophie fühlt, daß
sie den bisherigen Mittelpunkt ihres Lebens verloren hat; sie ist
gelangweilt, unglücklich, und sinkt in dieser Stimmung als leichte Beute
einem gewissenlosen Verführer in die Arme. Emile trennt sich von ihr,
beginnt ein Wanderleben, und findet nach langen Irrfahrten an einsamer
Stätte die bereuende Gattin wieder, um nun fern von den Menschen mit ihr
den Rest des Lebens zu verbringen.

Das ist nicht eine Schilderung des modernen Menschen in seinen
Beziehungen zu Welt und Leben, sondern es klingt fast wie eine Satire
auf das ganze mühselige Erziehungswerk, das Emile dazu geführt hat,
seinen Platz im Leben so wenig befriedigend auszufüllen. Aber Rousseau
konnte mit um so besserem Recht diese Fortsetzung Fragment bleiben
lassen, als er bereits früher in der _Nouvelle Héloïse_ das Buch
geschrieben hatte, in dem diese Probleme so eindringlich behandelt
worden waren, daß ihm Neues hierüber zu sagen unmöglich war. Die Ansicht
der Romantiker, daß in jedem Menschen ein und nur ein Roman angelegt
sei, trifft auf Rousseau vollständig zu; deshalb mußte der Versuch, dem
Emile eine Fortsetzung zu geben, scheitern; den Roman des Lebens hatte
Rousseau geschrieben, bevor er an den Roman der Erziehung dachte; denn
noch einmal, die _Confessions_ wollen kein Roman sein, sondern die
wirkliche Geschichte seines Lebens geben, sie wollen Wahrheit, nicht
Dichtung sein.

Es fehlt viel daran, daß Rousseau das Technische dieses Buches, welches
dazu bestimmt war, die Kunstform des modernen Romans zu schaffen, ohne
Vorbilder und Muster ausgebildet hätte. Freilich, wer nach dem Titel
gehen würde und auf die Briefe der Héloïse an Abélard zurückgriffe, auch
in der Umdichtung, welche Pope ihnen gegeben hatte, der würde in der
_Nouvelle Héloïse_ wenig finden, was sie als Nachbild dieses Vorbildes
erscheinen lassen könnte. Aber die Form des leidenschaftlichen
Briefromans war seit den _Lettres portugaises_, wie uns Waldberg gezeigt
hat, durchaus eingebürgert, und Rousseau hatte als der unersättliche
Romanleser, der er in gewissen Zeiten seines Lebens gewesen war, sicher
Kenntnis davon erhalten. Vor allem aber tritt uns auf jeder Seite der
_Nouvelle Héloïse_ die Erinnerung an Richardson entgegen, der damals
-- man lese nur den begeisterten Dithyrambus Diderots -- als der
unerreichte Meister des Romans gepriesen wurde, und der in der Tat in
wichtigen Stücken die Technik des modernen Romans ausgebildet hat.

Ursprünglich bildete das Geschehnis das ganze Interesse des Romans.
Bunte Abenteuer, fabelhafte Erlebnisse oder Haupt- und Staatsaktionen
wurden vom Lesepublikum gefordert. Dies war die Hauptsache, und es
verschlug wenig, wem alle diese Ereignisse zustießen; der eine tapfere
Ritter, die eine schöne Prinzessin war genau so gut wie die anderen. Wir
können nun Schritt für Schritt verfolgen, wie der Schwerpunkt des Romans
allmählich vom Geschehnis in die Seele des Erlebenden gerückt wird.
An Stelle des Romans der Abenteuer tritt der psychologische Roman, und
seinen bedeutendsten Meister vor Rousseau haben wir in Richardson zu
erblicken. Wie früher die Haupt- und Staatsaktion, so wird jetzt das
Tagebuch und namentlich der Brief zum wichtigsten Mittel der Technik.
Das Interessante ist nicht mehr das äußere Geschehnis, sondern der
psychische Reflex dieses Geschehnisses in den Seelen der handelnden oder
besser der schreibenden Personen. Daraus erklärt sich auch die große
Einfachheit der Handlung in den Romanen Richardsons. Was in diesen
vielbändigen Ungetümen wirklich geschieht, läßt sich auf sechs Zeilen
erzählen. Doch in diesen Geschehnissen liegt auch gar nicht das, worauf
wir aufmerksam werden sollen. Dasselbe Ereignis tritt uns bei den
verschiedenen Korrespondenten in der verschiedensten Beleuchtung
entgegen, und gerade diese verschiedene Beurteilung desselben Dinges,
in der sich die Individualität der einzelnen Persönlichkeiten offenbart,
ist es, worauf wir achten sollen. Und da zeigt sich in der Tat bei
dem einfachen Londoner Buchhändler eine ganz überraschende Kraft und
Feinheit der psychologischen Analyse. Bei ihm finden wir bereits
den experimentellen Roman einer späteren Zeit angelegt, und das
leidenschaftliche Interesse seiner Zeitgenossen an den Gestalten
einer Pamela, einer Miß Harlowe, eines Lovelace und Grandison wird
verständlich, wenn man erwägt, daß dies die Zeit war, wo die Menschen
einander, und jeder sich selber, anfingen interessant zu werden, wo von
der Philosophie Leibniz' an bis zu jeder empfindsamen Seele, die
ein Tagebuch führte, die Überzeugung vertreten wurde, daß ein jedes
Individuum als ein Unikum, das seinesgleichen nicht hat noch haben kann,
betrachtet und gewertet werden müsse.

Die Verwandtschaft zwischen Richardson und Rousseau ist so einleuchtend,
daß wir uns sehr viel mehr fragen müssen, worin sie sich unterscheiden,
als worin sie sich gleichen. Und da ist es vielleicht am einfachsten,
auf die Motive ihrer Dichtungen zurückzugehen. Richardson wollte seine
Leser bessern, indem er sie unterhielt. Er war zu gleicher Zeit der
Dichter, der Drucker und der Verleger seiner Werke. Vor seinem geistigen
Auge stand als der Areopag, dem er seine Romane vorzulegen liebte,
eine Gesellschaft älterer ehrbarer englischer Damen, die sich beim Tee
zusammenfanden. Er lebte die Leidenschaft nicht, sondern er analysierte
sie. Diese Reflektiertheit, diese Wohlanständigkeit rief die Opposition
Fieldings hervor und ist vielleicht die Hauptursache gewesen, warum
bei allen seinen großen Verdiensten Richardson in unseren Tagen ein
kümmerliches Dasein in den Literaturgeschichten fristet. Ganz anders
Rousseau. Die Entstehungsgeschichte seines Romans ist vielleicht
ein Unikum. Das Herz geschwellt von unbestimmter Liebessehnsucht
idealisierte er das Andenken an die zwei lieblichen Freundinnen, mit
denen er einen der wenigen glücklichen Tage seines Lebens verlebt hatte.
Sie wurden ihm zu den Gestalten der anmutigen blonden Julie und ihrer
braunen klugen Gefährtin Claire, er selbst als St. Preux trat zu ihnen
als der dritte in den Bund der Liebe und Freundschaft. In einzelnen
Briefen, ohne Zusammenhang, ohne Plan ließ er die Gestalten seiner
Einbildungskraft ihren Gefühlen und Empfindungen Worte leihen, und diese
Worte enthielten nichts anderes, als was seine eigene Seele bewegte und
was er so gerne von befreundeten und geliebten Lippen gehört hätte. Erst
nachträglich entstand die Fabel des Romans, wurden die Situationen in
eine chronologische Reihe gebracht, hinkte die moralische Nutzanwendung,
die schließlich doch auch für Rousseau unerläßlich war, nach. Es ist
richtig, auch Rousseau wollte den Leser am Schlusse seines Buches besser
zurücklassen, als er in dem Augenblick gewesen war, wo er das Buch zur
Hand nahm. Aber dieser Gedanke, der bei Richardson die ganze Komposition
beherrscht, ist bei Rousseau erst später in den Plan hineingetragen, die
moralische Absicht hat hier, wie wir sehen werden, über die ästhetische
Notwendigkeit gesiegt. Wie die _Nouvelle Héloïse_ aus dem Gefühl
entstanden war, so hat auch die starke und wahre Darstellung des
Gefühls, der Leidenschaft ihr die Stelle in den Herzen der Leser
errungen, die sie bis heute sich zu behaupten gewußt hat.

Auch hier wie bei Richardson ist die Fabel von denkbarster Einfachheit.
St. Preux, der Lehrer des adeligen Fräuleins Julie D'Etange und ihrer
Freundin Claire, verliebt sich in seine reizende Schülerin, und seine
Liebe wird erwidert. Nach langem inneren Kampf siegt die Leidenschaft
bei beiden; aber die bürgerlichen Vorurteile setzen ihrer Vereinigung
für das Leben unüberwindliche Hindernisse entgegen; St. Preux muß die
Geliebte verlassen und begibt sich zu seinem Freunde, Lord Edouard
Bomston, später auf eine mehrjährige Reise um die Welt. Julie fügt sich
dem Wunsch ihres Vaters und wird die Gattin des Barons Wolmar mit dem
festen Entschluß, ihm eine gute und treue Gattin zu werden. Der Baron
hat ein so sicheres Vertrauen zu Julie, daß er den zurückgekehrten St.
Preux auffordern kann, der Hausgenosse seiner Familie zu werden. Die
alte Leidenschaft flammt in beiden empor, aber Julie weiß sich ihrer
zu erwehren. Der Tod, den sie bei der Rettung ihres ertrinkenden Kindes
findet, entreißt sie dem Kampf zwischen Pflicht und Neigung und weckt in
ihrem atheistischen Gatten die Ahnung eines Lebens nach dem Tode.

Das ganze Interesse des ersten Teiles des Romans liegt in der
Schilderung der Leidenschaft der Liebenden und in der Darstellung
des vergeblichen Kampfes, den sie gegen die Gebote der Sittsamkeit
einerseits, gegen die Gesetze der zivilisierten Gesellschaft mit ihren
Klassenunterschieden und Standesvorurteilen andererseits, zu führen hat.
Da, wo die ihr gegenüberstehenden Mächte sittlich berechtigt sind, siegt
die Leidenschaft; die Liebenden werden schuldig in ihrem Glück. Da, wo
diese Hindernisse nur auf Vorurteil und Konvention beruhen, unterliegt
die Leidenschaft; die dauernde Vereinigung der Liebenden wird unmöglich.
Das ist die Tragik im Schicksal St. Preux' und Juliens. Wir hassen
die gesellschaftlichen Ordnungen, die einen Bund zweier für einander
geschaffener Herzen zu verhindern vermögen; aber wenn wir auch in
den leidenschaftlichen Selbstanklagen St. Preux' und Juliens eine
Berechtigung nicht verkennen können, so sind wir doch weit davon
entfernt, die Schönheit, die Stärke und die Tiefe des Triebes, der
sie zueinander riß, zu tadeln. Auch da, wo diese Leidenschaft ewige
Ordnungen verletzt, hat sie einen Anspruch nicht nur auf unser
Verständnis, sondern auf unser wärmstes Mitgefühl, ja auf unsere
Bewunderung. Menschen, die so lieben können, sind keine schlechten
Menschen. Sie können unglücklich, sie können schuldig, niemals aber
können sie niedrig und gemein werden.

Es ist ein feiner Zug Rousseaus, daß er den Vertreter der hergebrachten
Ordnungen und Vorurteile, den Vater Julies, als einen durchaus nicht
schlechten Charakter dargestellt hat. Er ist ein tapferer Soldat, ein
liebender Gatte, ja sogar in seiner Art ein guter Vater, der nach seiner
besten Einsicht das Glück seiner Tochter will. Um so größer muß die
gänzliche Verkehrtheit der Standesvorurteile erscheinen, da sie einen
liebenden Vater dazu veranlassen können, das Glück seines Kindes so mit
Füßen zu treten, und ihn dabei noch mit dem ruhigen Hochgefühl getaner
Pflicht zu erfüllen. Das ist eben die entsetzlichste Erscheinung einer
verderbten Kultur, daß sie auch ursprünglich gut angelegte Menschen zu
Handlungen fortreißt, vor denen sie zurückschaudern würden, wenn sie
sich ihrem eigenen unverderbten Gefühl überlassen könnten. Rousseau
verfuhr hier unendlich wirksamer als Schiller mit der Zeichnung des
Präsidenten in »Kabale und Liebe«. Die Unpersönlichkeit und daher
auch die Unbesiegbarkeit der Widerstände, welche sich den Liebenden
entgegenstellen, tritt in der Fassung Rousseaus viel deutlicher hervor,
als wenn er einen Tragödienvater geschaffen hätte.

Wir haben gesehen, daß die Handlung ursprünglich auf das Verhältnis
Julies, Claires und St. Preux' zueinander begründet war. Als notwendige
Ergänzung für St. Preux und als Adressat seiner brieflichen Ergüsse
tritt Milord Edouard Bomston ebenso neben ihn, wie Claire neben Julie.
Daß St. Preux viele Züge von Rousseau hat, ist ganz selbstverständlich.
Vor allem erinnert die Kindlichkeit seines Wesens durchaus an Rousseau.
Gerade diese Eigenschaft war ja auch Rousseaus Schicksal und Verhängnis;
wie er ist St. Preux nicht von Begriffen, sondern von Gefühlen abhängig.
Es würde fast komisch sein, ihn immer als Philosophen angeredet und
bezeichnet zu hören, gäbe es nicht neben der Philosophie des Kopfes
auch eine des Herzens. Ganz dem Augenblick hingegeben, ganz in den
Stimmungen, die er bringt, aufgehend, für das Höchste empfänglich
und mitunter bei dem kleinsten Hindernis verzweifelnd, bei den besten
Vorsätzen einer plump angelegten Verführung erliegend, zeigt er uns nur
wenig idealisiert die Züge seines Urbildes. Auch das überwiegend Passive
im Charakter St. Preux', seine Neigung, sich durch fremden Rat leiten zu
lassen, seine Unfähigkeit, das eigene Schicksal selbst zu gestalten, das
Schwelgen in Gefühlen, wo es auf entschlossenes Handeln ankäme, alles
dieses waren Züge, nach denen Rousseau nicht weit zu suchen brauchte, um
sie auf seinen Helden zu übertragen.

Milord Edouard ist, wie Texte richtig hervorgehoben hat, ein legitimes
Kind der in Frankreich damals herrschenden Anglomanie, welche in ihrer
Schrankenlosigkeit nur selten durch wirkliche Kenntnis englischer
Verhältnisse beeinträchtigt wurde. Man kann sie vielleicht darauf
zurückführen, daß die Franzosen, die unter dem Zwang der Sitte, der
Regel, des guten Tones in der Tat einige Gefahr liefen, uniform und
monoton zu werden, bei den Engländern die Erfahrung machten, daß auch
mit einer hochgesteigerten Kultur kräftige Eigenart, Individualität,
wohl vereinbar sei. Daher auch die starke Betonung der bizarren Züge
bei Milord Edouard. Sie sollen den Mann kennzeichnen, der es unternommen
hat, unbekümmert um alle Vorurteile sich selber sein Leben zu gestalten.
Durch seine Geburt der Kaste angehörend, an deren starren Vorurteilen
das Lebensglück seines Freundes zerschellt, deren stumpfen Widerstand
St. Preux vergebens zu überwinden sucht, hat sich Bomston von allen
diesen Vorurteilen frei gemacht; er steht also ebenso jenseits aller
gesellschaftlichen Schranken, wie St. Preux diesseits. Er ist der Mann
der Tat; rasch in seinen Entschlüssen, originell in seinen Mitteln;
von zweifelloser Sicherheit auf dem eingeschlagenen Weg würde er
das Schicksal der Liebenden glücklich gestaltet haben, wenn es Julie
vermocht hätte, über der Liebe zu St. Preux die Gebote der Achtung
und des Gehorsams gegen ihre Eltern zu vergessen. Die komplizierten
italienischen Familienbeziehungen Bomstons, die in genauer Analogie
zu Richardson und mit der gleichen Langeweile einen so großen Platz
im zweiten Teile in Anspruch nehmen, lagen ursprünglich nicht im Plane
Rousseaus.

Zu diesen Gestalten tritt nun später Wolmar, der Gatte Julies. Auch für
ihn ist das Vorbild ganz unverkennbar, es ist der Geliebte der Gräfin
d'Houdetot, St. Lambert. Erschütternd genug hat Rousseau in den
_Confessions_ geschildert, wie sein sehnlicher Wunsch, als dritter in
den Bund der beiden Liebenden eintreten zu dürfen, scheiterte und ihn
damit die Verzweiflung am Leben und an den Menschen zum unglücklichsten
aller Wesen machte. Was dies Verhältnis hätte sein können, das wollte
uns Rousseau im zweiten Teil seiner Héloïse schildern, und die nicht
ganz berechtigte Verehrung für St. Lamberts Charakter hat an dem
Bilde mitgearbeitet, das er von Wolmar entwirft. Wolmar hat all die
Eigenschaften, die Rousseau so unendlich gerne gehabt hätte, die er oft
mit heißem Bemühen sich anzueignen bestrebt hatte, und welche ihm ein
freundliches Geschick stets versagte. Er ist das vollkommene Gegenbild
zu St. Preux, ebenso an den Regeln des Verstandes orientiert wie dieser
durch die Impulse des Gefühls geleitet wird. Aber dieser Verstand hat
ihn nicht zum Spötter und Zyniker gemacht; was er ihm nehmen konnte,
was er auch St. Lambert genommen hatte, war der Glaube an Gott. Der
Atheismus Wolmars ist der tiefste Kummer für Julie, noch auf dem
Totenbett sucht sie den Gatten für ihren Glauben zu gewinnen.
Aber die Beziehungen zu den Menschen sind bei Wolmar nicht durch
Verstandesskepsis angefressen. Er ist das Muster eines edlen Gutsherrn,
der seinen Vorteil darin sieht, daß seine Bauern sich wohl befinden; mit
dem Unglücklichen hat er Mitleid und sucht ihm dauernd zu helfen; sein
festes Vertrauen auf Julie und St. Preux, deren frühere Beziehungen er
kennt, bewährt sich in der großartigen Unbekümmertheit, mit der er sie
in ihrem Zusammensein vollständig frei gewähren läßt. Aber während man
St. Preux lieben kann, sind Achtung und Billigung die Gefühle, die ein
Wolmar einflößt.

Die Erweiterung des Romans durch die Ehe Julies mit Wolmar ist natürlich
nicht nur auf das Verhältnis Rousseaus zu Madame d'Houdetot und St.
Lambert zurückzuführen. Daß der Roman mit ästhetischer Notwendigkeit
ein tragisches Ende durch den Selbstmord St. Preux' gefordert hätte,
das bedarf keines Beweises. Daß die langen und übrigens sehr gut
geschriebenen Briefe St. Preux' und Julies _pro_ und _contra_ Selbstmord
nicht dazu angetan sind, die ästhetische Notwendigkeit abzuschwächen,
ist ebenfalls deutlich. Ein verzweifelter Geliebter schreibt anders an
die Geliebte über seinen Entschluß, aus dem Leben zu scheiden, und
tut er's doch, so wird er von der Geliebten nicht einen so vorzüglich
geschriebenen Aufsatz erhalten wie St. Preux von Julie. Wenn wir die
hingestammelten Worte Werthers lesen, die erst, nachdem sich sein
Schicksal erfüllt hat, an Lotte gelangen sollten, dann fühlen wir, was
wir hier in der _Nouvelle Héloïse_ schmerzlich vermissen. Es mag uns
freuen, daß St. Preux dem Leben erhalten bleibt, aber wir verstehen
eigentlich nicht recht, wie das möglich war. Es war auch nur so möglich,
daß Rousseau außer den ästhetischen Zwecken, die die erste Anlage des
Romans bestimmt hatten, nun auch noch andere, die ihm je länger je mehr
die wichtigeren wurden, zu Worte kommen lassen wollte; auch er wollte,
ganz wie Richardson, seine Leser nicht nur bewegen und rühren, er wollte
sie auch bessern. Daher mußte neben Julie, das liebende und schuldige
Mädchen, Julie, die pflichttreue und tugendhafte Frau treten; daher
mußte neben das Gemälde der siegreichen Leidenschaft die Darstellung
der tugendhaften Selbstverleugnung kommen. Was die Moral im ersten Teil
vermißt hatte, im zweiten sollte es mit voller Klarheit dargestellt
werden: die Tugend sollte über die Leidenschaft siegen. Das tat sie denn
auch, aber niemand kann zween Herren dienen. Es fehlt diesem zweiten
Teil nicht an großen poetischen Schönheiten. Die Schilderung des
Landlebens, der Besuch Julies und St. Preux in Meillerie reihen sich
den schönsten Stellen des ersten Teiles würdig an. Jedoch Rousseau hatte
sich dadurch, daß er den Roman nicht damit enden ließ, womit er enden
mußte, in eine poetische Sackgasse verrannt, aus der es eigentlich
keinen Ausweg mehr gab. Immer wieder flammt die Leidenschaft bei den
Liebenden empor, immer wieder wird sie durch die Rücksicht auf die
Pflicht gegen den Gatten und Freund gebändigt. Es ist gar kein Ende
abzusehen, am wenigsten das seltsame einer Verheiratung St. Preux' mit
der inzwischen verwitweten Claire. Und der schließliche Abschluß, der
Tod Julies, ist ebenso unmotiviert und überflüssig wie der Tod St.
Preux' am Schluß des ersten Teiles motiviert und befreiend gewesen wäre.

Es läßt sich gar nicht leugnen, daß Rousseau mit dem zweiten Teil seines
Romans mindestens ebensosehr den Geschmack seiner Leser getroffen hatte
als mit dem ersten. Es war noch nicht an der Zeit, daß eine Dichtung den
Anspruch darauf erheben konnte, rein als Dichtung genommen und gewertet
zu werden. Was wir früher bei Rousseaus Stellung zum Theater
gesehen haben, das galt auch für den ganzen Bereich der Poesie. Ein
Theaterstück, das den Hörer nicht unterrichtete oder besserte, erschien
Rousseau wie seinen Gegnern als wertlos, und der ganze Unterschied
zwischen ihnen bestand nur darin, daß die Verteidiger der Schaubühne
diese ihre Wirkung aufweisen zu können glaubten, Rousseau dagegen sie
leugnete. In der _Nouvelle Héloïse_ können wir gleichsam die Poesie am
Scheidewege erblicken. Der erste Teil ist rein aus ästhetischen Motiven
hervorgegangen, hier liegt das Neue, das Bedeutsame des Buches; im
zweiten biegt der Autor in die gewohnten Wege des Zeitalters ein. Die
Zeitgenossen erfreuten sich an beiden; Rousseau selber glaubte, erst
durch diesen zweiten Teil die Berechtigung seines Buches nachgewiesen
zu haben, sein moralisches Gewissen, das sich früher mit so vollen Tönen
gegen die Berechtigung nutzloser Bücher ausgesprochen hatte, fühlte
sich durch den zweiten Teil beruhigt. Der Größere, der nach ihm kommen
sollte, wußte, woran er sich zu halten hatte. Er ersparte es sich und
den Lesern, Werther als Hausfreund Lottens und Alberts zu schildern, er
zog die Konsequenz, die Rousseau hätte ziehen sollen. Aber der Werther,
so wie wir ihn haben, konnte nur geschrieben werden, weil die _Nouvelle
Héloïse_ den Weg bereitet hatte.

Noch auf einer anderen Seite bedeutet die _Nouvelle Héloïse_ einen
unverlierbaren Fortschritt. Wenn wir als wissenschaftliche Menschen die
gesamte Wirklichkeit durch ein System von Begriffen zu erfassen suchen,
wenn wir als sittliche Wesen die Dinge der Wirklichkeit als Materiale
unserer Pflichterfüllung betrachten, so ist es die Leistung der großen
Künstler, uns die Dinge ästhetisch betrachten zu lehren. Die Arbeit
jedes großen Künstlers ermöglicht es uns, Dingen gegenüber, an denen wir
früher achtlos vorbeigegangen waren, ästhetisch Stellung zu nehmen.
Wie die seligen Knaben im Faust dadurch die Welt verstehen, daß sie
sie durch die Augen des Pater Seraphicus betrachten, so wird die
Wirklichkeit zur schönen Welt, indem wir sie durch die Augen der großen
Künstler sehen lernen. In diesem Sinn bedeutet die _Nouvelle Héloïse_
einen der kühnsten Eroberungszüge in das Beutefeld der Wirklichkeit.
Es hat zweifellos im geographischen, kommerziellen, militärischen und
sonstigen Sinn auch schon vor Rousseau Alpen gegeben -- im ästhetischen
Sinn existieren sie erst seit der _Nouvelle Héloïse_; ganz ebenso wie
der meteorologisch bereits früher vorhanden gewesene Nebel für den
ästhetisch Betrachtenden erst durch Ossian, Lenau und Dickens entdeckt
worden ist. Der Liebe zu seiner Heimat, zu den Gestaden des Genfer Sees
hat Rousseau in seinem Roman ein unvergängliches Denkmal gesetzt, aber
er hat mehr getan: er hat allen denen, die durch seine Worte ergriffen
wurden, das ästhetische Bürgerrecht an diesen Gestaden verliehen.
Die süßen und schmerzlichen Erinnerungen an seinen Aufenthalt in Les
Charmettes, an seine Besuche in Nyon, sie sind in diesem Buch zum
poetischen Erleben und Schauen verklärt worden. Aber noch Größeres hat
er geleistet. Auch frühere Dichter waren von der Anmut der Gestade der
Alpenseen ergriffen worden; bis zu den smaragdgrünen Matten der
Alpen waren die Vorposten des ästhetischen Heeres, Gesner und Haller
vorgedrungen; Rousseau ging weiter. In den wundervollen Schilderungen,
die St. Preux von der Felsgegend bei Meillerie entwirft, bekommen
Dinge ästhetischen Wert, die ihn früher nie besessen hatten, die steil
aufragenden Felsen, der schäumend sich zum Tal durcharbeitende Gießbach,
das Dröhnen des Wasserfalls, und das alles in Beziehung gesetzt auf die
stürmisch tobende Seele des Betrachtenden, so zieht die Bergwildnis,
geheimnisvoll abgeschlossen durch den Kranz der ewigen Schneeberge, in
die moderne Dichtung ein, sie hat damit eine Provinz gewonnen, die sie
nie wieder verlieren kann. Es ist kein Zufall, daß die »Entdeckung der
Schweiz« vom Genfer See ausgeht, daß der Montblanc in Byrons Manfred als
der König der Geister gepriesen wird und bis zum heutigen Tage, bis
zu Luise von François und Gottfried Keller, als der Monarch der
Bergesriesen gilt. Das verdankt er nicht dem Umstand, daß er ein
paar Fuß höher ist als andere seinesgleichen, denn dies ist eine
wissenschaftliche Notiz ohne jeden ästhetischen Wert; nein, diesen
Vorrang verdankt er dem Umstand, daß von Genf aus das Auge eines Knaben
oft an seinen Hängen emporgeglitten war, daß er den beherrschenden
Abschluß bildet für eine Landschaft, die der vagabondierende Jüngling
zu durchstreifen liebte, daß zu ihm hin die sehnsüchtige Liebe des
alternden Mannes aus der großen Menschenwüste Paris unablässig
sich wandte. Wir alle, die wir heute das Gebirge mit ästhetischer
Stellungnahme zu werten vermögen, haben diese Möglichkeit durch die
_Nouvelle Héloïse_, wir sind alle die Schüler und Nachfolger Rousseaus.



Sechstes Kapitel.

Religionsphilosophie.


Es ist bezeichnend für Rousseaus Stellung zur Philosophie, daß er nur
einmal im Zusammenhang seine philosophischen Ansichten entwickelt hat,
und zwar im genauesten Anschluß an die erziehungstechnische Frage: Für
welches Bekenntnis soll Emile erzogen werden? Die Antwort auf diese
Frage will Rousseau nicht in eigener Person geben, er legt sie einem
Diener der katholischen Kirche, einem savoyischen Vikar, in den Mund,
den er in Turin kennen gelernt hatte, und dessen Name, Abbé Gaime,
wir aus den _Confessions_ ergänzen können. Auf einem die Stadt Turin
beherrschenden Hügel, im Angesicht der reichen Poebene und der sie
abschließenden Schneeberge der Alpen habe ihm der ehrwürdige Priester
die Gedanken entwickelt, die er nunmehr vortragen werde.

Damit ist das Interesse dieser Ausführungen klar bestimmt. Sie sind
von vornherein religionsphilosophisch orientiert. Wie einst Augustin
nichts weiter erkennen wollte, als Gott und die eigene Seele, so haben
auch für Rousseau alle anderen philosophischen Fragen ein Interesse
nur insofern, als sie für die Erforschung dieser beiden wichtigsten
Lebensfragen in Betracht kommen. Es handelt sich hier gar nicht um das
Wissen um des Wissens willen, es handelt sich darum, ob des Menschen
Seele an Gott glauben darf und wie sie es vermag, ihr Verhältnis zu
Gott zu bestimmen. Rousseaus Stellungnahme zu allen Problemen, die ihn
beschäftigten, ist nicht zu verstehen, wenn man sich nicht stets vor
Augen hält, daß er sein ganzes Leben hindurch einen Kampf mit zwei
Fronten zu führen gezwungen war. So stark und ausgesprochen auch seine
Gegnerschaft gegen die traditionellen Autoritäten in Staat und Kirche
hervortritt, so war er doch weit entfernt, mit der damaligen
sensualistisch-materialistischen Aufklärungsphilosophie gemeinsame
Sache zu machen. Eine große Anzahl der Widersprüche, die sich in den
Diskussionen mit seinen Gegnern finden, rührt daher, daß er bald gegen
die eine, bald gegen die andere Schar seiner Gegner sich decken
und seine Streiche führen mußte. Ebenso wie bei Kants Kampf gegen
Dogmatismus und Skeptizismus immer berücksichtigt werden muß, gegen
welche Gegner sich Kant im einzelnen Fall richtet, ebenso ist auch die
Stellungnahme Rousseaus in jedem einzelnen Fall bei der Kritik seiner
Argumente zu berücksichtigen.

So ist denn auch hier in den Bekenntnissen des savoyischen Vikars
die Gliederung in zwei Teile gegeben; die eine setzt sich mit der
Philosophie des Zeitalters auseinander, die zweite bestimmt das
Verhältnis des bei dieser Auseinandersetzung gewonnenen Standpunkts mit
den Lehren der Offenbarungsreligion, des Christentums. In Anlehnung an
Augustin und Descartes wird der Zweifel das methodische Prinzip,
mit welchem der Vikar an die Lehren der Philosophie oder besser der
Philosophen herantritt. Denn es läßt sich nicht leugnen, daß Rousseau
sehr weit davon entfernt ist, die Gedankentiefe, die Intensität der
Frage, wie sie bei seinen großen Vorgängern auftritt, auch nur annähernd
zu erreichen. Er bleibt hier vielmehr überwiegend bei der Tatsache
stehen, daß zwar alle Philosophen ihre Ansichten mit großer Autorität
vorzutragen lieben, daß aber dieser Anspruch auf Autorität durch
die tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten zwischen ihnen für den
Prüfenden in nichts zerrinnt. Sieht man näher zu, so bemerkt man, daß es
diesen Systematikern erst in zweiter Linie um die Wahrheit zu tun ist,
in erster kommt es ihnen darauf an, durch ihren Geist, Scharfsinn
und Gelehrsamkeit alle Gegner in den Sand zu strecken und ihre eigene
Privatmeinung als gültige Wahrheit anerkannt zu sehen. Es ist daher
geraten, will man zur Wahrheit gelangen, die sie verdunkelnden Schriften
der Philosophen auf sich beruhen zu lassen und darauf zu vertrauen, daß
dem redlich bei sich selber und bei der Natur Nachfragenden eine Antwort
auf diese Fragen, soweit sie für das Wohl des Menschen unerläßlich
ist, nicht versagt bleiben kann. Darüber hinaus aber kann auch der
scharfsinnigste Philosoph nicht vordringen, und gibt er sich den
Anschein, dies zu vermögen, so wird sein Einfluß auf die, welche ihm
Glauben schenken, eher schädlich als förderlich sein.

Wie finde ich mich im Verhältnis zu den Dingen? Ich erhalte von allen
Seiten durch alle meine Sinne Eindrücke, Wahrnehmungen, Empfindungen,
denen ich mich nicht entziehen kann, die sich mir aufdrängen, in denen
ich mich leidend, passiv verhalte. Wäre ich lediglich ein empfindendes
Wesen, in dem sich vielleicht auch noch die Spuren früherer Empfindungen
als Vorstellungen wiederholten, so wäre mein gesamtes psychisches Sein
ein Produkt der Außenwelt, ich wäre ein rein passives Wesen, ich
wäre das, wozu mich die Einwirkung der Dinge gemacht hätte. Aber die
Beobachtung meines Seelenlebens lehrt mich die Unvollständigkeit dieser
Ansicht, welche die einzige ist, die für den konsequenten Sensualisten
übrig bleibt. Ich nehme die Dinge nicht nur wahr, ich empfinde sie nicht
nur, sondern ich vergleiche sie auch. Wenn ich zwei Dreiecke nicht
nur sehe, sondern sie aufeinanderlege, um ihre Gleichheit und
Verschiedenheit und den Grad dieser Verschiedenheit festzustellen,
so gehe ich hier über die passive Empfindung hinaus. Ich setze die
Empfindungsgehalte in eine Beziehung zueinander, die sie für sich allein
nicht haben würden; ich reflektiere auf diese Beziehungen und mache
sie mir deutlich; ich verhalte mich nicht mehr leidend, ich bin tätig.
Zugegeben, daß diese meine Tätigkeit die Empfindungen, die Dinge,
braucht, um sich äußern zu können, so bleibt doch die Tatsache, die mein
unmittelbares Gefühl mich lehrt, bestehen, daß mein Verhalten in dem
einen Fall ein anderes ist als in dem anderen, und mein Verstand belehrt
mich darüber, daß es ihm unmöglich ist, meinen Zustand als tätiges
Wesen aus meinem Zustand als einem leidenden Wesen zu begreifen und
abzuleiten. Dieser ursprüngliche Dualismus muß als Tatsache hingenommen
werden und kann nur durch sophistische Scheingründe fortinterpretiert
werden.

Wende ich mich nun im Besitz dieser Gewißheit den Dingen zu, so sehe
ich auch hier dasselbe Verhältnis. Ich sehe Dinge, die ihren Platz
behaupten, ich sehe andere, die sich bewegen, aber ich sehe auch, daß,
wenn diese bewegten Dinge nicht beseelt sind wie ich, sie von selbst
nicht ohne einen äußeren Anstoß von Ruhe in Bewegung übergehen können.
Fehlt dieser äußere Anstoß, so beharren sie in träger Ruhe. Es sind
also zwei Prinzipien, auf die ich unmittelbar bei Betrachtung der Dinge
geführt werde: der Stoff und die Kraft; und es ist mir unmöglich, das
eine auf das andere zurückzuführen. Das Dasein des Stoffes braucht keine
weitere Erklärung, meine Wahrnehmungen überzeugen mich unmittelbar von
seinem Vorhandensein, woher aber kommt der Anstoß, der sie bewegt? Auch
hier brauche ich nur eine eigene Selbsterfahrung zu prüfen. Ich sehe,
daß das, was meinen Körper bewegt, ein von demselben verschiedenes
Prinzip, daß es mein Wille, meine Seele ist; ich sehe, daß bei allen
sich von selbst bewegenden Körpern ein aktives Prinzip, eine Seele,
vorhanden ist, ich muß eine ähnliche Kraftquelle nach allen Regeln der
Erfahrung auch für die Bewegung der unbeseelten Körper annehmen.
Wende ich aber nun mein Auge auf die wundervolle Ordnung, die in den
Bewegungen der Weltkörper ersichtlich ist, vergegenwärtige ich mir die
Gesetze, welche diese Bewegungen regeln, so werde ich die Quelle, von
der diese Kraft ausgeht, nicht als eine blind wirkende mechanische
Ursache denken können, ich werde sie als die Wirkung einer höchsten
Intelligenz ansehen müssen, welche die Bewegungen der Materie mit
höchster Weisheit angeordnet hat und aus dem trägen ungeordneten Stoff
das wundervolle Weltsystem durch seine Kraft gestaltet hat, dem
wir jetzt staunend gegenüberstehen. Ich werde mit einem Worte einen
allweisen und allmächtigen Gott annehmen müssen, den Beweger der Welten,
den weisen Ordner ihrer Bewegungen. Nur auf diese Weise kann ich das
Dasein der Dinge, so wie es mich umgibt, wirklich verstehen. Wenn der
Materialismus der Materie zugleich die Fähigkeit, sich zu bewegen,
zuerkennt, so stellt er sich damit in Widerspruch zur alltäglichen
Erfahrung. Denn diese zeigt mir wohl dauernd, daß Bewegung von einem
Körper auf den anderen zwar übergeht, aber einen unbeseelten Körper, der
seine Bewegung anfängt, ohne sie von außen erhalten zu haben, zeigt
sie mir niemals. Selbst aber, wenn man dem Materialismus noch dieses
Zugeständnis machen wollte, so ist er außerstande, mit seiner von selbst
bewegten Materie das größte Wunder, das sich unserem Geiste darbietet,
die Ordnung und Schönheit des Weltalls verständlich zu machen. Denn
der Gedanke, womit der Materialismus diesem Problem gerecht zu werden
vorgibt, daß die jetzige Ordnung das zufällige Ergebnis früherer
ungeordneter Bewegungen ist, dieser Gedanke spricht allem, was wir sonst
wissen und erleben, Hohn. Eher will der Vikar glauben, daß die Ilias und
Odyssee einer zufälligen Kombination der Buchstaben des Alphabets ihre
jetzige Ordnung und Schönheit verdanken, als daß er diesem Ungedanken
Glauben schenken würde. So gewiß die Dinge sich bewegen, so gewiß
brauchen sie eine Kraft, die sie bewegt; so gewiß diese Bewegung in
schöner und vollendeter Ordnung vor sich geht, so gewiß muß diese Kraft
von einem weisen und mächtigen Gott ausgehen.

Vergleichen wir diese Ableitung Gottes mit der, welche wir bei Descartes
antreffen, so muß es uns merkwürdig erscheinen, daß man häufig in
Rousseaus Verfahren eine genaue Analogie zu dem Descartes' in den
Meditationen gesehen hat. Es kann kaum einen größeren Gegensatz geben,
und zwar deshalb, weil die Absicht beider Denker eine ganz verschiedene
ist. Was Descartes will, ist ein Kriterium der Gewißheit; sein Problem
heißt: Wie ist Wissenschaft möglich; und so ist ihm durch die Existenz
und Wahrheit Gottes auch die Existenz der Körper garantiert; Gott
ist ihm also ein methodologisches Prinzip. Hätte sich ihm ein anderes
dargeboten, das dieselben Garantien für die Begründung der Wissenschaft
gegeben hätte, so wäre ihm dieses ebenso willkommen gewesen. Ganz anders
liegt die Sache bei Rousseau. Er zweifelt gar nicht an der Existenz der
Dinge; ein Argument von so bohrendem methodologischen Scharfsinn wie
die von Descartes erwogene Möglichkeit, daß die gesamte Wirklichkeit ein
Traumbild sein könne, mit dem ein mächtiger boshafter Genius uns narrt,
ein so gefährlicher Gedankengang liegt dem einfachen savoyischen Vikar
ganz fern. Es kommt ihm gar nicht auf die Möglichkeit der Wissenschaft,
es kommt ihm auf die Unmöglichkeit des Atheismus an. Er fragt seinen
Verstand, ob er haltbare Gründe gegen das vorbringen kann, wovon sein
Herz von vornherein überzeugt ist, und er sieht mit frohem Erstaunen,
daß der Verstand, wenn er vorurteilslos sich selbst, die Dinge und
ihre Ordnung betrachtet, zu den nämlichen Resultaten führt, welche
als Überzeugung des Herzens den Wert des Lebens ausmachen. »Ein wenig
Philosophie führt von Gott ab, die ganze Philosophie führt zu ihm
zurück.« Dieses Wort des englischen Denkers ist Rousseau aus der
Seele gesprochen. Daher erscheint auch bei Descartes Gott nur als die
erkenntnistheoretische Garantie für den Schritt vom Selbstbewußtsein
zu den Dingen, denn die Erkenntnis der Dinge ist die Aufgabe der
Wissenschaft. Bei Rousseau weisen die Dinge und ihre Ordnung uns den Weg
zu Gott, denn zu Gott zu gelangen, trotz Atheismus und Materialismus,
ist das Ziel seiner Sehnsucht.

Der Gott aber, zu dem das gläubige Herz den Menschen drängt, ist nicht
so sehr der mächtige und weise Lenker der Dinge, er ist der allgütige
Gott. Auf diese Eigenschaft kommt es daher Rousseau vor allem an. In
dem Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars scheint nun die Güte
Gottes, seine liebende Fürsorge für den Menschen schon mit der
zweckmäßigen Einrichtung und Schönheit der Welt gegeben. Ein starkes
anthropozentrisches Element flicht sich in die Erwägungen, die der Vikar
anstellt, ein. Damit Menschen in Sicherheit auf dieser Erde wandeln und
auf ihr glücklich werden könnten, damit sie hier ihren Unterhalt bereit
fänden, damit alle ihre natürlichen Bedürfnisse leicht und sicher
befriedigt werden könnten, zu diesem Zweck hat eine liebende Fürsorge
dem Menschen diesen seinen Wohnplatz so weise gestaltet. Jede Einsicht
in die Vollkommenheit dieser Einrichtung erfüllt unser Gemüt mit immer
neuer Dankbarkeit und Liebe gegen den gütigen Gott. In dem Sendschreiben
an Voltaire aus Anlaß des Erdbebens von Lissabon von 1755 ist Rousseau
auf diese Probleme ausführlicher eingegangen. Der Eindruck, den dieses
Ereignis auf die Gemüter machte, war ein gewaltiger und ist für
uns heute nicht mehr ganz leicht verständlich. Wir bedürfen solcher
außergewöhnlicher Geschehnisse nicht mehr, um uns das Problem, wie die
Güte Gottes mit dem Elend der Menschen zu vereinen sei, immer wieder in
den Vordergrund unserer Betrachtungen rücken zu lassen. Wenn wir einen
guten Menschen in qualvoller Krankheit dahinsiechen sehen, so genügt
=eine= solche schmerzliche Erfahrung, um die ganze Tiefe des Problems
vor uns aufzurollen. Das achtzehnte Jahrhundert brauchte stärkere
Erschütterungen, um in seinem Denken dem Problem die zentrale Stellung
zu geben, und es fand diese in dem plötzlichen Ruin einer blühenden und
volkreichen Stadt, denn nur so konnte die feste Überzeugung, daß alle
Vorgänge der Welt auf das Wohl des Menschen abzielten, hinlänglich
erschüttert werden, um dem bangen Zweifel an der Richtigkeit dieser
Voraussetzung Raum zu machen. Am einfachsten fanden sich Männer vom
Schlage des _Dr._ Johnson mit dem erschütternden Ereignis ab, indem
sie entschlossen seine Existenz bezweifelten oder doch mindestens
die Berichte über die Zerstörung so vieles Menschenglücks für sehr
übertrieben erklärten. Andere theologische Moralisten waren gleich
bei der Hand, das Erdbeben als eine Strafe Gottes für die sittenlosen
Bewohner der Hafenstadt zu erklären. Gegen diese skrupellosen
Verteidiger der Güte Gottes hatte Voltaire leichtes Spiel, wenn er
mit dem Verse: »_Lisbonne est en ruines et l'on danse à Paris_« die
gründliche Verlogenheit ihrer Argumente an den Pranger stellte. Aber
auch für ihn blieb zuletzt nichts anderes übrig, als der Rat an den
denkenden Menschen, gegenüber solchen vereinzelten Erscheinungen, deren
Bedeutung der menschliche Verstand nicht zu enträtseln vermöge, sich
immer wieder zurückzuwenden zu den ewigen Ordnungen des Alls, in denen
die Weisheit der göttlichen Weltregierung, die auf das All und nicht auf
den Menschen abziele, unwiderleglich sich darstelle.

Das ist der Standpunkt des Newtonianers, den die Wissenschaft zu Gott
führt, und der über der Weisheit Gottes leicht die Güte Gottes aus
den Augen verliert. Rousseau ist weit davon entfernt, die Ausführungen
Voltaires an sich zu tadeln, aber sie scheinen ihm unvollständig und,
insofern sie eine Rücksichtnahme Gottes auf das Wohl der vernünftigen
Wesen in Frage stellen, sogar falsch. Die Weisheit Gottes, so gewiß sie
aus der Ordnung der Dinge erkannt werden kann, ist nicht seine höchste
Eigenschaft, sondern dies ist allein seine Güte. Freilich hat diese Güte
nicht den einzelnen Menschen, sondern die Menschheit als Ganzes, nicht
allein die Menschheit, sondern das Wohl aller beseelten Wesen, auch
derer, die andere Gestirne bewohnen, zum Gegenstand, und so kann es denn
leicht sein, daß einzelne leiden müssen, damit das Wohl aller gesichert
werde. Niemals aber wäre der Gedanke erträglich, daß, um einer starren
Gesetzmäßigkeit des Alls wegen, ein einzelnes fühlendes Wesen Qual
erdulde, wenn wir nicht von vornherein überzeugt wären, daß diese
Gesetzmäßigkeit das sinnreiche Mittel ist, das eine höchste Güte gewählt
hat, um das Glück der Gesamtheit seiner Geschöpfe zu sichern. Der
Unterschied zwischen dem Gottesbegriff Voltaires und dem Rousseaus liegt
darin, daß der eine auf verstandesmäßiger, der andere auf moralischer
Grundlage beruht. Daraus ergibt sich auch, daß Rousseau im Emile allen
Schwierigkeiten gegenüber, welche das Denken in dem Verhältnis von Gott
und Welt findet, sich sehr reserviert und skeptisch verhält. Es genügt,
daß Gott existiert, und daß er die Ursache der Ordnung der Welt ist,
alles weitere ist ziemlich gleichgültig. Wenn er im Emile und später in
seinem Brief an den Erzbischof von Paris energisch dafür eintritt, daß
Gott nur als Weltbildner, nicht als Weltschöpfer gedacht werden dürfe,
so hängt dies weniger mit Rousseaus theoretischen Ansichten, sondern
wieder mit seinen moralischen zusammen, für welche ein strenger
Dualismus die Voraussetzung ist, die er bis in die letzten Gründe des
Seins verankern wollte.

So ist das Verhältnis von Gott und Mensch das eigentliche Problem der
Religionsphilosophie Rousseaus. Wie läßt sich die Freiheit des Menschen
mit der Allmacht Gottes, wie lassen sich sein Elend und seine Sünde mit
Gottes Güte vereinen? Auch hier ist es charakteristisch, wie Rousseau
durchaus nicht gesonnen ist, dem theoretischen Gedanken der Allmacht
Gottes die praktische Überzeugung von der menschlichen Freiheit zu
opfern. Gott hat den Menschen als freies Wesen geschaffen, weil er
ihn als moralisches Wesen wollte und weil Moral ohne Freiheit eine
Unmöglichkeit ist. Ein unfreies Wesen folgt den Gesetzen des Weltalls,
es kann daher zwar glücklich, aber niemals frei werden; ein vernünftiges
Wesen muß vor die Wahl gestellt werden, wie es sein Glück verwirklichen
will, sein Glück kann immer nur das Resultat seiner freien Entschließung
sein. Es kann glücklich nur sein, wenn es sich zur Sittlichkeit
entschließt, und mit der Möglichkeit dieses Entschlusses zur
Sittlichkeit ist auch die des Gegenteils gegeben. Gott konnte keine
sittlichen Wesen schaffen, ohne zugleich unsittliche und lasterhafte
zuzulassen, das Unglück der einen mußte in den Kauf genommen werden,
damit das erhabene Schauspiel der anderen im Weltall möglich sei. Die
ganze Gleichgültigkeit Rousseaus theoretischen Fragen gegenüber wird
vielleicht am deutlichsten bei der Behandlung der Frage sichtbar, wie
die Tätigkeit freier Wesen mit der strengen Kausalität, welche die
Wissenschaft fordert, vereinbar sei. Bald weist er darauf hin, daß
diese Tätigkeit im göttlichen Weltplan vorgesehen sei, womit sie dann
allerdings wieder als nezessitiert erscheinen würde, bald zeigt er, daß
gegenüber den großen Verhältnissen des Weltgeschehens die Wirkungen der
freien Tätigkeit des Menschen als verschwindend kleine Größen behandelt
und vernachlässigt werden dürfen, womit in gleicher Weise die allgemeine
Gesetzlichkeit des Geschehens aufgehoben und die sittliche Tätigkeit des
Menschen zur _quantité négligeable_ herabgedrückt erscheint. Aber es ist
augenscheinlich, daß Rousseau der Lösung dieser Antinomie, welche den
Riesengeist Kants beschäftigen sollte, gar kein tieferes Interesse
entgegenbringt, ihm genügt die Gewißheit, ein freies moralisches Wesen
zu sein.

Ja, zu noch tieferen Gedanken wird Rousseau geführt, wenn er das
Verhältnis der menschlichen Seele zu Gott erwägt. Auch hier ist er
aus moralischen Gründen nach seinem unmittelbaren Gefühl von der
Unsterblichkeit der Seele ohne weiteres überzeugt. Die theoretischen
Beweise, die hauptsächlich auf die immaterielle Natur der Seele und ihre
Einfachheit zurückgehen, werden auch hier mit einer auffallenden Kürze
behandelt. Es handelt sich eben wieder nur darum, einzusehen, daß
der Verstand gegen die Überzeugungen des Herzens nichts Stichhaltiges
vorzubringen weiß, ja sogar wenn er ohne Sophistik verfährt, diese nur
zu bestätigen vermag. Um so größer aber ist die moralische Bedeutung
des Unsterblichkeitsglaubens. Das ganze irdische Leben rückt durch die
Gewißheit, daß ich über dies Leben nach einer kurzen Spanne von Jahren
Rechenschaft ablegen muß vor dem, welcher es mir gegeben, in einen
großen und furchtbaren Zusammenhang. Der Vorteil, dessen sich der
Ungerechte hier auf dieser Erde zu erfreuen vermag, das Unglück, welches
den Gerechten hienieden verfolgen kann, was bedeuten sie gegen die
Tatsache, daß ihrer ein liebevoller aber strenger Richter harrt, vor
dem der Tyrann ohne seinen Hofstaat, ein Lazarus ohne seine Schwären
erscheint. Das alte Problem aus dem Buch Hiob findet seine Auflösung
durch die Gewißheit der Unsterblichkeit der Seele und ihres Gerichts vor
Gottes Richterstuhl. Freilich ist auch hier Rousseau geneigt, der Güte
Gottes vor seiner Gerechtigkeit den Vorzug zu geben. Daß ein liebender
Vater seinem, wenn auch aus eigenem Entschluß schuldig gewordenen Kinde
gegenüber ewig zürnen sollte, das erscheint ihm unglaublich. Er faßt die
Strafen im Jenseits als einen Erziehungs- und Läuterungsprozeß der Seele
des Sünders auf; die harte Lehre von der Ewigkeit der Höllenstrafen,
gegen die sich überall der philanthropische Geist des 18. Jahrhunderts
auflehnte, ist auch für Rousseau mit einer richtigen Vorstellung Gottes
unvereinbar und nur als eine Erfindung harter und eifernder Priester zu
verstehen.

So brauchen wir nur die Wunder des Weltalls und unsere eigene Seele zu
befragen, um zu einer Vorstellung von Gott zu gelangen, die vielleicht
weder dem Theologen noch dem Philosophen genügt, die uns aber in eine
lebendige Beziehung zum Urquell der Dinge bringt und unser ganzes Leben
auf ihn hinrichtet und durch die Liebe zu ihm regelt. Wenig kommt es
darauf an, in welchen Worten, mit welchen Formeln wir diese Beziehung
ausdrücken, genug, wenn sie in unserem Gefühl lebendig ist. Die alte
Frau, die zum Himmel aufblickend nur ein »oh, oh« stammelt, hat ein
frömmeres Gebet zu Gott gesendet und eines, das ihn mehr erfreut, als
die langen Litaneien, die mechanisch heruntergehaspelt werden. Sehr
wenig kommt es darauf an, ob wir es vermögen, diese lebendige Beziehung
zu Gott in ein System zu bringen und sie mit spitzfindigen Syllogismen
zu verteidigen. Die Lehre, welche Kant formuliert, daß es von der
größten Wichtigkeit sei, vom Dasein Gottes überzeugt zu sein, aber daß
es wenig darauf ankomme, diese Existenz auch beweisen zu können, sie
ist unter dem Einfluß Rousseaus entstanden. Es ist die für den Stolz
des Gelehrten so demütigende, für die Würde des Menschen so erhebende
Überzeugung, daß es keiner Schulsysteme der Philosophie bedarf, um ein
sittlich guter, innerlich frommer Mensch zu sein, eine Überzeugung, die
von Kant zum Grundpfeiler seiner Lehre vom guten Willen gemacht
werden sollte. Die Ideale der praktischen Vernunft: Gott, Freiheit und
Unsterblichkeit sind auch für Rousseau die Trias gewesen, in der sich
seine Ethik zur Religion entfaltete.

Damit wird aber freilich der Wert der Offenbarung höchst problematisch.
Wenn es für jeden Menschen möglich ist, den Weg zu Gott zu finden, so
ist es schwer denkbar, weshalb dieser Weg nur denen offen stehen solle,
welche den Zugang zu einem bestimmten Buch haben finden können. Wenn
Gott zu uns dauernd durch die Stimme unseres Gewissens und die Wunder
seiner Werke spricht, wozu bedarf es der Kenntnis bestimmter Ereignisse,
die einmal gewesen sind und von denen wir keine direkte Anschauung, kein
unmittelbares Gefühl haben? Ist es wirklich denkbar, daß der gütige
Gott alle diejenigen unter seinen Geschöpfen mit seinem Zorn und harten
Strafen bedroht, welche sich nicht von der Wahrheit dieser Berichte
überzeugen können? Nein, das will, das kann der Vikar nicht glauben.
Wenn dem aber doch so wäre, so käme offenbar alles darauf an, den Sinn
dieser heiligen Schrift richtig zu fassen, denn ein Irrtum in dieser
Hinsicht würde ja von den erheblichsten Folgen für unser ewiges Heil
sein müssen. Nun sind aber diese Schriften in fremden Sprachen verfaßt,
sie erzählen von Ländern, Sitten und Gebräuchen, die wir nicht selber
kennen, ohne diese Kenntnis aber müssen diese Worte für uns ein leerer
Schall bleiben. Man wende hier nicht ein, daß wir gute Übersetzungen
dieser Bücher haben, und weise Lehrer, welche uns die Wahrheit dieser
Schriften vermitteln; wenn ich sehe, wie verschieden diese Übersetzungen
sind, wenn ich erwäge, wie diese weisen Männer über die wichtigsten
Stellen der heiligen Bücher miteinander hadern, so schmilzt mein
Vertrauen auf diese Hilfsmittel sehr zusammen; trotzdem kommt alles für
mich darauf an, den wahren Sinn der Offenbarung mir zu eigen zu machen.
Ich werde also diese fremden Sprachen lernen müssen, ich werde die
verschiedenen Lesarten miteinander zu vergleichen haben, um die richtige
herauszufinden, ich werde Reisen in das Heilige Land unternehmen müssen,
ich werde es niemals wagen dürfen, mich mit einem »vielleicht« zu
begnügen, denn meiner Seele Seligkeit ist daran geknüpft, daß ich
hier zur Sicherheit gelange. Kann Gott dies gewollt haben, und ist es
wahrscheinlich, daß ich auf diesem mühevollen und langwierigen Wege
aller meiner Zweifel Herr werde? Und wenn mich der Tod früher hinrafft,
was dann? Und all die Millionen Menschen, die diesen Weg nicht
beschreiten können, und die geboren werden, leben und sterben, ohne
jemals etwas vom Evangelium gehört zu haben? Nein, der Glaube an eine
Offenbarung kann keine notwendige Voraussetzung der Seligkeit sein!

Hat nun deshalb, wie der Erzbischof von Paris folgern zu müssen meinte,
für den savoyischen Vikar die Bibel keinen Wert mehr? Ist die Gestalt
Christi für ihn bedeutungslos geworden? Dagegen hat sich Rousseau, der
Zeit seines Lebens ein eifriger Bibelleser war, entrüstet verwahrt,
und sein Vikar glaubt sogar, das Amt eines Seelsorgers innerhalb der
katholischen Kirche trotz oder vielmehr gerade wegen seiner Ansichten
versehen zu können. Er wird freilich nicht Unduldsamkeit und Haß gegen
Andersgläubige predigen, aber alles Gute, alle Frömmigkeit, die er
in den Herzen seiner Pfarrkinder findet, wird er durch seine Worte zu
stärken bemüht sein, er wird teilnehmen an ihren Freuden, er wird sie im
Unglück trösten, er wird in Krankheit und bei ihrem Hinscheiden an ihrem
Bette nicht fehlen, er wird sie Gott mehr lieben als fürchten lehren,
und er wird damit glauben, dem Beispiel Christi zu folgen. Die Bibel
wird für ihn ein erhabenes Buch sein voll großer Gedanken über Gott und
göttliche Dinge, und Christus der Vertreter der reinsten Moral und der
innigsten Frömmigkeit. Aber ebenso wie Christus sich an alle Menschen
wendete, die guten Willens waren, so vermag auch Rousseau nicht auf das
zu sehen, was die Menschen in ihren religiösen Überzeugungen voneinander
trennt, sondern nur das ist wertvoll, was allen gemeinsam ist; denn das
Trennende sind die zufälligen historischen Gestaltungen, die in der Zeit
entstanden sind und mit der Zeit wieder vergehen werden. Das Gemeinsame
aber, der Kern, der in allen diesen zeitlichen und vergänglichen Hüllen
steckt, ist das Verhältnis der menschlichen Seele zu Gott; das fromme
Gefühl, das Gott selber jedem, der Menschenantlitz trägt, in die Seele
gelegt hat. Dies zu achten, in welcher Form es auch auftrete, dies zu
immer höherer Reinheit zu entwickeln in sich und anderen, das ist die
Aufgabe des wahren Frommen und des wahren Geistlichen; bei aller Demut,
bei allem Bewußtsein der eigenen Schwäche und Unzulänglichkeit glaubt
sich der Vikar dieses Namens und dieses Amtes nicht unwert.

Es ist vielleicht hier der Ort, auf die angebliche Geschichtslosigkeit
des achtzehnten Jahrhunderts und den Anteil, den sie auf Rousseaus
Gedankenbildung gehabt, mit einigen Worten einzugehen. Vor allem
darf diese Geschichtslosigkeit nicht als Mangel an Interesse für die
Vergangenheit aufgefaßt werden. Einige der größten Historiker aller
Zeiten und Völker haben nicht nur im achtzehnten Jahrhundert gelebt,
sondern sind, wie Hume und Gibbon, unter die größten Vertreter der
Aufklärungstendenzen des achtzehnten Jahrhunderts zu rechnen.
Ebenso haben wir bereits bei Rousseau auf sehr genaue und eingehende
historische Kenntnisse, namentlich in der Geschichte seiner Vaterstadt
hinweisen können, die es ihm ermöglichten, dem besten Kenner der
Genfer Verfassungsgeschichte gegenüber, Tronchin, siegreich das Feld zu
behaupten. Trotzdem liegt der landläufigen Redensart vom unhistorischen
achtzehnten Jahrhundert ein guter Sinn zugrunde, den wir durch
Windelbands und Rickerts methodologische Untersuchungen genau zu
formulieren gelernt haben.

In zwei Richtungen kann sich unser theoretisches Interesse an den Dingen
betätigen. Wir können einerseits an ihnen das hervorheben, was ihnen mit
allen anderen Dingen gemeinsam ist, die allgemeinen Gesetze ergründen,
welche für alles Geschehen an jedem Ort und zu jeder Zeit gelten; dies
ist das Interesse, welches die Naturwissenschaft leitet. Wir
können andererseits danach streben, die Dinge in ihrer Eigenart und
Einzigartigkeit zu erkennen, an ihnen nicht das hervorzuheben, was
ihnen mit allen übrigen Dingen oder auch nur mit denen derselben Gattung
gemeinsam ist; wir wollen wissen, »wie es eigentlich gewesen«, wir
verfahren als Historiker. Natürlich wird auch der Naturforscher das
Einzelding betrachten, von ihm ausgehen müssen, aber dies Einzel=ding=
interessiert ihn nur insofern, als es ein Einzel=fall= ist, sei es einer
allgemeinen Regel, sei es eines allgemeinen Typus. Betrachten wir
unter diesem Gesichtspunkt das Verfahren der Historiker des achtzehnten
Jahrhunderts, so werden wir sie ausnahmslos naturwissenschaftlich
interessiert finden; selbstverständlich ist es auch ihr Bestreben, die
vergangene Wirklichkeit kennen zu lernen, aber das, was sie in dieser
Vergangenheit als wertvoll erblicken, sind die allgemeinen Züge, die
in der Natur des Menschen angelegt, zu jeder Zeit und an jedem Ort
wiederkehren, sobald dieselben Bedingungen gegeben sind. So will uns
Gibbon zeigen, welchen verderblichen Einfluß religiöser Aberglaube und
Fanatismus auf den Bestand großer Reiche habe; so kommt es Montesquieu
nicht darauf an, uns die Gesetzgebung der Vergangenheit kennen zu
lehren, sondern er will aus dieser Kenntnis den »Geist der Gesetze«
verstehen; so überließ es Voltaire untergeordneten Mitarbeitern, die
trockenen Einzelheiten der deutschen Reichsgeschichte zu durchforschen
und für ihn zu exzerpieren; er selbst zog dann das allgemein
Interessante, die philosophischen Schlußfolgerungen heraus, welche erst
die eigentliche Bedeutung der Arbeit ausmachten. Vielleicht ist hier
am deutlichsten der Unterschied der naturwissenschaftlichen und
der historischen Betrachtungsweise ersichtlich. Was den Historiker
Rankescher Richtung allein interessieren würde, fiel überhaupt gar nicht
in den Arbeitsbereich des philosophischen -- wir würden heute sagen
naturwissenschaftlichen -- Geschichtsforschers des achtzehnten
Jahrhunderts.

Wenden wir von diesem Standpunkt aus unseren Blick auf Rousseaus
Stellung zu den Religionen, so wird uns diese gleichfalls als an der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung orientiert erscheinen. Rousseau
trat an die einzelnen Religionen mit einem analogen Interesse heran, wie
es der Naturforscher gegenüber einer Mannigfaltigkeit von Dingen
hat, die es in Arten und Gattungen einzuteilen gilt. Die wertvollen
Eigenschaften dieser Dinge werden ihm die sein, welche sich bei
sämtlichen Exemplaren vorfinden, die als das Allgemeine in ihnen
gegenüber dem Individuellen, das für die Klassifikation wertlos ist,
angesehen werden können. Ganz ebenso gilt Rousseau als das Wertvolle
in den einzelnen historischen Religionen das, was er in jeder derselben
antreffen zu können glaubt, alles andere ist zufällige historische
Bildung, die im besten Fall als unwesentlich beiseite gelassen
werden kann, im schlimmeren aber da, wo sie die gemeinsamen Merkmale
überwuchert und verzerrt, ihre Gläubigen gegen diese Gemeinsamkeit blind
macht, nicht nur als wertfrei, sondern als wertlos und wertfeindlich
anzusehen ist. Als das Ideal dieser Betrachtungsweise der Religionen,
als der reinste Ausdruck dieses auf das Allgemeine gerichteten
Interesses, auf jenes Allgemeine, das eint, während das Besondere
trennt, wird für alle Zeiten Lessings unsterblicher Nathan gelten.

Was uns diese Betrachtungsweise heute teilweise fremd erscheinen
läßt, ist eben der Umstand, daß wir durch die Arbeit des neunzehnten
Jahrhunderts die Möglichkeit gewonnen haben, die Dinge nicht nur
naturwissenschaftlich, sondern auch historisch zu betrachten. Nicht das
interessiert uns an Bismarck, was er mit allen übrigen Staatsmännern
gemeinsam hat, sondern was ihn von allen übrigen unterscheidet, einzig
und allein =ihm= zukommt. Bei aller Würdigung dessen, was Goethe mit den
Stürmern und Drängern verbindet, kommt es uns namentlich doch darauf an,
zu erkennen, worin die Einzigartigkeit seines Götz und seines Werther
besteht. Und so ist auch unsere Stellung zu den Religionen eine durchaus
andere geworden. Wir streben nicht mehr danach, aus allem, was irgendwo
und irgendwann einmal geglaubt worden ist, das _caput mortuum_ einer
»natürlichen« Religion herauszudestillieren. Das, was allen Religionen
gemeinsam ist, ist für diese Betrachtungsweise gerade das, worauf
es nicht ankommt, was im besten Fall gerade gut genug ist, um die
Paragraphen eines schlechten Kolleghefts über Religionsphilosophie
mit magerem Stoff zu erfüllen. Das Wertvolle aber in den einzelnen
Religionssystemen, das, woran das 18. Jahrhundert achtlos vorbeiging,
ist gerade das, was sie von allen übrigen Religionen spezifisch
unterscheidet. Wie wir nicht eine Frau überhaupt, einen Gattungsbegriff,
heiraten können, sondern diese individuelle Persönlichkeit für dieses
individuelle Leben zu gewinnen streben, so kann auch die Religion nur
durch den Mund eines individuellen Menschen für uns zur Lebensmacht
werden. Nicht darauf kommt es an, was immer, was überall, was von allen
geglaubt worden ist; das kann mich alles nicht retten; sondern darauf
kommt es an, daß ich den Mittler finde, der mich meinen Weg zu Gott
führt. Es ist interessant zu beobachten, wie an einer Stelle dieser
Gedanke, daß nur im Individuellen Leben ist, sich auch schon bei
Rousseau und gerade bei ihm anmeldet. In der _Nouvelle Héloïse_
haben wir gesehen, wie sich das Interesse auf die ganz persönlichen
Geschehnisse St. Preux' und Julies konzentriert. Um ihr individuelles
Wohl und Wehe handelt es sich hier, so sehr auch das allgemein
Menschliche in ihrem Kampf gegen die gesellschaftlichen Vorurteile
betont wird. Die Verbindungen zwischen dem Roman und der Geschichte sind
alt. Schwartz hat uns gezeigt, wie bei den Griechen aus dem Erzählen des
Geschehnisses der Roman herauswächst. Vielleicht läßt sich in unserer
Zeit das Umgekehrte feststellen. Nachdem das individuelle Schicksal
erdichteter Personen im Roman die Menschen an diese Art und Betrachtung
gewöhnt hatte, konnte sich auch dies Interesse auf den wirklichen
Menschen der Gegenwart und dann auf den der Vergangenheit übertragen.
Die Biographie und namentlich die Autobiographie ist die Brücke, die
hinüberführt zur modernen Geschichtsbetrachtung, und auch hier finden
wir Rousseau mit seinen _Confessions_ als den bedeutendsten Pionier
einer künftigen Zeit. Die engste Verbindung aber dieser beiden Gebiete
erblicken wir dann, wenn wir den Wilhelm Meister mit dem historischen
Werke vergleichen, das nicht umsonst den Titel »Dichtung und Wahrheit«
führt.

Es ist im Verlauf unserer Darstellung dauernd des Einflusses gedacht
worden, den Rousseau auf die ganze Gedankenbewegung des deutschen
Idealismus gehabt hat. Ihr gegenüber erscheint der Einfluß Rousseauscher
Gedanken auf die politische und literarische Entwickelung in Frankreich
fast als geringfügig. Gewiß, die Bergpartei stritt ebenso unter dem
Zeichen Rousseaus wie die Gironde unter dem Voltaires, gewiß in _Maine
de Biran_ wurden die Konsequenzen der Gedanken Rousseaus für die
Philosophie ebenso gezogen wie in _George Sand_ für die Literatur.
Aber schon bei der romantischen Richtung in der französischen Literatur
erscheint es mitunter zweifelhaft, ob ihre Prinzipien direkt aus
Rousseau entwickelt, oder aus den deutschen Fortbildungen dieser
Gedanken übernommen sind. Im wesentlichen vollzieht sich die Fernwirkung
auf deutschem Boden; hier wurde Rousseau nicht das Fundament einer
Guillotine, sondern einer neuen Kultur. In den mannigfaltigsten
Wendungen begegnen wir hier Rousseaus Gedanken, vertieft, erweitert,
geläutert, aber doch unverkennbar Geist von seinem Geist. Kant und
Herder, Goethe und Schiller, sie sind ohne Rousseau nicht zu denken, und
durch sie bildete sich die neue Wissenschaft, die neue Philosophie, die
neue Dichtung des deutschen Idealismus. So tritt Rousseau ein unter die
Heroen eines Volkes, auf dessen Boden er niemals den Fuß gesetzt,
bei welchen eine Freistätte zu suchen, er selbst in der äußersten Not
verschmäht hat. Wir haben mehr aus Rousseau gewonnen, als wenn wir ihn
unseren Landsmann hätten nennen können. Wir haben seinen Geist zu uns
herübergezogen, wir haben ihn uns zugeeignet. Die tausend Anregungen,
die er verschwenderisch ausgestreut hat, sind in Deutschland auf guten
Boden gefallen und haben hundertfältig Frucht getragen. Daher haben wir
ein Recht auf Rousseau, wie der der rechte Erbe ist, der das überkommene
sich zueignet, indem er es nützt. Und wenn wir an der Fortbildung des
deutschen Idealismus weiter arbeiten, wenn wir in ihm das Heil für die
schweren Zweifel und Schäden auch unserer Zeit erblicken, dann ziemt es
sich auch, des Mannes zu gedenken, der allen den Großen unseres Volkes
teuer war als ihr Lehrer, des großen Heimatlosen an der Grenze zweier
Zeitalter.



  Synchronistische Tabelle
  über Leben und Schriften Jean-Jacques Rousseaus.


 +------------------------------------+---------------------------------+
 |                                    |                                 |
 |              =Leben.=              |          =Schriften.=           |
 |                                    |                                 |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1712 28. Juni zu Genf geboren, Vater|                                 |
 |     Uhrmacher, Mutter eine geborene|                                 |
 |     Bernard, stirbt nach der       |                                 |
 |     Geburt.                        |                                 |
 +------------------------------------+                                 |
 |1722 Sein Vater verläßt Genf; J.-J. |                                 |
 |     kommt zu einem Onkel Bernard,  |                                 |
 |     dann zu Pfarrer Lambercier     |                                 |
 |     nach Bossey bei Genf.          |                                 |
 +------------------------------------+                                 |
 |1724 Zurück zu seinem Onkel;        |                                 |
 |     Lehrling beim Gerichtsschreiber|                                 |
 |     Masseron.                      |                                 |
 +------------------------------------+                                 |
 |1725 Lehrling beim Graveur Ducommun |                                 |
 |     (S. 4).                        |                                 |
 +------------------------------------+                                 |
 |1728 März, verläßt Genf (S. 4)      |                                 |
 |     Ostern, lernt Mme de Warens    |                                 |
 |     kennen. 27. April, tritt in    |                                 |
 |     Turin zur kath. Kirche über,   |                                 |
 |     wird Lakei bei der Gräfin      |                                 |
 |     Vercellis, nach deren Tode zum |                                 |
 |     Grafen Gouvon; lernt           |                                 |
 +------------------------------------+                                 |
 |1729 den Abbé Gaime (S. 80)         |                                 |
 |     kennen. Verläßt den Dienst     |                                 |
 |     und kehrt nach Annecy zu Mme   |                                 |
 |     de Warens zurück. Ein Versuch, |                                 |
 |     Priester zu werden, scheitert  |                                 |
 |     (S. 7).                        |                                 |
 +------------------------------------+                                 |
 |1730 Studiert Musik bei Le Maître,  |                                 |
 |     begleitet ihn nach Lyon und    |                                 |
 |     verläßt ihn dort (S. 11), gibt |                                 |
 |     in Annecy Musikunterricht,     |                                 |
 |     trifft mit Frl. Galley und     |                                 |
 |     Graffenried zusammen           |                                 |
 |     (S. 10, 72).                   |                                 |
 +------------------------------------+                                 |
 |1731 Streift abenteuernd in der     |                                 |
 |     Schweiz und Frankreich umher,  |                                 |
 |     kehrt                          |                                 |
 +------------------------------------+                                 |
 |1732 zu Mme de Warens nach          |                                 |
 |     Chambéry zurück, Mme de        |                                 |
 |     Warens wird seine              |                                 |
 |     Geliebte (S. 9), wird Geometer,|                                 |
 |     später wieder Musiklehrer.     |                                 |
 +------------------------------------+                                 |
 |1736 Zur Wiederherstellung seiner   |                                 |
 |     Gesundheit Aufenthalt in Les   |                                 |
 |     Charmettes.                    |                                 |
 +------------------------------------+                                 |
 |1737 Sept. Reise nach Montpellier,  |                                 |
 |     um Heilung zu suchen.          |                                 |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1738 Rückkehr zu Mme de Warens.     |1738 _Réponse au Mémoire anonyme,|
 |                                    |     intitulé: Si le monde       |
 |                                    |     que nous habitons est une   |
 |                                    |     sphère._                    |
 |                                    +---------------------------------+
 |                                    |1739 _Le Verger des Charmettes_, |
 |                                    |     philosophisches Gedicht.    |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1740 Hauslehrer in Lyon bei Herrn   |1740 Schrift über das Notensystem|
 |     von Mably (S. 63).             |     (S. 6).                     |
 +------------------------------------+                                 |
 |1741 Rückkehr nach Chambéry.        |                                 |
 |     Trennt sich von Mme de         |                                 |
 |     Warens, geht nach Paris, um    |                                 |
 |     seine Theorie der Musik der    |                                 |
 |     Akademie vorzulegen.           |                                 |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1742 22. Aug., Sitzung der Akademie,|1742 Oper _Les Muses galantes_,  |
 |     Rousseau legt seine Schrift    |     Lustspiel _Les Prisonniers_.|
 |     vor, wird beim Finanzpächter   |                                 |
 |     Dupin eingeführt.              |                                 |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1743 Geht als Sekretär des Gesandten|1743 _Sur la Musique moderne._   |
 |     Montaigue nach Venedig (S. 44).|                                 |
 +------------------------------------+                                 |
 |1745 Rückkehr nach Paris,           |                                 |
 |     Bekanntschaft mit Thérèse      |                                 |
 |     Levasseur (S. 10), Aufführung  |                                 |
 |     der _Muses galantes_, Tod      |                                 |
 |     des Vaters. Wird Kollaborator  |                                 |
 |     bei Francueil. Freundschaft mit|                                 |
 |     Grimm und Diderot (S. 8).      |                                 |
 |                                    +---------------------------------+
 |                                    |1747 Lustspiel: _L'Engagement    |
 |                                    |     téméraire_, Gedicht:        |
 |                                    |     _L'Allée de Sylvie_.        |
 +------------------------------------+                                 |
 |1749 Gefangenschaft Diderots in     |                                 |
 |     Vincennes (S. 8, 15). Rousseau |                                 |
 |     gibt sein Amt als Kollaborator |                                 |
 |     auf. Kopiert Noten.            |                                 |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1750 Rousseau gewinnt den Preis der |1750 _Discours qui a remporté le |
 |     Akademie von Dijon (S. 15).    |     prix à l'Académie de Dijon  |
 |                                    |     en 1750; Si le              |
 |                                    |     rétablissement des sciences |
 |                                    |     et des arts a contribué à   |
 |                                    |     épurer les moeurs_ (S. 13). |
 |                                    +---------------------------------+
 |                                    |1751 _Observations sur une       |
 |                                    |     réfutation du Discours par  |
 |                                    |     le roi de Pologne_ (S. 17). |
 |                                    +---------------------------------+
 |                                    |1752 Aufführung des _Devin du    |
 |                                    |     Village_ in Fontainebleau   |
 |                                    |     (S. 6).                     |
 |                                    +---------------------------------+
 |                                    |1753 _Lettre sur la Musique      |
 |                                    |     française. L'origine de     |
 |                                    |     l'inégalité parmi les       |
 |                                    |     Hommes_, gedruckt 1755      |
 +------------------------------------+     (S. 13 ff.).                |
 |1754 Reise nach Genf, tritt zum     |                                 |
 |     Kalvinismus über, erlangt das  |                                 |
 |     Bürgerrecht (S. 4).            |                                 |
 |                                    +---------------------------------+
 |                                    |1755 Artikel: _Économie          |
 |                                    |     politique_ in der           |
 |                                    |     _Encyclopédie_ (S. 22).     |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1756 9. April zieht in das Landhaus |1756 _La Reine fantasque_,       |
 |     der Mme d'Epinay L'Ermitage    |     komisches Märchen. Schreibt |
 |     bei Montmorency. Verhältnis    |     _la Nouvelle Héloïse_       |
 |     zur Gräfin d'Houdetot (S. 9).  |     (erscheint 1761) (S. 69),   |
 |                                    |     _Extrait de la paix         |
 |                                    |     perpétuelle de l'Abbé de St.|
 |                                    |     Pierre._ _Extrait du traité |
 |                                    |     sur la polysynodie._ _Lettre|
 |                                    |     à Voltaire_ (S. 86).        |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1757 Verläßt die Ermitage. Bruch    |1757 _Lettre à d'Alembert sur les|
 |     mit Mme d'Epinay, Grimm und    |     Spectacles_ (S. 24).        |
 |     Diderot (S. 9).                |                                 |
 +------------------------------------+                                 |
 |1759 Zieht in das dem Marschall     |                                 |
 |     von Luxembourg gehörige        |                                 |
 |     kleine Schloß von Montmorency. |                                 |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1762 Haftbefehl des Parlaments.     |1762 _Contrat social_ (S. 27)    |
 |     8. Juni verläßt Rousseau       |     _Émile_ (S. 49).            |
 |     Montmorency, Flucht nach der   |                                 |
 |     Schweiz. Der Emile in Genf     |                                 |
 |     verbrannt (S. 50). Rousseau    |                                 |
 |     aus Bern ausgewiesen, findet   |                                 |
 |     Zuflucht in Motiers-Travers    |                                 |
 |     im preußischen Neufchatel.     |                                 |
 |     Freundschaft mit Lord Maréchal |                                 |
 |     Keith (S. 9).                  |                                 |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1763 (12. Mai) Rousseau gibt sein   |1763 _Lettre à Christophe de     |
 |     Genfer Bürgerrecht auf.        |     Beaumont, Archevêque de     |
 |                                    |     Paris._ (S. 91).            |
 |                                    +---------------------------------+
 |                                    |1764 _Lettres écrites de la      |
 |                                    |     Montagne_ (S. 45).          |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1765 Sept., wird aus Motiers        |1765 Entwurf zu einer Verfassung |
 |     vertrieben, flüchtet nach der  |     für Korsika (S. 46).        |
 |     Isle St. Pierre im Bieler See, |                                 |
 |     von da ausgewiesen, nach       |                                 |
 |     Straßburg. 2. Nov. mit David   |                                 |
 |     Hume nach England.             |                                 |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1766 Nach Wootton zu Davenport.     |1766 Schreibt an den             |
 |     Beginn der Geisteskrankheit.   |     _Confessions_ (erschienen   |
 |     (S. 12).                       |     1782) (S. 3-13).            |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1767 Flucht nach Frankreich,        |1767 _Dictionnaire de Musique._  |
 |     Aufenthalt im Jagdschloß Trye  |                                 |
 |     des Prinzen Conti.             |                                 |
 +------------------------------------+                                 |
 |1768 Reise durch Frankreich;        |                                 |
 |     längerer Aufenthalt in         |                                 |
 |     Bourgoin, dort Eheschließung   |                                 |
 |     mit Thérèse, (August).         |                                 |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1769 Monquin (Beschäftigung mit     |1769 »_Quelle est la vertu la    |
 |     Botanik) (S. 6).               |     plus nécessaire aux héros?_«|
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1770 Paris. Liest die _Confessions_ |1770 _Considérations sur le      |
 |     vor, diese Vorträge polizeilich|     gouvernement de Pologne_    |
 |     verboten.                      |     (erschien 1782) (S. 46).    |
 |                                    |     _Rêveries d'un promeneur    |
 |                                    |     solitaire_ (erschien 1782)  |
 |                                    |     (S. 13).                    |
 +------------------------------------+---------------------------------+
 |1774 Zusammentreffen mit Gluck.     |1772-1776 _Rousseau juge de Jean-|
 |                                    |     Jacques, Dialogues_ (S. 13) |
 +------------------------------------+                                 |
 |1778 (20. Mai) Nach Ermenonville    |                                 |
 |     zu M. de Girardin. 2. Juli     |                                 |
 |     Tod (S. 13).                   |                                 |
 +------------------------------------+---------------------------------+



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Textänderungen im Rahmen der Transkription


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  Seitenangabe
  originaler Text
  geänderter Text

  Seite 5
  an einem Werk, der _Nouvelle Heloïse_, mit
  an einem Werk, der _Nouvelle Héloïse_, mit

  Seite 8
  Ahnung davon hatten, ihn verletzt zuhaben
  Ahnung davon hatten, ihn verletzt zu haben

  Seite 9
  Schöpfung seiner Julie (in der _Nouvelle Héloise_)
  Schöpfung seiner Julie (in der _Nouvelle Héloïse_)

  Seite 26
  in ihren Schöpfungen nur überindividuelle Wert entstehen
  in ihren Schöpfungen nur überindividuelle Werte entstehen

  Seite 32
  Hobbes' Staatvertrag ist eine Realität
  Hobbes' Staatsvertrag ist eine Realität

  ein Recht sei, das im Naturzustand gegolten hate
  ein Recht sei, das im Naturzustand gegolten hatte

  Seite 52
  in seinen Häunden wie bildsames Wachs werden
  in seinen Händen wie bildsames Wachs werden

  Seite 97
  bei der Gräfin Vercellis, nach nach deren Tode
  bei der Gräfin Vercellis, nach deren Tode





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